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Full text of "Der Alkoholismus - Zeitschrift zur wissenschaftlichen Erörterung der Alkoholfrage (N.F.) 2.1905"

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Der Alkoholismus 

Zeitschrift zur wissenschaftlichen 
JS5 Erörterung der Alkoholfrage © 

unterstützt durch den Deutschen Verein 
gegen den Mißbrauch geistiger Getränke. 

Organ des Verbandes der Trinkerheilstätten des deutschen Sprachgebietes. 


Unter besonderer Mitwirkung von 

Dr. med. ALT, Direktor der Landesirrenanstalt Uchtspringe; Geh. Med.-Rat Dr. 
BAER, Berlin; Dr. med. COLLA, Finkenwalde; Professor Dr. med. CRAMER, 
Göttingen; Dr. med. GRAF DOUGLAS, Berlin; Professor Dr. jur. ENDEMANN, 
Heidelberg; Geh. Med.-Rat Professor Dr. C. FRAENKEL, Halle; Professor Dr. GRA- 
WITZ, Charlottenburg; Professor Dr. von GRÜTZNER, Tübingen; Geh. Ober¬ 
medizinalrat Dr. PISTOR, Berlin; Sanitätsrat Dr. SCHAEFER, Direktor der Landes¬ 
irrenanstalt Lengerich; Senatspräsident Dr. jur. von STRAUSS und TORNEY, Berlin; 
Professor Dr. med. TUCZEK, Marburg; Geh. Reg.-Rat Dr. jur. ZACHER, Berlin 

herausgegeben von 

Dr. med. J. Waldschmidt. 


ISTeue Folge. — Q. Band. 



Leipzig, 1905. 

Johann Ambrosius Barth. M.ll, U..7 k2 

Eoßpiatz 17. Ber jj n ^ fö 

lUiürsluirtiarom W* 


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Druck von Grimme <fe Trömel in Leipzig. 


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Inhaltsverzeichnis von Band H 


Heft I. 


I. Originalabhandlungen. Seite 

Waldschmidt, Dr. Zur Jahreswende.1 

Marcuse, Dr. Beiträge zum Alkoholkonsum der arbeitenden Klassen . . 8 

Kttßner, Pastor Dr. G. Was sind wir unseren Kanalarbeitem schuldig? 
(Schluß).13 

n. Referate. 

Schenk, Pani. Gebrauch und Mißbrauch des Alkohols in der Medizin . . 67 
Ziehen, Th. Über den Einfluß des Alkohols auf das Nervensystem . . 67 

Steger, Josef ond Daum, Adolf. Was die Jugend vom Alkohol wissen soll 68 
Meyer, Ernst. Über den Einfluß der Alkohoiica auf die sekretorische und 

motorische Tätigkeit des Magens.68, 

Bickel. Über den Einfluß des Alkohols auf die Herzgröße.69 

Goddard, W. H. Über Alkohol als Nahrungsmittel.69 

Hoppe. Die Tatsachen über den Alkohol.69 

Grotjahn. Der Alkoholisraus.69 

,, Soziale Hygiene und Entartungsproblem.69 

Mombert. Das Nahrungswesen.70? 

Freund. Die Alkoholfrage in der Armee.70 

Merth, Heinrich. Die Trunksucht und ihre Bekämpfung durch die Schule 71 

Damaschke, A. Alkohol und Volksschule.71 

Keferstein. Moderne Arbeiterbewegung und Alkoholfrage.71 

Schmidt, H. Fr. Kellners Weh und Wohl.72 

Marcuse, Julian. Kleine Gesundheitslehre.72 

Behrens, Peter. Alkohol und Kunst.72 

Stellmacher, A. Auf neuer Bahn.73 

Bonne. Mäßigkeit, Enthaltsamkeit und Christentum.78 

Popert. Wir und das Alkoholkapital.73 

Die Bekämpfung des Alkoholismus in Holland.73 

Schmidt, Peter. Bibliographie.74 

m. Mitteilungen. 

Jahresbericht des Schleswig-holsteinischen Bezirksvereins gegen den Mi߬ 
brauch geistiger Getränke.81 

Bemische Trinkerheilstätte „Nüchtern“.82 

Stift Isenwald.83 

Ablaßgebet.83 

Die Polizei im Kampf gegen den Alkohol .88 

Der Guttemplerorden. . 84 

Internationaler Kongreß gegen den Alkoholismus.84 


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IY Inhaltsverzeichnis von Band II. 

Seite 

Antialtohol — Blaues Kreuz — religiöser Wahnsinn.85 

Entmündigt im deutschen Reich.86 

Zentralverband zur Bekämpfung des Alkoholismus in Berlin.87 

Zur Säkularfeier Speners.87 


Heft II. 

I. Originalabhandlungen. 


Stubbe. Pastor Dr. Aua der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig- 

Holstein .89 

Laquer, Dr. B. Das Verhältnis von Trunksucht zu Armut und Verbrechen 

in den Vereinigten Staaten.114 

Flade, Dr. E. Was erhoffen wir von unserer Armee?.122 

n. Heferate. 

Btfsler. Über die nationale Bedeutung unserer Enthaltsamkeitsbewegung . 142 

Straßmium, Fr. Alkohölisinus und Ehescheidung. 142 

Kutner. Zur Diagnostik des pathologischen Rausches.142 

Buehat. Der Alkoholismus in Italien.148 

Laquer. Trunksucht Und Temperen^ iü den Vereinigten Staaten .... 144 

Tan Ahlen. Beitrag zur Kenntnis der Polyneuritis alcoholica.145 

Orel. Alkoholismus und soziale Frage.146 

Brandeis. Beiträge zur Erziehungshygiene.146 

' Beteiligung des englischen Adels an den Alkoholgewerben.146 

HI. Mitteilungen. 

Der enthaltsame Märker. 147 

Der Reohabit.147 

Der Retter.147 

Die Lintorfer Heil- und Pflegeanstalten.147 

Ministerialerlaß betreffend die Fürsorge für die Eisenbahnbediensteten . . 149 

Belehrungskarte Quensels „Tatsachen über das Bier“.151 

Crime and Drunckenness in Australia .152 


Heft IH. 

I. Originalabhandlungen. 


Stubbe, Pastor Dr. Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig- 

Holstein .153 

Die Heilstätte „Waldfrieden“.172 

Kappelmann, Stadtrat. Entwurf für ein Reichsgesetz betreffend die Für¬ 
sorge für Trunksüchtige.192 

n. Heferate. 

Boissier. Absinthvergiftung in einer abstinenten Familie auf dem Wege 

der Inhalation.220 

Von seinen Eindrücken in Gothenburg . 220 

Über die Weinernte in Frankreich im Jahre 1904 . 220 

Die Amerikanische Gesellschaft für soziale Bestrebungen.220 

Die Lösungen des Trinkproblems. 221 

Steiner-Stooß, H. Alkoholismus und Mortalität in den größeren städtischen 

Gemeinden der Schweiz.222 

Schmidt, Peter. Bibliographie.223 


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Inhaltsverzeichnis von Band II. 


V 


III. Mitteilungen. 


Alkoholismus als Todesursache in den Vereinigten Staaten.231 

Sterblichkeit an Alkoholismus in England und Wales.. 231 

Alkohol und Unfall.232 


Heft IV. 

I. Originalabhandlungen. 


Laehr, Prof. Dr. Max. Alkoholismus und Nervosität.233 

Laquer, Dr. B. Geschichtliches zur Alkoholfrage.250 

II. Mitteilungen. 

Marine und Alkohol *.265 

Der Kieler Stadtausschuß.266 

Alkoholismus unter den österreichischen Bergarbeitern.267 

Aus dem Jahresbericht der Badischen Fabrikinspektion.267 

Die wissenschaftlichen Kurse des Berliner Zentralverbandes.269 

Das preußische Abgeordnetenhaus.279 

Programm des X. Internationalen Kongresses.279 


Heft V. 

I. Originalabhandlungen. 


Daum, Dr. Adolf. Die Alkoholgegnerkongresse.281 

n. Referate. 

Kruse. Unsere Aufgaben an den Opfern des Alkohols.295 

Stubbe. Das Trinken in Schleswig-Holstein.295 

Marciuowski. Im Kampf um gesunde Nerven.295 

Laquer. Sozial-Hygienisches aus den Vereinigten Staaten.296 

Baecke. Zur Abgrenzung der forensischen Alkoholparanoia.296 

Bonne. Über den Trinkzwang beim Broterwerb.296 

Fröhlich. Alkohol als Krankheitsursache.297 

Alkoholgenuß schulpflichtiger Kinder.297 

Hartmeyer, Hans. Der Weinhandel im Gebiete der Hansa im Mittelalter 298 

Mnralt. Abstinente Naturvölker . 299 

Schröder, Paul. Über chronische Alkoholpsychosen.299 

Reinhardt, Ludwig. Im Kampfe gegen den Alkohol.300 

Lehmann. Die Industrie der alkoholfreien Getränke . 301 

Hlndhede. Die Stellung des Arztes zum Alkohol ..301 

Süll. Zur Hygiene des Trinkens in den Tropen.302 

Frlderich, Mathfins. Wider den Sauffteuffel.302 

Flade. Der Kampf gegen den Alkoholismus.302 

Haase, Georg. Ein Gläschen in Ehren!.303 

Andrae. Die Sterblichkeit in den Berufen.303 

Rosenthal, 0. Alkoholismus und Prostitution.305 

Ffirbringer. Zur Bewertung des Tremors als Zeichen des Alkoholismus . 305 
Wehmer. Praktische Erfahrungen bei Entmündigung Trunksüchtiger . . 306 

Kornfeld. Traumatische Geistesstörung.306 

Weygandt. Psychiatrische Begutachtung bei Vergehen und Verbrechen . 306 

Stegmann. Über Alkoholismus und Delikte wider die Sittlichkeit . . . 306 


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VI 


Inhaltsverzeichnis von Band II. 


Seite 

Siefert. Zur Frage der Schlaftrunkenheit.306 

Oudden. Das Bierdelirium.307 

Funk. Die Trunkenheit im Militärstraf verfahren.307 

Über den Genuß alkoholischer Getränke im schulpflichtigen Alter . . . 307 

Alkoholismus unter Schülern in Ostpreußen.308 

Ruß* Zur Frage der Bakterizidie (Bakterientötung) durch Alkohol . . . 308 

Heilbronner, Karl. Die strafrechtliche Begutachtung der Trinker . . . 308 

Daum, Adolf. Selbsttötung und Selbstbetäubung.309 

Schenk, Paul. Der „pathologische Bausch“.310 

Schmidt, Peter. Bibliographie.311 

III. Mitteilungen. 

Die Unfallstatistik für Land- und Forstwirtschaft 1901.318 

Verfügung der Regierungspräsidenten zu Potsdam und Frankfurt . . . . 321 

Der Branntwein im dänischen Heere. .322 

Getränkesteuer in Baden. 323 

Statistik der badischen Steuerdirektion.323 

Zur Branntwein- und Bierstatistik.324 

Badische Heilstätte für Alkoholkranke zu Benchen.326 

Erholungsheim für junge Mädchen.326 

Stift Isenwald Jahresbericht. 327 

Sonderausstellung zur Bekämpfung des Alkoholismus in Graz.327 

Der 3. deutsche Abstinententag.328 

Der X. internationale Kongreß gegen den Alkoholismus in Budapest . . 330 


Heft VI. 

I. Originalabhandlungen. 


Stubbe, Pastor Dr. Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig- 

Holstein .337 

n. Referate. 

Deherme. Der Alkoholismus in den Kolonien.373 

Nin Y Sylva. Celedonio. Der Alkoholismus in Uruguay.374 

von Mäday, Isidor. Die Alkoholfrage in Ungarn.374 

Dumouchel. Alkoholverbrauch in Frankreich 1904 375 

Warming. Jahrbuch für Alkoholgegner.376 

Haft. Deutsches Taschenbuch für Abstinenten.'.376 

Laureti. Zucchero e alcool.376 

Fraenkel, C. Gesundheit und Alkohol.377 

Petersen. Der Alkohol.377 

? uensel. Der Alkohol und seine Gefahren.377 

rinzing. Trunksucht und Selbstmord und deren gegenseitige Beziehungen 378 

Der Alkoholgegner.378 

Bunge. Die zunehmende Unfähigkeit der Frauen, ihre Kinder zu stillen . 378 

Bonhoeffer. Die alkoholischen Geistesstörungen.379 


III. Mitteilungen. 


Das Gast- und Schankwirtschaftsgewerbe und der Kleinhandel mit Brannt¬ 
wein und Spiritus im Herzogtum Sachsen-Meiningen.381 

Die 22. Jahresversammlung des Deutschen Vereins gegen den Mißbrauch 

geistiger Getränke.383 


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Sachverzeichnis. 


A. 

Über Alkohol als Nahrungsmittel 69. 

Der Alkoholismus 69. 

Die Alkoholfrage in der Armee 70. 

Alkohol und Volksschule 71. 

Moderne Arbeiterbewegung und Alkohol¬ 
frage 71. 

Alkohol und Kunst 72. 

Auf neuer Bahn 78. 

Ablaßgebet 83. 

Antialkohol — Blaues Kreuz — religiöser 
Wahnsinn 85. 

Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in 
Schleswig-Holstein 89. 153. 887. 

Alkoholismus und Ehescheidung 142. 

Der Alkoholismus in Italien 143. 

Alkoholismus und soziale Frage 146. 

Absinthvergiftung in einer abstinenten 
Familie auf dem Wege der Inhalation 
220 . 

Die Amerikanische Gesellschaft für so¬ 
ziale Bestrebungen 220. 

Alkoholismus und Mortalität in den grö¬ 
ßeren städt. Gemeinden der Schweiz 
222 . 

Alkoholismus als Todesursache in den 
Vereinigten Staaten 231. 

Alkohol und Unfall 232. 

Alkoholismus und Nervosität 233. 

Alkoholismus unter den österreichischen 
Bergarbeitern 267. 

Die Alkoholgegnerkongresse 281. 

Unsere Aufgaben an den Opfern des 
Alkohols 295. 

Zur Abgrenzung der forensischen Alkohol¬ 
paranoia 296. 

Alkohol als Krankheitsursache 297. 

Alkoholgenuß schulpflichtiger Kinder 297. 

Abstinente Naturvölker 299. 

Über chronische Alkoholpsychosen 299. 

Alkoholismus und Prostitution 305. 

Alkoholismus und Delikte wider die Sitt¬ 
lichkeit 306. 

Alkoholismus unter den Schülern in Ost¬ 
preußen 308. 


Der 3. deutsche Abstinententag 328. 
Der Alkoholismus in den Kolonien 373. 
Der Alkoholismus in Uruguay 374. 
Alkohol verbrauch in Frankreich 1904 
375 

Der Alkohol 377. 

Der Alkohol und seine Gefahren 377. 
Der Alkoholgegner 378. 

Die alkoholischen Geistesstörungen 379. 


B. 

Beiträge zum Alkoholkonsum der arbei¬ 
tenden Klassen 8. 

Die Bekämpfung des Alkoholismus in 
Holland 73. 

Bibliographie 74. 223. 311. 

Bernische Trinkerheilstätte „Nüchtern“ 
82. 

Beitrag zur Kenntnis der Polyneuritis 
alcoholica 145. 

Beitrag zur Erziehungshygiene 146. 

Beteiligung des englischen Adels an den 
Alkoholgewerben 146. 

Belehrungskarte Quensels „Tatsachen 
über das Bier“ 151. 

Zur Bewertung des Tremors als Zeichen 
des Alkoholismus 305. 

Das Bierdelirium 307. 

Zur Frage der Bakterizidie durch Al¬ 
kohol 308. 

Der Branntwein im dänischen Heere 822. 

Zur Branntwein- und Bierstatistik 324. 

Badische Heilstätte für Alkoholkranke zu 
Eenchen 326. 


c. 

Crime and Drunckenness in Australia 152. 


D. 

Zur Diagnostik des pathologischen Rau¬ 
sches 142. 


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VIII 


Sachverzeichnis. 


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E. 

Über den Einfluß des Alkohols auf das 
Nervensystem 67. 

Über den Einfluß der Alkoholica auf die 
sekretorische und motorische Tätigkeit 
des Magens 68. 

Über den Einfluß des Alkohols auf die 
Herzgröße 69. 

Entmündigt im deutschen Reich 86. 

Entwurf für ein Reichsgesetz betreffend 
die Fürsorge für Trunksüchtige 192. 

Von seinen Eindrücken in Gothenburg 

220 . 

Erholungsheim für junge Mädchen 826. 

G. 

Gebrauch und Mißbrauch des Alkohols 
in der Medizin 67. 

Kleine Gesundheitslehre 72. 

Der Guttemplerorden 84. 

Geschichtliches zur Alkoholfrage 250. 

Ein Gläschen in Ehren! 303. 

Über den Genuß alkoholischer Getränke 
im schulpflichtigen Alter 307. 

Getränkesteuer in Baden 323. 

Gesundheit und Alkohol 377. 

Das Gast- und Schankwirtschaftsgewerbe 
und der Kleinhandel mit Branntwein 
im Herzogtum Sachsen-Meiningen 381.! 

H. 

Zur Hygiene des Trinkens in den Tro¬ 
pen 302. 

I. 

Stift Isenwald 83, 327. 

Internationaler Kongreß gegen den Al¬ 
koholismus 84. .830. 

Die Industrie der alkoholfreien Getränke 
301. 

J. 

Zur Jahreswende 1. 

Was die Jugend vom Alkohol wissen 
soll 68. 

Jahresbericht des schleswig-holstein. Be¬ 
zirksvereins gegen den Mißbrauch g. G. 
81. 

Aus dem Jahresbericht der Badischen 
Fabrikinspektion 267. 

Jahrbuch für Alkoholgegner 376. 

Die 22. Jahresversammlung des deut¬ 
schen Vereins gegen den Mißbrauch 
geistiger Getränke 383. 


K. 

Was sind wir unsem Kanalarbeitern 
schuldig? 13. 

Kellners Weh und Wohl 72. 

Der Kieler Stadtausschuß 266. 

Im Kampf um gesunde Nerven 295. 

Im Kampf gegen den Alkohol 300. 

Im Kampf gegen den Alkoholismus 802. 

L. 

Die Lintorfer Heil- und Pflegeanstalten 
147. 

Die Lösung des Trinkproblems 221. 

M. 

Mäßigkeit, Enthaltsamkeit und Christen¬ 
tum 73. 

Der enthaltsame Märker 147. 

Ministerialerlaß betreffend die Fürsorge 
für die Eisenbahnbediensteten 149. 

Marine und Alkohol 265. 

H. 

Das Nahrungswesen 70. 

Über die nationale Bedeutung unserer 
Enthaltsamkeitsbewegung 142. 

P. 

Die Polizei im Kampf gegen den Al¬ 
kohol 88. 

Das preußische Abgeordnetenhaus 279. 

Programm des X. internationalen Kon¬ 
gresses 279. 

Praktische Erfahrungen bei Entmün¬ 
digung Trunksüchtiger 306. 

Psychiatrische Begutachtung bei Ver¬ 
gehen und Verbrechen 306. 

Der pathologische Rausch 310. 

B. 

Der Rechabit 147. 

Der Retter 147. 

S. 

Soziale Hygiene und Entartungsproblem 
69. 

Zur Säkularfeier Speners 87. 

Sterblichkeit an Alkoholismus in Eng¬ 
land und Wales 231. 

Sozial-Hygienisches aus den Vereinigten 
Staaten 296. 

Die Stellung des Arztes zum Alkohol 801. 


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Sachverzeichnis. 


IX 


Die Sterblichkeit in den Berufen 308. 

Zur Frage der Schlaftrunkenheit 306. 

Die strafrechtliche Begutachtung der 
Trinker 808. 

Selbsttötung und Selbstbetäubung 309. 

Statistik der badischen Steuerdirektion 
323. 

Sonderausstellung zur Bekämpfung des 
Alkoholismus zu Graz 327. 

T. 

Die Tatsachen über den Alkohol 69. 

Die Trunksucht und ihre Bekämpfung 
durch die Schule 71. 

Trunksucht und Temperenz in den Ver¬ 
einigten Staaten 144. 

Das Trinken in Schleswig-Holstein 295. 

Über den Trinkzwang beim Broterwerb 
296. 

Traumatische Geistesstörung 306. 

Die Trunkenheit im Militärstrafverfahren 
307. 

Deutsches Taschenbuch für Abstinenten 
376. 

Trunksucht und Selbstmord und deren 
gegenseitige Beziehungen 878. 

U. 

Die Unfallstatistik für Land- und Forst¬ 
wirtschaft 1901 818. 


Die zunehmende Unfähigkeit der Frauen, 
ihre Kinder zu stillen 878. 


V. 

Das Verhältnis von Trunksucht zu Ar¬ 
mut und Verbrechen in den Vereinig¬ 
ten Staaten 114. 

Verfügung des Regierungspräsidenten zu 
Potsdam und Frankfurt 321. 


W. 

Wir und das Alkoholkapitel 73. 

Was erhoffen wir von unserer Armee 

122 . 

Die Heilstätte „Waldfrieden“ 172. 

Über die Weinernte in Frankreich im 
Jahre 1904 220. 

Die wissenschaftlichen Kurse des Zen¬ 
tralverbandes 269. 

Der Weinhandel im Gebiete der Hansa 
im Mittelalter 298. 

Wider den Sauffteuffel 302. 


Z. 

Zentralverband zur Bekämpfung des Al¬ 
koholismus in Berlin 87. 

Zucchero e alcool 376. 


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A. 

Ahlen, van 145. 
Andrae 303. 


B. 


Behrens 72. 
Bickel 69. 
Boissier 220. 
ßonhoeffer 379. 
Bonne 73. 296. 
Brandeis 146. 
Bunge 378. 


D. 

Damaschke 71. 
Daum 281. 309. 
Deherme 373. 
Dumouchel 375. 


P. 

Flade 122, 302. 
Fraenkel 377. 
Freund 70. 
Fröhlich 297. 
Friderich 302. 
Funk 307. 
Fürbringer 305. 

G. 

Goddard 69. 
Grotjahn 69. 
Gudden 307. 

H. 

Haase 303. 

Haft 376. 


Namenverzeichnis. 


I Hartmeyer 298. 

I Heilbronner 808. 

I Hindhede 301. 

Hoppe 69. 

i 

K 

Kappelmann 192. 

Keferstein 71. 

Kornfeld 306. 

Kruse 296. 

Külz 302. 

Kutner 142. 

Küßner 13. 

L. 

Laehr 238. 

Laquer 114. 144. 250. 296. 
Laureti 376. 

Lehmann 301. 


M. 

Mäday, von 374. 
Marcinowski 295. 
Marcuse 8. 72. 
Merth 71. 

Meyer 68. 
Mombert 70. 
Muralt 299. 

O. 

Orel 146. 

P. 

Petersen 877. 
Popert 78. 
Prinzing 378. 


Q. 

Quensel 377. 


B. 

Raecke 296. 
Reinhardt 800. 
Rochat 143. 

I Rosenthal 305. 
I Rösler 142. 
Ruß 308. 


S. 

Schenk 67. 310. 

Schmidt, H. F. 72. 
Schmidt, P. 74. 223. 311. 
Schröder 299. 

Siefert 306. 

Steger 68. 

Stegmann 306. 
Steiner-Stooß 222. 
Stellmacher ,78. 

Straßmann 142. 

Stubbe 89. 153. 295. 337. 
Sylva 374. 


W. 

Waldschmidt 1. 
Warming 376. 
Wehmer 806. 
Weygandt 306. 


Z. 

Ziehen 67. 


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Original frum 

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Der Alkoholismus 

Zeitschrift zur wissenschaftlichen Erörterung der Alkoholfrage 
1905 Neue Folge — Band II No. 1 


L Originalabhandlnngen. 


Zur Jahreswende. 

Faßt man die Alkoholfrage vom Standpunkte des Sozialpolitikers 
ins Auge, so wird man sich nicht verhehlen können, daß alles Werben 
um Gunst für Einzelbestrebungen keinen oder doch nur geringen 
Wert für die Hebung der gesamten Volkswohlfahrt hat. Demnach 
darf in den Reihen der Kämpfer auf dem Gebiete des Alkoholismus 
nicht verkannt werden, daß ihr Mühen nur ein einseitiges genannt 
werden muß, um das Volksglück zu erhöhen, sofern sie die mannig¬ 
fachen Nebenumstände außer acht lassen. Die Heranziehung aller 
Faktoren kann hier nur dauernd förderlich wirken. Mit vereinten 
Kräften heißt die Losung: nicht einseitig vorgehen, sondern sich 
zu einem gemeinsamen Ganzen gruppieren unter einheitlicher Füh¬ 
rung — dies der Leitstern für die Lösung dessen, was wir soziale 
Frage nennen. 

Wenn wir uns in einem gewissen Humanitätsdusel, wie dies 
schöne Wort lautet, uni ausdrücken zu wollen, daß wir gewillt sind, 
die Schädigungen zu heben oder doch wenigstens zu lindem, welche 
an dem Innern der Volksseele zehren, befinden, so hat das gewiß 
seinen guten Grund. Wir sind fortlaufend gewissen Wellenbe¬ 
wegungen unterworfen; „alles schon mal dagewesen“, heißt es im 
Volksmunde, und es ist nicht zu leugnen, daß wir uns mal wieder 
zur Zeit auf dem Gipfel einer solchen — sozialen — Welle befinden, 
die nach dem künstlichen Anstieg sicherlich demnächst ihren Abfall 
als recht natürliche Reaktion aufzuweisen haben wird. So war es 
von jeher, so ist es zur heutigen Zeit, und so wird es ewig 
bleiben. — Man braucht nun wahrlich nicht lange nach einem 
kausalen Zusammenhänge der Einzelwirkungen unter sich zu suchen, 
wenn man die Erschütterung der Volkskraft und das Umsichgreifen 
der Alkoholseuche erblickt. Sie bildet unbedingt ein Glied in der 
Kette dessen, was wir zur Vernichtung der Volksgesundheit, mithin 
des Volksglücks gehörig ansehen — ein Glied, dessen Bedeutung 
noch viel zu wenig gewürdigt wird. Man hat genügend dargetan 

Der Alkoholismus. 1905. i 


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2 


Zur Jahreswende. 


und durch die Wissenschaft, die nebenbei gar häufig recht un¬ 
wissenschaftlich ausgebeutet wird, erhärtet, daß der Alkohol als 
solcher Schädigungen zu veranlassen im stände ist, die Glück und 
Zufriedenheit, Ruhe und Ordnung zerstören, und angesichts des viel¬ 
fach dadurch hervorgerufenen Elends kann es nicht wundemehmen, 
daß diejenigen, welche zur Linderung der Not ihre beste Kraft ein¬ 
zusetzen bereit, auf Unverständnis, Hohn und Spott ihrer Mitmenschen 
stoßend, ihre Arbeit zu einem Kampf, ihre Erfolge zu einem Triumpf 
werden lassen. Es muß anerkannt werden, daß zur Erreichung eines 
jeden großen Zieles ein gewisser Fanatismus gehört, daß ein Sieg 
nur dem Kämpfer gebührt, welcher mit Ausdauer und Kraft und 
einem guten Stück Heroismus sein Ziel verfolgt, der sich immer 
wieder zu seinem eigenen Yorgehen begeistert, mit dieser und durch 
diese Selbstbegeisterung seinem Ziele zustrebt. Der dazu gehörige 
Idealismus aber fehlt gar häufig in dieser nüchternen Alltagswelt; 
wir befinden uns in einer zu kritischen Weltanschauung, als daß 
wir in der Erkennung dessen, was uns umgibt, etwa das erblicken 
könnten, was uns durch optimistische Anwandlungen gar zu gern 
suggeriert wird. Nimmermehr wird der Optimismus die Welt er¬ 
obern, ebensowenig ist sein Antipode imstande den Sieg zu er¬ 
ringen; der Wert liegt auch hier in der Mitte, er wird nach 
Abflachung jener beiden Pole, welche durch immerwährendes Auf¬ 
einanderplatzen allmählich ihre Spitzen verlieren, die Macht erlangen, 
welche allein befähigt, die Weltordnung zu schützen und zu befestigen 
und zwar unter Zusammenfassung und Benutzung aller Kräfte! 

Wenn nach dieser Richtung auf dem großen Gebiete der 
sozialen Fürsorge das verflossene Jahr einen Schritt vorwärts getan 
hat, so darf dafür in erster Reihe der im preußischen Abgeordneten¬ 
haus vom Grafen Douglas eingebrachte Antrag auf Einsetzung 
einer Landeskommission für Yolkswohlfahrt, welcher das hohe 
Haus am 24. November eingehend beschäftigte, angesprochen werden. 
In der ausführlichen Begründung wird vom Antragsteller vor allem 
auf die Zersplitterung der Kräfte nach der materiellen, wie ideellen 
Seite hingewiesen, sowie die Forderung gestellt, eine organische Ver¬ 
bindung unter den Einzelbestrebungen, die sich im Interesse der 
Volksgesundheit ungemein ausgedehnt haben, zu schaffen, welche 
den Mittelpunkt, die Sammelstelle für die Sonderinteressen bildet. 
„Ja, mehr und mehr erkennt unser Volk seine wahren Freunde, die, 
fern von Phrasen und Utopien, nur praktisch Durchführbares er¬ 
streben, den Worten fürsorglicher Liebe aber alsdann auch die Taten 


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folgen lassen. In solchen Anregungen haben wir, die wir hier aus¬ 
schließlich den staatserhaltenden Parteien angehören, stets unsere 
höchsten Aufgaben erblickt und fanden bei der Königlichen Staats¬ 
regierung stets volles Verständnis und tatkräftige Unterstützung. Die 
Annahme und spätere Durchführung unseres Antrages aber, der die 
gesamte Volkswohlfahrt einschließt, muß wie überall segenbringend, 
so auch wahrhaft aufklärend und versöhnend wirken.“ Diesen im 
Sinne der Genfer Konvention vom Roten Kreuz gesprochenen Worten 
des Grafen Douglas wird man nur seine Zustimmung geben können 
und zwar aus folgenden Gründen. Mit unerwarteter Schnelligkeit 
hat sich das Interesse für die Lungenheilstätten-Bewegung Bahn ge¬ 
brochen, was wohl auf den Umstand zurückzuführen ist, daß sich 
dieser Fürsorge Männer annahmen, welche mit Geschick und Um¬ 
sicht den Schädigungen, welche die Tuberkulose im Volk verbreitet, 
durch praktische Maßnahmen zu begegnen suchten, indem sie Heil¬ 
stätten ins Leben riefen. Und da die diesbezüglichen Erkrankungen 
mit ihren schädlichen Einflüssen unschwer erkennbar, für jeder¬ 
mann offensichtlich sind, hatte man im Verhältnis leichtes Spiel, 
um breitere Volksmassen und die Behörden für diesbezügliche Be¬ 
strebungen zu gewinnen. Immerhin was will die (einseitige) Be¬ 
kämpfung der Tuberkulose bedeuten, wenn man die sie unter¬ 
stützenden und erzeugenden Faktoren außer acht läßt! Wiederholt 
ist darauf hingewiesen worden, daß das Leiden nur dann als dauernd 
getilgt angesehen werden darf, wenn seine mittelbaren und unmittel¬ 
baren Förderer beseitigt werden. Man hat auf der einen Seite auf 
die Wohnungsfrage verwiesen, auf der andern dabei an die Be¬ 
kämpfung des Alkoholismus gedacht; es sind aber ebensogut wie 
die Körperpflege und das Gemütsleben alle destruktiven Elemente 
im Lebenshaushalte zu berücksichtigen, will man Dauererfolge 
erzielen. Und weiter, was will das heißen, wenn man die Säug¬ 
lingssterblichkeit durch Palliativmittel wie bessere Ernährung, durch 
Zuführung guter Milch u. s. w. zu vermindern sich bestrebt, dabei 
aber ganz unberücksichtigt läßt, daß der Säugling auch einen Vater 
und eine Mutter gehabt hat, deren soziales Milieu schwer auf dem 
Erzeugnis lastet. Bekanntlich ist die Sterblichkeitsziffer der unehe¬ 
lichen Kinder eine ungleich höhere als die der ehelichen; und das 
ist wahrlich nicht wunderbar. Man stelle sich mal vor, unter welchen 
Umständen solche Wesen erzeugt werden, unter welchen Verhält¬ 
nissen diese Früchte sich entwickeln, und wie sie schließlich ausge¬ 
tragen und zur Welt gebracht werden. Ist es ein Wunder zu nennen, 

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daß diese Erzeugnisse, denen der Fluch der Mutter von Anfang an 
nicht gefehlt hat, welche in ihrer fötalen Entwicklung dank dem 
Lebenswandel der Mutter schwer zu leiden gehabt haben, als Lebe¬ 
wesen zur Welt gebracht werden, denen der Stempel des Todes von 
vornherein anfgedrückt ist?! 

Und fragen wir uns weiter: ist es denn gleichgültig, welche 
alkoholischen Einflüsse bei der Erzeugung mitgewirkt haben, wie 
sich das Leben der Schwangeren in dieser Beziehung gestaltet hat? 
— Graf Douglas gibt in seiner Rede an, daß Deutschland nächst 
Rußland die größte Zahl der Sterblichkeit unter den Säuglingen in 
Europa erreicht habe, daß Schweden früher uns hierin gleich ge¬ 
standen, aber durch Belehrung, Bekämpfung des Alkoholismus eine 
Herabdrückung der hohen Mortalitätsziffer auf die Hälfte erzielt 
habe. Es kann unbedenklich der Satz aufgestellt werden: keine 
durchgreifenden Maßnahmen gegenüber der Säuglingssterblichkeit 
ohne Bekämpfung des Alkoholismus! 

Ganz und gar deplaciert ist die von gewisser Seite so gern 
hinausposaunte Behauptung, daß die armen Frauen ihre Kinder 
nicht richtig zu ernähren vermögen, daß Armut und Not die Säug¬ 
lingssterblichkeit bedinge, da die Mutter durch ihre schwache soziale 
Lage zum Erwerb gezwungen, ihre Säuglinge deshalb vernachlässigen 
müßten. Gewiß kann die Möglichkeit nicht bestritten werden, 
indes in sehr vielen Fällen ist die wirtschaftliche Not dem Alkohol 
zu verdanken. Daß der Mann von dem Wochenlohn nur die Hälfte 
mit nach Hause bringt, ist nicht außergewöhnlich, daß die Frau als¬ 
dann zuverdienen muß, um die Familie zu erhalten, ist einleuchtend. 
Es ist auch durchaus nicht selten, daß in der Familie der Ver¬ 
gnügungsteufel eine nicht unerhebliche Rolle spielt, und daß vom 
Sparen nur höchst selten die Rede ist; dann sind die Mittel zur Ernäh¬ 
rung beim Anwachsen der Familienmitglieder ungenügend. Und da 
scheint es mir nur ein Radikalmittel zu geben: Stärkung des Familien¬ 
lebens, Förderung der Häuslichkeit! Jede, durch den Alkohol so 
leicht bedingte, Lockerung der Familienbande wirkt zerstörend und 
vernichtend ein, sie vermindert das Verantwortlichkeitsgefühl bei 
dem Einzelindividuum, schwächt seine sittliche und gesundheitliche 
Kraft „Die Erhaltung deutschen Familienlebens“, meinte in der 
Diskussion zu obigem Anträge Pastor von Bodelschwingh, sei der 
erste Punkt, auf den die einzusetzende Landeskommission für Volks¬ 
wohlfahrt ihr Augenmerk zu richten habe. Dazu seien die nötigen 
Bildungsanstalten, wie Haushaltungs- und Kochschulen, damit die 


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Frau auch ihren Haushalt zu führen verstehe, zu beschaffen. Der 
konzentrische Kampf solle sich in erster Linie auf den Alkohol be¬ 
ziehen, Staat und Gemeinde, Kirche und Schule, Ärzte und Vereine 
sollen hier mithelfen zu gemeinsamem Tun. Indes nicht nur dieser 
Mann, der auf dem Gebiet der Liebestätigkeit einzig dasteht, unter¬ 
stützte auf das lebhafteste den Antrag Graf Douglas, sondern 
auch keiner der andern Redner, und hierzu hatten alle Fraktionen 
des Hauses ihre Vertreter entsendet, widersprach demselben. So 
äußerte sich Herr von Schenkendorff dahin, daß er und seine 
Freunde alles das zu unterstützen bereit seien, was den Mißbrauch 
geistiger Getränke bekämpfe. „Bei der sozialen Strömung der Zeit 
hat sich aber die Volkswohlfahrtsfrage bereits zu einem hochwich¬ 
tigen Faktor des öffentlichen Lebens entwickelt, und es wäre als 
eine Anpassung an diese zweifellos segensreiche Strömung des Volks¬ 
lebens zu betrachten, wenn für diese Zwecke aus der Mitte der 
Landesvertretung eine solche Volkswohlfahrtskommission gebildet 
würde, und ich lasse von hier den Ruf ertönen, meine Herren, nicht 
nur im preußischen, sondern auch in jedem andern deutschen Parla¬ 
ment, überall möge eine solche Kommission eingesetzt werden.“ — 
Das ist nebenbei dasselbe, was der Deutsche Verein gegen den Mi߬ 
brauch in Erfurt zum Ausdruck gebracht hat. — Dr. Ruegenberg 
begrüßt den „fruchtbaren Gedanken“ des Antragstellers lebhaft 
dessen Verwirklichung bedeutungsvoll sei, vorbeugende Maßnah¬ 
men für die Volksgesundheit zu treffen; dies sei viel verdienst¬ 
voller als die verlorene Gesundheit, und zwar oft nur notdürftig, 
wiederherzustellen. „Was die Zentralstelle für Arbeiterwohlfahrts¬ 
einrichtungen für die Ministerien des Handels und der öffentlichen 
Arbeiten, was der Beirat der Arbeiterstatistik für das reichsstatistische 
Amt, was der Reichsgesundheitsrat für das Reichsgesundheitsamt, 
was die wissenschaftliche Deputation für das Medizinalministerium 
ist, das soll die zu errichtende Landeskommission für Volkswohl- 
fahrt für die ganze Regierung, für alle ihre Ressorts werden, und 
umgekehrt soll die Regierung in oder durch diese Kommission in 
die Lage kommen, den zahlreichen Einzelbestrebungen die nötige 
Einheit, Ziel und Stütze zu geben.“ Der Abgeordnete Goldschmidt 
ist gleichfalls für die Kommission, die, wenn richtig zusammenge¬ 
setzt, sicherlich mit Erfolg werde arbeiten können. Er mahnt zur 
Vorsicht bezüglich der Alkoholfrage, man dürfe in dieser Beziehung 
nicht zu weit gehen, sondern müsse sich auf die Bekämpfung des 
Alkohol miß br au chs beschränken; hiergegen würde sich kein ge- 


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Zur Jahreswende. 


bildeter Mensch auf der ganzen Welt sträuben. Durch Polizeima߬ 
nahmen sei hier aber nichts zu machen, das Volk sei aufzuklären, 
zu erziehen, denn auf je höherer Bildungsstufe das Individuum 
stehe, um so weniger sei es nach dieser Richtung gefährdet; es sei 
aber auch auf Erreichung billiger und gesunder Nahrungsmittel 
Wert zu legen; den Ursachen der Säuglingssterblichkeit sei durch 
die Landeskommission nachzuspüren und sie mit allen Mitteln zu 
bekämpfen — alles Aufgaben, derer sich die Landeskommission zu 
bemächtigen habe. Nachdem noch die Abgeordneten Münsterberg, 
Heckenroth und Prof. Dr. Faßbender ihre Sympathiekund¬ 
gebungen zu dem Anträge bezeugt hatten, wurde derselbe zur Durch¬ 
beratung an eine Kommission von 21 Mitgliedern verwiesen. Diese 
Kommission hat in ihrer ersten Lesung bereits getagt und einmütig 
beschlossen, im Plenum der Königl. Staatsregierung zu empfehlen, 
einen „Landesausschuß für Volkswohlfahrt“ einzusetzen. Über den 
Verlauf der Dinge, welche für die Förderung unserer Wohlfahrts¬ 
bestrebungen von der größten Bedeutung sind, werden wir weiter 
zu berichten Gelegenheit haben. 1 ) 


*) Nach Drucklegung dieser Zeilen ist folgende Resolution von der Kommission 
einstimmig angenommen: 

„Das Haus der Abgeordneten wolle beschließen, die Königl. Staatsregierung zu 
ersuchen, möglichst bald als behördliche Einrichtung zur Förderung der Volks Wohl¬ 
fahrt in Stadt und Land ein Volkswohlfahrtsamt zu schaffen, behufs aus¬ 
giebiger Mitwirkung des Laienelements ihm einen ständigen Beirat anzugliedem 
und die hierher erforderlichen Mittel im Staatshaushalt bereitzustellen. Das Volks¬ 
wohlfahrtsamt soll unmittelbar dem Staatsministerium unterstellt werden, die Er¬ 
nennung des Vorsitzenden und der Mitglieder durch den König erfolgen. Es soll 
ihm insbesondere obliegen: 1. die Entwicklung der Volkswohlfahrtspflege im In- 
und Auslande zu verfolgen und darüber der Staatsregierung fortlaufend Bericht 
zu erstatten; 2. Wahrnehmungen, die ein Eingreifen oder eine Abänderung der 
Gesetzgebung erforderlich erscheinen lassen, der Staatsregierung mitzuteilen; 3. auf 
Anordnung der Staatsregierung Gutachten zu erstatten, Vorschläge auszuarbeiten 
und bei der Vorbereitung von Gesetzentwürfen und Verwaltungsanordnnngen mit¬ 
zuwirken; 4. auf Anordnung der Staatsregierung bei größeren Unglücksfällen oder 
Notständen die freiwillige Hilfstätigkeit einheitlich zu leiten. 

Bei der Berufung in den ständigen Beirat sollen die privaten Volks¬ 
wohlfahrtsorganisationen und die beiden Häuser des Landtags besonders berück¬ 
sichtigt werden. Der Beirat soll jährlich mindestens einmal einberufen werden, 
um den Geschäftsbericht des Volkswohlfahrtsamts entgegenzunehmen und sich 
über ihn zu äußern. Er soll einzelne Fragen der Volkswohlfahrtspflege beraten 
und begutachten, wenn dies von der Staatsregierung angeordnet oder von einem 
Viertel der Mitglieder beantragt wird, und soll befugt sein, selbständig Anträge 
an die Staatsregierung zu stellen. Den Sitzungen des Beirats sollen Beauftragte 


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Kommt dieses Amt zu stände, und wie es scheint unter¬ 
liegt dies keinem Zweifel mehr, so werden wir das verflossene Jahr 
als ein besonders günstiges für die Förderung auch unserer Be¬ 
strebungen preisen dürfen; wir werden mit Freuden dem neuen 
Jahresabschnitt entgegengehen, sicher, daß auch für die so wichtige 
Alkoholfrage neue Bahnen frei, neue Erfolge erzielt werden. Sicher¬ 
lich haben wir keine Ursache nach dieser Richtung dem alten Jahre 
undankbar den Abschied zu geben, es läßt sich vielmehr behaupten, 
daß auch in diesem Zeitabschnitt manches erreicht worden ist: auf 
der gesamten Linie ist man weiter vorgerückt! 

Es kann und soll uns im Interesse des Ganzen nicht darauf 
ankommen, welche von den beiden Strömungen, die die Alkohol¬ 
frage zu beherrschen sich bemühen, den größten Erfolg aufzuweisen 
hat; wir kennen nur die Alkoholfrage als solche, es liegt uns fern, 
dieselbe unter dem Gesichtswinkel der Mäßigkeit oder der Enthalt¬ 
samkeit zu beleuchten, wir halten es im Gesamtinteresse für durch¬ 
aus verfehlt, diese beiden „Parteien“ gegeneinander auszuspielen, 
so wenig dieser Antagonismus selbst aus der Welt zu bringen sein 
wird, und so wenig wir der Bekämpfung des Alkoholismus einen 
sektenhafien Charakter beizulegen geneigt sind. Die Wellen, welche 
im Jahre 1903 an der Weser Strande auf dem internationalen 
Kongresse etwas sehr hoch gingen, haben sich erfreulicherweise 
wieder geglättet, hin und wieder tauchen kleine Schaumkrönchen 
auf, indes sie sind nicht im stände, das Schiff „Alkoholfrage“ 
ins Schwanken zu bringen oder ernsthaft zu gefährden; sie be¬ 
wirken höchstens, daß besonders die verantwortlichen Leiter mehr 
auf dem Posten sind; mag sich währenddessen die Mannschaft 
von ihren Führern erzählen lassen wie sie abstinent geworden, oder 
mag man sich in die einzelnen Maschen der sozialen Frage als 
solcher vertiefen und hierbei die Knotenpunkte der Alkoholfrage 
zu lösen sich bestreben — uns soll’s recht sein in dem sicheren 
Bewußtsein, daß nach jedem hohen Seegang Beruhigung eintritt, 
der die Steuerung des Schiffchens in den sicheren Hafen gestattet. 
Wenn nun in dem neuen Jahre unser Fahrzeug sich der großen 
Flottille „Volkswohlfahrt“ anzuschließen vermag und unter sach¬ 
kundiger Führung als eins der ersten Schutz und Schirm für 
die Gefährdung eines gesunden Volkslebens bietet, so wird die 

der Staatsregierung mit beratender Stimme beiwohnen dürfen. Im übrigen soll 
der Geschäftsgang des Amtes und des Beirates durch eine Verordnung des Staats- 
ministeriums geregelt werden.“ 


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Dr. Marcuse. 


Alkoholfrage in den Reihen derer erscheinen, die in ihrer Gesamt¬ 
wirkung den Feind „Volksseuchen“ zu schlagen im stände sind. 

Zu solcher Mitarbeit entbieten wir allen Freunden und För¬ 
derern ein freundliches Willkommen! Dr. Waldschmidt 


Beiträge zum Alkoholkonsum der arbeitenden Klassen. 

Von 

Dr. Marcuse-Mannheim. . 

Der enge Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Tiefstellung 
und Alkoholismus ist eine durch Beobachtung und Erfahrung längst 
erwiesene Tatsache, und man wäre fast versucht, von einem arith¬ 
metischen Verhältnis zwischen diesen beiden sozialen Erscheinungen 
zu sprechen. Alkoholismus als Zustand einer chronischen Alkohol¬ 
vergiftung im extremen Grade fordert aber, so betrübend dieses 
Phänomen innerhalb unserer modernen Gesellschaft auch sein mag, 
weniger die Aufmerksamkeit heraus, als der in gewohnheitsmäßigem 
Konsum kleinerer Mengen gipfelnde Hang, wie es nicht der Aus¬ 
druck familiärer Belastung oder alkoholischer Entartung, als viel¬ 
mehr eine allgemein verbreitete Sitte und Lebensäußerung ist. Jedes 
körperlich schwer arbeitende Individuum verlangt gemäß ererbter 
und anerzogener Anschauungen ein bestimmtes tägliches Quantum 
Alkohol, welches unentbehrlich erscheint für die zu vollführenden 
manuellen Arbeiten, und alle diese Tausende von Handarbeitern, 
die, ohne ihre Abende im Wirtshaus zu verbringen, zu den Mahl¬ 
zeiten und zwischen denselben Branntwein, Bier oder Wein zu sich 
nehmen, werden jederzeit ihre Einreihung in die Kategorie der 
„Trinker“ als Übertreibung und falsche Auslegung energisch zurück¬ 
weisen. Sie betrachten eben im Alkohol eine gewisse Kraftquelle, die 
ihnen die Arbeitsleistung ermöglicht, sie nehmen ihn als Nahrungs¬ 
stoff mit oder ohne andere Nahrungsstoffe zu sich, in vielen Fällen 
ziehen sie ihn zum direkten Ersatz dieser letzteren heran, damit 
steigt die Gefahr der Unterernährung, die an sich in unseren arbei¬ 
tenden Klassen in bedenklichem Maße vorhanden ist, und es resul¬ 
tieren hieraus gesundheitliche Mißstände mannigfachster Art. Ein 


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Beiträge zum Alkoholkonsum der arbeitenden Klassen. 


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Übel läßt sich aber so lange nicht bekämpfen, als nicht vollste Klar¬ 
heit über Wurzeln, Ausbreitung und Zusammenhang mit anderen 
ursächlichen Momenten geschaffen ist, und daher das Bestreben seit 
langem, die Rolle des Alkohols im Arbeiterbudget kennen zu lernen. 
Die mannigfachen, hierüber besonders in England, Amerika und 
anderen Ländern erschienenen Untersuchungen an dieser Stelle auf¬ 
zuführen, würde zu weit führen, ich beschränke mich darauf, vor 
allem auf die klassischen Arbeiten Wörishoffers zu verweisen, der 
in seinen wirtschaftlichen Enqueten über die Lage der arbeitenden 
Klassen in Baden diesem Mißstand seine besondere Aufmerksamkeit 
schenkte. Durch ihn erhalten wir eine ziffermäßig bestimmte Vor¬ 
stellung über die Höhe der Summen, welche von Cigarren- und 
Fabrikarbeitern für geistige Getränke ausgegeben werden und damit 
ein exaktes Bild von der Anteilnahme des Alkohols an der Nahrungs¬ 
aufnahme bestimmter Bevölkerungsklassen. Nach Wörishoffer 
kommt es vor, daß Cigarrenarbeiter bei einem Aufwand von 450 Mk. 
für den Haushalt im Jahre 104 Mk. für Bier und nur 40 Mk. für 
Fleisch verbrauchen. Fast durchgehend erscheint die Ausgabe für 
Bier und Branntwein noch einmal so groß, als die für Fleisch, im 
günstigsten Falle bilden erstere 10°/ 0 des gesamten Aufwandes. 
Ähnliche Enqueten hat für Böhmen Prof. Singer gemacht und 
überall war ersichtlich, daß die relativ hohen Ausgaben für Alkohol 
die Ursache einer ungenügenden Zufuhr wirklicher Nahrungsmittel 
waren. 

Im Wörish off ersehen Geiste und den Spuren dieses sozial emp¬ 
findenden Mannes folgend, hat nun in allerjüngster Zeit der badische 
Fabrikinspektor Dr. Fuchs, dem wir ja eine Reihe von vorzüglichen 
sozialpolitischen Arbeiten bereits verdanken, eine Enquete über die 
Verhältnisse der Industriearbeiter in 17 Landgemeinden bei Karls¬ 
ruhe veranstaltet und bei der Verarbeitung eines außerordentlich 
reichen Materials auch der Ernährungsverhältnisse und des Alko¬ 
hols eingehend gedacht. Und die Fuchssche Publikation erweist 
sich somit als eine wertvolle Ergänzung der oben erwähnten 
Arbeiten und insofern als eine ganz neue Quelle der Forschung, 
als sie sich mit dem ländlichen Arbeiter und seiner sozialen 
Lage ausschließlich beschäftigt. Das hierbei erforschte Material 
ist so instruktiv, daß wir die einzelnen Abschnitte, in denen 
sich der Verfasser mit der Alkoholfrage und dem Alkoholkonsum 
der in Frage stehenden Bevölkerungsschichten beschäftigt, in ex¬ 
tenso an dieser Stelle wiedergeben wollen. Fuchs berichtet 


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Dr. Marcuse. 


also 1 ): „Solange noch in den weitesten Kreisen unseres Volkes der 
fast unausrottbare Irrglaube an die Nährkraft der geistigen Getränke 
besteht, wird sich die Übung erhalten, zu den Zwischenmahlzeiten 
geistige Getränke zu genießen. Wie eine Durchsicht der beschrie¬ 
benen Arbeiterhaushalte ergibt, genießen die männlichen Arbeiter 
fast ausnahmslos am Vor- oder Nachmittag Bier oder Wein; die 
Menge schwankt zwischen x / 4 und 1 Liter Bier oder x / 4 und x / 2 Liter 
leichtem Wein. Das Flaschenbier ist am beliebtesten; es wird aus 
zahlreichen Kleinhandlungen nach Belieben auf Kredit abgegeben, 
es wird an die Fabrikeingänge gebracht, woselbst die leeren Flaschen 
wieder abgeholt werden. Der Wein ist entweder aus Obst gekeltert 
oder leichter Pfälzer Traubenwein. Es ist kein Zweifel, daß die 
regelmäßig genossenen Mengen der geistigen Getränke die Leistungs¬ 
fähigkeit der Arbeiter beeinträchtigen, daß sie nachteilige Wirkungen 
auf lebenswichtige Organe ausüben. Aus vielen Äußerungen von 
Arbeitern geht zur Genüge hervor, daß sie über das Wesen und 
die Wirkungen der geistigen Getränke noch nicht im mindesten 
unterrichtet sind; manche bedauern, nicht wie andere in der Lage 
zu sein, sich reichlichen Biergenuß zu gestatten, andere glauben 
nur durch Biergenuß zur Leistung der ihnen obliegenden schweren 
Arbeit befähigt zu sein. Manche verzichten und zwar in der Regel 
aus wirtschaftlichen Gründen auf den täglichen Genuß geistiger 
Getränke, die sie durch mitgenommenen Kaffee oder Milch ersetzen; 
dahin gehören wenige Männer, dagegen die Mehrzahl -der Ar¬ 
beiterinnen; sie beschränken den Biergenuß gewöhnlich auf die 
Zwischenmahlzeit am Nachmittag, halten ihn dann auch in mäßigeren 
Grenzen ( x / 4 bis 4 / 10 Liter). Im Gegensatz dazu dehnen unver¬ 
heiratete männliche Arbeiter, wenn sie sich einmal dem Einfluß der 
Eltern entzogen haben, den Bierkonsum für eine Zwischenzeit auf 
2 Flaschen aus. Da 1 Flasche durchschnittlich mit 18 Pfennig zu 
bezahlen ist, kann leicht ermessen werden, von welch ungünstiger 
wirtschaftlicher Wirkung die Ausgaben für die Zwischenmahlzeiten 
sind. Das Brot wird meist von Hause mitgenommen, die Zuspeisen 
(Wurst, Käse, Eier) werden meist gekauft. Eine der üblichen Zwischen¬ 
mahlzeiten kostet 30 bis 40 Pfennige. Im Vergleich zu ihrem Nähr¬ 
wert ist dies dank des Kostenanteils für geistige Getränke ein viel 

*) Die Verhältnisse der Industriearbeiter in 17 Landgemeinden bei Karls¬ 
ruhe. Bericht erstattet an das Großherzogliche Ministerium des Innern und 
herausgegeben von der Großherzoglich Badischen Fabrikinspektion, Karlsruhe 1904. 
Verlag der C. Braunschen Hofbuchdruckerei. 272 S. 


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Beiträge zuin Alkoholkonsum der arbeitenden Klassen. 


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zu hoher Preis. Da eine Beseitigung der Zwischenmahlzeiten selbst 
bei einer weiteren mäßigen Verkürzung der Arbeitszeit den vom 
Lande kommenden Arbeitern nicht leicht angesonnen werden kann, 
so besteht vorläufig wenig Aussicht auf eine im gesundheitlichen 
und wirtschaftlichen Interesse wünschenswerte Einschränkung des 
Alkoholkonsums während der Arbeitsschicht. Denn es dürfte noch 
lange dauern, bis einmal die Einsicht in das Wesen der geistigen 
Oetränke in die Bevölkerung eingegangen ist, so daß ihr Wille des 
Entschlusses der Entsagung fähig wird“. (Seite 119 und ff.) Nach¬ 
dem Verfasser dann noch die Mittagsmahlzeit der Arbeiter und ihrer 
'F ami lien skizziert und festgestellt, daß die Mehrzahl der erwachsenen 
männlichen Arbeiter den Wirtshaustisch mit seiner Beigabe von 
1 bis 2 Glas Bier gemeinnützigen Speiseanstalten vorzieht, während 
dagegen die Land- und Hauswirtschaft besorgenden Familienmit¬ 
glieder der geistigen Getränke beim Mittagsessen entraten, gibt er 
eine physiologische Bilanz der Ernährung, sowie eine Zusammen¬ 
stellung der Haushaltungskosten der einzelnen Arbeiterfamilien. Der 
Beköstigungstag der Erwachsenen stellt sich darnach auf 68 Pf. und 
schwankt zwischen 44 und 95 Pf. „Im allgemeinen entsprechen die 
Haushaltungskosten der Qualität der Ernährung. Da sie aber von 
der Höhe der Ausgaben für geistige Getränke stark beeinflußt sind, 
so ist trotz hoher Haushaltungskosten nicht immer auch eine ge¬ 
nügende Ernährung der Familie oder einzelner Familienmitglieder 
sichergestellt. So betragen die Kosten in einer Familie z. B. pro 
erwachsene Person und Tag 92 Pf., trotzdem ist die Ernährung 
mangelhaft (83 g Eiweiß, 63 g Fett, 408 g Kohlehydrate). Der Um¬ 
stand, daß bei einer Lackierersfamilie von 7 Köpfen in 1856 Mk. 
Gesamthaushaltungskosten 805 Mk. für geistige Getränke enthalten 
sind, bietet eine hinreichende Erklärung. Ganz allgemein muß fest¬ 
gestellt werden, daß die Ausgaben für geistige Getränke weitaus zu 
hoch sind. Im Durchschnitt werden unter Einrechnung des Wertes 
des eigenen Obstweinerzeugnisses 219 Mk. pro Familie ausgegeben, 
während die Gesamtkosten der Haushaltung (Nahrungs- und Genu߬ 
mittel) 1021 im Durchschnitt betragen. Die Sonntagsausgaben sind 
ebenfalls größtenteils Ausgaben für geistige Getränke, sie sind in 
obiger Summe nicht enthalten. Demnach beträgt die Ausgabe für 
geistige Getränke 21,5% mehr als 1 j 5 der Haushaltungskosten. Den 
Hauptanteil bildet das Bier mit 147 Mk., dann folgt der Wein, teils 
Obstwein, teils leichter Traubenwein oder Kunstwein mit 65 Mk., 
in letzter Linie Branntwein mit 7 Mk. In einer ganzen Reihe von 


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12 Dr. Marcuse. Beiträge zum Alkoholkonsum der arbeitenden Klassen. 


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Familien könnte die ungenügende oder mangelhafte Ernährung durch 
Verwendung des für geistige Getränke ausgegebenen zum Ankauf 
von Nahrungsmitteln in eine genügende Familienernährung verwan¬ 
delt werden“. Aus einer Reihe von Rundfragen nun, die Fuchs 
an die Ärzte der untersuchten Bezirke gestellt hat, teilt er folgende 
Antworten mit: „Ich halte den Bierkonsum während der Arbeits¬ 
stunden für zu groß und ungeeignet, da selbst Arbeiter und Ar¬ 
beiterinnen in den Frühstücks- und Kaffeepausen 1—2 Schoppen 
Bier genießen. Ferner halte ich für schädlich den Genuß von 
Branntwein vor Beginn der Arbeit 'des Morgens. Die auf dem 
Wege liegenden und schon in den frühesten Morgenstunden geöff¬ 
neten Wirtshäuser werden sehr viel von den zur Arbeit Gehenden 
frequentiert.“ Ein Arzt schreibt: „In der Ernährung ist ein Haupt¬ 
mangel, daß zu viel Milch in die Stadt abgeführt wird und 
für das erlöste Geld Flaschenbier ins Haus und Feld geholt wird. 
Zu viel Wert wird auf Genuß von Kaffee und Wein gelegt. Der 
Aberglaube, daß jeder Rekonvaleszent unbedingt ein Fäßchen Wein 
haben müsse, um seine Kräfte wieder zu erlangen, ist schwer zu 
bekämpfen. In der Zeit der Ernte ist der Weinkonsum ein immenser' 
jeder Zug bringt Fässer von auswärts in die Dörfer.“ Während 
allem Anschein nach der Bierverbrauch in den Wirtschaften keine 
Zunahme erfahren hat, ist er doch in den Familien gestiegen, imd 
dazu hat aller Wahrscheinlichkeit nach der weitverzweigte Flaschen¬ 
bierhandel beigetragen, der auch die einzelnen Mitglieder des Familien¬ 
kreises mit in den Kreis des Alkoholkonsums gezogen hat. Als 
Sanierungsmaßnahmen gegen diese allgemeinen Übelstände betrachtet 
Fuchs einen auf das Leben besser vorbereitenden Volksschulunter- 
richt, eine ländliche Volksaufklärung, eine Verallgemeinerung des 
Haushaltungs- und Kochunterrichtes. 

Was den Wirtshausbesuch in den ländlichen Gemeinden anbe¬ 
trifft, so ist derselbe an Werktagen nur als ein vereinzelter zu be¬ 
trachten, an Sonn- und Feiertagen dagegen als ein allgemeiner. Die 
verheirateten Arbeiter gehen entweder, wie in den meisten Fällen r 
allein oder mit Frau und Kindern, denen dort ebenfalls Alkohol zum 
Trinken gegeben wird, ins Wirtshaus, die unverheirateten in corpore. 
Ein großer Teil des Verdienstes der letzteren wird hier in nutzloser,, 
ja geradezu schädlicher Weise verbraucht. Auch die Vereine frönen 
dem Alkoholgenuß, der nach Erledigung von Proben, Übungen und 
ähnlichen Zwecken zur Tagesordnung gelangt. 

Alles in allem ein Bild, das in seinen groben Umrissen ja all- 


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Was sind wir unseren Kanalarbeitem schuldig? 


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gemein bekannt sein dürfte, dessen spezifische Eigenart aber erst 
auf der Basis objektiver und methodischer Schilderung deutlich vor 
Augen tritt. Und so sind die diesbezüglichen Kapitel des Puchsschen 
Werkes auch für die Naturgeschichte des Alkoholismus von bedeut¬ 
samem Werte, denn nur auf der Grundlage der Erkenntnis tatsäch¬ 
licher Verhältnisse lassen sich Mißstände und ihre Folgen bekämpfen. 


Was sind wir unseren Kanalarbeitern schuldig? 

Yon 

Pastor Dr. G. Kühner in Mölln i. Lbg. 

(Fortsetzung und Schluß.) 

Wer soll mit der Pastorierung betraut werden? Unter den 
hierbei zu erledigenden Detailfragen ist nun mit eine der ersten 
und schwierigsten diejenige, wem diese Pastorierung zu übertragen 
sei. Oft hat man sich mit der Aussendung von Reisepredigem be¬ 
gnügen zu dürfen geglaubt; diese pflegen dann zu gewissen Zeiten 
die Strecke hinaufzureisen, tauchen meteorartig auf, sagen Evan¬ 
gelisations-Versammlungen an, zu denen oft kaum ein Dutzend 
Menschen zu kommen pflegt, halten zündende, gewaltige Reden und 
verschwinden dann wieder. Daß das nicht das rechte ist, daß von 
einer solchen Wirksamkeit gerade diejenigen Kreise am allerwenig¬ 
sten berührt werden, die es am allermeisten bedürfen, daß auch 
bei denen, die davon erreicht worden sind, keine nachhaltige Pflege 
der ausgestreuten Samenkörner geschehen kann, liegt auf der Hand. 
Von dieser Methode ist man deshalb auch in weitesten Kreisen 
wieder zurückgekommen. Was den Leuten not tut, das ist eine 
dauernde geistige Pflege, die so oft und so eingehend es die Ver¬ 
hältnisse zulassen auf sie ausgeübt wird. 

Das nächstliegende scheint dann zu sein, daß der jedesmalige 
Ortsgeistliche mit der Pastorierung der Leute betraut wird, die in 
seinem Orte und dessen nächster Umgebung untergebracht sind. Doch 
wird sich das nicht immer machen lassen; das kann ein viel be¬ 
schäftigter Mann oder schon ein älterer Herr sein, der sich das 
nicht mehr zumuten kann und darf, das kann auch ein sonst nicht 
geeigneter Mann sein, der nicht die Gabe resp. Weitherzigkeit be¬ 
sitzt, mit diesen buntscheckigen, auch den verschiedensten Kirchen- 


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Dr. G. Küßner. 


gemeinschaften angehörigen Menschen zu verkehren. Aber auch 
ein Hilfsgeistlicher, der einem dieser Herren beigeordnet und mit 
der Seelsorge an einem größeren Teil der Kanalarbeiterschaft be¬ 
auftragt würde, scheint mir nicht immer die rechte Persönlichkeit 
zu sein; ein solcher pflegt für so ein dornenvolles Amt zu jung zu 
sein, kann auch nicht die nötige Erfahrung, Menschenkenntnis und 
Fähigkeit, sich in den verschiedensten Situationen zurechtzufinden, 
besitzen; auch pflegen solche jungen Leute das nur als Provisorium 
zu betrachten und schnell zu wechseln, ehe sie sich eingearbeitet 
und das Vertrauen der Leute gewonnen haben. 

Nein! Meiner Ansicht nach müßte extra ein Geistlicher für 
diese Arbeit angestellt werden, ein Geistlicher, der bereits etwas 
älter ist und über hinreichende Erfahrung und seelsorgerische Be¬ 
gabung verfügt, ein Mann, der auch das ganze Niveau, auf dem 
sich eine solche Arbeiterschaft erhebt, das Wanderleben und alles, 
was damit zusammenhängt, kennt; das muß meiner Meinung nach ein 
Mann sein, der bereits mehrere Jahre in der Inneren Mission ge¬ 
arbeitet hat, der als Anstalts- und Gefängnis-Geistlicher oder in ähn¬ 
licher Stellung Erfahrung gesammelt hat. Der müßte mit einem seinen 
Jahren entsprechenden Gehalt als Kanal-Geistlicher angestellt werden 
und je nach der Belegschaft mit der Seelsorge auf einer bestimmten 
Kanalstrecke beauftragt werden. Ebenso müßte er reichliche Entschä¬ 
digung für alle Fuhren erhalten; denn es ist nicht jedermanns Ding, 
Wege von 12, 15 und mehr Kilometer im Kanalbett oder am Ufer¬ 
rand auf ungeebnetem, vielleicht frisch aufgeschüttetem Terrain zu 
machen, und dann noch geistige imd körperliche Frische zu besitzen, 
zwei und drei Gottesdienste abzuhalten oder zahllose Einzelbesuche 
zu machen. Mag das alles dann auch dem Staat, der Kirche, den 
betreffenden Baufirmen resp. den Vereinen für Innere Mission etwa 
4 bis 5000 Mk. kosten, das ist nicht zu viel für den großen Segen, 
den eine recht und eingehend geübte Seelsorge haben kann. Es sollen 
nur beizeiten diese Forderungen gestellt werden, damit früh genug 
die Kostenanschläge dafür in die Rechuungen eingestellt werden 
können. Das wird sich alsdann bei einem Bau, der ohnehin schon 
Millionen verschlingt, ohne zu große Schwierigkeit gestalten lassen. 
Und auch hier muß gesagt werden: Es ist kein Preis zu hoch, 
wenn es sich darum handelt, unsterbliche Menschenseelen zu be¬ 
wahren und zu retten! 

Die Seelsorge selbst. Wie aber hat sich nun die Seelsorge zu 
gestalten? Zu dem Zweck weise ich auf einen früher von mir in 


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Was sind wir unseren Kanalarbeitern schuldig? 


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dem Februarheft der Blätter für Innere Mission vom Jahre 1898 
erschienenen Artikel; meine Anschauung hat sich seitdem nicht 
geändert, nur der Vollständigkeit und leichteren Übersichtlichkeit 
halber füge ich hier die Grundzüge der Seelsorge aus, wie sie sich 
unter den obwaltenden Verhältnissen zu gestalten hätte. Dabei denke 
ich weniger an den Fall, wo das Gros der Leute in verhältnis¬ 
mäßig guten Baracken wohnt — hier pflegt sich die Arbeit sehr 
einfach und leicht zu gestalten — sondern an den bedeutend 
schwierigerem, daß ein Teil — der bei weitem schlechtere — in 
zum Teil wenig behaglichen Baracken, der andere, größere, weit über 
die Dörfer verstreut, in mehr oder weniger elenden Privatquartieren 
wohnt. Die Tätigkeit, die ein Pastor unter solchen Umständen zu 
entfalten hat, ist zuerst eine indirekte und geht durch Vermittlung 
derjenigen Persönlichkeiten und Instanzen hindurch, die für das 
Wohl und Wehe der Leute mit von maßgebendem Einfluß sind. 

Indirekte Seelsorge. Zuerst kommen dabei, soweit es sich 
um Privatquartiere handelt, die Vermieter derselben in Betracht 
Das sind oft ordentliche Bürgersleute, die selber früher in der 
Fremde gelebt haben oder Söhne auf der Wanderschaft haben; ein gutes 
Wort wird bei denselben immer eine freundliche Aufnahme finden. 
Das sind aber auch manchmal solche, die sonst ganz wohlwollend 
gesinnt sind, in diesem Falle aber unter falschen Voraus¬ 
setzungen stehen, die diese Arbeiterscharen nur nach ihrem aller¬ 
dings oft wenig anziehenden Äußeren oder nach der Schablone als 
Wüstlinge und Rowdies ansehen, denen sie glauben alles bieten zu 
dürfen. Aufklärende Worte und freundliche Bitten werden auch 
hier oft das Los der bei ihnen untergebrachten Leute wesentlich 
heben können; nur dürfen es natürlich keine übertriebenen An¬ 
sprüche sein, die man stellt; dazu gehört auch eine gewisse Lokal¬ 
kenntnis und Gerechtigkeit nach beiden Seiten. Wo es jedoch 
solche Ausbeuter und Blutsauger sind, wie wir sie vorher kennen 
gelernt haben, denen die Leute in die Hände gefallen sind, da ziehe 
man rücksichtslos die schärfsten Saiten an, da scheue man sich 
auch nicht, die nötigen Eingaben an die zuständigen Instanzen zu 
machen, sei es Polizei, sei es Baubehörde; — das können Geist¬ 
liche, die nur mit der Pastorierung der Kanalarbeiter betraut sind, 
sich also nur vorübergehend am Orte aufhalten, um so eher, als 
sie durch keine falschen Rücksichten gebunden sind. Nur be¬ 
fleißige man sich immer der strengsten Objektivität! 

Zu zweit kommen die Barackenwirte in Betracht; es ist klar, 


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Dr. G. Küßner. 


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wie abhängig die Leute und die ganze Art und Weise, wie sie es 
dort haben, von der Tüchtigkeit und dem Wohlwollen so eines Mannes 
ist Das ist freilich ein ganz außerordentlich schwieriges Gebiet. 
Viele, namentlich solche, die mit festem Gehalt angestellt sind, auch 
solche, die aus Brüderhäusern stammen, oder die, welche selber aus 
dem Handwerkerstand hervorgegangen sind, werden nur hier und 
da einmal eines begütigenden Wortes bedürfen. Und auch unter 
den übrigen gibt es gewiß manche, die ein herzliches Interesse für 
die Leute haben und es ihnen so gut geben möchten, wie sie 
können — aber ihre Lage ist oft sehr schwierig (wovon später!), 
• sie können nicht immer so wie sie möchten. Auch sammelt sich bei 
ihnen vielfach das roheste und lichtscheueste Gesindel; und der 
Wirt nimmt sie auf, um doch wenigstens etwas zu haben. Zum aller¬ 
größten Teil ist jedoch der Ton und die Art, wie die Inhaber mit 
den Insassen ihrer Baracken verkehren, ein äußerst brutaler, und 
die Zustände, die da herrschen, wie wir gesehen, grauenhaft. Da hat 
der Pastor allen Takt und viele Weisheit nötig, um überhaupt etwas 
auszurichten; er kann den Wirt verbittern, der hetzt die Leute auf, 
und so wird ihm jede Wirksamkeit unmöglich gemacht; er stößt 
auch bei den Leuten auf Mißtrauen und Unverständnis — da kann 
es alles schlimmer werden, als es war. Aber trotzdem kann man 
auch unter so verzweifelten Fällen durch eine ebenso freundliche 
wie ernste Aussprache hier und da Erfolg haben, auf den man nicht 
gerechnet hat. Wenn aber alles vergeblich ist, so wende man sich 
mit dahingehenden Eingaben und Anträgen an die zuständige Stelle 
oder an die Öffentlichkeit. 

Bei dem Verkehr mit der Bauleitung, resp. den ausführenden 
Beamten, vergesse man nicht, daß dieselben oft ein warmes Interesse 
für ihre Arbeiter haben, daß die meisten Schäden, denen man auf 
seinen Gängen durch die Kanalarbeiterquartiere begegnet, nicht 
im Sinne der verantwortlichen Instanzen sind, daß diese, wo ihnen 
von anderer Seite keine Hilfe geleistet wird — etwa wie Dr. Bode 
im Auge hat, in Form gemeinnütziger Unternehmungen, die die 
Unterbringung und Versorgung solcher Erdarbeiter übernehmen — 
auf die Hilfe gewinnsüchtiger Spekulanten angewiesen sind, daß 
sich da natürlich Schäden und Unzuträglichkeiten einnisten können, 
denen auch von wohlwollendster Seite schwer beizukommen ist. 
Jedenfalls mache man sich zu allererst mit den meist trefflichen 
Bestimmungen bekannt, die für den betreffenden Bau zum Wohl 
der Arbeiter erlassen sind, damit man nicht in Gefahr kommt, seine 


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Was sind wir unseren Kanalarbeitem schuldig? 


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Proteste gegen die Bauleitung zu richten, wo man mit ihr gehen 
könnte. Und wenn man dann irgendwelche berechtigte Wünsche 
hat, so wende man sich vorerst an die ausführenden Beamten; 
durch persönliches Interesse derselben, durch Andeutungen und 
Wünsche nach oben und unten können sie der guten Sache von 
allergrößtem Nutzen sein und mit wenigen Worten das erreichen, 
wozu es sonst langer Schreibereien bedurft hätte. 

Direkte Seelsorge. Zu dieser indirekten (in ihrer Wichtigkeit 
nicht zu unterschätzenden Tätigkeit) kommt dann die direkte Arbeit 
an den Leuten selbst; diese besteht in Predigttätigkeit, in einer mög¬ 
lichst ausgiebig und eingehend geübten Seelsorge und einer geeig¬ 
neten Schriftenverbreitung. 

Predigttätigkeit. Was die erstere — die Predigttätigkeit an¬ 
belangt, so erhebt sich sofort die Frage: „Sollen für die Kanal¬ 
arbeiter besondere Gottesdienste abgehalten werden?“ Im allgemeinen 
wäre die Frage wohl zu bejahen; denn die Kanalarbeiter bilden 
eine so ganz eigenartige Gemeinde, leben in einem Milieu, das sich 
durchaus von den in normaler kirchlicher Pflege stehenden Ge¬ 
meinden unterscheidet, daß sie wohl besonderer gottesdienstlicher 
Veranstaltungen bedürften. Aber doch wird sich das in der Praxis 
nicht immer machen lassen. In Orten, wo bereits ein oder mehrere 
Gemeindegottesdienste stattfinden, würden die Arbeiter es als eine 
Art Zurücksetzung und Beleidigung ansehen, wenn für sie ein be¬ 
sonderer Gottesdienst gehalten würde, als ob sie für erstere nicht 
gut genug wären. In anderen Orten wird sich auch bei den be¬ 
scheidensten Ansprüchen kein geeignetes Lokal dazu finden lassen. 
In noch anderen werden oft alle Versuche, eigene Gottesdienste 
einzurichten, an der geringen Beteiligung oder der dauernden gänz¬ 
lichen Abwesenheit von Hörem scheitern; und damit muß man 
immer rechnen, da gerade diejenigen die Gottesdienste am wenigsten 
zu besuchen pflegen, die es am nötigsten haben. In noch anderen 
Fällen wird man unmittelbar den Eindruck haben: es lohnt sich 
nicht! Du könntest die schöne Zeit und all das, was zu so einem 
Gottesdienst gehört, viel besser und nutzbringender für die Leute 
verwenden. In all diesen Fällen ist auf offiziell und regelmäßig 
abzuhaltende Gottesdienste zu verzichten. Wo sich jedoch die 
Möglichkeit dazu bietet, wo einige Empfänglichkeit dazu vorhanden 
scheint, da zögere man nicht, da greife man mit Freuden zu; da 
warte man auch nicht bis einem ein würdiges Lokal, eine Kapelle 
oder so etwas hergerichtet werde, da nehme man mit jedem zur 

Der Alkoholismne. 1905. 2 


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Dr. G. Kiißner. 


Verfügung stehenden Baum vorlieb — das kann eine Scheunen¬ 
diele, eine Kantine, irgend ein Schuppen oder was auch sonst 
sein. Ich habe auf einer solchen Diele, wo rechts die Kühe, links 
die Pferde standen, und über mir Heu und Stroh hemiederhing, 
über drei Jahre vor oft 200—250 Leuten Gottesdienst gehalten, der 
— was Aufmerksamkeit und innere Ergriffenheit der Leute anbe¬ 
langte — keinem in der Kirche noch so feierlich und korrekt abge¬ 
haltenen Gottesdienst nachstand, und kein Mensch hat sich stören 
lassen, wenn einmal ein fröhliches Gackern der Henne ertönte, die 
es aller Welt kund tun mußte, daß sie ein Ei gelegt, oder eine 
Kuh durch dumpfes Brüllen ihrer Verwunderung ob der sonder¬ 
baren Versammlung Ausdruck gab, die da vor ihren Augen statt¬ 
fand. Ich habe an liturgisch zweifelhaftesten Stätten gepredigt 
und hatte oft den Eindruck: möchtest du doch so viel Andacht, 
so viel Ergriffenheit auch in deinen solennen Gemeindegottesdiensten 
haben! Die Leute, mit denen man es bei einem Kanalbau zu tun 
hat, sind in vielen Fällen impulsiv und in der Äußerung ihrer 
Empfindungen wie die Kinder; manchmal sind es die wildesten Läste¬ 
rungen, die man da zu hören bekommen kann — und oft kann 
man dicht daneben Zeuge einer tiefen, durch Schluchzen unter¬ 
brochenen Ergriffenheit und Andacht sein, die einen selber er¬ 
schüttert. Also sei man nicht zu zaghaft in der Wahl des Ortes, nicht 
zu korrekt! nicht liturgisch zu anspruchsvoll. Es geht auch so! 
Ja: ich habe die Beobachtung gemacht, daß sich die Leute, je an¬ 
spruchsloser solche Gottesdienste ausgestaltet waren, je inoffizieller 
der Ort war, an dem sie abgehalten wurden, um so mehr dahin¬ 
gezogen fühlten. Nach dem bei solchen Gottesdiensten zu erwarten¬ 
den Publikum, ebenso nach dem ganzen Exterieur richtet sich 
natürlich auch die ganze Art, der Stoff und Inhalt der Predigt 
Kunstreiche Kanzelvorträge, ästhetisch formvollendete Predigten 
würden sich in so einem Raum sonderbar ausnehmen. Wenn 
irgendwo, so ist hier Evangelisation notwendig! 

Besuchstätigkeit. Neben dieser, gegebenen Falls an Stelle dieser 
Predigttätigkeit hat möglichst intensive Einzelseelsorge einherzu¬ 
gehen; ich sage mit Absicht: Einzelseelsorge. Denn die vorher ge¬ 
schilderten Predigten sind im Grunde nicht viel anderes als Ge¬ 
samtseelsorge, seelsorgerische Gespräche, die an viele zugleich 
gerichtet werden. Wie notwendig diese Einzelseelsorge ist, braucht 
nicht erst ausgeführt zu werden, ebensowenig, worauf sich dieselbe 
zu erstrecken hat; das findet man in dem erwähnten Artikel der 


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Was sind wir unseren Kanalarbeitern schuldig? 


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Schäferschen Monatsschrift. Hier nur die Frage: Wo findet man 
die Leute? 

Drei Gelegenheiten bieten sich dem Pastor da. Zunächst in 
ihren Privatquartieren nach Feierabend; freilich sind es sehr oft 
wenig angenehme Gelasse, in die man sich da begeben muß; ich 
will nur an die besten denken: die Stuben sind klein, verqualmt, 
die Leute verschwitzt, müde, oft • unfreundlich, befinden sich in den 
verschiedensten Stadien ihrer Toilette — das alles schadet jedoch 
nichts. Man selber gewöhnt sich daran; auch die Leute gewinnen 
solche Besuche lieb, bringen einem Vertrauen entgegen. Oft sind 
es sehr eingehende Gespräche, die man da mit einzelnen zu führen 
Gelegenheit hat, oft aber sind auch mehrere dabei, 4, 5, ja 10 
Mann, da erweitert sich ein Einzelgespräch ganz von selbst zu einer 
predigtartigen Ansprache, in der man den Leuten in möglichst ein¬ 
dringlicher Weise alles ans Herz legt, was man ihnen zu sagen 
hat, kleines und großes, zeitliches und ewiges! Wenn man eine 
größere Strecke zu pastorieren hat, so fahre man jede Woche 
wenigstens zweimal auf die Dörfer, gehe da Haus bei Haus; in 
circa 3—4 Stunden wird man dann in jedem Quartier gewesen sein 
und jedem einzelnen die Hand gedrückt haben. Vor allem sind 
natürlich die Sonntage zu dem Zweck zu benutzen; freilich stellen 
diese erhöhte Anforderungen an den Pastor; neben den zwei 
resp. drei Gottesdiensten, die man zu halten, sind es oft an die 
2—300 Leute, die man in ihren Privatquartieren besuchen möchte; 
das gibt viele ermüdende Gänge, auch manche aufregende, wilde 
Szene. Solche Gänge sind jedoch absolut notwendig, namentlich 
dort, wo es zu einem allgemeinen Gottesdienst nicht gekommen ist, 
in vielen Fällen das einzig richtige, und auch wertvoller und er¬ 
folgreicher als von vielleicht ganz wenigen besuchte, viel Zeit in 
Anspruch nehmende Predigtgottesdienste. 

Des weiteren kann man die Leute auf der Arbeitsstrecke auf¬ 
suchen. Da sind zunächst die Frühstücks-und Mittagspausen. Wenn 
man jedoch ein klein wenig die Arbeit der Leute selber kennen gelernt 
hat und sich ihr anzuschmiegen weiß, so sieht man bald, daß da 
auch sonst manche Gelegenheit ist, den einzelnen nahezutreten, 
die man auf den ersten Blick nicht sieht. Oft stehen und liegen sie 
in größeren und kleineren Gruppen auch während der Arbeitszeit 
herum und warten auf die, zurückkommenden Lories; da hat man 
manche schöne Gelegenheit, sowohl an einzelne heranzutreten als 
auch erweckliche Ansprachen an ganze Gruppen zu halten. Jeden 

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Monat sollte man deshalb wenigstens einmal auf die Strecke gehen, 
Avas meist freilich einen geschlagenen ganzen Tag kostet, und Sä¬ 
manns Arbeit verrichten. Wenn man die Arbeit der Leute kennen 
gelernt hat, man auch keine zu großen Ansprüche an ihre Zeit 
stellt, kann man dabei auch auf die Unterstützung von seiten der 
Schachtmeister rechnen; die geben den Leuten einen Wink — dann 
ruht die Arbeit etwa 10—15 Minuten, und der Pastor kann einige 
herzliche Worte an sie richten und ihnen allerlei packende Traktate 
und anderen Lesestoff überreichen. Die Leute sollen zuerst nur sehen, 
daß man sich für sie interessiert, daß man herzliche Liebe zu ihnen 
hat; in ihrer harten, freudlosen Arbeit sollen auch einmal die 
edleren, weicheren Saiten angeschlagen, Erinnerungen geweckt, Ideale 
gepflegt, der Blick nach oben gelenkt werden; sie sollen sich selber 
achten lernen, sollen des beAvußt werden, daß auch sie eine un¬ 
sterbliche Seele haben, die, so armselig ihr Leben verläuft, vor 
Gott einen unendlichen Wert habe. Darnach hungert und durstet 
auch ihr Herz — und das ist schließlich doch das einzige, welches 
sie in den vielen und schweren Versuchungen bewahren kann, 
denen sie ausgesetzt sind. 

Zuletzt kämen für kleinere Zusammenkünfte die Kantinen, 
Baracken und Herbergen in Betracht. Ich habe oft auch die Kan¬ 
tinen aufgesucht, um keine Stätte zu übergehen, wo ich habe Leute 
finden können. Doch ist das immer das undankbarste Geschäft ge¬ 
wesen; die Leute sind größtenteils angetrunken, wenn nicht stark 
berauscht gewesen; der Wirt stand mit ihnen im Bunde; und man 
konnte es ihm nicht verdenken, wenn er den Pastor lieber gehen 
als kommen sah, der ihm sein bestes Geschäft verderben wollte. 
Nur selten habe ich dort etwas ausrichten können. In den 
Wohn- und Schlafbaracken hat man den Tag über überhaupt keine 
Gelegenheit Leute zu treffen; Mittags und Abends sind sie für 
seelsorgerische Ansprachen selten zu haben, da dann das Essens¬ 
und Ruhebedürfnis alle anderen Interessen absorbiert, meist auch ein 
zu großer Lärm herrscht; Sonntags sind die Leute entweder, wenn 
sie nicht auch auf Arbeit sind, auswärts, oder sie liegen bis 
zum Spätnachmittag in ihren schmutzigen Betten. Mehr Gelegen¬ 
heit etwas auszurichten hat man oft in den Herbergen, in denen 
sich die Ankömmlinge, bevor sie auf den Bau gehen, meist einige 
Tage aufhalten; da kann man sie schon vorbereiten und manch 
warnendes Wort zu ihnen sprechen; ebenso in den Asylen und 
Gewahrsamen, die namentlich zu Anfang eines Baues von den her- 


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Was sind wir unseren Kanalarbeitem schuldig? 


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beiströmenden mittellosen Wanderern stark in Anspruch genommen 
zu werden pflegen; ich habe da oft 10—20 Mann gefunden. Und 
man darf es nicht unterschätzen, wieviel wert es ist, wenn der 
erste, der so einem armen heimatlosen Fremden begegnet, ein Pastor 
ist, der es gut mit ihm meint, ein paar freundliche Worte zu ihm 
spricht und ihm einige Mahnungen mit auf den Weg gibt. So ein 
Mensch ist oft für die ganze Zeit gewonnen, wo er am Kanal 
arbeitet. Diese von Ort zu Ort wandernden Scharen, die meist des 
Mittags noch nicht wissen, wo sie des Abends ihr Haupt nieder¬ 
legen können, hungern oft ebenso nach einem freundlichen und 
liebevollen Wort als nach einem Stückchen Brot. Also vergesse man 
es nicht, von Zeit zu Zeit auch hierher seine Schritte zu lenken. 

Also leicht ist das alles nicht; auch nicht immer angenehm 
und oft nicht ganz ungefährlich — aber doch: das ist die einzige 
Zeit, das sind die einzigen Gelegenheiten, wo wir die Leute treffen 
und ihnen persönlich näher treten können — und sie müssen wir 
ergreifen und bis auf die letzte Minute ausnutzen. 

Verbreitung christlicher Schriften. Zu dieser Predigt- und 
Seelsorgetätigkeit kommt dann noch das ganze große Gebiet der 
Verbreitung christlicher Schriften. Die Notwendigkeit, auch in 
dieser Weise für die Kanalarbeiter zu sorgen, bedarf keines Nach¬ 
weises; sie ergibt sich aus all den Gründen, aus denen diesem Teil 
der fluktuierenden Bevölkerung überhaupt eine höhere seelsorgerische 
Pflege zugewandt werden muß, in Verbindung mit dem Umstande, 
daß dieselbe durch das gesprochene Wort, sei es, daß es auch noch 
so ausgiebig ausgestreut werde, doch nicht immer in all ihren 
Schichten, auch nicht nachhaltig genug erreicht werden kann. 
Ebensowenig bedarf es eines Beweises, daß die Schriftenverteilung 
auch einem subjektiven Bedürfnis der Leute entspricht. Dieselben 
haben allgemein einen wahren Lesehunger; sie lesen alles, was ihnen 
in die Hände fällt, die Zeitungen, die sie von ihren Wirten er¬ 
halten, bis zu den Fetzen Papier, in denen ihre kleinen Ein¬ 
käufe eingewickelt sind; sie sparen sich nicht einmal die Annoncen 
und Familiennachrichten bis zu den Losnummern, die gewonnen 
haben. Und nun soll man gar sehen, wie die Leute zugreifen, wenn 
ein Kolporteur mit Schriften auf der Strecke oder in den Quar¬ 
tieren erscheint und ihnen seine Sachen anbietet. Fast im Hand¬ 
umdrehen ist er seine Sachen los; oft sind es teure, dickbändige 
Bomane, die sie sich aufschwatzen lassen; manche kosten 10, 18 
und mehr Mark. 


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Das zeigt uns deutlich: ein Bedürfnis nach Lesestoff ist bei 
den Leuten vorhanden; das gibt uns aber auch einen Fingerzeig 
für das, was wir ihnen bieten sollen. Das erbauliche Moment muß 
darin natürlich vorwalten — handelt es sich ja doch hierbei um 
ein Hilfsmittel christlicher Seelsorge — und zwar so klar und unver¬ 
blümt, so faßlich und so packend wie nur möglich; aber das darf 
nicht, wenigstens nicht immer, das einzige sein, was man den Leuten 
bietet Die Leute wollen sich auch angenehm unterhalten; und das 
Bedürfnis sollen und dürfen wir ihnen auch befriedigen, indem wir 
ihnen gesunde, von christlichem Geist getragene Lektüre bieten, in 
der der erbauliche Teil nur einer unter den belehrenden oder unter¬ 
haltenden Teilen ist. An einem speziell christlichen oder allein 
erbaulichen Blatt würde manch einer Anstoß nehmen und das Blatt 
zurückweisen. "Wenn er aber auch sonst gehaltvolle und gute Lektüre 
darin findet, nimmt er es immer gern, sei es auch zunächst nur 
um dieser willen. Allmählich gewöhnt er sich auch an den religiösen 
Teil; und vielleicht kommt die Zeit, wo ihm dieser zur Hauptsache 
wird und alles andere nur als Beiwerk in Betracht kommt 

Was geben wir den Leuten nun am besten? Sonntagsblätter, 
welche in den betreffenden Gegenden gelesen werden, kommen 
dabei nicht immer und nicht in erster Linie in Betracht; die sind 
oft für lokale Verhältnisse, auch für Gemeinden oder Personen 
berechnet, die bereits seit langer Zeit in kirchlicher Pflege stehen, 
sprechen zu oft auch die sogenannte Sprache Kanaans; das alles ist 
für diese wandernden Scharen nichts. Mehr in Betracht kommen 
hier die Schriften des christlichen Zeitschriften-Vereins in Berlin; 
freilich verfallen sie oft in den entgegengesetzten Fehler, indem sie 
in Gefahr sind trivial, banal zu werden — auch kommt das Wort 
Gottes in manchen gar nicht zur Geltung, in anderen nicht präzise 
und klar genug; auch merkt man die Tendenz der Blätter zu 
stark — und gerade Arbeiter sind darin sehr feinfühlig! Aber 
trotz dieser Mängel besitzen diese Blätter auch große Vorzüge und 
werden — was ihre riesigen Auflagen beweisen — sehr gern ge¬ 
lesen. Den Mängeln kann anderweit abgeholfen werden, indem 
Einlagen in dieselben gemacht werden, die das spezifisch-christliche 
mehr betonen. Dazu eignen sich namentlich packend geschriebene 
Traktate (nur führe man genau darüber Buch, welche man benutzt 
hat, und hüte sich vor dem englischen Sauerteig!), ebenso das in 
Neumünster erscheinende, von dem Gemeinschafts-Verein heraus¬ 
gegebene Blättchen „Nimm und Lies“, das 1 Pf. kostet und schon 


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Was sind wir unseren Kanalarbeitem schuldig V 


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oft ganz vortreffliche Ansprachen und Ermahnungen enthalten hat, 
schließlich die jetzt bereits in mehreren Provinzen erscheinenden 
sogenannten Pfennig-Predigten, wenngleich auch die mit Vorsicht 
zu behandeln sind, da sie oft auf andere Kreise berechnet sind. 
Am besten tut man, indem man mit der Redaktion der Pfennig- 
Predigten in Verbindung tritt und selber eine größere Zahl (etwa 
12—15 im Jahr) schreibt — nur daß sie dann auch für Gemeinde- 
Verhältnisse verwertbar bleiben müssen. Auch vergesse man nie¬ 
mals einige das Trinken behandelnde Traktate! Doch hat jeder 
Pastor daneben auch das Bedürfnis, den Leuten selber allerlei zu 
geben und mitzuteilen, was in dem allen nicht enthalten ist, was 
die Leute aber wissen müssen. Man kann das mündlich machen, resp. 
durch die Schachtmeister bestellen lassen; ich habe Anzeigen u. dergl. 
auf den Kopf der ca. 400 Blätter geschrieben, die ich zu verteilen hatte. 
Das alles ist jedoch nicht empfehlenswert. Wo die Zahl der einem 
Pastor überwiesenen Leute 400 übersteigt, kann man schon einen 
Kontrakt mit einem der bestehenden Blätter (wofür dann Sonntags- 
Blätter zuerst in Betracht kommen) machen, wonach einem die 
ganze letzte Seite, event. zwei für alles zur Verfügung gestellt werden, 
was man ihnen persönlich zu sagen hätte. Ich halte das für die 
kommenden Kanalarbeiten für durchaus erforderlich; dadurch würde 
erst ein fortwährender, inniger Kontakt zwischen der Arbeiterschaft 
und ihrem Pastor, ein rechtes Vertrauensverhältnis hergestellt werden, 
das auch während der Zeit aufrecht gehalten und gepflegt werden 
könnte, wo er persönlich nicht mit ihnen zusammen gewesen ist. 
Dadurch würden die Leute auch allmählich ein Heimgefühl erhalten, 
das sie vor vielen Versuchungen schützt! 

Aber wie sind diese Blätter zu verteilen? Wo es sich um 
Baracken-Quartiere handelt, schickt man die erforderliche Anzahl 
(etwa 1 Exemplar für 3 Mann) dorthin. Viel schwerer ist es dort, 
wo es sich um Privat-Quartiere handelt, wozu ja auch die Scheidung 
nach Konfession und Sprache kommt. Ich weiß von Amtsbrüdern, 
die das durch die Schachtmeister haben machen lassen — ich halte 
das nicht für empfehlenswert. Auch hier bleibt einem Pastor nichts 
anderes übrig, als daß er die Quartiere aufsucht, sich die Zahl der 
dort untergebrachten Evangelischen aufschreibt, sich dann durch den 
Lehrer oder Ortsvorsteher einen vertrauenswürdigen Knaben nam¬ 
haft machen und durch den die Blätter sonnabendlich austragen 
läßt. Zugleich bitte man die Vermieter, dem Knaben anzuzeigen, 
wenn sich der Bestand ihrer Einlogierer vermindert hat, versäume 


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Dr. Gr. Küßner. 


aber nie bei seinen Seelsorgergängen selber nachzusehen und 
Kontrolle zu üben. Dieser Weg der Verteilung ist wiederum nicht 
ganz leicht, nimmt viel Zeit und Aufmerksamkeit in Anspruch, 
aber er ist rationell und sicher. Ich habe selten darüber klagen 
hören, daß die Blätter ausgeblieben wären. 

Auf all diese Weise kommt es den Leuten zum Bewußtsein, 
daß sie nicht als Enterbte, als Ausgestoßene betrachtet werden; sie 
fühlen, daß man ihnen nachgeht, daß man ihnen warmes, persön¬ 
liches Interesse entgegenbringt, daß man es sich etwas kosten läßt, 
um ihnen den Aufenthalt in der Fremde leicht zu machen — und 
während die schlechteren, zweifelhafteren Elemente das nicht mögen, 
sich dem zu entziehen suchen und bald den Bau wieder verlassen 
(auch eine nicht zu unterschätzende Wirkung!), fühlen sich die 
besseren dadurch getragen, gehoben — der ganze Ton, der unter 
ihnen herrscht, wird ein würdigerer. — Dadurch wird je länger 
desto mehr das ganze geistige und sittliche Niveau, auf dem sie 
sich bewegen, ein höheres. Wenn es sich um einen größeren Bau 
handelt, die Verhältnisse sich konsolidiert haben, auch die Wohnungs- 
verhältnisse so sind, daß die Leute sich darin wohl fühlen, kann 
man sogar mit einer Kolportage gehaltvollerer Schriften bei ihnen 
beginnen, und man wird reichliche Abnehmer finden. Auch würden 
kleine Sammlungen geeigneter Schriften in den Baracken sicher 
viel Zuspruch haben. 

4. Der Kampf gegen den Mißbrauch geistiger Getränke. 

Wir kommen nun zu den Vorkehrungen, die zu dem Zweck 
getroffen werden müssen, um die Arbeiterschaft vor dem Mißbrauch 
geistiger Getränke zu bewahren. 

Notwendigkeit desselben. Der Hang, sich solcher Getränke 
zu bedienen, der im Grunde unerklärliche Trieb einen Mißbrauch 
damit zu treiben, scheint nun einmal in der in sich selbst zwiespältig 
gewordenen menschlichen Natur zu liegen; dazu wird er von frühester 
Jugend her durch das Beispiel, durch verkehrte Erziehung, durch 
die überall herrschende Sitte und tausendfache Vorurteile von all 
den guten Wirkungen und Eigenschaften, die der Alk ohol haben 
soll, großgezogen. Noch um ein vielfaches wird das alles jedoch 
durch solche Verhältnisse, wie wir sie jetzt kennen gelernt haben, 
gesteigert, durch die mangelhaften Wohnungen, das Übermaß von 
Arbeit, den starken Wechsel von Hitze und Kälte, dem die Leute 


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"Was sind wir unseren Kanalarbeitern schuldig? 


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fortwährend ausgesetzt sind. Kommt dazu auf der einen Seite flotte 
Leichtlebigkeit, Verführung, die zahllos gebotene Gelegenheit, dem 
nachzugeben — auf der andern Seite, wie es bei vielen Arbeitern 
dieser Kategorie der Fall ist, Mißmut und Verdrossenheit, Ver¬ 
bitterung und geheimer Groll bis zu der Hoffnungslosigkeit, der 
alles gleichgültig geworden ist, der selbst das Leben und die eigene 
Persönlichkeit nichts mehr gilt, dann kann man sich nicht mehr 
darüber wundern, wenn der Mißbrauch, der mit geistigen Getränken 
bei diesen Parias der Gesellschaft getrieben wird, einen so hohen 
Grad erreicht hat, wie es tatsächlich der Fall ist. 

Indirekt ist schon mit dem vorhergehenden der Kampf gegen 
den Alkohl aufgenommen, indem dadurch die ganzen Lebens¬ 
verhältnisse der Leute gehoben, auch deren Selbstachtung ge¬ 
steigert, die ideale Seite ihres Wesens erhöht und gepflegt worden 
ist Mehr oder minder wird das auch auf den Genuß geistiger 
Getränke einen herabmindemden Einfluß ausüben. Diesem ist 
dadurch ein guter Teil seines Anlasses genommen, die Stimmung 
geraubt, aus der er immer wieder hervorging. 

Mäßigkeits-Baracken. Aber das genügt nicht. Es ist not, 
daß man den Kampf dagegen auch direkt aufnimmt. Man hat zu 
dem Zweck die Gründung von Mäßigkeits-Baracken resp. Mäßig¬ 
keits-Kantinen vorgeschlagen. Unter ersteren denkt man sich 
Baracken, die neben den anderen errichtet werden sollen, und in 
welchen grundsätzlich kein Alkohol geschänkt und genossen werden 
darf; und zwar soll das ein selbständiges, sich finanziell rentierendes 
Unternehmen sein. Ich glaube nicht, daß uns damit geholfen wäre. 
Schlechter als die bisherigen Baracken dürften diese neuen Stätten 
natürlich nicht sein; aber Avenn sie ebenso wären wie erstere, dann 
ständen sie unter den gleichen, ungünstigen Existenz-Bedingungen, 
hätten die gleiche geringe Anziehungskraft wie diese, ständen außer¬ 
dem noch unter dem Odium einer Neuerung, die den meisten nicht 
verständlich sein würde. Auch in dem besten Fall -würden sich die 
alten und diese neuen Baracken in die Zahl der Leute teilen 
müssen, die überhaupt in eine Baracke ziehen; und wenn wir 
gesehen haben, wie klein diese Zahl ist, wie selbst große und ver¬ 
hältnismäßig gut eingerichtete Baracken dort, wo kein Zwang besteht, 
monatelang vollständig leer stehen — so muß die Zahl derjenigen, 
die für eine Mäßigkeits-Baracke in Betracht kommen, erst gar gering 
sein! Würden wir diese Baracke jedoch komfortabler einrichten 
als die gewöhnlichen, so Avürden die Preise sich entsprechend er- 


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Dr. G. Külhier. 


höhen müssen, wozu die Leute sich keinesfalls verstehen würden, 
oder aber die Baracke würde Zuschuß erfordern und aufhören, ein 
finanzielles Unternehmen zu sein. Namentlich ist aber zu bedenken, 
daß alle alkoholfreien Getränke wesentlich durstlöschend sind, ja, 
daß der Durst, wie zuverlässige Beobachtungen bei abstinenten 
Ernte-Arbeitern ergeben haben, bei längerem Gebrauch alkoholfreier 
Sachen sehr stark abnimmt Ein Geschäft also ließe sich damit 
keineswegs machen. 

Mäßigkeits-Kantine. Aber auch eine Mäßigkeits-Kantine, d. h. 
eine solche, die vor allem alkoholfreie Sachen zu führen hätte und 
neben den anderen aufzustellen wäre, halte ich nicht für em¬ 
pfehlenswert. Auch sie würde die Konkurrenz mit den anderen 
Kantinen nicht tragen können, würde ebenso wie die genannten 
Baracken mit dem Unverstand und Übelwollen der Leute zu rechnen 
haben; es bedürfte also immer erst einer dahingehenden Agitation, 
um die Leute zu bewegen, ihr Mißtrauen fahren zu lassen und 
einmal einen Versuch zu machen. Das ist aber für ein auf 
finanzielle Selbständigkeit hinzielendes Unternehmen etwas sehr 
Fatales. Wo soll man ferner die Kantine hinstellen? Auf die Bau¬ 
strecke selber? Die ist viel zu lang; auch schwankt die Zahl der 
irgendwo beschäftigten Leute viel zu sehr. Oder auf dem Wege 
dahin? Oder in den Ortschaften selber, wo die Leute wohnen? 
Das ginge schon eher; doch wo soll man da die geeigneten Per¬ 
sönlichkeiten hernehmen, die das als Nebenerwerb zu gewissen 
Tagesstunden betrieben? An eine Rentabilität solcher Veranstal¬ 
tungen wäre jedenfalls nicht zu denken. 

Aber wir bedürfen solcher auf jeden Fall zweifelhaften Versuche 
nicht, wenn wir nur sonst die richtigen Maßnahmen getroffen haben. 
Und welches sind diese? 

Aufklärende Tätigkeit. Da ist zunächst eine geeignete auf¬ 
klärende Tätigkeit nötig. Dabei ist zu bedenken, daß sehr viele 
Menschen nicht trinken, weil sie einen nicht zu bändigenden Hang 
darnach besitzen, daß sie jedenfalls nicht aus dem Grunde ange¬ 
fangen haben zu trinken, sondern weil sie die verschiedensten 
günstigen Vorurteile für geistige Getränke besitzen. Diese sollen 
für alles mögliche gut sein; sie sollen wärmen, sollen stärken, sollen 
nähren, sollen die Hitze ertragen helfen u. s. w.; und zwar sind das 
keineswegs immer nur Ausreden, um den starken Gebrauch alko¬ 
holischer Getränke nachträglich zu entschuldigen, sondern oft wirklich 
nrnst gemeinte und scheinbar erprobte Überzeugungen. Und die 


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Was sind wir unseren Kanalarbeitern schuldig? 


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Zahl derjenigen, die aus diesem Grunde glauben trinken zu müssen, 
ist vielleicht eine viel größere, als man in den meisten Fällen ahnt, 
man sieht das auch namentlich daran, wie oft gute Ehefrauen, welche 
ein Grauen vor dem Trunk haben, doch ihre Männer auffordem, 
täglich ihr Gläschen zu trinken. Selbst bei solchen, die bereits 
dem Trünke stark ergeben sind, spielen diese — scheinbar gar nicht 
auszurottenden — Vorurteile häufig noch die größte Rolle, sind 
ihnen fast zu einer Art Aberglauben geworden. Das erschwert 
uns einerseits allerdings den Kampf gegen den Übelstand, weil wir 
sehen, wie tief er sich eingefressen hat, das erleichtert uns aber 
auch die Sache, denn das gibt uns die Hoffnung, daß wir — wo 
wir mit ernster Aufklärung den Leuten nahe treten, auch darin 
so schnell nicht ermüden — des Lasters allmählich Herr werden 
können. 

Mündliche Aufklärung. Die aufklärende Arbeit wäre zuerst 
eine mündliche, sodann eine schriftliche. Für die mündliche käme 
nächst dem Baracken-Wirt, wenn er eine einwandsfreie, gefestete, 
sittliche und vertrauenerweckende Persönlichkeit ist, zuerst der 
Pastor in Betracht, dem die Seelsorge an den Leuten übertragen 
ist. In seinen Einzelgesprächen, die er in den Privatquartieren 
mit ihnen führt, in den Ansprachen, die er auf der Strecke an 
ganze Gruppen richtet, sowie in den Gottesdiensten versäume er 
niemals, dies Thema in anschaulicher, praktischer Weise zu erörtern. 
Natürlich wird er dabei oft auf Widerstand stoßen, namentlich 
wenn er es mit Leuten zu tun hat, die man schon als Trunken¬ 
bolde bezeichnen kann; auch zu mancher ärgerlichen und wüsten 
Szene kann es dabei kommen. Aber in den überwiegend meisten 
Fällen wird es Aufmerksamkeit und Interesse sein, mit dem die 
Leute solchen Ausführungen zuhören. Das war schon vor dreizehn 
und vierzehn Jahren der Fall, wo den Leuten all das zumeist 
etwas ganz Neues war, wo Mäßigkeitsapostel oder Abstinenzpre¬ 
diger noch durchwegs als Sonderlinge verrufen waren; die Zeiten 
sind jedoch seitdem erheblich anders geworden. Seitdem hat man 
mit allem Fleiß gearbeitet, große Verbände sind entstanden, die den 
Kampf gegen den Alkohol auf ihre Fahnen geschrieben haben. Die 
Mitglieder derselben zählen bereits nach Hunderttausenden, dazu 
sind zahllose Flugblätter, Mitteilungen durch die Presse in die 
breiteste Öffentlichkeit gedrungen, viele Arbeiter werden selber in 
Fabriketablissements oder bei früheren Kanal- und Erdarbeiten 
praktisch mit der Frage in Berührung getreten sein. So ist heute 


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Dr. G. Küßner. 


in weiten Gebieten unseres Volks bereits der Boden unterminiert, 
alte Vorurteile wankend geworden, neue Kenntnisse und neue Be¬ 
dürfnisse erwacht. Heute wird der Mäßigkeitsredner zum Teil bereits 
von der öffentlichen Meinung getragen. 

Die schriftliche Aufklärung. Neben die mündliche Aufklärung 
würde die schriftliche, das gedruckte Wort treten; und zwar kann 
das in doppelter Weise geschehen. Erstens durch Verteilung ge¬ 
eigneter Schriften. Der Pastor habe bei seinen Gängen durch die 
Arbeiterquartiere, oder wenn er die Kanalstrecke während der Arbeit 
abschreitet, immer ein Täschchen mit diesbezüglichen Traktaten bei 
sich, jedoch nur solchen, die er selbst gelesen hat; die bringe er dann 
reichlich zur Verteilung. Er wird seine Freude daran haben, wie be¬ 
gierig man danach greift; und wenn er nachher wieder die Strecke 
passiert, wird er die Leute überall, hinter Büschen, unter Bäumen, in 
dem Schatten umgestürzter Lories, an Schuppen wänden liegen und 
die Blättchen lesen sehen. Oder aber er lege diese Traktate in die 
von ihm am Sonnabend zu verteilenden Blätter. Eine Verteilung 
durch die Schachtmeister halte ich auch hier nicht für angebracht, 
denn das pflegen meist selber Leute zu sein, die dem Alk ohol 
stark zusprechen, und die ganze schöne Sache würde dadurch 
diskreditiert, auch den Schein einer gewissen obrigkeitlichen Bevor¬ 
mundung erhalten. Als sehr empfehlenswert möchte ich hier folgende 
Traktate namhaft machen: „Trink Branntwein!“ „Fort mit dem Brannt¬ 
wein!“ „Ich habe keine Zeit!“ und viele andere aus der nieder¬ 
sächsischen Traktatgesellschaft zu Hamburg. 

Anschläge. Dazu kämen aber noch passende Anschläge, die 
an die Wände der Baracken oder in Krankenzimmern oder sonst 
an passenden Orten anzubringen wären. Es gibt ja bereits eine 
ziemlich große Anzahl solcher Tafeln, die z. B. in Fabriken an¬ 
gebracht sind. Doch halte ich es für besser, wenn für diesen Zweck 
jedesmal diejenige Arbeiterschaft berücksichtigt wird, die man vor 
sich hat. In unserm Fall würde der Aufruf etwa folgenden Tenor 
haben: 

1. Arbeiter, Freunde! Ihr seid aus der fernen Heimat hierher 
gekommen, um Geld zu verdienen, um euren Lieben möglichst viel 
Ersparnisse mitzubringen und an Leib und Seele gesund wieder 
heim zu kehren. Gott gebe es, daß dieser Wunsch erfüllt wird! 

2. Aber es gibt einen Feind, der euch daran hindern, der euch 
um euer Geld, um euer Glück betrügen, der euch an Leib und 
Seele ruinieren kann, einen Feind, der um so schlimmer ist, weil er 


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Was sind wir unseren Kanalarbeitem schuldig? 


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sich als Freund und Tröster gebärdet: das ist der Schnaps! über¬ 
haupt alle geistigen Getränke. Hütet euch davor! 

3. Der Schnaps hat keine einzige von den Eigenschaften, die 
man ihm nachrühmt Er wärmt nicht; er gibt dem Menschen keine 
Kraft, er ernährt auch nicht; das sind Wahrheiten, welche eine ge¬ 
wissenhafte, wissenschaftliche Forschung erst seit einiger Zeit erkannt 
hat. Wenn das Gegenteil manchmal der Fall zu sein scheint, so 
beruht das auf Täuschung, die jeder Arzt leicht erklären kann. 

4. Der Schnaps hat vielmehr eine Fülle verhängnisvoller Eigen¬ 
schaften ; viele Gelehrte sind überhaupt der Ansicht, daß jeder Tropfen 
schon Gift sei und schädliche Folgen hervorrufe. Alle aber sind 
der festen Überzeugung, daß der Schnaps in der Menge, wie er 
heutzutage fast von jedem Arbeiter genossen wird, die schwersten 
Folgen nach sich ziehen muß. 

5. Der Schnaps setzt die Körperwärme herab, so daß diejenigen, 
die ihn zu sich nehmen, leichter dem Tode des Erfrierens aus¬ 
gesetzt sind. Hütet euch deshalb in der Kälte und auf der Wander¬ 
schaft davor! 

6. Der Schnaps vermindert die Arbeitskraft, so daß der, der ihn 
genossen hat, schneller schlapp wird, unsicher arbeitet und vielen 
Gefahren ausgesetzt ist. Vermeidet ihn strengstens bei der Arbeit! 

7. Der Schnaps greift das Herz und die Nieren stark an, die 
zuerst viel Fett ansetzen, unverhältnismäßig groß werden und dann 
zusammenschrumpfen, was den baldigen Tod herbeiführen muß. 

8. Der Schnaps macht den Magen krank, der bald nichts mehr 
verdauen kann; der Mensch verliert den Appetit und kommt von 
Kräften. 

9. Ähnliche schwere Folgen übt er auf das Gehirn und das 
Nervensystem aus, die durch den Genuß spirituöser Getränke, wie 
er heute fast überall üblich ist, bald völlig zerrüttet werden. 

10. Der Schnaps raubt dem Menschen die Herrschaft über seine 
Gliedmaßen, seinen Gang, seine Zunge, seine Gedanken; er ist deshalb 
die Ursache vielen Unglücks und zahlloser Unfälle! Unzählige Ver¬ 
brechen, die nachher mit Gefängnis und Zuchthaus gebüßt werden, 
sind im Rausche begangen, oft von Leuten, die sonst gute und 
ordentüche Arbeiter und Familienväter waren. 

11. Darum, lieben Freunde: Hütet euch vor dem Schnaps und 
den geistigen Getränken. Sie wollen euch betrügen! sie wollen euch 
an Leib und Seele zu Grunde richten. Kaffee, Tee, Braunbier, un- 
vergorene Obstsäfte, Milch und Wasser sind tausendmal besser. Wenn 


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Dr. G. Küßner. 


ihr euch erst einmal daran gewöhnt habet, werdet ihr bald kaum 
noch von Durst gequält werden. Deshalb seid vorsichtig! mannhaft, 
tapfer und stark! Es handelt sich um euer eigen Wohl! 

Solche und ähnliche Bekanntmachungen werden ihre Wirkung 
nie verfehlen. Doch ist es selbstverständlich, daß dem auch die 
Tatsachen, die Einrichtungen auf der Strecke und in den Kantinen 
entsprechen. Es würde geradezu aller Vernunft Hohn sprechen, 
wenn dieselbe Verwaltung, die diese Bekanntmachung erlassen hätte, 
es dann noch zulassen wollte, daß in den gleichen Baracken oder 
in deren Nähe unbedenklich und genau so wie bisher Schnaps und 
andern Alcoholica ausgeschänkt würden. So ist es denn notwendig, 
daß überall da, wo man solche oder ähnliche Anschläge hat an¬ 
bringen lassen, wo man überhaupt nach den daselbst gekennzeichneten 
Grundsätzen verfährt, auch der Ausschank aller geistigen Getränke 
einer sehr starken Beschränkung unterworfen wird. Ja, die Frage, 
um die es sich heute bei uns handelt, ist eigentlich schon die ge¬ 
worden : soll ein durchaus mäßiger Genuß etwa noch gestattet 
werden — oder soll ein absolutes Verbot alles Ausschanks geistiger 
Getränke stattfinden? 

Mäßigkeit oder Enthaltsamkeit? Es ist zuzugeben: wo ein 
mäßiger Genuß gestattet ist, da ist auch immer die Möglichkeit 
eines unmäßigen Genusses gegeben; durch tausend Tore kann er 
sich einschleichen, und es ist zu befürchten, daß sich das Bild in 
einer Baracke, in der ein solcher gestattet ist, nicht sehr wesent¬ 
lich von den bisher geschilderten unterscheiden würde. Und 
wenn man namentlich bedenkt, daß bei vielen bisher ausgeführten 
Kanalbauten bereits die trefflichsten Vorschriften gegen den Mißbrauch 
geistiger Getränke erlassen waren, Vorschriften freilich, die einen 
beschränkten Gebrauch immerhin gestattet haben — und trotzdem war 
eine solche Völlerei möglich, wie sie oft genug beklagt worden ist — 
so macht mich das, muß ich gestehen, tatsächlich mißtrauisch gegen 
solche Mäßigkeitserlasse; ich fürchte, daß damit nicht viel geholfen 
sein wird. 

Andererseits darf man die Schwierigkeit nicht verkennen, die 
mit dem absoluten Verbot alles Ausschanks geistiger Getränke ver¬ 
bunden ist. Ein Mißbrauch ist auch hier möglich; Spionage, 
Heuchelei, Angeberei, gerechte und ungerechte Strafen würden an 
der Tagesordnung sein; der ganze Ton, der unter der Arbeiterschaft 
herrschte, würde schwer darunter leiden. Ja! wenn man mit einer 
ständigen, guten Arbeiterschaft rechnen könnte, wenn man in der 


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Was sind wir unseren Eanalarbeitem schuldig? 


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Lage wäre, durch jahrelange persönliche Beeinflussung sich eine 
solche zu erziehen, dann wäre es wohl möglich, mit einer solcheu 
Maßregel vorzugehen. Das alles aber ist in unserm Fall nicht vor¬ 
handen — die völlige Enthaltsamkeit von allen geistigen Getränken 
wäre nicht freiwillig, nicht aus eigenem Verständnis hervorgegangen, 
sondern erzwungen, würde als Zwangsmaßregel empfunden werden 
und alle Schattenseiten nach sich ziehen, die mit solcher verbunden 
zu sein pflegen. Noch ist unsere Zeit, unser Volk, namentlich diese 
Schichten der Bevölkerung, in der sich alle Schäden der Zeit und 
des Volks konzentrieren, dazu nicht reif genug. 

Strengste Mäßigkeit mit dem Ziel völliger Enthaltsamkeit. 
Was soll dann jedoch geschehen? Es muß in allen zur Ver¬ 
waltung gehörigen Kantinen und Baracken die strengste Mäßigkeit 
vorwalten (und zwar eine viel größere, als man bisher mit diesem 
Namen für vereinbar gehalten hat); hiermit muß jedoch das ausge¬ 
sprochene Bestreben einhergehen, eine völlig enthaltsame Arbeiter¬ 
schaft zu erziehen. 

Strengste» Mäßigkeit im Ausschank. Es mag also gestattet 
sein, daß in einer Baracke gewisse geistige Getränke feil gehalten 
werden. Es muß aber ganz genau festgestellt werden, welches 
Höchstquantum davon verschänkt werden darf; ich würde für zehn 
Pfennig Branntwein für durchaus hinreichend halten; der Ausschank 
in Wassergläsern sei streng untersagt; auf die Strecke darf er nie¬ 
mals hinausgefahren werden. Fliegenden Händlern sei der Zutritt 
durch Anschlag verboten. Das Quantum Bier, das ein Mann zu sich 
nehmen dürfte, wäre vielleicht nicht so streng vorzuschreiben, da 
das bei den Leuten doch erst in zweiter Linie in Betracht kommt. 

Persönlichkeit des Baracken Wirtes. Vor allem kommt es 
jedoch auf eine geeignete Persönlichkeit an, der die Verwaltung so 
einer Baracke anvertraut werden dürfte. Die erste Forderung, die 
da erhoben werden muß, ist, daß es eine ganz gefestigte, in der 
gesamten Alkoholfrage bewanderte Persönlichkeit, mit praktischer 
Erfahrung, Menschenkenntnis und herzlicher Liebe zu den Leuten 
sei; sehr wünschenswert dabei ist — wenn nicht unerläßliche Be¬ 
dingung! — daß er abstinent sei. Ob die aus Brüderanstalten 
hervorgegangenen jungen Leute immer den Vorzug verdienen, will 
ich so bestimmt nicht sagen. Es wird denselben oft der Vorwurf 
gemacht, daß sie Anstaltspflanzen seien, das praktische Leben 
nicht selber am eigenen Leib erfahren haben, daß sie die Leute 
deshalb auch weder richtig beurteilen noch behandeln, daß es oft 


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Dr. G. Küßuer. 


ein recht häßlicher, barscher Ton ist, in dem sie mit ihnen ver¬ 
kehren; das sind Klagen, die man vielfach ira Verkehr mit den 
Leuten zu hören bekommen kann, die auch literarisch bereits ihren 
Ausdruck gefunden haben. Leicht wird es jedenfalls nicht sein, ge¬ 
eignete Persönlichkeiten zu finden, die all die oben erwähnten, 
unerläßlichen Eigenschaften besitzen; man wird dabei doch immer 
wieder auf genannte Anstalten zurückgreifen müssen. Ebenso ist 
anzunehmen, wenn die Arbeiterschaft von den schlechteren Ele¬ 
menten gereinigt ist, auch eine strenge Hausordnung hinter dem 
Baracken-Verwalter steht, daß der Ton in diesen Häusern bald ein 
würdigerer werden und nicht mehr so oft ein so strenges Ein¬ 
schreiten erforderlich machen würde, wie es jetzt der Fall ist. 

Festes Gehalt des Wirtes. Dazu ist bei den künftigen Kanal¬ 
bauten dahin zu streben, daß alle Inhaber von Baracken auf festes 
Gehalt gesetzt werden und aus dem Konsum geistiger Getränke 
keine Einnahme beziehen, auch nicht aus dem von Bier, wie es 
unbegreiflicherweise noch am Kaiser-Wilhelm-Kanal geschah. Um 
jedoch den Eifer der Leute anzuspomen, gebe man ihnen einen 
Anteil an dem Umsatz, der überhaupt in einer Baracke stattfindet, 
namentlich von dem aus alkoholfreien Sachen; die Inhaber müssen 
ein Interesse daran besitzen, daß sie ihre Baracke immer voll haben, 
und daß die Leute sich daselbst wohl fühlen 

Überwachung des Ausschanks auf der Strecke und in den 
Wirtschaften der Umgegend. Die Abwehr des Überangebotes 
geistiger Getränke hat sich ferner, wie bereits angedeutet, auch auf 
die Baustrecke zu beziehen, indem dort jeder Handel mit gei¬ 
stigen Getränken, welcher sonst massenhaft geschieht, verboten wird; 
ebenso müssen den Wirtschaften und Kleinhandlungen in den 
Dörfern und Städten genaue Vorschriften gegeben werden, sowohl 
bezüglich der Zeit, in der sie geistige Getränke, als auch bezüglich 
des Quantums, das sie, wie schließlich rücksichtlich der Personen, 
an welche sie diese verschänken dürfen. Bei manchen Bauten ist 
die Bestimmung getroffen worden, daß an Auswärtige während der 
ganzen Bauzeit in ihnen überhaupt keine geistigen Getränke ver¬ 
ausgabt werden dürfen, um nicht alle Ordnung, die auf der Strecke 
und in den Kantinen getroffen ist, illusorisch zu machen; auf 
andern ist der Ausschank Morgens und Abends, wenn die größte 
Versuchung an die Leute herantritt, oder Sonnabends nach Feier¬ 
abend oder an Lohnzahlungstagen untersagt worden; noch bei andern 
hat man sich mit der Festsetzung eines bestimmten Quantums be- 


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Was sind wir unseren Kanalarbeitern schuldig? 


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gniigt, das zum Genuß auf der Stelle wie auch zum Mitnehmen 
zulässig wäre. Ich würde der zu zweit erwähnten Methode den 
Vorzug geben, da die erstere eine selbst nicht immer durch¬ 
führbare, stets aber als Ungerechtigkeit empfundene Scheidung der 
Leute mit sich bringt, die letztere jedoch leicht einen Mißbrauch 
möglich macht, insofern als niemand kontrollieren kann, wie oft ein 
Mann sich bereits das zulässige Maß geholt habe. Diejenige Art 
jedoch, der wir den Vorzug gegeben haben, besitzt auch das Gute, 
daß dadurch auch die heimischen Arbeiter getroffen werden und 
den Segen dieser Einrichtung — wenn auch zunächst nur zwangs¬ 
weise! — erfahren. Daß der Lohn nicht an dem Sonnabend, ebenso 
nicht in einem Wirtshaus ausgezahlt werden darf, ist schon bei den 
früheren Bauten angeordnet und hat sich überall als eine weise und 
praktische Maßregel bewährt. 

Angebot alkoholfreier Sachen in den Baracken. Es ist nun 

eine allgemein anerkannte Tatsache, daß, wo man sich der geistigen 
Getränke erst einmal entwöhnt hat, bald auch das Durstgefühl, das 
Trinkbedürfnis stark abnimmt Einerseits ist dies jedoch nicht so¬ 
fort der Fall, andererseits wird die Art der Arbeit, wie sie die 
Kanalarbeiter zu leisten haben, immer eine größere Schweißabsonde¬ 
rung und dadurch die Notwendigkeit mit sich bringen, eine größere 
Flüssigkeitsmenge wieder zu sich zu nehmen. So ist denn darauf 
zu achten, nicht nur, daß ein Überangebot alkoholischer Getränke 
unterbleibt, sondern daß auch andersartige Mittel, die wesentlich 
durstlöschend sind, in hinreichender Menge und Beschaffenheit an- 
geboten werden. 

Auch dies hätte zuerst in den Baracken zu geschehen. Da wären 
überall gewisse alkoholfreie Getränke zu führen und bekannt zu 
machen. Hierbei käme zimächst natürlich Kaffee in Betracht, auch 
Malzkaffee, der in den meisten Fällen dem, was man unter dem 
Namen Bohnenkaffee erhält, weit vorzuziehen ist, und von dem die 
Tasse nicht einmal 1 Pfennig kostet, ebenso Kakao, der sich einer 
immer steigenden Beliebtheit auch bei den kleinen Leuten erfreut 
und ebenso billig zu liefern ist wie Kaffee. Ebenso Tee, wenngleich 
man dem noch mit größerer Zurückhaltung entgegenkommt. Doch 
wäre ein Versuch mit Mattee zu empfehlen, dem vorzüglichen 
durstlöschenden Getränk der Brasilianer, das gesüßt und ungesüßt 
getrunken gleich wertvoll ist. Ferner wäre an Zitronen zu denken — 
die zur Hälfte durchgeschnitten und in Wasser gepreßt, ein sehr 
erfrischendes Getränk geben, das ebenfalls nach Geschmack gesüßt 

Der Alkoholismus. 1905. 3 


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Dr. G. Kiißner. 


oder ungesüßt getrunken werden kann und kaum 2—3 Pfennige 
kostet. Dazu kommen all die Fruchtsäfte und Limonaden, die 
man heute in so reichlicher Auswahl und tadelloser Güte her¬ 
zustellen vermag. Vieles davon könnte in der Barackenküche zum 
Vorteil der Inhaber selbst hergestellt werden; die meisten solcher 
Stätten werden ja doch auf dem Lande liegen, wo zu gewissen 
Zeiten für beispiellos billige Preise alle möglichen Gartenfrüchte 
angeboten werden. Hat die Frau des Wirts dann einige Kenntnis 
in der Herstellung solcher Säfte, so hat sie dadurch Gelegenheit, 
eine große Zahl verschiedener, vorzüglicher und billiger Getränke 
zu bereiten und dabei selbst noch einen Überschuß zu erzielen. 
Handelt es sich dabei namentlich um nicht gezuckerte Sachen, so 
wird man dafür immer auf willige Abnehmer rechnen können. 
Führt man jedoch Fabrikware, so versäume man nicht, sich auch 
einige Prospekte davon kommen zu lassen und diese, wenn es sich 
um hübsche Reklamebilder handelt, im Eßsaal auszuhängen. Es 
ist eigentümlich, welch einen anregenden und belebenden Reiz diese 
auszuüben vermögen: es müssen all diese guten und bekömm¬ 
lichen Sachen ja auch den Leuten erst einmal bekannt gemacht 
und empfohlen werden. Sollte dabei der Mund auch etwas voll 
genommen werden, so schadet das um der guten Sache willen nichts 
Auch frisches Obst selber halte man zu gewissen Zeiten feil; be¬ 
merkenswert ist, daß eine kleinere Herberge neulich mitgeteilt hat, 
daß sie in ca. zwei Monaten 300 Apfelsinen zu 5 Pfennig verkauft 
und dabei die Hälfte verdient habe. Wenn der Genuß und 
die Schätzung frischen Obstes erst einmal bis in diese Schichten 
hinabgedrungen ist, wird man wolil auch bei solchen Bauten einen 
Versuch damit machen dürfen. Die Vorurteile, die man noch etwa 
dagegen haben sollte, werden sich mit der Zeit immer mehr legen, 
und die Anwohner werden bereitwilligst ihr Obst zu dem Zweck 
an den Bau bringen. 

Angebot auf der Strecke. Auch auf der Strecke selber muß 
ferner ein hinreichendes Angebot geschehen. Ich habe oben schon 
erwähnt, daß ich — vor allem wegen des stets wechselnden Arbeits¬ 
platzes — eine sog. Mäßigkeitskantine nicht empfehlen würde. Doch 
hat man jetzt praktische Mäßigkeitswagen hergestellt und vielfach 
in Gebrauch genommen, die den ganzen Tag auf einer größeren 
Strecke einherfahren und die gangbarsten alkoholfreien Sachen führen. 
Verschiedene Arten derselben hat Bode in seiner „Wirtshausreform“, 
(Berlin, Heymann 1898), geschildert, cf. auch „Gasthaus-Reform“ 1904, 


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Was sind wir unseren Kanalarbeitem schuldig? 


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S. 379. In England aufgekommen, finden sie sich jetzt vielfach schon 
bei uns. Eine andere Einrichtung haben die Arbeiter oft schon unter 
sich selber getroffen, indem sie auf der Strecke aus allerlei Eisenteilen, 
die bei so einem Bau immer vorhanden sind, ein primitives Rost 
herrichten, darüber einen großen Topf stellen, in welchem fortwährend 
Kaffee brodelt; ein Junge — meist ein Sohn eines der Arbeiter 
übernimmt die Aufpassung und Bedienung. An manchen Bauten 
liefern bereits die Firmen unentgeltlich den Kaffee dazu, weil sie 
sehen, wie die Leute dadurch bei Stimmung gehalten weiden, und 
wie flott ihnen die Arbeit dabei von statten gellt. 

Angebot in der Stadt. Sollten viele Arbeiter in der Stadt 
oder auf dem Lande wohnen, so ist natürlich auch dort eine Stätte 
zu schaffen, wo sie alkoholfreie Sachen beziehen können. Bei der 
Stellung, die die meisten Wirte heute leider noch, oft wider ihr 
eigenes bestverstandenes Interesse zu den Reformbestrebungen auf 
dem Gebiet des Trinkens einnehmen, kann man dabei natürlich 
nicht an sie denken, die im andern Fall zuerst in Betracht 
kämen; auch darf mau die Leute selber nicht in Versuchung führen, 
indem man ihnen Anlaß gibt, die Wirtshäuser zu besuchen. Ebenso¬ 
wenig aber würde es sich lohnen, eine extra für diesen Zweck be¬ 
stimmte feste Verkaufsstätte zu gründen; es müßte denn sein, daß 
sie an einer Stelle läge, an der alle frühmorgens zur Arbeit 
gehenden Leute vorüber gehen müßten, und daß sich ein geeigneter 
Unternehmer fände, der Morgens und Mittags den Verkauf daselbst 
übernähme. Am empfehlenswertesten würde ich es halten, wenn 
man einige Krämer in der Stadt, die zuverlässig sind und nicht im 
Rufe der Winkelkneipen stehen, ebenso einige auf dem Wege nach 
der Arbeitsstätte liegende Bäckereien veranlaßte, solche alkoholfreien 
Sachen zu führen. 

Erziehung zur Abstinenz. Ich bin der Überzeugung, daß dies 
alles — bessere WohnungsVerhältnisse, eine rationelle Pastorierung, 
systematisch betriebene Aufklärung, dazu reichliches Angebot alkohol¬ 
freier Sachen, den Genuß der Alcoholica erheblich einschränken 
würde, daß die Leute sich sehr bald wohl dabei fühlen, größere 
Ersparnisse machen und freudiger arbeiten würden. Sie würden immer 
mehr erkennen, daß all diese Maßregeln nicht etwa polizeiliche 
Bevormundungen seien, durch die ihnen lieb gewordene Genüsse 
versagt werden sollen, sondern in ihrem persönlichen Interesse und 
zu ihrem eigenen Besten ergriffen seien. Und was sie zuerst viel¬ 
leicht als eine Art Joch und Zwang empfunden haben, das werden 

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Dr. G. Küßaer. 


sie sehr bald als eine sehr wohltuende Einrichtung empfinden, von der 
sie nicht mehr lassen wollen. Kann sein, daß sich aus dem allen 
im Laufe der Zeit sogar eine abstinente Arbeiterschaft bilden würde. 
Doch wenn man das für ein wünschenswertes Ziel hält, darf man 
das nicht sich selber überlassen, zumal wohl kaum auf einem Bau 
eine Arbeiterschaft so lange vereint bliebe, daß sich diese Entwick¬ 
lung ganz aus sich selber vollzöge. So kommt es darauf an, daß 
man mit diesem Kampf gegen den Mißbrauch geistiger Getränke 
das zielbewußte Streben verbindet, eine völlig abstinente Arbeiter¬ 
schaft zu erziehen. 

Unmöglich ist das nicht; bei den Eindeichungsarbeiten an der 
schleswig-holsteinischen Westküste scheint es gelungen zu sein, eine 
durchaus enthaltsame Arbeiterschaft zu sammeln und jahrelang 
festzuhalten; — und die Arbeit, die die Leute damals zu verrichten 
hatten, läßt sich an Beschwerden und Mühseligkeit noch über die 
Kanalarbeiten stellen. Ebenso hat man auf landwirtschaftlichen 
Betrieben die schönsten Erfahrungen mit einer ganz enthaltsamen 
Arbeiterschaft gemacht (cf. das kleine Büchlein des tapferen Vor¬ 
kämpfers der Guttempler A. Smith: „Die Durchführbarkeit und der 
Wert der Enthaltsamkeit im landwirtschaftlichen Betriebe“, Flens¬ 
burg 1904). Man muß nur die nötige Zeit dazu haben. 

Aber wie soll man das nun befördern? Zunächst kann man 
auch hier an das gesprochene Wort, das dem Manne die völlige 
Enthaltsamkeit empfiehlt, und an das ermunternde Beispiel denken. 
Dabei kämen zunächst der Barackenwirt, der Pastor und der Arzt 
in Betracht. Notwendige Bedingung dafür ist freilich, daß sie alle 
drei selber abstinent seien; und zwar nicht nur aus Herablassung 
zu dem Schwachen, so daß man später, wo man zu dieser keine 
Veranlassung mehr hat, auch wieder glaubt seinen Schoppen ge¬ 
nehmigen zu dürfen, Sondern aus grundsätzlicher, in sich selber 
feststehender Überzeugung. Nur sie haben das moralische Kecht, 
die Leute zur Enthaltsamkeit zu ermuntern. So mögen denn auch 
reichlich Agitationsschriften, die die völlige Enthaltsamkeit empfehlen, 
und die in jeder beliebigen Quantität von dem Verlag der Gro߬ 
loge des Guttemplerordens, Flensburg-Neustadt 45, zu beziehen sind, 
verteilt werden. 

Dazu kämen die schon erwähnten Prämien für zeitweise völlige 
Abstinenz. 

Von hervorragendem Wert für die Heranbildung [einer ab¬ 
stinenten Arbeiterschaft wäre es ferner, wenn es gelänge, zunächst 


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einmal einen — sei es auch kleineren Schacht von etwa 25 Mann 
zu schaffen, der ganz aus abstinenten Arbeitern bestände. Dann 
könnte man deren Leistungen mit andern Schächten vergleichen; 
und ich bin nicht zweifelhaft, daß der Vergleich sehr erheblich 
zu Gunsten der abstinenten Arbeiter ausfalien würde. Zu dem 
Zweck könnte man wohl die besten abstinenten Arbeiter Zu¬ 
sammenlegen; oder man erließe in einem Abstinentenblatt eine 
Anzeige, wonach für den und den Bau abstinente Arbeiter gesucht 
würden, die sich mit Berufung auf diese Anzeige und Legitimation 
auf dem Bureau zu melden hätten. Ich glaube, daß mit Rücksicht 
auf die Tatsache, daß es heute schon tausende von abstinenten Ar¬ 
beitern gibt, sowie daß bei Kanalarbeiten ein hoher Lohn gezahlt zu 
werden pflegt, sich nicht ganz wenige dazu bereit finden werden. 
Dazu kommt der an dem Guttemplerorden bekannte Idealismus und 
seine Opferwilligkeit, wo es sich um solche das Volkswohl an¬ 
belangende Interessen handelt, vielleicht wird das sogar mit lebhaftem 
Eifer ergriffen werden. So würden sich dann gegebenenfalls eine 
Anzahl alkoholfreier Inseln in der Arbeiterschaft bilden; bei dem 
engen Zusammenschluß jedoch, in dem diese zu stehen pflegt, 
ist es wohl anzunehmen, daß die abstinenten Arbeiter immer mehr 
Kameraden in ihr Lager herüberziehen werden. Man sollte einen 
Versuch damit machen; gelingt er nicht — so ist nichts verloren. 
Gelingt er, so ist viel gewonnen! Welch ein ganz anderes Angesicht 
würde aber erst eine abstinente Arbeiterschaft zeigen! Welch ganz 
andere Wohlfahrtseinrichtungen könnte man für sie ins Leben 
rufen! 

Möchten aber auch alle Angestellten der Baufirmen oder Be¬ 
amten des Staates bedenken, welch einen unschätzbaren Dienst sie 
der guten Sache leisten würden, wenn sie selber — wenn nicht 
total abstinent würden, so doch sich der strengsten Mäßigkeit be¬ 
fleißigten. Die Herren stellen sich in den seltensten Fällen vor, 
welch einen Schaden sie in den Köpfen ihrer Arbeiter anrichten, 
wenn sie selber, eben nachdem der Pastor ihnen strengste Mäßig¬ 
keit ans Herz gelegt hat — so unbedenklich ihren studentischen 
Allüren nachgehen und oft so leichtfertig von dem Alkohol reden! 
Es handelt sich bei der Kanalarbeiterschaft noch viel mehr als bei 
andern um Leute, die ein gewisses Autoritätsbedürfnis besitzen, 
die mit einer gewissen Scheu auf höher Stehende blicken, sich nach 
ihrem Beispiel richten, wobei zu allererst ihre Vorgesetzten in 
Betracht kommen. Diese können ihre Köpfe verwirren, können 


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Dr. G. Küßner. 


einen unheilvollen Zwiespalt in sie hineintragen, wenn sie un¬ 
bedenklich den Mißbrauch geistiger Getränke mitmachen, wie er 
heute überall stattfindet; sie können sich aber auf das höchste 
um sie verdient machen, wenn sie ihnen mit einem guten Beispiel 
vorangehen und sich selber diejenigen Schranken auferlegen, die 
sie jenen ziehen. 


5. Drei Hilfsmittel zu dem allen. 

Zu diesen aufklärenden, den Mißbrauch geistiger Getränke be¬ 
kämpfenden und die Nüchternheit befördernden Maßregeln kommen 
jedoch noch einige Hilfsmittel, ohne die all diese Bestrebungen 
leicht vergeblich sein könnten. 

Ernähnmgsfrage. Das erste betrifft die Ernährungsfrage. Es 
bedarf keines Nachweises, wie innig die Ernährungsfrage mit dem 
Gebrauch resp. Mißbrauch geistiger Getränke zusammenhängt. Das 
Essen kann schlecht, unzureichend, unappetitlich sein, so daß man 
nur glaubt, es genießen zu können, indem man es stark mit alkoho¬ 
lischen Getränken begießt; es kann auch — obwohl im allgemeinen 
gut — eine Zusammensetzung und Zubereitung besitzen, die dazu 
auffordert und reizt, nachher alkoholische Getränke zu genießen, 
wie es fast noch überall der Fall ist, wo man nicht ganz rationelle 
Kenntnis in der Hinsicht besitzt. Das alles ist nun in erhöhtem 
Maße in der Ernährungsweise der Kanalarbeiter vorhanden. Diese 
ist eine dreifache. 

Erstens: die Leute nehmen ein reichliches Frühstück mit auf 
die Baustrecke, leben davon den ganzen Tag und nehmen erst spät 
Abends ihre erste warme Mahlzeit ein. Es liegt auf der Hand, 
daß das nicht zu billigen ist und auf die Dauer die Gesundheit 
schädigen muß, zumal die Heimkehr im Sommer oft erst sehr spät 
erfolgt, ebenso daß der Mann dadurch vielfach zum Trinken ver¬ 
anlaßt wird, um die schlaff werdenden Magennerven zu reizen und 
sich ein erhöhtes Kraftgefühl zu verschaffen. Der Grund hierfür 
liegt oft in der Liebhaberei und Eigenheit des Mannes; dann ist 
dem sehr schwer beizukommen; in vielen Fällen jedoch in mangeln¬ 
den Einrichtungen auf der Strecke oder in der minderwerten Be¬ 
sch aff enlieit des in der Baracke oder Kantine hergestellten Essens; 
dann deckt sich das mit den gleich zu erwähnenden Übelständen 
und erfordert die gleiche Abhilfe. Es kommt jedoch auch vor, daß 
die Baracke, von der die Speise eventuell zu beziehen wäre, zu 


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Was sind wir unseren Kanalarbeitern schuldig? 


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weit abliegt, daß der Weg hin und her zu viel von der so wie so 
dürftig bemessenen Mittagsruhe in Anspruch nimmt. In diesem 
Fall ist es nötig, daß eine Einrichtung geschaffen werde, wodurch 
die Speisen in gewärmtem und hinreichend appetitlichem Zustand 
an Ort und Stelle gebracht werden, sei es daß man Feldbahnen 
benutzt, wie in den meisten Fällen möglich, oder daß man 
einfache, gewärmte Speisewagen zu dem Zweck einstellt, wie sie 
von unserer Industrie schon seit längerer Zeit hergestellt werden 
und bereits vielfältig in Brauch sind. Jedenfalls sollte reichlichst 
Gebrauch gemacht werden von den sog. schwedischen Heukisten, 
die sich jeder für seinen eigenen Bedarf herstellen kann. 

Zweitens: die Leute lassen sich das Essen zu Mittag von ihren 
Frauen auf die Strecke bringen; dann ist es kalt, das Fett erstarrt, 
der Geschmack fade; ebenso fehlt es an einem Unterschlupf, wo 
man es zu sich nehmen kann — allem Wind und Wetter ausgesetzt, 
unter einem Strauch, in einer Bodensenkung, auf einem Baumstumpf 
sitzend, schlingt der Mann das Essen hinunter; alles ein Anlaß, viel 
Schnaps dazu zu trinken. Was daher notwendig ist, dem einiger¬ 
maßen zu wehren, ist eine Gelegenheit, eine Feuerstätte, ein Feld¬ 
herd oder dergleichen, wo man die mitgebrachten Speisen wärmen 
kann; zweitens ein Unterschlupf, wo man sie, vor den Unbilden 
der Witterung geschützt, zu sich nehmen kann. Das könnten nach 
dem Winde stellbare, hölzerne Zufluchtstätten oder kleine, aber 
windsichere, aus starkem Segeltuch hergestellte Zelte, oder, was ich 
für das beste halten würde, so eine Art Strandkorb sein, für zwei 
Personen eingerichtet, den die Eheleute hinstellen könnten, wie sie 
wollten, und wo sie Gelegenheit hätten, einige Minuten wenigstens 
allein zu sein. Wenn man sieht, wie die Leute sich nach so einer 
Einrichtung sehnen, und welche elenden Hilfsmittel sie zu dem 
Zweck benutzen, dann wird man die Anschaffungskosten dafür nicht 
für zu teuer erachten. 

Drittens: das Essen in der Baracke. In den erstgenannten 
schlechteren Baracken ist das natürlich größtenteils miserabel und 
höchst unappetitlich, wie das ganze Äußere dieser Baracken dem 
Manne überhaupt jedes Essen verleiden muß. Meist ist es auch 
ein durchaus armseliger Küchenzettel, der da geführt wird, wenn 
man sich nicht überhaupt auf Wurst und Brot, Speck und Kar¬ 
toffeln beschränkt — der Schnaps hat dort alles verdrängt. Solche 
Baracken gibt es hoffentlich bei den nächsten Bauten nicht mehr. 
Aber auch bei den besseren Baracken kommt es vor, daß die Küche 


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zu wünschen übrig läßt, wenngleich es sehr schwer ist, es in dieser 
Beziehung allen Leuten recht zu machen. Oft sind es ungeeignete 
Leute, in deren Händen die Küche liegt, sie kennen die Bedürfnisse 
des einfachen Mannes nicht immer. Manchmal ist es zu gut, was 
sie ihm vorsetzen; dann schätzen die Leute es nicht. Manchmal 
aber auch zu schlecht, zu wenig auf seine Bedürfnisse berechnet; 
dann ist großer Skandal. Namentlich wird bei allen diesen Küchen 
viel zu wenig die Beziehung, in der die Speisen zu dem Genuß 
alkoholischer Getränke stehen, beachtet; auch macht man allgemein 
bei all solchen Gelegenheiten noch viel zu wenig Gebrauch von 
den Resultaten der neueren Küchenchemie, die die Speisen z. T. 
durchaus anders wertet, als es früher der Fall war. Viel gewonnen 
wäre ja bereits, wenn die Baracken selber in einem besseren Zu¬ 
stand gehalten wären, auch bei der Auswahl der Inhaber die 
größte Vorsicht waltete, und nur solche zugelassen würden, die sich 
über hinreichende Erfahrung auf diesem Gebiet ausweisen könnten. 
Vielleicht schenkt uns auch einmal ein Kenner ein Buch — bis 
jetzt haben wir noch keins! — welches erstens die Beziehung der 
ganzen Ernährungsfrage zu allem, was mit dem Trinken zusammen¬ 
hängt, berücksichtigt, zweitens die Resultate der neueren Ernährungs¬ 
wissenschaft — denn zu einer solchen hat sie sich bereits aus¬ 
gebildet, in gesunder und besonnener Weise verwertet (etwa wie 
das Buch von Louise Ravit-Kiel), dabei aber mit vollem Bewußtsein 
die Massenverpflegung von schwer arbeitenden Männern ins Auge 
faßt. Der guten Sache würde damit ein hervorragender Dienst 
geleistet. 

Schutzvorkehrungen auf der Strecke. Als ein weiterer, stark 
empfundener Schaden, durch den die Leute oft in Versuchung 
kommen, zur Flasche zu greifen, und der mit dazu beiträgt, das 
ganze Niveau, auf dem sich die Leute befinden, herabzudrücken, 
kommt der Mangel von allerlei notwendigen Schutzvorrichtungen 
auf der Strecke und in den Ortschaften in Betracht Auf der 
Strecke werden die Leute oft drei- und viermal bis auf die Haut 
naß, haben aber keine Gelegenheit, wo sie die erstarrten Gliedmaßen 
wieder wärmen oder ihre Kleider trocknen können. Auch ist da 
kein Platz, wo sie das mitgebrachte Frühstück hinlegen, den Wetter¬ 
mantel aufhängen, eventuell auch ihr schweres'Arbeitsgerät einstellen 
können. Es sind freilich in den meisten Verordnungen solche 
Bauhütten vorgesehen; doch entweder sind sie nicht da — dar¬ 
über wird fast überall geklagt — oder durchaus unzureichend, 


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voll von rostigen Eisenteilen, Laschen, Schienen und Gerümpel 
aller Art, so daß sie für den gedachten Zweck absolut nicht in 
Betracht kommen. Solche Schutzhütten und Baubuden müssen für 
die Zukunft überall in hinreichender Zahl und Größe vorhanden 
sein, welch beides sich natürlich nach den sonst bereits auf der 
Strecke befindlichen Einrichtungen, nach der Nähe der Baracken 
und Ortschaften richtet. Eine über ihren unmittelbaren Zweck 
hinausgehende Festigkeit brauchen sie selbstverständlich nicht zu 
haben. Doch muß man bedenken, daß es sich dabei um auf freiem 
Felde allen Stürmen ausgesetzte Hütten, ebenso um Männer handelt, 
die meist fern von ihrem Wohnort sind und sich wenigstens zwölf 
bis vierzehn Stunden im Freien aufhalten müssen. Zweckdienlich 
könnten diese Buden mit den oben geschilderten Einrichtungen 
verbunden werden. 

Aufenthaltsraum. Etwas Ähnliches bedürfen die Leute auch 
in den Orten, wo sie untergebracht sind. Es kommen oft mehrere 
Tage vor, wo nicht gearbeitet wird; das sind hohe Festtage, von 
denen oft drei und vier aufeinander folgen, oder Zeiten, wo die 
Witterung die Arbeit nicht zuläßt. Wo sollen da die Leute bleiben? 
In ihren Quartieren ist das nicht möglich. Die sind meistens nur 
für die Nacht; Wärmehallen oder öffentliche Anlagen gibt es 
nicht — da strömt natürlich alles in die Kneipen; und dort ent- 
Avickelt sich schnell eine solenne Kneiperei, bei der oft in wenigen 
Stunden der Verdienst einer ganzen Woche darauf geht. Auch be¬ 
sonnenere Leute werden oft mit fortgerissen, und der Wirt tut 
alles, um die Leute zu immer größeren Geldausgaben zu verleiten. 
Das ist freilich ein Übelstand, dem sehr schwer beizukommen ist, 
dem aber doch in Anbetracht des Schadens, den er anrichtet, ab¬ 
geholfen werden muß. Gelindert würde derselbe ja schon, wenn 
die Privatquartiere die geforderte Beschaffenheit besäßen, so daß 
die Leute sich gegebenen Falls dort aufhalten könnten; ebenso 
würde eine Arbeiterschaft, wie sie durch die geschilderte Sichtung 
entstanden wäre, eher im stände sein, der Versuchung zu wider¬ 
stehen. Aber doch erfordert es die Gerechtigkeit und Menschen¬ 
liebe, den Leuten einen angemessenen Baum zu schaffen, wo sie solche 
Tage — überhaupt arbeitslose Zeiten — verbringen können, ohne 
gezwungen zu sein, alkoholische Getränke zu sich zu nehmen oder 
Ausgaben zu machen. Es würden sonst solche Tage nicht nur 
negativen Charakter haben, insofern an ihnen nichts verdient wird, 
sondern sogar destruktiven, indem an ihnen unverhältnismäßig 


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hohe Summen des vorhandenen Kapitals verzehrt und zerstört 
werden. Da sich die Wirte aller Wahrscheinlichkeit nach auf dies¬ 
bezügliche Abmachungen nicht einlassen würden, die Beschaffung 
solcher Bauten in den betreffenden Ortschaften ebenfalls auf viel 
Schwierigkeiten stoßen würde, so müßten auf dem Grund und Boden 
der Verwaltung — etwa dort, wo das Baubureau ist, wo Schmiede- 
und Schlosserwerkstätten sich befinden, wo so wie so schon eine 
ganze Kolonie von Wellblech- und Blockhäusern zu sein pflegt, wo 
auch eine Verbindung mit allen Baustellen vorhanden ist, ein ge¬ 
eignetes Gebäude errichtet werden, das diesen Zwecken dient, wo 
die Leute sich jederzeit frei aufhalten, angemessen unterhalten 
könnten und Hausrecht besäßen. Wo erst einmal ein solches Ge¬ 
bäude vorhanden ist, das tatsächlich einem dringenden Bedürfnis 
entspricht, würden viele Veranstaltungen und Vorkehrungen, die 
man noch sonst zu Gunsten der Kanalarbeiter treffen möchte und 
oft gefordert hat, für die aber bis jetzt nirgends Raum und Gelegen¬ 
heit vorhanden war, verwirklicht werden können, wovon später zu 
sprechen sein wird. 

Länge der Arbeitszeit. Zum Schluß bedarf auch die Länge 
der Arbeitszeit und die entsetzliche Sonntagslosigkeit der Leute 
einer energischen Regelung. Die Arbeitszeit pflegt bei solchen 
Bauten in der Hauptsaison eine unerhört lange zu sein; am Elbe- 
Trave-Kanal dauerte sie monatelang fünfzehn und mehr Stunden; 
dazu kamen oft Wege von acht, zehn und mehr Kilometern, zum 
Teil auf ungebahnten Wegen. Wenn die Leute dann übermüdet 
nach Hause kamen, hastig ihre Mahlzeit eingenommen und die 
nötigen Vorbereitungen für den nächsten Tag getroffen hatten, 
blieben für die Nachtruhe kaum mehr als vier Stunden. Und welch 
eine Arbeit ist das, die die Leute zu leisten haben! Da stehen sie 
in schlammiger Tiefe; die Schüttwagen oft 1%—2 Meter über 
ihnen; da hinein sollen sie dann die schwere, tonige oder lehmige 
Erde werfen — und das soll den ganzen Tag von Morgens vier 
Uhr bis spät in den Abend hinein geschehen. Man kann sich 
denken, wie das an einem Menschen zehrt, ihn entwürdigt, ihn dumpf 
und stumpf macht und ihm immer wieder die Schnapsflasche in die 
Hand drückt. Das würde man kaum einer Maschine und noch viel 
weniger einem Zugtier zumuten. Freilich weiß ich, daß das alles 
der Form nach freiwillig geschieht, ebenso, daß es wie bei jeder 
Arbeit so auch hier besonders arbeitsreiche Zeiten gibt, die zugleich 
Zeiten hohen Verdienstes sind (4,50—5 Mark). Ja, zum größten 


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Was sind wir unseren Kanalarbeitem schuldig? 


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Teil sind es gerade die besten Arbeiter, die solche Überstunden 
machen; sie haben die Absicht, möglichst viel Geld nach Hause zu 
schicken imd übernehmen deshalb willig eine weit über ihre Kraft 
hinausgehende Arbeitsleistung; wie es überhaupt immer die besten 
zu sein pflegen, die bei solchen Bauten mit am meisten aus¬ 
genutzt werden! Aber ich weiß auch, daß diese sogenannte Frei¬ 
willigkeit meist nur eine scheinbare und erzwungene ist; dahinter 
lauert immer der „Fremdzettel 1 ', mit welchem manche Schachtmeister 
immer unter irgend einem Vorwand schnell bei der Hand sind. 
Und das fürchten gerade die zuverlässigsten Arbeiter, Ehegatten 
und Familienväter, während die schlechteren, die ihre Sache auf 
nichts gestellt haben, „ihren Kram in den Dreck werfen“ und auf 
und davon gehen. 

Soimtagslosigkeit. Ebenso ist es mit der Sonntagslosigkeit 
der Leute. Wohl ist es bekannt, daß es darüber genaue gesetz¬ 
liche Bestimmungen gibt. Aber es ist auch bekannt, wie zahllos 
schon die Ausnahmen sind, die das Gesetz selber zuläßt. Nun soll 
man jedoch sehen, welche Ausdehnung diese in der Praxis selber 
erhalten, wo fast jeder Grund für stichhaltig angesehen wird, diese 
armen, gehetzten Menschen dieses kostbarsten Gutes, dieses einzigen 
Lichtpunktes in ihrem freudlosen Dasein, zu berauben, dann weiß 
man, daß die Sonntagsruhe zu den verschwindenden Ausnahmen 
gehört, daß die Sonntagslosigkeit fast überall die Regel geworden 
ist — nur daß die Arbeit dann ein klein wenig später anfängt, wie 
zum Hohne um die Zeit des angesagten Gottesdienstes auf offner 
Strecke, weit von allen menschlichen Wohnungen entfernt, sistiert 
wird und etwas früher aufhört. Wohl sind die Herren von der 
Verwaltung immer sehr bereit, alle möglichen Gründe anzuführen, 
weshalb eine solche Arbeit notwendig sei, da sollten Geleise neu 
gelegt, Dämme ausgebessert, Maschinen gereinigt, Wasser gepumpt 
werden u. s. w.; und immer heißt es, wenn das nicht geschieht, so 
muß die Arbeit den nächsten Tag ruhen. Wohl kann man auch 
hier zugeben, daß Verhältnisse ein treten können, die einige Stunden 
Sonntagsarbeit nötig machen; dann wird kein einsichtiger Mensch 
dagegen protestieren. Aber das darf nicht zur Regel werden, so 
daß die freien Sonntage zur seltenen Ausnahme werden; es darf 
der Profit, das Interesse des Kapitals nicht den Ausschlag geben. 
Und bei einigem guten Willen läßt es sich in den meisten Fällen 
auch machen, die Sonntage arbeitsfrei zu halten — das ist mir 
oft genug von vernünftigen Beamten bestätigt worden. Man soll 


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Dr. G. Küßner. 


sich nur dazu verstehen, unsterbliche Seelen für höher zu halten 
als hohe Prozente, und Menschenleiber für wertvoller als Maschinen¬ 
teile. 

Ja! wie immer, so ist es auch hier: man glaubt, so klug zu 
sein und alles so fein berechnet zu haben, und schneidet sich doch 
in sein eigen Fleisch! Es ist ja doch im Laufe der Zeit allgemein 
bekannt geworden, welch einen problematischen Wert solche Über¬ 
stunden und der Mangel an Sonntagsruhe besitzt — nicht nur in 
ideeller Hinsicht — das spielt ja bei diesen Profitmenschen keine 
Rolle, sondern auch in finanzieller und national-ökonomischer 
Richtung. Es ist bekannt, daß die Arbeit, die in solchen Über¬ 
stunden gemacht wird, minderwert ist — und doch muß sie als 
vollwertig, eher noch höher bezahlt werden. Ebenso ist es Tatsache, 
daß zu solchen Zeiten die größten Maschinenschäden stattfinden, 
die später kostspielige Reparaturen erfordern, daß aus dem gleichen 
Anlaß die schwersten Unglücksfälle Vorkommen, die einen Menschen 
Zeit seines Lebens ruinieren können. Ebensowenig bedarf es eines 
Nachweises, daß es weder eine Lust noch ein Gewinn sein kann, 
mit einer durch solches Übermaß von Arbeit mürbe und müde, 
reizbar und verdrossen gewordenen, ohne Sinn und Interesse arbei¬ 
tenden Mannschaft zu arbeiten: jedes Kind kann sich sagen, daß 
mit ihr nur die Hälfte geleistet werden kann. Wo bleibt da der 
so heiß ersehnte Profit? 

Nein! So kann es nicht bleiben! Das widerspricht aller Ge¬ 
rechtigkeit und Menschenliebe! Zwölf Stunden Arbeitszeit ist das 
höchste Quantum, das einem Mann an den Wochentagen zugemutet 
werden darf; die Ruhezeiten müssen dabei reichlich bemessen sein 
und wirklich als solche benutzt werden können; die Sonntagsruhe 
muß strikte inne gehalten werden. Wenn jedoch einmal Sonntags¬ 
arbeit notwendig geworden sein sollte, so ist den betreffenden 
Arbeitern in der darauf folgenden Woche eine ununterbrochene 
Ruhe von 36 Stunden zu gewähren. Auch darf es niemals in das 
Ermessen eines niederen Beamten gestellt werden, diese Gottes¬ 
ordnung zu durchbrechen und die von ihm abhängigen Arbeiter 
dieses ihres edelsten Rechtes zu berauben, durch das sie sich ein¬ 
mal auf sich selbst besinnen und ihrer höheren Natur bewußt 
werden können. Entweder müssen die gesetzlichen Bestimmungen 
so genau fixiert werden, daß sie jede eigenmächtige und willkür¬ 
liche Auslegung unmöglich machen, oder es müßte jedesmal unter 
Angabe von Gründen um Erlaubnis der Sonntagsarbeit nachgesucht 


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Was sind wir unseren Kanalarbeitem schuldig? 


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■werden, resp. wäre darüber nachträglich Bericht zu erstatten. 
Wohl ist das eine sehr empfindliche Belästigung, aber wo die bis¬ 
herige Freiheit, wo das Vertrauen, das man in die Menschlichkeit 
und Gerechtigkeit der dafür verantwortlichen Stellen gesetzt hat, 
so gröblich, so schmählich gemißbraucht worden ist, daß solche Zu¬ 
stände haben einreißen und trotz anderslautender, durchaus wohl¬ 
wollender Bestimmungen haben jahrelang fortbestehen können, da 
gibt es kein anderes Mittel, als strengste Aufsicht und Belästigung! 

All diese Maßregeln haben ja ihren Wert in sich selber; wir 
sind das diesen Menschen schuldig als unseren Brüdern, die sich 
selber nicht helfen können, denen andere deshalb beistehen müssen, 
um ihnen menschenwürdige Daseinsbedingungen zu schaffen. Aber 
doch stehen sie auch alle im Dienste des Kampfes gegen den Mißbrauch 
geistiger Getränke. All die Maßnahmen, die wir vorher vorgeschlagen 
haben, würden wirkungslos bleiben, wenn nicht auch diese schreien¬ 
den Übelstände mit kraftvoller Hand angefaßt und beseitigt werden 
würden; noch so gute Wohnungen, noch so eindringliche Mahnungen 
und Appelle an das Ehrgefühl der Leute würden nichts fruchten, 
wenn nicht auch die ganze Emährungsfrage nach vernünftigen Ge¬ 
sichtspunkten geregelt, für geeignete Schutz- und sonstige Aufent¬ 
haltsräume der Leute gesorgt und die Arbeitszeit nach humanen 
Grundsätzen geordnet wäre. Wo das alles aber Hand in Hand 
geht: eine Tätigkeit, die den Grund, aus dem bisher der Mißbrauch 
geistiger Getränke stammte, zu beseitigen, die die Menschen aufzu¬ 
klären, die das Überangebot alkoholischer Getränke zu verhüten, 
dagegen reichlich Ersatzgetränke anzubieten sucht, die ebenso 
zweckdienlich wie billig und wohlschmeckend sind, eine Tätigkeit, 
die überhaupt die ganzen Daseinsbedingungen dieser Ausgestoßenen 
zu heben bestrebt ist — wo das alles Hand in Hand geht und ge¬ 
treulich geübt wird, auch wenn man nicht gleich Erfolge sehen 
sollte, da wird man auch in nicht allzulanger Zeit der Alkohol¬ 
seuche Herr werden. Ein einziges Mittel, oder hie und da kleine 
Mittelchen, regellos angewandt, werden das Übel nur verschlimmern: 
sie alle, vereint angewandt und mit weiser Fürsorge gehandhabt, 
werden ohne Zweifel wesentlich mit dazu beitragen, eine im großen 
ganzen mäßige, in Teilen sogar abstinente Arbeiterschaft zu er¬ 
zeugen. 

Aufbringung der Kosten. Freilich, wenn man das alles zu- * 
sammenzählen würde, was wir jetzt gefordert haben, so würde eine 
ganz erkleckliche Summe herauskommen; und alle, die nur den in 


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Dr. G. Küßner. 


harten Talern einzustreichenden Gewinn vor Augen haben, werden 
Zeter und Mordio schreien über diese „unerhörten Zumutungen“. 
Dabei aber ist zu bedenken: das Wohl der Arbeiter, die so treu 
so schwere Arbeiten verrichten, die so viel Geld ins Land bringen, 
die Werte schaffen, von denen das ganze Volk, ja, noch viele Jahr¬ 
hunderte gut haben werden, die Pflichten der Gerechtigkeit und 
Nächstenliebe sind in allererster Linie maßgebend. Ob wir sofort 
einen gangbaren Weg aufweisen können, wie die Mittel leicht und 
bequem aufzubringen sind, ob wir gleich den Vorteil davon haben, 
kommt erst in zweiter Linie in Betracht. Unsere unausweichliche 
Pflicht ist es, den Leuten es so gut zu geben als es nach allseitiger, 
gerechter, billiger und liebevoller Erwägung aller Verhältnisse über¬ 
haupt möglich ist; und wir würden mit dem ganzen sozialen Geist 
unserer Zeit — wie Herr von Massow in seinem erwähnten treff¬ 
lichen Referat ausführt — in Widerspruch geraten, wenn wir uns 
dieser Pflicht entzögen. 

Aber wir dürfen auch nicht vergessen: es stehen ebenfalls ganz 
gewaltige reale Erwägungen auf dem Spiel. Wer kann es ausdenken, 
welche Schäden der Gesamtheit zugefügt werden, wenn in solchen 
Kanalbauten viele Jahre hindurch Zentren geschaffen würden, wo 
die gesamte Stromerschaft Deutschlands sich eine Zeitlang aufhalten 
und mit Mitteln versehen könnte, um auf Monate ungestraft der 
Völlerei zu leben, wenn mangels geeigneter Vorkehrungen viele 
jüngere und ältere Leute, die zu der Zeit gerade stellenlos sind 
und auf so einem Bau wieder Arbeit gefunden haben, verlumpen 
und zu Vagabunden werden, wenn bis dahin ordentliche Arbeiter 
unter der Ungunst der Verhältnisse verrohen, zu Trinkern werden 
und ihre Angehörigen daheim vergessen?! Wer kann es berechnen, 
welche Kosten der Gesamtheit durch die unter solchen Verhält¬ 
nissen nur gar zu leicht möglichen Schlägereien, Messerstechereien 
und Verbrechen aufgebürdet werden können, welche Aufwendungen 
für Armenunterstützung, frühzeitige Invalidität, Unfall und Krank¬ 
heit damit verbunden wären. Das alles kann ja nicht mit Zahlen 
belegt werden; aber jedermann sieht, daß das in die Millionen 
geht. Nehmen wir beispielsweise den Kaiser-Wilhelm-Kanal an, 
wodurch ca. 10 Jahre 6000 Mann beschäftigt waren; ich will dabei 
nur 100 Mk., die der Mann jährlich für geistige Getränke ausge¬ 
geben hat, annehmen, eine Zahl, die bei weitem nicht ausreicht, 
so würde das für die Bauzeit eine Summe von 6 Mill. Mark aus¬ 
machen. Das würde sich aller Wahrscheinlichkeit nach jedoch ver- 


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Was sind wir unseren Kanalarbeitern schuldig? 


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doppeln und verdreifachen, wenn man die indirekten Kosten, den 
ganzen "Verlust an National Wohlstand dazu rechnete. — Welch un¬ 
geheuren Werte würden gespart werden oder in positiven Wohl¬ 
fahrtseinrichtungen angelegt werden können, wenn es gelänge, mit 
Ausgabe weniger Tausende, diesem Mißbrauch direkt und indirekt 
zu wehren. Die Gebote der Menschlichkeit decken sich hier wieder 
einmal mit den Geboten der Klugheit. 

Es darf also keine Frage sein: die für all die vorgeschlagenen 
Veranstaltungen notwendigen Summen müssen und können aufge¬ 
bracht werden. 

Viele Schultern, die dazu beitragen. Aber andererseits sind 
es auch viele Schultern, auf die sich diese Kosten verteilen, ohne 
sehr erheblich damit belastet zu werden. 

Baufirmen. Zuerst kommen die großen Baufirmen dabei in 
Betracht. Wohl hat man vorgeschlagen, der Staat selber möge 
alles, was mit der Unterbringung und Verpflegung der Leute zu¬ 
sammenhängt, in eigene Regie übernehmen und sich dabei der Mit¬ 
hilfe sämtlicher einschlägiger Vereine bedienen, die vor allem das 
dazu nötige Personal zu stellen hätten. Doch halte ich es nicht 
für sehr wahrscheinlich, daß der Staat darauf eingehen würde; wenn 
schon aus keinem andern Grunde, so deshalb, weil die Ausführung 
all der geplanten Bauten sich auf eine verhältnismäßig kurze Zeit 
erstrecken und gleichzeitig geschehen würde, so daß nicht etwa 
die bei dem einen Bau verwandten Baracken, Schutzhütten, Block¬ 
häuser, Versammlungsräume, Speisewagen u. s. w. nachher auf 
einem andern Verwendimg finden könnten; sie alle müßten gleich¬ 
zeitig vorhanden sein und würden nachher größtenteils überflüssig 
werden. Das wäre jedoch nicht rationell. 

Ob ferner die betreffenden christlichen und humanitären Ver¬ 
eine, die es heute bei uns gibt, und die Herr von Massow herbei¬ 
ruft, dazu im stände sein werden, das große zu leisten, das er ihnen 
zumutet, wenn der Staat ablehnen würde, ob ihre Kraft dazu wirk¬ 
lich ausreicht, ja, ob es überhaupt möglich sein wird, sie alle zu 
dem Zweck zu einer einheitlichen Tätigkeit zu organisieren, er¬ 
scheint mir nicht durchaus sicher. Ja, wenn wir bereits so ein 
großes, fertiges Unternehmen besäßen, etwa in Form einer Wohl¬ 
fahrts-Genossenschaft, wie man es in früheren Jahren angeregt, die 
sich berufsmäßig der Beherbergung und Beköstigung dieser Wander¬ 
arbeiter annähme und das dazu erforderliche Material besäße, so 
wäre die Sache leichter. Da das jedoch nicht der Fall ist, so sind 


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Dr. G. Küßner. 


wir notgedrungen auf die Mithilfe der großen Baufirmen ange¬ 
wiesen. 

Aber ich halte die Gefahr auch durchaus nicht für so groß, 
wie Herr von Massow sie darstellt; als ob jedesmal mit der Über¬ 
nahme der Beherbergung und Beköstigung der Leute von seiten 
der Baufirmen eine Ausbeutung derselben stattfinden müßte, durch 
die sich die Unternehmer für gehabte Kosten schadlos halten wollten. 
Man muß nur die Möglichkeit, die Gefahr kennen, die damit ver¬ 
bunden ist, und die nötigen Vorkehrungen dagegen treffen. Die 
Baubehörde müßte sich zuerst selber ganz klar über die Art und 
Weise sein, wie die Beherbergung und Beköstigung der Leute zu 
geschehen hätte. Die Bedingungen, die alles diesbezügliche genau 
enthielten, müßten beizeiten zur öffentlichen Kenntnis, namentlich 
der großen hierbei in Betracht kommenden Unternehmerfirmen ge¬ 
bracht werden. Bei eventuellen Bewerbungen müßten diese die 
Kostenanschläge für die Bauausführung gesondert von den für 
Unterbringung und Verpflegung der Leute einreichen; der Zuschlag 
dürfte nicht dem Mindestfordernden erteilt werden; bei der Unter¬ 
bringung der Leute dürfte nichts gespart werden. So würden die 
betreffenden Firmen die ihnen auferlegten Mehrkosten von vorn¬ 
herein in den Voranschlag einstellen und ihre Forderungen etwa 
um 50—100000 Mk. erhöhen, was bei diesen Millionen-Losen nicht 
in Betracht käme, auch bei allen Unternehmern das gleiche bliebe, 
so daß die Konkurrenz unter diesen dadurch nicht erhöht würde. 
Käme dazu die unten zu schildernde, sich den Verhältnissen an¬ 
schmiegende Kontrolle, so würde die befürchtete Gefahr durchaus 
vermieden. 

Staat, Kirche, Innere Mission, Vereinswesen. Zu zweit käme 
der Staat als solcher in Betracht, der nicht nur ein moralisches, 
sondern wie gezeigt, auch ein gewaltiges pekuniäres Interesse daran 
hat, daß seine Angehörigen nicht leiblich oder sittlich bei solchen 
Bauten Schaden leiden und als defekte Menschen in die heimischen 
Verhältnisse zurückkehren, der aber auch in den riesigen Kapitalien, 
die er aus dem ganzen Versicherungswesen gesammelt hat, über 
hinreichende Mittel verfügt, alle mit Bezug auf das körperliche und 
ethische Wohl der Leute erforderlichen Veranstaltungen ausgiebig 
zu unterstützen, und der schon oft genug bereitwilligst zu ähnlichen 
Zwecken erhebliche Summen zur Verfügung gestellt hat Dazu 
käme ferner die Kirche, sowohl die offizielle kirchliche Organisation, 
wie die innere Mission mit ihren vielen Vereinen und Veranstal- 


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Was sind wir unseren Kanalarbeitern schuldig? 


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tungen, die alle irgend welche in ihr Gebiet schlagenden Kosten 
übernehmen würden; und zwar je nach lokalem Bedarf und Antrag. 
Die betreffenden Konsistorien würden z. B. das Gehalt für den anzu¬ 
stellenden Prediger tragen, resp. wenn es mehrere sein sollten, er¬ 
hebliche Zuschüsse dazu leisten; Schriften-Vereine übernähmen die 
Verteilung und Kolportage von guten Blättern und Büchern, andere 
die Anschaffung von Harmonien, die Ausschmückung der Baracken, 
auch der Gustav-Adolph-Verein resp. die betreffenden katholischen 
Verbände würden mit heranzuziehen sein. Ebenso würde der Ge¬ 
meinschafts-Verein viele seiner überschüssigen, jetzt oft an durch¬ 
aus ungeeigneten Stellen stehenden Arbeitskräfte und Evangelisations- 
Redner hier hinsenden können, wo sie meiner Ansicht nach geradezu 
eine Mission haben und ihre Existenzberechtigung beweisen könnten. 
Auch dem deutschen Herbergs-Verein, dem Verband der vereinigten 
Arbeiterkolonien, dem Guttempler-Orden, dem Verein gegen den 
Mißbrauch geistiger Getränke böte sich hier ein schönes Feld der 

Tätigkeit! Nur nicht zu viel organisieren und theoretisieren- 

alles nach Bedarf und auf Antrag! 

Besonders interessierte Kommunen und Verbände. Während 
man an all diese Stellen jedoch schon gedacht hat, ist man an zwei 
ebenfalls stark in Betracht zu ziehenden Stellen bisher ziemlich 
achtlos vorüber gegangen. Es gibt viele Menschen, welche schon 
während der Bauzeit eines Kanals sehr große Verdienste von 
diesem haben; das sind zahllose Vermieter, Handwerker, Schlachter, 
Krämer, Kaufleute aller Art. In Mölln waren z. B. zeitweise 600 Mann 
untergebracht. Viele waren verheiratet und hatten starke Familien; 
sie alle wohnten und lebten, besorgten alle Einkäufe in der Stadt. 
Dazu kamen die alle, die zu dem Zweck vom Lande hereinkamen 
und hier ihre Einkäufe besorgten, ebenso größere Geschäfte, die 
die Unternehmerfirmen abschlossen; das auf mehrere Jahre be¬ 
rechnet, macht Millionen. Noch dazu sind das Summen, die sich 
ziemlich gleichmäßig auf alle Schichten der Bevölkerung verteilen. 
Es wäre deshalb gar nicht ungerecht, wenn sie alle, die an diesen 
reichen Einnahmequellen partizipieren, in irgend einer Weise zu 
den Kosten herangezogen würden, die zwecks rationeller Versorgung 
der Leute aufzuwenden wären; und viele würden auch mit Freuden 
ihr Scherflein dazu beitragen. 

Ebenso wäre es meiner Ansicht nach gar nicht ungerecht, wenn 
man reiche Private, gemeinnützige Vereine, eventuell sogar Kreis¬ 
tage und Synoden gerade derjenigen Gegenden zu den Kosten mit 

Der Alkoholiumua. 1905. 4 


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Dr. G. Küßner. 


herbeizöge, aus denen ein größerer Teil dieser Arbeiter stammt; 
die haben doch das allervitalste Interesse daran, daß es den Fort¬ 
gewanderten — ihren Landsleuten und Verwandten, in der Fremde 
gut geht, daß sie gesund an Leib und Seele wieder in die Heimat 
zurückkehren. Wenn das meist auch ärmere Gegenden zu sein 
pflegen — immer ist das doch nicht der Fall; und ein gutes Wort 
findet auch oft eine gute Statt! Und gerecht wäre die Sache! 

Doch, wie gesagt, wo es sich um so große, kostspielige Werke, 
um so elementare Pflichten, um so viele tragfähige Schultern han¬ 
delt, da spielen 2—3 Millionen, die die Kosten für die geforderten 
Veranstaltungen etwa auf einer Strecke von 50—60 km betragen 
würden, keine Rolle! 

6. Garantien fUr die Beobachtung solcher Vorschriften. 

Das ist eine Fülle von Bestimmungen, die im einzelnen noch 
so trefflich sein mögen — aber sofort erhebt sich da eine schwer¬ 
wiegende Frage, von deren Beantwortung der Erfolg aller diesbe¬ 
züglichen Bemühungen abhängig sein wird. Es sind ja — wie wir 
gesehen haben — bei den bisherigen Kanalbauten schon ausführ¬ 
liche, zum Teil ganz ausgezeichnete Bestimmungen erlassen worden, 
Bestimmungen, von denen man hat annehmen müssen, daß sich auf 
das beste unter ihnen würde arbeiten lassen — und doch sind 
solche Zustände möglich gewesen, wie sie hier nur haben angedeutet 
werden können, wie sie aber in mehr oder minder weitem Um¬ 
fange bei allen Erd- und Wasserarbeiten beobachtet worden sind. 
So ist denn die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß auch die jetzt 
von uns vorgeschlagenen Maßnahmen dasselbe Schicksal haben 
werden, d. h. daß sie zu der Besserung der Verhältnisse nicht 
wesentlich beitragen werden. Die Frage, die wir daher jetzt zu 
beantworten haben werden, ist die: Welche Hoffnungen haben, resp. 
welche Garantien können wir geben, daß mit den vorliegenden 
Vorschlägen tatsächlich eine Besserung der Verhältnisse eintreten 
werde? Welche Vorkehrungen müssen wir gegebenen Falls noch 
treffen, daß das wirklich geschieht? 

Wesen und Entstehung der gemachten Vorschläge. Wenn 
die bisherigen Vorschläge, die man zum Wohl der Arbeiter erlassen 
hat, im Grunde so wenig Erfolg gehabt? haben, so lag dies zuerst 
zum Teil zu allgemein gefaßt waren, daß sie nicht 
realen Verhältnissen herausgewachsen waren, auch die 



Qrigiral fram 

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"Was sind wir unseren Kanalarbeitern schuldig? 


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brutale Wirklichkeit nicht genügend ins Auge gefaßt hatten. Dazu 
kommt aber als Grundfehler, daß man niemals eine so gründliche 
Sichtung der Kanalarbeiterschaft vorgenommen hat, wie sie hier vor¬ 
geschlagen worden ist, man hat nie recht den ernsten Versuch ge¬ 
macht, den Kanalarbeiterstand von den Schmarotzern und Blut¬ 
saugern, die an seinem Lebensmark zehren, zu befreien, ihn auf 
sich selbst zu stellen und rationell zu heben. — Solange aber in 
dieser Beziehung alles beim alten blieb, mußten an so einer chaotischen 
Masse alle noch so gut gemeinten Absichten abprallen. Die schlech¬ 
ten Elemente rissen die guten mit sich fort, die Menschen ver¬ 
wilderten, die Baracken verkamen, selbst die besseren Baracken¬ 
wirte verloren die Lust, den Leuten das Leben bei sich so angenehm 
zu gestalten, wie sie es vielleicht unter anderen Umständen getan 
hätten; und eine Maßregel nach der andern ließ man fallen, weil 
man sah: es lohnt sich nicht! es ist nicht möglich! 

Vorliegende Arbeit ist nun aus jahrelanger Augenzeugenschaft 
erwachsen; Verfasser hat sich redliche Mühe gegeben, die Menschen 
selber, um die es sich dabei handelte, ihre guten und bösen Seiten 
kennen zu lernen, er hat durch zahllose Gespräche und Korrespon¬ 
denzen einen Blick in ihr Innenleben tun können, hat auch die 
Verhältnisse und Einrichtungen, sowie die ganzen Lebensbedingungen 
zu verstehen gesucht, unter denen sich ihr Dasein vollzog. Es ist 
infolgedessen anzunehmen, daß die Vorschläge, die hieraus ent¬ 
standen sind, in stetem Kontakt mit der Wirklichkeit stehen, nicht 
zu viel, aber auch nicht zu wenig fordern und daher wirklich in 
der Lage sein werden, solche Übelstände zu verhüten, wie sie bis¬ 
her überall zu Tage getreten sind. Wo das Menschen-Material 
selber, mit dem man es zu tun hat, anders, ordentlicher, ver¬ 
ständiger, reifer geworden ist, da werden auch alle Maßregeln, die 
man zu ihrem Wohl getroffen hat, besser funktionieren; da werden 
auch sie alle, die mit der Ausübung derselben betraut sind, eine 
vorher gar nicht gekannte Freude daran erhalten, es den Leuten so 
gut zu geben wie nur irgend möglich. 

Das ist der erste Grund, weshalb wir hoffen, daß die von uns 
gemachten Vorschläge wirklich eine Besserung in die Wege leiten 
werden. Aber doch. darf man es hierbei nicht bewenden lassen; 
die Erfahrung hat gezeigt, daß diese Hoffnung auch trügen kann. 
Um einer gewissenhaften Befolgung all dieser Bestimmungen sicher 
zu sein, bedarf es noch zweier Veranstaltungen. 

Häufigere Kontrolle. Erstens hat häufiger und unangemeldet 

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eine Kontrolle zu geschehen. Diese hat sich auf alle vorbenannten 
Dinge zu erstrecken, auf die Baracken, die 'Wohlfahrtseinrichtungen 
auf der Strecke und die Beschaffenheit der Privatquartiere, und 
muß von extra zu diesem Zweck angestellten Beamten der Kanal¬ 
baubehörde vollzogen werden, die später über Umfang und Befund 
ihrer Untersuchung Bericht zu erstatten haben. 

Orientierung der Leute. Zweitens muß den Leuten selber 
Kenntnis von all den Bestimmungen gegeben werden, welche 
man in ihrem Interesse getroffen hat, ebenso zu dem Zweck, damit 
sie sehen, daß sie eine wohlmeinende Behörde über sich haben und 
Vertrauen erhalten; aber auch, damit sie wissen, was sie verlangen 
dürfen, damit sie auf Befragen dem kontrollierenden Beamten Aus¬ 
kunft geben können. Zu dem Zweck müssen in den Baracken an 
den Wänden an sichtbarer Stelle Tafeln befestigt werden, die alles 
erforderliche enthalten. Etwa so: I. Diese Baracke A darf nur mit 
50 Mann belegt werden. II. Sie soll zur Benutzung der Mannschaft 
enthalten: folgt Aufzählung aller erforderlichen Räumlichkeiten. 
III. Die Leute sind verpflichtet sich jederzeit gesittet zu betragen, 
sich strengstens allen Mißbrauchs geistiger Getränke zu enthalten 
und dem Hausvater unweigerlich Gehorsam zu leisten; Kartenspiel 
ist untersagt Zuwiderhandelnde werden bestraft. IV. Der Wirt 
darf gegen Empfangsschein Ersparnisse bis zu einer Höhe von 
50 Mk. in einem zu dem Zweck vorhandenen feuerfesten Schrank 
verwahren; der Inhalt des Schrankes ist versichert. Sparprämien 
werden gezahlt. Karten zur unentgeltlichen Absendung von Geld 
in die Heimat sind an der Kasse zu haben. V. Eine Auswahl 
guter, alkoholfreier Getränke wird feilgeboten und den Gästen 
dringend empfohlen. VI. Die Preise für Speise und Trank 
sind, mäßigst berechnet, angeschlagen. VII. Der Weg von der 
Baracke bis zur Arbeitsstätte darf höchstens 1,5 km betragen. 
Andernfalls muß der Weg als Arbeit berechnet oder für kosten¬ 
freie Beförderung gesorgt werden. VIII. Die Arbeitszeit beträgt im 
Höchstfall 12 Stunden. Die Mittagszeit von einer vollen und die 
Frühstücks- und Vesperzeit von einer halben Stunde sollen ganz 
der Ruhe dienen. IX. Die Sonn- und Feiertage sind grundsätzlich 
arbeitsfrei. X. Auf der Baustrecke sollen vorhanden sein: Feuer¬ 
stätten zum Kaffeekochen und Wärmen der mitgebrachten Speisen, 
Zufluchtsstätten und Schutzhütten. XL Sind die Wege von der 
Arbeitsstätte nach der Baracke zu weit, so müssen die Speisen un¬ 
entgeltlich in gewärmtem Zustand bis an den Arbeitsplatz befördert 


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Was sind wir unseren Kanalarbeitem schuldig? 


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werden. XII. Beschwerden sind mündlich oder schriftlich „an den 
revidierenden Beamten der Kanalbehörde zu . . .“ zu richten oder 
in ein Beschwerdebuch, das zu dem Zweck in der Baracke aus¬ 
liegt, einzutragen. 

Das alles, hübsch übersichtlich gedruckt, zeigt jedem Mann 
was er zu fordern hat und würde einen Mißbrauch, wie er bisher 
beobachtet wurde, gar nicht aufkommen lassen. 

Da jedoch nur ein Teil der Leute in Baracken wohnen wird, 
da ferner die größten Mißstände sich in den Privatquartieren ge¬ 
funden haben, so ist es nötig, daß auch hier ähnliche Tafeln an¬ 
gebracht werden; nur daß hier den Umständen nach eine stärkere 
Individualisierung stattzufinden hätte. Etwa so: I. Nur behördlich 
genehmigte Wohnungen dürfen an Kanalarbeiter vermietet werden. 
II. Dieses in dem Hause Nr. 12 der Hauptstraße belegene und zur 
Vermietung freigegebene Zimmer soll enthalten: drei saubere Betten, 
Waschgeschirr, drei Stühle, einen Tisch, einen verschließbaren 
Schrank und einen kleinen Ofen mit Kocheinrichtung; es darf nur 
mit drei Mann belegt werden. Der Mietpreis beträgt 10 Mk. pro 
Kopf und Monat, wofür Morgens auch Kaffee geliefert wird. HI. Die 
Mieter sind gehalten, sich gesittet zu betragen und strengstens allen 
Mißbrauch geistiger Getränke zu meiden. IV. Der Arbeitgeber kann 
verlangen, daß, falls der Weg zur Arbeitsstätte zu weit wird, die 
Arbeiter in die dort errichtete Baracke ziehen; widrigenfalls sie der 
durch die Weite des Weges entstehenden Ansprüche verlustig gehen. 

Ebenso wäre es wünschenswert, daß auch in allen Privat¬ 
quartieren die bereits erwähnten Orientierungstafeln über das Wesen 
des Alkohols angeschlagen wären. 

Erziehung der Arbeiterschaft zu selbständiger Mittätigkeit. 
Es ist anzunehmen, daß infolge solcher Bekanntmachung, verbunden 
mit persönlichen Besichtigungen, den sonst so oft eingetretenen Mi߬ 
ständen ein energischer Riegel vorgeschoben wäre. Aber doch 
werden all die vorerwähnten Bestimmungen erst recht funktionieren, 
wenn die Arbeiterschaft selber mit Verständnis dazu mitwirken 
würde. Und das wieder könnte nur geschehen, wenn sie noch 
mehr gehoben würde, wenn man ganz langsam und allmählich ver¬ 
suchen würde, sie zu einer gewissen Mittätigkeit und Selbständigkeit 
zu erziehen. 

Weiterbildung der Leute überhaupt. Mit dem vorhergehen¬ 
den wäre schon allerlei geschehen, um den Stand zu heben; und es 
wäre ein großes, wenn das überall gelänge. Namentlich bei kleinen 


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Bauten kann man sich damit vollauf begnügen. Aber wir dürfen 
doch nicht vergessen, daß die zu dem Zweck vorgeschlagenen Ma߬ 
regeln sich vor allem auf die äußere Stellung der Leute bezogen, 
auf die Heraushebung der besseren Elemente aus der großen, un¬ 
geordneten Masse, in der sich regellos Gute und Böse vereint finden, 
daß damit aber noch nicht viel getan ist für eine wirklich 
rationelle innere Hebung, eine tiefer gehende geistige Beeinflussung 
und Weiterbildung der Leute. Ebenso wird es sich ja bei den zu¬ 
künftigen Bauten nicht nur um solche handeln, welche in etwa 
2—3 Jahren beendet sein werden, sondern auch um große, deren 
Bauzeit leicht 5 und 6 Jahre in Anspruch nehmen mag, und wo man 
es jahrelang mit derselben Arbeiterschaft zu tun haben wird; auch 
werden Arbeiter in ganzen Trupps, wenn der Bau auf der einen 
Stelle vollendet ist, nach dem nächsten Bau ziehen. 

Liegt einem dann überhaupt das Wohl und Wehe der Kanal¬ 
arbeiterschaft am Herzen, so muß man auf dem beschrittenen Weg 
fortschreiten und zu der mehr äußeren Sicherstellung ihrer Lage 
auch die innere Hebung hinzufügen, muß auch etwas für ihre geistige 
Fortbildung, die Erweiterung ihres Horizontes überhaupt tun. Auch 
damit ist ja im Grunde nichts Neues gesagt, die bereits früher er¬ 
lassenen Vorschriften und Grundsätze enthalten allerlei darüber, 
auch Herr von Massow stellt das als etwas ganz Selbstverständliches 
dar. Ja, im allgemeinen triefen die Reden und Vorschläge, die man 
in dieser Beziehung in Comitös und humanitären Vereinigungen 
hält, von solchen wohlwollenden Absichten. Nur schade, daß bisher 
nichts — nichts von dem allen hat verwirklicht werden können. 
All diese idealen Absichten scheiterten bisher an der rauhen Wirk¬ 
lichkeit — man denke an die Verhältnisse, die im Verlauf dieser 
Untersuchung zur Sprache gekommen sind — diese grauenhaften 
Wohnungsverhältnisse, den Saal, in dem sich die Leute zu ver¬ 
sammeln pflegten, den Schmutz, den Lärm, die Verwahrlosung, die 
da zu herrschen pflegten; man denke an die Völlerei, die da ge¬ 
trieben wurde, die unglaublich lange Arbeitszeit, die die Leute voll¬ 
kommen unempfänglich für alle geistige Hebung machen mußte, 
ebenso die ganze Zusammensetzung der Arbeiterschaft. — Unter 
all diesen Umständen ist es bisher vollkommen aussichtslos gewesen, 
etwas in der bezeichneten Richtung zu tun. 

Selbst wo durch Befolgung der hier gemachten Vorschläge 
mancherlei besser geworden ist, darf man nicht gleich mit all 
solchen Absichten Vorgehen. Der Kanalarbeiterstand steht auch, 


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Was sind wir unseren Kanalarbeitem schuldig? 


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was seine geistige Regsamkeit anbelangt, auf ziemlich tiefer Stufe; 
sein Interessenkreis, sein ganzer Horizont ist noch ein außerordent¬ 
lich begrenzter; das scheint alles in jahrelanger harter und 
freudloser Arbeit untergegangen zu sein. Es gibt wohl in keinem 
Stande so viel Analphabeten wie bei ihnen; viele haben bereits mit 
dem zehnten und elften Lebensjahr die Heimat verlassen und keine 
Schule mehr besucht, für ihre auch noch so dürftige Weiterbildung 
ist nichts geschehen. So beginne man also zuerst damit, daß man 
deren äußere Lebensstellung sicher stellt, daß man die Leute vor 
unterschiedsloser Vermischung mit Lumpen und Vagabunden be¬ 
schützt, daß man sie zu einer gewissen Selbstachtung erzieht, ihren 
Stolz, ihr Selbstbewußtsein anregt; beschränke sich anfangs darauf, 
daß man ihnen Gottes Wort verkündet, ihre Herzen und Gewissen 
packt, ihnen seelisch nahe kommt. 

Wenn man jedoch auf diese Weise längere Zeit und mit aller Treue 
gearbeitet, das Vertrauen der Leute gefunden, auch Sehnsucht und 
Verlangen nach weiterer, geistiger und geistlicher Speise erweckt hat, 
dann kann man allmählich daran denken, Unterhaltungs- und Vortrags¬ 
abende zu arrangieren, kleine und große Feste zu feiern, an denen sie 
sich selber durch Entfaltung der in ihnen schlummernden Talente be¬ 
teiligen mögen. Wenn man damit also hinreichend warten und 
nur vorsichtig und ganz allmählich zu Werke gehen muß, so behalte 
man das alles jedoch als Ziel im Auge, so gehe man damit doch plan¬ 
voll vor, wenn die ersten Anzeichen dafür vorhanden sind, wenn 
die Arbeiterschaft sich gesichtet und konstituiert hat. Der Ton, der 
unter den Leuten herrscht, Gespräche, die man mit ihnen führt, 
geben dem Pastor allerlei Anhaltspunkte dafür. Dann fange er an, 
außer den regelmäßig abzuhaltenden Gottesdiensten allerlei An¬ 
sprachen zu halten, wobei namentlich diejenigen patriotischen Inhaltes 
immer Anklang finden werden, auch Zeitereignisse mögen herbei¬ 
gezogen und in die richtige Beleuchtung gestellt werden. Es gibt 
in dieser Beziehung jetzt so viele Bücher, die dem Pastor (resp. 
Barackenwirt) Anleitung und Material dazu geben, daß er so leicht 
nicht in Verlegenheit kommen wird — ich nenne nur das Sammel¬ 
werk von P. Weber, München-Gladbach, das eine Fülle von für 
Arbeitervereine geeigneten Stoffes enthält. Man wird ja sehr bald 
sehen, wohin sich die Interessen der Leute neigen, und was man 
ihnen bieten darf. Man bedenke dabei immer: es ist das für viele 
die einzige, vielleicht die letzte Schule, die sie erhalten, die einzige 
Möglichkeit, ihnen einige geistige Anregung zu bieten und ihren 


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Horizont zu erweitern. Wir sind das aber diesen armen Menschen, 
unseren Brüdern und Landsleuten schuldig, die sich in unserem 
Dienste aufreiben und dank unsäglich schwieriger Verhältnisse früh¬ 
zeitig geistig verarmt und verkümmert sind. Daß eine auf diese 
Weise gehobene Arbeiterschaft jedoch eine ganz andere Reife für 
alle in ihrem Interesse getroffenen Wohlfahrtseinrichtungen erhalten 
werde, braucht nicht erst nachgewiesen zu werden. 

Erziehung zur Mitbeteiligung. Aber ich glaube: wir müssen 
und dürfen noch einen Schritt weiter gehen — sowohl mit Bezug 
auf die Bauten, welche längere Zeit in Anspruch nehmen, als auch 
mit Rücksicht auf die Leute, welche von hier aus auf andere Bauten 
übergehen und dann ihrerseits wieder auf die dortigen Arbeits¬ 
genossen hebend und befruchtend ein wirken. Ich glaube, wir 
müssen mit vollem klarem Bewußtsein dahinstreben, die Leute in 
irgend einer Weise an der Verwaltung der sie selber angehenden 
Angelegenheiten zu beteiligen, sie mehr oder minder auf eigene 
Füße zu stellen. 

Keime und Anknüpfungspunkte dafür. Bis jetzt ist auch dieses 
so gut wie unmöglich gewesen. Die Kanalarbeiterschaft ist bisher 
so verwoben und verquickt gewesen mit den schlechtesten, parasitären 
Elementen, daß man an eine Verleihung von irgend welchen 
Rechten in der geschilderten Richtung gar nicht denken konnte •, 
ebenso machte sie auch völlig den Eindruck der Zusammenhangs¬ 
losigkeit, zeigte immer ein neues, stets wechselndes Gesicht, bei 
dem die Schattenseiten weit überwogen. So schien es vollkommen 
ausgeschlossen, hier etwas wie Korpsgeist zu erwecken, oder die 
Leute irgendwie zur Selbstverwaltung heranzuziehen. Und doch ist 
das jetzt, wo all die genannten, groben Vorarbeiten geschehen sind, 
nicht mehr ganz aussichtslos. 

Wir haben bereits gesehen, so zusammenhangslos ist die Arbeiter¬ 
schaft doch nicht, wie es meist den Anschein besitzt. Es gibt einen 
guten Stamm von Leuten, die sich immer wieder zusammenfinden, 
so oft sie auch auseinander gerissen sind; das beweisen die 
Listen der Schachtmeister, persönliche Kenntnisse und Massen¬ 
photographien, die sich hier und da bei den Leuten finden, die 
zum Teil schon vor 5 und 10 Jahren auf den verschiedensten 

i 

Bauten gemacht waren und eine überraschend große Anzahl sol¬ 
cher aufwiesen, die noch immer zusammen waren. Ebenso gibt es 
jetzt schon eine bedeutend größere Zahl von kleinen und größeren 
Verbänden unter den Leuten, als man ahnt, die schon so etwas 


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wie Selbstverwaltung eingeführt haben und alle gemeinsamen An¬ 
gelegenheiten selbständig regeln. Da ist mir z. B. eine Gruppe 
von Pommern bekannt, etwa fünf an der Zahl, die schon seit Jahr 
und Tag gemeinsam auf die Arbeit zogen und gemeinsame Wirt¬ 
schaft führten; auch auf der Arbeitsstätte hatten sie für eine Feuer¬ 
stelle gesorgt, wo sie sich Kaffee kochten und Speisen zubereiteten. 
Ein Arbeiter hatte einen 14jährigen Sohn, der die Obliegenheiten 
eines Küchenchefs verwaltete und bei den absolut mäßigen An¬ 
sprüchen der Leute und ihrem unverwöhnten Gaumen zur Zufrieden¬ 
heit führte. Der besorgte auch gemeinsame Gänge, machte Ein¬ 
käufe in der Stadt, brachte die Ersparnisse zur Post und nahm 
ihnen dadurch viel Mühe ab, die für die einzelnen mit viel Zeit- 
und A rbeitsverlust verbunden gewesen wäre. Dieser Gruppe schlossen 
sich mit der Zeit immer mehr Leute an, meist Landsleute der 
ersteren, und die Annehmlichkeiten, die sich die Leute auf diese 
Weise verschaffen konnten, wurden bald so hoch geschätzt, daß sie 
sogar ein nicht ganz kleines Eintrittsgeld von denjenigen erheben 
durften, die die Absicht hatten, an der gemeinsamen Wirtschafts¬ 
führung zu partizipieren. Die Leute richteten sich ihr Leben un¬ 
glaublich billig ein; leider fielen jedoch oft gerade sie schmählichster 
Ausbeutung zum Opfer, indem sie z. B. mangels geeigneter Ein¬ 
richtungen für Wohnungen der eben geschilderten Art, Schuppen, 
Remisen, wo sie haben zusammen wirtschaften können, fabelhaft 
hohe Preise zahlen mußten. 

Bei allen Bauten hat es ferner Schachtmeister gegeben, die 
auch außerhalb der Arbeit in einem gewissen patriarchalischen 
Verhältnis zu ihren Leuten standen; diese wohnten bei ihnen, die 
Frau führte die gemeinsame Wirtschaft. Bei manchen Bauten scheint 
das sogar mehrfach geübte Praxis gewesen zu sein. In gewissen 
Fällen mag das zu gestatten sein, namentlich wenn es sich um ein 
freies, organisch aus sich selbst hervorgegangenes Verhältnis han¬ 
delt. — Im allgemeinen ist das jedoch nicht ratsam, da die Arbeiter 
dadurch leicht in ein zu starkes Abhängigkeitsverhältnis von dem 
Schachtmeister geraten können, das sie so wie so schon hart drückt; 
bei der geringsten auch außerberuflichen Veranlassung würde der 
„Fremdzettel“ drohen. 

Notwendigkeit diese Ansätze zu fördern. Doch welche 
Formen auch das Bedürfnis der Leute, sich zusammenzuschließen, 
annehmen mag, solche Versuche sollten von der Unternehmerschaft 
angelegentlichst unterstützt werden, zumal es sich hierbei immer 


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um den wertvollsten Bestandteil der Arbeiterschaft handelt. Wie 
das freilich zu geschehen hätte, ist schwer zu sagen. Indirekt 
würden solche Unternehmungen ja schon durch die erwähnten 
Spar- und Enthaltsamkeitsprämien unterstützt werden, da sich die¬ 
jenigen, die hierbei in Betracht kommen, größtenteils in solchen 
Verbänden befinden werden, ja, die Möglichkeit einer größeren 
Ersparnis geradezu abhängig sein würde von der Zugehörigkeit zu 
einer solchen Genossenschaft. Auch durch die Regelung des Privat¬ 
quartierwesens würde ja einem Mißbrauch der Leute tunlichst vor¬ 
gebeugt sein. Die Leute selber haben es schon öfter als Ziel und 
Ideal hingestellt, wenn solchen Genossenschaften, deren Mitglieder 
die Zahl 10 erreicht hätten, die Möglichkeit gewährt wäre, in einem 
eigenen Blockhaus zu wohnen und dort ganz selbständige Wirtschaft 
zu führen. Die Möglichkeit dessen ließe sich nicht bestreiten; 
denn die Miete für so ein Blockhaus (10 Mk. pro Kopf und Monat) 
würde schon in einem Jahr und noch viel mehr, wenn es sich um 
mehrere Jahre handelt, nicht nur die Kosten desselben decken, 
sondern auch noch die Anschaffung von allerlei notwendigen 
Gegenständen ermöglichen. Das hat freilich seine großen, nahe¬ 
liegenden Bedenken — es würden hierbei leicht Zustände einreißen, 
die den in den Privatquartieren herrschenden, oben geschilderten 
auf ein Haar ähnlich sähen. Wenn man daher auf solche Wünsche 
glaubt eingehen zu sollen, so müßte auch für richtige Aufsicht 
gesorgt werden; solche Quartiere müßten dann der gleichen Kon¬ 
trolle und Disziplin unterstehen wie die Baracken. Doch ich glaube: 
es wäre hinreichend, wenn man im allgemeinen den Grundsatz zu¬ 
gäbe, die Bildung von kleinen Genossenschaften zu unterstützen, 
die Art. und Weise jedoch, wie das zu geschehen hätte, dem ein¬ 
zelnen Fall überließe. 

Verleihung von Hechten an den Stand. Um so mehr ist 
jedoch zu wünschen, daß alle diejenigen, die dem Stande der ordent¬ 
lichen Kanalarbeiter angehören, die sich seit Jahr und Tag bewährt 
haben, auch während dieser Zeit einen Einblick in alles getan haben, 
das mit dem Kanalarbeiterstand zusammenhängt, allerlei Rechte er¬ 
hielten, die die anderen nicht, wenigstens von vornherein nicht be¬ 
sitzen. Sie sollten als die Elite der Arbeiterschaft angesehen Aver- 
den, sollten gewissermaßen die Vertretung derselben bilden und 
bei allen Fragen, die die Gesamtheit angingen, herzugezogen und 
gehört werden, sei es insgesamt, sei es durch Vertreter. 

Bei Streitigkeiten. Das sollte namentlich bei Streitigkeiten 


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geschehen, die zwischen einzelnen und den Schachtmeistern ent¬ 
standen sind. Was die Leute heute mit am meisten beklagen, das 
ist die Rechtlosigkeit ihrer Stellung, die Abhängigkeit von dem 
Willen des Schachtmeisters. Dieser verkehrt meist in brutalem 
Ton mit seinen Untergebenen, weist sie oft wegen geringfügiger 
Anlässe vom Bau; die also Gemaßregelten glauben oft in ihrem Recht 
zu sein, haben sich nur bei mangelnder Sprachgewandtheit schlecht 
ausgedrückt, Mißverständnisse spielen auch mit — dann steht so 
ein Mann da; er ist vielleicht nicht so schuldig, wie es aussieht, 
muß sich Abzüge gefallen lassen, die er nicht versteht, keiner nimmt 
sich seiner an, von einer geordneten Beschwerdeführung hat er keine 
Ahnung, lange bleiben kann er nicht; sonst wird er eingesteckt. So 
packt er seine Sachen, wenn er welche hat, und geht grollend davon; 
und die anderen lassen ihren Kameraden ziehen, weil sie fürchten, 
daß sie bei der nächsten Gelegenheit dasselbe Schicksal haben werden. 
Ich habe in solchen Lagen ergraute Leute weinen sehen — vor 
ohnmächtigem Zorn und Jammer; denn die Kanalarbeit ist für 
viele die letzte Zuflucht — dahinter lauert die Landstraße mit all 
ihren Schrecken, Hunger und Blöße, Entehrung und Schande, 
Krankenhaus und Korrektion. Auf diese Weise ist schon manches 
Menschenleben zertrümmert worden; und wir haben oben bereits 
angedeutet, wie die sog. freiwilligen Überstunden und die Sonntags¬ 
arbeit bei solchen Streitigkeiten eine verhängnisvolle Rolle spielen. 

Da muß eine Zwischeninstanz sein, die über den Parteien steht 
und das Vertrauen beider Teile genießt Diese würde sich nun 
ganz naturgemäß aus den älteren und bewährten Arbeitern zu¬ 
sammensetzen, die den Unternehmern als treu bekannt sind. Diese 
werden größtenteils Zeugen des geschilderten Vorganges gewesen 
sein, haben auch ein vitales Interesse daran, daß weder einem von 
ihnen ein Unrecht geschieht, noch daß das gute Verhältnis zu den 
Unternehmern gestört wird. In dieser Zwischeninstanz müßten die 
vorliegenden Streitfälle untersucht — und wenn sich kein Ausgleich 
erzielen läßt, der zuständigen Stelle unterbreitet werden. Auf jeden 
Fall sollte jedoch mit der Verordnung Ernst gemacht werden, die 
in manchen Betrieben erlassen ist, daß jeder Arbeiter, der nicht 
wegen Frechheit oder grober Gesetzwidrigkeit sofort entlassen wer¬ 
den darf, so lange in Arbeit und Brot bleiben muß, bis seine Be¬ 
schwerde die richtige, ordnungsgemäße Erledigung gefunden hat. 

Bei Verstößen gegen die Bauordnung und anderen Sachen. 
In dieser Zwischeninstanz sollten ferner alle anderen, die Arbeiter- 


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Dr. G. KiUäner. 


Schaft interessierenden Fälle zur Sprache gebracht werden — so 
namentlich eventuelle Verstöße gegen die erlassenen Bestimmungen; 
— und die Beamten der Bauunternehmer wären angewiesen, allen 
von dieser Seite ausgehenden ordnungsgemäß und angemessen über¬ 
reichten Vorstellungen ein williges Gehör zu geben. Es sollte 
Ehrensache aller Beteiligten sein, daß nicht jedesmal bei solchen 
Bauten ein — oft nur sensationslüsterner Reporter auftaucht und 
alle möglichen häßlichen Dinge, die er gesehen hat oder gesehen 
haben will, urbi et orbi verkündet; auch ein Pastor sollte nicht 
immer von neuem in die fatale Notwendigkeit versetzt werden, in 
Dinge einzugreifen, die — wie er wohl weiß — seines Amtes 
nicht sind. Das schadet der guten Sache immer und erzeugt Ver¬ 
bitterung hüben und drüben. So etwas sollten die Kontrahenten 
unter sich selber abmachen. Weiter würden hier alle Kantinen- 
und Baracken Verhältnisse erörtert, Wünsche vorgetragen, Vorschläge 
gemacht werden, z. B. bezüglich der Verlegung der Baracke, Ein¬ 
legung von Arbeiterzügen, Beschaffung frischen Wassers, gemein¬ 
samen Einkaufes von Nahrungsmitteln, Stiefeln und Arbeitsgeräten. 
Oft würde das unter Vorsitz und Mitwirkung des Barackenwirtes 
geschehen können. Dieser sollte ebenso V ertrauensmann der Unter¬ 
nehmer wie der Arbeiterschaft sein, und sollte von der Baubehörde 
resp. der Untemehmerfirma gegen festes Gehalt in die von ihr 
errichtete, vorschriftsmäßige Baracke eingesetzt sein, mit der Auf¬ 
gabe, möglichst im Einvernehmen mit der ordentlichen Arbeiter¬ 
schaft für deren Beherbergung und Beköstigung Sorge zu tragen. 
Mit der wilden und verwahrlosten Arbeiterschaft, wie sie jetzt ist, 
wäre das natürlich ein Ding der Unmöglichkeit. Sehr wohl ließe 
sich das jedoch mit einer so gesiebten und gehobenen Arbeiter¬ 
schaft machen, wie sie unter Befolgung der hier gemachten Vor¬ 
schläge entstehen würde; und sie würde sich wohl dabei fühlen 
und das ihr jetzt so oft gänzlich abgehende Sicherheits- und Heim¬ 
gefühl wieder erhalten. 

Bei Bekrutiernng der Arbeiterschaft. Noch eine andere 
Sache würde schließlich der Mitwirkung der ordentlichen Arbeiter¬ 
schaft, des Kerns derselben, unterstellt werden — das ist die 
Aufnahme neuer Mitglieder in die bevorzugte Klasse. Wir haben 
es oben bereits gesehen, welche Scharen herbeizuströmen pflegen, 
die bei so einem Bau Arbeit suchen. Da gibt es nun zahlreiche 
gute Elemente, die es wohl verdienen an allen Vorrechten teilzu¬ 
nehmen, die die älteren, bewährten Arbeiter besitzen. Da gibt es 


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Was sind wir unseren Kanalarbeitem schuldig V 


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Leute, die in der Gegend, wo der Kanal gebaut wird, zu Hause 
sind, die die ernste Absicht haben, so lange als möglich auszuharren, 
ordentliche Leute, die Erdarbeiten kennen und sich schnell in die 
neuen Verhältnisse einleben und dann zu den stabilsten Elementen 
gehören können; da sind andere, die einmal in Schwierigkeiten ge¬ 
raten sind, Bankrott gemacht und dann zum Wanderstab gegriffen 
haben, um sich — ungebrochen an Leib und Seele — wo anders 
wieder aufzuarbeiten; und viele andere, die starke Arme und 
redliche Arbeitslust haben. Manche von ihnen sind auch noch 
hinreichend mit Kleidung versehen, können sich auch leicht die 
nötigen Anschaffungen machen — sie alle werden zunächst als 
Hilfsarbeiter, mit einem etwas geringeren Lohn angestellt als die 
gelernten und bewährten Arbeiter. Ihre Aufnahme in die bevor¬ 
zugte Klasse mit all ihren Rechten würde jedoch nach etwa drei¬ 
monatlicher Arbeitszeit auf deren Antrag und unter Mitwirkung und 
Beschlußfassung eben dieser Elite geschehen. Diese hat ein Interesse 
daran, sich stets auf der Höhe zu halten, und hat in drei Monaten 
hinreichend Gelegenheit sich davon zu überzeugen, ob ein Mensch 
tüchtig ist und sich in ihren Rahmen einfügt Unbillig wäre es 
nicht, wenn die Aufzunehmenden ein kleines Eintrittsgeld bezahlten, 
das nur für gemeinsame Angelegenheiten — etwa zur Erhöhung 
der Krankengelder — verwendet werden dürfte. 

Wir haben oben aber auch von solchen Fällen gesprochen, 
wo zerlumpt aussehende Menschen auf den Bau kommen und Arbeit 
suchen, und haben die Schwierigkeiten kennen gelernt, wie ihnen 
zu helfen sei. Nun! das einfachste wäre, wenn man die Ent¬ 
scheidung darüber, ob der Bittsteller mit Kleidung zu versehen und 
in Arbeit zu stellen wäre, wieder eben diesen überließe, die mit 
ihm arbeiten sollen. Sie haben meist alle einmal in derselben 
Misere gesteckt, wissen, wie so einem armen Menschen zu Mute ist, 
haben oft auch ein schärferes Auge dafür, was an ihm ist, als 
einer, der nicht ihres Standes ist Außerdem sollen sie für die Zu¬ 
kunft alles mit ihm teilen, mit ihm arbeiten, ruhen, essen und trinken 
— sie haben ihn dadurch auch schließlich unter Augen, und er kann 
ihnen nicht mit den erhaltenen Sachen auf und davon gehen. Hat sich 
also so ein Arbeiterausschuß, der die Elite der Arbeiterschaft dar¬ 
stellt, als lebensfähig erwiesen, verfügt er auch über einige Mittel, 
so wäre es in der Tat meines Erachtens das richtige, daß man ihm 
ein Wort mit darüber gönnt, ob der betreffende Arbeitsuchende ein¬ 
zukleiden und — natürlich zuerst als Hilfsarbeiter — aufzunehmen 


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Dr. G. Küßner. 


sei. Man stelle sich auch das „Einkleiden 4, bei dieser Art Leute 
nicht so schwierig und kostspielig vor. Ich habe oft genug gesehen, 
wie sie aus drei oder vier großen, abgetragenen Schaftstiefeln zwei 
andere gemacht haben, die ganz gut saßen und für einige Zeit aus¬ 
hielten. Ebenso ist da immer etwas überflüssiges Zeug; das not¬ 
wendige Unterzeug ist leicht in der Baracke selber für ein billiges 
zu haben. In 14 Tagen hat ein ordentlicher und fleißiger Mann 
dann so viel verdient, daß er sich das alles selber anschaffen kann. 
Auf diese Weise würde manch ein redlich Arbeitsuchender von der 
Landstraße kommen und Gelegenheit erhalten, sich wieder empor¬ 
zuarbeiten. Hat sich so ein Mann dann bewährt, so kann auch er 
nach etwa dreimonatlicher Frist durch Zustimmung seiner Kameraden 
in die bevorzugte Klasse aufgenommen werden. 

Wie sich das alles im einzelnen zu gestalten hätte, das würde 
ja wesentlich davon abhängen, welche kleinen Verbände sich bereits 
in der Arbeiterschaft befänden, wie sie sich entwickeln und wie 
kräftig sie funktionieren. Es kann wohl sein, daß es bei manch 
einem Kanalbau gar nicht zu solcher Mittätigkeit der Arbeiterschaft 
kommen wird: da wird das alles in den Anfängen stecken bleiben; 
da wird man froh sein, wenn es einem gelingt, die elementarsten 
Vorarbeiten zu leisten und allmählich den guten Arbeiterstand von 
seinen Parasiten zu befreien. Mehr schon wird das bei den großen 
Arbeiten geschehen, die an die 5, 6 und mehr Jahre dauern wer¬ 
den. Da wird es schnell bekannt werden, wie sich der Stand der 
Kanalarbeiter gehoben hat und welche Chancen er für strebsame 
Leute bietet; da würden viele ordentliche und ehrlich Arbeit suchende 
Menschen herbeiströmen und es nicht mehr für eine Schande, son¬ 
dern für ein erstrebenswertes Ziel ansehen, diesem Stande zugezählt 
zu werden. Aber wie es auch sei — ob der hier erstrebte Erfolg 
gleich erreicht wird oder nicht — er muß im Auge behalten wer¬ 
den, muß das Ziel bleiben und die Richtung angeben, in der sich 
die Fürsorge für die Leute bewegt. Man muß dabei auch daran 
denken, daß kein Baum auf den ersten Streich fällt, daß Übel¬ 
stände, die so weit verzweigt sind und fast schon zur Tradition, 
zum eisernen Bestand von Kanal- und Erdarbeiten gehören, nicht 
sofort aufhören, wenn man einmal beginnt die bessernde Hand an¬ 
zulegen. Man muß in dieser Beziehung mit der Zukunft, mit Jahr¬ 
zehnten rechnen. Was vielleicht bei dem ersten, zweiten und dritten 
Bau nicht erreicht worden ist, wird — wenn man es nur mit aller 
Treue erstrebt hat! — auf dem vierten und fünften erreicht werden, 


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Was sind wir unseren Kanalarbeitern schuldig? 


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wenn die Arbeiter, die auf den ersten Bauten nur eine Ahnung 
von den veränderten Verhältnissen bekommen und die ersten 
tastenden Versuche in der angegebenen Richtung gemacht haben, 
damit vertraut geworden sind und allmählich Gebrauch davon zu 
machen gelernt haben. 

Maßhalten bei Inangriffnahme dieser Bauten. Es wäre des¬ 
halb vielleicht zu wünschen, daß nicht all diese großen Wasser¬ 
bauten auf einmal in Angriff genommen würden. Ein doppeltes 
würde dabei leicht eintreten können. Erstens: das Land würde 
überschwemmt werden mit Sachsengängem aus aller Herren Länder; 
und da die überschüssige unentbehrliche Zahl guter Arbeiter auch 
dort nicht sehr zahlreich sein dürfte, müßte man auch die minder- 
und mindestwerten aufnehmen, und die Folge davon würde sein, 
daß sich eine Flut von Gesindel über unsere Fluren ergießen würde, 
daß auch die kräftigsten Polizeimaßregeln sich dagegen als machtlos 
erweisen würden, daß es auch auf der Kanalstrecke äußerst schwer 
sein würde, sich desselben zu erwehren, daß die ordentliche Arbeiter¬ 
schaft lange Zeit darunter zu leiden hätte. Dieser Flutwelle 
wäre sie nicht gewachsen, dazu ist sie doch noch zu klein und 
schwach. Die andere Folge aber wäre die: bis jetzt ist die Zahl 
derjenigen einheimischen Arbeiter, die sich an der Kanalarbeit 
beteiligt haben, nur außerordentlich klein gewesen — wir haben 
oben schon einige Gründe dafür angegeben; dazu kommt vor allem 
jedoch der Grund, daß die Verhältnisse, unter denen sich Leben 
und Arbeit der Kanalarbeiter vollzog, so schlecht waren, daß die 
Arbeitszeit so lang, die Sonntagslosigkeit so groß, der ganze Stand 
so tiefstehend war, daß der ordentliche Arbeiter ein Grauen davor 
hatte. In dem Falle jedoch, daß man sich ernstlich der Besserung 
der Kanalarbeiter-Verhältnisse annähme, wie es nach Verfassers 
Meinung durch Befolgung der hier gemachten Vorschläge geschähe,, 
würde der Stand so gehoben, daß die Zugehörigkeit zu demselben 
für viele ein begehrenswertes Gut sein würde. Es ist deshalb an¬ 
zunehmen, daß — wenn das alles erst einmal bekannt sein würde, 
was man jetzt zu dem Wohl der Kanalarbeiter geplant resp. ge¬ 
tan habe, viel mehr einheimische Arbeiter herzuströmen würden. 
Und dann entstände wieder eine doppelte Misere. Die eine wäre 
die schon öfter befürchtete, dann tatsächlich eintretende Landflucht 
unserer Arbeiter; darunter würden Landwirtschaft und Industrie aber 
in gleicher Weise leiden. Die andere bestände darin, daß die Unter¬ 
nehmer wahrscheinlich lieber mit einheimischen Arbeitern arbeiten 


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Dr. G. Kiißner. 


würden — die fremden Sachsengänger sind jedoch auch schon da; 
ihre Stellen sind aber besetzt; das gäbe eine so gewaltige Unruhe 
auf den Landstraßen, ein so qualvolles Hin- und Herfluten von 
ganzen Scharen arbeitsloser Menschen, daß es alle Mühe kosten 
würde des allen Herr zu werden. Daß dadurch aber die Sicherheit 
des Verkehrs auf dem Lande arg leiden, daß viele Kosten damit 
verbunden wären, braucht nicht erst gesagt zu werden. 

Also nicht all diese großen Bauten auf einmal! die können 
wir nicht bewältigen! die wachsen uns über den Kopf! Mit zweien, 
höchstens dreien dürften wir beginnen — sie können wir nicht 
nur bewältigen, von den bei ihnen gemachten Erfahrungen könnten 
wir dann auch für die Zukunft lernen. Von ihnen würden wir 
dann wohl vorbereitete und geschulte Arbeiter, die mit den neuen 
Verhältnissen bereits vertraut wären, auf die nächsten Bauten 
übernehmen. Hier würden sie die natürlich zuerst in der Minorität 
stehende gute Arbeiterschaft stärken, würden erziehlich wirken und 
den Übergang in geordnete und geregelte Verhältnisse wesentlich 
erleichtern; das würde sich bei jedem Bau steigern, und alle Teile 
würden gut davon haben. Also mit eine der ersten Bedingungen 
dafür, daß die hier gemachten Vorschläge gut funktionieren, hieße: 
Maßhalten! ihnen nicht zu viel aufbürden! Sonst reißen die Dämme! 

Nicht mehr und nicht weniger. Das wäre im wesentlichen 
dasjenige, was wir für die nächsten Jahre und die großen Erd¬ 
arbeiten, die sie uns bringen, für unsere Kanalarbeiter fordern 
möchten. Ich glaube nicht, daß wir recht täten mehr zu fordern. 
Das würde am Ende doch gegen die berechtigten Interessen der 
Unternehmerschaft verstoßen, auf die wir — so wie die Dinge 
heute liegen, angewiesen sind. Man lasse sich hierbei auch nicht 
blenden von den Millionengeschäften, welche solche Baufirmen zu 
machen pflegen; es gehört auch ein riesiges Kapital zu solchen 
Bauten, und die wenigsten Laien haben eine Ahnung von den ge¬ 
waltigen, oft ganz unvorhergesehenen, gar nicht in Berechnung zu 
stellenden, manchmal erst viel später eintretenden Unkosten, die 
damit verbunden sind. Und es wäre der Gesamtheit mit nichten 
gedient, wenn diese großen Firmen durch zu große Mehrbelastung 
oder Reglementierung arbeitsunlustig würden; die Arbeiterschaft 
hätte den größten Schaden davon. Aber auch sie selber — und 
wieder gerade die besseren Teile derselben würden ein Mehr nicht 
für wünschenswert halten. Denn das würde das Leben naturgemäß 
verteuern — die Leute wollen aber so billig leben als möglich, um 


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Was sind wir unseren Kanalarbeitem schuldig? 


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so viel als möglich sparen zu können. Ihnen aber mehr geben als 
sie bezahlen können, also redliche Arbeiter als Almosenempfänger 
hinstellen, das ist nicht nur ein unsozialer Grundsatz, das wider¬ 
spricht auch dem Ehrgefühl der Arbeiter selbst Es wäre zu be¬ 
fürchten, daß die Leute, um dem so verteuerten Leben zu entgehen, 
andere Mittel und Wege finden und dabei erst recht Blutsaugern 
und Ausbeutern in die Hände fallen möchten. Man muß auch 
sehen, wie die Leute es in der eigenen Häuslichkeit haben; schließlich 
können auch nur wetterharte und unverwöhnte Leute solche Arbeit 
leisten, wie ein Kanalbau sie mit sich bringt. 

Also mehr dürfen wir nicht fordern. Aber auch nicht weniger! 
Das würde unser Gerechtigkeitsgefühl, unser Gewissen, unsere christ¬ 
liche Barmherzigkeit nicht dulden. Die Leute selber würden dabei 
verkümmern, die Gemeinden würden darunter leiden; ja unser 
ganzes Yolk würde dadurch in Mitleidenschaft gezogen werden und 
unberechenbaren Schaden nehmen können. Und soweit ich mich 
umgesehen und die Meinung der Leute gehört habe, steht auch ihr 
Sinn nicht höher; sie würden Gott Dank sagen, wenn das erreicht 
wäre. Denn auf diese Weise würden sie arbeiten, viel arbeiten, 
viel verdienen und sparen können — mehr als jeder andere Ar¬ 
beiter, und das wollen gerade die besten von ihnen — aber diese 
Arbeit und die Verhältnisse, unter denen sie zu leben hätten, 
würde sie nicht zu Sklaven machen! nicht zu Boden drücken! 
nicht um das Bewußtsein ihrer Würde als Menschen bringen! Sie 
würden sich nicht als die Ausgestoßenen, als die Enterbten ansehen, 
würden sehen, daß sie Gegenstand gerechter, liebevoller Fürsorge 
seien, daß es doch noch Menschen gibt, die in ihnen Brüder, un¬ 
sterbliche Seelen erkennen. Das alles aber würde ihnen auch Zeit, 
Spannkraft und Geisteskraft lassen, über allem Irdischen das Ewige 
zu suchen und an das Heil ihrer Seele zu denken, was alles unter 
den jetzigen armseligen Verhältnissen und den unerhörten Ver¬ 
suchungen, unter denen sich ihr Leben vollzieht, nur zu oft ver¬ 
kümmert! Werfe deshalb niemand einen Stein auf sie! 

Ich habe die Kanalarbeiter in den Jahren, da ich mit ihnen 
gelebt, kennen gelernt und lieb gewonnen. Ich habe die tiefen 
Schattenseiten gesehen, die ihr Leben auf weist, die großen Fehler 
und Untugenden, die ihnen — namentlich auf den ersten Blick — 
anhaften; ich habe aber auch gesehen, wieviel von dem allen auf 
die elenden und jammervollen Verhältnisse, in denen viele ihr 
Leben lang zugebracht haben, auf die unwürdige und mißachtende 

Der Alkoholismus. 1905. 5 


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66 Dr. G. Küßner. Was sind wir unseren Kanalarbeitem schuldig? 

Behandlung zurückzuführen ist, der sie von fast allen Menschen 
ausgesetzt sind, mit denen sie zu tun haben. Ich bin aber auch 
oft genug Zeuge gewesen, wie das Wort Gottes ein Hammer ist, 
der Felsen zerschmettert, eine Macht, der sich auf die Dauer kein 
Menschenherz verschließen kann, habe da Szenen tiefer Zerknir¬ 
schung und innigster Ergriffenheit erlebt, die mir zeigten, daß in 
dieser harten Schale doch noch weich fühlende und der Wahrheit 
zugängliche Herzen schlugen, habe Beispiele von Pflichttreue und 
Fleiß, von treuer, selbstlos sorgender Liebe für die daheimgebliebenen 
Angehörigen kennen gelernt, die alles zu opfern, alles hinzugeben,, 
auf alles zu verzichten bereit war, die mir Bewunderung abnötigte, 
dazu ein Kameradschaftsgefühl, das auch in eigener Not des Freundes 
nicht vergaß. Solche Menschen sind es wohl wert, daß man sich 
ihrer annimmt, daß man alles tut, um ihr Dasein menschenwürdig 
zu gestalten, um auch in ihr armseliges Leben etwas Wärme, Licht 
und Sonnenschein hineinzutragen. Mag es sein, daß ich durch 
Gottes Gnade in jenen Jahren, da ich mit ihrer Pastorierung be¬ 
traut war, den Leuten etwas habe sein können: ich bekenne es 
gern, die Leute sind auch mir in Zeiten, wo ich selber des Lebens 
Bitternis reichlich erfahren habe, etwas gewesen, und es sind mir 
mit die liebsten Jahre gewesen, in denen ich an ihnen arbeiten 
durfte. 

Gott gebe, daß es allen zuständigen Stehen, dem Staat und den 
Gemeinden, der Kirche und der inneren Mission, der Gesamtheit 
und den einzelnen mit vereinter Kraft gelingen möge, für die 
kommenden großen Kanalarbeiten Zustände zu schaffen, daß alle, 
die daran beteiligt sind, darin als Menschen und als Gottes¬ 
kinder, als Erdenpilger und Himmelsbürger leben und mit fröh¬ 
lichem Sinn eine freilich ernste, aber lohnende Arbeit verrichten 
können. 


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II. Referate. 

Schenk, Paul. Gebrauch und Mißbrauch des Alkohols in der Medizin. Mäßigkeits¬ 
verlag d. deutsch. Yereins gegen d. Mißbr. geistig. Getränke. Berlin 1904. 

Nach kurzem geschichtlichem Rückblick auf die Verwendung des Alkohols, 
insbesondere des Weines bei den Alten (Hippokrates), im Mittelalter und in der 
neuen Zeit, werden die zur Zeit in der Ärzteschaft herrschenden Urteile über 
die Alkoholverordnung erheischenden Krankheitszustände erörtert. Daß die 
„Säuferleber“ im Kindesalter „sehr“ häufig sei, kann man doch Gottlob nicht 
behaupten, ebenso nicht, daß Delirium tremens bei fieberhaften Krankheiten und 
Verletzungen „recht häufig u die Kinder betreffe. Immerhin bleiben die frag¬ 
lichen Fälle doch Warnungen, ernst genug, um die Alkoholverabreichung an 
Kinder nur nach ernsthaftem Erwägen und genauer Indikationsstellung und — 
ausnahmsweise bezw. vorübergehend, aber nicht auf die Dauer zu erlauben. Mit 
Recht legt auch S. ein Hauptgewicht auf den Einfluß des Alkoholgenusses auf 
Zeugungsverhältnisse und Nachkommenschaft. Ob und inwieweit Alkohol direkt in 
die Muttermilch übergeht, ist mit Sicherheit aber noch nicht festgestellt. Weiter¬ 
hin kommen die wichtigen Schädigungen des Nervensystems durch gewohnheits¬ 
mäßige Alkoholaufnahme zur Darstellung, auch die Zustände „reizbarer Schwäche“, 
denen geistige Getränke vorwiegend Gefahr bringen. 

„Der Arzt wird häufiger vor dem Alkohol zu warnen, als ihn zu empfehlen 
haben.“ Darin pflichten wir S. vollkommen bei. Meines Erachtens hat in Krank¬ 
heitsfällen der Arzt, wie er die Diät verschreibt u. a. m., so auch von Beginn an 
zu etwaiger Alkoholdarreichung Stellung zu nehmen und diese nur nach seinem 
Ermessen im Bedarfsfälle als Medikament zu „verordnen“. Für Gesunde, in der 
Praxis wie im gesellschaftlichen Leben, kann ein „Empfehlen“ wohl überhaupt 
kaum in Frage kommen, sondern nur ein Erlauben von geringen nicht täglich zu 
genießenden Mengen. Hier haben individuelle, soziale und wirtschaftliche 
Verhältnisse mitbestimmend zu wirken. Schenks Schrift hält sich frei von 
Pharisäertum, von Übertreibung und asketischer Forderung, wie sie jetzt im Voll¬ 
gefühl ihrer Sonderstellung so manche frühere Trinker, die nur durch Abstinenz 
zu retten waren, leider zur Schau tragen. Die Schrift darf namentlich den prak¬ 
tizierenden Ärzten empfohlen werden. Dr. Fl. 

Ziehen, Th. Über den Einfluh des Alkohols auf das Nervensystem. Zweite ver¬ 
mehrte Auflage. Mäßigkeitsverlag des Deutschen Vereins gegen den Mißbrauch 
geistiger Getränke. Berlin 1904. 

Es tut wohl, wieder einmal ein von den zur Zeit üblichen Übertreibungen 
freies Schriftchen zur Hand zu nehmen und die von vorurteilsfreier Wissenschaft 
festgestellten Tatsachen wieder an sich vorübergehen zu lassen. Daß ein 
Nahrungs- oder Genußmittel im Übermaß genossen, den Organismus schwer 
zu schädigen vermag, rechtfertigt noch nicht seine absolute Streichung. Z. schil¬ 
dert die Wirkungen des einmaligen und die des gewohnheitsmäßigen Trunkes 
auf Hirn und Nervensystem als feinste Organe des Menschen. Die Branntweine 

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68 


Referate. 


sind vor allem schädlich durch die hochmolekularen Alkohole, so daß der 
Branntweingenuß in jeder Form und in jedem Maße unbedingt als schädlich 
bezeichnet werden muß. Den bekannten Versuchen von Frey, Destree, 
Kraepelin u. s. w. widmet Z. die gebührende Würdigung und ergänzt sie durch 
eigene Beobachtungsergebnisse. Besonders erörtert werden die Einwirkungen 
des Trunkes auf die Ganglienzellen unserer Großhirnrinde, des Sitzes der Seelen¬ 
tätigkeit. Es liegt kein Grund vor, warum wir die erregende Wirkung kleiner 
Alkoholmengen im ersten Stadium nicht zur Belebung unserer Geselligkeit ver¬ 
wenden sollen, während das lähmungsstadium, welches bei Alkoholgaben von 
etwa 40 g und darüber fast unmittelbar eintritt, auf die Dauer schädigend wirkt 
und möglichst zu meiden ist. Selbstverständlich empfiehlt Z. den Genuß geistiger 
Getränke überhaupt nicht, warnt vielmehr vor täglichem Konsum auch kleinerer 
Gaben, vor Verabreichung von Alkohol an Kinder, Nervenkranke u. 8. w. Es 
ist das der vom Deutschen Verein gegen den Mißbrauch geistiger Getränke ein¬ 
genommene Standpunkt, der mit Recht im Gewohnheitstrunk den gefährlichen 
Feind, im gelegentlichen mäßigen Alkoholgebrauch aber einen erlaubten Genuß 
sieht, wie wir ihn gegenüber hunderten anderer (im Übermaß oder Tag für Tag 
genommen auch zerstörend wirkenden) Reiz- oder Genußmittel auch einzu¬ 
nehmen haben. Dr. Fl. 


Steger, Josef und Daum, Adolf. Was die Jugend vom Alkohol wissen soll. Wien, 
Kaiserlich-Königlicher Schulbücher-Verlag. 1905. Preis 40 Heller. 

Das Buch bringt alle wesentlichen Tatsachen über den Alkohol und den 
Alkoholismus in knapper und doch anziehender Form. Es erscheint durchaus 
geeignet, der Jugend diese für die Volkswohlfahrt so ungemein notwendigen 
Kenntnisse zu ermitteln. 

Angefügt ist eine Erzählung für jung und alt: „Ein gefährlicher Freund“ 
von Ferdinand Frank. Die Geschichte ist ein echtes Schulbeispiel, wie der¬ 
artige antialkoholische Erzählungen gestaltet sein müssen, um wirksam zu sein, 

P. S. 


Meyer, Ernst. Über den Einflug der Alkoholica auf die sekretorische und motorische 
Tätigkeit des Magens. Klin. Jahrb. Bd. 13. Jena 1904. 

Meyer berichtet zunächst ausführlich über die bisher angestelltcn Versuche 
zur Feststellung der Wirkung des Alkohols und der alkoholischen Getränke auf 
den Magen. 

Das Endresultat der von ihm selbst am Menschen angestellten Versuche 
ist folgendes: 

1. Der Alkohol übt einen gewissen vermehrenden Einfluß auf die Säure¬ 
produktion im Magen. 

2. Diese Säureproduktion steigert bei mäßigen Dosen nicht nennenswert 
den Prozentgehalt an Säure im Mageninhalt (es entsteht kein Säureüberschuß). 

3. Auf die Entleerung der verschiedenen Nahrungsstoffe aus dem Magen 
übt der Alkohol einen verschiedenen Einfluß. 

4. Die Entleerung der stärkemehlhaltigen Nahrungsstoffe (Brot, Kartoffeln 
etc.) wird gehemmt, die der Fette dagegen beschleunigt, auf die Entleerung der 
Eiweißstoffe ist der Alkohol ohne merklichen Einfluß. 


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Referate. 


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5. Bier und Wein hemmen die Entleerung von Weißbrot aus dem Magen 
stärker als Cognac in entsprechender Konzentration. 

6. Die Entleerung von Fleischspeisen aus dem Magen wird durch Wei߬ 
oder Rotwein nicht gehemmt, durch den Weißwein eher leicht beschleunigt. 

P. S. 

Bickel. Über den Einfluh des Alkohols auf die Herzgröhe. Münch, mediz. Wochen¬ 
schrift. 1903. Nr. 41. 

Bickel hat mittelst eines von Moritz konstruierten Apparates Versuche 
an Hunden über die Beeinflussung der Herzgröße durch den Alkohol gemacht. 
Den Hunden wurden 100 Gramm 50% Alkohol durch die Schlundsonde eingeflößt, 
die Wirkung auf das Herz durch Röntgenbestrahlung festgestellt. Es ergab sich 
mit unumstößlicher Sicherheit, daß der Alkohol keine Verbreiterung des Herzens 
bewirkt. _ P. S. 

Goddard, W. H. Über Alkohol als Nahrungsmittel. Lancet, 22. Okt. 1904. Refer. 
in Münch, med. Wochenschrift. Nr. 48. 

Goddard kommt auf Grund einer großen Reihe von Versuchen zu dem 
Schlüsse, daß der Alkohol nur dann als Nahrungsmittel angesehen werden kann, 
wenn er in sehr kleinen Mengen verabreicht wird. Größere Dosen werden da¬ 
gegen zu mindestens 50 Prozent wieder ausgeschieden und können deshalb nicht 
als Nahrungsmittel angesehen werden. P. S. 

Hoppe. Die Tatsachen Uber den Alkohol. 3. wesentlich vermehrte und teilweise 
umgearbeitete Auflage. Berlin (S. Calvary & Co.). 1904. XV u. 536 Seiten. 
Mk. 7,00. 

Hoppe registriert in bekannter erschöpfender Vollständigkeit alle Tatsachen 
über Wesen und Wirkung des Alkohols. Dem Plane des Buches gemäß ver¬ 
zichtet er darauf, auf die Ursachen und die Behandlung des Alkoholismus ein¬ 
zugehen. Namentlich über den Einfluß des Alkohols auf Morbidität, Mortalität 
und Pauperismus ist hier ein reiches Material zusammengetragen. P. S. 

Grotjahn. Der Alkoholismus. Sonderabdruck aus dem Handbuch der Hygiene. 
Herausgeg. von Th. Weyl. Jena, Gustav Fischer. 1904. 16 Seiten. 

Grotjahn stellt das Wesentliche über Art und Wirkung der alkoholhaltigen 
Getränke und über die Bekämpfung des Alkoholismus zusammen. Über die Ent¬ 
haltsamkeitsbewegung urteilt er folgendermaßen (S. 7): „Es ist durchaus zu be¬ 
zweifeln, ob es berechtigt ist, die Abstinenz als allgemeine sittliche Forderung 
aufzustellen, wie es die organisierten Enthaltsamkeitsfanatiker wollen. Die 
wissenschaftliche Hygiene hat hierzu jedenfalls so lange kein Recht, als nicht die 
Schädlichkeit auch kleiner und gelegentlicher Dosen bewiesen wird, was zur Zeit 
noch aussteht. Man kann von der Gesamtheit nicht ohne weiteres nur deshalb 
die Aufgabe eines so wirksamen, billigen und leicht zugänglichen Euphorikums 
verlangen, weil ein Bruchteil der Individuen damit Mißbrauch treibt.“ P. S. 

Grotjahn. Soziale Hygiene und Entartungsproblem. Sonderabdruck aus dem Hand¬ 
buch der Hygiene. Herausgeg. von Th. Weyl. Jena, Gustav Fischer. 1904. 
64 S. 

Grotjahn stellt sich auf die Seite derjenigen, welche den unmäßigen Ge¬ 
nuß alkoholischer Getränke als Ursache der körperlichen Entartung des Nach- 


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70 


Referate. 


Wuchses von im übrigen rüstigen Individuen hinstellen. Er hält die Unter¬ 
suchungen De mm es über die körperliche und seelische Minderwertigkeit der 
Kinder bei chronischem Alkoholismus eines oder beider Eltern für beweiskräftig. 
Dagegen,glaubt er nicht, daß die im Rauschstadium erzeugten Kinder minder¬ 
wertig sind. Gegen diese Annahme spricht nach Grotjahn der Umstand, daß 
hei den germanischen und slavischen Völkern, trotzdem bei ihnen der Beischlaf 
häufig im Rausch vollzogen wird und danach Empfängnis der Frau eintritt, die 
minderwertigen Individuen keineswegs zahlreicher sind als in den romanischen 
Ländern, deren Bevölkerung sich durch Mäßigkeit auszeichnet. Grotjahn selbst 
wird nicht glauben, daß durch seine Behauptung „die minderwertigen Individuen 
sind in den mäßigen romanischen Ländern ebenso zahlreich als in den unmäßigen 
germanischen und slavischen Ländern“ die Frage nach dem Einfluß der Berauscht- 
heit des Erzeugers auf die erzeugten Kinder nach der einen oder anderen Seite 
entschieden wird. P. S. 


Mombert. Das Nahrungswesen. Sonderabdruck aus dem Handbuch der Hygiene. 

Herausgeg. von Th. Weyl. Jena, Gustav Fischer. 1904. 72 Seiten. 

Der Ernährungszustand eines Volkes steht mit seiner wirtschaftlichen 
Leistungsfähigkeit in engem Zusammenhang. Die Ernährungsverhältnisse unserer 
deutschen Arbeiterschaft halten den Vergleich mit unseren gefährlichen Kon¬ 
kurrenten England und Amerika nicht aus. In England und Amerika erhalten 
die Arbeiter höhere Löhne und pflegen andererseits während der Arbeit keinen 
Alkohol zu sich zu nehmen. Höhere Lebensmittelpreise pflegen mit einer Steigerung 
des Branntweinkonsums einherzugehen. P. S. 


Freund. Die Alkoholfrage in der Armee. Der Militärarzt. 1904. Nr. 13 ff. 

Freund steht auf dem Standpunkt, daß mäßiger Alkoholgenuß relativ un¬ 
schädlich sei. Kleine Alkoholdosen befördern durch Steigerung der Sekretion 
der Magendrüsen die Verdauung. Größere Dosen, d. h. mehr als ein Glas Bier 
oder ein Gläschen Cognac bewirken bereits das Gegenteil. 

Die Muskelleistungen werden nicht in ihrer Kraft, sondern in ihrer Zahl 
beeinflußt. Mäßige Alkoholgaben geben für eine halbe Stunde eine Steigerung, 
danach eine um so stärkere Erschlaffung. 

In der Friedensverpflegung aller Heere mit Ausnahme von Rußland ist der 
Alkohol gestrichen, in der Kriegsverpflegung erheblich gemindert. In Preußen 
war es eine der ersten Heeresreformen Wilhelm I., daß er 1862 bestimmte, daß 
an Stelle des Branntweins der Kaffee zu treten habe. Die Italiener gewähren 
0,5 Liter Wein täglich, Frankreich nur ausnahmsweise 0,25 Liter Wein oder 
0,0625 Liter Branntwein, Österreich 0,09 Liter Branntwein oder 0,75 Liter Bier 
oder 0,06 Liter Rum. 

Der Alkohol ist einer der stärksten Feinde der Gesundheit und der Moral. 
In der Armee-Ergänzung macht sich sein Einfluß bereits schädlich bemerkbar. 
Er lockert die Disziplin. Abstinenz ist in der Armee nicht durchzuführen, wohl 
aber läßt sich Mäßigkeit durch gutes Beispiel und Belehrung sowie durch die 
Darbietung harmloser Spiele und guter Lektüre in den Mußestunden erzielen. 

P. S. 


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Referate. 


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Merth, Heinrieh. Die Trunksucht und ihre Bekämpfung durch die Schule. Wien 
und Leipzig bei A. Pichlers Witwe und Sohn. 1904. IV u. 278 S. geh. 2.50 Mk., 
geb. 8 Mk. 

Merth gibt eine ganz ausgezeichnete Darstellung der physiologischen, patho¬ 
logischen und sozialen Wirkungen des Alkohols und erörtert dann ausführlich und 
ins einzelne gehend die Art der Lösung der Aufgaben, welche der Familie, der 
Gesellschaft, dem Staate, der Kirche und im speziellen der Schule und dem 
Lehrerstande bei der Abwehr des Alkoholismus erwachsen. P. S. 


Damaschke, A. Alkohol und Volksschule. Der Lehrer und die soziale Frage. Sozialer 
Fortschritt. Hefte und Flugschriften für Volkswirtschaft und Sozialpolitik. 
Nr. 24. Leipzig bei Dietrich. Mk. 0,15. 

Verfasser gibt zunächst eine kurze Übersicht über die in anderen Ländern 
bestehenden gesetzlichen Vorschriften über die Bekämpfung des Alkoholismus 
durch die Schule. In der Union gehen die Vorschriften so weit, daß sogar be¬ 
stimmt ist, welcher Teil der Lehrbücher dem Kampf gegen den Alkohol zu 
widmen ist. Für die niederen Schulen wird mindestens 20—25°/ 0 des Raumes 
verlangt, für höhere Schulen mindestens 20 Druckseiten. Für deutsche Schulen 
weist Damaschke einen obligatorischen Antialkohol-Unterricht zurück und er¬ 
wartet das meiste von gelegentlichen Belehrungen. Aufklärung der Eltern, die 
Schülerbibliotheken, Besserung der sozialen Verhältnisse sind weitere Hilfsmittel. 

Der Mitwirkung des Lehrers an der sozialen Reformarbeit ist im speziellen 
der zweite Teil der Schrift gewidmet. Kinderarbeit, Alkoholismus, Wohnungselend 
hemmen die Berufsarbeit des Erziehers. Auf dem Gebiete der sozialen Frage 
muß der Lehrer durch ernste Arbeit zu durchdringendem Verständnis gelangen. 
Namentlich darf er auch an der Bodenreformbewegung, welche für den Verfasser 
die soziale Frage an sich bedeutet, nicht Vorbeigehen. P. S. 


Keferstein. Moderne Arbeiterbewegung und Alkoholfrage. Verlag des deutschen 
Arbeiter-Abstinentenbundes. Berlin 1904. Preis 0,20 Mk. 

Nach der letzten Berufszählung wurden in Deutschland 5900654 Lohn¬ 
arbeiter in gewerblichen Berufen ermittelt, d. h. 24,8% der Gesamtbevölkerung. 
Die wirtschaftliche Lage der Lohnarbeiter ist zum großen Teil unbefriedigend. 
Der Alkoholismus ist nicht in allen Fällen von ökonomischen Verhältnissen ab¬ 
hängig. Während in den amerikanischen Arbeiterbudgets ungefähr 5% aller 
Ausgaben auf alkoholische Getränke entfallen, wird von deutschen Arbeitern das 
Vier- und Fünffache für den gleichen Zweck ausgegeben. Eine Erhöhung der 
Löhne hat eine Vermehrung der Ausgaben für alkoholische Getränke zur Folge* 
Viel tragen die unbehaglichen Wohnungen zum Alkoholismus der Arbeiter bei. 
Nicht nur die Gesundheitsschädigungen, sondern auch das Klasseninteresse des 
Arbeiters erfordert die Bekämpfung des Alkoholismus. Denn „der Alkohol 
macht den Menschen zufrieden, auch wo er keinen Grund zur Zufriedenheit, 
sondern die Pflicht zur Unzufriedenheit hat.“ Der Alkoholgenuß stört die not¬ 
wendige Ruhe und Besonnenheit der Arbeiterbewegung. Der Endsieg des Prole¬ 
tariats aber, sagt Vandervelde, muß nicht nur ein Sieg über den Kapitalismus, 
sondern auch ein Sieg über sich selbst sein, über die Laster, die es erniedrigen, 
und über die falschen Bedürfnisse, die es unterjochen. P. S. 


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72 


Referate. 


Schmidt, H. Fr. Kellners Weh und Wohl. 6. Auflage. Berlin (Martin Wamenk) 
1904. Mk. 0,80. 

Der Verfasser, Pfarrer in Cannes, kennt Arbeit und Leben des Kellners¬ 
aus eigener näherer Bekanntschaft mit vielen Kellnern. Er unterscheidet den 
eigentlichen „Hotelkellner“ mit seinem Ehrgeiz, es selbst einmal zum eigenen 
Hotel zu bringen, von dem „Brotkellner 11 und dem „Kellnerproletariat 14 . Bis¬ 
weilen allerdings verwischen sich die Grenzen. In Graubünden z. B. sind die 
schlechtbesoldeten Lehrer in den Sommerferien als Hotelkellner tätig. Die Aus¬ 
bildung des Kellners ist dem Zufall anheimgegeben. Die Dauer der Lehrzeit 
beträgt in 61 % der deutschen Gastwirtschaften weniger als 2 Jahre, Lehrgeld 
wurde nur in 2°/ 0 der Fälle gezahlt, eine Barvergütung gewähren den Lehrlingen 
dagegen 1 / # der mit Lehrlingen arbeitenden gastwirtschaftlichen Betriebe. Mit 
der Verpflegung des Kellners ist es häufig schlecht bestellt. Zwischen Kellnern 
und Köchen besteht vielfach ein Haß. Das Trinkgeld ist der moralische Verderb 
des Kellnerstandes. Heißt es doch Trinkgeld, also warum sollte es nicht ver¬ 
trunken werden? Durch Trinkgeldgeben wird der Leichtsinn nach allen Richtungen 
hin gemehrt. Oldenberg nennt das Trinkgeld die gemeinste Form der Ent¬ 
lohnung. Dazu kommt, daß die Kellner tatsächlich zur Ehelosigkeit verurteilt 
sind. Ein verheirateter Kellner ist nach jeder Richtung hin ein Unglück. Vor 
allem aber gibt es für die Kellner keinen Sonntag. 

Nach des Verfassers Schätzung erliegt ein Viertel aller Kellner frühzeitig 
den Überanstrengungen des Berufs oder den Folgen eines leichtsinnigen Lebens¬ 
wandels. Am meisten räumen Tuberkulose und Syphilis unter ihnen auf. Die 
eigentlichen Trinkerkrankheiten treten bei den Kellnern in geringerem Maße auf 
als bei den Wirten. Den vielfachen Gefahren seines Berufes kann der Kellner 
nur entgegenwirken durch strenges Meiden aller schädlichen Genüsse, namentlich 
auch des übermäßigen Trinkens. Schon alte deutsche Volksweisheit warnte vor 
dem dreifachen W: „Wein, Weib, Würfelspiel.“ Solidere und gesündere Ver¬ 
hältnisse und Menschen im Gastwirtsgewerbe werden sich mit dem Siege der 
Mäßigkeitsbewegung einstellen. P. S. 


Marcuse, Julian. Kleine Gesundheitslehre. 16. Bd. von Hillgers illustrierten 
Volksbüchern. Berlin. Leipzig. 92 Seiten. 16°. Preis 0,30 Mk. 

Der Verfasser erörtert in allgemeinverständlicher Form die wichtigsten 
Faktoren einer gesundheitsgemäßen Lebensweise. Der unheilvolle Einfluß des 
gewohnheitsmäßigen Alkoholkonsums auf die Gesundheit wild nach Gebühr ge¬ 
würdigt. P. S. 


Behrens, Peter. Alkohol und Kunst. Flensburg 1905. Preis Mk. 0,20. 

Professor Peter Behrens, der Direktor der Kunst-Gewerbeschule in 
Dresden, führte in seinem bei Gelegenheit des internationalen Kongresses gegen 
den Alkoholismus in Bremen gehaltenen Vortrage aus, daß es eine Ästhetik der 
Alkoholabstinenz gibt. Er hat in seiner eigenen künstlerischen Tätigkeit und auch 
im übrigen Leben erfahren, daß die Alkoholabstinenz einen Überschuß von Kraft 
und Phantasie zur Empfindung bringt. P. S. 


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Referate. 


73 


Stellmacher, 1. Auf neuer Bahn. Kleine Beiträge zu einem alten Kulturproblem. 

Hamburg. Gebrüder Lüdeking. 1904. 

Der Verfasser hat in acht Aufsätzen (I. Enthaltsamkeit oder Mäßigkeit? 
II. Fem-Eindrücke vom Bremer Antialkohol-Kongreß. IH. Zum Kapitel Deutsch¬ 
land und Antialkohol-Kongresse. IV. Der Alkohol — ein Mephistopheles. V. Ein 
Zwischenspiel. VI. Bismarck. Dionysische Persönlichkeiten. Teufel. VII. Die 
Energie des Alkohols. VIII. Das Volk der Denker und Dichter. Presse. Ärzte 
und Theologen. Asketen. Nietzsche. Faust) dem alten soziologischen Problem 
der Alkoholfrage neue Seiten abzugewinnen versucht. Vieles ist gut und treffend 
gesagt. Manches indessen wird durch die Neigung, die Tatsachen um jeden Preis 
in geistreicher, origineller Form darzustellen und durch weit hergeholte Vergleiche 
zu illustrieren sowie durch die scharfe Gegnerschaft gegen die Mäßigkeitsbewegung 
in ein schiefes Licht gestellt. Wer eine mehr feuilletonistische Behandlung des 
Gegenstandes liebt, der wird in dem Buche seine Rechnung finden. P. S. 


Bonne. Mäßigkeit, Enthaltsamkeit und Christentum ist in 4. Auflage im Verlage 
von Deutschlands Großloge II des J. 0. G. T. in Flensburg erschienen. 

In sehr ansprechender Form vertritt Bonne den Standpunkt, daß die Ent¬ 
haltsamkeit mit der evangelischen Freiheit eines Christenmenschen wohl zu ver¬ 
einbaren ist. Die Enthaltsamkeit ist kein Opfer, sondern ein Gewinn nicht nur 
für den Enthaltsamen selbst, sondern auch für die gesamte Kultur. P. S. 


Popert. Wir und das Alkoholkapital. Flensburg 1904. Preis 0,15 Mk. 

Bei der Abstinenzbewegung handelt es sich nach Popert im letzten Grunde 
um den politischen Kampf gegen eine brutale Kapitalmacht, die um ihres Ge¬ 
winnes willen mit allen Mitteln am Ruin unseres Volkes arbeitet. Der Feind 
muß ausgehungert werden. Jeder, der für die Abstinenzbewegung gewonnen 
wird, ist ein verlorener Konsument für das Alkoholkapital. P. S. 


Nach der deutscheu Wochenzeitung in den Niederlanden gewinnt 
die Bekämpfung des Alkoholismus in Holland stark an Umfang. Dreizehn Vereine 
mit etwa 50000 Mitgliedern beteiligen sich daran. Auch in den Kasernen wird 
durch Offiziere und Unteroffiziere mit Erfolg gegen den Alkoholismus gewirkt. 
So ist z. B. in der Kantine der Pionier-Kaserne in Dortrecht der Geneverver¬ 
brauch von 12211 Flaschen im Jahre 1896 auf 4461 Flaschen im Jahre 1902 
heruntergegangen, dagegen der von Limonade im gleichen Zeitraum von 285 Flaschen 
auf 1736 Flaschen gestiegen. Von anderen Kasernen wurden ähnliche Ergebnisse 
bekannt gegeben. P. S. 


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74 


Bibliographie. 


Bibliographie. 

Vierte* Vierteljahr 1904. 

Zusammengestellt von Bibliothekar Peter Schmidt. 

van Akten, L. Beitrag zur Kenntnis der Polyneuritis alooholica. Diss. Kiel 
1904. (28 S.) 

Alkohol, der , als Nahrungs- und Genußmittel. (Kürschners Jahrbuch 1904, 
Sp. 785—792.) 

Alkoholismu8, der, in den Tropen. (Baineologische Zentralzeitung, 1904, S. 90.) 
— und die Armee. (Überall, 1904, Nr. 25—29.) 

Annale8 antialcooliques , Les. Journal mensuel de vulgarisation et d’etudes. 
Publie sous la direction: Legrain, Paris. 

Arbeiterfrage und Alkoholfrage. („Volkswohl“, 1904, Nr. 47.) 

Armee . Wie denkt man in unserer Armee über den Alkoholismus? (Frauen- 
rundsehau, Berlin 1904, S. 612.) 

Asmussen s. „Auf! a 

Auf! Frisch ans Werk! Volkskalender f. d. J. 1905. Hrsg. v. G. Asmussen. 
(112 S. m. 1 Bildnis.) 8°. Flensburg, Deutschlands Großloge II. Mk. —.40. 

Ausweg, der letzte. (Volkswohl, Dresden 1904, Nr. 52.) 

Axenfeld, D. Einfluß des Alkohols auf das Gehirn. (Verh. d. Vers, deutscher 
Naturforschern. Ärzte, Leipzig 1904, II. Teil, 2. Heft, S. 431.) 

de la Barre, A . La lutte contre l’alcoolisme et les divers clerges catholiques. 
(Association catholique. Paris, n° de fevr. 1904.) 

Baur, P. Was kann die Schule alles tim, um dem übermäßigen Genuß geistiger 
Getränke entgegenzuwirken? (Repertorium der Pädagogik, Ulm 1904, S. 346 
bis 362.) 

Behrens, 0. Alkohol und Kunst. (Bericht über den V. int. Kongreß gegen den 
Alkohol, Jena 1904, 8. 306—311.) 

Behrens, 0. Gefahren des Alkoholismus für unsern heutigen Gewerbebetrieb und 
Kampf dagegen. (Monatsbl. für öffentl. Gesundheitspflege, Braunschw. 1904, 
S. 33—47.) 

Bekanntmachung betr. den Verkauf des denaturierten Branntweins nebst den 
einschlägigen Bestimmungen der Branntweinsteuer-Befreiungsordnung vom 
28. VI. 1900, unter Berücksicht, der Bundesratsbeschlüsse vom 28. HE. 1901, 
18. IX. 1902 u. 25. VI. 1903. 2. wesentl. veränd. Aufl. Zollamtlich u. ge¬ 
werbepolizeilich revidiert. Vorschriftsmäßiges Plakat f. Verkaufs - Lokale. 
28,5X44,5 cm. Würzburg, Stahels Verl. Mk. —.10. 

Bentley. Alkoholfreie Wirtschaften in England. (Bericht üb. d. V. int. Kongreß 
gegen den Alkoholismus, Jena 1904, S. 208—212.) 

Bergman, J. Moderne Kultur u. Kampf, gegen den Alkoholismus. (Bericht üb. 
d. V. int. Kongreß gegen den Alkoholismus, Jena 1904, S. 27—36.) 

Bericht üb. die 20. Jahresversammlung des deutschen Vereins gegen den Mi߬ 
brauch geistiger Getränke (e. V.) zu Berlin, abgeh. am 21. u. 22. X. 1903. 


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Bibliographie. 


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Sprachgebiets. (108 S.) 8°. Berlin, Mäßigkeits-Verlag. Mk. —.50. 

Berichte , internationale, üb. die Arbeit der Frauen im Kampf gegen den Alkoho- 
lismus, erstattet in der öffentl. Versammlg. des deutschen Bundes abstinenter 
Frauen im IX. internationalen Kongreß gegen den Alkoholismus am 14. IV. 
1903 in Bremen. Hrsg, vom deutschen Bunde abstinenter Frauen. (VII, 
81 S.) gr. 8°. Bremen, 0. Melchers. Mk. —.30. 

Bierbrauerei u. Bierbesteuerung i. D. Reich, 1903. (Vierteljahrshefte zur Statistik 
d. D. Reichs, 1904, Heft 4, S. 165.) 

Bierbrauereien , Branntweinbrennereien u. Branntweinausschankstätten in Öster¬ 
reich, 1903. (Österreichisches statistisches Handbuch f. 1908, Wien 1904, 
S. 241—244.) 

Blitstein, Max. Alkohol und Schule. (Zeitschrift für Schulgesundheitspflege, 
1904, Nr. 8.) 

Bockmüller. Abendmahl und Abstinenz. (Reformierte Kirchenzeitung, Freuden¬ 
berg [Kreis Siegen] 1904, Nr. 24.) 

Bonne, Geo. Mäßigkeit, Enthaltsamkeit u. Christentum. Vortrag. 4. Aufl. (16 S.) 
8°. Flensburg, Deutschlands Großloge. Mk. —.10. 

Bomtr&ger. Hygienische Einrichtungen der Gasthäuser u. Schankstätten. (Die 
Umschau, Frankfurt 1903, Nr. 53.) 

Branntweinsteuer-Gesetzgebung im deutschen Reich und den wichtigsten außer¬ 
deutschen Staaten. (Kalender f. d. landwirtschaftlichen Gewerbe 1905, Berlin. 
Parey. II. Teil.) 

Branntweinbrennerei in Großbritannien u. Irland, 1897—1902. (Deutsche Spiri¬ 
tuszeitung, 1903, Nr. 39.) 

Brännvins Tillverkning . . . 1902—1903. (Bidrag tili Sveriges off. Statistik V, 
XX.), Stockholm 1904. (16. S.) 

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Wochenschrift, V. 2.) 

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mark) Selbstverlag. (20 S.) Kr. —.10. 

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Anatomie, Berlin 1904, S. 185—188.) 

v. Bunge, G. Alkoholvergiftung und Degeneration. 2. Aufl. Vortrag. (20 S.) 
Leipzig, Barth. Mk. —.40. 

v. Bunge, G. Die zunehmende Unfähigkeit der Frauen, ihre Kinder zu stillen. 
Die Ursachen dieser Unfähigkeit, die Mittel zur Verhütung. Vortrag. München, 
Reinhardt. Mk. —.80. 

v. Bunge , G. Wider den Alkohol. Gesammelte Reden u. Abhandlungen. Leo¬ 
poldshöhe. Mk. —.20. 

Burghart- Dortmund. Lebensregeln zur Verhütung der Ansteckung mit Tuber¬ 
kulose. (16 S.) Erlangen, Krische. Mk. —.15. 

Crothers. How far does the moderate use of alcohol affect longevity? (Medical 
Examiner and Practitioner, N.-York. Bd. 14, 1904, Nr. 7.) 

Daum s. Steger. 

Deißmann, A. Eine Abstinenz Versammlung der Heidelberger Gewerkschaften. 
(Die Hilfe, 19C4, Nr.. 20.) 


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Drankwet, De. Met de daarm door de Tweede Karner aangebrachte wijzigingen. 
Met aanteekeningen door J. F. de Jager. Groningen, Erven B. van der 
Kamp. Sm. 8°. (64 blz.) fl. —.25. 

Esche , A . Landeskommission zur Erforschung und Bekämpfung des Alkoholis¬ 
mus. (Bausteine, Leipzig 1904, S. 23.) 

Fick, A. Alkohol auf ärztliche Verordnung. (Korrespondenzbl. für Schweizer 
Ärzte, Basel 1904, S. 158.) 

Förster , F. Gesunde Jugend. (Gesunde Jugend, 1904, S. 5—35.) 

Frank, Ferd. Ein gefährlicher Freund. Eine Erzählung für alt und jung. Wien, 
Schulbücherverlag. 

Fröhlich, Bich. Alkoholfrage und Arbeiterklasse. Berlin, Buchhandlung Vor¬ 
wärts. (32 S.) Mk. —.20. 

Gerkin. Zur Alkoholfrage. (Erwiderung auf den Artikel von Körting. „Tag“ 
v. 24. XI. 04.) 

Gewerkschaften, die , und die Bekämpfung des Alkoholmißbrauchs. (Korrespondenz¬ 
blatt d. Generalkommission d. Gewerkschaften Deutschlands, 1904, Nr. 44.) 

Gold Schmidt, Fritz. Wein ist Gesundheit. Eine Widerlegung der irrigen An¬ 
sichten der Alkoholgegner auf Grund einer Reihe Gutachten ärztlicher Autori¬ 
täten. Zur Antialkoholbewegung. (64 S.) Berlin, Redaktion der „Deutschen 
Weinzeitung 11 . 

Grotjahn, A. Der Alkoholismus. (Im IV. Supplementband des Weylschen Hand¬ 
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Grotjahn, A. Glossen zum Bremer Antialkoholkongreß. (Medizinische Reform 
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Grober, Max. Das Schreiben Hofrat Prof. Max Grubers an die Redaktion des 
„Abstinenten“ üb. Professor Hueppes Vortrag am österreichischen Brauer¬ 
tag. (2 S.) 4°. Wien, Brüder Suschitzky. 100 Stück Mk. 3.—. 

Grünwald, E. Was kann die höhere Schule zur Bekämpfung des Alkoholismus 
tun? (Beilage zur Vossischen Zeitung, Berlin 1904 v. 10. 1.) 

Grützner, P. Wirkung einatomig. Alkohols auf einfache Organe. (Verh. d. Vers, 
deutscher Naturforscher u. Ärzte, 1904, II. T., 2. Heft, S. 443.) 

Hampe. Alkoholfrage und der heutige Stand der Wissenschaft. (Monatsbl. f. 
öffentl. Gesundheitspflege, Braunschweig 1904, S. 1—13, 17—25.) 

Hartmann und Weygandt. Die höhere Schule und die Alkoholfrage. Berlin 
W. 15, Mäßigkeitsverlag. Mk. —.40. 

Hecker. Welche Schädigungen bringt der Alkoholisraus Körper u. Geist? (Das 
Rote Kreuz, Charlottenburg 1904, S. 296.) 

Helenius. Rolle des Alkohols im Staatshaushalt. (Bericht üb. d. V. int. Kongreß 
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Henke, Otto. Ist die Alkohol-Abstinenz e. Krücke f. charakterlose Schwächlinge 
u. Fragen an Hm. Prof. Dr. Hueppe, Prag. (Die Alkoholfrage geht e. 
jeden an! Hrsg, vom Gau Deutschland Nr. 118 des unabhängigen Ordens 
der Rehabiten.) (10 S.) gr. 8°. Hamburg, J. Kriebel. Mk. —.10. 


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Bibliographie. 


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Holitscher, A. Alkoholsitte u. Abstinenz. Eine Erwiderg. auf Prof. Dr. Ferd. 
Hueppes Vortrag: „Alkoholmißbrauch u. Abstinenz“. (82 S.) 8°. Wien, 
Brüder Suschitzky. Mk. —.40. 

Hoppe, H Neuere Arbeiten über Alkoholismus. (Zentralblatt für Nervenheil¬ 
kunde, N. F. XIV.) 

Hoppe , H. Die Tatsachen üb. den Alkohol. Eine Darstellg. der Wissenschaft 
vom Alkohol. Mit zahlreichen Statist. Tabellen. 3. wesentlich verm. u. 
teilweise umgearb. Aufl. (XVI, 536 S.) gr. 8°. Berlin, S. Calvary & Co. 
Geb. Mk. 7.—. 

Industrie , alkoholfreie. Zentralblatt f. die Herstellg. u. den Vertrieb v. alkohol¬ 
freien Getränken, Mineralwässern, Limonaden u. natürl. Brunnen. Zugleich 
Organ f. rationelle Ernährg. u. f. Körperpflege, sowie zur Bekämpfg. des 
Alkoholismus. Red. v. E. Luhmann. 2. Jahrg. Aug. 1904 — Juli 1905. 
24 Nm. Lex. 8°. Dresden, 0. V. Böhmert. Vierteljährlich Mk. —.60. 

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Report for 1903. Publ. of the London County Council. London 1904. 

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Kassowitz, M. Gebt den Kindern keinen Alkohol! Flugblatt für die Schulkinder 
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HL Mitteilungen. 

Oer Jahresbericht des schleswig-bolsteiiiiscben Bezirksvereins gegen den Mißbrauch 
geistiger Getränke weist bemerkenswerte Erfolge der regen Tätigkeit auf. Außer 
13 Ortsvereinen mit 125 Mitgliedern und 473 Anhängern zählt der Verein als 
korporative Mitglieder den über 450 Mitglieder umfassenden Kieler Bezirksvein, 
die Landesversicherungsanstalt, 13 Kreisausschüsse, 9 Magistrate, 56 Kirchenvor¬ 
stände, 1 Gemeindeverein und 10 Schulen; endlich 171 unmittelbare Mitglieder 
und 151 unmittelbare Anhänger. 

Der Bericht enthält eine von dem Vorsitzenden, Geh. Med.-Rat Dr. Halling- 
Glückstadt, auf Grund des von dem Oberpräsidenten überlassenen Materials aus¬ 
gearbeitete Schankstätten-Statistik für die Zeit vom 1. April 1902 bis 31. März 
1904. Leider betrifft das in der Statistik verarbeitete Material nur diejenigen 
Gemeinden, in denen überhaupt ein Zu- oder Abgang an Sohankstätten während 
der beiden Berichtsjahre eingetreten ist. 

Anerkennend hebt der Jahresbericht eine Polizeiverordnung vom 7. Juni 
1903 hervor, welche geeignet ist, alkoholisch Belasteten und Minderjährigen den 
Bezug von Spirituosen erheblich zu erschweren; sowie eine Verfügung der Königl. 
Eisenbahndirektion Altona vom 12. Juni 1903, welche die Dienstvorgesetzten an¬ 
weist, jeden Fall von Trunkenheit im Dienst ohne Ausnahme zur Bestrafung an¬ 
zuzeigen. Die Inspektionsvorstände sollen, wo ein Bedürfnis dafür sich heraus¬ 
stellt, dafür sorgen, daß allen Bediensteten ausreichende Gelegenheit zum Genuß 
alkoholfreier Getränke, insbesondere von gutem Trinkwasser, Kaffee u. dergl. ge¬ 
boten werde. Die Bahn- und Kassenärzte werden ersucht, die Bediensteten, die 
sich wiederholt durch Trunk dienstunfähig machen, der Verwaltung namhaft zu 
machen, Trinker unter den Bediensteten fortgesetzt auf die schädlichen Folgen 
des übermäßigen Alkoholgenusses hinzuweisen, aber auch im übrigen das Personal 
bei jeder Gelegenheit über die Wirkung des Alkohols zu belehren. Infolgedessen 
ist das Alkohol-Merkblatt des Kaiserl. Gesundheitsamtes in sämtlichen Dienst-, 
Arbeite- und Unterkunftsräumen ausgehängt, sind vielfach in Werkstätten u. s. w. 
Selterwasser-Apparate aufgestellt, endlich sind die Samariterkurse von den Bahn¬ 
ärzten zu entsprechender Belehrung benutzt worden. Einen durchgreifenden 
Erfolg erhofft der erfahrene Vorsitzende aber erst von einem völligen Verbot 
jeglichen Genusses geistiger Getränke während des Dienstes, sowie von andauernder 
Belehrung und Aufklärung der Eisenbahner. 

Als erfreulicher Fortschritt kann mitgeteilt werden, daß die neu erbaute 
Vollbahn Kiel-Rendsburg als erste nicht eine einzige Bahnwirtschaft erhalten hat. 

Dem Jahresbericht ist ein wertvoller Überblick von P. Dr. Stubbe-Kiel 
über „Die antialkoholische Literatur der Jahre 1903 und 1904“ beigefügt. Jede 
der im Besitz des Kieler Bezirksvereins befindlichen und von diesem auch nach 
auswärts kostenlos zur Verleihung gelangenden wichtigen Schriften ist knapp 
und treffend besprochen. Zum Schluß wird auf das wichtige Unternehmen des 
Mäßigkeits-Verlages (Berlin-W. 15, Fasanenstraße 74) hingewiesen, der Biblio¬ 
theken, welche die verschiedenen Seiten der Alkoholfrage berühren, 
je nach ihrer Reichhaltigkeit für 5, 10, 15—70 M. liefert. 


Der Alkoholismua. 1905. 6 


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Mitteilungen. 


Die Bernische Trinkerheilstätte „Nüchtern“ in Kirchlindach bei Bern versandte 
jüngst ihren 13. Jahresbericht über 1903. Wer sich ein Bild über das Heilstätten¬ 
wesen für Alkoholkranke in seiner jetzigen Gestalt verschaffen will, dem sei der 
nach mehreren Seiten bemerkenswerte und auch für die Beurteilung unserer hie¬ 
sigen Verhältnisse auf dem Gebiete der Trinkerfürsorge passende Bericht zum 
Studium bestens empfohlen. In demselben findet sich sowohl die unzulängliche 
Besetzung der Heilstätte (von 40 Plätzen waren durchschnittlich nur 22 belegt) als 
auch die Klage über die mangelhafte und schwierige Betätigung der Pfleglioge, 
die Hervorhebung der vielfach guten Resultate und die schlechten Erfahrungen 
bei entmündigten Personen, die mannigfachen Enttäuschungen nach der schlechten 
wie guten Seite — genau so wie bei uns — wieder. Gewiß, denn der Alkohol¬ 
kranke ist in der Schweiz nicht anders als in Deutschland geartet; man fin¬ 
det überall denselben Menschen in gesunder und kranker Gestalt wieder, mag man 
sich nach dem Süden oder dem hohen Norden begeben. Von großer Sachkenntnis 
zeugt der mit dem Bericht wiedergegebene Vortrag „Was verstehen wir unter 
Heilung der Trunksucht?“ des Hausvaters Steffen, welcher uns nebenbei durch 
seine Referate für die Versammlungen des Verbandes der Trinkerheilstätten nicht 
unbekannt ist. 

„Nüchtern“ hatte im Jahre 1903 32 Aufnahmen zu einem Bestände von 28; 
es verließen im Berichtjahre 45 Pfleglinge die Heilstätte, so daß am Schluß 1903 
nur noch 15 Kranke verblieben. Die Aufgenommenen, durchweg der arbeitenden 
Bevölkerung angehörig, waren mit Ausnahme eines Ausländers Schweizer und 
litten in 11 Fällen an einfacher Trunksucht, in 2 an chronischem Alko¬ 
holismus, wogegen 7mal periodische Trunksucht und 9mal Delirium ver¬ 
zeichnet steht; 3 fernere Kranke waren geisteskrank oder schwachsinnig. Für 
die Entlassenen wird folgende Aufenthaltsdauer notiert: unter 1 Monat (weil gei¬ 
steskrank) 1; 1 Monat 1; 3—4 Monate 6:5—6 Monate 29; 7—8 Monate 1; 9—10 Mo¬ 
nate 1; 11—12 Monate 5; mehr 1 Pflegling. Demnach hielt die weitaus größte 
Hälfte 5—6 Monate aus, womit immerhin etwas erzielt werden kann, sofern die 
Fälle nicht zu ungünstig liegen. Leider ist nicht gesagt, welche Krankheitsförmen 
sich unter den Entlassenen befinden, während mitgeteilt wird, daß von den Auf¬ 
genommenen ein größerer Teil (11) an einfacher Trunksucht litt. Bezüglich der 
Erfolge wird verkündet, daß am Schluß des Jahres 1903 aus den Jahren 1891/95 
28%, aus 1896/1900 17%%, aus 1901/03 45%, aus dem Zeitraum 1891/1903 
zusammen 32%, aus 1903 57%% abstinent geblieben sind. Rechnet man die 
Nichtabstinenten aber Gebesserten hinzu, so wachsen die betreffenden Zahlen auf 
36%, 34%, 52, 43, 65%. Wohl bemerkt, es ist nicht etwa gesagt, daß in diesen 
Prozentsätzen Heilung angenommen wird, obgleich aus dem Bericht selbst her¬ 
vorzugehen scheint, daß auch in der Heilstätte „Nüchtern“ Abstinenz gleichbe¬ 
deutend mit Heilung ist. Das mag in vielen Fällen zutreffend sein, allgemein 
aber läßt sich dies nicht behaupten. Es ist der Hausvater Steffen die Antwort 
auf die Frage seines Themas „Was verstehen wir unter Heilung der Trunksucht?“ 
schuldig geblieben, denn er gibt nur den Weg zur Abstinenz und die Mittel an, 
welche zur Enthaltsamkeit führen. Er charakterisiert seinen Standpunkt mit den 
Worten: „Alles Bewahren von seiten der Familien und der Vereine führt aber 
doch nicht zum Ziel, wenn die Entlassenen nicht auch selbst an ihrer Heilung 
Weiterarbeiten. Die Heilung tritt nur dann ein, wenn man sie wirklich begehrt.“ 
Zur Selbsthilfe gibt er an: „Eintritt in einen Enthaltsamkeitsverein, persönliche 


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Mitteilungen. 


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Mitarbeit in demselben, richtige Pflege des Familienlebens, Meiden aller Wirts¬ 
häuser, Tragen von Vereinsabzeichen, vollständiger Bruch mit den alten Kameraden 
und Saufkollegen, reger Verkehr mit der Anstaltsleitung und gleichgesinnten Leuten 
überhaupt, gesunde Lektüre, Musik, Poesie, Trachten nach Vollkommenheit in dem 
Sinne, wie Christus sie gelehret hat.“ 


Stift Isenwald gibt einen Bericht über die 3 Jahre seines Bestehens heraus, 
in welcher Zeit 130 alkoholkranke Männer Aufnahme fanden, von denen 109 wieder 
zur Entlassung kamen. Der Durchschnittsbestand war im letzten Rechnungsjahre 
22 bei 32 Plätzen; eine Überbelegung hat auch hier noch nie stattgefunden. Von 
den Entlassenen kann ein Drittel als „geheilt“, ein ferneres Drittel als „gebessert“, 
der Rest als „aussichtslos schwachsinnig, leichtsinnig und widerwillig“ angesehen 
werden. Die Aufenthaltsdauer betrug im Durchschnitt 178 Tage; manche Patien¬ 
ten verließen auch hier vorzeitig in eitler Selbstüberschätzung die Heilstätte — 
überall dasselbe Bild! — 


Daß die Heilung Trunksüchtiger im 20. Jahrhundert noch recht verschieden 
gehandhabt wird, zeigt das folgende 

Abla&gebet Mein Gott und Vater, zum Erweise meiner Liebe zu 
dir, zur Wiederherstellung deiner verletzten Ehre, zur Erlangung des 
Heiles der Seelen nehme ich mir fest vor, am heutigen Tage weder 
Wein, noch sonst ein gegorenes, noch überhaupt ein berauschendes 
Getränk zu nehmen. Diese Enthaltung opfere ich dir in Vereinigung 
mit dem Opfer deines Sohnes Jesu Christi, welcher sich tagtäglich zu 
deiner Ehre auf dem Altäre aufopfert. Amen. 

Kirchl. Druckerlaubnis: J. N. 3933. Köln den 16. August 1904. 

300 Tage Ablaß, jeden Tag zu verdienen, verliehen von Se. päpstl. 
Heiligkeit Pius X., am 29. März 1904. 


Einen ferneren Beitrag zur Trinkerfürsorge liefert nachstehender Artikel, 
der in den letzten Tagen durch die Tagespresse ging: „Da& auch die Polizei den 
Kampf gegen den Alkohol wirksam führen kann, lehrt folgende Maßregel, die die 
Polizei zu Herford ergriffen hat. Dort wurde zunächst auf Anlaß des Polizei¬ 
hauptmanns eine „Trinkerliste“ angelegt, die alle Namen derer enthielt, die als 
übermäßige Trinker bekannt waren. Darauf wurden die Frauen der Männer auf 
das Polizeiamt gefordert, wo sie über die durch die Trunksucht des Mannes her¬ 
beigeführten Verhältnisse aussagen mußten. Anfangs wollten die Frauen mit der 
Wahrheit nicht recht heraus, da sie Mißhandlungen von ihren Männern fürchteten, 
später gaben sie, viele mit tränenden Augen, manchmal geradezu unglaubliche 
Schilderungen von dem Elend und den Familien Verhältnissen, die die trunkenen 
Männer verursacht hatten. Nachdem das alles niedergeschrieben war, wurden 
dem Mannö in Gegenwart seiner Frau und der Polizeibeamten die Aussagen ver¬ 
lesen und er zur Unterschrift aufgefordert. Vielfach versuchten die Trunken¬ 
bolde abzuleugnen und die Unterschrift zu verweigern, gaben dann aber sehr 
bald, nachdem ihnen ihre Frauen gründlich den Kopf gewaschen hatten und ein 
Leugnen nicht mehr möglich war, ihre Unterschrift. Sie wurden dann ermahnt 
und ihnen mit Entmündigung gedroht. Dieses Verfahren hat sich so vortrefflich 
bewährt, daß sogar das Straßenbild ganz anders geworden ist; die wüsten Auf- 

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Mitteilungen. 


tritte, wie sie früher an der Tagesordnung waren, sind verschwunden. Jetzt herrscht 
nicht allein bei den armen geplagten Frauen, sondern auch bei den Männern, die 
von ihrem Laster befreit wurden, größte Zufriedenheit über die Einrichtung.“ 

Es muß mehr wie bezweifelt werden, daß durch Polizeiverbote die Trunk¬ 
sucht aus der Welt geschafft werden kann. Die sogenannte „Schwarze Liste“ ißt 
nicht neu, ob sie von Wirkung ist, erscheint aber immerhin zweifelhaft; auf 
keinen Fall aber vermag sie die Heilung einer Krankheit zu bewirken. Durch 
die Androhung von Polizeistrafen ist noch nie ein Mensch gesund geworden; wenn 
dem so wäre, würde man empfehlen müssen, an Stelle von Trinkerheilstätten 
Polizeiorgane zur Durchführung obiger Verordnungen einzustellen — dann brauch¬ 
ten wir uns um die ganze Trinkerfürsorge nicht weiter zu kümmern. 


Der Guttomplerordef! hat im abgelaufenen Jahr kräftige Fortschritte gemacht. 
Im Gebiete der Großloge II sind etwa 120 neue Logen für Erwachsene und 
40 Jugendlogen gegründet worden. Sie zahlt jetzt etwa 780 untergeordnete Logen, 
die sich zu 23 Distrikten zusammenschließen und etwa 25000 Mitglieder umfassen 
und 181 Jugendlogen mit über 5000 jugendlichen Mitgliedern. 

Brandenburg oder der 14. Distrikt weist gegenwärtig 40 untergeord¬ 
nete Logen (für Erwachsene) auf mit etwa 1600 Mitgliedern (Groß-Berlin 31 Logen 
mit 1100 Mitgliedern) und 14 Jugendlogen mit etwa 300 Jungtemplern (13 Jugend¬ 
logen in Groß-Berlin). 

Zählt man zu obenstehenden Ziffern der Großloge II noch die rund 90 Logen 
mit etwa 3000 Mitgliedern der dänisch sprechenden Großloge I im nördlichen 
Schleswig, so ergibt sich für Deutschland folgende Zusammenstellung: 

2 Großlogen mit zusammen etwa 870 untergeordneten Logen und 
28000 Mitgliedern. (Da uns die Anzahl der Jugendlogen im Gebiete der Gro߬ 
loge I nicht zugänglich sind, können wir hier den Bestand beider Großlogen nicht 
zusammenfügen.) G e r k e n. 


Für den im September d. J. in Budapest stattfindenden intornattonatofi Kongreß 
gegen den Alkeholismue sind folgende Referate in Aussicht genommen und bereits 
namhafte Kräfte dafür gewonnen worden: 

1. Erziehung und Schule im Kampf gegen den Alkoholismus, 

2. Die Reform des Schankwesens, 

3. Alkohol und Strafgesetz, 

4. Die kulturellen Bestrebungen der Arbeiter und der Alkohol, 

5. Alkohol und Geschlechtsleben, 

6. Der verderbliche Einfluß des Spirituosenhandels auf die Eingeborenen 
in Afrika, 

7. Die Organisation der Antialkoholbewegung, 

8. Die industrielle Verwertung des Alkohols als Kampfesmittel gegen den 
Alkoholismus, 

9. Der Einfluß des Alkohols auf die Widerstandsfähigkeit des menschlichen 
und tierischen Organismus, mit besonderer Berücksichtigung auf die Vererbung, 

10. Ist Alkohol ein Nahrungsmittel? 

11. Alkohol und physische Arbeitsfähigkeit mit besonderer Berücksichtigung 
des militärischen Trainings, 

12. Die hygienische Bedeutung des Kunstweins. 


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Mitteilungen. 


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Es werden wie gewöhnlich besondere Abende für die Arbeiter, die Frauen, 
die Studenten usw. veranlaßt werden, an denen in volkstümlicher Weise die 
Alkoholfrage von Rednern behandelt werden wird. Außerdem ist daran gedacht, 
für die Psychiater eine besondere Versammlung zu veranstalten, auf der die 
Trinkerfürsorge zur Besprechung kommen soll. 

Nähere Auskunft gibt der Generalsekretär des Kongresses, Dr. Philipp Stein 
in Budapest, IV. Központi värosbäza. 

Das ausführliche Programm mit genauer Tagesordnung werden wir nach 
dem Erscheinen zur Kenntnis unserer Leser bringen. 


Antialkohol — Blaaes Kreuz — religiöser Wahnsinn. Eine zeitgemäße Betrach¬ 
tung aus Straßburg (W. Pr.) von Dr. med. Krause lautet eine kasuistische Mit¬ 
teilung im Januar-Heft dieses Jahres der Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medizin, 
welche geeignet ist, mancherlei Irrtümer hervorzurufen. Schon die Steigerung 
in der Überschrift läßt unschwer erkennen, worauf Verfasser hinaus will, und 
diese Steigerung wird nicht etwa durch den ersten Satz dieser Abhandlung ab¬ 
geschwächt, welcher also lautet: „Die Alkoholfrage beschäftigt gegenwärtig die 
ganze Welt, sie beschäftigt die gesamte Presse, speziell die medizinischen Fach¬ 
blätter. Und das mit Recht!“ — Bewußt oder unbewußt gibt jene Bezeichnung 
aber den Weg an, der zum „religiösen Wahnsinn“ führt, nämlich durch die Ab¬ 
stinenz mittelst des Blauen Kreuzes. Gegen solche Auffassungen aber muß man sich 
wenden, denn es ist noch niemals dagewesen, daß durch die Alkoholenthaltsam¬ 
keit eine geistige Erkrankung hervorgerufen worden ist; daß der Alkoholismus 
dagegen in der Ätiologie der Geisteskrankheiten eine „bedeutende Rolle“ spielt, be¬ 
tont Krause selbst, und dies ist in medizinischen Kreisen hinreichend bekannt, 
so daß es hier nicht besonders hervorgehoben zu werden braucht. Daß bei geistig 
normalen, durchaus gesunden Individuen das Blaue Kreuz keine Psychose zu er¬ 
zeugen vermag, scheint mir aber ebenso zweifellos. Ein gesunder Mensch mag 
das Knierutschen mal mitmachen (wird das in der katholischen Kirche nicht 
etwa in extenso geübt? und sind deshalb die Teilnehmer an den Zeremonien dieser 
Kirche im psychiatrischen Sinne als verrückt oder wahnsinnig zu eiklären?), er 
wird aber geistig nicht davon affiziert. Und dieser Umstand ist es eben, der den 
Verfasser wie mir scheint zu Schlußfolgerungen veranlaßt hat, die in der ge¬ 
gebenen Form nicht annehmbar sind. Bei den 3 herangezogenen Fällen handelt 
es sioh 1. um einen Dipsomanen (der sicher nicht als geistig normaler Mann an¬ 
zusehen ist!), der innerhalb seiner trinkfreien Zeit — wie dies durchweg möglich — 
mit gutem Erfolg seinem Beruf hat nachgehen können (die Dipsomanen gehören 
nicht zu den Schwachköpfen, die zu nichts mehr nütze sind), der aber doch so 
wenig Widerstandsfähigkeit besaß, daß er nach einem starken psychischen Shock 
(Unterschreibung eines Wechsels von 3000 M.) zusammenbrach. Hieran ist aber 
nicht etwa seine Abstinenz, sondern sein Mangel an geistiger Kraft schuld; es 
kann behauptet, wenn natürlich auch nicht direkt bewiesen werden, daß der Mann 
auch ohne das Blaue Kreuz, auch ohne Abstinenz, aber als Dipsomane selbst, wenn 
ihn dieser Schlag in alkoholfreien Intervallen getroffen hätte, erregt geworden 
wäre. Er würde dann zweifellos zum Alkohol gegriffen und damit die nötige 
psychische Reaktion hervorgerufen haben. Auf alle Fälle handelt es sich, und 
das muß nochmals konstatiert werden, um ein geistig abnormes Individuum, wel- 


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Mitteilungen. 


ches durch gewissenlose „Brüder“ ausgebeutet wurde; ein Moment, das leider nicht 
gerade selten in der Welt ist. 

Die beiden andern vom Verfasser herangezogenen Fälle haben nach seinen 
Mitteilungen zu urteilen nichts mit Alkoholismus zu tun. Bei dem einen handelt 
es sich um eine „gesunde Bauersfrau 11 , die eine „fortwährend von Angstgefühl ge¬ 
plagte“ Tochter hat (mit der Nervengesundheit dieser scheint es zum mindesten 
nicht weit hergewesen zu sein), und welche „in einen Zustand religiöser Verzückung“ 
dadurch geriet, daß ihr der Arzt für die Tochter empfahl, statt so häufig in die 
Bibelstunde zu gehen, sich mehr in der frischen Luft aufzuhalten. 

Der dritte Fall wird mit wenigen Zeilen dahin abgemacht, daß eine Bürgers¬ 
frau wegen Gebetübungen Mann und Kinder im Stich ließ; und da sie vor mehre¬ 
ren Jahren im Wochenbett eine melancholia simplex durchgemacht habe, stehe 
zu befürchten, daß auch bei ihr über kurz oder lang eine Psychose ausbreche. 
(Ist nicht auch hier Ursache und Wirkung etwas durcheinander geworfen ?1) 

Gegenüber solchen Auslassungen muß zunächst konstatiert werden, daß das 
Blaue Kreuz in vielen Fällen von Trunksucht segensreich gewirkt hat; daß ihm 
bezw. der Inneren Mission die Initiative zu danken ist, daß man sich der Trunk¬ 
süchtigen überhaupt annimmt, und ferner muß betont werden, daß auch hier wie 
in manchen andern Fällen die Ärztewelt sich mit der ganzen (Alkohol-) Frage.nicht 
genügend befaßt hat. Dies rächt sich eben, und erst jüngsthin habe ich darauf 
aufmerksam gemacht (vergl. Berliner klin. Wochenschrift 1904, No. 45 in „Welche 
Bedeutung hat der Antrag des Abgeordneten Dr. med. Graf Douglas auf Ein¬ 
setzung einer ,Landeskommission für Volkswohlfahrt 1 für die Ärzte?“), daß eines 
Tages dem Arzt die Augen geöffnet werden würden beim Gewahren von Mi߬ 
ständen, die ihm alsdann in krassen Farben erscheinen. Dies scheint mir im vor¬ 
liegenden Falle bereits geschehen zu sein, und ich frage nochmals: weshalb be¬ 
faßt sich nicht der Arzt mit der Behandlung der Alkoholkranken? weshalb läßt 
er immer noch die „Lasterhaftigkeit“, welche diese Kranken auszeichnen 
soll, unwidersprochen? weshalb sorgt er nicht dafür, daß die Alkoholkranken 
rechtzeitig in Heilstätten geschickt werden, die von Ärzten geleitet sind? weshalb 
bekümmert er sich überhaupt so wenig um die ganze Alkoholfrage, die sich ihm 
in der Praxis auf Schritt und Tritt aufdrängt?? — Ist es da am Platze, sich zu 
beklagen und seine Klagen dadurch zu begründen, daß ein paar Fälle veröffent¬ 
licht werden, die nichts anderes beweisen, als daß an Stelle des Arztes der Pfarrer 
die Behandlung übernahm?! — suum euique heißt es auch hier. Wdt. 


Entmündigt wurden im deutschen Reich 

wegen Geisteskrankheit 


wegen Trunksucht 


im Jahre 1900 
„ 1901 

„ 1902: 

„ 1903: 


688 Personen 

852 

903 

976 


und Geistesschwäche: 
8634 Personen 
6999 „ 

5952 „ 

4827 „ 


Demnach ist ein allmähliches Ansteigen der Entmündigungen wegen Trunk¬ 
sucht zu verzeichnen, während auffallenderweise die Entmündigungen wegen 
Geisteskrankheit und Geistesschwäche ganz erheblich abgenommen haben; sie sind 
seit 1900 fast um die Hälfte zurückgegangen. An diesem Rückgang hat Preußen 
keinen allzugroßen Anteil, denn die betreffenden Zahlen für 1900/03 lauten: 3733, 
8537, 3144, 2169. 


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Mitteilungen. 


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Der Zentralverband zur Bekämpfung des Alkoholismus in Berlin läßt in diesem 
Jahre wieder Vorlesungen im Barackenauditorium der Berliner Universität in der 
Osterwoche abhalten, und zwar sind folgende Themata vorgesehen: 

1. Geschichte des Alkoholkampfes in Skandinavien. Professor Dr. Berg¬ 
mann-Stockholm. 

2. Alkoholismus und Armenpflege. Stadtrat Dr. Münsterberg-Berlin. 

3. Alkoholismus und Nervosität Professor Dr. Laehr. Haus Schönow b. 
Zehlendorf. 

4. Alkohol und Geisteskrankheiten. Dr. Juliusburger, Schlachtensee. 

5. Alkoholismus und Prostitution. Sanitätsrat Dr. Rosenthal, Berlin. 

6. Der Alkoholismus und der Arbeiterstand. Dr. Keferstein, Lüneburg. 

7. Der Alkohol und das Kind. Priv.-Doz. Dr. Weygandt, Würzburg. 

8. Der Alkohol im Haushalte des Volkes. Dr. Grothjahn, Berlin. 

9. Die Aufgaben der Schule im Kampfe gegen den Alkoholismus. Prof. 
Hartmann, Leipzig. 

10. Alkohol und Verkehrswesen. De Terra, Eisenbahndirektor a. D., Marburg. 

Den Vorsitz hat Geh. Med.-Rat Dr. Rubner, Professor der Hygiene an 
der Berliner Universität übernommen. Die Vorträge selbst werden entgegen der 
vorjährigen Veranstaltung unentgeltlich und für jedermann zugänglich sein. — 
Wenn von abstinenter Seite jüngst hervorgehoben wurde, daß sich unter den Vor¬ 
tragenden 4 Guttempler befinden, so kann hinzugefügt werden, daß die übrigen 
6 Herren auf dem Standpunkte der Mäßigkeit sich bewegen. Es soll aber bei 
den Vorträgen nicht das Prinzip der Mäßigkeit oder das der Enthaltsamkeit hin¬ 
ausposaunt, sondern es soll die Alkoholfrage als solche in aufklärender und be¬ 
lehrender Form von den verschiedenen Gesichtspunkten aus behandelt werden. 


Zur Säkularfeier Speners. Am 5. Febr. 1904 waren 200 Jahre seit dem 
Tode Philipp Speners verflossen, den eine dankbare Nachwelt den Vater des 
Pietismus genannt hat. Viel ist in diesen Tagen darüber geredet und geschrieben, 
welche Verdienste Spener sich um die evangelische Christenheit erworben hat, 
indem er auf persönliche Frömmigkeit, Herzensglauben und reines, innerliches 
Leben drang. Wir möchten darauf aufmerksam machen, daß Spener und dem 
Pietismus auch in der Geschichte der Alkoholbekämpfung eine Stelle gebührt. 

Der Hintergrund der Spener sehen Lebensarbeit ist die wirtschaftliche und 
religiös-sittliche Verelendung Deutschlands durch den 30 jährigen Krieg. Wenn 
Spener das deutsche Gewissen schärfen und seine Kirche bessern wollte, so 
konnte er den deutschen Trunk nicht außer acht lassen. In seinem Hauptbuche: 
„Pia desideria oder Hertzliches Verlangen nach gottgefälliger Besserung der wahren 
Evangelischen Kirchen u (Frankfurt 1676, S. 37 ff.) bietet er z. B. folgende Aus¬ 
einandersetzung: „Wir müssen bekennen, daß die Trunkenheit unter die Zahl 
(der Sünden) gehöre, welche nioht nur an hohen und geringen Orten bei geist¬ 
und weltlichem Stande regieret, sondern auch ihre Verteidiger findet, welche, ob 
sie wohl bekennen, daß derjenige, welcher gar ein Handwerk draus machen 
wollte, sich damit versündigte, dennoch immer dafür halten wollen, daß bei Ge¬ 
legenheit einem guten Freund zu gefallen, da es eben nicht zu oft geschehe, 
einen Rausch zu trinken, keine oder eine kaum des Ahndens würdige Sünde sei. 
Daher wird solche niemals bußfertig erkannt; denn sollte sie erkannt werden, 
so muß einmal der Haß gegen sie gefaßt sein, nun und nimmermehr dieselbe, 


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Mitteilungen. 


jemand zu gefallen, zu begehen. Wem kommt aber bei dem gemeinen Haufen 
dieses nicht ganz fremd und ungereimt vor, daß er such diese Sünde ein für 
allemal verschwören müsse, solle er ein Kind Gottes sein? Vielmehr denken 
solche Leute, diejenigen, welche wider solche Sünde eifern, müssen sonst selt¬ 
same Leute, oder aus anderen Ursachen dieser Ergötzlichkeit feind sein, als daß 
sie deren Lehre in diesem Funkt für göttlich sollten erkennen, und gleichwohl 
ist sie göttlich. Maßen S. Paulus 1. Cor.. 6, 10 die Trunkenbolde unter keine 
(vor Gott) ehrlichere Gesellschaft setzet als zu den Hurem, Ehebrechern, Weich¬ 
lingen, Knabenschändem, Dieben, Geizigen, Lästerern, Baubern, die alle überhaupt 
vom Reich Gottes von ihm ausgeschlossen werden. 

Und gilt hie nicht, die Distinktion vorzusuchen, daß ein Unterschied sei 
unter, einem, welcher es eben alle Tage tut und seine Freude selbst darinnen 
suchet, und anderen, die es seltener nach ereignender Gelegenheit anderen zu 
Gefallen täten: gleich, ob wären nicht diese, sondern jene nur gemeinet*, dann 
zu geschweigen, daß die Nichtigkeit dieses Einwurfs auch anderwärtlich aus der 
Schrift darzutun ist, so wollte ich nur solche Leute fragen, ob sie nur derjenigen 
Leute Leben für verdammlich halten, welche alle Tage hureten, ehebrechen, 
Knaben schändeten, stehlen, raubeten etc., oder ob sie nicht glauben, daß auch 
des Jahrs einmal, geschweige dann jeglichen Monat einmal, solches zu tun zu 
viel sei, und wo sie nicht solche Sünde allerdings mit eiterigem Vorsatz ablegeten, 
solche lasterhafte und unbußfertige Leute der Seligkeit fehl geben? ... Ja, so wenig 
wir andern Völkern, die etwa zu Unzucht, Diebstahl und dergleichen mehr möchten 
geneigt sein, gestehen, daß deswegen solche ihre Laster geringer zu achten, so 
wenig werden sie uns in unserer Trunkenheit lassen entschuldiget sein, und noch 
so viel weniger wird der gerechte Gott ihm von uns einen Strich durch sein Gesetz 
lassen. 

Wann dannn nun einige mit diesem Argument aufgezogen kommen, daß 
die Trunkenheit nicht müsse so schwere Sünde sein, weil in dem Gegensatz die 
wahren Christen unter uns gar zu dünne möchten gesäet sein, so lasse ich viel¬ 
mehr diese Folge gelten und schließe noch weiter, daß solche Sünde so viel ge¬ 
fährlicher, so viel mehr sie überhand genommen und von wenigen erkannt wird.“ 

Angemerkt sei, daß wir vorstehend lediglich die Rechtschreibung moderni¬ 
siert haben. Wir verzichten darauf, weitere Einzelstellen aus Speners Schriften 
über den Trunk zusammenzutragen, möchten indessen auf die grundsätzliche 
Bedeutung der Lebensarbeit Speners für die Trinksitten seiner Zeit kurz hin- 
weisen. Einerseits ist der Pietismus die Betonung und Vertiefung der persön¬ 
lichen Frömmigkeit (Speners II. „Vorschlag“: „Aufrichtung und fleißige Übung 
des geistlichen Priestertums“), die in einem reinen Leben sich zu offenbaren hat 
(IIL Vorschlag: „Den Leuten fleißig einzubilden, das Christentum bestehe nicht 
in Wissen, sondern in der Praxi.“ Vgl. das Verslein: „Was ist ein Pietist? 
Wer Gottes Wort studieret und wer daneben auch ein heilig Leben führet.“) — 
anderseits hat der Pietismus ein weltfremdes, z. T. weltscheues Angesicht; in 
der Landeskirche legt er es darauf an, ecclesiolas (in ecclesia) zu bilden. In 
beiden Beziehungen aber, in seiner reformatorischen, wie in seiner asketischen 
Richtung ist er ein Feind der herrschenden Trinksitte {und es geblieben bis heute). 
Die ecclesiolae in ecclesia haben sich dabei als Inselchen der Mäßigkeit und 
Nüchternheit in der Brandung der Trinkunsitten bewährt. Stubbe. 


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Der Alkoholismus 

Zeitschrift zur wissenschaftlichen Erörterung der Alkoholfrage 
1905 Neue Folge — Band II No. 2 


L Originalabhandlungen. 

Aus der älteren Mähigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein. 

Von 

Pastor Dr. Stubbe. 

6. Die Organisation des Kampfes; die Vereinsbildu.ng. 

Die alten Mittel gegen die Trinkschäden hatten nicht durch¬ 
greifend geholfen; man „pflügte ein Neues.“ 

„Ein neuer Geist ist rege geworden unter den Völkern der civilisierten Welt; 
er treibt sie zur Vollbringung großer Werke; das Unglaubliche ist möglich ge¬ 
worden, und das Unerhörte geschieht täglich. Das Mittel aber, dessen sich dieser 
Geist bedient, ist Association, das Zusammenwirken vieler zu gemeinsamem 
Zwecke. Was dem einzelnen zu schwer ist, das vollbringen viele mit Leichtig¬ 
keit; wo ein Menschenleben nicht ausreicht, da schafft die fortgesetzte Arbeit 
mehrerer Geschlechter.-Dasselbe oft bewährte Mittel ist auch in un¬ 

serem Falle angewendet worden; wir haben Ursache ihm zu vertrauen. Laßt 
alle Einsichtigen und Vernünftigen, laßt alle guten Bürger zusammentreten zur 
Vertreibung des gemeinsamen Feindes, und der Sieg ist gewiß.“ 1 ) 

Das große Mittel gegen die Branntweinpest war in jenen Tagen 
die Organisierung einer Enthaltsamkeitsbewegung. Gleich das Jahr 
1837, dasselbe Jahr, in welchem der berühmte Ritzebütter Verein als 
Pionier der neuen Mäßigkeitsvereine gegründet ward, sah auch den 
ersten Verein in den Herzogtümern erstehen, und das Jahr 1847, 
also das Vorjahr der Landeserhebung, bringt die letzte Vereins¬ 
stiftung. (1846 und 1847 flauen bereits ab.) Die Entwicklung 
wird durch folgende Übersicht klar werden.*) 

A. Holstein. 

Der erste Verein entstand 1887 (für Männer) auf dem Gute 
Bothkamp (Schilsdorf, Kirchspiel Kirchbarkau). Es folgten nach: 

1838 Lensahn. 

1840 Oldenburg. 

*) Dr. Valentiner im Kieler Wochenblatt 1843, S. 159. 

*) Das Verzeichnis der Vereine ist zusammengestellt nach den Übersichten 
von Dr. Valentiner, Altonaer Volksfreund 1845, Nr. 1—3, Volquarts, der 10- 
jährige Kampf, S. 27 f. und häufigen Notizen in den Blättern d. Hbg. V. g. d. Br. 
1844, S. 160 u. s. w. 

Der AlkohoUsmus. 1905. 7 


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Pastor Dr. Stubbe. 


1841 Bovenau, Frauenverein auf Gut Bothkamp, Lütjenburg, 
Watemeverstorf (Männer- und Frauenverein). 

1842 Gaarz-Schwelbeck, Wandsbeck (Verband des Hamburger 
Vereins), Todendorf. 

1843 Altona, Elmshorn, Hademarschen (-Hanerau), Haselau, 
Hedewigenkoog, Kiel, Lunden, Rellingen, Rendsburg, Wöhrden. 

1844 Ascheberg(-Dersau), Glückstadt, Heide, Hömerkirchen, 
Büsum, Frauenabt zu Gaarz, Rellinger Filiale zu Hummelsbüttel, 
Lütjenwestedt (1844 genannt), Nienstädten(-Blankenese). 

1845 Hennstedt i. D., Schönberg(-Tiefbergen und übrige 
Propstei), Rellinger Filiale zu Harksheide, Meldorf, Tellingstedt, 
vielleicht auch Plön. 

1846 Dockenhuden, Preetz, 1846 Hoffnungsschar im Gut 
Bothkamp. 

1847 Gut Börstel, Crempe. 

Anmerkung: In dem ehemals zu den Herzogtümern gehörigen, 
in den Kapoleonischen Kämpfen von England geraubten und her¬ 
nach behaltenen (jetzt wieder mit Schleswig-Holstein vereinigten 
und zum Kreise Süderdithmarschen gelegten) Helgoland gab es 
einen Verein, dessen Grundsätze als Muster des Tellingstedter (1845) 
erwähnt werden. 1 ) 

B. Schleswig. 

1840 Rieseby. 

1841 — 

1842 — 

1843 Apenrade, Friedrichstadt, Männerverein auf Sylt (Keitum). 

1844 Frauenverein auf Sylt, Schleswig, Bulderup (habe ich 
1844 zuerst genannt gefunden), Föhr (Wyk), Sörup (Uck.), Rodenäs 
desgleichen. 

1845 Bredstedt (Almdorf), Romoe (Insel Röm). 

1846 Hallig Hooge, Hallig Langenes, Ockholm. 

1847 Glücksburg. 2 ) 


*) Bl. d. Hbg. V. g. d. Br. erwähnen 1843, S. 156 ironisch einen Helgo¬ 
länder Mäßigkeitsverein. 1846 (vgl. Bl. d. Hbg. V. g. d. Br. 1846, S. 185) 
richtet Sylt an den Helgoländer Verein ein offizielles Schreiben. 

*) Als Gründungstage gibt ein Vereinskalender im Ditm. Volksfreund 
1848, Mai-Nr. an: April: Oldenburg, Lensahn, 23. Lunden. Mai: 2. Hooge, 
18. Rendsburg, Friedrichstadt, 14. Wöhrden, 20. Haselau, 21. Preetz, 25. Meldorf. 
Juni: 21. Rellingen, 23. Heide. Juli: 7. Kiel. August: 6. Nienstädten. 
Oktober: 21. Watemeverstorf, 29. Hedewigenkoog. Dezember: 16. Lütjenburg. 


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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Solstein. 91 

Juli 1845 gibt Dr. Yalentiner-Kiel an, daß, soweit sichere 
Nachrichten verliegen d. Zt. 26 Vereine gegen das Branntwein¬ 
trinken im Herzogtum Holstein beständen. 20 derselben haben 
2163 männliche und 108 weibliche Mitglieder; drei haben ihre 
Mitglieder auf 370 angegeben, bei drei ist die Mitgliederzahl nicht 
bekannt geworden. 23 Vereine in Holstein haben also 2641 Mit¬ 
glieder. 

August 1845 zählt Valentiner für das Herzogtum Schleswig 
sechs Vereine, von denen er genaueres weiß; bei einem fehlt ihm 
die Mitgliederzahl, — fünf Vereine im Schleswigschen haben zu¬ 
sammen 669 Mitglieder (davon 251 Frauen). 

Volquarts rechnet 1847 41 Vereine, zehn im Schleswigschen 
(721 männliche, 309 weibliche Mitglieder, — von zwei Vereinen 
weiß er keine Zahlen), 31 im Holsteinischen (2165 männliche, 
276 weibliche Mitglieder, — von fünf Vereinen fehlen die Zahlen). 

Man ist also weit davon entfernt, bei der Schleswig-Holsteinischen 
Erhebung gegen den Branntwein die kühne Böttcher-Kömersche 
Losung anwenden zu können: „Das Volk steht auf, der Sturm 
bricht los“, wohl aber haben wir es mit einer Vereinsbildung zu 
tun, die so kräftig und volkstümlich ist, wie zu jener Zeit keine 
andere sonst im Lande, mit einem Vereine, der sich damals als ein 
Sauerteig für die gesamte Lebenshaltung des Volkes bewährt hat. 

Verschieden ist die Art der Entstehung. Volquarts meint 
1847 in seiner „Übersicht über die zehnjährige Tätigkeit der Ver¬ 
eine“, die Vereine im Osten seien mehr von Oben herab gegründet, 
die in Mitte und Westen des Landes aus dem Volke selbst heraus 
entstanden; deshalb sei auch im Osten bisweilen mehr Überredung 
als Überzeugung angewandt, um die Leute in den Verein zu ziehen; 
die Vereine dort seien schnell emporgeschossen, dann aber auch 
bald zum Stillstand und Rückgang verurteilt gewesen, — während 
in anderen Gegenden des Landes die Leute selbst vorwärts ge¬ 
trieben hätten. 

Drei Männer sind im Osten an erster Stelle zu nennen: Der 
Gutsinspektor Hansen zu Schilsdorf, welcher 1837 am 27. März 
den Bothkamper Verein gründete, bezw. der Konferenzrat von Bülo w. 
zweitens Kammerjunker d’Aubert in Oldenburg, vor allem drittens 
Graf von Holstein zu Watemeverstorf, der persönlich Vereine zu 
Waterneverstorf, sowie auf Gaarz und Schwelbeck gründete und 
für die Vereinsgründungen zu Todendorf (Gut Panker) und Lütjen- 
burg bestimmend war. Als Beförderer der Mäßigkeitssache in Ost- 

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Pastor Dr. Stubbe. 


holstein werden (neben Inspektoren und Pächtern) außerdem nam¬ 
haft gemacht Graf zu Rantzau in Plön, Baron von Heintze aus 
Schleswig und der junge Graf Konrad von Holstein 1 ). Die 
eigentliche Gründerin des Preetzer Vereins ist eine adlige Dame 
(Lucie von Brockdorf). 

Auf Bothkamp betrug die Mitgliederzahl am Tage der Vereinsgründung 65, 
Pfingsten 1842 schon 209. — Wer ist der Mann, fragen die Hamburger Bl. g. 
d. Br., welcher schon 1887 die Sache in ihrer hohen segensreichen Bedeutung 
erkannte und zu ihrer praktischen Ausführung die Tatkraft und den Mut hatte, 
die damals der Mehrzahl noch so seltsam und befremdend, ja wohl gar gefährlich 
und lächerlich erschien? Es ist die Bothkamper Gutsherrschaft! „Möchte Seine 
Excellenz der Geheime Konferenzrat von Bülow, der erste Prälat Holsteins, durch 
die Teilnahme an der Hamburger Generalversammlung eine hohe Freude bereiten 
und durch sein leuchtendes Beispiel der guten Sache in Holstein auch ferner¬ 
hin einen kräftigen Impuls geben.“*) 

1848 zählte der Bothkamper Verein 215 Mitglieder. In diesem Jahre ergab 
eine genaue Revision, daß durch Untreue gegen das Gelübde, Todesfälle u. dgl. 
die Mitgliederzahl auf 188 zusammenschmolz. 1844 hatte man wieder 213, 1845 
229 Mitglieder. Am 14. Juni 1846 ward wegen vieler Wortbrüchigkeiten nach 
dem Tode von Inspektor Hansen, verlangt: Wer es ernstlich mit der Sache meine, 
möge sich aufs neue zum unverbrüchlichen Worthalten einschreiben, alle übrigen 
aber als Laue austreten. Da blieben von den 229 nur 20 Mitglieder. 8 ) 

Zu Waterneverstorf wurden am Stiftungstage 1841 die Satzungen von 
52 Männern unterzeichnet; Mai 1842 waren schon 283 männliche Personen dem 
Verein beigetreten. Das ganze Gut war bis auf einen Schullehrer und dessen Fa¬ 
milie im Verein. Als am 9. November 1841 auch ein Frauenverein gegründet 
ward, traten bald alle erwachsenen Personen weiblichen Geschlechts förmlich dem 
Vereine bei. 4 ) 1847 beklagt Volquarts: Waterneverstorf ist jetzt so still und 
vom Frauenverein ist nichts weiter bekannt geworden. 

Im übrigen bemerke ich über Ostholstein: 

Oldenburg, 1840 gegründet, stand zuerst auf dem Mäßigungsstandpunkt, 
schritt aber zur Enthaltsamkeit vor. Zuerst war man recht tätig, 1847 aber 
heißt es bei Volquarts: Der Verein sei jetzt lau und lasse wenig von sich hören. 

In Lensahn sammelte Pastor Petersen, der Herausgeber der Provinzial¬ 
berichte, 1838 durch Schriften Verbreitung einen Freundeskreis (18—20 Personen); 
nach Petersens Tode ruhte die Sache. 

Der Lütjenburger Verein zählte bei seiner Gründung 70 Mitglieder. 
Die Brenner und Wirte suchten, die Leute arbeitslos zu machen — und Graf 
Holstein, der Vater des Vereins, starb; da erschlaffte der Verein. 

Von Todendorf (1842: vier Unterschriften, 1843: 40 Mitglieder, Vor¬ 
sitzender: Pächter Doormann) hörte man seit 1845 nichts mehr. 

') Bl. d. Hbg. V. 1843, S. 98. 

• *) A. a. 0., S. 98. 

8 ) Bericht von Armenvater Fischer-Schilsdorf, Ditm. Volksfreund 1848, 
S. 66 f. 

4 ) Bl. d. Hbg. V. 1843, S. 97. 


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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein. 


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In Ascheberg (1844) war der Schullehrer Wilms von Dersau treibende 
Kraft; 1847 meldet Volquarts: kein Lebenszeichen mehr; der Verein ist nicht 
eingegangen, aber schläft. 

Zu Schönwalde und Hansühn bemühten sich die Ortsgeistlichen (Kruse 
und Bolten) umsonst um eine Vereinsgründung; zu Segalendorf, Schönweide 
und Petersdorf „ist die Sache eingeschlafen 44 . 1 ) 

Der Verein für die Propstei (Schönberg), gegründet 1845 — Vorsitzender: 
Klostervogt Posselt — zählte 1847 129 Mitglieder. 

Zu Preetz wirkte unter Leitung von Pastor Heimreich der 1846 gegründete 
Verein noch 1847 (nach Volquarts) tapfer und mutig. 

Große Hoffnungen setzte man in Ostholstein nach Graf Hol¬ 
steins Heimgang auf den Prinzen Friedrich zu Hessen auf Panker 
und den Grafen Hahn zu Neuhaus; man rechnete damit, daß diese 
eine ähnliche Führerstellung wie jener einnehmen möchten, doch 
ist von einem irgendwie bedeutsamen Interesse bei ihnen keine 
Rede. Von einem anderen ostholsteinischen Grafen — nomina sunt 
odiosa — habe ich gehört, daß er einen der von ihm abhängigen 
Lehrer zuerst zu einer Vereinsgründung ermunterte (weil ja offen¬ 
sichtlich war, wie sehr der Trunk die Leute schädigte), dann aber 
mit einem Male abschwenkte, als er erkannte, daß die Einnahme 
aus seiner — Brennerei wesentlich zurückging. 

In Westholstein haben wir ein völlig anderes Bild. Die 
Vereinsbildung setzt später ein, wirkt aber nachhaltiger und volks¬ 
tümlicher. 

1843 ist der Verein zu Haselau gegründet. — Leiter: Pastor Andresen; 
1847: 19 Mitglieder; kräftige Wirksamkeit wird gerühmt. (In Uetersen ist, 
wo sich Justizrat Klenze und Pastor Bröcker der Sache annehmen, vergeblich 
eine Vereinsbildung versucht.) 

In Glückstadt stehen der Strafanstaltsgeistliche Pastor Gleiß und Dr. med. 
Eller an der Spitze des Vereins (1844 gegründet), der vielseitig zu wirken sucht. 
Noch 1847 heißt es (bei Volquarts): „Sein Einfluß ist nicht unbedeutend 44 ; d. Zt. 
80 Mitglieder. 

Crempe hat erst 1847 einen Verein erhalten. Ein Elmshorner Schiffer, 
Bornhold mit Namen, überwinterte dort und gründete ihn; 13 Mann traten bei 
(Vorsitz.: Bürger Hans Möller). 

In Meldorf stiften 1845 schlichte Tagelöhner, Mitglieder der Heider 
und Wöhrdener Vereine,' den Verein (Vorsitz.: Chr. Seeb). 1847: 38 Männer 
und 4 Frauen Mitglieder. 

Zu Wöhrden bitten 1843 mehrere Landleute (Schoof, Albers) Pastor 
Schwarz um Stiftung eines Vereins; 1847: 50 Mitglieder. 

Mitglieder des Wöhrdener Vereins gründen 1844 in Heide, dem Haupt¬ 
orte Norderdithmarschens, einen Verein, der sich trotz der vielen Wirte in der 
Stadt gut halt. Landvogt Boysen übernimmt den Vorsitz. 1847: 106 Mitglieder. 

x ) A. a. 0., S. 98. 


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Pastor Dr. Stubbe. 


Von Heider und Lundener Mitgliedern wird ein Verein zu Hennstedt i. D. 
1845 angeregt; Leiter: Pastor Nissen. 1847: 37 Männer, 3 Frauen Mitglieder. 

Nach langer Vorbereitung tritt 1845 auch zu Tellingstedt ein Verein 
ins Leben; Vorsitz.: Pastor Petersen; 1847: 54 Männer, 43 Frauen Mitglieder. 

Der Mittelpunkt der ganzen Arbeit in Dithmarschen ist Lunden, wo 1843 
der Diakonus Volquarts einen Verein für Männer, 1844 einen für Frauen, 1847 
eine „Hoffnungsschar“ stiftet. Aus der Gemeinde kam die Aufforderung zur 
Vereinsgründung. Der Verein hat großen Einfluß gewonnen. 1847: 251 Männer, 
126 Frauen Mitglieder. 

In der nordwestlichen Marsch bestehen Vereine zu Hedewigenkoog und 
Büsum. 

Der einflußreiche Hedewigenkooger Verein ist 1843 gegründet und 
hat auch in Wesselburen Anhänger; Vorsitzender: Lehrer Feddersen. 1847: 
48 Mitglieder. 

Der Büsumer Verein ist 1844 infolge Anregung Hedewigenkoogs und 
Wöhrdens entstanden; Vorsitz.: Müller Borchers. 1847: 19 Mitglieder. 

Die drei erstgenannten Vereine haben Fühlung mit Elmshorn 
und Hamburg. Die Dithmarscher Vereine haben ein eigenes Organ 
„den Ditmarsischen Volksfreund“ dessen Schriftleiter Pastor Vol¬ 
quarts ist. Vertreter der Dithmarscher Vereine sind es auch, die 
1849 eine Eingabe an die Deutsche Nationalversammlung wegen 
eines Branntweinverbotes für die Deutsche Flotte richten. 

Beim mittleren Holstein möchte ich wegen der Gleich¬ 
förmigkeit der städtischen Interessen Kiel mit buchen. Ich beginne 
indessen auch hier im Süden. 

Altona ist wie räumlich, so auch in der Vereinsarbeit mit Hamburg ver¬ 
bunden. „Die große Not trieb zum Verein 11 , den Propst Paulsen und Apotheker 
Siemsen 1843 stifteten. 1847: 863 Männer, 20 Frauen Mitglieder. Vorsitz.: 
Propst Paulsen. 

Wandsbeck, 1842 gegründet, bildet einen gemeinsamen Verband mit 
den hamburgischen Dörfern Horn und Barmbeck. 1843 Verbands Vorsteher: 
Hofrat Reiche. 

Nienstädten (-Dockenbuden). Der Verein, gegründet 1844, ist im 
wesentlichen eine Schöpfung des Hamburger Kaufmanns de la Camp und arbeitet 
auch in Blankenese. 1847: 168 Mitglieder, Vorsitzender: de la Camp. 

Hörnerkirchen, 1844 gegründet, hat 1847 27 Mitglieder. Vorsitzender: 
Pastor Pagelsen. 

Auf Gut Börstel stiftet 1847 Armenvater Mechlenburg mit Bewilligung 
des Grafen Baudissin einen Verein; 21 Mitglieder. 

Rellingen erhält 1843 durch Propst Adler einen Verein; 1847: 94 Mit¬ 
glieder. — Zweigvereine 1844 zu Hummelsbüttel und 1845 zu Harksheide gestiftet. 

In Elmshorn stiftet auf Bitten mehrerer Einwohner Pastor Carstens 
einen Verein, welcher mit Hamburg rege Beziehungen unterhält und sehr kräftig 
sich regt. 1847: 250 Männer Mitglieder, Vorsitzender: Lehrer Soltau. Einem 
Frauen verein (seit 1846) steht Pastor Hartmann vor, 1847: 48 Frauen. 


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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein. 


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Auf Grund dringender Aufforderung aus der Gemeinde gründet zu Hade- 
marschen 1843 Pastor Yent einen Verein, der gut wirkt. 1847: 64 Mitglieder. 

Lütjenwestedt wird in einer Vereinsliste vom 7. August 1844 erwähnt; 
weitere Angaben fehlen. 

In Rendsburg ist 1840 ein Verein von Propst Callisen und Archidiakonus 
Heimreich begründet, der auf mehrere Hundert Mitglieder an wächst. 1842 wird 
beantragt, daß den Meistern gestattet werden solle, den Gesellen Branntwein zu 
geben. Als das später wirklich beschlossen wird, teilt sich der Verein in den 
laxeren Altstädter und den strengeren Neuwerker, wovon der erste bald eingeht 
In der „Sklaverei“ (Strafanstalt) besteht auch ein Verein. — 1847: 59 Männer, 
10 Frauen Mitglieder, Vorstand: Propst Callisen, Organist Markßen. 

Bovenau, 1841 gegründet, 1847: 9 Mitglieder, Vorsitzender: Pastor Ivers. 
„Der Verein wächst freilich nicht, dennoch ist er für die ganze Gegend dort 
das Salz“, sagt Volquarts. 

In Kiel stiftet Dr. Valentiner 1843 den Verein; die Geistlichkeit äußert 
Bedenken, sieht aber später z. T. ihren Irrtum ein. Manche nützliche Ein¬ 
richtung geht vom Verein aus. 1847: 148 Männer, 20 Frauen Mitglieder, Vor¬ 
sitzender: Schullehrer Gudenrath. 

In dem Herzogtum Schleswig tritt wie in Holstein der 
Westen kräftig hervor. 

In Friedrichstadt schließen sich Leute dem Rendsburger Verein an, der 
Rektor Biematzki bittet, diese zu verpflichten. B. tritt dem Verein naher. Er 
und Pastor Schetelig gründen 1843 einen eigenen Verein. 1847: 80 Mitglieder, 
Vorsitzender: Pastor Schetelig, Schriftführer: Rektor Biematzki. 

Der Verein zu Bredstedt, von einem Landmann 1845 gestiftet, umfaßt fast 
die ganze Landschaft. 1847: 55 Mitglieder, Vorsitz.: Bevollmächtigter Claußen. 

Von Bredstedt aus wird 1846 der Verein zu Ockholm angeregt, 1846: 
15 Mitglieder, Vorsitzender: Pastor Danielsen. Auf einigen Inseln beherrschen 
die Vereine das ganze Feld. 

Auf Hallig Hooge gehören dem 1846 gegründeten Verein alle Bewohner 
der Insel bis auf 25 Erwachsene an. 1847: 135 Mitglieder, Vorsitzender: 
Pastor Dr. Koch. 

Ähnlich ist es auf Langenes. Der 1846 gestiftete Verein zählt 1847 
73 Mitglieder, Vorsitzender: Hinrichsen. 

Über Föhr habe ich nur gefunden, daß dort zu Wyk 1843 ein Verein be¬ 
stehe, der „namhaften Segen aufweisen“ könne. 

Kräftig wird auf Sylt gearbeitet. Ein Seemann, Kapitän Jens Bleicken, 
stiftet 1843 den Verein und wirkt auf die Seefahrer ein. 1844 Frauenverein. 
1847: 205 Männer, 262 Frauen Mitglieder, Vorsitzender: J. Bleicken. 

Auf der Insel Röm gründet Dr. med. Gad 1844 einen Verein von 20 Mit¬ 
gliedern, die bald auf 40 anwachsen. 

In Rodenäs gibt es 1844 einen von Pastor H. Hansen, desgleichen zu 
Bülderup (Bielderup) einen von Pastor Schmidt geleiteten Verein. 

Apenrade übt im Osten den größten Einfluß. Der 1843 gegründete Verein 
zählt 1847 137 Mitglieder und wird von Propst Rehhof geleitet. 

Glücksburg erhält 1847 einen aufstrebenden Verein: 37 Mitglieder, Vor¬ 
sitzender: Pastor Scholtz. 


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Pastor Dr. Stubbe. 


In Sörup besteht 1844 ein Verein, von dem „sich die Prediger nicht zu- 
riickziehen wollen“; 

Für Schleswig wird ebenfalls 1844 ein Verein (unter dem Vorsitze des 
Taubstummenlehrers Dr. Paulsen) erwähnt, aber sonst nichts von ihm gesagt. 

In Riesebye ist der älteste schleswigsche Verein entstanden, der aber 
gegen Punschgenuß tolerant war. Er zählte einmal 40, 1845: 16, 1847: 10 Mit¬ 
glieder, läßt aber nichts von sich hören; Vorsitzender: Pastor Lange. 

Beim Überblick über die Gründungsjahre der Vereine fällt so¬ 
fort 1843 auf. 1843 war im August die „Generalversammlung der 
Deputierten der deutschen Enthaltsamkeits- und Mäßigkeitsvereine“ 
zu Hamburg. Vorher machten zwei Führer der Hamburger Mäßig¬ 
keitsbewegung Prof. Dr. Büttner und Pastor Müller eine Agita¬ 
tionsreise durch die Herzogtümer. 

Daß 1843 in unserem Norden eine erste Generalversammlung 
gehalten werden konnte, war ein Zeichen, daß „die Zeit erfüllet 
war“. Es hatten sich Presse und Kalender (hier wie anderswo) 
mehr und mehr mit der Enthaltsamkeitsfrage beschäftigt und die 
Stimmung des Volkes bearbeitet. Unter solchen Umständen waren 
die Hamburger Agitation und Versammlung sehr wirksam. 

Dr. Büttner besuchte Rellingen, Elmshorn, Ülersen, Glück¬ 
stadt, Itzehoe, (Versmann, Jeß), Heiligenstedten (General Graf 
von Blome), Hademarschen-Hanerau (Erbherr Mannhart), Heide, 
Wöhrden, Lunden, Tönning, Friedrichstadt, Schleswig, Rendsburg, 
Bovenau, Kiel, — Pastor Müller einige Orte in Ostholstein. Der 
Hamburger Verein gab die Geldmittel für diese Agitationsreisen 
her — die Anregung dazu war von Pastor Böttcher-Imsen aus¬ 
gegangen !). 

Auch sonst greifen die Bewegung in Hamburg und Holstein 
mannigfach ineinander über. Wandsbeck bildet mit Barmbeck und 
Horn einen Verband des Hamburger Vereins. Altona beherbergt 
von den Gästen, die aus ganz Deutschland zur Hamburger General¬ 
versammlung kommen 8 ); Altonaer und Wandsbecker Vereinsmit¬ 
glieder nehmen an Veranstaltungen (Versammlungen, Ausflügen) 
des Hamburger Vereins teil. Zwei Bilder bezeugen besonders die 
Einigkeit der beiden Schwesterstädte: der Branntweinsdrache, von 
J. L. Schmidt in Altona erfunden und herausgegeben (der von 
der H. Auflage an eine Branntweinscene aus dem Hamburger Brand 
bietet), — gestochen von James Gray, Hamburg, — und ander- 

*) Bl. d. Hbg. V. 1848, S. 185. 

*) H. Schuhmacher, einige Worte .... Hamburg 1843, S. 8. 


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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein. 97 

seits „das letzte Mittel oder neuester Hokuspokus“, — eine Abendr 
Unterhaltung „in’n Huus bi den Wienschenker Sinnig in dee Vor¬ 
stadt St. Jürgen, Hamborg“ (mit drastischer Abbildung des Wider¬ 
streits der Branntweins- und Mäßigkeitsinteressen) darstellend, „ver- 
leggt von Hinrich Kruuskopp“. Eine Frauensgestalt schwebt mit 
den Wappen von Hamburg und Altona über dem Bilde, dazu die 
Hoppelinschrift: 

1. Hinweg Trunkenheit! 

Nach meiner Bürger Heil und Ehre 

Hast oft die Hand du ausgestreckt; 

D’rum sei zu eines jeden Lehre 

Dein Thun und Treiben aufgedeckt. 

2. In Altona gezeichnet, in Hamburg erfunden; 

Wenn beide Städt’ einig sind, werden beid’ auch gesunden. 

An den Feiern des Hamburger Vereins nehmen häufig Ver¬ 
treter Elmshorns und Crempes teil. 

Im besonderen Sinne ist Nienstädten ein Kind Hamburgs. In 
Nienstädten, Dockenhuden, Blankenese wohnen seit alter Zeit gerne 
gut gestellte Hamburger, besonders in den Sommermonaten. Einer 
von ihnen—Kaufmann de la Camp — gründete den Verein und 
bestritt die Unkosten für Aufrufe, Schriften, Zeitungen und dergl. 
ganz aus seiner Tasche. 1845 wirkte Dr. Reils-Hamburg, 1846 
der Kornumstecher Ehlers-Hamburg auf der Stiftungsfeier mit 
Bei den Bemühungen um eine Mäßigkeitshalle zu Blankenese war 
das Hamburger Vorbild maßgebend. 

Die „Blätter des Hamburgischen Vereins gegen das Brannt¬ 
weintrinken“ berichten von Anfang an ausführlich über alle Be¬ 
strebungen gegen den Branntwein in den Herzogtümern. Einen 
regen Schriftwechsel mit den Vereinen der Herzogtümer unterhält 
zuerst Dr. Büttner, nach ihm Dr. Reils im Aufträge des Ham¬ 
burger Vereins 1 ). 

Der Blick auf Ostholstein lehrt uns, wie viel eine einzelne 
Persönlichkeit — dort Graf Holstein — vermag. Überhaupt geht 
die Vereinsgründung vielfach auf den Eifer einer Person zurück. 
Als Vorkämpfer nenne ich neben diesem Grafen besonders die 
Pastoren Carstens-Elmshorn, Gleis-Glückstadt, Heimreich- 
Rendsburg (später Preetz), Schetelig-Friedrichstadt, Vent-Hade- 
marschen, Volquarts-Lunden, — die Lehrer Rektor Biernatzki- 


») Bl. d. Hbg. V. 1845, S-. 164. 


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Pastor Dr. Stubbe. 


Friedrichstadt (später Pastor zu Altona), Feddersen -Hedwigenkoog, 
Soltau-Elmshorn, Dr. Pau Isen-Schleswig, — die Ärzte Dr. Eller- 
Glückstadt, Dr. Gad-Romoe, Dr. Valentiner-Kiel, — von Ver¬ 
tretern anderer Berufe Kapitän Bleicken-Keitum, Inspektor Hansen- 
Schilsdorf. Andere Namen werden bei Gelegenheit gedacht werden. 

Die erste Vereinsgründung (1837), die zu Bothkamp, ist her¬ 
vorgerufen einerseits durch das viele Trinken auf dem Gute, ander¬ 
seits durch die Erfolge der Vereine in Nordamerika, deren Kenntnis 
durch Rev. Baird eben damals vermittelt war. Das Ansehen und 
die Beredsamkeit des Inspektors Hansen brachte eine Versammlung 
der Gutseinwohner und den Zusammenschluß zu einem Verein zuwege. 

Der Blick auf das Trinkelend und die Kenntnisnahme der 
Mäßigkeitsschriften (die Berichte über Erfolge der Vereinsarbeit) 
sind es immer wieder, wodurch Freunde des Volkes, — Prediger, 
Lehrer, Ärzte, Beamte u. s. w., — dazu getrieben werden, in eine 
Vereinsarbeit einzutreten. Von 1840 an sind besonders die Schriften 
von Pastor Böttcher einflußreich. — Doch melden sich auch 
Trinker selbst, die von einer Vereinsarbeit gehört haben, und bitten 
um Hilfe (Elmshorn), oder schlichte Mitglieder eines Vereines ver¬ 
binden sich an einem neuen Orte und führen eine neue Vereins« 
gründung herbei (Heide, Hennstedt, Meldorf, Crempe, Friedrichstadt). 

Die Vereinsgründung wird bisweilen durch eine Erörterung 
der Branntweinfrage in der Ortspresse oder Austeilung von Schriften 
vorbereitet (Rendsburg, Kiel, Altona), stets durch rege Schriften¬ 
verbreitung unterstützt (neben Böttcher: Liebetrut, Steinwender 
vor allem Hamburger Blätter und der Schmidtsche Branntweins¬ 
drache). An einigen Orten ist eine Predigt (Hademarschen, Lunden), 
an anderen Orten ein Vortrag oder eine vertrauliche Zusammenkunft 
der Ausgang der Bewegung. 

Eigene Frauenvereine entstanden zu Watemeverstorf 9. Nov. 
1841, auf Sylt 1844, zu Elmshorn 7. Juli 1846, auf Gut Bothkamp 
(Schilsdorf) 25. Juli 1846, zu Lunden 2. Juni 1846, Hoffnungs¬ 
scharen (d. h. Kindervereine gegen das Branntweintrinken) 1846 
auf Gut Bothkamp, 1847 zu Lunden. 

Im allgemeinen waren die Vereine Männervereine, doch schlossen 
sich ihnen hier und da Frauen an, und sicher hatte allenthalben 
das Familienleben von der Mäßigkeitsarbeit seinen Segen. 

Graf Holstein war der Stifter des ersten Frauenvereins. 
Rücksichten auf die allgemeine Sittlichkeit führten ihn dazu. Auf 
der „Versammlung der Abgeordneten der Enthaltsamkeitsvereine in 


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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein. 99 

Holstein und Schleswig“ zu Rendsburg 1844 wurde die Frage er¬ 
örtert: Was von der Stiftung eigener Frauenvereine zu halten sei? 
Man rühmte deren Wirksamkeit, insonderheit den von Watemever- 
storf, der neben Enthaltsamkeit auch Hebung der Sittlichkeit und 
Häuslichkeit des weiblichen Geschlechts pflege. Das Ergebnis der 
Besprechung war: Frauen vereine sind zweckmäßig, aber sollen eine 
allgemein sittliche Richtung haben; jedenfalls müssen sie wegen 
der zarteren Natur des weiblichen Rufes und der Eigentümlichkeit 
des mehr auf stilles Wirken hingewiesenen weiblichen Berufes mit 
großer Vorsicht gegründet und geleitet werden 1 ). 

7. Die VereinS’Zentralisierung. 

Zur Organisation gehört eine Zusammenfassung der Kräfte, eine 
Zentralisation. Bereits 1842 bemüht sich Graf Holstein um die 
Gründung eines „General-Vereins für Wagrien“, ohne sein 
Ziel zu erreichen 2 ). 

Eine engere Verbindung aller schleswig-holsteinischen 
Vereine gegen das Branntweintrinken wird von Pastor Vol- 
quarts (zuerst Januar 1844) angeregt; der Verkehr der Lundener, 
Wöhrdener, Hedewigenkoozer und Friedrichstädter Vereine legt ihm 
den Gedanken eines Zentralvereins nahe 3 ). Rektor K. L. Bier- 
natzki erläßt alsbald in dem Itzehoer Wochenblatt einen Aufruf an 
alle Enthaltsamkeitsvereine in Schleswig-Holstein 4 ). Es sei die Auf¬ 
forderung laut geworden, einen „Schleswig-Holsteinischen Central- 
Verein“ für unsere Angelegenheit zu bilden. 

„Laßt uns zum Werke schreiten, wir sind schon stark genug. 
Solange wir vereinzelt dastehen bleibt unsere Wirksamkeit geteilt, 
werden unsere Kräfte zersplittert. Einheit gibt Macht! Es ist so 
vieles, was allen Vereinen bei uns gleich sehr förderlich ist, und 
worüber sich am leichtesten in einer allgemeinen Versammlung be¬ 
raten ließe.-Zu allem diesen mache eine allgemeine Ver¬ 

sammlung, nach welcher sämtliche Vereine ihre Abgeordneten zu 
senden haben, den Anfang. Rendsburg scheint mir dazu ein sehr 
geeigneter Ort.-“ 

Und so ward es! 7.—8. August 1844 fand die erste „Ver- 

') Bl. d. Hbg. V. 1844, S. 160. 

a ) Kieler Correspondenzblatt 1842, Nr. 14, S. 64. 

») Bl. d. Hbg. V. 1844, S. 15. 

4 ) a. a. 0. 1844, 8. 61. 


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Pastor Dr. Stubbe. 


Sammlung der Abgeordneten der Enthaltsamkeit»-Vereine in Holstein 
und Schleswig“ zu Rendsburg statt, 1845, 14. Mai, die zweite „Gene¬ 
ralversammlung der Abgeordneten schleswig-holsteinischer Mäßig¬ 
keits-Vereine“ zu Kiel, — 1846, den 7. und 8. Juli die dritte „Gene¬ 
ralversammlung der Deputierten der Vereine gegen das Branntwein¬ 
trinken in den Herzogtümern Schleswig und Holstein“ zu Elmshorn, 
1847 zu Altona, und — 1848 hatten wir die Landeserhebung. 

In Rendsburg 1 ) tagte man im Schauspielhaus und in „Stadt 
Kopenhagen“. Eine öffentliche Versammlung brachte gemeinsamen 
Gesang, Begrüßung, erbauliche Ansprachen und Berichte. Auf der 
Generalversammlung waren 15 Vereine (davon 2 aus Schleswig) 
vertreten. Zum Vorsitzenden wurde Propst Callisen (Stellvertreter 1 
Dr. Valentiner) gewählt. 

Man beschloß: 

1. ein selbständiges Blatt zur Förderung der Vereinszwecke zu gründen; 
es solle außer der Enthaltsamkeit auch sonst Gemeinnütziges pflegen, unter Aus¬ 
schluß des Politischen und Kirchlichen ein Volksblatt werden und alle 14 Tage 
(im Verlag des Altonaer Merkur zum Jahrespreis von 1 M.) erscheinen. 

2. Um eine Zentralisierung der Kräfte zu bewirken, eine jährliche 
Wiederkehr d*er „Zentralversammlung der verschiedenen Vereine“ (unter 
Ablehnung der „Bildung eines Zentralpunkts durch einen Zentralvorstand“, weil 
das die freie Bewegung der einzelnen Vereine vielleicht gefährden könne). 

3. Betr. die zweckmäßigste Form der Statuten: das Prinzip der absoluten 
Enthaltsamkeit sei festzuhalten, im übrigen die örtliche Lage maßgebend. 

4. Abgelehnt wurden grundsätzlich alle Petitionen an die Re¬ 
gierung: 

a) daß keine neue Konzession zum Branntweinschenken auf dem Lande 
gegeben werden möge; b) zur Abstellung der heimlichen Winkelkrüge (beides 
von Rellingen angeregt); c) jährliche Besteuerung des Branntweinschankes 
nach Analogie der Tanzlustbarkeiten zum Besten der Armenkasse (Vorschlag 
Höft-Barmstedt); d) obrigkeitliche Bestrafung des Ausschanks von saurem 
Bier; o) Anschaffung der besten Mäßigkeitsschriften für die Kirchspiels-Schul¬ 
lehrerbibliotheken; f) Verbot, Kindern Branntwein zu geben. 

„Unsere Sache sei eine reine Volkssache-von unten nach oben, nicht 

von oben nach unten müsse sie sich Bahn brechen.“ Gesetze würden nichts 
nützen, solange sie im Volke keinen Anklang fänden, ja, geradezu schaden, sofern 
man gegen die Vereine als ihre Anstifter Mißstimmung hegen würde. Je mehr alle 
Leute Vereinsmitglieder oder doch Anhänger ihrer Grundsätze geworden seien, 
desto mehr würden die 7 Wünsche sich von selber erfüllen. 

Die zweite Generalversammlung (zu Kiel 2 ) wurde im 
großen akademischen Hörsaale abgehalten. 17 Vereine (davon 1 

») Bl. d. Hbg. V. g. d. Br. 1844, Nr. 19. 

a ) Bl. d. Hbg. V. 1845, S. 85. Ausführlich: (Altonaer) Volksfreund 1845, 
Nr. 1 f. 


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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein. 


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aus Schleswig) waren vertreten; Pastor Yolquarts-Lunden wurde 
zum Vorsitzer, Apotheker Siemsen-Altona zu dessen Stellvertreter 
gewählt. Begrüßungsschreiben lagen vor aus Glückstadt, Sylt und 
Friedrichstadt (dieses letzte betonte die Notwendigkeit „wahrhaft 
christlicher Gesinnung“ in dem Vereine und wünschte, daß in der 
Generalversammlung ein „wahrhaft christlicher Geist“ walte). Aus 
der Arbeit in Kiel, Heide, Elmshorn, Lunden ward von Vertretern 
der betr. Orte anschaulich berichtet. 

Glückstadt hatte angeregt, jährlich einen Generalbericht der schlesw.-holst. 
Enthaltsamkeitsvereine zu veröffentlichen; beschlossen wurde, den Bericht über 
die Kieler Generalversammlung zu drucken und zu verbreiten. Der Beschluß 
von Rendsburg, einen „Volksfreund“ herauszugeben, konnte noch nicht verwirk¬ 
licht werden, weil bis jetzt von der Regierung auf den desf. Antrag kein Bescheid 
eingegangen ist. Man will sich weiter darum bemühen, event. mit einem sog. 
fliegenden Blatt einen Versuch machen. (Wirklich konnte die erste Nummer 
des „Volksfreundes“ im August 1845 erscheinen.) Ein Kieler Vorschlag, über 
das Verhältnis der Vereine zur Regierung zu verhandeln, und ein Antrag, die 
Regierung um Beaufsichtigung der Weinbereitung und Bierbrauerei sowie des 
Wein- und Bierausschanks (wie z. B. in Bayern) zu ersuchen, kommen, weil es 
an genügender Unterstützung fehlt, nicht zur Verhandlung; abgelehnt wird auch 
ein Antrag Tellingstedts, bei der Ständeversammlung wegen Besteuerung der 
•Brennerei und Erleichterung der Brauerei zu petitionieren. 

Für wünschenswert wird der gegenseitige Austausch der Statuten und Mit¬ 
teilung der Jahresberichte erklärt — abgelehnt dagegen, das Verhältnis der 
Vereine zueinander durch irgend welche Vorschriften zu regeln. 

Zu Elmshorn 1 ) fanden die Versammlungen bei Kelting statt 
— Vorsitzender: Pastor Volquarts — eine öffentliche mit An¬ 
sprachen aus Rendsburg, Meldorf, Hamburg und Lunden, eine De¬ 
putiertenberatung, deren Hauptergebnis der Beschluß war, „einen 
Zentralpunkt für alle Vereine zu bilden, an welchen nicht allein 
alle Vereine sich zu wenden hätten, sondern überhaupt jeder im 
Lande, welcher für die Sache sich interessiere, um mit Rat und Hilfe 
bei der Bildung etwaiger neuer Vereine unterstützt zu werden“. 

Pastor Volquarts-Lunden wurde zum Direktor des Schleswig- 
Holsteinischen Zentralvereins gegen das Branntweintrinken gewählt. 

In Altona 8 ) gab es auf der Generalversammlung 1847 nicht nur 
Berichte aus der Vereinsarbeit im allgemeinen, sondern es wurden 
auch zwei Spezialthemata behandelt: 1. Die Gewinnung der Jugend 
und der Familienmütter für die Enthaltsamkeitssache. 2. Die Be¬ 
deutung des Vereinswesens neuerer Zeit und die bescheidene aber 

») Bl. d. Hbg. V. 1846, S. 139. 

*) a. a. 0. 1847, S. 79. 


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Pastor Dr. Stubbe. 


wichtige Stellung, welche die Vereine gegen den Branntwein unter 
den übrigen einnehmen. — Damit nahmen die Generalversamm¬ 
lungen ein Ende! 

Nun noch einiges aus der Tätigkeit des Zentralvereins, 
bezw. dessen Vorstandes. 

Hatten sich schon 1844 die Vorstände der „Mäßigkeitsvereine in 
den Herzogtümern Schleswig und Holstein“ an die königliche Re¬ 
gierung gewandt, um Befreiung von Postporto in Angelegenheiten 
der Vereine zu erlangen, — 

(Es wird abgelehnt, obgleich in Preußen durch Erlaß des Generalpost¬ 
meisters vom 30. Juli 1844 unter bestimmten Voraussetzungen allen bereits 
bestehenden oder zu bildenden Mäßigkeits- und Enthaltsamkeitsvereinen des 
Landes Portofreiheit bewilligt war [Bl. d. Hbg. V. g. d. Br. 1844, S. 160]. 
— Die Schl.-Holst. Regierung begutachtet der Kanzlei das Gesuch: „Die Be¬ 
willigung erscheint uns weder Bedürfnis, noch mit Rücksicht darauf, daß die 
Mäßigkeitvereine sowohl in ihrer Begrenzung als in ihrer statutarischen Ein¬ 
richtung aller offiziellen Anerkennung ermangeln, ohne Bedenken zu sein.“') 

so vermittelt fortan der Zentralverein, bezw. dessen Direktor 
die Verhandlungen mit der Regierung. 

18. Sept 1846 beantragt er, den jetzt bestehenden, wie auch 
künftig sich bildenden Vereinen gegen den Branntwein zu gestatten, 
ihre Versammlungen in dem Winterhalbjahre am Sonntag Nachmittag 
vor Beendigung der Feiertagszeit halten zu dürfen. — Es wird ge¬ 
nehmigt 2 ). 

(Notwendig sei es, führt Volquarts aus: a) diese Versammlungen an 
Sonntagen zu halten, weil auf dem Lande an Wochentagen die Leute nicht 
zu Versammlungen kommen könnten, — b) sie bei Tage zu halten, teils, um 
Leuten, die einen weiten Weg haben, die Möglichkeit zu gewähren, vor 
Dunkelheit nach Hause zu kommen, teils, um etwaigen Unordnungen bei 
Abendversammlungen vorzubeugen.) 

22. August 1847 reicht die „Deputation des Zentralvereins gegen 
den Branntwein in den Herzogtümern“ ein Gesuch an den König 
ein, „sämtliche Vereine gegen den Branntwein unter königlichen 
Schutz und Protektion huldvollst zu nehmen und dieses auf irgend 
eine Weise öffentlich auszusprechen“. 

(Antwort vom 5. Februar 1848: „Es wird infolge allerhöchst unmittel¬ 
barer Resolution hierdurch zu erkennen gegeben, daß die erbetene Zusicherung 
eines besonderen allerhöchsten Schutzes für eine ersprießliche Wirksamkeit 
der gedachten Vereine weder erforderlich noch denselben entsprechend be¬ 
funden sei.“) 

Ein Monatspäter—und die schleswig-holsteinische Erhebung ist da. 

l ) Akten des Kanzlei-Archivs, Postsachen A. XVIII. aus 877. 

*) Akten des Regierungs-Archivs S. H. Kirchensachen Nr. 47, Fase. 117, 3. 


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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein. 


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Auch in der neuen Zeit findet der Zentralverein Gelegenheit, 
seine Stimme zu erheben. Eine Eingabe an das Kriegsdepartement 
zu Gunsten der enthaltsamen Soldaten und vor allem ein Antrag 
„an die hohe deutsche Nationalversammlung zu Frankfurt“, die junge 
deutsche Flotte branntweinfrei zu halten — beides 1849 — sind 
wichtige Kundgebungen, doch scheint sich der Zentralverein bereits 
auf Ditmarschen zu beschränken 1 ). 

Nach 1849 habe ich von einem Zentral verein keinerlei Lebens¬ 
zeichen mehr entdecken können. 

An den großen gemeinsamen Veranstaltungen der deutschen 
Mäßigkeitsvereine hat man sich von Schleswig-Holstein aus beteiligt. 
Auf der (ersten) Generalversammlung der Deputierten der deutschen 
Enthaltsamkeits- und Mäßigkeits-Vereine, 6.—10. August 1843 zu 
Hamburg, waren 11 schleswig-holsteinische Vereine vertreten: Elms¬ 
horn (Pastor Carstens), Apenrade (P. Raben), Rellingen (Propst 
Adler, cand. Bendixen), Todendorf (Doormann), Altona (Schmidt 
u. Dr. Steinheim), Rendsburg (Propst Callisen), Bovenau (P. Heim¬ 
reich), Haselau (P. Andresen), Hademarschen (Lehrer. Ehlers), 
Wöhrden (Alberts), Oldenburg (Rektor Delfs) 2 ). An der Berliner 
(1845) und Braunschweiger Generalversammlung (1847) hat u. a. 
Pastor Volquarts-Lunden teilgenommen. 

(Zu Berlin wurde V olquarts mitgewählt als stellvertretendes Mitglied, 
des „Zentral-Ausschusses 11 zur Leitung der allgemeinen Geschäfte der deutschen 
Vereine gegen das Branntweintrinken.*) 

Als fast 20 Jahre später der Kontinentale Mäßigkeitskongreß zu 
Hannover tagte, gab es in Schleswig-Holstein keinen Verein mehr. 

Haben wir in Schleswig-Holstein ein gutes Stück eigenständiger 
Entwicklung, so doch anderseits mit der deutschen Gesamtkultur 
innige Verbindung und auch in der Mäßigkeitsbewegung ein gegen¬ 
seitiges Geben und Nehmen (z. B. wurden bei uns Arbeiten 
Böttchers, Liebetruts u. a. verwertet, auswärts aber viel der 
Schmidtsche Branntweinsdrache; behördliche Maßregeln auswärts 
beflügelten schleswig-holsteinischen Anträge an ihre Obrigkeit, ander¬ 
seits kam von Schleswig-Holstein der Antrag, betr. Schnapsfreiheit 
der deutschen Flotte vergl. Kap. 13). 

Über die mannigfachen Berührungen mit der Hamburger Arbeit 
ist bereits Kap. 6 berichtet (vergl. auch Kap. 2). 

*) Vgl. Abschnitt Heereswesen, Kap. 18. 

*) Bl. d. Hbg. V. 1845, S. 129. 

*) Bl. d. Hbg. V. 1845, S. 179. 


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Pastor Dr. Stubbe. 


8. Die Vereins grundsätze, -Satzungen und -Ordnungen. 

Der erste Verein im Lande war ein Enthaltsamkeitsverein; 
andere Vereine, die bald darauf entstanden, wollten nicht so weit gehen. 

Der erste Verein im Schleswigschen, der zu Riesebye, gegründet 
1. März 1840, gesteht für festliche Gelegenheiten Punsch und ähn¬ 
liches zu. 

Der Oldenburger Verein (von 1840) fordert zuerst nicht strenge 
Entsagung aller gebrannten Wasser, sondern erlaubt einen mäßigen 
Genuß von Punsch und Grog 1 ), hat sich aber 1845 davon bekehrt! 

Der Schönberger Verein (für die Propstei von 1845) gestattet 
Punsch „bei frohen Gelagen und festlichen Gelegenheiten“. 

Noch 1846 berichtet Pastor Volquarts, daß in einer Ver¬ 
sammlung zu Büsum einige Honoratioren mehr für Mäßigungsver¬ 
eine und bloße Branntwein-Enthaltsamkeitsvereine gewesen seien, in 
denen der Genuß des Punsches erlaubt ist 8 ). 

In Rendsburg gliederte sich der laxere Teil der Vereinsmitglieder 
(in der Altstadt) ab; dieser gestattete den Meistern, den Gesellen 
Branntwein zu geben. 

Es zeigt sich, daß alle diese schlafferen Vereine (vielleicht mit 
Ausnahme Schönbergs) kein Gedeihen haben; Volquarts bemerkt 
einmal: sie sind an der Wurzel krank 3 ). 

Im allgemeinen ist für die Vereine bezeichnend: 1. die Ent¬ 
haltung von allen destillierten Getränken (Entsagung von Spiri¬ 
tuosen Getränken, von allen Arten des Branntweins, Enthaltung von 
gebranntem Wasser — ärztliche Verordnung ausgenommen — ge¬ 
legentlich ist noch hinzugefügt: und Versagung derselben). — 2. 
Mäßigung im Genüsse anderer geistiger Getränke (als des Mets, 
Weins und Biers). 

Demgemäß lautet auch der Name: Verein gegen das Brannt¬ 
weintrinken, Mäßigkeitsvereine, Enthaltsamkeitsvereine, Vereine gegen 
den Alkohol (begrifflich ist dazwischen kein Unterschied; unter Al¬ 
kohol wird in dem Titel nur der Schnaps verstanden). 

Eine Verschiebung des Begriffes tritt ein durch die bekannten 
Kranichfeldschen Ideen 4 ). Zu Tellingstedt wird 1845 ein „Verein 

*) Bl. d. Hbg. V. g. d. Br. 1848, S. 97. Alt. Volksfreund 1845, Nr. 1. 

*) Ditm. Volksfreund 1846, Nr. 8. 

*) Vgl. Volquarts, Der 10jährige etc., S. 28. 

4 ) Bl. d. Hbg. V. g. d. Br. 1845, S. 68. Weiteres darüber am Schlüsse 
dieses Kap. 


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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein. 105 

gegen den Schminkgeist“ gegründet 1 ), ein Alkoholgift-Verein. Auch 
der Verein zu Börstel (1847) *) ist ein Alkoholgift-Verein. Pastor 
Volquarts selbst tritt 1846 8 ) für eine engere Verbindung der 
Mitglieder der Vereine gegen den Branntwein zu einem Alkohol¬ 
giftvereine ein; noch in seiner letzten Schrift 4 ) bekennt er als 
sein stetes Losungswort: „Alkohol ist Gift — sein Genuß ist Sünde!“ 
— (Alkohol aber ist Schnaps, — im Wein und Bier findet sich 
nach Kranichfeld „das Weinige“). 

Der moderne Begriff der Enthaltsamkeit taucht bereits 
auf, aber nur vereinzelt im Zusammenhang mit der Alkohol¬ 
giftfrage: 

Volquarts erklärt (1847) •): Die ältere Zeit habe einen doppelten wirtschaft¬ 
lichen Irrtum gehegt: 

I. Indem der Branntwein aus nährenden Stoffen bereitet wurde, wähnte 
man, er müsse selbst nährend sein und wirken; man verwechselte die durch ihn 
bewirkte Aufregung mit wahrer und wirklicher Kraft. 

II. Man verwechselte miteinander die Kraft des Branntweins und des Weins, 
obgleich die Bereitungsweise entgegengesetzt war. Weil die Kunst aus Wein 
Alkohol zu bilden verstand, stellte man den Satz auf, das Weinige und der Al¬ 
kohol sind ganz gleiche Bestandteile, nur der Stärke und Umgebung nach ver¬ 
schieden, aber nicht ihrem innersten Wesen nach. Das verlieh dem Branntwein 
höhere Weihe und machte ihn zum „Wein des Nordens“. 

Gegen den Irrtum des ersten Satzes wandte sich die gesamte Mäßigkeits¬ 
bewegung. Bei dem zweiten Satze scheiden sich die Geister. 

Fordert man Branntweinentsagung, so wird oft geantwortet: Warum soll 
der Branntwein weg; denn ein Wein, wie er nun ist, ist auch Alkohol. Wollt 
ihr konsequent sein, so trinkt auch keinen Wein. Ist der Wein nicht an sich 
schädlich, so kann es auch der Branntwein nicht sein, sondern er wird es nur 
durch den unmäßigen Gebrauch. Kämpft darum doch nicht gegen den Brannt¬ 
wein selbst, sondern nur gegen den unmäßigen Gebrauch oder Mißbrauch. — 
Die sog. Mäßigkeitsleute antworteten darauf: Als praktische Leute denken wir 
nur an das große Verderben, welches jeder zugeben muß; helft uns jetzt den 
Branntwein verbannen; wenn der Wein oder sonst etwas eine so volksverderb- 
liche Höhe erreicht, so wird und soll die Zeit lehren, was dann zu tun ist — 
Einwand: So stiftet Mäßigkeitsvereine; dann kommen die Leute zu euch und ihr 
habt Gelegenheit, ihnen die Gefährlichkeit des Branntweins auseinanderzusetzen. 
Warum wollt ihr uns das Glas Punsch nehmen, das uns und keinem schadet? 
Ihr trinkt euer Glas Wein und wollt doch nicht behaupten, ein Glas Punsch 
oder selbst Schnaps führe ins leibliche und sittliche Verderben?“ — Die Mäßi¬ 
gungsvereine sind mit diesem Boden zufrieden; die Mäßigkeitsvereine können 
keine Widerlegung bieten. 

x ) Volquarts, Der 10jährige etc., S. 86. 

a ) Dithm. Volksfreund 1846, Nr. 7 f. 

•) Der Bauemkampf in Wedel gegen das Pastorat daselbst. Altona 1864, S. 45. 

4 ) Der 10jährige Kampf, S. 13 und 14. 

Der AlkohoUsmue. 1905. 3 


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106 


Pastor Dr. Stubbe. 


Die Enthaltsamkeitsvereiiie (hier greift das Wort in den modernen 
Begriff ein) geben eine praktische Antwort, indem sie sagen: „Weil wir jene 
Einwendungen nicht widerlegen können und ihr vielleicht Recht haben könnt, so 
verwerfen wir den Wein und alle Biere u oder auch: „Damit ihr seht, uns liegt 
dös Volkes Wohl so am Herzen, daß wir bereit sind, demselben gern alles zu 
opfern, so verbieten wir Wein und Bier.“ 

Volquarts 1 ) meint: Diesen Grund müsse man ehren und die Enthaltsam¬ 
keitsleute achten, dennoch fördern sie die Sache wenig, ja hindern sie oft; das 
einzig Richtige sei ein Alkoholgiftverein; der stelle neben die praktische Aufgabe 
die wissenschaftliche Klärung; ohne ihn sei auch der Beistand von Staat und 
Kirche nicht zu erlangen. Er allein gehe von einem „klaren, festen, richtigen 
und notwendigen Prinzipe aus; er stehe auf festem Grunde, dem der Erfahrung, 
Wissenschaft und Offenbarung. 

Wie bei V. zur wissenschaftlichen „Erkenntnis“ von der Harm¬ 
losigkeit des „Weinigen“ und der Giftigkeit des ,^Alkohols“ nicht 
nur eine religiös-sittliche Wertung des Genusses als Sünde, sondern 
ä la Kranichfeld eine metaphysisch-dogmatische Anschauung von 
der Substanz des (Branntwein-) Alkohols kam, wird in einem anderen 
Abschnitte darzulegen sein. 

Ein Blick in die Satzungen einiger Vereine möge uns genauer 
über die damaligen Bestrebungen unterrichten. 

Statuten'des Rendsburger Mäßigkeitsvereins 2 ). 

§ 1. Der Zweck dieses Vereins besteht darin, dem Genüsse von. allen ge¬ 
brannten Wassern, als Branntwein, Rum u. s. w. entgegenzuwirken, andere für 
die Enthaltsamkeit derselben zu gewinnen und solchen, welche dem Trünke er¬ 
geben sind, behilflich zu sein, sich von diesem verderblichen Laster loszureißen. 

§ 2. Zu dem Ende verpflichten sich die Mitglieder dieses Vereins durch 
ihre Namensunterschriften, sich selbst des Genusses aller gebrannten Wasser, 
außer in Krankheitsfällen nach Vorschrift des Arztes, gänzlich zu enthalten, den 
Genuß derselben in ihrer Familie nicht zu dulden, ihre Freunde nicht damit zu 
bewirten und ihren Dienstboten und Untergebenen nicht davon zu reichen, sowie 
sie sich auch verbindlich machen, alle andern geistigen Getränke, als Wein, Bier 
u. s. w. nur mäßig zu genießen. 

§ 3. Es steht einem jeden frei, aus diesem Verein auszutreten, wann er 
will; jedoch ist er nur dann von der übernommenen Verpflichtung entbunden, 
wenn er sich deshalb bei dem Schriftführer des Vereins meldet und seinen 
Namen in dem Verzeichnisse der Mitglieder tilgen läßt. 

§ 4. Um andere für die Enthaltsamkeit von gebrannten Wassern zu ge¬ 
winnen, machen die Mitglieder sich anheischig, durch gütliche Vorstellungen und 
Mitteilung von nützlichen Schriften (wozu die Kosten durch freiwillige Beiträge 
der Mitglieder bestritten werden) ihre Freunde und Bekannte von den verderb- 


1 ) Vgl. zu dieser Darstellung Ditm. Volksfreund 1846, Nr. 8. 

2 ) öffentl. Bericht über die Wirksamkeit des Rendsburger Mäßigkeitsvereins 
1842, Anhang S. 19 f. 


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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein. 107 

liehen Wirkungen der gebrannten Wasser zu überzeugen und sie dahin zu ver¬ 
mögen, daß sie durch ihre Namensunterschriften als Mitglieder des Vereins sich 
aufnehmen lassen. 

§ 5. Eben diese Mittel werden sie auch anwenden, um Trunkenbolde, wo 
möglich, von diesem Laster zu befreien; auch werden sie, soviel sie können, 
ihnen behilflich sein, daß sie wieder ordentliche und tätige Mitglieder der mensch¬ 
lichen Gesellschaft werden. 

§ 6 . Wenn irgend ein Mitglied des Vereins sich hinreißen lassen sollte, 
den Verpflichtungen, die es in Gemäßheit des § 2 übernommen hat, wie solche 
auch in dem von ihm unterschriebenen Reverse namhaft gemacht worden sind, 
zuwider zu handeln, so werden seine Freunde und Bekannte im Verein sich be¬ 
mühen, ihn durch ernstliche und freundliche Vorstellungen von seiner Verirrung 
zurückzuführen. Wenn aber solches fruchtlos sein sollte, so ist dem Vorstande 
des Vereins davon Anzeige zu machen, damit der Abgewiohene von diesem ver¬ 
warnt und, falls auch dieses fruchtlos bleiben sollte, sein Name aus der Liste 
ausgestrichen werde. 

§ 7. Der Verein versammelt sich der Regel nach alle 2 Monate, um über 
das, was den wohltätigen Zweck desselben betrifft, sich zu beraten und die nö¬ 
tigen Maßregeln zur Förderung der Enthaltsamkeit zu verabreden. 

§ 8. In der Zwischenzeit werden die Geschäfte von einem Vorstande ge¬ 
leitet, der aus einem Präsidenten, 3 Direktoren und 1 Schriftführer besteht, 
Welche sich etwa monatlich versammeln und, falls sie es für nötig halten sollten, 
eine außerordentliche Generalversammlung zu berufen berechtigt sind. 

§ 9. Die Mitglieder des Vorstandes werden durch Stimmenmehrheit gewählt 
und bekleiden ihr Amt 1 Jahr lang, doch können sie nach Ablauf dieser Zeit 
auch wieder erwählt werden. Der Präsident und in dessen Abwesenheit einer 
der Direktoren führt den Vorsitz und leitet die Geschäfte in den Versamm- 
sammlungen des Vereins und des Vorstandes, worin nach Stimmenmehrheit ent¬ 
schieden wird. Der Schriftführer hält das Protokoll, besorgt die Anschaffung von 
Schriften, die nötige Korrespondenz u. s. w. 

Hervorheben will ich, daß der „Glückstädter Yerein gegen das 
Branntweintrinken“ einen Paragraph enthält (§ 7), der sich auf 
Mäßigkeitsschenken u. dergl. bezieht: 

(§ 6 betrifft Schriftenverbreitung.) 

§ 7. Auch andere zweckmäßige Mittel wird der Yerein, sobald 
und soweit seine Kräfte es gestatten, in Anwendung bringen, ins¬ 
besondere die Errichtung von Mäßigkeitsschenken und die 
Einführung kleinerer Yerbände befördern. 

Eine Mäßigkeitsschenke wird vom Nienstädtener Yerein zu 
Blankenese unterhalten — leider habe ich die Satzungen des dorti¬ 
gen Yereins nicht erhalten können. 

Der Altonaer und Elmshomer Yerein haben eine Yerbands- 
und Distriktseinteilung durchgeführt nach dem Muster des Ham- 
burgischen Yereins. Im Flecken Lunden bilden die Schulgemeinden 
des Kirchspiels Yereinsdistrikte. 

8* 


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108 


Psstor Dr. Stubbe. 


Über die für die Vereinsarbeit nötigen Geldmittel sagen die 
Elmshomer Satzungen ausdrücklich: „Andere als freiwillige Gaben 
hat unsere Gesellschaft nicht; es kann also kein Mitglied zu Geld¬ 
beiträgen verpflichtet werden“. Obgleich das nachher zu charak¬ 
terisierende Krähwinkler Gesetzbuch von jährlichen Zuschüssen 
spricht, habe ich doch in schleswig-holsteinischen Mäßigkeitsvereinen 
keine Verpflichtungen zu festen Beiträgen finden können. Man 
wandte sich an den guten Willen des Publikums, gelegentlich an 
Sparkassenverwaltungen (weil man eine gemeinnützige, besonders 
kleinen Leuten dienende Arbeit betreibe) und einmal sogar an den 
König um Geldunterstützung 1 ). 

(Die Regierung berichtet der Schleswig-Holstein-Lauenburgischen Kanzlei 
[28. September 1847]: „Daß die Wirksamkeit der Enthaltsamkeitsvereine, falls 
selbige sich auf das Wiinschenswürdige beschränken soll, größerer Geldmittel, 
als deren Aufbringung füglich der Privattätigkeit überlassen werden kann, 
uns nicht zu bedürfen scheine.“ Die königliche Resolution, dem Zentral¬ 
verein eröffnet am 5. Februar 1848, lautet demgemäß, „daß . .. zur Be¬ 
willigung der erbetenen Unterstützung von Seiten des öffentliohen keine ge¬ 
nügende Veranlassung gefunden sei.“) 

Der unermüdliche Yolquarts forderte 1846 in einem Artikel 
„Agentenkasse“ 2 ) auf, durch Selbstbesteuerung der Vereinsmitglieder 
eine Kasse zu gründen, aus der ein Agent für die Vereinsarbeit im 
Lande besoldet würde — entweder, indem jeder deutsche Bundes¬ 
bruder einen Schilling in die Agentenkasse stecke, oder indem man 
(eine jetzt bei der Heilsarmee beliebte Methode) die „Narrenschillinge 
einer Woche“, d. h. das, was man früher im Laufe einer Woche für 
Spirituosen ausgab, der guten Sache opfere. Für die Zukunft sei 
diese Kasse (für Agenten- und Schriftenverbreitung) zu erhalten 
durch eine Jahresabgabe von einem Schilling für jedes Mitglied 
uud durch Einführung eines Eintrittsgeldes von gleichfalls einem 
Schilling. — Der Erfolg ist nur gering gewesen; denn der Bericht 
über die nächste Generalversammlung spricht davon nicht. 

Ohne Frage kommt es für den Bestand eines Vereines mit in 
Betracht, ob beliebiger guter Wille oder feste Ordnung die nötige 
Einnahme sichert; doch ist weder ein Verein in Schleswig-Holstein 
wegen der Geldfrage zu Grunde gegangen, noch die ganze Bewegung 
deswegen 1848 lahm gelegt. — 

Die Arbeit der Vorstände ist, soweit ich sehe, überall 
ehrenamtlich getan. 

*) Aus dem Regierungsarchiv S. H. Andere Polizeisachen Nr. 80, Fase. 8. 

2 ) Ditm. Volksfreund 1846, S. 121. 


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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein. 109 

Im allgemeinen ließ man die Mitglieder eine Verpflichtung 
(Revers) unterschreiben, die z. B. in Glückstadt lautete: 

Ich Endesunterschriebener verpflichte mich durch meine eigen¬ 
händige Namensunterschrift bis dahin, daß ich dieselbe zurücknehmen 
sollte, dem Trinken aller gebrannten Wasser, als des Korn-, Kartoffel- 
und Franzbranntweins, des Rums, Cognacs, Arraks u. s. w., sowie auch 
aller mit denselben gemischten Getränken, wie Grog, Punsch, Liköre 
u. dergl., außer, wenn und solange dieselben von einem Arzte in 
Krankheit verordnet werden, gänzlich zu entsagen und trete dem 
Glückstädter Verein gegen das Branntweintrinken als Mitglied bei. 

Der Unterzeichnende erhielt meistens eine Vereinsmarke, ge¬ 
legentlich auch eine Vereinsmedaille. 

Das in Holstein belegene, aber zum Großherzogtum Oldenburg 
gehörige Eutin gab den aus dem Orte ziehenden Vereinsmitgliedem 
Mäßigkeitspässe mit, durch die sie auf die Vereine anderer Orte 
aufmerksam gemacht und diesen anempfohlen wurden 1 ). Die schles¬ 
wig-holsteinischen Vereine lehnten zu Kiel die Regulierung des Ver¬ 
hältnisses der Vereine zueinander ab 2 ) (wohl, weil sie alles meiden 
wollten, was wie Bevormundung aussehen konnte). 

Der Verein zu Lunden führte (seit 1845) eine Fahne mit der 
Inschrift: „Tod dem Alkohol!“ 3 ) (Der dithmarsische Reiter präsentiert 
sich darauf lanzengewaffnet hoch auf einem sich bäumenden Roß 
und versetzt dem sog. Branntweinsdrachen einen tödlichen Stich). 
Auch Altona hatte seine Mäßigkeitsfahne (wohl nach dem Vorbilde 
Hamburgs 4 ). Sehr lebhaft und ernst wurde zu Elmshorn die 
Fahnenfrage erörtert Für eine Fahne wurde angeführt: andere 
Vereine (Zünfte, Gilden, Liedertafeln, sowie mehrere Mäßigkeitsvereine) 
führen Fahnen; sie wird dem Verein eine Erhebung und Ermuti¬ 
gung sein; er wird gleichsam sich öffentlich als Mäßigkeitsarmee 
darstellen. — Dagegen wurde gesagt: Missionsvereine, Bibelgesell¬ 
schaften, Vereine für entlassene Strafgefangene, verwahrloste Kinder 
u. dergl. (also Vereine, die das Heil der Brüder und Förderung des 
Reiches Gottes suchen) führen keine Fahne; denen sind wir am 
meisten verwandt. Eine Fahne würde Leute heranziehen, die auf 
Äußerlichkeiten Wert legen, dagegen christlich und kirchlich Ge- 


>) Bl. d. Hbg. V. 1842, Nr. 4, S. 81. 
*) Vgl. Kap. 7. 

») Bl. d. Hbg. V. 1845, S. 71. 

4 ) Bl. d. Hbg. V. 1845, S. 14. 


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110 


Pastor Dr. Stubbe. 


sinnte vom Vereine abhalten können. Man einigte sich, die Ent¬ 
scheidung zu vertagen 1 ). 

Als Versammlungsort war dort, wo eine Mäßigkeitsschenke 
bestand, diese gegeben (so in Blankenese-Nienstedten). Auf dem 
Lande versammelt man sich gerne in Schulräumen; dagegen hat 
die Regierung nichts, — eine Benutzung von Kirchen zu General¬ 
versammlungen und Jahresfesten der Vereine hält sie indessen für 
unangemessen. (Auf desf. Antrag des „Direktors der Vereine gegen 
den Branntwein in den Herzogtümern Schleswig und Holstein“ 
Volquarts vom 14. Dez. 1846 erfolgt der Bescheid 4. Jan. 1847: 
wegen Einräumung von Schullokalen habe man sich an die betr. 
Lokalbehörde zu wenden*). Für einzelne Dankgottesdienste wird 
eine Benutzung der Kirche (z. B. in Lunden) seitens der Behörde 
gestattet (von der Regierung den Kirchenvisitationen zur Erledigung 
überwiesen *). 

Betr. die Zeit der Versammlungen dispensiert die Regierung 
die Mäßigkeitsvereine von der Feiertagsverordnung, so daß Zusammen¬ 
künfte an den Sonntag-Nachmittagen bereits vor 4 Uhr gehalten 
werden können 4 ). 

Wie oft die Versammlungen stattfinden, ist örtlich verschieden; 
z. B. in Altona hält man jeden Montag Verbandsversammlung, in 
Apenrade halbjährlich Vereinsversammlung, zu Oldenburg i. H. viertel¬ 
jährlich, zu Rendsburg alle 2 Monate, zu Bovenau und Glückstadt 
alle 6 Wochen, zu Bredstedt, Crempe, Heunstedt, Hömerkirchen, 
Kiel, Lunden, Meldorf, Rellingen, Tellingstedt, Wöhrden monatlich, 
— in Hademarschen und Nienstedten nach Bedarf. 

Von Vereins wegen versucht man wiederholt, den Vereinssatz¬ 
ungen oder der -arbeit einen amtlichen Stempel zu verschaffen. 
Der Lundener Mäßigkeitsverein sucht 23. Nov. 1846 um Regierungs¬ 
bestätigung für seinen Statutenentwurf nach, der als unnötig abge¬ 
lehnt wird; ebenso wie der Antrag des Zentralvereins vom 13. Sept. 
1847, daß der König die Vereine gegen den Branntwein irgendwie 
unter seinen Schutz nehme (also ihr „Protektor“ werde) damit er¬ 
ledigt, daß solcher allerhöchster Schutz weder erforderlich, noch 
denselben entsprechend sei“ 5 ). 

») Bl. d. Hbg. V. 1845, S. 5 u. 15. 

*) Regierangsarchiv, S. H. Andere Polizeisachen Fase. 8, 5 u. 6. 

*) Vgl. a. a. 0., Fase. 8, 2. 

*) A. a. 0., Fase. 8, 1. S. H. Kirchensachen, 47 Fase. 117. 

*) Vgl. S. 18. 


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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein. 111 

Das Verhältnis der Vereine zur Kirche wird in dem Ab¬ 
schnitte „Geistliches und Weltliches“ (in Kap. 8) und in Kap. 12 
(Theologisches) genauer dargelegt werden. Hier ist nur zu sagen: Im 
allgemeinen gelten die Vereine als kirchlich neutral; die Satzungen 
enthalten deshalb keine Aussagen über irgendwelche kirchlichen 
Dinge. Indessen betonen in Schleswig-Holstein zwei ältere Vereine 
den Zusammenhang ihrer Arbeit mit dem Christentum, und zwar 
der auf Gut Bothkamp und der zu Elmshorn. Die Elmshorner 
Satzungen beginnen: 

„"Wir sind durch Gottes Wort und die tägliche Erfahrung hinlänglich 
überzeugt, daß das Laster der Trunkenheit eines der verabscheuungs¬ 
würdigsten vor Gott und Menschen ist“-(und den Menschen) „um 

Ehre, Vernunft und ewige Seligkeit bringen kann.“ 

Einen schärferen Ton schlagen die Alkoholgiftgegner an. 

Der Tellingstedter „Verein gegen den Schminkgeist“, 1845, 
hat nach dreifachem Grundsatz dreifache Verpflichtung 1 ): „Auf 
Christum, den Stein, den die Bauleute verworfen haben 
und der zum Eckstein worden ist, Anerkennung 1. des 
Weingeistes und des Schminkgeistes (Alkohol), 2. der bloßen Giftig¬ 
keit dieses letzteren, 3. Entsagung aller schminkgeisthaltigen Getränke. 

1. Nach diesem von ihnen anerkannten Grundsätze bewahren die Mitglieder 
äuch ihre Hausgenossen, Kinder and Untergebene davor, bieten sie auch sonst 
niemandem und können sie weder bereiten noch verkaufen. — 2. Vielmehr 
Suchen sie den heilsamen Grundsatz des Vereins auszubreiten und ratend, rettend 
und helfend Mitglieder zu gewinnen. — 3. Endlich wollen sie die heilsamen ge¬ 
goltenen Getränke nicht unmäßig zum Schaden und Verdruß, sondern mäßig 
zur Stärkung und Lust genießen, und das alles mit Danksagung. 

Es wird 1853 von Volquarts die Mäßigkeitsarbeit für ein Werk 
der inneren Mission, für eine eigentliche Lebensarbeit der Kirche 
erklärt ' Dabei wird die naturwissenschaftliche Anschauung vom 
Alkohol mit der theologischen Richtung zu einem dogmatischen 
System ausgebäut, worin der Branntwein zum Satansblute, sein 
Genuß zur Kommunion des Teufels wird (vgl. dazu besonders die 
letzte Predigt in Kap. 9)*). Mit Recht bezeichnet Martius diesen 
Standpunkt als Manichäismus 8 ). Es ist die sektenhafte Entartung 
einer einst weitherzigen humanen Bewegung großen Stiles. 

Anhangsweise sei hier von einer Satire berichtet, die sich 

>) Bl. d. H. V. 1845, S. 68. 

*) Vgl. auch meinen Artikel in der Monatsschrift für Innere Mission lfi04. 

®) Z. B. Handbuch der deutschen Trinker- und Trunksuchtsfrage, Gotha 1891, 
8 . 200 . 


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112 


Pastor Dr. Stubbe. 


gegen Entsagung und Gelübde wendet: „Gesetzbuch des Mäßig¬ 
keitsvereins in Krähwinkel Nebst Eröffnungsrede des Präsi¬ 
denten und dem Promemoria des Theeklubs der Frauen ebendaselbst“. 1 ) 

Der Präsident Siebenschläfer schlägt vor: 1. alle Wohnungen, worin 
Schnap8läden sind, von Yereinswegen zu mieten und mäßigen Leuten zu über¬ 
lassen; 2. alle Schnapstrinker für den Verein zu interessieren, event. mit Geld zu 
erkaufen; 3. jedes ordinäre Mitglied solle ein Kapital für den Verein einschießen, 
um einen Kassenfonds zu bilden, — jedes extraordinäre einen jährlichen Zu¬ 
schuß geben, um wohltätige Bücher und Schriften zu beschaffen. Dem Präses 
und den leitenden Ausschußmitgliedern gebühre ein jährliches Gratiale von je 
1000 Mark Banko. 

Aus den Satzungen: § 2. Folgende Schriften muß jedes Mitglied auswendig 
lernen, als: Geschichte der Mäßigkeitsgesellschaften in den Vereinigten Staaten. 
Die Branntweinpest Die Heimkehr vom Kirchhofe. Des armen Mannes aus¬ 
gebessertes Haus. Die Folgen der Trunkenheit. Der Soldat und der Fusel. Ist 
der Ochse stößiger Natur? Der Feind im Lande u. a. m. 

§ 5. Wein und Bier darf jedes Mitglied genießen, muß jedoch auf seiner 
Hut sein, nicht bis zum „Schwindel 14 zu kommen. 

§ 7. Wer einen Schnapstrinker aus seiner Wohnung vertreiben oder zum 
Ruin eines solchen Geschäfts beitragen kann, dessen Name wird in allen Mäßig- 
keitssöhriften abgedruckt 

§ 10. (Staatsbürger müssen innerhalb 8 Tagen Mitgliedsrechte zu erlangen 
suchen.) 

§ 14. Kein Prediger darf die Kanzel besteigen, wenn er nicht Mitglied ist. 

§ 15. (Brandstiftung der Brennereien wird prämiiert.) 

§ 22. Wer Beweise beibringen kann, daß er täglich 4 Flaschen Wasser, 
Bier, Tee oder Suppe genossen, darf jeden Abend im Ratsweinkeller eine Flasche 
Wöin trinken. 

§ 28. (Branntweintrunkene sind einfach totzuschlagen.) 

§ 24. Jede zum Besten des Vereins geschriebene Mäßigkeitsschrift wird 
ailf Kosten desselben gedruckt und verteilt. 

10 000 Personen unterschrieben und betranken sich am nächsten Tage (in 
Bier und Wein). Sämtliche Frauen richteten nun eine Supplik an die Regierung, 
den staatsfeindlichen Verein aufzuheben (10000 Unterschriften) und der „Teeklub 
der Frauen 44 reichte dem Mäßigkeitsverein folgendes Promemoria ein: 

„Geleerte Herren! Die Erbärmlichkeit, daß Ihr nur durch Eure Unter¬ 
schrift zur Mäßigkeit zu gewöhnen seid, veranlaßt uns, mit Euch ein sehr 
ernstes Wort zu reden und Euch an Eure Pflichten zu ermahnen. Derjenige 
Mann, der nicht im Stande ist, sich selbst zu beherrschen, ist nicht wert, von 
einem zartfühlenden Weibe geliebt zu werden. Somit seid Ihr nun, Mitglieder 
des Mäßigkeitsvereins, frei und engelrein; Ihr könnet fernerhin nicht mehr re¬ 
gieren, also auch nicht mehr der Stolz Eurer Weiber sein! Die Festigkeit 
ist des Mannes größte Zierde — wehe, wo diese fehlt! 

Ein Mann, der durch einen Eid oder Verpflichtungen sich binden muß, um 


*) Altona bei C. G. Pinckvoß 1840, 8 Seiten. 


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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein. 113 

nicht unmäßig zu werden, ist ein wahrhaft erbärmliches Geschöpf und paßt also 
nicht für uns. 

Kraftvoll und unerschütterlich soll der Mann dastehen, aber nicht durch 
eine Unterschrift sich binden lassen, mäßig einen unschuldigen Schnaps zu trinken. 

Wer sich eigenmächtig in Fesseln legt, ist seiner Freiheit unwürdig; wer 
nicht selbst so viel Charakterstärke besitzt, um sich zu überwachen, ohne durch 
die Kraft der Gewalt gebunden zu sein, wird auch diese Fessel (und wären 
es 10 Eide!) zerbrechen, um seinen Gelüsten zu fröhnen. — Also keine Ent¬ 
sagungtakte, Ihr „Herren der Schöpfung“, wie Ihr Euch doch so gern nennen 
möchtet, sondern ohne Zwang eine vernünftige Mäßigkeit! Ist denn nicht, 
wie wir schon so oft erfahren, jeder auf solchen Grundsätzen beruhende Verein, 
der doch am Ende auf irgend eine Weise ausartet, unnütz? Was ist ge¬ 
wöhnlich das Ende vom Liede? Eine Spekulation, um auf irgend eine erlaubte 
Art Geld zu machen, oder mit dem Namen eines Patrioten zu glänzen und auf 
diese Art ein Schäfchen zu scheeren! — Ferne bleibt daher mit solchen Mäßig¬ 
keitsvereinen, welche alle Männer, die Teil daran nehmen, als sehr erbärm¬ 
lich und lächerlich darstellen; denn wer nicht mäßig sein kann, ohne Mitglied 
einer solchen Vereinigung zu werden, der kann es auch unter keinen Umständen 
also auch dann nicht, wenn er sich angeschlossen hat. Also, ohne alle Leiden¬ 
schaft: Hat die Welt so viele Jahrhunderte ohne Mäßigkeitsvereine bestanden, 
so wird sie auch ferner fortbestehen, wenn Ihr Repräsentanten der Schöpfung 
nur sonst vernünftig und ohne Leidenschaften. Dem freien Manne bringen 
wir also ein Vivat, dem Manne, der auch ohne Mäßigkeitsverein stets mäßig ist 
und die Achtung der Frauen sich zu erhalten und zu befestigen weiß.“ 

Weder der individualistische, extreme Freiheitsbegriff, noch die 
Verdächtigung der führenden Persönlichkeiten und die Verballhomi- 
sierung der Vereinsziele haben großen Eindruck gemacht; die Haupt¬ 
entwicklung der Vereinsbewegung in den Herzogtümern, wie in 
Hamburg und im übrigen Deutschland setzt vielmehr nach 1840 ein. 

Die Frage „Nikotin und Alkohol“ ist von Mahner (Naturheil¬ 
mensch — 1844) und Volquarts (Alkoholgiftgegner — 1853) kräf¬ 
tig berührt (vgl. Kap. 9, Abschn. C und Kap. 10), aber nirgends in 
die Vereinssatzungen hineingeraten. 


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114 


Dr. B. Laquer. 


Das Verhältnis von Trunksucht zu Armut 
und Verbrechen in den Vereinigten Staaten. 

Von 

Dr. B. Laquer-Wiesbaden. 

In meinen Reisestudien 1 ) habe ich Seite 20 darauf hinge¬ 
wiesen, daß bei der so verschiedenartigen Zusammensetzung der 
amerikanischen Bevölkerung der Versuch aussichtslos wäre, ein 
deutliches, sicheres Bild von dem Zusammenhang zwischen Alkoho¬ 
lismus, Armut und Verbrechen in diesem weiträumigen Lande zu 
geben. Inzwischen habe ich die Grundlage eines solchen Ver¬ 
suches etwas näher kennen gelernt, nämlich die Schilderung ameri¬ 
kanischer Armen- und Gefängnispflege durch das Studium der Schriften 
von E. Münsterberg, F. Peabody, 0. Hintrager 8 ). Ich stieß dabei 
auf Beziehungen, die, wenn auch lückenhaft, dennoch der Mitteilung 
wert sind. In dem Lande der Kontraste, wie Muirhead, der Her¬ 
ausgeber des englischen Amerika- und Kanada-Bädecker, das Land 
nennt, ist auch das Armenwesen nicht einheitlich wie bei uns ge¬ 
regelt Die Bundesregierung überläßt Gesetzgebung und Fürsorge 
auf diesem Gebiete den Einzelstaaten, ausgenommen das kleine 
Bundesterritorium Columbiamit der Bundeshauptstadt Washington, 
das der Bund selbst verwaltet Ein kodifiziertes Verhältnis der 
Staaten zueinander im Sinne unserer Reichsarmengesetzgebung 
(Unterstützungs-Wohnsitz u. s. w.) existiert drüben nicht Die 
einzelnen Staaten verhalten sich armenrechtlicb zueinander wie 
Auslandsstaaten. Die Armenpflege baut sich in den östlicheu 
Neu-Englandstaaten gemäß den Gewohnheiten des Mutterlandes 
in einer Art Selbstverwaltung auf der Grundlage des Ortschafts- 
Prinzips auf. Die Städte und Grafschaften werden nur von den 
Einzelstaaten mehr oder weniger beaufsichtigt und zur Herstellung 


l ) Trunksucht und Temperenz in den Vereinigten Staaten. J. F. Berg¬ 
mann, 1905. 

*) E. Münsterberg-Berlin. Das ausländische Armenwesen H. 35 u. 52 
der Schriften des Deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit. 
F. Peabody-Boston: Armengesetzgebung in den U. St. Conrads Handbuch der 
Staatswissensohaften I. Bd. 2. Aufl. S. 1173—1180 u. Suppl.-Band. 0. Hint¬ 
rager. Amerikanisches Gefängnis- und Strafenwesen. Tübingen 1900. 


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Das Verhältnis von Trunksucht zu Armut und Verbrechen etc. H5 


.zweckmäßiger Einrichtungen angehalten. Die Voraussetzung der 
Niederlassung in dem Bezirk und des längeren Aufenthalts in dem¬ 
selben bilden drüben nicht allenthalben die Grundlage der Unter¬ 
stützung im einzelnen Verarmungsfall. Noch buntscheckiger als 
die Gesetzgebung ist die Ausführung derselben in der Armenpflege 
selbst Traditionslos wie die Amerikaner auch in öffentlichen An¬ 
gelegenheiten sind, experimentieren sie gerne und stoßen kurzer 
Hand um, was sie eben aufgebaut haben; infolgedessen haben oft sehr 
junge Städte ein Armenwesen, das den älteren, am Alten haftenden 
Landesteilen, überlegen ist, da sie deren Erfahrungen benutzten 
und aus ihren vielfachen Mißexperimenten lernten. Die allgemeine 
Bevorzugung der geschlossenen Armenpflege, der sogenannten 
Armenhäuser, alms-houses, erinnert an den englischen Typus der 
Armenpflege. Sie bilden den Sammelkanal für alle Formen der 
Bedürftigkeit (the charitable catch-all for the community). In 
dünn bevölkerten Bezirken werden erwerbsunfähige und alte Per¬ 
sonen mit Vorliebe in Familien von Farmern u. s. w. untergebracht 
(System des boarding out), Kinder hält man aus den Armenhäusern 
fern, für Blinde, Geisteskranke, kurz für Defekte erbaut man gerne 
separate Anstalten; von Interesse und Bedeutung ist, daß Trunk¬ 
sucht und Vernachlässigung elterlicher Pflichten (neglect of family, 
destitution of children) hart bestraft werden. Leider aber hängt 
die Verwaltung der öffentlichen Armenpflege, die von Besoldeten, 
nicht von ehrenamtlichen Männern geleitet wird, mit der Korruption 
und mit dem politischen Schicksalsspiele der Parteien zusammen. Ich 
verweise auf die Schilderung, die E. Münsterberg aus dem Staate 
Ohio (Hauptstadt Cincinnati) und aus Boston S. 46 seines Berichtes 
wiedergibt. 

Dem gegenüber ist die Riesen-Privatwohltätigkeit in einem nur 
in „the big country“ möglichen Umfange entwickelt Religiöse, 
landsmannschaftliche, sektirerische, oft Sonderlings-Motive spielen 
dabei mit Näheres in den oben citierten Schriften. Ein neuer¬ 
dings besonders in den Großstädten eingesetztes Aufsichtsamt 
(Stateboard) soll Wandel schaffen, ferner eine unserem deutschen 
Verein für Armenpflege und Wohltätigkeit ähnliche Einrichtung, 
die den Namen „national Conference of charities and correction“ 
führt Sie beschäftigt sich übrigens auch mit Einwanderungs- und 
Heimatgesetzgebung. Aber auch die großen Städte versuchen einen 
Ring um ihre Wohltätigkeitspflege zu schließen, dem. sie nach 
englischem Vorbild den Namen: charity-organisation society geben. 


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116 


Dr. B. Laquer. 


Diese Zentralen sind in sogenannten charity-buildings auch äußer¬ 
lich zwecks unmittelbarem und mündlichem Austausch der einzelnen 
Abteilungen zusammengefaßt Das New Yorker Gebäude beherbergt 
z. B. 100 Vereinigungen mit gemeinsamer Bibliothek, Hörsaal u. s. w. 
Von den Engländern wurden ferner die sogenannten Settlements 
übernommen, auf die näher einzugehen hier zu weit führen würde. 
Adele Schreiber hat sie im Heft 23 des „Sozialen Fortschritts“ 
Leipzig 1904, treffend beschrieben. Interessant ist ferner die An¬ 
weisung von Ackerland „vacant lots cultivation“ an infolge schwerer 
Zeiten arbeitslose, aber arbeitsbedürftige Leute. Diese Einrichtung 
ging von Detroit, Buffalo und Reading aus. Die antikorrup- 
tionellen Berichte unseres Landsmannes Karl Schurz haben auch 
auf diesem Gebiet das Ansehen des Mannes und seiner Herkunft 
gesteigert. Soweit einige Allgemeinheiten zum Verständnis des 
Folgenden: 

Die neueste Zusammenstellung der im Titel erwähnten Be¬ 
ziehungen zwischen Verarmung und Trunksucht stammt aus den 
Berichten des 50 er Ausschusses. Derselbe besteht seit zehn Jahren 
ausschließlich zur Erforschung der Alkoholfrage. Er war 1893 
aus einer jungen Soziologenschule heraus entstanden zum Zweck 
der unparteiischen Sammlung und Vergleichung aller zugäng¬ 
lichen, auf das Alkoholproblem hinzielenden Tatsachen. Der Aus¬ 
schuß sollte und wollte keine Meinung aussprechen oder die eine 
oder die andere Theorie aufstellen und verteidigen, sondern rein 
Tatsachen erforschen ohne Rücksicht auf die Ergebnisse, zu denen 
jene hinführen. Es gereicht mir zur Freude, festzustellen, daß 
der Arbeitsplan dieses Ausschusses genau dem entsprach, den 
ich am 21. Oktober 1903 in der Hauptversammlung des deutschen 
Vereins gegen den Mißbrauch geistiger Getränke für die preußische 
Alkohol-Landes-Kommission vorgeschlagen, ja, das Spinoza-Leitwort 
„Humanus actiones non Videre, non lugere, neque detestari sed 
intelligere“ entspricht ganz und gar obigen Zielen des Ausschusses; 
letzterer besteht ferner ebenfalls aus vier Unterausschüssen: einem 
ärztlich-physiologischen, einem wirtschaftspolitischen, einem gesetz¬ 
geberischen, einem sittlich-kulturellen. Der amerikanische Fünfziger- 
Ausschuß setzt sich aus den ersten führenden Männern zusammen, 
ich nenne nur Charles W. Eliot, den Präsidenten der Harvard- 
Universität, James C. Carter, Professor der Colombia^Universität, 
Caroll D. Wringht, Leiter des statistischen und Arbeitsamtes in 
Washington, Seth Lo|w, früherer Oberbürgermeister von New York, 


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Das Verhältnis von Trunksucht zu Armut und Verbrechen etc. 117 

Henry W. Farnam, National-Ökonom und R. H. Chittenden, 
Physiologen an der Universität Newhaven, Wm, H. Welch, Pro¬ 
fessor der John-Hopkins-Universität zu Baltimore, W. 0. Atwater, 
den schon genannten Physiologen zu Middletown, Francis G. 
Peabody, Theologen der Harvard-Universität, Boston (s. o. Anm. 2), 
Jacob H. Schiff, Inhaber von Kuhn, Loeb & Co.-New York, 
J. S. Billings, Lektor der Astor-Bibliothek zu New York, Bischof 
H. C. Potter-New York u. a.; seine Zusammensetzung, sein Wirken 
entspricht also etwa unserem deutschen Vereine gegen Mißbrauch 
geistiger Getränke. 

Von den Berichten sind bisher erschienen: 

1. The Liquor Problem in its Legislative Aspects. By Frederic 
H. Wines and John Koren. An Investigation made under the 
Direction of Charles W. Eliot, Seth Low and James C. Carter, 
Sub-Committee of the Committee of Fifty to Investigate the Liquor 
Problem. 

2. Economic Aspects of the Liquor Problem. By John Koren. 
An Investigation made under the Direction of Professors W. 0. 
Atwater, Henry W. Farnam, J. F. Jones, Doctors Z. R 
Brockway, John Graham Brooks, E. R. L. Gould and Hon. 
Caroll D. Wright, a Sub-Committee of the Committee of Fifty. 

3. Substitutes for the Saloon. By Raymond Calkins. An 
Investigation made for the Committee of Fifty under the direction 
of Eigin R. S. Gould, Francis G. Peabody and William M. 
Sloane, Sub-Committee. 

4. The Physiological aspects of the Liquor Problem Edited by 
John S. Billings, M. D. An Investigation made for the Committee 
of Fifty under the direction of John S. Billings, W. 0. Atwater, 
H. P. Bowditch, R. H. Chittenden, and W. H. Welch, Sub- 
Committee. Zwei Bände. 

Sämtlich erschienen bei Houghton Mifflin & Co., Boston 
und New York, von 1897—1903. 

In dem 2. Band, der die verbrecherische und die pauperistische 
Seite der Trunksucht behandelt, spielen der Bericht des Bundes¬ 
arbeitsamtes zu Washington (12. Jahresbericht) sowie des 
Arbeitsamtes des Staates Massachusetts, Hauptstadt 
Boston, 26. Jahrgang, als Quellen eine große Rolle, beide 
stammen von C. D. Wright (s. o.). 

Als wichtig für ihre Untersuchung heben die Amerikaner 
folgendes hervor: 


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118 


Dr. B. Laquer. 


1. daß die Zahl der durchstudierten Fälle eine sehr große 
ist, 2. daß die Varietät der Fälle in Armenhäusern, in Privatwohl- 
tätigkeits-Anstalten von Bedeutung ist, 3. daß die Enquete sich auf 
ein Riesenland erstreckt und auf sehr verschiedene Nationalitäten. 

' John Koren hat zusammen mit einem Berufsstatistiker und 
5 Zählern ein Jahr lang das Material bearbeitet Die Vertreter von 
33 Charity-Organisationen, 11 Kinderhilfsgesellschaften, die Vor¬ 
steher von 60 Armenhäusern und 17 Besserungsanstalten haben 
gratis oder halb umsonst mitgewirkt. Im Durchschnitt fanden sie, 
daß 25% aller Verarmungsfälle und 37 % aller Armenhäusler durch 
den Alkohol in diese Lage gekommen sind. Die Verfasser ver¬ 
weisen ganz besonders auf die Untersuchungen von Charles 
Booth, des Gründers und Leiters der Heilsarmee, wie dies auch 
Helenius in seiner Schrift „Die Alkoholfrage“, Jena 1903, tut Was 
die Heilsarmee auch in Amerika zur Bekämpfung der Trunksucht 
leistet, geht aus dem 3. Band der Berichte am deutlichsten hervor, 
und soll einmal später erörtert werden. Stubbe-Kiel hat den 
Anfang dazu gemacht im „Alkoholismus“ 3. Jahrg. S. 377. Den 
Umfang des amerikanischen Alkohol-Kapitals schildern folgende 
Zahlen: 1% des gesamten amerikanischen Mais, 11%% des Kornes, 
40 V» % der Gerste wurden 1901/02 verwandt, um circa 1172 Mill. 
Dollars (Detail-V erkaufspreis) in geistigen Getränken hervorzubringen, 
davon 692 Mill. Bier, 390 Mill. Schnaps (Whisky), 90 Mill. Wein. 
Das investierte Kapital betrug circa 1000 Mill. Dollars, das Total- 
Einkommen des Bundes der Staaten, Städte und Grafschaften war 1896 
183 Mill. Mark; 1903 waren (Laquer) 191000 selbständige Personen 
und 241000 Angestellte beschäftigt, immerhin weniger Menschen als 
in Deutschland (siehe die Guttstadtsche Zahl von 588000 Personen 
(nur in Preußen) im „Klinischen Jahrbuch“, Band XH, Heft 3, 
Jena 1904). Wie auch immer, sagen unsere amerikanischen Ge¬ 
währsmänner, der physiologische Einfluß des Alkohols sich ver¬ 
halte, in einem stimmt alle Welt überein, daß sein Mißbrauch die 
Arbeitsfähigkeit mindert, und daß er zur Verarmung und zum Ver¬ 
brechen führt Die Amerikaner unterscheiden die Armut, gegen 
die man in Armenhäusern wirkt oder auf privaten Wegen, und 
die Vernachlässigung der Familien, gegen die man durch harte 
Strafen und durch spezielle Fürsorge für die Kinder ankämpft. Auch 
die Amerikaner betonen die Schwierigkeit, den Alkohol als alleinige 
Ursache der Verarmung herauszuschälen. In den Fällen der Ver¬ 
nachlässigung von Kindern sind nicht weniger als 45 % der Fälle 


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Das Verhältnis von Trunksucht zu Armut und Verbrechen etc. 119 


auf den Trunk zurückzuführen. Die Superiorität des weiblichen 
Geschlechts in Amerika, die Beobachtung, die wir persönlich in den 
Großstädten an Sonntagabenden gemacht haben, in denen wir selten, 
jedenfalls viel seltener als in England oder Schottland betrunkenen 
Frauen begegneten, zeigt sich auch darin, daß in Armen¬ 
häusern 42 °/ 0 der Männer und nur 16 1 /, °/ 0 der Frauen durch 
Trunk in diesen Zustand gekommen waren. Yon denen, die sich 
an Privat-Wohltätigkeit um Hilfe wandten, waren 22,7% trunk¬ 
süchtige Männer, und nur 12,4% trunksüchtige Frauen. Von den 
Völkerschaften, welche Hilfe in Anspruch nehmen, steigen die 
Prozentsätze von den Deutschen über Skandinavier, Amerikaner, 
Engländer, Kanadier und Schotten hinauf bis zu den Irländern. 
Unter den Negern ist die Trinkgewohnheit augenscheinlich nicht so 
vorwiegend, nur 9% Neger, die unterstützt wurden, waren trunk¬ 
süchtig; und ebenso waren nur 17% der Neger, die in Armen¬ 
häusern waren, Alkoholisten, im Vergleich mit 19% bezw. 33% 
Weißen. Die Indianer kommen zwar in den Zahlen des Werkes 
nicht vor, aber nach den Berichten der sogenannten Indian-Agents 
(Bd. HI der obigen „Reports“) trinken sie mehr um sich zu be¬ 
rauschen, als aus geselligen Zwecken. Die Wirkungen des Alkohols 
auf sie sind viel stärker und schlimmer, weil sie noch nicht durch¬ 
seucht und weil sie schon durch die Kultur an sich degeneriert 
sind. Von den Beschäftigungen derer, die in Armenhäusern enden, 
sind natürlich die Wirte mit 84% durch Trunk hineingekommen. 
Dann folgen die Matrosen mit 58%, die Metzger mit 57%, die 
Drucker-, Stahl- und Eisenarbeiter mit 55%, Köche und Kellner, 
Maschinisten 50%, Arbeiter der Mühlen-Industrie 43 % und Land¬ 
arbeiter mit 33 %. Dieser im Vergleich zu uns geringe Prozentsatz der 
Landarbeiter ist in meiner Schrift (Anm. 1) genauer erklärt worden. 
45% der Insassen der Armenhäusler kommen in den Jahren zwi¬ 
schen 50 und 70 hinein; 45% der in Besserungsanstalten beher¬ 
bergten Kinder — im ganzen wurden circa 5000 untersucht — 
verdanken dies der Unmäßigkeit ihrer Eltern. Die schlimmste 
Phase der durch die Trunksucht hervorgerufenen Verarmung — 
sagt Koren — stellt die Tatsache dar, daß unschuldige Personen 
noch mehr leiden, als die schuldigen. — 

Die Beziehungen des Alkoholismus zum Verbrechen gehören 
zu den bestgekanntesten und durchsichtigsten Ursachen. Ebenso 
wie die Verarmung aber Ursache und Folge der Trunksucht sein 
kann, und wie der Alkohol unter den Verarmungsursachen cachiert 


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Dr. B. Laquer. 


auftreten kann, so kann der AJkoholismus in verschiedener Art das 
Verbrechen beeinflussen. Das Delikt kann die unmittelbaren Folgen 
des Trinkens darstellen, z. B. Verbrechen, die im Bausch begangen 
werden. Es kann die mittelbare Ursache des Verbrechens sein, 
indem ein normaler Mensch im Laufe der Trunksucht degeneriert 
und zum Verbrecher wird. Endlich können die Kinder trunk¬ 
süchtiger Eltern als geborene Verbrecher, Landstreicher, Schwach¬ 
sinnige zur Welt kommen, wie dies besonders Bonhöffer 1 ) bei 
uns beschrieben hat In Nordamerika, einem Lande, in welchem 
die Zahl etwa so hoch eingeschätzt wird wie bei uns die Idee, 
hat die rastlose und energische Bekämpfung der Trunksucht früh¬ 
zeitig auch die Statistik als Kampfmittel benutzt. Immerhin sind 
die früheren Angaben aus den 60 er und 70 er Jahren mit 
Vorsicht zu gebrauchen. Erst seitdem Wright, ein auch in 
Deutschland geschätzter Volkswirt, an die Spitze erst des Arbeits¬ 
amtes von Massachusetts (1880) und später zur Leitung des Bundes¬ 
amts für Arbeit in Washington gelangte, kann die amerikanische 
Statistik Anspruch machen, für objektiv gehalten zu werden. Die 
Berichte des amerikanischen 50er Ausschusses, dessen 2. Band 
Wright mit herausgab (s. o.), gehen von folgenden Grundfragen aus: 

Hat irgend eine der folgenden Ursachen zu Bedingungen ge¬ 
führt, welche zum Verbrechen anregten? 1. Ungünstiges Milieu von 
Geburt und Jugend, z. B. Vernachlässigung seitens der Eltern, 
Mangel an Erziehung u. s. w. 2. Mangel an Anleitung zur Arbeit, 
3. Unmäßigkeit, a) persönliche, b) elterliche, c) die der Kameraden. 
Weitere Fragen, wie z. B. wann das Trinken beginnt, wann ge¬ 
wohnheitsmäßige Trunksucht festgestellt wurde, ob irgend eine tief 
sitzende Krankheit folgte oder vorausging, wurde weggelassen. Es 
erschien ferner zweckmäßig, die Untersuchung auf Staatsgefängnisse 
und Besserungsanstalten zu beschränken, dagegen z. B. Armen- und 
Arbeitshäuser wegzulassen. Durch persönliche Anfragen oder Briefe, 
durch genaue Angaben, wie gefragt und gezählt werden sollte, 
suchte man Irrtümer, die sich in Enqueten so leicht einschleichen, 
zu vermeiden. 17 Gefängnisse in 12 Staaten mit 13402 Gefangenen 
wurden der Statistik zu Grunde gelegt, 5 davon sind Besserungs¬ 
häuser für Erwachsene (Männer zwischen 16 und 30) und 12 sind 
Staatsgefängnisse. Die amerikanischen Gefängnisse sind in letzter 
Zeit von Dr. Aschrott 2 ) und O. Hintrager 3 ) (s. o.) geschildert 

‘) Ztschr. f. d. ges. Strafrechts-Wissenschaft Bd. 28, 1902. 

a ) Aus dem Straf- und Gefängniswesen Amerikas. Leipzig 1889. 

*) Wie lebt und arbeitet man in U. St. Berlin 1904. 


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Das Verhältnis von Trunksucht zu Armut und Verbrechen etc. 121 

worden. Die Strafgefangenen Amerikas werden besser gepflegt, 
haben mehr Komfort und mehr Freiheit als bei uns. Sie essen 
täglich Fleisch, Brot, erhalten Kautabak und Zucker a discretion, 
jede Woche ein Bad (für Jugendliche Schwimmbäder); Dampf¬ 
heizung, elektrisches Licht, Lüftung und Reinlichkeit entsprechen 
etwa den „Ansprüchen“ eines Hotels 2. Ranges; Anstaltsbibliotheken 
ohne Zensuren, eine Anzahl Briefkästen zum direkten Verkehr 
mit den Anstaltsgeistlichen und Anstaltsleitern zum Zweck der 
Kontrolle der Aufseher ergänzen dieses Bild. Wie auch auf 
diesem Gebiete „unbegrenzte Unmöglichkeiten“ in Nord-Amerika zu 
Hause sind, geht daraus hervor, daß eine Abteilung des ameri¬ 
kanischen Bundes abstinenter Frauen Gelder und Menschen dem 
Zwecke widmet, sonntäglich Blumen an Gefangene zu verteilen. 
Ein Zwang zum Kirchgang besteht übrigens in keiner Anstalt, wohl 
aber finden sonntäglich Konzerte und weltliche Vorträge statt, 
ebenso gelangt am Sonntag die Anstaltswochenzeitung zur Ver¬ 
teilung, die in der Anstaltsdruckerei von Gefangenen verfaßt und 
gedruckt wird. Zu den moralischen Anregungsmitteln gehört unter 
anderm ein kleiner „Eisenbahn-Fahrplan“, welcher die Gefangenen 
in ihrer Zelle ganz besonders an die süße Freiheit erinnern soll. In 
allen solchen Übertreibungen kommt der Kultus und die Überschätzung 
der Erziehung, der man in Amerika so oft begegnet, zum Ausdruck. 
Auch prägt sich der amerikanische Optimismus und jener dem jugend¬ 
lichen Geiste anhaftende Mangel an Skepsis darin aus. Hin träger 
fügt hinzu, daß es eigentlich eine Lust sein müßte, in Amerika 
Gefangener zu sein. In Massachusetts sollen sich wohltätige Damen 
darüber beklagt haben, daß die Gefangenen in ihren Zellen keine 
Schaukelstühle haben! Trotzdem sind die Gefängnisse nicht gesucht, 
1. weil das Freiheits-Bewußtsein und der Geist der Selbstbetätigung 
zu den wirklichen amerikanischen Idealen gehört, 2. weil die un¬ 
bestimmte Verurteilung und der bedingte Strafaufschub in ihrer 
amerikanischen Ausführung eine Folter darstellen, die gerade auf 
Minderbegabte wie ein fortwährender Druck lasten. Es würde zu 
weit führen, dies im einzelnen auszuführen; ich verweise auf Hin- 
tragers „Skizzen“. 

Hervorzuheben ist folgendes: Die Zahl der in dem Jahre 1895 
auf Probe gestellten, die also anstatt in Haft zu kommen nur 
unter Polizeiaufsicht stehen, betrug 5427. Von diesen waren 4082 
wegen Trunkenheit angeklagt, 340 wegen Diebstahl, 212 wegen 
Körperverletzung, 110 wegen Vernachlässigung der Familie u. s. w. 

Der Alkoholismue. 1905. 9 


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122 Dr. B. Laquer. Das Verhältnis von Trunksucht zu Armut und Verbrechen etc. 

1459 waren über 30 Jahre alt, 33 unter 10 Jahre alt, 1611 An¬ 
geklagte wurden auf Probe gestellt. In ihrem Eifer, die Trunk¬ 
sucht zu bekämpfen, brachte die Gefängnis-Gesellschaft von Massa¬ 
chusetts bald nach Einführung des Straf-Aufschub-Systems einen 
Gesetzentwurf ein, wonach die Aufsichtsbeamten ganz besonders 
den Trunksüchtigen nachzustellen hätten. Infolgedessen steht das 
System fast ganz im Dienste der Bekämpfung der Trunksucht. 
Große Erfolge hat Hintrager nicht gesehen. Als Endresultat der 
Statistik gibt der Bericht an, daß Trunksucht oder Unmäßigkeit in 
60%. von 13402 Verurteilten eine Verbrechensursache darstellt. 
Diese Zahl ist ein ungefährer Ausdruck der Wahrheit Andere 
Statistiken sind nicht vergleichbar mit dieser amerikanischen Zahl, 
weil sie nicht auf genau denselben Grundlinien sich aufbauen. 
Der 26. Jahresbericht des obengenannten Arbeits-Amtes des Staates 
Mashachusetts (Hauptstadt: Boston) bringt dieselbe Durchschnittszahl 
heraus. Über die einzelnen Faktoren, die Nationalitäten, über die 
Art des Verbrechens berichten ebenfalls genaue Zahlen. Als 
plastische Schilderung aus dem Leben der amerikanischen Ver¬ 
brecher und Landstreicher möchten wir zum Schluß das Werk von 
J. Flint: „Tramping with the Tramps“ empfehlen, herausgegeben 
von A. White, früherer amerikanischer Botschafter in Berlin, das 
auch in deutscher Übersetzung unter dem Titel: „Auf der Fahrt 
mit Landstreichern“ von Lili Du Boiy-Reymond, Berlin- 1904 
erschien. 


Was erhoffen wir von unserer Armee? 

Von 

Dr. med. Erich Flade. 

Seit etwa zwei Jahrzehnten ist die Alkoholfrage von dem 
nationalen und sozialen Fragebogen der Kulturstaaten nicht wieder 
verschwunden. Ja sie wird mit jedem Jahre brennender, da die 
immer gebieterischer sich aufdrängende soziale Frage zum großen 
Teile mit dem Alkoholismus zusammenhängt und die erfolgreiche 
Bekämpfung des letzteren zugleich die erstere ihrer Lösung näher 
zu führen und damit die nationale Wohlfahrt zu fördern verspricht 
Auf jenem allgemeinen Gebiet wie in Erfüllung dieser Sonder- 


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Was erhoffen wir von unserer Armee? 


123 


aufgabe kommen wir deshalb nur so langsam vorwärts, weil die 
Überzeugung von der Notwendigkeit, ihr Wesen und ihre Ziele 
zu erkennen und selbst mitzuarbeiten in irgend einer Abteilung 
des gewaltigen Werkes, noch so wenig in unsere gebildeten Kreise 
gedrungen ist. Und wiederum sind die Gesellschaftsschichten und 
die Berufsklassen an erster Stelle verpflichtet, an der Minderung des 
Alkoholismus mitzuarbeiten, auf deren Schultern die hauptsäch¬ 
lichste Verantwortung für Gedeihen und Bestand unseres Staates 
ruht Zu ihnen zählen wir vorzugsweise den Soldatenstand 
in seinen verschiedenen Rangstufen mit dem Offiziersstand an der 
Spitze. 

Das deutsche Offizierkorps ist das gebildetste unter denen 
aller modernen Heere. Dementsprechend und rücksichtlich der 
Gesellschaftskreise, aus denen es hervorgeht, nimmt es eine 
der bevorzugtesten Stellungen ein. Solche Auszeichnung ver¬ 
pflichtet wiederum unsere Offiziere, durch allgemeine Bildungs¬ 
bestrebungen und durch Kenntnisnahme außerhalb ihrer engeren 
Berufsinteressen liegender Zustände und Verhältnisse sich auch 
über alle wichtigen, nicht direkt auf militärischem Gebiete liegen¬ 
den Zeit- und Kulturfragen auf dem Laufenden zu erhalten, um 
so mehr aber sie zu studieren, wenn solche Fragen aus 
dem gesamten Volksleben hinüber in das Militärleben 
greifen und die bei einem auf allgemeiner Wehrpflicht beruhenden 
Volksheere unausbleiblichen Wechselwirkungen und Gefahren zeitigen, 
deren rechtzeitige und tatkräftige Abwendung zu einer wichtigen 
Lebensbedingung der Armee bezw. Marine wird. 

Wenn unsere Volksseuchen — und zu ihnen muß man neben 
Tuberkulose und Syphilis den Alkoholismus an erster Stelle rechnen 
— im Soldatenstande nicht mit der gleichen Heftigkeit und nicht 
so ausgebreitet verlaufen, wie in der Civilbevölkerung, so liegt 
das an teilweise ausgezeichneten Lebensbedingungen, unter denen 
der aktive Soldat steht Luft, Licht, Ernährung, Regelmäßigkeit 
und Muskelarbeit im Dienste verhindern die Einwirkung von aller¬ 
hand Gelegenheiten, Krankheiten oder auch einer Volksseuche, wie 
dem Gewohnheitstrunk, zu verfallen. Nebenher verbietet die Dis¬ 
ziplin jedenfalls häufigere und schlimmere Ausschreitungen im 
Trünke und nebenher das Bewußtsein, daß Trunkenheit im Dienst 
scharfe Bestrafung erwirkt und die militärischen Vergehen, wofern 
sie im Rausche verübt wurden, der Zubilligung der bekannten „mil¬ 
dernden Umstände“ sich nicht erfreuen. Immerhin ist die Zahl 

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124 


Dr. med. Erich Flade. 


der unter Alkoholeinwirkung auch im aktiven Heere ver¬ 
übten Vergehen noch nicht so klein, daß es nicht jedes Soldaten¬ 
freundes lebhafter Wunsch sein müßte, sie auf das geringste Maß 
beschränkt zu sehen. Sind es doch zumeist an sich ganz brave 
Soldaten, welche in der Alkoholerregung sich zu den be¬ 
kannten Affektverbrechen hinreißen lassen, deren schwere Ahn¬ 
dung sie nur zu oft fürs ganze Leben schädigt. Die Fälle von 
achtungswidrigem Benehmen gegen den Vorgesetzten, Ungehorsam, 
tätlichem Widerstand, Aufwiegelung u. s. w. sind häufig genug 
direkte Folgen einer in der Kantine verbrachten „feuchten“ Stunde 
oder einer außerhalb der Kaserne gehabten Kneiperei. Auch der 
Mißbrauch der Dienstgewalt seitens Vorgesetzter dürfte um so seltener 
werden, je seltener jeder Genuß von geistigen Getränken in den 
Dienstpausen, beim Mittagsmahl u. s. w. geübt wird. Leicht erreg¬ 
bare Naturen reagieren ja bekanntlich auch auf geringe Alkohol¬ 
mengen nur allzu leicht. So liegt es im beiderseitigen Inter¬ 
esse, in dem der Vorgesetzten wie der Untergebenen, 
sich frei zu halten vom Alkoholgenuß zum mindesten bis 
nach beendetem Tagesdienst Daß aber auch der gelegentliche 
abendliche Trunk in recht bescheidenen Grenzen bleiben möchte, 
das erfordern die bekannten Feststellungen Kraepelins über die 
noch den kommenden Tag über fortwirkenden lähmenden Eigen¬ 
schaften schon nicht allzu großer Alkoholmengen. Nur ein alkohol¬ 
freies Hirn vermag sich fern zu halten von Übereilungen und Mi߬ 
griffen, vermag die am Morgen gestellte Übung tadellos zu erledigen, 
und der Körper wird nur zu leicht schlapp gegenüber herantreten¬ 
den Strapazen, wenn am Abend vorher getrunken oder gar früh 
schon wieder Alkohol genommen wurde. 

Es ist unnötig, des näheren darauf einzugehen, von welcher Be¬ 
deutung für unsere Truppenführer es ist, vollkommen klar über die 
Einwirkungen des Alkohols auf unsere geistigen Fähigkeiten und 
Tätigkeiten zu sein. Der verantwortungsvolle Posten des Befehlshabers 
bei den Friedensübungen wie insonderheit im Kriege erfordert eine 
so scharfe Anspannung des Verstandes, eine so andauernde und nicht 
ermüdende Verfügung über die erworbenen strategischen Kennt¬ 
nisse, ein so sicheres Dispositionsvermögen je nach der beständig 
und oft blitzschnell sich ändernden Gefechtslage, daß nur diese un¬ 
entbehrlichen Führereigenschaften besitzende Offiziere ihrer Auf¬ 
gabe gerecht werden können. Dies bedingt, da der tägliche 
Alkoholgenuß solche Geisteskraft nicht aufkommen läßt 


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Was erhoffen wir von unserer Armee? 


125 


und noch weniger sie zu erhalten vermag, strengste 
Mäßigkeit oder Enthaltung von geistigen Getränken. 
Je weniger weiterhin die unterstehenden Offiziere trinken, je 
nüchterner Unteroffiziere und Mannschaften sind, desto zuverlässiger 
arbeitet der ganze dem höheren Führer folgende Apparat Und 
das tadellose Ineinandergreifen der kleineren und kleinsten Glieder 
des ganzen Betriebes bleibt die Vorbedingung des Erfolges. Man 
denke nur an die unbedingte Notwendigkeit eines peinlich zuver¬ 
lässigen Aufklärungs- und Meldedienstes, der eine vollkommen klare 
Beobachtungsgabe und schnellste, genaue Berichterstattung erfordert, 
man denke an die furchtbare Anspannung und Aufregung einer 
modernen Schlacht: eiserne Ruhe, strengste Feuerdisziplin mit der 
entsprechenden Treffsicherheit, treueste Pflichterfüllung, sofortige 
Ausführung gegebener Befehle, Ausharren in kritischer Lage, das 
alles verlangt Führer und Mannschaften von unversehrtem Geistes¬ 
zustände. Und bekanntlich sind gerade diejenigen Fähigkeiten und 
Eigenschaften vorwiegend Angriffspunkte des gewohnheitsmäßigen 
Alkoholgenusses, die den Wert des Soldaten machen: Wahrheit 
und Zuverlässigkeit, Energie des Denkens und Handelns, klares 
Urteilsvermögen und entsprechend selbständiges Vorgehen, kurz 
alle die Kennzeichen, welche wir an einem Charakter rühmen. 
Daß dem andererseits eine der ersten soldatischen Tugenden, die 
Disziplin, das sich Unterordnen und Einordnen unter das große 
Ganze sich zugesellen muß und auch dieses Gemeingut eines 
sicheren Heeres nur bei einer durchaus nüchternen Lebensweise 
zu erhalten ist, bedarf nicht besonderer Erörterung. 

Es ist bekannt, daß die Statistiken über die militärischen Ver¬ 
gehen und Bestrafungen überall da, wo man abstinente Truppen¬ 
teile mit Alkohol genießenden Abteilungen verglichen hat, wesent¬ 
lich zu Gunsten der ersteren ausgefallen sind. So sagt eine Zu¬ 
sammenstellung aus den Berichten der englisch-indischen Armee, 
daß im Jahre 1893 unter den mit Todesstrafe belegten Verbrechern 
ein Enthaltsamer sich nicht fand, daß unter 2608 kriegsgerichtlich 
Abgeurteilten nur 73 Enthaltsame waren, über zehnmal weniger, 
als nach ihrer Zahl im Heer zu erwarten war. Fast alle bekannten 
englischen Heerführer der letzten Jahrzehnte haben, der vollen 
Tragweite ihrer Anordnungen bewußt, geistige Getränke aus ihrem 
Kommandobereich zu verdrängen verstanden und damit die besten 
Erfolge erzielt. 

Die eiserne Antialkoholdisziplin Lord Kitcheners im 


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126 


Dr. med. Erich Flade. 


Sudanfeldzug, von welcher die Kriegsberichterstatter zu erzählen 
wußten, fand ihre nachträgliche Bestätigung durch Rittmeister 
von Tiedemann in einem vor der Berliner militärischen Gesell¬ 
schaft am 28. Oktober 1903 gehaltenen und im Beiheft 1/2 zum 
Militärwochenblatt 1904 zum Abdruck gebrachten Vortrag: 

(S. 32.) „Sehr wohltätig erwies sich auch das strenge Verbot, 
Spirituosen irgend einer Art an Soldaten zu verkaufen, welches 
mit großer Rigorosität durchgeführt wurde. So ließ der Sirdar (Lord 
Kitchener), als im Mai 1898 ein Grieche jüdischer Konfession wider 
besseres Wissen eine Kamelladung Whisky ins Atbaralager ge¬ 
schmuggelt hatte, die Fässer einfach zerschlagen und den köstlichen 
Inhalt in den Wüstensand laufen. 

Die Verpflegung der britischen Truppen war im übrigen gerade¬ 
zu hervorragend. Drei tüchtige Mahlzeiten am Tage, dazu Tee 
oder filtriertes und abgekochtes Wasser in beliebigen Mengen.“ 

In der Kriminalstatistik für das deutsche Heer und die 
Kaiserliche Marine (Vierteljahrshefte zur Statistik des Deutschen 
Reiches) wird seit einigen Jahren auf den Trunk besonders Bezug 
genommen. Natürlich treten hier nur die schwereren Fälle von 
Rausch oder „Starkangetrunkensein“ in Erscheinung, welche „straf¬ 
bare Handlungen gegen militärische Unterordnung“ zur Folge 
hatten. Es zählt die Zusammenstellung für 1902 deren 387 auf 
das Gouvernement Berlin, das Gardekorps und 22 Armeekorps. 
Am stärksten belastet sind das I., VT. und XVn. Korps mit 42, 33 
und 31 Fällen; 1903 wurden 339 strafbare Handlungen gezählt 
gegen militärische Unterordnung in trunkenem Zustande verübt, 
die meisten kommen hier auf das V. Korps (35), das VH. (33) und 
das XV. (23). Von Trunkenheit im Dienst finden wir im Jahre 1902 
nur 21, im Jahre 1903 nur 16 Fälle. In der Kaiserlichen Marine 
wurden 1902 im ganzen 60, 1903 aber nur 43 Bestrafungen für 
Vergehen unter Alkoholeinfluß verhängt. Wenn man nun auch 
öhne weiteres mit Genugtuung feststellen darf, daß dieses Ergebnis 
an sich als ein durchaus günstiges und unseren Soldatenstand 
ehrendes bezeichnet werden kann, so wird doch jeder Vaterlands¬ 
freund dringend wünschen, daß die Zahl der infolge übermäßigen 
Alkoholgenusses verübter Vergehen eine noch viel geringere werde, 
denn die ihnen folgenden Bestrafungen und die damit verbundene 
weitere Belastung des betreffenden Mannes sind nur zu schwer 
und verhängnisvoll, da sie oft genug auch für die künftige Zivil¬ 
stellung hinderlich werden. So gehen häufig nicht die schlechtesten 


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Was erhoffen wir von unserer Armee? 


127 


Elemente, ja in der Mehrzahl an sich sehr brauchbare Soldaten, 
dem Heere und dem Vaterlande verloren — lediglich infolge von 
Alkoholmißbrauch. Ob und inwieweit die oben erwähnten, genau 
so wie im Civil, vorwiegend unter der erregenden und andererseits 
das ruhige Urteil, Besonnenheit und Pflichtgefühl lähmenden 
Wirkung des Alkoholgenusses zu stände kommenden Vergehen mit 
der Größe des Alkoholkonsums, namentlich des Branntweingenusses, 
in den einzelnen Korps Zusammenhängen, wie sich weiterhin das 
Verhältnis der Anzahl und Schwere der nicht unter Alkoholeinfluß 
begangenen zu den alkoholischen Vergehen gestaltet, das festzustellen, 
würde eine wertvolle Aufgabe und namentlich für die aburteilenden 
und strafenden militärischen Behörden bedeutungsvoll und lehrreich 
sein. Es steht mir eine Mitteilung aus dem Landheere darüber 
nicht zur Verfügung. Nach Bericht aus der Marine lag seit dem 
Jahre 1904 Trunksucht zu Grunde 


bei ordnungswidrigem Betragen in 24,2 °/ 0 der Fälle, 


„ Aufwiegelung 

„ 33,3 °/ 0 „ „ 

„ Ungehorsam 

„ 35,3 °/ 0 „ „ 

„ tätlichem Angriff 

„ 75,4 °/ 0 „ „ 

„ Militär-Aufruhr 

„ 88,2 °/ 0 „ „ 


Aber auch diese und etwaige in gleicher Weise bewirkte 
Aufstellungen werden insoweit ungenügend sein, als mit großer 
Wahrscheinlichkeit alle die leichteren Fälle fehlen, in denen wirk¬ 
liche Trunksucht nicht vorlag, wohl aber der sogenannte „an¬ 
geheiterte Zustand“, unter dessen Einfluß gewiß eine ganz erheb¬ 
liche Reihe von Vergehen geringeren Maßes sich ereignen; oder 
auch es werden Verurteilungen zu stände kommen, welche ohne 
ausreichende Berücksichtigung eines infolge Alkoholgenusses her¬ 
vorgerufenen Erregungs- oder Lähmungsstadiums viel zu hart oder 
überhaupt unberechtigt erscheinen, weil man lediglich die stärkere 
Alkoholisierung, den Rauschzustand, ausschloß. Nun bedarf es 
eines solchen aber bei vielen, namentlich mit einem 
sensiblen Nervensystem behafteten Individuen keines¬ 
wegs, um Worte oder Handlungen auszulösen, deren sie 
nicht fähig gewesen wären in alkoholfreiem Zustande. 
Es sind ja hierzu oft nur Alkoholdosen nötig, die im allgemeinen 
und vom Nicht-Sachverständigen als überhaupt nicht in Frage 
kommend in Betracht gezogen werden. Um so notwendiger er¬ 
scheint im Interesse des einzelnen Mannes selbst wie der Disziplin 
die äußerste Zurückhaltung des Militärs gegenüber dem Genuß 


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Dr. med. Erich Flade. 


geistiger Getränke, der das einzelne Glied des Ganzen so außer¬ 
ordentlich schnell und viel leichter noch als im Civilleben in ver¬ 
hängnisvolle Zusammenstöße mit der jederzeit unerläßlichen Ord¬ 
nung und Zucht bringen kann. 

Einer besonderen Begründung und eingehenden Erörterung 
der Tatsache, daß je geringer der Alkoholgenuß in einer Truppe, 
desto besser auch ihr Gesundheitszustand ist, bedarf es nicht 
Die mit den Erfahrungen der Praxis voll übereinstimmenden Er¬ 
hebungen und Veröffentlichungen der hervorragendsten Vertreter 
der Heilkunde und Gesundheitslehre sind darüber einig, daß der 
Organismus um so gesunder, um so widerstandsfähiger bleibt, je 
alkoholfreier er gehalten wird, und darüber, daß auch verhältnis¬ 
mäßig kleine Alkoholgaben, wenn sie täglich einverleibt werden, 
von schädlichem Einfluß auf unsere lebenswichtigen Organe werden. 
Dem entsprechend stehen über enthaltsame Offiziere und Mann¬ 
schaften verfügende Truppenteile auch hinsichtlich ihres Gesund¬ 
heitszustandes am günstigsten da, natürlich hiermit zugleich auch 
in ihrer Leistungsfähigkeit Aus dieser Erkenntnis heraus haben 
schon vor vielen Jahrzehnten englische Führer ihren unterstellten 
Truppen keinen Alkohol zuführen lassen, hat der französische 
General Gallieni seine ebenfalls in den Tropenkolonien fechtenden 
Truppen nach Möglichkeit vom Genuß geistiger Getränke fern- 
gehalten. Und wenn Graf Haeseler selbst mit dem eigenen Bei¬ 
spiel enthaltsamer Lebensweise Offizieren und Gemeinen voranging, 
so geschah das in beiderseitigem Interesse, in dem der Disziplin 
wie Gesundheit, und somit zur Förderung der Felddienstfähigkeit 
und Schlagfertigkeit der auf dem verantwortungsvollsten Posten 
stehenden Kontingente unseres Heeres. 

Es ist lehrreich und bedeutungsvoll, daß die Lazarettberichte 
über die indischen Heeresteile ausnahmslos zu Gunsten der ent¬ 
haltsam lebenden Mannschaften lauten. Von dem keinen Alkohol¬ 
genuß pflegenden Drittel sind im Jahrgang 1885/86 der Aufnahme 
in die Lazarette bedürftig gewesen nur 1,81 °/ 0 , von den Nicht¬ 
enthaltsamen aber 8,8 %. Bei diesen wird die Sterblichkeit mit 
9,5 °/ 0 , bei jenen mit nur 2,7 °/ 0 angegeben. Im Jahre 1894 sollen 
die Abstinenten 5,5 °/ 0 , die Nichtabstinenten 10 °/ 0 , im Jahre 1895 
diese 12, jene 6,6 °/ 0 ihres Bestandes an die Lazarette abgegeben 
haben. 

Nur angedeutet möge sein, daß abstinente Offiziere und Soldaten 
die besten Kräfte stellen würden auch für den Dienst in den 


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Was erhoffen wir von unserer Armee? 


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deutschen Kolonien, der Jahr um Jahr erhöhte Anforderungen 
stellen wird. Über die außerordentliche Gefahr, die gerade in den 
Tropen jeder Alkoholgenuß bedeutet, und die Tatsache, daß abstinent 
zu leben gewohnte Leute auch dort besonders widerstandsfähig 
sich erweisen, sind sich alle Tropenkenner einig, ebenso darüber, 
daß am ehesten die Europäer dort zu Grunde gehen, die ohne 
Alkohol nicht leben konnten und auch dort nicht leben zu 
können glauben. 

Insofern hat nun die Armee erzieherisch keine leichte Aufgabe 
zu erfüllen, als eine nicht geringe Zahl der Mannschaften 
schon mehr oder weniger alkoholisiert eingestellt werden. 
Es sind das zum Teil dieselben Leute, welche nicht nur während 
ihrer Dienstzeit so leicht direktionslos werden und zu Exzessen 
neigen, sondern auch nach ihrer Dienstzeit, wenn sie in die alten 
Trinkunsitten zurückfallen, behaupten, sie hätten sich das Trinken 
beim Militär angewöhnt, während sie doch als ganz ansehnliche 
Gewohnheitstrinker bereits alsbald nach ihrem Eintritt bekannt 
wurden. Ein Teil dieser an regelmäßigen Trunk gewöhnten 
Rekruten muß aber — der Qualität der Truppe gewiß zum Vorteil 
— als unbrauchbar wieder entlassen werden. 

Im Sanitätsbericht über die kgl. preußische, kgl. sächsische 
und kgl. württembergische Armee für den Zeitraum vom 1. Ok¬ 
tober 1898—30. September 1899 lesen wir, daß die Entlassungen 
wegen Dienstunbrauchbarkeit, bedingt namentlich durch 
Herzmuskelerkrankungen, welche erst im Dienste hervortreten und 
meist früherem übermäßigem Biergenuß ihre Entstehung verdanken, 
von 3964 im Vorjahre auf 6601 (d. i. von 7,7 auf 12,9 °/ 00 ) 
gestiegen sind. 

Wie der Sanitätsbericht der deutschen Marine für 1899/1901 
(Berlin 1903) und 1901/1902 (Berlin 1904) S. 27 ergibt, betrug 
die Zahl der Entlassungen infolge von Herzleiden auf 1000 Mann 
der Kopfstärke: 

1891/93 1893/95 1895 1897/99 1899/1901 1901/02 

wegen Dienst¬ 
unbrauchbarkeit 2,9 4,3 7,1 11,6 8,7 11,7 

als Ganzinvalide 1,8 2,8 5,0 5,72 5,7 7,92 

Die Zahl der Entlassungen im Verhältnis zur Kopfstärke hat 
sich also in 10 Jahren mehr als vervierfacht. Es gilt in Fach¬ 
kreisen als sicher, daß daran vorzugsweise die ungeheure Steigerung 
des Bierkonsums in den letzten 20 Jahren schuld hat 


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Dr. med. Erich Flade. 


Natürlich kommen neben den Herzleiden noch eine ganze 
Reihe anderer durch Mißbrauch geistiger Getränke hervorgerufene 
oder verschlimmerte Krankheitszustände als Entlassungsgrund oder 
auch als Ursache späterer wiederholter Erkrankungen (Rheumatismus, 
Neuritis, Magendarmleiden u. s. w.) in Betracht Eins bleibt gewiß: 
je weniger dem Soldaten Gelegenheit zum Genüsse alkoholischer 
Getränke geboten, je billiger ihm andererseits alkoholfreie Getränke 
zur Verfügung gestellt werden, desto gesünder werden die Truppen, 
desto leerer die Revierstuben und Lazarette sein. 

Bemerkenswert ist eine Zusammenstellung Baers über die 
Beziehungen zwischen der Zahl der Trinkgelegenheiten und der 
als dienstuntauglich beurteilten Rekruten. Nach ihr belief sich 
die Zahl der Untauglichen im 

Reg.-Bez. Königsberg auf 40,5 % bei einer Schankstätte auf 284 Ew. 


55 

Bromberg 

55 

63,3 o/ 0 „ 

55 

55 

55 

221 

55 

55 

Berlin 

55 

64,8 X „ 

55 

55 

55 

200 

55 

55 

Magdeburg 

55 

76 % „ 

V 

55 

55 

178 

55 

55 

Münster 

55 

94,9 °/ 0 „ 

55 

55 

55 

146 

55 

55 

Arnsberg 

55 

10,3 o/o „ 

55 

55 

55 

154 

55 

55 

Koblenz 

55 

12,5 0/ 0 „ 

55 

55 

55 

137 

55 


Es wäre außerordentlich interessant, wenn festgestellt werden 
könnte, ob durchgehend überall da, wo der Alkoholkonsum und 
namentlich der Schnapsgenuß der Bevölkerung ein besonders 
hoher ist, auch der Heeresersatz ein minderwertiger, insbesondere 
ein schlechterer ist, als in Gegenden, wo das Publikum weniger 
hoch in der Tranksteuer steht. Haben die Ersatzbehörden rück¬ 
sichtlich ungünstiger Wohnungs-, Emährungs- und Arbeitsbe¬ 
dingungen in gewissen Landesteilen und Industriezentren an und 
für sich schon mit weniger tüchtigen Leuten zu rechnen, so muß 
die Tatsache der Entartung der Bevölkerung durch 
Alkoholmißbrauch und der bekannten verhängnisvollen 
"Wirkung des Trunkes auf die Nachkommenschaft zu 
ernstesten Besorgnissen für die Zukunft unserer Wehr¬ 
fähigkeit Anlaß geben. Der viel besprochene — übrigens wohl 
schon wieder im Rückgang befindliche — Geburtenüberschuß in 
Deutschland vermag uns keineswegs auf die Dauer stark zu er¬ 
halten, wenn die am Leben bleibenden Kinder geistig und körper¬ 
lich nicht vollkommen und späterhin eben nicht diensttauglich 
befunden werden. Damit aber haben wir zu rechnen, solange die 
Väter gewohnheitsmäßig trinken, auch die Mütter sich nicht 


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Was erhoffen wir von unserer Armee? 


131 


alkoholfrei halten, und man noch Kindern geistige Getränke zu 
verabreichen pflegt, trotz aller Warnungen vor dem gerade für 
den kindlichen Organismus nur allzu gefährlichen Alkoholgift 
Hierbei möge der bedeutungsvolle Zusammenhang zwischen Alkohol¬ 
genuß und Stillungsvermögen der Mütter nicht unerwähnt bleiben, 
dessen Erörterung wir den fleißigen Zusammenstellungen von 
Bunges verdanken, v. Bunge hat wohl schon jetzt unwiderlegbar 
nachgewiesen, daß die Tochter eines Trinkers nicht oder nur selten 
stillen kann, daß aber die Fähigkeit, die Kinder zu nähren, damit 
fast ausnahmslos für die kommenden Generationen erloschen ist. 
Daß aber das Nachlassen des Stillungsvermögens im Verein mit 
der — zum großen Teil damit zusammenhängenden — Säuglings¬ 
sterblichkeit eine schwere Gefahr für unsere Volkskraft und 
Volksgesundheit und so eine beständig zunehmende Minderung 
unserer Wehrkraft bedeuten, ist weiterhin eine Tatsache, die das 
Interesse unserer Militärbehörden noch in weit höherem Maße als 
bisher verdient rücksichtlich der oben erwähnten von Bunge sehen 
Veröffentlichungen. Auch hier soll man keineswegs nur an die 
lediglich von der öffentlichen Meinung als „Trinker“ bezeichneten 
Alkoholiker denken. Wie jeder gewohnheitsmäßig geistige Getränke 
zu sich nehmende Mann seinen Organismus und damit unaus¬ 
bleiblich auch den seiner Nachkommen schädigt, so verschulden 
jene künftige Stillungsunfähigkeit ihrer Töchter auch Tausende 
unserer Mitbürger, die einer täglichen Aufnahme von Alkohol in 
größeren Mengen huldigen, ohne etwa als „Trinker“ im landläufigen 
Sinne bezeichnet werden zu können. 

Daß wie im ganzen Volke, so auch im Heere und in der 
Marine eine gewaltige Aufklärungsarbeit über Wesen und Ge¬ 
fahren des Mißbrauchs geistiger Getränke einsetzen muß, wenn nicht 
die Armee Schaden an Gesundheit, Kraft, Moral und Disziplin er¬ 
leiden soll, ist einleuchtend. Wir bedürfen dazu einfach und ver¬ 
ständlich geschriebener, möglichst dem Soldatenleben angepaßter 
Schriftchen. Die mir bekannten auf den Gegenstand Bezug nehmen¬ 
den Arbeiten erscheinen mir nicht recht geeignet und nicht für den 
Zweck hinreichend. („Die Trinksitten im Heere.“ Eine Ansprache an 
die Offiziersfrauen von einem Kavallerieoffizier a. D. — 0. V. Böhmert, 
Dresden 1900. „Gibt es auch für die deutsche Armee eine Alkohol¬ 
frage?“ Mäßigkeitsverlag, Berlin N.W. Fasanenstraße 59; und „Die Er¬ 
höhung der Kriegstüchtigkeit eines Heeres durch Enthaltung vom Al¬ 
kohol“ vom Oberstabsarzt Matthaei. O. V. Böhmert, Dresden 1901.) 


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Dr. med. Erich Flade. 


Um unter den Mannschaften erst einmal nur die Grundgedanken 
über den Alkoholismus zu verbreiten, dürfte vielleicht die kleine 
Schrift von H. Schindler „Was sollst du vom Bier und Brannt¬ 
wein wissen?“ (Geschäftsstelle des Sächsichen Landesverbandes 
gegen den Mißbrauch geistiger Getränke. Dresden, 1903) empfehlens¬ 
wert sein. Ein passendes Soldatenscbriftchen wird sich mit der 
Zeit dann schon finden, zumal wenn das Offizierskorps der Sache 
tatkräftig sich annehmen wird. Und daß dies kommen muß, erscheint 
mir bei dem Bildungsgrad des deutschen Offiziers und dem aus¬ 
gezeichneten Bestände an schriftstellerischen Kräften, über die es 
verfügt, gewiß. Den Offizierkorps möchten zunächst die her¬ 
vorragendsten Veröffentlichungen der letzten Jahre, die im allge¬ 
meinen und für Gebildete passend das Gesamtgebiet des Alkoholis¬ 
mus umfassen, zum ernsten Studium empfohlen werden. Es mögen 
nur die Arbeiten von Delbrück „Hygiene des Alkoholismus“, 
von Hoppe, „Die Tatsachen über den Alkohol“ und „Die Alkohol¬ 
frage“ von Helenius hier erwähnt sein. Diese bedeutenden Werke 
gehören in alle Offiziersbüchereien. Kleinere volkstümlich und 
gemeinverständlich geschriebene Schriften, die sich frei halten von 
Übertreibungen und Überschwenglichkeiten wie auch frei vom 
pharisäischen und moralisierenden Tone, müssen den Büchereien 
der Unteroffizierkorps und Mannschaften einverleibt werden. 
Den Mäßigkeits- und Enthaltsamkeitsvereinen aber sollte die Ver¬ 
breitung ihrer Schriften und Flugblätter im Bereiche der den ein¬ 
zelnen Verbänden nahe stehenden Truppenteile nach Möglichkeit 
erlaubt werden. Hiermit sind kleinere Anfänge bereits gemacht 
worden. So haben eine Reihe von Offizierkorps seitens des „Sächsi¬ 
schen Landesverbandes gegen den Mißbrauch geistiger Getränke“ 
die oben erwähnte Matthaeische Schrift entgegen genommen, 
während die Versendung des Flugblattes „Die Alkoholfrage als 
Standesfrage der Offiziere“ an die Offizierkorps des XH. (1. KgL 
Sächs.) Korps erlaubt wurde. Verschiedenen Büchereien von Linien¬ 
schiffen und Seemannshäusern hat der Kieler Bezirksverein 
gegen den Mißbrauch geistiger Getränke Mäßigkeitsliteratur geschenkt 
Besser noch, als das gedruckte, wirkt oft das gesprochene Wort 
So wäre lebhaft zu wünschen, daß recht oft und im ganzen Bereiche 
des Heeres und der Marine die seit längerer Zeit eingeführten Vor¬ 
träge vor den Mannschaften und vor den Offizierkorps weit mehr 
als bisher, also nicht mehr mit verschwindenden Ausnahmen mit 
der Alkoholfrage sich befaßten. Von vornherein erscheinen die 


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Was erhoffen wir von Unserer Armee? 


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Militärärzte die gegebenen Redner für das Alkoholthema. Dürften 
diese aber vom gesundheitlichen Standpunkte aus im wesentlichen 
ihre Ausführungen geben, so möchten die Beziehungen zwischen 
Dienstbetrieb und Alkoholgenuß mit noch besserem Erfolge von 
wohl unterrichteten und redegewandten Offizieren geschildert und 
die daraus für den Soldaten sich von selbst ergebenden Folgerungen 
gezogen werden. In von den älteren für jüngere Offiziere gehal¬ 
tenen Kursen, in den Instruktionsstunden der Mannschaften 
muß der Alkoholfrage als einer der vornehmsten militärhygienischen 
Fragen die gebührende Besprechung wieder und wieder zu teil werden. 
Die Militärbildungsanstalten (Kadettenhäuser, Kriegsschulen etc.) 
sollten von ihren ausgezeichneten Lehrkräften fordern, daß im Unter¬ 
richt der Bedeutung der Mäßigkeit oder Enthaltsamkeit für den 
Soldaten und Offizier eine andauernde Berücksichtigung geschenkt 
würde. Mehr noch aber als Schriften und Worte wirkt bekanntlich 
das eigene Beispiel. Ja, jene werden nichts fruchten, wo und 
wenn die Vorgesetzten den Untergebenen nicht mit einem vorbild¬ 
lichen, nüchternen Leben vorangehen. Ist der Regimentskommandeur 
als mäßiger oder enthaltsam lebender Offizier bekannt, geht der 
Kompagniechef seinen Leuten auch hinsichtlich des Trunkes mit 
strenger Selbstzucht voran, so ist der auch hieraus sich ergebende 
Geist in den Truppenteilen ein dementsprechender. Solches Bei¬ 
spiel der Offiziere scheint mir von unendlichem Werte zu sein. 
Er ist mitbestimmend für die Tüchtigkeit und Schlagfertigkeit der 
untergeordneten Mannschaften. Er hebt aber ohne weiteres das 
gesamte Offizierkorps ganz gewaltig in seinem inneren Werte, in 
seinem Zusammenhalt, in seiner körperlichen und geistigen Tüchtig¬ 
keit und selbstverständlich gegenüber den die Vorgänge in ihm 
recht scharf beobachtenden Untergebenen. Dem möglichst alkohol¬ 
freien Leben in den Kasinos muß eine streng mäßige Lebensweise 
im eigenen Hause der verheirateten Offiziere entsprechen. „Ein¬ 
fachheit und Anspruchslosigkeit im täglichen Leben“ werden, wie 
es in einer Ansprache Sr. Majestät des Kaisers hieß, gerade auch 
hinsichtlich des Verbrauchs und der Ausgaben für geistige Getränke 
ein Prüfetein für den alten soliden Geist im deutschen Offizierskorps 
bleiben. Und solche Einfachheit sollte auch fest bestehen gegen¬ 
über unberechtigten Anforderungen, die an unsere Offiziere gestellt 
werden, wenn sie Gäste bei sich sehen. Hier heißt es auch bei 
denen, die an sich „mitmachen“ könnten, nieht mitmachen „wollen!“ 
Natürlich ist mir wohlbekannt, daß auch im deutschen Offizier- 


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Dr. med. Erich Flade. 


korps die Mäßigkeitsbewegung im Wachsen, ja die Zahl der Ab¬ 
stinenten in Zunahme begriffen ist Generalarzt Dr. Leitenstorfer 
schreibt im Militär-Wochenblatt (1903, Nr. 99): 

„Es gibt unter den jüngeren Offizieren viele, welche aus Prin¬ 
zip alkoholabstinent sind, noch mehr solche, welche Mäßigkeit 
üben, und es ist als großer Fortschritt zu betrachten, daß sie nicht 
nur nicht Gegenstand des Mitleids oder der Verachtung bei den 
Kameraden sind, wie es früher der Fall war, sondern daß man sie 
gewähren läßt, und daß auch ältere Vorgesetzte, die diese Prinzipien 
nicht ihr eigen nennen, solche junge Offiziere zu schätzen wissen. 
In dieser Beziehung ist die Erziehung in der Familie von großem 
Einfluß auf das junge Offiziersgeschlecht; umgekehrt brauchen die 
Eltern, die ihren Sohn in den Grundsätzen der Abstinenz erzogen 
haben, nicht vor seinem Abgang zum Regiment als Konzession an 
die Trinksitten der Offiziere ihn noch schnell an Alkohol gewöhnen. 
Er wird als Abstinenter seine Bahn gehen und Schule machen.“ 

Wenn es aber dem gesamten deutschen Offizierkorps 
Vorbehalten sein sollte, Trinkzwang und Trinkunsitten 
allen voran aus den führenden und damit vorwiegend 
verantwortlichen Gesellschaftskreisen zu verbannen und 
durch eigenes Beispiel hinsichtlich des gewohnheits¬ 
mäßigen Genusses geistiger Getränke einen vollen Um¬ 
schwung herbeizuführen, so würde das zu den glänzend¬ 
sten Ruhmesblättern seiner Geschichte zählen und von 
unermeßlichem Werte für das Vaterland sein. 

Haben sich unsere Offiziere und namentlich die höheren Kom¬ 
mandostellen in der geforderten Weise über die außerordent¬ 
liche Bedeutung der Alkoholfrage auch für unsere Armee hin¬ 
reichend vergewissert, so wird nicht nur im häuslichen Leben der 
einzelnen, sondern auch gelegentlich der Vereinigungen im Kasino 
und gerade unter den auf das gemeinsame Mahl daselbst ange¬ 
wiesenen jüngeren Herren der Alkoholgenuß immer mehr zur Aus¬ 
nahme, ja von so manchem ganz gemieden werden. Zwecks prak¬ 
tischer Unterstützung einer Mäßigkeitsbewegung in den Offizierkorps 
sollte man u. a. aus den Kasinos jedes gebrannte Getränk, möge 
es auch noch so feine Etikette tragen, ausschließen. Die leichten 
— wenig Alkohol enthaltenden — Getränke sollten den schweren 
Weinen und Bieren nach Möglichkeit vorgezogen und letztere mit 
besonders hohen Preisen belegt werden. Das gleiche gilt für die 
Militärkantinen. Aus ihnen sollte der Schnaps unter allen Um- 


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Was erhoffen wir von unserer Armee? 


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ständen heraus und den leichten, besonders auch den alkoholfreien 
Getränken die beste Pflege gewidmet werden. Die Einwendung, 
daß die Mannschaften bei ihren Ausgängen sich dann um so 
schadloser halten werden in den Kasernen benachbarten Kneipen 
erscheint selbst für den Fall, daß dies sich bewahrheiten sollte, 
nicht stichhaltig: der Branntwein ist ein für Gesundheit und Dis¬ 
ziplin so gefährlicher Faktor, daß die Gelegenheit, ihn zu kaufen, 
nicht innerhalb des militärischen Machtbereichs gegeben werden 
darf, ganz abgesehen davon, daß die Erlaubnis, ihn feil zu halten, 
die Aufklärungsarbeit über seine Schädlichkeit fast vergeblich macht 
Graf Haeseler hatte im XVI. und von Lindequist im XVllL Korps 
das Verbot des Schnapsverkaufs in den Kantinen durchgeführt. 
Warum wird es nicht in allen Korps angeordnet? Wesentlich ge¬ 
fördert wurde der Erfolg dieser Maßnahmen durch die Androhung 
des Militärverbots für die Wirtschaften derjenigen Wirte, die sich 
nicht verpflichteten, an Militärpersonen Branntwein nicht mehr zu 
verabreichen. Seitdem im französischen Heere die Abgabe von 
Branntwein aus sämtlichen Militärkantinen verbannt ist, dürfen wir 
in Deutschland auch hierin unseren Nachbarn jenseits der Vogesen 
nicht mehr nachstehen. 

Aus dem Gesagten möge nicht geschlossen werden, daß etwa 
in der deutschen Armee ein hoher Branntweinkonsum bestehe. Wenn 
das XII. (1. Kgl. Sächs.) Armeekorps mitteilt, daß etwa pro Kopf 
2 1 /, Liter im Jahre kommen, so ist das im Verhältnis zum Gesamt¬ 
durchschnitt des Volkes (12—13 Lit) ein erfreuliches Ergebnis. Das 
hindert aber nicht, zu wünschen, daß auch diese Ziffer noch auf 
den Nullpunkt herabsinke lediglich im Armeeinteresse. Auch gibt 
diese Angabe keinen Anhaltspunkt für den Branntweingenuß außer¬ 
halb der Kaserne und den in dieser nicht zur statistischen Kennt¬ 
nis gelangenden — weil außerhalb gekauften — Einzelverbrauch. 

Einen besonderen Vorteil wird es haben, wenn die nötigen — 
wirklich Durst löschenden — Ersatzgetränke dem Soldaten um¬ 
sonst oder möglichst billig verabreicht und jederzeit in tadelloser 
Beschaffenheit zur Verfügung gestellt werden. Generalarzt Dr. 
Leitenstorfer berichtet hierzu folgendes mustergültige Verfahren 
mit seinem glänzenden Ergebnis: 

„Die Kantinenverwaltung des königl. bayrischen 14. Infanterie¬ 
regiments in Nürnberg hat unter der Initiative und Leitung von 
Hauptmann Schulz I die Herstellung von künstlichem, kohlensaurem 
Wasser (ohne und mit Fruchtsaft) selbst in die Hand genommen 


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Dr. med. Erich Flade. 


und unter Einhaltung gesetzlicher Vorschriften über die Schutz¬ 
vorkehrungen für das Arbeitspersonal und über die sanitäre Seite 
der Anlage einen sehr appetitlichen und rentablen Fabrikbetrieb ein¬ 
gerichtet Die Einrichtungskosten waren keine geringen; denn es 
wurde an dem Grundsatz festgehalten, ein nach jeder Richtung ein¬ 
wandfreies Fabrikat zu liefern und alle Gefahren, welche der Ver¬ 
wendung von komprimierter Kohlensäure anhaften, von vornherein 
und dauernd auszuscheiden. Beides wurde in vollkommenstem 
Maße erreicht, in erster Linie durch die Güte des auf gestellten 
Apparats (System Heck in München), durch die Anstellung eines 
Fachmanns (Civilarbeitere), durch umfassende sinnreiche Schutzvor¬ 
richtungen, darunter einige von Hauptmann Schulz I selbst ange¬ 
gebene, sowie durch Verwendung des besten Flaschenmaterials. 
Die Fruchtsäfte werden in großen Ballonflaschen von einer be¬ 
währten Firma bezogen und stehen unter hygienisch-chemischer 
Kontrolle. 

Der Apparat liefert in 2 Stunden ungefähr 600 Flaschen. Es 
wurden seit Beginn des Betriebs, d. h. vom 10. Mai 1902 bis 
10. Mai 1903, in den Kantinen des Regiments 68000 Flaschen 
Limonade (künstliches, kohlensaures Wasser- mit Zusatz von Him¬ 
beere Zitronen-, Orangen- und Erdbeersaft) an die Mannschaften 
verkauft, während vorher im gleichen Zeitraum nur 34300 Flaschen 
käuflich bezogener Limonade verbraucht wurden. 

Es ist also der Verbrauch bei gleichem Preis (5 und 10 Pfe nni g) 
lediglich durch die Güte, Reinheit und Frische des Getränks um 
das doppelte in die Höhe gegangen. Welche Dimensionen der Ver¬ 
brauch aber jetzt annehmen wird, nachdem seit Mai d. Js. der Preis 
auf 3 und 5 Pfennig herabgesetzt werden konnte, da die vollen 
Anschaffungskosten der ganzen Anlage bereits abgetragen sind, möge 
daraus entnommen werden, daß im Juni d. J. bereits 8400 Flaschen 
mehr als im Juni v. J. verkauft worden sind. Der Bierverbrauch 
in den Kantinen des Regiments ist nun um die Hälfte zurückge¬ 
gangen, um 45 bis 55 Hektoliter im Monat (Schnaps wird in den 
Kantinen überhaupt nicht geführt). 

Eine bayrische Kasernenwache, auf der der Soldat Limonade 
trinkt und die Kugelflasche den Maßkrug verdrängt hat, ist ein Bild, 
das sich noch vor 5 Jahren der kühnste Optimist nicht hätte 
träumen lassen. 

Warum trinkt nun der Mann lieber Limonade statt Bier? 
Keinerlei Druck wurde ausgeübt Der Soldat sieht sich jeden 


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Was erhoffen wir von unserer Armee? 


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Pfennig an, er kauft nur dort, wo es billig ist. Wenn er seinen 
Durst mit guter Limonade für 5 Pfennig löschen kann, gibt er 
nicht 10 Pfennig für Bier aus. Das ist das ganze Geheimnis und 
zugleich die große Lehre für alle Kantinenverwaltungen, welche das 
Bestreben haben, den Soldaten alkoholfreie Getränke mundgerecht 
zu machen. Dieses Yorgehen des königl. bayrischen 14. Infanterie¬ 
regiments und seine Erfolge in der Alkoholbekämpfung verdienen 
in der Armee bekannt zu werden und Nachahmung zu finden. Nie¬ 
mand sollte dafür eifrigeres Interesse haben, als der Kompagnie¬ 
chef, der mit Befriedigung erkennt, wie sich die Leute bei Limo¬ 
nade frisch erhalten, während sie durch den Biergenuß nach dem 
Einrücken stets faul und schläfrig wurden und für den Nachmittags¬ 
dienst, selbst schon für sorgfältige Gewehrreinigung, noch viel mehr 
für den Unterricht, Aufmerksamkeit und Frische verloren.“ 

Daß während des Dienstes, auf Feldmärschen, im Manöver u. s. w. 
schon längst der Genuß von Spirituosen verboten ist, beweist, daß 
man von dem mit Alkoholgenuß verbundenen Nachteil, wie wir ihn 
oben andeuteten, überzeugt war. Aber solche Teilverfügungen ge¬ 
nügen eben nicht, weil sie nur einem Teile der Trinkgelegenheiten 
begegnen und im eigenen freieren Verkehr in der Kaserne wiederum 
Branntwein feil geboten werden darf. Es muß dem Soldaten in 
Fleisch und Blut übergehen, daß der konzentrierte Brannt¬ 
wein unter allen Umständen zu verabscheuen ist Von dem 
Genüsse schweren Bieres oder Weines sieht er schon aus finanziellen 
Gründen im allgemeinen ab. Aus der so zwangsweise herbeige¬ 
führten Entwöhnung und der sich festigenden Gewißheit von der 
Berechtigung solchen Verbots erwächst allmählich ganz von selbst 
die Überzeugung, daß es auch ohne Alkohol geht. Und — ein 
nicht hoch genug anzuschlagender Faktor — die Leute treten mit 
solcher Überzeugung hinaus in die Reserve und Landwehr. 

Daß beiden Reservisten und Landwehrleuten der Trunk 
weit mehr im Schwünge ist als im aktiven Heere, braucht nicht erst 
bewiesen zu werden. Das ergibt sich leider aus ihrem beständigen 
Leben inmitten des gewohnheitsmäßig trinkenden Publikums. Um 
so wertvoller würde es sein, wenn die zur Reserve entlassenen 
Mannschaften auf Grund der bei der Truppe gewonnenen Erkennt¬ 
nis und Erfahrungen gerade auch durch strenges Maßhalten im 
Trünke vor den „Bierphilistern“ sich auszeichneten und somit dazu 
beitrügen, dem Alkoholismus im Volke zu steuern. Aber un¬ 
sere gedienten Leute haben noch eine besondere Pflicht, die sie 

Der Alkoholismus. 1905. 


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Dr. med. Erich Flade. 


ohnehin vom Gewohnheitstrunke abhalten sollte: es ist die 
Pflicht, sich andauernd gesund und felddienstfähig zu 
halten, geeignet, zunächst bei den Übungen, dann aber vor allem 
im Ernstfälle voll und ganz auf dem Posten und nicht mit geistigen 
oder körperlichen Defekten infolge täglichen Trunkes behaftet zu 
sein, die ihre Unfähigkeit, Strapazen zu tiberwinden oder sonstige 
Aufgaben zu überfüllen alsbald offenbaren. Leute mit Fettherz, 
mit Katarrhen des Atmungs- oder Verdauungsapparates und anderen 
Affektionen lebenswichtiger Organe, wie sie gewohnheitsmäßiger 
Alkoholgenuß fördert oder direkt herbeiführt, fallen in wenigen 
Tagen ab, sie füllen die Lazarette, werden ein Ballast für die Truppe, 
da sie deren Bestand mindern oder dem Kommandeur keinen Ver¬ 
laß auf volle Bereitschaft der gesamten Mannschaft bieten. Daß 
diese Leute auch im übrigen der Eigenschaften bar zu sein pflegen, 
die eine Truppe wirklich beständig mobil und jederzeit schlagfertig 
machen, bedarf nach dem, was anfangs ausgeführt wurde, keiner 
erneuten Begründung. Von den verheirateten Reservisten und 
Landwehrleuten, die doch den gesündesten Teil der Bevölkerung 
darstellen, darf weiterhin das Vaterland auch einen gesunden, wehr¬ 
fähigen Nachwuchs erwarten. Derselbe wird aber nur dann eine 
wirklich kräftige und brauchbare Jugend darstellen, wenn die Väter 
sich möglichst frei halten von Unmaß und Übermaß. Denn be¬ 
kanntlich sind die Kinder um so gesünder und widerstandsfähiger, 
je alkoholfreier die Erzeuger leben. (Vergl. auch v. Bunges Ver¬ 
öffentlichungen.) 

Daß die „schwankenden Gestalten“, die sich an den Tagen der 
Entlassung zur Reserve oft unter wenig soldatischem Benehmen 
und undeutbaren Lauten uns zu nahen pflegen, wie die noch 
weniger erfreulichen Ausschreitungen der berauschten Neuausge- 
hobenen mit einem im gesamten Heere wachsenden Verständnis 
für die Bedeutung des Alkoholismus seltener werden müssen, sei 
nur nebenbei erwähnt 

Zu den vorzüglichsten praktischen Einrichtungen, die dem 
Mißbrauch geistiger Getränke zu wehren besonders geeignet erscheinen 
und ausgezeichnet sich bewährt haben, gehören die den Seemanns - 
heimen für die Marine entsprechenden Soldatenheime, deren wir 
mehr als 30 schon besitzen. Von einem derselben, dem zu Mün- 
singen, berichtet beispielsweise die Zeitungskorrespondenz des Deut¬ 
schen Vereins gegen den Mißbrauch geistiger Getränke (Nr. 7, 
1901) folgendes: 


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Was erhoffen wir von unserer Armee? 


139 


Das Soldatenheim befindet sich in nächster Nähe des Truppenübungsplatzes 
des XIII. Armeekorps auf der rauhen Alb bei Münsingen und soll mit seinen 
mannigfachen Bäumen und schattigen Waldplätzen daneben über die Zeit der 
Truppenübungen (5—7 Monate im Jahre) den Soldaten Gelegenheit bieten zu 
leiblicher Erquickung und geselliger Erholung in der dienstfreien Zeit. Es war 
zum erstenmal in Betrieb vom 18. April bis 8. September vorigen Jahres. Er¬ 
richtet wurde es mit einem Aufwand von 70000 M. von dem namentlich in 
Württemberg verbreiteten Süddeutschen Jünglingsbund, welcher sich die Aufgabe 
gestellt hat, zur sittlichen und religiösen Pflege der erwachsenen männlichen 
Jugend innerhalb seines Gebietes kräftig beizutragen. Eine reichliche Auswahl 
von einfachen Speisen und Getränken — alkoholhaltige ausgenommen — stand 
in vorzüglicher Qualität und zu billigsten Preisen zur Verfügung, außerdem 
gut ausgestattete Lese- und Schreibzimmer für Mannschaften und Chargierte 
ohne Trinkzwang. 

Bereits im Eröffnungsjahre fanden sich in dem schönen Heim durch¬ 
schnittlich 300 Besucher täglich ein, am Sonntag oft über 1000. Heuer hat sich 
der Besuch noch um ein beträchtliches gesteigert. Die Bäumlichkeiten haben 
sich oft als unzureichend erwiesen, was namentlich von dem Zimmer für Char¬ 
gierte (30 Sitzplätze) und von dem Lesezimmer (35 Sitzplätze) gilt. Die Einjahrig- 
Freiwilligen verkehren mit Vorliebe im Haus. Hohe Offiziere nahmen wiederholt 
von seiner Einrichtung Kenntnis, und am 9. Juli 1900 wurde ihm auch die Ehre 
des Besuchs Sr. Majestät des Königs von Württemberg zu teil. Die militärischen 
Behörden lassen es dem jungen Unternehmen gegenüber an Interesse, Auf¬ 
munterung und Fürsorge nicht fehlen. Sein konfessioneller Charakter tritt nur 
in der Form kurzer Abendandachten für freiwillige Besucher hervor. Mögen 
auch manche für die im Heim entbehrten Genüsse sich in einer der zahlreichen 
um dasselbe herum gelegenen Wirtschaften entschädigen, so wird dies doch von 
vielen anderen verschmäht. Der Wirtshausbesuch hat sich bei den Mannschaften 
seit Errichtung des Heims gegen früher entschieden vermindert. 

Auffällig ist, wie ruhig und geordnet es im „Soldatenleim u (so taufte es 
der Soldatenwitz) zugeht, selbst wenn alles vollgepfropft ist. Und daß man 
seinen Dienst leichter und frischer versieht, wenn man am Abend vorher alkohol¬ 
frei gelebt hat, das wird wohl schon so manchem Besuoher klar geworden sein. 

In den Miltärwerkstätten wie auch auf den Arbeitsplätzen 
und Werften der Kaiserlichen Marine ist wohl seit längerer Zeit 
schon der Branntweinschank abgeschafft. Aber es ist hoch erfreulich, 
daß man auch dem gewohnheitsmäßigen Biergenuß Einhalt zu tun 
verstanden hat. So wurden beispielsweise für die Militärwerkstätten 
in Spandau mit Beginn des Jahres 1904 die bereits früher hin¬ 
sichtlich des Verbotes des Vertriebes von Branntwein in den 
Fabrikkantinen erlassenen Bestimmungen auch hinsichtlich der Ein¬ 
schränkung des Bierverbrauches erweitert Den Kantinenpächtem 
wurde auf gegeben, ihre Verkaufsstellen am Tage nur zweimal, vor¬ 
mittags und nachmittags, höchstens je eine halbe Stunde offen zu 
halten; es sind dies die Zeiten des Frühstücks und des Vespers. 

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140 


Dr. med. Erich Flade. 


Der Erfolg dieser Maßregel ist geradezu erstaunlich, denn während 
früher in einer Fabrik, die etwa 1500 Arbeiter beschäftigte, als 
sich die Arbeiter zu beliebiger Stunde mit Bier versehen durften, 
12—15 Tonnen Bier täglich ausgeschänkt wurden, beschränkt sich 
nunmehr der Ausschank in den freigegebenen Verkaufszeiten auf 
kaum 2 Tonnen. 

Dem Beispiel S. M. Linienschiffes „Wettin“, das jedwedes 
geistige Getränk aus seiner Kantine verbannt hat, dürften gewiß 
bald andere Teile der Kaiserlichen Marine folgen. 

Ob und inwieweit es gelingen wird, von dem Mäßigkeitsstand¬ 
punkt auf den der vollkommenen Enthaltsamkeit auch im 
Militär überzugehen, lasse ich dahingestellt Je mehr auch im 
Heere die Gewißheit von der Berechtigung des Enthaltsamkeits¬ 
gedankens und von dem großen Werte der Abstinenz im alltäg¬ 
lichen Leben Platz greifen wird, um so sicherere Kemtruppen der 
Alkoholgegner werden unserem Wehrstand erstehen und mit ihnen 
ein Faktor von hoher gesundheitlicher und moralischer Bedeutung. 
Und nirgends gedeiht die Mäßigkeitsbewegung besser, als da, wo 
sie von überzeugten Abstinenten gestützt und zu wahrhafter Be¬ 
tätigung ihres Standpunktes immer neu angeregt wird. Wie man 
allmählich im Volke verlernt, über die Abstinenzarbeit und ihre 
Erfolge mitleidig die Achsel zu zucken, so wird auch in der Armee 
alsbald derjenige, der den Alkohol verschmäht, nicht mehr be¬ 
lächelt, sondern geachtet und als Charakter besonders geschätzt 
werden. 

Die Army Temperance Association in England, mit dem Herzog 
von Cambridge an der Spitze, zählt über 10000 Mitglieder. Der 
Beitritt ist völlig freiwillig. In den Kasernen stehen besondere 
Bäume und Lesezimmer mit Gelegenheit zum Genüsse alkoholfreier 
Getränke zur Verfügung. Unter Lord Roberts Oberbefehl wuchs 
die Mitgliederzahl der Enthaltsamkeitsvereinigung in der englisch¬ 
indischen Armee auf mehr als 25000 an. Die Disziplin soll dem¬ 
entsprechend sich gebessert haben. Das bestätigt besonders Roberts 
Nachfolger im Oberkommando, General White. 

Die vorstehenden Zeilen können natürlich nicht alle Wünsche 
enthalten, die ein treues Soldatenherz für unsere Armee hegt im 
Hinblick auf die Alkoholnot unser.es Volkes, deren Wirkungen 
naturgemäß, wenn auch in abgeschwächter Form und in teilweise 
anderen Erscheinungen, auch auf das Volk in Waffen sich geltend 
machen müssen und zu Übelständen führen, die in der Hauptsache 


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Was erhoffen wir von unserer Armee? 


141 


künftighin zu beseitigen wohl möglich ist Wenn die Bedeutung der 
Alkoholfrage im ganzen Heere voll erkannt und dieser Erkenntnis 
die notwendigen Maßnahmen gefolgt sein werden, so dürfen wir 
eine ganz erhebliche Förderung der Gesundheit und Widerstands¬ 
kraft unserer Wehrmacht zu Wasser und zu Lande und eine 
weitere Vervollkommnung ihrer Schlagfertigkeit und Feld¬ 
dienstfähigkeit in allen Teilen erhoffen. Daß diese Hoffnung in 
nicht zu ferner Zeit sich erfülle, das ist doppelt zu wünschen in 
einer Zeit, wo, wie der russisch-japanische Krieg auf das deutlichste 
kund gibt, die Siege vorwiegend errungen werden durch höchsten 
persönlichen Mut, eine eiserne Disziplin, ein entschlossenes und 
schnelles Handeln unter sofortiger Ausnutzung der gegebenen 
Lage, durch eine stählerne Willenskraft und ein rastloses Verfolgen 
gewonnener Vorteile. Der nüchternen Armee winkt die 
Palme des Sieges, denn sie allein wird über diese Kräfte 
verfügen. 


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II. Referate. 

Rfeler. Über die nationale Bedeutung unserer Enthaltsamkoitsbowogung. Reichen¬ 
berg (Selbstverlag) 1905. 20 Heller. 

Aus vollem Herzen heraus uud zugleich in deutlicher Erkenntnis der großen 
Schwierigkeit seiner Aufgabe vertritt der Verfasser, Stadtarzt in Reichenberg in 
Böhmen, die Forderung, daß jeder einzelne in der Alkoholfrage als Vorbild zu 
wirken berufen ist. Wir sind weniger verantwortlich für unsere eigenen Sünden, 
aber mehr verantwortlich für die Sünden anderer, als unsere Juristen zu glauben 
scheinen. 

Die frische Schreibweise macht das Lesen der Schrift zu einem Genuß. P. S. 

Straßmann, Fr. Alkoholismus und Entscheidung. Ärztl. Sachverständ.-Zeitung. 
1905. Nr. 4. 

Straßmann steht wie F. Leppmann und wohl jeder erfahrene Gerichtsarzt 
auf dem Standpunkt, daß der Alkoholismus als solcher unter die Ehescheidungs¬ 
gründe einzureihen ist Auch ihm sind wiederholt Fälle vorgekommen, in denen 
zunächst die Ehescheidung wegen Mißhandlung verlangt, aber abgelehnt wurde, 
weil der alkoholistische Beklagte als nicht zurechnungsfähig erachtet wurde. Der 
darauf gemachte Versuch, die Ehescheidung w r egen Geisteskrankheit herbeizuführen, 
scheiterte, weil die sehr schweren Bedingungen, welche das Bürgerliche Gesetz¬ 
buch für die Ehescheidung wegen Geisteskrankheit festgesetzt hat, nicht erfüllt 
waren. Und der Antrag schließlich, die Ehe zu scheiden, weil die Tatsache der 
Trunksucht an sich, d. h. die Tatsache, daß der Beklagte sich zum Alkoholisten 
gemacht, also den vom Gesetze verlangten „ehrlosen und unsittlichen Lebens¬ 
wandel“ geführt hatte, vorlag, war nicht immer von Erfolg begleitet. Denn da¬ 
gegen wurde wohl von seiten des Vertreters des Beklagten geltend gemacht, daß 
der Alkoholismus auf Grund erblicher Anlage oder krankhafter Neigung ent¬ 
standen sei. 

Straßmann führt einen einschlägigen interessanten Fall an, in dem das 
Berufungsgericht auf Grund des von Straß mann erstatteten Gutachtens zur Auf¬ 
hebung der Ehe kam, weil der § 1333 des Bürgerlichen Gesetzbuches gegeben 
war. Der betreffende Paragraph besagt, daß eine Ehe angefochten werden kann, 
wenn der Ehegatte bei der Eheschließung sich über solche persönlichen Eigen¬ 
schaften des anderen Ehegatten im Irrtum befunden hat, welche ihn bei Kenntnis 
der Saohlage und bei verständiger Würdigung des Wesens der Ehe von der Ein¬ 
gehung der Ehe abgehalten haben würden. Der Beklagte hatte sich bereits vor 
Eingehung der Ehe wegen gewisser, teilweise durch Alkoholismus bedingter Ent¬ 
artungserscheinungen in einer Anstalt befunden. P. S. 


Kätner. Zur Diagnostik des pathologischen Rausches (Störungen der Reflexe.) 
Deutsche med. Wochenschrift. 1904. Nr. 29. (Referat in Ärztl. Sachverstand. 
Zeitung. 1905. Nr. 5.) 

Bei der Schwierigkeit der Unterscheidung zwischen „normalem 41 und „patho¬ 
logischem 44 Rausch ist es wünschenswert, leicht feststellbare körperliche Zeichen 


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Referate. 


143 


als eindeutige Merkmale zu suchen. Kutner hat bei fünf Patienten der Breslauer 
städtischen Irrenanstalt, die zweifellos einen pathologischen Rausch hatten, neben 
Trägheit der Pupillenreaktion eine hochgradige Schwäche bezw. vollständiges Fehlen 
der Sehnenreflexe gefunden. Am nächsten Tage schwanden diese Symptome, die 
nach dem Verfasser bei dem normalen Rausch nicht beobachtet sind. Am ein¬ 
fachsten sind diese Erscheinungen nach dem Verfasser durch die Störung der 
Funktion der im Rückenmark gelegenen, sogenannten inneren Reflexbogen zu 
erklären. Doch litten die betreffenden fünf Patienten gleichzeitig an Epilepsie, 
so daß die ausschlaggebende Bedeutung des betreffenden Symptomes noch nicht 
zweifellos ist. Eine Nachprüfung erscheint vielmehr dringend erforderlich. P. S. 


Rochat. Der Alkoholismus in Italien. Annales antialcooliques. Oktober 1904. 

In seinem klassischen Werke „Der Alkoholismus“ stellte Baer 1878 Italien 
den anderen Nationen als Beispiel der Nüchternheit hin. Jetzt hat der Alkoho¬ 
lismus auch Italien sich erobert. Bereits 1892 gründete Rochat die erste „lega 
italiana di temperanza“. 1899 rief er als Organ dieser Liga mit Unterstützung 
hervorragender Mediziner und Psychologen die Monatsschrift „Bene Sociale“ ins 
Leben. Am 16. und 17. Juli 1904 fand der erste italienische Kongreß, gegen 
den Alkoholismus in Venedig statt. 

Höchst interessant sind die Daten, die Rochat über den Weinverbrauch 
in Italien gibt. Sie zerstören allerdings den Nimbus der Italiener als eines 
nüchternen Volkes. Die Zahlen zeigen außerdem, daß die Höhe der Konsumtion 
ungefähr proportional ist der Größe der Weinernte. „Den Preis des Weins steigern, 
hieße gegen den Alkoholismus ankämpfen.“ 



Produktion 

in 

Hektolitern 

Einfuhr | Ausfuhr 

in Hektolitern 

Gesamt¬ 

verbrauch 

Hektoliter 

pro Kopf 

Verbrauch in Litern 

1890 

29 457 000 

10 802 

1 162 283 

| 28 305 519 

95 


1891 

36 992 000 

9 124 

2 214 221 

34 786 903 

115 


1892 

33 972 000 

20 503 

2 492 465 

31 496 038 

103 


1893 

32 164 000 

56 934 

1 945 154 

30 275 780 

98 

Mittel: 

1894 

25 817 000 

101 490 

1 732 985 

24 185 505 

78 


1895 

24 246 000 

123 046 

3 534 218 

20 834 824 

65 

90 Liter. 

1896 

28 600 000 

210 939 

2 258 075 

26 552 864 

85 


1897 

28 350 000 

72 217 

2 606 202 

25 816 015 

81 


1898 

32 940 000 

137 351 

2 429 215 

30 645 135 

96 


1899 

32 500 000 

142 420 

2 436 378 

30 212 042 

94 1 

Mittel: 

1900 

32 200 000 

127 504 

1 875 784 

31 451 720 

98 


1901 

42 600 000 

186 011 

1 334 897 

41 451 114 

127 ] 

104 Liter 


Im Jahre 1901 erreichte Italien mit 42600000 Hektolitern das Maximum 


der Produktion und stieg gleichzeitig im Verbrauch an die Spitze der weintrinkenden 
Nationen der Welt. Für das Jahr 1902 kommen ungefähr auf den Kopf der 
Einwohner: 

in Genua 170 Liter Wein 

in Rom 220 „ „ 

in Florenz 152 „ „ 

in Mailand 98 „ „ 

in Neapel 97 „ „ 

in Palermo 71 „ „ 


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144 


Referate. 


Durchschnittlich kommt in Italien eine Verkaufsstelle von Wein und Likören 
auf 185 Einwohner. In der Provinz Brescia kommt stellenweise bereits eine Ver¬ 
kaufsstelle auf 50 Einwohner, in Udine eine Verkaufsstelle auf 63 Einwohner. 
Der Alkoholismus in Italien hört also auf, ein Phantom zu sein, er ist zur traurigen 
und schrecklichen Wirklichkeit geworden. 

Der erste italienische Kongreß gegen den Alkoholismus hat den Beschluß 
gefaßt, eine Kommission zu wählen zum Zwecke der Aufnahme einer genauen 
Statistik über die Verbreitung des Alkoholismus in Italien. P. S. 


Laquer. Trunksucht und Temperenz in den Vereinigten Staaten. Grenzfragen des 
Nerven- und Seelenlebens. 34. Heft. Wiesbaden 1905. 

Der Verfasser hat aus der an der Berliner medizinischen Fakultät bestehenden 
Gräfin Louise Bose-Stiftung die Mittel erhalten, die Alkoholfrage in der Schweiz 
und in Nordamerika zu studieren. Die Ergebnisse der Schweizer Reise sind in 
dem 2. Heft des Jahrganges 1904 dieser Zeitschrift niedergelegt. 

Der vorliegende Bericht über die Verhältnisse in Nordamerika gibt nach 
einer Reiseschilderung und nach einer Übersicht über die geschichtliche Entwicklung 
der amerikanischen Temperenz das Wesentliche über den Alkoholunterricht in den 
Schulen Nordamerikas, sowie über die verschiedenen Arten der Bekämpfung der 
Trunksucht auf gesetzgeberischem Wege und über deren Erfolg. Die radikalen 
Prohibitionsgesetze herrschen zur Zeit nur noch in den vier sehr dünn bevölkerten 
Agrarstaaten, die zusammen nur den 25. Teil der amerikanischen Bevölkerung 
ausmachen, nämlich in Maine, New-Hampshire, Kansas, Nord-Dacota. Dazu 
kommt, daß diese Gesetze weite Maschen haben und daher insbesondere in den 
Städten oft umgangen werden. In diesen vier Staaten dürfen Spirituosen zu 
ärztlichen und technischen Zwecken verkauft werden und zwar durch Vermittlung 
eines Staatskommissars, der außer 6000 Mk. Gehalt 10°/o Vergütung seines im 
staatlichen Aufträge für die zu ärztlichen und technischen Zwecken bestimmten 
Alcoholica angelegten Kapitals erhält. Der betreffende Kommissar hatte auf Lager 
von diesen ihm 10% abwerfenden Alcoholicis in dem einen Staate Maine: 

1887: 20 000 Dollars 
1893: 131000 „ 

1898: 39 000 „ 

Die gewaltigen Differenzen finden nach Laquer ihre Erklärung in der Qualität 
des betreffenden Regierungskommissars. Auch in den vier Prohibitionsstaaten gibt 
es Winkelschenken und selbst offenkundige „bars u . Apotheker und Drogisten 
verkaufen auch trotz eidlicher Erklärung Whisky auch für nichtärztliche und 
für nichttechnische Zwecke. Fest steht, daß der Bier- und Branntweinverbrauch 
in Nordamerika seit 1900 gestiegen ist. Für 1903 berechnet sich der Gesamt¬ 
verbrauch der Vereinigten Staaten in absolutem Alkohol auf 6,5, derjenige Deutsch¬ 
lands auf 10,0 Liter pro Kopf. Also das Verhältnis Amerika: Deutschland = 2:3. 
„Der Früh- oder Dämmerschoppen ist in Amerika nicht einmal dem Namen nach 
bekannt. 11 Laquer hat in einem vor der Neuyorker medizinischen Gesellschaft 
gehaltenen Vortrage sich über die an sich auffällige Tatsache, daß die Amerikaner, 
trotzdem sie dieselben Fleischmengen verzehren wie ihre englischen Vettern, 
relativ viel seltener an Gicht erkranken. Er sieht den Grund in dem geringeren 
Alkoholkonsum, vor allem aber darin, daß die Amerikaner ihre hohen Rationen 
Fleisch durch Obst- und Fruchtgenuß auszugleichen gewohnt sind. 


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Referate. 


145 


Sociologisch von großer Bedeutung sind die Tabellen, die Laquer dem 
Bulletin of Labour entnimmt, um die Tatsache zu beweisen, daß der amerikanische 
Arbeiter durchschnittlich nur 2,3% seines Einkommens für alkoholische Getränke 
ausgibt. Nur die Hälfte der statistisch bearbeiteten 2567 Arbeiterfamilien führt 
überhaupt Ausgaben für alkoholische Getränke an. Bekannt ist, daß der ameri¬ 
kanische Arbeiter sich besser nährt wie der deutsche. Die deutschen Arbeiter 
können ebenso wie die deutschen Sozialpolitiker von den amerikanischen Ein¬ 
richtungen manches lernen. 

Aus seinen in Amerika gewonnenen Erfahrungen zieht Laquer die folgenden 
Nutzanwendungen für die deutschen Verhältnisse: 

1. Von den Amerikanern, gerade den Abstinenten, sollen wir die Einigkeit 
lernen. Theoretische Betrachtungen über Nährwert und Giftigkeit des Alkohols 
gehören in das wissenschaftliche Laboratorium. Abstinente und Mäßige sollen 
sich im praktischen werktätigen Kampf gegen den Alkohol gemeinsam betätigen. 

2. Gesetzgeberisch ist die von der preußischen Regierung beim Bundesrat 
eingebrachte Gewerbeordnungsnovelle zur Bekämpfung des übermäßigen Alkohol¬ 
genusses freudig zu begrüßen. Schon jetzt müssen die Ministerien, die Stadt- 
und Landgemeinden, die Polizei, die Bezirksausschüsse darauf hinarbeiten, daß 
die Bedürfnisfrage schärfer angepackt wird. Konzessionen an gemeinnützige 
Gesellschaften würden dem Trinkzwange entgegenarbeiten. 

3. Notwendig ist ferner die indirekte Bekämpfung des Alkohols, die Ver¬ 
änderung der Trinksitten, die Aufhebung des Trinkzwanges, die Aufklärung und 
Hebung aller dem Trünke ergebenen Klassen (nicht bloß der Lohnarbeiter, die 
es als verletzend und nicht den tatsächlichen Verhältnissen entsprechend empfinden, 
wenn man sie als Hauptträger des Alkoholismus bezeichnet). Es müßte, wie in 
Amerika, ein Kennzeichen des Gentleman werden, dem Rausche sein Leben lang 
fern zu bleiben. 

4. Unterricht über die Gefahren und Wirkungen des Alkohols ist in allen 
Schulen gelegentlich des naturwissenschaftlichen Unterrichts zu erteilen. 

5. Die Alkohol-Landeskommission beziehentlich die Volkswohlfahrtskommission 
sind, wie auch der Erfolg des 50er Ausschusses in den Vereinigten Staaten, 
ebenso wie das Schweizer Abstinenzsekretariat beweisen, notwendig; sie sind in 
Anlehnung an das Kultusministerium oder an das Staatsministerium baldigst zu 
errichten. 

Die Wohlfahrtskommission soll mit der Alkoholfrage anfangen. P. S. 


van Ahlen. Beitrag zur Kenntnis der Polyneuritis alcoholica. Dissertation. Kiel 1904. 

Die Fälle von Alkoholneuritis haben das Gemeinsame, daß die Lähmungs¬ 
erscheinungen von der Peripherie nach dem Zentrum an Intensität verlieren, 
daß ferner fast stets ganze Muskelgruppen erkranken, und daß schließlich die 
Streckmuskeln meist in höherem Grade befallen werden als die Beuger. Eine 
gleichzeitige Unterschenkel- und Vorderarmlähmung wird als charakteristisch für 
die Alkoholneuritis angesehen. Den Lähmungserscheinungen gehen einleitende 
Symptome in der Gestalt von Taubheit der Finger und Zehen, Kribbeln und 
Brennen, abwechselnd mit Kältegefühl und Blässe, reißenden und ziehenden 
Schmerzen (Wadenkrämpfen) vorher. Bei langer Dauer stellt sich Abmagerung 
der betreffenden Glieder und krampfhafte Beugestellung ein. Die elektrische 
Erregbarkeit der befallenen Muskeln zeigt alle möglichen Veränderungen. Häufig 


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146 


Referate. 


treten im Verlaufe der Neuritis auch charakteristische psychische Störungen 
alkoholischer Natur auf. Namentlich stellt sich oft die sogenannte Korsakowsche 
Psychose ein: Erinnerungsfälschungen in Bezug auf die Zeit und dementsprechend 
verworrenes Irrereden. 

Dieses Krankheitsbild illustriert die Dissertation durch den Fall eines 
31jährigen Gastwirtes. P. S. 

Orel. Alkoholismus und soziale Frage. Innsbruck 1905. Preis 20 Heller. 

Die Schrift verdankt ihre Entstehung dem Regensburger Katholikentag. 
Sie soll für die Abstinenz Propaganda machen und tritt den Mäßigkeitsbestrebungen 
verhältnismäßig schroff gegenüber. Vom medizinischen Standpunkt aus sind die 
Ausführungen über die Wirkung des Alkohols auf die Organe und Gewebe des 
Körpers nicht immer einwandsfrei. Jedoch wird die Schrift bei ihrem knappen, 
anregenden Stil ihre Wirkung nicht verfehlen. P. S. 

Brandeis. Beiträge zur Erziehungshygiene. Prag bei G. Neugebauer, 1905. 

80 Heller. 

Die Schrift bringt in erweiterter Form die beiden von dem Verfasser auf 
dem internationalen Kongreß für Schulhygiene in Nürnberg gehaltenen Vorträge: 

1. Ursachen und Bekämpfung der nervösen Erscheinungen unserer Schul¬ 
jugend. 

2. Organische Nährelemente und Widerstandskraft. 

In beiden Vorträgen vertritt Brandeis den Standpunkt, daß die heutige 
Schule die Tätigkeit des Hygienikers und hygienisch geschulten Arztes nicht mehr 
entbehren kann, wenn sie ihren modernen Anforderungen voll entsprechen soll. 
Was die Alkoholfrage anlangt, so fordert Brand eis, daß 1. der Alkoholgenuß 
bis zum 14. Lebensjahre zu untersagen, 2. die Ausschankbestimmungen zu ver¬ 
schärfen, 3. in den verschiedenen Betrieben der Genuß und die Ausgabe alkoho¬ 
lischer Getränke einzustellen ist. P. S. 

Die Beteiligung des englischen Adels an den Alkoholgewerben wird durch die 
folgenden Zahlen illustriert. (Ann. antialcool. Februar 1905.) 

An dem Handel mit alkoholischen Getränken sind interessiert: 167 Pairs 
Mitglieder der Kammer der Lords), 129 Mitglieder des Unterhauses, 880 Adlige, 
welche keiner der beiden Kammern angehörten. Das von Adeligen in Brauerei- 


und Brennereibetrieben angelegte Kapital betrug: 

Mitglieder beider Kammern. 70 097 675 Francs. 

Den Parlamenten nicht angehörige Adelige ... 67 290 975 „ 

Adlige Damen. 25 311 100 „ 

Testamentsverwalter etc. 74 904 100 „ 

237 603 850 Francs. 


Die ganze in den Alkoholgewerben überhaupt angelegte Summe schätzen 
die englischen Journale auf 6 bis 7 Milliarden Francs. An der Londoner Börse 
werden die Aktien und Obligationen von 119 Brauereien und Brennereien ge¬ 
handelt. Der Kampf gegen diese Kapitalmacht ist begreiflicherweise recht 
schwierig. P. S. 







147 


III. Mitteilungen. 

Wieder zwei neue Abstinenzblätter. Nachdem erst vor kurzem „Der ent¬ 
haltsame Märker“ auf dem Plane erschienen ist, versandte „Der Rechabit“ Anfang 
Februar seine erste Nummer, in der er gleich mit dem „Kampfruf“ und der Frage 
nach seiner Existenzberechtigung beginnt, um sich in langer Polemik, welche das 
ganze erste Blatt einnimmt, mit einem abstinenten Angreifer abzufinden, und 
zu dem Schluß zu gelangen, daß es mit der Abstinenz allein nicht getan sei. 
Vielmehr wünscht er die gesamte Wohlfahrtsfrage mit in sein Programm auf¬ 
zunehmen — hierzu scheinen 4 Seiten allmonatlich nicht ganz zu reichen — 
„auf zehn Schritte muß man unsere Anhänger erkennen, das Innere und Äußere 

des Menschen muß blitzblank sein_ u , das sind die Ideale, welche den Recha- 

biten vorschweben, und die sie in Leitsätzen (zweite Nummer) ausdrücken, welche 
den Grundsätzen der Ethik durchaus entsprechen, wie man sie von jedem an¬ 
ständigen Menschen fordert. 

„Der Retter“ erschien am 15. Februar zum ersten Male ebenfalls in Ham¬ 
burg, er soll in allen Logenhäusern und Abstinenzlokalen ausliegen, indem er 
sich die Aufgabe stellt, „den auf der ganzen Linie entbrannten Kampf gegen die 
ungeheuren Schädigungen des Alkohols in wirksamster Weise zu unterstützen“. 
Diese „Internationale Wochenschrift zur Bekämpfung des Alkoholismus“ kostet 
zwar das Doppelte wie der „Rechabit“, nämlich 2 Mark jährlich, er muß sich 
aber sehr vervollkommnen, wenn er seiner volltönenden Bezeichnung als inter¬ 
nationale Wochenschrift pp. gerecht werden will. 


Die Lintorfer Heil- und Pflegeanstalten veröffentlichen ihren Bericht über die 
Jahre 1903/04, woraus hervorgeht, daß auch hier wie überall nicht diejenige 
Frequenz erreicht worden ist, die man hätte nach allen Anstrengungen erwarten 
sollen. So war z. B. am 1. Januar 1903 ein Bestand in Siloah von 15, in Be- 
thesda von 25 und im Asyl von 21 Patienten; der Zugang bezifferte sich auf 24, 88, 28; 
der Abgang auf 31,43, 26 innerhalb des Jahres 1903. Im Jahre 1904 war es ähnlich, 
nämlich Zugang: 24, 33, 36; der Abgang 25, 43, 86, so daß am 1. Januar 1905 
ein Bestand von 7, 10, 23, zusammen 40 Patienten vorhanden war. Die durch¬ 
schnittliche Zahl der Kranken in Siloah war 1903 10 (1904 9), in Bethesda 
20 (19), im Asyl 22 (22). Die Aufenthaltsdauer betrug 1903 in Siloah 128 
(1904 187), in Bethesda 174 (211), im Asyl 149 (213) Tage, so daß also das Jahr 1904 
einen nicht unwesentlichen Vorsprung nach dieser Richtung gegenüber dem Vor¬ 
jahre hat. Leider kann nicht festgestellt werden, ob sich dieser Vorteil auch 
durch günstigere Heilresultate bemerkbar gemacht hat, da der ärztliche Bericht sich 
nur über das Jahr 1904 ausläßt. Darnach waren in diesem Jahre als geheilt 
11, 24, 17, zusammen 52; gebessert 5, 3, 7, zusammen 15; ungeheilt 9, 15, 12, 
zusammen 36 entlassen, woraus sich ein Gesamtresultat von ca. 50°/ 0 Heilungen 
ergibt (52 unter 103). An chronischem Alkoholismus litten nach dem Bericht 70, 
an Dipsomanie 11, an Delirium 6, an Epilepsie 3, an Verblödung 8, außerdem 2 
mit Epilepsie verbunden, an Geisteskrankheit 3. Erblich belastet waren 42% 
aller Fälle, diese Belastung bezieht sich natürlich nicht nur auf Trunksucht, 


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148 


Mitteilungen. 


sondern auch auf Geistes- und Nervenkrankheiten. Bei den Angaben betreffend 
die Heilerfolge wird vorsichtigerweise das Wörtchen „hoffentlich 44 hinzugefügt. 
Das ist durchaus angebracht und wird manchen Anstalten, die durch die Erfolge 
brillieren und Reklame machen wollen, zur Nachahmung angelegentlichst emp¬ 
fohlen. Bei dem heutigen Stande der Trinkerfürsorge muß man unbedingt zu¬ 
frieden sein, wenn man ein Drittel Heilerfolge zu verzeichnen hat Mehr kann 
und soll man nicht verlangen, und man wird nicht fehlgehen, wenn man dies 
Resultat als möglich auch für solche Kranke annimmt, welche an „chronischem 
Alkoholismus 44 leiden, sofern man — wenn auch fälschlicherweise — Heilbarkeit 
mit Enthaltsamkeit indentifiziert. Das mag statthaft sein, aber es bleibt unrichtig, 
denn man wird niemals einem chronischen Alkoholisten erlauben dürfen, daß er 
je wieder geistige Getränke zu sich nimmt, da er Gefahr läuft, daß sein alkohol¬ 
empfindliches Zentralnervensystem — im Gegensatz zum normalen Menschen — 
zu prompt darauf reagiert und ihn rückfällig werden läßt. Aber, und das sei 
zum Trost hinzugefügt, unter den Alkoholkranken gibt es eine nicht unbedeutende 
Anzahl, welche an „einfacher Trunksucht 44 leiden und auch in wissenschaftlicher 
Hinsicht als heilbar anzusehen sind. Bei der mangelhaften Kenntnis und der noch 
fehlenden Möglichkeit der Differenzierung wird man gut tun, Heilbarkeit und 
Unheilbarkeit nicht vorschnell zu prognostizieren, sondern durch eine geeignete 
Behandlung und Beobachtung festzustellen suchen, um welche Form von Alko¬ 
holismus es sich handelt. Sicherlich ist ein gut Teil der Irrtümer und Ent¬ 
täuschungen, die uns die Alkoholkranken bereiten, darauf zurückzuführen, daß 
wir der mangelhaften Anamnese, vor allem einem mangelhaften Erkennen und 
Unterscheidungsvermögen allgemein begegnen. Möge dies wichtige Moment der 
Differentialdiagnostik durch Hebung des Interesses für die Trinkerfürsorge und 
durch eingehenderes Spezialstudium endlich mal besser werden! 

Sicher kommen wir weiter, aber ich glaube, daß hierzu ein ganz anderer 
Weg eingeschlagen werden muß. Es ist doch geradezu niederdrückend, daß Heil¬ 
stätten wie die Lintorfer sich so mäßigen Besuches zu erfreuen haben und nach 
50 Jahren noch nicht einmal im stände sind, dank einer ungenügenden Belegung 
auf eigenen Füßen zu stehen. Da muß doch etwas sein, was hemmt und nicht 
fördert. Und sieht man recht zu, so wird man hier wie eben überall die Wahr¬ 
nehmung machen, daß das Abhängigkeitsverhältnis von dem kranken Individuum 
sehr fatal und ebenso mißlich ist, wie die Tatsache, daß die öffentliche Meinung 
über die Trinkerheilbehandlung noch außerordentlich viel zu wünschen übrig läßt; 
daß Landesversicherungsanstalten und Armenbehörden noch viel zu wenig den Wert 
erkennen, vorbeugend zu wirken und zu helfen, daß die Alkoholkranken durch recht¬ 
zeitige Behandlung wieder gesund werden und nicht als erwerbslose, unnütze Mit¬ 
glieder der mensch liehen Gesellschaft sich und andern zur Last fallen. Auch 
hier läßt man eben alles bis zum äußersten kommen, man flickt das Loch ober¬ 
flächlich zu und begnügt sich damit, wenn man es einige Zeit lang nicht wieder¬ 
sieht, in dem Bewußtsein, etwas getan und die Wunde geheilt zu haben — eine 
Wunde, die über kurz oder lang sich nur um so unangenehmer bemerkbar macht, 
da sie allen Anstrengungen zum Trotz versagt und immer wieder aufbricht, mag 
man nunmehr zu verkleben suchen, so viel man will. 

Deshalb gebe ich hiermit nochmals folgenden Vorschlag zur Erwägung an¬ 
heim, der auf unsere Veranlassung in der Heilstätte „Waldfrieden 44 vom April 
ds. Jahres ab durchgeführt werden wird: die Einrichtung von geschlossenen 


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Mitteilungen. 


149 


Spezialanstalten für Alkoholkranke. Diese in Verbindung mit offenen 
Häusern wird dasjenige sein, was uns für die Zukunft not tut oder als Zu¬ 
kunft für eine rationelle Heilbehandlung trunksüchtiger Personen zu gelten 
haben wird. Die Provinzen sollten sich dazu entschließen, entweder eventuell 
mit staatlicher Unterstützung selbst derartige Anstalten zu gründen oder aber, 
wie es seitens der Provinzen Brandenburg und Sachsen zum ersten Male ge¬ 
schieht, gemeinnützige Unternehmungen in der Weise zu fördern, daß sie 
ihnen Alkoholkranke aus ihren Irrenanstalten überweisen, welche nicht ver¬ 
blödet, nicht geistig so defekt sind, daß keinerlei Hoffnung auf Wiederher¬ 
stellung vorhanden ist. So gut wie sich die Notwendigkeit herausgestellt hat, 
besondere Anstalten für Epileptische zu bauen, so gut, ja um ein erheb¬ 
liches mehr, ist es notwendig, Spezialanstalten für Alkoholkranke zu errichten 
Was damit erzielt werden kann, soll und wird die Heilstätte „Waldfrieden 41 
zu zeigen haben, sie tut Pionierdienste, nachdem auch hier eingesehen wurde, daß 
mit der Freiwilligkeit nicht dasjenige zu erzielen ist, was unbedingt erhofft 
werden darf. Andererseits darf nicht vergessen werden, daß auch die Irren¬ 
anstalten selbst das allergrößte Interesse daran haben, die Alkoholkranken, die 
gar nicht in dieselben gehören und sich durch ihr Auftreten, ihr ewiges Gehetze 
unter den übrigen Kranken recht unliebsam bemerkbar machen, auf diese Weise 
los zu werden: also, ein Gewinn nach allen Seiten! 


Das Ministerialblatt für Medizinal-Angelegenheiten vom 1. März enthält 
folgenden Erlaß: 

„Der Herr Minister der öffentlichen Arbeiten hat unterm 26. Januar d. Js. 
einen Erlaß betreffend die Fürsorge für die Eisenbahnbediensteten an die 
Königlichen Eisenbahndirektionen gerichtet, welcher sich u. a. auch mit der Be¬ 
kämpfung der Trunksucht beschäftigt. Der Erlaß besagt in dem bezüglichen Teile: 
Erlab vom 26. Januar 1905, betreffend die Fürsorge für die Eisenbahnbediensteten. 

Aus den auf meinen Erlaß vom 16. September v. J. erstatteten Berichten 
habe ich mit Befriedigung ersehen, daß die von mir zwecks besserer Für¬ 
sorge für die Eisenbahnbediensteten getroffenen Anordnungen in allen Bezirken 
zur Ausführung gelangen und von den Bediensteten dankbar anerkannt werden. 
Wenn an einzelnen Stellen ihre Durchführung noch nicht in dem Umfange an¬ 
gängig war, wie es nach den von mir gegebenen Weisungen für die Wohlfahrt 
der Angestellten wünschenswert erscheint, so erwarte ich, daß die Königl. 
Eisenbahndirektionen sich fortgesetzt die Verbesserung der vorhandenen und die 
Neubeschaffung der noch fehlenden Einrichtungen werden angelegen sein lassen 
und daß da, wo es lediglich an verfügbaren Mitteln fehlt, für deren allmähliche 
Bereitstellung Sorge getragen wird. Nach dem Inhalte der Berichte darf ich 
vertrauen, daß die Eisenbahndirektionen wie bisher so auch fernerhin die weitere 
Fürsorge für das Wohl ihrer Bediensteten zu ihren vornehmsten Aufgaben 
rechnen werden. Im einzelnen geben mir die Berichte zu folgenden Bemerkungen 
Anlaß: 

9. Mit der durch die Erlasse vom 8. Februar 1902 (E.-V.-Bl., S. 46) und 
17. März 1903 (E.-V.-Bl., S. 121) angeregten Beschaffung von Unterkunfträumen 
für unverheiratete Arbeiter ist noch nicht in dem erwünschten Umfange vor¬ 
gegangen worden, da nach Ausweis der Berichte nur die Eisenbahndirektionen 
in Cassel, Essen, Kattowitz, Königsberg und Stettin solche Räume in geringer 


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150 Mitteilungen. 

Zahl hergestellt haben, während die Eisenbahndirektionon in Cöln, Frankfurt* 
Halle und Magdeburg ihre Einrichtungen in Aussicht genommen, alle übrigen 
Direktionen aber ein Bedürfnis dafür nicht anerkannt haben. Ich weise die 
Eisenbahndirektionen an, dieser Maßregel erneut ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden* 
da ich hierin ein geeignetes Mittel erblicke, nicht nur die unverheirateten Arbeiter 
von dem Schlafstellenwesen und dem Wirtshausleben fern zu halten, sondern auch 
stets einen Stamm geschulter Arbeiter in Fällen eines plötzlich auftretenden 
Bedürfnisses zur Stelle zu haben. Bei zweckentsprechender Einrichtung und 
mäßigen Mietpreisen werden solche Räume zweifellos gern begehrt werden. 

10. Besondere Aufmerksamkeit werden die Eisenbahndirektionen dem Genuß 
geistiger Getränke seitens der Bediensteten zuzuwenden haben. Hier kommt es 
nicht nur darauf an, daß einem etwaigen Mißbrauch mit der gebührenden Schärfe 
entgegen getreten wird, vielmehr sind die Bediensteten auch fortgesetzt dazu 
anzuhalten, die erforderliche Selbstzucht zu üben, indem sie durch Vorträge 
und Schriften über die schädlichen Wirkungen des Alkoholgenusses auf Körper 
und Geist, auf das Familienleben und den Dienst aufgeklärt werden. Dabei wird 
ihnen stets vorzuhalten sein, daß der Alkoholgenuß im Übermaß unbedingt schäd¬ 
lich ist, im Betriebsdienst aber geradezu gefährlich werden kann für den Trinker 
selbst wie auch für diejenigen, deren Leben und Gesundheit von der Zuver¬ 
lässigkeit seiner dienstlichen Verrichtungen abhängig ist. 

Ferner müssen Mittel und Wege gefunden werden, um denjenigen Be¬ 
diensteten, welche für solche Belehrungen unzugänglich sind, den Alkoholgenuß 
wenigstens während des Dienstes zu erschweren. Wenn ich auch davon absehe* 
den Alkoholgenuß während des Dienstes allgemein zu verbieten, wiedies in einigen 
Direktionsbezirken bereits geschehen ist, so bestimme ich, um ihn so viel wie 
möglich einzuschränken, folgendes: 

a) Die Bediensteten sind, wie schon bisher, bei allen sich darbietenden Ge¬ 
legenheiten über die schädlichen Folgen des Alkoholgenusses zu belehren. Hierzu 
erscheinen neben den Inspektionsvorständen in erster Linie die Bahn- und Bahn¬ 
kassenärzte berufen. Aber auch den Eisenbahnvereinen wird vielfach Gelegen¬ 
heit gegeben sein, nach dieser Richtung erfolgreich zu wirken, indem sie in 
ihren Versammlungen durch belehrende Vorträge für Aufklärung sorgen und 
sich zur Verhütung des Alkoholmißbraucbs an das Ehrgefühl ihrer Mitglieder 
wenden. 

b) Das Mitbringen von Schnaps und schnapsähnlichen Getränken in den 
Dienst wird sämtlichen Bediensteten bei Strafe verboten. Den Eisenbahn¬ 
direktionen bleibt überlassen, in geeigneten Fällen Ausnahmen zuzulassen. 

c) Die eisenbahnseitig eingerichteten Kantinen dürfen Schnaps und schnaps* 
ähnliche Getränke nicht feilhalten. 

d) Den Bahnhofswirten ist der Verkauf von Schnaps und schnapsähnlichen 
Getränken nach Maß an Personen, welche sich die Behälter selbst mitbringen 
zu untersagen. Eine entsprechende Bestimmung ist in die Verträge aufzu¬ 
nehmen. 

e) Die Bahnhofswirte sind zu verpflichten, geeignete alkoholfreie Getränke 
vorrätig zu halten und zu billigen Preisen an die Bediensteten abzugeben. 

f) Mit der Vermehrung der bei Punkt ö erörterten Kaffeemaschinen und 
Selterwasserapparate ist planmäßig vorzugehen. 

g) Es ist überall für das Vorhandensein guten Trinkwassers zu sorgen; Zapf- 


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Mitteilungen. 


151 


stellen sind auf den Stationen in solcher Anzahl vorzusehen, daß möglichst in 
der Nahe jeder dauernden Arbeitsstelle Trinkwasser leicht zu erreichen ist. 

li) Diese Bestimmungen sind sinngemäß auch auf diejenigen Arbeiter an¬ 
zuwenden, welche von Unternehmern in größerer Zahl auf Neubaustrecken und 
bei sonstigen größeren Um- und Erweiterungsbauten beschäftigt werden. Die 
Handhabe dazu bietet die durch den Erlaß vom 27. Juni 1899 (E.-Y.-B1. S. 201) 
eingeführte Ergänzung der „Allgemeinen Vertragsbedingungen für die Ausführung 
von Erd- u. s. w. Arbeiten u , nach welcher die Unternehmer schon jetzt ver¬ 
pflichtet sind, die zu einer angemessenen Verpflegung ihrer Arbeiter erforder¬ 
lichen Einrichtungen auf ihre Kosten zu treffen und den in dieser Beziehung an 
sie herantretenden Anforderungen der bauleitenden Beamten zu genügen. 

Ich vertraue, daß diese Anordnungen und die mannigfachen Einrichtungen 
der letzten Jahre, welche auf die Hebung der Wohlfahrt unter den Bediensteten 
abzielen, ein wirksames Mittel darstellen werden, um dem Alkoholmißbrauch zu 
steuern und damit den Gefahren, welche er in sich birgt, vorzubeugen. 

Berlin, den 26. Januar 1905. 

Der Minister der öffentlichen Arbeiten. 

An die Königlichen Eisenbahndirektionen. 


Die neuere, nachfolgende Belehrungskarte Quensels, „Tatsachen über daa 
Bier u , hat bei den Brauern einen Sturm der Entrüstung hervorgerufen und ihnen 
Veranlassung zu einer Beschwerde an den Regierungspräsidenten gegeben. In 
derselben wird dem Regierungsrat Quensel die Fähigkeit abgesprochen, ala 
Vorsitzender der Steuereinschätzungskommission bei seiner antialkoholischen 
Gesinnung objektiv seinen Beruf zu erfüllen; es wird ihm eine hetzerische 
Tätigkeit vorgeworfen, und persönliche Angriffe und Verdächtigungen werden 
darin laut. 

Daß sich die Bierproduzenten gegen jeden wenden, der den Verbrauch 
ihres Erzeugnisses zu schmälern sucht, wird man vom Standpunkte des Brauera 
aus verstehen; es kommt aber auf die Art des Vorgehens an, und so kann die 
Verdächtigung nicht scharf genug zurückgewiesen werden, daß Reg.-Rat Quensel 
als preußischer Beamter sich durch seine private Ansicht verleiten lassen könnte,, 
seine Berufspflicht zu verletzen. Es ist durchaus unstatthaft, die privaten An¬ 
schauungen des Regierungsrates Quensel über die Schädlichkeit des Biergenussea 
mit seiner amtlichen Eigenschaft als Steuereinschätzungskommissar zu verquicken. 

Die betreffende Karte lautet also: 

„Tatsachen Ober das Bier. 

1. Bier enthält neben 86—88% Wasser und 6—8% ausgelaugten Nähr¬ 
stoffen noch 2—5, auch mehr Prozente Alkoholgift. 

2. Mit jedem Liter Bier nimmt der Mensch also 20—50 g Netto-Alkohol¬ 
gift in den Magen und in das Blut auf. 

3. Dieses Alkoholgift greift, seinen chemischen Eigenschaften entsprechend^ 
alle lebenswichtigen Organe an und verändert sie: die Verdauungsorgane (Magen- 
und Darmkatarrh), die Leber (Fettleber, Schrumpfleber, Gallensteine), das Her» 
(Fettherz, Bierherz), die Nieren (Schrumpfniere). 

4. Durch diese Gesundheitsstörungen verursacht das Bier alle die mit ihnen 


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Mitteilungen. 

verbundenen Schmerzen und «Beschwerden und nebenher noch die mit den 
schönen Namen Gicht, Podagra ubd Zipperlein bezeichnten schmerzhaften 
Krankheiten. « 

5. Durch ebendieselben Eigenschaften vermindert der Biergenuß die all¬ 
gemeine Widerstandsfähigkeit des Körpers auch gegen Krankheitserreger aller 
Art, wie er auch die Dauer fast jeder Krankheit verlängert. 

6. Wegen seiner blutverderbenden Wirkungen muß der moderne Bier- 
Alkoholismus auch als Hauptförderer der verheerenden Seuchen der Tuberkulose 
und der Syphilis bezeichnet werden. 

7. Weit entfernt, den Durst zu löschen, erzeugt das Bier, weil der Alkohol 
Feuchtigkeit verzehrt, immer neuen Durst — daher der Name „süffig“ — und 
verursacht dadurch die schon erwähnten Magen- und Herzerweiterungen. 

8. Bier, regelmäßig genossen, verkürzt zweifellos das Leben, macht früh 
alt, häßlich und klapprig auf den Beinen. 

9. Durch seine, die Gehirntätigkeit schädigenden Giftbestandteile wirkt das 
Bier auch lähmend und verwirrend auf die Leistungen des Verstandes und der 
Intelligenz. Nach Bismarcks weisem Ausspruch macht das Bier dumm, faul und 
indolent; ein Ausspruch, welcher den Ergebnissen von Erfahrung und Wissen¬ 
schaft vollkommen entspricht. 

10. Wer will unter diesen Umständen das Bier noch fernerhin verteidigen? 

Heinrich Quensel. u 

Crime and Drunkenness in Australia. Victorian Yearbook, 1903, S. 303 u. ff. 
Melbourne 1904. 

, Der jüngste Band des „Victorischen Jahrbuchs“ enthält interessante An¬ 
gaben über die Verbreitung der Trunksucht in Australien. Die Fälle der Ver¬ 
haftungen und Anklagen ohne Verhaftung wegen Vergehens gegen die Trunken¬ 
heitsgesetze sind dort erstaunlich zahlreich; es kamen solche auf je 1000 Ein¬ 
wohner im Jahre: 


1890 . 15,48 

1895 . 11,11 

1899 . 12,78 

1900 . 13,96 

1901 .14,30 

1902 . 13,10 


Auf einen Rückgang der Trunksucht kann aus diesen Zahlen nicht ge¬ 
schlossen werden. In dem Bundesstaat Tasmanien sind Vergehen der genannten 
Art am wenigsten häufig, nämlich 1890 8,01 und 1902 3,48 Falle per 1000 Per¬ 
sonen; in Südaustralien kamen auf die gleiche Bevölkerungszahl im letzten Jahre 
6,68 und in Neu-Seeland 10,42 Verstöße gegen die Trunkenheitsgesetze. In diesen 
Staaten wurde pro Kopf ein geringeres Quantum Branntwein und Bier konsumiert 
als in den übrigen, wo demzufolge auch die Straffälle häufiger waren. Es wird 
berechnet, daß im Durchschnitt der Jahre 1892—1902 die Ausgaben für Alkohol 
in ganz Australien 3 Pfund Sterling und 15 Schilling pro Einwohner, bezw. 
12 Pfund Sterling und 11 Schilling (251 Mk.!) pro erwachsene männliche Person 
betrugen. So schädigt der Alkohol überall nicht nur die Volksgesundheit, sondern 
auch den Volkswohlstand empfindlich. Fhlgr. 


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Der Alkoholismus 

Zeitschrift zur wissenschaftlichen^rörterung der Alkoholfrage 
1905 Neue Folge — Band II No. 3 

..gattgaae 111,1 aas 1 «m ■ hu 

I. Originalabhandlungen. 

Aus der älteren Mäbigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein. 

Yon 

Pastor Dr. Stubbe. 

9. Stimmungsbilder. 

Was die Satzungen uns sagen, bedarf der Ergänzung aus dem 
Leben. In welchen Gedankengängen bewegte man sich in den 
Vereinen gegen das Branntweintrinken? Welche Stimmung be¬ 
herrschte die damalige Mäßigkeitsbewegung? Aufrufe, Gedichte 
und Predigten jener Tage sollen es uns zeigen. 

A. Aufrufe. 

Ein Aufruf, der die Bevölkerung Altonas aufforderte, dem 
Vereine beizutreten, ist seinerzeit viel gerühmt und auch in 
Hamburg sehr geschätzt worden. Ich biete einige seiner Hauptsätze: 

„Ein Aufruf? Ein Ruf zu den Waffen und zur Verteidigung? Nahet 
sich denn ein Feind? Steht er vielleicht gar vor den Toren? Ja, liebe Mit¬ 
bürger, ein böser, böser Feind ist nicht nur in Annäherung und vor den Toren, 
sondern dieser böse Feind hat sich bereits durch die Tore hindurch geschlichen 
und ist eingedrungen in viele, ach nur zu viele Wohnungen und rumort da gar 
arg und schlägt da die Möbel entzwei und trägt da die Betten zum Hause hin¬ 
aus und zerreißt die Kleider und prügelt die Kinder wohl gar zu Krüppeln und 
mißhandelt die Frauen, und legt am Ende dem Hausvater den Strick um den 
Hals, ihm die Kehle auf immer zuzuschnüren, oder treibt ihn hinaus in die 
Elbe, seinen Durst auf immer zu löschen. Die Kehle, die alles verschlang, Ge¬ 
sundheit, Kraft, Wohlstand, Ehre, Frieden schnüret der Strick zu. Der Durst, 
der nimmer zu löschen und zu stillen war, ob man auch aufgoß vom frühen 
Morgen bis in die späte Nacht, löscht der Tod in der Eibe. Und wie heißt denn 
dieser Feind, der sich also einschleicht in die Wohnungen und da solches Ver¬ 
derben stiftet, der Feind gegen den wir aufrufen? Er heißt: Branntwein. 

Welches sind nun die Waffen gegen diesen Feind? Wir kennen zwei, sie 
heißen Mäßigkeit und Enthaltsamkeit. Die Mäßigkeit, ja, sie ist wohl ein Schild, 
aber nur ein papiemer, höchstens hölzerner Schild. Der papieme Schild fault 
bald, der hölzerne wird leicht durchbohrt, und beide schützen dann nicht mehr. 
Alle Trinker haben mit Mäßigkeit angefangen . . . aus selten wird oft . . . und 
üer Säufer war fertig, ehe er es selbst ahnte. . .. . 

Der AlkohoHamns. 1905. H 


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Pastor Dr. Stubbe. 


Ein festerer, ein eiserner, ein stählerner Schild ist die Enthaltsamkeit. Er 
beschützt sicher; durch ihn können selbst die schärfsten Pfeile nicht durch- 
dringen* Wer diesen Schild trägt, d. h. wer gar keinen Branntwein trinkt 
der und nur der ist gesichert vor seinem Gifte und Verderben. Gib dem 
Teufel, sagt das Sprichwort, den kleinen Finger und er ergreift bald deine 
Hand .... An dem Branntwein hat der Teufel einen Sohn bekommen, über 
den er sich in der Hölle freuen muß, weil er der Hölle täglich, ja stündlich 
Bewohner zuführt. Willst du sicher vor diesem Teufelssohne sein, trinke r 
schmecke, rühre keinen Branntwein an! Sei enthaltsam! 

Willkommen ist uns jeder, der unserm Bunde durch seine Unterschrift 
beitreten und seine Verpflichtung (der Enthaltsamkeit) treu erfüllen will. Wir 
täuschen nicht, wenn wir verheißen, daß dadurch manche Not gemildert, mancher 
Kummer gelindert, manche Träne getrocknet, manches Gute befördert werden wird. 
Wer täglioh auch nur für 2 Schilling an Branntwein sich versagt, der hat dadurch 
im Jahre wenigstens 45 Mark Cour, für seine Miete erspart. Auch vom Brannt¬ 
weintrinken güt das Wort des frommen Sängers: 

Wie’s nun ist auf Erden, 

Also sollt’s nicht sein. 

Laßt uns besser werden, 

Gleich wird’s besser sein.“ 

Besonders volkstümlich war, wie wir gesehen haben, die Be¬ 
wegung im Westen Holsteins, in Dithmarschen. Ein AppeU aus 
dem Volke an das Volk, worin Selbständigkeitsgefühl und Be¬ 
kennermut sich mit dem Wunsche, gebildete Kräfte in den Dienst 
des Vereins zu ziehen, eigenartig paaren, ist der Aufruf an die 
Bewohner Heides und der Umgegend. 1 ) 

Die Unterzeichneten waren bisher Mitglieder des Wöhrdener Enthaltsam¬ 
keitsvereins und fanden in der Teilnahme an diesem Vereine eine kräftige Stütze,, 
dem Laster der Trunkenheit zu entsagen und zu wehren. Da aber die Anzahl 
der Mitglieder aus Heide und Umgegend immer größer wurde, so daß sie die 
Mitgliederzahl mancher Vereine übertraf, so hielten wir es angemessen, einen’ 
eigenen Verein zu bilden. Zu diesem Zwecke wurde unter den Heider Mit¬ 
gliedern des Wöhrdener Vereins die Verabredung getroffen, daß sie am 28. Juni 
auf der Ziegelei vor Heide im Hause des Herrn Dedert sich versammeln 
wollten, um dort den genannten Plan zur Ausführung zu bringen. Dieses ist 
auch an dem bezeichneten Tage geschehen, und der neu entstandene Verein 
hat sich sogleich auch einen Vorstand gewählt aus seiner Mitte. — Um nun 
aber den Zweck des Vereins zu fördern, „dem unheilvollbringenden Ge¬ 
nüsse aller gebrannten Wasser möglichst entgegenzutreten,“* fühlen 
wir uns gedrungen, dieser Mitteilung nachstehende Aufforderung hinzuzufügen. 

Zunächst ersuchen wir jeden, dem das Wohl seiner Brüder, wie sein 
eigenes Wohl am Herzen liegt, unserm Vereine als Mitglied beizutreten, oder 
doch in seinem Vereine die Wirksamkeit des Vereins zu fördern. Aus eigener 
Erfahrung ist uns leider die traurige Knechtschaft bekannt, in welcher derjenige 

l ) Dithm. Ztg. 1844, No. 28. 


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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein. 155 

lebt, welcher dem Genüsse des Brannteweins fröhnet; und es sind wenige in der 
Mitte unseres Vereins, die nicht die traurigen Folgen derselben für ihr religiöses, 
bürgerliches und Familienleben empfunden haben. Noch jetzt — das ist 
unsere feste Überzeugung — würden wir in diesem Zustande dahinleben, hätte 
nicht der benachbarte Verein in Wöhrden uns freundlich die Hand zur Rettung 
geboten. Nachdem wir nun frei geworden sind von jenem verderblichen Hange, 
haben wir so recht einsehen gelernt, in welch elendem Zustande wir uns ehe¬ 
dem befanden, und schätzen uns nun glücklich, daß wir durch den Enthaltsamkeits¬ 
verein unsem Familien, unserm Gewerbe und der kirchlichen Gemeinschaft im 
wahren Sinne wiedergegeben sind. Darum ergeht auch am dringendsten unsere 
Aufforderung an Euch, die Ihr noch in solcher Knechtschaft lebt, Euch mit uns 
zu verbinden, und das Joch dieses Eures Feindes, der Euch meist so freundlich 
und gefahrlos erscheinen mag, abzuwerfen. Aber auch Ihr, die Ihr Euch freier 
wähnet von jener verderblichen Gewalt, lasset dieses unser Wort nicht unbemerkt 
und unbeherzigt! Es ist ja eine anerkannte Wahrheit, daß ein Trunksüchtiger 
weder anderen noch sich selbst es gerne gesteht, daß er diesem Laster ergeben 
ist. Wie mancher geht als Trunksüchtiger einher und glaubt selber nicht, es 
zu sein! Aber ein plötzliches gänzliches Versagen dieses Genusses würde ihm 
zeigen, daß schon ein Hang in ihm war, der ihn allmählich in die Reihe derer 
geführt hätte, die er jetzt als leiblich und geistig Verfallene verabscheut oder 
bedauert. Der Eintritt in unsem Verein würde einen solchen zum Stillestehen 
zur Besinnung bringen und ihn von diesem verderblichen Wege entfernen. — 
Möchten aber auch diejenigen, welche sich jener Getränke gänzlich enthalten, 
doch nicht der Meinung sein, daß ihr Beitritt überflüssig sei und unsere Sache 
weiter nicht fördere! Denn solche Männer sind ja eben allerorten die festesten 
Stützen der Vereine gewesen: Sie sind es ja, durch welche die Schwachen ge¬ 
halten werden und an deren Beispiele sie sich aufrichten und in ihrem Vorhaben 
befestigen sollen. An diese ergeht dämm ganz besonders auch unser Aufruf. 
Und gerade die eben genannte Rücksicht, wie auch ein fühlbarer Mangel in 
unserem Vereine selbst, nötigt uns zu einer besonders dringenden Bitte an die 
Gebildeten in unserer Umgebung. 

Unser Verein besteht nämlich aus lauter Mitgliedern, welche teils dem 
Handwerkerstand, teils der Klasse der Tagelöhner angehören. Ist dieser Umstand 
auch eben kein wesentliches Hindernis für das Bestehen und die Wirksamkeit 
des Vereins, so würde derselbe doch gewiß unendlich gewinnen, wenn sich uns 
auch Männer aus den gebildeten Ständen anschließen wollten; zumal da durch 
einen aus solchen Männern bestehenden Vorstand der Verein besser eingerichtet, 
geleitet und in jeder Hinsicht besser vertreten würde, und also auch um so 
besser und erfolgreicher wirken könnte, als wie es gegenwärtig möglich ist. 
Freilich findet hier ein Fall statt, welcher in der Geschichte der Enthaltsamkeits¬ 
vereine, soweit uns bekannt, einzig in seiner Art ist. Während nämlich bisher 
allerorten, wo solche Vereine bestehen, die Gründung derselben von Männern 
aus den gebildeten Ständen unternommen und dann das Volk, auf dessen Wohl 
es dabei abgesehen war, zum Beitritt aufgefordert wurde, bittet nun im Gegen¬ 
teil eine Anzahl Mitglieder aus dem Volke, die aus eigenem Antriebe und nach 
eigener Einsicht einen Enthaltsamkeitsverein errichtet haben, daß sich Mitglieder 
aus den gebildeten Ständen ihrer doch annehmen und das von ihnen begonnene 
Werk fördern wollen. Streitet dieser Fall aber auch gegen die so oft ausge¬ 
ll* 


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Pastor Dr. Stubbe. 


sprocheoe Behauptung, daß die Besserung des Volkes von den höheren Ständen 
ausgehen müsse, so haben wir doch zu den gebildeten Männern in Heide und 
Umgegend das Zutrauen, daß sie hieran keinen Anstoß nehmen, sondern viel¬ 
mehr bereitwillig eine Gelegenheit benutzen werden, wo sie, als Freunde des 
Volkes, mit großem Erfolge des Volkes Wohl befördern können. 

Nachträglich bemerken wir noch, daß unser Verein, welcher gegenwärtig 
aus 26 Mitgliedern besteht, seine nächste Versammlung am 21. Juni nachmittags 
um 4 Uhr in der Freischule in Heide halten wird. Der derzeit Vorstand wird 
diese Versammlung leiten, wobei jeder Anwesende den Anordnungen desselben 
Folge zu leisten hat. 

Den 5. Juli 1844. Die Mitglieder des Heider EnthaltsamkeitsVereins. 

B. Prosa und Poesie. 

Man sagt mit einem gewissen Recht, daß die Stimmung einer 
Zeit in der Dichtkunst am reinsten zum Ausdruck komme. 

Schleswig-Holstein selbst hatte keinen Jeremias Gotthelf 
oder Zschocke; für die Würdigung jener Männer, speziell des 
letztgenannten bei uns ist indessen ein Zeugnis, daß man bei uns 
von den Zschockeschen Erzählungen „die Branntweinpest“ und 
„das Goldmacherdorf“ ins Dänische übertragen hat. 

P. Paulsen, Sonderburg 1844, vgl. Alk. 1904, S. 147. 

Yon Franz Hoffmann bringt das Biernatzkische Volks¬ 
buch 1848 eine Erzählung „der Fabrikherr“, die m. E. ebensogut 
wie die Zschockesche „Branntweinpest“ und Gotthelfs „Dursli“ 
einer neuen modernen Auflage würdig wäre. — Aber warum 
lauter Prosa! 

„Wider Zopf und Philisterei rufet zu Hilfe die Poesei!“ 
Den uralten Trinkgedichten tritt eine neue Gattung von Gedichten 
entgegen, — Gedichte und Lieder, die bisweilen mehr von gutem 
Willen als großem Können Zeugnis ablegen, Tendenzgedichte der 
Mäßigkeit, durch welche doch manchesmal ein warmer Herzenston 
durchklingt. Yolquarts-Lunden hat die Nr. 3—6 des Ditmarsischen 
Volksfreundes 1845 zu einem „Liederbuch für Vereine gegen das 
Alkohol-Gift“ ausgestaltet. Als Hauptpoeten treten uns dort z. B. 
Ehlers, Mumsen, Seling, Böttcher entgegen, aber auch Schles¬ 
wig-Holsteiner fehlen nicht. Als schleswig-holsteinische Mäßigkeits¬ 
dichter habe ich kennen gelernt den Pastor Vent-Hademarschen, 
Schriftsteller Feld mann-Kiel, sowie die Lehrer C. Sol tau-Elms¬ 
horn und Feddersen-Hedewigenkoog. x ) Nur auf Landesprodukte 
kommt es mir hier an. 


l ) Außerdem mehrere ungenannte Größen. 


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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein. 157 

Der „Schlachtruf 4 erschallt: 

Herbei ihr Söhne all 
Des schönen Marsenlandes! 

Auf Gottes Hilf vertraut 
Und auf die Stärk* des Bandes, 

Das innig uns verknüpft 
Und unsem Mut vermehrt, 

Zu siegen ob dem Feind, 

Der unser Land verheert. 

(Verf. ungenannt, vielleicht Volquarts?) 1 ) 

Er wird zum „Aufruf 4 der Vereine gegen das Branntwein¬ 
trinken : 

Erhebe dich, o Menschenfreund 
Und tritt in unsre Reih’n! 

Herbei, es gilt der Menschheit Feind; 

Sein Nam’ ist Branntewein. 

Ziemlich platt, aber deutlich erfahren wir von ihrer Kampfes¬ 
weise : 

' Belehrung, Beispiel, Willenskraft 
Und fester Glaubensmut 
Sind Waffen unsrer Ritterschaft, 

Durch die man Wunder tut. (C. Sol tau). 

So kämpfen wir ohn’ Unterlaß 
Durch Unterlassen meist. 

Wir hegen bloßen Branntweinhaß 

Und trinken keinen Schnaps, weil das 

Der Liebe Pflicht uns heißt. (Feddersen). 

Bloßer Branntweinhaß — im übrigen ist man tolerant. 

Drei Güter gab der Herr, uns zu erfrischen, 

Zu stärken, zu erfreu’n; 

Das Wasser und das Bier auf armen Tischen, 

Auf reichen Tischen Wein. 

Wer denkend trinkt, dem wird der Trunk gedeihen; 

Denn mäßig wird er sein — 

Wir wollen froh der Mäßigkeit uns weihen 

Beim Biere, wie beim Wein. (Feldmann, Trinklied.) 

„Der Menschenfreund 44 freut sich: 

Heil unserm schönen Bunde, 

Heil der Enthaltsamkeit, 

Die schon in weiter Runde 
Der Menschheit Rettung beut. 


*) Der Vers wird von Seling gelegentlich angewandt, indem Zeile 2 
„Vaterlandes 14 steht. 


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158 


Pastor Dr. Stubbe. 


Vereint den Damm zu bauen, 

Der noch der Nachwelt nützt, 

Laßt, Brüder, voll Vertrauen, 

Uns mutig tun, was nützt. 

Kommt, Ihr Menschenfreunde. 

Wirkt mit uns im Verein! 

Wer’s redlich meint, 

Bekämpf’ den Feind, 

Den argen Branntewein. (Feddersen). 

Der Kampf ist nicht vergeblich („Ermunterung“) 

Schon schau’n im Geiste wir die Zeit 
Die immer näher rückt, 

Wo von dem Gifttrank ganz befreit 
Das Leben schön’re Freuden beut, 

Und fühlen uns beglückt. 

Frisch auf d’rum stets, du kleine Schaar, 

Treu der Enthaltsamkeit! 

Bezeuge jetzt und immerdar, 

Wie Gott durch sie ja offenbar 

Das Heil der Welt erneut. (Feddersen). 

Und „der Triumph“ wird gesungen: 

Nimm an, o Vater, unsern Dank, 

Den wir aus voller Herzen Drang 
Dir opfern; durch dich sind wir frei, 

Frei von des Branntweins Tyrannei. 

Triumph! Hier ist Immanuel! 

Er macht uns Bahn; ringsum wird’s hell. 

Bald tönt in unsern Lobgesang 

Des ganzen Volkes Preis und Dank. (Soltau). 

Dichterisch am höchsten stehen die Lieder von Vent. Hier 
einige Proben: 

Wir reichen treue Hände 
Einander freudig hin, 

Getrost bis an das Ende 
Mit brüderlichem Sinn 
Den Höllengeist zu dämpfen, 

Der unser Heil verzehrt, 

Das Untier zu bekämpfen, 

Wie sehr es sich auch wehrt. 

Dithmarschen, Land der Freiheit, 

Erkennet diese Schmach. 

Es mannet sich mit Kühnheit 
Selbst, wer gefesselt lag . . . 

Im Aufblick nach oben werde der Kampf geführt! 

Du nur kannst retten, unser Gott! 

Du kannst den Feind besiegen! 


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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein. 


159 


Drum laß dich jammern unsre Not, 

Laß nicht dein Reich erliegen! 

Mehre der Streiter Schar, 

Stärke sie immerdar, 

Daß, mit dir vereint, 

Der Sieg über den Feind 
Die treuen Kämpfer lohne! 

Am Yereinsfeste darf man dankbar fröhlich sein: 

Willkommen seid uns alle heut’, 

Vereint zum schönen Bunde, 

Daß sich so manche Seele freut 
Und rühmt mit frohem Munde: 

Gott stand uns kräftig bei 
Und zeuget, von ihm sei 
Der Anfang, das Bestehn 
Des, was wir um uns sehn 
ln Nähe und in Ferne. 

Und ist in der Feier neu gefestigt worden. 

So gehn wir mutig heim; 

Der Bund sei fest geschlungen 
Zum Kampf für Gottes Reich, 

Bis uns der Sieg errungen! 

Wie mächtig auch der Feind, 

Wie stark auch seine Schar; 

Mit uns ist Gott, der Herr — 

Er hilft uns immerdar! 

Solche Lieder (in dem Tone des Kirchen- oder Yolkssangs) 
wurden bei Yereinsfeiem (und wohl auch sonst) gerne gesungen. 
Ein religiöser Ton klingt in allen mir bekannten schl.-holst. Mäßig¬ 
keitsliedern irgendwie mit. Der Gedankengehalt ist durchweg: 
Der Branntwein erscheint als der Drache oder Landesfeind; Dith¬ 
marschen ist gutes Schlachtfeld; der Kampf in Yereinsform führt 
mit Gottes Hilfe zum Siege. 

C. Predigten. 

Für das Yolk hat vor 1848 die geistliche Rede als Rede eine 
größere Bedeutung als hernach; als Redner tritt der Pastor hervor, 
zumal auf dem Lande. Die wichtigsten uns aus der älteren 
schleswig-holsteinischen Mäßigkeitsbewegung erhaltenen Reden sind 
Predigten. 

Eine Predigt, die Pastor Vent über den „Alkohol als Landes¬ 
feind“ hielt, gab Anlaß zur Gründung des Mäßigkeitsvereins zu 
Hademarschen, doch wollte Yent trotz aUer Bitten sich nicht dazu 
verstehen, sie drucken zu lassen. 


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160 


Pastor Dr. Stubbe, 


Drei Predigten sind im Druck erschienen, alle drei von Vol- 
quarts-Lunden. Sie sind in unserem Zusammenhänge uns nicht 
nur homiletisch interessante Agitationsreden, sondern auch lehr¬ 
reich durch die in ihnen sich offenbarende Anschauung über den 
Alkohol. 

Die erste Predigt behandelt „die gebrannten Wasser“ 1 ) — 
Pfingstmontag 1841 in der Kirche zu Lunden über den Text 
Römer 12, 12—13 gehalten. Der Branntwein wird gezeigt: 
1. nach seiner Bereitung. 2. nach seiner Verbreitung. 
3. nach seinen Folgen. 

„Herrscht nicht unter uns der Geist der Welt, der Finsternis, des Satans, 
der wohl scheinbar nur die Gesundheit des irdischen Körpers und das Leben 
dieses Leibes untergräbt, aber in Wahrheit den Geist des Menschen, ja den 
ganzen Menschen, für den Christus gestorben ist, tötet und vernichtet? . . . 
Wandeln nicht unter uns die Jünger dieses Geistes, getrübten Blicks, hohlen 
Auges, wankenden Knies? Werden nicht unter uns über solche Diener des 
höllischen Geistes Muttertränen geweint und Vaterseufzer gehört? . . . Gemeinde 
des Herrn, darf die Kirche schweigen, wenn dieser seelenmordende und geist- 
vernichtende Geist sein Haupt kühn erhebt . . . und Hohn ausspritzend über 
die, welche diesem völkerentnervenden Geist entgegentreten wollen?“ 

1. Viele sehen in der Bereitung gebrannter Wasser nur ein gutes Geschäft, — 
wie einst in der christlichen Urzeit manche aus Geschäftsgründen Götzenbilder 
herstellten; das ward verworfen. Und doch ist der Bilderschaden, verglichen 
mit dem Branntweinschaden, nur wie ein Tropfen gegen den Ozean. „Unchrist¬ 
lich ist es und streitet mit dem wahren Glauben an Christum, Götzenbilder zu 
machen, noch mehr aber, gebrannte Wasser zu bereiten. Jene können 
zur Sünde werden, . . . hier aber ist Sünde und der Sitz der Sünde.“ 
Und wie in der Urzeit Opfermahlzeiten dem Christen ein Ärgernis waren, so 
jetzt die gebrannten Wasser: „Die Bereitung der gebrannten Wasser ist Sünde, 
mehr als Sünde gegen Christum; kein Christ kann und darf sich mit derselben 
abgeben.“ 

2. „Darf und kann ein Christ gebrannte Wasser feilbieten und aus¬ 
schenken?“ Nein, so wenig die alte Kirche Handel mit Gegenständen des 
Götzendienstes duldete. Wir verurteilen Verbrechen, Mord, Sklavenhandel u. dgl. — 
und sollten ihre Quellen, die Quellen geistiger Sklaverei, aus Gewinnsucht ver¬ 
breiten? „Du wirst gewogen werden auf der Wagschale der Liebe und zu leicht 
befunden werden. Wie du hier im Kreise der durch den Teufel Gefesselten 
lebtest, so wird dort der ewige Pfuhl dein Aufenthaltsort sein. Bruder, . . . 
eile, laß ab von der erkannten Sünde, schenke nicht den Trank des Verderbens 
mehr aus, halte ab alle, die ihren Durst mit Gift löschen wollen und Nahrung 
suchen in der Hölle Produkt.“ 

3. „Furchtbar sind ja die Folgen dieses Übels, . . . unberechenbar ist der 
Schade, den es hervorruft.“ — Sprüche 23,29 f.: „Nicht einen einzigen hat Schnaps 


*) Mir von det störe Kongelige Bibliothek zu Kopenhagen geliehen. 


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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein. 161 

glücklich gemacht, sondern alle um Glück und Leben gebracht.“ ... „Wie die Kirche 
ihre Wehe ausrufen muß über die Bereiter und Verbreiter dieser Pest, so noch 
mehr über den Trinker; . . . denn sie vernichten den Tempel des heiligen 
Geistes.“ „Jedes Glas, jeder Tropfen schadet; daher entsagt demselben.“ „Gebt 
nicht eure Glieder einem Fremden zum Dienste. Erlösete Christen, liegt euch 
euer Seelenheil am Herzen, so entsagt diesem Tranke gänzlich; denn er verdirbt 
nicht allein den Leib, sondern auch den Geist.“ 

Die zweite Predigt, 1 ) gehalten am Sitzungstage desLundener 
Vereins gegen den Branntwein am Sonntag Quas., 23. April 1843,. 
in der Kirche zu Lunden, bezeichnet auf Grund von II. Kor. 6 t 
13—18 den Alkohol als den Landesfeind; denn er ist 1. ein 
Lügner, 2. ein Heuchler, 3. ein Verführer, 4. ein Räuber, 5. ein 
Mörder. 

„Der alte Drache ist seiner Höhle entschlüpft und füllt seinen Taumel¬ 
becher, aus welchem er den Völkern einen Trank darreicht, um sie zu Sklaven 
zu machen und sie dem Herren zu entziehen. Er hat die Bunde gemacht zu 
allen Völkern und hat alle bezaubert, daß sie ihn anbeten und sprechen: wer 
ist ihm gleich, wer kann mit ihm streiten?“ 

„Gemeinde des Herrn! Der Feind ist seiner engen Behausung entlockt durch 
den Erbfeind des Glaubens. Wie er vor ihm stand, erschrak er selbst vor seiner 
Macht und fürchtete seinen Grimm. Gern hätte er ihn wieder gebunden mit 
Ketten der Finsternis; allein er konnte nicht. Doch er tat, was er konnte; er 
gab ihm seinen richtigen Namen, damit jeder sich vor dieser Ausgeburt der 
Hölle hütete. Er nannte ihn Alkohol, das ist: Schminke. So deutet sein 
Name schon Lug und Trug, sowie sein Wesen ist Heuchelei.“ 

Er ist wie die Schlange, äußerlich prächtig, innerlich giftig; gegen ihn gilt’s 
zu kämpfen. % 

1. Innere Erneuerung ist der Menschheit Ziel, Christus dazu der Weg, 
aber der Feind tritt ihm entgegen, verhüllt in Alkohol, und spricht: „Ich 
bin der Beglücker der Menschen, der Trost der Armen, die Kraft der Schwachen, 
ich bin der Freudenspender.“ Diese Bede ist Lug und Trug; das Gegenteil von 
allem bewirkt und schafft er. Er muß hinaus aus dem Lande! 

2. Seine äußere Gestalt kann man ändern, doch nicht sein Wesen. Der 
Fuchs ändert seinen Pelz nach Jahresfrist und Gegend, bleibt jedoch gleich falsch 
dabei. Träte der Alkohol in seiner ersten einfachen Gestalt auf, so würde jeder 
ihn meiden, durch seine Verstellungsgabe aber schleicht er sich allenthalben ein. 
Und was sind seine Werke? Frieden will er bringen und Freundschaft stiften, 
allein Haß ruft er hervor, und Feindschaft ist seine Tochter. Mag er als un¬ 
schuldiger Freund sich gebärden, schlicht in der Hütte oder in vornehmem Ge¬ 
wände bei Fürsten einherschreiten, wir erkennen sein trügerisches Feuer und 
nennen ihn einen Landesfeind. 

3. Er ist ein Verführer, tötet alle Gottesfurcht und vertreibt die Menschen¬ 
liebe. „Furchtbar, so weichet die Liebe aus (den) Herzen (der Alkoholjünger), 
daß sie den Ihrigen, die sie um Brot flehen, Gift geben und so vergiften die 


*) 31 8, von „det störe Kong. Bibliothek“ zu Kopenhagen geliehen. 


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Pastor Dr. Stubbe. 


Unschuldigen und töten, welchen sie selbst das Leben gaben. u „Es ist kein 
Verbrechen fast, zu welchem er nicht die Kraft und den Mut gibt. u „Gemeinde 
des Herrn, und ihn sollten wir ... in kleiner und vermischter Gestalt für un¬ 
schuldig und nicht schädlich halten? Nein, verfolgen wollen wir ihn, und wenn 
er sich auch in Tropfen verwandelt,. . . und ihn nennen Verführer, der nicht 
allein einzelne, sondern ganze Völker entsittlicht und in Masse zu Verbrechen 
treibt.“ 

4. Gehet in die Häuser, wo dem Alkohol geopfert wird. Ist dort Wohl¬ 
stand? Der Alkohol hat ihn geraubt. Er bevölkert die Armen- und Werkhäuser; 
er sendet seine Freunde in die Strafanstalten und Zuchthäuser. Er raubt die 
edelsten Güter des Menschen, Zucht und Scham, ja, reißt Gottes Bild, den un¬ 
sterblichen Geist, aus unserer Brust. Anklagen wollen wir den Alkohol vor den 
Großen und Kleinen und ihn nicht im Lande dulden! 

5. Wir haben mit dem Bösen selbst zu kämpfen; daher ist Alkohol 
auch so mächtig auf Erden. Er ist ein Mörder wie keiner auf Erden. „Er 
verdirbt mehr denn die Pest und verzehrt mehr als die Kriegsflamme. Er ist 
zerstörender als das unterirdische Rollen, ... er ist der Mörder der 
Menschheit.“ Die Gesundheit des Leibes, die Kraft der Jahre und die Schön¬ 
heit des Körpers tötet er; bis ins dritte und vierte Glied verdirbt er den Leib 
und den Geist seiner Verehrer. Woher oft der schnelle und furchtbare Tod in 
so schrecklicher Gestalt? Er ist ein Seelenmörder; er vernichtet den Leib und 
schleudert den Geist in die Hölle. Solange ich Kraft habe, will ich gegen den 
Alkohol kämpfen, den Landesfeind. 

Gemeinsam gilt es zu kämpfen; wir haben die schönsten Kampfmittel: Be- 
lehrung\ Bitte, Gebet und Gebot des Herrn. Der Einzelne vermag wenig, — 
„aber uns allen, vereinigt zu einem Bunde, beseelt von einem Gedanken . . . 
kann er nicht widerstehen, sondern muß das Feld lassen. Frei sind wir nur 
im Bunde gegen ihn.“ 

Die dritte Predigt, 1 ) „zum Gedächtnis des zehnjährigen Be¬ 
stands des am Sonntage Quas., den 23. April 1843, zu Lunden 
gestifteten Vereins gegen den Alkohol“ in der Kirche zu Lunden, 
Cantate 1853 gehalten, ist drei evangelisch-lutherischen Pfarrern in 
Schlesien: G. Deutschmann, ß. May dorn und Karl W. Vetter 
gewidmet und bietet das Kräftigste, was gegen den Schnäps in 
Schleswig-Holstein geredet und geschrieben worden ist: „Der Genuß 
der mit Alkohol gemengten Gottesgaben ist Götzendienst 
und Sünde.“ Gott hat die Gemeinde befreit von dem Banne, der 
so viele Jahre fluchbringend auf ihr ruhte; die Burgen des Feindes 
sind gefallen (d. h. die Brennereien geschlossen), — doch noch immer 
verlassen die Völker „die lebendige Quelle des Glücks, welche ist 
der dreieinige Gott, und wählen den Flammenbom der satanischen 
Dreiheit, welche sie von Gott trennt und ins ewige Verderben stürzt. 
Sie verlassen die Kommunion mit dem Gottessohne, dem Gott- 

J ) Vgl. meinen Art. Monatsschr. für Innere Mission 1904, S. 473 f. 


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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein. 163 

menschen, welcher sie zu Gott führt und Leib, Seele und Geist 
heiligt, und wählen die Kommunion, welche der Teufel ihnen an¬ 
bietet durch seine falsche Kunst und seine Lügenprodukte.“ 

Text: 1. Kor. 10, 15—22. Bei den Opfermahlzeiten der Heiden 
tritt der Genießende in Kommunion mit dem Teufel; so gilt auch: 

„Der Genuß der mit Alkohol gemengten Gottesgaben ist Götzen¬ 
dienst und Sünde“; denn dieser Alkoholgenuß 

1. hindert im Genießenden die Wirkung des heiligen Geistes, 

2. treibt er in die Kommunion mit dem Teufel, 

3. verleitet er ihn, den Teufel als seinen Gott anzuerkennen 
und zu verehren, 

4. zwingt er ihn, die Werke des Teufels zu vollbringen. 

1. Yon den Priestern des alten Bundes ward beim Altardienst Enthaltsam¬ 
keit, von einem Bischof des neuen wird Nüchternheit gefordert „Der Alkohol¬ 
geist ist der Gegensatz des heiligen Geistes. In jenem manifestiert, inkarniert, 
zeigt sich tätig der Teufel und widerstrebt den Wirkungen des heiligen Geistes.“ 
Er vernichtet die Glaubenskraft und Vernunft; er spült die besseren Regungen, 
'welche die Kirche einer Seele gab, hinweg und preist die Sabbathschänder, welche 
im Kirchort in den Tempeln des Lügengeistes auf dessen grünen Altären ihm 
Opfer des Spiels und des Trunkes bringen. Selbst in die heilige Stätte dringt er 
ein, weil manche vor dem Kirchgang dem Alkoholgeist den Tempel ihres Geistes 
auftun. Einerlei, ob Schnaps oder süßer und bitterer Magentrank, der Alkoholgeist 
täuscht dich immer und weiß dich zu halten; nur völlige Enthaltsamkeit rettet 
dich; nur dann kann Gottes Geist frei in dir wirken. 

2. Der Alkoholgenuß führt notwendig in die Kommunion mit dem Teufel. 
Wie das Blut Christi beim Abendmahl in uns kommt, so das Satansblut beim 
Branntweintrinken. Die höllgefärbte Stirn, das der Hölle entsprungene Zittern 
der Hände sind Satans Malzeichen. „Der Alkoholgenuß ist die teuflische Nach¬ 
äffung des heiligen Abendmahls; der mit Alkoholgeist angefüllte Kelch ist der 
Kelch im höllischen Sakramente der satanischen Kommunion. Durch den Alkohol¬ 
genuß wird die Kommunion mit dem Teufel bewirkt und festgehalten.“ Aus dem 
Munde des Genießenden kommt pestilenzialischer Höllendampf, seine Rede ist 
Fluch. Der Besessene wütet gegen die Seinen; er sieht unreine Tiere. „Der 
Satan hat ein Feuer in ihm sich selbst bereitet, daß sein Opfer sich an demselben 
ihm selbst verbrenne, ihm zum angenehmen Geruch und Opfer, das emporsteigt 
in gräulichem Dunste. . . . Sein Leib brennt dann und verkohlt, daß nur, wie einst 
bei der gottlosen Isabel die Hände nachbleiben, zum Zeichen, daß ein Mensch 
sich in den offenen Schlund der Hölle gestürzt hat.“ 

3. Der Alkoholgeist will der Gott des Menschen sein. Beim Alkohol sucht 
der Mensch Trost und Stärke. Bei Hochzeiten, Geburtstagen, Glücksfällen, Un¬ 
glück — immer wendet er sich an seinen Gott, bis er sinnenlos zu dessen Füßen 

niederfällt. „Will die Arbeit des Geistes nicht vor sich gehen,-so wendet 

der gelehrte Alkoholfreund sich an seinen Götzen und ruft den Götzen Alkohol 
und Nikotin zum Beistände an.“ Statt zu beten, „empfängt er den unheiligen 
Geist und begeistert sich durch Alkohol und Nikotin.“ Die Geistesgeburt ist dann 


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Pastor Dr. Stubbe. 


auch danach. Selbst der Natur will man durch Alkohol aufhelfen. „0 die Ver¬ 
blendeten, sie sahen nicht den Finger Gottes, wie er die Erdfrüchte geschlagen 
hat, weil der Alkoholfreund sie mißbrauchte.“ 

4. Die Folgen bleiben nicht aus: Herzensversteinerung, Verstandesverfinste¬ 
rung, Bevölkerung der Strafanstalten. Die Barrikadenkämpfe sind Wahrzeichen 
des Alkoholgeistes! — Wohl sagt man, daß nicht jeder Genuß zu solcher Schande 
führe, — aber auch, wer nur ein wenig Feuer an den Tempel legt, verwirkt Gottes 
Zorn — und kann nicht der Tropfen deiner Mäßigkeit zu einem schlammigen 
Strom werden? Der Alkoholgenuß macht aus dem Menschen ein Höllenkind, — 
ob langsam, um desto sicherer; das Ende kommt doch! 

Alkoholgenuß ist Götzendienst und Sünde! 

Ein Verbot alles Alkoholverkaufs, wie im Staate Maine, ist notwendig. Fort 
mit dem Teufelskelch und allem Handel mit Satansblut!- 

In diesen Predigten tritt von Anfang an — aber mehr und 
mehr sich verschärfend — der Standpunkt des „Alkoholgiftgegners“ 
hervor, in der krassesten Form in der letzten — (der Teufel sub- 
stanziiert sich im Stoff). Dort haben wir auch die Götzen Alkohol 
und Nikotin als Bundesgenossen — und es wird (für die alten libe¬ 
ralen Mäßigkeitsmänner unerhört) ein staatliches Verbot des Ge¬ 
tränkehandels verlangt. — Schon hier sei erwähnt, daß der Vol- 
quartssche Standpunkt vielfach (auch von Theologen) bekämpft ist. 

D. Geistliches und Weltliches. 

Aus den bisherigen Ausführungen ist zu erkennen, daß für das 
Vereinsleben christliche oder, sagen wir lieber, religiöse Gedanken¬ 
reihen eine nicht geringe Bedeutung hatten; eine andere Gedanken¬ 
reihe ging daneben her, eine medizinisch-naturwissenschaftliche. Im 
allgemeinen konnten sie sich verstehen und gemeinsam arbeiten; 
gemeinsam schaute man auf einen Volksschaden. Die Theologen 
hießen naturwissenschaftliche Waffen willkommen; die Mediziner 
bezeichneten den Trunk auch als Laster und betrachteten seine Be¬ 
kämpfung als ein Werk der Menschenliebe. Im einzelnen blieb ein 
Widerstreit nicht aus. Die einen fürchteten eine Zurücksetzung 
oder Verflachung des Christentums, die anderen einen pfäffischen 
Versuch, das Volk zu fangen und zu beherrschen. 

Beides soll uns aus der Kieler Arbeit bezeugt werden. 

An die Kieler Generalversammlung schrieb 12. Mai 1845 Rektor 
Biernatzki namens des Friedrichstädter Vereins: 1 ) 

„Wir scheuen uns nicht, es auszusprechen, daß unsere Vereine der großen 
Gefahr ausgesetzt sind, den Boden zu verlieren, auf welchem allein sie eine kräftige 


') Der (Altonaer) Volksfreund 1845, Nr. 1. 


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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein. 


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Wurzel schlagen und gesunde Früchte tragen können: nämlich die wahrhaft christ¬ 
liche Gesinnung. Wo diese fehlt, da ist u. E. der Kampf wider den Branntwein 
ein vergeblicher; und wenn sich auch äußerlich einige Erfolge herausstellen sollten, 
so werden diese doch bald schwinden. 11 (Wir meinen auch), „daß, wo sich der 
Kampf wider das Branntweintrinken nur wider diese Sünde als eine einzelne 
Erscheinung, nicht aber ihre Wurzel, die ganze sündige Natur des Menschen, 
kehrt, alles Kämpfen ein verkehrtes, darum vergebliches ist.“ 

Auf der Versammlung führte Pastor Carstens-Elmshorn die 
Blüte seines Vereins auf den Umstand zurück, daß derselbe sich 
auf das Evangelium gründe. Umgekehrt erklärten z. B. die Ad¬ 
vokaten Stamp-Friedrichstadt und Beccau-Husum: Bibel und 
Christentum haben mit dem Verein nichts zu tun. 1 ) Um den 
Widerstreit abzuschließen, richtete damals Carstens-Elmshorn „ein 
brüderliches Wort an die Vereinsgenossen, allermeist an die Leiter 
und Vertreter der Vereine“ über „unsere Verschiedenheit in reli¬ 
giöser Hinsicht und unserer Gemeinschaft“ 2 ) Er sagt darin: 

„Die religiösen Aufregungen und Richtungen unserer Zeit haben auch in 
unsrer Mitte ihre Freunde und Gegner, entschiedene, kampflustige, und ihre 
Stimmen sind schon laut geworden, sich widerstreitende Forderungen haben wir 
gehört. Von der einen Seite schallt’s: Auf christlich-kirchlichem Grunde allem 
ist unsere Sache zu bauen! — Und wieder von der andern Seite: Das christlich- 
kirchliche, ja das christliche Element muß bei unsrer Sache nicht zur Sprache 
gebracht werden! — Und wieder von einer andern Seite: Lasset doch alles Reli¬ 
giöse außen vor! — Und jeder einzelnen dieser verschiedenen lauten Stimmen 
pflichten gewiß im stillen Hunderte bei, und es kommt von Herzen, weil aus 
Überzeugung, oder doch aus Zuneigung oder Abneigung des Herzens. 

Wer sieht nicht mit mir die Einigkeit und Herzlichkeit unsrer Gemeinschaft 
hierdurch bedroht? Ein ungedeihliches Stadium unsrer Gemeinschaft, ja unsrer 
Sache kann dadurch bereitet werden. Brüder, soll das geschehen? Wollen wir 
uns nicht einigen, das zu verhüten? Sind wir nicht freudig bereit zu jeder 
Selbstverleugnung, die zur Erhaltung unsers Friedens dient, sofern sie nur von 
unserm Gewissen gebilligt wird? Wohlan, lasset uns Rat halten?“ 

Zwei Vorschläge sind zu machen: 

1. Der Ausdruck des religiösen Lebens soll berechtigt sein in unsrer Ge¬ 
meinschaft Für religiöse Menschen ist es natürlich, religiös zu reden — findet 
dergleichen bei dir keinen Anklang, über Selbstverleugnung um der andern willen, 
für die es gut ist. 

2. Alle verschiedenen Erscheinungen des religiösen Lebens sollen in unsrer 
Gemeinschaft als gleichberechtigt gelten. Jeder mag von seinem religiösen Stand¬ 
punkte aus die Sache betrachten — ein andrer soll sich dann begnügen, ohne 
Anfeindung seinen Standpunkt daneben zu stellen. 


l ) Ditmarser und Eiderstedter Bote 1843, Reise 25 u. 28; vgl. Dithm. Ztg. 
1843, Nr. 41. 

*) Der Volksfreund 1845, Nr. 4. 


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Pastor Dr. Stubbe. 


Anderenfalls werden die Gemüter entfremdet und unsre Vereinigung wird 
Anlaß zu unsrer Zersplitterung in Parteien, und der Feind lacht und triumphiert. 

Noch eins: Jeder Verein muß als ein Individuum, das seine Eigenart hat, 
auch das Recht haben, etwaige Provinzial Versammlungen auf seine Weise anzu¬ 
ordnen (wie es d. Zt. auch Rendsburg und Kiel gehalten haben).“ 

Brennend wurde die Meinungsverschiedenheit in Kiel, als dort 
bei Yereinsmitgliedem Mäßigkeitstraktate in Umlauf gesetzt wurden, 
Feldmann kräftig dagegen protestierte und schließlich unter dem 
Motto: „Die Wahrheit gebieret den Haß“ ankündigte, aus dem 
Vereine treten zu wollen. 1 ) 

Nach anfänglicher Gegnerschaft seien die Theologen, speziell die Orthodoxen, 
in den Verein getreten, dort Eroberungen zu machen. Aber sei der Branntwein- 
teufel schlimm, so seien Mystizismus und Kopfhängerei die schlimmsten aller 
Teufeleien (weil sie die Geistes- und Knopfnerven am meisten zerrütten). Eine 
Debatte der Aufgeklärten und der Orthodoxen im Verein würde Ärgernis geben. 
Wenn die Vorstände nicht helfen (gegen Missionspredigten und Traktate), so 
müsse die Opposition einfach austreten. — Der Orthodoxie grolle er nicht, nur 
solle sie sich nicht den Verein als Wirkungskreis erwählen; wie sie für ihre t 
trete er für seine Überzeugung ein. Bei der Unwahrscheinlichkeit, ein unkon¬ 
fessionellen Verein gegen den Branntwein zuwege zu bringen, wolle er sich 
an die — unsichtbare Kirche halten. 

Dr. Valentiner und Prof. Scherck in Kiel nahmen eine ver¬ 
mittelnde Stellung ein: jedem ist die Art seiner Erbauung anheim¬ 
zugeben; eigentliche Traktate gehören nicht in den Verein; jede 
Persönlichkeit und jede Richtung möge in ihrer Weise dem Verein 
dienen. Das entsprach der allgemeinen Stimmung in den Vereinen. 

Einige der eifrigsten theologischen Vorkämpfer (Volquarts, 
Heimreich, Biernatzki) waren orthodox. Je mehr in der Kirche 
selbst der alte Rationalismus von anderen kirchlichen Richtungen, 
insonderheit von der Orthodoxie abgelöst wurde, desto mehr mußten 
naturgemäß unter den Mäßigkeitstheologen die „Rechtgläubigen“ 
hervortreten, indessen kam es nur bei den Alkoholgiftgegnem zu 
einer organischen Verschmelzung eines kirchlichen und antialkoholi¬ 
schen Systems (welches sich durch souveränes Unfehlbarkeitsbewußt- 
sein auszeichnete). (Der orthodoxen Richtung gehörten aber nicht 
nur Freunde, sondern auch die eifrigsten theologischen Gegner der 
Vereine an, — vgl. den Abschnitt: Theologisches.) — Im allgemeinen 
blieb die kirchliche „Toleranz“ in den Vereinen siegreich: So konnte 
eine „herrliche Stütze“ gerade des Elmshorner Vereins, der sich „auf 

*) Auseinandersetzungen im Kieler Wochenblatt und Correspondenz-BIatt, 
— dazu die Schrift: „Die Mäßigkeits-Vereine in Deutschland. Erörtert aus Anlaß 
meines beabsichtigten Austrittes aus dem Kieler Verein.“ Hamburg 1845, 26 S. 


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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein. 


167 


das Evangelium gründete“ und in seinen Satzungen auf das „Wort 
Gottes“ berief, in den fünfziger Jahren der dortige jüdische Reli¬ 
gionslehrer Levy werden, wie es vorher der dortige evangelisch¬ 
lutherische Pastor Carstensen gewesen war. 

10. Ärztliches. 

So sehr man stets die gesundheitlichen Nachteile des Schnapses 
betonte, hielten sich doch die Ärzte im Lande im allgemeinen von 
der Mäßigkeitsbewegung zurück. Während z. B. zu Osnabrück alle 
Ärzte ein gemeinsames Gutachten gegen den Branntwein erließen, 
ist mir aus Schleswig-Holstein nur ein solches öffentliches Gut¬ 
achten bekannt geworden, das des Physikus Dr. H. E. Heseler 
zu Lütjenburg. 1 ) Es lautet: 

„Wenn eine wichtige, das Wohl oder Wehe der Menschheit betreffende 
Angelegenheit verhandelt wird, dann ist es Pflicht eines jeden, dessen Stellung 
in der Gesellschaft ihm Gelegenheit zur Erlangung von Erfahrung und Einsicht 
in den angeregten Gegenstand darbietet, seine Ansichten aufrichtig und öffent¬ 
lich auszusprechen. Ich rede hier von den Enthaltsamkeitsvereinen, über welche 
ich in wenigen Worten mein Glaubensbekenntnis ablegen will und es unbedenk¬ 
lich ablegen kann, da eine vieljährige und große Praxis mich in das Innere vieler 
Familien eingeführt und mir Gelegenheit verschafft hat, Glück und Unglück in 
denselben zu beobachten und die Ursachen davon erkennen zu lernen. 

Die Erfahrung hat mich gelehrt, daß das übermäßige Branntweintrinken den 
allernachteiligsten Einfluß nicht allein auf die körperliche Gesundheit, sondern 
auch auf den Geist ausübt. Sehr viele Kranke sind mir vorgekommen, bei denen 
dieses Laster offenbar die Ursache ihrer Leiden bildete. Krankheiten des Magens 
mannigfaltiger Art, als: Appetitlosigkeit, Verhärtungen, Verengerungen, deren Folge 
ein wirkliches Verhungern war; Krankheiten der Brust, als: Brustwassersucht, 
Schwindsucht; Krankheiten des Gehirns, als: Stumpfsinn und Säuferwahnsinn sind 
unter so vielen traurigen Folgen des übermäßigen Genusses spirituöser Getränke 
diejenigen, welche ich hervorheben will. 2 ) Ich will hier nicht der moralischen 
Verschlechterung der Säufer erwähnen. Die Geschichte menschlicher Verbrechen 
lehrt aber, daß sehr viele Verbrecher dem Trünke ergeben waren, ehe sie von 
der Bahn der Tugend und der Pflicht abwichen und die des Lasters betraten. 

Aber nicht nur der übermäßige Genuß des Branntweins ist schädlich, sondern 
es ist meiner Ansicht nach der mäßige Genuß desselben wenigstens entbehrlich, 
wenn nicht absolut nachteilig. Ich kenne recht gut die Einwendungen, welche 

*) Aus dem Itzehoer Wochenbl. abgedr. in den Bltr. des Hamb. V. g. d. 
Brtwntrk. 1842, S. 99. — Hans Etlef H., geb. zu Wyk auf Föhr, seit 1816 prak¬ 
tischer Arzt in Heiligenhafen, Lütjenburg, Oldenburg, Neustadt, — 1868 Sanitäts¬ 
rat, f 4. März 1870 zu Lütjenburg. 

2 ) H. führt also nicht wie Volquarts in der letzten Predigt (Kap. 9, e) 
die Selbstverbrennung des Trinkers mit an. 


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Pastor Dr. Stubbe. 


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man gegen die Enthaltsamkeit vom Genüsse spirituöser Getränke hinsichtlich der 
Arbeitenden Klasse aufstellt; ich weiß recht gut, daß man den Branntwein für 
ein Präservativ gegen die nachteiligen Folgen hält, welche vieles Bier- und 
Wassertrinken bei großer Hitze und schwerer Arbeit und plötzlicher Abkühlung 
bei starkem Schweiße hervorbringen können; aber ich weiß auch, daß es unter 
den körperlich stark arbeitenden Menschen viele gibt, die bei der Arbeit keinen 
Branntwein trinken, und zwar teils aus dem Grunde, weil sie keinen mögen, und 
die dennoch ebenso gesund sind als solche, welche bei der Arbeit den Präservativ¬ 
schnaps trinken. 

Ich glaube ferner, daß die Enthaltsamkeitsvereine dadurch einen großen 
Nutzen stiften, daß das von ihren Mitgliedern gegebene Beispiel der Selbstbeherr¬ 
schung, der Nüchternheit und Enthaltsamkeit auch die in den Verein nicht ein¬ 
getretenen Trinker und Säufer teilweise zur Nachahmung anreizt. Es fehlt den 
letzteren t>ei der verminderten Zahl der Trinker an der früheren Aufforderung 
und Verführung zum Trinken, und sie werden durch das Nachdenken über Mäßig- 
keits- und Enthaltsamkeitsvereine auf sich selbst aufmerksam gemacht und ge¬ 
langen nach und nach dahin, das Unmoralische und Schädliche des Zuvieltrinkens 
einzusehen und die lasterhafte Angewöhnung aufzugeben. 

Von dem großen Nutzen, welchen die Unterlassung des Schnapstrinkens 
herbeiführt, völlig überzeugt, kann ich, ich wiederhole es, nicht begreifen, wie 
die Enthaltsamkeit von einem Getränk, das bekanntlich solche körper- und geist- 
vernichtende Eigenschaften besitzt, Schaden verursachen sollte. 

Doch das Eine muß ich noch hinzufügen: sollten die anfangs gewiß in der 
edelsten Absicht errichteten Enthaltsamkeitsvereine jemals als Institute gemißbraucht 
werden, um die Willensfreiheit des Menschen in Fesseln zu schlagen, dann ver¬ 
damme sie Gott! Dann ist es Pflicht eines jeden Rechtschaffenen, solchen 
Vereinen aus allen Kräften entgegenzuarbeiten, und das kostbarste Gut, den ver¬ 
nünftig freien Willen des Menschen zu beschützen, da es gewiß weniger schlimm 
ist, daß einzelne schwache, der Selbstbeherrschung unfähige Menschen der Trunk¬ 
sucht und ihren Folgen verfallen bleiben und untergehen, als daß Tausende von 
willenlosen Kreaturen abgerichtet werden. Lütjenburg, 1842.“ 

Wie man sieht, tritt dieses Gutachten kräftig für die Mäßig¬ 
keitsvereine ein. Auch der Arzt redet* vom Trunk als Laster, 
würdigt die Macht des guten Beispiels und fordert volle Enthalt¬ 
samkeit vom Branntwein. Hesel er ist Fortschrittsmann; wenn er 
den Vereinen unter bestimmter Voraussetzung mit seinem Bann 
droht, so kann man an ein Zweifaches denken: 1. Z. T. argwöhnte 
man in der Mitarbeit des geistlichen Standes pfäffische Herrschsucht 
und sah in den Vereinen Mucker- oder Pietistenmache (vgl. für 
Schleswig-Holstein die Stimme Fe Id man ns). Vielleicht will H. 
gegen solche Möglichkeit (die aber seiner bisherigen Erfahrung 
nicht entspricht) protestieren. 2. Im östlichen Holstein nahmen 
einzelne sehr angesehene Personen sich der Vereine an und be¬ 
stimmten manche durch ihre Stellung (Volquarts sagt einmal: mehr 
durch Überredung als durch Überzeugung), den Vereinen beizutreten. 


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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein. 169 

Es scheint mir wahrscheinlich, daß H. aus individualistisch-persön¬ 
lichem Freiheitsgefühl heraus gegen diesen Mißstand gerade seiner 
Landesgegend hat ankämpfen wollen; — in Amerika hat man für 
die gleiche Anschauung die jedenfalls sozial sehr anfechtbare Formel 
geprägt: „Besser ganz Amerika betrunken, als ein einziger Ameri¬ 
kaner durch Zwang nüchtern.“ 

Bein auf medizinischem Gebiete arbeitet Dr. Manicus 1 ) zu 
Eckemförde. In einer Abhandlung über „die Trunkfälligkeit und 
die Mittel dagegen“ berichtet er über das Ergebnis seiner Behand¬ 
lung von 10 Trunkfälligen mit der sog. „Schwedischen Kur“. (Diese 
besteht darin, daß man die Säufer 8—10 Tage einschließt, und 
während dieser Zeit alle Nahrungsmittel für sie mit 1 I 3 Branntwein 
vermischt.) Dr. M. hat dieses Mittel probat gefunden; nur 1 von 
■den 10 Säufern habe später wieder Schnaps getrunken, — die 
anderen 9 seien ordentliche Menschen geworden, obgleich sie 30 
bis 50 Jahre lang Säufer gewesen und nach der Kur der Einwir¬ 
kung der alten Trinkkumpane wieder ausgesetzt waren. — Prof. 
Otto berichtete hierüber in einer Versammlung des Kopenhagener 
Mäßigkeitsvereins 3. Dez. 1845. Der Verein beschloß darauf, 
sämtliche Armenkommissionen und Hospitalärzte zu ähnlichen Ver¬ 
suchen aufzufordern. — Es ist mir nicht bekannt geworden, daß 
in den Herzogtümern irgend ein Verein ähnlich gehandelt habe; 
vielmehr weiß ich bei diesen nur von einer moralischen Hebung 
des Kranken, und ihr Heilmittel war die Enthaltsamkeit. In der 
Tat war diese Zurückhaltung berechtigt; denn es zeigte sich, daß 
die Zahl der Rückfälle nach Abschluß der Kur sich stetig mehrte. 
Berichtete Dr. Sonden aus Stockholm, daß von 139 Soldaten des 
schwedischen Heeres, die sich der „schwedischen Kur“ unterzogen 
hätten, 128 geheilt, 4 rückfällig geworden, 7 aber die Kur unter¬ 
brochen hätten, so ergaben „neuere Mitteilungen“ des Dr. Helving, 
„daß von jenen 139 schon 95 wieder dem Trunk ergeben sind, 
und von den übrigen dasselbe zu erwarten sein möchte“. Ähnliche 
Erfahrungen (anfangs günstig, später schlecht) machte man im 
Lazarett des Armenhauses zu Potsdam 2 ). 

Besonders dankbar empfand man es, wenn Ärzte persönlich 
in die Vereinsarbeit eintraten; so Valentiner zu Kiel, den ärzt- 


») Bl. d. H. V. g. d. Br. 1846, S. 8. 

*) Bl. d. H. Y. g. d. Br. 1846, Nr. 35. Centralblatt Nr. 2, S. 15. 
Der Alkoholismus. 1905. 12 


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Pastor Dr. Stubbe. 


liehe Beobachtungen der Branntweinschäden zur Vereinsstiftung 
trieben, 1 ) Dr. Eller-Glückstadt, Dr. Gad, Gründer und dann Vor¬ 
sitzender des Vereins zu Romoe (Insel Röm). 2 ) 

Dr. Valentin er sprach es auf der Rendsburger Generalver¬ 
sammlung (1844) als seine Überzeugung aus, 3 ) daß es ein ganz 
sicheres Resultat der Wissenschaft sei, welches niemand bestreiten 
könne, wenn er nicht auf Spitzfindigkeiten verfallen wolle: daß der 
reine Alkohol zu den Giften gehöre ebensogut wie das Opium, 
so daß ein Eßlöffel voll einen Erwachsenen töten müsse. Der 
Branntwein sei eben dasselbe, nur durch einen Zusatz von Wasser 
verdünnt, wodurch er natürlich weniger schädlich werde, während 
er, in größerem Maße genossen, dieselben Wirkungen habe wie 
unvermischter Alkohol. Jedenfalls sei also der Branntwein der 
Gesundheit und dem Leben nachteilig, wie er denn auch durchaus 
keine nährenden Bestandteile enthalte, sondern nur die Nerven 
aufrege. Die gegorenen Getränke enthalten jedenfalls ein sehr viel 
geringeres Maß und zwar nicht destillierten Alkohols, innig ver¬ 
bunden mit nährenden Substanzen; ihr Genuß rege daher freilich 
auch auf, aber stärke zugleich, so daß auch nach verschwundener 
Aufregung das behagliche Gefühl gehobener Lebensfunktionen bleibe. 

Gelegentlich scheint sich das Geschäftsinteresse der Ärzte 
gegen die Vereine gewandt zu haben. Volquarts bringt eine 
Klage dieser Art an die Öffentlichkeit: „Jawohl, die Ärzte leiden 
durch die Vereine sehr; was sollen sie anfangen, wenn, da deren 
Zahl schon so groß ist, die Vereine um sich greifen und die Leute 
vom Branntwein ablassen“. 4 ) Gegenüber solchem Mietlingswort der 
Selbstsucht berührt erquickend die ideale Auffassung von der Auf¬ 
gabe eines Arztes, der Prof. Dr. Weber zu Kiel Ausdruck verleiht: 
Der Arzt „sagt sich, daß er außer der Verpflichtung für die Ge¬ 
sundheit des Einzelnen auch für die Abwendung alles dessen Sorge 
zu tragen hat, was die Gesundheit im allgemeinen gefährdet, wie 
das die Pflicht eines jeden Staatsbürgers ist, soweit es nicht in 
das Amt der Physici eingreift“. (Da nun, wie die Sektionen von 
Trinkerkörpem und die tägliche Erfahrung lehren, der Branntwein 
die körperliche und geistige Gesundheit schädige, so müsse der 

*) Vgl. z. B. Bl. d. H. V. g. d. Br. 1843, S. 126. Kieler Wochenblatt 
1843 u. 44. 

*) Bl. d. H. V. g. Br. 1844, S. 139. Volquarts 1847, S. 34. 

s ) Bl. d. H. V. 1844, S. 160. 

4 ) (Ditm.) Volksfreund 1845, S. 35. 


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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein. 171 

Arzt dafür arbeiten, ihn aus der Welt zu schaffen; das könne er 
am besten durch Mitarbeit in einem Verein). 1 ) 

Anhangsweise bemerke ich bei diesem Abschnitte, daß 1844 
ein Gesundheitsapostel Ernst Mahner das Land durchzog und 
„die TJrhygieine“ in öffentlichen, vielbesuchten Vorträgen verkündete. 
Er hatte für seine Lehre 10 Gebote formuliert, von denen uns 1—4 
und 10 angehen. 2 ) 

I. Strengste Enthaltung von allem gebrannten Wasser in gesunden, wie in 
kranken Tagen. 

II. Ebenso strenge Enthaltung von allem heißen oder warmen Wasser in 
allen heute üblichen Mischungen (kein Kaffee und Tee, dagegen Wein, Fruchtsaft 
und vor allem Quellwasser). 

III. Entsage klug allem Scharfen, Salzigen, Bitteren, Sauren und Herben 
und allem, was fault und stinkt, und gewöhne deine Natur an die seelenlabende 
Milde der urinstinktlichen reinen Genüsse (Erweckung des Obsttriebes etc.). 

IY. Wirf mit hochsinnigem Abscheu von dir das scharfgiftige Dampf- und 
Nieskraut. Es macht schwarz und mürbe deine Zähne, unrein deinen Speichel, 
trocken deinen Leib, stumpf deine Nerven, scharf dein Blut, schmutzig deine 
Nase, stinkend deinen Hauch und umnebelt dir’s Hirn. — 0 heilige Natur, ver¬ 
gib ihnen! Denn sie wissen nicht, was sie tun. 

(V. Urin8tinktmäßige Bekleidung. 

.VI. Abschaffung der Federbetten. 

VH. Haar und Bart ungeschoren. 

VIII. Wiederbelebung des Sonneninstinktes des Körpers. 

IX. Gesetz des täglichen Bades.) 

X. Im Geiste der menschenbeglückenden Urhygieine sollst du das Werk 
verbreiten nach allen deinen Kräften, auf daß sein Segen über alle komme. 

Hier wird also Branntwein sogar als Arznei verworfen, Nikotin 
dem Alkohol gleichgestellt, auch das Reizmittel Tee und Kaffee 
zurückgewiesen, das Obst gepriesen und merkwürdigerweise Wein 
neben Fruchtsaft gesetzt 

Es ist begreiflich, daß die von den Mäßigkeitsvereinen erregten 
Kreise sich für diese Naturheilkunde interessierten, aber auch, daß 
sie es nicht zu einem wirklichen Bündnisse kommen ließen; es 
fehlte doch nicht ganz der Eindruck einer Charlatanerie. 


x ) Kieler Wochenblatt 1843, Nr. 99. 
*) Ditmars. Ztg. 1844, Nr. 38. 


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Die Heilstätte „Waldfrieden- 1 . 


Die Heilstätte „Waldfrieden“. 

Am Sonntag, dem 2. Juli, beging die Heilstätte ,,Waldfrieden“ 
bei Fürstenwalde a. d. Spree die Eröffnungsfeier ihrer Erweiterungs¬ 
bauten unter Beteiligung von Vertretern Staats- und Kommunal¬ 
behörden, alter und neuer Freunde. In Vertretung des Herrn 
Landesdirektors der Provinz Brandenburg war Herr Landesrat 
Gerhardt -Berlin erschienen; der Herr Landeshauptmann der 
Provinz Sachsen entschuldigte sein Fernbleiben mit den wärmsten 
Wünschen für das fernere Gedeihen der Heilstätte; dafür hatte 
sich der Direktor der sächsischen Landesirrenanstalt Uchtspringe, 
Herr Dr. Alt, eingefunden. Von der Königlichen Regierung zu Frank¬ 
furt a. 0. war Herr Königl. Baurat Förster anwesend, desgleichen 
nahm der Königl. Kreisarzt, Herr Medizinalrat Dr. Schaefer- 
Frankfurt a. 0., teil. Die Stadt Fürstenwalde war durch ihren 
Ersten Bürgermeister, Herrn Zeidler, und den Stadtverordneten- 
vorsteher, Herrn Justizrat Kolberg, vertreten; von der Armen¬ 
direktion der Stadt Berlin war deren Vorsitzender, Herr Stadtrat 
Dr. Münsterberg, ebenso der Vorsitzende der Armendirektion 
Charlottenburg, Herr Stadtrat Samter, und für die Armen¬ 
direktion Schöneberg Herr Salinger anwesend, sodann Ver¬ 
treter von Berufsgenossenschaften, Krankenkassen u. a. m. 

An Stelle des durch Kranksein leider verhinderten Vorsitzen¬ 
den, Herrn Geh.-Med. Rat Dr. Sander, begrüßte Herr Stadtrat Dr. 
Waldschmidt die Anwesenden und berichtete über die Zwecke 
und Ziele der Heilstätte ,,Waldfrieden“ wie folgt: 

„M. H. Wenn wir heute nach 5 Jahren — es war am 13. Juli 1900, 
als die Heilstätte „Waldfrieden“ eröffnet wurde — abermals an dieser 
Stelle eine Einweihungsfeier begehen und damit gleichsam in eine 
zweite Periode unseres kleinen Heilstättenwesens ein treten, so ge¬ 
ziemt es sich wohl, einen Rückblick auf die kurze Spanne Zeit, 
welche uns zum Bericht zur Verfügung steht, zu werfen und über 
die Gründe Aufklärung zu geben, welche uns zur Erweiterung ge¬ 
führt haben. Handelte es sich lediglich um eine Vermehrung von 
Bauten mit ihren Einrichtungen, so würde es mir kaum gerecht¬ 
fertigt erscheinen, Sie zu einem besonderen Tage herausbemüht zu 
haben; es sind aber schwerer wiegende, es sind grundsätzliche 


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Die Heilstätte „Waldfrieden“. 173 

Änderungen, welche hier vor sich gehen, und die heute zu Ihrer 
Kenntnis gelangen sollen. 

Darf ich nun zunächst kurz auf die Motive zurückkommen, 
welche uns veranlaßten, vor 5 Jahren diese Heilstätte ins Leben zu 
rufen, so handelte es sich darum, daß in den letzten 50 Jahren 
eine Reihe von (offenen) Heilstätten in Deutschland entstanden war, 
welche dazu dienten, trunksüchtige Personen in eine abstinente Um¬ 
gebung zu bringen, ihnen durch das Beispiel zu beweisen, daß es 
sich ohne Alkohol leben läßt, daß durch die Abstinenz Körper und 
Geist erstarkt, dagegen die geistigen Getränke für sie wirtschaft¬ 
lichen, körperlichen und sittlichen Ruin bedeuten. Man hatte durch 
entsprechende Beeinflussung neben der praktischen Nutzanwendung 
gute Erfolge zu verzeichnen, und besonders gaben Schweizer Trinker¬ 
heilstätten ein hervorragendes Beispiel dafür, was erzielt werden 
kann bei einer rationellen Methode. Es kam nun für unsere Ab¬ 
sichten ausschlaggebend hinzu, daß es in der Nähe der Reichshaupt¬ 
stadt keine solche Anstalt gab, während doch die Zahl derer, die 
ihrer bedürftig sind, geradezu Legion ist Dafür nur ein kurzes 
Beispiel: nach einer im preuß. Statist. Bureau bearbeiteten Statistik, 
betitelt „Die Trinkerfürsorge in Preußen“, wurden im Jahre 1899 
in den allgemeinen Heilanstalten Preußens 13610 Männer und 776 
Frauen an Alkoholismus leidend gefunden. Yon diesen zusammen 
14386 Personen litten 3514 (3406 Männer und 108 Frauen) an 
Delirium tremens, 468 Personen (406 Männer und 62 Frauen) an 
Trunkenheit und 10404 Personen (9798 Männer und 606 Frauen) 
an chronischem Alkoholismus. Die Provinz Brandenburg hatte hieran 
in folgender Weise Anteil: der Regierungsbezirk Potsdam wies 
1268 Männer und 17 Frauen auf, zusammen 1285, bei welchen 
Alkoholismus im Krankenhause konstatiert wurde; der Regierungs¬ 
bezirk Frankfurt hatte deren 649 Männer und 19 Frauen, zusammen 
668. Die Provinz Sachsen war mit 695 Männern und 15 Frauen 
beteiligt (Magdeburg mit 377 Männern und 10 Frauen, Merseburg 
mit 216 Männern und 5 Frauen, Erfurt mit 102 Männern). Der 
Stadtkreis Berlin verpflegte aber in demselben Zeitraum 1500 alko¬ 
holische Männer und 106 Frauen in seinen Krankenhäusern. Inter¬ 
essant ist die fernere Tatsache, daß von den in der Provinz Bran¬ 
denburg erkrankten 1953 Alkoholisten 1224 auf öffentliche Kosten, 
580 auf Kosten der Krankenkassen verpflegt wurden. In Sachsen 
wurden von obigen 710 Patienten 305 auf öffentliche Kosten, 353 auf 
Kosten von Krankenkassen untergebracht Yon den 1606 Berliner 


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174 


Die Heilstätte „Waldfrieden“. 


Alkoholisten entfielen den Armenlasten 874, den Krankenkassen 682. 
Sie wollen gütigst bemerken, daß es sich hierbei nur um solche Kranke 
handelt, die in allgemeinen Krankenanstalten, nicht aber in Irrenan¬ 
stalten untergebracht worden waren. (Zu den Insassen der letzteren 
werde ich später zu kommen haben.) Die Reaktion auf diese Tat¬ 
sachen war die Gründung einer Heilstätte, die freiwillig Eintretenden 
die nötige Behandlung bieten, den inneren Halt wiedergeben sollte. 
Die Ermutigung hierzu lag indes nicht allein in den eben ange¬ 
führten, überwältigenden Zahlen, nicht allein in dem Ansporn, hier 
bei uns wie in der Schweiz gute Erfolge zu erwirken, sondern vor 
allem auch darin, daß in den allgemeinen Krankenanstalten die Be¬ 
handlung der Alkoholisten eine recht stiefmütterliche ist, ja dank 
dem ganzen Apparat und der ungeheuren Ausdehnung, die die 
meisten Krankenhäuser nehmen, sein muß, bei der jede individuelle 
Behandlung fehlt, bedauerlicherweise nicht selten jedes Verständnis 
für eine solche mangelt. — Es trat aber immer mehr die Erkennt¬ 
nis hervor, auch Trunksüchtigen mit geeigneten Mitteln helfen zu 
können und eine Unterlassungssünde gleichsam zu begehen, sofern 
man nicht tatkräftig eingreife. Es kam noch der Umstand hinzu, 
daß die Alkoholfrage immer weitere Kreise zog, die Aufmerksamkeit 
der breiteren Schichten der Bevölkerung erregte und die Wissen¬ 
schaft mehr wie vordem beschäftigte. Es haben sich die Anschau¬ 
ungen über die Trunksucht und ihre Behandlung dahin befestigt, 
daß man heute nicht ansteht, die Trunksucht als eine Krankheit zu 
erklären und die derselben Unterlegenen nicht als verkommene, 
lasterhafte Individuen, sondern als Alkoholkranke anzusehen. Man 
hat weiter erkannt, daß die Grundbedingung für eine rationelle Heil¬ 
behandlung die konsequente Durchführung der Enthaltung von allen 
alkoholhaltigen Getränken, der Abstinenz, ist; und man hat ferner 
erkannt, daß diese Durchführung nirgends leichter von statten geht, 
als in einer Spezialanstalt, die fachwissenschaftlicher, abstinenter 
Leitung untersteht — 

Traten wir nun vor 5 Jahren mit unserer Heilstätte auf den 
Plan, so wird sich heute die Frage aufdrängen, ob und inwiefern 
die Hoffnungen und Wünsche, welche uns damals von allen Seiten 
entgegengebracht wurden, ob die Erwartungen, die wir selbst ge¬ 
hegt, sich verwirklicht haben, welche Erfolge erzielt worden sind, 
was überhaupt unsere Heilstätte geleistet hat. Die Heilstätte „Wald¬ 
frieden“ wurde in dem Zeitraum vom 18. Juli 1900 bis zum 
heutigen Tage von 382 Personen aufgesucht; hiervon befinden sich 


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Die Heilstätte „Waldfrieden 1 '. 


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zur Zeit noch hier in Behandlung 26, so daß über den Heilerfolg 
bei 356 Patienten zu berichten wäre. Von diesen scheiden aber 
für unsere Betrachtungen folgende aus: 


1. gestorben.1 

2. in Irrenanstalten pp. verbracht.3 


3. solche Kranke, welche innerhalb zweier Monate 
gegen den Rat des Arztes die Heilstätte ver¬ 
ließen oder aus derselben ausgeschieden wer¬ 
den mußten oder zur Beobachtung hier waren 58 zus. 62 

es verbleiben also 294, 

welche um eine weitere Zahl solcher vermindert 
werden müssen, die nach der Entlassung 
verstarben (hiervon 5 durch Selbstmord) = 12 

somit würden für unsere Betrachtung bleiben 282. 

Nach genauer Durchsichtung der Entlassenen und bei strenger 
Prüfung ihres heutigen antialkoholischen Wertes darf ich fest¬ 
stellen, daß sich von diesen 282 Personen bei einem Durchschnitts¬ 
aufenthalt von 146 Tagen bis heute 92, also 32,6 °/ 0 , abstinent 
gehalten haben, es können aber auch weitere 43 oder 15,4% nicht 
außer Berechnung bleiben, die sich zwar nicht abstinent, aber doch 
durch ihre Mäßigkeit so gehalten haben, daß sie voll erwerbsfähig 
geworden und bisher geblieben sind. Mindestens ein Jahr hindurch 
nach ihrer Entlassung waren sodann noch 5 (1,7 %) abstinent oder 
mäßig; während 142, also rund 50% als unheilbar angesehen werden 
müssen. Interessant ist die Tatsache, daß bisher von den ent¬ 
lassenen Selbstzahlern 38%% abstinent, 12%% mäßig blieben, 
also 51% mit guten Erfolgen zu verzeichnen sind; die Kranken 
der Armenverwaltungen wiesen 22% Abstinente, 11% Mäßige, 
mithin 33% Erfolge auf, die Krankenkassen-Patienten durften 
mit 28% Abstinenten und 24% Mäßigen, demnach mit 52% erfolg¬ 
reich Behandelten entlassen werden, während die Landesver¬ 
sicherungsanstalten 16%% Abstinente und 16%% Mäßige, 
also 33% Erfolg zu gewärtigen, die Kranken der Berufsge¬ 
nossenschaften aber 16% Abstinente, 50% Mäßige, also 66%% 
Erfolg aufzuweisen hatten. — Es sei sodann erwähnt, daß sich unter 
den selbstzahlenden Patienten 12 Entmündigte befanden, wovon 
heute nach 4jähriger Entlassung sich einer abstinent gehalten hat 
Unter den Kranken der Armen verbände waren ebenfalls 12 ent¬ 
mündigte Kranke, die indes ohne besonderen hier zu verzeichnen¬ 
den Erfolg aus der Heilstätte entlassen wurden. Wir dürfen dem- 


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176 


Die Heilstätte „Waldfrieden“. 


nach behaupten, daß mindestens ein Drittel aller von hier 
Entlassenen Dauererfolg aufzuweisen hatten, soweit man 
eben von einem solchen innerhalb der verhältnismäßig kurzen Zeit 
von 5 Jahren reden darf. Die vorliegenden Tatsachen, welche bei 
strenger Zensur, wie ich mir erlauben möchte nochmals hervorzu¬ 
heben, konstatiert sind, entsprechen den Erfolgen, welche man all¬ 
gemein in der Schweiz annimmt, und die den Direktor des Innern 
im Berner Großen Rat am 19. Mai 1900 zu folgenden Äußerungen 
veranlaßten: „In sämtlichen schweizerischen Trinkerheilanstalten 
fanden bis jetzt ca. 2400 Alkoholiker Aufnahme. Gewöhnlich ist 
ein Aufenthalt von 6 Monaten erforderlich, hier und da auch etwas 
mehr. Was die Resultate betrifft, so hat eine Nachforschung und 
Zusammenstellung über das Verhalten der gewesenen Insassen von 
Trinkerheilanstalten der Schweiz ergeben, daß man mindestens ein 
Drittel als vollständig und definitiv gebessert betrachten kann, so 
daß also von 2400 Alkoholikern 800 wieder tüchtige Bürger und 
Familienangehörige geworden sind. Das ist zweifellos ein Gewinn 
für das Land, wenn so viele Personen, die sonst sich selber zur 
Schande, ihren Angehörigen zum Verdruß und dem Gemeinwesen 
zur Last waren und es immer mehr geworden wären, dahin ge¬ 
bracht werden konnten, wiederum als vernünftige Menschen za 
leben und so auch ihre ökonomischen Verhältnisse wieder zu ver¬ 
bessern“. — Dieser ministeriellen Kundgebung darf ich vielleicht 
eine Verfügung des Regierungspräsidenten zu Düsseldorf vom 17. März 
1902 an die Seite stellen, in der er die Landräte, Oberbürgermeister, 
Bürgermeister und Gemeindevorsteher seines Bezirks auf den Wert 
einer rechtzeitigen Unterbringung von Alkoholkranken in Spezial¬ 
anstalten aufmerksam macht und insbesondere hervorhebt, daß die 
Aufwendungen, die durch den Aufenthalt eines Alkoholikers in der 
Anstalt entstehen, bei erfolgreicher Kur geringer seien, als die dauern¬ 
den Unterstützungen, welche andernfalls dem gänzlich verkommenen, 
erwerbsunfähigen Trinker oder seinen Hinterbliebenen auf Grund 
des Unterstützungswohnsitzgesetzes gewährt werden müssen, zumal 
wenn noch die Vererbung lasterhafter Anlagen auf die Nachkommen¬ 
schaft des Trinkers und das ansteckende schlechte Beispiel des 
Trinkers für seine Familienangehörigen in Betracht gezogen werde. 
In diesem Schreiben macht der Regierungspräsident auf die Mög¬ 
lichkeit aufmerksam, daß die Armenverbände nicht immer sämtliche 
Kosten für die Kur zu tragen haben würden, sondern vielfach die 
Familien zu einem Kostenbeitrag heranziehen könnten, dann aber 


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Die Heilstätte „Waldfrieden“. 


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verweist er darauf, daß Beihilfen zur Bestreitung der Kosten für 
solche Unterbringungen aus dem Fonds der Provinzialverwaltung 
für milde Stiftungen bewilligt werden können 1 ). — 

Wer nicht im stände ist, sich in seiner Lebensstellung ein Bild 
darüber zu verschaffen, was an Armenlasten dank der Trunksucht all¬ 
jährlich gezahlt werden muß, mag das kleine Schriftchen von Pütter 
„Trunksucht und städtische Steuern“ lesen, welcher Fälle mitteilt, die 
wahrlich zu denken geben; auch verweise ich denjenigen, der sich über 
diese immer brennender werdende Frage unterrichten will, auf den 
letzthin von Münsterberg in der technischen Hochschule zu Char¬ 
lottenburg gehaltenen Vortrag über „Alkoholismus und Armenpflege“, 
aus dem ich zur Charakteristik hier nur den einzigen Satz mitzu¬ 
teilen brauchte, welcher lautet: „Wenn in Berlin nahe an 3000 Frauen 
mit ihren Kindern als eheverlassen unterstützt werden müssen, so 
sind in fast allen Fällen Trunksucht und Liederlichkeit des Mannes 
die Hauptursache“. Aber auch die folgenden Auslassungen dieses 
in der Armenpraxis sicherlich kompetenten Vorstehers der Armen- 
Direktion der Stadt Berlin sind beherzigenswert: 

„Die Armenpflege kann dem Übel im allgemeinen nicht nur 
nicht steuern, sondern sie muß gewissermaßen noch eine Prämie 
auf die Liederlichkeit setzen, indem sie in den verschiedensten 
Formen Hilfe gewährt. Es ist natürlich, daß sie auch von ihrer 
Seite aus Versuche macht, sich mit positiven Maßregeln hiergegen 
zu wehren. In dieser Richtung liegen namentlich die Bestrebungen, 
besserungsfähige Trinker in Trinkerheilstätten zu bringen, deren 
gegenwärtig 40 in Deutschland bestehen. Wenn in diesen An¬ 
stalten, namentlich auch in den schweizerischen Anstalten günstige 
Erfolge zu verzeichnen waren, so handelt es sich meist um Fälle, 
die rechtzeitig genug erkannt wurden, um noch moralisch bessernd 
ein wirken zu können. Die Armenpflege, namentlich der großen 
Städte, wird des durch die Trunksucht verschuldeten Zustandes meist 
erst so spät gewahr, daß es zu solchen Maßregeln auch schon zu 
spät ist. Die durch das B. G.-B. zugelassene Entmündigung hilft 
in dieser Beziehung auch nur wenig, da sie an einschränkende Vor¬ 
aussetzungen gebunden ist, deren Erfüllung für die Armenpflege 
sehr schwierig oder, sofern nicht mehr schwierig, gleichgültig ist. 

*) Während der Drucklegung dieses wird eine Verfügung des Herrn Re¬ 
gierungs-Präsidenten zu Potsdam d. d. 28. Juni bekannt, welcher in gleicher Weise 
den benannten Behörden die Unterbringung von Alkoholkranken (in die Heilstätte 
„Waldfrieden“) empfiehlt. 


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Die Heilstätte „Waldfrieden“. 


Sobald sie einmal anfangen muß zu unterstützen, hat die Entmün¬ 
digung für sie nur noch geringen Wert Alles Streben der Armen¬ 
pflege muß daher darauf gerichtet sein, die Trinker zu einem Zeit¬ 
punkte als solche zu erkennen, wo noch eine Einwirkung auf sie 
möglich ist“ 

Sollte man nun nach diesen Urteilen von solch autoritativer 
Seite nicht berechtigt sein zu meinen, daß Trinkerheilanstalten gar 
nicht genug würden eingerichtet werden können, um all die Indi¬ 
viduen aufzunehmen, die einer Pflege und Behandlung bedürfen? 
Leider steht aber auch hier die Praxis hinter der Theorie weit zu¬ 
rück; es wird auch hier eine gewisse Vogel Strauß-Politik getrieben; 
man begnügt sich auch hier, wie leider so manchmal in der Welt, 
damit, eine kleine, sich nach außen zeigende Wunde oberflächlich 
zu verkleben, das innere Geschwür aber imbeachtet lassend, man flickt 
und stopft das Loch immer wieder zu, bis überhaupt nichts mehr zu 
flicken ist. Auf unsern Fall angewandt, würde die Übersetzung so 
lauten, daß man einem Alkoholisten hundertmal Unterstützungen 
zahlt, ohne aber den wahren Grund dieser Unterstützungsbedürftig¬ 
keit zu beachten, daß man Trinker-Familien Beihilfen gewährt, um 
dem Trinker selbst indirekt dadurch Geld zum Schnaps zukommen 
zu lassen. Das gilt indes nicht nur für die Armenverbände, sondern 
mindestens im gleichen Maße für die Krankenkassen. Hier hat sich 
zwar das Bewußtsein gerade in der letzten Zeit mehr Bahn ge¬ 
brochen, daß eine Heilstätten-Behandlung für Trunksüchtige allen 
Palliativmitteln vorzuziehen ist. Wiewohl es leider bei der Ände¬ 
rung des Krankenversicherungsgesetzes im Jahre 1903 noch nicht 
möglich wurde, die Bestimmungen der §§ 6 a und 26 a, nach denen 
die Gemeindekrankenkassen und Ortskrankenkassen berechtigt sind, 
Mitgliedern, die sich eine Krankheit durch Trunkfälligkeit zugezogen 
haben, das statutenmäßige Krankengeld gar nicht oder nur teilweise 
zu gewähren, zu beseitigen, so läßt sich doch erfreulicherweise kon¬ 
statieren, daß die Kassen sehr viel häufiger als vordem bereit sind, 
eine sechsmonatliche Kur in einer Trinkerheilstätte zu bewilligen. 

Während die für uns in Frage kommenden Armenverbände 
sich auf einige wenige beschränken, von denen die Stadtgemeinden 
Berlin und Charlottenburg die größte Rolle spielen, da die 
erstere mit 32, Charlottenburg mit 27 Patienten innerhalb 5 Jahren 
beteiligt war, von den übrigen nur Magdeburg, Lübeck, Bunz- 
lau, Königs-Wusterhausen, Wilmersdorf und Neu-Weißen- 
see mit je einem Pflegling in unserer Heilstätte vertreten waren, 


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Die Heilstätte „Waldfrieden“. 


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hat eine große Anzahl von Krankenkassen „Waldfrieden“ mit 
Kranken beschickt und zwar besonders die Ortskrankenkasso 
der Kaufleute und Apotheker (18), die Betriebskranken¬ 
kasse der Reichsdruckerei (2), die Betriebskrankenkasse 
der Stadtgemeinde Berlin (3), die Allgemeine Ortskranken-* 
kasse in Charlottenburg (5), die Krankenkasse der A. E. G. (4), 
die Betriebskrankenkasse der Berliner Straßenbahn (l) f 
die Kaufmännische Krankenkasse (1), die Mansfeldsche 
Knappschaftskasse (1), die Krankenkasse für deutsche Gärt¬ 
ner (1), die Armenkommission der jüdischen Gemeinde (1), 
die Betriebskrankenkasse für Teer- und Erdöl-Industrie (1), 
die Zentralkrankenkasse der Maurer (2), die Zentralkranken¬ 
kasse der Zimmerer (2), die Zentralkrankenkasse der Tape¬ 
zierer (1), die Ortskrankenkasse für das Buchdruckerei¬ 
gewerbe (3), die Betriebskrankenkasse der Meierei C. Bolle 
(1), die Ortskrankenkasse des Brauereigewerbes (1), die 
Ortskrankenkasse der Gürtler (1), die Neue Maschinen¬ 
bauerkrankenkasse (2), die Ortskrankenkasse der Bureau¬ 
angestellten Berlin (1), die Ortskrankenkasse der Berliner 
Hausdiener (1), die Ortskrankenkasse in Hoyerswerda (1), 
die Krankenkasse der Tischlerinnung Berlin (3), die Zen¬ 
tralkrankenkasse der Maler (1), die Ortskrankenkasse der 
Gastwirte (1), die Ortskrankenkasse der Tischler- und 
Pianofabrikenarbeiter (1), die Ortskrankenkasse der Op¬ 
tiker, Mechaniker etc. (1), die Allgemeine Ortskrankenkasse 
in Berlin (1), die Allgemeine Ortskrankenkasse der Metall¬ 
arbeiter (1), die Kranken- und Begräbniskasse junger Kauf¬ 
leute in Nordhausen (1), die Allgemeine Unterstützungs¬ 
kasse der Fabrik-Arbeiter und Arbeiterinnen in Köpenick 
(1), die Krankenkasse des Verbandes deutscher Handlungs¬ 
gehilfen (1), die vereinigten freien Hilfskassen von Berlin 
und Umgegend (1), sodann der Deutsche Privatbeamtenver¬ 
ein (1), der Verein gegen Verarmung (1). Ich darf noch hinzu¬ 
fügen, daß außerdem die Lagerei-Berufsgenossenschaft (3), 
die Straßen- und Kleinbahn-Berufsgenossenschaft (2), so¬ 
wie die Brandenburgische landwirtschaftliche Berufsge¬ 
nossenschaft (1), ferner die Intendantur für militärische 
Institute (3), die Landesdir.ektion Brandenburg (1) und der 
Kreisausschuß Westhavelland (1), die Landes Versicherungs¬ 
anstalten Berlin (6) und Brandenburg (1) uns Kranke behufs 


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Die Heilstätte „Waldfrieden“. 


Heilbehandlung anvertrauten. Bemerkenswert ist endlich, daß das 
Schiedsgericht für Arbeiterversicherung (Reichsversiche¬ 
rungsamt) uns einigemale Alkoholkranke zur Begutachtung auf 
Wochen überwies, um alsdann ein Sachverständigengutachten ent¬ 
gegenzunehmen. (Dieser Punkt scheint mir der ganz besonderen 
Erwähnung wert, indem ich hinzufüge, daß wir gern unsere Heilstätte 
als Beobachtungsstation für zweifelhafte Fälle auch dem Richter zur 
Verfügung stellen.) Rechnen wir alle Kranken zusammen, die wir von 
den Armenverwaltungen mit 65, von den Krankenkassen mit 
69, von den Berufsgenossenschaften mit 6, von Behörden mit 
14 aufnehmen durften, so stehen diesen 154 Kranken, für welche 
gezahlt wurde, 228 Selbstzahler gegenüber. 

Wie unter den Krankenkassen wohl kaum ein Betrieb fehlt, 
der durch Kranke in unserer Heilstätte vertreten war, so kann man 
wohl sagen, daß unter den Selbstzahlem alle Stände zählten; mag 
es sich hierbei um die sogenannten Gelehrtenberufe oder um eine 
praktische Erwerbstätigkeit handeln, jeder Stand: Theologen wie 
Mediziner, Juristen wie Philologen, Offiziere wie Beamte, Apotheker 
wie Kaufleute, Landwirte und Gastwirte, Ingenieure und Techniker 
fanden in unserer Heilstätte Aufnahme. — Es gibt leider heute 
keinen Stand, der vor der Trunksucht gefeit wäre, wiewohl gewisse 
Berufsarten, welche mit der Produktion und dem Vertrieb alkohol¬ 
haltiger Getränke zu tun haben, besonders gefährdet scheinen, das 
bezieht sich insbesondere auf das Brauerei-, das Gast- und Schank- 
wirtschaftsgewerbe. Wollte man da nur rechtzeitig eingreifen und 
vorbeugende Maßnahmen treffen, so würde sehr viel genützt werden 
können! — Sind nun auch, wie ich vorher kurz erwähnte, die 
Krankenkassen allgemein heute geneigter, Alkoholkranke in Spezial¬ 
anstalten auf ihre Kosten unterzubringen, so lassen bedauernswerter¬ 
weise die Landesversicherungsanstalten nach dieser fürsorglichen 
Richtung noch außerordentlich zu wünschen übrig. Es ist heute 
kein Zweifel mehr darüber, daß Erwerbsunfähigkeit und Alkoholis¬ 
mus in engster Beziehung stehen; es kann ebenso nicht mehr be¬ 
zweifelt werden, daß die Zahl der Erwerbsunfähigen sich von Jahr 
zu Jahr mehrt; daß bereits vielfach Vorkehrungen getroffen sind, 
solche Personen unterzubringen, ohne aber dem eigentlichen Grund 
ihrer Erwerbsunfähigkeit nachzuspüren und diesem Rechnung zu 
tragen. Es ist dies um so bedauerlicher, als gerade den Versiche¬ 
rungsanstalten durch das Gesetz ein Recht gegeben ist, wie es keiner 
Behörde sonst zusteht, indem die Möglichkeit besteht, die Rente zu 


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Die Heilstätte „Waldfrieden“. 


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entziehen, sofern der Rentenempfänger sich dem'ihm verordneten 
Heilverfahren entzieht Das ist eine Maßnahme, welche so manch¬ 
mal mit Erfolg bei Kranken auf öffentliche Kosten zweckmäßig zur 
Anwendung gebracht werden könnte, die aber natürlich vollständig 
auch bei den sogenannten Selbstzahlem versagen muß. Und damit 
komme ich zum augenblicklich wundesten Punkt in der ganzen 
heutigen Alkoholisten-Behandlung. 

Dem derzeitigen Gesetze gemäß können und dürfen die 
Heilstätten für Alkoholkranke nur solche Personen aufnehmen, 
welche entweder freiwillig sich in dieselben begeben, oder aber, 
sofern der § 6 B. G.-B. auf sie bereits Anwendung gefunden 
hat, durch ihren Vormund daselbst untergebracht werden. Da 
das Bürgerliche Gesetzbuch gestattet, Rechte und Pflichten eines 
Vormundes bezüglich der Unterbringung seines Mündels auf einen 
Dritten zu übertragen, wird es möglich, einen entmündigten Alkohol¬ 
kranken gegen seinen Willen in einer Heilanstalt zurückzuhalten, 
sofern der Vormund dies wünscht und ihr das Recht der zwangs¬ 
weisen Zurückhaltung überträgt Die Entmündigung wegen Trunk¬ 
sucht ist aber seit Einführung des B. G.-B., also innerhalb 5 Jahren 
noch außerordentlich wenig erfolgt; sie erreichte im ganzen Deut¬ 
schen Reich — soweit heute bekannt — die Höchstzahl im Jahre 
1903 mit 976. Es haben sich die Hoffnungen, welche man damals 
an die Einführung des B. G.-B. in dieser Beziehung hegte, nicht er¬ 
füllt und man ist somit bei der Trinkerheilbehandlung im wesentlichen 
bislang auf die Freiwilligkeit der Alkoholisten angewiesen. Aller¬ 
dings würde die Handhabung der Entmündigung auf die Heilung 
von trunksüchtigen Personen keinen wesentlichen Einfluß haben, 
da es ausdrücklich der § 681 C.-P.-O. vorschreibt, daß die Entmündi¬ 
gung ausgesetzt werden muß, sofern Aussicht auf Besserung besteht. 
Es läßt sich demnach behaupten und auch leider durch die Tatsache 
beweisen, daß entmündigte Trinker durchweg unheilbar sind. Und das 
erklärt sich sehr leicht aus der einfachen Erwägung, daß Angehörige 
von Trunksüchtigen alles mögliche erleiden und Jahrzehnte lang 
erduldet haben, ehe sie die Entmündigung beantragen; ferner macht 
eine Armenverwaltung erst dann von ihrem Rechte Gebrauch, den 
Antrag wegen Entmündigung zu stellen, wenn der Betreffende alles 
verwirtschaftet hat und die Gefahr des Notstandes bereits so groß 
ist, daß die Familie öffentliche Unterstützung in Anspruch zu nehmen 
sich genötigt sieht. Machtlos steht man solchen Fällen gegenüber, 
die leider nach tausenden zählen; man sieht mit offenen Augen die 


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Die Heilstätte „Waldfrieden“. 


sittliche, körperliche und wirtschaftliche Verkommenheit herannahen 
und über ganze Familien hereinbrechen; man begnügt sich damit, 
daß man alltäglich in der Tagespresse von Trinkern liest, welche 
Familienangehörige ums Leben gebracht oder andere Personen ge¬ 
fährdet haben, um — es gehen zu lassen, wie es geht. Hier nun 
befindet man sich einer Lücke in unserer Gesetzgebung gegenüber, 
welche bisher nicht gestattet, Trunksüchtige gegen ihren Willen, 
ohne entmündigt zu sein, einer Anstalt überweisen zu können. Diese 
Lücke auszufüllen, strebt ein auf Veranlassung des Verbandes 
der Trinkerheilstätten des deutschen Sprachgebietes von 
Stadtrat Kappelmann-Erfurt verfaßter „Entwurf zu einem Reichs¬ 
gesetz betreffend die Fürsorge für Trunksüchtige“ an, welcher für 
Alkoholkranke dieselben Maßnahmen fordert, die durch das Gesetz 
vom 11. Juli 1892 betreffend die Unterbringung der Geisteskranken, 
Epileptischen, Idioten, Blinden und Taubstummen vorhanden sind. 
Hierauf beruht unsere Hoffnung für die Zukunft der Trinkerfür¬ 
sorge! — Um indes schon heute, einem Bedürfnisse entsprechend 
die Möglichkeit zu bieten, eine geordnete Alkoholisten-Behandlung 
herbeizuführen, um schon jetzt diese Kranken aus den Irrenanstalten 
in spezialistische Behandlung zu nehmen, um schon vor der Gesetz- 
werdung unsere Hoffnungen und Forderungen für die Trunksüch¬ 
tigen oder Alkoholkranken zu verwirklichen, haben wir vor längerer 
Zeit unsere Ansichten dem Herrn Landesdirektor der Provinz 
Brandenburg und dem Herrn Landeshauptmann der Provinz 
Sachsen vorgetragen und ein Eingehen der Provinzialbehörden 
auf unsere Ideen dahin gefunden, daß sie sich vertraglich bereit 
erklärt haben, uns auf eine Reihe von Jahren solche Personen, 
welche auf Grund von Trunksucht eine Geisteskrankheit erworben 
haben und infolgedessen in den Landesirrenanstalten untergebracht 
worden sind, aus diesen überwiesen zu erhalten. Neuerdings hat 
sich auch die Stadt Berlin bereit erklärt, uns ebensolche Kranke 
aus den städtischen Irrenanstalten zu übergeben. Es soll zum 
ersten Male der Versuch im Großen gemacht werden, 
eine Spezialanstalt, welche weit über den Rahmen der 
bisherigen Trinkerheilstättenarbeit hinausragt, mit 
Hilfe der Provinzialbehörden durchzuführen. Und das, 
,m. H., ist der eigentliche Grund, weshalb wir uns erlaubt haben, 
Sie zu dem heutigen, für die gesamte Trinkerfürsorge 
jedenfalls bedeutsamen Tage hierher zu bitten. Den großen 
Wert in diesem unserm Vorgehen erblicke ich darin, daß die trunk- 


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Die Heilstätte ,,'Waldfrieden“. 


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süchtigen Personen von den eigentlichen Geisteskranken getrennt 
werden — wie Ihnen bekannt sein dürfte, hat man schon vor 
längerer Zeit damit begonnen, die Epileptiker aus den Irrenanstalten 
zu eliminieren und sie in besondere Anstalten zu verbringen. In 
sehr viel hervorragenderem Maße muß dies für die Alkoholkranken 
gefordert werden, da sie nicht nur ihre Umgebung unangenehm zu 
beeinflussen im stände sind, sondern weil ihnen bei den heutigen 
Einrichtungen unserer Irrenanstalten nicht im vollen Umfange das 
gewährt wird oder gewährt werden kann, dessen sie in erster Linie 
bedürfen: die Abstinenz! Diese beiden Momente neben dem dritten 
Faktor der direkten Einwirkung auf sie durch Wort und Tat sind von 
so grundlegender Bedeutung, daß ich sie nicht genug hervorzuheben 
vermag. Durch unser Vorgehen erhoffen wir nicht nur die größere 
Aufmerksamkeit für unsere Frage, sondern wir hoffen auch die 
Vorteile für das Einzelindividuum zu erreichen, die wir vorher 
kurz skizzieren konnten. Ich bin mir wohl bewußt, daß unsere 
Aufgabe schwer ist, daß sie nur mit äußerster Energie und Aus¬ 
dauer durchgeführt werden kann, aber ich glaube auch daran, daß 
uns ein Ziel vorschwebt, welches Hilfe denen zu bringen im stände 
ist, welche verloren schienen. Und zur ziffermäßigen Begründung 
unseres Vorgehens sei es mir gestattet, noch einmal die leidige 
Statistik heranzuziehen, welche ich mir eingangs gestattete, für die 
allgemeinen Krankenhäuser ins Feld zu führen; ich durfte Ihnen 
danach mitteilen, daß diese im Jahre 1899 von 14386 trunksüch¬ 
tigen Personen besucht waren. Ergänzend muß ich nun hinzu¬ 
fügen, daß in demselben Jahre weitere 6975 Alkoholisten in den 
Irrenanstalten Preußens verbracht waren, das macht bei den in 
Irrenanstalten überhaupt in jenem Jahre verpflegten 72580 Geistes¬ 
kranken 9,6 % Alkoholisten, oder, sofern man nur die 6259 alkoho¬ 
lischen Männer unter den 39259 männlichen Geisteskranken in 
Berechnung zieht, rund 16% Alkoholisten aus. Da nun die einzelnen 
Gegenden ganz außerordentlich verschieden nicht nur in Bezug 
auf die Zahl der Geisteskrankheiten, sondern auch in Bezug auf 
die Ursachen hierzu sind, so kann es nicht wundernehmen, daß 
wir z. B. aus den Jahresberichten der Irrenanstalten der Stadt 
Berlin erfahren, daß in Herzberge i. J. 1898/99 unter 1039 Auf¬ 
nahmen 39,4% Alkoholisten stehen; in Dalldorf im gleichen Jahre 
bei727 aufgenommenen Männern 44,7 % Alkoholiker waren; inWuhl- 
garten, der städtischen Anstalt für Epileptische, 1898/99 bei 263 
Männern 55,1% Alkoholismus konstatiert wurden. Wird man uns 


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Die Heilstätte „Waidfrieden“. 


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da noch der Voreiligkeit zeihen können, wenn wir es unternahmen, 
zunächst mal unsere Heilstätte auf 150 Betten zu erweitern? ! ? — 
Es ist ja eigentümlich, daß von privater Seite die Initiative hierzu 
ergriffen und Opfer gebracht werden müssen, wo es sich um eine 
Fürsorge handelt, die eine öffentliche genannt werden darf; anderer¬ 
seits ist es bei dem heutigen Stande der Gesetzgebung begreiflich, 
daß nicht sogleich die Provinzen für die Erbauung von solchen 
Anstalten bereit stehen; aber auf keinen Fall wird man derartige 
Einrichtungen als etwas Überflüssiges oder zu weit Gehendes hin¬ 
stellen dürfen. — 

Es kann sich nun für uns nicht darum handeln, unsere Plätze 
mit unheilbaren Kranken zu füllen, deren Defekt so groß ist, daß 
sie nicht wieder herzustellen sind; unser Zweck und Ziel ist, Heil¬ 
erfolge zu erreichen und an dem Charakter einer Heilstätte für 
„Waldfrieden“ festzuhalten. Es wird sich mit derZeit neben einer 
solchen Heilanstalt noch eine Pflegestätte als etwas Unumgängliches 
herausstellen. — Es ist somit unser Streben, möglichst frische Fälle, 
wie man dies in der praktischen Medizin zu benennen pflegt, zu 
erhalten: frische Delirien oder Kranke, die eben ihr deliröses Stadium 
hinter sich haben, sich noch im Dämmerzustände befinden und 
dringender Weiterbehandlung bedürfen, um nicht sofort wieder rück¬ 
fällig zu werden. Gerade diese Fälle von frischen Delirien sind 
es, die wir gern bevorzugen, da nach der Beruhigung meist noch 
die ganze Schwere des Anfalls auf ihnen lastet, der ihnen selbst 
das Erkennen einer (schweren) Erkrankung beibringt, worauf man 
innerhalb der Behandlungszeit immer wieder, sofern es not tut, 
zurückgreifen kann. Es spricht für uns ferner die bedauerliche 
Tatsache mit, daß durchweg solche Kranke, nachdem sie soeben 
ihre Attacke überwunden haben, aus dem Krankenhause oder der 
Irrenanstalt, wohin sie verbracht waren, entlassen werden, nicht 
selten wegen Platzmangel, der für unsere inneren und äußeren 
Krankenanstalten, zumal der Großstädte, fast typisch ist. — Fragen 
Sie nun danach, was wir den Kranken hier anderes als die Kran¬ 
kenhäuser und Irrenanstalten bieten, so läßt sich die Antwort zu¬ 
nächst dahin präzisieren: die Versetzung der Patienten in ein 
alkoholfreies Milieu. Es ist keinem Angestellten unserer Heil¬ 
stätte gestattet, irgend welches alkoholhaltige Getränk während seines 
Engagements in und außer dem Hause zu nehmen; es ist aufs 
strengste untersagt, irgend welches geistige Getränk in das Gebiet 
unserer Heilstätte einzuführen; leider haben wir manchmal nach 


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Die Heilstätte „Waldfrieden“. 


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dieser Richtung mit dem Unverstand der „lieben“ Angehörigen zu 
kämpfen, auch hin und wieder zu gewärtigen, daß einsichtslose 
Kranke von ihrem Urlaub oder Ausgang zurückkommend derartiges 
einführen. Es kann dies indes so gut wie niemals ungesühnt ge¬ 
schehen; es darf aber auch nicht durchgelassen werden, um die 
Disziplin der Heilstätte in keiner Weise zu lockern. Eine gut durch¬ 
geführte Hausordnung, die eben durchgeführt sein muß und nicht 
nur auf dem Papier stehen darf, ist einer der Grundpfeiler, die 
eine Trinkerheilstätte stützen. In dieser Hausordnung steht das 
Gebot der Arbeit; ohne den Eindruck erwecken zu wollen, daß 
es sich bei uns um eine Arbeiterkolonie handelt, führen wir die Be¬ 
schäftigung als therapeutischen Faktor der Alkoholisten-Behandlung 
nach Kräften durch. Yon den arbeitsfähigen Kranken kennen wir 
keinen, der sich dieser vorteilhaften Bewegung nicht hingibt; vor¬ 
teilhaft erachten wir sie sowohl für den Körper wie für den Geist 
des Kranken; es versteht sich ganz von selbst, daß hier sehr indivi¬ 
dualisiert werden muß, daß Vorsorge getroffen wird, daß in der 
ersten Zeit nach der Aufnahme nicht zu heftig vorgegangen wird. 
Deshalb hat eine solche Beschäftigungstherapie wie jede andere 
Behandlungsmaßregel unbedingt der Anordnung des Arztes zu unter¬ 
stehen. Wie wohltuend aber eine wohldurchdachte und ebenso 
durchgeführte Hausordnung mit den nötigen Anleitungen ist, kann 
man bei jedem Kranken sehen, der aus seinem unsteten, willen- 
und haltlosen Dasein herausgerissen in eine solche Umgebung ver¬ 
setzt wird, wo Pünktlichkeit und Regelmäßigkeit miteinander wett¬ 
eifern (Begriffe, die dem Patienten in seinem Trinkerdasein absolut 
abhanden gekommen waren), vereint mit gesunden, friedlichen Ver> 
hältnissen, in denen sich alles um das Wohl der Kranken dreht 
Außer diesen scheinbar äußerlichen Maßnahmen hat eine psychi¬ 
sche Einwirkung, der Einfluß von Person zu Person, stattzu¬ 
haben; es muß das Bewußtsein geweckt und immer mehr vertieft 
werden, daß der Grund zur Erkrankung, die Krankheit selbst dem 
Alkohol zu verdanken war; es muß der Wille und der Mut ge¬ 
weckt werden, die Schwäche zu besiegen und es muß das Bewußt¬ 
sein zu heben gesucht werden, daß es nur einen Weg zur Er¬ 
langung des Zieles gibt, das die Behandlung hier anstrebt; daß 
aber das Versagen der geistigen Kräfte unbedingt zum Abgrund 
führt. Neben Hebung und Heilung des psychischen Zustandes 
(deshalb fordern wir einen Psychiater für die Alkoholistenbehand- 
lung) ist aber ausnahmslos die Behandlung körperlicher Leiden 

Der Alkoholismuts. 1905. 13 


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Die Heilstätte „Waldfrieden“. 


notwendig (also bedarf es unbedingt eines Arztes in einer solchen 
Anstalt). Da bei den durchweg stark eingewurzelten Leiden häufig 
genug nur das Fundament zu einer psychischen Wiederherstellung 
innerhalb der Anstalt gelegt werden kann und es natürlich nicht 
damit abgemacht sein darf, daß während dieser Zeit dem Patienten 
durch Wort und Tat zur Seite gestanden wird, haben wir unser 
Augenmerk von jeher auf eine gewisse Nachbehandlung gerichtet. 
Wir entlassen hier keinen Patienten, welchem nicht eindringlich 
der Eintritt in einen Abstinenzverein empfohlen wird. Es ist 
unser Wunsch, daß die Erfolge, welche während des Anstaltsauf¬ 
enthaltes erzielt werden, nach der Entlassung der Patienten dauern¬ 
der Kontrolle unterworfen werden; das ist zwar eine mühsame und 
kostspielige, aber nicht nutzlose Arbeit Dieser haben wir die 
Daten zu verdanken, die ich Ihnen vorher über unsere Heilresul¬ 
tate mitteilen durfte. Es schwebt uns vor, daß diese Kontrolle 
nicht etwa von Polizei wegen, sondern durch Nachforschungen pri¬ 
vater Natur geschehn; am besten wird es immer sein, wenn die 
Patienten selbst, wie wir zu unserer Freude von einer ganzen Reihe 
Entlassener berichten können, im Zusammenhang mit der Heilstätte 
bleiben und gern und unaufgefordert sich zu denen bekennen, die 
hier gewesen und hier gesund geworden sind. Und, meine Herren, 
ist es etwa eine Schande, krank gewesen zu sein und die Willens¬ 
kraft wiedererlangt zu haben, die Lust und Freude am Leben und 
Arbeiten wiederherstellte, ist es eine Schmach, aus dem Sumpf 
heraus auf eine lichte Höhe gebracht zu sein?! — Das alles sind 
Maßnahmen, die eine große, öffentliche Krankenanstalt kaum zu 
bewältigen vermag, die in erster Linie der freien Liebestätigkeit 
erwachsen, welcher auch diese Stätte ihre Entstehung verdankt 
und die in ihrer Uneigennützigkeit unter Mithilfe aller Kräfte Ziele 
zu verwirklichen im stände ist, wie sie so manchmal zu erhoffen 
nicht mehr gewagt werden. 

Wenn ich nun noch ganz kurz den heutigen Umfang unserer 
Heilstätte besprechen darf, so sei erwähnt, daß im Jahre 1899 ein 
170 Morgen großes Grundstück gekauft ward, auf welchem das 
Hauptgebäude nebst der Ökonomie errichtet wurde. Dieses Haus 
ist für 50 Krankenbetten eingerichtet worden, welche in zwei Stock¬ 
werken verteilt sind. Seit genau einem Jahre, d. h. am 1. Juli 
1904, wurde ein leitender Arzt angestellt; demselben ist eine Familien¬ 
wohnung im oberen Stock eingeräumt und dadurch die Zahl der 
Betten von 50 auf 33 reduziert; diese Plätze sind für freiwillig 


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Die Heilstätte „Waldfrieden“. 


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eintretende Selbstzahler bestimmt Kranke, welche auf öffentliche 
Kosten untergebracht sind, finden seit der Herstellung in einem 
der Neubauten (A) Aufnahme. Neben diesem Hause A sind noch 
zwei weitere Neubauten (B und C) mit geschlossenem Charakter 
errichtet; B mit Wachräumen für die schwereren, teilweise bett¬ 
lägerigen Kranken, C für solche leichteren Grades, die aber doch 
einer strengeren Beaufsichtigung bedürfen, wie die Patienten von A. 
Die drei Häuser A, B, C haben Platz für zusammen 120 Patienten; 
es ist durch die Art der Einrichtungen, wie Sie sich nachher zu 
überzeugen Gelegenheit haben werden, bestens Vorsorge getroffen, 
daß eine Trennung je nach Art und Äußerung der Krankheit statt¬ 
finden kann. Eine überaus gesunde und auch hübsche Lage der 
sämtlichen Bauten gewährleistet Vorteile, wie sie nach dieser Rich¬ 
tung wohl kaum größer gedacht werden können. Eine elektrische 
Anlage ist für die Beleuchtung und die Bewässerung aus Tief¬ 
brunnen, auch ist eine Zentralheizung geschaffen. 

Da wir indes nicht unsere ideellen Ziele zu fördern vermögen, 
ohne den realen Dingen die gebührende Berücksichtigung zu zollen, 
haben wir es uns angelegen sein lassen, unsere Heilstätte auf eine 
solche Grundlage zu stellen, daß sie im stände ist, sich selbst zu 
erhalten. Es dürfen dabei selbstredend die Ansprüche an Aus¬ 
stattung und Einrichtung nicht zu hoch geschraubt werden; es haben 
sich die Anlagen in den nötigen Grenzen zu halten, wie wir über¬ 
haupt luxuriöse Aufwendungen für derartige Zwecke als höchst be¬ 
dauerlich halten, von dem Standpunkte ausgehend, daß mit denselben 
Mitteln relativ mehr Bedürftigen geholfen werden könnte. Zur 
Verwirklichung unserer Ideen hat der ausführende Architekt, Herr 
Knüpfer, mit unermüdlichem Eifer beigetragen; er hat es ver¬ 
mocht, in diesen ländlichen Verhältnissen in nicht ganz Jahresfrist 
die drei Neubauten herzustellen, die ich Ihnen hernach zu zeigen 
den Vorzug haben werde. Die geschmackvolle und gute Ausführung 
ward uns durch diesen Architekten gewährleistet, der stets in engster 
Beziehung zur Kunst vielfach Gelegenheit hatte, seine Kräfte zu 
erproben. Persönlich sage ich Ihnen, Herr Knüpfer, gern auch 
an dieser Stelle meinen herzlichen Dank für das stets freundliche, 
bereitwillige Eingehen auf unsere Anregungen und die hübsche 
Durchführung des Projektes, für die große Mühe, die Sie sich ge¬ 
geben haben, — allen Widerwärtigkeiten zum Trotz — den Plan 
zur Ausführung zu bringen. 

Wenn ich nun zum Schluß erwähnen darf, wie die Baugelder 

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Die Heilstätte „Waldfrieden“. 


zu Stande gekommen sind, so sei betont, daß wir zur Erbauung des 
ersten oder Hauptgebäudes von der Landesversicherungs¬ 
anstalt Berlin ein Darlehn in Höhe von 70000 Mk. bei einer 
3°/ 0 igen Verzinsung erhielten. Als zweite Hypothek hat uns die Lan¬ 
desversicherungsanstalt Brandenburg 150000Mk., zu 3 9 / 16 °/ 0 
verzinsbar, gewährt; der Rest ist von privater Seite Vorschuß- oder 
darlehnsweise erstattet. Es kann aber nicht unterlassen werden, 
auch an dieser Stelle dankbarst derjenigen zu gedenken, welche die 
Güte hatten, unser Unternehmen durch Geldspenden zu fördern. 
Obenan stehen 1000 Mk., die wir der Huld Seiner Majestät des 
Kaisers verdanken; es sind uns von verschiedenen Seiten Schen¬ 
kungen gemacht, so übergab uns der „Verein gegen das Brannt¬ 
weintrinken“ nach seiner Auflösung sein Vermögen von rund 
4000 Mk.; aus der Jacob Plautschen Stiftung empfingen wir 
3000 Mk. zur Verwendung von Freibetten. Von den Anteilschein¬ 
besitzern, die uns ein Darlehn zur zweiten Stelle seinerzeit ge¬ 
geben hatten, welches nunmehr durch die Hypothek der Landes¬ 
versicherungsanstalt Brandenburg zur Löschung gelangte, sind uns 
folgende Spenden geworden: von Herrn Geh. Kommerzienrat Arn- 
hold 2500 Mk., Herrn Generalmajor Bartels 1000 Mk., Frau Geh. 
San.-Rat Bartels 1000 Mk., Herrn Dr. Bieber-Böhm 100 Mk.,' 
Herrn Dr. James Fraenkel 500 Mk., Herrn Geh. Kommerzienrat 
Frentzel 500 Mk., Frau Gail 1000 Mk., Herrn Bankdirektor 
Gwinner 500 Mk., Frau Hanke 1000 Mk., Herrn W. Hartmann 
100 Mk., Herrn Rittergutsbesitzer Keuthe 250 Mk., Herrn Professor 
Dr. Liepmann 500 Mk., Herrn Rudolph Mosse 500 Mk., Herrn 
Geh. Oberjustizrat Mügel 500 Mk., Herrn Dr. Albert Oliven 500 Mk., 
Herrn Verlagsbuchhändler Springer 300 Mk., Herrn Fabrikbesitzer 
Steinlein 300 Mk., Herrn Kunst-Verlagshändler Werkmeister 
1000 Mk., Herrn Fabrikbesitzer Wigankow 300 Mk., Herrn Bankier 
Zuckermandel 100 Mk. Außerdem kann ich mit Ausdruck besten 
Dankes erwähnen, daß uns von verschiedenen Anteilscheinbesitzern wie¬ 
derholt die Zinsen geschenkt wurden. Endlich aber habe ich dankend 
zu berichten, daß uns die Stadt Berlin seit mehreren Jahren einen 
Zuschuß von 1000 Mk., die Stadt Charlottenburg einmal 300 Mk. 
als Betriebsbeisteuer zugewandt hat. Allen Freunden und Gönnern 
sei in dieser Stunde der herzlichste Dank ausgesprochen, der um 
so tiefer empfunden wird, als es uns wohl bewußt ist, daß die sozialen 
Bestrebungen neuerdings Mittel und Interessen für sich in Anspruch 
nehmen und zersplittern, wie kaum zuvor. Man möge indes nicht 


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Die Heilstätte „Waldfrieden“. 


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außer acht lassen, daß die Wurzel vieler Übel, die an dem 
Marke unseres Volkes zehren, im Alkohol ruht; daß ohne 
Berücksichtigung dieses die Tilgung jener Verheerungen, 
mag es sich dabei um die Bekämpfung der Lungentuberkulose, 
der Geschlechtskrankheiten oder der Säuglingssterblich¬ 
keit handeln, Stückwerk bleibt! — Daß unsere Arbeit durch 
Ihr Interesse, welches Sie durch Ihre Anwesenheit bekunden, 
gefördert werden wird, das darf ich Ihnen mit dem abermaligen 
Ausdrucke aufrichtigen Dankes für Ihr Erscheinen zusichern; wir 
bitten Sie um Ihre nachhaltige Unterstützung für ein gemeinnütziges 
Werk, von dem wir wissen, daß es ein Stück schwerer sozialer 
Arbeit bedeutet, von deren weiterem Ausbau wir aber zuversichtlich 
eine kräftige Beisteuer zur Hebung und Förderung der gesamten 
Volkswohlfahrt erwarten dürfen.“ — 

Hierauf führte Herr Stadtrat Dr. Münsterberg folgendes aus: 
„Im Namen der Anwesenden möchte ich mit einigen Worten dem 
Ausdruck geben, was uns in diesem Momente bewegt; auch möchte 
ich dem Danke Ausdruck geben, daß uns das Kuratorium Gelegen¬ 
heit gegeben hat, von der neuen Einrichtung der Anstalt Kenntnis 
zu nehmen und neue Tendenzen kennen zu lernen. Wir alle, die 
in einer großen Verwaltung stehen, erkennen mit aufrichtiger An¬ 
erkennung den Idealismus und die opferfreudige Zuversicht, mit 
welcher von Ihrer Seite aus diese Tätigkeit betrieben wird. Wir 
sind alle mit Ihnen derselben Meinung, daß es schlechterdings kein 
soziales Übel gibt, dem eine größere Bedeutung zukommt und in 
seiner furchtbaren Wirkung mit dem Alkoholismus verglichen werden 
kann. Auch verkennen wir nicht die Bestrebungen auf dem Ge¬ 
biete des Heilstättenwesens. Nur waltet bei ihrer Benutzung die 
Schwierigkeit vor, daß es sich um verhältnismäßig frische Fälle 
handeln muß, die zu ermitteln außerordentlich schwierig ist. 

Ich habe während des Vortrages gegenüber Herrn Dr. Wald¬ 
schmidt ein etwas schlechtes Gewissen gehabt, nachdem ich am 
Vormittag die Schreiben gelesen, welche die Heilstätten Verwaltung 
an die Armendirektion gerichtet hat; doch ich kann sagen, daß in¬ 
folge der Ausführungen des Herrn Dr. Waldschmidt die Antwort 
vielleicht anders ausfallen wird, als sie sonst lediglich vom grünen 
Tische aus ausfallen würde (Bravo!), aber dennoch darf ich sagen, 
daß auch bei uns keine Freude am Zupflastem besteht und daß 
auch wir nicht glauben, daß eine Wunde, die wir augenblicklich 
nicht sahen, nicht vorhanden sei. Ich, der ich seit einer großen 


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190 Die Heilstätte „Waldfrieden“. 

Reihe von Jahren die vorbeugende Tätigkeit auf dem Gebiete der 
Armenpflege mit allem Nachdrucke betont habe, ich weiß wohl, 
daß das ganze Armen- und Wohltätigkeitswesen ein Pflasterwesen, 
ist, glaube aber auch, daß wir das Pflaster nicht entbehren können, 
um die Armen nicht ganz verbluten zu lassen. Die Schwierigkeit 
besteht aber bei Kranken-, Versicherungs- und Irrenanstalten nicht 
viel anders, da wir auch diese Fälle meist erst in einem Stadium 
zu sehen bekommen, wo in der Tat am Organismus nichts mehr 
zu bessern ist und wir uns auf das Pflastern beschränken müssen. 
Wenn jemand das Bein gebrochen, geht er eben zum Chirurgen; 
leidet er an einer Blinddarmentzündung, begibt er sich in die Klinik. 
Das tut aber der Trunksüchtige nicht, der seine Arbeit hat und 
dabei mehr als notwendig für Alkohol ausgibt. Er sinkt allmählich ; 
die Sachen werden versetzt, die Frau hilft mit arbeiten, wenn die 
Nahrungsmittel zu fehlen anfangen. Die Krankheit stellt sich ein 
und das Elend ist fertig. Vielleicht viele von Ihnen werden in den 
Zeitungen von der Gerichtsverhandlung gelesen haben, wo ein Mann 
seine Frau in einer schrecklichen Weise mißhandelt hat Die Ehe 
war anfangs glücklich, aber nach einer erhaltenen Strafe eiferte die 
Frau ihrem trunksüchtigen Manne nach und es ging rasend schnell 
bergab. Solche Fälle kommen uns aber so spät zur Wahrnehmung, 
daß wir kaum noch etwas in der Sache tun können. Auch liegt 
die Sache mit der Heilung außerordentlich schwierig. 

Um einen Vergleich auch nach dieser Richtung hin anzuwenden, 
so wird jemand, wenn er sich ein Bein gebrochen, es sich nicht 
zum zweiten Male brechen wollen, lediglich darum, eine gute 
Heilung zu erlangen. Bei der Trunksucht aber liegt die Sache 
derart, als die Ursache des Übels an sich Vergnügen bereitet, daß 
derjenige, welcher trinkt, ein Vergnügen empfindet und weit davon 
entfernt ist, zu glauben, daß er sich überhaupt ein Übel zuzieht; 
daher widersteht er, wenn aus der Anstalt entlassen, so schwer den 
Verlockungen zum Trinken, woher sich der hohe Prozentsatz von 50 
erklärt, der nicht geheilt wird. Es muß daher dafür gesorgt werden, 
daß die Freiwilligkeit, eine gewisse Geneigtheit, sich von dem Übel 
befreien zu lassen, berücksichtigt wird. Würden dann auch solche 
in die Statistik aufgenommen, die wider ihren Willen in die An¬ 
stalt gebracht worden sind, dann würde die Statistik der Heilerfolge 
noch viel ungünstiger. 

Es wird also immer mehr die Aufmerksamkeit darauf zu richten 
sein, daß es gelingt, die der Heilung zugänglichen Trunksüchtigen 


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zu einer Zeit aufzusuchen, wo noch mit einiger Aussicht auf Er¬ 
folg geholfen werden kann. Ich weiß aber nicht, inwieweit zur¬ 
zeit das Erforderliche geschehen kann. Ich habe gehofft, daß die 
Abstinentenvereine, die mit den unteren Volksschichten in häufiger 
Verbindung stehen, die Zubringer der Kranken sein müßten, anstatt 
sie einer Heilstätte abspenstig machen zu wollen. Es wird also 
stets danach zu trachten sein, trunksüchtigen Subjekten frühzeitig 
beizukommen und sie für die Heilfürsorge zu erfassen in einem 
Moment, wo noch ein begründeter Erfolg vorauszusehen ist. 

Ich bin aber der Ansicht, daß wir, abgesehen von den Schwierig¬ 
keiten, welche der Anstalt anhaften, in dem feierlichen Moment, wo 
der Leiter der Anstalt sein ganzes Herz der Sache widmet, nicht ganz 
zaghaft nur das hervorheben, was noch mangelhaft ist, sondern mit 
einem gewissen hoffnungsvollen Ausblick in die Zukunft schauen 
und an dieser Stelle, wo so viele Vertreter dieser Bestrebungen vor¬ 
handen sind, auch ein Samenkorn auf den Boden streuen, den zu 
beackern sie tätig sind, ein Wort der Hoffnung und Zuversicht 
und das Gelöbnis zurufen, daß ein jeder an seiner Stelle dies Übel 
zu bekämpfen gewillt ist. Ich glaube nicht, daß auch nur einer 
vorhanden ist, der nicht diesen Wunsch und diese Hoffnung hegt. 
Ich möchte dem Kuratorium und den tätigen Leitern der Anstalt, 
den Herren Dr. Waldschmidt und Dr. Danckwardt, den leb¬ 
haften Dank dafür aussprechen, daß sie als Träger der Antialkohol¬ 
bestrebungen und der Heilstätte „Waldfrieden“ an ihrem Teile dazu 
beitragen, um dem Übel der Trunksucht zu steuern.“ 


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Stadtrat Kappelmann. 


Entwurf für ein Reichsgesetz betreffend die Fürsorge 
für Trunksüchtige 1 )« 

Von 

Stadtrat Kappelmann-Erfurt 

Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden Deutscher Kaiser u. s. w. verordnen im 
Namen des Reichs, nach erfolgter Zustimmung des Bundesrates und des Reichs¬ 
tages, was folgt: 

§ 1. Errichtung von Heil- und Bewahr-Anstalten für Trunksüchtige 

(Alkoholkranke). 

Im Wege der Landesgesetzgebung ist die Errichtung öffentlicher Heil- und 
Bewahr-Anstalten zum Zwecke der Heilung und Bewahrung von Trunksüchtigen 
anzuordnen. Ob und unter welchen Voraussetzungen auch Privatanstalten zur 
Aufnahme Trunksüchtiger in Gemäßheit dieses Gesetzes für befugt und geeignet 
zu erachten sind, bestimmt gleichfalls die Landesgesetzgebung. 

§ 2. Arten der Unterbringung in den Anstalten, 

Der Eintritt von Trunksüchtigen in die gemäß § 1 errichteten Anstalten 
kann erfolgen: • 

1. Freiwillig infolge eigener Entschließung des Trunksüchtigen; 

2. Zwangsweise und zwar: 

a) nach erfolgter Entmündigung wegen Trunksucht oder wegen einer auf 
Trunksucht zurückzuführenden Geisteskrankheit oder Geistesschwäche 
(§§ 3, 4); 

b) ohne vorhergehende Entmündigung auf Grund Gerichtsbeschlusses (§§ 5 ff.); 

c) auf Grund eines Strafurteiles (§§ 21 bis 23). 

§ 8. Zwangsweise Verbringung Entmündigter, 

Die zwangsweise Verbringung kann gleichzeitig mit der Entmündigung oder 
später durch besonderen Beschluß des zur Entscheidung über die Entmündigung 
zuständigen Gerichts von Amts wegen oder auf Antrag angeordnet werden. An¬ 
tragsberechtigt ist wer nach Reichs- und Landesgesetz zur Stellung des Antrags 
auf Entmündigung wegen Trunksucht befugt ist, in allen Fällen auch die durch 
Landesgesetz zu bestimmende Verwaltungsbehörde des Wohnortes des Trunk¬ 
süchtigen. 

§ 4. Verfahren im Fall des § 3. 

Auf das.Verfahren gemäß § 3 finden im übrigen die Vorschriften der 
§§ 680 bis 686 der Zivilprozeßordnung sinngemäße Anwendung mit der Maßgabe, 

*) Vorliegender Entwurf ist der zweite. Er ist abgefaßt infolge ver¬ 
schiedener Beschlüsse des Vorstandes und der Mitgliederversammlungen des 
„Verbandes der Trinkerheilstätten des deutschen Sprachgebietes“ auf Grundlage 
des ersten in dieser Zeitschrift Jahrgang IV, Heft 4, Seite 318 ff. abgedruckten 
Entwurfs. Der dort noch enthaltene Entwurf eines Preußischen Ausf. Ges. ist 
jetzt nicht mit aufgenommen. 


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Entwurf für ein Reichsgesetz betreffend die Fürsorge für Trunksüchtige. 193 

daß das Gericht von einer erneuten Sachuntersuchung Abstand nehmen kann, 
soweit solche im Entmündigungsverfahren bereits erfolgt sind. 

§ 5. Zwangsweise Verbringung ohne Entmündigung. 
Zwangsweise Verbringung in eine der gemäß § 1 errichteten Anstalten kann 
auch ohne vorhergehende Entmündigung gegenüber solchen Personen angeordnet 
werden, welche: 

1. hinsichtlich ihres Verhaltens einer der Voraussetzungen des § 6 Zf. 3 des 
Bürgerlichen Gesetzbuches entsprechen; 

2. durch ihr Verhalten in der Trunkenheit öffentliches Ärgernis erregen, so¬ 
fern das Vorliegen von Trunksucht bei ihnen festzustellen ist; 

8. infolge von Trunksucht als geisteskrank oder geistesschwach in eine Irren¬ 
oder sonstige Anstalt aufgenommen, aus derselben als gebessert oder ge¬ 
heilt entlassen worden sind, jedoch durch ihr Verhalten dartun, daß sie 
noch nicht hinreichende Fähigkeit zur Selbstbeherrschung und zum Wider¬ 
stand gegen die Trunksucht besitzen. 

Das Gleiche gilt gegenüber solchen Trunksüchtigen, hinsichtlich derer die 
Beschlußfassung über einen gestellten Entmündigungsantrag gemäß § 681 der 
Zivilprozeßordnung ausgesetzt worden ist. 

§ 6. Zuständigkeit des Gerichts. 

Die Anordnung der zwangsweisen Verbringung gemäß § 5 erfolgt durch 
Beschluß des nach § 648 (in Verbindung mit § 680 Abs. 3) der Zivilproze߬ 
ordnung zuständigen Gerichtes. Im Falle des § 681 a. a. 0. kann der Beschluß 
von Amts wegen oder auf Antrag, im übrigen nur auf Antrag ergehen. 

§ 7. Antragsberechtigung. 

Zur Stellung eines Antrags gemäß § 6 sind befugt: 

1. in allen Fällen die zum Anträge auf Entmündigung wegen Trunksucht nach 
Reichs- und Landesgesetz Berechtigten und die durch Landesgesetz zu be¬ 
stimmende Verwaltungsbehörde des Wohnortes des Trunksüchtigen; 

2. im Falle des § 5 Zf. 3 dieses Gesetzes außerdem die Vorstände der dort 
genannten Anstalten. 

§ 8. Verfahren gemäß § 5. 

Auf das Verfahren gemäß § 5 finden die Vorschriften der §§ 647, 648, 
653, 657, 663, 682 und 683 der Zivilprozeßordnung sinngemäße Anwendung, 
soweit nicht in den folgenden §§ 11 bis 15 etwas Abweichendes bestimmt ist. 

§ 9. Vorläufige Unterbringung. 

Bei Gefahr im Verzüge, insbesondere wenn es sich um einen plötzlich auf¬ 
tretenden Fall von delirium tremens handelt, kann das nach § 6 zuständige Ge¬ 
richt oder das Gericht des jeweiligen Aufenthaltsortes des Unterzubringenden eine 
vorläufige Verbringung des Trunksüchtigen in eine der gemäß § 1 errichteten 
Anstalten anordnen. Wird diese Anordnung nicht von dem nach § 6 zu¬ 
ständigen Gericht getroffen, so ist dem letzteren die Anordnung mit ihren Vor¬ 
gängen sofort mitzuteilen, damit dasselbe den endgültigen Beschluß gemäß § 3 
oder § 6 zu erlassen in der Lage ist. 

Die durch die vorläufige Unterbringung erwachsenden Kosten werden, 
sofern die Unterbringung demnächst endgültig angeordnet wird, den in den §§ 19 


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Stadtrat Kappelmann. 


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und 20 dieses Gesetzes gedachten Kosten hinzugerechnet Wer im entgegen¬ 
gesetzten Fall diese Kosten zu tragen hat bestimmt die Landesgesetzgebung. 

§ 10. Verfahren, Aufhebung des Beschlusses. 

Die §§ 685 und 686 der Zivilprozeßordnung finden für den Fall sinngemäße 
Anwendung, daß eine Wiederaufhebung des auf Verbringung lautenden Beschlusses 
vor Ablauf der im Beschluß angeordneten Zeitdauer des Anstaltsaufenthaltes 
(§ 16) beantragt wird. 

§ 11. Fortsetzung, Gutachten eines beamteten Arztes. 

Die Verbringung gemäß § 5 darf nur beschlossen werden auf Grund eines 
vom Gericht nach Einleitung des Verfahrens eingeholten oder nicht früher als 
zwei Wochen vor Einreichung des Antrages (§§ 6, 7) ausgestellten Gutachtens 
eines beamteten Arztes. Im Falle des § 5 Zf. 3 dieses Gesetzes vertritt ein 
Gutachten des leitenden Arztes der Anstalt die Stelle des Gutachtens eines be¬ 
amteten Arztes. 

Im Falle einer vorläufigen Unterbringung (§ 9) vertritt das Gutachten eines 
jeden approbierten Arztes die Stelle des Gutachtens eines beamteten Arztes. 

§ 12. Fortsetzung, Einstellung des Verfahrens. 

Das Verfahren gemäß §§ 8 und 5 dieses Gesetzes ist einzustellen, wenn 
dem Gericht nachgewiesen wird, daß der Trunksüchtige freiwillig in eine gemäß 
§ 1 errichtete Anstalt eingetreten ist Das Verfahren ist von Amts wegen sofort 
wieder aufzunehmen, sobald dem Gericht bekannt wird, daß der Trunksüchtige 
die Anstalt wieder verlassen hat, es sei denn, daß er eine Bescheinigung der 
Anstaltsleitung vorlegen kann, wonach diese seinen Aufenthalt in der Anstalt 
zum Zwecke seiner Heilung oder Bewahrung für nicht mehr erforderlich erklärt. 

§ 13. Fortsetzung, Zustellungen und Beschwerde. 

Der auf zwangsweise Verbringung gemäß §§ 3 und 5 dieses Gesetzes 
lautende und der die Verbringung ablehnende Beschluß ist von Amts wegen in 
allen Fällen auch der von der Landesgesetzgebung zu bestimmenden Verwaltungs¬ 
behörde des Wohnortes des Trunksüchtigen zuzustellen. 

Gegen den Beschluß auf zwangsweise Verbringung steht dem Trunksüchtigen 
oder seinem gesetzlichen Vertreter, gegen den ablehnenden Beschluß in allen 
Fällen der Verwaltungsbehörde des Wohnortes des Trunksüchtigen das Recht der 
sofortigen Beschwerde zu. Die Einlegung der sofortigen Beschwerde gegen den 
Beschluß auf zwangsweise Verbringung hat keine aufschiebende Wirkung. § 572 
Abs. 2 und 3 der Zivilprozeßordnung finden Anwendung. Die Anfechtungsklage 
ist ausgeschlossen. 

§ 14. Fortsetzung, Mitteilung des rechtskräftigen Beschlusses. 

Nach Eintritt der Rechtskraft des auf Verbringung gemäß §§ 3 und 5 
lautenden Beschlusses hat das Gericht von Amtswegen der Gemeindebehörde des 
Wohnortes des Trunksüchtigen Mitteilung zu machen. 

§ 15. Beschränkung der Geschäftsfähigkeit. 

Durch die zwangsweise Verbringung eines nicht entmündigten Trunksüch¬ 
tigen in eine Anstalt wird seine Geschäftsfähigkeit nur insoweit beschränkt, als 
es der Zweck dieser Verbringung erfordert. Jedoch ruht während der Dauer 


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Entwurf für ein Reichsgesetz betreffend die Fürsorge für Trunksüchtige. 195 

der Verbringung die ihm etwa zustehende elterliche Gewalt, und es kommen in 
diesem Falle die Vorschriften der §§ 1676 bis 1678, 1686 des Bürgerlichen Ge¬ 
setzbuches zur Anwendung. Ist er durch den Aufenthalt in der Anstalt an der 
Besorgung seiner Angelegenheiten verhindert, so ist ihm auf seinen Antrag vom 
Gericht ein Pfleger zu bestellen; bei Zurücknahme des Antrages ist die Pfleg¬ 
schaft wieder aufzuheben. 

§ 16. Dauer der Verbringung. 

In jedem die zwangsweise Verbringung gemäß §§ 8 und 5 endgültig an¬ 
ordnenden Beschlüsse ist anzugeben, ob die Verbringung zum Zwecke der Heilung 
oder der Bewahrung des Trunksüchtigen zu erfolgen hat. Wird die Verbringung 
zum Zwecke der Heilung angeordnet, so ist zugleich auf Grund des erstatteten 
ärztlichen Gutachtens die Dauer des Aufenthalts in der Anstalt zu bestimmen. 
Ist im Falle des § 8 in dem voraufgegangenen Entmündigungsverfahren ein ärzt¬ 
liches Gutachten nicht eingeholt worden, so ist ein solches vor Erlaß des die 
Verbringung anordnenden Beschlusses einzuholen. Die Dauer des zum Zwecke 
der Heilung stattfindenden Aufenthalts in der Anstalt soll auf mindestens ein 
Jahr und darf nicht auf mehr als zwei Jahre festgesetzt werden. Die Ver¬ 
längerung des Aufenthalts darf nur auf Grund eines erneuten Gerichtsbeschlusses 
und des Gutachtens des ärztlichen Leiters derjenigen Anstalt angeordnet werden, 
in welcher der Trunksüchtige sich befindet. Auf das Verfahren finden die Vor¬ 
schriften der §§ 6 bis 8, 13 bis 15 dieses Gesetzes mit der Maßgabe Anwendung, 
daß eine erneute Sachuntersuchung nach freiem Ermessen des Gerichts unter¬ 
bleiben kann. 

§ 17. Vorzeitige Entlassung. 

Die vorzeitige Entlassung eines zur Heilung und die Entlassung eines zur 
Bewahrung zwangsweise verbrachten Trunksüchtigen kann — abgesehen von dem 
Falle des § 10 dieses Gesetzes — nur erfolgen durch Verfügung der nach Landes¬ 
gesetz zur Ausführung der Verbringung zuständigen Behörde auf Grund eines 
Gutachtens des ärztlichen Leiters der Anstalt. Die vorzeitige Entlassung ist seitens 
der Anstaltsleitung sofort dem Gericht und der durch Landesgesetz zu be¬ 
stimmenden Verwaltungsbehörde des letzten Wohnortes des Entlassenen mit¬ 
zuteilen. Sie erfolgt stets nur probeweise; der Entlassene kann bis zum Ablaufe 
der gerichtsseitig gestehen Frist jederzeit ohne erneutes gerichtliches Verfahren 
zwangsweise wieder in die Anstalt zurückgeführt werden. Soll oder will der 
vorzeitig Entlassene einen andern Aufenthaltsort nehmen, als seinen letzten Wohn¬ 
ort, so ist außerdem der durch Landesgesetz zu bestimmenden Verwaltungsbehörde 
des ersteren Mitteilung zu machen. 

§ 18. Benachrichtigung von der endgültigen Entlassung. 

Von jeder endgültigen Entlassung eines zwangsweise verbrachten Trunk¬ 
süchtigen hat die Anstaltsleitung sofort: 

1. dem Gericht, welches die Verbringung beschlossen hat, 

2. der Gemeinde- und der durch Laüdesgesetz zu bestimmenden Verwaltungs¬ 
behörde des letzten Wohnortes des Entlassenen 

unter kurzer Äußerung über das Verhalten des Entlassenen in der Anstalt, den 
Erfolg der Anstaltsbehandlung und den vom Entlassenen angegebenen Ort seines 
nächsten Aufenthaltes Nachricht zu geben. Das Gericht hat den etwa bestellten 


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Stadtrat Kappelmann. 


Vormund oder Pfleger, in Ermangelung solcher die ihm bekannten nächsten An¬ 
gehörigen des Entlassenen seinerseits von der erfolgten Entlassung und den ihm 
mitgeteilten nächsten Aufenthaltsort des Entlassenen zu benachrichtigen. 

§. 19. Kosten. 

Die Kosten der zwangsweisen Verbringung nach der Anstalt, der etwa ge¬ 
forderten Ausstattung und des Aufenthalts in der Anstalt haben der Trunksüchtige 
oder im Falle seines Unvermögens die nach Gesetz zur Leistung des Unterhalts 
für ihn Verpflichteten zu tragen. 

§ 20. Vorbehalte für die Landesgesetzgebung. 

Der Landesgesetzgebung bleibt — abgesehen von der Vorschrift des § 1 
dieses Gesetzes — Vorbehalten, die zur weiteren Ausführung erforderlichen Be¬ 
stimmungen zu treffen. Insbesondere hat die Landesgesetzgebung Vorschriften zu 
erlassen über die Einrichtung und Überwachung der in § 1 gedachten Anstalten, 
über die zur Ausführung der zwangsweisen Verbringung zuständigen Behörden 
und über die Tragung der Kosten der zwangsweisen Verbringung und des 
Anstaltsaufenthaltes, soweit diese Kosten aus den Mitteln des Trunksüchtigen 
selbst oder der nach Gesetz zu seinem Unterhalt Verpflichteten nicht gedeckt 
werden können. 

§ 21. Zwangsverbringung durch Strafurteil. 

Wer im trunkenen Zustande ein Verbrechen oder eines der folgenden 
Vergehen: 

Widerstand gegen die Staatsgewalt, 

Landfriedensbruch, 

Gotteslästerung, 

Sittlichkeitsvergehen nach §§ 173, 175, 182, 183 des Str.-G.-B., 
gefährliche oder gemeinschaftliche Körperverletzung (§ 223 a, 227 des 
Str.-Ges.-B.), 

Sachbeschädigung nach §§ 304, 305 des Str.-Ges.-B., 
begeht und deswegen bestraft oder wegen mangelnder Zurechnungsfähigkeit in¬ 
folge trunkenen Zustandes bei Begehung der Tat freigesprochen wird, kann durch 
Urteil des erkennenden Gerichts auch neben der etwa verhängten Strafe zur 
Heilung oder Bewahrung einer gemäß § 1 errichteten Anstalt auf die Dauer 
einer im Urteil zu bestimmenden Zeit, die bei Überweisung zur Heilung zwei 
Jahre nicht übersteigen darf, überwiesen werden. Die Überweisung kann von 
Amts wegen oder auf Antrag der Staatsanwaltschaft ausgesprochen werden. 

Die durch die Verbringung und den Anstaltsaufenthalt entstehenden Kosten 
werden als Kosten des Strafvollzuges angesehen, soweit gleichzeitig eine Verur¬ 
teilung zu Strafe erfolgt ist. Andernfalls richtet sich die Tragung der Kosten 
nach den in den einzelnen Bundesstaaten bestehenden Vorschriften, welche hin¬ 
sichtlich der gemäß § 56 des Strafgesetzbuches einer Besserungsanstalt Über¬ 
wiesenen in Geltung sind. 

§ 22. Fortsetzung. 

Der § 860 des Beichsstrafgesetzbuches enthält folgende neue Bestimmung: 
(Mit Geldstrafe bis zu 150 Mk. oder mit Haft wird bestraft): 

15. wer in einem selbstverschuldeten Zustande ärgemiserregender Trunkenheit 
an einem öffentlichen Orte betroffen wird. Handelt es sich um einen ge¬ 
wohnheitsmäßigen Trinker (Trunksüchtigen), so tritt Haftstrafe ein. 


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Entwurf für ein Reichsgesetz betreffend die Fürsorge für Trunksüchtige. 197 

§ 23. Fortsetzung. 

Auf die gemäß § 22 zu Haftstrafe, sowie auf die gemäß § 361 Zf. 5 des 
Strafgesetzbuches wegen Trunks Verurteilten findet der § 362 des Strafgesetz¬ 
buches mit der Maßgabe Anwendung, daß die Landespolizeibehörde Unterbringung 
des Verurteilten in eine der gemäß § 1 dieses Gesetzes errichteten Anstalten 
anordnen kann. 

§ 24. Strafbestimmungen, 

Wer, abgesehen von dem Fall des § 120 des Strafgesetzbuches, einen 
Trunksüchtigen der gerichtlich angeordneten Verbringung in eine Anstalt entzieht 
oder ihn verleitet, sich der Verbringung zu entziehen, oder wer ihm hierzu oder 
zum Entweichen aus der Anstalt vorsätzlich behilflich ist, wird mit Gefängnis 
bis zu zwei Jahren und mit Geldstrafe bis zu 1000 Mk. oder mit einer dieser 
Strafen bestraft. 

§ 25. Fortsetzung. 

' Wer einem in einer Trinkeranstalt untergebrachten Trunksüchtigen ent¬ 
gegen dem für die Anstalt geltenden Verbot alkoholische Getränke verabfolgt oder 
ihm zur Erlangung solcher behilflich ist, oder wer heimlich alkoholische Getränke 
in eine Trinkeranstalt einführt, wird mit Geldstrafe bis zu 150 Mk., im Unver¬ 
mögensfalle mit entsprechender Haft bestraft. 

§ 26. 

Der § 34 des deutschen Gerichtskostengesetzes erhält folgenden Zusatz: 

Dieselbe Gebühr wird auch erhoben für die Entscheidung einschließlich des 
Verfahrens über zwangsweise Verbringung eines Trunksüchtigen in eine Heil- 
und Bewahranstalt (Reichsgesetz betreffend die Fürsorge für Trunksüchtige 
vom.). 

Erfolgt die Entscheidung während eines schwebenden Entmündigungsver¬ 
fahrens, so wird die Gebühr nur einmal erhoben. 

§ 27. 

Dieses Gesetz tritt am.in Kraft. 

Urkundlich u. s. w. 


Begründung. 

A. Allgemeines. 

Daß die Trunksucht eine schwere Volkskrankheit ist, deren Heilung anzu¬ 
streben neben anderen Faktoren auch dem Staate obliegt, bedarf heute einer 
näheren Begründung und Beweisführung nicht mehr. Eine der wichtigsten Auf¬ 
gaben dabei bleibt die Fürsorge für die Trunksüchtigen selbst. Der Trunksüchtige 
— mag er auch in den weitaus meisten Fällen allein die Schuld an seinem Zu¬ 
stand tragen — muß nach der heute in ärztlichen Kreisen überwiegenden, auch 
von anderer, namentlich juristischer Seite anerkannten Ansicht der Wissenschaft 
als ein Kranker angesehen werden, der der Heilung und Bewahrung bedarf. Mit 
der Anschauung: die Trunksucht an sich sei lediglich ein Laster, eine Be¬ 
tätigung böser Neigungen aus freiem Willen, die deshalb als Laster bekämpft 
und bestraft werden müsse, darf fernerhin nicht mehr gerechnet werden. Diese 
Anschauung würde auch praktisch eine wirksame Bekämpfung der Trunksucht, 
eine Heilung oder Bewahrung des trunksüchtigen Individuums in den weitaus 
meisten Fällen ausschließen. 


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Stadtrat Kappelmann. 


Zum Erweise der Bichtigkeit der ersteren Ansicht sei hier nur auf die Er¬ 
gebnisse der in den letzten Jahren stattgehabten Kongresse, insbesondere des 
deutschen Vereins gegen den Mißbrauch geistiger Getränke und der Trinkerheil¬ 
anstalten des deutschen Sprachgebietes, ferner auf den Standpunkt hingewiesen, 
den die neueren Schweizerischen Trinkerfürsorgegesetze im Kanton St. Gallen 
und Thurgau sowie der österreichische Gesetzentwurf vom Jahre 1895 einnehmen. 
Von wissenschaftlichen Autoritäten, die gleichfalls auf diesem Standpunkt stehen, 
seien hier nur genannt: 

Endemann, die Entmündigung wegen Trunksucht. Halle a. S. 1904. 

Schäfer, die Aufgaben der Gesetzgebung hinsichtlich der Trunksüchtigen. 

Nonne, Stellung und Aufgaben des Arztes in der Behandlung des Al¬ 
koholismus. 

Cramer, Entmündigung wegen Trunksucht. 

Hoppe, die Tatsachen über den Alkohol. 

Grotjahn, der Alkoholismus. 

Smith, die Alkoholfrage. 

Co 11a, die Trinkerversorgung. 

Br atz, die Behandlung der Trunksüchtigen. 

Fl ade, erfüllen Gesellschaft und Staat ihre Pflicht Trunksüchtigen 
gegenüber? 

Waldschmidt, weshalb ist ein Trinkerfürsorgegesetz notwendig und welche 
Bestimmungen muß es enthalten? 

Daß das Bürgerliche Gesetzbuch bei Schaffung der Vorschriften über die 
Entmündigung wegen Trunksucht gleichfalls auf diesem richtigen Standpunkt ge¬ 
standen hat, ist außer Zweifel und wird durch Planck zudem deutlich bezeugt. 
Ebenso nimmt Endemann-Halle diesen Standpunkt ein (vgl. Noten 7 und 8 zu 
§ 34 seines Lehrbuches des bürgerlichen Rechts Band I). 

Ist aber die Trunksucht eine Volkskrankheit und ist der Trunksüchtige ein 
Kranker, so ist die Pflicht des Staates, sich dieses Kranken anzunehmen, nicht 
schwer zu begründen. Der Staat, das Gesetz nimmt sich der wirtschaftlich 
Schwachen, der Hilfsbedürftigen auf vielen, um nicht zu sagen auf allen Gebieten 
an. Wie das Gesetz die Kinder und Unmündigen durch weise Vorschriften 
schützt und behütet, wie es erst jüngst durch das Fürsorgeerziehungsgesetz unsere 
jungen Mitbürger nicht nur vor körperlichem, sondern auch vor moralischem und 
geistigem Siechtum hüten und schützen will, so hat es in den sozialpolitischen 
Gesetzen die wirtschaftlich Schwachen zu halten und zu stützen gesucht. Mannig¬ 
fache Gesetze sorgen in unserm deutschen Vaterlande dafür, daß Arme, Kranke, 
Sieche und Gebrechliche nicht untergehen, daß sie — wenn auch vielleicht nur 
notdürftig — Unterhalt, Pflege, Heilung und Bewahrung finden und daß dies 
nicht nur aus Gnade und Barmherzigkeit, sondern in Erfüllung einer Pflicht 
geschieht. Der letzte innerste Grund, der den Staat zu solchem Vorgehen ver- 
veranlaßt, kann und darf nioht etwa nur Mitleiden sein. Vielmehr ist es die 
Erkenntnis, daß durch solche Fürsorge die nationale Wohlfahrt des Staates selbst 
erhalten und gestärkt, seine Wehrkraft gestützt und der Volkswohlstand gehoben 
werden muß. Und diese Erkenntnis darf nicht stillestehen vor der Tatsache, 
daß die schreckliche Volkskrankheit der Trunksucht Tausende und Abertausende 
dahinrafft und wehrlos macht, daß sie den Volkswohlstand untergräbt wie kaum 
ein anderer Faktor, daß sie Familienleben und Gesellschaft erschüttert und die 


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Entwurf für ein Reichsgesetz betreffend die Fürsorge für Trunksüchtige. 199 

Zukunft unseres Volkes mit schweren Gefahren bedroht. Wie der Staat eifrig 
bestrebt ist, dem schrecklichen Wüten der Tuberkulose möglichst Einhalt zu tun, 
so muß er in richtiger Erkenntnis der Gefahr auch der Trunksucht entgegen¬ 
treten und des Trunksüchtigen sich annehmen, um ihn zu retten oder zu be¬ 
wahren. Der Trunksüchtige darf nicht als ein einzelnes Individuum betrachtet 
werden, an dessen Wohl und Wehe die Gesamtheit kein Interesse hätte. Es 
muß auf die unendliche Schar seiner Genossen gesehen werden und in jedem 
Vertreter diese Gesamtheit selbst zum Gegenstand der Fürsorge gemacht werden. 
Von statistischen Begründungen des eben Gesagten soll hier abgesehen werden 
in der Voraussetzung, daß das vorhandene überreiche statistische und sonstige 
wissenschaftliche Material über die Zahl der an Alkoholismus Leidenden, deswegen 
in Irren- und Krankenanstalten Verbrachten, die Verhältnisse ihrer Familien, 
den Alkoholkonsum, die Inanspruchnahme der Krankenkassen u. s. w. den zu¬ 
ständigen Stellen bei einer etwaigen Vorlage von Entwürfen für Trinkerfürsorge¬ 
gesetze ohnehin wird unterbreitet werden. 

Wenn somit die Forderung aufgestellt wird, daß der Staat die Pflicht hat, 
der Fürsorge für Trunksüchtige seinen starken Arm zu leihen zum Behufe ge¬ 
setzgeberischer Schritte, so fragt sich, ob er denn dieser Pflicht nicht vielleicht 
jetzt schon genügt? Die Forderung neuer Gesetze muß stets getragen sein von 
dem Erkenntnis eines dringenden Bedürfnisses, um gerechtfertigt zu er¬ 
scheinen und Aussicht auf Verständnis und Erfolg zu bieten. Liegt denn ein so 
dringendes Bedürfnis in der Tat vor und liegt es gerade jetzt vor? Die Frage 
ist enschieden mit allem Nachdruck zu bejahen. 

Zwar muß anerkannt werden, daß in den letzten Jahren mancherlei ge¬ 
schehen ist zur Abwehr und zur Behebung des Notstandes, wie ihn das Umsich¬ 
greifen der Trunksucht darstellt. Vor allem muß dankbar begrüßt werden die 
gesetzliche Neuerung der Entmündigung wegen Trunksucht, die uns das Bürger¬ 
liche Gesetzbuch gebracht hat. Ferner muß hervorgehoben werden, daß gerade 
in der letzten Zeit die Zentralbehörden in Preußen sich eifrig bemüht haben, 
durch Verbreitung sehr verständig gefaßter Grundsätze über die Gefahren des 
Alkoholmißbrauchs und nützlicher Winke und Anregungen zur Bekämpfung des 
Übels den Kampf gegen die Trunksucht zu unterstützen. Es muß endlich der 
unermüdlichen Vereinsarbeit gedacht werden, die auch tatsächlich greifbare Er¬ 
folge aufzuweisen hat. Ich denke hier einmal an die Gründung von Trinker¬ 
heilstätten, sodann an die Gewinnung von Anhängern und Mitgliedern seitens 
der Mäßigkeits-, Abstinenz- und ähnlicher Vereine, die ja zum Teil numerisch 
ganz auffallende Erfolge aufweisen. Wie viel Individuen nun aber tatsächlich 
auf dem Wege der bisher angedeuteten Bestrebungen gerettet oder bewahrt 
worden sind, das läßt sich auch nicht einmal annähernd angeben. Es würde 
dazu u. a. der genaue Nachweis gehören, wie viel Personen z. B. durch Eintritt 
in einen Abstinenz-Verein wirklich und mit Erwartung auf dauernden Erfolg von 
der Trunksucht gerettet worden sind. Wohl aber läßt sich der Nachweis führen, 
daß, abgesehen von der Vereinstätigkeit, dasjenige, was bisher zur Rettung 
und Bewahrung Trunksüchtiger geschehen ist, eine ganz verschwin¬ 
dende Bedeutung besitzt. Über die Zahl der in den letzten Jahren durch 
die Statistik bekannt gewordenen — diese Einschränkung muß natürlich be¬ 
tont werden — Alkoholiker sei hier folgendes angeführt: 

Nach Cramer sind in deutschen Krankenanstalten chronische Alkoholisten 


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Stadtrat Kappelraann. 


verpflegt worden im Jahre 1895: 12231; 1896: 14238; 1897: 14323, und ein 
weiteres Steigen ist unzweifelhaft festzustellen. Dieselben Zahlen führt Putter 
in einem Bericht auf dem Städtetage der Provinz Sachsen vom 5. bis 7. Juni 1903 
an. Nach Waldschmidt, die Trinkerfürsorge in Preußen, sind im Jahre 1899 
in preußischen Kranken- und Irrenanstalten an Alkoholismus behandelt worden 
21361 Personen, wovon 6514 reinen Alkoholismus ohne Zeichen einer anderen 
geistigen oder körperlichen typischen Krankheit zeigten. Schaefer-Lengerich 
berechnet die Zahl der anstaltsbedürftigen Trinker in Preußen auf 2 von 10000 
Einwohnern; das würde bei rund 35000000 Einwohnern ein Kontingent von 7000 
ausmachen. Diese Zahl stimmt also mit der oben gefundenen von 6514 fast 
überein. Es sind nun seit Inkrafttreten des B. G.-B. wegen Trunksucht ent¬ 
mündigt worden: 

I. In Deutschland (nach Cramer) 1900: 688; 1901: 852 Personen. 

II. In Preußen (nach Endemann) 1900: 88(?); 1901: 528 Personen. 1 ) 

Von den 616 wegen Trunksucht bis Ende 1901 in Preußen Entmündigten 
sind nur 68 in Heilanstalten (sämtlich Privatanstalten) untergebracht 
worden. Zum Vergleich sei nur kurz erwähnt, daß in der Schweiz mit ihren 
etwa 8 1 /* Millionen Einwohnern im Jahre 1899 nicht weniger als 2400 Personen 
in Trinkeranstalten untergebracht waren, trotzdem damals nur erst im Kanton 
St. Gallen eine gesetzliche Regelung der Trinkerfürsorge bestand. Rechnet man 
gemäß den oben wiedergegebenen Zahlen selbst nur mit 6000 anstaltsbedürftigen 
Trinkern in Preußen, so sehen wir, daß kaum mehr als 10% von ihnen ent¬ 
mündigt und gar nur 1, 18 % der Wohltat einer Anstaltsbehandlung teilhaftig 
werden konnten! Und dabei ist die Gelegenheit zur Anstaltsbehandlung schon 
jetzt immerhin nicht gar so knapp. Nach den zu Gebote stehenden ziemlich 
übereinstimmenden Angaben für 1901 bestanden damals folgende Privatanstalten 
(andere gibt es bekanntlich noch nicht): 

I. Ausschließliche Trinkerheilanstalten: 

a) In Deutschland.31 Anstalten mit 681 Betten, 

davon b) In Preußen.26 „ ,, 562 „ 

II. Anstalten, die gleichzetig anderen Zwecken dienen: 

a) In Deutschland.5 Anstalten mit 219 Betten, 

davon b) In Preußen.3 „ »149 „ 

Im ganzen also: 

In Deutschland.36 Anstalten mit 900 Betten, 

davon: In Preußen.29 „ »711 „ 

Wenn man lediglich diese Zahlen entscheidend lassen sein könnte, würde 
es sonach immerhin möglich gewesen sein, wenigstens die entmündigten Trinker 
in Preußen in Anstalten unterzubringen; d. h. es wäre wohl Platz dazu vor¬ 
handen gewesen — ein weiteres soll damit nicht gesagt sein. Die übrigen 5000 

J ) Nach den im Justizministerialblatt veröffentlichten Geschäftsübersichten 
sind in Preußen wegen Trunksucht entmündigt worden: 

1900: 384, 1901: 528, 1902: 576, 1903: 623 Personen. 


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Entwurf für ein Reichsgesetz betreffend die Fürsorge für Trunksüchtige. 201 

anstaltsbedürftigen Trinker dagegen hätten schon wegen Platzmangel allein nicht 
untergebracht werden können. Angenommen, die 68 in Trinkeranstalten Unter¬ 
gebrachten seien auch sämtlich gerettet und wieder zu ordentlichen Mitgliedern 
der menschlichen Gesellschaft gemacht worden — eine Annahme, die nicht einmal 
richtig sein würde, denn man hat z. B. für die 2400 in der Schweiz in Anstalten 
Verbrachten nur ein Drittel als gebessert bezeichnet —: welch klägliches Er¬ 
gebnis unserer gewiß so gut gemeinten und mit Freuden begrüßten Gesetzgebung! 
Eine wesentliche Besserung würde übrigens keineswegs dadurch geschaffen 
werden, daß von dem Hilfsmittel der Entmündigung wegen Trunksucht energischer 
als bisher Gebrauch gemacht würde. Denn zunächst ist es mit der Entmündigung 
allein nicht getan. Der Ausspruch des Richters mit seinen verschiedenen recht¬ 
lichen Folgen kann allein den Trunkenbold nicht bewahren oder heilen. Er bildet 
heute nur mehr die Vorraussetzung, die rechtliche Möglichkeit zu einem Heil¬ 
verfahren auch gegen seinen Willen. Es müßte also entweder die Gewähr 
dafür vorliegen, daß der Entmündigte in einen Abstinenz-Verein eintritt und sich 
auch dauernd völlig abstinent hält — was bei derart weit vorgeschrittener Trunk¬ 
sucht wohl so gut wie ausgeschlossen wäre —, oder aber die Entmündigten 
müßten samt und sonders in Trinkeranstalten verbracht werden, denn daß nur 
durch eine sachgemäße und in gewisser Beziehung strenge Anstalts¬ 
behandlung chronische Alkoholisten gebessert, geheilt oder zweck¬ 
mäßig versorgt werden können, daran darf man heute nicht mehr 
zweifeln! Aber — einmal würden für eine in so weitem Umfange gedachte 
Zwangsverbringung hinreichende Anstalten überhaupt fehlen und dann: wie sollen 
die Kosten aufgebracht werden? Diese sind ja sehr verschieden, meistens aber 
noch recht hoch. Aus Blatt 1 und 2 des XVIII. Jahrganges der Mäßigkeitsblätter 
erfahren wir, daß es zwar eine Anstalt (Brückenkopf bei Thal in Thüringen mit 
10 Betten) gibt, welche die Aufnahme unentgeltlich leistet, 1 ) daß aber im übrigen 
die jährlichen Kosten zwischen 120 und 1920 Mk., in einzelnen Anstalten 
die täglichen Kosten sogar zwischen 8 und 21 Mk. schwanken. Bei einer 
so weitgehenden Verschiedenheit ist eine zweckdienliche systematische Verbringung 
Entmündigter also geradezu ausgeschlossen. Doch noch ein Weiteres raubt der 
auf Vermehrung der Fälle gerichtlicher Entmündigungen gesetzten Hoffnung den 
Stützpunkt: die Entmündigung ist ein Mittel, welches fast stets viel 
zu spät einsetzen wird. Ein Blick auf die gesetzliche Grundlage, den § 6 
Zf. 3 B. G.-B., macht dies schon ohne weiteres klar. Zumal wenn die Gerichte, 
wie geschehen, den Ausdruck „wer infolge von Trunksucht seine Angelegen¬ 
heiten nicht zu besorgen vermag“ so auslegen: nur der Fall sei hierunter 
zu verstehen, daß der Trunksüchtige keine seiner Angelegenheiten mehr 
zu besorgen vermag. Auch der § 681 der Zivilprozeßordnung mag erwähnt werden. 
Es soll hiernach ein Aussetzen des Beschlusses zulässig sein, wenn Aussicht be¬ 
steht, daß der zu Entmündigende sich bessern werde. Damit wird der Gedanke 
nahe gelegt: nur der unverbesserliche Trunkenbold ist zur Entmündigung reif! 
Ja, dann kann eben die Entmündigung eine Besserung, eine Heilung nicht mehr 
herbeiführen: sie kommt zu spät. Die Erfahrung aus der Praxis hat denn auch 
gezeigt, daß die Gerichte, wenn auch in gewiß berechtigter Scheu vor dem so 


*) Neueren Nachrichten zufolge sind jetzt auch dort Verpflegungssätze zu 
zahlen. 

Der Alkoholismus. 1905. 14 


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Stadtrat Kappelmann. 


schweren lind einschneidenden Schritt, zum Entmündigungsbeschluß vielfach eist 
dann gelangen, wenn bei dem Trunksüchtigen sozusagen Hopfen und Malz ver¬ 
loren ist, wenn er im äußersten Stadium der Trunksucht angelangt ist. Auch 
ist zu bedenken, daß das Gericht nur auf Antrag einschreiten kann, daß aber- 
die Anträge meist erst dann gestellt werden, wenn die Trunksucht schon sehr 
weit vorgeschritten ist. Daß die Entmündigung ein Mittel ist, welches viel zu 
spät einsetzt, wird denn auch heute von allen Autoritäten anerkannt, die sich 
mit der Frage beschäftigen. Es sei hier nur aufColla, Cramer und Ende- 
mann hingewiesen. Endlich mag noch kurz erwähnt werden, daß eine er¬ 
hebliche Vermehrung der Fälle gerichtlicher Entmündigung wegen Trunksucht 
aus verschiedenen — hier nicht weiter zu verfolgenden — Ursachen nicht einmal 
wahrscheinlich ist. 

Können wir also von der Entmündigung eine erhebliche Besserung der 
herrschenden Zustände nicht erhoffen, was bleibt dann als möglich und erreichbar 
zu erstreben? Die segensreiche Tätigkeit der Mäßigkeits- und Abstinenz-Vereine, 
des Blauen Kreuzes, der Guttempler muß gewiß von jedem, der objektiv und 
unbefangen urteilt, freudig begrüßt und anerkannt werden, mögen auch die Wege r 
welche manche dieser Vereinigungen einschlagen, mögen die Kampfesart und die 
dabei benutzten Waffen vielleicht vielfach auf Widerstand und Mißbilligung stoßen. 
Die wachsende Mitgliederzahl namentlich der Vereinigungen extremer Richtung; 
muß doch Achtung und Bewunderung einflößen; ja, nach einem Referat von 
Pütter auf dem Städtetage der Provinz Sachsen im Juni 1903 darf vielleicht 
angenommen werden, daß die Abstinenzvereine etwa zehnmal so viel Trinker 
gerettet und zu nützlichen Bürgern gemacht haben, als Trinkerheilanstalten. Aber 
der Staat darf sich nicht damit begnügen, die Tätigkeit dieser Vereine wohl¬ 
wollend zu betrachten und sie vielleicht auch auf die eine oder andere Weise 
zu unterstützen und ihre Bestrebungen zu fördern. Er würde dadurch nicht der 
oben gekennzeichneten Pflicht entledigt. Auch ist es ja immerhin möglich, wenn 
auch unwahrscheinlich, daß die Bewegung in absehbarer Zeit nachläßt, das In¬ 
teresse sich abflacht, daß andere Anschauungen Platz greifen u. dergl. mehr. 
Mit solchen Zufälligkeiten muß man rechnen und darf daher von der segensreichen 
Tätigkeit der Vereine nicht alles erwarten. Daß die bestehenden privaten 
Trinkerheilanstalten als ein wirksames Mittel nicht in Betracht kommen können, 
leuchtet ein. Abgesehen von ihrer geringen Zahl fehlt ihnen jede Möglichkeit* 
eine Zwangsversorgung Trunksüchtiger durchzuführen. Und bei dem rein privaten 
Charakter derselben und dem gegenwärtigen Stande der Gesetzgebung fehlt jeda 
Gewähr für eine Gleichmäßigkeit in sachgemäßer und den Erfordernissen der 
Wissenschaft und richtigen psychiatrischen Praxis entsprechender Leitung und 
Einrichtung dieser Anstalten. Ja es ist wiederholt von ärztlicher Seite auf das 
Bedenkliche hingewiesen worden, daß jetzt beliebig Trinker-Anstalten gegründet 
und Trunksüchtige ohne jene oben angedeutete Gewähr in dieselben aufgenommen 
werden können. 

Was not tut, das ist die Errichtung öffentlicher, mit allen 
Garantien ausgerüsteter Trinkerheil- und Bewahr-Anstalten sowie 
die Schaffung einer gesetzlichen Grundlage für die zwangsweise 
Verbringung Trunksüchtiger in solche Anstalten auch ohne vorher¬ 
gehende Entmündigung! Diese Forderung ist in den letzten Jahren immer 
lauter und eindringlicher erhoben worden und sie muß endlich erfüllt werden,. 


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Entwurf für ein Reichsgesetz betreffend die Fürsorge für Trunksüchtige. 203 

soll die Hoffnung auf wirksame Besserung unserer Zustände nicht zu Schanden 
werden. Als Belag für das allgemein empfundene dringende Bedürfnis sei hier 
lediglich auf die reichhaltige Literatur auf diesem Gebiete, insbesondere auf die 
eingangs erwähnten Schriften, auf die Kongresse unserer Vereinigungen Bezug 
genommen. Und daß diese Hoffnung eine wohlbegründete ist und kein leerer 
Wahn bleibt, dafür bietet uns die beste Gewähr die Resolution des Preußischen 
Abgeordnetenhauses in der IV. Session vom 11. Juni 1902, mit welcher 
der Antrag des Grafen Douglas angenommen worden ist. In seltener Ein¬ 
mütigkeit haben damals die Redner aller Parteien und haben die Vertreter der 
Staatsregierung die Notwendigkeit eingreifender Reformen anerkannt. Durch diese 
Resolution wird von der Staatsregierung verlangt: Die Unterbringung von Trinkern 
in geeignete Anstalten sowie die Fürsorge für sie zu fördern, insbesondere auf 
Errichtung öffentlicher Anstalten zur Unterbringung der wegen Trunksucht Ent¬ 
mündigten Bedacht zu nehmen. Für unbemittelte Trinker soll zugleich ein dem 
Gesetze vom 11./7. 1891 und dem Fürsorgeerziehungsgesetz vom 2-/7. 1900 an¬ 
gepaßtes Verfahren in Erwägung gezogen werden. Und daß die Staatsregierung 
diesem Verlangen entsprechen wird und entsprechen muß, daran darf man nicht 
mehr zweifeln. Hat sie doch schon erheblich früher erkannt, daß neue Bahnen 
eingeschlagen, neue gesetzgeberische Schritte getan werden müssen. Dies beweist 
das am 20. Mai 1900 vom Minister des Innern und vom Kultusminister erlassene 
Rundschreiben. Es verlangt dieser Erlaß zunächst eine Feststellung über die 
vorgekommenen Entmündigungen wegen Trunksucht. Sodann wird gefragt, ob 
ein vermehrtes Bedürfnis zur Unterbringung Trunksüchtiger in Trinkerheilanstalten 
sich ergeben wird, welche Anstalten bereits bestehen, ob dieselben dem Bedürfnis 
genügen, welche Mängel sie etwa aufweisen und wie den erkannten Mängeln am 
zweckmäßigsten und wirksamsten abgeholfen werden kann? 

Die Verwirklichung dieser Aufgaben nahe zu rücken hat sich der Verein 
gegen den Mißbrauch geistiger Getränke und die Vereinigung der Trinkerheil¬ 
stätten in Wort und Schrift angelegen sein lassen. Er will jetzt mit Vorlage 
eines förmlichen Gesetzentwurfes einen weiteren Schritt auf dieser Bahn tun. 

Der Entwurf sieht eine reichsgesetzliche Regelung der Trinkerfür¬ 
sorge vor. Eine Beschränkung auf Preußen wäre nicht zu rechtfertigen. Der 
zu bekämpfende Notstand herrscht allgemein in Deutschland und die auf Reichs¬ 
gesetz beruhende Entmündigung wegen Trunksucht zeigt als Ausgangspunkt den 
Weg, der weiter zu beschreiten ist. Es zeigen denn auch wiederholt an den 
Reichstag gelangte Petitionen um gesetzgeberische Maßnahmen gegen die Trunk¬ 
sucht, es zeigt so der Reichsgesetzentwurf vom Jahre 1892 deutlich, daß man 
die Kompetenz des Reiches für diese Materie stets anerkannt hat Eine par¬ 
tikulare Gesetzgebung würde schon der Willkür und Ungewißheit wegen, die 
den Erlaß gesetzgeberischer Akte beeinflussen könnte, als gänzlich ungeeignet 
erscheinen, um die notwendige grundsätzliche Reform zu schaffen: sie kann des¬ 
halb nur insoweit in Frage kommen, als sie nach der geltenden Verfassung und 
Lage des öffentlichen Rechts einsetzen muß, um die Ausführung der reichs¬ 
gesetzlichen Grundnormen zu gewährleisten. So soll denn durch Reichsgesetz 
die Errichtung von Trinkeranstalten als Postulat ausgesprochen werden (§ 1). 
Ebenso mußte als zweiter wichtiger und allgemein geltender Satz die Unter¬ 
bringung und die Art der Unterbringung Trunksüchtiger in diese Anstalten ge¬ 
regelt werden (§§ 2 ff.). Dabei ist allerdings davon ausgegangen, daß die zwangs- 

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weise Verbringung Trunksüchtiger auf Grund eines Ausspruches des Gerichts 
zu erfolgen hat. Würde statt dessen die Zuständigkeit einer Verwaltungs¬ 
behörde gewählt worden sein, so hätte die reichsrechtliche Regelung dieser 
Zuständigkeit versagt. Es hätte der Landesgesetzgebung überlassen werden müssen, 
zu bestimmen, welchen Behörden die Anordnung der zwangsweisen Verbringung 
zusteht. Die hier zu Gunsten der Gerichte getroffene Entscheidung bedarf jedoch 
näherer Rechtfertigung. Es ist Tatsache, daß fast alle, die sich die Förderung 
der Trinkerfürsorge-Gesetzgebung zur Aufgabe gestellt haben, auf dem entgegen¬ 
gesetzten Standpunkte stehen. So: Bratz, Colla, Waldschmidt u. a. m. 
Ebenso haben die bisher erlassenen Schweizerischen Gesetze (Basel, St. Gallen 
und Thurgau) Verwaltungsbehörden die Zuständigkeit übertragen. Nur der 
Österreichische Gesetzentwurf befaßt den Richter mit der Anordnung der Zwangs¬ 
verbringung. Es muß offen bekannt werden, daß die Übertragung dieses wich¬ 
tigen und schwerwiegenden Aktes an eine Verwaltungsbehörde, die völlige Los¬ 
lösung von einem gerichtlichen Verfahren mit den dabei unumgänglichen For¬ 
malitäten und Weitläufigkeiten an sich bei weitem erwünschter — und vielleicht 
auch zweckdienlicher — erscheint. Dennoch sprachen gewichtige Gründe dafür, 
den im Entwurf kenntlichen Standpunkt einzunehmen. Zunächst wäre, wie schon 
angedeutet, eine einheitliche reichsrechtliche Regelung der Zuständigkeit unmög¬ 
lich gewesen. Es hätte zwar die Zulässigkeit zwangsweiser Verbringung Trunk¬ 
süchtiger als Grundsatz ausgesprochen werden können. Wer aber diese Ver¬ 
bringung anzuordnen hat, das zu regeln hätte der Landesgesetzgebung überlassen 
werden müssen. Eine Buntscheckigkeit der hiernach zuständigen Behörden wäre 
die unausbleibliche Folge gewesen. Dies zu vermeiden schien erwünscht, wenn 
nicht geboten. Dann weiter: wenn die Entmündigung eines Trunksüchtigen 
dem Gericht zusteht, soll dann etwa die zwangsweise Verbringung dieses Ent¬ 
mündigten erst wieder in einem besonderen Verfahren durch eine andere Be¬ 
hörde angeordnet werden müssen? Doch wohl nicht. Es würde dann für 
einen Teil der Fälle die Zuständigkeit den Gerichten verblieben sein und wir 
hätten — wenn man die im Entwurf vorgesehene Verbringung durch Strafurteü 
gelten läßt — drei verschiedene Behörden, welche die Zwangsverbringung 
anordnen könnten: das Zivilgericht bei entmündigten, das Strafgericht bei ge¬ 
wissen im Strafverfahren überwiesenen und eine Verwaltungsbehörde bei allen 
übrigen Trunksüchtigen. Auch die im Entwurf vorgesehene Ausnutzung des § 681 
der Zivilprozeßordnung würde kaum durchführbar sein, wenn die Zuständigkeit 
des Gerichts verneint wird. Doch dies alles sind Bedenken, die nicht so schwer¬ 
wiegend erscheinen, daß an ihnen allein etwa die so vielseitig gewünschte Zu¬ 
ständigkeit der Verwaltungsbehörden! scheitern müßte. Es ließen sich vielleicht 
Auswege aus solchen Schwierigkeiten suchen. Das erheblichste Hindernis liegt 
vielmehr in Lösung der praktischen Frage: welche Verwaltungsbehörde 
soll zuständig sein? Durch Reichsgesetz könnte freilich sehr einfach de¬ 
kretiert werden: zur Anordnung der zwangsweisen Verbringung sind die durch 
Landesgesetz zu bestimmenden Verwaltungsbehörden zuständig. Es wäre dann 
jedem Bundesstaat überlassen, nach seinem Belieben staatliche, kommunale, 
höhere oder niedere, Lokal- oder Aufsichtsbehörden zu bestimmen. Schon dies 
würde der doch notwendigen Einheitlichkeit der Regelung bedenklichen Abbruch 
tun. Aber weiter: welche Behörden sollten z. B. in Preußen bestimmt werden? 
Sieht man auf die Schweizerische Gesetzgebung, so ist dort — abgesehen von 


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Entwurf für ein Reichsgesetz betreffend die Fürsorge für Trunksüchtige. 205 

Bestätigung oder Genehmigung der Beschlüsse — die Zwangsverbringung in den 
Kantonen St. Gallen und Thurgau kommunalen Organen (der Gemeindebehörde 
des Wohnortes bezw. dem Waisenamt) im Kanton Basel-Stadt dem Regierungsrat, 
also einer staatlichen Behörde übertragen worden. Die bisher für ein deutsches 
oder ein preußisches Gesetz gemachten Reformvorschläge haben sich darauf be¬ 
schränkt, ganz allgemein von Verwaltungsbehörden zu sprechen, ohne bestimmte 
Behörden zu nennen. An kommunalen Behörden könnten in Preußen größere 
kommunale Verbände, als die Gemeinden, wohl kaum in Frage kommen. Denn 
abgesehen von den Provinzial- und ähnlichen sehr großen Verbänden, an die 
man gewiß nicht denken wird, erscheint z. B. die Übertragung der Zuständigkeit 
an den Kreisausschuß unwegsam. Die Zusammensetzung und der Geschäftskreis 
dieser Behörde scheint einer solchen Übertragung von vornherein ungünstig, und 
man kann es kaum als im Rahmen der Aufgaben des Kreises liegend betrachten, 
Anordnungen über die Versorgung eines einzelnen trunksüchtigen Kreiseinge¬ 
sessenen, in erster Instanz wenigstens, zu treffen. Es blieben somit die Gemeinde¬ 
behörden oder Unterorgane derselben übrig. Nun denke man an die weitaus 
überwiegende Zahl kleiner und kleinster Landgemeinden und Gutsbezirke! Sollte 
es gerechtfertigt werden können, den Gemeinde- und Gutsvorstehem — selbst 
unter Berücksichtigung der zweifellos dann notwendigen Bestätigung durch die 
Aufsichtsbehörden — allgemein die Anordnung eines so folgenschweren Schrittes 
zu überlassen, wie die zwangsweise Verbringung Trunksüchtiger in Anstalten 
darstellt? Man wird dies schwerlich bejahen dürfen; mag auch das Gesetz von 
St. Gallen ebense verfahren — ohne genauere Prüfung und Kenntnis der dortigen 
Verhältnisse würde die bloße Analogie der Tatsachen nichts beweisen. Und was 
für einen Kanton mit etwa 230000 Einwohnern gut und praktisch ist, kann des¬ 
halb bei weitem noch nicht auf einen Staat von 35 Millionen Einwohnern mit 
so heterogenen Verhältnissen, wie Preußen, ohne weiteres als praktisch und aus¬ 
führbar empfohlen werden. Und aus eben demselben Grunde, nämlich aus der 
Berücksichtigung der kleinen Dorfgemeinden, kann auch eine Übertragung an 
Unterorgane der Gemeindebehörden, so z. B. den Gemeindewaisenrat, nicht in 
Frage kommen. Besteht diese Behörde doch vielfach nur aus einer einzigen 
Person, einem einfachen, vielleicht durchaus braven und rechtlich denkenden 
Landmanne. Wenn die Verhältnisse in größeren Gemeinden, in mittleren und 
großen Städten anders liegen, so schwindet darum doch nicht das Bedenken einer 
allgemeinen gleichartigen Übertragung der Befugnisse an die Gemeindebehörden. 
Und eine verschiedene Regelung je nach der Größe der einzelnen Gemeinden 
eintreten zu lassen, würde sowohl grundsätzlich und rechtlich bedenklich, als 
auch praktisch kaum ausführbar sein. 

Denkt man nun an staatliche Behörden, so muß nach der überwiegend 
jetzt vertretenen Auffassung eine Übertragung der Zwangsbefugnisse an Polizei¬ 
behörden von vornherein abgewiesen werden. Es würde damit dem gesamten 
Verfahren der festzuhaltende Grundsatz der Heilung und Bewahrung eines Kranken 
genommen und ihm der Stempel eines Strafverfahrens aufgedrückt werden. 
Wenn zur Vermeidung dieser Folge einmal geltend gemacht worden ist: die An¬ 
ordnung der Zwangsverbringung dürfe nicht der Polizei schlechthin, sondern der 
Sanitätspolizei übertragen werden, so ist damit auch nichts gewonnen. Denn 
besondere sanitätspolizeiliche Behörden gibt es bei uns nicht in dem Sinne, 
daß solche etwa neben den Ortspolizeibehörden oder der Landespolizeibehörde 


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206 


Stadtrat Kappelmann. 


füngierten und somit selbständige Organe bildeten, denen jene Befugnis durch 
Gesetz zugewiesen werden könnte. Bei der Zuständigkeit der Ortspolizeibehörden 
würde übrigens das oben gegen die Übertragung an die Gemeindebehörden auf¬ 
geworfene Bedenken insofern wieder mitspielen, als Amtsvorsteher und Gutsvor¬ 
steher als Inhaber der Polizeigewalt in Frage kämen. Überträgt man die Zu¬ 
ständigkeit in Landkreisen an den Landrat, in Stadtkreisen an den Bürgermeister 
als die zur Handhabung und Ausführung der Gesetze gemäß der Kreis- und 
Städteordnung berufenen Organe der Staatsverwaltung, so läßt sich auch hier 
wieder die Verquickung mit der Polizei nicht vermeiden. Denn beide Organe 
sind — soweit Landkreise und Städte ohne königliche Polizeiverwaltung in Be¬ 
tracht kommen — gleichzeitig auch Inhaber der Polizeigewalt. Immerhin wäre 
eine solche Regelung an sich und in der Theorie vielleicht am wenigsten den 
bisher geltend gemachten Bedenken unterworfen. Nur scheint es für die Praxis 
recht schwierig, ein durch Vernehmung von Zeugen, Sachverständigen und sonstigen 
Personen, einschließlich des Trunksüchtigen selbst recht kompliziertes Verfahren 
in die Hand von Beamten zu legen, deren Amtstätigkeit im Laufe der Jahre 
durch die immer mehr anschwellende Fülle der ihnen zur Ausführung übertragenen 
Gesetze und Verordnungen sowie durch viele andere Momente ohnehin immer 
anstrengender und umfassender wird. Daß ein vielbeschäftigter Landrat, ein 
Bürgermeister einer großen, ja selbst nur mittleren Stadt die notwendigen Ver¬ 
handlungen und Vernehmungen etwa persönlich vornehmen könnte, erscheint so 
gut wie ausgeschlossen. Namentlich in großen Städten müßte diese neue Arbeit 
vielmehr anderen Beamten übertragen werden, und wenn auch der Bürgermeister 
vielleicht die entscheidenden Verfügungen selbst „zeichnet“ und damit nach 
außen die Verantwortung übernimmt, so bleibt er dann doch nur formell, ge¬ 
wissermaßen nur auf dem Papier, das Organ, welches jene folgenschweren und 
einschneidenden Maßregeln trifft. Die wirkliche materielle Verantwortlichkeit 
würde ihm nicht aufzuerlegen sein. 

Den höheren, Aufsicht führenden und die Verwaltung größerer Staatsbezirke 
leitenden Organen, wie etwa den Regierungspräsidenten, die hier in Rede stehenden 
Befugnisse zu übertragen, daran kann wohl kaum gedacht werden. Es würde 
die Zerlegung des Verfahrens in eine von beauftragten Behörden vorzunehmende 
Prüfung und Verhandlung und in die Entscheidung selbst die unausbleibliche 
durchaus verwerfliche Folge sein müssen. Ähnliche Bedenken sprechen gegen 
eine etwa vorzuschlagende Zuständigkeit von Verwaltungsgerichtsbehörden, wie 
Kreis- und Stadtausschüssen oder gar des Bezirksausschusses. Auch hier würde 
die unvermeidliche Schwerfälligkeit des Apparates eine praktische Handhabung 
des Gesetzes ausschließen. Zudem würde es grundsätzliche Bedenken haben, die 
Entschließung über die Zwangsverbringung sofort in erster Linie in die Hand 
einer kollegialen Behörde legen und so die Entscheidung gleich in erster Instanz 
dem Zufall von Mehrheitsbeschlüssen preisgeben zu wollen. 

Andere Verwaltungsbehörden als die bisher genannten dürften für Preußen 
überhaupt nicht in Frage kommen. Und so schienen denn diese Bedenken derart 
stark und überwiegend, daß der Entwurf an der Zuständigkeit des Gerichts fest- 
halten mußte. Doch soll nochmals wiederholt werden: gelingt es, die auf¬ 
geworfenen Bedenken überzeugend zu zerstreuen, so muß grund¬ 
sätzlich in der Tat die Übertragung der Zwangsverbringung an 
Verwaltungsbehörden als der erwünschtere Weg angesehen werden* 


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Entwurf für ein Reichsgesetz betreffend die Fürsorge für Trunksüchtige. 207 

Bei dem sonach eingenommenen Standpunkt des Entwurfs mußte dasVer*- 
fahren eine erschöpfende Regelung finden (§§ 3 bis 18). Es folgen Grundsätze 
über die Kostentragung (§ 18), die notwendigen Vorbehalte für die Landesgesetz¬ 
gebung (§ 20) und gleichsam anhangsweise einige Bestimmungen strafrechtlicher 
Art (£§ 21 bis 25), welche aufgenommen sind, um verschiedenen in dieser Hin¬ 
sicht wiederholt laut gewordenen Anträgen und Wünschen gerecht zu werden. 
Es folgt eine Regelung der Gerichtsgebühren, und eine Schlußbestimmung soll 
den Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes regeln. 

B. Begründung im einzelnen. Zur Überschrift. 

Der Ausdruck „Fürsorge für Trunksüchtige“ zur Bezeichnung des Zieles 
des Gesetzes schien zweckmäßig und ausreichend. Er umfaßt sowohl die zur 
Heilung als die zur Bewahrung Trunksüchtiger bestimmten Maßnahmen. Der 
Umstand, daß der Entwurf in den §§ 21 und 22 Fälle vorsieht, in denen gegen 
Trinker schlechthin strafrechtlich vorgegangen werden soll, ohne daß der Tat¬ 
bestand vorliegender Trunksucht notwendig ist, konnte nicht dazu führen, in 
der Überschrift einen allgemeineren Begriff — etwa: Fürsorge für Trinker — 
zum Ausdruck zu bringen. Das Schwergewicht des Entwurfs liegt in den Vor¬ 
schriften, welche gegen Trunksüchtige zur Anwendung kommen sollen. Hier¬ 
gegen treten die anhangsweise beigegebenen strafrechtlichen Vorschriften ap 
Bedeutung erheblich zurück. Den Begriff „Trinker“ an die Spitze zu stellen, 
schien somit nicht gerechtfertigt. Zudem würden durch eine so allgemeine 
Fassung von vornherein Mißverständnisse über die Ziele des Gesetzes hervor¬ 
gerufen. 

Zu § 1. 

Eine Anordnung der Errichtung von Trinkeranstalten unmittelbar von 
Reichs wegen ist nicht ausführbar. Es mußte deshalb diese Errichtung zwar 
als Grundsatz ausgesprochen, die Anordnung gegenüber bestimmten Verpflichteten 
aber der Landesgesetzgebung überlassen werden. Dieser Weg war schon durch 
die Verschiedenheiten der inneren Verfassung und Behörden-Organisation der 
einzelnen Bundesstaaten geboten. 

Die Hervorhebung des Unterschieds zwischen Heil- und Bewahr- (Ver- 
sorgungs-) Anstalten beruht auf der wissenschaftlichen Erfahrung, daß heilbare 
von unheilbaren Trunksüchtigen durchaus zu unterscheiden sind und daß dem¬ 
gemäß auch die Methoden der Behandlung der einen und der anderen Kategorie 
verschieden sein müssen. Von den bereits bestehenden Gesetzen bringt das des 
Kantons Thurgau diesen Gegensatz gleichfalls zum Ausdruck, während die beiden 
anderen Schweizerischen Gesetze von „Versorgung“ als einer allgemeiner ge¬ 
dachten Maßregel sprechen. Es erschien, gemäß den Ergebnissen wissenschaft¬ 
licher Untersuchungen und praktischer Erfahrungen in Trinkeranstalten, zweck¬ 
mäßig, diesen Gegensatz im Entwurf durchgehend zum Ausdruck zu bringen. 
Übrigens soll damit die Voraussetzung des gesetzlichen Einschreitens gegen 
heilbare und unheilbare Trunksüchtige nicht gespalten werden: lediglich auf die 
Dauer der Verbringung und die Art der Anstaltsbehandlung übt jener Unter¬ 
schied einen Einfluß aus. Ebensowenig ist auch davon ausgegangen worden, daß 
stets und unter allen Umständen die Trinkerheilanstalten einerseits und die Trinker¬ 
bewahranstalten (Trinkerasyle) andrerseits als völlig voneinander getrennte selbst¬ 
ständige Anstalten zu errichten und zu führen seien. Es ist vielmehr eine Ver- 


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Stadtrat Kappelmann. 


binduDg dieser beiden Arten in einer Anstalt als sehr wohl denkbar und dem 
Zweck des Gesetzes nicht zuwiderlaufend vorausgesetzt und bei dem folgenden 
Entwürfe eines Preußischen Ausführungsgesetzes auch als zulässig ausdrücklich 
vorgesehen. 

Ein Vorbehalt zu Gunsten der bereits bestehenden oder noch ferner er¬ 
richteten Privat-Trinkeranstalten schien geboten nach der Richtung, daß solchen 
Anstalten auf Grund bestimmter landesgesetzlicher Vorschriften eine gewisse 
Gleichstellung mit den öffentlichen Anstalten verliehen werden kann. Der öster¬ 
reichische Gesetzentwurf gebraucht dafür den Ausdruck: staatliche Anerkennung. 
Soll das Gesetz nach seinem Inkrafttreten wirksam werden, so müssen vor allen 
Dingen doch Anstalten überhaupt vorhanden sein, in welche Trunksüchtige ver¬ 
bracht werden können und dürfen. Und bevor öffentliche Anstalten tatsächlich 
errichtet werden, vergehen naturgemäß Jahre. Auch nach Errichtung solcher 
kann des öfteren Platzmangel in ihnen eintreten. Es mußte deshalb mit der 
Möglichkeit und mit der Notwendigkeit 'gerechnet werden, zunächst und einst¬ 
weilen, ebenso für spätere Fälle, auch Privatanstalten zur Verfügung zu haben 
und in Anspruch zu nehmen. Ähnliche Vorbehalte trifft z. B. das Preußische 
Fürsorgeerziehungsgesetz und — wie schon erwähnt — der österreichische Ge¬ 
setzentwurf. Die Voraussetzungen festzustellen, unter denen Privatanstalten den 
öffentlichen Anstalten hinsichtlich der Unterbringung Trunksüchtiger gleich zu er¬ 
achten sind, mußte wiederum der Landesgesetzgebung überlassen werden, da hier 
die Zuständigkeit der Behörden in Frage kam. 

Zu § 2. 

Dieser Paragraph soll kurz umschreiben, welche Fälle des Eintritts Trunk¬ 
süchtiger in Anstalten überhaupt der gesetzlichen Regelung zu unterstellen sind. 
Hierbei sei nur bemerkt, daß entsprechend dem Bürgerlichen Gesetzbuche von 
Versuchen abgesehen worden ist, etwa den Begriff „Trunksucht 11 und „Trunk¬ 
süchtiger 41 im Entwurf naher festzustellen. Es würde damit dem für jeden 
konkreten Fall notwendigen ärztlichen Gutachten und der Entscheidung des 
Richters in unzulässiger und zweckwidriger Weise vorgegriffen werden. Denn 
nur die Anwendung anerkannter Grundsätze der Wissenschaft auf den vorliegen¬ 
den Fall kann und darf zur Feststellung des Vorliegens von Trunksucht führen. 
Der Fall freiwilligen Eintritts in eine Anstalt ist hier nur erwähnt. Eine ge¬ 
setzliche Regelung erscheint hier ausgeschlossen, wenn man nicht — nach dem 
Vorbilde der englischen Gesetzgebung — versuchen will, mit dem freiwilligen Ein¬ 
tritt einen Zwang zum Verbleiben in der Anstalt zu verbinden. Im Gegensatz 
zum ersten Entwurf glaubte man jedoch hiervon als bedenklich und einer gesetz¬ 
lichen Regelung kaum fähig absehen zu müssen. Dagegen hat der erste Entwurf 
insofern wieder eine Erweiterung erfahren, als man auch diejenigen dem Gesetz 
unterstellen will, welche wegen einer auf Trunksucht zurückzuführenden 
Geisteskrankheit oder Geistesschwäche entmündigt worden sind. Bei 
der Häufigkeit solcher Fälle schien es erwünscht, eine gesetzliche Handhabe zu 
erhalten, um auch solche Individuen Trinker-Heil- oder Bewahr-Anstalten zu¬ 
zuführen. 

Zu §§ 3 und 4. 

Daß von der zwangsweisen Verbringung vor allem der entmündigte 
Trunksüchtige betroffen werden muß, steht außer Frage. Mag er nun heilbar 


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Entwurf für ein Reichsgesetz betreffend die Fürsorge für Trunksüchtige. 209 


sein oder nicht: wenn die Entmündigung irgend welche Besserung der tatsäch¬ 
lichen Zustände bewirken soll, muß sie die Anstaltsbehandlung grundsätzlich zur 
Folge haben. Es kann sich nur weiter fragen, ob und in welcher Form dieser 
Grundsatz im Gesetz ausdrücklich zur Erscheinung gebracht werden soll? Man 
könnte die Zulässigkeit der zwangsweisen Verbringung hier als durch das be¬ 
stehende Gesetz bereits sanktioniert erachten und eine ausdrückliche Vorschrift 
hierüber für entbehrlich halten. Allein diese Meinung steht nicht zweifelsfrei 
fest. Es ist — z. B. von Endemann — auf das Bestehen solcher Zweifel hin- 
gewiesen worden. Der Entwurf hält es deshalb für geboten, Zweifel zu beseitigen 
und — hierin sich stützend auf die §§ 1631, 1800, 1897, 1901 B. G.-B. — die 
Zulässigkeit der Verbringung ausdrücklich auszusprechen. Es erschien auch 
praktisch, einen ausdrücklichen Gerichtsbeschluß über die Verbringung 
vorzusehen als rechtliche Grundlage für die Ausführung dieses Aktes. Dagegen 
ist davon abgesehen worden, diese Anordnung als notwendige Folge jeder Ent¬ 
mündigung wegen Trunksucht unbedingt vorzuschreiben und etwa die Form zu 
wählen: „Die Verbringung ist anzuordnen.“ Es wird zwar von vielen Seiten 
als selbstverständlich angesehen, daß Entmündigten gegenüber ein unbedingter 
Zwang zur Verbringung eintreten müsse. Aber ebenso wie das Bürgerliche 
Gesetzbuch seinen § 6 mit den Worten einleitet: „Entmündigt kann werden“ u. s. w., 
so war dieselbe Form auch hier als zweckmäßig und ausreichend beizubehalten. 
Es lassen sich Fälle denken, in denen die zwangsweise Verbringung eines ent¬ 
mündigten Trunksüchtigen nicht ausführbar oder auch vielleicht nicht einmal 
zweckmäßig oder erforderlich ist. Der Richter darf auch bei dieser Entscheidung 
nicht schlechthin gebunden sein; es muß seiner Einsicht und seinem Pflichtgefühl 
das Vertrauen geschenkt werden, daß er die zwangsweise Verbringung stets da 
anordnen wird, wo sie ihm auf Grund des vorliegenden Tatbestandes und des 
ärztlichen Gutachtens als die zweckmäßige und notwendige Ergänzung der Ent¬ 
mündigung nachgewiesen wird. So verstanden erhält das „kann“ für den Richter 
die Bedeutung des „muß“, wie die gleichlautende Vorschrift in § 6 des Bürger¬ 
lichen Gesetzbuches (vgl. z. B. Planck, Kommentar, Bd I Einleitung, S. 25 
und Note 8 zu § 6). Die Anordnung soll entweder gleichzeitig mit dem auf 
Entmündigung lautenden oder aber durch einen besonderen Beschluß späterhin 
ausgesprochen werden können. Letztere Möglichkeit muß Vorbehalten werden, 
damit das Verfahren auch auf die beim Inkrafttreten des vorgeschlagenen Ge¬ 
setzes bereits entmündigten Trunksüchtigen ohne weiteres angewendet werden 
kann. Auch sichert es die Möglichkeit späterer Verbringung, falls diese bei dem 
Beschluß über die Entmündigung etwa zunächst noch nicht erforderlich erschienen 
war. Um eine möglichst ausgiebige Anwendung zu gewährleisten, ist vorgesehen, 
daß die Verbringung sowohl von Amts wegen als auch auf Antrag erfolgen kann, 
und es ist das Antragsrecht auf die nach Landesgesetz zuständige Verwaltungs¬ 
behörde ausgedehnt worden. Bei dem öffentlichen Interesse, welches Staat und 
Gemeinde an der wirksamen Fürsorge für Trunksüchtige haben, erschien eine 
Beteiligung der genannten Behörde, der bekanntlich in dem Verfahren auf Ent¬ 
mündigung wegen Trunksucht ein Antragsrecht nicht eingeräumt ist, geradezu 
geboten. Dagegen hat man die im ersten Entwurf vorgesehene Mitwirkung der 
Staatsanwaltschaft als nicht geboten jetzt fallen lassen zu sollen geglaubt. 

Soweit gemäß § 3 ein gesondertes selbständiges Verfahren überhaupt noch 
erforderlich ist, mußte dasselbe nach dem im Entwurf eingenommenen grund- 


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Stadtrat Kappelmann. 


sätzlichen Standpunkt dem Verfahren bei Entmündigung wegen Trunksucht an¬ 
gepaßt werden. Nur schien es erwünscht, dasselbe möglichst abzukürzen und 
einfach zu gestalten, insbesondere erneute Vernehmungen von Zeugen, Sach¬ 
verständigen u. s. w. möglichst abzuschneiden. Deshalb die vörgeschlagene 
Fassung des § 4. Trotz der im gegenwärtigen Entwurf enthaltenen Ausdehnung 
der Verbringung Entmündigter auf die infolge einer durch Trunksucht hervor¬ 
gerufenen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche Entmündigten schien eine Bezug¬ 
nahme auf die über Entmündigung wegen Geisteskrankheit u. s. w. handelnden 
§§ der Z.-P. -0. nicht angebracht, weil auch hier ja der wesentliche Grund zur 
Verbringung die Trunksucht bleibt, die wesentlich auf Geisteskranke u. s. w. 
zugeschnittenen §§ 645 bis 679 der Z.-P.-O. also der Natur der Sache nach keine 
analoge Anwendung zu erleiden haben. 

Zu § 5. 

In diesen Bestimmungen liegt der Schwerpunkt des Gesetzes, sie enthalten 
die angestrebte Neuerung: Zwangsweise Verbringung Trunksüchtiger 
in Anstalten auch ohne Entmündigung derselben. Schreitet man zu 
dieser einschneidenden und schwerwiegenden Neuerung, so steht man allererst 
vor der Frage: soll etwa jeder Trunksüchtige schlechthin diesem Zwange 
unterliegen oder welche Einschränkungen sind in dieser Hinsicht etwa geboten? 
Für die erstere Alternative dürfte sich kaum ein Verteidiger finden. Mag es 
auch vom Standpunkt wissenschaftlicher Theorie durchaus richtig erscheinen, jeden 
Trunksüchtigen, als Kranken betrachtet, durch sachgemäße Anstaltsbehandlung 
heilen oder versorgen zu wollen — in der Praxis ist ein solcher Standpunkt un¬ 
haltbar. Soweit gesetzgeberische Normen bisher erlassen sind, haben dieselben 
denn auch stets von einem so radikalen Vorgehen abgesehen. Die beiden Ge¬ 
setze von St. Gallen und Thurgau verlangen freilich außer der Feststellung, daß 
jemand gewohnheitsmäßig dem Trünke ergeben ist, nur noch den Erweis der 
Notwendigkeit der Anstaltsbehandlung zum Zwecke der Heilung oder Versorgung. 
Der Kanton Basel-Stadt stellt neben den drei im B. G.-B. § 6 Zf. 3 gedachten 
Voraussetzungen als vierte noch die Erregung öffentlichen Ärgernisses auf. Der 
österreichische Gesetzentwurf verlangt entweder den Tatbestand wiederholter Be¬ 
strafungen wegen Trunkenheit oder die Gefährdung der Familie in sittlicher oder 
wirtschaftlicher Beziehung oder der körperlichen Sicherheit der eigenen oder 
fremder Personen oder endlich die Voraussetzung, welche der Entwurf als Ziffer 8 
im § 5 aufgenommen hat. Ähnliche Voraussetzungen, namentlich in Anlehnung 
an § 6 Zf. 3 des B. G.-B. hat man bisher auch in Deutschland da aufgestellt, 
wo man sich mit Reformvorschlägen für eine Trinkerfürsorge beschäftigt hat. 
(So z. B. Colla, Endemann, Schaefer-Lengerich u. a. m.) 

Der Entwurf mußte somit gleichfalls von einem radikalen Standpunkt ab¬ 
stehen. Ebensowenig aber schien es zweckmäßig, einschränkende Voraussetzungen 
in Gestalt mehr allgemein gehaltener und deshalb bei praktischer Handhabung 
meist versagender Begriffe aufzustellen. Der Entwurf stellt deshalb zunächst 
die für die Entmündigung wegen Trunksucht geltenden Voraussetzungen auf. Es 
schien dies zweckmäßig und geboten. Letzteres um deswillen, um einerseits 
nicht den notwendigen Zusammenhang mit dem Rechtszustand zu verlieren, auf 
den wir jetzt in Deutschland durch die Einführung der Entmündigung wegen 
Trunksucht gedrängt worden sind. Andrerseits deshalb, weil erfahrungsmäßig 


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Entwarf für ein Reichsgesetz betreffend die Fürsorge für Trunksüchtige. 211 

häufig die Gerichte vor der einschneidenden und verhängnisvollen Maßregel der 
Entmündigung zurückschrecken, mögen auch wohl die gesetzlichen Voraussetzungen 
gegeben sein. Es mußte aber Vorsorge getroffen werden, daß gerade für solche 
Fälle das als Waffe gegen die Trunksucht entschieden wirksamere Mittel der 
Anstaltsbehandlung bereit steht, ohne daß das Odium der Entmündigung mit ihren 
verschiedenen demütigenden Rechtsfolgen abzuschrecken braucht. Diese Erwägung 
in Verbindung mit dem erweiterten Antragsrecht (§ 7) gibt die Hoffnung, daß 
von der Handhabung des § 5 Zf. 1 des Entwurfs in der Tat wirksamer Erfolg 
zu erwarten ist. Daß das Vorhandensein auch nur einer der in § 6 Zf. 3 des 
B. G.-B. gegebenen Voraussetzungen genügen soll, mag noch besonders hervor¬ 
gehoben werden. 

Das in Ziffer 2 enthaltene Postulat ist schon wiederholt von anderer Seite 
auf gestellt worden. So im Thurgauer Gesetz, so im Entwurf eines Reichsgesetzes 
über die Trunksucht vom Jahre 1892 (in §§ 18, 19) u. s. w. Durch diese Vor¬ 
schrift darf nicht etwa die Befürchtung wachgerufen werden, daß jeder Gefahr 
läuft, zwangsweise in eine Trinkeranstalt verbracht zu werden, der — vielleicht 
zum erstenmal in seinem Leben — sich einen Rausch angetrunken hat und nun 
auf der Straße durch sein Verhalten Ärgernis erregt. Eine solche Gefahr kann 
freilich nur in der Einbildung unverständig Urteilender bestehen, da schon das 
im Entwurf vorgesehene Verfahren, insbesondere die Notwendigkeit sachver¬ 
ständigen Gutachtens, solche Möglichkeiten im Ernstfall ausschließt. Immerhin 
schien es zweckmäßig, durch den einschränkenden Zusatz zum Ausdruck zu 
bringen, daß auch hier nur wirklich Trunksüchtigen gegenüber von einer 
Zwangsverbringung die Rede sein darf. Auch hier muß der Einsicht und dem 
Pfliehtbewußtsein des Richters volles Vertrauen geschenkt werden. Ein vereinzelt 
gebliebener, in seinen Folgen vielleicht noch dazu harmloser Exzeß wird niemals 
dazu führen dürfen, auch einem Trunksüchtigen gegenüber etwa gleich beim 
erstenmal zum Mittel der Zwangsverbringung zu greifen. Gedacht ist vielmehr 
an die wohl überall bekannten Fälle, daß sogenannte „harmlose“ Trunkenbolde 
tagtäglich in den Straßen der Spotilust der Straßenjugend zum Opfer fallen und 
bei dem ohnmächtigen Bestreben der Abwehr die widerlichsten Szenen aufführen, 
ohne dabei gerade strafbaren „groben Unfug“ zu begehen. Solchen in fast allen 
Städten typischen Individuen gegenüber sind die Behörden jetzt fast stets machtlos. 
Publikum und Presse entrüsten sich über die Skandale und fordern Säuberung 
der Straße von solchen Gesellen, ohne daß eine rechtliche Handhabe hierfür 
bisher vorhanden gewesen wäre. Der Entwurf bietet in der Ziffer 2 solche 
Handhabe. 

Die Vorschrift in Ziffer 3 ist mit unwesentlichen Änderungen dem öster¬ 
reichischen Gesetzentwurf von 1895 (§ 3 Zf. 2) nachgebildet. Die darin voraus¬ 
gesetzten Fälle sind in der Tat nicht selten und es bestand eine große Schwierig¬ 
keit bei Lösung der Frage, was man mit solchen bedauernswerten Individuen 
beginnen soll? Die Aufnahme der Vorschrift ist in der Erwartung geschehen, 
daß auch für solche Fälle die Verbringung in eine Trinkerheilanstalt gewiß vielfach 
nutzbringend und heilsam wirken wird. 

Sehr oft ist die Forderung gestellt worden, es mögen Vorschriften erlassen 
werden, die einen praktischen Erfolg der in § 681 der Zivilprozeßordnung vor¬ 
gesehenen Aussetzung des Entmündigungsverfahrens wegen der vorhandenen Aus¬ 
sicht auf Besserung herbeiführen. Von einer solchen Aussicht kann füglich 


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nur die Rede sein, wenn der Richter greifbare Tatsachen vor sich hat. Die 
bloßen Versprechungen des zu Entmündigenden sollten hierzu niemals genügen. 
Es wird wohl selten sein, daß diese Versprechungen nicht abgegeben werden. 
Der allerbeste Prüfstein ist aber hier die Unterbringung in eine Trinkerheil¬ 
anstalt. Und von dieser Maßregel in diesem Stadium des Entmündigungsver¬ 
fahrens kann man sich in der Tat die besten Erfolge versprechen — soweit es 
sich nicht um Individuen handelt bei denen nichts mehr zu retten und zu 
bessern ist. Gelangt der Richter zu der Annahme, daß Hoffnung auf Besserung 
durch Anstaltsbehandlung irgendwie vorhanden ist, so soll er nicht zögern, sofort 
zur Anordnung der Zwangsverbringung zu schreiten. Es kann dadurch ein 
Mensch an Leib und Seele gerettet und die ihn herabwürdigende Entmündigung 
dann ganz vermieden werden. Auf die Beibehaltung dieser Bestimmung muß 
somit das größte Gewicht gelegt werden. 

Zu §§ 6 bis 14. 

Da der Entwurf sich auf den Standpunkt gestellt hat, die Anordnung der 
Zwangsverbringung dem Gericht zu übertragen, erschien es bei der engen Ver¬ 
wandtschaft dieser Maßregeln mit der Entmündigung zweckmäßig, auch das Ver¬ 
fahren dem Entmündigungsverfahren anzupassen, jedoch so weit wie möglich 
zu vereinfachen. Aus diesem Grunde und verschiedener notwendig erscheinender 
Abweichungen wegen durfte der Entwurf sich nicht etwa hinsichtlich des Ver¬ 
fahrens mit einer Hinweisung auf § 680 Absatz 3 der Zivilprozeßordnung begnügen. 
Vielmehr war zu prüfen, welche Vorschriften über das Verfahren aufzunehmen, 
welche zu ergänzen und welche fortzulassen waren. 

Zu § 6. 

Abgesehen vom Falle des § 681 der Zivilprozeßordnung ist ein Verfahren 
von Amts wegen nicht wohl denkbar. 

Zu § 7. 

Es erschien durchaus erwünscht, den Kreis der Antragsberechtigten tun¬ 
lichst zu erweitern. Es gilt hierfür das zu §§ 8 und 4 Gesagte (vor dem letzten 
Absatz). Gerade die Verwaltungsbehörde hat ein erhebliches Interesse an den 
Versuchen, Trunksüchtige zu heilen oder zu versorgen. Sie ist auch am besten 
in der Lage, die tatsächlichen Verhältnisse zu erkennen und zu beurteilen. Ihr 
eine Mitwirkung bei Einleitung des Verfahrens einzuräumen erscheint geradezu 
notwendig. Daß unter Zf. 2 den in § 5 Zf. 8 genannten Anstalten ein Antrags¬ 
recht eingeräumt worden ist, erschien zweckmäßig* da die Vorstände derselben 
wohl am besten in der Lage sein werden, zu beurteilen, ob die Versorgung in 
einer Trinkeranstalt für das betreffende Individuum heilsam und nützlich sein 
würde. Es kann die Frage aufgeworfen werden, ob nicht auch den Gemeinde¬ 
behörden ein Antragsrecht einzuräumen sei? Soweit sie als Träger der öffent¬ 
lichen Armenlast in Betracht kommen — und dies wird wohl in den meisten 
Fällen den Anlaß bieten —, so ist ihnen dieses Recht bereits durch den reichs¬ 
rechtlichen Vorbehalt des § 680 Absatz 5 der Zivilprozeßordnung (für Preußen 
durch Art. 1 Zf. III des Preuß. Ausf.-Ges. vom 22. Septbr. 1899) gewährleistet 
und im Entwurf durch die Fassung des § 7 Zf. 1 gewahrt. Im übrigen aber 
wird die Gemeindebehörde sich stets leicht mit der nach Landesgesetz zuständigen 
Verwaltungs- (Polizei-) Behörde in Verbindung setzen können, und letztere wird 
sich heim Vorliegen eines offenbaren öffentlichen Interesses wohl schwerlich 


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Entwurf für ein Reichsgesetz betreffend die Fürsorge für Trunksüchtige. 213 

den von der Gemeindebehörde gegebenen Anregungen zur Stellung eines An¬ 
trages entziehen. 

Zu § 8. 

Der Ausdruck „sinngemäße Anwendung 41 soll besagen, daß an Stelle der 
Begriffe „Entmündigung 44 und „Entmündigter 4 * selbstverständlich die Begriffe: 
„Zwangsverbringung 44 und „der Zwangsverbringung Unterworfener 44 zu treten 
haben. Die Bezugnahme der einzelnen Paragraphen kann hier nicht anders be¬ 
gründet werden, als durch Verweisung auf ihren Inhalt. Dagegen muß kurz 
erörtert werden, aus welchen Gründen einzelne Vorschriften hier ausgeschlossen 
worden sind. § 649 ist ersetzt durch § 11 des Entwurfs, dasselbe gilt von § 655. 
§§ 650, 651 beziehen sich nur auf das bei Entmündigung wegen Geisteskrank¬ 
heit oder Geistesschwäche eintretende Überweisungsverfahren, § 652 sieht 
die — hier nicht gewollte — Mitwirkung der Staatsanwaltschaft vor. Die §§ 654 
und 656 beziehen sich lediglich auf Entmündigung wegen Geisteskrankheit oder 
Geistesschwäche (vgl. übrigens § 681 und § 5 letzter Absatz, sowie § 12 des 
Entwurfs). Anstatt des die Kostenlast regelnden § 658 ist der § 682 in Bezug 
genommen, auch um leichtfertigen Anträgen Übelwollender vorzubeugen. § 659 
fällt fort, weil § 683 angezogen ist, aus demselben Grunde auch § 660. § 661 
kann hier nicht in Betracht kommen, da von einer „Wirksamkeit 44 der Anordnung 
auf Zwangsverbringung (abgesehen von der Rechtskraft des Beschlusses) nicht 
in demselben Sinne gesprochen werden kann, wie von der Wirksamkeit einer 
Entmündigung. Vielmehr tritt hier die „Wirksamkeit 44 natürlich erst mit der 
tatsächlichen Verbringung ein. § 662 fällt fort, weil diese Bestimmung sich mit 
Rücksicht auf die Vorschrift des § 683 Abs. 1 erledigt; denn die Worte daselbst: 
„Der über die Entmündigung zu erlassende Beschluß 44 umfaßt sowohl den die 
Entmündigung aussprechenden als auch den sie ablehnenden Beschluß. Daß die 
Anfechtungsklage hier zu beseitigen sei, entspricht dem Bestreben nach mög¬ 
lichster Vereinfachung des Verfahrens; es.mußte deshalb eine Bezugnahme auf 
die §§ 664 bis 674 fortfallen. Dasselbe gilt von § 679. Daß die §§ 680, 681 
und 684 nicht in Bezug genommen werden konnten, ergibt sich teils aus ihrem 
Inhalt im Vergleich zum Inhalt des Entwurfs, teils aus der Ausschließung der 
Anfechtungsklage als Rechtsmittel. Dagegen war § 683, der die Zustellung des 
Beschlusses regelt, in Bezug zu nehmen. Die Anwendung des § 687 war aus¬ 
zuschließen, da eine öffentliche Bekanntmachung der Anordnung auf Zwangsver¬ 
bringung ebenso zwecklos wie im Interesse des davon Betroffenen und seiner 
Familie antunlich erscheint. 

Zu § 9. 

Der zweite Entwurf sieht auch eine vorläufige Unterbringung für be¬ 
sonders schwerwiegende dringende Fälle, namentlich solche vor, in denen Indi¬ 
viduen plötzlich vom delirium tremens befallen und in diesem Zustande sich selbst 
und anderen gefährlich werden. Aus der ärztlichen Praxis heraus ist betont 
worden, daß in solchen Fällen schnelle Anstaltsbehandlung oft von großem Segen 
sein kann. Die Vorschrift lehnt sich an die Bestimmung in § 5 des Preußischen 
Fürsorge-Erziehungsgesetzes an. 

Zu § 10. 

Bei der schwerwiegenden Bedeutung eines Schrittes, wie ihn die Zwangs¬ 
verbringung eines Trunksüchtigen in eine Anstalt darstellt, schien es geboten, 


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die Möglichkeit einer Wiederaufhebung der dahingehenden Anordnung auch im 
geordneten gerichtlichen Verfahren — im Gegensatz zu einer seitens der Anstalts¬ 
leitung erfolgenden Entlassung — zu gewährleisten. Durch die Bezugnahme auf 
§ 686 im Eingang des § ist zum Ausdruck gebracht, daß gegen den die Wieder¬ 
aufhebung ablehnenden Beschluß nur die Aufhebungsklage — nicht sofortige Be¬ 
schwerde — gegeben sein soll. Dies um der Befürchtung ständig wiederholter 
Aufhebungsanträge wirksamer vorzubeugen. 

Zu § 11. 

Diese Vorschrift trägt der Erkenntnis Rechnung, daß die Frage, ob eine 
der Zwangsbehandlung zu unterwerfende Erscheinungsform der Trunksucht im 
gegebenen Falle vorliegt, in erster Linie dem Gebiete der ärztlichen, genauer 
der psychiatrisch-medizinischen Wissenschaft angehört und daß deshalb unter 
allen Umständen ein auf dieser Grundlage gewonnenes Gutachten erfordert werden 
muß, bevor die Zwangsverbringung angeordnet werden darf. Dies Gutachten 
einem beamteten Arzt zu übertragen schien geboten, zumal andernfalls die — 
doch notwendige — Beschränkung auf bestimmte Kategorieen ärztlicher Autorität 
im Gesetz kaum zum Ausdruck zu bringen gewesen wäre. Bei der Besonderheit 
des im § 5 Zf. 3 des Entwurfes vorgesehenen Falles schien es dagegen hin¬ 
reichend, hier das Gutachten des leitenden Arztes der betreffenden Anstalt hin¬ 
reichend sein zu lassen. Der letzte Absatz des Entwurfs trägt der praktischen 
Erwägung Rechnung, daß es bei der vorläufigen Unterbringung vor allem auf 
schnelles Einschreiten ankommen muß. Das Gutachten eines beamteten Arztes 
ist aber naturgemäß in vielen Fällen nicht mit der gewünschten Beschleunigung 
zu erlangen. Und da für die spätere endgültige Beschlußfassung stets das Er¬ 
fordernis der Zuziehung eines beamteten Arztes bestehen bleibt, erscheint hierin 
eine genügende Kautel gegen etwa befürchtete Mißbräuche oder unsachgemäße 
Begutachtung gegeben. 

Zu § 12. 

Hier wird eine weitere Kautel gegen zu schroffes und hartes Vorgehen 
gegen den Tr unks üchtigen geboten. Wenn derselbe Zweck auf anderem Wege 
als durch Zwang erreicht werden kann, ist dies gewiß vorzuziehen. Freilich 
muß eine gewisse Gewähr dafür Vorhandensein, daß dieser Weg auch ernsthaft 
beschritten und fortgesetzt, daß nicht nur versucht wird, durch Vorgeben einer 
ernstlichen Anstaltskur dem unbequemen und verhaßten Zwangsverfahren sich 
zu entziehen. Solange die Gewißheit gegeben ist, daß eine Heilbehandlung tat¬ 
sächlich stattfindet, liegt kein Anlaß vor, das Verfahren wieder aufzunehmen, 
was dagegen notwendig wird, sobald der Trunksüchtige die Anstalt etwa verläßt. 
Natürlich ist hier unter dem Verlassen ein vorzeitiges Aufgeben der Anstalts- 
bchandlung ohne eingetretenen Erfolg zu verstehen. Die zum Schluß angehängte 
Ausnahmebestimmung betreffend Verlassen der Anstalt auf Grund eines beson¬ 
deren Zeugnisses derselben bedarf wohl keiner besonderen Begründung. 

Man hat eine ähnliche Wirkung dem freiwilligen Eintritt des Trunksüchtigen 
in einen Abstinenzverein beilegen wollen. Dem konnte nicht zugestimmt werden. 
Ein Gesetz muß möglichst klare und auch praktisch mit Erfolg zu handhabende 
Bestimmungen enthalten. Wenn daher auch zugegeben werden muß, daß der 
Eintritt in einen solchen Verein in vielen Fällen eine bessere und anhaltendere 
Wirkung haben kann, als eine Anstaltsbehandlung, so hängt doch dieser Erfolg 


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Entwurf für ein Keichsgesetz betreffend die Fürsorge für Trunksüchtige. 215 

hier lediglich von dem freien Willen, der Selbstbeherrschung und der Vereins- 
treue des Trunksüchtigen selbst ab. Dies sind schon an sich recht unsichere 
Faktoren, mit denen der Gesetzgeber kaum rechnen darf; um wieviel unsicherer 
werden sie aber, wenn es sich um ein Individuum handelt, welches den Mangel 
an jenen guten Eigenschaften bereits so deutlich gezeigt hat, wie ein Trunk¬ 
süchtiger! Der Entwurf glaubte daher mit gutem Recht, dies Aushilfsraittel hier 
nicht berücksichtigen zu dürfen. 

Im Gegensatz zum ersten Entwurf hat man auch davon abgesehen, die 
amtliche Verwarnung des Trunksüchtigen, wie sie das Thurgauische Gesetz 
kennt, aufzunehmen als ein dem Beschluß auf Verbringung fakultativ vorher¬ 
gehendes Aushilfsmittel. Man war der Meinung, daß solche Warnung fast stets 
eine leere Form bleiben und deshalb in den Rahmen eines ernsthaften Gesetzes¬ 
werkes nicht wohl hineinpassen würde. 

Zu § 13. 

Die im ersten Absatz gegebene Vorschrift erschien notwendig, um unter allen 
Umständen den gedachten öffentlichen Behörden — auch wenn sie nicht die 
Antragsteller sind — Gelegenheit zur Anfechtung des ablehnenden Beschlusses 
zu geben. Im zweiten Absatz erschien es zweckmäßig — abweichend von der 
Regel des § 572 Abs. 1 — zum Ausdruck zu bringen, daß die sofortige Be¬ 
schwerde die Ausführung des Beschlusses nicht hemmen soll, freilich mit den 
Kautelen des § 572 Abs. 2 und 8. 

Zu § 14. 

Die hier geforderte Mitteilung erschien des vorliegenden erheblichen öffent- 
ichen Interesses wegen geboten. Die Gemeindebehörde muß von einem derart 
einschneidenden Rechtsakt, wie ihn die Anordnung der Zwangsverbringung dar¬ 
stellt, Kenntnis erhalten. 

Zu § 15. 

Diese Vorschrift entspricht sowohl der Stellung, den andere Gesetzgeber 
bereits eingenommen haben (Thurgauer Gesetz § 11, österreichischer Gesetzent¬ 
wurf § 20), als auch den Forderungen, welche in Deutschland bei den Reform¬ 
bestrebungen auf diesem Gebiete wiederholt geltend gemacht worden sind. Gerade 
im Gegensatz zu der privatrechtlich so tief einschneidenden Entmündigung darf 
die Zwangsverbringung Beschränkungen in privatrechtlicher Beziehung nur soweit 
mit sich führen, als es ihr Zweck unbedingt erheischt. Dahin gehört vor allen 
Dingen als selbstverständlich der Verlust der freien Selbstbestimmung über 
Aufenthalt und Lebensführung. Daß dagegen die dem Trunksüchtigen etwa zu¬ 
stehende elterliche Gewalt während des Aufenthalts nicht ausgeübt werden darf, 
ist als eine solche selbstverständliche Folge nicht anzusehen. Sie ist aber ent¬ 
schieden notwendig und mußte deshalb besonders ausgesprochen werden. Daß 
die Bestellung eines Pflegers vorgesehen ist, begründet sich durch den Mangel 
einer für derartige Fälle passenden Vorschrift im B. G.-B. 

Zu § 16. 

Bei dem heutigen Stande der Wissenschaft schien es unerläßlich, den Gegen¬ 
satz zwischen heilbaren und unheilbaren Trinkern auch im Gesetzentwurf in die 
Erscheinung treten zu lassen. Ein solcher Unterschied wird denn auch z. B. 
von dem Thurgauischen Gesetz gemacht und von fachmännischer Seite entschieden 
gefordert. Erscheint es zweifelhaft, ob ein Trunksüchtiger noch heilbar ist, sa 


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216 


Stadtrat Kappelmann. 


wird es sich natürlich empfehlen, ihn zur Heilung einer Trinker-Heilanstalt mit 
der Maßgabe zu überweisen, daß die Verbringung bei festgestellter Unheilbarkeit 
auch in eine Trinker-Bewahranstait erfolgen kann. Vielfach werden, falls es 
überhaupt zur Errichtung solcher öffentlichen Anstalten kommt, wohl beide 
Zwecke darin gleichzeitig verfolgt werden. Die gewählte Mindest- und Höchst¬ 
dauer der Heilbehandlung entspricht etwa den Ergebnissen der wissenschaftlichen 
Untersuchungen und den Erfahrungen der Praxis. Allein während die Höchst¬ 
dauer von 2 Jahren als sogenannte Muß-Vorschrift aufgenommen ist, läßt der 
Entwurf — auch hier den bekannt gewordenen Erfahrungen folgend — hinsicht¬ 
lich der Mindestdauer es bei einer Ordnungsvorschrift (,,soll u ) bewenden. Hier¬ 
nach würde der Richter auf Grund eines dahin lautenden Gutachtens im ge¬ 
gebenen Falle eine Heilbehandlung von beispielsweise 9, ja vielleicht nur 6 Mo¬ 
naten anzuordnen befugt sein. Für die vorläufige Unterbringung (§ 9) Vor¬ 
schriften hinsichtlich ihrer Dauer zu machen, schien entbehrlich, da hierbei davon 
ausgegangen werden muß, daß ein endgültiger Beschluß in möglichst kurzer Frist 
folgt. Auch der als Vorbild für diese Bestimmung dienende § 5 des Preußischen 
Fürsorge-Erziehungsgesetzes trifft über vorstehende Frage sowie darüber keine 
Bestimmung, binnen welcher Frist nach der vorläufigen Unterbringung spätestens 
ein endgültiger Beschluß gefaßt sein müsse. Es wird dies vielmehr dem* pflicht¬ 
gemäßen Ermessen des Gerichts zu überlassen sein. Für die etwa notwendig 
werdende Verlängerung des Aufenthalts erschien grundsätzlich ein erneutes ge¬ 
richtliches Verfahren — wenn auch mit wesentlicher Vereinfachung — unum¬ 
gänglich. 

Zu § 17. 

Es erschien zweckmäßig — im Anschluß an ähnliche Bestimmungen im 
österreichischen Gesetzentwurf — eine vorzeitige Entlassung zur Probe außerhalb 
eines gerichtlichen auf Aufhebung der Anordnung selbst gerichteten Verfahrens 
zuzulassen. Die Bestimmung hierüber müßte alsdann denjenigen Organen über¬ 
lassen bleiben, welchen die Ausführung der Zwangs Verbringung obliegt. Ma߬ 
gebend muß hier natürlich ausschließlich das Gutachten des ärztlichen Leiters 
der Anstalt sein. Die sonstigen Bestimmungen dieses Paragraphen ergaben sich 
dann aus Erwägungen der Zweckmäßigkeit oder Notwendigkeit und bedürfen be¬ 
sonderer Erläuterung nicht. 

Zu § 18. 

Auch diese Bestimmungen erscheinen zumeist notwendig, um den beteiligten 
Behörden die Möglichkeit einer Kontrolle ihrer Maßnahmen sowie eigener Beur¬ 
teilung des Erfolges derselben zu gewährleisten. Ebenso mußte Vorsorge ge¬ 
troffen werden, daß die Gewalthaber oder nächsten Angehörigen des Entlassenen 
Kenntnis von der Entlassung und dem Verbleib des Betreffenden erhalten. 

Zu § 19. 

Dem in eine Anstalt verbrachten Trunksüchtigen auch die Kosten dieser 
Maßregel und der Anstalt aufzuerlegen, ist einfach eine selbstverständliche For¬ 
derung der Gerechtigkeit und Billigkeit. Praktischen Wert hat die Vorschrift 
zunächst ja nur für die verschwindend wenigen Fälle, in denen diese Personen 
tatsächlich auch die Mittel oder ein Einkommen haben und fortbeziehen, welches 
die Kostentragung ermöglicht. Sie sichert aber auch Zahlungsunfähigen gegenüber 
dem, nach § 20 gemäß der Landesgesetzgebung sich ergebenden, dritten Kosten- 


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Entwurf für ein Reichsgesetz betreffend die Fürsorge für Trunksüchtige. 217 

träger das Recht der Ersatzforderung für den Fall, daß der Zahlungsunfähige 
später zu hinreichendem Vermögen oder Einkommen gelangt — Fälle, die er¬ 
fahrungsmäßig z. B. in der Armenpflege zwar selten, aber doch nicht ausge¬ 
schlossen sind. Auf den gleichen Grundsätzen beruht die Heranziehung der nach 
Gesetz für den Verbrachten Unterhaltspflichtigen. Freilich muß sich hier auch 
das Maß der Erstattungspflicht wieder nach dem Gesetz richten (vgl. § 1603 
des B. G.-B.), — die Kosten des gerichtlichen Verfahrens regelt der in § 8 
in Bezug genommene § 682 der Z.-P.-O. 

Zu § 20. 

Gewisse Materien entziehen sich notwendig der Regelung durch ein Reichs¬ 
gesetz. So die in § 1 bereits behandelten Fragen, so die nähere Ausführung 
des Gesetzes abgesehen vom gerichtlichen Verfahren. Insbesondere konnte an¬ 
gesichts der verschiedenartigen Verfassung und Verwaltungsorganisation in den 
Bundesstaaten nicht von Reichs wegen Bestimmung darüber getroffen werden, 
welchen Behörden die Ausführung der vom Gericht angeordneten Zwangsver- 
bringung obliegen soll. Hierüber kann nur die Landesgesetzgebung Vorschriften 
treffen. Das Gleiche gilt für die praktischste aller Fragen: wer übernimmt die 
Kosten der Anstaltsbehandlung zahlungsunfähiger Trinker? Sie etwa einfach den 
Kosten der öffentlichen Armenpflege gleichzustellen und deshalb den Armenver¬ 
bänden aufzuerlegen, stößt auf so mannigfache und große Bedenken, daß hiervon 
abgesehen werden mußte. Dabei mußte auch erwogen werden, daß ja das hier 
grundlegende Reichsgesetz über den Unterstützungswohnsitz bekanntlich für Bayern 
und Elsaß-Lothringen immer noch keine Geltung besitzt. Auch diese wichtige 
Frage ist deshalb der Regelung durch Landesgesetz überlassen worden. 

Zu den §§21 bis 23. 

Die hier in den Entwurf auf genommenen Vorschläge zielen zwar gleichfalls 
auf eine Verbringung Trunksüchtiger in Anstalten, sind aber doch einem völlig 
anderen Boden entwachsen, als die bisher behandelten Fälle. Sie wollen dem 
schon so lange und so oft empfundenen Bedürfnis Rechnung tragen, die Ziele 
der Strafrechtspflege zu erweitern. Mit Recht hebt z. B. Endemann 
hervor, daß der Strafrichter bisher bei allen in der Trunkenheit begangenen 
Delikten in einer recht üblen Lage war. Denn entweder mußte er die Zu¬ 
rechnungsfähigkeit verneinen, den Missetäter freisprechen und damit der öffent¬ 
lichen Meinung geradezu einen Schlag ins Gesicht versetzen. Oder aber er ent¬ 
schloß sich, um diesen — in der Tat unverdienten aber gewiß oft schmerzlich 
empfundenen — Vorwurf der öffentlichen Meinung zu vermeiden zu einer Ver¬ 
urteilung, die streng genommen dem Prüfstein juristischer Konstruktion über 
strafrechtliche Zurechnung in manchen Fällen wohl nicht stand gehalten hatte. 
Ja, selbst eine Verurteilung mußte in sehr vielen Fällen, wenn auch wohl als 
gerechte und angemessene Sühne, so doch keineswegs als ein Mittel erscheinen, 
welches zur dauernden Besserung der Übeltäter zweckdienlich gewesen wäre. 
Nehmen wir als eines der geläufigsten Beispiele die Verurteilungen wegen Wider¬ 
stand gegen die Staatsgewalt. Wer Erfahrung hat, weiß, daß dieses Delikt in 
einem sehr erheblichen Prozentsatz der Fälle in dem leicht erklärlichen Streben 
betrunkener Exzedenten besteht, sich ihrer Verhaftung und Abführung zu wider- 
eetzen. Es mag dabei auch wohl einmal zu schweren Ausschreitungen kommen, 
meist aber wird das Vergehen an sich so arg nicht einmal sein und die straf- 
Der AlkohoUimus. 1905. £5 


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218 


Stadtrat Kappelmann. 


rechtliche Sühne verhältnismäßig milde ausfallen. Handelt es sich dabei — wie 
meist die Erfahrung ergeben wird — um Individuen, die fort und fort als händel¬ 
suchende und „radaulustige 11 Trunkenbolde die Straßen unsicher machen, harm¬ 
lose Passanten „anrempeln“, wüsten Lärm vollführen und dergleichen und die 
dann wegen des bei ihrer Festnahme geleisteten Widerstandes mit einigen Wochen 
Gefängnis immer von neuem belegt werden, so kann eine solche Strafe einmal 
als gerechte Sühne nicht gewürdigt werden. Sodann aber — und das ist weit 
wichtiger — schafft die wiederholte Bestrafung solchen Individuen gegenüber 
auf keinen Fall eine Besserung. Hier muß vielmehr die Möglichkeit gegeben 
sein, eine dauernde Heilung solcher krankhaften Auswüchse der menschlichen 
Gesellschaft zu versuchen oder aber, wenn das nicht mehr möglich, sie auf andere 
Weise unschädlich zu machen. Das geeignete Mittel hierzu bietet die Zwangs¬ 
verbringung in eine Trinkeranstalt. 

Nach dem Vorbilde des österreichischen Gesetzentwurfs, nach dem Reichs¬ 
gesetzentwurf von 1892 und nach sonstigen in den verschiedenen Reform Vor¬ 
schlägen bereits enthaltenen Andeutungen sind die im Entwurf in drei ver¬ 
schiedenen Paragraphen auseinandergehaltenen Vorschläge aufgestellt. Die §§ 22 
und 23 entsprechen im wesentlichen dem deutschen Entwurf von 1892, während 
der § 21 in einer weiteren Ausgestaltung der von Endemann gemachten Vor¬ 
schläge besteht. Es muß ohne weiteres zugegeben werden, daß die in § 21 auf¬ 
gezählten Falle sehr umfassend sind und es wird der gesetzgeberischen Arbeit 
überlassen werden müssen, hier noch zu sichten und eine Auswahl zu treffen. 
Bei der Einbeziehung gewisser Arten von Vergehen — so z. B. Landfriedens¬ 
bruch, gefährliche oder gemeinschaftliche Körperverletzung, qualifizierte Sach¬ 
beschädigung — war die Erwägung maßgebend, daß es sich hier um die leider 
immer mehr überhand nehmenden Roheitsdelikte handelt, die in der Mehrzahl 
der Fälle im trunkenen Zustande begangen werden und eben deshalb vielfach 
eine hinreichende Sühne nicht einmal finden konnten. Rohe Burschen, die in 
ihrer Trunkenheit solche Delikte begehen, müssen aber auf alle Fälle unschädlich 
gemacht oder — noch besser — durch eine Radikalkur von ihren bösen Trieben 
geheilt werden. Auch daß Vergehen, wie Gotteslästerung, gewisse Sittlichkeits¬ 
vergehen im Zustande der Trunkenheit begangen werden, ist nichts Seltenes. 
Was die Verbrechen betrifft, so schien es schwierig, hier alle diejenigen etwa 
besonders aufzuzählen, deren Begehung in der Trunkenheit eine häufige Er¬ 
scheinung ist. Daß sich jemand eines Meineids oder einer schweren Urkunden¬ 
fälschung im Zustande der Trunkenheit schuldig machen kann, ist zwar möglich, 
doch sollte an diese und ähnliche Verbrechen hier natürlich nicht gedacht werden. 
Aber lediglich zur Vermeidung falscher Gesetzesanwendung hier eine Aufzählung 
einzelner Verbrechen vorzunehmen, die in Betracht zu kommen haben, schien 
nicht erforderlich. Es konnte vielmehr der Einsicht des erkennenden Strafge¬ 
richts überlassen werden, die Fälle selbst herauszufinden, welche einer Unter¬ 
ordnung unter die hier vorgeschlagene Vorschrift fähig und bedürftig sind, deren 
Unterordnung dem Zweck und Ziel des Gesetzentwurfs entspricht. 

Bei der Beratung des ersten Entwurfs durch den Vorstand des Trinker- 
heilstättön-Verbandes wurde von allen Seiten anerkannt, daß die Hereinbeziehung 
dieser Vorschriften in den vorliegenden Gesetzentwurf starken Bedenken begegnen 
müsse, daß es vielmehr zweckdienlicher erscheine, auf die wünschenswerte Er¬ 
gänzung des Strafgesetzbuches bei Gelegenheit der Vorlage unseres Entwurfes 


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Entwurf für ein Reichsgesetz betreffend die Fürsorge für Trunksüchtige. 219 

nur nebenbei hinzuweisen. Auch der Verfasser muß diese Bedenken teilen. 
Da jedoch abändemde Beschlüsse nicht gefaßt worden sind, ist die Materie im 
gegenwärtigen Entwurf — mit vorstehendem Vorbehalt — belassen worden. 

Zu §§ 24 und 25. 

Im Zusammenhang mit der bisher vom Entwurf gegebenen Regelung der 
Fürsorge für Trunksüchtige schienen einige Vorschriften zweckmäßig, welche die 
wirksame Durchführung der Zwangsverbringung und der Anstaltsbehandlung zu 
sichern und gegen beabsichtigte Störung und Hintertreibung der verfolgten Zwecke 
einzuschreiten geeignet sind. Ähnliche Strafandrohungen finden sich in dem von 
Colla vorgeschlagenen Gesetzentwurf. Der § 24 ist dem § 21 des Preußischen 
Fürsorge-Erziehungsgesetzes nachgebildet. Der § 25 setzt — wie dies in dem 
folgenden Entwurf eines Preußischen Gesetzes auch vorgesehen ist — voraus, 
daß in den zu errichtenden öffentlichen Trinkeranstalten ein absolutes Alkohol¬ 
verbot, wenigstens den Anstaltspfleglingen gegenüber, herrscht, eine Forderung, 
die von der überwiegenden Zahl der Fachmänner jetzt mit aller Energie betont 
und aufgestellt wird. 

Zu § 26. 

Eine besondere Regelung der Gerichtsgebühren für das Verfahren auf 
zwangsweise Verbringung schien erforderlich. 


15* 


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220 


II. Referate. 

Boissier* Absinthvergiftung in einer abstinenten Famiiie auf dem Wege der Inhalation. 

Annal. antialcool. Oktober 1904. 

Die Familie eines Großdestillateurs: Vater, Mutter, 2 Kinder erkrankt an 
folgenden Erscheinungen: Nervenschmerzen, Appetitlosigkeit, Abmagerung, Schlaf¬ 
losigkeit, aufgeregte Träume. Boissier hält Alkoholvergiftung durch Absinth¬ 
dämpfe für erwiesen. Die Familie lebt völlig abstinent. Die Wohnung ist zwar 
vom Fabrikgebäude getrennt, doch diesem nahe genug, um mit den Dämpfen aus 
den Destillierkolben geschwängert zu sein. Ein älterer Sohn, welcher durch seine 
Beschäftigung den ganzen Tag von Hause ferngehalten wird, ist nahezu frei von 
den krankhaften Erscheinungen. P. S. 

Von seinen Eindrücken in Gothenburg erzählt Dr. Legrain in recht interessanter 
Weise in der Dezembemummer der „Annales antialcooliques“. Diese Eindrücke 
wurden von dem bekannten Vorkämpfer der antialkoholischen Bestrebungen in 
Frankreich auf einer Informationsreise nach Schweden gewonnen. Gothenburg, 
die heilige Stadt des kommunalen Branntweinmonopols! Und Legrain muß zu 
seiner Schande gestehen, daß er Gothenburg mit sehr gemischten Gefühlen ver¬ 
ließ. Berichtete ihm doch nach manchen fehlgeschlagenen Versuchen, sich über 
die Erfolge des Gothenburger Systems zu informieren, ein Einheimischer wörtlich: 
„Gothenburger System? Ich weiß, was das ist. Vor einem halben Jahre hat man 
Versuche damit angestellt, doch ist man noch zu keinem Resultate gekommen.“ 
Auch der Besuch der Monopolschankstätten ergab ein unbefriedigendes Resultat. 
Legrain sagt von ihnen wörtlich: „Sie stiften ebensoviel Böses und ebensowenig 
Gutes wie die Schankstätten anderswo. Gothenburg, die Heimat jenes Systems, 
welches das Ungeheuer töten sollte, bringt wie seine skandinavischen Schwester¬ 
städte seine Kollektion von Betrunkenen zur Schau. Geht in ein beliebiges 
Restaurant von Gothenburg, ihr könnt dort so viel Alkohol erhalten, als es euch 
Vergnügen macht zu fordern: er fließt in Strömen! Die Maifeier, das Frühlings¬ 
fest, ist wie immer durch den Alkohol zu einem Skandal geworden!“ P. S. 

Über die Weinernte in Frankreich im Jahre 1904 berichtet Legrain in der 
Februarnummer der „Annales antialcooliques“. Im Jahre 1904 sind auf franzö¬ 
sischem Gebiet nicht weniger als 72 Millionen Hektoliter Wein geerntet worden 
(davon 6 Millionen Hektoliter in Algier). Dazu kommen ferner noch 36356950 
Hektoliter Obstwein. Keine andere weinbauende Nation erreicht diese Zahlen 
und auch Frankreich hatte sie bisher nicht erreicht. Eine Krise für den Wein¬ 
bau namentlich Mittelfrankreichs, aber auch der Normandie ist sicher. Die Journale 
der Weinproduzenten jammern über die Zukunft, doch sollen sie vielmehr den 
Finger auf die wahre Ursache dieser Krisen legen: die Überproduktion. P. S. 


Die Amerikanische Gesellschaft für soziale Bestrebungen (institute of social 
Service) hat an eine Reihe industrieller Betriebe folgenden Fragebogen versandt: 

1. Ist für die Arbeit Totalenthaltsamkeit erforderlich? 

2. Haben Sie Bestimmungen erlassen gegen den Alkoholgenuß während der 
Arbeit? 


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Referate. 


221 


3. Liefern Sie Ihren Arbeitern einen Ersatz für alkoholische Getränke? 

4. Was bieten Sie Ihren Arbeitern an Stelle des Branntweins? 

5. Findet ein im übrigen gleich tüchtiger Arbeiter, welcher nicht trinkt, bei 
Ihnen leichter Beschäftigung wie der, welcher trinkt? 

6. Würden Sie es für richtig halten, den Arbeitern eine Möglichkeit zu 
schaffen, das Geld zu sparen, welches sie sonst für Alkohol ausgeben? 

Die „Pennsylvania Railroad“ antwortete: 

1. Totalenthaltsamkeit ist für die Beschäftigung nicht erforderlich. Aber 
Mäßigkeit wird nicht allein für die Anstellung, sondern auch für die ständige 
Beschäftigung erfordert. 

2. Der Gebrauch berauschender Getränke während der Arbeit ist verboten. 
Ihr gewohnheitsmäßiger Genuß ist ausreichender Entlassungsgrund. 

3. und 4. Unseren Angestellten werden an allen Arbeitsstellen Erleichterungen 
und gutes, bakteriologisch einwandfreies Trinkwasser gewährt. 

5. Theoretisch ja. Praktisch bestehen wir auf Mäßigkeit 

6. Wir haben eine Sparkasse für Arbeiter, welche monatlich nicht mehr als- 
300 Mk. verdienen. In dieser Kasse können monatlich bis zu 100 Mk. angelegt 
werden. Verzinsung & l l 2 °lo- 

„The Brooklyn Rapid Transit Company“ antwortete: 

1. Wir haben es nicht für ausführbar erachtet, auf Totalenthaltsamkeit zu 
bestehen. 

2. Die Angestellten dürfen während der Arbeitsstunden keine Schankstätten 
besuchen oder dem Trünke huldigen. 

3. Wir denken nicht daran, einen Ersatz für den Trunk zu schaffen. 

4. Bei sehr großer Hitze stellen wir an den wichtigen Haltestellen Hafer¬ 
mehlwasser, Eistee, Sandwiches etc. und bei kaltem Wetter heißen Kaffee 
bereit. Wir haben auch Klubräume mit Journalen, Billards und anderen Spielen. 

5. Im allgemeinen findet der nicht Trinkende leichter Stellung als der, 
welcher trinkt. 

6. Die Schöpfung einer Sparkasse zum Zweck der Anlegung des Geldes, 
welches sonst für Alcoholica ausgegeben wird, hält die Gesellschaft nicht für 
zweckmäßig. 

Von der „Curtis Publishing Company“ ging die folgende Beantwortung ein: 

1. Totalenthaltsamkeit wird gefordert. 

2. Trinken während der Arbeit ist nicht gestattet. Notorische Trinker 
werden entlassen. 

3. und 4. Reines und kaltes Wasser dient als einziges Ersatzgetränk. 

5. Trinker nehmen wir unter keinen Bedingungen. 

6. Der Gedanke einer solchen Sparkasse erscheint mir ganz verkehrt. 

Ganz ähnlich lautete die Antwort von Baldwins Lokomotivwerken. Nur 

wird hier Totalenthaltsamkeit nicht gefordert. P. S. 


Die LOsungen des Trinkproblems. Social Service. VoL XI: Nr. 1. Januar 1905. 

„Social Service“, eine Neuyorker Vierteljahrsschrift für soziale und indu¬ 
strielle Hebung, widmet ein ganzes Heft der Lösung der Trinkfrage. Von ver¬ 
schiedenen, in der Sache erfahrenen Autoren (ich nenne außer anderen Earl Grey, 
dessen Bildnis das Heft ziert, Sherwell, Russell, Freeman) wird das Gothen¬ 
burger System, der englische Public-House-Verband, die local Option und prohi- 


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222 


Referate. 


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bition behandelt, sowie auch die Anti-Saloon-Liga, das System von Süd-Carolina 
die Subway-Tavem. Die Tatsache, daß so verschiedene Mittel zur Heilung des 
Alkoholismus in Vorschlag gebracht werden, ist ein genügender Beweis, daß eines 
sich nicht für alle Fälle schickt. Ein kompliziertes soziales Problem wie der 
Alkoholmißbrauch kann nicht auf einen Anhieb fallen. „Abgesehen von dem 
Trieb, welcher die häufigste Ursache ist, sind die Gründe für den Alkoholmißbrauch: 
mangelhafte Ernährung, schlechte Zubereitung der Kost, enge Wohnungen mit 
verdorbener Luft, Vererbung, sozialer Instinkt, der ohne Verlangen zum Trinken 
verleitet, die Monotonie des Lebens, welche manchen Bauer aus reiner Lust an 
Abwechslung des Sonntags trunken werden läßt, das selbstische Begehren nach 
einem leicht zugänglichen Reizmittel, ohne Rücksicht auf die Folgen. Noch ein 
Grund ist jener Zug des modernen, speziell des amerikanischen Lebens, die 
Nerven abzuhetzen bis zur Erschöpfung. 14 

Eine hohe Schankgewerbesteuer kann nicht als ein Mittel der Bekämpfung 
des Alkoholismus angesehen werden — „denn das Problem ist nicht: das Ein¬ 
kommen des Staates oder der Gemeinde zu steigern, sondern: die üblen Wirkungen 
des Vertriebes alkoholischer Getränke zu vermindern und in letzter Linie aus der 
Welt zu schaffen. Hohe Besteuerung mag das öffentliche Einkommen steigern, 
aber es ist absurd, anzunehmen, daß ein System, welches den stärksten Anreiz 
zur Erhöhung der Konsumtion bildet, gleichzeitig zur Verminderung der Kon¬ 
sumtion beitragen soll. 44 P. S. 


Steiner-Stooß, H. Alkoholismus und Mortalität in den gröberen städtischen Ge¬ 
meinden der Schweiz. Schweiz. Bl. f. Wirtsch.- und Sozialpolitik, Heft 22,1904. 

Das eidgenössische statistische Bureau in Bern veröffentlicht seit 1891 
alljährlich eine Zusammenstellung über die Trunksucht als Todesursache in den 
Schweizer Städten mit 10000 oder mehr Einwohnern. Dieses Material hat 
H. Steiner-Stooß zur Grundlage seiner interessanten Studie gemacht, aus 
welcher hervorgeht, daß die Zahl der Opfer, welche der Alkoholismus in diesen 
Städten alljährlich direkt oder indirekt fordert, keine geringe ist. Von den 100842 
erwachsenen Personen (50903 Männer und 49939 Frauen, die in den 13 Jahren 
von 1891 bis 1903 starben, waren 6344, darunter 963 Frauen, mehr oder weniger 
dem Trunk ergeben gewesen. Es ergibt dies eine Sterblichkeitsquote an Alkoho¬ 
lismus von 63 per 1000 Sterbefällen überhaupt; für das männliche Geschlecht 
sogar 106, für das weibliche dagegen 19 per 1000. Die Unterschiede zwischen 
den Sterblichkeitsquoten der einzelnen Städte sind ganz enorme. Während die 
Quote von Herisau nur 28 per Mille beträgt, beläuft sich diejenige von Lode auf 95, 
die von Chaux-de-Fonds auf 106, die von Freiburg auf 114 pro Mille. Steiner- 
Stooß wirft dabei die Frage auf, ob nicht in gewissen Städten, die nicht durch 
eine hohe Relativzahl der Sterbefälle, bei denen die Trunksucht die direkte oder 
indirekte Ursache bildete, die Schnapspest, in anderen der Absinthismus mitspielt. 
Über die Unterschiede in den Altersverhältnissen aller Verstorbenen einerseits 
und der Alkoholiker anderseits, geben die nachstehenden Zahlen Aufschluß. Von 
je 1000 erwachsenen Verstorbenen entfielen 

Die Folgen der Trunksucht machen sich bei beiden Geschlechtern besonders 
in der mittleren Altersklasse geltend; die geringere Sterblichkeit der über 60 Jahre 
alten Personen, welche dem Alkohol ergeben sind, hat darin ihre Begründung, 
daß nur relativ wenige diese Altersgrenze erreichen. 


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Referate. 


223 


auf die Altersklasse 

überhaupt 

Alkoholiker 

Männer 

Frauen 

Männer 

Frauen 

20—39 Jahre. 

255 

233 

245 

258 

40—59 Jahre. 

373 

273 

547 

457 

60 und mehr Jahre . . . 

372 

494 

208 

285 

Total . . . 

1000 

1000 | 

1000 

1000 


Für die ganze Schweiz fehlen Angaben über die Trunksucht als mittelbare 
Todesursache; nur die Zahl derjenigen Fälle wird festgestellt, bei welchen der 
Alkoholismus die Grundursache bildete. Von je 1000 in ländlichen Civilstands- 
kreisen verstorbenen Personen sind nur 7 chronische Alkoholiker. Die 
Mortalitätsquote . ist hier nicht einmal halb so groß, als in den städtischen Ge¬ 
meinden, wo sie 15 per 1000 beträgt, sofern jene Fälle außer acht gelassen 
werden, in welchen Trunksucht die unmittelbare Ursache des Todes gewesen 
sein mag. Fhlgr. 


Erstes Vierteljahr 1905. 

Zusammengestellt von Bibliothekar Peter Schmidt. 

Abstinenzler, nochmals die —. (Hamburger Nachrichten v. 9. 12. 1904, Eiste 
Morgenausgabe.) 

Ackermann, 0. Einfluß elterlicher Trunksucht auf die Nachkommenschaft. (Ge¬ 
sundheitslehrer, Wamsdorf 1904, S. 186; Ärztlicher Ratgeber, Höckendorf 
1904; S. 285.) 

Angaben , statistische, betr. die Geschäftsführung der eidgenössischen Alkohol¬ 
verwaltung pro 1903. Bern 1904. (168 S.) 

Alkohol, wider den —. (Zeitg. des Vereins d. Eisenbahnverwaltungen, Berlin 
1904, Nr. 99.) 

Alkoholfrage, die höhere Schule und die —. (Korrespondenzbl. für d. akad. 
gebild. Lehrerstand, Schalke 1904, S. 314.) 

Alkoholgegner, der. Monatsschrift zur Bekämpfung der Trinksitte. Herausgeber 
u. Schriftleiter Dr. med. Gustav Rösler, Reichenberg i. B. Jährlich 3 Kr. 

Alkoholgenuß bei der Schuljugend. (Monatsschrift f. deutsche Beamte 1904, 
S. 256.) 

Alkoholismus, ' der. Zeitschrift zur wissenschaftl. Erörterung der Alkoholfrage. 
Hrsg. v. Dr. J. Waldschmidt. Neue Folge. (2. Bd.) Jahrg. 1905. 6 Hefte, 
gr. 8°. Leipzig, J. A. Barth. Mk. 8.—. 

Alkoholismus, der, und die technischen Betriebe. (Welt der Technik 1905, 
S. 22—25.) 

Alkoholmißbrauch und Abstinenz. (Gesundheitslehrer, Wamsdorf 1904, S. 79.) 

Alkoholstatistik 1898 — 1902. Bidrag tili Finlands off. Statistik XXVII. 1. 
Helsingfors 1904. (70 + 144 8.) 

Arbeiter, der abstinente. Jahrg. ni, 1905. 

Arbeitsführer für den Distrikt VI des J. 0. G. T. Nr. 3 (Ostholstein) der Gro߬ 
loge II (Deutschland) des Guttemplerordens für das H. Quartal 1904—1905, 
1. Aug. 1904 bis 31. Oktbr. 1904.) Herausgeg. vom Preßausschuß. Kiel 1904. 


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224 


Bibliographie. 


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Ausweis über die der besondern Abgabe unterworfenen Stätten, in denen der 
Ausschank oder Kleinverschleiß gebrannter geistiger Flüssigkeiten, bezw. der 
Handel mit denselben betrieben wurde, für das Jahr 1908. (Mitt. d. k. k. 
Finanzministeriums, X. Jg. 8. Heft, S. 1900 ff., Wien 1904.) 

Behren8, Peter . Alkohol und Kunst. Flensburg, Deutschlands Großloge H. 1905 
(8 S.). Mk. —.20. 

Beiträge zum Alkoholkonsum der arbeitenden Klassen. (Prager mediz. Wochen¬ 
schrift 1904, 442.) 

Bekämpfung der Trunksucht in Breslau. (Breslauer Statistik, 24 Bd. 3. Heft, 
Breslau 1905, S. 74.) 

Bekämpfung der Trunksucht und die Anstalten für Trunksüchtige in Gro߬ 
britannien 1901—1903. (Deutscher Reichs-Anzeiger Nr. 85 v. 8. April 
1905.) 

Bergman , J. Alkoholfrage in der antiken Welt. (Wissen für Alle, Wien 1904, 
S. 537.) 

Bericht über die 21. Jahresversammlung des Deutschen Vereins g. d. M. g. G., 
Erfurt 1904. (192 S.) Berlin W. 15. Mäßigkeitsverlag. Mk. — .75. 

Bericht des schweizerischen Bundesrats an die Bundesversammlung betr. die 
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Organ des freien Guttempler-Ordens. Verantwortlich für die Redaktion: 
C. Rudolphsen-Flensburg. Verlag: Wilh. Häußler, Hamburg 15, Norder¬ 
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Tillaeg: Lov af 20. februar 1904 til forebyggelse af smughandel med spin¬ 
öse drikkevarer i Tr 0 ms 0 stift samt Namdalens fogderi af nordre Trondhjems 
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reich Sachsen. Nach dem Stand vom 1. Dezbr. 1904. Dresden, Buch¬ 
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Vorster, Abg. Bericht über die Petition des Osnabrücker Zweigvereins des 
D. V. g. d. Mißbr. g. Getr. um 1. gesetzliche Verpflichtung der Provinzen, 
für die Heilung heilbarer u. für die Unterbringung unheilbarer Trunksüch¬ 
tiger zu sorgen; 2. Einführung eines gesetzlichen Zwanges zur Unterbringung 
u. Festhaltung von Trunksüchtigen ohne Einleitung des Entmündigungsver¬ 
fahrens. (Nr. 822 der Drucks, d. Preuß. Abg.-Hauses, Sess. 1904/5.) 

Waldschmidt . Alkohol-Landeskommission. (Bericht d. XXI. Jahresvers. des 
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Waldschmidt. Bericht über die 5. Jahresversammlung des Verbandes von Trinker- 
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Wallenborn. Bericht über die Petitionen betr. Flaschenbierhandel (Nr. 765 der 
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Was trinken wir? (Deutsche Landwirtschaftliche Presse, 1905. Nr. 8.) 

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231 


HL Mitteilungen. 

Alkoholismus als Todesursache in den Vereinigten Staaten, ln den Vereinigten 
Staaten wird die Statistik der Todesursachen nicht allgemein geführt. Nur in 
den Neu-England-Staaten, ferner in New-York, New-Jersey, Michigan, dem Distrikt 
Kolumbien, sowie in über 700 Städten in anderen Teilen der Union erfolgt die 
Registration regelmäßig. Das Volkszählungsamt in Washington hat nun das für 
das Jahr 1900 verfügbare Material gesammelt und veröffentlicht 1 ). Es ergibt sich, 
daß im Registrationsgebiet, mit einer Bevölkerung von 28,7 Millionen (darunter 
1,2 Millionen Neger), die Zahl der Sterbefälle, bei welchen Alkoholismus die 
direkte Ursache war, 2061 (1693 Männer, 368 Frauen) betrug; auf je 1000 
Sterbefälle überhaupt entfallen 4,1 an Alkoholismus. In den letzten 10 Jahren 
haben sich die Verhältnisse etwas gebessert; auf je 100000 Einwohner kamen 
1890 8,1 und 1900 7,2 Sterbefälle infolge Alkoholismus. In den Weststaaten 
fordert diese Krankheit relativ die meisten Opfer. Auch in Bezug auf die Rassen¬ 
zugehörigkeit ergeben sich bemerkenswerte Differenzen. Auf 100000 Personen 
entfielen nämlich Sterbefälle an Alkoholismus: 

Alter 

15—44 Jahre 45 Jahre und darüber 

bei der weißen Rasse.8,2 15,6 

bei den farbigen Rassen.3,7 10,4 

Bei den „farbigen Rassen“ handelt es sich fast ausschließlich um Neger. 
Ob deren Organismus weniger unter dem Genuß geistiger Getränke leidet, oder 
ob sie demselben weniger ergeben sind, trotzdem sie meist den ärmeren sozialen 
Klassen angehören, läßt sich nicht mit Sicherheit feststellen. Unter den ein¬ 
geborenen Amerikanern europäischer Rasse, also ohne Berücksichtigung der Zu¬ 
gewanderten, bleibt die Sterblichkeit an Alkoholismus ebenfalls unter dem Durch¬ 
schnitt zurück (2,4 per 100000); dasselbe gilt von den Bewohnern der ländlichen 
Distrikte der Registrationsstaaten, ohne Unterschied der Abstammung; es entfielen 
auf 100000 Personen: 

in den Städten auf dem Lande 
Sterbefälle an Alkoholismus 

1890 ... 11,0 3,6 

1900 . 8,8 3,4 

Ein Rückgang ist allenthalben zu merken. Am seltensten bildet der Alkoho¬ 
lismus in den agrarischen Staaten New-Hampshire und Maine die direkte Todes¬ 
ursache, am häufigsten in Rhode Island und New-York. Fhlgr. 


Sterblichkeit an Alkoholismus in England und Wales. Dem jüngsten Bericht 
des Registrar-General von England und Wales 8 ) ist zu entnehmen, daß die Zahl 
der Todesfälle, deren unmittelbare Ursache Alkoholismus war, in den genannten 


*) Twelfth Census, volume 5: Vital Statistics, Seite CLXI bis CLXV. 
Washington. Gouvemment Printing Office. 

2 ) Sixty-Sixth Annual Report of the Registrar-General of England and 
Wales. London, 1905. Verlag von Wyman & Sons. 


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232 


Mitteilungen. 


Teilen Großbritanniens im Jahre 1903 2550 betrug, wovon auf weibliche Per¬ 
sonen 1075 entfielen; dies entspricht einer Sterblichkeitsrate von 91 per Million 
unter den Männern und 62 per Million unter den Frauen. Seit 1900 hat die 
Alkoholsterblichkeit, soweit die Fälle tatsächlich zur Verzeichnung gelangten, 
abgenommen; sie betrug 1884 47 per Million und stieg ununterbrochen bis 1891 
an (71); nach unregelmäßigen Schwankungen wurde 1896 wieder dieselbe Höhe 
erreicht, um 1900 sogar 113 Fälle auf eine Million Personen zu steigen; von 1901 
bis 1903 war der Rückgang ein beständiger. 

Die Sterblichkeit an Lebercirrhose, welche besonders von 1897—1900 be¬ 
trächtlich anstieg (1900 144 per Million), zeigt gleichfalls wieder einen merklichen 
Rückgang (1902 123, 1903 117 Fälle auf eine Millionen Einwohner). 

Nach Altersklassen verteilten sich die Todesfälle, deren unmittelbare Ur¬ 
sache Alkoholismus war, im Jahre 1903 wie folgt: 


Alter Männl. Geschl. Weibl. Geschl. 

bis 25 Jahre.241 134 

25 bis 35 Jahre. 419 349 

35 „ 45 „. 437 347 

45 „ 55 „. 266 163 


55 Jahre und darüber .... 112 82 

Zusammen: 1475 1075 

Die hohe Proportion der Frauen unter den Alkoholikern Englands ist auf¬ 
fallend. Trotzdem am 1. Januar 1904 ein verschärftes Trunkenheitsgesetz in 
Kraft trat, begegnet man noch immer in den Straßen und Plätzen der großen 
Städte, namentlich Londons, vielen betrunkenen weiblichen Personen, die ein 
jämmerliches Bild menschlichen Elends sind. — Die gegenwärtige Form des 
Ausschankes alkoholischer Getränke in den sogenannten public houses trägt viel 
dazu bei, daß in England der Alkoholismus weit verbreitet und schwer zu be¬ 
kämpfen ist. Fehling er. 


Alkohol und Unfall. „Arbeiterschutz 11 , 16. Jahrgang, 1905, Nr. 7, S. 153. 

Aus einem Vortrag, den Dr. L. Kraus im Verein der Abstinenten im 
16. "Wiener Bezirk hielt, geht hervor, daß in Österreich die folgenden Zahlen von 
Unfällen durch Alkohol herbeigeführt wurden, und zwar: 


im 

Jahre 1899 . 

ii 

„ 1900 . 


„ 1901 . 

ii 

„ 1902 . 

ii 

„ 1903 . 


695 

427 

427 

414 

535 


Auf Arbeiter entfielen in diesen Jahren zusammen über 2000 Unfälle, die 
durch Alkohol bedingt waren. Nach Tagen zusammengestellt ereigneten sich 
35% der Unfälle am Samstag, 28% am Sonntag, 25% am Montag u. s. w. 
Dr. Kraus wies nach, daß die eigentümliche Leibesbeschaffenheit des Alkoholikers 
ihn nicht nur zu Unfällen besonders disponiert, sondern daß ein Unfall beim 
Alkoholiker auch schwerere Folgen zeitige als beim normalen Menschen; dies 
suchte er an der Hand von Beispielen näher zu erklären. Fhlgr. 


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Der Alkoholismus 

Zeitschrift zur wissenschaftlichen Erörterung der Alkoholfrage 
1905 Neue Folge — Band II No. 4 


L Originalabhandlungen. 

Alkoholismus und Nervosität 1 ). 

Von • 

Professor Dr. Max Laehr, 

Direktor der Heilstätte für Nervenkranke „Haus Schönow“ in Zehlendorf bei Berlin. 

Die schädliche Wirkung des Alkohols auf den menschlichen 
Organismus offenbart sich am frühesten und greifbarsten in Ver¬ 
änderungen des Nerven- und Seelenlebens. Das ist eine Ihnen 
allen geläufige Erfahrungstatsache; ist sie es doch in erster Linie, 
welche Ihren Bestrebungen gegen den Alkoholismus den ersten 
Anstoß gegeben hat und täglich neue überzeugte Anhänger zuführt 
Sie wollen aber in diesem schweren Kampfe nicht auf allgemeine 
Eindrücke und persönliche Erlebnisse angewiesen sein, sondern 
mit Waffen kämpfen, welche im Feuer wissenschaftlicher Unter¬ 
suchung und praktischer Erfahrung gehärtet sind. Ihnen hierzu 
behilflich zu sein, ist die mir hier gewordene Aufgabe, und zwar für 
ein beschränktes, aber für das soziale Wohl außerordentlich wichtiges 
Oebiet. Nicht von den schweren geistigen Störungen, welche der 
übermäßige einmalige oder der fortgesetzte Alkoholkonsum herbei¬ 
führt, soll ich reden, sondern von den Beziehungen des Alkoholis¬ 
mus zu den leichten Abweichungen des Nervenlebens, den Grenz¬ 
zuständen der gesunden und kranken Psyche und den allgemeinen 
nervösen Schwächezuständen. Dieselben verdienen nicht nur als 
Anfangszustände der Ihnen bekannten schweren psychischen Er¬ 
krankungen Ihre besondere Aufmerksamkeit, sondern auch deshalb, 
weil sie von den verschiedensten Seiten als die charakteristische 
Krankheit unserer Zeit, ja als ein Ausdruck der beginnenden De¬ 
generation unseres Volkes hingestellt werden. Sie sehen, welche 
Aussichten sich hier für die Bekämpfer des Alkoholismus eröffnen, 

*) Vortrag, welcher gelegentlich der vom Zentralverband zur Be¬ 
kämpfung des Alkoholismus veranstalteten Kurse zum Studium des Alkoholis¬ 
mus vor einem wesentlich nicht-ärztlichen Zuhörerkreise am 25. April 1905 
gehalten wurde. 

Der Alkohollemas. 1905. 

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234 


Dr. May Laehr. 


wenn letzterem eine bedeutende Rolle für die Entwicklung dieser 
nervösen Zustände zuerkannt werden muß. 

Die erste Frage, die wir zu beantworten haben, ist die nach 
dem, was wir unter „Nervosität“ verstehen wollen. Eine Ver¬ 
ständigung hierüber ist notwendig, weil mit diesem Namen die 
allerverschiedensten Zustände bezeichnet werden, nicht nur vom 
Laien, sondern auch von seiten der Ärzte 1 ). Ich meine, wir 
dürfen für unsere Betrachtungen diesen Begriff etwas weiter fassen, 
als ich dies im Interesse einer scharfen Gruppierung der Krank¬ 
heiten bei einer streng wissenschaftlichen Erörterung derselben für 
richtig und zweckentsprechend erachten würde. "Wir wollen des¬ 
halb nicht nur die leichten Veränderungen des Nervenlebens, die 
im strengeren Sinne als „nervöse“ zu gelten haben, ins Äugte fassen, 
bei denen es sich um z. T. noch in die Breite der Gesundheit 
fallende, mehr weniger rasch vorübergehende Schwankungen in der 
Stärke der psychischen Reaktionen handelt; sondern lassen Sie uns 
auch die sich aus ihnen heraus entwickelnden ausgesprochenen 
Krankheitszustände hinzurechnen, welche zum größten Teile unter 
den Begriff der Neurasthenie und Hysterie fallen. Kurz gesagt, 
es soll sich hier neben der eigentlichen Nervosität auch um die 
sogenannten allgemeinen funktionellen Nervenleiden handeln, aber 
unter Ausschluß der ausgesprochenen Geisteskrankheiten. Ich 
brauche nicht hinzuzufügen, daß der Übergänge zu letzteren viel¬ 
fache sind 2 ). Wenn wir die hier zusammengefaßten Zustände als 
„nervöse“ bezeichnen, so müssen wir uns zuvörderst dessen bewußt 
sein, daß sie sich viel weniger durch eine Abweichung in den 
Lebensäußerungen der untergeordneten nervösen Zentren, als durch 
eine solche der höchsten, d. h. in dem psychischen Verfahren 
des betreffenden Menschen offenbaren. Ein jeder von Ihnen kennt 
Personen, die dadurch auffallen, daß schon leichte Einwirkungen, 
durch welche der Durchschnittsmensch nicht aus dem Gleich¬ 
gewicht gebracht wird, Veränderungen in ihren psychischen Äuße¬ 
rungen hervorrufen. Fallen die Anreize weg, so ist das Gleich¬ 
gewicht rasch wieder hergestellt Solche Menschen bezeichnet der 
allgemeine Sprachgebrauch als nervös. Handelt es sich aber nicht 

*) Ich möchte nicht unterlassen, darauf aufmerksam zu machen, daß die 
Begriffsbestimmung der „Nervosität“ auch unter den psychiatrischen und 
neurologischen Autoren keine einheitliche ist 

*) Der Beziehungen dieser Krankheiten zum Alkoholismus wurden von 
anderer Seite in einem besonderen Vortrage gedacht 


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Alkoholismus und Nervosität. 


235 


mehr um diese überleichte, sich relativ rasch ausgleichende An¬ 
spruchsfähigkeit allein, sondern um solche Abweichungen, welche 
als Dauerwirkungen erscheinen und die Leistungsfähigkeit des be¬ 
treffenden Menschen in erheblicherem Grade beeinträchtigen, so 
sprechen wir besser von einer Nervenkrankheit. Für dieselbe ist 
charakteristisch, nicht nur, daß relativ schwache Beize, welche auf 
den gesunden Menschen ohne besonderen Einfluß bleiben, hier 
Folgen von besonderer Stärke, Ausdehnung und Dauer hervorrufen, 
sondern auch, daß die verschiedensten Reize, körperliche und 
seelische, gewöhnlich denselben Effekt haben, je nach der Eigenart 
der Persönlichkeit und der Art der Krankheit. Bei der Neur¬ 
asthenie äußert sich diese krankhafte Reaktionsweise in dem raschen 
Auftreten eines Ermüdungsgefühls allgemeiner oder lokaler Natur, 
verbunden mit einer gemütlichen "Verstimmung, wodurch das Zu¬ 
trauen in die Leistungsfähigkeit erschüttert, die Willenstätigkeit ge¬ 
hemmt, ein übertriebener Hang zur Selbstbeobachtung und schwere 
Krankheitsbefürchtungen ausgelöst werden. Vorübergehend begegnen 
wir den wesentlichsten Erscheinungen dieser Krankheit in den 
körperlichen und psychischen Äußerungen der akuten Ermüdung 
und Erschöpfung. Bei der Hysterie dagegen haben wir es mit 
einer andersartigen Reaktionsweise der Psyche zu tun, welche zwar 
an und für sich dem normalen psychischen Leben nicht fremd ist, 
vor allem nicht dem des Kindes und des Weibes, aber durch ihre 
Einseitigkeit und leichte Auslösbarkeit, sowie durch die Massigkeit 
und Unberechenbarkeit ihrer Ausdrucksformen den Eindruck des 
Krankhaften erweckt Diese Kranken zeigen eine qualitativ und 
quantitativ erhöhte, zum Teil abnorme körperliche Äußerung seelischer 
Erregungen, eine übertriebene Abhängigkeit ihres psychischen Lebens 
von einzelnen affektbetonten Vorstellungen und eine gesteigerte Be¬ 
einflußbarkeit derselben, welche in der sogenannten leichten Suggerier- 
barkeit zum Ausdruck kommt. In diesen Eigentümlichkeiten und 
nicht in der allen Nervösen eigenen leichten gemütlichen Reiz¬ 
barkeit sehen wir die eigentlichen hysterischen Äußerungen, deren 
einzelne Züge im Zustande der Erschöpfung und auf neurasthenischer 
Grundlage, wie unter dem Einflüsse verschiedener Gifte vorüber¬ 
gehend hervortreten können. Erst wenn sie unter den ver¬ 
schiedensten Lebensreizen immer wieder in derselben Weise aus¬ 
gelöst werden — wobei natürlich die spezielle Ausdrucksweise 
wie der Inhalt der Vorstellungen dem größten Wechsel unterworfen 
sein kann — wenn sie zu charakteristischen Reaktionsweisen des 

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236 


Dr. Max Laehr. 


betreffenden Menschen werden, erst dann nennen wir diesen im 
eigentlichen Sinne hysterisch. Schließlich wären hier noch gewisse 
Formen von Hypochondrie und Zwangsneurose zu nennen, welche 
unter Zurücktreten der auslösenden neurasthenischen und hysterischen 
Äußerungen eine gewisse Selbständigkeit erlangen können, aber 
unter Berücksichtigung ihrer Entstehung zu dieser Krankheitsgruppe 
zu rechnen sind und auch nach den verschiedensten Richtungen 
hin die den Nervösen charakterisierenden psychischen Eigentümlich¬ 
keiten aufweisen. 

Diese psychischen Besonderheiten noch einmal kurz zusammen¬ 
zufassen, erscheint mir zum Verständnis des folgenden von Wert 
zu sein. Bei allen hier zusammengefaßten nervösen Zuständen 
treffen wir an erster Stelle auf eine große Labilität des Gemüts¬ 
lebens. Das gemütliche Gleichgewicht dieser Menschen erweist 
sich als im höchsten Maße beeinflußbar, und zwar überwiegt bei 
weitem die Auslösung einer Mißstimmung, es kommt weiterhin zu 
unangenehmen, dem Vollmenschen fremden Organ- und Ermüdungs¬ 
gefühlen, zu Angstempfindungen und Krankheitsbefürchtungen, oder, 
bei der Hysterie, zu eigentümlichen seelischen und vor allem 
körperlichen Ausdrucksformen des veränderten Affektzustandes. 
Scheinbar unabhängig von dieser gesteigerten Reizbarkeit und von 
äußeren Reizen macht sich auch ein auffallendes periodisches 
Schwanken der Gemütslage bemerkbar, besonders bei den angeborenen 
Formen der Nervosität, hierdurch einen Übergang bildend zu dem 
periodischen Stimmungswechsel, welcher als eine besondere Form 
geistiger Erkrankung unter den degenerativen Psychosen eine 
Hauptrolle spielt. 

Die eigentliche Verstandestätigkeit erleidet gewöhnlich keine 
qualitative Einbuße; nur fällt bei vielen nervösen Menschen eine 
gewisse Einseitigkeit ihrer geistigen Leistungsfähigkeit, oft ein 
Überwiegen der Phantasietätigkeit, ein Schwelgen in lebhaften 
sinnlichen Vorstellungen auf. Wenn wir gleichwohl, besonders bei 
vielen Hysterischen, einen gewissen Defekt finden, so gilt hier das¬ 
selbe, wie für oft erkennbare Schwächezustände nach der ethischen 
und moralischen Seite hin, welch letztere noch vielfach — meines 
Erachtens mit Unrecht — als Hauptcharakteristika der Hysterie 
betrachtet werden und die Diagnose „Hysterie“ im allgemeinen in 
Mißkredit gebracht haben: es sind dies alles nicht spezifische 
Äußerungen der Hysterie, sondern Begleiterscheinungen derselben, 
welche auf dem — an und für sich nicht notwendigen — gemein- 


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Alkoholismus und Nervosität. 


237 


samen Boden einer degenerativen Veranlagung und Entwicklung 
aufgewachsen sind. 

Dagegen tritt in der Regel eine Störung der Aufmerksamkeit 
und entsprechend der körperlichen Funktionsschwäche eine abnorm 
rasche Ermüdung der geistigen Leistungsfähigkeit ein. Bei den 
engen Beziehungen zwischen Gemütslage und Willensäußerungen 
nimmt es nicht wunder, daß entsprechend der gemütlichen Labi¬ 
lität die Gleichmäßigkeit und zielbewußte Ordnung der letzteren 
gegenüber explosiven Augenblickshandlungen zurücktritt, daß der 
neurasthenischen Verstimmung im allgemeinen eine Willenshemmung, 
der hysterischen Herrschaft wechselnder Affekte eine durch diese 
motivierte Erschwerung oder Erleichterung des Handelns entspricht. 
So entwickelt sich mit der Zeit aus der Unfähigkeit, bestimmte 
Zielvorstellungen planmäßig im Auge zu behalten, aus der erhöhten 
Ablenkharkeit und Ermüdbarkeit einerseits, aus der einseitigen Be¬ 
schäftigung mit den Erscheinungen am eigenen Körper und dem 
Hervortreten einer gemütlichen Verstimmung andrerseits immer 
mehr eine Unbeständigkeit und Haltlosigkeit, schließlich auch oft 
mit der Einengung der Interessen eine moralische Minderwertigkeit 
und Disharmonie der Persönlichkeit. 

Je früher und lebhafter dieser Gesamtausdruck der Lebens¬ 
führung zu Tage tritt, um so mehr können wir damit rechnen, daß 
die nervöse Erkrankung auf dem Boden einer degenerativen Ver¬ 
anlagung erwachsen ist, d. h. daß wir es mit einem von Hause 
aus nervös resp. psychopathisch veranlagten Menschen zu tun haben, 
dem die in seinem gesamten Verhalten zum Ausdruck kommende 
Unzweckmäßigkeit des Denkens, Fühlens und Wollens eben den 
Stempel der „Entartung“ aufdrückt (Kraepelin). Zahlreiche im all¬ 
gemeinen als „nervös“ bezeichnete Menschen, aber auch, wie schon 
vorher erwähnt, ein großer Teil der Hysterischen gehören dieser 
Gruppe von nicht eigentlich kranken, sondern entarteten Neuro- 
oder Psychopathen an. 

Diese Ausführungen, welche manchem von Ihnen vielleicht 
unnötig lang erschienen sind, glaubte ich nicht umgehen zu dürfen, 
wenn ich mich mit Ihnen über die Zustände verständigen wollte, 
welche unserer Betrachtung zu Grunde liegen. Nun sind wir aber 
auch sofort beim Alkohol, dessen Folgen unter Berücksichtigung 
des vorher Gesagten leichter verständlich werden. 

Denn, indem wir uns mit den Wirkungen des Alkoholismus auf 
den Ablauf des Nerven- und Seelenlebens beschäftigen, werden wir 


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238 


Dr. Max Laehr. 


sehr bald Äußerungen desselben kennen lernen, welche den eben 
besprochenen krankhaften Abweichungen außerordentlich ähnlich 
sehen. Lassen Sie uns, wie ich schon einleitend sagte, ganz ab- 
sehen von den groben Störungen, wie sie sich unter dem Bilde 
eines akuten Rauschzustandes, eines Deliriums, einer alkoholischen 
Psychose darstellen, vielmehr zunächst nur die feineren Änderungen 
ins Auge fassen, welche die psychischen Reaktionen nach Auf¬ 
nahme von geringeren Alkoholmengen, wenn Sie wollen, nach 
„mäßigem Alkoholgenuß“ aufweisen. Für die Beurteilung dieser 
Frage genügt der Versuch am eigenen Körper nicht; so wertvoll 
er an sich auch ist, er wird doch, wie Sie wissen, durch die eigen¬ 
artige Wirkung des Alkohols wesentlich beeinträchtigt, Selbsttäu¬ 
schungen zu veranlassen und damit den Blick zu trüben. Wertvoller 
sind die Erfahrungen, welche wir im täglichen Leben an unserer 
Umgebung machen. 

Sicheres Wissen geben aber erst methodische Untersuchungen, 
wie sie in der Ihnen bekannten Anordnung zuerst vonKraepelin 
und seinen Schülern angestellt und dann von anderen Forschern 
wiederholt und ergänzt sind. Das Resultat der bisherigen, feinen 
und mühevollen Untersuchungen bestätigt im großen und ganzen 
die Richtigkeit der grob empirisch gefundenen Anschauung über 
die Wirkungsweise des Alkohols. Lassen Sie mich dasselbe in 
wenigen Sätzen zusammenfassen. 

Alkoholgaben, schon in Mengen von 30—45 g, also von der 
in einem Liter Bier enthaltenen Dosis, erschweren schon nach einer 
Viertel- bis halben Stunde sämtliche bisher untersuchte geistige 
Leistungen, und zwar leidet nicht nur die Auffassungs- und Merk¬ 
fähigkeit, sondern es macht sich auch eine Verlangsamung und 
Einschränkung des Vorstellungslebens, eine Verflachung des Denkens 
und Urteilens geltend. Mit steigender Alkoholmenge wächst diese 
psychische Beeinträchtigung an Stärke und Dauer, die Leistungen 
schwanken immer mehr und werden durch ein zunehmendes 
Müdigkeitsgefühl immer rascher beeinträchtigt. 

Mit der praktischen Erfahrung stimmt es überein, daß die Güte 
der Arbeit unter diesen Wirkungen leidet, daß die Fehler zunehmen 
und die geistige Spannkraft nachläßt; mechanisch eingeübte Wort¬ 
erinnerungen, Zitate, Reime treten in den Vordergrund, während 
die Weckung und Verknüpfung innerer, begrifflicher Beziehungen 
rasch erschwert wird. Allerdings ist als unmittelbare Wirkung 
kleiner Alkoholgaben auch eine anfängliche Beschleunigung der 


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Alkoholismus und Nervosität 


239 


Reaktionszeit bemerkt worden; diese macht aber schon nach 15 
bis 20 Minuten einer rasch zunehmenden und erst nach Stunden 
wieder verschwindenden Verlangsamung Platz und betrifft solche 
Leistungen, bei denen Bewegungsimpulse von Bedeutung sind, also 
nicht „rein intellektuelle“ Vorgänge, wie Rechnen, sachliche Asso¬ 
ciationen, sondern Lesen und Auswendiglernen. Wie der bei Alko¬ 
holikern bekannte Rede- und Tatendrang es in ausgeprägterer 
Form erkennen läßt, deuten diese Erfahrungen auf eine spezifische 
Alkohol-Reizwirkung im psychomotorischen Gebiete, d. h. eine Er¬ 
leichterung der Auslösung von Bewegungsantrieben. 

Mit Kraepelin dürfen wir in dieser eigenartigen Reizwirkung, 
welche der lähmenden parallel geht, die Ursache der, in gewissen 
Stadien der alkoholischen Vergiftung meist hervortretenden Empfin¬ 
dung eines ganz besonderen Wohlbehagens sehen, welche leicht zur 
Überschätzung der eigenen Leistungsfähigkeit führt. Es ist bei allen 
Versuchen bemerkt worden, daß sich die Versuchspersonen in einer 
gehobenen Stimmung befanden, sich zum mindesten der Verminde¬ 
rung ihrer Leistungsfähigkeit nicht bewußt waren, vielmehr unter 
dem Eindrücke einer erleichterten Arbeitsfähigkeit standen. Damit 
ist die durch den Alkohol bedingte Änderung des Gemütslebens 
angebahnt, über welche wegen der Schwierigkeit der Versuchs¬ 
anordnung exakte Untersuchungsresultate kaum vorliegen, so daß wir 
hier auf — natürlich gröberen — Erfahrungen an uns selbst und 
unserer Umgebung angewiesen sind. Ich erinnere an das durch 
einmaligen Alkoholgenuß bedingte — auch die Art des alkoholischen 
Getränkes ist hier von Bedeutung —, wohltuende und befreiende Ge¬ 
fühl der Angeregtheit, die angenehme Selbsttäuschung, die innere 
Spannungen hinwegräumt, alle äußeren Schwieilj^giten des Lebens 
beseitigt und einem Glückseligkeitsgefühle Raum gibt, das allerdings 
bei dem einen schon recht bald, bei dem andern erst am andern 
Morgen in das Gegenteil umschlägt und in dem bezeichnenden 
„Katzenjammer“ dessen stärksten Ausdruck findet. Bekannt ist die 
in beiden Stadien, besonders im zweiten, gesteigerte gemütliche 
Reizbarkeit. 

Sie wissen ferner, daß die schädigende Wirkung des Alkohols 
bei wiederholter Zufuhr rasch zunimmt, und kennen alle den psy¬ 
chischen Zustand des Gewohnheitstrinkers, bei dem die Lähmungs¬ 
erscheinungen überwiegen; Ermüdung und Unlust leiten schon die 
Arbeit ein oder stellen sich wenigstens immer frühzeitiger ein, die 
geringe Aufmerksamkeitsspannung, das Gefühl der Unfähigkeit, den 


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240 


Br. Max Laehr. 


Schwierigkeiten der Arbeit gewachsen zu sein, beeinträchtigen die 
körperliche und geistige Arbeitskraft in steigendem Maße. Die 
Stimmung wird immer reizbarer, schwankender, meist eine mi߬ 
mutige, niedergeschlagene; vor allem aber nimmt immer mehr 
das Gefühl für Pflicht und Verantwortung ab, eine stumpfe Gleich¬ 
gültigkeit tötet allen Drang nach höheren Interessen; mit der Über¬ 
schätzung der eigenen Leistungen verbindet sich eine mißtrauische 
Beurteilung der Umgebung, an Stelle eines frischen tatkräftigen 
Willens tritt ein schlaffes Wesen und ungehemmtes Triebleben. 
Dazu kommen immer mehr körperliche Beschwerden, Schmerzen 
im Kopf und den Gliedern, unangenehme Organempfindungen, 
Muskelzittern, trotz Müdigkeitsgefühl Schlaflosigkeit und Unruhe, 
Angstanfälle und ähnliches mehr. Kein Wunder, daß die Ver¬ 
stimmung wächst und sich oft eine hypochondrische Geistesrichtung 
ausbildet. Vorübergehend täuscht erneute Alkoholzufuhr über alle 
diese psychischen und körperlichen Schwächen hinweg, und das 
Ende vom Liede ist die alkoholische Entartung mit ihren Aus¬ 
gängen in körperliches und seelisches Siechtum. 

Die Schilderung dieser Giftwirkung auf das psychische Leben 
hat Ihnen, wie ich annehmen darf, die Zustandsbilder lebhaft ins 
Gedächtnis zurückgerufen, welche ich Ihnen vorher von der Nervosität 
und der Nervenschwäche entwarf. Bei beiden treffen wir auf eine 
gesteigerte Anspruchsfähigbeit und Labilität des Gemütslebens mit 
deren Rückwirkung auf die geistige und körperliche Leistungs¬ 
fähigkeit, bei beiden zunächst keinen Defekt, wohl aber eine gewisse 
Einseitigkeit der Verstandesleistungen, bei beiden unter Zurück¬ 
treten des tatkräftigen, zielbewußten Willens ein Überwiegen des 
Trieblebens und damit eine Unruhe und Haltlosigkeit der gesamten 
Persönlichkeit. Insbesondere erinnern die bei körperlicher und 
geistiger Anstrengung hemmend auftretenden Ermüdungsgefühle, 
die lästigen Organempfindungen, die Verstimmung und Arbeits¬ 
unlust, die hypchondrischen Neigungen, Krankheitsbefürchtungen, 
Angstzustände und Schlaflosigkeit an die Neurasthenie; während 
die ungehemmte und verbreitete Wirkung der Affekte auf körper¬ 
liche Ausdruckserscheinungen, die Lebhaftigkeit einzelner sinnlicher 
Vorstellungen, die Zustände von Delirium und Traumwachen, die 
mannigfaltigen Alterationen der Hautempfindung, die Neigung zu 
Muskelzittem und Krämpfen enge Beziehungen zu den hysterischen 
Krankheitsäußerungen aufweisen. Und schließlich die Schlußbilder 
unserer beiden Betrachtungsreihen! Bei Beiden das Bild einer 


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Alkoholismus und Nervosität. 


241 


psychischen Degeneration in seinen mannigfaltigen Abstufungen und 
besonderen Ausdrucksformen. 

Meine Herren! Mit diesen vergleichenden Betrachtungen sind 
Wir einen großen Schritt vorwärts gekommen: Wir haben ein 
Verständnis dafür gewonnen, wie der Alkohol Zustände herbei¬ 
führen kann, welche wir unter dem Begriffe der Nervosität zu¬ 
sammengefaßt haben, und können uns nun der Frage zuwenden, 
in welchem Grade auf Grund der praktischen Erfahrung ein 
ursächlicher Zusammenhang zwischen Alkoholismus und Nervosität 
angenommen werden darf. 

Da muß ich Ihneo zunächst gestehen, daß, je länger man sich 
mit der Erforschung der Ätiologie unserer Krankheitszustände 
beschäftigt, die Sache immer schwieriger und verwickelter wird. 
Meist hat man nicht die Genugtuung, nur eine Schädlichkeit für 
die Entwicklung der Krankheit verantwortlich machen zu dürfen, 
vielmehr zeigt sich ein Zusammentreffen verschiedener Einflüsse, 
so daß es schwierig ist, einem derselben den Vorrang zuzuerkennen. 
Das gilt auch für die alkoholische Ätiologie der nervösen Zustände. 
Unter den außerordentlich zahlreichen Fällen, welche ich gesehen 
habe, ist die Zahl der reinen Alkoholnervosität, -Neurasthenie und 
-Hysterie eine relativ geringe; das mag zum Teil an äußeren per¬ 
sönlichen Umständen liegen, beruht aber in der Hauptsache doch 
wohl darauf, daß der mäßige Alkoholgenuß für diese Zustände 
eben erst in der Regel mit anderen Ursachen zusammen von Be¬ 
deutung wird; allerdings kann ein innerer kausaler Zusammenhang 
für das Zusammenwirken des Alkoholkonsums mit diesen anderen 
Lebens- und Arbeitsgewohnheiten wohl oft genug festgestellt werden. 
Das Zustandsbild dieser reinen Alkoholnervosität unterscheidet sich 
von den gewöhnlichen Formen durch mancherlei Besonderheiten, 
vor allem durch die körperlichen Begleiterscheinungen, die gemüt¬ 
liche Abstumpfung und Unruhe des chronischen Trinkers. Gerade 
in diesen physischen Begleitsymptomen, dem Muskelzittem, der 
Muskelempfindlichkeit, den Erscheinungen von seiten des Herzens 
und Magens u. a. m., ist uns auch für ätiologisch kompliziertere 
Fälle ein Anhaltspunkt für die Stärke der vorauf gegangenen Alkohol¬ 
giftwirkung gegeben. Und, um dies vorweg zu bemerken, auch in 
dem Verlauf des Leidens! Cessante causa cessat effectus! Unter¬ 
bindet man die Alkoholzufuhr, so tritt, je mehr sie die Haupt¬ 
ursache darstellt, um so rascher die Gesundung ein, und um so 
auffallender, als die gewöhnlichen Formen unserer Krankheit einen 
viel hartnäckigeren Verlauf zeigen. 


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242 


Dr. Max Laehr.. 


Bei aller Kompliziertheit der Ätiologie kann man doch in der 
Regel zwei — oft zugleich einwirkende — Haupttypen von 
Schädlichkeiten unterscheiden. Auf der einen Seite stehen alle 
diejenigen, welche eine ungenügende Ernährung oder eine Ver¬ 
giftung des Nervengewebes bedingen — beide Wirkungen zu 
trennen, ist vielfach nicht möglich —, auf der anderen solche, bei 
denen eine übermäßige Anspannung der nervösen Punktion, ein 
relativ zu großer Anspruch an die individuelle, nervöse und 
psychische Leistungsfähigkeit angenommen werden darf. Zur 
ersten Gruppe gehören die chronische Unterernährung bei mangel¬ 
hafter oder einseitiger Nahrungszufuhr, unter dem Einflüsse akuter 
und chronischer Allgemeinerkrankungen oder lokaler Organleiden, 
sowie die Vergiftungen mit schädlichen Stoffwechselprodukten, mit 
organischen und unorganischen Giften. Ich sagte schon, daß 
Unterernährung und Vergiftung nicht immer scharf zu trennen 
sind; denken Sie nur an die fieberhaften Infektionskrankheiten, 
wie Typhus und vor allem an die Influenza, die so häufig den Grund 
zu einer nervösen Nachkrankheit legt, so verstehen Sie, daß hier neben 
der mangelhaften Ernährung eine Giftwirkung in Frage kommt. 
Bei der Ihnen bekannten engen Wechselwirkung zwischen dem 
gewohnheitsmäßigen Alkoholkonsum und der Unterernährung ganzer 
Volksklassen, bei der Bedeutung, welche der Alkohol durch Störung 
lebenswichtiger Organfunktionen, wie des Herzens, der Gefäße, des 
Magens, der Leber, Niere für die Körperemährung und damit in 
erster Linie für die des Nervengewebes gewinnt, vor allem aber unter 
Berücksichtigung der Ihnen vorgetragenen spezifischen Giftwirkung 
des Alkohols auf das. Nervenleben, werden Sie es wohl verstehen, 
daß uns Nervenärzten die tägliche Erfahrung immer von neuem die 
wichtige ätiologische Rolle auch eines scheinbar mäßigen, aber ge¬ 
wohnheitsgemäßen Alkoholkonsums für die Entwicklung der Nerven¬ 
krankheiten vor Augen führt. Auf Einzelheiten darf ich natürlich 
bei der Kürze der Zeit nicht eingehen, nur hervorheben, daß diese 
Erfahrung für den nervösen Handarbeiter ebenso gilt, wie für den 
nervösen Kopfarbeiter. Um nur eins hervorzuheben: das trügerische 
Kraft- und Wärmegefühl, das der Alkohol, hier der Schnaps, dem 
schlechtgenährten Handarbeiter vortäuscht, ist auch die Ursache 
für den durch Krankheit körperlich heruntergekommenen Vertreter 
der Intelligenz, stärkende Weine und Biere zu wählen, welche oft 
die Unterernährung nicht heben, dafür aber neue Gifte zuführen 
und damit der Entwicklung einer Nervenschwäche Vorschub leisten 


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Alkohoiismus and Nervosität. 


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können. Auch denke ich an die vielen körperlichen oder wenigstens 
mechanischen Arbeiter, 1 ) denen ein gewohnheitsgemäßer, unter ge¬ 
wöhnlichen Arbeitsverhältnissen scheinbar ungefährlicher Biergenuß 
verhängnisvoll wurde, sobald besondere Anforderungen an ihre 
Arbeitskraft gestellt wurde oder häusliche Erregungen, Kummer und 
Sorgen, an sie herantraten. Oder nehmen wir ein Beispiel aus stu¬ 
dierten Kreisen: den nervösen Zusammenbruch so vieler biergewohnter 
Examenskandidaten. Hier führt ein Zusammentreffen der Alkohol¬ 
wirkung mit besonderen geistigen Anstrengungen und seelischen 
Anspannungen zu dem Ausbruch eines oft sehr hartnäckigen 
Nervenleidens. Zur Ehrenrettung vieler nervenkrank gewordener 
Examenskandidaten möchte ich aber doch hinzufügen, daß der 
Alkohol keineswegs regelmäßig diese Rolle spielt. Wieviele Stu¬ 
dierende, männliche und weibliche, arbeiten unter beständigen häus¬ 
lichen, gemütlichen Erregungen, bei ungenügender Nahrung und 
unzweckmäßiger Lebensweise, und müssen oft jahrelang so arbeiten. 
Ich erinnere Sie auch an die zahlreichen, von Hause aus körperlich 
und nervös schwach veranlagten Menschen, die sich trotzdem zu 
den gelehrten Berufen drängen und dann unter der besonderen 
Anforderung des Examens zusammenbrechen. Setzen wir an die 
Stelle der geistigen Anstrengung die körperliche und gemütliche 
Erschütterung bei vielen unserer Unfallnervenkranken, für die der 
jahrelang gewohnte Alkoholgenuß bei der Arbeit erst von dem 
Tage des Unfalls an verhängnisvoll wurde. Doch genug der Bei¬ 
spiele aus der täglichen Erfahrung; und noch einige Bemer¬ 
kungen über die Rolle des Alkohols bei der zweiten Gruppe der 
Schädlichkeiten, der Überarbeitung. Ich muß vorwegnehmen, daß 
hier nicht in erster Linie die übermäßige körperliche Anstrengung, 
auch nicht die vielfach in ihrer Bedeutung überschätzte geistige 
Mehrarbeit, sondern die gemütliche Überspannung verantwortlich 
zu machen ist, welche beide begleitet, ja gewöhnlich erst ermöglicht 
Unter dem heutigen Zeichen des Verkehrs, der modernen Arbeits¬ 
und Lebensweise ist ja jeder einzelne von uns beständigen Er¬ 
regungen ausgesetzt, welche zudem bei bestimmten Klassen der 
Bevölkerung, dem Fabrikarbeiter wie dem Groß-Unternehmer, von 
größtem Einfluß auf seine Arbeitsweise wie auf die Ausnützung 
der so notwendigen Erholungs- und Ruhezeit werden. Denken Sie 
weiter an die mit der Verfeinerung des Maschinenbetriebes, der 


*) Schreiber, Bureaubeamte u. s. w. 


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Dr. Max Laehr. 


Ausdehnung des Verkehrs und ähnlichen Errungenschaften der 
Neuzeit mehr notwendig verbundene Steigerung des Verantwortungs¬ 
gefühls, die zunehmende Unruhe und Hast im Jagen nach Reichtum, 
Ehre, Macht und Stellung, und sie haben für jeden Arbeiter Quellen 
genug für das Zufließen beständiger gemütlicher Anreize. Nicht 
umsonst spricht man von unserem Zeitalter als einem „nervösen“. 

Was hat aber der Alkohol hiermit zu tun? Nun, meine 
Herren, auch hier spielt er eine Rolle. Nicht nur im Genußleben, 
das dem modernen Menschen statt der Erholung oft vermehrte An¬ 
strengungen und neue Unruhe schafft und in dem der Alkohol in 
gröberer oder feinerer Form eine so große Bedeutung hat, sondern 
auch bei Bewältigung der Arbeit. 

Jede Anstrengung, körperliche und geistige, führt zu einem 
Ermüdungsgefühle; in ihm hat der gesunde Mensch einen Mahner, 
dessen Stimme er folgen muß, wenn er sich auf der Höhe seiner 
Kraft halten will. Gönnt er den angestrengten Teilen nicht die 
zur Erholung notwendige Ruhe, arbeitet er unter der Peitsche 
irgend eines Affektes, wie Sorgen, Ehrgeiz, Gewinnsucht und ähn¬ 
liches mehr, weiter, so erschöpft er seine Kräfte, er wird nervös 
und nervenkrank, ehe er sich dessen bewußt ist, — hier stellt sich 
nun der Alkohol in seinen verschiedenen Formen als der begehrens¬ 
werte Freund ein, der die Ermüdungsgefühle zurückdrängt, die 
fehlende Anregung gibt und eine Arbeitskraft vortäuscht, welcher 
bald ein Nachlaß der Leistungen und eine Erschöpfung der Kräfte 
folgt Und in ähnlicher Weise, nicht eigentlich des Genusses 
wegen, sondern zwecks Erhaltung der Arbeitsfrische, greift der 
Fabrikarbeiter zur Flasche, welche die mit der Arbeit verbundenen 
Unlustgefühle bannen soll. Die Ursache hierfür wird in der mo¬ 
dernen Arbeitsweise gesucht mit ihrer einseitigen Überanstrengung 
auf körperlichem und seelischem Gebiete, mit ihrer weitgehenden 
Arbeitsteilung, welche zu einer geisttötenden Monotonie führt und 
die eigentliche Freude an der Arbeit untergräbt. Dies trifft jeden¬ 
falls für viele Arbeitszweige noch zu, wenn auch von der beständigen 
Verfeinerung und Vereinfachung der Maschinen ein allmählicher 
Umschwung nach dieser Richtung zu erwarten ist 

Wie unter besonderen Lebens- und Arbeitsbedingungen die 
anregende, das Ermüdungsgefühl bannende Wirkung des Alkohols 
geschätzt wird, zeigt unter anderm auch die Würdigung des Alkohols 
in den Tropen. Sie wissen, in welchem Umfange dort demselben 
gewohnheitsmäßig gehuldigt ist und noch wird; Sie hören aber auch 


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Alkoholismus und Nervosität. 


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von den scheinbar dort doppelt schweren Folgewirkungen dieser 
Gewohnheit. "Wie viele unserer Landsleute kehren nervös und nerven¬ 
schwach von dort zurück! Daß hier unter den vielen Schädlich¬ 
keiten der Alkohol oft eine verhängnisvolle Eolle gespielt hat, 
erscheint mir nicht zweifelhaft 

Damit haben unsere ätiologischen Betrachtungen aber noch 
nicht ihr Ende erreicht. Wir haben bisher nur die von außen 
kommenden Schädlichkeiten im Auge gehabt, aber der Gruppe von 
Nervösen noch kaum gedacht, welche die Zeichen einer konstitutio¬ 
nellen nervösen Schwäche von Kindheit auf an sich tragen, deshalb 
schon von Hause aus nervös erscheinen oder aber doch unter 
geringfügigen Einflüssen, welche erst in besonderer Stärke oder 
Häufung dem Gesunden schädlich werden, schon nervös erkranken. 
Diese Neuro- oder besser Psychopathen stellen, wie schon an 
früherer Stelle bemerkt, einen großen Bruchteil der sogenannten 
Nervösen und Nervenkranken dar; ja nach der Ansicht mancher 
Autoren, denen ich mich allerdings in diesem Umfange nicht an¬ 
schließen kann, fehlt diese konstitutionelle Veranlagung fast bei 
keinem. Ihre Bedeutung wächst, wie Sie wissen, je mehr wir uns 
den ausgesprochenen Psychosen nähern. Sehr viele dieser konsti¬ 
tutionell Nervösen weisen in ihrer Ascendenz eine oder mehrere 
nervöse oder psychische Erkrankungen auf, und es ist nun bemer¬ 
kenswert, daß nicht wenige ihre angeborene Minderwertigkeit dem 
Alkoholmißbrauch eines oder mehrerer ihrer Eltern oder Großeltern 
verdanken. Dieser degenerative Einfluß der Trunksucht auf die 
Nachkommen ist vielfach beobachtet worden und findet seine Be¬ 
stätigung in meinen eigenen Erfahrungen. Ich spreche hier nicht 
von den ererbten schweren Formen von Psychosen und geistigen 
Defektzuständen, auch nicht von der Ihnen gewiß nicht unbekannten 
gleichartigen Vererbung der Trunksucht, sondern von einer wesent¬ 
lich durch den Alkoholmißbrauch eines oder beider Eltern bedingten 
allgemeinen nervösen Schwäche, welche unter der Einwirkung der 
Lebensreize, einer mangelhaften Erziehung oder besonderer Einflüsse 
die Ausbildung der Nervosität, Neurasthenie und Hysterie begünstigt. 

Es ist eine bekannte Tatsache, daß auf derartige nervös ver¬ 
anlagte, wie übrigens auch auf aus anderen Ursachen nervenkrank 
gewordene Menschen schon mäßige Alkoholgaben, welche auf den 
Gesunden nur unbedeutenden Einfluß haben, sehr ungünstig ein¬ 
wirken. Es stellen sich in ihrem psychischen Verhalten, wie 
körperlichem Wohlbefinden Störungen ein, welche deutlich erkennen 


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Dr. Max Laehr. 


lassen, daß hier eine abnorme Empfindlichkeit gegen Alkohol besteht 
Glücklich diejenigen, bei denen sich die ersten Vergiftungserschei- 
nungen in unangenehmen Körperempfindungen, in Kopfdruck, Hitze- 
und Schwindelgefühl äußern, die hierdurch gewarnt, zur rechten 
Zeit aufhören, vielfach den Alkoholgenuß überhaupt meiden. Weit 
schlimmer sind die Nervösen daran, denen die erste Alkoholwirkung 
Befreiung von quälenden Müdigkeits- und Unlustgefühlen, Schwindel¬ 
und Angstzuständen, Yerscheuchung der trüben Stimmungslage, 
Hebung des Selbstvertrauens und Anregung zur Arbeit bringt Ich 
könnte Ihnen so manchen meiner Kranken nennen, der, von Hause 
aus ein Psychopath, auf diesem Wege in dauernde Abhängigkeit 
vom Alkohol geraten und unter seinem frühzeitigen lähmenden Ein¬ 
fluß in einen Zustand vollkommener nervöser Erschlaffung geraten 
ist Gerade unter den jugendlichen Nervenkranken der besser 
situierten Kreise begegnen wir nicht selten solchen Opfern des 
Alkohols. Eine ähnlich starke Giftwirkung desselben sehen wir 
auch ganz allgemein bei den Kindern; doch davon werden Sie ja 
Näheres von anderer Seite hören. Ich darf hier noch an die so¬ 
genannten „pathologischen Rauschzustände“ von oft krimineller Be¬ 
deutung erinnern, bei denen es sich auch um eine eigentümlich 
lebhafte Wirkung von relativ kleinen Alkoholmengen auf Psycho¬ 
pathen handelt, eine Wirkung, welche sich, ausgelöst durch eine 
starke gemütliche Erregung, gelegentlich eines Streites, Schreckes, 
einer sexuellen Aufregung, in einer plötzlich ausbrechenden Bewußt¬ 
seinstrübung mit triebartigen Handlungen äußert. — Hier anzureihen 
wäre schließlich auch die bei vielen Unfallsnervenkranken zu 
machende Erfahrung, daß deren nervöser Zustand unter dem Ein¬ 
fluß kleiner — vor dem Unfall anstandslos vertragener — Alkohol¬ 
gaben eine akute erhebliche Verschlimmerung erfährt oder aber bei 
Fortsetzung des früher geübten, sogenannten mäßigen Bier- und 
Schnapsgenusses an Hartnäckigkeit und Schwere relativ rasch zu¬ 
nimmt 

Lassen Sie uns noch einmal in kurzen Sätzen zusammenfassen, 
was uns die praktische Erfahrung über die ätiologische Bedeutung 
des Alkoholismus für die Entstehung und Verbreitung der nervösen 
Zustände lehrt: 

1. Unter den uns bekannten Ursachen der Nervosität, Neu¬ 
rasthenie und Hysterie nimm t der gewohnheitsmäße Alkoholgenuß eine 
hervorragende Stelle ein. Relativ selten ist er als das ausschließliche 
ursächliche Moment der Erkrankung anzusehen, meist gewinnt er 


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AJkoholismus und Nervosität. 


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erst zusammen mit anderen schädlichen Einflüssen §eine krank¬ 
machende Bedeutung, sei es, daß er mit diesen die Disposition zur 
Entwicklung der Nervosität schaffen hilft, sei es, daß er sie bei 
einem aus anderen Ursachen bereits nervös disponierten Individuum 
auslöst. 

2. Die Form der dann ausbrechenden nervösen Erkrankung 
hängt von der individuellen Disposition des betreffenden Menschen, 
der Besonderheit seiner Erziehung, seinen Arbeits- und Lebens¬ 
gewohnheiten ab. Nicht selten ist das Hervortreten einer lokali¬ 
sierten nervösen Schwäche in dem betreffenden Krankheitsbilde (wie 
Gliederschmerzen, Magenbeschwerden, Herzklopfen, Angstzustände 
und Schwindelerscheinungen) darauf zurückzuführen, daß das Organ, 
welches diese Beschwerden auslöst, unter der voraufgegangenen 
Giftwirkung des Alkohols vorzugsweise gelitten hat 

3. Die nervenschädigende Eigenschaft des Alkohols wird be¬ 
sonders verhängnisvoll für konstitutionell Nervöse, d. h. für die 
große Gruppe der sogenannten Psychopathen. Bei ihnen stellen 
sich die Yergiftungserscheinungen schon nach relativ kleinen Mengen 
ein, beeinflussen schon vorhandene nervöse Schwächen besonders 
ungünstig und zeigen bisweilen Abweichungen vom gewöhnlichen 
Typus, welche das betreffende Individuum in vermehrtem Grade 
schädigen und zu kriminellen Handlungen veranlassen können. 

4. Der gewohnheitsmäße Alkoholgenuß ist unter denjenigen 
Einflüssen aufzuführen, welche für die körperliche und geistige 
Degeneration des kommenden Geschlechtes eine Rolle spielen. Die 
konstitutionelle Nervosität zeigt sich relativ oft als ererbt von Eltern, 
deren eines Glied dem gewohnheitsmäßigen Alkoholgenuß ergeben 
gewesen ist 

Meine Herren! Sie sehen, welchen schädigenden Einfluß der 
Alkoholkonsum und zwar schon in Mengen, welche im allgemeinen 
noch als unschädlich gelten — auf das Nerven- und das psychische 
Leben des Einzelnen, des Nervenstarken, wie des Nervenschwachen 
gewinnen kann und oft tatsächlich gewinnt. Bei aller Würdigung dieser 
Tatsache wollen wir aber doch auch nicht stillschweigend darüber 
hinweggehen, daß die durch eine geringe einmalige Alkoholgabe 
gesetzten Schädigungen unter günstigen Lebensbedingungen, vor 
allem in der Ruhe, relativ rasch wieder ausgeglichen und jedenfalls 
unter besonderen Umständen reichlich aufgewogen werden können 
durch die früher erwähnten anregenden Wirkungen des Alkohols. 
Es gibt Schwächezustände und gedrückte Stimmungslagen — ich 


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Dr. Max Laehr. 


nenne hier äuch gewisse Angst- und Zwangszustände, sowie manche 
Formen von Schlaflosigkeit —, die am schnellsten durch eine ein¬ 
malige kleine Alkoholgabe beseitigt werden, und es finden sieh 
auch für den Gesunden Gelegenheiten genug, in denen die lähmende 
Wirkung eines in mäßiger Menge genossenen alkoholischen Ge¬ 
tränkes ganz zurücktritt gegen die subjektiv erfrischende Anregung, 
welche er auf der anderen Seite schafft Es muß nur dafür Sorge 
getragen werden, daß diese Gelegenheiten vereinzelte bleiben und 
daß die Möglichkeit gegeben ist, die leichten Giftwirkungen des 
Alkohols durch genügende Schonung und Ruhe rasch wieder aus¬ 
zugleichen. Es ist aus den früher erörterten Gründen verständlich, 
daß letztgenannte beide Voraussetzungen in der Regel nicht zu¬ 
treffen, wenn es sich um nervös veranlagte oder schon nervenkranke 
Menschen handelt 

Aus diesen Erwägungen heraus halte ich es für wünschenswert, 
den vorher gegebenen Schlußsätzen noch folgende anzureihen. 

5. Die anregende Wirkung einer einmaligen kleinen Alkohol¬ 
gabe kann unter besonderen Umständen von größerer Bedeutung 
für den Einzelnen werden, als die nebenhergehenden lähmenden 
Eigenschaften derselben. Diese können scheinbar ohne Schaden 
vernachlässigt werden, wenn körperliche und geistige Ruhe ihren 
raschen Ausgleich begünstigen. Unter dieser Voraussetzung kann in 
der aus therapeutischen Gründen oder zu Genußzwecken erfolgen¬ 
den einmaligen Aufnahme einer geringen Alkoholmenge zurzeit 
kein dauernder Nachteil für die nervöse Gesundheit der betreffen¬ 
den Person gefunden werden. 

6. Der Alkoholgenuß vor und bei der Arbeit, körperlicher wie 
geistiger, im Zustande der Ermüdung, wie in dem besonderer seeli¬ 
scher Anspannung begünstigt die Entwicklung der Nervosität und 
der Nervenkrankheiten oder löst deren Ausbruch aus und ist 
aus diesem Grunde trotz scheinbarer Vorteile, welche er vorüber¬ 
gehend mit sich bringt, dringend zu widerraten. 

7. Nervöse und nervenkranke Menschen enthalten sich ebenso, 
wie die Kinder, am besten vollkommen des Genusses von Alkohol, 
da bei ihnen dessen schädigende Einflüsse auch nach mäßiger Gabe 
oft überwiegen, und eine Gewöhnung besonders leicht eintritt. Auch 
als Linderungsmittel einzelner Beschwerden ist bei solchen Menschen 
größte Vorsicht in der Verwendung alkoholischer Gaben anzuraten. 

8. Es ist Sache des Einzelnen, welchen Schluß er hieraus für 
seine persönliche Stellung gegenüber dem Alkohol ziehen will, ins- 


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Alkoholismus und Nervosität. 


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besondere ob er es mit Rücksicht auf die zwar vorübergehenden, 
aber doch nicht ganz ausbleibenden Lähmungserscheinungen oder 
aus irgend welchen anderen Gründen für zweckmäßig hält, abstinent 
zu leben und Abstinenz zu fordern. 

Ich bin am Schlüsse meiner Ausführungen. Sie haben bemerkt, 
daß die meisten der von Ihnen aufgeworfenen Fragen noch weiterer 
Klärung bedürfen, trotzdem aber doch wohl die Überzeugung ge¬ 
wonnen, daß nach wissenschaftlicher Forschung und praktischer 
Erfahrung schon jetzt der Alkoholismus als eine wesentliche Ur¬ 
sache der Nervosität und der Nervenschwäche in ihren verschiedenen 
Äußerungen angesehen werden darf. Diese Tatsache muß Ihnen 
bei der großen Bedeutung, welche die zunehmende Ausbreitung der 
Nervosität für den Einzelnen, die Familie und den Staat gewinnt, 
eine wertvolle Hilfe im Kampfe gegen den Alkoholismus sein. Wir 
wollen uns nicht im Übereifer für die gute Sache der Selbsttäuschung 
hingeben, daß mit Beseitigung des Alkoholismus auch die Nervosität 
aus der Welt geschafft sei, vielmehr uns dessen bewußt sein, daß 
hier der Alkohol nur eine unter vielen ursächlichen Schädlich¬ 
keiten darstellt Aber diese eine Schädlichkeit hat den Yorzug vor 
anderen, daß sie diejenige Quelle der Nervosität ist, welche sich 
vielleicht noch am leichtesten verstopfen läßt. Und wenn Sie die 
Wege ins Auge fassen, auf denen Sie diesem Ziele näherkommen 
können, werden Sie bemerken, daß diese im wesentlichen dieselben 
sind, welche auch zur Beseitigung der anderen, neben dem Alko¬ 
holismus eine ursächliche Rolle spielenden Schädlichkeiten ein¬ 
geschlagen werden müssen. Indem Sie für die Allgemeinheit eine 
Verbesserung der Arbeitsbedingungen, eine Hebung der Lebens¬ 
ideale, eine Vervollkommnung der gesamten Lebensführung anbahnen, 
kämpfen Sie in gleichem Maße gegen den Alkoholismus wie gegen 
die Ausbreitung der Nervosität 


Der Alkoholismus. 1905. 


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Dr. B. liaquer. 


Geschichtliches zur Alkoholfrage. 

Von 

Dr. B. Laquer- Wiesbaden. 

Wer nicht von 3000 Jahren 
Sich weiß Bechenschaft zu geben. 
Bleibt im Dunklen unerfahren, 

Mag von Tag zu Tage leben! 

Goethe. 

Der Gebrauch berauschender Getränke geht bis in die Vorzeit 
zurück; die Veda, das „heilige Wissen“ der Indier, überliefern 
uns das älteste berauschende Getränk, Soma genannt Die Priester 
benutzten seine Wirkung 1 ) für ekstatische Zwecke und schufen 
eine Gottheit gleichen Namens, etwa wie die Griechen Dionysios 
und Bacchus verehrten. Die berauschenden Stoffe der Urvölker 
sind alle von einem mystischen Schein umgeben. Bilsenkraut galt 
als Lieblings-Narkotikum der deutschen Hexen 2 ). Die primitive Mystik 
braucht den Rausch und die Verzückung und stellt beide künstlich 
und von außen her, wenn die Suggestion durch Lärm, Musik, Tänze 
noch nicht oder nicht mehr wirkt. — Doch ist dies nur eine Seite 
des Problems der Entstehung und Verbreitung der Reizmittel. 
Warum hat das Betelkauen, fragt Heinrich Schurz, und das Kawa¬ 
trinken ein so beschränktes Gebiet, das sich nicht vergrößert? 
Warum verschmähen die Semiten, deren Neigungen Mohammed 
doch nur gesetzlich machte, den Alkohol, während sie Tabak und 
Kaffee hochschätzen? Der Ostasiate bevorzugt wiederum das Opium, 
das Hanfrauchen (Haschisch) umfaßt nur 2 */ 2 —3 Mül. Menschen; 
auf die Europäer wirkt die Cannabis indica nicht annähernd so be¬ 
rauschend ein. Die auch nur umschreibende Antwort auf diese 
Fragen lautet: Die Rassen haben ihre ihnen eigentümlichen Seelen¬ 
stimmungen, und den letzteren entsprechen spezifisch wie derSchlüssel 
auf das Schloß eingestellte Genußmittel. Reisende fanden in Brasüien 

*) Die wirksame Substanz des Soma, der „Meertraube“, ist das Ephedrin, 
ein Alkaloid aus der Ephedris vulgaris darstellbar. 

*) Weil es die Vorstellung des Fliegens zu erzeugen vermochte; „Die Salbe 
gibt den Hexen Mut“, heißt’s in der «Walpurgisnacht 4 . 


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Geschichtliches zur Alkoholfrage. 


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unter den Urvölkem geheime Gesellschaften, welche dieser Ekstase 
gewohnheitsmäßig huldigen, und ganze Stämme, die der nervösen 
Überreizung verfallen waren. Wunderbar und überraschend ist die 
Menge dieser Substanzen und die Mannigfaltigkeit in der Art, wie 
sie genossen werden; „nur die allerrohesten Wilden begnügen sich 
mit Wasser oder mit dem natürlichen Saft der Früchte“. Völlerei 
und Geschlechtsgenuß bilden die höchste Glückseligkeit der Natur¬ 
völker; sie sind ein Ausdruck der Sorglosigkeit im Erwerb von 
Nahrung und der Abwesenheit der durch die Kultur gegebenen 
Hemmungen. Die Siegesfeste der Urvölker werden durch be¬ 
rauschende Getränke gefeiert, so z. B. bei den sibirischen Völkern, 
den Samojeden, Ostjaken durch den Genuß des Fliegenpilzes, der ge¬ 
trocknet und mit Heidelbeersaft vermischt wird. Da das Muscarin, 
das in diesem Narkotikum wirkt, durch die Nieren unzersetzt aus¬ 
geschieden wird, so schafft sich die samojedische „Masse“ einen 
Rausch aus „zweiter Hand“ an, indem sie den Urin der Vor¬ 
nehmeren trinkt, ein Vorgang, der seine Parallele findet in den 
Tischlerwerkstätten der Zuchthäuser, in denen der Schellackspiritus, 
auch wenn er mit Ochsengalle oder mit Urin versetzt wird, dennoch 
heimlich getrunken wird. (Vergl. H. Leuß, Aus dem Zuchthause, 
Berlin 1903.) Ein späterer Erwerb der Kultur ist wohl erst das 
Trinken bei den Mahlzeiten, und noch später und mit der Ent¬ 
stehung politischer und wirtschaftlicher Einrichtungen verknüpft, 
das Trinken bei geselligen Zusammenkünften, sowie bei der Arbeit 
und in den Arbeitspausen. — Die Aufnahme berauschender Stoffe 
zu Heilzwecken nimmt ihre psychologische Wurzel aus dem Bedürfnis, 
den Schmerz zu lindern. 

Aus dem Nebel vorgeschichtlichen Daseins tritt das Alkohol¬ 
bedürfnis in geschichtlich beglaubigter Zeit bei den Ägyptern auf. 
Die Malzzubereitung war bei ihnen ein ausgebildeter Gewerbszweig, 
ja es wird behauptet, daß die in das Niltal eingewanderten, eigent¬ 
lichen Begründer der ägyptischen Kultur das Bierbrauen bei der 
hamitischen Urbevölkerung bereits als eine von alters her bekannte 
Fertigkeit vorgefunden und nur weiter ausgebildet hätten, und 
Eduard Hahn hat in gewissem Sinne recht, wenn er Afrika als 
einen im wahren Sinne des Wortes „biertrinkenden Continent“ be¬ 
zeichnet. Dieses Urbier war nichts anderes als ein mehr oder weniger 
durch Zufall in Gärung geratener Mehlbrei. Später schied man 
den reineren Trank von den Trebern, die zuerst auch von den 
Menschen, dann nur noch für das Vieh als Nahrung verwandt 

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Dr. B. Laquer. 


wurden. Der Treber in der Geschichte vom verlorenen Sohn soll 
allerdings Johannisbrot gewesen sein. Biersteuem gab es schon 
um 200 vor Christi, und Pelusium war das ägyptische München; 
der Pschorr hieß damals „Zytos“. Brugsch fand in einem 
uralten ägyptischen Papyrus die Mahnung an einen Studenten: 
Meide den Biergenuß, er bringt deinen Geist in Rückgang. Kränze 
aus geflochtener Gerste gab man dem Toten für die Wanderung ins 
Jenseits mit, und der König Gambrinus soll seine Kunst von dem 
ägyptischen Gotte Osiris gelernt haben. Im Gegensatz zu Bier und 
Butter, die als Genußgut der Barbaren galten, kamen bei Griechen 
und Römern Wein und öl auf. Bei den homerischen Griechen 
war der Wein schon im allgemeinen und nicht nur bei den Häupt¬ 
lingen und Vornehmen im Gebrauch. Auf dem Schilde des Achilles 
sind ein Weinberg und Szenen aus der Traubenlese abgebildet 
Otto Körner-Rostock bringt einige Stellen aus Ilias und Odyssee 
in seinem kürzlich erschienenen Buche: Wesen und Wert der 
homerischen Heilkunde. Wiesbaden, J. F. Bergmann, 1905. Der 
Ruhm aber, die Menschheit mit dem Wein beschenkt zu haben, 
gebührt den semitischen Völkern. Dem ersten Trunkenbold der 
Geschichte, Noah, gesellt sich bald Lot zu, der erste Alkohol- 
Kriminelle (Incest im Rausch); die „Kundschafter“ bringen aus 
Palästina jene Trauben mit, wie sie jetzt nur Südspanien oder 
Ungarn erzeugt. Bei Festen und auch bei der Arbeit tranken die 
Israeliten Wein. Salomo verheißt „den Zimmerleuten von Tyrus, 
die das Holz zum Tempelbau hauen, je 20000 Kor 1 ) gestoßenen 
Weizen und Gerste und je 20000 Bath 2 ) Wein und öl“. Man 
kannte damals auch schon die üblen Folgen, wie die Sprüche be¬ 
weisen: „Sei nicht ein Weinsäufer, denn der Wein bringet viel 
Leute um.“ (Jesus Sirach 31, 30.) „Ein Arbeiter, der sich gern voll¬ 
säuft, der wird nicht reich.“ (19, 1.) „Der Wein erquickt dem Men¬ 
schen das Leben, so man ihn mäßiglich trinkt Aber so man sein 
zu viel trinkt, bringt er das Herzeleid, dieweil man sich reizet und 
wider einander streitet“ (31, 32 und 36.) „Wein und Weiber be¬ 
tören die Weisen.“ (19, 2.) 

In geistvollen, feinen Zügen schildert Hehn in seinen „Kultur¬ 
pflanzen und Haustiere“, wie der Weinstock vom Südende des 
Kaspisee, „wo die Rebe mit armdicken Stämmen bis in die Wipfel 


*) Ein Kor = ein Malter. 
*) Ein Bath = 20 Liter. 


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Geschichtliches zur Alkoholfrage. 


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der himmelhohen Bäume sich windet und von oben durch schwer 
hängende Trauben lockt“ über Euphrat, Syrien, zu den Lydern 
und Phrygem, und von dort zu den Griechen gekommen ist 1 ). An 
die Gründung des Weinbaus knüpfen sich Legenden von Völker- 
kämpfen an. Diesen Segen dachte man sich als die Habsucht 
reizend. Dennoch hat die Antike den Trunk, wie ja auch die 
Lyrik eines Anakreon eines Horaz beweist, mehr künstlerisch¬ 
ästhetisch auf gefaßt. „Wohlgerüche dufteten im Trinkgemach, die 


l ) Der Professor für altindische Philologie an der Universität Wien Dr. Leopold 
v. Schröder berichtet in der Österreichischen Rundschau über eine nach dem 
Kaukasus unternommene Reise. Er fuhr von Tiflis über Kakabeti, Katschereti 
und die alte grusinische Festung Signach nach Lagodechi, einer 150 Werst von 
Tiflis entfernt gelegenen Besitzung des Fürsten Demidow, hart am Fuß der 
steil aufsteigenden Berge von Daghestan. Von einem Spaziergang in die Umgebung 
von Lagodechi erzählt er u. a.: „Fast überall an den Wegen erheben sich mächtige 
Brombeerbüsche, Brombeerhecken, wie ich sie ähnlich nie zuvor gesehen. Schon 
bei Tiflis fielen mir die Brombeeren an den Wegen auf. Hoch hinauf wuchert 
in ihrem Schutze das Farnkraut. Hier sehen wir die verwelkten, braunen Farne 
des vorigen Jahres im Brombeorgebüsch, dort heben sich daneben die zierlichen 
jungen diesjährigen Pflanzen empor. Dort sehen wir W ein gärten, in denen schon 
gearbeitet wird. Steht der Wein auch dem der gegenüberliegenden kachetischen 
Berge, von Signach bis Telaw, an Güte nach, so ist es doch noch immer ein 
trefflicher Wein. Kein Wunder! Ist ja doch hier in Transkaukasien nach der 
Ansicht berühmter Gelehrter die Heimat, das Ursprungsland des Weines! Mag 
man nun speziell Kachetien dafür halten, oder mit Viktor Hehn den Südrand 
des Kaspischen Meeres, mit K. Koch die Urwälder Mingreliens — es ist doch 
wesentlich derselbe Landstrich, über den seit uralters der wildwachsende Wein 
verbreitet ist. Hier in den Wäldern von Lagodechi habe auch ich die echte 
Weinrebe wild wachsen sehen. Sie klettert und rankt sich an hohen Bäumen 
bis in die Wipfel hinauf, sie umschnürt junge Bäumchen mit furchtbarer Kraft, 
daß sie nur qualvoll sich windend emporwachsen können. Ein merkwürdiges 
Exemplar eines solchen, in Rebenumklammerung erwachsenen Komelkirsch- 
bäumchens habe ich mir zum Andenken mitgebracht. Eine mehr als armdicke 
wilde Rebe, die eine große Buche bis obenzu umrankte, durchhieb mein Stief¬ 
sohn in meiner Gegenwart mit dem Kindschal, dem großen kaukasischen Dolche. 
Aus dem durchhauenen Stamme floß der Saft so reichlich, daß man ihn förmlich 
trinken konnte. Wenn Viktor Hehn in seiner Schilderung sagt, daß die Rebe 
in ihrer Heimat aus dem Wipfel himmelhoher Bäume durch schwerhangende 
Trauben locke, so ist das Bild vielleicht etwas zu verführerisch gemalt. Die 
Trauben dieser wilden Rebe sollen nicht viel wert sein, ähnlich wie die Holz¬ 
äpfel in den Wäldern. Veredelt mußte die Rebe werden, wie so viele andere 
Gewächse, um den herrlichen Feuerwein zu erzeugen, an dem sich die Welt 
nun schon seit Jahrtausenden freut. Die edle Anlage trägt sie aber doch schon 
in der Wildnis in sich, und so betrachten wir auch den wildwachsenden Wein 
in den Wäldern von Lagodechi mit Ehrfurcht.“ 


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Dr. B. Laquer. 


Flöte und das Saitenspiel und die Tänze nackter Sklavinnen ergötzten 
den Trinkenden.“ So hat es Anselm Feuerbach — „das Land der 
Griechen mit der Seele suchend“ — in seinem „Gastmahl des Plato“ 
dargestellt. Das Trinken bei Zusammenkünften kannten die Griechen 
nicht; Wirtshäuser gab es nur vereinzelt; sie dienten zweifelhaftem 
Volk. Nur Barbaren tranken den Wein ungemischt; der Pariser 
trinkt seinen petit vin noch heute mit Wasser verdünnt zur Mahl¬ 
zeit. Auch in Born war es nicht anders; noch um das Jahr 100 
vor Christi wurde bei prächtigen Mahlzeiten griechischer Wein nie 
mehr als einmal herumgereicht 1 ). Es gab nur an den typischen Beise- 
straßen Tabernen, die zugleich Nachtquartier darboten. In den 
Städten traf man sich in den Säulenhallen, den Tempeln und 
Bibliotheken, vor allem in den öffentlichen Bädern wie ja noch 
heute der Südländer auf der Straße lebt. Betrunkene Lazzaroni 
habe ich nirgends in dem modernen Italien getroffen. 

In unserer eigenen Heimat, in Mitteleuropa, war es der wilde 
Honig, den in Urzeiten, in denen der Ackerbau noch nicht vor¬ 
handen war, die nomadisierenden Hirten raubten, bevor sie als 
Zeidler ihn regelrecht in Körben anbauten. Bei Homer bilden noch 
die Bienen, die aus einer Felsenhöhlung ausfliegen, einen freien, 
in der Wildnis lebenden Schwarm. 

„In den lindenreichen, von Bienen bewohnten Urwäldern des 
europäischen Osten und Südosten spielte der berauschende Honig¬ 
trank eine große Bolle und war älter als das Bier und der Wein“ 
(Hehn). 

Der Met war das Urgetränk der Indogermanen; noch heute 
genießt man in Eußland das Bier nur in vornehmen Kreisen; die 
unteren Stände trinken Kwaß (aus in Gärung versetztem Brot 
zubereitet) oder Branntwein. 

Auch in der Bierbereitung haben wohl die Kelten als Träger 
der Technik die Germanen und die Slaven belehrt. Die kelto- 
iberischen Bürger des von Scipio dem Jüngeren 183 vor Christi be¬ 
lagerten spanischen Numantia tranken sich für einen Ausfall Mut an in 
Form von Bier, das sie bereiteten aus den Keimen der angefeuchteten 
Getreidekömer (Weizen), die wieder getrocknet und mit dem linden 
Saft (Hefe!) vermischt sich in einen herbschmeckenden, berauschenden 
Trunk verwandelten. Spanien war noch zu Plinius’ Zeiten ein Bier¬ 
land, Frankreich dagegen schon ein Weinland. Pytheas aus 


') L. Friedländer, Sittengeschichte Roms. 


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Geschichtliches zur Alkoholfrage. 


255 


Marseille, der in der Zeit der Alexanderzüge als Globetrotter Nord¬ 
europa bereiste, fand dort das Bier; die Kelten, die ja überhaupt 
technisch veranlagt waren — sie waren auch, wie die Geräte der 
La Tene-Kultur von Hallstadt beweisen, die ersten Salzsieder —, 
brauten schon Bier. Kaiser Julian verhöhnt den „Wein aus Gerste“, 
das Getränk Lutetias, des damaligen Paris, mit folgendem Epigramm: 
Du willst der Sohn des Zeus, willst Bacchus sein? 

Was hat der Mutausdüftende gemein 
Mit dir, dem Bockigen? Des Kelten Hand, 

Dem keine Traube reift im rauhen Land, 

Hat aus des Ackers Früchten dich gebraut; 

So nenne dich auch Dionysos nicht, 

Der ist geboren aus des Himmels Licht, 

Der Feuergott, der Sprüh’nde, fröhlich Laute — 

Du heißt: Demetrius, der Sohn des Malzes, der Gebraute! 

Was ist von den Trinkgewohnheiten der alten Deutschen zu 
halten? Darüber hat sich in treffender Weise J. Gons er kürzlich 
geäußert: 

„Zunächst ist noch gar nicht sicher erwiesen, daß die Deutschen 
so unendlich viel tranken, und wenn auch ein gewisses Alkohol¬ 
übermaß zu verzeichnen gewesen sein mag, so gilt das sicher nur 
für gewisse Schichten, jedenfalls nicht für die Allgemeinheit, und 
ferner nur für gewisse Festtage und Festzeiten und nicht für das 
alltägliche Leben. 

Die Geschichte der alten Deutschen in den historischen Anfängen 
war wesentlich eine Geschichte der Stammesfürsten. Das Yolk als 
solches war als aktives Element in das Nach- und Nebeneinander 
des Geschehens noch gar nicht eingetreten. Die kulturellen 
Schilderungen über Anschauungen, Sitten und Gebräuche der 
Germanen konnten sich daher in der Hauptsache nur auf die 
hervorragenderen Höfe der Stammesherzöge beziehen. 

Aber auch ohne dieses lehrt schon die einfachste Überlegung, 
daß bei der örtlichen Gebundenheit und Geschlossenheit der kleinen 
Höfe im Zeitalter der Naturalwirtschaft von einer allgemeinen Ver¬ 
breitung des Alkoholkonsums gar nicht die Rede sein konnte. Es 
fehlte unser Verkehrswesen, unser Fabriksystem zur billigen Massen¬ 
produktion; es fehlte der Alkohol-Kapitalismus. 

Bier und Met sollen genossen worden sein. Diese Getränke 
wurden aber zweifelsohne nicht mit so starkem Alkoholgehalt her¬ 
gestellt, wie in der Gegenwart; daran hinderte schon die unvoll- 


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Dr. B. Laquer. 


komjnene Produktionstechnik gegenüber unserer heutigen rationellen 
Bewirtschaftung und Auswirtschaftung.“ 

Diejenigen, die den Wein und seine Kultur nach Germanien 
brachten, waren die Börner; von Gallien westlich und Panonien süd¬ 
östlich kam das Erzeugnis, wie der Name (vinum) bezeugt; die 
Sueven und Nervier verbaten sich die Einfuhr, nicht aus Furcht 
vor Verweichlichung, sondern weil die römischen Händler wie die 
Werber Friedrichs des Großen und des modernen Englands gegen 
einen Krug Wein Sklaven und Söldner eintauschten. Später wurde 
man läßlicher, und im 4. Jahrhundert nach Christi waren die Mosel¬ 
ufer mit Weinbergen besetzt*) Auf einem Bemagener Grabmonument 
des 2. bis 3. Jahrhunderts sieht man Weintransport in Fässern auf 
der Mosel. Antike Winzermesser wurden zusammenliegend mit 
Bronzemünzen gefunden, die nicht über Marc Aurel (gestorben 180) 
hinaufgehen. — Die Keller der fränkischen Könige waren schon 
voll Wein. 

Vor allem aber: Die alten Deutschen waren ein Jäger- und 
Ackerbauvolk, ein Volk, das in der frischen und freien Natur seine 
Kräfte verwendete und immer neu stählte. Der Alkohol schadet 
nun bekanntlich dem Menschen weniger bei körperlicher Betätigung 
als bei geistiger Arbeit, weniger bei einer Lebens- und Arbeitsweise 
im Freien, als einer solchen im geschlossenen Baume, in Bureaus, 
Fabriken etc. Mit der Entwicklung unseres Wirtschafts- und 
Gesellschaftslebens, mit der steten Entlastung der körperlichen 
Funktionen, ist eine stärkere Ausnutzung der menschlichen Kraft, 
eine schärfere Anspannung der Nerven und größere Empfindlich¬ 
keit und Empfänglichkeit gegenüber schädlichen Einflüssen ver¬ 
bunden, so daß der heutige Mensch auf alle Beize feiner und 
nachhaltiger reagiert 

Für die alten Deutschen, ein Naturvolk, war der Genuß ihrer 
geistigen Getränke nicht Volksgewohnheit, und darum nicht Volks¬ 
gefahr; wie für die heutigen Deutschen. 

Die römische Weinkultur machte jedoch Bückschritte, trotz¬ 
dem die bessere Aufbewahrung in Holzfässem statt in Schläuchen 
— die vom Norden her zu den Bömern gelangte — die Auslese 
der Sorten begünstigte; Maximinus baute im Jahre 238 die erste 
Pontonbrücke in der Nähe Aquilejas aus pannonischen Wein- 


l ) Mor. Heyne, Fünf Bücher deutscher Hausaltertümer. Bd. H: Das 
Nahrungswesen. 1901. § 4 und § 5. 


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Geschichtliches zur Alkoholfrage. 


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fässern; noch jetzt kommt das Holz, das der Orient für seinen 
Weinhandel braucht, aus Ungarn (Hehn). 

Das viel besprochene Marokko war bis zum Beginn der Herr¬ 
schaft der Kalifen ein Weinland, nur ein Drittel der Weinberge 
Spaniens ließen die maurischen Herrscher übrig; ihre Erzeugnisse 
durften aber nicht gekeltert, sondern mußten reif oder getrocknet 
genossen werden. 

Aber aus dem Schoße der arabischen Kultur, die den Wein¬ 
genuß verdammte, ging diejenige Erfindung hervor, die für die 
Herstellung und den Genuß alkoholischer Getränke von Bedeutung 
war. Arabische Ärzte haben bei dem Bedürfnis, ein Heilmittel aus 
den berauschenden Getränken herzuleiten, den Wein schon im 9. Jahr¬ 
hundert destilliert, gebrannt und das aqua vitae hergestellt Zuerst 
wurde es an wohlriechenden Kräutern, an Blütenblättem, vor allem 
den Rosen geübt Frauen lehrten diese Kunst, bis die Apotheker 
sie technisch ausbildeten. Im 13. Jahrhundert befindet sich Aquavit 
im westeuropäischen Arzneischatz. Aus dem Universalheilmittel 
wurde ein Universalvorbeugungsmittel. Die Nürnberger Polizey- 
Verordnung Anfang des 14. Jahrhunderts enthält das erste Brannt¬ 
weinverbot in deutscher Sprache. (Heyne, 1. c. S. 206 u. 376.) 

Inzwischen hatten die Mönche den Weinbau nicht nur die 
„Pfaffengasse“, also rhein- und mainabwärts, sondern auch im 
Thüringischen, im Holsteinischen bis hart auf die Grenze klima 
tischer Zulässigkeit, bis nach Kurland und an die Oder hin, wovon 
der Grünberger und der Bomster noch Zeugnis gibt, fortgepflanzt 
Ihnen folgten die Grundherren, die in grandseigneurialer Haltung 
es verschmähten, den Wein zu kaufen, sondern für sich das eigene 
Gewächs zogen; im Vertrage von Verdun werden die rheinpfäl¬ 
zischen Rebkulturen besonders erwähnt und mit Mainz, Worms, 
Speyer Ludwig dem Deutschen zugeteilt 

Südliche Weine, wie der cyprische, der Malvasier aus dem Pelo¬ 
ponnes, der Veltliner fanden durch bayrische Gebirgs-Pässe Einlaß. 
1288 brachte ein Kaufmann nach Basel griechischen Wein, den er 
vier Liter für zehn Mark verkaufte. Im Mittelalter war ja Bayern 
ein Weinland; das Kloster St. Emeran bei Regensburg war der 
Mittelpunkt der Rebkultur. Durch das Emporkommen der Hansa 
kamen die Weine Italiens und Frankreichs auch nach Norddeutsch¬ 
land; sie verdrängten durch ihre Billigkeit und durch höhere Qualität 
die heimische Erzeugung, die auch klimatischen Veränderungen 


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Dr. B. Laquer. 


weichen mußte; um 1157 werden schon Kölner Kaufleute 1 ) ver¬ 
meldet, die den Rheinwein in London absetzten; der König erhielt 
eine Prise von zwei Fässern, „eins vor und eins hinter dem Mast“, 
etwa wie der heutige New-Yorker Hafenkommissar, der das Ein- 
wandererschiff vor der Einfahrt besichtigt, seinen Korb „Sekt“ „als 
Gruß zuvor“ bezieht. 

Es gab einen hansisch-niederländischen und einen hansisch¬ 
skandinavisch-baltischen Weinhandel. Brügges Niedergang hing mit 
dem siegreichen Kampf der Hansen gegen den Weinoktroi dieser Stadt 
zusammen. Die Stätten des nordischen Heringsfangs waren auch 
solche des Weinschanks, so in Bergen, in Schonen, an der Süd¬ 
küste Schwedens. 1462 sollen in Falsterboi 20000 Personen zur 
Fangzeit sich aufgehalten haben. König Sverrin von Norwegen 
vertrieb 1186 alle deutschen Kaufleute wegen zu großer Wein¬ 
einfuhr; 1252 wird sie wieder erlaubt, nur das Bier bleibt aus¬ 
geschlossen; später, im 14. und 15. Jahrhundert ging infolge hoher 
Weinzölle wiederum die Biereinfuhr in die Höhe; Lübeck ver¬ 
mochte nicht mehr allen dazu nötigen Hopfen zu produzieren und 
bezog ihn aus Thüringen und aus der Mark Brandenburg. Ur¬ 
kundlich erscheint der Hopfen nach Hehn zuerst 822 in den Sta¬ 
tuten der Abtei Corvey, dann in denen des Stiftes Freising, im 
Sachsen- und Schwabenspiegel; die Alten kannten ihn als Zusatz 
ihres Bieres noch nicht Der Hopfen machte das Bier erst haltbar 
und transportfähig. 

Aber auch nach Preußen, Rußland und Polen hin trieb die 
Hanse einen regen Weinhandel. Danziger Schiffer brachten spa¬ 
nische und Bordeauxweine vom Ursprungsort. Rheinweine warden 
z. B. an den Deutschorden verkauft. Nach der Entdeckung Amerikas 
gingen die Südweine dorthin: 160000 Zentner führten jährlich 
Cadix und Sevilla aus. Mit den Hansen wetteiferten die ober¬ 
deutschen Städte Ulm, Nürnberg, Straßburg. Die Verordnungen x 
beschäftigten sich schon aufs genaueste mit der Führung der Wirt¬ 
schaften, der Weinfälschung und den Accisen; die Stadtverwal¬ 
tungen hatten das Einfuhrmonopol; als stolzer Rest dieser Ein¬ 
richtung sind, während die Hanse versunken ist, die Ratskeller 
geblieben, die von verschwundener Pracht zeugen; sie wurden 1287 
in Hamburg, die beiden andern (Lübeck und Bremen) 1289 und 
1342 zum erstenmal erwähnt. 

l ) Hartmeyer, H., Der hansische Weinhandel, Jena 1905. 


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Geschichtliches zur Alkoholfrage. 


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Die Bierbrauertechnik ist, abgesehen von den oben erwähnten 
ägyptischen und frühspanischen Nachrichten, flandrischen Ursprungs. 
Von dort kam sie, ebenfalls von Klöstern aus (s. M. Heyne, S. ,344), 
nach Norddeutschland (Hamburg, Einbeck, Zerbst, Braunschweig). 
1614 ließ Kurfürst Maximilian einen Einbecker Braumeister ans 
Hofbräuhaus kommen, um das Bier zu brauen, das bislang nur als 
Import- und Tafelgetränk am Hofe selbst genossen wurde, auch als 
heimisches Volksgetränk darzustellen; dieses „Ainpöckische“ Bier ist, 
nicht nur sprachlich, der Urtypus des Münchener Bock. Mit dem 
Niedergang des deutschen Handels verfiel auch das Brauwesen; 
hinzu kam die Unmäßigkeit, der „Saufteufel“ in den Zeiten des 
Wohlstandes. Sittenprediger, die Kirche, z. B. Martin Luther (A. Grot- 
jahn, Der Alkoholismus 1898 und bei G. Steinhausen, Geschichte 
der deutschen Kultur, 1905), Reichstagsabschiede eifern gegen ihn 
und im Jahre 1600 wird vom Pfalzgrafen Friedrich V. der Tem- 
perenzorden gegründet. Doch gingen diese Vereine nach kurzer 
Blüte wieder ein. Die Satzungen dieser Mäßigkeitsvereine, die 
A. Baer anführt, erinnern mehr an Trinkklubs mit Saufregeln. Erst 
der neue Geist, der von Italien kam, veredelte die Sitten und ver¬ 
besserte die Lebensbräuche. „Buch und Feder traten an die Stelle 
von Jagdspieß und Humpen“; neue Belustigungen traten auf; Tee, 
Kaffee, Schokolade wurden eingeführt und von den Vornehmen ge¬ 
nossen. 

Der Dreißigjährige Krieg vernichtete wohl die Weinberge und die 
Hopfenkulturen, die Söldner brachten aber ebenso wie die Napoleons I. 
den Branntweingebrauch in alle Kreise; er wurde in diesen Zeiten 
noch direkt aus Korn hergestellt; die Kartoffel war im 17. Jahr¬ 
hundert noch ein Leckerbissen an höfischen Tafeln, erst etwa seit 
dem Anfang und Mitte des 18. Jahrhunderts gelangte sie zu größerem 
Anbau. Friedrich H. hatte ihren Wert im Siebenjährigen Kriege und 
im Mißjahr 1770 erkannt und erzwang ihre Kultur in Schlesien 
und Pommern durch Gewaltmaßregeln, wie etwa die russische 
Regierung noch 1855 Prämien für ihren Anbau an die Bauern 
verteilte. Nach den Befreiungskriegen in der wohlfeilen Zeit 
lernte man erst die Verwertung der Kartoffeln zur Darstellung von 
Spiritus und von Schlempe. Der Branntwein wurde dadurch ver¬ 
billigt und den unteren, noch unberührten Bevölkerungsschichten 
zugeführt; das Getränk des kleinen Mannes, des Lohnarbeiters, ent¬ 
stand. Die ersten, die ihn regelmäßig als „Leistungsstachel“ er¬ 
hielten, waren bezeichnenderweise Bergleute. (Grotjahn 1. c.) 


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Dr. B. Laquer. 


Wie der Islam zwar Enthaltsamkeit lehrte, gelehrte Anhänger 
desselben aber die Destillation des Alkohols zuerst aufbrachten, so 
haben umgekehrt die Mitglieder der Kirche oder des Zweiges der¬ 
selben, welche die Weinkultur und das Braugewerbe gepflegt, auch 
zuerst gegen den Trunk geeifert und diejenigen Organisationen 
gegründet, die die Abstinenz als Werktagsregel auf stellten. Herrn¬ 
huter in Deutschland, Quäker und Methodisten in England und 
Nordamerika im Anschluß an die Zeiten von Cromwell-Knox haben 
puritanische Grundsätze niedergelegt und nach ihnen streng gelebt; in 
der Konstitution Wesleys, des Gründers des Methodismus, ist im § 30 
Trunkenheit, Kaufen und Verkaufen geistiger Getränke strengstens 
verboten; der Gründer der Heilsarmee, General Booth, ist Methodist. 

Jean J. Rousseau verurteilte ebenfalls das Trinkleben, gleich¬ 
zeitig mit ihm schrieb Linnö gegen den Branntwein. 

Mit diesem religiösen, der Weltfreude abgekehrten, antihedo¬ 
nistischen Rationalismus hing auch Benjamin Franklins Stellung¬ 
nahme zusammen (1706—1790); er war von Jugend auf abstinent 
und blieb es auch bis zu seinem Tode. Ebenso Thomas Jefferson 
aus Virginia (1743—1826), der dritte Präsident, der Verfasser der 
Declaration of Independence vom 4. Juli 1776, wohl der be¬ 
deutendste Staatsmann, den der Süden und seine Demokratie hervor¬ 
gebracht und jemals ins „Weiße Haus“ nach Washington gesandt 
haben; Jefferson erwarb einst 1804 Louisiana vom ersten Napoleon; 
sein Werk zu ehren, wurde die Weltausstellung 1904 veranstaltet. 
Jeden Beamten, den Jefferson anstellte, fragte er, ob er geistige 
Getränke genösse. 1785 erschien in Philadelphia die erste wissen¬ 
schaftliche Schrift über den Alkohol von Professor Benjamin Rush, 
einem Freunde von Franklin; bezeichnend für die damalige Auf¬ 
fassung war, daß Rush Bier und Wein als Antidot gegen den 
Branntwein empfahl. 

1813 wurde in Boston durch Lymann Beecher, den Vater 
von Frau Harriet Beecher-Stowe, Verfasserin von „Onkel Toms 
Hütte“, die erste Gesellschaft zur Unterdrückung der Unmäßigkeit 
gegründet. 1826 erschienen Beechers sechs Reden über Unmäßig¬ 
keit; Beecher forderte schon damals „the Prohibition“, d. i. das 
Staatsverbot des Getränke-Ausschanks und -Handels. 1826 entstand 
die erste Enthaltsamkeitsvereinigung; ihre Gesetze lauteten: 

1. Die Mitglieder verpflichten sich, für sich und ihre Haus¬ 
angehörigen keinerlei berauschende Getränke zu genießen, es sei 
denn in Krankheit auf ärztliches Gebot. 


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Geschichtliches zur Alkoholfrage. 


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2. Niemandem welche anznbieten. 

3. Dahin zu streben, daß der Genuß geistiger Getränke über¬ 
haupt aufhöre. 

1826 erschien auch die erste gegen den Alkohol gerichtete 
Wochenschrift: The National Philantropist 1828 waren 222 Bezirks¬ 
vereine mit 100000 Mitgliedern vorhanden, 1833 6000 mit einer 
Million Mitglieder; der damalige Präsident der Vereinigten Staaten 
Andrew Jackson billigte öffentlich die Bewegung. Im gleichen 
Jahre wandte sich Friedrich Wilhelm IU., der schon 1803 unter 
Hufelands Einfluß ein „Branntwein-Edikt“ hatte ergehen lassen, 
an die amerikanische Regierung und ersuchte sie um Entsendung 
eines Vertreters der Bewegung, Robert Baird kam 1833 im 
Herbst nach Berlin, überreichte eine Denkschrift, die, dem Kronprinzen 
gewidmet, in 30000 Exemplaren an sämtliche Geistliche des Landes 
versandt wurde. Hufelands Schrift „Über die Vergiftung durch 
Branntwein“ 1802 hatte vorgearbeitet; es entwickelte sich die erste 
deutsche Mäßigkeitsbewegung, die außerordentlichen Umfang annahm, 
manche Strömungen in Preußen unterstützten die beginnende Propa¬ 
ganda; Oberpräsidenten, Minister, Generäle wurden enthaltsam; der 
Branntweinsteuerertrag des damaligen Königreichs Hannover sank 
um die Hälfte. Friedrich Wilhelm IV. verbot die Brennereien auf 
den königl.. Domänen. 1840 gab es in Norddeutschland 490000 Ent¬ 
haltsame; erst durch die alles Interesse für sich beanspruchenden 
politischen Ereignisse Ende der 40 er Jahre und durch den Mangel 
einer festen Organisation — es gab z. B. nur freiwillige Beiträge — 
kam die Bewegung in den Hintergrund und verschwand in den 
50 er Jahren ganz. 

Aber auch in Amerika ebbte die starke Flut zurück. Damals 
hatten die Vereinigten Staaten 13 Millionen Einwohner, also weniger 
als gegenwärtig die Staaten New-Vork und Pennsylvania zusammen, 
westlich vom Missouri gab es noch keine amerikanische Nieder¬ 
lassung und ein paar Hütten zeigten die Stelle an, wo heute Chicago 
steht. Die Stadt New-York war kleiner, als heute Detroit ist, 
und Washington ein Sumpf, wo die Postkutschen in Pennsylvania 
Avenue stecken blieben, und die Kühe weideten, wo jetzt die 
englische Gesandtschaft steht. 

Der Beginn des Industrialismus, der Aufschwung des Brau- 
und des Baugewerbes, der Zug nach dem Westen, die Einwanderung 
der Bier liebenden Deutschen und der Branntwein liebenden Iren, 
das Goldfieber, vor allem aber die Sklavenfrage ließen zwar das 
öffentliche Interesse für die Bekämpfung der Trunksucht zurück- 


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Dr. ß. Laquer. 


treten, gaben aber anderseits dazu Anlaß, daß im Anfang der 
50 er Jahre das Branntweinelend besonders im Osten riesig anwuchs; 
es entstand eine neue Anti-Alkoholbewegung, die bis in die Neuzeit 
fortbesteht und durch die Anteilnahme der Frauen neue Nahrung 
erhielt. Man kann also behaupten, daß Nordamerika dasjenige Land 
ist, in welchem zuerst systematisch, wenn auch mit wechselndem 
Erfolge der Alkohol bekämpft worden ist. 

Über die Entstehung der Anti-Alkoholbewegung in Gro߬ 
britannien, in Schweden und Norwegen und Finnland ist gerade in 
den letzten Jahren Ausführlicheres geschrieben worden (siehe Berg¬ 
mann-Kraut, Geschichte der Anti-Alkoholbewegungen, sowie die 
Berichte des Wiener und des Bremer Anti-Alkoholkongresses.) Be¬ 
zeichnend für unsere deutschen Lande ist, daß das erste Frachtgut 
der 1836 eröffneten Eisenbahn Fürth-Nürnberg ein Fäßlein Nürn¬ 
berger Bier war, das sich der Bahnhofswirt zur Bewirtung der 
Gäste kommen ließ. Noch heutigen Tages sieht man nirgends so 
wohlbeleibte Eisenbahnbeamte als in Bayern. Das erste Frachtgut 
überhaupt war, um an die Urzeit wieder anzuknüpfen, das Salz 1 ). 

Die heutige Biesen-Verbreitung berauschender Getränke ver¬ 
danken wir der Verbilligung derselben durch das Kapital; es ver¬ 
vielfältigte die Mittel, nicht nur die technischen, zur Darstellung 
der Alkoholika und trug das Bedürfnis nach ihnen in Gegenden, 
die sie noch nicht kannten (Dezimierung der Indianer und Ur- 
völker durch das gebrannte Wasser); es ermöglichte auch die Trans- 
portierbarkeit, den Großhandel, z.B. des Bieres, das man heute in Shangai 
in derselben Qualität trinkt, wie im Cafö Maximilian in München; im 
Walldorf-Astoria-Hotel zu New-York gibt es 600 verschiedene Sorten 
Cocktails! Derjenige, der dort diese american drinks verkostet und 
mischt, bezieht einen Gehalt höher als der eines Ministers bei uns ist. 

Einige Zahlen über den Unterschied von einst und jetzt 2 ): 

Über den St. Gotthard zogen jährlich im Spätmittelalter an 
Waren 1250 Tonnen = dem Inhalt von 1—2 heutigen Güterzügen, 
1840 80000 Zentner, 1889 (Eisenbahn) = 3 Mill. Zentner. 

Der Ausfuhrhandel Hamburgs betrug 1400 = 3 Mill. Mark. 
Der Umsatz an Wein im dortigen „Katskeller“ 8000hm, ca. 150000 
Flaschen im Gesamtwert von ca. 180000 Mark. Das ist zugleich 
der Jahresverbrauch, inkl. Export, der ganzen Stadt, die damals 
etwa 7000 Einwohner, 1815 nach den Verwüstungen durch Davoust 
55000, jetzt 750000 Einwohner zählt. 

J ) v. Hehn: Das Salz. Berlin 1875. 

2 ) Schulte: Der Handel des Mittelalters. 


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Geschichtliches zur Alkoholfrage. 


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Überblicken wir die kurze Geschichte der Alkoholfrage, so 
werden wir folgende Höhepunkte derselben festhalten können. 

Aus sakralen und geselligen Instinkten heraus erfand und liebte 
man berauschende Getränke; die Antike war noch als mäßig zu 
bezeichnen, was mit Klima, mit Überlieferung und mangelhafter 
Technik der Alkohol-, speziell der Weinerzeugung zusammenhing. 
Nur die Vornehmeren tranken, der Helot, der Sklave war nüchtern. 

Auch die mitteleuropäischen Indogermanen waren es in diesem 
Sinne, als sie in die Geschichte eintraten. 

Die Herrschaft des Islam brachte eine Reaktion, aber zugleich 
die Erfindung des gebrannten Weines als Schlimmstes seiner Ver¬ 
mächtnisse. Auch in mittelalterlichen Zeiten, die man sich nicht so 
peupliert und nicht proletarisiert vorzustellen hat, wurde vorzugsweise 
von den Wohlhabenden, den Fürsten, Rittern, Geistlichen, Zunft¬ 
genossen scharf getrunken; die großen Kriege, das Erstarken des 
asketischen, den Reizhunger überwindenden Protestantismus brachten 
wiederum einen Rückschlag, etwa im 18. Jahrhundert, insbesondere in 
den nordischen Ländern; er äußert sich in energischen zielbewußten 
Organisationen, deren erste Träger die Geistlichkeit war, die frühere 
„Schulden“ abtrug; Idealisten undMenschenfreunde schlossen sich ihr an. 

Der Alkoholismus, wie er jetzt besteht mit seinen Riesen¬ 
kapitalien, wie sie noch kürzlich Denis im Schweizer Taschenbuch 
für Alkoholgegner (1905) zusammenstellte — die Gesamtsumme 
dessen, was die Kultur-Staaten erzeugen, was also jährlich der 
orbis terrarum pictus vertilgt, beträgt ca. 20 Milliarden —, dieser 
Alkoholismus besteht doch eigentlich in diesem gigantischen und 
alle Schichten des Volkes umfassenden Umfange erst seitdem die 
kürzlich noch von Werner Sombart geistvoll geschilderte 1 ) Technik 
aufgekommen ist, also etwa seit 100 Jahren. Zugleich mit der Technik 
kam nicht nur Bevölkerungs-, sondern auch Alkoholkonsumenten¬ 
zunahme, mit letzterer der Profit- und Absatzhunger der Alkohol¬ 
erzeuger. Die Wissenschaft beschäftigte sich mit der Hefe, mit der 
Zuckerrübe, mit der Kartoffel und ihrem Erzeugnis, mit der Wein¬ 
kultur und deren Schädlingen. Achard, Liebig, Pasteur, 
Märcker, Delbrück sind dazunennen. Der Staat begann den Alkohol 
als Steuerobjekt mit brennender Liebe zu umfassen, er errichtete 
Brauschulen, gärungstechnische Laboratorien, Weinbauschulen, er 
übernahm die Domänen, welche die edlen Weine trugen. 

Zum Schluß einige Zahlen, die beweisen sollen — nur für Deutsch¬ 
land —, welche Geldinteressen die unten genannte drittePartei vertritt. 

*) Sombart: Die deutsche Volkswirtschaft im XIX. Jahrhundert. Berlin 1903. 


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264 


Dr. B. Laquer. Geschichtliches zur Alkoholfrage. 


keine; 


1850 gab es deutsche Aktiengesellschaften: 

Brauereien zwei, Gesamtkapital 3 MilL Mark, 
Mälzereien .... 

Sprit, Preßhefe . . 

Brennereien . . . 

Wein, Schaumweine 
jetzt, 1900/1901, bestehen: 

510 Aktiengesellsch. für Bier mit 1280 Mill. Mark Kapital, 
42 
26 


11 


Malz „ 42 


Sprit, 

Preßhefe, Brennerei mit 40 
6 Aktiengesellsch. für Wein, 

Schaumweine „ 6 


also Aktiengesellschaften mit insgesamt 1368 Mill. Mark Kapital. 

Der heimischen Landwirtschaft entnehmen Brauerei und Bren¬ 
nerei allein für 410 Mill. Mark und geben ihr für 110 Mül. Mark 
als nutzbare Abfallstoffe zurück. 

1835 betrug die Einfuhr fremder Alkoholika 3 Mül. Mark, die 
Ausfuhr einheimischer Alkoholika 3 8 / 4 Miü. Mark. 

1902 wurde für 40 Mül. Mark Wein in Fässern und Flaschen 
eingeführt und für 21 Mül. Mark Wein ausgeführt. 

1902 wurde für 9 1 j 2 Mül. Mark Bier eingeführt und für 
22V* Miü. Mark ausgeführt. An Hopfen wurde für 6 Mül. Mark 
eingeführt und für 25 Vj Mill. Mark ausgeführt. 

1902 wurde für 5 1 /* Miü. Mark Branntwein eingeführt und 
für 8 Mül. Mark ausgeführt. 

1902 wurde an Mineralwasser für 2 3 / 4 Mül. Mark eingeführt 
(hauptsächlich Bitterwässer, Karlsbader u. s. w.) und für 8 */* Miü. 
Mark ausgeführt (vorwiegend Tafelwasser). 

Fünf Parteien kämpfen heutzutage in der Alkoholfrage: die 
ganz Enthaltsamen, die Trinker oder besser gesagt die Durstigen, 
die Alkoholerzeuger, die Erzeuger der Ersatzgetränke, endlich, last 
not at least, wir, die Mäßigen oder Sozialhygieniker. Am mächtigsten, 
weil durch inneren, heimlichen Trust verbunden, und weü Milliarden 
Kapital ihre Macht repräsentieren, sind die Alkoholerzeuger. Am 
schwächsten sind wir Mäßigen, weü wir von den anderen Parteien 
als Kompromißler und Laue angegriffen werden. Dennoch gehört uns 
der Sieg, weil wir das Erreichbare, die mittlere Linie darstellen. 


bv Google 


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II. Mitteilungen. 

Marine und Alkohol. Es sei gestattet, den warmherzigen, lesenswerten Auf¬ 
satz von Dr. Flade in einigen Kleinigkeiten zu ergänzen. In der Marine be¬ 
steht seit 1903 ein Enthaltsamkeitsverein, der „Marine-Alkoholgegnerbund“. 
(Guttemplerlogen innerhalb der Marine hat man nicht haben wollen, dagegen einen 
Alkoholgegnerbund willkommen geheißen.) Seine „Grundsätze“ lauten: „Der 
Marine-Alkoholgegnerbund hat in erster Linie den Zweck, die Enthaltsamkeits¬ 
bestrebungen in der Marine zu fördern, insbesondere durch Abhaltung von populär¬ 
wissenschaftlichen Vorträgen und Diskussionen und durch Verbreitung von Ent¬ 
haltsamkeitsliteratur; daneben will der Bund Unterhaltungs- und Gesellschafts¬ 
abende veranstalten, die Kameradschaft in der Marine fördern und mit allen 
Mitteln gute Sitten pflegen. Parteipolitische und konfessionelle Bestrebungen sind 
ausgeschlossen. Jeder enthaltsame Angehörige der Marine, ohne Unterschied 
des Dienstgrades, kann dem Bunde angehören. Während der Dauer der Bundes¬ 
angehörigkeit ist jeder verpflichtet, keinerlei alkoholische Getränke (Bier, Wein, 
Obstwein, Branntwein u. s. w.) zu genießen. Von jedem Bundesangehörigen sind 
monatlich mindestens 25 Pf. au die Bundeskasse zu entrichten. Es ist statthaft 
und bei längerer Ortsabwesenheit erwünscht, den Betrag für einen größeren Zeit¬ 
raum vorauszubezahlen. Als Einschreibegebühr sind 50 Pfg. zu entrichten. Jedem 
Vorgesetzten ist jederzeit auf Verlangen genaue Einsichtnahme in die Bundes¬ 
arbeit zu gewähren.“ Im Anschluß an den Bremer Internationalen Kongreß ward 
am 27. April 1903 eine Ortsgruppe zu Kiel, Ende April 1904 eine zweite, zu 
Wilhelmshaven, gegründet; gegenwärtig (Mai 1905) ist die Erlaubnis für eine 
dritte, zu Lehe, nachgesucht. Man zählt augenblicklich nur etwa 13 Mitglieder 
in Kiel, 10 in Wilhelmshaven, 6 in Lehe. — Auf kurze Zeit waren auf S. M. 
Schiff Wettin (Kommandant Kapt. z. S. von Müller) alle alkoholischen Ge¬ 
tränke verboten; auf See ging es gut — am Lande soll es dann aber, da man 
sich für die vermeintliche Entbehrung schadlos halten wollte, recht wenig gut 
gegangen sein, so daß das Verbot stillschweigend ad acta gelegt wurde. In den 
Kantinen der Schiffe wird Branntwein nichtgeführt; Hauptgetränk ist Bier; 
auch Selters, Limonade und Kaffee sind zu haben, werden aber (wie mir von einem 
erfahrenen Gliede der Marine bezeugt ist) von den Botteliers in den Hinter¬ 
grund gestellt, von ihnen nicht angepriesen und nur auf ausdrücklichen Wunsch 
verabfolgt. 

Da unseres Kieler Bezirksvereins gegen den Mißbrauch geistiger Getränke 
beiläufig gedacht ist, so will ich kurz noch einige Dienste auf zählen, die der¬ 
selbe der Marine hat leisten können: Während mehrerer Monate hat der Verein 
bei Kasemenbauten auf der Wiek einen Kaffeeausschank unterhalten (1902). — 
Die von einem Bibliothekenausschuß des Vereins aufgestellten Musterverzeichnisse 
für Schiffsbibliotheken sind durch Vermittlung des Deutschen Vereins dem Reichs¬ 
marineamt übermittelt worden (vgl. Mäßigkeitsblätter 1901, S. 85), dieses hat den 
Zentralbibliotheken anheimgegeben, die von uns empfohlenen Bücher anzuschaffen. 
Während des Chinafeldzuges beantragte unser Verein bei dem D. V. g. M. g. Ö. 
einen Aufruf, den Mannschaften in Feld und Lazarett alkoholfreie Getränke 
Der Alkoholismus. 1905. lg 


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Mitteilungen. 


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zu stiften; derselbe blieb nicht erfolglos (1900—01). Auch wurden mehrere 
Kisten mit Lesestoff durch das Vorstandsmitglied Rat Hansen an die ostasiatischen 
Lazarette gesandt. Als 1904 die amtliche Bitte um Liebesgaben für Deutsch- 
Südwestafrika verschiedene Spirituosen als geeignete Spenden hervorhob, bemühten 
wir uns bei dem Hauptvorstande des Vaterländischen Frauenvereins und auch 
sonst in ausführlichen Eingaben um den Erlaß eines Aufrufes, betr. alkoholfreie 
Getränke für das Kampffeld, erhielten aber einen — Korb. Dagegen werden von 
der Firma J. P. Trarbach Nachf., Weinbau und Großhandel, Berlin W. 56 
(die früher Reklamebilder vertrieb mit „Expeditionsraum C. Armee¬ 
lieferung nach China u ) jetzt Weinanpreisungen mit der Marineflagge verbreitet: 
„Von den für die deutschen Truppen in Südwestafrika gelieferten Weinen 
stellen wir preiswert zum Verkauf: 1900 cru Hivers . .. 1900 cru de Pontet. 
1899 Margaux . . . 1900 Domperle, Saarwein . . Ich kann nicht finden, daß 
ein vaterländisches Hochgefühl durch diese Reklame geweckt wird. Ich erwarte 
vielmehr, daß unsere Eingaben in Verbindung mit der Besprechung des Liebes¬ 
gaben-Aufrufes in der antialkoholischen Presse den Erfolg haben werden, daß 
man in späteren Bitten um Liebesgaben der modernen Wissenschsaft Rechnung 
trägt und Spirituosen nicht mehr als erwünscht bezeichnet (sondern sich dieselben 
lieber verbittet). Erfolgreich war ein anderes Unternehmen unseres Vereins. 
Wir erbaten Lektüre für die südwestafrikanischen Lazarette. Uns ward so 
reicher Lesestoff geschenkt, so daß wir zehn Kisten mit Büchern und Zeitschriften 
haben absenden können, die mit großer Freude aufgenommen sind. Stubbe. 


Der Kieler Stadtausschuh (Vorsitzender: Stadtrat Thode) gibt für die Zeit 
vom 1. April 1904 bis 31. März 1905 einen Bericht, dem wir die sich auf den 
Alkoholausschank beziehenden Angaben entnehmen. 

Die erledigten Beschluß- und Verwaltungsstreitsachen betrafen Anträge auf 
Erteilung der Genehmigung zum Betriebe: 



Erledigt durch 

Zusammen 

Gesamtzahl 


Erteilung 

Versagung 

im Vorjahre 

a) der Gastwirtschaft. 

14 

33 

47 

35 

b) der Schankwirtschaft .... 

97 

126 

223 

146 

c) des Kleinhandels mit Spirituosen 

d) zur Vornahme baulicher Ver¬ 

35 

74 

109 

55 

änderungen in den Wirtschafts¬ 
räumlichkeiten . 

25 

15 

40 

18 


Es sind während der Berichtszeit: 


A. Neu genehmigt 


a) Gastwirtschaften. 

b) Schankwirtschaften mit Spirituosen . 

c) Kleinhandlungen (mit Ausnahme vond) 

d) Kleinhandel mit Spirituosen in ver¬ 

siegelten oder verkapselten Flaschen 


4 (10) 
6 (16) 
3 (3) 


B. Eingegangen, bezw. 
im Berufungswege entzogen 


2 ( 1 ) 
12 (7) 
2 (5) 


17 (13) 


6 (3) 


Zahl der vorhandenen Gastwirtschaften u. s. w. im Verhältnis zur Ein¬ 
wohnerzahl: 


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Mitteilangen. 


267 


Im Jahre 

Einwohner¬ 
zahl des 
Stadtkreises 

tJ fl 

ii 

a-§ 

O § 

Schank- 

wirtschaften 

mit 

Spirituosen 

M -5. 

Kleinhandlungen 
mit Spirituosen 
in verkapselten 
oder versiegelten 
Flaschen 

Zusammen 

Außerdem Be¬ 
triebe ohne gei¬ 
stige Getränke 
(einschließlich 
Kaffeeschenken) 

1902 

135576 

67 

178 

126 

28 

899 

20 

1903 

141798 

72 

185 

106 

51 

414 

39 

1904 

149206 

74 

179 

107 

62 

422 

55 


Hiernach entfielen auf die Einwohnerzahl berechnet: 



1902 

1903 

1904 

eine Gastwirtschaft auf Einwohner. 

2024 

1969 

2016 

eine Schankwirtschaft mit Spirituosen. 

762 

766 

833 

eine Kleinhandlung (unbeschränkt). 

1076 

1838 

1M4 

eine Kleinhandlung mit Spirituosen in versiegelten oder ver¬ 

4842 

2780 

2406 

kapselten Flaschen. 

im ganzen ein Betrieb mit Spirituosen. 

840 

342 

354 


Stubbe. 


Alkoholismut unter den Österreichischen Bergarbeitern. In einem Bericht über 
die Gesundheitsverhältnisse der österreichischen Berg- und Hüttenarbeiter teilt 
Dr. S. Kosenfeld (Stat. Monatsschr., 1904, Nr. 5—7) mit, daß der Alkoholismus 
unter den einzelnen Kategorien der Bergarbeiter in verschiedenem Grade ver¬ 
breitet ist. Es kamen im Durchschnitt der mehrjährigen Beobachtungsperiode 
auf je 10000 Arbeiter Erkrankungsfälle an Alkoholvergiftung: 

Grubenarbeiter Tagarbeiter 

Bergbau auf Steinkohle.13,3 14,8 

„ „ Braunkohle.5,7 12,7 

„ ,, andere 

„ „ Mineralien 

Im Hüttenbetrieb kamen auf die gleiche Anzahl Arbeiter 9,1 Erkrankungs¬ 
fälle. — Es ist zu bemerken, daß es sich hierbei nur um eine bestimmte Form 
der chronischen Alkoholvergiftung handelt, und daß die Folgen des Alkoholmi߬ 
brauchs durch Auftreten anderer Krankheiten, z. B. Lebercirrhose, sich kund¬ 
geben. Welchen Anteil der Alkoholismus an dem Auftreten von Geistesstörungen 
hat, von welchen 0,4 bis 0,9 % der verschiedenen Arbeiterkategorien betroffen 
wurden, ist ebenfalls nicht zu präcisieren. Fhlgr. 


2,2 


1,5 


Aus dem Jahresbericht der Badischen Fabrikinspektion fUr 1904 können wir 
ebenso wie aus den früheren Berichten entnehmen, welches Interesse die Behörde 
der Antialkoholbewegung widmet, und wie sie bemüht ist, den Alkoholverbrauch 
der Arbeiter so weit als möglich zu beschränken. . Als Specialia entnehmen wir 
dem Kapitel „Schutz der Arbeiter vor Gefahren“, daß bei den Bauhandwerkem 
hinsichtlich des Alkoholverbrauchs vielfach schwere Mißstände bestehen. Besonders 
der Umstand, daß die Poliere oder Angehörige derselben den Bierverkauf be¬ 
sorgen, führt zu krassen Mißbräuchen, weil, wie eine Erhebung in Freiburg i. B. 
ergab, durchschnittlich 2—3 Pfg. Gewinn an der Flasche Bier genommen wird. 

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Mitteilungen. 


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Aber auch wo ein direkter Aufschlag auf den Preis nicht genommen wird* 
ist ein Verdienst für die Poliere in Aussicht, weil ihnen dann die liefernden 
Brauereien entsprechend hohe Trinkgelder geben. Die Poliere animieren daher 
in allen den Fällen, wo sie Vorteile für sich haben, die Arbeiter zum Bier¬ 
verbrauch, und es fürchten die Mäßigeren, daß die Poliere sie bei mäßigem Bier¬ 
genuß maßregeln könnten oder in passenden Zeiten für ihre Entlassung beim 
Unternehmer eintreten würden. 

Der Bierverbrauch mancher Bauarbeiter ist ein uugeheuer großer und da 
die Kreditierung des Bieres gegen § 115 der G.-O. verstoßen würde, so geben 
die Poliere sogar Barvorschüsse, welche sie sich am Lohntag vorweg zurück¬ 
nehmen. Derartige Vorschüsse belaufen sich pro Mann und Tag bei manchen 
Unternehmungen auf 1.50—2 Mk. durchschnittlich, aber sie kommen bis zu 3 Mk. 
per Tag vor; erreichen also zuweilen 50% des Arbeitsverdienstes und übersteigen 
solche noch. Ein Gesuch aus Arbeiterkreisen, gegen solche Mißbräuche durch 
Verbot des Verkaufs von Speise und Trank auf Arbeitsplätzen vorzugehen, konnte 
wegen des Widerspruchs der Unternehmer nicht weiter verfolgt werden. 

Die Unternehmer behaupteten, wenn nicht der Verkauf von Bier auf einem 
Arbeitsplatz stattfände, gingen die Arbeiter in den Pausen ins Wirtshaus, kämen 
aber dann unpünktlich wieder zur Arbeit Die Fabrikinspektion appelliert bei 
dieser Gelegenheit an die Arbeiterorganisationen, sie möchten den Mißbräuchen 
entgegentreten. 

Daß der Alkoholmißbrauch durch die Organisationen aber tatsächlich ein¬ 
geschränkt wird, zeigen uns ja die Gewerkschaftshäuser, selbst da, wo sie von 
Brauereien mit Kapital unterstützt wurden. Über den Freitrunk bei den Brauerei¬ 
arbeitern wird wiederum eingehend berichtet, und haben die Anregungen mehr¬ 
fach die Folge gehabt, daß der Freitrunk, der in der Regel 5 Liter pro Tag beträgt, 
da und dort auf 4 oder auch auf 3 Liter gekommen ist, während die Minderung 
durch Geldlohnerhöhung ersetzt wurde. Man hat mancherorts nur das Liter oder 
die 2 Liter zum laufenden Preis, aber aüch vereinzelt einen wesentlich höheren 
Preis vergütet, um die Arbeiter für die Ablösung geneigt zu machen. Die gänz¬ 
liche Ablösung wird von den meisten Brauern abgelehnt, weil sie deren Ker- 
diebstahl fürchten, und wird auch über einen eklatanten Fall dieser Art berichtet, 
wo die Diebe, um den Diebstahl zu vertuschen, auch noch die Fässer in den 
Öfen der Mälzerei verbrannten, also die Brauerei mehrfach schädigten. 

Zwei Brauereien in der Nähe von Karlsruhe haben die Ablösung des Frei¬ 
trunks durch Geld mit bestem Erfolg durchgeführt. Die Arbeiter kaufen ihr Bier 
und trinken dadurch wenig, trinken nicht mehr aus Litergefäßen, sondern aus 
Halblitergläsern. 

Ähnliche Erfahrungen machte auch die Fürstlich Fürstenbergsche Brauerei 
in Donaueschingen, welche den Freitrunk ablöste bezw. beschränkte, indem sie 
für jedes nicht getrunkene Liter 16 Pfennig bezahlte, und neuerdings wird diese 
Methode in Karlsruhe nachgeahmt, aber nur 15 Pfennig vergütet Es wird 
manchen Arbeitern gestattet, von ihrem Freibier mit nach Hause zu nehmen, 
aber es will uns diese Methode keineswegs als das erscheinen, was mit ihr be¬ 
absichtigt wird. Trinkt dadurch der Mann auch weniger, so gewöhnt er Frau 
und besonders Kinder an regelmäßigen Biergenuß. Zutreffender erscheint 
uns, daß man den Brauereiarbeitem Marken für die Bierentnahme gibt und ge¬ 
stattet, daß in der Brauereiwirtschaft dafür auch Eßwaren abgegeben werden. 


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Mitteilungen. 


269 


Daß die fortgesetzte Mäßigkeitsbeförderung der Fabrikinspektion einige Erfolge 
gehabt hat, ist ersichtlich, aber um die Arbeiter mäßiger zu machen, bedarf es 
auch des Beispiels der Unternehmer und deren Mitarbeit in der Antialkohol¬ 
bewegung. Max May. 


Die wissenschaftlichen Kurse, welche der Berliner „Zentralverband zur Be¬ 
kämpfung .des Alkoholismus“ in der Osterwoche in der Technischen Hochschule 
zu Charlottenburg abhalten ließ, wurden durch eine Rede des Geh. Med.-Rat 
Dr. Rubner, Professor der Hygiene an der Berliner Universität, eröffnet. 
Während auf unsere Bitte die meisten Vortragenden uns einen Selbstbericht zur 
Verfügung stellten, überließ uns Professor Laehr seinen Vortrag in dankenswerter 
Weise zum Adruck (erfolgt auf Seite 233 dieses Heftes). 

Mit Recht konnte der Vorsitzende des Zentralverbandes, Senatspräsident 
Dr. von Strauß und Torney, am Schluß der Vorlesungen seine Befriedigung 
über den Verlauf derselben kundtun, denn der Besuch derselben ließ ebenso¬ 
wenig zu wünschen übrig, wie die Vorträge selbst, welche ein wertvolles Material 
für die Bereicherung der wissenschaftlichen Forschung über die Alkoholfrage 
bildet. Das Interesse hierfür ist außerordentlich geweckt worden, es wird immer 
mehr bestärkt werden durch derartige Einrichtungen, und es kann keinem 
Zweifel unterliegen, daß solche im stände sind, klärend und fördernd ein¬ 
zutreten, sofern sie den objektiven Standpunkt zu bewahren wissen, also den 
wissenschaftlichen Charakter nicht verlieren und nicht zur Propaganda herab¬ 
sinken. Diese Tatsache aber zeichnet gerade den Berliner Zentralverband zur 
Bekämpfung des Alkoholismus gegenüber gleichnamigen Veranstaltungen in 
anderen deutschen Städten aus, in welchen die Abstinenz derselben sich be¬ 
mächtigt hat, um unter dieser Flagge propagandistisch da vorziigehen, wo der 
abstinente Kern einer Umhüllung bedarf, die zu irriger Auffassung des wahren 
Inhaltes zu verleiten im stände ist. 

Was die Vorlesungen selbst betrifft, so brachte Dr. Bergman-Stockholm 
einen interessanten Auszug aus seinem bekannten Buche: „Geschichte der Anti- 
Alkohol-Bestrebungen u , indem er in dem ersten Teile seiner Vorlesung sich 
speziell mit Schweden, in dem letzten mit Norwegen beschäftigte, und vor allem 
darlegte, daß man in Skandinavien keine Mäßigkeitspartei kenne, wie wir sie 
hierzulande verbreitet finden. Man ist dort radikaler vorgegangen und hat die¬ 
jenigen Erfolge erzielt, welche uns ebenfalls nicht unbekannt geblieben sind. 
Nach allem aber, was Vortragender darlegte, scheint doch unzweifelhaft hervor¬ 
zugehen, daß wir uns in der Auffassung über die dortigen Verhältnisse in 
mancherlei Irrtümem wiegen, daß Stimmen laut werden, welche die Erfolge jener 
Abstinenzbestrebungen als einziges Moment für Hebung der Volksgesundheit und 
-Kraft in Frage zu stellen bereit sind, also nicht geneigt, nur der Anti-Alkohol- 
bestrebung die Siegespalme zu reichen. 

Es folgte nun: 

Weygandt. Der Alkohol und das Kind. 

W. schildert im 1. Vortrage die hervorragende Bedeutung des Alkohols für 
die Vererbung. Im Sinne der Weiß mann sehen Theorie muß man eine toxische 
Schädigung des Keimplasmas beim Alkoholisten annehmen. Für die Volksmeinung, 
daß durch Zeugung im Rausch vor allem schwachsinnige Kinder hervorgebracht 


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Mitteilungen. 


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werden, lassen sich trotz aller Schwierigkeiten immer einwandfreiere Beweise er¬ 
bringen; von Bourneville, Lippich und anderen sind zahlreiche Beispiele 
beschrieben worden, und vor allem hat Bezzola festgestellt, daß bei 8196 
schwachsinnigen Kindern in der Schweiz die Zeugung vorzugsweise auf Jahres¬ 
zeiten fallt, die zu Trinkexzessen Veranlassung geben, besonders Fastnacht 
und Weinlese. 

Eine Reihe von Tierexperimenten beweist in exakter Weise, wie verhängnis¬ 
voll der Alkohol des Erzeugers auf die Frucht wirkt, so die Versuche von 
Nioloux, Laitinen, Hodge, Faure, Fore und Ridge, Ovize, Combe- 
male u. s. w. 

Alkoholisten erzeugen mehr Kinder, als nüchterne Leute, jedoch befinden 
sich unter ihren Früchten außerordentlich viel Fehlgeburten, Frühgeburten und 
Totgeburten, ferner auch Zwillinge. Die Nachkommenschaft zeigt zum großen 
Teil wieder Alkoholismus, weil eben die Degenerierten durch Verführung und Ge¬ 
legenheit am ehesten auf dieses Gift verfallen. Doch noch eine Fülle von ander¬ 
weitigen Störungen des Körpers und Geistes ist bedingt durch die Trunksucht 
der Vorfahren. Zolas Trinkerfamilie in den Rougon-Macquart ist der Wirklich¬ 
keit treu abgelauscht; der Stammbaum des amerikanischen Alkoholisten Jukes, 
der unter seinen Nachkommen 174 Prostituierte und 12 Mörder zählt, enthält 
noch schauerlichere Einzelheiten. 

Zu den wesentlichsten Abnormitäten bei den Kindern von Trinkern gehört 
die Idiotie in ihren mannigfachen Formen, durch Himentzündung, Wasserkopf u. s. w. 
vermittelt. In manchen Idiotenanstalten ist nachgewiesen, daß mehr als die 
Hälfte der Insassen von Alkoholisten abstammen; auch bei den Zöglingen der 
Hilfsschulen für Schwachbegabte findet sich ein hoher Prozentsatz trunksüchtiger 
Eltern. — Weiterhin ist die Epilepsie vielfach bedingt durch Trunksucht der 
Vorfahren, nach Bleuler in 70 Proz. der Epileptiker. Gerade zwischen Epüepsie 
und Alkoholismus bestehen die innigsten Beziehungen: Alkoholmißbrauch kann 
zu epileptischen Anfällen, zur sogenannten Alkohol-Epilepsie führen; andrerseits 
ist bei der echten Epilepsie gerade der Alkohol ein verhängnisvoller agent pro¬ 
vocateur für den Ausbruch epileptischer Krämpfe oder Dämmerzustände. Auch 
unter den Vorfahren der Irrenanstaltsinsassen finden sich viele Trinker, IIberg 
stellt das bei 58 Proz. der Geisteskranken in der Dresdener Anstalt fest. Hitzig 
betont, daß die Kinder von Alkoholisten ebenso oder noch mehr zu Nervenkrank¬ 
heiten disponiert sind, wie die Kinder von Leuten, die selbst nerven- oder geistes¬ 
krank sind. — Auch Veitstanz, Hysterie und Neurasthenie der Kinder ist viel¬ 
fach ein Erbstück von trunksüchtigen Eltern. — Ferner finden sich unter den 
Taubstummen viele, die alkoholistische Eltern hatten. — Von körperlichen Leiden, 
denen die Trinkerkinder ausgesetzt sind, nennen wir vor allem Tuberkulose und 
Skrofulöse, dann Rhachitis und schließlich Wachstumsverlangsamung, selbst 
Zwergwuchs. 

Besonders verhängnisvoll für die menschliche Gesellschaft ist die Tatsache, 
daß die Kinder von Trinkern recht häufig einen Hang zu Verbrechen zeigen; 
die Mädchen verfallen vielfach der Prostitution. Bei 100 Diebinnen und 150 Pro¬ 
stituierten wurde in 69 Proz. die Abstammung von trunksüchtigen Eltern fest¬ 
gestellt. Auch die Pfleglinge der Zwangserziehungsanstalten sind vielfach durch 
den Alkoholismus entartet. 

Es wurde beobachtet, daß eine Frau, die mit einem Trinker verheiratet 


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Mitteilungen. 


271 


war, zunächst körperlich und geistig mangelhafte Kinder zur Welt brachte, später 
aber in der Ehe mit einem nüchternen Manne gesunde Kinder gebar. 

Hervorzuheben ist, daß es keineswegs die schlimmsten Grade der Trunk¬ 
sucht sind, die für die Nachkommenschaft so üble Folgen haben, sondern es kann 
sehr wohl der trinkfeste Vater, dem der Alkohol ansoheinend nichts schadet, eine 
tief degenerierte Nachkommenschaft haben. 

Einer der allerwichtigsten Beweise von der Gefährlichkeit des Alkohols ist 
somit gerade dessen Beziehung zur Vererbung, diese Heimsuchung der Sünden 
der Väter bis ins 3. und 4. Glied! 

Nicht bloß durch Vererbung, auch auf andere Weise kann das Kind vom 
Alkohol geschädigt werden, ohne daß es selbst welchen trinkt. Ein furchtbarer 
Fluch für das Säuglingsalter ist die Unfähigkeit der Mütter zum Stillen, die zum 
großen Teile bei den Töchtern trunksüchtiger Väter auftritt, sich dann aber auf 
die Nachkommen weiter vererbt und somit in den Kultumationen Millionen von 
Kindern die natürlichste, gesündeste Nahrung raubt. 

Aber auch von dem Alkohol, den eine stillende Mutter oder Amme trinkt, 
geht ein wenn auch kleiner Teil (0,2—0,6 Proz.) in die Müch über und kann 
somit das Kind schwer schädigen. 

Eine weitere Gefahr erwächst dem Kinde durch die Trunksucht der Eltern, 
indem das Familienleben zerrüttet, der Wohlstand untergraben werden. Schwere 
Kindermißhandlungen werden vielfach im Rausche vollzogen. Bei Eltern, die ihre 
Nährpflicht wie auch ihre Schulpflicht vernachlässigen, ist sehr oft Trunksucht 
festgestellt worden. Bei Ehebruch, dann aber auch in den schrecklichen Fällen 
von Blutschande, Umgang des Vaters mit der eigenen Tochter, spielt der Al¬ 
kohol eine Hauptrolle. In Ehescheidungsangelegenheiten wirkt x er ebenso mit, 
wie vor allem die Länder mit Trunksucht als gesetzlichem Ehescheidungsgrund 
zeigen. Auch sexuelle Attentate auf kleine Kinder gehen vielfach von Be¬ 
trunkenen aus. 

Am schlimmsten aber wird es, wenn die Eltern selbst ihre Kinder zum 
Trünke verleiten. Leider ist die Unsitte ungemein weit verbreitet, Kindern in 
jedem Lebensalter schon Alkohol in irgend welcher Form zu verabreichen: der 
Säugling bekommt vielfach schon einen Schnuller mit Bier oder auch Zucker mit 
Branntwein, damit er möglichst ruhig bleibt; die jüngsten Schulkinder nehmen 
manchmal ein Fläschchen mit Wein als Frühstück in der Pause mit; ja ein 
Lehrer konnte bei den 3699 Schulkindern eines Stadt- und Landbezirkes fest¬ 
eteilen, daß schon 99,4 Proz. Alkohol und selbst 64,4 Proz. Schnaps bekommen 
hatten. 

Für das Kind ist die Alkoholverabreichung, wie Moltke sagt, geradezu 
frevelhaft. Das Gift wirkt herabsetzend auf den Stoffwechsel, insofern kommt 
ihm nach Neumann theoretisch eine gewisse Eiweiß ersparende Bedeutung zu. 
•Der leichten muskelerregenden Wirkung folgt alsbald die lähmende, besonders 
beim Kinde, das an Stelle des Erregungsstadiums manchmal krankhafte Unruhe 
und Krämpfe zeigt und sehr bald in Somnolenz versetzt wird. Als Fiebermittel 
oder Antiseptikum spielt Alkohol in praktischen Fällen gar keine Rolle, ja der 
Alkoholgenuß befördert bei Kindern geradezu die Empfänglichkeit für Infektions¬ 
krankheiten, er ist sozusagen proseptisch. 

Ganz verwerflich ist daher die Verordnung von Alkohol für kranke Kinder 
von seiten unkundiger oder gewissenloser Ärzte, und die Einschmuggelung des 


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272 Mitteilungen, 

Giftes in vermeintlicher Arzneiform sollte unter das Gesetz gegen den unlauteren 
Wettbewerb gesetzt werden, so die mannigfachen Medizinal-Tokayer, Kraftbiere, 
Pepsinwein, Chinaeisenwein, Kindermalaga, Cognac, Malzextrakt u. 8. w. 

Der Alkoholgenuß befördert die Säuglingssterblichkeit und erhöht bei den 
Kindern außerordentlich die Neigung zu Khachitis und Tuberkulose, stört die 
Verdauung auf das schwerste und begünstigt die Zahnkaries. Ferner werden sogar 
schwere Unterleibskrankheiten, wie die Lebercirrhose, nicht allzu selten bei 
trinkenden Kindern getroffen. Eine Fülle von Nervenleiden wird durch Alkohol 
im tondesalter hervorgerufen, so Fälle von Epilepsie, Veitstanz, auch das nächt¬ 
liche Aufschrecken. Selbst schwere Geistesstörungen, wie das Delirium tremens, 
wurden schon bei trunksüchtigen Kindern beobachtet. Auch die in erschreckender 
Weise zunehmenden Kinderselbstmorde stehen in Beziehung zum Alkoholgenuß. 

Nicht bloß das Säuglingsalter und die eigentlichen Kinderjahre, sondern 
auch die Entwicklungszeit, die sogenannte Pubertät, ist schwer gefährdet durch 
den Alkohol. Die ungeheure Zunahme der jugendlichen Verbrecher, deren 
Menge in 17 Jahren um 60 Proz. stieg, ist vorzugsweise durch Alkoholgenuß 
bedingt. 

Als Kampfmittel gegen diese verheerende Seuche wird im Auslande viel¬ 
fach der Antialkoholunterricht empfohlen. Genügen würde es schließlich auch, 
wenn jeder Fachlehrer bei entsprechender Gelegenheit die Kinder über den Al¬ 
kohol aufklärte, aber sicherer ist doch entschieden der Weg eines besonderen 
Unterrichts über diese Frage. Pflege des Sports ist ein natürliches Gegenmittel. 
Die Entmündigung wegen Trunksucht wird noch viel zu wenig angewandt: sie 
könnte in manchen durch den Alkoholismus des Vaters zerrütteten Familien 
Besserung bringen; auch Ehescheidung wegen Trunksucht würde sich empfehlen. 

Vor allem sind die Ärzte neben den Lehrern berufen, dem Unheil zu 
steuern. Es muß so weit kommen, daß jede Verabreichung von Alkohol an 
Kinder durch Ärzte als schwerer Kunstfebler, durch Eltern und andere Personen 
als fahrlässige Körperverletzung betrachtet wird! Mag einer für den erwachsenen 
Menschen die Abstinenz oder die Mäßigkeit empfehlen — dem Kindesalter 
gegenüber gibt es nur eine Forderung: Jeder Tropfen Alkohol ist als Gift zu 
verpönen! 


Mffnsterberg. Alkoholismus und Armenpflege. 

Wenn ich es übernommen hatte, in den von dem Zentral verband zur Be¬ 
kämpfung des Alkoholismus veranstalteten Vorlesungskursen einen Vortrag unter 
der obigen Überschrift zu halten, so war ich mir wohl bewußt, daß vom Stand¬ 
punkte der Armenpflege wenig nach der Seite positiver Tätigkeit zu sagen sein 
würde. Armenpflege und Wohltätigkeit tragen zwar wie kein anderer Zweig des 
öffentlichen Lebens am schwersten an der durch die Folgen des Alkohols der 
Gesamtheit aufgebürdeten Last, aber sie sind am wenigsten im stände, von dieser 
Last sich selbsttätig zu befreien. Wie überhaupt zur Entlastung der Armenpflege 
vor allem alle Maßregeln allgemeiner Art in erster Linie hilfreich sind, wie die 
Hebung des allgemeinen Wohlstands, die Erhöhung der Löhne, die Verbesserung 
der Wohnungen, die Einführung gesunder hygienischer Vorkehrungen u. s. w., 
so sind auch auf dem speziellen Gebiet des Alkoholmißbrauchs diejenigen Ma߬ 
regeln am wirksamsten, die das Laster in der Wurzel bekämpfen und so ver¬ 
hindern, daß es überhaupt Opfer des Alkohols geben kann. 


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Mitteilungen. 


273 


Diese etwas ohnmächtige Stellung von Armenpflege und Wohltätigkeit hängt 
damit zusammen, daß die Trunksucht nicht sofort mit allen erkennbaren Sympto¬ 
men wie eine akute Krankheit auftritt, sondern den Organismus allmählich zer¬ 
rüttet, die wirtschaftlichen Folgen wie Verlust der Stellung, Arbeitslosigkeit, Un¬ 
fähigkeit zur Ernährung der Familie u. s. w. erst allmählich und meist erst dann 
zum. Vorschein kommen, wenn das veranlassende Übel nicht oder sehr schwer 
mehr zu beseitigen ist. So bleibt dann der Armenpflege nur übrig, den Trinker 
bezw. seine Familie zu unterstützen, sei es durch Geld, Naturalien, durch Auf¬ 
nahme in Kranken-, Irren-, Siechen-Anstalten u. s. w., wenn nicht die Gefäng¬ 
nisse und Zuchthäuser diese Last für die Person des Trinkers zeitweilig abnehmen. 

Daß die Tätigkeit der zur Abhilfe auf diesem Gebiete berufenen Organe in 
einem merkbaren Verhältnis zu den Leistungen der Armenpflege steht, läßt sich, 
wenn auch nicht mit ganz sicheren Zahlen, doch immerhin mit einigen wesent¬ 
lichen Ziffern belegen. Je weniger der Alkoholkonsum eingedämmt ist, je höher 
die Ausgaben für den Trinkverbrauch in einer Gemeinschaft sind, um so höher 
steigen die Kosten, die die Gemeinschaft durch ihre in der Armenpflege und 
Wohltätigkeit organisierten Kräfte und Mittel für die Trinker und ihre Ange¬ 
hörigen zu leisten hat. Es ist festgestellt, daß mehr als die Hälfte aller Männer, 
die für sich oder für ihre Familien der Armenpflege bedürfen, dem Trünke er¬ 
geben sind und daß die Lasten der Armen- und Krankenpflege zu einem sehr 
großen Teil auf die in Irrenanstalten zu behandelnden Geisteskranken und auf 
die wegen Lebensschwäche, Rhachitis, Skrofulöse u. s. w. in den verschieden¬ 
artigsten Fürsorgeeinrichtungen zu behandelnden Kinder entfallen. In einer 
kleinen Schrift „Trunksucht und städtische Steuern“ hat Stadtrat Pütter einige 
Ziffern aus der ihm unterstellt gewesenen Armenverwaltung Halle mitgeteilt, 
durch die ziffernmäßig nachgewiesen ist, daß allein für die in Anstalten unter¬ 
gebrachten Trinker und deren Angehörige in einem Jahre 20000 Mk. Kosten 
entstanden und daß in der offenen Armenpflege für die einzelnen Familien der 
Trinker Summen von mehreren Tausend Mark aufgewendet werden mußten. In 
einer Familie beispielsweise betrug die bare Unterstützung beinahe 2000 Mk., 
die daneben gewährte Verpflegung der schwachsinnigen Kinder nahe an 4000 Mk. 
Wenn in Berlin nahe an 3000 Frauen mit ihren Kindern als eheverlassen unter¬ 
stützt werden müssen, so sind in fast allen Fällen Trunksucht und Liederlichkeit 
des Mannes die Hauptursache. 

Die Armenpflege kann dem Übel im allgemeinen nicht nur nicht steuern, 
sondern sie muß gewißermaßen noch eine Prämie auf die Liederlichkeit setzen, 
indem sie in den verschiedensten Formen Hilfe gewährt. Es ist natürlich, daß 
sie auch von ihrer Seite aus Versuche macht, sich mit positiven Maßregeln hier¬ 
gegen zu wehren. In dieser Richtung liegen namentlich die Bestrebungen, 
besserungsfähige Trinker in Trinkerheilstätten zu bringen, deren gegenwärtig 40 
in Deutschland bestehen. Wenn in diesen Anstalten, namentlich auch in den 
schweizerischen Anstalten günstige Erfolge zu verzeichnen waren, so handelt es 
sich meist um Fälle, die rechtzeitig genug erkannt wurden, um noch, moralisch 
bessernd einwirken zu können. Die Armenpflege, namentlich der großen Städte, 
wird des durch die Trunksucht verschuldeten Zustandes meist erst so spät gewahr, 
daß es zu solchen Maßregeln auch schon zu spät ist. Die durch das B. G.-B. 
zugelassene Entmündigung hilft in dieser Beziehung auch nur wenig, da sie an 
einschränkende Voraussetzungen; gebunden ist, deren Erfüllung für die Armen- 


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Mitteilungen. 


pflege sehr schwierig oder, sofern nicht mehr schwierig, gleichgültig ist. Sobald 
sie einmal anfangen muß zu unterstützen, hat die Entmündigung für sie nur 
noch geringen Wert. Alles Streben der Armenpflege muß daher darauf gerichtet 
sein, die Trinker zu einem Zeitpunkte als solche zu erkennen, wo noch eine Ein¬ 
wirkung auf sie möglich ist. Hierzu bedarf sie helfender Organisationen, wie sie 
vor allem die Abstinenzvereine und namentlich die Guttemplerorden bieten. In 
ihnen ist das gesunde Prinzip nachbarlicher Gemeinschaft verwirklicht, durch die 
unmerklich auf die dem Trunk ergebenen Personen eingewirkt werden kann. 
Namentlich ist der Umstand, daß der Trinker in seiner gewohnten Umgebung und 
Arbeit bleiben kann und unter gleichgesinnte enthaltsame Leute gebracht wird, 
die ihn stützen und halten, von großer Bedeutung. Wenn solche Falle dann der 
Armenpflege zur Kenntnis gebracht werden, so kann sie wohl den Orden im 
einzelnen unterstützen, damit der Trunksüchtige in eine Heilstätte eintreten, 
seine Familie inzwischen unterstützt und er selbst nach seiner Rückkehr so lange 
gehalten werden kann, bis er wieder in gleichmäßige und geordnete Verhältnisse 
zurückgekehrt ist. 

Am Schlüsse des Vortrags war nochmals dringend zu betonen, daß alle 
Maßregeln begünstigt werden müßten, die den Konsum von Alkohol zu ver¬ 
mindern, die Bevölkerung sittlich und moralisch zu heben geeignet erscheinen, 
und daß das Hauptbestreben wie bei allen vorbeugenden Maßregeln der Wohl¬ 
fahrtspflege darauf gerichtet sein muß, die Notwendigkeit des Eintritts von Armen-» 
pflege und Wohltätigkeit mehr und mehr zu verringern. 

Dartmann. Die Aufgaben der Schule im Kampf gegen den Alkoholismut. 

Von der weitverbreiteten Gleichgültigkeit gegenüber der Alkoholfrage aus¬ 
gehend, stellt Redner in Kürze die wissenschaftlich experimentellen Unter¬ 
suchungen über die schädigende Einwirkung des Alkohols auf die geistige Tätigkeit 
dar, und folgert daraus die Notwendigkeit, das noch nicht voll entwickelte jugend¬ 
liche Gehirn vor dem Alkohol zu schützen, d. h. er verlangt abstinente 
Jugenderziehung als eine unabweisliche, dringende Reform. Wie wenig in 
diesem Sinne zurzeit verfahren wird, lehren die statistischen Aufnahmen über 
den Alkoholgenuß der volkschulpflichtigen Jugend, lehren die bekannten Ge¬ 
pflogenheiten der Jugend unserer höheren Schulen. Unter welchen allgemeinen 
Voraussetzungen die Reform durchzuführen sei, behandelt Redner darauf in 
längerer Ausführung und betont dabei vor allem die Verpflichtung der Lehrer¬ 
schaft, unter Berücksichtigung der wissenschaftlichen Forschung eine Revision 
ihrer Anschauungen und Gepflogenheiten in Bezug auf das Trinken vorzunehmen, 
insbesondere aber die richtige Stellung zur Frage der Abstinenz zu finden. Selbst¬ 
verständlich sei diese keinem Erwachsenen vorzuschreiben, aber jeder müsse sie 
bei anderen unbedingt respektieren als eine vernünftige und berechtigte Lebens¬ 
weise, und namentlich der Lehrer dürfe sie im Hinblick auf das Ziel der ab¬ 
stinenten Jugenderziehung in keiner Weise herabsetzen oder geringschätzig 
behandeln. Auf empirischer Grundlage und mit Rücksicht auf die besonderen 
Verhältnisse des Lehrerstandes legt Redner hierauf dar, daß gerade dieser alle 
Veranlassung habe, sich zur Frage der Abstinenz anders zu stellen, als er es 
bisher getan habe. 

Zu den eigentlichen Aufgaben der Schule in der Bekämpfung des Alko¬ 
holismus übergehend betont Redner die Notwendigkeit, noch vor der eigentlicheh 


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Mitteilungen. 


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Belehrung der Jugend auf das Elternhaus einzuwirken und setzt die geeignete 
Methode dafür auseinander. Die Belehrung sei nicht systematisch zu geben* wie 
in Amerika, wo die Verhältnisse ganz anders liegen, sondern nur gelegentlich in 
den verschiedenen Fächern des Lehrplans. Besonderer Nachdruck sei namentlich 
in der Fortbildungsschule auf die außerordentliche wirtschaftliche Schädigung zu 
legen, die dem Einzelnen wie der nationalen Arbeit durch den Alkoholgenuß ver¬ 
ursacht werde. Nach weiterer Beleuchtung des Gegenstandes unter dem Ge¬ 
sichtspunkte der Mädchenschulen und der Seminare geht Redner auf die höheren 
Knabenschulen ein und behandelt zunächst die Frage, ob die Belehrung hier besser 
durch die Lehrer oder durch Ärzte zu geben sei. Auch für die Jugend der 
höheren Schulen legt Redner, in Wiederaufnahme seiner Erfurter These, die Not¬ 
wendigkeit der Abstinenz dar und widerlegt die dagegen erhobenen Einwände: 
Ausführlich erörtert er dann, warum insbesondere die Internate berufen seien, 
bei Durchführung dieser Reform bahnbrechend voranzugehen, unter Hinweis auf 
die vereinzelt schon gemachten Erfahrungen. Daneben aber hebt Redner hervor, 
daß alle anderen höheren Schulen wie das Recht, so auch die Möglichkeit haben, 
an der Verwirklichung des Ideals der Jugendabstinenz tätig mitzuarbeiten durch 
Einwirkung auf das Haus, durch unmittelbare Belehrung der Jugend, durch An¬ 
passen ihres ganzen Handelns an das zu erstrebende Ziel (alkoholfreie Spazier¬ 
gänge, Schülerabstinenzvereine, Nichtbeteiligung an Kommersen). Nach einem 
Ausblick auf die der Schule zu Gebot stehende indirekte Bekämpfung des Alko¬ 
holismus durch möglichste Förderung aller die Körperpflege betreffenden Be¬ 
strebungen schließt Redner mit einem dringenden Appell, das ganze hochwichtige 
Problem mit dem Ernste, mit der Gründlichkeit zu behandeln, die des deutschen 
Lehrerstandes würdig sei. 


Grotjahn, A. Der Alkohol im Haushalte des Volkes. 

Nach einer kurzen geschichtlichen Einleitung über die Rolle, die der Alkohol 
und der Mißbrauch geistiger Getränke im Altertum und im Mittelalter spielte, 
schildert der Redner, wie die allgemeine Verbreitung des Branntweingenusses in 
Deutschland erst infolge des dreißigjährigen Krieges beobachtet wurde, sich also 
zum Unterschiede von der Völlerei in Wein und Bier an eine Periode des wirt¬ 
schaftlichen Niederganges anschloß. Wesentlich wurde dieser Vorgang in der 
neueren Zeit durch die Bildung der modernen Lohnarbeiterschaft unterstützt, 
dem städtischen und ländlichen Proletariat, das allen Bedingungen für die Aus¬ 
breitung des Alkoholismus unterworfen ist. Die Würdigung dieser in den sozialen 
Verhältnissen wurzelnden Ursachen des Alkoholismus ist für seine Bekämpfung 
von der größten Wichtigkeit. Denn die Mäßigkeitspropaganda kann nicht eher 
dauernde und durchgreifende Erfolge davontragen, als nicht bei einer unter¬ 
ernährten, schlecht wohnenden, schwer und lange arbeitenden Bevölkerung das 
durch das soziale Milieu abnorm gesteigerte Alkoholbedürfnis durch Maßnahmen 
sozialpolitischer Art herabgemindert ist. — Der Redner ging dann zur Besprechung 
jener Beziehungen zwischen Alkohol und Volkswirtschaft über, die sich an die 
Produktion der alkoholischen Getränke knüpfen. Die in vielen Gegenden und be¬ 
sonders den Großstädten Deutschlands erkennbare Verdrängung des Branntweins 
durch das Bier hält er vom sozialhygienischen Standpunkte aus für er<feulich. 
Zum Schluß gab der Vortragende ein Bild von dem Umfange, in dem sowohl 
die Arbeitskräfte als auch das verfügbare Ackerland in Deutschland von der Al- 


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Mitteilungen. 


kobolproduktion in Anspruch genommen wird. Zwei Dritteile der Gerstenernte, 
ein Sechzehntel der Roggenernte und ein Dreizehntel der Kartoffelernte werden 
ihr geopfert. Eine Million und viermalhunderttausend erwerbstätige Personen 
stellen im Reichsgebiet ausschließlich. ihre Arbeitskraft in den Dienst der Be¬ 
reitung und des Vertriebes alkoholischer Getränke. Insgesamt dürfte das deutsche 
Volk jährlich drei Milliarden Mark für Alcoholica ausgeben. 

Die wichtigsten Beziehungen zwischen Alkohol und Volkswirtschaft ergeben 
sich, wenn man sich vergegenwärtigt, welche Rolle die alkoholischen Getränke 
als Steuerobjekt spielen. In der Tat ist die Art und Höhe ihrer Besteuerung 
nicht gleichgültig für den Alkoholkonsum und damit auch für die Ausbreitung des 
Alkoholismus. Vom Standpunkte der sozialen Hygiene ist es wünschenswert, 
daß die gegorenen Getränke möglichst wenig oder gar nicht, der Branntwein 
dagegen möglichst hoch besteuert wird. Der hygienische Wert der Branntwein¬ 
besteuerung läßt sich etwa nach folgendem Schema bemessen: Die erste Mög¬ 
lichkeit, die wir an dem Beispiel Rußlands in typischer Weise verwirklicht sehen, 
besteht darin, daß einer Bevölkerung mit starkem Alkoholbedürfnis zur Befrie¬ 
digung nur der Branntwein zur Verfügung steht; selbst eine sehr hohe Steuer 
wird hier den Branntwein zwar verteuern, aber den Konsum nicht wesentlich 
herabdrücken können und daher als Mittel gegen die Verbreitung des Alkoholismus 
durchaus wirkungslos sein. Die zweite Möglichkeit — das Musterbeispiel ist 
Frankreich — besteht darin, daß Branntwein und gegorene Getränke zur Ver¬ 
fügung stehen: eine hohe Steuer, die sowohl den Branntwein wie das landes¬ 
übliche gegorene Getränk belastet, läßt hier ebenfalls keine Verschiebung des 
Konsums zu Ungunsten des Branntweins aufkommen. Die dritte und einzig er¬ 
sprießliche Möglichkeit sehen wir in der Schweiz verwirklicht: eine starke Be¬ 
steuerung des Branntweins in Form des staatlichen Handelsmonopols bei voll¬ 
kommener] Steuerfreiheit der landesüblichen gegorenen Getränke beschleunigt 
bei einem Teil der Bevölkerung den Übergang vom Branntwein zum Genuß von 
Bier oder Landwein und wirkt dadurch dem Alkoholismus entgegen. Das Ver¬ 
fahren der Schweiz hat sich seit einem Jahrzehnt durchaus bewährt. Die 
deutsche Branntweinbesteuerung verfolgt einen hygienischen Zweck nur neben¬ 
her und hat nur dort durch eine mäßige Verteuerung heilsam gewirkt, wo die 
Bevölkerung wie in den Städten und in den großindustriellen Bezirken schon so 
wie so im Begriff war, vom Branntweingenuß zum Biergenuß überzugehen. Eine 
kräftigere Besteuerung des Branntweins, am besten durch Einführung des Mo¬ 
nopols nach dem Vorbilde der Schweiz, bei Steuerfreiheit des Bieres dürfte für 
die Zukunft anzustreben sein. — Auch die außerdeutschen Steuerverhältnisse 
sowie die Konsumzahlen der einzelnen Länder und die Schankgesetzgebung wurden 
in dem Vortrage besprochen. 


De Terra. Alkohol und Verkehrswesen. 

Je länger je mehr hat sich der in allen Berufskreisen eingebürgerte ge¬ 
wohnheitsmäßige Genuß alkoholischer Getränke als ein gefährlicher Feind auch 
der Ordnung und Sicherheit des Verkehrsdienstes erwiesen. Nach dem Urteil 
hervorragender Sachverständiger ist Alkoholmißbrauch des Personals die mittel¬ 
bare <4er unmittelbare Ursache der meisten Unfälle, die nicht durch höhere Ge¬ 
walt oder Materialschäden herbeigeführt werden. 

Die stetig wachsenden Ansprüche an die Leistungsfähigkeit der Verkehrs- 


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Mitteilungen. 


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anstalten stellen auch an die Umsicht, Urteilsfähigkeit und Entschlossenheit des 
Personals erhöhte Anforderungen. Durch nichts aber werden diese Eigenschaften 
so leicht und in solchem Maße beeinträchtigt, wie durch den Genuß alkoholischer 
Getränke. Und zwar liegt die Hauptgefahr für den verantwortlichen Verkehrs¬ 
dienst weniger in dem zu Trunkenheitserscheinungen führenden unmäßigen 
Genuß, der verhältnismäßig leicht erkennbar ist, als vielmehr in dem ungleich 
schwerer zu kontrollierenden Genuß geringer Mengen und in den Nachwir¬ 
kungen reichlicheren Alkoholgenusses. Genaue wissenschaftliche Untersuchungen 
(von Prof. Dr. Kraepelin, Dr. Fürer u. a.) über die im Gehirn dadurch 
veranlaßten Störungen haben zu überraschenden Ergebnissen geführt. (Vergl. 
„Die Tatsachen über den Alkohol“ von Dr. med. Hoppe.) Sie haben insbesondere 
erwiesen, daß die Gehirntätigkeit schon durch geringe Mengen nachteilig beein¬ 
flußt wird und daß reichlichere Gaben eine ungünstige Nachwirkung bis in den 
8. Tag hinein ausüben. Durch andere Versuche (von Ridge, Richardson, 
Scoupal und Crothers) ist festgestellt, daß schon geringe Mengen alkoholischer 
Getränke das Gehör und die Sehschärfe, namentlich auch das Farbenunter¬ 
scheidungsvermögen beeinträchtigen. Alle diese Wirkungen können für den Ver¬ 
kehrsdienst leicht von verhängnisvollen Folgen sein, wie zahlreiche schwere 
Unfälle beweisen. Aber auch in anderer Beziehung ist der landesübliche ge¬ 
wohnheitsmäßige Alkoholgenuß ein schlimmer Feind der rühmlichst bekannten 
Pflichttreue unseres Verkehrspersonals. Wo ein Verstoß gegen die Dienstzucht, 
gegen die übernommenen Pflichten hervortritt, ist in den allermeisten Fällen 
Alkoholgenuß die Ursache. Auch ungünstige häusliche Verhältnisse und wirt¬ 
schaftliche Not sind nicht selten auf die Trinkgewohnheiten des Familienober¬ 
hauptes zurückzuführen. Im allgemeinen ist unser Verkehrspersonal den heimischen 
Trinksitten keineswegs mehr ergeben, als andere Berufskreise. Aber dem Anreiz 
und der Versuchung zum Alkoholgenuß ist es ungleich stärker ausgesetzt. Einmal 
durch die unvermeidlichen ungünstigen Einwirkungen, unter denen sich der Dienst 
des im äußeren Betriebe tätigen Personals vollzieht. Anderseits durch die Zahl¬ 
zeichen, allzuvielen Bahnhofswirtschaften und die leidige Neigung des Publikums, 
das Personal mit alkoholischen Getränken zu bewirten. Was die zur Bekämpfung 
des Alkoholmißbrauchs beim Verkehrspersonal geeigneten und gebotenen Ma߬ 
nahmen anlangt, sö ist in Nordamerika sogar völlige Alkoholenthaltung im und 
außer Dienst mehr und mehr zur Vorbedingung für die Anstellung auch der 
oberen Beamten geworden. In England sind die Eisenbahner selbst seit länger 
als 20 Jahren erfolgreich bemüht, den Alkoholgenuß in ihren Reihen zu bekämpfen. 
In Frankreich sorgen die großen Eisenbahngesellschaften in umfassender Weise 
für Aufklärung und Belehrung ihres Personals über die Schädlichkeit des Al¬ 
koholgenusses. 

Die deutschen Verkehrs-(Eisenbahn-) Verwaltungen haben sich in der Haupt¬ 
sache bisher auf Maßnahmen vorbeugender Natur beschränkt. Eine wachsende 
Fülle anerkennenswerter Wohlfahrtseinrichtungen: Verbesserung der Wohnungen^ 
der Aufenthalts-, Unterkunfts- und Übernachtungsräume, gesteigerte Fürsorge für 
zweckmäßige Ernährung, für gutes Trinkwasser und alkoholfreie Erfrischungs¬ 
mittel sind dazu bestimmt, das Personal mehr und mehr der Lockung und dem 
Zwange zum Alkoholgenuß zu entziehen. Um zu erreichen, daß dieser Genuß 
mindestens während des Dienstes und unmittelbar vorher ausnahmslos 
und wirksam verboten werden kann, wird es aber vor allem eingehender Auf- 


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Mitteilungen. 


klärung lind Belehrung des Personals nach dem Beispiel der französischen Bahnen, 
am zweckmäßigsten durch sachkundige Ärzte, bedürfen. Ganz besonders wird 
dabei der weitverbreiteten irrigen Annahme entgegenzutreten sein, daß der Al¬ 
kohol in irgend welcher Form ein unentbehrliches Genuß- und Stärkungsmittel 
sei. Auch durch entsprechende Aushänge, Verbreitung von Schriften und Flug¬ 
blättern könnte für Aufklärung des Personals gesorgt werden. Von ungleich 
höherem Wert ist aber auch hier die Macht des persönlichen Beispiels, 
besonders der Vorgesetzten. Am wirksamsten und überzeugendsten wird die Ent¬ 
behrlichkeit des Alkoholgenusses zweifellos durch das Beispiel völliger Al¬ 
koholenthaltung dargetan. Der Verzicht auf das beliebte Genußmittel wird 
durch das Bewußtsein reichlich aufgewogen, an einer hohen und großen Kultur¬ 
aufgabe mitzuarbeiten, wie es die Befreiung unseres Volkes von den verderblichen 
und unwürdigen Fesseln des Trinkzwanges unstreitig ist. Erhöhte Bedeutung 
erhält das persönliche Beispiel durch die unleugbare Schwäche der großen Mehr¬ 
zahl gegenüber diesem tyrannischen Zwange. Von doppeltem Wert ist es für 
den größte Nüchternheit erfordernden Verkehrsdienst. 

Der vor 8 Jahren unternommene Versuch, möglichst viele einsichtsvolle 
Beamte und Arbeiter unter dem deutschen Eisenbahnpersonal für dieses Beispiel 
zu gewinnen, stieß zunächst auf entschiedenen Widerstand, nicht nur an den 
maßgebenden Stellen, sondern auch bei dem Personal. Zu mangelhafter Vertraut¬ 
heit mit dem Umfang der Alkoholschäden und mit den Erfolgen der Enthaltsam¬ 
keitsbewegung gesellte sich die Besorgnis, daß ihre Ausdehnung auf das Eisen¬ 
bahnpersonal dessen wohlbegründetes Ansehen schädigen könne, indem dadurch 
der Anschein erweckt werde, als sei es dem Alkoholmißbrauch ganz besonders 
ergeben. Diese irrige Auffassung ist inzwischen, nachdem das deutsche Beispiel 
in rascher Folge auch in andern Ländern (Schweiz, Frankreich, Dänemark, Bel¬ 
gien) Nachahmung gefunden hat, mehr und mehr einer zutreffenderen Beurteilung 
gewichen. Dem vor 8 Jahren ins Leben gerufenen „Deutschen Verein enthalt¬ 
samer Eisenbahner“ hat sich ein großer Teil der deutschen Eisenbahnverwaltungen 
zur Förderung seiner Bestrebungen angeschlossen. 

Der praktische Wert und Erfolg dieser Bestrebungen liegt weniger darin, 
daß es trotz aller Schwierigkeiten, auch finanzieller Natur, gelungen ist, eine 
stattliche Schar überzeugter Anhänger zu gewinnen. Ungleich wertvoller und 
wichtiger ist, daß durch diese radikale Bewegung in weiteren Kreisen das Interesse 
und Verständnis für den Kampf gegen den Alkoholmißbrauch geweckt worden 
ist, und daß viele dadurch im Sinne wirklicher strenger Mäßigkeit beeinflußt 
werden. In jenem Kampf bilden die Alkoholenthaltsamen gewissermaßen die 
Kemtruppe. Wenn die deutschen Verkehrsverwaltungen dazu übergehen würden, 
nach bereits vorliegenden Beispielen die Verdienste dieser Truppe durch gewisse 
Vorteile zu belohnen, so würde damit die Neigung, ihnen nachzueifern, sicherlich 
am wirksamsten gefördert werden. 

Je höhere Anforderungen die fortschreitende kulturelle und wirtschaftliche 
Entwickelung des deutschen Vaterlandes auch an die Verkehrsanstalten stellt, 
desto mehr wird ein auf dem Bremer Kongreß geprägtes treffendes Wort zur 
Geltung kommen: „Nur der Nüchterne ist im Besitz seiner vollen Leistungs¬ 
fähigkeit.“ 


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Mitteilungen. 


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Das preu&itclie Abgeordnetenhaus beschäftigte sich am 6. April mit dem be¬ 
kannten Anträge des Grafen Douglas; es wurde von der eingesetzten Kommission 
dem Plenum empfohlen, die Königliche Staatsregierung zu ersuchen, ein „Volks¬ 
wohlfahrtsamt“ ins Leben zu rufen. Nachdem sich alle Fraktionen zu¬ 
stimmend erklärt hatten, legte der neuemannte Minister des Innern, Dr. von 
Bethmann-Hollweg, seine Ansicht über den Antrag dar, eine Ansicht, die 
sich durch die wenigen Worte: zurückhaltend, erwägend, wohlwollend charak¬ 
terisieren läßt und von der wir hoffen und wünschen möchten, daß sie end¬ 
gültig dem mit voller Einstimmigkeit von dem hohen Hause angenommenen 
Anträge beipflichten und alle Bedenken überwinden möge, welche sich diesem 
großen Gedanken der einheitlichen Regelung einer gesunden Volkswohlfahrtspflege 
entgegenstellen könnten. 


Das Organisations- und Exekutiv-Komitee des X. Internationalen Kongresses 
gegen den Alkoholismus in Budapest veröffentlicht soeben die Zeiteinteilung und 
das endgültige Programm, wie folgt: 

Montag, den 11. September. 

Nachmittag 4 1 /* Uhr in der Kunsthalle (Stadtwäldchen). Frauenversammlung 
veranstaltet durch den Bund ungarischer Frauenvereine. Redner: Gray-London, 
Hoffmann-Bremen, Kassowitz-Wien, Gonser-Berlin, Wakely-London. 
Abends l / t 9 Uhr. Begrüßungsabend im Kuppelsaale der Kunsthalle. 

Dienstag, den 12. September. 

Vormittag */*10 Uhr im Kuppelsaale der Kunsthalle. I. Eröffnungssitzung. 
1. Die Eröffnung des Kongresses. 2. Wahl des Kongreßbureaus. 8. Offizielle 
Ansprachen. 4. Festvortrag: Prof. Gruber-München „Die Hygiene des Ich“. 
(Ohne Diskussion.) 

Nachmittag 3 Uhr in der Kunsthalle. II. öffentliche Sitzung des Kongresses. 
1. Der Einfluß des Alkohols auf die Widerstandsfähigkeit des Organismus, mit 
besonderer Berücksichtigung der Vererbung. Referenten: Prof. Lai tinen-Helsing- 
fors, Prof. Weygandt-Würzburg. 2. Die hygienische Bedeutung des Kunst¬ 
weines. Referent: Prof. Li'ebermann-Budapest. 

Abends 8 1 /* Uhr. Versammlung der Abstinenzorganisationen Ungarns. 
(Landesverein der Alkoholgegner, Guttempler-Orden, Arbeiter-Abstinenz-Verein, 
Alkohol-Enthaltsamkeitsverein Ungarn.) Redner: Juliusburger-Berlin: Abstinenz 
und Weltanschauung; Lutoslavsky-London: Abstinenz in Polen; Ernst-Zürich: 
Die Abstinenzbewegung in der Schweiz. 

Mittwoch, den 13. September. 

Vormittag 9 Uhr in der Kunsthalle. 1. Alkohol als Nahrungsmittel: Referent: 
Prof. Kassowitz-Wien. 2. Alkohol und Geschlecht. Referent: Prof. Forel- 
Chigny. 

Nachmittag 3 1 /* Uhr in der Kunsthalle. 1. Alkohol und Strafgesetz. 
Referenten: Prof. Lombroso-Turin; Prof. Bleuler-Zürich; Prof. Vämbery- 
Budapest 2. Der verderbliche Einfluß des Spirituosenhandels auf die Ein¬ 
geborenen in Afrika. Referent: Müll er-Groppendorf. 

Abends: Versammlung des Bundes katholischer Vereine. Redner: Kapitza- 
Tichau, Orel-Wien, Dür-Krumbach, Lenard-Veldes, Csillag-Budapest, 


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Mitteilungen. 


Geöcze-Budapest, Dr. Vragassy-Prasitz. Versammlung der Krankenkassen. 
Redner: Schwartz-Budapest. Zusammenkunft des Internationalen Alkohol¬ 
gegnerbundes. 

Donnerstag, den 14. September. 

Vormittag 9 Uhr in der Kunsthalle. 1. Erziehung und Schule im Kampfe 
gegen den Alkoholismus. Referenten: The Hon ble Mrs. Eliot Torke-Southampton, 
Dr. Hähndl-Bremen, Eötvös-Szolnok, Fischer-Pozsony, Kirschanek- 
Szt. Istvätf. 

Nachmittag 4 Uhr. Psychiaterversammlung. a) Delbrück-Bremen: 
Abstinenz in Irrenanstalten; b) Waldschmidt-Berlin: Stand der Trinkerfürsorge 
in Deutschland; c) Bezzola-Ermatingen: Die Therapie des Alkoholismus; 
d) Michel und Legrain-Paris: La eure des buveurs; e) Juliusburger-Berlin: 
Die Einsichtslosigkeit der Trinker. 

Abends 87a Uhr* Soiree der Haupt- und Residenzstadt Budapest. 

Freitag, den 15. September. 

Vormittag 9 Uhr in der Kunsthalle. 1. Die kulturellen Bestrebungen der 
Arbeiter und der Alkohol. Referenten: a) Van der Velde-La Hulpe; b) Kiss- 
Budapest 2. Alkohol und physische Arbeitsfähigkeit, mit besonderer Berück¬ 
sichtigung des militärischen Trainings. Referent: Mitander-Föllinge. 

Nachmittag 3 Uhr in der Kunsthalle. Die industrielle Verwendung des 
Alkohols als Kampfesmittel gegen den Alkoholismus. Referenten: a) Frau 
Dazinska-Golinska-Krakow; Klemp-Budapest; b) Maleomes-Budapest. 

Abends 87* Uhr. Studentenversammlung. Redner: Prof, Grub er-München, 
Holitscher-Pirkenhammer: Abstinenz als Forderung des Sittengesetzes; Ender- 
s t e d t - Stockholm, Frida Deutsch-Wien, Tarczai-Budapest. 

Sonnabend, den 16. September. 

Vormittag 9 Uhr. Die Reform des Schankwesens. Referenten: Eggers- 
Bremen, Legrain-Paris, Helenius-Helsingfors. 

Nachmittag 3 Uhr. Die Organisation der Antialkoholbewegung. Referenten: 
Wlassak-Wien, Mäday-Budapest, Stein-Budapest 

Abends 7*9 Uhr. Volksversammlung. Redner: Forel-Chigny, Fröhlich- 
Wiener-Neustadt, Kiss-Budapest. 

Sonntag, den 17. September. 

Ausflug an den Plattensee. 


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Der Alkoholismus 

Zeitschrift zur wissenschaftlichen Erörterung der AlkoheHrage 
1905 Neue Folge — Band 11 No. 5 

I Originalabhandlungen. 

Die Alkoholgegnerkongresse. 

(Nach einem im Vereine abstinenter Frauen in Wien gehaltenen Vortrage.) 

Von 

Dr. Adolf Daum-Wien. 

Die gegen die herrschenden Trinksitten gerichtete Bewegung 
ist eine Reformbewegung. Reformbewegungen müssen sich ver¬ 
schieden gestalten, je nach Verschiedenheit der Einrichtungen, 
Anstalten, Anschauungen oder Normen, deren Änderung herbei¬ 
geführt werden soll. Die Reform der Rechtsprechung, des Gerichts¬ 
wesens, in Streitsachen, welche sich in Österreich zu Ende des 
19. Jahrhunderts in so mustergültiger Weise vollzogen hat, und 
welche an Stelle der gänzlich veralteten, ans der Zeit Josephs II. 
herrührenden Gerichtsordnung die heutige Zivilprozeßordnung ge¬ 
setzt hat, muß als das Werk eines, freilich ungewöhnlich begabten 
Mannes betrachtet werden, der nach theoretischem und praktischem 
Studium auswärtiger Prozeßgesetze und ihrer Wirkungen und nach 
gründlicher Erwägung der im Inlande gegebenen Verhältnisse die 
neue Prozeßordnung schuf. Ihre vollständig neuen Einrichtungen 
haben sich mit Hilfe eines Stabes pflichteifriger und durch Studium 
des deutschen Gerichtskanzleiwesens geschulter Männer so rasch 
eingelebt, daß man diese bedeutsame Reformarbeit schon nach kurzer 
Zeit als völlig gelungen betrachten durfte. — Hier haben wir das 
Beispiel einer durch ein einziges Gesetzwerk mit einem Male 
geschaffenen Reform von größter Bedeutung; denn das Bewußtsein 
rascher und leichter Durchsetzbarkeit eines Rechtes wirkt auf das 
ganze Leben eines Volkes ein und erhöht das Rechtsgefühl und 
das Gefühl der Sicherheit, die Wertschätzung des Gemeinwesens 
bei arm und reich. 

Solche sozusagen mit einem dem Gesetze Wirksamkeit ver¬ 
leihenden Federzuge eingeführte Reformen sind nur möglich, wo 
an Stelle ganz bestimmter ein Verfahren regelnder Normen be¬ 
stimmte andere Normen treten, deren Beobachtung einem ge- 

Der AlkohoLUmus. 1905. 19 

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Dr. Adolf Daum. 


schlossenen Kreise von Personen obliegt, und wo sich das zu Ver¬ 
bessernde völlig in diesen Normen erschöpfen läßt — Ähnlich, 
aber nicht ebenso rasch und sicher 1 ) können solche Gesetzesreformen 
wirken, welche sich auf den Inhalt der bürgerlichen Rechte — 
wie 1900 im Deutschen Reiche — des Strafrechtes, politischer 
Rechte u. s. w. beziehen. Schwieriger als solche Reformen,, 
welche ja immerhin auch mit dem Momente der Trägheit rechnen 
müssen, wenn sie nicht ganz oder teilweise „auf dem Papiere¬ 
stehen“ bleiben sollen, vollzieht sich die Reform imgeschriebener 
Normen und Einrichtungen, welche Lebensgewohnheiten, 
Moden, Riten im Laufe der Zeiten geschaffen und gefestigt haben. 
Die Mode ist eine kurzlebige Gewohnheit und doch auch dann, 
wenn sie nicht der Eitelkeit schmeichelt, recht schwer zu be¬ 
kämpfen; Riten kennt nicht nur die Gottesverehrung, der Kultus, 
sondern auch die Rechtspflege, die Verwaltung, der Hofdienst, ja. 
die Geselligkeit hat ungeschriebene und darum nicht minder 
zwingende Formvorschriften, und im Ritus der Geselligkeit spielt 
ja der Alkohol wieder eine verhängnisvolle Rolle. — Um wieviel 
hartnäckiger als das geschriebene Gesetz sich eingewurzelte Gewohn¬ 
heiten Geltung erzwingen, zeigt die Geschichte des Duells und 
seiner Bekämpfung. Außerhalb des britischen Kulturgebietes stellt 
sich auch der überzeugte Duellgegner noch heute dem „Fordernden“, 
wenn beide bestimmten, als „satisfaktionsfähig“ geltenden Gesell¬ 
schaftsschichten angehören, den Gesetzen zum Trotz, welche den 
Zweikampf mit tödlichen Waffen als Verbrechen erklären. — Der 
„gewachsene Grund“, wie die Baumeister sagen, ist eben immer 
fester als der angeschüttete oder der Pilotenrost — Daß übrigens 
auch allgemein verbreitete Lebensgewohnheiten, wenn es gelingt, 
von ihrer Schädlichkeit allgemein zu überzeugen, sich reformieren 
lassen, wo nicht Vorurteile, Moden oder materielle Interessen vieler 
die Erhaltung des Bestehenden verlangen, zeigt die Wirksamkeit 
gewisser gegen die Tuberkulosegefahr getroffener Vorkehrungen, 
z. B. des Spuckverbotes. 

Die Trinkgewohnheiten, deren Reform wir Alkoholgegner 
anstreben, sind nun eingewurzelt in allen Gesellschaftsklassen und 
Berufen. Der gesellige Verkehr vollzieht sich fast regelmäßig in 
Verbindung mit dem Alkoholgenuß, von den Diners des Hochadels 


i) Denn die neuen materiellen Bechtssätze müssen erst allmählich in das 
ßechtsbewußtsein aller eindringen. 


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Die Alkoholgegnerkongresse. 


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und der reichen Gutsherren, Industriellen und Rentner, den Banketten 
der Politiker, Gelehrten und Künstler, den „Liebesmahlen“ der Offiziere, 
den Kommersen der Studenten bis zum Stammtisch des Kleinbürgers 
und Bauern und der Branntweinbude des Proletariers. — Der 
Suggestivwirkung seines „milieu“ entzieht sich eben der einzelne 
nur sehr schwer ohne nachteilige Folgen für seine Geltung und 
seinen Anhang unter den Angehörigen seines Kreises. — Diese 
Gebräuche finden ihre Stütze: 

1. in der Neigung des Menschen, sich zu betäuben. Tolstoi 
hält die Stimme des Gewissens für dasjenige, was der Mensch mit 
Alkohol betäuben will; vielleicht könnte man richtiger sagen, daß 
es Besorgnisse und „Bedenken“ sind, wenn auch zuweilen nur 
Bedenken gegen das Nichtstun, welche zum Rauchen und zum 
Trinken verführen, weil man sie damit zerstreuen, unterdrücken 
will, meist ohne sich dessen klar bewußt zu werden; 

2. in weitverbreiteten Vorurteilen von der wärmenden, nähren¬ 
den, heilenden, die geistige Regsamkeit erhöhenden Wirkung 
„geistiger“ Getränke; 

3. in Arbeitsbedingungen, welche die Neigung zum Trünke 
deshalb hervorrufen oder begünstigen, weil durch den Trunk die 
Unlustgefühle vermindert werden, die von der Arbeit unter solchen 
erschwerenden Verhältnissen (Staubentwicklung, Hitze, Feuchtigkeit, 
Kälte, Wassermangel) unzertrennlich sind. — Dr. Stehr hat in 
seinem Werke „Alkohol und wirtschaftliche Arbeit“ diesen Gegen¬ 
stand ausführlich behandelt; 

4. in den wirtschaftlichen Interessen nicht nur der Schank¬ 
wirte, Bierbrauer, Branntweinbrenner, Weinhändler, sondern auch 
derjenigen Landwirte, welche die zur Erzeugung geistiger Getränke 
erforderlichen Rohstoffe bauen und züchten (Gerste, Kartoffeln, Korn, 
Wein, Zwetschen, Beeren u. s. w.); 

5. in fiskalischen Interessen, welche durch die Steuerpflicht 
der Vorgenannten (4.) gefördert werden. 

Die Phalanx dieser psychischen und wirtschaftlichen Momente 
verleiht den Trinkgewohnheiten jene Herrschaft, welche zu brechen 
recht aussichtslos erscheinen muß, wenn man bedenkt, daß gegen 
Sitten kaum anders anzukämpfen, ihre Änderung kaum auf andere 
Art herbeizuführen ist, als 

a) durch Zwang, b) durch die Macht des Beispiels eines 
von der Sitte abweichenden Handelns und c) durch Einwirkung 
auf die Anschauungen der einzelnen der Sitte Huldigenden. 

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a) Zwang vermag eine eingewurzelte Gewohnheit nur zu 
ändern, wenn es gelingt, ihn so kräftig und allgemein zu üben, daß 
die Möglichkeit, ihr nachzuleben, tatsächlich benommen wird. — 
Das setzt eine große Zahl solcher voraus, welche die zu bessernden 
Yolksgebräuche beobachten, mißbilligen und die Anwendung der 
Zwangsmittel vermitteln helfen. — Ob diese Voraussetzung in jenen 
Staaten der nordamerikanischen Union zutrifft, welche die Erzeugung 
geistiger Getränke und den Verkauf derselben auf ihrem Gebiete 
ganz untersagen (Prohibitionsstaaten), wird vielfach bezweifelt. In 
Norwegen gelang es allerdings, den Branntweintrunk, zumal auf dem 
Lande, fast ganz zu unterdrücken, indem man sowohl die Errichtung 
von Vertriebsstätten, als häusliche Trinkgelage bei Strafe verbot 
Ähnlich in Finnland und vielleicht auch in schwedischen Land¬ 
distrikten. — Die Sonntagsschließung aller Schenken (saloons) ist 
in einigen Unionsstaaten, die teilweise Sonntags- und Samstags- 
Schließung der Branntweinschenken auch in mehreren Ländern 
Europas durchgeführt worden. 

Gegen weitergehende Zwangsmaßregeln haben bisher die Inter¬ 
essen der Alkohol-Erzeuger überall mit Erfolg Widerstand geleistet. 
In Österreich hat der Gewerbeausschuß des Abgeordnetenhauses seihst 
eine wirksame Einschränkung des Branntweinkleinhandels zu 
verhindern gewußt, und in Wien wagt es die Verwaltung, einer gemein¬ 
nützigen (Regierungs-Jubiläums-)Stiftung „für Volkswohnungen und 
Wohlfahrtseinrichtungen“ nicht einmal, den Bier- und Wein¬ 
ausschank in ihren eigenen Arbeiterhäusem auszuschließen. — 

b) Beispiel („exemplä trahunt“). Der Weg des Beispiels, den 
die Abstinenten in und außerhalb ihrer Verbände gehen, kann erst 
Bedeutung gewinnen, wenn große Gruppen an einem Orte die 
Berücksichtigung ihrer besseren Sitten zu erzwingen und so die 
Nachahmung derselben zu erleichtern vermögen. 

c) Belehrung. Da für die Lebensweise des einzelnen die 
Gewohnheit mehr als die Überzeugung von der Notwendigkeit und 
Zweckmäßigkeit des Gewöhnten den Ausschlag zu geben pflegt, so 
ist der Weg der Aufklärung, der Überzeugung alter, die sich eine 
ungesunde Lebensweise angewohnt haben, von der Schädlichkeit 
derselben ein recht mühsamer, langwieriger und undankbarer. — 
Der Mensch pflegt die Beweggründe für sein Handeln gar oft erst 
nachträglich zu konstruieren und ist nur zu oft selbst im Irrtum 
darüber. Selbst der „Durst“ ist ein Motiv, über das sich der 
Trinkende allzugeme täuscht, wie die Erfahrung derjenigen beweist, 


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Die Alkoholgegnerkongresse. 


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die sich zur Abstinenz entschlossen haben und meist darüber 
erstaunt sind, wie wenig „Durst“ sie fühlen, sobald die Gewohn¬ 
heit, zu bestimmten Zeiten bestimmte Alkoholika zu trinken, über¬ 
wunden ist — 

Wenn Zwang, Beispiel und Belehrung die Mittel sind, 
welche (jedes nur in beschränktem Umfange und unter gewissen 
Verhältnissen) gegen die Herrschaft der Trinksitten aufgeboten 
werden sollen, so folgt daraus, daß vor allem diejenigen Personen, 
welche den Zwang üben können, also Gesetzgeber und Behörden, 
und Personen, welche Beispiel geben können und wollen, also 
Enthaltsame, sei es aus Gewohnheit oder Überzeugung, für den 
Kampf gewonnen, in demselben „engagiert“ werden müssen, und 
daß Aufklärung und Belehrung den weitesten Kreisen in möglichst 
wirksamer und verständlicher Weise vermittelt werden muß. — 

Vor allem bedarf es in der letzterwähnten Richtung des öffent¬ 
lichen Auftretens solcher Personen, die neben der festen 
Überzeugung von der Verderblichkeit der herrschenden Alkohol¬ 
neigung auch die Gabe der Beredsamkeit besitzen, um ihrer Über¬ 
zeugung wirksamen, gefälligen und verständlichen Aus¬ 
druck zu geben, und deren Ansehen so bedeutend ist, daß ihr 
Wort aufmerksam gehört zu werden Aussicht hat. — Solcher 
Personen zählt bis heute kein Land so viele, daß es nicht auch 
fremder Kräfte zum Beistände bedürfte. Um so nötiger ist das Auf¬ 
treten fremder, weil der Satz, niemand werde im eigenen Lande als 
Prophet geachtet, auch heute noch vielfach Geltung hat. Was man 
daheim oft genug gehört, aber wieder vergessen hat, gewinnt an 
Bedeutung, wenn es ganz unerwartet von einem Fremden wieder¬ 
holt wird. — Hat man nicht Professor Kassowitz zum Guttempler¬ 
feste nach Kiel als Redner geladen, unseren Dr. R. Wlassak und 
den Franzosen Dr. Legrain in Schweden Vorträge zu halten ge¬ 
beten, obwohl dieselben sich nur durch Dolmetscher verständlich 
machen konnten? Und zu welcher Begeisterung gelang es unserem 
wackeren Dr. Fröhlich, die organsierte Arbeiterschaft in Deutsch¬ 
land, der Schweiz und in England hinzureißen, dessen Sprache er 
so trefflich handhabt! — 

Ein internationales Übel zu bekämpfen, müssen sich die 
überzeugten Alkoholgegner aller Länder verbünden; nicht Sammel¬ 
werke und Übersetzungen von Schriften können das gemeinsame 
Auftreten beredter und angesehener Gesinnungsgenossen aus ver¬ 
schiedenen Ländern an einem Orte ersetzen. Bücher lesen wenige, 


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die Tagesblätter aber, die freilich von allen gelesen werden, sind 
zu sehr an die Interessensphären der Alkoholerzeuger und -Ver¬ 
käufer gebunden, als daß sie ohne äußeren zwingenden Anlaß — : 
wie ihn ein vorher angekündigter, offiziell beschickter und eröffneter 
Kongreß bietet — ihre Spalten häufig den Mahnungen und Rat¬ 
schlägen der Alkoholgegner öffneten. Ganz anders als der tote 
Buchstabe wirkt das lebendige Wort beredter Männer der Wissen¬ 
schaft, die diesseits und jenseits der Grenzen des eigenen Landes 
die gleichen Beobachtungen gemacht haben und über die Mittel 
berichten, die in diesem oder jenem Lande gegen das gemeinsame 
soziale Übel des Alkoholismus aufgeboten werden. 

Schon im Jahre 1846 tagte in London ein „World’s Temperance 
Congress“, von dessen 304 Mitgliedern nur 33 nicht aus England 
(von diesen aber 28 aus den Vereinigten Staaten) gekommen waren; 
21 Mitglieder waren Geistliche, 36 Quäker. — Im Jahre 1878 wurde 
ein Congrös international, der sich mit der Alkoholfrage beschäftigte, 
in Paris abgehalten; auf diesem war der berühmte Verfasser des 
grundlegenden Werkes „Der Alkoholismus“, Dr. A. Baer aus Berlin, 
anwesend. — 

Der erste in jener Reihe von Kongressen, für die ein Per¬ 
manenzkomitee besteht und deren neunter 1903 in Bremen dem 
achten 1901 in Wien abgehaltenen folgte, wurde von der un¬ 
ermüdlichen Britin Miss Charlotte Gray veranstaltet Er tagte 
1885 in Antwerpen, wo damals eine Ausstellung eröffnet worden 
war. Zu den Kosten dieses Kongresses steuerten englische Alkohol¬ 
gegner 409, belgische und Schweizer 102 Franks bei; die Ver¬ 
anstaltungen waren aber so anspruchslose, daß nur 119 Franks zur 
Verwendung kamen. Die abstinente Veranstalterin durfte damals 
noch nicht wagen, den Abstinenzgedanken an die Spitze der 
Ankündigung dieses bescheidenen „meeting“ zu stellen; hinter den 
Worten: contre Tabus des boissons alcooliques, durften ihn die 
kontinentalen Besucher, die man zu werben Mühe genug hatte, 
nicht ahnen. 

Im Jahre 1887 folgte der zweite Kongreß, in Zürich ab¬ 
gehalten; hier stand schon Professor Forel an der Spitze der 
Kommission; der Kongreß wurde noch nicht von Regierungen 
offiziell beschickt, wohl aber von vielen Vereinen; neben dem 
durch seinen damaligen Geschäftsführer Dr. Lammers vertretenen 
deutschen Verein gegen Mißbrauch geistiger Getränke nahm auch 
der österreichische Verein gegen Trunksucht durch seinen Gründer 


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Die Alioholgegnerkongresse. 


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{1884) Dr. v. Proskowetz am Kongresse teil; unter den 251 Mit¬ 
gliedern des Kongresses waren neun aus Österreich gekommen. 

Schon auf diesem Kongresse führte sich ein Sekretär des 
amerikanischen Brauerbundes, Gallus Thomann, ein Deutsch- 
Amerikaner, unter dem Vorwände, Berichterstatter für Zeitungen 
zu sein, ein. Der Zusammenschluß von Alkoholgegnem erregte 
also damals schon die Aufmerksamkeit der Brauherren. — 

Dem vom 3.—5. September 1890 in Christiania abgehaltenen 
dritten Kongreß, vorbereitet durch ein Komitee, welchem drei 
norwegische Minister angehörten, vor allem aber durch Miss Gray, 
die sogar die Landessprache erlernte, um besser für diesen Kongreß 
zu wirken, folgte 1893 (der Cholera wegen aufgeschoben) der vierte 
Kongreß im Haag, dessen Protektorat die jugendliche Königin der 
Niederlande übernommen hatte. Ein Minister eröffnete denselben, 
und fünf Staaten (Frankreich, Italien, Belgien, Norwegen, Luxem¬ 
burg) hatten offizielle Vertreter entsendet. Von den 351 Teil¬ 
nehmern waren 85 Ausländer. Auch der Papst hatte sich durch 
den Nuntius vertreten lassen. 

Ein in demselben Jahre in Chicago anläßlich einer Welt¬ 
ausstellung abgehaltener „World’s Temperance Congress“ hatte 
britischen und kirchlichen Charakter und befaßte sich mit der 
Frage der Prohibition, die nur für Amerika in Betracht kam. — 

Der fünfte Kongreß (1895 in Basel abgehalten), von 500 Teil¬ 
nehmern besucht, erregte besonders durch das Auftreten des Bischofs 
Egger von St Gallen Aufsehen, der als päpstlicher Abgesandter 
erschien und über Abstinenz und Schankreform sprach. Auch die 
von Kjaer mitgeteilte Statistik, wonach in Norwegens Städten die 
Besitzenden weit seltener als die der Arbeiterklasse Angehörigen 
dem Gewohnheitstrunke verfallen, ist bemerkenswert 

Das Protektorat über den sechsten in Brüssel 1897 ab¬ 
gehaltenen Kongreß hatte der König der Belgier übernommen. 
Den Vorsitz führte der Staatsminister Lejeune. Hier war zum 
ersten Male auch Rußland offiziell vertreten. Unter dem reichen 
Material, das der Bericht über diesen Kongreß (3 Bände) enthält, 
befinden sich Deströes Vortrag über Alkohol und Muskelarbeit, 
mehrere Darstellungen der Beziehung des Alkoholismus zur Arbeiter¬ 
klasse und zur Wohnungsfrage und ein bemerkenswerter Bericht 
über das Branntweinmonopol (Cauderlier). — Hier lud Dr. Legrain 
die Versammlung ein, den nächsten Kongreß in Paris abzuhalten, 


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welcher Vorschlag beifällige Annahme fand. — Die Zahl der Teil¬ 
nehmer war auf 500 gestiegen. 

Der siebente Kongreß war also der erste, der in einer Welt¬ 
stadt abgehalten wurde; er fand zu Ostern 1899 statt und war von 
1100 Personen besucht; neben der russischen und den Regierungen 
kleinerer Staaten hatte auch die österreichische Regierung diesen 
Kongreß offiziell beschickt und der Vertreter derselben war er¬ 
mächtigt, den Kongreß für 1901 nach Wien einzuladen. Durch die 
Beratung in Sektionen wurde ein ersprießlicher Meinungsaustausch 
über einzelne Prägen (z. R. über die Wirkung des russischen 
Branntweinmonopols) erschwert; dagegen waren die rednerischen 
Leistungen auf dem Pariser Kongresse von Bedeutung. Nicht nur 
die Eröffnungsreden des Unterstaatssekretärs Legrand, Brissons 
und Dr. Legrains selbst, die Vorträge von Männern der TJnter- 
richtsverwaltung, die feierliche Ansprache des Bischofs Thurinaz 
von Nancy und vor allem die im Drucke weitverbreitete Rede des 
belgischen Sozialdemokraten van der Velde, worin er unter An¬ 
führung wirtschaftsstatistischer Daten mit der in Arbeiterkreisen so 
gern gehörten Lehre aufräumte, der Alkoholismus sei allein durch 
die wirtschaftliche Not, durch zu geringe Arbeitslöhne hervor- 
gerufen, waren von nachhaltigem Eindrücke und verdienen nach¬ 
gelesen zu werden. — 

Von besonderem Werte war es auch, daß hier zuerst ein 
aktiver Offizier als Redner auftrat und über die Ursachen der 
Ausbreitung des Trunkes im Heere und über die Notwendigkeit 
der Bildung abstinenter Zirkel in der Armee und der Schaffung von 
Geselligkeitsräumen ohne Trinkgelegenheit für die dienstfreie Mann¬ 
schaft sprach. — Da auf Forels Befürwortung hin der obenerwähnte 
Antrag des österreichischen Delegierten angenommen wurde, tagte der 

vm, Kongreß (1901) in Wien unter unerwartet reger Teil¬ 
nahme (über 1200 Personen) sowohl Österreichs als des Auslandes. 
Unter Prof. Max Grubers Vorsitz hatte die Organisationskommission 
die Bildung von Landeskomitees veranlaßt, die zum Teile feierlich 
durch Statthalter eröffnet worden waren und, wie vor allem Böhmen, 
ausführliche Berichte über die Verhältnisse einzelner Länder er¬ 
statten ließen. Die Eröffnungssitzung war glanzvoll. Der Minister¬ 
präsident v. Körb er sprach einige treffliche Worte über den Alkohol, 
der, „nur als seltener Gast geduldet, ein ungefährlicher Schmeichler, 
als Hausgenosse ein Feind des Menschen sei“. Der Unterrichts¬ 
minister hielt eine glänzende Rede; es folgten Ansprachen der Ver- 


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Die Alkoholgegiierkongresse. 


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treter von 7 fremden Regierungen, darunter eines in Uniform 
erschienenen französischen Oberstabsarztes. Auch der Erzbischof 
von Wien begrüßte den Kongreß. War diese glanzvolle Eröffnung 
geeignet, die Aufmerksamkeit weitester Kreise für die Alkoholfrage 
wachzurufen, so fand, wer sich für dieselbe zu interessieren be¬ 
gonnen hatte, in den Vorträgen, welche an drei Tagen folgten, 
reichliche Belehrung und Anregung. An den Abenden wurden 
Volksversammlungen abgehalten, auf denen berufene Mitglieder des 
Kongresses die Alkoholfrage besprachen und reichlichen Beifall 
ernteten. Unter diesen war namentlich jene von Bedeutung, in 
der der Führer der Wiener Sozialdemokratie sich als Abstinenten 
bekannte und die Befreiung der Arbeiterschaft von der die auf¬ 
strebende Klassenbewegung schwer schädigenden Herrschaft der 
Trinksitten verlangte. —- 

Die deutsche Regierung war zwar auch auf dem Wiener 
Kongresse nicht vertreten, trotzdem aber wurde die von dem 
Organisationskoraitee befürwortete Einladung des Herrn Dr. Del¬ 
brück, den nächsten Kongreß auf dem Boden des Deutschen 
Reiches abzuhalten, angenommen. — 

So wurde denn der neunte Kongreß 1903 in der freien Hanse¬ 
stadt Bremen abgehalten; es war dem ungemein regsamen Komitee, 
das die schwierige Aufgabe hatte, diesen Kongreß zu organisieren, 
gelungen, nicht nur reichliche Geldmittel zur Bestreitung der 
Kongreßkosten aufzutreiben — seitdem die Kongresse in Gro߬ 
städten zu tagen begonnen haben, erhöhten sich diese Kosten ganz 
bedeutend —, sondern vor allem das Erscheinen eines Vertreters 
der Reichsregierung in der Person des Grafen Posadowski zur 
Begrüßung der Versammelten zu erwirken. Der Vertreter des 
Deutschen Reiches würdigte in bedeutsamen Worten die gegen die 
Trunksucht gerichteten Bestrebungen. Seine Bemerkungen, daß 
eine Beredsamkeit, die nur anderen Tugend predigt, aber sie nicht 
selbst übe, immer nur eine ärmliche Kunst ohne Überzeugungskraft 
bleibe, und daß die Heilung der Trunksucht aus veredelten Volks¬ 
sitten hervorgehen müsse, waren allen aus der Seele gesprochen. — 
An äußerem Glanze stand der Bremer Kongreß dem Wiener kaum 
nach, die Teilnahme der Ortsbevölkerung war in Bremen, zumal 
dank der Ausbreitung des Guttemplerordens an der Nordseeküste, 
stärker als in der österreichischen Hauptstadt, obwohl die organisierte 
Arbeiterschaft sich in Bremen weniger für den Gegenstand des 
Kongresses erwärmte. 


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Für die alkoholgegnerische Bewegung in Deutschland und 
Deutsch-Österreich waren die 1901 und 1903 auf deutschem Sprach¬ 
gebiete abgehaltenen Kongresse jedenfalls von großem, hoffentlich 
nachhaltigem Werte. — Für den zehnten Kongreß ist Budapest 
in Aussicht genommen; ob auch hier das deutsche Element ver¬ 
wiegen und die Bewegung auf deutschem Sprachgebiete Förderung 
finden wird, das soll uns die nächste Zukunft lehren. — 

Fragen wir nun nach diesem kurzen Rückblicke auf die bis¬ 
herigen Alkoholgegnerkongresse, 1 ) worin die Bedeutung derselben 
zu suchen ist, so lassen sich etwa folgende Punkte feststellen: 

1. Gesetzgeberische Akte gegen den Alkoholismus sind 
nicht als Ergebnisse der Kongresse zu verzeichnen. Das holländische 
Gesetz zur Einschränkung des Branntweingenusses (Drank wet) ging 
1881 dem Antwerpener Kongreß voraus; die Branntweinmonopol¬ 
gesetze der Schweiz und Rußlands wurden zwar auf mehreren 
Kongressen kritisiert und gegen die Yorwürfe verteidigt, die dagegen 
erhoben worden waren, aber diese Erörterungen blieben ohne Ein¬ 
fluß auf die Gesetzgebungen dieser Staaten. Auch was zum Lobe 
des Gothenburger Systems und der dasselbe begünstigenden skandi¬ 
navischen Gesetze auf den Kongressen vorgebracht worden ist, gab 
in keinem Lande Anregungen zur Nachahmung dieses Systems. 

2. Was die Bedeutung der Alkoholgegnerkongresse für die 
Wissenschaft betrifft, so wäre es eine Verkennung dieser Ver¬ 
anstaltungen, wollte man von ihnen wissenschaftliche Ergebnisse 
erwarten, wie sie wohl zuweilen auf Ärztetagen oder Fachkongressen 
verschiedener technischer Berufsgenossen zu Tage gefördert werden 
mögen. Jene Kongresse sind eben nicht Tagungen von Fach¬ 
gelehrten, welche auf einem bestimmten Gebiete Erfahrungen 
sammelten und austauschen wollen, sondern Werkzeuge einer 
ethischen Reformbewegung. — Was die Fortschritte der Wissen¬ 
schaft dazu beitragen können, die Überzeugung von der Schädlich¬ 
keit des Alkoholgenusses in physiologischer oder anderer Beziehung 
zu festigen und zu verbreiten, wird natürlich auf den Kongressen 
der Alkoholgegner mitgeteilt und weiteren Kreisen zur Kenntnis 
gebracht werden müssen, die Verbreitung dieses Wissens ist den 
Alkoholgegnem aber natürlich nur Mittel zum Zweck. Deshalb ist 

*) Der Vollständigkeit halber -wäre hier noch der 1900 in London abgehaltene 
,,‘World’sTemperance-Congress“ zu erwähnen, der, wenn auch von einigen Franzosen, 
Deutschen, Schweizern, Belgiern, Holländern und Skandinaviern besucht, doch 
vorwiegend britischen Charakter hatte. 


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Die Alkoholgegnerkongresse. 


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Professor Hueppes Vorwurf, daß wir nur dort die Wissenschaft 
hören wollen, wo sie gegen den Alkohol spricht, verfehlt — Die 
Lehren der Wissenschaft sind uns Waffen, die wir, wenn sie sie 
uns fertig liefert, gebrauchen. Streitiges muß aus dem Spiele 
bleiben. — Wir danken also dem Gelehrten nicht dafür, wenn er 
aus seinem Laboratorium oder seiner Klinik Material vor die Laien¬ 
welt bringt, das ihm, dem Gelehrten, zu theoretischen Zweifeln Anlaß 
(Nährwert, Verwendung am Krankenbette u. s. w.), dem kaum ge¬ 
wonnenen Alkoholgegner aber den vielleicht willkommenen Vorwand 
bietet, zum rückfälligen Alkoholfreund zu werden. — Die ethische 
und kulturelle Bedeutung des Kampfes gegen den Alkohol sollte 
dem Gelehrten verbieten, seine Autorität zu Gunsten materieller 
Sonderinteressen einzusetzen, gegen deren Übermacht anzukämpfen 
ohnehin schwer genug ist, und doch mit allen Mitteln angekämpft 
werden muß zum Wohle unseres Volkes. 

3. Ein Gewinn, den die Kongresse ergeben, ist die Herstellung 
persönlicher Beziehungen zwischen den Alkoholgegnem ver¬ 
schiedener Länder, ja eines Schutzbündnisses derselben. Österreich 
darf stolz sein, hierin fast mehr gegeben als empfangen zu haben 
(Kassowitz, Wlassak, Fröhlich.) — Wie wertvoll war uns 
Österreichern Prof. Grubers (München) offener Brief über Prof. 
Hueppes bekannten Vortrag auf dem Brauertage 1904, und Prof. 
Forels Eintreten für die Abhaltung des achten Kongresses in Wien 
auf dem Pariser Kongreß (1899)! 

4. Die Kongresse in Brüssel und in Paris haben schon die 
Aufmerksamkeit der höchsten Verwaltungsstellen dort vertretener 
Staaten auf die sozialpolitische und volkserziehliche Be¬ 
deutung der Alkoholfrage gelenkt Wenn auch unter den Sorgen 
der Ministerien die um die Erhaltung des politischen Einflusses 
der Begierung oder ihrer Partei, um Staatshaushalt und Handels¬ 
politik im Vordergründe stehen, so fehlt doch kaum einem modernen 
Staatsmanne des Westens der Ehrgeiz, sich auf dem Felde der 
Wohlfahrtspflege von den Regierungen der Nachbarstaaten nicht 
allzusehr überflügeln zu lassen. Mit Recht sprach man auf dem 
Haager Kongreß aus, daß in kleineren Staaten rein politische Fragen 
weniger Raum auf der Tagesordnung beanspruchen, und daß man 
deshalb in diesen mehr Zeit finde, sich mit denen des Volkswohls 
zu befassen. — Seit auch Großstaaten die Alkoholgegnerkongresse 
beschicken und genötigt waren, dieselben durch ihre Minister zu 
begrüßen (Paris, Wien, Bremen), ist es natürlich, daß sie schon 


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nach außen hin vermeiden wollen, als rückständig zu erscheinen 
und sich veranlaßt sahen, durch Verwaltungsmaßregeln, ja selbst 
durch Gesetzesvorschläge Stellung gegenüber den umsichgreifenden 
Trinksitten zu nehmen, so in Frankreich auf dem Gebiete des 
Unterrichts und der Fürsorge für die im Heere Dienenden; in 
Österreich verfügte man schon während der Vorarbeiten für den. 
achten Kongreß die Sperrung der Branntweinschenken am Sonnabend 
5 Uhr und am Sonntag nachmittag im Wege polizeilicher Ver¬ 
ordnung in mehreren Provinzen, und der Verwaltungsgerichtshof 
bestätigte die Gültigkeit dieser Verordnungen; ebenso wurden noch 
vor der Eröffnung des Wiener Kongresses die Verabreichung von 
Bum als Beigabe zum Tee in gemeinnützigen Speiseanstalten ver¬ 
boten; nach dem Kongreß folgte ein Erlaß, der die Gewerbe¬ 
behörden an wies, Bewerber um Gastbauskonzessionen dann zu be¬ 
günstigen, wenn sie auf den Ausschank geistiger Getränke ver¬ 
zichten. Das Unterrichtsministerium erneuerte Anweisungen an die 
Schulbehörden, die Warnung der Jugend vor dem Alkoholgenuß 
und die Belehrung über dessen Einfluß betreffend, ordnete die 
Verteilung einer belehrenden Schrift 1 ) an, unterstützte die Her¬ 
stellung der trefflichen Wandbilder (nach Weichselbaum-Henning, 
Trinker-Organe darstellend), die im Verlage der k. k. Hof- und 
Staatsdruckerei erschienen, und die Verbreitung des Merthschen 
Kompendiums über die Bekämpfung der Trunksucht durch die 
Schule. — Ja, im Oktober 1902 legte die Regierung einen neuen 
Entwurf für ein Gesetz zur Einschränkung der Trunksucht vor, 
welches weit entschiedener als die älteren Entwürfe (1887—1891) 
dem Kleinhandel mit Branntwein zu Leibe geht und die Bestrafung 
der Trunkenheit und ihrer Förderer vorsieht — Leider hat der 
zur Vorberatung dieses Entwurfes berufene Gewerbeausschuß dem 
Gesetzentwürfe die Spitzen abgebrochen und kam es bisher noch 
zu keiner Beratung desselben im Abgeordnetenhause. — Ebenso 
ging dem Bremer Kongreß der Antrag des Grafen Douglas im 
preußischen Landtage voraus, der von schankpolizeilichen und 
unterrichtsbehördlichen Erlässen, Wohlfahrtseinrichtungen in Staats¬ 
betrieben, Unterstützung des Vereins gegen Mißbrauch geistiger 
Getränke von Staats wegen und von Verfügungen militärischer Vor¬ 
gesetzter gefolgt war. — 

5. Nicht minder als Staatsverwaltungen haben die Kongresse 


l ) „Was die Jugend vom Alkohol wissen soll“, k. k. Schulbücher-Y erlag, 1904.. 


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Die Alkoholgegnerkongresse. 


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kirchliche Funktionäre an ihre Pflichten gegenüber dem Umsich¬ 
greifen der Trinksitten gemahnt — Dem Auftreten des Pfarrer 
Neumann in Wien folgte die Gründung eines katholischen MäBig- 
keitsvereins (jetzt „Kreuzbündnis“) in Wien und eines katholischen 
Priesterbundes; beide traten mit den Provinzen in Verbindungen, 
brachten 1903 auf dem Grazer Katholikentage die Alkoholfrage zur 
Erörterung und verbreiteten treffliche Schriften in ganz Österreich. 

6. Auch die organisierte Arbeiterschaft für die Alkoholfrage 
interessiert und teilweise gewonnen zu haben, ist ein wichtiger 
Erfolg der Kongresse. Mehr als andere sind die physisch schwer 
Arbeitenden den Gefahren des Alkoholisnms ausgesetzt; nicht nur 
das in einzelnen Betrieben begründete Bedürfnis, Uülustgeftible zu 
beseitigen, sondern auch die minder ausreichende Ernährung, der 
Mangel behaglicher Häuslichkeit, die größere Abhängigkeit vom 
Wirt und Lebensmittelhändler macht den schlecht bezahlten Hilfs¬ 
arbeiter häufiger und rascher zum Opfer der Schenke oder des 
Trinkzwanges als besser genährte und behaglicher lebende Mit¬ 
bürger. Traten schon in Zürich und im Haag Fabrikarbeiter für 
die Abstinenz ein, so waren doch erst van der Yeldes Rede in 
Paris, das Auftreten Adlers und Fröhlichs in den an den Wiener 
und an den Bremer Kongreß angeschlossenen YolksVersammlungen 
von großer Bedeutung für die Stellung der Sozialdemokratie zur 
Alkoholfrage. 

Den günstigen Einflüssen der Kongresse steht freilich ent¬ 
gegen, daß die letzteren auch die Aufmerksamkeit der an dem 
Alkoholkonsum Interessierten auf sich gezogen und sie veranlaßt 
haben, mit ihren reichlichen Geldmitteln Gegendemonstrationen und 
eine den Alkoholgenuß rechtfertigende und anpreisende Literatur 
zu unterstützen. — Gegen Bestrebungen, welche ein schweres 
folgenreiches soziales Übel bekämpfen, die von staatlichen und 
kirchlichen Behörden öffentlich gebilligt werden, geht es freilich 
nicht mehr an, offen aufzutreten; aber die Brauer, Brenner und 
Weinhändler haben mit Glück versucht, den immer noch von ver¬ 
hältnismäßig Wenigen vertretenen Tendenzen der Alkoholgegner 
dadurch den Boden abzugraben, daß sie sie der Übertreibung oder 
der Heuchelei beschuldigen und auf die volkswirtschaftliche Be¬ 
deutung der Alkoholproduktion hinweisend, die Staatsgewalt, die 
der Steuern nicht entraten kann, zum Schutze des „mäßigen 
Alkoholgenusses“ zu gewinnen suchen. — 

Soviel wir auch den Alkoholgegner-Kongressen zu danken 


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Dr. Adolf Daum. Die Alkoholgegnerkongresse. 


haben, so wird es doch noch langer und intensiver Einwirkung 
von Mann zu Mann, von Frau zu Frau und wechselweise in allen 
Gruppen der Gesellschaft und unausgesetzter immer von neuem 
und von immer mehr Berufenen ausgehender Belehrung aller 
Volksschichten bedürfen, ehe es gelin g t, die Gegnerschaft un¬ 
gefährlich zu machen, welche von den mächtigen und einflußreichen 
Besitzern des Gersten- und Kartoffellandes den volkstümlichen 
Weinbergbesitzem, den reichen Brauherren, Spiritus-Baronen, -Grafen 
und -Fürsten, den Gastwirten, denen die meisten Vereins- und 
Wahlbesprechungslokalitäten gehören, den Besitzern wertvoller 
Branntweinschankkonzessionen und den Händlern mit Bum und 
Kognak ausgeht und über reichliche Mittel verfügt — 

Möge der zehnte Internationale Kongreß gegen den Alkoholis¬ 
mus, in der Hauptstadt des Weinbau treibenden Ungarn abzuhalten, 
hinter seinen Vorgängern an agitatorischer Wirkung, an bleibenden 
Erfolgen nicht zurückstehen und unserem Kampfe neue Gebiete 
gewinnen helfen.“ — 


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Original frum 

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295 


IL Referate. 

Kruse. Untere Aufgaben an den Opfern des Alkohols. Vortrag auf der Versamm¬ 
lung des hannoverschen kirchlichen Blaukreuzverbandes am 2. November 1904 
zu Hannover. Separatabdruck aus der Monatsschrift für Innere Mission. 

Vor zehn Jahren hat der Dresdener Bezirks verein gegen den Mißbrauch 
geistiger Getränke „Bilder aus der individuellen Trinkerpflege 44 veröffentlicht. 
Diese Dresdener Schilderungen waren durchaus geeignet, jegliche etwas weiter¬ 
gehende Hoffnung auf Besserung des individuellen Trinkerelendes zu ersticken. 
Dem aus der Heilstätte entlassenen Trinker nahen sich die Mäßigen als Verführer. 
Pastor Kruse sagt mit Recht: Trinkerrettung ist, wenn man nicht außerordent¬ 
liche Mittel anwendet, nahezu unmöglich. Trunksucht ist Sünde und Krankheit. 
Trinker, welche zugeben, daß sie nicht ohne eigene Schuld in die Trunksucht 
hineingekommen sind, eröffnen allein Heilungsaussichten, Oft freilich erscheint 
die eigene Schuld des Trinkers nur gering im Vergleich zur Schuld der mensch¬ 
lichen Gesellschaft, zur Tyrannei der Trinksitten. Unbedingte Abstinenz muß. 
der unnormal gewordene Gewohnheitstrinker lernen. „Wem das Trinken zur 
Sünde wurde, der hat das Auge der Trinkgewohnheit mit der Wurzel auszu¬ 
rotten. 44 Trinkerheilstätten und Abstinenzvereine müssen Hand in Hand gehen. 
Besonders aber ist das Blaue Kreuz der Enthaltsamkeitsverein zur Rettung von 
Trinkern wie er sein soll. P. S. 


Stubbe. Das Trinken in Schleswig-Holstein. Mäßigkeits-Verlag. 1905. 

Anläßlich der landwirtschaftlichen Ausstellung der Provinz Schleswig-Hol¬ 
stein hat Pastor Stubbe die Resultate einer Umfrage bei den Verwaltungs¬ 
organen der Provinz und den Vertrauensmännern des Vereins gegen d. M. g. 
Getränke zusammengestellt. 

Die ortskundigen Berichte geben über die einzelnen Kreise der Provinz 
genauere Daten. Im allgemeinen hat der Getränkeverbrauch in den letzten Jahren 
etwas abgenommen. Ob die Besserung von Dauer, ist fraglich. 

Durch beigefügte statistische Einzelangaben und ein beherzigenswertes 
Schlußwort wird der Wert der Schrift noch erhöht P. S. 


Marcinowskl. Im Kampf um gesunde Nerven. 2. umgearbeitete Auflage. Berlin r 
bei Otto Salle. 1905. Preis 2 Mk. 

Das sehr empfehlenswerte Buch von Marcinowski hat in kurzer Zeit 
die zweite Auflage erlebt. Es soll ein Wegweiser zum Verständnis und zur 
Heilung nervöser Zustände sein und für die Erziehung der Nervösen zu kraft¬ 
vollen, in sich gefestigten Persönlichkeiten wirken. Der Alkohol ist nach Mar¬ 
cinowski ein Nervengift, dessen Genuß grundsätzlich schädlich ist. Auf die 
Menge kommt es dabei gar nicht an. Die Frage, wo die Grenze für den er¬ 
laubten Genuß oder den nicht erlaubten Mißbrauch liegt, ist für die grundsätz¬ 
liche Erledigung der Frage gleichgültig. Die anregende Wirkung des Alkohols 
ist eine scheinbare, ein Irrtum, welcher dadurch zu stände kommt, daß die- 
Lähmung zuerst die feinen Hemmungen und Allgemeingefühle betrifft. Lähmung 
-des Ermüdungsgefühls ist kein Kraftzuwachs, sondern ein Selbstbetrug. P. S. 


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296 


Referate. 


Laquer. Sozial-Hygienisches aus den Vereinigten Staaten. Vortrag auf dem Kon¬ 
greß für innere Medizin. April 1905. 

In der „Medizinischen Reform 14 No. 17, 1905, gibt Laquer ein Autorreferat 
über seinen auf dem diesjährigen Kongreß für innere Medizin gehaltenen Vor¬ 
trag. Der Inhalt deckt sich teilweise mit der Schrift: Trunksucht und Temperenz 
(vergl. den Bericht in dem vorletzten Heft des „Alkoholismus 44 .) Erwähnung ver¬ 
dient noch folgendes: In den Vereinigten Staaten ist in 50% von 7000 Betrieben 
jeder Alkoholgennß während der Arbeit verboten, die Frühstücks- und Vesper¬ 
pausen unbekannt, die Arbeitszeit schon dadurch eine um 15 % kürzere als bei 
uns. Der Aufschwung der amerikanischen Industrie beruht zum Teil auf diesen 
Verhältnissen, andererseits ist das frühzeitige Erschöpftsein der amerikanischen 
Arbeiter zahlenmäßig nachzuweisen; es herrscht eben die äußerste Ausnutzung 
der Kräfte. Von je 1000 Einwohnern waren 

40—60 Jahre alt in Deutschland 179 

in Amerika 170 

über 60 Jahre in Deutschland 78 

in Amerika 65. 

Laquer richtete die Bitte an Kliniker und Ärzte, der Alkoholfrage am 
Krankenbette, in Kranken- und Irrenhäusern, als Kassen-, Eisenbahn- und Unfall- 
Ärzte noch mehr Beachtung zu schenken und die Bestrebungen des deutschen 
Vereins gegen den Mißbrauch geistiger Getränke lebhafter zu unterstützen. 

P. S. 


Raecke. Zur Abgrenzung der forensischen Alkoholparanoia. Archiv für Psychiatrie. 

39. Bd. Heft 2. (Referat in der Zeitschrift für Mediziealbeamte 1905, Nr. 8.) 

Die chronischen Geisteskrankheiten der Trinker haben, wie Verfasser an 
einer eingehenden Literaturübersicht zeigt, bisher nur geringe Bearbeitung ge¬ 
funden. Namentlich hat man häufig den Eifersuchtswahn der Trinker als ein 
besonderes Krankheitsbild angesehen. Nicht selten treten jedoch Eifersuchts¬ 
wahnideen unter dem Einfluß der akuten Alhoholvergiftung auf, um nach deren 
Abklingen wieder zu verschwinden, ohne Neigung zur weiteren Ausbreitung 
zu zeigen. 

Bei dauernden geistigen Störungen der Trinker sind zwei Gruppen von 
Endzuständen zu unterscheiden: der Ausgang in Verblödung und der Ausgang in 
fortschreitende Wahnbildung. Verfasser erläutert die letztere Form an fünf 
Fällen. Zu dem allen gemeinsamen Eifersuchtswahn gesellen sich hier syste¬ 
matische Größen- und Verfolgungsideen und Sinnestäuschungen. Die Prognose 
ist absolut ungünstig, die Gemeingefährlichkeit groß. Indessen kommen auf 
200 Geisteskranke nur 3 Fälle dieser Form der geistigen Störung. P. S. 

Bonne. Ober den Trinkzwang beim Broterwerb. 4. Auflage. Flensburg. 1905. 

Bonn es Schrift berührt einen sehr wunden Punkt in unserem Volksleben. 
Nicht nur Verkäufer und Vertreter von alkoholischen Getränken müssen unteT 
den jetzigen Verhältnissen durch eigenes „Verzehren 44 , d, h. „Trinken 44 um die 
Gunst des kaufenden Wirtes buhlen, sondern Verkäufer und Vertreter aller mög¬ 
lichen Firmen: Fabrikanten von Bierseideln und Bierfilzen, Restaurationsmöbeln 
und Gartenstühlen, Bierdruckpumpen und Bierhähnen, Wein- und Bierkorken, 
Faßfabrikanten, Flaschenfabrikanten, Fabrikanten von Zigarren und Zigarretten. 


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Referate. 


297 


Und manchem Wirt ergeht es nicht besser wie seinen Opfern: will er tüchtig 
verkaufen, so muß er selbst sich am Trinken beteiligen. Dazu kommen die von 
findigen Wirten eigens zu dem Zweck, ihren Lieferanten, Agenten, Fabrikanten 
und Handwerkern Gelegenheit zu einer tüchtigen Zeche zu geben, veranstalteten 
festlichen Abendessen (häufig mit Weinzwang), die Preisskate und Preiskegeleien, 
das Gänseausspielen auf dem Billard. In Hamburg holen die Fuhrleute Waren 
und Aufträge in Schankwirtschaften ab und siqd so gleichfalls zu vielem Trinken 
genötigt. 

Gesetze und Polizeivorschriften nützen gegen diese Unsitten in unserem 
Volksleben wenig. Das Volk und besonders die leitenden Kreise müssen durch¬ 
drungen werden von der Überzeugung, daß das Wirtsgewerbe nur zu dulden ist, 
wenn es den Bedürfnissen der Menschen nach gesunden Speisen und Getränken 
nachkommt, daß es aber ein „unsittliches“ Gewerbe wird, sobald es darauf aus¬ 
geht, aus der Notlage, den Schwächen und Fehlem der Menschen seinen Profit 
zu ziehen. P. S. 


Fröhlich« Alkohol als Krankheitsursache. 8 . Bändchen der Volksschriften über 
Gesundheitswesen und Sozialpolitik. Wien. 1904. 0,15 Mk. 

Fröhlich hat sich um die Bekämpfung des Alkoholismus innerhalb der 
Arbeiterkreise Österreichs vielfach verdient gemacht. Seine Vortragstournee in 
Deutschland im vorigen Jahre fand aus politischen Gründen eine plötzliche Unter¬ 
brechung. Sie hatte unter erfolgversprechenden Auspicien begonnen. 

Wien vertrank im Jahre 1901 ungefähr für 100 Millionen Kronen alkoholische 
Getränke. Zu der Getränkmenge trägt der Schnaps nur etwa den vierten Teil 
bei, Bier und Wein dagegen drei Viertel. Überall in Österreich, besonders aber 
in den Industrieorten, kommt dem Bier der Hauptanteil an der Alkoholisierung 
der Massen zu. Der Hauptgrund dafür ist in dem unbegründeten Ruf des Bieres 
als Nahrungsmittel zu suchen. Für seine betäubende und schmerzstillende 
Wirkung macht sich der Alkohol bezahlt durch Schwächung der Gesundheit, 
Leistungsfähigkeit und Widerstandskraft 10 Abbildungen der durch den Alkohol 
an den einzelnen Organen herbeigeführren Veränderungen sind der Schrift ein¬ 
gefügt Die häufig schon an sich ungünstigen Lebensbedingungen der Arbeiter 
werden durch den Alkoholgenuß noch mehr verschlechtert. 

Den Schluß bildet die Aufforderung zur Abstinenz. Denn wie Professor 
Gruber meint auch der Verfasser, daß es wissenschaftlich unmöglich ist, eine 
für jede Individualität, für jedes Alter und für jede Lebensweise sicher unschäd¬ 
liche Dosis des Alkohols anzugeben. P. S. 


Alkoholgenuh schulpflichtiger Kinder. 

Die „Enthaltsamkeit“, Oktober 1903, berichtet über Erhebungen, die Lehrer 
Walter und Scheu im Stadt- und Landbezirk Ulm bei zusammen 8099 Kindern 
der evangelischen Volksschulen anstellten. Die Ergebnisse sind aus der nach¬ 
folgenden Tabelle ersichtlich. Die betreffenden 8699 Kinder verbrauchen täglich 
etwa 600 1 geistige Getränke, jährlich also 2190 hi. Diese Menge, das hl zu 
rund 18 Mk. berechnet, hat einen Wert von über 39000 Mark. Der Schul¬ 
sparkasse übergeben, würde eine solche Summe natürlich sehr segenbringend 
verwendet werden können. 

Der Alkoholismus. 1905. 20 


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298 


Referate. 



Stadt 

| Land 

Summa 

' 

absol. 

% 

absol. 

% 

absol. 

% 

Kinderzahl 

2608 


1901 


8699 


Wer hat noch nie alkoholische Ge- 







tränke getrunken?. 

12 

0,4 

2 

0,19 

21 

0,38 

Wer mag sie nicht gern? . . . 

853 

13,4 

14 

1.01 

364 

9,84 

Wer trinkt sie nur bei besonderen 







Gelegenheiten ?. 

517 

— 

— 

— 

— 

— 

Wer trinkt sie als Arznei mit ärzt- 







liehen Rat?. 

66 

2,5 

4 

0,36 

70 

1,89 

Wer trinkt sie als Arznei ohne ärzt- 







hohem Rat?. 

70 

2,6 

— 

— 

— 

— 

Wer trinkt täglich weniger als l / 4 1? 

798 

80,5 

80 

7,83 

878 

28,78 

,, ,, ,, etwa 1 / 4 1? . 

1085 

41,6 

131 

12,00 

1216 

32,86 

„ „ „ etwa V, 1? . . 

271 

10,3 

176 

16,14 

447 

12,08 

„ „ „ mehr als V* 1? 

128 

4,9 

638 

58,47 

766 

20,70 

Wer bekommt hauptsächlich Bier? 

898 

34,4 

319 

29,24 

1217 

32,86 

,, „ ,, Most? 

1174 

45,0 

736 

67,55 

1910 

51,62 

„ „ „ Wein? 

54 

2,0 

1 

0,01 

55 

1,49 

Wer hat noch nie Branntwein ge¬ 







trunken? . 

872 

14,2 

280 

25,66 

652 

17,62 

Wer bekommt mittags alkoholische 







Getränke?. 

1050 

40,2 

626 

57,37 

1676 

45,29 

Wer bekommt Milch außer zum 







Kaffee täglich?. 

816 

31,2 

607 

55,63 

1423 

88,46 

Wer bekommt Milch außer zum 







Kaffee wöchentlich 2mal? . . 

1006 

38,5 

231 

21,17 

1287 

33,43 

Wer bekommt Milch außer zum 







Kaffee selten?. 

390 

14,9 

174 

15,93 

564 

15,24 

Wer bekommt Milch außer zum 







Kaffee nie?. 

881 

14,6 

73 

6,69 

554 

15,00 

Wer weiß noch Fälle, wo nicht schul¬ 







pflichtige Kinder alkoholische Ge¬ 







tränke bekommen?. 

472 

— 

346 

— 

818 

— 


Hartmeyer, Hans. Der Weinhandel im Gebiete der Hansa im Mittelalter. (Heft 3 
der volkswirtschaftlichen und wirtschaftsgeschichtlichen Abhandlungen, heraus¬ 
gegeben von Prof. Stieda). Jena, Gustav Fischer. 1905. 119 Seiten. Preis 
2,50 Mk. 

Im Mittelalter wurde in Deutschland Wein in viel größerer Ausdehnung ge¬ 
baut wie jetzt. Weinreben wurden damals nicht nur an dem Ehein und der 
Mosel gezogen, sondern auch an der Oder und selbst am Pregel. Bei den 
Deutschrittern in der Marienburg genoß der „Thomer“ Wein sogar einen be¬ 
deutenden Ruf. So wackere Kämpen die Ritter des deutschen Ordens waren, so 
standhaft waren sie im Trinken. 

Hartmeyer zeigt in instruktiver Darstellung, wie mit dem Emporkommen 
der Hansa die italienischen und französischen Weine die eigene Produktion in 
Norddeutschland verdrängten. Veränderungen im Klima und gleichzeitig der durch 
den ausländischen Wein verwöhnte Geschmack der norddeutschen Konsumenten 
halfen mit, das Eigengewächs, soweit es nicht am Rhein wuchs, zu Falle zu 
bringen. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist der hansische Weinexport aus den 
Weingebieten Südfrankreichs nach England sehr alt. Die nach England bestimmten, 


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Referate. 


299 


rheinabwärts fahrenden Schiffe der Hansa trafen sich im Mündungsgebiete des 
Rheins mit den Weintaufleuten aus Frankreich und Spanien, die dort gleichfalls 
Station zu machen pflegten, bevor sie ihre Fahrt nach England oder den baltischen 
Ländern fortsetzten. Andererseits gingen Danzigs Weinschiffe bis nach Spanien 
nnd Portugal. Preußische Schiffe pflegten im 14. Jahrhundert galizischen Wein 
von Lissabon aus nach Bordeaux oder Flandern oder nach der Heimat zu bringen. 
Der Danziger Schiffer, von englischen und spanischen Piraten und den tückischen 
Wellen des Meeres viel belästigt, fand doch, bei diesem gefährlichen Handels¬ 
verkehr seine Rechnung. Französische Weine kamen damals hauptsächlich aus 
Poitou und Orleans. Auf dem Peterhof in Nowgorod vermittelte sich der Aus¬ 
tausch zwischen der Weinfracht der Danziger Lastschiffe und dem russischen 
Pelzreichtum. 

Aus den Darlegungen des Verfasser? entsteht vor unseren Augen ein hoch¬ 
interessantes kulturelles Bild. Die Hauptverkehrswege, die politischen Beziehungen 
zwischen den Staaten, das Verhalten der Stadtgemeinden zu der fremden Wein¬ 
einfuhr, das ganze Milieu des Kaufmannsstandes im 14. und 15. Jahrhundert 
wird durch treffende Schlaglichter gezeichnet. Die Wichtigkeit des Weines als 
eines Haupthandelsartikels schon im deutschen Mittelalter tritt deutlich hervor. 

__ P. S. 

Hundt* Abstinente Naturvölker. Internationale Monatsschrift zur Erforschung 
des Alkoholismus und Bekämpfung der Trinksitten. 1905. Heft 5. 

Verfasser bringt für die Kulturgeschichte des Alkohols recht beachtens¬ 
werte Tatsachen. Naturvölker, welche von den „Segnungen der Kultur“ unbe¬ 
rührt geblieben sind, existieren heute nur noch verschwindend wenig. Durch 
die Expeditionen von von den Steinen haben wir sichere Kunde von Indianer¬ 
stämmen Zentralbrasiliens bekommen, denen jeder Alkoholgenuß und andererseits 
auch der Gebrauch des Kochsalzes in reiner Form unbekannt ist. Dabei stehen 
sie an sich auf keiner niedrigeren Kulturstufe wie gewisse andere Indianerstämme 
in Mittel- und Südamerika, die schon in vorkolumbischer Zeit alkoholhaltige Ge¬ 
tränke zu bereiten verstanden und zwar zum Teil durch einfaches Kauen von 
brotähnlichen Produkten, zum Teil durch Gährung zuckerhaltiger Früchte: Agaven, 
Kaktusfeigen. 

Dr. v. Mur alt kommt zu dem Schluß: Die erste Gewinnung alkoholischer 
Getränke erscheint mehr als ein unglücklicher Zufall, denn als notwendige Folge 
eines auf einer gewissen Kulturstufe eintretenden Bedürfnisses nach Berauschung. 

_____ P. S. 

Schröder, Paul* Ober chronische Alkoholpsychosen. Sammlung zwangloser Ab¬ 
handlungen aus dem Gebiete der Nerven- und Geisteskrankheiten. Band VI, 
Heft 2/3. 1,80 Mk. 

Verfasser bringt zahlreiche Krankengeschichten als Beispiele der in Frage 
kommenden Formen der geistigen Erkrankung bei Trinkern. Doch bekennt er, 
daß dieses Gebiet noch recht wenig geklärt ist. 

Bei den chronischen Geistesstörungen der Trinker lassen sich zwei große 
Gruppen unterscheiden: die Formen, welche dem Lähmungsirresein (paralysis 
progressiva) und diejenigen Formen, welche der Verrücktheit (paranoia), d. h. 
der fortschreitenden Wahnbildung nahe stehen. Namentlich diese letzteren 
Formen der chronischen Wahnbildung bei Trinkern lassen sich bisher trotz des 

20 * 


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300 


Referate. 


vorliegenden reichen Materials noch durchaus nicht deutlich von den verwandten 
Arten geistiger Störung abgrenzen. Auch braucht nicht jede chronische Geistes¬ 
störung, welche bei einem Trinker zur Entwicklung kommt, alkoholischer Natur 
zu sein. Die Entstehungsursachen der geistigen Krankheiten bilden überhaupt 
eins der schwierigsten Kapitel der Medizin. P. S. 


Reinhardt, Ludwig. Im Kampfe gegen den Alkohol. Neuwied und Leipzig, 
Heusers Verlag. 1905. 1 Mk. 

Die Ausführungen des Verfassers sind nicht frei von Widersprüchen. Er 
erörtert zunächst die kulturfeindliche Wirkung des Alkohols. Daß die Kultur¬ 
menschheit überhaupt heute noch besteht, sagt er auf S. 3, ist ein Verdienst der 
„Mäßigen“. Später aber ändert er seine Ansicht. Mit Professor Bunge sind 
ihm jetzt „die Mäßigen die Verführer“. Ohne jede Bedingung unterschreibt er 
alles, was Professor Bunge, der unermüdliche Vorkämpfer für völlige Enthaltung 
von allen geistigen Getränken, gegen den Alkohol gesagt hat. Es lohnt sich, 
einmal eine Äußerung von Professor Bunge, die auch von Reinhardt des 
längeren erörtert wird, kritisch zu betrachten. Professor Bunge hat die Formel 
auf gestellt: der Alkohol betäubt das Gefühl der Müdigkeit und das Gefühl der 
Langenweile. Beide Gefühle sind aber wohltätige Einrichtungen zur Selbst- 
regulierung unseres Organismus. Ergo: „Der Alkohol lähmt alles Gute im 
Menschen.“ Von einem Naturforscher, der vorurteilslos das unermessene Gebiet 
der Natur betrachtet, kann man diese mit dogmatischer Sicherheit aufgestellte 
und von Reinhardt wiederholte Behauptung nicht kritiklos hinnehmen. Das 
Gefühl der Langenweile soll eine „wohltätige“ Einrichtung sein, weil es zur Arbeit 
und Anstrengung zwingt. Es heißt doch mit dem Begriff „Arbeit 11 spielen, wenn 
unterschiedslos alle Arbeit, zu der das „wohltätige“ Gefühl der Langenweile an¬ 
treibt, als gut bezeichnet wird und wenn andererseits jeder, der das Gefühl der 
Müdigkeit unterdrückt, die Maschine seines Körpers überheizen und damit seiner 
Gesundheit schaden soll. Wenigstens lehrt Bunge und wie er auch Reinhardt: 
„Das Müdigkeitsgefühl ist das Sicherheitsventil an unserer Maschine“. So hätte 
auch ein Virchow seiner Gesundheit geschadet? Ihm diente die Besiegung des 
Müdigkeitsgefühls, die Ersetzung der Erholung durch neue Arbeit, nach unserem 
Urteil wenigstens, nur zum besten. Den Ausspruch Kaiser Wilhelms I.: „Ich 
habe keine Zeit, müde zu sein“ hätte Virchow freudig zustimmend unterschrieben. 
Ich glaube wahrlich nicht, daß bei irgend einem der geistigen Arbeiter die Lange¬ 
weile als treibendes Motiv eine irgendwie nennenswerte Rolle gespielt hat. Mir 
scheint im Gegenteil, daß die Arbeit, welche ein Ausfluß des Gefühls der Langen¬ 
weile ist, einen recht geringen Wert hat. Oder sollte jemand, der aus Lange¬ 
weile sportmäßig Berge klettert oder Automobil fährt oder an Rad- und Ruder- 
Rennen teilnimmt oder seine Wadenmuskeln beim Tanzen bis in den hellen Morgen 
anstrengt, wirklich eine nutzbringende Arbeit leisten? Ich meine, der Brau¬ 
meister, welcher sioh und seine Familie durch seine Arbeit redlich nährt, ver¬ 
richtet mindestens ebenso wertvolle Arbeit, als der Philosoph oder Menschen¬ 
freund, welcher aus „Langerweile“ Bücher schreibt. 

Doch von diesen Einwendungen gegen Reinhardts kritiklose Bunge- 
Gläubigkeit abgesehen, ist die Schrift „Im Kampfe gegen den Alkohol“ nur zu 
empfehlen. Sie bringt ausführlich und in interessanter Form alles, was für die 
im Kampfe gegen den Alkohol Stehenden zu wissen wichtig ist. P. S. 


D : by Gougle 


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.Referate. 


301 


Lehmann. Die Industrie der alkoholfreien Getränke. Band 285 der chemisch- 
technischen Bibliothek. Wien und Leipzig. A. Hartlebens Verlag. 1905. 
XVI und 864 Seiten. 6,80 Mk. 

Infolge der Antialkoholbewegung hat sich ein starker Konsum alkoholfreier 
Getränke entwickelt. Die Nachfrage, verspricht noch immer größer zu werden. 
Der Verfasser des vorliegenden Buches ist Leiter der von dem allgemeinen 
deutschen Zentralverband zur Bekämpfung des Alkoholismus eingeriohteten Unter¬ 
suchungsstelle für alkoholfreie Getränke und hat seine Schrift in erster Linie 
für alle bestimmt, welche sich mit der Herstellung alkoholfreier Getränke be¬ 
schäftigen. Er behandelt ausführlich: 

I. Die Materialien, welche bei der Bereitung alkoholfreier Getränke ver¬ 
wendet werden. 

II. Die Fermente, Konservierungsmittel und Konservierungsmethoden. 

HI. Die Bereitung der alkoholfreien Getränke. 

IV. Kellerwirtschaftliche Maschinen und Arbeiten. 

Vorwiegend vom technischen und chemischen Standpunkte aus geschrieben, 
ist es doch auch für den Alkoholgegner überhaupt interessant, das weite Gebiet 
zu durchmustem, welches die Fabrikation der alkoholfreien Getränke in unserer 
Zeit für sich beansprucht. Offiziell gelten als „alkoholfrei“ alle Getränke, welche 
nicht mehr wie 5 Gramm Alkohol im Liter enthalten. Bekanntlich enthalten 
nach den Untersuchungen von Dr. Falck verschiedene als „alkoholfrei“ be- 
zeichnete Getränke bis zu 2,4% Alkohol. Alkohol, und zwar in 20% Lösung, 
ist ein beliebtes Konservierungsmittel für Fruchtsäfte (Himbeersaft, Erdbeersaft). 
Fruchtsäfte, nur kurze Zeit der Luft ausgesetzt, entwickeln Alkohol. Die 
Fabrikanten können mit gutem Gewissen behaupten, keinen Alkohol zugesetzt zu 
haben, und sie bringen doch keine „alkoholfreien“ Getränke in Verkehr. Zieht 
man diesen wichtigen Punkt in Betracht, so vermißt man in dem Buche eine 
Anleitung zur Bestimmung des Alkoholgehaltes. Trotz aller Vorsichtsmaßregeln 
können sich auch im „alkoholfreien“ Most die gärungserregenden und alkohol¬ 
erzeugenden Stoffe befinden. Es wäre daher wichtig, wenn der Käufer und 
Produzent auch mit den Methoden zum quantitativen Alkoholnachweis in dem 
Buche bekannt gemacht würde. P. S. 


Hindhede. Die Stellung des Arztes zum Alkohol. Vortrag, gehalten auf dem 
VI. nordischen Enthaltsamkeits-Kongreß. Die Alkoholfrage. 1905. 

Hindhede entstammt einer Familie, in welcher seit mehreren Generationen 
der Alkoholgenuß verpönt ist. Er verordnet als Arzt den Alkohol nur bei plötzlich 
auftretenden heftigen Schmerzen, wenn er kein anderes schmerzstillendes Mittel 
zur Hand hat. Er bestreitet jede anregende Wirkung des Alkohols. Wie so 
viele andere vergißt auch er, daß ein im übrigen narkotisch wirkendes Mittel 
wie Äther und Alkohol auf einen im wesentlichen automatisch, ohne Nervenreiz, 
tätigen Muskel wie das Herz stimulierend wirken kann. Laitinens Versuche 
an Tieren über die Empfindlichkeit für Infektionsstoffe lassen sich nicht ohne 
weiteres auf den Menschen übertragen. Immerhin scheinen die am Londoner 
Temperance-Hospital bei der Behandlung der Infektionskrankheiten ohne Alkohol 
erzielten Resultate nicht für eine ausschlaggebende günstige Wirkung des Alkohols 
bei den menschlichen Infektionskrankheiten zu sprechen. Richtig ist, daß viele 
Ärzte nach gründlichem Studium der Alkoholfrage von der Verordnung des 


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302 


Referate. 


Alkohols als Heilmittel abgekommen sind, während wohl noch niemals ein Arzt 
den entgegengesetzten Weg gegangen ist. Richtig ist ferner, daß bei Menschen, 
die vorher nie Alkohol getrunken, der Alkohol keine belebende, sondern nur eine 
ermüdende Wirkung hat. Geborene Abstinenten werden nach dem Genuß eines 
Glases Bier oder Wein schläfrig und matt. Doch gibt es derartige „normale 14 
Männer leider nur noch sehr wenig. Die meisten ermuntern sich heute mit 
einem Glas, um nach zehn Jahren deren vielleicht zehn zu brauchen. Und 
gerade die am meisten „vertragen“, bekommen eines schönen Tages Delirium. 

Nach Hindhede gibt es in der Lehre vom Alkohol nur zwei theoretisoh 
haltbare Standpunkte: 

1 . Überhaupt kein Alkohol. 

2 . Steigender Alkoholverbrauch bis auf etwa 1 Liter Branntwein täglich. 

Freilich wer gegen die Trinkgebräuche redet, der schließt sich gleichzeitig 

vom Gesellschaftsleben aus. Das hat Hindhede grundsätzlich seit zehn Jahren 
getan. P. S. 

Killz. Zur Hygiene des Trinkens in den Tropen. Flensburg. Verlag von Deutsch¬ 
lands Großloge II. Preis 20 Pfg. 

Alle Gründe, die schon im gemäßigten Klima gegen den Alkohol sprechen, 
gelten in noch viel höherem Maße für die Tropen. Leichte Biere sind im Tropen¬ 
klima schlecht haltbar, daher werden die für die Tropen bestimmten Biere stärker 
eingebraut und haben höheren Alkoholgehalt. Manche Todesfälle an Herzschwäche, 
mancher Ausbruch von Tropenkoller und nervöser Verstimmung ist sicherlich 
mehr auf Rechnung des gesteigerten Alkoholgenusses als des Tropenklimas zu 
setzen. Das Toleranzquantum des Alkohols ist in den Tropen entschieden be¬ 
deutend herabgesetzt. Daher ist schon ein sogenannter „mäßiger“ Genuß von 
Übel. Dabei ist bei dem vielfach an Abwechslung armen Leben in den Tropen 
die Verführung zum Alkoholgenuß stärker, als in der Heimat. Auch ist die Ver¬ 
sorgung mit gutem Trinkwasser noch mangelhaft. Neuerdings hat das Hamburger 
Institut für Schiffs- und Tropenhygiene einen leicht zu handhabenden Kasten 
mit den für die Wasseruntersuchung notwendigen Instrumenten zusammengestellt. 
Als Wasserzusatz sind besonders die Fruchtsäuren, namentlich die Zitronensäure 
zu empfehlen. Außerdem kommen die Mineralwasser und die frischen Früchte 
in Betracht P. S. 

Friderich, Mathäns. Wider den Sauffteuffel. Nach dem ersten Drucke, Leipzig 
1552, bei Georg Hantzsch, neu herausgegeben. Kulturgeschichtliche Bücherei. 
Kötzschenbroda und Leipzig, bei Thalwitzer. 

Sicherlich ist es ein sehr verdienstliches Beginnen, kulturhistorisch be¬ 
deutende Schriften dem schnelllebenden und leichtvergessenden modernen Ge- 
schlechte aufs neue vorzuführen. Die Alkoholfrage ist älter wie wir selber. 
Die Alkoholabstinenz nur ist jungen Datums. 

Mathäus Friderich war Geistlicher. Er hat seine Schrift sehr wohl 
disponiert, und ich weiß nicht, ob wir mit unseren wissenschaftlichen Argumenten 
weiter kommen, als er mit seinen sieben Ursachen, „umb welcher willen alle 
Menschen sich vorm Sauffen hüten sollen“. P. S. 

Flade. Der Kampf gegen den Alkoholismus, ein Kampf für unser deutsches Volkstum. 

Mäßigkeits-Verlag. 1905. Mk. 0,80. 27 Seiten. 

Fl ade weist mit überzeugender Deutlichkeit auf die nationalen Gesichts- 


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Referate. 


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punkte in der Bekämpfung des Alkoholismus hin. Der Gewohnheitstrunk bedeutet 
eine größere Gefahr für unser Volk, als mancher glaubt. Der allverehrte Nestor 
in unserem antialkoholischen Kriege, Geheimrat Baer, hat bereits gesagt: 
„Nichts zerstört das geordnete und gesittete Familienleben, dieses Fundament 
der staatlichen und gesellschaftlichen Wohlfahrt, so sehr, wie der Trunk.“ Auch 
Flade konnte seine Ausführungen nicht wirksamer stützen, als indem er sie 
mit statistischen Tabellen aus dem klassischen, noch immer beweiskräftigen Werke 
Baers illustriert. Je mehr die Alkoholliteratur anwächst, um so mehr, scheint 
mir, können wir aus der Vorsicht Baers in der Verwertung statistischer Daten 
lernen. Wenn in Sachsen eine Schankstätte bereits auf 152 Einwohner, ein¬ 
schließlich Weib und Kind, dagegen ein Geistlicher erst auf 2250 Einwohner 
kommt, so kann man nicht aus dieser Tatsache schließen, daß die religiösen Ver¬ 
hältnisse in Sachsen wesentlich besser wären, wenn es sich umgekehrt verhielte. 

Das persönliche Beispiel wird immer von dem größten Werte sein. Daher 
muß vor allem in der Familie Klarheit und Einigkeit in der Behandlung der 
Alkoholfrage herrschen: bei gesellschaftlichen Veranstaltungen sowohl wie in der 
täglichen Hausordnung. Das gleiche gilt für die Gesamtheit unserer großen 
deutschen Volksfamilie. Überall, wo Deutsche im Auslande wohnen, sollen sie 
sich zu gemeinsamem Wirken gegen den Alkoholismus zusammenschließen. 

P. & 


Haase, Georg. Ein Gläschen in Ehren! Beiträge zur Alkoholfrage und Mahn¬ 
worte an alle diejenigen, die im Kampfe gegen den Alkohol nicht Maß und 
Ziel halten können. Breslau. 1905. 

Diese Schrift ist ein sprechender Beweis dafür, wie nahe der Kampf gegen 
den Alkoholismus dem „Alkoholkapital“ geht. Mit unleugbarem Geschick sind 
alle Äußerungen wissenschaftlicher Autoritäten gegen die Übertreibungen von 
antialkoholischen Heißspornen zusammengestellt. 

Das Endergebnis der von dem deutschen Verein gegen den Mißbrauch 
geistiger Getränke im Jahre 1902 veranstalteten Umfrage bei 89 Professoren der 
Medizin war, wie Haase von neuem hervorhebt, daß die ärztliche Wissenschaft 
in der Majorität ihrer berufenen Vertreter sich sicherlich nicht im Sinne der 
unbedingten Enthaltsamkeit aussprach. Im speziellen hatte auch Meinert fest¬ 
gestellt, daß die modernen Patriarchen im Alter von 85 Jahren und darüber 
keineswegs immer abstinent gelebt haben. Haase bringt auf S. 181 seiner 
Broschüre ein weiteres Beispiel von einem 91jährigen, der lange Zeit täglich 
1 —2 Liter Schnaps getrunken hat. (Das ist allerdings nichts beweisend!. Red.) 
Die „goldene Mittelstraße“ wird schließlich auch in der Behandlung dieser, das 
menschliche Wohl so tief berührenden Frage der richtigste Weg zur Lösung 
bleiben. P. S. 


Andrae. Die Sterblichkeit in den Berufen, die eich mit der Herstellung und dem 
Verkauf geistiger Getränke befassen. Nach den Erfahrungen der Gothaer Lebens¬ 
versicherungsbank. Zeitschrift für die gesamte Versicherungs-Wissenschaft. 
Band V. Heft 3. 

Folgende Gruppen werden unterschieden: 

l a. Hoteliers, Gasthofbesitzer, Oberkellner. 

l b. Gastwirte. 


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Referate. 


Ic. Wirte, Schankwirte, Restaurateure, Kellner, Bierhändler. 

II a. Brauereibesitzer, Brauereidirektoren, Brauer mit mehr als 5000 Mark 
Versicherungssumme. 

Ilb. Brauereibedienstete (Braumeister, Braugehilfen, Bierführer u. s. w.). 
in. Brennereibesitzer, Brennereibedienstete, Destillateure. 

IV. Weinbergbesitzer, Weinhändler. 

V. Weinküfer, Kellermeister. 

Die Sterblichkeit in diesen acht Gruppen stellt sich im Durchschnitt sämt¬ 
licher Versicherungsjahre und Alter prozentisch im Vergleich zu der erwarteten 
Sterblichkeit von 100 so dar: 


Gruppe Ia. . . 

131 

i> 

Ib. . . 

147 

11 

Ic. . . 

155 

11 

Da. . . 

141 

11 

Hb. . . 

. 162 

11 

ni. . . 

. 121 

11 

IV. . . 

. 104 

11 

V. . . 

. 144. 


Die bedeutendste Übersterblichkeit zeigen die fünf ersten Gruppen und die 
letzte Gruppe. Dagegen zeigen die Brenner und Destillateure und namentlich die 
Weinhändler und Weinbergbesitzer günstigere SterbUchkeitsVerhältnisse. Die 
ersten drei Gruppen: Hoteliers, Gastwirte, Schankwirte zeigen, wie zu erwarten, 
zunehmend schlechtere Chancen, ebenso wie Gruppe 4 und 5: die Brauereibesitzer 
und die Brauereibediensteten. 

Indessen fällt hier ins Gewicht, daß die Sterblichkeit periodisch wechselt. 

Jedoch stimmen im allgemeinen die Ergebnisse einer schottischen Statistik 
für die Alkoholberufe mit der Gothaer Statistik überein. 

Es ergab sich in Schottland, daß die Hauptgruppe I mit ca. 165°/ 0 der 
rechnungsmäßigen Todesfälle belastet war, also stärker wie in Gotha. In Amerika 
ergab sich bei 34 Versicherungsgesellschaften ein verhältnismäßig geringer Unter¬ 
schied bei der Gegenüberstellung derjenigen Personen, welche alkoholische Ge¬ 
tränke verkaufen und sich zu vollständiger Abstinenz verpflichten und derjenigen, 
welche diese Verpflichtung nicht übernommen haben. 

Andrae bringt die folgenden beiden Tabellen der amerikanischen Gesell¬ 
schaften. 

I. Personen, die geistige Getränke verkaufen und sich zu vollständiger Ab¬ 
stinenz verpflichtet haben. 


Alter beim 
Eintritt 

Wirkliche 

Sterbefälle 

Rechnungs¬ 

mäßige 

Sterbefälle 

Prozent¬ 

verhältnis 

Wirkliche 

Sterbefälle 

Rechnungs¬ 

mäßige 

Sterbefälle 

Prozent¬ 

verhältnis 


1.—5. 

V ersicherungs jahr 

6. u. höhere Versicherungsjahre . 

15—28 

22 

33,6 

65 

35 

29,5 

119 

29—42 

72 

91,5 

79 

126 

100,6 

125 

43-56 

42 

46,1 

91 

97 

78,3 

132 

57—70 

4 

6,6 

61 

13 

9,0 

144 

Summa 

| 140 

177,8 

| 79 

271 

212,4 

| 128 


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Referate. 


305 


II. Personen, die geistige Getränke verkaufen. 

Nicht-Abstinente. 


Alter beim 
Eintritt 

Wirkliche 

Ster 

Rechnungs¬ 

mäßige 

befalle 

Prozent- 

verhaltnis 

Wirkliche 

Ster 

Rechnungs¬ 

mäßige 

jefälle 

Prozent¬ 

verhältnis 

15—28 

29—42 

43-56 

57—70 

1 .— 5. 
76 

845 

209 

29 

Versicherun 

104.4 

386.4 
195,9 

31,9 

gsjahr 

73 

89 

107 

91 

6 . u. höhe 
103 

527 

367 

48 

nre Versicher 
83,1 

389.4 

259.5 
34,3 

ongsjahre 

124 

135 

141 

140 

Summa 

659 

718,6 

i 92 

1045 

766,3 

136 


Die ersteren, die Abstinenten, stellen sich für die Lebensversicherungs¬ 
gesellschaften als die günstigeren Risiken dar (128 Prozent der rechnungsmäßigen 
Todesfälle gegen 186 bei den Nicht-Abstinenten) aber auch ihre Sterblichkeit 
überschreitet die normale bedeutend. Der Unterschied der beiden Klassen ist 
weit geringer, als man vermuten sollte. P. S. 


Rosenthal, 0« Alkoholismus und Prostitution. Zwei Vorträge. 62 S. Preis: 

1 Mark. Berlin bei Hirschwald. 

Alkoholismus und Prostitution und in ihrem Gefolge die Geschlechtskrank¬ 
heiten sind seit den ältesten Zeiten der Menschheit unzertrennliche Gesellen. 
Mit Betrübnis erkennt das Auge eines so bewanderten medizinischen Forschers, 
wie des Verfassers der vorliegenden Schrift, daß in dieser Beziehung die fort¬ 
schreitende Zivilisation nicht den geringsten Wandel geschaffen hat. Ein mäßiger 
Genuß der Alkoholica mag ohne sichtbaren Einfluß bleiben. Über die schädigende 
Wirkung der Trunkenheit sind die Bibel und die Urkunden der Egypter, Chinesen, 
Griechen einig. 

Der Verfasser gibt einen Überblick über die Pathologie und Ätiologie des 
Alkoholismus. Er betont mit Recht nachdrücklich, daß die Moralität in gebildeten 
Kreisen recht häufig keineswegs besser ist als in der Arbeiterklasse. Die meisten 
jungen Leute machen ihre Bekanntschaft mit der Prostitution unter dem Einflüsse 
des Alkohols. Der Alkohol als Helfershelfer aller möglichen sexuellen Exzesse 
ist noch immer nicht gebührend gebrandmarkt. Die geschlechtliche Enthaltsam¬ 
keit schadet der Gesundheit im allgemeinen nicht. Unter anderen Umständen 
freilich, fügt Rosenthal merkwürdigerweise hinzu, „kann die Enthaltsamkeit 
die Gesundheit auf das ernsteste gefährdend Die Prostituierte soll ihr Leben 
ohne Alkohol nicht fristen können. Und für den blasierten Lebemann soll der nicht 
auf Fortpflanzung bedachte außereheliche Geschlechtsverkehr eine Berechtigung 
haben? Richtiger und eines freien deutschen Mannes würdiger ist es doch wohl, 
zu sagen: Kein Prostituierender, keine Prostituierte! P. S. 


Ftirbringer. Zur Bewertung des Tremors als Zeichen des Alkoholismus. Berliner 
klin. Wochenschrift. 1905. Nr. 21. 

Von den Folgerungen des Verfassers dürfte besonders interessieren, daß 
das Händezittern in 9 /io der Fälle von Alkoholismus zu finden ist, jedoch in 
jpaäßiger Ausbildung nicht zu dem Schlüsse auf Alkoholismus berechtigt. Jeden¬ 
falls bleibt das Händezittern eines der wichtigsten Symptome des Alkoholismus 
und ist höher zu bewerten als z. B. das Zungenzittem. P. S. 


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Referate. 


Webmer. Praktische Erfahrungen bei Entmündigung Trunksüchtiger. Ärztl. Sach¬ 
verstand.-Ztg. 1905. Nr. 15. 

Die Entmündigung wegen Trunksucht stellt zunächst mehr eine sicherheits¬ 
politische oder soziale als eine ärztlich-heilende Maßnahme dar. Sie ist mit 
mancherlei Mängeln behaftet, jedoch trotzdem als ein Fortschritt mit Dank zu 
begrüßen. Denn sie ermöglicht wenigstens eine Entmündigung in solchen Fällen, 
wo der Entmündigungsrichter eine Entmündigung wegen „Trunksucht“ für ange¬ 
zeigt erachtete, während er zu einer Entmündigung wegen „Geistesstörung 4 . 4 das 
beigebrachte Material nicht für genügend hielt. P. S. 

Kornfeld. Traumatische Geistesstörung. Idiopathische allgemeine Paralyse? Alko¬ 
holische Pseudoparalyse? Ärztl. Sachverständ.-Ztg. 1905. Nr. 18. 

Ein 42 jähriger Arbeiter stürzt mit einem Korbe Bier die Kellertreppe hin¬ 
unter. Im Krankenhause wird zwei Monate nach dem Unfall Gehirnerweichung 
(paralytische Geistesstörung) konstatiert. Ungefähr ein Jahr nach dem Unfall erfolgt 
der Tod. Der Verunglückte hatte früher stark getrunken und schon seit vielen 
Jahren den Eindruck eines geistig minderwertigen Menschen gemacht Das ärzt¬ 
liche Gutachten ging dahin, daß nicht der Alkohol allein, sondern vielmehr der 
Sturz von der Kellertreppe die tödliche Krankheit verursacht habe. P. S. 

Weygandt* Psychiatrische Begutachtung bei Vergehen und Verbrechen im Amt eines 
degenerativ-homosexuellen Alkoholisten. Archiv für Kriminal-Anthropologie. Bd. 17. 
Nr. 1. (Referat in Ärztl. Sachverständ.-Ztg.) 

Ein 35jähriger Oberamtsrichter, dessen Vorfahren zum größten Teil Trinker 
und Sonderlinge waren, begeht wiederholt Urkundenfälschungen und Unter¬ 
schlagungen. Er hat eine verkehrte Erziehung genossen, ist von Jugend auf 
dem Alkohol ergeben und zeigt auch vielfach homosexuelle Neigungen, ohne 
jedoch in dieser Beziehung die Grenzen des Strafgesetzbuches zu überschreiten. 
Eine Beeinflussung der Willensbestimmung durch die degenerative Veranlagung 
und die Trunksucht liegt zweifellos vor. Vom ärztlichen Standpunkt aus aber 
war ihm der Schutz des § 51 (Aufhebung der freien Willensbestimmung durch 
krankhafte Bewußtseinsstörung) nicht zuzubilligen. Einstimmig aber plädierten 
die ärztlichen Sachverständigen für „verminderte Zurechnungsfähigkeit 44 . Der 
Vertreter der Anklage erklärte die verminderte Zurechnungsfähigkeit für eine 
ärztliche Konstruktion, die keinen juristischen Begriff darstelle. Der Verteidiger 
warf die Frage auf, um wieviel Prozent etwa die Zurechnungsfähigkeit vermindert 
sei. Die Meinung der Sachverständigen ging auf 66*/* Prozent Nach dem 
Urteil des Richters war der Angeschuldigte voll verantwortlich. P. S. 

Stegmann. Ober Alkoholismus und Delikte wider die Sittlichkeit Allgemeine Zeit¬ 
schrift für Psychiatrie. Bd. 62. Heft 3. 

Sehr viele Sittlichkeitsverbrechen sind eine Folge des Alkoholismus. Homo¬ 
sexueller Verkehr und Sodomie kommt dabei weniger in Frage, als Notzucht 
und Exhibition. Blutschänderische Handlungen sind gleichfalls häufig durch 
übermäßigen Alkoholgenuß hervorgerufen. P. S. 

Siefert. Zur Frage der Schlaftrunkenheit. Archiv für Kriminal-Anthropologie. 
Bd. 16. Heft 2. (Refer. in Ärztl. Sachverständ.-Ztg.) 

Ein 32jähriger Fuhrmann, roh und gewalttätig und wiederholt vorbestraft, 


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Referate. 


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neigt besonders unter dem Einfluß übermäßigen Alkoholgenusses zu gemein¬ 
gefährlichen Ausschreitungen. Er bewohnt ein Zimmer zusammen mit einem 
60jährigen Handelsmann. Nachts gegen 1 Uhr, nachdem er zehn Glas Bier ge¬ 
trunken hat, kommt er angetrunken zurück. Gegen 3 Uhr wird er, anscheinend 
durch ein Geräusch, wach und gerät mit seinem Schlafgenossen, den er in der 
Schlaftrunkenheit möglicherweise für einen Einbrecher hält, in Streit. Im Ver¬ 
lauf der Schlägerei bringt er dem 60jährigen Manne mehrere schwere Ver¬ 
letzungen bei, an denen dieser sehr bald stirbt. Der Täter hat an diesen Vor¬ 
gang nur unklare, möglicherweise gar keine Erinnerung. Er gehört offenbar zu 
den chronischen Alkoholisten, bei denen Affekte, insbesondere Schreck, einen 
Wutanfall auslösen können. Dementsprechend gab das Medizinalkollegium sein 
Gutachten dahin ab, daß der Täter bei Begehung seiner Tat infolge der Trunken¬ 
heit unter dem Einfluß von W ahn Vorstellungen stand. P. S. 


Gudden. Das Bierdelirium. Archiv für Psychiatrie. Bd. 40. Heft 1. (Refer. 
in Zeitschr. für Medizinalbeamte. 1905. Heft 18.) 

Verfasser hält für das Bierdelirium einen langsameren Verlauf als beim 
Schnapsdelirium für charakteristisch. In dem einen seiner beiden Fälle trat nach 
2 jährigem Bestände der Krankheit Heilung ein. Die Wahnideen bei den stets 
gereizten und erregten Kranken sind phantastischer Art und ängstlichen und be¬ 
drohlichem Inhaltes. P. S. 


Funk. Die Trunkenheit im Militärstrafverfahren. Archiv für Kriminal-Anthropologie. 

Band 16. Heft 2. (Referat in Ärztl. Sachverständ.-Ztg.) 

Für den Militärrichter ist die Trunkenheit und namentlich der sogenannte 
„pathologische“ Rausch von besonderer Wichtigkeit. Eine große Summe von 
Arbeit bliebe ihm erspart, wenn jede Mannschaftsperson, die wegen eines Ver¬ 
brechens in Haft gesetzt wird, von einem Arzte sofort auf Trunkenheit unter¬ 
sucht würde. Solange der Arzt nicht im Vorverfahren herangezogen wird, muß 
der Militärrichter sich bemühen, Material für den Sachverständigen herbei¬ 
zuschaffen. Dazu ist für ihn aber auch eine gewisse Kenntnis von den soge¬ 
nannten „pathologischen“ Rauschzuständen notwendig. Für den Referenten bilden 
übrigens diese „pathologischen“ Rauschzustände nur einen Teil der schnell vor¬ 
übergehenden Bewußtseinsstörungen (transitorischen Psychosen), zu denen auch 
die „normalen“ Rauschzustände gehören. Der Richter, welcher mit dem „nor¬ 
malen“ Rausch vertraut ist, dürfte auch dem „pathologischen“ Rausch das ge¬ 
bührende Verständnis entgegenbringen, ohne diesem ein besonderes Studium zu 
widmen. P. S. 


Über den GenuD alkoholischer Getränke im schulpflichtigen Alter. Zeitschrift für 
Schulgesundheitspflege. 1905. Heft 3/4. S. 199. 

Eine in Nordhausen angestellte statistische Untersuchung ergab das folgende 
traurige Resultat. In der siebenten Klasse einer Volksschule (7 jährige Kinder) 
hatten von 49 Kindern 38 schon Wein, 40 schon Schnaps und alle 49 schon 
Bier, zum Teil regelmäßig, getrunken. 21 gaben an, daß sie gern Bier trinken, 
14 trinken regelmäßig, „weü man davon stark wird“, 16 gaben an, leicht be¬ 
trunken gewesen zu sein, zumeist bei Hochzeiten, Partien, oder wenn bei Vaters 
Geburtstag, wie üblich, ein Fäßchen getrunken wurde. P. S. 


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Eeferate. 


Alkoholismus unter Schülern in Ostpreußen. Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. 

1905. Heft 3/4. 

In einer Dorfschule bei Orteisburg in Ostpreußen wurden in diesem Jahre 
gelegentlich bei nicht weniger als 14 Schülern Flaschen mit Branntwein vor¬ 
gefunden. Diese Bauernjungen hatten den Branntwein von ihren Eltern als 
„Erfrischungsmittel“ für die Schularbeit mitbekommen. Es soll ferner Tatsache 
sein, daß bereits neunjährige Schüler vor Beginn des Unterrichts in trunkenem 
Zustande nach Hause gebracht werden mußten. Bekanntlich ist in Ostpreußen 
auch der Gebrauch des Äthers als eines schärferen Berauschungsmittels noch 
vielfach Sitte. P. S. 


Ruß. Zur Frage der Bakterizidie (Bakterientötung) durch Alkohol. Zentralblatt für 
Bakteriologie. Bd. 37. Heft 1 u. 2. 

Euß kommt auf Grund seiner Untersuchungen an verschiedenen Bakterien- 
.arten zu dem Schluß, daß absoluter Alkohol ohne Wirkung auf Bakterien ist, 
dagegen verdünnter Alkohol sporenfreie Bakterien abtötet und zwar feuchte Bak¬ 
terien schneller als getrocknete. Die Bakteriensporen werden durch Alkohol 
überhaupt nicht geschädigt. Auf die Bakterien wirkt der Alkohol nicht sowohl 
durch Wasserentziehung, als vielmehr durch seine Eigenschaft als Protoplasma¬ 
gift schädigend. 

Für die Desinfektion der Haut mittels absoluten Alkohols ist es notwendig, 
die Haut zunächst anzufeuchten bezw. mit Seifenwasser gründlich zu waschen. 

P. S. 


Heilbronner, Karl« Die strafrechtliche Begutachtung der Trinker. Halle a. S. 

Verlag von Karl Marhold. 1905. 

Zurechnungsfähigkeit und damit Straffähigkeit der Trinker zu beurteilen, 
gehört zu den verantwortungsvollsten und schwersten Aufgaben, die dem medi¬ 
zinischen Sachverständigen vor Gericht gestellt werden. Die Ausführungen Heil- 
hronners geben eine wertvolle Zusammenstellung der für diese Tätigkeit wie über¬ 
haupt die ärztliche und richterliche Beurteilung eines Alkoholikers vorwiegend 
in Frage kommenden Gesichtspunkte. H. führt uns in knapper und doch wissen¬ 
schaftlich eingehender Form die einzelnen Bilder der verschiedenen Krankheits¬ 
zustände des dem Gewohnheitstrunk ausgesetzten Nervensystems vor. Da bei 
Aburteilung von Trinkern auf deren eigene Aussagen nichts, auf die etwaiger 
Zecbgenossen nur wenig Gewicht gelegt, auch den Aussagen der Angehörigen 
oder polizeilicher Organe nicht allzuviel Wert beigelegt werden kann, bedarf es 
oft genug erst längerer Beobachtungszeit, ehe ein sicheres Urteil über den alko¬ 
holischen Verbrecher möglich ist, ja zuweilen vermag überhaupt nicht zweifels¬ 
frei festgestellt zu werden, welcher Geisteszustand zur Zeit des Vergehens bei 
dem Verhafteten Vorgelegen hat. Kein noch so schwerer Exzeß berechtigt an 
sich zur Annahme einer Unzurechnungsfähigkeit, sondern nur die genaue Er¬ 
örterung der krankhaften Folgen des Alkoholgenusses wie auch früher ärztlich 
beobachteter und bezeugter Erscheinungen (Krämpfe, erbliche Belastung, vom 
Alkoholexzeß unabhängige Krankheitszustände u. s. w.). Eine besondere Schwierig¬ 
keit und Verdunkelung bezw. Veränderung des für die Zeit der Tat maßgebenden 
Krankheitsbildes erwächst daraus, daß Wochen oder Monate vergehen, bis der 
Alkoholiker nach einer unfreiwilligen Abstinenz im Untersuchungsgefängnis zur 


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Referate. 


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notwendigen Anstaltsbeobachtung kommt. Der Gutachter steht dann vor einer 
ganz anderen Persönlichkeit, als der Ermittelungsrichter am Tage nach der Tat. 
Wesentlich erscheint u. a. das Verhalten der Erinnerung an den Trunkenheits¬ 
zustand. — Nach dem Strafgesetzbuch hat sich die Erörterung nur auf Bewußt¬ 
losigkeit oder krankhafte Störung der Geistestätigkeit zu erstrecken. Die Tiefe 
der ersteren im gegebenen Falle läßt sich nicht naohweisen. Intoleranz, minder¬ 
wertige nervöse Organisation wollen besonders berücksichtigt sein. Von schwer¬ 
wiegender Bedeutung sind die „pathologischen Rauschzustände“ mit ihren Angst¬ 
zuständen, mit dem Verlust des Orientierungsvermögens, mit den plötzlichen 
Entladungen. Hysterische, epileptische, traumatische Zustände disponieren dazu. 

Schwachsinnige, Entartete, Epileptiker u. s. w., die an sich noch nicht oder 
nur teilweise unzurechnungsfähig erscheinen, werden dies fast ausnahmslos unter 
Alkoholeinwirkung auch kürzerer und an sich nicht erheblicher Art. Weiterhin 
ist der Dipsomane („Periodentrinker“) als unzurechnungsfähig für die Zeit seines 
Anfalles zu beurteilen. Von den verschiedenen Formen des Delirium tr. sind 
die initialen und abortiven besonders gefahrbringend, weil eine gewisse Besonnen¬ 
heit und ein teilweise erhaltenes Orientierungsvermögen die Deliranten oft mit 
verhängnisvoller Sicherheit ihre Opfer (Angehörige) angreifen läßt. Die Angst¬ 
psychose und namentlich der akute Wahnsinn der Trinker mit den Gewalttaten 
seiner Inhaber kommen häufig zur gerichtlichen Beurteilung. Sie unterliegen 
ebenfalls der Begutachtung als Zustände geistiger Unzurechnungsfähigkeit; ebenso 
eine der schwersten Alkoholerkrankungen, die Korsakowsche Psychose. — Die 
letzten Kapitel behandeln die chronischen Alkoholpsychosen mit ihrer forensisch 
oft recht schwer zu beurteilenden Tragweite und den Habitualzustand des chro¬ 
nischen Trinkers. Die Schlußworte sind der Fürsorge für die kriminellen (gemein¬ 
gefährlichen) Trinker gewidmet, wie sie oft genug schon gefordert, aber leider 
noch immer nicht in Angriff genommen worden ist. Für Ärzte, namentlich für 
Gerichtsärzte, und für Richter finden sich in der Abhandlung ebenso lehrreiche 
wie vielseitige Anregungen, deren Beherzigung in der Praxis die schwierige 
Stellung des Begutachters und Verurteilenden wesentlich erleichtern und festigen 
dürfte. Dr. Fl. 


Daum, Adolf. Selbsttötung und Selbstbetäubung. Separatabdruck a. d. „öster¬ 
reichischen Rundschau“. Verlagsbuchhandlung Carl Konegen (Ernst Stülp¬ 
nagel), Wien. 

Der erfahrene Jurist und langjährige verdienstvolle Leiter des öster¬ 
reichischen Vereins gegen Trunksucht führt aus, wie wenig zurzeit die Gemein¬ 
gefährlichkeit des Selbstmords als solche verurteilt und wie ganz vergessen 
werde, daß der Tod jedes schaffenden Individuums ein Verlust für die Gesamt¬ 
heit bedeutet, ganz abgesehen von der Pflichtvergessenheit gegenüber Weib und 
Kind. Auf dem Selbsterhaltungstrieb und dem Verantwortlichkeits¬ 
gefühl des Einzelnen beruht das Gedeihen der Staaten. Letzteres wird häufig 
ausgeschaltet durch Berauschung (Betäubung), die zumeist vorhandene Sorgen 
und Unlustgefühle bannen soll. Der Alkohol Trinkende will möglichst 
vergessen und sein Verantwortlichkeitsgefühl los werden. „Wo aber 
die Narkosen nicht mehr helfen, wird zur Pistole, zum Wasser oder zum Strick 
gegriffen.“ Die Besserung solcher pathologischen Zustände in der menschlichen 
Gesellschaft läßt sich nur von einer durchgreifenden Reform erhoffen. Vor allem 


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Referate. 


bedarf es einer ganz anderen Erziehung der jungen Leute: weniger unbrauch¬ 
barer Wissenskram, aber Selbstbeherrschung und Selbstkritik! Dann wird der 
Kampf zwischen Pflicht und Neigung wesentlich erleichtert werden. Der Wille 
zum Guten wird sich aber nicht durchringen, wo das Nervengift Alkohol schon 
von früh an schädigend gewirkt hat. öffentliche Meinung und Gesetz¬ 
gebung müssen sich vereinigen. Selbstmordversuch des nicht psychisch Be¬ 
lasteten und Mithilfe zur Berauschung des Mitmenschen wären unter Strafe zu 
stellen, ebenso wiederholte öffentliche Trunkenheit. Die interessante Abhandlung 
bietet namentlich für unsere gebildeten Stände recht beherzigenswerte Aus¬ 
führungen. Auch zur Beseitigung der erschreckend anwachsenden „Selbstmord- 
manie u muß die Erkenntnis und Reform oben — bei den bekannten Zehntausend 
— einsetzen. Möge sie es bald tun! Dr. Fl. 

Schenk, Pani. Berlin. Der „pathologische Rausch“. S.-A. a. „Deutsche Medizinal- 
Zeitung“ 1905. Nr. 59. 

Wenige Gebiete sind in der medizinischen, speziell psychiatrischen Fach¬ 
presse so oft besprochen und doch ihrem Wesen entsprechend noch ungenügend 
aufgeklärt worden, wie der sogenannte „pathologische Rauschzustands Es ist 
bezeichnend, daß man überhaupt zu dieser Benennung jenes schweren Erkran¬ 
kungsbildes gekommen ist. Jeder Rausch ist doch pathologisch. Aber die Er¬ 
kenntnis hiervon war durch die allgemeine Trinksitte so sehr der Gesamtheit 
abhanden gekommen, daß man selbst ärztlicherseits die Bezeichnung „normaler“ 
Rausch jenem als das übliche, nichts Besonderes bietende Alltagsbild gegenüber¬ 
gesetzt hat. Der „normale“ Rausch gilt auch dem gerichtlichen Sachverständigen 
nicht als etwas Krankhaftes. Nach § 51 des R.-St.-G. ist eine strafbare Hand¬ 
lung nicht vorhanden, „wenn der Täter zur Zeit ihrer Begehung sich in einem Zu¬ 
stande von Bewußtlosigkeit oder krankhafter Störungen der Geistestätigkeit be¬ 
fand, durch welchen seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war“. Das 
Bild des pathologischen Rausches läßt sich so schwer umgrenzen, seine Ähnlich¬ 
keit mit anderen abnormen Geisteszuständen, andererseits die Unmöglichkeit, ohne 
weiteres für den Richter zweifelsfreie Belege für sein Bestehen während der Tat 
festzusetzen, sind so häufig, daß gerade eine solche Entscheidung dem ärztlichen 
Sachverständigen außerordentlich verantwortungsvoll, zuweilen unlösbar erscheinen 
muß. Die Arbeiten von Cramer, Heilbronn er, Bonhoeffer u. s. w. bieten 
hierfür eingehende Beweise. Die in praxi nur zu oft die Straflosigkeit schwerster 
Verbrecher ermöglichende Heranziehung jenes verhängnisvollen § 51 hat viele 
Juristen wie Ärzte bereits dahin sich aussprecheu lassen, daß der Verbrecher 
dafür zu bestrafen sei, daß er sich selbst in den Zustand des Rausches begeben 
hatte, der Ursache zur Tat wurde. Dieser Standpunkt wurde auch gelegentlich 
des JUI. Deutschen Abstinententages (vom 8.—10. Sept. d. J.) in Dresden von 
dem bekannten Landrichter Pop er t-Hamburg vertreten. Jedenfalls bieten nicht 
nur der „pathologische“ Rauschzustand, sondern auch der „normale“ Rausch nach 
wie vor eine außerordentliche Gefahr für die Gesellschaft und die ausreichende 
Berücksichtigung beider im St.-G.-B. zu ihrem Schutze ist eine dringende Not¬ 
wendigkeit. Bisher haben sie eine solche nicht gefunden. Dr. Fl. 


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Bibliographie. 


311 


Bibliographie. 

Zweites Vierteljahr 1905. 

Zusammengestellt von Bibliothekar Peter Schmidt, Dresden. 

Aberts . Berauschende Getränke. (Völjierschau, 1904, S. 314—817.) 

Alcöholic beverages 1903. London, Eyre and Spottiswode. (88 p.). 

Alkohol in Strafanstalten. (Yolkswohl, 1905, Nr. 29.) 

Alkohol . Zehn Jahre Frauenarbeit gegen den Alkohol. (Volkswohl, 1905, Nr. 24.) 
Alkoholgenuß und wirtschaftliche Arbeit. (Zeitung des Vereins deutscher Eisen¬ 
bahn Verwaltungen 1905, Nr. 35.) 

Alkoholismus und Roheitsdelikte. (Frankfurter Ztg. Nr. 229 v. 19. August 1905, 

l . Morgenbl.) 

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Art, sämtl. Fruchtgetränke, Limonadensirupe etc. (XVI, 364 S. m. 87 Ab- 
bildgn.) 8°. Wien, A. Hartleben. M. 6.—; geb. Mk. 6.80. 

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Rettung. Wochenblatt zu 1 Pf. für die Nummer von 4 Seiten. Verlag Elim, 
Blaukreuz-Buchhandlung, Barmen. 

Robertson, Edm. The Drink Monopoly and the National Revennue. (Nin. Cent., 
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Röder, Hermann. Produktion und Konsum in Wein, Bier u. Spiritus der führen¬ 
den Nationen der Erde. (Annalen d. d. R. 1905, S. 474, H.) 

Rüdin, E. Auffassung und Merkfähigkeit unter Alkoholwirkung. (Psychol. Ar¬ 
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Nr. 59.) 

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Schönenberger, Frz. Trinker-Ausreden. 4. Aufl. Nebst Berufs-Statistik d. Mit¬ 
glieder d. 2. Großloge Deutschlands des Guttempler-Ordens. Flensburg 1905. 
(15 S.) 

Snijder van Wissenkerke, F. W. J. G . De drankwet 1904 toegelicht uit hare 
gesohiedenis en uit de administratieve en rechterlijke beslissingen. 4e, herziene 
druk van „De drankwet“, uitgegeven met machtiging von Z. E. den Minister 
van justitie. Gouda, G. B. van Goor Zonen. 8°. (VII, 816 blz.) fl. 2.50; 
geb. fl. 2.90. 

Sozialismus und Abstinenz. (Aufsatz im: Jahrbuch moderner Studenten für 1905. 

Osterwieck a. Harz, Zickfeldt. Mk. 1.—.) 

Stand der deutschen Bewegung für Gasthausreform. (Evangelische Kirchenztg., 
Nr. 35.) 

Streikgelder und Alkohol. (Volkswohl, 1905, Nr. 5.) 

Strafgesetzbuch, § 365, Abs. 2 findet auch auf Bahnhofswirte Anwendung, welche 
das Verweilen von Gästen, die nicht zum reisenden Publikum gehören, in 
den Restaurationslokalitäten über die gebotene Polizeistunde hinaus gestatten. 
Reichsgerichts-Entscheidung v. 22. September 1904. (Fischers Zeitschrift f. 
Gesetzgebung u. s. w., 1905, S. 126.) 

Studenten und Alkoholismus. (Aufsatz im: Jahrbuch moderner Studenten für 1905. 
Osterwieck a. Harz, Zickfeldt. Mk. 1.—. 

Stubbe- Kiel. Das Trinken in Schleswig-Holstein. Berlin, Mäßigkeitsverlag* 
Mk. —.30. 

Stubbe- Kiel, Literaturanhang zu den „Mitteilungen aus der Arbeit des Schles¬ 
wig-Holsteinischen Bezirksvereins. 

Talbot, G. J. The Law and Practice of Licensing. 2nd ed. Cr. 8vo, pp. XXIV bis 
471. London, Stevens & Sons. sh. 10. 6. 

Thome, E . The heresy of tectotalisme in the light of scripture, Science and legis- 
lation. London, Simpkin. 5 s. 

Triboulet, H., Matthieu, F. et Mignot, R. Traite de l’alcoolisme. Preface de 
M le prof. Joffroy. 2 ed. (485 p.) Paris, Masson et Cie. 
Trinkerheilanstalten u. s. w. Das Gesundheitswesen des preuß. Staates i. J. 
1903. Berlin 1905. (S. 365 u. s. w.) 

Trinkerheilstätte Stift Isenwald bei Gifhorn. (Der Wanderer, 1905, Nr. 6.) 
Trinkerfürsorge der Breslauer Armenverwaltung bis Ende März 1905. (Blätter 
für d. Breslauer Armen wesen, Nr. 125.) 

Trinkhallenrecht, das. (Deutsche Warte, Nr. 209 v. 1. August 1905.) 
Trinkwasserfrage, zur. (Gesundheit, 1905, Nr. 9 u. 7.) 

Trunksucht als Todesursache in den großem städtischen Gemeinden der Schweiz 
im Jahre 1904. (San.-demogr. Wochenbulletin der Schweiz, 1905, Nr. 20.) 
Urban, Karl . Über die Landes- u. Kommunal-Biemmlagen. Vortrag. (Der böh¬ 
mische Bierbrauer, Prag 1904, Nr. 11.) 

Verwaltungsbericht des Berliner städtischen Krankenhauses Friedrichshain. 
(Mit Bemerkungen des ärztlichen Direktors über 208 an Säuferwahnsinn Er¬ 
krankten.) Berlin 1905. 


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Bibliographie. 


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Voit, C. Bedeutung der Genußmittel in der Nahrung. (Deutsche Revue, Oktober 
1904, 8. 103—113, Novbr., S. 178—189.) 

Volkspark, alkoholfreier. (Volkswohl, 1905, Nr. 24.) 

Waldschmidt, J. Erfolge und Ziele der Trinker-Heilbehandlung. Bericht, er¬ 
stattet bei der Eröffnung der Erweiterungsbauten der Heilstätte „Waldfrieden“. 
(Amti. Nachr. der Charlottenburger Armenverwaltung, Juli 1905.) 

Wasserfreunde, Die Münchener als —. (Volkswohl, 1905, Nr. 29.) 

Wichmann, H. Ist es wünschenswert, einheitliche biologische Untersuchungs¬ 
methoden einzuführen und einheitliche Beurteilung von Hefe, Bier u. s. w. 
anzubahnen? Bericht üb. d. V. int. Kongreß 1 angewandte Chemie 1903, 
Berlin 1904, 3. Bd., S. 549.) 

Windisch. Edel-Branntwein. (Ztschr. t Untersuchung d. Nahrungs- m Genuß« 
mittel, S. 405—505.) 

Windtsch . Trinkbranntwein u. dessen Beurteilung. (Bericht v. d. V. int. Kongreß 
f. angewandte Chemie, Berlin 1904, S. 1007—1012.) 


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318 


III. Mitteilungen. 

Die Unfallstatistik für Land- und Forstwirtschaft 1901 Hegt nunmehr im zweiten 
Teil als „Amtliche Nachrichten des Reichsversicherungsamts 1904“ vor, 
Berlin 1904. Verlag von A. Asher & Co. 

Wahrend im ersten Teil, welcher kurze Zeit vorher erschienen, die ver¬ 
sicherten Betriebe und Personen, die Verletzten und die Zahl ihrer Hinter¬ 
bliebenen, die Unfallereignisse, die Art und Folgen der Verletzungen, sowie die 
Zeit der entschädigungspflichtigen Unfälle und ihre Häufigkeit nach der Art der 
Bodenbeschaffenheit bearbeitet wurden, * bringt der zweite Teil der Statistik die 
von technischen Gesichtspunkten ausgehende textiiche Bearbeitung der Hergänge 
der Unfälle, ihre Ursachen und die Verletzungen nach der Stellung im Betriebe. 

Seit der ersten Unfallstatistik für Land- und Forstwirtschaft sind 10 Jahre 
verflossen, so daß es von großem Interesse sein mußte, zu erfahren, wie sich der 
weitere Ausbau der Unfallgesetzgebung für die ländliche Bevölkerung gestaltet 
hat, und da wird man mit Genugtuung gewahren, daß trotz der gewissen 
Schwerfälligkeit, die sich bei der ländUchen Einwohnerschaft bemerkbar macht, 
daß trotz des konservativen Geistes, der ihr innewohnt, die Anteilnahme an der 
Reichsversicherung sich gemehrt hat. Die Zahl der Betriebe, in welchen sich 
Unfälle ereigneten, ist in den 10 Jahren von 18585 auf 58309 gestiegen; auf 
100 versicherte Betriebe entfielen im Jahre 1901 1,13, im Jahre 1891 0,39 Be¬ 
triebe, in denen Unfälle vorkamen. Eine vergleichsweise Zusammenstellung der 
Unfallverletzten, auf 1000 Versicherte berechnet, ergibt eine Steigerung von 0,85 
im Jahre 1889 auf (1,59 1891, 3,85 1896) 4,98 im Jahre 1901. Diese Zunahme 
wird im wesentlichen darauf zurückgeführt, daß sich mit dem steigenden Maße 
der Kenntnis der Versicherung überhaupt die Ansprüche an die Versicherungs¬ 
träger auch bei geringfügigen Verletzungen mehren. Ein fernerer Faktor wird 
darin erblickt, daß bei dem Arbeitermangel auf dem Lande ein schnelleres 
Arbeiten und dadurch eine Erhöhung der Gefahr bedingt ist. Dies Moment 
findet seinen Ausdruck in den Zahlen, welche die Unfälle in den Erntezeiten 
dartun, worauf weiter unten noch eingegangen werden wird. Es darf sodann 
nicht außer acht gelassen werden, daß es sich bei periodisch sich anhäufenden 
Arbeiten vielfach um nicht ständige, fremde Arbeiter, um die Heranziehung von 
Kindern und Greisen handelt, welche naturgemäß eine Unfallvermehrung ver¬ 
ursachen. Die größte Unfallhäufigkeit weist Oberbayem auf, wo 7,27 Verletzte 
auf 1000 Versicherte verzeichnet stehen (der Durchschnitt beträgt 4,98). Die 
Zahl der Vollarbeiter, welche dadurch ermittelt wird, daß die von allen Ver¬ 
sicherten geleisteten Arbeitstage durch 300 geteilt werden, war nur bei den 
land- und forstwirtschaftlichen Ausführungsbehörden mögUch festzustellen. Die 
Häufigkeit der Unfälle bei diesen Vollarbeitem schwankt zwischen 16,76 bei dem 
Kaiserlichen Ministerium in Elsaß-Lothringen und 188,24 bei der Forstabteilung 
der Königl. Bayrischen Regierungsfinanzkammer (für das Jahr 1902 sind die be¬ 
treffenden Zahlen 14,26 und 167,06). 

Im Jahre 1901 sind bei der Land- und Forstwirtschaft 56886 Unfälle 
gezählt worden, bei denen 56907 Personen verletzt wurden; die Zahl der ent- 



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Mitteilungen. 


319 


schädigungsberechtigten Hinterbliebenen belief sich auf 5119, wovon für die 
land- und forstwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften 4951, für die Ausführungs¬ 
behörden 168 nachgewiesen wurden. Unter den 11189071 Versicherten befanden 
sich 7831952 Männer und 8857119 Frauen; 2386572 davon standen in der 
Altersklasse von 20—30 Jahren; die nächsten drei Dezennien wiesen je noch über 
1% Millionen auf. Die Unfallhäufigkeit berechnet sich prozentual recht un¬ 
günstig bei den Personen von 60—70 Jahren, nämlich auf 10,3 (10,4 Männer, 
10,8 Frauen) auf 1000 Versicherte; die niedrigste diesbezügliche Zahl ist in den 
Altersstufen 18—20 vertreten: 2,1 (2,6 Männer, 1,5 Frauen). Von den Verletzten 
entfallen 0,25% auf das Lebensalter unter 10 Jahren, während 22,84% in der 
Altersklasse von 50—60 Jahren verzeichnet stehen. Bei der Zusammenstellung 
der Folgen der Verletzungen seit dem Jahre 1888 (und im Vergleich zu den 
gewerblichen Berufsgenossenschaften seit 1886) ist die erfreuliche Tatsache zu¬ 
nächst zu konstatieren, daß der tödliche Ausgang in allen Zweigen und ständig 
zurückgegangen ist, desgleichen die dauernde Erwerbsunfähigkeit. So wurde 
z. B. im Jahre 1888 der Tod auf 48,81, die völlige Erwerbsunfähigkeit auf 5,82 
festgesetzt, im Jahre 1902 aber nur 4,85 Todesfälle und 1,00 völlige Erwerbs¬ 
unfähigkeit errechnet; dagegen aber vorübergehende Erwerbsunfähigkeit 44,29 
gegen 18,59 im Jahre 1888 nachgewiesen. Das ist also ein sehr beachtenswerter 
Fortschritt zu Gunsten der vorübergehenden Erwerbsunfähigkeit. Bei den an¬ 
gezogenen gewerblichen Berufsgenossenschaften ist das Verhältnis ähnlich, indem 
1886: 24,91 Todesfälle, 15,92 völlige Erwerbsunfähigkeit auf 100 Verletzte kamen, 
während 1902 der Tod nur 7,98 Opfer forderte und 1,06% völlig erwerbs¬ 
unfähig blieben, sich aber die vorübergehende Erwerbsunfähigkeit von 20,29 auf 
44,35 vermehrte. 

Bezüglich der Art der Verletzungen wird hervorgehoben, daß die Arm¬ 
verletzungen bei weitem prävalieren, dies trifft sowohl im Jahre 1891 (31,75), 
wie 1901 zu, wo 83,31 % solcher Verletzungen, nämlich 18957, gezählt wurden; 
ihnen folgen die Beinverletzungen, die sich auf 16806 bezifferten. 

Interessant ist der statistische Nachweis der Zeit der Unfälle. Wie bereits 
hervorgehoben, ist die (Sommer-) Erntezeit in hervorragendem Maße beteiligt, 
was das Jahr 1901 betrifft; 1891 entfiel die größte diesbezügliche Zahl dem 
Februar und Dezember, diese vielleicht reine Zufälligkeit ist nicht erklärt, aller¬ 
dings auch nicht wesentlich. Darin sind sich indes beide Jahre vollständig gleich, 
daß — nebenbei bemerkt, genau so wie in der Industrie — der Montag die 
meisten Unfälle auf weist. Abgesehen vom Sonntag, wo durchweg die Arbeit 
ruht, und für welchen 0,29 (1891 0,27) verzeichnet stehen, weist der Montag 
1,21 (1,17) und der Sonnabend 1,17 (1,17) auf. Die Mitte der Woche, Mittwoch 
und Donnerstag, ist durch wenige Unfälle bevorzugt, am Freitag hebt sich bereits 
die Kurve der Unfallhäufigkeit ein wenig, um am Sonnabend stärker anzuwachsen. 
Es läßt sich dies damit begründen, daß am Ende der Woche eine größere Er¬ 
müdung eintritt und daß alles dem Ende der Arbeitswoche entgegeneilt; indes, 
es wird auch schon hier dem Moment (dem Wirtshausbesuch) einige Rechnung 
zu tragen sein, welches dem Montag so außerordentlich ungünstige Zahlen ver¬ 
leiht. Der Grund hierfür wird mit Recht auf die „Nachwirkungen der sonn¬ 
täglichen Vergnügungen“ zurückgeführt, „insbesondere auch auf die Nachwirkung 
des bei dieser Gelegenheit in weiten Schichten des Versichertenbestandes 
genossenen Alkohols“. „Insofern,“ heißt es weiter in jenem Bericht, „sind die 


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320 Mitteilungen. 

erhöhten Unfallziffern des Montags ein mittelbarer Beweis für die Einwirkung 
des Alkohols auf die Unfallhäufigkeit 11 . Was hier von den Wochentagen gesagt 
wird, erhält seine Bekräftigung durch eine weitere Tabelle, welche die Unfall¬ 
häufigkeit nach den Tagesstunden festlegt Dabei gewahrt man, daß die Montag- 
Vormittags- und Sonnabend-Nachmittags-Stunden am meisten beeinflußt sind; im 
übrigen kann nicht außer acht bleiben, daß die Vormittagsstunden von 9—12 Uhr 
und die Nachmittagsstunden von 3—6 Uhr sich durch hohe Zahlen der Unfälle 
auszeichnen. Da in diesen Zeiten die Arbeitsfähigkeit bereits abnimmt, oder 
vielmehr die Unfallhäufigkeit zunimmt, indem z. B. die Zeit von 6—9 Uhr vor¬ 
mittags nur 0,97, die Zeit von 9—12 aber 2,12, die Nachmittagsstunden 12 bis 
3 Uhr 1,11, aber die Zeit von 8—6 Uhr 2,51 Unfälle auf wies, scheint es nicht 
ungerechtfertigt, auch hier den Alkohol als das ursächliche Moment anzusprechen, 
denn es fällt hierin die Zeit des Frühschoppens und der Vespertrunk. Damit 
wären wir bei der „Schuldfrage 11 , der Ursachen der Unfälle angelangt, welche 
in 7 verschiedenen Momenten ihren Ausdruck finden. — Als Ursache eines Un¬ 
falls wird bemessen: 

a) Mangelhafte Betriebseinrichtungen, fehlende oder ungenügende Schutz¬ 
vorrichtungen, fehlende oder ungenügende Anweisung u. s. w. 

b) Ungeschicklichkeit und Unachtsamkeit, Nichtbenutzung oder Beseitigung 
vorhandener Schutzvorrichtungen, Handeln wider bestehende Vorschriften oder 
erhaltene Anweisung, Leichtsinn (Balgerei, Neckerei, Trunkenheit u. s. w.), un¬ 
geeignete Kleidung (flatternde Tücher und Schürzen u. s. w.). 

c) Schuld des Arbeitgebers und Arbeitnehmers zugleich. 

d) Schuld von Mitarbeitern oder anderen Personen. 

e) Unvermeidliche Betriebsgefahr. 

f) Sonstige Ursachen (höhere Gewalt, Zufälligkeit). 

g) Nicht zu ermittelnde Ursachen. 

Wiewohl die Klassifizierung der Unfälle in jene Unfallsgruppen auf einer 
Zusammenstellung von Urteilen beruht und streng genommen außerhalb der 
Statistik, der Aufzählung von Tatsachen, liegt, so muß es doch interessieren, zu 
erfahren, wie die Ursachen ergründet worden sind. Und von dem Grundsatz 
ausgehend, daß die Hebung der Ursache die Hebung des Unfalls bedeutet, kann 
es nicht gleichgültig erscheinen, welche Entstehungsursache man dem Unfälle 
beizumessen sich genötigt sieht, selbst auf die Gefahr hin, daß dank der sub¬ 
jektiven Gradmessung dieses oder jenes Unfallereignis unter anderem Gesichts¬ 
winkel anders beurteilt würde. Einem subjektiven Verschulden wird stets eine 
objektive Prüfung des Tatsachenmaterials schützend zur Seite stehen, und Streit¬ 
fälle einer (durchaus wohlwollenden) Entscheidung des Reichsversicherungsamtes 
Vorbehalten. Von den ermittelten 56572 Verletzungen sind 9997 der Schuld 
des Arbeitgebers, 15783 der Schuld des Arbeiters beigemessen, während 27853 
Unfälle auf das Konto „unvermeidliche Betriebsgefahr“ gesetzt worden sind. Die 
Schuld des Arbeitgebers war mithin in 17,67°/ 0 (1891 in 18,61%) der Unfälle; 
bei der Gewerbeunfallversicherung im Jahre 1897 in 16,81% konstatiert. Auf 
den Arbeiter entfielen in Land- und Forstwirtschaft 27,90% (1891 24,99%), im 
Gewerbe (1897) 29,89 % der Unfälle. Dem Einfluß der Trunkenheit, besser des 
Alkohols, wird ein besonderes Kapitel gewidmet und betont, „daß der Einfluß 
der Trunkenheit, wie überhaupt des reichlichen Alkoholgenusses auf die Unfall¬ 
häufigkeit hoch anzuschlagen ist, liegt in der Natur der Einwirkung des Alkohols 


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Mitteilungen. 


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auf den menschlichen Organismus. Fast mehr noch als der zur Bewußtlosigkeit 
gesteigerte Rausch, welcher der Regel nach zur Beseitigung des Trunkenen von 
der Arbeitsstätte führt, wird die Nachwirkung des übermäßigen Alkoholgenusses, 
ohne daß es zu Erscheinungen offenbarer Trunkenheit gekommen zu sein braucht 
auf den Eintritt von Betriebsunfällen hinwirken 41 . Es muß ohne weiteres zu¬ 
gegeben werden, daß es nicht gerade leicht ist, diese Nachwirkungen durch 
Zahlen auszudrücken, und es ist sicherlich anzuerkennen, wenn der Bericht zu 
der Auffassung kommt, „daß eine viel größere Anzahl von Betriebsunfällen 
durch Trunkenheit und reichlichen Alkoholgenuß ursächlich beeinflußt ist, als die 
bezeichnete Aufzählung ergeben hat 44 — es handelte sich hierbei nur um 94 Fälle, 
d. i. 0,17% aller Unfälle. Gewiß darf nicht außer acht bleiben, daß der Genuß 
und der Mißbrauch geistiger Getränke von den verschiedenen Personen sehr ver¬ 
schieden beurteilt wird; immerhin steht aber zu hoffen, daß wenigstens die be¬ 
urteilenden Ärzte, dem allgemeinen Trinksittenkultus weniger Rechnung tragend, 
bei den Unfallverletzten immer häufiger die objektiv notwendigen Feststellungen 
darüber machen werden, ob der Alkohol mittelbar oder unmittelbar den Unfall 
beeinflußt hat. Es liegen bereits eine Anzahl Entscheidungen nach dieser Richtung 
seitens des Reichsversicherungsamts vor, und es darf erwartet werden, daß mit 
der Zunahme der Kenntnis der Alkoholfrage und dem zunehmenden Interesse, 
welches gerade die Ärzte dieser Frage zuzuwenden bestrebt sind, auch dieses 
Moment in den Bereich der objektiven Tatsachen wird übergeführt werden können. 

Ein großes Zahlenmaterial auf vielen Tabellen und vorzügliche, bunt 
schraffierte Karten veranschaulichen die Unfallstatistik der Land- und Forstwirt¬ 
schaft in allen Einzelheiten aufs beste. Dr. Waldschmidt. 

Folgende Verfügung an die Landräte und die Magistrate von Potsdam, 
Spandau, Brandenburg, Charlottenburg, Schöneberg und Rixdorf ist soeben er¬ 
schienen: 

Der Regierungspräsident. Potsdam, den 28. Juni 1905. 

A. 1488/6. 

Die oft erheblichen Kosten, welche den Armenverbänden durch die Ge¬ 
währung von Unterstützungen an hilfsbedürftig gewordene Trunksüchtige oder 
deren Familien erwachsen, könnten in vielen Fällen durch die rechtzeitige 
Unterbringung und Heilung des Trinkers in einer Anstalt für Alkoholkranke be¬ 
trächtlich vermindert, wenn nicht gänzlich erspart werden. 

Allerdings ist nach den vorliegenden Erfahrungen das Gelingen der Kur 
erst dann wahrscheinlich, wenn 

1. der Gewohnheitstrinker längere Zeit hindurch — in der Regel wohl etwa 
ein halbes Jahr — in der Heilanstalt verbleibt, wo ihm jedes alkoholische Ge¬ 
tränk versagt ist und auf die Stärkung seines Willens ein stetiger Einfluß geübt 
wird und 

2. die Unterbringung des Kranken nicht zu spät, z. B. erst nach der 
etwaigen Entmündigung (§ 6 Ziffer 3 des Bürgerlichen Gesetzbuchs) erfolgt, son¬ 
dern zu einer Zeit, wo die Trunksucht noch mit dem eigenen, durch die Anstalts¬ 
einrichtungen geförderten Willen des Trinkers wirksam bekämpft werden kann. 

Die Aufwendungen, die durch die Unterbringung eines Trunksüchtigen in 
eine solche Anstalt den Armenverbänden entstehen, dürften bei erfolgreicher Kur 


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Mitteilungen. 


wohl zweifellos geringer sein, als die dauernden Unterstützungen, welche 
andernfalls dem gänzlich verkommenen und völlig erwerbsunfähig gewordenen 
Trinker bezw. dessen Familie auf Grund des Unterstützungswohnsitzgesetzes ge¬ 
währt werden müssen. 

Die von dem Berliner Bezirksverein gegen den Mißbrauch geistiger Ge¬ 
tränke in der Nähe von Fürstenwalde an der Spree vor fünf Jahren errichtete 
Volksheilstätte für Alkoholkranke (Heilstätte „Waldfrieden“) hat seit kurzem im 
Interesse einer geregelten Trinkerfürsorge eine Erweiterung erfahren, indem der 
offenen Heilstätte Bauten mit geschlossenem Anstaltscharakter angegliedert sind 
und die Heüstätte psychiatrischer Leitung unterstellt ist. Dies hat die Provinzial¬ 
behörde der Provinzen Sachsen und Brandenburg veranlaßt, dieser Anstalt ver¬ 
tragsmäßig solche Geisteskranke aus den Landesirrenanstalten zu überweisen, 
deren Leiden auf alkoholischer Basis entstanden ist und welche Aussicht auf 
Besserung bieten. 

Die Anstalt hat sich verpflichtet, für solche Kranke ihren Verpflegungssatz 
von täglich drei Mark auf zwei Mark herabzusetzen und würde bereit sein, den¬ 
jenigen Armenverbänden, welche die Kranken durch Vermittelung der Provinzial¬ 
behörde überweisen lassen, dieselben Vergünstigungen zu gewähren. 

Auf Wunsch der Anstalt, deren Leiter zu etwaiger weiterer Auskunft gern 
bereit sein wird, mache ich die Herren Landräte mit dem Ersuchen um weitere 
Veranlassung betreffend der Gemeinden ihrer Kreise mit dem Bemerken hierauf 
aufmerksam, daß es sich in jedem Falle vor Unterbringung eines Trinkers in die 
Heilstätte empfehlen wird, ein ärztliches Gutachten darüber einzuziehen, ob auf 
einen Erfolg der beabsichtigten Entziehungskur gehofft werden kann. 

Unterschrift. 

Eine Verfügung gleichen Inhalts ist unterm 28. Juli vom Regierungs¬ 
präsidenten zu Frankfurt a. Oder an die Landräte und Oberbürgermeister der 
Kreise und Städte seines Bezirks erlassen. 

Wir können nicht dringend genug die Bedeutung dieser Verfügungen her¬ 
vorheben, ihre weitere Verbreitung wünschen und den Kreis- und Gemeinde- 
Vorständen die Beachtung derselben in ihrem eigenen Interesse ans Herz legen. 


Der Branntwein im dänischen Heere. Bei meinen Untersuchungen über die 
ältere Schleswig-holsteinische Mäßigkeitsbewegung zeigte sich die Tatsache, daß 
die Mäßigkeitsvereine der vierziger Jahre auf das Heereswesen einzuwirken sich 
bemüht haben (vergl. den Abschnitt 13 meiner Geschichte der älteren schlesw.- 
holst. Mäßigkeitsvereine im „Alkoholismus“), aber auch, daß in den Kampfes¬ 
jahren 1848 ff. sowohl auf dänischer wie auf deutscher Seite gelegentlich tüchtig 
Branntwein getrunken wurde. Es legte sich mir nun die Frage nahe, ob nicht 
möglicherweise die Mäßigkeitsvereine nach der Niederwerfung der Erhebung 
einen Erfolg im Heereswesen gehabt haben könnten, wie z. B. eine Brennsteuer 
1850 in Schleswig, 1853 in Holstein eingeführt ward — oder, um eine geschicht¬ 
liche Parallele zu ziehen, wie die Aufhebung der Branntweinrationen im preußischen 
Heere unter König Wilhelm I. 1862 als erfreuliche Spätfrucht der älteren 
Mäßigkeitsbewegung zu würdigen ist. Um sicheren Bescheid zu erlangen, wandte 
ich mich an das königlich dänische Kriegsministerium zu Kopenhagen (dänisches 
ui^l schleswig-holsteinisches Heereswesen ist von 1852—64 im wesentlichen ein- 


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Mitteilungen. 


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heitlich geordnet — und auch auf rein dänischem Boden arbeiteten Mäßigkeits¬ 
vereine). Auf meine Anfrage hat die hohe Behörde mir in liebenswürdigster 
Weise eine ausführliche, lehrreiche Antwort gegeben, wofür ich auch an dieser 
Stelle meinen herzlichen Bank ausspreche. Ich lasse die Auskunft wörtlich 
folgen (Hat Hansen hat sie mir übersetzt): 

A. 2904. Kriegsministerium. Kopenhagen, den 3. August 1905. 

An Herrn Pastor Br. Stubbe. 

In Anlaß Ihres Schreibens vom 16. Juli 1905 will ich nicht unterlassen, 
Ihnen hierdurch mitzuteilen: 

In dem Zeitraum von 1849 bis einschließlich 1903 ist es der Mannschaft 
in dem dänischen Heere freigestellt gewesen, inwieweit sie wünschte, den zu 
der Naturalportion gehörigen täglichen Branntwein (*/* Paegl) oder statt dessen 
die dem Werte entsprechende Geldsumme zu erhalten. Bie Forderung, Brannt¬ 
wein in natura zu bekommen, hat indes ständig abgenommen von Jahr zu Jahr, 
namentlich seit 1880, und von 1891 an ist Branntwein in natura überhaupt nicht 
mehr geliefert worden, da die ganze Mannschaft sich des Rechtes bedient hat, 
die Vergütung an Stelle desselben zu erhalten. 

Im Jahre 1903 ist der Branntwein als Bestandteil der gewöhnlichen Natural¬ 
portion der Mannschaft in Wegfall gekommen, ohne daß, wie bis dahin, ein Geld* 
betrag dafür gewährt wurde. Bie Summe, welche auf diese Weise erspart wurde* 
ist der Abteilung mit dem Rechte überlassen, sie, falls dazu ein Anlaß vorliegen 
sollte, zu benutzen, um der Mannschaft Kaffee, Warmbier oder andere nicht- 
spirituöse Getränke zu verschaffen. 

Um der Gelegenheit zum Genüsse starker Getränke entgegenzuwirken, ist 
ferner 1903 eine Bestimmung des Inhalts erlassen worden, daß in Kasernen und 
ähnlichen Etablissements, in denen Mannschaft einquartiert wird, Spirituosen 
irgend welcher Art weder verkauft noch ausgeschenkt werden dürfen. Ebenso 
ist es den Marketendern verboten, den Abteilungen ins Feld zu folgen, um der¬ 
artige Getränke zu verkaufen oder auszuschenken. 

Für den Minister: gez. Seedorff. 

Es ergibt sich hieraus, daß von 1862—1903 in antialkoholischer Beziehung 
das dänische Heer hinter dem preußischen, bezw. deutschen Heere zurückstand, 
während von 1903 an das deutsche Heer rückständig ist; denn das Branntwein¬ 
verbot für Kantinen u. s. w. bildet bei uns immer noch eine Ausnahme. 

Stubbe. 

In Baden kamen für die Staatskasse im Jahre 1904 2667496,80 Mark 
Weinsteuer und 8338277,84 Mark Biersteuer zur Erhebung und rechnet die 
Statistik mit 142,8 Pfg. bei Weih und 446,3 Pfg. bei Bier pro Kopf. 

Sind das auch recht ansehnliche Zahlen, so bleiben dieselben doch zurück 
gegen die wirklichen Verbrauchsziffern beim Wein, die nie genau festgestellt 
werden können, da einerseits mancher getrunkene Wein mehrfach versteuert ist, 
anderseits der Eigenbau, der im Hause verbraucht und teilweise auch in kleinen 
Portionen abgegeben wird, steuerfrei bleibt. M. M. 


Nach der Statistik der badischen Steuerdirektion über Biererzeugung im 
Großherzogtum im Jahre 1904 haben die Braunbierbrauereien wiederum ab- 


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Mitteilungen. 


genommen und zwar um 19 (584 auf 565), aber auch die Zahl der Weißbier¬ 
brauereien sank von 100 auf 98. Die Ursache für die fortgesetzte Abnahme 
der Brauereien ist das Aufgehen der kleinen in den großen und es wird so lange 
fortschreiten, bis zuletzt nur noch großkapitalistische Brauereien übrigbleiben. 

Der Malzverbrauch in der Braunbierbrauerei betrug 658799,05 Doppel¬ 
zentner, was gegen das Vorjahr eine Minderung von 7894 D.-Z. ergibt, aber die 
Biererzeugung war trotzdem eine größere als im Vorjahr. Sie betrug 8078006,98 hl 
oder 34169,52 hl mehr. Die Weißbierbrauereien hatten einen Verbrauch an 
Malz von 238,31 D.-Z. (+ 47,04), aber eine Mehr-Biererzeugung von 2638,42 hl. 
Ihre Produktion betrug dabei im ganzen 3831,27 hl. 

Man erkennt also sehr deutlich, daß die Biererzeugung wesentlich zunahm, 
obgleich der Malz verbrauch nur wenig stieg, wie ja bei dem Braunbier trotz 
Rückgang im Malz verbrauch die Biererzeugung doch um 34169 hl zugenommen 
hat. Getrunken wird mithin mehr, nur ist das Bier als minder malzreich wohl 
auch minder alkoholhaltig. 

Die Steuereinnahmen auf Malz haben sich um 82207 Mk. vermindert, ob¬ 
gleich mehr Bier gebraut wurde. Die Biersteuer hat sich dagegen im allgemeinen 
um 24709 Mk. erhöht und betrug insgesamt 7 567070,85 Mk. 

Jedenfalls kann das alkoholarmere Bier als minder schädlich angesehen 
werden und scheint den Trinkern doch zu schmecken, aber im ganzen gewährt 
die Statistik das Bild des steigenden Biergenusses trotz lebhafter Mäßigkeits¬ 
bewegung im Lande und trotz verschiedener Einrichtungen und Verordnungen 
bei den Eisenbahnbehörden und anderen Amtsstellen. M. M. 


Zur Branntwein- und Bierstatistik. 

Unsere Hoffnungen, daß die Statistik uns nach jahrelangen Bemühungen 
gegen den Alkohol endlich zahlenmäßige Erfolge zeigen werde, sind auch durch 
das Statistische Jahrbuch für 1905 nicht erfüllt worden. 

Der Branntweinverbrauch ist auch im Jahre 1903/04 nicht zurückgegangen. 

Der Branntweinverbrauch im allgemeinen ist in dem Berichtsjahr gestiegen. 
Es wurden verbraucht 3 743800 hl oder pro Kopf der Bevölkerung 6,3 1, gegen 
3631600 hl im Vorjahre = 6,2 1 pro Kopf. 

Die Brenner haben also mehr verkauft, mehr produzieren können, aber 
der Trinkbranntwein verbrauch hat das glücklicherweise nicht verschuldet, denn 
von diesem wurden gegen 2352900 hl im Vorjahre nur 2351900 hl, also 1000 hl 
weniger versteuert Das auf den Kopf entfallende Quantum von 41 reinem 
Alkohol in 1902/0.3 ist auch 1903/04 geblieben. Leider ist das aber beim Bier 
nicht so gewesen; hier hat der Verbrauch im ganzen Reiche zugenommen. Er 
stieg 1908 auf 68826000 hl gegen 67486000 hl im Vorjahre, das wir seinerzeit 
als ein Jahr des Rückganges bezeichnen konnten, weil 1901 noch 70995000 hl 
Verbrauch aufgewiesen hatte. Auf den Kopf der Bevölkerung entfielen 1903 117 1, 
1902 nur 116 1, während 1901 noch 124 1 zu verzeichnen waren. 

In den einzelnen Gebieten stellt sich aber das Verhältnis verschieden. 
Bayern und Württemberg zeigen einen Minderverbrauch pro Kopf, alle anderen 
Steüergebiete Mehrverbrauch, und Elsaß-Lothringen steht dabei obenan, obgleich 
es bekanntlich noch nicht so viel Bier verbraucht wie andere deutsche Länder. 


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Mitteilungen. 


325 


Es haben verbraucht: 


das Brausteuergebiet 
im ganzen: 45375000 hl 

(1902: 44192000 hl) 
pro Kopf: 98 1 

(1902: 97 1) 


Bayern 
14811000 hl 
(1902: 14816000 hl) 
232 1 

(1902: 235 1) 


Baden 

im ganzen: 3054000 hl 

(1902: 2988000 hl) 
pro Kopf: 157 1 

(1902: 156 1) 


Elsaß-Lothringen 
1556000 hl 
(1902: 1460000 hl) 
88 1 

(1902: 83 1) 


Württemberg 
3772000 hl 
(1902: 3810000 hl) 
169 1 

(1902: 172 1) 
das ganze Zoll- 
und Steuergebiet 
68826000 hl 
(1902: 67486000 hl) 
117 1 

(1902: 116 1) 


Bei Bayern ist der Gesamtverbrauch zwar ein wenig höher als im Vorjahr* 
aber pro Kopf doch um 3 1 geringer, hingegen ist bei Württemberg nicht nur 
der Verbrauch pro Kopf um 8 1 gesunken, sondern auch der Gesamtverbrauch 
zurückgegangen. 

Ob das an Wirkungen der Mäßigkeits- und Abstinenzbestrebungen bei 
Württemberg liegt oder etwa am Mehrverbrauch von Obst- und Beerenwein* 
läßt sich nicht gut übersehen, aber die guten Obstjahre sind in Württemberg 
stets dem Brauereigewerbe ein Dom im Auge, weil der Most dort National¬ 
getränk ist und der Obstsegen die Höhe des Mostverbrauchs bestimmt. 

Der Gesamtmehrverbrauch steht aber im Reiche fest, und wenn er nur 
mäßig war, so ist das doch im Sinne der Alkoholbekämpfung trotzdem bedauer¬ 
lich. Die Reichslande gewöhnen sich auch mehr und mehr an Bier und der 
Zuzug Altdeutscher trägt ebenfalls sein Teil am Mehrverbrauch. Wie lange 
noch und Elsaß-Lothringen hat den Reichsdurchschnitt im Bierverbrauch erreichte 

Das einzige Erfreuliche bei der Betrachtung dieser Zustände ist, daß er¬ 
wiesenermaßen das Bier immer weniger alkoholreich gebraut wird, daß der Malz¬ 
verbrauch im Vergleich zur Bierproduktion zurückgeht, wie wir das an dieser 
Stelle schon bezüglich Badens ja zahlenmäßig nachgewiesen haben. 

Die Zahl der Brauereien im Brausteuergebiet ist im Jahre 1903 wieder 
zurückgegangen von 6581 auf 6404, dagegen stiegen die Zahlen der verwendeten 
Braustoffe. 

Malz u. 8. w. wurde 1902 745809 t verbraucht, 1908 aber 771169 t. Die 
gewonnene Biermenge hatte 1902 42226000 hl betragen, 1903 43364000 hl* 
Die Biergewinnung im ganzen Steuergebiet stellte sich wie folgt: 



im Brausteuergebiet 

in Bayern 

in "Württemberg 

im ganzen 1903: 

43364000 hl 

17360000 hl 

3752000 hl 

1902 

42226000 hl 

17361000 hl 

3792000 hl 

pro Kopf 1903 

93 1 

271 1 

168 1 

1902 

92 1 

275 1 

172 1 



in Elsaß- 

im Gesamt¬ 


in Baden 

Lothringen 

gebiet 

im ganzen 1903: 

3045000 hl 

1222000 hl 

68952000 hl 

1902: 

2967000 hl 

1148000 hl 

67699000 hl 

pro Kopf 1903: 

157 1 

69 1 

117 1 

1902 

155 1 

66 1 

116 1 


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Mitteilungen. 


Ein Vergleich der Biergewinnungszahlen und der Verbrauchszahlen zeigt, 
daß sich Einfuhr und Ausfuhr gleich bleiben müssen, nur bei Bayern ergibt sich, 
eine wesentlich höhere Ziffer bei der Gewinnung als beim Verbrauch, da Bayern 
doch viel Bier ausführt. Bayern produzierte pro Kopf 271 1, verbrauchte aber 
pro Kopf nur 232 1. 

Daß die Mäßigkeitsbewegungen den Brauern noch nichts geschadet haben, 
ist aus den Zahlen deutlich erkennbar, aber trotzdem wird der Zukunft halber 
mächtig gegen die Alkoholbekämpfer gearbeitet. Auch sie müssen deshalb ihre 
Anstrengungen verdoppeln und verdreifachen. Solange wir den Rückgang der 
Biererzeugung und des Bierverbrauchs nicht zahlenmäßig nachweisen können, ißt 
doch alle Klage der Brauer und Wirte nur auf die Konkurrenz untereinander 
zurückzuführen; Mäßigkeits- und Abstinenzvereine tragen keine Schuld an etwaigem 
schlechtem Geschäft der Wirte und Brauer. Im Kampf mit denselben können 
unsere Zahlen sprechen." Max May. 

Im Großherzogtum Baden ist vom Bezirksverein gegen den Mißbrauch, 
geistiger Getränke eine Heilstätte für Alkoholkranke zu Renchen eröffnet und 
am 5. Juni in Anwesenheit der Vertreter hoher Behörden feierlich dem Betriebe 
übergeben worden. Aus der von Herrn Baurat Dr. Fuchs -Karlsruhe verfaßten 
Entstehungsgeschichte ist zu entnehmen, daß anfänglich die badische Regierung 
dank dem Interesse des Ministers des Innern gewillt war, eine staatliche Anstalt 
zu errichten, daß aber dieser Plan an den derzeitig ungünstigen finanziellen Ver¬ 
hältnissen vorläufig gescheitert ist. Mit einem Kostenaufwand von rund 80000 Mark 
ist zunächst ein Grundstück in der Größe von 168 a 34 qm erstanden (9568 Mark), 
ein Gebäude für 35 Betten (zu 62000 Mark) errichtet und die Einrichtung, vor¬ 
läufig für 12 Kranke und 3 Angestellte (mit 7000 Mark), beschafft. Bei weiterem 
Ausbau auf die gedachten 35 Betten berechnet sich das Bett auf 2860 Mark. 
Hierzu ist eine Staatsbeihilfe von 20000 Mark gewährt, von verschiedenen Kreis¬ 
ausschüssen wurden zusammen 2300 Mark gespendet, Gemeinden beteiligten sich 
mit 630 Mark, dagegen steuerten die badischen Bezirksvereine gegen den Mi߬ 
brauch geistiger Getränke zusammen 9303 Mark bei, die Gemeinde Renchen, zu 
der die Heilstätte gehört, bewilligte sogar 2600 Mark. Es waren demnach 
35000 Mark ohne weiteres gedeckt, von dem Rest übernahm die Versicherungs¬ 
anstalt Baden 33000 Mark als Darlehn zu 3 3 /4% bei jährlicher Tilgung von 1 °/ 0 . 
Fernere Darlehen in Höhe von 2500 Mark sind von privater Seite zu 3 l /*°/o ge¬ 
währt, so daß nur noch eine geringe Summe zu decken bleibt. — Es wird eine 
Rentabilitätsrechnung aufgemacht, nach welcher bei einer lObettigen Belegung 
und einem Pflegesatz von 2 Mark pro Kopf und Tag ein Zuschuß von 4000 Mark 
vorgesehen ist, wovon das Großherzogliche Ministerium des Innern sich ver¬ 
pflichtet hat, 3000 Mark zu leisten. Eine derartige Anteilnahme sollte auch in 
andern Staaten Nachahmung finden! — Der Heilstätte selbst,' um die sich unser 
verehrter Mitarbeiter, Herr Baurat Dr. Fuchs, viel Mühe gegeben hat, wünschen 
wir die besten Erfolge! 


Von der auf dem Gebiete der Jugendfürsorge weit bekannten Frau Hanna 
Bieber-Böhm ist jüngsthin ein alkoholfreies Erholungsheim für Junge Mädchen 
auf dem Priorsberg bei Neuzelle in der Mark eingerichtet worden. Es wird in 
erster Linie auf blutarme, schwächliche oder etwas nervöse junge Mädchen, die 


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sieh in der Ruhe des Landlebens bei leichter Haus- und Gartenarbeit erholen 
wollen, gerechnet; der Pensionspreis ist nur l 1 /*—2 Mark. Mit diesem Erholungs¬ 
heim ist eine Haushaltungsschule verbunden, welche folgende Lehrgegen¬ 
stände auf weist: Kochen, Wäschebehandlung, Nähen, Schneidern, Gesundheits¬ 
lehre, Erziehungslehre, Hühnerzucht, Obst- und Gartenbau. 


Das Stift Isenwald versendet letzthin einen Bericht über die Betriebsjahre 
1903/04 und 1904/05, aus welchem ersichtlich ist, daß es seit der Eröffnung, 
d. i. vom 1. November 1901 bis zum 1. April 1905 von zusammen 142 Personen 
aufgesucht wurde. Zur Entlassung kamen in diesem Zeitraum 124, wovon indes 12 
wiederholt aufgenommen waren; von diesen 112 Entlassenen sind 15 in Abzug 
wegen Tod, Überführung in Irrenanstalten u. s. w. zu bringen, es kommen dem¬ 
nach 99 Personen in Betracht, bei denen folgendes Resultat erzielt wurde: 
35 total Abstinente, 23 Rückfällige und 41 ohne bestimmte Nachricht, von diesen 
wird noch l /s als „aussichtsvoll u bezeichnet. Während die Anstalt im Jahre 
1903/04 (bei 35 Betten) durchschnittlich von 23 Pfleglingen besucht war, sind 
für 1904/05 22 Betten belegt gewesen; die Aufenthaltsdauer wird 1903/04 
auf 193, 1904/05 auf 205 l /§ Tage errechnet — mithin sehr günstig. Es sei noch 
hervorgehoben, daß in den ersten 1V» Jahren aus eigenem Antriebe 41 (1903/04 : 25, 
1904/05:20) aufgenommen wurden, von Armenbehörden überwiesen (meist ent¬ 
mündigt) 7 (1903 :1, 1904 : 2), sonstige Entmündigte 13 (1903 : 7, 1904 : 9), von 
Behörden überwiesen 5 (1903 :4, 1904 : 4), Krankenkassen 0 (1903 : 2, 1904 :1), 
von Landesversicherungsanstalten 1 (1903 : —, 1904 : —); also auch hier wird die 
geringe, in den letzten beiden Jahren vollständig versagende Teilnahme der 
Landesversicherungsanstalten bekundet. Diese bedauernswerte Tatsache, die sich 
auch zum Teil auf die Krankenkassen erstreckt, kann nicht scharf genug betont 
werden; sie würde nur dann gerechtfertigt sein, wenn die Anstalten, welche die 
Landesversicherungsanstalten selbst für Erwerbsunfähige errichten, ebenso wie 
die Trinkerheilstätten gehalten und wie diese den Patienten nutzbar gemacht 
würden. Das ist aber nicht so leicht durchführbar, und deshalb muß gefordert 
werden, daß die Landesversicherungsanstalten mehr Kranke den Spezialanstalten 
für Alkoholkranke zuweisen lassen. Aus den Berichten erhellt die fernere Tat¬ 
sache, daß Stift Isenwald an Überfüllung auch nie zu klagen gehabt hat, wie¬ 
wohl es im allgemeinen gut besucht war. 


Auf die Sonderausstellung zur Bekämpfung des Alkoholismus in den Räumen 
der ständigen Ausstellung für Arbeiterwohlfahrt in Graz machen wir aufmerksam; 
sie veranlaßt zu folgender 

Bitte! 

Der Verein der Abstinenten in Graz wird zur Feier seines fünf¬ 
jährigen Bestandes im November dieses Jahres eine Sonderausstellung zur Be¬ 
kämpfung des Alkoholismus in den Räumen der ständigen Ausstellung für Arbeiter¬ 
wohlfahrt in Graz, Herrengasse Nr. 9, veranstalten. Die Ausstellungsräume liegen 
in der belebtesten und vornehmsten Gasse von Graz und sind täglich zur unent¬ 
geltlichen Besichtigung geöffnet. 

Die genannte Sonderausstellung wird nach Tunlichkeit alle wichtigen, auf 
die Alkoholfrage bezüglichen Drucksachen, Abbildungen und sonstigen Gegenstände 


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umfassen, sich in den alkoholfreien Getränken jedoch auf die Erzeugnisse Öster¬ 
reichs beschränken. Es handelt sich vor allem um die Literatur wissenschaft¬ 
licher, belehrender und unterhaltender Art, einschließlich der einschlägigen Zeit¬ 
schriften, um statistische Tabellen über den Zusammenhang des Alkoholgenusses 
mit Verbrechen, Irrsinn, Verarmung, Sterblichkeit u. 8. w., um bildliche Dar¬ 
stellungen aller Art, wie Maueranschläge, Wandtafeln, Postkarten, um Darstellung 
der alkoholfreien und Reform-Gasthäuser, sowie anderer Maßnahmen zur Be¬ 
kämpfung der Trinksitten und zur Befreiung vom Trinkzwange. Als solche 
kommen namentlich noch Abbildungen von Warte- und Wärmehallen, Schutz¬ 
hütten u. s. w., sowie Darstellungen von Verkaufswagen für Kaffee, Tee, Suppe 
u. dergl. in Betracht 

Abstinenz- und Mäßigkeitsbestrebungen sollen in gleicher Art berücksichtigt 
werden. 

Die Ausstellung hat den Zweck, den Bewohnern von Graz die Wichtigkeit 
und Größe des Kampfes gegen den Alkoholismus, sowie die Größe der Alkohol¬ 
gefahr eindringlich vor Augen zu führen, sie zur tätigen Teilnahme an diesem 
Kampfe anzuregen und ihnen den wesentlichen Unterschied zwischen der älteren 
Trunksuchtsfrage und der neueren Alkoholfrage zu zeigen. 

Wir bitten daher alle Vereine, Körperschaften und einzelne Per¬ 
sonen, die unser Unternehmen zu fördern vermögen, insbesondere die Heraus¬ 
geber und Verleger der einschlägigen Zeitschriften, Bücher, Flugschriften und 
Flugblätter, uns so viel Material wie möglich zu senden, um dadurch den guten 
Zweck sowie auch gleichzeitig das Bekanntwerden ihrer Erzeugnisse zu fördern. 

Die Sendungen bitten wir so bald wie möglich an das „botanische In¬ 
stitut der technischen Hochschule in Graz“ „für die Ausstellung 41 
zu schicken. Alle wertvolleren Gegenstände werden, sofern sie nicht als Ge¬ 
schenke bezeichnet sind, nach Schluß der Ausstellung kostenfrei zurückgeschickt 
werden. 

Graz, im Juli 1905. 

Für den Verein der Abstinenten in Graz: 

Professor Friedrich Reinitzer, 
derz. Obmann, 

Graz, technische Hochschule. 


Der 3. deutsche Abstinententag in Dresden hat sich eines ebenso zahl¬ 
reichen Besuches wie günstigen Verlaufes zu erfreuen gehabt Er war geschickt 
und mit einer — freilich nicht mehr ganz zu entbehrenden — recht ausgiebigen 
Reklame vorbereitet und in die prächtigen Räume des städtischen Ausstellungs¬ 
palastes berufen worden. „Hervorragende Redner des In- und Auslandes 44 waren 
gewonnen und haben zumeist die auf sie gesetzten Erwartungen erfüllt. Besonders 
ist anzuerkennen, daß man (vielleicht in Rücksicht auf das gute Einvernehmen, 
das gerade in Dresden zwischen dem großen Bezirksverein gegen den Mißbrauch 
geistiger Getränke und den die Enthaltsamkeit vertretenden Vereinigungen besteht, 
vielleicht auch um die unliebsamen Erinnerungen an den Bremer Kongreß nicht 
wieder wachzurufen) Angriffe auf die Vertreter anderer Richtungen vermied. 
Eine Herabsetzung der Verdienste des Deutschen Vereins gegen den Mißbrauch 
geistiger Getränke blieb nur dem Geschäftsführer des Zentralverbandes gegen den 


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Alkoholismus Vorbehalten. Dr. Kraut erntete aber für seine diesbezüglichen 
Ausführungen nicht den wohl erwünschten „lebhaften Beifall“. Der Vorsitzende 
dieses Zentralverbandes, Franziskus Hähnel-Bremen, leitete die Versamm¬ 
lungen mit Takt und Gewandtheit und wird in ihrem guten Besuche und an¬ 
regenden Verlaufe den besten Lohn für seine anstrengende Aufgabe gefunden 
haben. Daß auch bei den Antialkoholkongressen, Abstinententagen und wie die 
Veranstaltungen alle heißen, die Zahl der offiziellen und nichtoffiziellen „Be¬ 
grüßungen“ öine viel zu große, bezw. die Dauer der „kurzen Begrüßungsworte“ 
noch immer eine viel zu lange ist, sei besonders bemerkt: Auch wer nicht Alkohol 
genießt, ermüdet unter dem ewigen Begrüßen oder Begrüßtwerden. Bei der 
zweiten Abendversammlung wurde l j 2 10 Uhr noch immer begrüßt. Den Glanz¬ 
punkt der vielen Versammlungen bildete der Abend des Bundes abstinenter 
Frauen mit seinem ebenso zahlreichen wie ausgezeichneten Zuhörerkreise und 
einigen vorzüglichen Ausführungen der Vortragenden Damen, von denen ich Frau 
Dr. Hoppe-Moser und Frau Dr. Wegscheider-Ziegler an erster Stelle 
nenne. („Die Frauen und die Trinksitten“ und „Die Frau und Mutter als Vor¬ 
kämpferin im Kampfe gegen den Alkoholismus“.) Etwas wirklich Neues boten die 
Mitteilungen der Frau Eliot Vorke aus London über den Verein abstinenter 
Krankenpflegerinnen, der versucht, durch eigenes Beispiel, Beratung und 
Aufklärung der Familien, in denen seine Mitglieder Krankenpflege ausüben, 
segensreich gegen den Alkoholmißbrauch zu wirken. Die erste Vorsitzende des 
Bundes deutscher Frauenvereine, Frau Marie Stritt, beglückwünschte den ab¬ 
stinenten Frauenbund und namentlich seine Leiterin, Frl. Ottilie Hoffmann- 
Bremen, auf das herzlichste. Mit frischen und liebenswürdigen Worten wußte 
die letztere den Rednerinnen den Dank der Zuhörer und ernste Mahnungen zur 
Mitarbeit zu übermitteln. 

Der Ehrenvorsitzende der Tagung, Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Böhmert- 
Dresden hatte den ersten Vortrag für die Hauptversammlung des zweiten Abends 
über Die Reform der Geselligkeit übernommen. Arbeit und Geselligkeit 
hängen auf das engste zusammen, beide sind gleich notwendig zu gedeihlichem 
Leben. Aber die Erholungen sind in vielen Volkskreisen und in ganzen Gegenden 
infolge der Verbindung mit dem Trünke nicht im stände, wirklich Erneuerung der 
Körper- und Geisteskräfte zu schaffen. So müsse die Reform der Geselligkeit 
vor allem eine Reform der Trinksitten sein. Als praktische Mittel, eine solche 
zu pflegen, kommen u. a. Erholungsstätten der verschiedensten Art ohne Trink- 
und Verzehrzwang in Betracht, ausgiebige Wanderungen in die freie Natur, 
Stätten und Unternehmungen zur Förderung geistiger Bildung und Veredelung 
der Sitten. Von weiteren Vorträgen möge der von Franziskus Hähnel über 
Die Aufgabe der Presse im Kampf gegen den Alkoholismus hervor¬ 
gehoben sein. In der am Nachmittag des zweiten Tages anberaumten Versamm¬ 
lung wurden interessante Ansprachen von Dr. med. Strecker-Berlin über die 
Trunksucht vor dem Strafrichter und von dem bekannten vielgeschmähten 
„Brauereifreunde“ Landrichter Popert-Hamburg über Alkohol und Straf¬ 
gesetz geboten. Während ersterer vom ärztlichen Standpunkt aus die weit¬ 
gehende Beeinflussung des Geistes- und Seelenlebens durch den Trunk beleuchtete, 
forderte Popert folgende gesetzliche Bestimmungen: 

„Ausschluß der Trunkenheit als mildernden Umstandes, auch für das bürger¬ 
liche Strafrecht, nach Analogie des § 49 Absatz 2 des Militärstrafgesetzbuches. 

Per AlkoholismuB. 1905. 22 


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2) Ein Trunkenheitsgesetz auf der Grundlage, daß zwar nicht die Trunkenheit als 
solche unter Strafe gestellt wird, wohl aber die Trunkenheit, deren Folge als Ver¬ 
brechen oder Vergehen in die Erscheinung tritt Es wäre dem Strafgesetzbuch 
als letzter Paragraph (§ 871) der folgende anzuhängen: „Wer ein Verbrechen 
oder ein Vergehen begeht, wird, wenn er die Tat im Zustande der Trunkenheit 
oder Angetrunkenheit ausgeführt hat, wegen dieses Zustandes als solchen mit 
Haft bis zu 6 Wochen bestraft. Ist die Tat ein Verbrechen, so ist außerdem 
auszusprechen, daß der Verurteilte nach verbüßter Strafe der Landespolizeibehörde 
zu überweisen sei. Die Überweisung ist auch dann auszusprechen, wenn die Ver¬ 
urteilung wegen des bezeichneten Zustandes erfolgt, nachdem der Schuldige inner¬ 
halb der letzten drei Jahre deswegen bereits zweimal rechtskräftig verurteilt 
worden ist. Die Überweisung kann auch in jedem Falle ausgesprochen werden, 
wo überhaupt schon eine rechtskräftige Verurteilung des Schuldigen wegen des 
bezeichneten Zustandes vorhergegangen ist. Die Verurteilung wegen der Trunken¬ 
heit oder der Angetrunkenheit tritt auch dann ein, wenn eben des Vorliegens 
dieses Zustandes wegen der Schuldige für das Verbrechen oder Vergehen wegen 
§ 51 des Strafgesetzbuches nicht bestraft werden kann. Auch findet die Ver¬ 
urteilung wegen der Trunkenheit oder der Angetrunkenheit sowohl dann statt, 
wenn dem Schuldigen wegen dieses Zustandes für das Verbrechen oder das Ver¬ 
gehen mildernde Umstände zugebilligt werden können, als auch, wenn dies nicht 
der Fall ist 44 . 

Zwischen diesen Hauptversammlungen fanden die Beratungen des Deutschen 
Vereins abstinenter Lehrer, abstinenter Studenten, Kaufleute, Eisenbahner, des 
Zentralausschusses u. s. w. statt. 

Eine namentlich mit Literatur reichlich ausgestattete, durch geschmackvolle 
Arrangements von alkoholfreie Getränke ausstellenden Firmen geschmückte Aus¬ 
stellung verriet den Besuchern auch äußerlich schon, wie die Bewegung gegen 
den Alkoholismus in beständigem Vorwärtsschreiten ist und die Industrie große 
Anstrengungen macht, das ersehnte Getränk der Zukunft zu entdecken. 

Dr. Flade. 

Der X. internationale Kongreß gegen den Alkoholismus in Budapest Nach den 
stürmischen Tagen in Bremen, die noch in lebhafter Erinnerung der Teilnehmer 
geblieben, hatte man in beteiligten Kreisen mit Spannung der Tagung des X. inter¬ 
nationalen Kongresses in Budapest entgegengesehen, und so wird es nicht ohne 
Interesse sein, etwas Ausführlicheres über den dortigen Verlauf zu hören. Es 
war immerhin ein kühner Gedanke, der dem Schoße der Abstinenz entsprungen, 
die ja überhaupt den internationalen Kongressen die Direktive zu geben sich be¬ 
rechtigt fühlt, Ungarns Hauptstadt für diese Tagung zu wählen, um einer Bevöl¬ 
kerung die Enthaltsamkeitslehre zu verkünden, welche nichts weniger als abstinent 
bekannt oder dafür gehalten wird. Mitten im Weinlande sollte man erfahren, 
daß der Wein nicht des Menschen Herz erfreut, sondern an Stelle dieser ihfti 
„irrtümlich zugeschobenen u Eigenschaften das Gemüts- und Empfindungsleben ver¬ 
giftet. Vor der Eröffnung des Kongresses fand auch diesmal eine Frauenversamm¬ 
lung statt, in der die bekanntesten Größen der Enthaltsamkeitslehre zu Worte 
kamen, die alle eindringlich in den verschiedensten Mundarten die Forderung 
der Enthaltung von geistigen Getränken für die Frau, für die Kinder, für die 
Familie forderten. 


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Der Kongreß selbst, welcher diesmal nicht von einer solch stattlichen An¬ 
zahl von ausländischen Regierungen begrüßt wurde, wie dies z. B. in Bremen 
der Fall war, — Deutschland hatte sich nicht vertreten lassen, dagegen hatte 
die Reichsregierung in einem Dankschreiben für die Einladung den Standpunkt 
des Deutschen Vereins gegen den Mißbrauch geistiger Getränke als den ihrigen 
gekennzeichnet — wurde nach den übligen Begrüßungsreden durch einen hervor¬ 
ragenden Vortrag von Hofrat Dr. Gruber, Professor der Hygiene in München, 
eröffnet. Redner hatte sich das Thema „die Hygiene des Ich u gestellt, in 
dem er in meisterhafter Weise die Größe des Ich in seiner idealen, uneigen¬ 
nützigen Gestalt darlegte, das Genußleben in seiner niederen, egoistischen Art 
nach Gebühr geißelte, zur Selbstzucht mahnte und durch Einsprengung lebendiger, 
packender Bilder aus dem Alltagsleben den Stoff zu illustrieren wußte. Der auf 
breiter Grundlage aufgebaute Vortrag, welcher sich des lebhaftesten Beifalls und 
Dankes der Zuhörerschaft mit Recht erfreute, erörterte nach Darlegung der ein- 
schläglichen Hirnverhältnisse die Tätigkeit des gesamten Zentralnervensystems, 
betonte die Wichtigkeit der Reinheit der Empfindungen, die Reinheit der sich 
daraus ergebenden Genüsse, die Wichtigkeit der Vermeidung alles dessen, was 
die Empfänglichkeit für alles Gute und Edle herabmindem, das Seelenleben un¬ 
günstig beeinflussen könne. Es unterliegt nun keinem Zweifel, daß dies in 
wesentlichem Maße der Alkoholmißbrauch zu tun geeignet, derselbe somit nach 
Möglichkeit zu bekämpfen ist. Wie hier die Beeinflussung des Alkohols auf das 
Gemüts- und Seelenleben, auf die Größe des Menschen dargetan wurde, so be¬ 
leuchteten Prof. Laitinen - Helsingfors und Prof. Weygandt-W ürzburg den „Ein¬ 
fluß auf die Widerstandsfähigkeit des menschlichen und tierischen 
Organismus mit besonderer Berücksichtigung der Vererbung 11 . Lai¬ 
tinen kam hierbei auf die von ihm im Hallenser Hygienischen Institut gemachten 
Untersuchungen zurück, die wiederholentlich erörtert und bekanntlich darauf 
hinauslaufen, daß die Widerstandskraft gegen Infektionsträger durch Alkohol herab¬ 
gesetzt wird. Bezüglich der, Vererbung führte Referent die Tatsache näher aus, 
daß sowohl die Trunksucht als solche ererbt werden kann, als auch Geisteskrank¬ 
heit, Idiotie und Geistesschwäche häufig auf Alkoholismus der Ascendenten nach¬ 
weisbar zurückzuführen ist. — Weygandt betrachtete die Wirkung des Alkohols 
auf das Zentralnervensystem in seinem Korreferat vom psychologischen und 
psychiatrischen Standpunkte aus. Er besprach die Einwirkung kleinster Mengen 
Alkohols in Bezug auf das Denkvermögen, auf Gedächtnis und Willen, sowie auf 
die Gemütsstimmung überhaupt unter besonderer Berücksichtigung der Nach¬ 
wirkungen und würdigte die einzelnen Formen akuter wie chronischer Alkohol¬ 
vergiftung, den pathologischen Rausch, das Delirium tremens, die Alkoholhallucinose 
wie die alkoholischen Schwächezustände in eingehender Erörterung, um schlie߬ 
lich seinen Standpunkt hinsichtlich der Vererbbarkeit geistiger Eigenschaften zu 
kennzeichnen. 

Dr. Liebermann, Professor der Hygiene an der Universität Budapest, 
sprach alsdann über „die Bedeutung des Kunstweines im Vergleich 
mit dem gewöhnlichen Alkoholgenuß“, indem er sich über den „Kunst¬ 
wein“ dahin ausließ, daß es sich dabei weniger um Kunstprodukte mittels Zu¬ 
sammensetzung rein chemischer Präparate als um Verwendung von Rückständen 
und Abfällen aus der Weinbereitung handele unter Zusatz von Wasser, Alkohol, 
Weinsäure u. s. w. Da die Grenzen der rationellen Kellerbehandlung und der 

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Fälschung sehr verwischt seien, gebe es überhaupt keine einheitliche Definition, 
die in den einzelnen Staaten, je nach den wirtschaftlichen Verhältnissen sehr 
verschieden ausfalle. Redner betonte, daß vom hygienischen Standpunkte der 
Kunstwein sich vom Naturwein nicht unterscheide und in dem Kampf gegen den 
Alkoholismus dieselbe Rolle spiele. 

Prof. Dr. Kassowitz-Wien hielt daraufhin einen Vortrag über das von 
ihm schon häufig behandelte und ebenso häufig von anderer Seite kritisierte 
Thema: „Kann ein Gift die Stelle einer Nahrung vertreten?“ Vor¬ 
tragender kam auch hier wieder auf die Verbrennungstheorie zurück, suchte 
nachzuweisen, daß der Alkohol nicht nur nutzlos im Körper verbrenne, sondern 
auch als narkotisches Gift die Funktionen des Körpers schädige. An dieser Stelle 
auf die einzelnen Behauptungen näher einzugehen, welche bereits zu langen Aus¬ 
einandersetzungen nicht in, aber vor Budapest durch Hüppe u. a. geführt haben, 
ist zwecklos, zumal der Titel selbst schon paradox erscheint. 

Interessanter und von größerer wissenschaftlichen Bedeutung muß der nach¬ 
folgende Vortrag von Prof. Forel-Chigny über „Alkohol und Geschlechts¬ 
leben“ gelten. Unter Bezugnahme auf sein letzthin erschienenes Werk „Die 
sexuelle Frage“ erörtert Vortragender zunächst die Vorgänge der Konjugation 
und zeigt an Hand von seinem Buche entnommenen bildlichen Darstellungen die 
Verbindung der Keimzellen als Träger der Vererbung. Je besser gestaltet diese 
Keimzellen, desto vollendeter das daraus entstehende Individuum; die künstliche 
Verderbnis derselben, Blastophtorie genannt, werde in besonderem Maße durch 
den Alkohol herbeigeführt. Die Alkoholisierung des Individuums bedeutet da¬ 
nach die Alkoholisierung der Rasse, welche Minderwertigkeit des Individuums 
und Entartung der Rasse zur Folge habe. Unsere heutige Kultur habe bedauer¬ 
licherweise eine ungünstige Zuchtwahl zu stände gebracht, durch sie werden die 
besten Keime häufig steril, die schlechtesten aber vervielfältigten sich leider nur 
zu sehr; wenn sich trotzdem unsere heutigen Kulturmenschen für besser dünkten 
als ihre Vorfahren, so sei dies der Anhäufung von Geistesprodukten jener zuzu¬ 
schreiben. Schließlich erhebt Redner einen Mahnruf an die Völker Europas, 
enthaltsam zu werden, um nicht den nüchternen Mongolen schließlich zum 
Opfer zu fallen. 

Prof. Bleuler-Zürich sprach sich in seinem Vortrage über „die Behand¬ 
lung der Alkoholverbrechen“ dahin aus, daß die bisherige Bestrafung von 
Alkohol verbrechen unrationell sei. Theoretisch ist im Sinne der heutigen Rechts¬ 
anschauung jedes im Rausch begangene Verbrechen als fahrlässig zu betrachten, 
da ja jeder Trinker weiß, daß er sich der Gefahr, ein Verbrechen zu begehen, 
hingibt; ein Berauschter ist wie ein Geisteskranker unzurechnungsfähig. Die 
Fahrlässigkeit erhöht sich mit der Wiederholung des Rauschzustandes. Ver¬ 
brechen chronischer Alkoholisten sind solchen von Geisteskranken gleichzuhalten, 
„da man bei unsern Trinksitten ganz ohne Schuld zum Alkoholiker werden kann“, 
wie Bleuler meint. Akute wie chronische Alkoholisten sind zwangsweise in 
Heilstätten zu überweisen; stellt sich Unheilbarkeit heraus, so ist der Kranke in 
besondere Anstalten für Unheilbare zu verbringen. Man soll aber neben der 
Überweisung in Trinkeranstalten nicht noch Gefängnisstrafen auf erlegen; es soll 
die erstere an Stelle der letzteren treten. Unzureichend ist das Strafgesetz 
gegenüber den Personen, welche andere verleiten, so viel zu trinken, daß sie zu 
Grunde gehen; jeder Wirt habe schließlich die Erlaubnis, seine Kunden um Ver- 


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mögen, Gesundheit und Leben zu bringen. Die Alkoholverbrechen wurden mit 
einem Schlage beseitigt, wenn man den Alkohol als Genußmittel abschaffe — da 
man auch hier den Alkohol mit allen alkoholhaltigen Getränken identifiziert, 
würde man allerdings lange warten können, bis es besser wird, wenn man bis da¬ 
hin bei der Behandlung von Alkoholverbrechen den Nachdruck auf das Verbrechen, 
nicht auf den Alkohol legen wollte. 

Dr. Vambery-Budapest schließt sich als Korreferent im allgemeinen diesen 
Ausführungen an, indem er die Strafbarkeit, sich in Trunkenheit zu versetzen, 
betont und nach dem Grade der Trunkenheit und der dadurch entstandenen Zu¬ 
rechnungsfähigkeit die Art und Höhe der Strafe bemessen will, indem er die 
Trunkenheit allgemein als Grund zur Straferhöhung ansieht mit Ausnahme der 
Fälle, in denen Täter nicht schuld an seiner Trunkenheit gewesen ist. 

Pastor Müller-Groppendorf geißelt in seinem Vortrage über „den ver¬ 
derblichen Einfluss des Spiritushandels auf die Eingeborenen 
Afrikas 11 die Alkoholdurchseuchung in den Kolonien und beweist durch seine 
interessanten Ausführungen, wie ganze Völker dadurch entnervt, entsittlicht 
werden. Er richtet in erster Linie seinen Appell an die Regierungen, welche 
die Gefahren nicht zu erkennen schienen oder nicht genügend würdigen, diese 
vielleicht auch nicht sehen wollten, weil durch Zolleinnahmen ihre Einkünfte 
erhebliche seien; seitens aller Menschenfreunde müsse aber auf Erhöhung der 
Einfuhrzölle gedrungen, auf Festsetzung der in der Brüsseler Generalakte vor¬ 
gesehenen Prohibitionszone und auf tarifmäßige Erschwerung des Spirituosen¬ 
transportes gedrungen werden. 

„Erziehung und Schule im Kampfe gegen den Alkoholismus 41 
wurde von Eliot Torke-Southampton, Franziskus Hähnel-Bremen, Schul¬ 
inspektor Otvös-Szolnok und Dr. med. Fischer-Pozsony, sowie vonDr. Laczo 
behandelt Wenn man sich auf irgend einem Gebiete in der Antialkoholbewegung 
klar und einig ist, so ist es hier, wo es sich um das Wohl und Wehe der heran- 
wachsenden Jugend handelt; man ist allüberall zu der Überzeugung durchgedrungen, 
daß dem Kinde jeder Genuß von geistigen Getränken zu versagen ist. Darin 
gehen freilich die Ansichten noch auseinander, wie die nötige Einsicht den Eltern, 
wie den Lehrern, wie die Erkenntnis den Schülern selbst beizubringen ist 
Während die einen der Schülervereinstätigkeit das Wort reden, wollen die anderen 
besonderen Unterricht in den Schulen durch Ärzte, die dritten verlangen eine 
abstinente Lehrerschaft, Kurse für Seminaristen wie für Hörer der Hochschulen 
— die hohe Bedeutung dieser Frage zur Erziehung eines nüchternen, kräftigen 
Geschlechts wird von keiner vorurteilsfreien Seite mehr bestritten, die Jugend 
hierfür zu gewinnen, sie in richtiger Weise über die Schädlichkeit der alkoholi¬ 
schen Getränke aufzuklären, gehört unstreitig zu den wichtigsten und auch erfolg¬ 
reichsten Arbeiten auf dem Felde der Antialkoholbewegung. 

Dr. Sophie Dazinska-Golinska (Krakau), Prof. Klemp und Frh. von 
Malcomes-Budapest hatten es übernommen, über „die technische Ver¬ 
wertung des Spiritus als Kampfesmittel gegen den Alkoholismus 44 
zu referieren. Es werden verschiedene Betriebe, wie Essigfabrikation, Kunst¬ 
farben- und andere Industrien, natürlich auch die Beleuchtungsbranche namhaft 
gemacht, auf den hoben Heizwert des Alkohols hingewiesen und seine Verwendung 
zu Kraftzwecken empfohlen. 

Der letzte Kongreßmorgen galt der „Reform des Schankstätten- 


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wesens u , referiert von Dr. Eggers-Bremen, Dr. Helenius-Helsingfors und 
Dr. Legrain-Paris. Während der erstere Redner dem Gothenburger System 
das Wort redet und es den entscheidenden Schlag gegen das Alkoholkapital 
nennt, teilt Helenius in längeren Ausführungen die Notwendigkeit einer Er¬ 
weiterung dieses Versuches durch Einführung von Monopol-Aktiengesellschaften 
mit, welche mit einem Verbotsrecht der Gemeinden betreffend den Kleinhandel 
und Ausschank von Branntwein, Bier und Wein — einem Programme Prof. 
Atwaters für die Alkoholgesetzgebung in Amerika gemäß — durch ein Gesetz 
in Norwegen und Finnland angestrebt werde. Dr. Legrain widersprach dem 
Gothenburger System nachdrücklichst von seinem Standpunkte als Guttempler, 
er sieht nur darin allein den Fortschritt, daß man den Alkohol aus den Schank¬ 
stätten ausmerzt. Er ermutigt die Abstinenten zur Boykottsge gegenüber dem 
Wirtshausgewerbe; das „mäßige“ Wirtshaus — und damit wendet sich Redner 
gegen die Reformwirtshäuser — sei ein Betrug, der nur dadurch gehoben werden 
könne, daß der Wirt seine Kundschaft von dem Genuß alkoholhaltiger Getränke 
zurückhalte und es verstehe, einen gastfreundlichen, gesellschaftlichen Mittelpunkt 
zu schaffen, selbst angenehm, liebenswürdig, sittlich, erziehend wirkend. (Der 
Budiker als Idealmensch!) 

Den letzten Vortrag über „die Organisation der Antialkohol¬ 
bewegung“ benutzten die Redner Dr. Wlassak-Wien, Prof. Dr. von Maday- 
Budapest und Dr. St ein-Budapest zu Ausfällen gegenüber den Mäßigkeitsparteien, 
indem sie weniger von Vereinsorganisationen als davon sprachen, daß der Sieg 
nur der Enthaltsamkeit gelte und die Mäßigkeit keine Berechtigung habe. Wenn 
einer dieser Redner betonte, daß der Sieg der Demokratie die Abstinenzbestre¬ 
bungen ihrem Ziele näher bringe, dem Antialkoholismus das geheime wie allge¬ 
meine Wahlrecht sowie das Frauenstimmrecht vorteilhaft sei, so paßte dies für 
die derzeitige politische Bewegung in Budapest recht gut. Wenn man aber meint, 
mit der Alkoholfrage politische Bewegungen verquicken zu sollen, so kann dem 
nicht ohne weiteres zugestimmt werden, und doch hat auch dieser Kongreß eine 
unverkennbare Klangfarbe mit einem starken Stich ins Rote gehabt. Wir möchten 
ihn nach mancher Richtung ebenbürtig dem Wiener Kongreß erachten und zwar 
sowohl nach der sozialen als radikal-abstinenten Richtung; von den Bremer Ver¬ 
handlungen vom Jahre 1908 war er insofern verschieden, als die sogenannten 
„Mäßigen“ weniger den Angriffspunkt bildeten, weil sie in Budapest vollständig 
in den Hintergrund traten, die Abstinenz das Szepter führte und das Ziel eines 
„internationalen Kongresses der Abstinenten“ nunmehr erreicht zu sein 
scheint. Wenn dies nicht offen ausgesprochen wird, so geschieht dies aus rein 
taktischen Gründen, aus den gleichen, aus denen die verschiedenen „Zentralverbände 
gegen den Alkoholismus“ ins Leben gerufen worden sind — eine Taktik, die indes nur 
vorübergehender Wirkung sein kann, da das breitere Publikum bald merken wird, 
worum es sich bei diesen Zentralverbänden handelt: daß Abstinenz hier des Pudels 
Kern ist. Ein Fortschritt nach der radikalen Richtung bewies nebenbei das alko¬ 
holfreie Abendessen, welches die Stadt Budapest den Gästen spendete — wohl 
das erste dieser Art, was sie je gegeben hat; außer Limonade und Mineralwasser 
wurden keine Getränke verabreicht. Es konnte fast scheinen, als ob Ungarns 
reiche Mineralwasserquellen hätten in Erinnerung gebracht werden sollen, indes 
haben wir keine Veranlassung, diesen Gedanken zu unterschieben, da der Grund 
in der Tatsache zu suchen ist, daß Abstinenz Trumpf war. Die Gegenströmung 


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kann und wird nicht fehlen; ja in Budapest sind die ersten Anbahnungen zu 
einem „internationalen Verbände gegen den Mißbrauch geistiger 
Getränke“ bereits gemacht. Vertreter von Deutschland, Frankreich, Holland, 
Österreich, Ungarn, Rußland, Schweden und der Schweiz haben sich vereinigt, 
andere werden folgen, um den radikalen Abstinenzbestrebungen gegenüber einen 
breiteren, für die gesamte Bevölkerung gangbareren Boden der Steuerung des 
Mißbrauchs geistiger Getränke zu schaffen — ein offizielles internationales 
Alkoholarbeitsamt möge das Werk krönen. 

Von den übrigen Veranstaltungen, welche während der Kongreßtage in 
Budapest als Versammlungen der Abstinenzorganisationen Ungarns, Versammlung 
des Bundes katholischer Vereine u. s. w. statthatten, sei pur die Sitzung des 
Psychiatrischen Vereins erwähnt, welcher Themata, die zu den Kongreßbestre¬ 
bungen gehörten, vorgesehen hatte. Es sprach Dr. Delbrück-Bremen 
über „Abstinenz in den Irrenanstalten“, indem er zahlenmäßig infolge 
einer entsprechenden Rundfrage nach wies, wie viel Irrenanstalten heute ab¬ 
stinent gehalten werden (es ist natürlich die große Minderheit); er verlangte 
die Ein- und Durchführung der Abstinenz in allen Irrenanstalten, wodurch es 
möglich werde, die Trinkerheilstätten überflüssig zu erklären. Dr. Waldschmidt- 
Charlottenburg stellte sich dagegen bei der Behandlung des Themas „Stand der 
Trinkerfürsorge in Deutschland“ auf den Standpunkt, neben den vorhan¬ 
denen offenen Heilstätten geschlossene Anstalten für Alkoholkranke zu schaffen, 
wozu der Staat alle Veranlassung habe, damit das, was in einem anzustrebenden 
Trinkerfürsorgegesetz analog dem Irrengesetz gefordert werde, auch durchgeführt 
werden könne, nämlich die zwangsweise Unterbringung von Alkoholisten ohne 
vorherige Entmündigung. Dr. Bezzola-Ermatingen teilte in seinem Referat 
über die „Therapie des Alkoholismus“ mit, was in allen Trinkerheilstätten 
als Norm unserer heutigen Erkenntnis auf diesem Gebiete gilt. Frau Dr. Legrain- 
Paris sprach weiter über „die Behandlung der Trinker“, während Dr. Julius - 
burger „die Einsichtslosigkeit der Trinker“ behandelte, die verschiede¬ 
nen Schwächegrade der Alkoholisten besprach — ein Kapitel, welches nur zu 
gut in den Trinkerheilstätten bekannt ist. — Die Referate waren durchaus wissen¬ 
schaftlichen Charakters, sie waren einem weiteren Kreise zugänglich gemacht, 
was um so erstaunlicher schien, als es sich um eine geschlossene medizinische 
Gesellschaft handelte; dies tat dem guten Verlauf indes keinerlei Abbruch. 

Nachdem nun in den beiden Hauptstädten Österreich-Ungarns je ein inter¬ 
nationaler Kongreß gegen den Alkoholismus stattgefunden hat, wird man abwarten 
müssen, welchen Nutzen die Bevölkerung von diesen Bestrebungen haben wird. 
Es wird sicherlich eine Gruppe von Führern sich zusammenschließen, die durch 
diese Verhandlungen angeregt, in weiteren Kreisen Stimmung für die Antialkohol¬ 
bewegung machen werden. Nach dieser allgemeinen Kongreßtätigkeit wird es 
auf die Einzelarbeit ankommen und lediglich von ihr das endgültige Resultat ab- 
hängen; auch dort wird nur ein ständiges „Tropfen“ den Stein aushöhlen lassen, 
um die Antialkoholbestrebung zu einer Volksbewegung werden zu lassen, wie sie 
in Skandinavien vorhanden scheint. Hiervon sich an Ort und Stelle zu über¬ 
zeugen, dazu wird der nächste Kongreß, welcher 1907 in Stockholm statthaben 
soll, Gelegenheit genug bieten. Indes nicht die Kongreßstimmung gibt Zeugnis 
von dem ab, was effektiv vorhanden; dies zu ermitteln gelingt nur durch ein 
besonderes Studium in aller Stille, nicht die Beobachtung unter abstinentem 


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Mitteilungen. 


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Gesichtswinkel, sondern in vorurteilsfreier Nüchternheit unter Berücksichtigung 
aller einschlägigen Verhältnisse. Es wird in Schweden gezeigt werden können, 
t?as Volksstimnmng ist, nicht aber, was ein kleines Heer, welches der Heilsarmee 
gleich von Land zu Land zieht, um seine Lehren zu verkünden, anstrebt. Das 
Sektenhafte darf m. E. einer Antialkoholbewegung nicht anhaften, wenn sie wirk¬ 
lich zur Volkssitte und -Gewohnheit werden soll; es muß die Überhöhung des 
einzelnen, der sich als Held der Duldsamkeit — nebenbei leider nur allzu oft um 
seine Unduldsamkeit zu beweisen — gegen seine Mitmenschen preist, in den 
Hintergrund treten, wenn die Bestrebungen Allgemeingut der menschlichen Gesell¬ 
schaft werden sollen. 


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Der Alkoholismus 

Zeitschrift zur wissenschaftlichen Erörterung der Aikoholfrage 
1905 Neue Folge — Band II No. 6 


L Originalabhandlu ligen. 

Aus der älteren Mäbigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein. 

Von 

Pastor Dr. Stubbe. 

11. NationalSkonomisches. 

Die wirtschaftliche Bedeutung des Kampfes gegen den Brannt¬ 
wein wurde gleich 1837 in der ältesten uns bekannten Mäßigkeits¬ 
schrift des Landes betont (Heinrich Göttig, Enthaltsamkeitsvereine 
sind auch unserem Vaterlande notwendig, weil sie das einzig wirk¬ 
same Mittel gegen die Trunksucht sind. Zunächst dem Adel- 
byer Armenkollegium gewidmet). Als man in Wesselburen 
einen Aufruf zur Gründung eines Mäßigkeitsvereins (Dithm. Ztg., 
1843, Nr. 51) erließ, forderte man in Anlaß der Reform des dortigen 
Armenwesens die neuen Armenvorsteher auf, körperschaftlich in den 
Verein einzutreten. So sicher war man sich der ökonomischen 
Vorteile, welche die Vereine brachten. Trotzdem kamen gerade von 
nationalökonomischer Seite ernste Bedenken. 

Ihr Wortführer war Professor Hegewisch (unter dem Schrift¬ 
stellernamen Franz Baltisch). Oktober 1841 schrieb er für die 
„Minerva“ (veröff. Jan. 1842): „Christliche Philanthropie. Nicht 
Mäßigkeitsvereine, sondern Vereine zu Belohnungsanstalten für die 
Besseren unter den Armen“, setzte unter der Losung „Abusus non 
tollit usum“ sich 1842 im (Kieler) „Correspondenz-Blatt“ (Nr. 19 f.) 
mit dem Grafen von Holstein auseinander und 1843 im Kieler 
Wochenblatt (Nr. 37 ff.) in einer Abhandlung „Wein-Branntwein- 
Arm ut“ mit den Leuten, die in Kiel einen Mäßigkeitsverein gründen 
wollten, vor allem mit Dr. Valentinen 

In der „Minerva“ (vgl. Correspondenz-Blatt, 1842, Nr. 11) 
lauten die entscheidenden Sätze: 

„Ist es richtig, ist es würdig, daß Geistliche und Beamte ihren Einfluß ge¬ 
brauchen, um die sog. Mäßigkeitsvereine zu stiften, zu fördern? Ich zweifle. 
Mäßigkeit oder Unmäßigkeit ist ein Akt, der zunächst im inneren Menschen vor¬ 
geht. Die heutigen Vereine sind nicht sowohl Mäßigkeitsvereine als Antibrannt¬ 
weinsvereine. 

Der Alkoholismus. 1905. 


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338 


Pastor Dr. Stubbe. 


Man verwechselt das Objekt mit dem Vorgänge im innem Menschen. Das 
Kind schlägt den Stein, woran es sich gestoßen. Es ist aber nicht möglich, alle 
Steine aus dem Wege zu räumen, sondern besser, Auge und Kuß zu üben, daß 
man nicht falle.“ 

„Der Kreuzzug gegen den Branntwein ist eine neue Ausström¬ 
ung der Philanthropie, von der in Deutschland eine große Summe 
vorhanden ist, und die das Bedürfnis hat, von Zeit zu Zeit ihre 
Vorliebe für besondere Gegenstände laut werden zu lassen. Schade 
nur, wenn eine Menge guter Kräfte verschleudert wird auf irrigen 
Wegen.“ 

Statt Mäßigkeitsvereine schlägt der Verfasser unter der Voraussetzung, daß 
die Unterstützung aus der Armenkasse überall nur ein Minimum betrage, „Hilfs- 
und Belohnungsvereine für die Landdistrikte .... vor (d. h. Vereine für Prämien 
an vorzüglich fleißige und vorsichtige Arme [Arbeiter]“. Trunkenbolde u. s. w. 
sind von der Preisbewerbung ausgeschlossen). 1 ) 

Die ausführlichste Erwiderung gab G. R. (Dr. Gabriel Rießer) 
zu Hamburg in den „Blättern des Hamburgischen Vereins gegen 
das Branntweintrinken u . 1842, Nr. 5. 2 ) 

R. läßt die staatswirtschaftlichen Anschauungen B.s auf sich beruhen und will 
gerne den Vorschlag, Belohnungsanstalten zu gründen, loben. Was haben aber damit 
im Grunde die Mäßigkeitsvereine zu tun? Weshalb soll zwischen den Vereinen 
und jenen Anstalten ein Gegensatz bestehen? B. hat etwas gegen die Vereine. 
Daß sie von Geistlichen und Beamten ausgehen, wie er meint — daß sie dem¬ 
nach auf einer Art Zwang zu beruhen scheinen, das ist wohl der entscheidende 
Grund seines Widerstrebens. In Amerika, wo die Arbeiter sich selbst zusammen¬ 
gefunden haben, und der Trunk überstark war, war die Vereinsbildung gut, — aber 
bei uns muß es von obenher gemacht werden — meint B. Doch der Zweck der Ver¬ 
eine ist hier der gleiche wie drüben; freiwillig verpflichten sich die Mitglieder — 
und der Trunk ist auch stark genug verbreitet. Geistliche haben bei der Vereins¬ 
bildung in Amerika wacker mitgewirkt, — Beamte allerdings kaum, weil der Be¬ 
amtenstand dort nur eine untergeordnete Stellung einnimmt. — Wenn B. ans 
Ausland denken will, weshalb dann auch nicht an Irland, dessen Pauperismus ihn 
besonders interessieren müßte. Was haben da die Mäßigkeitsvereine geleistet! 
Und ein Geistlicher, Matthew, hat solchen moralischen Einfluß ausgeübt. In 
Deutschland haben die Geistlichen sich leider (was wir bedauern) weniger be¬ 
teiligt als in Amerika; Beamte haben mehr als drüben bei den Vereinen geholfen, 
doch nicht durch obrigkeitlichen Zwang, sondern als einsichtige, moralisch ge¬ 
wichtige Persönlichkeiten. Daß die Vereine nicht so schnell wie in Amerika sich 
ausbreiten, beruht eben darauf, daß sie die freie Entschließung des Einzelnen 
voraussetzen, und in freiem Entschlüsse und in freier Vereinsarbeit mag man 
hier noch weniger als drüben geübt sein. Gerade Gegner der Freiheit sind auch 


J ) G. H. wünscht im Corr.-Bl. No. 11, daß die Vereinsfreunde den Aufsatz 
aufmerksam lesen, bemerkt indessen: „Einen größeren Nutzen als von der vor¬ 
geschlagenen Prämienverteilung versprechen wir uns von einer allgemeinen Ver¬ 
breitung der Sparkassen über die Landdistrikte“. 

2 ) Auch als besondere Flugschrift. — Vgl. Correspondenz-Blatt 1842, No. 48. 


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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein. 339 

Gegner der Mäßigkeitsvereine,, wie die in Rußland gegen sie erhobene Anklage 
beweist. 

Bei uns scheint die Roheit des Pöbels (vgl. die Hamburger Ausschreitungen) 
mit dem Spott der Gebildeten einen Bund geschlossen zu haben. Nicht die, welche 
Mäßigkeitsvereine terrorisieren, sondern schlichte treue Vereinsmitglieder 
bedürfen des Schutzes ihrer Freiheit (vom schädlichen Branntwein zu lassen), 
der Achtung vor freier Überzeugung. 

Wenn es möglich ist, einen der Steine, über den viele fallen, wegzuräumen, 
sollte das der Fuß- oder Augen-Übung wegen unterbleiben? Auch das ist sitt¬ 
lich, der ersten Versuchung aus dem Wege zu gehen. Den Branntwein ganz 
fortzuschaffen, wird wohl noch auf lange vergebliche Hoffnung sein; bis dahin 
wird es aber den Vereinsmitgliedem an Gelegenheit, ihre Charakterstärke zu 
zeigen, nicht fehlen., Die Torheit eines Kindes besteht eben darin, daß es den 
Stein nicht wegräumt, sondern seinem Unmut auf zwecklose Weise Luft macht. 

Ein Tor ist, der da meint, durch Förderung einer einzigen guten Sache die 
ganze Menschheit beglücken zu können, — aber nicht minder töricht wäre es, 
wenn jemand deshalb davon absähe, an einem Punkte seine Kraft für die Mensch¬ 
heit mit einzusetzen. Wenn man an einer Stelle besonders eifrig arbeitet, weil 
gerade da jetzt Hilfe besonders not ist, soll damit nicht ausgesprochen sein, daß 
sonst auf keinem Punkte ein Bedürfnis der Abhilfe da ist. Die Kraft muß sich 
beschränken, um zu wirken, die Gesinnung darf es nicht. Wir wünschen jedem 
gutgemeinten Streben fröhlichen Erfolg; möge man von anderer Seite sich auch 
so zu uns stellen! 

Die Erörterung im Correspondenz-Blatt setzt ein mit 
„Fragen“ des Grafen Holstein, die ich in positiver Fassung wieder¬ 
gebe (1842, Nr. 18): 

Der Genuß des Branntweins enthält eine starke Versuchung zur Trunksucht. 

Trunksucht ist ein Übel für den, der damit behaftet ist. 

Der Genuß des Branntweins gewährt keinen Vorteil, der jene Gefahr ausgliche. 

Die, welche anderen (z. B. ihren Arbeitern) ein so gefährliches Getränk 
geben, können das nicht rechtfertigen. 

Wer seine Arbeiter an solches Getränk gewöhnt, handelt ähnlich wie der, 
welcher seine Leute in Spielhäuser oder Bordelle führt. 

Um die bösen Folgen des Branntweingenusses zu verhindern oder zu heben, 
muß man den Stein des Anstoßes fortnehmen. 

Baltisch antwortet (1842, Nr. 19f.): 

Wenn und sofern gerade jetzt in Wagrien die Trunksucht ungewöhnlich 
häufig ist, kann (aber nur lokal und temporär) das ungewöhnliche Mittel eines 
Mäßigkeitsvereins, d. h. das Abraten oder Verbieten des Branntweins, gerecht¬ 
fertigt werden. 

Jetzt soll der Branntwein die Hauptquelle des Übels unter den Arbeitern 
sein; menschenfreundliche Gutsherren bemühen sich um die Abschaffung. Das 
erinnert an das Wort der Prinzessin zur Zeit des Mißwachses: „Wenn die Armen 
kein Brot mehr haben, — warum essen sie nicht Kuchen ? u — „Nicht doch, 
lieber Herr Graf, gehen Sie doch zur Quelle und verstopfen sie diese. Wenden 
Sie Ihre Beredsamkeit ernstlich an bei Ihrem Herrn Nachbarn, der eine der 

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Pastor Dr. Stubbe. 


größten Branntweinbrennereien im Lande hat, daß dort die Bereitung des Giftes 
ganz aufhört. Dann ist vielleicht mehr Aussicht da für die Befolgung des guten 
Rates an die Brenner in der Stadt.“ — Oft mag das Trinken übertrieben werden 
{obwohl einer mehr vertragen kann als der andere) oder der Branntwein ver- 
suchlich sein; dann komme man doch nicht mit moralischem Zwang. „Man be¬ 
handle nicht immer die Mündigen als unmündig; das ist eben das Mittel, sie in 
ewiger Unmündigkeit zu erhalten. Wer nie auf einem Pferde saß, kann freilich 
nicht vom Pferde geworfen werden; soll man deswegen stets nur zu Esel reiten? 
Nein, die Mäßigkeit erzwingen durch Verbot des Branntweins, das ist das Pferd 
nicht am Zügel, sondern am Schweif angefaßt.“ 

Die Ursachen der Krankheiten sollen wir studieren? Ganz wohl. Dann 
werden wir sehen, daß der Branntwein die Wurzel des Übels ist. Mit niohten. 
So leicht ist die Wurzel des Übels nicht zu eruieren. So einfach ist der Kausal¬ 
nexus nicht. Wer die Blatternkrankheit bei den Hautpusteln, die Masernkrank¬ 
heit bei dem Niesen, das Scharlachfieber bei der Rachenentzündung anfassen 
wollte, der würde ungefähr so handeln, wie die Philanthropen heutigen Tages, 
welche der Not der ärmeren Klassen ein Ende machen wollen durch Verbannung 
des Branntweins. Forscht etwas tiefer nach, so werdet ihr finden, daß die meisten 
Branntweintrinker sich dem Übermaß des berauschenden Wassers hingegeben 
haben, weil sie unglücklich waren; der Branntwein war nur der letzte Tropfen, 
der das Maß ihres Unglückes überfließen machte! 

Wahrlich, wer praktischer Philanthrop ist oder sein will, der darf nicht 
an der Oberfläche der Dinge herumgreifen, der muß sich nicht scheuen, in die 
Tiefe des menschlichen Elends hinabzusteigen. Möge es nicht als im Lehrerton 
gesprochen erscheinen, vielmehr ist es meine inständigste Bitte: leset und studiert 
das Werk von Malthus und demnächst die Werke von A. Smith und seinen 
Nachfolgern. — Statt Branntwein sollen die Leute Bier trinken, versteht sich, 
gutes Bier. Also muß der Tage- und Werklohn hoch sein. Da stehen wir vor 
dem vorschlossenen Tore, wohinter der Schatz des allgemeinen Volksglückes ver¬ 
borgen ist! Aber davor liegt die Sphinx!.„Die Aufgabe der Sphinx ist 

keine geringere als diese: Rat gegen unvorsichtiges Heiraten, gegen Viel¬ 
kinderei, gegen Arbeitslosigkeit, gegen niedrigen Werklohn, gegen hohe 
Kornpreise. So lange dieser Etat nicht gefunden, und die klügsten und besten 
Männer in England und Frankreich haben ihn bisher nicht gefunden, hilft alles 
Einschreiten von obenher zu Gunsten des Elends der niederen Klassen in materieller 
Hinsicht so viel wie nichts. — Trinkt keinen Branntwein, so werdet ihr glücklich 
sein, trinkt lieber gutes Bier! Wird das von oben gesagt, so liegt darin der Rat, 
ja, die Garantie: daß beständig der Tage- und Werklohn hoch genug sei.“ Wer 
will dafür aufkommen? Sinkt der Lohn, dann kommt das Elend. „Der eine 
oder der andere, und zwar gar oft, der am meisten Mitgefühl hat mit den Leiden 
der Seinigen, greift, um sich zu betäuben, zum berauschenden Getränk, wird da¬ 
durch noch unfähiger und geht elend zu Grunde. Aber der Branntwein ist so 
wenig die Ursache des Übels, wie die Seine schuld daran ist, daß alljährlich 
hunderte von Verzweifelnden ihr Grab darin suchen. ,Man entferne aber doch 
die Gelegenheit zu diesem traurigen Schicksal! Man nehme den Branntwein hin¬ 
weg! 4 Ei, so sei doch auch so gefällig, die Seine von Paris und von jeder großen 
Stadt den großen Fluß oder den Meeresarm hinweg zu nehmen.“ 

„Abusus non tollit usum“; das gilt auch vom Branntwein. 


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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein. 341 

Man möge nur nicht das Schauspiel der alten, wirkungslosen Luxusverbote 
ihm gegenüber wiederholen. 

„Wollte man in diesem Lande Holstein von obenher ein wirken auf das 
Wohl der Hauptmasse des Volks — zu denen rechne ich die Bettler und Ecken¬ 
steher nicht —, so scheint dies vorzugsweise durch ein Verbot des Essens ge¬ 
schehen zu müssen. Holstein ist viel mehr das Land des Essens als des Trinkens.“ 
(Man ißt 3mal so viel Fleisch und Fett als in Preußen, Hessen und Sachsen.) 

. . . „Ebensowenig wie ein Verbot des Essens wird ein Verbot gegen den 
Branntwein ausrichten.“ 

Selbstverständlich wolle er, B., mit diesen Ausführungen nicht der Völlerei 
das Wort reden, wohl aber dem Tugendstolze und der Bevormundung entgegen¬ 
treten; edle Männer dürften sich nicht dort bewegen, wo herrschsüchtige, neidische 
Füchse in Schafpelzen vorangehen; wollten die Arbeiter selbst Vereine stiften, 
sich zu kontrollieren und zu ermuntern und in Mäßigkeit fröhlich zu sein, habe 
er nichts dagegen. 

Graf Holstein schließt die Debatte in Nr. 24 des Blattes ab: 

Anerkannt ist, daß Enthaltsamkeitsvereine nützlich wirken, wo der Trunk 
im Schwange sei. In Amerika haben sie Großes und Gutes vollbracht und werden 
gleichzeitig von allen politischen und religiösen Parteien gefördert. — Die 
praktische Erfahrung führt uns über B.s nationalökonomische Theorien hinaus. 
„In Holstein liegt die Ursache der Verarmung der Tagelöhner, Arbeiter und 
Handwerker auf dem Lande und in den kleinen Städten fast immer in dem Um¬ 
stande, daß der Mann mehr Geld für Branntwein ausgibt, als seine Einnahme 
gestattet, oft dem Trünke ergeben ist; oder darin, daß die Frau schlecht wirt¬ 
schaftet.“ Nur selten kommt Verarmung durch Krankheit und wirklichen Mangel 
an Arbeit; Mangel an Nahrungsmitteln selbst findet sich nirgends, wo man 
nur Geld hat, sie zu bezahlen. Woher kommt denn die meiste Armut? „In 
Malthus findet sich (der Grund) nicht. Will Herr B. sich an Ort und Stelle 
nach demselben erkundigen, so wird er ihn leicht erfahren. — Verarmten Tage¬ 
löhnern den doppelten Verdienst geben, so lange sie dem Branntwein nicht 
entsagen, hieße das Faß der Danaiden füllen.“ 

Von Zwang ist bei dem Eintritt in den Verein keine Rede. — Soll man das 
Branntweinübel unbeachtet lassen, weil es noch andere Übel gibt, die den 
Menschen zu Grunde richten können? — Kann man sich mit Branntwein-Mäßig¬ 
keit begnügen, da diese erfahrungsmäßig so viele zum Trünke führt? — Die 
Vereine erziehen ihre Mitglieder zur Selbstbescheidung. Gerade die Gegner rühmen 
sich ihrer Tugend, indem sie behaupten, der äußeren Hilfsmittel nicht zu be¬ 
dürfen und predigen Mäßigung im Genüsse mit dem Glase Branntwein in der Hand. 

Übrigens ist nicht gezeigt, daß der Branntwein als Getränk notwendig, daß 
er unschädlich sei. 

Und was soll die persönliche Verdächtigung? Die Früchte der Vereine sind 
allenthalben gute gewesen. — Wer kann einen Branntweintrinker beneiden? Wo 
sind falsche, hinterlistige Absichten der Vereinsmitglieder? 

„Wenn der Herr Verfasser den Heiraten Unvermögender die Schuld der 
Verarmung gibt, so ist nicht in Abrede gestellt, daß diese zur Vermehrung der 
Annut beitragen. Wenn aber solche Leute heiraten, die nichts als Schulden und 
uneheliche Kinder in die Ehe bringen, so ist diese Mitgift in sehr vielen 


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Pastor Dr. Stubbe. 


Fällen Folge des Branntwein-Genusses. Doch genug der Worte! Ich habe 
kräftige Unterstützung von ehrenwerten Männern gefunden, und werde den ein¬ 
geschlagenen Weg, den edle Männer vor mir betreten und gebahnt haben, fort- 
gehen, so lange ich auf demselben zu wirken vermag. 11 

Ln Kieler Wochenblatt 1843, Nr. 31 ff. hatte Dr. Valen¬ 
tin er eine Abhandlung über „Den Branntwein und die Mäßigkeits- 
vereine“ veröffentlicht, dessen Schluß in eine Aufforderung zur 
Yereinsgründung ausklang: 

(Das oft bewährte Mittel der Association ist auch gegen den Brannt¬ 
wein angewandt worden); „wir haben Ursache ihm zu vertrauen. Laßt alle Ein¬ 
sichtigen und Vernünftigen, laßt alle guten Bürger zusammentreten zur Ver¬ 
treibung des gemeinsamen Feindes, und der Sieg ist gewiß. 44 

Hege wisch-Bal tisch suchte dem durch einen Artikel 
„Wein — Branntwein — Armut“ (Nr. 37 f.) entgegenzutreten. 

Wie Branntwein enthält der Wein Alkohol; er müßte deshalb von euch 
ebenso bekämpft werden. Wenn Branntwein gemißbraucht wird, soll er deswegen 
verdammt werden. Auch die Druckerpresse, das Eisen, die Post können gemi߬ 
braucht werden; sind sie deshalb abzuschaffen? Das Gute oder Böse liegt nicht 
in der Sache, sondern im Menschen. Die Muhamedaner genießen keine Spirituosen, 
sind aber nicht besser als wir. — Der Trunk wird durch Branntwein gefördert; 
fort mit ihm! Sollen wirklich wegen einiger verlorener Trunkenbolde Hundert¬ 
tausende auf ihr liebstes Erquickungsmittel verzichten? Welche Jeremiaden. 
Ein Betrunkener prügelt seine Frau. „Der Branntwein soll der Eheteufel sein. 
Aber denk a bissei nach. Vielleicht ist’s eine arge Frau, deren Betragen den 
Mann desparat machte; deswegen trank der Mann und machte aus arg ärger. 
In den allermeisten Fällen ist der Branntwein nur ursächliches Moment des 
Elends . . . Diese Verwechslung des ursächlichen Moments mit der Ursache ist 
die Hauptquelle des irrigen Handelns/ 4 wie wenn ein Kind den Stein schlägt, 
woran es sich gestoßen hat. Im Norden wächst kein Wein; der Erfindungsgeist 
des Menschen füllt die Lücke mit Branntwein aus. Wer selbst Wein trinkt und 
gegen Branntwein eifert, gleicht dem Pascha, der, aus dem Harem tretend, 
Keuschheit predigt. Wie können sonst wohldenkende Menschen die Freudentafel 
der Natur stören wollen? 

„Aber das Unmaß des Branntweins ist schädlich, ist verderblich. Freilich 
kein Mensch ist, der das bestreitet. Gibst du dem neugeborenen Kinde einen 
Mundvoll Rindsbraten und ein Glas Wein, so ist es Gift für das Kind. Aber 
die Giftigkeit liegt nicht in dem Braten, ebensowenig im Wein oder im Brannt¬ 
wein. Unmäßigkeit ist stets relativ und liegt in dem Verhältnis des Subjekts 
zum Objekt, nicht in diesem allein. 44 

„Die Armut ist nicht nur die Mutter des Elends, sondern auch der Ver¬ 
brechen. Forschen wir nach in den Strafanstalten; die allermeisten der den 
bürgerlichen Gesetzen verfallenen Sträflinge wurden ursprünglich durch Not, 
einige allerdings mittelbar durch Branntwein verführt und ins Elend gebracht. 
Daß dieser die erste Ursache des Elends gewesen, ist allermeist Fabel. 44 

„Die zu rasche Vermehrung der Zahl der Arbeiter, der Kinder in den 
Arbeiterfamilien, das ist die wahre Wurzel der Armut und all des Elends und 


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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein. 343 

der Schlechtigkeit, die gar zu leicht aus der Armut entspringt ; u vor leichtsinnigen 
Heiraten mag man warnen. 

Das Armenwesen bedarf einer Reform-, am heilsamsten aber sind Vereine 
für arbeitende Klassen, worin diese sich gegenseitig helfen in Krankheit und 
Alter. „Wenn solche Vereine sich auffordem und ermuntern zur Mäßigkeit in 
allen Stücken, auch im Genuß von berauschenden Getränken, so ist das vortreff¬ 
lich, gewiß weit besser, als wenn die Autorität von Sanitätsbeamten, kirchlichen 
oder richterlichen Beamten sich einmischt in die innersten Angelegenheiten der 
Arbeiterfamilien. Die Natur straft die Unraäßigkeit im Trinken sehr bald, die 
Unvorsichtigkeit im frühzeitigen Heiraten viel später; es scheint also Warnung 
und Nachhilfe in diesem Fall viel nötiger zu sein als im ersten.- 4 

B. erhielt verschiedene Abfertigungen. 

Ein H. forderte sofort B. auf (Nr. 39), einmal die Wirkungen 
des Branntweins und Weins genauer zu studieren und am eigenen 
Leibe zu vergleichen; Dr. Valentiner suchte (Nr. 41) „Ver¬ 
ständigung“. 

Der Wein enthält außer schädlichen auch nährende Bestandteile; hat der 
Wein erfahrungsgemäß so verderblich gewirkt wie der Branntwein? Nein! Erst 
der Branntwein hat das Delirium tremens aufgebracht. Wenn Verfasser meint, 
der Wein werde von den Branntweingegnern geschont, weil sie selber Wein 
tränken, kann man ebensogut sagen: er verteidige den Branntwein, weil er ihn 
selber gerne nehme. — Nicht Zwang fördert die Vereine, wohl aber hat jeder 
Staatsbürger das Recht, seine bessere Einsicht anderen mitzuteilen. — Branntwein 
ist nicht die Wurzel alles Übels, wohl aber eine Hauptquelle der Armut, des 
Lasters, des Verbrechens. Nicht einige verlorene Trunkenbolde, sondern die 
Gesundheit und Zukunft des Volkes sind Gegenstand der Sorge. Es ist 
dahin gekommen: Man gibt Geld für Branntwein und verzichtet dafür auf 
warmes Essen. 

Die Bewohner des freien Norwegens gehen jetzt auf dem Wege der Gesetz¬ 
gebung gegen den „Wein des Nordens 41 vor; soll man sie deshalb mit türkischen 
Paschas vergleichen? — Arbeitervereine sollen zur Mäßigkeit auffordem? Ist 
B. am Ende gar verkappter Anhänger der Mäßigkeitsvereine? 

Aus den sonstigen in diesem Zusammenhänge erschienenen 
Aufsätzen erwähne ich nur noch die richtige Einwendung, daß, wenn 
B. es für einen Eingriff in das Familienleben halte, einen Haus¬ 
vater durch Vereinsarbeit vom Branntwein abzuziehen, es erst recht 
ein Eingriff sei, die Menschen an der Eheschließung zu hindern 
und ihre Kinderzahl zu beschränken; — vor allem: welche sittliche 
Folgen würde das haben? 

In der Tat hat Prof. Hegewisch sich später bekehrt und ist 
dem Mäßigkeitsverein freundlich nahe —, wahrscheinlich sogar ihm 
beigetreten. Ein Gassenhauer der Kieler Schnapsbrüder stellt 


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344 


Pastor Dr. Stubbe. 


ihn nämlich zwei derzeitigen Führern des Vereins unmittelbar 
zur Seite: 

„Ik will mi irs een Lütten nehmen, 

Bün in den Mäßigkeits-Vereen to Kiel: 

Een groten Valentin, een bittem Hege wisch, 

Een lütten sauten, sauten, sauten Klemm.“ 1 ) 

Übrigens ist dieses Lied (nach der Parole: „Was sich liebt, das 
neckt sich“) ein eigenartiges Zeugnis von einer gewissen Popularität 
des Vereins zu Kiel. Eine Tochter des hierin besungenen „süßen“, 
liebenswürdigen Kaufmannes Klemm hat mir erzählt, daß in den 
Unruhen 1848 ein Eckensteher sich als Sicherheitsposten vor ihrem 
Hause aufgepflanzt habe. 

Vielleicht ist noch wichtiger als die theoretische die praktische 
Widerlegung. Ich verweise im allgemeinen auf den späteren Ab¬ 
schnitt „Arbeit und Erfolg“; hier gebe ich eine Parallele der guten 
alten Zeit zu den neueren Untersuchungen von Grotjahn und 
Blocher-Landmann über die Belastung des Arbeiterhaushalts 
durch den Alkohol. 8 ) 

Auf einem adligen Gute Ostholsteins erhält der Arbeiter (An¬ 
fang der 40er Jahre) außer der Wohnung: 5000 Soden Torf, 
1 Fuder Busch, 1 Spint Land zu Leinsaat ausgesäet, x / 4 To. Garten¬ 
land (gegen 24 Mk. Crt Jahresmiete). An Lohn gibt es 

von Mai bis Johannis für Männer 10 Schill., für Frauen 7 SchilL 

von Johannis bis 15. Sept. „ „ 11 „ „ „ 9 „ 

von 16. Sept. bis Martini „ „ 10 „ „ „ 7 „ 

von Martini bis Mai „ „ 9 „ ,, „ 6 ,, 

Auf diesem Gute lebte ein Arbeiter mit Frau und 4 Kindern, 
welcher sich durch das Branntweintrinken für 1842 vollkommen 
dienstunfähig gemacht und in eine für ihn unerschwingliche Schuld 
von 60 Mk. Crt gestürzt hatte, so daß er daran war, in seinen besten 
Jahren der Armenkasse zu verfallen. Er erhielt keinen Branntwein 
mehr. Nun erholte sich der Mann bald so, daß er seine Arbeit 
wieder wie früher verrichten konnte. Bei Branntweinenthaltsam¬ 
keit wurde 1842 folgendes Ergebnis erzielt: 

*) Een Lütten nehmen, — einen kleinen, d. h. ein Schnäpschen nehmen. 
Der Text des Liedes ist mir von Rektor Enking und Frl. Klemm mitgeteilt. 

2 ) Kieler Wochenblatt 1844, Nr. 78. 


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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein. 

345 

Ausgaben: Miete. 

24 Mk. 

Crt. — 

Schill. 

Milch und Butter .... 

65 „ 

V ” 

V 

Krämer . .. 

117 „ 

— 

11 

Hebamme ....... 

2 „ 

— 

'1 

Schuster. 

4 „ 

, 14 

11 

Schneider. 

2 „ 

„ 4 

11 

Weber. 

2 „ 

„ 6 

11 

Totengeld und Kleinigkeiten 

4 „ 

11 



221 Mk. 

Crt. 8 Schill. 

Einnahmen: Tagelohn des Mannnes . . 

. 150Mk. Crt.— 

Schill. 

Tagelohn der Frau . . . 

• 51 „ 

„ 2 

11 

Für Torfstechen .... 

. 8 „ 

„ 12 

11 

Für Torfringeln .... 

• 11 

„ 15 

11 

Für Spinnen. 

• 1 „ 

„ 12 

11 

An Korn für Dreschen verdient 53 „ 

» 6 

11 


265 Mk. Crt 15 Schill. 


(Bleiben trotz Familienzuwachses 44 Mk. Crt. 7 Schill, zur Schulden¬ 
tilgung — und der Mann ist wieder gesund!). 

Ein Eisenbahnarbeiter Ahrend auf dem adligen Gute Futter¬ 
kamp, der täglich 1—2 Schilling für Schnaps ausgab, also •/*—V* 
Flasche trank, außerdem bis zu 2 Kannen Bier zu sich nahm, trat 
dem Mäßigkeitsvereine bei und entdeckte nun, daß er weniger Bier¬ 
durst habe, besser arbeiten könne (weil ohne Dusel) und gesunder 
sei. Er hatte bisher vom Tagelohn an seine Frau nicht mehr als 
3 Mk. Crt schicken können; jetzt konnte er in einem halben Jahre 
außerdem noch für mehr als 12 Mk. Crt. Kleidung und Leinen an- 
schaffen. — Wo bleiben, fragt das Kieler Wochenblatt, hiergegen 
die Spekulationen über den Nutzen des Branntweins als des Weins 
der Armen? 

Die Möglichkeit einer technischen Verwertung des Spi¬ 
ritus habe ich nur bei Klaus Harms 1 ) angedeutet gefunden. — 
Die volkswirtschaftlich wichtige Frage „Brennerei und Land¬ 
wirtschaft“ brachte Volquarts auf der Braunschweiger 3. General¬ 
versammlung der deutschen Vereine gegen das Branntweintrinken 
zur Verhandlung, indem er beantragte, es möge als Preisanfgabe 
ausgeschrieben werden: In welchem Verhältnisse die Brennereien 

*) Gnomon 1843, S. 279, vgl. Alk. 1904, S. 156 u. 


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Original fro-m 

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346 


Pastor Dr. Stubbe. 


zur Landwirtschaft stehen? Eine Kommission (bestehend aus Pastor 
Volquarts, Dr. Frankfurter, den Pastoren Hirdhe und Bente, 
sowie Assessor Buchholz) ward zur Begutachtung des Antrages 
gewählt. Sie hielt dafür, daß die Zeit dafür noch nicht reif sei, 
meinte aber einmütig: es solle sämtlichen Vereinen empfohlen 
werden, sich inzwischen Äußerungen von landwirtschaftlichen und 
tierärztlichen Vereinen, -überhaupt Material über obige Frage (in¬ 
sonderheit auch über die sog. Schlempefrage) zu verschaffen, diese 
durch die Volksblätter und das Generalblatt zu veröffentlichen und zu 
sammeln und in der nächstjährigen Generalversammlung Beschluß 
zu fassen. 1 ) 

Das war 1847; — 1848 gab es weder eine deutsche General¬ 
versammlung noch eine schleswig-holsteinische Zentralversammlung 
mehr (da hatte man an anderes zu denken), wohl aber brachten 
die Vereinsblätter (auch die Blätter des Hamburgischen Vereins 
gegen das Branntweintrinken) Gutachten der gewünschten Art, 
die sich z. B. gegen die Fütterung der Kühe mit Schlempe aus- 
sprachen. 1847 wandte sich Telegraphendirektor Schmidt „im 
Interesse der leidenden Menschheit“ wegen Schließung der „kom- 
vergeudenden Brennkessel“ an den deutschen Bundestag. 2 ) 

Verschiedene volkswirtschaftliche Fragen werden hernach in 
den Kapiteln „Arbeit und Erfolg“, sowie „Politik und Gesetzgebung“ 
gestreift werden. 

12. Theologisches. 

Unter den Theologen fanden die Mäßigkeitsvereine wackere 
Freunde — (4 Pröpste und 14 Prediger in Holstein und 7 Pre¬ 
diger in Schleswig gehörten 1846 den Vereinen an 8 ) — aber auch 
gerade hier schärfsten grundsätzlichen Widerspruch. 

Es handelt sich um zwei Probleme, erstens die Stellung zu den 
Vereinen, zweitens die Stellung zum Branntwein. 

Für einen aufgeklärten Journalisten, wie Feldmann, 4 ) gab es 
folgendes Bild: 

') Bl. d. Hbg. V. g. d. Br. 1847, S. 99. 

*) Hamburger Staatsarchiv Bl. VII. tat. Lib. Nr. 23 a. 1847. Vgl. Bl. d. 
Hbg. V. 1846, S. 223. 

ä ) Dithm. Volksfreund 1846, Nr. 8, S. 123. Dabei gab es d. Zt. 11 Pröpste 
und 183 Prediger in Holstein, sowie 10 Pröpste und 232 Prediger im Schleswig- 
schen. 

4 ) Die Mäßigkeitsvereine 1845, S. 9f. 


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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein. 347 

Geistliche und Traktätchen hatten lange vergeblich gegen die Trunksucht 
geeifert; nun kamen erfolgreich die Mäßigkeitsvereine, eine Macht, die sich von 
der Kirche emanzipieren wollte. Die Mehrzahl der Geistlichen (Orthodoxe, wie Ra¬ 
tionalisten) sprach sich gegen die Vereine aus, in Kiel durch eine eigene Er¬ 
klärung; der Angriff ward abgeschlagen. Nun strebte man, was man nicht hindern 
konnte, wenigstens zu überwachen und verband sich z. T. sogar mit Traktätchen¬ 
gesellschaften. 

In Wirklichkeit war weniger Tendenz und mehr Gewissen¬ 
haftigkeit in Theologenkreisen, als Feldmann zu sehen vermag, 
nicht nur, daß Theologen zu den ersten Vereinsgründern in den 
Herzogtümern gehörten (Callisen, Heimreich, Biernatzki, Paul- 
sen, Volquarts, Schetelig), — auch der theologische Wider¬ 
spruch, der nie ganz zum Schweigen kam, hatte tiefere Gründe als 
klerikale Herrschsucht. 

Der erste Theologenstrauß ward von Diakonus Koopmann 
zu Heide durch einen Artikel der Dithmarsischen Zeitung und einen 
Vortrag auf einer Predigerkonferenz zu Hohenwestedt hervorgerufen. 

„Darf der evangelisch-lutherische Prediger Mäßigkeitsvereine 
gründen und leiten?“ fragt der Artikel in derDithm.Ztg.1843, Nr.33. 

Wenige antworten: nein. Die Vereine haben großen Erfolg; die Liebe 
kann sich dessen freuen. Der Prediger scheint besonders zu Werken der Liebe, 
also auch für solche Vereine berufen zu sein. Was fordert von dem evg.-luth. 
Prediger sein Amt? Daß er, was seine Kirche sein und immer mehr 
werden will, repräsentiere und realisiere; sie will aber eine Gemeinschaft derer 
sein, welche in Kraft der Gnadenmittel durch den Glauben an Jesum Christum 
der Sünde entrissen und wiedergeboren sind zum neuen Leben in Liebe und 
Hoffnung. Diese Wiedergeburt, eine Heiligung durch und durch, welche geschieht 
durch gänzliche Verwerfung des alten sündigen Ich und durch Ergreifung Jesu 
Christi im Glauben, ist die Bedingung der Seligkeit. Die Kirche will durchaus 
keine bloß äußerliche Legalität; die artet leicht in Selbstgerechtigkeit aus. An¬ 
stalten der Legalität mögen gut und nötig sein (wie z. B. die staatliche Gesetz¬ 
gebung), aber die Kirche soll den Schein meiden, als gehöre sie selbst diesen 
Anstalten an. Der Feind, gegen den es zu kämpfen gilt, ist die Sünde — 
nicht eine einzelne Sünde, auch nicht die Macht des Alkohols, sondern die 
hochmütige, Buße und Glauben verwerfende Selbstgerechtigkeit des sündigen 
Menschen. 

Was ist demgegenüber das Wesen der Mäßigkeitsvereine? 
Sie wollen durch das Mittel äußerer Vereinigung und gegenseitiger Verpflichtung 
Legalität erwirken in Beziehung auf eine bestimmte Sünde, auf den Ge¬ 
nuß von Branntwein. — Weiteres (Gesinnungsänderung, Christentum, Abscheu 
vor Sünde) können die Vereine ihrem Wesen nach nicht intendieren. 

Gut, wie soll dann der Prediger sich dazu stellen? Soll er durch 
Vereinsgründung gleichsam sagen: „Trinkt nur keinen Branntwein; dann ist 
alles gut?“ Wird nicht der Pastor in seiner eigentlichen, geistlichen Wirksam¬ 
keit beeinträchtigt, wenn er die Hauptperson eines legalen Vereins ist? 


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Pastor Dr. Stubbe. 


Bei dem Eifer evg.-luth. Prediger für die Mäßigkeitsvereine scheint ein 
Schatten des katholischen Verderbens in unsere Kirche hineinzuragen: die Werk¬ 
heiligkeit droht kirchliche Autorisation zu erlangen. Die Kirche aber ist der 
Verein über alle Vereine; sie bietet durch ihre Mittel allen wahrhaften Mit¬ 
gliedern die Realisierung all ihrer sittlichen Wünsche dar. 

Pastor Yolquarts-Lunden gibt 1843, Nr. 36, ebenda seine 
Antwort: 

Auffallend, wie Rechte und Linke sich in Bestreitung der Mäßigkeitsver¬ 
eine einig sind; die eine fürchtet, daß durch sie Kirchen in der Kirche entstehen, 
die andere, daß durch sie die Kirche zu neuem Einfluß kommt. Man verkennt 
auf beiden Seiten die Kirche: die einen legen ihr zu großen, die anderen zu ge¬ 
ringen Wert bei. 

K. katholisiert in einer zu starken Betonung der Gnadenmittel. 

Der Branntwein ist als Würgengel der Menschheit bekannt; schadet er den 
Wiedergeboreüen nicht? Die Erfahrung zeigt es — und der Geistliche sollte 
sich vom Vereine gegen den Branntwein fernhalten? — Der Pastor soll predigen, 
Hausbesuche machen, Bibel- und Missionsstunden halten — kann das nicht alles 
einen legalen Charakter haben? Können nicht auch die Sakramente zur Selbst¬ 
gerechtigkeit führen, indem sie über das Äußere das Innere übersehen lassen? 

Das Bild der Enthaltsamkeitsvereine bei K. stimmt ebenfalls nicht mit der 
Wirklichkeit. Das Wesen der Vereine ist rein christlich; jeder Geistliche verkennt 
sein Amt, der sich gegen die Vereine erklärt. Ihr Prinzip ist: Der Brannt¬ 
wein ist Gift, also das Trinken desselben Sünde. Denn wer ihn trinkt, 
tritt dadurch in Feindschaft mit dem dreieinigen Gott; die Folge ist hier: Siech¬ 
tum, Armut, Lasterhaftigkeit, Wahnsinn, — dort: ewiger Tod. — Die Ansicht, 
daß die Vereine nur Legalität wollen, ist falsch; sie lehren gerade, daß der Christ 
des Beistands des heiligen Geistes bedarf, um von dem Branntweingifte loszu¬ 
kommen; sie zeigen die Schwäche der menschlichen Natur, daß der Mensch allein 
nichts kann, sondern nur in der Gemeinschaft Kraft habe. Ja, sie lehren, daß ein 
einmaliges Gelübde nicht genüge, sondern täglicher Kampf nötig sei; daher die 
Zusammenkünfte und Erbauungen. 

Also hat der Geistliche gerade im Verein seine rechte Stellung 
und treibt darin sein Amt recht. Er treibt dann Seelsorge im besonderen auf 
bestimmte Einzelerscheinungen der Sünde, in Verbindung mit vielen. Im Ver¬ 
ein tritt am klarsten der priesterliche Charakter der ganzen Gemeinde hervor. — 
Als Vereinsgründer steht er in seinem Amte, tritt mit der Predigt ins Haus, 
wird ganz anders speziell als in der Kirche. Er nennt Sünde, was Sünde ist, 
ohne Ansehen der Person: Branntweinbrennen und ihn ausschenken streite mit 
dem christlichen Glauben, der Liebe und der Hoffnung. Im Vereine geht der 
Pastor als guter Hirte den Schafen nach. Die Vereine sind die schönsten Be¬ 
weise des Glaubens (sie vertrauen, den vollendetsten Säufer retten zu können), 
der Liebe (im Gefallenen erkennen sie den Bruder und gehen in die Hütten der 
Armut und der Roheit, um zu retten) und der Hoffnung (sie geben ihre Hoffnung 
nicht auf, auch wenn Papst und König sich gegen sie erklären); sie sind die 
Perle und Krone des Christentums. 

Gegen den Meineid und die Lüge kämpft die Kirche gesetzlich in zwei 
Predigten des Jahres, und gegen den Selbstmord durch Alkohol, diese Auf- 


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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein. 349 

lehnung gegen Gott, will sie nichts tun und Vereine dagegen mit Anathema 
belegen? 

Wenn die Vereine gefährlich sind, warum tritt man nicht ein, um sie zu 
bessern? Bibel- und Missionsstunden sind gar bequem im Vergleich zu Kampf¬ 
erbauungsstunden gegen den Alkohol. Hier ist periculum in mora; die ge¬ 
wöhnlichen Mittel reichen nicht Steter Kampf ist nötig — und der 
Geistliche muß Flügelmann sein, damit Einheit sei im Kampfe. 

Wer ist, was ist der Prediger und der Geistliche? Er ist doch auch ein 
Christ? Als Christ muß er solche Vereine stiften, leiten, beleben; denn Christen¬ 
pflicht ist es, den Sinkenden zu erretten. Priester und Levit mögen am Er¬ 
schlagenen vorübergehen; der christliche Geistliche darf es nicht. Sein Gottes¬ 
dienst ist Bruderliebe! 

Replik und Duplik schlossen sich hieran an; für uns mögen 
hier einige Sätze aus dem Schlußworte von Pastor Schetelig- 
Friedrichstadt genügen (1843, Nr. 42). 

Man muß nicht theoretisch Verein und Kirche einander gegenüberstellen, 
sondern praktisch auf die Not des Lebens schauen, die der Branntwein gebracht. 
Keiner kann dieses Verderben kaltblütig ansehen. So wenig, wie bei einer 
Feuersbrunst, kann sich hierbei irgend ein Stand der Hilfe entziehen. Die 
Vereine sind nur eine natürliche und notwendige Wirkung des lebendigen Gefühls¬ 
dranges, zu helfen. Wie weit die Vereine christliche sind, hängt von den Mit¬ 
gliedern ab. 

Ignorieren kann der Geistliche die Vereine nicht. Das Verderben ist groß; 
sind auch die Vereine nicht das einzige Mittel dagegen, so doch das ein¬ 
fachste und nächste. Sollte der Pastor dort nicht helfen? — Es ist theo¬ 
retisch die Möglichkeit zuzugeben, daß in einem Vereine eine antikirchliche Partei 
mächtig wird; dann steht dem Prediger natürlich der Austritt frei. 

Auf der Versammlung des Hohenwestedter Predigervereins wurde 
1842 von K. die Frage erörtert: „Ist es eines evangelischen Pre¬ 
digers würdig, Mitglied eines Mäßigkeitsvereins zu sein? u 

Diese Frage verneinte der Referent; 

denn als Mitglied eines Mäßigkeitsvereins 

1. wird der Pastor Knecht der tötenden Buchstabens, da er doch das Amt 
des lebendig machenden Geistes führen soll; 

2. kämpft er mit stumpfen Waffen gegen einen Feind, der nur mit dem 
Schwerte des Geistes zu überwinden ist; 

3. bringt er sich bei manchen in Verdacht, als bedürfe er selbst eines 
solchen Mittels, um seine Begierden im Zaum zu halten; 

4. Giebt er sich manchen nicht unbegründeten Vorwürfen preis: 

a) des engherzigen Rigorismus, 

b) der Heuchelei, 

c) der Härte gegen die niederen Volksklassen; 

5. entfremdet er sich die Herzen derer, die gegen die Mäßigkeitsvereine 
eingenommen sind, und wird schwerlich segensreich auf sie ein wirken können. 


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Pastor Dr. Stubbe. 


In einer besonderen Schrift widerlegt Archidiakonus A. C. 
Heim reich-Rendsburg (Hamburg 1843) alle Bedenken: 1 ) 

Es ist eines evangelischen Pastors durchaus unwürdig, falls nicht in seiner 
besonderen Stellung unübersteigliche Hindernisse ihm entgegentreten sollten, 
den Grundsätzen und Bestrebungen der Mäßigkeitsvereine sich nicht tätig anzu¬ 
schließen; denn 

1. er führt das Amt des Geistes, welcher ist der Geist der Liebe, und 
diese Liebe macht es ihm zur Pflicht, 

a) für das geistliche und leibliche Wohl seiner Gemeinde nach Kräften zu 
wirken, wo immer sich eine Gelegenheit dazu darbietet, und eine solche 
Gelegenheit bieten die Mäßigkeitsvereine; 

b) alle (erlaubten und zweckmäßigen) Mittel dazu anzuwenden, und die Mäßig¬ 
keitsvereine bieten eine Reihe solcher Mittel, die Sittlichkeit in der Ge¬ 
meinde zu heben und das irdische Wohlergehen zu fördern. 

2. Der Feind, den er bekämpfen soll, das Fleisch mit seinen Lüsten und 
Begierden (insbesondere in der Gestalt der Trunksucht und Genußsucht) ist so 
mächtig, daß er nicht durch die Predigt von der Kanzel herab und durch die 
Seelsorge an den einzelnen allein überwunden werden kann; dazu bedarf es 
mehrerer Waffen; solche bieten die Mäßigkeitsvereine dar, nämlich 

a) die Macht der auf klärenden Belehrung durch Gründe menschlicher Wissen¬ 
schaft'und Erfahrung, 

b) die Macht des offenkundig hervortretenden Beispiels, 

c) die Macht der sittenbildenden, die in ihrer Vereinzelung schwächeren 
Individuen schützenden und stärkenden Gemeinschaft, 

d) die Macht der Predigt des göttlichen Worts in ihrer speziellen Rich¬ 
tung auf diese besondere Seite des christlichen Lebens, für welche 
sich sonst schwer eine passende Stelle finden ließe. 

3. Er bringt sich durch seine Nichtteilnahme an den Bestrebungen der 
Mäßigkeitsvereine in den Verdacht, als habe er den Branntwein oder sein Gläs¬ 
chen Punsch zu lieb, um sich von demselben ganz lossagen zu können, und teile 
das laxe Urteil über die Unmäßigkeit im Genüsse geistiger Getränke. 

4. Er gibt sich manchen Vorwürfen preis: 

a) daß er aus Menschenfurcht und Rücksicht auf zeitliche Vorteile oder 
aus Liebe zu träger Gemächlichkeit sich abhalten lasse, seiner Über¬ 
zeugung zu folgen und für eine als gut von ihm anerkannte Sache mit 
Entschiedenheit auf den Kampfplatz zu treten, 

b) daß er kein lebhaftes, warmes Mitgefühl habe für das wahre Wohl der 
niederen Volksklassen. 

5. Er entfremdet sich die Herzen der Glieder seiner Gemeinde, welche ent¬ 
weder selber schon Mitglieder eines Mäßigkeitsvereines sind oder doch von den 
segensreichen Wirkungen derselbigen eine lebendige Überzeugung gewonnen 
haben, welche daher ihren Prediger wegen seiner Unentschiedenheit in dieser 
Sache für einen Feind des guten Werks ansehen. 

J ) Ist es eines evangelischen Predigers würdig, Mitglied eines Mäßigkeits¬ 
vereins zu sein? Zur Beseitigung von Mißverständnissen und Bedenklichkeiten 
beantwortet und seinen Amtsbrüdem zur Prüfung vorgelegt. 1843. — Baedeker, 
Hamburg. 


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Aas der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein. 351 


6. Stellt er sich auch nach seinen Äußerungen als einen Freund der Mäßig¬ 
keitsvereine, ihrer Grundsätze und Bestrebungen dar, unterläßt aber^ohne trif¬ 
tige Gründe den förmlichen Beitritt zu einem Verein oder die Stiftung eines 
solchen, so schadet er der guten Sache dadurch in hohem Maße und macht sich 
durch seine Untätigkeit fremder Sünde teilhaftig, indem er viele durch sein Bei¬ 
spiel hindert, einem Vereine beizutreten und sie in ihren Vorurteilen bestärkt; 
denn alles Reden fruchtet nichts, wenn die Tat fehlt. 

Weg mit dem Branntwein, denn er ist ein Feind, ein Feind auch des 
Evangelü und seiner Wirksamkeit an den Herzen der Menschen zur Buße. Die 
Enthaltsamkeit vom Branntwein als ein Mittel, die Sitte des Branntwein¬ 
trinkens aus der Welt zu schaffen, ist in unserer Zeit eines jeden wahren 
Christen unerläßliche Pflicht, zum mindesten eine Pflicht der Bruderliebe, 
auf daß die Schwachen nicht geärgert werden (Rö. 14, 1. 13—15. I. Kor. 9, 
19—22. 10, 23. 31.) 

Die schärfste Gegenäußerung, die Heimreich fand, lautete: 
„Der Mäßigkeitsverein und die evangelischen Geistlichen.' Als 
provoziertes Gutachten eines evangelisch-protestantisch-lutherischen 
Predigers. 41 *) 

Unsere Zeit leidet an Vereinssucht; jeder Verein erhebt gerne den An¬ 
spruch einer Unentbehrlichkeit. — Die sog. Mäßigkeitsvereine gründen sich nicht auf 
christlich-weise Enthaltung alles unmäßigen Genusses, sondern machen spezielle 
gänzliche Enthaltung eines einzelnen Getränkes zur Pflicht. Zudringlich werden 
Traktäfchen, häufig sehr pietistische, und abschreckende Bilder verteilt, auch 
gelegentlich separatistische Andachtsübungen gehalten; Brotherrn üben einen Zwang 
auf die Untergebenen aus. — Die bloße Entbehrlichkeit eines Genußmittels ist 
noch kein Grund zur Beseitigung. Widrige Arbeitsverhältnisse machen den Brannt¬ 
wein oft notwendig; über die Schäden, die der Branntwein bringen soll, sind die 
Gelehrten sich noch nicht einig. Jedenfalls muß er ein sehr langsam wirkendes 
Gift sein; viele tausende haben den Branntwein mit Selbstbeherrschung zu trinken 
vermocht. Und da sollte der Geistliche durch Anschluß an die Mäßigkeits¬ 
vereine den Schein nähren, als ob durch sie Gott und Menschen ein besonderer 
Dienst geschähe? 

Die Mäßigkeits- und Versagungsgelübde führen leicht zu Heuchelei und 
Selbstgerechtigkeit. 

Richtige Belehrungen über die Schäden unmäßigen Genusses sind heilsam, 
— aber die pietisierenden Traktätchen, die grauenvollen Bilder (von Magen und 
Drachen)*), die Übertreibungen der Trinkschäden und Vereinsleistungen sind nichts 
für gebildete Christen. Insonderheit ist verwerflich, wenn Brotherren Entsagung 
des Branntweingenusses zur Dienstbedingung machen. Der Zweck heiligt nicht 
das Mittel. 

Der Verein hat nur den knechtenden Buchstaben, die Gewissensbindung, 
neben der Vereinzelung von Pflicht und Tugend an Stelle der gesamten Moralität 


*) Kiel 1844. Verlag von Christian Bünsow. 30 S. Der Verfasser wohnt 
wie aus S. 28 hervorgeht, in Hamburg. 

2 ) Zum Schmidtschen Branntweindrachen vgl. Abschn. 5. (Alk. 1904, 
S. 158. 


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Pastor Dr. Stubbe. 


und in Verknüpfung mit zweideutigen Mitteln und Motiven zur Erreichung 
derselben — der Wahlspruch der evg. Geistlichen muß sein 2. Tim. 1,7, 
Rö. 14, 22—23. 

Man muß ein Übel an der Wurzel angreifen. Wie ist es mit den sozialen 
Verhältnissen? Würde nicht durch manche Verbesserungen die Branntwein¬ 
seuche von selbst geringer werden? Durch die sehr einseitigen, von der Haupt¬ 
sache abführenden Bestrebungen der Mäßigkeitsvereine werden tiefer liegende 
Schäden des gesellschaftlichen Körpers bemäntelt. 

Will man Volksnöte heilen, ist es gut, Geistliche zu fragen (die nach 
Rö. 12, 16 leben und sich auf die Diagnose sozialer Krankheiten verstehen). 
Sie würden darauf hinweisen, wie der Einfluß der Kirche leidet durch Neu¬ 
tralisierung des Predigtwortes durch den Zeitgeist, Verfall der Kirchenzucht, 
Mangel an Leitung des kirchlichen Lebens oder unangemessene Ausübung durch 
Frivolität und Pfaffentum, Reduzierung der Seelsorge auf nichts (infolge des 
Parochialgebührenzwangs), Schädigung der Sabbatfeier u. s. w. Besser wird’s 
nicht, ,wenn man die Geistlichen in die Mäßigkeitsvereine zieht, ihnen dadurch 
den freien Gesichtspunkt verrückt, ihr Wirken zersplittert und von der großen 
Hauptsache abzieht. 

Wer tritt in Deutschland am lautesten für die Mäßigkeitsvereine ein? 
Doch auch die, welche ihren Vorteil dabei suchen und das Volk von sich ab¬ 
hängiger machen wollen. 

Und die Natur hat ihr Maß. Die Geistlichen einer großen Stadt sind 
schon so überlastet, daß sie alles lassen sollten, was nicht eigentlich ihres Amtes ist. 

Mag das Werk der Vereine mit viel Unterstützung von Diis maiorum et 
minorum betrieben sein — es ist noch keineswegs ein Werk aus Gott — und 
das Volk wird dies erkennen und sich gegen die Vorkämpfer wie gegen falsche 
Exorzisten (Act. 19, 13—17, vgl. Mt. 7, 6) wenden. 

Von orthodoxen Prämissen aus gelangt zu einem scharf ab¬ 
lehnenden Standpunkt Klaus Harms. Heimreich berichtet von 
ihm das Wort: „Der Prediger, welcher einem Mäßigkeitsvereine bei- 
tritt, verleugnet Christum 44 — und wendet dagegen ein: Man soll 
vor dem heiligen Geist keinen Schlagbaum machen wollen! 1 ) 
Harms tadelt den „gesetzlichen 44 Charakter der Vereine— Vent- 
Hademarschen hält ihm vor: Es sei alte Gottesordnung: erst das 
Oesetz, dann das Evangelium — und viele Menschen bedürften noch 
heute dieser Methode 2 ) — während Heimreich den Nachweis 
vermißt, daß die Vereine notwendig und nur äußerlich legales 
Wesen bewirken und zur Beurteilung rechter Legalität an den 
dreifachen Usus legis erinnert, den die Kirche kenne. 8 ) G. P. 
Petersen erwähnt, Harms habe in einem Propsteizirkular ge¬ 
äußert, man solle kein Vorurteil gegen, aber ein reifes Urteil über 

*) Ist es eines evg. Predigers würdig . . . S. 6. 

2 ) Mitteilung von Propst Treplin-Hademarsehen. 

3 ) A. a. 0. s. 6. 


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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein. 353 

die Sache hegen. 1 ) Eine breitere Darlegung der Harms sehen 
Stellung zu den Yereinen erfolgt, als Feldmann 1843 im Kieler 
Wochenblatt einen Artikel schrieb: „Unsere Prediger und der Ent¬ 
haltsamkeits-Verein.“ *) 

Vielfach wundre man sich, daß gerade Prediger den Vereinen fern bleiben. 
An sich müßte den Vereinen deren Beitritt erwünscht sein, weil gerade nüchterne 
Leute als Vereinsmitglieder wertvoll seien, um das Vorurteil zu zerstreuen, als 
ob alle, die sich anschließen, Säufer gewesen wären, — auch, um dem Verein 
festes Rückgrat zu gewähren. Ob die Pastoren wohl fern bleiben, weil sie um 
die menschliche Freiheit besorgt sind und den Verein für einen unnötigen Zwang 
halten? Sie vertrauen sonst doch der Willensfreiheit zum Outen nicht zu viel. 
— Indessen, wenn man auf den dithmarscher Pastorenstreit schaut, so trauert 
man weder zu sehr über das Fernbleiben der einen, noch jubelt man über den 
Beitritt der anderen. Die einen werfen dem Vereine Legalität vor, als wenn 
die nicht eine Bürgertugend wäre, — die anderen raten den Pastoren den Bei¬ 
tritt an, um dem pastoralen Elemente Einfluß oder Herrschaft zu sichern! 

Umgehend folgt die „Verantwortung des Ministeriums“ der 
Stadt Kiel, 8 ) an dessen Spitze eben Harms steht. Sie lautet 
wörtlich: 

„Allezeit bereit zur Verantwortung jedermann, geben wir in 
Anleitung des Aufsatzes im hiesigen Wochenblatte: ,Unsere Pre¬ 
diger und der Enthaltsamkeits-Verein 4 diese Erklärung: 

Wir können nicht leugnen, daß es uns aufgefallen, von Seiten 
eines Vereins, dessen Mitglieder sich der völligen Freiwilligkeit des 
Beitritts rühmen, indirekt zum Beitritt genötigt zu werden. Wir 
hofften vielmehr, man werde uns Zutrauen, alles gewissenhaft er¬ 
wogen zu haben, was für und wider den Enthaltsamkeits-Verein, 
und namentlich den Beitritt der Prediger zu sagen sei und gesagt 
worden, und wenn wir infolge solcher Erwägung bei dem Nicht¬ 
eintritte beharrten, durch triftige Gründe dazu vermocht worden 
zu sein. Wir haben uns in dieser Hoffnung getäuscht. Man ver¬ 
langt unsere Gründe zu hören, noch mehr, man verwirft sie, bevor 
man sie kennt. Deshalb halten wir nicht damit zurück, selbst auf 
die Gefahr hin, daß diese zur nötigen Abwehr geschriebene Er¬ 
klärung als ein Angriff angesehen werde, was doch nimmer unsere 
Absicht sein konnte, auch wenn einer von uns einem gewissen 
Prediger das Versprechen nicht gegeben hätte, gegen die Be¬ 
strebungen des Vereins nicht einschreiten zu wollen. Unsere Gründe 
aber sind diese: 

*) Wagrisch-Fehmarnsche Blätter 1843, S. 226. 

2 ) 1843, Nr. 90 u. 97. 

8 ) 1843, Nr. 95. 

Der Alkoholiamas. 1905. 24 


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354 


Pastor Dr. Stubbe. 


Wir stellen die seitherigen Wirkungen des Vereins nicht in 
Abrede, wir behaupten nicht, es läge kein Segen in den menschen¬ 
freundlichen Bestrebungen der Vereinsmitglieder — das sei fern. 
Allein zeugt doch nicht beides, die Gewalt des Feindes, wider den, 
und die Waffe, womit vom Verein gegen ihn gekämpft wird, daß 
das Christentum beiderseits zu seinem Rechte nicht gekommen? 
Der Mensch, in welchem das Wort Gottes lebendig geworden ist, 
der Christ jaget jeglicher Tugend nach, auch der Mäßigkeit So¬ 
lange er hält, was er hat, und der Geist wird immer stärker, be- 
darf’s für ihn nicht, enthaltsam zu sein, um mäßig zu werden 
und mäßig zu bleiben. Jedes Laster aber ist Feindschaft wider 
den Herrn; der Trunkenbold verleugnet durch seinen Wandel 
Christum. In gleicher Weise liegt zu Tage, daß, wer durch den 
Enthaltsamkeits-Verein sich selber schützen will vor der Trunksucht 
und die Brüder daraus erretten, nicht kenne oder verkenne 
mindestens die Gotteskraft des Evangelii. 

Was die herumholende und behütende Kraft des Evangelii 
erfahren hat, vertrauet zu eigener Bewahrung schwächerer Hilfe 
nicht Wer die Brüder retten will, greift nicht nach sinnlichen 
Mitteln, wenn geistige zu Gebote stehen. Und nun sollen die Pre¬ 
diger gar, deren Amt es ist, dem Herrn ein Volk zum Eigentum 
zu sammeln, durch das Wort und den Wandel dem Worte gemäß, 
und durch das Gebet um Wachstum in beiden für sich und die 
Gemeinde, diese dreifache Waffenrüstung zurückstellen, kleingläubig 
und mutlos, und mit schwächeren Waffen kämpfen gegen das 
Sündenelend? Viele Diener am Worte sind anderer Ansicht, wir 
wissen das und lassen ihnen ihre Ansicht. Unsem Teils aber fühlen 
wir uns gedrungen, bei der Überzeugung zu verharren, daß der 
Prediger seinem Wirken als Mitglied des Vereins den Glauben zum 
Opfer bringe an den Segen seines Berufs, das Salz verschütte, als 
ob es kraftlos worden. So innig wir des überzeugt sind, daß die 
menschenfreundlichen Bemühungen des Enthaltsamkeits-Vereins von 
nachhaltigem Erfolge nicht sein können, es sei denn, daß die an¬ 
gedeutete stärkere Waffe zu Hilfe genommen werde von den Ent¬ 
haltsamen und den enthaltsam zu Machenden, und so unausbleiblich 
die Glieder des Vereins durch ihre Bestrebungen gefährlichen Ver¬ 
irrungen sich selber bloßstellen, denen nur durch den Geist des 
Christentums erfolgreich begegnet werden kann, so unmöglich ist 
es uns, unseres Amtes wegen, in der gewählten Weise die 
Sache des Vereins zu fördern. — Unseres Amtes wegen will man 


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uns eben aber zu Mitgliedern haben. Wir sehen in diesem Be¬ 
gehren ein den Begehrenden selber vielleicht unbewußtes Zuge¬ 
ständnis, daß es eine höhere Macht gebe, von der die Kräfte des 
Vereins erst die rechte Weihe empfangen können. Dieser höheren 
Macht allein vertrauen wir Prediger, an dieser geistigen Kraft lassen 
wir uns genügen. Je eifriger deshalb die Förderer der Mäßigkeits¬ 
sache sich zeigen, desto lauter wollen sie von uns sich zugerufen 
hören das Wort eines Lehrers aus der ältesten Kirche, das wir zu 
dem unsrigen machen: 

,Gebt uns einen Trunkenbold, einen Mäßigen geben wir euch 
wieder*. Das Ministerium der Stadt Kiel. 

Harms. Wolf. Lüdemann. Valentiner.“ 

Prof. Lüdemann schließt eine Erklärung an: 

Er billige den Zweck des Vereins vollkommen; bisweilen werde der Geist¬ 
liche wohltun, einzutreten; ihm sei das seiner Verhältnisse wegen nicht mög¬ 
lich. „Solange sich indes der Verein seinen besten Erfolg von der freien, auf 
einem kräftigen sittlichen Entschluß beruhenden Abstinenz der Branntweintrinker 
verspricht, ist und bleibt ja die beste Hilfe, die der Geistliche leisten kann und 
nolens volens leistet, seine ganze Amtstätigkeit selbst.“ 1 ) 

Adjunktus Valentiner führt später aus: 1. Es gehe nicht an, gegen 
einzelne Sünden Spezialvereine zu gründen. — 2. Die Mäßigkeitsvereine stehen 
(als legale) nicht auf dem Boden der Kirche, sondern des Staates. Sie sind nicht 
gegen die Kirche, aber man kann den Predigern nicht die Pflicht des Beitritts 
auf erlegen. Die Mäßigkeitsvereine haben sich zu begnügen, die Früchte der 
Pastoralwirksamkeit mittelbar zu genießen. 2 * ) 

Von den Erwiderungen, die es regnete, buche ich eine 
ärztliche und eine pastorale. Dr. Weber-Kiel fordert auf, 8 ) 
die ärztliche Stellung mit der pastoralen zu vergleichen. 

Er halte es für ärztliche Pflicht, außer für die Gesundheit des einzelnen 
für die Abwendung alles dessen zu sorgen, was die Gesundheit aller gefährde — 
wie jeder Staatsbürger solche Pflicht habe. Da Geistliche, Gesetzgeber, Polizei¬ 
behörden bisher auf ihre Weise ohne großen Erfolg gegen die Branntweinschäden 
gearbeitet haben, helfe der Arzt gerne dazu, ein Getränk aus der Welt zu 
schaffen, welches Körper und Geist zugleich krank macht. Das könne der Arzt 
nicht besser, als wenn er die Verpflichtungsformel des Vereins unterschreibe 
und durch seinen Beitritt mit arbeite an der Hinwegräumung der kranken Potenz. 
Andere gute Folgen bleiben nicht aus. — Wo sind da gefährliche Verirrungen? 
Die Prediger können die Eingangsformel ändern und sagen: Infolge meiner re¬ 
ligiösen Überzeugung entsage ich . . . Treten Sie doch beil Sie würden uns 
helfen gegen ein schädliches Getränk, gegen Säuferwahnsinn, manche Lungen- 

1 ) Kieler Wochenblatt 1843, Nr. 95. 

2 ) Ebenda 1844, Nr. 1 u. 2. 

8 ) Ebenda 1843, Nr. 99. 

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Pastor Dr. Stubbe. 


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Schwindsucht, Leberkrankheit, Wassersucht, — manchem Magenkrebs Vorbeugen, 
die Heilung mancher Krankheit erleichtern, vielem Elend begegnen, welches wir 
jetzt in Hospitäler und Irrenhäuser einschließen. 

„Wir dagegen glauben, auch Ihnen zu helfen, einen besseren 
Boden für Ihre Wirksamkeit zu gewinnen.“ 

Die pastorale Stimme, welche ich zitieren möchte, findet sich 
in den Bl. d. Hbg. Y. g. d. Br. 1844, S. 69. 

Mao schien sich fast überall darin einig zu sein, daß das Verhältnis der 
Vereine zum Christentum das der engsten Zusammengehörigkeit und Freundschaft 
sein müsse, woraus dann für die Geistlichen folgte, daß sie den Vereinszwecken 
ihre tätige Teilnahme zuzuwenden hätten. Viele Synoden und Kirchenbehörden 
haben diese Mitarbeit empfohlen, viele Geistliche die Gründung und Leitung von 
Vereinen übernommen. — Die Erklärung des Kieler Ministeriums stellt sich mit 
einem Schlage auf einen anderen Boden. Man überschätzt doch wohl den pastoralen 
Einfluß, wenn man meint, allein mit einem Trunkenbold fertig werden zu können; 
wenn Geistliche einen Verkommenen in eine Besserungsanstalt bringen, sollten 
sie nicht einen Trinker dem Mäßigkeitsverein zuführen dürfen? Der Zweck des 
Vereins wird vom Ministerium zu eng gefaßt; er ist nicht nur: Schutz der 
eigenen Person vor Trunk und Bettung der Brüder von ihm, sondern vielmehr: 
die Verdrängung der gebrannten Wasser aus der Zahl der Getränke (der Nahrungs¬ 
und Genußmittel) und Zurückführung derselben in die Apotheke; das einfachste 
und kräftigste Mittel dafür ist der Entschluß, keine gebrannten Wasser mehr 
zu trinken. 

„Die Kirche muß (in solchen Vereinen) notwendig die aus ihrem eigenen 
Prinzip hervorgegangene und für ihre eigene Aufgabe hilfreiche Wirksamkeit 
erkennen. Denn es ist doch klar, wie die Trunkenheit eins der ärgsten und 
giftigsten Unkrautgewächse ist, welche den Acker des Reiches Gottes über¬ 
ziehen und das Aufkommen des edlen Weizens unmöglich machen; und nicht 
minder liegt es am Tage, wie die gebrannten Getränke eine so starke Macht 
der Versuchung ausüben, daß, solange die Sitte des täglichen Genusses 
bleibt, dieselbe immer auch in die Unsitte des unmäßigen Genusses ausarten 
wird. Da nun soviel wenigstens völlig entschieden ist, . . . daß in keinem 
einzigen Fall außermedizinischer Gebrauch dieser Getränke unentbehrlich ist: so 
kann das Unternehmen, das darauf hinausgeht, eine der ärgsten und un¬ 
widerstehlichsten Versuchungen völlig hinwegzunehmen, von seiten 
der Kirche nur auf das freudigste begrüßt werden und muß als ein 
wahrhaft christliches (. . . nach Matth. 5, 29) notwendig anerkannt werden! Sollte 
nun nicht auch jeden Christen die Liebe antreiben, an diesem Werke 
teilzunehmen, vorzüglich den Geistlichen, von dem ja das christliche Volk 
überall ein Vorbild zu erwarten berechtigt ist?“-— 

1844 erhielten die Herzogtümer ein eigenes theologisches Fach¬ 
blatt: „Kirchen- und Schulblatt u (herausgegeben vom Archidiakonus 
Th. Jeß und Diakonus E. Yersmann, Itzehoe). Sein erster Jahr¬ 
gang faßt wie ein Hohlspiegel die verschiedenen theologischen Ge¬ 
sichtspunkte zur Beurteilung der Mäßigkeitsvereine in einer Reihe 
von Aufsätzen zusammen. Ein Ungenannter schreibt „ein Wort 


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über und wider die Mäßigkeits- oder Enthaltsamkeitsvereine“ (Nr. 14 
und 15): Wäre von den Vereinen selbst ausgesprochen, daß sie als 
Verein außerhalb der Kirche stehen, so könnte die Kirche sie als 
Gott wohlgefällige und segensreiche nicht anerkennen und fördern. 
Bei vielen Vereinen ist eine solche interkonfessionelle Grundlage; 
Christenleute, die Mäßigkeitsvereinler geworden sind, denken anders. 
Die Kirche kann indessen nur mit dem Wort vom Kreuze Christi 
einem jeden entgegentreten, der in seiner natürlichen Kraft durch 
des Gesetzes Werk mit Entsagungen, Gelübden, Vorsätzen und Ent¬ 
schließungen seine Seele von Sünde reinigen will. Äußerlich mögen 
die Vereine durch Minderung des Trunkes nützen; innerlich schaden 
sie, wenn sie die Wirksamkeit der Kirche nicht mehren, sondern 
lähmen. — Pastor Koopmann-Heide hält über die Enthaltsam¬ 
keitsvereine und ihre Berechtigung der Kirche gegenüber seine alte 
Anschauung fest (Nr. 35): Weil diese Vereine ausschließlich auf 
Ablegung eines Lasters, einer Sünde dringen, so können sie ihrem 
Wesen nach nur Legalität anstreben und nicht das ganze innere 
Leben umgestalten. Kein gläubiger, in Christo freigewordener 
Christ wird, sobald er sich selbst und die ihm gebührende 
Stellung versteht, als Mitglied in den Verein treten, vielmehr 
wird das wider sein Gewissen sein. Was faktisch zum öffentlichen 
Ärgernis geworden ist, wie z. B. der Branntwein, soll der Christ von 
selbst und frei meiden. — Zwei Stimmen erhoben sich für die Ver¬ 
eine. Ein Ungenannter erwidert dem ersterwähnten Anonymus 
(Nr. 25. u. 26): 1. Es ist eine falsche, eine einzelne Seite des Ver¬ 
einslebens zu scharf betonende Auffassung des Vereinswesens, daß 
die Vereine die Enthaltung vom Branntweingenuß zum Haupt- und 
Mittelpunkt des inneren Lebens der Mitglieder machen und so sich 
an die Stelle der Kirche setzen. 2. Wer in der Entsagungsformel 
etwas Gefährliches sieht, darf sich deswegen dem Kampfe gegen 
den Branntwein nicht entziehen, sondern muß unter anderer Form 
mit arbeiten. — Der reformierte Prediger van Khyn-Friedrich- 
stadt erklärt (Nr. 43 u. 44) den Widerwillen hervorragender Geist¬ 
licher gegen die Vereine aus dem hier zu Lande notwendig ge¬ 
wesenen Kampf gegen den Pelagianismus innerhalb der Barche, — 
aber das Wesen der Vereine sei nicht Legalität, sondern ein offen¬ 
bares Zeugnis gegen eine nicht klar erkannte Pest, gegen eine all¬ 
gemeine Unsitte; ähnlich ist’s mit den Antisklaverei-Vereinen. Dann 
hören diese Vereine von selber auf, wenn die Christen alle die von 
ihnen vertretene Wahrheit erkannt haben. — Über den Parteien 


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Pastor Dr. Stubbe. 


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steht Pastor Hansen-Keitum. Er sieht (Nr. 40 u. 41) die Quelle 
der verschiedenen Urteile über die Stellung der Kirche zu den Ver¬ 
einen in der Verschiedenheit des Kirchenbegriffes; die organische 
Auffassung werde in den Vereinen einen Fortschritt, die atomisti- 
sche einen Rückschritt und Verfall der Kirche erblicken. Die ato- 
mistische Auffassung lasse die Kirche aus den Individuen erwachsen; 
sie müssen den Vereinen mißtrauen, weil sie Christen umfassen 
wollen, ohne doch den Zweck der Kirche zu realisieren, — die 
organische betrachte die Vereine als eine in den Lebensorganismus 
der Kirche mit einbegriffene Erscheinung, nämlich als eine Reaktion 
gegen eine mangelhafte Entwicklung desselben auf bestimmtem 
Lebensgebiet Iu Wirklichkeit charakterisiere die verschiedene 
Stellung der Theologen zu den Mäßigkeitsvereinen nur eine ver¬ 
schiedene Stellung zum Kirchenbegriff. 

Je mehr in den vierziger Jahren die „Innere Mission“ ein 
Sammelname ward für christliche Liebesarbeit an großen allgemeinen 
Notständen innerhalb der Kirche, desto mehr setzte man den Kampf 
gegen den Branntwein zu ihr in Beziehung. 

„In irgend ein Gebiet wollte die Theorie den Kampf wider den Branntwein 
versetzen: in das politische paßte er nicht, im kirchlichen fand er nicht allge¬ 
meine Anerkennung; so übertrug man ihn auf das wissenschaftliche — aber da¬ 
mit verliert er seine Kraft fürs Volksleben; er gehört in die innere Mission. 
Er kämpft gleich anderen Vereinen der inneren Mission wider eine Handhabe 
des Feindes, die dieser (gleich vielen anderen) geschickt gebraucht, um Leib und 
Seele zu verderben. Mit einem Teufelsstrick möchte er alle durchschneiden. 
Erst wenn den Vereinen diese Stellung gesichert ist, beruhen sie auf innerer 
Notwendigkeit, und das Fernbleiben von ihnen (zumal der Geistlichen) ist Sünde, 
unchristlich, lieblos, inhuman (Fernbleiben, nämlich ein solches, dem Mißbilligung 
der Vereinsbestrebungen zu Grunde liegt).“ 1 ) 

Pastor Volquarts erklärte demgemäß ausdrücklich, den Kampf 
von Anfang an als Sache der inneren Mission geführt zu haben. 2 ) 
Er aber, wie die eben vorher zitierte Stimme gehören zu den 
Alkoholgiftgegnern. Wie die innere Mission mit dieser Richtung 
sich auseinander setzt, gehört nicht mehr in den Rahmen einer 
Schleswig - holsteinischen Mäßigkeitsgeschichte. Näheres darüber 
findet man bei Martius 8 ). 

Interessant ist, daß, wie die Mäßigkeitsvereine die Prediger in 

') Kirchen- und Schulblatt 1847, S. 463. 

*) Vgl. Mtsschr. für Innere Mission 1904, S. 474. 

3 ) Z. B. Handbuch der deutschen Trinker - - frage Gotha (1891), Kap. 6, 
S. 94 f. 


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ihre Reihen hineinriefen, so Franz Baltisch, 1 ) dessen skeptische 
Stellung zu den Vereinen in Abschn. 11 beleuchtet ist, besondere 
Predigten und Mitarbeit der Geistlichen gegen — das zu frühe 
Heiraten fordert. In frühen Heiraten liege auch eine Unmäßigkeit, 
so gut wie im Branntwein trinken, und sehr oft sei letzteres die 
Folge des aus ersteren entsprungenen Elends. (Auch sei eine Predigt 
über das frühe Heiraten ebenso wichtig, wie die vorgeschriebene 
Eidespredigt) — Es läßt sich begreifen, daß solches Streben, die 
Pastoren mit ihren Predigten zum „Mädchen für alles“ zu machen, 
gerade manche tiefere Naturen abstieß und sie dazu trieb, mit um 
so mehr Eifer nur die eine große Hauptsache zu betonen, die ihrem 
Amte anbefohlen war. 

Die Stellung zum Branntwein wird von den Alkoholgift¬ 
gegnern auf die Formel gebracht: „Alkohol Gift, sein Genuß ist 
Sünde.“ Wir haben an den Predigten von Volquarts (in Abschn. 9) 
gesehen, wie dieser Grundsatz schließlich dahin seine Zuspitzung 
fand, daß der Branntwein in Wahrheit Satansblut sei, und man beim 
Branntweintrinken in leiblich-geistige Gemeinschaft mit dem Teufel 
trete 2 ) — und erwähnt, daß der Alkohol vom „Weinigen“ verschieden^ 
das Weinige aber ungiftig und durch Gottes Wort geheiligt sei. 8 ) 

In den „Blättern des Hamburger Vereins gegen das Brannt¬ 
weintrinken“ 4 ) ward demgegenüber ausgeführt: 

Es ist den geschicktesten Chemikern nicht gelungen, das Weinige als etwas 
Besonderes und vom gewöhnlichen Alkohol Verschiedenes darzustellen. Wird also 
Alkohol in destillierten Getränken selbst in den kleinsten Mengen als Gift ver¬ 
urteilt, so kann es in gegorenen Getränken nicht anders sein. 

Indessen, was ist Gift? Im gewöhnlichen Leben versteht man das darunter, 
was auf den Körper zerstörend einwirkt (Arsenik, Blausäure, Opium u. s. w.), 
— in weiterem Sinne allerdings alles, was auf einen gesunden Körper störend 
einwirkt, aber eben das kann in der Hand eines Arztes auf einen kranken 
Körper heilsam einwirken. So ist es mit dem Alkohol. Selbst Wein und 
starkes Bier ist für junge und reizbare Personen schädlich, Branntwein da¬ 
gegen als Getränk unbedingt verwerflich, als Arzneimittel von zweifelr 
haftem Werte. 

Auch kann man den Genuß nicht unbedingt Sünde nennen. Für ein 


*) Eigentum und Vielkinderei. Kiel 1846, S. 131. 129. Vgl. Mau im 
Kirchen- und Schulbl. 1846, S. 334. 

*) Vgl. besonders die dritte Predigt. 

*) Vgl. Abschnitt 8. 

4 ) 1852, Nr. 3 u. 4. — Die Reihenfolge der Jahre ist in dieser Erörterung 
ohne Bedeutung, da die Alkoholgiftgegner in ihren Anschauungen sich weder 
durch die Erfahrungen des Jahres 1848, noch sonst wie beeinflussen lassem 


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Pastor Dr. Stubbe. 


Vereinsmitglied würde der Genuß Sünde sein, wo aber die Einsicht in die Brannt¬ 
wein Schäden fehlt, oder Vorurteil, Gewöhnung, Schwäche den Menschen hindert, 
von Spirituosen zu lassen, oder ein Familienvater keinen anderen Lebenserwerb 
hat als Brennerei, wollen wir nicht richten, sondern zu besserm Leben helfen. 
Wenn Alkoholgiftgegner hiergegen einwenden: „In der Bibel, dem untrüglichen 
Gotteswort, ist Alkohol unbedingt als Gift und sein Genuß als Sünde bezeichnet“, 
so ist zu erwidern: Mögen einige Gelehrte in der Bibel Alkohol vom Wein unter¬ 
schieden und seinen Genuß verurteilt sehen, — andere Gelehrte urteilen anders. 
Nicht ein Gelehrtenstreit, sondern Vernunft und Gewissen sollen uns offen¬ 
baren, was Sünde ist. 

Eine „durch gütige Mitteilung des Herrn Pastor Yolquarts in 
Lunden“ erfolgende Entgegnung 1 ) will es doch festhalten, daß Bier 
und Wein nur ähnliche (nicht dieselben) Wirkungen haben wie 
Branntwein — daß alles, was den Körper nicht nähre, sondern 
störe, Gift sei — und der Genuß eines unbedingt schädlichen Ge¬ 
tränkes Sünde, wolle man nicht den Begriff von Sünde auf den Kopf 
stellen. Eine Sanskritschrift des d’Hanvantose und dessen Schüler 
Susönta „System der Medizin“, die „unter die heiligen Schriften 
der ältesten Juden“ 2 ) aufgenommen ward und auf 1000 vor Christus 
gesetzt wird, zeige, daß schon damals „Shekon, starkes Getränk“ 
bekannt gewesen sei. „Demgemäß könnte schon gerne in der 
heiligen Schrift ein Verbot des ,starken Getränkes 4 (Branntwein) 
enthalten sein, und möchte es in den 5 Büchern Moses enthalten 
sein.“ (!) 

Prof. Dr. Kranichfeld formulierte selber seine An¬ 
schauungen so: 

Ist der Alkohol im Weine und dieser giftig, so hat Jesus zu Kana Gift 
hervorgebracht und Gift beim Abendmahle gebraucht — und Propheten und 
Apostel haben Gift empfohlen. Damit wird der Glaube an die heilige Schrift 
erschüttert Biblisch begründet ist es, zwischen Wein und starken Ge¬ 
tränken zu unterscheiden. Die starken Getränke berauschen stärker als 
der Wein; sie werden in der heiligen Schrift nirgends empfohlen, ja zum Teil 
verboten und in ihren Wirkungen als schädlich, ja als giftig bezeichnet. Biblisch 
steht so viel fest, daß der Branntwein zu den starken Getränken und zwar zu 
den verbotenen gehört Es ist also die Anerkennung des Weinigen und des 
Alkohols und die Giftigkeit des letzteren biblisch und in den heiligen 10 Geboten 
begründet. 8 ) 


*) Bl. d. Hbg. V. 1852; No. 8 u. 9. 

f ) Das ist doch zu ungeheuerlich — —! Ich vermute, daß es sieh um 
einen Druckfehler für „Inder“ handelt. 

•) Sendschreiben an die sämtlichen Mitglieder des Haupt-Vereins der 
Alkohol-Gift-Gegner. Berlin, 11. März 1846; veigl. Ärztlicher Volksfreund 
I. Jahrgang 1841, S. 157. 


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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein. 361 

Eine gründliche sachliche Widerlegung bot George Ludwig 
Steinwender (lic. theol., Pfarrer bisher in Paaris, künftig in 
Idebwalde) in einem offenen Sendschreiben „über die biblische 
Unterscheidung zwischen Wein und starken Getränken und die 
Statuten des Haupt-Yereins der Alkohol-Gift-Gegner überhaupt.“ 1 ) 
Auf Grund hebräischer Sprachkenntnis (die Kranichfeld abging) 
und hermeneutisch-archäologischer Untersuchung der einschlägigen 
Stellen zeigt er, 

Daß Schechar (sicera, bei Luther: starkes Getränk) im allgemeinen etwas 
Berauschendes sei, also den Wein (Jajin) einschließe, — in seiner speziellen 
Bedeutung (sofern er weinartige, dem Weine ähnliche Getränke, künstlichen 
Wein bezeichne) dagegen dem Hauptbegriff Wein untergeordnet werde. Verfehlt 
ist es, Schechar als gebranntes Wasser zu betrachten. Biblisch kann eine 
Unterscheidung zwischen Alkohol und Weinigem, und eine Identifizierung von 
Schechar und gebranntem Wasser, sowie dessen Gegensatz zum Wein nicht 
begründet werden. Im Kampfe gegen den Branntwein ist (mit Böttcher) der 
Grundsatz seiner Gemeinschädlichkeit und Volks Verderblichkeit der allein richtige. 

Kräftig und selbstbewußt trat Yolquarts für Kranichfeld 
gegen Steinwender ein.*) 

Um zu einer Entscheidung zu kommen und den Streit inner¬ 
halb der eigenen Reihen, wenn möglich, zu schlichten, griff man 
nun zu dem alten Mittel der Universitätsgutachten. Das Direk¬ 
torium des Posenschen Provinzial-Vereins zur Unter¬ 
drückung des Branntweingenusses forderte am 5. Mai 1847 
die evangelisch-theologische Fakultät zu Breslau zu einer 
„Äußerung über den wissenschaftlichen Wert derjenigen Gründe, 
womit der Herr Pastor Yolquarts zu Lunden im Holsteinschen .. . 
die Schrift des Herrn Pastor Steinwender... zu widerlegen ver¬ 
sucht hat“. Unter dem 20. Juli 1847 gab die Fakultät ein von 
den Professoren Middeldorpf, Schulz, Oehler und Böhmer 
unterzeichnetes Gutachten ab 3 ), indem sie sich lediglich auf die 
Meinungsverschiedenheiten von Steinwender und Yolquarts über 
die alttestamentlichen Ausdrücke Jajin (Wein) und Schechar (be¬ 
rauschendes oder starkes Getränk) einließ. Sie pflichtete „der um¬ 
sichtigen, gründlichen und gediegenen Abhandlung des Herrn 


*) Königsberg in Preußen, 1846, 48 Seiten. 

*) General-Blatt für die Mäßigkeits-Reform 1847, No. 1 u. 2. 

*) Bisher noch nie veröffentlicht; an dieser Stelle führt es zu weit, aus 
dem in einer Abschrift 12 Folioseiten umfassenden Gutachten Einzelheiten an¬ 
zuführen; ich werde anderswo den für Theologen, aber eigentlich nur für sie, 
interessanten Streitfall ausführlich darlegen. 


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Pastor Dr. Stubbe. 


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Pastor Steinwender sowohl in Hinsicht auf die Art der Be¬ 
handlung, als auf die darin ausgesprochenen Endresultate“ bei und 
hielt es für „entschieden, daß eine wissenschaftliche, also von vor¬ 
gedachten Ansichten unabhängige Exegese, welche auf dem sichern 
Grunde genauer Sprachkenntnis und einer sorgfältigen Erforschung 
geschichtlicher Verhältnisse ruhen muß, zu keinem anderen Er¬ 
gebnisse gelangen können als 

daß die Behauptung des Herrn Pastor Volquarts, die heilige 
Schrift unterscheide den Wein und den Schechar in der Art, 
daß sie jenen erlaube, diesen aber schlechthin verbiete, eine 
gänzlich unerwiesene und ebenso unbeweisbare sei.“ 

In taktvoller Rücksichtnahme ersuchte die Fakultät, der 
Öffentlichkeit nur mitzuteilen, daß sie sich für Steinwender aus¬ 
gesprochen habe, — sie wolle durch den Beweis, daß Volquarts 
in irrtümlichem Eifer, - seine vorgefaßten Meinungen um jeden Preis 
aus der Bibel zu beweisen, sich auf einen Kampf eingelassen, dem 
er von vornherein nicht gewachsen war, ihm, einen vielleicht sonst 
hochachtbaren und auch verdienstvollen Mann, keinen Schaden und 
Nachteil bringen; dagegen stimmte sie dafür, Volquarts selbst das 
Gutachten zur Kenntnis zu bringen. 

Auch die theologische Fakultät von Greifswald und die katho¬ 
lisch-theologischen Fakultäten von Bonn und Münster sprachen sich 
in besonderen Gutachten für Steinwender gegen Volquarts aus. 1 ) 
Volquarts indessen blieb bei seiner Anschauung, 8 ) — weder 
lernend, noch vergessend; es handelte sich für ihn eben um ein 
Dogma. 

Anhang, betr. die Schule. 

Kirche und Schule nennen wir gerne zusammen; Prediger 
und Lehrer haben häufig gemeinsam Mäßigkeitsarbeit getrieben. 
Im Kirchspiel Hademarschen z. B. gehörten zeitweise alle Lehrer 
dem Vereine an; anderswo (z. B. Rendsburg) ward über Zurück¬ 
haltung der Lehrer geklagt. In Kiel übernahm Lehrer Gudenrath 
nach Dr. Valentiner die Vereinsleitung. Von Lehrer Kröger- 
Kronshörn ist uns ein in der Enthaltsamkeitsversammlung zu 
Schilsdorf 1847, 19. Sept., gehaltener Vortrag über den Jüngling 
von Nain aufbehalten: Die Mutter Kirche weint in der Lust, der 
Annehmlichkeit (der Welt) über ihren Branntweintoten (über den 

•) Ygl. Bl. des Hbg. V. g. d. Br. 1847, S. 80. 

a ) Ditm. Volksfreund 1847, Bericht über die Braunschweiger Reise. 


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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein. 363 

durch Branntweingenuß geistig erstorbenen Sohn). Durch die 
Enthaltsamkeitsvereine ruft der Heiland ihm sein „Stehe auf und 
wandle in einem neuen Leben!“ zu. 1 ) 

Das Schleswig-Holsteinische Schulblatt (Quartalschrift von 
Prof. Asmussen-Segeberg) brachte 1842 eine von Propst Callisen 
und Pastor Heimreich-Rendsberg erlassene Aufforderung an sämt¬ 
liche Geistliche und Lehrer, für die Mäßigkeitssache kräftigst zu 
wirken. Den Schullehrern der Propstei Oldenburg ward 1843 auf 
Veranlassung des Grafen Holstein von Waterneverstorf als Propstei¬ 
frage zur Beantwortung gegeben: „Was können und sollen die 
Volksschullehrer tun, um den wichtigen Zweck der Mäßigkeits- 
Gesellschaften zu befördern?“ 8 ) 

13. Heereswesen und Alkohol. 

Aus dem Gebiete der Theorie gehen wir über in die praktische 
Arbeit. Zwei kleinere Lebensgebiete nehmen wir vorweg, ehe wir 
eine Gesamtübersicht zu geben versuchen: das Heereswesen und 
die Schiffahrt. 

Die dem Branntwein günstigen Vorurteile früherer Zeit hatten 
ihn zu einem festen Bestandteil der Soldatenverpflegung gemacht. 
Im Jahre 1843 wurden bei den Herbstmanövem des 10. Armee¬ 
korps des Deutschen Bundes Vergleiche angestellt, wie der Genuß 
oder die Entbehrung des Branntweins bei Strapazen im Freien 
unter denselben Verhältnissen wirkte. 

Einige Regierungen hielten es für gut, ihre Truppen nach alter 
Weise mäßig mit Branntwein zu versorgen, während andere durchaus 
keinen Branntwein austeilten und das dadurch ersparte Geld zur 
noch besseren Verpflegung der Mannschaften anwandten. 8 ) Die 
Holstein-Lauenburger, Mecklenburger und Hannoveraner bekamen 
Branntwein, während die Braunschweiger, Oldenburger und Hanseaten 
keinen erhielten. Man hätte nun annehmen sollen, daß die Hol¬ 
stein-Lauenburger und die Mecklenburger als durchweg Landleute 
mindestens den Hanseaten (durchweg Städtern) überlegen sein 


*) Ditm. Volksfreund 1848, No. 6. 

*) Nach den Mittig, des Lehrer em. C. F. Hansen in Schlesw.-Holst. 
Schulztg. 1904, S. 40. — 1848 beschloß die Hamburger erste deutsche General¬ 
versammlung der Vereine g. Br. einen Aufruf an den deutschen Lehrstand. 

*) Die, welche auf Branntwein verzichteten, erhielten täglich statt */ 4 
*/ 4 Pfund Fleisch. Bl. d. Hbg. V. g. Br. 1843, S. 114. 


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Pastor Dr. Stubbe. 


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müßten, zumal, wenn der Branntwein Kraft gäbe; es zeigte sich das 
Gegenteil. Bei den Branntwein trinkenden Truppen kam 
durchschnittlich 1 Kranker auf 45 Mann. 

Die Holstein-Lanenburger, 3600 Mann, hatten 82 Kranke oder 
1 Kranken auf 44 Mann. Bei den keinen Branntwein trinken¬ 
den Truppen kam durchschnittlich 1 Kranker auf 90 Mann. 

Die Hanseaten, 2190 Mann, hatten 14 Kranke oder 1 Kranken 
auf 156 Mann. (Nur die Lazarettkranken sind gerechnet.) Also 
hat der Branntwein einen doppelten Krankenbestand erwirkt Es 
ist, schreibt Dr. Nölting, 1 ) durchaus kein anderer haltbarer Grund 
als der regelmäßige Genuß von Branntwein für dieses auffallende 
Verhältnis vorhanden, indem die Verpflegung bei allen Truppen gut 
war. Man könnte einwenden, daß die Truppen, die keinen Brannt¬ 
wein erhielten, sich solchen für ihr eigenes Geld kauften; das 
haben aber sicher die, welche ihre Rationen empfingen, ebenso¬ 
gut getan. 

Einen kleinen Erfolg haben indessen die Mäßigkeitsvereine 
auch bei der Armee der Herzogtümer zu verzeichnen. Der Brannt¬ 
wein soll keinem Soldaten aufgedrängt und über den Trunk im Heere 
strenge gewacht werden. 

„General-Kommando-Befehl. *) Schloß Gottorff, den 28. März 1848. 

Unter Berücksichtigung, daß sich in manchen Gegenden der Herzogtümer 
die Mäßigkeitsvereine auf eine sehr erfreuliche Weise ausbreiten, und manche 
junge Leute sich diesen nützlichen Vereinen, bevor sie in die Armee als Re¬ 
kruten eintraten, schon zugesellt haben, halte ich es meinerseits für meine Pflicht, 
es den Kommandeuren der verschiedenen Truppenabteilungen meines General¬ 
kommandos insbesondere, allen anderen Offizieren aber im allgemeinen zu 
empfehlen, strenge darüber zu wachen, daß die neu einkommenden Soldaten nicht 
von den älteren Kameraden aus Mutwillen oder von den Unteroffizieren unter 
dem Vorwände, die ungewohnte Arbeit leichter ertragen zu können, zum Genuß 
des Branntweins im Widerspruch mit ihren guten Vorsätzen ermuntert werden. 
Namentlich befehle ich, daß jeder Batterie-, Eskadrons- und Kompagniechef seinen 
Unteroffizieren von meinem sehr ernstlichen Willen, dem Laster des Trunkes 
entgegen zu wirken, in Kenntnis setze; zu welchem Zwecke ich auch künftig 
keine Gesuche derselben um die Erlaubnis, als Stellvertreter zu dienen, einsenden 


') Bl. d. Hbg. V. g. Br. 1844, S. 28, vgl. Voges, Geschichtliche Ent¬ 
wicklung des Hbg. V. g. Br., S. 18. 

*) Bl. d. Hbg. V. g. Br. 1843, S. 59. — 1845 wurde auf der General-Ver¬ 
sammlung der deutschen Vereine gegen das Branntweintrinken zu Berlin be¬ 
schlossen, bei den deutschen Staatsoberhäuptern wegen Ersetzung der 
Branntweinrationen im Heere durch gesunde, nahrhafte Lebensmittel oder Geld 
vorstellig zu werden. 


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werde, ohne daß ein Zeugnis des Eskadrons- und Kompagniechefs anliegt, daß der 
Bittsteller in dieser Beziehung vollkommen tadelfrei ist. 

gez. F. Pz. Holstein.“ 

Der bekannte Patriot Vollmacht Mohr, „ein Dithmarscher 
ohne Falsch“, macht darauf aufmerksam, daß die Körpergröße infolge 
des Trinkens abnehme. 1 ) „Geht nach Heide; seht da, wenn die 
Session ist, unsere jetzige Jugend; was sind sie? Zwerge gegen 
unsere früheren Vorfahren. Daher sollte man mit Recht den Brannt¬ 
wein verpönen und ihn von Regierungs wegen verbieten.“ Vol- 
quarts merkt an, daß in Preußen das Maß für Soldaten fast um 
2 Zoll habe herabgesetzt werden müssen; hohe Offiziere schreiben 
dieses dem frühen Branntweingenusse zu. 

Kriegsunruhen pflegen stets Trinkausschreitungen günstig zu 
sein. Als die dithmarscher jungen Mannschaften zum Freiheits¬ 
kampfe nach Rendsburg abzogen, meinte mancher, sich aus der 
Flasche Mut holen zu müssen, — doch fand es allgemeine Mi߬ 
billigung. Ein Vereinsmitglied berichtete, daß bei der schleswig¬ 
holsteinischen Artillerie viel Branntwein getrunken werde; auf der 
Bürgerwache zu Rendsburg florierte der Schnaps, und unter den 
Freiwilligen waren manche keine Kostverächter. 

Die Dänen, welche in Bustorf bei Schleswig lagen, tranken auch 
viel Branntwein. Am Osterabend wurden ganze Anker dort ver¬ 
teilt. Ihre Offiziere tranken ebenfalls stark. Daher konnten sie 
am Ostertage leicht überrumpelt werden. Die ersten Vorposten 
am Kropper Chausseehause sollen (infolge des Schnapsgenusses) 
geschlafen haben, und die Verschanzungen waren fast gar nicht 
besetzt. 2 ) 

1848 beklagen es die Mäßigkeitsfreunde, daß Norderdithmarschen, 
Süderdithmarschen und Eiderstedt je 20 Oxhofte Branntwein für 
die Armee liefern müssen (je 20 Oxhoft = 50 To. Korn oder 
15000 Pfund Brot oder 200 To. Kartoffeln!) 8 ) 

Als in dem gleichen Jahre 9.—14. Mai Major von Zastrow 
einen Zug nach Aarhuus macht, um für 7500 Mann Lebensmittel 
für 14 Tage zu requirieren, läßt er sich u. a. 17225 Quartier 
Branntwein liefern. 4 ) Im Amt Veile wurden für ca. 20000 Mann 


*) Ditm. Volksfreund 1848, Nr. 5, S. 66. 
*) Bl. d. Hbg. V. g. d. Br. 1848, S. 57. 
8 ) Ditm. Volksfreund 1848, Nr. 6, S. 81. 
4 ) Ditm. Volksfreund 1848, S. 66. 


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täglich 5100 Flaschen Branntwein und 350 Flaschen Wein ge¬ 
fordert. *) 

Mit Stolz wird gelegentlich berichtet, daß junge Mäßigkeits- 
vereinler auch als Krieger ihrem Enthaltsamkeitsgelübde treu 
bleiben. *) 

Eine große Freude ist es, als bei der Lundener Jahresfeier 
1849 der Vorsitzende mitteilen kann: Das Kriegsdepartement hat 
befohlen, daß die Soldaten, wenn sie Naturallieferungen erhalten, 
wählen können, ob sie Vs Quart. Branntwein oder 1% Lot ge¬ 
brannten Kaffee haben wollen, — eine Frucht des Gesuches 
des dithmarsischen Zentralvereins gegen das Branntweintrinken. 

Von allgemeinem Interesse dürfte es sein, daß von Schleswig- 
Holstein, dem Hauptstützpunkte der neuen Reichsflotte, ein Versuch 
aasging, die erste deutsche Flotte branntweinfrei zu gestalten. Das 
denkwürdige Gesuch lautet: 

An die hohe deutsche Nationalversammlung in Frankfurt. 3 ) 

Berufen vom Volke, Deutschland nicht bloß dem Namen nach, 
sondern auch der Tat nach in die Reihen der selbständigen und 
kräftigen Großstaaten eintreten zu lassen, haben Sie durch den Aus¬ 
spruch eines einigen Deutschlands eine großartige Zukunft vor¬ 
bereitet. Geht Deutschland auf diesem Wege fort, so wird es seine 
Weltmission, die es seiner Stellung und Lage nach in Europa hat, 
auch erreichen und erfüllen. 

Um Deutschland seine hohe und erhabene Stellung mit Kraft 
und Macht einnehmen zu lassen und ihm die Möglichkeit zu geben, 
seinen Willen nach allen Seiten hin auszuführen, haben Sie, hoch¬ 
geehrte Vertreter Deutschlands, den Willen ausgesprochen und den 
Befehl gegeben, Deutschland nach allen Seiten hin wehrhaft zu 
machen. Es soll nicht bloß in seinem Innern stark und kräftig 
sein, um allen Angriffen zu widerstehen, sondern es soll auch an 
seinen Grenzen stark, so stark sein und werden, daß keine Nation 
in Zukunft Deutschlands Adern und Lebensnerv begrenzen und be¬ 
schränken kann. 

Sie haben den Befehl gegeben, eine deutsche Flotte zu bauen, 
und schon einen herrlichen Anfang gemacht. 

Schleswig-Holstein hat die Notwendigkeit einer Flotte tatsäch¬ 
lich bewiesen; denn der Mangel einer Flotte beschränkt uns noch 

») Bl. d. Hbg. V. g. d. Br. 1848, S. 58. 

2 ) Bl. d. Hbg. Y. g. d. Br. 1848, S. 57 nach dem „Volksfreund“. 

3 ) Dithmarsischer Volksfreund, 5. Jahrg. 1849, Nr. 4, S. 58 f. 


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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein. 367 

immer in unsem Rechten und droht, unsere angestammten Rechte 
uns zu nehmen und unsem Bruderstaat Schleswig wieder unter 
fremde Botmäßigkeit zu bringen. Darum ist allenthalben und be¬ 
sonders in unsem Landen dieser Befehl mit Enthusiasmus aufge¬ 
nommen, und hoffentlich ist die Zeit nicht ferne, in der das schwarz- 
rot-goldene Banner siegreich und ungebeugt die Meere durch¬ 
schneidet, den Stolz und Übermut der Inselbewohner hemmt und 
bricht, und bewirkt, daß man sich allenthalben vor Deutschlands 
Macht beugt. 

Die deutsche heranwachsendeFlotte steht da wie eine keusche 
und unschuldige Jungfrau, noch durch nichts, weder Blick 
noch Tat entweiht Möge nie ein giftiger Hauch ihre weißen 
Segel verunreinigen! Möge sie immer rein, unschuldig und keusch 
bleiben, nie durch Alkoholgift verunreinigt werden. 

Hohe Nationalversammlung wollte mit Recht den Jesuitenorden 
aus Deutschland verbannen; denn, wo er ist, bringt er Unsegen und 
Unheil und ruft allenthalben Zwietracht hervor. 

Es ist noch ein Jesuitenorden in Deutschland, der zunächst 
aus demselben Lande zu uns gekommen ist, aus welchem Loyolas 
entsprossen ist; aber er ist älter als dieser Orden und im Unheil¬ 
stiften und Unheilbringen übertrifft er diesen bei weitem; ja! gegen 
diesen Jesuitenorden ist Loyolas Orden eine Lichtgestalt Dieser 
ruft viel Zwietracht hervor und Finsternis, allein jener bewirkt 
nicht bloß leibliches, sondern auch geistiges Elend, ja sogar den 
geistigen Tod hier und dort 

Dieser Jesuit ist der arabische Proteus, welcher, wie oft auch 
entlarvt, immer in neuer Form sich wieder zeigt und so wiederum 
täuscht; er ist die lemeische Schlange, bei der es nichts nützt, 
einen Kopf abzuhauen; denn aus dem Blute erwachsen gleich 
zwei wieder, wenn die Stelle nicht gleich mit Feuer verbrannt wird. 

Dieser Jesuit ist: 

„der Branntwein nebst seinen Brüdern: Grog, 
Punsch, Likör und wie sie alle heißen mögen.“ 

Die Geschichte der früheren Jahrhunderte beweiset zur Genüge, 
wie entbehrlich der Branntwein ist und ohne ihn Krieg geführt 
werden könne, selbst mit und unter größeren Schwierigkeiten wie 
jetzt Wir erinnern an Cyrus, Alexander, Hannibal, die 
Griechen, die Römer, die Kreuzzüge. Kurz die frühere Geschichte 
lieferte Heldentaten, gegen welche die Jetztzeit zu Schanden fast 


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wird. Die Welt hat Jahrtausende bestanden ohne Branntwein und 
ohne ihn Werke vollbracht, welche den Stürmen von Jahrtausenden 
(wir erinnern an die Pyramiden Ägyptens, die prächtigen Dome) 
widerstanden haben, während mancher Bau, mit Branntwein voll¬ 
endet, keine Jahrzehnte Bestand hat. Solange es keinen Brannt¬ 
wein gab, war Deutschland groß, geehrt, stark, einig; allein seit 
der Branntwein in ihm eine Statt gefunden hat, seitdem er allent¬ 
halben Burgen und Festungen sich erbaut hat, seitdem in un¬ 
zähligen prachtvollen Tempeln dem Götzen und Könige Alkohol in 
jeglicher Gestalt von Männern und Frauen, Jünglingen und Jung¬ 
frauen und selbst von Kindern gehuldigt und geopfert wird: ist 
Deutschlands Name untergegangen, ist es schwach und jämmerlich 
geworden. 

Ja, wo sind die kräftigen, großen, stolzen Deutschen, vor denen 
die kriegerischen Römer einst sich beugten und zitterten? Der 
Branntwein hat die harten, festen Eichen Deutschlands in weiche, 
schmiegsame Weiden verwandelt, so daß das Soldatenmaß um 
2 Zoll fast herabgesetzt hat werden müssen, um die durch den 
Branntwein entstandenen Lücken nur mit Männleinen wieder aus¬ 
zufüllen. 

Verbannen Sie, Hohe Nationalversammlung, dieses Leibes- und 
Geistesgift. Der Branntwein ist der ärgste Jesuit Was man 
diesem Orden nachsagt, ist nur Kinderspiel gegen das, was der 
Alkohol-Orden vollbringt. Er ist ein Lügner; was er bewirkt, 
sind nur Lügnerprodukte. Wie lange soll Deutschland durch den 
falschen Lügengeist trunken gehalten werden? 

Hindern Sie wenigstens, daß die junge, deutsche, j ungfräuliche 
Flotte nicht durch den Branntwein geschändet und ge¬ 
brandmarkt wird. Befehlen Sie, wie in Holland die reformierte 
Gemeinde in Handwoort es bei dem Bau ihres Gotteshauses machte, 
die sich ausbedang, daß bei dem Bau kein Branntwein getrunken 
werde, „daß bei der Flotte kein Branntwein getrunken“ 
und „daß jeder Arbeiter, der seine Kraft aus der Flasche 
holt, entlassen werde“. — Hermanns Denkmal im Teutoburger 
Walde ist ohne Branntwein vollendet worden. 

Der Seesoldat und Matrose bedarf noch mehr Geistesfähig¬ 
keit wie der Landsoldat. Ein geringes Versehen eines einzelnen 
bringt oft vielen Hunderten das Verderben. Auf der See bedarf 
man ebensowenig den Branntwein wie zu Lande. Alle Schein¬ 
gründe und alle Schminkgründe, welche man auf dem Lande für 


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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein. 


369 


den Branntwein anzuführen pflegt, fallen zur See ganz in ihr Nichts 
zusammen. 

Bremen, Amsterdam, Hamburg senden Schiffe ohne Branntwein 
aus. Amerikas Schiffe befahren alle Meere ohne Branntwein. 
Kapitän Roß fuhr nach dem Nordpol ohne Branntwein. In Eng¬ 
land sind die wassertrinkenden Matrosen stärker als die grogtrinken¬ 
den. Sollten allein die Deutschen diesen Höllentrank nicht ent¬ 
behren können, oder wollen wir ihn nur nicht entbehren? Fort 
mit ihm aus dem Leben. Er nützt nichts; er verdirbt alles, nicht 
bloß die Gegenwart, sondern auch die Zukunft. 

Darum, Hohe Nationalversammlung, noch ist die deutsche 
Flotte eine reine Jungfrau, bewahren Sie ihre Unschuld 
und Keuschheit. Die deutsche Flotte ist ein neues Institut; 
Sie haben durchaus freie Hand, jegliche Einrichtung zu treffen, 
welche Sie wollen. Sie sind durch nichts gebunden; darum ver¬ 
hindern Sie, daß der Branntwein unsere deutsche jungfräuliche 
Flotte beflecke und schände. 

Unterzeichnete bitten daher gehorsamst: 

„Eine Hohe Nationalversammlung wolle anbefehlen, 
„daß die Arbeiter an der deutschen Flotte keinen Brannt- 
„wein genießen, und durch ein Reichsgesetz den Brannt- 
„wein von der deutschen Flotte ferne halten und ver¬ 
bieten, daß den Matrosen und Seesoldaten von Reichs 
„wegen Branntweinportionen gegeben werden.“ 

Gehorsamst: 

Yolquarts, p. t Direktor des S.-H. Zentralvereins, Deputierter 
des Lun den er Yereins. 

D. Horstmann, Landesbevollmächtigter undKaufmann, H. Feh- 
man, J. H. Hedschen, Deputierte des Heider Vereins. 

Jürgen Sibbert, Deputierter des Tellingstedter Vereins. 

J. Steinberg, Deputierter des Meldorfer Yereins. 

14. Schiffahrt und Branntwein. 

Der Petersensche gemeinnützige Almanach lenkt 1840 die 
öffentliche Aufmerksamkeit auf den Segen einer branntweinfreien 
Schiffahrt. Er legt dar: 

„Aus England und Amerika gehen jährlich mehr als 1200 Schiffe in See 
ohne einen Tropfen Branntwein, ausgenommen in der Schiffsapotheke. Und 
von diesen Schiffen gehen viele in die rauhesten Gegenden der Erde — im Norden 
nach Grönland, Labrador, Spitzbergen — im Süden nach dem Feuerlande, der 
Der Alkoholiamus. 1905. 25 


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Magellanstraße und den Falklands-Inseln auf den Walfischfang. Zuweilen stürmt 
und wogt es im wilden Meere, daß wochenlang kein Feuer im Schiff angeinacht 
werden darf, kein warmer Trank gekocht, keine warme Speise zubereitet, kein 
trockenes Hemd angezogen werden kann. Und die armen Matrosen bekommen 
keinen Branntwein? Nein, weil keiner im Schiffe ist. Allein die armen Matrosen 
kommen besser zurecht im Kampfe mit den aufbrechenden Elementen, und die 
armen Matrosen kommen gesunder zu Hause nach bekämpfter Gefahr und 
überstandener Not; und von den Schiffen, welche den armen Matrosen die kleine 
Labung des Branntweins versagten, kommt verhältnismäßig eine so viel größere 
Anzahl wohlbehalten nach Hause, daß die Assekuranz-Kompagnie ihnen die 
Versicherung viel wohlfeiler zu teil werden läßt. u 

Bei Hamburg weht zuerst die Mäßigkeitsflagge auf 
deutschen Schiffen (Schiffe, welche keinen Schnaps gestatten, führen 
eine Plagge mit der Inschrift: „Ohne Branntwein“). Die angel¬ 
sächsischen Erfahrungen finden bei uns Bestätigung. 1843 läßt 
Lorenz Karberg aus Apenrade für seinen Schoner Marie, Ka¬ 
pitän Holstein, von Hamburg nach Valparaiso, und für seine Fre¬ 
gatte Neptun, Kapitän Hissing, von Apenrade nach Lissabon und 
Rio de Janeiro segelnd, nur solche Leute annehmen, welche die 
Verpflichtung eingehen, keinen Branntwein zu verlangen und zu 
trinken! 1 ) — 1847 wird aus Apenrade berichtet: Die meisten 
Schiffe gehen jetzt ohne Branntwein in See, und die Führer sind 
sehr zufrieden, weil alle Schiffer williger in ihrer Arbeit und ge¬ 
sund sind. 2 * ) Und ähnlich aus Keitum (Sylt): Kapitän Jens 
Bleicken, der Stifter des Vereins, und viele mit ihm gestehen, 
daß die Seefahrten besser und glücklicher von statten gehen ohne 
Branntwein als mit demselben. 8 ) Gegen die Bedenken, bei einer 
Südpolexpedition Branntwein auszuschließen, äußert sich 
Bleicken brieflich (nach Hamburg): 

Keitum, 30. Oktober 1844. 

„Es ist mir auffallend, bei dieser Gelegenheit zu erfahren, daß die Herren 
Teilnehmer der dortigen Südsee-Expedition der Meinung sind, es könne ein 
Hindernis für sie abgeben, ihre Schiffe mit tüchtigen Seeleuten besetzt zu er¬ 
halten, wenn sie die Bedingung geltend machen wollten, den Besatzungen der¬ 
selben durchaus keinen Branntwein reichen zu wollen. Wenn nun gleich die 
Gewohnheit des Branntweintrinkens unter den Seeleuten sehr allgemein vor 
diesem gewesen ist, so weiß ich doch aus Erfahrung, wenn man früher, lange, 
bevor an Vereine gegen das Branntweintrinken gedacht wurde, den Leuten den 
Vorschlag gemacht hätte, ob sie den Branntwein gegen Kaffee vertauschen 

1 ) Voges, Geschichtliche Entwicklung des Hbg. V. g. d. Br. Ham¬ 
burg 1856, S. 16. 

2 ) Volquarts, a. a. 0., S. 31. 

8 ) Volquarts, a. a. 0., S. 30. 


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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein. 371 

wollten, so bin ich gewiß, daß bei weitem die Mehrzahl dem Kaffee den Vorzug 
würde gegeben haben, und besonders würden alle jüngeren Seeleute dafür ge¬ 
stimmt haben. Auf meinen letzten Reisen nach Westindien, und es sind jetzt 
schon 26 Jahre, seit ich die letzte dahin machte, gab ich meinen Leuten statt 
Branntwein des Morgens Gerstenwasser mit Zucker und etwas Säure vermischt, 
womit die Leute weit besser zufrieden waren als mit Rum und Branntwein, und 
sie befanden sich dabei auch besser und hielten sich gesunder. Es war eine 
üble und für junge Leute höchst verderbliche Sitte, die man früher hatte, den 
jungen Leuten morgens, und oft nüchtern, Branntwein zu geben; denn, was der 
Mensch nüchtern genießt, wird gar leicht zur Gewohnheit und zum Bedürfnis 
für ihn, und ganz methodisch machte man sie daher auf diese Weise zu Säufern. 

— Es ist gewiß die Absicht und der Wille der Herren Teilnehmer dieser Unter¬ 
nehmung, daß die Leute auf den Schiffen eine gute Beköstigung erhalten sollen. 
Daran wird nun keiner zweifeln; und ob dann Branntwein gereicht wird oder 
nicht, das wird kein Hindernis für die Komplettierung der Besatzungen in unserer 
Zeit mehr abgeben können. Von einer anderen Seite aber betrachtet, so würde 
ich nicht allein darauf halten, daß auf solchen Reisen den Leuten kein Brannt¬ 
wein gereicht werde, sondern es müßte den Leuten auch strenge verboten 
werden, selbst Branntwein mitführen zu dürfen; denn an aller Unzufriedenheit, 
allem Spektakel und aller Insubordination auf den Schiffen, und besonders auf 
solchen langen Reisen, ist fast allein die Schuld dem Branntwein zuzuschreiben. 

— Wüßten die Herren Reeder und alle, die bei der Seefahrt beteiligt sind, wie 
sehr es in ihrem Interesse liegt, die Gewohnheit des Branntweintrinkens von 
den Schiffen zu verbannen, sie würden gewiß alle ihnen zu Gebote stehenden 
Mittel zur Erreichung dieses Zweckes in Anwendung bringen.“ 1 ) 

Unter den Seeleuten fassen die Mäßigkeitsvereine festen Fuß. 

Ein Elmshomer Schiffer widmete (1844) seinen Berufsgenossen einen 
dichterischen Aufruf: 

An euch, Schiffer, rieht’ ich diese Zeilen 
Nah’ und fern, auf Fluß und Meer und Land: 

Lasset uns nicht länger töricht weilen, 

Laßt uns meiden des Verderbens Strand, 

Wo so mancher Seemann ist gescheitert — 

In der besten Lebensblüte Zeit; 

Mancher, den die Flasche nur erheitert, 

Schlecht bereitet ging zur Ewigkeit. 


Manches Menschenleben wird erhalten, 

Mancher Schiffbruch wird vermeidlich sein, 

Alles wird sich besser dann gestalten, 

Wenn wir nicht mehr trinken Brannte wein. 

Ruhig steht alsdann in Sturm und Wetter 
Jeder Seemann seiner Pflicht bewußt, 

Blickt nach oben zu dem großen Retter; 

Mut, Besonnenheit erfüllt die Brust. 2 ) 

») Bl. d. Hbg. V. g. d. Br. 1844, S. 189. 

2 ) Ebenda 1844, S. 50. 

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372 Pastor Dr. Stubbe. Aus d. älteren Mäßigkeitsbeweguug in Schleswig-Holstein. 


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Ein Elmshorner Schiffer war es auch, der den Mäßigkeitsverein zu Crempe 
gründete. 

Von Kapitän Bl ei cken-Keitum ist uns eine Ansprache an Seeleute auf¬ 
bewahrt, 1 ) gehalten bei der Stiftung des Sylter Vereins gegen das Branntwein¬ 
trinken. Er sagt darin u. a.: „Es gibt keinen Stand, für welchen der Genuß des 
Branntweins so gefahrbringend und so verderblich werden kann, als für den 
Stand der Seeleute; und es ist leider zu bekannt, und ich halte es daher für 
überflüssig, darüber Beispiele anzuführen und herzuzählen, wie viele Schiffe 
und Menschenleben jährlich dadurch verloren gehen, weil auf Schiffen, wo Rum 
und Branntwein zu reichlich genossen werden, nicht die erforderliche Ordnung 
gehalten, kein richtiges Besteck geführt werden kann, die Leute oft sehr schlecht 
behandelt und mit unnützen Arbeiten gequält werden, und in Stunden der Ge¬ 
fahr es an ruhiger Überlegung und Geistesgegenwart mangelt, diesen mit Mut 
und der nötigen Besonnenheit begegnen zu können. Und die schon alte Be¬ 
hauptung, daß weit mehr Menschen durch Branntwein als durch Wasser, wenigstens 

mittelbar, ums Leben kommen, kann daher nicht widerlegt werden. 11 - 

„Ich bin daher überzeugt, daß meine Stimme nicht unbeachtet bleiben wird, 
wenn ich meine früheren Berufsgenossen, den ganzen Stand der Seeleute, der 
in so mancher Hinsicht ein ehrenvoller ist, der so viele hochherzige, brave und 
tüchtige Männer zählt, . . . zur Teilnahme an dem Kampfe gegen den Brannt¬ 
wein auffordere, und, wenn sie sich von der Gefährlichkeit dieses Feindes erst 
recht überzeugt haben, daß sie ihn alsdann mit ihrer gewöhnlichen Entschlossen¬ 
heit und Beharrlichkeit bald aus ihrer Mitte vertreiben und ihm ganz den 
Garaus machen werden.“ Sogar nach Helgoland richtet Blei cken (1845) ein 
Mahn- und Werbeschreiben. 

Die Mäßigkeitsvereine der Inseln (Sylt, Föhr, Hooge, Langenes, 
Rom) stützen sich naturgemäß auf die Schiffer- und Fischerbe¬ 
völkerung. In Blankenese (-Nienstedten) versucht man, eine Lehr¬ 
anstalt für Schiffer und das Schiffsversicherungswesen in das Yer- 
einshaus hineinzuziehen. Wie man von Dithmarschen aus auf die 
deutsche Flotte einzuwirken suchte, ist im vorigen Kapitel ge¬ 
schildert worden. 


') 1844, S. 35. 


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II. Referate. 

Deherme. Der Alkoholismus in den Kolonien. Annales antialcool. April 1905. 

Yor einiger Zeit berichteten die Zeitungen über unerhörte Grausamkeiten, 
welche in einer französischen Kolonie in Afrika vorgekommen waren. Jene 
Franzosen, die zum Schluß der, Tafel einen armen Neger mit Dynamit zer¬ 
sprengten, waren trunken. Die Leute, welche eine alte Frau rösten ließen und 
aus einem Menschenkopfe Bouillon bereiteten, standen unter Alkoholwirkung. 

Kolonisation ist notwendig für die Kulturvölker. Sie ist die nicht am 
wenigsten tragische und auch nicht am wenigsten edle Form des Kampfes ums 
Dasein für die einzelnen Rassen und die einzelnen Zivilisationen. Den Anteil 
einer europäischen Nation an der Fortentwicklung der Menschheit wird man nach 
ihrer kolonisatorischen Kraft bemessen. 

Verfasser berichtet aus seiner eigenen Erfahrung über die Verhältnisse in 
dem französischen Indo-China. Intelligent und moralisch wie irgend ein anderes 
Volk verstehen sich die Franzosen doch schlecht auf die Verwaltung von Kolonien. 
Ihre Intelligenz und Moralität paßt sich den Verhältnissen der Kolonie nicht an. 
Wo Volkserzieher im besten Sinne nötig wären, da stellen sich Kolonisten ein, 
welche ausschließlich von der Idee beseelt sind, möglichst schnell und mit mög¬ 
lichst geringer Mühe reich zu werden. Das Militär — von den Offizieren natür¬ 
lich abgesehen — gehört zum Ausschuß. 

Der Alkoholismus ist die tödliche Wunde, an der alle französischen 
Kolonien leiden. Die Schandtaten eines Girard, Gaud, Toque sind nicht als 
Ausfluß eines Tropenkollers anzusehen, sondern nur als Produkte des Alkoholismus. 
Der Alkoholismus spielt den General der Kolonialarmee. Der Soldat kennt kein 
anderes Vergnügen, als die fürchterlichen und dabei wohlfeilen chinesischen 
Schnäpse zu trinken. Dadurch werden die Soldaten entnervt und füllen schon in 
Friedenszeiten die Hospitäler. Man sollte in den Kolonien Seemanns- und Soldaten¬ 
heime gründen, vor allem aber nur tüchtige Elemente zur Kolonialarmee ausheben. 

Aber nicht nur unter dem Militär übt der Alkoholismus in Indo-China 
seinen verderblichen Einfluß. Die Zivilbevölkerung in Saigon, Hanoi, Haiphong 
huldigt den sogenannten „eröffnenden 11 Likören, namentlich dem Absinth. Über 
den Frühstückslikör will der Verfasser nichts sagen. Um 5 Uhr ist Gesohäfts- 
schluß, diniert wird um 8. Die Zwischenzeit auszufüllen reicht ein „aperitif“ 
nicht aus. Also nimmt man Nr. 2 ein wenig schwächer wie den ersten, sagen 
wir einen fünfgrädigen, dann einen viergrädigen u. s. f. Wenn man unten bei 
1 angelangt ist, fängt man eventuell wieder von vorn an. Nach dem Essen 
kommen die cock-tails an die Reihe und bei jeder besonderen Gelegenheit der 
Champagner. Verläßt man das Speisehaus, so ist man angezecht, der Tropen¬ 
koller regt sich, und um sich zu beruhigen, verprügelt man seinen Kuli, seinen 
Boy, vergreift sich an einem Mädchen. Am nächsten Tage beginnt das Spiel 
von neuem. 

Dagegen spielen in den englischen Kolonien: Colombo, Singapore, Hong¬ 
kong, die der Verfasser besucht hat, die Bars nicht die Rolle wie in den fran¬ 
zösischen Besitzungen. An die Stelle der Kneipe ist hier der Sport getreten? 


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374 


Referate. 


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zum größten Vorteil für die Kolonisten. Man kann gar nicht oft genug betonen, 
daß die Ursache des Alkoholismus in den Kolonien die Langeweile ist. Daher 
muß man für körperliche und geistige Arbeit sorgen und die Zahl der unnötigen 
(aber einträglichen) Kolonialämter vermindern. „Die Kolonien haben genau den¬ 
selben Wert wie die, welche sie verwalten.“ P. S. 


Nin T Sy Iva, Celedonio. Der Alkoholismus In Uruguay. Annales antialcool. 

Mai 1905. 

Das Hauptlaster der Einwohner von Uruguay ist das Spiel und nicht der 
Trunk. Doch ist der Alkoholismus auch in Uruguay in der Zunahme begriffen. 
Vielfach wird den alkoholischen Getränken noch der Paraguay-Thee, Mate ge¬ 
nannt, vorgezogen. Die Bauern von Uruguay trinken bei ihren Festen mit Vor¬ 
liebe „canna“, einen aus der Zuckerrohrmelasse gewonnenen Branntwein. Uru¬ 
guay bezieht jährlich aus Kuba 1 Million Liter „canna“. Das Hauptgetränk ist 
der Wein. Die Weineinfuhr aus Spanien, Frankreich und Italien beträgt jährlich 
16 Millionen Liter. Die Weinlese in Uruguay selbst ergab im Jahre 1898 
3V 2 Millionen Liter, 1902 bereits 8 l / 2 Millionen Liter Wein. Der hauptsächlich 
zum Weinbau verwendete Boden hat einen Gesamtumfang von 4150 Hektar. Der 
Hektar gibt einen mittleren Ertrag von 2000 Liter. 

Daneben wird eine große Menge Kunstwein produziert. Ein Gesetz vom 
Juli 1903 belegte den Kunstwein mit einer Steuer. Dasselbe Gesetz verbot bei 
Strafe gesundheitsschädliche Verfälschungen des Naturweins, so den Zusatz von 
Alaun, Borsäure, Benzoesäure, Saccharin, Glycerin und Glycosen, Barium- und 
Strontiumsalzen. 

Das Bier kommt teilweise aus Deutschland und England. Im Lande selbst 
werden mehr als anderthalb Millionen Liter Bier produziert. Gegenwärtig be¬ 
stehen in Uruguay 20 Fabriken von Likör und Kunstwein. Im Mittel werden 
hier jährlich 2% Millionen Liter reiner Alkohol produziert. Die industrielle 
Verwertung des Alkohols ist in Uruguay noch unbekannt. 

Eine Verkaufsstelle alkoholischer Getränke (922 Restaurants und Hotels 
nicht mit inbegriffen) kommt in Uruguay auf 104 Einwohner. Auf insgesamt 
960000 Einwohner kommen nämlich 9205 Verkaufsgeschäfte (exklusive 922 
Restaurants und Hotels). 12% Geisteskrankheiten in dem staatlichen Irrenhaus 
werden auf Alkoholismus zurückgeführt (1888 waren es sogar 21%). 

Eine hohe Lizenzsteuer auf die Abgabestellen wurde als geeignetes Mittel 
zur Verminderung der Verkaufsstellen erachtet. Das einzige Resultat war bisher 
eine Vermehrung der Winkelschänken. 

Die Tätigkeit der bürgerlichen Gesellschaft muß mit aller Kraft eintreten, 
um dem Übel des Alkoholismus zu steuern. Sonst könnte es Uruguay, diesem 
begnadeten Winkel der Erde, ergehen wie Chile. In Chile ist die Trunksucht 
mehr als ein Laster, sie ist eine öffentliche Einrichtung. P. S. 


von Mäday, Isidor. Die Alkoholfrage in Ungarn. Budapest 1905. 77. S. 1 Krone. 

Die Schrift ist ein knapper Auszug aus dem in ungarischer Sprache ver¬ 
öffentlichten Werke des Verfassers: Beiträge zur Kenntnis der Frage des 
Alkoholismus. 

Der Weinkonsum in Ungarn beträgt durchschnittlich jährlich 2324983 hl, 
berechnet aus den Verbrauchszahlen für die 10 Jahre 1894—1903. Pro Kopf 


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Referate. 


375 


der Bevölkerung, nach dem Stande der Volkszählung von 1900, ergibt das einen 
durchschnittlichen Jahresverbrauch von 12,1 Liter Wein. Ferner kommen auf 
den Kopf der Bevölkerung jährlich 14,1 Liter 85% Branntwein und 8,4 Liter 
Bier. Danach ist der Verbrauch von Wein und Bier geringer als in den meisten 
anderen Ländern, der Verbrauch von Branntwein größer. Abgesehen von Däne¬ 
mark hat nur Frankreich einen so hohen Branntweinverbrauch aufzuweisen. 

Im Jahre 1895 gab es in Ungarn bereits 443825 Weinproduzenten, welche 
Weinländereien im Umfange von durchschnittlich einem preußischen Morgen be¬ 
bauten. Mäday rechnet, daß von der ungefähr 17 Millionen zählenden Bevölke¬ 
rung der ungarischen Landesteile mindestens 770400 Familien an der Produktion 
und dem Vertriebe geistiger Getränke interessiert sind. Den Wert des jährlich 
in Ungarn konsumierten Branntweins schätzt er auf 481471000 Kronen, auf jeden 
arbeitsfähigen Menschen durchschnittlich 70—80 Kronen. 

In 35 Komitaten Ungarns ist die Trunksucht auch unter dem weiblichen 
Geschlechte eine alltägliche Erscheinung, und in 20 von den 85 Komitaten ist 
der regelmäßige Genuß von Branntwein schon von der zartesten Kindheit an 
üblich. Mit dem Steigen der Löhne pflegt der Branntweinkonsum der ungarischen 
Arbeiter häufig zuzunehmen. In 10 Komitaten betragen die Ausgaben für Brannt¬ 
wein 25—50% des Jahreseinkommens. Nach einer eingehenden Übersicht über 
die in Ungarn bisher getroffenen gesetzlichen Maßnahmen gegen den Alkoholismus 
wendet sich der Verfasser zur Besprechung der für die Zukunft notwendigen 
Kampfmittel. Als das wichtigste erscheint ihm die Verringerung des Branntwein¬ 
konsums. Er will zu diesem Zweck den Branntwein verteuern, den Branntwein¬ 
ausschank den Wirtshäusern ausschließlich Vorbehalten und diese an den Sonn¬ 
tagen schließen. Wein und Bier dagegen soll verbilligt werden. Nach den in 
andern Ländern gewonnenen Erfahrungen ist Mädays Schluß, daß durch Ver¬ 
billigung der alkoholärmeren alkoholischen Getränke der Branntweingenuß wesent¬ 
lich vermindert werden kann, bekanntlich irrig. Des weiteren hält Mäday Ein¬ 
schränkung der täglichen Verkaufszeit in Wirtshäusern, Verbot des Abhaltens 
von Versammlungen in Wirtshäusern, Verbot der weiblichen Bedienung, des 
Besuchs von Wirtshäusern durch Frauen, Einschränkung des Getränkeverkaufs 
bei Jahrmärkten, Wahlen, Kontrollversammlungen und das Verbot des Verkaufs 
von Magenbittern (!) in den Apotheken für geboten. Die Hauptaufgabe der Ge¬ 
sellschaft sieht der Verfasser in einer Wirtshausreform auf der Basis des Goten¬ 
burger Systems. Daneben könnten alkoholfreie Wirtschaften eingerichtet werden. 
Hebung der Industrie, Haushaltungskurse, Erhöhung des sozialen Niveaus werden 
von Mäday als weitere Mittel zur Bekämpfung des Alkoholismus in Ungarn ge¬ 
nannt. P. S. 


Dnniouchel. Alkoholverbrauch in Frankreich 1904. Annal. antialcool. Juni 1905. 

Im Jahre 1904 kommt auf einen Bewohner Frankreichs ein mittlerer Ver¬ 
brauch von 4,17 Liter 100% Alkohol (1903: 3,80 Liter), die Zunahme hat in 
allen Departements stattgefunden; nur in Paris findet seit 1900 eine ständige 
Abnahme statt. (1904: 3,84 Liter, 1903: 4,35 Liter). 4 Departements verbrauchten 
1903 noch weniger als ein Liter Alkohol pro Kopf, 1904 bleibt nur mehr ein 
Departement mit 0,98 Liter unter einem Liter. Immer schlägt die Normandie 
den Rekord der Alkoholisation: 4 von ihren 5 Departements haben den Höchst¬ 
verbrauch in Frankreich. In dem Departement Calvados der Normandie kommen 


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376 


Referate. 


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19,38 Liter Alkohol jährlich auf den Kopf der Bevölkerung. In ganz Frankreich 
indessen hat seit 1898 der mittlere Verbrauch an Alkohol abgenommen. Er be¬ 
trag nämlich: 


1898 

5,08 

Liter 

1899 

4,81 

n 

1900 (Ausstellungsjahr) 4,88 

»i 

1904 

4,17 

ii 


Warming. Jahrbuch für Alkoholgegner. 1906. Preis 1 Mk. 

Das Büchelchen enthält in handlichem Format eine reiche Menge für Alkohol¬ 
gegner interessanter Notizen. Namentlich ist den Kongressen gegen den Alkoho¬ 
lismus, den Abstinententagen, der Alkohol-Literatur, den alkoholgegnerischen 
Vereinsorganisationen eine, soweit ich sehe, wohl erschöpfende Behandlung zu 
teil geworden. Die „sprechenden Zahlen 41 geben wichtige statistische Daten über 
Alkoholkonsum u. dergl. 

Das Jahrbuch ist in der Tat berufen, eine Lücke in der alkoholgegnerischen 
Literatur auszufüllen. P. S. 


Haft. Deutsches Taschenbuch für Abstinenten. 1906. Jena. 1,20 Mk. 

Außer den gewöhnlichen Kalendernotizen bringt das vorliegende Taschen¬ 
buch eine Übersicht über die deutschen Antialkoholvereinigungen, Trinkerheil¬ 
stätten, Sanatorien, sowie eine manchem sicher sehr willkommene Übersicht über 
abstinente Wirtshäuser und ein Verzeichnis von freiwilligen Pflegern für Trinker. 
Das Verzeichnis der Antialkohol-Presse weist bereits 33 Nummern auf. Wichtige* 
Daten über Art und Wesen, Produktion und Konsumtion der alkoholischen Ge¬ 
tränke, Bekämpfung des Alkoholismus erhöhen noch den Wert des empfehlens¬ 
werten Taschenbuches. P. S. 


Laureti. Zucchero e alcool. Mailand 1905. 426 Seiten. 4,50 Lire. 

Verfasser, Professor an der landwirtschaftlichen Schule in Alanno, stellt 
Zucker und Alkohol einander gegenüber. Italien hat prozentisch sehr geringen 
Zuckerverbrauch und sehr teueren Zucker. Spiritusbrennereien fehlen ihm ganz. 
Dabei ist der Zucker eine Kraftquelle für die menschlichen Muskeln, und der 
Alkohol erfüllt dieselbe Bestimmung für die ehernen Glieder der Spiritusmotoren. 
Der Alkohol als Getränk ist immer unnütz, sehr oft schädlich. Der Wein schadet 
von den alkoholischen Getränken verhältnismäßig am wenigsten. Der weiße Wein 
schädigt die Nerven mehr als der rote. Das Bier macht durch seinen Hopfen¬ 
gehalt mehr träge und gleichgültig. Die Fettansammlung bei den Biertrinkern 
ist zum Teil durch diese psychische und geistige Trägheit bedingt, zum anderen 
Teil durch den Gehalt des Bieres an Extractivstoffen. Der Branntwein bringt 
entsprechend seinem hohen Alkoholgehalt die verderblichsten Wirkungen hervor. 

Italien verdient nicht mehr den Ruf eines „nüchternen 44 Landes. In den 
letzten 25 Jahren hat der Alkoholismus stark zugenommen. In Venedig kam 
1900 bereits ein Ausschank alkoholischer Getränke auf 124 Einwohner, in Udine 
auf 63 Einwohner, in 15 Gemeinden von Brescia sogar schon auf 50 Einwohner. 
Dagegen ist die Verwendung des Alkohols zu industriellen Zwecken (Spiritus- 
Motore, Spiritus-Glühlicht, Spiritus-Heizapparate, chemische Spiritus-Präparate) 
für Italien noch terra incognita. Soll man daraus schließen, daß im Vergleich 


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Referate. 


377 


zu anderen Nationen Italien, so schön von der Natur begnadet, sozialökonomisch 
sich in dauerndem Niedergange befindet? Mit dieser ernsten Frage verabschiedet 
sich der Verfasser von seinen Lesern. 

Die Gründlichkeit, mit der die historische, statistische, chemische, physio¬ 
logische Seite des Themas behandelt ist, muß durchaus anerkannt weiden. 

P. S. 


Fraenkel, C. Gesundheit und Alkohol. Heft 4 der Veröffentlichungen des deut¬ 
schen Vereins für Volkshygiene. München und Berlin 1904. 0,30 Mk. 

Professor Fraenkel begründet die folgenden Leitsätze: 

Der Alkohol ist in jeder Form, als Branntwein, Wein oder Bier und schon 
in verhältnismäßig sehr kleinen Mengen ein Gift für den menschlichen Körper. 
Eine stärkende, kräftigende, ernährende Wirkung vermag der Alkohol entweder 
überhaupt nicht oder doch nur in ganz beschränktem, praktisch bedeutungslosem 
Maße auszuüben. 

Alle diejenigen Menschen, bei denen eine besondere Empfindlichkeit gegen 
den Einfluß des Alkohols beobachtet wird, so namentlich Kinder bis zum 14. 
Lebensjahre, nervöse Personen und ehemalige aber geheilte Trinker sollen daher 
auf den Genuß geistiger Getränke irgend welcher Art überhaupt und unter allen 
Umständen verzichten. 

Erwachsene und gesunde Menschen dagegen vertragen kleine Mengen, 
30—40 ccm, d. h. so viel wie in etwa 1 Liter Bier oder 1 Wasserglas Wein oder 
1 Weinglas Branntwein enthalten ist, im Laufe eines Tages ohne erkennbaren 
Nachteil. Auch sie sollen aber den regelmäßigen Genuß selbst so geringer Mengen 
vermeiden. 

Nur derjenige ist in Wahrheit mäßig und befugt sich so zu nennen, der 
nicht jeden Tag geistige Getränke zu sich nimmt, „seinen“ Wein oder „sein“ 
Bier trinkt, sondern wer dies nur gelegentlich tut und auch dann innerhalb der 
eben angegebenen Grenzen bleibt. 

Aus dem häuslichen Leben Prof. Fraenkels ist, wie er berichtet, der 
Alkohol in jeder Form verbannt. In der Geselligkeit dagegen, in Wirtschaften, 
auf Reisen huldigt er dem „mäßigen“ Genuß der Alkoholika. Prof. Fraenkel 
hat bisher keine Veranlassung gehabt, diese „Politik der mittleren Linie“ zu 
bereuen. P. S. 


Petersen, Der Alkohol. Kiel (Robert Cordes). 0,40 Mk. 

Seine Aufgabe, eine kurzgefaßte übersichtliche Darstellung der Alkoholfrage 
mit besonderer Berücksichtigung der Bedürfnisse der Schule zu geben, hat der 
Verfasser gut gelöst. Er hat in knapper Form alle wichtigen Daten über die 
schädigenden Wirkungen des Alkohols zusammengestellt. Da das Büchelchen be¬ 
sonders dem Unterrichte dienen soll, vermisse ich die Angaben über die Gefahren, 
welche die Alkoholdarreichung an Kinder mit sich bringt. P. S. 


Quensel« Der Alkohol und seine Gefahren ist im Mäßigkeits-Verlage bereits in 28. 
umgeänderter Auflage erschienen. Preis 0,20 Mk. 

Der Wert dieser gemeinverständlichen kurzen Darstellung ist zu bekannt 
und durch die hohe Auflagenzahl zu schlagend bewiesen, als daß es mehr wie 
dieses kurzen Hinweises bedürfte. P. S. 


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Referate. 


Prinzing. Trunksucht und Selbstmord und deren gegenseitige Beziehungen. Leipzig 
(Hinrichs) 1895. 94 S. nebst einem statistischen Anhang und 2 Karten. 2,50 Mk. 

Verfasser bringt im ersten Kapitel seines Buches eine kurze Beschreibung 
der Erscheinungen des Alkoholismus. Das zweite Kapitel gibt eine allgemeine 
Übersicht über die Ursachen des Selbstmordes. Prinzing tritt gegen die weit 
verbreitete Ansicht auf, daß der Selbstmord fast in allen Fällen als Folge einer 
geistigen Störung, eines unverschuldeten Verhängnisses anzusehen sei. Er hält 
es für bedenklich, die Willensschwäche und den Mangel an Selbstbeherrschung immer 
für ein in der Organisation des Einzelnen begründetes Übel anzusprechen, gegen 
das sich nicht ankämpfen ließe. Auch hat in vielen Fällen der Mensch sein 
geistiges Leiden durch unzweckmäßige Lebensweise selbst verschuldet. Unter 
den entfernteren Ursachen des Selbstmordes (Kapitel III) nennt Prinzing 
außer der Unsittlichkeit Rassen-, Geschlechts-, Berufs-Eigentümlichkeiten, den Ein¬ 
fluß des Alters, der Jahreszeit, der Ehelosigkeit, der Konfession. Die Motive 
zum Selbstmord (Kap. IV.) sind häufig sehr schwer zu eruieren und durchaus 
verschieden, je nachdem der Selbstmörder seines Lebens sich bei getrübtem Be¬ 
wußtsein oder in geistiger Gesundheit entledigt. Im fünften Kapitel wird die 
Trunksucht als eine der Hauptursachen des Selbstmordes behandelt. Die Tat¬ 
sache, daß Trinker zum Selbstmord neigen, ist so lange bekannt wie die Trunk¬ 
sucht selbst. Es gibt verschiedene Wege, auf welchen die Trunksucht zum 
Selbstmord führt (Verstimmung, Sinnestäuschungen, körperliche Leiden). 

Die beigefügten sieben Tabellen bringen statistische Daten über die Motive 
der Selbstmörder im einzelnen. In zwei Landkarten wird die Häufigkeit der 
Selbstmorde und andererseits die Verbreitung des Branntweinkonsums in den 
einzelnen Landesteilen durch verschiedene Farbennuancen illustriert P. S. 


Der Aikohotgegner, die bekannte von dem verdienten Stadtarzt in Reichen¬ 
berg, Dr. Rösler, herausgegebene Monatsschrift, hat die Nr. 8 zu einer Frauen- 
Nummer gestaltet. Sie enthält nach einem Einleitungs-Gedicht: „So Ihr nicht 
werdet wie die Kinder . . die folgenden Beiträge: Clara Ebert, Mutter¬ 
pflichten. Marie Eggers-Smidt, Soziale Arbeit und Alkoholismus. Marie 
Knauschner, Trunksucht und Frauenhilfe. Ida Hofman-Oedenkoven, Zur 
Verhütung des Alkoholismus. Julie Kassowitz, Antialkohol-Unterricht. Es 
folgt ein Überblick über die historische Entwicklung der Alkohol Verhältnisse 
Wiens von Hulda Goldberger, ein Bericht überden Verein abstinenter Frauen 
in Wien. Feuilleton. Allerlei. 


Banges bekannte Schrift: Die zunehmende Unfähigkeit der Frauen, ihre Kinder zu 
stillen. Die Ursachen dieser Unfähigkeit, die Mittel zur Verhütung erfährt in den 
„Kritischen Blättern“ vom Febr. 1905 eine sehr scharfe und verurteilende 
Kritik von seiten des Leiters des Säuglingsheims und der Kinderpoliklinik in 
Dresden, Professor Schlossmann. 

Nach Schlossmann beruhen die Ausführungen Bunges auf zwei funda¬ 
mentalen Irrtümern. Bei geeigneter Behandlung ist fast jede Frauenbrust im 
stände, die zur Ernährung des Kindes notwendige Milchmenge zu liefern. Ob in 
einer Entbindungsanstalt viel oder wenig Frauen ihre Pflicht zum Stillen des 
Kindes erfüllen, hängt so gut wie ausschließlich von der tatkräftigen Energie des 
Anstaltsleiters ab. So „konnten“ beispielsweise an der geburtshilflichen Klinik 


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Referate. 


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in Paris die Frauen auch nicht stillen, bis ein Mann wie Budin ihnen auf 
einmal die Fähigkeit hierzu beibrachte. In der Dresdener Frauenklinik hat 
Leopold die gleichen Erfolge erzielt. Gewiß ist nicht zu leugnen, daß, wenn 
Generationen hindurch die Frauen sich nicht zum Stillen entschlossen haben, die 
Brustdrüsen mehr und mehr verkümmern, daß diese Rückbildung vom Säugetier 
sich aber so rasch vollzieht, wie Bunge meint, ist ausgeschlossen. 

Der zweite Grundirrtum Bunges ist der, zu glauben, daß das Pota- 
torium des Vaters auf die Brustdrüsen einen so ausschlaggebenden Einfluß hat. 
Die von Bunge aufgestellte Regel: war der Vater ein Trinker, so verliert die 
Tochter die Fähigkeit ihr Kind zu stillen, und diese Fähigkeit ist unwiderbringlich 
verloren für alle kommenden Generationen, „ist vom ersten bis zum letzten 
Buchstaben falsch 44 . Der Arzt sieht im allgemeinen nur die Kinder von Müttern, 
die nicht stillen können. So wird die Statistik einseitig angelegt und daher un¬ 
genügend. 

Der Hauptgrund, warum so viele Frauen ihre Kinder nicht stillen, ist 
sozialer Natur. Die Frauenbewegung* die Frauenarbeit außerhalb des Hauses 
sind mehr anzuschuldigen als der Alkoholismus. Bunges Arbeit ist nicht dem 
praktischen Leben, sondern der Stille des Laboratoriums entsprossen und hat den 
Professor der Physiologie zu Schlüssen geführt, welche der Kritik des erfahrenen 
Kinderarztes nicht standhalten. P. S. 


Bonhoeffer. Die alkoholischen Geistesstörungen. Die deutsche Klinik am Ein¬ 
gänge des zwanzigsten Jahrhunderts. Band VT. S. 511 ff. Berlin und Wien 
bei Urban & Schwarzenberg. 1905. 

Der Nachweis des Alkoholismus beweist nach Bonhoeffer nichts für die 
alkoholische Natur der gerade vorliegenden Geistesstörung. Selbst da, wo der 
Alkoholismus offenbar eine geistige Erkrankung auslöst, hat er nicht höheren 
Wert als z. B. der Unfall, welcher eine Gehirnerweichung bei einem Syphilitischen 
zuerst zur Erscheinung bringt. 

Merkwürdigerweise übergeht Bonhoeffer die „einfache Trunkenheit 41 als 
praktisch weniger bedeutungsvoll mit Stillschweigen. Es scheint so, als wollte er 
die Störung der Bewußtseinsklarheit ausschließlich für den „pathologischen 44 Rausch 
in Anspruch nehmen. (S. 513.) Ein jeder, der einen ganz gewöhnlichen „nor¬ 
malen 44 Rausch gehabt hat, weiß doch aber, daß der Rausch an sich das Bewußt¬ 
sein und die Erinnerungsfähigkeit trübt. Warum sollen wir Komplikationen 
schaffen, wo die Sache an sich einfach liegt? Ein jeder Rausch ist eine vorüber¬ 
gehende Bewußtseinsstörung. Jeder Berauschte hat an das, was er im Rausche 
tat, nur eine undeutliche, traumhafte Rückerinnerung. „Man ist im stände, bei 
Individuen, welche zu pathologischen Räuschen disponiert sind, diese durch Ver¬ 
abreichung von Spirituosen zu erzeugen 44 sagt Bonhoeffer. (S. 514.) Abge¬ 
sehen davon, daß dieser Satz etwas Selbstverständliches besagt, weiß ich nicht, 
was ein derartiges Experiment an einem alkohol-intoleranten Individuum für 
Nutzen bringen soll. 

Man kann Räusche unterscheiden, in denen der Trinker phantasiert, und 
solche, in denen er das Bewußtsein verliert. Es gibt ferner eine echte Alkohol- 
Epilepsie. Sie ist dadurch gekennzeichnet, daß die Krampfanfälle bei Abstinenz 
in der Heilstätte sich nicht einstellen. Nach Bonhoeffer leiden ungefähr 
20 Prozent der in die Kliniken eingelieferten Trinker an Epilepsie. Der tiefere 


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380 


Referate. 


Grund für die Entwicklung des Eifersuchtswahns bei Trinkern liegt zum Teil wohl 
in der Wirkung des Alkohols auf die Geschlechtssphäre. Der Verstärkung der 
Geschlechtslust entspricht meist nicht die geschlechtliche Leistungsfähigkeit. Auch 
pflegt die Frau sich dem nach Alkohol duftenden Manne zu entziehen. 

Das Verhalten der geistesgestörten Trinker in der Abstinenz ist verschieden. 
Die leichteren Fälle kommen bald zur Krankheitseinsicht und zu normalem Ver¬ 
halten. Die schwereren Fälle dagegen bleiben auch während der Abstinenz 
brutal, lügenhaft, ohne jede Einsicht in die Ursache ihrer Leiden. 

Für das delirium tremens ist chronischer Alkoholmißbrauch erforderlich. 
Schnapstrinker sind sehr viel mehr gefährdet, als selbst schwere Bier- und Wein¬ 
trinker. Die heißen Sommermonate zeichnen sich durch das häufige Vorkommen 
von Alkoholdelirium aus. In den Tropen dauert das Delirium tremens besonders 
lange. Die Verletzungen geben vielfach nicht den Anstoß zum Ausbruch des 
Deliriums, sondern sind häufig schon im ersten Beginn des Delirs erworben (?) 
Die Erfahrung spricht im allgemeinen gegen die Annahme, daß der Ausbruch 
von Alkoholdelirien durch die Verabreichung von Spirituosen sich verhindern 
läßt. Die eigentliche Ursache für die Entstehung des delirium tremens ist wohl 
darin zu suchen, daß sich auf dem Boden der chronischen Alkoholvergiftung ein 
neuer schädlicher Stoff entwickelt. 

Das bei den Gewohnheitstrinkern öfter vorkommende Korsakowsche Zu¬ 
standsbild ist durch eine hochgradige Schwäche der Merkfähigkeit ausgezeichnet. 
Alte Erinnerungen dagegen machen sich bei diesen krankhaft vergeßlichen Trinkern 
häufig besonders stark geltend. Schwere Störungen von seiten der Nerven pflegen 
die Korsakowsche Krankheit der Gewohnheitstrinker zu begleiten. Anatomisch 
finden sich gewöhnlich Blutungen aus den kleinsten Gehimgefäßen. 

Delirium tremens und Erinnerungslosigkeit sind unzweifelhaft wesensver¬ 
wandte Bilder von Geistesstörungen. Außer diesen beiden häufigeren alkoholistischen 
Geistesstörungen der Trinker ist noch der akute hallucinatorische Wahnsinn der 
Trinker erwähnenswert. Er findet sich häufiger bei geistig regsamen Individuen. 
Gekennzeichnet ist er durch Sinnestäuschuugen, namentlich auf dem Gebiete des 
Gehörs. Die Kranken hören „Stimmen 11 schmähenden oder bedrohenden Inhalts. 
Die Angst beherrscht sie. Häufig wollen sie ihre krankhaften Wahrnehmungen 
zu einem System vereinigen. 

Warum der eine Alkoholist ein Delirium bekommt, der andere wahnsinnig 
wird, können wir noch nicht sagen. P. S. 


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III. Mitteilungen. 

Das Gast- und Schankwirtschaftsgewerbe und der Kleinhandel mit Branntwein und 
Spiritus im Herzogtum Sachsen-Meiningen. 

Unter diesem Titel erschien als Heft 1 des X. Bandes der Statistik des 
Herzogtums S.-Meiningen eine vom Bureauvorsteher des Statistischen Amtes 
Richard Hermann verfaßte Schrift von 50 Seiten Quart, die ganz besondere 
Beachtung in den Kreisen verdient, welche sich mit der Bekämpfung des Alko¬ 
holismus beschäftigen. 

Das Schlußwort der Arbeit beginnt mit dem Satze: „Obiger Versuch, den 
Mißbrauch alkoholartiger Getränke zu schildern, wie er in geistiger, körperlicher 
und wirtschaftlicher Beziehung für die Bevölkerung des Herzogtums S.-Meiningen 
in Erscheinung tritt, kann keinen Anspruch auf Vollständigkeit machen“, und 
wir nehmen diesen Satz voraus, weil in der Tat etwas fehlt, was nicht fehlen 
sollte, nämlich eine eigentliche Verbrauchsstatistik für dieselben Perioden, für 
welche Statistiken über Zahl der Wirtschaften und Alkoholverkaufsstellen ge¬ 
geben wurden, da diese doch das wesentlichste Bild geben und auch deutlich 
zeigen müßte, wie vorzugsweise in der Bierbrauerei der Alkohol-Kapitalismus 
in den drei letzten Jahrzehnten in die Höhe gekommen ist. 

Die Schrift beginnt mit einer geschichtlichen Darstellung der Behandlung 
der Bedürfnisfrage bei der Konzessionierung und die Behandlung der Konzessio- 
nierung selbst. 

Schon 1837 schreibt eine Verordnung vor, daß bei Erteilung von Wirt¬ 
schafts- und Branntwein Verkaufs-Konzession die Bedürfnisfrage zu stellen sei; 
es sei zu fragen, „ob die vom Bedürfnis geforderte Zahl der Schänken 
bereits vorhanden ist“. 

Weicht nun auch die Behandlung der Konzessionsgesuche, die Zusammen¬ 
setzung der Behördenkollegien, welche sich damit zu beschäftigen haben, von 
den, Einrichtungen anderer Staaten ab, so ist dies nicht von prinzipieller Be¬ 
deutung und kann hier unbesprochen bleiben. 

Der zweite Teil der Schrift beschäftigt sich mit den erhobenen Zahlen der 
Einwohner in den Kreisen und Städten und dem Verhältnis der Gastwirtschaften, 
der Schankwirtschaften, und zwar getrennt in Wein-, Bier-, Branntwein-Schank- 
stellen und Konditoreien sowie der Verkaufsstellen für Branntwein in kleinen 
Mengen. Es wird dazu weiter in Beziehung gebracht das Verhältnis der Wirte 
als Eigentümer oder Pächter, wird die Frage beantwortet, ob der Wirtschafts¬ 
betrieb alleiniges Gewerbe ist oder neben anderen Gewerben betrieben wird und 
wird weiter statistisch festgestellt, wie viel Bierdruckapparate mit oder ohne 
Kohlensäure in Verwendung sind, weil dem Gebrauch der Gegend nach Bier vom 
Faß aus gewöhnlichen Hahnen verzapft zu werden pflegt und tatsächlich die 
Druckapparate von hygienischer und wirtschaftlicher Bedeutung sein dürften. 

Schließlich ist auch überall die Zahl der Flaschenbierhandlungen fest¬ 
gestellt. 

Die Erhebung datiert vom Januar 1904. Die Schank wirtschaften mit oder 
ohne Schnapsschank sind besonders gezählt und Gegenüberstellungen der Jahre 
-1903 und 1904 sowie von Stadt und Land gemacht. 


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Mitteilungen. 


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Interessant ist dann die Gegenüberstellung der Zahlen von Gastwirtschaften, 
von Schank wirtschaften und von Kleinhandlungen mit Branntwein und Spiritus 
1. für das ganze Land, 2. für die einzelnen Kreise, 3. für die Stadt- und Land¬ 
gemeinden je besonders auf das Jahr 1878, auf 1885, auf 1893 und auf 1904. 

Sie sind in Beziehungen gesetzt zu den Bevölkerungszahlen derselben Jahre 
und es ist eine Zusammenstellung aller Alkoholvertriebsstellen im Lande, in den 
Städten, auf dem Lande und in den einzelnen Kreisen ebenfalls für die gleichen 
Jahre in Vergleich zu den Bevölkerungsziffern gebracht. Wir können die sämt¬ 
lichen Vergleichszahlen hier nicht wiedergeben und erwähnen nur, daß 1878 auf 
100 Einwohner des Herzogtums eine Alkohol vertriebsstelle kam, 1885 auf 110 
Einwohner, 1893 auf 116 und 1904 auf 126 Einwohner. Auch bei den einzelnen 
Wirtschaftskategorien erhöhen sich fortgesetzt die Einwohnerzahlen, die auf eine 
Stelle entfallen, ganz wesentlich, und auf dem Lande weit mehr als in den 
Städten. 


So kamen auf eine Schankwirtschaft 

1878 

1885 

1893 

1904 

in Städten 

161 

208 

216 

226 

in Landgemeinden 

237 

802 

315 

387 


Einwohner. 

Aber diese Zahlen beweisen nur rigorose Konzessionserteilung, vielfach 
verneinte Bedürfnisfrage, keineswegs verminderten Alkoholverbrauch. 

Diese Statistiken gehen noch weiter ins einzelne und haben auch für die 
mit der Konzessionierung betrauten Stellen und die Selbstverwaltungskörper¬ 
schaften ihren Wert, aber wissenschaftlich belehren sie den Erforscher der 
Alkoholfragen wenig oder nicht. Mehr Interesse haben dann schon die Statistiken 
über die im Wirtsgewerbe Beschäftigten, über Betriebsinhaber, Gehilfen beider 
Geschlechter und Lehrpersonal. Von den sämtlichen 1996 Wirtschaften, welche 
1904 im Herzogtum bestanden, haben nur 50 weibliche Bedienung, Kellnerinnen. 
Die Residenzstadt Meiningen hat auch ein besonderes Ortsstatut betreffs der 
Kellnerinnen eingeführt, welches eine gewisse sittliche Ordnung anstrebt, indem 
es z. B. verbietet, daß Kellnerinnen in sogenannten Hinterzimmern, die nicht 
direkt mit der Hauptwirtschaft verbunden sind, bedienen, und schreibt es auch 
unauffällige Kleidung und häusliche Gemeinschaft mit der Wirtsfamilie vor. 
Wir beachten jedoch besonders die auf die Mäßigkeitsbestrebungen hinauslaufen¬ 
den Bestimmungen, daß den Kellnerinnen jede Art von Aufforderung zum Trinken 
und Teilnahme am Trinken streng untersagt ist. Was das Eigentums- oder Pacht¬ 
verhältnis anlangt, sind von den 1996 Wirtschaften und Alkoholverkaufsstellen 
1510 Eigentum des Unternehmers, 486 gepachtet. Von der letzteren Zahl ent¬ 
fallen auf Gastwirtschaften 215, auf Schankwirtschaften 176 und 59 auf Brannt¬ 
weinverkaufsstellen. 

Mit Handel verbunden waren 585 Wirtschaften, mit Landwirtschaft 358, 
mit Metzgerei 255, mit Fuhrbetrieb 16, mit Brauerei 48, mit Konditorei 23, mit 
Bäckerei 25, mit sonstigen Gewerben 126. Bemerkenswert ist, daß die Kon¬ 
ditoreien und Wirtschaften für alkoholfreie Getränke auch als Alkoholvertriebs¬ 
stellen behandelt werden, weil sogenannte alkoholfreie Getränke ja doch nicht 
ganz alkoholfrei seien. 

Ob das Ansicht des Verfassers oder der maßgebenden Amtsstelle ist, läßt 
sich nicht feststellen. 

Über Reinigung der Bierdruckapparate und Trinkgefäße bestehen ver- 


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Mitteilungen. 


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schiedene Ortsgesetze. Flaschenbierhandlungen wurden 1904 nur 492 gezählt 
uud davon waren 222 in Städten, 270 auf dem Lande. Trotzdem die Zahl im 
Vergleich zu anderen deutschen Gebieten nicht groß ist, wird seitens der Wirte 
stark dagegen agitiert. Daß in dem l / 4 Million Einwohner zählenden Herzogtum 
kein Mäßigkeits verein besteht und nur ein Abstinenz verein (der Schüler des 
Landerziehungsheims Haubinda) ist auffallend. Dagegen wird von der Regierung 
aus durch die Geistlichen und Lehrer, durch Verbreitung des Merkblattes von 
Regierungsrat Quensel, durch die Impf- und Schulärzte im Sinne der Mäßig¬ 
keitsbewegung gearbeitet und einige Städte haben durch Ortsgesetze gegen den 
Trunk zu wirken gesucht. 

Der weitere Teil der Schrift, welcher über die beobachteten Wirkungen 
des Alkoholmißbrauches handelt, welcher festzustellen sucht die Häufigkeit der 
Geisteskrankheiten durch Trunk, und zwar direkt und indirekt durch Vererbung 
sowohl als auch durch späte Folgen der Unmäßigkeit, hält sich an die Berichte 
der Irrenärzte, aber er hat wenig Positives. 

Außerdem wird der Einfluß des Trunks auf das Armenwesen und den Ver¬ 
mögensverfall, werden die Selbstmorde infolge Trunksucht aufgezählt, wird die 
Unfallstatistik herangezogen und werden die Entmündigungen wegen Trunk von 
1894—1903 gezählt. Die kleine Zahl läßt den Verfasser vermuten, daß die 
Familien sich nur selten entschließen, Trinker entmündigen zu lassen, was ja in 
der Tat eine allbekannte und verbreitete Erscheinung ist. Behandelt wird daun noch 
die Zahl der Idioten und Epileptischeu, die Zwangserziehung von Kindern und die 
Fürsorgeanstalten, aber genau statistisch Erfaßtes enthalten die Abschnitte nicht. 
Ähnlich ist es bezüglich der Kriminalfälle und Polizeiübertretungen. Es sind zwar 
die Zahlen zusammengestellt und dieselben sind immerhin von Interesse, aber sie 
dürften nicht alles enthalten, was auf dieses Kapitel gehört. Von 100 Kriminal¬ 
fällen gegen die Sittlichkeit seien 77 als im Trunk geschehen zu schätzen, von 
100 gefährlichen Körperverletzungen seien 74 und von 100 Mord und Totschlag 
54 als im Trunk erfolgt anzusehen. 

Künftige statistische Ermittelungen werden von vornherein darauf ein¬ 
zurichten sein, daß man zuverlässigere Zahlen erhält. 

Im allgemeinen zeigt die Schrift und der ministerielle Auftrag zur Ab¬ 
fassung derselben deutlich das Bestreben, etwas im Sinne des Kampfes gegen 
den Alkohol zu tun und es wäre erfreulich, wenn die oberen Verwaltungsstellen 
und Statistiker anderer Staaten (auch Städte) eine Anregung aus der Schrift 
schöpfen, in ähnlicher Weise vorzugehen und so für den Kampf gegen den Trunk 
neue und gute Waffen zu liefern. Max May. 


Die 22. Jahresversammlung des Deutschen Vereins gegen den Mißbrauch 
geistiger Getränke, welche in den Tagen vom 17.—19. Oktober in Münster statt¬ 
fand, hatte einen geradezu glänzenden Verlauf. Hier wurde gezeigt, was die 
Vereinsarbeit vollbringen kann, wie man Vorarbeiten für Generalversammlungen 
zu leisten hat; es wurde den Bezirksvereinen von ihrem Schwesternverbande im 
Münsterlande vor Augen geführt, wie sie ihre Aufgaben zu erfüllen vermögen. Es 
kann ja keinem Zweifel unterliegen, daß durch die Person des Vereinsvorsitzenden, 
dem Regierungspräsidenten von Ge sch er, die Tagung als eine so überaus ge¬ 
lungene geworden ist, um so dankenswerter und erfreulicher ist es aber, daß sich 
ein so hoher Staatsbeamter die Mühe nicht verdrießen läßt, den harten Kampf 


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Mitteilungen. 


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gegen den Mißbrauch geistiger Getränke, zumal in einem Lande oder Bezirke zur 
Durchführung zu bringen, welcher besonders schwer unter den Trinksitten und 
unter dem starren Festhalten seitens der Bevölkerung an Althergebrachtem zu 
leiden hat, so daß hier im „Münsterlande 14 naturgemäß die Aufklärungsarbeit eine 
außerordentlich schwere genannt werden darf. 

Aus dem sehr ausführlichen, interessanten Jahresbericht, welcher vom Ge¬ 
schäftsführer in der Verwaltungsausschuß-Sitzung erstattet wurde, ging die er¬ 
freuliche Tatsache hervor, daß der Verein nunmehr rund 16000 Mitglieder in 95 
Bezirksvereinen zählt, abgesehen von 8000 in sogenannte Vertreterschaften ge¬ 
einte oder persönliche Mitglieder — das ist ein Erfolg, welcher in erster Linie 
dem Generalsekretär Gonser zuerkannt werden muß, der unentwegt und uner¬ 
müdlich seinem Ziele, die Vereinsarbeit zu heben und zu konsoldieren, zustrebt. 
Mit der Hebung der Mitgliederzahl haben sich auch die materiellen Hilfsmittel 
erheblich erhöht, der Reichszuschuß ist dankenswerterweise auch im laufenden 
Jahre mit 6000 Mark bewilligt gewesen, eine große Anzahl Regierungen und 
Ministerien haben sich zu regelmäßigen Unterstützungen entschlossen. Der Ver¬ 
trieb von Flugschriften und Broschüren hat einen ganz außerordentlichen Umfang 
angenommen, überall macht sich ein großer Aufschwung bemerkbar. Auf all die 
bemerkenswerten Einzelheiten einzugehen, müssen wir uns an dieser Stelle ver¬ 
sagen, wir verweisen auf den demnächst erscheinenden Bericht, welcher von der 
Geschäftsstelle Berlin W. 15 zu beziehen ist. Aber auf einen wesentlichen Punkt 
soll noch das Interesse gelenkt werden, das ist das wichtige Ereignis, daß es ge¬ 
lungen ist mit Allerhöchster Genehmigung zu veranlassen, daß von nun an seitens 
der Marineverwaltung ein Schriftchen, welches die Beziehungen der Wehrkraft 
zum Alkoholmißbrauch dartut, an jeden eintretenden Rekruten der Marine 
zur Verteilung gelangen wird — hoffentlich folgt diese Bestimmung für das Land¬ 
heer bald nach! — Von den übrigen Beratungsgegenständen hebe ich nur und 
zwar mit dem Ausdruck aufrichtigsten Dankes die Ermächtigung zur Ausführung 
eines älteren Beschlusses hervor: die Zeitschrift „Der Alkoholismus 44 durch 
eine Beihilfe von 500 Mark für das Jahr 1906 zu unterstützen. Ferner sei — 
seines allgemeineren Interesses wegen — ein Antrag erwähnt, welchen der Be¬ 
zirk sverein München durch Dr. Brendel einbringen und begründen ließ. 
Der Antrag, welchen der Verein glaubt, in dieser Form nicht annehmen und zur 
Durchführung bringen zu können, lautet wie folgt: 

Die XXII. Jahresversammlung des Deutschen Vereins gegen den Mißbrauch 
geistiger Getränke in Münster i./Westf. beauftragt den Vereinsvorstand, bei den 
gesetzgebenden Stellen des Reichs die geeigneten Schritte zu tun, daß 

die Stunde des Beginns des Verkaufs von geistigen Getränken aller Art auf 
morgens 8 Uhr durch Reichsgesetz festgesetzt und Zuwiderhandeln empfindlich 
bestraft werde. 

Alle Einrichtungen, welche in frühen Morgenstunden billige warme Ge¬ 
tränke ohne Alkohol liefern, sind ausgiebig zu fördern. 

Begründung: 

Über die Beschädigung unseres Volkskörpers und der einzelnen zu sprechen, 
dürfte bei den notorischen Wirkungen unserer Trinksitten unnötig sein. Wenn 
in der bekanntlich durch ihren hohen und alle Bevölkerungsschichten noch durch¬ 
dringenden Biergenuß hervorragenden Stadt München sich ergeben hat, daß der 


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Mitteilungen. 


385 


Schnapsverbrauch ein viel verbreiteter ist, als gewöhnlich bekannt ist, kann wohl 
für andere Orte Deutschlands angenommen werden, daß der Schnapskonsum noch 
weit mehr in Betracht kommt. 

Sehr zu bedauern und auffällig ist es, daß eine Statistik über die örtliche 
Verteilung des Schnapsverbrauchs und auch des Weines u. s. w. in Deutschland 
vollständig fehlt. 

Es hat sich bei sorgfältigen Erhebungen gezeigt, daß bereits in frühester 
Morgenstunde die Schnapsläden aufgesucht werden und der Hauptverkehr sich vor 
8 Uhr morgens abspielt. 

Daraufhin hat sich der Bezirksverein München des D.V. gegen den Mi߬ 
brauch geistiger Getränke an den Magistrat München gewendet, es möge verboten 
werden, vor 8 Uhr geistige Getränke zu verkaufen, und es sei darauf hinzu¬ 
wirken, daß das Bedürfnis nach Obdach und gesunder zweckmäßiger Ernährung 
und Erquickung für Früharbeiter entsprechend befriedigt werde. 

Wir beehren uns, die Eingabe an den Magistrat München mit der Liste 
beizulegen, aus der hervorgeht, wie bei 17 Stichproben sich ergeben hat, daß im 
Durchschnitt schon vor 8 Uhr morgens über 70 Trinker die Schnapsbuden be¬ 
suchten. 

Die Antwort des Magistrats beehren wir uns ebenfalls beizulegen. Die Ge¬ 
meindevertretung erklärt sich nicht im stände, weitergehende Beschränkungen für 
den ifleinhandel mit Branntwein zu treffen. Wir wurden bedeutet, daß nur auf 
dem Wege der Reichsgesetzgebung Abhilfe zu erreichen sei. 

Auch hat eine Förderung unserer Bestrebungen, dem Bedürfnis nach Er¬ 
satz für Schnaps zu entsprechen, bis jetzt noch nicht bemerkt werden können. 

Es ist einleuchtend, daß eine Beschränkung nur der Schnapsverkaufszeit 
untunlich und ungenügend ist, wenn nicht für alle geistigen Getränke ohne 
Unterschied, also auch Wein, Bier u.s.w. dieselben Bestimmungen getroffen werden. 

So gut der Staat bestimmen kann, wann ein Verkaufslokal zu schließen 
sei, kann er offenbar auch bestimmen, wann es geöffnet werden darf. 

Wir versprechen uns von der angestrebten Maßregel ganz besonderen 
Nutzen für die in früher Morgenstunde Arbeitenden, wenn der Morgentrunk 
möglichst erschwert und das Erhalten bekömmlichen billigen Frühstücks tunlichst 
erleichtert wird. 

Als Beleg hierfür beehren wir uns einen Bericht der Kaffeebude auf der 
Kohleninsel in München über die Verteilung des Besuchs in den Morgenstunden 
beizufügen; aus demselben geht ebenfalls hervor, daß der Hauptverkehr dort vor 
7 Uhr morgens stattfindet, somit eine Beschränkung der Zeit des Verkaufs von 
geistigen Getränken in obiger Weise von großem Erfolg sein wird. 

Münster i./Westf., 18. Oktober 1905. i. A.: 

Dr. C. Brendel. 

Es sei hier noch bemerkt, daß der Bezirksverein Stettin sehr ausgedehnte 
und erfreuliche Erfahrungen über Kaffeeausschank u. s. w. bei öffentlichen Bauten 
besitzt, wobei er von den dortigen Behörden auf das ausgiebigste gefördert 
wurde. Das betr. Aktenmaterial steht n. W. zur Verfügung, wie es auch uns 
bereitwilligst zugesandt wurde. D. 0. 

War schon durch den reichen Flaggenschmuck, welchen die Stadt Münster 
angelegt hatte, dargetan, daß die Bevölkerung der alten Hauptstadt Westfalens 
Der Alkohollsmus. 1905. 26 


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386 Mitteilungen. 

teil an unserer Vereinsarbeit nahm, so sollte dies noch besonders durch die 
Propaganda-Versammlung bekundet werden, welche der öffentliche Begriißungs- 
abend brachte. In der Tat, so etwas hatte der Deutsche Verein in den 22 Jahren 
seines Bestehens kaum erlebt. Im „Arbeiterhause“ fand dieser Abend statt, ein 
großer Saal, wohl der größte der Stadt, welcher 2—3000 Personen faßte, war 
nicht nur bis auf den letzten Platz gefüllt, sondern er konnte nicht einmal alle 
fassen, welche hören und lefnen wollten, was es bedeutet, den Mißbrauch 
geistiger Getränke zu bekämpfen. Nach einer herzlichen Begrüßungsansprache 
seitens des Regierungspräsidenten als Vereinsvorsitzenden, welche der Mahnworte 
genug enthielt, den Kampf gegen den Mißbrauch geistiger Getränke aufzunehmen 
und zum Wohle des Volkes einer glücklichen Lösung entgegenzuführen, fanden 
kurze Ansprachen durch den Chefarzt der Hüffer-Stiftung, Dr. Be eher-Münster, 
über die Bedeutung der Alkoholfrage für den einzelnen; durch Frau Professor 
Götze-Braunschweig über die Stellung der Frau zur Alkoholfrage; durch Landes¬ 
rat Schmedding-Münster über die Bedeutung der Alkoholfrage für die Familie 
statt; während Dr. Laqu er-Wiesbaden die Beziehung der Kommune, Regierungs¬ 
assessor von Treskow-Münster diejenige des Staates, Professor Dr. Serres- 
Münster die Bedeutung der Alkoholfrage für die Kolonien behandelte. Musikalische 
Vorträge des Sängerbundes von Münster boten eine nicht unwillkommene Ab¬ 
wechslung des ebenso reichhaltigen wie interessanten Programms. 

Die öffentliche Versammlung des nächsten Tages zeigte qualitativ wie quanti¬ 
tativ ein erfreuliches Bild von der Betätigung an unsem Bestrebungen. Selbst 
der Oberpräsident der Provinz Westfalen hatte es sich nicht versagt, die Ver¬ 
sammlung offiziell zu begrüßen, und durch seine Worte klang die volle Aner¬ 
kennung der Wichtigkeit unserer Vereinsarbeit. Eine gleiche und nicht minder 
wertvolle Anerkennung kennzeichnete die Ansprache des Landeshauptmanns der¬ 
selben Provinz. Nachdem noch eine Reihe von Vertretern staatlicher und 
kommunaler Behörden, sowie von größeren Vereinen zu Worte gekommen waren 
und durch den Vereinsvorsitzenden den Dank für die Würdigung unserer Be¬ 
strebungen entgegen genommen hatten, hielt Regierungsrat Dr. Weymann- 
Berlin sein Referat über „Arbeiterversicherung und Alkoholismus“. 
Der Vortrag, welcher was Form wie Inhalt anlangt gleich glanzvoll war, gipfelte 
in folgenden Leitsätzen: 

1. Jede Schwankung der Volksgesundheit drückt sich im Haushalte der 
Arbeiterversicherung in großen Zahlen als Gewinn oder Verlust aus. 

2. Der Alkoholmißbrauch steigert die Kosten der Arbeiterversicherung 

a) in der Kranken- und in der Invalidenversicherung 

unmittelbar dadurch, daß er zum Delirium, zu Geistes- und 
Nervenkrankheiten, zu Erkrankungen des Magens, der Leber und 
anderer innerer Organe führt, 

mittelbar dadurch, daß er auf Tuberkulose, Geschlechtskrankheiten 
und Nervenkrankheiten mächtig fördernd wirkt, die Heilung anderer 
Krankheiten erschwert und verzögert; 

b) in der Unfallversicherung 

unmittelbar dadurch, daß er die Neigung und Fähigkeit, Unfälle 
zu vermeiden, erheblich verringert, 

mittelbar dadurch, daß er die Folgen der Unfälle erheblich er¬ 
schwert; 


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c) auf allen drei Gebieten dadurch, daß er die Arbeitslust verringert 
und die Begehrlichkeit nach der Rente bezw. dem Krankengelde 
steigert, sowie die Entstehung einer belasteten und widerstandsun¬ 
fähigen Nachkommenschaft hervorruft. 

3. Der Alkoholmißbrauch in diesem Sinne setzt keineswegs voraus, daß 
alkoholische Getränke bis zur Berauschung genossen werden. 

4. Der Alkoholismus gehört zu den schwersten Schäden der Volksgesuudheit. 
Ihn bekämpfen heißt daher unmittelbar die Interessen der Arbeiterversicherung 
fördern. Das wird in erhöhtem Maße gelten nach Einführung der Witwen- und 
Waisenversicherung, Erweiterung der Krankenversicherung und nach EiAtritt der 
aus dem Gesetze sich ergebenden Steigerung der Invalidenrenten bis zum Be¬ 
harrungszustande. 

5. Die Organe der Arbeiterversicherung können und sollen im Interesse der 
Versicherung zur Bekämpfung des Alkoholismus mitwirken, 

a) insgesamt dadurch, daß sie die zur Beurteilung der Alkoholfrage un¬ 
entbehrliche sichere Kenntnis der wissenschaftlichen Forschungs¬ 
ergebnisse sich selbst aneignen und zu verbreiten suchen, besonders 
in dem großen Kreise der Vertreter von Arbeitgebern und Ver¬ 
sicherten, 

die Gewinnung von zahlenmäßigen Nachweisen über die schädlichen 
Wirkungen des Alkoholmißbrauchs fördern, 
das Gewicht ihres Ansehens zur Bekämpfung des Alkoholismus in 
der Öffentlichkeit geltend machen; 

b) Krankenkassen und Versicherungsanstalten dadurch, daß sie solchen 
Trinkern, die von der Trunksucht geheilt zu werden wünschen, 
Anstaltsbehandlung gewähren; 

c) die Versicherungsanstalten dadurch, daß sie die dem Alkoholmißbrauch 
entgegenwirkenden Wohlfahrtseinrichtungen finanziell unterstützen; 

d) die Berufsgenossenschaften dadurch, daß sie die Unfallverhütungs¬ 
vorschriften im Sinne der Bekämpfung des Alkoholmißbrauchs aus¬ 
bauen, und daß sie, geeigneten Falls durch Auflegung von Zuschlägen 
oder Bewilligung von Nachlässen am Umlagebeitrag, in den Kreisen 
der Berufsgenossen das Interesse für diejenigen Betriebseinrichtungen 
zu fördern suchen, welche den Arbeitern die Einschränkung des 
Alkoholverbrauchs nahe legen und erleichtern. 

6. Die gesetzlichen Vorschriften, welche die Zahlung von Barbeträgen an 
Trinker einschränken, bedürfen der Ausgestaltung. 

7. Die wichtigsten Mittel zur Bekämpfung des Alkoholismus sind die unter 
5 a genannten, weil eine durchgreifende Besserung nur von einer Umwandlung 
der Volksgesinnung und der Volksgewohnheiten erwartet werden kann. 

Den folgenden, an sich ebenso bedeutungsvollen Vortrag „Das Wirts¬ 
haus auf dem Lande 11 hielt der in und mit den ländlichen Verhältnissen 
so vertraute Sozialpolitiker Heinrich Sohnrey-Berlin. Er legte seinen Aus¬ 
führungen folgende Leitsätze zu Grunde: 

I. Die Begleit- und Folgeerscheinungen des Alkoholismus auf dem 
Lande sind in manchen Gegenden zum mindesten ebenso schlimm, wie in den 
Städten. Dies zeigt ein Blick: 

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1. in die ländlichen Familienverhältnisse. (Zerrüttung des Familien¬ 
lebens durch den Branntwein. Minderwertige Ernährung. Zu frühes Gewöhnen 
der Kinder an den Alkoholgenuß. Kindersterblichkeit u. s. w.) 

2. in die ländlichen Vermögens- und Erwerbsverhältnisse. (Zer¬ 
rüttung der Wirtschaft; Zurücksinken vieler selbständiger Existenzen in unselbst¬ 
ständige u. s. w.) 

3. in die ländlichen Erholungs- und Vergnügungsverhältnisse. 
(Die Wirtshäuser sind der Mittelpunkt aller geselligen Veranstaltungen, sowohl 
für Erwachsene, wie für Jugendliche.) 

II. Wie bei anderen sozialen Problemen und Aufgaben, so ist 
auch im Kampfe gegen den Alkoholismus der Schwerpunkt der Arbeit 
fast ausschließlich auf die Städte gelegt worden, — sehr zu unrecht. 
Die Verhältnisse auf dem Lande sind durchaus auch reformbedürftig und er¬ 
fordern eine umfassende Wohlfahrtspflege und zwar sowohl aus sozialen wie aus 
nationalen Gründen. 

1. Zur Erhaltung eines gesunden Bauernstandes als Kraftquell und Jungbom 
des Volkstums im allgemeinen. 

2. Zur Erhaltung der Wehrkraft im besonderen. 

IH. Die Reformarbeit ist auf dem Lande im allgemeinen ver¬ 
gleichsweise leichter und der Erfolg sicherer, weil die Verhältnisse 
leichter zu fassen sind. Allerdings erschwert sich die Arbeit auch wieder durch 
die eingewurzelten Vorurteile. 

1. Ursache und Wirkungen, Verschiedenheit der Notstände sind leichter zu 
übersehen. 

2. Geistliche, Lehrer, Schultheiß, Ärzte können leichter eingreifen als in den 
großen Städten. 

IV. Im einzelnen kann und muß auf folgenden Wegen die Besse¬ 
rung angestrebt werden durch: 

1. Aufklärung: 

Durch ärztliche Vorträge an Gemeindeabenden, Belehrung durch die Volks¬ 
und Fortbildungsschulen. Die Schulinspektoren sollten ihre Prüfungen nach 
dieser Richtung hin ausdehnen. Anleitung in den Lehrerbildungsanstalten durch 
die Seminarärzte. 

2. Einrichtungen: 

a) Es müssen Vorkehrungen getroffen werden, die der Hauptursache des 
Wirtshauslebens, dem Bedürfnis nach Geselligkeit, nach Ausfüllung 
der Mußezeit entgegenkommen, ohne zum Trinken zu reizen. (Ge¬ 
meindehaus, Volks- und Jugendbibliothek; Volks- und Familienabende, 
Theaterspiel, Gesang- und Musikvereine im Gemeindesaal; Jugend- 
und Volksspiele, Veredelung der Volksfeste, die in jetziger Gestalt 
durchweg nur Trinkgelage sind. Handfertigkeitsunterricht, bäuerlicher 
Kunstfleiß u. s. w.) 

b) Wo in Dorfgemeinden noch althergebrachte Gemeindehäuser vorhanden, 
sind, da ist durchaus zu verhüten, daß diese Häuser aus dem Ge¬ 
meindebesitz in das Privateigentum von Wirten oder, was noch viel 
schlimmer ist, an Aktienbrauereien übergehen. 

c) Schaffung von Reformgasthäusern im Sinne des Gothenburger Systems, 
möglichst in allen Kreisen, wenn auch zunächst nur, um Vorbilder 


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Mitteilungen. 


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zu gewinnen und Erfahrungen zu sammeln. Kreisverwaltung, Fiskus, 
Grundherrschaft, Kirche, Gemeinde und gemeinnützige Gesellschaften 
müssen dabei Hand in Hand gehen. 

d) Die Spareinrichtungen auf dem Lande selbst müssen so vermehrt 
werden, daß jeder Landbewohner zu jeder Zeit seine Spargroschen 
ohne Umstände zinstragend anlegen kann. 

e) Jedes Mädchen auf dem Lande muß Gelegenheit erhalten, sich die 
Elementarkenntnisse aus dem Gebiete der Hauswirtschaft anzueignen, 
sei es durch Wanderkochkurse, Konfirmandenküchen und dergleichen. 

f) Reichliche Herstellung und billige Abgabe guter, alkoholfreier Ge¬ 
tränke aus Obst- und Fruchtsäften. 

3. Gesetze und Verwaltungen: 

a) Die Erteilung der Schankkonzessionen ist reformbedürftig. Es dürfen 
nicht nur verwaltungsamtliche oder polizeiliche Gesichtspunkte ma߬ 
gebend sein. 

b) Der Gemeindevorsteher sollte nie zu gleicher Zeit Wirt sein. 

c) Der Jugend sollte im fortbildungsschulpflichtigen Alter der Besuch im 
Wirtshaus untersagt werden, jedoch nur, wenn die unter IV, 2 auf- 
geführten Wohlfahrtseinrichtungen genügend vorhanden sind. 

d) Verbot von Verpachtungen und Versteigerungen in Wirtshäusern. 

Leider kam dieser zweite Redner durch die vorgeschrittene Zeit etwas arg 

zu kurz; die Zeit ward ihm beschnitten durch die sich an den ersten Vortrag 
anschließende Debatte, unseres Erachtens ein ganz überflüssiges Beginnen nach 
einem den Gegenstand so vollständig erschöpfenden Vortrag. Da ist wirklich die 
Frage gestattet, ob es nicht richtiger und wichtiger sein würde, die Ausführungen 
in ihrem ganzen Umfange und zwar in aller Ruhe, ohne die Mahnung, sich der 
Kürze zu befleißigen, zum Vortrag bringen zu lassen und auf die Kleinarbeit 
der Diskussion zu verzichten, anstatt dem Referenten die Freude an seinen Dar¬ 
legungen mit der Uhr in der Hand zu nehmen?! Gar mancher Vortrag verliert 
an seiner endgültigen Wirkung, wenn er durch die Debatte zerfetzt, in seine 
einzelnen Atome zergliedert wird; bei solcher „spezialistischen“ Behandlung 
(leider gar oft: Mißhandlung) muß das Gesamtbild leiden. Gewiß werden häufig 
erst durch die sich anschließenden Debatten die Grundgedanken der Vorträge 
geklärt; gewisse Referate sind ohne die Diskussion unmöglich, das aber schließt 
nicht aus, daß zu Gunsten des durch einen Vortrag anzustrebenden Zieles die 
Größe der darin ausgedrückten Gedanken voll und ganz, eben als ein einheit¬ 
liches Ganzes erhalten bleiben muß; auf keinen Fall darf ferner einem Redner, 
der sich Arbeit und Mühe gemacht, Zeit und Geld geopfert hat, lediglich durch 
die Lust am Debattieren Beschränkung auferlegt werden. 

Wie in den Vorjahren, fand auch diesmal die Jahresversammlung des 
„Verbandes der Trinkerheilstätten des deutschen Sprachgebietes“ 
im Zusammenhang mit der Tagung des Deutschen Vereins statt. Der Vorsitzende, 
Oberregierungsrat Falch-Stuttgart, konnte bei seiner Begrüßung der freudigen 
Genugtuung Ausdruck geben, daß die Interessen für die Bestrebungen im Wachsen 
begriffen sind und auch diesem Umstande eine so stattliche Versammlung zu 
danken sei. Auch hier hatten sich die verschiedenen Vertreter von Behörden 


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390 Mitteilungen. 

und Korporationen eingefunden, die teilweise ihre Sympathiebezeugungen aus- 
sprachen. 

Aus dem Bericht des Schrift- und Kassenführers des Verbandes, P. Kruse- 
Lintorf, ging die Tatsache hervor, daß sich nunmehr fast alle Trinkerheilstätten 
unserm Verband als Mitglied angeschlossen haben; das ist um so erfreulicher, 
als sich immer noch eine gewisse Gegenströmung bemerkbar macht. Wie Referent 
zur regelmäßigen Übersendung ihrer Jahresberichte aus den Trinkerheilstätten 
behufs Veröffentlichung in dem Organ des Verbandes. „Der Alkoholismus 11 
ersuchte, so forderte P. Neumann die Anwesenden, in speziellerem die Vor¬ 
stände der Trinkerheilstätten auf, diese Zeitschrift zu halten und nach jeder 
Richtung zu unterstützen. 

Dr. Co 11a-Finkenwalde referierte alsdann über „Die Erziehung zur 
Abstinenz 11 , indem er darlegte, daß eine solche für die Trinkerheilbehandlung 
absolutes Erfordernis sei. Hierbei komme es weniger darauf an, wer eine solche 
Erziehung ausübe, es sei ebenso wie der Arzt auch der Pädagoge, der Geistliche 
und jeder, der sich dazu berufen fühle und das nötige Zeug dazu besitze, ge¬ 
eignet; das wichtigste sei eben Fähigkeit und Begeisterung, um entsprechend ein¬ 
wirken zu können. In der Diskussion richtete sich Pfarrer Neumann-Mündt 
mit einem warmen Apell an die Angehörigen von Trinkern, sowie an die Mensch¬ 
heit allgemein, welche durch ihr Beispiel erzieherisch auf die Opfer der Trunk¬ 
sucht wirken müßten,. um nicht binnen kurzem das wieder zu zerstören, was 
eine Trinkerheilstätte durch monatelange Arbeit sich bemüht habe zu erreichen. 
Redner wandte sich gegen die Trinksitten und ihre Folgen, indem er in be¬ 
geisterten Worten die Vorzüge der Abstinenz pries. Dr. Waldschmidt-Char- 
lottenburg glaubte darauf hinweisen zu sollen, daß die Erziehung zur Abstinenz 
nur einen Teil der Trinkerheilbehandlung bilde; er gab auch hier der Meinung 
Ausdruck, daß es sich bei dem Trunksüchtigen um einen Kranken handele, der 
der ärztlichen Fürsorge bedürfe. In fernerem suchte er das Interesse auf die 
zwangsweise Unterbringung von Alkoholkranken in Spezialanstalten mit ge¬ 
schlossenem Charakter zu lenken. 

Über den „Heilmittelschwindel und Heilung der Trunksucht“ 
ließ sich Chr. G. Tienken, Besitzer der Heilstätte „Villa Margaretha“ bei Lox¬ 
stedt aus. In längeren Ausführungen betonte Redner den Wert der Heilstätten¬ 
behandlung, indem er dringend vor den sogenannten Trunksuchtmitteln warnte. 
In kräftigen Worten unterzog er die mit großer Reklame in der Tagespresse an¬ 
gepriesenen Mittel einer kritischen Beleuchtung, indem er sämtliche Kunst¬ 
produkte verwarf und als einziges unfehlbares Mittel die Abstinenz hinstellte. 
Hierzu konnte ihm nur jeder, der Einbliök in die Verhältnisse hat, seine absolute 
Zustimmung geben. Er stellte folgende Thesen auf: 

1. Die Trunksucht ist eine sowohl psychische wie auch körperliche Er¬ 
krankung. 

2. Jeder Trinker ist heilbar, wenn nicht wesentliche alkohologene oder an¬ 
geborene Gehirndefekte vorliegen. 

3. Die vielfach angepriesenen Heilmittel beruhen auf Schwindel, auch die 
vereinzelt versuchte medikamentöse Behandlung hat vor der wissenschaftlichen 
Nachprüfung nicht standgehalten. 

4. Gänzliche Enthaltung von allen alkoholischen Getränken ist wie zur Ge¬ 
sundung so auch zur Gesunderhaltung das einzige Mittel. 


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5. Zur Trinkerheilung berufen sind neben der Familie und den Vereinen 
für Trinkerrettung besonders Spezialanstalten unter ärztlicher Überwachung. 

6. Radikale Alkoholabstinenz ist für jeden Anstaltsleiter unerläßliche Be¬ 
dingung. 

Dr. Schmüderich-Herten referierte sodann über „Die Ersatzgetränke“. 
Er charakterisierte das Wesen des Alkohols, seine chemischen und physiologischen 
Eigenschaften, seinen Einfluß auf Leben und Gesundheit, auf Moral und Wohl¬ 
stand des Volkes. Nach den Ausführungen des Referenten miisfee dank der an 
sich wertvollen Gastlichkeit und den damit leicht verbundenen Trinksitten unbe¬ 
dingt für Ersatzgetränke gesorgt werden. Vortragender spendet dem natürlichen 
Ersatz, nämlich dem Trinkwasser, die erste Palme, spricht sich sodann für die 
verschiedenen Fruchtsäfte, für Tee und Kaffee, sofern letztere nicht zu stark 
genommen werden, aus und weist besondere auf den Wert der Milch hin. Seine 
Leitsätze lauteten: 

I. Zur Bekämpfung des Alkoholismus sind bei der heutigen Lage der Ver¬ 
hältnisse sogenannte Ersatzgetränke nicht zu entbehren, weil 

1. viele ohne dieselben ihren gesellschaftlichen oder geschäftlichen Ver¬ 
kehr nicht würden aufrecht erhalten können; 

2. viele sie als Genußmittel schätzen; 

3. den zu entwöhnenden Trinkern die erste Zeit der Abstinenz dadurch 
erleichtert wird; 

4. Antialkoholvereinigungen ohne eignes Heim den Wirt durch Verzehr 
derselben entschädigen müssen. 

II. Als Ereatzgetränke kommen in erster Linie in Betracht natürliche und 
künstliche Mineralwässer, unvergorene Frucht- und Obstsäfte, Kakao und mit 
Einschränkung Tee und Kaffee. 

III. Sehr erstrebenswert ist die Einführung von Milch als Ersatzgetränk. 

IV. Zu verwerfen sind Getränke, die nach Herstellung und Beschaffenheit 
alkoholische Getränke Vortäuschen können. 

V. Es wird eine große Menge nicht einwandfreier Ersatzgetränke auf den 
Markt gebracht. Behörden und Vereine müssen sich eine Überwachung und 
Untersuchung derselben angelegen sein lassen. 

Der Mitberichteretatter P. Schmitz-Heidhausen wandte sich im allgemeinen 
gegen die Darreichung von Ersatzgetränken in Trinkerheilanstalten; vor allem 
solle man sich hüten, hier solche Getränke zu verabfolgen, welche im Aussehen 
und Geschmack den alkoholhaltigen Getränken verwandt seien. Klares Wasser, 
frische Milch, gutes Obst sei unbedingt das beste, was als Ersatz erreicht werden 
kann und darf. Auch mit diesen Ausführungen muß sich jeder Anstaltsleiter 
voll und ganz einverstanden erklären; im einzelnen betonte er folgendes: 

1. Die Heilmethode jeder Trinkerheilstätte geht vom Standpunkte der Total¬ 
abstinenz aus. 

2. Diesem Grundsatz muß sich alles unterordnen, was bei der Heilung in 
Betracht kommt, folglich auch die Frage der Ersatzgetränke. 

3. Dieser Standpunkt der Trinkerheilstätten muß während und nach der Kur, 
für den Trinker sowohl, wie für seine Umgebung maßgebend sein. 

4. Wir betrachten die wirklich einwandsfreien, absolut alkoholfreien Ersatz¬ 
getränke lediglich als Übergangs- und Entwöhnungsmittel, denn beim Trinker ist 


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Mitteilungen. 


nicht nur die Sucht nach Alkohol, sondern überhaupt das gewohnheitsmäßige 
Trinken vom Übel. 

5. Besonders gefährlich sind diejenigen Getränke, welche durch Namen, 

Aussehen und Geschmack an verwandte alkoholhaltige Getränke erinnern; denn 
das Bedürfnis nach etwas Ähnlichem läßt beim geringsten Anlaß den Unterschied 
leicht übersehen. * 

6. Die den Begriffen des Gesetzes entsprechenden alkoholfreien, aber meistens 
nur alkoholarmen Getränke sind für jeden Alkohölisten ein noli me tangere, 
weil seine krankhafte Sucht auch durch die geringste Dosis Alkohol geweckt und 
gefördert wird. 

7. Aus obigen Gründen sind Reform-Restaurants, welohe aus Geschäfts¬ 
interessen errichtet und ohne sachkundige Leitung betrieben werden, für geheilte 
Trinker gefährlich. 

8. Der beste Ersatz für alle geistigen Getränke sind reines Wasser, gutes 
Obst und Milch — dank unserer fortgeschrittenen Bestrebung heute fast überall 
erhältlich. 

Der fernere Punkt der Tagesordnung betreffend „Mitteilungen aus der 
praktischen Arbeit der Trinkerheilstätten“ mußte ausgesetzt werden, 
da der Referent, Inspektor Jörn-Reinbeck, am Erscheinen behindert ward; es ist 
dieses Thema für die nächste Versammlung in Aussicht genommen. 

Nach der Versammlung wurde die Trinkerheüstätte „St. Bernhardshof“ 
bei Maria-Veen im Anschluß an die daselbst errichtete Arbeiterkolonie durch 
einige, leider nur wenige Teilnehmer besichtigt. Diese Anstalt, welche im Jahre 
1902 ins Leben gerufen ist, hat den Zweck „katholischen Männern, welche an 
den Folgen des Alkoholgenusses leiden, behilflich zu sein, ihren bisherigen schäd¬ 
lichen Gewohnheiten zu entsagen und sie an eine gesunde und geregelte Lebens¬ 
weise zu gewöhnen“. Das in rein ländlicher Umgebung belegene, in Ziegelroh¬ 
bau errichtete Anstaltsgebäude birgt für 50 Personen Platz. Außer einer Reihe 
Einzelzimmer ist ein großer Schlafsaal für 20 Betten vorhanden; Speisezimmer, 
Aufenthaltsraum und Betsaal stehen zur Erholung und Erbauung den Patienten, 
welche an eine streng religiöse Hausordnung gewöhnt, zur Beschäftigung, nach 
Möglichkeit im Freien angehalten werden, zur Verfügung. Alle Insassen sind 
verpflichtet, an den gemeinschaftlichen Übungen und Andachten täglich teilzu¬ 
nehmen. Die Leitung der Heilstätte liegt in der Hand von Mitgliedern des 
Trappistenordens; die ärztliche Behandlung tritt nicht in den Vordergrund bei 
dem Heilverfahren, der die Anstalt versorgende Arzt wohnt einige Meilen ent¬ 
fernt. Wir wurden von den Patres aufs herzlichste empfangen und über alles 
Wissenswerte, was Kolonie wie Trinkerheilstätte anlangt, bereitwilligst unterrichtet. 

Damit fanden die Münster-Tage einen würdigen Abschluß; mit Freude und 
Dankbarkeit gegen die Veranstalter werden alle Teilnehmer ihrer gedenken. Dem 
Deutschen Verein gratulieren wir zu diesem Erfolg, den Münsterländer Freunden, 
welche diese Erfolge erzielten, wünschen wir ein klüftiges Anwachsen ihrer 
Streitkraft und ein segensreiches Wirken! Auf Wiedersehen im nächsten Jahre 
in Karlsruhe! Wdt. 


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