Boston
Medical Library
8 The Fenway
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Der Alkoholismus
Zeitschrift zur wissenschaftlichen
JS5 Erörterung der Alkoholfrage ©
unterstützt durch den Deutschen Verein
gegen den Mißbrauch geistiger Getränke.
Organ des Verbandes der Trinkerheilstätten des deutschen Sprachgebietes.
Unter besonderer Mitwirkung von
Dr. med. ALT, Direktor der Landesirrenanstalt Uchtspringe; Geh. Med.-Rat Dr.
BAER, Berlin; Dr. med. COLLA, Finkenwalde; Professor Dr. med. CRAMER,
Göttingen; Dr. med. GRAF DOUGLAS, Berlin; Professor Dr. jur. ENDEMANN,
Heidelberg; Geh. Med.-Rat Professor Dr. C. FRAENKEL, Halle; Professor Dr. GRA-
WITZ, Charlottenburg; Professor Dr. von GRÜTZNER, Tübingen; Geh. Ober¬
medizinalrat Dr. PISTOR, Berlin; Sanitätsrat Dr. SCHAEFER, Direktor der Landes¬
irrenanstalt Lengerich; Senatspräsident Dr. jur. von STRAUSS und TORNEY, Berlin;
Professor Dr. med. TUCZEK, Marburg; Geh. Reg.-Rat Dr. jur. ZACHER, Berlin
herausgegeben von
Dr. med. J. Waldschmidt.
ISTeue Folge. — Q. Band.
Leipzig, 1905.
Johann Ambrosius Barth. M.ll, U..7 k2
Eoßpiatz 17. Ber jj n ^ fö
lUiürsluirtiarom W*
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Druck von Grimme <fe Trömel in Leipzig.
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Inhaltsverzeichnis von Band H
Heft I.
I. Originalabhandlungen. Seite
Waldschmidt, Dr. Zur Jahreswende.1
Marcuse, Dr. Beiträge zum Alkoholkonsum der arbeitenden Klassen . . 8
Kttßner, Pastor Dr. G. Was sind wir unseren Kanalarbeitem schuldig?
(Schluß).13
n. Referate.
Schenk, Pani. Gebrauch und Mißbrauch des Alkohols in der Medizin . . 67
Ziehen, Th. Über den Einfluß des Alkohols auf das Nervensystem . . 67
Steger, Josef ond Daum, Adolf. Was die Jugend vom Alkohol wissen soll 68
Meyer, Ernst. Über den Einfluß der Alkohoiica auf die sekretorische und
motorische Tätigkeit des Magens.68,
Bickel. Über den Einfluß des Alkohols auf die Herzgröße.69
Goddard, W. H. Über Alkohol als Nahrungsmittel.69
Hoppe. Die Tatsachen über den Alkohol.69
Grotjahn. Der Alkoholisraus.69
,, Soziale Hygiene und Entartungsproblem.69
Mombert. Das Nahrungswesen.70?
Freund. Die Alkoholfrage in der Armee.70
Merth, Heinrich. Die Trunksucht und ihre Bekämpfung durch die Schule 71
Damaschke, A. Alkohol und Volksschule.71
Keferstein. Moderne Arbeiterbewegung und Alkoholfrage.71
Schmidt, H. Fr. Kellners Weh und Wohl.72
Marcuse, Julian. Kleine Gesundheitslehre.72
Behrens, Peter. Alkohol und Kunst.72
Stellmacher, A. Auf neuer Bahn.73
Bonne. Mäßigkeit, Enthaltsamkeit und Christentum.78
Popert. Wir und das Alkoholkapital.73
Die Bekämpfung des Alkoholismus in Holland.73
Schmidt, Peter. Bibliographie.74
m. Mitteilungen.
Jahresbericht des Schleswig-holsteinischen Bezirksvereins gegen den Mi߬
brauch geistiger Getränke.81
Bemische Trinkerheilstätte „Nüchtern“.82
Stift Isenwald.83
Ablaßgebet.83
Die Polizei im Kampf gegen den Alkohol .88
Der Guttemplerorden. . 84
Internationaler Kongreß gegen den Alkoholismus.84
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IY Inhaltsverzeichnis von Band II.
Seite
Antialtohol — Blaues Kreuz — religiöser Wahnsinn.85
Entmündigt im deutschen Reich.86
Zentralverband zur Bekämpfung des Alkoholismus in Berlin.87
Zur Säkularfeier Speners.87
Heft II.
I. Originalabhandlungen.
Stubbe. Pastor Dr. Aua der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-
Holstein .89
Laquer, Dr. B. Das Verhältnis von Trunksucht zu Armut und Verbrechen
in den Vereinigten Staaten.114
Flade, Dr. E. Was erhoffen wir von unserer Armee?.122
n. Heferate.
Btfsler. Über die nationale Bedeutung unserer Enthaltsamkeitsbewegung . 142
Straßmium, Fr. Alkohölisinus und Ehescheidung. 142
Kutner. Zur Diagnostik des pathologischen Rausches.142
Buehat. Der Alkoholismus in Italien.148
Laquer. Trunksucht Und Temperen^ iü den Vereinigten Staaten .... 144
Tan Ahlen. Beitrag zur Kenntnis der Polyneuritis alcoholica.145
Orel. Alkoholismus und soziale Frage.146
Brandeis. Beiträge zur Erziehungshygiene.146
' Beteiligung des englischen Adels an den Alkoholgewerben.146
HI. Mitteilungen.
Der enthaltsame Märker. 147
Der Reohabit.147
Der Retter.147
Die Lintorfer Heil- und Pflegeanstalten.147
Ministerialerlaß betreffend die Fürsorge für die Eisenbahnbediensteten . . 149
Belehrungskarte Quensels „Tatsachen über das Bier“.151
Crime and Drunckenness in Australia .152
Heft IH.
I. Originalabhandlungen.
Stubbe, Pastor Dr. Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-
Holstein .153
Die Heilstätte „Waldfrieden“.172
Kappelmann, Stadtrat. Entwurf für ein Reichsgesetz betreffend die Für¬
sorge für Trunksüchtige.192
n. Heferate.
Boissier. Absinthvergiftung in einer abstinenten Familie auf dem Wege
der Inhalation.220
Von seinen Eindrücken in Gothenburg . 220
Über die Weinernte in Frankreich im Jahre 1904 . 220
Die Amerikanische Gesellschaft für soziale Bestrebungen.220
Die Lösungen des Trinkproblems. 221
Steiner-Stooß, H. Alkoholismus und Mortalität in den größeren städtischen
Gemeinden der Schweiz.222
Schmidt, Peter. Bibliographie.223
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Inhaltsverzeichnis von Band II.
V
III. Mitteilungen.
Alkoholismus als Todesursache in den Vereinigten Staaten.231
Sterblichkeit an Alkoholismus in England und Wales.. 231
Alkohol und Unfall.232
Heft IV.
I. Originalabhandlungen.
Laehr, Prof. Dr. Max. Alkoholismus und Nervosität.233
Laquer, Dr. B. Geschichtliches zur Alkoholfrage.250
II. Mitteilungen.
Marine und Alkohol *.265
Der Kieler Stadtausschuß.266
Alkoholismus unter den österreichischen Bergarbeitern.267
Aus dem Jahresbericht der Badischen Fabrikinspektion.267
Die wissenschaftlichen Kurse des Berliner Zentralverbandes.269
Das preußische Abgeordnetenhaus.279
Programm des X. Internationalen Kongresses.279
Heft V.
I. Originalabhandlungen.
Daum, Dr. Adolf. Die Alkoholgegnerkongresse.281
n. Referate.
Kruse. Unsere Aufgaben an den Opfern des Alkohols.295
Stubbe. Das Trinken in Schleswig-Holstein.295
Marciuowski. Im Kampf um gesunde Nerven.295
Laquer. Sozial-Hygienisches aus den Vereinigten Staaten.296
Baecke. Zur Abgrenzung der forensischen Alkoholparanoia.296
Bonne. Über den Trinkzwang beim Broterwerb.296
Fröhlich. Alkohol als Krankheitsursache.297
Alkoholgenuß schulpflichtiger Kinder.297
Hartmeyer, Hans. Der Weinhandel im Gebiete der Hansa im Mittelalter 298
Mnralt. Abstinente Naturvölker . 299
Schröder, Paul. Über chronische Alkoholpsychosen.299
Reinhardt, Ludwig. Im Kampfe gegen den Alkohol.300
Lehmann. Die Industrie der alkoholfreien Getränke . 301
Hlndhede. Die Stellung des Arztes zum Alkohol ..301
Süll. Zur Hygiene des Trinkens in den Tropen.302
Frlderich, Mathfins. Wider den Sauffteuffel.302
Flade. Der Kampf gegen den Alkoholismus.302
Haase, Georg. Ein Gläschen in Ehren!.303
Andrae. Die Sterblichkeit in den Berufen.303
Rosenthal, 0. Alkoholismus und Prostitution.305
Ffirbringer. Zur Bewertung des Tremors als Zeichen des Alkoholismus . 305
Wehmer. Praktische Erfahrungen bei Entmündigung Trunksüchtiger . . 306
Kornfeld. Traumatische Geistesstörung.306
Weygandt. Psychiatrische Begutachtung bei Vergehen und Verbrechen . 306
Stegmann. Über Alkoholismus und Delikte wider die Sittlichkeit . . . 306
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VI
Inhaltsverzeichnis von Band II.
Seite
Siefert. Zur Frage der Schlaftrunkenheit.306
Oudden. Das Bierdelirium.307
Funk. Die Trunkenheit im Militärstraf verfahren.307
Über den Genuß alkoholischer Getränke im schulpflichtigen Alter . . . 307
Alkoholismus unter Schülern in Ostpreußen.308
Ruß* Zur Frage der Bakterizidie (Bakterientötung) durch Alkohol . . . 308
Heilbronner, Karl. Die strafrechtliche Begutachtung der Trinker . . . 308
Daum, Adolf. Selbsttötung und Selbstbetäubung.309
Schenk, Paul. Der „pathologische Bausch“.310
Schmidt, Peter. Bibliographie.311
III. Mitteilungen.
Die Unfallstatistik für Land- und Forstwirtschaft 1901.318
Verfügung der Regierungspräsidenten zu Potsdam und Frankfurt . . . . 321
Der Branntwein im dänischen Heere. .322
Getränkesteuer in Baden. 323
Statistik der badischen Steuerdirektion.323
Zur Branntwein- und Bierstatistik.324
Badische Heilstätte für Alkoholkranke zu Benchen.326
Erholungsheim für junge Mädchen.326
Stift Isenwald Jahresbericht. 327
Sonderausstellung zur Bekämpfung des Alkoholismus in Graz.327
Der 3. deutsche Abstinententag.328
Der X. internationale Kongreß gegen den Alkoholismus in Budapest . . 330
Heft VI.
I. Originalabhandlungen.
Stubbe, Pastor Dr. Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-
Holstein .337
n. Referate.
Deherme. Der Alkoholismus in den Kolonien.373
Nin Y Sylva. Celedonio. Der Alkoholismus in Uruguay.374
von Mäday, Isidor. Die Alkoholfrage in Ungarn.374
Dumouchel. Alkoholverbrauch in Frankreich 1904 375
Warming. Jahrbuch für Alkoholgegner.376
Haft. Deutsches Taschenbuch für Abstinenten.'.376
Laureti. Zucchero e alcool.376
Fraenkel, C. Gesundheit und Alkohol.377
Petersen. Der Alkohol.377
? uensel. Der Alkohol und seine Gefahren.377
rinzing. Trunksucht und Selbstmord und deren gegenseitige Beziehungen 378
Der Alkoholgegner.378
Bunge. Die zunehmende Unfähigkeit der Frauen, ihre Kinder zu stillen . 378
Bonhoeffer. Die alkoholischen Geistesstörungen.379
III. Mitteilungen.
Das Gast- und Schankwirtschaftsgewerbe und der Kleinhandel mit Brannt¬
wein und Spiritus im Herzogtum Sachsen-Meiningen.381
Die 22. Jahresversammlung des Deutschen Vereins gegen den Mißbrauch
geistiger Getränke.383
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Sachverzeichnis.
A.
Über Alkohol als Nahrungsmittel 69.
Der Alkoholismus 69.
Die Alkoholfrage in der Armee 70.
Alkohol und Volksschule 71.
Moderne Arbeiterbewegung und Alkohol¬
frage 71.
Alkohol und Kunst 72.
Auf neuer Bahn 78.
Ablaßgebet 83.
Antialkohol — Blaues Kreuz — religiöser
Wahnsinn 85.
Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in
Schleswig-Holstein 89. 153. 887.
Alkoholismus und Ehescheidung 142.
Der Alkoholismus in Italien 143.
Alkoholismus und soziale Frage 146.
Absinthvergiftung in einer abstinenten
Familie auf dem Wege der Inhalation
220 .
Die Amerikanische Gesellschaft für so¬
ziale Bestrebungen 220.
Alkoholismus und Mortalität in den grö¬
ßeren städt. Gemeinden der Schweiz
222 .
Alkoholismus als Todesursache in den
Vereinigten Staaten 231.
Alkohol und Unfall 232.
Alkoholismus und Nervosität 233.
Alkoholismus unter den österreichischen
Bergarbeitern 267.
Die Alkoholgegnerkongresse 281.
Unsere Aufgaben an den Opfern des
Alkohols 295.
Zur Abgrenzung der forensischen Alkohol¬
paranoia 296.
Alkohol als Krankheitsursache 297.
Alkoholgenuß schulpflichtiger Kinder 297.
Abstinente Naturvölker 299.
Über chronische Alkoholpsychosen 299.
Alkoholismus und Prostitution 305.
Alkoholismus und Delikte wider die Sitt¬
lichkeit 306.
Alkoholismus unter den Schülern in Ost¬
preußen 308.
Der 3. deutsche Abstinententag 328.
Der Alkoholismus in den Kolonien 373.
Der Alkoholismus in Uruguay 374.
Alkohol verbrauch in Frankreich 1904
375
Der Alkohol 377.
Der Alkohol und seine Gefahren 377.
Der Alkoholgegner 378.
Die alkoholischen Geistesstörungen 379.
B.
Beiträge zum Alkoholkonsum der arbei¬
tenden Klassen 8.
Die Bekämpfung des Alkoholismus in
Holland 73.
Bibliographie 74. 223. 311.
Bernische Trinkerheilstätte „Nüchtern“
82.
Beitrag zur Kenntnis der Polyneuritis
alcoholica 145.
Beitrag zur Erziehungshygiene 146.
Beteiligung des englischen Adels an den
Alkoholgewerben 146.
Belehrungskarte Quensels „Tatsachen
über das Bier“ 151.
Zur Bewertung des Tremors als Zeichen
des Alkoholismus 305.
Das Bierdelirium 307.
Zur Frage der Bakterizidie durch Al¬
kohol 308.
Der Branntwein im dänischen Heere 822.
Zur Branntwein- und Bierstatistik 324.
Badische Heilstätte für Alkoholkranke zu
Eenchen 326.
c.
Crime and Drunckenness in Australia 152.
D.
Zur Diagnostik des pathologischen Rau¬
sches 142.
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HARVARD UNIVERSUM
VIII
Sachverzeichnis.
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E.
Über den Einfluß des Alkohols auf das
Nervensystem 67.
Über den Einfluß der Alkoholica auf die
sekretorische und motorische Tätigkeit
des Magens 68.
Über den Einfluß des Alkohols auf die
Herzgröße 69.
Entmündigt im deutschen Reich 86.
Entwurf für ein Reichsgesetz betreffend
die Fürsorge für Trunksüchtige 192.
Von seinen Eindrücken in Gothenburg
220 .
Erholungsheim für junge Mädchen 826.
G.
Gebrauch und Mißbrauch des Alkohols
in der Medizin 67.
Kleine Gesundheitslehre 72.
Der Guttemplerorden 84.
Geschichtliches zur Alkoholfrage 250.
Ein Gläschen in Ehren! 303.
Über den Genuß alkoholischer Getränke
im schulpflichtigen Alter 307.
Getränkesteuer in Baden 323.
Gesundheit und Alkohol 377.
Das Gast- und Schankwirtschaftsgewerbe
und der Kleinhandel mit Branntwein
im Herzogtum Sachsen-Meiningen 381.!
H.
Zur Hygiene des Trinkens in den Tro¬
pen 302.
I.
Stift Isenwald 83, 327.
Internationaler Kongreß gegen den Al¬
koholismus 84. .830.
Die Industrie der alkoholfreien Getränke
301.
J.
Zur Jahreswende 1.
Was die Jugend vom Alkohol wissen
soll 68.
Jahresbericht des schleswig-holstein. Be¬
zirksvereins gegen den Mißbrauch g. G.
81.
Aus dem Jahresbericht der Badischen
Fabrikinspektion 267.
Jahrbuch für Alkoholgegner 376.
Die 22. Jahresversammlung des deut¬
schen Vereins gegen den Mißbrauch
geistiger Getränke 383.
K.
Was sind wir unsem Kanalarbeitern
schuldig? 13.
Kellners Weh und Wohl 72.
Der Kieler Stadtausschuß 266.
Im Kampf um gesunde Nerven 295.
Im Kampf gegen den Alkohol 300.
Im Kampf gegen den Alkoholismus 802.
L.
Die Lintorfer Heil- und Pflegeanstalten
147.
Die Lösung des Trinkproblems 221.
M.
Mäßigkeit, Enthaltsamkeit und Christen¬
tum 73.
Der enthaltsame Märker 147.
Ministerialerlaß betreffend die Fürsorge
für die Eisenbahnbediensteten 149.
Marine und Alkohol 265.
H.
Das Nahrungswesen 70.
Über die nationale Bedeutung unserer
Enthaltsamkeitsbewegung 142.
P.
Die Polizei im Kampf gegen den Al¬
kohol 88.
Das preußische Abgeordnetenhaus 279.
Programm des X. internationalen Kon¬
gresses 279.
Praktische Erfahrungen bei Entmün¬
digung Trunksüchtiger 306.
Psychiatrische Begutachtung bei Ver¬
gehen und Verbrechen 306.
Der pathologische Rausch 310.
B.
Der Rechabit 147.
Der Retter 147.
S.
Soziale Hygiene und Entartungsproblem
69.
Zur Säkularfeier Speners 87.
Sterblichkeit an Alkoholismus in Eng¬
land und Wales 231.
Sozial-Hygienisches aus den Vereinigten
Staaten 296.
Die Stellung des Arztes zum Alkohol 801.
Gck igle
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HARVARD UNIVERSUM
Sachverzeichnis.
IX
Die Sterblichkeit in den Berufen 308.
Zur Frage der Schlaftrunkenheit 306.
Die strafrechtliche Begutachtung der
Trinker 808.
Selbsttötung und Selbstbetäubung 309.
Statistik der badischen Steuerdirektion
323.
Sonderausstellung zur Bekämpfung des
Alkoholismus zu Graz 327.
T.
Die Tatsachen über den Alkohol 69.
Die Trunksucht und ihre Bekämpfung
durch die Schule 71.
Trunksucht und Temperenz in den Ver¬
einigten Staaten 144.
Das Trinken in Schleswig-Holstein 295.
Über den Trinkzwang beim Broterwerb
296.
Traumatische Geistesstörung 306.
Die Trunkenheit im Militärstrafverfahren
307.
Deutsches Taschenbuch für Abstinenten
376.
Trunksucht und Selbstmord und deren
gegenseitige Beziehungen 878.
U.
Die Unfallstatistik für Land- und Forst¬
wirtschaft 1901 818.
Die zunehmende Unfähigkeit der Frauen,
ihre Kinder zu stillen 878.
V.
Das Verhältnis von Trunksucht zu Ar¬
mut und Verbrechen in den Vereinig¬
ten Staaten 114.
Verfügung des Regierungspräsidenten zu
Potsdam und Frankfurt 321.
W.
Wir und das Alkoholkapitel 73.
Was erhoffen wir von unserer Armee
122 .
Die Heilstätte „Waldfrieden“ 172.
Über die Weinernte in Frankreich im
Jahre 1904 220.
Die wissenschaftlichen Kurse des Zen¬
tralverbandes 269.
Der Weinhandel im Gebiete der Hansa
im Mittelalter 298.
Wider den Sauffteuffel 302.
Z.
Zentralverband zur Bekämpfung des Al¬
koholismus in Berlin 87.
Zucchero e alcool 376.
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Gck igle
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HARVARD UNIVERSITY
A.
Ahlen, van 145.
Andrae 303.
B.
Behrens 72.
Bickel 69.
Boissier 220.
ßonhoeffer 379.
Bonne 73. 296.
Brandeis 146.
Bunge 378.
D.
Damaschke 71.
Daum 281. 309.
Deherme 373.
Dumouchel 375.
P.
Flade 122, 302.
Fraenkel 377.
Freund 70.
Fröhlich 297.
Friderich 302.
Funk 307.
Fürbringer 305.
G.
Goddard 69.
Grotjahn 69.
Gudden 307.
H.
Haase 303.
Haft 376.
Namenverzeichnis.
I Hartmeyer 298.
I Heilbronner 808.
I Hindhede 301.
Hoppe 69.
i
K
Kappelmann 192.
Keferstein 71.
Kornfeld 306.
Kruse 296.
Külz 302.
Kutner 142.
Küßner 13.
L.
Laehr 238.
Laquer 114. 144. 250. 296.
Laureti 376.
Lehmann 301.
M.
Mäday, von 374.
Marcinowski 295.
Marcuse 8. 72.
Merth 71.
Meyer 68.
Mombert 70.
Muralt 299.
O.
Orel 146.
P.
Petersen 877.
Popert 78.
Prinzing 378.
Q.
Quensel 377.
B.
Raecke 296.
Reinhardt 800.
Rochat 143.
I Rosenthal 305.
I Rösler 142.
Ruß 308.
S.
Schenk 67. 310.
Schmidt, H. F. 72.
Schmidt, P. 74. 223. 311.
Schröder 299.
Siefert 306.
Steger 68.
Stegmann 306.
Steiner-Stooß 222.
Stellmacher ,78.
Straßmann 142.
Stubbe 89. 153. 295. 337.
Sylva 374.
W.
Waldschmidt 1.
Warming 376.
Wehmer 806.
Weygandt 306.
Z.
Ziehen 67.
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Der Alkoholismus
Zeitschrift zur wissenschaftlichen Erörterung der Alkoholfrage
1905 Neue Folge — Band II No. 1
L Originalabhandlnngen.
Zur Jahreswende.
Faßt man die Alkoholfrage vom Standpunkte des Sozialpolitikers
ins Auge, so wird man sich nicht verhehlen können, daß alles Werben
um Gunst für Einzelbestrebungen keinen oder doch nur geringen
Wert für die Hebung der gesamten Volkswohlfahrt hat. Demnach
darf in den Reihen der Kämpfer auf dem Gebiete des Alkoholismus
nicht verkannt werden, daß ihr Mühen nur ein einseitiges genannt
werden muß, um das Volksglück zu erhöhen, sofern sie die mannig¬
fachen Nebenumstände außer acht lassen. Die Heranziehung aller
Faktoren kann hier nur dauernd förderlich wirken. Mit vereinten
Kräften heißt die Losung: nicht einseitig vorgehen, sondern sich
zu einem gemeinsamen Ganzen gruppieren unter einheitlicher Füh¬
rung — dies der Leitstern für die Lösung dessen, was wir soziale
Frage nennen.
Wenn wir uns in einem gewissen Humanitätsdusel, wie dies
schöne Wort lautet, uni ausdrücken zu wollen, daß wir gewillt sind,
die Schädigungen zu heben oder doch wenigstens zu lindem, welche
an dem Innern der Volksseele zehren, befinden, so hat das gewiß
seinen guten Grund. Wir sind fortlaufend gewissen Wellenbe¬
wegungen unterworfen; „alles schon mal dagewesen“, heißt es im
Volksmunde, und es ist nicht zu leugnen, daß wir uns mal wieder
zur Zeit auf dem Gipfel einer solchen — sozialen — Welle befinden,
die nach dem künstlichen Anstieg sicherlich demnächst ihren Abfall
als recht natürliche Reaktion aufzuweisen haben wird. So war es
von jeher, so ist es zur heutigen Zeit, und so wird es ewig
bleiben. — Man braucht nun wahrlich nicht lange nach einem
kausalen Zusammenhänge der Einzelwirkungen unter sich zu suchen,
wenn man die Erschütterung der Volkskraft und das Umsichgreifen
der Alkoholseuche erblickt. Sie bildet unbedingt ein Glied in der
Kette dessen, was wir zur Vernichtung der Volksgesundheit, mithin
des Volksglücks gehörig ansehen — ein Glied, dessen Bedeutung
noch viel zu wenig gewürdigt wird. Man hat genügend dargetan
Der Alkoholismus. 1905. i
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Original fro-m
HARVARD UNIVERSITY
2
Zur Jahreswende.
und durch die Wissenschaft, die nebenbei gar häufig recht un¬
wissenschaftlich ausgebeutet wird, erhärtet, daß der Alkohol als
solcher Schädigungen zu veranlassen im stände ist, die Glück und
Zufriedenheit, Ruhe und Ordnung zerstören, und angesichts des viel¬
fach dadurch hervorgerufenen Elends kann es nicht wundemehmen,
daß diejenigen, welche zur Linderung der Not ihre beste Kraft ein¬
zusetzen bereit, auf Unverständnis, Hohn und Spott ihrer Mitmenschen
stoßend, ihre Arbeit zu einem Kampf, ihre Erfolge zu einem Triumpf
werden lassen. Es muß anerkannt werden, daß zur Erreichung eines
jeden großen Zieles ein gewisser Fanatismus gehört, daß ein Sieg
nur dem Kämpfer gebührt, welcher mit Ausdauer und Kraft und
einem guten Stück Heroismus sein Ziel verfolgt, der sich immer
wieder zu seinem eigenen Yorgehen begeistert, mit dieser und durch
diese Selbstbegeisterung seinem Ziele zustrebt. Der dazu gehörige
Idealismus aber fehlt gar häufig in dieser nüchternen Alltagswelt;
wir befinden uns in einer zu kritischen Weltanschauung, als daß
wir in der Erkennung dessen, was uns umgibt, etwa das erblicken
könnten, was uns durch optimistische Anwandlungen gar zu gern
suggeriert wird. Nimmermehr wird der Optimismus die Welt er¬
obern, ebensowenig ist sein Antipode imstande den Sieg zu er¬
ringen; der Wert liegt auch hier in der Mitte, er wird nach
Abflachung jener beiden Pole, welche durch immerwährendes Auf¬
einanderplatzen allmählich ihre Spitzen verlieren, die Macht erlangen,
welche allein befähigt, die Weltordnung zu schützen und zu befestigen
und zwar unter Zusammenfassung und Benutzung aller Kräfte!
Wenn nach dieser Richtung auf dem großen Gebiete der
sozialen Fürsorge das verflossene Jahr einen Schritt vorwärts getan
hat, so darf dafür in erster Reihe der im preußischen Abgeordneten¬
haus vom Grafen Douglas eingebrachte Antrag auf Einsetzung
einer Landeskommission für Yolkswohlfahrt, welcher das hohe
Haus am 24. November eingehend beschäftigte, angesprochen werden.
In der ausführlichen Begründung wird vom Antragsteller vor allem
auf die Zersplitterung der Kräfte nach der materiellen, wie ideellen
Seite hingewiesen, sowie die Forderung gestellt, eine organische Ver¬
bindung unter den Einzelbestrebungen, die sich im Interesse der
Volksgesundheit ungemein ausgedehnt haben, zu schaffen, welche
den Mittelpunkt, die Sammelstelle für die Sonderinteressen bildet.
„Ja, mehr und mehr erkennt unser Volk seine wahren Freunde, die,
fern von Phrasen und Utopien, nur praktisch Durchführbares er¬
streben, den Worten fürsorglicher Liebe aber alsdann auch die Taten
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Original fro-m
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Zur Jahreswende.
3
folgen lassen. In solchen Anregungen haben wir, die wir hier aus¬
schließlich den staatserhaltenden Parteien angehören, stets unsere
höchsten Aufgaben erblickt und fanden bei der Königlichen Staats¬
regierung stets volles Verständnis und tatkräftige Unterstützung. Die
Annahme und spätere Durchführung unseres Antrages aber, der die
gesamte Volkswohlfahrt einschließt, muß wie überall segenbringend,
so auch wahrhaft aufklärend und versöhnend wirken.“ Diesen im
Sinne der Genfer Konvention vom Roten Kreuz gesprochenen Worten
des Grafen Douglas wird man nur seine Zustimmung geben können
und zwar aus folgenden Gründen. Mit unerwarteter Schnelligkeit
hat sich das Interesse für die Lungenheilstätten-Bewegung Bahn ge¬
brochen, was wohl auf den Umstand zurückzuführen ist, daß sich
dieser Fürsorge Männer annahmen, welche mit Geschick und Um¬
sicht den Schädigungen, welche die Tuberkulose im Volk verbreitet,
durch praktische Maßnahmen zu begegnen suchten, indem sie Heil¬
stätten ins Leben riefen. Und da die diesbezüglichen Erkrankungen
mit ihren schädlichen Einflüssen unschwer erkennbar, für jeder¬
mann offensichtlich sind, hatte man im Verhältnis leichtes Spiel,
um breitere Volksmassen und die Behörden für diesbezügliche Be¬
strebungen zu gewinnen. Immerhin was will die (einseitige) Be¬
kämpfung der Tuberkulose bedeuten, wenn man die sie unter¬
stützenden und erzeugenden Faktoren außer acht läßt! Wiederholt
ist darauf hingewiesen worden, daß das Leiden nur dann als dauernd
getilgt angesehen werden darf, wenn seine mittelbaren und unmittel¬
baren Förderer beseitigt werden. Man hat auf der einen Seite auf
die Wohnungsfrage verwiesen, auf der andern dabei an die Be¬
kämpfung des Alkoholismus gedacht; es sind aber ebensogut wie
die Körperpflege und das Gemütsleben alle destruktiven Elemente
im Lebenshaushalte zu berücksichtigen, will man Dauererfolge
erzielen. Und weiter, was will das heißen, wenn man die Säug¬
lingssterblichkeit durch Palliativmittel wie bessere Ernährung, durch
Zuführung guter Milch u. s. w. zu vermindern sich bestrebt, dabei
aber ganz unberücksichtigt läßt, daß der Säugling auch einen Vater
und eine Mutter gehabt hat, deren soziales Milieu schwer auf dem
Erzeugnis lastet. Bekanntlich ist die Sterblichkeitsziffer der unehe¬
lichen Kinder eine ungleich höhere als die der ehelichen; und das
ist wahrlich nicht wunderbar. Man stelle sich mal vor, unter welchen
Umständen solche Wesen erzeugt werden, unter welchen Verhält¬
nissen diese Früchte sich entwickeln, und wie sie schließlich ausge¬
tragen und zur Welt gebracht werden. Ist es ein Wunder zu nennen,
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daß diese Erzeugnisse, denen der Fluch der Mutter von Anfang an
nicht gefehlt hat, welche in ihrer fötalen Entwicklung dank dem
Lebenswandel der Mutter schwer zu leiden gehabt haben, als Lebe¬
wesen zur Welt gebracht werden, denen der Stempel des Todes von
vornherein anfgedrückt ist?!
Und fragen wir uns weiter: ist es denn gleichgültig, welche
alkoholischen Einflüsse bei der Erzeugung mitgewirkt haben, wie
sich das Leben der Schwangeren in dieser Beziehung gestaltet hat?
— Graf Douglas gibt in seiner Rede an, daß Deutschland nächst
Rußland die größte Zahl der Sterblichkeit unter den Säuglingen in
Europa erreicht habe, daß Schweden früher uns hierin gleich ge¬
standen, aber durch Belehrung, Bekämpfung des Alkoholismus eine
Herabdrückung der hohen Mortalitätsziffer auf die Hälfte erzielt
habe. Es kann unbedenklich der Satz aufgestellt werden: keine
durchgreifenden Maßnahmen gegenüber der Säuglingssterblichkeit
ohne Bekämpfung des Alkoholismus!
Ganz und gar deplaciert ist die von gewisser Seite so gern
hinausposaunte Behauptung, daß die armen Frauen ihre Kinder
nicht richtig zu ernähren vermögen, daß Armut und Not die Säug¬
lingssterblichkeit bedinge, da die Mutter durch ihre schwache soziale
Lage zum Erwerb gezwungen, ihre Säuglinge deshalb vernachlässigen
müßten. Gewiß kann die Möglichkeit nicht bestritten werden,
indes in sehr vielen Fällen ist die wirtschaftliche Not dem Alkohol
zu verdanken. Daß der Mann von dem Wochenlohn nur die Hälfte
mit nach Hause bringt, ist nicht außergewöhnlich, daß die Frau als¬
dann zuverdienen muß, um die Familie zu erhalten, ist einleuchtend.
Es ist auch durchaus nicht selten, daß in der Familie der Ver¬
gnügungsteufel eine nicht unerhebliche Rolle spielt, und daß vom
Sparen nur höchst selten die Rede ist; dann sind die Mittel zur Ernäh¬
rung beim Anwachsen der Familienmitglieder ungenügend. Und da
scheint es mir nur ein Radikalmittel zu geben: Stärkung des Familien¬
lebens, Förderung der Häuslichkeit! Jede, durch den Alkohol so
leicht bedingte, Lockerung der Familienbande wirkt zerstörend und
vernichtend ein, sie vermindert das Verantwortlichkeitsgefühl bei
dem Einzelindividuum, schwächt seine sittliche und gesundheitliche
Kraft „Die Erhaltung deutschen Familienlebens“, meinte in der
Diskussion zu obigem Anträge Pastor von Bodelschwingh, sei der
erste Punkt, auf den die einzusetzende Landeskommission für Volks¬
wohlfahrt ihr Augenmerk zu richten habe. Dazu seien die nötigen
Bildungsanstalten, wie Haushaltungs- und Kochschulen, damit die
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Frau auch ihren Haushalt zu führen verstehe, zu beschaffen. Der
konzentrische Kampf solle sich in erster Linie auf den Alkohol be¬
ziehen, Staat und Gemeinde, Kirche und Schule, Ärzte und Vereine
sollen hier mithelfen zu gemeinsamem Tun. Indes nicht nur dieser
Mann, der auf dem Gebiet der Liebestätigkeit einzig dasteht, unter¬
stützte auf das lebhafteste den Antrag Graf Douglas, sondern
auch keiner der andern Redner, und hierzu hatten alle Fraktionen
des Hauses ihre Vertreter entsendet, widersprach demselben. So
äußerte sich Herr von Schenkendorff dahin, daß er und seine
Freunde alles das zu unterstützen bereit seien, was den Mißbrauch
geistiger Getränke bekämpfe. „Bei der sozialen Strömung der Zeit
hat sich aber die Volkswohlfahrtsfrage bereits zu einem hochwich¬
tigen Faktor des öffentlichen Lebens entwickelt, und es wäre als
eine Anpassung an diese zweifellos segensreiche Strömung des Volks¬
lebens zu betrachten, wenn für diese Zwecke aus der Mitte der
Landesvertretung eine solche Volkswohlfahrtskommission gebildet
würde, und ich lasse von hier den Ruf ertönen, meine Herren, nicht
nur im preußischen, sondern auch in jedem andern deutschen Parla¬
ment, überall möge eine solche Kommission eingesetzt werden.“ —
Das ist nebenbei dasselbe, was der Deutsche Verein gegen den Mi߬
brauch in Erfurt zum Ausdruck gebracht hat. — Dr. Ruegenberg
begrüßt den „fruchtbaren Gedanken“ des Antragstellers lebhaft
dessen Verwirklichung bedeutungsvoll sei, vorbeugende Maßnah¬
men für die Volksgesundheit zu treffen; dies sei viel verdienst¬
voller als die verlorene Gesundheit, und zwar oft nur notdürftig,
wiederherzustellen. „Was die Zentralstelle für Arbeiterwohlfahrts¬
einrichtungen für die Ministerien des Handels und der öffentlichen
Arbeiten, was der Beirat der Arbeiterstatistik für das reichsstatistische
Amt, was der Reichsgesundheitsrat für das Reichsgesundheitsamt,
was die wissenschaftliche Deputation für das Medizinalministerium
ist, das soll die zu errichtende Landeskommission für Volkswohl-
fahrt für die ganze Regierung, für alle ihre Ressorts werden, und
umgekehrt soll die Regierung in oder durch diese Kommission in
die Lage kommen, den zahlreichen Einzelbestrebungen die nötige
Einheit, Ziel und Stütze zu geben.“ Der Abgeordnete Goldschmidt
ist gleichfalls für die Kommission, die, wenn richtig zusammenge¬
setzt, sicherlich mit Erfolg werde arbeiten können. Er mahnt zur
Vorsicht bezüglich der Alkoholfrage, man dürfe in dieser Beziehung
nicht zu weit gehen, sondern müsse sich auf die Bekämpfung des
Alkohol miß br au chs beschränken; hiergegen würde sich kein ge-
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Zur Jahreswende.
bildeter Mensch auf der ganzen Welt sträuben. Durch Polizeima߬
nahmen sei hier aber nichts zu machen, das Volk sei aufzuklären,
zu erziehen, denn auf je höherer Bildungsstufe das Individuum
stehe, um so weniger sei es nach dieser Richtung gefährdet; es sei
aber auch auf Erreichung billiger und gesunder Nahrungsmittel
Wert zu legen; den Ursachen der Säuglingssterblichkeit sei durch
die Landeskommission nachzuspüren und sie mit allen Mitteln zu
bekämpfen — alles Aufgaben, derer sich die Landeskommission zu
bemächtigen habe. Nachdem noch die Abgeordneten Münsterberg,
Heckenroth und Prof. Dr. Faßbender ihre Sympathiekund¬
gebungen zu dem Anträge bezeugt hatten, wurde derselbe zur Durch¬
beratung an eine Kommission von 21 Mitgliedern verwiesen. Diese
Kommission hat in ihrer ersten Lesung bereits getagt und einmütig
beschlossen, im Plenum der Königl. Staatsregierung zu empfehlen,
einen „Landesausschuß für Volkswohlfahrt“ einzusetzen. Über den
Verlauf der Dinge, welche für die Förderung unserer Wohlfahrts¬
bestrebungen von der größten Bedeutung sind, werden wir weiter
zu berichten Gelegenheit haben. 1 )
*) Nach Drucklegung dieser Zeilen ist folgende Resolution von der Kommission
einstimmig angenommen:
„Das Haus der Abgeordneten wolle beschließen, die Königl. Staatsregierung zu
ersuchen, möglichst bald als behördliche Einrichtung zur Förderung der Volks Wohl¬
fahrt in Stadt und Land ein Volkswohlfahrtsamt zu schaffen, behufs aus¬
giebiger Mitwirkung des Laienelements ihm einen ständigen Beirat anzugliedem
und die hierher erforderlichen Mittel im Staatshaushalt bereitzustellen. Das Volks¬
wohlfahrtsamt soll unmittelbar dem Staatsministerium unterstellt werden, die Er¬
nennung des Vorsitzenden und der Mitglieder durch den König erfolgen. Es soll
ihm insbesondere obliegen: 1. die Entwicklung der Volkswohlfahrtspflege im In-
und Auslande zu verfolgen und darüber der Staatsregierung fortlaufend Bericht
zu erstatten; 2. Wahrnehmungen, die ein Eingreifen oder eine Abänderung der
Gesetzgebung erforderlich erscheinen lassen, der Staatsregierung mitzuteilen; 3. auf
Anordnung der Staatsregierung Gutachten zu erstatten, Vorschläge auszuarbeiten
und bei der Vorbereitung von Gesetzentwürfen und Verwaltungsanordnnngen mit¬
zuwirken; 4. auf Anordnung der Staatsregierung bei größeren Unglücksfällen oder
Notständen die freiwillige Hilfstätigkeit einheitlich zu leiten.
Bei der Berufung in den ständigen Beirat sollen die privaten Volks¬
wohlfahrtsorganisationen und die beiden Häuser des Landtags besonders berück¬
sichtigt werden. Der Beirat soll jährlich mindestens einmal einberufen werden,
um den Geschäftsbericht des Volkswohlfahrtsamts entgegenzunehmen und sich
über ihn zu äußern. Er soll einzelne Fragen der Volkswohlfahrtspflege beraten
und begutachten, wenn dies von der Staatsregierung angeordnet oder von einem
Viertel der Mitglieder beantragt wird, und soll befugt sein, selbständig Anträge
an die Staatsregierung zu stellen. Den Sitzungen des Beirats sollen Beauftragte
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Zur Jahreswende.
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Kommt dieses Amt zu stände, und wie es scheint unter¬
liegt dies keinem Zweifel mehr, so werden wir das verflossene Jahr
als ein besonders günstiges für die Förderung auch unserer Be¬
strebungen preisen dürfen; wir werden mit Freuden dem neuen
Jahresabschnitt entgegengehen, sicher, daß auch für die so wichtige
Alkoholfrage neue Bahnen frei, neue Erfolge erzielt werden. Sicher¬
lich haben wir keine Ursache nach dieser Richtung dem alten Jahre
undankbar den Abschied zu geben, es läßt sich vielmehr behaupten,
daß auch in diesem Zeitabschnitt manches erreicht worden ist: auf
der gesamten Linie ist man weiter vorgerückt!
Es kann und soll uns im Interesse des Ganzen nicht darauf
ankommen, welche von den beiden Strömungen, die die Alkohol¬
frage zu beherrschen sich bemühen, den größten Erfolg aufzuweisen
hat; wir kennen nur die Alkoholfrage als solche, es liegt uns fern,
dieselbe unter dem Gesichtswinkel der Mäßigkeit oder der Enthalt¬
samkeit zu beleuchten, wir halten es im Gesamtinteresse für durch¬
aus verfehlt, diese beiden „Parteien“ gegeneinander auszuspielen,
so wenig dieser Antagonismus selbst aus der Welt zu bringen sein
wird, und so wenig wir der Bekämpfung des Alkoholismus einen
sektenhafien Charakter beizulegen geneigt sind. Die Wellen, welche
im Jahre 1903 an der Weser Strande auf dem internationalen
Kongresse etwas sehr hoch gingen, haben sich erfreulicherweise
wieder geglättet, hin und wieder tauchen kleine Schaumkrönchen
auf, indes sie sind nicht im stände, das Schiff „Alkoholfrage“
ins Schwanken zu bringen oder ernsthaft zu gefährden; sie be¬
wirken höchstens, daß besonders die verantwortlichen Leiter mehr
auf dem Posten sind; mag sich währenddessen die Mannschaft
von ihren Führern erzählen lassen wie sie abstinent geworden, oder
mag man sich in die einzelnen Maschen der sozialen Frage als
solcher vertiefen und hierbei die Knotenpunkte der Alkoholfrage
zu lösen sich bestreben — uns soll’s recht sein in dem sicheren
Bewußtsein, daß nach jedem hohen Seegang Beruhigung eintritt,
der die Steuerung des Schiffchens in den sicheren Hafen gestattet.
Wenn nun in dem neuen Jahre unser Fahrzeug sich der großen
Flottille „Volkswohlfahrt“ anzuschließen vermag und unter sach¬
kundiger Führung als eins der ersten Schutz und Schirm für
die Gefährdung eines gesunden Volkslebens bietet, so wird die
der Staatsregierung mit beratender Stimme beiwohnen dürfen. Im übrigen soll
der Geschäftsgang des Amtes und des Beirates durch eine Verordnung des Staats-
ministeriums geregelt werden.“
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Dr. Marcuse.
Alkoholfrage in den Reihen derer erscheinen, die in ihrer Gesamt¬
wirkung den Feind „Volksseuchen“ zu schlagen im stände sind.
Zu solcher Mitarbeit entbieten wir allen Freunden und För¬
derern ein freundliches Willkommen! Dr. Waldschmidt
Beiträge zum Alkoholkonsum der arbeitenden Klassen.
Von
Dr. Marcuse-Mannheim. .
Der enge Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Tiefstellung
und Alkoholismus ist eine durch Beobachtung und Erfahrung längst
erwiesene Tatsache, und man wäre fast versucht, von einem arith¬
metischen Verhältnis zwischen diesen beiden sozialen Erscheinungen
zu sprechen. Alkoholismus als Zustand einer chronischen Alkohol¬
vergiftung im extremen Grade fordert aber, so betrübend dieses
Phänomen innerhalb unserer modernen Gesellschaft auch sein mag,
weniger die Aufmerksamkeit heraus, als der in gewohnheitsmäßigem
Konsum kleinerer Mengen gipfelnde Hang, wie es nicht der Aus¬
druck familiärer Belastung oder alkoholischer Entartung, als viel¬
mehr eine allgemein verbreitete Sitte und Lebensäußerung ist. Jedes
körperlich schwer arbeitende Individuum verlangt gemäß ererbter
und anerzogener Anschauungen ein bestimmtes tägliches Quantum
Alkohol, welches unentbehrlich erscheint für die zu vollführenden
manuellen Arbeiten, und alle diese Tausende von Handarbeitern,
die, ohne ihre Abende im Wirtshaus zu verbringen, zu den Mahl¬
zeiten und zwischen denselben Branntwein, Bier oder Wein zu sich
nehmen, werden jederzeit ihre Einreihung in die Kategorie der
„Trinker“ als Übertreibung und falsche Auslegung energisch zurück¬
weisen. Sie betrachten eben im Alkohol eine gewisse Kraftquelle, die
ihnen die Arbeitsleistung ermöglicht, sie nehmen ihn als Nahrungs¬
stoff mit oder ohne andere Nahrungsstoffe zu sich, in vielen Fällen
ziehen sie ihn zum direkten Ersatz dieser letzteren heran, damit
steigt die Gefahr der Unterernährung, die an sich in unseren arbei¬
tenden Klassen in bedenklichem Maße vorhanden ist, und es resul¬
tieren hieraus gesundheitliche Mißstände mannigfachster Art. Ein
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Beiträge zum Alkoholkonsum der arbeitenden Klassen.
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Übel läßt sich aber so lange nicht bekämpfen, als nicht vollste Klar¬
heit über Wurzeln, Ausbreitung und Zusammenhang mit anderen
ursächlichen Momenten geschaffen ist, und daher das Bestreben seit
langem, die Rolle des Alkohols im Arbeiterbudget kennen zu lernen.
Die mannigfachen, hierüber besonders in England, Amerika und
anderen Ländern erschienenen Untersuchungen an dieser Stelle auf¬
zuführen, würde zu weit führen, ich beschränke mich darauf, vor
allem auf die klassischen Arbeiten Wörishoffers zu verweisen, der
in seinen wirtschaftlichen Enqueten über die Lage der arbeitenden
Klassen in Baden diesem Mißstand seine besondere Aufmerksamkeit
schenkte. Durch ihn erhalten wir eine ziffermäßig bestimmte Vor¬
stellung über die Höhe der Summen, welche von Cigarren- und
Fabrikarbeitern für geistige Getränke ausgegeben werden und damit
ein exaktes Bild von der Anteilnahme des Alkohols an der Nahrungs¬
aufnahme bestimmter Bevölkerungsklassen. Nach Wörishoffer
kommt es vor, daß Cigarrenarbeiter bei einem Aufwand von 450 Mk.
für den Haushalt im Jahre 104 Mk. für Bier und nur 40 Mk. für
Fleisch verbrauchen. Fast durchgehend erscheint die Ausgabe für
Bier und Branntwein noch einmal so groß, als die für Fleisch, im
günstigsten Falle bilden erstere 10°/ 0 des gesamten Aufwandes.
Ähnliche Enqueten hat für Böhmen Prof. Singer gemacht und
überall war ersichtlich, daß die relativ hohen Ausgaben für Alkohol
die Ursache einer ungenügenden Zufuhr wirklicher Nahrungsmittel
waren.
Im Wörish off ersehen Geiste und den Spuren dieses sozial emp¬
findenden Mannes folgend, hat nun in allerjüngster Zeit der badische
Fabrikinspektor Dr. Fuchs, dem wir ja eine Reihe von vorzüglichen
sozialpolitischen Arbeiten bereits verdanken, eine Enquete über die
Verhältnisse der Industriearbeiter in 17 Landgemeinden bei Karls¬
ruhe veranstaltet und bei der Verarbeitung eines außerordentlich
reichen Materials auch der Ernährungsverhältnisse und des Alko¬
hols eingehend gedacht. Und die Fuchssche Publikation erweist
sich somit als eine wertvolle Ergänzung der oben erwähnten
Arbeiten und insofern als eine ganz neue Quelle der Forschung,
als sie sich mit dem ländlichen Arbeiter und seiner sozialen
Lage ausschließlich beschäftigt. Das hierbei erforschte Material
ist so instruktiv, daß wir die einzelnen Abschnitte, in denen
sich der Verfasser mit der Alkoholfrage und dem Alkoholkonsum
der in Frage stehenden Bevölkerungsschichten beschäftigt, in ex¬
tenso an dieser Stelle wiedergeben wollen. Fuchs berichtet
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Dr. Marcuse.
also 1 ): „Solange noch in den weitesten Kreisen unseres Volkes der
fast unausrottbare Irrglaube an die Nährkraft der geistigen Getränke
besteht, wird sich die Übung erhalten, zu den Zwischenmahlzeiten
geistige Getränke zu genießen. Wie eine Durchsicht der beschrie¬
benen Arbeiterhaushalte ergibt, genießen die männlichen Arbeiter
fast ausnahmslos am Vor- oder Nachmittag Bier oder Wein; die
Menge schwankt zwischen x / 4 und 1 Liter Bier oder x / 4 und x / 2 Liter
leichtem Wein. Das Flaschenbier ist am beliebtesten; es wird aus
zahlreichen Kleinhandlungen nach Belieben auf Kredit abgegeben,
es wird an die Fabrikeingänge gebracht, woselbst die leeren Flaschen
wieder abgeholt werden. Der Wein ist entweder aus Obst gekeltert
oder leichter Pfälzer Traubenwein. Es ist kein Zweifel, daß die
regelmäßig genossenen Mengen der geistigen Getränke die Leistungs¬
fähigkeit der Arbeiter beeinträchtigen, daß sie nachteilige Wirkungen
auf lebenswichtige Organe ausüben. Aus vielen Äußerungen von
Arbeitern geht zur Genüge hervor, daß sie über das Wesen und
die Wirkungen der geistigen Getränke noch nicht im mindesten
unterrichtet sind; manche bedauern, nicht wie andere in der Lage
zu sein, sich reichlichen Biergenuß zu gestatten, andere glauben
nur durch Biergenuß zur Leistung der ihnen obliegenden schweren
Arbeit befähigt zu sein. Manche verzichten und zwar in der Regel
aus wirtschaftlichen Gründen auf den täglichen Genuß geistiger
Getränke, die sie durch mitgenommenen Kaffee oder Milch ersetzen;
dahin gehören wenige Männer, dagegen die Mehrzahl -der Ar¬
beiterinnen; sie beschränken den Biergenuß gewöhnlich auf die
Zwischenmahlzeit am Nachmittag, halten ihn dann auch in mäßigeren
Grenzen ( x / 4 bis 4 / 10 Liter). Im Gegensatz dazu dehnen unver¬
heiratete männliche Arbeiter, wenn sie sich einmal dem Einfluß der
Eltern entzogen haben, den Bierkonsum für eine Zwischenzeit auf
2 Flaschen aus. Da 1 Flasche durchschnittlich mit 18 Pfennig zu
bezahlen ist, kann leicht ermessen werden, von welch ungünstiger
wirtschaftlicher Wirkung die Ausgaben für die Zwischenmahlzeiten
sind. Das Brot wird meist von Hause mitgenommen, die Zuspeisen
(Wurst, Käse, Eier) werden meist gekauft. Eine der üblichen Zwischen¬
mahlzeiten kostet 30 bis 40 Pfennige. Im Vergleich zu ihrem Nähr¬
wert ist dies dank des Kostenanteils für geistige Getränke ein viel
*) Die Verhältnisse der Industriearbeiter in 17 Landgemeinden bei Karls¬
ruhe. Bericht erstattet an das Großherzogliche Ministerium des Innern und
herausgegeben von der Großherzoglich Badischen Fabrikinspektion, Karlsruhe 1904.
Verlag der C. Braunschen Hofbuchdruckerei. 272 S.
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Beiträge zuin Alkoholkonsum der arbeitenden Klassen.
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zu hoher Preis. Da eine Beseitigung der Zwischenmahlzeiten selbst
bei einer weiteren mäßigen Verkürzung der Arbeitszeit den vom
Lande kommenden Arbeitern nicht leicht angesonnen werden kann,
so besteht vorläufig wenig Aussicht auf eine im gesundheitlichen
und wirtschaftlichen Interesse wünschenswerte Einschränkung des
Alkoholkonsums während der Arbeitsschicht. Denn es dürfte noch
lange dauern, bis einmal die Einsicht in das Wesen der geistigen
Oetränke in die Bevölkerung eingegangen ist, so daß ihr Wille des
Entschlusses der Entsagung fähig wird“. (Seite 119 und ff.) Nach¬
dem Verfasser dann noch die Mittagsmahlzeit der Arbeiter und ihrer
'F ami lien skizziert und festgestellt, daß die Mehrzahl der erwachsenen
männlichen Arbeiter den Wirtshaustisch mit seiner Beigabe von
1 bis 2 Glas Bier gemeinnützigen Speiseanstalten vorzieht, während
dagegen die Land- und Hauswirtschaft besorgenden Familienmit¬
glieder der geistigen Getränke beim Mittagsessen entraten, gibt er
eine physiologische Bilanz der Ernährung, sowie eine Zusammen¬
stellung der Haushaltungskosten der einzelnen Arbeiterfamilien. Der
Beköstigungstag der Erwachsenen stellt sich darnach auf 68 Pf. und
schwankt zwischen 44 und 95 Pf. „Im allgemeinen entsprechen die
Haushaltungskosten der Qualität der Ernährung. Da sie aber von
der Höhe der Ausgaben für geistige Getränke stark beeinflußt sind,
so ist trotz hoher Haushaltungskosten nicht immer auch eine ge¬
nügende Ernährung der Familie oder einzelner Familienmitglieder
sichergestellt. So betragen die Kosten in einer Familie z. B. pro
erwachsene Person und Tag 92 Pf., trotzdem ist die Ernährung
mangelhaft (83 g Eiweiß, 63 g Fett, 408 g Kohlehydrate). Der Um¬
stand, daß bei einer Lackierersfamilie von 7 Köpfen in 1856 Mk.
Gesamthaushaltungskosten 805 Mk. für geistige Getränke enthalten
sind, bietet eine hinreichende Erklärung. Ganz allgemein muß fest¬
gestellt werden, daß die Ausgaben für geistige Getränke weitaus zu
hoch sind. Im Durchschnitt werden unter Einrechnung des Wertes
des eigenen Obstweinerzeugnisses 219 Mk. pro Familie ausgegeben,
während die Gesamtkosten der Haushaltung (Nahrungs- und Genu߬
mittel) 1021 im Durchschnitt betragen. Die Sonntagsausgaben sind
ebenfalls größtenteils Ausgaben für geistige Getränke, sie sind in
obiger Summe nicht enthalten. Demnach beträgt die Ausgabe für
geistige Getränke 21,5% mehr als 1 j 5 der Haushaltungskosten. Den
Hauptanteil bildet das Bier mit 147 Mk., dann folgt der Wein, teils
Obstwein, teils leichter Traubenwein oder Kunstwein mit 65 Mk.,
in letzter Linie Branntwein mit 7 Mk. In einer ganzen Reihe von
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12 Dr. Marcuse. Beiträge zum Alkoholkonsum der arbeitenden Klassen.
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Familien könnte die ungenügende oder mangelhafte Ernährung durch
Verwendung des für geistige Getränke ausgegebenen zum Ankauf
von Nahrungsmitteln in eine genügende Familienernährung verwan¬
delt werden“. Aus einer Reihe von Rundfragen nun, die Fuchs
an die Ärzte der untersuchten Bezirke gestellt hat, teilt er folgende
Antworten mit: „Ich halte den Bierkonsum während der Arbeits¬
stunden für zu groß und ungeeignet, da selbst Arbeiter und Ar¬
beiterinnen in den Frühstücks- und Kaffeepausen 1—2 Schoppen
Bier genießen. Ferner halte ich für schädlich den Genuß von
Branntwein vor Beginn der Arbeit 'des Morgens. Die auf dem
Wege liegenden und schon in den frühesten Morgenstunden geöff¬
neten Wirtshäuser werden sehr viel von den zur Arbeit Gehenden
frequentiert.“ Ein Arzt schreibt: „In der Ernährung ist ein Haupt¬
mangel, daß zu viel Milch in die Stadt abgeführt wird und
für das erlöste Geld Flaschenbier ins Haus und Feld geholt wird.
Zu viel Wert wird auf Genuß von Kaffee und Wein gelegt. Der
Aberglaube, daß jeder Rekonvaleszent unbedingt ein Fäßchen Wein
haben müsse, um seine Kräfte wieder zu erlangen, ist schwer zu
bekämpfen. In der Zeit der Ernte ist der Weinkonsum ein immenser'
jeder Zug bringt Fässer von auswärts in die Dörfer.“ Während
allem Anschein nach der Bierverbrauch in den Wirtschaften keine
Zunahme erfahren hat, ist er doch in den Familien gestiegen, imd
dazu hat aller Wahrscheinlichkeit nach der weitverzweigte Flaschen¬
bierhandel beigetragen, der auch die einzelnen Mitglieder des Familien¬
kreises mit in den Kreis des Alkoholkonsums gezogen hat. Als
Sanierungsmaßnahmen gegen diese allgemeinen Übelstände betrachtet
Fuchs einen auf das Leben besser vorbereitenden Volksschulunter-
richt, eine ländliche Volksaufklärung, eine Verallgemeinerung des
Haushaltungs- und Kochunterrichtes.
Was den Wirtshausbesuch in den ländlichen Gemeinden anbe¬
trifft, so ist derselbe an Werktagen nur als ein vereinzelter zu be¬
trachten, an Sonn- und Feiertagen dagegen als ein allgemeiner. Die
verheirateten Arbeiter gehen entweder, wie in den meisten Fällen r
allein oder mit Frau und Kindern, denen dort ebenfalls Alkohol zum
Trinken gegeben wird, ins Wirtshaus, die unverheirateten in corpore.
Ein großer Teil des Verdienstes der letzteren wird hier in nutzloser,,
ja geradezu schädlicher Weise verbraucht. Auch die Vereine frönen
dem Alkoholgenuß, der nach Erledigung von Proben, Übungen und
ähnlichen Zwecken zur Tagesordnung gelangt.
Alles in allem ein Bild, das in seinen groben Umrissen ja all-
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Was sind wir unseren Kanalarbeitem schuldig?
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gemein bekannt sein dürfte, dessen spezifische Eigenart aber erst
auf der Basis objektiver und methodischer Schilderung deutlich vor
Augen tritt. Und so sind die diesbezüglichen Kapitel des Puchsschen
Werkes auch für die Naturgeschichte des Alkoholismus von bedeut¬
samem Werte, denn nur auf der Grundlage der Erkenntnis tatsäch¬
licher Verhältnisse lassen sich Mißstände und ihre Folgen bekämpfen.
Was sind wir unseren Kanalarbeitern schuldig?
Yon
Pastor Dr. G. Kühner in Mölln i. Lbg.
(Fortsetzung und Schluß.)
Wer soll mit der Pastorierung betraut werden? Unter den
hierbei zu erledigenden Detailfragen ist nun mit eine der ersten
und schwierigsten diejenige, wem diese Pastorierung zu übertragen
sei. Oft hat man sich mit der Aussendung von Reisepredigem be¬
gnügen zu dürfen geglaubt; diese pflegen dann zu gewissen Zeiten
die Strecke hinaufzureisen, tauchen meteorartig auf, sagen Evan¬
gelisations-Versammlungen an, zu denen oft kaum ein Dutzend
Menschen zu kommen pflegt, halten zündende, gewaltige Reden und
verschwinden dann wieder. Daß das nicht das rechte ist, daß von
einer solchen Wirksamkeit gerade diejenigen Kreise am allerwenig¬
sten berührt werden, die es am allermeisten bedürfen, daß auch
bei denen, die davon erreicht worden sind, keine nachhaltige Pflege
der ausgestreuten Samenkörner geschehen kann, liegt auf der Hand.
Von dieser Methode ist man deshalb auch in weitesten Kreisen
wieder zurückgekommen. Was den Leuten not tut, das ist eine
dauernde geistige Pflege, die so oft und so eingehend es die Ver¬
hältnisse zulassen auf sie ausgeübt wird.
Das nächstliegende scheint dann zu sein, daß der jedesmalige
Ortsgeistliche mit der Pastorierung der Leute betraut wird, die in
seinem Orte und dessen nächster Umgebung untergebracht sind. Doch
wird sich das nicht immer machen lassen; das kann ein viel be¬
schäftigter Mann oder schon ein älterer Herr sein, der sich das
nicht mehr zumuten kann und darf, das kann auch ein sonst nicht
geeigneter Mann sein, der nicht die Gabe resp. Weitherzigkeit be¬
sitzt, mit diesen buntscheckigen, auch den verschiedensten Kirchen-
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Dr. G. Küßner.
gemeinschaften angehörigen Menschen zu verkehren. Aber auch
ein Hilfsgeistlicher, der einem dieser Herren beigeordnet und mit
der Seelsorge an einem größeren Teil der Kanalarbeiterschaft be¬
auftragt würde, scheint mir nicht immer die rechte Persönlichkeit
zu sein; ein solcher pflegt für so ein dornenvolles Amt zu jung zu
sein, kann auch nicht die nötige Erfahrung, Menschenkenntnis und
Fähigkeit, sich in den verschiedensten Situationen zurechtzufinden,
besitzen; auch pflegen solche jungen Leute das nur als Provisorium
zu betrachten und schnell zu wechseln, ehe sie sich eingearbeitet
und das Vertrauen der Leute gewonnen haben.
Nein! Meiner Ansicht nach müßte extra ein Geistlicher für
diese Arbeit angestellt werden, ein Geistlicher, der bereits etwas
älter ist und über hinreichende Erfahrung und seelsorgerische Be¬
gabung verfügt, ein Mann, der auch das ganze Niveau, auf dem
sich eine solche Arbeiterschaft erhebt, das Wanderleben und alles,
was damit zusammenhängt, kennt; das muß meiner Meinung nach ein
Mann sein, der bereits mehrere Jahre in der Inneren Mission ge¬
arbeitet hat, der als Anstalts- und Gefängnis-Geistlicher oder in ähn¬
licher Stellung Erfahrung gesammelt hat. Der müßte mit einem seinen
Jahren entsprechenden Gehalt als Kanal-Geistlicher angestellt werden
und je nach der Belegschaft mit der Seelsorge auf einer bestimmten
Kanalstrecke beauftragt werden. Ebenso müßte er reichliche Entschä¬
digung für alle Fuhren erhalten; denn es ist nicht jedermanns Ding,
Wege von 12, 15 und mehr Kilometer im Kanalbett oder am Ufer¬
rand auf ungeebnetem, vielleicht frisch aufgeschüttetem Terrain zu
machen, und dann noch geistige imd körperliche Frische zu besitzen,
zwei und drei Gottesdienste abzuhalten oder zahllose Einzelbesuche
zu machen. Mag das alles dann auch dem Staat, der Kirche, den
betreffenden Baufirmen resp. den Vereinen für Innere Mission etwa
4 bis 5000 Mk. kosten, das ist nicht zu viel für den großen Segen,
den eine recht und eingehend geübte Seelsorge haben kann. Es sollen
nur beizeiten diese Forderungen gestellt werden, damit früh genug
die Kostenanschläge dafür in die Rechuungen eingestellt werden
können. Das wird sich alsdann bei einem Bau, der ohnehin schon
Millionen verschlingt, ohne zu große Schwierigkeit gestalten lassen.
Und auch hier muß gesagt werden: Es ist kein Preis zu hoch,
wenn es sich darum handelt, unsterbliche Menschenseelen zu be¬
wahren und zu retten!
Die Seelsorge selbst. Wie aber hat sich nun die Seelsorge zu
gestalten? Zu dem Zweck weise ich auf einen früher von mir in
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Was sind wir unseren Kanalarbeitern schuldig?
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dem Februarheft der Blätter für Innere Mission vom Jahre 1898
erschienenen Artikel; meine Anschauung hat sich seitdem nicht
geändert, nur der Vollständigkeit und leichteren Übersichtlichkeit
halber füge ich hier die Grundzüge der Seelsorge aus, wie sie sich
unter den obwaltenden Verhältnissen zu gestalten hätte. Dabei denke
ich weniger an den Fall, wo das Gros der Leute in verhältnis¬
mäßig guten Baracken wohnt — hier pflegt sich die Arbeit sehr
einfach und leicht zu gestalten — sondern an den bedeutend
schwierigerem, daß ein Teil — der bei weitem schlechtere — in
zum Teil wenig behaglichen Baracken, der andere, größere, weit über
die Dörfer verstreut, in mehr oder weniger elenden Privatquartieren
wohnt. Die Tätigkeit, die ein Pastor unter solchen Umständen zu
entfalten hat, ist zuerst eine indirekte und geht durch Vermittlung
derjenigen Persönlichkeiten und Instanzen hindurch, die für das
Wohl und Wehe der Leute mit von maßgebendem Einfluß sind.
Indirekte Seelsorge. Zuerst kommen dabei, soweit es sich
um Privatquartiere handelt, die Vermieter derselben in Betracht
Das sind oft ordentliche Bürgersleute, die selber früher in der
Fremde gelebt haben oder Söhne auf der Wanderschaft haben; ein gutes
Wort wird bei denselben immer eine freundliche Aufnahme finden.
Das sind aber auch manchmal solche, die sonst ganz wohlwollend
gesinnt sind, in diesem Falle aber unter falschen Voraus¬
setzungen stehen, die diese Arbeiterscharen nur nach ihrem aller¬
dings oft wenig anziehenden Äußeren oder nach der Schablone als
Wüstlinge und Rowdies ansehen, denen sie glauben alles bieten zu
dürfen. Aufklärende Worte und freundliche Bitten werden auch
hier oft das Los der bei ihnen untergebrachten Leute wesentlich
heben können; nur dürfen es natürlich keine übertriebenen An¬
sprüche sein, die man stellt; dazu gehört auch eine gewisse Lokal¬
kenntnis und Gerechtigkeit nach beiden Seiten. Wo es jedoch
solche Ausbeuter und Blutsauger sind, wie wir sie vorher kennen
gelernt haben, denen die Leute in die Hände gefallen sind, da ziehe
man rücksichtslos die schärfsten Saiten an, da scheue man sich
auch nicht, die nötigen Eingaben an die zuständigen Instanzen zu
machen, sei es Polizei, sei es Baubehörde; — das können Geist¬
liche, die nur mit der Pastorierung der Kanalarbeiter betraut sind,
sich also nur vorübergehend am Orte aufhalten, um so eher, als
sie durch keine falschen Rücksichten gebunden sind. Nur be¬
fleißige man sich immer der strengsten Objektivität!
Zu zweit kommen die Barackenwirte in Betracht; es ist klar,
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Dr. G. Küßner.
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wie abhängig die Leute und die ganze Art und Weise, wie sie es
dort haben, von der Tüchtigkeit und dem Wohlwollen so eines Mannes
ist Das ist freilich ein ganz außerordentlich schwieriges Gebiet.
Viele, namentlich solche, die mit festem Gehalt angestellt sind, auch
solche, die aus Brüderhäusern stammen, oder die, welche selber aus
dem Handwerkerstand hervorgegangen sind, werden nur hier und
da einmal eines begütigenden Wortes bedürfen. Und auch unter
den übrigen gibt es gewiß manche, die ein herzliches Interesse für
die Leute haben und es ihnen so gut geben möchten, wie sie
können — aber ihre Lage ist oft sehr schwierig (wovon später!),
• sie können nicht immer so wie sie möchten. Auch sammelt sich bei
ihnen vielfach das roheste und lichtscheueste Gesindel; und der
Wirt nimmt sie auf, um doch wenigstens etwas zu haben. Zum aller¬
größten Teil ist jedoch der Ton und die Art, wie die Inhaber mit
den Insassen ihrer Baracken verkehren, ein äußerst brutaler, und
die Zustände, die da herrschen, wie wir gesehen, grauenhaft. Da hat
der Pastor allen Takt und viele Weisheit nötig, um überhaupt etwas
auszurichten; er kann den Wirt verbittern, der hetzt die Leute auf,
und so wird ihm jede Wirksamkeit unmöglich gemacht; er stößt
auch bei den Leuten auf Mißtrauen und Unverständnis — da kann
es alles schlimmer werden, als es war. Aber trotzdem kann man
auch unter so verzweifelten Fällen durch eine ebenso freundliche
wie ernste Aussprache hier und da Erfolg haben, auf den man nicht
gerechnet hat. Wenn aber alles vergeblich ist, so wende man sich
mit dahingehenden Eingaben und Anträgen an die zuständige Stelle
oder an die Öffentlichkeit.
Bei dem Verkehr mit der Bauleitung, resp. den ausführenden
Beamten, vergesse man nicht, daß dieselben oft ein warmes Interesse
für ihre Arbeiter haben, daß die meisten Schäden, denen man auf
seinen Gängen durch die Kanalarbeiterquartiere begegnet, nicht
im Sinne der verantwortlichen Instanzen sind, daß diese, wo ihnen
von anderer Seite keine Hilfe geleistet wird — etwa wie Dr. Bode
im Auge hat, in Form gemeinnütziger Unternehmungen, die die
Unterbringung und Versorgung solcher Erdarbeiter übernehmen —
auf die Hilfe gewinnsüchtiger Spekulanten angewiesen sind, daß
sich da natürlich Schäden und Unzuträglichkeiten einnisten können,
denen auch von wohlwollendster Seite schwer beizukommen ist.
Jedenfalls mache man sich zu allererst mit den meist trefflichen
Bestimmungen bekannt, die für den betreffenden Bau zum Wohl
der Arbeiter erlassen sind, damit man nicht in Gefahr kommt, seine
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Was sind wir unseren Kanalarbeitem schuldig?
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Proteste gegen die Bauleitung zu richten, wo man mit ihr gehen
könnte. Und wenn man dann irgendwelche berechtigte Wünsche
hat, so wende man sich vorerst an die ausführenden Beamten;
durch persönliches Interesse derselben, durch Andeutungen und
Wünsche nach oben und unten können sie der guten Sache von
allergrößtem Nutzen sein und mit wenigen Worten das erreichen,
wozu es sonst langer Schreibereien bedurft hätte.
Direkte Seelsorge. Zu dieser indirekten (in ihrer Wichtigkeit
nicht zu unterschätzenden Tätigkeit) kommt dann die direkte Arbeit
an den Leuten selbst; diese besteht in Predigttätigkeit, in einer mög¬
lichst ausgiebig und eingehend geübten Seelsorge und einer geeig¬
neten Schriftenverbreitung.
Predigttätigkeit. Was die erstere — die Predigttätigkeit an¬
belangt, so erhebt sich sofort die Frage: „Sollen für die Kanal¬
arbeiter besondere Gottesdienste abgehalten werden?“ Im allgemeinen
wäre die Frage wohl zu bejahen; denn die Kanalarbeiter bilden
eine so ganz eigenartige Gemeinde, leben in einem Milieu, das sich
durchaus von den in normaler kirchlicher Pflege stehenden Ge¬
meinden unterscheidet, daß sie wohl besonderer gottesdienstlicher
Veranstaltungen bedürften. Aber doch wird sich das in der Praxis
nicht immer machen lassen. In Orten, wo bereits ein oder mehrere
Gemeindegottesdienste stattfinden, würden die Arbeiter es als eine
Art Zurücksetzung und Beleidigung ansehen, wenn für sie ein be¬
sonderer Gottesdienst gehalten würde, als ob sie für erstere nicht
gut genug wären. In anderen Orten wird sich auch bei den be¬
scheidensten Ansprüchen kein geeignetes Lokal dazu finden lassen.
In noch anderen werden oft alle Versuche, eigene Gottesdienste
einzurichten, an der geringen Beteiligung oder der dauernden gänz¬
lichen Abwesenheit von Hörem scheitern; und damit muß man
immer rechnen, da gerade diejenigen die Gottesdienste am wenigsten
zu besuchen pflegen, die es am nötigsten haben. In noch anderen
Fällen wird man unmittelbar den Eindruck haben: es lohnt sich
nicht! Du könntest die schöne Zeit und all das, was zu so einem
Gottesdienst gehört, viel besser und nutzbringender für die Leute
verwenden. In all diesen Fällen ist auf offiziell und regelmäßig
abzuhaltende Gottesdienste zu verzichten. Wo sich jedoch die
Möglichkeit dazu bietet, wo einige Empfänglichkeit dazu vorhanden
scheint, da zögere man nicht, da greife man mit Freuden zu; da
warte man auch nicht bis einem ein würdiges Lokal, eine Kapelle
oder so etwas hergerichtet werde, da nehme man mit jedem zur
Der Alkoholismne. 1905. 2
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Dr. G. Kiißner.
Verfügung stehenden Baum vorlieb — das kann eine Scheunen¬
diele, eine Kantine, irgend ein Schuppen oder was auch sonst
sein. Ich habe auf einer solchen Diele, wo rechts die Kühe, links
die Pferde standen, und über mir Heu und Stroh hemiederhing,
über drei Jahre vor oft 200—250 Leuten Gottesdienst gehalten, der
— was Aufmerksamkeit und innere Ergriffenheit der Leute anbe¬
langte — keinem in der Kirche noch so feierlich und korrekt abge¬
haltenen Gottesdienst nachstand, und kein Mensch hat sich stören
lassen, wenn einmal ein fröhliches Gackern der Henne ertönte, die
es aller Welt kund tun mußte, daß sie ein Ei gelegt, oder eine
Kuh durch dumpfes Brüllen ihrer Verwunderung ob der sonder¬
baren Versammlung Ausdruck gab, die da vor ihren Augen statt¬
fand. Ich habe an liturgisch zweifelhaftesten Stätten gepredigt
und hatte oft den Eindruck: möchtest du doch so viel Andacht,
so viel Ergriffenheit auch in deinen solennen Gemeindegottesdiensten
haben! Die Leute, mit denen man es bei einem Kanalbau zu tun
hat, sind in vielen Fällen impulsiv und in der Äußerung ihrer
Empfindungen wie die Kinder; manchmal sind es die wildesten Läste¬
rungen, die man da zu hören bekommen kann — und oft kann
man dicht daneben Zeuge einer tiefen, durch Schluchzen unter¬
brochenen Ergriffenheit und Andacht sein, die einen selber er¬
schüttert. Also sei man nicht zu zaghaft in der Wahl des Ortes, nicht
zu korrekt! nicht liturgisch zu anspruchsvoll. Es geht auch so!
Ja: ich habe die Beobachtung gemacht, daß sich die Leute, je an¬
spruchsloser solche Gottesdienste ausgestaltet waren, je inoffizieller
der Ort war, an dem sie abgehalten wurden, um so mehr dahin¬
gezogen fühlten. Nach dem bei solchen Gottesdiensten zu erwarten¬
den Publikum, ebenso nach dem ganzen Exterieur richtet sich
natürlich auch die ganze Art, der Stoff und Inhalt der Predigt
Kunstreiche Kanzelvorträge, ästhetisch formvollendete Predigten
würden sich in so einem Raum sonderbar ausnehmen. Wenn
irgendwo, so ist hier Evangelisation notwendig!
Besuchstätigkeit. Neben dieser, gegebenen Falls an Stelle dieser
Predigttätigkeit hat möglichst intensive Einzelseelsorge einherzu¬
gehen; ich sage mit Absicht: Einzelseelsorge. Denn die vorher ge¬
schilderten Predigten sind im Grunde nicht viel anderes als Ge¬
samtseelsorge, seelsorgerische Gespräche, die an viele zugleich
gerichtet werden. Wie notwendig diese Einzelseelsorge ist, braucht
nicht erst ausgeführt zu werden, ebensowenig, worauf sich dieselbe
zu erstrecken hat; das findet man in dem erwähnten Artikel der
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Was sind wir unseren Kanalarbeitern schuldig?
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Schäferschen Monatsschrift. Hier nur die Frage: Wo findet man
die Leute?
Drei Gelegenheiten bieten sich dem Pastor da. Zunächst in
ihren Privatquartieren nach Feierabend; freilich sind es sehr oft
wenig angenehme Gelasse, in die man sich da begeben muß; ich
will nur an die besten denken: die Stuben sind klein, verqualmt,
die Leute verschwitzt, müde, oft • unfreundlich, befinden sich in den
verschiedensten Stadien ihrer Toilette — das alles schadet jedoch
nichts. Man selber gewöhnt sich daran; auch die Leute gewinnen
solche Besuche lieb, bringen einem Vertrauen entgegen. Oft sind
es sehr eingehende Gespräche, die man da mit einzelnen zu führen
Gelegenheit hat, oft aber sind auch mehrere dabei, 4, 5, ja 10
Mann, da erweitert sich ein Einzelgespräch ganz von selbst zu einer
predigtartigen Ansprache, in der man den Leuten in möglichst ein¬
dringlicher Weise alles ans Herz legt, was man ihnen zu sagen
hat, kleines und großes, zeitliches und ewiges! Wenn man eine
größere Strecke zu pastorieren hat, so fahre man jede Woche
wenigstens zweimal auf die Dörfer, gehe da Haus bei Haus; in
circa 3—4 Stunden wird man dann in jedem Quartier gewesen sein
und jedem einzelnen die Hand gedrückt haben. Vor allem sind
natürlich die Sonntage zu dem Zweck zu benutzen; freilich stellen
diese erhöhte Anforderungen an den Pastor; neben den zwei
resp. drei Gottesdiensten, die man zu halten, sind es oft an die
2—300 Leute, die man in ihren Privatquartieren besuchen möchte;
das gibt viele ermüdende Gänge, auch manche aufregende, wilde
Szene. Solche Gänge sind jedoch absolut notwendig, namentlich
dort, wo es zu einem allgemeinen Gottesdienst nicht gekommen ist,
in vielen Fällen das einzig richtige, und auch wertvoller und er¬
folgreicher als von vielleicht ganz wenigen besuchte, viel Zeit in
Anspruch nehmende Predigtgottesdienste.
Des weiteren kann man die Leute auf der Arbeitsstrecke auf¬
suchen. Da sind zunächst die Frühstücks-und Mittagspausen. Wenn
man jedoch ein klein wenig die Arbeit der Leute selber kennen gelernt
hat und sich ihr anzuschmiegen weiß, so sieht man bald, daß da
auch sonst manche Gelegenheit ist, den einzelnen nahezutreten,
die man auf den ersten Blick nicht sieht. Oft stehen und liegen sie
in größeren und kleineren Gruppen auch während der Arbeitszeit
herum und warten auf die, zurückkommenden Lories; da hat man
manche schöne Gelegenheit, sowohl an einzelne heranzutreten als
auch erweckliche Ansprachen an ganze Gruppen zu halten. Jeden
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Monat sollte man deshalb wenigstens einmal auf die Strecke gehen,
Avas meist freilich einen geschlagenen ganzen Tag kostet, und Sä¬
manns Arbeit verrichten. Wenn man die Arbeit der Leute kennen
gelernt hat, man auch keine zu großen Ansprüche an ihre Zeit
stellt, kann man dabei auch auf die Unterstützung von seiten der
Schachtmeister rechnen; die geben den Leuten einen Wink — dann
ruht die Arbeit etwa 10—15 Minuten, und der Pastor kann einige
herzliche Worte an sie richten und ihnen allerlei packende Traktate
und anderen Lesestoff überreichen. Die Leute sollen zuerst nur sehen,
daß man sich für sie interessiert, daß man herzliche Liebe zu ihnen
hat; in ihrer harten, freudlosen Arbeit sollen auch einmal die
edleren, weicheren Saiten angeschlagen, Erinnerungen geweckt, Ideale
gepflegt, der Blick nach oben gelenkt werden; sie sollen sich selber
achten lernen, sollen des beAvußt werden, daß auch sie eine un¬
sterbliche Seele haben, die, so armselig ihr Leben verläuft, vor
Gott einen unendlichen Wert habe. Darnach hungert und durstet
auch ihr Herz — und das ist schließlich doch das einzige, welches
sie in den vielen und schweren Versuchungen bewahren kann,
denen sie ausgesetzt sind.
Zuletzt kämen für kleinere Zusammenkünfte die Kantinen,
Baracken und Herbergen in Betracht. Ich habe oft auch die Kan¬
tinen aufgesucht, um keine Stätte zu übergehen, wo ich habe Leute
finden können. Doch ist das immer das undankbarste Geschäft ge¬
wesen; die Leute sind größtenteils angetrunken, wenn nicht stark
berauscht gewesen; der Wirt stand mit ihnen im Bunde; und man
konnte es ihm nicht verdenken, wenn er den Pastor lieber gehen
als kommen sah, der ihm sein bestes Geschäft verderben wollte.
Nur selten habe ich dort etwas ausrichten können. In den
Wohn- und Schlafbaracken hat man den Tag über überhaupt keine
Gelegenheit Leute zu treffen; Mittags und Abends sind sie für
seelsorgerische Ansprachen selten zu haben, da dann das Essens¬
und Ruhebedürfnis alle anderen Interessen absorbiert, meist auch ein
zu großer Lärm herrscht; Sonntags sind die Leute entweder, wenn
sie nicht auch auf Arbeit sind, auswärts, oder sie liegen bis
zum Spätnachmittag in ihren schmutzigen Betten. Mehr Gelegen¬
heit etwas auszurichten hat man oft in den Herbergen, in denen
sich die Ankömmlinge, bevor sie auf den Bau gehen, meist einige
Tage aufhalten; da kann man sie schon vorbereiten und manch
warnendes Wort zu ihnen sprechen; ebenso in den Asylen und
Gewahrsamen, die namentlich zu Anfang eines Baues von den her-
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Was sind wir unseren Kanalarbeitem schuldig?
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beiströmenden mittellosen Wanderern stark in Anspruch genommen
zu werden pflegen; ich habe da oft 10—20 Mann gefunden. Und
man darf es nicht unterschätzen, wieviel wert es ist, wenn der
erste, der so einem armen heimatlosen Fremden begegnet, ein Pastor
ist, der es gut mit ihm meint, ein paar freundliche Worte zu ihm
spricht und ihm einige Mahnungen mit auf den Weg gibt. So ein
Mensch ist oft für die ganze Zeit gewonnen, wo er am Kanal
arbeitet. Diese von Ort zu Ort wandernden Scharen, die meist des
Mittags noch nicht wissen, wo sie des Abends ihr Haupt nieder¬
legen können, hungern oft ebenso nach einem freundlichen und
liebevollen Wort als nach einem Stückchen Brot. Also vergesse man
es nicht, von Zeit zu Zeit auch hierher seine Schritte zu lenken.
Also leicht ist das alles nicht; auch nicht immer angenehm
und oft nicht ganz ungefährlich — aber doch: das ist die einzige
Zeit, das sind die einzigen Gelegenheiten, wo wir die Leute treffen
und ihnen persönlich näher treten können — und sie müssen wir
ergreifen und bis auf die letzte Minute ausnutzen.
Verbreitung christlicher Schriften. Zu dieser Predigt- und
Seelsorgetätigkeit kommt dann noch das ganze große Gebiet der
Verbreitung christlicher Schriften. Die Notwendigkeit, auch in
dieser Weise für die Kanalarbeiter zu sorgen, bedarf keines Nach¬
weises; sie ergibt sich aus all den Gründen, aus denen diesem Teil
der fluktuierenden Bevölkerung überhaupt eine höhere seelsorgerische
Pflege zugewandt werden muß, in Verbindung mit dem Umstande,
daß dieselbe durch das gesprochene Wort, sei es, daß es auch noch
so ausgiebig ausgestreut werde, doch nicht immer in all ihren
Schichten, auch nicht nachhaltig genug erreicht werden kann.
Ebensowenig bedarf es eines Beweises, daß die Schriftenverteilung
auch einem subjektiven Bedürfnis der Leute entspricht. Dieselben
haben allgemein einen wahren Lesehunger; sie lesen alles, was ihnen
in die Hände fällt, die Zeitungen, die sie von ihren Wirten er¬
halten, bis zu den Fetzen Papier, in denen ihre kleinen Ein¬
käufe eingewickelt sind; sie sparen sich nicht einmal die Annoncen
und Familiennachrichten bis zu den Losnummern, die gewonnen
haben. Und nun soll man gar sehen, wie die Leute zugreifen, wenn
ein Kolporteur mit Schriften auf der Strecke oder in den Quar¬
tieren erscheint und ihnen seine Sachen anbietet. Fast im Hand¬
umdrehen ist er seine Sachen los; oft sind es teure, dickbändige
Bomane, die sie sich aufschwatzen lassen; manche kosten 10, 18
und mehr Mark.
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Das zeigt uns deutlich: ein Bedürfnis nach Lesestoff ist bei
den Leuten vorhanden; das gibt uns aber auch einen Fingerzeig
für das, was wir ihnen bieten sollen. Das erbauliche Moment muß
darin natürlich vorwalten — handelt es sich ja doch hierbei um
ein Hilfsmittel christlicher Seelsorge — und zwar so klar und unver¬
blümt, so faßlich und so packend wie nur möglich; aber das darf
nicht, wenigstens nicht immer, das einzige sein, was man den Leuten
bietet Die Leute wollen sich auch angenehm unterhalten; und das
Bedürfnis sollen und dürfen wir ihnen auch befriedigen, indem wir
ihnen gesunde, von christlichem Geist getragene Lektüre bieten, in
der der erbauliche Teil nur einer unter den belehrenden oder unter¬
haltenden Teilen ist. An einem speziell christlichen oder allein
erbaulichen Blatt würde manch einer Anstoß nehmen und das Blatt
zurückweisen. "Wenn er aber auch sonst gehaltvolle und gute Lektüre
darin findet, nimmt er es immer gern, sei es auch zunächst nur
um dieser willen. Allmählich gewöhnt er sich auch an den religiösen
Teil; und vielleicht kommt die Zeit, wo ihm dieser zur Hauptsache
wird und alles andere nur als Beiwerk in Betracht kommt
Was geben wir den Leuten nun am besten? Sonntagsblätter,
welche in den betreffenden Gegenden gelesen werden, kommen
dabei nicht immer und nicht in erster Linie in Betracht; die sind
oft für lokale Verhältnisse, auch für Gemeinden oder Personen
berechnet, die bereits seit langer Zeit in kirchlicher Pflege stehen,
sprechen zu oft auch die sogenannte Sprache Kanaans; das alles ist
für diese wandernden Scharen nichts. Mehr in Betracht kommen
hier die Schriften des christlichen Zeitschriften-Vereins in Berlin;
freilich verfallen sie oft in den entgegengesetzten Fehler, indem sie
in Gefahr sind trivial, banal zu werden — auch kommt das Wort
Gottes in manchen gar nicht zur Geltung, in anderen nicht präzise
und klar genug; auch merkt man die Tendenz der Blätter zu
stark — und gerade Arbeiter sind darin sehr feinfühlig! Aber
trotz dieser Mängel besitzen diese Blätter auch große Vorzüge und
werden — was ihre riesigen Auflagen beweisen — sehr gern ge¬
lesen. Den Mängeln kann anderweit abgeholfen werden, indem
Einlagen in dieselben gemacht werden, die das spezifisch-christliche
mehr betonen. Dazu eignen sich namentlich packend geschriebene
Traktate (nur führe man genau darüber Buch, welche man benutzt
hat, und hüte sich vor dem englischen Sauerteig!), ebenso das in
Neumünster erscheinende, von dem Gemeinschafts-Verein heraus¬
gegebene Blättchen „Nimm und Lies“, das 1 Pf. kostet und schon
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Was sind wir unseren Kanalarbeitem schuldig V
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oft ganz vortreffliche Ansprachen und Ermahnungen enthalten hat,
schließlich die jetzt bereits in mehreren Provinzen erscheinenden
sogenannten Pfennig-Predigten, wenngleich auch die mit Vorsicht
zu behandeln sind, da sie oft auf andere Kreise berechnet sind.
Am besten tut man, indem man mit der Redaktion der Pfennig-
Predigten in Verbindung tritt und selber eine größere Zahl (etwa
12—15 im Jahr) schreibt — nur daß sie dann auch für Gemeinde-
Verhältnisse verwertbar bleiben müssen. Auch vergesse man nie¬
mals einige das Trinken behandelnde Traktate! Doch hat jeder
Pastor daneben auch das Bedürfnis, den Leuten selber allerlei zu
geben und mitzuteilen, was in dem allen nicht enthalten ist, was
die Leute aber wissen müssen. Man kann das mündlich machen, resp.
durch die Schachtmeister bestellen lassen; ich habe Anzeigen u. dergl.
auf den Kopf der ca. 400 Blätter geschrieben, die ich zu verteilen hatte.
Das alles ist jedoch nicht empfehlenswert. Wo die Zahl der einem
Pastor überwiesenen Leute 400 übersteigt, kann man schon einen
Kontrakt mit einem der bestehenden Blätter (wofür dann Sonntags-
Blätter zuerst in Betracht kommen) machen, wonach einem die
ganze letzte Seite, event. zwei für alles zur Verfügung gestellt werden,
was man ihnen persönlich zu sagen hätte. Ich halte das für die
kommenden Kanalarbeiten für durchaus erforderlich; dadurch würde
erst ein fortwährender, inniger Kontakt zwischen der Arbeiterschaft
und ihrem Pastor, ein rechtes Vertrauensverhältnis hergestellt werden,
das auch während der Zeit aufrecht gehalten und gepflegt werden
könnte, wo er persönlich nicht mit ihnen zusammen gewesen ist.
Dadurch würden die Leute auch allmählich ein Heimgefühl erhalten,
das sie vor vielen Versuchungen schützt!
Aber wie sind diese Blätter zu verteilen? Wo es sich um
Baracken-Quartiere handelt, schickt man die erforderliche Anzahl
(etwa 1 Exemplar für 3 Mann) dorthin. Viel schwerer ist es dort,
wo es sich um Privat-Quartiere handelt, wozu ja auch die Scheidung
nach Konfession und Sprache kommt. Ich weiß von Amtsbrüdern,
die das durch die Schachtmeister haben machen lassen — ich halte
das nicht für empfehlenswert. Auch hier bleibt einem Pastor nichts
anderes übrig, als daß er die Quartiere aufsucht, sich die Zahl der
dort untergebrachten Evangelischen aufschreibt, sich dann durch den
Lehrer oder Ortsvorsteher einen vertrauenswürdigen Knaben nam¬
haft machen und durch den die Blätter sonnabendlich austragen
läßt. Zugleich bitte man die Vermieter, dem Knaben anzuzeigen,
wenn sich der Bestand ihrer Einlogierer vermindert hat, versäume
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Dr. Gr. Küßner.
aber nie bei seinen Seelsorgergängen selber nachzusehen und
Kontrolle zu üben. Dieser Weg der Verteilung ist wiederum nicht
ganz leicht, nimmt viel Zeit und Aufmerksamkeit in Anspruch,
aber er ist rationell und sicher. Ich habe selten darüber klagen
hören, daß die Blätter ausgeblieben wären.
Auf all diese Weise kommt es den Leuten zum Bewußtsein,
daß sie nicht als Enterbte, als Ausgestoßene betrachtet werden; sie
fühlen, daß man ihnen nachgeht, daß man ihnen warmes, persön¬
liches Interesse entgegenbringt, daß man es sich etwas kosten läßt,
um ihnen den Aufenthalt in der Fremde leicht zu machen — und
während die schlechteren, zweifelhafteren Elemente das nicht mögen,
sich dem zu entziehen suchen und bald den Bau wieder verlassen
(auch eine nicht zu unterschätzende Wirkung!), fühlen sich die
besseren dadurch getragen, gehoben — der ganze Ton, der unter
ihnen herrscht, wird ein würdigerer. — Dadurch wird je länger
desto mehr das ganze geistige und sittliche Niveau, auf dem sie
sich bewegen, ein höheres. Wenn es sich um einen größeren Bau
handelt, die Verhältnisse sich konsolidiert haben, auch die Wohnungs-
verhältnisse so sind, daß die Leute sich darin wohl fühlen, kann
man sogar mit einer Kolportage gehaltvollerer Schriften bei ihnen
beginnen, und man wird reichliche Abnehmer finden. Auch würden
kleine Sammlungen geeigneter Schriften in den Baracken sicher
viel Zuspruch haben.
4. Der Kampf gegen den Mißbrauch geistiger Getränke.
Wir kommen nun zu den Vorkehrungen, die zu dem Zweck
getroffen werden müssen, um die Arbeiterschaft vor dem Mißbrauch
geistiger Getränke zu bewahren.
Notwendigkeit desselben. Der Hang, sich solcher Getränke
zu bedienen, der im Grunde unerklärliche Trieb einen Mißbrauch
damit zu treiben, scheint nun einmal in der in sich selbst zwiespältig
gewordenen menschlichen Natur zu liegen; dazu wird er von frühester
Jugend her durch das Beispiel, durch verkehrte Erziehung, durch
die überall herrschende Sitte und tausendfache Vorurteile von all
den guten Wirkungen und Eigenschaften, die der Alk ohol haben
soll, großgezogen. Noch um ein vielfaches wird das alles jedoch
durch solche Verhältnisse, wie wir sie jetzt kennen gelernt haben,
gesteigert, durch die mangelhaften Wohnungen, das Übermaß von
Arbeit, den starken Wechsel von Hitze und Kälte, dem die Leute
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"Was sind wir unseren Kanalarbeitern schuldig?
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fortwährend ausgesetzt sind. Kommt dazu auf der einen Seite flotte
Leichtlebigkeit, Verführung, die zahllos gebotene Gelegenheit, dem
nachzugeben — auf der andern Seite, wie es bei vielen Arbeitern
dieser Kategorie der Fall ist, Mißmut und Verdrossenheit, Ver¬
bitterung und geheimer Groll bis zu der Hoffnungslosigkeit, der
alles gleichgültig geworden ist, der selbst das Leben und die eigene
Persönlichkeit nichts mehr gilt, dann kann man sich nicht mehr
darüber wundern, wenn der Mißbrauch, der mit geistigen Getränken
bei diesen Parias der Gesellschaft getrieben wird, einen so hohen
Grad erreicht hat, wie es tatsächlich der Fall ist.
Indirekt ist schon mit dem vorhergehenden der Kampf gegen
den Alkohl aufgenommen, indem dadurch die ganzen Lebens¬
verhältnisse der Leute gehoben, auch deren Selbstachtung ge¬
steigert, die ideale Seite ihres Wesens erhöht und gepflegt worden
ist Mehr oder minder wird das auch auf den Genuß geistiger
Getränke einen herabmindemden Einfluß ausüben. Diesem ist
dadurch ein guter Teil seines Anlasses genommen, die Stimmung
geraubt, aus der er immer wieder hervorging.
Mäßigkeits-Baracken. Aber das genügt nicht. Es ist not,
daß man den Kampf dagegen auch direkt aufnimmt. Man hat zu
dem Zweck die Gründung von Mäßigkeits-Baracken resp. Mäßig¬
keits-Kantinen vorgeschlagen. Unter ersteren denkt man sich
Baracken, die neben den anderen errichtet werden sollen, und in
welchen grundsätzlich kein Alkohol geschänkt und genossen werden
darf; und zwar soll das ein selbständiges, sich finanziell rentierendes
Unternehmen sein. Ich glaube nicht, daß uns damit geholfen wäre.
Schlechter als die bisherigen Baracken dürften diese neuen Stätten
natürlich nicht sein; aber Avenn sie ebenso wären wie erstere, dann
ständen sie unter den gleichen, ungünstigen Existenz-Bedingungen,
hätten die gleiche geringe Anziehungskraft wie diese, ständen außer¬
dem noch unter dem Odium einer Neuerung, die den meisten nicht
verständlich sein würde. Auch in dem besten Fall -würden sich die
alten und diese neuen Baracken in die Zahl der Leute teilen
müssen, die überhaupt in eine Baracke ziehen; und wenn wir
gesehen haben, wie klein diese Zahl ist, wie selbst große und ver¬
hältnismäßig gut eingerichtete Baracken dort, wo kein Zwang besteht,
monatelang vollständig leer stehen — so muß die Zahl derjenigen,
die für eine Mäßigkeits-Baracke in Betracht kommen, erst gar gering
sein! Würden wir diese Baracke jedoch komfortabler einrichten
als die gewöhnlichen, so Avürden die Preise sich entsprechend er-
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Dr. G. Külhier.
höhen müssen, wozu die Leute sich keinesfalls verstehen würden,
oder aber die Baracke würde Zuschuß erfordern und aufhören, ein
finanzielles Unternehmen zu sein. Namentlich ist aber zu bedenken,
daß alle alkoholfreien Getränke wesentlich durstlöschend sind, ja,
daß der Durst, wie zuverlässige Beobachtungen bei abstinenten
Ernte-Arbeitern ergeben haben, bei längerem Gebrauch alkoholfreier
Sachen sehr stark abnimmt Ein Geschäft also ließe sich damit
keineswegs machen.
Mäßigkeits-Kantine. Aber auch eine Mäßigkeits-Kantine, d. h.
eine solche, die vor allem alkoholfreie Sachen zu führen hätte und
neben den anderen aufzustellen wäre, halte ich nicht für em¬
pfehlenswert. Auch sie würde die Konkurrenz mit den anderen
Kantinen nicht tragen können, würde ebenso wie die genannten
Baracken mit dem Unverstand und Übelwollen der Leute zu rechnen
haben; es bedürfte also immer erst einer dahingehenden Agitation,
um die Leute zu bewegen, ihr Mißtrauen fahren zu lassen und
einmal einen Versuch zu machen. Das ist aber für ein auf
finanzielle Selbständigkeit hinzielendes Unternehmen etwas sehr
Fatales. Wo soll man ferner die Kantine hinstellen? Auf die Bau¬
strecke selber? Die ist viel zu lang; auch schwankt die Zahl der
irgendwo beschäftigten Leute viel zu sehr. Oder auf dem Wege
dahin? Oder in den Ortschaften selber, wo die Leute wohnen?
Das ginge schon eher; doch wo soll man da die geeigneten Per¬
sönlichkeiten hernehmen, die das als Nebenerwerb zu gewissen
Tagesstunden betrieben? An eine Rentabilität solcher Veranstal¬
tungen wäre jedenfalls nicht zu denken.
Aber wir bedürfen solcher auf jeden Fall zweifelhaften Versuche
nicht, wenn wir nur sonst die richtigen Maßnahmen getroffen haben.
Und welches sind diese?
Aufklärende Tätigkeit. Da ist zunächst eine geeignete auf¬
klärende Tätigkeit nötig. Dabei ist zu bedenken, daß sehr viele
Menschen nicht trinken, weil sie einen nicht zu bändigenden Hang
darnach besitzen, daß sie jedenfalls nicht aus dem Grunde ange¬
fangen haben zu trinken, sondern weil sie die verschiedensten
günstigen Vorurteile für geistige Getränke besitzen. Diese sollen
für alles mögliche gut sein; sie sollen wärmen, sollen stärken, sollen
nähren, sollen die Hitze ertragen helfen u. s. w.; und zwar sind das
keineswegs immer nur Ausreden, um den starken Gebrauch alko¬
holischer Getränke nachträglich zu entschuldigen, sondern oft wirklich
nrnst gemeinte und scheinbar erprobte Überzeugungen. Und die
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Zahl derjenigen, die aus diesem Grunde glauben trinken zu müssen,
ist vielleicht eine viel größere, als man in den meisten Fällen ahnt,
man sieht das auch namentlich daran, wie oft gute Ehefrauen, welche
ein Grauen vor dem Trunk haben, doch ihre Männer auffordem,
täglich ihr Gläschen zu trinken. Selbst bei solchen, die bereits
dem Trünke stark ergeben sind, spielen diese — scheinbar gar nicht
auszurottenden — Vorurteile häufig noch die größte Rolle, sind
ihnen fast zu einer Art Aberglauben geworden. Das erschwert
uns einerseits allerdings den Kampf gegen den Übelstand, weil wir
sehen, wie tief er sich eingefressen hat, das erleichtert uns aber
auch die Sache, denn das gibt uns die Hoffnung, daß wir — wo
wir mit ernster Aufklärung den Leuten nahe treten, auch darin
so schnell nicht ermüden — des Lasters allmählich Herr werden
können.
Mündliche Aufklärung. Die aufklärende Arbeit wäre zuerst
eine mündliche, sodann eine schriftliche. Für die mündliche käme
nächst dem Baracken-Wirt, wenn er eine einwandsfreie, gefestete,
sittliche und vertrauenerweckende Persönlichkeit ist, zuerst der
Pastor in Betracht, dem die Seelsorge an den Leuten übertragen
ist. In seinen Einzelgesprächen, die er in den Privatquartieren
mit ihnen führt, in den Ansprachen, die er auf der Strecke an
ganze Gruppen richtet, sowie in den Gottesdiensten versäume er
niemals, dies Thema in anschaulicher, praktischer Weise zu erörtern.
Natürlich wird er dabei oft auf Widerstand stoßen, namentlich
wenn er es mit Leuten zu tun hat, die man schon als Trunken¬
bolde bezeichnen kann; auch zu mancher ärgerlichen und wüsten
Szene kann es dabei kommen. Aber in den überwiegend meisten
Fällen wird es Aufmerksamkeit und Interesse sein, mit dem die
Leute solchen Ausführungen zuhören. Das war schon vor dreizehn
und vierzehn Jahren der Fall, wo den Leuten all das zumeist
etwas ganz Neues war, wo Mäßigkeitsapostel oder Abstinenzpre¬
diger noch durchwegs als Sonderlinge verrufen waren; die Zeiten
sind jedoch seitdem erheblich anders geworden. Seitdem hat man
mit allem Fleiß gearbeitet, große Verbände sind entstanden, die den
Kampf gegen den Alkohol auf ihre Fahnen geschrieben haben. Die
Mitglieder derselben zählen bereits nach Hunderttausenden, dazu
sind zahllose Flugblätter, Mitteilungen durch die Presse in die
breiteste Öffentlichkeit gedrungen, viele Arbeiter werden selber in
Fabriketablissements oder bei früheren Kanal- und Erdarbeiten
praktisch mit der Frage in Berührung getreten sein. So ist heute
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Dr. G. Küßner.
in weiten Gebieten unseres Volks bereits der Boden unterminiert,
alte Vorurteile wankend geworden, neue Kenntnisse und neue Be¬
dürfnisse erwacht. Heute wird der Mäßigkeitsredner zum Teil bereits
von der öffentlichen Meinung getragen.
Die schriftliche Aufklärung. Neben die mündliche Aufklärung
würde die schriftliche, das gedruckte Wort treten; und zwar kann
das in doppelter Weise geschehen. Erstens durch Verteilung ge¬
eigneter Schriften. Der Pastor habe bei seinen Gängen durch die
Arbeiterquartiere, oder wenn er die Kanalstrecke während der Arbeit
abschreitet, immer ein Täschchen mit diesbezüglichen Traktaten bei
sich, jedoch nur solchen, die er selbst gelesen hat; die bringe er dann
reichlich zur Verteilung. Er wird seine Freude daran haben, wie be¬
gierig man danach greift; und wenn er nachher wieder die Strecke
passiert, wird er die Leute überall, hinter Büschen, unter Bäumen, in
dem Schatten umgestürzter Lories, an Schuppen wänden liegen und
die Blättchen lesen sehen. Oder aber er lege diese Traktate in die
von ihm am Sonnabend zu verteilenden Blätter. Eine Verteilung
durch die Schachtmeister halte ich auch hier nicht für angebracht,
denn das pflegen meist selber Leute zu sein, die dem Alk ohol
stark zusprechen, und die ganze schöne Sache würde dadurch
diskreditiert, auch den Schein einer gewissen obrigkeitlichen Bevor¬
mundung erhalten. Als sehr empfehlenswert möchte ich hier folgende
Traktate namhaft machen: „Trink Branntwein!“ „Fort mit dem Brannt¬
wein!“ „Ich habe keine Zeit!“ und viele andere aus der nieder¬
sächsischen Traktatgesellschaft zu Hamburg.
Anschläge. Dazu kämen aber noch passende Anschläge, die
an die Wände der Baracken oder in Krankenzimmern oder sonst
an passenden Orten anzubringen wären. Es gibt ja bereits eine
ziemlich große Anzahl solcher Tafeln, die z. B. in Fabriken an¬
gebracht sind. Doch halte ich es für besser, wenn für diesen Zweck
jedesmal diejenige Arbeiterschaft berücksichtigt wird, die man vor
sich hat. In unserm Fall würde der Aufruf etwa folgenden Tenor
haben:
1. Arbeiter, Freunde! Ihr seid aus der fernen Heimat hierher
gekommen, um Geld zu verdienen, um euren Lieben möglichst viel
Ersparnisse mitzubringen und an Leib und Seele gesund wieder
heim zu kehren. Gott gebe es, daß dieser Wunsch erfüllt wird!
2. Aber es gibt einen Feind, der euch daran hindern, der euch
um euer Geld, um euer Glück betrügen, der euch an Leib und
Seele ruinieren kann, einen Feind, der um so schlimmer ist, weil er
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Was sind wir unseren Kanalarbeitem schuldig?
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sich als Freund und Tröster gebärdet: das ist der Schnaps! über¬
haupt alle geistigen Getränke. Hütet euch davor!
3. Der Schnaps hat keine einzige von den Eigenschaften, die
man ihm nachrühmt Er wärmt nicht; er gibt dem Menschen keine
Kraft, er ernährt auch nicht; das sind Wahrheiten, welche eine ge¬
wissenhafte, wissenschaftliche Forschung erst seit einiger Zeit erkannt
hat. Wenn das Gegenteil manchmal der Fall zu sein scheint, so
beruht das auf Täuschung, die jeder Arzt leicht erklären kann.
4. Der Schnaps hat vielmehr eine Fülle verhängnisvoller Eigen¬
schaften ; viele Gelehrte sind überhaupt der Ansicht, daß jeder Tropfen
schon Gift sei und schädliche Folgen hervorrufe. Alle aber sind
der festen Überzeugung, daß der Schnaps in der Menge, wie er
heutzutage fast von jedem Arbeiter genossen wird, die schwersten
Folgen nach sich ziehen muß.
5. Der Schnaps setzt die Körperwärme herab, so daß diejenigen,
die ihn zu sich nehmen, leichter dem Tode des Erfrierens aus¬
gesetzt sind. Hütet euch deshalb in der Kälte und auf der Wander¬
schaft davor!
6. Der Schnaps vermindert die Arbeitskraft, so daß der, der ihn
genossen hat, schneller schlapp wird, unsicher arbeitet und vielen
Gefahren ausgesetzt ist. Vermeidet ihn strengstens bei der Arbeit!
7. Der Schnaps greift das Herz und die Nieren stark an, die
zuerst viel Fett ansetzen, unverhältnismäßig groß werden und dann
zusammenschrumpfen, was den baldigen Tod herbeiführen muß.
8. Der Schnaps macht den Magen krank, der bald nichts mehr
verdauen kann; der Mensch verliert den Appetit und kommt von
Kräften.
9. Ähnliche schwere Folgen übt er auf das Gehirn und das
Nervensystem aus, die durch den Genuß spirituöser Getränke, wie
er heute fast überall üblich ist, bald völlig zerrüttet werden.
10. Der Schnaps raubt dem Menschen die Herrschaft über seine
Gliedmaßen, seinen Gang, seine Zunge, seine Gedanken; er ist deshalb
die Ursache vielen Unglücks und zahlloser Unfälle! Unzählige Ver¬
brechen, die nachher mit Gefängnis und Zuchthaus gebüßt werden,
sind im Rausche begangen, oft von Leuten, die sonst gute und
ordentüche Arbeiter und Familienväter waren.
11. Darum, lieben Freunde: Hütet euch vor dem Schnaps und
den geistigen Getränken. Sie wollen euch betrügen! sie wollen euch
an Leib und Seele zu Grunde richten. Kaffee, Tee, Braunbier, un-
vergorene Obstsäfte, Milch und Wasser sind tausendmal besser. Wenn
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Dr. G. Küßner.
ihr euch erst einmal daran gewöhnt habet, werdet ihr bald kaum
noch von Durst gequält werden. Deshalb seid vorsichtig! mannhaft,
tapfer und stark! Es handelt sich um euer eigen Wohl!
Solche und ähnliche Bekanntmachungen werden ihre Wirkung
nie verfehlen. Doch ist es selbstverständlich, daß dem auch die
Tatsachen, die Einrichtungen auf der Strecke und in den Kantinen
entsprechen. Es würde geradezu aller Vernunft Hohn sprechen,
wenn dieselbe Verwaltung, die diese Bekanntmachung erlassen hätte,
es dann noch zulassen wollte, daß in den gleichen Baracken oder
in deren Nähe unbedenklich und genau so wie bisher Schnaps und
andern Alcoholica ausgeschänkt würden. So ist es denn notwendig,
daß überall da, wo man solche oder ähnliche Anschläge hat an¬
bringen lassen, wo man überhaupt nach den daselbst gekennzeichneten
Grundsätzen verfährt, auch der Ausschank aller geistigen Getränke
einer sehr starken Beschränkung unterworfen wird. Ja, die Frage,
um die es sich heute bei uns handelt, ist eigentlich schon die ge¬
worden : soll ein durchaus mäßiger Genuß etwa noch gestattet
werden — oder soll ein absolutes Verbot alles Ausschanks geistiger
Getränke stattfinden?
Mäßigkeit oder Enthaltsamkeit? Es ist zuzugeben: wo ein
mäßiger Genuß gestattet ist, da ist auch immer die Möglichkeit
eines unmäßigen Genusses gegeben; durch tausend Tore kann er
sich einschleichen, und es ist zu befürchten, daß sich das Bild in
einer Baracke, in der ein solcher gestattet ist, nicht sehr wesent¬
lich von den bisher geschilderten unterscheiden würde. Und
wenn man namentlich bedenkt, daß bei vielen bisher ausgeführten
Kanalbauten bereits die trefflichsten Vorschriften gegen den Mißbrauch
geistiger Getränke erlassen waren, Vorschriften freilich, die einen
beschränkten Gebrauch immerhin gestattet haben — und trotzdem war
eine solche Völlerei möglich, wie sie oft genug beklagt worden ist —
so macht mich das, muß ich gestehen, tatsächlich mißtrauisch gegen
solche Mäßigkeitserlasse; ich fürchte, daß damit nicht viel geholfen
sein wird.
Andererseits darf man die Schwierigkeit nicht verkennen, die
mit dem absoluten Verbot alles Ausschanks geistiger Getränke ver¬
bunden ist. Ein Mißbrauch ist auch hier möglich; Spionage,
Heuchelei, Angeberei, gerechte und ungerechte Strafen würden an
der Tagesordnung sein; der ganze Ton, der unter der Arbeiterschaft
herrschte, würde schwer darunter leiden. Ja! wenn man mit einer
ständigen, guten Arbeiterschaft rechnen könnte, wenn man in der
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Was sind wir unseren Eanalarbeitem schuldig?
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Lage wäre, durch jahrelange persönliche Beeinflussung sich eine
solche zu erziehen, dann wäre es wohl möglich, mit einer solcheu
Maßregel vorzugehen. Das alles aber ist in unserm Fall nicht vor¬
handen — die völlige Enthaltsamkeit von allen geistigen Getränken
wäre nicht freiwillig, nicht aus eigenem Verständnis hervorgegangen,
sondern erzwungen, würde als Zwangsmaßregel empfunden werden
und alle Schattenseiten nach sich ziehen, die mit solcher verbunden
zu sein pflegen. Noch ist unsere Zeit, unser Volk, namentlich diese
Schichten der Bevölkerung, in der sich alle Schäden der Zeit und
des Volks konzentrieren, dazu nicht reif genug.
Strengste Mäßigkeit mit dem Ziel völliger Enthaltsamkeit.
Was soll dann jedoch geschehen? Es muß in allen zur Ver¬
waltung gehörigen Kantinen und Baracken die strengste Mäßigkeit
vorwalten (und zwar eine viel größere, als man bisher mit diesem
Namen für vereinbar gehalten hat); hiermit muß jedoch das ausge¬
sprochene Bestreben einhergehen, eine völlig enthaltsame Arbeiter¬
schaft zu erziehen.
Strengste» Mäßigkeit im Ausschank. Es mag also gestattet
sein, daß in einer Baracke gewisse geistige Getränke feil gehalten
werden. Es muß aber ganz genau festgestellt werden, welches
Höchstquantum davon verschänkt werden darf; ich würde für zehn
Pfennig Branntwein für durchaus hinreichend halten; der Ausschank
in Wassergläsern sei streng untersagt; auf die Strecke darf er nie¬
mals hinausgefahren werden. Fliegenden Händlern sei der Zutritt
durch Anschlag verboten. Das Quantum Bier, das ein Mann zu sich
nehmen dürfte, wäre vielleicht nicht so streng vorzuschreiben, da
das bei den Leuten doch erst in zweiter Linie in Betracht kommt.
Persönlichkeit des Baracken Wirtes. Vor allem kommt es
jedoch auf eine geeignete Persönlichkeit an, der die Verwaltung so
einer Baracke anvertraut werden dürfte. Die erste Forderung, die
da erhoben werden muß, ist, daß es eine ganz gefestigte, in der
gesamten Alkoholfrage bewanderte Persönlichkeit, mit praktischer
Erfahrung, Menschenkenntnis und herzlicher Liebe zu den Leuten
sei; sehr wünschenswert dabei ist — wenn nicht unerläßliche Be¬
dingung! — daß er abstinent sei. Ob die aus Brüderanstalten
hervorgegangenen jungen Leute immer den Vorzug verdienen, will
ich so bestimmt nicht sagen. Es wird denselben oft der Vorwurf
gemacht, daß sie Anstaltspflanzen seien, das praktische Leben
nicht selber am eigenen Leib erfahren haben, daß sie die Leute
deshalb auch weder richtig beurteilen noch behandeln, daß es oft
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Dr. G. Küßuer.
ein recht häßlicher, barscher Ton ist, in dem sie mit ihnen ver¬
kehren; das sind Klagen, die man vielfach ira Verkehr mit den
Leuten zu hören bekommen kann, die auch literarisch bereits ihren
Ausdruck gefunden haben. Leicht wird es jedenfalls nicht sein, ge¬
eignete Persönlichkeiten zu finden, die all die oben erwähnten,
unerläßlichen Eigenschaften besitzen; man wird dabei doch immer
wieder auf genannte Anstalten zurückgreifen müssen. Ebenso ist
anzunehmen, wenn die Arbeiterschaft von den schlechteren Ele¬
menten gereinigt ist, auch eine strenge Hausordnung hinter dem
Baracken-Verwalter steht, daß der Ton in diesen Häusern bald ein
würdigerer werden und nicht mehr so oft ein so strenges Ein¬
schreiten erforderlich machen würde, wie es jetzt der Fall ist.
Festes Gehalt des Wirtes. Dazu ist bei den künftigen Kanal¬
bauten dahin zu streben, daß alle Inhaber von Baracken auf festes
Gehalt gesetzt werden und aus dem Konsum geistiger Getränke
keine Einnahme beziehen, auch nicht aus dem von Bier, wie es
unbegreiflicherweise noch am Kaiser-Wilhelm-Kanal geschah. Um
jedoch den Eifer der Leute anzuspomen, gebe man ihnen einen
Anteil an dem Umsatz, der überhaupt in einer Baracke stattfindet,
namentlich von dem aus alkoholfreien Sachen; die Inhaber müssen
ein Interesse daran besitzen, daß sie ihre Baracke immer voll haben,
und daß die Leute sich daselbst wohl fühlen
Überwachung des Ausschanks auf der Strecke und in den
Wirtschaften der Umgegend. Die Abwehr des Überangebotes
geistiger Getränke hat sich ferner, wie bereits angedeutet, auch auf
die Baustrecke zu beziehen, indem dort jeder Handel mit gei¬
stigen Getränken, welcher sonst massenhaft geschieht, verboten wird;
ebenso müssen den Wirtschaften und Kleinhandlungen in den
Dörfern und Städten genaue Vorschriften gegeben werden, sowohl
bezüglich der Zeit, in der sie geistige Getränke, als auch bezüglich
des Quantums, das sie, wie schließlich rücksichtlich der Personen,
an welche sie diese verschänken dürfen. Bei manchen Bauten ist
die Bestimmung getroffen worden, daß an Auswärtige während der
ganzen Bauzeit in ihnen überhaupt keine geistigen Getränke ver¬
ausgabt werden dürfen, um nicht alle Ordnung, die auf der Strecke
und in den Kantinen getroffen ist, illusorisch zu machen; auf
andern ist der Ausschank Morgens und Abends, wenn die größte
Versuchung an die Leute herantritt, oder Sonnabends nach Feier¬
abend oder an Lohnzahlungstagen untersagt worden; noch bei andern
hat man sich mit der Festsetzung eines bestimmten Quantums be-
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Was sind wir unseren Kanalarbeitern schuldig?
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gniigt, das zum Genuß auf der Stelle wie auch zum Mitnehmen
zulässig wäre. Ich würde der zu zweit erwähnten Methode den
Vorzug geben, da die erstere eine selbst nicht immer durch¬
führbare, stets aber als Ungerechtigkeit empfundene Scheidung der
Leute mit sich bringt, die letztere jedoch leicht einen Mißbrauch
möglich macht, insofern als niemand kontrollieren kann, wie oft ein
Mann sich bereits das zulässige Maß geholt habe. Diejenige Art
jedoch, der wir den Vorzug gegeben haben, besitzt auch das Gute,
daß dadurch auch die heimischen Arbeiter getroffen werden und
den Segen dieser Einrichtung — wenn auch zunächst nur zwangs¬
weise! — erfahren. Daß der Lohn nicht an dem Sonnabend, ebenso
nicht in einem Wirtshaus ausgezahlt werden darf, ist schon bei den
früheren Bauten angeordnet und hat sich überall als eine weise und
praktische Maßregel bewährt.
Angebot alkoholfreier Sachen in den Baracken. Es ist nun
eine allgemein anerkannte Tatsache, daß, wo man sich der geistigen
Getränke erst einmal entwöhnt hat, bald auch das Durstgefühl, das
Trinkbedürfnis stark abnimmt Einerseits ist dies jedoch nicht so¬
fort der Fall, andererseits wird die Art der Arbeit, wie sie die
Kanalarbeiter zu leisten haben, immer eine größere Schweißabsonde¬
rung und dadurch die Notwendigkeit mit sich bringen, eine größere
Flüssigkeitsmenge wieder zu sich zu nehmen. So ist denn darauf
zu achten, nicht nur, daß ein Überangebot alkoholischer Getränke
unterbleibt, sondern daß auch andersartige Mittel, die wesentlich
durstlöschend sind, in hinreichender Menge und Beschaffenheit an-
geboten werden.
Auch dies hätte zuerst in den Baracken zu geschehen. Da wären
überall gewisse alkoholfreie Getränke zu führen und bekannt zu
machen. Hierbei käme zimächst natürlich Kaffee in Betracht, auch
Malzkaffee, der in den meisten Fällen dem, was man unter dem
Namen Bohnenkaffee erhält, weit vorzuziehen ist, und von dem die
Tasse nicht einmal 1 Pfennig kostet, ebenso Kakao, der sich einer
immer steigenden Beliebtheit auch bei den kleinen Leuten erfreut
und ebenso billig zu liefern ist wie Kaffee. Ebenso Tee, wenngleich
man dem noch mit größerer Zurückhaltung entgegenkommt. Doch
wäre ein Versuch mit Mattee zu empfehlen, dem vorzüglichen
durstlöschenden Getränk der Brasilianer, das gesüßt und ungesüßt
getrunken gleich wertvoll ist. Ferner wäre an Zitronen zu denken —
die zur Hälfte durchgeschnitten und in Wasser gepreßt, ein sehr
erfrischendes Getränk geben, das ebenfalls nach Geschmack gesüßt
Der Alkoholismus. 1905. 3
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Dr. G. Kiißner.
oder ungesüßt getrunken werden kann und kaum 2—3 Pfennige
kostet. Dazu kommen all die Fruchtsäfte und Limonaden, die
man heute in so reichlicher Auswahl und tadelloser Güte her¬
zustellen vermag. Vieles davon könnte in der Barackenküche zum
Vorteil der Inhaber selbst hergestellt werden; die meisten solcher
Stätten werden ja doch auf dem Lande liegen, wo zu gewissen
Zeiten für beispiellos billige Preise alle möglichen Gartenfrüchte
angeboten werden. Hat die Frau des Wirts dann einige Kenntnis
in der Herstellung solcher Säfte, so hat sie dadurch Gelegenheit,
eine große Zahl verschiedener, vorzüglicher und billiger Getränke
zu bereiten und dabei selbst noch einen Überschuß zu erzielen.
Handelt es sich dabei namentlich um nicht gezuckerte Sachen, so
wird man dafür immer auf willige Abnehmer rechnen können.
Führt man jedoch Fabrikware, so versäume man nicht, sich auch
einige Prospekte davon kommen zu lassen und diese, wenn es sich
um hübsche Reklamebilder handelt, im Eßsaal auszuhängen. Es
ist eigentümlich, welch einen anregenden und belebenden Reiz diese
auszuüben vermögen: es müssen all diese guten und bekömm¬
lichen Sachen ja auch den Leuten erst einmal bekannt gemacht
und empfohlen werden. Sollte dabei der Mund auch etwas voll
genommen werden, so schadet das um der guten Sache willen nichts
Auch frisches Obst selber halte man zu gewissen Zeiten feil; be¬
merkenswert ist, daß eine kleinere Herberge neulich mitgeteilt hat,
daß sie in ca. zwei Monaten 300 Apfelsinen zu 5 Pfennig verkauft
und dabei die Hälfte verdient habe. Wenn der Genuß und
die Schätzung frischen Obstes erst einmal bis in diese Schichten
hinabgedrungen ist, wird man wolil auch bei solchen Bauten einen
Versuch damit machen dürfen. Die Vorurteile, die man noch etwa
dagegen haben sollte, werden sich mit der Zeit immer mehr legen,
und die Anwohner werden bereitwilligst ihr Obst zu dem Zweck
an den Bau bringen.
Angebot auf der Strecke. Auch auf der Strecke selber muß
ferner ein hinreichendes Angebot geschehen. Ich habe oben schon
erwähnt, daß ich — vor allem wegen des stets wechselnden Arbeits¬
platzes — eine sog. Mäßigkeitskantine nicht empfehlen würde. Doch
hat man jetzt praktische Mäßigkeitswagen hergestellt und vielfach
in Gebrauch genommen, die den ganzen Tag auf einer größeren
Strecke einherfahren und die gangbarsten alkoholfreien Sachen führen.
Verschiedene Arten derselben hat Bode in seiner „Wirtshausreform“,
(Berlin, Heymann 1898), geschildert, cf. auch „Gasthaus-Reform“ 1904,
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Was sind wir unseren Kanalarbeitem schuldig?
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S. 379. In England aufgekommen, finden sie sich jetzt vielfach schon
bei uns. Eine andere Einrichtung haben die Arbeiter oft schon unter
sich selber getroffen, indem sie auf der Strecke aus allerlei Eisenteilen,
die bei so einem Bau immer vorhanden sind, ein primitives Rost
herrichten, darüber einen großen Topf stellen, in welchem fortwährend
Kaffee brodelt; ein Junge — meist ein Sohn eines der Arbeiter
übernimmt die Aufpassung und Bedienung. An manchen Bauten
liefern bereits die Firmen unentgeltlich den Kaffee dazu, weil sie
sehen, wie die Leute dadurch bei Stimmung gehalten weiden, und
wie flott ihnen die Arbeit dabei von statten gellt.
Angebot in der Stadt. Sollten viele Arbeiter in der Stadt
oder auf dem Lande wohnen, so ist natürlich auch dort eine Stätte
zu schaffen, wo sie alkoholfreie Sachen beziehen können. Bei der
Stellung, die die meisten Wirte heute leider noch, oft wider ihr
eigenes bestverstandenes Interesse zu den Reformbestrebungen auf
dem Gebiet des Trinkens einnehmen, kann man dabei natürlich
nicht an sie denken, die im andern Fall zuerst in Betracht
kämen; auch darf mau die Leute selber nicht in Versuchung führen,
indem man ihnen Anlaß gibt, die Wirtshäuser zu besuchen. Ebenso¬
wenig aber würde es sich lohnen, eine extra für diesen Zweck be¬
stimmte feste Verkaufsstätte zu gründen; es müßte denn sein, daß
sie an einer Stelle läge, an der alle frühmorgens zur Arbeit
gehenden Leute vorüber gehen müßten, und daß sich ein geeigneter
Unternehmer fände, der Morgens und Mittags den Verkauf daselbst
übernähme. Am empfehlenswertesten würde ich es halten, wenn
man einige Krämer in der Stadt, die zuverlässig sind und nicht im
Rufe der Winkelkneipen stehen, ebenso einige auf dem Wege nach
der Arbeitsstätte liegende Bäckereien veranlaßte, solche alkoholfreien
Sachen zu führen.
Erziehung zur Abstinenz. Ich bin der Überzeugung, daß dies
alles — bessere WohnungsVerhältnisse, eine rationelle Pastorierung,
systematisch betriebene Aufklärung, dazu reichliches Angebot alkohol¬
freier Sachen, den Genuß der Alcoholica erheblich einschränken
würde, daß die Leute sich sehr bald wohl dabei fühlen, größere
Ersparnisse machen und freudiger arbeiten würden. Sie würden immer
mehr erkennen, daß all diese Maßregeln nicht etwa polizeiliche
Bevormundungen seien, durch die ihnen lieb gewordene Genüsse
versagt werden sollen, sondern in ihrem persönlichen Interesse und
zu ihrem eigenen Besten ergriffen seien. Und was sie zuerst viel¬
leicht als eine Art Joch und Zwang empfunden haben, das werden
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Dr. G. Küßaer.
sie sehr bald als eine sehr wohltuende Einrichtung empfinden, von der
sie nicht mehr lassen wollen. Kann sein, daß sich aus dem allen
im Laufe der Zeit sogar eine abstinente Arbeiterschaft bilden würde.
Doch wenn man das für ein wünschenswertes Ziel hält, darf man
das nicht sich selber überlassen, zumal wohl kaum auf einem Bau
eine Arbeiterschaft so lange vereint bliebe, daß sich diese Entwick¬
lung ganz aus sich selber vollzöge. So kommt es darauf an, daß
man mit diesem Kampf gegen den Mißbrauch geistiger Getränke
das zielbewußte Streben verbindet, eine völlig abstinente Arbeiter¬
schaft zu erziehen.
Unmöglich ist das nicht; bei den Eindeichungsarbeiten an der
schleswig-holsteinischen Westküste scheint es gelungen zu sein, eine
durchaus enthaltsame Arbeiterschaft zu sammeln und jahrelang
festzuhalten; — und die Arbeit, die die Leute damals zu verrichten
hatten, läßt sich an Beschwerden und Mühseligkeit noch über die
Kanalarbeiten stellen. Ebenso hat man auf landwirtschaftlichen
Betrieben die schönsten Erfahrungen mit einer ganz enthaltsamen
Arbeiterschaft gemacht (cf. das kleine Büchlein des tapferen Vor¬
kämpfers der Guttempler A. Smith: „Die Durchführbarkeit und der
Wert der Enthaltsamkeit im landwirtschaftlichen Betriebe“, Flens¬
burg 1904). Man muß nur die nötige Zeit dazu haben.
Aber wie soll man das nun befördern? Zunächst kann man
auch hier an das gesprochene Wort, das dem Manne die völlige
Enthaltsamkeit empfiehlt, und an das ermunternde Beispiel denken.
Dabei kämen zunächst der Barackenwirt, der Pastor und der Arzt
in Betracht. Notwendige Bedingung dafür ist freilich, daß sie alle
drei selber abstinent seien; und zwar nicht nur aus Herablassung
zu dem Schwachen, so daß man später, wo man zu dieser keine
Veranlassung mehr hat, auch wieder glaubt seinen Schoppen ge¬
nehmigen zu dürfen, Sondern aus grundsätzlicher, in sich selber
feststehender Überzeugung. Nur sie haben das moralische Kecht,
die Leute zur Enthaltsamkeit zu ermuntern. So mögen denn auch
reichlich Agitationsschriften, die die völlige Enthaltsamkeit empfehlen,
und die in jeder beliebigen Quantität von dem Verlag der Gro߬
loge des Guttemplerordens, Flensburg-Neustadt 45, zu beziehen sind,
verteilt werden.
Dazu kämen die schon erwähnten Prämien für zeitweise völlige
Abstinenz.
Von hervorragendem Wert für die Heranbildung [einer ab¬
stinenten Arbeiterschaft wäre es ferner, wenn es gelänge, zunächst
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Was sind wir unseren Kanalarbeitern schuldig?
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einmal einen — sei es auch kleineren Schacht von etwa 25 Mann
zu schaffen, der ganz aus abstinenten Arbeitern bestände. Dann
könnte man deren Leistungen mit andern Schächten vergleichen;
und ich bin nicht zweifelhaft, daß der Vergleich sehr erheblich
zu Gunsten der abstinenten Arbeiter ausfalien würde. Zu dem
Zweck könnte man wohl die besten abstinenten Arbeiter Zu¬
sammenlegen; oder man erließe in einem Abstinentenblatt eine
Anzeige, wonach für den und den Bau abstinente Arbeiter gesucht
würden, die sich mit Berufung auf diese Anzeige und Legitimation
auf dem Bureau zu melden hätten. Ich glaube, daß mit Rücksicht
auf die Tatsache, daß es heute schon tausende von abstinenten Ar¬
beitern gibt, sowie daß bei Kanalarbeiten ein hoher Lohn gezahlt zu
werden pflegt, sich nicht ganz wenige dazu bereit finden werden.
Dazu kommt der an dem Guttemplerorden bekannte Idealismus und
seine Opferwilligkeit, wo es sich um solche das Volkswohl an¬
belangende Interessen handelt, vielleicht wird das sogar mit lebhaftem
Eifer ergriffen werden. So würden sich dann gegebenenfalls eine
Anzahl alkoholfreier Inseln in der Arbeiterschaft bilden; bei dem
engen Zusammenschluß jedoch, in dem diese zu stehen pflegt,
ist es wohl anzunehmen, daß die abstinenten Arbeiter immer mehr
Kameraden in ihr Lager herüberziehen werden. Man sollte einen
Versuch damit machen; gelingt er nicht — so ist nichts verloren.
Gelingt er, so ist viel gewonnen! Welch ein ganz anderes Angesicht
würde aber erst eine abstinente Arbeiterschaft zeigen! Welch ganz
andere Wohlfahrtseinrichtungen könnte man für sie ins Leben
rufen!
Möchten aber auch alle Angestellten der Baufirmen oder Be¬
amten des Staates bedenken, welch einen unschätzbaren Dienst sie
der guten Sache leisten würden, wenn sie selber — wenn nicht
total abstinent würden, so doch sich der strengsten Mäßigkeit be¬
fleißigten. Die Herren stellen sich in den seltensten Fällen vor,
welch einen Schaden sie in den Köpfen ihrer Arbeiter anrichten,
wenn sie selber, eben nachdem der Pastor ihnen strengste Mäßig¬
keit ans Herz gelegt hat — so unbedenklich ihren studentischen
Allüren nachgehen und oft so leichtfertig von dem Alkohol reden!
Es handelt sich bei der Kanalarbeiterschaft noch viel mehr als bei
andern um Leute, die ein gewisses Autoritätsbedürfnis besitzen,
die mit einer gewissen Scheu auf höher Stehende blicken, sich nach
ihrem Beispiel richten, wobei zu allererst ihre Vorgesetzten in
Betracht kommen. Diese können ihre Köpfe verwirren, können
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Dr. G. Küßner.
einen unheilvollen Zwiespalt in sie hineintragen, wenn sie un¬
bedenklich den Mißbrauch geistiger Getränke mitmachen, wie er
heute überall stattfindet; sie können sich aber auf das höchste
um sie verdient machen, wenn sie ihnen mit einem guten Beispiel
vorangehen und sich selber diejenigen Schranken auferlegen, die
sie jenen ziehen.
5. Drei Hilfsmittel zu dem allen.
Zu diesen aufklärenden, den Mißbrauch geistiger Getränke be¬
kämpfenden und die Nüchternheit befördernden Maßregeln kommen
jedoch noch einige Hilfsmittel, ohne die all diese Bestrebungen
leicht vergeblich sein könnten.
Ernähnmgsfrage. Das erste betrifft die Ernährungsfrage. Es
bedarf keines Nachweises, wie innig die Ernährungsfrage mit dem
Gebrauch resp. Mißbrauch geistiger Getränke zusammenhängt. Das
Essen kann schlecht, unzureichend, unappetitlich sein, so daß man
nur glaubt, es genießen zu können, indem man es stark mit alkoho¬
lischen Getränken begießt; es kann auch — obwohl im allgemeinen
gut — eine Zusammensetzung und Zubereitung besitzen, die dazu
auffordert und reizt, nachher alkoholische Getränke zu genießen,
wie es fast noch überall der Fall ist, wo man nicht ganz rationelle
Kenntnis in der Hinsicht besitzt. Das alles ist nun in erhöhtem
Maße in der Ernährungsweise der Kanalarbeiter vorhanden. Diese
ist eine dreifache.
Erstens: die Leute nehmen ein reichliches Frühstück mit auf
die Baustrecke, leben davon den ganzen Tag und nehmen erst spät
Abends ihre erste warme Mahlzeit ein. Es liegt auf der Hand,
daß das nicht zu billigen ist und auf die Dauer die Gesundheit
schädigen muß, zumal die Heimkehr im Sommer oft erst sehr spät
erfolgt, ebenso daß der Mann dadurch vielfach zum Trinken ver¬
anlaßt wird, um die schlaff werdenden Magennerven zu reizen und
sich ein erhöhtes Kraftgefühl zu verschaffen. Der Grund hierfür
liegt oft in der Liebhaberei und Eigenheit des Mannes; dann ist
dem sehr schwer beizukommen; in vielen Fällen jedoch in mangeln¬
den Einrichtungen auf der Strecke oder in der minderwerten Be¬
sch aff enlieit des in der Baracke oder Kantine hergestellten Essens;
dann deckt sich das mit den gleich zu erwähnenden Übelständen
und erfordert die gleiche Abhilfe. Es kommt jedoch auch vor, daß
die Baracke, von der die Speise eventuell zu beziehen wäre, zu
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Was sind wir unseren Kanalarbeitern schuldig?
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weit abliegt, daß der Weg hin und her zu viel von der so wie so
dürftig bemessenen Mittagsruhe in Anspruch nimmt. In diesem
Fall ist es nötig, daß eine Einrichtung geschaffen werde, wodurch
die Speisen in gewärmtem und hinreichend appetitlichem Zustand
an Ort und Stelle gebracht werden, sei es daß man Feldbahnen
benutzt, wie in den meisten Fällen möglich, oder daß man
einfache, gewärmte Speisewagen zu dem Zweck einstellt, wie sie
von unserer Industrie schon seit längerer Zeit hergestellt werden
und bereits vielfältig in Brauch sind. Jedenfalls sollte reichlichst
Gebrauch gemacht werden von den sog. schwedischen Heukisten,
die sich jeder für seinen eigenen Bedarf herstellen kann.
Zweitens: die Leute lassen sich das Essen zu Mittag von ihren
Frauen auf die Strecke bringen; dann ist es kalt, das Fett erstarrt,
der Geschmack fade; ebenso fehlt es an einem Unterschlupf, wo
man es zu sich nehmen kann — allem Wind und Wetter ausgesetzt,
unter einem Strauch, in einer Bodensenkung, auf einem Baumstumpf
sitzend, schlingt der Mann das Essen hinunter; alles ein Anlaß, viel
Schnaps dazu zu trinken. Was daher notwendig ist, dem einiger¬
maßen zu wehren, ist eine Gelegenheit, eine Feuerstätte, ein Feld¬
herd oder dergleichen, wo man die mitgebrachten Speisen wärmen
kann; zweitens ein Unterschlupf, wo man sie, vor den Unbilden
der Witterung geschützt, zu sich nehmen kann. Das könnten nach
dem Winde stellbare, hölzerne Zufluchtstätten oder kleine, aber
windsichere, aus starkem Segeltuch hergestellte Zelte, oder, was ich
für das beste halten würde, so eine Art Strandkorb sein, für zwei
Personen eingerichtet, den die Eheleute hinstellen könnten, wie sie
wollten, und wo sie Gelegenheit hätten, einige Minuten wenigstens
allein zu sein. Wenn man sieht, wie die Leute sich nach so einer
Einrichtung sehnen, und welche elenden Hilfsmittel sie zu dem
Zweck benutzen, dann wird man die Anschaffungskosten dafür nicht
für zu teuer erachten.
Drittens: das Essen in der Baracke. In den erstgenannten
schlechteren Baracken ist das natürlich größtenteils miserabel und
höchst unappetitlich, wie das ganze Äußere dieser Baracken dem
Manne überhaupt jedes Essen verleiden muß. Meist ist es auch
ein durchaus armseliger Küchenzettel, der da geführt wird, wenn
man sich nicht überhaupt auf Wurst und Brot, Speck und Kar¬
toffeln beschränkt — der Schnaps hat dort alles verdrängt. Solche
Baracken gibt es hoffentlich bei den nächsten Bauten nicht mehr.
Aber auch bei den besseren Baracken kommt es vor, daß die Küche
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Dr. G. Küßner.
zu wünschen übrig läßt, wenngleich es sehr schwer ist, es in dieser
Beziehung allen Leuten recht zu machen. Oft sind es ungeeignete
Leute, in deren Händen die Küche liegt, sie kennen die Bedürfnisse
des einfachen Mannes nicht immer. Manchmal ist es zu gut, was
sie ihm vorsetzen; dann schätzen die Leute es nicht. Manchmal
aber auch zu schlecht, zu wenig auf seine Bedürfnisse berechnet;
dann ist großer Skandal. Namentlich wird bei allen diesen Küchen
viel zu wenig die Beziehung, in der die Speisen zu dem Genuß
alkoholischer Getränke stehen, beachtet; auch macht man allgemein
bei all solchen Gelegenheiten noch viel zu wenig Gebrauch von
den Resultaten der neueren Küchenchemie, die die Speisen z. T.
durchaus anders wertet, als es früher der Fall war. Viel gewonnen
wäre ja bereits, wenn die Baracken selber in einem besseren Zu¬
stand gehalten wären, auch bei der Auswahl der Inhaber die
größte Vorsicht waltete, und nur solche zugelassen würden, die sich
über hinreichende Erfahrung auf diesem Gebiet ausweisen könnten.
Vielleicht schenkt uns auch einmal ein Kenner ein Buch — bis
jetzt haben wir noch keins! — welches erstens die Beziehung der
ganzen Ernährungsfrage zu allem, was mit dem Trinken zusammen¬
hängt, berücksichtigt, zweitens die Resultate der neueren Ernährungs¬
wissenschaft — denn zu einer solchen hat sie sich bereits aus¬
gebildet, in gesunder und besonnener Weise verwertet (etwa wie
das Buch von Louise Ravit-Kiel), dabei aber mit vollem Bewußtsein
die Massenverpflegung von schwer arbeitenden Männern ins Auge
faßt. Der guten Sache würde damit ein hervorragender Dienst
geleistet.
Schutzvorkehrungen auf der Strecke. Als ein weiterer, stark
empfundener Schaden, durch den die Leute oft in Versuchung
kommen, zur Flasche zu greifen, und der mit dazu beiträgt, das
ganze Niveau, auf dem sich die Leute befinden, herabzudrücken,
kommt der Mangel von allerlei notwendigen Schutzvorrichtungen
auf der Strecke und in den Ortschaften in Betracht Auf der
Strecke werden die Leute oft drei- und viermal bis auf die Haut
naß, haben aber keine Gelegenheit, wo sie die erstarrten Gliedmaßen
wieder wärmen oder ihre Kleider trocknen können. Auch ist da
kein Platz, wo sie das mitgebrachte Frühstück hinlegen, den Wetter¬
mantel aufhängen, eventuell auch ihr schweres'Arbeitsgerät einstellen
können. Es sind freilich in den meisten Verordnungen solche
Bauhütten vorgesehen; doch entweder sind sie nicht da — dar¬
über wird fast überall geklagt — oder durchaus unzureichend,
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Was sind wir unseren Kanalarbeitern schuldig?
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voll von rostigen Eisenteilen, Laschen, Schienen und Gerümpel
aller Art, so daß sie für den gedachten Zweck absolut nicht in
Betracht kommen. Solche Schutzhütten und Baubuden müssen für
die Zukunft überall in hinreichender Zahl und Größe vorhanden
sein, welch beides sich natürlich nach den sonst bereits auf der
Strecke befindlichen Einrichtungen, nach der Nähe der Baracken
und Ortschaften richtet. Eine über ihren unmittelbaren Zweck
hinausgehende Festigkeit brauchen sie selbstverständlich nicht zu
haben. Doch muß man bedenken, daß es sich dabei um auf freiem
Felde allen Stürmen ausgesetzte Hütten, ebenso um Männer handelt,
die meist fern von ihrem Wohnort sind und sich wenigstens zwölf
bis vierzehn Stunden im Freien aufhalten müssen. Zweckdienlich
könnten diese Buden mit den oben geschilderten Einrichtungen
verbunden werden.
Aufenthaltsraum. Etwas Ähnliches bedürfen die Leute auch
in den Orten, wo sie untergebracht sind. Es kommen oft mehrere
Tage vor, wo nicht gearbeitet wird; das sind hohe Festtage, von
denen oft drei und vier aufeinander folgen, oder Zeiten, wo die
Witterung die Arbeit nicht zuläßt. Wo sollen da die Leute bleiben?
In ihren Quartieren ist das nicht möglich. Die sind meistens nur
für die Nacht; Wärmehallen oder öffentliche Anlagen gibt es
nicht — da strömt natürlich alles in die Kneipen; und dort ent-
Avickelt sich schnell eine solenne Kneiperei, bei der oft in wenigen
Stunden der Verdienst einer ganzen Woche darauf geht. Auch be¬
sonnenere Leute werden oft mit fortgerissen, und der Wirt tut
alles, um die Leute zu immer größeren Geldausgaben zu verleiten.
Das ist freilich ein Übelstand, dem sehr schwer beizukommen ist,
dem aber doch in Anbetracht des Schadens, den er anrichtet, ab¬
geholfen werden muß. Gelindert würde derselbe ja schon, wenn
die Privatquartiere die geforderte Beschaffenheit besäßen, so daß
die Leute sich gegebenen Falls dort aufhalten könnten; ebenso
würde eine Arbeiterschaft, wie sie durch die geschilderte Sichtung
entstanden wäre, eher im stände sein, der Versuchung zu wider¬
stehen. Aber doch erfordert es die Gerechtigkeit und Menschen¬
liebe, den Leuten einen angemessenen Baum zu schaffen, wo sie solche
Tage — überhaupt arbeitslose Zeiten — verbringen können, ohne
gezwungen zu sein, alkoholische Getränke zu sich zu nehmen oder
Ausgaben zu machen. Es würden sonst solche Tage nicht nur
negativen Charakter haben, insofern an ihnen nichts verdient wird,
sondern sogar destruktiven, indem an ihnen unverhältnismäßig
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Dr. 0. Küßner.
hohe Summen des vorhandenen Kapitals verzehrt und zerstört
werden. Da sich die Wirte aller Wahrscheinlichkeit nach auf dies¬
bezügliche Abmachungen nicht einlassen würden, die Beschaffung
solcher Bauten in den betreffenden Ortschaften ebenfalls auf viel
Schwierigkeiten stoßen würde, so müßten auf dem Grund und Boden
der Verwaltung — etwa dort, wo das Baubureau ist, wo Schmiede-
und Schlosserwerkstätten sich befinden, wo so wie so schon eine
ganze Kolonie von Wellblech- und Blockhäusern zu sein pflegt, wo
auch eine Verbindung mit allen Baustellen vorhanden ist, ein ge¬
eignetes Gebäude errichtet werden, das diesen Zwecken dient, wo
die Leute sich jederzeit frei aufhalten, angemessen unterhalten
könnten und Hausrecht besäßen. Wo erst einmal ein solches Ge¬
bäude vorhanden ist, das tatsächlich einem dringenden Bedürfnis
entspricht, würden viele Veranstaltungen und Vorkehrungen, die
man noch sonst zu Gunsten der Kanalarbeiter treffen möchte und
oft gefordert hat, für die aber bis jetzt nirgends Raum und Gelegen¬
heit vorhanden war, verwirklicht werden können, wovon später zu
sprechen sein wird.
Länge der Arbeitszeit. Zum Schluß bedarf auch die Länge
der Arbeitszeit und die entsetzliche Sonntagslosigkeit der Leute
einer energischen Regelung. Die Arbeitszeit pflegt bei solchen
Bauten in der Hauptsaison eine unerhört lange zu sein; am Elbe-
Trave-Kanal dauerte sie monatelang fünfzehn und mehr Stunden;
dazu kamen oft Wege von acht, zehn und mehr Kilometern, zum
Teil auf ungebahnten Wegen. Wenn die Leute dann übermüdet
nach Hause kamen, hastig ihre Mahlzeit eingenommen und die
nötigen Vorbereitungen für den nächsten Tag getroffen hatten,
blieben für die Nachtruhe kaum mehr als vier Stunden. Und welch
eine Arbeit ist das, die die Leute zu leisten haben! Da stehen sie
in schlammiger Tiefe; die Schüttwagen oft 1%—2 Meter über
ihnen; da hinein sollen sie dann die schwere, tonige oder lehmige
Erde werfen — und das soll den ganzen Tag von Morgens vier
Uhr bis spät in den Abend hinein geschehen. Man kann sich
denken, wie das an einem Menschen zehrt, ihn entwürdigt, ihn dumpf
und stumpf macht und ihm immer wieder die Schnapsflasche in die
Hand drückt. Das würde man kaum einer Maschine und noch viel
weniger einem Zugtier zumuten. Freilich weiß ich, daß das alles
der Form nach freiwillig geschieht, ebenso, daß es wie bei jeder
Arbeit so auch hier besonders arbeitsreiche Zeiten gibt, die zugleich
Zeiten hohen Verdienstes sind (4,50—5 Mark). Ja, zum größten
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Was sind wir unseren Kanalarbeitem schuldig?
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Teil sind es gerade die besten Arbeiter, die solche Überstunden
machen; sie haben die Absicht, möglichst viel Geld nach Hause zu
schicken imd übernehmen deshalb willig eine weit über ihre Kraft
hinausgehende Arbeitsleistung; wie es überhaupt immer die besten
zu sein pflegen, die bei solchen Bauten mit am meisten aus¬
genutzt werden! Aber ich weiß auch, daß diese sogenannte Frei¬
willigkeit meist nur eine scheinbare und erzwungene ist; dahinter
lauert immer der „Fremdzettel 1 ', mit welchem manche Schachtmeister
immer unter irgend einem Vorwand schnell bei der Hand sind.
Und das fürchten gerade die zuverlässigsten Arbeiter, Ehegatten
und Familienväter, während die schlechteren, die ihre Sache auf
nichts gestellt haben, „ihren Kram in den Dreck werfen“ und auf
und davon gehen.
Soimtagslosigkeit. Ebenso ist es mit der Sonntagslosigkeit
der Leute. Wohl ist es bekannt, daß es darüber genaue gesetz¬
liche Bestimmungen gibt. Aber es ist auch bekannt, wie zahllos
schon die Ausnahmen sind, die das Gesetz selber zuläßt. Nun soll
man jedoch sehen, welche Ausdehnung diese in der Praxis selber
erhalten, wo fast jeder Grund für stichhaltig angesehen wird, diese
armen, gehetzten Menschen dieses kostbarsten Gutes, dieses einzigen
Lichtpunktes in ihrem freudlosen Dasein, zu berauben, dann weiß
man, daß die Sonntagsruhe zu den verschwindenden Ausnahmen
gehört, daß die Sonntagslosigkeit fast überall die Regel geworden
ist — nur daß die Arbeit dann ein klein wenig später anfängt, wie
zum Hohne um die Zeit des angesagten Gottesdienstes auf offner
Strecke, weit von allen menschlichen Wohnungen entfernt, sistiert
wird und etwas früher aufhört. Wohl sind die Herren von der
Verwaltung immer sehr bereit, alle möglichen Gründe anzuführen,
weshalb eine solche Arbeit notwendig sei, da sollten Geleise neu
gelegt, Dämme ausgebessert, Maschinen gereinigt, Wasser gepumpt
werden u. s. w.; und immer heißt es, wenn das nicht geschieht, so
muß die Arbeit den nächsten Tag ruhen. Wohl kann man auch
hier zugeben, daß Verhältnisse ein treten können, die einige Stunden
Sonntagsarbeit nötig machen; dann wird kein einsichtiger Mensch
dagegen protestieren. Aber das darf nicht zur Regel werden, so
daß die freien Sonntage zur seltenen Ausnahme werden; es darf
der Profit, das Interesse des Kapitals nicht den Ausschlag geben.
Und bei einigem guten Willen läßt es sich in den meisten Fällen
auch machen, die Sonntage arbeitsfrei zu halten — das ist mir
oft genug von vernünftigen Beamten bestätigt worden. Man soll
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Dr. G. Küßner.
sich nur dazu verstehen, unsterbliche Seelen für höher zu halten
als hohe Prozente, und Menschenleiber für wertvoller als Maschinen¬
teile.
Ja! wie immer, so ist es auch hier: man glaubt, so klug zu
sein und alles so fein berechnet zu haben, und schneidet sich doch
in sein eigen Fleisch! Es ist ja doch im Laufe der Zeit allgemein
bekannt geworden, welch einen problematischen Wert solche Über¬
stunden und der Mangel an Sonntagsruhe besitzt — nicht nur in
ideeller Hinsicht — das spielt ja bei diesen Profitmenschen keine
Rolle, sondern auch in finanzieller und national-ökonomischer
Richtung. Es ist bekannt, daß die Arbeit, die in solchen Über¬
stunden gemacht wird, minderwert ist — und doch muß sie als
vollwertig, eher noch höher bezahlt werden. Ebenso ist es Tatsache,
daß zu solchen Zeiten die größten Maschinenschäden stattfinden,
die später kostspielige Reparaturen erfordern, daß aus dem gleichen
Anlaß die schwersten Unglücksfälle Vorkommen, die einen Menschen
Zeit seines Lebens ruinieren können. Ebensowenig bedarf es eines
Nachweises, daß es weder eine Lust noch ein Gewinn sein kann,
mit einer durch solches Übermaß von Arbeit mürbe und müde,
reizbar und verdrossen gewordenen, ohne Sinn und Interesse arbei¬
tenden Mannschaft zu arbeiten: jedes Kind kann sich sagen, daß
mit ihr nur die Hälfte geleistet werden kann. Wo bleibt da der
so heiß ersehnte Profit?
Nein! So kann es nicht bleiben! Das widerspricht aller Ge¬
rechtigkeit und Menschenliebe! Zwölf Stunden Arbeitszeit ist das
höchste Quantum, das einem Mann an den Wochentagen zugemutet
werden darf; die Ruhezeiten müssen dabei reichlich bemessen sein
und wirklich als solche benutzt werden können; die Sonntagsruhe
muß strikte inne gehalten werden. Wenn jedoch einmal Sonntags¬
arbeit notwendig geworden sein sollte, so ist den betreffenden
Arbeitern in der darauf folgenden Woche eine ununterbrochene
Ruhe von 36 Stunden zu gewähren. Auch darf es niemals in das
Ermessen eines niederen Beamten gestellt werden, diese Gottes¬
ordnung zu durchbrechen und die von ihm abhängigen Arbeiter
dieses ihres edelsten Rechtes zu berauben, durch das sie sich ein¬
mal auf sich selbst besinnen und ihrer höheren Natur bewußt
werden können. Entweder müssen die gesetzlichen Bestimmungen
so genau fixiert werden, daß sie jede eigenmächtige und willkür¬
liche Auslegung unmöglich machen, oder es müßte jedesmal unter
Angabe von Gründen um Erlaubnis der Sonntagsarbeit nachgesucht
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Was sind wir unseren Kanalarbeitem schuldig?
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■werden, resp. wäre darüber nachträglich Bericht zu erstatten.
Wohl ist das eine sehr empfindliche Belästigung, aber wo die bis¬
herige Freiheit, wo das Vertrauen, das man in die Menschlichkeit
und Gerechtigkeit der dafür verantwortlichen Stellen gesetzt hat,
so gröblich, so schmählich gemißbraucht worden ist, daß solche Zu¬
stände haben einreißen und trotz anderslautender, durchaus wohl¬
wollender Bestimmungen haben jahrelang fortbestehen können, da
gibt es kein anderes Mittel, als strengste Aufsicht und Belästigung!
All diese Maßregeln haben ja ihren Wert in sich selber; wir
sind das diesen Menschen schuldig als unseren Brüdern, die sich
selber nicht helfen können, denen andere deshalb beistehen müssen,
um ihnen menschenwürdige Daseinsbedingungen zu schaffen. Aber
doch stehen sie auch alle im Dienste des Kampfes gegen den Mißbrauch
geistiger Getränke. All die Maßnahmen, die wir vorher vorgeschlagen
haben, würden wirkungslos bleiben, wenn nicht auch diese schreien¬
den Übelstände mit kraftvoller Hand angefaßt und beseitigt werden
würden; noch so gute Wohnungen, noch so eindringliche Mahnungen
und Appelle an das Ehrgefühl der Leute würden nichts fruchten,
wenn nicht auch die ganze Emährungsfrage nach vernünftigen Ge¬
sichtspunkten geregelt, für geeignete Schutz- und sonstige Aufent¬
haltsräume der Leute gesorgt und die Arbeitszeit nach humanen
Grundsätzen geordnet wäre. Wo das alles aber Hand in Hand
geht: eine Tätigkeit, die den Grund, aus dem bisher der Mißbrauch
geistiger Getränke stammte, zu beseitigen, die die Menschen aufzu¬
klären, die das Überangebot alkoholischer Getränke zu verhüten,
dagegen reichlich Ersatzgetränke anzubieten sucht, die ebenso
zweckdienlich wie billig und wohlschmeckend sind, eine Tätigkeit,
die überhaupt die ganzen Daseinsbedingungen dieser Ausgestoßenen
zu heben bestrebt ist — wo das alles Hand in Hand geht und ge¬
treulich geübt wird, auch wenn man nicht gleich Erfolge sehen
sollte, da wird man auch in nicht allzulanger Zeit der Alkohol¬
seuche Herr werden. Ein einziges Mittel, oder hie und da kleine
Mittelchen, regellos angewandt, werden das Übel nur verschlimmern:
sie alle, vereint angewandt und mit weiser Fürsorge gehandhabt,
werden ohne Zweifel wesentlich mit dazu beitragen, eine im großen
ganzen mäßige, in Teilen sogar abstinente Arbeiterschaft zu er¬
zeugen.
Aufbringung der Kosten. Freilich, wenn man das alles zu- *
sammenzählen würde, was wir jetzt gefordert haben, so würde eine
ganz erkleckliche Summe herauskommen; und alle, die nur den in
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Dr. G. Küßner.
harten Talern einzustreichenden Gewinn vor Augen haben, werden
Zeter und Mordio schreien über diese „unerhörten Zumutungen“.
Dabei aber ist zu bedenken: das Wohl der Arbeiter, die so treu
so schwere Arbeiten verrichten, die so viel Geld ins Land bringen,
die Werte schaffen, von denen das ganze Volk, ja, noch viele Jahr¬
hunderte gut haben werden, die Pflichten der Gerechtigkeit und
Nächstenliebe sind in allererster Linie maßgebend. Ob wir sofort
einen gangbaren Weg aufweisen können, wie die Mittel leicht und
bequem aufzubringen sind, ob wir gleich den Vorteil davon haben,
kommt erst in zweiter Linie in Betracht. Unsere unausweichliche
Pflicht ist es, den Leuten es so gut zu geben als es nach allseitiger,
gerechter, billiger und liebevoller Erwägung aller Verhältnisse über¬
haupt möglich ist; und wir würden mit dem ganzen sozialen Geist
unserer Zeit — wie Herr von Massow in seinem erwähnten treff¬
lichen Referat ausführt — in Widerspruch geraten, wenn wir uns
dieser Pflicht entzögen.
Aber wir dürfen auch nicht vergessen: es stehen ebenfalls ganz
gewaltige reale Erwägungen auf dem Spiel. Wer kann es ausdenken,
welche Schäden der Gesamtheit zugefügt werden, wenn in solchen
Kanalbauten viele Jahre hindurch Zentren geschaffen würden, wo
die gesamte Stromerschaft Deutschlands sich eine Zeitlang aufhalten
und mit Mitteln versehen könnte, um auf Monate ungestraft der
Völlerei zu leben, wenn mangels geeigneter Vorkehrungen viele
jüngere und ältere Leute, die zu der Zeit gerade stellenlos sind
und auf so einem Bau wieder Arbeit gefunden haben, verlumpen
und zu Vagabunden werden, wenn bis dahin ordentliche Arbeiter
unter der Ungunst der Verhältnisse verrohen, zu Trinkern werden
und ihre Angehörigen daheim vergessen?! Wer kann es berechnen,
welche Kosten der Gesamtheit durch die unter solchen Verhält¬
nissen nur gar zu leicht möglichen Schlägereien, Messerstechereien
und Verbrechen aufgebürdet werden können, welche Aufwendungen
für Armenunterstützung, frühzeitige Invalidität, Unfall und Krank¬
heit damit verbunden wären. Das alles kann ja nicht mit Zahlen
belegt werden; aber jedermann sieht, daß das in die Millionen
geht. Nehmen wir beispielsweise den Kaiser-Wilhelm-Kanal an,
wodurch ca. 10 Jahre 6000 Mann beschäftigt waren; ich will dabei
nur 100 Mk., die der Mann jährlich für geistige Getränke ausge¬
geben hat, annehmen, eine Zahl, die bei weitem nicht ausreicht,
so würde das für die Bauzeit eine Summe von 6 Mill. Mark aus¬
machen. Das würde sich aller Wahrscheinlichkeit nach jedoch ver-
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Was sind wir unseren Kanalarbeitern schuldig?
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doppeln und verdreifachen, wenn man die indirekten Kosten, den
ganzen "Verlust an National Wohlstand dazu rechnete. — Welch un¬
geheuren Werte würden gespart werden oder in positiven Wohl¬
fahrtseinrichtungen angelegt werden können, wenn es gelänge, mit
Ausgabe weniger Tausende, diesem Mißbrauch direkt und indirekt
zu wehren. Die Gebote der Menschlichkeit decken sich hier wieder
einmal mit den Geboten der Klugheit.
Es darf also keine Frage sein: die für all die vorgeschlagenen
Veranstaltungen notwendigen Summen müssen und können aufge¬
bracht werden.
Viele Schultern, die dazu beitragen. Aber andererseits sind
es auch viele Schultern, auf die sich diese Kosten verteilen, ohne
sehr erheblich damit belastet zu werden.
Baufirmen. Zuerst kommen die großen Baufirmen dabei in
Betracht. Wohl hat man vorgeschlagen, der Staat selber möge
alles, was mit der Unterbringung und Verpflegung der Leute zu¬
sammenhängt, in eigene Regie übernehmen und sich dabei der Mit¬
hilfe sämtlicher einschlägiger Vereine bedienen, die vor allem das
dazu nötige Personal zu stellen hätten. Doch halte ich es nicht
für sehr wahrscheinlich, daß der Staat darauf eingehen würde; wenn
schon aus keinem andern Grunde, so deshalb, weil die Ausführung
all der geplanten Bauten sich auf eine verhältnismäßig kurze Zeit
erstrecken und gleichzeitig geschehen würde, so daß nicht etwa
die bei dem einen Bau verwandten Baracken, Schutzhütten, Block¬
häuser, Versammlungsräume, Speisewagen u. s. w. nachher auf
einem andern Verwendimg finden könnten; sie alle müßten gleich¬
zeitig vorhanden sein und würden nachher größtenteils überflüssig
werden. Das wäre jedoch nicht rationell.
Ob ferner die betreffenden christlichen und humanitären Ver¬
eine, die es heute bei uns gibt, und die Herr von Massow herbei¬
ruft, dazu im stände sein werden, das große zu leisten, das er ihnen
zumutet, wenn der Staat ablehnen würde, ob ihre Kraft dazu wirk¬
lich ausreicht, ja, ob es überhaupt möglich sein wird, sie alle zu
dem Zweck zu einer einheitlichen Tätigkeit zu organisieren, er¬
scheint mir nicht durchaus sicher. Ja, wenn wir bereits so ein
großes, fertiges Unternehmen besäßen, etwa in Form einer Wohl¬
fahrts-Genossenschaft, wie man es in früheren Jahren angeregt, die
sich berufsmäßig der Beherbergung und Beköstigung dieser Wander¬
arbeiter annähme und das dazu erforderliche Material besäße, so
wäre die Sache leichter. Da das jedoch nicht der Fall ist, so sind
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Dr. G. Küßner.
wir notgedrungen auf die Mithilfe der großen Baufirmen ange¬
wiesen.
Aber ich halte die Gefahr auch durchaus nicht für so groß,
wie Herr von Massow sie darstellt; als ob jedesmal mit der Über¬
nahme der Beherbergung und Beköstigung der Leute von seiten
der Baufirmen eine Ausbeutung derselben stattfinden müßte, durch
die sich die Unternehmer für gehabte Kosten schadlos halten wollten.
Man muß nur die Möglichkeit, die Gefahr kennen, die damit ver¬
bunden ist, und die nötigen Vorkehrungen dagegen treffen. Die
Baubehörde müßte sich zuerst selber ganz klar über die Art und
Weise sein, wie die Beherbergung und Beköstigung der Leute zu
geschehen hätte. Die Bedingungen, die alles diesbezügliche genau
enthielten, müßten beizeiten zur öffentlichen Kenntnis, namentlich
der großen hierbei in Betracht kommenden Unternehmerfirmen ge¬
bracht werden. Bei eventuellen Bewerbungen müßten diese die
Kostenanschläge für die Bauausführung gesondert von den für
Unterbringung und Verpflegung der Leute einreichen; der Zuschlag
dürfte nicht dem Mindestfordernden erteilt werden; bei der Unter¬
bringung der Leute dürfte nichts gespart werden. So würden die
betreffenden Firmen die ihnen auferlegten Mehrkosten von vorn¬
herein in den Voranschlag einstellen und ihre Forderungen etwa
um 50—100000 Mk. erhöhen, was bei diesen Millionen-Losen nicht
in Betracht käme, auch bei allen Unternehmern das gleiche bliebe,
so daß die Konkurrenz unter diesen dadurch nicht erhöht würde.
Käme dazu die unten zu schildernde, sich den Verhältnissen an¬
schmiegende Kontrolle, so würde die befürchtete Gefahr durchaus
vermieden.
Staat, Kirche, Innere Mission, Vereinswesen. Zu zweit käme
der Staat als solcher in Betracht, der nicht nur ein moralisches,
sondern wie gezeigt, auch ein gewaltiges pekuniäres Interesse daran
hat, daß seine Angehörigen nicht leiblich oder sittlich bei solchen
Bauten Schaden leiden und als defekte Menschen in die heimischen
Verhältnisse zurückkehren, der aber auch in den riesigen Kapitalien,
die er aus dem ganzen Versicherungswesen gesammelt hat, über
hinreichende Mittel verfügt, alle mit Bezug auf das körperliche und
ethische Wohl der Leute erforderlichen Veranstaltungen ausgiebig
zu unterstützen, und der schon oft genug bereitwilligst zu ähnlichen
Zwecken erhebliche Summen zur Verfügung gestellt hat Dazu
käme ferner die Kirche, sowohl die offizielle kirchliche Organisation,
wie die innere Mission mit ihren vielen Vereinen und Veranstal-
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Was sind wir unseren Kanalarbeitern schuldig?
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tungen, die alle irgend welche in ihr Gebiet schlagenden Kosten
übernehmen würden; und zwar je nach lokalem Bedarf und Antrag.
Die betreffenden Konsistorien würden z. B. das Gehalt für den anzu¬
stellenden Prediger tragen, resp. wenn es mehrere sein sollten, er¬
hebliche Zuschüsse dazu leisten; Schriften-Vereine übernähmen die
Verteilung und Kolportage von guten Blättern und Büchern, andere
die Anschaffung von Harmonien, die Ausschmückung der Baracken,
auch der Gustav-Adolph-Verein resp. die betreffenden katholischen
Verbände würden mit heranzuziehen sein. Ebenso würde der Ge¬
meinschafts-Verein viele seiner überschüssigen, jetzt oft an durch¬
aus ungeeigneten Stellen stehenden Arbeitskräfte und Evangelisations-
Redner hier hinsenden können, wo sie meiner Ansicht nach geradezu
eine Mission haben und ihre Existenzberechtigung beweisen könnten.
Auch dem deutschen Herbergs-Verein, dem Verband der vereinigten
Arbeiterkolonien, dem Guttempler-Orden, dem Verein gegen den
Mißbrauch geistiger Getränke böte sich hier ein schönes Feld der
Tätigkeit! Nur nicht zu viel organisieren und theoretisieren-
alles nach Bedarf und auf Antrag!
Besonders interessierte Kommunen und Verbände. Während
man an all diese Stellen jedoch schon gedacht hat, ist man an zwei
ebenfalls stark in Betracht zu ziehenden Stellen bisher ziemlich
achtlos vorüber gegangen. Es gibt viele Menschen, welche schon
während der Bauzeit eines Kanals sehr große Verdienste von
diesem haben; das sind zahllose Vermieter, Handwerker, Schlachter,
Krämer, Kaufleute aller Art. In Mölln waren z. B. zeitweise 600 Mann
untergebracht. Viele waren verheiratet und hatten starke Familien;
sie alle wohnten und lebten, besorgten alle Einkäufe in der Stadt.
Dazu kamen die alle, die zu dem Zweck vom Lande hereinkamen
und hier ihre Einkäufe besorgten, ebenso größere Geschäfte, die
die Unternehmerfirmen abschlossen; das auf mehrere Jahre be¬
rechnet, macht Millionen. Noch dazu sind das Summen, die sich
ziemlich gleichmäßig auf alle Schichten der Bevölkerung verteilen.
Es wäre deshalb gar nicht ungerecht, wenn sie alle, die an diesen
reichen Einnahmequellen partizipieren, in irgend einer Weise zu
den Kosten herangezogen würden, die zwecks rationeller Versorgung
der Leute aufzuwenden wären; und viele würden auch mit Freuden
ihr Scherflein dazu beitragen.
Ebenso wäre es meiner Ansicht nach gar nicht ungerecht, wenn
man reiche Private, gemeinnützige Vereine, eventuell sogar Kreis¬
tage und Synoden gerade derjenigen Gegenden zu den Kosten mit
Der Alkoholiumua. 1905. 4
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Dr. G. Küßner.
herbeizöge, aus denen ein größerer Teil dieser Arbeiter stammt;
die haben doch das allervitalste Interesse daran, daß es den Fort¬
gewanderten — ihren Landsleuten und Verwandten, in der Fremde
gut geht, daß sie gesund an Leib und Seele wieder in die Heimat
zurückkehren. Wenn das meist auch ärmere Gegenden zu sein
pflegen — immer ist das doch nicht der Fall; und ein gutes Wort
findet auch oft eine gute Statt! Und gerecht wäre die Sache!
Doch, wie gesagt, wo es sich um so große, kostspielige Werke,
um so elementare Pflichten, um so viele tragfähige Schultern han¬
delt, da spielen 2—3 Millionen, die die Kosten für die geforderten
Veranstaltungen etwa auf einer Strecke von 50—60 km betragen
würden, keine Rolle!
6. Garantien fUr die Beobachtung solcher Vorschriften.
Das ist eine Fülle von Bestimmungen, die im einzelnen noch
so trefflich sein mögen — aber sofort erhebt sich da eine schwer¬
wiegende Frage, von deren Beantwortung der Erfolg aller diesbe¬
züglichen Bemühungen abhängig sein wird. Es sind ja — wie wir
gesehen haben — bei den bisherigen Kanalbauten schon ausführ¬
liche, zum Teil ganz ausgezeichnete Bestimmungen erlassen worden,
Bestimmungen, von denen man hat annehmen müssen, daß sich auf
das beste unter ihnen würde arbeiten lassen — und doch sind
solche Zustände möglich gewesen, wie sie hier nur haben angedeutet
werden können, wie sie aber in mehr oder minder weitem Um¬
fange bei allen Erd- und Wasserarbeiten beobachtet worden sind.
So ist denn die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß auch die jetzt
von uns vorgeschlagenen Maßnahmen dasselbe Schicksal haben
werden, d. h. daß sie zu der Besserung der Verhältnisse nicht
wesentlich beitragen werden. Die Frage, die wir daher jetzt zu
beantworten haben werden, ist die: Welche Hoffnungen haben, resp.
welche Garantien können wir geben, daß mit den vorliegenden
Vorschlägen tatsächlich eine Besserung der Verhältnisse eintreten
werde? Welche Vorkehrungen müssen wir gegebenen Falls noch
treffen, daß das wirklich geschieht?
Wesen und Entstehung der gemachten Vorschläge. Wenn
die bisherigen Vorschläge, die man zum Wohl der Arbeiter erlassen
hat, im Grunde so wenig Erfolg gehabt? haben, so lag dies zuerst
zum Teil zu allgemein gefaßt waren, daß sie nicht
realen Verhältnissen herausgewachsen waren, auch die
Qrigiral fram
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"Was sind wir unseren Kanalarbeitern schuldig?
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brutale Wirklichkeit nicht genügend ins Auge gefaßt hatten. Dazu
kommt aber als Grundfehler, daß man niemals eine so gründliche
Sichtung der Kanalarbeiterschaft vorgenommen hat, wie sie hier vor¬
geschlagen worden ist, man hat nie recht den ernsten Versuch ge¬
macht, den Kanalarbeiterstand von den Schmarotzern und Blut¬
saugern, die an seinem Lebensmark zehren, zu befreien, ihn auf
sich selbst zu stellen und rationell zu heben. — Solange aber in
dieser Beziehung alles beim alten blieb, mußten an so einer chaotischen
Masse alle noch so gut gemeinten Absichten abprallen. Die schlech¬
ten Elemente rissen die guten mit sich fort, die Menschen ver¬
wilderten, die Baracken verkamen, selbst die besseren Baracken¬
wirte verloren die Lust, den Leuten das Leben bei sich so angenehm
zu gestalten, wie sie es vielleicht unter anderen Umständen getan
hätten; und eine Maßregel nach der andern ließ man fallen, weil
man sah: es lohnt sich nicht! es ist nicht möglich!
Vorliegende Arbeit ist nun aus jahrelanger Augenzeugenschaft
erwachsen; Verfasser hat sich redliche Mühe gegeben, die Menschen
selber, um die es sich dabei handelte, ihre guten und bösen Seiten
kennen zu lernen, er hat durch zahllose Gespräche und Korrespon¬
denzen einen Blick in ihr Innenleben tun können, hat auch die
Verhältnisse und Einrichtungen, sowie die ganzen Lebensbedingungen
zu verstehen gesucht, unter denen sich ihr Dasein vollzog. Es ist
infolgedessen anzunehmen, daß die Vorschläge, die hieraus ent¬
standen sind, in stetem Kontakt mit der Wirklichkeit stehen, nicht
zu viel, aber auch nicht zu wenig fordern und daher wirklich in
der Lage sein werden, solche Übelstände zu verhüten, wie sie bis¬
her überall zu Tage getreten sind. Wo das Menschen-Material
selber, mit dem man es zu tun hat, anders, ordentlicher, ver¬
ständiger, reifer geworden ist, da werden auch alle Maßregeln, die
man zu ihrem Wohl getroffen hat, besser funktionieren; da werden
auch sie alle, die mit der Ausübung derselben betraut sind, eine
vorher gar nicht gekannte Freude daran erhalten, es den Leuten so
gut zu geben wie nur irgend möglich.
Das ist der erste Grund, weshalb wir hoffen, daß die von uns
gemachten Vorschläge wirklich eine Besserung in die Wege leiten
werden. Aber doch. darf man es hierbei nicht bewenden lassen;
die Erfahrung hat gezeigt, daß diese Hoffnung auch trügen kann.
Um einer gewissenhaften Befolgung all dieser Bestimmungen sicher
zu sein, bedarf es noch zweier Veranstaltungen.
Häufigere Kontrolle. Erstens hat häufiger und unangemeldet
4 *
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Original fram
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Dr. G. Küßner.
eine Kontrolle zu geschehen. Diese hat sich auf alle vorbenannten
Dinge zu erstrecken, auf die Baracken, die 'Wohlfahrtseinrichtungen
auf der Strecke und die Beschaffenheit der Privatquartiere, und
muß von extra zu diesem Zweck angestellten Beamten der Kanal¬
baubehörde vollzogen werden, die später über Umfang und Befund
ihrer Untersuchung Bericht zu erstatten haben.
Orientierung der Leute. Zweitens muß den Leuten selber
Kenntnis von all den Bestimmungen gegeben werden, welche
man in ihrem Interesse getroffen hat, ebenso zu dem Zweck, damit
sie sehen, daß sie eine wohlmeinende Behörde über sich haben und
Vertrauen erhalten; aber auch, damit sie wissen, was sie verlangen
dürfen, damit sie auf Befragen dem kontrollierenden Beamten Aus¬
kunft geben können. Zu dem Zweck müssen in den Baracken an
den Wänden an sichtbarer Stelle Tafeln befestigt werden, die alles
erforderliche enthalten. Etwa so: I. Diese Baracke A darf nur mit
50 Mann belegt werden. II. Sie soll zur Benutzung der Mannschaft
enthalten: folgt Aufzählung aller erforderlichen Räumlichkeiten.
III. Die Leute sind verpflichtet sich jederzeit gesittet zu betragen,
sich strengstens allen Mißbrauchs geistiger Getränke zu enthalten
und dem Hausvater unweigerlich Gehorsam zu leisten; Kartenspiel
ist untersagt Zuwiderhandelnde werden bestraft. IV. Der Wirt
darf gegen Empfangsschein Ersparnisse bis zu einer Höhe von
50 Mk. in einem zu dem Zweck vorhandenen feuerfesten Schrank
verwahren; der Inhalt des Schrankes ist versichert. Sparprämien
werden gezahlt. Karten zur unentgeltlichen Absendung von Geld
in die Heimat sind an der Kasse zu haben. V. Eine Auswahl
guter, alkoholfreier Getränke wird feilgeboten und den Gästen
dringend empfohlen. VI. Die Preise für Speise und Trank
sind, mäßigst berechnet, angeschlagen. VII. Der Weg von der
Baracke bis zur Arbeitsstätte darf höchstens 1,5 km betragen.
Andernfalls muß der Weg als Arbeit berechnet oder für kosten¬
freie Beförderung gesorgt werden. VIII. Die Arbeitszeit beträgt im
Höchstfall 12 Stunden. Die Mittagszeit von einer vollen und die
Frühstücks- und Vesperzeit von einer halben Stunde sollen ganz
der Ruhe dienen. IX. Die Sonn- und Feiertage sind grundsätzlich
arbeitsfrei. X. Auf der Baustrecke sollen vorhanden sein: Feuer¬
stätten zum Kaffeekochen und Wärmen der mitgebrachten Speisen,
Zufluchtsstätten und Schutzhütten. XL Sind die Wege von der
Arbeitsstätte nach der Baracke zu weit, so müssen die Speisen un¬
entgeltlich in gewärmtem Zustand bis an den Arbeitsplatz befördert
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Was sind wir unseren Kanalarbeitem schuldig?
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werden. XII. Beschwerden sind mündlich oder schriftlich „an den
revidierenden Beamten der Kanalbehörde zu . . .“ zu richten oder
in ein Beschwerdebuch, das zu dem Zweck in der Baracke aus¬
liegt, einzutragen.
Das alles, hübsch übersichtlich gedruckt, zeigt jedem Mann
was er zu fordern hat und würde einen Mißbrauch, wie er bisher
beobachtet wurde, gar nicht aufkommen lassen.
Da jedoch nur ein Teil der Leute in Baracken wohnen wird,
da ferner die größten Mißstände sich in den Privatquartieren ge¬
funden haben, so ist es nötig, daß auch hier ähnliche Tafeln an¬
gebracht werden; nur daß hier den Umständen nach eine stärkere
Individualisierung stattzufinden hätte. Etwa so: I. Nur behördlich
genehmigte Wohnungen dürfen an Kanalarbeiter vermietet werden.
II. Dieses in dem Hause Nr. 12 der Hauptstraße belegene und zur
Vermietung freigegebene Zimmer soll enthalten: drei saubere Betten,
Waschgeschirr, drei Stühle, einen Tisch, einen verschließbaren
Schrank und einen kleinen Ofen mit Kocheinrichtung; es darf nur
mit drei Mann belegt werden. Der Mietpreis beträgt 10 Mk. pro
Kopf und Monat, wofür Morgens auch Kaffee geliefert wird. HI. Die
Mieter sind gehalten, sich gesittet zu betragen und strengstens allen
Mißbrauch geistiger Getränke zu meiden. IV. Der Arbeitgeber kann
verlangen, daß, falls der Weg zur Arbeitsstätte zu weit wird, die
Arbeiter in die dort errichtete Baracke ziehen; widrigenfalls sie der
durch die Weite des Weges entstehenden Ansprüche verlustig gehen.
Ebenso wäre es wünschenswert, daß auch in allen Privat¬
quartieren die bereits erwähnten Orientierungstafeln über das Wesen
des Alkohols angeschlagen wären.
Erziehung der Arbeiterschaft zu selbständiger Mittätigkeit.
Es ist anzunehmen, daß infolge solcher Bekanntmachung, verbunden
mit persönlichen Besichtigungen, den sonst so oft eingetretenen Mi߬
ständen ein energischer Riegel vorgeschoben wäre. Aber doch
werden all die vorerwähnten Bestimmungen erst recht funktionieren,
wenn die Arbeiterschaft selber mit Verständnis dazu mitwirken
würde. Und das wieder könnte nur geschehen, wenn sie noch
mehr gehoben würde, wenn man ganz langsam und allmählich ver¬
suchen würde, sie zu einer gewissen Mittätigkeit und Selbständigkeit
zu erziehen.
Weiterbildung der Leute überhaupt. Mit dem vorhergehen¬
den wäre schon allerlei geschehen, um den Stand zu heben; und es
wäre ein großes, wenn das überall gelänge. Namentlich bei kleinen
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Dr. G. Küßner.
Bauten kann man sich damit vollauf begnügen. Aber wir dürfen
doch nicht vergessen, daß die zu dem Zweck vorgeschlagenen Ma߬
regeln sich vor allem auf die äußere Stellung der Leute bezogen,
auf die Heraushebung der besseren Elemente aus der großen, un¬
geordneten Masse, in der sich regellos Gute und Böse vereint finden,
daß damit aber noch nicht viel getan ist für eine wirklich
rationelle innere Hebung, eine tiefer gehende geistige Beeinflussung
und Weiterbildung der Leute. Ebenso wird es sich ja bei den zu¬
künftigen Bauten nicht nur um solche handeln, welche in etwa
2—3 Jahren beendet sein werden, sondern auch um große, deren
Bauzeit leicht 5 und 6 Jahre in Anspruch nehmen mag, und wo man
es jahrelang mit derselben Arbeiterschaft zu tun haben wird; auch
werden Arbeiter in ganzen Trupps, wenn der Bau auf der einen
Stelle vollendet ist, nach dem nächsten Bau ziehen.
Liegt einem dann überhaupt das Wohl und Wehe der Kanal¬
arbeiterschaft am Herzen, so muß man auf dem beschrittenen Weg
fortschreiten und zu der mehr äußeren Sicherstellung ihrer Lage
auch die innere Hebung hinzufügen, muß auch etwas für ihre geistige
Fortbildung, die Erweiterung ihres Horizontes überhaupt tun. Auch
damit ist ja im Grunde nichts Neues gesagt, die bereits früher er¬
lassenen Vorschriften und Grundsätze enthalten allerlei darüber,
auch Herr von Massow stellt das als etwas ganz Selbstverständliches
dar. Ja, im allgemeinen triefen die Reden und Vorschläge, die man
in dieser Beziehung in Comitös und humanitären Vereinigungen
hält, von solchen wohlwollenden Absichten. Nur schade, daß bisher
nichts — nichts von dem allen hat verwirklicht werden können.
All diese idealen Absichten scheiterten bisher an der rauhen Wirk¬
lichkeit — man denke an die Verhältnisse, die im Verlauf dieser
Untersuchung zur Sprache gekommen sind — diese grauenhaften
Wohnungsverhältnisse, den Saal, in dem sich die Leute zu ver¬
sammeln pflegten, den Schmutz, den Lärm, die Verwahrlosung, die
da zu herrschen pflegten; man denke an die Völlerei, die da ge¬
trieben wurde, die unglaublich lange Arbeitszeit, die die Leute voll¬
kommen unempfänglich für alle geistige Hebung machen mußte,
ebenso die ganze Zusammensetzung der Arbeiterschaft. — Unter
all diesen Umständen ist es bisher vollkommen aussichtslos gewesen,
etwas in der bezeichneten Richtung zu tun.
Selbst wo durch Befolgung der hier gemachten Vorschläge
mancherlei besser geworden ist, darf man nicht gleich mit all
solchen Absichten Vorgehen. Der Kanalarbeiterstand steht auch,
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was seine geistige Regsamkeit anbelangt, auf ziemlich tiefer Stufe;
sein Interessenkreis, sein ganzer Horizont ist noch ein außerordent¬
lich begrenzter; das scheint alles in jahrelanger harter und
freudloser Arbeit untergegangen zu sein. Es gibt wohl in keinem
Stande so viel Analphabeten wie bei ihnen; viele haben bereits mit
dem zehnten und elften Lebensjahr die Heimat verlassen und keine
Schule mehr besucht, für ihre auch noch so dürftige Weiterbildung
ist nichts geschehen. So beginne man also zuerst damit, daß man
deren äußere Lebensstellung sicher stellt, daß man die Leute vor
unterschiedsloser Vermischung mit Lumpen und Vagabunden be¬
schützt, daß man sie zu einer gewissen Selbstachtung erzieht, ihren
Stolz, ihr Selbstbewußtsein anregt; beschränke sich anfangs darauf,
daß man ihnen Gottes Wort verkündet, ihre Herzen und Gewissen
packt, ihnen seelisch nahe kommt.
Wenn man jedoch auf diese Weise längere Zeit und mit aller Treue
gearbeitet, das Vertrauen der Leute gefunden, auch Sehnsucht und
Verlangen nach weiterer, geistiger und geistlicher Speise erweckt hat,
dann kann man allmählich daran denken, Unterhaltungs- und Vortrags¬
abende zu arrangieren, kleine und große Feste zu feiern, an denen sie
sich selber durch Entfaltung der in ihnen schlummernden Talente be¬
teiligen mögen. Wenn man damit also hinreichend warten und
nur vorsichtig und ganz allmählich zu Werke gehen muß, so behalte
man das alles jedoch als Ziel im Auge, so gehe man damit doch plan¬
voll vor, wenn die ersten Anzeichen dafür vorhanden sind, wenn
die Arbeiterschaft sich gesichtet und konstituiert hat. Der Ton, der
unter den Leuten herrscht, Gespräche, die man mit ihnen führt,
geben dem Pastor allerlei Anhaltspunkte dafür. Dann fange er an,
außer den regelmäßig abzuhaltenden Gottesdiensten allerlei An¬
sprachen zu halten, wobei namentlich diejenigen patriotischen Inhaltes
immer Anklang finden werden, auch Zeitereignisse mögen herbei¬
gezogen und in die richtige Beleuchtung gestellt werden. Es gibt
in dieser Beziehung jetzt so viele Bücher, die dem Pastor (resp.
Barackenwirt) Anleitung und Material dazu geben, daß er so leicht
nicht in Verlegenheit kommen wird — ich nenne nur das Sammel¬
werk von P. Weber, München-Gladbach, das eine Fülle von für
Arbeitervereine geeigneten Stoffes enthält. Man wird ja sehr bald
sehen, wohin sich die Interessen der Leute neigen, und was man
ihnen bieten darf. Man bedenke dabei immer: es ist das für viele
die einzige, vielleicht die letzte Schule, die sie erhalten, die einzige
Möglichkeit, ihnen einige geistige Anregung zu bieten und ihren
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Dr. G. Küßner.
Horizont zu erweitern. Wir sind das aber diesen armen Menschen,
unseren Brüdern und Landsleuten schuldig, die sich in unserem
Dienste aufreiben und dank unsäglich schwieriger Verhältnisse früh¬
zeitig geistig verarmt und verkümmert sind. Daß eine auf diese
Weise gehobene Arbeiterschaft jedoch eine ganz andere Reife für
alle in ihrem Interesse getroffenen Wohlfahrtseinrichtungen erhalten
werde, braucht nicht erst nachgewiesen zu werden.
Erziehung zur Mitbeteiligung. Aber ich glaube: wir müssen
und dürfen noch einen Schritt weiter gehen — sowohl mit Bezug
auf die Bauten, welche längere Zeit in Anspruch nehmen, als auch
mit Rücksicht auf die Leute, welche von hier aus auf andere Bauten
übergehen und dann ihrerseits wieder auf die dortigen Arbeits¬
genossen hebend und befruchtend ein wirken. Ich glaube, wir
müssen mit vollem klarem Bewußtsein dahinstreben, die Leute in
irgend einer Weise an der Verwaltung der sie selber angehenden
Angelegenheiten zu beteiligen, sie mehr oder minder auf eigene
Füße zu stellen.
Keime und Anknüpfungspunkte dafür. Bis jetzt ist auch dieses
so gut wie unmöglich gewesen. Die Kanalarbeiterschaft ist bisher
so verwoben und verquickt gewesen mit den schlechtesten, parasitären
Elementen, daß man an eine Verleihung von irgend welchen
Rechten in der geschilderten Richtung gar nicht denken konnte •,
ebenso machte sie auch völlig den Eindruck der Zusammenhangs¬
losigkeit, zeigte immer ein neues, stets wechselndes Gesicht, bei
dem die Schattenseiten weit überwogen. So schien es vollkommen
ausgeschlossen, hier etwas wie Korpsgeist zu erwecken, oder die
Leute irgendwie zur Selbstverwaltung heranzuziehen. Und doch ist
das jetzt, wo all die genannten, groben Vorarbeiten geschehen sind,
nicht mehr ganz aussichtslos.
Wir haben bereits gesehen, so zusammenhangslos ist die Arbeiter¬
schaft doch nicht, wie es meist den Anschein besitzt. Es gibt einen
guten Stamm von Leuten, die sich immer wieder zusammenfinden,
so oft sie auch auseinander gerissen sind; das beweisen die
Listen der Schachtmeister, persönliche Kenntnisse und Massen¬
photographien, die sich hier und da bei den Leuten finden, die
zum Teil schon vor 5 und 10 Jahren auf den verschiedensten
i
Bauten gemacht waren und eine überraschend große Anzahl sol¬
cher aufwiesen, die noch immer zusammen waren. Ebenso gibt es
jetzt schon eine bedeutend größere Zahl von kleinen und größeren
Verbänden unter den Leuten, als man ahnt, die schon so etwas
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wie Selbstverwaltung eingeführt haben und alle gemeinsamen An¬
gelegenheiten selbständig regeln. Da ist mir z. B. eine Gruppe
von Pommern bekannt, etwa fünf an der Zahl, die schon seit Jahr
und Tag gemeinsam auf die Arbeit zogen und gemeinsame Wirt¬
schaft führten; auch auf der Arbeitsstätte hatten sie für eine Feuer¬
stelle gesorgt, wo sie sich Kaffee kochten und Speisen zubereiteten.
Ein Arbeiter hatte einen 14jährigen Sohn, der die Obliegenheiten
eines Küchenchefs verwaltete und bei den absolut mäßigen An¬
sprüchen der Leute und ihrem unverwöhnten Gaumen zur Zufrieden¬
heit führte. Der besorgte auch gemeinsame Gänge, machte Ein¬
käufe in der Stadt, brachte die Ersparnisse zur Post und nahm
ihnen dadurch viel Mühe ab, die für die einzelnen mit viel Zeit-
und A rbeitsverlust verbunden gewesen wäre. Dieser Gruppe schlossen
sich mit der Zeit immer mehr Leute an, meist Landsleute der
ersteren, und die Annehmlichkeiten, die sich die Leute auf diese
Weise verschaffen konnten, wurden bald so hoch geschätzt, daß sie
sogar ein nicht ganz kleines Eintrittsgeld von denjenigen erheben
durften, die die Absicht hatten, an der gemeinsamen Wirtschafts¬
führung zu partizipieren. Die Leute richteten sich ihr Leben un¬
glaublich billig ein; leider fielen jedoch oft gerade sie schmählichster
Ausbeutung zum Opfer, indem sie z. B. mangels geeigneter Ein¬
richtungen für Wohnungen der eben geschilderten Art, Schuppen,
Remisen, wo sie haben zusammen wirtschaften können, fabelhaft
hohe Preise zahlen mußten.
Bei allen Bauten hat es ferner Schachtmeister gegeben, die
auch außerhalb der Arbeit in einem gewissen patriarchalischen
Verhältnis zu ihren Leuten standen; diese wohnten bei ihnen, die
Frau führte die gemeinsame Wirtschaft. Bei manchen Bauten scheint
das sogar mehrfach geübte Praxis gewesen zu sein. In gewissen
Fällen mag das zu gestatten sein, namentlich wenn es sich um ein
freies, organisch aus sich selbst hervorgegangenes Verhältnis han¬
delt. — Im allgemeinen ist das jedoch nicht ratsam, da die Arbeiter
dadurch leicht in ein zu starkes Abhängigkeitsverhältnis von dem
Schachtmeister geraten können, das sie so wie so schon hart drückt;
bei der geringsten auch außerberuflichen Veranlassung würde der
„Fremdzettel“ drohen.
Notwendigkeit diese Ansätze zu fördern. Doch welche
Formen auch das Bedürfnis der Leute, sich zusammenzuschließen,
annehmen mag, solche Versuche sollten von der Unternehmerschaft
angelegentlichst unterstützt werden, zumal es sich hierbei immer
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Dr. G. Küßner.
um den wertvollsten Bestandteil der Arbeiterschaft handelt. Wie
das freilich zu geschehen hätte, ist schwer zu sagen. Indirekt
würden solche Unternehmungen ja schon durch die erwähnten
Spar- und Enthaltsamkeitsprämien unterstützt werden, da sich die¬
jenigen, die hierbei in Betracht kommen, größtenteils in solchen
Verbänden befinden werden, ja, die Möglichkeit einer größeren
Ersparnis geradezu abhängig sein würde von der Zugehörigkeit zu
einer solchen Genossenschaft. Auch durch die Regelung des Privat¬
quartierwesens würde ja einem Mißbrauch der Leute tunlichst vor¬
gebeugt sein. Die Leute selber haben es schon öfter als Ziel und
Ideal hingestellt, wenn solchen Genossenschaften, deren Mitglieder
die Zahl 10 erreicht hätten, die Möglichkeit gewährt wäre, in einem
eigenen Blockhaus zu wohnen und dort ganz selbständige Wirtschaft
zu führen. Die Möglichkeit dessen ließe sich nicht bestreiten;
denn die Miete für so ein Blockhaus (10 Mk. pro Kopf und Monat)
würde schon in einem Jahr und noch viel mehr, wenn es sich um
mehrere Jahre handelt, nicht nur die Kosten desselben decken,
sondern auch noch die Anschaffung von allerlei notwendigen
Gegenständen ermöglichen. Das hat freilich seine großen, nahe¬
liegenden Bedenken — es würden hierbei leicht Zustände einreißen,
die den in den Privatquartieren herrschenden, oben geschilderten
auf ein Haar ähnlich sähen. Wenn man daher auf solche Wünsche
glaubt eingehen zu sollen, so müßte auch für richtige Aufsicht
gesorgt werden; solche Quartiere müßten dann der gleichen Kon¬
trolle und Disziplin unterstehen wie die Baracken. Doch ich glaube:
es wäre hinreichend, wenn man im allgemeinen den Grundsatz zu¬
gäbe, die Bildung von kleinen Genossenschaften zu unterstützen,
die Art. und Weise jedoch, wie das zu geschehen hätte, dem ein¬
zelnen Fall überließe.
Verleihung von Hechten an den Stand. Um so mehr ist
jedoch zu wünschen, daß alle diejenigen, die dem Stande der ordent¬
lichen Kanalarbeiter angehören, die sich seit Jahr und Tag bewährt
haben, auch während dieser Zeit einen Einblick in alles getan haben,
das mit dem Kanalarbeiterstand zusammenhängt, allerlei Rechte er¬
hielten, die die anderen nicht, wenigstens von vornherein nicht be¬
sitzen. Sie sollten als die Elite der Arbeiterschaft angesehen Aver-
den, sollten gewissermaßen die Vertretung derselben bilden und
bei allen Fragen, die die Gesamtheit angingen, herzugezogen und
gehört werden, sei es insgesamt, sei es durch Vertreter.
Bei Streitigkeiten. Das sollte namentlich bei Streitigkeiten
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geschehen, die zwischen einzelnen und den Schachtmeistern ent¬
standen sind. Was die Leute heute mit am meisten beklagen, das
ist die Rechtlosigkeit ihrer Stellung, die Abhängigkeit von dem
Willen des Schachtmeisters. Dieser verkehrt meist in brutalem
Ton mit seinen Untergebenen, weist sie oft wegen geringfügiger
Anlässe vom Bau; die also Gemaßregelten glauben oft in ihrem Recht
zu sein, haben sich nur bei mangelnder Sprachgewandtheit schlecht
ausgedrückt, Mißverständnisse spielen auch mit — dann steht so
ein Mann da; er ist vielleicht nicht so schuldig, wie es aussieht,
muß sich Abzüge gefallen lassen, die er nicht versteht, keiner nimmt
sich seiner an, von einer geordneten Beschwerdeführung hat er keine
Ahnung, lange bleiben kann er nicht; sonst wird er eingesteckt. So
packt er seine Sachen, wenn er welche hat, und geht grollend davon;
und die anderen lassen ihren Kameraden ziehen, weil sie fürchten,
daß sie bei der nächsten Gelegenheit dasselbe Schicksal haben werden.
Ich habe in solchen Lagen ergraute Leute weinen sehen — vor
ohnmächtigem Zorn und Jammer; denn die Kanalarbeit ist für
viele die letzte Zuflucht — dahinter lauert die Landstraße mit all
ihren Schrecken, Hunger und Blöße, Entehrung und Schande,
Krankenhaus und Korrektion. Auf diese Weise ist schon manches
Menschenleben zertrümmert worden; und wir haben oben bereits
angedeutet, wie die sog. freiwilligen Überstunden und die Sonntags¬
arbeit bei solchen Streitigkeiten eine verhängnisvolle Rolle spielen.
Da muß eine Zwischeninstanz sein, die über den Parteien steht
und das Vertrauen beider Teile genießt Diese würde sich nun
ganz naturgemäß aus den älteren und bewährten Arbeitern zu¬
sammensetzen, die den Unternehmern als treu bekannt sind. Diese
werden größtenteils Zeugen des geschilderten Vorganges gewesen
sein, haben auch ein vitales Interesse daran, daß weder einem von
ihnen ein Unrecht geschieht, noch daß das gute Verhältnis zu den
Unternehmern gestört wird. In dieser Zwischeninstanz müßten die
vorliegenden Streitfälle untersucht — und wenn sich kein Ausgleich
erzielen läßt, der zuständigen Stelle unterbreitet werden. Auf jeden
Fall sollte jedoch mit der Verordnung Ernst gemacht werden, die
in manchen Betrieben erlassen ist, daß jeder Arbeiter, der nicht
wegen Frechheit oder grober Gesetzwidrigkeit sofort entlassen wer¬
den darf, so lange in Arbeit und Brot bleiben muß, bis seine Be¬
schwerde die richtige, ordnungsgemäße Erledigung gefunden hat.
Bei Verstößen gegen die Bauordnung und anderen Sachen.
In dieser Zwischeninstanz sollten ferner alle anderen, die Arbeiter-
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Schaft interessierenden Fälle zur Sprache gebracht werden — so
namentlich eventuelle Verstöße gegen die erlassenen Bestimmungen;
— und die Beamten der Bauunternehmer wären angewiesen, allen
von dieser Seite ausgehenden ordnungsgemäß und angemessen über¬
reichten Vorstellungen ein williges Gehör zu geben. Es sollte
Ehrensache aller Beteiligten sein, daß nicht jedesmal bei solchen
Bauten ein — oft nur sensationslüsterner Reporter auftaucht und
alle möglichen häßlichen Dinge, die er gesehen hat oder gesehen
haben will, urbi et orbi verkündet; auch ein Pastor sollte nicht
immer von neuem in die fatale Notwendigkeit versetzt werden, in
Dinge einzugreifen, die — wie er wohl weiß — seines Amtes
nicht sind. Das schadet der guten Sache immer und erzeugt Ver¬
bitterung hüben und drüben. So etwas sollten die Kontrahenten
unter sich selber abmachen. Weiter würden hier alle Kantinen-
und Baracken Verhältnisse erörtert, Wünsche vorgetragen, Vorschläge
gemacht werden, z. B. bezüglich der Verlegung der Baracke, Ein¬
legung von Arbeiterzügen, Beschaffung frischen Wassers, gemein¬
samen Einkaufes von Nahrungsmitteln, Stiefeln und Arbeitsgeräten.
Oft würde das unter Vorsitz und Mitwirkung des Barackenwirtes
geschehen können. Dieser sollte ebenso V ertrauensmann der Unter¬
nehmer wie der Arbeiterschaft sein, und sollte von der Baubehörde
resp. der Untemehmerfirma gegen festes Gehalt in die von ihr
errichtete, vorschriftsmäßige Baracke eingesetzt sein, mit der Auf¬
gabe, möglichst im Einvernehmen mit der ordentlichen Arbeiter¬
schaft für deren Beherbergung und Beköstigung Sorge zu tragen.
Mit der wilden und verwahrlosten Arbeiterschaft, wie sie jetzt ist,
wäre das natürlich ein Ding der Unmöglichkeit. Sehr wohl ließe
sich das jedoch mit einer so gesiebten und gehobenen Arbeiter¬
schaft machen, wie sie unter Befolgung der hier gemachten Vor¬
schläge entstehen würde; und sie würde sich wohl dabei fühlen
und das ihr jetzt so oft gänzlich abgehende Sicherheits- und Heim¬
gefühl wieder erhalten.
Bei Bekrutiernng der Arbeiterschaft. Noch eine andere
Sache würde schließlich der Mitwirkung der ordentlichen Arbeiter¬
schaft, des Kerns derselben, unterstellt werden — das ist die
Aufnahme neuer Mitglieder in die bevorzugte Klasse. Wir haben
es oben bereits gesehen, welche Scharen herbeizuströmen pflegen,
die bei so einem Bau Arbeit suchen. Da gibt es nun zahlreiche
gute Elemente, die es wohl verdienen an allen Vorrechten teilzu¬
nehmen, die die älteren, bewährten Arbeiter besitzen. Da gibt es
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Leute, die in der Gegend, wo der Kanal gebaut wird, zu Hause
sind, die die ernste Absicht haben, so lange als möglich auszuharren,
ordentliche Leute, die Erdarbeiten kennen und sich schnell in die
neuen Verhältnisse einleben und dann zu den stabilsten Elementen
gehören können; da sind andere, die einmal in Schwierigkeiten ge¬
raten sind, Bankrott gemacht und dann zum Wanderstab gegriffen
haben, um sich — ungebrochen an Leib und Seele — wo anders
wieder aufzuarbeiten; und viele andere, die starke Arme und
redliche Arbeitslust haben. Manche von ihnen sind auch noch
hinreichend mit Kleidung versehen, können sich auch leicht die
nötigen Anschaffungen machen — sie alle werden zunächst als
Hilfsarbeiter, mit einem etwas geringeren Lohn angestellt als die
gelernten und bewährten Arbeiter. Ihre Aufnahme in die bevor¬
zugte Klasse mit all ihren Rechten würde jedoch nach etwa drei¬
monatlicher Arbeitszeit auf deren Antrag und unter Mitwirkung und
Beschlußfassung eben dieser Elite geschehen. Diese hat ein Interesse
daran, sich stets auf der Höhe zu halten, und hat in drei Monaten
hinreichend Gelegenheit sich davon zu überzeugen, ob ein Mensch
tüchtig ist und sich in ihren Rahmen einfügt Unbillig wäre es
nicht, wenn die Aufzunehmenden ein kleines Eintrittsgeld bezahlten,
das nur für gemeinsame Angelegenheiten — etwa zur Erhöhung
der Krankengelder — verwendet werden dürfte.
Wir haben oben aber auch von solchen Fällen gesprochen,
wo zerlumpt aussehende Menschen auf den Bau kommen und Arbeit
suchen, und haben die Schwierigkeiten kennen gelernt, wie ihnen
zu helfen sei. Nun! das einfachste wäre, wenn man die Ent¬
scheidung darüber, ob der Bittsteller mit Kleidung zu versehen und
in Arbeit zu stellen wäre, wieder eben diesen überließe, die mit
ihm arbeiten sollen. Sie haben meist alle einmal in derselben
Misere gesteckt, wissen, wie so einem armen Menschen zu Mute ist,
haben oft auch ein schärferes Auge dafür, was an ihm ist, als
einer, der nicht ihres Standes ist Außerdem sollen sie für die Zu¬
kunft alles mit ihm teilen, mit ihm arbeiten, ruhen, essen und trinken
— sie haben ihn dadurch auch schließlich unter Augen, und er kann
ihnen nicht mit den erhaltenen Sachen auf und davon gehen. Hat sich
also so ein Arbeiterausschuß, der die Elite der Arbeiterschaft dar¬
stellt, als lebensfähig erwiesen, verfügt er auch über einige Mittel,
so wäre es in der Tat meines Erachtens das richtige, daß man ihm
ein Wort mit darüber gönnt, ob der betreffende Arbeitsuchende ein¬
zukleiden und — natürlich zuerst als Hilfsarbeiter — aufzunehmen
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Dr. G. Küßner.
sei. Man stelle sich auch das „Einkleiden 4, bei dieser Art Leute
nicht so schwierig und kostspielig vor. Ich habe oft genug gesehen,
wie sie aus drei oder vier großen, abgetragenen Schaftstiefeln zwei
andere gemacht haben, die ganz gut saßen und für einige Zeit aus¬
hielten. Ebenso ist da immer etwas überflüssiges Zeug; das not¬
wendige Unterzeug ist leicht in der Baracke selber für ein billiges
zu haben. In 14 Tagen hat ein ordentlicher und fleißiger Mann
dann so viel verdient, daß er sich das alles selber anschaffen kann.
Auf diese Weise würde manch ein redlich Arbeitsuchender von der
Landstraße kommen und Gelegenheit erhalten, sich wieder empor¬
zuarbeiten. Hat sich so ein Mann dann bewährt, so kann auch er
nach etwa dreimonatlicher Frist durch Zustimmung seiner Kameraden
in die bevorzugte Klasse aufgenommen werden.
Wie sich das alles im einzelnen zu gestalten hätte, das würde
ja wesentlich davon abhängen, welche kleinen Verbände sich bereits
in der Arbeiterschaft befänden, wie sie sich entwickeln und wie
kräftig sie funktionieren. Es kann wohl sein, daß es bei manch
einem Kanalbau gar nicht zu solcher Mittätigkeit der Arbeiterschaft
kommen wird: da wird das alles in den Anfängen stecken bleiben;
da wird man froh sein, wenn es einem gelingt, die elementarsten
Vorarbeiten zu leisten und allmählich den guten Arbeiterstand von
seinen Parasiten zu befreien. Mehr schon wird das bei den großen
Arbeiten geschehen, die an die 5, 6 und mehr Jahre dauern wer¬
den. Da wird es schnell bekannt werden, wie sich der Stand der
Kanalarbeiter gehoben hat und welche Chancen er für strebsame
Leute bietet; da würden viele ordentliche und ehrlich Arbeit suchende
Menschen herbeiströmen und es nicht mehr für eine Schande, son¬
dern für ein erstrebenswertes Ziel ansehen, diesem Stande zugezählt
zu werden. Aber wie es auch sei — ob der hier erstrebte Erfolg
gleich erreicht wird oder nicht — er muß im Auge behalten wer¬
den, muß das Ziel bleiben und die Richtung angeben, in der sich
die Fürsorge für die Leute bewegt. Man muß dabei auch daran
denken, daß kein Baum auf den ersten Streich fällt, daß Übel¬
stände, die so weit verzweigt sind und fast schon zur Tradition,
zum eisernen Bestand von Kanal- und Erdarbeiten gehören, nicht
sofort aufhören, wenn man einmal beginnt die bessernde Hand an¬
zulegen. Man muß in dieser Beziehung mit der Zukunft, mit Jahr¬
zehnten rechnen. Was vielleicht bei dem ersten, zweiten und dritten
Bau nicht erreicht worden ist, wird — wenn man es nur mit aller
Treue erstrebt hat! — auf dem vierten und fünften erreicht werden,
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wenn die Arbeiter, die auf den ersten Bauten nur eine Ahnung
von den veränderten Verhältnissen bekommen und die ersten
tastenden Versuche in der angegebenen Richtung gemacht haben,
damit vertraut geworden sind und allmählich Gebrauch davon zu
machen gelernt haben.
Maßhalten bei Inangriffnahme dieser Bauten. Es wäre des¬
halb vielleicht zu wünschen, daß nicht all diese großen Wasser¬
bauten auf einmal in Angriff genommen würden. Ein doppeltes
würde dabei leicht eintreten können. Erstens: das Land würde
überschwemmt werden mit Sachsengängem aus aller Herren Länder;
und da die überschüssige unentbehrliche Zahl guter Arbeiter auch
dort nicht sehr zahlreich sein dürfte, müßte man auch die minder-
und mindestwerten aufnehmen, und die Folge davon würde sein,
daß sich eine Flut von Gesindel über unsere Fluren ergießen würde,
daß auch die kräftigsten Polizeimaßregeln sich dagegen als machtlos
erweisen würden, daß es auch auf der Kanalstrecke äußerst schwer
sein würde, sich desselben zu erwehren, daß die ordentliche Arbeiter¬
schaft lange Zeit darunter zu leiden hätte. Dieser Flutwelle
wäre sie nicht gewachsen, dazu ist sie doch noch zu klein und
schwach. Die andere Folge aber wäre die: bis jetzt ist die Zahl
derjenigen einheimischen Arbeiter, die sich an der Kanalarbeit
beteiligt haben, nur außerordentlich klein gewesen — wir haben
oben schon einige Gründe dafür angegeben; dazu kommt vor allem
jedoch der Grund, daß die Verhältnisse, unter denen sich Leben
und Arbeit der Kanalarbeiter vollzog, so schlecht waren, daß die
Arbeitszeit so lang, die Sonntagslosigkeit so groß, der ganze Stand
so tiefstehend war, daß der ordentliche Arbeiter ein Grauen davor
hatte. In dem Falle jedoch, daß man sich ernstlich der Besserung
der Kanalarbeiter-Verhältnisse annähme, wie es nach Verfassers
Meinung durch Befolgung der hier gemachten Vorschläge geschähe,,
würde der Stand so gehoben, daß die Zugehörigkeit zu demselben
für viele ein begehrenswertes Gut sein würde. Es ist deshalb an¬
zunehmen, daß — wenn das alles erst einmal bekannt sein würde,
was man jetzt zu dem Wohl der Kanalarbeiter geplant resp. ge¬
tan habe, viel mehr einheimische Arbeiter herzuströmen würden.
Und dann entstände wieder eine doppelte Misere. Die eine wäre
die schon öfter befürchtete, dann tatsächlich eintretende Landflucht
unserer Arbeiter; darunter würden Landwirtschaft und Industrie aber
in gleicher Weise leiden. Die andere bestände darin, daß die Unter¬
nehmer wahrscheinlich lieber mit einheimischen Arbeitern arbeiten
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Dr. G. Kiißner.
würden — die fremden Sachsengänger sind jedoch auch schon da;
ihre Stellen sind aber besetzt; das gäbe eine so gewaltige Unruhe
auf den Landstraßen, ein so qualvolles Hin- und Herfluten von
ganzen Scharen arbeitsloser Menschen, daß es alle Mühe kosten
würde des allen Herr zu werden. Daß dadurch aber die Sicherheit
des Verkehrs auf dem Lande arg leiden, daß viele Kosten damit
verbunden wären, braucht nicht erst gesagt zu werden.
Also nicht all diese großen Bauten auf einmal! die können
wir nicht bewältigen! die wachsen uns über den Kopf! Mit zweien,
höchstens dreien dürften wir beginnen — sie können wir nicht
nur bewältigen, von den bei ihnen gemachten Erfahrungen könnten
wir dann auch für die Zukunft lernen. Von ihnen würden wir
dann wohl vorbereitete und geschulte Arbeiter, die mit den neuen
Verhältnissen bereits vertraut wären, auf die nächsten Bauten
übernehmen. Hier würden sie die natürlich zuerst in der Minorität
stehende gute Arbeiterschaft stärken, würden erziehlich wirken und
den Übergang in geordnete und geregelte Verhältnisse wesentlich
erleichtern; das würde sich bei jedem Bau steigern, und alle Teile
würden gut davon haben. Also mit eine der ersten Bedingungen
dafür, daß die hier gemachten Vorschläge gut funktionieren, hieße:
Maßhalten! ihnen nicht zu viel aufbürden! Sonst reißen die Dämme!
Nicht mehr und nicht weniger. Das wäre im wesentlichen
dasjenige, was wir für die nächsten Jahre und die großen Erd¬
arbeiten, die sie uns bringen, für unsere Kanalarbeiter fordern
möchten. Ich glaube nicht, daß wir recht täten mehr zu fordern.
Das würde am Ende doch gegen die berechtigten Interessen der
Unternehmerschaft verstoßen, auf die wir — so wie die Dinge
heute liegen, angewiesen sind. Man lasse sich hierbei auch nicht
blenden von den Millionengeschäften, welche solche Baufirmen zu
machen pflegen; es gehört auch ein riesiges Kapital zu solchen
Bauten, und die wenigsten Laien haben eine Ahnung von den ge¬
waltigen, oft ganz unvorhergesehenen, gar nicht in Berechnung zu
stellenden, manchmal erst viel später eintretenden Unkosten, die
damit verbunden sind. Und es wäre der Gesamtheit mit nichten
gedient, wenn diese großen Firmen durch zu große Mehrbelastung
oder Reglementierung arbeitsunlustig würden; die Arbeiterschaft
hätte den größten Schaden davon. Aber auch sie selber — und
wieder gerade die besseren Teile derselben würden ein Mehr nicht
für wünschenswert halten. Denn das würde das Leben naturgemäß
verteuern — die Leute wollen aber so billig leben als möglich, um
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Was sind wir unseren Kanalarbeitem schuldig?
65
so viel als möglich sparen zu können. Ihnen aber mehr geben als
sie bezahlen können, also redliche Arbeiter als Almosenempfänger
hinstellen, das ist nicht nur ein unsozialer Grundsatz, das wider¬
spricht auch dem Ehrgefühl der Arbeiter selbst Es wäre zu be¬
fürchten, daß die Leute, um dem so verteuerten Leben zu entgehen,
andere Mittel und Wege finden und dabei erst recht Blutsaugern
und Ausbeutern in die Hände fallen möchten. Man muß auch
sehen, wie die Leute es in der eigenen Häuslichkeit haben; schließlich
können auch nur wetterharte und unverwöhnte Leute solche Arbeit
leisten, wie ein Kanalbau sie mit sich bringt.
Also mehr dürfen wir nicht fordern. Aber auch nicht weniger!
Das würde unser Gerechtigkeitsgefühl, unser Gewissen, unsere christ¬
liche Barmherzigkeit nicht dulden. Die Leute selber würden dabei
verkümmern, die Gemeinden würden darunter leiden; ja unser
ganzes Yolk würde dadurch in Mitleidenschaft gezogen werden und
unberechenbaren Schaden nehmen können. Und soweit ich mich
umgesehen und die Meinung der Leute gehört habe, steht auch ihr
Sinn nicht höher; sie würden Gott Dank sagen, wenn das erreicht
wäre. Denn auf diese Weise würden sie arbeiten, viel arbeiten,
viel verdienen und sparen können — mehr als jeder andere Ar¬
beiter, und das wollen gerade die besten von ihnen — aber diese
Arbeit und die Verhältnisse, unter denen sie zu leben hätten,
würde sie nicht zu Sklaven machen! nicht zu Boden drücken!
nicht um das Bewußtsein ihrer Würde als Menschen bringen! Sie
würden sich nicht als die Ausgestoßenen, als die Enterbten ansehen,
würden sehen, daß sie Gegenstand gerechter, liebevoller Fürsorge
seien, daß es doch noch Menschen gibt, die in ihnen Brüder, un¬
sterbliche Seelen erkennen. Das alles aber würde ihnen auch Zeit,
Spannkraft und Geisteskraft lassen, über allem Irdischen das Ewige
zu suchen und an das Heil ihrer Seele zu denken, was alles unter
den jetzigen armseligen Verhältnissen und den unerhörten Ver¬
suchungen, unter denen sich ihr Leben vollzieht, nur zu oft ver¬
kümmert! Werfe deshalb niemand einen Stein auf sie!
Ich habe die Kanalarbeiter in den Jahren, da ich mit ihnen
gelebt, kennen gelernt und lieb gewonnen. Ich habe die tiefen
Schattenseiten gesehen, die ihr Leben auf weist, die großen Fehler
und Untugenden, die ihnen — namentlich auf den ersten Blick —
anhaften; ich habe aber auch gesehen, wieviel von dem allen auf
die elenden und jammervollen Verhältnisse, in denen viele ihr
Leben lang zugebracht haben, auf die unwürdige und mißachtende
Der Alkoholismus. 1905. 5
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66 Dr. G. Küßner. Was sind wir unseren Kanalarbeitem schuldig?
Behandlung zurückzuführen ist, der sie von fast allen Menschen
ausgesetzt sind, mit denen sie zu tun haben. Ich bin aber auch
oft genug Zeuge gewesen, wie das Wort Gottes ein Hammer ist,
der Felsen zerschmettert, eine Macht, der sich auf die Dauer kein
Menschenherz verschließen kann, habe da Szenen tiefer Zerknir¬
schung und innigster Ergriffenheit erlebt, die mir zeigten, daß in
dieser harten Schale doch noch weich fühlende und der Wahrheit
zugängliche Herzen schlugen, habe Beispiele von Pflichttreue und
Fleiß, von treuer, selbstlos sorgender Liebe für die daheimgebliebenen
Angehörigen kennen gelernt, die alles zu opfern, alles hinzugeben,,
auf alles zu verzichten bereit war, die mir Bewunderung abnötigte,
dazu ein Kameradschaftsgefühl, das auch in eigener Not des Freundes
nicht vergaß. Solche Menschen sind es wohl wert, daß man sich
ihrer annimmt, daß man alles tut, um ihr Dasein menschenwürdig
zu gestalten, um auch in ihr armseliges Leben etwas Wärme, Licht
und Sonnenschein hineinzutragen. Mag es sein, daß ich durch
Gottes Gnade in jenen Jahren, da ich mit ihrer Pastorierung be¬
traut war, den Leuten etwas habe sein können: ich bekenne es
gern, die Leute sind auch mir in Zeiten, wo ich selber des Lebens
Bitternis reichlich erfahren habe, etwas gewesen, und es sind mir
mit die liebsten Jahre gewesen, in denen ich an ihnen arbeiten
durfte.
Gott gebe, daß es allen zuständigen Stehen, dem Staat und den
Gemeinden, der Kirche und der inneren Mission, der Gesamtheit
und den einzelnen mit vereinter Kraft gelingen möge, für die
kommenden großen Kanalarbeiten Zustände zu schaffen, daß alle,
die daran beteiligt sind, darin als Menschen und als Gottes¬
kinder, als Erdenpilger und Himmelsbürger leben und mit fröh¬
lichem Sinn eine freilich ernste, aber lohnende Arbeit verrichten
können.
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67
II. Referate.
Schenk, Paul. Gebrauch und Mißbrauch des Alkohols in der Medizin. Mäßigkeits¬
verlag d. deutsch. Yereins gegen d. Mißbr. geistig. Getränke. Berlin 1904.
Nach kurzem geschichtlichem Rückblick auf die Verwendung des Alkohols,
insbesondere des Weines bei den Alten (Hippokrates), im Mittelalter und in der
neuen Zeit, werden die zur Zeit in der Ärzteschaft herrschenden Urteile über
die Alkoholverordnung erheischenden Krankheitszustände erörtert. Daß die
„Säuferleber“ im Kindesalter „sehr“ häufig sei, kann man doch Gottlob nicht
behaupten, ebenso nicht, daß Delirium tremens bei fieberhaften Krankheiten und
Verletzungen „recht häufig u die Kinder betreffe. Immerhin bleiben die frag¬
lichen Fälle doch Warnungen, ernst genug, um die Alkoholverabreichung an
Kinder nur nach ernsthaftem Erwägen und genauer Indikationsstellung und —
ausnahmsweise bezw. vorübergehend, aber nicht auf die Dauer zu erlauben. Mit
Recht legt auch S. ein Hauptgewicht auf den Einfluß des Alkoholgenusses auf
Zeugungsverhältnisse und Nachkommenschaft. Ob und inwieweit Alkohol direkt in
die Muttermilch übergeht, ist mit Sicherheit aber noch nicht festgestellt. Weiter¬
hin kommen die wichtigen Schädigungen des Nervensystems durch gewohnheits¬
mäßige Alkoholaufnahme zur Darstellung, auch die Zustände „reizbarer Schwäche“,
denen geistige Getränke vorwiegend Gefahr bringen.
„Der Arzt wird häufiger vor dem Alkohol zu warnen, als ihn zu empfehlen
haben.“ Darin pflichten wir S. vollkommen bei. Meines Erachtens hat in Krank¬
heitsfällen der Arzt, wie er die Diät verschreibt u. a. m., so auch von Beginn an
zu etwaiger Alkoholdarreichung Stellung zu nehmen und diese nur nach seinem
Ermessen im Bedarfsfälle als Medikament zu „verordnen“. Für Gesunde, in der
Praxis wie im gesellschaftlichen Leben, kann ein „Empfehlen“ wohl überhaupt
kaum in Frage kommen, sondern nur ein Erlauben von geringen nicht täglich zu
genießenden Mengen. Hier haben individuelle, soziale und wirtschaftliche
Verhältnisse mitbestimmend zu wirken. Schenks Schrift hält sich frei von
Pharisäertum, von Übertreibung und asketischer Forderung, wie sie jetzt im Voll¬
gefühl ihrer Sonderstellung so manche frühere Trinker, die nur durch Abstinenz
zu retten waren, leider zur Schau tragen. Die Schrift darf namentlich den prak¬
tizierenden Ärzten empfohlen werden. Dr. Fl.
Ziehen, Th. Über den Einfluh des Alkohols auf das Nervensystem. Zweite ver¬
mehrte Auflage. Mäßigkeitsverlag des Deutschen Vereins gegen den Mißbrauch
geistiger Getränke. Berlin 1904.
Es tut wohl, wieder einmal ein von den zur Zeit üblichen Übertreibungen
freies Schriftchen zur Hand zu nehmen und die von vorurteilsfreier Wissenschaft
festgestellten Tatsachen wieder an sich vorübergehen zu lassen. Daß ein
Nahrungs- oder Genußmittel im Übermaß genossen, den Organismus schwer
zu schädigen vermag, rechtfertigt noch nicht seine absolute Streichung. Z. schil¬
dert die Wirkungen des einmaligen und die des gewohnheitsmäßigen Trunkes
auf Hirn und Nervensystem als feinste Organe des Menschen. Die Branntweine
5*
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68
Referate.
sind vor allem schädlich durch die hochmolekularen Alkohole, so daß der
Branntweingenuß in jeder Form und in jedem Maße unbedingt als schädlich
bezeichnet werden muß. Den bekannten Versuchen von Frey, Destree,
Kraepelin u. s. w. widmet Z. die gebührende Würdigung und ergänzt sie durch
eigene Beobachtungsergebnisse. Besonders erörtert werden die Einwirkungen
des Trunkes auf die Ganglienzellen unserer Großhirnrinde, des Sitzes der Seelen¬
tätigkeit. Es liegt kein Grund vor, warum wir die erregende Wirkung kleiner
Alkoholmengen im ersten Stadium nicht zur Belebung unserer Geselligkeit ver¬
wenden sollen, während das lähmungsstadium, welches bei Alkoholgaben von
etwa 40 g und darüber fast unmittelbar eintritt, auf die Dauer schädigend wirkt
und möglichst zu meiden ist. Selbstverständlich empfiehlt Z. den Genuß geistiger
Getränke überhaupt nicht, warnt vielmehr vor täglichem Konsum auch kleinerer
Gaben, vor Verabreichung von Alkohol an Kinder, Nervenkranke u. 8. w. Es
ist das der vom Deutschen Verein gegen den Mißbrauch geistiger Getränke ein¬
genommene Standpunkt, der mit Recht im Gewohnheitstrunk den gefährlichen
Feind, im gelegentlichen mäßigen Alkoholgebrauch aber einen erlaubten Genuß
sieht, wie wir ihn gegenüber hunderten anderer (im Übermaß oder Tag für Tag
genommen auch zerstörend wirkenden) Reiz- oder Genußmittel auch einzu¬
nehmen haben. Dr. Fl.
Steger, Josef und Daum, Adolf. Was die Jugend vom Alkohol wissen soll. Wien,
Kaiserlich-Königlicher Schulbücher-Verlag. 1905. Preis 40 Heller.
Das Buch bringt alle wesentlichen Tatsachen über den Alkohol und den
Alkoholismus in knapper und doch anziehender Form. Es erscheint durchaus
geeignet, der Jugend diese für die Volkswohlfahrt so ungemein notwendigen
Kenntnisse zu ermitteln.
Angefügt ist eine Erzählung für jung und alt: „Ein gefährlicher Freund“
von Ferdinand Frank. Die Geschichte ist ein echtes Schulbeispiel, wie der¬
artige antialkoholische Erzählungen gestaltet sein müssen, um wirksam zu sein,
P. S.
Meyer, Ernst. Über den Einflug der Alkoholica auf die sekretorische und motorische
Tätigkeit des Magens. Klin. Jahrb. Bd. 13. Jena 1904.
Meyer berichtet zunächst ausführlich über die bisher angestelltcn Versuche
zur Feststellung der Wirkung des Alkohols und der alkoholischen Getränke auf
den Magen.
Das Endresultat der von ihm selbst am Menschen angestellten Versuche
ist folgendes:
1. Der Alkohol übt einen gewissen vermehrenden Einfluß auf die Säure¬
produktion im Magen.
2. Diese Säureproduktion steigert bei mäßigen Dosen nicht nennenswert
den Prozentgehalt an Säure im Mageninhalt (es entsteht kein Säureüberschuß).
3. Auf die Entleerung der verschiedenen Nahrungsstoffe aus dem Magen
übt der Alkohol einen verschiedenen Einfluß.
4. Die Entleerung der stärkemehlhaltigen Nahrungsstoffe (Brot, Kartoffeln
etc.) wird gehemmt, die der Fette dagegen beschleunigt, auf die Entleerung der
Eiweißstoffe ist der Alkohol ohne merklichen Einfluß.
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Referate.
69
5. Bier und Wein hemmen die Entleerung von Weißbrot aus dem Magen
stärker als Cognac in entsprechender Konzentration.
6. Die Entleerung von Fleischspeisen aus dem Magen wird durch Wei߬
oder Rotwein nicht gehemmt, durch den Weißwein eher leicht beschleunigt.
P. S.
Bickel. Über den Einfluh des Alkohols auf die Herzgröhe. Münch, mediz. Wochen¬
schrift. 1903. Nr. 41.
Bickel hat mittelst eines von Moritz konstruierten Apparates Versuche
an Hunden über die Beeinflussung der Herzgröße durch den Alkohol gemacht.
Den Hunden wurden 100 Gramm 50% Alkohol durch die Schlundsonde eingeflößt,
die Wirkung auf das Herz durch Röntgenbestrahlung festgestellt. Es ergab sich
mit unumstößlicher Sicherheit, daß der Alkohol keine Verbreiterung des Herzens
bewirkt. _ P. S.
Goddard, W. H. Über Alkohol als Nahrungsmittel. Lancet, 22. Okt. 1904. Refer.
in Münch, med. Wochenschrift. Nr. 48.
Goddard kommt auf Grund einer großen Reihe von Versuchen zu dem
Schlüsse, daß der Alkohol nur dann als Nahrungsmittel angesehen werden kann,
wenn er in sehr kleinen Mengen verabreicht wird. Größere Dosen werden da¬
gegen zu mindestens 50 Prozent wieder ausgeschieden und können deshalb nicht
als Nahrungsmittel angesehen werden. P. S.
Hoppe. Die Tatsachen Uber den Alkohol. 3. wesentlich vermehrte und teilweise
umgearbeitete Auflage. Berlin (S. Calvary & Co.). 1904. XV u. 536 Seiten.
Mk. 7,00.
Hoppe registriert in bekannter erschöpfender Vollständigkeit alle Tatsachen
über Wesen und Wirkung des Alkohols. Dem Plane des Buches gemäß ver¬
zichtet er darauf, auf die Ursachen und die Behandlung des Alkoholismus ein¬
zugehen. Namentlich über den Einfluß des Alkohols auf Morbidität, Mortalität
und Pauperismus ist hier ein reiches Material zusammengetragen. P. S.
Grotjahn. Der Alkoholismus. Sonderabdruck aus dem Handbuch der Hygiene.
Herausgeg. von Th. Weyl. Jena, Gustav Fischer. 1904. 16 Seiten.
Grotjahn stellt das Wesentliche über Art und Wirkung der alkoholhaltigen
Getränke und über die Bekämpfung des Alkoholismus zusammen. Über die Ent¬
haltsamkeitsbewegung urteilt er folgendermaßen (S. 7): „Es ist durchaus zu be¬
zweifeln, ob es berechtigt ist, die Abstinenz als allgemeine sittliche Forderung
aufzustellen, wie es die organisierten Enthaltsamkeitsfanatiker wollen. Die
wissenschaftliche Hygiene hat hierzu jedenfalls so lange kein Recht, als nicht die
Schädlichkeit auch kleiner und gelegentlicher Dosen bewiesen wird, was zur Zeit
noch aussteht. Man kann von der Gesamtheit nicht ohne weiteres nur deshalb
die Aufgabe eines so wirksamen, billigen und leicht zugänglichen Euphorikums
verlangen, weil ein Bruchteil der Individuen damit Mißbrauch treibt.“ P. S.
Grotjahn. Soziale Hygiene und Entartungsproblem. Sonderabdruck aus dem Hand¬
buch der Hygiene. Herausgeg. von Th. Weyl. Jena, Gustav Fischer. 1904.
64 S.
Grotjahn stellt sich auf die Seite derjenigen, welche den unmäßigen Ge¬
nuß alkoholischer Getränke als Ursache der körperlichen Entartung des Nach-
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70
Referate.
Wuchses von im übrigen rüstigen Individuen hinstellen. Er hält die Unter¬
suchungen De mm es über die körperliche und seelische Minderwertigkeit der
Kinder bei chronischem Alkoholismus eines oder beider Eltern für beweiskräftig.
Dagegen,glaubt er nicht, daß die im Rauschstadium erzeugten Kinder minder¬
wertig sind. Gegen diese Annahme spricht nach Grotjahn der Umstand, daß
hei den germanischen und slavischen Völkern, trotzdem bei ihnen der Beischlaf
häufig im Rausch vollzogen wird und danach Empfängnis der Frau eintritt, die
minderwertigen Individuen keineswegs zahlreicher sind als in den romanischen
Ländern, deren Bevölkerung sich durch Mäßigkeit auszeichnet. Grotjahn selbst
wird nicht glauben, daß durch seine Behauptung „die minderwertigen Individuen
sind in den mäßigen romanischen Ländern ebenso zahlreich als in den unmäßigen
germanischen und slavischen Ländern“ die Frage nach dem Einfluß der Berauscht-
heit des Erzeugers auf die erzeugten Kinder nach der einen oder anderen Seite
entschieden wird. P. S.
Mombert. Das Nahrungswesen. Sonderabdruck aus dem Handbuch der Hygiene.
Herausgeg. von Th. Weyl. Jena, Gustav Fischer. 1904. 72 Seiten.
Der Ernährungszustand eines Volkes steht mit seiner wirtschaftlichen
Leistungsfähigkeit in engem Zusammenhang. Die Ernährungsverhältnisse unserer
deutschen Arbeiterschaft halten den Vergleich mit unseren gefährlichen Kon¬
kurrenten England und Amerika nicht aus. In England und Amerika erhalten
die Arbeiter höhere Löhne und pflegen andererseits während der Arbeit keinen
Alkohol zu sich zu nehmen. Höhere Lebensmittelpreise pflegen mit einer Steigerung
des Branntweinkonsums einherzugehen. P. S.
Freund. Die Alkoholfrage in der Armee. Der Militärarzt. 1904. Nr. 13 ff.
Freund steht auf dem Standpunkt, daß mäßiger Alkoholgenuß relativ un¬
schädlich sei. Kleine Alkoholdosen befördern durch Steigerung der Sekretion
der Magendrüsen die Verdauung. Größere Dosen, d. h. mehr als ein Glas Bier
oder ein Gläschen Cognac bewirken bereits das Gegenteil.
Die Muskelleistungen werden nicht in ihrer Kraft, sondern in ihrer Zahl
beeinflußt. Mäßige Alkoholgaben geben für eine halbe Stunde eine Steigerung,
danach eine um so stärkere Erschlaffung.
In der Friedensverpflegung aller Heere mit Ausnahme von Rußland ist der
Alkohol gestrichen, in der Kriegsverpflegung erheblich gemindert. In Preußen
war es eine der ersten Heeresreformen Wilhelm I., daß er 1862 bestimmte, daß
an Stelle des Branntweins der Kaffee zu treten habe. Die Italiener gewähren
0,5 Liter Wein täglich, Frankreich nur ausnahmsweise 0,25 Liter Wein oder
0,0625 Liter Branntwein, Österreich 0,09 Liter Branntwein oder 0,75 Liter Bier
oder 0,06 Liter Rum.
Der Alkohol ist einer der stärksten Feinde der Gesundheit und der Moral.
In der Armee-Ergänzung macht sich sein Einfluß bereits schädlich bemerkbar.
Er lockert die Disziplin. Abstinenz ist in der Armee nicht durchzuführen, wohl
aber läßt sich Mäßigkeit durch gutes Beispiel und Belehrung sowie durch die
Darbietung harmloser Spiele und guter Lektüre in den Mußestunden erzielen.
P. S.
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Original frorri
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Referate.
71
Merth, Heinrieh. Die Trunksucht und ihre Bekämpfung durch die Schule. Wien
und Leipzig bei A. Pichlers Witwe und Sohn. 1904. IV u. 278 S. geh. 2.50 Mk.,
geb. 8 Mk.
Merth gibt eine ganz ausgezeichnete Darstellung der physiologischen, patho¬
logischen und sozialen Wirkungen des Alkohols und erörtert dann ausführlich und
ins einzelne gehend die Art der Lösung der Aufgaben, welche der Familie, der
Gesellschaft, dem Staate, der Kirche und im speziellen der Schule und dem
Lehrerstande bei der Abwehr des Alkoholismus erwachsen. P. S.
Damaschke, A. Alkohol und Volksschule. Der Lehrer und die soziale Frage. Sozialer
Fortschritt. Hefte und Flugschriften für Volkswirtschaft und Sozialpolitik.
Nr. 24. Leipzig bei Dietrich. Mk. 0,15.
Verfasser gibt zunächst eine kurze Übersicht über die in anderen Ländern
bestehenden gesetzlichen Vorschriften über die Bekämpfung des Alkoholismus
durch die Schule. In der Union gehen die Vorschriften so weit, daß sogar be¬
stimmt ist, welcher Teil der Lehrbücher dem Kampf gegen den Alkohol zu
widmen ist. Für die niederen Schulen wird mindestens 20—25°/ 0 des Raumes
verlangt, für höhere Schulen mindestens 20 Druckseiten. Für deutsche Schulen
weist Damaschke einen obligatorischen Antialkohol-Unterricht zurück und er¬
wartet das meiste von gelegentlichen Belehrungen. Aufklärung der Eltern, die
Schülerbibliotheken, Besserung der sozialen Verhältnisse sind weitere Hilfsmittel.
Der Mitwirkung des Lehrers an der sozialen Reformarbeit ist im speziellen
der zweite Teil der Schrift gewidmet. Kinderarbeit, Alkoholismus, Wohnungselend
hemmen die Berufsarbeit des Erziehers. Auf dem Gebiete der sozialen Frage
muß der Lehrer durch ernste Arbeit zu durchdringendem Verständnis gelangen.
Namentlich darf er auch an der Bodenreformbewegung, welche für den Verfasser
die soziale Frage an sich bedeutet, nicht Vorbeigehen. P. S.
Keferstein. Moderne Arbeiterbewegung und Alkoholfrage. Verlag des deutschen
Arbeiter-Abstinentenbundes. Berlin 1904. Preis 0,20 Mk.
Nach der letzten Berufszählung wurden in Deutschland 5900654 Lohn¬
arbeiter in gewerblichen Berufen ermittelt, d. h. 24,8% der Gesamtbevölkerung.
Die wirtschaftliche Lage der Lohnarbeiter ist zum großen Teil unbefriedigend.
Der Alkoholismus ist nicht in allen Fällen von ökonomischen Verhältnissen ab¬
hängig. Während in den amerikanischen Arbeiterbudgets ungefähr 5% aller
Ausgaben auf alkoholische Getränke entfallen, wird von deutschen Arbeitern das
Vier- und Fünffache für den gleichen Zweck ausgegeben. Eine Erhöhung der
Löhne hat eine Vermehrung der Ausgaben für alkoholische Getränke zur Folge*
Viel tragen die unbehaglichen Wohnungen zum Alkoholismus der Arbeiter bei.
Nicht nur die Gesundheitsschädigungen, sondern auch das Klasseninteresse des
Arbeiters erfordert die Bekämpfung des Alkoholismus. Denn „der Alkohol
macht den Menschen zufrieden, auch wo er keinen Grund zur Zufriedenheit,
sondern die Pflicht zur Unzufriedenheit hat.“ Der Alkoholgenuß stört die not¬
wendige Ruhe und Besonnenheit der Arbeiterbewegung. Der Endsieg des Prole¬
tariats aber, sagt Vandervelde, muß nicht nur ein Sieg über den Kapitalismus,
sondern auch ein Sieg über sich selbst sein, über die Laster, die es erniedrigen,
und über die falschen Bedürfnisse, die es unterjochen. P. S.
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72
Referate.
Schmidt, H. Fr. Kellners Weh und Wohl. 6. Auflage. Berlin (Martin Wamenk)
1904. Mk. 0,80.
Der Verfasser, Pfarrer in Cannes, kennt Arbeit und Leben des Kellners¬
aus eigener näherer Bekanntschaft mit vielen Kellnern. Er unterscheidet den
eigentlichen „Hotelkellner“ mit seinem Ehrgeiz, es selbst einmal zum eigenen
Hotel zu bringen, von dem „Brotkellner 11 und dem „Kellnerproletariat 14 . Bis¬
weilen allerdings verwischen sich die Grenzen. In Graubünden z. B. sind die
schlechtbesoldeten Lehrer in den Sommerferien als Hotelkellner tätig. Die Aus¬
bildung des Kellners ist dem Zufall anheimgegeben. Die Dauer der Lehrzeit
beträgt in 61 % der deutschen Gastwirtschaften weniger als 2 Jahre, Lehrgeld
wurde nur in 2°/ 0 der Fälle gezahlt, eine Barvergütung gewähren den Lehrlingen
dagegen 1 / # der mit Lehrlingen arbeitenden gastwirtschaftlichen Betriebe. Mit
der Verpflegung des Kellners ist es häufig schlecht bestellt. Zwischen Kellnern
und Köchen besteht vielfach ein Haß. Das Trinkgeld ist der moralische Verderb
des Kellnerstandes. Heißt es doch Trinkgeld, also warum sollte es nicht ver¬
trunken werden? Durch Trinkgeldgeben wird der Leichtsinn nach allen Richtungen
hin gemehrt. Oldenberg nennt das Trinkgeld die gemeinste Form der Ent¬
lohnung. Dazu kommt, daß die Kellner tatsächlich zur Ehelosigkeit verurteilt
sind. Ein verheirateter Kellner ist nach jeder Richtung hin ein Unglück. Vor
allem aber gibt es für die Kellner keinen Sonntag.
Nach des Verfassers Schätzung erliegt ein Viertel aller Kellner frühzeitig
den Überanstrengungen des Berufs oder den Folgen eines leichtsinnigen Lebens¬
wandels. Am meisten räumen Tuberkulose und Syphilis unter ihnen auf. Die
eigentlichen Trinkerkrankheiten treten bei den Kellnern in geringerem Maße auf
als bei den Wirten. Den vielfachen Gefahren seines Berufes kann der Kellner
nur entgegenwirken durch strenges Meiden aller schädlichen Genüsse, namentlich
auch des übermäßigen Trinkens. Schon alte deutsche Volksweisheit warnte vor
dem dreifachen W: „Wein, Weib, Würfelspiel.“ Solidere und gesündere Ver¬
hältnisse und Menschen im Gastwirtsgewerbe werden sich mit dem Siege der
Mäßigkeitsbewegung einstellen. P. S.
Marcuse, Julian. Kleine Gesundheitslehre. 16. Bd. von Hillgers illustrierten
Volksbüchern. Berlin. Leipzig. 92 Seiten. 16°. Preis 0,30 Mk.
Der Verfasser erörtert in allgemeinverständlicher Form die wichtigsten
Faktoren einer gesundheitsgemäßen Lebensweise. Der unheilvolle Einfluß des
gewohnheitsmäßigen Alkoholkonsums auf die Gesundheit wild nach Gebühr ge¬
würdigt. P. S.
Behrens, Peter. Alkohol und Kunst. Flensburg 1905. Preis Mk. 0,20.
Professor Peter Behrens, der Direktor der Kunst-Gewerbeschule in
Dresden, führte in seinem bei Gelegenheit des internationalen Kongresses gegen
den Alkoholismus in Bremen gehaltenen Vortrage aus, daß es eine Ästhetik der
Alkoholabstinenz gibt. Er hat in seiner eigenen künstlerischen Tätigkeit und auch
im übrigen Leben erfahren, daß die Alkoholabstinenz einen Überschuß von Kraft
und Phantasie zur Empfindung bringt. P. S.
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Referate.
73
Stellmacher, 1. Auf neuer Bahn. Kleine Beiträge zu einem alten Kulturproblem.
Hamburg. Gebrüder Lüdeking. 1904.
Der Verfasser hat in acht Aufsätzen (I. Enthaltsamkeit oder Mäßigkeit?
II. Fem-Eindrücke vom Bremer Antialkohol-Kongreß. IH. Zum Kapitel Deutsch¬
land und Antialkohol-Kongresse. IV. Der Alkohol — ein Mephistopheles. V. Ein
Zwischenspiel. VI. Bismarck. Dionysische Persönlichkeiten. Teufel. VII. Die
Energie des Alkohols. VIII. Das Volk der Denker und Dichter. Presse. Ärzte
und Theologen. Asketen. Nietzsche. Faust) dem alten soziologischen Problem
der Alkoholfrage neue Seiten abzugewinnen versucht. Vieles ist gut und treffend
gesagt. Manches indessen wird durch die Neigung, die Tatsachen um jeden Preis
in geistreicher, origineller Form darzustellen und durch weit hergeholte Vergleiche
zu illustrieren sowie durch die scharfe Gegnerschaft gegen die Mäßigkeitsbewegung
in ein schiefes Licht gestellt. Wer eine mehr feuilletonistische Behandlung des
Gegenstandes liebt, der wird in dem Buche seine Rechnung finden. P. S.
Bonne. Mäßigkeit, Enthaltsamkeit und Christentum ist in 4. Auflage im Verlage
von Deutschlands Großloge II des J. 0. G. T. in Flensburg erschienen.
In sehr ansprechender Form vertritt Bonne den Standpunkt, daß die Ent¬
haltsamkeit mit der evangelischen Freiheit eines Christenmenschen wohl zu ver¬
einbaren ist. Die Enthaltsamkeit ist kein Opfer, sondern ein Gewinn nicht nur
für den Enthaltsamen selbst, sondern auch für die gesamte Kultur. P. S.
Popert. Wir und das Alkoholkapital. Flensburg 1904. Preis 0,15 Mk.
Bei der Abstinenzbewegung handelt es sich nach Popert im letzten Grunde
um den politischen Kampf gegen eine brutale Kapitalmacht, die um ihres Ge¬
winnes willen mit allen Mitteln am Ruin unseres Volkes arbeitet. Der Feind
muß ausgehungert werden. Jeder, der für die Abstinenzbewegung gewonnen
wird, ist ein verlorener Konsument für das Alkoholkapital. P. S.
Nach der deutscheu Wochenzeitung in den Niederlanden gewinnt
die Bekämpfung des Alkoholismus in Holland stark an Umfang. Dreizehn Vereine
mit etwa 50000 Mitgliedern beteiligen sich daran. Auch in den Kasernen wird
durch Offiziere und Unteroffiziere mit Erfolg gegen den Alkoholismus gewirkt.
So ist z. B. in der Kantine der Pionier-Kaserne in Dortrecht der Geneverver¬
brauch von 12211 Flaschen im Jahre 1896 auf 4461 Flaschen im Jahre 1902
heruntergegangen, dagegen der von Limonade im gleichen Zeitraum von 285 Flaschen
auf 1736 Flaschen gestiegen. Von anderen Kasernen wurden ähnliche Ergebnisse
bekannt gegeben. P. S.
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HARVARD UNIVERSfTY
74
Bibliographie.
Bibliographie.
Vierte* Vierteljahr 1904.
Zusammengestellt von Bibliothekar Peter Schmidt.
van Akten, L. Beitrag zur Kenntnis der Polyneuritis alooholica. Diss. Kiel
1904. (28 S.)
Alkohol, der , als Nahrungs- und Genußmittel. (Kürschners Jahrbuch 1904,
Sp. 785—792.)
Alkoholismu8, der, in den Tropen. (Baineologische Zentralzeitung, 1904, S. 90.)
— und die Armee. (Überall, 1904, Nr. 25—29.)
Annale8 antialcooliques , Les. Journal mensuel de vulgarisation et d’etudes.
Publie sous la direction: Legrain, Paris.
Arbeiterfrage und Alkoholfrage. („Volkswohl“, 1904, Nr. 47.)
Armee . Wie denkt man in unserer Armee über den Alkoholismus? (Frauen-
rundsehau, Berlin 1904, S. 612.)
Asmussen s. „Auf! a
Auf! Frisch ans Werk! Volkskalender f. d. J. 1905. Hrsg. v. G. Asmussen.
(112 S. m. 1 Bildnis.) 8°. Flensburg, Deutschlands Großloge II. Mk. —.40.
Ausweg, der letzte. (Volkswohl, Dresden 1904, Nr. 52.)
Axenfeld, D. Einfluß des Alkohols auf das Gehirn. (Verh. d. Vers, deutscher
Naturforschern. Ärzte, Leipzig 1904, II. Teil, 2. Heft, S. 431.)
de la Barre, A . La lutte contre l’alcoolisme et les divers clerges catholiques.
(Association catholique. Paris, n° de fevr. 1904.)
Baur, P. Was kann die Schule alles tim, um dem übermäßigen Genuß geistiger
Getränke entgegenzuwirken? (Repertorium der Pädagogik, Ulm 1904, S. 346
bis 362.)
Behrens, 0. Alkohol und Kunst. (Bericht über den V. int. Kongreß gegen den
Alkohol, Jena 1904, 8. 306—311.)
Behrens, 0. Gefahren des Alkoholismus für unsern heutigen Gewerbebetrieb und
Kampf dagegen. (Monatsbl. für öffentl. Gesundheitspflege, Braunschw. 1904,
S. 33—47.)
Bekanntmachung betr. den Verkauf des denaturierten Branntweins nebst den
einschlägigen Bestimmungen der Branntweinsteuer-Befreiungsordnung vom
28. VI. 1900, unter Berücksicht, der Bundesratsbeschlüsse vom 28. HE. 1901,
18. IX. 1902 u. 25. VI. 1903. 2. wesentl. veränd. Aufl. Zollamtlich u. ge¬
werbepolizeilich revidiert. Vorschriftsmäßiges Plakat f. Verkaufs - Lokale.
28,5X44,5 cm. Würzburg, Stahels Verl. Mk. —.10.
Bentley. Alkoholfreie Wirtschaften in England. (Bericht üb. d. V. int. Kongreß
gegen den Alkoholismus, Jena 1904, S. 208—212.)
Bergman, J. Moderne Kultur u. Kampf, gegen den Alkoholismus. (Bericht üb.
d. V. int. Kongreß gegen den Alkoholismus, Jena 1904, S. 27—36.)
Bericht üb. die 20. Jahresversammlung des deutschen Vereins gegen den Mi߬
brauch geistiger Getränke (e. V.) zu Berlin, abgeh. am 21. u. 22. X. 1903.
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Bibliographie.
75
Anh.: Bericht üb. die 4. Konferenz der Trinkerheilstätten des deutschen
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81
HL Mitteilungen.
Oer Jahresbericht des schleswig-bolsteiiiiscben Bezirksvereins gegen den Mißbrauch
geistiger Getränke weist bemerkenswerte Erfolge der regen Tätigkeit auf. Außer
13 Ortsvereinen mit 125 Mitgliedern und 473 Anhängern zählt der Verein als
korporative Mitglieder den über 450 Mitglieder umfassenden Kieler Bezirksvein,
die Landesversicherungsanstalt, 13 Kreisausschüsse, 9 Magistrate, 56 Kirchenvor¬
stände, 1 Gemeindeverein und 10 Schulen; endlich 171 unmittelbare Mitglieder
und 151 unmittelbare Anhänger.
Der Bericht enthält eine von dem Vorsitzenden, Geh. Med.-Rat Dr. Halling-
Glückstadt, auf Grund des von dem Oberpräsidenten überlassenen Materials aus¬
gearbeitete Schankstätten-Statistik für die Zeit vom 1. April 1902 bis 31. März
1904. Leider betrifft das in der Statistik verarbeitete Material nur diejenigen
Gemeinden, in denen überhaupt ein Zu- oder Abgang an Sohankstätten während
der beiden Berichtsjahre eingetreten ist.
Anerkennend hebt der Jahresbericht eine Polizeiverordnung vom 7. Juni
1903 hervor, welche geeignet ist, alkoholisch Belasteten und Minderjährigen den
Bezug von Spirituosen erheblich zu erschweren; sowie eine Verfügung der Königl.
Eisenbahndirektion Altona vom 12. Juni 1903, welche die Dienstvorgesetzten an¬
weist, jeden Fall von Trunkenheit im Dienst ohne Ausnahme zur Bestrafung an¬
zuzeigen. Die Inspektionsvorstände sollen, wo ein Bedürfnis dafür sich heraus¬
stellt, dafür sorgen, daß allen Bediensteten ausreichende Gelegenheit zum Genuß
alkoholfreier Getränke, insbesondere von gutem Trinkwasser, Kaffee u. dergl. ge¬
boten werde. Die Bahn- und Kassenärzte werden ersucht, die Bediensteten, die
sich wiederholt durch Trunk dienstunfähig machen, der Verwaltung namhaft zu
machen, Trinker unter den Bediensteten fortgesetzt auf die schädlichen Folgen
des übermäßigen Alkoholgenusses hinzuweisen, aber auch im übrigen das Personal
bei jeder Gelegenheit über die Wirkung des Alkohols zu belehren. Infolgedessen
ist das Alkohol-Merkblatt des Kaiserl. Gesundheitsamtes in sämtlichen Dienst-,
Arbeite- und Unterkunftsräumen ausgehängt, sind vielfach in Werkstätten u. s. w.
Selterwasser-Apparate aufgestellt, endlich sind die Samariterkurse von den Bahn¬
ärzten zu entsprechender Belehrung benutzt worden. Einen durchgreifenden
Erfolg erhofft der erfahrene Vorsitzende aber erst von einem völligen Verbot
jeglichen Genusses geistiger Getränke während des Dienstes, sowie von andauernder
Belehrung und Aufklärung der Eisenbahner.
Als erfreulicher Fortschritt kann mitgeteilt werden, daß die neu erbaute
Vollbahn Kiel-Rendsburg als erste nicht eine einzige Bahnwirtschaft erhalten hat.
Dem Jahresbericht ist ein wertvoller Überblick von P. Dr. Stubbe-Kiel
über „Die antialkoholische Literatur der Jahre 1903 und 1904“ beigefügt. Jede
der im Besitz des Kieler Bezirksvereins befindlichen und von diesem auch nach
auswärts kostenlos zur Verleihung gelangenden wichtigen Schriften ist knapp
und treffend besprochen. Zum Schluß wird auf das wichtige Unternehmen des
Mäßigkeits-Verlages (Berlin-W. 15, Fasanenstraße 74) hingewiesen, der Biblio¬
theken, welche die verschiedenen Seiten der Alkoholfrage berühren,
je nach ihrer Reichhaltigkeit für 5, 10, 15—70 M. liefert.
Der Alkoholismua. 1905. 6
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82
Mitteilungen.
Die Bernische Trinkerheilstätte „Nüchtern“ in Kirchlindach bei Bern versandte
jüngst ihren 13. Jahresbericht über 1903. Wer sich ein Bild über das Heilstätten¬
wesen für Alkoholkranke in seiner jetzigen Gestalt verschaffen will, dem sei der
nach mehreren Seiten bemerkenswerte und auch für die Beurteilung unserer hie¬
sigen Verhältnisse auf dem Gebiete der Trinkerfürsorge passende Bericht zum
Studium bestens empfohlen. In demselben findet sich sowohl die unzulängliche
Besetzung der Heilstätte (von 40 Plätzen waren durchschnittlich nur 22 belegt) als
auch die Klage über die mangelhafte und schwierige Betätigung der Pfleglioge,
die Hervorhebung der vielfach guten Resultate und die schlechten Erfahrungen
bei entmündigten Personen, die mannigfachen Enttäuschungen nach der schlechten
wie guten Seite — genau so wie bei uns — wieder. Gewiß, denn der Alkohol¬
kranke ist in der Schweiz nicht anders als in Deutschland geartet; man fin¬
det überall denselben Menschen in gesunder und kranker Gestalt wieder, mag man
sich nach dem Süden oder dem hohen Norden begeben. Von großer Sachkenntnis
zeugt der mit dem Bericht wiedergegebene Vortrag „Was verstehen wir unter
Heilung der Trunksucht?“ des Hausvaters Steffen, welcher uns nebenbei durch
seine Referate für die Versammlungen des Verbandes der Trinkerheilstätten nicht
unbekannt ist.
„Nüchtern“ hatte im Jahre 1903 32 Aufnahmen zu einem Bestände von 28;
es verließen im Berichtjahre 45 Pfleglinge die Heilstätte, so daß am Schluß 1903
nur noch 15 Kranke verblieben. Die Aufgenommenen, durchweg der arbeitenden
Bevölkerung angehörig, waren mit Ausnahme eines Ausländers Schweizer und
litten in 11 Fällen an einfacher Trunksucht, in 2 an chronischem Alko¬
holismus, wogegen 7mal periodische Trunksucht und 9mal Delirium ver¬
zeichnet steht; 3 fernere Kranke waren geisteskrank oder schwachsinnig. Für
die Entlassenen wird folgende Aufenthaltsdauer notiert: unter 1 Monat (weil gei¬
steskrank) 1; 1 Monat 1; 3—4 Monate 6:5—6 Monate 29; 7—8 Monate 1; 9—10 Mo¬
nate 1; 11—12 Monate 5; mehr 1 Pflegling. Demnach hielt die weitaus größte
Hälfte 5—6 Monate aus, womit immerhin etwas erzielt werden kann, sofern die
Fälle nicht zu ungünstig liegen. Leider ist nicht gesagt, welche Krankheitsförmen
sich unter den Entlassenen befinden, während mitgeteilt wird, daß von den Auf¬
genommenen ein größerer Teil (11) an einfacher Trunksucht litt. Bezüglich der
Erfolge wird verkündet, daß am Schluß des Jahres 1903 aus den Jahren 1891/95
28%, aus 1896/1900 17%%, aus 1901/03 45%, aus dem Zeitraum 1891/1903
zusammen 32%, aus 1903 57%% abstinent geblieben sind. Rechnet man die
Nichtabstinenten aber Gebesserten hinzu, so wachsen die betreffenden Zahlen auf
36%, 34%, 52, 43, 65%. Wohl bemerkt, es ist nicht etwa gesagt, daß in diesen
Prozentsätzen Heilung angenommen wird, obgleich aus dem Bericht selbst her¬
vorzugehen scheint, daß auch in der Heilstätte „Nüchtern“ Abstinenz gleichbe¬
deutend mit Heilung ist. Das mag in vielen Fällen zutreffend sein, allgemein
aber läßt sich dies nicht behaupten. Es ist der Hausvater Steffen die Antwort
auf die Frage seines Themas „Was verstehen wir unter Heilung der Trunksucht?“
schuldig geblieben, denn er gibt nur den Weg zur Abstinenz und die Mittel an,
welche zur Enthaltsamkeit führen. Er charakterisiert seinen Standpunkt mit den
Worten: „Alles Bewahren von seiten der Familien und der Vereine führt aber
doch nicht zum Ziel, wenn die Entlassenen nicht auch selbst an ihrer Heilung
Weiterarbeiten. Die Heilung tritt nur dann ein, wenn man sie wirklich begehrt.“
Zur Selbsthilfe gibt er an: „Eintritt in einen Enthaltsamkeitsverein, persönliche
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Mitteilungen.
83
Mitarbeit in demselben, richtige Pflege des Familienlebens, Meiden aller Wirts¬
häuser, Tragen von Vereinsabzeichen, vollständiger Bruch mit den alten Kameraden
und Saufkollegen, reger Verkehr mit der Anstaltsleitung und gleichgesinnten Leuten
überhaupt, gesunde Lektüre, Musik, Poesie, Trachten nach Vollkommenheit in dem
Sinne, wie Christus sie gelehret hat.“
Stift Isenwald gibt einen Bericht über die 3 Jahre seines Bestehens heraus,
in welcher Zeit 130 alkoholkranke Männer Aufnahme fanden, von denen 109 wieder
zur Entlassung kamen. Der Durchschnittsbestand war im letzten Rechnungsjahre
22 bei 32 Plätzen; eine Überbelegung hat auch hier noch nie stattgefunden. Von
den Entlassenen kann ein Drittel als „geheilt“, ein ferneres Drittel als „gebessert“,
der Rest als „aussichtslos schwachsinnig, leichtsinnig und widerwillig“ angesehen
werden. Die Aufenthaltsdauer betrug im Durchschnitt 178 Tage; manche Patien¬
ten verließen auch hier vorzeitig in eitler Selbstüberschätzung die Heilstätte —
überall dasselbe Bild! —
Daß die Heilung Trunksüchtiger im 20. Jahrhundert noch recht verschieden
gehandhabt wird, zeigt das folgende
Abla&gebet Mein Gott und Vater, zum Erweise meiner Liebe zu
dir, zur Wiederherstellung deiner verletzten Ehre, zur Erlangung des
Heiles der Seelen nehme ich mir fest vor, am heutigen Tage weder
Wein, noch sonst ein gegorenes, noch überhaupt ein berauschendes
Getränk zu nehmen. Diese Enthaltung opfere ich dir in Vereinigung
mit dem Opfer deines Sohnes Jesu Christi, welcher sich tagtäglich zu
deiner Ehre auf dem Altäre aufopfert. Amen.
Kirchl. Druckerlaubnis: J. N. 3933. Köln den 16. August 1904.
300 Tage Ablaß, jeden Tag zu verdienen, verliehen von Se. päpstl.
Heiligkeit Pius X., am 29. März 1904.
Einen ferneren Beitrag zur Trinkerfürsorge liefert nachstehender Artikel,
der in den letzten Tagen durch die Tagespresse ging: „Da& auch die Polizei den
Kampf gegen den Alkohol wirksam führen kann, lehrt folgende Maßregel, die die
Polizei zu Herford ergriffen hat. Dort wurde zunächst auf Anlaß des Polizei¬
hauptmanns eine „Trinkerliste“ angelegt, die alle Namen derer enthielt, die als
übermäßige Trinker bekannt waren. Darauf wurden die Frauen der Männer auf
das Polizeiamt gefordert, wo sie über die durch die Trunksucht des Mannes her¬
beigeführten Verhältnisse aussagen mußten. Anfangs wollten die Frauen mit der
Wahrheit nicht recht heraus, da sie Mißhandlungen von ihren Männern fürchteten,
später gaben sie, viele mit tränenden Augen, manchmal geradezu unglaubliche
Schilderungen von dem Elend und den Familien Verhältnissen, die die trunkenen
Männer verursacht hatten. Nachdem das alles niedergeschrieben war, wurden
dem Mannö in Gegenwart seiner Frau und der Polizeibeamten die Aussagen ver¬
lesen und er zur Unterschrift aufgefordert. Vielfach versuchten die Trunken¬
bolde abzuleugnen und die Unterschrift zu verweigern, gaben dann aber sehr
bald, nachdem ihnen ihre Frauen gründlich den Kopf gewaschen hatten und ein
Leugnen nicht mehr möglich war, ihre Unterschrift. Sie wurden dann ermahnt
und ihnen mit Entmündigung gedroht. Dieses Verfahren hat sich so vortrefflich
bewährt, daß sogar das Straßenbild ganz anders geworden ist; die wüsten Auf-
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Mitteilungen.
tritte, wie sie früher an der Tagesordnung waren, sind verschwunden. Jetzt herrscht
nicht allein bei den armen geplagten Frauen, sondern auch bei den Männern, die
von ihrem Laster befreit wurden, größte Zufriedenheit über die Einrichtung.“
Es muß mehr wie bezweifelt werden, daß durch Polizeiverbote die Trunk¬
sucht aus der Welt geschafft werden kann. Die sogenannte „Schwarze Liste“ ißt
nicht neu, ob sie von Wirkung ist, erscheint aber immerhin zweifelhaft; auf
keinen Fall aber vermag sie die Heilung einer Krankheit zu bewirken. Durch
die Androhung von Polizeistrafen ist noch nie ein Mensch gesund geworden; wenn
dem so wäre, würde man empfehlen müssen, an Stelle von Trinkerheilstätten
Polizeiorgane zur Durchführung obiger Verordnungen einzustellen — dann brauch¬
ten wir uns um die ganze Trinkerfürsorge nicht weiter zu kümmern.
Der Guttomplerordef! hat im abgelaufenen Jahr kräftige Fortschritte gemacht.
Im Gebiete der Großloge II sind etwa 120 neue Logen für Erwachsene und
40 Jugendlogen gegründet worden. Sie zahlt jetzt etwa 780 untergeordnete Logen,
die sich zu 23 Distrikten zusammenschließen und etwa 25000 Mitglieder umfassen
und 181 Jugendlogen mit über 5000 jugendlichen Mitgliedern.
Brandenburg oder der 14. Distrikt weist gegenwärtig 40 untergeord¬
nete Logen (für Erwachsene) auf mit etwa 1600 Mitgliedern (Groß-Berlin 31 Logen
mit 1100 Mitgliedern) und 14 Jugendlogen mit etwa 300 Jungtemplern (13 Jugend¬
logen in Groß-Berlin).
Zählt man zu obenstehenden Ziffern der Großloge II noch die rund 90 Logen
mit etwa 3000 Mitgliedern der dänisch sprechenden Großloge I im nördlichen
Schleswig, so ergibt sich für Deutschland folgende Zusammenstellung:
2 Großlogen mit zusammen etwa 870 untergeordneten Logen und
28000 Mitgliedern. (Da uns die Anzahl der Jugendlogen im Gebiete der Gro߬
loge I nicht zugänglich sind, können wir hier den Bestand beider Großlogen nicht
zusammenfügen.) G e r k e n.
Für den im September d. J. in Budapest stattfindenden intornattonatofi Kongreß
gegen den Alkeholismue sind folgende Referate in Aussicht genommen und bereits
namhafte Kräfte dafür gewonnen worden:
1. Erziehung und Schule im Kampf gegen den Alkoholismus,
2. Die Reform des Schankwesens,
3. Alkohol und Strafgesetz,
4. Die kulturellen Bestrebungen der Arbeiter und der Alkohol,
5. Alkohol und Geschlechtsleben,
6. Der verderbliche Einfluß des Spirituosenhandels auf die Eingeborenen
in Afrika,
7. Die Organisation der Antialkoholbewegung,
8. Die industrielle Verwertung des Alkohols als Kampfesmittel gegen den
Alkoholismus,
9. Der Einfluß des Alkohols auf die Widerstandsfähigkeit des menschlichen
und tierischen Organismus, mit besonderer Berücksichtigung auf die Vererbung,
10. Ist Alkohol ein Nahrungsmittel?
11. Alkohol und physische Arbeitsfähigkeit mit besonderer Berücksichtigung
des militärischen Trainings,
12. Die hygienische Bedeutung des Kunstweins.
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Mitteilungen.
85
Es werden wie gewöhnlich besondere Abende für die Arbeiter, die Frauen,
die Studenten usw. veranlaßt werden, an denen in volkstümlicher Weise die
Alkoholfrage von Rednern behandelt werden wird. Außerdem ist daran gedacht,
für die Psychiater eine besondere Versammlung zu veranstalten, auf der die
Trinkerfürsorge zur Besprechung kommen soll.
Nähere Auskunft gibt der Generalsekretär des Kongresses, Dr. Philipp Stein
in Budapest, IV. Központi värosbäza.
Das ausführliche Programm mit genauer Tagesordnung werden wir nach
dem Erscheinen zur Kenntnis unserer Leser bringen.
Antialkohol — Blaaes Kreuz — religiöser Wahnsinn. Eine zeitgemäße Betrach¬
tung aus Straßburg (W. Pr.) von Dr. med. Krause lautet eine kasuistische Mit¬
teilung im Januar-Heft dieses Jahres der Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medizin,
welche geeignet ist, mancherlei Irrtümer hervorzurufen. Schon die Steigerung
in der Überschrift läßt unschwer erkennen, worauf Verfasser hinaus will, und
diese Steigerung wird nicht etwa durch den ersten Satz dieser Abhandlung ab¬
geschwächt, welcher also lautet: „Die Alkoholfrage beschäftigt gegenwärtig die
ganze Welt, sie beschäftigt die gesamte Presse, speziell die medizinischen Fach¬
blätter. Und das mit Recht!“ — Bewußt oder unbewußt gibt jene Bezeichnung
aber den Weg an, der zum „religiösen Wahnsinn“ führt, nämlich durch die Ab¬
stinenz mittelst des Blauen Kreuzes. Gegen solche Auffassungen aber muß man sich
wenden, denn es ist noch niemals dagewesen, daß durch die Alkoholenthaltsam¬
keit eine geistige Erkrankung hervorgerufen worden ist; daß der Alkoholismus
dagegen in der Ätiologie der Geisteskrankheiten eine „bedeutende Rolle“ spielt, be¬
tont Krause selbst, und dies ist in medizinischen Kreisen hinreichend bekannt,
so daß es hier nicht besonders hervorgehoben zu werden braucht. Daß bei geistig
normalen, durchaus gesunden Individuen das Blaue Kreuz keine Psychose zu er¬
zeugen vermag, scheint mir aber ebenso zweifellos. Ein gesunder Mensch mag
das Knierutschen mal mitmachen (wird das in der katholischen Kirche nicht
etwa in extenso geübt? und sind deshalb die Teilnehmer an den Zeremonien dieser
Kirche im psychiatrischen Sinne als verrückt oder wahnsinnig zu eiklären?), er
wird aber geistig nicht davon affiziert. Und dieser Umstand ist es eben, der den
Verfasser wie mir scheint zu Schlußfolgerungen veranlaßt hat, die in der ge¬
gebenen Form nicht annehmbar sind. Bei den 3 herangezogenen Fällen handelt
es sioh 1. um einen Dipsomanen (der sicher nicht als geistig normaler Mann an¬
zusehen ist!), der innerhalb seiner trinkfreien Zeit — wie dies durchweg möglich —
mit gutem Erfolg seinem Beruf hat nachgehen können (die Dipsomanen gehören
nicht zu den Schwachköpfen, die zu nichts mehr nütze sind), der aber doch so
wenig Widerstandsfähigkeit besaß, daß er nach einem starken psychischen Shock
(Unterschreibung eines Wechsels von 3000 M.) zusammenbrach. Hieran ist aber
nicht etwa seine Abstinenz, sondern sein Mangel an geistiger Kraft schuld; es
kann behauptet, wenn natürlich auch nicht direkt bewiesen werden, daß der Mann
auch ohne das Blaue Kreuz, auch ohne Abstinenz, aber als Dipsomane selbst, wenn
ihn dieser Schlag in alkoholfreien Intervallen getroffen hätte, erregt geworden
wäre. Er würde dann zweifellos zum Alkohol gegriffen und damit die nötige
psychische Reaktion hervorgerufen haben. Auf alle Fälle handelt es sich, und
das muß nochmals konstatiert werden, um ein geistig abnormes Individuum, wel-
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86
Mitteilungen.
ches durch gewissenlose „Brüder“ ausgebeutet wurde; ein Moment, das leider nicht
gerade selten in der Welt ist.
Die beiden andern vom Verfasser herangezogenen Fälle haben nach seinen
Mitteilungen zu urteilen nichts mit Alkoholismus zu tun. Bei dem einen handelt
es sich um eine „gesunde Bauersfrau 11 , die eine „fortwährend von Angstgefühl ge¬
plagte“ Tochter hat (mit der Nervengesundheit dieser scheint es zum mindesten
nicht weit hergewesen zu sein), und welche „in einen Zustand religiöser Verzückung“
dadurch geriet, daß ihr der Arzt für die Tochter empfahl, statt so häufig in die
Bibelstunde zu gehen, sich mehr in der frischen Luft aufzuhalten.
Der dritte Fall wird mit wenigen Zeilen dahin abgemacht, daß eine Bürgers¬
frau wegen Gebetübungen Mann und Kinder im Stich ließ; und da sie vor mehre¬
ren Jahren im Wochenbett eine melancholia simplex durchgemacht habe, stehe
zu befürchten, daß auch bei ihr über kurz oder lang eine Psychose ausbreche.
(Ist nicht auch hier Ursache und Wirkung etwas durcheinander geworfen ?1)
Gegenüber solchen Auslassungen muß zunächst konstatiert werden, daß das
Blaue Kreuz in vielen Fällen von Trunksucht segensreich gewirkt hat; daß ihm
bezw. der Inneren Mission die Initiative zu danken ist, daß man sich der Trunk¬
süchtigen überhaupt annimmt, und ferner muß betont werden, daß auch hier wie
in manchen andern Fällen die Ärztewelt sich mit der ganzen (Alkohol-) Frage.nicht
genügend befaßt hat. Dies rächt sich eben, und erst jüngsthin habe ich darauf
aufmerksam gemacht (vergl. Berliner klin. Wochenschrift 1904, No. 45 in „Welche
Bedeutung hat der Antrag des Abgeordneten Dr. med. Graf Douglas auf Ein¬
setzung einer ,Landeskommission für Volkswohlfahrt 1 für die Ärzte?“), daß eines
Tages dem Arzt die Augen geöffnet werden würden beim Gewahren von Mi߬
ständen, die ihm alsdann in krassen Farben erscheinen. Dies scheint mir im vor¬
liegenden Falle bereits geschehen zu sein, und ich frage nochmals: weshalb be¬
faßt sich nicht der Arzt mit der Behandlung der Alkoholkranken? weshalb läßt
er immer noch die „Lasterhaftigkeit“, welche diese Kranken auszeichnen
soll, unwidersprochen? weshalb sorgt er nicht dafür, daß die Alkoholkranken
rechtzeitig in Heilstätten geschickt werden, die von Ärzten geleitet sind? weshalb
bekümmert er sich überhaupt so wenig um die ganze Alkoholfrage, die sich ihm
in der Praxis auf Schritt und Tritt aufdrängt?? — Ist es da am Platze, sich zu
beklagen und seine Klagen dadurch zu begründen, daß ein paar Fälle veröffent¬
licht werden, die nichts anderes beweisen, als daß an Stelle des Arztes der Pfarrer
die Behandlung übernahm?! — suum euique heißt es auch hier. Wdt.
Entmündigt wurden im deutschen Reich
wegen Geisteskrankheit
wegen Trunksucht
im Jahre 1900
„ 1901
„ 1902:
„ 1903:
688 Personen
852
903
976
und Geistesschwäche:
8634 Personen
6999 „
5952 „
4827 „
Demnach ist ein allmähliches Ansteigen der Entmündigungen wegen Trunk¬
sucht zu verzeichnen, während auffallenderweise die Entmündigungen wegen
Geisteskrankheit und Geistesschwäche ganz erheblich abgenommen haben; sie sind
seit 1900 fast um die Hälfte zurückgegangen. An diesem Rückgang hat Preußen
keinen allzugroßen Anteil, denn die betreffenden Zahlen für 1900/03 lauten: 3733,
8537, 3144, 2169.
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Mitteilungen.
87
Der Zentralverband zur Bekämpfung des Alkoholismus in Berlin läßt in diesem
Jahre wieder Vorlesungen im Barackenauditorium der Berliner Universität in der
Osterwoche abhalten, und zwar sind folgende Themata vorgesehen:
1. Geschichte des Alkoholkampfes in Skandinavien. Professor Dr. Berg¬
mann-Stockholm.
2. Alkoholismus und Armenpflege. Stadtrat Dr. Münsterberg-Berlin.
3. Alkoholismus und Nervosität Professor Dr. Laehr. Haus Schönow b.
Zehlendorf.
4. Alkohol und Geisteskrankheiten. Dr. Juliusburger, Schlachtensee.
5. Alkoholismus und Prostitution. Sanitätsrat Dr. Rosenthal, Berlin.
6. Der Alkoholismus und der Arbeiterstand. Dr. Keferstein, Lüneburg.
7. Der Alkohol und das Kind. Priv.-Doz. Dr. Weygandt, Würzburg.
8. Der Alkohol im Haushalte des Volkes. Dr. Grothjahn, Berlin.
9. Die Aufgaben der Schule im Kampfe gegen den Alkoholismus. Prof.
Hartmann, Leipzig.
10. Alkohol und Verkehrswesen. De Terra, Eisenbahndirektor a. D., Marburg.
Den Vorsitz hat Geh. Med.-Rat Dr. Rubner, Professor der Hygiene an
der Berliner Universität übernommen. Die Vorträge selbst werden entgegen der
vorjährigen Veranstaltung unentgeltlich und für jedermann zugänglich sein. —
Wenn von abstinenter Seite jüngst hervorgehoben wurde, daß sich unter den Vor¬
tragenden 4 Guttempler befinden, so kann hinzugefügt werden, daß die übrigen
6 Herren auf dem Standpunkte der Mäßigkeit sich bewegen. Es soll aber bei
den Vorträgen nicht das Prinzip der Mäßigkeit oder das der Enthaltsamkeit hin¬
ausposaunt, sondern es soll die Alkoholfrage als solche in aufklärender und be¬
lehrender Form von den verschiedenen Gesichtspunkten aus behandelt werden.
Zur Säkularfeier Speners. Am 5. Febr. 1904 waren 200 Jahre seit dem
Tode Philipp Speners verflossen, den eine dankbare Nachwelt den Vater des
Pietismus genannt hat. Viel ist in diesen Tagen darüber geredet und geschrieben,
welche Verdienste Spener sich um die evangelische Christenheit erworben hat,
indem er auf persönliche Frömmigkeit, Herzensglauben und reines, innerliches
Leben drang. Wir möchten darauf aufmerksam machen, daß Spener und dem
Pietismus auch in der Geschichte der Alkoholbekämpfung eine Stelle gebührt.
Der Hintergrund der Spener sehen Lebensarbeit ist die wirtschaftliche und
religiös-sittliche Verelendung Deutschlands durch den 30 jährigen Krieg. Wenn
Spener das deutsche Gewissen schärfen und seine Kirche bessern wollte, so
konnte er den deutschen Trunk nicht außer acht lassen. In seinem Hauptbuche:
„Pia desideria oder Hertzliches Verlangen nach gottgefälliger Besserung der wahren
Evangelischen Kirchen u (Frankfurt 1676, S. 37 ff.) bietet er z. B. folgende Aus¬
einandersetzung: „Wir müssen bekennen, daß die Trunkenheit unter die Zahl
(der Sünden) gehöre, welche nioht nur an hohen und geringen Orten bei geist¬
und weltlichem Stande regieret, sondern auch ihre Verteidiger findet, welche, ob
sie wohl bekennen, daß derjenige, welcher gar ein Handwerk draus machen
wollte, sich damit versündigte, dennoch immer dafür halten wollen, daß bei Ge¬
legenheit einem guten Freund zu gefallen, da es eben nicht zu oft geschehe,
einen Rausch zu trinken, keine oder eine kaum des Ahndens würdige Sünde sei.
Daher wird solche niemals bußfertig erkannt; denn sollte sie erkannt werden,
so muß einmal der Haß gegen sie gefaßt sein, nun und nimmermehr dieselbe,
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Mitteilungen.
jemand zu gefallen, zu begehen. Wem kommt aber bei dem gemeinen Haufen
dieses nicht ganz fremd und ungereimt vor, daß er such diese Sünde ein für
allemal verschwören müsse, solle er ein Kind Gottes sein? Vielmehr denken
solche Leute, diejenigen, welche wider solche Sünde eifern, müssen sonst selt¬
same Leute, oder aus anderen Ursachen dieser Ergötzlichkeit feind sein, als daß
sie deren Lehre in diesem Funkt für göttlich sollten erkennen, und gleichwohl
ist sie göttlich. Maßen S. Paulus 1. Cor.. 6, 10 die Trunkenbolde unter keine
(vor Gott) ehrlichere Gesellschaft setzet als zu den Hurem, Ehebrechern, Weich¬
lingen, Knabenschändem, Dieben, Geizigen, Lästerern, Baubern, die alle überhaupt
vom Reich Gottes von ihm ausgeschlossen werden.
Und gilt hie nicht, die Distinktion vorzusuchen, daß ein Unterschied sei
unter, einem, welcher es eben alle Tage tut und seine Freude selbst darinnen
suchet, und anderen, die es seltener nach ereignender Gelegenheit anderen zu
Gefallen täten: gleich, ob wären nicht diese, sondern jene nur gemeinet*, dann
zu geschweigen, daß die Nichtigkeit dieses Einwurfs auch anderwärtlich aus der
Schrift darzutun ist, so wollte ich nur solche Leute fragen, ob sie nur derjenigen
Leute Leben für verdammlich halten, welche alle Tage hureten, ehebrechen,
Knaben schändeten, stehlen, raubeten etc., oder ob sie nicht glauben, daß auch
des Jahrs einmal, geschweige dann jeglichen Monat einmal, solches zu tun zu
viel sei, und wo sie nicht solche Sünde allerdings mit eiterigem Vorsatz ablegeten,
solche lasterhafte und unbußfertige Leute der Seligkeit fehl geben? ... Ja, so wenig
wir andern Völkern, die etwa zu Unzucht, Diebstahl und dergleichen mehr möchten
geneigt sein, gestehen, daß deswegen solche ihre Laster geringer zu achten, so
wenig werden sie uns in unserer Trunkenheit lassen entschuldiget sein, und noch
so viel weniger wird der gerechte Gott ihm von uns einen Strich durch sein Gesetz
lassen.
Wann dannn nun einige mit diesem Argument aufgezogen kommen, daß
die Trunkenheit nicht müsse so schwere Sünde sein, weil in dem Gegensatz die
wahren Christen unter uns gar zu dünne möchten gesäet sein, so lasse ich viel¬
mehr diese Folge gelten und schließe noch weiter, daß solche Sünde so viel ge¬
fährlicher, so viel mehr sie überhand genommen und von wenigen erkannt wird.“
Angemerkt sei, daß wir vorstehend lediglich die Rechtschreibung moderni¬
siert haben. Wir verzichten darauf, weitere Einzelstellen aus Speners Schriften
über den Trunk zusammenzutragen, möchten indessen auf die grundsätzliche
Bedeutung der Lebensarbeit Speners für die Trinksitten seiner Zeit kurz hin-
weisen. Einerseits ist der Pietismus die Betonung und Vertiefung der persön¬
lichen Frömmigkeit (Speners II. „Vorschlag“: „Aufrichtung und fleißige Übung
des geistlichen Priestertums“), die in einem reinen Leben sich zu offenbaren hat
(IIL Vorschlag: „Den Leuten fleißig einzubilden, das Christentum bestehe nicht
in Wissen, sondern in der Praxi.“ Vgl. das Verslein: „Was ist ein Pietist?
Wer Gottes Wort studieret und wer daneben auch ein heilig Leben führet.“) —
anderseits hat der Pietismus ein weltfremdes, z. T. weltscheues Angesicht; in
der Landeskirche legt er es darauf an, ecclesiolas (in ecclesia) zu bilden. In
beiden Beziehungen aber, in seiner reformatorischen, wie in seiner asketischen
Richtung ist er ein Feind der herrschenden Trinksitte {und es geblieben bis heute).
Die ecclesiolae in ecclesia haben sich dabei als Inselchen der Mäßigkeit und
Nüchternheit in der Brandung der Trinkunsitten bewährt. Stubbe.
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Der Alkoholismus
Zeitschrift zur wissenschaftlichen Erörterung der Alkoholfrage
1905 Neue Folge — Band II No. 2
L Originalabhandlungen.
Aus der älteren Mähigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein.
Von
Pastor Dr. Stubbe.
6. Die Organisation des Kampfes; die Vereinsbildu.ng.
Die alten Mittel gegen die Trinkschäden hatten nicht durch¬
greifend geholfen; man „pflügte ein Neues.“
„Ein neuer Geist ist rege geworden unter den Völkern der civilisierten Welt;
er treibt sie zur Vollbringung großer Werke; das Unglaubliche ist möglich ge¬
worden, und das Unerhörte geschieht täglich. Das Mittel aber, dessen sich dieser
Geist bedient, ist Association, das Zusammenwirken vieler zu gemeinsamem
Zwecke. Was dem einzelnen zu schwer ist, das vollbringen viele mit Leichtig¬
keit; wo ein Menschenleben nicht ausreicht, da schafft die fortgesetzte Arbeit
mehrerer Geschlechter.-Dasselbe oft bewährte Mittel ist auch in un¬
serem Falle angewendet worden; wir haben Ursache ihm zu vertrauen. Laßt
alle Einsichtigen und Vernünftigen, laßt alle guten Bürger zusammentreten zur
Vertreibung des gemeinsamen Feindes, und der Sieg ist gewiß.“ 1 )
Das große Mittel gegen die Branntweinpest war in jenen Tagen
die Organisierung einer Enthaltsamkeitsbewegung. Gleich das Jahr
1837, dasselbe Jahr, in welchem der berühmte Ritzebütter Verein als
Pionier der neuen Mäßigkeitsvereine gegründet ward, sah auch den
ersten Verein in den Herzogtümern erstehen, und das Jahr 1847,
also das Vorjahr der Landeserhebung, bringt die letzte Vereins¬
stiftung. (1846 und 1847 flauen bereits ab.) Die Entwicklung
wird durch folgende Übersicht klar werden.*)
A. Holstein.
Der erste Verein entstand 1887 (für Männer) auf dem Gute
Bothkamp (Schilsdorf, Kirchspiel Kirchbarkau). Es folgten nach:
1838 Lensahn.
1840 Oldenburg.
*) Dr. Valentiner im Kieler Wochenblatt 1843, S. 159.
*) Das Verzeichnis der Vereine ist zusammengestellt nach den Übersichten
von Dr. Valentiner, Altonaer Volksfreund 1845, Nr. 1—3, Volquarts, der 10-
jährige Kampf, S. 27 f. und häufigen Notizen in den Blättern d. Hbg. V. g. d. Br.
1844, S. 160 u. s. w.
Der AlkohoUsmus. 1905. 7
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90
Pastor Dr. Stubbe.
1841 Bovenau, Frauenverein auf Gut Bothkamp, Lütjenburg,
Watemeverstorf (Männer- und Frauenverein).
1842 Gaarz-Schwelbeck, Wandsbeck (Verband des Hamburger
Vereins), Todendorf.
1843 Altona, Elmshorn, Hademarschen (-Hanerau), Haselau,
Hedewigenkoog, Kiel, Lunden, Rellingen, Rendsburg, Wöhrden.
1844 Ascheberg(-Dersau), Glückstadt, Heide, Hömerkirchen,
Büsum, Frauenabt zu Gaarz, Rellinger Filiale zu Hummelsbüttel,
Lütjenwestedt (1844 genannt), Nienstädten(-Blankenese).
1845 Hennstedt i. D., Schönberg(-Tiefbergen und übrige
Propstei), Rellinger Filiale zu Harksheide, Meldorf, Tellingstedt,
vielleicht auch Plön.
1846 Dockenhuden, Preetz, 1846 Hoffnungsschar im Gut
Bothkamp.
1847 Gut Börstel, Crempe.
Anmerkung: In dem ehemals zu den Herzogtümern gehörigen,
in den Kapoleonischen Kämpfen von England geraubten und her¬
nach behaltenen (jetzt wieder mit Schleswig-Holstein vereinigten
und zum Kreise Süderdithmarschen gelegten) Helgoland gab es
einen Verein, dessen Grundsätze als Muster des Tellingstedter (1845)
erwähnt werden. 1 )
B. Schleswig.
1840 Rieseby.
1841 —
1842 —
1843 Apenrade, Friedrichstadt, Männerverein auf Sylt (Keitum).
1844 Frauenverein auf Sylt, Schleswig, Bulderup (habe ich
1844 zuerst genannt gefunden), Föhr (Wyk), Sörup (Uck.), Rodenäs
desgleichen.
1845 Bredstedt (Almdorf), Romoe (Insel Röm).
1846 Hallig Hooge, Hallig Langenes, Ockholm.
1847 Glücksburg. 2 )
*) Bl. d. Hbg. V. g. d. Br. erwähnen 1843, S. 156 ironisch einen Helgo¬
länder Mäßigkeitsverein. 1846 (vgl. Bl. d. Hbg. V. g. d. Br. 1846, S. 185)
richtet Sylt an den Helgoländer Verein ein offizielles Schreiben.
*) Als Gründungstage gibt ein Vereinskalender im Ditm. Volksfreund
1848, Mai-Nr. an: April: Oldenburg, Lensahn, 23. Lunden. Mai: 2. Hooge,
18. Rendsburg, Friedrichstadt, 14. Wöhrden, 20. Haselau, 21. Preetz, 25. Meldorf.
Juni: 21. Rellingen, 23. Heide. Juli: 7. Kiel. August: 6. Nienstädten.
Oktober: 21. Watemeverstorf, 29. Hedewigenkoog. Dezember: 16. Lütjenburg.
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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Solstein. 91
Juli 1845 gibt Dr. Yalentiner-Kiel an, daß, soweit sichere
Nachrichten verliegen d. Zt. 26 Vereine gegen das Branntwein¬
trinken im Herzogtum Holstein beständen. 20 derselben haben
2163 männliche und 108 weibliche Mitglieder; drei haben ihre
Mitglieder auf 370 angegeben, bei drei ist die Mitgliederzahl nicht
bekannt geworden. 23 Vereine in Holstein haben also 2641 Mit¬
glieder.
August 1845 zählt Valentiner für das Herzogtum Schleswig
sechs Vereine, von denen er genaueres weiß; bei einem fehlt ihm
die Mitgliederzahl, — fünf Vereine im Schleswigschen haben zu¬
sammen 669 Mitglieder (davon 251 Frauen).
Volquarts rechnet 1847 41 Vereine, zehn im Schleswigschen
(721 männliche, 309 weibliche Mitglieder, — von zwei Vereinen
weiß er keine Zahlen), 31 im Holsteinischen (2165 männliche,
276 weibliche Mitglieder, — von fünf Vereinen fehlen die Zahlen).
Man ist also weit davon entfernt, bei der Schleswig-Holsteinischen
Erhebung gegen den Branntwein die kühne Böttcher-Kömersche
Losung anwenden zu können: „Das Volk steht auf, der Sturm
bricht los“, wohl aber haben wir es mit einer Vereinsbildung zu
tun, die so kräftig und volkstümlich ist, wie zu jener Zeit keine
andere sonst im Lande, mit einem Vereine, der sich damals als ein
Sauerteig für die gesamte Lebenshaltung des Volkes bewährt hat.
Verschieden ist die Art der Entstehung. Volquarts meint
1847 in seiner „Übersicht über die zehnjährige Tätigkeit der Ver¬
eine“, die Vereine im Osten seien mehr von Oben herab gegründet,
die in Mitte und Westen des Landes aus dem Volke selbst heraus
entstanden; deshalb sei auch im Osten bisweilen mehr Überredung
als Überzeugung angewandt, um die Leute in den Verein zu ziehen;
die Vereine dort seien schnell emporgeschossen, dann aber auch
bald zum Stillstand und Rückgang verurteilt gewesen, — während
in anderen Gegenden des Landes die Leute selbst vorwärts ge¬
trieben hätten.
Drei Männer sind im Osten an erster Stelle zu nennen: Der
Gutsinspektor Hansen zu Schilsdorf, welcher 1837 am 27. März
den Bothkamper Verein gründete, bezw. der Konferenzrat von Bülo w.
zweitens Kammerjunker d’Aubert in Oldenburg, vor allem drittens
Graf von Holstein zu Watemeverstorf, der persönlich Vereine zu
Waterneverstorf, sowie auf Gaarz und Schwelbeck gründete und
für die Vereinsgründungen zu Todendorf (Gut Panker) und Lütjen-
burg bestimmend war. Als Beförderer der Mäßigkeitssache in Ost-
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92
Pastor Dr. Stubbe.
holstein werden (neben Inspektoren und Pächtern) außerdem nam¬
haft gemacht Graf zu Rantzau in Plön, Baron von Heintze aus
Schleswig und der junge Graf Konrad von Holstein 1 ). Die
eigentliche Gründerin des Preetzer Vereins ist eine adlige Dame
(Lucie von Brockdorf).
Auf Bothkamp betrug die Mitgliederzahl am Tage der Vereinsgründung 65,
Pfingsten 1842 schon 209. — Wer ist der Mann, fragen die Hamburger Bl. g.
d. Br., welcher schon 1887 die Sache in ihrer hohen segensreichen Bedeutung
erkannte und zu ihrer praktischen Ausführung die Tatkraft und den Mut hatte,
die damals der Mehrzahl noch so seltsam und befremdend, ja wohl gar gefährlich
und lächerlich erschien? Es ist die Bothkamper Gutsherrschaft! „Möchte Seine
Excellenz der Geheime Konferenzrat von Bülow, der erste Prälat Holsteins, durch
die Teilnahme an der Hamburger Generalversammlung eine hohe Freude bereiten
und durch sein leuchtendes Beispiel der guten Sache in Holstein auch ferner¬
hin einen kräftigen Impuls geben.“*)
1848 zählte der Bothkamper Verein 215 Mitglieder. In diesem Jahre ergab
eine genaue Revision, daß durch Untreue gegen das Gelübde, Todesfälle u. dgl.
die Mitgliederzahl auf 188 zusammenschmolz. 1844 hatte man wieder 213, 1845
229 Mitglieder. Am 14. Juni 1846 ward wegen vieler Wortbrüchigkeiten nach
dem Tode von Inspektor Hansen, verlangt: Wer es ernstlich mit der Sache meine,
möge sich aufs neue zum unverbrüchlichen Worthalten einschreiben, alle übrigen
aber als Laue austreten. Da blieben von den 229 nur 20 Mitglieder. 8 )
Zu Waterneverstorf wurden am Stiftungstage 1841 die Satzungen von
52 Männern unterzeichnet; Mai 1842 waren schon 283 männliche Personen dem
Verein beigetreten. Das ganze Gut war bis auf einen Schullehrer und dessen Fa¬
milie im Verein. Als am 9. November 1841 auch ein Frauenverein gegründet
ward, traten bald alle erwachsenen Personen weiblichen Geschlechts förmlich dem
Vereine bei. 4 ) 1847 beklagt Volquarts: Waterneverstorf ist jetzt so still und
vom Frauenverein ist nichts weiter bekannt geworden.
Im übrigen bemerke ich über Ostholstein:
Oldenburg, 1840 gegründet, stand zuerst auf dem Mäßigungsstandpunkt,
schritt aber zur Enthaltsamkeit vor. Zuerst war man recht tätig, 1847 aber
heißt es bei Volquarts: Der Verein sei jetzt lau und lasse wenig von sich hören.
In Lensahn sammelte Pastor Petersen, der Herausgeber der Provinzial¬
berichte, 1838 durch Schriften Verbreitung einen Freundeskreis (18—20 Personen);
nach Petersens Tode ruhte die Sache.
Der Lütjenburger Verein zählte bei seiner Gründung 70 Mitglieder.
Die Brenner und Wirte suchten, die Leute arbeitslos zu machen — und Graf
Holstein, der Vater des Vereins, starb; da erschlaffte der Verein.
Von Todendorf (1842: vier Unterschriften, 1843: 40 Mitglieder, Vor¬
sitzender: Pächter Doormann) hörte man seit 1845 nichts mehr.
') Bl. d. Hbg. V. 1843, S. 98.
• *) A. a. 0., S. 98.
8 ) Bericht von Armenvater Fischer-Schilsdorf, Ditm. Volksfreund 1848,
S. 66 f.
4 ) Bl. d. Hbg. V. 1843, S. 97.
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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein.
93
In Ascheberg (1844) war der Schullehrer Wilms von Dersau treibende
Kraft; 1847 meldet Volquarts: kein Lebenszeichen mehr; der Verein ist nicht
eingegangen, aber schläft.
Zu Schönwalde und Hansühn bemühten sich die Ortsgeistlichen (Kruse
und Bolten) umsonst um eine Vereinsgründung; zu Segalendorf, Schönweide
und Petersdorf „ist die Sache eingeschlafen 44 . 1 )
Der Verein für die Propstei (Schönberg), gegründet 1845 — Vorsitzender:
Klostervogt Posselt — zählte 1847 129 Mitglieder.
Zu Preetz wirkte unter Leitung von Pastor Heimreich der 1846 gegründete
Verein noch 1847 (nach Volquarts) tapfer und mutig.
Große Hoffnungen setzte man in Ostholstein nach Graf Hol¬
steins Heimgang auf den Prinzen Friedrich zu Hessen auf Panker
und den Grafen Hahn zu Neuhaus; man rechnete damit, daß diese
eine ähnliche Führerstellung wie jener einnehmen möchten, doch
ist von einem irgendwie bedeutsamen Interesse bei ihnen keine
Rede. Von einem anderen ostholsteinischen Grafen — nomina sunt
odiosa — habe ich gehört, daß er einen der von ihm abhängigen
Lehrer zuerst zu einer Vereinsgründung ermunterte (weil ja offen¬
sichtlich war, wie sehr der Trunk die Leute schädigte), dann aber
mit einem Male abschwenkte, als er erkannte, daß die Einnahme
aus seiner — Brennerei wesentlich zurückging.
In Westholstein haben wir ein völlig anderes Bild. Die
Vereinsbildung setzt später ein, wirkt aber nachhaltiger und volks¬
tümlicher.
1843 ist der Verein zu Haselau gegründet. — Leiter: Pastor Andresen;
1847: 19 Mitglieder; kräftige Wirksamkeit wird gerühmt. (In Uetersen ist,
wo sich Justizrat Klenze und Pastor Bröcker der Sache annehmen, vergeblich
eine Vereinsbildung versucht.)
In Glückstadt stehen der Strafanstaltsgeistliche Pastor Gleiß und Dr. med.
Eller an der Spitze des Vereins (1844 gegründet), der vielseitig zu wirken sucht.
Noch 1847 heißt es (bei Volquarts): „Sein Einfluß ist nicht unbedeutend 44 ; d. Zt.
80 Mitglieder.
Crempe hat erst 1847 einen Verein erhalten. Ein Elmshorner Schiffer,
Bornhold mit Namen, überwinterte dort und gründete ihn; 13 Mann traten bei
(Vorsitz.: Bürger Hans Möller).
In Meldorf stiften 1845 schlichte Tagelöhner, Mitglieder der Heider
und Wöhrdener Vereine,' den Verein (Vorsitz.: Chr. Seeb). 1847: 38 Männer
und 4 Frauen Mitglieder.
Zu Wöhrden bitten 1843 mehrere Landleute (Schoof, Albers) Pastor
Schwarz um Stiftung eines Vereins; 1847: 50 Mitglieder.
Mitglieder des Wöhrdener Vereins gründen 1844 in Heide, dem Haupt¬
orte Norderdithmarschens, einen Verein, der sich trotz der vielen Wirte in der
Stadt gut halt. Landvogt Boysen übernimmt den Vorsitz. 1847: 106 Mitglieder.
x ) A. a. 0., S. 98.
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Pastor Dr. Stubbe.
Von Heider und Lundener Mitgliedern wird ein Verein zu Hennstedt i. D.
1845 angeregt; Leiter: Pastor Nissen. 1847: 37 Männer, 3 Frauen Mitglieder.
Nach langer Vorbereitung tritt 1845 auch zu Tellingstedt ein Verein
ins Leben; Vorsitz.: Pastor Petersen; 1847: 54 Männer, 43 Frauen Mitglieder.
Der Mittelpunkt der ganzen Arbeit in Dithmarschen ist Lunden, wo 1843
der Diakonus Volquarts einen Verein für Männer, 1844 einen für Frauen, 1847
eine „Hoffnungsschar“ stiftet. Aus der Gemeinde kam die Aufforderung zur
Vereinsgründung. Der Verein hat großen Einfluß gewonnen. 1847: 251 Männer,
126 Frauen Mitglieder.
In der nordwestlichen Marsch bestehen Vereine zu Hedewigenkoog und
Büsum.
Der einflußreiche Hedewigenkooger Verein ist 1843 gegründet und
hat auch in Wesselburen Anhänger; Vorsitzender: Lehrer Feddersen. 1847:
48 Mitglieder.
Der Büsumer Verein ist 1844 infolge Anregung Hedewigenkoogs und
Wöhrdens entstanden; Vorsitz.: Müller Borchers. 1847: 19 Mitglieder.
Die drei erstgenannten Vereine haben Fühlung mit Elmshorn
und Hamburg. Die Dithmarscher Vereine haben ein eigenes Organ
„den Ditmarsischen Volksfreund“ dessen Schriftleiter Pastor Vol¬
quarts ist. Vertreter der Dithmarscher Vereine sind es auch, die
1849 eine Eingabe an die Deutsche Nationalversammlung wegen
eines Branntweinverbotes für die Deutsche Flotte richten.
Beim mittleren Holstein möchte ich wegen der Gleich¬
förmigkeit der städtischen Interessen Kiel mit buchen. Ich beginne
indessen auch hier im Süden.
Altona ist wie räumlich, so auch in der Vereinsarbeit mit Hamburg ver¬
bunden. „Die große Not trieb zum Verein 11 , den Propst Paulsen und Apotheker
Siemsen 1843 stifteten. 1847: 863 Männer, 20 Frauen Mitglieder. Vorsitz.:
Propst Paulsen.
Wandsbeck, 1842 gegründet, bildet einen gemeinsamen Verband mit
den hamburgischen Dörfern Horn und Barmbeck. 1843 Verbands Vorsteher:
Hofrat Reiche.
Nienstädten (-Dockenbuden). Der Verein, gegründet 1844, ist im
wesentlichen eine Schöpfung des Hamburger Kaufmanns de la Camp und arbeitet
auch in Blankenese. 1847: 168 Mitglieder, Vorsitzender: de la Camp.
Hörnerkirchen, 1844 gegründet, hat 1847 27 Mitglieder. Vorsitzender:
Pastor Pagelsen.
Auf Gut Börstel stiftet 1847 Armenvater Mechlenburg mit Bewilligung
des Grafen Baudissin einen Verein; 21 Mitglieder.
Rellingen erhält 1843 durch Propst Adler einen Verein; 1847: 94 Mit¬
glieder. — Zweigvereine 1844 zu Hummelsbüttel und 1845 zu Harksheide gestiftet.
In Elmshorn stiftet auf Bitten mehrerer Einwohner Pastor Carstens
einen Verein, welcher mit Hamburg rege Beziehungen unterhält und sehr kräftig
sich regt. 1847: 250 Männer Mitglieder, Vorsitzender: Lehrer Soltau. Einem
Frauen verein (seit 1846) steht Pastor Hartmann vor, 1847: 48 Frauen.
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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein.
95
Auf Grund dringender Aufforderung aus der Gemeinde gründet zu Hade-
marschen 1843 Pastor Yent einen Verein, der gut wirkt. 1847: 64 Mitglieder.
Lütjenwestedt wird in einer Vereinsliste vom 7. August 1844 erwähnt;
weitere Angaben fehlen.
In Rendsburg ist 1840 ein Verein von Propst Callisen und Archidiakonus
Heimreich begründet, der auf mehrere Hundert Mitglieder an wächst. 1842 wird
beantragt, daß den Meistern gestattet werden solle, den Gesellen Branntwein zu
geben. Als das später wirklich beschlossen wird, teilt sich der Verein in den
laxeren Altstädter und den strengeren Neuwerker, wovon der erste bald eingeht
In der „Sklaverei“ (Strafanstalt) besteht auch ein Verein. — 1847: 59 Männer,
10 Frauen Mitglieder, Vorstand: Propst Callisen, Organist Markßen.
Bovenau, 1841 gegründet, 1847: 9 Mitglieder, Vorsitzender: Pastor Ivers.
„Der Verein wächst freilich nicht, dennoch ist er für die ganze Gegend dort
das Salz“, sagt Volquarts.
In Kiel stiftet Dr. Valentiner 1843 den Verein; die Geistlichkeit äußert
Bedenken, sieht aber später z. T. ihren Irrtum ein. Manche nützliche Ein¬
richtung geht vom Verein aus. 1847: 148 Männer, 20 Frauen Mitglieder, Vor¬
sitzender: Schullehrer Gudenrath.
In dem Herzogtum Schleswig tritt wie in Holstein der
Westen kräftig hervor.
In Friedrichstadt schließen sich Leute dem Rendsburger Verein an, der
Rektor Biematzki bittet, diese zu verpflichten. B. tritt dem Verein naher. Er
und Pastor Schetelig gründen 1843 einen eigenen Verein. 1847: 80 Mitglieder,
Vorsitzender: Pastor Schetelig, Schriftführer: Rektor Biematzki.
Der Verein zu Bredstedt, von einem Landmann 1845 gestiftet, umfaßt fast
die ganze Landschaft. 1847: 55 Mitglieder, Vorsitz.: Bevollmächtigter Claußen.
Von Bredstedt aus wird 1846 der Verein zu Ockholm angeregt, 1846:
15 Mitglieder, Vorsitzender: Pastor Danielsen. Auf einigen Inseln beherrschen
die Vereine das ganze Feld.
Auf Hallig Hooge gehören dem 1846 gegründeten Verein alle Bewohner
der Insel bis auf 25 Erwachsene an. 1847: 135 Mitglieder, Vorsitzender:
Pastor Dr. Koch.
Ähnlich ist es auf Langenes. Der 1846 gestiftete Verein zählt 1847
73 Mitglieder, Vorsitzender: Hinrichsen.
Über Föhr habe ich nur gefunden, daß dort zu Wyk 1843 ein Verein be¬
stehe, der „namhaften Segen aufweisen“ könne.
Kräftig wird auf Sylt gearbeitet. Ein Seemann, Kapitän Jens Bleicken,
stiftet 1843 den Verein und wirkt auf die Seefahrer ein. 1844 Frauenverein.
1847: 205 Männer, 262 Frauen Mitglieder, Vorsitzender: J. Bleicken.
Auf der Insel Röm gründet Dr. med. Gad 1844 einen Verein von 20 Mit¬
gliedern, die bald auf 40 anwachsen.
In Rodenäs gibt es 1844 einen von Pastor H. Hansen, desgleichen zu
Bülderup (Bielderup) einen von Pastor Schmidt geleiteten Verein.
Apenrade übt im Osten den größten Einfluß. Der 1843 gegründete Verein
zählt 1847 137 Mitglieder und wird von Propst Rehhof geleitet.
Glücksburg erhält 1847 einen aufstrebenden Verein: 37 Mitglieder, Vor¬
sitzender: Pastor Scholtz.
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Pastor Dr. Stubbe.
In Sörup besteht 1844 ein Verein, von dem „sich die Prediger nicht zu-
riickziehen wollen“;
Für Schleswig wird ebenfalls 1844 ein Verein (unter dem Vorsitze des
Taubstummenlehrers Dr. Paulsen) erwähnt, aber sonst nichts von ihm gesagt.
In Riesebye ist der älteste schleswigsche Verein entstanden, der aber
gegen Punschgenuß tolerant war. Er zählte einmal 40, 1845: 16, 1847: 10 Mit¬
glieder, läßt aber nichts von sich hören; Vorsitzender: Pastor Lange.
Beim Überblick über die Gründungsjahre der Vereine fällt so¬
fort 1843 auf. 1843 war im August die „Generalversammlung der
Deputierten der deutschen Enthaltsamkeits- und Mäßigkeitsvereine“
zu Hamburg. Vorher machten zwei Führer der Hamburger Mäßig¬
keitsbewegung Prof. Dr. Büttner und Pastor Müller eine Agita¬
tionsreise durch die Herzogtümer.
Daß 1843 in unserem Norden eine erste Generalversammlung
gehalten werden konnte, war ein Zeichen, daß „die Zeit erfüllet
war“. Es hatten sich Presse und Kalender (hier wie anderswo)
mehr und mehr mit der Enthaltsamkeitsfrage beschäftigt und die
Stimmung des Volkes bearbeitet. Unter solchen Umständen waren
die Hamburger Agitation und Versammlung sehr wirksam.
Dr. Büttner besuchte Rellingen, Elmshorn, Ülersen, Glück¬
stadt, Itzehoe, (Versmann, Jeß), Heiligenstedten (General Graf
von Blome), Hademarschen-Hanerau (Erbherr Mannhart), Heide,
Wöhrden, Lunden, Tönning, Friedrichstadt, Schleswig, Rendsburg,
Bovenau, Kiel, — Pastor Müller einige Orte in Ostholstein. Der
Hamburger Verein gab die Geldmittel für diese Agitationsreisen
her — die Anregung dazu war von Pastor Böttcher-Imsen aus¬
gegangen !).
Auch sonst greifen die Bewegung in Hamburg und Holstein
mannigfach ineinander über. Wandsbeck bildet mit Barmbeck und
Horn einen Verband des Hamburger Vereins. Altona beherbergt
von den Gästen, die aus ganz Deutschland zur Hamburger General¬
versammlung kommen 8 ); Altonaer und Wandsbecker Vereinsmit¬
glieder nehmen an Veranstaltungen (Versammlungen, Ausflügen)
des Hamburger Vereins teil. Zwei Bilder bezeugen besonders die
Einigkeit der beiden Schwesterstädte: der Branntweinsdrache, von
J. L. Schmidt in Altona erfunden und herausgegeben (der von
der H. Auflage an eine Branntweinscene aus dem Hamburger Brand
bietet), — gestochen von James Gray, Hamburg, — und ander-
*) Bl. d. Hbg. V. 1848, S. 185.
*) H. Schuhmacher, einige Worte .... Hamburg 1843, S. 8.
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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein. 97
seits „das letzte Mittel oder neuester Hokuspokus“, — eine Abendr
Unterhaltung „in’n Huus bi den Wienschenker Sinnig in dee Vor¬
stadt St. Jürgen, Hamborg“ (mit drastischer Abbildung des Wider¬
streits der Branntweins- und Mäßigkeitsinteressen) darstellend, „ver-
leggt von Hinrich Kruuskopp“. Eine Frauensgestalt schwebt mit
den Wappen von Hamburg und Altona über dem Bilde, dazu die
Hoppelinschrift:
1. Hinweg Trunkenheit!
Nach meiner Bürger Heil und Ehre
Hast oft die Hand du ausgestreckt;
D’rum sei zu eines jeden Lehre
Dein Thun und Treiben aufgedeckt.
2. In Altona gezeichnet, in Hamburg erfunden;
Wenn beide Städt’ einig sind, werden beid’ auch gesunden.
An den Feiern des Hamburger Vereins nehmen häufig Ver¬
treter Elmshorns und Crempes teil.
Im besonderen Sinne ist Nienstädten ein Kind Hamburgs. In
Nienstädten, Dockenhuden, Blankenese wohnen seit alter Zeit gerne
gut gestellte Hamburger, besonders in den Sommermonaten. Einer
von ihnen—Kaufmann de la Camp — gründete den Verein und
bestritt die Unkosten für Aufrufe, Schriften, Zeitungen und dergl.
ganz aus seiner Tasche. 1845 wirkte Dr. Reils-Hamburg, 1846
der Kornumstecher Ehlers-Hamburg auf der Stiftungsfeier mit
Bei den Bemühungen um eine Mäßigkeitshalle zu Blankenese war
das Hamburger Vorbild maßgebend.
Die „Blätter des Hamburgischen Vereins gegen das Brannt¬
weintrinken“ berichten von Anfang an ausführlich über alle Be¬
strebungen gegen den Branntwein in den Herzogtümern. Einen
regen Schriftwechsel mit den Vereinen der Herzogtümer unterhält
zuerst Dr. Büttner, nach ihm Dr. Reils im Aufträge des Ham¬
burger Vereins 1 ).
Der Blick auf Ostholstein lehrt uns, wie viel eine einzelne
Persönlichkeit — dort Graf Holstein — vermag. Überhaupt geht
die Vereinsgründung vielfach auf den Eifer einer Person zurück.
Als Vorkämpfer nenne ich neben diesem Grafen besonders die
Pastoren Carstens-Elmshorn, Gleis-Glückstadt, Heimreich-
Rendsburg (später Preetz), Schetelig-Friedrichstadt, Vent-Hade-
marschen, Volquarts-Lunden, — die Lehrer Rektor Biernatzki-
») Bl. d. Hbg. V. 1845, S-. 164.
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Pastor Dr. Stubbe.
Friedrichstadt (später Pastor zu Altona), Feddersen -Hedwigenkoog,
Soltau-Elmshorn, Dr. Pau Isen-Schleswig, — die Ärzte Dr. Eller-
Glückstadt, Dr. Gad-Romoe, Dr. Valentiner-Kiel, — von Ver¬
tretern anderer Berufe Kapitän Bleicken-Keitum, Inspektor Hansen-
Schilsdorf. Andere Namen werden bei Gelegenheit gedacht werden.
Die erste Vereinsgründung (1837), die zu Bothkamp, ist her¬
vorgerufen einerseits durch das viele Trinken auf dem Gute, ander¬
seits durch die Erfolge der Vereine in Nordamerika, deren Kenntnis
durch Rev. Baird eben damals vermittelt war. Das Ansehen und
die Beredsamkeit des Inspektors Hansen brachte eine Versammlung
der Gutseinwohner und den Zusammenschluß zu einem Verein zuwege.
Der Blick auf das Trinkelend und die Kenntnisnahme der
Mäßigkeitsschriften (die Berichte über Erfolge der Vereinsarbeit)
sind es immer wieder, wodurch Freunde des Volkes, — Prediger,
Lehrer, Ärzte, Beamte u. s. w., — dazu getrieben werden, in eine
Vereinsarbeit einzutreten. Von 1840 an sind besonders die Schriften
von Pastor Böttcher einflußreich. — Doch melden sich auch
Trinker selbst, die von einer Vereinsarbeit gehört haben, und bitten
um Hilfe (Elmshorn), oder schlichte Mitglieder eines Vereines ver¬
binden sich an einem neuen Orte und führen eine neue Vereins«
gründung herbei (Heide, Hennstedt, Meldorf, Crempe, Friedrichstadt).
Die Vereinsgründung wird bisweilen durch eine Erörterung
der Branntweinfrage in der Ortspresse oder Austeilung von Schriften
vorbereitet (Rendsburg, Kiel, Altona), stets durch rege Schriften¬
verbreitung unterstützt (neben Böttcher: Liebetrut, Steinwender
vor allem Hamburger Blätter und der Schmidtsche Branntweins¬
drache). An einigen Orten ist eine Predigt (Hademarschen, Lunden),
an anderen Orten ein Vortrag oder eine vertrauliche Zusammenkunft
der Ausgang der Bewegung.
Eigene Frauenvereine entstanden zu Watemeverstorf 9. Nov.
1841, auf Sylt 1844, zu Elmshorn 7. Juli 1846, auf Gut Bothkamp
(Schilsdorf) 25. Juli 1846, zu Lunden 2. Juni 1846, Hoffnungs¬
scharen (d. h. Kindervereine gegen das Branntweintrinken) 1846
auf Gut Bothkamp, 1847 zu Lunden.
Im allgemeinen waren die Vereine Männervereine, doch schlossen
sich ihnen hier und da Frauen an, und sicher hatte allenthalben
das Familienleben von der Mäßigkeitsarbeit seinen Segen.
Graf Holstein war der Stifter des ersten Frauenvereins.
Rücksichten auf die allgemeine Sittlichkeit führten ihn dazu. Auf
der „Versammlung der Abgeordneten der Enthaltsamkeitsvereine in
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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein. 99
Holstein und Schleswig“ zu Rendsburg 1844 wurde die Frage er¬
örtert: Was von der Stiftung eigener Frauenvereine zu halten sei?
Man rühmte deren Wirksamkeit, insonderheit den von Watemever-
storf, der neben Enthaltsamkeit auch Hebung der Sittlichkeit und
Häuslichkeit des weiblichen Geschlechts pflege. Das Ergebnis der
Besprechung war: Frauen vereine sind zweckmäßig, aber sollen eine
allgemein sittliche Richtung haben; jedenfalls müssen sie wegen
der zarteren Natur des weiblichen Rufes und der Eigentümlichkeit
des mehr auf stilles Wirken hingewiesenen weiblichen Berufes mit
großer Vorsicht gegründet und geleitet werden 1 ).
7. Die VereinS’Zentralisierung.
Zur Organisation gehört eine Zusammenfassung der Kräfte, eine
Zentralisation. Bereits 1842 bemüht sich Graf Holstein um die
Gründung eines „General-Vereins für Wagrien“, ohne sein
Ziel zu erreichen 2 ).
Eine engere Verbindung aller schleswig-holsteinischen
Vereine gegen das Branntweintrinken wird von Pastor Vol-
quarts (zuerst Januar 1844) angeregt; der Verkehr der Lundener,
Wöhrdener, Hedewigenkoozer und Friedrichstädter Vereine legt ihm
den Gedanken eines Zentralvereins nahe 3 ). Rektor K. L. Bier-
natzki erläßt alsbald in dem Itzehoer Wochenblatt einen Aufruf an
alle Enthaltsamkeitsvereine in Schleswig-Holstein 4 ). Es sei die Auf¬
forderung laut geworden, einen „Schleswig-Holsteinischen Central-
Verein“ für unsere Angelegenheit zu bilden.
„Laßt uns zum Werke schreiten, wir sind schon stark genug.
Solange wir vereinzelt dastehen bleibt unsere Wirksamkeit geteilt,
werden unsere Kräfte zersplittert. Einheit gibt Macht! Es ist so
vieles, was allen Vereinen bei uns gleich sehr förderlich ist, und
worüber sich am leichtesten in einer allgemeinen Versammlung be¬
raten ließe.-Zu allem diesen mache eine allgemeine Ver¬
sammlung, nach welcher sämtliche Vereine ihre Abgeordneten zu
senden haben, den Anfang. Rendsburg scheint mir dazu ein sehr
geeigneter Ort.-“
Und so ward es! 7.—8. August 1844 fand die erste „Ver-
') Bl. d. Hbg. V. 1844, S. 160.
a ) Kieler Correspondenzblatt 1842, Nr. 14, S. 64.
») Bl. d. Hbg. V. 1844, S. 15.
4 ) a. a. 0. 1844, 8. 61.
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Pastor Dr. Stubbe.
Sammlung der Abgeordneten der Enthaltsamkeit»-Vereine in Holstein
und Schleswig“ zu Rendsburg statt, 1845, 14. Mai, die zweite „Gene¬
ralversammlung der Abgeordneten schleswig-holsteinischer Mäßig¬
keits-Vereine“ zu Kiel, — 1846, den 7. und 8. Juli die dritte „Gene¬
ralversammlung der Deputierten der Vereine gegen das Branntwein¬
trinken in den Herzogtümern Schleswig und Holstein“ zu Elmshorn,
1847 zu Altona, und — 1848 hatten wir die Landeserhebung.
In Rendsburg 1 ) tagte man im Schauspielhaus und in „Stadt
Kopenhagen“. Eine öffentliche Versammlung brachte gemeinsamen
Gesang, Begrüßung, erbauliche Ansprachen und Berichte. Auf der
Generalversammlung waren 15 Vereine (davon 2 aus Schleswig)
vertreten. Zum Vorsitzenden wurde Propst Callisen (Stellvertreter 1
Dr. Valentiner) gewählt.
Man beschloß:
1. ein selbständiges Blatt zur Förderung der Vereinszwecke zu gründen;
es solle außer der Enthaltsamkeit auch sonst Gemeinnütziges pflegen, unter Aus¬
schluß des Politischen und Kirchlichen ein Volksblatt werden und alle 14 Tage
(im Verlag des Altonaer Merkur zum Jahrespreis von 1 M.) erscheinen.
2. Um eine Zentralisierung der Kräfte zu bewirken, eine jährliche
Wiederkehr d*er „Zentralversammlung der verschiedenen Vereine“ (unter
Ablehnung der „Bildung eines Zentralpunkts durch einen Zentralvorstand“, weil
das die freie Bewegung der einzelnen Vereine vielleicht gefährden könne).
3. Betr. die zweckmäßigste Form der Statuten: das Prinzip der absoluten
Enthaltsamkeit sei festzuhalten, im übrigen die örtliche Lage maßgebend.
4. Abgelehnt wurden grundsätzlich alle Petitionen an die Re¬
gierung:
a) daß keine neue Konzession zum Branntweinschenken auf dem Lande
gegeben werden möge; b) zur Abstellung der heimlichen Winkelkrüge (beides
von Rellingen angeregt); c) jährliche Besteuerung des Branntweinschankes
nach Analogie der Tanzlustbarkeiten zum Besten der Armenkasse (Vorschlag
Höft-Barmstedt); d) obrigkeitliche Bestrafung des Ausschanks von saurem
Bier; o) Anschaffung der besten Mäßigkeitsschriften für die Kirchspiels-Schul¬
lehrerbibliotheken; f) Verbot, Kindern Branntwein zu geben.
„Unsere Sache sei eine reine Volkssache-von unten nach oben, nicht
von oben nach unten müsse sie sich Bahn brechen.“ Gesetze würden nichts
nützen, solange sie im Volke keinen Anklang fänden, ja, geradezu schaden, sofern
man gegen die Vereine als ihre Anstifter Mißstimmung hegen würde. Je mehr alle
Leute Vereinsmitglieder oder doch Anhänger ihrer Grundsätze geworden seien,
desto mehr würden die 7 Wünsche sich von selber erfüllen.
Die zweite Generalversammlung (zu Kiel 2 ) wurde im
großen akademischen Hörsaale abgehalten. 17 Vereine (davon 1
») Bl. d. Hbg. V. g. d. Br. 1844, Nr. 19.
a ) Bl. d. Hbg. V. 1845, S. 85. Ausführlich: (Altonaer) Volksfreund 1845,
Nr. 1 f.
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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein.
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aus Schleswig) waren vertreten; Pastor Yolquarts-Lunden wurde
zum Vorsitzer, Apotheker Siemsen-Altona zu dessen Stellvertreter
gewählt. Begrüßungsschreiben lagen vor aus Glückstadt, Sylt und
Friedrichstadt (dieses letzte betonte die Notwendigkeit „wahrhaft
christlicher Gesinnung“ in dem Vereine und wünschte, daß in der
Generalversammlung ein „wahrhaft christlicher Geist“ walte). Aus
der Arbeit in Kiel, Heide, Elmshorn, Lunden ward von Vertretern
der betr. Orte anschaulich berichtet.
Glückstadt hatte angeregt, jährlich einen Generalbericht der schlesw.-holst.
Enthaltsamkeitsvereine zu veröffentlichen; beschlossen wurde, den Bericht über
die Kieler Generalversammlung zu drucken und zu verbreiten. Der Beschluß
von Rendsburg, einen „Volksfreund“ herauszugeben, konnte noch nicht verwirk¬
licht werden, weil bis jetzt von der Regierung auf den desf. Antrag kein Bescheid
eingegangen ist. Man will sich weiter darum bemühen, event. mit einem sog.
fliegenden Blatt einen Versuch machen. (Wirklich konnte die erste Nummer
des „Volksfreundes“ im August 1845 erscheinen.) Ein Kieler Vorschlag, über
das Verhältnis der Vereine zur Regierung zu verhandeln, und ein Antrag, die
Regierung um Beaufsichtigung der Weinbereitung und Bierbrauerei sowie des
Wein- und Bierausschanks (wie z. B. in Bayern) zu ersuchen, kommen, weil es
an genügender Unterstützung fehlt, nicht zur Verhandlung; abgelehnt wird auch
ein Antrag Tellingstedts, bei der Ständeversammlung wegen Besteuerung der
•Brennerei und Erleichterung der Brauerei zu petitionieren.
Für wünschenswert wird der gegenseitige Austausch der Statuten und Mit¬
teilung der Jahresberichte erklärt — abgelehnt dagegen, das Verhältnis der
Vereine zueinander durch irgend welche Vorschriften zu regeln.
Zu Elmshorn 1 ) fanden die Versammlungen bei Kelting statt
— Vorsitzender: Pastor Volquarts — eine öffentliche mit An¬
sprachen aus Rendsburg, Meldorf, Hamburg und Lunden, eine De¬
putiertenberatung, deren Hauptergebnis der Beschluß war, „einen
Zentralpunkt für alle Vereine zu bilden, an welchen nicht allein
alle Vereine sich zu wenden hätten, sondern überhaupt jeder im
Lande, welcher für die Sache sich interessiere, um mit Rat und Hilfe
bei der Bildung etwaiger neuer Vereine unterstützt zu werden“.
Pastor Volquarts-Lunden wurde zum Direktor des Schleswig-
Holsteinischen Zentralvereins gegen das Branntweintrinken gewählt.
In Altona 8 ) gab es auf der Generalversammlung 1847 nicht nur
Berichte aus der Vereinsarbeit im allgemeinen, sondern es wurden
auch zwei Spezialthemata behandelt: 1. Die Gewinnung der Jugend
und der Familienmütter für die Enthaltsamkeitssache. 2. Die Be¬
deutung des Vereinswesens neuerer Zeit und die bescheidene aber
») Bl. d. Hbg. V. 1846, S. 139.
*) a. a. 0. 1847, S. 79.
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102
Pastor Dr. Stubbe.
wichtige Stellung, welche die Vereine gegen den Branntwein unter
den übrigen einnehmen. — Damit nahmen die Generalversamm¬
lungen ein Ende!
Nun noch einiges aus der Tätigkeit des Zentralvereins,
bezw. dessen Vorstandes.
Hatten sich schon 1844 die Vorstände der „Mäßigkeitsvereine in
den Herzogtümern Schleswig und Holstein“ an die königliche Re¬
gierung gewandt, um Befreiung von Postporto in Angelegenheiten
der Vereine zu erlangen, —
(Es wird abgelehnt, obgleich in Preußen durch Erlaß des Generalpost¬
meisters vom 30. Juli 1844 unter bestimmten Voraussetzungen allen bereits
bestehenden oder zu bildenden Mäßigkeits- und Enthaltsamkeitsvereinen des
Landes Portofreiheit bewilligt war [Bl. d. Hbg. V. g. d. Br. 1844, S. 160].
— Die Schl.-Holst. Regierung begutachtet der Kanzlei das Gesuch: „Die Be¬
willigung erscheint uns weder Bedürfnis, noch mit Rücksicht darauf, daß die
Mäßigkeitvereine sowohl in ihrer Begrenzung als in ihrer statutarischen Ein¬
richtung aller offiziellen Anerkennung ermangeln, ohne Bedenken zu sein.“')
so vermittelt fortan der Zentralverein, bezw. dessen Direktor
die Verhandlungen mit der Regierung.
18. Sept 1846 beantragt er, den jetzt bestehenden, wie auch
künftig sich bildenden Vereinen gegen den Branntwein zu gestatten,
ihre Versammlungen in dem Winterhalbjahre am Sonntag Nachmittag
vor Beendigung der Feiertagszeit halten zu dürfen. — Es wird ge¬
nehmigt 2 ).
(Notwendig sei es, führt Volquarts aus: a) diese Versammlungen an
Sonntagen zu halten, weil auf dem Lande an Wochentagen die Leute nicht
zu Versammlungen kommen könnten, — b) sie bei Tage zu halten, teils, um
Leuten, die einen weiten Weg haben, die Möglichkeit zu gewähren, vor
Dunkelheit nach Hause zu kommen, teils, um etwaigen Unordnungen bei
Abendversammlungen vorzubeugen.)
22. August 1847 reicht die „Deputation des Zentralvereins gegen
den Branntwein in den Herzogtümern“ ein Gesuch an den König
ein, „sämtliche Vereine gegen den Branntwein unter königlichen
Schutz und Protektion huldvollst zu nehmen und dieses auf irgend
eine Weise öffentlich auszusprechen“.
(Antwort vom 5. Februar 1848: „Es wird infolge allerhöchst unmittel¬
barer Resolution hierdurch zu erkennen gegeben, daß die erbetene Zusicherung
eines besonderen allerhöchsten Schutzes für eine ersprießliche Wirksamkeit
der gedachten Vereine weder erforderlich noch denselben entsprechend be¬
funden sei.“)
Ein Monatspäter—und die schleswig-holsteinische Erhebung ist da.
l ) Akten des Kanzlei-Archivs, Postsachen A. XVIII. aus 877.
*) Akten des Regierungs-Archivs S. H. Kirchensachen Nr. 47, Fase. 117, 3.
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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein.
103
Auch in der neuen Zeit findet der Zentralverein Gelegenheit,
seine Stimme zu erheben. Eine Eingabe an das Kriegsdepartement
zu Gunsten der enthaltsamen Soldaten und vor allem ein Antrag
„an die hohe deutsche Nationalversammlung zu Frankfurt“, die junge
deutsche Flotte branntweinfrei zu halten — beides 1849 — sind
wichtige Kundgebungen, doch scheint sich der Zentralverein bereits
auf Ditmarschen zu beschränken 1 ).
Nach 1849 habe ich von einem Zentral verein keinerlei Lebens¬
zeichen mehr entdecken können.
An den großen gemeinsamen Veranstaltungen der deutschen
Mäßigkeitsvereine hat man sich von Schleswig-Holstein aus beteiligt.
Auf der (ersten) Generalversammlung der Deputierten der deutschen
Enthaltsamkeits- und Mäßigkeits-Vereine, 6.—10. August 1843 zu
Hamburg, waren 11 schleswig-holsteinische Vereine vertreten: Elms¬
horn (Pastor Carstens), Apenrade (P. Raben), Rellingen (Propst
Adler, cand. Bendixen), Todendorf (Doormann), Altona (Schmidt
u. Dr. Steinheim), Rendsburg (Propst Callisen), Bovenau (P. Heim¬
reich), Haselau (P. Andresen), Hademarschen (Lehrer. Ehlers),
Wöhrden (Alberts), Oldenburg (Rektor Delfs) 2 ). An der Berliner
(1845) und Braunschweiger Generalversammlung (1847) hat u. a.
Pastor Volquarts-Lunden teilgenommen.
(Zu Berlin wurde V olquarts mitgewählt als stellvertretendes Mitglied,
des „Zentral-Ausschusses 11 zur Leitung der allgemeinen Geschäfte der deutschen
Vereine gegen das Branntweintrinken.*)
Als fast 20 Jahre später der Kontinentale Mäßigkeitskongreß zu
Hannover tagte, gab es in Schleswig-Holstein keinen Verein mehr.
Haben wir in Schleswig-Holstein ein gutes Stück eigenständiger
Entwicklung, so doch anderseits mit der deutschen Gesamtkultur
innige Verbindung und auch in der Mäßigkeitsbewegung ein gegen¬
seitiges Geben und Nehmen (z. B. wurden bei uns Arbeiten
Böttchers, Liebetruts u. a. verwertet, auswärts aber viel der
Schmidtsche Branntweinsdrache; behördliche Maßregeln auswärts
beflügelten schleswig-holsteinischen Anträge an ihre Obrigkeit, ander¬
seits kam von Schleswig-Holstein der Antrag, betr. Schnapsfreiheit
der deutschen Flotte vergl. Kap. 13).
Über die mannigfachen Berührungen mit der Hamburger Arbeit
ist bereits Kap. 6 berichtet (vergl. auch Kap. 2).
*) Vgl. Abschnitt Heereswesen, Kap. 18.
*) Bl. d. Hbg. V. 1845, S. 129.
*) Bl. d. Hbg. V. 1845, S. 179.
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104
Pastor Dr. Stubbe.
8. Die Vereins grundsätze, -Satzungen und -Ordnungen.
Der erste Verein im Lande war ein Enthaltsamkeitsverein;
andere Vereine, die bald darauf entstanden, wollten nicht so weit gehen.
Der erste Verein im Schleswigschen, der zu Riesebye, gegründet
1. März 1840, gesteht für festliche Gelegenheiten Punsch und ähn¬
liches zu.
Der Oldenburger Verein (von 1840) fordert zuerst nicht strenge
Entsagung aller gebrannten Wasser, sondern erlaubt einen mäßigen
Genuß von Punsch und Grog 1 ), hat sich aber 1845 davon bekehrt!
Der Schönberger Verein (für die Propstei von 1845) gestattet
Punsch „bei frohen Gelagen und festlichen Gelegenheiten“.
Noch 1846 berichtet Pastor Volquarts, daß in einer Ver¬
sammlung zu Büsum einige Honoratioren mehr für Mäßigungsver¬
eine und bloße Branntwein-Enthaltsamkeitsvereine gewesen seien, in
denen der Genuß des Punsches erlaubt ist 8 ).
In Rendsburg gliederte sich der laxere Teil der Vereinsmitglieder
(in der Altstadt) ab; dieser gestattete den Meistern, den Gesellen
Branntwein zu geben.
Es zeigt sich, daß alle diese schlafferen Vereine (vielleicht mit
Ausnahme Schönbergs) kein Gedeihen haben; Volquarts bemerkt
einmal: sie sind an der Wurzel krank 3 ).
Im allgemeinen ist für die Vereine bezeichnend: 1. die Ent¬
haltung von allen destillierten Getränken (Entsagung von Spiri¬
tuosen Getränken, von allen Arten des Branntweins, Enthaltung von
gebranntem Wasser — ärztliche Verordnung ausgenommen — ge¬
legentlich ist noch hinzugefügt: und Versagung derselben). — 2.
Mäßigung im Genüsse anderer geistiger Getränke (als des Mets,
Weins und Biers).
Demgemäß lautet auch der Name: Verein gegen das Brannt¬
weintrinken, Mäßigkeitsvereine, Enthaltsamkeitsvereine, Vereine gegen
den Alkohol (begrifflich ist dazwischen kein Unterschied; unter Al¬
kohol wird in dem Titel nur der Schnaps verstanden).
Eine Verschiebung des Begriffes tritt ein durch die bekannten
Kranichfeldschen Ideen 4 ). Zu Tellingstedt wird 1845 ein „Verein
*) Bl. d. Hbg. V. g. d. Br. 1848, S. 97. Alt. Volksfreund 1845, Nr. 1.
*) Ditm. Volksfreund 1846, Nr. 8.
*) Vgl. Volquarts, Der 10jährige etc., S. 28.
4 ) Bl. d. Hbg. V. g. d. Br. 1845, S. 68. Weiteres darüber am Schlüsse
dieses Kap.
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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein. 105
gegen den Schminkgeist“ gegründet 1 ), ein Alkoholgift-Verein. Auch
der Verein zu Börstel (1847) *) ist ein Alkoholgift-Verein. Pastor
Volquarts selbst tritt 1846 8 ) für eine engere Verbindung der
Mitglieder der Vereine gegen den Branntwein zu einem Alkohol¬
giftvereine ein; noch in seiner letzten Schrift 4 ) bekennt er als
sein stetes Losungswort: „Alkohol ist Gift — sein Genuß ist Sünde!“
— (Alkohol aber ist Schnaps, — im Wein und Bier findet sich
nach Kranichfeld „das Weinige“).
Der moderne Begriff der Enthaltsamkeit taucht bereits
auf, aber nur vereinzelt im Zusammenhang mit der Alkohol¬
giftfrage:
Volquarts erklärt (1847) •): Die ältere Zeit habe einen doppelten wirtschaft¬
lichen Irrtum gehegt:
I. Indem der Branntwein aus nährenden Stoffen bereitet wurde, wähnte
man, er müsse selbst nährend sein und wirken; man verwechselte die durch ihn
bewirkte Aufregung mit wahrer und wirklicher Kraft.
II. Man verwechselte miteinander die Kraft des Branntweins und des Weins,
obgleich die Bereitungsweise entgegengesetzt war. Weil die Kunst aus Wein
Alkohol zu bilden verstand, stellte man den Satz auf, das Weinige und der Al¬
kohol sind ganz gleiche Bestandteile, nur der Stärke und Umgebung nach ver¬
schieden, aber nicht ihrem innersten Wesen nach. Das verlieh dem Branntwein
höhere Weihe und machte ihn zum „Wein des Nordens“.
Gegen den Irrtum des ersten Satzes wandte sich die gesamte Mäßigkeits¬
bewegung. Bei dem zweiten Satze scheiden sich die Geister.
Fordert man Branntweinentsagung, so wird oft geantwortet: Warum soll
der Branntwein weg; denn ein Wein, wie er nun ist, ist auch Alkohol. Wollt
ihr konsequent sein, so trinkt auch keinen Wein. Ist der Wein nicht an sich
schädlich, so kann es auch der Branntwein nicht sein, sondern er wird es nur
durch den unmäßigen Gebrauch. Kämpft darum doch nicht gegen den Brannt¬
wein selbst, sondern nur gegen den unmäßigen Gebrauch oder Mißbrauch. —
Die sog. Mäßigkeitsleute antworteten darauf: Als praktische Leute denken wir
nur an das große Verderben, welches jeder zugeben muß; helft uns jetzt den
Branntwein verbannen; wenn der Wein oder sonst etwas eine so volksverderb-
liche Höhe erreicht, so wird und soll die Zeit lehren, was dann zu tun ist —
Einwand: So stiftet Mäßigkeitsvereine; dann kommen die Leute zu euch und ihr
habt Gelegenheit, ihnen die Gefährlichkeit des Branntweins auseinanderzusetzen.
Warum wollt ihr uns das Glas Punsch nehmen, das uns und keinem schadet?
Ihr trinkt euer Glas Wein und wollt doch nicht behaupten, ein Glas Punsch
oder selbst Schnaps führe ins leibliche und sittliche Verderben?“ — Die Mäßi¬
gungsvereine sind mit diesem Boden zufrieden; die Mäßigkeitsvereine können
keine Widerlegung bieten.
x ) Volquarts, Der 10jährige etc., S. 86.
a ) Dithm. Volksfreund 1846, Nr. 7 f.
•) Der Bauemkampf in Wedel gegen das Pastorat daselbst. Altona 1864, S. 45.
4 ) Der 10jährige Kampf, S. 13 und 14.
Der AlkohoUsmue. 1905. 3
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106
Pastor Dr. Stubbe.
Die Enthaltsamkeitsvereiiie (hier greift das Wort in den modernen
Begriff ein) geben eine praktische Antwort, indem sie sagen: „Weil wir jene
Einwendungen nicht widerlegen können und ihr vielleicht Recht haben könnt, so
verwerfen wir den Wein und alle Biere u oder auch: „Damit ihr seht, uns liegt
dös Volkes Wohl so am Herzen, daß wir bereit sind, demselben gern alles zu
opfern, so verbieten wir Wein und Bier.“
Volquarts 1 ) meint: Diesen Grund müsse man ehren und die Enthaltsam¬
keitsleute achten, dennoch fördern sie die Sache wenig, ja hindern sie oft; das
einzig Richtige sei ein Alkoholgiftverein; der stelle neben die praktische Aufgabe
die wissenschaftliche Klärung; ohne ihn sei auch der Beistand von Staat und
Kirche nicht zu erlangen. Er allein gehe von einem „klaren, festen, richtigen
und notwendigen Prinzipe aus; er stehe auf festem Grunde, dem der Erfahrung,
Wissenschaft und Offenbarung.
Wie bei V. zur wissenschaftlichen „Erkenntnis“ von der Harm¬
losigkeit des „Weinigen“ und der Giftigkeit des ,^Alkohols“ nicht
nur eine religiös-sittliche Wertung des Genusses als Sünde, sondern
ä la Kranichfeld eine metaphysisch-dogmatische Anschauung von
der Substanz des (Branntwein-) Alkohols kam, wird in einem anderen
Abschnitte darzulegen sein.
Ein Blick in die Satzungen einiger Vereine möge uns genauer
über die damaligen Bestrebungen unterrichten.
Statuten'des Rendsburger Mäßigkeitsvereins 2 ).
§ 1. Der Zweck dieses Vereins besteht darin, dem Genüsse von. allen ge¬
brannten Wassern, als Branntwein, Rum u. s. w. entgegenzuwirken, andere für
die Enthaltsamkeit derselben zu gewinnen und solchen, welche dem Trünke er¬
geben sind, behilflich zu sein, sich von diesem verderblichen Laster loszureißen.
§ 2. Zu dem Ende verpflichten sich die Mitglieder dieses Vereins durch
ihre Namensunterschriften, sich selbst des Genusses aller gebrannten Wasser,
außer in Krankheitsfällen nach Vorschrift des Arztes, gänzlich zu enthalten, den
Genuß derselben in ihrer Familie nicht zu dulden, ihre Freunde nicht damit zu
bewirten und ihren Dienstboten und Untergebenen nicht davon zu reichen, sowie
sie sich auch verbindlich machen, alle andern geistigen Getränke, als Wein, Bier
u. s. w. nur mäßig zu genießen.
§ 3. Es steht einem jeden frei, aus diesem Verein auszutreten, wann er
will; jedoch ist er nur dann von der übernommenen Verpflichtung entbunden,
wenn er sich deshalb bei dem Schriftführer des Vereins meldet und seinen
Namen in dem Verzeichnisse der Mitglieder tilgen läßt.
§ 4. Um andere für die Enthaltsamkeit von gebrannten Wassern zu ge¬
winnen, machen die Mitglieder sich anheischig, durch gütliche Vorstellungen und
Mitteilung von nützlichen Schriften (wozu die Kosten durch freiwillige Beiträge
der Mitglieder bestritten werden) ihre Freunde und Bekannte von den verderb-
1 ) Vgl. zu dieser Darstellung Ditm. Volksfreund 1846, Nr. 8.
2 ) öffentl. Bericht über die Wirksamkeit des Rendsburger Mäßigkeitsvereins
1842, Anhang S. 19 f.
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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein. 107
liehen Wirkungen der gebrannten Wasser zu überzeugen und sie dahin zu ver¬
mögen, daß sie durch ihre Namensunterschriften als Mitglieder des Vereins sich
aufnehmen lassen.
§ 5. Eben diese Mittel werden sie auch anwenden, um Trunkenbolde, wo
möglich, von diesem Laster zu befreien; auch werden sie, soviel sie können,
ihnen behilflich sein, daß sie wieder ordentliche und tätige Mitglieder der mensch¬
lichen Gesellschaft werden.
§ 6 . Wenn irgend ein Mitglied des Vereins sich hinreißen lassen sollte,
den Verpflichtungen, die es in Gemäßheit des § 2 übernommen hat, wie solche
auch in dem von ihm unterschriebenen Reverse namhaft gemacht worden sind,
zuwider zu handeln, so werden seine Freunde und Bekannte im Verein sich be¬
mühen, ihn durch ernstliche und freundliche Vorstellungen von seiner Verirrung
zurückzuführen. Wenn aber solches fruchtlos sein sollte, so ist dem Vorstande
des Vereins davon Anzeige zu machen, damit der Abgewiohene von diesem ver¬
warnt und, falls auch dieses fruchtlos bleiben sollte, sein Name aus der Liste
ausgestrichen werde.
§ 7. Der Verein versammelt sich der Regel nach alle 2 Monate, um über
das, was den wohltätigen Zweck desselben betrifft, sich zu beraten und die nö¬
tigen Maßregeln zur Förderung der Enthaltsamkeit zu verabreden.
§ 8. In der Zwischenzeit werden die Geschäfte von einem Vorstande ge¬
leitet, der aus einem Präsidenten, 3 Direktoren und 1 Schriftführer besteht,
Welche sich etwa monatlich versammeln und, falls sie es für nötig halten sollten,
eine außerordentliche Generalversammlung zu berufen berechtigt sind.
§ 9. Die Mitglieder des Vorstandes werden durch Stimmenmehrheit gewählt
und bekleiden ihr Amt 1 Jahr lang, doch können sie nach Ablauf dieser Zeit
auch wieder erwählt werden. Der Präsident und in dessen Abwesenheit einer
der Direktoren führt den Vorsitz und leitet die Geschäfte in den Versamm-
sammlungen des Vereins und des Vorstandes, worin nach Stimmenmehrheit ent¬
schieden wird. Der Schriftführer hält das Protokoll, besorgt die Anschaffung von
Schriften, die nötige Korrespondenz u. s. w.
Hervorheben will ich, daß der „Glückstädter Yerein gegen das
Branntweintrinken“ einen Paragraph enthält (§ 7), der sich auf
Mäßigkeitsschenken u. dergl. bezieht:
(§ 6 betrifft Schriftenverbreitung.)
§ 7. Auch andere zweckmäßige Mittel wird der Yerein, sobald
und soweit seine Kräfte es gestatten, in Anwendung bringen, ins¬
besondere die Errichtung von Mäßigkeitsschenken und die
Einführung kleinerer Yerbände befördern.
Eine Mäßigkeitsschenke wird vom Nienstädtener Yerein zu
Blankenese unterhalten — leider habe ich die Satzungen des dorti¬
gen Yereins nicht erhalten können.
Der Altonaer und Elmshomer Yerein haben eine Yerbands-
und Distriktseinteilung durchgeführt nach dem Muster des Ham-
burgischen Yereins. Im Flecken Lunden bilden die Schulgemeinden
des Kirchspiels Yereinsdistrikte.
8*
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108
Psstor Dr. Stubbe.
Über die für die Vereinsarbeit nötigen Geldmittel sagen die
Elmshomer Satzungen ausdrücklich: „Andere als freiwillige Gaben
hat unsere Gesellschaft nicht; es kann also kein Mitglied zu Geld¬
beiträgen verpflichtet werden“. Obgleich das nachher zu charak¬
terisierende Krähwinkler Gesetzbuch von jährlichen Zuschüssen
spricht, habe ich doch in schleswig-holsteinischen Mäßigkeitsvereinen
keine Verpflichtungen zu festen Beiträgen finden können. Man
wandte sich an den guten Willen des Publikums, gelegentlich an
Sparkassenverwaltungen (weil man eine gemeinnützige, besonders
kleinen Leuten dienende Arbeit betreibe) und einmal sogar an den
König um Geldunterstützung 1 ).
(Die Regierung berichtet der Schleswig-Holstein-Lauenburgischen Kanzlei
[28. September 1847]: „Daß die Wirksamkeit der Enthaltsamkeitsvereine, falls
selbige sich auf das Wiinschenswürdige beschränken soll, größerer Geldmittel,
als deren Aufbringung füglich der Privattätigkeit überlassen werden kann,
uns nicht zu bedürfen scheine.“ Die königliche Resolution, dem Zentral¬
verein eröffnet am 5. Februar 1848, lautet demgemäß, „daß . .. zur Be¬
willigung der erbetenen Unterstützung von Seiten des öffentliohen keine ge¬
nügende Veranlassung gefunden sei.“)
Der unermüdliche Yolquarts forderte 1846 in einem Artikel
„Agentenkasse“ 2 ) auf, durch Selbstbesteuerung der Vereinsmitglieder
eine Kasse zu gründen, aus der ein Agent für die Vereinsarbeit im
Lande besoldet würde — entweder, indem jeder deutsche Bundes¬
bruder einen Schilling in die Agentenkasse stecke, oder indem man
(eine jetzt bei der Heilsarmee beliebte Methode) die „Narrenschillinge
einer Woche“, d. h. das, was man früher im Laufe einer Woche für
Spirituosen ausgab, der guten Sache opfere. Für die Zukunft sei
diese Kasse (für Agenten- und Schriftenverbreitung) zu erhalten
durch eine Jahresabgabe von einem Schilling für jedes Mitglied
uud durch Einführung eines Eintrittsgeldes von gleichfalls einem
Schilling. — Der Erfolg ist nur gering gewesen; denn der Bericht
über die nächste Generalversammlung spricht davon nicht.
Ohne Frage kommt es für den Bestand eines Vereines mit in
Betracht, ob beliebiger guter Wille oder feste Ordnung die nötige
Einnahme sichert; doch ist weder ein Verein in Schleswig-Holstein
wegen der Geldfrage zu Grunde gegangen, noch die ganze Bewegung
deswegen 1848 lahm gelegt. —
Die Arbeit der Vorstände ist, soweit ich sehe, überall
ehrenamtlich getan.
*) Aus dem Regierungsarchiv S. H. Andere Polizeisachen Nr. 80, Fase. 8.
2 ) Ditm. Volksfreund 1846, S. 121.
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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein. 109
Im allgemeinen ließ man die Mitglieder eine Verpflichtung
(Revers) unterschreiben, die z. B. in Glückstadt lautete:
Ich Endesunterschriebener verpflichte mich durch meine eigen¬
händige Namensunterschrift bis dahin, daß ich dieselbe zurücknehmen
sollte, dem Trinken aller gebrannten Wasser, als des Korn-, Kartoffel-
und Franzbranntweins, des Rums, Cognacs, Arraks u. s. w., sowie auch
aller mit denselben gemischten Getränken, wie Grog, Punsch, Liköre
u. dergl., außer, wenn und solange dieselben von einem Arzte in
Krankheit verordnet werden, gänzlich zu entsagen und trete dem
Glückstädter Verein gegen das Branntweintrinken als Mitglied bei.
Der Unterzeichnende erhielt meistens eine Vereinsmarke, ge¬
legentlich auch eine Vereinsmedaille.
Das in Holstein belegene, aber zum Großherzogtum Oldenburg
gehörige Eutin gab den aus dem Orte ziehenden Vereinsmitgliedem
Mäßigkeitspässe mit, durch die sie auf die Vereine anderer Orte
aufmerksam gemacht und diesen anempfohlen wurden 1 ). Die schles¬
wig-holsteinischen Vereine lehnten zu Kiel die Regulierung des Ver¬
hältnisses der Vereine zueinander ab 2 ) (wohl, weil sie alles meiden
wollten, was wie Bevormundung aussehen konnte).
Der Verein zu Lunden führte (seit 1845) eine Fahne mit der
Inschrift: „Tod dem Alkohol!“ 3 ) (Der dithmarsische Reiter präsentiert
sich darauf lanzengewaffnet hoch auf einem sich bäumenden Roß
und versetzt dem sog. Branntweinsdrachen einen tödlichen Stich).
Auch Altona hatte seine Mäßigkeitsfahne (wohl nach dem Vorbilde
Hamburgs 4 ). Sehr lebhaft und ernst wurde zu Elmshorn die
Fahnenfrage erörtert Für eine Fahne wurde angeführt: andere
Vereine (Zünfte, Gilden, Liedertafeln, sowie mehrere Mäßigkeitsvereine)
führen Fahnen; sie wird dem Verein eine Erhebung und Ermuti¬
gung sein; er wird gleichsam sich öffentlich als Mäßigkeitsarmee
darstellen. — Dagegen wurde gesagt: Missionsvereine, Bibelgesell¬
schaften, Vereine für entlassene Strafgefangene, verwahrloste Kinder
u. dergl. (also Vereine, die das Heil der Brüder und Förderung des
Reiches Gottes suchen) führen keine Fahne; denen sind wir am
meisten verwandt. Eine Fahne würde Leute heranziehen, die auf
Äußerlichkeiten Wert legen, dagegen christlich und kirchlich Ge-
>) Bl. d. Hbg. V. 1842, Nr. 4, S. 81.
*) Vgl. Kap. 7.
») Bl. d. Hbg. V. 1845, S. 71.
4 ) Bl. d. Hbg. V. 1845, S. 14.
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110
Pastor Dr. Stubbe.
sinnte vom Vereine abhalten können. Man einigte sich, die Ent¬
scheidung zu vertagen 1 ).
Als Versammlungsort war dort, wo eine Mäßigkeitsschenke
bestand, diese gegeben (so in Blankenese-Nienstedten). Auf dem
Lande versammelt man sich gerne in Schulräumen; dagegen hat
die Regierung nichts, — eine Benutzung von Kirchen zu General¬
versammlungen und Jahresfesten der Vereine hält sie indessen für
unangemessen. (Auf desf. Antrag des „Direktors der Vereine gegen
den Branntwein in den Herzogtümern Schleswig und Holstein“
Volquarts vom 14. Dez. 1846 erfolgt der Bescheid 4. Jan. 1847:
wegen Einräumung von Schullokalen habe man sich an die betr.
Lokalbehörde zu wenden*). Für einzelne Dankgottesdienste wird
eine Benutzung der Kirche (z. B. in Lunden) seitens der Behörde
gestattet (von der Regierung den Kirchenvisitationen zur Erledigung
überwiesen *).
Betr. die Zeit der Versammlungen dispensiert die Regierung
die Mäßigkeitsvereine von der Feiertagsverordnung, so daß Zusammen¬
künfte an den Sonntag-Nachmittagen bereits vor 4 Uhr gehalten
werden können 4 ).
Wie oft die Versammlungen stattfinden, ist örtlich verschieden;
z. B. in Altona hält man jeden Montag Verbandsversammlung, in
Apenrade halbjährlich Vereinsversammlung, zu Oldenburg i. H. viertel¬
jährlich, zu Rendsburg alle 2 Monate, zu Bovenau und Glückstadt
alle 6 Wochen, zu Bredstedt, Crempe, Heunstedt, Hömerkirchen,
Kiel, Lunden, Meldorf, Rellingen, Tellingstedt, Wöhrden monatlich,
— in Hademarschen und Nienstedten nach Bedarf.
Von Vereins wegen versucht man wiederholt, den Vereinssatz¬
ungen oder der -arbeit einen amtlichen Stempel zu verschaffen.
Der Lundener Mäßigkeitsverein sucht 23. Nov. 1846 um Regierungs¬
bestätigung für seinen Statutenentwurf nach, der als unnötig abge¬
lehnt wird; ebenso wie der Antrag des Zentralvereins vom 13. Sept.
1847, daß der König die Vereine gegen den Branntwein irgendwie
unter seinen Schutz nehme (also ihr „Protektor“ werde) damit er¬
ledigt, daß solcher allerhöchster Schutz weder erforderlich, noch
denselben entsprechend sei“ 5 ).
») Bl. d. Hbg. V. 1845, S. 5 u. 15.
*) Regierangsarchiv, S. H. Andere Polizeisachen Fase. 8, 5 u. 6.
*) Vgl. a. a. 0., Fase. 8, 2.
*) A. a. 0., Fase. 8, 1. S. H. Kirchensachen, 47 Fase. 117.
*) Vgl. S. 18.
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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein. 111
Das Verhältnis der Vereine zur Kirche wird in dem Ab¬
schnitte „Geistliches und Weltliches“ (in Kap. 8) und in Kap. 12
(Theologisches) genauer dargelegt werden. Hier ist nur zu sagen: Im
allgemeinen gelten die Vereine als kirchlich neutral; die Satzungen
enthalten deshalb keine Aussagen über irgendwelche kirchlichen
Dinge. Indessen betonen in Schleswig-Holstein zwei ältere Vereine
den Zusammenhang ihrer Arbeit mit dem Christentum, und zwar
der auf Gut Bothkamp und der zu Elmshorn. Die Elmshorner
Satzungen beginnen:
„"Wir sind durch Gottes Wort und die tägliche Erfahrung hinlänglich
überzeugt, daß das Laster der Trunkenheit eines der verabscheuungs¬
würdigsten vor Gott und Menschen ist“-(und den Menschen) „um
Ehre, Vernunft und ewige Seligkeit bringen kann.“
Einen schärferen Ton schlagen die Alkoholgiftgegner an.
Der Tellingstedter „Verein gegen den Schminkgeist“, 1845,
hat nach dreifachem Grundsatz dreifache Verpflichtung 1 ): „Auf
Christum, den Stein, den die Bauleute verworfen haben
und der zum Eckstein worden ist, Anerkennung 1. des
Weingeistes und des Schminkgeistes (Alkohol), 2. der bloßen Giftig¬
keit dieses letzteren, 3. Entsagung aller schminkgeisthaltigen Getränke.
1. Nach diesem von ihnen anerkannten Grundsätze bewahren die Mitglieder
äuch ihre Hausgenossen, Kinder and Untergebene davor, bieten sie auch sonst
niemandem und können sie weder bereiten noch verkaufen. — 2. Vielmehr
Suchen sie den heilsamen Grundsatz des Vereins auszubreiten und ratend, rettend
und helfend Mitglieder zu gewinnen. — 3. Endlich wollen sie die heilsamen ge¬
goltenen Getränke nicht unmäßig zum Schaden und Verdruß, sondern mäßig
zur Stärkung und Lust genießen, und das alles mit Danksagung.
Es wird 1853 von Volquarts die Mäßigkeitsarbeit für ein Werk
der inneren Mission, für eine eigentliche Lebensarbeit der Kirche
erklärt ' Dabei wird die naturwissenschaftliche Anschauung vom
Alkohol mit der theologischen Richtung zu einem dogmatischen
System ausgebäut, worin der Branntwein zum Satansblute, sein
Genuß zur Kommunion des Teufels wird (vgl. dazu besonders die
letzte Predigt in Kap. 9)*). Mit Recht bezeichnet Martius diesen
Standpunkt als Manichäismus 8 ). Es ist die sektenhafte Entartung
einer einst weitherzigen humanen Bewegung großen Stiles.
Anhangsweise sei hier von einer Satire berichtet, die sich
>) Bl. d. H. V. 1845, S. 68.
*) Vgl. auch meinen Artikel in der Monatsschrift für Innere Mission lfi04.
®) Z. B. Handbuch der deutschen Trinker- und Trunksuchtsfrage, Gotha 1891,
8 . 200 .
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112
Pastor Dr. Stubbe.
gegen Entsagung und Gelübde wendet: „Gesetzbuch des Mäßig¬
keitsvereins in Krähwinkel Nebst Eröffnungsrede des Präsi¬
denten und dem Promemoria des Theeklubs der Frauen ebendaselbst“. 1 )
Der Präsident Siebenschläfer schlägt vor: 1. alle Wohnungen, worin
Schnap8läden sind, von Yereinswegen zu mieten und mäßigen Leuten zu über¬
lassen; 2. alle Schnapstrinker für den Verein zu interessieren, event. mit Geld zu
erkaufen; 3. jedes ordinäre Mitglied solle ein Kapital für den Verein einschießen,
um einen Kassenfonds zu bilden, — jedes extraordinäre einen jährlichen Zu¬
schuß geben, um wohltätige Bücher und Schriften zu beschaffen. Dem Präses
und den leitenden Ausschußmitgliedern gebühre ein jährliches Gratiale von je
1000 Mark Banko.
Aus den Satzungen: § 2. Folgende Schriften muß jedes Mitglied auswendig
lernen, als: Geschichte der Mäßigkeitsgesellschaften in den Vereinigten Staaten.
Die Branntweinpest Die Heimkehr vom Kirchhofe. Des armen Mannes aus¬
gebessertes Haus. Die Folgen der Trunkenheit. Der Soldat und der Fusel. Ist
der Ochse stößiger Natur? Der Feind im Lande u. a. m.
§ 5. Wein und Bier darf jedes Mitglied genießen, muß jedoch auf seiner
Hut sein, nicht bis zum „Schwindel 14 zu kommen.
§ 7. Wer einen Schnapstrinker aus seiner Wohnung vertreiben oder zum
Ruin eines solchen Geschäfts beitragen kann, dessen Name wird in allen Mäßig-
keitssöhriften abgedruckt
§ 10. (Staatsbürger müssen innerhalb 8 Tagen Mitgliedsrechte zu erlangen
suchen.)
§ 14. Kein Prediger darf die Kanzel besteigen, wenn er nicht Mitglied ist.
§ 15. (Brandstiftung der Brennereien wird prämiiert.)
§ 22. Wer Beweise beibringen kann, daß er täglich 4 Flaschen Wasser,
Bier, Tee oder Suppe genossen, darf jeden Abend im Ratsweinkeller eine Flasche
Wöin trinken.
§ 28. (Branntweintrunkene sind einfach totzuschlagen.)
§ 24. Jede zum Besten des Vereins geschriebene Mäßigkeitsschrift wird
ailf Kosten desselben gedruckt und verteilt.
10 000 Personen unterschrieben und betranken sich am nächsten Tage (in
Bier und Wein). Sämtliche Frauen richteten nun eine Supplik an die Regierung,
den staatsfeindlichen Verein aufzuheben (10000 Unterschriften) und der „Teeklub
der Frauen 44 reichte dem Mäßigkeitsverein folgendes Promemoria ein:
„Geleerte Herren! Die Erbärmlichkeit, daß Ihr nur durch Eure Unter¬
schrift zur Mäßigkeit zu gewöhnen seid, veranlaßt uns, mit Euch ein sehr
ernstes Wort zu reden und Euch an Eure Pflichten zu ermahnen. Derjenige
Mann, der nicht im Stande ist, sich selbst zu beherrschen, ist nicht wert, von
einem zartfühlenden Weibe geliebt zu werden. Somit seid Ihr nun, Mitglieder
des Mäßigkeitsvereins, frei und engelrein; Ihr könnet fernerhin nicht mehr re¬
gieren, also auch nicht mehr der Stolz Eurer Weiber sein! Die Festigkeit
ist des Mannes größte Zierde — wehe, wo diese fehlt!
Ein Mann, der durch einen Eid oder Verpflichtungen sich binden muß, um
*) Altona bei C. G. Pinckvoß 1840, 8 Seiten.
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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein. 113
nicht unmäßig zu werden, ist ein wahrhaft erbärmliches Geschöpf und paßt also
nicht für uns.
Kraftvoll und unerschütterlich soll der Mann dastehen, aber nicht durch
eine Unterschrift sich binden lassen, mäßig einen unschuldigen Schnaps zu trinken.
Wer sich eigenmächtig in Fesseln legt, ist seiner Freiheit unwürdig; wer
nicht selbst so viel Charakterstärke besitzt, um sich zu überwachen, ohne durch
die Kraft der Gewalt gebunden zu sein, wird auch diese Fessel (und wären
es 10 Eide!) zerbrechen, um seinen Gelüsten zu fröhnen. — Also keine Ent¬
sagungtakte, Ihr „Herren der Schöpfung“, wie Ihr Euch doch so gern nennen
möchtet, sondern ohne Zwang eine vernünftige Mäßigkeit! Ist denn nicht,
wie wir schon so oft erfahren, jeder auf solchen Grundsätzen beruhende Verein,
der doch am Ende auf irgend eine Weise ausartet, unnütz? Was ist ge¬
wöhnlich das Ende vom Liede? Eine Spekulation, um auf irgend eine erlaubte
Art Geld zu machen, oder mit dem Namen eines Patrioten zu glänzen und auf
diese Art ein Schäfchen zu scheeren! — Ferne bleibt daher mit solchen Mäßig¬
keitsvereinen, welche alle Männer, die Teil daran nehmen, als sehr erbärm¬
lich und lächerlich darstellen; denn wer nicht mäßig sein kann, ohne Mitglied
einer solchen Vereinigung zu werden, der kann es auch unter keinen Umständen
also auch dann nicht, wenn er sich angeschlossen hat. Also, ohne alle Leiden¬
schaft: Hat die Welt so viele Jahrhunderte ohne Mäßigkeitsvereine bestanden,
so wird sie auch ferner fortbestehen, wenn Ihr Repräsentanten der Schöpfung
nur sonst vernünftig und ohne Leidenschaften. Dem freien Manne bringen
wir also ein Vivat, dem Manne, der auch ohne Mäßigkeitsverein stets mäßig ist
und die Achtung der Frauen sich zu erhalten und zu befestigen weiß.“
Weder der individualistische, extreme Freiheitsbegriff, noch die
Verdächtigung der führenden Persönlichkeiten und die Verballhomi-
sierung der Vereinsziele haben großen Eindruck gemacht; die Haupt¬
entwicklung der Vereinsbewegung in den Herzogtümern, wie in
Hamburg und im übrigen Deutschland setzt vielmehr nach 1840 ein.
Die Frage „Nikotin und Alkohol“ ist von Mahner (Naturheil¬
mensch — 1844) und Volquarts (Alkoholgiftgegner — 1853) kräf¬
tig berührt (vgl. Kap. 9, Abschn. C und Kap. 10), aber nirgends in
die Vereinssatzungen hineingeraten.
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114
Dr. B. Laquer.
Das Verhältnis von Trunksucht zu Armut
und Verbrechen in den Vereinigten Staaten.
Von
Dr. B. Laquer-Wiesbaden.
In meinen Reisestudien 1 ) habe ich Seite 20 darauf hinge¬
wiesen, daß bei der so verschiedenartigen Zusammensetzung der
amerikanischen Bevölkerung der Versuch aussichtslos wäre, ein
deutliches, sicheres Bild von dem Zusammenhang zwischen Alkoho¬
lismus, Armut und Verbrechen in diesem weiträumigen Lande zu
geben. Inzwischen habe ich die Grundlage eines solchen Ver¬
suches etwas näher kennen gelernt, nämlich die Schilderung ameri¬
kanischer Armen- und Gefängnispflege durch das Studium der Schriften
von E. Münsterberg, F. Peabody, 0. Hintrager 8 ). Ich stieß dabei
auf Beziehungen, die, wenn auch lückenhaft, dennoch der Mitteilung
wert sind. In dem Lande der Kontraste, wie Muirhead, der Her¬
ausgeber des englischen Amerika- und Kanada-Bädecker, das Land
nennt, ist auch das Armenwesen nicht einheitlich wie bei uns ge¬
regelt Die Bundesregierung überläßt Gesetzgebung und Fürsorge
auf diesem Gebiete den Einzelstaaten, ausgenommen das kleine
Bundesterritorium Columbiamit der Bundeshauptstadt Washington,
das der Bund selbst verwaltet Ein kodifiziertes Verhältnis der
Staaten zueinander im Sinne unserer Reichsarmengesetzgebung
(Unterstützungs-Wohnsitz u. s. w.) existiert drüben nicht Die
einzelnen Staaten verhalten sich armenrechtlicb zueinander wie
Auslandsstaaten. Die Armenpflege baut sich in den östlicheu
Neu-Englandstaaten gemäß den Gewohnheiten des Mutterlandes
in einer Art Selbstverwaltung auf der Grundlage des Ortschafts-
Prinzips auf. Die Städte und Grafschaften werden nur von den
Einzelstaaten mehr oder weniger beaufsichtigt und zur Herstellung
l ) Trunksucht und Temperenz in den Vereinigten Staaten. J. F. Berg¬
mann, 1905.
*) E. Münsterberg-Berlin. Das ausländische Armenwesen H. 35 u. 52
der Schriften des Deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit.
F. Peabody-Boston: Armengesetzgebung in den U. St. Conrads Handbuch der
Staatswissensohaften I. Bd. 2. Aufl. S. 1173—1180 u. Suppl.-Band. 0. Hint¬
rager. Amerikanisches Gefängnis- und Strafenwesen. Tübingen 1900.
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Das Verhältnis von Trunksucht zu Armut und Verbrechen etc. H5
.zweckmäßiger Einrichtungen angehalten. Die Voraussetzung der
Niederlassung in dem Bezirk und des längeren Aufenthalts in dem¬
selben bilden drüben nicht allenthalben die Grundlage der Unter¬
stützung im einzelnen Verarmungsfall. Noch buntscheckiger als
die Gesetzgebung ist die Ausführung derselben in der Armenpflege
selbst Traditionslos wie die Amerikaner auch in öffentlichen An¬
gelegenheiten sind, experimentieren sie gerne und stoßen kurzer
Hand um, was sie eben aufgebaut haben; infolgedessen haben oft sehr
junge Städte ein Armenwesen, das den älteren, am Alten haftenden
Landesteilen, überlegen ist, da sie deren Erfahrungen benutzten
und aus ihren vielfachen Mißexperimenten lernten. Die allgemeine
Bevorzugung der geschlossenen Armenpflege, der sogenannten
Armenhäuser, alms-houses, erinnert an den englischen Typus der
Armenpflege. Sie bilden den Sammelkanal für alle Formen der
Bedürftigkeit (the charitable catch-all for the community). In
dünn bevölkerten Bezirken werden erwerbsunfähige und alte Per¬
sonen mit Vorliebe in Familien von Farmern u. s. w. untergebracht
(System des boarding out), Kinder hält man aus den Armenhäusern
fern, für Blinde, Geisteskranke, kurz für Defekte erbaut man gerne
separate Anstalten; von Interesse und Bedeutung ist, daß Trunk¬
sucht und Vernachlässigung elterlicher Pflichten (neglect of family,
destitution of children) hart bestraft werden. Leider aber hängt
die Verwaltung der öffentlichen Armenpflege, die von Besoldeten,
nicht von ehrenamtlichen Männern geleitet wird, mit der Korruption
und mit dem politischen Schicksalsspiele der Parteien zusammen. Ich
verweise auf die Schilderung, die E. Münsterberg aus dem Staate
Ohio (Hauptstadt Cincinnati) und aus Boston S. 46 seines Berichtes
wiedergibt.
Dem gegenüber ist die Riesen-Privatwohltätigkeit in einem nur
in „the big country“ möglichen Umfange entwickelt Religiöse,
landsmannschaftliche, sektirerische, oft Sonderlings-Motive spielen
dabei mit Näheres in den oben citierten Schriften. Ein neuer¬
dings besonders in den Großstädten eingesetztes Aufsichtsamt
(Stateboard) soll Wandel schaffen, ferner eine unserem deutschen
Verein für Armenpflege und Wohltätigkeit ähnliche Einrichtung,
die den Namen „national Conference of charities and correction“
führt Sie beschäftigt sich übrigens auch mit Einwanderungs- und
Heimatgesetzgebung. Aber auch die großen Städte versuchen einen
Ring um ihre Wohltätigkeitspflege zu schließen, dem. sie nach
englischem Vorbild den Namen: charity-organisation society geben.
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116
Dr. B. Laquer.
Diese Zentralen sind in sogenannten charity-buildings auch äußer¬
lich zwecks unmittelbarem und mündlichem Austausch der einzelnen
Abteilungen zusammengefaßt Das New Yorker Gebäude beherbergt
z. B. 100 Vereinigungen mit gemeinsamer Bibliothek, Hörsaal u. s. w.
Von den Engländern wurden ferner die sogenannten Settlements
übernommen, auf die näher einzugehen hier zu weit führen würde.
Adele Schreiber hat sie im Heft 23 des „Sozialen Fortschritts“
Leipzig 1904, treffend beschrieben. Interessant ist ferner die An¬
weisung von Ackerland „vacant lots cultivation“ an infolge schwerer
Zeiten arbeitslose, aber arbeitsbedürftige Leute. Diese Einrichtung
ging von Detroit, Buffalo und Reading aus. Die antikorrup-
tionellen Berichte unseres Landsmannes Karl Schurz haben auch
auf diesem Gebiet das Ansehen des Mannes und seiner Herkunft
gesteigert. Soweit einige Allgemeinheiten zum Verständnis des
Folgenden:
Die neueste Zusammenstellung der im Titel erwähnten Be¬
ziehungen zwischen Verarmung und Trunksucht stammt aus den
Berichten des 50 er Ausschusses. Derselbe besteht seit zehn Jahren
ausschließlich zur Erforschung der Alkoholfrage. Er war 1893
aus einer jungen Soziologenschule heraus entstanden zum Zweck
der unparteiischen Sammlung und Vergleichung aller zugäng¬
lichen, auf das Alkoholproblem hinzielenden Tatsachen. Der Aus¬
schuß sollte und wollte keine Meinung aussprechen oder die eine
oder die andere Theorie aufstellen und verteidigen, sondern rein
Tatsachen erforschen ohne Rücksicht auf die Ergebnisse, zu denen
jene hinführen. Es gereicht mir zur Freude, festzustellen, daß
der Arbeitsplan dieses Ausschusses genau dem entsprach, den
ich am 21. Oktober 1903 in der Hauptversammlung des deutschen
Vereins gegen den Mißbrauch geistiger Getränke für die preußische
Alkohol-Landes-Kommission vorgeschlagen, ja, das Spinoza-Leitwort
„Humanus actiones non Videre, non lugere, neque detestari sed
intelligere“ entspricht ganz und gar obigen Zielen des Ausschusses;
letzterer besteht ferner ebenfalls aus vier Unterausschüssen: einem
ärztlich-physiologischen, einem wirtschaftspolitischen, einem gesetz¬
geberischen, einem sittlich-kulturellen. Der amerikanische Fünfziger-
Ausschuß setzt sich aus den ersten führenden Männern zusammen,
ich nenne nur Charles W. Eliot, den Präsidenten der Harvard-
Universität, James C. Carter, Professor der Colombia^Universität,
Caroll D. Wringht, Leiter des statistischen und Arbeitsamtes in
Washington, Seth Lo|w, früherer Oberbürgermeister von New York,
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Das Verhältnis von Trunksucht zu Armut und Verbrechen etc. 117
Henry W. Farnam, National-Ökonom und R. H. Chittenden,
Physiologen an der Universität Newhaven, Wm, H. Welch, Pro¬
fessor der John-Hopkins-Universität zu Baltimore, W. 0. Atwater,
den schon genannten Physiologen zu Middletown, Francis G.
Peabody, Theologen der Harvard-Universität, Boston (s. o. Anm. 2),
Jacob H. Schiff, Inhaber von Kuhn, Loeb & Co.-New York,
J. S. Billings, Lektor der Astor-Bibliothek zu New York, Bischof
H. C. Potter-New York u. a.; seine Zusammensetzung, sein Wirken
entspricht also etwa unserem deutschen Vereine gegen Mißbrauch
geistiger Getränke.
Von den Berichten sind bisher erschienen:
1. The Liquor Problem in its Legislative Aspects. By Frederic
H. Wines and John Koren. An Investigation made under the
Direction of Charles W. Eliot, Seth Low and James C. Carter,
Sub-Committee of the Committee of Fifty to Investigate the Liquor
Problem.
2. Economic Aspects of the Liquor Problem. By John Koren.
An Investigation made under the Direction of Professors W. 0.
Atwater, Henry W. Farnam, J. F. Jones, Doctors Z. R
Brockway, John Graham Brooks, E. R. L. Gould and Hon.
Caroll D. Wright, a Sub-Committee of the Committee of Fifty.
3. Substitutes for the Saloon. By Raymond Calkins. An
Investigation made for the Committee of Fifty under the direction
of Eigin R. S. Gould, Francis G. Peabody and William M.
Sloane, Sub-Committee.
4. The Physiological aspects of the Liquor Problem Edited by
John S. Billings, M. D. An Investigation made for the Committee
of Fifty under the direction of John S. Billings, W. 0. Atwater,
H. P. Bowditch, R. H. Chittenden, and W. H. Welch, Sub-
Committee. Zwei Bände.
Sämtlich erschienen bei Houghton Mifflin & Co., Boston
und New York, von 1897—1903.
In dem 2. Band, der die verbrecherische und die pauperistische
Seite der Trunksucht behandelt, spielen der Bericht des Bundes¬
arbeitsamtes zu Washington (12. Jahresbericht) sowie des
Arbeitsamtes des Staates Massachusetts, Hauptstadt
Boston, 26. Jahrgang, als Quellen eine große Rolle, beide
stammen von C. D. Wright (s. o.).
Als wichtig für ihre Untersuchung heben die Amerikaner
folgendes hervor:
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118
Dr. B. Laquer.
1. daß die Zahl der durchstudierten Fälle eine sehr große
ist, 2. daß die Varietät der Fälle in Armenhäusern, in Privatwohl-
tätigkeits-Anstalten von Bedeutung ist, 3. daß die Enquete sich auf
ein Riesenland erstreckt und auf sehr verschiedene Nationalitäten.
' John Koren hat zusammen mit einem Berufsstatistiker und
5 Zählern ein Jahr lang das Material bearbeitet Die Vertreter von
33 Charity-Organisationen, 11 Kinderhilfsgesellschaften, die Vor¬
steher von 60 Armenhäusern und 17 Besserungsanstalten haben
gratis oder halb umsonst mitgewirkt. Im Durchschnitt fanden sie,
daß 25% aller Verarmungsfälle und 37 % aller Armenhäusler durch
den Alkohol in diese Lage gekommen sind. Die Verfasser ver¬
weisen ganz besonders auf die Untersuchungen von Charles
Booth, des Gründers und Leiters der Heilsarmee, wie dies auch
Helenius in seiner Schrift „Die Alkoholfrage“, Jena 1903, tut Was
die Heilsarmee auch in Amerika zur Bekämpfung der Trunksucht
leistet, geht aus dem 3. Band der Berichte am deutlichsten hervor,
und soll einmal später erörtert werden. Stubbe-Kiel hat den
Anfang dazu gemacht im „Alkoholismus“ 3. Jahrg. S. 377. Den
Umfang des amerikanischen Alkohol-Kapitals schildern folgende
Zahlen: 1% des gesamten amerikanischen Mais, 11%% des Kornes,
40 V» % der Gerste wurden 1901/02 verwandt, um circa 1172 Mill.
Dollars (Detail-V erkaufspreis) in geistigen Getränken hervorzubringen,
davon 692 Mill. Bier, 390 Mill. Schnaps (Whisky), 90 Mill. Wein.
Das investierte Kapital betrug circa 1000 Mill. Dollars, das Total-
Einkommen des Bundes der Staaten, Städte und Grafschaften war 1896
183 Mill. Mark; 1903 waren (Laquer) 191000 selbständige Personen
und 241000 Angestellte beschäftigt, immerhin weniger Menschen als
in Deutschland (siehe die Guttstadtsche Zahl von 588000 Personen
(nur in Preußen) im „Klinischen Jahrbuch“, Band XH, Heft 3,
Jena 1904). Wie auch immer, sagen unsere amerikanischen Ge¬
währsmänner, der physiologische Einfluß des Alkohols sich ver¬
halte, in einem stimmt alle Welt überein, daß sein Mißbrauch die
Arbeitsfähigkeit mindert, und daß er zur Verarmung und zum Ver¬
brechen führt Die Amerikaner unterscheiden die Armut, gegen
die man in Armenhäusern wirkt oder auf privaten Wegen, und
die Vernachlässigung der Familien, gegen die man durch harte
Strafen und durch spezielle Fürsorge für die Kinder ankämpft. Auch
die Amerikaner betonen die Schwierigkeit, den Alkohol als alleinige
Ursache der Verarmung herauszuschälen. In den Fällen der Ver¬
nachlässigung von Kindern sind nicht weniger als 45 % der Fälle
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Das Verhältnis von Trunksucht zu Armut und Verbrechen etc. 119
auf den Trunk zurückzuführen. Die Superiorität des weiblichen
Geschlechts in Amerika, die Beobachtung, die wir persönlich in den
Großstädten an Sonntagabenden gemacht haben, in denen wir selten,
jedenfalls viel seltener als in England oder Schottland betrunkenen
Frauen begegneten, zeigt sich auch darin, daß in Armen¬
häusern 42 °/ 0 der Männer und nur 16 1 /, °/ 0 der Frauen durch
Trunk in diesen Zustand gekommen waren. Yon denen, die sich
an Privat-Wohltätigkeit um Hilfe wandten, waren 22,7% trunk¬
süchtige Männer, und nur 12,4% trunksüchtige Frauen. Von den
Völkerschaften, welche Hilfe in Anspruch nehmen, steigen die
Prozentsätze von den Deutschen über Skandinavier, Amerikaner,
Engländer, Kanadier und Schotten hinauf bis zu den Irländern.
Unter den Negern ist die Trinkgewohnheit augenscheinlich nicht so
vorwiegend, nur 9% Neger, die unterstützt wurden, waren trunk¬
süchtig; und ebenso waren nur 17% der Neger, die in Armen¬
häusern waren, Alkoholisten, im Vergleich mit 19% bezw. 33%
Weißen. Die Indianer kommen zwar in den Zahlen des Werkes
nicht vor, aber nach den Berichten der sogenannten Indian-Agents
(Bd. HI der obigen „Reports“) trinken sie mehr um sich zu be¬
rauschen, als aus geselligen Zwecken. Die Wirkungen des Alkohols
auf sie sind viel stärker und schlimmer, weil sie noch nicht durch¬
seucht und weil sie schon durch die Kultur an sich degeneriert
sind. Von den Beschäftigungen derer, die in Armenhäusern enden,
sind natürlich die Wirte mit 84% durch Trunk hineingekommen.
Dann folgen die Matrosen mit 58%, die Metzger mit 57%, die
Drucker-, Stahl- und Eisenarbeiter mit 55%, Köche und Kellner,
Maschinisten 50%, Arbeiter der Mühlen-Industrie 43 % und Land¬
arbeiter mit 33 %. Dieser im Vergleich zu uns geringe Prozentsatz der
Landarbeiter ist in meiner Schrift (Anm. 1) genauer erklärt worden.
45% der Insassen der Armenhäusler kommen in den Jahren zwi¬
schen 50 und 70 hinein; 45% der in Besserungsanstalten beher¬
bergten Kinder — im ganzen wurden circa 5000 untersucht —
verdanken dies der Unmäßigkeit ihrer Eltern. Die schlimmste
Phase der durch die Trunksucht hervorgerufenen Verarmung —
sagt Koren — stellt die Tatsache dar, daß unschuldige Personen
noch mehr leiden, als die schuldigen. —
Die Beziehungen des Alkoholismus zum Verbrechen gehören
zu den bestgekanntesten und durchsichtigsten Ursachen. Ebenso
wie die Verarmung aber Ursache und Folge der Trunksucht sein
kann, und wie der Alkohol unter den Verarmungsursachen cachiert
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120
Dr. B. Laquer.
auftreten kann, so kann der AJkoholismus in verschiedener Art das
Verbrechen beeinflussen. Das Delikt kann die unmittelbaren Folgen
des Trinkens darstellen, z. B. Verbrechen, die im Bausch begangen
werden. Es kann die mittelbare Ursache des Verbrechens sein,
indem ein normaler Mensch im Laufe der Trunksucht degeneriert
und zum Verbrecher wird. Endlich können die Kinder trunk¬
süchtiger Eltern als geborene Verbrecher, Landstreicher, Schwach¬
sinnige zur Welt kommen, wie dies besonders Bonhöffer 1 ) bei
uns beschrieben hat In Nordamerika, einem Lande, in welchem
die Zahl etwa so hoch eingeschätzt wird wie bei uns die Idee,
hat die rastlose und energische Bekämpfung der Trunksucht früh¬
zeitig auch die Statistik als Kampfmittel benutzt. Immerhin sind
die früheren Angaben aus den 60 er und 70 er Jahren mit
Vorsicht zu gebrauchen. Erst seitdem Wright, ein auch in
Deutschland geschätzter Volkswirt, an die Spitze erst des Arbeits¬
amtes von Massachusetts (1880) und später zur Leitung des Bundes¬
amts für Arbeit in Washington gelangte, kann die amerikanische
Statistik Anspruch machen, für objektiv gehalten zu werden. Die
Berichte des amerikanischen 50er Ausschusses, dessen 2. Band
Wright mit herausgab (s. o.), gehen von folgenden Grundfragen aus:
Hat irgend eine der folgenden Ursachen zu Bedingungen ge¬
führt, welche zum Verbrechen anregten? 1. Ungünstiges Milieu von
Geburt und Jugend, z. B. Vernachlässigung seitens der Eltern,
Mangel an Erziehung u. s. w. 2. Mangel an Anleitung zur Arbeit,
3. Unmäßigkeit, a) persönliche, b) elterliche, c) die der Kameraden.
Weitere Fragen, wie z. B. wann das Trinken beginnt, wann ge¬
wohnheitsmäßige Trunksucht festgestellt wurde, ob irgend eine tief
sitzende Krankheit folgte oder vorausging, wurde weggelassen. Es
erschien ferner zweckmäßig, die Untersuchung auf Staatsgefängnisse
und Besserungsanstalten zu beschränken, dagegen z. B. Armen- und
Arbeitshäuser wegzulassen. Durch persönliche Anfragen oder Briefe,
durch genaue Angaben, wie gefragt und gezählt werden sollte,
suchte man Irrtümer, die sich in Enqueten so leicht einschleichen,
zu vermeiden. 17 Gefängnisse in 12 Staaten mit 13402 Gefangenen
wurden der Statistik zu Grunde gelegt, 5 davon sind Besserungs¬
häuser für Erwachsene (Männer zwischen 16 und 30) und 12 sind
Staatsgefängnisse. Die amerikanischen Gefängnisse sind in letzter
Zeit von Dr. Aschrott 2 ) und O. Hintrager 3 ) (s. o.) geschildert
‘) Ztschr. f. d. ges. Strafrechts-Wissenschaft Bd. 28, 1902.
a ) Aus dem Straf- und Gefängniswesen Amerikas. Leipzig 1889.
*) Wie lebt und arbeitet man in U. St. Berlin 1904.
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Das Verhältnis von Trunksucht zu Armut und Verbrechen etc. 121
worden. Die Strafgefangenen Amerikas werden besser gepflegt,
haben mehr Komfort und mehr Freiheit als bei uns. Sie essen
täglich Fleisch, Brot, erhalten Kautabak und Zucker a discretion,
jede Woche ein Bad (für Jugendliche Schwimmbäder); Dampf¬
heizung, elektrisches Licht, Lüftung und Reinlichkeit entsprechen
etwa den „Ansprüchen“ eines Hotels 2. Ranges; Anstaltsbibliotheken
ohne Zensuren, eine Anzahl Briefkästen zum direkten Verkehr
mit den Anstaltsgeistlichen und Anstaltsleitern zum Zweck der
Kontrolle der Aufseher ergänzen dieses Bild. Wie auch auf
diesem Gebiete „unbegrenzte Unmöglichkeiten“ in Nord-Amerika zu
Hause sind, geht daraus hervor, daß eine Abteilung des ameri¬
kanischen Bundes abstinenter Frauen Gelder und Menschen dem
Zwecke widmet, sonntäglich Blumen an Gefangene zu verteilen.
Ein Zwang zum Kirchgang besteht übrigens in keiner Anstalt, wohl
aber finden sonntäglich Konzerte und weltliche Vorträge statt,
ebenso gelangt am Sonntag die Anstaltswochenzeitung zur Ver¬
teilung, die in der Anstaltsdruckerei von Gefangenen verfaßt und
gedruckt wird. Zu den moralischen Anregungsmitteln gehört unter
anderm ein kleiner „Eisenbahn-Fahrplan“, welcher die Gefangenen
in ihrer Zelle ganz besonders an die süße Freiheit erinnern soll. In
allen solchen Übertreibungen kommt der Kultus und die Überschätzung
der Erziehung, der man in Amerika so oft begegnet, zum Ausdruck.
Auch prägt sich der amerikanische Optimismus und jener dem jugend¬
lichen Geiste anhaftende Mangel an Skepsis darin aus. Hin träger
fügt hinzu, daß es eigentlich eine Lust sein müßte, in Amerika
Gefangener zu sein. In Massachusetts sollen sich wohltätige Damen
darüber beklagt haben, daß die Gefangenen in ihren Zellen keine
Schaukelstühle haben! Trotzdem sind die Gefängnisse nicht gesucht,
1. weil das Freiheits-Bewußtsein und der Geist der Selbstbetätigung
zu den wirklichen amerikanischen Idealen gehört, 2. weil die un¬
bestimmte Verurteilung und der bedingte Strafaufschub in ihrer
amerikanischen Ausführung eine Folter darstellen, die gerade auf
Minderbegabte wie ein fortwährender Druck lasten. Es würde zu
weit führen, dies im einzelnen auszuführen; ich verweise auf Hin-
tragers „Skizzen“.
Hervorzuheben ist folgendes: Die Zahl der in dem Jahre 1895
auf Probe gestellten, die also anstatt in Haft zu kommen nur
unter Polizeiaufsicht stehen, betrug 5427. Von diesen waren 4082
wegen Trunkenheit angeklagt, 340 wegen Diebstahl, 212 wegen
Körperverletzung, 110 wegen Vernachlässigung der Familie u. s. w.
Der Alkoholismue. 1905. 9
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122 Dr. B. Laquer. Das Verhältnis von Trunksucht zu Armut und Verbrechen etc.
1459 waren über 30 Jahre alt, 33 unter 10 Jahre alt, 1611 An¬
geklagte wurden auf Probe gestellt. In ihrem Eifer, die Trunk¬
sucht zu bekämpfen, brachte die Gefängnis-Gesellschaft von Massa¬
chusetts bald nach Einführung des Straf-Aufschub-Systems einen
Gesetzentwurf ein, wonach die Aufsichtsbeamten ganz besonders
den Trunksüchtigen nachzustellen hätten. Infolgedessen steht das
System fast ganz im Dienste der Bekämpfung der Trunksucht.
Große Erfolge hat Hintrager nicht gesehen. Als Endresultat der
Statistik gibt der Bericht an, daß Trunksucht oder Unmäßigkeit in
60%. von 13402 Verurteilten eine Verbrechensursache darstellt.
Diese Zahl ist ein ungefährer Ausdruck der Wahrheit Andere
Statistiken sind nicht vergleichbar mit dieser amerikanischen Zahl,
weil sie nicht auf genau denselben Grundlinien sich aufbauen.
Der 26. Jahresbericht des obengenannten Arbeits-Amtes des Staates
Mashachusetts (Hauptstadt: Boston) bringt dieselbe Durchschnittszahl
heraus. Über die einzelnen Faktoren, die Nationalitäten, über die
Art des Verbrechens berichten ebenfalls genaue Zahlen. Als
plastische Schilderung aus dem Leben der amerikanischen Ver¬
brecher und Landstreicher möchten wir zum Schluß das Werk von
J. Flint: „Tramping with the Tramps“ empfehlen, herausgegeben
von A. White, früherer amerikanischer Botschafter in Berlin, das
auch in deutscher Übersetzung unter dem Titel: „Auf der Fahrt
mit Landstreichern“ von Lili Du Boiy-Reymond, Berlin- 1904
erschien.
Was erhoffen wir von unserer Armee?
Von
Dr. med. Erich Flade.
Seit etwa zwei Jahrzehnten ist die Alkoholfrage von dem
nationalen und sozialen Fragebogen der Kulturstaaten nicht wieder
verschwunden. Ja sie wird mit jedem Jahre brennender, da die
immer gebieterischer sich aufdrängende soziale Frage zum großen
Teile mit dem Alkoholismus zusammenhängt und die erfolgreiche
Bekämpfung des letzteren zugleich die erstere ihrer Lösung näher
zu führen und damit die nationale Wohlfahrt zu fördern verspricht
Auf jenem allgemeinen Gebiet wie in Erfüllung dieser Sonder-
D ^ ^ Gougle
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Was erhoffen wir von unserer Armee?
123
aufgabe kommen wir deshalb nur so langsam vorwärts, weil die
Überzeugung von der Notwendigkeit, ihr Wesen und ihre Ziele
zu erkennen und selbst mitzuarbeiten in irgend einer Abteilung
des gewaltigen Werkes, noch so wenig in unsere gebildeten Kreise
gedrungen ist. Und wiederum sind die Gesellschaftsschichten und
die Berufsklassen an erster Stelle verpflichtet, an der Minderung des
Alkoholismus mitzuarbeiten, auf deren Schultern die hauptsäch¬
lichste Verantwortung für Gedeihen und Bestand unseres Staates
ruht Zu ihnen zählen wir vorzugsweise den Soldatenstand
in seinen verschiedenen Rangstufen mit dem Offiziersstand an der
Spitze.
Das deutsche Offizierkorps ist das gebildetste unter denen
aller modernen Heere. Dementsprechend und rücksichtlich der
Gesellschaftskreise, aus denen es hervorgeht, nimmt es eine
der bevorzugtesten Stellungen ein. Solche Auszeichnung ver¬
pflichtet wiederum unsere Offiziere, durch allgemeine Bildungs¬
bestrebungen und durch Kenntnisnahme außerhalb ihrer engeren
Berufsinteressen liegender Zustände und Verhältnisse sich auch
über alle wichtigen, nicht direkt auf militärischem Gebiete liegen¬
den Zeit- und Kulturfragen auf dem Laufenden zu erhalten, um
so mehr aber sie zu studieren, wenn solche Fragen aus
dem gesamten Volksleben hinüber in das Militärleben
greifen und die bei einem auf allgemeiner Wehrpflicht beruhenden
Volksheere unausbleiblichen Wechselwirkungen und Gefahren zeitigen,
deren rechtzeitige und tatkräftige Abwendung zu einer wichtigen
Lebensbedingung der Armee bezw. Marine wird.
Wenn unsere Volksseuchen — und zu ihnen muß man neben
Tuberkulose und Syphilis den Alkoholismus an erster Stelle rechnen
— im Soldatenstande nicht mit der gleichen Heftigkeit und nicht
so ausgebreitet verlaufen, wie in der Civilbevölkerung, so liegt
das an teilweise ausgezeichneten Lebensbedingungen, unter denen
der aktive Soldat steht Luft, Licht, Ernährung, Regelmäßigkeit
und Muskelarbeit im Dienste verhindern die Einwirkung von aller¬
hand Gelegenheiten, Krankheiten oder auch einer Volksseuche, wie
dem Gewohnheitstrunk, zu verfallen. Nebenher verbietet die Dis¬
ziplin jedenfalls häufigere und schlimmere Ausschreitungen im
Trünke und nebenher das Bewußtsein, daß Trunkenheit im Dienst
scharfe Bestrafung erwirkt und die militärischen Vergehen, wofern
sie im Rausche verübt wurden, der Zubilligung der bekannten „mil¬
dernden Umstände“ sich nicht erfreuen. Immerhin ist die Zahl
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124
Dr. med. Erich Flade.
der unter Alkoholeinwirkung auch im aktiven Heere ver¬
übten Vergehen noch nicht so klein, daß es nicht jedes Soldaten¬
freundes lebhafter Wunsch sein müßte, sie auf das geringste Maß
beschränkt zu sehen. Sind es doch zumeist an sich ganz brave
Soldaten, welche in der Alkoholerregung sich zu den be¬
kannten Affektverbrechen hinreißen lassen, deren schwere Ahn¬
dung sie nur zu oft fürs ganze Leben schädigt. Die Fälle von
achtungswidrigem Benehmen gegen den Vorgesetzten, Ungehorsam,
tätlichem Widerstand, Aufwiegelung u. s. w. sind häufig genug
direkte Folgen einer in der Kantine verbrachten „feuchten“ Stunde
oder einer außerhalb der Kaserne gehabten Kneiperei. Auch der
Mißbrauch der Dienstgewalt seitens Vorgesetzter dürfte um so seltener
werden, je seltener jeder Genuß von geistigen Getränken in den
Dienstpausen, beim Mittagsmahl u. s. w. geübt wird. Leicht erreg¬
bare Naturen reagieren ja bekanntlich auch auf geringe Alkohol¬
mengen nur allzu leicht. So liegt es im beiderseitigen Inter¬
esse, in dem der Vorgesetzten wie der Untergebenen,
sich frei zu halten vom Alkoholgenuß zum mindesten bis
nach beendetem Tagesdienst Daß aber auch der gelegentliche
abendliche Trunk in recht bescheidenen Grenzen bleiben möchte,
das erfordern die bekannten Feststellungen Kraepelins über die
noch den kommenden Tag über fortwirkenden lähmenden Eigen¬
schaften schon nicht allzu großer Alkoholmengen. Nur ein alkohol¬
freies Hirn vermag sich fern zu halten von Übereilungen und Mi߬
griffen, vermag die am Morgen gestellte Übung tadellos zu erledigen,
und der Körper wird nur zu leicht schlapp gegenüber herantreten¬
den Strapazen, wenn am Abend vorher getrunken oder gar früh
schon wieder Alkohol genommen wurde.
Es ist unnötig, des näheren darauf einzugehen, von welcher Be¬
deutung für unsere Truppenführer es ist, vollkommen klar über die
Einwirkungen des Alkohols auf unsere geistigen Fähigkeiten und
Tätigkeiten zu sein. Der verantwortungsvolle Posten des Befehlshabers
bei den Friedensübungen wie insonderheit im Kriege erfordert eine
so scharfe Anspannung des Verstandes, eine so andauernde und nicht
ermüdende Verfügung über die erworbenen strategischen Kennt¬
nisse, ein so sicheres Dispositionsvermögen je nach der beständig
und oft blitzschnell sich ändernden Gefechtslage, daß nur diese un¬
entbehrlichen Führereigenschaften besitzende Offiziere ihrer Auf¬
gabe gerecht werden können. Dies bedingt, da der tägliche
Alkoholgenuß solche Geisteskraft nicht aufkommen läßt
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und noch weniger sie zu erhalten vermag, strengste
Mäßigkeit oder Enthaltung von geistigen Getränken.
Je weniger weiterhin die unterstehenden Offiziere trinken, je
nüchterner Unteroffiziere und Mannschaften sind, desto zuverlässiger
arbeitet der ganze dem höheren Führer folgende Apparat Und
das tadellose Ineinandergreifen der kleineren und kleinsten Glieder
des ganzen Betriebes bleibt die Vorbedingung des Erfolges. Man
denke nur an die unbedingte Notwendigkeit eines peinlich zuver¬
lässigen Aufklärungs- und Meldedienstes, der eine vollkommen klare
Beobachtungsgabe und schnellste, genaue Berichterstattung erfordert,
man denke an die furchtbare Anspannung und Aufregung einer
modernen Schlacht: eiserne Ruhe, strengste Feuerdisziplin mit der
entsprechenden Treffsicherheit, treueste Pflichterfüllung, sofortige
Ausführung gegebener Befehle, Ausharren in kritischer Lage, das
alles verlangt Führer und Mannschaften von unversehrtem Geistes¬
zustände. Und bekanntlich sind gerade diejenigen Fähigkeiten und
Eigenschaften vorwiegend Angriffspunkte des gewohnheitsmäßigen
Alkoholgenusses, die den Wert des Soldaten machen: Wahrheit
und Zuverlässigkeit, Energie des Denkens und Handelns, klares
Urteilsvermögen und entsprechend selbständiges Vorgehen, kurz
alle die Kennzeichen, welche wir an einem Charakter rühmen.
Daß dem andererseits eine der ersten soldatischen Tugenden, die
Disziplin, das sich Unterordnen und Einordnen unter das große
Ganze sich zugesellen muß und auch dieses Gemeingut eines
sicheren Heeres nur bei einer durchaus nüchternen Lebensweise
zu erhalten ist, bedarf nicht besonderer Erörterung.
Es ist bekannt, daß die Statistiken über die militärischen Ver¬
gehen und Bestrafungen überall da, wo man abstinente Truppen¬
teile mit Alkohol genießenden Abteilungen verglichen hat, wesent¬
lich zu Gunsten der ersteren ausgefallen sind. So sagt eine Zu¬
sammenstellung aus den Berichten der englisch-indischen Armee,
daß im Jahre 1893 unter den mit Todesstrafe belegten Verbrechern
ein Enthaltsamer sich nicht fand, daß unter 2608 kriegsgerichtlich
Abgeurteilten nur 73 Enthaltsame waren, über zehnmal weniger,
als nach ihrer Zahl im Heer zu erwarten war. Fast alle bekannten
englischen Heerführer der letzten Jahrzehnte haben, der vollen
Tragweite ihrer Anordnungen bewußt, geistige Getränke aus ihrem
Kommandobereich zu verdrängen verstanden und damit die besten
Erfolge erzielt.
Die eiserne Antialkoholdisziplin Lord Kitcheners im
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126
Dr. med. Erich Flade.
Sudanfeldzug, von welcher die Kriegsberichterstatter zu erzählen
wußten, fand ihre nachträgliche Bestätigung durch Rittmeister
von Tiedemann in einem vor der Berliner militärischen Gesell¬
schaft am 28. Oktober 1903 gehaltenen und im Beiheft 1/2 zum
Militärwochenblatt 1904 zum Abdruck gebrachten Vortrag:
(S. 32.) „Sehr wohltätig erwies sich auch das strenge Verbot,
Spirituosen irgend einer Art an Soldaten zu verkaufen, welches
mit großer Rigorosität durchgeführt wurde. So ließ der Sirdar (Lord
Kitchener), als im Mai 1898 ein Grieche jüdischer Konfession wider
besseres Wissen eine Kamelladung Whisky ins Atbaralager ge¬
schmuggelt hatte, die Fässer einfach zerschlagen und den köstlichen
Inhalt in den Wüstensand laufen.
Die Verpflegung der britischen Truppen war im übrigen gerade¬
zu hervorragend. Drei tüchtige Mahlzeiten am Tage, dazu Tee
oder filtriertes und abgekochtes Wasser in beliebigen Mengen.“
In der Kriminalstatistik für das deutsche Heer und die
Kaiserliche Marine (Vierteljahrshefte zur Statistik des Deutschen
Reiches) wird seit einigen Jahren auf den Trunk besonders Bezug
genommen. Natürlich treten hier nur die schwereren Fälle von
Rausch oder „Starkangetrunkensein“ in Erscheinung, welche „straf¬
bare Handlungen gegen militärische Unterordnung“ zur Folge
hatten. Es zählt die Zusammenstellung für 1902 deren 387 auf
das Gouvernement Berlin, das Gardekorps und 22 Armeekorps.
Am stärksten belastet sind das I., VT. und XVn. Korps mit 42, 33
und 31 Fällen; 1903 wurden 339 strafbare Handlungen gezählt
gegen militärische Unterordnung in trunkenem Zustande verübt,
die meisten kommen hier auf das V. Korps (35), das VH. (33) und
das XV. (23). Von Trunkenheit im Dienst finden wir im Jahre 1902
nur 21, im Jahre 1903 nur 16 Fälle. In der Kaiserlichen Marine
wurden 1902 im ganzen 60, 1903 aber nur 43 Bestrafungen für
Vergehen unter Alkoholeinfluß verhängt. Wenn man nun auch
öhne weiteres mit Genugtuung feststellen darf, daß dieses Ergebnis
an sich als ein durchaus günstiges und unseren Soldatenstand
ehrendes bezeichnet werden kann, so wird doch jeder Vaterlands¬
freund dringend wünschen, daß die Zahl der infolge übermäßigen
Alkoholgenusses verübter Vergehen eine noch viel geringere werde,
denn die ihnen folgenden Bestrafungen und die damit verbundene
weitere Belastung des betreffenden Mannes sind nur zu schwer
und verhängnisvoll, da sie oft genug auch für die künftige Zivil¬
stellung hinderlich werden. So gehen häufig nicht die schlechtesten
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Was erhoffen wir von unserer Armee?
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Elemente, ja in der Mehrzahl an sich sehr brauchbare Soldaten,
dem Heere und dem Vaterlande verloren — lediglich infolge von
Alkoholmißbrauch. Ob und inwieweit die oben erwähnten, genau
so wie im Civil, vorwiegend unter der erregenden und andererseits
das ruhige Urteil, Besonnenheit und Pflichtgefühl lähmenden
Wirkung des Alkoholgenusses zu stände kommenden Vergehen mit
der Größe des Alkoholkonsums, namentlich des Branntweingenusses,
in den einzelnen Korps Zusammenhängen, wie sich weiterhin das
Verhältnis der Anzahl und Schwere der nicht unter Alkoholeinfluß
begangenen zu den alkoholischen Vergehen gestaltet, das festzustellen,
würde eine wertvolle Aufgabe und namentlich für die aburteilenden
und strafenden militärischen Behörden bedeutungsvoll und lehrreich
sein. Es steht mir eine Mitteilung aus dem Landheere darüber
nicht zur Verfügung. Nach Bericht aus der Marine lag seit dem
Jahre 1904 Trunksucht zu Grunde
bei ordnungswidrigem Betragen in 24,2 °/ 0 der Fälle,
„ Aufwiegelung
„ 33,3 °/ 0 „ „
„ Ungehorsam
„ 35,3 °/ 0 „ „
„ tätlichem Angriff
„ 75,4 °/ 0 „ „
„ Militär-Aufruhr
„ 88,2 °/ 0 „ „
Aber auch diese und etwaige in gleicher Weise bewirkte
Aufstellungen werden insoweit ungenügend sein, als mit großer
Wahrscheinlichkeit alle die leichteren Fälle fehlen, in denen wirk¬
liche Trunksucht nicht vorlag, wohl aber der sogenannte „an¬
geheiterte Zustand“, unter dessen Einfluß gewiß eine ganz erheb¬
liche Reihe von Vergehen geringeren Maßes sich ereignen; oder
auch es werden Verurteilungen zu stände kommen, welche ohne
ausreichende Berücksichtigung eines infolge Alkoholgenusses her¬
vorgerufenen Erregungs- oder Lähmungsstadiums viel zu hart oder
überhaupt unberechtigt erscheinen, weil man lediglich die stärkere
Alkoholisierung, den Rauschzustand, ausschloß. Nun bedarf es
eines solchen aber bei vielen, namentlich mit einem
sensiblen Nervensystem behafteten Individuen keines¬
wegs, um Worte oder Handlungen auszulösen, deren sie
nicht fähig gewesen wären in alkoholfreiem Zustande.
Es sind ja hierzu oft nur Alkoholdosen nötig, die im allgemeinen
und vom Nicht-Sachverständigen als überhaupt nicht in Frage
kommend in Betracht gezogen werden. Um so notwendiger er¬
scheint im Interesse des einzelnen Mannes selbst wie der Disziplin
die äußerste Zurückhaltung des Militärs gegenüber dem Genuß
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Dr. med. Erich Flade.
geistiger Getränke, der das einzelne Glied des Ganzen so außer¬
ordentlich schnell und viel leichter noch als im Civilleben in ver¬
hängnisvolle Zusammenstöße mit der jederzeit unerläßlichen Ord¬
nung und Zucht bringen kann.
Einer besonderen Begründung und eingehenden Erörterung
der Tatsache, daß je geringer der Alkoholgenuß in einer Truppe,
desto besser auch ihr Gesundheitszustand ist, bedarf es nicht
Die mit den Erfahrungen der Praxis voll übereinstimmenden Er¬
hebungen und Veröffentlichungen der hervorragendsten Vertreter
der Heilkunde und Gesundheitslehre sind darüber einig, daß der
Organismus um so gesunder, um so widerstandsfähiger bleibt, je
alkoholfreier er gehalten wird, und darüber, daß auch verhältnis¬
mäßig kleine Alkoholgaben, wenn sie täglich einverleibt werden,
von schädlichem Einfluß auf unsere lebenswichtigen Organe werden.
Dem entsprechend stehen über enthaltsame Offiziere und Mann¬
schaften verfügende Truppenteile auch hinsichtlich ihres Gesund¬
heitszustandes am günstigsten da, natürlich hiermit zugleich auch
in ihrer Leistungsfähigkeit Aus dieser Erkenntnis heraus haben
schon vor vielen Jahrzehnten englische Führer ihren unterstellten
Truppen keinen Alkohol zuführen lassen, hat der französische
General Gallieni seine ebenfalls in den Tropenkolonien fechtenden
Truppen nach Möglichkeit vom Genuß geistiger Getränke fern-
gehalten. Und wenn Graf Haeseler selbst mit dem eigenen Bei¬
spiel enthaltsamer Lebensweise Offizieren und Gemeinen voranging,
so geschah das in beiderseitigem Interesse, in dem der Disziplin
wie Gesundheit, und somit zur Förderung der Felddienstfähigkeit
und Schlagfertigkeit der auf dem verantwortungsvollsten Posten
stehenden Kontingente unseres Heeres.
Es ist lehrreich und bedeutungsvoll, daß die Lazarettberichte
über die indischen Heeresteile ausnahmslos zu Gunsten der ent¬
haltsam lebenden Mannschaften lauten. Von dem keinen Alkohol¬
genuß pflegenden Drittel sind im Jahrgang 1885/86 der Aufnahme
in die Lazarette bedürftig gewesen nur 1,81 °/ 0 , von den Nicht¬
enthaltsamen aber 8,8 %. Bei diesen wird die Sterblichkeit mit
9,5 °/ 0 , bei jenen mit nur 2,7 °/ 0 angegeben. Im Jahre 1894 sollen
die Abstinenten 5,5 °/ 0 , die Nichtabstinenten 10 °/ 0 , im Jahre 1895
diese 12, jene 6,6 °/ 0 ihres Bestandes an die Lazarette abgegeben
haben.
Nur angedeutet möge sein, daß abstinente Offiziere und Soldaten
die besten Kräfte stellen würden auch für den Dienst in den
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Was erhoffen wir von unserer Armee?
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deutschen Kolonien, der Jahr um Jahr erhöhte Anforderungen
stellen wird. Über die außerordentliche Gefahr, die gerade in den
Tropen jeder Alkoholgenuß bedeutet, und die Tatsache, daß abstinent
zu leben gewohnte Leute auch dort besonders widerstandsfähig
sich erweisen, sind sich alle Tropenkenner einig, ebenso darüber,
daß am ehesten die Europäer dort zu Grunde gehen, die ohne
Alkohol nicht leben konnten und auch dort nicht leben zu
können glauben.
Insofern hat nun die Armee erzieherisch keine leichte Aufgabe
zu erfüllen, als eine nicht geringe Zahl der Mannschaften
schon mehr oder weniger alkoholisiert eingestellt werden.
Es sind das zum Teil dieselben Leute, welche nicht nur während
ihrer Dienstzeit so leicht direktionslos werden und zu Exzessen
neigen, sondern auch nach ihrer Dienstzeit, wenn sie in die alten
Trinkunsitten zurückfallen, behaupten, sie hätten sich das Trinken
beim Militär angewöhnt, während sie doch als ganz ansehnliche
Gewohnheitstrinker bereits alsbald nach ihrem Eintritt bekannt
wurden. Ein Teil dieser an regelmäßigen Trunk gewöhnten
Rekruten muß aber — der Qualität der Truppe gewiß zum Vorteil
— als unbrauchbar wieder entlassen werden.
Im Sanitätsbericht über die kgl. preußische, kgl. sächsische
und kgl. württembergische Armee für den Zeitraum vom 1. Ok¬
tober 1898—30. September 1899 lesen wir, daß die Entlassungen
wegen Dienstunbrauchbarkeit, bedingt namentlich durch
Herzmuskelerkrankungen, welche erst im Dienste hervortreten und
meist früherem übermäßigem Biergenuß ihre Entstehung verdanken,
von 3964 im Vorjahre auf 6601 (d. i. von 7,7 auf 12,9 °/ 00 )
gestiegen sind.
Wie der Sanitätsbericht der deutschen Marine für 1899/1901
(Berlin 1903) und 1901/1902 (Berlin 1904) S. 27 ergibt, betrug
die Zahl der Entlassungen infolge von Herzleiden auf 1000 Mann
der Kopfstärke:
1891/93 1893/95 1895 1897/99 1899/1901 1901/02
wegen Dienst¬
unbrauchbarkeit 2,9 4,3 7,1 11,6 8,7 11,7
als Ganzinvalide 1,8 2,8 5,0 5,72 5,7 7,92
Die Zahl der Entlassungen im Verhältnis zur Kopfstärke hat
sich also in 10 Jahren mehr als vervierfacht. Es gilt in Fach¬
kreisen als sicher, daß daran vorzugsweise die ungeheure Steigerung
des Bierkonsums in den letzten 20 Jahren schuld hat
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Dr. med. Erich Flade.
Natürlich kommen neben den Herzleiden noch eine ganze
Reihe anderer durch Mißbrauch geistiger Getränke hervorgerufene
oder verschlimmerte Krankheitszustände als Entlassungsgrund oder
auch als Ursache späterer wiederholter Erkrankungen (Rheumatismus,
Neuritis, Magendarmleiden u. s. w.) in Betracht Eins bleibt gewiß:
je weniger dem Soldaten Gelegenheit zum Genüsse alkoholischer
Getränke geboten, je billiger ihm andererseits alkoholfreie Getränke
zur Verfügung gestellt werden, desto gesünder werden die Truppen,
desto leerer die Revierstuben und Lazarette sein.
Bemerkenswert ist eine Zusammenstellung Baers über die
Beziehungen zwischen der Zahl der Trinkgelegenheiten und der
als dienstuntauglich beurteilten Rekruten. Nach ihr belief sich
die Zahl der Untauglichen im
Reg.-Bez. Königsberg auf 40,5 % bei einer Schankstätte auf 284 Ew.
55
Bromberg
55
63,3 o/ 0 „
55
55
55
221
55
55
Berlin
55
64,8 X „
55
55
55
200
55
55
Magdeburg
55
76 % „
V
55
55
178
55
55
Münster
55
94,9 °/ 0 „
55
55
55
146
55
55
Arnsberg
55
10,3 o/o „
55
55
55
154
55
55
Koblenz
55
12,5 0/ 0 „
55
55
55
137
55
Es wäre außerordentlich interessant, wenn festgestellt werden
könnte, ob durchgehend überall da, wo der Alkoholkonsum und
namentlich der Schnapsgenuß der Bevölkerung ein besonders
hoher ist, auch der Heeresersatz ein minderwertiger, insbesondere
ein schlechterer ist, als in Gegenden, wo das Publikum weniger
hoch in der Tranksteuer steht. Haben die Ersatzbehörden rück¬
sichtlich ungünstiger Wohnungs-, Emährungs- und Arbeitsbe¬
dingungen in gewissen Landesteilen und Industriezentren an und
für sich schon mit weniger tüchtigen Leuten zu rechnen, so muß
die Tatsache der Entartung der Bevölkerung durch
Alkoholmißbrauch und der bekannten verhängnisvollen
"Wirkung des Trunkes auf die Nachkommenschaft zu
ernstesten Besorgnissen für die Zukunft unserer Wehr¬
fähigkeit Anlaß geben. Der viel besprochene — übrigens wohl
schon wieder im Rückgang befindliche — Geburtenüberschuß in
Deutschland vermag uns keineswegs auf die Dauer stark zu er¬
halten, wenn die am Leben bleibenden Kinder geistig und körper¬
lich nicht vollkommen und späterhin eben nicht diensttauglich
befunden werden. Damit aber haben wir zu rechnen, solange die
Väter gewohnheitsmäßig trinken, auch die Mütter sich nicht
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Was erhoffen wir von unserer Armee?
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alkoholfrei halten, und man noch Kindern geistige Getränke zu
verabreichen pflegt, trotz aller Warnungen vor dem gerade für
den kindlichen Organismus nur allzu gefährlichen Alkoholgift
Hierbei möge der bedeutungsvolle Zusammenhang zwischen Alkohol¬
genuß und Stillungsvermögen der Mütter nicht unerwähnt bleiben,
dessen Erörterung wir den fleißigen Zusammenstellungen von
Bunges verdanken, v. Bunge hat wohl schon jetzt unwiderlegbar
nachgewiesen, daß die Tochter eines Trinkers nicht oder nur selten
stillen kann, daß aber die Fähigkeit, die Kinder zu nähren, damit
fast ausnahmslos für die kommenden Generationen erloschen ist.
Daß aber das Nachlassen des Stillungsvermögens im Verein mit
der — zum großen Teil damit zusammenhängenden — Säuglings¬
sterblichkeit eine schwere Gefahr für unsere Volkskraft und
Volksgesundheit und so eine beständig zunehmende Minderung
unserer Wehrkraft bedeuten, ist weiterhin eine Tatsache, die das
Interesse unserer Militärbehörden noch in weit höherem Maße als
bisher verdient rücksichtlich der oben erwähnten von Bunge sehen
Veröffentlichungen. Auch hier soll man keineswegs nur an die
lediglich von der öffentlichen Meinung als „Trinker“ bezeichneten
Alkoholiker denken. Wie jeder gewohnheitsmäßig geistige Getränke
zu sich nehmende Mann seinen Organismus und damit unaus¬
bleiblich auch den seiner Nachkommen schädigt, so verschulden
jene künftige Stillungsunfähigkeit ihrer Töchter auch Tausende
unserer Mitbürger, die einer täglichen Aufnahme von Alkohol in
größeren Mengen huldigen, ohne etwa als „Trinker“ im landläufigen
Sinne bezeichnet werden zu können.
Daß wie im ganzen Volke, so auch im Heere und in der
Marine eine gewaltige Aufklärungsarbeit über Wesen und Ge¬
fahren des Mißbrauchs geistiger Getränke einsetzen muß, wenn nicht
die Armee Schaden an Gesundheit, Kraft, Moral und Disziplin er¬
leiden soll, ist einleuchtend. Wir bedürfen dazu einfach und ver¬
ständlich geschriebener, möglichst dem Soldatenleben angepaßter
Schriftchen. Die mir bekannten auf den Gegenstand Bezug nehmen¬
den Arbeiten erscheinen mir nicht recht geeignet und nicht für den
Zweck hinreichend. („Die Trinksitten im Heere.“ Eine Ansprache an
die Offiziersfrauen von einem Kavallerieoffizier a. D. — 0. V. Böhmert,
Dresden 1900. „Gibt es auch für die deutsche Armee eine Alkohol¬
frage?“ Mäßigkeitsverlag, Berlin N.W. Fasanenstraße 59; und „Die Er¬
höhung der Kriegstüchtigkeit eines Heeres durch Enthaltung vom Al¬
kohol“ vom Oberstabsarzt Matthaei. O. V. Böhmert, Dresden 1901.)
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Dr. med. Erich Flade.
Um unter den Mannschaften erst einmal nur die Grundgedanken
über den Alkoholismus zu verbreiten, dürfte vielleicht die kleine
Schrift von H. Schindler „Was sollst du vom Bier und Brannt¬
wein wissen?“ (Geschäftsstelle des Sächsichen Landesverbandes
gegen den Mißbrauch geistiger Getränke. Dresden, 1903) empfehlens¬
wert sein. Ein passendes Soldatenscbriftchen wird sich mit der
Zeit dann schon finden, zumal wenn das Offizierskorps der Sache
tatkräftig sich annehmen wird. Und daß dies kommen muß, erscheint
mir bei dem Bildungsgrad des deutschen Offiziers und dem aus¬
gezeichneten Bestände an schriftstellerischen Kräften, über die es
verfügt, gewiß. Den Offizierkorps möchten zunächst die her¬
vorragendsten Veröffentlichungen der letzten Jahre, die im allge¬
meinen und für Gebildete passend das Gesamtgebiet des Alkoholis¬
mus umfassen, zum ernsten Studium empfohlen werden. Es mögen
nur die Arbeiten von Delbrück „Hygiene des Alkoholismus“,
von Hoppe, „Die Tatsachen über den Alkohol“ und „Die Alkohol¬
frage“ von Helenius hier erwähnt sein. Diese bedeutenden Werke
gehören in alle Offiziersbüchereien. Kleinere volkstümlich und
gemeinverständlich geschriebene Schriften, die sich frei halten von
Übertreibungen und Überschwenglichkeiten wie auch frei vom
pharisäischen und moralisierenden Tone, müssen den Büchereien
der Unteroffizierkorps und Mannschaften einverleibt werden.
Den Mäßigkeits- und Enthaltsamkeitsvereinen aber sollte die Ver¬
breitung ihrer Schriften und Flugblätter im Bereiche der den ein¬
zelnen Verbänden nahe stehenden Truppenteile nach Möglichkeit
erlaubt werden. Hiermit sind kleinere Anfänge bereits gemacht
worden. So haben eine Reihe von Offizierkorps seitens des „Sächsi¬
schen Landesverbandes gegen den Mißbrauch geistiger Getränke“
die oben erwähnte Matthaeische Schrift entgegen genommen,
während die Versendung des Flugblattes „Die Alkoholfrage als
Standesfrage der Offiziere“ an die Offizierkorps des XH. (1. KgL
Sächs.) Korps erlaubt wurde. Verschiedenen Büchereien von Linien¬
schiffen und Seemannshäusern hat der Kieler Bezirksverein
gegen den Mißbrauch geistiger Getränke Mäßigkeitsliteratur geschenkt
Besser noch, als das gedruckte, wirkt oft das gesprochene Wort
So wäre lebhaft zu wünschen, daß recht oft und im ganzen Bereiche
des Heeres und der Marine die seit längerer Zeit eingeführten Vor¬
träge vor den Mannschaften und vor den Offizierkorps weit mehr
als bisher, also nicht mehr mit verschwindenden Ausnahmen mit
der Alkoholfrage sich befaßten. Von vornherein erscheinen die
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Was erhoffen wir von Unserer Armee?
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Militärärzte die gegebenen Redner für das Alkoholthema. Dürften
diese aber vom gesundheitlichen Standpunkte aus im wesentlichen
ihre Ausführungen geben, so möchten die Beziehungen zwischen
Dienstbetrieb und Alkoholgenuß mit noch besserem Erfolge von
wohl unterrichteten und redegewandten Offizieren geschildert und
die daraus für den Soldaten sich von selbst ergebenden Folgerungen
gezogen werden. In von den älteren für jüngere Offiziere gehal¬
tenen Kursen, in den Instruktionsstunden der Mannschaften
muß der Alkoholfrage als einer der vornehmsten militärhygienischen
Fragen die gebührende Besprechung wieder und wieder zu teil werden.
Die Militärbildungsanstalten (Kadettenhäuser, Kriegsschulen etc.)
sollten von ihren ausgezeichneten Lehrkräften fordern, daß im Unter¬
richt der Bedeutung der Mäßigkeit oder Enthaltsamkeit für den
Soldaten und Offizier eine andauernde Berücksichtigung geschenkt
würde. Mehr noch aber als Schriften und Worte wirkt bekanntlich
das eigene Beispiel. Ja, jene werden nichts fruchten, wo und
wenn die Vorgesetzten den Untergebenen nicht mit einem vorbild¬
lichen, nüchternen Leben vorangehen. Ist der Regimentskommandeur
als mäßiger oder enthaltsam lebender Offizier bekannt, geht der
Kompagniechef seinen Leuten auch hinsichtlich des Trunkes mit
strenger Selbstzucht voran, so ist der auch hieraus sich ergebende
Geist in den Truppenteilen ein dementsprechender. Solches Bei¬
spiel der Offiziere scheint mir von unendlichem Werte zu sein.
Er ist mitbestimmend für die Tüchtigkeit und Schlagfertigkeit der
untergeordneten Mannschaften. Er hebt aber ohne weiteres das
gesamte Offizierkorps ganz gewaltig in seinem inneren Werte, in
seinem Zusammenhalt, in seiner körperlichen und geistigen Tüchtig¬
keit und selbstverständlich gegenüber den die Vorgänge in ihm
recht scharf beobachtenden Untergebenen. Dem möglichst alkohol¬
freien Leben in den Kasinos muß eine streng mäßige Lebensweise
im eigenen Hause der verheirateten Offiziere entsprechen. „Ein¬
fachheit und Anspruchslosigkeit im täglichen Leben“ werden, wie
es in einer Ansprache Sr. Majestät des Kaisers hieß, gerade auch
hinsichtlich des Verbrauchs und der Ausgaben für geistige Getränke
ein Prüfetein für den alten soliden Geist im deutschen Offizierskorps
bleiben. Und solche Einfachheit sollte auch fest bestehen gegen¬
über unberechtigten Anforderungen, die an unsere Offiziere gestellt
werden, wenn sie Gäste bei sich sehen. Hier heißt es auch bei
denen, die an sich „mitmachen“ könnten, nieht mitmachen „wollen!“
Natürlich ist mir wohlbekannt, daß auch im deutschen Offizier-
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Dr. med. Erich Flade.
korps die Mäßigkeitsbewegung im Wachsen, ja die Zahl der Ab¬
stinenten in Zunahme begriffen ist Generalarzt Dr. Leitenstorfer
schreibt im Militär-Wochenblatt (1903, Nr. 99):
„Es gibt unter den jüngeren Offizieren viele, welche aus Prin¬
zip alkoholabstinent sind, noch mehr solche, welche Mäßigkeit
üben, und es ist als großer Fortschritt zu betrachten, daß sie nicht
nur nicht Gegenstand des Mitleids oder der Verachtung bei den
Kameraden sind, wie es früher der Fall war, sondern daß man sie
gewähren läßt, und daß auch ältere Vorgesetzte, die diese Prinzipien
nicht ihr eigen nennen, solche junge Offiziere zu schätzen wissen.
In dieser Beziehung ist die Erziehung in der Familie von großem
Einfluß auf das junge Offiziersgeschlecht; umgekehrt brauchen die
Eltern, die ihren Sohn in den Grundsätzen der Abstinenz erzogen
haben, nicht vor seinem Abgang zum Regiment als Konzession an
die Trinksitten der Offiziere ihn noch schnell an Alkohol gewöhnen.
Er wird als Abstinenter seine Bahn gehen und Schule machen.“
Wenn es aber dem gesamten deutschen Offizierkorps
Vorbehalten sein sollte, Trinkzwang und Trinkunsitten
allen voran aus den führenden und damit vorwiegend
verantwortlichen Gesellschaftskreisen zu verbannen und
durch eigenes Beispiel hinsichtlich des gewohnheits¬
mäßigen Genusses geistiger Getränke einen vollen Um¬
schwung herbeizuführen, so würde das zu den glänzend¬
sten Ruhmesblättern seiner Geschichte zählen und von
unermeßlichem Werte für das Vaterland sein.
Haben sich unsere Offiziere und namentlich die höheren Kom¬
mandostellen in der geforderten Weise über die außerordent¬
liche Bedeutung der Alkoholfrage auch für unsere Armee hin¬
reichend vergewissert, so wird nicht nur im häuslichen Leben der
einzelnen, sondern auch gelegentlich der Vereinigungen im Kasino
und gerade unter den auf das gemeinsame Mahl daselbst ange¬
wiesenen jüngeren Herren der Alkoholgenuß immer mehr zur Aus¬
nahme, ja von so manchem ganz gemieden werden. Zwecks prak¬
tischer Unterstützung einer Mäßigkeitsbewegung in den Offizierkorps
sollte man u. a. aus den Kasinos jedes gebrannte Getränk, möge
es auch noch so feine Etikette tragen, ausschließen. Die leichten
— wenig Alkohol enthaltenden — Getränke sollten den schweren
Weinen und Bieren nach Möglichkeit vorgezogen und letztere mit
besonders hohen Preisen belegt werden. Das gleiche gilt für die
Militärkantinen. Aus ihnen sollte der Schnaps unter allen Um-
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Was erhoffen wir von unserer Armee?
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ständen heraus und den leichten, besonders auch den alkoholfreien
Getränken die beste Pflege gewidmet werden. Die Einwendung,
daß die Mannschaften bei ihren Ausgängen sich dann um so
schadloser halten werden in den Kasernen benachbarten Kneipen
erscheint selbst für den Fall, daß dies sich bewahrheiten sollte,
nicht stichhaltig: der Branntwein ist ein für Gesundheit und Dis¬
ziplin so gefährlicher Faktor, daß die Gelegenheit, ihn zu kaufen,
nicht innerhalb des militärischen Machtbereichs gegeben werden
darf, ganz abgesehen davon, daß die Erlaubnis, ihn feil zu halten,
die Aufklärungsarbeit über seine Schädlichkeit fast vergeblich macht
Graf Haeseler hatte im XVI. und von Lindequist im XVllL Korps
das Verbot des Schnapsverkaufs in den Kantinen durchgeführt.
Warum wird es nicht in allen Korps angeordnet? Wesentlich ge¬
fördert wurde der Erfolg dieser Maßnahmen durch die Androhung
des Militärverbots für die Wirtschaften derjenigen Wirte, die sich
nicht verpflichteten, an Militärpersonen Branntwein nicht mehr zu
verabreichen. Seitdem im französischen Heere die Abgabe von
Branntwein aus sämtlichen Militärkantinen verbannt ist, dürfen wir
in Deutschland auch hierin unseren Nachbarn jenseits der Vogesen
nicht mehr nachstehen.
Aus dem Gesagten möge nicht geschlossen werden, daß etwa
in der deutschen Armee ein hoher Branntweinkonsum bestehe. Wenn
das XII. (1. Kgl. Sächs.) Armeekorps mitteilt, daß etwa pro Kopf
2 1 /, Liter im Jahre kommen, so ist das im Verhältnis zum Gesamt¬
durchschnitt des Volkes (12—13 Lit) ein erfreuliches Ergebnis. Das
hindert aber nicht, zu wünschen, daß auch diese Ziffer noch auf
den Nullpunkt herabsinke lediglich im Armeeinteresse. Auch gibt
diese Angabe keinen Anhaltspunkt für den Branntweingenuß außer¬
halb der Kaserne und den in dieser nicht zur statistischen Kennt¬
nis gelangenden — weil außerhalb gekauften — Einzelverbrauch.
Einen besonderen Vorteil wird es haben, wenn die nötigen —
wirklich Durst löschenden — Ersatzgetränke dem Soldaten um¬
sonst oder möglichst billig verabreicht und jederzeit in tadelloser
Beschaffenheit zur Verfügung gestellt werden. Generalarzt Dr.
Leitenstorfer berichtet hierzu folgendes mustergültige Verfahren
mit seinem glänzenden Ergebnis:
„Die Kantinenverwaltung des königl. bayrischen 14. Infanterie¬
regiments in Nürnberg hat unter der Initiative und Leitung von
Hauptmann Schulz I die Herstellung von künstlichem, kohlensaurem
Wasser (ohne und mit Fruchtsaft) selbst in die Hand genommen
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Dr. med. Erich Flade.
und unter Einhaltung gesetzlicher Vorschriften über die Schutz¬
vorkehrungen für das Arbeitspersonal und über die sanitäre Seite
der Anlage einen sehr appetitlichen und rentablen Fabrikbetrieb ein¬
gerichtet Die Einrichtungskosten waren keine geringen; denn es
wurde an dem Grundsatz festgehalten, ein nach jeder Richtung ein¬
wandfreies Fabrikat zu liefern und alle Gefahren, welche der Ver¬
wendung von komprimierter Kohlensäure anhaften, von vornherein
und dauernd auszuscheiden. Beides wurde in vollkommenstem
Maße erreicht, in erster Linie durch die Güte des auf gestellten
Apparats (System Heck in München), durch die Anstellung eines
Fachmanns (Civilarbeitere), durch umfassende sinnreiche Schutzvor¬
richtungen, darunter einige von Hauptmann Schulz I selbst ange¬
gebene, sowie durch Verwendung des besten Flaschenmaterials.
Die Fruchtsäfte werden in großen Ballonflaschen von einer be¬
währten Firma bezogen und stehen unter hygienisch-chemischer
Kontrolle.
Der Apparat liefert in 2 Stunden ungefähr 600 Flaschen. Es
wurden seit Beginn des Betriebs, d. h. vom 10. Mai 1902 bis
10. Mai 1903, in den Kantinen des Regiments 68000 Flaschen
Limonade (künstliches, kohlensaures Wasser- mit Zusatz von Him¬
beere Zitronen-, Orangen- und Erdbeersaft) an die Mannschaften
verkauft, während vorher im gleichen Zeitraum nur 34300 Flaschen
käuflich bezogener Limonade verbraucht wurden.
Es ist also der Verbrauch bei gleichem Preis (5 und 10 Pfe nni g)
lediglich durch die Güte, Reinheit und Frische des Getränks um
das doppelte in die Höhe gegangen. Welche Dimensionen der Ver¬
brauch aber jetzt annehmen wird, nachdem seit Mai d. Js. der Preis
auf 3 und 5 Pfennig herabgesetzt werden konnte, da die vollen
Anschaffungskosten der ganzen Anlage bereits abgetragen sind, möge
daraus entnommen werden, daß im Juni d. J. bereits 8400 Flaschen
mehr als im Juni v. J. verkauft worden sind. Der Bierverbrauch
in den Kantinen des Regiments ist nun um die Hälfte zurückge¬
gangen, um 45 bis 55 Hektoliter im Monat (Schnaps wird in den
Kantinen überhaupt nicht geführt).
Eine bayrische Kasernenwache, auf der der Soldat Limonade
trinkt und die Kugelflasche den Maßkrug verdrängt hat, ist ein Bild,
das sich noch vor 5 Jahren der kühnste Optimist nicht hätte
träumen lassen.
Warum trinkt nun der Mann lieber Limonade statt Bier?
Keinerlei Druck wurde ausgeübt Der Soldat sieht sich jeden
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Was erhoffen wir von unserer Armee?
137
Pfennig an, er kauft nur dort, wo es billig ist. Wenn er seinen
Durst mit guter Limonade für 5 Pfennig löschen kann, gibt er
nicht 10 Pfennig für Bier aus. Das ist das ganze Geheimnis und
zugleich die große Lehre für alle Kantinenverwaltungen, welche das
Bestreben haben, den Soldaten alkoholfreie Getränke mundgerecht
zu machen. Dieses Yorgehen des königl. bayrischen 14. Infanterie¬
regiments und seine Erfolge in der Alkoholbekämpfung verdienen
in der Armee bekannt zu werden und Nachahmung zu finden. Nie¬
mand sollte dafür eifrigeres Interesse haben, als der Kompagnie¬
chef, der mit Befriedigung erkennt, wie sich die Leute bei Limo¬
nade frisch erhalten, während sie durch den Biergenuß nach dem
Einrücken stets faul und schläfrig wurden und für den Nachmittags¬
dienst, selbst schon für sorgfältige Gewehrreinigung, noch viel mehr
für den Unterricht, Aufmerksamkeit und Frische verloren.“
Daß während des Dienstes, auf Feldmärschen, im Manöver u. s. w.
schon längst der Genuß von Spirituosen verboten ist, beweist, daß
man von dem mit Alkoholgenuß verbundenen Nachteil, wie wir ihn
oben andeuteten, überzeugt war. Aber solche Teilverfügungen ge¬
nügen eben nicht, weil sie nur einem Teile der Trinkgelegenheiten
begegnen und im eigenen freieren Verkehr in der Kaserne wiederum
Branntwein feil geboten werden darf. Es muß dem Soldaten in
Fleisch und Blut übergehen, daß der konzentrierte Brannt¬
wein unter allen Umständen zu verabscheuen ist Von dem
Genüsse schweren Bieres oder Weines sieht er schon aus finanziellen
Gründen im allgemeinen ab. Aus der so zwangsweise herbeige¬
führten Entwöhnung und der sich festigenden Gewißheit von der
Berechtigung solchen Verbots erwächst allmählich ganz von selbst
die Überzeugung, daß es auch ohne Alkohol geht. Und — ein
nicht hoch genug anzuschlagender Faktor — die Leute treten mit
solcher Überzeugung hinaus in die Reserve und Landwehr.
Daß beiden Reservisten und Landwehrleuten der Trunk
weit mehr im Schwünge ist als im aktiven Heere, braucht nicht erst
bewiesen zu werden. Das ergibt sich leider aus ihrem beständigen
Leben inmitten des gewohnheitsmäßig trinkenden Publikums. Um
so wertvoller würde es sein, wenn die zur Reserve entlassenen
Mannschaften auf Grund der bei der Truppe gewonnenen Erkennt¬
nis und Erfahrungen gerade auch durch strenges Maßhalten im
Trünke vor den „Bierphilistern“ sich auszeichneten und somit dazu
beitrügen, dem Alkoholismus im Volke zu steuern. Aber un¬
sere gedienten Leute haben noch eine besondere Pflicht, die sie
Der Alkoholismus. 1905.
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138
Dr. med. Erich Flade.
ohnehin vom Gewohnheitstrunke abhalten sollte: es ist die
Pflicht, sich andauernd gesund und felddienstfähig zu
halten, geeignet, zunächst bei den Übungen, dann aber vor allem
im Ernstfälle voll und ganz auf dem Posten und nicht mit geistigen
oder körperlichen Defekten infolge täglichen Trunkes behaftet zu
sein, die ihre Unfähigkeit, Strapazen zu tiberwinden oder sonstige
Aufgaben zu überfüllen alsbald offenbaren. Leute mit Fettherz,
mit Katarrhen des Atmungs- oder Verdauungsapparates und anderen
Affektionen lebenswichtiger Organe, wie sie gewohnheitsmäßiger
Alkoholgenuß fördert oder direkt herbeiführt, fallen in wenigen
Tagen ab, sie füllen die Lazarette, werden ein Ballast für die Truppe,
da sie deren Bestand mindern oder dem Kommandeur keinen Ver¬
laß auf volle Bereitschaft der gesamten Mannschaft bieten. Daß
diese Leute auch im übrigen der Eigenschaften bar zu sein pflegen,
die eine Truppe wirklich beständig mobil und jederzeit schlagfertig
machen, bedarf nach dem, was anfangs ausgeführt wurde, keiner
erneuten Begründung. Von den verheirateten Reservisten und
Landwehrleuten, die doch den gesündesten Teil der Bevölkerung
darstellen, darf weiterhin das Vaterland auch einen gesunden, wehr¬
fähigen Nachwuchs erwarten. Derselbe wird aber nur dann eine
wirklich kräftige und brauchbare Jugend darstellen, wenn die Väter
sich möglichst frei halten von Unmaß und Übermaß. Denn be¬
kanntlich sind die Kinder um so gesünder und widerstandsfähiger,
je alkoholfreier die Erzeuger leben. (Vergl. auch v. Bunges Ver¬
öffentlichungen.)
Daß die „schwankenden Gestalten“, die sich an den Tagen der
Entlassung zur Reserve oft unter wenig soldatischem Benehmen
und undeutbaren Lauten uns zu nahen pflegen, wie die noch
weniger erfreulichen Ausschreitungen der berauschten Neuausge-
hobenen mit einem im gesamten Heere wachsenden Verständnis
für die Bedeutung des Alkoholismus seltener werden müssen, sei
nur nebenbei erwähnt
Zu den vorzüglichsten praktischen Einrichtungen, die dem
Mißbrauch geistiger Getränke zu wehren besonders geeignet erscheinen
und ausgezeichnet sich bewährt haben, gehören die den Seemanns -
heimen für die Marine entsprechenden Soldatenheime, deren wir
mehr als 30 schon besitzen. Von einem derselben, dem zu Mün-
singen, berichtet beispielsweise die Zeitungskorrespondenz des Deut¬
schen Vereins gegen den Mißbrauch geistiger Getränke (Nr. 7,
1901) folgendes:
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Was erhoffen wir von unserer Armee?
139
Das Soldatenheim befindet sich in nächster Nähe des Truppenübungsplatzes
des XIII. Armeekorps auf der rauhen Alb bei Münsingen und soll mit seinen
mannigfachen Bäumen und schattigen Waldplätzen daneben über die Zeit der
Truppenübungen (5—7 Monate im Jahre) den Soldaten Gelegenheit bieten zu
leiblicher Erquickung und geselliger Erholung in der dienstfreien Zeit. Es war
zum erstenmal in Betrieb vom 18. April bis 8. September vorigen Jahres. Er¬
richtet wurde es mit einem Aufwand von 70000 M. von dem namentlich in
Württemberg verbreiteten Süddeutschen Jünglingsbund, welcher sich die Aufgabe
gestellt hat, zur sittlichen und religiösen Pflege der erwachsenen männlichen
Jugend innerhalb seines Gebietes kräftig beizutragen. Eine reichliche Auswahl
von einfachen Speisen und Getränken — alkoholhaltige ausgenommen — stand
in vorzüglicher Qualität und zu billigsten Preisen zur Verfügung, außerdem
gut ausgestattete Lese- und Schreibzimmer für Mannschaften und Chargierte
ohne Trinkzwang.
Bereits im Eröffnungsjahre fanden sich in dem schönen Heim durch¬
schnittlich 300 Besucher täglich ein, am Sonntag oft über 1000. Heuer hat sich
der Besuch noch um ein beträchtliches gesteigert. Die Bäumlichkeiten haben
sich oft als unzureichend erwiesen, was namentlich von dem Zimmer für Char¬
gierte (30 Sitzplätze) und von dem Lesezimmer (35 Sitzplätze) gilt. Die Einjahrig-
Freiwilligen verkehren mit Vorliebe im Haus. Hohe Offiziere nahmen wiederholt
von seiner Einrichtung Kenntnis, und am 9. Juli 1900 wurde ihm auch die Ehre
des Besuchs Sr. Majestät des Königs von Württemberg zu teil. Die militärischen
Behörden lassen es dem jungen Unternehmen gegenüber an Interesse, Auf¬
munterung und Fürsorge nicht fehlen. Sein konfessioneller Charakter tritt nur
in der Form kurzer Abendandachten für freiwillige Besucher hervor. Mögen
auch manche für die im Heim entbehrten Genüsse sich in einer der zahlreichen
um dasselbe herum gelegenen Wirtschaften entschädigen, so wird dies doch von
vielen anderen verschmäht. Der Wirtshausbesuch hat sich bei den Mannschaften
seit Errichtung des Heims gegen früher entschieden vermindert.
Auffällig ist, wie ruhig und geordnet es im „Soldatenleim u (so taufte es
der Soldatenwitz) zugeht, selbst wenn alles vollgepfropft ist. Und daß man
seinen Dienst leichter und frischer versieht, wenn man am Abend vorher alkohol¬
frei gelebt hat, das wird wohl schon so manchem Besuoher klar geworden sein.
In den Miltärwerkstätten wie auch auf den Arbeitsplätzen
und Werften der Kaiserlichen Marine ist wohl seit längerer Zeit
schon der Branntweinschank abgeschafft. Aber es ist hoch erfreulich,
daß man auch dem gewohnheitsmäßigen Biergenuß Einhalt zu tun
verstanden hat. So wurden beispielsweise für die Militärwerkstätten
in Spandau mit Beginn des Jahres 1904 die bereits früher hin¬
sichtlich des Verbotes des Vertriebes von Branntwein in den
Fabrikkantinen erlassenen Bestimmungen auch hinsichtlich der Ein¬
schränkung des Bierverbrauches erweitert Den Kantinenpächtem
wurde auf gegeben, ihre Verkaufsstellen am Tage nur zweimal, vor¬
mittags und nachmittags, höchstens je eine halbe Stunde offen zu
halten; es sind dies die Zeiten des Frühstücks und des Vespers.
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Dr. med. Erich Flade.
Der Erfolg dieser Maßregel ist geradezu erstaunlich, denn während
früher in einer Fabrik, die etwa 1500 Arbeiter beschäftigte, als
sich die Arbeiter zu beliebiger Stunde mit Bier versehen durften,
12—15 Tonnen Bier täglich ausgeschänkt wurden, beschränkt sich
nunmehr der Ausschank in den freigegebenen Verkaufszeiten auf
kaum 2 Tonnen.
Dem Beispiel S. M. Linienschiffes „Wettin“, das jedwedes
geistige Getränk aus seiner Kantine verbannt hat, dürften gewiß
bald andere Teile der Kaiserlichen Marine folgen.
Ob und inwieweit es gelingen wird, von dem Mäßigkeitsstand¬
punkt auf den der vollkommenen Enthaltsamkeit auch im
Militär überzugehen, lasse ich dahingestellt Je mehr auch im
Heere die Gewißheit von der Berechtigung des Enthaltsamkeits¬
gedankens und von dem großen Werte der Abstinenz im alltäg¬
lichen Leben Platz greifen wird, um so sicherere Kemtruppen der
Alkoholgegner werden unserem Wehrstand erstehen und mit ihnen
ein Faktor von hoher gesundheitlicher und moralischer Bedeutung.
Und nirgends gedeiht die Mäßigkeitsbewegung besser, als da, wo
sie von überzeugten Abstinenten gestützt und zu wahrhafter Be¬
tätigung ihres Standpunktes immer neu angeregt wird. Wie man
allmählich im Volke verlernt, über die Abstinenzarbeit und ihre
Erfolge mitleidig die Achsel zu zucken, so wird auch in der Armee
alsbald derjenige, der den Alkohol verschmäht, nicht mehr be¬
lächelt, sondern geachtet und als Charakter besonders geschätzt
werden.
Die Army Temperance Association in England, mit dem Herzog
von Cambridge an der Spitze, zählt über 10000 Mitglieder. Der
Beitritt ist völlig freiwillig. In den Kasernen stehen besondere
Bäume und Lesezimmer mit Gelegenheit zum Genüsse alkoholfreier
Getränke zur Verfügung. Unter Lord Roberts Oberbefehl wuchs
die Mitgliederzahl der Enthaltsamkeitsvereinigung in der englisch¬
indischen Armee auf mehr als 25000 an. Die Disziplin soll dem¬
entsprechend sich gebessert haben. Das bestätigt besonders Roberts
Nachfolger im Oberkommando, General White.
Die vorstehenden Zeilen können natürlich nicht alle Wünsche
enthalten, die ein treues Soldatenherz für unsere Armee hegt im
Hinblick auf die Alkoholnot unser.es Volkes, deren Wirkungen
naturgemäß, wenn auch in abgeschwächter Form und in teilweise
anderen Erscheinungen, auch auf das Volk in Waffen sich geltend
machen müssen und zu Übelständen führen, die in der Hauptsache
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Was erhoffen wir von unserer Armee?
141
künftighin zu beseitigen wohl möglich ist Wenn die Bedeutung der
Alkoholfrage im ganzen Heere voll erkannt und dieser Erkenntnis
die notwendigen Maßnahmen gefolgt sein werden, so dürfen wir
eine ganz erhebliche Förderung der Gesundheit und Widerstands¬
kraft unserer Wehrmacht zu Wasser und zu Lande und eine
weitere Vervollkommnung ihrer Schlagfertigkeit und Feld¬
dienstfähigkeit in allen Teilen erhoffen. Daß diese Hoffnung in
nicht zu ferner Zeit sich erfülle, das ist doppelt zu wünschen in
einer Zeit, wo, wie der russisch-japanische Krieg auf das deutlichste
kund gibt, die Siege vorwiegend errungen werden durch höchsten
persönlichen Mut, eine eiserne Disziplin, ein entschlossenes und
schnelles Handeln unter sofortiger Ausnutzung der gegebenen
Lage, durch eine stählerne Willenskraft und ein rastloses Verfolgen
gewonnener Vorteile. Der nüchternen Armee winkt die
Palme des Sieges, denn sie allein wird über diese Kräfte
verfügen.
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142
II. Referate.
Rfeler. Über die nationale Bedeutung unserer Enthaltsamkoitsbowogung. Reichen¬
berg (Selbstverlag) 1905. 20 Heller.
Aus vollem Herzen heraus uud zugleich in deutlicher Erkenntnis der großen
Schwierigkeit seiner Aufgabe vertritt der Verfasser, Stadtarzt in Reichenberg in
Böhmen, die Forderung, daß jeder einzelne in der Alkoholfrage als Vorbild zu
wirken berufen ist. Wir sind weniger verantwortlich für unsere eigenen Sünden,
aber mehr verantwortlich für die Sünden anderer, als unsere Juristen zu glauben
scheinen.
Die frische Schreibweise macht das Lesen der Schrift zu einem Genuß. P. S.
Straßmann, Fr. Alkoholismus und Entscheidung. Ärztl. Sachverständ.-Zeitung.
1905. Nr. 4.
Straßmann steht wie F. Leppmann und wohl jeder erfahrene Gerichtsarzt
auf dem Standpunkt, daß der Alkoholismus als solcher unter die Ehescheidungs¬
gründe einzureihen ist Auch ihm sind wiederholt Fälle vorgekommen, in denen
zunächst die Ehescheidung wegen Mißhandlung verlangt, aber abgelehnt wurde,
weil der alkoholistische Beklagte als nicht zurechnungsfähig erachtet wurde. Der
darauf gemachte Versuch, die Ehescheidung w r egen Geisteskrankheit herbeizuführen,
scheiterte, weil die sehr schweren Bedingungen, welche das Bürgerliche Gesetz¬
buch für die Ehescheidung wegen Geisteskrankheit festgesetzt hat, nicht erfüllt
waren. Und der Antrag schließlich, die Ehe zu scheiden, weil die Tatsache der
Trunksucht an sich, d. h. die Tatsache, daß der Beklagte sich zum Alkoholisten
gemacht, also den vom Gesetze verlangten „ehrlosen und unsittlichen Lebens¬
wandel“ geführt hatte, vorlag, war nicht immer von Erfolg begleitet. Denn da¬
gegen wurde wohl von seiten des Vertreters des Beklagten geltend gemacht, daß
der Alkoholismus auf Grund erblicher Anlage oder krankhafter Neigung ent¬
standen sei.
Straßmann führt einen einschlägigen interessanten Fall an, in dem das
Berufungsgericht auf Grund des von Straß mann erstatteten Gutachtens zur Auf¬
hebung der Ehe kam, weil der § 1333 des Bürgerlichen Gesetzbuches gegeben
war. Der betreffende Paragraph besagt, daß eine Ehe angefochten werden kann,
wenn der Ehegatte bei der Eheschließung sich über solche persönlichen Eigen¬
schaften des anderen Ehegatten im Irrtum befunden hat, welche ihn bei Kenntnis
der Saohlage und bei verständiger Würdigung des Wesens der Ehe von der Ein¬
gehung der Ehe abgehalten haben würden. Der Beklagte hatte sich bereits vor
Eingehung der Ehe wegen gewisser, teilweise durch Alkoholismus bedingter Ent¬
artungserscheinungen in einer Anstalt befunden. P. S.
Kätner. Zur Diagnostik des pathologischen Rausches (Störungen der Reflexe.)
Deutsche med. Wochenschrift. 1904. Nr. 29. (Referat in Ärztl. Sachverstand.
Zeitung. 1905. Nr. 5.)
Bei der Schwierigkeit der Unterscheidung zwischen „normalem 41 und „patho¬
logischem 44 Rausch ist es wünschenswert, leicht feststellbare körperliche Zeichen
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Referate.
143
als eindeutige Merkmale zu suchen. Kutner hat bei fünf Patienten der Breslauer
städtischen Irrenanstalt, die zweifellos einen pathologischen Rausch hatten, neben
Trägheit der Pupillenreaktion eine hochgradige Schwäche bezw. vollständiges Fehlen
der Sehnenreflexe gefunden. Am nächsten Tage schwanden diese Symptome, die
nach dem Verfasser bei dem normalen Rausch nicht beobachtet sind. Am ein¬
fachsten sind diese Erscheinungen nach dem Verfasser durch die Störung der
Funktion der im Rückenmark gelegenen, sogenannten inneren Reflexbogen zu
erklären. Doch litten die betreffenden fünf Patienten gleichzeitig an Epilepsie,
so daß die ausschlaggebende Bedeutung des betreffenden Symptomes noch nicht
zweifellos ist. Eine Nachprüfung erscheint vielmehr dringend erforderlich. P. S.
Rochat. Der Alkoholismus in Italien. Annales antialcooliques. Oktober 1904.
In seinem klassischen Werke „Der Alkoholismus“ stellte Baer 1878 Italien
den anderen Nationen als Beispiel der Nüchternheit hin. Jetzt hat der Alkoho¬
lismus auch Italien sich erobert. Bereits 1892 gründete Rochat die erste „lega
italiana di temperanza“. 1899 rief er als Organ dieser Liga mit Unterstützung
hervorragender Mediziner und Psychologen die Monatsschrift „Bene Sociale“ ins
Leben. Am 16. und 17. Juli 1904 fand der erste italienische Kongreß, gegen
den Alkoholismus in Venedig statt.
Höchst interessant sind die Daten, die Rochat über den Weinverbrauch
in Italien gibt. Sie zerstören allerdings den Nimbus der Italiener als eines
nüchternen Volkes. Die Zahlen zeigen außerdem, daß die Höhe der Konsumtion
ungefähr proportional ist der Größe der Weinernte. „Den Preis des Weins steigern,
hieße gegen den Alkoholismus ankämpfen.“
Produktion
in
Hektolitern
Einfuhr | Ausfuhr
in Hektolitern
Gesamt¬
verbrauch
Hektoliter
pro Kopf
Verbrauch in Litern
1890
29 457 000
10 802
1 162 283
| 28 305 519
95
1891
36 992 000
9 124
2 214 221
34 786 903
115
1892
33 972 000
20 503
2 492 465
31 496 038
103
1893
32 164 000
56 934
1 945 154
30 275 780
98
Mittel:
1894
25 817 000
101 490
1 732 985
24 185 505
78
1895
24 246 000
123 046
3 534 218
20 834 824
65
90 Liter.
1896
28 600 000
210 939
2 258 075
26 552 864
85
1897
28 350 000
72 217
2 606 202
25 816 015
81
1898
32 940 000
137 351
2 429 215
30 645 135
96
1899
32 500 000
142 420
2 436 378
30 212 042
94 1
Mittel:
1900
32 200 000
127 504
1 875 784
31 451 720
98
1901
42 600 000
186 011
1 334 897
41 451 114
127 ]
104 Liter
Im Jahre 1901 erreichte Italien mit 42600000 Hektolitern das Maximum
der Produktion und stieg gleichzeitig im Verbrauch an die Spitze der weintrinkenden
Nationen der Welt. Für das Jahr 1902 kommen ungefähr auf den Kopf der
Einwohner:
in Genua 170 Liter Wein
in Rom 220 „ „
in Florenz 152 „ „
in Mailand 98 „ „
in Neapel 97 „ „
in Palermo 71 „ „
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144
Referate.
Durchschnittlich kommt in Italien eine Verkaufsstelle von Wein und Likören
auf 185 Einwohner. In der Provinz Brescia kommt stellenweise bereits eine Ver¬
kaufsstelle auf 50 Einwohner, in Udine eine Verkaufsstelle auf 63 Einwohner.
Der Alkoholismus in Italien hört also auf, ein Phantom zu sein, er ist zur traurigen
und schrecklichen Wirklichkeit geworden.
Der erste italienische Kongreß gegen den Alkoholismus hat den Beschluß
gefaßt, eine Kommission zu wählen zum Zwecke der Aufnahme einer genauen
Statistik über die Verbreitung des Alkoholismus in Italien. P. S.
Laquer. Trunksucht und Temperenz in den Vereinigten Staaten. Grenzfragen des
Nerven- und Seelenlebens. 34. Heft. Wiesbaden 1905.
Der Verfasser hat aus der an der Berliner medizinischen Fakultät bestehenden
Gräfin Louise Bose-Stiftung die Mittel erhalten, die Alkoholfrage in der Schweiz
und in Nordamerika zu studieren. Die Ergebnisse der Schweizer Reise sind in
dem 2. Heft des Jahrganges 1904 dieser Zeitschrift niedergelegt.
Der vorliegende Bericht über die Verhältnisse in Nordamerika gibt nach
einer Reiseschilderung und nach einer Übersicht über die geschichtliche Entwicklung
der amerikanischen Temperenz das Wesentliche über den Alkoholunterricht in den
Schulen Nordamerikas, sowie über die verschiedenen Arten der Bekämpfung der
Trunksucht auf gesetzgeberischem Wege und über deren Erfolg. Die radikalen
Prohibitionsgesetze herrschen zur Zeit nur noch in den vier sehr dünn bevölkerten
Agrarstaaten, die zusammen nur den 25. Teil der amerikanischen Bevölkerung
ausmachen, nämlich in Maine, New-Hampshire, Kansas, Nord-Dacota. Dazu
kommt, daß diese Gesetze weite Maschen haben und daher insbesondere in den
Städten oft umgangen werden. In diesen vier Staaten dürfen Spirituosen zu
ärztlichen und technischen Zwecken verkauft werden und zwar durch Vermittlung
eines Staatskommissars, der außer 6000 Mk. Gehalt 10°/o Vergütung seines im
staatlichen Aufträge für die zu ärztlichen und technischen Zwecken bestimmten
Alcoholica angelegten Kapitals erhält. Der betreffende Kommissar hatte auf Lager
von diesen ihm 10% abwerfenden Alcoholicis in dem einen Staate Maine:
1887: 20 000 Dollars
1893: 131000 „
1898: 39 000 „
Die gewaltigen Differenzen finden nach Laquer ihre Erklärung in der Qualität
des betreffenden Regierungskommissars. Auch in den vier Prohibitionsstaaten gibt
es Winkelschenken und selbst offenkundige „bars u . Apotheker und Drogisten
verkaufen auch trotz eidlicher Erklärung Whisky auch für nichtärztliche und
für nichttechnische Zwecke. Fest steht, daß der Bier- und Branntweinverbrauch
in Nordamerika seit 1900 gestiegen ist. Für 1903 berechnet sich der Gesamt¬
verbrauch der Vereinigten Staaten in absolutem Alkohol auf 6,5, derjenige Deutsch¬
lands auf 10,0 Liter pro Kopf. Also das Verhältnis Amerika: Deutschland = 2:3.
„Der Früh- oder Dämmerschoppen ist in Amerika nicht einmal dem Namen nach
bekannt. 11 Laquer hat in einem vor der Neuyorker medizinischen Gesellschaft
gehaltenen Vortrage sich über die an sich auffällige Tatsache, daß die Amerikaner,
trotzdem sie dieselben Fleischmengen verzehren wie ihre englischen Vettern,
relativ viel seltener an Gicht erkranken. Er sieht den Grund in dem geringeren
Alkoholkonsum, vor allem aber darin, daß die Amerikaner ihre hohen Rationen
Fleisch durch Obst- und Fruchtgenuß auszugleichen gewohnt sind.
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Referate.
145
Sociologisch von großer Bedeutung sind die Tabellen, die Laquer dem
Bulletin of Labour entnimmt, um die Tatsache zu beweisen, daß der amerikanische
Arbeiter durchschnittlich nur 2,3% seines Einkommens für alkoholische Getränke
ausgibt. Nur die Hälfte der statistisch bearbeiteten 2567 Arbeiterfamilien führt
überhaupt Ausgaben für alkoholische Getränke an. Bekannt ist, daß der ameri¬
kanische Arbeiter sich besser nährt wie der deutsche. Die deutschen Arbeiter
können ebenso wie die deutschen Sozialpolitiker von den amerikanischen Ein¬
richtungen manches lernen.
Aus seinen in Amerika gewonnenen Erfahrungen zieht Laquer die folgenden
Nutzanwendungen für die deutschen Verhältnisse:
1. Von den Amerikanern, gerade den Abstinenten, sollen wir die Einigkeit
lernen. Theoretische Betrachtungen über Nährwert und Giftigkeit des Alkohols
gehören in das wissenschaftliche Laboratorium. Abstinente und Mäßige sollen
sich im praktischen werktätigen Kampf gegen den Alkohol gemeinsam betätigen.
2. Gesetzgeberisch ist die von der preußischen Regierung beim Bundesrat
eingebrachte Gewerbeordnungsnovelle zur Bekämpfung des übermäßigen Alkohol¬
genusses freudig zu begrüßen. Schon jetzt müssen die Ministerien, die Stadt-
und Landgemeinden, die Polizei, die Bezirksausschüsse darauf hinarbeiten, daß
die Bedürfnisfrage schärfer angepackt wird. Konzessionen an gemeinnützige
Gesellschaften würden dem Trinkzwange entgegenarbeiten.
3. Notwendig ist ferner die indirekte Bekämpfung des Alkohols, die Ver¬
änderung der Trinksitten, die Aufhebung des Trinkzwanges, die Aufklärung und
Hebung aller dem Trünke ergebenen Klassen (nicht bloß der Lohnarbeiter, die
es als verletzend und nicht den tatsächlichen Verhältnissen entsprechend empfinden,
wenn man sie als Hauptträger des Alkoholismus bezeichnet). Es müßte, wie in
Amerika, ein Kennzeichen des Gentleman werden, dem Rausche sein Leben lang
fern zu bleiben.
4. Unterricht über die Gefahren und Wirkungen des Alkohols ist in allen
Schulen gelegentlich des naturwissenschaftlichen Unterrichts zu erteilen.
5. Die Alkohol-Landeskommission beziehentlich die Volkswohlfahrtskommission
sind, wie auch der Erfolg des 50er Ausschusses in den Vereinigten Staaten,
ebenso wie das Schweizer Abstinenzsekretariat beweisen, notwendig; sie sind in
Anlehnung an das Kultusministerium oder an das Staatsministerium baldigst zu
errichten.
Die Wohlfahrtskommission soll mit der Alkoholfrage anfangen. P. S.
van Ahlen. Beitrag zur Kenntnis der Polyneuritis alcoholica. Dissertation. Kiel 1904.
Die Fälle von Alkoholneuritis haben das Gemeinsame, daß die Lähmungs¬
erscheinungen von der Peripherie nach dem Zentrum an Intensität verlieren,
daß ferner fast stets ganze Muskelgruppen erkranken, und daß schließlich die
Streckmuskeln meist in höherem Grade befallen werden als die Beuger. Eine
gleichzeitige Unterschenkel- und Vorderarmlähmung wird als charakteristisch für
die Alkoholneuritis angesehen. Den Lähmungserscheinungen gehen einleitende
Symptome in der Gestalt von Taubheit der Finger und Zehen, Kribbeln und
Brennen, abwechselnd mit Kältegefühl und Blässe, reißenden und ziehenden
Schmerzen (Wadenkrämpfen) vorher. Bei langer Dauer stellt sich Abmagerung
der betreffenden Glieder und krampfhafte Beugestellung ein. Die elektrische
Erregbarkeit der befallenen Muskeln zeigt alle möglichen Veränderungen. Häufig
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146
Referate.
treten im Verlaufe der Neuritis auch charakteristische psychische Störungen
alkoholischer Natur auf. Namentlich stellt sich oft die sogenannte Korsakowsche
Psychose ein: Erinnerungsfälschungen in Bezug auf die Zeit und dementsprechend
verworrenes Irrereden.
Dieses Krankheitsbild illustriert die Dissertation durch den Fall eines
31jährigen Gastwirtes. P. S.
Orel. Alkoholismus und soziale Frage. Innsbruck 1905. Preis 20 Heller.
Die Schrift verdankt ihre Entstehung dem Regensburger Katholikentag.
Sie soll für die Abstinenz Propaganda machen und tritt den Mäßigkeitsbestrebungen
verhältnismäßig schroff gegenüber. Vom medizinischen Standpunkt aus sind die
Ausführungen über die Wirkung des Alkohols auf die Organe und Gewebe des
Körpers nicht immer einwandsfrei. Jedoch wird die Schrift bei ihrem knappen,
anregenden Stil ihre Wirkung nicht verfehlen. P. S.
Brandeis. Beiträge zur Erziehungshygiene. Prag bei G. Neugebauer, 1905.
80 Heller.
Die Schrift bringt in erweiterter Form die beiden von dem Verfasser auf
dem internationalen Kongreß für Schulhygiene in Nürnberg gehaltenen Vorträge:
1. Ursachen und Bekämpfung der nervösen Erscheinungen unserer Schul¬
jugend.
2. Organische Nährelemente und Widerstandskraft.
In beiden Vorträgen vertritt Brandeis den Standpunkt, daß die heutige
Schule die Tätigkeit des Hygienikers und hygienisch geschulten Arztes nicht mehr
entbehren kann, wenn sie ihren modernen Anforderungen voll entsprechen soll.
Was die Alkoholfrage anlangt, so fordert Brand eis, daß 1. der Alkoholgenuß
bis zum 14. Lebensjahre zu untersagen, 2. die Ausschankbestimmungen zu ver¬
schärfen, 3. in den verschiedenen Betrieben der Genuß und die Ausgabe alkoho¬
lischer Getränke einzustellen ist. P. S.
Die Beteiligung des englischen Adels an den Alkoholgewerben wird durch die
folgenden Zahlen illustriert. (Ann. antialcool. Februar 1905.)
An dem Handel mit alkoholischen Getränken sind interessiert: 167 Pairs
Mitglieder der Kammer der Lords), 129 Mitglieder des Unterhauses, 880 Adlige,
welche keiner der beiden Kammern angehörten. Das von Adeligen in Brauerei-
und Brennereibetrieben angelegte Kapital betrug:
Mitglieder beider Kammern. 70 097 675 Francs.
Den Parlamenten nicht angehörige Adelige ... 67 290 975 „
Adlige Damen. 25 311 100 „
Testamentsverwalter etc. 74 904 100 „
237 603 850 Francs.
Die ganze in den Alkoholgewerben überhaupt angelegte Summe schätzen
die englischen Journale auf 6 bis 7 Milliarden Francs. An der Londoner Börse
werden die Aktien und Obligationen von 119 Brauereien und Brennereien ge¬
handelt. Der Kampf gegen diese Kapitalmacht ist begreiflicherweise recht
schwierig. P. S.
147
III. Mitteilungen.
Wieder zwei neue Abstinenzblätter. Nachdem erst vor kurzem „Der ent¬
haltsame Märker“ auf dem Plane erschienen ist, versandte „Der Rechabit“ Anfang
Februar seine erste Nummer, in der er gleich mit dem „Kampfruf“ und der Frage
nach seiner Existenzberechtigung beginnt, um sich in langer Polemik, welche das
ganze erste Blatt einnimmt, mit einem abstinenten Angreifer abzufinden, und
zu dem Schluß zu gelangen, daß es mit der Abstinenz allein nicht getan sei.
Vielmehr wünscht er die gesamte Wohlfahrtsfrage mit in sein Programm auf¬
zunehmen — hierzu scheinen 4 Seiten allmonatlich nicht ganz zu reichen —
„auf zehn Schritte muß man unsere Anhänger erkennen, das Innere und Äußere
des Menschen muß blitzblank sein_ u , das sind die Ideale, welche den Recha-
biten vorschweben, und die sie in Leitsätzen (zweite Nummer) ausdrücken, welche
den Grundsätzen der Ethik durchaus entsprechen, wie man sie von jedem an¬
ständigen Menschen fordert.
„Der Retter“ erschien am 15. Februar zum ersten Male ebenfalls in Ham¬
burg, er soll in allen Logenhäusern und Abstinenzlokalen ausliegen, indem er
sich die Aufgabe stellt, „den auf der ganzen Linie entbrannten Kampf gegen die
ungeheuren Schädigungen des Alkohols in wirksamster Weise zu unterstützen“.
Diese „Internationale Wochenschrift zur Bekämpfung des Alkoholismus“ kostet
zwar das Doppelte wie der „Rechabit“, nämlich 2 Mark jährlich, er muß sich
aber sehr vervollkommnen, wenn er seiner volltönenden Bezeichnung als inter¬
nationale Wochenschrift pp. gerecht werden will.
Die Lintorfer Heil- und Pflegeanstalten veröffentlichen ihren Bericht über die
Jahre 1903/04, woraus hervorgeht, daß auch hier wie überall nicht diejenige
Frequenz erreicht worden ist, die man hätte nach allen Anstrengungen erwarten
sollen. So war z. B. am 1. Januar 1903 ein Bestand in Siloah von 15, in Be-
thesda von 25 und im Asyl von 21 Patienten; der Zugang bezifferte sich auf 24, 88, 28;
der Abgang auf 31,43, 26 innerhalb des Jahres 1903. Im Jahre 1904 war es ähnlich,
nämlich Zugang: 24, 33, 36; der Abgang 25, 43, 86, so daß am 1. Januar 1905
ein Bestand von 7, 10, 23, zusammen 40 Patienten vorhanden war. Die durch¬
schnittliche Zahl der Kranken in Siloah war 1903 10 (1904 9), in Bethesda
20 (19), im Asyl 22 (22). Die Aufenthaltsdauer betrug 1903 in Siloah 128
(1904 187), in Bethesda 174 (211), im Asyl 149 (213) Tage, so daß also das Jahr 1904
einen nicht unwesentlichen Vorsprung nach dieser Richtung gegenüber dem Vor¬
jahre hat. Leider kann nicht festgestellt werden, ob sich dieser Vorteil auch
durch günstigere Heilresultate bemerkbar gemacht hat, da der ärztliche Bericht sich
nur über das Jahr 1904 ausläßt. Darnach waren in diesem Jahre als geheilt
11, 24, 17, zusammen 52; gebessert 5, 3, 7, zusammen 15; ungeheilt 9, 15, 12,
zusammen 36 entlassen, woraus sich ein Gesamtresultat von ca. 50°/ 0 Heilungen
ergibt (52 unter 103). An chronischem Alkoholismus litten nach dem Bericht 70,
an Dipsomanie 11, an Delirium 6, an Epilepsie 3, an Verblödung 8, außerdem 2
mit Epilepsie verbunden, an Geisteskrankheit 3. Erblich belastet waren 42%
aller Fälle, diese Belastung bezieht sich natürlich nicht nur auf Trunksucht,
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148
Mitteilungen.
sondern auch auf Geistes- und Nervenkrankheiten. Bei den Angaben betreffend
die Heilerfolge wird vorsichtigerweise das Wörtchen „hoffentlich 44 hinzugefügt.
Das ist durchaus angebracht und wird manchen Anstalten, die durch die Erfolge
brillieren und Reklame machen wollen, zur Nachahmung angelegentlichst emp¬
fohlen. Bei dem heutigen Stande der Trinkerfürsorge muß man unbedingt zu¬
frieden sein, wenn man ein Drittel Heilerfolge zu verzeichnen hat Mehr kann
und soll man nicht verlangen, und man wird nicht fehlgehen, wenn man dies
Resultat als möglich auch für solche Kranke annimmt, welche an „chronischem
Alkoholismus 44 leiden, sofern man — wenn auch fälschlicherweise — Heilbarkeit
mit Enthaltsamkeit indentifiziert. Das mag statthaft sein, aber es bleibt unrichtig,
denn man wird niemals einem chronischen Alkoholisten erlauben dürfen, daß er
je wieder geistige Getränke zu sich nimmt, da er Gefahr läuft, daß sein alkohol¬
empfindliches Zentralnervensystem — im Gegensatz zum normalen Menschen —
zu prompt darauf reagiert und ihn rückfällig werden läßt. Aber, und das sei
zum Trost hinzugefügt, unter den Alkoholkranken gibt es eine nicht unbedeutende
Anzahl, welche an „einfacher Trunksucht 44 leiden und auch in wissenschaftlicher
Hinsicht als heilbar anzusehen sind. Bei der mangelhaften Kenntnis und der noch
fehlenden Möglichkeit der Differenzierung wird man gut tun, Heilbarkeit und
Unheilbarkeit nicht vorschnell zu prognostizieren, sondern durch eine geeignete
Behandlung und Beobachtung festzustellen suchen, um welche Form von Alko¬
holismus es sich handelt. Sicherlich ist ein gut Teil der Irrtümer und Ent¬
täuschungen, die uns die Alkoholkranken bereiten, darauf zurückzuführen, daß
wir der mangelhaften Anamnese, vor allem einem mangelhaften Erkennen und
Unterscheidungsvermögen allgemein begegnen. Möge dies wichtige Moment der
Differentialdiagnostik durch Hebung des Interesses für die Trinkerfürsorge und
durch eingehenderes Spezialstudium endlich mal besser werden!
Sicher kommen wir weiter, aber ich glaube, daß hierzu ein ganz anderer
Weg eingeschlagen werden muß. Es ist doch geradezu niederdrückend, daß Heil¬
stätten wie die Lintorfer sich so mäßigen Besuches zu erfreuen haben und nach
50 Jahren noch nicht einmal im stände sind, dank einer ungenügenden Belegung
auf eigenen Füßen zu stehen. Da muß doch etwas sein, was hemmt und nicht
fördert. Und sieht man recht zu, so wird man hier wie eben überall die Wahr¬
nehmung machen, daß das Abhängigkeitsverhältnis von dem kranken Individuum
sehr fatal und ebenso mißlich ist, wie die Tatsache, daß die öffentliche Meinung
über die Trinkerheilbehandlung noch außerordentlich viel zu wünschen übrig läßt;
daß Landesversicherungsanstalten und Armenbehörden noch viel zu wenig den Wert
erkennen, vorbeugend zu wirken und zu helfen, daß die Alkoholkranken durch recht¬
zeitige Behandlung wieder gesund werden und nicht als erwerbslose, unnütze Mit¬
glieder der mensch liehen Gesellschaft sich und andern zur Last fallen. Auch
hier läßt man eben alles bis zum äußersten kommen, man flickt das Loch ober¬
flächlich zu und begnügt sich damit, wenn man es einige Zeit lang nicht wieder¬
sieht, in dem Bewußtsein, etwas getan und die Wunde geheilt zu haben — eine
Wunde, die über kurz oder lang sich nur um so unangenehmer bemerkbar macht,
da sie allen Anstrengungen zum Trotz versagt und immer wieder aufbricht, mag
man nunmehr zu verkleben suchen, so viel man will.
Deshalb gebe ich hiermit nochmals folgenden Vorschlag zur Erwägung an¬
heim, der auf unsere Veranlassung in der Heilstätte „Waldfrieden 44 vom April
ds. Jahres ab durchgeführt werden wird: die Einrichtung von geschlossenen
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149
Spezialanstalten für Alkoholkranke. Diese in Verbindung mit offenen
Häusern wird dasjenige sein, was uns für die Zukunft not tut oder als Zu¬
kunft für eine rationelle Heilbehandlung trunksüchtiger Personen zu gelten
haben wird. Die Provinzen sollten sich dazu entschließen, entweder eventuell
mit staatlicher Unterstützung selbst derartige Anstalten zu gründen oder aber,
wie es seitens der Provinzen Brandenburg und Sachsen zum ersten Male ge¬
schieht, gemeinnützige Unternehmungen in der Weise zu fördern, daß sie
ihnen Alkoholkranke aus ihren Irrenanstalten überweisen, welche nicht ver¬
blödet, nicht geistig so defekt sind, daß keinerlei Hoffnung auf Wiederher¬
stellung vorhanden ist. So gut wie sich die Notwendigkeit herausgestellt hat,
besondere Anstalten für Epileptische zu bauen, so gut, ja um ein erheb¬
liches mehr, ist es notwendig, Spezialanstalten für Alkoholkranke zu errichten
Was damit erzielt werden kann, soll und wird die Heilstätte „Waldfrieden 41
zu zeigen haben, sie tut Pionierdienste, nachdem auch hier eingesehen wurde, daß
mit der Freiwilligkeit nicht dasjenige zu erzielen ist, was unbedingt erhofft
werden darf. Andererseits darf nicht vergessen werden, daß auch die Irren¬
anstalten selbst das allergrößte Interesse daran haben, die Alkoholkranken, die
gar nicht in dieselben gehören und sich durch ihr Auftreten, ihr ewiges Gehetze
unter den übrigen Kranken recht unliebsam bemerkbar machen, auf diese Weise
los zu werden: also, ein Gewinn nach allen Seiten!
Das Ministerialblatt für Medizinal-Angelegenheiten vom 1. März enthält
folgenden Erlaß:
„Der Herr Minister der öffentlichen Arbeiten hat unterm 26. Januar d. Js.
einen Erlaß betreffend die Fürsorge für die Eisenbahnbediensteten an die
Königlichen Eisenbahndirektionen gerichtet, welcher sich u. a. auch mit der Be¬
kämpfung der Trunksucht beschäftigt. Der Erlaß besagt in dem bezüglichen Teile:
Erlab vom 26. Januar 1905, betreffend die Fürsorge für die Eisenbahnbediensteten.
Aus den auf meinen Erlaß vom 16. September v. J. erstatteten Berichten
habe ich mit Befriedigung ersehen, daß die von mir zwecks besserer Für¬
sorge für die Eisenbahnbediensteten getroffenen Anordnungen in allen Bezirken
zur Ausführung gelangen und von den Bediensteten dankbar anerkannt werden.
Wenn an einzelnen Stellen ihre Durchführung noch nicht in dem Umfange an¬
gängig war, wie es nach den von mir gegebenen Weisungen für die Wohlfahrt
der Angestellten wünschenswert erscheint, so erwarte ich, daß die Königl.
Eisenbahndirektionen sich fortgesetzt die Verbesserung der vorhandenen und die
Neubeschaffung der noch fehlenden Einrichtungen werden angelegen sein lassen
und daß da, wo es lediglich an verfügbaren Mitteln fehlt, für deren allmähliche
Bereitstellung Sorge getragen wird. Nach dem Inhalte der Berichte darf ich
vertrauen, daß die Eisenbahndirektionen wie bisher so auch fernerhin die weitere
Fürsorge für das Wohl ihrer Bediensteten zu ihren vornehmsten Aufgaben
rechnen werden. Im einzelnen geben mir die Berichte zu folgenden Bemerkungen
Anlaß:
9. Mit der durch die Erlasse vom 8. Februar 1902 (E.-V.-Bl., S. 46) und
17. März 1903 (E.-V.-Bl., S. 121) angeregten Beschaffung von Unterkunfträumen
für unverheiratete Arbeiter ist noch nicht in dem erwünschten Umfange vor¬
gegangen worden, da nach Ausweis der Berichte nur die Eisenbahndirektionen
in Cassel, Essen, Kattowitz, Königsberg und Stettin solche Räume in geringer
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150 Mitteilungen.
Zahl hergestellt haben, während die Eisenbahndirektionon in Cöln, Frankfurt*
Halle und Magdeburg ihre Einrichtungen in Aussicht genommen, alle übrigen
Direktionen aber ein Bedürfnis dafür nicht anerkannt haben. Ich weise die
Eisenbahndirektionen an, dieser Maßregel erneut ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden*
da ich hierin ein geeignetes Mittel erblicke, nicht nur die unverheirateten Arbeiter
von dem Schlafstellenwesen und dem Wirtshausleben fern zu halten, sondern auch
stets einen Stamm geschulter Arbeiter in Fällen eines plötzlich auftretenden
Bedürfnisses zur Stelle zu haben. Bei zweckentsprechender Einrichtung und
mäßigen Mietpreisen werden solche Räume zweifellos gern begehrt werden.
10. Besondere Aufmerksamkeit werden die Eisenbahndirektionen dem Genuß
geistiger Getränke seitens der Bediensteten zuzuwenden haben. Hier kommt es
nicht nur darauf an, daß einem etwaigen Mißbrauch mit der gebührenden Schärfe
entgegen getreten wird, vielmehr sind die Bediensteten auch fortgesetzt dazu
anzuhalten, die erforderliche Selbstzucht zu üben, indem sie durch Vorträge
und Schriften über die schädlichen Wirkungen des Alkoholgenusses auf Körper
und Geist, auf das Familienleben und den Dienst aufgeklärt werden. Dabei wird
ihnen stets vorzuhalten sein, daß der Alkoholgenuß im Übermaß unbedingt schäd¬
lich ist, im Betriebsdienst aber geradezu gefährlich werden kann für den Trinker
selbst wie auch für diejenigen, deren Leben und Gesundheit von der Zuver¬
lässigkeit seiner dienstlichen Verrichtungen abhängig ist.
Ferner müssen Mittel und Wege gefunden werden, um denjenigen Be¬
diensteten, welche für solche Belehrungen unzugänglich sind, den Alkoholgenuß
wenigstens während des Dienstes zu erschweren. Wenn ich auch davon absehe*
den Alkoholgenuß während des Dienstes allgemein zu verbieten, wiedies in einigen
Direktionsbezirken bereits geschehen ist, so bestimme ich, um ihn so viel wie
möglich einzuschränken, folgendes:
a) Die Bediensteten sind, wie schon bisher, bei allen sich darbietenden Ge¬
legenheiten über die schädlichen Folgen des Alkoholgenusses zu belehren. Hierzu
erscheinen neben den Inspektionsvorständen in erster Linie die Bahn- und Bahn¬
kassenärzte berufen. Aber auch den Eisenbahnvereinen wird vielfach Gelegen¬
heit gegeben sein, nach dieser Richtung erfolgreich zu wirken, indem sie in
ihren Versammlungen durch belehrende Vorträge für Aufklärung sorgen und
sich zur Verhütung des Alkoholmißbraucbs an das Ehrgefühl ihrer Mitglieder
wenden.
b) Das Mitbringen von Schnaps und schnapsähnlichen Getränken in den
Dienst wird sämtlichen Bediensteten bei Strafe verboten. Den Eisenbahn¬
direktionen bleibt überlassen, in geeigneten Fällen Ausnahmen zuzulassen.
c) Die eisenbahnseitig eingerichteten Kantinen dürfen Schnaps und schnaps*
ähnliche Getränke nicht feilhalten.
d) Den Bahnhofswirten ist der Verkauf von Schnaps und schnapsähnlichen
Getränken nach Maß an Personen, welche sich die Behälter selbst mitbringen
zu untersagen. Eine entsprechende Bestimmung ist in die Verträge aufzu¬
nehmen.
e) Die Bahnhofswirte sind zu verpflichten, geeignete alkoholfreie Getränke
vorrätig zu halten und zu billigen Preisen an die Bediensteten abzugeben.
f) Mit der Vermehrung der bei Punkt ö erörterten Kaffeemaschinen und
Selterwasserapparate ist planmäßig vorzugehen.
g) Es ist überall für das Vorhandensein guten Trinkwassers zu sorgen; Zapf-
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Mitteilungen.
151
stellen sind auf den Stationen in solcher Anzahl vorzusehen, daß möglichst in
der Nahe jeder dauernden Arbeitsstelle Trinkwasser leicht zu erreichen ist.
li) Diese Bestimmungen sind sinngemäß auch auf diejenigen Arbeiter an¬
zuwenden, welche von Unternehmern in größerer Zahl auf Neubaustrecken und
bei sonstigen größeren Um- und Erweiterungsbauten beschäftigt werden. Die
Handhabe dazu bietet die durch den Erlaß vom 27. Juni 1899 (E.-Y.-B1. S. 201)
eingeführte Ergänzung der „Allgemeinen Vertragsbedingungen für die Ausführung
von Erd- u. s. w. Arbeiten u , nach welcher die Unternehmer schon jetzt ver¬
pflichtet sind, die zu einer angemessenen Verpflegung ihrer Arbeiter erforder¬
lichen Einrichtungen auf ihre Kosten zu treffen und den in dieser Beziehung an
sie herantretenden Anforderungen der bauleitenden Beamten zu genügen.
Ich vertraue, daß diese Anordnungen und die mannigfachen Einrichtungen
der letzten Jahre, welche auf die Hebung der Wohlfahrt unter den Bediensteten
abzielen, ein wirksames Mittel darstellen werden, um dem Alkoholmißbrauch zu
steuern und damit den Gefahren, welche er in sich birgt, vorzubeugen.
Berlin, den 26. Januar 1905.
Der Minister der öffentlichen Arbeiten.
An die Königlichen Eisenbahndirektionen.
Die neuere, nachfolgende Belehrungskarte Quensels, „Tatsachen über daa
Bier u , hat bei den Brauern einen Sturm der Entrüstung hervorgerufen und ihnen
Veranlassung zu einer Beschwerde an den Regierungspräsidenten gegeben. In
derselben wird dem Regierungsrat Quensel die Fähigkeit abgesprochen, ala
Vorsitzender der Steuereinschätzungskommission bei seiner antialkoholischen
Gesinnung objektiv seinen Beruf zu erfüllen; es wird ihm eine hetzerische
Tätigkeit vorgeworfen, und persönliche Angriffe und Verdächtigungen werden
darin laut.
Daß sich die Bierproduzenten gegen jeden wenden, der den Verbrauch
ihres Erzeugnisses zu schmälern sucht, wird man vom Standpunkte des Brauera
aus verstehen; es kommt aber auf die Art des Vorgehens an, und so kann die
Verdächtigung nicht scharf genug zurückgewiesen werden, daß Reg.-Rat Quensel
als preußischer Beamter sich durch seine private Ansicht verleiten lassen könnte,,
seine Berufspflicht zu verletzen. Es ist durchaus unstatthaft, die privaten An¬
schauungen des Regierungsrates Quensel über die Schädlichkeit des Biergenussea
mit seiner amtlichen Eigenschaft als Steuereinschätzungskommissar zu verquicken.
Die betreffende Karte lautet also:
„Tatsachen Ober das Bier.
1. Bier enthält neben 86—88% Wasser und 6—8% ausgelaugten Nähr¬
stoffen noch 2—5, auch mehr Prozente Alkoholgift.
2. Mit jedem Liter Bier nimmt der Mensch also 20—50 g Netto-Alkohol¬
gift in den Magen und in das Blut auf.
3. Dieses Alkoholgift greift, seinen chemischen Eigenschaften entsprechend^
alle lebenswichtigen Organe an und verändert sie: die Verdauungsorgane (Magen-
und Darmkatarrh), die Leber (Fettleber, Schrumpfleber, Gallensteine), das Her»
(Fettherz, Bierherz), die Nieren (Schrumpfniere).
4. Durch diese Gesundheitsstörungen verursacht das Bier alle die mit ihnen
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Mitteilungen.
verbundenen Schmerzen und «Beschwerden und nebenher noch die mit den
schönen Namen Gicht, Podagra ubd Zipperlein bezeichnten schmerzhaften
Krankheiten. «
5. Durch ebendieselben Eigenschaften vermindert der Biergenuß die all¬
gemeine Widerstandsfähigkeit des Körpers auch gegen Krankheitserreger aller
Art, wie er auch die Dauer fast jeder Krankheit verlängert.
6. Wegen seiner blutverderbenden Wirkungen muß der moderne Bier-
Alkoholismus auch als Hauptförderer der verheerenden Seuchen der Tuberkulose
und der Syphilis bezeichnet werden.
7. Weit entfernt, den Durst zu löschen, erzeugt das Bier, weil der Alkohol
Feuchtigkeit verzehrt, immer neuen Durst — daher der Name „süffig“ — und
verursacht dadurch die schon erwähnten Magen- und Herzerweiterungen.
8. Bier, regelmäßig genossen, verkürzt zweifellos das Leben, macht früh
alt, häßlich und klapprig auf den Beinen.
9. Durch seine, die Gehirntätigkeit schädigenden Giftbestandteile wirkt das
Bier auch lähmend und verwirrend auf die Leistungen des Verstandes und der
Intelligenz. Nach Bismarcks weisem Ausspruch macht das Bier dumm, faul und
indolent; ein Ausspruch, welcher den Ergebnissen von Erfahrung und Wissen¬
schaft vollkommen entspricht.
10. Wer will unter diesen Umständen das Bier noch fernerhin verteidigen?
Heinrich Quensel. u
Crime and Drunkenness in Australia. Victorian Yearbook, 1903, S. 303 u. ff.
Melbourne 1904.
, Der jüngste Band des „Victorischen Jahrbuchs“ enthält interessante An¬
gaben über die Verbreitung der Trunksucht in Australien. Die Fälle der Ver¬
haftungen und Anklagen ohne Verhaftung wegen Vergehens gegen die Trunken¬
heitsgesetze sind dort erstaunlich zahlreich; es kamen solche auf je 1000 Ein¬
wohner im Jahre:
1890 . 15,48
1895 . 11,11
1899 . 12,78
1900 . 13,96
1901 .14,30
1902 . 13,10
Auf einen Rückgang der Trunksucht kann aus diesen Zahlen nicht ge¬
schlossen werden. In dem Bundesstaat Tasmanien sind Vergehen der genannten
Art am wenigsten häufig, nämlich 1890 8,01 und 1902 3,48 Falle per 1000 Per¬
sonen; in Südaustralien kamen auf die gleiche Bevölkerungszahl im letzten Jahre
6,68 und in Neu-Seeland 10,42 Verstöße gegen die Trunkenheitsgesetze. In diesen
Staaten wurde pro Kopf ein geringeres Quantum Branntwein und Bier konsumiert
als in den übrigen, wo demzufolge auch die Straffälle häufiger waren. Es wird
berechnet, daß im Durchschnitt der Jahre 1892—1902 die Ausgaben für Alkohol
in ganz Australien 3 Pfund Sterling und 15 Schilling pro Einwohner, bezw.
12 Pfund Sterling und 11 Schilling (251 Mk.!) pro erwachsene männliche Person
betrugen. So schädigt der Alkohol überall nicht nur die Volksgesundheit, sondern
auch den Volkswohlstand empfindlich. Fhlgr.
Qigitized
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Der Alkoholismus
Zeitschrift zur wissenschaftlichen^rörterung der Alkoholfrage
1905 Neue Folge — Band II No. 3
..gattgaae 111,1 aas 1 «m ■ hu
I. Originalabhandlungen.
Aus der älteren Mäbigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein.
Yon
Pastor Dr. Stubbe.
9. Stimmungsbilder.
Was die Satzungen uns sagen, bedarf der Ergänzung aus dem
Leben. In welchen Gedankengängen bewegte man sich in den
Vereinen gegen das Branntweintrinken? Welche Stimmung be¬
herrschte die damalige Mäßigkeitsbewegung? Aufrufe, Gedichte
und Predigten jener Tage sollen es uns zeigen.
A. Aufrufe.
Ein Aufruf, der die Bevölkerung Altonas aufforderte, dem
Vereine beizutreten, ist seinerzeit viel gerühmt und auch in
Hamburg sehr geschätzt worden. Ich biete einige seiner Hauptsätze:
„Ein Aufruf? Ein Ruf zu den Waffen und zur Verteidigung? Nahet
sich denn ein Feind? Steht er vielleicht gar vor den Toren? Ja, liebe Mit¬
bürger, ein böser, böser Feind ist nicht nur in Annäherung und vor den Toren,
sondern dieser böse Feind hat sich bereits durch die Tore hindurch geschlichen
und ist eingedrungen in viele, ach nur zu viele Wohnungen und rumort da gar
arg und schlägt da die Möbel entzwei und trägt da die Betten zum Hause hin¬
aus und zerreißt die Kleider und prügelt die Kinder wohl gar zu Krüppeln und
mißhandelt die Frauen, und legt am Ende dem Hausvater den Strick um den
Hals, ihm die Kehle auf immer zuzuschnüren, oder treibt ihn hinaus in die
Elbe, seinen Durst auf immer zu löschen. Die Kehle, die alles verschlang, Ge¬
sundheit, Kraft, Wohlstand, Ehre, Frieden schnüret der Strick zu. Der Durst,
der nimmer zu löschen und zu stillen war, ob man auch aufgoß vom frühen
Morgen bis in die späte Nacht, löscht der Tod in der Eibe. Und wie heißt denn
dieser Feind, der sich also einschleicht in die Wohnungen und da solches Ver¬
derben stiftet, der Feind gegen den wir aufrufen? Er heißt: Branntwein.
Welches sind nun die Waffen gegen diesen Feind? Wir kennen zwei, sie
heißen Mäßigkeit und Enthaltsamkeit. Die Mäßigkeit, ja, sie ist wohl ein Schild,
aber nur ein papiemer, höchstens hölzerner Schild. Der papieme Schild fault
bald, der hölzerne wird leicht durchbohrt, und beide schützen dann nicht mehr.
Alle Trinker haben mit Mäßigkeit angefangen . . . aus selten wird oft . . . und
üer Säufer war fertig, ehe er es selbst ahnte. . .. .
Der AlkohoHamns. 1905. H
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HARVARD UN1VERS1TY
154
Pastor Dr. Stubbe.
Ein festerer, ein eiserner, ein stählerner Schild ist die Enthaltsamkeit. Er
beschützt sicher; durch ihn können selbst die schärfsten Pfeile nicht durch-
dringen* Wer diesen Schild trägt, d. h. wer gar keinen Branntwein trinkt
der und nur der ist gesichert vor seinem Gifte und Verderben. Gib dem
Teufel, sagt das Sprichwort, den kleinen Finger und er ergreift bald deine
Hand .... An dem Branntwein hat der Teufel einen Sohn bekommen, über
den er sich in der Hölle freuen muß, weil er der Hölle täglich, ja stündlich
Bewohner zuführt. Willst du sicher vor diesem Teufelssohne sein, trinke r
schmecke, rühre keinen Branntwein an! Sei enthaltsam!
Willkommen ist uns jeder, der unserm Bunde durch seine Unterschrift
beitreten und seine Verpflichtung (der Enthaltsamkeit) treu erfüllen will. Wir
täuschen nicht, wenn wir verheißen, daß dadurch manche Not gemildert, mancher
Kummer gelindert, manche Träne getrocknet, manches Gute befördert werden wird.
Wer täglioh auch nur für 2 Schilling an Branntwein sich versagt, der hat dadurch
im Jahre wenigstens 45 Mark Cour, für seine Miete erspart. Auch vom Brannt¬
weintrinken güt das Wort des frommen Sängers:
Wie’s nun ist auf Erden,
Also sollt’s nicht sein.
Laßt uns besser werden,
Gleich wird’s besser sein.“
Besonders volkstümlich war, wie wir gesehen haben, die Be¬
wegung im Westen Holsteins, in Dithmarschen. Ein AppeU aus
dem Volke an das Volk, worin Selbständigkeitsgefühl und Be¬
kennermut sich mit dem Wunsche, gebildete Kräfte in den Dienst
des Vereins zu ziehen, eigenartig paaren, ist der Aufruf an die
Bewohner Heides und der Umgegend. 1 )
Die Unterzeichneten waren bisher Mitglieder des Wöhrdener Enthaltsam¬
keitsvereins und fanden in der Teilnahme an diesem Vereine eine kräftige Stütze,,
dem Laster der Trunkenheit zu entsagen und zu wehren. Da aber die Anzahl
der Mitglieder aus Heide und Umgegend immer größer wurde, so daß sie die
Mitgliederzahl mancher Vereine übertraf, so hielten wir es angemessen, einen’
eigenen Verein zu bilden. Zu diesem Zwecke wurde unter den Heider Mit¬
gliedern des Wöhrdener Vereins die Verabredung getroffen, daß sie am 28. Juni
auf der Ziegelei vor Heide im Hause des Herrn Dedert sich versammeln
wollten, um dort den genannten Plan zur Ausführung zu bringen. Dieses ist
auch an dem bezeichneten Tage geschehen, und der neu entstandene Verein
hat sich sogleich auch einen Vorstand gewählt aus seiner Mitte. — Um nun
aber den Zweck des Vereins zu fördern, „dem unheilvollbringenden Ge¬
nüsse aller gebrannten Wasser möglichst entgegenzutreten,“* fühlen
wir uns gedrungen, dieser Mitteilung nachstehende Aufforderung hinzuzufügen.
Zunächst ersuchen wir jeden, dem das Wohl seiner Brüder, wie sein
eigenes Wohl am Herzen liegt, unserm Vereine als Mitglied beizutreten, oder
doch in seinem Vereine die Wirksamkeit des Vereins zu fördern. Aus eigener
Erfahrung ist uns leider die traurige Knechtschaft bekannt, in welcher derjenige
l ) Dithm. Ztg. 1844, No. 28.
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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein. 155
lebt, welcher dem Genüsse des Brannteweins fröhnet; und es sind wenige in der
Mitte unseres Vereins, die nicht die traurigen Folgen derselben für ihr religiöses,
bürgerliches und Familienleben empfunden haben. Noch jetzt — das ist
unsere feste Überzeugung — würden wir in diesem Zustande dahinleben, hätte
nicht der benachbarte Verein in Wöhrden uns freundlich die Hand zur Rettung
geboten. Nachdem wir nun frei geworden sind von jenem verderblichen Hange,
haben wir so recht einsehen gelernt, in welch elendem Zustande wir uns ehe¬
dem befanden, und schätzen uns nun glücklich, daß wir durch den Enthaltsamkeits¬
verein unsem Familien, unserm Gewerbe und der kirchlichen Gemeinschaft im
wahren Sinne wiedergegeben sind. Darum ergeht auch am dringendsten unsere
Aufforderung an Euch, die Ihr noch in solcher Knechtschaft lebt, Euch mit uns
zu verbinden, und das Joch dieses Eures Feindes, der Euch meist so freundlich
und gefahrlos erscheinen mag, abzuwerfen. Aber auch Ihr, die Ihr Euch freier
wähnet von jener verderblichen Gewalt, lasset dieses unser Wort nicht unbemerkt
und unbeherzigt! Es ist ja eine anerkannte Wahrheit, daß ein Trunksüchtiger
weder anderen noch sich selbst es gerne gesteht, daß er diesem Laster ergeben
ist. Wie mancher geht als Trunksüchtiger einher und glaubt selber nicht, es
zu sein! Aber ein plötzliches gänzliches Versagen dieses Genusses würde ihm
zeigen, daß schon ein Hang in ihm war, der ihn allmählich in die Reihe derer
geführt hätte, die er jetzt als leiblich und geistig Verfallene verabscheut oder
bedauert. Der Eintritt in unsem Verein würde einen solchen zum Stillestehen
zur Besinnung bringen und ihn von diesem verderblichen Wege entfernen. —
Möchten aber auch diejenigen, welche sich jener Getränke gänzlich enthalten,
doch nicht der Meinung sein, daß ihr Beitritt überflüssig sei und unsere Sache
weiter nicht fördere! Denn solche Männer sind ja eben allerorten die festesten
Stützen der Vereine gewesen: Sie sind es ja, durch welche die Schwachen ge¬
halten werden und an deren Beispiele sie sich aufrichten und in ihrem Vorhaben
befestigen sollen. An diese ergeht dämm ganz besonders auch unser Aufruf.
Und gerade die eben genannte Rücksicht, wie auch ein fühlbarer Mangel in
unserem Vereine selbst, nötigt uns zu einer besonders dringenden Bitte an die
Gebildeten in unserer Umgebung.
Unser Verein besteht nämlich aus lauter Mitgliedern, welche teils dem
Handwerkerstand, teils der Klasse der Tagelöhner angehören. Ist dieser Umstand
auch eben kein wesentliches Hindernis für das Bestehen und die Wirksamkeit
des Vereins, so würde derselbe doch gewiß unendlich gewinnen, wenn sich uns
auch Männer aus den gebildeten Ständen anschließen wollten; zumal da durch
einen aus solchen Männern bestehenden Vorstand der Verein besser eingerichtet,
geleitet und in jeder Hinsicht besser vertreten würde, und also auch um so
besser und erfolgreicher wirken könnte, als wie es gegenwärtig möglich ist.
Freilich findet hier ein Fall statt, welcher in der Geschichte der Enthaltsamkeits¬
vereine, soweit uns bekannt, einzig in seiner Art ist. Während nämlich bisher
allerorten, wo solche Vereine bestehen, die Gründung derselben von Männern
aus den gebildeten Ständen unternommen und dann das Volk, auf dessen Wohl
es dabei abgesehen war, zum Beitritt aufgefordert wurde, bittet nun im Gegen¬
teil eine Anzahl Mitglieder aus dem Volke, die aus eigenem Antriebe und nach
eigener Einsicht einen Enthaltsamkeitsverein errichtet haben, daß sich Mitglieder
aus den gebildeten Ständen ihrer doch annehmen und das von ihnen begonnene
Werk fördern wollen. Streitet dieser Fall aber auch gegen die so oft ausge¬
ll*
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156
Pastor Dr. Stubbe.
sprocheoe Behauptung, daß die Besserung des Volkes von den höheren Ständen
ausgehen müsse, so haben wir doch zu den gebildeten Männern in Heide und
Umgegend das Zutrauen, daß sie hieran keinen Anstoß nehmen, sondern viel¬
mehr bereitwillig eine Gelegenheit benutzen werden, wo sie, als Freunde des
Volkes, mit großem Erfolge des Volkes Wohl befördern können.
Nachträglich bemerken wir noch, daß unser Verein, welcher gegenwärtig
aus 26 Mitgliedern besteht, seine nächste Versammlung am 21. Juni nachmittags
um 4 Uhr in der Freischule in Heide halten wird. Der derzeit Vorstand wird
diese Versammlung leiten, wobei jeder Anwesende den Anordnungen desselben
Folge zu leisten hat.
Den 5. Juli 1844. Die Mitglieder des Heider EnthaltsamkeitsVereins.
B. Prosa und Poesie.
Man sagt mit einem gewissen Recht, daß die Stimmung einer
Zeit in der Dichtkunst am reinsten zum Ausdruck komme.
Schleswig-Holstein selbst hatte keinen Jeremias Gotthelf
oder Zschocke; für die Würdigung jener Männer, speziell des
letztgenannten bei uns ist indessen ein Zeugnis, daß man bei uns
von den Zschockeschen Erzählungen „die Branntweinpest“ und
„das Goldmacherdorf“ ins Dänische übertragen hat.
P. Paulsen, Sonderburg 1844, vgl. Alk. 1904, S. 147.
Yon Franz Hoffmann bringt das Biernatzkische Volks¬
buch 1848 eine Erzählung „der Fabrikherr“, die m. E. ebensogut
wie die Zschockesche „Branntweinpest“ und Gotthelfs „Dursli“
einer neuen modernen Auflage würdig wäre. — Aber warum
lauter Prosa!
„Wider Zopf und Philisterei rufet zu Hilfe die Poesei!“
Den uralten Trinkgedichten tritt eine neue Gattung von Gedichten
entgegen, — Gedichte und Lieder, die bisweilen mehr von gutem
Willen als großem Können Zeugnis ablegen, Tendenzgedichte der
Mäßigkeit, durch welche doch manchesmal ein warmer Herzenston
durchklingt. Yolquarts-Lunden hat die Nr. 3—6 des Ditmarsischen
Volksfreundes 1845 zu einem „Liederbuch für Vereine gegen das
Alkohol-Gift“ ausgestaltet. Als Hauptpoeten treten uns dort z. B.
Ehlers, Mumsen, Seling, Böttcher entgegen, aber auch Schles¬
wig-Holsteiner fehlen nicht. Als schleswig-holsteinische Mäßigkeits¬
dichter habe ich kennen gelernt den Pastor Vent-Hademarschen,
Schriftsteller Feld mann-Kiel, sowie die Lehrer C. Sol tau-Elms¬
horn und Feddersen-Hedewigenkoog. x ) Nur auf Landesprodukte
kommt es mir hier an.
l ) Außerdem mehrere ungenannte Größen.
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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein. 157
Der „Schlachtruf 4 erschallt:
Herbei ihr Söhne all
Des schönen Marsenlandes!
Auf Gottes Hilf vertraut
Und auf die Stärk* des Bandes,
Das innig uns verknüpft
Und unsem Mut vermehrt,
Zu siegen ob dem Feind,
Der unser Land verheert.
(Verf. ungenannt, vielleicht Volquarts?) 1 )
Er wird zum „Aufruf 4 der Vereine gegen das Branntwein¬
trinken :
Erhebe dich, o Menschenfreund
Und tritt in unsre Reih’n!
Herbei, es gilt der Menschheit Feind;
Sein Nam’ ist Branntewein.
Ziemlich platt, aber deutlich erfahren wir von ihrer Kampfes¬
weise :
' Belehrung, Beispiel, Willenskraft
Und fester Glaubensmut
Sind Waffen unsrer Ritterschaft,
Durch die man Wunder tut. (C. Sol tau).
So kämpfen wir ohn’ Unterlaß
Durch Unterlassen meist.
Wir hegen bloßen Branntweinhaß
Und trinken keinen Schnaps, weil das
Der Liebe Pflicht uns heißt. (Feddersen).
Bloßer Branntweinhaß — im übrigen ist man tolerant.
Drei Güter gab der Herr, uns zu erfrischen,
Zu stärken, zu erfreu’n;
Das Wasser und das Bier auf armen Tischen,
Auf reichen Tischen Wein.
Wer denkend trinkt, dem wird der Trunk gedeihen;
Denn mäßig wird er sein —
Wir wollen froh der Mäßigkeit uns weihen
Beim Biere, wie beim Wein. (Feldmann, Trinklied.)
„Der Menschenfreund 44 freut sich:
Heil unserm schönen Bunde,
Heil der Enthaltsamkeit,
Die schon in weiter Runde
Der Menschheit Rettung beut.
*) Der Vers wird von Seling gelegentlich angewandt, indem Zeile 2
„Vaterlandes 14 steht.
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158
Pastor Dr. Stubbe.
Vereint den Damm zu bauen,
Der noch der Nachwelt nützt,
Laßt, Brüder, voll Vertrauen,
Uns mutig tun, was nützt.
Kommt, Ihr Menschenfreunde.
Wirkt mit uns im Verein!
Wer’s redlich meint,
Bekämpf’ den Feind,
Den argen Branntewein. (Feddersen).
Der Kampf ist nicht vergeblich („Ermunterung“)
Schon schau’n im Geiste wir die Zeit
Die immer näher rückt,
Wo von dem Gifttrank ganz befreit
Das Leben schön’re Freuden beut,
Und fühlen uns beglückt.
Frisch auf d’rum stets, du kleine Schaar,
Treu der Enthaltsamkeit!
Bezeuge jetzt und immerdar,
Wie Gott durch sie ja offenbar
Das Heil der Welt erneut. (Feddersen).
Und „der Triumph“ wird gesungen:
Nimm an, o Vater, unsern Dank,
Den wir aus voller Herzen Drang
Dir opfern; durch dich sind wir frei,
Frei von des Branntweins Tyrannei.
Triumph! Hier ist Immanuel!
Er macht uns Bahn; ringsum wird’s hell.
Bald tönt in unsern Lobgesang
Des ganzen Volkes Preis und Dank. (Soltau).
Dichterisch am höchsten stehen die Lieder von Vent. Hier
einige Proben:
Wir reichen treue Hände
Einander freudig hin,
Getrost bis an das Ende
Mit brüderlichem Sinn
Den Höllengeist zu dämpfen,
Der unser Heil verzehrt,
Das Untier zu bekämpfen,
Wie sehr es sich auch wehrt.
Dithmarschen, Land der Freiheit,
Erkennet diese Schmach.
Es mannet sich mit Kühnheit
Selbst, wer gefesselt lag . . .
Im Aufblick nach oben werde der Kampf geführt!
Du nur kannst retten, unser Gott!
Du kannst den Feind besiegen!
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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein.
159
Drum laß dich jammern unsre Not,
Laß nicht dein Reich erliegen!
Mehre der Streiter Schar,
Stärke sie immerdar,
Daß, mit dir vereint,
Der Sieg über den Feind
Die treuen Kämpfer lohne!
Am Yereinsfeste darf man dankbar fröhlich sein:
Willkommen seid uns alle heut’,
Vereint zum schönen Bunde,
Daß sich so manche Seele freut
Und rühmt mit frohem Munde:
Gott stand uns kräftig bei
Und zeuget, von ihm sei
Der Anfang, das Bestehn
Des, was wir um uns sehn
ln Nähe und in Ferne.
Und ist in der Feier neu gefestigt worden.
So gehn wir mutig heim;
Der Bund sei fest geschlungen
Zum Kampf für Gottes Reich,
Bis uns der Sieg errungen!
Wie mächtig auch der Feind,
Wie stark auch seine Schar;
Mit uns ist Gott, der Herr —
Er hilft uns immerdar!
Solche Lieder (in dem Tone des Kirchen- oder Yolkssangs)
wurden bei Yereinsfeiem (und wohl auch sonst) gerne gesungen.
Ein religiöser Ton klingt in allen mir bekannten schl.-holst. Mäßig¬
keitsliedern irgendwie mit. Der Gedankengehalt ist durchweg:
Der Branntwein erscheint als der Drache oder Landesfeind; Dith¬
marschen ist gutes Schlachtfeld; der Kampf in Yereinsform führt
mit Gottes Hilfe zum Siege.
C. Predigten.
Für das Yolk hat vor 1848 die geistliche Rede als Rede eine
größere Bedeutung als hernach; als Redner tritt der Pastor hervor,
zumal auf dem Lande. Die wichtigsten uns aus der älteren
schleswig-holsteinischen Mäßigkeitsbewegung erhaltenen Reden sind
Predigten.
Eine Predigt, die Pastor Vent über den „Alkohol als Landes¬
feind“ hielt, gab Anlaß zur Gründung des Mäßigkeitsvereins zu
Hademarschen, doch wollte Yent trotz aUer Bitten sich nicht dazu
verstehen, sie drucken zu lassen.
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160
Pastor Dr. Stubbe,
Drei Predigten sind im Druck erschienen, alle drei von Vol-
quarts-Lunden. Sie sind in unserem Zusammenhänge uns nicht
nur homiletisch interessante Agitationsreden, sondern auch lehr¬
reich durch die in ihnen sich offenbarende Anschauung über den
Alkohol.
Die erste Predigt behandelt „die gebrannten Wasser“ 1 ) —
Pfingstmontag 1841 in der Kirche zu Lunden über den Text
Römer 12, 12—13 gehalten. Der Branntwein wird gezeigt:
1. nach seiner Bereitung. 2. nach seiner Verbreitung.
3. nach seinen Folgen.
„Herrscht nicht unter uns der Geist der Welt, der Finsternis, des Satans,
der wohl scheinbar nur die Gesundheit des irdischen Körpers und das Leben
dieses Leibes untergräbt, aber in Wahrheit den Geist des Menschen, ja den
ganzen Menschen, für den Christus gestorben ist, tötet und vernichtet? . . .
Wandeln nicht unter uns die Jünger dieses Geistes, getrübten Blicks, hohlen
Auges, wankenden Knies? Werden nicht unter uns über solche Diener des
höllischen Geistes Muttertränen geweint und Vaterseufzer gehört? . . . Gemeinde
des Herrn, darf die Kirche schweigen, wenn dieser seelenmordende und geist-
vernichtende Geist sein Haupt kühn erhebt . . . und Hohn ausspritzend über
die, welche diesem völkerentnervenden Geist entgegentreten wollen?“
1. Viele sehen in der Bereitung gebrannter Wasser nur ein gutes Geschäft, —
wie einst in der christlichen Urzeit manche aus Geschäftsgründen Götzenbilder
herstellten; das ward verworfen. Und doch ist der Bilderschaden, verglichen
mit dem Branntweinschaden, nur wie ein Tropfen gegen den Ozean. „Unchrist¬
lich ist es und streitet mit dem wahren Glauben an Christum, Götzenbilder zu
machen, noch mehr aber, gebrannte Wasser zu bereiten. Jene können
zur Sünde werden, . . . hier aber ist Sünde und der Sitz der Sünde.“
Und wie in der Urzeit Opfermahlzeiten dem Christen ein Ärgernis waren, so
jetzt die gebrannten Wasser: „Die Bereitung der gebrannten Wasser ist Sünde,
mehr als Sünde gegen Christum; kein Christ kann und darf sich mit derselben
abgeben.“
2. „Darf und kann ein Christ gebrannte Wasser feilbieten und aus¬
schenken?“ Nein, so wenig die alte Kirche Handel mit Gegenständen des
Götzendienstes duldete. Wir verurteilen Verbrechen, Mord, Sklavenhandel u. dgl. —
und sollten ihre Quellen, die Quellen geistiger Sklaverei, aus Gewinnsucht ver¬
breiten? „Du wirst gewogen werden auf der Wagschale der Liebe und zu leicht
befunden werden. Wie du hier im Kreise der durch den Teufel Gefesselten
lebtest, so wird dort der ewige Pfuhl dein Aufenthaltsort sein. Bruder, . . .
eile, laß ab von der erkannten Sünde, schenke nicht den Trank des Verderbens
mehr aus, halte ab alle, die ihren Durst mit Gift löschen wollen und Nahrung
suchen in der Hölle Produkt.“
3. „Furchtbar sind ja die Folgen dieses Übels, . . . unberechenbar ist der
Schade, den es hervorruft.“ — Sprüche 23,29 f.: „Nicht einen einzigen hat Schnaps
*) Mir von det störe Kongelige Bibliothek zu Kopenhagen geliehen.
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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein. 161
glücklich gemacht, sondern alle um Glück und Leben gebracht.“ ... „Wie die Kirche
ihre Wehe ausrufen muß über die Bereiter und Verbreiter dieser Pest, so noch
mehr über den Trinker; . . . denn sie vernichten den Tempel des heiligen
Geistes.“ „Jedes Glas, jeder Tropfen schadet; daher entsagt demselben.“ „Gebt
nicht eure Glieder einem Fremden zum Dienste. Erlösete Christen, liegt euch
euer Seelenheil am Herzen, so entsagt diesem Tranke gänzlich; denn er verdirbt
nicht allein den Leib, sondern auch den Geist.“
Die zweite Predigt, 1 ) gehalten am Sitzungstage desLundener
Vereins gegen den Branntwein am Sonntag Quas., 23. April 1843,.
in der Kirche zu Lunden, bezeichnet auf Grund von II. Kor. 6 t
13—18 den Alkohol als den Landesfeind; denn er ist 1. ein
Lügner, 2. ein Heuchler, 3. ein Verführer, 4. ein Räuber, 5. ein
Mörder.
„Der alte Drache ist seiner Höhle entschlüpft und füllt seinen Taumel¬
becher, aus welchem er den Völkern einen Trank darreicht, um sie zu Sklaven
zu machen und sie dem Herren zu entziehen. Er hat die Bunde gemacht zu
allen Völkern und hat alle bezaubert, daß sie ihn anbeten und sprechen: wer
ist ihm gleich, wer kann mit ihm streiten?“
„Gemeinde des Herrn! Der Feind ist seiner engen Behausung entlockt durch
den Erbfeind des Glaubens. Wie er vor ihm stand, erschrak er selbst vor seiner
Macht und fürchtete seinen Grimm. Gern hätte er ihn wieder gebunden mit
Ketten der Finsternis; allein er konnte nicht. Doch er tat, was er konnte; er
gab ihm seinen richtigen Namen, damit jeder sich vor dieser Ausgeburt der
Hölle hütete. Er nannte ihn Alkohol, das ist: Schminke. So deutet sein
Name schon Lug und Trug, sowie sein Wesen ist Heuchelei.“
Er ist wie die Schlange, äußerlich prächtig, innerlich giftig; gegen ihn gilt’s
zu kämpfen. %
1. Innere Erneuerung ist der Menschheit Ziel, Christus dazu der Weg,
aber der Feind tritt ihm entgegen, verhüllt in Alkohol, und spricht: „Ich
bin der Beglücker der Menschen, der Trost der Armen, die Kraft der Schwachen,
ich bin der Freudenspender.“ Diese Bede ist Lug und Trug; das Gegenteil von
allem bewirkt und schafft er. Er muß hinaus aus dem Lande!
2. Seine äußere Gestalt kann man ändern, doch nicht sein Wesen. Der
Fuchs ändert seinen Pelz nach Jahresfrist und Gegend, bleibt jedoch gleich falsch
dabei. Träte der Alkohol in seiner ersten einfachen Gestalt auf, so würde jeder
ihn meiden, durch seine Verstellungsgabe aber schleicht er sich allenthalben ein.
Und was sind seine Werke? Frieden will er bringen und Freundschaft stiften,
allein Haß ruft er hervor, und Feindschaft ist seine Tochter. Mag er als un¬
schuldiger Freund sich gebärden, schlicht in der Hütte oder in vornehmem Ge¬
wände bei Fürsten einherschreiten, wir erkennen sein trügerisches Feuer und
nennen ihn einen Landesfeind.
3. Er ist ein Verführer, tötet alle Gottesfurcht und vertreibt die Menschen¬
liebe. „Furchtbar, so weichet die Liebe aus (den) Herzen (der Alkoholjünger),
daß sie den Ihrigen, die sie um Brot flehen, Gift geben und so vergiften die
*) 31 8, von „det störe Kong. Bibliothek“ zu Kopenhagen geliehen.
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162
Pastor Dr. Stubbe.
Unschuldigen und töten, welchen sie selbst das Leben gaben. u „Es ist kein
Verbrechen fast, zu welchem er nicht die Kraft und den Mut gibt. u „Gemeinde
des Herrn, und ihn sollten wir ... in kleiner und vermischter Gestalt für un¬
schuldig und nicht schädlich halten? Nein, verfolgen wollen wir ihn, und wenn
er sich auch in Tropfen verwandelt,. . . und ihn nennen Verführer, der nicht
allein einzelne, sondern ganze Völker entsittlicht und in Masse zu Verbrechen
treibt.“
4. Gehet in die Häuser, wo dem Alkohol geopfert wird. Ist dort Wohl¬
stand? Der Alkohol hat ihn geraubt. Er bevölkert die Armen- und Werkhäuser;
er sendet seine Freunde in die Strafanstalten und Zuchthäuser. Er raubt die
edelsten Güter des Menschen, Zucht und Scham, ja, reißt Gottes Bild, den un¬
sterblichen Geist, aus unserer Brust. Anklagen wollen wir den Alkohol vor den
Großen und Kleinen und ihn nicht im Lande dulden!
5. Wir haben mit dem Bösen selbst zu kämpfen; daher ist Alkohol
auch so mächtig auf Erden. Er ist ein Mörder wie keiner auf Erden. „Er
verdirbt mehr denn die Pest und verzehrt mehr als die Kriegsflamme. Er ist
zerstörender als das unterirdische Rollen, ... er ist der Mörder der
Menschheit.“ Die Gesundheit des Leibes, die Kraft der Jahre und die Schön¬
heit des Körpers tötet er; bis ins dritte und vierte Glied verdirbt er den Leib
und den Geist seiner Verehrer. Woher oft der schnelle und furchtbare Tod in
so schrecklicher Gestalt? Er ist ein Seelenmörder; er vernichtet den Leib und
schleudert den Geist in die Hölle. Solange ich Kraft habe, will ich gegen den
Alkohol kämpfen, den Landesfeind.
Gemeinsam gilt es zu kämpfen; wir haben die schönsten Kampfmittel: Be-
lehrung\ Bitte, Gebet und Gebot des Herrn. Der Einzelne vermag wenig, —
„aber uns allen, vereinigt zu einem Bunde, beseelt von einem Gedanken . . .
kann er nicht widerstehen, sondern muß das Feld lassen. Frei sind wir nur
im Bunde gegen ihn.“
Die dritte Predigt, 1 ) „zum Gedächtnis des zehnjährigen Be¬
stands des am Sonntage Quas., den 23. April 1843, zu Lunden
gestifteten Vereins gegen den Alkohol“ in der Kirche zu Lunden,
Cantate 1853 gehalten, ist drei evangelisch-lutherischen Pfarrern in
Schlesien: G. Deutschmann, ß. May dorn und Karl W. Vetter
gewidmet und bietet das Kräftigste, was gegen den Schnäps in
Schleswig-Holstein geredet und geschrieben worden ist: „Der Genuß
der mit Alkohol gemengten Gottesgaben ist Götzendienst
und Sünde.“ Gott hat die Gemeinde befreit von dem Banne, der
so viele Jahre fluchbringend auf ihr ruhte; die Burgen des Feindes
sind gefallen (d. h. die Brennereien geschlossen), — doch noch immer
verlassen die Völker „die lebendige Quelle des Glücks, welche ist
der dreieinige Gott, und wählen den Flammenbom der satanischen
Dreiheit, welche sie von Gott trennt und ins ewige Verderben stürzt.
Sie verlassen die Kommunion mit dem Gottessohne, dem Gott-
J ) Vgl. meinen Art. Monatsschr. für Innere Mission 1904, S. 473 f.
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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein. 163
menschen, welcher sie zu Gott führt und Leib, Seele und Geist
heiligt, und wählen die Kommunion, welche der Teufel ihnen an¬
bietet durch seine falsche Kunst und seine Lügenprodukte.“
Text: 1. Kor. 10, 15—22. Bei den Opfermahlzeiten der Heiden
tritt der Genießende in Kommunion mit dem Teufel; so gilt auch:
„Der Genuß der mit Alkohol gemengten Gottesgaben ist Götzen¬
dienst und Sünde“; denn dieser Alkoholgenuß
1. hindert im Genießenden die Wirkung des heiligen Geistes,
2. treibt er in die Kommunion mit dem Teufel,
3. verleitet er ihn, den Teufel als seinen Gott anzuerkennen
und zu verehren,
4. zwingt er ihn, die Werke des Teufels zu vollbringen.
1. Yon den Priestern des alten Bundes ward beim Altardienst Enthaltsam¬
keit, von einem Bischof des neuen wird Nüchternheit gefordert „Der Alkohol¬
geist ist der Gegensatz des heiligen Geistes. In jenem manifestiert, inkarniert,
zeigt sich tätig der Teufel und widerstrebt den Wirkungen des heiligen Geistes.“
Er vernichtet die Glaubenskraft und Vernunft; er spült die besseren Regungen,
'welche die Kirche einer Seele gab, hinweg und preist die Sabbathschänder, welche
im Kirchort in den Tempeln des Lügengeistes auf dessen grünen Altären ihm
Opfer des Spiels und des Trunkes bringen. Selbst in die heilige Stätte dringt er
ein, weil manche vor dem Kirchgang dem Alkoholgeist den Tempel ihres Geistes
auftun. Einerlei, ob Schnaps oder süßer und bitterer Magentrank, der Alkoholgeist
täuscht dich immer und weiß dich zu halten; nur völlige Enthaltsamkeit rettet
dich; nur dann kann Gottes Geist frei in dir wirken.
2. Der Alkoholgenuß führt notwendig in die Kommunion mit dem Teufel.
Wie das Blut Christi beim Abendmahl in uns kommt, so das Satansblut beim
Branntweintrinken. Die höllgefärbte Stirn, das der Hölle entsprungene Zittern
der Hände sind Satans Malzeichen. „Der Alkoholgenuß ist die teuflische Nach¬
äffung des heiligen Abendmahls; der mit Alkoholgeist angefüllte Kelch ist der
Kelch im höllischen Sakramente der satanischen Kommunion. Durch den Alkohol¬
genuß wird die Kommunion mit dem Teufel bewirkt und festgehalten.“ Aus dem
Munde des Genießenden kommt pestilenzialischer Höllendampf, seine Rede ist
Fluch. Der Besessene wütet gegen die Seinen; er sieht unreine Tiere. „Der
Satan hat ein Feuer in ihm sich selbst bereitet, daß sein Opfer sich an demselben
ihm selbst verbrenne, ihm zum angenehmen Geruch und Opfer, das emporsteigt
in gräulichem Dunste. . . . Sein Leib brennt dann und verkohlt, daß nur, wie einst
bei der gottlosen Isabel die Hände nachbleiben, zum Zeichen, daß ein Mensch
sich in den offenen Schlund der Hölle gestürzt hat.“
3. Der Alkoholgeist will der Gott des Menschen sein. Beim Alkohol sucht
der Mensch Trost und Stärke. Bei Hochzeiten, Geburtstagen, Glücksfällen, Un¬
glück — immer wendet er sich an seinen Gott, bis er sinnenlos zu dessen Füßen
niederfällt. „Will die Arbeit des Geistes nicht vor sich gehen,-so wendet
der gelehrte Alkoholfreund sich an seinen Götzen und ruft den Götzen Alkohol
und Nikotin zum Beistände an.“ Statt zu beten, „empfängt er den unheiligen
Geist und begeistert sich durch Alkohol und Nikotin.“ Die Geistesgeburt ist dann
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Pastor Dr. Stubbe.
auch danach. Selbst der Natur will man durch Alkohol aufhelfen. „0 die Ver¬
blendeten, sie sahen nicht den Finger Gottes, wie er die Erdfrüchte geschlagen
hat, weil der Alkoholfreund sie mißbrauchte.“
4. Die Folgen bleiben nicht aus: Herzensversteinerung, Verstandesverfinste¬
rung, Bevölkerung der Strafanstalten. Die Barrikadenkämpfe sind Wahrzeichen
des Alkoholgeistes! — Wohl sagt man, daß nicht jeder Genuß zu solcher Schande
führe, — aber auch, wer nur ein wenig Feuer an den Tempel legt, verwirkt Gottes
Zorn — und kann nicht der Tropfen deiner Mäßigkeit zu einem schlammigen
Strom werden? Der Alkoholgenuß macht aus dem Menschen ein Höllenkind, —
ob langsam, um desto sicherer; das Ende kommt doch!
Alkoholgenuß ist Götzendienst und Sünde!
Ein Verbot alles Alkoholverkaufs, wie im Staate Maine, ist notwendig. Fort
mit dem Teufelskelch und allem Handel mit Satansblut!-
In diesen Predigten tritt von Anfang an — aber mehr und
mehr sich verschärfend — der Standpunkt des „Alkoholgiftgegners“
hervor, in der krassesten Form in der letzten — (der Teufel sub-
stanziiert sich im Stoff). Dort haben wir auch die Götzen Alkohol
und Nikotin als Bundesgenossen — und es wird (für die alten libe¬
ralen Mäßigkeitsmänner unerhört) ein staatliches Verbot des Ge¬
tränkehandels verlangt. — Schon hier sei erwähnt, daß der Vol-
quartssche Standpunkt vielfach (auch von Theologen) bekämpft ist.
D. Geistliches und Weltliches.
Aus den bisherigen Ausführungen ist zu erkennen, daß für das
Vereinsleben christliche oder, sagen wir lieber, religiöse Gedanken¬
reihen eine nicht geringe Bedeutung hatten; eine andere Gedanken¬
reihe ging daneben her, eine medizinisch-naturwissenschaftliche. Im
allgemeinen konnten sie sich verstehen und gemeinsam arbeiten;
gemeinsam schaute man auf einen Volksschaden. Die Theologen
hießen naturwissenschaftliche Waffen willkommen; die Mediziner
bezeichneten den Trunk auch als Laster und betrachteten seine Be¬
kämpfung als ein Werk der Menschenliebe. Im einzelnen blieb ein
Widerstreit nicht aus. Die einen fürchteten eine Zurücksetzung
oder Verflachung des Christentums, die anderen einen pfäffischen
Versuch, das Volk zu fangen und zu beherrschen.
Beides soll uns aus der Kieler Arbeit bezeugt werden.
An die Kieler Generalversammlung schrieb 12. Mai 1845 Rektor
Biernatzki namens des Friedrichstädter Vereins: 1 )
„Wir scheuen uns nicht, es auszusprechen, daß unsere Vereine der großen
Gefahr ausgesetzt sind, den Boden zu verlieren, auf welchem allein sie eine kräftige
') Der (Altonaer) Volksfreund 1845, Nr. 1.
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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein.
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Wurzel schlagen und gesunde Früchte tragen können: nämlich die wahrhaft christ¬
liche Gesinnung. Wo diese fehlt, da ist u. E. der Kampf wider den Branntwein
ein vergeblicher; und wenn sich auch äußerlich einige Erfolge herausstellen sollten,
so werden diese doch bald schwinden. 11 (Wir meinen auch), „daß, wo sich der
Kampf wider das Branntweintrinken nur wider diese Sünde als eine einzelne
Erscheinung, nicht aber ihre Wurzel, die ganze sündige Natur des Menschen,
kehrt, alles Kämpfen ein verkehrtes, darum vergebliches ist.“
Auf der Versammlung führte Pastor Carstens-Elmshorn die
Blüte seines Vereins auf den Umstand zurück, daß derselbe sich
auf das Evangelium gründe. Umgekehrt erklärten z. B. die Ad¬
vokaten Stamp-Friedrichstadt und Beccau-Husum: Bibel und
Christentum haben mit dem Verein nichts zu tun. 1 ) Um den
Widerstreit abzuschließen, richtete damals Carstens-Elmshorn „ein
brüderliches Wort an die Vereinsgenossen, allermeist an die Leiter
und Vertreter der Vereine“ über „unsere Verschiedenheit in reli¬
giöser Hinsicht und unserer Gemeinschaft“ 2 ) Er sagt darin:
„Die religiösen Aufregungen und Richtungen unserer Zeit haben auch in
unsrer Mitte ihre Freunde und Gegner, entschiedene, kampflustige, und ihre
Stimmen sind schon laut geworden, sich widerstreitende Forderungen haben wir
gehört. Von der einen Seite schallt’s: Auf christlich-kirchlichem Grunde allem
ist unsere Sache zu bauen! — Und wieder von der andern Seite: Das christlich-
kirchliche, ja das christliche Element muß bei unsrer Sache nicht zur Sprache
gebracht werden! — Und wieder von einer andern Seite: Lasset doch alles Reli¬
giöse außen vor! — Und jeder einzelnen dieser verschiedenen lauten Stimmen
pflichten gewiß im stillen Hunderte bei, und es kommt von Herzen, weil aus
Überzeugung, oder doch aus Zuneigung oder Abneigung des Herzens.
Wer sieht nicht mit mir die Einigkeit und Herzlichkeit unsrer Gemeinschaft
hierdurch bedroht? Ein ungedeihliches Stadium unsrer Gemeinschaft, ja unsrer
Sache kann dadurch bereitet werden. Brüder, soll das geschehen? Wollen wir
uns nicht einigen, das zu verhüten? Sind wir nicht freudig bereit zu jeder
Selbstverleugnung, die zur Erhaltung unsers Friedens dient, sofern sie nur von
unserm Gewissen gebilligt wird? Wohlan, lasset uns Rat halten?“
Zwei Vorschläge sind zu machen:
1. Der Ausdruck des religiösen Lebens soll berechtigt sein in unsrer Ge¬
meinschaft Für religiöse Menschen ist es natürlich, religiös zu reden — findet
dergleichen bei dir keinen Anklang, über Selbstverleugnung um der andern willen,
für die es gut ist.
2. Alle verschiedenen Erscheinungen des religiösen Lebens sollen in unsrer
Gemeinschaft als gleichberechtigt gelten. Jeder mag von seinem religiösen Stand¬
punkte aus die Sache betrachten — ein andrer soll sich dann begnügen, ohne
Anfeindung seinen Standpunkt daneben zu stellen.
l ) Ditmarser und Eiderstedter Bote 1843, Reise 25 u. 28; vgl. Dithm. Ztg.
1843, Nr. 41.
*) Der Volksfreund 1845, Nr. 4.
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Pastor Dr. Stubbe.
Anderenfalls werden die Gemüter entfremdet und unsre Vereinigung wird
Anlaß zu unsrer Zersplitterung in Parteien, und der Feind lacht und triumphiert.
Noch eins: Jeder Verein muß als ein Individuum, das seine Eigenart hat,
auch das Recht haben, etwaige Provinzial Versammlungen auf seine Weise anzu¬
ordnen (wie es d. Zt. auch Rendsburg und Kiel gehalten haben).“
Brennend wurde die Meinungsverschiedenheit in Kiel, als dort
bei Yereinsmitgliedem Mäßigkeitstraktate in Umlauf gesetzt wurden,
Feldmann kräftig dagegen protestierte und schließlich unter dem
Motto: „Die Wahrheit gebieret den Haß“ ankündigte, aus dem
Vereine treten zu wollen. 1 )
Nach anfänglicher Gegnerschaft seien die Theologen, speziell die Orthodoxen,
in den Verein getreten, dort Eroberungen zu machen. Aber sei der Branntwein-
teufel schlimm, so seien Mystizismus und Kopfhängerei die schlimmsten aller
Teufeleien (weil sie die Geistes- und Knopfnerven am meisten zerrütten). Eine
Debatte der Aufgeklärten und der Orthodoxen im Verein würde Ärgernis geben.
Wenn die Vorstände nicht helfen (gegen Missionspredigten und Traktate), so
müsse die Opposition einfach austreten. — Der Orthodoxie grolle er nicht, nur
solle sie sich nicht den Verein als Wirkungskreis erwählen; wie sie für ihre t
trete er für seine Überzeugung ein. Bei der Unwahrscheinlichkeit, ein unkon¬
fessionellen Verein gegen den Branntwein zuwege zu bringen, wolle er sich
an die — unsichtbare Kirche halten.
Dr. Valentiner und Prof. Scherck in Kiel nahmen eine ver¬
mittelnde Stellung ein: jedem ist die Art seiner Erbauung anheim¬
zugeben; eigentliche Traktate gehören nicht in den Verein; jede
Persönlichkeit und jede Richtung möge in ihrer Weise dem Verein
dienen. Das entsprach der allgemeinen Stimmung in den Vereinen.
Einige der eifrigsten theologischen Vorkämpfer (Volquarts,
Heimreich, Biernatzki) waren orthodox. Je mehr in der Kirche
selbst der alte Rationalismus von anderen kirchlichen Richtungen,
insonderheit von der Orthodoxie abgelöst wurde, desto mehr mußten
naturgemäß unter den Mäßigkeitstheologen die „Rechtgläubigen“
hervortreten, indessen kam es nur bei den Alkoholgiftgegnem zu
einer organischen Verschmelzung eines kirchlichen und antialkoholi¬
schen Systems (welches sich durch souveränes Unfehlbarkeitsbewußt-
sein auszeichnete). (Der orthodoxen Richtung gehörten aber nicht
nur Freunde, sondern auch die eifrigsten theologischen Gegner der
Vereine an, — vgl. den Abschnitt: Theologisches.) — Im allgemeinen
blieb die kirchliche „Toleranz“ in den Vereinen siegreich: So konnte
eine „herrliche Stütze“ gerade des Elmshorner Vereins, der sich „auf
*) Auseinandersetzungen im Kieler Wochenblatt und Correspondenz-BIatt,
— dazu die Schrift: „Die Mäßigkeits-Vereine in Deutschland. Erörtert aus Anlaß
meines beabsichtigten Austrittes aus dem Kieler Verein.“ Hamburg 1845, 26 S.
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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein.
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das Evangelium gründete“ und in seinen Satzungen auf das „Wort
Gottes“ berief, in den fünfziger Jahren der dortige jüdische Reli¬
gionslehrer Levy werden, wie es vorher der dortige evangelisch¬
lutherische Pastor Carstensen gewesen war.
10. Ärztliches.
So sehr man stets die gesundheitlichen Nachteile des Schnapses
betonte, hielten sich doch die Ärzte im Lande im allgemeinen von
der Mäßigkeitsbewegung zurück. Während z. B. zu Osnabrück alle
Ärzte ein gemeinsames Gutachten gegen den Branntwein erließen,
ist mir aus Schleswig-Holstein nur ein solches öffentliches Gut¬
achten bekannt geworden, das des Physikus Dr. H. E. Heseler
zu Lütjenburg. 1 ) Es lautet:
„Wenn eine wichtige, das Wohl oder Wehe der Menschheit betreffende
Angelegenheit verhandelt wird, dann ist es Pflicht eines jeden, dessen Stellung
in der Gesellschaft ihm Gelegenheit zur Erlangung von Erfahrung und Einsicht
in den angeregten Gegenstand darbietet, seine Ansichten aufrichtig und öffent¬
lich auszusprechen. Ich rede hier von den Enthaltsamkeitsvereinen, über welche
ich in wenigen Worten mein Glaubensbekenntnis ablegen will und es unbedenk¬
lich ablegen kann, da eine vieljährige und große Praxis mich in das Innere vieler
Familien eingeführt und mir Gelegenheit verschafft hat, Glück und Unglück in
denselben zu beobachten und die Ursachen davon erkennen zu lernen.
Die Erfahrung hat mich gelehrt, daß das übermäßige Branntweintrinken den
allernachteiligsten Einfluß nicht allein auf die körperliche Gesundheit, sondern
auch auf den Geist ausübt. Sehr viele Kranke sind mir vorgekommen, bei denen
dieses Laster offenbar die Ursache ihrer Leiden bildete. Krankheiten des Magens
mannigfaltiger Art, als: Appetitlosigkeit, Verhärtungen, Verengerungen, deren Folge
ein wirkliches Verhungern war; Krankheiten der Brust, als: Brustwassersucht,
Schwindsucht; Krankheiten des Gehirns, als: Stumpfsinn und Säuferwahnsinn sind
unter so vielen traurigen Folgen des übermäßigen Genusses spirituöser Getränke
diejenigen, welche ich hervorheben will. 2 ) Ich will hier nicht der moralischen
Verschlechterung der Säufer erwähnen. Die Geschichte menschlicher Verbrechen
lehrt aber, daß sehr viele Verbrecher dem Trünke ergeben waren, ehe sie von
der Bahn der Tugend und der Pflicht abwichen und die des Lasters betraten.
Aber nicht nur der übermäßige Genuß des Branntweins ist schädlich, sondern
es ist meiner Ansicht nach der mäßige Genuß desselben wenigstens entbehrlich,
wenn nicht absolut nachteilig. Ich kenne recht gut die Einwendungen, welche
*) Aus dem Itzehoer Wochenbl. abgedr. in den Bltr. des Hamb. V. g. d.
Brtwntrk. 1842, S. 99. — Hans Etlef H., geb. zu Wyk auf Föhr, seit 1816 prak¬
tischer Arzt in Heiligenhafen, Lütjenburg, Oldenburg, Neustadt, — 1868 Sanitäts¬
rat, f 4. März 1870 zu Lütjenburg.
2 ) H. führt also nicht wie Volquarts in der letzten Predigt (Kap. 9, e)
die Selbstverbrennung des Trinkers mit an.
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Pastor Dr. Stubbe.
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man gegen die Enthaltsamkeit vom Genüsse spirituöser Getränke hinsichtlich der
Arbeitenden Klasse aufstellt; ich weiß recht gut, daß man den Branntwein für
ein Präservativ gegen die nachteiligen Folgen hält, welche vieles Bier- und
Wassertrinken bei großer Hitze und schwerer Arbeit und plötzlicher Abkühlung
bei starkem Schweiße hervorbringen können; aber ich weiß auch, daß es unter
den körperlich stark arbeitenden Menschen viele gibt, die bei der Arbeit keinen
Branntwein trinken, und zwar teils aus dem Grunde, weil sie keinen mögen, und
die dennoch ebenso gesund sind als solche, welche bei der Arbeit den Präservativ¬
schnaps trinken.
Ich glaube ferner, daß die Enthaltsamkeitsvereine dadurch einen großen
Nutzen stiften, daß das von ihren Mitgliedern gegebene Beispiel der Selbstbeherr¬
schung, der Nüchternheit und Enthaltsamkeit auch die in den Verein nicht ein¬
getretenen Trinker und Säufer teilweise zur Nachahmung anreizt. Es fehlt den
letzteren t>ei der verminderten Zahl der Trinker an der früheren Aufforderung
und Verführung zum Trinken, und sie werden durch das Nachdenken über Mäßig-
keits- und Enthaltsamkeitsvereine auf sich selbst aufmerksam gemacht und ge¬
langen nach und nach dahin, das Unmoralische und Schädliche des Zuvieltrinkens
einzusehen und die lasterhafte Angewöhnung aufzugeben.
Von dem großen Nutzen, welchen die Unterlassung des Schnapstrinkens
herbeiführt, völlig überzeugt, kann ich, ich wiederhole es, nicht begreifen, wie
die Enthaltsamkeit von einem Getränk, das bekanntlich solche körper- und geist-
vernichtende Eigenschaften besitzt, Schaden verursachen sollte.
Doch das Eine muß ich noch hinzufügen: sollten die anfangs gewiß in der
edelsten Absicht errichteten Enthaltsamkeitsvereine jemals als Institute gemißbraucht
werden, um die Willensfreiheit des Menschen in Fesseln zu schlagen, dann ver¬
damme sie Gott! Dann ist es Pflicht eines jeden Rechtschaffenen, solchen
Vereinen aus allen Kräften entgegenzuarbeiten, und das kostbarste Gut, den ver¬
nünftig freien Willen des Menschen zu beschützen, da es gewiß weniger schlimm
ist, daß einzelne schwache, der Selbstbeherrschung unfähige Menschen der Trunk¬
sucht und ihren Folgen verfallen bleiben und untergehen, als daß Tausende von
willenlosen Kreaturen abgerichtet werden. Lütjenburg, 1842.“
Wie man sieht, tritt dieses Gutachten kräftig für die Mäßig¬
keitsvereine ein. Auch der Arzt redet* vom Trunk als Laster,
würdigt die Macht des guten Beispiels und fordert volle Enthalt¬
samkeit vom Branntwein. Hesel er ist Fortschrittsmann; wenn er
den Vereinen unter bestimmter Voraussetzung mit seinem Bann
droht, so kann man an ein Zweifaches denken: 1. Z. T. argwöhnte
man in der Mitarbeit des geistlichen Standes pfäffische Herrschsucht
und sah in den Vereinen Mucker- oder Pietistenmache (vgl. für
Schleswig-Holstein die Stimme Fe Id man ns). Vielleicht will H.
gegen solche Möglichkeit (die aber seiner bisherigen Erfahrung
nicht entspricht) protestieren. 2. Im östlichen Holstein nahmen
einzelne sehr angesehene Personen sich der Vereine an und be¬
stimmten manche durch ihre Stellung (Volquarts sagt einmal: mehr
durch Überredung als durch Überzeugung), den Vereinen beizutreten.
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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein. 169
Es scheint mir wahrscheinlich, daß H. aus individualistisch-persön¬
lichem Freiheitsgefühl heraus gegen diesen Mißstand gerade seiner
Landesgegend hat ankämpfen wollen; — in Amerika hat man für
die gleiche Anschauung die jedenfalls sozial sehr anfechtbare Formel
geprägt: „Besser ganz Amerika betrunken, als ein einziger Ameri¬
kaner durch Zwang nüchtern.“
Bein auf medizinischem Gebiete arbeitet Dr. Manicus 1 ) zu
Eckemförde. In einer Abhandlung über „die Trunkfälligkeit und
die Mittel dagegen“ berichtet er über das Ergebnis seiner Behand¬
lung von 10 Trunkfälligen mit der sog. „Schwedischen Kur“. (Diese
besteht darin, daß man die Säufer 8—10 Tage einschließt, und
während dieser Zeit alle Nahrungsmittel für sie mit 1 I 3 Branntwein
vermischt.) Dr. M. hat dieses Mittel probat gefunden; nur 1 von
■den 10 Säufern habe später wieder Schnaps getrunken, — die
anderen 9 seien ordentliche Menschen geworden, obgleich sie 30
bis 50 Jahre lang Säufer gewesen und nach der Kur der Einwir¬
kung der alten Trinkkumpane wieder ausgesetzt waren. — Prof.
Otto berichtete hierüber in einer Versammlung des Kopenhagener
Mäßigkeitsvereins 3. Dez. 1845. Der Verein beschloß darauf,
sämtliche Armenkommissionen und Hospitalärzte zu ähnlichen Ver¬
suchen aufzufordern. — Es ist mir nicht bekannt geworden, daß
in den Herzogtümern irgend ein Verein ähnlich gehandelt habe;
vielmehr weiß ich bei diesen nur von einer moralischen Hebung
des Kranken, und ihr Heilmittel war die Enthaltsamkeit. In der
Tat war diese Zurückhaltung berechtigt; denn es zeigte sich, daß
die Zahl der Rückfälle nach Abschluß der Kur sich stetig mehrte.
Berichtete Dr. Sonden aus Stockholm, daß von 139 Soldaten des
schwedischen Heeres, die sich der „schwedischen Kur“ unterzogen
hätten, 128 geheilt, 4 rückfällig geworden, 7 aber die Kur unter¬
brochen hätten, so ergaben „neuere Mitteilungen“ des Dr. Helving,
„daß von jenen 139 schon 95 wieder dem Trunk ergeben sind,
und von den übrigen dasselbe zu erwarten sein möchte“. Ähnliche
Erfahrungen (anfangs günstig, später schlecht) machte man im
Lazarett des Armenhauses zu Potsdam 2 ).
Besonders dankbar empfand man es, wenn Ärzte persönlich
in die Vereinsarbeit eintraten; so Valentiner zu Kiel, den ärzt-
») Bl. d. H. V. g. d. Br. 1846, S. 8.
*) Bl. d. H. Y. g. d. Br. 1846, Nr. 35. Centralblatt Nr. 2, S. 15.
Der Alkoholismus. 1905. 12
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Pastor Dr. Stubbe.
liehe Beobachtungen der Branntweinschäden zur Vereinsstiftung
trieben, 1 ) Dr. Eller-Glückstadt, Dr. Gad, Gründer und dann Vor¬
sitzender des Vereins zu Romoe (Insel Röm). 2 )
Dr. Valentin er sprach es auf der Rendsburger Generalver¬
sammlung (1844) als seine Überzeugung aus, 3 ) daß es ein ganz
sicheres Resultat der Wissenschaft sei, welches niemand bestreiten
könne, wenn er nicht auf Spitzfindigkeiten verfallen wolle: daß der
reine Alkohol zu den Giften gehöre ebensogut wie das Opium,
so daß ein Eßlöffel voll einen Erwachsenen töten müsse. Der
Branntwein sei eben dasselbe, nur durch einen Zusatz von Wasser
verdünnt, wodurch er natürlich weniger schädlich werde, während
er, in größerem Maße genossen, dieselben Wirkungen habe wie
unvermischter Alkohol. Jedenfalls sei also der Branntwein der
Gesundheit und dem Leben nachteilig, wie er denn auch durchaus
keine nährenden Bestandteile enthalte, sondern nur die Nerven
aufrege. Die gegorenen Getränke enthalten jedenfalls ein sehr viel
geringeres Maß und zwar nicht destillierten Alkohols, innig ver¬
bunden mit nährenden Substanzen; ihr Genuß rege daher freilich
auch auf, aber stärke zugleich, so daß auch nach verschwundener
Aufregung das behagliche Gefühl gehobener Lebensfunktionen bleibe.
Gelegentlich scheint sich das Geschäftsinteresse der Ärzte
gegen die Vereine gewandt zu haben. Volquarts bringt eine
Klage dieser Art an die Öffentlichkeit: „Jawohl, die Ärzte leiden
durch die Vereine sehr; was sollen sie anfangen, wenn, da deren
Zahl schon so groß ist, die Vereine um sich greifen und die Leute
vom Branntwein ablassen“. 4 ) Gegenüber solchem Mietlingswort der
Selbstsucht berührt erquickend die ideale Auffassung von der Auf¬
gabe eines Arztes, der Prof. Dr. Weber zu Kiel Ausdruck verleiht:
Der Arzt „sagt sich, daß er außer der Verpflichtung für die Ge¬
sundheit des Einzelnen auch für die Abwendung alles dessen Sorge
zu tragen hat, was die Gesundheit im allgemeinen gefährdet, wie
das die Pflicht eines jeden Staatsbürgers ist, soweit es nicht in
das Amt der Physici eingreift“. (Da nun, wie die Sektionen von
Trinkerkörpem und die tägliche Erfahrung lehren, der Branntwein
die körperliche und geistige Gesundheit schädige, so müsse der
*) Vgl. z. B. Bl. d. H. V. g. d. Br. 1843, S. 126. Kieler Wochenblatt
1843 u. 44.
*) Bl. d. H. V. g. Br. 1844, S. 139. Volquarts 1847, S. 34.
s ) Bl. d. H. V. 1844, S. 160.
4 ) (Ditm.) Volksfreund 1845, S. 35.
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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein. 171
Arzt dafür arbeiten, ihn aus der Welt zu schaffen; das könne er
am besten durch Mitarbeit in einem Verein). 1 )
Anhangsweise bemerke ich bei diesem Abschnitte, daß 1844
ein Gesundheitsapostel Ernst Mahner das Land durchzog und
„die TJrhygieine“ in öffentlichen, vielbesuchten Vorträgen verkündete.
Er hatte für seine Lehre 10 Gebote formuliert, von denen uns 1—4
und 10 angehen. 2 )
I. Strengste Enthaltung von allem gebrannten Wasser in gesunden, wie in
kranken Tagen.
II. Ebenso strenge Enthaltung von allem heißen oder warmen Wasser in
allen heute üblichen Mischungen (kein Kaffee und Tee, dagegen Wein, Fruchtsaft
und vor allem Quellwasser).
III. Entsage klug allem Scharfen, Salzigen, Bitteren, Sauren und Herben
und allem, was fault und stinkt, und gewöhne deine Natur an die seelenlabende
Milde der urinstinktlichen reinen Genüsse (Erweckung des Obsttriebes etc.).
IY. Wirf mit hochsinnigem Abscheu von dir das scharfgiftige Dampf- und
Nieskraut. Es macht schwarz und mürbe deine Zähne, unrein deinen Speichel,
trocken deinen Leib, stumpf deine Nerven, scharf dein Blut, schmutzig deine
Nase, stinkend deinen Hauch und umnebelt dir’s Hirn. — 0 heilige Natur, ver¬
gib ihnen! Denn sie wissen nicht, was sie tun.
(V. Urin8tinktmäßige Bekleidung.
.VI. Abschaffung der Federbetten.
VH. Haar und Bart ungeschoren.
VIII. Wiederbelebung des Sonneninstinktes des Körpers.
IX. Gesetz des täglichen Bades.)
X. Im Geiste der menschenbeglückenden Urhygieine sollst du das Werk
verbreiten nach allen deinen Kräften, auf daß sein Segen über alle komme.
Hier wird also Branntwein sogar als Arznei verworfen, Nikotin
dem Alkohol gleichgestellt, auch das Reizmittel Tee und Kaffee
zurückgewiesen, das Obst gepriesen und merkwürdigerweise Wein
neben Fruchtsaft gesetzt
Es ist begreiflich, daß die von den Mäßigkeitsvereinen erregten
Kreise sich für diese Naturheilkunde interessierten, aber auch, daß
sie es nicht zu einem wirklichen Bündnisse kommen ließen; es
fehlte doch nicht ganz der Eindruck einer Charlatanerie.
x ) Kieler Wochenblatt 1843, Nr. 99.
*) Ditmars. Ztg. 1844, Nr. 38.
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Die Heilstätte „Waldfrieden- 1 .
Die Heilstätte „Waldfrieden“.
Am Sonntag, dem 2. Juli, beging die Heilstätte ,,Waldfrieden“
bei Fürstenwalde a. d. Spree die Eröffnungsfeier ihrer Erweiterungs¬
bauten unter Beteiligung von Vertretern Staats- und Kommunal¬
behörden, alter und neuer Freunde. In Vertretung des Herrn
Landesdirektors der Provinz Brandenburg war Herr Landesrat
Gerhardt -Berlin erschienen; der Herr Landeshauptmann der
Provinz Sachsen entschuldigte sein Fernbleiben mit den wärmsten
Wünschen für das fernere Gedeihen der Heilstätte; dafür hatte
sich der Direktor der sächsischen Landesirrenanstalt Uchtspringe,
Herr Dr. Alt, eingefunden. Von der Königlichen Regierung zu Frank¬
furt a. 0. war Herr Königl. Baurat Förster anwesend, desgleichen
nahm der Königl. Kreisarzt, Herr Medizinalrat Dr. Schaefer-
Frankfurt a. 0., teil. Die Stadt Fürstenwalde war durch ihren
Ersten Bürgermeister, Herrn Zeidler, und den Stadtverordneten-
vorsteher, Herrn Justizrat Kolberg, vertreten; von der Armen¬
direktion der Stadt Berlin war deren Vorsitzender, Herr Stadtrat
Dr. Münsterberg, ebenso der Vorsitzende der Armendirektion
Charlottenburg, Herr Stadtrat Samter, und für die Armen¬
direktion Schöneberg Herr Salinger anwesend, sodann Ver¬
treter von Berufsgenossenschaften, Krankenkassen u. a. m.
An Stelle des durch Kranksein leider verhinderten Vorsitzen¬
den, Herrn Geh.-Med. Rat Dr. Sander, begrüßte Herr Stadtrat Dr.
Waldschmidt die Anwesenden und berichtete über die Zwecke
und Ziele der Heilstätte ,,Waldfrieden“ wie folgt:
„M. H. Wenn wir heute nach 5 Jahren — es war am 13. Juli 1900,
als die Heilstätte „Waldfrieden“ eröffnet wurde — abermals an dieser
Stelle eine Einweihungsfeier begehen und damit gleichsam in eine
zweite Periode unseres kleinen Heilstättenwesens ein treten, so ge¬
ziemt es sich wohl, einen Rückblick auf die kurze Spanne Zeit,
welche uns zum Bericht zur Verfügung steht, zu werfen und über
die Gründe Aufklärung zu geben, welche uns zur Erweiterung ge¬
führt haben. Handelte es sich lediglich um eine Vermehrung von
Bauten mit ihren Einrichtungen, so würde es mir kaum gerecht¬
fertigt erscheinen, Sie zu einem besonderen Tage herausbemüht zu
haben; es sind aber schwerer wiegende, es sind grundsätzliche
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Die Heilstätte „Waldfrieden“. 173
Änderungen, welche hier vor sich gehen, und die heute zu Ihrer
Kenntnis gelangen sollen.
Darf ich nun zunächst kurz auf die Motive zurückkommen,
welche uns veranlaßten, vor 5 Jahren diese Heilstätte ins Leben zu
rufen, so handelte es sich darum, daß in den letzten 50 Jahren
eine Reihe von (offenen) Heilstätten in Deutschland entstanden war,
welche dazu dienten, trunksüchtige Personen in eine abstinente Um¬
gebung zu bringen, ihnen durch das Beispiel zu beweisen, daß es
sich ohne Alkohol leben läßt, daß durch die Abstinenz Körper und
Geist erstarkt, dagegen die geistigen Getränke für sie wirtschaft¬
lichen, körperlichen und sittlichen Ruin bedeuten. Man hatte durch
entsprechende Beeinflussung neben der praktischen Nutzanwendung
gute Erfolge zu verzeichnen, und besonders gaben Schweizer Trinker¬
heilstätten ein hervorragendes Beispiel dafür, was erzielt werden
kann bei einer rationellen Methode. Es kam nun für unsere Ab¬
sichten ausschlaggebend hinzu, daß es in der Nähe der Reichshaupt¬
stadt keine solche Anstalt gab, während doch die Zahl derer, die
ihrer bedürftig sind, geradezu Legion ist Dafür nur ein kurzes
Beispiel: nach einer im preuß. Statist. Bureau bearbeiteten Statistik,
betitelt „Die Trinkerfürsorge in Preußen“, wurden im Jahre 1899
in den allgemeinen Heilanstalten Preußens 13610 Männer und 776
Frauen an Alkoholismus leidend gefunden. Yon diesen zusammen
14386 Personen litten 3514 (3406 Männer und 108 Frauen) an
Delirium tremens, 468 Personen (406 Männer und 62 Frauen) an
Trunkenheit und 10404 Personen (9798 Männer und 606 Frauen)
an chronischem Alkoholismus. Die Provinz Brandenburg hatte hieran
in folgender Weise Anteil: der Regierungsbezirk Potsdam wies
1268 Männer und 17 Frauen auf, zusammen 1285, bei welchen
Alkoholismus im Krankenhause konstatiert wurde; der Regierungs¬
bezirk Frankfurt hatte deren 649 Männer und 19 Frauen, zusammen
668. Die Provinz Sachsen war mit 695 Männern und 15 Frauen
beteiligt (Magdeburg mit 377 Männern und 10 Frauen, Merseburg
mit 216 Männern und 5 Frauen, Erfurt mit 102 Männern). Der
Stadtkreis Berlin verpflegte aber in demselben Zeitraum 1500 alko¬
holische Männer und 106 Frauen in seinen Krankenhäusern. Inter¬
essant ist die fernere Tatsache, daß von den in der Provinz Bran¬
denburg erkrankten 1953 Alkoholisten 1224 auf öffentliche Kosten,
580 auf Kosten der Krankenkassen verpflegt wurden. In Sachsen
wurden von obigen 710 Patienten 305 auf öffentliche Kosten, 353 auf
Kosten von Krankenkassen untergebracht Yon den 1606 Berliner
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Die Heilstätte „Waldfrieden“.
Alkoholisten entfielen den Armenlasten 874, den Krankenkassen 682.
Sie wollen gütigst bemerken, daß es sich hierbei nur um solche Kranke
handelt, die in allgemeinen Krankenanstalten, nicht aber in Irrenan¬
stalten untergebracht worden waren. (Zu den Insassen der letzteren
werde ich später zu kommen haben.) Die Reaktion auf diese Tat¬
sachen war die Gründung einer Heilstätte, die freiwillig Eintretenden
die nötige Behandlung bieten, den inneren Halt wiedergeben sollte.
Die Ermutigung hierzu lag indes nicht allein in den eben ange¬
führten, überwältigenden Zahlen, nicht allein in dem Ansporn, hier
bei uns wie in der Schweiz gute Erfolge zu erwirken, sondern vor
allem auch darin, daß in den allgemeinen Krankenanstalten die Be¬
handlung der Alkoholisten eine recht stiefmütterliche ist, ja dank
dem ganzen Apparat und der ungeheuren Ausdehnung, die die
meisten Krankenhäuser nehmen, sein muß, bei der jede individuelle
Behandlung fehlt, bedauerlicherweise nicht selten jedes Verständnis
für eine solche mangelt. — Es trat aber immer mehr die Erkennt¬
nis hervor, auch Trunksüchtigen mit geeigneten Mitteln helfen zu
können und eine Unterlassungssünde gleichsam zu begehen, sofern
man nicht tatkräftig eingreife. Es kam noch der Umstand hinzu,
daß die Alkoholfrage immer weitere Kreise zog, die Aufmerksamkeit
der breiteren Schichten der Bevölkerung erregte und die Wissen¬
schaft mehr wie vordem beschäftigte. Es haben sich die Anschau¬
ungen über die Trunksucht und ihre Behandlung dahin befestigt,
daß man heute nicht ansteht, die Trunksucht als eine Krankheit zu
erklären und die derselben Unterlegenen nicht als verkommene,
lasterhafte Individuen, sondern als Alkoholkranke anzusehen. Man
hat weiter erkannt, daß die Grundbedingung für eine rationelle Heil¬
behandlung die konsequente Durchführung der Enthaltung von allen
alkoholhaltigen Getränken, der Abstinenz, ist; und man hat ferner
erkannt, daß diese Durchführung nirgends leichter von statten geht,
als in einer Spezialanstalt, die fachwissenschaftlicher, abstinenter
Leitung untersteht —
Traten wir nun vor 5 Jahren mit unserer Heilstätte auf den
Plan, so wird sich heute die Frage aufdrängen, ob und inwiefern
die Hoffnungen und Wünsche, welche uns damals von allen Seiten
entgegengebracht wurden, ob die Erwartungen, die wir selbst ge¬
hegt, sich verwirklicht haben, welche Erfolge erzielt worden sind,
was überhaupt unsere Heilstätte geleistet hat. Die Heilstätte „Wald¬
frieden“ wurde in dem Zeitraum vom 18. Juli 1900 bis zum
heutigen Tage von 382 Personen aufgesucht; hiervon befinden sich
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Die Heilstätte „Waldfrieden 1 '.
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zur Zeit noch hier in Behandlung 26, so daß über den Heilerfolg
bei 356 Patienten zu berichten wäre. Von diesen scheiden aber
für unsere Betrachtungen folgende aus:
1. gestorben.1
2. in Irrenanstalten pp. verbracht.3
3. solche Kranke, welche innerhalb zweier Monate
gegen den Rat des Arztes die Heilstätte ver¬
ließen oder aus derselben ausgeschieden wer¬
den mußten oder zur Beobachtung hier waren 58 zus. 62
es verbleiben also 294,
welche um eine weitere Zahl solcher vermindert
werden müssen, die nach der Entlassung
verstarben (hiervon 5 durch Selbstmord) = 12
somit würden für unsere Betrachtung bleiben 282.
Nach genauer Durchsichtung der Entlassenen und bei strenger
Prüfung ihres heutigen antialkoholischen Wertes darf ich fest¬
stellen, daß sich von diesen 282 Personen bei einem Durchschnitts¬
aufenthalt von 146 Tagen bis heute 92, also 32,6 °/ 0 , abstinent
gehalten haben, es können aber auch weitere 43 oder 15,4% nicht
außer Berechnung bleiben, die sich zwar nicht abstinent, aber doch
durch ihre Mäßigkeit so gehalten haben, daß sie voll erwerbsfähig
geworden und bisher geblieben sind. Mindestens ein Jahr hindurch
nach ihrer Entlassung waren sodann noch 5 (1,7 %) abstinent oder
mäßig; während 142, also rund 50% als unheilbar angesehen werden
müssen. Interessant ist die Tatsache, daß bisher von den ent¬
lassenen Selbstzahlern 38%% abstinent, 12%% mäßig blieben,
also 51% mit guten Erfolgen zu verzeichnen sind; die Kranken
der Armenverwaltungen wiesen 22% Abstinente, 11% Mäßige,
mithin 33% Erfolge auf, die Krankenkassen-Patienten durften
mit 28% Abstinenten und 24% Mäßigen, demnach mit 52% erfolg¬
reich Behandelten entlassen werden, während die Landesver¬
sicherungsanstalten 16%% Abstinente und 16%% Mäßige,
also 33% Erfolg zu gewärtigen, die Kranken der Berufsge¬
nossenschaften aber 16% Abstinente, 50% Mäßige, also 66%%
Erfolg aufzuweisen hatten. — Es sei sodann erwähnt, daß sich unter
den selbstzahlenden Patienten 12 Entmündigte befanden, wovon
heute nach 4jähriger Entlassung sich einer abstinent gehalten hat
Unter den Kranken der Armen verbände waren ebenfalls 12 ent¬
mündigte Kranke, die indes ohne besonderen hier zu verzeichnen¬
den Erfolg aus der Heilstätte entlassen wurden. Wir dürfen dem-
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Die Heilstätte „Waldfrieden“.
nach behaupten, daß mindestens ein Drittel aller von hier
Entlassenen Dauererfolg aufzuweisen hatten, soweit man
eben von einem solchen innerhalb der verhältnismäßig kurzen Zeit
von 5 Jahren reden darf. Die vorliegenden Tatsachen, welche bei
strenger Zensur, wie ich mir erlauben möchte nochmals hervorzu¬
heben, konstatiert sind, entsprechen den Erfolgen, welche man all¬
gemein in der Schweiz annimmt, und die den Direktor des Innern
im Berner Großen Rat am 19. Mai 1900 zu folgenden Äußerungen
veranlaßten: „In sämtlichen schweizerischen Trinkerheilanstalten
fanden bis jetzt ca. 2400 Alkoholiker Aufnahme. Gewöhnlich ist
ein Aufenthalt von 6 Monaten erforderlich, hier und da auch etwas
mehr. Was die Resultate betrifft, so hat eine Nachforschung und
Zusammenstellung über das Verhalten der gewesenen Insassen von
Trinkerheilanstalten der Schweiz ergeben, daß man mindestens ein
Drittel als vollständig und definitiv gebessert betrachten kann, so
daß also von 2400 Alkoholikern 800 wieder tüchtige Bürger und
Familienangehörige geworden sind. Das ist zweifellos ein Gewinn
für das Land, wenn so viele Personen, die sonst sich selber zur
Schande, ihren Angehörigen zum Verdruß und dem Gemeinwesen
zur Last waren und es immer mehr geworden wären, dahin ge¬
bracht werden konnten, wiederum als vernünftige Menschen za
leben und so auch ihre ökonomischen Verhältnisse wieder zu ver¬
bessern“. — Dieser ministeriellen Kundgebung darf ich vielleicht
eine Verfügung des Regierungspräsidenten zu Düsseldorf vom 17. März
1902 an die Seite stellen, in der er die Landräte, Oberbürgermeister,
Bürgermeister und Gemeindevorsteher seines Bezirks auf den Wert
einer rechtzeitigen Unterbringung von Alkoholkranken in Spezial¬
anstalten aufmerksam macht und insbesondere hervorhebt, daß die
Aufwendungen, die durch den Aufenthalt eines Alkoholikers in der
Anstalt entstehen, bei erfolgreicher Kur geringer seien, als die dauern¬
den Unterstützungen, welche andernfalls dem gänzlich verkommenen,
erwerbsunfähigen Trinker oder seinen Hinterbliebenen auf Grund
des Unterstützungswohnsitzgesetzes gewährt werden müssen, zumal
wenn noch die Vererbung lasterhafter Anlagen auf die Nachkommen¬
schaft des Trinkers und das ansteckende schlechte Beispiel des
Trinkers für seine Familienangehörigen in Betracht gezogen werde.
In diesem Schreiben macht der Regierungspräsident auf die Mög¬
lichkeit aufmerksam, daß die Armenverbände nicht immer sämtliche
Kosten für die Kur zu tragen haben würden, sondern vielfach die
Familien zu einem Kostenbeitrag heranziehen könnten, dann aber
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Die Heilstätte „Waldfrieden“.
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verweist er darauf, daß Beihilfen zur Bestreitung der Kosten für
solche Unterbringungen aus dem Fonds der Provinzialverwaltung
für milde Stiftungen bewilligt werden können 1 ). —
Wer nicht im stände ist, sich in seiner Lebensstellung ein Bild
darüber zu verschaffen, was an Armenlasten dank der Trunksucht all¬
jährlich gezahlt werden muß, mag das kleine Schriftchen von Pütter
„Trunksucht und städtische Steuern“ lesen, welcher Fälle mitteilt, die
wahrlich zu denken geben; auch verweise ich denjenigen, der sich über
diese immer brennender werdende Frage unterrichten will, auf den
letzthin von Münsterberg in der technischen Hochschule zu Char¬
lottenburg gehaltenen Vortrag über „Alkoholismus und Armenpflege“,
aus dem ich zur Charakteristik hier nur den einzigen Satz mitzu¬
teilen brauchte, welcher lautet: „Wenn in Berlin nahe an 3000 Frauen
mit ihren Kindern als eheverlassen unterstützt werden müssen, so
sind in fast allen Fällen Trunksucht und Liederlichkeit des Mannes
die Hauptursache“. Aber auch die folgenden Auslassungen dieses
in der Armenpraxis sicherlich kompetenten Vorstehers der Armen-
Direktion der Stadt Berlin sind beherzigenswert:
„Die Armenpflege kann dem Übel im allgemeinen nicht nur
nicht steuern, sondern sie muß gewissermaßen noch eine Prämie
auf die Liederlichkeit setzen, indem sie in den verschiedensten
Formen Hilfe gewährt. Es ist natürlich, daß sie auch von ihrer
Seite aus Versuche macht, sich mit positiven Maßregeln hiergegen
zu wehren. In dieser Richtung liegen namentlich die Bestrebungen,
besserungsfähige Trinker in Trinkerheilstätten zu bringen, deren
gegenwärtig 40 in Deutschland bestehen. Wenn in diesen An¬
stalten, namentlich auch in den schweizerischen Anstalten günstige
Erfolge zu verzeichnen waren, so handelt es sich meist um Fälle,
die rechtzeitig genug erkannt wurden, um noch moralisch bessernd
ein wirken zu können. Die Armenpflege, namentlich der großen
Städte, wird des durch die Trunksucht verschuldeten Zustandes meist
erst so spät gewahr, daß es zu solchen Maßregeln auch schon zu
spät ist. Die durch das B. G.-B. zugelassene Entmündigung hilft
in dieser Beziehung auch nur wenig, da sie an einschränkende Vor¬
aussetzungen gebunden ist, deren Erfüllung für die Armenpflege
sehr schwierig oder, sofern nicht mehr schwierig, gleichgültig ist.
*) Während der Drucklegung dieses wird eine Verfügung des Herrn Re¬
gierungs-Präsidenten zu Potsdam d. d. 28. Juni bekannt, welcher in gleicher Weise
den benannten Behörden die Unterbringung von Alkoholkranken (in die Heilstätte
„Waldfrieden“) empfiehlt.
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Die Heilstätte „Waldfrieden“.
Sobald sie einmal anfangen muß zu unterstützen, hat die Entmün¬
digung für sie nur noch geringen Wert Alles Streben der Armen¬
pflege muß daher darauf gerichtet sein, die Trinker zu einem Zeit¬
punkte als solche zu erkennen, wo noch eine Einwirkung auf sie
möglich ist“
Sollte man nun nach diesen Urteilen von solch autoritativer
Seite nicht berechtigt sein zu meinen, daß Trinkerheilanstalten gar
nicht genug würden eingerichtet werden können, um all die Indi¬
viduen aufzunehmen, die einer Pflege und Behandlung bedürfen?
Leider steht aber auch hier die Praxis hinter der Theorie weit zu¬
rück; es wird auch hier eine gewisse Vogel Strauß-Politik getrieben;
man begnügt sich auch hier, wie leider so manchmal in der Welt,
damit, eine kleine, sich nach außen zeigende Wunde oberflächlich
zu verkleben, das innere Geschwür aber imbeachtet lassend, man flickt
und stopft das Loch immer wieder zu, bis überhaupt nichts mehr zu
flicken ist. Auf unsern Fall angewandt, würde die Übersetzung so
lauten, daß man einem Alkoholisten hundertmal Unterstützungen
zahlt, ohne aber den wahren Grund dieser Unterstützungsbedürftig¬
keit zu beachten, daß man Trinker-Familien Beihilfen gewährt, um
dem Trinker selbst indirekt dadurch Geld zum Schnaps zukommen
zu lassen. Das gilt indes nicht nur für die Armenverbände, sondern
mindestens im gleichen Maße für die Krankenkassen. Hier hat sich
zwar das Bewußtsein gerade in der letzten Zeit mehr Bahn ge¬
brochen, daß eine Heilstätten-Behandlung für Trunksüchtige allen
Palliativmitteln vorzuziehen ist. Wiewohl es leider bei der Ände¬
rung des Krankenversicherungsgesetzes im Jahre 1903 noch nicht
möglich wurde, die Bestimmungen der §§ 6 a und 26 a, nach denen
die Gemeindekrankenkassen und Ortskrankenkassen berechtigt sind,
Mitgliedern, die sich eine Krankheit durch Trunkfälligkeit zugezogen
haben, das statutenmäßige Krankengeld gar nicht oder nur teilweise
zu gewähren, zu beseitigen, so läßt sich doch erfreulicherweise kon¬
statieren, daß die Kassen sehr viel häufiger als vordem bereit sind,
eine sechsmonatliche Kur in einer Trinkerheilstätte zu bewilligen.
Während die für uns in Frage kommenden Armenverbände
sich auf einige wenige beschränken, von denen die Stadtgemeinden
Berlin und Charlottenburg die größte Rolle spielen, da die
erstere mit 32, Charlottenburg mit 27 Patienten innerhalb 5 Jahren
beteiligt war, von den übrigen nur Magdeburg, Lübeck, Bunz-
lau, Königs-Wusterhausen, Wilmersdorf und Neu-Weißen-
see mit je einem Pflegling in unserer Heilstätte vertreten waren,
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Die Heilstätte „Waldfrieden“.
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hat eine große Anzahl von Krankenkassen „Waldfrieden“ mit
Kranken beschickt und zwar besonders die Ortskrankenkasso
der Kaufleute und Apotheker (18), die Betriebskranken¬
kasse der Reichsdruckerei (2), die Betriebskrankenkasse
der Stadtgemeinde Berlin (3), die Allgemeine Ortskranken-*
kasse in Charlottenburg (5), die Krankenkasse der A. E. G. (4),
die Betriebskrankenkasse der Berliner Straßenbahn (l) f
die Kaufmännische Krankenkasse (1), die Mansfeldsche
Knappschaftskasse (1), die Krankenkasse für deutsche Gärt¬
ner (1), die Armenkommission der jüdischen Gemeinde (1),
die Betriebskrankenkasse für Teer- und Erdöl-Industrie (1),
die Zentralkrankenkasse der Maurer (2), die Zentralkranken¬
kasse der Zimmerer (2), die Zentralkrankenkasse der Tape¬
zierer (1), die Ortskrankenkasse für das Buchdruckerei¬
gewerbe (3), die Betriebskrankenkasse der Meierei C. Bolle
(1), die Ortskrankenkasse des Brauereigewerbes (1), die
Ortskrankenkasse der Gürtler (1), die Neue Maschinen¬
bauerkrankenkasse (2), die Ortskrankenkasse der Bureau¬
angestellten Berlin (1), die Ortskrankenkasse der Berliner
Hausdiener (1), die Ortskrankenkasse in Hoyerswerda (1),
die Krankenkasse der Tischlerinnung Berlin (3), die Zen¬
tralkrankenkasse der Maler (1), die Ortskrankenkasse der
Gastwirte (1), die Ortskrankenkasse der Tischler- und
Pianofabrikenarbeiter (1), die Ortskrankenkasse der Op¬
tiker, Mechaniker etc. (1), die Allgemeine Ortskrankenkasse
in Berlin (1), die Allgemeine Ortskrankenkasse der Metall¬
arbeiter (1), die Kranken- und Begräbniskasse junger Kauf¬
leute in Nordhausen (1), die Allgemeine Unterstützungs¬
kasse der Fabrik-Arbeiter und Arbeiterinnen in Köpenick
(1), die Krankenkasse des Verbandes deutscher Handlungs¬
gehilfen (1), die vereinigten freien Hilfskassen von Berlin
und Umgegend (1), sodann der Deutsche Privatbeamtenver¬
ein (1), der Verein gegen Verarmung (1). Ich darf noch hinzu¬
fügen, daß außerdem die Lagerei-Berufsgenossenschaft (3),
die Straßen- und Kleinbahn-Berufsgenossenschaft (2), so¬
wie die Brandenburgische landwirtschaftliche Berufsge¬
nossenschaft (1), ferner die Intendantur für militärische
Institute (3), die Landesdir.ektion Brandenburg (1) und der
Kreisausschuß Westhavelland (1), die Landes Versicherungs¬
anstalten Berlin (6) und Brandenburg (1) uns Kranke behufs
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Die Heilstätte „Waldfrieden“.
Heilbehandlung anvertrauten. Bemerkenswert ist endlich, daß das
Schiedsgericht für Arbeiterversicherung (Reichsversiche¬
rungsamt) uns einigemale Alkoholkranke zur Begutachtung auf
Wochen überwies, um alsdann ein Sachverständigengutachten ent¬
gegenzunehmen. (Dieser Punkt scheint mir der ganz besonderen
Erwähnung wert, indem ich hinzufüge, daß wir gern unsere Heilstätte
als Beobachtungsstation für zweifelhafte Fälle auch dem Richter zur
Verfügung stellen.) Rechnen wir alle Kranken zusammen, die wir von
den Armenverwaltungen mit 65, von den Krankenkassen mit
69, von den Berufsgenossenschaften mit 6, von Behörden mit
14 aufnehmen durften, so stehen diesen 154 Kranken, für welche
gezahlt wurde, 228 Selbstzahler gegenüber.
Wie unter den Krankenkassen wohl kaum ein Betrieb fehlt,
der durch Kranke in unserer Heilstätte vertreten war, so kann man
wohl sagen, daß unter den Selbstzahlem alle Stände zählten; mag
es sich hierbei um die sogenannten Gelehrtenberufe oder um eine
praktische Erwerbstätigkeit handeln, jeder Stand: Theologen wie
Mediziner, Juristen wie Philologen, Offiziere wie Beamte, Apotheker
wie Kaufleute, Landwirte und Gastwirte, Ingenieure und Techniker
fanden in unserer Heilstätte Aufnahme. — Es gibt leider heute
keinen Stand, der vor der Trunksucht gefeit wäre, wiewohl gewisse
Berufsarten, welche mit der Produktion und dem Vertrieb alkohol¬
haltiger Getränke zu tun haben, besonders gefährdet scheinen, das
bezieht sich insbesondere auf das Brauerei-, das Gast- und Schank-
wirtschaftsgewerbe. Wollte man da nur rechtzeitig eingreifen und
vorbeugende Maßnahmen treffen, so würde sehr viel genützt werden
können! — Sind nun auch, wie ich vorher kurz erwähnte, die
Krankenkassen allgemein heute geneigter, Alkoholkranke in Spezial¬
anstalten auf ihre Kosten unterzubringen, so lassen bedauernswerter¬
weise die Landesversicherungsanstalten nach dieser fürsorglichen
Richtung noch außerordentlich zu wünschen übrig. Es ist heute
kein Zweifel mehr darüber, daß Erwerbsunfähigkeit und Alkoholis¬
mus in engster Beziehung stehen; es kann ebenso nicht mehr be¬
zweifelt werden, daß die Zahl der Erwerbsunfähigen sich von Jahr
zu Jahr mehrt; daß bereits vielfach Vorkehrungen getroffen sind,
solche Personen unterzubringen, ohne aber dem eigentlichen Grund
ihrer Erwerbsunfähigkeit nachzuspüren und diesem Rechnung zu
tragen. Es ist dies um so bedauerlicher, als gerade den Versiche¬
rungsanstalten durch das Gesetz ein Recht gegeben ist, wie es keiner
Behörde sonst zusteht, indem die Möglichkeit besteht, die Rente zu
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Die Heilstätte „Waldfrieden“.
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entziehen, sofern der Rentenempfänger sich dem'ihm verordneten
Heilverfahren entzieht Das ist eine Maßnahme, welche so manch¬
mal mit Erfolg bei Kranken auf öffentliche Kosten zweckmäßig zur
Anwendung gebracht werden könnte, die aber natürlich vollständig
auch bei den sogenannten Selbstzahlem versagen muß. Und damit
komme ich zum augenblicklich wundesten Punkt in der ganzen
heutigen Alkoholisten-Behandlung.
Dem derzeitigen Gesetze gemäß können und dürfen die
Heilstätten für Alkoholkranke nur solche Personen aufnehmen,
welche entweder freiwillig sich in dieselben begeben, oder aber,
sofern der § 6 B. G.-B. auf sie bereits Anwendung gefunden
hat, durch ihren Vormund daselbst untergebracht werden. Da
das Bürgerliche Gesetzbuch gestattet, Rechte und Pflichten eines
Vormundes bezüglich der Unterbringung seines Mündels auf einen
Dritten zu übertragen, wird es möglich, einen entmündigten Alkohol¬
kranken gegen seinen Willen in einer Heilanstalt zurückzuhalten,
sofern der Vormund dies wünscht und ihr das Recht der zwangs¬
weisen Zurückhaltung überträgt Die Entmündigung wegen Trunk¬
sucht ist aber seit Einführung des B. G.-B., also innerhalb 5 Jahren
noch außerordentlich wenig erfolgt; sie erreichte im ganzen Deut¬
schen Reich — soweit heute bekannt — die Höchstzahl im Jahre
1903 mit 976. Es haben sich die Hoffnungen, welche man damals
an die Einführung des B. G.-B. in dieser Beziehung hegte, nicht er¬
füllt und man ist somit bei der Trinkerheilbehandlung im wesentlichen
bislang auf die Freiwilligkeit der Alkoholisten angewiesen. Aller¬
dings würde die Handhabung der Entmündigung auf die Heilung
von trunksüchtigen Personen keinen wesentlichen Einfluß haben,
da es ausdrücklich der § 681 C.-P.-O. vorschreibt, daß die Entmündi¬
gung ausgesetzt werden muß, sofern Aussicht auf Besserung besteht.
Es läßt sich demnach behaupten und auch leider durch die Tatsache
beweisen, daß entmündigte Trinker durchweg unheilbar sind. Und das
erklärt sich sehr leicht aus der einfachen Erwägung, daß Angehörige
von Trunksüchtigen alles mögliche erleiden und Jahrzehnte lang
erduldet haben, ehe sie die Entmündigung beantragen; ferner macht
eine Armenverwaltung erst dann von ihrem Rechte Gebrauch, den
Antrag wegen Entmündigung zu stellen, wenn der Betreffende alles
verwirtschaftet hat und die Gefahr des Notstandes bereits so groß
ist, daß die Familie öffentliche Unterstützung in Anspruch zu nehmen
sich genötigt sieht. Machtlos steht man solchen Fällen gegenüber,
die leider nach tausenden zählen; man sieht mit offenen Augen die
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Die Heilstätte „Waldfrieden“.
sittliche, körperliche und wirtschaftliche Verkommenheit herannahen
und über ganze Familien hereinbrechen; man begnügt sich damit,
daß man alltäglich in der Tagespresse von Trinkern liest, welche
Familienangehörige ums Leben gebracht oder andere Personen ge¬
fährdet haben, um — es gehen zu lassen, wie es geht. Hier nun
befindet man sich einer Lücke in unserer Gesetzgebung gegenüber,
welche bisher nicht gestattet, Trunksüchtige gegen ihren Willen,
ohne entmündigt zu sein, einer Anstalt überweisen zu können. Diese
Lücke auszufüllen, strebt ein auf Veranlassung des Verbandes
der Trinkerheilstätten des deutschen Sprachgebietes von
Stadtrat Kappelmann-Erfurt verfaßter „Entwurf zu einem Reichs¬
gesetz betreffend die Fürsorge für Trunksüchtige“ an, welcher für
Alkoholkranke dieselben Maßnahmen fordert, die durch das Gesetz
vom 11. Juli 1892 betreffend die Unterbringung der Geisteskranken,
Epileptischen, Idioten, Blinden und Taubstummen vorhanden sind.
Hierauf beruht unsere Hoffnung für die Zukunft der Trinkerfür¬
sorge! — Um indes schon heute, einem Bedürfnisse entsprechend
die Möglichkeit zu bieten, eine geordnete Alkoholisten-Behandlung
herbeizuführen, um schon jetzt diese Kranken aus den Irrenanstalten
in spezialistische Behandlung zu nehmen, um schon vor der Gesetz-
werdung unsere Hoffnungen und Forderungen für die Trunksüch¬
tigen oder Alkoholkranken zu verwirklichen, haben wir vor längerer
Zeit unsere Ansichten dem Herrn Landesdirektor der Provinz
Brandenburg und dem Herrn Landeshauptmann der Provinz
Sachsen vorgetragen und ein Eingehen der Provinzialbehörden
auf unsere Ideen dahin gefunden, daß sie sich vertraglich bereit
erklärt haben, uns auf eine Reihe von Jahren solche Personen,
welche auf Grund von Trunksucht eine Geisteskrankheit erworben
haben und infolgedessen in den Landesirrenanstalten untergebracht
worden sind, aus diesen überwiesen zu erhalten. Neuerdings hat
sich auch die Stadt Berlin bereit erklärt, uns ebensolche Kranke
aus den städtischen Irrenanstalten zu übergeben. Es soll zum
ersten Male der Versuch im Großen gemacht werden,
eine Spezialanstalt, welche weit über den Rahmen der
bisherigen Trinkerheilstättenarbeit hinausragt, mit
Hilfe der Provinzialbehörden durchzuführen. Und das,
,m. H., ist der eigentliche Grund, weshalb wir uns erlaubt haben,
Sie zu dem heutigen, für die gesamte Trinkerfürsorge
jedenfalls bedeutsamen Tage hierher zu bitten. Den großen
Wert in diesem unserm Vorgehen erblicke ich darin, daß die trunk-
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Die Heilstätte ,,'Waldfrieden“.
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süchtigen Personen von den eigentlichen Geisteskranken getrennt
werden — wie Ihnen bekannt sein dürfte, hat man schon vor
längerer Zeit damit begonnen, die Epileptiker aus den Irrenanstalten
zu eliminieren und sie in besondere Anstalten zu verbringen. In
sehr viel hervorragenderem Maße muß dies für die Alkoholkranken
gefordert werden, da sie nicht nur ihre Umgebung unangenehm zu
beeinflussen im stände sind, sondern weil ihnen bei den heutigen
Einrichtungen unserer Irrenanstalten nicht im vollen Umfange das
gewährt wird oder gewährt werden kann, dessen sie in erster Linie
bedürfen: die Abstinenz! Diese beiden Momente neben dem dritten
Faktor der direkten Einwirkung auf sie durch Wort und Tat sind von
so grundlegender Bedeutung, daß ich sie nicht genug hervorzuheben
vermag. Durch unser Vorgehen erhoffen wir nicht nur die größere
Aufmerksamkeit für unsere Frage, sondern wir hoffen auch die
Vorteile für das Einzelindividuum zu erreichen, die wir vorher
kurz skizzieren konnten. Ich bin mir wohl bewußt, daß unsere
Aufgabe schwer ist, daß sie nur mit äußerster Energie und Aus¬
dauer durchgeführt werden kann, aber ich glaube auch daran, daß
uns ein Ziel vorschwebt, welches Hilfe denen zu bringen im stände
ist, welche verloren schienen. Und zur ziffermäßigen Begründung
unseres Vorgehens sei es mir gestattet, noch einmal die leidige
Statistik heranzuziehen, welche ich mir eingangs gestattete, für die
allgemeinen Krankenhäuser ins Feld zu führen; ich durfte Ihnen
danach mitteilen, daß diese im Jahre 1899 von 14386 trunksüch¬
tigen Personen besucht waren. Ergänzend muß ich nun hinzu¬
fügen, daß in demselben Jahre weitere 6975 Alkoholisten in den
Irrenanstalten Preußens verbracht waren, das macht bei den in
Irrenanstalten überhaupt in jenem Jahre verpflegten 72580 Geistes¬
kranken 9,6 % Alkoholisten, oder, sofern man nur die 6259 alkoho¬
lischen Männer unter den 39259 männlichen Geisteskranken in
Berechnung zieht, rund 16% Alkoholisten aus. Da nun die einzelnen
Gegenden ganz außerordentlich verschieden nicht nur in Bezug
auf die Zahl der Geisteskrankheiten, sondern auch in Bezug auf
die Ursachen hierzu sind, so kann es nicht wundernehmen, daß
wir z. B. aus den Jahresberichten der Irrenanstalten der Stadt
Berlin erfahren, daß in Herzberge i. J. 1898/99 unter 1039 Auf¬
nahmen 39,4% Alkoholisten stehen; in Dalldorf im gleichen Jahre
bei727 aufgenommenen Männern 44,7 % Alkoholiker waren; inWuhl-
garten, der städtischen Anstalt für Epileptische, 1898/99 bei 263
Männern 55,1% Alkoholismus konstatiert wurden. Wird man uns
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Die Heilstätte „Waidfrieden“.
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da noch der Voreiligkeit zeihen können, wenn wir es unternahmen,
zunächst mal unsere Heilstätte auf 150 Betten zu erweitern? ! ? —
Es ist ja eigentümlich, daß von privater Seite die Initiative hierzu
ergriffen und Opfer gebracht werden müssen, wo es sich um eine
Fürsorge handelt, die eine öffentliche genannt werden darf; anderer¬
seits ist es bei dem heutigen Stande der Gesetzgebung begreiflich,
daß nicht sogleich die Provinzen für die Erbauung von solchen
Anstalten bereit stehen; aber auf keinen Fall wird man derartige
Einrichtungen als etwas Überflüssiges oder zu weit Gehendes hin¬
stellen dürfen. —
Es kann sich nun für uns nicht darum handeln, unsere Plätze
mit unheilbaren Kranken zu füllen, deren Defekt so groß ist, daß
sie nicht wieder herzustellen sind; unser Zweck und Ziel ist, Heil¬
erfolge zu erreichen und an dem Charakter einer Heilstätte für
„Waldfrieden“ festzuhalten. Es wird sich mit derZeit neben einer
solchen Heilanstalt noch eine Pflegestätte als etwas Unumgängliches
herausstellen. — Es ist somit unser Streben, möglichst frische Fälle,
wie man dies in der praktischen Medizin zu benennen pflegt, zu
erhalten: frische Delirien oder Kranke, die eben ihr deliröses Stadium
hinter sich haben, sich noch im Dämmerzustände befinden und
dringender Weiterbehandlung bedürfen, um nicht sofort wieder rück¬
fällig zu werden. Gerade diese Fälle von frischen Delirien sind
es, die wir gern bevorzugen, da nach der Beruhigung meist noch
die ganze Schwere des Anfalls auf ihnen lastet, der ihnen selbst
das Erkennen einer (schweren) Erkrankung beibringt, worauf man
innerhalb der Behandlungszeit immer wieder, sofern es not tut,
zurückgreifen kann. Es spricht für uns ferner die bedauerliche
Tatsache mit, daß durchweg solche Kranke, nachdem sie soeben
ihre Attacke überwunden haben, aus dem Krankenhause oder der
Irrenanstalt, wohin sie verbracht waren, entlassen werden, nicht
selten wegen Platzmangel, der für unsere inneren und äußeren
Krankenanstalten, zumal der Großstädte, fast typisch ist. — Fragen
Sie nun danach, was wir den Kranken hier anderes als die Kran¬
kenhäuser und Irrenanstalten bieten, so läßt sich die Antwort zu¬
nächst dahin präzisieren: die Versetzung der Patienten in ein
alkoholfreies Milieu. Es ist keinem Angestellten unserer Heil¬
stätte gestattet, irgend welches alkoholhaltige Getränk während seines
Engagements in und außer dem Hause zu nehmen; es ist aufs
strengste untersagt, irgend welches geistige Getränk in das Gebiet
unserer Heilstätte einzuführen; leider haben wir manchmal nach
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Die Heilstätte „Waldfrieden“.
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dieser Richtung mit dem Unverstand der „lieben“ Angehörigen zu
kämpfen, auch hin und wieder zu gewärtigen, daß einsichtslose
Kranke von ihrem Urlaub oder Ausgang zurückkommend derartiges
einführen. Es kann dies indes so gut wie niemals ungesühnt ge¬
schehen; es darf aber auch nicht durchgelassen werden, um die
Disziplin der Heilstätte in keiner Weise zu lockern. Eine gut durch¬
geführte Hausordnung, die eben durchgeführt sein muß und nicht
nur auf dem Papier stehen darf, ist einer der Grundpfeiler, die
eine Trinkerheilstätte stützen. In dieser Hausordnung steht das
Gebot der Arbeit; ohne den Eindruck erwecken zu wollen, daß
es sich bei uns um eine Arbeiterkolonie handelt, führen wir die Be¬
schäftigung als therapeutischen Faktor der Alkoholisten-Behandlung
nach Kräften durch. Yon den arbeitsfähigen Kranken kennen wir
keinen, der sich dieser vorteilhaften Bewegung nicht hingibt; vor¬
teilhaft erachten wir sie sowohl für den Körper wie für den Geist
des Kranken; es versteht sich ganz von selbst, daß hier sehr indivi¬
dualisiert werden muß, daß Vorsorge getroffen wird, daß in der
ersten Zeit nach der Aufnahme nicht zu heftig vorgegangen wird.
Deshalb hat eine solche Beschäftigungstherapie wie jede andere
Behandlungsmaßregel unbedingt der Anordnung des Arztes zu unter¬
stehen. Wie wohltuend aber eine wohldurchdachte und ebenso
durchgeführte Hausordnung mit den nötigen Anleitungen ist, kann
man bei jedem Kranken sehen, der aus seinem unsteten, willen-
und haltlosen Dasein herausgerissen in eine solche Umgebung ver¬
setzt wird, wo Pünktlichkeit und Regelmäßigkeit miteinander wett¬
eifern (Begriffe, die dem Patienten in seinem Trinkerdasein absolut
abhanden gekommen waren), vereint mit gesunden, friedlichen Ver>
hältnissen, in denen sich alles um das Wohl der Kranken dreht
Außer diesen scheinbar äußerlichen Maßnahmen hat eine psychi¬
sche Einwirkung, der Einfluß von Person zu Person, stattzu¬
haben; es muß das Bewußtsein geweckt und immer mehr vertieft
werden, daß der Grund zur Erkrankung, die Krankheit selbst dem
Alkohol zu verdanken war; es muß der Wille und der Mut ge¬
weckt werden, die Schwäche zu besiegen und es muß das Bewußt¬
sein zu heben gesucht werden, daß es nur einen Weg zur Er¬
langung des Zieles gibt, das die Behandlung hier anstrebt; daß
aber das Versagen der geistigen Kräfte unbedingt zum Abgrund
führt. Neben Hebung und Heilung des psychischen Zustandes
(deshalb fordern wir einen Psychiater für die Alkoholistenbehand-
lung) ist aber ausnahmslos die Behandlung körperlicher Leiden
Der Alkoholismuts. 1905. 13
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Die Heilstätte „Waldfrieden“.
notwendig (also bedarf es unbedingt eines Arztes in einer solchen
Anstalt). Da bei den durchweg stark eingewurzelten Leiden häufig
genug nur das Fundament zu einer psychischen Wiederherstellung
innerhalb der Anstalt gelegt werden kann und es natürlich nicht
damit abgemacht sein darf, daß während dieser Zeit dem Patienten
durch Wort und Tat zur Seite gestanden wird, haben wir unser
Augenmerk von jeher auf eine gewisse Nachbehandlung gerichtet.
Wir entlassen hier keinen Patienten, welchem nicht eindringlich
der Eintritt in einen Abstinenzverein empfohlen wird. Es ist
unser Wunsch, daß die Erfolge, welche während des Anstaltsauf¬
enthaltes erzielt werden, nach der Entlassung der Patienten dauern¬
der Kontrolle unterworfen werden; das ist zwar eine mühsame und
kostspielige, aber nicht nutzlose Arbeit Dieser haben wir die
Daten zu verdanken, die ich Ihnen vorher über unsere Heilresul¬
tate mitteilen durfte. Es schwebt uns vor, daß diese Kontrolle
nicht etwa von Polizei wegen, sondern durch Nachforschungen pri¬
vater Natur geschehn; am besten wird es immer sein, wenn die
Patienten selbst, wie wir zu unserer Freude von einer ganzen Reihe
Entlassener berichten können, im Zusammenhang mit der Heilstätte
bleiben und gern und unaufgefordert sich zu denen bekennen, die
hier gewesen und hier gesund geworden sind. Und, meine Herren,
ist es etwa eine Schande, krank gewesen zu sein und die Willens¬
kraft wiedererlangt zu haben, die Lust und Freude am Leben und
Arbeiten wiederherstellte, ist es eine Schmach, aus dem Sumpf
heraus auf eine lichte Höhe gebracht zu sein?! — Das alles sind
Maßnahmen, die eine große, öffentliche Krankenanstalt kaum zu
bewältigen vermag, die in erster Linie der freien Liebestätigkeit
erwachsen, welcher auch diese Stätte ihre Entstehung verdankt
und die in ihrer Uneigennützigkeit unter Mithilfe aller Kräfte Ziele
zu verwirklichen im stände ist, wie sie so manchmal zu erhoffen
nicht mehr gewagt werden.
Wenn ich nun noch ganz kurz den heutigen Umfang unserer
Heilstätte besprechen darf, so sei erwähnt, daß im Jahre 1899 ein
170 Morgen großes Grundstück gekauft ward, auf welchem das
Hauptgebäude nebst der Ökonomie errichtet wurde. Dieses Haus
ist für 50 Krankenbetten eingerichtet worden, welche in zwei Stock¬
werken verteilt sind. Seit genau einem Jahre, d. h. am 1. Juli
1904, wurde ein leitender Arzt angestellt; demselben ist eine Familien¬
wohnung im oberen Stock eingeräumt und dadurch die Zahl der
Betten von 50 auf 33 reduziert; diese Plätze sind für freiwillig
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Die Heilstätte „Waldfrieden“.
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eintretende Selbstzahler bestimmt Kranke, welche auf öffentliche
Kosten untergebracht sind, finden seit der Herstellung in einem
der Neubauten (A) Aufnahme. Neben diesem Hause A sind noch
zwei weitere Neubauten (B und C) mit geschlossenem Charakter
errichtet; B mit Wachräumen für die schwereren, teilweise bett¬
lägerigen Kranken, C für solche leichteren Grades, die aber doch
einer strengeren Beaufsichtigung bedürfen, wie die Patienten von A.
Die drei Häuser A, B, C haben Platz für zusammen 120 Patienten;
es ist durch die Art der Einrichtungen, wie Sie sich nachher zu
überzeugen Gelegenheit haben werden, bestens Vorsorge getroffen,
daß eine Trennung je nach Art und Äußerung der Krankheit statt¬
finden kann. Eine überaus gesunde und auch hübsche Lage der
sämtlichen Bauten gewährleistet Vorteile, wie sie nach dieser Rich¬
tung wohl kaum größer gedacht werden können. Eine elektrische
Anlage ist für die Beleuchtung und die Bewässerung aus Tief¬
brunnen, auch ist eine Zentralheizung geschaffen.
Da wir indes nicht unsere ideellen Ziele zu fördern vermögen,
ohne den realen Dingen die gebührende Berücksichtigung zu zollen,
haben wir es uns angelegen sein lassen, unsere Heilstätte auf eine
solche Grundlage zu stellen, daß sie im stände ist, sich selbst zu
erhalten. Es dürfen dabei selbstredend die Ansprüche an Aus¬
stattung und Einrichtung nicht zu hoch geschraubt werden; es haben
sich die Anlagen in den nötigen Grenzen zu halten, wie wir über¬
haupt luxuriöse Aufwendungen für derartige Zwecke als höchst be¬
dauerlich halten, von dem Standpunkte ausgehend, daß mit denselben
Mitteln relativ mehr Bedürftigen geholfen werden könnte. Zur
Verwirklichung unserer Ideen hat der ausführende Architekt, Herr
Knüpfer, mit unermüdlichem Eifer beigetragen; er hat es ver¬
mocht, in diesen ländlichen Verhältnissen in nicht ganz Jahresfrist
die drei Neubauten herzustellen, die ich Ihnen hernach zu zeigen
den Vorzug haben werde. Die geschmackvolle und gute Ausführung
ward uns durch diesen Architekten gewährleistet, der stets in engster
Beziehung zur Kunst vielfach Gelegenheit hatte, seine Kräfte zu
erproben. Persönlich sage ich Ihnen, Herr Knüpfer, gern auch
an dieser Stelle meinen herzlichen Dank für das stets freundliche,
bereitwillige Eingehen auf unsere Anregungen und die hübsche
Durchführung des Projektes, für die große Mühe, die Sie sich ge¬
geben haben, — allen Widerwärtigkeiten zum Trotz — den Plan
zur Ausführung zu bringen.
Wenn ich nun zum Schluß erwähnen darf, wie die Baugelder
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Die Heilstätte „Waldfrieden“.
zu Stande gekommen sind, so sei betont, daß wir zur Erbauung des
ersten oder Hauptgebäudes von der Landesversicherungs¬
anstalt Berlin ein Darlehn in Höhe von 70000 Mk. bei einer
3°/ 0 igen Verzinsung erhielten. Als zweite Hypothek hat uns die Lan¬
desversicherungsanstalt Brandenburg 150000Mk., zu 3 9 / 16 °/ 0
verzinsbar, gewährt; der Rest ist von privater Seite Vorschuß- oder
darlehnsweise erstattet. Es kann aber nicht unterlassen werden,
auch an dieser Stelle dankbarst derjenigen zu gedenken, welche die
Güte hatten, unser Unternehmen durch Geldspenden zu fördern.
Obenan stehen 1000 Mk., die wir der Huld Seiner Majestät des
Kaisers verdanken; es sind uns von verschiedenen Seiten Schen¬
kungen gemacht, so übergab uns der „Verein gegen das Brannt¬
weintrinken“ nach seiner Auflösung sein Vermögen von rund
4000 Mk.; aus der Jacob Plautschen Stiftung empfingen wir
3000 Mk. zur Verwendung von Freibetten. Von den Anteilschein¬
besitzern, die uns ein Darlehn zur zweiten Stelle seinerzeit ge¬
geben hatten, welches nunmehr durch die Hypothek der Landes¬
versicherungsanstalt Brandenburg zur Löschung gelangte, sind uns
folgende Spenden geworden: von Herrn Geh. Kommerzienrat Arn-
hold 2500 Mk., Herrn Generalmajor Bartels 1000 Mk., Frau Geh.
San.-Rat Bartels 1000 Mk., Herrn Dr. Bieber-Böhm 100 Mk.,'
Herrn Dr. James Fraenkel 500 Mk., Herrn Geh. Kommerzienrat
Frentzel 500 Mk., Frau Gail 1000 Mk., Herrn Bankdirektor
Gwinner 500 Mk., Frau Hanke 1000 Mk., Herrn W. Hartmann
100 Mk., Herrn Rittergutsbesitzer Keuthe 250 Mk., Herrn Professor
Dr. Liepmann 500 Mk., Herrn Rudolph Mosse 500 Mk., Herrn
Geh. Oberjustizrat Mügel 500 Mk., Herrn Dr. Albert Oliven 500 Mk.,
Herrn Verlagsbuchhändler Springer 300 Mk., Herrn Fabrikbesitzer
Steinlein 300 Mk., Herrn Kunst-Verlagshändler Werkmeister
1000 Mk., Herrn Fabrikbesitzer Wigankow 300 Mk., Herrn Bankier
Zuckermandel 100 Mk. Außerdem kann ich mit Ausdruck besten
Dankes erwähnen, daß uns von verschiedenen Anteilscheinbesitzern wie¬
derholt die Zinsen geschenkt wurden. Endlich aber habe ich dankend
zu berichten, daß uns die Stadt Berlin seit mehreren Jahren einen
Zuschuß von 1000 Mk., die Stadt Charlottenburg einmal 300 Mk.
als Betriebsbeisteuer zugewandt hat. Allen Freunden und Gönnern
sei in dieser Stunde der herzlichste Dank ausgesprochen, der um
so tiefer empfunden wird, als es uns wohl bewußt ist, daß die sozialen
Bestrebungen neuerdings Mittel und Interessen für sich in Anspruch
nehmen und zersplittern, wie kaum zuvor. Man möge indes nicht
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Die Heilstätte „Waldfrieden“.
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außer acht lassen, daß die Wurzel vieler Übel, die an dem
Marke unseres Volkes zehren, im Alkohol ruht; daß ohne
Berücksichtigung dieses die Tilgung jener Verheerungen,
mag es sich dabei um die Bekämpfung der Lungentuberkulose,
der Geschlechtskrankheiten oder der Säuglingssterblich¬
keit handeln, Stückwerk bleibt! — Daß unsere Arbeit durch
Ihr Interesse, welches Sie durch Ihre Anwesenheit bekunden,
gefördert werden wird, das darf ich Ihnen mit dem abermaligen
Ausdrucke aufrichtigen Dankes für Ihr Erscheinen zusichern; wir
bitten Sie um Ihre nachhaltige Unterstützung für ein gemeinnütziges
Werk, von dem wir wissen, daß es ein Stück schwerer sozialer
Arbeit bedeutet, von deren weiterem Ausbau wir aber zuversichtlich
eine kräftige Beisteuer zur Hebung und Förderung der gesamten
Volkswohlfahrt erwarten dürfen.“ —
Hierauf führte Herr Stadtrat Dr. Münsterberg folgendes aus:
„Im Namen der Anwesenden möchte ich mit einigen Worten dem
Ausdruck geben, was uns in diesem Momente bewegt; auch möchte
ich dem Danke Ausdruck geben, daß uns das Kuratorium Gelegen¬
heit gegeben hat, von der neuen Einrichtung der Anstalt Kenntnis
zu nehmen und neue Tendenzen kennen zu lernen. Wir alle, die
in einer großen Verwaltung stehen, erkennen mit aufrichtiger An¬
erkennung den Idealismus und die opferfreudige Zuversicht, mit
welcher von Ihrer Seite aus diese Tätigkeit betrieben wird. Wir
sind alle mit Ihnen derselben Meinung, daß es schlechterdings kein
soziales Übel gibt, dem eine größere Bedeutung zukommt und in
seiner furchtbaren Wirkung mit dem Alkoholismus verglichen werden
kann. Auch verkennen wir nicht die Bestrebungen auf dem Ge¬
biete des Heilstättenwesens. Nur waltet bei ihrer Benutzung die
Schwierigkeit vor, daß es sich um verhältnismäßig frische Fälle
handeln muß, die zu ermitteln außerordentlich schwierig ist.
Ich habe während des Vortrages gegenüber Herrn Dr. Wald¬
schmidt ein etwas schlechtes Gewissen gehabt, nachdem ich am
Vormittag die Schreiben gelesen, welche die Heilstätten Verwaltung
an die Armendirektion gerichtet hat; doch ich kann sagen, daß in¬
folge der Ausführungen des Herrn Dr. Waldschmidt die Antwort
vielleicht anders ausfallen wird, als sie sonst lediglich vom grünen
Tische aus ausfallen würde (Bravo!), aber dennoch darf ich sagen,
daß auch bei uns keine Freude am Zupflastem besteht und daß
auch wir nicht glauben, daß eine Wunde, die wir augenblicklich
nicht sahen, nicht vorhanden sei. Ich, der ich seit einer großen
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190 Die Heilstätte „Waldfrieden“.
Reihe von Jahren die vorbeugende Tätigkeit auf dem Gebiete der
Armenpflege mit allem Nachdrucke betont habe, ich weiß wohl,
daß das ganze Armen- und Wohltätigkeitswesen ein Pflasterwesen,
ist, glaube aber auch, daß wir das Pflaster nicht entbehren können,
um die Armen nicht ganz verbluten zu lassen. Die Schwierigkeit
besteht aber bei Kranken-, Versicherungs- und Irrenanstalten nicht
viel anders, da wir auch diese Fälle meist erst in einem Stadium
zu sehen bekommen, wo in der Tat am Organismus nichts mehr
zu bessern ist und wir uns auf das Pflastern beschränken müssen.
Wenn jemand das Bein gebrochen, geht er eben zum Chirurgen;
leidet er an einer Blinddarmentzündung, begibt er sich in die Klinik.
Das tut aber der Trunksüchtige nicht, der seine Arbeit hat und
dabei mehr als notwendig für Alkohol ausgibt. Er sinkt allmählich ;
die Sachen werden versetzt, die Frau hilft mit arbeiten, wenn die
Nahrungsmittel zu fehlen anfangen. Die Krankheit stellt sich ein
und das Elend ist fertig. Vielleicht viele von Ihnen werden in den
Zeitungen von der Gerichtsverhandlung gelesen haben, wo ein Mann
seine Frau in einer schrecklichen Weise mißhandelt hat Die Ehe
war anfangs glücklich, aber nach einer erhaltenen Strafe eiferte die
Frau ihrem trunksüchtigen Manne nach und es ging rasend schnell
bergab. Solche Fälle kommen uns aber so spät zur Wahrnehmung,
daß wir kaum noch etwas in der Sache tun können. Auch liegt
die Sache mit der Heilung außerordentlich schwierig.
Um einen Vergleich auch nach dieser Richtung hin anzuwenden,
so wird jemand, wenn er sich ein Bein gebrochen, es sich nicht
zum zweiten Male brechen wollen, lediglich darum, eine gute
Heilung zu erlangen. Bei der Trunksucht aber liegt die Sache
derart, als die Ursache des Übels an sich Vergnügen bereitet, daß
derjenige, welcher trinkt, ein Vergnügen empfindet und weit davon
entfernt ist, zu glauben, daß er sich überhaupt ein Übel zuzieht;
daher widersteht er, wenn aus der Anstalt entlassen, so schwer den
Verlockungen zum Trinken, woher sich der hohe Prozentsatz von 50
erklärt, der nicht geheilt wird. Es muß daher dafür gesorgt werden,
daß die Freiwilligkeit, eine gewisse Geneigtheit, sich von dem Übel
befreien zu lassen, berücksichtigt wird. Würden dann auch solche
in die Statistik aufgenommen, die wider ihren Willen in die An¬
stalt gebracht worden sind, dann würde die Statistik der Heilerfolge
noch viel ungünstiger.
Es wird also immer mehr die Aufmerksamkeit darauf zu richten
sein, daß es gelingt, die der Heilung zugänglichen Trunksüchtigen
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Die Heilstätte „Waldfrieden“.
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zu einer Zeit aufzusuchen, wo noch mit einiger Aussicht auf Er¬
folg geholfen werden kann. Ich weiß aber nicht, inwieweit zur¬
zeit das Erforderliche geschehen kann. Ich habe gehofft, daß die
Abstinentenvereine, die mit den unteren Volksschichten in häufiger
Verbindung stehen, die Zubringer der Kranken sein müßten, anstatt
sie einer Heilstätte abspenstig machen zu wollen. Es wird also
stets danach zu trachten sein, trunksüchtigen Subjekten frühzeitig
beizukommen und sie für die Heilfürsorge zu erfassen in einem
Moment, wo noch ein begründeter Erfolg vorauszusehen ist.
Ich bin aber der Ansicht, daß wir, abgesehen von den Schwierig¬
keiten, welche der Anstalt anhaften, in dem feierlichen Moment, wo
der Leiter der Anstalt sein ganzes Herz der Sache widmet, nicht ganz
zaghaft nur das hervorheben, was noch mangelhaft ist, sondern mit
einem gewissen hoffnungsvollen Ausblick in die Zukunft schauen
und an dieser Stelle, wo so viele Vertreter dieser Bestrebungen vor¬
handen sind, auch ein Samenkorn auf den Boden streuen, den zu
beackern sie tätig sind, ein Wort der Hoffnung und Zuversicht
und das Gelöbnis zurufen, daß ein jeder an seiner Stelle dies Übel
zu bekämpfen gewillt ist. Ich glaube nicht, daß auch nur einer
vorhanden ist, der nicht diesen Wunsch und diese Hoffnung hegt.
Ich möchte dem Kuratorium und den tätigen Leitern der Anstalt,
den Herren Dr. Waldschmidt und Dr. Danckwardt, den leb¬
haften Dank dafür aussprechen, daß sie als Träger der Antialkohol¬
bestrebungen und der Heilstätte „Waldfrieden“ an ihrem Teile dazu
beitragen, um dem Übel der Trunksucht zu steuern.“
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Stadtrat Kappelmann.
Entwurf für ein Reichsgesetz betreffend die Fürsorge
für Trunksüchtige 1 )«
Von
Stadtrat Kappelmann-Erfurt
Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden Deutscher Kaiser u. s. w. verordnen im
Namen des Reichs, nach erfolgter Zustimmung des Bundesrates und des Reichs¬
tages, was folgt:
§ 1. Errichtung von Heil- und Bewahr-Anstalten für Trunksüchtige
(Alkoholkranke).
Im Wege der Landesgesetzgebung ist die Errichtung öffentlicher Heil- und
Bewahr-Anstalten zum Zwecke der Heilung und Bewahrung von Trunksüchtigen
anzuordnen. Ob und unter welchen Voraussetzungen auch Privatanstalten zur
Aufnahme Trunksüchtiger in Gemäßheit dieses Gesetzes für befugt und geeignet
zu erachten sind, bestimmt gleichfalls die Landesgesetzgebung.
§ 2. Arten der Unterbringung in den Anstalten,
Der Eintritt von Trunksüchtigen in die gemäß § 1 errichteten Anstalten
kann erfolgen: •
1. Freiwillig infolge eigener Entschließung des Trunksüchtigen;
2. Zwangsweise und zwar:
a) nach erfolgter Entmündigung wegen Trunksucht oder wegen einer auf
Trunksucht zurückzuführenden Geisteskrankheit oder Geistesschwäche
(§§ 3, 4);
b) ohne vorhergehende Entmündigung auf Grund Gerichtsbeschlusses (§§ 5 ff.);
c) auf Grund eines Strafurteiles (§§ 21 bis 23).
§ 8. Zwangsweise Verbringung Entmündigter,
Die zwangsweise Verbringung kann gleichzeitig mit der Entmündigung oder
später durch besonderen Beschluß des zur Entscheidung über die Entmündigung
zuständigen Gerichts von Amts wegen oder auf Antrag angeordnet werden. An¬
tragsberechtigt ist wer nach Reichs- und Landesgesetz zur Stellung des Antrags
auf Entmündigung wegen Trunksucht befugt ist, in allen Fällen auch die durch
Landesgesetz zu bestimmende Verwaltungsbehörde des Wohnortes des Trunk¬
süchtigen.
§ 4. Verfahren im Fall des § 3.
Auf das.Verfahren gemäß § 3 finden im übrigen die Vorschriften der
§§ 680 bis 686 der Zivilprozeßordnung sinngemäße Anwendung mit der Maßgabe,
*) Vorliegender Entwurf ist der zweite. Er ist abgefaßt infolge ver¬
schiedener Beschlüsse des Vorstandes und der Mitgliederversammlungen des
„Verbandes der Trinkerheilstätten des deutschen Sprachgebietes“ auf Grundlage
des ersten in dieser Zeitschrift Jahrgang IV, Heft 4, Seite 318 ff. abgedruckten
Entwurfs. Der dort noch enthaltene Entwurf eines Preußischen Ausf. Ges. ist
jetzt nicht mit aufgenommen.
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Entwurf für ein Reichsgesetz betreffend die Fürsorge für Trunksüchtige. 193
daß das Gericht von einer erneuten Sachuntersuchung Abstand nehmen kann,
soweit solche im Entmündigungsverfahren bereits erfolgt sind.
§ 5. Zwangsweise Verbringung ohne Entmündigung.
Zwangsweise Verbringung in eine der gemäß § 1 errichteten Anstalten kann
auch ohne vorhergehende Entmündigung gegenüber solchen Personen angeordnet
werden, welche:
1. hinsichtlich ihres Verhaltens einer der Voraussetzungen des § 6 Zf. 3 des
Bürgerlichen Gesetzbuches entsprechen;
2. durch ihr Verhalten in der Trunkenheit öffentliches Ärgernis erregen, so¬
fern das Vorliegen von Trunksucht bei ihnen festzustellen ist;
8. infolge von Trunksucht als geisteskrank oder geistesschwach in eine Irren¬
oder sonstige Anstalt aufgenommen, aus derselben als gebessert oder ge¬
heilt entlassen worden sind, jedoch durch ihr Verhalten dartun, daß sie
noch nicht hinreichende Fähigkeit zur Selbstbeherrschung und zum Wider¬
stand gegen die Trunksucht besitzen.
Das Gleiche gilt gegenüber solchen Trunksüchtigen, hinsichtlich derer die
Beschlußfassung über einen gestellten Entmündigungsantrag gemäß § 681 der
Zivilprozeßordnung ausgesetzt worden ist.
§ 6. Zuständigkeit des Gerichts.
Die Anordnung der zwangsweisen Verbringung gemäß § 5 erfolgt durch
Beschluß des nach § 648 (in Verbindung mit § 680 Abs. 3) der Zivilproze߬
ordnung zuständigen Gerichtes. Im Falle des § 681 a. a. 0. kann der Beschluß
von Amts wegen oder auf Antrag, im übrigen nur auf Antrag ergehen.
§ 7. Antragsberechtigung.
Zur Stellung eines Antrags gemäß § 6 sind befugt:
1. in allen Fällen die zum Anträge auf Entmündigung wegen Trunksucht nach
Reichs- und Landesgesetz Berechtigten und die durch Landesgesetz zu be¬
stimmende Verwaltungsbehörde des Wohnortes des Trunksüchtigen;
2. im Falle des § 5 Zf. 3 dieses Gesetzes außerdem die Vorstände der dort
genannten Anstalten.
§ 8. Verfahren gemäß § 5.
Auf das Verfahren gemäß § 5 finden die Vorschriften der §§ 647, 648,
653, 657, 663, 682 und 683 der Zivilprozeßordnung sinngemäße Anwendung,
soweit nicht in den folgenden §§ 11 bis 15 etwas Abweichendes bestimmt ist.
§ 9. Vorläufige Unterbringung.
Bei Gefahr im Verzüge, insbesondere wenn es sich um einen plötzlich auf¬
tretenden Fall von delirium tremens handelt, kann das nach § 6 zuständige Ge¬
richt oder das Gericht des jeweiligen Aufenthaltsortes des Unterzubringenden eine
vorläufige Verbringung des Trunksüchtigen in eine der gemäß § 1 errichteten
Anstalten anordnen. Wird diese Anordnung nicht von dem nach § 6 zu¬
ständigen Gericht getroffen, so ist dem letzteren die Anordnung mit ihren Vor¬
gängen sofort mitzuteilen, damit dasselbe den endgültigen Beschluß gemäß § 3
oder § 6 zu erlassen in der Lage ist.
Die durch die vorläufige Unterbringung erwachsenden Kosten werden,
sofern die Unterbringung demnächst endgültig angeordnet wird, den in den §§ 19
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Stadtrat Kappelmann.
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und 20 dieses Gesetzes gedachten Kosten hinzugerechnet Wer im entgegen¬
gesetzten Fall diese Kosten zu tragen hat bestimmt die Landesgesetzgebung.
§ 10. Verfahren, Aufhebung des Beschlusses.
Die §§ 685 und 686 der Zivilprozeßordnung finden für den Fall sinngemäße
Anwendung, daß eine Wiederaufhebung des auf Verbringung lautenden Beschlusses
vor Ablauf der im Beschluß angeordneten Zeitdauer des Anstaltsaufenthaltes
(§ 16) beantragt wird.
§ 11. Fortsetzung, Gutachten eines beamteten Arztes.
Die Verbringung gemäß § 5 darf nur beschlossen werden auf Grund eines
vom Gericht nach Einleitung des Verfahrens eingeholten oder nicht früher als
zwei Wochen vor Einreichung des Antrages (§§ 6, 7) ausgestellten Gutachtens
eines beamteten Arztes. Im Falle des § 5 Zf. 3 dieses Gesetzes vertritt ein
Gutachten des leitenden Arztes der Anstalt die Stelle des Gutachtens eines be¬
amteten Arztes.
Im Falle einer vorläufigen Unterbringung (§ 9) vertritt das Gutachten eines
jeden approbierten Arztes die Stelle des Gutachtens eines beamteten Arztes.
§ 12. Fortsetzung, Einstellung des Verfahrens.
Das Verfahren gemäß §§ 8 und 5 dieses Gesetzes ist einzustellen, wenn
dem Gericht nachgewiesen wird, daß der Trunksüchtige freiwillig in eine gemäß
§ 1 errichtete Anstalt eingetreten ist Das Verfahren ist von Amts wegen sofort
wieder aufzunehmen, sobald dem Gericht bekannt wird, daß der Trunksüchtige
die Anstalt wieder verlassen hat, es sei denn, daß er eine Bescheinigung der
Anstaltsleitung vorlegen kann, wonach diese seinen Aufenthalt in der Anstalt
zum Zwecke seiner Heilung oder Bewahrung für nicht mehr erforderlich erklärt.
§ 13. Fortsetzung, Zustellungen und Beschwerde.
Der auf zwangsweise Verbringung gemäß §§ 3 und 5 dieses Gesetzes
lautende und der die Verbringung ablehnende Beschluß ist von Amts wegen in
allen Fällen auch der von der Landesgesetzgebung zu bestimmenden Verwaltungs¬
behörde des Wohnortes des Trunksüchtigen zuzustellen.
Gegen den Beschluß auf zwangsweise Verbringung steht dem Trunksüchtigen
oder seinem gesetzlichen Vertreter, gegen den ablehnenden Beschluß in allen
Fällen der Verwaltungsbehörde des Wohnortes des Trunksüchtigen das Recht der
sofortigen Beschwerde zu. Die Einlegung der sofortigen Beschwerde gegen den
Beschluß auf zwangsweise Verbringung hat keine aufschiebende Wirkung. § 572
Abs. 2 und 3 der Zivilprozeßordnung finden Anwendung. Die Anfechtungsklage
ist ausgeschlossen.
§ 14. Fortsetzung, Mitteilung des rechtskräftigen Beschlusses.
Nach Eintritt der Rechtskraft des auf Verbringung gemäß §§ 3 und 5
lautenden Beschlusses hat das Gericht von Amtswegen der Gemeindebehörde des
Wohnortes des Trunksüchtigen Mitteilung zu machen.
§ 15. Beschränkung der Geschäftsfähigkeit.
Durch die zwangsweise Verbringung eines nicht entmündigten Trunksüch¬
tigen in eine Anstalt wird seine Geschäftsfähigkeit nur insoweit beschränkt, als
es der Zweck dieser Verbringung erfordert. Jedoch ruht während der Dauer
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Entwurf für ein Reichsgesetz betreffend die Fürsorge für Trunksüchtige. 195
der Verbringung die ihm etwa zustehende elterliche Gewalt, und es kommen in
diesem Falle die Vorschriften der §§ 1676 bis 1678, 1686 des Bürgerlichen Ge¬
setzbuches zur Anwendung. Ist er durch den Aufenthalt in der Anstalt an der
Besorgung seiner Angelegenheiten verhindert, so ist ihm auf seinen Antrag vom
Gericht ein Pfleger zu bestellen; bei Zurücknahme des Antrages ist die Pfleg¬
schaft wieder aufzuheben.
§ 16. Dauer der Verbringung.
In jedem die zwangsweise Verbringung gemäß §§ 8 und 5 endgültig an¬
ordnenden Beschlüsse ist anzugeben, ob die Verbringung zum Zwecke der Heilung
oder der Bewahrung des Trunksüchtigen zu erfolgen hat. Wird die Verbringung
zum Zwecke der Heilung angeordnet, so ist zugleich auf Grund des erstatteten
ärztlichen Gutachtens die Dauer des Aufenthalts in der Anstalt zu bestimmen.
Ist im Falle des § 8 in dem voraufgegangenen Entmündigungsverfahren ein ärzt¬
liches Gutachten nicht eingeholt worden, so ist ein solches vor Erlaß des die
Verbringung anordnenden Beschlusses einzuholen. Die Dauer des zum Zwecke
der Heilung stattfindenden Aufenthalts in der Anstalt soll auf mindestens ein
Jahr und darf nicht auf mehr als zwei Jahre festgesetzt werden. Die Ver¬
längerung des Aufenthalts darf nur auf Grund eines erneuten Gerichtsbeschlusses
und des Gutachtens des ärztlichen Leiters derjenigen Anstalt angeordnet werden,
in welcher der Trunksüchtige sich befindet. Auf das Verfahren finden die Vor¬
schriften der §§ 6 bis 8, 13 bis 15 dieses Gesetzes mit der Maßgabe Anwendung,
daß eine erneute Sachuntersuchung nach freiem Ermessen des Gerichts unter¬
bleiben kann.
§ 17. Vorzeitige Entlassung.
Die vorzeitige Entlassung eines zur Heilung und die Entlassung eines zur
Bewahrung zwangsweise verbrachten Trunksüchtigen kann — abgesehen von dem
Falle des § 10 dieses Gesetzes — nur erfolgen durch Verfügung der nach Landes¬
gesetz zur Ausführung der Verbringung zuständigen Behörde auf Grund eines
Gutachtens des ärztlichen Leiters der Anstalt. Die vorzeitige Entlassung ist seitens
der Anstaltsleitung sofort dem Gericht und der durch Landesgesetz zu be¬
stimmenden Verwaltungsbehörde des letzten Wohnortes des Entlassenen mit¬
zuteilen. Sie erfolgt stets nur probeweise; der Entlassene kann bis zum Ablaufe
der gerichtsseitig gestehen Frist jederzeit ohne erneutes gerichtliches Verfahren
zwangsweise wieder in die Anstalt zurückgeführt werden. Soll oder will der
vorzeitig Entlassene einen andern Aufenthaltsort nehmen, als seinen letzten Wohn¬
ort, so ist außerdem der durch Landesgesetz zu bestimmenden Verwaltungsbehörde
des ersteren Mitteilung zu machen.
§ 18. Benachrichtigung von der endgültigen Entlassung.
Von jeder endgültigen Entlassung eines zwangsweise verbrachten Trunk¬
süchtigen hat die Anstaltsleitung sofort:
1. dem Gericht, welches die Verbringung beschlossen hat,
2. der Gemeinde- und der durch Laüdesgesetz zu bestimmenden Verwaltungs¬
behörde des letzten Wohnortes des Entlassenen
unter kurzer Äußerung über das Verhalten des Entlassenen in der Anstalt, den
Erfolg der Anstaltsbehandlung und den vom Entlassenen angegebenen Ort seines
nächsten Aufenthaltes Nachricht zu geben. Das Gericht hat den etwa bestellten
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Stadtrat Kappelmann.
Vormund oder Pfleger, in Ermangelung solcher die ihm bekannten nächsten An¬
gehörigen des Entlassenen seinerseits von der erfolgten Entlassung und den ihm
mitgeteilten nächsten Aufenthaltsort des Entlassenen zu benachrichtigen.
§. 19. Kosten.
Die Kosten der zwangsweisen Verbringung nach der Anstalt, der etwa ge¬
forderten Ausstattung und des Aufenthalts in der Anstalt haben der Trunksüchtige
oder im Falle seines Unvermögens die nach Gesetz zur Leistung des Unterhalts
für ihn Verpflichteten zu tragen.
§ 20. Vorbehalte für die Landesgesetzgebung.
Der Landesgesetzgebung bleibt — abgesehen von der Vorschrift des § 1
dieses Gesetzes — Vorbehalten, die zur weiteren Ausführung erforderlichen Be¬
stimmungen zu treffen. Insbesondere hat die Landesgesetzgebung Vorschriften zu
erlassen über die Einrichtung und Überwachung der in § 1 gedachten Anstalten,
über die zur Ausführung der zwangsweisen Verbringung zuständigen Behörden
und über die Tragung der Kosten der zwangsweisen Verbringung und des
Anstaltsaufenthaltes, soweit diese Kosten aus den Mitteln des Trunksüchtigen
selbst oder der nach Gesetz zu seinem Unterhalt Verpflichteten nicht gedeckt
werden können.
§ 21. Zwangsverbringung durch Strafurteil.
Wer im trunkenen Zustande ein Verbrechen oder eines der folgenden
Vergehen:
Widerstand gegen die Staatsgewalt,
Landfriedensbruch,
Gotteslästerung,
Sittlichkeitsvergehen nach §§ 173, 175, 182, 183 des Str.-G.-B.,
gefährliche oder gemeinschaftliche Körperverletzung (§ 223 a, 227 des
Str.-Ges.-B.),
Sachbeschädigung nach §§ 304, 305 des Str.-Ges.-B.,
begeht und deswegen bestraft oder wegen mangelnder Zurechnungsfähigkeit in¬
folge trunkenen Zustandes bei Begehung der Tat freigesprochen wird, kann durch
Urteil des erkennenden Gerichts auch neben der etwa verhängten Strafe zur
Heilung oder Bewahrung einer gemäß § 1 errichteten Anstalt auf die Dauer
einer im Urteil zu bestimmenden Zeit, die bei Überweisung zur Heilung zwei
Jahre nicht übersteigen darf, überwiesen werden. Die Überweisung kann von
Amts wegen oder auf Antrag der Staatsanwaltschaft ausgesprochen werden.
Die durch die Verbringung und den Anstaltsaufenthalt entstehenden Kosten
werden als Kosten des Strafvollzuges angesehen, soweit gleichzeitig eine Verur¬
teilung zu Strafe erfolgt ist. Andernfalls richtet sich die Tragung der Kosten
nach den in den einzelnen Bundesstaaten bestehenden Vorschriften, welche hin¬
sichtlich der gemäß § 56 des Strafgesetzbuches einer Besserungsanstalt Über¬
wiesenen in Geltung sind.
§ 22. Fortsetzung.
Der § 860 des Beichsstrafgesetzbuches enthält folgende neue Bestimmung:
(Mit Geldstrafe bis zu 150 Mk. oder mit Haft wird bestraft):
15. wer in einem selbstverschuldeten Zustande ärgemiserregender Trunkenheit
an einem öffentlichen Orte betroffen wird. Handelt es sich um einen ge¬
wohnheitsmäßigen Trinker (Trunksüchtigen), so tritt Haftstrafe ein.
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Entwurf für ein Reichsgesetz betreffend die Fürsorge für Trunksüchtige. 197
§ 23. Fortsetzung.
Auf die gemäß § 22 zu Haftstrafe, sowie auf die gemäß § 361 Zf. 5 des
Strafgesetzbuches wegen Trunks Verurteilten findet der § 362 des Strafgesetz¬
buches mit der Maßgabe Anwendung, daß die Landespolizeibehörde Unterbringung
des Verurteilten in eine der gemäß § 1 dieses Gesetzes errichteten Anstalten
anordnen kann.
§ 24. Strafbestimmungen,
Wer, abgesehen von dem Fall des § 120 des Strafgesetzbuches, einen
Trunksüchtigen der gerichtlich angeordneten Verbringung in eine Anstalt entzieht
oder ihn verleitet, sich der Verbringung zu entziehen, oder wer ihm hierzu oder
zum Entweichen aus der Anstalt vorsätzlich behilflich ist, wird mit Gefängnis
bis zu zwei Jahren und mit Geldstrafe bis zu 1000 Mk. oder mit einer dieser
Strafen bestraft.
§ 25. Fortsetzung.
' Wer einem in einer Trinkeranstalt untergebrachten Trunksüchtigen ent¬
gegen dem für die Anstalt geltenden Verbot alkoholische Getränke verabfolgt oder
ihm zur Erlangung solcher behilflich ist, oder wer heimlich alkoholische Getränke
in eine Trinkeranstalt einführt, wird mit Geldstrafe bis zu 150 Mk., im Unver¬
mögensfalle mit entsprechender Haft bestraft.
§ 26.
Der § 34 des deutschen Gerichtskostengesetzes erhält folgenden Zusatz:
Dieselbe Gebühr wird auch erhoben für die Entscheidung einschließlich des
Verfahrens über zwangsweise Verbringung eines Trunksüchtigen in eine Heil-
und Bewahranstalt (Reichsgesetz betreffend die Fürsorge für Trunksüchtige
vom.).
Erfolgt die Entscheidung während eines schwebenden Entmündigungsver¬
fahrens, so wird die Gebühr nur einmal erhoben.
§ 27.
Dieses Gesetz tritt am.in Kraft.
Urkundlich u. s. w.
Begründung.
A. Allgemeines.
Daß die Trunksucht eine schwere Volkskrankheit ist, deren Heilung anzu¬
streben neben anderen Faktoren auch dem Staate obliegt, bedarf heute einer
näheren Begründung und Beweisführung nicht mehr. Eine der wichtigsten Auf¬
gaben dabei bleibt die Fürsorge für die Trunksüchtigen selbst. Der Trunksüchtige
— mag er auch in den weitaus meisten Fällen allein die Schuld an seinem Zu¬
stand tragen — muß nach der heute in ärztlichen Kreisen überwiegenden, auch
von anderer, namentlich juristischer Seite anerkannten Ansicht der Wissenschaft
als ein Kranker angesehen werden, der der Heilung und Bewahrung bedarf. Mit
der Anschauung: die Trunksucht an sich sei lediglich ein Laster, eine Be¬
tätigung böser Neigungen aus freiem Willen, die deshalb als Laster bekämpft
und bestraft werden müsse, darf fernerhin nicht mehr gerechnet werden. Diese
Anschauung würde auch praktisch eine wirksame Bekämpfung der Trunksucht,
eine Heilung oder Bewahrung des trunksüchtigen Individuums in den weitaus
meisten Fällen ausschließen.
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Stadtrat Kappelmann.
Zum Erweise der Bichtigkeit der ersteren Ansicht sei hier nur auf die Er¬
gebnisse der in den letzten Jahren stattgehabten Kongresse, insbesondere des
deutschen Vereins gegen den Mißbrauch geistiger Getränke und der Trinkerheil¬
anstalten des deutschen Sprachgebietes, ferner auf den Standpunkt hingewiesen,
den die neueren Schweizerischen Trinkerfürsorgegesetze im Kanton St. Gallen
und Thurgau sowie der österreichische Gesetzentwurf vom Jahre 1895 einnehmen.
Von wissenschaftlichen Autoritäten, die gleichfalls auf diesem Standpunkt stehen,
seien hier nur genannt:
Endemann, die Entmündigung wegen Trunksucht. Halle a. S. 1904.
Schäfer, die Aufgaben der Gesetzgebung hinsichtlich der Trunksüchtigen.
Nonne, Stellung und Aufgaben des Arztes in der Behandlung des Al¬
koholismus.
Cramer, Entmündigung wegen Trunksucht.
Hoppe, die Tatsachen über den Alkohol.
Grotjahn, der Alkoholismus.
Smith, die Alkoholfrage.
Co 11a, die Trinkerversorgung.
Br atz, die Behandlung der Trunksüchtigen.
Fl ade, erfüllen Gesellschaft und Staat ihre Pflicht Trunksüchtigen
gegenüber?
Waldschmidt, weshalb ist ein Trinkerfürsorgegesetz notwendig und welche
Bestimmungen muß es enthalten?
Daß das Bürgerliche Gesetzbuch bei Schaffung der Vorschriften über die
Entmündigung wegen Trunksucht gleichfalls auf diesem richtigen Standpunkt ge¬
standen hat, ist außer Zweifel und wird durch Planck zudem deutlich bezeugt.
Ebenso nimmt Endemann-Halle diesen Standpunkt ein (vgl. Noten 7 und 8 zu
§ 34 seines Lehrbuches des bürgerlichen Rechts Band I).
Ist aber die Trunksucht eine Volkskrankheit und ist der Trunksüchtige ein
Kranker, so ist die Pflicht des Staates, sich dieses Kranken anzunehmen, nicht
schwer zu begründen. Der Staat, das Gesetz nimmt sich der wirtschaftlich
Schwachen, der Hilfsbedürftigen auf vielen, um nicht zu sagen auf allen Gebieten
an. Wie das Gesetz die Kinder und Unmündigen durch weise Vorschriften
schützt und behütet, wie es erst jüngst durch das Fürsorgeerziehungsgesetz unsere
jungen Mitbürger nicht nur vor körperlichem, sondern auch vor moralischem und
geistigem Siechtum hüten und schützen will, so hat es in den sozialpolitischen
Gesetzen die wirtschaftlich Schwachen zu halten und zu stützen gesucht. Mannig¬
fache Gesetze sorgen in unserm deutschen Vaterlande dafür, daß Arme, Kranke,
Sieche und Gebrechliche nicht untergehen, daß sie — wenn auch vielleicht nur
notdürftig — Unterhalt, Pflege, Heilung und Bewahrung finden und daß dies
nicht nur aus Gnade und Barmherzigkeit, sondern in Erfüllung einer Pflicht
geschieht. Der letzte innerste Grund, der den Staat zu solchem Vorgehen ver-
veranlaßt, kann und darf nioht etwa nur Mitleiden sein. Vielmehr ist es die
Erkenntnis, daß durch solche Fürsorge die nationale Wohlfahrt des Staates selbst
erhalten und gestärkt, seine Wehrkraft gestützt und der Volkswohlstand gehoben
werden muß. Und diese Erkenntnis darf nicht stillestehen vor der Tatsache,
daß die schreckliche Volkskrankheit der Trunksucht Tausende und Abertausende
dahinrafft und wehrlos macht, daß sie den Volkswohlstand untergräbt wie kaum
ein anderer Faktor, daß sie Familienleben und Gesellschaft erschüttert und die
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Entwurf für ein Reichsgesetz betreffend die Fürsorge für Trunksüchtige. 199
Zukunft unseres Volkes mit schweren Gefahren bedroht. Wie der Staat eifrig
bestrebt ist, dem schrecklichen Wüten der Tuberkulose möglichst Einhalt zu tun,
so muß er in richtiger Erkenntnis der Gefahr auch der Trunksucht entgegen¬
treten und des Trunksüchtigen sich annehmen, um ihn zu retten oder zu be¬
wahren. Der Trunksüchtige darf nicht als ein einzelnes Individuum betrachtet
werden, an dessen Wohl und Wehe die Gesamtheit kein Interesse hätte. Es
muß auf die unendliche Schar seiner Genossen gesehen werden und in jedem
Vertreter diese Gesamtheit selbst zum Gegenstand der Fürsorge gemacht werden.
Von statistischen Begründungen des eben Gesagten soll hier abgesehen werden
in der Voraussetzung, daß das vorhandene überreiche statistische und sonstige
wissenschaftliche Material über die Zahl der an Alkoholismus Leidenden, deswegen
in Irren- und Krankenanstalten Verbrachten, die Verhältnisse ihrer Familien,
den Alkoholkonsum, die Inanspruchnahme der Krankenkassen u. s. w. den zu¬
ständigen Stellen bei einer etwaigen Vorlage von Entwürfen für Trinkerfürsorge¬
gesetze ohnehin wird unterbreitet werden.
Wenn somit die Forderung aufgestellt wird, daß der Staat die Pflicht hat,
der Fürsorge für Trunksüchtige seinen starken Arm zu leihen zum Behufe ge¬
setzgeberischer Schritte, so fragt sich, ob er denn dieser Pflicht nicht vielleicht
jetzt schon genügt? Die Forderung neuer Gesetze muß stets getragen sein von
dem Erkenntnis eines dringenden Bedürfnisses, um gerechtfertigt zu er¬
scheinen und Aussicht auf Verständnis und Erfolg zu bieten. Liegt denn ein so
dringendes Bedürfnis in der Tat vor und liegt es gerade jetzt vor? Die Frage
ist enschieden mit allem Nachdruck zu bejahen.
Zwar muß anerkannt werden, daß in den letzten Jahren mancherlei ge¬
schehen ist zur Abwehr und zur Behebung des Notstandes, wie ihn das Umsich¬
greifen der Trunksucht darstellt. Vor allem muß dankbar begrüßt werden die
gesetzliche Neuerung der Entmündigung wegen Trunksucht, die uns das Bürger¬
liche Gesetzbuch gebracht hat. Ferner muß hervorgehoben werden, daß gerade
in der letzten Zeit die Zentralbehörden in Preußen sich eifrig bemüht haben,
durch Verbreitung sehr verständig gefaßter Grundsätze über die Gefahren des
Alkoholmißbrauchs und nützlicher Winke und Anregungen zur Bekämpfung des
Übels den Kampf gegen die Trunksucht zu unterstützen. Es muß endlich der
unermüdlichen Vereinsarbeit gedacht werden, die auch tatsächlich greifbare Er¬
folge aufzuweisen hat. Ich denke hier einmal an die Gründung von Trinker¬
heilstätten, sodann an die Gewinnung von Anhängern und Mitgliedern seitens
der Mäßigkeits-, Abstinenz- und ähnlicher Vereine, die ja zum Teil numerisch
ganz auffallende Erfolge aufweisen. Wie viel Individuen nun aber tatsächlich
auf dem Wege der bisher angedeuteten Bestrebungen gerettet oder bewahrt
worden sind, das läßt sich auch nicht einmal annähernd angeben. Es würde
dazu u. a. der genaue Nachweis gehören, wie viel Personen z. B. durch Eintritt
in einen Abstinenz-Verein wirklich und mit Erwartung auf dauernden Erfolg von
der Trunksucht gerettet worden sind. Wohl aber läßt sich der Nachweis führen,
daß, abgesehen von der Vereinstätigkeit, dasjenige, was bisher zur Rettung
und Bewahrung Trunksüchtiger geschehen ist, eine ganz verschwin¬
dende Bedeutung besitzt. Über die Zahl der in den letzten Jahren durch
die Statistik bekannt gewordenen — diese Einschränkung muß natürlich be¬
tont werden — Alkoholiker sei hier folgendes angeführt:
Nach Cramer sind in deutschen Krankenanstalten chronische Alkoholisten
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200
Stadtrat Kappelraann.
verpflegt worden im Jahre 1895: 12231; 1896: 14238; 1897: 14323, und ein
weiteres Steigen ist unzweifelhaft festzustellen. Dieselben Zahlen führt Putter
in einem Bericht auf dem Städtetage der Provinz Sachsen vom 5. bis 7. Juni 1903
an. Nach Waldschmidt, die Trinkerfürsorge in Preußen, sind im Jahre 1899
in preußischen Kranken- und Irrenanstalten an Alkoholismus behandelt worden
21361 Personen, wovon 6514 reinen Alkoholismus ohne Zeichen einer anderen
geistigen oder körperlichen typischen Krankheit zeigten. Schaefer-Lengerich
berechnet die Zahl der anstaltsbedürftigen Trinker in Preußen auf 2 von 10000
Einwohnern; das würde bei rund 35000000 Einwohnern ein Kontingent von 7000
ausmachen. Diese Zahl stimmt also mit der oben gefundenen von 6514 fast
überein. Es sind nun seit Inkrafttreten des B. G.-B. wegen Trunksucht ent¬
mündigt worden:
I. In Deutschland (nach Cramer) 1900: 688; 1901: 852 Personen.
II. In Preußen (nach Endemann) 1900: 88(?); 1901: 528 Personen. 1 )
Von den 616 wegen Trunksucht bis Ende 1901 in Preußen Entmündigten
sind nur 68 in Heilanstalten (sämtlich Privatanstalten) untergebracht
worden. Zum Vergleich sei nur kurz erwähnt, daß in der Schweiz mit ihren
etwa 8 1 /* Millionen Einwohnern im Jahre 1899 nicht weniger als 2400 Personen
in Trinkeranstalten untergebracht waren, trotzdem damals nur erst im Kanton
St. Gallen eine gesetzliche Regelung der Trinkerfürsorge bestand. Rechnet man
gemäß den oben wiedergegebenen Zahlen selbst nur mit 6000 anstaltsbedürftigen
Trinkern in Preußen, so sehen wir, daß kaum mehr als 10% von ihnen ent¬
mündigt und gar nur 1, 18 % der Wohltat einer Anstaltsbehandlung teilhaftig
werden konnten! Und dabei ist die Gelegenheit zur Anstaltsbehandlung schon
jetzt immerhin nicht gar so knapp. Nach den zu Gebote stehenden ziemlich
übereinstimmenden Angaben für 1901 bestanden damals folgende Privatanstalten
(andere gibt es bekanntlich noch nicht):
I. Ausschließliche Trinkerheilanstalten:
a) In Deutschland.31 Anstalten mit 681 Betten,
davon b) In Preußen.26 „ ,, 562 „
II. Anstalten, die gleichzetig anderen Zwecken dienen:
a) In Deutschland.5 Anstalten mit 219 Betten,
davon b) In Preußen.3 „ »149 „
Im ganzen also:
In Deutschland.36 Anstalten mit 900 Betten,
davon: In Preußen.29 „ »711 „
Wenn man lediglich diese Zahlen entscheidend lassen sein könnte, würde
es sonach immerhin möglich gewesen sein, wenigstens die entmündigten Trinker
in Preußen in Anstalten unterzubringen; d. h. es wäre wohl Platz dazu vor¬
handen gewesen — ein weiteres soll damit nicht gesagt sein. Die übrigen 5000
J ) Nach den im Justizministerialblatt veröffentlichten Geschäftsübersichten
sind in Preußen wegen Trunksucht entmündigt worden:
1900: 384, 1901: 528, 1902: 576, 1903: 623 Personen.
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Entwurf für ein Reichsgesetz betreffend die Fürsorge für Trunksüchtige. 201
anstaltsbedürftigen Trinker dagegen hätten schon wegen Platzmangel allein nicht
untergebracht werden können. Angenommen, die 68 in Trinkeranstalten Unter¬
gebrachten seien auch sämtlich gerettet und wieder zu ordentlichen Mitgliedern
der menschlichen Gesellschaft gemacht worden — eine Annahme, die nicht einmal
richtig sein würde, denn man hat z. B. für die 2400 in der Schweiz in Anstalten
Verbrachten nur ein Drittel als gebessert bezeichnet —: welch klägliches Er¬
gebnis unserer gewiß so gut gemeinten und mit Freuden begrüßten Gesetzgebung!
Eine wesentliche Besserung würde übrigens keineswegs dadurch geschaffen
werden, daß von dem Hilfsmittel der Entmündigung wegen Trunksucht energischer
als bisher Gebrauch gemacht würde. Denn zunächst ist es mit der Entmündigung
allein nicht getan. Der Ausspruch des Richters mit seinen verschiedenen recht¬
lichen Folgen kann allein den Trunkenbold nicht bewahren oder heilen. Er bildet
heute nur mehr die Vorraussetzung, die rechtliche Möglichkeit zu einem Heil¬
verfahren auch gegen seinen Willen. Es müßte also entweder die Gewähr
dafür vorliegen, daß der Entmündigte in einen Abstinenz-Verein eintritt und sich
auch dauernd völlig abstinent hält — was bei derart weit vorgeschrittener Trunk¬
sucht wohl so gut wie ausgeschlossen wäre —, oder aber die Entmündigten
müßten samt und sonders in Trinkeranstalten verbracht werden, denn daß nur
durch eine sachgemäße und in gewisser Beziehung strenge Anstalts¬
behandlung chronische Alkoholisten gebessert, geheilt oder zweck¬
mäßig versorgt werden können, daran darf man heute nicht mehr
zweifeln! Aber — einmal würden für eine in so weitem Umfange gedachte
Zwangsverbringung hinreichende Anstalten überhaupt fehlen und dann: wie sollen
die Kosten aufgebracht werden? Diese sind ja sehr verschieden, meistens aber
noch recht hoch. Aus Blatt 1 und 2 des XVIII. Jahrganges der Mäßigkeitsblätter
erfahren wir, daß es zwar eine Anstalt (Brückenkopf bei Thal in Thüringen mit
10 Betten) gibt, welche die Aufnahme unentgeltlich leistet, 1 ) daß aber im übrigen
die jährlichen Kosten zwischen 120 und 1920 Mk., in einzelnen Anstalten
die täglichen Kosten sogar zwischen 8 und 21 Mk. schwanken. Bei einer
so weitgehenden Verschiedenheit ist eine zweckdienliche systematische Verbringung
Entmündigter also geradezu ausgeschlossen. Doch noch ein Weiteres raubt der
auf Vermehrung der Fälle gerichtlicher Entmündigungen gesetzten Hoffnung den
Stützpunkt: die Entmündigung ist ein Mittel, welches fast stets viel
zu spät einsetzen wird. Ein Blick auf die gesetzliche Grundlage, den § 6
Zf. 3 B. G.-B., macht dies schon ohne weiteres klar. Zumal wenn die Gerichte,
wie geschehen, den Ausdruck „wer infolge von Trunksucht seine Angelegen¬
heiten nicht zu besorgen vermag“ so auslegen: nur der Fall sei hierunter
zu verstehen, daß der Trunksüchtige keine seiner Angelegenheiten mehr
zu besorgen vermag. Auch der § 681 der Zivilprozeßordnung mag erwähnt werden.
Es soll hiernach ein Aussetzen des Beschlusses zulässig sein, wenn Aussicht be¬
steht, daß der zu Entmündigende sich bessern werde. Damit wird der Gedanke
nahe gelegt: nur der unverbesserliche Trunkenbold ist zur Entmündigung reif!
Ja, dann kann eben die Entmündigung eine Besserung, eine Heilung nicht mehr
herbeiführen: sie kommt zu spät. Die Erfahrung aus der Praxis hat denn auch
gezeigt, daß die Gerichte, wenn auch in gewiß berechtigter Scheu vor dem so
*) Neueren Nachrichten zufolge sind jetzt auch dort Verpflegungssätze zu
zahlen.
Der Alkoholismus. 1905. 14
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202
Stadtrat Kappelmann.
schweren lind einschneidenden Schritt, zum Entmündigungsbeschluß vielfach eist
dann gelangen, wenn bei dem Trunksüchtigen sozusagen Hopfen und Malz ver¬
loren ist, wenn er im äußersten Stadium der Trunksucht angelangt ist. Auch
ist zu bedenken, daß das Gericht nur auf Antrag einschreiten kann, daß aber-
die Anträge meist erst dann gestellt werden, wenn die Trunksucht schon sehr
weit vorgeschritten ist. Daß die Entmündigung ein Mittel ist, welches viel zu
spät einsetzt, wird denn auch heute von allen Autoritäten anerkannt, die sich
mit der Frage beschäftigen. Es sei hier nur aufColla, Cramer und Ende-
mann hingewiesen. Endlich mag noch kurz erwähnt werden, daß eine er¬
hebliche Vermehrung der Fälle gerichtlicher Entmündigung wegen Trunksucht
aus verschiedenen — hier nicht weiter zu verfolgenden — Ursachen nicht einmal
wahrscheinlich ist.
Können wir also von der Entmündigung eine erhebliche Besserung der
herrschenden Zustände nicht erhoffen, was bleibt dann als möglich und erreichbar
zu erstreben? Die segensreiche Tätigkeit der Mäßigkeits- und Abstinenz-Vereine,
des Blauen Kreuzes, der Guttempler muß gewiß von jedem, der objektiv und
unbefangen urteilt, freudig begrüßt und anerkannt werden, mögen auch die Wege r
welche manche dieser Vereinigungen einschlagen, mögen die Kampfesart und die
dabei benutzten Waffen vielleicht vielfach auf Widerstand und Mißbilligung stoßen.
Die wachsende Mitgliederzahl namentlich der Vereinigungen extremer Richtung;
muß doch Achtung und Bewunderung einflößen; ja, nach einem Referat von
Pütter auf dem Städtetage der Provinz Sachsen im Juni 1903 darf vielleicht
angenommen werden, daß die Abstinenzvereine etwa zehnmal so viel Trinker
gerettet und zu nützlichen Bürgern gemacht haben, als Trinkerheilanstalten. Aber
der Staat darf sich nicht damit begnügen, die Tätigkeit dieser Vereine wohl¬
wollend zu betrachten und sie vielleicht auch auf die eine oder andere Weise
zu unterstützen und ihre Bestrebungen zu fördern. Er würde dadurch nicht der
oben gekennzeichneten Pflicht entledigt. Auch ist es ja immerhin möglich, wenn
auch unwahrscheinlich, daß die Bewegung in absehbarer Zeit nachläßt, das In¬
teresse sich abflacht, daß andere Anschauungen Platz greifen u. dergl. mehr.
Mit solchen Zufälligkeiten muß man rechnen und darf daher von der segensreichen
Tätigkeit der Vereine nicht alles erwarten. Daß die bestehenden privaten
Trinkerheilanstalten als ein wirksames Mittel nicht in Betracht kommen können,
leuchtet ein. Abgesehen von ihrer geringen Zahl fehlt ihnen jede Möglichkeit*
eine Zwangsversorgung Trunksüchtiger durchzuführen. Und bei dem rein privaten
Charakter derselben und dem gegenwärtigen Stande der Gesetzgebung fehlt jeda
Gewähr für eine Gleichmäßigkeit in sachgemäßer und den Erfordernissen der
Wissenschaft und richtigen psychiatrischen Praxis entsprechender Leitung und
Einrichtung dieser Anstalten. Ja es ist wiederholt von ärztlicher Seite auf das
Bedenkliche hingewiesen worden, daß jetzt beliebig Trinker-Anstalten gegründet
und Trunksüchtige ohne jene oben angedeutete Gewähr in dieselben aufgenommen
werden können.
Was not tut, das ist die Errichtung öffentlicher, mit allen
Garantien ausgerüsteter Trinkerheil- und Bewahr-Anstalten sowie
die Schaffung einer gesetzlichen Grundlage für die zwangsweise
Verbringung Trunksüchtiger in solche Anstalten auch ohne vorher¬
gehende Entmündigung! Diese Forderung ist in den letzten Jahren immer
lauter und eindringlicher erhoben worden und sie muß endlich erfüllt werden,.
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Entwurf für ein Reichsgesetz betreffend die Fürsorge für Trunksüchtige. 203
soll die Hoffnung auf wirksame Besserung unserer Zustände nicht zu Schanden
werden. Als Belag für das allgemein empfundene dringende Bedürfnis sei hier
lediglich auf die reichhaltige Literatur auf diesem Gebiete, insbesondere auf die
eingangs erwähnten Schriften, auf die Kongresse unserer Vereinigungen Bezug
genommen. Und daß diese Hoffnung eine wohlbegründete ist und kein leerer
Wahn bleibt, dafür bietet uns die beste Gewähr die Resolution des Preußischen
Abgeordnetenhauses in der IV. Session vom 11. Juni 1902, mit welcher
der Antrag des Grafen Douglas angenommen worden ist. In seltener Ein¬
mütigkeit haben damals die Redner aller Parteien und haben die Vertreter der
Staatsregierung die Notwendigkeit eingreifender Reformen anerkannt. Durch diese
Resolution wird von der Staatsregierung verlangt: Die Unterbringung von Trinkern
in geeignete Anstalten sowie die Fürsorge für sie zu fördern, insbesondere auf
Errichtung öffentlicher Anstalten zur Unterbringung der wegen Trunksucht Ent¬
mündigten Bedacht zu nehmen. Für unbemittelte Trinker soll zugleich ein dem
Gesetze vom 11./7. 1891 und dem Fürsorgeerziehungsgesetz vom 2-/7. 1900 an¬
gepaßtes Verfahren in Erwägung gezogen werden. Und daß die Staatsregierung
diesem Verlangen entsprechen wird und entsprechen muß, daran darf man nicht
mehr zweifeln. Hat sie doch schon erheblich früher erkannt, daß neue Bahnen
eingeschlagen, neue gesetzgeberische Schritte getan werden müssen. Dies beweist
das am 20. Mai 1900 vom Minister des Innern und vom Kultusminister erlassene
Rundschreiben. Es verlangt dieser Erlaß zunächst eine Feststellung über die
vorgekommenen Entmündigungen wegen Trunksucht. Sodann wird gefragt, ob
ein vermehrtes Bedürfnis zur Unterbringung Trunksüchtiger in Trinkerheilanstalten
sich ergeben wird, welche Anstalten bereits bestehen, ob dieselben dem Bedürfnis
genügen, welche Mängel sie etwa aufweisen und wie den erkannten Mängeln am
zweckmäßigsten und wirksamsten abgeholfen werden kann?
Die Verwirklichung dieser Aufgaben nahe zu rücken hat sich der Verein
gegen den Mißbrauch geistiger Getränke und die Vereinigung der Trinkerheil¬
stätten in Wort und Schrift angelegen sein lassen. Er will jetzt mit Vorlage
eines förmlichen Gesetzentwurfes einen weiteren Schritt auf dieser Bahn tun.
Der Entwurf sieht eine reichsgesetzliche Regelung der Trinkerfür¬
sorge vor. Eine Beschränkung auf Preußen wäre nicht zu rechtfertigen. Der
zu bekämpfende Notstand herrscht allgemein in Deutschland und die auf Reichs¬
gesetz beruhende Entmündigung wegen Trunksucht zeigt als Ausgangspunkt den
Weg, der weiter zu beschreiten ist. Es zeigen denn auch wiederholt an den
Reichstag gelangte Petitionen um gesetzgeberische Maßnahmen gegen die Trunk¬
sucht, es zeigt so der Reichsgesetzentwurf vom Jahre 1892 deutlich, daß man
die Kompetenz des Reiches für diese Materie stets anerkannt hat Eine par¬
tikulare Gesetzgebung würde schon der Willkür und Ungewißheit wegen, die
den Erlaß gesetzgeberischer Akte beeinflussen könnte, als gänzlich ungeeignet
erscheinen, um die notwendige grundsätzliche Reform zu schaffen: sie kann des¬
halb nur insoweit in Frage kommen, als sie nach der geltenden Verfassung und
Lage des öffentlichen Rechts einsetzen muß, um die Ausführung der reichs¬
gesetzlichen Grundnormen zu gewährleisten. So soll denn durch Reichsgesetz
die Errichtung von Trinkeranstalten als Postulat ausgesprochen werden (§ 1).
Ebenso mußte als zweiter wichtiger und allgemein geltender Satz die Unter¬
bringung und die Art der Unterbringung Trunksüchtiger in diese Anstalten ge¬
regelt werden (§§ 2 ff.). Dabei ist allerdings davon ausgegangen, daß die zwangs-
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weise Verbringung Trunksüchtiger auf Grund eines Ausspruches des Gerichts
zu erfolgen hat. Würde statt dessen die Zuständigkeit einer Verwaltungs¬
behörde gewählt worden sein, so hätte die reichsrechtliche Regelung dieser
Zuständigkeit versagt. Es hätte der Landesgesetzgebung überlassen werden müssen,
zu bestimmen, welchen Behörden die Anordnung der zwangsweisen Verbringung
zusteht. Die hier zu Gunsten der Gerichte getroffene Entscheidung bedarf jedoch
näherer Rechtfertigung. Es ist Tatsache, daß fast alle, die sich die Förderung
der Trinkerfürsorge-Gesetzgebung zur Aufgabe gestellt haben, auf dem entgegen¬
gesetzten Standpunkte stehen. So: Bratz, Colla, Waldschmidt u. a. m.
Ebenso haben die bisher erlassenen Schweizerischen Gesetze (Basel, St. Gallen
und Thurgau) Verwaltungsbehörden die Zuständigkeit übertragen. Nur der
Österreichische Gesetzentwurf befaßt den Richter mit der Anordnung der Zwangs¬
verbringung. Es muß offen bekannt werden, daß die Übertragung dieses wich¬
tigen und schwerwiegenden Aktes an eine Verwaltungsbehörde, die völlige Los¬
lösung von einem gerichtlichen Verfahren mit den dabei unumgänglichen For¬
malitäten und Weitläufigkeiten an sich bei weitem erwünschter — und vielleicht
auch zweckdienlicher — erscheint. Dennoch sprachen gewichtige Gründe dafür,
den im Entwurf kenntlichen Standpunkt einzunehmen. Zunächst wäre, wie schon
angedeutet, eine einheitliche reichsrechtliche Regelung der Zuständigkeit unmög¬
lich gewesen. Es hätte zwar die Zulässigkeit zwangsweiser Verbringung Trunk¬
süchtiger als Grundsatz ausgesprochen werden können. Wer aber diese Ver¬
bringung anzuordnen hat, das zu regeln hätte der Landesgesetzgebung überlassen
werden müssen. Eine Buntscheckigkeit der hiernach zuständigen Behörden wäre
die unausbleibliche Folge gewesen. Dies zu vermeiden schien erwünscht, wenn
nicht geboten. Dann weiter: wenn die Entmündigung eines Trunksüchtigen
dem Gericht zusteht, soll dann etwa die zwangsweise Verbringung dieses Ent¬
mündigten erst wieder in einem besonderen Verfahren durch eine andere Be¬
hörde angeordnet werden müssen? Doch wohl nicht. Es würde dann für
einen Teil der Fälle die Zuständigkeit den Gerichten verblieben sein und wir
hätten — wenn man die im Entwurf vorgesehene Verbringung durch Strafurteü
gelten läßt — drei verschiedene Behörden, welche die Zwangsverbringung
anordnen könnten: das Zivilgericht bei entmündigten, das Strafgericht bei ge¬
wissen im Strafverfahren überwiesenen und eine Verwaltungsbehörde bei allen
übrigen Trunksüchtigen. Auch die im Entwurf vorgesehene Ausnutzung des § 681
der Zivilprozeßordnung würde kaum durchführbar sein, wenn die Zuständigkeit
des Gerichts verneint wird. Doch dies alles sind Bedenken, die nicht so schwer¬
wiegend erscheinen, daß an ihnen allein etwa die so vielseitig gewünschte Zu¬
ständigkeit der Verwaltungsbehörden! scheitern müßte. Es ließen sich vielleicht
Auswege aus solchen Schwierigkeiten suchen. Das erheblichste Hindernis liegt
vielmehr in Lösung der praktischen Frage: welche Verwaltungsbehörde
soll zuständig sein? Durch Reichsgesetz könnte freilich sehr einfach de¬
kretiert werden: zur Anordnung der zwangsweisen Verbringung sind die durch
Landesgesetz zu bestimmenden Verwaltungsbehörden zuständig. Es wäre dann
jedem Bundesstaat überlassen, nach seinem Belieben staatliche, kommunale,
höhere oder niedere, Lokal- oder Aufsichtsbehörden zu bestimmen. Schon dies
würde der doch notwendigen Einheitlichkeit der Regelung bedenklichen Abbruch
tun. Aber weiter: welche Behörden sollten z. B. in Preußen bestimmt werden?
Sieht man auf die Schweizerische Gesetzgebung, so ist dort — abgesehen von
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Entwurf für ein Reichsgesetz betreffend die Fürsorge für Trunksüchtige. 205
Bestätigung oder Genehmigung der Beschlüsse — die Zwangsverbringung in den
Kantonen St. Gallen und Thurgau kommunalen Organen (der Gemeindebehörde
des Wohnortes bezw. dem Waisenamt) im Kanton Basel-Stadt dem Regierungsrat,
also einer staatlichen Behörde übertragen worden. Die bisher für ein deutsches
oder ein preußisches Gesetz gemachten Reformvorschläge haben sich darauf be¬
schränkt, ganz allgemein von Verwaltungsbehörden zu sprechen, ohne bestimmte
Behörden zu nennen. An kommunalen Behörden könnten in Preußen größere
kommunale Verbände, als die Gemeinden, wohl kaum in Frage kommen. Denn
abgesehen von den Provinzial- und ähnlichen sehr großen Verbänden, an die
man gewiß nicht denken wird, erscheint z. B. die Übertragung der Zuständigkeit
an den Kreisausschuß unwegsam. Die Zusammensetzung und der Geschäftskreis
dieser Behörde scheint einer solchen Übertragung von vornherein ungünstig, und
man kann es kaum als im Rahmen der Aufgaben des Kreises liegend betrachten,
Anordnungen über die Versorgung eines einzelnen trunksüchtigen Kreiseinge¬
sessenen, in erster Instanz wenigstens, zu treffen. Es blieben somit die Gemeinde¬
behörden oder Unterorgane derselben übrig. Nun denke man an die weitaus
überwiegende Zahl kleiner und kleinster Landgemeinden und Gutsbezirke! Sollte
es gerechtfertigt werden können, den Gemeinde- und Gutsvorstehem — selbst
unter Berücksichtigung der zweifellos dann notwendigen Bestätigung durch die
Aufsichtsbehörden — allgemein die Anordnung eines so folgenschweren Schrittes
zu überlassen, wie die zwangsweise Verbringung Trunksüchtiger in Anstalten
darstellt? Man wird dies schwerlich bejahen dürfen; mag auch das Gesetz von
St. Gallen ebense verfahren — ohne genauere Prüfung und Kenntnis der dortigen
Verhältnisse würde die bloße Analogie der Tatsachen nichts beweisen. Und was
für einen Kanton mit etwa 230000 Einwohnern gut und praktisch ist, kann des¬
halb bei weitem noch nicht auf einen Staat von 35 Millionen Einwohnern mit
so heterogenen Verhältnissen, wie Preußen, ohne weiteres als praktisch und aus¬
führbar empfohlen werden. Und aus eben demselben Grunde, nämlich aus der
Berücksichtigung der kleinen Dorfgemeinden, kann auch eine Übertragung an
Unterorgane der Gemeindebehörden, so z. B. den Gemeindewaisenrat, nicht in
Frage kommen. Besteht diese Behörde doch vielfach nur aus einer einzigen
Person, einem einfachen, vielleicht durchaus braven und rechtlich denkenden
Landmanne. Wenn die Verhältnisse in größeren Gemeinden, in mittleren und
großen Städten anders liegen, so schwindet darum doch nicht das Bedenken einer
allgemeinen gleichartigen Übertragung der Befugnisse an die Gemeindebehörden.
Und eine verschiedene Regelung je nach der Größe der einzelnen Gemeinden
eintreten zu lassen, würde sowohl grundsätzlich und rechtlich bedenklich, als
auch praktisch kaum ausführbar sein.
Denkt man nun an staatliche Behörden, so muß nach der überwiegend
jetzt vertretenen Auffassung eine Übertragung der Zwangsbefugnisse an Polizei¬
behörden von vornherein abgewiesen werden. Es würde damit dem gesamten
Verfahren der festzuhaltende Grundsatz der Heilung und Bewahrung eines Kranken
genommen und ihm der Stempel eines Strafverfahrens aufgedrückt werden.
Wenn zur Vermeidung dieser Folge einmal geltend gemacht worden ist: die An¬
ordnung der Zwangsverbringung dürfe nicht der Polizei schlechthin, sondern der
Sanitätspolizei übertragen werden, so ist damit auch nichts gewonnen. Denn
besondere sanitätspolizeiliche Behörden gibt es bei uns nicht in dem Sinne,
daß solche etwa neben den Ortspolizeibehörden oder der Landespolizeibehörde
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füngierten und somit selbständige Organe bildeten, denen jene Befugnis durch
Gesetz zugewiesen werden könnte. Bei der Zuständigkeit der Ortspolizeibehörden
würde übrigens das oben gegen die Übertragung an die Gemeindebehörden auf¬
geworfene Bedenken insofern wieder mitspielen, als Amtsvorsteher und Gutsvor¬
steher als Inhaber der Polizeigewalt in Frage kämen. Überträgt man die Zu¬
ständigkeit in Landkreisen an den Landrat, in Stadtkreisen an den Bürgermeister
als die zur Handhabung und Ausführung der Gesetze gemäß der Kreis- und
Städteordnung berufenen Organe der Staatsverwaltung, so läßt sich auch hier
wieder die Verquickung mit der Polizei nicht vermeiden. Denn beide Organe
sind — soweit Landkreise und Städte ohne königliche Polizeiverwaltung in Be¬
tracht kommen — gleichzeitig auch Inhaber der Polizeigewalt. Immerhin wäre
eine solche Regelung an sich und in der Theorie vielleicht am wenigsten den
bisher geltend gemachten Bedenken unterworfen. Nur scheint es für die Praxis
recht schwierig, ein durch Vernehmung von Zeugen, Sachverständigen und sonstigen
Personen, einschließlich des Trunksüchtigen selbst recht kompliziertes Verfahren
in die Hand von Beamten zu legen, deren Amtstätigkeit im Laufe der Jahre
durch die immer mehr anschwellende Fülle der ihnen zur Ausführung übertragenen
Gesetze und Verordnungen sowie durch viele andere Momente ohnehin immer
anstrengender und umfassender wird. Daß ein vielbeschäftigter Landrat, ein
Bürgermeister einer großen, ja selbst nur mittleren Stadt die notwendigen Ver¬
handlungen und Vernehmungen etwa persönlich vornehmen könnte, erscheint so
gut wie ausgeschlossen. Namentlich in großen Städten müßte diese neue Arbeit
vielmehr anderen Beamten übertragen werden, und wenn auch der Bürgermeister
vielleicht die entscheidenden Verfügungen selbst „zeichnet“ und damit nach
außen die Verantwortung übernimmt, so bleibt er dann doch nur formell, ge¬
wissermaßen nur auf dem Papier, das Organ, welches jene folgenschweren und
einschneidenden Maßregeln trifft. Die wirkliche materielle Verantwortlichkeit
würde ihm nicht aufzuerlegen sein.
Den höheren, Aufsicht führenden und die Verwaltung größerer Staatsbezirke
leitenden Organen, wie etwa den Regierungspräsidenten, die hier in Rede stehenden
Befugnisse zu übertragen, daran kann wohl kaum gedacht werden. Es würde
die Zerlegung des Verfahrens in eine von beauftragten Behörden vorzunehmende
Prüfung und Verhandlung und in die Entscheidung selbst die unausbleibliche
durchaus verwerfliche Folge sein müssen. Ähnliche Bedenken sprechen gegen
eine etwa vorzuschlagende Zuständigkeit von Verwaltungsgerichtsbehörden, wie
Kreis- und Stadtausschüssen oder gar des Bezirksausschusses. Auch hier würde
die unvermeidliche Schwerfälligkeit des Apparates eine praktische Handhabung
des Gesetzes ausschließen. Zudem würde es grundsätzliche Bedenken haben, die
Entschließung über die Zwangsverbringung sofort in erster Linie in die Hand
einer kollegialen Behörde legen und so die Entscheidung gleich in erster Instanz
dem Zufall von Mehrheitsbeschlüssen preisgeben zu wollen.
Andere Verwaltungsbehörden als die bisher genannten dürften für Preußen
überhaupt nicht in Frage kommen. Und so schienen denn diese Bedenken derart
stark und überwiegend, daß der Entwurf an der Zuständigkeit des Gerichts fest-
halten mußte. Doch soll nochmals wiederholt werden: gelingt es, die auf¬
geworfenen Bedenken überzeugend zu zerstreuen, so muß grund¬
sätzlich in der Tat die Übertragung der Zwangsverbringung an
Verwaltungsbehörden als der erwünschtere Weg angesehen werden*
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Entwurf für ein Reichsgesetz betreffend die Fürsorge für Trunksüchtige. 207
Bei dem sonach eingenommenen Standpunkt des Entwurfs mußte dasVer*-
fahren eine erschöpfende Regelung finden (§§ 3 bis 18). Es folgen Grundsätze
über die Kostentragung (§ 18), die notwendigen Vorbehalte für die Landesgesetz¬
gebung (§ 20) und gleichsam anhangsweise einige Bestimmungen strafrechtlicher
Art (£§ 21 bis 25), welche aufgenommen sind, um verschiedenen in dieser Hin¬
sicht wiederholt laut gewordenen Anträgen und Wünschen gerecht zu werden.
Es folgt eine Regelung der Gerichtsgebühren, und eine Schlußbestimmung soll
den Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes regeln.
B. Begründung im einzelnen. Zur Überschrift.
Der Ausdruck „Fürsorge für Trunksüchtige“ zur Bezeichnung des Zieles
des Gesetzes schien zweckmäßig und ausreichend. Er umfaßt sowohl die zur
Heilung als die zur Bewahrung Trunksüchtiger bestimmten Maßnahmen. Der
Umstand, daß der Entwurf in den §§ 21 und 22 Fälle vorsieht, in denen gegen
Trinker schlechthin strafrechtlich vorgegangen werden soll, ohne daß der Tat¬
bestand vorliegender Trunksucht notwendig ist, konnte nicht dazu führen, in
der Überschrift einen allgemeineren Begriff — etwa: Fürsorge für Trinker —
zum Ausdruck zu bringen. Das Schwergewicht des Entwurfs liegt in den Vor¬
schriften, welche gegen Trunksüchtige zur Anwendung kommen sollen. Hier¬
gegen treten die anhangsweise beigegebenen strafrechtlichen Vorschriften ap
Bedeutung erheblich zurück. Den Begriff „Trinker“ an die Spitze zu stellen,
schien somit nicht gerechtfertigt. Zudem würden durch eine so allgemeine
Fassung von vornherein Mißverständnisse über die Ziele des Gesetzes hervor¬
gerufen.
Zu § 1.
Eine Anordnung der Errichtung von Trinkeranstalten unmittelbar von
Reichs wegen ist nicht ausführbar. Es mußte deshalb diese Errichtung zwar
als Grundsatz ausgesprochen, die Anordnung gegenüber bestimmten Verpflichteten
aber der Landesgesetzgebung überlassen werden. Dieser Weg war schon durch
die Verschiedenheiten der inneren Verfassung und Behörden-Organisation der
einzelnen Bundesstaaten geboten.
Die Hervorhebung des Unterschieds zwischen Heil- und Bewahr- (Ver-
sorgungs-) Anstalten beruht auf der wissenschaftlichen Erfahrung, daß heilbare
von unheilbaren Trunksüchtigen durchaus zu unterscheiden sind und daß dem¬
gemäß auch die Methoden der Behandlung der einen und der anderen Kategorie
verschieden sein müssen. Von den bereits bestehenden Gesetzen bringt das des
Kantons Thurgau diesen Gegensatz gleichfalls zum Ausdruck, während die beiden
anderen Schweizerischen Gesetze von „Versorgung“ als einer allgemeiner ge¬
dachten Maßregel sprechen. Es erschien, gemäß den Ergebnissen wissenschaft¬
licher Untersuchungen und praktischer Erfahrungen in Trinkeranstalten, zweck¬
mäßig, diesen Gegensatz im Entwurf durchgehend zum Ausdruck zu bringen.
Übrigens soll damit die Voraussetzung des gesetzlichen Einschreitens gegen
heilbare und unheilbare Trunksüchtige nicht gespalten werden: lediglich auf die
Dauer der Verbringung und die Art der Anstaltsbehandlung übt jener Unter¬
schied einen Einfluß aus. Ebensowenig ist auch davon ausgegangen worden, daß
stets und unter allen Umständen die Trinkerheilanstalten einerseits und die Trinker¬
bewahranstalten (Trinkerasyle) andrerseits als völlig voneinander getrennte selbst¬
ständige Anstalten zu errichten und zu führen seien. Es ist vielmehr eine Ver-
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binduDg dieser beiden Arten in einer Anstalt als sehr wohl denkbar und dem
Zweck des Gesetzes nicht zuwiderlaufend vorausgesetzt und bei dem folgenden
Entwürfe eines Preußischen Ausführungsgesetzes auch als zulässig ausdrücklich
vorgesehen.
Ein Vorbehalt zu Gunsten der bereits bestehenden oder noch ferner er¬
richteten Privat-Trinkeranstalten schien geboten nach der Richtung, daß solchen
Anstalten auf Grund bestimmter landesgesetzlicher Vorschriften eine gewisse
Gleichstellung mit den öffentlichen Anstalten verliehen werden kann. Der öster¬
reichische Gesetzentwurf gebraucht dafür den Ausdruck: staatliche Anerkennung.
Soll das Gesetz nach seinem Inkrafttreten wirksam werden, so müssen vor allen
Dingen doch Anstalten überhaupt vorhanden sein, in welche Trunksüchtige ver¬
bracht werden können und dürfen. Und bevor öffentliche Anstalten tatsächlich
errichtet werden, vergehen naturgemäß Jahre. Auch nach Errichtung solcher
kann des öfteren Platzmangel in ihnen eintreten. Es mußte deshalb mit der
Möglichkeit und mit der Notwendigkeit 'gerechnet werden, zunächst und einst¬
weilen, ebenso für spätere Fälle, auch Privatanstalten zur Verfügung zu haben
und in Anspruch zu nehmen. Ähnliche Vorbehalte trifft z. B. das Preußische
Fürsorgeerziehungsgesetz und — wie schon erwähnt — der österreichische Ge¬
setzentwurf. Die Voraussetzungen festzustellen, unter denen Privatanstalten den
öffentlichen Anstalten hinsichtlich der Unterbringung Trunksüchtiger gleich zu er¬
achten sind, mußte wiederum der Landesgesetzgebung überlassen werden, da hier
die Zuständigkeit der Behörden in Frage kam.
Zu § 2.
Dieser Paragraph soll kurz umschreiben, welche Fälle des Eintritts Trunk¬
süchtiger in Anstalten überhaupt der gesetzlichen Regelung zu unterstellen sind.
Hierbei sei nur bemerkt, daß entsprechend dem Bürgerlichen Gesetzbuche von
Versuchen abgesehen worden ist, etwa den Begriff „Trunksucht 11 und „Trunk¬
süchtiger 41 im Entwurf naher festzustellen. Es würde damit dem für jeden
konkreten Fall notwendigen ärztlichen Gutachten und der Entscheidung des
Richters in unzulässiger und zweckwidriger Weise vorgegriffen werden. Denn
nur die Anwendung anerkannter Grundsätze der Wissenschaft auf den vorliegen¬
den Fall kann und darf zur Feststellung des Vorliegens von Trunksucht führen.
Der Fall freiwilligen Eintritts in eine Anstalt ist hier nur erwähnt. Eine ge¬
setzliche Regelung erscheint hier ausgeschlossen, wenn man nicht — nach dem
Vorbilde der englischen Gesetzgebung — versuchen will, mit dem freiwilligen Ein¬
tritt einen Zwang zum Verbleiben in der Anstalt zu verbinden. Im Gegensatz
zum ersten Entwurf glaubte man jedoch hiervon als bedenklich und einer gesetz¬
lichen Regelung kaum fähig absehen zu müssen. Dagegen hat der erste Entwurf
insofern wieder eine Erweiterung erfahren, als man auch diejenigen dem Gesetz
unterstellen will, welche wegen einer auf Trunksucht zurückzuführenden
Geisteskrankheit oder Geistesschwäche entmündigt worden sind. Bei
der Häufigkeit solcher Fälle schien es erwünscht, eine gesetzliche Handhabe zu
erhalten, um auch solche Individuen Trinker-Heil- oder Bewahr-Anstalten zu¬
zuführen.
Zu §§ 3 und 4.
Daß von der zwangsweisen Verbringung vor allem der entmündigte
Trunksüchtige betroffen werden muß, steht außer Frage. Mag er nun heilbar
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Entwurf für ein Reichsgesetz betreffend die Fürsorge für Trunksüchtige. 209
sein oder nicht: wenn die Entmündigung irgend welche Besserung der tatsäch¬
lichen Zustände bewirken soll, muß sie die Anstaltsbehandlung grundsätzlich zur
Folge haben. Es kann sich nur weiter fragen, ob und in welcher Form dieser
Grundsatz im Gesetz ausdrücklich zur Erscheinung gebracht werden soll? Man
könnte die Zulässigkeit der zwangsweisen Verbringung hier als durch das be¬
stehende Gesetz bereits sanktioniert erachten und eine ausdrückliche Vorschrift
hierüber für entbehrlich halten. Allein diese Meinung steht nicht zweifelsfrei
fest. Es ist — z. B. von Endemann — auf das Bestehen solcher Zweifel hin-
gewiesen worden. Der Entwurf hält es deshalb für geboten, Zweifel zu beseitigen
und — hierin sich stützend auf die §§ 1631, 1800, 1897, 1901 B. G.-B. — die
Zulässigkeit der Verbringung ausdrücklich auszusprechen. Es erschien auch
praktisch, einen ausdrücklichen Gerichtsbeschluß über die Verbringung
vorzusehen als rechtliche Grundlage für die Ausführung dieses Aktes. Dagegen
ist davon abgesehen worden, diese Anordnung als notwendige Folge jeder Ent¬
mündigung wegen Trunksucht unbedingt vorzuschreiben und etwa die Form zu
wählen: „Die Verbringung ist anzuordnen.“ Es wird zwar von vielen Seiten
als selbstverständlich angesehen, daß Entmündigten gegenüber ein unbedingter
Zwang zur Verbringung eintreten müsse. Aber ebenso wie das Bürgerliche
Gesetzbuch seinen § 6 mit den Worten einleitet: „Entmündigt kann werden“ u. s. w.,
so war dieselbe Form auch hier als zweckmäßig und ausreichend beizubehalten.
Es lassen sich Fälle denken, in denen die zwangsweise Verbringung eines ent¬
mündigten Trunksüchtigen nicht ausführbar oder auch vielleicht nicht einmal
zweckmäßig oder erforderlich ist. Der Richter darf auch bei dieser Entscheidung
nicht schlechthin gebunden sein; es muß seiner Einsicht und seinem Pflichtgefühl
das Vertrauen geschenkt werden, daß er die zwangsweise Verbringung stets da
anordnen wird, wo sie ihm auf Grund des vorliegenden Tatbestandes und des
ärztlichen Gutachtens als die zweckmäßige und notwendige Ergänzung der Ent¬
mündigung nachgewiesen wird. So verstanden erhält das „kann“ für den Richter
die Bedeutung des „muß“, wie die gleichlautende Vorschrift in § 6 des Bürger¬
lichen Gesetzbuches (vgl. z. B. Planck, Kommentar, Bd I Einleitung, S. 25
und Note 8 zu § 6). Die Anordnung soll entweder gleichzeitig mit dem auf
Entmündigung lautenden oder aber durch einen besonderen Beschluß späterhin
ausgesprochen werden können. Letztere Möglichkeit muß Vorbehalten werden,
damit das Verfahren auch auf die beim Inkrafttreten des vorgeschlagenen Ge¬
setzes bereits entmündigten Trunksüchtigen ohne weiteres angewendet werden
kann. Auch sichert es die Möglichkeit späterer Verbringung, falls diese bei dem
Beschluß über die Entmündigung etwa zunächst noch nicht erforderlich erschienen
war. Um eine möglichst ausgiebige Anwendung zu gewährleisten, ist vorgesehen,
daß die Verbringung sowohl von Amts wegen als auch auf Antrag erfolgen kann,
und es ist das Antragsrecht auf die nach Landesgesetz zuständige Verwaltungs¬
behörde ausgedehnt worden. Bei dem öffentlichen Interesse, welches Staat und
Gemeinde an der wirksamen Fürsorge für Trunksüchtige haben, erschien eine
Beteiligung der genannten Behörde, der bekanntlich in dem Verfahren auf Ent¬
mündigung wegen Trunksucht ein Antragsrecht nicht eingeräumt ist, geradezu
geboten. Dagegen hat man die im ersten Entwurf vorgesehene Mitwirkung der
Staatsanwaltschaft als nicht geboten jetzt fallen lassen zu sollen geglaubt.
Soweit gemäß § 3 ein gesondertes selbständiges Verfahren überhaupt noch
erforderlich ist, mußte dasselbe nach dem im Entwurf eingenommenen grund-
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Stadtrat Kappelmann.
sätzlichen Standpunkt dem Verfahren bei Entmündigung wegen Trunksucht an¬
gepaßt werden. Nur schien es erwünscht, dasselbe möglichst abzukürzen und
einfach zu gestalten, insbesondere erneute Vernehmungen von Zeugen, Sach¬
verständigen u. s. w. möglichst abzuschneiden. Deshalb die vörgeschlagene
Fassung des § 4. Trotz der im gegenwärtigen Entwurf enthaltenen Ausdehnung
der Verbringung Entmündigter auf die infolge einer durch Trunksucht hervor¬
gerufenen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche Entmündigten schien eine Bezug¬
nahme auf die über Entmündigung wegen Geisteskrankheit u. s. w. handelnden
§§ der Z.-P. -0. nicht angebracht, weil auch hier ja der wesentliche Grund zur
Verbringung die Trunksucht bleibt, die wesentlich auf Geisteskranke u. s. w.
zugeschnittenen §§ 645 bis 679 der Z.-P.-O. also der Natur der Sache nach keine
analoge Anwendung zu erleiden haben.
Zu § 5.
In diesen Bestimmungen liegt der Schwerpunkt des Gesetzes, sie enthalten
die angestrebte Neuerung: Zwangsweise Verbringung Trunksüchtiger
in Anstalten auch ohne Entmündigung derselben. Schreitet man zu
dieser einschneidenden und schwerwiegenden Neuerung, so steht man allererst
vor der Frage: soll etwa jeder Trunksüchtige schlechthin diesem Zwange
unterliegen oder welche Einschränkungen sind in dieser Hinsicht etwa geboten?
Für die erstere Alternative dürfte sich kaum ein Verteidiger finden. Mag es
auch vom Standpunkt wissenschaftlicher Theorie durchaus richtig erscheinen, jeden
Trunksüchtigen, als Kranken betrachtet, durch sachgemäße Anstaltsbehandlung
heilen oder versorgen zu wollen — in der Praxis ist ein solcher Standpunkt un¬
haltbar. Soweit gesetzgeberische Normen bisher erlassen sind, haben dieselben
denn auch stets von einem so radikalen Vorgehen abgesehen. Die beiden Ge¬
setze von St. Gallen und Thurgau verlangen freilich außer der Feststellung, daß
jemand gewohnheitsmäßig dem Trünke ergeben ist, nur noch den Erweis der
Notwendigkeit der Anstaltsbehandlung zum Zwecke der Heilung oder Versorgung.
Der Kanton Basel-Stadt stellt neben den drei im B. G.-B. § 6 Zf. 3 gedachten
Voraussetzungen als vierte noch die Erregung öffentlichen Ärgernisses auf. Der
österreichische Gesetzentwurf verlangt entweder den Tatbestand wiederholter Be¬
strafungen wegen Trunkenheit oder die Gefährdung der Familie in sittlicher oder
wirtschaftlicher Beziehung oder der körperlichen Sicherheit der eigenen oder
fremder Personen oder endlich die Voraussetzung, welche der Entwurf als Ziffer 8
im § 5 aufgenommen hat. Ähnliche Voraussetzungen, namentlich in Anlehnung
an § 6 Zf. 3 des B. G.-B. hat man bisher auch in Deutschland da aufgestellt,
wo man sich mit Reformvorschlägen für eine Trinkerfürsorge beschäftigt hat.
(So z. B. Colla, Endemann, Schaefer-Lengerich u. a. m.)
Der Entwurf mußte somit gleichfalls von einem radikalen Standpunkt ab¬
stehen. Ebensowenig aber schien es zweckmäßig, einschränkende Voraussetzungen
in Gestalt mehr allgemein gehaltener und deshalb bei praktischer Handhabung
meist versagender Begriffe aufzustellen. Der Entwurf stellt deshalb zunächst
die für die Entmündigung wegen Trunksucht geltenden Voraussetzungen auf. Es
schien dies zweckmäßig und geboten. Letzteres um deswillen, um einerseits
nicht den notwendigen Zusammenhang mit dem Rechtszustand zu verlieren, auf
den wir jetzt in Deutschland durch die Einführung der Entmündigung wegen
Trunksucht gedrängt worden sind. Andrerseits deshalb, weil erfahrungsmäßig
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Entwarf für ein Reichsgesetz betreffend die Fürsorge für Trunksüchtige. 211
häufig die Gerichte vor der einschneidenden und verhängnisvollen Maßregel der
Entmündigung zurückschrecken, mögen auch wohl die gesetzlichen Voraussetzungen
gegeben sein. Es mußte aber Vorsorge getroffen werden, daß gerade für solche
Fälle das als Waffe gegen die Trunksucht entschieden wirksamere Mittel der
Anstaltsbehandlung bereit steht, ohne daß das Odium der Entmündigung mit ihren
verschiedenen demütigenden Rechtsfolgen abzuschrecken braucht. Diese Erwägung
in Verbindung mit dem erweiterten Antragsrecht (§ 7) gibt die Hoffnung, daß
von der Handhabung des § 5 Zf. 1 des Entwurfs in der Tat wirksamer Erfolg
zu erwarten ist. Daß das Vorhandensein auch nur einer der in § 6 Zf. 3 des
B. G.-B. gegebenen Voraussetzungen genügen soll, mag noch besonders hervor¬
gehoben werden.
Das in Ziffer 2 enthaltene Postulat ist schon wiederholt von anderer Seite
auf gestellt worden. So im Thurgauer Gesetz, so im Entwurf eines Reichsgesetzes
über die Trunksucht vom Jahre 1892 (in §§ 18, 19) u. s. w. Durch diese Vor¬
schrift darf nicht etwa die Befürchtung wachgerufen werden, daß jeder Gefahr
läuft, zwangsweise in eine Trinkeranstalt verbracht zu werden, der — vielleicht
zum erstenmal in seinem Leben — sich einen Rausch angetrunken hat und nun
auf der Straße durch sein Verhalten Ärgernis erregt. Eine solche Gefahr kann
freilich nur in der Einbildung unverständig Urteilender bestehen, da schon das
im Entwurf vorgesehene Verfahren, insbesondere die Notwendigkeit sachver¬
ständigen Gutachtens, solche Möglichkeiten im Ernstfall ausschließt. Immerhin
schien es zweckmäßig, durch den einschränkenden Zusatz zum Ausdruck zu
bringen, daß auch hier nur wirklich Trunksüchtigen gegenüber von einer
Zwangsverbringung die Rede sein darf. Auch hier muß der Einsicht und dem
Pfliehtbewußtsein des Richters volles Vertrauen geschenkt werden. Ein vereinzelt
gebliebener, in seinen Folgen vielleicht noch dazu harmloser Exzeß wird niemals
dazu führen dürfen, auch einem Trunksüchtigen gegenüber etwa gleich beim
erstenmal zum Mittel der Zwangsverbringung zu greifen. Gedacht ist vielmehr
an die wohl überall bekannten Fälle, daß sogenannte „harmlose“ Trunkenbolde
tagtäglich in den Straßen der Spotilust der Straßenjugend zum Opfer fallen und
bei dem ohnmächtigen Bestreben der Abwehr die widerlichsten Szenen aufführen,
ohne dabei gerade strafbaren „groben Unfug“ zu begehen. Solchen in fast allen
Städten typischen Individuen gegenüber sind die Behörden jetzt fast stets machtlos.
Publikum und Presse entrüsten sich über die Skandale und fordern Säuberung
der Straße von solchen Gesellen, ohne daß eine rechtliche Handhabe hierfür
bisher vorhanden gewesen wäre. Der Entwurf bietet in der Ziffer 2 solche
Handhabe.
Die Vorschrift in Ziffer 3 ist mit unwesentlichen Änderungen dem öster¬
reichischen Gesetzentwurf von 1895 (§ 3 Zf. 2) nachgebildet. Die darin voraus¬
gesetzten Fälle sind in der Tat nicht selten und es bestand eine große Schwierig¬
keit bei Lösung der Frage, was man mit solchen bedauernswerten Individuen
beginnen soll? Die Aufnahme der Vorschrift ist in der Erwartung geschehen,
daß auch für solche Fälle die Verbringung in eine Trinkerheilanstalt gewiß vielfach
nutzbringend und heilsam wirken wird.
Sehr oft ist die Forderung gestellt worden, es mögen Vorschriften erlassen
werden, die einen praktischen Erfolg der in § 681 der Zivilprozeßordnung vor¬
gesehenen Aussetzung des Entmündigungsverfahrens wegen der vorhandenen Aus¬
sicht auf Besserung herbeiführen. Von einer solchen Aussicht kann füglich
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nur die Rede sein, wenn der Richter greifbare Tatsachen vor sich hat. Die
bloßen Versprechungen des zu Entmündigenden sollten hierzu niemals genügen.
Es wird wohl selten sein, daß diese Versprechungen nicht abgegeben werden.
Der allerbeste Prüfstein ist aber hier die Unterbringung in eine Trinkerheil¬
anstalt. Und von dieser Maßregel in diesem Stadium des Entmündigungsver¬
fahrens kann man sich in der Tat die besten Erfolge versprechen — soweit es
sich nicht um Individuen handelt bei denen nichts mehr zu retten und zu
bessern ist. Gelangt der Richter zu der Annahme, daß Hoffnung auf Besserung
durch Anstaltsbehandlung irgendwie vorhanden ist, so soll er nicht zögern, sofort
zur Anordnung der Zwangsverbringung zu schreiten. Es kann dadurch ein
Mensch an Leib und Seele gerettet und die ihn herabwürdigende Entmündigung
dann ganz vermieden werden. Auf die Beibehaltung dieser Bestimmung muß
somit das größte Gewicht gelegt werden.
Zu §§ 6 bis 14.
Da der Entwurf sich auf den Standpunkt gestellt hat, die Anordnung der
Zwangsverbringung dem Gericht zu übertragen, erschien es bei der engen Ver¬
wandtschaft dieser Maßregeln mit der Entmündigung zweckmäßig, auch das Ver¬
fahren dem Entmündigungsverfahren anzupassen, jedoch so weit wie möglich
zu vereinfachen. Aus diesem Grunde und verschiedener notwendig erscheinender
Abweichungen wegen durfte der Entwurf sich nicht etwa hinsichtlich des Ver¬
fahrens mit einer Hinweisung auf § 680 Absatz 3 der Zivilprozeßordnung begnügen.
Vielmehr war zu prüfen, welche Vorschriften über das Verfahren aufzunehmen,
welche zu ergänzen und welche fortzulassen waren.
Zu § 6.
Abgesehen vom Falle des § 681 der Zivilprozeßordnung ist ein Verfahren
von Amts wegen nicht wohl denkbar.
Zu § 7.
Es erschien durchaus erwünscht, den Kreis der Antragsberechtigten tun¬
lichst zu erweitern. Es gilt hierfür das zu §§ 8 und 4 Gesagte (vor dem letzten
Absatz). Gerade die Verwaltungsbehörde hat ein erhebliches Interesse an den
Versuchen, Trunksüchtige zu heilen oder zu versorgen. Sie ist auch am besten
in der Lage, die tatsächlichen Verhältnisse zu erkennen und zu beurteilen. Ihr
eine Mitwirkung bei Einleitung des Verfahrens einzuräumen erscheint geradezu
notwendig. Daß unter Zf. 2 den in § 5 Zf. 8 genannten Anstalten ein Antrags¬
recht eingeräumt worden ist, erschien zweckmäßig* da die Vorstände derselben
wohl am besten in der Lage sein werden, zu beurteilen, ob die Versorgung in
einer Trinkeranstalt für das betreffende Individuum heilsam und nützlich sein
würde. Es kann die Frage aufgeworfen werden, ob nicht auch den Gemeinde¬
behörden ein Antragsrecht einzuräumen sei? Soweit sie als Träger der öffent¬
lichen Armenlast in Betracht kommen — und dies wird wohl in den meisten
Fällen den Anlaß bieten —, so ist ihnen dieses Recht bereits durch den reichs¬
rechtlichen Vorbehalt des § 680 Absatz 5 der Zivilprozeßordnung (für Preußen
durch Art. 1 Zf. III des Preuß. Ausf.-Ges. vom 22. Septbr. 1899) gewährleistet
und im Entwurf durch die Fassung des § 7 Zf. 1 gewahrt. Im übrigen aber
wird die Gemeindebehörde sich stets leicht mit der nach Landesgesetz zuständigen
Verwaltungs- (Polizei-) Behörde in Verbindung setzen können, und letztere wird
sich heim Vorliegen eines offenbaren öffentlichen Interesses wohl schwerlich
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Entwurf für ein Reichsgesetz betreffend die Fürsorge für Trunksüchtige. 213
den von der Gemeindebehörde gegebenen Anregungen zur Stellung eines An¬
trages entziehen.
Zu § 8.
Der Ausdruck „sinngemäße Anwendung 41 soll besagen, daß an Stelle der
Begriffe „Entmündigung 44 und „Entmündigter 4 * selbstverständlich die Begriffe:
„Zwangsverbringung 44 und „der Zwangsverbringung Unterworfener 44 zu treten
haben. Die Bezugnahme der einzelnen Paragraphen kann hier nicht anders be¬
gründet werden, als durch Verweisung auf ihren Inhalt. Dagegen muß kurz
erörtert werden, aus welchen Gründen einzelne Vorschriften hier ausgeschlossen
worden sind. § 649 ist ersetzt durch § 11 des Entwurfs, dasselbe gilt von § 655.
§§ 650, 651 beziehen sich nur auf das bei Entmündigung wegen Geisteskrank¬
heit oder Geistesschwäche eintretende Überweisungsverfahren, § 652 sieht
die — hier nicht gewollte — Mitwirkung der Staatsanwaltschaft vor. Die §§ 654
und 656 beziehen sich lediglich auf Entmündigung wegen Geisteskrankheit oder
Geistesschwäche (vgl. übrigens § 681 und § 5 letzter Absatz, sowie § 12 des
Entwurfs). Anstatt des die Kostenlast regelnden § 658 ist der § 682 in Bezug
genommen, auch um leichtfertigen Anträgen Übelwollender vorzubeugen. § 659
fällt fort, weil § 683 angezogen ist, aus demselben Grunde auch § 660. § 661
kann hier nicht in Betracht kommen, da von einer „Wirksamkeit 44 der Anordnung
auf Zwangsverbringung (abgesehen von der Rechtskraft des Beschlusses) nicht
in demselben Sinne gesprochen werden kann, wie von der Wirksamkeit einer
Entmündigung. Vielmehr tritt hier die „Wirksamkeit 44 natürlich erst mit der
tatsächlichen Verbringung ein. § 662 fällt fort, weil diese Bestimmung sich mit
Rücksicht auf die Vorschrift des § 683 Abs. 1 erledigt; denn die Worte daselbst:
„Der über die Entmündigung zu erlassende Beschluß 44 umfaßt sowohl den die
Entmündigung aussprechenden als auch den sie ablehnenden Beschluß. Daß die
Anfechtungsklage hier zu beseitigen sei, entspricht dem Bestreben nach mög¬
lichster Vereinfachung des Verfahrens; es.mußte deshalb eine Bezugnahme auf
die §§ 664 bis 674 fortfallen. Dasselbe gilt von § 679. Daß die §§ 680, 681
und 684 nicht in Bezug genommen werden konnten, ergibt sich teils aus ihrem
Inhalt im Vergleich zum Inhalt des Entwurfs, teils aus der Ausschließung der
Anfechtungsklage als Rechtsmittel. Dagegen war § 683, der die Zustellung des
Beschlusses regelt, in Bezug zu nehmen. Die Anwendung des § 687 war aus¬
zuschließen, da eine öffentliche Bekanntmachung der Anordnung auf Zwangsver¬
bringung ebenso zwecklos wie im Interesse des davon Betroffenen und seiner
Familie antunlich erscheint.
Zu § 9.
Der zweite Entwurf sieht auch eine vorläufige Unterbringung für be¬
sonders schwerwiegende dringende Fälle, namentlich solche vor, in denen Indi¬
viduen plötzlich vom delirium tremens befallen und in diesem Zustande sich selbst
und anderen gefährlich werden. Aus der ärztlichen Praxis heraus ist betont
worden, daß in solchen Fällen schnelle Anstaltsbehandlung oft von großem Segen
sein kann. Die Vorschrift lehnt sich an die Bestimmung in § 5 des Preußischen
Fürsorge-Erziehungsgesetzes an.
Zu § 10.
Bei der schwerwiegenden Bedeutung eines Schrittes, wie ihn die Zwangs¬
verbringung eines Trunksüchtigen in eine Anstalt darstellt, schien es geboten,
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Stadtrat Kappelmann.
die Möglichkeit einer Wiederaufhebung der dahingehenden Anordnung auch im
geordneten gerichtlichen Verfahren — im Gegensatz zu einer seitens der Anstalts¬
leitung erfolgenden Entlassung — zu gewährleisten. Durch die Bezugnahme auf
§ 686 im Eingang des § ist zum Ausdruck gebracht, daß gegen den die Wieder¬
aufhebung ablehnenden Beschluß nur die Aufhebungsklage — nicht sofortige Be¬
schwerde — gegeben sein soll. Dies um der Befürchtung ständig wiederholter
Aufhebungsanträge wirksamer vorzubeugen.
Zu § 11.
Diese Vorschrift trägt der Erkenntnis Rechnung, daß die Frage, ob eine
der Zwangsbehandlung zu unterwerfende Erscheinungsform der Trunksucht im
gegebenen Falle vorliegt, in erster Linie dem Gebiete der ärztlichen, genauer
der psychiatrisch-medizinischen Wissenschaft angehört und daß deshalb unter
allen Umständen ein auf dieser Grundlage gewonnenes Gutachten erfordert werden
muß, bevor die Zwangsverbringung angeordnet werden darf. Dies Gutachten
einem beamteten Arzt zu übertragen schien geboten, zumal andernfalls die —
doch notwendige — Beschränkung auf bestimmte Kategorieen ärztlicher Autorität
im Gesetz kaum zum Ausdruck zu bringen gewesen wäre. Bei der Besonderheit
des im § 5 Zf. 3 des Entwurfes vorgesehenen Falles schien es dagegen hin¬
reichend, hier das Gutachten des leitenden Arztes der betreffenden Anstalt hin¬
reichend sein zu lassen. Der letzte Absatz des Entwurfs trägt der praktischen
Erwägung Rechnung, daß es bei der vorläufigen Unterbringung vor allem auf
schnelles Einschreiten ankommen muß. Das Gutachten eines beamteten Arztes
ist aber naturgemäß in vielen Fällen nicht mit der gewünschten Beschleunigung
zu erlangen. Und da für die spätere endgültige Beschlußfassung stets das Er¬
fordernis der Zuziehung eines beamteten Arztes bestehen bleibt, erscheint hierin
eine genügende Kautel gegen etwa befürchtete Mißbräuche oder unsachgemäße
Begutachtung gegeben.
Zu § 12.
Hier wird eine weitere Kautel gegen zu schroffes und hartes Vorgehen
gegen den Tr unks üchtigen geboten. Wenn derselbe Zweck auf anderem Wege
als durch Zwang erreicht werden kann, ist dies gewiß vorzuziehen. Freilich
muß eine gewisse Gewähr dafür Vorhandensein, daß dieser Weg auch ernsthaft
beschritten und fortgesetzt, daß nicht nur versucht wird, durch Vorgeben einer
ernstlichen Anstaltskur dem unbequemen und verhaßten Zwangsverfahren sich
zu entziehen. Solange die Gewißheit gegeben ist, daß eine Heilbehandlung tat¬
sächlich stattfindet, liegt kein Anlaß vor, das Verfahren wieder aufzunehmen,
was dagegen notwendig wird, sobald der Trunksüchtige die Anstalt etwa verläßt.
Natürlich ist hier unter dem Verlassen ein vorzeitiges Aufgeben der Anstalts-
bchandlung ohne eingetretenen Erfolg zu verstehen. Die zum Schluß angehängte
Ausnahmebestimmung betreffend Verlassen der Anstalt auf Grund eines beson¬
deren Zeugnisses derselben bedarf wohl keiner besonderen Begründung.
Man hat eine ähnliche Wirkung dem freiwilligen Eintritt des Trunksüchtigen
in einen Abstinenzverein beilegen wollen. Dem konnte nicht zugestimmt werden.
Ein Gesetz muß möglichst klare und auch praktisch mit Erfolg zu handhabende
Bestimmungen enthalten. Wenn daher auch zugegeben werden muß, daß der
Eintritt in einen solchen Verein in vielen Fällen eine bessere und anhaltendere
Wirkung haben kann, als eine Anstaltsbehandlung, so hängt doch dieser Erfolg
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Entwurf für ein Keichsgesetz betreffend die Fürsorge für Trunksüchtige. 215
hier lediglich von dem freien Willen, der Selbstbeherrschung und der Vereins-
treue des Trunksüchtigen selbst ab. Dies sind schon an sich recht unsichere
Faktoren, mit denen der Gesetzgeber kaum rechnen darf; um wieviel unsicherer
werden sie aber, wenn es sich um ein Individuum handelt, welches den Mangel
an jenen guten Eigenschaften bereits so deutlich gezeigt hat, wie ein Trunk¬
süchtiger! Der Entwurf glaubte daher mit gutem Recht, dies Aushilfsraittel hier
nicht berücksichtigen zu dürfen.
Im Gegensatz zum ersten Entwurf hat man auch davon abgesehen, die
amtliche Verwarnung des Trunksüchtigen, wie sie das Thurgauische Gesetz
kennt, aufzunehmen als ein dem Beschluß auf Verbringung fakultativ vorher¬
gehendes Aushilfsmittel. Man war der Meinung, daß solche Warnung fast stets
eine leere Form bleiben und deshalb in den Rahmen eines ernsthaften Gesetzes¬
werkes nicht wohl hineinpassen würde.
Zu § 13.
Die im ersten Absatz gegebene Vorschrift erschien notwendig, um unter allen
Umständen den gedachten öffentlichen Behörden — auch wenn sie nicht die
Antragsteller sind — Gelegenheit zur Anfechtung des ablehnenden Beschlusses
zu geben. Im zweiten Absatz erschien es zweckmäßig — abweichend von der
Regel des § 572 Abs. 1 — zum Ausdruck zu bringen, daß die sofortige Be¬
schwerde die Ausführung des Beschlusses nicht hemmen soll, freilich mit den
Kautelen des § 572 Abs. 2 und 8.
Zu § 14.
Die hier geforderte Mitteilung erschien des vorliegenden erheblichen öffent-
ichen Interesses wegen geboten. Die Gemeindebehörde muß von einem derart
einschneidenden Rechtsakt, wie ihn die Anordnung der Zwangsverbringung dar¬
stellt, Kenntnis erhalten.
Zu § 15.
Diese Vorschrift entspricht sowohl der Stellung, den andere Gesetzgeber
bereits eingenommen haben (Thurgauer Gesetz § 11, österreichischer Gesetzent¬
wurf § 20), als auch den Forderungen, welche in Deutschland bei den Reform¬
bestrebungen auf diesem Gebiete wiederholt geltend gemacht worden sind. Gerade
im Gegensatz zu der privatrechtlich so tief einschneidenden Entmündigung darf
die Zwangsverbringung Beschränkungen in privatrechtlicher Beziehung nur soweit
mit sich führen, als es ihr Zweck unbedingt erheischt. Dahin gehört vor allen
Dingen als selbstverständlich der Verlust der freien Selbstbestimmung über
Aufenthalt und Lebensführung. Daß dagegen die dem Trunksüchtigen etwa zu¬
stehende elterliche Gewalt während des Aufenthalts nicht ausgeübt werden darf,
ist als eine solche selbstverständliche Folge nicht anzusehen. Sie ist aber ent¬
schieden notwendig und mußte deshalb besonders ausgesprochen werden. Daß
die Bestellung eines Pflegers vorgesehen ist, begründet sich durch den Mangel
einer für derartige Fälle passenden Vorschrift im B. G.-B.
Zu § 16.
Bei dem heutigen Stande der Wissenschaft schien es unerläßlich, den Gegen¬
satz zwischen heilbaren und unheilbaren Trinkern auch im Gesetzentwurf in die
Erscheinung treten zu lassen. Ein solcher Unterschied wird denn auch z. B.
von dem Thurgauischen Gesetz gemacht und von fachmännischer Seite entschieden
gefordert. Erscheint es zweifelhaft, ob ein Trunksüchtiger noch heilbar ist, sa
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wird es sich natürlich empfehlen, ihn zur Heilung einer Trinker-Heilanstalt mit
der Maßgabe zu überweisen, daß die Verbringung bei festgestellter Unheilbarkeit
auch in eine Trinker-Bewahranstait erfolgen kann. Vielfach werden, falls es
überhaupt zur Errichtung solcher öffentlichen Anstalten kommt, wohl beide
Zwecke darin gleichzeitig verfolgt werden. Die gewählte Mindest- und Höchst¬
dauer der Heilbehandlung entspricht etwa den Ergebnissen der wissenschaftlichen
Untersuchungen und den Erfahrungen der Praxis. Allein während die Höchst¬
dauer von 2 Jahren als sogenannte Muß-Vorschrift aufgenommen ist, läßt der
Entwurf — auch hier den bekannt gewordenen Erfahrungen folgend — hinsicht¬
lich der Mindestdauer es bei einer Ordnungsvorschrift (,,soll u ) bewenden. Hier¬
nach würde der Richter auf Grund eines dahin lautenden Gutachtens im ge¬
gebenen Falle eine Heilbehandlung von beispielsweise 9, ja vielleicht nur 6 Mo¬
naten anzuordnen befugt sein. Für die vorläufige Unterbringung (§ 9) Vor¬
schriften hinsichtlich ihrer Dauer zu machen, schien entbehrlich, da hierbei davon
ausgegangen werden muß, daß ein endgültiger Beschluß in möglichst kurzer Frist
folgt. Auch der als Vorbild für diese Bestimmung dienende § 5 des Preußischen
Fürsorge-Erziehungsgesetzes trifft über vorstehende Frage sowie darüber keine
Bestimmung, binnen welcher Frist nach der vorläufigen Unterbringung spätestens
ein endgültiger Beschluß gefaßt sein müsse. Es wird dies vielmehr dem* pflicht¬
gemäßen Ermessen des Gerichts zu überlassen sein. Für die etwa notwendig
werdende Verlängerung des Aufenthalts erschien grundsätzlich ein erneutes ge¬
richtliches Verfahren — wenn auch mit wesentlicher Vereinfachung — unum¬
gänglich.
Zu § 17.
Es erschien zweckmäßig — im Anschluß an ähnliche Bestimmungen im
österreichischen Gesetzentwurf — eine vorzeitige Entlassung zur Probe außerhalb
eines gerichtlichen auf Aufhebung der Anordnung selbst gerichteten Verfahrens
zuzulassen. Die Bestimmung hierüber müßte alsdann denjenigen Organen über¬
lassen bleiben, welchen die Ausführung der Zwangs Verbringung obliegt. Ma߬
gebend muß hier natürlich ausschließlich das Gutachten des ärztlichen Leiters
der Anstalt sein. Die sonstigen Bestimmungen dieses Paragraphen ergaben sich
dann aus Erwägungen der Zweckmäßigkeit oder Notwendigkeit und bedürfen be¬
sonderer Erläuterung nicht.
Zu § 18.
Auch diese Bestimmungen erscheinen zumeist notwendig, um den beteiligten
Behörden die Möglichkeit einer Kontrolle ihrer Maßnahmen sowie eigener Beur¬
teilung des Erfolges derselben zu gewährleisten. Ebenso mußte Vorsorge ge¬
troffen werden, daß die Gewalthaber oder nächsten Angehörigen des Entlassenen
Kenntnis von der Entlassung und dem Verbleib des Betreffenden erhalten.
Zu § 19.
Dem in eine Anstalt verbrachten Trunksüchtigen auch die Kosten dieser
Maßregel und der Anstalt aufzuerlegen, ist einfach eine selbstverständliche For¬
derung der Gerechtigkeit und Billigkeit. Praktischen Wert hat die Vorschrift
zunächst ja nur für die verschwindend wenigen Fälle, in denen diese Personen
tatsächlich auch die Mittel oder ein Einkommen haben und fortbeziehen, welches
die Kostentragung ermöglicht. Sie sichert aber auch Zahlungsunfähigen gegenüber
dem, nach § 20 gemäß der Landesgesetzgebung sich ergebenden, dritten Kosten-
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Entwurf für ein Reichsgesetz betreffend die Fürsorge für Trunksüchtige. 217
träger das Recht der Ersatzforderung für den Fall, daß der Zahlungsunfähige
später zu hinreichendem Vermögen oder Einkommen gelangt — Fälle, die er¬
fahrungsmäßig z. B. in der Armenpflege zwar selten, aber doch nicht ausge¬
schlossen sind. Auf den gleichen Grundsätzen beruht die Heranziehung der nach
Gesetz für den Verbrachten Unterhaltspflichtigen. Freilich muß sich hier auch
das Maß der Erstattungspflicht wieder nach dem Gesetz richten (vgl. § 1603
des B. G.-B.), — die Kosten des gerichtlichen Verfahrens regelt der in § 8
in Bezug genommene § 682 der Z.-P.-O.
Zu § 20.
Gewisse Materien entziehen sich notwendig der Regelung durch ein Reichs¬
gesetz. So die in § 1 bereits behandelten Fragen, so die nähere Ausführung
des Gesetzes abgesehen vom gerichtlichen Verfahren. Insbesondere konnte an¬
gesichts der verschiedenartigen Verfassung und Verwaltungsorganisation in den
Bundesstaaten nicht von Reichs wegen Bestimmung darüber getroffen werden,
welchen Behörden die Ausführung der vom Gericht angeordneten Zwangsver-
bringung obliegen soll. Hierüber kann nur die Landesgesetzgebung Vorschriften
treffen. Das Gleiche gilt für die praktischste aller Fragen: wer übernimmt die
Kosten der Anstaltsbehandlung zahlungsunfähiger Trinker? Sie etwa einfach den
Kosten der öffentlichen Armenpflege gleichzustellen und deshalb den Armenver¬
bänden aufzuerlegen, stößt auf so mannigfache und große Bedenken, daß hiervon
abgesehen werden mußte. Dabei mußte auch erwogen werden, daß ja das hier
grundlegende Reichsgesetz über den Unterstützungswohnsitz bekanntlich für Bayern
und Elsaß-Lothringen immer noch keine Geltung besitzt. Auch diese wichtige
Frage ist deshalb der Regelung durch Landesgesetz überlassen worden.
Zu den §§21 bis 23.
Die hier in den Entwurf auf genommenen Vorschläge zielen zwar gleichfalls
auf eine Verbringung Trunksüchtiger in Anstalten, sind aber doch einem völlig
anderen Boden entwachsen, als die bisher behandelten Fälle. Sie wollen dem
schon so lange und so oft empfundenen Bedürfnis Rechnung tragen, die Ziele
der Strafrechtspflege zu erweitern. Mit Recht hebt z. B. Endemann
hervor, daß der Strafrichter bisher bei allen in der Trunkenheit begangenen
Delikten in einer recht üblen Lage war. Denn entweder mußte er die Zu¬
rechnungsfähigkeit verneinen, den Missetäter freisprechen und damit der öffent¬
lichen Meinung geradezu einen Schlag ins Gesicht versetzen. Oder aber er ent¬
schloß sich, um diesen — in der Tat unverdienten aber gewiß oft schmerzlich
empfundenen — Vorwurf der öffentlichen Meinung zu vermeiden zu einer Ver¬
urteilung, die streng genommen dem Prüfstein juristischer Konstruktion über
strafrechtliche Zurechnung in manchen Fällen wohl nicht stand gehalten hatte.
Ja, selbst eine Verurteilung mußte in sehr vielen Fällen, wenn auch wohl als
gerechte und angemessene Sühne, so doch keineswegs als ein Mittel erscheinen,
welches zur dauernden Besserung der Übeltäter zweckdienlich gewesen wäre.
Nehmen wir als eines der geläufigsten Beispiele die Verurteilungen wegen Wider¬
stand gegen die Staatsgewalt. Wer Erfahrung hat, weiß, daß dieses Delikt in
einem sehr erheblichen Prozentsatz der Fälle in dem leicht erklärlichen Streben
betrunkener Exzedenten besteht, sich ihrer Verhaftung und Abführung zu wider-
eetzen. Es mag dabei auch wohl einmal zu schweren Ausschreitungen kommen,
meist aber wird das Vergehen an sich so arg nicht einmal sein und die straf-
Der AlkohoUimus. 1905. £5
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rechtliche Sühne verhältnismäßig milde ausfallen. Handelt es sich dabei — wie
meist die Erfahrung ergeben wird — um Individuen, die fort und fort als händel¬
suchende und „radaulustige 11 Trunkenbolde die Straßen unsicher machen, harm¬
lose Passanten „anrempeln“, wüsten Lärm vollführen und dergleichen und die
dann wegen des bei ihrer Festnahme geleisteten Widerstandes mit einigen Wochen
Gefängnis immer von neuem belegt werden, so kann eine solche Strafe einmal
als gerechte Sühne nicht gewürdigt werden. Sodann aber — und das ist weit
wichtiger — schafft die wiederholte Bestrafung solchen Individuen gegenüber
auf keinen Fall eine Besserung. Hier muß vielmehr die Möglichkeit gegeben
sein, eine dauernde Heilung solcher krankhaften Auswüchse der menschlichen
Gesellschaft zu versuchen oder aber, wenn das nicht mehr möglich, sie auf andere
Weise unschädlich zu machen. Das geeignete Mittel hierzu bietet die Zwangs¬
verbringung in eine Trinkeranstalt.
Nach dem Vorbilde des österreichischen Gesetzentwurfs, nach dem Reichs¬
gesetzentwurf von 1892 und nach sonstigen in den verschiedenen Reform Vor¬
schlägen bereits enthaltenen Andeutungen sind die im Entwurf in drei ver¬
schiedenen Paragraphen auseinandergehaltenen Vorschläge aufgestellt. Die §§ 22
und 23 entsprechen im wesentlichen dem deutschen Entwurf von 1892, während
der § 21 in einer weiteren Ausgestaltung der von Endemann gemachten Vor¬
schläge besteht. Es muß ohne weiteres zugegeben werden, daß die in § 21 auf¬
gezählten Falle sehr umfassend sind und es wird der gesetzgeberischen Arbeit
überlassen werden müssen, hier noch zu sichten und eine Auswahl zu treffen.
Bei der Einbeziehung gewisser Arten von Vergehen — so z. B. Landfriedens¬
bruch, gefährliche oder gemeinschaftliche Körperverletzung, qualifizierte Sach¬
beschädigung — war die Erwägung maßgebend, daß es sich hier um die leider
immer mehr überhand nehmenden Roheitsdelikte handelt, die in der Mehrzahl
der Fälle im trunkenen Zustande begangen werden und eben deshalb vielfach
eine hinreichende Sühne nicht einmal finden konnten. Rohe Burschen, die in
ihrer Trunkenheit solche Delikte begehen, müssen aber auf alle Fälle unschädlich
gemacht oder — noch besser — durch eine Radikalkur von ihren bösen Trieben
geheilt werden. Auch daß Vergehen, wie Gotteslästerung, gewisse Sittlichkeits¬
vergehen im Zustande der Trunkenheit begangen werden, ist nichts Seltenes.
Was die Verbrechen betrifft, so schien es schwierig, hier alle diejenigen etwa
besonders aufzuzählen, deren Begehung in der Trunkenheit eine häufige Er¬
scheinung ist. Daß sich jemand eines Meineids oder einer schweren Urkunden¬
fälschung im Zustande der Trunkenheit schuldig machen kann, ist zwar möglich,
doch sollte an diese und ähnliche Verbrechen hier natürlich nicht gedacht werden.
Aber lediglich zur Vermeidung falscher Gesetzesanwendung hier eine Aufzählung
einzelner Verbrechen vorzunehmen, die in Betracht zu kommen haben, schien
nicht erforderlich. Es konnte vielmehr der Einsicht des erkennenden Strafge¬
richts überlassen werden, die Fälle selbst herauszufinden, welche einer Unter¬
ordnung unter die hier vorgeschlagene Vorschrift fähig und bedürftig sind, deren
Unterordnung dem Zweck und Ziel des Gesetzentwurfs entspricht.
Bei der Beratung des ersten Entwurfs durch den Vorstand des Trinker-
heilstättön-Verbandes wurde von allen Seiten anerkannt, daß die Hereinbeziehung
dieser Vorschriften in den vorliegenden Gesetzentwurf starken Bedenken begegnen
müsse, daß es vielmehr zweckdienlicher erscheine, auf die wünschenswerte Er¬
gänzung des Strafgesetzbuches bei Gelegenheit der Vorlage unseres Entwurfes
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Entwurf für ein Reichsgesetz betreffend die Fürsorge für Trunksüchtige. 219
nur nebenbei hinzuweisen. Auch der Verfasser muß diese Bedenken teilen.
Da jedoch abändemde Beschlüsse nicht gefaßt worden sind, ist die Materie im
gegenwärtigen Entwurf — mit vorstehendem Vorbehalt — belassen worden.
Zu §§ 24 und 25.
Im Zusammenhang mit der bisher vom Entwurf gegebenen Regelung der
Fürsorge für Trunksüchtige schienen einige Vorschriften zweckmäßig, welche die
wirksame Durchführung der Zwangsverbringung und der Anstaltsbehandlung zu
sichern und gegen beabsichtigte Störung und Hintertreibung der verfolgten Zwecke
einzuschreiten geeignet sind. Ähnliche Strafandrohungen finden sich in dem von
Colla vorgeschlagenen Gesetzentwurf. Der § 24 ist dem § 21 des Preußischen
Fürsorge-Erziehungsgesetzes nachgebildet. Der § 25 setzt — wie dies in dem
folgenden Entwurf eines Preußischen Gesetzes auch vorgesehen ist — voraus,
daß in den zu errichtenden öffentlichen Trinkeranstalten ein absolutes Alkohol¬
verbot, wenigstens den Anstaltspfleglingen gegenüber, herrscht, eine Forderung,
die von der überwiegenden Zahl der Fachmänner jetzt mit aller Energie betont
und aufgestellt wird.
Zu § 26.
Eine besondere Regelung der Gerichtsgebühren für das Verfahren auf
zwangsweise Verbringung schien erforderlich.
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220
II. Referate.
Boissier* Absinthvergiftung in einer abstinenten Famiiie auf dem Wege der Inhalation.
Annal. antialcool. Oktober 1904.
Die Familie eines Großdestillateurs: Vater, Mutter, 2 Kinder erkrankt an
folgenden Erscheinungen: Nervenschmerzen, Appetitlosigkeit, Abmagerung, Schlaf¬
losigkeit, aufgeregte Träume. Boissier hält Alkoholvergiftung durch Absinth¬
dämpfe für erwiesen. Die Familie lebt völlig abstinent. Die Wohnung ist zwar
vom Fabrikgebäude getrennt, doch diesem nahe genug, um mit den Dämpfen aus
den Destillierkolben geschwängert zu sein. Ein älterer Sohn, welcher durch seine
Beschäftigung den ganzen Tag von Hause ferngehalten wird, ist nahezu frei von
den krankhaften Erscheinungen. P. S.
Von seinen Eindrücken in Gothenburg erzählt Dr. Legrain in recht interessanter
Weise in der Dezembemummer der „Annales antialcooliques“. Diese Eindrücke
wurden von dem bekannten Vorkämpfer der antialkoholischen Bestrebungen in
Frankreich auf einer Informationsreise nach Schweden gewonnen. Gothenburg,
die heilige Stadt des kommunalen Branntweinmonopols! Und Legrain muß zu
seiner Schande gestehen, daß er Gothenburg mit sehr gemischten Gefühlen ver¬
ließ. Berichtete ihm doch nach manchen fehlgeschlagenen Versuchen, sich über
die Erfolge des Gothenburger Systems zu informieren, ein Einheimischer wörtlich:
„Gothenburger System? Ich weiß, was das ist. Vor einem halben Jahre hat man
Versuche damit angestellt, doch ist man noch zu keinem Resultate gekommen.“
Auch der Besuch der Monopolschankstätten ergab ein unbefriedigendes Resultat.
Legrain sagt von ihnen wörtlich: „Sie stiften ebensoviel Böses und ebensowenig
Gutes wie die Schankstätten anderswo. Gothenburg, die Heimat jenes Systems,
welches das Ungeheuer töten sollte, bringt wie seine skandinavischen Schwester¬
städte seine Kollektion von Betrunkenen zur Schau. Geht in ein beliebiges
Restaurant von Gothenburg, ihr könnt dort so viel Alkohol erhalten, als es euch
Vergnügen macht zu fordern: er fließt in Strömen! Die Maifeier, das Frühlings¬
fest, ist wie immer durch den Alkohol zu einem Skandal geworden!“ P. S.
Über die Weinernte in Frankreich im Jahre 1904 berichtet Legrain in der
Februarnummer der „Annales antialcooliques“. Im Jahre 1904 sind auf franzö¬
sischem Gebiet nicht weniger als 72 Millionen Hektoliter Wein geerntet worden
(davon 6 Millionen Hektoliter in Algier). Dazu kommen ferner noch 36356950
Hektoliter Obstwein. Keine andere weinbauende Nation erreicht diese Zahlen
und auch Frankreich hatte sie bisher nicht erreicht. Eine Krise für den Wein¬
bau namentlich Mittelfrankreichs, aber auch der Normandie ist sicher. Die Journale
der Weinproduzenten jammern über die Zukunft, doch sollen sie vielmehr den
Finger auf die wahre Ursache dieser Krisen legen: die Überproduktion. P. S.
Die Amerikanische Gesellschaft für soziale Bestrebungen (institute of social
Service) hat an eine Reihe industrieller Betriebe folgenden Fragebogen versandt:
1. Ist für die Arbeit Totalenthaltsamkeit erforderlich?
2. Haben Sie Bestimmungen erlassen gegen den Alkoholgenuß während der
Arbeit?
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Referate.
221
3. Liefern Sie Ihren Arbeitern einen Ersatz für alkoholische Getränke?
4. Was bieten Sie Ihren Arbeitern an Stelle des Branntweins?
5. Findet ein im übrigen gleich tüchtiger Arbeiter, welcher nicht trinkt, bei
Ihnen leichter Beschäftigung wie der, welcher trinkt?
6. Würden Sie es für richtig halten, den Arbeitern eine Möglichkeit zu
schaffen, das Geld zu sparen, welches sie sonst für Alkohol ausgeben?
Die „Pennsylvania Railroad“ antwortete:
1. Totalenthaltsamkeit ist für die Beschäftigung nicht erforderlich. Aber
Mäßigkeit wird nicht allein für die Anstellung, sondern auch für die ständige
Beschäftigung erfordert.
2. Der Gebrauch berauschender Getränke während der Arbeit ist verboten.
Ihr gewohnheitsmäßiger Genuß ist ausreichender Entlassungsgrund.
3. und 4. Unseren Angestellten werden an allen Arbeitsstellen Erleichterungen
und gutes, bakteriologisch einwandfreies Trinkwasser gewährt.
5. Theoretisch ja. Praktisch bestehen wir auf Mäßigkeit
6. Wir haben eine Sparkasse für Arbeiter, welche monatlich nicht mehr als-
300 Mk. verdienen. In dieser Kasse können monatlich bis zu 100 Mk. angelegt
werden. Verzinsung & l l 2 °lo-
„The Brooklyn Rapid Transit Company“ antwortete:
1. Wir haben es nicht für ausführbar erachtet, auf Totalenthaltsamkeit zu
bestehen.
2. Die Angestellten dürfen während der Arbeitsstunden keine Schankstätten
besuchen oder dem Trünke huldigen.
3. Wir denken nicht daran, einen Ersatz für den Trunk zu schaffen.
4. Bei sehr großer Hitze stellen wir an den wichtigen Haltestellen Hafer¬
mehlwasser, Eistee, Sandwiches etc. und bei kaltem Wetter heißen Kaffee
bereit. Wir haben auch Klubräume mit Journalen, Billards und anderen Spielen.
5. Im allgemeinen findet der nicht Trinkende leichter Stellung als der,
welcher trinkt.
6. Die Schöpfung einer Sparkasse zum Zweck der Anlegung des Geldes,
welches sonst für Alcoholica ausgegeben wird, hält die Gesellschaft nicht für
zweckmäßig.
Von der „Curtis Publishing Company“ ging die folgende Beantwortung ein:
1. Totalenthaltsamkeit wird gefordert.
2. Trinken während der Arbeit ist nicht gestattet. Notorische Trinker
werden entlassen.
3. und 4. Reines und kaltes Wasser dient als einziges Ersatzgetränk.
5. Trinker nehmen wir unter keinen Bedingungen.
6. Der Gedanke einer solchen Sparkasse erscheint mir ganz verkehrt.
Ganz ähnlich lautete die Antwort von Baldwins Lokomotivwerken. Nur
wird hier Totalenthaltsamkeit nicht gefordert. P. S.
Die LOsungen des Trinkproblems. Social Service. VoL XI: Nr. 1. Januar 1905.
„Social Service“, eine Neuyorker Vierteljahrsschrift für soziale und indu¬
strielle Hebung, widmet ein ganzes Heft der Lösung der Trinkfrage. Von ver¬
schiedenen, in der Sache erfahrenen Autoren (ich nenne außer anderen Earl Grey,
dessen Bildnis das Heft ziert, Sherwell, Russell, Freeman) wird das Gothen¬
burger System, der englische Public-House-Verband, die local Option und prohi-
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Referate.
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bition behandelt, sowie auch die Anti-Saloon-Liga, das System von Süd-Carolina
die Subway-Tavem. Die Tatsache, daß so verschiedene Mittel zur Heilung des
Alkoholismus in Vorschlag gebracht werden, ist ein genügender Beweis, daß eines
sich nicht für alle Fälle schickt. Ein kompliziertes soziales Problem wie der
Alkoholmißbrauch kann nicht auf einen Anhieb fallen. „Abgesehen von dem
Trieb, welcher die häufigste Ursache ist, sind die Gründe für den Alkoholmißbrauch:
mangelhafte Ernährung, schlechte Zubereitung der Kost, enge Wohnungen mit
verdorbener Luft, Vererbung, sozialer Instinkt, der ohne Verlangen zum Trinken
verleitet, die Monotonie des Lebens, welche manchen Bauer aus reiner Lust an
Abwechslung des Sonntags trunken werden läßt, das selbstische Begehren nach
einem leicht zugänglichen Reizmittel, ohne Rücksicht auf die Folgen. Noch ein
Grund ist jener Zug des modernen, speziell des amerikanischen Lebens, die
Nerven abzuhetzen bis zur Erschöpfung. 14
Eine hohe Schankgewerbesteuer kann nicht als ein Mittel der Bekämpfung
des Alkoholismus angesehen werden — „denn das Problem ist nicht: das Ein¬
kommen des Staates oder der Gemeinde zu steigern, sondern: die üblen Wirkungen
des Vertriebes alkoholischer Getränke zu vermindern und in letzter Linie aus der
Welt zu schaffen. Hohe Besteuerung mag das öffentliche Einkommen steigern,
aber es ist absurd, anzunehmen, daß ein System, welches den stärksten Anreiz
zur Erhöhung der Konsumtion bildet, gleichzeitig zur Verminderung der Kon¬
sumtion beitragen soll. 44 P. S.
Steiner-Stooß, H. Alkoholismus und Mortalität in den gröberen städtischen Ge¬
meinden der Schweiz. Schweiz. Bl. f. Wirtsch.- und Sozialpolitik, Heft 22,1904.
Das eidgenössische statistische Bureau in Bern veröffentlicht seit 1891
alljährlich eine Zusammenstellung über die Trunksucht als Todesursache in den
Schweizer Städten mit 10000 oder mehr Einwohnern. Dieses Material hat
H. Steiner-Stooß zur Grundlage seiner interessanten Studie gemacht, aus
welcher hervorgeht, daß die Zahl der Opfer, welche der Alkoholismus in diesen
Städten alljährlich direkt oder indirekt fordert, keine geringe ist. Von den 100842
erwachsenen Personen (50903 Männer und 49939 Frauen, die in den 13 Jahren
von 1891 bis 1903 starben, waren 6344, darunter 963 Frauen, mehr oder weniger
dem Trunk ergeben gewesen. Es ergibt dies eine Sterblichkeitsquote an Alkoho¬
lismus von 63 per 1000 Sterbefällen überhaupt; für das männliche Geschlecht
sogar 106, für das weibliche dagegen 19 per 1000. Die Unterschiede zwischen
den Sterblichkeitsquoten der einzelnen Städte sind ganz enorme. Während die
Quote von Herisau nur 28 per Mille beträgt, beläuft sich diejenige von Lode auf 95,
die von Chaux-de-Fonds auf 106, die von Freiburg auf 114 pro Mille. Steiner-
Stooß wirft dabei die Frage auf, ob nicht in gewissen Städten, die nicht durch
eine hohe Relativzahl der Sterbefälle, bei denen die Trunksucht die direkte oder
indirekte Ursache bildete, die Schnapspest, in anderen der Absinthismus mitspielt.
Über die Unterschiede in den Altersverhältnissen aller Verstorbenen einerseits
und der Alkoholiker anderseits, geben die nachstehenden Zahlen Aufschluß. Von
je 1000 erwachsenen Verstorbenen entfielen
Die Folgen der Trunksucht machen sich bei beiden Geschlechtern besonders
in der mittleren Altersklasse geltend; die geringere Sterblichkeit der über 60 Jahre
alten Personen, welche dem Alkohol ergeben sind, hat darin ihre Begründung,
daß nur relativ wenige diese Altersgrenze erreichen.
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Referate.
223
auf die Altersklasse
überhaupt
Alkoholiker
Männer
Frauen
Männer
Frauen
20—39 Jahre.
255
233
245
258
40—59 Jahre.
373
273
547
457
60 und mehr Jahre . . .
372
494
208
285
Total . . .
1000
1000 |
1000
1000
Für die ganze Schweiz fehlen Angaben über die Trunksucht als mittelbare
Todesursache; nur die Zahl derjenigen Fälle wird festgestellt, bei welchen der
Alkoholismus die Grundursache bildete. Von je 1000 in ländlichen Civilstands-
kreisen verstorbenen Personen sind nur 7 chronische Alkoholiker. Die
Mortalitätsquote . ist hier nicht einmal halb so groß, als in den städtischen Ge¬
meinden, wo sie 15 per 1000 beträgt, sofern jene Fälle außer acht gelassen
werden, in welchen Trunksucht die unmittelbare Ursache des Todes gewesen
sein mag. Fhlgr.
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231
HL Mitteilungen.
Alkoholismus als Todesursache in den Vereinigten Staaten, ln den Vereinigten
Staaten wird die Statistik der Todesursachen nicht allgemein geführt. Nur in
den Neu-England-Staaten, ferner in New-York, New-Jersey, Michigan, dem Distrikt
Kolumbien, sowie in über 700 Städten in anderen Teilen der Union erfolgt die
Registration regelmäßig. Das Volkszählungsamt in Washington hat nun das für
das Jahr 1900 verfügbare Material gesammelt und veröffentlicht 1 ). Es ergibt sich,
daß im Registrationsgebiet, mit einer Bevölkerung von 28,7 Millionen (darunter
1,2 Millionen Neger), die Zahl der Sterbefälle, bei welchen Alkoholismus die
direkte Ursache war, 2061 (1693 Männer, 368 Frauen) betrug; auf je 1000
Sterbefälle überhaupt entfallen 4,1 an Alkoholismus. In den letzten 10 Jahren
haben sich die Verhältnisse etwas gebessert; auf je 100000 Einwohner kamen
1890 8,1 und 1900 7,2 Sterbefälle infolge Alkoholismus. In den Weststaaten
fordert diese Krankheit relativ die meisten Opfer. Auch in Bezug auf die Rassen¬
zugehörigkeit ergeben sich bemerkenswerte Differenzen. Auf 100000 Personen
entfielen nämlich Sterbefälle an Alkoholismus:
Alter
15—44 Jahre 45 Jahre und darüber
bei der weißen Rasse.8,2 15,6
bei den farbigen Rassen.3,7 10,4
Bei den „farbigen Rassen“ handelt es sich fast ausschließlich um Neger.
Ob deren Organismus weniger unter dem Genuß geistiger Getränke leidet, oder
ob sie demselben weniger ergeben sind, trotzdem sie meist den ärmeren sozialen
Klassen angehören, läßt sich nicht mit Sicherheit feststellen. Unter den ein¬
geborenen Amerikanern europäischer Rasse, also ohne Berücksichtigung der Zu¬
gewanderten, bleibt die Sterblichkeit an Alkoholismus ebenfalls unter dem Durch¬
schnitt zurück (2,4 per 100000); dasselbe gilt von den Bewohnern der ländlichen
Distrikte der Registrationsstaaten, ohne Unterschied der Abstammung; es entfielen
auf 100000 Personen:
in den Städten auf dem Lande
Sterbefälle an Alkoholismus
1890 ... 11,0 3,6
1900 . 8,8 3,4
Ein Rückgang ist allenthalben zu merken. Am seltensten bildet der Alkoho¬
lismus in den agrarischen Staaten New-Hampshire und Maine die direkte Todes¬
ursache, am häufigsten in Rhode Island und New-York. Fhlgr.
Sterblichkeit an Alkoholismus in England und Wales. Dem jüngsten Bericht
des Registrar-General von England und Wales 8 ) ist zu entnehmen, daß die Zahl
der Todesfälle, deren unmittelbare Ursache Alkoholismus war, in den genannten
*) Twelfth Census, volume 5: Vital Statistics, Seite CLXI bis CLXV.
Washington. Gouvemment Printing Office.
2 ) Sixty-Sixth Annual Report of the Registrar-General of England and
Wales. London, 1905. Verlag von Wyman & Sons.
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232
Mitteilungen.
Teilen Großbritanniens im Jahre 1903 2550 betrug, wovon auf weibliche Per¬
sonen 1075 entfielen; dies entspricht einer Sterblichkeitsrate von 91 per Million
unter den Männern und 62 per Million unter den Frauen. Seit 1900 hat die
Alkoholsterblichkeit, soweit die Fälle tatsächlich zur Verzeichnung gelangten,
abgenommen; sie betrug 1884 47 per Million und stieg ununterbrochen bis 1891
an (71); nach unregelmäßigen Schwankungen wurde 1896 wieder dieselbe Höhe
erreicht, um 1900 sogar 113 Fälle auf eine Million Personen zu steigen; von 1901
bis 1903 war der Rückgang ein beständiger.
Die Sterblichkeit an Lebercirrhose, welche besonders von 1897—1900 be¬
trächtlich anstieg (1900 144 per Million), zeigt gleichfalls wieder einen merklichen
Rückgang (1902 123, 1903 117 Fälle auf eine Millionen Einwohner).
Nach Altersklassen verteilten sich die Todesfälle, deren unmittelbare Ur¬
sache Alkoholismus war, im Jahre 1903 wie folgt:
Alter Männl. Geschl. Weibl. Geschl.
bis 25 Jahre.241 134
25 bis 35 Jahre. 419 349
35 „ 45 „. 437 347
45 „ 55 „. 266 163
55 Jahre und darüber .... 112 82
Zusammen: 1475 1075
Die hohe Proportion der Frauen unter den Alkoholikern Englands ist auf¬
fallend. Trotzdem am 1. Januar 1904 ein verschärftes Trunkenheitsgesetz in
Kraft trat, begegnet man noch immer in den Straßen und Plätzen der großen
Städte, namentlich Londons, vielen betrunkenen weiblichen Personen, die ein
jämmerliches Bild menschlichen Elends sind. — Die gegenwärtige Form des
Ausschankes alkoholischer Getränke in den sogenannten public houses trägt viel
dazu bei, daß in England der Alkoholismus weit verbreitet und schwer zu be¬
kämpfen ist. Fehling er.
Alkohol und Unfall. „Arbeiterschutz 11 , 16. Jahrgang, 1905, Nr. 7, S. 153.
Aus einem Vortrag, den Dr. L. Kraus im Verein der Abstinenten im
16. "Wiener Bezirk hielt, geht hervor, daß in Österreich die folgenden Zahlen von
Unfällen durch Alkohol herbeigeführt wurden, und zwar:
im
Jahre 1899 .
ii
„ 1900 .
„ 1901 .
ii
„ 1902 .
ii
„ 1903 .
695
427
427
414
535
Auf Arbeiter entfielen in diesen Jahren zusammen über 2000 Unfälle, die
durch Alkohol bedingt waren. Nach Tagen zusammengestellt ereigneten sich
35% der Unfälle am Samstag, 28% am Sonntag, 25% am Montag u. s. w.
Dr. Kraus wies nach, daß die eigentümliche Leibesbeschaffenheit des Alkoholikers
ihn nicht nur zu Unfällen besonders disponiert, sondern daß ein Unfall beim
Alkoholiker auch schwerere Folgen zeitige als beim normalen Menschen; dies
suchte er an der Hand von Beispielen näher zu erklären. Fhlgr.
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Der Alkoholismus
Zeitschrift zur wissenschaftlichen Erörterung der Alkoholfrage
1905 Neue Folge — Band II No. 4
L Originalabhandlungen.
Alkoholismus und Nervosität 1 ).
Von •
Professor Dr. Max Laehr,
Direktor der Heilstätte für Nervenkranke „Haus Schönow“ in Zehlendorf bei Berlin.
Die schädliche Wirkung des Alkohols auf den menschlichen
Organismus offenbart sich am frühesten und greifbarsten in Ver¬
änderungen des Nerven- und Seelenlebens. Das ist eine Ihnen
allen geläufige Erfahrungstatsache; ist sie es doch in erster Linie,
welche Ihren Bestrebungen gegen den Alkoholismus den ersten
Anstoß gegeben hat und täglich neue überzeugte Anhänger zuführt
Sie wollen aber in diesem schweren Kampfe nicht auf allgemeine
Eindrücke und persönliche Erlebnisse angewiesen sein, sondern
mit Waffen kämpfen, welche im Feuer wissenschaftlicher Unter¬
suchung und praktischer Erfahrung gehärtet sind. Ihnen hierzu
behilflich zu sein, ist die mir hier gewordene Aufgabe, und zwar für
ein beschränktes, aber für das soziale Wohl außerordentlich wichtiges
Oebiet. Nicht von den schweren geistigen Störungen, welche der
übermäßige einmalige oder der fortgesetzte Alkoholkonsum herbei¬
führt, soll ich reden, sondern von den Beziehungen des Alkoholis¬
mus zu den leichten Abweichungen des Nervenlebens, den Grenz¬
zuständen der gesunden und kranken Psyche und den allgemeinen
nervösen Schwächezuständen. Dieselben verdienen nicht nur als
Anfangszustände der Ihnen bekannten schweren psychischen Er¬
krankungen Ihre besondere Aufmerksamkeit, sondern auch deshalb,
weil sie von den verschiedensten Seiten als die charakteristische
Krankheit unserer Zeit, ja als ein Ausdruck der beginnenden De¬
generation unseres Volkes hingestellt werden. Sie sehen, welche
Aussichten sich hier für die Bekämpfer des Alkoholismus eröffnen,
*) Vortrag, welcher gelegentlich der vom Zentralverband zur Be¬
kämpfung des Alkoholismus veranstalteten Kurse zum Studium des Alkoholis¬
mus vor einem wesentlich nicht-ärztlichen Zuhörerkreise am 25. April 1905
gehalten wurde.
Der Alkohollemas. 1905.
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HARVARD UNIVERSITY
234
Dr. May Laehr.
wenn letzterem eine bedeutende Rolle für die Entwicklung dieser
nervösen Zustände zuerkannt werden muß.
Die erste Frage, die wir zu beantworten haben, ist die nach
dem, was wir unter „Nervosität“ verstehen wollen. Eine Ver¬
ständigung hierüber ist notwendig, weil mit diesem Namen die
allerverschiedensten Zustände bezeichnet werden, nicht nur vom
Laien, sondern auch von seiten der Ärzte 1 ). Ich meine, wir
dürfen für unsere Betrachtungen diesen Begriff etwas weiter fassen,
als ich dies im Interesse einer scharfen Gruppierung der Krank¬
heiten bei einer streng wissenschaftlichen Erörterung derselben für
richtig und zweckentsprechend erachten würde. "Wir wollen des¬
halb nicht nur die leichten Veränderungen des Nervenlebens, die
im strengeren Sinne als „nervöse“ zu gelten haben, ins Äugte fassen,
bei denen es sich um z. T. noch in die Breite der Gesundheit
fallende, mehr weniger rasch vorübergehende Schwankungen in der
Stärke der psychischen Reaktionen handelt; sondern lassen Sie uns
auch die sich aus ihnen heraus entwickelnden ausgesprochenen
Krankheitszustände hinzurechnen, welche zum größten Teile unter
den Begriff der Neurasthenie und Hysterie fallen. Kurz gesagt,
es soll sich hier neben der eigentlichen Nervosität auch um die
sogenannten allgemeinen funktionellen Nervenleiden handeln, aber
unter Ausschluß der ausgesprochenen Geisteskrankheiten. Ich
brauche nicht hinzuzufügen, daß der Übergänge zu letzteren viel¬
fache sind 2 ). Wenn wir die hier zusammengefaßten Zustände als
„nervöse“ bezeichnen, so müssen wir uns zuvörderst dessen bewußt
sein, daß sie sich viel weniger durch eine Abweichung in den
Lebensäußerungen der untergeordneten nervösen Zentren, als durch
eine solche der höchsten, d. h. in dem psychischen Verfahren
des betreffenden Menschen offenbaren. Ein jeder von Ihnen kennt
Personen, die dadurch auffallen, daß schon leichte Einwirkungen,
durch welche der Durchschnittsmensch nicht aus dem Gleich¬
gewicht gebracht wird, Veränderungen in ihren psychischen Äuße¬
rungen hervorrufen. Fallen die Anreize weg, so ist das Gleich¬
gewicht rasch wieder hergestellt Solche Menschen bezeichnet der
allgemeine Sprachgebrauch als nervös. Handelt es sich aber nicht
*) Ich möchte nicht unterlassen, darauf aufmerksam zu machen, daß die
Begriffsbestimmung der „Nervosität“ auch unter den psychiatrischen und
neurologischen Autoren keine einheitliche ist
*) Der Beziehungen dieser Krankheiten zum Alkoholismus wurden von
anderer Seite in einem besonderen Vortrage gedacht
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HARVARD UNIVERSITY
Alkoholismus und Nervosität.
235
mehr um diese überleichte, sich relativ rasch ausgleichende An¬
spruchsfähigkeit allein, sondern um solche Abweichungen, welche
als Dauerwirkungen erscheinen und die Leistungsfähigkeit des be¬
treffenden Menschen in erheblicherem Grade beeinträchtigen, so
sprechen wir besser von einer Nervenkrankheit. Für dieselbe ist
charakteristisch, nicht nur, daß relativ schwache Beize, welche auf
den gesunden Menschen ohne besonderen Einfluß bleiben, hier
Folgen von besonderer Stärke, Ausdehnung und Dauer hervorrufen,
sondern auch, daß die verschiedensten Reize, körperliche und
seelische, gewöhnlich denselben Effekt haben, je nach der Eigenart
der Persönlichkeit und der Art der Krankheit. Bei der Neur¬
asthenie äußert sich diese krankhafte Reaktionsweise in dem raschen
Auftreten eines Ermüdungsgefühls allgemeiner oder lokaler Natur,
verbunden mit einer gemütlichen "Verstimmung, wodurch das Zu¬
trauen in die Leistungsfähigkeit erschüttert, die Willenstätigkeit ge¬
hemmt, ein übertriebener Hang zur Selbstbeobachtung und schwere
Krankheitsbefürchtungen ausgelöst werden. Vorübergehend begegnen
wir den wesentlichsten Erscheinungen dieser Krankheit in den
körperlichen und psychischen Äußerungen der akuten Ermüdung
und Erschöpfung. Bei der Hysterie dagegen haben wir es mit
einer andersartigen Reaktionsweise der Psyche zu tun, welche zwar
an und für sich dem normalen psychischen Leben nicht fremd ist,
vor allem nicht dem des Kindes und des Weibes, aber durch ihre
Einseitigkeit und leichte Auslösbarkeit, sowie durch die Massigkeit
und Unberechenbarkeit ihrer Ausdrucksformen den Eindruck des
Krankhaften erweckt Diese Kranken zeigen eine qualitativ und
quantitativ erhöhte, zum Teil abnorme körperliche Äußerung seelischer
Erregungen, eine übertriebene Abhängigkeit ihres psychischen Lebens
von einzelnen affektbetonten Vorstellungen und eine gesteigerte Be¬
einflußbarkeit derselben, welche in der sogenannten leichten Suggerier-
barkeit zum Ausdruck kommt. In diesen Eigentümlichkeiten und
nicht in der allen Nervösen eigenen leichten gemütlichen Reiz¬
barkeit sehen wir die eigentlichen hysterischen Äußerungen, deren
einzelne Züge im Zustande der Erschöpfung und auf neurasthenischer
Grundlage, wie unter dem Einflüsse verschiedener Gifte vorüber¬
gehend hervortreten können. Erst wenn sie unter den ver¬
schiedensten Lebensreizen immer wieder in derselben Weise aus¬
gelöst werden — wobei natürlich die spezielle Ausdrucksweise
wie der Inhalt der Vorstellungen dem größten Wechsel unterworfen
sein kann — wenn sie zu charakteristischen Reaktionsweisen des
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236
Dr. Max Laehr.
betreffenden Menschen werden, erst dann nennen wir diesen im
eigentlichen Sinne hysterisch. Schließlich wären hier noch gewisse
Formen von Hypochondrie und Zwangsneurose zu nennen, welche
unter Zurücktreten der auslösenden neurasthenischen und hysterischen
Äußerungen eine gewisse Selbständigkeit erlangen können, aber
unter Berücksichtigung ihrer Entstehung zu dieser Krankheitsgruppe
zu rechnen sind und auch nach den verschiedensten Richtungen
hin die den Nervösen charakterisierenden psychischen Eigentümlich¬
keiten aufweisen.
Diese psychischen Besonderheiten noch einmal kurz zusammen¬
zufassen, erscheint mir zum Verständnis des folgenden von Wert
zu sein. Bei allen hier zusammengefaßten nervösen Zuständen
treffen wir an erster Stelle auf eine große Labilität des Gemüts¬
lebens. Das gemütliche Gleichgewicht dieser Menschen erweist
sich als im höchsten Maße beeinflußbar, und zwar überwiegt bei
weitem die Auslösung einer Mißstimmung, es kommt weiterhin zu
unangenehmen, dem Vollmenschen fremden Organ- und Ermüdungs¬
gefühlen, zu Angstempfindungen und Krankheitsbefürchtungen, oder,
bei der Hysterie, zu eigentümlichen seelischen und vor allem
körperlichen Ausdrucksformen des veränderten Affektzustandes.
Scheinbar unabhängig von dieser gesteigerten Reizbarkeit und von
äußeren Reizen macht sich auch ein auffallendes periodisches
Schwanken der Gemütslage bemerkbar, besonders bei den angeborenen
Formen der Nervosität, hierdurch einen Übergang bildend zu dem
periodischen Stimmungswechsel, welcher als eine besondere Form
geistiger Erkrankung unter den degenerativen Psychosen eine
Hauptrolle spielt.
Die eigentliche Verstandestätigkeit erleidet gewöhnlich keine
qualitative Einbuße; nur fällt bei vielen nervösen Menschen eine
gewisse Einseitigkeit ihrer geistigen Leistungsfähigkeit, oft ein
Überwiegen der Phantasietätigkeit, ein Schwelgen in lebhaften
sinnlichen Vorstellungen auf. Wenn wir gleichwohl, besonders bei
vielen Hysterischen, einen gewissen Defekt finden, so gilt hier das¬
selbe, wie für oft erkennbare Schwächezustände nach der ethischen
und moralischen Seite hin, welch letztere noch vielfach — meines
Erachtens mit Unrecht — als Hauptcharakteristika der Hysterie
betrachtet werden und die Diagnose „Hysterie“ im allgemeinen in
Mißkredit gebracht haben: es sind dies alles nicht spezifische
Äußerungen der Hysterie, sondern Begleiterscheinungen derselben,
welche auf dem — an und für sich nicht notwendigen — gemein-
Digitiz^d b
'V Google
Original fro-m
HARVARD UNIVERSUM
Alkoholismus und Nervosität.
237
samen Boden einer degenerativen Veranlagung und Entwicklung
aufgewachsen sind.
Dagegen tritt in der Regel eine Störung der Aufmerksamkeit
und entsprechend der körperlichen Funktionsschwäche eine abnorm
rasche Ermüdung der geistigen Leistungsfähigkeit ein. Bei den
engen Beziehungen zwischen Gemütslage und Willensäußerungen
nimmt es nicht wunder, daß entsprechend der gemütlichen Labi¬
lität die Gleichmäßigkeit und zielbewußte Ordnung der letzteren
gegenüber explosiven Augenblickshandlungen zurücktritt, daß der
neurasthenischen Verstimmung im allgemeinen eine Willenshemmung,
der hysterischen Herrschaft wechselnder Affekte eine durch diese
motivierte Erschwerung oder Erleichterung des Handelns entspricht.
So entwickelt sich mit der Zeit aus der Unfähigkeit, bestimmte
Zielvorstellungen planmäßig im Auge zu behalten, aus der erhöhten
Ablenkharkeit und Ermüdbarkeit einerseits, aus der einseitigen Be¬
schäftigung mit den Erscheinungen am eigenen Körper und dem
Hervortreten einer gemütlichen Verstimmung andrerseits immer
mehr eine Unbeständigkeit und Haltlosigkeit, schließlich auch oft
mit der Einengung der Interessen eine moralische Minderwertigkeit
und Disharmonie der Persönlichkeit.
Je früher und lebhafter dieser Gesamtausdruck der Lebens¬
führung zu Tage tritt, um so mehr können wir damit rechnen, daß
die nervöse Erkrankung auf dem Boden einer degenerativen Ver¬
anlagung erwachsen ist, d. h. daß wir es mit einem von Hause
aus nervös resp. psychopathisch veranlagten Menschen zu tun haben,
dem die in seinem gesamten Verhalten zum Ausdruck kommende
Unzweckmäßigkeit des Denkens, Fühlens und Wollens eben den
Stempel der „Entartung“ aufdrückt (Kraepelin). Zahlreiche im all¬
gemeinen als „nervös“ bezeichnete Menschen, aber auch, wie schon
vorher erwähnt, ein großer Teil der Hysterischen gehören dieser
Gruppe von nicht eigentlich kranken, sondern entarteten Neuro-
oder Psychopathen an.
Diese Ausführungen, welche manchem von Ihnen vielleicht
unnötig lang erschienen sind, glaubte ich nicht umgehen zu dürfen,
wenn ich mich mit Ihnen über die Zustände verständigen wollte,
welche unserer Betrachtung zu Grunde liegen. Nun sind wir aber
auch sofort beim Alkohol, dessen Folgen unter Berücksichtigung
des vorher Gesagten leichter verständlich werden.
Denn, indem wir uns mit den Wirkungen des Alkoholismus auf
den Ablauf des Nerven- und Seelenlebens beschäftigen, werden wir
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Dr. Max Laehr.
sehr bald Äußerungen desselben kennen lernen, welche den eben
besprochenen krankhaften Abweichungen außerordentlich ähnlich
sehen. Lassen Sie uns, wie ich schon einleitend sagte, ganz ab-
sehen von den groben Störungen, wie sie sich unter dem Bilde
eines akuten Rauschzustandes, eines Deliriums, einer alkoholischen
Psychose darstellen, vielmehr zunächst nur die feineren Änderungen
ins Auge fassen, welche die psychischen Reaktionen nach Auf¬
nahme von geringeren Alkoholmengen, wenn Sie wollen, nach
„mäßigem Alkoholgenuß“ aufweisen. Für die Beurteilung dieser
Frage genügt der Versuch am eigenen Körper nicht; so wertvoll
er an sich auch ist, er wird doch, wie Sie wissen, durch die eigen¬
artige Wirkung des Alkohols wesentlich beeinträchtigt, Selbsttäu¬
schungen zu veranlassen und damit den Blick zu trüben. Wertvoller
sind die Erfahrungen, welche wir im täglichen Leben an unserer
Umgebung machen.
Sicheres Wissen geben aber erst methodische Untersuchungen,
wie sie in der Ihnen bekannten Anordnung zuerst vonKraepelin
und seinen Schülern angestellt und dann von anderen Forschern
wiederholt und ergänzt sind. Das Resultat der bisherigen, feinen
und mühevollen Untersuchungen bestätigt im großen und ganzen
die Richtigkeit der grob empirisch gefundenen Anschauung über
die Wirkungsweise des Alkohols. Lassen Sie mich dasselbe in
wenigen Sätzen zusammenfassen.
Alkoholgaben, schon in Mengen von 30—45 g, also von der
in einem Liter Bier enthaltenen Dosis, erschweren schon nach einer
Viertel- bis halben Stunde sämtliche bisher untersuchte geistige
Leistungen, und zwar leidet nicht nur die Auffassungs- und Merk¬
fähigkeit, sondern es macht sich auch eine Verlangsamung und
Einschränkung des Vorstellungslebens, eine Verflachung des Denkens
und Urteilens geltend. Mit steigender Alkoholmenge wächst diese
psychische Beeinträchtigung an Stärke und Dauer, die Leistungen
schwanken immer mehr und werden durch ein zunehmendes
Müdigkeitsgefühl immer rascher beeinträchtigt.
Mit der praktischen Erfahrung stimmt es überein, daß die Güte
der Arbeit unter diesen Wirkungen leidet, daß die Fehler zunehmen
und die geistige Spannkraft nachläßt; mechanisch eingeübte Wort¬
erinnerungen, Zitate, Reime treten in den Vordergrund, während
die Weckung und Verknüpfung innerer, begrifflicher Beziehungen
rasch erschwert wird. Allerdings ist als unmittelbare Wirkung
kleiner Alkoholgaben auch eine anfängliche Beschleunigung der
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Alkoholismus und Nervosität
239
Reaktionszeit bemerkt worden; diese macht aber schon nach 15
bis 20 Minuten einer rasch zunehmenden und erst nach Stunden
wieder verschwindenden Verlangsamung Platz und betrifft solche
Leistungen, bei denen Bewegungsimpulse von Bedeutung sind, also
nicht „rein intellektuelle“ Vorgänge, wie Rechnen, sachliche Asso¬
ciationen, sondern Lesen und Auswendiglernen. Wie der bei Alko¬
holikern bekannte Rede- und Tatendrang es in ausgeprägterer
Form erkennen läßt, deuten diese Erfahrungen auf eine spezifische
Alkohol-Reizwirkung im psychomotorischen Gebiete, d. h. eine Er¬
leichterung der Auslösung von Bewegungsantrieben.
Mit Kraepelin dürfen wir in dieser eigenartigen Reizwirkung,
welche der lähmenden parallel geht, die Ursache der, in gewissen
Stadien der alkoholischen Vergiftung meist hervortretenden Empfin¬
dung eines ganz besonderen Wohlbehagens sehen, welche leicht zur
Überschätzung der eigenen Leistungsfähigkeit führt. Es ist bei allen
Versuchen bemerkt worden, daß sich die Versuchspersonen in einer
gehobenen Stimmung befanden, sich zum mindesten der Verminde¬
rung ihrer Leistungsfähigkeit nicht bewußt waren, vielmehr unter
dem Eindrücke einer erleichterten Arbeitsfähigkeit standen. Damit
ist die durch den Alkohol bedingte Änderung des Gemütslebens
angebahnt, über welche wegen der Schwierigkeit der Versuchs¬
anordnung exakte Untersuchungsresultate kaum vorliegen, so daß wir
hier auf — natürlich gröberen — Erfahrungen an uns selbst und
unserer Umgebung angewiesen sind. Ich erinnere an das durch
einmaligen Alkoholgenuß bedingte — auch die Art des alkoholischen
Getränkes ist hier von Bedeutung —, wohltuende und befreiende Ge¬
fühl der Angeregtheit, die angenehme Selbsttäuschung, die innere
Spannungen hinwegräumt, alle äußeren Schwieilj^giten des Lebens
beseitigt und einem Glückseligkeitsgefühle Raum gibt, das allerdings
bei dem einen schon recht bald, bei dem andern erst am andern
Morgen in das Gegenteil umschlägt und in dem bezeichnenden
„Katzenjammer“ dessen stärksten Ausdruck findet. Bekannt ist die
in beiden Stadien, besonders im zweiten, gesteigerte gemütliche
Reizbarkeit.
Sie wissen ferner, daß die schädigende Wirkung des Alkohols
bei wiederholter Zufuhr rasch zunimmt, und kennen alle den psy¬
chischen Zustand des Gewohnheitstrinkers, bei dem die Lähmungs¬
erscheinungen überwiegen; Ermüdung und Unlust leiten schon die
Arbeit ein oder stellen sich wenigstens immer frühzeitiger ein, die
geringe Aufmerksamkeitsspannung, das Gefühl der Unfähigkeit, den
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Br. Max Laehr.
Schwierigkeiten der Arbeit gewachsen zu sein, beeinträchtigen die
körperliche und geistige Arbeitskraft in steigendem Maße. Die
Stimmung wird immer reizbarer, schwankender, meist eine mi߬
mutige, niedergeschlagene; vor allem aber nimmt immer mehr
das Gefühl für Pflicht und Verantwortung ab, eine stumpfe Gleich¬
gültigkeit tötet allen Drang nach höheren Interessen; mit der Über¬
schätzung der eigenen Leistungen verbindet sich eine mißtrauische
Beurteilung der Umgebung, an Stelle eines frischen tatkräftigen
Willens tritt ein schlaffes Wesen und ungehemmtes Triebleben.
Dazu kommen immer mehr körperliche Beschwerden, Schmerzen
im Kopf und den Gliedern, unangenehme Organempfindungen,
Muskelzittern, trotz Müdigkeitsgefühl Schlaflosigkeit und Unruhe,
Angstanfälle und ähnliches mehr. Kein Wunder, daß die Ver¬
stimmung wächst und sich oft eine hypochondrische Geistesrichtung
ausbildet. Vorübergehend täuscht erneute Alkoholzufuhr über alle
diese psychischen und körperlichen Schwächen hinweg, und das
Ende vom Liede ist die alkoholische Entartung mit ihren Aus¬
gängen in körperliches und seelisches Siechtum.
Die Schilderung dieser Giftwirkung auf das psychische Leben
hat Ihnen, wie ich annehmen darf, die Zustandsbilder lebhaft ins
Gedächtnis zurückgerufen, welche ich Ihnen vorher von der Nervosität
und der Nervenschwäche entwarf. Bei beiden treffen wir auf eine
gesteigerte Anspruchsfähigbeit und Labilität des Gemütslebens mit
deren Rückwirkung auf die geistige und körperliche Leistungs¬
fähigkeit, bei beiden zunächst keinen Defekt, wohl aber eine gewisse
Einseitigkeit der Verstandesleistungen, bei beiden unter Zurück¬
treten des tatkräftigen, zielbewußten Willens ein Überwiegen des
Trieblebens und damit eine Unruhe und Haltlosigkeit der gesamten
Persönlichkeit. Insbesondere erinnern die bei körperlicher und
geistiger Anstrengung hemmend auftretenden Ermüdungsgefühle,
die lästigen Organempfindungen, die Verstimmung und Arbeits¬
unlust, die hypchondrischen Neigungen, Krankheitsbefürchtungen,
Angstzustände und Schlaflosigkeit an die Neurasthenie; während
die ungehemmte und verbreitete Wirkung der Affekte auf körper¬
liche Ausdruckserscheinungen, die Lebhaftigkeit einzelner sinnlicher
Vorstellungen, die Zustände von Delirium und Traumwachen, die
mannigfaltigen Alterationen der Hautempfindung, die Neigung zu
Muskelzittem und Krämpfen enge Beziehungen zu den hysterischen
Krankheitsäußerungen aufweisen. Und schließlich die Schlußbilder
unserer beiden Betrachtungsreihen! Bei Beiden das Bild einer
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Alkoholismus und Nervosität.
241
psychischen Degeneration in seinen mannigfaltigen Abstufungen und
besonderen Ausdrucksformen.
Meine Herren! Mit diesen vergleichenden Betrachtungen sind
Wir einen großen Schritt vorwärts gekommen: Wir haben ein
Verständnis dafür gewonnen, wie der Alkohol Zustände herbei¬
führen kann, welche wir unter dem Begriffe der Nervosität zu¬
sammengefaßt haben, und können uns nun der Frage zuwenden,
in welchem Grade auf Grund der praktischen Erfahrung ein
ursächlicher Zusammenhang zwischen Alkoholismus und Nervosität
angenommen werden darf.
Da muß ich Ihneo zunächst gestehen, daß, je länger man sich
mit der Erforschung der Ätiologie unserer Krankheitszustände
beschäftigt, die Sache immer schwieriger und verwickelter wird.
Meist hat man nicht die Genugtuung, nur eine Schädlichkeit für
die Entwicklung der Krankheit verantwortlich machen zu dürfen,
vielmehr zeigt sich ein Zusammentreffen verschiedener Einflüsse,
so daß es schwierig ist, einem derselben den Vorrang zuzuerkennen.
Das gilt auch für die alkoholische Ätiologie der nervösen Zustände.
Unter den außerordentlich zahlreichen Fällen, welche ich gesehen
habe, ist die Zahl der reinen Alkoholnervosität, -Neurasthenie und
-Hysterie eine relativ geringe; das mag zum Teil an äußeren per¬
sönlichen Umständen liegen, beruht aber in der Hauptsache doch
wohl darauf, daß der mäßige Alkoholgenuß für diese Zustände
eben erst in der Regel mit anderen Ursachen zusammen von Be¬
deutung wird; allerdings kann ein innerer kausaler Zusammenhang
für das Zusammenwirken des Alkoholkonsums mit diesen anderen
Lebens- und Arbeitsgewohnheiten wohl oft genug festgestellt werden.
Das Zustandsbild dieser reinen Alkoholnervosität unterscheidet sich
von den gewöhnlichen Formen durch mancherlei Besonderheiten,
vor allem durch die körperlichen Begleiterscheinungen, die gemüt¬
liche Abstumpfung und Unruhe des chronischen Trinkers. Gerade
in diesen physischen Begleitsymptomen, dem Muskelzittem, der
Muskelempfindlichkeit, den Erscheinungen von seiten des Herzens
und Magens u. a. m., ist uns auch für ätiologisch kompliziertere
Fälle ein Anhaltspunkt für die Stärke der vorauf gegangenen Alkohol¬
giftwirkung gegeben. Und, um dies vorweg zu bemerken, auch in
dem Verlauf des Leidens! Cessante causa cessat effectus! Unter¬
bindet man die Alkoholzufuhr, so tritt, je mehr sie die Haupt¬
ursache darstellt, um so rascher die Gesundung ein, und um so
auffallender, als die gewöhnlichen Formen unserer Krankheit einen
viel hartnäckigeren Verlauf zeigen.
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Dr. Max Laehr..
Bei aller Kompliziertheit der Ätiologie kann man doch in der
Regel zwei — oft zugleich einwirkende — Haupttypen von
Schädlichkeiten unterscheiden. Auf der einen Seite stehen alle
diejenigen, welche eine ungenügende Ernährung oder eine Ver¬
giftung des Nervengewebes bedingen — beide Wirkungen zu
trennen, ist vielfach nicht möglich —, auf der anderen solche, bei
denen eine übermäßige Anspannung der nervösen Punktion, ein
relativ zu großer Anspruch an die individuelle, nervöse und
psychische Leistungsfähigkeit angenommen werden darf. Zur
ersten Gruppe gehören die chronische Unterernährung bei mangel¬
hafter oder einseitiger Nahrungszufuhr, unter dem Einflüsse akuter
und chronischer Allgemeinerkrankungen oder lokaler Organleiden,
sowie die Vergiftungen mit schädlichen Stoffwechselprodukten, mit
organischen und unorganischen Giften. Ich sagte schon, daß
Unterernährung und Vergiftung nicht immer scharf zu trennen
sind; denken Sie nur an die fieberhaften Infektionskrankheiten,
wie Typhus und vor allem an die Influenza, die so häufig den Grund
zu einer nervösen Nachkrankheit legt, so verstehen Sie, daß hier neben
der mangelhaften Ernährung eine Giftwirkung in Frage kommt.
Bei der Ihnen bekannten engen Wechselwirkung zwischen dem
gewohnheitsmäßigen Alkoholkonsum und der Unterernährung ganzer
Volksklassen, bei der Bedeutung, welche der Alkohol durch Störung
lebenswichtiger Organfunktionen, wie des Herzens, der Gefäße, des
Magens, der Leber, Niere für die Körperemährung und damit in
erster Linie für die des Nervengewebes gewinnt, vor allem aber unter
Berücksichtigung der Ihnen vorgetragenen spezifischen Giftwirkung
des Alkohols auf das. Nervenleben, werden Sie es wohl verstehen,
daß uns Nervenärzten die tägliche Erfahrung immer von neuem die
wichtige ätiologische Rolle auch eines scheinbar mäßigen, aber ge¬
wohnheitsgemäßen Alkoholkonsums für die Entwicklung der Nerven¬
krankheiten vor Augen führt. Auf Einzelheiten darf ich natürlich
bei der Kürze der Zeit nicht eingehen, nur hervorheben, daß diese
Erfahrung für den nervösen Handarbeiter ebenso gilt, wie für den
nervösen Kopfarbeiter. Um nur eins hervorzuheben: das trügerische
Kraft- und Wärmegefühl, das der Alkohol, hier der Schnaps, dem
schlechtgenährten Handarbeiter vortäuscht, ist auch die Ursache
für den durch Krankheit körperlich heruntergekommenen Vertreter
der Intelligenz, stärkende Weine und Biere zu wählen, welche oft
die Unterernährung nicht heben, dafür aber neue Gifte zuführen
und damit der Entwicklung einer Nervenschwäche Vorschub leisten
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Alkohoiismus and Nervosität.
243
können. Auch denke ich an die vielen körperlichen oder wenigstens
mechanischen Arbeiter, 1 ) denen ein gewohnheitsgemäßer, unter ge¬
wöhnlichen Arbeitsverhältnissen scheinbar ungefährlicher Biergenuß
verhängnisvoll wurde, sobald besondere Anforderungen an ihre
Arbeitskraft gestellt wurde oder häusliche Erregungen, Kummer und
Sorgen, an sie herantraten. Oder nehmen wir ein Beispiel aus stu¬
dierten Kreisen: den nervösen Zusammenbruch so vieler biergewohnter
Examenskandidaten. Hier führt ein Zusammentreffen der Alkohol¬
wirkung mit besonderen geistigen Anstrengungen und seelischen
Anspannungen zu dem Ausbruch eines oft sehr hartnäckigen
Nervenleidens. Zur Ehrenrettung vieler nervenkrank gewordener
Examenskandidaten möchte ich aber doch hinzufügen, daß der
Alkohol keineswegs regelmäßig diese Rolle spielt. Wieviele Stu¬
dierende, männliche und weibliche, arbeiten unter beständigen häus¬
lichen, gemütlichen Erregungen, bei ungenügender Nahrung und
unzweckmäßiger Lebensweise, und müssen oft jahrelang so arbeiten.
Ich erinnere Sie auch an die zahlreichen, von Hause aus körperlich
und nervös schwach veranlagten Menschen, die sich trotzdem zu
den gelehrten Berufen drängen und dann unter der besonderen
Anforderung des Examens zusammenbrechen. Setzen wir an die
Stelle der geistigen Anstrengung die körperliche und gemütliche
Erschütterung bei vielen unserer Unfallnervenkranken, für die der
jahrelang gewohnte Alkoholgenuß bei der Arbeit erst von dem
Tage des Unfalls an verhängnisvoll wurde. Doch genug der Bei¬
spiele aus der täglichen Erfahrung; und noch einige Bemer¬
kungen über die Rolle des Alkohols bei der zweiten Gruppe der
Schädlichkeiten, der Überarbeitung. Ich muß vorwegnehmen, daß
hier nicht in erster Linie die übermäßige körperliche Anstrengung,
auch nicht die vielfach in ihrer Bedeutung überschätzte geistige
Mehrarbeit, sondern die gemütliche Überspannung verantwortlich
zu machen ist, welche beide begleitet, ja gewöhnlich erst ermöglicht
Unter dem heutigen Zeichen des Verkehrs, der modernen Arbeits¬
und Lebensweise ist ja jeder einzelne von uns beständigen Er¬
regungen ausgesetzt, welche zudem bei bestimmten Klassen der
Bevölkerung, dem Fabrikarbeiter wie dem Groß-Unternehmer, von
größtem Einfluß auf seine Arbeitsweise wie auf die Ausnützung
der so notwendigen Erholungs- und Ruhezeit werden. Denken Sie
weiter an die mit der Verfeinerung des Maschinenbetriebes, der
*) Schreiber, Bureaubeamte u. s. w.
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Dr. Max Laehr.
Ausdehnung des Verkehrs und ähnlichen Errungenschaften der
Neuzeit mehr notwendig verbundene Steigerung des Verantwortungs¬
gefühls, die zunehmende Unruhe und Hast im Jagen nach Reichtum,
Ehre, Macht und Stellung, und sie haben für jeden Arbeiter Quellen
genug für das Zufließen beständiger gemütlicher Anreize. Nicht
umsonst spricht man von unserem Zeitalter als einem „nervösen“.
Was hat aber der Alkohol hiermit zu tun? Nun, meine
Herren, auch hier spielt er eine Rolle. Nicht nur im Genußleben,
das dem modernen Menschen statt der Erholung oft vermehrte An¬
strengungen und neue Unruhe schafft und in dem der Alkohol in
gröberer oder feinerer Form eine so große Bedeutung hat, sondern
auch bei Bewältigung der Arbeit.
Jede Anstrengung, körperliche und geistige, führt zu einem
Ermüdungsgefühle; in ihm hat der gesunde Mensch einen Mahner,
dessen Stimme er folgen muß, wenn er sich auf der Höhe seiner
Kraft halten will. Gönnt er den angestrengten Teilen nicht die
zur Erholung notwendige Ruhe, arbeitet er unter der Peitsche
irgend eines Affektes, wie Sorgen, Ehrgeiz, Gewinnsucht und ähn¬
liches mehr, weiter, so erschöpft er seine Kräfte, er wird nervös
und nervenkrank, ehe er sich dessen bewußt ist, — hier stellt sich
nun der Alkohol in seinen verschiedenen Formen als der begehrens¬
werte Freund ein, der die Ermüdungsgefühle zurückdrängt, die
fehlende Anregung gibt und eine Arbeitskraft vortäuscht, welcher
bald ein Nachlaß der Leistungen und eine Erschöpfung der Kräfte
folgt Und in ähnlicher Weise, nicht eigentlich des Genusses
wegen, sondern zwecks Erhaltung der Arbeitsfrische, greift der
Fabrikarbeiter zur Flasche, welche die mit der Arbeit verbundenen
Unlustgefühle bannen soll. Die Ursache hierfür wird in der mo¬
dernen Arbeitsweise gesucht mit ihrer einseitigen Überanstrengung
auf körperlichem und seelischem Gebiete, mit ihrer weitgehenden
Arbeitsteilung, welche zu einer geisttötenden Monotonie führt und
die eigentliche Freude an der Arbeit untergräbt. Dies trifft jeden¬
falls für viele Arbeitszweige noch zu, wenn auch von der beständigen
Verfeinerung und Vereinfachung der Maschinen ein allmählicher
Umschwung nach dieser Richtung zu erwarten ist
Wie unter besonderen Lebens- und Arbeitsbedingungen die
anregende, das Ermüdungsgefühl bannende Wirkung des Alkohols
geschätzt wird, zeigt unter anderm auch die Würdigung des Alkohols
in den Tropen. Sie wissen, in welchem Umfange dort demselben
gewohnheitsmäßig gehuldigt ist und noch wird; Sie hören aber auch
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Alkoholismus und Nervosität.
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von den scheinbar dort doppelt schweren Folgewirkungen dieser
Gewohnheit. "Wie viele unserer Landsleute kehren nervös und nerven¬
schwach von dort zurück! Daß hier unter den vielen Schädlich¬
keiten der Alkohol oft eine verhängnisvolle Eolle gespielt hat,
erscheint mir nicht zweifelhaft
Damit haben unsere ätiologischen Betrachtungen aber noch
nicht ihr Ende erreicht. Wir haben bisher nur die von außen
kommenden Schädlichkeiten im Auge gehabt, aber der Gruppe von
Nervösen noch kaum gedacht, welche die Zeichen einer konstitutio¬
nellen nervösen Schwäche von Kindheit auf an sich tragen, deshalb
schon von Hause aus nervös erscheinen oder aber doch unter
geringfügigen Einflüssen, welche erst in besonderer Stärke oder
Häufung dem Gesunden schädlich werden, schon nervös erkranken.
Diese Neuro- oder besser Psychopathen stellen, wie schon an
früherer Stelle bemerkt, einen großen Bruchteil der sogenannten
Nervösen und Nervenkranken dar; ja nach der Ansicht mancher
Autoren, denen ich mich allerdings in diesem Umfange nicht an¬
schließen kann, fehlt diese konstitutionelle Veranlagung fast bei
keinem. Ihre Bedeutung wächst, wie Sie wissen, je mehr wir uns
den ausgesprochenen Psychosen nähern. Sehr viele dieser konsti¬
tutionell Nervösen weisen in ihrer Ascendenz eine oder mehrere
nervöse oder psychische Erkrankungen auf, und es ist nun bemer¬
kenswert, daß nicht wenige ihre angeborene Minderwertigkeit dem
Alkoholmißbrauch eines oder mehrerer ihrer Eltern oder Großeltern
verdanken. Dieser degenerative Einfluß der Trunksucht auf die
Nachkommen ist vielfach beobachtet worden und findet seine Be¬
stätigung in meinen eigenen Erfahrungen. Ich spreche hier nicht
von den ererbten schweren Formen von Psychosen und geistigen
Defektzuständen, auch nicht von der Ihnen gewiß nicht unbekannten
gleichartigen Vererbung der Trunksucht, sondern von einer wesent¬
lich durch den Alkoholmißbrauch eines oder beider Eltern bedingten
allgemeinen nervösen Schwäche, welche unter der Einwirkung der
Lebensreize, einer mangelhaften Erziehung oder besonderer Einflüsse
die Ausbildung der Nervosität, Neurasthenie und Hysterie begünstigt.
Es ist eine bekannte Tatsache, daß auf derartige nervös ver¬
anlagte, wie übrigens auch auf aus anderen Ursachen nervenkrank
gewordene Menschen schon mäßige Alkoholgaben, welche auf den
Gesunden nur unbedeutenden Einfluß haben, sehr ungünstig ein¬
wirken. Es stellen sich in ihrem psychischen Verhalten, wie
körperlichem Wohlbefinden Störungen ein, welche deutlich erkennen
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Dr. Max Laehr.
lassen, daß hier eine abnorme Empfindlichkeit gegen Alkohol besteht
Glücklich diejenigen, bei denen sich die ersten Vergiftungserschei-
nungen in unangenehmen Körperempfindungen, in Kopfdruck, Hitze-
und Schwindelgefühl äußern, die hierdurch gewarnt, zur rechten
Zeit aufhören, vielfach den Alkoholgenuß überhaupt meiden. Weit
schlimmer sind die Nervösen daran, denen die erste Alkoholwirkung
Befreiung von quälenden Müdigkeits- und Unlustgefühlen, Schwindel¬
und Angstzuständen, Yerscheuchung der trüben Stimmungslage,
Hebung des Selbstvertrauens und Anregung zur Arbeit bringt Ich
könnte Ihnen so manchen meiner Kranken nennen, der, von Hause
aus ein Psychopath, auf diesem Wege in dauernde Abhängigkeit
vom Alkohol geraten und unter seinem frühzeitigen lähmenden Ein¬
fluß in einen Zustand vollkommener nervöser Erschlaffung geraten
ist Gerade unter den jugendlichen Nervenkranken der besser
situierten Kreise begegnen wir nicht selten solchen Opfern des
Alkohols. Eine ähnlich starke Giftwirkung desselben sehen wir
auch ganz allgemein bei den Kindern; doch davon werden Sie ja
Näheres von anderer Seite hören. Ich darf hier noch an die so¬
genannten „pathologischen Rauschzustände“ von oft krimineller Be¬
deutung erinnern, bei denen es sich auch um eine eigentümlich
lebhafte Wirkung von relativ kleinen Alkoholmengen auf Psycho¬
pathen handelt, eine Wirkung, welche sich, ausgelöst durch eine
starke gemütliche Erregung, gelegentlich eines Streites, Schreckes,
einer sexuellen Aufregung, in einer plötzlich ausbrechenden Bewußt¬
seinstrübung mit triebartigen Handlungen äußert. — Hier anzureihen
wäre schließlich auch die bei vielen Unfallsnervenkranken zu
machende Erfahrung, daß deren nervöser Zustand unter dem Ein¬
fluß kleiner — vor dem Unfall anstandslos vertragener — Alkohol¬
gaben eine akute erhebliche Verschlimmerung erfährt oder aber bei
Fortsetzung des früher geübten, sogenannten mäßigen Bier- und
Schnapsgenusses an Hartnäckigkeit und Schwere relativ rasch zu¬
nimmt
Lassen Sie uns noch einmal in kurzen Sätzen zusammenfassen,
was uns die praktische Erfahrung über die ätiologische Bedeutung
des Alkoholismus für die Entstehung und Verbreitung der nervösen
Zustände lehrt:
1. Unter den uns bekannten Ursachen der Nervosität, Neu¬
rasthenie und Hysterie nimm t der gewohnheitsmäße Alkoholgenuß eine
hervorragende Stelle ein. Relativ selten ist er als das ausschließliche
ursächliche Moment der Erkrankung anzusehen, meist gewinnt er
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AJkoholismus und Nervosität.
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erst zusammen mit anderen schädlichen Einflüssen §eine krank¬
machende Bedeutung, sei es, daß er mit diesen die Disposition zur
Entwicklung der Nervosität schaffen hilft, sei es, daß er sie bei
einem aus anderen Ursachen bereits nervös disponierten Individuum
auslöst.
2. Die Form der dann ausbrechenden nervösen Erkrankung
hängt von der individuellen Disposition des betreffenden Menschen,
der Besonderheit seiner Erziehung, seinen Arbeits- und Lebens¬
gewohnheiten ab. Nicht selten ist das Hervortreten einer lokali¬
sierten nervösen Schwäche in dem betreffenden Krankheitsbilde (wie
Gliederschmerzen, Magenbeschwerden, Herzklopfen, Angstzustände
und Schwindelerscheinungen) darauf zurückzuführen, daß das Organ,
welches diese Beschwerden auslöst, unter der voraufgegangenen
Giftwirkung des Alkohols vorzugsweise gelitten hat
3. Die nervenschädigende Eigenschaft des Alkohols wird be¬
sonders verhängnisvoll für konstitutionell Nervöse, d. h. für die
große Gruppe der sogenannten Psychopathen. Bei ihnen stellen
sich die Yergiftungserscheinungen schon nach relativ kleinen Mengen
ein, beeinflussen schon vorhandene nervöse Schwächen besonders
ungünstig und zeigen bisweilen Abweichungen vom gewöhnlichen
Typus, welche das betreffende Individuum in vermehrtem Grade
schädigen und zu kriminellen Handlungen veranlassen können.
4. Der gewohnheitsmäße Alkoholgenuß ist unter denjenigen
Einflüssen aufzuführen, welche für die körperliche und geistige
Degeneration des kommenden Geschlechtes eine Rolle spielen. Die
konstitutionelle Nervosität zeigt sich relativ oft als ererbt von Eltern,
deren eines Glied dem gewohnheitsmäßigen Alkoholgenuß ergeben
gewesen ist
Meine Herren! Sie sehen, welchen schädigenden Einfluß der
Alkoholkonsum und zwar schon in Mengen, welche im allgemeinen
noch als unschädlich gelten — auf das Nerven- und das psychische
Leben des Einzelnen, des Nervenstarken, wie des Nervenschwachen
gewinnen kann und oft tatsächlich gewinnt. Bei aller Würdigung dieser
Tatsache wollen wir aber doch auch nicht stillschweigend darüber
hinweggehen, daß die durch eine geringe einmalige Alkoholgabe
gesetzten Schädigungen unter günstigen Lebensbedingungen, vor
allem in der Ruhe, relativ rasch wieder ausgeglichen und jedenfalls
unter besonderen Umständen reichlich aufgewogen werden können
durch die früher erwähnten anregenden Wirkungen des Alkohols.
Es gibt Schwächezustände und gedrückte Stimmungslagen — ich
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Dr. Max Laehr.
nenne hier äuch gewisse Angst- und Zwangszustände, sowie manche
Formen von Schlaflosigkeit —, die am schnellsten durch eine ein¬
malige kleine Alkoholgabe beseitigt werden, und es finden sieh
auch für den Gesunden Gelegenheiten genug, in denen die lähmende
Wirkung eines in mäßiger Menge genossenen alkoholischen Ge¬
tränkes ganz zurücktritt gegen die subjektiv erfrischende Anregung,
welche er auf der anderen Seite schafft Es muß nur dafür Sorge
getragen werden, daß diese Gelegenheiten vereinzelte bleiben und
daß die Möglichkeit gegeben ist, die leichten Giftwirkungen des
Alkohols durch genügende Schonung und Ruhe rasch wieder aus¬
zugleichen. Es ist aus den früher erörterten Gründen verständlich,
daß letztgenannte beide Voraussetzungen in der Regel nicht zu¬
treffen, wenn es sich um nervös veranlagte oder schon nervenkranke
Menschen handelt
Aus diesen Erwägungen heraus halte ich es für wünschenswert,
den vorher gegebenen Schlußsätzen noch folgende anzureihen.
5. Die anregende Wirkung einer einmaligen kleinen Alkohol¬
gabe kann unter besonderen Umständen von größerer Bedeutung
für den Einzelnen werden, als die nebenhergehenden lähmenden
Eigenschaften derselben. Diese können scheinbar ohne Schaden
vernachlässigt werden, wenn körperliche und geistige Ruhe ihren
raschen Ausgleich begünstigen. Unter dieser Voraussetzung kann in
der aus therapeutischen Gründen oder zu Genußzwecken erfolgen¬
den einmaligen Aufnahme einer geringen Alkoholmenge zurzeit
kein dauernder Nachteil für die nervöse Gesundheit der betreffen¬
den Person gefunden werden.
6. Der Alkoholgenuß vor und bei der Arbeit, körperlicher wie
geistiger, im Zustande der Ermüdung, wie in dem besonderer seeli¬
scher Anspannung begünstigt die Entwicklung der Nervosität und
der Nervenkrankheiten oder löst deren Ausbruch aus und ist
aus diesem Grunde trotz scheinbarer Vorteile, welche er vorüber¬
gehend mit sich bringt, dringend zu widerraten.
7. Nervöse und nervenkranke Menschen enthalten sich ebenso,
wie die Kinder, am besten vollkommen des Genusses von Alkohol,
da bei ihnen dessen schädigende Einflüsse auch nach mäßiger Gabe
oft überwiegen, und eine Gewöhnung besonders leicht eintritt. Auch
als Linderungsmittel einzelner Beschwerden ist bei solchen Menschen
größte Vorsicht in der Verwendung alkoholischer Gaben anzuraten.
8. Es ist Sache des Einzelnen, welchen Schluß er hieraus für
seine persönliche Stellung gegenüber dem Alkohol ziehen will, ins-
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Alkoholismus und Nervosität.
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besondere ob er es mit Rücksicht auf die zwar vorübergehenden,
aber doch nicht ganz ausbleibenden Lähmungserscheinungen oder
aus irgend welchen anderen Gründen für zweckmäßig hält, abstinent
zu leben und Abstinenz zu fordern.
Ich bin am Schlüsse meiner Ausführungen. Sie haben bemerkt,
daß die meisten der von Ihnen aufgeworfenen Fragen noch weiterer
Klärung bedürfen, trotzdem aber doch wohl die Überzeugung ge¬
wonnen, daß nach wissenschaftlicher Forschung und praktischer
Erfahrung schon jetzt der Alkoholismus als eine wesentliche Ur¬
sache der Nervosität und der Nervenschwäche in ihren verschiedenen
Äußerungen angesehen werden darf. Diese Tatsache muß Ihnen
bei der großen Bedeutung, welche die zunehmende Ausbreitung der
Nervosität für den Einzelnen, die Familie und den Staat gewinnt,
eine wertvolle Hilfe im Kampfe gegen den Alkoholismus sein. Wir
wollen uns nicht im Übereifer für die gute Sache der Selbsttäuschung
hingeben, daß mit Beseitigung des Alkoholismus auch die Nervosität
aus der Welt geschafft sei, vielmehr uns dessen bewußt sein, daß
hier der Alkohol nur eine unter vielen ursächlichen Schädlich¬
keiten darstellt Aber diese eine Schädlichkeit hat den Yorzug vor
anderen, daß sie diejenige Quelle der Nervosität ist, welche sich
vielleicht noch am leichtesten verstopfen läßt. Und wenn Sie die
Wege ins Auge fassen, auf denen Sie diesem Ziele näherkommen
können, werden Sie bemerken, daß diese im wesentlichen dieselben
sind, welche auch zur Beseitigung der anderen, neben dem Alko¬
holismus eine ursächliche Rolle spielenden Schädlichkeiten ein¬
geschlagen werden müssen. Indem Sie für die Allgemeinheit eine
Verbesserung der Arbeitsbedingungen, eine Hebung der Lebens¬
ideale, eine Vervollkommnung der gesamten Lebensführung anbahnen,
kämpfen Sie in gleichem Maße gegen den Alkoholismus wie gegen
die Ausbreitung der Nervosität
Der Alkoholismus. 1905.
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Dr. B. liaquer.
Geschichtliches zur Alkoholfrage.
Von
Dr. B. Laquer- Wiesbaden.
Wer nicht von 3000 Jahren
Sich weiß Bechenschaft zu geben.
Bleibt im Dunklen unerfahren,
Mag von Tag zu Tage leben!
Goethe.
Der Gebrauch berauschender Getränke geht bis in die Vorzeit
zurück; die Veda, das „heilige Wissen“ der Indier, überliefern
uns das älteste berauschende Getränk, Soma genannt Die Priester
benutzten seine Wirkung 1 ) für ekstatische Zwecke und schufen
eine Gottheit gleichen Namens, etwa wie die Griechen Dionysios
und Bacchus verehrten. Die berauschenden Stoffe der Urvölker
sind alle von einem mystischen Schein umgeben. Bilsenkraut galt
als Lieblings-Narkotikum der deutschen Hexen 2 ). Die primitive Mystik
braucht den Rausch und die Verzückung und stellt beide künstlich
und von außen her, wenn die Suggestion durch Lärm, Musik, Tänze
noch nicht oder nicht mehr wirkt. — Doch ist dies nur eine Seite
des Problems der Entstehung und Verbreitung der Reizmittel.
Warum hat das Betelkauen, fragt Heinrich Schurz, und das Kawa¬
trinken ein so beschränktes Gebiet, das sich nicht vergrößert?
Warum verschmähen die Semiten, deren Neigungen Mohammed
doch nur gesetzlich machte, den Alkohol, während sie Tabak und
Kaffee hochschätzen? Der Ostasiate bevorzugt wiederum das Opium,
das Hanfrauchen (Haschisch) umfaßt nur 2 */ 2 —3 Mül. Menschen;
auf die Europäer wirkt die Cannabis indica nicht annähernd so be¬
rauschend ein. Die auch nur umschreibende Antwort auf diese
Fragen lautet: Die Rassen haben ihre ihnen eigentümlichen Seelen¬
stimmungen, und den letzteren entsprechen spezifisch wie derSchlüssel
auf das Schloß eingestellte Genußmittel. Reisende fanden in Brasüien
*) Die wirksame Substanz des Soma, der „Meertraube“, ist das Ephedrin,
ein Alkaloid aus der Ephedris vulgaris darstellbar.
*) Weil es die Vorstellung des Fliegens zu erzeugen vermochte; „Die Salbe
gibt den Hexen Mut“, heißt’s in der «Walpurgisnacht 4 .
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Geschichtliches zur Alkoholfrage.
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unter den Urvölkem geheime Gesellschaften, welche dieser Ekstase
gewohnheitsmäßig huldigen, und ganze Stämme, die der nervösen
Überreizung verfallen waren. Wunderbar und überraschend ist die
Menge dieser Substanzen und die Mannigfaltigkeit in der Art, wie
sie genossen werden; „nur die allerrohesten Wilden begnügen sich
mit Wasser oder mit dem natürlichen Saft der Früchte“. Völlerei
und Geschlechtsgenuß bilden die höchste Glückseligkeit der Natur¬
völker; sie sind ein Ausdruck der Sorglosigkeit im Erwerb von
Nahrung und der Abwesenheit der durch die Kultur gegebenen
Hemmungen. Die Siegesfeste der Urvölker werden durch be¬
rauschende Getränke gefeiert, so z. B. bei den sibirischen Völkern,
den Samojeden, Ostjaken durch den Genuß des Fliegenpilzes, der ge¬
trocknet und mit Heidelbeersaft vermischt wird. Da das Muscarin,
das in diesem Narkotikum wirkt, durch die Nieren unzersetzt aus¬
geschieden wird, so schafft sich die samojedische „Masse“ einen
Rausch aus „zweiter Hand“ an, indem sie den Urin der Vor¬
nehmeren trinkt, ein Vorgang, der seine Parallele findet in den
Tischlerwerkstätten der Zuchthäuser, in denen der Schellackspiritus,
auch wenn er mit Ochsengalle oder mit Urin versetzt wird, dennoch
heimlich getrunken wird. (Vergl. H. Leuß, Aus dem Zuchthause,
Berlin 1903.) Ein späterer Erwerb der Kultur ist wohl erst das
Trinken bei den Mahlzeiten, und noch später und mit der Ent¬
stehung politischer und wirtschaftlicher Einrichtungen verknüpft,
das Trinken bei geselligen Zusammenkünften, sowie bei der Arbeit
und in den Arbeitspausen. — Die Aufnahme berauschender Stoffe
zu Heilzwecken nimmt ihre psychologische Wurzel aus dem Bedürfnis,
den Schmerz zu lindern.
Aus dem Nebel vorgeschichtlichen Daseins tritt das Alkohol¬
bedürfnis in geschichtlich beglaubigter Zeit bei den Ägyptern auf.
Die Malzzubereitung war bei ihnen ein ausgebildeter Gewerbszweig,
ja es wird behauptet, daß die in das Niltal eingewanderten, eigent¬
lichen Begründer der ägyptischen Kultur das Bierbrauen bei der
hamitischen Urbevölkerung bereits als eine von alters her bekannte
Fertigkeit vorgefunden und nur weiter ausgebildet hätten, und
Eduard Hahn hat in gewissem Sinne recht, wenn er Afrika als
einen im wahren Sinne des Wortes „biertrinkenden Continent“ be¬
zeichnet. Dieses Urbier war nichts anderes als ein mehr oder weniger
durch Zufall in Gärung geratener Mehlbrei. Später schied man
den reineren Trank von den Trebern, die zuerst auch von den
Menschen, dann nur noch für das Vieh als Nahrung verwandt
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Dr. B. Laquer.
wurden. Der Treber in der Geschichte vom verlorenen Sohn soll
allerdings Johannisbrot gewesen sein. Biersteuem gab es schon
um 200 vor Christi, und Pelusium war das ägyptische München;
der Pschorr hieß damals „Zytos“. Brugsch fand in einem
uralten ägyptischen Papyrus die Mahnung an einen Studenten:
Meide den Biergenuß, er bringt deinen Geist in Rückgang. Kränze
aus geflochtener Gerste gab man dem Toten für die Wanderung ins
Jenseits mit, und der König Gambrinus soll seine Kunst von dem
ägyptischen Gotte Osiris gelernt haben. Im Gegensatz zu Bier und
Butter, die als Genußgut der Barbaren galten, kamen bei Griechen
und Römern Wein und öl auf. Bei den homerischen Griechen
war der Wein schon im allgemeinen und nicht nur bei den Häupt¬
lingen und Vornehmen im Gebrauch. Auf dem Schilde des Achilles
sind ein Weinberg und Szenen aus der Traubenlese abgebildet
Otto Körner-Rostock bringt einige Stellen aus Ilias und Odyssee
in seinem kürzlich erschienenen Buche: Wesen und Wert der
homerischen Heilkunde. Wiesbaden, J. F. Bergmann, 1905. Der
Ruhm aber, die Menschheit mit dem Wein beschenkt zu haben,
gebührt den semitischen Völkern. Dem ersten Trunkenbold der
Geschichte, Noah, gesellt sich bald Lot zu, der erste Alkohol-
Kriminelle (Incest im Rausch); die „Kundschafter“ bringen aus
Palästina jene Trauben mit, wie sie jetzt nur Südspanien oder
Ungarn erzeugt. Bei Festen und auch bei der Arbeit tranken die
Israeliten Wein. Salomo verheißt „den Zimmerleuten von Tyrus,
die das Holz zum Tempelbau hauen, je 20000 Kor 1 ) gestoßenen
Weizen und Gerste und je 20000 Bath 2 ) Wein und öl“. Man
kannte damals auch schon die üblen Folgen, wie die Sprüche be¬
weisen: „Sei nicht ein Weinsäufer, denn der Wein bringet viel
Leute um.“ (Jesus Sirach 31, 30.) „Ein Arbeiter, der sich gern voll¬
säuft, der wird nicht reich.“ (19, 1.) „Der Wein erquickt dem Men¬
schen das Leben, so man ihn mäßiglich trinkt Aber so man sein
zu viel trinkt, bringt er das Herzeleid, dieweil man sich reizet und
wider einander streitet“ (31, 32 und 36.) „Wein und Weiber be¬
tören die Weisen.“ (19, 2.)
In geistvollen, feinen Zügen schildert Hehn in seinen „Kultur¬
pflanzen und Haustiere“, wie der Weinstock vom Südende des
Kaspisee, „wo die Rebe mit armdicken Stämmen bis in die Wipfel
*) Ein Kor = ein Malter.
*) Ein Bath = 20 Liter.
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Geschichtliches zur Alkoholfrage.
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der himmelhohen Bäume sich windet und von oben durch schwer
hängende Trauben lockt“ über Euphrat, Syrien, zu den Lydern
und Phrygem, und von dort zu den Griechen gekommen ist 1 ). An
die Gründung des Weinbaus knüpfen sich Legenden von Völker-
kämpfen an. Diesen Segen dachte man sich als die Habsucht
reizend. Dennoch hat die Antike den Trunk, wie ja auch die
Lyrik eines Anakreon eines Horaz beweist, mehr künstlerisch¬
ästhetisch auf gefaßt. „Wohlgerüche dufteten im Trinkgemach, die
l ) Der Professor für altindische Philologie an der Universität Wien Dr. Leopold
v. Schröder berichtet in der Österreichischen Rundschau über eine nach dem
Kaukasus unternommene Reise. Er fuhr von Tiflis über Kakabeti, Katschereti
und die alte grusinische Festung Signach nach Lagodechi, einer 150 Werst von
Tiflis entfernt gelegenen Besitzung des Fürsten Demidow, hart am Fuß der
steil aufsteigenden Berge von Daghestan. Von einem Spaziergang in die Umgebung
von Lagodechi erzählt er u. a.: „Fast überall an den Wegen erheben sich mächtige
Brombeerbüsche, Brombeerhecken, wie ich sie ähnlich nie zuvor gesehen. Schon
bei Tiflis fielen mir die Brombeeren an den Wegen auf. Hoch hinauf wuchert
in ihrem Schutze das Farnkraut. Hier sehen wir die verwelkten, braunen Farne
des vorigen Jahres im Brombeorgebüsch, dort heben sich daneben die zierlichen
jungen diesjährigen Pflanzen empor. Dort sehen wir W ein gärten, in denen schon
gearbeitet wird. Steht der Wein auch dem der gegenüberliegenden kachetischen
Berge, von Signach bis Telaw, an Güte nach, so ist es doch noch immer ein
trefflicher Wein. Kein Wunder! Ist ja doch hier in Transkaukasien nach der
Ansicht berühmter Gelehrter die Heimat, das Ursprungsland des Weines! Mag
man nun speziell Kachetien dafür halten, oder mit Viktor Hehn den Südrand
des Kaspischen Meeres, mit K. Koch die Urwälder Mingreliens — es ist doch
wesentlich derselbe Landstrich, über den seit uralters der wildwachsende Wein
verbreitet ist. Hier in den Wäldern von Lagodechi habe auch ich die echte
Weinrebe wild wachsen sehen. Sie klettert und rankt sich an hohen Bäumen
bis in die Wipfel hinauf, sie umschnürt junge Bäumchen mit furchtbarer Kraft,
daß sie nur qualvoll sich windend emporwachsen können. Ein merkwürdiges
Exemplar eines solchen, in Rebenumklammerung erwachsenen Komelkirsch-
bäumchens habe ich mir zum Andenken mitgebracht. Eine mehr als armdicke
wilde Rebe, die eine große Buche bis obenzu umrankte, durchhieb mein Stief¬
sohn in meiner Gegenwart mit dem Kindschal, dem großen kaukasischen Dolche.
Aus dem durchhauenen Stamme floß der Saft so reichlich, daß man ihn förmlich
trinken konnte. Wenn Viktor Hehn in seiner Schilderung sagt, daß die Rebe
in ihrer Heimat aus dem Wipfel himmelhoher Bäume durch schwerhangende
Trauben locke, so ist das Bild vielleicht etwas zu verführerisch gemalt. Die
Trauben dieser wilden Rebe sollen nicht viel wert sein, ähnlich wie die Holz¬
äpfel in den Wäldern. Veredelt mußte die Rebe werden, wie so viele andere
Gewächse, um den herrlichen Feuerwein zu erzeugen, an dem sich die Welt
nun schon seit Jahrtausenden freut. Die edle Anlage trägt sie aber doch schon
in der Wildnis in sich, und so betrachten wir auch den wildwachsenden Wein
in den Wäldern von Lagodechi mit Ehrfurcht.“
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Dr. B. Laquer.
Flöte und das Saitenspiel und die Tänze nackter Sklavinnen ergötzten
den Trinkenden.“ So hat es Anselm Feuerbach — „das Land der
Griechen mit der Seele suchend“ — in seinem „Gastmahl des Plato“
dargestellt. Das Trinken bei Zusammenkünften kannten die Griechen
nicht; Wirtshäuser gab es nur vereinzelt; sie dienten zweifelhaftem
Volk. Nur Barbaren tranken den Wein ungemischt; der Pariser
trinkt seinen petit vin noch heute mit Wasser verdünnt zur Mahl¬
zeit. Auch in Born war es nicht anders; noch um das Jahr 100
vor Christi wurde bei prächtigen Mahlzeiten griechischer Wein nie
mehr als einmal herumgereicht 1 ). Es gab nur an den typischen Beise-
straßen Tabernen, die zugleich Nachtquartier darboten. In den
Städten traf man sich in den Säulenhallen, den Tempeln und
Bibliotheken, vor allem in den öffentlichen Bädern wie ja noch
heute der Südländer auf der Straße lebt. Betrunkene Lazzaroni
habe ich nirgends in dem modernen Italien getroffen.
In unserer eigenen Heimat, in Mitteleuropa, war es der wilde
Honig, den in Urzeiten, in denen der Ackerbau noch nicht vor¬
handen war, die nomadisierenden Hirten raubten, bevor sie als
Zeidler ihn regelrecht in Körben anbauten. Bei Homer bilden noch
die Bienen, die aus einer Felsenhöhlung ausfliegen, einen freien,
in der Wildnis lebenden Schwarm.
„In den lindenreichen, von Bienen bewohnten Urwäldern des
europäischen Osten und Südosten spielte der berauschende Honig¬
trank eine große Bolle und war älter als das Bier und der Wein“
(Hehn).
Der Met war das Urgetränk der Indogermanen; noch heute
genießt man in Eußland das Bier nur in vornehmen Kreisen; die
unteren Stände trinken Kwaß (aus in Gärung versetztem Brot
zubereitet) oder Branntwein.
Auch in der Bierbereitung haben wohl die Kelten als Träger
der Technik die Germanen und die Slaven belehrt. Die kelto-
iberischen Bürger des von Scipio dem Jüngeren 183 vor Christi be¬
lagerten spanischen Numantia tranken sich für einen Ausfall Mut an in
Form von Bier, das sie bereiteten aus den Keimen der angefeuchteten
Getreidekömer (Weizen), die wieder getrocknet und mit dem linden
Saft (Hefe!) vermischt sich in einen herbschmeckenden, berauschenden
Trunk verwandelten. Spanien war noch zu Plinius’ Zeiten ein Bier¬
land, Frankreich dagegen schon ein Weinland. Pytheas aus
') L. Friedländer, Sittengeschichte Roms.
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Geschichtliches zur Alkoholfrage.
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Marseille, der in der Zeit der Alexanderzüge als Globetrotter Nord¬
europa bereiste, fand dort das Bier; die Kelten, die ja überhaupt
technisch veranlagt waren — sie waren auch, wie die Geräte der
La Tene-Kultur von Hallstadt beweisen, die ersten Salzsieder —,
brauten schon Bier. Kaiser Julian verhöhnt den „Wein aus Gerste“,
das Getränk Lutetias, des damaligen Paris, mit folgendem Epigramm:
Du willst der Sohn des Zeus, willst Bacchus sein?
Was hat der Mutausdüftende gemein
Mit dir, dem Bockigen? Des Kelten Hand,
Dem keine Traube reift im rauhen Land,
Hat aus des Ackers Früchten dich gebraut;
So nenne dich auch Dionysos nicht,
Der ist geboren aus des Himmels Licht,
Der Feuergott, der Sprüh’nde, fröhlich Laute —
Du heißt: Demetrius, der Sohn des Malzes, der Gebraute!
Was ist von den Trinkgewohnheiten der alten Deutschen zu
halten? Darüber hat sich in treffender Weise J. Gons er kürzlich
geäußert:
„Zunächst ist noch gar nicht sicher erwiesen, daß die Deutschen
so unendlich viel tranken, und wenn auch ein gewisses Alkohol¬
übermaß zu verzeichnen gewesen sein mag, so gilt das sicher nur
für gewisse Schichten, jedenfalls nicht für die Allgemeinheit, und
ferner nur für gewisse Festtage und Festzeiten und nicht für das
alltägliche Leben.
Die Geschichte der alten Deutschen in den historischen Anfängen
war wesentlich eine Geschichte der Stammesfürsten. Das Yolk als
solches war als aktives Element in das Nach- und Nebeneinander
des Geschehens noch gar nicht eingetreten. Die kulturellen
Schilderungen über Anschauungen, Sitten und Gebräuche der
Germanen konnten sich daher in der Hauptsache nur auf die
hervorragenderen Höfe der Stammesherzöge beziehen.
Aber auch ohne dieses lehrt schon die einfachste Überlegung,
daß bei der örtlichen Gebundenheit und Geschlossenheit der kleinen
Höfe im Zeitalter der Naturalwirtschaft von einer allgemeinen Ver¬
breitung des Alkoholkonsums gar nicht die Rede sein konnte. Es
fehlte unser Verkehrswesen, unser Fabriksystem zur billigen Massen¬
produktion; es fehlte der Alkohol-Kapitalismus.
Bier und Met sollen genossen worden sein. Diese Getränke
wurden aber zweifelsohne nicht mit so starkem Alkoholgehalt her¬
gestellt, wie in der Gegenwart; daran hinderte schon die unvoll-
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Dr. B. Laquer.
komjnene Produktionstechnik gegenüber unserer heutigen rationellen
Bewirtschaftung und Auswirtschaftung.“
Diejenigen, die den Wein und seine Kultur nach Germanien
brachten, waren die Börner; von Gallien westlich und Panonien süd¬
östlich kam das Erzeugnis, wie der Name (vinum) bezeugt; die
Sueven und Nervier verbaten sich die Einfuhr, nicht aus Furcht
vor Verweichlichung, sondern weil die römischen Händler wie die
Werber Friedrichs des Großen und des modernen Englands gegen
einen Krug Wein Sklaven und Söldner eintauschten. Später wurde
man läßlicher, und im 4. Jahrhundert nach Christi waren die Mosel¬
ufer mit Weinbergen besetzt*) Auf einem Bemagener Grabmonument
des 2. bis 3. Jahrhunderts sieht man Weintransport in Fässern auf
der Mosel. Antike Winzermesser wurden zusammenliegend mit
Bronzemünzen gefunden, die nicht über Marc Aurel (gestorben 180)
hinaufgehen. — Die Keller der fränkischen Könige waren schon
voll Wein.
Vor allem aber: Die alten Deutschen waren ein Jäger- und
Ackerbauvolk, ein Volk, das in der frischen und freien Natur seine
Kräfte verwendete und immer neu stählte. Der Alkohol schadet
nun bekanntlich dem Menschen weniger bei körperlicher Betätigung
als bei geistiger Arbeit, weniger bei einer Lebens- und Arbeitsweise
im Freien, als einer solchen im geschlossenen Baume, in Bureaus,
Fabriken etc. Mit der Entwicklung unseres Wirtschafts- und
Gesellschaftslebens, mit der steten Entlastung der körperlichen
Funktionen, ist eine stärkere Ausnutzung der menschlichen Kraft,
eine schärfere Anspannung der Nerven und größere Empfindlich¬
keit und Empfänglichkeit gegenüber schädlichen Einflüssen ver¬
bunden, so daß der heutige Mensch auf alle Beize feiner und
nachhaltiger reagiert
Für die alten Deutschen, ein Naturvolk, war der Genuß ihrer
geistigen Getränke nicht Volksgewohnheit, und darum nicht Volks¬
gefahr; wie für die heutigen Deutschen.
Die römische Weinkultur machte jedoch Bückschritte, trotz¬
dem die bessere Aufbewahrung in Holzfässem statt in Schläuchen
— die vom Norden her zu den Bömern gelangte — die Auslese
der Sorten begünstigte; Maximinus baute im Jahre 238 die erste
Pontonbrücke in der Nähe Aquilejas aus pannonischen Wein-
l ) Mor. Heyne, Fünf Bücher deutscher Hausaltertümer. Bd. H: Das
Nahrungswesen. 1901. § 4 und § 5.
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Geschichtliches zur Alkoholfrage.
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fässern; noch jetzt kommt das Holz, das der Orient für seinen
Weinhandel braucht, aus Ungarn (Hehn).
Das viel besprochene Marokko war bis zum Beginn der Herr¬
schaft der Kalifen ein Weinland, nur ein Drittel der Weinberge
Spaniens ließen die maurischen Herrscher übrig; ihre Erzeugnisse
durften aber nicht gekeltert, sondern mußten reif oder getrocknet
genossen werden.
Aber aus dem Schoße der arabischen Kultur, die den Wein¬
genuß verdammte, ging diejenige Erfindung hervor, die für die
Herstellung und den Genuß alkoholischer Getränke von Bedeutung
war. Arabische Ärzte haben bei dem Bedürfnis, ein Heilmittel aus
den berauschenden Getränken herzuleiten, den Wein schon im 9. Jahr¬
hundert destilliert, gebrannt und das aqua vitae hergestellt Zuerst
wurde es an wohlriechenden Kräutern, an Blütenblättem, vor allem
den Rosen geübt Frauen lehrten diese Kunst, bis die Apotheker
sie technisch ausbildeten. Im 13. Jahrhundert befindet sich Aquavit
im westeuropäischen Arzneischatz. Aus dem Universalheilmittel
wurde ein Universalvorbeugungsmittel. Die Nürnberger Polizey-
Verordnung Anfang des 14. Jahrhunderts enthält das erste Brannt¬
weinverbot in deutscher Sprache. (Heyne, 1. c. S. 206 u. 376.)
Inzwischen hatten die Mönche den Weinbau nicht nur die
„Pfaffengasse“, also rhein- und mainabwärts, sondern auch im
Thüringischen, im Holsteinischen bis hart auf die Grenze klima
tischer Zulässigkeit, bis nach Kurland und an die Oder hin, wovon
der Grünberger und der Bomster noch Zeugnis gibt, fortgepflanzt
Ihnen folgten die Grundherren, die in grandseigneurialer Haltung
es verschmähten, den Wein zu kaufen, sondern für sich das eigene
Gewächs zogen; im Vertrage von Verdun werden die rheinpfäl¬
zischen Rebkulturen besonders erwähnt und mit Mainz, Worms,
Speyer Ludwig dem Deutschen zugeteilt
Südliche Weine, wie der cyprische, der Malvasier aus dem Pelo¬
ponnes, der Veltliner fanden durch bayrische Gebirgs-Pässe Einlaß.
1288 brachte ein Kaufmann nach Basel griechischen Wein, den er
vier Liter für zehn Mark verkaufte. Im Mittelalter war ja Bayern
ein Weinland; das Kloster St. Emeran bei Regensburg war der
Mittelpunkt der Rebkultur. Durch das Emporkommen der Hansa
kamen die Weine Italiens und Frankreichs auch nach Norddeutsch¬
land; sie verdrängten durch ihre Billigkeit und durch höhere Qualität
die heimische Erzeugung, die auch klimatischen Veränderungen
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Dr. B. Laquer.
weichen mußte; um 1157 werden schon Kölner Kaufleute 1 ) ver¬
meldet, die den Rheinwein in London absetzten; der König erhielt
eine Prise von zwei Fässern, „eins vor und eins hinter dem Mast“,
etwa wie der heutige New-Yorker Hafenkommissar, der das Ein-
wandererschiff vor der Einfahrt besichtigt, seinen Korb „Sekt“ „als
Gruß zuvor“ bezieht.
Es gab einen hansisch-niederländischen und einen hansisch¬
skandinavisch-baltischen Weinhandel. Brügges Niedergang hing mit
dem siegreichen Kampf der Hansen gegen den Weinoktroi dieser Stadt
zusammen. Die Stätten des nordischen Heringsfangs waren auch
solche des Weinschanks, so in Bergen, in Schonen, an der Süd¬
küste Schwedens. 1462 sollen in Falsterboi 20000 Personen zur
Fangzeit sich aufgehalten haben. König Sverrin von Norwegen
vertrieb 1186 alle deutschen Kaufleute wegen zu großer Wein¬
einfuhr; 1252 wird sie wieder erlaubt, nur das Bier bleibt aus¬
geschlossen; später, im 14. und 15. Jahrhundert ging infolge hoher
Weinzölle wiederum die Biereinfuhr in die Höhe; Lübeck ver¬
mochte nicht mehr allen dazu nötigen Hopfen zu produzieren und
bezog ihn aus Thüringen und aus der Mark Brandenburg. Ur¬
kundlich erscheint der Hopfen nach Hehn zuerst 822 in den Sta¬
tuten der Abtei Corvey, dann in denen des Stiftes Freising, im
Sachsen- und Schwabenspiegel; die Alten kannten ihn als Zusatz
ihres Bieres noch nicht Der Hopfen machte das Bier erst haltbar
und transportfähig.
Aber auch nach Preußen, Rußland und Polen hin trieb die
Hanse einen regen Weinhandel. Danziger Schiffer brachten spa¬
nische und Bordeauxweine vom Ursprungsort. Rheinweine warden
z. B. an den Deutschorden verkauft. Nach der Entdeckung Amerikas
gingen die Südweine dorthin: 160000 Zentner führten jährlich
Cadix und Sevilla aus. Mit den Hansen wetteiferten die ober¬
deutschen Städte Ulm, Nürnberg, Straßburg. Die Verordnungen x
beschäftigten sich schon aufs genaueste mit der Führung der Wirt¬
schaften, der Weinfälschung und den Accisen; die Stadtverwal¬
tungen hatten das Einfuhrmonopol; als stolzer Rest dieser Ein¬
richtung sind, während die Hanse versunken ist, die Ratskeller
geblieben, die von verschwundener Pracht zeugen; sie wurden 1287
in Hamburg, die beiden andern (Lübeck und Bremen) 1289 und
1342 zum erstenmal erwähnt.
l ) Hartmeyer, H., Der hansische Weinhandel, Jena 1905.
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Geschichtliches zur Alkoholfrage.
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Die Bierbrauertechnik ist, abgesehen von den oben erwähnten
ägyptischen und frühspanischen Nachrichten, flandrischen Ursprungs.
Von dort kam sie, ebenfalls von Klöstern aus (s. M. Heyne, S. ,344),
nach Norddeutschland (Hamburg, Einbeck, Zerbst, Braunschweig).
1614 ließ Kurfürst Maximilian einen Einbecker Braumeister ans
Hofbräuhaus kommen, um das Bier zu brauen, das bislang nur als
Import- und Tafelgetränk am Hofe selbst genossen wurde, auch als
heimisches Volksgetränk darzustellen; dieses „Ainpöckische“ Bier ist,
nicht nur sprachlich, der Urtypus des Münchener Bock. Mit dem
Niedergang des deutschen Handels verfiel auch das Brauwesen;
hinzu kam die Unmäßigkeit, der „Saufteufel“ in den Zeiten des
Wohlstandes. Sittenprediger, die Kirche, z. B. Martin Luther (A. Grot-
jahn, Der Alkoholismus 1898 und bei G. Steinhausen, Geschichte
der deutschen Kultur, 1905), Reichstagsabschiede eifern gegen ihn
und im Jahre 1600 wird vom Pfalzgrafen Friedrich V. der Tem-
perenzorden gegründet. Doch gingen diese Vereine nach kurzer
Blüte wieder ein. Die Satzungen dieser Mäßigkeitsvereine, die
A. Baer anführt, erinnern mehr an Trinkklubs mit Saufregeln. Erst
der neue Geist, der von Italien kam, veredelte die Sitten und ver¬
besserte die Lebensbräuche. „Buch und Feder traten an die Stelle
von Jagdspieß und Humpen“; neue Belustigungen traten auf; Tee,
Kaffee, Schokolade wurden eingeführt und von den Vornehmen ge¬
nossen.
Der Dreißigjährige Krieg vernichtete wohl die Weinberge und die
Hopfenkulturen, die Söldner brachten aber ebenso wie die Napoleons I.
den Branntweingebrauch in alle Kreise; er wurde in diesen Zeiten
noch direkt aus Korn hergestellt; die Kartoffel war im 17. Jahr¬
hundert noch ein Leckerbissen an höfischen Tafeln, erst etwa seit
dem Anfang und Mitte des 18. Jahrhunderts gelangte sie zu größerem
Anbau. Friedrich H. hatte ihren Wert im Siebenjährigen Kriege und
im Mißjahr 1770 erkannt und erzwang ihre Kultur in Schlesien
und Pommern durch Gewaltmaßregeln, wie etwa die russische
Regierung noch 1855 Prämien für ihren Anbau an die Bauern
verteilte. Nach den Befreiungskriegen in der wohlfeilen Zeit
lernte man erst die Verwertung der Kartoffeln zur Darstellung von
Spiritus und von Schlempe. Der Branntwein wurde dadurch ver¬
billigt und den unteren, noch unberührten Bevölkerungsschichten
zugeführt; das Getränk des kleinen Mannes, des Lohnarbeiters, ent¬
stand. Die ersten, die ihn regelmäßig als „Leistungsstachel“ er¬
hielten, waren bezeichnenderweise Bergleute. (Grotjahn 1. c.)
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Dr. B. Laquer.
Wie der Islam zwar Enthaltsamkeit lehrte, gelehrte Anhänger
desselben aber die Destillation des Alkohols zuerst aufbrachten, so
haben umgekehrt die Mitglieder der Kirche oder des Zweiges der¬
selben, welche die Weinkultur und das Braugewerbe gepflegt, auch
zuerst gegen den Trunk geeifert und diejenigen Organisationen
gegründet, die die Abstinenz als Werktagsregel auf stellten. Herrn¬
huter in Deutschland, Quäker und Methodisten in England und
Nordamerika im Anschluß an die Zeiten von Cromwell-Knox haben
puritanische Grundsätze niedergelegt und nach ihnen streng gelebt; in
der Konstitution Wesleys, des Gründers des Methodismus, ist im § 30
Trunkenheit, Kaufen und Verkaufen geistiger Getränke strengstens
verboten; der Gründer der Heilsarmee, General Booth, ist Methodist.
Jean J. Rousseau verurteilte ebenfalls das Trinkleben, gleich¬
zeitig mit ihm schrieb Linnö gegen den Branntwein.
Mit diesem religiösen, der Weltfreude abgekehrten, antihedo¬
nistischen Rationalismus hing auch Benjamin Franklins Stellung¬
nahme zusammen (1706—1790); er war von Jugend auf abstinent
und blieb es auch bis zu seinem Tode. Ebenso Thomas Jefferson
aus Virginia (1743—1826), der dritte Präsident, der Verfasser der
Declaration of Independence vom 4. Juli 1776, wohl der be¬
deutendste Staatsmann, den der Süden und seine Demokratie hervor¬
gebracht und jemals ins „Weiße Haus“ nach Washington gesandt
haben; Jefferson erwarb einst 1804 Louisiana vom ersten Napoleon;
sein Werk zu ehren, wurde die Weltausstellung 1904 veranstaltet.
Jeden Beamten, den Jefferson anstellte, fragte er, ob er geistige
Getränke genösse. 1785 erschien in Philadelphia die erste wissen¬
schaftliche Schrift über den Alkohol von Professor Benjamin Rush,
einem Freunde von Franklin; bezeichnend für die damalige Auf¬
fassung war, daß Rush Bier und Wein als Antidot gegen den
Branntwein empfahl.
1813 wurde in Boston durch Lymann Beecher, den Vater
von Frau Harriet Beecher-Stowe, Verfasserin von „Onkel Toms
Hütte“, die erste Gesellschaft zur Unterdrückung der Unmäßigkeit
gegründet. 1826 erschienen Beechers sechs Reden über Unmäßig¬
keit; Beecher forderte schon damals „the Prohibition“, d. i. das
Staatsverbot des Getränke-Ausschanks und -Handels. 1826 entstand
die erste Enthaltsamkeitsvereinigung; ihre Gesetze lauteten:
1. Die Mitglieder verpflichten sich, für sich und ihre Haus¬
angehörigen keinerlei berauschende Getränke zu genießen, es sei
denn in Krankheit auf ärztliches Gebot.
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Geschichtliches zur Alkoholfrage.
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2. Niemandem welche anznbieten.
3. Dahin zu streben, daß der Genuß geistiger Getränke über¬
haupt aufhöre.
1826 erschien auch die erste gegen den Alkohol gerichtete
Wochenschrift: The National Philantropist 1828 waren 222 Bezirks¬
vereine mit 100000 Mitgliedern vorhanden, 1833 6000 mit einer
Million Mitglieder; der damalige Präsident der Vereinigten Staaten
Andrew Jackson billigte öffentlich die Bewegung. Im gleichen
Jahre wandte sich Friedrich Wilhelm IU., der schon 1803 unter
Hufelands Einfluß ein „Branntwein-Edikt“ hatte ergehen lassen,
an die amerikanische Regierung und ersuchte sie um Entsendung
eines Vertreters der Bewegung, Robert Baird kam 1833 im
Herbst nach Berlin, überreichte eine Denkschrift, die, dem Kronprinzen
gewidmet, in 30000 Exemplaren an sämtliche Geistliche des Landes
versandt wurde. Hufelands Schrift „Über die Vergiftung durch
Branntwein“ 1802 hatte vorgearbeitet; es entwickelte sich die erste
deutsche Mäßigkeitsbewegung, die außerordentlichen Umfang annahm,
manche Strömungen in Preußen unterstützten die beginnende Propa¬
ganda; Oberpräsidenten, Minister, Generäle wurden enthaltsam; der
Branntweinsteuerertrag des damaligen Königreichs Hannover sank
um die Hälfte. Friedrich Wilhelm IV. verbot die Brennereien auf
den königl.. Domänen. 1840 gab es in Norddeutschland 490000 Ent¬
haltsame; erst durch die alles Interesse für sich beanspruchenden
politischen Ereignisse Ende der 40 er Jahre und durch den Mangel
einer festen Organisation — es gab z. B. nur freiwillige Beiträge —
kam die Bewegung in den Hintergrund und verschwand in den
50 er Jahren ganz.
Aber auch in Amerika ebbte die starke Flut zurück. Damals
hatten die Vereinigten Staaten 13 Millionen Einwohner, also weniger
als gegenwärtig die Staaten New-Vork und Pennsylvania zusammen,
westlich vom Missouri gab es noch keine amerikanische Nieder¬
lassung und ein paar Hütten zeigten die Stelle an, wo heute Chicago
steht. Die Stadt New-York war kleiner, als heute Detroit ist,
und Washington ein Sumpf, wo die Postkutschen in Pennsylvania
Avenue stecken blieben, und die Kühe weideten, wo jetzt die
englische Gesandtschaft steht.
Der Beginn des Industrialismus, der Aufschwung des Brau-
und des Baugewerbes, der Zug nach dem Westen, die Einwanderung
der Bier liebenden Deutschen und der Branntwein liebenden Iren,
das Goldfieber, vor allem aber die Sklavenfrage ließen zwar das
öffentliche Interesse für die Bekämpfung der Trunksucht zurück-
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262
Dr. ß. Laquer.
treten, gaben aber anderseits dazu Anlaß, daß im Anfang der
50 er Jahre das Branntweinelend besonders im Osten riesig anwuchs;
es entstand eine neue Anti-Alkoholbewegung, die bis in die Neuzeit
fortbesteht und durch die Anteilnahme der Frauen neue Nahrung
erhielt. Man kann also behaupten, daß Nordamerika dasjenige Land
ist, in welchem zuerst systematisch, wenn auch mit wechselndem
Erfolge der Alkohol bekämpft worden ist.
Über die Entstehung der Anti-Alkoholbewegung in Gro߬
britannien, in Schweden und Norwegen und Finnland ist gerade in
den letzten Jahren Ausführlicheres geschrieben worden (siehe Berg¬
mann-Kraut, Geschichte der Anti-Alkoholbewegungen, sowie die
Berichte des Wiener und des Bremer Anti-Alkoholkongresses.) Be¬
zeichnend für unsere deutschen Lande ist, daß das erste Frachtgut
der 1836 eröffneten Eisenbahn Fürth-Nürnberg ein Fäßlein Nürn¬
berger Bier war, das sich der Bahnhofswirt zur Bewirtung der
Gäste kommen ließ. Noch heutigen Tages sieht man nirgends so
wohlbeleibte Eisenbahnbeamte als in Bayern. Das erste Frachtgut
überhaupt war, um an die Urzeit wieder anzuknüpfen, das Salz 1 ).
Die heutige Biesen-Verbreitung berauschender Getränke ver¬
danken wir der Verbilligung derselben durch das Kapital; es ver¬
vielfältigte die Mittel, nicht nur die technischen, zur Darstellung
der Alkoholika und trug das Bedürfnis nach ihnen in Gegenden,
die sie noch nicht kannten (Dezimierung der Indianer und Ur-
völker durch das gebrannte Wasser); es ermöglichte auch die Trans-
portierbarkeit, den Großhandel, z.B. des Bieres, das man heute in Shangai
in derselben Qualität trinkt, wie im Cafö Maximilian in München; im
Walldorf-Astoria-Hotel zu New-York gibt es 600 verschiedene Sorten
Cocktails! Derjenige, der dort diese american drinks verkostet und
mischt, bezieht einen Gehalt höher als der eines Ministers bei uns ist.
Einige Zahlen über den Unterschied von einst und jetzt 2 ):
Über den St. Gotthard zogen jährlich im Spätmittelalter an
Waren 1250 Tonnen = dem Inhalt von 1—2 heutigen Güterzügen,
1840 80000 Zentner, 1889 (Eisenbahn) = 3 Mill. Zentner.
Der Ausfuhrhandel Hamburgs betrug 1400 = 3 Mill. Mark.
Der Umsatz an Wein im dortigen „Katskeller“ 8000hm, ca. 150000
Flaschen im Gesamtwert von ca. 180000 Mark. Das ist zugleich
der Jahresverbrauch, inkl. Export, der ganzen Stadt, die damals
etwa 7000 Einwohner, 1815 nach den Verwüstungen durch Davoust
55000, jetzt 750000 Einwohner zählt.
J ) v. Hehn: Das Salz. Berlin 1875.
2 ) Schulte: Der Handel des Mittelalters.
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Geschichtliches zur Alkoholfrage.
263
Überblicken wir die kurze Geschichte der Alkoholfrage, so
werden wir folgende Höhepunkte derselben festhalten können.
Aus sakralen und geselligen Instinkten heraus erfand und liebte
man berauschende Getränke; die Antike war noch als mäßig zu
bezeichnen, was mit Klima, mit Überlieferung und mangelhafter
Technik der Alkohol-, speziell der Weinerzeugung zusammenhing.
Nur die Vornehmeren tranken, der Helot, der Sklave war nüchtern.
Auch die mitteleuropäischen Indogermanen waren es in diesem
Sinne, als sie in die Geschichte eintraten.
Die Herrschaft des Islam brachte eine Reaktion, aber zugleich
die Erfindung des gebrannten Weines als Schlimmstes seiner Ver¬
mächtnisse. Auch in mittelalterlichen Zeiten, die man sich nicht so
peupliert und nicht proletarisiert vorzustellen hat, wurde vorzugsweise
von den Wohlhabenden, den Fürsten, Rittern, Geistlichen, Zunft¬
genossen scharf getrunken; die großen Kriege, das Erstarken des
asketischen, den Reizhunger überwindenden Protestantismus brachten
wiederum einen Rückschlag, etwa im 18. Jahrhundert, insbesondere in
den nordischen Ländern; er äußert sich in energischen zielbewußten
Organisationen, deren erste Träger die Geistlichkeit war, die frühere
„Schulden“ abtrug; Idealisten undMenschenfreunde schlossen sich ihr an.
Der Alkoholismus, wie er jetzt besteht mit seinen Riesen¬
kapitalien, wie sie noch kürzlich Denis im Schweizer Taschenbuch
für Alkoholgegner (1905) zusammenstellte — die Gesamtsumme
dessen, was die Kultur-Staaten erzeugen, was also jährlich der
orbis terrarum pictus vertilgt, beträgt ca. 20 Milliarden —, dieser
Alkoholismus besteht doch eigentlich in diesem gigantischen und
alle Schichten des Volkes umfassenden Umfange erst seitdem die
kürzlich noch von Werner Sombart geistvoll geschilderte 1 ) Technik
aufgekommen ist, also etwa seit 100 Jahren. Zugleich mit der Technik
kam nicht nur Bevölkerungs-, sondern auch Alkoholkonsumenten¬
zunahme, mit letzterer der Profit- und Absatzhunger der Alkohol¬
erzeuger. Die Wissenschaft beschäftigte sich mit der Hefe, mit der
Zuckerrübe, mit der Kartoffel und ihrem Erzeugnis, mit der Wein¬
kultur und deren Schädlingen. Achard, Liebig, Pasteur,
Märcker, Delbrück sind dazunennen. Der Staat begann den Alkohol
als Steuerobjekt mit brennender Liebe zu umfassen, er errichtete
Brauschulen, gärungstechnische Laboratorien, Weinbauschulen, er
übernahm die Domänen, welche die edlen Weine trugen.
Zum Schluß einige Zahlen, die beweisen sollen — nur für Deutsch¬
land —, welche Geldinteressen die unten genannte drittePartei vertritt.
*) Sombart: Die deutsche Volkswirtschaft im XIX. Jahrhundert. Berlin 1903.
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264
Dr. B. Laquer. Geschichtliches zur Alkoholfrage.
keine;
1850 gab es deutsche Aktiengesellschaften:
Brauereien zwei, Gesamtkapital 3 MilL Mark,
Mälzereien ....
Sprit, Preßhefe . .
Brennereien . . .
Wein, Schaumweine
jetzt, 1900/1901, bestehen:
510 Aktiengesellsch. für Bier mit 1280 Mill. Mark Kapital,
42
26
11
Malz „ 42
Sprit,
Preßhefe, Brennerei mit 40
6 Aktiengesellsch. für Wein,
Schaumweine „ 6
also Aktiengesellschaften mit insgesamt 1368 Mill. Mark Kapital.
Der heimischen Landwirtschaft entnehmen Brauerei und Bren¬
nerei allein für 410 Mill. Mark und geben ihr für 110 Mül. Mark
als nutzbare Abfallstoffe zurück.
1835 betrug die Einfuhr fremder Alkoholika 3 Mül. Mark, die
Ausfuhr einheimischer Alkoholika 3 8 / 4 Miü. Mark.
1902 wurde für 40 Mül. Mark Wein in Fässern und Flaschen
eingeführt und für 21 Mül. Mark Wein ausgeführt.
1902 wurde für 9 1 j 2 Mül. Mark Bier eingeführt und für
22V* Miü. Mark ausgeführt. An Hopfen wurde für 6 Mül. Mark
eingeführt und für 25 Vj Mill. Mark ausgeführt.
1902 wurde für 5 1 /* Miü. Mark Branntwein eingeführt und
für 8 Mül. Mark ausgeführt.
1902 wurde an Mineralwasser für 2 3 / 4 Mül. Mark eingeführt
(hauptsächlich Bitterwässer, Karlsbader u. s. w.) und für 8 */* Miü.
Mark ausgeführt (vorwiegend Tafelwasser).
Fünf Parteien kämpfen heutzutage in der Alkoholfrage: die
ganz Enthaltsamen, die Trinker oder besser gesagt die Durstigen,
die Alkoholerzeuger, die Erzeuger der Ersatzgetränke, endlich, last
not at least, wir, die Mäßigen oder Sozialhygieniker. Am mächtigsten,
weil durch inneren, heimlichen Trust verbunden, und weü Milliarden
Kapital ihre Macht repräsentieren, sind die Alkoholerzeuger. Am
schwächsten sind wir Mäßigen, weü wir von den anderen Parteien
als Kompromißler und Laue angegriffen werden. Dennoch gehört uns
der Sieg, weil wir das Erreichbare, die mittlere Linie darstellen.
bv Google
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265
II. Mitteilungen.
Marine und Alkohol. Es sei gestattet, den warmherzigen, lesenswerten Auf¬
satz von Dr. Flade in einigen Kleinigkeiten zu ergänzen. In der Marine be¬
steht seit 1903 ein Enthaltsamkeitsverein, der „Marine-Alkoholgegnerbund“.
(Guttemplerlogen innerhalb der Marine hat man nicht haben wollen, dagegen einen
Alkoholgegnerbund willkommen geheißen.) Seine „Grundsätze“ lauten: „Der
Marine-Alkoholgegnerbund hat in erster Linie den Zweck, die Enthaltsamkeits¬
bestrebungen in der Marine zu fördern, insbesondere durch Abhaltung von populär¬
wissenschaftlichen Vorträgen und Diskussionen und durch Verbreitung von Ent¬
haltsamkeitsliteratur; daneben will der Bund Unterhaltungs- und Gesellschafts¬
abende veranstalten, die Kameradschaft in der Marine fördern und mit allen
Mitteln gute Sitten pflegen. Parteipolitische und konfessionelle Bestrebungen sind
ausgeschlossen. Jeder enthaltsame Angehörige der Marine, ohne Unterschied
des Dienstgrades, kann dem Bunde angehören. Während der Dauer der Bundes¬
angehörigkeit ist jeder verpflichtet, keinerlei alkoholische Getränke (Bier, Wein,
Obstwein, Branntwein u. s. w.) zu genießen. Von jedem Bundesangehörigen sind
monatlich mindestens 25 Pf. au die Bundeskasse zu entrichten. Es ist statthaft
und bei längerer Ortsabwesenheit erwünscht, den Betrag für einen größeren Zeit¬
raum vorauszubezahlen. Als Einschreibegebühr sind 50 Pfg. zu entrichten. Jedem
Vorgesetzten ist jederzeit auf Verlangen genaue Einsichtnahme in die Bundes¬
arbeit zu gewähren.“ Im Anschluß an den Bremer Internationalen Kongreß ward
am 27. April 1903 eine Ortsgruppe zu Kiel, Ende April 1904 eine zweite, zu
Wilhelmshaven, gegründet; gegenwärtig (Mai 1905) ist die Erlaubnis für eine
dritte, zu Lehe, nachgesucht. Man zählt augenblicklich nur etwa 13 Mitglieder
in Kiel, 10 in Wilhelmshaven, 6 in Lehe. — Auf kurze Zeit waren auf S. M.
Schiff Wettin (Kommandant Kapt. z. S. von Müller) alle alkoholischen Ge¬
tränke verboten; auf See ging es gut — am Lande soll es dann aber, da man
sich für die vermeintliche Entbehrung schadlos halten wollte, recht wenig gut
gegangen sein, so daß das Verbot stillschweigend ad acta gelegt wurde. In den
Kantinen der Schiffe wird Branntwein nichtgeführt; Hauptgetränk ist Bier;
auch Selters, Limonade und Kaffee sind zu haben, werden aber (wie mir von einem
erfahrenen Gliede der Marine bezeugt ist) von den Botteliers in den Hinter¬
grund gestellt, von ihnen nicht angepriesen und nur auf ausdrücklichen Wunsch
verabfolgt.
Da unseres Kieler Bezirksvereins gegen den Mißbrauch geistiger Getränke
beiläufig gedacht ist, so will ich kurz noch einige Dienste auf zählen, die der¬
selbe der Marine hat leisten können: Während mehrerer Monate hat der Verein
bei Kasemenbauten auf der Wiek einen Kaffeeausschank unterhalten (1902). —
Die von einem Bibliothekenausschuß des Vereins aufgestellten Musterverzeichnisse
für Schiffsbibliotheken sind durch Vermittlung des Deutschen Vereins dem Reichs¬
marineamt übermittelt worden (vgl. Mäßigkeitsblätter 1901, S. 85), dieses hat den
Zentralbibliotheken anheimgegeben, die von uns empfohlenen Bücher anzuschaffen.
Während des Chinafeldzuges beantragte unser Verein bei dem D. V. g. M. g. Ö.
einen Aufruf, den Mannschaften in Feld und Lazarett alkoholfreie Getränke
Der Alkoholismus. 1905. lg
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266
Mitteilungen.
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zu stiften; derselbe blieb nicht erfolglos (1900—01). Auch wurden mehrere
Kisten mit Lesestoff durch das Vorstandsmitglied Rat Hansen an die ostasiatischen
Lazarette gesandt. Als 1904 die amtliche Bitte um Liebesgaben für Deutsch-
Südwestafrika verschiedene Spirituosen als geeignete Spenden hervorhob, bemühten
wir uns bei dem Hauptvorstande des Vaterländischen Frauenvereins und auch
sonst in ausführlichen Eingaben um den Erlaß eines Aufrufes, betr. alkoholfreie
Getränke für das Kampffeld, erhielten aber einen — Korb. Dagegen werden von
der Firma J. P. Trarbach Nachf., Weinbau und Großhandel, Berlin W. 56
(die früher Reklamebilder vertrieb mit „Expeditionsraum C. Armee¬
lieferung nach China u ) jetzt Weinanpreisungen mit der Marineflagge verbreitet:
„Von den für die deutschen Truppen in Südwestafrika gelieferten Weinen
stellen wir preiswert zum Verkauf: 1900 cru Hivers . .. 1900 cru de Pontet.
1899 Margaux . . . 1900 Domperle, Saarwein . . Ich kann nicht finden, daß
ein vaterländisches Hochgefühl durch diese Reklame geweckt wird. Ich erwarte
vielmehr, daß unsere Eingaben in Verbindung mit der Besprechung des Liebes¬
gaben-Aufrufes in der antialkoholischen Presse den Erfolg haben werden, daß
man in späteren Bitten um Liebesgaben der modernen Wissenschsaft Rechnung
trägt und Spirituosen nicht mehr als erwünscht bezeichnet (sondern sich dieselben
lieber verbittet). Erfolgreich war ein anderes Unternehmen unseres Vereins.
Wir erbaten Lektüre für die südwestafrikanischen Lazarette. Uns ward so
reicher Lesestoff geschenkt, so daß wir zehn Kisten mit Büchern und Zeitschriften
haben absenden können, die mit großer Freude aufgenommen sind. Stubbe.
Der Kieler Stadtausschuh (Vorsitzender: Stadtrat Thode) gibt für die Zeit
vom 1. April 1904 bis 31. März 1905 einen Bericht, dem wir die sich auf den
Alkoholausschank beziehenden Angaben entnehmen.
Die erledigten Beschluß- und Verwaltungsstreitsachen betrafen Anträge auf
Erteilung der Genehmigung zum Betriebe:
Erledigt durch
Zusammen
Gesamtzahl
Erteilung
Versagung
im Vorjahre
a) der Gastwirtschaft.
14
33
47
35
b) der Schankwirtschaft ....
97
126
223
146
c) des Kleinhandels mit Spirituosen
d) zur Vornahme baulicher Ver¬
35
74
109
55
änderungen in den Wirtschafts¬
räumlichkeiten .
25
15
40
18
Es sind während der Berichtszeit:
A. Neu genehmigt
a) Gastwirtschaften.
b) Schankwirtschaften mit Spirituosen .
c) Kleinhandlungen (mit Ausnahme vond)
d) Kleinhandel mit Spirituosen in ver¬
siegelten oder verkapselten Flaschen
4 (10)
6 (16)
3 (3)
B. Eingegangen, bezw.
im Berufungswege entzogen
2 ( 1 )
12 (7)
2 (5)
17 (13)
6 (3)
Zahl der vorhandenen Gastwirtschaften u. s. w. im Verhältnis zur Ein¬
wohnerzahl:
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Mitteilangen.
267
Im Jahre
Einwohner¬
zahl des
Stadtkreises
tJ fl
ii
a-§
O §
Schank-
wirtschaften
mit
Spirituosen
M -5.
Kleinhandlungen
mit Spirituosen
in verkapselten
oder versiegelten
Flaschen
Zusammen
Außerdem Be¬
triebe ohne gei¬
stige Getränke
(einschließlich
Kaffeeschenken)
1902
135576
67
178
126
28
899
20
1903
141798
72
185
106
51
414
39
1904
149206
74
179
107
62
422
55
Hiernach entfielen auf die Einwohnerzahl berechnet:
1902
1903
1904
eine Gastwirtschaft auf Einwohner.
2024
1969
2016
eine Schankwirtschaft mit Spirituosen.
762
766
833
eine Kleinhandlung (unbeschränkt).
1076
1838
1M4
eine Kleinhandlung mit Spirituosen in versiegelten oder ver¬
4842
2780
2406
kapselten Flaschen.
im ganzen ein Betrieb mit Spirituosen.
840
342
354
Stubbe.
Alkoholismut unter den Österreichischen Bergarbeitern. In einem Bericht über
die Gesundheitsverhältnisse der österreichischen Berg- und Hüttenarbeiter teilt
Dr. S. Kosenfeld (Stat. Monatsschr., 1904, Nr. 5—7) mit, daß der Alkoholismus
unter den einzelnen Kategorien der Bergarbeiter in verschiedenem Grade ver¬
breitet ist. Es kamen im Durchschnitt der mehrjährigen Beobachtungsperiode
auf je 10000 Arbeiter Erkrankungsfälle an Alkoholvergiftung:
Grubenarbeiter Tagarbeiter
Bergbau auf Steinkohle.13,3 14,8
„ „ Braunkohle.5,7 12,7
„ ,, andere
„ „ Mineralien
Im Hüttenbetrieb kamen auf die gleiche Anzahl Arbeiter 9,1 Erkrankungs¬
fälle. — Es ist zu bemerken, daß es sich hierbei nur um eine bestimmte Form
der chronischen Alkoholvergiftung handelt, und daß die Folgen des Alkoholmi߬
brauchs durch Auftreten anderer Krankheiten, z. B. Lebercirrhose, sich kund¬
geben. Welchen Anteil der Alkoholismus an dem Auftreten von Geistesstörungen
hat, von welchen 0,4 bis 0,9 % der verschiedenen Arbeiterkategorien betroffen
wurden, ist ebenfalls nicht zu präcisieren. Fhlgr.
2,2
1,5
Aus dem Jahresbericht der Badischen Fabrikinspektion fUr 1904 können wir
ebenso wie aus den früheren Berichten entnehmen, welches Interesse die Behörde
der Antialkoholbewegung widmet, und wie sie bemüht ist, den Alkoholverbrauch
der Arbeiter so weit als möglich zu beschränken. . Als Specialia entnehmen wir
dem Kapitel „Schutz der Arbeiter vor Gefahren“, daß bei den Bauhandwerkem
hinsichtlich des Alkoholverbrauchs vielfach schwere Mißstände bestehen. Besonders
der Umstand, daß die Poliere oder Angehörige derselben den Bierverkauf be¬
sorgen, führt zu krassen Mißbräuchen, weil, wie eine Erhebung in Freiburg i. B.
ergab, durchschnittlich 2—3 Pfg. Gewinn an der Flasche Bier genommen wird.
18*
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268
Mitteilungen.
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Aber auch wo ein direkter Aufschlag auf den Preis nicht genommen wird*
ist ein Verdienst für die Poliere in Aussicht, weil ihnen dann die liefernden
Brauereien entsprechend hohe Trinkgelder geben. Die Poliere animieren daher
in allen den Fällen, wo sie Vorteile für sich haben, die Arbeiter zum Bier¬
verbrauch, und es fürchten die Mäßigeren, daß die Poliere sie bei mäßigem Bier¬
genuß maßregeln könnten oder in passenden Zeiten für ihre Entlassung beim
Unternehmer eintreten würden.
Der Bierverbrauch mancher Bauarbeiter ist ein uugeheuer großer und da
die Kreditierung des Bieres gegen § 115 der G.-O. verstoßen würde, so geben
die Poliere sogar Barvorschüsse, welche sie sich am Lohntag vorweg zurück¬
nehmen. Derartige Vorschüsse belaufen sich pro Mann und Tag bei manchen
Unternehmungen auf 1.50—2 Mk. durchschnittlich, aber sie kommen bis zu 3 Mk.
per Tag vor; erreichen also zuweilen 50% des Arbeitsverdienstes und übersteigen
solche noch. Ein Gesuch aus Arbeiterkreisen, gegen solche Mißbräuche durch
Verbot des Verkaufs von Speise und Trank auf Arbeitsplätzen vorzugehen, konnte
wegen des Widerspruchs der Unternehmer nicht weiter verfolgt werden.
Die Unternehmer behaupteten, wenn nicht der Verkauf von Bier auf einem
Arbeitsplatz stattfände, gingen die Arbeiter in den Pausen ins Wirtshaus, kämen
aber dann unpünktlich wieder zur Arbeit Die Fabrikinspektion appelliert bei
dieser Gelegenheit an die Arbeiterorganisationen, sie möchten den Mißbräuchen
entgegentreten.
Daß der Alkoholmißbrauch durch die Organisationen aber tatsächlich ein¬
geschränkt wird, zeigen uns ja die Gewerkschaftshäuser, selbst da, wo sie von
Brauereien mit Kapital unterstützt wurden. Über den Freitrunk bei den Brauerei¬
arbeitern wird wiederum eingehend berichtet, und haben die Anregungen mehr¬
fach die Folge gehabt, daß der Freitrunk, der in der Regel 5 Liter pro Tag beträgt,
da und dort auf 4 oder auch auf 3 Liter gekommen ist, während die Minderung
durch Geldlohnerhöhung ersetzt wurde. Man hat mancherorts nur das Liter oder
die 2 Liter zum laufenden Preis, aber aüch vereinzelt einen wesentlich höheren
Preis vergütet, um die Arbeiter für die Ablösung geneigt zu machen. Die gänz¬
liche Ablösung wird von den meisten Brauern abgelehnt, weil sie deren Ker-
diebstahl fürchten, und wird auch über einen eklatanten Fall dieser Art berichtet,
wo die Diebe, um den Diebstahl zu vertuschen, auch noch die Fässer in den
Öfen der Mälzerei verbrannten, also die Brauerei mehrfach schädigten.
Zwei Brauereien in der Nähe von Karlsruhe haben die Ablösung des Frei¬
trunks durch Geld mit bestem Erfolg durchgeführt. Die Arbeiter kaufen ihr Bier
und trinken dadurch wenig, trinken nicht mehr aus Litergefäßen, sondern aus
Halblitergläsern.
Ähnliche Erfahrungen machte auch die Fürstlich Fürstenbergsche Brauerei
in Donaueschingen, welche den Freitrunk ablöste bezw. beschränkte, indem sie
für jedes nicht getrunkene Liter 16 Pfennig bezahlte, und neuerdings wird diese
Methode in Karlsruhe nachgeahmt, aber nur 15 Pfennig vergütet Es wird
manchen Arbeitern gestattet, von ihrem Freibier mit nach Hause zu nehmen,
aber es will uns diese Methode keineswegs als das erscheinen, was mit ihr be¬
absichtigt wird. Trinkt dadurch der Mann auch weniger, so gewöhnt er Frau
und besonders Kinder an regelmäßigen Biergenuß. Zutreffender erscheint
uns, daß man den Brauereiarbeitem Marken für die Bierentnahme gibt und ge¬
stattet, daß in der Brauereiwirtschaft dafür auch Eßwaren abgegeben werden.
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Mitteilungen.
269
Daß die fortgesetzte Mäßigkeitsbeförderung der Fabrikinspektion einige Erfolge
gehabt hat, ist ersichtlich, aber um die Arbeiter mäßiger zu machen, bedarf es
auch des Beispiels der Unternehmer und deren Mitarbeit in der Antialkohol¬
bewegung. Max May.
Die wissenschaftlichen Kurse, welche der Berliner „Zentralverband zur Be¬
kämpfung .des Alkoholismus“ in der Osterwoche in der Technischen Hochschule
zu Charlottenburg abhalten ließ, wurden durch eine Rede des Geh. Med.-Rat
Dr. Rubner, Professor der Hygiene an der Berliner Universität, eröffnet.
Während auf unsere Bitte die meisten Vortragenden uns einen Selbstbericht zur
Verfügung stellten, überließ uns Professor Laehr seinen Vortrag in dankenswerter
Weise zum Adruck (erfolgt auf Seite 233 dieses Heftes).
Mit Recht konnte der Vorsitzende des Zentralverbandes, Senatspräsident
Dr. von Strauß und Torney, am Schluß der Vorlesungen seine Befriedigung
über den Verlauf derselben kundtun, denn der Besuch derselben ließ ebenso¬
wenig zu wünschen übrig, wie die Vorträge selbst, welche ein wertvolles Material
für die Bereicherung der wissenschaftlichen Forschung über die Alkoholfrage
bildet. Das Interesse hierfür ist außerordentlich geweckt worden, es wird immer
mehr bestärkt werden durch derartige Einrichtungen, und es kann keinem
Zweifel unterliegen, daß solche im stände sind, klärend und fördernd ein¬
zutreten, sofern sie den objektiven Standpunkt zu bewahren wissen, also den
wissenschaftlichen Charakter nicht verlieren und nicht zur Propaganda herab¬
sinken. Diese Tatsache aber zeichnet gerade den Berliner Zentralverband zur
Bekämpfung des Alkoholismus gegenüber gleichnamigen Veranstaltungen in
anderen deutschen Städten aus, in welchen die Abstinenz derselben sich be¬
mächtigt hat, um unter dieser Flagge propagandistisch da vorziigehen, wo der
abstinente Kern einer Umhüllung bedarf, die zu irriger Auffassung des wahren
Inhaltes zu verleiten im stände ist.
Was die Vorlesungen selbst betrifft, so brachte Dr. Bergman-Stockholm
einen interessanten Auszug aus seinem bekannten Buche: „Geschichte der Anti-
Alkohol-Bestrebungen u , indem er in dem ersten Teile seiner Vorlesung sich
speziell mit Schweden, in dem letzten mit Norwegen beschäftigte, und vor allem
darlegte, daß man in Skandinavien keine Mäßigkeitspartei kenne, wie wir sie
hierzulande verbreitet finden. Man ist dort radikaler vorgegangen und hat die¬
jenigen Erfolge erzielt, welche uns ebenfalls nicht unbekannt geblieben sind.
Nach allem aber, was Vortragender darlegte, scheint doch unzweifelhaft hervor¬
zugehen, daß wir uns in der Auffassung über die dortigen Verhältnisse in
mancherlei Irrtümem wiegen, daß Stimmen laut werden, welche die Erfolge jener
Abstinenzbestrebungen als einziges Moment für Hebung der Volksgesundheit und
-Kraft in Frage zu stellen bereit sind, also nicht geneigt, nur der Anti-Alkohol-
bestrebung die Siegespalme zu reichen.
Es folgte nun:
Weygandt. Der Alkohol und das Kind.
W. schildert im 1. Vortrage die hervorragende Bedeutung des Alkohols für
die Vererbung. Im Sinne der Weiß mann sehen Theorie muß man eine toxische
Schädigung des Keimplasmas beim Alkoholisten annehmen. Für die Volksmeinung,
daß durch Zeugung im Rausch vor allem schwachsinnige Kinder hervorgebracht
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270
Mitteilungen.
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werden, lassen sich trotz aller Schwierigkeiten immer einwandfreiere Beweise er¬
bringen; von Bourneville, Lippich und anderen sind zahlreiche Beispiele
beschrieben worden, und vor allem hat Bezzola festgestellt, daß bei 8196
schwachsinnigen Kindern in der Schweiz die Zeugung vorzugsweise auf Jahres¬
zeiten fallt, die zu Trinkexzessen Veranlassung geben, besonders Fastnacht
und Weinlese.
Eine Reihe von Tierexperimenten beweist in exakter Weise, wie verhängnis¬
voll der Alkohol des Erzeugers auf die Frucht wirkt, so die Versuche von
Nioloux, Laitinen, Hodge, Faure, Fore und Ridge, Ovize, Combe-
male u. s. w.
Alkoholisten erzeugen mehr Kinder, als nüchterne Leute, jedoch befinden
sich unter ihren Früchten außerordentlich viel Fehlgeburten, Frühgeburten und
Totgeburten, ferner auch Zwillinge. Die Nachkommenschaft zeigt zum großen
Teil wieder Alkoholismus, weil eben die Degenerierten durch Verführung und Ge¬
legenheit am ehesten auf dieses Gift verfallen. Doch noch eine Fülle von ander¬
weitigen Störungen des Körpers und Geistes ist bedingt durch die Trunksucht
der Vorfahren. Zolas Trinkerfamilie in den Rougon-Macquart ist der Wirklich¬
keit treu abgelauscht; der Stammbaum des amerikanischen Alkoholisten Jukes,
der unter seinen Nachkommen 174 Prostituierte und 12 Mörder zählt, enthält
noch schauerlichere Einzelheiten.
Zu den wesentlichsten Abnormitäten bei den Kindern von Trinkern gehört
die Idiotie in ihren mannigfachen Formen, durch Himentzündung, Wasserkopf u. s. w.
vermittelt. In manchen Idiotenanstalten ist nachgewiesen, daß mehr als die
Hälfte der Insassen von Alkoholisten abstammen; auch bei den Zöglingen der
Hilfsschulen für Schwachbegabte findet sich ein hoher Prozentsatz trunksüchtiger
Eltern. — Weiterhin ist die Epilepsie vielfach bedingt durch Trunksucht der
Vorfahren, nach Bleuler in 70 Proz. der Epileptiker. Gerade zwischen Epüepsie
und Alkoholismus bestehen die innigsten Beziehungen: Alkoholmißbrauch kann
zu epileptischen Anfällen, zur sogenannten Alkohol-Epilepsie führen; andrerseits
ist bei der echten Epilepsie gerade der Alkohol ein verhängnisvoller agent pro¬
vocateur für den Ausbruch epileptischer Krämpfe oder Dämmerzustände. Auch
unter den Vorfahren der Irrenanstaltsinsassen finden sich viele Trinker, IIberg
stellt das bei 58 Proz. der Geisteskranken in der Dresdener Anstalt fest. Hitzig
betont, daß die Kinder von Alkoholisten ebenso oder noch mehr zu Nervenkrank¬
heiten disponiert sind, wie die Kinder von Leuten, die selbst nerven- oder geistes¬
krank sind. — Auch Veitstanz, Hysterie und Neurasthenie der Kinder ist viel¬
fach ein Erbstück von trunksüchtigen Eltern. — Ferner finden sich unter den
Taubstummen viele, die alkoholistische Eltern hatten. — Von körperlichen Leiden,
denen die Trinkerkinder ausgesetzt sind, nennen wir vor allem Tuberkulose und
Skrofulöse, dann Rhachitis und schließlich Wachstumsverlangsamung, selbst
Zwergwuchs.
Besonders verhängnisvoll für die menschliche Gesellschaft ist die Tatsache,
daß die Kinder von Trinkern recht häufig einen Hang zu Verbrechen zeigen;
die Mädchen verfallen vielfach der Prostitution. Bei 100 Diebinnen und 150 Pro¬
stituierten wurde in 69 Proz. die Abstammung von trunksüchtigen Eltern fest¬
gestellt. Auch die Pfleglinge der Zwangserziehungsanstalten sind vielfach durch
den Alkoholismus entartet.
Es wurde beobachtet, daß eine Frau, die mit einem Trinker verheiratet
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271
war, zunächst körperlich und geistig mangelhafte Kinder zur Welt brachte, später
aber in der Ehe mit einem nüchternen Manne gesunde Kinder gebar.
Hervorzuheben ist, daß es keineswegs die schlimmsten Grade der Trunk¬
sucht sind, die für die Nachkommenschaft so üble Folgen haben, sondern es kann
sehr wohl der trinkfeste Vater, dem der Alkohol ansoheinend nichts schadet, eine
tief degenerierte Nachkommenschaft haben.
Einer der allerwichtigsten Beweise von der Gefährlichkeit des Alkohols ist
somit gerade dessen Beziehung zur Vererbung, diese Heimsuchung der Sünden
der Väter bis ins 3. und 4. Glied!
Nicht bloß durch Vererbung, auch auf andere Weise kann das Kind vom
Alkohol geschädigt werden, ohne daß es selbst welchen trinkt. Ein furchtbarer
Fluch für das Säuglingsalter ist die Unfähigkeit der Mütter zum Stillen, die zum
großen Teile bei den Töchtern trunksüchtiger Väter auftritt, sich dann aber auf
die Nachkommen weiter vererbt und somit in den Kultumationen Millionen von
Kindern die natürlichste, gesündeste Nahrung raubt.
Aber auch von dem Alkohol, den eine stillende Mutter oder Amme trinkt,
geht ein wenn auch kleiner Teil (0,2—0,6 Proz.) in die Müch über und kann
somit das Kind schwer schädigen.
Eine weitere Gefahr erwächst dem Kinde durch die Trunksucht der Eltern,
indem das Familienleben zerrüttet, der Wohlstand untergraben werden. Schwere
Kindermißhandlungen werden vielfach im Rausche vollzogen. Bei Eltern, die ihre
Nährpflicht wie auch ihre Schulpflicht vernachlässigen, ist sehr oft Trunksucht
festgestellt worden. Bei Ehebruch, dann aber auch in den schrecklichen Fällen
von Blutschande, Umgang des Vaters mit der eigenen Tochter, spielt der Al¬
kohol eine Hauptrolle. In Ehescheidungsangelegenheiten wirkt x er ebenso mit,
wie vor allem die Länder mit Trunksucht als gesetzlichem Ehescheidungsgrund
zeigen. Auch sexuelle Attentate auf kleine Kinder gehen vielfach von Be¬
trunkenen aus.
Am schlimmsten aber wird es, wenn die Eltern selbst ihre Kinder zum
Trünke verleiten. Leider ist die Unsitte ungemein weit verbreitet, Kindern in
jedem Lebensalter schon Alkohol in irgend welcher Form zu verabreichen: der
Säugling bekommt vielfach schon einen Schnuller mit Bier oder auch Zucker mit
Branntwein, damit er möglichst ruhig bleibt; die jüngsten Schulkinder nehmen
manchmal ein Fläschchen mit Wein als Frühstück in der Pause mit; ja ein
Lehrer konnte bei den 3699 Schulkindern eines Stadt- und Landbezirkes fest¬
eteilen, daß schon 99,4 Proz. Alkohol und selbst 64,4 Proz. Schnaps bekommen
hatten.
Für das Kind ist die Alkoholverabreichung, wie Moltke sagt, geradezu
frevelhaft. Das Gift wirkt herabsetzend auf den Stoffwechsel, insofern kommt
ihm nach Neumann theoretisch eine gewisse Eiweiß ersparende Bedeutung zu.
•Der leichten muskelerregenden Wirkung folgt alsbald die lähmende, besonders
beim Kinde, das an Stelle des Erregungsstadiums manchmal krankhafte Unruhe
und Krämpfe zeigt und sehr bald in Somnolenz versetzt wird. Als Fiebermittel
oder Antiseptikum spielt Alkohol in praktischen Fällen gar keine Rolle, ja der
Alkoholgenuß befördert bei Kindern geradezu die Empfänglichkeit für Infektions¬
krankheiten, er ist sozusagen proseptisch.
Ganz verwerflich ist daher die Verordnung von Alkohol für kranke Kinder
von seiten unkundiger oder gewissenloser Ärzte, und die Einschmuggelung des
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272 Mitteilungen,
Giftes in vermeintlicher Arzneiform sollte unter das Gesetz gegen den unlauteren
Wettbewerb gesetzt werden, so die mannigfachen Medizinal-Tokayer, Kraftbiere,
Pepsinwein, Chinaeisenwein, Kindermalaga, Cognac, Malzextrakt u. 8. w.
Der Alkoholgenuß befördert die Säuglingssterblichkeit und erhöht bei den
Kindern außerordentlich die Neigung zu Khachitis und Tuberkulose, stört die
Verdauung auf das schwerste und begünstigt die Zahnkaries. Ferner werden sogar
schwere Unterleibskrankheiten, wie die Lebercirrhose, nicht allzu selten bei
trinkenden Kindern getroffen. Eine Fülle von Nervenleiden wird durch Alkohol
im tondesalter hervorgerufen, so Fälle von Epilepsie, Veitstanz, auch das nächt¬
liche Aufschrecken. Selbst schwere Geistesstörungen, wie das Delirium tremens,
wurden schon bei trunksüchtigen Kindern beobachtet. Auch die in erschreckender
Weise zunehmenden Kinderselbstmorde stehen in Beziehung zum Alkoholgenuß.
Nicht bloß das Säuglingsalter und die eigentlichen Kinderjahre, sondern
auch die Entwicklungszeit, die sogenannte Pubertät, ist schwer gefährdet durch
den Alkohol. Die ungeheure Zunahme der jugendlichen Verbrecher, deren
Menge in 17 Jahren um 60 Proz. stieg, ist vorzugsweise durch Alkoholgenuß
bedingt.
Als Kampfmittel gegen diese verheerende Seuche wird im Auslande viel¬
fach der Antialkoholunterricht empfohlen. Genügen würde es schließlich auch,
wenn jeder Fachlehrer bei entsprechender Gelegenheit die Kinder über den Al¬
kohol aufklärte, aber sicherer ist doch entschieden der Weg eines besonderen
Unterrichts über diese Frage. Pflege des Sports ist ein natürliches Gegenmittel.
Die Entmündigung wegen Trunksucht wird noch viel zu wenig angewandt: sie
könnte in manchen durch den Alkoholismus des Vaters zerrütteten Familien
Besserung bringen; auch Ehescheidung wegen Trunksucht würde sich empfehlen.
Vor allem sind die Ärzte neben den Lehrern berufen, dem Unheil zu
steuern. Es muß so weit kommen, daß jede Verabreichung von Alkohol an
Kinder durch Ärzte als schwerer Kunstfebler, durch Eltern und andere Personen
als fahrlässige Körperverletzung betrachtet wird! Mag einer für den erwachsenen
Menschen die Abstinenz oder die Mäßigkeit empfehlen — dem Kindesalter
gegenüber gibt es nur eine Forderung: Jeder Tropfen Alkohol ist als Gift zu
verpönen!
Mffnsterberg. Alkoholismus und Armenpflege.
Wenn ich es übernommen hatte, in den von dem Zentral verband zur Be¬
kämpfung des Alkoholismus veranstalteten Vorlesungskursen einen Vortrag unter
der obigen Überschrift zu halten, so war ich mir wohl bewußt, daß vom Stand¬
punkte der Armenpflege wenig nach der Seite positiver Tätigkeit zu sagen sein
würde. Armenpflege und Wohltätigkeit tragen zwar wie kein anderer Zweig des
öffentlichen Lebens am schwersten an der durch die Folgen des Alkohols der
Gesamtheit aufgebürdeten Last, aber sie sind am wenigsten im stände, von dieser
Last sich selbsttätig zu befreien. Wie überhaupt zur Entlastung der Armenpflege
vor allem alle Maßregeln allgemeiner Art in erster Linie hilfreich sind, wie die
Hebung des allgemeinen Wohlstands, die Erhöhung der Löhne, die Verbesserung
der Wohnungen, die Einführung gesunder hygienischer Vorkehrungen u. s. w.,
so sind auch auf dem speziellen Gebiet des Alkoholmißbrauchs diejenigen Ma߬
regeln am wirksamsten, die das Laster in der Wurzel bekämpfen und so ver¬
hindern, daß es überhaupt Opfer des Alkohols geben kann.
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Mitteilungen.
273
Diese etwas ohnmächtige Stellung von Armenpflege und Wohltätigkeit hängt
damit zusammen, daß die Trunksucht nicht sofort mit allen erkennbaren Sympto¬
men wie eine akute Krankheit auftritt, sondern den Organismus allmählich zer¬
rüttet, die wirtschaftlichen Folgen wie Verlust der Stellung, Arbeitslosigkeit, Un¬
fähigkeit zur Ernährung der Familie u. s. w. erst allmählich und meist erst dann
zum. Vorschein kommen, wenn das veranlassende Übel nicht oder sehr schwer
mehr zu beseitigen ist. So bleibt dann der Armenpflege nur übrig, den Trinker
bezw. seine Familie zu unterstützen, sei es durch Geld, Naturalien, durch Auf¬
nahme in Kranken-, Irren-, Siechen-Anstalten u. s. w., wenn nicht die Gefäng¬
nisse und Zuchthäuser diese Last für die Person des Trinkers zeitweilig abnehmen.
Daß die Tätigkeit der zur Abhilfe auf diesem Gebiete berufenen Organe in
einem merkbaren Verhältnis zu den Leistungen der Armenpflege steht, läßt sich,
wenn auch nicht mit ganz sicheren Zahlen, doch immerhin mit einigen wesent¬
lichen Ziffern belegen. Je weniger der Alkoholkonsum eingedämmt ist, je höher
die Ausgaben für den Trinkverbrauch in einer Gemeinschaft sind, um so höher
steigen die Kosten, die die Gemeinschaft durch ihre in der Armenpflege und
Wohltätigkeit organisierten Kräfte und Mittel für die Trinker und ihre Ange¬
hörigen zu leisten hat. Es ist festgestellt, daß mehr als die Hälfte aller Männer,
die für sich oder für ihre Familien der Armenpflege bedürfen, dem Trünke er¬
geben sind und daß die Lasten der Armen- und Krankenpflege zu einem sehr
großen Teil auf die in Irrenanstalten zu behandelnden Geisteskranken und auf
die wegen Lebensschwäche, Rhachitis, Skrofulöse u. s. w. in den verschieden¬
artigsten Fürsorgeeinrichtungen zu behandelnden Kinder entfallen. In einer
kleinen Schrift „Trunksucht und städtische Steuern“ hat Stadtrat Pütter einige
Ziffern aus der ihm unterstellt gewesenen Armenverwaltung Halle mitgeteilt,
durch die ziffernmäßig nachgewiesen ist, daß allein für die in Anstalten unter¬
gebrachten Trinker und deren Angehörige in einem Jahre 20000 Mk. Kosten
entstanden und daß in der offenen Armenpflege für die einzelnen Familien der
Trinker Summen von mehreren Tausend Mark aufgewendet werden mußten. In
einer Familie beispielsweise betrug die bare Unterstützung beinahe 2000 Mk.,
die daneben gewährte Verpflegung der schwachsinnigen Kinder nahe an 4000 Mk.
Wenn in Berlin nahe an 3000 Frauen mit ihren Kindern als eheverlassen unter¬
stützt werden müssen, so sind in fast allen Fällen Trunksucht und Liederlichkeit
des Mannes die Hauptursache.
Die Armenpflege kann dem Übel im allgemeinen nicht nur nicht steuern,
sondern sie muß gewißermaßen noch eine Prämie auf die Liederlichkeit setzen,
indem sie in den verschiedensten Formen Hilfe gewährt. Es ist natürlich, daß
sie auch von ihrer Seite aus Versuche macht, sich mit positiven Maßregeln hier¬
gegen zu wehren. In dieser Richtung liegen namentlich die Bestrebungen,
besserungsfähige Trinker in Trinkerheilstätten zu bringen, deren gegenwärtig 40
in Deutschland bestehen. Wenn in diesen Anstalten, namentlich auch in den
schweizerischen Anstalten günstige Erfolge zu verzeichnen waren, so handelt es
sich meist um Fälle, die rechtzeitig genug erkannt wurden, um noch, moralisch
bessernd einwirken zu können. Die Armenpflege, namentlich der großen Städte,
wird des durch die Trunksucht verschuldeten Zustandes meist erst so spät gewahr,
daß es zu solchen Maßregeln auch schon zu spät ist. Die durch das B. G.-B.
zugelassene Entmündigung hilft in dieser Beziehung auch nur wenig, da sie an
einschränkende Voraussetzungen; gebunden ist, deren Erfüllung für die Armen-
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pflege sehr schwierig oder, sofern nicht mehr schwierig, gleichgültig ist. Sobald
sie einmal anfangen muß zu unterstützen, hat die Entmündigung für sie nur
noch geringen Wert. Alles Streben der Armenpflege muß daher darauf gerichtet
sein, die Trinker zu einem Zeitpunkte als solche zu erkennen, wo noch eine Ein¬
wirkung auf sie möglich ist. Hierzu bedarf sie helfender Organisationen, wie sie
vor allem die Abstinenzvereine und namentlich die Guttemplerorden bieten. In
ihnen ist das gesunde Prinzip nachbarlicher Gemeinschaft verwirklicht, durch die
unmerklich auf die dem Trunk ergebenen Personen eingewirkt werden kann.
Namentlich ist der Umstand, daß der Trinker in seiner gewohnten Umgebung und
Arbeit bleiben kann und unter gleichgesinnte enthaltsame Leute gebracht wird,
die ihn stützen und halten, von großer Bedeutung. Wenn solche Falle dann der
Armenpflege zur Kenntnis gebracht werden, so kann sie wohl den Orden im
einzelnen unterstützen, damit der Trunksüchtige in eine Heilstätte eintreten,
seine Familie inzwischen unterstützt und er selbst nach seiner Rückkehr so lange
gehalten werden kann, bis er wieder in gleichmäßige und geordnete Verhältnisse
zurückgekehrt ist.
Am Schlüsse des Vortrags war nochmals dringend zu betonen, daß alle
Maßregeln begünstigt werden müßten, die den Konsum von Alkohol zu ver¬
mindern, die Bevölkerung sittlich und moralisch zu heben geeignet erscheinen,
und daß das Hauptbestreben wie bei allen vorbeugenden Maßregeln der Wohl¬
fahrtspflege darauf gerichtet sein muß, die Notwendigkeit des Eintritts von Armen-»
pflege und Wohltätigkeit mehr und mehr zu verringern.
Dartmann. Die Aufgaben der Schule im Kampf gegen den Alkoholismut.
Von der weitverbreiteten Gleichgültigkeit gegenüber der Alkoholfrage aus¬
gehend, stellt Redner in Kürze die wissenschaftlich experimentellen Unter¬
suchungen über die schädigende Einwirkung des Alkohols auf die geistige Tätigkeit
dar, und folgert daraus die Notwendigkeit, das noch nicht voll entwickelte jugend¬
liche Gehirn vor dem Alkohol zu schützen, d. h. er verlangt abstinente
Jugenderziehung als eine unabweisliche, dringende Reform. Wie wenig in
diesem Sinne zurzeit verfahren wird, lehren die statistischen Aufnahmen über
den Alkoholgenuß der volkschulpflichtigen Jugend, lehren die bekannten Ge¬
pflogenheiten der Jugend unserer höheren Schulen. Unter welchen allgemeinen
Voraussetzungen die Reform durchzuführen sei, behandelt Redner darauf in
längerer Ausführung und betont dabei vor allem die Verpflichtung der Lehrer¬
schaft, unter Berücksichtigung der wissenschaftlichen Forschung eine Revision
ihrer Anschauungen und Gepflogenheiten in Bezug auf das Trinken vorzunehmen,
insbesondere aber die richtige Stellung zur Frage der Abstinenz zu finden. Selbst¬
verständlich sei diese keinem Erwachsenen vorzuschreiben, aber jeder müsse sie
bei anderen unbedingt respektieren als eine vernünftige und berechtigte Lebens¬
weise, und namentlich der Lehrer dürfe sie im Hinblick auf das Ziel der ab¬
stinenten Jugenderziehung in keiner Weise herabsetzen oder geringschätzig
behandeln. Auf empirischer Grundlage und mit Rücksicht auf die besonderen
Verhältnisse des Lehrerstandes legt Redner hierauf dar, daß gerade dieser alle
Veranlassung habe, sich zur Frage der Abstinenz anders zu stellen, als er es
bisher getan habe.
Zu den eigentlichen Aufgaben der Schule in der Bekämpfung des Alko¬
holismus übergehend betont Redner die Notwendigkeit, noch vor der eigentlicheh
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Belehrung der Jugend auf das Elternhaus einzuwirken und setzt die geeignete
Methode dafür auseinander. Die Belehrung sei nicht systematisch zu geben* wie
in Amerika, wo die Verhältnisse ganz anders liegen, sondern nur gelegentlich in
den verschiedenen Fächern des Lehrplans. Besonderer Nachdruck sei namentlich
in der Fortbildungsschule auf die außerordentliche wirtschaftliche Schädigung zu
legen, die dem Einzelnen wie der nationalen Arbeit durch den Alkoholgenuß ver¬
ursacht werde. Nach weiterer Beleuchtung des Gegenstandes unter dem Ge¬
sichtspunkte der Mädchenschulen und der Seminare geht Redner auf die höheren
Knabenschulen ein und behandelt zunächst die Frage, ob die Belehrung hier besser
durch die Lehrer oder durch Ärzte zu geben sei. Auch für die Jugend der
höheren Schulen legt Redner, in Wiederaufnahme seiner Erfurter These, die Not¬
wendigkeit der Abstinenz dar und widerlegt die dagegen erhobenen Einwände:
Ausführlich erörtert er dann, warum insbesondere die Internate berufen seien,
bei Durchführung dieser Reform bahnbrechend voranzugehen, unter Hinweis auf
die vereinzelt schon gemachten Erfahrungen. Daneben aber hebt Redner hervor,
daß alle anderen höheren Schulen wie das Recht, so auch die Möglichkeit haben,
an der Verwirklichung des Ideals der Jugendabstinenz tätig mitzuarbeiten durch
Einwirkung auf das Haus, durch unmittelbare Belehrung der Jugend, durch An¬
passen ihres ganzen Handelns an das zu erstrebende Ziel (alkoholfreie Spazier¬
gänge, Schülerabstinenzvereine, Nichtbeteiligung an Kommersen). Nach einem
Ausblick auf die der Schule zu Gebot stehende indirekte Bekämpfung des Alko¬
holismus durch möglichste Förderung aller die Körperpflege betreffenden Be¬
strebungen schließt Redner mit einem dringenden Appell, das ganze hochwichtige
Problem mit dem Ernste, mit der Gründlichkeit zu behandeln, die des deutschen
Lehrerstandes würdig sei.
Grotjahn, A. Der Alkohol im Haushalte des Volkes.
Nach einer kurzen geschichtlichen Einleitung über die Rolle, die der Alkohol
und der Mißbrauch geistiger Getränke im Altertum und im Mittelalter spielte,
schildert der Redner, wie die allgemeine Verbreitung des Branntweingenusses in
Deutschland erst infolge des dreißigjährigen Krieges beobachtet wurde, sich also
zum Unterschiede von der Völlerei in Wein und Bier an eine Periode des wirt¬
schaftlichen Niederganges anschloß. Wesentlich wurde dieser Vorgang in der
neueren Zeit durch die Bildung der modernen Lohnarbeiterschaft unterstützt,
dem städtischen und ländlichen Proletariat, das allen Bedingungen für die Aus¬
breitung des Alkoholismus unterworfen ist. Die Würdigung dieser in den sozialen
Verhältnissen wurzelnden Ursachen des Alkoholismus ist für seine Bekämpfung
von der größten Wichtigkeit. Denn die Mäßigkeitspropaganda kann nicht eher
dauernde und durchgreifende Erfolge davontragen, als nicht bei einer unter¬
ernährten, schlecht wohnenden, schwer und lange arbeitenden Bevölkerung das
durch das soziale Milieu abnorm gesteigerte Alkoholbedürfnis durch Maßnahmen
sozialpolitischer Art herabgemindert ist. — Der Redner ging dann zur Besprechung
jener Beziehungen zwischen Alkohol und Volkswirtschaft über, die sich an die
Produktion der alkoholischen Getränke knüpfen. Die in vielen Gegenden und be¬
sonders den Großstädten Deutschlands erkennbare Verdrängung des Branntweins
durch das Bier hält er vom sozialhygienischen Standpunkte aus für er<feulich.
Zum Schluß gab der Vortragende ein Bild von dem Umfange, in dem sowohl
die Arbeitskräfte als auch das verfügbare Ackerland in Deutschland von der Al-
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kobolproduktion in Anspruch genommen wird. Zwei Dritteile der Gerstenernte,
ein Sechzehntel der Roggenernte und ein Dreizehntel der Kartoffelernte werden
ihr geopfert. Eine Million und viermalhunderttausend erwerbstätige Personen
stellen im Reichsgebiet ausschließlich. ihre Arbeitskraft in den Dienst der Be¬
reitung und des Vertriebes alkoholischer Getränke. Insgesamt dürfte das deutsche
Volk jährlich drei Milliarden Mark für Alcoholica ausgeben.
Die wichtigsten Beziehungen zwischen Alkohol und Volkswirtschaft ergeben
sich, wenn man sich vergegenwärtigt, welche Rolle die alkoholischen Getränke
als Steuerobjekt spielen. In der Tat ist die Art und Höhe ihrer Besteuerung
nicht gleichgültig für den Alkoholkonsum und damit auch für die Ausbreitung des
Alkoholismus. Vom Standpunkte der sozialen Hygiene ist es wünschenswert,
daß die gegorenen Getränke möglichst wenig oder gar nicht, der Branntwein
dagegen möglichst hoch besteuert wird. Der hygienische Wert der Branntwein¬
besteuerung läßt sich etwa nach folgendem Schema bemessen: Die erste Mög¬
lichkeit, die wir an dem Beispiel Rußlands in typischer Weise verwirklicht sehen,
besteht darin, daß einer Bevölkerung mit starkem Alkoholbedürfnis zur Befrie¬
digung nur der Branntwein zur Verfügung steht; selbst eine sehr hohe Steuer
wird hier den Branntwein zwar verteuern, aber den Konsum nicht wesentlich
herabdrücken können und daher als Mittel gegen die Verbreitung des Alkoholismus
durchaus wirkungslos sein. Die zweite Möglichkeit — das Musterbeispiel ist
Frankreich — besteht darin, daß Branntwein und gegorene Getränke zur Ver¬
fügung stehen: eine hohe Steuer, die sowohl den Branntwein wie das landes¬
übliche gegorene Getränk belastet, läßt hier ebenfalls keine Verschiebung des
Konsums zu Ungunsten des Branntweins aufkommen. Die dritte und einzig er¬
sprießliche Möglichkeit sehen wir in der Schweiz verwirklicht: eine starke Be¬
steuerung des Branntweins in Form des staatlichen Handelsmonopols bei voll¬
kommener] Steuerfreiheit der landesüblichen gegorenen Getränke beschleunigt
bei einem Teil der Bevölkerung den Übergang vom Branntwein zum Genuß von
Bier oder Landwein und wirkt dadurch dem Alkoholismus entgegen. Das Ver¬
fahren der Schweiz hat sich seit einem Jahrzehnt durchaus bewährt. Die
deutsche Branntweinbesteuerung verfolgt einen hygienischen Zweck nur neben¬
her und hat nur dort durch eine mäßige Verteuerung heilsam gewirkt, wo die
Bevölkerung wie in den Städten und in den großindustriellen Bezirken schon so
wie so im Begriff war, vom Branntweingenuß zum Biergenuß überzugehen. Eine
kräftigere Besteuerung des Branntweins, am besten durch Einführung des Mo¬
nopols nach dem Vorbilde der Schweiz, bei Steuerfreiheit des Bieres dürfte für
die Zukunft anzustreben sein. — Auch die außerdeutschen Steuerverhältnisse
sowie die Konsumzahlen der einzelnen Länder und die Schankgesetzgebung wurden
in dem Vortrage besprochen.
De Terra. Alkohol und Verkehrswesen.
Je länger je mehr hat sich der in allen Berufskreisen eingebürgerte ge¬
wohnheitsmäßige Genuß alkoholischer Getränke als ein gefährlicher Feind auch
der Ordnung und Sicherheit des Verkehrsdienstes erwiesen. Nach dem Urteil
hervorragender Sachverständiger ist Alkoholmißbrauch des Personals die mittel¬
bare <4er unmittelbare Ursache der meisten Unfälle, die nicht durch höhere Ge¬
walt oder Materialschäden herbeigeführt werden.
Die stetig wachsenden Ansprüche an die Leistungsfähigkeit der Verkehrs-
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anstalten stellen auch an die Umsicht, Urteilsfähigkeit und Entschlossenheit des
Personals erhöhte Anforderungen. Durch nichts aber werden diese Eigenschaften
so leicht und in solchem Maße beeinträchtigt, wie durch den Genuß alkoholischer
Getränke. Und zwar liegt die Hauptgefahr für den verantwortlichen Verkehrs¬
dienst weniger in dem zu Trunkenheitserscheinungen führenden unmäßigen
Genuß, der verhältnismäßig leicht erkennbar ist, als vielmehr in dem ungleich
schwerer zu kontrollierenden Genuß geringer Mengen und in den Nachwir¬
kungen reichlicheren Alkoholgenusses. Genaue wissenschaftliche Untersuchungen
(von Prof. Dr. Kraepelin, Dr. Fürer u. a.) über die im Gehirn dadurch
veranlaßten Störungen haben zu überraschenden Ergebnissen geführt. (Vergl.
„Die Tatsachen über den Alkohol“ von Dr. med. Hoppe.) Sie haben insbesondere
erwiesen, daß die Gehirntätigkeit schon durch geringe Mengen nachteilig beein¬
flußt wird und daß reichlichere Gaben eine ungünstige Nachwirkung bis in den
8. Tag hinein ausüben. Durch andere Versuche (von Ridge, Richardson,
Scoupal und Crothers) ist festgestellt, daß schon geringe Mengen alkoholischer
Getränke das Gehör und die Sehschärfe, namentlich auch das Farbenunter¬
scheidungsvermögen beeinträchtigen. Alle diese Wirkungen können für den Ver¬
kehrsdienst leicht von verhängnisvollen Folgen sein, wie zahlreiche schwere
Unfälle beweisen. Aber auch in anderer Beziehung ist der landesübliche ge¬
wohnheitsmäßige Alkoholgenuß ein schlimmer Feind der rühmlichst bekannten
Pflichttreue unseres Verkehrspersonals. Wo ein Verstoß gegen die Dienstzucht,
gegen die übernommenen Pflichten hervortritt, ist in den allermeisten Fällen
Alkoholgenuß die Ursache. Auch ungünstige häusliche Verhältnisse und wirt¬
schaftliche Not sind nicht selten auf die Trinkgewohnheiten des Familienober¬
hauptes zurückzuführen. Im allgemeinen ist unser Verkehrspersonal den heimischen
Trinksitten keineswegs mehr ergeben, als andere Berufskreise. Aber dem Anreiz
und der Versuchung zum Alkoholgenuß ist es ungleich stärker ausgesetzt. Einmal
durch die unvermeidlichen ungünstigen Einwirkungen, unter denen sich der Dienst
des im äußeren Betriebe tätigen Personals vollzieht. Anderseits durch die Zahl¬
zeichen, allzuvielen Bahnhofswirtschaften und die leidige Neigung des Publikums,
das Personal mit alkoholischen Getränken zu bewirten. Was die zur Bekämpfung
des Alkoholmißbrauchs beim Verkehrspersonal geeigneten und gebotenen Ma߬
nahmen anlangt, sö ist in Nordamerika sogar völlige Alkoholenthaltung im und
außer Dienst mehr und mehr zur Vorbedingung für die Anstellung auch der
oberen Beamten geworden. In England sind die Eisenbahner selbst seit länger
als 20 Jahren erfolgreich bemüht, den Alkoholgenuß in ihren Reihen zu bekämpfen.
In Frankreich sorgen die großen Eisenbahngesellschaften in umfassender Weise
für Aufklärung und Belehrung ihres Personals über die Schädlichkeit des Al¬
koholgenusses.
Die deutschen Verkehrs-(Eisenbahn-) Verwaltungen haben sich in der Haupt¬
sache bisher auf Maßnahmen vorbeugender Natur beschränkt. Eine wachsende
Fülle anerkennenswerter Wohlfahrtseinrichtungen: Verbesserung der Wohnungen^
der Aufenthalts-, Unterkunfts- und Übernachtungsräume, gesteigerte Fürsorge für
zweckmäßige Ernährung, für gutes Trinkwasser und alkoholfreie Erfrischungs¬
mittel sind dazu bestimmt, das Personal mehr und mehr der Lockung und dem
Zwange zum Alkoholgenuß zu entziehen. Um zu erreichen, daß dieser Genuß
mindestens während des Dienstes und unmittelbar vorher ausnahmslos
und wirksam verboten werden kann, wird es aber vor allem eingehender Auf-
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Mitteilungen.
klärung lind Belehrung des Personals nach dem Beispiel der französischen Bahnen,
am zweckmäßigsten durch sachkundige Ärzte, bedürfen. Ganz besonders wird
dabei der weitverbreiteten irrigen Annahme entgegenzutreten sein, daß der Al¬
kohol in irgend welcher Form ein unentbehrliches Genuß- und Stärkungsmittel
sei. Auch durch entsprechende Aushänge, Verbreitung von Schriften und Flug¬
blättern könnte für Aufklärung des Personals gesorgt werden. Von ungleich
höherem Wert ist aber auch hier die Macht des persönlichen Beispiels,
besonders der Vorgesetzten. Am wirksamsten und überzeugendsten wird die Ent¬
behrlichkeit des Alkoholgenusses zweifellos durch das Beispiel völliger Al¬
koholenthaltung dargetan. Der Verzicht auf das beliebte Genußmittel wird
durch das Bewußtsein reichlich aufgewogen, an einer hohen und großen Kultur¬
aufgabe mitzuarbeiten, wie es die Befreiung unseres Volkes von den verderblichen
und unwürdigen Fesseln des Trinkzwanges unstreitig ist. Erhöhte Bedeutung
erhält das persönliche Beispiel durch die unleugbare Schwäche der großen Mehr¬
zahl gegenüber diesem tyrannischen Zwange. Von doppeltem Wert ist es für
den größte Nüchternheit erfordernden Verkehrsdienst.
Der vor 8 Jahren unternommene Versuch, möglichst viele einsichtsvolle
Beamte und Arbeiter unter dem deutschen Eisenbahnpersonal für dieses Beispiel
zu gewinnen, stieß zunächst auf entschiedenen Widerstand, nicht nur an den
maßgebenden Stellen, sondern auch bei dem Personal. Zu mangelhafter Vertraut¬
heit mit dem Umfang der Alkoholschäden und mit den Erfolgen der Enthaltsam¬
keitsbewegung gesellte sich die Besorgnis, daß ihre Ausdehnung auf das Eisen¬
bahnpersonal dessen wohlbegründetes Ansehen schädigen könne, indem dadurch
der Anschein erweckt werde, als sei es dem Alkoholmißbrauch ganz besonders
ergeben. Diese irrige Auffassung ist inzwischen, nachdem das deutsche Beispiel
in rascher Folge auch in andern Ländern (Schweiz, Frankreich, Dänemark, Bel¬
gien) Nachahmung gefunden hat, mehr und mehr einer zutreffenderen Beurteilung
gewichen. Dem vor 8 Jahren ins Leben gerufenen „Deutschen Verein enthalt¬
samer Eisenbahner“ hat sich ein großer Teil der deutschen Eisenbahnverwaltungen
zur Förderung seiner Bestrebungen angeschlossen.
Der praktische Wert und Erfolg dieser Bestrebungen liegt weniger darin,
daß es trotz aller Schwierigkeiten, auch finanzieller Natur, gelungen ist, eine
stattliche Schar überzeugter Anhänger zu gewinnen. Ungleich wertvoller und
wichtiger ist, daß durch diese radikale Bewegung in weiteren Kreisen das Interesse
und Verständnis für den Kampf gegen den Alkoholmißbrauch geweckt worden
ist, und daß viele dadurch im Sinne wirklicher strenger Mäßigkeit beeinflußt
werden. In jenem Kampf bilden die Alkoholenthaltsamen gewissermaßen die
Kemtruppe. Wenn die deutschen Verkehrsverwaltungen dazu übergehen würden,
nach bereits vorliegenden Beispielen die Verdienste dieser Truppe durch gewisse
Vorteile zu belohnen, so würde damit die Neigung, ihnen nachzueifern, sicherlich
am wirksamsten gefördert werden.
Je höhere Anforderungen die fortschreitende kulturelle und wirtschaftliche
Entwickelung des deutschen Vaterlandes auch an die Verkehrsanstalten stellt,
desto mehr wird ein auf dem Bremer Kongreß geprägtes treffendes Wort zur
Geltung kommen: „Nur der Nüchterne ist im Besitz seiner vollen Leistungs¬
fähigkeit.“
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Das preu&itclie Abgeordnetenhaus beschäftigte sich am 6. April mit dem be¬
kannten Anträge des Grafen Douglas; es wurde von der eingesetzten Kommission
dem Plenum empfohlen, die Königliche Staatsregierung zu ersuchen, ein „Volks¬
wohlfahrtsamt“ ins Leben zu rufen. Nachdem sich alle Fraktionen zu¬
stimmend erklärt hatten, legte der neuemannte Minister des Innern, Dr. von
Bethmann-Hollweg, seine Ansicht über den Antrag dar, eine Ansicht, die
sich durch die wenigen Worte: zurückhaltend, erwägend, wohlwollend charak¬
terisieren läßt und von der wir hoffen und wünschen möchten, daß sie end¬
gültig dem mit voller Einstimmigkeit von dem hohen Hause angenommenen
Anträge beipflichten und alle Bedenken überwinden möge, welche sich diesem
großen Gedanken der einheitlichen Regelung einer gesunden Volkswohlfahrtspflege
entgegenstellen könnten.
Das Organisations- und Exekutiv-Komitee des X. Internationalen Kongresses
gegen den Alkoholismus in Budapest veröffentlicht soeben die Zeiteinteilung und
das endgültige Programm, wie folgt:
Montag, den 11. September.
Nachmittag 4 1 /* Uhr in der Kunsthalle (Stadtwäldchen). Frauenversammlung
veranstaltet durch den Bund ungarischer Frauenvereine. Redner: Gray-London,
Hoffmann-Bremen, Kassowitz-Wien, Gonser-Berlin, Wakely-London.
Abends l / t 9 Uhr. Begrüßungsabend im Kuppelsaale der Kunsthalle.
Dienstag, den 12. September.
Vormittag */*10 Uhr im Kuppelsaale der Kunsthalle. I. Eröffnungssitzung.
1. Die Eröffnung des Kongresses. 2. Wahl des Kongreßbureaus. 8. Offizielle
Ansprachen. 4. Festvortrag: Prof. Gruber-München „Die Hygiene des Ich“.
(Ohne Diskussion.)
Nachmittag 3 Uhr in der Kunsthalle. II. öffentliche Sitzung des Kongresses.
1. Der Einfluß des Alkohols auf die Widerstandsfähigkeit des Organismus, mit
besonderer Berücksichtigung der Vererbung. Referenten: Prof. Lai tinen-Helsing-
fors, Prof. Weygandt-Würzburg. 2. Die hygienische Bedeutung des Kunst¬
weines. Referent: Prof. Li'ebermann-Budapest.
Abends 8 1 /* Uhr. Versammlung der Abstinenzorganisationen Ungarns.
(Landesverein der Alkoholgegner, Guttempler-Orden, Arbeiter-Abstinenz-Verein,
Alkohol-Enthaltsamkeitsverein Ungarn.) Redner: Juliusburger-Berlin: Abstinenz
und Weltanschauung; Lutoslavsky-London: Abstinenz in Polen; Ernst-Zürich:
Die Abstinenzbewegung in der Schweiz.
Mittwoch, den 13. September.
Vormittag 9 Uhr in der Kunsthalle. 1. Alkohol als Nahrungsmittel: Referent:
Prof. Kassowitz-Wien. 2. Alkohol und Geschlecht. Referent: Prof. Forel-
Chigny.
Nachmittag 3 1 /* Uhr in der Kunsthalle. 1. Alkohol und Strafgesetz.
Referenten: Prof. Lombroso-Turin; Prof. Bleuler-Zürich; Prof. Vämbery-
Budapest 2. Der verderbliche Einfluß des Spirituosenhandels auf die Ein¬
geborenen in Afrika. Referent: Müll er-Groppendorf.
Abends: Versammlung des Bundes katholischer Vereine. Redner: Kapitza-
Tichau, Orel-Wien, Dür-Krumbach, Lenard-Veldes, Csillag-Budapest,
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Mitteilungen.
Geöcze-Budapest, Dr. Vragassy-Prasitz. Versammlung der Krankenkassen.
Redner: Schwartz-Budapest. Zusammenkunft des Internationalen Alkohol¬
gegnerbundes.
Donnerstag, den 14. September.
Vormittag 9 Uhr in der Kunsthalle. 1. Erziehung und Schule im Kampfe
gegen den Alkoholismus. Referenten: The Hon ble Mrs. Eliot Torke-Southampton,
Dr. Hähndl-Bremen, Eötvös-Szolnok, Fischer-Pozsony, Kirschanek-
Szt. Istvätf.
Nachmittag 4 Uhr. Psychiaterversammlung. a) Delbrück-Bremen:
Abstinenz in Irrenanstalten; b) Waldschmidt-Berlin: Stand der Trinkerfürsorge
in Deutschland; c) Bezzola-Ermatingen: Die Therapie des Alkoholismus;
d) Michel und Legrain-Paris: La eure des buveurs; e) Juliusburger-Berlin:
Die Einsichtslosigkeit der Trinker.
Abends 87a Uhr* Soiree der Haupt- und Residenzstadt Budapest.
Freitag, den 15. September.
Vormittag 9 Uhr in der Kunsthalle. 1. Die kulturellen Bestrebungen der
Arbeiter und der Alkohol. Referenten: a) Van der Velde-La Hulpe; b) Kiss-
Budapest 2. Alkohol und physische Arbeitsfähigkeit, mit besonderer Berück¬
sichtigung des militärischen Trainings. Referent: Mitander-Föllinge.
Nachmittag 3 Uhr in der Kunsthalle. Die industrielle Verwendung des
Alkohols als Kampfesmittel gegen den Alkoholismus. Referenten: a) Frau
Dazinska-Golinska-Krakow; Klemp-Budapest; b) Maleomes-Budapest.
Abends 87* Uhr. Studentenversammlung. Redner: Prof, Grub er-München,
Holitscher-Pirkenhammer: Abstinenz als Forderung des Sittengesetzes; Ender-
s t e d t - Stockholm, Frida Deutsch-Wien, Tarczai-Budapest.
Sonnabend, den 16. September.
Vormittag 9 Uhr. Die Reform des Schankwesens. Referenten: Eggers-
Bremen, Legrain-Paris, Helenius-Helsingfors.
Nachmittag 3 Uhr. Die Organisation der Antialkoholbewegung. Referenten:
Wlassak-Wien, Mäday-Budapest, Stein-Budapest
Abends 7*9 Uhr. Volksversammlung. Redner: Forel-Chigny, Fröhlich-
Wiener-Neustadt, Kiss-Budapest.
Sonntag, den 17. September.
Ausflug an den Plattensee.
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Der Alkoholismus
Zeitschrift zur wissenschaftlichen Erörterung der AlkoheHrage
1905 Neue Folge — Band 11 No. 5
I Originalabhandlungen.
Die Alkoholgegnerkongresse.
(Nach einem im Vereine abstinenter Frauen in Wien gehaltenen Vortrage.)
Von
Dr. Adolf Daum-Wien.
Die gegen die herrschenden Trinksitten gerichtete Bewegung
ist eine Reformbewegung. Reformbewegungen müssen sich ver¬
schieden gestalten, je nach Verschiedenheit der Einrichtungen,
Anstalten, Anschauungen oder Normen, deren Änderung herbei¬
geführt werden soll. Die Reform der Rechtsprechung, des Gerichts¬
wesens, in Streitsachen, welche sich in Österreich zu Ende des
19. Jahrhunderts in so mustergültiger Weise vollzogen hat, und
welche an Stelle der gänzlich veralteten, ans der Zeit Josephs II.
herrührenden Gerichtsordnung die heutige Zivilprozeßordnung ge¬
setzt hat, muß als das Werk eines, freilich ungewöhnlich begabten
Mannes betrachtet werden, der nach theoretischem und praktischem
Studium auswärtiger Prozeßgesetze und ihrer Wirkungen und nach
gründlicher Erwägung der im Inlande gegebenen Verhältnisse die
neue Prozeßordnung schuf. Ihre vollständig neuen Einrichtungen
haben sich mit Hilfe eines Stabes pflichteifriger und durch Studium
des deutschen Gerichtskanzleiwesens geschulter Männer so rasch
eingelebt, daß man diese bedeutsame Reformarbeit schon nach kurzer
Zeit als völlig gelungen betrachten durfte. — Hier haben wir das
Beispiel einer durch ein einziges Gesetzwerk mit einem Male
geschaffenen Reform von größter Bedeutung; denn das Bewußtsein
rascher und leichter Durchsetzbarkeit eines Rechtes wirkt auf das
ganze Leben eines Volkes ein und erhöht das Rechtsgefühl und
das Gefühl der Sicherheit, die Wertschätzung des Gemeinwesens
bei arm und reich.
Solche sozusagen mit einem dem Gesetze Wirksamkeit ver¬
leihenden Federzuge eingeführte Reformen sind nur möglich, wo
an Stelle ganz bestimmter ein Verfahren regelnder Normen be¬
stimmte andere Normen treten, deren Beobachtung einem ge-
Der AlkohoLUmus. 1905. 19
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HARVARD SJMIVERSITY
282
Dr. Adolf Daum.
schlossenen Kreise von Personen obliegt, und wo sich das zu Ver¬
bessernde völlig in diesen Normen erschöpfen läßt — Ähnlich,
aber nicht ebenso rasch und sicher 1 ) können solche Gesetzesreformen
wirken, welche sich auf den Inhalt der bürgerlichen Rechte —
wie 1900 im Deutschen Reiche — des Strafrechtes, politischer
Rechte u. s. w. beziehen. Schwieriger als solche Reformen,,
welche ja immerhin auch mit dem Momente der Trägheit rechnen
müssen, wenn sie nicht ganz oder teilweise „auf dem Papiere¬
stehen“ bleiben sollen, vollzieht sich die Reform imgeschriebener
Normen und Einrichtungen, welche Lebensgewohnheiten,
Moden, Riten im Laufe der Zeiten geschaffen und gefestigt haben.
Die Mode ist eine kurzlebige Gewohnheit und doch auch dann,
wenn sie nicht der Eitelkeit schmeichelt, recht schwer zu be¬
kämpfen; Riten kennt nicht nur die Gottesverehrung, der Kultus,
sondern auch die Rechtspflege, die Verwaltung, der Hofdienst, ja.
die Geselligkeit hat ungeschriebene und darum nicht minder
zwingende Formvorschriften, und im Ritus der Geselligkeit spielt
ja der Alkohol wieder eine verhängnisvolle Rolle. — Um wieviel
hartnäckiger als das geschriebene Gesetz sich eingewurzelte Gewohn¬
heiten Geltung erzwingen, zeigt die Geschichte des Duells und
seiner Bekämpfung. Außerhalb des britischen Kulturgebietes stellt
sich auch der überzeugte Duellgegner noch heute dem „Fordernden“,
wenn beide bestimmten, als „satisfaktionsfähig“ geltenden Gesell¬
schaftsschichten angehören, den Gesetzen zum Trotz, welche den
Zweikampf mit tödlichen Waffen als Verbrechen erklären. — Der
„gewachsene Grund“, wie die Baumeister sagen, ist eben immer
fester als der angeschüttete oder der Pilotenrost — Daß übrigens
auch allgemein verbreitete Lebensgewohnheiten, wenn es gelingt,
von ihrer Schädlichkeit allgemein zu überzeugen, sich reformieren
lassen, wo nicht Vorurteile, Moden oder materielle Interessen vieler
die Erhaltung des Bestehenden verlangen, zeigt die Wirksamkeit
gewisser gegen die Tuberkulosegefahr getroffener Vorkehrungen,
z. B. des Spuckverbotes.
Die Trinkgewohnheiten, deren Reform wir Alkoholgegner
anstreben, sind nun eingewurzelt in allen Gesellschaftsklassen und
Berufen. Der gesellige Verkehr vollzieht sich fast regelmäßig in
Verbindung mit dem Alkoholgenuß, von den Diners des Hochadels
i) Denn die neuen materiellen Bechtssätze müssen erst allmählich in das
ßechtsbewußtsein aller eindringen.
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Die Alkoholgegnerkongresse.
283
und der reichen Gutsherren, Industriellen und Rentner, den Banketten
der Politiker, Gelehrten und Künstler, den „Liebesmahlen“ der Offiziere,
den Kommersen der Studenten bis zum Stammtisch des Kleinbürgers
und Bauern und der Branntweinbude des Proletariers. — Der
Suggestivwirkung seines „milieu“ entzieht sich eben der einzelne
nur sehr schwer ohne nachteilige Folgen für seine Geltung und
seinen Anhang unter den Angehörigen seines Kreises. — Diese
Gebräuche finden ihre Stütze:
1. in der Neigung des Menschen, sich zu betäuben. Tolstoi
hält die Stimme des Gewissens für dasjenige, was der Mensch mit
Alkohol betäuben will; vielleicht könnte man richtiger sagen, daß
es Besorgnisse und „Bedenken“ sind, wenn auch zuweilen nur
Bedenken gegen das Nichtstun, welche zum Rauchen und zum
Trinken verführen, weil man sie damit zerstreuen, unterdrücken
will, meist ohne sich dessen klar bewußt zu werden;
2. in weitverbreiteten Vorurteilen von der wärmenden, nähren¬
den, heilenden, die geistige Regsamkeit erhöhenden Wirkung
„geistiger“ Getränke;
3. in Arbeitsbedingungen, welche die Neigung zum Trünke
deshalb hervorrufen oder begünstigen, weil durch den Trunk die
Unlustgefühle vermindert werden, die von der Arbeit unter solchen
erschwerenden Verhältnissen (Staubentwicklung, Hitze, Feuchtigkeit,
Kälte, Wassermangel) unzertrennlich sind. — Dr. Stehr hat in
seinem Werke „Alkohol und wirtschaftliche Arbeit“ diesen Gegen¬
stand ausführlich behandelt;
4. in den wirtschaftlichen Interessen nicht nur der Schank¬
wirte, Bierbrauer, Branntweinbrenner, Weinhändler, sondern auch
derjenigen Landwirte, welche die zur Erzeugung geistiger Getränke
erforderlichen Rohstoffe bauen und züchten (Gerste, Kartoffeln, Korn,
Wein, Zwetschen, Beeren u. s. w.);
5. in fiskalischen Interessen, welche durch die Steuerpflicht
der Vorgenannten (4.) gefördert werden.
Die Phalanx dieser psychischen und wirtschaftlichen Momente
verleiht den Trinkgewohnheiten jene Herrschaft, welche zu brechen
recht aussichtslos erscheinen muß, wenn man bedenkt, daß gegen
Sitten kaum anders anzukämpfen, ihre Änderung kaum auf andere
Art herbeizuführen ist, als
a) durch Zwang, b) durch die Macht des Beispiels eines
von der Sitte abweichenden Handelns und c) durch Einwirkung
auf die Anschauungen der einzelnen der Sitte Huldigenden.
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Dr. Adolf Daum.
a) Zwang vermag eine eingewurzelte Gewohnheit nur zu
ändern, wenn es gelingt, ihn so kräftig und allgemein zu üben, daß
die Möglichkeit, ihr nachzuleben, tatsächlich benommen wird. —
Das setzt eine große Zahl solcher voraus, welche die zu bessernden
Yolksgebräuche beobachten, mißbilligen und die Anwendung der
Zwangsmittel vermitteln helfen. — Ob diese Voraussetzung in jenen
Staaten der nordamerikanischen Union zutrifft, welche die Erzeugung
geistiger Getränke und den Verkauf derselben auf ihrem Gebiete
ganz untersagen (Prohibitionsstaaten), wird vielfach bezweifelt. In
Norwegen gelang es allerdings, den Branntweintrunk, zumal auf dem
Lande, fast ganz zu unterdrücken, indem man sowohl die Errichtung
von Vertriebsstätten, als häusliche Trinkgelage bei Strafe verbot
Ähnlich in Finnland und vielleicht auch in schwedischen Land¬
distrikten. — Die Sonntagsschließung aller Schenken (saloons) ist
in einigen Unionsstaaten, die teilweise Sonntags- und Samstags-
Schließung der Branntweinschenken auch in mehreren Ländern
Europas durchgeführt worden.
Gegen weitergehende Zwangsmaßregeln haben bisher die Inter¬
essen der Alkohol-Erzeuger überall mit Erfolg Widerstand geleistet.
In Österreich hat der Gewerbeausschuß des Abgeordnetenhauses seihst
eine wirksame Einschränkung des Branntweinkleinhandels zu
verhindern gewußt, und in Wien wagt es die Verwaltung, einer gemein¬
nützigen (Regierungs-Jubiläums-)Stiftung „für Volkswohnungen und
Wohlfahrtseinrichtungen“ nicht einmal, den Bier- und Wein¬
ausschank in ihren eigenen Arbeiterhäusem auszuschließen. —
b) Beispiel („exemplä trahunt“). Der Weg des Beispiels, den
die Abstinenten in und außerhalb ihrer Verbände gehen, kann erst
Bedeutung gewinnen, wenn große Gruppen an einem Orte die
Berücksichtigung ihrer besseren Sitten zu erzwingen und so die
Nachahmung derselben zu erleichtern vermögen.
c) Belehrung. Da für die Lebensweise des einzelnen die
Gewohnheit mehr als die Überzeugung von der Notwendigkeit und
Zweckmäßigkeit des Gewöhnten den Ausschlag zu geben pflegt, so
ist der Weg der Aufklärung, der Überzeugung alter, die sich eine
ungesunde Lebensweise angewohnt haben, von der Schädlichkeit
derselben ein recht mühsamer, langwieriger und undankbarer. —
Der Mensch pflegt die Beweggründe für sein Handeln gar oft erst
nachträglich zu konstruieren und ist nur zu oft selbst im Irrtum
darüber. Selbst der „Durst“ ist ein Motiv, über das sich der
Trinkende allzugeme täuscht, wie die Erfahrung derjenigen beweist,
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Die Alkoholgegnerkongresse.
285
die sich zur Abstinenz entschlossen haben und meist darüber
erstaunt sind, wie wenig „Durst“ sie fühlen, sobald die Gewohn¬
heit, zu bestimmten Zeiten bestimmte Alkoholika zu trinken, über¬
wunden ist —
Wenn Zwang, Beispiel und Belehrung die Mittel sind,
welche (jedes nur in beschränktem Umfange und unter gewissen
Verhältnissen) gegen die Herrschaft der Trinksitten aufgeboten
werden sollen, so folgt daraus, daß vor allem diejenigen Personen,
welche den Zwang üben können, also Gesetzgeber und Behörden,
und Personen, welche Beispiel geben können und wollen, also
Enthaltsame, sei es aus Gewohnheit oder Überzeugung, für den
Kampf gewonnen, in demselben „engagiert“ werden müssen, und
daß Aufklärung und Belehrung den weitesten Kreisen in möglichst
wirksamer und verständlicher Weise vermittelt werden muß. —
Vor allem bedarf es in der letzterwähnten Richtung des öffent¬
lichen Auftretens solcher Personen, die neben der festen
Überzeugung von der Verderblichkeit der herrschenden Alkohol¬
neigung auch die Gabe der Beredsamkeit besitzen, um ihrer Über¬
zeugung wirksamen, gefälligen und verständlichen Aus¬
druck zu geben, und deren Ansehen so bedeutend ist, daß ihr
Wort aufmerksam gehört zu werden Aussicht hat. — Solcher
Personen zählt bis heute kein Land so viele, daß es nicht auch
fremder Kräfte zum Beistände bedürfte. Um so nötiger ist das Auf¬
treten fremder, weil der Satz, niemand werde im eigenen Lande als
Prophet geachtet, auch heute noch vielfach Geltung hat. Was man
daheim oft genug gehört, aber wieder vergessen hat, gewinnt an
Bedeutung, wenn es ganz unerwartet von einem Fremden wieder¬
holt wird. — Hat man nicht Professor Kassowitz zum Guttempler¬
feste nach Kiel als Redner geladen, unseren Dr. R. Wlassak und
den Franzosen Dr. Legrain in Schweden Vorträge zu halten ge¬
beten, obwohl dieselben sich nur durch Dolmetscher verständlich
machen konnten? Und zu welcher Begeisterung gelang es unserem
wackeren Dr. Fröhlich, die organsierte Arbeiterschaft in Deutsch¬
land, der Schweiz und in England hinzureißen, dessen Sprache er
so trefflich handhabt! —
Ein internationales Übel zu bekämpfen, müssen sich die
überzeugten Alkoholgegner aller Länder verbünden; nicht Sammel¬
werke und Übersetzungen von Schriften können das gemeinsame
Auftreten beredter und angesehener Gesinnungsgenossen aus ver¬
schiedenen Ländern an einem Orte ersetzen. Bücher lesen wenige,
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Dr. Adolf Daum.
die Tagesblätter aber, die freilich von allen gelesen werden, sind
zu sehr an die Interessensphären der Alkoholerzeuger und -Ver¬
käufer gebunden, als daß sie ohne äußeren zwingenden Anlaß — :
wie ihn ein vorher angekündigter, offiziell beschickter und eröffneter
Kongreß bietet — ihre Spalten häufig den Mahnungen und Rat¬
schlägen der Alkoholgegner öffneten. Ganz anders als der tote
Buchstabe wirkt das lebendige Wort beredter Männer der Wissen¬
schaft, die diesseits und jenseits der Grenzen des eigenen Landes
die gleichen Beobachtungen gemacht haben und über die Mittel
berichten, die in diesem oder jenem Lande gegen das gemeinsame
soziale Übel des Alkoholismus aufgeboten werden.
Schon im Jahre 1846 tagte in London ein „World’s Temperance
Congress“, von dessen 304 Mitgliedern nur 33 nicht aus England
(von diesen aber 28 aus den Vereinigten Staaten) gekommen waren;
21 Mitglieder waren Geistliche, 36 Quäker. — Im Jahre 1878 wurde
ein Congrös international, der sich mit der Alkoholfrage beschäftigte,
in Paris abgehalten; auf diesem war der berühmte Verfasser des
grundlegenden Werkes „Der Alkoholismus“, Dr. A. Baer aus Berlin,
anwesend. —
Der erste in jener Reihe von Kongressen, für die ein Per¬
manenzkomitee besteht und deren neunter 1903 in Bremen dem
achten 1901 in Wien abgehaltenen folgte, wurde von der un¬
ermüdlichen Britin Miss Charlotte Gray veranstaltet Er tagte
1885 in Antwerpen, wo damals eine Ausstellung eröffnet worden
war. Zu den Kosten dieses Kongresses steuerten englische Alkohol¬
gegner 409, belgische und Schweizer 102 Franks bei; die Ver¬
anstaltungen waren aber so anspruchslose, daß nur 119 Franks zur
Verwendung kamen. Die abstinente Veranstalterin durfte damals
noch nicht wagen, den Abstinenzgedanken an die Spitze der
Ankündigung dieses bescheidenen „meeting“ zu stellen; hinter den
Worten: contre Tabus des boissons alcooliques, durften ihn die
kontinentalen Besucher, die man zu werben Mühe genug hatte,
nicht ahnen.
Im Jahre 1887 folgte der zweite Kongreß, in Zürich ab¬
gehalten; hier stand schon Professor Forel an der Spitze der
Kommission; der Kongreß wurde noch nicht von Regierungen
offiziell beschickt, wohl aber von vielen Vereinen; neben dem
durch seinen damaligen Geschäftsführer Dr. Lammers vertretenen
deutschen Verein gegen Mißbrauch geistiger Getränke nahm auch
der österreichische Verein gegen Trunksucht durch seinen Gründer
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Die Alioholgegnerkongresse.
287
{1884) Dr. v. Proskowetz am Kongresse teil; unter den 251 Mit¬
gliedern des Kongresses waren neun aus Österreich gekommen.
Schon auf diesem Kongresse führte sich ein Sekretär des
amerikanischen Brauerbundes, Gallus Thomann, ein Deutsch-
Amerikaner, unter dem Vorwände, Berichterstatter für Zeitungen
zu sein, ein. Der Zusammenschluß von Alkoholgegnem erregte
also damals schon die Aufmerksamkeit der Brauherren. —
Dem vom 3.—5. September 1890 in Christiania abgehaltenen
dritten Kongreß, vorbereitet durch ein Komitee, welchem drei
norwegische Minister angehörten, vor allem aber durch Miss Gray,
die sogar die Landessprache erlernte, um besser für diesen Kongreß
zu wirken, folgte 1893 (der Cholera wegen aufgeschoben) der vierte
Kongreß im Haag, dessen Protektorat die jugendliche Königin der
Niederlande übernommen hatte. Ein Minister eröffnete denselben,
und fünf Staaten (Frankreich, Italien, Belgien, Norwegen, Luxem¬
burg) hatten offizielle Vertreter entsendet. Von den 351 Teil¬
nehmern waren 85 Ausländer. Auch der Papst hatte sich durch
den Nuntius vertreten lassen.
Ein in demselben Jahre in Chicago anläßlich einer Welt¬
ausstellung abgehaltener „World’s Temperance Congress“ hatte
britischen und kirchlichen Charakter und befaßte sich mit der
Frage der Prohibition, die nur für Amerika in Betracht kam. —
Der fünfte Kongreß (1895 in Basel abgehalten), von 500 Teil¬
nehmern besucht, erregte besonders durch das Auftreten des Bischofs
Egger von St Gallen Aufsehen, der als päpstlicher Abgesandter
erschien und über Abstinenz und Schankreform sprach. Auch die
von Kjaer mitgeteilte Statistik, wonach in Norwegens Städten die
Besitzenden weit seltener als die der Arbeiterklasse Angehörigen
dem Gewohnheitstrunke verfallen, ist bemerkenswert
Das Protektorat über den sechsten in Brüssel 1897 ab¬
gehaltenen Kongreß hatte der König der Belgier übernommen.
Den Vorsitz führte der Staatsminister Lejeune. Hier war zum
ersten Male auch Rußland offiziell vertreten. Unter dem reichen
Material, das der Bericht über diesen Kongreß (3 Bände) enthält,
befinden sich Deströes Vortrag über Alkohol und Muskelarbeit,
mehrere Darstellungen der Beziehung des Alkoholismus zur Arbeiter¬
klasse und zur Wohnungsfrage und ein bemerkenswerter Bericht
über das Branntweinmonopol (Cauderlier). — Hier lud Dr. Legrain
die Versammlung ein, den nächsten Kongreß in Paris abzuhalten,
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Dr. Adolf Daum.
welcher Vorschlag beifällige Annahme fand. — Die Zahl der Teil¬
nehmer war auf 500 gestiegen.
Der siebente Kongreß war also der erste, der in einer Welt¬
stadt abgehalten wurde; er fand zu Ostern 1899 statt und war von
1100 Personen besucht; neben der russischen und den Regierungen
kleinerer Staaten hatte auch die österreichische Regierung diesen
Kongreß offiziell beschickt und der Vertreter derselben war er¬
mächtigt, den Kongreß für 1901 nach Wien einzuladen. Durch die
Beratung in Sektionen wurde ein ersprießlicher Meinungsaustausch
über einzelne Prägen (z. R. über die Wirkung des russischen
Branntweinmonopols) erschwert; dagegen waren die rednerischen
Leistungen auf dem Pariser Kongresse von Bedeutung. Nicht nur
die Eröffnungsreden des Unterstaatssekretärs Legrand, Brissons
und Dr. Legrains selbst, die Vorträge von Männern der TJnter-
richtsverwaltung, die feierliche Ansprache des Bischofs Thurinaz
von Nancy und vor allem die im Drucke weitverbreitete Rede des
belgischen Sozialdemokraten van der Velde, worin er unter An¬
führung wirtschaftsstatistischer Daten mit der in Arbeiterkreisen so
gern gehörten Lehre aufräumte, der Alkoholismus sei allein durch
die wirtschaftliche Not, durch zu geringe Arbeitslöhne hervor-
gerufen, waren von nachhaltigem Eindrücke und verdienen nach¬
gelesen zu werden. —
Von besonderem Werte war es auch, daß hier zuerst ein
aktiver Offizier als Redner auftrat und über die Ursachen der
Ausbreitung des Trunkes im Heere und über die Notwendigkeit
der Bildung abstinenter Zirkel in der Armee und der Schaffung von
Geselligkeitsräumen ohne Trinkgelegenheit für die dienstfreie Mann¬
schaft sprach. — Da auf Forels Befürwortung hin der obenerwähnte
Antrag des österreichischen Delegierten angenommen wurde, tagte der
vm, Kongreß (1901) in Wien unter unerwartet reger Teil¬
nahme (über 1200 Personen) sowohl Österreichs als des Auslandes.
Unter Prof. Max Grubers Vorsitz hatte die Organisationskommission
die Bildung von Landeskomitees veranlaßt, die zum Teile feierlich
durch Statthalter eröffnet worden waren und, wie vor allem Böhmen,
ausführliche Berichte über die Verhältnisse einzelner Länder er¬
statten ließen. Die Eröffnungssitzung war glanzvoll. Der Minister¬
präsident v. Körb er sprach einige treffliche Worte über den Alkohol,
der, „nur als seltener Gast geduldet, ein ungefährlicher Schmeichler,
als Hausgenosse ein Feind des Menschen sei“. Der Unterrichts¬
minister hielt eine glänzende Rede; es folgten Ansprachen der Ver-
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Die Alkoholgegiierkongresse.
289
treter von 7 fremden Regierungen, darunter eines in Uniform
erschienenen französischen Oberstabsarztes. Auch der Erzbischof
von Wien begrüßte den Kongreß. War diese glanzvolle Eröffnung
geeignet, die Aufmerksamkeit weitester Kreise für die Alkoholfrage
wachzurufen, so fand, wer sich für dieselbe zu interessieren be¬
gonnen hatte, in den Vorträgen, welche an drei Tagen folgten,
reichliche Belehrung und Anregung. An den Abenden wurden
Volksversammlungen abgehalten, auf denen berufene Mitglieder des
Kongresses die Alkoholfrage besprachen und reichlichen Beifall
ernteten. Unter diesen war namentlich jene von Bedeutung, in
der der Führer der Wiener Sozialdemokratie sich als Abstinenten
bekannte und die Befreiung der Arbeiterschaft von der die auf¬
strebende Klassenbewegung schwer schädigenden Herrschaft der
Trinksitten verlangte. —-
Die deutsche Regierung war zwar auch auf dem Wiener
Kongresse nicht vertreten, trotzdem aber wurde die von dem
Organisationskoraitee befürwortete Einladung des Herrn Dr. Del¬
brück, den nächsten Kongreß auf dem Boden des Deutschen
Reiches abzuhalten, angenommen. —
So wurde denn der neunte Kongreß 1903 in der freien Hanse¬
stadt Bremen abgehalten; es war dem ungemein regsamen Komitee,
das die schwierige Aufgabe hatte, diesen Kongreß zu organisieren,
gelungen, nicht nur reichliche Geldmittel zur Bestreitung der
Kongreßkosten aufzutreiben — seitdem die Kongresse in Gro߬
städten zu tagen begonnen haben, erhöhten sich diese Kosten ganz
bedeutend —, sondern vor allem das Erscheinen eines Vertreters
der Reichsregierung in der Person des Grafen Posadowski zur
Begrüßung der Versammelten zu erwirken. Der Vertreter des
Deutschen Reiches würdigte in bedeutsamen Worten die gegen die
Trunksucht gerichteten Bestrebungen. Seine Bemerkungen, daß
eine Beredsamkeit, die nur anderen Tugend predigt, aber sie nicht
selbst übe, immer nur eine ärmliche Kunst ohne Überzeugungskraft
bleibe, und daß die Heilung der Trunksucht aus veredelten Volks¬
sitten hervorgehen müsse, waren allen aus der Seele gesprochen. —
An äußerem Glanze stand der Bremer Kongreß dem Wiener kaum
nach, die Teilnahme der Ortsbevölkerung war in Bremen, zumal
dank der Ausbreitung des Guttemplerordens an der Nordseeküste,
stärker als in der österreichischen Hauptstadt, obwohl die organisierte
Arbeiterschaft sich in Bremen weniger für den Gegenstand des
Kongresses erwärmte.
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Dr. Adolf Daum.
Für die alkoholgegnerische Bewegung in Deutschland und
Deutsch-Österreich waren die 1901 und 1903 auf deutschem Sprach¬
gebiete abgehaltenen Kongresse jedenfalls von großem, hoffentlich
nachhaltigem Werte. — Für den zehnten Kongreß ist Budapest
in Aussicht genommen; ob auch hier das deutsche Element ver¬
wiegen und die Bewegung auf deutschem Sprachgebiete Förderung
finden wird, das soll uns die nächste Zukunft lehren. —
Fragen wir nun nach diesem kurzen Rückblicke auf die bis¬
herigen Alkoholgegnerkongresse, 1 ) worin die Bedeutung derselben
zu suchen ist, so lassen sich etwa folgende Punkte feststellen:
1. Gesetzgeberische Akte gegen den Alkoholismus sind
nicht als Ergebnisse der Kongresse zu verzeichnen. Das holländische
Gesetz zur Einschränkung des Branntweingenusses (Drank wet) ging
1881 dem Antwerpener Kongreß voraus; die Branntweinmonopol¬
gesetze der Schweiz und Rußlands wurden zwar auf mehreren
Kongressen kritisiert und gegen die Yorwürfe verteidigt, die dagegen
erhoben worden waren, aber diese Erörterungen blieben ohne Ein¬
fluß auf die Gesetzgebungen dieser Staaten. Auch was zum Lobe
des Gothenburger Systems und der dasselbe begünstigenden skandi¬
navischen Gesetze auf den Kongressen vorgebracht worden ist, gab
in keinem Lande Anregungen zur Nachahmung dieses Systems.
2. Was die Bedeutung der Alkoholgegnerkongresse für die
Wissenschaft betrifft, so wäre es eine Verkennung dieser Ver¬
anstaltungen, wollte man von ihnen wissenschaftliche Ergebnisse
erwarten, wie sie wohl zuweilen auf Ärztetagen oder Fachkongressen
verschiedener technischer Berufsgenossen zu Tage gefördert werden
mögen. Jene Kongresse sind eben nicht Tagungen von Fach¬
gelehrten, welche auf einem bestimmten Gebiete Erfahrungen
sammelten und austauschen wollen, sondern Werkzeuge einer
ethischen Reformbewegung. — Was die Fortschritte der Wissen¬
schaft dazu beitragen können, die Überzeugung von der Schädlich¬
keit des Alkoholgenusses in physiologischer oder anderer Beziehung
zu festigen und zu verbreiten, wird natürlich auf den Kongressen
der Alkoholgegner mitgeteilt und weiteren Kreisen zur Kenntnis
gebracht werden müssen, die Verbreitung dieses Wissens ist den
Alkoholgegnem aber natürlich nur Mittel zum Zweck. Deshalb ist
*) Der Vollständigkeit halber -wäre hier noch der 1900 in London abgehaltene
,,‘World’sTemperance-Congress“ zu erwähnen, der, wenn auch von einigen Franzosen,
Deutschen, Schweizern, Belgiern, Holländern und Skandinaviern besucht, doch
vorwiegend britischen Charakter hatte.
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Die Alkoholgegnerkongresse.
291
Professor Hueppes Vorwurf, daß wir nur dort die Wissenschaft
hören wollen, wo sie gegen den Alkohol spricht, verfehlt — Die
Lehren der Wissenschaft sind uns Waffen, die wir, wenn sie sie
uns fertig liefert, gebrauchen. Streitiges muß aus dem Spiele
bleiben. — Wir danken also dem Gelehrten nicht dafür, wenn er
aus seinem Laboratorium oder seiner Klinik Material vor die Laien¬
welt bringt, das ihm, dem Gelehrten, zu theoretischen Zweifeln Anlaß
(Nährwert, Verwendung am Krankenbette u. s. w.), dem kaum ge¬
wonnenen Alkoholgegner aber den vielleicht willkommenen Vorwand
bietet, zum rückfälligen Alkoholfreund zu werden. — Die ethische
und kulturelle Bedeutung des Kampfes gegen den Alkohol sollte
dem Gelehrten verbieten, seine Autorität zu Gunsten materieller
Sonderinteressen einzusetzen, gegen deren Übermacht anzukämpfen
ohnehin schwer genug ist, und doch mit allen Mitteln angekämpft
werden muß zum Wohle unseres Volkes.
3. Ein Gewinn, den die Kongresse ergeben, ist die Herstellung
persönlicher Beziehungen zwischen den Alkoholgegnem ver¬
schiedener Länder, ja eines Schutzbündnisses derselben. Österreich
darf stolz sein, hierin fast mehr gegeben als empfangen zu haben
(Kassowitz, Wlassak, Fröhlich.) — Wie wertvoll war uns
Österreichern Prof. Grubers (München) offener Brief über Prof.
Hueppes bekannten Vortrag auf dem Brauertage 1904, und Prof.
Forels Eintreten für die Abhaltung des achten Kongresses in Wien
auf dem Pariser Kongreß (1899)!
4. Die Kongresse in Brüssel und in Paris haben schon die
Aufmerksamkeit der höchsten Verwaltungsstellen dort vertretener
Staaten auf die sozialpolitische und volkserziehliche Be¬
deutung der Alkoholfrage gelenkt Wenn auch unter den Sorgen
der Ministerien die um die Erhaltung des politischen Einflusses
der Begierung oder ihrer Partei, um Staatshaushalt und Handels¬
politik im Vordergründe stehen, so fehlt doch kaum einem modernen
Staatsmanne des Westens der Ehrgeiz, sich auf dem Felde der
Wohlfahrtspflege von den Regierungen der Nachbarstaaten nicht
allzusehr überflügeln zu lassen. Mit Recht sprach man auf dem
Haager Kongreß aus, daß in kleineren Staaten rein politische Fragen
weniger Raum auf der Tagesordnung beanspruchen, und daß man
deshalb in diesen mehr Zeit finde, sich mit denen des Volkswohls
zu befassen. — Seit auch Großstaaten die Alkoholgegnerkongresse
beschicken und genötigt waren, dieselben durch ihre Minister zu
begrüßen (Paris, Wien, Bremen), ist es natürlich, daß sie schon
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202
Dr. Adolf Daum.
nach außen hin vermeiden wollen, als rückständig zu erscheinen
und sich veranlaßt sahen, durch Verwaltungsmaßregeln, ja selbst
durch Gesetzesvorschläge Stellung gegenüber den umsichgreifenden
Trinksitten zu nehmen, so in Frankreich auf dem Gebiete des
Unterrichts und der Fürsorge für die im Heere Dienenden; in
Österreich verfügte man schon während der Vorarbeiten für den.
achten Kongreß die Sperrung der Branntweinschenken am Sonnabend
5 Uhr und am Sonntag nachmittag im Wege polizeilicher Ver¬
ordnung in mehreren Provinzen, und der Verwaltungsgerichtshof
bestätigte die Gültigkeit dieser Verordnungen; ebenso wurden noch
vor der Eröffnung des Wiener Kongresses die Verabreichung von
Bum als Beigabe zum Tee in gemeinnützigen Speiseanstalten ver¬
boten; nach dem Kongreß folgte ein Erlaß, der die Gewerbe¬
behörden an wies, Bewerber um Gastbauskonzessionen dann zu be¬
günstigen, wenn sie auf den Ausschank geistiger Getränke ver¬
zichten. Das Unterrichtsministerium erneuerte Anweisungen an die
Schulbehörden, die Warnung der Jugend vor dem Alkoholgenuß
und die Belehrung über dessen Einfluß betreffend, ordnete die
Verteilung einer belehrenden Schrift 1 ) an, unterstützte die Her¬
stellung der trefflichen Wandbilder (nach Weichselbaum-Henning,
Trinker-Organe darstellend), die im Verlage der k. k. Hof- und
Staatsdruckerei erschienen, und die Verbreitung des Merthschen
Kompendiums über die Bekämpfung der Trunksucht durch die
Schule. — Ja, im Oktober 1902 legte die Regierung einen neuen
Entwurf für ein Gesetz zur Einschränkung der Trunksucht vor,
welches weit entschiedener als die älteren Entwürfe (1887—1891)
dem Kleinhandel mit Branntwein zu Leibe geht und die Bestrafung
der Trunkenheit und ihrer Förderer vorsieht — Leider hat der
zur Vorberatung dieses Entwurfes berufene Gewerbeausschuß dem
Gesetzentwürfe die Spitzen abgebrochen und kam es bisher noch
zu keiner Beratung desselben im Abgeordnetenhause. — Ebenso
ging dem Bremer Kongreß der Antrag des Grafen Douglas im
preußischen Landtage voraus, der von schankpolizeilichen und
unterrichtsbehördlichen Erlässen, Wohlfahrtseinrichtungen in Staats¬
betrieben, Unterstützung des Vereins gegen Mißbrauch geistiger
Getränke von Staats wegen und von Verfügungen militärischer Vor¬
gesetzter gefolgt war. —
5. Nicht minder als Staatsverwaltungen haben die Kongresse
l ) „Was die Jugend vom Alkohol wissen soll“, k. k. Schulbücher-Y erlag, 1904..
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Die Alkoholgegnerkongresse.
293
kirchliche Funktionäre an ihre Pflichten gegenüber dem Umsich¬
greifen der Trinksitten gemahnt — Dem Auftreten des Pfarrer
Neumann in Wien folgte die Gründung eines katholischen MäBig-
keitsvereins (jetzt „Kreuzbündnis“) in Wien und eines katholischen
Priesterbundes; beide traten mit den Provinzen in Verbindungen,
brachten 1903 auf dem Grazer Katholikentage die Alkoholfrage zur
Erörterung und verbreiteten treffliche Schriften in ganz Österreich.
6. Auch die organisierte Arbeiterschaft für die Alkoholfrage
interessiert und teilweise gewonnen zu haben, ist ein wichtiger
Erfolg der Kongresse. Mehr als andere sind die physisch schwer
Arbeitenden den Gefahren des Alkoholisnms ausgesetzt; nicht nur
das in einzelnen Betrieben begründete Bedürfnis, Uülustgeftible zu
beseitigen, sondern auch die minder ausreichende Ernährung, der
Mangel behaglicher Häuslichkeit, die größere Abhängigkeit vom
Wirt und Lebensmittelhändler macht den schlecht bezahlten Hilfs¬
arbeiter häufiger und rascher zum Opfer der Schenke oder des
Trinkzwanges als besser genährte und behaglicher lebende Mit¬
bürger. Traten schon in Zürich und im Haag Fabrikarbeiter für
die Abstinenz ein, so waren doch erst van der Yeldes Rede in
Paris, das Auftreten Adlers und Fröhlichs in den an den Wiener
und an den Bremer Kongreß angeschlossenen YolksVersammlungen
von großer Bedeutung für die Stellung der Sozialdemokratie zur
Alkoholfrage.
Den günstigen Einflüssen der Kongresse steht freilich ent¬
gegen, daß die letzteren auch die Aufmerksamkeit der an dem
Alkoholkonsum Interessierten auf sich gezogen und sie veranlaßt
haben, mit ihren reichlichen Geldmitteln Gegendemonstrationen und
eine den Alkoholgenuß rechtfertigende und anpreisende Literatur
zu unterstützen. — Gegen Bestrebungen, welche ein schweres
folgenreiches soziales Übel bekämpfen, die von staatlichen und
kirchlichen Behörden öffentlich gebilligt werden, geht es freilich
nicht mehr an, offen aufzutreten; aber die Brauer, Brenner und
Weinhändler haben mit Glück versucht, den immer noch von ver¬
hältnismäßig Wenigen vertretenen Tendenzen der Alkoholgegner
dadurch den Boden abzugraben, daß sie sie der Übertreibung oder
der Heuchelei beschuldigen und auf die volkswirtschaftliche Be¬
deutung der Alkoholproduktion hinweisend, die Staatsgewalt, die
der Steuern nicht entraten kann, zum Schutze des „mäßigen
Alkoholgenusses“ zu gewinnen suchen. —
Soviel wir auch den Alkoholgegner-Kongressen zu danken
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Original fro-m
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294
Dr. Adolf Daum. Die Alkoholgegnerkongresse.
haben, so wird es doch noch langer und intensiver Einwirkung
von Mann zu Mann, von Frau zu Frau und wechselweise in allen
Gruppen der Gesellschaft und unausgesetzter immer von neuem
und von immer mehr Berufenen ausgehender Belehrung aller
Volksschichten bedürfen, ehe es gelin g t, die Gegnerschaft un¬
gefährlich zu machen, welche von den mächtigen und einflußreichen
Besitzern des Gersten- und Kartoffellandes den volkstümlichen
Weinbergbesitzem, den reichen Brauherren, Spiritus-Baronen, -Grafen
und -Fürsten, den Gastwirten, denen die meisten Vereins- und
Wahlbesprechungslokalitäten gehören, den Besitzern wertvoller
Branntweinschankkonzessionen und den Händlern mit Bum und
Kognak ausgeht und über reichliche Mittel verfügt —
Möge der zehnte Internationale Kongreß gegen den Alkoholis¬
mus, in der Hauptstadt des Weinbau treibenden Ungarn abzuhalten,
hinter seinen Vorgängern an agitatorischer Wirkung, an bleibenden
Erfolgen nicht zurückstehen und unserem Kampfe neue Gebiete
gewinnen helfen.“ —
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Original frum
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295
IL Referate.
Kruse. Untere Aufgaben an den Opfern des Alkohols. Vortrag auf der Versamm¬
lung des hannoverschen kirchlichen Blaukreuzverbandes am 2. November 1904
zu Hannover. Separatabdruck aus der Monatsschrift für Innere Mission.
Vor zehn Jahren hat der Dresdener Bezirks verein gegen den Mißbrauch
geistiger Getränke „Bilder aus der individuellen Trinkerpflege 44 veröffentlicht.
Diese Dresdener Schilderungen waren durchaus geeignet, jegliche etwas weiter¬
gehende Hoffnung auf Besserung des individuellen Trinkerelendes zu ersticken.
Dem aus der Heilstätte entlassenen Trinker nahen sich die Mäßigen als Verführer.
Pastor Kruse sagt mit Recht: Trinkerrettung ist, wenn man nicht außerordent¬
liche Mittel anwendet, nahezu unmöglich. Trunksucht ist Sünde und Krankheit.
Trinker, welche zugeben, daß sie nicht ohne eigene Schuld in die Trunksucht
hineingekommen sind, eröffnen allein Heilungsaussichten, Oft freilich erscheint
die eigene Schuld des Trinkers nur gering im Vergleich zur Schuld der mensch¬
lichen Gesellschaft, zur Tyrannei der Trinksitten. Unbedingte Abstinenz muß.
der unnormal gewordene Gewohnheitstrinker lernen. „Wem das Trinken zur
Sünde wurde, der hat das Auge der Trinkgewohnheit mit der Wurzel auszu¬
rotten. 44 Trinkerheilstätten und Abstinenzvereine müssen Hand in Hand gehen.
Besonders aber ist das Blaue Kreuz der Enthaltsamkeitsverein zur Rettung von
Trinkern wie er sein soll. P. S.
Stubbe. Das Trinken in Schleswig-Holstein. Mäßigkeits-Verlag. 1905.
Anläßlich der landwirtschaftlichen Ausstellung der Provinz Schleswig-Hol¬
stein hat Pastor Stubbe die Resultate einer Umfrage bei den Verwaltungs¬
organen der Provinz und den Vertrauensmännern des Vereins gegen d. M. g.
Getränke zusammengestellt.
Die ortskundigen Berichte geben über die einzelnen Kreise der Provinz
genauere Daten. Im allgemeinen hat der Getränkeverbrauch in den letzten Jahren
etwas abgenommen. Ob die Besserung von Dauer, ist fraglich.
Durch beigefügte statistische Einzelangaben und ein beherzigenswertes
Schlußwort wird der Wert der Schrift noch erhöht P. S.
Marcinowskl. Im Kampf um gesunde Nerven. 2. umgearbeitete Auflage. Berlin r
bei Otto Salle. 1905. Preis 2 Mk.
Das sehr empfehlenswerte Buch von Marcinowski hat in kurzer Zeit
die zweite Auflage erlebt. Es soll ein Wegweiser zum Verständnis und zur
Heilung nervöser Zustände sein und für die Erziehung der Nervösen zu kraft¬
vollen, in sich gefestigten Persönlichkeiten wirken. Der Alkohol ist nach Mar¬
cinowski ein Nervengift, dessen Genuß grundsätzlich schädlich ist. Auf die
Menge kommt es dabei gar nicht an. Die Frage, wo die Grenze für den er¬
laubten Genuß oder den nicht erlaubten Mißbrauch liegt, ist für die grundsätz¬
liche Erledigung der Frage gleichgültig. Die anregende Wirkung des Alkohols
ist eine scheinbare, ein Irrtum, welcher dadurch zu stände kommt, daß die-
Lähmung zuerst die feinen Hemmungen und Allgemeingefühle betrifft. Lähmung
-des Ermüdungsgefühls ist kein Kraftzuwachs, sondern ein Selbstbetrug. P. S.
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296
Referate.
Laquer. Sozial-Hygienisches aus den Vereinigten Staaten. Vortrag auf dem Kon¬
greß für innere Medizin. April 1905.
In der „Medizinischen Reform 14 No. 17, 1905, gibt Laquer ein Autorreferat
über seinen auf dem diesjährigen Kongreß für innere Medizin gehaltenen Vor¬
trag. Der Inhalt deckt sich teilweise mit der Schrift: Trunksucht und Temperenz
(vergl. den Bericht in dem vorletzten Heft des „Alkoholismus 44 .) Erwähnung ver¬
dient noch folgendes: In den Vereinigten Staaten ist in 50% von 7000 Betrieben
jeder Alkoholgennß während der Arbeit verboten, die Frühstücks- und Vesper¬
pausen unbekannt, die Arbeitszeit schon dadurch eine um 15 % kürzere als bei
uns. Der Aufschwung der amerikanischen Industrie beruht zum Teil auf diesen
Verhältnissen, andererseits ist das frühzeitige Erschöpftsein der amerikanischen
Arbeiter zahlenmäßig nachzuweisen; es herrscht eben die äußerste Ausnutzung
der Kräfte. Von je 1000 Einwohnern waren
40—60 Jahre alt in Deutschland 179
in Amerika 170
über 60 Jahre in Deutschland 78
in Amerika 65.
Laquer richtete die Bitte an Kliniker und Ärzte, der Alkoholfrage am
Krankenbette, in Kranken- und Irrenhäusern, als Kassen-, Eisenbahn- und Unfall-
Ärzte noch mehr Beachtung zu schenken und die Bestrebungen des deutschen
Vereins gegen den Mißbrauch geistiger Getränke lebhafter zu unterstützen.
P. S.
Raecke. Zur Abgrenzung der forensischen Alkoholparanoia. Archiv für Psychiatrie.
39. Bd. Heft 2. (Referat in der Zeitschrift für Mediziealbeamte 1905, Nr. 8.)
Die chronischen Geisteskrankheiten der Trinker haben, wie Verfasser an
einer eingehenden Literaturübersicht zeigt, bisher nur geringe Bearbeitung ge¬
funden. Namentlich hat man häufig den Eifersuchtswahn der Trinker als ein
besonderes Krankheitsbild angesehen. Nicht selten treten jedoch Eifersuchts¬
wahnideen unter dem Einfluß der akuten Alhoholvergiftung auf, um nach deren
Abklingen wieder zu verschwinden, ohne Neigung zur weiteren Ausbreitung
zu zeigen.
Bei dauernden geistigen Störungen der Trinker sind zwei Gruppen von
Endzuständen zu unterscheiden: der Ausgang in Verblödung und der Ausgang in
fortschreitende Wahnbildung. Verfasser erläutert die letztere Form an fünf
Fällen. Zu dem allen gemeinsamen Eifersuchtswahn gesellen sich hier syste¬
matische Größen- und Verfolgungsideen und Sinnestäuschungen. Die Prognose
ist absolut ungünstig, die Gemeingefährlichkeit groß. Indessen kommen auf
200 Geisteskranke nur 3 Fälle dieser Form der geistigen Störung. P. S.
Bonne. Ober den Trinkzwang beim Broterwerb. 4. Auflage. Flensburg. 1905.
Bonn es Schrift berührt einen sehr wunden Punkt in unserem Volksleben.
Nicht nur Verkäufer und Vertreter von alkoholischen Getränken müssen unteT
den jetzigen Verhältnissen durch eigenes „Verzehren 44 , d, h. „Trinken 44 um die
Gunst des kaufenden Wirtes buhlen, sondern Verkäufer und Vertreter aller mög¬
lichen Firmen: Fabrikanten von Bierseideln und Bierfilzen, Restaurationsmöbeln
und Gartenstühlen, Bierdruckpumpen und Bierhähnen, Wein- und Bierkorken,
Faßfabrikanten, Flaschenfabrikanten, Fabrikanten von Zigarren und Zigarretten.
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Referate.
297
Und manchem Wirt ergeht es nicht besser wie seinen Opfern: will er tüchtig
verkaufen, so muß er selbst sich am Trinken beteiligen. Dazu kommen die von
findigen Wirten eigens zu dem Zweck, ihren Lieferanten, Agenten, Fabrikanten
und Handwerkern Gelegenheit zu einer tüchtigen Zeche zu geben, veranstalteten
festlichen Abendessen (häufig mit Weinzwang), die Preisskate und Preiskegeleien,
das Gänseausspielen auf dem Billard. In Hamburg holen die Fuhrleute Waren
und Aufträge in Schankwirtschaften ab und siqd so gleichfalls zu vielem Trinken
genötigt.
Gesetze und Polizeivorschriften nützen gegen diese Unsitten in unserem
Volksleben wenig. Das Volk und besonders die leitenden Kreise müssen durch¬
drungen werden von der Überzeugung, daß das Wirtsgewerbe nur zu dulden ist,
wenn es den Bedürfnissen der Menschen nach gesunden Speisen und Getränken
nachkommt, daß es aber ein „unsittliches“ Gewerbe wird, sobald es darauf aus¬
geht, aus der Notlage, den Schwächen und Fehlem der Menschen seinen Profit
zu ziehen. P. S.
Fröhlich« Alkohol als Krankheitsursache. 8 . Bändchen der Volksschriften über
Gesundheitswesen und Sozialpolitik. Wien. 1904. 0,15 Mk.
Fröhlich hat sich um die Bekämpfung des Alkoholismus innerhalb der
Arbeiterkreise Österreichs vielfach verdient gemacht. Seine Vortragstournee in
Deutschland im vorigen Jahre fand aus politischen Gründen eine plötzliche Unter¬
brechung. Sie hatte unter erfolgversprechenden Auspicien begonnen.
Wien vertrank im Jahre 1901 ungefähr für 100 Millionen Kronen alkoholische
Getränke. Zu der Getränkmenge trägt der Schnaps nur etwa den vierten Teil
bei, Bier und Wein dagegen drei Viertel. Überall in Österreich, besonders aber
in den Industrieorten, kommt dem Bier der Hauptanteil an der Alkoholisierung
der Massen zu. Der Hauptgrund dafür ist in dem unbegründeten Ruf des Bieres
als Nahrungsmittel zu suchen. Für seine betäubende und schmerzstillende
Wirkung macht sich der Alkohol bezahlt durch Schwächung der Gesundheit,
Leistungsfähigkeit und Widerstandskraft 10 Abbildungen der durch den Alkohol
an den einzelnen Organen herbeigeführren Veränderungen sind der Schrift ein¬
gefügt Die häufig schon an sich ungünstigen Lebensbedingungen der Arbeiter
werden durch den Alkoholgenuß noch mehr verschlechtert.
Den Schluß bildet die Aufforderung zur Abstinenz. Denn wie Professor
Gruber meint auch der Verfasser, daß es wissenschaftlich unmöglich ist, eine
für jede Individualität, für jedes Alter und für jede Lebensweise sicher unschäd¬
liche Dosis des Alkohols anzugeben. P. S.
Alkoholgenuh schulpflichtiger Kinder.
Die „Enthaltsamkeit“, Oktober 1903, berichtet über Erhebungen, die Lehrer
Walter und Scheu im Stadt- und Landbezirk Ulm bei zusammen 8099 Kindern
der evangelischen Volksschulen anstellten. Die Ergebnisse sind aus der nach¬
folgenden Tabelle ersichtlich. Die betreffenden 8699 Kinder verbrauchen täglich
etwa 600 1 geistige Getränke, jährlich also 2190 hi. Diese Menge, das hl zu
rund 18 Mk. berechnet, hat einen Wert von über 39000 Mark. Der Schul¬
sparkasse übergeben, würde eine solche Summe natürlich sehr segenbringend
verwendet werden können.
Der Alkoholismus. 1905. 20
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298
Referate.
Stadt
| Land
Summa
'
absol.
%
absol.
%
absol.
%
Kinderzahl
2608
1901
8699
Wer hat noch nie alkoholische Ge-
tränke getrunken?.
12
0,4
2
0,19
21
0,38
Wer mag sie nicht gern? . . .
853
13,4
14
1.01
364
9,84
Wer trinkt sie nur bei besonderen
Gelegenheiten ?.
517
—
—
—
—
—
Wer trinkt sie als Arznei mit ärzt-
liehen Rat?.
66
2,5
4
0,36
70
1,89
Wer trinkt sie als Arznei ohne ärzt-
hohem Rat?.
70
2,6
—
—
—
—
Wer trinkt täglich weniger als l / 4 1?
798
80,5
80
7,83
878
28,78
,, ,, ,, etwa 1 / 4 1? .
1085
41,6
131
12,00
1216
32,86
„ „ „ etwa V, 1? . .
271
10,3
176
16,14
447
12,08
„ „ „ mehr als V* 1?
128
4,9
638
58,47
766
20,70
Wer bekommt hauptsächlich Bier?
898
34,4
319
29,24
1217
32,86
,, „ ,, Most?
1174
45,0
736
67,55
1910
51,62
„ „ „ Wein?
54
2,0
1
0,01
55
1,49
Wer hat noch nie Branntwein ge¬
trunken? .
872
14,2
280
25,66
652
17,62
Wer bekommt mittags alkoholische
Getränke?.
1050
40,2
626
57,37
1676
45,29
Wer bekommt Milch außer zum
Kaffee täglich?.
816
31,2
607
55,63
1423
88,46
Wer bekommt Milch außer zum
Kaffee wöchentlich 2mal? . .
1006
38,5
231
21,17
1287
33,43
Wer bekommt Milch außer zum
Kaffee selten?.
390
14,9
174
15,93
564
15,24
Wer bekommt Milch außer zum
Kaffee nie?.
881
14,6
73
6,69
554
15,00
Wer weiß noch Fälle, wo nicht schul¬
pflichtige Kinder alkoholische Ge¬
tränke bekommen?.
472
—
346
—
818
—
Hartmeyer, Hans. Der Weinhandel im Gebiete der Hansa im Mittelalter. (Heft 3
der volkswirtschaftlichen und wirtschaftsgeschichtlichen Abhandlungen, heraus¬
gegeben von Prof. Stieda). Jena, Gustav Fischer. 1905. 119 Seiten. Preis
2,50 Mk.
Im Mittelalter wurde in Deutschland Wein in viel größerer Ausdehnung ge¬
baut wie jetzt. Weinreben wurden damals nicht nur an dem Ehein und der
Mosel gezogen, sondern auch an der Oder und selbst am Pregel. Bei den
Deutschrittern in der Marienburg genoß der „Thomer“ Wein sogar einen be¬
deutenden Ruf. So wackere Kämpen die Ritter des deutschen Ordens waren, so
standhaft waren sie im Trinken.
Hartmeyer zeigt in instruktiver Darstellung, wie mit dem Emporkommen
der Hansa die italienischen und französischen Weine die eigene Produktion in
Norddeutschland verdrängten. Veränderungen im Klima und gleichzeitig der durch
den ausländischen Wein verwöhnte Geschmack der norddeutschen Konsumenten
halfen mit, das Eigengewächs, soweit es nicht am Rhein wuchs, zu Falle zu
bringen. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist der hansische Weinexport aus den
Weingebieten Südfrankreichs nach England sehr alt. Die nach England bestimmten,
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Referate.
299
rheinabwärts fahrenden Schiffe der Hansa trafen sich im Mündungsgebiete des
Rheins mit den Weintaufleuten aus Frankreich und Spanien, die dort gleichfalls
Station zu machen pflegten, bevor sie ihre Fahrt nach England oder den baltischen
Ländern fortsetzten. Andererseits gingen Danzigs Weinschiffe bis nach Spanien
nnd Portugal. Preußische Schiffe pflegten im 14. Jahrhundert galizischen Wein
von Lissabon aus nach Bordeaux oder Flandern oder nach der Heimat zu bringen.
Der Danziger Schiffer, von englischen und spanischen Piraten und den tückischen
Wellen des Meeres viel belästigt, fand doch, bei diesem gefährlichen Handels¬
verkehr seine Rechnung. Französische Weine kamen damals hauptsächlich aus
Poitou und Orleans. Auf dem Peterhof in Nowgorod vermittelte sich der Aus¬
tausch zwischen der Weinfracht der Danziger Lastschiffe und dem russischen
Pelzreichtum.
Aus den Darlegungen des Verfasser? entsteht vor unseren Augen ein hoch¬
interessantes kulturelles Bild. Die Hauptverkehrswege, die politischen Beziehungen
zwischen den Staaten, das Verhalten der Stadtgemeinden zu der fremden Wein¬
einfuhr, das ganze Milieu des Kaufmannsstandes im 14. und 15. Jahrhundert
wird durch treffende Schlaglichter gezeichnet. Die Wichtigkeit des Weines als
eines Haupthandelsartikels schon im deutschen Mittelalter tritt deutlich hervor.
__ P. S.
Hundt* Abstinente Naturvölker. Internationale Monatsschrift zur Erforschung
des Alkoholismus und Bekämpfung der Trinksitten. 1905. Heft 5.
Verfasser bringt für die Kulturgeschichte des Alkohols recht beachtens¬
werte Tatsachen. Naturvölker, welche von den „Segnungen der Kultur“ unbe¬
rührt geblieben sind, existieren heute nur noch verschwindend wenig. Durch
die Expeditionen von von den Steinen haben wir sichere Kunde von Indianer¬
stämmen Zentralbrasiliens bekommen, denen jeder Alkoholgenuß und andererseits
auch der Gebrauch des Kochsalzes in reiner Form unbekannt ist. Dabei stehen
sie an sich auf keiner niedrigeren Kulturstufe wie gewisse andere Indianerstämme
in Mittel- und Südamerika, die schon in vorkolumbischer Zeit alkoholhaltige Ge¬
tränke zu bereiten verstanden und zwar zum Teil durch einfaches Kauen von
brotähnlichen Produkten, zum Teil durch Gährung zuckerhaltiger Früchte: Agaven,
Kaktusfeigen.
Dr. v. Mur alt kommt zu dem Schluß: Die erste Gewinnung alkoholischer
Getränke erscheint mehr als ein unglücklicher Zufall, denn als notwendige Folge
eines auf einer gewissen Kulturstufe eintretenden Bedürfnisses nach Berauschung.
_____ P. S.
Schröder, Paul* Ober chronische Alkoholpsychosen. Sammlung zwangloser Ab¬
handlungen aus dem Gebiete der Nerven- und Geisteskrankheiten. Band VI,
Heft 2/3. 1,80 Mk.
Verfasser bringt zahlreiche Krankengeschichten als Beispiele der in Frage
kommenden Formen der geistigen Erkrankung bei Trinkern. Doch bekennt er,
daß dieses Gebiet noch recht wenig geklärt ist.
Bei den chronischen Geistesstörungen der Trinker lassen sich zwei große
Gruppen unterscheiden: die Formen, welche dem Lähmungsirresein (paralysis
progressiva) und diejenigen Formen, welche der Verrücktheit (paranoia), d. h.
der fortschreitenden Wahnbildung nahe stehen. Namentlich diese letzteren
Formen der chronischen Wahnbildung bei Trinkern lassen sich bisher trotz des
20 *
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300
Referate.
vorliegenden reichen Materials noch durchaus nicht deutlich von den verwandten
Arten geistiger Störung abgrenzen. Auch braucht nicht jede chronische Geistes¬
störung, welche bei einem Trinker zur Entwicklung kommt, alkoholischer Natur
zu sein. Die Entstehungsursachen der geistigen Krankheiten bilden überhaupt
eins der schwierigsten Kapitel der Medizin. P. S.
Reinhardt, Ludwig. Im Kampfe gegen den Alkohol. Neuwied und Leipzig,
Heusers Verlag. 1905. 1 Mk.
Die Ausführungen des Verfassers sind nicht frei von Widersprüchen. Er
erörtert zunächst die kulturfeindliche Wirkung des Alkohols. Daß die Kultur¬
menschheit überhaupt heute noch besteht, sagt er auf S. 3, ist ein Verdienst der
„Mäßigen“. Später aber ändert er seine Ansicht. Mit Professor Bunge sind
ihm jetzt „die Mäßigen die Verführer“. Ohne jede Bedingung unterschreibt er
alles, was Professor Bunge, der unermüdliche Vorkämpfer für völlige Enthaltung
von allen geistigen Getränken, gegen den Alkohol gesagt hat. Es lohnt sich,
einmal eine Äußerung von Professor Bunge, die auch von Reinhardt des
längeren erörtert wird, kritisch zu betrachten. Professor Bunge hat die Formel
auf gestellt: der Alkohol betäubt das Gefühl der Müdigkeit und das Gefühl der
Langenweile. Beide Gefühle sind aber wohltätige Einrichtungen zur Selbst-
regulierung unseres Organismus. Ergo: „Der Alkohol lähmt alles Gute im
Menschen.“ Von einem Naturforscher, der vorurteilslos das unermessene Gebiet
der Natur betrachtet, kann man diese mit dogmatischer Sicherheit aufgestellte
und von Reinhardt wiederholte Behauptung nicht kritiklos hinnehmen. Das
Gefühl der Langenweile soll eine „wohltätige“ Einrichtung sein, weil es zur Arbeit
und Anstrengung zwingt. Es heißt doch mit dem Begriff „Arbeit 11 spielen, wenn
unterschiedslos alle Arbeit, zu der das „wohltätige“ Gefühl der Langenweile an¬
treibt, als gut bezeichnet wird und wenn andererseits jeder, der das Gefühl der
Müdigkeit unterdrückt, die Maschine seines Körpers überheizen und damit seiner
Gesundheit schaden soll. Wenigstens lehrt Bunge und wie er auch Reinhardt:
„Das Müdigkeitsgefühl ist das Sicherheitsventil an unserer Maschine“. So hätte
auch ein Virchow seiner Gesundheit geschadet? Ihm diente die Besiegung des
Müdigkeitsgefühls, die Ersetzung der Erholung durch neue Arbeit, nach unserem
Urteil wenigstens, nur zum besten. Den Ausspruch Kaiser Wilhelms I.: „Ich
habe keine Zeit, müde zu sein“ hätte Virchow freudig zustimmend unterschrieben.
Ich glaube wahrlich nicht, daß bei irgend einem der geistigen Arbeiter die Lange¬
weile als treibendes Motiv eine irgendwie nennenswerte Rolle gespielt hat. Mir
scheint im Gegenteil, daß die Arbeit, welche ein Ausfluß des Gefühls der Langen¬
weile ist, einen recht geringen Wert hat. Oder sollte jemand, der aus Lange¬
weile sportmäßig Berge klettert oder Automobil fährt oder an Rad- und Ruder-
Rennen teilnimmt oder seine Wadenmuskeln beim Tanzen bis in den hellen Morgen
anstrengt, wirklich eine nutzbringende Arbeit leisten? Ich meine, der Brau¬
meister, welcher sioh und seine Familie durch seine Arbeit redlich nährt, ver¬
richtet mindestens ebenso wertvolle Arbeit, als der Philosoph oder Menschen¬
freund, welcher aus „Langerweile“ Bücher schreibt.
Doch von diesen Einwendungen gegen Reinhardts kritiklose Bunge-
Gläubigkeit abgesehen, ist die Schrift „Im Kampfe gegen den Alkohol“ nur zu
empfehlen. Sie bringt ausführlich und in interessanter Form alles, was für die
im Kampfe gegen den Alkohol Stehenden zu wissen wichtig ist. P. S.
D : by Gougle
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.Referate.
301
Lehmann. Die Industrie der alkoholfreien Getränke. Band 285 der chemisch-
technischen Bibliothek. Wien und Leipzig. A. Hartlebens Verlag. 1905.
XVI und 864 Seiten. 6,80 Mk.
Infolge der Antialkoholbewegung hat sich ein starker Konsum alkoholfreier
Getränke entwickelt. Die Nachfrage, verspricht noch immer größer zu werden.
Der Verfasser des vorliegenden Buches ist Leiter der von dem allgemeinen
deutschen Zentralverband zur Bekämpfung des Alkoholismus eingeriohteten Unter¬
suchungsstelle für alkoholfreie Getränke und hat seine Schrift in erster Linie
für alle bestimmt, welche sich mit der Herstellung alkoholfreier Getränke be¬
schäftigen. Er behandelt ausführlich:
I. Die Materialien, welche bei der Bereitung alkoholfreier Getränke ver¬
wendet werden.
II. Die Fermente, Konservierungsmittel und Konservierungsmethoden.
HI. Die Bereitung der alkoholfreien Getränke.
IV. Kellerwirtschaftliche Maschinen und Arbeiten.
Vorwiegend vom technischen und chemischen Standpunkte aus geschrieben,
ist es doch auch für den Alkoholgegner überhaupt interessant, das weite Gebiet
zu durchmustem, welches die Fabrikation der alkoholfreien Getränke in unserer
Zeit für sich beansprucht. Offiziell gelten als „alkoholfrei“ alle Getränke, welche
nicht mehr wie 5 Gramm Alkohol im Liter enthalten. Bekanntlich enthalten
nach den Untersuchungen von Dr. Falck verschiedene als „alkoholfrei“ be-
zeichnete Getränke bis zu 2,4% Alkohol. Alkohol, und zwar in 20% Lösung,
ist ein beliebtes Konservierungsmittel für Fruchtsäfte (Himbeersaft, Erdbeersaft).
Fruchtsäfte, nur kurze Zeit der Luft ausgesetzt, entwickeln Alkohol. Die
Fabrikanten können mit gutem Gewissen behaupten, keinen Alkohol zugesetzt zu
haben, und sie bringen doch keine „alkoholfreien“ Getränke in Verkehr. Zieht
man diesen wichtigen Punkt in Betracht, so vermißt man in dem Buche eine
Anleitung zur Bestimmung des Alkoholgehaltes. Trotz aller Vorsichtsmaßregeln
können sich auch im „alkoholfreien“ Most die gärungserregenden und alkohol¬
erzeugenden Stoffe befinden. Es wäre daher wichtig, wenn der Käufer und
Produzent auch mit den Methoden zum quantitativen Alkoholnachweis in dem
Buche bekannt gemacht würde. P. S.
Hindhede. Die Stellung des Arztes zum Alkohol. Vortrag, gehalten auf dem
VI. nordischen Enthaltsamkeits-Kongreß. Die Alkoholfrage. 1905.
Hindhede entstammt einer Familie, in welcher seit mehreren Generationen
der Alkoholgenuß verpönt ist. Er verordnet als Arzt den Alkohol nur bei plötzlich
auftretenden heftigen Schmerzen, wenn er kein anderes schmerzstillendes Mittel
zur Hand hat. Er bestreitet jede anregende Wirkung des Alkohols. Wie so
viele andere vergißt auch er, daß ein im übrigen narkotisch wirkendes Mittel
wie Äther und Alkohol auf einen im wesentlichen automatisch, ohne Nervenreiz,
tätigen Muskel wie das Herz stimulierend wirken kann. Laitinens Versuche
an Tieren über die Empfindlichkeit für Infektionsstoffe lassen sich nicht ohne
weiteres auf den Menschen übertragen. Immerhin scheinen die am Londoner
Temperance-Hospital bei der Behandlung der Infektionskrankheiten ohne Alkohol
erzielten Resultate nicht für eine ausschlaggebende günstige Wirkung des Alkohols
bei den menschlichen Infektionskrankheiten zu sprechen. Richtig ist, daß viele
Ärzte nach gründlichem Studium der Alkoholfrage von der Verordnung des
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302
Referate.
Alkohols als Heilmittel abgekommen sind, während wohl noch niemals ein Arzt
den entgegengesetzten Weg gegangen ist. Richtig ist ferner, daß bei Menschen,
die vorher nie Alkohol getrunken, der Alkohol keine belebende, sondern nur eine
ermüdende Wirkung hat. Geborene Abstinenten werden nach dem Genuß eines
Glases Bier oder Wein schläfrig und matt. Doch gibt es derartige „normale 14
Männer leider nur noch sehr wenig. Die meisten ermuntern sich heute mit
einem Glas, um nach zehn Jahren deren vielleicht zehn zu brauchen. Und
gerade die am meisten „vertragen“, bekommen eines schönen Tages Delirium.
Nach Hindhede gibt es in der Lehre vom Alkohol nur zwei theoretisoh
haltbare Standpunkte:
1 . Überhaupt kein Alkohol.
2 . Steigender Alkoholverbrauch bis auf etwa 1 Liter Branntwein täglich.
Freilich wer gegen die Trinkgebräuche redet, der schließt sich gleichzeitig
vom Gesellschaftsleben aus. Das hat Hindhede grundsätzlich seit zehn Jahren
getan. P. S.
Killz. Zur Hygiene des Trinkens in den Tropen. Flensburg. Verlag von Deutsch¬
lands Großloge II. Preis 20 Pfg.
Alle Gründe, die schon im gemäßigten Klima gegen den Alkohol sprechen,
gelten in noch viel höherem Maße für die Tropen. Leichte Biere sind im Tropen¬
klima schlecht haltbar, daher werden die für die Tropen bestimmten Biere stärker
eingebraut und haben höheren Alkoholgehalt. Manche Todesfälle an Herzschwäche,
mancher Ausbruch von Tropenkoller und nervöser Verstimmung ist sicherlich
mehr auf Rechnung des gesteigerten Alkoholgenusses als des Tropenklimas zu
setzen. Das Toleranzquantum des Alkohols ist in den Tropen entschieden be¬
deutend herabgesetzt. Daher ist schon ein sogenannter „mäßiger“ Genuß von
Übel. Dabei ist bei dem vielfach an Abwechslung armen Leben in den Tropen
die Verführung zum Alkoholgenuß stärker, als in der Heimat. Auch ist die Ver¬
sorgung mit gutem Trinkwasser noch mangelhaft. Neuerdings hat das Hamburger
Institut für Schiffs- und Tropenhygiene einen leicht zu handhabenden Kasten
mit den für die Wasseruntersuchung notwendigen Instrumenten zusammengestellt.
Als Wasserzusatz sind besonders die Fruchtsäuren, namentlich die Zitronensäure
zu empfehlen. Außerdem kommen die Mineralwasser und die frischen Früchte
in Betracht P. S.
Friderich, Mathäns. Wider den Sauffteuffel. Nach dem ersten Drucke, Leipzig
1552, bei Georg Hantzsch, neu herausgegeben. Kulturgeschichtliche Bücherei.
Kötzschenbroda und Leipzig, bei Thalwitzer.
Sicherlich ist es ein sehr verdienstliches Beginnen, kulturhistorisch be¬
deutende Schriften dem schnelllebenden und leichtvergessenden modernen Ge-
schlechte aufs neue vorzuführen. Die Alkoholfrage ist älter wie wir selber.
Die Alkoholabstinenz nur ist jungen Datums.
Mathäus Friderich war Geistlicher. Er hat seine Schrift sehr wohl
disponiert, und ich weiß nicht, ob wir mit unseren wissenschaftlichen Argumenten
weiter kommen, als er mit seinen sieben Ursachen, „umb welcher willen alle
Menschen sich vorm Sauffen hüten sollen“. P. S.
Flade. Der Kampf gegen den Alkoholismus, ein Kampf für unser deutsches Volkstum.
Mäßigkeits-Verlag. 1905. Mk. 0,80. 27 Seiten.
Fl ade weist mit überzeugender Deutlichkeit auf die nationalen Gesichts-
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Referate.
303
punkte in der Bekämpfung des Alkoholismus hin. Der Gewohnheitstrunk bedeutet
eine größere Gefahr für unser Volk, als mancher glaubt. Der allverehrte Nestor
in unserem antialkoholischen Kriege, Geheimrat Baer, hat bereits gesagt:
„Nichts zerstört das geordnete und gesittete Familienleben, dieses Fundament
der staatlichen und gesellschaftlichen Wohlfahrt, so sehr, wie der Trunk.“ Auch
Flade konnte seine Ausführungen nicht wirksamer stützen, als indem er sie
mit statistischen Tabellen aus dem klassischen, noch immer beweiskräftigen Werke
Baers illustriert. Je mehr die Alkoholliteratur anwächst, um so mehr, scheint
mir, können wir aus der Vorsicht Baers in der Verwertung statistischer Daten
lernen. Wenn in Sachsen eine Schankstätte bereits auf 152 Einwohner, ein¬
schließlich Weib und Kind, dagegen ein Geistlicher erst auf 2250 Einwohner
kommt, so kann man nicht aus dieser Tatsache schließen, daß die religiösen Ver¬
hältnisse in Sachsen wesentlich besser wären, wenn es sich umgekehrt verhielte.
Das persönliche Beispiel wird immer von dem größten Werte sein. Daher
muß vor allem in der Familie Klarheit und Einigkeit in der Behandlung der
Alkoholfrage herrschen: bei gesellschaftlichen Veranstaltungen sowohl wie in der
täglichen Hausordnung. Das gleiche gilt für die Gesamtheit unserer großen
deutschen Volksfamilie. Überall, wo Deutsche im Auslande wohnen, sollen sie
sich zu gemeinsamem Wirken gegen den Alkoholismus zusammenschließen.
P. &
Haase, Georg. Ein Gläschen in Ehren! Beiträge zur Alkoholfrage und Mahn¬
worte an alle diejenigen, die im Kampfe gegen den Alkohol nicht Maß und
Ziel halten können. Breslau. 1905.
Diese Schrift ist ein sprechender Beweis dafür, wie nahe der Kampf gegen
den Alkoholismus dem „Alkoholkapital“ geht. Mit unleugbarem Geschick sind
alle Äußerungen wissenschaftlicher Autoritäten gegen die Übertreibungen von
antialkoholischen Heißspornen zusammengestellt.
Das Endergebnis der von dem deutschen Verein gegen den Mißbrauch
geistiger Getränke im Jahre 1902 veranstalteten Umfrage bei 89 Professoren der
Medizin war, wie Haase von neuem hervorhebt, daß die ärztliche Wissenschaft
in der Majorität ihrer berufenen Vertreter sich sicherlich nicht im Sinne der
unbedingten Enthaltsamkeit aussprach. Im speziellen hatte auch Meinert fest¬
gestellt, daß die modernen Patriarchen im Alter von 85 Jahren und darüber
keineswegs immer abstinent gelebt haben. Haase bringt auf S. 181 seiner
Broschüre ein weiteres Beispiel von einem 91jährigen, der lange Zeit täglich
1 —2 Liter Schnaps getrunken hat. (Das ist allerdings nichts beweisend!. Red.)
Die „goldene Mittelstraße“ wird schließlich auch in der Behandlung dieser, das
menschliche Wohl so tief berührenden Frage der richtigste Weg zur Lösung
bleiben. P. S.
Andrae. Die Sterblichkeit in den Berufen, die eich mit der Herstellung und dem
Verkauf geistiger Getränke befassen. Nach den Erfahrungen der Gothaer Lebens¬
versicherungsbank. Zeitschrift für die gesamte Versicherungs-Wissenschaft.
Band V. Heft 3.
Folgende Gruppen werden unterschieden:
l a. Hoteliers, Gasthofbesitzer, Oberkellner.
l b. Gastwirte.
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304
Referate.
Ic. Wirte, Schankwirte, Restaurateure, Kellner, Bierhändler.
II a. Brauereibesitzer, Brauereidirektoren, Brauer mit mehr als 5000 Mark
Versicherungssumme.
Ilb. Brauereibedienstete (Braumeister, Braugehilfen, Bierführer u. s. w.).
in. Brennereibesitzer, Brennereibedienstete, Destillateure.
IV. Weinbergbesitzer, Weinhändler.
V. Weinküfer, Kellermeister.
Die Sterblichkeit in diesen acht Gruppen stellt sich im Durchschnitt sämt¬
licher Versicherungsjahre und Alter prozentisch im Vergleich zu der erwarteten
Sterblichkeit von 100 so dar:
Gruppe Ia. . .
131
i>
Ib. . .
147
11
Ic. . .
155
11
Da. . .
141
11
Hb. . .
. 162
11
ni. . .
. 121
11
IV. . .
. 104
11
V. . .
. 144.
Die bedeutendste Übersterblichkeit zeigen die fünf ersten Gruppen und die
letzte Gruppe. Dagegen zeigen die Brenner und Destillateure und namentlich die
Weinhändler und Weinbergbesitzer günstigere SterbUchkeitsVerhältnisse. Die
ersten drei Gruppen: Hoteliers, Gastwirte, Schankwirte zeigen, wie zu erwarten,
zunehmend schlechtere Chancen, ebenso wie Gruppe 4 und 5: die Brauereibesitzer
und die Brauereibediensteten.
Indessen fällt hier ins Gewicht, daß die Sterblichkeit periodisch wechselt.
Jedoch stimmen im allgemeinen die Ergebnisse einer schottischen Statistik
für die Alkoholberufe mit der Gothaer Statistik überein.
Es ergab sich in Schottland, daß die Hauptgruppe I mit ca. 165°/ 0 der
rechnungsmäßigen Todesfälle belastet war, also stärker wie in Gotha. In Amerika
ergab sich bei 34 Versicherungsgesellschaften ein verhältnismäßig geringer Unter¬
schied bei der Gegenüberstellung derjenigen Personen, welche alkoholische Ge¬
tränke verkaufen und sich zu vollständiger Abstinenz verpflichten und derjenigen,
welche diese Verpflichtung nicht übernommen haben.
Andrae bringt die folgenden beiden Tabellen der amerikanischen Gesell¬
schaften.
I. Personen, die geistige Getränke verkaufen und sich zu vollständiger Ab¬
stinenz verpflichtet haben.
Alter beim
Eintritt
Wirkliche
Sterbefälle
Rechnungs¬
mäßige
Sterbefälle
Prozent¬
verhältnis
Wirkliche
Sterbefälle
Rechnungs¬
mäßige
Sterbefälle
Prozent¬
verhältnis
1.—5.
V ersicherungs jahr
6. u. höhere Versicherungsjahre .
15—28
22
33,6
65
35
29,5
119
29—42
72
91,5
79
126
100,6
125
43-56
42
46,1
91
97
78,3
132
57—70
4
6,6
61
13
9,0
144
Summa
| 140
177,8
| 79
271
212,4
| 128
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Referate.
305
II. Personen, die geistige Getränke verkaufen.
Nicht-Abstinente.
Alter beim
Eintritt
Wirkliche
Ster
Rechnungs¬
mäßige
befalle
Prozent-
verhaltnis
Wirkliche
Ster
Rechnungs¬
mäßige
jefälle
Prozent¬
verhältnis
15—28
29—42
43-56
57—70
1 .— 5.
76
845
209
29
Versicherun
104.4
386.4
195,9
31,9
gsjahr
73
89
107
91
6 . u. höhe
103
527
367
48
nre Versicher
83,1
389.4
259.5
34,3
ongsjahre
124
135
141
140
Summa
659
718,6
i 92
1045
766,3
136
Die ersteren, die Abstinenten, stellen sich für die Lebensversicherungs¬
gesellschaften als die günstigeren Risiken dar (128 Prozent der rechnungsmäßigen
Todesfälle gegen 186 bei den Nicht-Abstinenten) aber auch ihre Sterblichkeit
überschreitet die normale bedeutend. Der Unterschied der beiden Klassen ist
weit geringer, als man vermuten sollte. P. S.
Rosenthal, 0« Alkoholismus und Prostitution. Zwei Vorträge. 62 S. Preis:
1 Mark. Berlin bei Hirschwald.
Alkoholismus und Prostitution und in ihrem Gefolge die Geschlechtskrank¬
heiten sind seit den ältesten Zeiten der Menschheit unzertrennliche Gesellen.
Mit Betrübnis erkennt das Auge eines so bewanderten medizinischen Forschers,
wie des Verfassers der vorliegenden Schrift, daß in dieser Beziehung die fort¬
schreitende Zivilisation nicht den geringsten Wandel geschaffen hat. Ein mäßiger
Genuß der Alkoholica mag ohne sichtbaren Einfluß bleiben. Über die schädigende
Wirkung der Trunkenheit sind die Bibel und die Urkunden der Egypter, Chinesen,
Griechen einig.
Der Verfasser gibt einen Überblick über die Pathologie und Ätiologie des
Alkoholismus. Er betont mit Recht nachdrücklich, daß die Moralität in gebildeten
Kreisen recht häufig keineswegs besser ist als in der Arbeiterklasse. Die meisten
jungen Leute machen ihre Bekanntschaft mit der Prostitution unter dem Einflüsse
des Alkohols. Der Alkohol als Helfershelfer aller möglichen sexuellen Exzesse
ist noch immer nicht gebührend gebrandmarkt. Die geschlechtliche Enthaltsam¬
keit schadet der Gesundheit im allgemeinen nicht. Unter anderen Umständen
freilich, fügt Rosenthal merkwürdigerweise hinzu, „kann die Enthaltsamkeit
die Gesundheit auf das ernsteste gefährdend Die Prostituierte soll ihr Leben
ohne Alkohol nicht fristen können. Und für den blasierten Lebemann soll der nicht
auf Fortpflanzung bedachte außereheliche Geschlechtsverkehr eine Berechtigung
haben? Richtiger und eines freien deutschen Mannes würdiger ist es doch wohl,
zu sagen: Kein Prostituierender, keine Prostituierte! P. S.
Ftirbringer. Zur Bewertung des Tremors als Zeichen des Alkoholismus. Berliner
klin. Wochenschrift. 1905. Nr. 21.
Von den Folgerungen des Verfassers dürfte besonders interessieren, daß
das Händezittern in 9 /io der Fälle von Alkoholismus zu finden ist, jedoch in
jpaäßiger Ausbildung nicht zu dem Schlüsse auf Alkoholismus berechtigt. Jeden¬
falls bleibt das Händezittern eines der wichtigsten Symptome des Alkoholismus
und ist höher zu bewerten als z. B. das Zungenzittem. P. S.
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306
Referate.
Webmer. Praktische Erfahrungen bei Entmündigung Trunksüchtiger. Ärztl. Sach¬
verstand.-Ztg. 1905. Nr. 15.
Die Entmündigung wegen Trunksucht stellt zunächst mehr eine sicherheits¬
politische oder soziale als eine ärztlich-heilende Maßnahme dar. Sie ist mit
mancherlei Mängeln behaftet, jedoch trotzdem als ein Fortschritt mit Dank zu
begrüßen. Denn sie ermöglicht wenigstens eine Entmündigung in solchen Fällen,
wo der Entmündigungsrichter eine Entmündigung wegen „Trunksucht“ für ange¬
zeigt erachtete, während er zu einer Entmündigung wegen „Geistesstörung 4 . 4 das
beigebrachte Material nicht für genügend hielt. P. S.
Kornfeld. Traumatische Geistesstörung. Idiopathische allgemeine Paralyse? Alko¬
holische Pseudoparalyse? Ärztl. Sachverständ.-Ztg. 1905. Nr. 18.
Ein 42 jähriger Arbeiter stürzt mit einem Korbe Bier die Kellertreppe hin¬
unter. Im Krankenhause wird zwei Monate nach dem Unfall Gehirnerweichung
(paralytische Geistesstörung) konstatiert. Ungefähr ein Jahr nach dem Unfall erfolgt
der Tod. Der Verunglückte hatte früher stark getrunken und schon seit vielen
Jahren den Eindruck eines geistig minderwertigen Menschen gemacht Das ärzt¬
liche Gutachten ging dahin, daß nicht der Alkohol allein, sondern vielmehr der
Sturz von der Kellertreppe die tödliche Krankheit verursacht habe. P. S.
Weygandt* Psychiatrische Begutachtung bei Vergehen und Verbrechen im Amt eines
degenerativ-homosexuellen Alkoholisten. Archiv für Kriminal-Anthropologie. Bd. 17.
Nr. 1. (Referat in Ärztl. Sachverständ.-Ztg.)
Ein 35jähriger Oberamtsrichter, dessen Vorfahren zum größten Teil Trinker
und Sonderlinge waren, begeht wiederholt Urkundenfälschungen und Unter¬
schlagungen. Er hat eine verkehrte Erziehung genossen, ist von Jugend auf
dem Alkohol ergeben und zeigt auch vielfach homosexuelle Neigungen, ohne
jedoch in dieser Beziehung die Grenzen des Strafgesetzbuches zu überschreiten.
Eine Beeinflussung der Willensbestimmung durch die degenerative Veranlagung
und die Trunksucht liegt zweifellos vor. Vom ärztlichen Standpunkt aus aber
war ihm der Schutz des § 51 (Aufhebung der freien Willensbestimmung durch
krankhafte Bewußtseinsstörung) nicht zuzubilligen. Einstimmig aber plädierten
die ärztlichen Sachverständigen für „verminderte Zurechnungsfähigkeit 44 . Der
Vertreter der Anklage erklärte die verminderte Zurechnungsfähigkeit für eine
ärztliche Konstruktion, die keinen juristischen Begriff darstelle. Der Verteidiger
warf die Frage auf, um wieviel Prozent etwa die Zurechnungsfähigkeit vermindert
sei. Die Meinung der Sachverständigen ging auf 66*/* Prozent Nach dem
Urteil des Richters war der Angeschuldigte voll verantwortlich. P. S.
Stegmann. Ober Alkoholismus und Delikte wider die Sittlichkeit Allgemeine Zeit¬
schrift für Psychiatrie. Bd. 62. Heft 3.
Sehr viele Sittlichkeitsverbrechen sind eine Folge des Alkoholismus. Homo¬
sexueller Verkehr und Sodomie kommt dabei weniger in Frage, als Notzucht
und Exhibition. Blutschänderische Handlungen sind gleichfalls häufig durch
übermäßigen Alkoholgenuß hervorgerufen. P. S.
Siefert. Zur Frage der Schlaftrunkenheit. Archiv für Kriminal-Anthropologie.
Bd. 16. Heft 2. (Refer. in Ärztl. Sachverständ.-Ztg.)
Ein 32jähriger Fuhrmann, roh und gewalttätig und wiederholt vorbestraft,
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Referate.
307
neigt besonders unter dem Einfluß übermäßigen Alkoholgenusses zu gemein¬
gefährlichen Ausschreitungen. Er bewohnt ein Zimmer zusammen mit einem
60jährigen Handelsmann. Nachts gegen 1 Uhr, nachdem er zehn Glas Bier ge¬
trunken hat, kommt er angetrunken zurück. Gegen 3 Uhr wird er, anscheinend
durch ein Geräusch, wach und gerät mit seinem Schlafgenossen, den er in der
Schlaftrunkenheit möglicherweise für einen Einbrecher hält, in Streit. Im Ver¬
lauf der Schlägerei bringt er dem 60jährigen Manne mehrere schwere Ver¬
letzungen bei, an denen dieser sehr bald stirbt. Der Täter hat an diesen Vor¬
gang nur unklare, möglicherweise gar keine Erinnerung. Er gehört offenbar zu
den chronischen Alkoholisten, bei denen Affekte, insbesondere Schreck, einen
Wutanfall auslösen können. Dementsprechend gab das Medizinalkollegium sein
Gutachten dahin ab, daß der Täter bei Begehung seiner Tat infolge der Trunken¬
heit unter dem Einfluß von W ahn Vorstellungen stand. P. S.
Gudden. Das Bierdelirium. Archiv für Psychiatrie. Bd. 40. Heft 1. (Refer.
in Zeitschr. für Medizinalbeamte. 1905. Heft 18.)
Verfasser hält für das Bierdelirium einen langsameren Verlauf als beim
Schnapsdelirium für charakteristisch. In dem einen seiner beiden Fälle trat nach
2 jährigem Bestände der Krankheit Heilung ein. Die Wahnideen bei den stets
gereizten und erregten Kranken sind phantastischer Art und ängstlichen und be¬
drohlichem Inhaltes. P. S.
Funk. Die Trunkenheit im Militärstrafverfahren. Archiv für Kriminal-Anthropologie.
Band 16. Heft 2. (Referat in Ärztl. Sachverständ.-Ztg.)
Für den Militärrichter ist die Trunkenheit und namentlich der sogenannte
„pathologische“ Rausch von besonderer Wichtigkeit. Eine große Summe von
Arbeit bliebe ihm erspart, wenn jede Mannschaftsperson, die wegen eines Ver¬
brechens in Haft gesetzt wird, von einem Arzte sofort auf Trunkenheit unter¬
sucht würde. Solange der Arzt nicht im Vorverfahren herangezogen wird, muß
der Militärrichter sich bemühen, Material für den Sachverständigen herbei¬
zuschaffen. Dazu ist für ihn aber auch eine gewisse Kenntnis von den soge¬
nannten „pathologischen“ Rauschzuständen notwendig. Für den Referenten bilden
übrigens diese „pathologischen“ Rauschzustände nur einen Teil der schnell vor¬
übergehenden Bewußtseinsstörungen (transitorischen Psychosen), zu denen auch
die „normalen“ Rauschzustände gehören. Der Richter, welcher mit dem „nor¬
malen“ Rausch vertraut ist, dürfte auch dem „pathologischen“ Rausch das ge¬
bührende Verständnis entgegenbringen, ohne diesem ein besonderes Studium zu
widmen. P. S.
Über den GenuD alkoholischer Getränke im schulpflichtigen Alter. Zeitschrift für
Schulgesundheitspflege. 1905. Heft 3/4. S. 199.
Eine in Nordhausen angestellte statistische Untersuchung ergab das folgende
traurige Resultat. In der siebenten Klasse einer Volksschule (7 jährige Kinder)
hatten von 49 Kindern 38 schon Wein, 40 schon Schnaps und alle 49 schon
Bier, zum Teil regelmäßig, getrunken. 21 gaben an, daß sie gern Bier trinken,
14 trinken regelmäßig, „weü man davon stark wird“, 16 gaben an, leicht be¬
trunken gewesen zu sein, zumeist bei Hochzeiten, Partien, oder wenn bei Vaters
Geburtstag, wie üblich, ein Fäßchen getrunken wurde. P. S.
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308
Eeferate.
Alkoholismus unter Schülern in Ostpreußen. Zeitschrift für Schulgesundheitspflege.
1905. Heft 3/4.
In einer Dorfschule bei Orteisburg in Ostpreußen wurden in diesem Jahre
gelegentlich bei nicht weniger als 14 Schülern Flaschen mit Branntwein vor¬
gefunden. Diese Bauernjungen hatten den Branntwein von ihren Eltern als
„Erfrischungsmittel“ für die Schularbeit mitbekommen. Es soll ferner Tatsache
sein, daß bereits neunjährige Schüler vor Beginn des Unterrichts in trunkenem
Zustande nach Hause gebracht werden mußten. Bekanntlich ist in Ostpreußen
auch der Gebrauch des Äthers als eines schärferen Berauschungsmittels noch
vielfach Sitte. P. S.
Ruß. Zur Frage der Bakterizidie (Bakterientötung) durch Alkohol. Zentralblatt für
Bakteriologie. Bd. 37. Heft 1 u. 2.
Euß kommt auf Grund seiner Untersuchungen an verschiedenen Bakterien-
.arten zu dem Schluß, daß absoluter Alkohol ohne Wirkung auf Bakterien ist,
dagegen verdünnter Alkohol sporenfreie Bakterien abtötet und zwar feuchte Bak¬
terien schneller als getrocknete. Die Bakteriensporen werden durch Alkohol
überhaupt nicht geschädigt. Auf die Bakterien wirkt der Alkohol nicht sowohl
durch Wasserentziehung, als vielmehr durch seine Eigenschaft als Protoplasma¬
gift schädigend.
Für die Desinfektion der Haut mittels absoluten Alkohols ist es notwendig,
die Haut zunächst anzufeuchten bezw. mit Seifenwasser gründlich zu waschen.
P. S.
Heilbronner, Karl« Die strafrechtliche Begutachtung der Trinker. Halle a. S.
Verlag von Karl Marhold. 1905.
Zurechnungsfähigkeit und damit Straffähigkeit der Trinker zu beurteilen,
gehört zu den verantwortungsvollsten und schwersten Aufgaben, die dem medi¬
zinischen Sachverständigen vor Gericht gestellt werden. Die Ausführungen Heil-
hronners geben eine wertvolle Zusammenstellung der für diese Tätigkeit wie über¬
haupt die ärztliche und richterliche Beurteilung eines Alkoholikers vorwiegend
in Frage kommenden Gesichtspunkte. H. führt uns in knapper und doch wissen¬
schaftlich eingehender Form die einzelnen Bilder der verschiedenen Krankheits¬
zustände des dem Gewohnheitstrunk ausgesetzten Nervensystems vor. Da bei
Aburteilung von Trinkern auf deren eigene Aussagen nichts, auf die etwaiger
Zecbgenossen nur wenig Gewicht gelegt, auch den Aussagen der Angehörigen
oder polizeilicher Organe nicht allzuviel Wert beigelegt werden kann, bedarf es
oft genug erst längerer Beobachtungszeit, ehe ein sicheres Urteil über den alko¬
holischen Verbrecher möglich ist, ja zuweilen vermag überhaupt nicht zweifels¬
frei festgestellt zu werden, welcher Geisteszustand zur Zeit des Vergehens bei
dem Verhafteten Vorgelegen hat. Kein noch so schwerer Exzeß berechtigt an
sich zur Annahme einer Unzurechnungsfähigkeit, sondern nur die genaue Er¬
örterung der krankhaften Folgen des Alkoholgenusses wie auch früher ärztlich
beobachteter und bezeugter Erscheinungen (Krämpfe, erbliche Belastung, vom
Alkoholexzeß unabhängige Krankheitszustände u. s. w.). Eine besondere Schwierig¬
keit und Verdunkelung bezw. Veränderung des für die Zeit der Tat maßgebenden
Krankheitsbildes erwächst daraus, daß Wochen oder Monate vergehen, bis der
Alkoholiker nach einer unfreiwilligen Abstinenz im Untersuchungsgefängnis zur
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Referate.
309
notwendigen Anstaltsbeobachtung kommt. Der Gutachter steht dann vor einer
ganz anderen Persönlichkeit, als der Ermittelungsrichter am Tage nach der Tat.
Wesentlich erscheint u. a. das Verhalten der Erinnerung an den Trunkenheits¬
zustand. — Nach dem Strafgesetzbuch hat sich die Erörterung nur auf Bewußt¬
losigkeit oder krankhafte Störung der Geistestätigkeit zu erstrecken. Die Tiefe
der ersteren im gegebenen Falle läßt sich nicht naohweisen. Intoleranz, minder¬
wertige nervöse Organisation wollen besonders berücksichtigt sein. Von schwer¬
wiegender Bedeutung sind die „pathologischen Rauschzustände“ mit ihren Angst¬
zuständen, mit dem Verlust des Orientierungsvermögens, mit den plötzlichen
Entladungen. Hysterische, epileptische, traumatische Zustände disponieren dazu.
Schwachsinnige, Entartete, Epileptiker u. s. w., die an sich noch nicht oder
nur teilweise unzurechnungsfähig erscheinen, werden dies fast ausnahmslos unter
Alkoholeinwirkung auch kürzerer und an sich nicht erheblicher Art. Weiterhin
ist der Dipsomane („Periodentrinker“) als unzurechnungsfähig für die Zeit seines
Anfalles zu beurteilen. Von den verschiedenen Formen des Delirium tr. sind
die initialen und abortiven besonders gefahrbringend, weil eine gewisse Besonnen¬
heit und ein teilweise erhaltenes Orientierungsvermögen die Deliranten oft mit
verhängnisvoller Sicherheit ihre Opfer (Angehörige) angreifen läßt. Die Angst¬
psychose und namentlich der akute Wahnsinn der Trinker mit den Gewalttaten
seiner Inhaber kommen häufig zur gerichtlichen Beurteilung. Sie unterliegen
ebenfalls der Begutachtung als Zustände geistiger Unzurechnungsfähigkeit; ebenso
eine der schwersten Alkoholerkrankungen, die Korsakowsche Psychose. — Die
letzten Kapitel behandeln die chronischen Alkoholpsychosen mit ihrer forensisch
oft recht schwer zu beurteilenden Tragweite und den Habitualzustand des chro¬
nischen Trinkers. Die Schlußworte sind der Fürsorge für die kriminellen (gemein¬
gefährlichen) Trinker gewidmet, wie sie oft genug schon gefordert, aber leider
noch immer nicht in Angriff genommen worden ist. Für Ärzte, namentlich für
Gerichtsärzte, und für Richter finden sich in der Abhandlung ebenso lehrreiche
wie vielseitige Anregungen, deren Beherzigung in der Praxis die schwierige
Stellung des Begutachters und Verurteilenden wesentlich erleichtern und festigen
dürfte. Dr. Fl.
Daum, Adolf. Selbsttötung und Selbstbetäubung. Separatabdruck a. d. „öster¬
reichischen Rundschau“. Verlagsbuchhandlung Carl Konegen (Ernst Stülp¬
nagel), Wien.
Der erfahrene Jurist und langjährige verdienstvolle Leiter des öster¬
reichischen Vereins gegen Trunksucht führt aus, wie wenig zurzeit die Gemein¬
gefährlichkeit des Selbstmords als solche verurteilt und wie ganz vergessen
werde, daß der Tod jedes schaffenden Individuums ein Verlust für die Gesamt¬
heit bedeutet, ganz abgesehen von der Pflichtvergessenheit gegenüber Weib und
Kind. Auf dem Selbsterhaltungstrieb und dem Verantwortlichkeits¬
gefühl des Einzelnen beruht das Gedeihen der Staaten. Letzteres wird häufig
ausgeschaltet durch Berauschung (Betäubung), die zumeist vorhandene Sorgen
und Unlustgefühle bannen soll. Der Alkohol Trinkende will möglichst
vergessen und sein Verantwortlichkeitsgefühl los werden. „Wo aber
die Narkosen nicht mehr helfen, wird zur Pistole, zum Wasser oder zum Strick
gegriffen.“ Die Besserung solcher pathologischen Zustände in der menschlichen
Gesellschaft läßt sich nur von einer durchgreifenden Reform erhoffen. Vor allem
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Referate.
bedarf es einer ganz anderen Erziehung der jungen Leute: weniger unbrauch¬
barer Wissenskram, aber Selbstbeherrschung und Selbstkritik! Dann wird der
Kampf zwischen Pflicht und Neigung wesentlich erleichtert werden. Der Wille
zum Guten wird sich aber nicht durchringen, wo das Nervengift Alkohol schon
von früh an schädigend gewirkt hat. öffentliche Meinung und Gesetz¬
gebung müssen sich vereinigen. Selbstmordversuch des nicht psychisch Be¬
lasteten und Mithilfe zur Berauschung des Mitmenschen wären unter Strafe zu
stellen, ebenso wiederholte öffentliche Trunkenheit. Die interessante Abhandlung
bietet namentlich für unsere gebildeten Stände recht beherzigenswerte Aus¬
führungen. Auch zur Beseitigung der erschreckend anwachsenden „Selbstmord-
manie u muß die Erkenntnis und Reform oben — bei den bekannten Zehntausend
— einsetzen. Möge sie es bald tun! Dr. Fl.
Schenk, Pani. Berlin. Der „pathologische Rausch“. S.-A. a. „Deutsche Medizinal-
Zeitung“ 1905. Nr. 59.
Wenige Gebiete sind in der medizinischen, speziell psychiatrischen Fach¬
presse so oft besprochen und doch ihrem Wesen entsprechend noch ungenügend
aufgeklärt worden, wie der sogenannte „pathologische Rauschzustands Es ist
bezeichnend, daß man überhaupt zu dieser Benennung jenes schweren Erkran¬
kungsbildes gekommen ist. Jeder Rausch ist doch pathologisch. Aber die Er¬
kenntnis hiervon war durch die allgemeine Trinksitte so sehr der Gesamtheit
abhanden gekommen, daß man selbst ärztlicherseits die Bezeichnung „normaler“
Rausch jenem als das übliche, nichts Besonderes bietende Alltagsbild gegenüber¬
gesetzt hat. Der „normale“ Rausch gilt auch dem gerichtlichen Sachverständigen
nicht als etwas Krankhaftes. Nach § 51 des R.-St.-G. ist eine strafbare Hand¬
lung nicht vorhanden, „wenn der Täter zur Zeit ihrer Begehung sich in einem Zu¬
stande von Bewußtlosigkeit oder krankhafter Störungen der Geistestätigkeit be¬
fand, durch welchen seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war“. Das
Bild des pathologischen Rausches läßt sich so schwer umgrenzen, seine Ähnlich¬
keit mit anderen abnormen Geisteszuständen, andererseits die Unmöglichkeit, ohne
weiteres für den Richter zweifelsfreie Belege für sein Bestehen während der Tat
festzusetzen, sind so häufig, daß gerade eine solche Entscheidung dem ärztlichen
Sachverständigen außerordentlich verantwortungsvoll, zuweilen unlösbar erscheinen
muß. Die Arbeiten von Cramer, Heilbronn er, Bonhoeffer u. s. w. bieten
hierfür eingehende Beweise. Die in praxi nur zu oft die Straflosigkeit schwerster
Verbrecher ermöglichende Heranziehung jenes verhängnisvollen § 51 hat viele
Juristen wie Ärzte bereits dahin sich aussprecheu lassen, daß der Verbrecher
dafür zu bestrafen sei, daß er sich selbst in den Zustand des Rausches begeben
hatte, der Ursache zur Tat wurde. Dieser Standpunkt wurde auch gelegentlich
des JUI. Deutschen Abstinententages (vom 8.—10. Sept. d. J.) in Dresden von
dem bekannten Landrichter Pop er t-Hamburg vertreten. Jedenfalls bieten nicht
nur der „pathologische“ Rauschzustand, sondern auch der „normale“ Rausch nach
wie vor eine außerordentliche Gefahr für die Gesellschaft und die ausreichende
Berücksichtigung beider im St.-G.-B. zu ihrem Schutze ist eine dringende Not¬
wendigkeit. Bisher haben sie eine solche nicht gefunden. Dr. Fl.
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van justitie. Gouda, G. B. van Goor Zonen. 8°. (VII, 816 blz.) fl. 2.50;
geb. fl. 2.90.
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Osterwieck a. Harz, Zickfeldt. Mk. 1.—.)
Stand der deutschen Bewegung für Gasthausreform. (Evangelische Kirchenztg.,
Nr. 35.)
Streikgelder und Alkohol. (Volkswohl, 1905, Nr. 5.)
Strafgesetzbuch, § 365, Abs. 2 findet auch auf Bahnhofswirte Anwendung, welche
das Verweilen von Gästen, die nicht zum reisenden Publikum gehören, in
den Restaurationslokalitäten über die gebotene Polizeistunde hinaus gestatten.
Reichsgerichts-Entscheidung v. 22. September 1904. (Fischers Zeitschrift f.
Gesetzgebung u. s. w., 1905, S. 126.)
Studenten und Alkoholismus. (Aufsatz im: Jahrbuch moderner Studenten für 1905.
Osterwieck a. Harz, Zickfeldt. Mk. 1.—.
Stubbe- Kiel. Das Trinken in Schleswig-Holstein. Berlin, Mäßigkeitsverlag*
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Trinkerheilstätte Stift Isenwald bei Gifhorn. (Der Wanderer, 1905, Nr. 6.)
Trinkerfürsorge der Breslauer Armenverwaltung bis Ende März 1905. (Blätter
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Trinkhallenrecht, das. (Deutsche Warte, Nr. 209 v. 1. August 1905.)
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Trunksucht als Todesursache in den großem städtischen Gemeinden der Schweiz
im Jahre 1904. (San.-demogr. Wochenbulletin der Schweiz, 1905, Nr. 20.)
Urban, Karl . Über die Landes- u. Kommunal-Biemmlagen. Vortrag. (Der böh¬
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Verwaltungsbericht des Berliner städtischen Krankenhauses Friedrichshain.
(Mit Bemerkungen des ärztlichen Direktors über 208 an Säuferwahnsinn Er¬
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f. angewandte Chemie, Berlin 1904, S. 1007—1012.)
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318
III. Mitteilungen.
Die Unfallstatistik für Land- und Forstwirtschaft 1901 Hegt nunmehr im zweiten
Teil als „Amtliche Nachrichten des Reichsversicherungsamts 1904“ vor,
Berlin 1904. Verlag von A. Asher & Co.
Wahrend im ersten Teil, welcher kurze Zeit vorher erschienen, die ver¬
sicherten Betriebe und Personen, die Verletzten und die Zahl ihrer Hinter¬
bliebenen, die Unfallereignisse, die Art und Folgen der Verletzungen, sowie die
Zeit der entschädigungspflichtigen Unfälle und ihre Häufigkeit nach der Art der
Bodenbeschaffenheit bearbeitet wurden, * bringt der zweite Teil der Statistik die
von technischen Gesichtspunkten ausgehende textiiche Bearbeitung der Hergänge
der Unfälle, ihre Ursachen und die Verletzungen nach der Stellung im Betriebe.
Seit der ersten Unfallstatistik für Land- und Forstwirtschaft sind 10 Jahre
verflossen, so daß es von großem Interesse sein mußte, zu erfahren, wie sich der
weitere Ausbau der Unfallgesetzgebung für die ländliche Bevölkerung gestaltet
hat, und da wird man mit Genugtuung gewahren, daß trotz der gewissen
Schwerfälligkeit, die sich bei der ländUchen Einwohnerschaft bemerkbar macht,
daß trotz des konservativen Geistes, der ihr innewohnt, die Anteilnahme an der
Reichsversicherung sich gemehrt hat. Die Zahl der Betriebe, in welchen sich
Unfälle ereigneten, ist in den 10 Jahren von 18585 auf 58309 gestiegen; auf
100 versicherte Betriebe entfielen im Jahre 1901 1,13, im Jahre 1891 0,39 Be¬
triebe, in denen Unfälle vorkamen. Eine vergleichsweise Zusammenstellung der
Unfallverletzten, auf 1000 Versicherte berechnet, ergibt eine Steigerung von 0,85
im Jahre 1889 auf (1,59 1891, 3,85 1896) 4,98 im Jahre 1901. Diese Zunahme
wird im wesentlichen darauf zurückgeführt, daß sich mit dem steigenden Maße
der Kenntnis der Versicherung überhaupt die Ansprüche an die Versicherungs¬
träger auch bei geringfügigen Verletzungen mehren. Ein fernerer Faktor wird
darin erblickt, daß bei dem Arbeitermangel auf dem Lande ein schnelleres
Arbeiten und dadurch eine Erhöhung der Gefahr bedingt ist. Dies Moment
findet seinen Ausdruck in den Zahlen, welche die Unfälle in den Erntezeiten
dartun, worauf weiter unten noch eingegangen werden wird. Es darf sodann
nicht außer acht gelassen werden, daß es sich bei periodisch sich anhäufenden
Arbeiten vielfach um nicht ständige, fremde Arbeiter, um die Heranziehung von
Kindern und Greisen handelt, welche naturgemäß eine Unfallvermehrung ver¬
ursachen. Die größte Unfallhäufigkeit weist Oberbayem auf, wo 7,27 Verletzte
auf 1000 Versicherte verzeichnet stehen (der Durchschnitt beträgt 4,98). Die
Zahl der Vollarbeiter, welche dadurch ermittelt wird, daß die von allen Ver¬
sicherten geleisteten Arbeitstage durch 300 geteilt werden, war nur bei den
land- und forstwirtschaftlichen Ausführungsbehörden mögUch festzustellen. Die
Häufigkeit der Unfälle bei diesen Vollarbeitem schwankt zwischen 16,76 bei dem
Kaiserlichen Ministerium in Elsaß-Lothringen und 188,24 bei der Forstabteilung
der Königl. Bayrischen Regierungsfinanzkammer (für das Jahr 1902 sind die be¬
treffenden Zahlen 14,26 und 167,06).
Im Jahre 1901 sind bei der Land- und Forstwirtschaft 56886 Unfälle
gezählt worden, bei denen 56907 Personen verletzt wurden; die Zahl der ent-
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Mitteilungen.
319
schädigungsberechtigten Hinterbliebenen belief sich auf 5119, wovon für die
land- und forstwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften 4951, für die Ausführungs¬
behörden 168 nachgewiesen wurden. Unter den 11189071 Versicherten befanden
sich 7831952 Männer und 8857119 Frauen; 2386572 davon standen in der
Altersklasse von 20—30 Jahren; die nächsten drei Dezennien wiesen je noch über
1% Millionen auf. Die Unfallhäufigkeit berechnet sich prozentual recht un¬
günstig bei den Personen von 60—70 Jahren, nämlich auf 10,3 (10,4 Männer,
10,8 Frauen) auf 1000 Versicherte; die niedrigste diesbezügliche Zahl ist in den
Altersstufen 18—20 vertreten: 2,1 (2,6 Männer, 1,5 Frauen). Von den Verletzten
entfallen 0,25% auf das Lebensalter unter 10 Jahren, während 22,84% in der
Altersklasse von 50—60 Jahren verzeichnet stehen. Bei der Zusammenstellung
der Folgen der Verletzungen seit dem Jahre 1888 (und im Vergleich zu den
gewerblichen Berufsgenossenschaften seit 1886) ist die erfreuliche Tatsache zu¬
nächst zu konstatieren, daß der tödliche Ausgang in allen Zweigen und ständig
zurückgegangen ist, desgleichen die dauernde Erwerbsunfähigkeit. So wurde
z. B. im Jahre 1888 der Tod auf 48,81, die völlige Erwerbsunfähigkeit auf 5,82
festgesetzt, im Jahre 1902 aber nur 4,85 Todesfälle und 1,00 völlige Erwerbs¬
unfähigkeit errechnet; dagegen aber vorübergehende Erwerbsunfähigkeit 44,29
gegen 18,59 im Jahre 1888 nachgewiesen. Das ist also ein sehr beachtenswerter
Fortschritt zu Gunsten der vorübergehenden Erwerbsunfähigkeit. Bei den an¬
gezogenen gewerblichen Berufsgenossenschaften ist das Verhältnis ähnlich, indem
1886: 24,91 Todesfälle, 15,92 völlige Erwerbsunfähigkeit auf 100 Verletzte kamen,
während 1902 der Tod nur 7,98 Opfer forderte und 1,06% völlig erwerbs¬
unfähig blieben, sich aber die vorübergehende Erwerbsunfähigkeit von 20,29 auf
44,35 vermehrte.
Bezüglich der Art der Verletzungen wird hervorgehoben, daß die Arm¬
verletzungen bei weitem prävalieren, dies trifft sowohl im Jahre 1891 (31,75),
wie 1901 zu, wo 83,31 % solcher Verletzungen, nämlich 18957, gezählt wurden;
ihnen folgen die Beinverletzungen, die sich auf 16806 bezifferten.
Interessant ist der statistische Nachweis der Zeit der Unfälle. Wie bereits
hervorgehoben, ist die (Sommer-) Erntezeit in hervorragendem Maße beteiligt,
was das Jahr 1901 betrifft; 1891 entfiel die größte diesbezügliche Zahl dem
Februar und Dezember, diese vielleicht reine Zufälligkeit ist nicht erklärt, aller¬
dings auch nicht wesentlich. Darin sind sich indes beide Jahre vollständig gleich,
daß — nebenbei bemerkt, genau so wie in der Industrie — der Montag die
meisten Unfälle auf weist. Abgesehen vom Sonntag, wo durchweg die Arbeit
ruht, und für welchen 0,29 (1891 0,27) verzeichnet stehen, weist der Montag
1,21 (1,17) und der Sonnabend 1,17 (1,17) auf. Die Mitte der Woche, Mittwoch
und Donnerstag, ist durch wenige Unfälle bevorzugt, am Freitag hebt sich bereits
die Kurve der Unfallhäufigkeit ein wenig, um am Sonnabend stärker anzuwachsen.
Es läßt sich dies damit begründen, daß am Ende der Woche eine größere Er¬
müdung eintritt und daß alles dem Ende der Arbeitswoche entgegeneilt; indes,
es wird auch schon hier dem Moment (dem Wirtshausbesuch) einige Rechnung
zu tragen sein, welches dem Montag so außerordentlich ungünstige Zahlen ver¬
leiht. Der Grund hierfür wird mit Recht auf die „Nachwirkungen der sonn¬
täglichen Vergnügungen“ zurückgeführt, „insbesondere auch auf die Nachwirkung
des bei dieser Gelegenheit in weiten Schichten des Versichertenbestandes
genossenen Alkohols“. „Insofern,“ heißt es weiter in jenem Bericht, „sind die
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320 Mitteilungen.
erhöhten Unfallziffern des Montags ein mittelbarer Beweis für die Einwirkung
des Alkohols auf die Unfallhäufigkeit 11 . Was hier von den Wochentagen gesagt
wird, erhält seine Bekräftigung durch eine weitere Tabelle, welche die Unfall¬
häufigkeit nach den Tagesstunden festlegt Dabei gewahrt man, daß die Montag-
Vormittags- und Sonnabend-Nachmittags-Stunden am meisten beeinflußt sind; im
übrigen kann nicht außer acht bleiben, daß die Vormittagsstunden von 9—12 Uhr
und die Nachmittagsstunden von 3—6 Uhr sich durch hohe Zahlen der Unfälle
auszeichnen. Da in diesen Zeiten die Arbeitsfähigkeit bereits abnimmt, oder
vielmehr die Unfallhäufigkeit zunimmt, indem z. B. die Zeit von 6—9 Uhr vor¬
mittags nur 0,97, die Zeit von 9—12 aber 2,12, die Nachmittagsstunden 12 bis
3 Uhr 1,11, aber die Zeit von 8—6 Uhr 2,51 Unfälle auf wies, scheint es nicht
ungerechtfertigt, auch hier den Alkohol als das ursächliche Moment anzusprechen,
denn es fällt hierin die Zeit des Frühschoppens und der Vespertrunk. Damit
wären wir bei der „Schuldfrage 11 , der Ursachen der Unfälle angelangt, welche
in 7 verschiedenen Momenten ihren Ausdruck finden. — Als Ursache eines Un¬
falls wird bemessen:
a) Mangelhafte Betriebseinrichtungen, fehlende oder ungenügende Schutz¬
vorrichtungen, fehlende oder ungenügende Anweisung u. s. w.
b) Ungeschicklichkeit und Unachtsamkeit, Nichtbenutzung oder Beseitigung
vorhandener Schutzvorrichtungen, Handeln wider bestehende Vorschriften oder
erhaltene Anweisung, Leichtsinn (Balgerei, Neckerei, Trunkenheit u. s. w.), un¬
geeignete Kleidung (flatternde Tücher und Schürzen u. s. w.).
c) Schuld des Arbeitgebers und Arbeitnehmers zugleich.
d) Schuld von Mitarbeitern oder anderen Personen.
e) Unvermeidliche Betriebsgefahr.
f) Sonstige Ursachen (höhere Gewalt, Zufälligkeit).
g) Nicht zu ermittelnde Ursachen.
Wiewohl die Klassifizierung der Unfälle in jene Unfallsgruppen auf einer
Zusammenstellung von Urteilen beruht und streng genommen außerhalb der
Statistik, der Aufzählung von Tatsachen, liegt, so muß es doch interessieren, zu
erfahren, wie die Ursachen ergründet worden sind. Und von dem Grundsatz
ausgehend, daß die Hebung der Ursache die Hebung des Unfalls bedeutet, kann
es nicht gleichgültig erscheinen, welche Entstehungsursache man dem Unfälle
beizumessen sich genötigt sieht, selbst auf die Gefahr hin, daß dank der sub¬
jektiven Gradmessung dieses oder jenes Unfallereignis unter anderem Gesichts¬
winkel anders beurteilt würde. Einem subjektiven Verschulden wird stets eine
objektive Prüfung des Tatsachenmaterials schützend zur Seite stehen, und Streit¬
fälle einer (durchaus wohlwollenden) Entscheidung des Reichsversicherungsamtes
Vorbehalten. Von den ermittelten 56572 Verletzungen sind 9997 der Schuld
des Arbeitgebers, 15783 der Schuld des Arbeiters beigemessen, während 27853
Unfälle auf das Konto „unvermeidliche Betriebsgefahr“ gesetzt worden sind. Die
Schuld des Arbeitgebers war mithin in 17,67°/ 0 (1891 in 18,61%) der Unfälle;
bei der Gewerbeunfallversicherung im Jahre 1897 in 16,81% konstatiert. Auf
den Arbeiter entfielen in Land- und Forstwirtschaft 27,90% (1891 24,99%), im
Gewerbe (1897) 29,89 % der Unfälle. Dem Einfluß der Trunkenheit, besser des
Alkohols, wird ein besonderes Kapitel gewidmet und betont, „daß der Einfluß
der Trunkenheit, wie überhaupt des reichlichen Alkoholgenusses auf die Unfall¬
häufigkeit hoch anzuschlagen ist, liegt in der Natur der Einwirkung des Alkohols
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Mitteilungen.
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auf den menschlichen Organismus. Fast mehr noch als der zur Bewußtlosigkeit
gesteigerte Rausch, welcher der Regel nach zur Beseitigung des Trunkenen von
der Arbeitsstätte führt, wird die Nachwirkung des übermäßigen Alkoholgenusses,
ohne daß es zu Erscheinungen offenbarer Trunkenheit gekommen zu sein braucht
auf den Eintritt von Betriebsunfällen hinwirken 41 . Es muß ohne weiteres zu¬
gegeben werden, daß es nicht gerade leicht ist, diese Nachwirkungen durch
Zahlen auszudrücken, und es ist sicherlich anzuerkennen, wenn der Bericht zu
der Auffassung kommt, „daß eine viel größere Anzahl von Betriebsunfällen
durch Trunkenheit und reichlichen Alkoholgenuß ursächlich beeinflußt ist, als die
bezeichnete Aufzählung ergeben hat 44 — es handelte sich hierbei nur um 94 Fälle,
d. i. 0,17% aller Unfälle. Gewiß darf nicht außer acht bleiben, daß der Genuß
und der Mißbrauch geistiger Getränke von den verschiedenen Personen sehr ver¬
schieden beurteilt wird; immerhin steht aber zu hoffen, daß wenigstens die be¬
urteilenden Ärzte, dem allgemeinen Trinksittenkultus weniger Rechnung tragend,
bei den Unfallverletzten immer häufiger die objektiv notwendigen Feststellungen
darüber machen werden, ob der Alkohol mittelbar oder unmittelbar den Unfall
beeinflußt hat. Es liegen bereits eine Anzahl Entscheidungen nach dieser Richtung
seitens des Reichsversicherungsamts vor, und es darf erwartet werden, daß mit
der Zunahme der Kenntnis der Alkoholfrage und dem zunehmenden Interesse,
welches gerade die Ärzte dieser Frage zuzuwenden bestrebt sind, auch dieses
Moment in den Bereich der objektiven Tatsachen wird übergeführt werden können.
Ein großes Zahlenmaterial auf vielen Tabellen und vorzügliche, bunt
schraffierte Karten veranschaulichen die Unfallstatistik der Land- und Forstwirt¬
schaft in allen Einzelheiten aufs beste. Dr. Waldschmidt.
Folgende Verfügung an die Landräte und die Magistrate von Potsdam,
Spandau, Brandenburg, Charlottenburg, Schöneberg und Rixdorf ist soeben er¬
schienen:
Der Regierungspräsident. Potsdam, den 28. Juni 1905.
A. 1488/6.
Die oft erheblichen Kosten, welche den Armenverbänden durch die Ge¬
währung von Unterstützungen an hilfsbedürftig gewordene Trunksüchtige oder
deren Familien erwachsen, könnten in vielen Fällen durch die rechtzeitige
Unterbringung und Heilung des Trinkers in einer Anstalt für Alkoholkranke be¬
trächtlich vermindert, wenn nicht gänzlich erspart werden.
Allerdings ist nach den vorliegenden Erfahrungen das Gelingen der Kur
erst dann wahrscheinlich, wenn
1. der Gewohnheitstrinker längere Zeit hindurch — in der Regel wohl etwa
ein halbes Jahr — in der Heilanstalt verbleibt, wo ihm jedes alkoholische Ge¬
tränk versagt ist und auf die Stärkung seines Willens ein stetiger Einfluß geübt
wird und
2. die Unterbringung des Kranken nicht zu spät, z. B. erst nach der
etwaigen Entmündigung (§ 6 Ziffer 3 des Bürgerlichen Gesetzbuchs) erfolgt, son¬
dern zu einer Zeit, wo die Trunksucht noch mit dem eigenen, durch die Anstalts¬
einrichtungen geförderten Willen des Trinkers wirksam bekämpft werden kann.
Die Aufwendungen, die durch die Unterbringung eines Trunksüchtigen in
eine solche Anstalt den Armenverbänden entstehen, dürften bei erfolgreicher Kur
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Mitteilungen.
wohl zweifellos geringer sein, als die dauernden Unterstützungen, welche
andernfalls dem gänzlich verkommenen und völlig erwerbsunfähig gewordenen
Trinker bezw. dessen Familie auf Grund des Unterstützungswohnsitzgesetzes ge¬
währt werden müssen.
Die von dem Berliner Bezirksverein gegen den Mißbrauch geistiger Ge¬
tränke in der Nähe von Fürstenwalde an der Spree vor fünf Jahren errichtete
Volksheilstätte für Alkoholkranke (Heilstätte „Waldfrieden“) hat seit kurzem im
Interesse einer geregelten Trinkerfürsorge eine Erweiterung erfahren, indem der
offenen Heilstätte Bauten mit geschlossenem Anstaltscharakter angegliedert sind
und die Heüstätte psychiatrischer Leitung unterstellt ist. Dies hat die Provinzial¬
behörde der Provinzen Sachsen und Brandenburg veranlaßt, dieser Anstalt ver¬
tragsmäßig solche Geisteskranke aus den Landesirrenanstalten zu überweisen,
deren Leiden auf alkoholischer Basis entstanden ist und welche Aussicht auf
Besserung bieten.
Die Anstalt hat sich verpflichtet, für solche Kranke ihren Verpflegungssatz
von täglich drei Mark auf zwei Mark herabzusetzen und würde bereit sein, den¬
jenigen Armenverbänden, welche die Kranken durch Vermittelung der Provinzial¬
behörde überweisen lassen, dieselben Vergünstigungen zu gewähren.
Auf Wunsch der Anstalt, deren Leiter zu etwaiger weiterer Auskunft gern
bereit sein wird, mache ich die Herren Landräte mit dem Ersuchen um weitere
Veranlassung betreffend der Gemeinden ihrer Kreise mit dem Bemerken hierauf
aufmerksam, daß es sich in jedem Falle vor Unterbringung eines Trinkers in die
Heilstätte empfehlen wird, ein ärztliches Gutachten darüber einzuziehen, ob auf
einen Erfolg der beabsichtigten Entziehungskur gehofft werden kann.
Unterschrift.
Eine Verfügung gleichen Inhalts ist unterm 28. Juli vom Regierungs¬
präsidenten zu Frankfurt a. Oder an die Landräte und Oberbürgermeister der
Kreise und Städte seines Bezirks erlassen.
Wir können nicht dringend genug die Bedeutung dieser Verfügungen her¬
vorheben, ihre weitere Verbreitung wünschen und den Kreis- und Gemeinde-
Vorständen die Beachtung derselben in ihrem eigenen Interesse ans Herz legen.
Der Branntwein im dänischen Heere. Bei meinen Untersuchungen über die
ältere Schleswig-holsteinische Mäßigkeitsbewegung zeigte sich die Tatsache, daß
die Mäßigkeitsvereine der vierziger Jahre auf das Heereswesen einzuwirken sich
bemüht haben (vergl. den Abschnitt 13 meiner Geschichte der älteren schlesw.-
holst. Mäßigkeitsvereine im „Alkoholismus“), aber auch, daß in den Kampfes¬
jahren 1848 ff. sowohl auf dänischer wie auf deutscher Seite gelegentlich tüchtig
Branntwein getrunken wurde. Es legte sich mir nun die Frage nahe, ob nicht
möglicherweise die Mäßigkeitsvereine nach der Niederwerfung der Erhebung
einen Erfolg im Heereswesen gehabt haben könnten, wie z. B. eine Brennsteuer
1850 in Schleswig, 1853 in Holstein eingeführt ward — oder, um eine geschicht¬
liche Parallele zu ziehen, wie die Aufhebung der Branntweinrationen im preußischen
Heere unter König Wilhelm I. 1862 als erfreuliche Spätfrucht der älteren
Mäßigkeitsbewegung zu würdigen ist. Um sicheren Bescheid zu erlangen, wandte
ich mich an das königlich dänische Kriegsministerium zu Kopenhagen (dänisches
ui^l schleswig-holsteinisches Heereswesen ist von 1852—64 im wesentlichen ein-
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Mitteilungen.
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heitlich geordnet — und auch auf rein dänischem Boden arbeiteten Mäßigkeits¬
vereine). Auf meine Anfrage hat die hohe Behörde mir in liebenswürdigster
Weise eine ausführliche, lehrreiche Antwort gegeben, wofür ich auch an dieser
Stelle meinen herzlichen Bank ausspreche. Ich lasse die Auskunft wörtlich
folgen (Hat Hansen hat sie mir übersetzt):
A. 2904. Kriegsministerium. Kopenhagen, den 3. August 1905.
An Herrn Pastor Br. Stubbe.
In Anlaß Ihres Schreibens vom 16. Juli 1905 will ich nicht unterlassen,
Ihnen hierdurch mitzuteilen:
In dem Zeitraum von 1849 bis einschließlich 1903 ist es der Mannschaft
in dem dänischen Heere freigestellt gewesen, inwieweit sie wünschte, den zu
der Naturalportion gehörigen täglichen Branntwein (*/* Paegl) oder statt dessen
die dem Werte entsprechende Geldsumme zu erhalten. Bie Forderung, Brannt¬
wein in natura zu bekommen, hat indes ständig abgenommen von Jahr zu Jahr,
namentlich seit 1880, und von 1891 an ist Branntwein in natura überhaupt nicht
mehr geliefert worden, da die ganze Mannschaft sich des Rechtes bedient hat,
die Vergütung an Stelle desselben zu erhalten.
Im Jahre 1903 ist der Branntwein als Bestandteil der gewöhnlichen Natural¬
portion der Mannschaft in Wegfall gekommen, ohne daß, wie bis dahin, ein Geld*
betrag dafür gewährt wurde. Bie Summe, welche auf diese Weise erspart wurde*
ist der Abteilung mit dem Rechte überlassen, sie, falls dazu ein Anlaß vorliegen
sollte, zu benutzen, um der Mannschaft Kaffee, Warmbier oder andere nicht-
spirituöse Getränke zu verschaffen.
Um der Gelegenheit zum Genüsse starker Getränke entgegenzuwirken, ist
ferner 1903 eine Bestimmung des Inhalts erlassen worden, daß in Kasernen und
ähnlichen Etablissements, in denen Mannschaft einquartiert wird, Spirituosen
irgend welcher Art weder verkauft noch ausgeschenkt werden dürfen. Ebenso
ist es den Marketendern verboten, den Abteilungen ins Feld zu folgen, um der¬
artige Getränke zu verkaufen oder auszuschenken.
Für den Minister: gez. Seedorff.
Es ergibt sich hieraus, daß von 1862—1903 in antialkoholischer Beziehung
das dänische Heer hinter dem preußischen, bezw. deutschen Heere zurückstand,
während von 1903 an das deutsche Heer rückständig ist; denn das Branntwein¬
verbot für Kantinen u. s. w. bildet bei uns immer noch eine Ausnahme.
Stubbe.
In Baden kamen für die Staatskasse im Jahre 1904 2667496,80 Mark
Weinsteuer und 8338277,84 Mark Biersteuer zur Erhebung und rechnet die
Statistik mit 142,8 Pfg. bei Weih und 446,3 Pfg. bei Bier pro Kopf.
Sind das auch recht ansehnliche Zahlen, so bleiben dieselben doch zurück
gegen die wirklichen Verbrauchsziffern beim Wein, die nie genau festgestellt
werden können, da einerseits mancher getrunkene Wein mehrfach versteuert ist,
anderseits der Eigenbau, der im Hause verbraucht und teilweise auch in kleinen
Portionen abgegeben wird, steuerfrei bleibt. M. M.
Nach der Statistik der badischen Steuerdirektion über Biererzeugung im
Großherzogtum im Jahre 1904 haben die Braunbierbrauereien wiederum ab-
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Mitteilungen.
genommen und zwar um 19 (584 auf 565), aber auch die Zahl der Weißbier¬
brauereien sank von 100 auf 98. Die Ursache für die fortgesetzte Abnahme
der Brauereien ist das Aufgehen der kleinen in den großen und es wird so lange
fortschreiten, bis zuletzt nur noch großkapitalistische Brauereien übrigbleiben.
Der Malzverbrauch in der Braunbierbrauerei betrug 658799,05 Doppel¬
zentner, was gegen das Vorjahr eine Minderung von 7894 D.-Z. ergibt, aber die
Biererzeugung war trotzdem eine größere als im Vorjahr. Sie betrug 8078006,98 hl
oder 34169,52 hl mehr. Die Weißbierbrauereien hatten einen Verbrauch an
Malz von 238,31 D.-Z. (+ 47,04), aber eine Mehr-Biererzeugung von 2638,42 hl.
Ihre Produktion betrug dabei im ganzen 3831,27 hl.
Man erkennt also sehr deutlich, daß die Biererzeugung wesentlich zunahm,
obgleich der Malz verbrauch nur wenig stieg, wie ja bei dem Braunbier trotz
Rückgang im Malz verbrauch die Biererzeugung doch um 34169 hl zugenommen
hat. Getrunken wird mithin mehr, nur ist das Bier als minder malzreich wohl
auch minder alkoholhaltig.
Die Steuereinnahmen auf Malz haben sich um 82207 Mk. vermindert, ob¬
gleich mehr Bier gebraut wurde. Die Biersteuer hat sich dagegen im allgemeinen
um 24709 Mk. erhöht und betrug insgesamt 7 567070,85 Mk.
Jedenfalls kann das alkoholarmere Bier als minder schädlich angesehen
werden und scheint den Trinkern doch zu schmecken, aber im ganzen gewährt
die Statistik das Bild des steigenden Biergenusses trotz lebhafter Mäßigkeits¬
bewegung im Lande und trotz verschiedener Einrichtungen und Verordnungen
bei den Eisenbahnbehörden und anderen Amtsstellen. M. M.
Zur Branntwein- und Bierstatistik.
Unsere Hoffnungen, daß die Statistik uns nach jahrelangen Bemühungen
gegen den Alkohol endlich zahlenmäßige Erfolge zeigen werde, sind auch durch
das Statistische Jahrbuch für 1905 nicht erfüllt worden.
Der Branntweinverbrauch ist auch im Jahre 1903/04 nicht zurückgegangen.
Der Branntweinverbrauch im allgemeinen ist in dem Berichtsjahr gestiegen.
Es wurden verbraucht 3 743800 hl oder pro Kopf der Bevölkerung 6,3 1, gegen
3631600 hl im Vorjahre = 6,2 1 pro Kopf.
Die Brenner haben also mehr verkauft, mehr produzieren können, aber
der Trinkbranntwein verbrauch hat das glücklicherweise nicht verschuldet, denn
von diesem wurden gegen 2352900 hl im Vorjahre nur 2351900 hl, also 1000 hl
weniger versteuert Das auf den Kopf entfallende Quantum von 41 reinem
Alkohol in 1902/0.3 ist auch 1903/04 geblieben. Leider ist das aber beim Bier
nicht so gewesen; hier hat der Verbrauch im ganzen Reiche zugenommen. Er
stieg 1908 auf 68826000 hl gegen 67486000 hl im Vorjahre, das wir seinerzeit
als ein Jahr des Rückganges bezeichnen konnten, weil 1901 noch 70995000 hl
Verbrauch aufgewiesen hatte. Auf den Kopf der Bevölkerung entfielen 1903 117 1,
1902 nur 116 1, während 1901 noch 124 1 zu verzeichnen waren.
In den einzelnen Gebieten stellt sich aber das Verhältnis verschieden.
Bayern und Württemberg zeigen einen Minderverbrauch pro Kopf, alle anderen
Steüergebiete Mehrverbrauch, und Elsaß-Lothringen steht dabei obenan, obgleich
es bekanntlich noch nicht so viel Bier verbraucht wie andere deutsche Länder.
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Mitteilungen.
325
Es haben verbraucht:
das Brausteuergebiet
im ganzen: 45375000 hl
(1902: 44192000 hl)
pro Kopf: 98 1
(1902: 97 1)
Bayern
14811000 hl
(1902: 14816000 hl)
232 1
(1902: 235 1)
Baden
im ganzen: 3054000 hl
(1902: 2988000 hl)
pro Kopf: 157 1
(1902: 156 1)
Elsaß-Lothringen
1556000 hl
(1902: 1460000 hl)
88 1
(1902: 83 1)
Württemberg
3772000 hl
(1902: 3810000 hl)
169 1
(1902: 172 1)
das ganze Zoll-
und Steuergebiet
68826000 hl
(1902: 67486000 hl)
117 1
(1902: 116 1)
Bei Bayern ist der Gesamtverbrauch zwar ein wenig höher als im Vorjahr*
aber pro Kopf doch um 3 1 geringer, hingegen ist bei Württemberg nicht nur
der Verbrauch pro Kopf um 8 1 gesunken, sondern auch der Gesamtverbrauch
zurückgegangen.
Ob das an Wirkungen der Mäßigkeits- und Abstinenzbestrebungen bei
Württemberg liegt oder etwa am Mehrverbrauch von Obst- und Beerenwein*
läßt sich nicht gut übersehen, aber die guten Obstjahre sind in Württemberg
stets dem Brauereigewerbe ein Dom im Auge, weil der Most dort National¬
getränk ist und der Obstsegen die Höhe des Mostverbrauchs bestimmt.
Der Gesamtmehrverbrauch steht aber im Reiche fest, und wenn er nur
mäßig war, so ist das doch im Sinne der Alkoholbekämpfung trotzdem bedauer¬
lich. Die Reichslande gewöhnen sich auch mehr und mehr an Bier und der
Zuzug Altdeutscher trägt ebenfalls sein Teil am Mehrverbrauch. Wie lange
noch und Elsaß-Lothringen hat den Reichsdurchschnitt im Bierverbrauch erreichte
Das einzige Erfreuliche bei der Betrachtung dieser Zustände ist, daß er¬
wiesenermaßen das Bier immer weniger alkoholreich gebraut wird, daß der Malz¬
verbrauch im Vergleich zur Bierproduktion zurückgeht, wie wir das an dieser
Stelle schon bezüglich Badens ja zahlenmäßig nachgewiesen haben.
Die Zahl der Brauereien im Brausteuergebiet ist im Jahre 1903 wieder
zurückgegangen von 6581 auf 6404, dagegen stiegen die Zahlen der verwendeten
Braustoffe.
Malz u. 8. w. wurde 1902 745809 t verbraucht, 1908 aber 771169 t. Die
gewonnene Biermenge hatte 1902 42226000 hl betragen, 1903 43364000 hl*
Die Biergewinnung im ganzen Steuergebiet stellte sich wie folgt:
im Brausteuergebiet
in Bayern
in "Württemberg
im ganzen 1903:
43364000 hl
17360000 hl
3752000 hl
1902
42226000 hl
17361000 hl
3792000 hl
pro Kopf 1903
93 1
271 1
168 1
1902
92 1
275 1
172 1
in Elsaß-
im Gesamt¬
in Baden
Lothringen
gebiet
im ganzen 1903:
3045000 hl
1222000 hl
68952000 hl
1902:
2967000 hl
1148000 hl
67699000 hl
pro Kopf 1903:
157 1
69 1
117 1
1902
155 1
66 1
116 1
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326
Mitteilungen.
Ein Vergleich der Biergewinnungszahlen und der Verbrauchszahlen zeigt,
daß sich Einfuhr und Ausfuhr gleich bleiben müssen, nur bei Bayern ergibt sich,
eine wesentlich höhere Ziffer bei der Gewinnung als beim Verbrauch, da Bayern
doch viel Bier ausführt. Bayern produzierte pro Kopf 271 1, verbrauchte aber
pro Kopf nur 232 1.
Daß die Mäßigkeitsbewegungen den Brauern noch nichts geschadet haben,
ist aus den Zahlen deutlich erkennbar, aber trotzdem wird der Zukunft halber
mächtig gegen die Alkoholbekämpfer gearbeitet. Auch sie müssen deshalb ihre
Anstrengungen verdoppeln und verdreifachen. Solange wir den Rückgang der
Biererzeugung und des Bierverbrauchs nicht zahlenmäßig nachweisen können, ißt
doch alle Klage der Brauer und Wirte nur auf die Konkurrenz untereinander
zurückzuführen; Mäßigkeits- und Abstinenzvereine tragen keine Schuld an etwaigem
schlechtem Geschäft der Wirte und Brauer. Im Kampf mit denselben können
unsere Zahlen sprechen." Max May.
Im Großherzogtum Baden ist vom Bezirksverein gegen den Mißbrauch,
geistiger Getränke eine Heilstätte für Alkoholkranke zu Renchen eröffnet und
am 5. Juni in Anwesenheit der Vertreter hoher Behörden feierlich dem Betriebe
übergeben worden. Aus der von Herrn Baurat Dr. Fuchs -Karlsruhe verfaßten
Entstehungsgeschichte ist zu entnehmen, daß anfänglich die badische Regierung
dank dem Interesse des Ministers des Innern gewillt war, eine staatliche Anstalt
zu errichten, daß aber dieser Plan an den derzeitig ungünstigen finanziellen Ver¬
hältnissen vorläufig gescheitert ist. Mit einem Kostenaufwand von rund 80000 Mark
ist zunächst ein Grundstück in der Größe von 168 a 34 qm erstanden (9568 Mark),
ein Gebäude für 35 Betten (zu 62000 Mark) errichtet und die Einrichtung, vor¬
läufig für 12 Kranke und 3 Angestellte (mit 7000 Mark), beschafft. Bei weiterem
Ausbau auf die gedachten 35 Betten berechnet sich das Bett auf 2860 Mark.
Hierzu ist eine Staatsbeihilfe von 20000 Mark gewährt, von verschiedenen Kreis¬
ausschüssen wurden zusammen 2300 Mark gespendet, Gemeinden beteiligten sich
mit 630 Mark, dagegen steuerten die badischen Bezirksvereine gegen den Mi߬
brauch geistiger Getränke zusammen 9303 Mark bei, die Gemeinde Renchen, zu
der die Heilstätte gehört, bewilligte sogar 2600 Mark. Es waren demnach
35000 Mark ohne weiteres gedeckt, von dem Rest übernahm die Versicherungs¬
anstalt Baden 33000 Mark als Darlehn zu 3 3 /4% bei jährlicher Tilgung von 1 °/ 0 .
Fernere Darlehen in Höhe von 2500 Mark sind von privater Seite zu 3 l /*°/o ge¬
währt, so daß nur noch eine geringe Summe zu decken bleibt. — Es wird eine
Rentabilitätsrechnung aufgemacht, nach welcher bei einer lObettigen Belegung
und einem Pflegesatz von 2 Mark pro Kopf und Tag ein Zuschuß von 4000 Mark
vorgesehen ist, wovon das Großherzogliche Ministerium des Innern sich ver¬
pflichtet hat, 3000 Mark zu leisten. Eine derartige Anteilnahme sollte auch in
andern Staaten Nachahmung finden! — Der Heilstätte selbst,' um die sich unser
verehrter Mitarbeiter, Herr Baurat Dr. Fuchs, viel Mühe gegeben hat, wünschen
wir die besten Erfolge!
Von der auf dem Gebiete der Jugendfürsorge weit bekannten Frau Hanna
Bieber-Böhm ist jüngsthin ein alkoholfreies Erholungsheim für Junge Mädchen
auf dem Priorsberg bei Neuzelle in der Mark eingerichtet worden. Es wird in
erster Linie auf blutarme, schwächliche oder etwas nervöse junge Mädchen, die
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Mitteilungen.
327
sieh in der Ruhe des Landlebens bei leichter Haus- und Gartenarbeit erholen
wollen, gerechnet; der Pensionspreis ist nur l 1 /*—2 Mark. Mit diesem Erholungs¬
heim ist eine Haushaltungsschule verbunden, welche folgende Lehrgegen¬
stände auf weist: Kochen, Wäschebehandlung, Nähen, Schneidern, Gesundheits¬
lehre, Erziehungslehre, Hühnerzucht, Obst- und Gartenbau.
Das Stift Isenwald versendet letzthin einen Bericht über die Betriebsjahre
1903/04 und 1904/05, aus welchem ersichtlich ist, daß es seit der Eröffnung,
d. i. vom 1. November 1901 bis zum 1. April 1905 von zusammen 142 Personen
aufgesucht wurde. Zur Entlassung kamen in diesem Zeitraum 124, wovon indes 12
wiederholt aufgenommen waren; von diesen 112 Entlassenen sind 15 in Abzug
wegen Tod, Überführung in Irrenanstalten u. s. w. zu bringen, es kommen dem¬
nach 99 Personen in Betracht, bei denen folgendes Resultat erzielt wurde:
35 total Abstinente, 23 Rückfällige und 41 ohne bestimmte Nachricht, von diesen
wird noch l /s als „aussichtsvoll u bezeichnet. Während die Anstalt im Jahre
1903/04 (bei 35 Betten) durchschnittlich von 23 Pfleglingen besucht war, sind
für 1904/05 22 Betten belegt gewesen; die Aufenthaltsdauer wird 1903/04
auf 193, 1904/05 auf 205 l /§ Tage errechnet — mithin sehr günstig. Es sei noch
hervorgehoben, daß in den ersten 1V» Jahren aus eigenem Antriebe 41 (1903/04 : 25,
1904/05:20) aufgenommen wurden, von Armenbehörden überwiesen (meist ent¬
mündigt) 7 (1903 :1, 1904 : 2), sonstige Entmündigte 13 (1903 : 7, 1904 : 9), von
Behörden überwiesen 5 (1903 :4, 1904 : 4), Krankenkassen 0 (1903 : 2, 1904 :1),
von Landesversicherungsanstalten 1 (1903 : —, 1904 : —); also auch hier wird die
geringe, in den letzten beiden Jahren vollständig versagende Teilnahme der
Landesversicherungsanstalten bekundet. Diese bedauernswerte Tatsache, die sich
auch zum Teil auf die Krankenkassen erstreckt, kann nicht scharf genug betont
werden; sie würde nur dann gerechtfertigt sein, wenn die Anstalten, welche die
Landesversicherungsanstalten selbst für Erwerbsunfähige errichten, ebenso wie
die Trinkerheilstätten gehalten und wie diese den Patienten nutzbar gemacht
würden. Das ist aber nicht so leicht durchführbar, und deshalb muß gefordert
werden, daß die Landesversicherungsanstalten mehr Kranke den Spezialanstalten
für Alkoholkranke zuweisen lassen. Aus den Berichten erhellt die fernere Tat¬
sache, daß Stift Isenwald an Überfüllung auch nie zu klagen gehabt hat, wie¬
wohl es im allgemeinen gut besucht war.
Auf die Sonderausstellung zur Bekämpfung des Alkoholismus in den Räumen
der ständigen Ausstellung für Arbeiterwohlfahrt in Graz machen wir aufmerksam;
sie veranlaßt zu folgender
Bitte!
Der Verein der Abstinenten in Graz wird zur Feier seines fünf¬
jährigen Bestandes im November dieses Jahres eine Sonderausstellung zur Be¬
kämpfung des Alkoholismus in den Räumen der ständigen Ausstellung für Arbeiter¬
wohlfahrt in Graz, Herrengasse Nr. 9, veranstalten. Die Ausstellungsräume liegen
in der belebtesten und vornehmsten Gasse von Graz und sind täglich zur unent¬
geltlichen Besichtigung geöffnet.
Die genannte Sonderausstellung wird nach Tunlichkeit alle wichtigen, auf
die Alkoholfrage bezüglichen Drucksachen, Abbildungen und sonstigen Gegenstände
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Mitteilungen.
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umfassen, sich in den alkoholfreien Getränken jedoch auf die Erzeugnisse Öster¬
reichs beschränken. Es handelt sich vor allem um die Literatur wissenschaft¬
licher, belehrender und unterhaltender Art, einschließlich der einschlägigen Zeit¬
schriften, um statistische Tabellen über den Zusammenhang des Alkoholgenusses
mit Verbrechen, Irrsinn, Verarmung, Sterblichkeit u. 8. w., um bildliche Dar¬
stellungen aller Art, wie Maueranschläge, Wandtafeln, Postkarten, um Darstellung
der alkoholfreien und Reform-Gasthäuser, sowie anderer Maßnahmen zur Be¬
kämpfung der Trinksitten und zur Befreiung vom Trinkzwange. Als solche
kommen namentlich noch Abbildungen von Warte- und Wärmehallen, Schutz¬
hütten u. s. w., sowie Darstellungen von Verkaufswagen für Kaffee, Tee, Suppe
u. dergl. in Betracht
Abstinenz- und Mäßigkeitsbestrebungen sollen in gleicher Art berücksichtigt
werden.
Die Ausstellung hat den Zweck, den Bewohnern von Graz die Wichtigkeit
und Größe des Kampfes gegen den Alkoholismus, sowie die Größe der Alkohol¬
gefahr eindringlich vor Augen zu führen, sie zur tätigen Teilnahme an diesem
Kampfe anzuregen und ihnen den wesentlichen Unterschied zwischen der älteren
Trunksuchtsfrage und der neueren Alkoholfrage zu zeigen.
Wir bitten daher alle Vereine, Körperschaften und einzelne Per¬
sonen, die unser Unternehmen zu fördern vermögen, insbesondere die Heraus¬
geber und Verleger der einschlägigen Zeitschriften, Bücher, Flugschriften und
Flugblätter, uns so viel Material wie möglich zu senden, um dadurch den guten
Zweck sowie auch gleichzeitig das Bekanntwerden ihrer Erzeugnisse zu fördern.
Die Sendungen bitten wir so bald wie möglich an das „botanische In¬
stitut der technischen Hochschule in Graz“ „für die Ausstellung 41
zu schicken. Alle wertvolleren Gegenstände werden, sofern sie nicht als Ge¬
schenke bezeichnet sind, nach Schluß der Ausstellung kostenfrei zurückgeschickt
werden.
Graz, im Juli 1905.
Für den Verein der Abstinenten in Graz:
Professor Friedrich Reinitzer,
derz. Obmann,
Graz, technische Hochschule.
Der 3. deutsche Abstinententag in Dresden hat sich eines ebenso zahl¬
reichen Besuches wie günstigen Verlaufes zu erfreuen gehabt Er war geschickt
und mit einer — freilich nicht mehr ganz zu entbehrenden — recht ausgiebigen
Reklame vorbereitet und in die prächtigen Räume des städtischen Ausstellungs¬
palastes berufen worden. „Hervorragende Redner des In- und Auslandes 44 waren
gewonnen und haben zumeist die auf sie gesetzten Erwartungen erfüllt. Besonders
ist anzuerkennen, daß man (vielleicht in Rücksicht auf das gute Einvernehmen,
das gerade in Dresden zwischen dem großen Bezirksverein gegen den Mißbrauch
geistiger Getränke und den die Enthaltsamkeit vertretenden Vereinigungen besteht,
vielleicht auch um die unliebsamen Erinnerungen an den Bremer Kongreß nicht
wieder wachzurufen) Angriffe auf die Vertreter anderer Richtungen vermied.
Eine Herabsetzung der Verdienste des Deutschen Vereins gegen den Mißbrauch
geistiger Getränke blieb nur dem Geschäftsführer des Zentralverbandes gegen den
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Mitteilungen.
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Alkoholismus Vorbehalten. Dr. Kraut erntete aber für seine diesbezüglichen
Ausführungen nicht den wohl erwünschten „lebhaften Beifall“. Der Vorsitzende
dieses Zentralverbandes, Franziskus Hähnel-Bremen, leitete die Versamm¬
lungen mit Takt und Gewandtheit und wird in ihrem guten Besuche und an¬
regenden Verlaufe den besten Lohn für seine anstrengende Aufgabe gefunden
haben. Daß auch bei den Antialkoholkongressen, Abstinententagen und wie die
Veranstaltungen alle heißen, die Zahl der offiziellen und nichtoffiziellen „Be¬
grüßungen“ öine viel zu große, bezw. die Dauer der „kurzen Begrüßungsworte“
noch immer eine viel zu lange ist, sei besonders bemerkt: Auch wer nicht Alkohol
genießt, ermüdet unter dem ewigen Begrüßen oder Begrüßtwerden. Bei der
zweiten Abendversammlung wurde l j 2 10 Uhr noch immer begrüßt. Den Glanz¬
punkt der vielen Versammlungen bildete der Abend des Bundes abstinenter
Frauen mit seinem ebenso zahlreichen wie ausgezeichneten Zuhörerkreise und
einigen vorzüglichen Ausführungen der Vortragenden Damen, von denen ich Frau
Dr. Hoppe-Moser und Frau Dr. Wegscheider-Ziegler an erster Stelle
nenne. („Die Frauen und die Trinksitten“ und „Die Frau und Mutter als Vor¬
kämpferin im Kampfe gegen den Alkoholismus“.) Etwas wirklich Neues boten die
Mitteilungen der Frau Eliot Vorke aus London über den Verein abstinenter
Krankenpflegerinnen, der versucht, durch eigenes Beispiel, Beratung und
Aufklärung der Familien, in denen seine Mitglieder Krankenpflege ausüben,
segensreich gegen den Alkoholmißbrauch zu wirken. Die erste Vorsitzende des
Bundes deutscher Frauenvereine, Frau Marie Stritt, beglückwünschte den ab¬
stinenten Frauenbund und namentlich seine Leiterin, Frl. Ottilie Hoffmann-
Bremen, auf das herzlichste. Mit frischen und liebenswürdigen Worten wußte
die letztere den Rednerinnen den Dank der Zuhörer und ernste Mahnungen zur
Mitarbeit zu übermitteln.
Der Ehrenvorsitzende der Tagung, Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Böhmert-
Dresden hatte den ersten Vortrag für die Hauptversammlung des zweiten Abends
über Die Reform der Geselligkeit übernommen. Arbeit und Geselligkeit
hängen auf das engste zusammen, beide sind gleich notwendig zu gedeihlichem
Leben. Aber die Erholungen sind in vielen Volkskreisen und in ganzen Gegenden
infolge der Verbindung mit dem Trünke nicht im stände, wirklich Erneuerung der
Körper- und Geisteskräfte zu schaffen. So müsse die Reform der Geselligkeit
vor allem eine Reform der Trinksitten sein. Als praktische Mittel, eine solche
zu pflegen, kommen u. a. Erholungsstätten der verschiedensten Art ohne Trink-
und Verzehrzwang in Betracht, ausgiebige Wanderungen in die freie Natur,
Stätten und Unternehmungen zur Förderung geistiger Bildung und Veredelung
der Sitten. Von weiteren Vorträgen möge der von Franziskus Hähnel über
Die Aufgabe der Presse im Kampf gegen den Alkoholismus hervor¬
gehoben sein. In der am Nachmittag des zweiten Tages anberaumten Versamm¬
lung wurden interessante Ansprachen von Dr. med. Strecker-Berlin über die
Trunksucht vor dem Strafrichter und von dem bekannten vielgeschmähten
„Brauereifreunde“ Landrichter Popert-Hamburg über Alkohol und Straf¬
gesetz geboten. Während ersterer vom ärztlichen Standpunkt aus die weit¬
gehende Beeinflussung des Geistes- und Seelenlebens durch den Trunk beleuchtete,
forderte Popert folgende gesetzliche Bestimmungen:
„Ausschluß der Trunkenheit als mildernden Umstandes, auch für das bürger¬
liche Strafrecht, nach Analogie des § 49 Absatz 2 des Militärstrafgesetzbuches.
Per AlkoholismuB. 1905. 22
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Mitteilungen.
2) Ein Trunkenheitsgesetz auf der Grundlage, daß zwar nicht die Trunkenheit als
solche unter Strafe gestellt wird, wohl aber die Trunkenheit, deren Folge als Ver¬
brechen oder Vergehen in die Erscheinung tritt Es wäre dem Strafgesetzbuch
als letzter Paragraph (§ 871) der folgende anzuhängen: „Wer ein Verbrechen
oder ein Vergehen begeht, wird, wenn er die Tat im Zustande der Trunkenheit
oder Angetrunkenheit ausgeführt hat, wegen dieses Zustandes als solchen mit
Haft bis zu 6 Wochen bestraft. Ist die Tat ein Verbrechen, so ist außerdem
auszusprechen, daß der Verurteilte nach verbüßter Strafe der Landespolizeibehörde
zu überweisen sei. Die Überweisung ist auch dann auszusprechen, wenn die Ver¬
urteilung wegen des bezeichneten Zustandes erfolgt, nachdem der Schuldige inner¬
halb der letzten drei Jahre deswegen bereits zweimal rechtskräftig verurteilt
worden ist. Die Überweisung kann auch in jedem Falle ausgesprochen werden,
wo überhaupt schon eine rechtskräftige Verurteilung des Schuldigen wegen des
bezeichneten Zustandes vorhergegangen ist. Die Verurteilung wegen der Trunken¬
heit oder der Angetrunkenheit tritt auch dann ein, wenn eben des Vorliegens
dieses Zustandes wegen der Schuldige für das Verbrechen oder Vergehen wegen
§ 51 des Strafgesetzbuches nicht bestraft werden kann. Auch findet die Ver¬
urteilung wegen der Trunkenheit oder der Angetrunkenheit sowohl dann statt,
wenn dem Schuldigen wegen dieses Zustandes für das Verbrechen oder das Ver¬
gehen mildernde Umstände zugebilligt werden können, als auch, wenn dies nicht
der Fall ist 44 .
Zwischen diesen Hauptversammlungen fanden die Beratungen des Deutschen
Vereins abstinenter Lehrer, abstinenter Studenten, Kaufleute, Eisenbahner, des
Zentralausschusses u. s. w. statt.
Eine namentlich mit Literatur reichlich ausgestattete, durch geschmackvolle
Arrangements von alkoholfreie Getränke ausstellenden Firmen geschmückte Aus¬
stellung verriet den Besuchern auch äußerlich schon, wie die Bewegung gegen
den Alkoholismus in beständigem Vorwärtsschreiten ist und die Industrie große
Anstrengungen macht, das ersehnte Getränk der Zukunft zu entdecken.
Dr. Flade.
Der X. internationale Kongreß gegen den Alkoholismus in Budapest Nach den
stürmischen Tagen in Bremen, die noch in lebhafter Erinnerung der Teilnehmer
geblieben, hatte man in beteiligten Kreisen mit Spannung der Tagung des X. inter¬
nationalen Kongresses in Budapest entgegengesehen, und so wird es nicht ohne
Interesse sein, etwas Ausführlicheres über den dortigen Verlauf zu hören. Es
war immerhin ein kühner Gedanke, der dem Schoße der Abstinenz entsprungen,
die ja überhaupt den internationalen Kongressen die Direktive zu geben sich be¬
rechtigt fühlt, Ungarns Hauptstadt für diese Tagung zu wählen, um einer Bevöl¬
kerung die Enthaltsamkeitslehre zu verkünden, welche nichts weniger als abstinent
bekannt oder dafür gehalten wird. Mitten im Weinlande sollte man erfahren,
daß der Wein nicht des Menschen Herz erfreut, sondern an Stelle dieser ihfti
„irrtümlich zugeschobenen u Eigenschaften das Gemüts- und Empfindungsleben ver¬
giftet. Vor der Eröffnung des Kongresses fand auch diesmal eine Frauenversamm¬
lung statt, in der die bekanntesten Größen der Enthaltsamkeitslehre zu Worte
kamen, die alle eindringlich in den verschiedensten Mundarten die Forderung
der Enthaltung von geistigen Getränken für die Frau, für die Kinder, für die
Familie forderten.
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Der Kongreß selbst, welcher diesmal nicht von einer solch stattlichen An¬
zahl von ausländischen Regierungen begrüßt wurde, wie dies z. B. in Bremen
der Fall war, — Deutschland hatte sich nicht vertreten lassen, dagegen hatte
die Reichsregierung in einem Dankschreiben für die Einladung den Standpunkt
des Deutschen Vereins gegen den Mißbrauch geistiger Getränke als den ihrigen
gekennzeichnet — wurde nach den übligen Begrüßungsreden durch einen hervor¬
ragenden Vortrag von Hofrat Dr. Gruber, Professor der Hygiene in München,
eröffnet. Redner hatte sich das Thema „die Hygiene des Ich u gestellt, in
dem er in meisterhafter Weise die Größe des Ich in seiner idealen, uneigen¬
nützigen Gestalt darlegte, das Genußleben in seiner niederen, egoistischen Art
nach Gebühr geißelte, zur Selbstzucht mahnte und durch Einsprengung lebendiger,
packender Bilder aus dem Alltagsleben den Stoff zu illustrieren wußte. Der auf
breiter Grundlage aufgebaute Vortrag, welcher sich des lebhaftesten Beifalls und
Dankes der Zuhörerschaft mit Recht erfreute, erörterte nach Darlegung der ein-
schläglichen Hirnverhältnisse die Tätigkeit des gesamten Zentralnervensystems,
betonte die Wichtigkeit der Reinheit der Empfindungen, die Reinheit der sich
daraus ergebenden Genüsse, die Wichtigkeit der Vermeidung alles dessen, was
die Empfänglichkeit für alles Gute und Edle herabmindem, das Seelenleben un¬
günstig beeinflussen könne. Es unterliegt nun keinem Zweifel, daß dies in
wesentlichem Maße der Alkoholmißbrauch zu tun geeignet, derselbe somit nach
Möglichkeit zu bekämpfen ist. Wie hier die Beeinflussung des Alkohols auf das
Gemüts- und Seelenleben, auf die Größe des Menschen dargetan wurde, so be¬
leuchteten Prof. Laitinen - Helsingfors und Prof. Weygandt-W ürzburg den „Ein¬
fluß auf die Widerstandsfähigkeit des menschlichen und tierischen
Organismus mit besonderer Berücksichtigung der Vererbung 11 . Lai¬
tinen kam hierbei auf die von ihm im Hallenser Hygienischen Institut gemachten
Untersuchungen zurück, die wiederholentlich erörtert und bekanntlich darauf
hinauslaufen, daß die Widerstandskraft gegen Infektionsträger durch Alkohol herab¬
gesetzt wird. Bezüglich der, Vererbung führte Referent die Tatsache näher aus,
daß sowohl die Trunksucht als solche ererbt werden kann, als auch Geisteskrank¬
heit, Idiotie und Geistesschwäche häufig auf Alkoholismus der Ascendenten nach¬
weisbar zurückzuführen ist. — Weygandt betrachtete die Wirkung des Alkohols
auf das Zentralnervensystem in seinem Korreferat vom psychologischen und
psychiatrischen Standpunkte aus. Er besprach die Einwirkung kleinster Mengen
Alkohols in Bezug auf das Denkvermögen, auf Gedächtnis und Willen, sowie auf
die Gemütsstimmung überhaupt unter besonderer Berücksichtigung der Nach¬
wirkungen und würdigte die einzelnen Formen akuter wie chronischer Alkohol¬
vergiftung, den pathologischen Rausch, das Delirium tremens, die Alkoholhallucinose
wie die alkoholischen Schwächezustände in eingehender Erörterung, um schlie߬
lich seinen Standpunkt hinsichtlich der Vererbbarkeit geistiger Eigenschaften zu
kennzeichnen.
Dr. Liebermann, Professor der Hygiene an der Universität Budapest,
sprach alsdann über „die Bedeutung des Kunstweines im Vergleich
mit dem gewöhnlichen Alkoholgenuß“, indem er sich über den „Kunst¬
wein“ dahin ausließ, daß es sich dabei weniger um Kunstprodukte mittels Zu¬
sammensetzung rein chemischer Präparate als um Verwendung von Rückständen
und Abfällen aus der Weinbereitung handele unter Zusatz von Wasser, Alkohol,
Weinsäure u. s. w. Da die Grenzen der rationellen Kellerbehandlung und der
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Mitteilungen.
Fälschung sehr verwischt seien, gebe es überhaupt keine einheitliche Definition,
die in den einzelnen Staaten, je nach den wirtschaftlichen Verhältnissen sehr
verschieden ausfalle. Redner betonte, daß vom hygienischen Standpunkte der
Kunstwein sich vom Naturwein nicht unterscheide und in dem Kampf gegen den
Alkoholismus dieselbe Rolle spiele.
Prof. Dr. Kassowitz-Wien hielt daraufhin einen Vortrag über das von
ihm schon häufig behandelte und ebenso häufig von anderer Seite kritisierte
Thema: „Kann ein Gift die Stelle einer Nahrung vertreten?“ Vor¬
tragender kam auch hier wieder auf die Verbrennungstheorie zurück, suchte
nachzuweisen, daß der Alkohol nicht nur nutzlos im Körper verbrenne, sondern
auch als narkotisches Gift die Funktionen des Körpers schädige. An dieser Stelle
auf die einzelnen Behauptungen näher einzugehen, welche bereits zu langen Aus¬
einandersetzungen nicht in, aber vor Budapest durch Hüppe u. a. geführt haben,
ist zwecklos, zumal der Titel selbst schon paradox erscheint.
Interessanter und von größerer wissenschaftlichen Bedeutung muß der nach¬
folgende Vortrag von Prof. Forel-Chigny über „Alkohol und Geschlechts¬
leben“ gelten. Unter Bezugnahme auf sein letzthin erschienenes Werk „Die
sexuelle Frage“ erörtert Vortragender zunächst die Vorgänge der Konjugation
und zeigt an Hand von seinem Buche entnommenen bildlichen Darstellungen die
Verbindung der Keimzellen als Träger der Vererbung. Je besser gestaltet diese
Keimzellen, desto vollendeter das daraus entstehende Individuum; die künstliche
Verderbnis derselben, Blastophtorie genannt, werde in besonderem Maße durch
den Alkohol herbeigeführt. Die Alkoholisierung des Individuums bedeutet da¬
nach die Alkoholisierung der Rasse, welche Minderwertigkeit des Individuums
und Entartung der Rasse zur Folge habe. Unsere heutige Kultur habe bedauer¬
licherweise eine ungünstige Zuchtwahl zu stände gebracht, durch sie werden die
besten Keime häufig steril, die schlechtesten aber vervielfältigten sich leider nur
zu sehr; wenn sich trotzdem unsere heutigen Kulturmenschen für besser dünkten
als ihre Vorfahren, so sei dies der Anhäufung von Geistesprodukten jener zuzu¬
schreiben. Schließlich erhebt Redner einen Mahnruf an die Völker Europas,
enthaltsam zu werden, um nicht den nüchternen Mongolen schließlich zum
Opfer zu fallen.
Prof. Bleuler-Zürich sprach sich in seinem Vortrage über „die Behand¬
lung der Alkoholverbrechen“ dahin aus, daß die bisherige Bestrafung von
Alkohol verbrechen unrationell sei. Theoretisch ist im Sinne der heutigen Rechts¬
anschauung jedes im Rausch begangene Verbrechen als fahrlässig zu betrachten,
da ja jeder Trinker weiß, daß er sich der Gefahr, ein Verbrechen zu begehen,
hingibt; ein Berauschter ist wie ein Geisteskranker unzurechnungsfähig. Die
Fahrlässigkeit erhöht sich mit der Wiederholung des Rauschzustandes. Ver¬
brechen chronischer Alkoholisten sind solchen von Geisteskranken gleichzuhalten,
„da man bei unsern Trinksitten ganz ohne Schuld zum Alkoholiker werden kann“,
wie Bleuler meint. Akute wie chronische Alkoholisten sind zwangsweise in
Heilstätten zu überweisen; stellt sich Unheilbarkeit heraus, so ist der Kranke in
besondere Anstalten für Unheilbare zu verbringen. Man soll aber neben der
Überweisung in Trinkeranstalten nicht noch Gefängnisstrafen auf erlegen; es soll
die erstere an Stelle der letzteren treten. Unzureichend ist das Strafgesetz
gegenüber den Personen, welche andere verleiten, so viel zu trinken, daß sie zu
Grunde gehen; jeder Wirt habe schließlich die Erlaubnis, seine Kunden um Ver-
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mögen, Gesundheit und Leben zu bringen. Die Alkoholverbrechen wurden mit
einem Schlage beseitigt, wenn man den Alkohol als Genußmittel abschaffe — da
man auch hier den Alkohol mit allen alkoholhaltigen Getränken identifiziert,
würde man allerdings lange warten können, bis es besser wird, wenn man bis da¬
hin bei der Behandlung von Alkoholverbrechen den Nachdruck auf das Verbrechen,
nicht auf den Alkohol legen wollte.
Dr. Vambery-Budapest schließt sich als Korreferent im allgemeinen diesen
Ausführungen an, indem er die Strafbarkeit, sich in Trunkenheit zu versetzen,
betont und nach dem Grade der Trunkenheit und der dadurch entstandenen Zu¬
rechnungsfähigkeit die Art und Höhe der Strafe bemessen will, indem er die
Trunkenheit allgemein als Grund zur Straferhöhung ansieht mit Ausnahme der
Fälle, in denen Täter nicht schuld an seiner Trunkenheit gewesen ist.
Pastor Müller-Groppendorf geißelt in seinem Vortrage über „den ver¬
derblichen Einfluss des Spiritushandels auf die Eingeborenen
Afrikas 11 die Alkoholdurchseuchung in den Kolonien und beweist durch seine
interessanten Ausführungen, wie ganze Völker dadurch entnervt, entsittlicht
werden. Er richtet in erster Linie seinen Appell an die Regierungen, welche
die Gefahren nicht zu erkennen schienen oder nicht genügend würdigen, diese
vielleicht auch nicht sehen wollten, weil durch Zolleinnahmen ihre Einkünfte
erhebliche seien; seitens aller Menschenfreunde müsse aber auf Erhöhung der
Einfuhrzölle gedrungen, auf Festsetzung der in der Brüsseler Generalakte vor¬
gesehenen Prohibitionszone und auf tarifmäßige Erschwerung des Spirituosen¬
transportes gedrungen werden.
„Erziehung und Schule im Kampfe gegen den Alkoholismus 41
wurde von Eliot Torke-Southampton, Franziskus Hähnel-Bremen, Schul¬
inspektor Otvös-Szolnok und Dr. med. Fischer-Pozsony, sowie vonDr. Laczo
behandelt Wenn man sich auf irgend einem Gebiete in der Antialkoholbewegung
klar und einig ist, so ist es hier, wo es sich um das Wohl und Wehe der heran-
wachsenden Jugend handelt; man ist allüberall zu der Überzeugung durchgedrungen,
daß dem Kinde jeder Genuß von geistigen Getränken zu versagen ist. Darin
gehen freilich die Ansichten noch auseinander, wie die nötige Einsicht den Eltern,
wie den Lehrern, wie die Erkenntnis den Schülern selbst beizubringen ist
Während die einen der Schülervereinstätigkeit das Wort reden, wollen die anderen
besonderen Unterricht in den Schulen durch Ärzte, die dritten verlangen eine
abstinente Lehrerschaft, Kurse für Seminaristen wie für Hörer der Hochschulen
— die hohe Bedeutung dieser Frage zur Erziehung eines nüchternen, kräftigen
Geschlechts wird von keiner vorurteilsfreien Seite mehr bestritten, die Jugend
hierfür zu gewinnen, sie in richtiger Weise über die Schädlichkeit der alkoholi¬
schen Getränke aufzuklären, gehört unstreitig zu den wichtigsten und auch erfolg¬
reichsten Arbeiten auf dem Felde der Antialkoholbewegung.
Dr. Sophie Dazinska-Golinska (Krakau), Prof. Klemp und Frh. von
Malcomes-Budapest hatten es übernommen, über „die technische Ver¬
wertung des Spiritus als Kampfesmittel gegen den Alkoholismus 44
zu referieren. Es werden verschiedene Betriebe, wie Essigfabrikation, Kunst¬
farben- und andere Industrien, natürlich auch die Beleuchtungsbranche namhaft
gemacht, auf den hoben Heizwert des Alkohols hingewiesen und seine Verwendung
zu Kraftzwecken empfohlen.
Der letzte Kongreßmorgen galt der „Reform des Schankstätten-
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wesens u , referiert von Dr. Eggers-Bremen, Dr. Helenius-Helsingfors und
Dr. Legrain-Paris. Während der erstere Redner dem Gothenburger System
das Wort redet und es den entscheidenden Schlag gegen das Alkoholkapital
nennt, teilt Helenius in längeren Ausführungen die Notwendigkeit einer Er¬
weiterung dieses Versuches durch Einführung von Monopol-Aktiengesellschaften
mit, welche mit einem Verbotsrecht der Gemeinden betreffend den Kleinhandel
und Ausschank von Branntwein, Bier und Wein — einem Programme Prof.
Atwaters für die Alkoholgesetzgebung in Amerika gemäß — durch ein Gesetz
in Norwegen und Finnland angestrebt werde. Dr. Legrain widersprach dem
Gothenburger System nachdrücklichst von seinem Standpunkte als Guttempler,
er sieht nur darin allein den Fortschritt, daß man den Alkohol aus den Schank¬
stätten ausmerzt. Er ermutigt die Abstinenten zur Boykottsge gegenüber dem
Wirtshausgewerbe; das „mäßige“ Wirtshaus — und damit wendet sich Redner
gegen die Reformwirtshäuser — sei ein Betrug, der nur dadurch gehoben werden
könne, daß der Wirt seine Kundschaft von dem Genuß alkoholhaltiger Getränke
zurückhalte und es verstehe, einen gastfreundlichen, gesellschaftlichen Mittelpunkt
zu schaffen, selbst angenehm, liebenswürdig, sittlich, erziehend wirkend. (Der
Budiker als Idealmensch!)
Den letzten Vortrag über „die Organisation der Antialkohol¬
bewegung“ benutzten die Redner Dr. Wlassak-Wien, Prof. Dr. von Maday-
Budapest und Dr. St ein-Budapest zu Ausfällen gegenüber den Mäßigkeitsparteien,
indem sie weniger von Vereinsorganisationen als davon sprachen, daß der Sieg
nur der Enthaltsamkeit gelte und die Mäßigkeit keine Berechtigung habe. Wenn
einer dieser Redner betonte, daß der Sieg der Demokratie die Abstinenzbestre¬
bungen ihrem Ziele näher bringe, dem Antialkoholismus das geheime wie allge¬
meine Wahlrecht sowie das Frauenstimmrecht vorteilhaft sei, so paßte dies für
die derzeitige politische Bewegung in Budapest recht gut. Wenn man aber meint,
mit der Alkoholfrage politische Bewegungen verquicken zu sollen, so kann dem
nicht ohne weiteres zugestimmt werden, und doch hat auch dieser Kongreß eine
unverkennbare Klangfarbe mit einem starken Stich ins Rote gehabt. Wir möchten
ihn nach mancher Richtung ebenbürtig dem Wiener Kongreß erachten und zwar
sowohl nach der sozialen als radikal-abstinenten Richtung; von den Bremer Ver¬
handlungen vom Jahre 1908 war er insofern verschieden, als die sogenannten
„Mäßigen“ weniger den Angriffspunkt bildeten, weil sie in Budapest vollständig
in den Hintergrund traten, die Abstinenz das Szepter führte und das Ziel eines
„internationalen Kongresses der Abstinenten“ nunmehr erreicht zu sein
scheint. Wenn dies nicht offen ausgesprochen wird, so geschieht dies aus rein
taktischen Gründen, aus den gleichen, aus denen die verschiedenen „Zentralverbände
gegen den Alkoholismus“ ins Leben gerufen worden sind — eine Taktik, die indes nur
vorübergehender Wirkung sein kann, da das breitere Publikum bald merken wird,
worum es sich bei diesen Zentralverbänden handelt: daß Abstinenz hier des Pudels
Kern ist. Ein Fortschritt nach der radikalen Richtung bewies nebenbei das alko¬
holfreie Abendessen, welches die Stadt Budapest den Gästen spendete — wohl
das erste dieser Art, was sie je gegeben hat; außer Limonade und Mineralwasser
wurden keine Getränke verabreicht. Es konnte fast scheinen, als ob Ungarns
reiche Mineralwasserquellen hätten in Erinnerung gebracht werden sollen, indes
haben wir keine Veranlassung, diesen Gedanken zu unterschieben, da der Grund
in der Tatsache zu suchen ist, daß Abstinenz Trumpf war. Die Gegenströmung
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kann und wird nicht fehlen; ja in Budapest sind die ersten Anbahnungen zu
einem „internationalen Verbände gegen den Mißbrauch geistiger
Getränke“ bereits gemacht. Vertreter von Deutschland, Frankreich, Holland,
Österreich, Ungarn, Rußland, Schweden und der Schweiz haben sich vereinigt,
andere werden folgen, um den radikalen Abstinenzbestrebungen gegenüber einen
breiteren, für die gesamte Bevölkerung gangbareren Boden der Steuerung des
Mißbrauchs geistiger Getränke zu schaffen — ein offizielles internationales
Alkoholarbeitsamt möge das Werk krönen.
Von den übrigen Veranstaltungen, welche während der Kongreßtage in
Budapest als Versammlungen der Abstinenzorganisationen Ungarns, Versammlung
des Bundes katholischer Vereine u. s. w. statthatten, sei pur die Sitzung des
Psychiatrischen Vereins erwähnt, welcher Themata, die zu den Kongreßbestre¬
bungen gehörten, vorgesehen hatte. Es sprach Dr. Delbrück-Bremen
über „Abstinenz in den Irrenanstalten“, indem er zahlenmäßig infolge
einer entsprechenden Rundfrage nach wies, wie viel Irrenanstalten heute ab¬
stinent gehalten werden (es ist natürlich die große Minderheit); er verlangte
die Ein- und Durchführung der Abstinenz in allen Irrenanstalten, wodurch es
möglich werde, die Trinkerheilstätten überflüssig zu erklären. Dr. Waldschmidt-
Charlottenburg stellte sich dagegen bei der Behandlung des Themas „Stand der
Trinkerfürsorge in Deutschland“ auf den Standpunkt, neben den vorhan¬
denen offenen Heilstätten geschlossene Anstalten für Alkoholkranke zu schaffen,
wozu der Staat alle Veranlassung habe, damit das, was in einem anzustrebenden
Trinkerfürsorgegesetz analog dem Irrengesetz gefordert werde, auch durchgeführt
werden könne, nämlich die zwangsweise Unterbringung von Alkoholisten ohne
vorherige Entmündigung. Dr. Bezzola-Ermatingen teilte in seinem Referat
über die „Therapie des Alkoholismus“ mit, was in allen Trinkerheilstätten
als Norm unserer heutigen Erkenntnis auf diesem Gebiete gilt. Frau Dr. Legrain-
Paris sprach weiter über „die Behandlung der Trinker“, während Dr. Julius -
burger „die Einsichtslosigkeit der Trinker“ behandelte, die verschiede¬
nen Schwächegrade der Alkoholisten besprach — ein Kapitel, welches nur zu
gut in den Trinkerheilstätten bekannt ist. — Die Referate waren durchaus wissen¬
schaftlichen Charakters, sie waren einem weiteren Kreise zugänglich gemacht,
was um so erstaunlicher schien, als es sich um eine geschlossene medizinische
Gesellschaft handelte; dies tat dem guten Verlauf indes keinerlei Abbruch.
Nachdem nun in den beiden Hauptstädten Österreich-Ungarns je ein inter¬
nationaler Kongreß gegen den Alkoholismus stattgefunden hat, wird man abwarten
müssen, welchen Nutzen die Bevölkerung von diesen Bestrebungen haben wird.
Es wird sicherlich eine Gruppe von Führern sich zusammenschließen, die durch
diese Verhandlungen angeregt, in weiteren Kreisen Stimmung für die Antialkohol¬
bewegung machen werden. Nach dieser allgemeinen Kongreßtätigkeit wird es
auf die Einzelarbeit ankommen und lediglich von ihr das endgültige Resultat ab-
hängen; auch dort wird nur ein ständiges „Tropfen“ den Stein aushöhlen lassen,
um die Antialkoholbestrebung zu einer Volksbewegung werden zu lassen, wie sie
in Skandinavien vorhanden scheint. Hiervon sich an Ort und Stelle zu über¬
zeugen, dazu wird der nächste Kongreß, welcher 1907 in Stockholm statthaben
soll, Gelegenheit genug bieten. Indes nicht die Kongreßstimmung gibt Zeugnis
von dem ab, was effektiv vorhanden; dies zu ermitteln gelingt nur durch ein
besonderes Studium in aller Stille, nicht die Beobachtung unter abstinentem
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Gesichtswinkel, sondern in vorurteilsfreier Nüchternheit unter Berücksichtigung
aller einschlägigen Verhältnisse. Es wird in Schweden gezeigt werden können,
t?as Volksstimnmng ist, nicht aber, was ein kleines Heer, welches der Heilsarmee
gleich von Land zu Land zieht, um seine Lehren zu verkünden, anstrebt. Das
Sektenhafte darf m. E. einer Antialkoholbewegung nicht anhaften, wenn sie wirk¬
lich zur Volkssitte und -Gewohnheit werden soll; es muß die Überhöhung des
einzelnen, der sich als Held der Duldsamkeit — nebenbei leider nur allzu oft um
seine Unduldsamkeit zu beweisen — gegen seine Mitmenschen preist, in den
Hintergrund treten, wenn die Bestrebungen Allgemeingut der menschlichen Gesell¬
schaft werden sollen.
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Der Alkoholismus
Zeitschrift zur wissenschaftlichen Erörterung der Aikoholfrage
1905 Neue Folge — Band II No. 6
L Originalabhandlu ligen.
Aus der älteren Mäbigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein.
Von
Pastor Dr. Stubbe.
11. NationalSkonomisches.
Die wirtschaftliche Bedeutung des Kampfes gegen den Brannt¬
wein wurde gleich 1837 in der ältesten uns bekannten Mäßigkeits¬
schrift des Landes betont (Heinrich Göttig, Enthaltsamkeitsvereine
sind auch unserem Vaterlande notwendig, weil sie das einzig wirk¬
same Mittel gegen die Trunksucht sind. Zunächst dem Adel-
byer Armenkollegium gewidmet). Als man in Wesselburen
einen Aufruf zur Gründung eines Mäßigkeitsvereins (Dithm. Ztg.,
1843, Nr. 51) erließ, forderte man in Anlaß der Reform des dortigen
Armenwesens die neuen Armenvorsteher auf, körperschaftlich in den
Verein einzutreten. So sicher war man sich der ökonomischen
Vorteile, welche die Vereine brachten. Trotzdem kamen gerade von
nationalökonomischer Seite ernste Bedenken.
Ihr Wortführer war Professor Hegewisch (unter dem Schrift¬
stellernamen Franz Baltisch). Oktober 1841 schrieb er für die
„Minerva“ (veröff. Jan. 1842): „Christliche Philanthropie. Nicht
Mäßigkeitsvereine, sondern Vereine zu Belohnungsanstalten für die
Besseren unter den Armen“, setzte unter der Losung „Abusus non
tollit usum“ sich 1842 im (Kieler) „Correspondenz-Blatt“ (Nr. 19 f.)
mit dem Grafen von Holstein auseinander und 1843 im Kieler
Wochenblatt (Nr. 37 ff.) in einer Abhandlung „Wein-Branntwein-
Arm ut“ mit den Leuten, die in Kiel einen Mäßigkeitsverein gründen
wollten, vor allem mit Dr. Valentinen
In der „Minerva“ (vgl. Correspondenz-Blatt, 1842, Nr. 11)
lauten die entscheidenden Sätze:
„Ist es richtig, ist es würdig, daß Geistliche und Beamte ihren Einfluß ge¬
brauchen, um die sog. Mäßigkeitsvereine zu stiften, zu fördern? Ich zweifle.
Mäßigkeit oder Unmäßigkeit ist ein Akt, der zunächst im inneren Menschen vor¬
geht. Die heutigen Vereine sind nicht sowohl Mäßigkeitsvereine als Antibrannt¬
weinsvereine.
Der Alkoholismus. 1905.
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338
Pastor Dr. Stubbe.
Man verwechselt das Objekt mit dem Vorgänge im innem Menschen. Das
Kind schlägt den Stein, woran es sich gestoßen. Es ist aber nicht möglich, alle
Steine aus dem Wege zu räumen, sondern besser, Auge und Kuß zu üben, daß
man nicht falle.“
„Der Kreuzzug gegen den Branntwein ist eine neue Ausström¬
ung der Philanthropie, von der in Deutschland eine große Summe
vorhanden ist, und die das Bedürfnis hat, von Zeit zu Zeit ihre
Vorliebe für besondere Gegenstände laut werden zu lassen. Schade
nur, wenn eine Menge guter Kräfte verschleudert wird auf irrigen
Wegen.“
Statt Mäßigkeitsvereine schlägt der Verfasser unter der Voraussetzung, daß
die Unterstützung aus der Armenkasse überall nur ein Minimum betrage, „Hilfs-
und Belohnungsvereine für die Landdistrikte .... vor (d. h. Vereine für Prämien
an vorzüglich fleißige und vorsichtige Arme [Arbeiter]“. Trunkenbolde u. s. w.
sind von der Preisbewerbung ausgeschlossen). 1 )
Die ausführlichste Erwiderung gab G. R. (Dr. Gabriel Rießer)
zu Hamburg in den „Blättern des Hamburgischen Vereins gegen
das Branntweintrinken u . 1842, Nr. 5. 2 )
R. läßt die staatswirtschaftlichen Anschauungen B.s auf sich beruhen und will
gerne den Vorschlag, Belohnungsanstalten zu gründen, loben. Was haben aber damit
im Grunde die Mäßigkeitsvereine zu tun? Weshalb soll zwischen den Vereinen
und jenen Anstalten ein Gegensatz bestehen? B. hat etwas gegen die Vereine.
Daß sie von Geistlichen und Beamten ausgehen, wie er meint — daß sie dem¬
nach auf einer Art Zwang zu beruhen scheinen, das ist wohl der entscheidende
Grund seines Widerstrebens. In Amerika, wo die Arbeiter sich selbst zusammen¬
gefunden haben, und der Trunk überstark war, war die Vereinsbildung gut, — aber
bei uns muß es von obenher gemacht werden — meint B. Doch der Zweck der Ver¬
eine ist hier der gleiche wie drüben; freiwillig verpflichten sich die Mitglieder —
und der Trunk ist auch stark genug verbreitet. Geistliche haben bei der Vereins¬
bildung in Amerika wacker mitgewirkt, — Beamte allerdings kaum, weil der Be¬
amtenstand dort nur eine untergeordnete Stellung einnimmt. — Wenn B. ans
Ausland denken will, weshalb dann auch nicht an Irland, dessen Pauperismus ihn
besonders interessieren müßte. Was haben da die Mäßigkeitsvereine geleistet!
Und ein Geistlicher, Matthew, hat solchen moralischen Einfluß ausgeübt. In
Deutschland haben die Geistlichen sich leider (was wir bedauern) weniger be¬
teiligt als in Amerika; Beamte haben mehr als drüben bei den Vereinen geholfen,
doch nicht durch obrigkeitlichen Zwang, sondern als einsichtige, moralisch ge¬
wichtige Persönlichkeiten. Daß die Vereine nicht so schnell wie in Amerika sich
ausbreiten, beruht eben darauf, daß sie die freie Entschließung des Einzelnen
voraussetzen, und in freiem Entschlüsse und in freier Vereinsarbeit mag man
hier noch weniger als drüben geübt sein. Gerade Gegner der Freiheit sind auch
J ) G. H. wünscht im Corr.-Bl. No. 11, daß die Vereinsfreunde den Aufsatz
aufmerksam lesen, bemerkt indessen: „Einen größeren Nutzen als von der vor¬
geschlagenen Prämienverteilung versprechen wir uns von einer allgemeinen Ver¬
breitung der Sparkassen über die Landdistrikte“.
2 ) Auch als besondere Flugschrift. — Vgl. Correspondenz-Blatt 1842, No. 48.
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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein. 339
Gegner der Mäßigkeitsvereine,, wie die in Rußland gegen sie erhobene Anklage
beweist.
Bei uns scheint die Roheit des Pöbels (vgl. die Hamburger Ausschreitungen)
mit dem Spott der Gebildeten einen Bund geschlossen zu haben. Nicht die, welche
Mäßigkeitsvereine terrorisieren, sondern schlichte treue Vereinsmitglieder
bedürfen des Schutzes ihrer Freiheit (vom schädlichen Branntwein zu lassen),
der Achtung vor freier Überzeugung.
Wenn es möglich ist, einen der Steine, über den viele fallen, wegzuräumen,
sollte das der Fuß- oder Augen-Übung wegen unterbleiben? Auch das ist sitt¬
lich, der ersten Versuchung aus dem Wege zu gehen. Den Branntwein ganz
fortzuschaffen, wird wohl noch auf lange vergebliche Hoffnung sein; bis dahin
wird es aber den Vereinsmitgliedem an Gelegenheit, ihre Charakterstärke zu
zeigen, nicht fehlen., Die Torheit eines Kindes besteht eben darin, daß es den
Stein nicht wegräumt, sondern seinem Unmut auf zwecklose Weise Luft macht.
Ein Tor ist, der da meint, durch Förderung einer einzigen guten Sache die
ganze Menschheit beglücken zu können, — aber nicht minder töricht wäre es,
wenn jemand deshalb davon absähe, an einem Punkte seine Kraft für die Mensch¬
heit mit einzusetzen. Wenn man an einer Stelle besonders eifrig arbeitet, weil
gerade da jetzt Hilfe besonders not ist, soll damit nicht ausgesprochen sein, daß
sonst auf keinem Punkte ein Bedürfnis der Abhilfe da ist. Die Kraft muß sich
beschränken, um zu wirken, die Gesinnung darf es nicht. Wir wünschen jedem
gutgemeinten Streben fröhlichen Erfolg; möge man von anderer Seite sich auch
so zu uns stellen!
Die Erörterung im Correspondenz-Blatt setzt ein mit
„Fragen“ des Grafen Holstein, die ich in positiver Fassung wieder¬
gebe (1842, Nr. 18):
Der Genuß des Branntweins enthält eine starke Versuchung zur Trunksucht.
Trunksucht ist ein Übel für den, der damit behaftet ist.
Der Genuß des Branntweins gewährt keinen Vorteil, der jene Gefahr ausgliche.
Die, welche anderen (z. B. ihren Arbeitern) ein so gefährliches Getränk
geben, können das nicht rechtfertigen.
Wer seine Arbeiter an solches Getränk gewöhnt, handelt ähnlich wie der,
welcher seine Leute in Spielhäuser oder Bordelle führt.
Um die bösen Folgen des Branntweingenusses zu verhindern oder zu heben,
muß man den Stein des Anstoßes fortnehmen.
Baltisch antwortet (1842, Nr. 19f.):
Wenn und sofern gerade jetzt in Wagrien die Trunksucht ungewöhnlich
häufig ist, kann (aber nur lokal und temporär) das ungewöhnliche Mittel eines
Mäßigkeitsvereins, d. h. das Abraten oder Verbieten des Branntweins, gerecht¬
fertigt werden.
Jetzt soll der Branntwein die Hauptquelle des Übels unter den Arbeitern
sein; menschenfreundliche Gutsherren bemühen sich um die Abschaffung. Das
erinnert an das Wort der Prinzessin zur Zeit des Mißwachses: „Wenn die Armen
kein Brot mehr haben, — warum essen sie nicht Kuchen ? u — „Nicht doch,
lieber Herr Graf, gehen Sie doch zur Quelle und verstopfen sie diese. Wenden
Sie Ihre Beredsamkeit ernstlich an bei Ihrem Herrn Nachbarn, der eine der
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HARVARD UNIVERSITV
340
Pastor Dr. Stubbe.
größten Branntweinbrennereien im Lande hat, daß dort die Bereitung des Giftes
ganz aufhört. Dann ist vielleicht mehr Aussicht da für die Befolgung des guten
Rates an die Brenner in der Stadt.“ — Oft mag das Trinken übertrieben werden
{obwohl einer mehr vertragen kann als der andere) oder der Branntwein ver-
suchlich sein; dann komme man doch nicht mit moralischem Zwang. „Man be¬
handle nicht immer die Mündigen als unmündig; das ist eben das Mittel, sie in
ewiger Unmündigkeit zu erhalten. Wer nie auf einem Pferde saß, kann freilich
nicht vom Pferde geworfen werden; soll man deswegen stets nur zu Esel reiten?
Nein, die Mäßigkeit erzwingen durch Verbot des Branntweins, das ist das Pferd
nicht am Zügel, sondern am Schweif angefaßt.“
Die Ursachen der Krankheiten sollen wir studieren? Ganz wohl. Dann
werden wir sehen, daß der Branntwein die Wurzel des Übels ist. Mit niohten.
So leicht ist die Wurzel des Übels nicht zu eruieren. So einfach ist der Kausal¬
nexus nicht. Wer die Blatternkrankheit bei den Hautpusteln, die Masernkrank¬
heit bei dem Niesen, das Scharlachfieber bei der Rachenentzündung anfassen
wollte, der würde ungefähr so handeln, wie die Philanthropen heutigen Tages,
welche der Not der ärmeren Klassen ein Ende machen wollen durch Verbannung
des Branntweins. Forscht etwas tiefer nach, so werdet ihr finden, daß die meisten
Branntweintrinker sich dem Übermaß des berauschenden Wassers hingegeben
haben, weil sie unglücklich waren; der Branntwein war nur der letzte Tropfen,
der das Maß ihres Unglückes überfließen machte!
Wahrlich, wer praktischer Philanthrop ist oder sein will, der darf nicht
an der Oberfläche der Dinge herumgreifen, der muß sich nicht scheuen, in die
Tiefe des menschlichen Elends hinabzusteigen. Möge es nicht als im Lehrerton
gesprochen erscheinen, vielmehr ist es meine inständigste Bitte: leset und studiert
das Werk von Malthus und demnächst die Werke von A. Smith und seinen
Nachfolgern. — Statt Branntwein sollen die Leute Bier trinken, versteht sich,
gutes Bier. Also muß der Tage- und Werklohn hoch sein. Da stehen wir vor
dem vorschlossenen Tore, wohinter der Schatz des allgemeinen Volksglückes ver¬
borgen ist! Aber davor liegt die Sphinx!.„Die Aufgabe der Sphinx ist
keine geringere als diese: Rat gegen unvorsichtiges Heiraten, gegen Viel¬
kinderei, gegen Arbeitslosigkeit, gegen niedrigen Werklohn, gegen hohe
Kornpreise. So lange dieser Etat nicht gefunden, und die klügsten und besten
Männer in England und Frankreich haben ihn bisher nicht gefunden, hilft alles
Einschreiten von obenher zu Gunsten des Elends der niederen Klassen in materieller
Hinsicht so viel wie nichts. — Trinkt keinen Branntwein, so werdet ihr glücklich
sein, trinkt lieber gutes Bier! Wird das von oben gesagt, so liegt darin der Rat,
ja, die Garantie: daß beständig der Tage- und Werklohn hoch genug sei.“ Wer
will dafür aufkommen? Sinkt der Lohn, dann kommt das Elend. „Der eine
oder der andere, und zwar gar oft, der am meisten Mitgefühl hat mit den Leiden
der Seinigen, greift, um sich zu betäuben, zum berauschenden Getränk, wird da¬
durch noch unfähiger und geht elend zu Grunde. Aber der Branntwein ist so
wenig die Ursache des Übels, wie die Seine schuld daran ist, daß alljährlich
hunderte von Verzweifelnden ihr Grab darin suchen. ,Man entferne aber doch
die Gelegenheit zu diesem traurigen Schicksal! Man nehme den Branntwein hin¬
weg! 4 Ei, so sei doch auch so gefällig, die Seine von Paris und von jeder großen
Stadt den großen Fluß oder den Meeresarm hinweg zu nehmen.“
„Abusus non tollit usum“; das gilt auch vom Branntwein.
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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein. 341
Man möge nur nicht das Schauspiel der alten, wirkungslosen Luxusverbote
ihm gegenüber wiederholen.
„Wollte man in diesem Lande Holstein von obenher ein wirken auf das
Wohl der Hauptmasse des Volks — zu denen rechne ich die Bettler und Ecken¬
steher nicht —, so scheint dies vorzugsweise durch ein Verbot des Essens ge¬
schehen zu müssen. Holstein ist viel mehr das Land des Essens als des Trinkens.“
(Man ißt 3mal so viel Fleisch und Fett als in Preußen, Hessen und Sachsen.)
. . . „Ebensowenig wie ein Verbot des Essens wird ein Verbot gegen den
Branntwein ausrichten.“
Selbstverständlich wolle er, B., mit diesen Ausführungen nicht der Völlerei
das Wort reden, wohl aber dem Tugendstolze und der Bevormundung entgegen¬
treten; edle Männer dürften sich nicht dort bewegen, wo herrschsüchtige, neidische
Füchse in Schafpelzen vorangehen; wollten die Arbeiter selbst Vereine stiften,
sich zu kontrollieren und zu ermuntern und in Mäßigkeit fröhlich zu sein, habe
er nichts dagegen.
Graf Holstein schließt die Debatte in Nr. 24 des Blattes ab:
Anerkannt ist, daß Enthaltsamkeitsvereine nützlich wirken, wo der Trunk
im Schwange sei. In Amerika haben sie Großes und Gutes vollbracht und werden
gleichzeitig von allen politischen und religiösen Parteien gefördert. — Die
praktische Erfahrung führt uns über B.s nationalökonomische Theorien hinaus.
„In Holstein liegt die Ursache der Verarmung der Tagelöhner, Arbeiter und
Handwerker auf dem Lande und in den kleinen Städten fast immer in dem Um¬
stande, daß der Mann mehr Geld für Branntwein ausgibt, als seine Einnahme
gestattet, oft dem Trünke ergeben ist; oder darin, daß die Frau schlecht wirt¬
schaftet.“ Nur selten kommt Verarmung durch Krankheit und wirklichen Mangel
an Arbeit; Mangel an Nahrungsmitteln selbst findet sich nirgends, wo man
nur Geld hat, sie zu bezahlen. Woher kommt denn die meiste Armut? „In
Malthus findet sich (der Grund) nicht. Will Herr B. sich an Ort und Stelle
nach demselben erkundigen, so wird er ihn leicht erfahren. — Verarmten Tage¬
löhnern den doppelten Verdienst geben, so lange sie dem Branntwein nicht
entsagen, hieße das Faß der Danaiden füllen.“
Von Zwang ist bei dem Eintritt in den Verein keine Rede. — Soll man das
Branntweinübel unbeachtet lassen, weil es noch andere Übel gibt, die den
Menschen zu Grunde richten können? — Kann man sich mit Branntwein-Mäßig¬
keit begnügen, da diese erfahrungsmäßig so viele zum Trünke führt? — Die
Vereine erziehen ihre Mitglieder zur Selbstbescheidung. Gerade die Gegner rühmen
sich ihrer Tugend, indem sie behaupten, der äußeren Hilfsmittel nicht zu be¬
dürfen und predigen Mäßigung im Genüsse mit dem Glase Branntwein in der Hand.
Übrigens ist nicht gezeigt, daß der Branntwein als Getränk notwendig, daß
er unschädlich sei.
Und was soll die persönliche Verdächtigung? Die Früchte der Vereine sind
allenthalben gute gewesen. — Wer kann einen Branntweintrinker beneiden? Wo
sind falsche, hinterlistige Absichten der Vereinsmitglieder?
„Wenn der Herr Verfasser den Heiraten Unvermögender die Schuld der
Verarmung gibt, so ist nicht in Abrede gestellt, daß diese zur Vermehrung der
Annut beitragen. Wenn aber solche Leute heiraten, die nichts als Schulden und
uneheliche Kinder in die Ehe bringen, so ist diese Mitgift in sehr vielen
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342
Pastor Dr. Stubbe.
Fällen Folge des Branntwein-Genusses. Doch genug der Worte! Ich habe
kräftige Unterstützung von ehrenwerten Männern gefunden, und werde den ein¬
geschlagenen Weg, den edle Männer vor mir betreten und gebahnt haben, fort-
gehen, so lange ich auf demselben zu wirken vermag. 11
Ln Kieler Wochenblatt 1843, Nr. 31 ff. hatte Dr. Valen¬
tin er eine Abhandlung über „Den Branntwein und die Mäßigkeits-
vereine“ veröffentlicht, dessen Schluß in eine Aufforderung zur
Yereinsgründung ausklang:
(Das oft bewährte Mittel der Association ist auch gegen den Brannt¬
wein angewandt worden); „wir haben Ursache ihm zu vertrauen. Laßt alle Ein¬
sichtigen und Vernünftigen, laßt alle guten Bürger zusammentreten zur Ver¬
treibung des gemeinsamen Feindes, und der Sieg ist gewiß. 44
Hege wisch-Bal tisch suchte dem durch einen Artikel
„Wein — Branntwein — Armut“ (Nr. 37 f.) entgegenzutreten.
Wie Branntwein enthält der Wein Alkohol; er müßte deshalb von euch
ebenso bekämpft werden. Wenn Branntwein gemißbraucht wird, soll er deswegen
verdammt werden. Auch die Druckerpresse, das Eisen, die Post können gemi߬
braucht werden; sind sie deshalb abzuschaffen? Das Gute oder Böse liegt nicht
in der Sache, sondern im Menschen. Die Muhamedaner genießen keine Spirituosen,
sind aber nicht besser als wir. — Der Trunk wird durch Branntwein gefördert;
fort mit ihm! Sollen wirklich wegen einiger verlorener Trunkenbolde Hundert¬
tausende auf ihr liebstes Erquickungsmittel verzichten? Welche Jeremiaden.
Ein Betrunkener prügelt seine Frau. „Der Branntwein soll der Eheteufel sein.
Aber denk a bissei nach. Vielleicht ist’s eine arge Frau, deren Betragen den
Mann desparat machte; deswegen trank der Mann und machte aus arg ärger.
In den allermeisten Fällen ist der Branntwein nur ursächliches Moment des
Elends . . . Diese Verwechslung des ursächlichen Moments mit der Ursache ist
die Hauptquelle des irrigen Handelns/ 4 wie wenn ein Kind den Stein schlägt,
woran es sich gestoßen hat. Im Norden wächst kein Wein; der Erfindungsgeist
des Menschen füllt die Lücke mit Branntwein aus. Wer selbst Wein trinkt und
gegen Branntwein eifert, gleicht dem Pascha, der, aus dem Harem tretend,
Keuschheit predigt. Wie können sonst wohldenkende Menschen die Freudentafel
der Natur stören wollen?
„Aber das Unmaß des Branntweins ist schädlich, ist verderblich. Freilich
kein Mensch ist, der das bestreitet. Gibst du dem neugeborenen Kinde einen
Mundvoll Rindsbraten und ein Glas Wein, so ist es Gift für das Kind. Aber
die Giftigkeit liegt nicht in dem Braten, ebensowenig im Wein oder im Brannt¬
wein. Unmäßigkeit ist stets relativ und liegt in dem Verhältnis des Subjekts
zum Objekt, nicht in diesem allein. 44
„Die Armut ist nicht nur die Mutter des Elends, sondern auch der Ver¬
brechen. Forschen wir nach in den Strafanstalten; die allermeisten der den
bürgerlichen Gesetzen verfallenen Sträflinge wurden ursprünglich durch Not,
einige allerdings mittelbar durch Branntwein verführt und ins Elend gebracht.
Daß dieser die erste Ursache des Elends gewesen, ist allermeist Fabel. 44
„Die zu rasche Vermehrung der Zahl der Arbeiter, der Kinder in den
Arbeiterfamilien, das ist die wahre Wurzel der Armut und all des Elends und
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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein. 343
der Schlechtigkeit, die gar zu leicht aus der Armut entspringt ; u vor leichtsinnigen
Heiraten mag man warnen.
Das Armenwesen bedarf einer Reform-, am heilsamsten aber sind Vereine
für arbeitende Klassen, worin diese sich gegenseitig helfen in Krankheit und
Alter. „Wenn solche Vereine sich auffordem und ermuntern zur Mäßigkeit in
allen Stücken, auch im Genuß von berauschenden Getränken, so ist das vortreff¬
lich, gewiß weit besser, als wenn die Autorität von Sanitätsbeamten, kirchlichen
oder richterlichen Beamten sich einmischt in die innersten Angelegenheiten der
Arbeiterfamilien. Die Natur straft die Unraäßigkeit im Trinken sehr bald, die
Unvorsichtigkeit im frühzeitigen Heiraten viel später; es scheint also Warnung
und Nachhilfe in diesem Fall viel nötiger zu sein als im ersten.- 4
B. erhielt verschiedene Abfertigungen.
Ein H. forderte sofort B. auf (Nr. 39), einmal die Wirkungen
des Branntweins und Weins genauer zu studieren und am eigenen
Leibe zu vergleichen; Dr. Valentiner suchte (Nr. 41) „Ver¬
ständigung“.
Der Wein enthält außer schädlichen auch nährende Bestandteile; hat der
Wein erfahrungsgemäß so verderblich gewirkt wie der Branntwein? Nein! Erst
der Branntwein hat das Delirium tremens aufgebracht. Wenn Verfasser meint,
der Wein werde von den Branntweingegnern geschont, weil sie selber Wein
tränken, kann man ebensogut sagen: er verteidige den Branntwein, weil er ihn
selber gerne nehme. — Nicht Zwang fördert die Vereine, wohl aber hat jeder
Staatsbürger das Recht, seine bessere Einsicht anderen mitzuteilen. — Branntwein
ist nicht die Wurzel alles Übels, wohl aber eine Hauptquelle der Armut, des
Lasters, des Verbrechens. Nicht einige verlorene Trunkenbolde, sondern die
Gesundheit und Zukunft des Volkes sind Gegenstand der Sorge. Es ist
dahin gekommen: Man gibt Geld für Branntwein und verzichtet dafür auf
warmes Essen.
Die Bewohner des freien Norwegens gehen jetzt auf dem Wege der Gesetz¬
gebung gegen den „Wein des Nordens 41 vor; soll man sie deshalb mit türkischen
Paschas vergleichen? — Arbeitervereine sollen zur Mäßigkeit auffordem? Ist
B. am Ende gar verkappter Anhänger der Mäßigkeitsvereine?
Aus den sonstigen in diesem Zusammenhänge erschienenen
Aufsätzen erwähne ich nur noch die richtige Einwendung, daß, wenn
B. es für einen Eingriff in das Familienleben halte, einen Haus¬
vater durch Vereinsarbeit vom Branntwein abzuziehen, es erst recht
ein Eingriff sei, die Menschen an der Eheschließung zu hindern
und ihre Kinderzahl zu beschränken; — vor allem: welche sittliche
Folgen würde das haben?
In der Tat hat Prof. Hegewisch sich später bekehrt und ist
dem Mäßigkeitsverein freundlich nahe —, wahrscheinlich sogar ihm
beigetreten. Ein Gassenhauer der Kieler Schnapsbrüder stellt
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344
Pastor Dr. Stubbe.
ihn nämlich zwei derzeitigen Führern des Vereins unmittelbar
zur Seite:
„Ik will mi irs een Lütten nehmen,
Bün in den Mäßigkeits-Vereen to Kiel:
Een groten Valentin, een bittem Hege wisch,
Een lütten sauten, sauten, sauten Klemm.“ 1 )
Übrigens ist dieses Lied (nach der Parole: „Was sich liebt, das
neckt sich“) ein eigenartiges Zeugnis von einer gewissen Popularität
des Vereins zu Kiel. Eine Tochter des hierin besungenen „süßen“,
liebenswürdigen Kaufmannes Klemm hat mir erzählt, daß in den
Unruhen 1848 ein Eckensteher sich als Sicherheitsposten vor ihrem
Hause aufgepflanzt habe.
Vielleicht ist noch wichtiger als die theoretische die praktische
Widerlegung. Ich verweise im allgemeinen auf den späteren Ab¬
schnitt „Arbeit und Erfolg“; hier gebe ich eine Parallele der guten
alten Zeit zu den neueren Untersuchungen von Grotjahn und
Blocher-Landmann über die Belastung des Arbeiterhaushalts
durch den Alkohol. 8 )
Auf einem adligen Gute Ostholsteins erhält der Arbeiter (An¬
fang der 40er Jahre) außer der Wohnung: 5000 Soden Torf,
1 Fuder Busch, 1 Spint Land zu Leinsaat ausgesäet, x / 4 To. Garten¬
land (gegen 24 Mk. Crt Jahresmiete). An Lohn gibt es
von Mai bis Johannis für Männer 10 Schill., für Frauen 7 SchilL
von Johannis bis 15. Sept. „ „ 11 „ „ „ 9 „
von 16. Sept. bis Martini „ „ 10 „ „ „ 7 „
von Martini bis Mai „ „ 9 „ ,, „ 6 ,,
Auf diesem Gute lebte ein Arbeiter mit Frau und 4 Kindern,
welcher sich durch das Branntweintrinken für 1842 vollkommen
dienstunfähig gemacht und in eine für ihn unerschwingliche Schuld
von 60 Mk. Crt gestürzt hatte, so daß er daran war, in seinen besten
Jahren der Armenkasse zu verfallen. Er erhielt keinen Branntwein
mehr. Nun erholte sich der Mann bald so, daß er seine Arbeit
wieder wie früher verrichten konnte. Bei Branntweinenthaltsam¬
keit wurde 1842 folgendes Ergebnis erzielt:
*) Een Lütten nehmen, — einen kleinen, d. h. ein Schnäpschen nehmen.
Der Text des Liedes ist mir von Rektor Enking und Frl. Klemm mitgeteilt.
2 ) Kieler Wochenblatt 1844, Nr. 78.
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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein.
345
Ausgaben: Miete.
24 Mk.
Crt. —
Schill.
Milch und Butter ....
65 „
V ”
V
Krämer . ..
117 „
—
11
Hebamme .......
2 „
—
'1
Schuster.
4 „
, 14
11
Schneider.
2 „
„ 4
11
Weber.
2 „
„ 6
11
Totengeld und Kleinigkeiten
4 „
11
221 Mk.
Crt. 8 Schill.
Einnahmen: Tagelohn des Mannnes . .
. 150Mk. Crt.—
Schill.
Tagelohn der Frau . . .
• 51 „
„ 2
11
Für Torfstechen ....
. 8 „
„ 12
11
Für Torfringeln ....
• 11
„ 15
11
Für Spinnen.
• 1 „
„ 12
11
An Korn für Dreschen verdient 53 „
» 6
11
265 Mk. Crt 15 Schill.
(Bleiben trotz Familienzuwachses 44 Mk. Crt. 7 Schill, zur Schulden¬
tilgung — und der Mann ist wieder gesund!).
Ein Eisenbahnarbeiter Ahrend auf dem adligen Gute Futter¬
kamp, der täglich 1—2 Schilling für Schnaps ausgab, also •/*—V*
Flasche trank, außerdem bis zu 2 Kannen Bier zu sich nahm, trat
dem Mäßigkeitsvereine bei und entdeckte nun, daß er weniger Bier¬
durst habe, besser arbeiten könne (weil ohne Dusel) und gesunder
sei. Er hatte bisher vom Tagelohn an seine Frau nicht mehr als
3 Mk. Crt schicken können; jetzt konnte er in einem halben Jahre
außerdem noch für mehr als 12 Mk. Crt. Kleidung und Leinen an-
schaffen. — Wo bleiben, fragt das Kieler Wochenblatt, hiergegen
die Spekulationen über den Nutzen des Branntweins als des Weins
der Armen?
Die Möglichkeit einer technischen Verwertung des Spi¬
ritus habe ich nur bei Klaus Harms 1 ) angedeutet gefunden. —
Die volkswirtschaftlich wichtige Frage „Brennerei und Land¬
wirtschaft“ brachte Volquarts auf der Braunschweiger 3. General¬
versammlung der deutschen Vereine gegen das Branntweintrinken
zur Verhandlung, indem er beantragte, es möge als Preisanfgabe
ausgeschrieben werden: In welchem Verhältnisse die Brennereien
*) Gnomon 1843, S. 279, vgl. Alk. 1904, S. 156 u.
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346
Pastor Dr. Stubbe.
zur Landwirtschaft stehen? Eine Kommission (bestehend aus Pastor
Volquarts, Dr. Frankfurter, den Pastoren Hirdhe und Bente,
sowie Assessor Buchholz) ward zur Begutachtung des Antrages
gewählt. Sie hielt dafür, daß die Zeit dafür noch nicht reif sei,
meinte aber einmütig: es solle sämtlichen Vereinen empfohlen
werden, sich inzwischen Äußerungen von landwirtschaftlichen und
tierärztlichen Vereinen, -überhaupt Material über obige Frage (in¬
sonderheit auch über die sog. Schlempefrage) zu verschaffen, diese
durch die Volksblätter und das Generalblatt zu veröffentlichen und zu
sammeln und in der nächstjährigen Generalversammlung Beschluß
zu fassen. 1 )
Das war 1847; — 1848 gab es weder eine deutsche General¬
versammlung noch eine schleswig-holsteinische Zentralversammlung
mehr (da hatte man an anderes zu denken), wohl aber brachten
die Vereinsblätter (auch die Blätter des Hamburgischen Vereins
gegen das Branntweintrinken) Gutachten der gewünschten Art,
die sich z. B. gegen die Fütterung der Kühe mit Schlempe aus-
sprachen. 1847 wandte sich Telegraphendirektor Schmidt „im
Interesse der leidenden Menschheit“ wegen Schließung der „kom-
vergeudenden Brennkessel“ an den deutschen Bundestag. 2 )
Verschiedene volkswirtschaftliche Fragen werden hernach in
den Kapiteln „Arbeit und Erfolg“, sowie „Politik und Gesetzgebung“
gestreift werden.
12. Theologisches.
Unter den Theologen fanden die Mäßigkeitsvereine wackere
Freunde — (4 Pröpste und 14 Prediger in Holstein und 7 Pre¬
diger in Schleswig gehörten 1846 den Vereinen an 8 ) — aber auch
gerade hier schärfsten grundsätzlichen Widerspruch.
Es handelt sich um zwei Probleme, erstens die Stellung zu den
Vereinen, zweitens die Stellung zum Branntwein.
Für einen aufgeklärten Journalisten, wie Feldmann, 4 ) gab es
folgendes Bild:
') Bl. d. Hbg. V. g. d. Br. 1847, S. 99.
*) Hamburger Staatsarchiv Bl. VII. tat. Lib. Nr. 23 a. 1847. Vgl. Bl. d.
Hbg. V. 1846, S. 223.
ä ) Dithm. Volksfreund 1846, Nr. 8, S. 123. Dabei gab es d. Zt. 11 Pröpste
und 183 Prediger in Holstein, sowie 10 Pröpste und 232 Prediger im Schleswig-
schen.
4 ) Die Mäßigkeitsvereine 1845, S. 9f.
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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein. 347
Geistliche und Traktätchen hatten lange vergeblich gegen die Trunksucht
geeifert; nun kamen erfolgreich die Mäßigkeitsvereine, eine Macht, die sich von
der Kirche emanzipieren wollte. Die Mehrzahl der Geistlichen (Orthodoxe, wie Ra¬
tionalisten) sprach sich gegen die Vereine aus, in Kiel durch eine eigene Er¬
klärung; der Angriff ward abgeschlagen. Nun strebte man, was man nicht hindern
konnte, wenigstens zu überwachen und verband sich z. T. sogar mit Traktätchen¬
gesellschaften.
In Wirklichkeit war weniger Tendenz und mehr Gewissen¬
haftigkeit in Theologenkreisen, als Feldmann zu sehen vermag,
nicht nur, daß Theologen zu den ersten Vereinsgründern in den
Herzogtümern gehörten (Callisen, Heimreich, Biernatzki, Paul-
sen, Volquarts, Schetelig), — auch der theologische Wider¬
spruch, der nie ganz zum Schweigen kam, hatte tiefere Gründe als
klerikale Herrschsucht.
Der erste Theologenstrauß ward von Diakonus Koopmann
zu Heide durch einen Artikel der Dithmarsischen Zeitung und einen
Vortrag auf einer Predigerkonferenz zu Hohenwestedt hervorgerufen.
„Darf der evangelisch-lutherische Prediger Mäßigkeitsvereine
gründen und leiten?“ fragt der Artikel in derDithm.Ztg.1843, Nr.33.
Wenige antworten: nein. Die Vereine haben großen Erfolg; die Liebe
kann sich dessen freuen. Der Prediger scheint besonders zu Werken der Liebe,
also auch für solche Vereine berufen zu sein. Was fordert von dem evg.-luth.
Prediger sein Amt? Daß er, was seine Kirche sein und immer mehr
werden will, repräsentiere und realisiere; sie will aber eine Gemeinschaft derer
sein, welche in Kraft der Gnadenmittel durch den Glauben an Jesum Christum
der Sünde entrissen und wiedergeboren sind zum neuen Leben in Liebe und
Hoffnung. Diese Wiedergeburt, eine Heiligung durch und durch, welche geschieht
durch gänzliche Verwerfung des alten sündigen Ich und durch Ergreifung Jesu
Christi im Glauben, ist die Bedingung der Seligkeit. Die Kirche will durchaus
keine bloß äußerliche Legalität; die artet leicht in Selbstgerechtigkeit aus. An¬
stalten der Legalität mögen gut und nötig sein (wie z. B. die staatliche Gesetz¬
gebung), aber die Kirche soll den Schein meiden, als gehöre sie selbst diesen
Anstalten an. Der Feind, gegen den es zu kämpfen gilt, ist die Sünde —
nicht eine einzelne Sünde, auch nicht die Macht des Alkohols, sondern die
hochmütige, Buße und Glauben verwerfende Selbstgerechtigkeit des sündigen
Menschen.
Was ist demgegenüber das Wesen der Mäßigkeitsvereine?
Sie wollen durch das Mittel äußerer Vereinigung und gegenseitiger Verpflichtung
Legalität erwirken in Beziehung auf eine bestimmte Sünde, auf den Ge¬
nuß von Branntwein. — Weiteres (Gesinnungsänderung, Christentum, Abscheu
vor Sünde) können die Vereine ihrem Wesen nach nicht intendieren.
Gut, wie soll dann der Prediger sich dazu stellen? Soll er durch
Vereinsgründung gleichsam sagen: „Trinkt nur keinen Branntwein; dann ist
alles gut?“ Wird nicht der Pastor in seiner eigentlichen, geistlichen Wirksam¬
keit beeinträchtigt, wenn er die Hauptperson eines legalen Vereins ist?
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Pastor Dr. Stubbe.
Bei dem Eifer evg.-luth. Prediger für die Mäßigkeitsvereine scheint ein
Schatten des katholischen Verderbens in unsere Kirche hineinzuragen: die Werk¬
heiligkeit droht kirchliche Autorisation zu erlangen. Die Kirche aber ist der
Verein über alle Vereine; sie bietet durch ihre Mittel allen wahrhaften Mit¬
gliedern die Realisierung all ihrer sittlichen Wünsche dar.
Pastor Yolquarts-Lunden gibt 1843, Nr. 36, ebenda seine
Antwort:
Auffallend, wie Rechte und Linke sich in Bestreitung der Mäßigkeitsver¬
eine einig sind; die eine fürchtet, daß durch sie Kirchen in der Kirche entstehen,
die andere, daß durch sie die Kirche zu neuem Einfluß kommt. Man verkennt
auf beiden Seiten die Kirche: die einen legen ihr zu großen, die anderen zu ge¬
ringen Wert bei.
K. katholisiert in einer zu starken Betonung der Gnadenmittel.
Der Branntwein ist als Würgengel der Menschheit bekannt; schadet er den
Wiedergeboreüen nicht? Die Erfahrung zeigt es — und der Geistliche sollte
sich vom Vereine gegen den Branntwein fernhalten? — Der Pastor soll predigen,
Hausbesuche machen, Bibel- und Missionsstunden halten — kann das nicht alles
einen legalen Charakter haben? Können nicht auch die Sakramente zur Selbst¬
gerechtigkeit führen, indem sie über das Äußere das Innere übersehen lassen?
Das Bild der Enthaltsamkeitsvereine bei K. stimmt ebenfalls nicht mit der
Wirklichkeit. Das Wesen der Vereine ist rein christlich; jeder Geistliche verkennt
sein Amt, der sich gegen die Vereine erklärt. Ihr Prinzip ist: Der Brannt¬
wein ist Gift, also das Trinken desselben Sünde. Denn wer ihn trinkt,
tritt dadurch in Feindschaft mit dem dreieinigen Gott; die Folge ist hier: Siech¬
tum, Armut, Lasterhaftigkeit, Wahnsinn, — dort: ewiger Tod. — Die Ansicht,
daß die Vereine nur Legalität wollen, ist falsch; sie lehren gerade, daß der Christ
des Beistands des heiligen Geistes bedarf, um von dem Branntweingifte loszu¬
kommen; sie zeigen die Schwäche der menschlichen Natur, daß der Mensch allein
nichts kann, sondern nur in der Gemeinschaft Kraft habe. Ja, sie lehren, daß ein
einmaliges Gelübde nicht genüge, sondern täglicher Kampf nötig sei; daher die
Zusammenkünfte und Erbauungen.
Also hat der Geistliche gerade im Verein seine rechte Stellung
und treibt darin sein Amt recht. Er treibt dann Seelsorge im besonderen auf
bestimmte Einzelerscheinungen der Sünde, in Verbindung mit vielen. Im Ver¬
ein tritt am klarsten der priesterliche Charakter der ganzen Gemeinde hervor. —
Als Vereinsgründer steht er in seinem Amte, tritt mit der Predigt ins Haus,
wird ganz anders speziell als in der Kirche. Er nennt Sünde, was Sünde ist,
ohne Ansehen der Person: Branntweinbrennen und ihn ausschenken streite mit
dem christlichen Glauben, der Liebe und der Hoffnung. Im Vereine geht der
Pastor als guter Hirte den Schafen nach. Die Vereine sind die schönsten Be¬
weise des Glaubens (sie vertrauen, den vollendetsten Säufer retten zu können),
der Liebe (im Gefallenen erkennen sie den Bruder und gehen in die Hütten der
Armut und der Roheit, um zu retten) und der Hoffnung (sie geben ihre Hoffnung
nicht auf, auch wenn Papst und König sich gegen sie erklären); sie sind die
Perle und Krone des Christentums.
Gegen den Meineid und die Lüge kämpft die Kirche gesetzlich in zwei
Predigten des Jahres, und gegen den Selbstmord durch Alkohol, diese Auf-
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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein. 349
lehnung gegen Gott, will sie nichts tun und Vereine dagegen mit Anathema
belegen?
Wenn die Vereine gefährlich sind, warum tritt man nicht ein, um sie zu
bessern? Bibel- und Missionsstunden sind gar bequem im Vergleich zu Kampf¬
erbauungsstunden gegen den Alkohol. Hier ist periculum in mora; die ge¬
wöhnlichen Mittel reichen nicht Steter Kampf ist nötig — und der
Geistliche muß Flügelmann sein, damit Einheit sei im Kampfe.
Wer ist, was ist der Prediger und der Geistliche? Er ist doch auch ein
Christ? Als Christ muß er solche Vereine stiften, leiten, beleben; denn Christen¬
pflicht ist es, den Sinkenden zu erretten. Priester und Levit mögen am Er¬
schlagenen vorübergehen; der christliche Geistliche darf es nicht. Sein Gottes¬
dienst ist Bruderliebe!
Replik und Duplik schlossen sich hieran an; für uns mögen
hier einige Sätze aus dem Schlußworte von Pastor Schetelig-
Friedrichstadt genügen (1843, Nr. 42).
Man muß nicht theoretisch Verein und Kirche einander gegenüberstellen,
sondern praktisch auf die Not des Lebens schauen, die der Branntwein gebracht.
Keiner kann dieses Verderben kaltblütig ansehen. So wenig, wie bei einer
Feuersbrunst, kann sich hierbei irgend ein Stand der Hilfe entziehen. Die
Vereine sind nur eine natürliche und notwendige Wirkung des lebendigen Gefühls¬
dranges, zu helfen. Wie weit die Vereine christliche sind, hängt von den Mit¬
gliedern ab.
Ignorieren kann der Geistliche die Vereine nicht. Das Verderben ist groß;
sind auch die Vereine nicht das einzige Mittel dagegen, so doch das ein¬
fachste und nächste. Sollte der Pastor dort nicht helfen? — Es ist theo¬
retisch die Möglichkeit zuzugeben, daß in einem Vereine eine antikirchliche Partei
mächtig wird; dann steht dem Prediger natürlich der Austritt frei.
Auf der Versammlung des Hohenwestedter Predigervereins wurde
1842 von K. die Frage erörtert: „Ist es eines evangelischen Pre¬
digers würdig, Mitglied eines Mäßigkeitsvereins zu sein? u
Diese Frage verneinte der Referent;
denn als Mitglied eines Mäßigkeitsvereins
1. wird der Pastor Knecht der tötenden Buchstabens, da er doch das Amt
des lebendig machenden Geistes führen soll;
2. kämpft er mit stumpfen Waffen gegen einen Feind, der nur mit dem
Schwerte des Geistes zu überwinden ist;
3. bringt er sich bei manchen in Verdacht, als bedürfe er selbst eines
solchen Mittels, um seine Begierden im Zaum zu halten;
4. Giebt er sich manchen nicht unbegründeten Vorwürfen preis:
a) des engherzigen Rigorismus,
b) der Heuchelei,
c) der Härte gegen die niederen Volksklassen;
5. entfremdet er sich die Herzen derer, die gegen die Mäßigkeitsvereine
eingenommen sind, und wird schwerlich segensreich auf sie ein wirken können.
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350
Pastor Dr. Stubbe.
In einer besonderen Schrift widerlegt Archidiakonus A. C.
Heim reich-Rendsburg (Hamburg 1843) alle Bedenken: 1 )
Es ist eines evangelischen Pastors durchaus unwürdig, falls nicht in seiner
besonderen Stellung unübersteigliche Hindernisse ihm entgegentreten sollten,
den Grundsätzen und Bestrebungen der Mäßigkeitsvereine sich nicht tätig anzu¬
schließen; denn
1. er führt das Amt des Geistes, welcher ist der Geist der Liebe, und
diese Liebe macht es ihm zur Pflicht,
a) für das geistliche und leibliche Wohl seiner Gemeinde nach Kräften zu
wirken, wo immer sich eine Gelegenheit dazu darbietet, und eine solche
Gelegenheit bieten die Mäßigkeitsvereine;
b) alle (erlaubten und zweckmäßigen) Mittel dazu anzuwenden, und die Mäßig¬
keitsvereine bieten eine Reihe solcher Mittel, die Sittlichkeit in der Ge¬
meinde zu heben und das irdische Wohlergehen zu fördern.
2. Der Feind, den er bekämpfen soll, das Fleisch mit seinen Lüsten und
Begierden (insbesondere in der Gestalt der Trunksucht und Genußsucht) ist so
mächtig, daß er nicht durch die Predigt von der Kanzel herab und durch die
Seelsorge an den einzelnen allein überwunden werden kann; dazu bedarf es
mehrerer Waffen; solche bieten die Mäßigkeitsvereine dar, nämlich
a) die Macht der auf klärenden Belehrung durch Gründe menschlicher Wissen¬
schaft'und Erfahrung,
b) die Macht des offenkundig hervortretenden Beispiels,
c) die Macht der sittenbildenden, die in ihrer Vereinzelung schwächeren
Individuen schützenden und stärkenden Gemeinschaft,
d) die Macht der Predigt des göttlichen Worts in ihrer speziellen Rich¬
tung auf diese besondere Seite des christlichen Lebens, für welche
sich sonst schwer eine passende Stelle finden ließe.
3. Er bringt sich durch seine Nichtteilnahme an den Bestrebungen der
Mäßigkeitsvereine in den Verdacht, als habe er den Branntwein oder sein Gläs¬
chen Punsch zu lieb, um sich von demselben ganz lossagen zu können, und teile
das laxe Urteil über die Unmäßigkeit im Genüsse geistiger Getränke.
4. Er gibt sich manchen Vorwürfen preis:
a) daß er aus Menschenfurcht und Rücksicht auf zeitliche Vorteile oder
aus Liebe zu träger Gemächlichkeit sich abhalten lasse, seiner Über¬
zeugung zu folgen und für eine als gut von ihm anerkannte Sache mit
Entschiedenheit auf den Kampfplatz zu treten,
b) daß er kein lebhaftes, warmes Mitgefühl habe für das wahre Wohl der
niederen Volksklassen.
5. Er entfremdet sich die Herzen der Glieder seiner Gemeinde, welche ent¬
weder selber schon Mitglieder eines Mäßigkeitsvereines sind oder doch von den
segensreichen Wirkungen derselbigen eine lebendige Überzeugung gewonnen
haben, welche daher ihren Prediger wegen seiner Unentschiedenheit in dieser
Sache für einen Feind des guten Werks ansehen.
J ) Ist es eines evangelischen Predigers würdig, Mitglied eines Mäßigkeits¬
vereins zu sein? Zur Beseitigung von Mißverständnissen und Bedenklichkeiten
beantwortet und seinen Amtsbrüdem zur Prüfung vorgelegt. 1843. — Baedeker,
Hamburg.
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Aas der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein. 351
6. Stellt er sich auch nach seinen Äußerungen als einen Freund der Mäßig¬
keitsvereine, ihrer Grundsätze und Bestrebungen dar, unterläßt aber^ohne trif¬
tige Gründe den förmlichen Beitritt zu einem Verein oder die Stiftung eines
solchen, so schadet er der guten Sache dadurch in hohem Maße und macht sich
durch seine Untätigkeit fremder Sünde teilhaftig, indem er viele durch sein Bei¬
spiel hindert, einem Vereine beizutreten und sie in ihren Vorurteilen bestärkt;
denn alles Reden fruchtet nichts, wenn die Tat fehlt.
Weg mit dem Branntwein, denn er ist ein Feind, ein Feind auch des
Evangelü und seiner Wirksamkeit an den Herzen der Menschen zur Buße. Die
Enthaltsamkeit vom Branntwein als ein Mittel, die Sitte des Branntwein¬
trinkens aus der Welt zu schaffen, ist in unserer Zeit eines jeden wahren
Christen unerläßliche Pflicht, zum mindesten eine Pflicht der Bruderliebe,
auf daß die Schwachen nicht geärgert werden (Rö. 14, 1. 13—15. I. Kor. 9,
19—22. 10, 23. 31.)
Die schärfste Gegenäußerung, die Heimreich fand, lautete:
„Der Mäßigkeitsverein und die evangelischen Geistlichen.' Als
provoziertes Gutachten eines evangelisch-protestantisch-lutherischen
Predigers. 41 *)
Unsere Zeit leidet an Vereinssucht; jeder Verein erhebt gerne den An¬
spruch einer Unentbehrlichkeit. — Die sog. Mäßigkeitsvereine gründen sich nicht auf
christlich-weise Enthaltung alles unmäßigen Genusses, sondern machen spezielle
gänzliche Enthaltung eines einzelnen Getränkes zur Pflicht. Zudringlich werden
Traktäfchen, häufig sehr pietistische, und abschreckende Bilder verteilt, auch
gelegentlich separatistische Andachtsübungen gehalten; Brotherrn üben einen Zwang
auf die Untergebenen aus. — Die bloße Entbehrlichkeit eines Genußmittels ist
noch kein Grund zur Beseitigung. Widrige Arbeitsverhältnisse machen den Brannt¬
wein oft notwendig; über die Schäden, die der Branntwein bringen soll, sind die
Gelehrten sich noch nicht einig. Jedenfalls muß er ein sehr langsam wirkendes
Gift sein; viele tausende haben den Branntwein mit Selbstbeherrschung zu trinken
vermocht. Und da sollte der Geistliche durch Anschluß an die Mäßigkeits¬
vereine den Schein nähren, als ob durch sie Gott und Menschen ein besonderer
Dienst geschähe?
Die Mäßigkeits- und Versagungsgelübde führen leicht zu Heuchelei und
Selbstgerechtigkeit.
Richtige Belehrungen über die Schäden unmäßigen Genusses sind heilsam,
— aber die pietisierenden Traktätchen, die grauenvollen Bilder (von Magen und
Drachen)*), die Übertreibungen der Trinkschäden und Vereinsleistungen sind nichts
für gebildete Christen. Insonderheit ist verwerflich, wenn Brotherren Entsagung
des Branntweingenusses zur Dienstbedingung machen. Der Zweck heiligt nicht
das Mittel.
Der Verein hat nur den knechtenden Buchstaben, die Gewissensbindung,
neben der Vereinzelung von Pflicht und Tugend an Stelle der gesamten Moralität
*) Kiel 1844. Verlag von Christian Bünsow. 30 S. Der Verfasser wohnt
wie aus S. 28 hervorgeht, in Hamburg.
2 ) Zum Schmidtschen Branntweindrachen vgl. Abschn. 5. (Alk. 1904,
S. 158.
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352
Pastor Dr. Stubbe.
und in Verknüpfung mit zweideutigen Mitteln und Motiven zur Erreichung
derselben — der Wahlspruch der evg. Geistlichen muß sein 2. Tim. 1,7,
Rö. 14, 22—23.
Man muß ein Übel an der Wurzel angreifen. Wie ist es mit den sozialen
Verhältnissen? Würde nicht durch manche Verbesserungen die Branntwein¬
seuche von selbst geringer werden? Durch die sehr einseitigen, von der Haupt¬
sache abführenden Bestrebungen der Mäßigkeitsvereine werden tiefer liegende
Schäden des gesellschaftlichen Körpers bemäntelt.
Will man Volksnöte heilen, ist es gut, Geistliche zu fragen (die nach
Rö. 12, 16 leben und sich auf die Diagnose sozialer Krankheiten verstehen).
Sie würden darauf hinweisen, wie der Einfluß der Kirche leidet durch Neu¬
tralisierung des Predigtwortes durch den Zeitgeist, Verfall der Kirchenzucht,
Mangel an Leitung des kirchlichen Lebens oder unangemessene Ausübung durch
Frivolität und Pfaffentum, Reduzierung der Seelsorge auf nichts (infolge des
Parochialgebührenzwangs), Schädigung der Sabbatfeier u. s. w. Besser wird’s
nicht, ,wenn man die Geistlichen in die Mäßigkeitsvereine zieht, ihnen dadurch
den freien Gesichtspunkt verrückt, ihr Wirken zersplittert und von der großen
Hauptsache abzieht.
Wer tritt in Deutschland am lautesten für die Mäßigkeitsvereine ein?
Doch auch die, welche ihren Vorteil dabei suchen und das Volk von sich ab¬
hängiger machen wollen.
Und die Natur hat ihr Maß. Die Geistlichen einer großen Stadt sind
schon so überlastet, daß sie alles lassen sollten, was nicht eigentlich ihres Amtes ist.
Mag das Werk der Vereine mit viel Unterstützung von Diis maiorum et
minorum betrieben sein — es ist noch keineswegs ein Werk aus Gott — und
das Volk wird dies erkennen und sich gegen die Vorkämpfer wie gegen falsche
Exorzisten (Act. 19, 13—17, vgl. Mt. 7, 6) wenden.
Von orthodoxen Prämissen aus gelangt zu einem scharf ab¬
lehnenden Standpunkt Klaus Harms. Heimreich berichtet von
ihm das Wort: „Der Prediger, welcher einem Mäßigkeitsvereine bei-
tritt, verleugnet Christum 44 — und wendet dagegen ein: Man soll
vor dem heiligen Geist keinen Schlagbaum machen wollen! 1 )
Harms tadelt den „gesetzlichen 44 Charakter der Vereine— Vent-
Hademarschen hält ihm vor: Es sei alte Gottesordnung: erst das
Oesetz, dann das Evangelium — und viele Menschen bedürften noch
heute dieser Methode 2 ) — während Heimreich den Nachweis
vermißt, daß die Vereine notwendig und nur äußerlich legales
Wesen bewirken und zur Beurteilung rechter Legalität an den
dreifachen Usus legis erinnert, den die Kirche kenne. 8 ) G. P.
Petersen erwähnt, Harms habe in einem Propsteizirkular ge¬
äußert, man solle kein Vorurteil gegen, aber ein reifes Urteil über
*) Ist es eines evg. Predigers würdig . . . S. 6.
2 ) Mitteilung von Propst Treplin-Hademarsehen.
3 ) A. a. 0. s. 6.
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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein. 353
die Sache hegen. 1 ) Eine breitere Darlegung der Harms sehen
Stellung zu den Yereinen erfolgt, als Feldmann 1843 im Kieler
Wochenblatt einen Artikel schrieb: „Unsere Prediger und der Ent¬
haltsamkeits-Verein.“ *)
Vielfach wundre man sich, daß gerade Prediger den Vereinen fern bleiben.
An sich müßte den Vereinen deren Beitritt erwünscht sein, weil gerade nüchterne
Leute als Vereinsmitglieder wertvoll seien, um das Vorurteil zu zerstreuen, als
ob alle, die sich anschließen, Säufer gewesen wären, — auch, um dem Verein
festes Rückgrat zu gewähren. Ob die Pastoren wohl fern bleiben, weil sie um
die menschliche Freiheit besorgt sind und den Verein für einen unnötigen Zwang
halten? Sie vertrauen sonst doch der Willensfreiheit zum Outen nicht zu viel.
— Indessen, wenn man auf den dithmarscher Pastorenstreit schaut, so trauert
man weder zu sehr über das Fernbleiben der einen, noch jubelt man über den
Beitritt der anderen. Die einen werfen dem Vereine Legalität vor, als wenn
die nicht eine Bürgertugend wäre, — die anderen raten den Pastoren den Bei¬
tritt an, um dem pastoralen Elemente Einfluß oder Herrschaft zu sichern!
Umgehend folgt die „Verantwortung des Ministeriums“ der
Stadt Kiel, 8 ) an dessen Spitze eben Harms steht. Sie lautet
wörtlich:
„Allezeit bereit zur Verantwortung jedermann, geben wir in
Anleitung des Aufsatzes im hiesigen Wochenblatte: ,Unsere Pre¬
diger und der Enthaltsamkeits-Verein 4 diese Erklärung:
Wir können nicht leugnen, daß es uns aufgefallen, von Seiten
eines Vereins, dessen Mitglieder sich der völligen Freiwilligkeit des
Beitritts rühmen, indirekt zum Beitritt genötigt zu werden. Wir
hofften vielmehr, man werde uns Zutrauen, alles gewissenhaft er¬
wogen zu haben, was für und wider den Enthaltsamkeits-Verein,
und namentlich den Beitritt der Prediger zu sagen sei und gesagt
worden, und wenn wir infolge solcher Erwägung bei dem Nicht¬
eintritte beharrten, durch triftige Gründe dazu vermocht worden
zu sein. Wir haben uns in dieser Hoffnung getäuscht. Man ver¬
langt unsere Gründe zu hören, noch mehr, man verwirft sie, bevor
man sie kennt. Deshalb halten wir nicht damit zurück, selbst auf
die Gefahr hin, daß diese zur nötigen Abwehr geschriebene Er¬
klärung als ein Angriff angesehen werde, was doch nimmer unsere
Absicht sein konnte, auch wenn einer von uns einem gewissen
Prediger das Versprechen nicht gegeben hätte, gegen die Be¬
strebungen des Vereins nicht einschreiten zu wollen. Unsere Gründe
aber sind diese:
*) Wagrisch-Fehmarnsche Blätter 1843, S. 226.
2 ) 1843, Nr. 90 u. 97.
8 ) 1843, Nr. 95.
Der Alkoholiamas. 1905. 24
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354
Pastor Dr. Stubbe.
Wir stellen die seitherigen Wirkungen des Vereins nicht in
Abrede, wir behaupten nicht, es läge kein Segen in den menschen¬
freundlichen Bestrebungen der Vereinsmitglieder — das sei fern.
Allein zeugt doch nicht beides, die Gewalt des Feindes, wider den,
und die Waffe, womit vom Verein gegen ihn gekämpft wird, daß
das Christentum beiderseits zu seinem Rechte nicht gekommen?
Der Mensch, in welchem das Wort Gottes lebendig geworden ist,
der Christ jaget jeglicher Tugend nach, auch der Mäßigkeit So¬
lange er hält, was er hat, und der Geist wird immer stärker, be-
darf’s für ihn nicht, enthaltsam zu sein, um mäßig zu werden
und mäßig zu bleiben. Jedes Laster aber ist Feindschaft wider
den Herrn; der Trunkenbold verleugnet durch seinen Wandel
Christum. In gleicher Weise liegt zu Tage, daß, wer durch den
Enthaltsamkeits-Verein sich selber schützen will vor der Trunksucht
und die Brüder daraus erretten, nicht kenne oder verkenne
mindestens die Gotteskraft des Evangelii.
Was die herumholende und behütende Kraft des Evangelii
erfahren hat, vertrauet zu eigener Bewahrung schwächerer Hilfe
nicht Wer die Brüder retten will, greift nicht nach sinnlichen
Mitteln, wenn geistige zu Gebote stehen. Und nun sollen die Pre¬
diger gar, deren Amt es ist, dem Herrn ein Volk zum Eigentum
zu sammeln, durch das Wort und den Wandel dem Worte gemäß,
und durch das Gebet um Wachstum in beiden für sich und die
Gemeinde, diese dreifache Waffenrüstung zurückstellen, kleingläubig
und mutlos, und mit schwächeren Waffen kämpfen gegen das
Sündenelend? Viele Diener am Worte sind anderer Ansicht, wir
wissen das und lassen ihnen ihre Ansicht. Unsem Teils aber fühlen
wir uns gedrungen, bei der Überzeugung zu verharren, daß der
Prediger seinem Wirken als Mitglied des Vereins den Glauben zum
Opfer bringe an den Segen seines Berufs, das Salz verschütte, als
ob es kraftlos worden. So innig wir des überzeugt sind, daß die
menschenfreundlichen Bemühungen des Enthaltsamkeits-Vereins von
nachhaltigem Erfolge nicht sein können, es sei denn, daß die an¬
gedeutete stärkere Waffe zu Hilfe genommen werde von den Ent¬
haltsamen und den enthaltsam zu Machenden, und so unausbleiblich
die Glieder des Vereins durch ihre Bestrebungen gefährlichen Ver¬
irrungen sich selber bloßstellen, denen nur durch den Geist des
Christentums erfolgreich begegnet werden kann, so unmöglich ist
es uns, unseres Amtes wegen, in der gewählten Weise die
Sache des Vereins zu fördern. — Unseres Amtes wegen will man
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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein.
355
uns eben aber zu Mitgliedern haben. Wir sehen in diesem Be¬
gehren ein den Begehrenden selber vielleicht unbewußtes Zuge¬
ständnis, daß es eine höhere Macht gebe, von der die Kräfte des
Vereins erst die rechte Weihe empfangen können. Dieser höheren
Macht allein vertrauen wir Prediger, an dieser geistigen Kraft lassen
wir uns genügen. Je eifriger deshalb die Förderer der Mäßigkeits¬
sache sich zeigen, desto lauter wollen sie von uns sich zugerufen
hören das Wort eines Lehrers aus der ältesten Kirche, das wir zu
dem unsrigen machen:
,Gebt uns einen Trunkenbold, einen Mäßigen geben wir euch
wieder*. Das Ministerium der Stadt Kiel.
Harms. Wolf. Lüdemann. Valentiner.“
Prof. Lüdemann schließt eine Erklärung an:
Er billige den Zweck des Vereins vollkommen; bisweilen werde der Geist¬
liche wohltun, einzutreten; ihm sei das seiner Verhältnisse wegen nicht mög¬
lich. „Solange sich indes der Verein seinen besten Erfolg von der freien, auf
einem kräftigen sittlichen Entschluß beruhenden Abstinenz der Branntweintrinker
verspricht, ist und bleibt ja die beste Hilfe, die der Geistliche leisten kann und
nolens volens leistet, seine ganze Amtstätigkeit selbst.“ 1 )
Adjunktus Valentiner führt später aus: 1. Es gehe nicht an, gegen
einzelne Sünden Spezialvereine zu gründen. — 2. Die Mäßigkeitsvereine stehen
(als legale) nicht auf dem Boden der Kirche, sondern des Staates. Sie sind nicht
gegen die Kirche, aber man kann den Predigern nicht die Pflicht des Beitritts
auf erlegen. Die Mäßigkeitsvereine haben sich zu begnügen, die Früchte der
Pastoralwirksamkeit mittelbar zu genießen. 2 * )
Von den Erwiderungen, die es regnete, buche ich eine
ärztliche und eine pastorale. Dr. Weber-Kiel fordert auf, 8 )
die ärztliche Stellung mit der pastoralen zu vergleichen.
Er halte es für ärztliche Pflicht, außer für die Gesundheit des einzelnen
für die Abwendung alles dessen zu sorgen, was die Gesundheit aller gefährde —
wie jeder Staatsbürger solche Pflicht habe. Da Geistliche, Gesetzgeber, Polizei¬
behörden bisher auf ihre Weise ohne großen Erfolg gegen die Branntweinschäden
gearbeitet haben, helfe der Arzt gerne dazu, ein Getränk aus der Welt zu
schaffen, welches Körper und Geist zugleich krank macht. Das könne der Arzt
nicht besser, als wenn er die Verpflichtungsformel des Vereins unterschreibe
und durch seinen Beitritt mit arbeite an der Hinwegräumung der kranken Potenz.
Andere gute Folgen bleiben nicht aus. — Wo sind da gefährliche Verirrungen?
Die Prediger können die Eingangsformel ändern und sagen: Infolge meiner re¬
ligiösen Überzeugung entsage ich . . . Treten Sie doch beil Sie würden uns
helfen gegen ein schädliches Getränk, gegen Säuferwahnsinn, manche Lungen-
1 ) Kieler Wochenblatt 1843, Nr. 95.
2 ) Ebenda 1844, Nr. 1 u. 2.
8 ) Ebenda 1843, Nr. 99.
24*
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Pastor Dr. Stubbe.
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Schwindsucht, Leberkrankheit, Wassersucht, — manchem Magenkrebs Vorbeugen,
die Heilung mancher Krankheit erleichtern, vielem Elend begegnen, welches wir
jetzt in Hospitäler und Irrenhäuser einschließen.
„Wir dagegen glauben, auch Ihnen zu helfen, einen besseren
Boden für Ihre Wirksamkeit zu gewinnen.“
Die pastorale Stimme, welche ich zitieren möchte, findet sich
in den Bl. d. Hbg. Y. g. d. Br. 1844, S. 69.
Mao schien sich fast überall darin einig zu sein, daß das Verhältnis der
Vereine zum Christentum das der engsten Zusammengehörigkeit und Freundschaft
sein müsse, woraus dann für die Geistlichen folgte, daß sie den Vereinszwecken
ihre tätige Teilnahme zuzuwenden hätten. Viele Synoden und Kirchenbehörden
haben diese Mitarbeit empfohlen, viele Geistliche die Gründung und Leitung von
Vereinen übernommen. — Die Erklärung des Kieler Ministeriums stellt sich mit
einem Schlage auf einen anderen Boden. Man überschätzt doch wohl den pastoralen
Einfluß, wenn man meint, allein mit einem Trunkenbold fertig werden zu können;
wenn Geistliche einen Verkommenen in eine Besserungsanstalt bringen, sollten
sie nicht einen Trinker dem Mäßigkeitsverein zuführen dürfen? Der Zweck des
Vereins wird vom Ministerium zu eng gefaßt; er ist nicht nur: Schutz der
eigenen Person vor Trunk und Bettung der Brüder von ihm, sondern vielmehr:
die Verdrängung der gebrannten Wasser aus der Zahl der Getränke (der Nahrungs¬
und Genußmittel) und Zurückführung derselben in die Apotheke; das einfachste
und kräftigste Mittel dafür ist der Entschluß, keine gebrannten Wasser mehr
zu trinken.
„Die Kirche muß (in solchen Vereinen) notwendig die aus ihrem eigenen
Prinzip hervorgegangene und für ihre eigene Aufgabe hilfreiche Wirksamkeit
erkennen. Denn es ist doch klar, wie die Trunkenheit eins der ärgsten und
giftigsten Unkrautgewächse ist, welche den Acker des Reiches Gottes über¬
ziehen und das Aufkommen des edlen Weizens unmöglich machen; und nicht
minder liegt es am Tage, wie die gebrannten Getränke eine so starke Macht
der Versuchung ausüben, daß, solange die Sitte des täglichen Genusses
bleibt, dieselbe immer auch in die Unsitte des unmäßigen Genusses ausarten
wird. Da nun soviel wenigstens völlig entschieden ist, . . . daß in keinem
einzigen Fall außermedizinischer Gebrauch dieser Getränke unentbehrlich ist: so
kann das Unternehmen, das darauf hinausgeht, eine der ärgsten und un¬
widerstehlichsten Versuchungen völlig hinwegzunehmen, von seiten
der Kirche nur auf das freudigste begrüßt werden und muß als ein
wahrhaft christliches (. . . nach Matth. 5, 29) notwendig anerkannt werden! Sollte
nun nicht auch jeden Christen die Liebe antreiben, an diesem Werke
teilzunehmen, vorzüglich den Geistlichen, von dem ja das christliche Volk
überall ein Vorbild zu erwarten berechtigt ist?“-—
1844 erhielten die Herzogtümer ein eigenes theologisches Fach¬
blatt: „Kirchen- und Schulblatt u (herausgegeben vom Archidiakonus
Th. Jeß und Diakonus E. Yersmann, Itzehoe). Sein erster Jahr¬
gang faßt wie ein Hohlspiegel die verschiedenen theologischen Ge¬
sichtspunkte zur Beurteilung der Mäßigkeitsvereine in einer Reihe
von Aufsätzen zusammen. Ein Ungenannter schreibt „ein Wort
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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein.
357
über und wider die Mäßigkeits- oder Enthaltsamkeitsvereine“ (Nr. 14
und 15): Wäre von den Vereinen selbst ausgesprochen, daß sie als
Verein außerhalb der Kirche stehen, so könnte die Kirche sie als
Gott wohlgefällige und segensreiche nicht anerkennen und fördern.
Bei vielen Vereinen ist eine solche interkonfessionelle Grundlage;
Christenleute, die Mäßigkeitsvereinler geworden sind, denken anders.
Die Kirche kann indessen nur mit dem Wort vom Kreuze Christi
einem jeden entgegentreten, der in seiner natürlichen Kraft durch
des Gesetzes Werk mit Entsagungen, Gelübden, Vorsätzen und Ent¬
schließungen seine Seele von Sünde reinigen will. Äußerlich mögen
die Vereine durch Minderung des Trunkes nützen; innerlich schaden
sie, wenn sie die Wirksamkeit der Kirche nicht mehren, sondern
lähmen. — Pastor Koopmann-Heide hält über die Enthaltsam¬
keitsvereine und ihre Berechtigung der Kirche gegenüber seine alte
Anschauung fest (Nr. 35): Weil diese Vereine ausschließlich auf
Ablegung eines Lasters, einer Sünde dringen, so können sie ihrem
Wesen nach nur Legalität anstreben und nicht das ganze innere
Leben umgestalten. Kein gläubiger, in Christo freigewordener
Christ wird, sobald er sich selbst und die ihm gebührende
Stellung versteht, als Mitglied in den Verein treten, vielmehr
wird das wider sein Gewissen sein. Was faktisch zum öffentlichen
Ärgernis geworden ist, wie z. B. der Branntwein, soll der Christ von
selbst und frei meiden. — Zwei Stimmen erhoben sich für die Ver¬
eine. Ein Ungenannter erwidert dem ersterwähnten Anonymus
(Nr. 25. u. 26): 1. Es ist eine falsche, eine einzelne Seite des Ver¬
einslebens zu scharf betonende Auffassung des Vereinswesens, daß
die Vereine die Enthaltung vom Branntweingenuß zum Haupt- und
Mittelpunkt des inneren Lebens der Mitglieder machen und so sich
an die Stelle der Kirche setzen. 2. Wer in der Entsagungsformel
etwas Gefährliches sieht, darf sich deswegen dem Kampfe gegen
den Branntwein nicht entziehen, sondern muß unter anderer Form
mit arbeiten. — Der reformierte Prediger van Khyn-Friedrich-
stadt erklärt (Nr. 43 u. 44) den Widerwillen hervorragender Geist¬
licher gegen die Vereine aus dem hier zu Lande notwendig ge¬
wesenen Kampf gegen den Pelagianismus innerhalb der Barche, —
aber das Wesen der Vereine sei nicht Legalität, sondern ein offen¬
bares Zeugnis gegen eine nicht klar erkannte Pest, gegen eine all¬
gemeine Unsitte; ähnlich ist’s mit den Antisklaverei-Vereinen. Dann
hören diese Vereine von selber auf, wenn die Christen alle die von
ihnen vertretene Wahrheit erkannt haben. — Über den Parteien
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Pastor Dr. Stubbe.
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steht Pastor Hansen-Keitum. Er sieht (Nr. 40 u. 41) die Quelle
der verschiedenen Urteile über die Stellung der Kirche zu den Ver¬
einen in der Verschiedenheit des Kirchenbegriffes; die organische
Auffassung werde in den Vereinen einen Fortschritt, die atomisti-
sche einen Rückschritt und Verfall der Kirche erblicken. Die ato-
mistische Auffassung lasse die Kirche aus den Individuen erwachsen;
sie müssen den Vereinen mißtrauen, weil sie Christen umfassen
wollen, ohne doch den Zweck der Kirche zu realisieren, — die
organische betrachte die Vereine als eine in den Lebensorganismus
der Kirche mit einbegriffene Erscheinung, nämlich als eine Reaktion
gegen eine mangelhafte Entwicklung desselben auf bestimmtem
Lebensgebiet Iu Wirklichkeit charakterisiere die verschiedene
Stellung der Theologen zu den Mäßigkeitsvereinen nur eine ver¬
schiedene Stellung zum Kirchenbegriff.
Je mehr in den vierziger Jahren die „Innere Mission“ ein
Sammelname ward für christliche Liebesarbeit an großen allgemeinen
Notständen innerhalb der Kirche, desto mehr setzte man den Kampf
gegen den Branntwein zu ihr in Beziehung.
„In irgend ein Gebiet wollte die Theorie den Kampf wider den Branntwein
versetzen: in das politische paßte er nicht, im kirchlichen fand er nicht allge¬
meine Anerkennung; so übertrug man ihn auf das wissenschaftliche — aber da¬
mit verliert er seine Kraft fürs Volksleben; er gehört in die innere Mission.
Er kämpft gleich anderen Vereinen der inneren Mission wider eine Handhabe
des Feindes, die dieser (gleich vielen anderen) geschickt gebraucht, um Leib und
Seele zu verderben. Mit einem Teufelsstrick möchte er alle durchschneiden.
Erst wenn den Vereinen diese Stellung gesichert ist, beruhen sie auf innerer
Notwendigkeit, und das Fernbleiben von ihnen (zumal der Geistlichen) ist Sünde,
unchristlich, lieblos, inhuman (Fernbleiben, nämlich ein solches, dem Mißbilligung
der Vereinsbestrebungen zu Grunde liegt).“ 1 )
Pastor Volquarts erklärte demgemäß ausdrücklich, den Kampf
von Anfang an als Sache der inneren Mission geführt zu haben. 2 )
Er aber, wie die eben vorher zitierte Stimme gehören zu den
Alkoholgiftgegnern. Wie die innere Mission mit dieser Richtung
sich auseinander setzt, gehört nicht mehr in den Rahmen einer
Schleswig - holsteinischen Mäßigkeitsgeschichte. Näheres darüber
findet man bei Martius 8 ).
Interessant ist, daß, wie die Mäßigkeitsvereine die Prediger in
') Kirchen- und Schulblatt 1847, S. 463.
*) Vgl. Mtsschr. für Innere Mission 1904, S. 474.
3 ) Z. B. Handbuch der deutschen Trinker - - frage Gotha (1891), Kap. 6,
S. 94 f.
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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein.
359
ihre Reihen hineinriefen, so Franz Baltisch, 1 ) dessen skeptische
Stellung zu den Vereinen in Abschn. 11 beleuchtet ist, besondere
Predigten und Mitarbeit der Geistlichen gegen — das zu frühe
Heiraten fordert. In frühen Heiraten liege auch eine Unmäßigkeit,
so gut wie im Branntwein trinken, und sehr oft sei letzteres die
Folge des aus ersteren entsprungenen Elends. (Auch sei eine Predigt
über das frühe Heiraten ebenso wichtig, wie die vorgeschriebene
Eidespredigt) — Es läßt sich begreifen, daß solches Streben, die
Pastoren mit ihren Predigten zum „Mädchen für alles“ zu machen,
gerade manche tiefere Naturen abstieß und sie dazu trieb, mit um
so mehr Eifer nur die eine große Hauptsache zu betonen, die ihrem
Amte anbefohlen war.
Die Stellung zum Branntwein wird von den Alkoholgift¬
gegnern auf die Formel gebracht: „Alkohol Gift, sein Genuß ist
Sünde.“ Wir haben an den Predigten von Volquarts (in Abschn. 9)
gesehen, wie dieser Grundsatz schließlich dahin seine Zuspitzung
fand, daß der Branntwein in Wahrheit Satansblut sei, und man beim
Branntweintrinken in leiblich-geistige Gemeinschaft mit dem Teufel
trete 2 ) — und erwähnt, daß der Alkohol vom „Weinigen“ verschieden^
das Weinige aber ungiftig und durch Gottes Wort geheiligt sei. 8 )
In den „Blättern des Hamburger Vereins gegen das Brannt¬
weintrinken“ 4 ) ward demgegenüber ausgeführt:
Es ist den geschicktesten Chemikern nicht gelungen, das Weinige als etwas
Besonderes und vom gewöhnlichen Alkohol Verschiedenes darzustellen. Wird also
Alkohol in destillierten Getränken selbst in den kleinsten Mengen als Gift ver¬
urteilt, so kann es in gegorenen Getränken nicht anders sein.
Indessen, was ist Gift? Im gewöhnlichen Leben versteht man das darunter,
was auf den Körper zerstörend einwirkt (Arsenik, Blausäure, Opium u. s. w.),
— in weiterem Sinne allerdings alles, was auf einen gesunden Körper störend
einwirkt, aber eben das kann in der Hand eines Arztes auf einen kranken
Körper heilsam einwirken. So ist es mit dem Alkohol. Selbst Wein und
starkes Bier ist für junge und reizbare Personen schädlich, Branntwein da¬
gegen als Getränk unbedingt verwerflich, als Arzneimittel von zweifelr
haftem Werte.
Auch kann man den Genuß nicht unbedingt Sünde nennen. Für ein
*) Eigentum und Vielkinderei. Kiel 1846, S. 131. 129. Vgl. Mau im
Kirchen- und Schulbl. 1846, S. 334.
*) Vgl. besonders die dritte Predigt.
*) Vgl. Abschnitt 8.
4 ) 1852, Nr. 3 u. 4. — Die Reihenfolge der Jahre ist in dieser Erörterung
ohne Bedeutung, da die Alkoholgiftgegner in ihren Anschauungen sich weder
durch die Erfahrungen des Jahres 1848, noch sonst wie beeinflussen lassem
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Pastor Dr. Stubbe.
Vereinsmitglied würde der Genuß Sünde sein, wo aber die Einsicht in die Brannt¬
wein Schäden fehlt, oder Vorurteil, Gewöhnung, Schwäche den Menschen hindert,
von Spirituosen zu lassen, oder ein Familienvater keinen anderen Lebenserwerb
hat als Brennerei, wollen wir nicht richten, sondern zu besserm Leben helfen.
Wenn Alkoholgiftgegner hiergegen einwenden: „In der Bibel, dem untrüglichen
Gotteswort, ist Alkohol unbedingt als Gift und sein Genuß als Sünde bezeichnet“,
so ist zu erwidern: Mögen einige Gelehrte in der Bibel Alkohol vom Wein unter¬
schieden und seinen Genuß verurteilt sehen, — andere Gelehrte urteilen anders.
Nicht ein Gelehrtenstreit, sondern Vernunft und Gewissen sollen uns offen¬
baren, was Sünde ist.
Eine „durch gütige Mitteilung des Herrn Pastor Yolquarts in
Lunden“ erfolgende Entgegnung 1 ) will es doch festhalten, daß Bier
und Wein nur ähnliche (nicht dieselben) Wirkungen haben wie
Branntwein — daß alles, was den Körper nicht nähre, sondern
störe, Gift sei — und der Genuß eines unbedingt schädlichen Ge¬
tränkes Sünde, wolle man nicht den Begriff von Sünde auf den Kopf
stellen. Eine Sanskritschrift des d’Hanvantose und dessen Schüler
Susönta „System der Medizin“, die „unter die heiligen Schriften
der ältesten Juden“ 2 ) aufgenommen ward und auf 1000 vor Christus
gesetzt wird, zeige, daß schon damals „Shekon, starkes Getränk“
bekannt gewesen sei. „Demgemäß könnte schon gerne in der
heiligen Schrift ein Verbot des ,starken Getränkes 4 (Branntwein)
enthalten sein, und möchte es in den 5 Büchern Moses enthalten
sein.“ (!)
Prof. Dr. Kranichfeld formulierte selber seine An¬
schauungen so:
Ist der Alkohol im Weine und dieser giftig, so hat Jesus zu Kana Gift
hervorgebracht und Gift beim Abendmahle gebraucht — und Propheten und
Apostel haben Gift empfohlen. Damit wird der Glaube an die heilige Schrift
erschüttert Biblisch begründet ist es, zwischen Wein und starken Ge¬
tränken zu unterscheiden. Die starken Getränke berauschen stärker als
der Wein; sie werden in der heiligen Schrift nirgends empfohlen, ja zum Teil
verboten und in ihren Wirkungen als schädlich, ja als giftig bezeichnet. Biblisch
steht so viel fest, daß der Branntwein zu den starken Getränken und zwar zu
den verbotenen gehört Es ist also die Anerkennung des Weinigen und des
Alkohols und die Giftigkeit des letzteren biblisch und in den heiligen 10 Geboten
begründet. 8 )
*) Bl. d. Hbg. V. 1852; No. 8 u. 9.
f ) Das ist doch zu ungeheuerlich — —! Ich vermute, daß es sieh um
einen Druckfehler für „Inder“ handelt.
•) Sendschreiben an die sämtlichen Mitglieder des Haupt-Vereins der
Alkohol-Gift-Gegner. Berlin, 11. März 1846; veigl. Ärztlicher Volksfreund
I. Jahrgang 1841, S. 157.
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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein. 361
Eine gründliche sachliche Widerlegung bot George Ludwig
Steinwender (lic. theol., Pfarrer bisher in Paaris, künftig in
Idebwalde) in einem offenen Sendschreiben „über die biblische
Unterscheidung zwischen Wein und starken Getränken und die
Statuten des Haupt-Yereins der Alkohol-Gift-Gegner überhaupt.“ 1 )
Auf Grund hebräischer Sprachkenntnis (die Kranichfeld abging)
und hermeneutisch-archäologischer Untersuchung der einschlägigen
Stellen zeigt er,
Daß Schechar (sicera, bei Luther: starkes Getränk) im allgemeinen etwas
Berauschendes sei, also den Wein (Jajin) einschließe, — in seiner speziellen
Bedeutung (sofern er weinartige, dem Weine ähnliche Getränke, künstlichen
Wein bezeichne) dagegen dem Hauptbegriff Wein untergeordnet werde. Verfehlt
ist es, Schechar als gebranntes Wasser zu betrachten. Biblisch kann eine
Unterscheidung zwischen Alkohol und Weinigem, und eine Identifizierung von
Schechar und gebranntem Wasser, sowie dessen Gegensatz zum Wein nicht
begründet werden. Im Kampfe gegen den Branntwein ist (mit Böttcher) der
Grundsatz seiner Gemeinschädlichkeit und Volks Verderblichkeit der allein richtige.
Kräftig und selbstbewußt trat Yolquarts für Kranichfeld
gegen Steinwender ein.*)
Um zu einer Entscheidung zu kommen und den Streit inner¬
halb der eigenen Reihen, wenn möglich, zu schlichten, griff man
nun zu dem alten Mittel der Universitätsgutachten. Das Direk¬
torium des Posenschen Provinzial-Vereins zur Unter¬
drückung des Branntweingenusses forderte am 5. Mai 1847
die evangelisch-theologische Fakultät zu Breslau zu einer
„Äußerung über den wissenschaftlichen Wert derjenigen Gründe,
womit der Herr Pastor Yolquarts zu Lunden im Holsteinschen .. .
die Schrift des Herrn Pastor Steinwender... zu widerlegen ver¬
sucht hat“. Unter dem 20. Juli 1847 gab die Fakultät ein von
den Professoren Middeldorpf, Schulz, Oehler und Böhmer
unterzeichnetes Gutachten ab 3 ), indem sie sich lediglich auf die
Meinungsverschiedenheiten von Steinwender und Yolquarts über
die alttestamentlichen Ausdrücke Jajin (Wein) und Schechar (be¬
rauschendes oder starkes Getränk) einließ. Sie pflichtete „der um¬
sichtigen, gründlichen und gediegenen Abhandlung des Herrn
*) Königsberg in Preußen, 1846, 48 Seiten.
*) General-Blatt für die Mäßigkeits-Reform 1847, No. 1 u. 2.
*) Bisher noch nie veröffentlicht; an dieser Stelle führt es zu weit, aus
dem in einer Abschrift 12 Folioseiten umfassenden Gutachten Einzelheiten an¬
zuführen; ich werde anderswo den für Theologen, aber eigentlich nur für sie,
interessanten Streitfall ausführlich darlegen.
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Pastor Dr. Stubbe.
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Pastor Steinwender sowohl in Hinsicht auf die Art der Be¬
handlung, als auf die darin ausgesprochenen Endresultate“ bei und
hielt es für „entschieden, daß eine wissenschaftliche, also von vor¬
gedachten Ansichten unabhängige Exegese, welche auf dem sichern
Grunde genauer Sprachkenntnis und einer sorgfältigen Erforschung
geschichtlicher Verhältnisse ruhen muß, zu keinem anderen Er¬
gebnisse gelangen können als
daß die Behauptung des Herrn Pastor Volquarts, die heilige
Schrift unterscheide den Wein und den Schechar in der Art,
daß sie jenen erlaube, diesen aber schlechthin verbiete, eine
gänzlich unerwiesene und ebenso unbeweisbare sei.“
In taktvoller Rücksichtnahme ersuchte die Fakultät, der
Öffentlichkeit nur mitzuteilen, daß sie sich für Steinwender aus¬
gesprochen habe, — sie wolle durch den Beweis, daß Volquarts
in irrtümlichem Eifer, - seine vorgefaßten Meinungen um jeden Preis
aus der Bibel zu beweisen, sich auf einen Kampf eingelassen, dem
er von vornherein nicht gewachsen war, ihm, einen vielleicht sonst
hochachtbaren und auch verdienstvollen Mann, keinen Schaden und
Nachteil bringen; dagegen stimmte sie dafür, Volquarts selbst das
Gutachten zur Kenntnis zu bringen.
Auch die theologische Fakultät von Greifswald und die katho¬
lisch-theologischen Fakultäten von Bonn und Münster sprachen sich
in besonderen Gutachten für Steinwender gegen Volquarts aus. 1 )
Volquarts indessen blieb bei seiner Anschauung, 8 ) — weder
lernend, noch vergessend; es handelte sich für ihn eben um ein
Dogma.
Anhang, betr. die Schule.
Kirche und Schule nennen wir gerne zusammen; Prediger
und Lehrer haben häufig gemeinsam Mäßigkeitsarbeit getrieben.
Im Kirchspiel Hademarschen z. B. gehörten zeitweise alle Lehrer
dem Vereine an; anderswo (z. B. Rendsburg) ward über Zurück¬
haltung der Lehrer geklagt. In Kiel übernahm Lehrer Gudenrath
nach Dr. Valentiner die Vereinsleitung. Von Lehrer Kröger-
Kronshörn ist uns ein in der Enthaltsamkeitsversammlung zu
Schilsdorf 1847, 19. Sept., gehaltener Vortrag über den Jüngling
von Nain aufbehalten: Die Mutter Kirche weint in der Lust, der
Annehmlichkeit (der Welt) über ihren Branntweintoten (über den
•) Ygl. Bl. des Hbg. V. g. d. Br. 1847, S. 80.
a ) Ditm. Volksfreund 1847, Bericht über die Braunschweiger Reise.
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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein. 363
durch Branntweingenuß geistig erstorbenen Sohn). Durch die
Enthaltsamkeitsvereine ruft der Heiland ihm sein „Stehe auf und
wandle in einem neuen Leben!“ zu. 1 )
Das Schleswig-Holsteinische Schulblatt (Quartalschrift von
Prof. Asmussen-Segeberg) brachte 1842 eine von Propst Callisen
und Pastor Heimreich-Rendsberg erlassene Aufforderung an sämt¬
liche Geistliche und Lehrer, für die Mäßigkeitssache kräftigst zu
wirken. Den Schullehrern der Propstei Oldenburg ward 1843 auf
Veranlassung des Grafen Holstein von Waterneverstorf als Propstei¬
frage zur Beantwortung gegeben: „Was können und sollen die
Volksschullehrer tun, um den wichtigen Zweck der Mäßigkeits-
Gesellschaften zu befördern?“ 8 )
13. Heereswesen und Alkohol.
Aus dem Gebiete der Theorie gehen wir über in die praktische
Arbeit. Zwei kleinere Lebensgebiete nehmen wir vorweg, ehe wir
eine Gesamtübersicht zu geben versuchen: das Heereswesen und
die Schiffahrt.
Die dem Branntwein günstigen Vorurteile früherer Zeit hatten
ihn zu einem festen Bestandteil der Soldatenverpflegung gemacht.
Im Jahre 1843 wurden bei den Herbstmanövem des 10. Armee¬
korps des Deutschen Bundes Vergleiche angestellt, wie der Genuß
oder die Entbehrung des Branntweins bei Strapazen im Freien
unter denselben Verhältnissen wirkte.
Einige Regierungen hielten es für gut, ihre Truppen nach alter
Weise mäßig mit Branntwein zu versorgen, während andere durchaus
keinen Branntwein austeilten und das dadurch ersparte Geld zur
noch besseren Verpflegung der Mannschaften anwandten. 8 ) Die
Holstein-Lauenburger, Mecklenburger und Hannoveraner bekamen
Branntwein, während die Braunschweiger, Oldenburger und Hanseaten
keinen erhielten. Man hätte nun annehmen sollen, daß die Hol¬
stein-Lauenburger und die Mecklenburger als durchweg Landleute
mindestens den Hanseaten (durchweg Städtern) überlegen sein
*) Ditm. Volksfreund 1848, No. 6.
*) Nach den Mittig, des Lehrer em. C. F. Hansen in Schlesw.-Holst.
Schulztg. 1904, S. 40. — 1848 beschloß die Hamburger erste deutsche General¬
versammlung der Vereine g. Br. einen Aufruf an den deutschen Lehrstand.
*) Die, welche auf Branntwein verzichteten, erhielten täglich statt */ 4
*/ 4 Pfund Fleisch. Bl. d. Hbg. V. g. Br. 1843, S. 114.
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Pastor Dr. Stubbe.
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müßten, zumal, wenn der Branntwein Kraft gäbe; es zeigte sich das
Gegenteil. Bei den Branntwein trinkenden Truppen kam
durchschnittlich 1 Kranker auf 45 Mann.
Die Holstein-Lanenburger, 3600 Mann, hatten 82 Kranke oder
1 Kranken auf 44 Mann. Bei den keinen Branntwein trinken¬
den Truppen kam durchschnittlich 1 Kranker auf 90 Mann.
Die Hanseaten, 2190 Mann, hatten 14 Kranke oder 1 Kranken
auf 156 Mann. (Nur die Lazarettkranken sind gerechnet.) Also
hat der Branntwein einen doppelten Krankenbestand erwirkt Es
ist, schreibt Dr. Nölting, 1 ) durchaus kein anderer haltbarer Grund
als der regelmäßige Genuß von Branntwein für dieses auffallende
Verhältnis vorhanden, indem die Verpflegung bei allen Truppen gut
war. Man könnte einwenden, daß die Truppen, die keinen Brannt¬
wein erhielten, sich solchen für ihr eigenes Geld kauften; das
haben aber sicher die, welche ihre Rationen empfingen, ebenso¬
gut getan.
Einen kleinen Erfolg haben indessen die Mäßigkeitsvereine
auch bei der Armee der Herzogtümer zu verzeichnen. Der Brannt¬
wein soll keinem Soldaten aufgedrängt und über den Trunk im Heere
strenge gewacht werden.
„General-Kommando-Befehl. *) Schloß Gottorff, den 28. März 1848.
Unter Berücksichtigung, daß sich in manchen Gegenden der Herzogtümer
die Mäßigkeitsvereine auf eine sehr erfreuliche Weise ausbreiten, und manche
junge Leute sich diesen nützlichen Vereinen, bevor sie in die Armee als Re¬
kruten eintraten, schon zugesellt haben, halte ich es meinerseits für meine Pflicht,
es den Kommandeuren der verschiedenen Truppenabteilungen meines General¬
kommandos insbesondere, allen anderen Offizieren aber im allgemeinen zu
empfehlen, strenge darüber zu wachen, daß die neu einkommenden Soldaten nicht
von den älteren Kameraden aus Mutwillen oder von den Unteroffizieren unter
dem Vorwände, die ungewohnte Arbeit leichter ertragen zu können, zum Genuß
des Branntweins im Widerspruch mit ihren guten Vorsätzen ermuntert werden.
Namentlich befehle ich, daß jeder Batterie-, Eskadrons- und Kompagniechef seinen
Unteroffizieren von meinem sehr ernstlichen Willen, dem Laster des Trunkes
entgegen zu wirken, in Kenntnis setze; zu welchem Zwecke ich auch künftig
keine Gesuche derselben um die Erlaubnis, als Stellvertreter zu dienen, einsenden
') Bl. d. Hbg. V. g. Br. 1844, S. 28, vgl. Voges, Geschichtliche Ent¬
wicklung des Hbg. V. g. Br., S. 18.
*) Bl. d. Hbg. V. g. Br. 1843, S. 59. — 1845 wurde auf der General-Ver¬
sammlung der deutschen Vereine gegen das Branntweintrinken zu Berlin be¬
schlossen, bei den deutschen Staatsoberhäuptern wegen Ersetzung der
Branntweinrationen im Heere durch gesunde, nahrhafte Lebensmittel oder Geld
vorstellig zu werden.
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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein. 365
werde, ohne daß ein Zeugnis des Eskadrons- und Kompagniechefs anliegt, daß der
Bittsteller in dieser Beziehung vollkommen tadelfrei ist.
gez. F. Pz. Holstein.“
Der bekannte Patriot Vollmacht Mohr, „ein Dithmarscher
ohne Falsch“, macht darauf aufmerksam, daß die Körpergröße infolge
des Trinkens abnehme. 1 ) „Geht nach Heide; seht da, wenn die
Session ist, unsere jetzige Jugend; was sind sie? Zwerge gegen
unsere früheren Vorfahren. Daher sollte man mit Recht den Brannt¬
wein verpönen und ihn von Regierungs wegen verbieten.“ Vol-
quarts merkt an, daß in Preußen das Maß für Soldaten fast um
2 Zoll habe herabgesetzt werden müssen; hohe Offiziere schreiben
dieses dem frühen Branntweingenusse zu.
Kriegsunruhen pflegen stets Trinkausschreitungen günstig zu
sein. Als die dithmarscher jungen Mannschaften zum Freiheits¬
kampfe nach Rendsburg abzogen, meinte mancher, sich aus der
Flasche Mut holen zu müssen, — doch fand es allgemeine Mi߬
billigung. Ein Vereinsmitglied berichtete, daß bei der schleswig¬
holsteinischen Artillerie viel Branntwein getrunken werde; auf der
Bürgerwache zu Rendsburg florierte der Schnaps, und unter den
Freiwilligen waren manche keine Kostverächter.
Die Dänen, welche in Bustorf bei Schleswig lagen, tranken auch
viel Branntwein. Am Osterabend wurden ganze Anker dort ver¬
teilt. Ihre Offiziere tranken ebenfalls stark. Daher konnten sie
am Ostertage leicht überrumpelt werden. Die ersten Vorposten
am Kropper Chausseehause sollen (infolge des Schnapsgenusses)
geschlafen haben, und die Verschanzungen waren fast gar nicht
besetzt. 2 )
1848 beklagen es die Mäßigkeitsfreunde, daß Norderdithmarschen,
Süderdithmarschen und Eiderstedt je 20 Oxhofte Branntwein für
die Armee liefern müssen (je 20 Oxhoft = 50 To. Korn oder
15000 Pfund Brot oder 200 To. Kartoffeln!) 8 )
Als in dem gleichen Jahre 9.—14. Mai Major von Zastrow
einen Zug nach Aarhuus macht, um für 7500 Mann Lebensmittel
für 14 Tage zu requirieren, läßt er sich u. a. 17225 Quartier
Branntwein liefern. 4 ) Im Amt Veile wurden für ca. 20000 Mann
*) Ditm. Volksfreund 1848, Nr. 5, S. 66.
*) Bl. d. Hbg. V. g. d. Br. 1848, S. 57.
8 ) Ditm. Volksfreund 1848, Nr. 6, S. 81.
4 ) Ditm. Volksfreund 1848, S. 66.
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täglich 5100 Flaschen Branntwein und 350 Flaschen Wein ge¬
fordert. *)
Mit Stolz wird gelegentlich berichtet, daß junge Mäßigkeits-
vereinler auch als Krieger ihrem Enthaltsamkeitsgelübde treu
bleiben. *)
Eine große Freude ist es, als bei der Lundener Jahresfeier
1849 der Vorsitzende mitteilen kann: Das Kriegsdepartement hat
befohlen, daß die Soldaten, wenn sie Naturallieferungen erhalten,
wählen können, ob sie Vs Quart. Branntwein oder 1% Lot ge¬
brannten Kaffee haben wollen, — eine Frucht des Gesuches
des dithmarsischen Zentralvereins gegen das Branntweintrinken.
Von allgemeinem Interesse dürfte es sein, daß von Schleswig-
Holstein, dem Hauptstützpunkte der neuen Reichsflotte, ein Versuch
aasging, die erste deutsche Flotte branntweinfrei zu gestalten. Das
denkwürdige Gesuch lautet:
An die hohe deutsche Nationalversammlung in Frankfurt. 3 )
Berufen vom Volke, Deutschland nicht bloß dem Namen nach,
sondern auch der Tat nach in die Reihen der selbständigen und
kräftigen Großstaaten eintreten zu lassen, haben Sie durch den Aus¬
spruch eines einigen Deutschlands eine großartige Zukunft vor¬
bereitet. Geht Deutschland auf diesem Wege fort, so wird es seine
Weltmission, die es seiner Stellung und Lage nach in Europa hat,
auch erreichen und erfüllen.
Um Deutschland seine hohe und erhabene Stellung mit Kraft
und Macht einnehmen zu lassen und ihm die Möglichkeit zu geben,
seinen Willen nach allen Seiten hin auszuführen, haben Sie, hoch¬
geehrte Vertreter Deutschlands, den Willen ausgesprochen und den
Befehl gegeben, Deutschland nach allen Seiten hin wehrhaft zu
machen. Es soll nicht bloß in seinem Innern stark und kräftig
sein, um allen Angriffen zu widerstehen, sondern es soll auch an
seinen Grenzen stark, so stark sein und werden, daß keine Nation
in Zukunft Deutschlands Adern und Lebensnerv begrenzen und be¬
schränken kann.
Sie haben den Befehl gegeben, eine deutsche Flotte zu bauen,
und schon einen herrlichen Anfang gemacht.
Schleswig-Holstein hat die Notwendigkeit einer Flotte tatsäch¬
lich bewiesen; denn der Mangel einer Flotte beschränkt uns noch
») Bl. d. Hbg. V. g. d. Br. 1848, S. 58.
2 ) Bl. d. Hbg. Y. g. d. Br. 1848, S. 57 nach dem „Volksfreund“.
3 ) Dithmarsischer Volksfreund, 5. Jahrg. 1849, Nr. 4, S. 58 f.
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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein. 367
immer in unsem Rechten und droht, unsere angestammten Rechte
uns zu nehmen und unsem Bruderstaat Schleswig wieder unter
fremde Botmäßigkeit zu bringen. Darum ist allenthalben und be¬
sonders in unsem Landen dieser Befehl mit Enthusiasmus aufge¬
nommen, und hoffentlich ist die Zeit nicht ferne, in der das schwarz-
rot-goldene Banner siegreich und ungebeugt die Meere durch¬
schneidet, den Stolz und Übermut der Inselbewohner hemmt und
bricht, und bewirkt, daß man sich allenthalben vor Deutschlands
Macht beugt.
Die deutsche heranwachsendeFlotte steht da wie eine keusche
und unschuldige Jungfrau, noch durch nichts, weder Blick
noch Tat entweiht Möge nie ein giftiger Hauch ihre weißen
Segel verunreinigen! Möge sie immer rein, unschuldig und keusch
bleiben, nie durch Alkoholgift verunreinigt werden.
Hohe Nationalversammlung wollte mit Recht den Jesuitenorden
aus Deutschland verbannen; denn, wo er ist, bringt er Unsegen und
Unheil und ruft allenthalben Zwietracht hervor.
Es ist noch ein Jesuitenorden in Deutschland, der zunächst
aus demselben Lande zu uns gekommen ist, aus welchem Loyolas
entsprossen ist; aber er ist älter als dieser Orden und im Unheil¬
stiften und Unheilbringen übertrifft er diesen bei weitem; ja! gegen
diesen Jesuitenorden ist Loyolas Orden eine Lichtgestalt Dieser
ruft viel Zwietracht hervor und Finsternis, allein jener bewirkt
nicht bloß leibliches, sondern auch geistiges Elend, ja sogar den
geistigen Tod hier und dort
Dieser Jesuit ist der arabische Proteus, welcher, wie oft auch
entlarvt, immer in neuer Form sich wieder zeigt und so wiederum
täuscht; er ist die lemeische Schlange, bei der es nichts nützt,
einen Kopf abzuhauen; denn aus dem Blute erwachsen gleich
zwei wieder, wenn die Stelle nicht gleich mit Feuer verbrannt wird.
Dieser Jesuit ist:
„der Branntwein nebst seinen Brüdern: Grog,
Punsch, Likör und wie sie alle heißen mögen.“
Die Geschichte der früheren Jahrhunderte beweiset zur Genüge,
wie entbehrlich der Branntwein ist und ohne ihn Krieg geführt
werden könne, selbst mit und unter größeren Schwierigkeiten wie
jetzt Wir erinnern an Cyrus, Alexander, Hannibal, die
Griechen, die Römer, die Kreuzzüge. Kurz die frühere Geschichte
lieferte Heldentaten, gegen welche die Jetztzeit zu Schanden fast
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Pastor Dr. Stubbe.
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wird. Die Welt hat Jahrtausende bestanden ohne Branntwein und
ohne ihn Werke vollbracht, welche den Stürmen von Jahrtausenden
(wir erinnern an die Pyramiden Ägyptens, die prächtigen Dome)
widerstanden haben, während mancher Bau, mit Branntwein voll¬
endet, keine Jahrzehnte Bestand hat. Solange es keinen Brannt¬
wein gab, war Deutschland groß, geehrt, stark, einig; allein seit
der Branntwein in ihm eine Statt gefunden hat, seitdem er allent¬
halben Burgen und Festungen sich erbaut hat, seitdem in un¬
zähligen prachtvollen Tempeln dem Götzen und Könige Alkohol in
jeglicher Gestalt von Männern und Frauen, Jünglingen und Jung¬
frauen und selbst von Kindern gehuldigt und geopfert wird: ist
Deutschlands Name untergegangen, ist es schwach und jämmerlich
geworden.
Ja, wo sind die kräftigen, großen, stolzen Deutschen, vor denen
die kriegerischen Römer einst sich beugten und zitterten? Der
Branntwein hat die harten, festen Eichen Deutschlands in weiche,
schmiegsame Weiden verwandelt, so daß das Soldatenmaß um
2 Zoll fast herabgesetzt hat werden müssen, um die durch den
Branntwein entstandenen Lücken nur mit Männleinen wieder aus¬
zufüllen.
Verbannen Sie, Hohe Nationalversammlung, dieses Leibes- und
Geistesgift. Der Branntwein ist der ärgste Jesuit Was man
diesem Orden nachsagt, ist nur Kinderspiel gegen das, was der
Alkohol-Orden vollbringt. Er ist ein Lügner; was er bewirkt,
sind nur Lügnerprodukte. Wie lange soll Deutschland durch den
falschen Lügengeist trunken gehalten werden?
Hindern Sie wenigstens, daß die junge, deutsche, j ungfräuliche
Flotte nicht durch den Branntwein geschändet und ge¬
brandmarkt wird. Befehlen Sie, wie in Holland die reformierte
Gemeinde in Handwoort es bei dem Bau ihres Gotteshauses machte,
die sich ausbedang, daß bei dem Bau kein Branntwein getrunken
werde, „daß bei der Flotte kein Branntwein getrunken“
und „daß jeder Arbeiter, der seine Kraft aus der Flasche
holt, entlassen werde“. — Hermanns Denkmal im Teutoburger
Walde ist ohne Branntwein vollendet worden.
Der Seesoldat und Matrose bedarf noch mehr Geistesfähig¬
keit wie der Landsoldat. Ein geringes Versehen eines einzelnen
bringt oft vielen Hunderten das Verderben. Auf der See bedarf
man ebensowenig den Branntwein wie zu Lande. Alle Schein¬
gründe und alle Schminkgründe, welche man auf dem Lande für
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Original fro-m
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Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein.
369
den Branntwein anzuführen pflegt, fallen zur See ganz in ihr Nichts
zusammen.
Bremen, Amsterdam, Hamburg senden Schiffe ohne Branntwein
aus. Amerikas Schiffe befahren alle Meere ohne Branntwein.
Kapitän Roß fuhr nach dem Nordpol ohne Branntwein. In Eng¬
land sind die wassertrinkenden Matrosen stärker als die grogtrinken¬
den. Sollten allein die Deutschen diesen Höllentrank nicht ent¬
behren können, oder wollen wir ihn nur nicht entbehren? Fort
mit ihm aus dem Leben. Er nützt nichts; er verdirbt alles, nicht
bloß die Gegenwart, sondern auch die Zukunft.
Darum, Hohe Nationalversammlung, noch ist die deutsche
Flotte eine reine Jungfrau, bewahren Sie ihre Unschuld
und Keuschheit. Die deutsche Flotte ist ein neues Institut;
Sie haben durchaus freie Hand, jegliche Einrichtung zu treffen,
welche Sie wollen. Sie sind durch nichts gebunden; darum ver¬
hindern Sie, daß der Branntwein unsere deutsche jungfräuliche
Flotte beflecke und schände.
Unterzeichnete bitten daher gehorsamst:
„Eine Hohe Nationalversammlung wolle anbefehlen,
„daß die Arbeiter an der deutschen Flotte keinen Brannt-
„wein genießen, und durch ein Reichsgesetz den Brannt-
„wein von der deutschen Flotte ferne halten und ver¬
bieten, daß den Matrosen und Seesoldaten von Reichs
„wegen Branntweinportionen gegeben werden.“
Gehorsamst:
Yolquarts, p. t Direktor des S.-H. Zentralvereins, Deputierter
des Lun den er Yereins.
D. Horstmann, Landesbevollmächtigter undKaufmann, H. Feh-
man, J. H. Hedschen, Deputierte des Heider Vereins.
Jürgen Sibbert, Deputierter des Tellingstedter Vereins.
J. Steinberg, Deputierter des Meldorfer Yereins.
14. Schiffahrt und Branntwein.
Der Petersensche gemeinnützige Almanach lenkt 1840 die
öffentliche Aufmerksamkeit auf den Segen einer branntweinfreien
Schiffahrt. Er legt dar:
„Aus England und Amerika gehen jährlich mehr als 1200 Schiffe in See
ohne einen Tropfen Branntwein, ausgenommen in der Schiffsapotheke. Und
von diesen Schiffen gehen viele in die rauhesten Gegenden der Erde — im Norden
nach Grönland, Labrador, Spitzbergen — im Süden nach dem Feuerlande, der
Der Alkoholiamus. 1905. 25
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Gck igle
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370
Pastor Dr. Stubbe.
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Magellanstraße und den Falklands-Inseln auf den Walfischfang. Zuweilen stürmt
und wogt es im wilden Meere, daß wochenlang kein Feuer im Schiff angeinacht
werden darf, kein warmer Trank gekocht, keine warme Speise zubereitet, kein
trockenes Hemd angezogen werden kann. Und die armen Matrosen bekommen
keinen Branntwein? Nein, weil keiner im Schiffe ist. Allein die armen Matrosen
kommen besser zurecht im Kampfe mit den aufbrechenden Elementen, und die
armen Matrosen kommen gesunder zu Hause nach bekämpfter Gefahr und
überstandener Not; und von den Schiffen, welche den armen Matrosen die kleine
Labung des Branntweins versagten, kommt verhältnismäßig eine so viel größere
Anzahl wohlbehalten nach Hause, daß die Assekuranz-Kompagnie ihnen die
Versicherung viel wohlfeiler zu teil werden läßt. u
Bei Hamburg weht zuerst die Mäßigkeitsflagge auf
deutschen Schiffen (Schiffe, welche keinen Schnaps gestatten, führen
eine Plagge mit der Inschrift: „Ohne Branntwein“). Die angel¬
sächsischen Erfahrungen finden bei uns Bestätigung. 1843 läßt
Lorenz Karberg aus Apenrade für seinen Schoner Marie, Ka¬
pitän Holstein, von Hamburg nach Valparaiso, und für seine Fre¬
gatte Neptun, Kapitän Hissing, von Apenrade nach Lissabon und
Rio de Janeiro segelnd, nur solche Leute annehmen, welche die
Verpflichtung eingehen, keinen Branntwein zu verlangen und zu
trinken! 1 ) — 1847 wird aus Apenrade berichtet: Die meisten
Schiffe gehen jetzt ohne Branntwein in See, und die Führer sind
sehr zufrieden, weil alle Schiffer williger in ihrer Arbeit und ge¬
sund sind. 2 * ) Und ähnlich aus Keitum (Sylt): Kapitän Jens
Bleicken, der Stifter des Vereins, und viele mit ihm gestehen,
daß die Seefahrten besser und glücklicher von statten gehen ohne
Branntwein als mit demselben. 8 ) Gegen die Bedenken, bei einer
Südpolexpedition Branntwein auszuschließen, äußert sich
Bleicken brieflich (nach Hamburg):
Keitum, 30. Oktober 1844.
„Es ist mir auffallend, bei dieser Gelegenheit zu erfahren, daß die Herren
Teilnehmer der dortigen Südsee-Expedition der Meinung sind, es könne ein
Hindernis für sie abgeben, ihre Schiffe mit tüchtigen Seeleuten besetzt zu er¬
halten, wenn sie die Bedingung geltend machen wollten, den Besatzungen der¬
selben durchaus keinen Branntwein reichen zu wollen. Wenn nun gleich die
Gewohnheit des Branntweintrinkens unter den Seeleuten sehr allgemein vor
diesem gewesen ist, so weiß ich doch aus Erfahrung, wenn man früher, lange,
bevor an Vereine gegen das Branntweintrinken gedacht wurde, den Leuten den
Vorschlag gemacht hätte, ob sie den Branntwein gegen Kaffee vertauschen
1 ) Voges, Geschichtliche Entwicklung des Hbg. V. g. d. Br. Ham¬
burg 1856, S. 16.
2 ) Volquarts, a. a. 0., S. 31.
8 ) Volquarts, a. a. 0., S. 30.
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HARVARD UNIVERSUM
Aus der älteren Mäßigkeitsbewegung in Schleswig-Holstein. 371
wollten, so bin ich gewiß, daß bei weitem die Mehrzahl dem Kaffee den Vorzug
würde gegeben haben, und besonders würden alle jüngeren Seeleute dafür ge¬
stimmt haben. Auf meinen letzten Reisen nach Westindien, und es sind jetzt
schon 26 Jahre, seit ich die letzte dahin machte, gab ich meinen Leuten statt
Branntwein des Morgens Gerstenwasser mit Zucker und etwas Säure vermischt,
womit die Leute weit besser zufrieden waren als mit Rum und Branntwein, und
sie befanden sich dabei auch besser und hielten sich gesunder. Es war eine
üble und für junge Leute höchst verderbliche Sitte, die man früher hatte, den
jungen Leuten morgens, und oft nüchtern, Branntwein zu geben; denn, was der
Mensch nüchtern genießt, wird gar leicht zur Gewohnheit und zum Bedürfnis
für ihn, und ganz methodisch machte man sie daher auf diese Weise zu Säufern.
— Es ist gewiß die Absicht und der Wille der Herren Teilnehmer dieser Unter¬
nehmung, daß die Leute auf den Schiffen eine gute Beköstigung erhalten sollen.
Daran wird nun keiner zweifeln; und ob dann Branntwein gereicht wird oder
nicht, das wird kein Hindernis für die Komplettierung der Besatzungen in unserer
Zeit mehr abgeben können. Von einer anderen Seite aber betrachtet, so würde
ich nicht allein darauf halten, daß auf solchen Reisen den Leuten kein Brannt¬
wein gereicht werde, sondern es müßte den Leuten auch strenge verboten
werden, selbst Branntwein mitführen zu dürfen; denn an aller Unzufriedenheit,
allem Spektakel und aller Insubordination auf den Schiffen, und besonders auf
solchen langen Reisen, ist fast allein die Schuld dem Branntwein zuzuschreiben.
— Wüßten die Herren Reeder und alle, die bei der Seefahrt beteiligt sind, wie
sehr es in ihrem Interesse liegt, die Gewohnheit des Branntweintrinkens von
den Schiffen zu verbannen, sie würden gewiß alle ihnen zu Gebote stehenden
Mittel zur Erreichung dieses Zweckes in Anwendung bringen.“ 1 )
Unter den Seeleuten fassen die Mäßigkeitsvereine festen Fuß.
Ein Elmshomer Schiffer widmete (1844) seinen Berufsgenossen einen
dichterischen Aufruf:
An euch, Schiffer, rieht’ ich diese Zeilen
Nah’ und fern, auf Fluß und Meer und Land:
Lasset uns nicht länger töricht weilen,
Laßt uns meiden des Verderbens Strand,
Wo so mancher Seemann ist gescheitert —
In der besten Lebensblüte Zeit;
Mancher, den die Flasche nur erheitert,
Schlecht bereitet ging zur Ewigkeit.
Manches Menschenleben wird erhalten,
Mancher Schiffbruch wird vermeidlich sein,
Alles wird sich besser dann gestalten,
Wenn wir nicht mehr trinken Brannte wein.
Ruhig steht alsdann in Sturm und Wetter
Jeder Seemann seiner Pflicht bewußt,
Blickt nach oben zu dem großen Retter;
Mut, Besonnenheit erfüllt die Brust. 2 )
») Bl. d. Hbg. V. g. d. Br. 1844, S. 189.
2 ) Ebenda 1844, S. 50.
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372 Pastor Dr. Stubbe. Aus d. älteren Mäßigkeitsbeweguug in Schleswig-Holstein.
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Ein Elmshorner Schiffer war es auch, der den Mäßigkeitsverein zu Crempe
gründete.
Von Kapitän Bl ei cken-Keitum ist uns eine Ansprache an Seeleute auf¬
bewahrt, 1 ) gehalten bei der Stiftung des Sylter Vereins gegen das Branntwein¬
trinken. Er sagt darin u. a.: „Es gibt keinen Stand, für welchen der Genuß des
Branntweins so gefahrbringend und so verderblich werden kann, als für den
Stand der Seeleute; und es ist leider zu bekannt, und ich halte es daher für
überflüssig, darüber Beispiele anzuführen und herzuzählen, wie viele Schiffe
und Menschenleben jährlich dadurch verloren gehen, weil auf Schiffen, wo Rum
und Branntwein zu reichlich genossen werden, nicht die erforderliche Ordnung
gehalten, kein richtiges Besteck geführt werden kann, die Leute oft sehr schlecht
behandelt und mit unnützen Arbeiten gequält werden, und in Stunden der Ge¬
fahr es an ruhiger Überlegung und Geistesgegenwart mangelt, diesen mit Mut
und der nötigen Besonnenheit begegnen zu können. Und die schon alte Be¬
hauptung, daß weit mehr Menschen durch Branntwein als durch Wasser, wenigstens
mittelbar, ums Leben kommen, kann daher nicht widerlegt werden. 11 -
„Ich bin daher überzeugt, daß meine Stimme nicht unbeachtet bleiben wird,
wenn ich meine früheren Berufsgenossen, den ganzen Stand der Seeleute, der
in so mancher Hinsicht ein ehrenvoller ist, der so viele hochherzige, brave und
tüchtige Männer zählt, . . . zur Teilnahme an dem Kampfe gegen den Brannt¬
wein auffordere, und, wenn sie sich von der Gefährlichkeit dieses Feindes erst
recht überzeugt haben, daß sie ihn alsdann mit ihrer gewöhnlichen Entschlossen¬
heit und Beharrlichkeit bald aus ihrer Mitte vertreiben und ihm ganz den
Garaus machen werden.“ Sogar nach Helgoland richtet Blei cken (1845) ein
Mahn- und Werbeschreiben.
Die Mäßigkeitsvereine der Inseln (Sylt, Föhr, Hooge, Langenes,
Rom) stützen sich naturgemäß auf die Schiffer- und Fischerbe¬
völkerung. In Blankenese (-Nienstedten) versucht man, eine Lehr¬
anstalt für Schiffer und das Schiffsversicherungswesen in das Yer-
einshaus hineinzuziehen. Wie man von Dithmarschen aus auf die
deutsche Flotte einzuwirken suchte, ist im vorigen Kapitel ge¬
schildert worden.
') 1844, S. 35.
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Original from
HARVARD UNIVERSITY
373
II. Referate.
Deherme. Der Alkoholismus in den Kolonien. Annales antialcool. April 1905.
Yor einiger Zeit berichteten die Zeitungen über unerhörte Grausamkeiten,
welche in einer französischen Kolonie in Afrika vorgekommen waren. Jene
Franzosen, die zum Schluß der, Tafel einen armen Neger mit Dynamit zer¬
sprengten, waren trunken. Die Leute, welche eine alte Frau rösten ließen und
aus einem Menschenkopfe Bouillon bereiteten, standen unter Alkoholwirkung.
Kolonisation ist notwendig für die Kulturvölker. Sie ist die nicht am
wenigsten tragische und auch nicht am wenigsten edle Form des Kampfes ums
Dasein für die einzelnen Rassen und die einzelnen Zivilisationen. Den Anteil
einer europäischen Nation an der Fortentwicklung der Menschheit wird man nach
ihrer kolonisatorischen Kraft bemessen.
Verfasser berichtet aus seiner eigenen Erfahrung über die Verhältnisse in
dem französischen Indo-China. Intelligent und moralisch wie irgend ein anderes
Volk verstehen sich die Franzosen doch schlecht auf die Verwaltung von Kolonien.
Ihre Intelligenz und Moralität paßt sich den Verhältnissen der Kolonie nicht an.
Wo Volkserzieher im besten Sinne nötig wären, da stellen sich Kolonisten ein,
welche ausschließlich von der Idee beseelt sind, möglichst schnell und mit mög¬
lichst geringer Mühe reich zu werden. Das Militär — von den Offizieren natür¬
lich abgesehen — gehört zum Ausschuß.
Der Alkoholismus ist die tödliche Wunde, an der alle französischen
Kolonien leiden. Die Schandtaten eines Girard, Gaud, Toque sind nicht als
Ausfluß eines Tropenkollers anzusehen, sondern nur als Produkte des Alkoholismus.
Der Alkoholismus spielt den General der Kolonialarmee. Der Soldat kennt kein
anderes Vergnügen, als die fürchterlichen und dabei wohlfeilen chinesischen
Schnäpse zu trinken. Dadurch werden die Soldaten entnervt und füllen schon in
Friedenszeiten die Hospitäler. Man sollte in den Kolonien Seemanns- und Soldaten¬
heime gründen, vor allem aber nur tüchtige Elemente zur Kolonialarmee ausheben.
Aber nicht nur unter dem Militär übt der Alkoholismus in Indo-China
seinen verderblichen Einfluß. Die Zivilbevölkerung in Saigon, Hanoi, Haiphong
huldigt den sogenannten „eröffnenden 11 Likören, namentlich dem Absinth. Über
den Frühstückslikör will der Verfasser nichts sagen. Um 5 Uhr ist Gesohäfts-
schluß, diniert wird um 8. Die Zwischenzeit auszufüllen reicht ein „aperitif“
nicht aus. Also nimmt man Nr. 2 ein wenig schwächer wie den ersten, sagen
wir einen fünfgrädigen, dann einen viergrädigen u. s. f. Wenn man unten bei
1 angelangt ist, fängt man eventuell wieder von vorn an. Nach dem Essen
kommen die cock-tails an die Reihe und bei jeder besonderen Gelegenheit der
Champagner. Verläßt man das Speisehaus, so ist man angezecht, der Tropen¬
koller regt sich, und um sich zu beruhigen, verprügelt man seinen Kuli, seinen
Boy, vergreift sich an einem Mädchen. Am nächsten Tage beginnt das Spiel
von neuem.
Dagegen spielen in den englischen Kolonien: Colombo, Singapore, Hong¬
kong, die der Verfasser besucht hat, die Bars nicht die Rolle wie in den fran¬
zösischen Besitzungen. An die Stelle der Kneipe ist hier der Sport getreten?
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Referate.
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zum größten Vorteil für die Kolonisten. Man kann gar nicht oft genug betonen,
daß die Ursache des Alkoholismus in den Kolonien die Langeweile ist. Daher
muß man für körperliche und geistige Arbeit sorgen und die Zahl der unnötigen
(aber einträglichen) Kolonialämter vermindern. „Die Kolonien haben genau den¬
selben Wert wie die, welche sie verwalten.“ P. S.
Nin T Sy Iva, Celedonio. Der Alkoholismus In Uruguay. Annales antialcool.
Mai 1905.
Das Hauptlaster der Einwohner von Uruguay ist das Spiel und nicht der
Trunk. Doch ist der Alkoholismus auch in Uruguay in der Zunahme begriffen.
Vielfach wird den alkoholischen Getränken noch der Paraguay-Thee, Mate ge¬
nannt, vorgezogen. Die Bauern von Uruguay trinken bei ihren Festen mit Vor¬
liebe „canna“, einen aus der Zuckerrohrmelasse gewonnenen Branntwein. Uru¬
guay bezieht jährlich aus Kuba 1 Million Liter „canna“. Das Hauptgetränk ist
der Wein. Die Weineinfuhr aus Spanien, Frankreich und Italien beträgt jährlich
16 Millionen Liter. Die Weinlese in Uruguay selbst ergab im Jahre 1898
3V 2 Millionen Liter, 1902 bereits 8 l / 2 Millionen Liter Wein. Der hauptsächlich
zum Weinbau verwendete Boden hat einen Gesamtumfang von 4150 Hektar. Der
Hektar gibt einen mittleren Ertrag von 2000 Liter.
Daneben wird eine große Menge Kunstwein produziert. Ein Gesetz vom
Juli 1903 belegte den Kunstwein mit einer Steuer. Dasselbe Gesetz verbot bei
Strafe gesundheitsschädliche Verfälschungen des Naturweins, so den Zusatz von
Alaun, Borsäure, Benzoesäure, Saccharin, Glycerin und Glycosen, Barium- und
Strontiumsalzen.
Das Bier kommt teilweise aus Deutschland und England. Im Lande selbst
werden mehr als anderthalb Millionen Liter Bier produziert. Gegenwärtig be¬
stehen in Uruguay 20 Fabriken von Likör und Kunstwein. Im Mittel werden
hier jährlich 2% Millionen Liter reiner Alkohol produziert. Die industrielle
Verwertung des Alkohols ist in Uruguay noch unbekannt.
Eine Verkaufsstelle alkoholischer Getränke (922 Restaurants und Hotels
nicht mit inbegriffen) kommt in Uruguay auf 104 Einwohner. Auf insgesamt
960000 Einwohner kommen nämlich 9205 Verkaufsgeschäfte (exklusive 922
Restaurants und Hotels). 12% Geisteskrankheiten in dem staatlichen Irrenhaus
werden auf Alkoholismus zurückgeführt (1888 waren es sogar 21%).
Eine hohe Lizenzsteuer auf die Abgabestellen wurde als geeignetes Mittel
zur Verminderung der Verkaufsstellen erachtet. Das einzige Resultat war bisher
eine Vermehrung der Winkelschänken.
Die Tätigkeit der bürgerlichen Gesellschaft muß mit aller Kraft eintreten,
um dem Übel des Alkoholismus zu steuern. Sonst könnte es Uruguay, diesem
begnadeten Winkel der Erde, ergehen wie Chile. In Chile ist die Trunksucht
mehr als ein Laster, sie ist eine öffentliche Einrichtung. P. S.
von Mäday, Isidor. Die Alkoholfrage in Ungarn. Budapest 1905. 77. S. 1 Krone.
Die Schrift ist ein knapper Auszug aus dem in ungarischer Sprache ver¬
öffentlichten Werke des Verfassers: Beiträge zur Kenntnis der Frage des
Alkoholismus.
Der Weinkonsum in Ungarn beträgt durchschnittlich jährlich 2324983 hl,
berechnet aus den Verbrauchszahlen für die 10 Jahre 1894—1903. Pro Kopf
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Referate.
375
der Bevölkerung, nach dem Stande der Volkszählung von 1900, ergibt das einen
durchschnittlichen Jahresverbrauch von 12,1 Liter Wein. Ferner kommen auf
den Kopf der Bevölkerung jährlich 14,1 Liter 85% Branntwein und 8,4 Liter
Bier. Danach ist der Verbrauch von Wein und Bier geringer als in den meisten
anderen Ländern, der Verbrauch von Branntwein größer. Abgesehen von Däne¬
mark hat nur Frankreich einen so hohen Branntweinverbrauch aufzuweisen.
Im Jahre 1895 gab es in Ungarn bereits 443825 Weinproduzenten, welche
Weinländereien im Umfange von durchschnittlich einem preußischen Morgen be¬
bauten. Mäday rechnet, daß von der ungefähr 17 Millionen zählenden Bevölke¬
rung der ungarischen Landesteile mindestens 770400 Familien an der Produktion
und dem Vertriebe geistiger Getränke interessiert sind. Den Wert des jährlich
in Ungarn konsumierten Branntweins schätzt er auf 481471000 Kronen, auf jeden
arbeitsfähigen Menschen durchschnittlich 70—80 Kronen.
In 35 Komitaten Ungarns ist die Trunksucht auch unter dem weiblichen
Geschlechte eine alltägliche Erscheinung, und in 20 von den 85 Komitaten ist
der regelmäßige Genuß von Branntwein schon von der zartesten Kindheit an
üblich. Mit dem Steigen der Löhne pflegt der Branntweinkonsum der ungarischen
Arbeiter häufig zuzunehmen. In 10 Komitaten betragen die Ausgaben für Brannt¬
wein 25—50% des Jahreseinkommens. Nach einer eingehenden Übersicht über
die in Ungarn bisher getroffenen gesetzlichen Maßnahmen gegen den Alkoholismus
wendet sich der Verfasser zur Besprechung der für die Zukunft notwendigen
Kampfmittel. Als das wichtigste erscheint ihm die Verringerung des Branntwein¬
konsums. Er will zu diesem Zweck den Branntwein verteuern, den Branntwein¬
ausschank den Wirtshäusern ausschließlich Vorbehalten und diese an den Sonn¬
tagen schließen. Wein und Bier dagegen soll verbilligt werden. Nach den in
andern Ländern gewonnenen Erfahrungen ist Mädays Schluß, daß durch Ver¬
billigung der alkoholärmeren alkoholischen Getränke der Branntweingenuß wesent¬
lich vermindert werden kann, bekanntlich irrig. Des weiteren hält Mäday Ein¬
schränkung der täglichen Verkaufszeit in Wirtshäusern, Verbot des Abhaltens
von Versammlungen in Wirtshäusern, Verbot der weiblichen Bedienung, des
Besuchs von Wirtshäusern durch Frauen, Einschränkung des Getränkeverkaufs
bei Jahrmärkten, Wahlen, Kontrollversammlungen und das Verbot des Verkaufs
von Magenbittern (!) in den Apotheken für geboten. Die Hauptaufgabe der Ge¬
sellschaft sieht der Verfasser in einer Wirtshausreform auf der Basis des Goten¬
burger Systems. Daneben könnten alkoholfreie Wirtschaften eingerichtet werden.
Hebung der Industrie, Haushaltungskurse, Erhöhung des sozialen Niveaus werden
von Mäday als weitere Mittel zur Bekämpfung des Alkoholismus in Ungarn ge¬
nannt. P. S.
Dnniouchel. Alkoholverbrauch in Frankreich 1904. Annal. antialcool. Juni 1905.
Im Jahre 1904 kommt auf einen Bewohner Frankreichs ein mittlerer Ver¬
brauch von 4,17 Liter 100% Alkohol (1903: 3,80 Liter), die Zunahme hat in
allen Departements stattgefunden; nur in Paris findet seit 1900 eine ständige
Abnahme statt. (1904: 3,84 Liter, 1903: 4,35 Liter). 4 Departements verbrauchten
1903 noch weniger als ein Liter Alkohol pro Kopf, 1904 bleibt nur mehr ein
Departement mit 0,98 Liter unter einem Liter. Immer schlägt die Normandie
den Rekord der Alkoholisation: 4 von ihren 5 Departements haben den Höchst¬
verbrauch in Frankreich. In dem Departement Calvados der Normandie kommen
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Referate.
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19,38 Liter Alkohol jährlich auf den Kopf der Bevölkerung. In ganz Frankreich
indessen hat seit 1898 der mittlere Verbrauch an Alkohol abgenommen. Er be¬
trag nämlich:
1898
5,08
Liter
1899
4,81
n
1900 (Ausstellungsjahr) 4,88
»i
1904
4,17
ii
Warming. Jahrbuch für Alkoholgegner. 1906. Preis 1 Mk.
Das Büchelchen enthält in handlichem Format eine reiche Menge für Alkohol¬
gegner interessanter Notizen. Namentlich ist den Kongressen gegen den Alkoho¬
lismus, den Abstinententagen, der Alkohol-Literatur, den alkoholgegnerischen
Vereinsorganisationen eine, soweit ich sehe, wohl erschöpfende Behandlung zu
teil geworden. Die „sprechenden Zahlen 41 geben wichtige statistische Daten über
Alkoholkonsum u. dergl.
Das Jahrbuch ist in der Tat berufen, eine Lücke in der alkoholgegnerischen
Literatur auszufüllen. P. S.
Haft. Deutsches Taschenbuch für Abstinenten. 1906. Jena. 1,20 Mk.
Außer den gewöhnlichen Kalendernotizen bringt das vorliegende Taschen¬
buch eine Übersicht über die deutschen Antialkoholvereinigungen, Trinkerheil¬
stätten, Sanatorien, sowie eine manchem sicher sehr willkommene Übersicht über
abstinente Wirtshäuser und ein Verzeichnis von freiwilligen Pflegern für Trinker.
Das Verzeichnis der Antialkohol-Presse weist bereits 33 Nummern auf. Wichtige*
Daten über Art und Wesen, Produktion und Konsumtion der alkoholischen Ge¬
tränke, Bekämpfung des Alkoholismus erhöhen noch den Wert des empfehlens¬
werten Taschenbuches. P. S.
Laureti. Zucchero e alcool. Mailand 1905. 426 Seiten. 4,50 Lire.
Verfasser, Professor an der landwirtschaftlichen Schule in Alanno, stellt
Zucker und Alkohol einander gegenüber. Italien hat prozentisch sehr geringen
Zuckerverbrauch und sehr teueren Zucker. Spiritusbrennereien fehlen ihm ganz.
Dabei ist der Zucker eine Kraftquelle für die menschlichen Muskeln, und der
Alkohol erfüllt dieselbe Bestimmung für die ehernen Glieder der Spiritusmotoren.
Der Alkohol als Getränk ist immer unnütz, sehr oft schädlich. Der Wein schadet
von den alkoholischen Getränken verhältnismäßig am wenigsten. Der weiße Wein
schädigt die Nerven mehr als der rote. Das Bier macht durch seinen Hopfen¬
gehalt mehr träge und gleichgültig. Die Fettansammlung bei den Biertrinkern
ist zum Teil durch diese psychische und geistige Trägheit bedingt, zum anderen
Teil durch den Gehalt des Bieres an Extractivstoffen. Der Branntwein bringt
entsprechend seinem hohen Alkoholgehalt die verderblichsten Wirkungen hervor.
Italien verdient nicht mehr den Ruf eines „nüchternen 44 Landes. In den
letzten 25 Jahren hat der Alkoholismus stark zugenommen. In Venedig kam
1900 bereits ein Ausschank alkoholischer Getränke auf 124 Einwohner, in Udine
auf 63 Einwohner, in 15 Gemeinden von Brescia sogar schon auf 50 Einwohner.
Dagegen ist die Verwendung des Alkohols zu industriellen Zwecken (Spiritus-
Motore, Spiritus-Glühlicht, Spiritus-Heizapparate, chemische Spiritus-Präparate)
für Italien noch terra incognita. Soll man daraus schließen, daß im Vergleich
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Referate.
377
zu anderen Nationen Italien, so schön von der Natur begnadet, sozialökonomisch
sich in dauerndem Niedergange befindet? Mit dieser ernsten Frage verabschiedet
sich der Verfasser von seinen Lesern.
Die Gründlichkeit, mit der die historische, statistische, chemische, physio¬
logische Seite des Themas behandelt ist, muß durchaus anerkannt weiden.
P. S.
Fraenkel, C. Gesundheit und Alkohol. Heft 4 der Veröffentlichungen des deut¬
schen Vereins für Volkshygiene. München und Berlin 1904. 0,30 Mk.
Professor Fraenkel begründet die folgenden Leitsätze:
Der Alkohol ist in jeder Form, als Branntwein, Wein oder Bier und schon
in verhältnismäßig sehr kleinen Mengen ein Gift für den menschlichen Körper.
Eine stärkende, kräftigende, ernährende Wirkung vermag der Alkohol entweder
überhaupt nicht oder doch nur in ganz beschränktem, praktisch bedeutungslosem
Maße auszuüben.
Alle diejenigen Menschen, bei denen eine besondere Empfindlichkeit gegen
den Einfluß des Alkohols beobachtet wird, so namentlich Kinder bis zum 14.
Lebensjahre, nervöse Personen und ehemalige aber geheilte Trinker sollen daher
auf den Genuß geistiger Getränke irgend welcher Art überhaupt und unter allen
Umständen verzichten.
Erwachsene und gesunde Menschen dagegen vertragen kleine Mengen,
30—40 ccm, d. h. so viel wie in etwa 1 Liter Bier oder 1 Wasserglas Wein oder
1 Weinglas Branntwein enthalten ist, im Laufe eines Tages ohne erkennbaren
Nachteil. Auch sie sollen aber den regelmäßigen Genuß selbst so geringer Mengen
vermeiden.
Nur derjenige ist in Wahrheit mäßig und befugt sich so zu nennen, der
nicht jeden Tag geistige Getränke zu sich nimmt, „seinen“ Wein oder „sein“
Bier trinkt, sondern wer dies nur gelegentlich tut und auch dann innerhalb der
eben angegebenen Grenzen bleibt.
Aus dem häuslichen Leben Prof. Fraenkels ist, wie er berichtet, der
Alkohol in jeder Form verbannt. In der Geselligkeit dagegen, in Wirtschaften,
auf Reisen huldigt er dem „mäßigen“ Genuß der Alkoholika. Prof. Fraenkel
hat bisher keine Veranlassung gehabt, diese „Politik der mittleren Linie“ zu
bereuen. P. S.
Petersen, Der Alkohol. Kiel (Robert Cordes). 0,40 Mk.
Seine Aufgabe, eine kurzgefaßte übersichtliche Darstellung der Alkoholfrage
mit besonderer Berücksichtigung der Bedürfnisse der Schule zu geben, hat der
Verfasser gut gelöst. Er hat in knapper Form alle wichtigen Daten über die
schädigenden Wirkungen des Alkohols zusammengestellt. Da das Büchelchen be¬
sonders dem Unterrichte dienen soll, vermisse ich die Angaben über die Gefahren,
welche die Alkoholdarreichung an Kinder mit sich bringt. P. S.
Quensel« Der Alkohol und seine Gefahren ist im Mäßigkeits-Verlage bereits in 28.
umgeänderter Auflage erschienen. Preis 0,20 Mk.
Der Wert dieser gemeinverständlichen kurzen Darstellung ist zu bekannt
und durch die hohe Auflagenzahl zu schlagend bewiesen, als daß es mehr wie
dieses kurzen Hinweises bedürfte. P. S.
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Referate.
Prinzing. Trunksucht und Selbstmord und deren gegenseitige Beziehungen. Leipzig
(Hinrichs) 1895. 94 S. nebst einem statistischen Anhang und 2 Karten. 2,50 Mk.
Verfasser bringt im ersten Kapitel seines Buches eine kurze Beschreibung
der Erscheinungen des Alkoholismus. Das zweite Kapitel gibt eine allgemeine
Übersicht über die Ursachen des Selbstmordes. Prinzing tritt gegen die weit
verbreitete Ansicht auf, daß der Selbstmord fast in allen Fällen als Folge einer
geistigen Störung, eines unverschuldeten Verhängnisses anzusehen sei. Er hält
es für bedenklich, die Willensschwäche und den Mangel an Selbstbeherrschung immer
für ein in der Organisation des Einzelnen begründetes Übel anzusprechen, gegen
das sich nicht ankämpfen ließe. Auch hat in vielen Fällen der Mensch sein
geistiges Leiden durch unzweckmäßige Lebensweise selbst verschuldet. Unter
den entfernteren Ursachen des Selbstmordes (Kapitel III) nennt Prinzing
außer der Unsittlichkeit Rassen-, Geschlechts-, Berufs-Eigentümlichkeiten, den Ein¬
fluß des Alters, der Jahreszeit, der Ehelosigkeit, der Konfession. Die Motive
zum Selbstmord (Kap. IV.) sind häufig sehr schwer zu eruieren und durchaus
verschieden, je nachdem der Selbstmörder seines Lebens sich bei getrübtem Be¬
wußtsein oder in geistiger Gesundheit entledigt. Im fünften Kapitel wird die
Trunksucht als eine der Hauptursachen des Selbstmordes behandelt. Die Tat¬
sache, daß Trinker zum Selbstmord neigen, ist so lange bekannt wie die Trunk¬
sucht selbst. Es gibt verschiedene Wege, auf welchen die Trunksucht zum
Selbstmord führt (Verstimmung, Sinnestäuschungen, körperliche Leiden).
Die beigefügten sieben Tabellen bringen statistische Daten über die Motive
der Selbstmörder im einzelnen. In zwei Landkarten wird die Häufigkeit der
Selbstmorde und andererseits die Verbreitung des Branntweinkonsums in den
einzelnen Landesteilen durch verschiedene Farbennuancen illustriert P. S.
Der Aikohotgegner, die bekannte von dem verdienten Stadtarzt in Reichen¬
berg, Dr. Rösler, herausgegebene Monatsschrift, hat die Nr. 8 zu einer Frauen-
Nummer gestaltet. Sie enthält nach einem Einleitungs-Gedicht: „So Ihr nicht
werdet wie die Kinder . . die folgenden Beiträge: Clara Ebert, Mutter¬
pflichten. Marie Eggers-Smidt, Soziale Arbeit und Alkoholismus. Marie
Knauschner, Trunksucht und Frauenhilfe. Ida Hofman-Oedenkoven, Zur
Verhütung des Alkoholismus. Julie Kassowitz, Antialkohol-Unterricht. Es
folgt ein Überblick über die historische Entwicklung der Alkohol Verhältnisse
Wiens von Hulda Goldberger, ein Bericht überden Verein abstinenter Frauen
in Wien. Feuilleton. Allerlei.
Banges bekannte Schrift: Die zunehmende Unfähigkeit der Frauen, ihre Kinder zu
stillen. Die Ursachen dieser Unfähigkeit, die Mittel zur Verhütung erfährt in den
„Kritischen Blättern“ vom Febr. 1905 eine sehr scharfe und verurteilende
Kritik von seiten des Leiters des Säuglingsheims und der Kinderpoliklinik in
Dresden, Professor Schlossmann.
Nach Schlossmann beruhen die Ausführungen Bunges auf zwei funda¬
mentalen Irrtümern. Bei geeigneter Behandlung ist fast jede Frauenbrust im
stände, die zur Ernährung des Kindes notwendige Milchmenge zu liefern. Ob in
einer Entbindungsanstalt viel oder wenig Frauen ihre Pflicht zum Stillen des
Kindes erfüllen, hängt so gut wie ausschließlich von der tatkräftigen Energie des
Anstaltsleiters ab. So „konnten“ beispielsweise an der geburtshilflichen Klinik
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Referate.
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in Paris die Frauen auch nicht stillen, bis ein Mann wie Budin ihnen auf
einmal die Fähigkeit hierzu beibrachte. In der Dresdener Frauenklinik hat
Leopold die gleichen Erfolge erzielt. Gewiß ist nicht zu leugnen, daß, wenn
Generationen hindurch die Frauen sich nicht zum Stillen entschlossen haben, die
Brustdrüsen mehr und mehr verkümmern, daß diese Rückbildung vom Säugetier
sich aber so rasch vollzieht, wie Bunge meint, ist ausgeschlossen.
Der zweite Grundirrtum Bunges ist der, zu glauben, daß das Pota-
torium des Vaters auf die Brustdrüsen einen so ausschlaggebenden Einfluß hat.
Die von Bunge aufgestellte Regel: war der Vater ein Trinker, so verliert die
Tochter die Fähigkeit ihr Kind zu stillen, und diese Fähigkeit ist unwiderbringlich
verloren für alle kommenden Generationen, „ist vom ersten bis zum letzten
Buchstaben falsch 44 . Der Arzt sieht im allgemeinen nur die Kinder von Müttern,
die nicht stillen können. So wird die Statistik einseitig angelegt und daher un¬
genügend.
Der Hauptgrund, warum so viele Frauen ihre Kinder nicht stillen, ist
sozialer Natur. Die Frauenbewegung* die Frauenarbeit außerhalb des Hauses
sind mehr anzuschuldigen als der Alkoholismus. Bunges Arbeit ist nicht dem
praktischen Leben, sondern der Stille des Laboratoriums entsprossen und hat den
Professor der Physiologie zu Schlüssen geführt, welche der Kritik des erfahrenen
Kinderarztes nicht standhalten. P. S.
Bonhoeffer. Die alkoholischen Geistesstörungen. Die deutsche Klinik am Ein¬
gänge des zwanzigsten Jahrhunderts. Band VT. S. 511 ff. Berlin und Wien
bei Urban & Schwarzenberg. 1905.
Der Nachweis des Alkoholismus beweist nach Bonhoeffer nichts für die
alkoholische Natur der gerade vorliegenden Geistesstörung. Selbst da, wo der
Alkoholismus offenbar eine geistige Erkrankung auslöst, hat er nicht höheren
Wert als z. B. der Unfall, welcher eine Gehirnerweichung bei einem Syphilitischen
zuerst zur Erscheinung bringt.
Merkwürdigerweise übergeht Bonhoeffer die „einfache Trunkenheit 41 als
praktisch weniger bedeutungsvoll mit Stillschweigen. Es scheint so, als wollte er
die Störung der Bewußtseinsklarheit ausschließlich für den „pathologischen 44 Rausch
in Anspruch nehmen. (S. 513.) Ein jeder, der einen ganz gewöhnlichen „nor¬
malen 44 Rausch gehabt hat, weiß doch aber, daß der Rausch an sich das Bewußt¬
sein und die Erinnerungsfähigkeit trübt. Warum sollen wir Komplikationen
schaffen, wo die Sache an sich einfach liegt? Ein jeder Rausch ist eine vorüber¬
gehende Bewußtseinsstörung. Jeder Berauschte hat an das, was er im Rausche
tat, nur eine undeutliche, traumhafte Rückerinnerung. „Man ist im stände, bei
Individuen, welche zu pathologischen Räuschen disponiert sind, diese durch Ver¬
abreichung von Spirituosen zu erzeugen 44 sagt Bonhoeffer. (S. 514.) Abge¬
sehen davon, daß dieser Satz etwas Selbstverständliches besagt, weiß ich nicht,
was ein derartiges Experiment an einem alkohol-intoleranten Individuum für
Nutzen bringen soll.
Man kann Räusche unterscheiden, in denen der Trinker phantasiert, und
solche, in denen er das Bewußtsein verliert. Es gibt ferner eine echte Alkohol-
Epilepsie. Sie ist dadurch gekennzeichnet, daß die Krampfanfälle bei Abstinenz
in der Heilstätte sich nicht einstellen. Nach Bonhoeffer leiden ungefähr
20 Prozent der in die Kliniken eingelieferten Trinker an Epilepsie. Der tiefere
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Referate.
Grund für die Entwicklung des Eifersuchtswahns bei Trinkern liegt zum Teil wohl
in der Wirkung des Alkohols auf die Geschlechtssphäre. Der Verstärkung der
Geschlechtslust entspricht meist nicht die geschlechtliche Leistungsfähigkeit. Auch
pflegt die Frau sich dem nach Alkohol duftenden Manne zu entziehen.
Das Verhalten der geistesgestörten Trinker in der Abstinenz ist verschieden.
Die leichteren Fälle kommen bald zur Krankheitseinsicht und zu normalem Ver¬
halten. Die schwereren Fälle dagegen bleiben auch während der Abstinenz
brutal, lügenhaft, ohne jede Einsicht in die Ursache ihrer Leiden.
Für das delirium tremens ist chronischer Alkoholmißbrauch erforderlich.
Schnapstrinker sind sehr viel mehr gefährdet, als selbst schwere Bier- und Wein¬
trinker. Die heißen Sommermonate zeichnen sich durch das häufige Vorkommen
von Alkoholdelirium aus. In den Tropen dauert das Delirium tremens besonders
lange. Die Verletzungen geben vielfach nicht den Anstoß zum Ausbruch des
Deliriums, sondern sind häufig schon im ersten Beginn des Delirs erworben (?)
Die Erfahrung spricht im allgemeinen gegen die Annahme, daß der Ausbruch
von Alkoholdelirien durch die Verabreichung von Spirituosen sich verhindern
läßt. Die eigentliche Ursache für die Entstehung des delirium tremens ist wohl
darin zu suchen, daß sich auf dem Boden der chronischen Alkoholvergiftung ein
neuer schädlicher Stoff entwickelt.
Das bei den Gewohnheitstrinkern öfter vorkommende Korsakowsche Zu¬
standsbild ist durch eine hochgradige Schwäche der Merkfähigkeit ausgezeichnet.
Alte Erinnerungen dagegen machen sich bei diesen krankhaft vergeßlichen Trinkern
häufig besonders stark geltend. Schwere Störungen von seiten der Nerven pflegen
die Korsakowsche Krankheit der Gewohnheitstrinker zu begleiten. Anatomisch
finden sich gewöhnlich Blutungen aus den kleinsten Gehimgefäßen.
Delirium tremens und Erinnerungslosigkeit sind unzweifelhaft wesensver¬
wandte Bilder von Geistesstörungen. Außer diesen beiden häufigeren alkoholistischen
Geistesstörungen der Trinker ist noch der akute hallucinatorische Wahnsinn der
Trinker erwähnenswert. Er findet sich häufiger bei geistig regsamen Individuen.
Gekennzeichnet ist er durch Sinnestäuschuugen, namentlich auf dem Gebiete des
Gehörs. Die Kranken hören „Stimmen 11 schmähenden oder bedrohenden Inhalts.
Die Angst beherrscht sie. Häufig wollen sie ihre krankhaften Wahrnehmungen
zu einem System vereinigen.
Warum der eine Alkoholist ein Delirium bekommt, der andere wahnsinnig
wird, können wir noch nicht sagen. P. S.
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III. Mitteilungen.
Das Gast- und Schankwirtschaftsgewerbe und der Kleinhandel mit Branntwein und
Spiritus im Herzogtum Sachsen-Meiningen.
Unter diesem Titel erschien als Heft 1 des X. Bandes der Statistik des
Herzogtums S.-Meiningen eine vom Bureauvorsteher des Statistischen Amtes
Richard Hermann verfaßte Schrift von 50 Seiten Quart, die ganz besondere
Beachtung in den Kreisen verdient, welche sich mit der Bekämpfung des Alko¬
holismus beschäftigen.
Das Schlußwort der Arbeit beginnt mit dem Satze: „Obiger Versuch, den
Mißbrauch alkoholartiger Getränke zu schildern, wie er in geistiger, körperlicher
und wirtschaftlicher Beziehung für die Bevölkerung des Herzogtums S.-Meiningen
in Erscheinung tritt, kann keinen Anspruch auf Vollständigkeit machen“, und
wir nehmen diesen Satz voraus, weil in der Tat etwas fehlt, was nicht fehlen
sollte, nämlich eine eigentliche Verbrauchsstatistik für dieselben Perioden, für
welche Statistiken über Zahl der Wirtschaften und Alkoholverkaufsstellen ge¬
geben wurden, da diese doch das wesentlichste Bild geben und auch deutlich
zeigen müßte, wie vorzugsweise in der Bierbrauerei der Alkohol-Kapitalismus
in den drei letzten Jahrzehnten in die Höhe gekommen ist.
Die Schrift beginnt mit einer geschichtlichen Darstellung der Behandlung
der Bedürfnisfrage bei der Konzessionierung und die Behandlung der Konzessio-
nierung selbst.
Schon 1837 schreibt eine Verordnung vor, daß bei Erteilung von Wirt¬
schafts- und Branntwein Verkaufs-Konzession die Bedürfnisfrage zu stellen sei;
es sei zu fragen, „ob die vom Bedürfnis geforderte Zahl der Schänken
bereits vorhanden ist“.
Weicht nun auch die Behandlung der Konzessionsgesuche, die Zusammen¬
setzung der Behördenkollegien, welche sich damit zu beschäftigen haben, von
den, Einrichtungen anderer Staaten ab, so ist dies nicht von prinzipieller Be¬
deutung und kann hier unbesprochen bleiben.
Der zweite Teil der Schrift beschäftigt sich mit den erhobenen Zahlen der
Einwohner in den Kreisen und Städten und dem Verhältnis der Gastwirtschaften,
der Schankwirtschaften, und zwar getrennt in Wein-, Bier-, Branntwein-Schank-
stellen und Konditoreien sowie der Verkaufsstellen für Branntwein in kleinen
Mengen. Es wird dazu weiter in Beziehung gebracht das Verhältnis der Wirte
als Eigentümer oder Pächter, wird die Frage beantwortet, ob der Wirtschafts¬
betrieb alleiniges Gewerbe ist oder neben anderen Gewerben betrieben wird und
wird weiter statistisch festgestellt, wie viel Bierdruckapparate mit oder ohne
Kohlensäure in Verwendung sind, weil dem Gebrauch der Gegend nach Bier vom
Faß aus gewöhnlichen Hahnen verzapft zu werden pflegt und tatsächlich die
Druckapparate von hygienischer und wirtschaftlicher Bedeutung sein dürften.
Schließlich ist auch überall die Zahl der Flaschenbierhandlungen fest¬
gestellt.
Die Erhebung datiert vom Januar 1904. Die Schank wirtschaften mit oder
ohne Schnapsschank sind besonders gezählt und Gegenüberstellungen der Jahre
-1903 und 1904 sowie von Stadt und Land gemacht.
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Mitteilungen.
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Interessant ist dann die Gegenüberstellung der Zahlen von Gastwirtschaften,
von Schank wirtschaften und von Kleinhandlungen mit Branntwein und Spiritus
1. für das ganze Land, 2. für die einzelnen Kreise, 3. für die Stadt- und Land¬
gemeinden je besonders auf das Jahr 1878, auf 1885, auf 1893 und auf 1904.
Sie sind in Beziehungen gesetzt zu den Bevölkerungszahlen derselben Jahre
und es ist eine Zusammenstellung aller Alkoholvertriebsstellen im Lande, in den
Städten, auf dem Lande und in den einzelnen Kreisen ebenfalls für die gleichen
Jahre in Vergleich zu den Bevölkerungsziffern gebracht. Wir können die sämt¬
lichen Vergleichszahlen hier nicht wiedergeben und erwähnen nur, daß 1878 auf
100 Einwohner des Herzogtums eine Alkohol vertriebsstelle kam, 1885 auf 110
Einwohner, 1893 auf 116 und 1904 auf 126 Einwohner. Auch bei den einzelnen
Wirtschaftskategorien erhöhen sich fortgesetzt die Einwohnerzahlen, die auf eine
Stelle entfallen, ganz wesentlich, und auf dem Lande weit mehr als in den
Städten.
So kamen auf eine Schankwirtschaft
1878
1885
1893
1904
in Städten
161
208
216
226
in Landgemeinden
237
802
315
387
Einwohner.
Aber diese Zahlen beweisen nur rigorose Konzessionserteilung, vielfach
verneinte Bedürfnisfrage, keineswegs verminderten Alkoholverbrauch.
Diese Statistiken gehen noch weiter ins einzelne und haben auch für die
mit der Konzessionierung betrauten Stellen und die Selbstverwaltungskörper¬
schaften ihren Wert, aber wissenschaftlich belehren sie den Erforscher der
Alkoholfragen wenig oder nicht. Mehr Interesse haben dann schon die Statistiken
über die im Wirtsgewerbe Beschäftigten, über Betriebsinhaber, Gehilfen beider
Geschlechter und Lehrpersonal. Von den sämtlichen 1996 Wirtschaften, welche
1904 im Herzogtum bestanden, haben nur 50 weibliche Bedienung, Kellnerinnen.
Die Residenzstadt Meiningen hat auch ein besonderes Ortsstatut betreffs der
Kellnerinnen eingeführt, welches eine gewisse sittliche Ordnung anstrebt, indem
es z. B. verbietet, daß Kellnerinnen in sogenannten Hinterzimmern, die nicht
direkt mit der Hauptwirtschaft verbunden sind, bedienen, und schreibt es auch
unauffällige Kleidung und häusliche Gemeinschaft mit der Wirtsfamilie vor.
Wir beachten jedoch besonders die auf die Mäßigkeitsbestrebungen hinauslaufen¬
den Bestimmungen, daß den Kellnerinnen jede Art von Aufforderung zum Trinken
und Teilnahme am Trinken streng untersagt ist. Was das Eigentums- oder Pacht¬
verhältnis anlangt, sind von den 1996 Wirtschaften und Alkoholverkaufsstellen
1510 Eigentum des Unternehmers, 486 gepachtet. Von der letzteren Zahl ent¬
fallen auf Gastwirtschaften 215, auf Schankwirtschaften 176 und 59 auf Brannt¬
weinverkaufsstellen.
Mit Handel verbunden waren 585 Wirtschaften, mit Landwirtschaft 358,
mit Metzgerei 255, mit Fuhrbetrieb 16, mit Brauerei 48, mit Konditorei 23, mit
Bäckerei 25, mit sonstigen Gewerben 126. Bemerkenswert ist, daß die Kon¬
ditoreien und Wirtschaften für alkoholfreie Getränke auch als Alkoholvertriebs¬
stellen behandelt werden, weil sogenannte alkoholfreie Getränke ja doch nicht
ganz alkoholfrei seien.
Ob das Ansicht des Verfassers oder der maßgebenden Amtsstelle ist, läßt
sich nicht feststellen.
Über Reinigung der Bierdruckapparate und Trinkgefäße bestehen ver-
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Mitteilungen.
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schiedene Ortsgesetze. Flaschenbierhandlungen wurden 1904 nur 492 gezählt
uud davon waren 222 in Städten, 270 auf dem Lande. Trotzdem die Zahl im
Vergleich zu anderen deutschen Gebieten nicht groß ist, wird seitens der Wirte
stark dagegen agitiert. Daß in dem l / 4 Million Einwohner zählenden Herzogtum
kein Mäßigkeits verein besteht und nur ein Abstinenz verein (der Schüler des
Landerziehungsheims Haubinda) ist auffallend. Dagegen wird von der Regierung
aus durch die Geistlichen und Lehrer, durch Verbreitung des Merkblattes von
Regierungsrat Quensel, durch die Impf- und Schulärzte im Sinne der Mäßig¬
keitsbewegung gearbeitet und einige Städte haben durch Ortsgesetze gegen den
Trunk zu wirken gesucht.
Der weitere Teil der Schrift, welcher über die beobachteten Wirkungen
des Alkoholmißbrauches handelt, welcher festzustellen sucht die Häufigkeit der
Geisteskrankheiten durch Trunk, und zwar direkt und indirekt durch Vererbung
sowohl als auch durch späte Folgen der Unmäßigkeit, hält sich an die Berichte
der Irrenärzte, aber er hat wenig Positives.
Außerdem wird der Einfluß des Trunks auf das Armenwesen und den Ver¬
mögensverfall, werden die Selbstmorde infolge Trunksucht aufgezählt, wird die
Unfallstatistik herangezogen und werden die Entmündigungen wegen Trunk von
1894—1903 gezählt. Die kleine Zahl läßt den Verfasser vermuten, daß die
Familien sich nur selten entschließen, Trinker entmündigen zu lassen, was ja in
der Tat eine allbekannte und verbreitete Erscheinung ist. Behandelt wird daun noch
die Zahl der Idioten und Epileptischeu, die Zwangserziehung von Kindern und die
Fürsorgeanstalten, aber genau statistisch Erfaßtes enthalten die Abschnitte nicht.
Ähnlich ist es bezüglich der Kriminalfälle und Polizeiübertretungen. Es sind zwar
die Zahlen zusammengestellt und dieselben sind immerhin von Interesse, aber sie
dürften nicht alles enthalten, was auf dieses Kapitel gehört. Von 100 Kriminal¬
fällen gegen die Sittlichkeit seien 77 als im Trunk geschehen zu schätzen, von
100 gefährlichen Körperverletzungen seien 74 und von 100 Mord und Totschlag
54 als im Trunk erfolgt anzusehen.
Künftige statistische Ermittelungen werden von vornherein darauf ein¬
zurichten sein, daß man zuverlässigere Zahlen erhält.
Im allgemeinen zeigt die Schrift und der ministerielle Auftrag zur Ab¬
fassung derselben deutlich das Bestreben, etwas im Sinne des Kampfes gegen
den Alkohol zu tun und es wäre erfreulich, wenn die oberen Verwaltungsstellen
und Statistiker anderer Staaten (auch Städte) eine Anregung aus der Schrift
schöpfen, in ähnlicher Weise vorzugehen und so für den Kampf gegen den Trunk
neue und gute Waffen zu liefern. Max May.
Die 22. Jahresversammlung des Deutschen Vereins gegen den Mißbrauch
geistiger Getränke, welche in den Tagen vom 17.—19. Oktober in Münster statt¬
fand, hatte einen geradezu glänzenden Verlauf. Hier wurde gezeigt, was die
Vereinsarbeit vollbringen kann, wie man Vorarbeiten für Generalversammlungen
zu leisten hat; es wurde den Bezirksvereinen von ihrem Schwesternverbande im
Münsterlande vor Augen geführt, wie sie ihre Aufgaben zu erfüllen vermögen. Es
kann ja keinem Zweifel unterliegen, daß durch die Person des Vereinsvorsitzenden,
dem Regierungspräsidenten von Ge sch er, die Tagung als eine so überaus ge¬
lungene geworden ist, um so dankenswerter und erfreulicher ist es aber, daß sich
ein so hoher Staatsbeamter die Mühe nicht verdrießen läßt, den harten Kampf
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Mitteilungen.
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gegen den Mißbrauch geistiger Getränke, zumal in einem Lande oder Bezirke zur
Durchführung zu bringen, welcher besonders schwer unter den Trinksitten und
unter dem starren Festhalten seitens der Bevölkerung an Althergebrachtem zu
leiden hat, so daß hier im „Münsterlande 14 naturgemäß die Aufklärungsarbeit eine
außerordentlich schwere genannt werden darf.
Aus dem sehr ausführlichen, interessanten Jahresbericht, welcher vom Ge¬
schäftsführer in der Verwaltungsausschuß-Sitzung erstattet wurde, ging die er¬
freuliche Tatsache hervor, daß der Verein nunmehr rund 16000 Mitglieder in 95
Bezirksvereinen zählt, abgesehen von 8000 in sogenannte Vertreterschaften ge¬
einte oder persönliche Mitglieder — das ist ein Erfolg, welcher in erster Linie
dem Generalsekretär Gonser zuerkannt werden muß, der unentwegt und uner¬
müdlich seinem Ziele, die Vereinsarbeit zu heben und zu konsoldieren, zustrebt.
Mit der Hebung der Mitgliederzahl haben sich auch die materiellen Hilfsmittel
erheblich erhöht, der Reichszuschuß ist dankenswerterweise auch im laufenden
Jahre mit 6000 Mark bewilligt gewesen, eine große Anzahl Regierungen und
Ministerien haben sich zu regelmäßigen Unterstützungen entschlossen. Der Ver¬
trieb von Flugschriften und Broschüren hat einen ganz außerordentlichen Umfang
angenommen, überall macht sich ein großer Aufschwung bemerkbar. Auf all die
bemerkenswerten Einzelheiten einzugehen, müssen wir uns an dieser Stelle ver¬
sagen, wir verweisen auf den demnächst erscheinenden Bericht, welcher von der
Geschäftsstelle Berlin W. 15 zu beziehen ist. Aber auf einen wesentlichen Punkt
soll noch das Interesse gelenkt werden, das ist das wichtige Ereignis, daß es ge¬
lungen ist mit Allerhöchster Genehmigung zu veranlassen, daß von nun an seitens
der Marineverwaltung ein Schriftchen, welches die Beziehungen der Wehrkraft
zum Alkoholmißbrauch dartut, an jeden eintretenden Rekruten der Marine
zur Verteilung gelangen wird — hoffentlich folgt diese Bestimmung für das Land¬
heer bald nach! — Von den übrigen Beratungsgegenständen hebe ich nur und
zwar mit dem Ausdruck aufrichtigsten Dankes die Ermächtigung zur Ausführung
eines älteren Beschlusses hervor: die Zeitschrift „Der Alkoholismus 44 durch
eine Beihilfe von 500 Mark für das Jahr 1906 zu unterstützen. Ferner sei —
seines allgemeineren Interesses wegen — ein Antrag erwähnt, welchen der Be¬
zirk sverein München durch Dr. Brendel einbringen und begründen ließ.
Der Antrag, welchen der Verein glaubt, in dieser Form nicht annehmen und zur
Durchführung bringen zu können, lautet wie folgt:
Die XXII. Jahresversammlung des Deutschen Vereins gegen den Mißbrauch
geistiger Getränke in Münster i./Westf. beauftragt den Vereinsvorstand, bei den
gesetzgebenden Stellen des Reichs die geeigneten Schritte zu tun, daß
die Stunde des Beginns des Verkaufs von geistigen Getränken aller Art auf
morgens 8 Uhr durch Reichsgesetz festgesetzt und Zuwiderhandeln empfindlich
bestraft werde.
Alle Einrichtungen, welche in frühen Morgenstunden billige warme Ge¬
tränke ohne Alkohol liefern, sind ausgiebig zu fördern.
Begründung:
Über die Beschädigung unseres Volkskörpers und der einzelnen zu sprechen,
dürfte bei den notorischen Wirkungen unserer Trinksitten unnötig sein. Wenn
in der bekanntlich durch ihren hohen und alle Bevölkerungsschichten noch durch¬
dringenden Biergenuß hervorragenden Stadt München sich ergeben hat, daß der
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385
Schnapsverbrauch ein viel verbreiteter ist, als gewöhnlich bekannt ist, kann wohl
für andere Orte Deutschlands angenommen werden, daß der Schnapskonsum noch
weit mehr in Betracht kommt.
Sehr zu bedauern und auffällig ist es, daß eine Statistik über die örtliche
Verteilung des Schnapsverbrauchs und auch des Weines u. s. w. in Deutschland
vollständig fehlt.
Es hat sich bei sorgfältigen Erhebungen gezeigt, daß bereits in frühester
Morgenstunde die Schnapsläden aufgesucht werden und der Hauptverkehr sich vor
8 Uhr morgens abspielt.
Daraufhin hat sich der Bezirksverein München des D.V. gegen den Mi߬
brauch geistiger Getränke an den Magistrat München gewendet, es möge verboten
werden, vor 8 Uhr geistige Getränke zu verkaufen, und es sei darauf hinzu¬
wirken, daß das Bedürfnis nach Obdach und gesunder zweckmäßiger Ernährung
und Erquickung für Früharbeiter entsprechend befriedigt werde.
Wir beehren uns, die Eingabe an den Magistrat München mit der Liste
beizulegen, aus der hervorgeht, wie bei 17 Stichproben sich ergeben hat, daß im
Durchschnitt schon vor 8 Uhr morgens über 70 Trinker die Schnapsbuden be¬
suchten.
Die Antwort des Magistrats beehren wir uns ebenfalls beizulegen. Die Ge¬
meindevertretung erklärt sich nicht im stände, weitergehende Beschränkungen für
den ifleinhandel mit Branntwein zu treffen. Wir wurden bedeutet, daß nur auf
dem Wege der Reichsgesetzgebung Abhilfe zu erreichen sei.
Auch hat eine Förderung unserer Bestrebungen, dem Bedürfnis nach Er¬
satz für Schnaps zu entsprechen, bis jetzt noch nicht bemerkt werden können.
Es ist einleuchtend, daß eine Beschränkung nur der Schnapsverkaufszeit
untunlich und ungenügend ist, wenn nicht für alle geistigen Getränke ohne
Unterschied, also auch Wein, Bier u.s.w. dieselben Bestimmungen getroffen werden.
So gut der Staat bestimmen kann, wann ein Verkaufslokal zu schließen
sei, kann er offenbar auch bestimmen, wann es geöffnet werden darf.
Wir versprechen uns von der angestrebten Maßregel ganz besonderen
Nutzen für die in früher Morgenstunde Arbeitenden, wenn der Morgentrunk
möglichst erschwert und das Erhalten bekömmlichen billigen Frühstücks tunlichst
erleichtert wird.
Als Beleg hierfür beehren wir uns einen Bericht der Kaffeebude auf der
Kohleninsel in München über die Verteilung des Besuchs in den Morgenstunden
beizufügen; aus demselben geht ebenfalls hervor, daß der Hauptverkehr dort vor
7 Uhr morgens stattfindet, somit eine Beschränkung der Zeit des Verkaufs von
geistigen Getränken in obiger Weise von großem Erfolg sein wird.
Münster i./Westf., 18. Oktober 1905. i. A.:
Dr. C. Brendel.
Es sei hier noch bemerkt, daß der Bezirksverein Stettin sehr ausgedehnte
und erfreuliche Erfahrungen über Kaffeeausschank u. s. w. bei öffentlichen Bauten
besitzt, wobei er von den dortigen Behörden auf das ausgiebigste gefördert
wurde. Das betr. Aktenmaterial steht n. W. zur Verfügung, wie es auch uns
bereitwilligst zugesandt wurde. D. 0.
War schon durch den reichen Flaggenschmuck, welchen die Stadt Münster
angelegt hatte, dargetan, daß die Bevölkerung der alten Hauptstadt Westfalens
Der Alkohollsmus. 1905. 26
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386 Mitteilungen.
teil an unserer Vereinsarbeit nahm, so sollte dies noch besonders durch die
Propaganda-Versammlung bekundet werden, welche der öffentliche Begriißungs-
abend brachte. In der Tat, so etwas hatte der Deutsche Verein in den 22 Jahren
seines Bestehens kaum erlebt. Im „Arbeiterhause“ fand dieser Abend statt, ein
großer Saal, wohl der größte der Stadt, welcher 2—3000 Personen faßte, war
nicht nur bis auf den letzten Platz gefüllt, sondern er konnte nicht einmal alle
fassen, welche hören und lefnen wollten, was es bedeutet, den Mißbrauch
geistiger Getränke zu bekämpfen. Nach einer herzlichen Begrüßungsansprache
seitens des Regierungspräsidenten als Vereinsvorsitzenden, welche der Mahnworte
genug enthielt, den Kampf gegen den Mißbrauch geistiger Getränke aufzunehmen
und zum Wohle des Volkes einer glücklichen Lösung entgegenzuführen, fanden
kurze Ansprachen durch den Chefarzt der Hüffer-Stiftung, Dr. Be eher-Münster,
über die Bedeutung der Alkoholfrage für den einzelnen; durch Frau Professor
Götze-Braunschweig über die Stellung der Frau zur Alkoholfrage; durch Landes¬
rat Schmedding-Münster über die Bedeutung der Alkoholfrage für die Familie
statt; während Dr. Laqu er-Wiesbaden die Beziehung der Kommune, Regierungs¬
assessor von Treskow-Münster diejenige des Staates, Professor Dr. Serres-
Münster die Bedeutung der Alkoholfrage für die Kolonien behandelte. Musikalische
Vorträge des Sängerbundes von Münster boten eine nicht unwillkommene Ab¬
wechslung des ebenso reichhaltigen wie interessanten Programms.
Die öffentliche Versammlung des nächsten Tages zeigte qualitativ wie quanti¬
tativ ein erfreuliches Bild von der Betätigung an unsem Bestrebungen. Selbst
der Oberpräsident der Provinz Westfalen hatte es sich nicht versagt, die Ver¬
sammlung offiziell zu begrüßen, und durch seine Worte klang die volle Aner¬
kennung der Wichtigkeit unserer Vereinsarbeit. Eine gleiche und nicht minder
wertvolle Anerkennung kennzeichnete die Ansprache des Landeshauptmanns der¬
selben Provinz. Nachdem noch eine Reihe von Vertretern staatlicher und
kommunaler Behörden, sowie von größeren Vereinen zu Worte gekommen waren
und durch den Vereinsvorsitzenden den Dank für die Würdigung unserer Be¬
strebungen entgegen genommen hatten, hielt Regierungsrat Dr. Weymann-
Berlin sein Referat über „Arbeiterversicherung und Alkoholismus“.
Der Vortrag, welcher was Form wie Inhalt anlangt gleich glanzvoll war, gipfelte
in folgenden Leitsätzen:
1. Jede Schwankung der Volksgesundheit drückt sich im Haushalte der
Arbeiterversicherung in großen Zahlen als Gewinn oder Verlust aus.
2. Der Alkoholmißbrauch steigert die Kosten der Arbeiterversicherung
a) in der Kranken- und in der Invalidenversicherung
unmittelbar dadurch, daß er zum Delirium, zu Geistes- und
Nervenkrankheiten, zu Erkrankungen des Magens, der Leber und
anderer innerer Organe führt,
mittelbar dadurch, daß er auf Tuberkulose, Geschlechtskrankheiten
und Nervenkrankheiten mächtig fördernd wirkt, die Heilung anderer
Krankheiten erschwert und verzögert;
b) in der Unfallversicherung
unmittelbar dadurch, daß er die Neigung und Fähigkeit, Unfälle
zu vermeiden, erheblich verringert,
mittelbar dadurch, daß er die Folgen der Unfälle erheblich er¬
schwert;
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c) auf allen drei Gebieten dadurch, daß er die Arbeitslust verringert
und die Begehrlichkeit nach der Rente bezw. dem Krankengelde
steigert, sowie die Entstehung einer belasteten und widerstandsun¬
fähigen Nachkommenschaft hervorruft.
3. Der Alkoholmißbrauch in diesem Sinne setzt keineswegs voraus, daß
alkoholische Getränke bis zur Berauschung genossen werden.
4. Der Alkoholismus gehört zu den schwersten Schäden der Volksgesuudheit.
Ihn bekämpfen heißt daher unmittelbar die Interessen der Arbeiterversicherung
fördern. Das wird in erhöhtem Maße gelten nach Einführung der Witwen- und
Waisenversicherung, Erweiterung der Krankenversicherung und nach EiAtritt der
aus dem Gesetze sich ergebenden Steigerung der Invalidenrenten bis zum Be¬
harrungszustande.
5. Die Organe der Arbeiterversicherung können und sollen im Interesse der
Versicherung zur Bekämpfung des Alkoholismus mitwirken,
a) insgesamt dadurch, daß sie die zur Beurteilung der Alkoholfrage un¬
entbehrliche sichere Kenntnis der wissenschaftlichen Forschungs¬
ergebnisse sich selbst aneignen und zu verbreiten suchen, besonders
in dem großen Kreise der Vertreter von Arbeitgebern und Ver¬
sicherten,
die Gewinnung von zahlenmäßigen Nachweisen über die schädlichen
Wirkungen des Alkoholmißbrauchs fördern,
das Gewicht ihres Ansehens zur Bekämpfung des Alkoholismus in
der Öffentlichkeit geltend machen;
b) Krankenkassen und Versicherungsanstalten dadurch, daß sie solchen
Trinkern, die von der Trunksucht geheilt zu werden wünschen,
Anstaltsbehandlung gewähren;
c) die Versicherungsanstalten dadurch, daß sie die dem Alkoholmißbrauch
entgegenwirkenden Wohlfahrtseinrichtungen finanziell unterstützen;
d) die Berufsgenossenschaften dadurch, daß sie die Unfallverhütungs¬
vorschriften im Sinne der Bekämpfung des Alkoholmißbrauchs aus¬
bauen, und daß sie, geeigneten Falls durch Auflegung von Zuschlägen
oder Bewilligung von Nachlässen am Umlagebeitrag, in den Kreisen
der Berufsgenossen das Interesse für diejenigen Betriebseinrichtungen
zu fördern suchen, welche den Arbeitern die Einschränkung des
Alkoholverbrauchs nahe legen und erleichtern.
6. Die gesetzlichen Vorschriften, welche die Zahlung von Barbeträgen an
Trinker einschränken, bedürfen der Ausgestaltung.
7. Die wichtigsten Mittel zur Bekämpfung des Alkoholismus sind die unter
5 a genannten, weil eine durchgreifende Besserung nur von einer Umwandlung
der Volksgesinnung und der Volksgewohnheiten erwartet werden kann.
Den folgenden, an sich ebenso bedeutungsvollen Vortrag „Das Wirts¬
haus auf dem Lande 11 hielt der in und mit den ländlichen Verhältnissen
so vertraute Sozialpolitiker Heinrich Sohnrey-Berlin. Er legte seinen Aus¬
führungen folgende Leitsätze zu Grunde:
I. Die Begleit- und Folgeerscheinungen des Alkoholismus auf dem
Lande sind in manchen Gegenden zum mindesten ebenso schlimm, wie in den
Städten. Dies zeigt ein Blick:
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Mitteilungen.
1. in die ländlichen Familienverhältnisse. (Zerrüttung des Familien¬
lebens durch den Branntwein. Minderwertige Ernährung. Zu frühes Gewöhnen
der Kinder an den Alkoholgenuß. Kindersterblichkeit u. s. w.)
2. in die ländlichen Vermögens- und Erwerbsverhältnisse. (Zer¬
rüttung der Wirtschaft; Zurücksinken vieler selbständiger Existenzen in unselbst¬
ständige u. s. w.)
3. in die ländlichen Erholungs- und Vergnügungsverhältnisse.
(Die Wirtshäuser sind der Mittelpunkt aller geselligen Veranstaltungen, sowohl
für Erwachsene, wie für Jugendliche.)
II. Wie bei anderen sozialen Problemen und Aufgaben, so ist
auch im Kampfe gegen den Alkoholismus der Schwerpunkt der Arbeit
fast ausschließlich auf die Städte gelegt worden, — sehr zu unrecht.
Die Verhältnisse auf dem Lande sind durchaus auch reformbedürftig und er¬
fordern eine umfassende Wohlfahrtspflege und zwar sowohl aus sozialen wie aus
nationalen Gründen.
1. Zur Erhaltung eines gesunden Bauernstandes als Kraftquell und Jungbom
des Volkstums im allgemeinen.
2. Zur Erhaltung der Wehrkraft im besonderen.
IH. Die Reformarbeit ist auf dem Lande im allgemeinen ver¬
gleichsweise leichter und der Erfolg sicherer, weil die Verhältnisse
leichter zu fassen sind. Allerdings erschwert sich die Arbeit auch wieder durch
die eingewurzelten Vorurteile.
1. Ursache und Wirkungen, Verschiedenheit der Notstände sind leichter zu
übersehen.
2. Geistliche, Lehrer, Schultheiß, Ärzte können leichter eingreifen als in den
großen Städten.
IV. Im einzelnen kann und muß auf folgenden Wegen die Besse¬
rung angestrebt werden durch:
1. Aufklärung:
Durch ärztliche Vorträge an Gemeindeabenden, Belehrung durch die Volks¬
und Fortbildungsschulen. Die Schulinspektoren sollten ihre Prüfungen nach
dieser Richtung hin ausdehnen. Anleitung in den Lehrerbildungsanstalten durch
die Seminarärzte.
2. Einrichtungen:
a) Es müssen Vorkehrungen getroffen werden, die der Hauptursache des
Wirtshauslebens, dem Bedürfnis nach Geselligkeit, nach Ausfüllung
der Mußezeit entgegenkommen, ohne zum Trinken zu reizen. (Ge¬
meindehaus, Volks- und Jugendbibliothek; Volks- und Familienabende,
Theaterspiel, Gesang- und Musikvereine im Gemeindesaal; Jugend-
und Volksspiele, Veredelung der Volksfeste, die in jetziger Gestalt
durchweg nur Trinkgelage sind. Handfertigkeitsunterricht, bäuerlicher
Kunstfleiß u. s. w.)
b) Wo in Dorfgemeinden noch althergebrachte Gemeindehäuser vorhanden,
sind, da ist durchaus zu verhüten, daß diese Häuser aus dem Ge¬
meindebesitz in das Privateigentum von Wirten oder, was noch viel
schlimmer ist, an Aktienbrauereien übergehen.
c) Schaffung von Reformgasthäusern im Sinne des Gothenburger Systems,
möglichst in allen Kreisen, wenn auch zunächst nur, um Vorbilder
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zu gewinnen und Erfahrungen zu sammeln. Kreisverwaltung, Fiskus,
Grundherrschaft, Kirche, Gemeinde und gemeinnützige Gesellschaften
müssen dabei Hand in Hand gehen.
d) Die Spareinrichtungen auf dem Lande selbst müssen so vermehrt
werden, daß jeder Landbewohner zu jeder Zeit seine Spargroschen
ohne Umstände zinstragend anlegen kann.
e) Jedes Mädchen auf dem Lande muß Gelegenheit erhalten, sich die
Elementarkenntnisse aus dem Gebiete der Hauswirtschaft anzueignen,
sei es durch Wanderkochkurse, Konfirmandenküchen und dergleichen.
f) Reichliche Herstellung und billige Abgabe guter, alkoholfreier Ge¬
tränke aus Obst- und Fruchtsäften.
3. Gesetze und Verwaltungen:
a) Die Erteilung der Schankkonzessionen ist reformbedürftig. Es dürfen
nicht nur verwaltungsamtliche oder polizeiliche Gesichtspunkte ma߬
gebend sein.
b) Der Gemeindevorsteher sollte nie zu gleicher Zeit Wirt sein.
c) Der Jugend sollte im fortbildungsschulpflichtigen Alter der Besuch im
Wirtshaus untersagt werden, jedoch nur, wenn die unter IV, 2 auf-
geführten Wohlfahrtseinrichtungen genügend vorhanden sind.
d) Verbot von Verpachtungen und Versteigerungen in Wirtshäusern.
Leider kam dieser zweite Redner durch die vorgeschrittene Zeit etwas arg
zu kurz; die Zeit ward ihm beschnitten durch die sich an den ersten Vortrag
anschließende Debatte, unseres Erachtens ein ganz überflüssiges Beginnen nach
einem den Gegenstand so vollständig erschöpfenden Vortrag. Da ist wirklich die
Frage gestattet, ob es nicht richtiger und wichtiger sein würde, die Ausführungen
in ihrem ganzen Umfange und zwar in aller Ruhe, ohne die Mahnung, sich der
Kürze zu befleißigen, zum Vortrag bringen zu lassen und auf die Kleinarbeit
der Diskussion zu verzichten, anstatt dem Referenten die Freude an seinen Dar¬
legungen mit der Uhr in der Hand zu nehmen?! Gar mancher Vortrag verliert
an seiner endgültigen Wirkung, wenn er durch die Debatte zerfetzt, in seine
einzelnen Atome zergliedert wird; bei solcher „spezialistischen“ Behandlung
(leider gar oft: Mißhandlung) muß das Gesamtbild leiden. Gewiß werden häufig
erst durch die sich anschließenden Debatten die Grundgedanken der Vorträge
geklärt; gewisse Referate sind ohne die Diskussion unmöglich, das aber schließt
nicht aus, daß zu Gunsten des durch einen Vortrag anzustrebenden Zieles die
Größe der darin ausgedrückten Gedanken voll und ganz, eben als ein einheit¬
liches Ganzes erhalten bleiben muß; auf keinen Fall darf ferner einem Redner,
der sich Arbeit und Mühe gemacht, Zeit und Geld geopfert hat, lediglich durch
die Lust am Debattieren Beschränkung auferlegt werden.
Wie in den Vorjahren, fand auch diesmal die Jahresversammlung des
„Verbandes der Trinkerheilstätten des deutschen Sprachgebietes“
im Zusammenhang mit der Tagung des Deutschen Vereins statt. Der Vorsitzende,
Oberregierungsrat Falch-Stuttgart, konnte bei seiner Begrüßung der freudigen
Genugtuung Ausdruck geben, daß die Interessen für die Bestrebungen im Wachsen
begriffen sind und auch diesem Umstande eine so stattliche Versammlung zu
danken sei. Auch hier hatten sich die verschiedenen Vertreter von Behörden
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390 Mitteilungen.
und Korporationen eingefunden, die teilweise ihre Sympathiebezeugungen aus-
sprachen.
Aus dem Bericht des Schrift- und Kassenführers des Verbandes, P. Kruse-
Lintorf, ging die Tatsache hervor, daß sich nunmehr fast alle Trinkerheilstätten
unserm Verband als Mitglied angeschlossen haben; das ist um so erfreulicher,
als sich immer noch eine gewisse Gegenströmung bemerkbar macht. Wie Referent
zur regelmäßigen Übersendung ihrer Jahresberichte aus den Trinkerheilstätten
behufs Veröffentlichung in dem Organ des Verbandes. „Der Alkoholismus 11
ersuchte, so forderte P. Neumann die Anwesenden, in speziellerem die Vor¬
stände der Trinkerheilstätten auf, diese Zeitschrift zu halten und nach jeder
Richtung zu unterstützen.
Dr. Co 11a-Finkenwalde referierte alsdann über „Die Erziehung zur
Abstinenz 11 , indem er darlegte, daß eine solche für die Trinkerheilbehandlung
absolutes Erfordernis sei. Hierbei komme es weniger darauf an, wer eine solche
Erziehung ausübe, es sei ebenso wie der Arzt auch der Pädagoge, der Geistliche
und jeder, der sich dazu berufen fühle und das nötige Zeug dazu besitze, ge¬
eignet; das wichtigste sei eben Fähigkeit und Begeisterung, um entsprechend ein¬
wirken zu können. In der Diskussion richtete sich Pfarrer Neumann-Mündt
mit einem warmen Apell an die Angehörigen von Trinkern, sowie an die Mensch¬
heit allgemein, welche durch ihr Beispiel erzieherisch auf die Opfer der Trunk¬
sucht wirken müßten,. um nicht binnen kurzem das wieder zu zerstören, was
eine Trinkerheilstätte durch monatelange Arbeit sich bemüht habe zu erreichen.
Redner wandte sich gegen die Trinksitten und ihre Folgen, indem er in be¬
geisterten Worten die Vorzüge der Abstinenz pries. Dr. Waldschmidt-Char-
lottenburg glaubte darauf hinweisen zu sollen, daß die Erziehung zur Abstinenz
nur einen Teil der Trinkerheilbehandlung bilde; er gab auch hier der Meinung
Ausdruck, daß es sich bei dem Trunksüchtigen um einen Kranken handele, der
der ärztlichen Fürsorge bedürfe. In fernerem suchte er das Interesse auf die
zwangsweise Unterbringung von Alkoholkranken in Spezialanstalten mit ge¬
schlossenem Charakter zu lenken.
Über den „Heilmittelschwindel und Heilung der Trunksucht“
ließ sich Chr. G. Tienken, Besitzer der Heilstätte „Villa Margaretha“ bei Lox¬
stedt aus. In längeren Ausführungen betonte Redner den Wert der Heilstätten¬
behandlung, indem er dringend vor den sogenannten Trunksuchtmitteln warnte.
In kräftigen Worten unterzog er die mit großer Reklame in der Tagespresse an¬
gepriesenen Mittel einer kritischen Beleuchtung, indem er sämtliche Kunst¬
produkte verwarf und als einziges unfehlbares Mittel die Abstinenz hinstellte.
Hierzu konnte ihm nur jeder, der Einbliök in die Verhältnisse hat, seine absolute
Zustimmung geben. Er stellte folgende Thesen auf:
1. Die Trunksucht ist eine sowohl psychische wie auch körperliche Er¬
krankung.
2. Jeder Trinker ist heilbar, wenn nicht wesentliche alkohologene oder an¬
geborene Gehirndefekte vorliegen.
3. Die vielfach angepriesenen Heilmittel beruhen auf Schwindel, auch die
vereinzelt versuchte medikamentöse Behandlung hat vor der wissenschaftlichen
Nachprüfung nicht standgehalten.
4. Gänzliche Enthaltung von allen alkoholischen Getränken ist wie zur Ge¬
sundung so auch zur Gesunderhaltung das einzige Mittel.
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5. Zur Trinkerheilung berufen sind neben der Familie und den Vereinen
für Trinkerrettung besonders Spezialanstalten unter ärztlicher Überwachung.
6. Radikale Alkoholabstinenz ist für jeden Anstaltsleiter unerläßliche Be¬
dingung.
Dr. Schmüderich-Herten referierte sodann über „Die Ersatzgetränke“.
Er charakterisierte das Wesen des Alkohols, seine chemischen und physiologischen
Eigenschaften, seinen Einfluß auf Leben und Gesundheit, auf Moral und Wohl¬
stand des Volkes. Nach den Ausführungen des Referenten miisfee dank der an
sich wertvollen Gastlichkeit und den damit leicht verbundenen Trinksitten unbe¬
dingt für Ersatzgetränke gesorgt werden. Vortragender spendet dem natürlichen
Ersatz, nämlich dem Trinkwasser, die erste Palme, spricht sich sodann für die
verschiedenen Fruchtsäfte, für Tee und Kaffee, sofern letztere nicht zu stark
genommen werden, aus und weist besondere auf den Wert der Milch hin. Seine
Leitsätze lauteten:
I. Zur Bekämpfung des Alkoholismus sind bei der heutigen Lage der Ver¬
hältnisse sogenannte Ersatzgetränke nicht zu entbehren, weil
1. viele ohne dieselben ihren gesellschaftlichen oder geschäftlichen Ver¬
kehr nicht würden aufrecht erhalten können;
2. viele sie als Genußmittel schätzen;
3. den zu entwöhnenden Trinkern die erste Zeit der Abstinenz dadurch
erleichtert wird;
4. Antialkoholvereinigungen ohne eignes Heim den Wirt durch Verzehr
derselben entschädigen müssen.
II. Als Ereatzgetränke kommen in erster Linie in Betracht natürliche und
künstliche Mineralwässer, unvergorene Frucht- und Obstsäfte, Kakao und mit
Einschränkung Tee und Kaffee.
III. Sehr erstrebenswert ist die Einführung von Milch als Ersatzgetränk.
IV. Zu verwerfen sind Getränke, die nach Herstellung und Beschaffenheit
alkoholische Getränke Vortäuschen können.
V. Es wird eine große Menge nicht einwandfreier Ersatzgetränke auf den
Markt gebracht. Behörden und Vereine müssen sich eine Überwachung und
Untersuchung derselben angelegen sein lassen.
Der Mitberichteretatter P. Schmitz-Heidhausen wandte sich im allgemeinen
gegen die Darreichung von Ersatzgetränken in Trinkerheilanstalten; vor allem
solle man sich hüten, hier solche Getränke zu verabfolgen, welche im Aussehen
und Geschmack den alkoholhaltigen Getränken verwandt seien. Klares Wasser,
frische Milch, gutes Obst sei unbedingt das beste, was als Ersatz erreicht werden
kann und darf. Auch mit diesen Ausführungen muß sich jeder Anstaltsleiter
voll und ganz einverstanden erklären; im einzelnen betonte er folgendes:
1. Die Heilmethode jeder Trinkerheilstätte geht vom Standpunkte der Total¬
abstinenz aus.
2. Diesem Grundsatz muß sich alles unterordnen, was bei der Heilung in
Betracht kommt, folglich auch die Frage der Ersatzgetränke.
3. Dieser Standpunkt der Trinkerheilstätten muß während und nach der Kur,
für den Trinker sowohl, wie für seine Umgebung maßgebend sein.
4. Wir betrachten die wirklich einwandsfreien, absolut alkoholfreien Ersatz¬
getränke lediglich als Übergangs- und Entwöhnungsmittel, denn beim Trinker ist
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nicht nur die Sucht nach Alkohol, sondern überhaupt das gewohnheitsmäßige
Trinken vom Übel.
5. Besonders gefährlich sind diejenigen Getränke, welche durch Namen,
Aussehen und Geschmack an verwandte alkoholhaltige Getränke erinnern; denn
das Bedürfnis nach etwas Ähnlichem läßt beim geringsten Anlaß den Unterschied
leicht übersehen. *
6. Die den Begriffen des Gesetzes entsprechenden alkoholfreien, aber meistens
nur alkoholarmen Getränke sind für jeden Alkohölisten ein noli me tangere,
weil seine krankhafte Sucht auch durch die geringste Dosis Alkohol geweckt und
gefördert wird.
7. Aus obigen Gründen sind Reform-Restaurants, welohe aus Geschäfts¬
interessen errichtet und ohne sachkundige Leitung betrieben werden, für geheilte
Trinker gefährlich.
8. Der beste Ersatz für alle geistigen Getränke sind reines Wasser, gutes
Obst und Milch — dank unserer fortgeschrittenen Bestrebung heute fast überall
erhältlich.
Der fernere Punkt der Tagesordnung betreffend „Mitteilungen aus der
praktischen Arbeit der Trinkerheilstätten“ mußte ausgesetzt werden,
da der Referent, Inspektor Jörn-Reinbeck, am Erscheinen behindert ward; es ist
dieses Thema für die nächste Versammlung in Aussicht genommen.
Nach der Versammlung wurde die Trinkerheüstätte „St. Bernhardshof“
bei Maria-Veen im Anschluß an die daselbst errichtete Arbeiterkolonie durch
einige, leider nur wenige Teilnehmer besichtigt. Diese Anstalt, welche im Jahre
1902 ins Leben gerufen ist, hat den Zweck „katholischen Männern, welche an
den Folgen des Alkoholgenusses leiden, behilflich zu sein, ihren bisherigen schäd¬
lichen Gewohnheiten zu entsagen und sie an eine gesunde und geregelte Lebens¬
weise zu gewöhnen“. Das in rein ländlicher Umgebung belegene, in Ziegelroh¬
bau errichtete Anstaltsgebäude birgt für 50 Personen Platz. Außer einer Reihe
Einzelzimmer ist ein großer Schlafsaal für 20 Betten vorhanden; Speisezimmer,
Aufenthaltsraum und Betsaal stehen zur Erholung und Erbauung den Patienten,
welche an eine streng religiöse Hausordnung gewöhnt, zur Beschäftigung, nach
Möglichkeit im Freien angehalten werden, zur Verfügung. Alle Insassen sind
verpflichtet, an den gemeinschaftlichen Übungen und Andachten täglich teilzu¬
nehmen. Die Leitung der Heilstätte liegt in der Hand von Mitgliedern des
Trappistenordens; die ärztliche Behandlung tritt nicht in den Vordergrund bei
dem Heilverfahren, der die Anstalt versorgende Arzt wohnt einige Meilen ent¬
fernt. Wir wurden von den Patres aufs herzlichste empfangen und über alles
Wissenswerte, was Kolonie wie Trinkerheilstätte anlangt, bereitwilligst unterrichtet.
Damit fanden die Münster-Tage einen würdigen Abschluß; mit Freude und
Dankbarkeit gegen die Veranstalter werden alle Teilnehmer ihrer gedenken. Dem
Deutschen Verein gratulieren wir zu diesem Erfolg, den Münsterländer Freunden,
welche diese Erfolge erzielten, wünschen wir ein klüftiges Anwachsen ihrer
Streitkraft und ein segensreiches Wirken! Auf Wiedersehen im nächsten Jahre
in Karlsruhe! Wdt.
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