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Full text of "Der Decamerone."

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Presented  to  the 

LIBRARY  ofthe 

UNIVERSITY  OF  TORONTO 

by 
MRS.    AILEEN  WOLFF 


BOCCACCIO       DER  DECAMERONE 
DRITTER  BAND 


GIOVANNI  BOCCACCIO 
DER  DECAMERONE 

DEUTSCH  VON    HEINRICH    CONRAD 

IN  FÜNF  BÄNDEN  MIT  DEN  KUPFERN  UND 

VIGNETTEN  VON  GRAVELOT,  BOUCHER, 

EISEN  DER  AUSGABE  VON 

1757 


DRITTER  BAND 

MÜNCHEN  31  UND  LEIPZIG 
BEI  GEORG  MÜLLER  UND  HANS  VON  WEBER 


ES  SCHLIESST 

DES  DECAMERON  VIERTER  TAG, 

UND  ES  BEGINNT 

DER  FÜNFTE, 

AN  DEM  UNTER  FIAMMETTAS  REGIMENT 

VON   DEN   GLÜCKSFÄLLEN 

ERZÄHLT  WIRD, 

DIE  NACH  WIDRIGEN 

UND  BETRÜBENDEN  EREIGNISSEN 

LIEBENDE  BETRAFEN 


Aillamct  Sc 


Schon  stand  der  Osten  in  weißem  Glänze,  und  schon 
erhellten  die  Strahlen  der  aufgehenden  Sonne  unsere 
ganze  Halbkugel,  als  Fiammetta  von  den  süßen  Ge- 
sängen der  Vögel,  die  des  Tages  erste  Stunde  mit 
frohen  Kehlen  von  Bäumen  und  Sträuchern  ver- 
kündeten, erwachte  und,  während  sie  selber  aufstand, 
die  übrigen  Mädchen  und  die  drei  Männer  rufen  ließ. 
Langsamen  Schrittes  gingen  sie  dann  auf  das  niedrig 
gelegene  Feld  hinaus  und  lustwandelten  unter  mancher- 
lei Gesprächen  in  der  weiten  Ebene  auf  tauigem 
Grase,  bis  die  Sonne  schon  ziemlich  hoch  am  Himmel 
stand. 

Als  aber  die  Sonnenstrahlen  schon  zu  brennen  an- 
fingen, wandte  die  Königin  ihre  Schritte  nach  dem 
Saale  zurück,  wo  die  Gesellschaft  sich  auf  ihr  Geheiß 
zuerst  mit  trefflichem  Weine  und  mit  Gebackenem  von 
der  geringen  Anstrengung  erholte,  die  sie  sich  gemacht, 
und  alsdann  in  dem  anmutigen  Garten  bis  zur  Essens- 
zeit ihrem  Ergötzen  nachging.  Inzwischen  bereitete  der 
verständige  Seneschall  die  Tafel,  und  als  die  Stunde 
herangekommen  war  und  man  noch  ein  Zitherlied  und 
ein  oder  ein  paar  Tanzliedchen  gesungen  hatte,  setzten 
auf  der  Königin  Anordnung  alle  fröhlich  sich  zum 
Essen. 


Während  der  Tafel  walteten  Anstand  und  Munter- 
keit; nach  Tische  aber  gedachte  man  des  Herkommens, 
zu  tanzen,  und  führte  mit  Instrumenten  und  Gesängen 
mehrere  kleine  Tänze  auf.  Dann  beurlaubte  die  Königin 
einen  jeden,  bis  die  Schlafenszeit  vorüber  sein  werde. 
Auch  legten  einige  sich  wirklich  schlafen;  andere  aber 
verweilten  zu  ihrer  Lust  in  dem  schönen  Garten.  Nicht 
lange  nach  der  dritten  Nachmittagsstunde  aber  ver- 
sammelten sie  sich  alle  bei  der  Quelle,  wie  die  Königin 
ihnen  befohlen  hatte.  Und  kaum  hatte  die  letztere  als 
Vorsitzerin  sich  niedergelassen,  als  sie  auch  schon  mit 
einem  Blick  auf  Pamfilo  diesem  den  Auftrag  gab,  die 
heiteren  Geschichten  zu  beginnen.  Pamfilo  gehorchte 
willig   dem   Befehle. 


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ERSTE  GESCHICHTE 

Cimon  wird  durch  Liebe  vernünftig  und  raubt  auf  dem 
Meere  Iphigenie,  seine  Geliebte.  In  Rhodus  verhaftet,  be- 
freit ihn  Lysimachus,  und  beide  entführen  gemeinschaftlich 
Iphigenie  und  Kassandra  vor  ihrem  Hochzeitsfest.  Sie  fliehen 
nach  Kreta  und  heiraten  dort  ihre  Geliebten,  mit  denen 
sie  endlich  in  die  Heimat  zurückgerufen  werden. 

Mancherlei  Geschichten  wüßte  ich,  o  holdselige  Damen, 
deren  Mitteilung  einen  so  fröhlichen  Abend,  wie  der 
heutige  zu  werden  verspricht,  schicklich  eröffnen  würde. 
Eine  unter  ihnen  sagt  mir  aber  am  meisten  zu,  weil 
ihr  nicht  allein  in  ihr  den  fröhlichen  Ausgang  wahr- 
nehmen werdet,  von  dem  zu  erzählen  wir  eben  an- 
fangen wollen,  sondern  zugleich  auch  erkennen  könnt, 
wie  heilig,  wie  gewaltig  und  wie  segensreich  die  Kräfte 
der  Liebe  sind,  die  viele,  ohne  selber  zu  wissen,  was 
sie  reden,  mit  großem  Unrecht  tadeln  und  verdammen. 
Und  da  ihr,  wenn  ich  mich  nicht  täusche,  sämtlich 
verliebt  seid,  so  kann  euch  diese  Einsicht  nicht  anders 
als  willkommen  sein. 

Nach  dem,  was  ich  vor  Zeiten  in  den  alten  Ge- 
schichten der  Cyprier  gelesen  habe,  lebte  auf  jener  Insel 
ein  Mann  von  edlem  Geschlechte,  der  Aristippo  hieß 
und  an  Reichtum  und  zeitlichen  Dingen  alle  seine 
Landsleute  um  vieles  übertraf,  so  daß  er,  wenn  das 
Schicksal  ihm  nicht  in  einem  Punkte  feindlich  ge- 
wesen wäre,  sich  vorzugsweise  glücklich  hätte  erachten 
können. 

Er  hatte  aber  unter  seinen  übrigen  Kindern  einen 
Sohn,  der  an  Größe  und  körperlicher  Schönheit  zwar 
die  übrigen  jungen  Männer  übertraf,  doch  zugleich 
fast  albern  und  blödsinnig  zu  nennen  war.  Sein  wahrer 
Name  war  Galesus;  weil  aber  weder  die  Bemühungen 


der  Lehrer,  noch  Zureden  oder  Schläge  des  Vaters, 
noch  endlich  der  Scharfsinn  irgendeines  anderen  im- 
stande gewesen  waren,  ihm  von  Kenntnissen  oder  guten 
Sitten  das  mindeste  beizubringen,  vielmehr  seine 
Stimme  plump  und  mißtönend,  sein  Betragen  aber 
mehr  einem  Vieh  als  einem  Menschen  geziemend  ge- 
blieben waren,  so  nannten  ihn  alle  spottweise  nur  den 
Cimon,  was  in  der  dortigen  Sprache  soviel  heißen 
will  als  Rindvieh. 

Das  nichtige  Leben  des  Sohnes  ging  dem  Vater  gar 
sehr  zu  Herzen,  und  als  er  endlich  alle  Hoffnung  auf- 
gegeben hatte,  befahl  er  ihm,  um  den  Anlaß  seines 
Grames  nicht  immer  vor  Augen  zu  haben,  auf  das 
väterliche  Landgut  zu  gehen  und  dort  mit  den  Acker- 
knechten zu  leben.  Mit  dieser  Bestimmung  war  denn 
auch  Cimon,  dem  die  Sitten  und  Gebräuche  der  ge- 
meinen Leute  viel  besser  zusagten  als  die  feineren,  aus- 
nehmend zufrieden. 

Während  er  nun  auf  dem  Lande  sich  mit  den  An- 
gelegenheiten des  Landbaues  ausschließlich  beschäftigte, 
ging  er  eines  Tages  bald  nach  Mittag,  seinen  Stock  auf 
der  Schulter,  von  einem  Vorwerk  zum  anderen  und 
durchschritt  dabei  ein  Gebüsch,  das,  weil  es  eben  Mai 
war,  ein  dichtes  Laubdach  bildete  und  an  jener  Stelle 
gerade  seine  volle  Schönheit  zeigte.  Hier  führte  ihn 
dann  sein  glückliches  Schicksal  zu  einer  kleinen,  rings 
von  hohen  Bäumen  umgebenen  Wiese,  an  deren  einem 
Ende  eine  anmutige  und  kühle  Quelle  entsprang. 

Neben  dieser  erblickte  er  auf  dem  grünen  Rasen  ein 
reizendes  junges  Mädchen  schlafend,  deren  feines  und 
durchsichtiges  Gewand  nur  unmerklich  die  alabasternen 
Glieder  verhüllte,  während  eine  leichte  und  schnee- 
weiße  Decke    vom   Gürtel   niederwärts   über   sie   hin- 

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gebreitet  war.  Zu  ihren  Füßen  lagen  zwei  Mädchen 
und  ein  Mann,  die  in  den  Diensten  der  jungen  Dame 
standen  und  ebenfalls  schliefen.  Beim  Anblick  dieser 
Schönen  erstaunte  Gimon  nicht  anders,  als  ob  er  nie 
zuvor  ein  Frauenbild  gesehen  hätte,  und  beschaute  sie 
sprachlos  auf  seinen  Stab  gelehnt,  aufmerksam  und 
mit  unsäglichem  Entzücken. 

Da  fühlte  er,  wie  in  seiner  rohen  Brust,  welcher 
tausendfach  wiederholter  Unterricht  nicht  den  mindesten 
Eindruck  edlerer  Neigungen  hatte  mitteilen  können, 
plötzlich  ein  Gefühl  erwachte,  das  seinem  plumpen  und 
ungebildeten  Geiste  dieses  Mädchen  als  den  schönsten 
Gegenstand  darstellte,  den  jemals  das  Auge  eines 
Lebendigen  gesehen  hätte.  Dann  betrachtete  er  die 
einzelnen  Teile  ihres  Körpers  und  bewunderte  die 
Schönheit  ihrer  Haare,  die  ihm  golden  deuchten,  Stirn, 
Mund  und  Nase,  Hals  und  Arme,  vor  allem  aber  den 
Busen,  dessen  Hügel  sich  erst  wenig  wölbten. 

Er,  der  soeben  noch  in  jeder  Hinsicht  ein  Bauer  ge- 
wesen war,  fällte  nun  schon  ein  Urteil  über  Schönheit 
und  verlangte  sehnlichst,  daß  sie  die  Augen  aufschlagen 
möge,  die  ein  tiefer  Schlaf  noch  verschlossen  hielt. 
Mehrmals  wandelte  ihn  die  Lust  an,  sie  zu  wecken, 
damit  er  ihre  Augen  sähe;  dann  aber  schien  sie  ihm 
so  über  allen  Vergleich  schöner  als  alle  Frauen,  die 
er  je  zuvor  gesehen,  daß  er  sie  für  eine  Göttin  zu 
halten  geneigt  war,  und  so  viel  richtiges  Gefühl  hatte 
er  doch,  daß  er  erkannte,  wie  göttliche  Dinge  mehr 
Ehrfurcht  verdienen  als  die  irdischen.  So  gewann  er 
es  denn  über  sich,  abzuwarten,  bis  sie  von  selber  auf- 
wachen würde,  und  so  lang  ihm  auch  ihr  Schlaf  vor- 
kam, wußte  er  sich,  in  das  Vergnügen  ihres  Anschauens 
versunken,  doch  nicht  loszumachen. 


Endlich,  obwohl  nach  einer  geraumen  Zeit,  geschah 
es,  daß  die  junge  Schöne,  die  Iphigenie  hieß,  früher 
als  einer  der  Ihrigen  erwachte.  Wie  sie  nun  das  Haupt 
emporhob,  die  Augen  aufschlug  und  Cimon  auf  seinen 
Stab  gelehnt  vor  sich  stehen  sah,  erstaunte  sie  nicht 
wenig  und  sagte:  „Cimon,  was  suchst  du  zu  dieser 
Stunde  hier  im  Holze?"  Denn  sowohl  wegen  seiner 
schönen  Gestalt  und  seiner  Blödsinnigkeit  als  wegen 
des  Adels  und  des  Reichtums  seines  Vaters  war  Cimon 
fast  einem  jeden  in  der  Gegend  bekannt. 

Er  aber  antwortete  auf  Iphigeniens  Worte  nicht  eine 
Silbe,  sondern  blickte  unverwandt  in  ihre  Augen  und 
glaubte  bei  sich  selber  eine  von  ihnen  ausgegangene 
Süßigkeit  zu  empfinden,  die  ihm  mit  nie  gekannter 
Wonne  durchdringe.  Als  das  Mädchen  dieses  sein  Be- 
tragen gewahr  wurde,  begann  sie  zu  fürchten,  daß  er 
infolge  seiner  Roheit  von  diesem  starren  Anschauen 
zu  Dingen  übergehen  möchte,  die  ihrer  Schamhaftig- 
keit  Gefahr  drohten.  Deshalb  rief  sie  ihre  Dienerinnen, 
erhob  sich  vom  Boden  und  sagte:  „Cimon,  gehabe 
dich  wohll" 

Cimon  aber  erwiderte  sogleich:  „Ich  gehe  mit  dir!" 
Und  obgleich  die  junge  Dame,  weil  sie  fortwährend 
wegen  seiner  Absichten  besorgt  war,  seine  Begleitung 
ablehnte,  konnte  sie  ihm  doch  auf  keine  Weise  eher 
von  sich  entfernen,  als  bis  er  sie  zu  ihrer  Wohnung 
geleitet  hatte. 

Von  dort  ging  er  sogleich  zu  seinem  Vater  und  er- 
klärte ihm,  unter  keiner  Bedingung  auf  das  Land 
zurückkehren  zu  wollen.  Freilich  war  dies  nun  dem 
Vater  und  den  übrigen  Angehörigen  gar  nicht  ge- 
legen, doch  ließen  sie  ihn  in  der  Stadt,  um  abzu- 
warten, wodurch   Cimon  so  umgestimmt  worden  sei. 

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Dieser  aber,  dessen  jeder  guten  Lehre  unzugängliches 
Herz,  Iphigeniens  Schönheit  mit  dem  Pfeil  der  Liebe 
durchdrungen  hatte,  faßte  täglich  neue  Vorsätze  und 
erregte  binnen  kurzem  das  Erstaunen  seines  Vaters, 
aller  seiner  Verwandten  und  überhaupt  eines  jeden,  der 
ihn  gekannt  hatte.  Zuerst  bat  er  den  Vater,  ihn  im 
Anzüge  und  in  allem  anderen  ebenso  geschmückt  wie 
seine  Brüder  einhergehen  zu  lassen,  und  der  Vater  tat 
es  mit  Freuden.  Dann  suchte  er  den  Umgang  wackerer 
junger  Leute  und  erforschte  von  ihnen,  was  für  Sitten 
adligen  Männern,  besonders  aber  den  Verliebten  ge- 
ziemen, und  lernte  zu  jedermanns  größter  Verwunde- 
rung in  gar  kurzer  Zeit  nicht  allein  die  Anfangsgründe 
der  Wissenschaften,  sondern  machte  sich  auch  die 
Weltweisheit  auf  das  vollkommenste  zu  eigen. 

Wie  die  Liebe,  die  er  für  Iphigenie  empfand,  ihn 
zu  dem  allen  geführt  hatte,  so  verwandelte  sie  auch 
ferner  seine  rauhe  und  bäuerische  Stimme  in  eine 
wohlklingende  und  gebildete  und  ließ  ihn  des  Spieles 
und  des  Gesanges  wohl  erfahren  und  im  Reiten  und 
den  Waffenübungen  zu  Wasser  und  zu  Lande  geübt 
und  tapfer  werden.  Kurz,  um  nicht  alle  seine  Geschick- 
lichkeiten im  einzelnen  aufzählen  zu  müssen:  noch 
war  seit  dem  Tage,  an  dem  er  sich  zuerst  verliebt  hatte, 
das  vierte  Jahr  nicht  verstrichen,  als  er  schon  alle 
jungen  Männer,  die  auf  der  Insel  Cypern  zu  finden 
waren,  an  Artigkeit,  guter  Sitte  und  vorzüglichen 
Eigenschaften  übertraf. 

Wie  sollen  wir,  holde  Damen,  uns  nun  wohl  diese 
Erscheinung  erklären?  Gewiß,  wir  können  es  nur  da- 
durch, daß  wir  voraussetzen,  ein  neidisches  Geschick 
habe  die  hohen  Anlagen,  mit  denen  der  Himmel 
Cimons  Seele  ausgestattet  hatte,  in  den  engsten  Raum 

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seines  Herzens  zusammengedrängt  und  dort  mit  den 
festesten  Banden  so  lange  gefesselt  und  verschlossen, 
bis  der  gewaltigere  Amor  alle  jene  Ketten  sprengte  und 
zerbrach,  die  schlummernden,  von  trauriger  Betäubung 
umnachteten  Lebensgeister  erweckte  und  mit  seiner 
Kraft  an  das  helle  Licht  zog,  um  dadurch  zu  offen- 
baren, aus  welcher  Dunkelheit  er  die  ihm  ergebenen 
Geisteskräfte  durch  seine  Strahlen  zum  vollen  Glänze 
zu  führen  vermöge. 

Obwohl  nun  Cimon  nach  der  gewöhnlichen  Art  ver- 
liebter Jünglinge  bei  seiner  Liebe  für  Iphigenie  in 
einigen  Dingen  das  Maß  überschritt,  so  ertrug  Aristippo 
dergleichen  nicht  allein  mit  Geduld,  sondern  er- 
munterte ihn  auch  selber,  ganz  seinem  Gefallen  nach- 
zuleben, da  ja  die  Liebe  ihn  vom  Tiere  zum  Menschen 
verwandelt  hatte.  Cimon,  der  im  Andenken,  daß  Iphi- 
genie ihn  so  genannt,  diesen  Namen  behalten  und 
nicht  mehr  Galesus  genannt  sein  wollte,  hielt  indessen, 
um  seine  Wünsche  geziemend  erfüllt  zu  sehen,  bei 
Iphigeniens  Vater,  Cypseus,  wiederholt  um  die  Hand 
des  Mädchens  an.  Cypseus  aber  erwiderte,  daß  er  sie 
bereits  dem  Pasimundas,  einem  jungen  rhodischen 
Edelmann,  zugesagt  habe  und  gegen  diesen  sein  Wort 
nicht  brechen  wollte. 

Als  nun  die  Zeit,  da  Iphigenie  infolge  dieses  Ver- 
sprechens vermählt  werden  sollte,  herangekommen  war 
und  der  Bräutigam  auch  schon  nach  ihr  gesandt  hatte, 
sagte  Cimon  bei  sich  selbst:  „Nun,  Iphigenie,  ist  es 
an  der  Zeit,  zu  beweisen,  wie  sehr  ich  dich  liebe. 
Schon  bin  ich  durch  dich  zum  Menschen  geworden; 
gelingt  es  mir,  dich  zu  besitzen,  so  werde  ich  dadurch 
zweifelsohne  ruhmreicher  werden,  als  einer  der  Götter; 
und  gewiß,  besitzen  werde  ich  dich  oder  sterben." 

io 


Als  er  so  bei  sich  gesprochen,  bat  er  in  der  Stille 
einige  junge  Edelleute,  mit  denen  er  befreundet  war, 
um  ihren  Beistand,  rüstete  heimlich  ein  Schiff  mit 
allem  aus,  was  zu  einem  Seegefecht  nötig  ist,  und  ging 
dann  mit  seinen  Gefährten  in  See,  um  das  Fahrzeug 
zu  erwarten,  auf  dem  Iphigenie  zu  ihrem  Bräutigam 
nach  Rhodus  gebracht  werden  sollte.  Der  Vater  des 
Mädchens  hatte  inzwischen  den  Freunden  ihres  Bräuti- 
gams viel  Ehre  angetan,  und  nun  steuerten  diese  mit 
ausgespannten  Segeln  auf  Rhodus  zu.  Gimon  aber 
schlief  nicht,  sondern  erreichte  sie  am  anderen  Tage 
und  rief  ihnen  von  der  Spitze  seines  Schiffes  mit 
lauter  Stimme  zu:  „Haltet  an,  streicht  die  Segel  oder 
seid  gewärtig,  besiegt  und  in  den  Grund  gebohrt  zu 
werden!" 

Cimons  Gegner  hatten  indessen  ihre  Waffen  schon 
auf  das  Verdeck  gebracht  und  rüsteten  sich  zur  Ver- 
teidigung. Cimon  aber  ergriff  nach  jenen  Worten  so- 
gleich einen  großen  eisernen  Enterhaken,  zog  damit 
das  Schiff  der  Rhodier,  die  aus  allen  Kräften  weiter- 
segelten, gewaltsam  an  das  seine  und  sprang  mit  dem 
Mute  eines  Löwen,  ohne  daß  ein  anderer  ihm  gefolgt 
wäre,  hinüber,  als  ob  er  die  Rhodier  alle  für  gar 
nichts  achtete.  Die  Liebe  lieh  ihm  Kräfte,  und  so 
stürzte  er  sich,  ein  Messer  in  der  Hand,  mit  wunder- 
barer Gewalt  mitten  unter  die  Feinde  und  schlachtete 
gar  viele,  bald  hierhin,  bald  dorthin  stoßend,  gleich 
Schafen  ab,  so  daß  die  Rhodier  endlich  voller 
Schrecken  ihre  Waffen  von  sich  warfen  und  mit  einer 
Stimme  sich  als  Gefangene  ergaben. 

Cimon  dagegen  sagte  zu  ihnen:  „Junge  Männer, 
weder  aus  Verlangen  nach  Beute  noch  aus  Haß,  den 
ich  gegen  euch  hegte,  bin  ich  von  Cypern  gesegelt,  um 

ii 


euch  hier  mitten  im  Meere  mit  bewaffneter  Hand  zu 
überfallen.  Was  mich  so  zu  tun  bewogen  hat,  dessen 
Eroberung  ist  für  mich  das  Höchste,  ihr  aber  könnt  es 
mir  gar  leicht  und  friedlich  überlassen:  das  ist  näm- 
lich Iphigenie,  die  ich  über  alles  liebe  und  die,  mir 
mit  den  Waffen  feindlich  von  euch  zu  erkämpfen,  die 
Liebe  mich  gezwungen  hat,  da  ihr  Vater  sie  mir  nicht 
als  Freund  im  Guten  überlassen  wollte.  So  will  ich 
ihr  denn  sein,  was  euer  Pasimundas  ihr  werden  sollte; 
gebt  sie  mir,  und  dann  ziehet  im  Namen  Gottes!" 

Die  Jünglinge  überließen,  mehr  von  der  Not  als 
von  gutem  Willen  bewogen,  die  Dame  weinend  dem 
Cimon.  Er  aber  sagte,  als  er  sie  weinen  sah,  zu  Iphi- 
genie: „Betrübe  dich  nicht,  holde  Dame;  ich  bin  dein 
Cimon  und  habe  dich  durch  meine  lange  Liebe  besser 
verdient  als  Pasimundas  durch  gelobtes  Versprechen." 

Inzwischen  hatte  er  Iphigenie,  ohne  von  dem  Gut 
der  Rhodier  das  mindeste  zu  berühren,  schon  in  sein 
Schiff  steigen  lassen,  und  nun  kehrte  er  selbst  zu 
seinen  Gefährten  wieder  zurück  und  ließ  jene  weiter- 
ziehen. Hocherfreut  über  den  Erwerb  einer  so  teuren 
Beute,  verwandte  Cimon  die  erste  Zeit  darauf,  die 
Weinende,  soviel  er  konnte,  zu  trösten,  und  überlegte 
dann  mit  seinen  Gefährten,  ob  es  nicht  allzu  gefähr- 
lich sein  möchte,  für  jetzt  nach  Cypern  zurückzu- 
kehren. Wirklich  beschlossen  sie  gemeinschaftlich,  den 
Lauf  ihres  Schiffes  lieber  nach  Kreta  zu  lenken,  wo 
sie  sich  insgesamt,  besonders  aber  Cimon,  wegen  alter 
und  neuer  Verbindungen  und  vieler  Freundschaften  mit 
Iphigenie  sicher  glaubten. 

Das  Glück  aber,  das  die  Erbeutung  der  Dame  freund- 
lich dem  Cimon  gewährt  hatte,  verwandelte  jetzt  in 
seiner    Unbeständigkeit    die    überschwängliche    Freude 

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des  liebenden  Jünglings  plötzlich  in  bittere,  schmerz- 
liche Tränen.  Noch  waren  keine  vier  Stunden  ver- 
gangen, seit  Gimon  die  Rhodier  verlassen  hatte,  als 
in  derselben  Nacht,  von  der  Gimon  sich  die  höchste, 
nie  empfundene  Seligkeit  versprochen  hatte,  ein  stür- 
misches Wetter  heraufstieg,  das  den  Himmel  mit 
Wolken  und  das  Meer  mit  verheerenden  Winden  über- 
zog. So  sehr  wütete  der  Sturm,  daß  niemand  zu  er- 
kennen vermochte,  was  man  tun  und  wohin  man  sich 
wenden  sollte,  ja  daß  man  nicht  einmal  sich  auf- 
rechtzuhalten und  irgend  Hilfe  zu  leisten  imstande  war. 

Wie  sehr  Gimon  sich  darüber  betrübte,  bedarf  keiner 
Worte;  es  dünkte  ihm,  die  Götter  hätten  ihn  an  das 
Ziel  seiner  Wünsche  nur  gelangen  lassen,  damit  er 
den  Tod,  der  ihm  vorher  gar  gleichgültig  gewesen 
wäre,  um  so  schmerzlicher  empfinden  sollte.  Es  be- 
klagten sich  auch  die  Gefährten;  vor  allen  aber  jam- 
merte Iphigenie,  weinte  laut  und  schreckte  bei  jedem 
Wellenstoße  neu  zusammen.  Mit  harten  Worten  ver- 
wünschte sie  unter  ihren  Tränen  Gimons  Liebe  und 
schalt  auf  seine  Keckheit;  denn  nur  darum,  sagte  sie, 
sei  dieses  stürmische  Wetter  entstanden,  weil  die  Götter, 
weit  entfernt,  zu  gestatten,  daß  Gimon,  der  sie  wider 
ihren  Willen  zur  Gattin  begehrte,  seiner  verwegenen 
Lüste  froh  würde,  ihn  vielmehr,  nachdem  er  sie 
zuvor  habe  sterben  gesehen,  selber  elendiglich  um- 
kommen lassen   wollten. 

Unter  solchen  und  noch  heftigeren  Klagen  wurde 
das  Schiff,  das  die  Seeleute  auf  keine  Weise  zu 
lenken  vermochten,  von  dem  immer  heftiger  tobenden 
Sturme  in  die  Nähe  der  Insel  Rhodus  geführt.  Da 
nun  aber  die  Schiffer  nicht  wußten,  daß  es  Rhodus 
sei,  bemühten  sie  sich,  um  ihr  Leben  zu  retten,  aus 

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allen  Kräften  wo  möglich  dieses  Land  zu  gewinnen. 
In  der  Tat  war  ihnen  das  Glück  dazu  behilflich  und 
führte  sie  in  einen  kleinen  Meerbusen,  in  welchem 
kurz  vorher  auch  die  Rhodier,  die  Gimon  freige- 
lassen hatte,  mit  ihrem  Schiffe  eingelaufen  waren. 
Nicht  eher  aber  erkannten  sie,  daß  sie  nach  Rhodus 
verschlagen  worden  seien,  als  bis  sie  bei  dem  Dämmer- 
licht, das  am  anderen  Tage  das  aufsteigende  Morgen- 
rot über  den  etwas  aufgehellten  Himmel  verbreitete, 
etwa  in  der  Entfernung  eines  Bogenschusses  das  Schiff 
gewahr  wurden,  auf  dem  sie  tags  zuvor  gekämpft 
hatten. 

Cimon,  der  die  Gefahr  schon  drohen  sah,  die  ihn 
nachher  wirklich  betraf,  erschrak  darüber  unsäglich 
und  befahl,  daß  alle  Kräfte  aufgeboten  würden,  um 
nur  von  dort  wieder  zu  entkommen  und  dann  sich 
treiben  zu  lassen,  wohin  es  immer  dem  Schicksal  ge- 
fallen möchte,  da  sie  ja  doch  nirgends  schlimmer 
aufgehoben  sein  konnten,  als  eben  dort. 

Die  Schiffer  ließen  nichts  unversucht,  um  hinaus- 
zukommen; aber  alles  war  vergeblich.  Der  Wind  blies 
so  heftig  in  der  entgegengesetzten  Richtung,  daß  sie, 
weit  entfernt,  sich  aus  jener  kleinen  Bucht  heraus- 
arbeiten zu  können,  alles  Widerstrebens  ungeachtet 
auf  das  Land  getrieben  und  kaum  dort  angelangt, 
von  den  rhodischen  Seeleuten,  die  ihr  Schiff  in- 
zwischen verlassen  hatten,  erkannt  wurden.  Sogleich 
lief  einer  von  ihnen  nach  einem  nahegelegenen 
Landgute,  wohin  die  jungen  rhodischen  Edelleute 
schon  vorausgegangen  waren,  berichtete  diesen,  wie 
Cimon  mit  Iphigenie  gleich  ihnen  dort  mit  seinem 
Schiffe  zu  landen,  vom  Unwetter  gezwungen  worden 
sei.  Die  Edelleute  eilten,  hocherfreut  über  diese  Nach- 

i4 


rieht,  mit  einer  Menge  Menschen  vom  Gute  an  das 
Meer,  wo  sie  Cimon,  der  mit  den  Seinigen  schon 
ausgestiegen  war  und  in  einen  benachbarten  Wald  zu 
flüchten  gedachte,  nebst  Iphigenie  und  allen  übrigen 
gefangen  nahmen  und  sie  insgesamt  nach  jenem  Land- 
hause führten. 

Als  aber  Pasimundas  von  dem,  was  sich  zugetragen, 
Kunde  erhalten  hatte,  beklagte  er  sich  bei  dem  Senate 
von  Rhodus,  und  auf  dessen  Beschluß  kam  Lysimachus, 
der  in  jenem  Jahre  die  höchste  Würde  bei  den  Rho- 
diern  bekleidete,  mit  einem  großen  Geleit  von  Kriegern 
aus  der  Stadt  heraus  und  führte  Gimon  und  seine 
Gefährten   ins   Gefängnis. 

Auf  solche  Weise  verlor  der  arme  liebende  Cimon 
seine  Iphigenie,  die  er  kurz  zuvor  erst  gewonnen,  ohne 
ihr  mehr  als  einen  Kuß  genommen  zu  haben.  Iphi- 
genie dagegen  empfingen  viele  edle  rhodische  Damen, 
sprachen  ihr  Trost  wegen  der  erlittenen  Gefangen- 
schaft und  der  auf  dem  stürmischen  Meer  ausge- 
standenen Angst  zu  und  behielten  sie  bis  zu  dem 
Tage,   auf  den   die  Hochzeit  bestimmt  war,   bei   sich. 

Dem  Cimon  und  seinen  Gefährten  wurde  indessen 
aus  Rücksicht,  daß  sie  tags  zuvor  die  jungen  Rhodier 
freigelassen,  trotz  den  Bemühungen  des  Pasimundas, 
ihr  Todesurteil  zu  bewirken,  das  Leben  geschenkt; 
freilich  aber  wurden  sie  zu  ewiger  Gefangenschaft 
verurteilt,  und  wie  traurig,  wie  ohne  Hoffnung,  je 
wieder  eine  Freude  zu  erfahren,  sie  diese  ertrugen,, 
ist  wohl  leicht  auszudenken. 

Während  indessen  Pasimundas  die  Vorbereitungen 
zur  bevorstehenden  Hochzeit  so  viel  als  möglich  be- 
schleunigte, bereitete  das  Glück,  als  wäre  ihm  das 
Unrecht  wieder  leid  geworden,  das  es  dem  Gimon  so* 

i5 


plötzlich  angetan,  ein  neues  Ereignis  zu  seiner  Ret- 
tung vor. 

Pasimundas  hatte  einen,  zwar  an  Jahren  jüngeren, 
doch  an  Tugenden  nicht  ärmeren  Bruder,  namens 
Hormisdas,  der  sich  lange  Zeit  um  die  Hand  eines 
schönen  und  adligen  Mädchens  jener  Stadt,  welche 
Cassandra  hieß  und  die  Lysimachus  auf  das  feurigste 
liebte,  beworben  hatte,  doch  war  die  Verbindung  wegen 
mehrerer  Umstände  verschiedene  Male  schon  wieder 
auseinander  gegangen. 

Wie  nun  Pasimundas  jetzt  das  große  Fest  bedachte, 
mit  dem  er  seine  Hochzeit  würde  feiern  müssen,  hielt 
er  es  für  ratsam,  um  gleichen  Kosten  und  Gastereien 
für  die  Zukunft  zu  entgehen,  den  Hormisdas,  wo 
möglich,  zugleich  mitheiraten  zu  lassen.  Zu  dem  Zwecke 
knüpfte  er  die  Unterhandlungen  mit  Gassandras  Eltern 
wieder  an  und  führte  sie  so  weit  zum  Ziele,  daß  an 
demselben  Tage,  an  dem  Pasimundas  mit  Iphigenie 
sich  verbände,  auch  Hormisdas  seine  Hochzeit  mit 
Cassandra  feiern  sollte. 

Dem  Lysimachus  mißfiel  dieser  Entschluß,  der  ihm 
alle  seine  Hoffnungen  zu  rauben  schien,  aufs  höchste; 
denn  bisher  hatte  er  fortwährend  gedacht,  wenn  Hor- 
misdas sie  nicht  erhalte,  werde  sie  ihm  noch  zuteil 
werden.  Verständig  aber,  wie  er  war,  hielt  er  seinen 
Unmut  innerlich  verborgen  und  dachte  vielmehr  dar- 
über nach,  wie  er  die  Ausführung  jener  Pläne  viel- 
leicht noch  hindern  könne;  doch  wußte  er  keinen 
möglichen  Ausweg  zu  erkennen,  als  nur  den  einen, 
sie  zu  rauben.  Dies  zu  tun,  schien  ihm  nun  freilich 
vermöge  seines  Amtes  besonders  leicht  ;  auf  der  anderen 
Seite  dünkte  es  ihm  aber  auch  gerade  wegen  seiner 
Würde  desto  unziemlicher.  Endlich  trug  indessen  nach 

16 


langem  inneren  Kampfe  die  Liebe  über  die  Schick- 
lichkeit den  Sieg  davon,  und  er  beschloß,  Cassandra 
zu  rauben,  was  immer  daraus  entstehen  möchte.  Und 
während  er  über  die  Gehilfen,  die  er  sich  erwählen 
mußte,  und  über  die  Art  der  Ausführung  nachdachte, 
erinnerte  er  sich  des  Gimon,  den  er  mit  seinen  Ge- 
fährten im  Gefängnis  hielt,  und  es  leuchtete  ihm  ein, 
daß  er  in  dieser  Angelegenheit  keinen  besseren  und 
treueren  Gehilfen  als  eben  den  Cimon  würde  finden 
können. 

Zu  dem  Zwecke  berief  er  ihn  in  der  nächsten  Nacht 
heimlich  auf  sein  Zimmer  und  begann  folgendermaßen 
zu  ihm  zu  reden: 

„Cimon,  wie  die  Götter  ihre  Gaben  gütig  und  frei- 
gebig an  die  Menschen  verteilen,  so  wissen  sie  auch 
die  Tugenden  der  Menschen  auf  das  genaueste  zu 
prüfen  und  würdigen  alsdann  diejenigen,  die  sie 
bei  allem  Wechsel  des  Schicksals  standhaft  und  un- 
erschütterlich finden,  ihres  höheren  Wertes  wegen 
auch  der  Gelegenheit,  sich  noch  höhere  Verdienste 
zu  erwerben.  Demnach  haben  sie  denn  auch  von 
deinen  Tugenden  gewichtigere  Proben  verlangt,  als  du 
innerhalb  der  Mauern  deines  väterlichen  Hauses,  das, 
wie  ich  höre,  an  Reichtümern  Überfluß  hat,  deren 
abzulegen  imstande  sein  würdest.  Zu  Anfang  haben 
sie  dich,  wie  man  sagt,  durch  die  stechenden  Schmerzen 
der  Liebe  vom  unvernünftigen  Tiere  zum  Menschen 
gemacht;  dann  aber  prüften  sie,  ob  erst  die  Unglücks- 
fälle und  nun  der  harte  Kerker  deinen  Mut  gegen 
die  Zeit,  wo  du  für  kurze  Stunden  deiner  gewonnenen 
Beute  froh  warst,  herabstimmen  könnten. 

„Bist  du  nun  aber  noch,  der  du  warst,  so  sind  sie 
jetzt  bereit,  dir  zu  schenken,  wogegen  alles,  was  sie 

III  2  17 


dir  bisher  gewährten,  verschwindet;  und  was  dies  sei, 
das  will  ich,  damit  du  deine  gewohnte  Kraft  wieder 
gewinnest  und  guten  Muts  werdest,  jetzt  dir  sagen: 

„Derselbe  Pasimundas,  dessen  höchste  Freude  dein 
Unglück  ist  und  der  mit  aller  Mühe  dir  den  Tod  zu 
bereiten  gesucht  hat,  beschleunigt  jetzt,  so  sehr  er 
kann,  seine  Verbindung  mit  deiner  Iphigenie,  um  der 
Beute  froh  zu  werden,  die  das  Glück  dir  erst  freund- 
lich gewährt  hatte  und  dann  im  schnellen  Wechsel 
seiner  Laune  dir  wieder  entzog.  Wie  sehr  dich  das 
aber  schmerzen  muß,  wenn  anders  du  so,  wie  ich  es 
glaube,  liebst,  das  empfinde  ich  an  mir  selber,  dem 
des  Pasimundas  Bruder  Hormisdas  in  der  Person  der 
Cassandra,  die  ich  über  alles  liebe,  an  demselben  Tage 
gleiche  Kränkung  antun  will. 

„Um  nun  so  hartem  Geschick  und  so  schwerem 
Unrecht  zu  entgehen,  hat  das  Glück  uns,  wie  mir 
dünkt,  nur  den  einen  Weg  offen  gelassen,  den  unsere 
Tapferkeit  und  unser  Mut  uns  mit  dem  Schwerte,  dir 
zu  dem  zweiten,  mir  aber  zu  dem  ersten  Raube 
unserer  beiderseitigen  Damen  bahnen  soll.  Ist  dir  also, 
ich  sage  nicht  deine  Freiheit,  denn  ich  vermute,  daß 
dir  ohne  Iphigeniens  Besitz  wenig  daran  gelegen  sein 
mag,  wohl  aber  deine  Dame  lieb,  so  haben  die 
Götter  jetzt  dein  Schicksal,  wenn  du  dich  an  mein 
Unternehmen  anschließen  willst,  in  deine  eigenen 
Hände  gelegt." 

Diese  Worte  gaben  dem  Gimon  seinen  verlorenen 
Mut  vollkommen  wieder,  und  er  antwortete,  ohne  sich 
lange  zu  besinnen:  „Lysimachus,  wenn  ich  auf  diesem 
Wege  das  erlangen  soll,  wovon  du  mir  sprichst,  so 
kannst  du  zu  deinem  Unternehmen  weder  einen 
mutigeren  noch  einen  zuverlässigeren  Gehilfen  finden. 

18 


Bestimme  mir  also  nur,  was  du  mir  zu  übertragen  für 
gut  finden  wirst,  und  du  sollst  sehen,  daß  ich  es  mit 
mehr  als  natürlicher  Kraft  ausführen  werde." 

Darauf  erwiderte  Lysimachus:  „Übermorgen  werden 
die  neuvermählten  Frauen  ihren  ersten  Einzug  in  das 
Haus  ihrer  Männer  halten.  Wir  aber  werden  uns 
gegen  Abend,  du  mit  den  Deinigen  und  ich  mit  einer 
Anzahl  völlig  zuverlässiger  Gefährten,  beiderseits  be- 
waffnet, dort  einschleichen,  die  beiden  Bräute  mitten 
von  dem  Gastmahl  rauben  und  sie  zu  dem  Schiffe 
führen,  das  ich  heimlich  schon  habe  zurüsten  lassen; 
jeder  aber,  der  sich  uns  zu  widersetzen  wagt,  sei 
des  Todes!" 

Cimon  war  mit  diesen  Anordnungen  zufrieden  und 
kehrte  bis  zu  der  bestimmten  Zeit  ruhig  in  sein  Ge- 
fängnis zurück. 

Glänzend  und  kostbar  war  am  Hochzeitstage  das  Ge- 
pränge, und  überall  im  Hause  der  beiden  Brüder 
herrschte  festliche  Heiterkeit.  Als  die  Zeit  nun  dem 
Lysimachus  gelegen  schien,  verteilte  er  den  Cimon  und 
dessen  Gefährten  sowie  seine  eigenen  Freunde,  die 
sämtlich  unter  den  Kleidern  Waffen  trugen,  nachdem 
er  sie  zuvor  mit  vielen  Worten  zur  Unternehmung  an- 
gefeuert hatte,  in  drei  Haufen.  Den  einen  hieß  er  sich 
vorsichtig  am  Hafen  aufstellen,  damit  niemand,  wenn 
es  dazu  gekommen  wäre,  sie  hindern  könnte,  das 
Schiff  zu  beseitigen.  Den  zweiten  ließ  er  an  der  Haus- 
tür, um  sich  zu  versichern,  daß  sie  nicht  etwa  ein- 
geschlossen würden  oder  daß  ihnen  der  Ausgang  ver- 
wehrt würde.  Er  selbst  endlich  ging  mit  Cimon  und 
den  übrigen  die  Treppe  hinauf,  gerade  in  den  Speise- 
saal, wo  sich  die  beiden  Bräute  mit  noch  vielen  anderen 
Damen    schon    in    geziemender    Ordnung    zu    Tische 

19 


niedergelassen  hatten.  Unsere  beiden  jungen  Männer 
aber  traten  dreist  heran,  stürzten  die  Tische  um, 
nahmen  ein  jeder  die  seinige  und  übergaben  sie  den 
Armen  ihrer  Gefährten,  damit  diese  sie  augenblicklich 
auf  das  segelfertige  Schiff  brächten. 

Die  beiden  Bräute  fingen  zwar  an  zu  weinen  und 
zu  schreien,  und  die  übrigen  Damen  und  Diener  nicht 
minder,  so  daß  das  ganze  Haus  alsbald  voller  Lärmens 
und  voller  Klagen  war.  Cimon  und  Lysimachus  aber 
zogen  ihre  Schwerter  und  bahnten  sich  so,  ohne  daß 
jemand  ihnen  zu  widerstehen  gewagt  hätte,  den  Weg 
zu  der  Treppe.  Als  sie  nun  diese  hinunterstiegen,  be- 
gegnete ihnen  Pasimundas,  der,  einen  großen  Stock 
in  der  Hand,  auf  den  Lärm  herbeieilte.  Cimon  traf 
ihn  indessen  mit  seinem  Schwerte  so  gewaltig  auf  den 
Kopf,  daß  er  diesen  wohl  halb  herunterhieb  und  Pa- 
simundas ihm  tot  zu  Füßen  fiel. 

Ebenso  tötete  ein  zweiter  Hieb  des  Cimon  den 
armen  Hormisdas,  der  seinem  Bruder  zu  Hilfe  eilte; 
auch  noch  mehrere  andere,  die  herbeispringen  wollten, 
wurden  von  des  Lysimachus'  und  des  Cimon  Gefährten 
siegreich  zurückgeschlagen.  Diese  aber  gelangten  von 
dem  Hause,  das  sie  voller  Blut,  Geschrei,  Wehklagen 
und  Trauer  hinter  sich  ließen,  dicht  zusammengedrängt 
und  ohne  auf  ein  Hindernis  zu  stoßen,  mit  ihrer  Beute 
glücklich  zu  dem  Schiffe,  hießen  ihre  Damen  schnell 
hineinsteigen,  folgten  ihnen  selber  mit  allen  den 
Ihrigen  nach  und  ruderten  dann  aus  allen  Kräften  im 
Angesicht  zahlreicher  Bewaffneter,  die  sich  schon  am 
Ufer  gesammelt  hatten,  um  die  Damen  wieder  zu  be- 
freien, glücklich  ihren  Hoffnungen  entgegen. 

In  Kreta,  wo  sie  von  ihren  vielen  Freunden  und 
Verwandten  auf  das  beste  empfangen  wurden,  feierten 

20 


sie  schnell  unter  großen  Festlichkeiten  die  Verbindung 
mit  ihren  Damen  und  genossen  dann  freudig  ihrer 
schönen  Beute.  In  Cypern  und  in  Rhodus  wurde  noch 
lange  Zeit  viel  Lärmens  über  diese  kecke  Tat  ge- 
macht, und  an  beiden  Orten  hatten  sie  ernstliche  Un- 
ruhen zur  Folge.  Endlich  aber  legten  sich  hier  so- 
wohl als  dort  die  Freunde  und  Verwandten  ins  Mittel 
und  brachten  es  glücklich  dahin,  daß  nach  einigen 
Jahren  des  Exils  Cimon  mit  Iphigenie  nach  Cypern 
und  Lysimachus  mit  Cassandra  nach  Rhodus  zurück- 
kehren durften,  worauf  dann  beide  Paare  lange  noch 
glücklich  miteinander  in  ihrer  Heimat  lebten. 


21 


ZWEITE  GESCHICHTE 

Constanza  liebt  Martuccio  Gomito  und  überläßt  sich  auf 
die  Nachricht  von  seinem  Tode  verzweifelt  und  allein  einem 
Kahne,  den  der  Wind  nach  Susa  führt.  In  Tunis  findet  sie 
ihn  lebendig  wieder  und  gibt  sich  ihm,  der  durch  die  dem 
König  erteilten  Ratschläge  inzwischen  dessen  Gunst  er- 
worben hatte,  zu  erkerinen.  Er  heiratet  sie  und  kehrt  als 
reicher  Mann  mit  ihr  nach  Lipari  zurück. 

Als  die  Königin  gewahr  wurde,  daß  die  Geschichte 
des  Pamfilo  beendigt  sei,  sagte  sie  viel  zu  ihrem. 
Lobe  und  trug  alsdann  Emilia  auf,  mit  der  Erzählung 
einer  anderen  fortzufahren.  Diese  aber  begann  fol- 
gendermaßen : 

Billiger  weise  soll  ein  jeder  sich  über  die  Ereignisse 
freuen,  in  denen  er  den  Wünschen  ihren  entsprechen- 
den Lohn  folgen  sieht.  Da  nun  aber  die  Liebe  auf 
die  Dauer  viel  mehr  Freude  als  Betrübnis  verdient, 
so  werde  ich  durch  meine  Erzählung  über  den  jetzt 
aufgegebenen  Gegenstand  viel  lieber  der  Königin  ge- 
horchen, als  ich  es  mit  meiner  vorigen  dem  Körnige  tat. 

Wisset  denn,  o  zärtliche  Mädchen,  daß  nicht  weit 
von  Sicilien  eine  kleine  Insel,  Lipari  benannt,  ge- 
legen ist,  auf  welcher  vor  noch  nicht  gar  langer  Zeit 
eine  wunderschöne  Jungfrau  lebte,  die  Constanza  hieß 
und  angesehener  Leute  Tochter  war.  In  diese  nun 
verliebte  sich  ein  junger  Mann  von  derselben  Insel, 
namens  Martuccio  Gomito,  der  mit  feinen  Sitten  und 
gefälligem  Benehmen  große  Geschicklichkeit  in  seinem 
Gewerbe  verband.  Nicht  minder  war  aber  auch  das 
Mädchen  für  ihn  entbrannt,  so  daß  sie  keinen  glück- 
licheren Augenblick  hatte,  als  wenn  sie  ihn  sah.  Mar- 
tuccio, der  sie  zur  Frau  begehrte,  ließ  bei  ihrem  Vater 
um  ihre  Hand  anhalten;  dieser  antwortete  indessen, 
er  sei  arm,  und  darum  wolle  er  sie  ihm  nicht  geben. 

22 


w-avtlot    tue  ■ 


T.  JU  .   V.  4. 


Atilamrt   Sc 


Tief  gekränkt,  daß  er  seiner  Armut  wegen  ver- 
schmäht worden  war,  verschwor  Martuccio  sich  nun 
mit  einigen  Freunden  und  Verwandten,  nie  anders 
als  reich  nach  Lipari  zurückzukehren.  So  segelte  er 
denn  von  seiner  Heimat  ab  und  ging  an  den  Küsten 
der  Berberei  gegen  einen  jeden,  der  schwächer  war  als 
er,  auf  Seeräuberei  aus.  Dabei  wäre  ihm  dann  auch 
das  Glück  gar  günstig  gewesen,  hätte  er  es  nur  über 
sich  gewinnen  können,  seinen  Erfolgen  ein  Ziel  zu 
setzen.  Weil  er  sich  aber,  so  wenig  wie  die  Seinigen, 
mit  den  erworbenen  großen  Schätzen  begnügen  wollte 
und  übermäßigen  Reichtum  zu  gewinnen  begehrte,  so 
geschah  es,  daß  sie  eines  Tages  von  mehreren  sara- 
zenischen Fahrzeugen  überfallen  und  nach  langem 
Widerstände  sämtlich  gefangen  wurden.  Die  Mehr- 
zahl wurde  von  den  Sarazenen  ins  Meer  geworfen,  das 
Schiff  versenkt,  Martuccio  selber  aber  nach  Tunis  ge- 
führt und  dort  in  langem  Elende  gefangen  gehalten. 
Inzwischen  kam  die  Nachricht,  daß  alle,  die  sich  mit 
Martuccio  auf  jenem  Schiffe  befunden,  ertränkt 
worden  seien,  nicht  etwa  nur  durch  eine  oder  ein 
paar  Personen,  sondern  auf  vielen  verschiedenen 
Wegen  nach  Lipari. 

Das  Mädchen  aber,  das  schon  über  die  Abreise  ihres 
Geliebten  außerordentlich  traurig  gewesen  war,  weinte 
nun,  als  sie  vernahm,  daß  er  mit  den  anderen  um- 
gekommen sei,  lange  Zeit  und  beschloß,  nicht  länger 
zu  leben.  Da  es  ihr  jedoch  an  Mut  fehlte,  sich  selber 
auf  irgendeine  Weise  gewaltsam  umzubringen,  er- 
dachte sie  ein  neues  Mittel,  sich  den  Tod  zu  geben. 

Eines  Nachts  schlich  sie  sich  heimlich  aus  dem 
Hause  ihres  Vaters  nach  dem  Hafen  hin,  wo  sie  zu- 
fällig in   einiger   Entfernung   von  den   übrigen   einen 

23 


Fischerkahn  fand,  der,  weil  seine  Besitzer  ihn  nur 
eben  erst  verlassen  hatten,  mit  Mast,  Segel  und  Rudern 
noch  vollständig  versehen  war.  Diesen  bestieg  sie  so- 
gleich und  spannte,  sobald  sie  sich  mit  den  Rudern 
ein  wenig  in  das  Meer  hinausgearbeitet  hatte,  ver- 
möge ihrer  Geschicklichkeit  in  der  Schiffahrt,  die  sie 
mit  der  Mehrzahl  der  Bewohnerinnen  jener  Insel 
einigermaßen  teilte,  die  Segel  auf,  warf  Steuer  so- 
wohl als  Ruder  fort  und  überließ  sich  dann  dem 
Winde  mit  der  Überzeugung,  daß  das  unbelastete  und 
lenkungslose  Fahrzeug  notwendig  entweder  umschlagen 
oder  auf  einen  Felsen  geworfen  und  zerschmettert 
werden  würde,  wo  sie  dann,  selbst  wenn  sie  sich  retten 
wollte,  es  nicht  zu  tun  vermöchte,  sondern  ertrinken 
müßte.  Darauf  hüllte  sie  den  Kopf  in  ihren  Mantel 
und  legte  sich  weinend  auf  den  Boden  des  Nachens 
nieder. 

Alles  dies  aber  ging  anders  aus,  als  sie  es  sich 
vorgestellt  hatte.  Da  nämlich  der  Wind  gerade  aus 
Norden  blies  und  ziemlich  schwach  war,  auch  das 
Meer  durchaus  nicht  hoch  ging,  so  blieb  das  Schiffchen 
unversehrt  und  wurde  am  nächsten  Tage  gegen  Abend 
wohl  hundert  Meilen  über  Tunis  hinaus  nicht  weit  von 
der  Stadt  Susa  ans  Land  getrieben.  Constanza,  die 
die  ganze  Zeit  ihr  Haupt  um  keinerlei  Anlaß  er- 
hoben hatte  und  auch  ferner  so  zu  tun  gedachte,  wurde 
nicht  gewahr,  daß  sie  nun  wieder  am  Lande  statt  auf 
der  See  sei. 

Zufällig  war  aber,  gerade  als  der  Kahn  ans  Ufer 
stieß,  dort  ein  armes  Weib  am  Strande,  das  die  zum 
Trocknen  ausgebreiteten  Netze  der  Schiffer  wieder 
auflas.  Als  diese  den  Kahn  erblickte,  wunderte  sie 
sich,  daß  man  ihn  mit  aufgezogenem  Segel  habe  ans 

24 


Land  laufen  lassen.  Da  sie  jedoch  vermutete,  die 
Fischer  darin  möchten  wohl  schlafen,  ging  sie  hin, 
sie  aufzuwecken.  Sie  fand  aber  niemand  anders  als 
das  Mädchen,  das  in  festem  Schlafe  lag  und  erst  nach 
vielem  Rufen  wieder  zu  sich  kam. 

Inzwischen  hatte  das  Fischerweib  Gonstanza  schon 
an  ihren  Kleidern  für  eine  Christin  erkannt  und  fragte 
sie  deshalb  auf  italienisch,  wie  sie  so  allein  in  dem 
Nachen  dort  angekommen  sei.  Als  das  Mädchen  die 
italienischen  Worte  vernahm,  fürchtete  sie,  der  Wind 
möchte  sich  gewandt  und  sie  nach  Lipari  zurück- 
geführt haben.  Schnell  richtete  sie  sich  auf,  blickte 
umher,  und  als  sie  sich  nun  am  Lande  sah  und 
dennoch  die  Gegend  nicht  kannte,  fragte  sie  das  gute 
Weib,  wo  sie  denn  sei. 

„Meine  Tochter,  du  bist  nicht  weit  von  Susa  in  der 
Berberei,"  entgegnete  die  Alte. 

Das  Mädchen  betrübte  sich  bei  dieser  Nachricht  sehr, 
daß  Gott  ihr  nicht  den  Tod  habe  senden  wollen.  Zu- 
gleich fürchtete  sie  sich  aber  auch  vor  Schande,  und 
so  setzte  sie  sich  in  völliger  Ratlosigkeit  bei  ihrem 
Kahne  nieder  und  weinte.  Dieser  Anblick  erbarmte 
das  gute  Weib,  und  sie  redete  dem  Mädchen  so- 
lange zu,  bis  diese  ihr  in  ihre  kleine  Hütte  folgte 
und  ihr  dort  nach  vielem  Bitten  erzählte,  auf 
welche  Weise  sie  an  dieses  Ufer  gekommen  sei.  Da 
nun  jene  durch  diese  Erzählung  erfuhr,  daß  sie  noch 
nüchtern  war,  trug  sie  ihr  hartes  Brot  und  ein  wenig 
Fisch  und  Wasser  auf  und  brachte  es  durch  langes 
Zureden  endlich  dahin,  daß  sie  ein  wenig  davon  zu 
sich  nahm. 

Dann  fragte  Constanza  das  gute  Weib,  wer  sie  sei, 
daß  sie  italienisch  rede.  Diese  antwortete,  sie  sei  von 

25 


Trapani,  heiße  Garapresa  und  bediene  hier  in  Susa 
einige  christliche  Fischer. 

So  betrübt  das  Mädchen  war  und  so  wenig  sie  selber 
über  das  Gefühl  sich  Rechenschaft  zu  geben  vermochte, 
nahm  sie  doch  den  Namen  Carapresa,  sobald  sie  ihn 
gehört  hatte,  für  ein  gutes  Zeichen,  fing,  ohne  zwar 
zu  wissen  worauf,  doch  wieder  zu  hoffen  an  und  ließ 
in  ihrem  Todes  verlangen  ein  wenig  nach.  Dem  guten 
Weibe  entdeckte  sie  indessen  weder  wer  noch  woher 
sie  sei,  sondern  bat  sie  nur  auf  das  herzlichste,  um 
Gottes  willen  Erbarmen  mit  ihrer  Jugend  zu  haben 
und  ihr  zu  raten,  wie  sie  den  Beschimpfungen,  denen 
sie  ausgesetzt  sei,  entgehen  könne. 

Carapresa,  die  ein  wackeres  Weib  war,  ging  nach 
diesen  Worten,  während  das  Mädchen  in  der  Hütte 
blieb,  schnell  die  Netze  heimzuholen  und  führte  dann 
sogleich  Gonstanza,  die  sich  in  einen  Mantel  der  Alten 
ganz  einhüllen  mußte,  nach  Susa.  Hier  angelangt, 
sagte  sie:  „Gonstanza,  ich  werde  dich  in  das  Haus 
einer  trefflichen  Sarazenin  bringen,  die  mir  gar  oft 
allerhand  Besorgungen  aufträgt.  Sie  ist  alt  und  mit- 
leidigen Gemütes.  Ihr  werde  ich  dich  empfehlen,  so 
sehr  ich  nur  weiß  und  kann,  und  ich  bin  gewiß,  daß 
sie  dich  mit  Freuden  aufnehmen  und  gleich  einer 
Tochter  behandeln  wird.  Du  aber  mußt,  solange  du 
bei  ihr  sein  wirst,  nach  Kräften  dich  bemühen,  ihre 
Zueignung  durch  deine  Dienste  zu  gewinnen,  bis  Gott 
dir  einst  ein  besseres  Los  bereitet." 

Das  gute  Weib  tat,  wie  sie  gesagt  hatte.  Als  die  Sara- 
zenin, die  schon  bejahrt  war,  ihre  Worte  vernommen 
hatte,  betrachtete  sie  die  Züge  des  jungen  Mädchens 
und  fing  zu  weinen  an.  Dann  küßte  sie  Constanzas 
Stirn,  ergriff  sie  bei  der  Hand  und  führte  sie  in  ihr 

26 


Haus  ein,  in  welchem  sie  mit  einigen  anderen  Frauen 
ohne  männliche  Gesellschaft  wohnte  und  gemeinschaft- 
lich mit  ihnen  mancherlei  Handarbeiten  aus  Seide, 
Palmblättern  und  Leder  verfertigte.  In  wenigen  Tagen 
eignete  sich  das  Mädchen  diese  Fertigkeiten  an,  so  daß 
sie  an  den  Arbeiten  der  übrigen  teilnehmen  konnte, 
und  sie  gewann  sich  nicht  allein  die  Zueignung  und 
die  herzliche  Liebe  der  anderen  in  erstaunlichem 
Maße,  sondern  sie  lernte  auch,  von  ihren  Ge- 
fährtinnen unterwiesen,  in  kurzer  Zeit  die  Sprache 
des  Landes. 

Während  nun  das  Mädchen,  das  man  inzwischen  in 
Lipari  schon  als  verloren  und  gestorben  beweint  hatte, 
noch  in  Susa  verweilte,  geschah  es,  daß  ein  junger 
Fürst  von  Granada,  der  nicht  nur  große  eigene  Hilfs- 
mittel, sondern  auch  eine  angesehene  Verwandtschaft 
sein  eigen  nannte,  unter  dem  Vorgeben,  daß  das  König- 
reich Tunis  ihm  zukomme,  ein  äußerst  zahlreiches 
Heer  rüstete  und  mit  diesem  den  damals  regierenden 
König  von  Tunis,  der  Mariabdela  hieß,  mit  Krieg 
überzog,  um  ihn  aus  seinem  Reiche  zu  vertreiben. 
Als  diese  Kunde  dem  Martuccio  Gomito,  der  die  Sprache 
der  Barbaresken  wohl  verstand,  in  seinem  Gefängnisse 
zu  Ohren  kam  und  als  er  vernahm,  wie  große  Zu- 
rüstungen  der  König  von  Tunis  zu  seiner  Verteidigung 
machte,  sagte  er  zu  einem  der  Leute,  die  ihn  und  seine 
Leidensgefährten  bewachten  :  „Könnte  ich  nur  mit  dem 
Könige  reden,  so  getraute  ich  mich  wohl,  ihm  einen 
Rat  zu  geben,  der  ihn  in  diesem  Kriege  zum  Sieger 
machen  sollte." 

Der  Kerkerwächter  sagte  diese  Worte  seinem  Be- 
fehlshaber, und  dieser  berichtete  sie  alsbald  dem  Kö- 
nige. Der  König  aber  befahl,  daß  Martuccio  vor  ihn 

27 


gebracht  werde,  und  fragte  ihn  alsdann,  was  für  einen 
Rat  er  zu  erteilen  habe. 

„Herr,"  erwiderte  er,  „  habe  ich  zu  anderen  Zeiten, 
als  ich  schon  hier  in  Eurem  Lande  mich  umgetan  habe, 
Eure  Art  zu  kämpfen  wohl  erfaßt,  so  wendet  Ihr  in 
Euren  Schlachten  Bogenschützen  mehr  als  eine  andere 
Waffe  an.  Könnte  man  nun  also  ein  Mittel  ausfindig 
machen,  daß  die  Schützen  Eures  Feindes  Mangel  an 
Pfeilen  litten,  während  die  Eurigen  noch  hinreichend 
damit  versehen  wären,  so,  meine  ich,  müßte  die 
Schlacht  für  Euch  gewonnen  werden." 

„Ohne  Zweifel,"  entgegnete  der  König,  „würde  ich, 
wenn  sich  das  bewerkstelligen  ließe,  mich  des  Sieges 
für  gewiß  halten." 

Darauf  antwortete  Martuccio:  „Mein  Gebieter,  wenn 
Ihr  wollt,  läßt  sich  das  allerdings  erreichen,  und  ver- 
nehmt nur,  wie:  Ihr  müßt  für  Eure  Schützen  die 
Bogensehnen  um  vieles  dünner  machen  lassen,  als  sie 
sonst  allgemein  gebräuchlich  sind.  Dazu  laßt  Ihr  dann 
Pfeile  anfertigen,  deren  Kerben  sich  nur  bei  so  dünnen 
Sehnen  gebrauchen  lassen.  Das  alles  muß  aber  so  ge- 
heim geschehen,  daß  Eurem  Feinde  nichts  davon  zu 
Ohren  kommt  und  er  daher  keine  Vorkehrungen 
treffen  kann.  Der  Zweck  aber,  den  ich  durch  diese  An- 
stalten erreichen  will,  ist  folgender  :  Wenn  die  Schützen 
Eures  Feindes  ihre  Pfeile  abgeschossen  haben  werden, 
und  ebenso  Eure  die  ihrigen,  müssen,  wie  Ihr  wißt,  im 
ferneren  Verlaufe  der  Schlacht  die  Feinde  die  Ge- 
schosse aufsammeln,  die  die  Eurigen  versandt  haben, 
und  dagegen  die  Eurigen  die  Pfeile  der  Feinde.  Dann 
aber  werden  Eure  Gegner  die  Pfeile,  die  die  Euren 
abgeschossen  haben,  nicht  gebrauchen  können,  weil  die 
dicken  Sehnen  ihrer  Bogen  die  kleinen  Kerben  Eurer 

28 


Pfeile  nicht  zu  fassen  imstande  sind,  während  umge- 
kehrt den  Eurigen  bei  ihren  feinen  Sehnen  die  weit- 
gekerbten  Pfeile  der  Feinde  treffliche  Dienste  leisten 
werden.  So  werden  dann  also  Eure  Schützen  reichlich 
Geschosse  haben,  wenn  die  anderen  schon  gänzlichen 
Mangel  daran  leiden." 

Dem  Könige,  der  ein  verständiger  Herr  war,  leuchtete 
der  Rat  des  Martuccio  ein,  und  in  der  Tat  trug  er 
auch  durch  dessen  Befolgung  den  Sieg  über  seine 
Feinde  davon.  Natürlich  gelangte  Martuccio  dadurch 
in  seine  besondere  Gunst  und  gewann  Ansehen  und 
Reichtümer. 

Das  Gerücht  von  diesen  Ereignissen  ging  durch  das 
Land,  und  auch  zu  Gonstanzas  Ohren  kam  die  Nach- 
richt, daß  Martuccio,  den  sie  lange  für  tot  gehalten 
hatte,  noch  am  Leben  sei.  Da  entzündete  sich  die 
Liebe  für  ihn,  die  in  ihrem  Herzen  schon  minder 
heftig  zu  brennen  angefangen  hatte,  plötzlich  zu  neuen 
gewaltigen  Flammen  und  erweckte  die  schon  ver- 
blichene Hoffnung  aus  ihrem  Todesschlaf.  So  ent- 
schloß sie  sich  denn,  der  trefflichen  Frau,  bei  der  sie 
wohnte,  ihr  ganzes  Schicksal  vollständig  zu  eröffnen, 
und  sagte  ihr,  daß  sie  nach  Tunis  zu  reisen  wünsche, 
um  dort  die  Augen  an  dem  Anblick  zu  sättigen,  zu 
dem  durch  die  vernommenen  Kunden  die  Ohren  ihr 
Verlangen  aufs  neue  geweckt  hätten. 

Die  wackere  Dame  billigte  vollkommen  ihren  Ent- 
schluß, machte  sich  mit  der  Sorgsamkeit  einer  Mutter 
zu  Schiffe  mit  ihr  auf  den  Weg  nach  Tunis,  und 
beide  wurden  dort  in  dem  Hause  einer  Verwandten 
ehrenvoll  aufgenommen. 

Kaum  angelangt,  sandte  Constanza  die  Carapresa, 
von  der  sie  ebenfalls  sich  hatte  begleiten  lassen,  aus, 

29 


um  Nachrichten  über  Martuccio  einzuziehen,  worauf 
diese  schnell  die  Kunde  von  seinem  Leben  und  dem 
großen  Ansehen,  in  dem  er  stehe,   zurückbrachte. 

Die  edle  Sarazenin  ließ  es  sich  nicht  nehmen,  dem 
Martuccio  die  erste  Nachricht  zu  geben,  daß  seine  Con- 
stanza nach  Tunis  gekommen  sei,  um  ihn  zu  suchen. 
So  ging  sie  denn  eines  Tages  in  die  Wohnung  des 
jungen  Mannes  und  sagte  zu  ihm:  „Martuccio,  einer 
von  deinen  Dienern,  der  aus  Lipari  kommt,  ist  bei 
mir  eingekehrt  und  wünscht  insgeheim  mit  dir  zu 
reden.  Und  weil  ich,  seinen  Wünschen  gemäß,  es  nie- 
mand anderem  anvertrauen  wollte,  bin  ich  selber  ge- 
kommen, um  dir  die  Nachricht  zu  bringen." 

Martuccio  dankte  ihr  für  ihre  Gefälligkeit  und  suchte 
sie  bald  darauf  in  ihrer  Wohnung  auf.  Als  das  Mäd- 
chen ihren  Geliebten  wiedersah,  fehlte  wenig,  daß  sie 
nicht  vor  Freuden  gestorben  wäre.  Ihrer  selbst  nicht 
mehr  mächtig,  fiel  sie  ihm  mit  offenen  Armen  um  den 
Hals.  Das  Nachgefühl  der  vergangenen  Leiden  und  das 
gegenwärtige  Glück  machte  sie  stumm,  und  sie  brach 
in  einen  Strom  von  Tränen  aus. 

Auch  der  Jüngling  schwieg  bei  dem  Anblick  des 
Mädchens  vor  Erstaunen  eine  Weile,  dann  aber  sagte 
er  mit  einem  Seufzer:  „Ach,  meine  Gonstanza,  so 
bist  du  denn  noch  am  Leben  !  Schon  lange  Zeit  ist 
es  her,  seit  ich  hörte,  du  seiest  verschwunden  und 
man  wisse  auch  in  unserer  Heimat  nicht,  was  aus  dir 
geworden  sei." 

Und  mit  diesen  Worten  umarmte  und  küßte  er  sie 
unter  heißen  Tränen.  Gonstanza  erzählte  ihm  darauf 
alle  ihre  Schicksale  und  mit  welcher  Aufmerksamkeit 
sie  von  der  Dame,  bei  der  sie  die  Zeit  über  gewohnt 
habe,  behandelt  worden  sei. 

3o 


Sobald  Martuccio  sich  endlich  nach  langem  Ge- 
spräche von  seiner  Geliebten  getrennt  hatte,  ging  er 
zum  König,  seinem  Herrn,  berichtete  ihm  alles,  was 
ihm  und  dem  Mädchen  begegnet  war,  und  fügte  hinzu, 
wie  er,  seine  Zustimmung  vorausgesetzt,  sie  nach 
christlichem  Gebrauch  zu  heiraten  gesonnen  sei.  Der 
König  ließ,  nicht  wenig  über  die  vernommenen  Ereig- 
nisse erstaunt,  das  Mädchen  zu  sich  rufen,  und  als  sie 
ihm  die  Erzählung  des  Martuccio  völlig  bestätigte, 
sagte  er:  „Nun,  so  hast  du  ihn  dir  denn  wohl  zum 
Manne  verdient." 

Darauf  mußten  auf  seinen  Befehl  köstliche  und  er- 
lesene Geschenke  herbeigebracht  werden,  die  er  unter 
Martuccio  und  Gonstanza  verteilte;  zugleich  gab  er 
beiden  freie  Hand,  über  ihre  fernere  Bestimmung 
nach  Wohlgefallen  zu  verfügen. 

Martuccio  erwies  der  trefflichen  Dame,  die  Con- 
stanza so  lange  bei  sich  beherbergt  hatte,  noch  viel 
Ehrerbietung  und  dankte  ihr  für  alle  Freundschaft 
und  Liebe,  die  sie  dem  Mädchen  erwiesen  hatte,  teils 
durch  Worte  und  teils  durch  Geschenke,  wie  sie  sich 
für  sie  ziemten,  worauf  diese  nicht  ohne  Tränen  von 
Constanza  Abschied  nahm.  Dann  bestiegen  sie,  mit  des 
Königs  Erlaubnis  und  von  Carapresa  begleitet,  ein 
kleines  Schiff  und  kehrten  mit  günstigem  Winde  heim 
nach  Lipari,  wo  sie  mit  größerer  Freude  aufge- 
nommen wurden,  als  sich  in  Worten  würde  beschreiben 
lassen.  Hier  feierte  Martuccio  bald  seine  Vermählung 
mit  großen  Feierlichkeiten;  dann  aber  genossen  beide 
in  Frieden  und  Freude  noch  lange  die  Seligkeit  ihrer 
Liebe. 


3i 


DRITTE  GESCHICHTE 

Petro  Boccamazza  flieht  mit  Agnolella  und  stoßt  auf  Räuber. 
Das  Mädchen  flüchtet  in  einen  Wald  und  wird  von  dort 
nach  einer  Burg  geführt.  Petro  fällt  gefangen  in  die  Hände 
der  Räuber,  entgeht  ihnen  aber  wieder  und  gelangt  endlich, 
nachdem  er  noch  andere  Gefahren  überstanden,  in  dieselbe 
Burg,  wo  Agnolella  sich  schon  befindet.  Dort  vermählt  er 
sich  mit  ihr,  und  beide  kehren  nach  Rom  zurück. 

Keiner  war  in  der  ganzen  Gesellschaft,  der  nicht 
über  Emilias  Geschichte  seinen  Beifall  ausgesprochen 
hätte;  die  Königin  aber  wandte  sich,  als  sie  jene  am 
Ziele  sah,  zu  Elisa  und  gebot  ihr  fortzufahren.  Elisa 
gehorchte  willig  und  begann  also: 

Holde  Damen,  ich  entsinne  mich  einer  traurigen 
Nacht,  die  ein  junges  Paar  durch  seinen  Leichtsinn 
durchzumachen  hatte;  weil  ihr  aber  dann  viele  frohe 
Tage  nachfolgten,  will  ich  Euch  die  Geschichte,  unserer 
Aufgabe  entsprechend,  kurz  erzählen. 

Vor  kurzem  lebte  in  Rom,  das,  wie  es  einst  das 
oberste  Haupt  der  Welt  war,  so  jetzt  ihr  niedrigstes 
Ende  ist,  ein  junger  Mann,  namens  Pietro  Boccamazza, 
der  zu  einer  der  angeseheneren  römischen  Familien  ge- 
hörte. Dieser  verliebte  sich  in  ein  wunderschönes  und 
reizendes  Mädchen,  das  Agnolella  hieß  und  die  Tochter 
eines  gewissen  Gigliuozzo  Saullo  war,  der,  wenngleich 
von  geringer  Herkunft,  doch  bei  den  Römern  äußerst 
beliebt  war.  Auch  wußte  der  Verliebte  sich  auf  so  ge- 
fällige Weise  um  ihre  Gunst  zu  bewerben,  daß  das 
Mädchen  ihn  nicht  weniger  zu  lieben  begann,  als  sie 
von  ihm  geliebt  wurde.  Endlich  fühlte  sich  Pietro  von 
seiner  glühenden  Liebe  so  überwältigt,  daß  er  sich  un- 
fähig glaubte,  den  Qualen  des  Verlangens  nach  dem 
Gegenstande  seiner  Leidenschaft  ferner  zu  wider- 
stehen, und  um  die  Hand  des  Mädchens  anhielt. 

32 


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Als  aber  seine  Verwandten  Nachricht  von  diesem 
Schritt  erhalten  hatten,  bestürmten  sie  ihn  alle  und 
tadelten  ihn  laut  wegen  seines  Entschlusses.  Auf  der 
anderen  Seite  aber  ließen  sie  auch  dem  Gigliuozzo 
Saullo  sagen,  er  solle  den  Worten  des  Pietro  auf  keine 
Weise  Gehör  geben,  und  wenn  er  es  dennoch  tue, 
würden  sie  ihn  niemals  als  ihren  Freund  oder  Ver- 
wandten anerkennen. 

Als  Pietro  sich  auf  solche  Weise  den  Weg  ver- 
schlossen sah,  auf  dem  er  allein  an  das  Ziel  seiner 
Wünsche  kommen  zu  können  geglaubt  hatte,  wünschte 
er  sich  vor  Gram  den  Tod.  Gerne  würde  er,  wenn  nur 
Gigliuozzo  eingewilligt  hätte,  dessen  Tochter  auch  gegen 
den  Wunsch  aller  seiner  Anverwandten  geheiratet 
haben.  Aber,  selbst  ohne  das,  nahm  er  sich  vor,  wenn 
nur  das  Mädchen  wollte,  zu  erreichen,  was  er  begehrte; 
und  als  er  durch  einen  dritten  erforscht  hatte,  daß  das 
Mädchen  einwilligte,  verabredete  er  sich  mit  ihr,  aus 
Rom  zu  entfliehen. 

Nachdem  alles  zu  dem  Zwecke  vorbereitet  war,  ver- 
ließ Pietro  eines  Morgens  lange  noch  vor  Tagesanbruch 
seine  Wohnung  und  schlug  mit  seiner  Geliebten,  als 
beide  zu  Pferde  gestiegen  waren,  den  Weg  nachAnagni 
ein,  wo  Pietro  Freunde  hatte,  auf  die  er  sich  gänzlich 
verlassen  zu  können  glaubte.  Unterwegs  ließ  ihnen 
die  Furcht,  daß  man  sie  verfolgen  möchte,  keine  Zeit, 
ihre  Hochzeit  zu  vollziehen,  und  so  konnten  sie  denn 
unter  fortwährenden  Gesprächen  über  ihre  Liebe  nichts 
tun,  als  zuweilen  einander  küssen. 

Weil  aber  Pietro  mit  dem  Wege  nicht  allzu  bekannt 
war,  schlugen  sie,  nachdem  sie  vielleicht  acht  Meilen 
von  Rom  aus  zurückgelegt  hatten,  einen  Weg  nach 
links  ein,  während  sie  sich  rechts  hätten  halten  sollen. 

III  3  33 


Und  kaum  waren  sie  auf  diesem  weiter  als  zwei 
Meilen  geritten,  so  befanden  sie  sich  in  der  Nähe  eines 
befestigten  Gebäudes,  von  welchem  aus  man  sie  nicht 
sobald  gesehen  hatte,  als  auch  schon  ein  Dutzend  Be- 
waffneter herauskam,  um  ihnen  den  Weg  zu  ver- 
sperren. 

Das  Mädchen,  dessen  sie  zuerst,  aber  doch  nicht  eher 
gewahr  wurden,  als  bis  beide  ihnen  schon  ganz  nahe 
waren,  rief  laut:  „Pietro,  retten  wir  uns,  wir  werden 
überfallen,"  und  mit  diesen  Worten  trieb  sie  ihr 
Pferd,  so  schnell  sie  nur  konnte,  nach  einem  benach- 
barten großen  Wald  zu  und  drückte  dabei,  während 
sie  mit  beiden  Händen  sich  fest  an  dem  Sattelknopf 
hielt,  dem  Rosse  die  Sporen  so  tief  in  den  Leib,  daß 
dieses  sie,  von  Schmerz  beflügelt,  im  schnellsten  Laufe 
durch  den  Wald  dahintrug.  Da  indessen  Pietro  seine 
Augen  mehr  auf  die  Züge  der  Geliebten  als  auf  den 
Weg  gerichtet  hatte,  so  hatte  er  den  bewaffneten 
Haufen,  der  auf  sie  zukam,  nicht  sobald  erblickt  als 
jene  und  wurde  daher,  während  er  sich  noch  umsah, 
von  welcher  Seite  die  Räuber  denn  kämen,  von  ihnen 
überfallen,  gefangen  und  seines  Pferdes  beraubt. 

Als  er  nun  auf  ihre  Frage  sich  ihnen  genannt  hatte, 
hielten  sie  untereinander  Rat  über  ihn,  und  der  eine 
sagte  zum  anderen:  „Der  gehört  zu  den  Freunden 
unserer  Feinde;  was  können  wir  besseres  mit  ihm  an- 
fangen, als  daß  wir  seine  Kleider  und  das  Pferd  be- 
halten und  ihn  dann  den  Orsini  zum  Verdruß  an  eine 
dieser  Eichen  hängen?" 

Alle  stimmten  diesem  Vorschlag  zu  und  befahlen 
daher  dem  Pietro,  sich  zu  entkleiden.  Während  aber 
dieser  in  der  Todesangst  sich  anschickte,  ihren  Befehlen 
zu  gehorchen,  geschah  es,  daß  ein  Hinterhalt  von  wohl 

34 


einem  Viertelhundert  Bewaffneter  plötzlich  mit  dem 
Rufe:  „Ihr  seid  des  Todes!"  über  jene  ersten  herfiel. 
Diese  nun  ließen  im  Schrecken  wegen  des  Überfalls 
den  Pietro  los  und  wandten  sich  gegen  die  Angreifen- 
den, vor  deren  offenbarer  Überzahl  sie  jedoch  bald 
die  Flucht  ergriffen,  auf  der  jene  sie  verfolgten. 

Als  Pietro  sich  auf  diese  Weise  frei  sah,  suchte  er 
sich  seine  Sachen  wieder  zusammen,  bestieg  sein  Pferd 
und  jagte,  so  schnell  er  konnte,  nach  der  Seite  hin, 
wo  er  das  Mädchen  hatte  verschwinden  sehen.  Da  er 
aber  in  dem  Walde  weder  Weg  noch  Pfad,  noch  auch 
Huftritte  eines  Pferdes  entdecken  konnte,  fing  er, 
sobald  er  sich  sowohl  den  Händen  derer,  die  ihn  ge- 
fangen hatten,  als  der  anderen,  die  jene  überfallen 
hatten,  erst  sicher  entronnen  glaubte,  über  alle  Maßen 
traurig  zu  weinen  an. 

In  allen  Richtungen  durch  den  Wald  hin  rief  er 
nach  seinem  Mädchen,  doch  niemand  gab  ihm  Ant- 
wort. Zurückzukehren  getraute  er  sich  nicht,  und  doch 
wußte  er  auch  nicht,  wohin  er  geraten  könnte,  wenn  er 
vorwärts  ginge.  Zugleich  aber  erschreckten  ihn  die 
wilden  Tiere,  die  in  den  Wäldern  zu  weilen  pflegen, 
um  seiner  selbst  und  um  seines  Mädchens  willen,  das 
er  in  Gedanken  jeden  Augenblick  von  einem  Bären 
oder  Wolfe  erwürgt  werden  sah.  So  trieb  der  un- 
glückliche Pietro  sich  den  ganzen  Tag  unter  Rufen  und 
Wehklagen  in  dem  Walde  umher,  wobei  es  denn  oft  ge- 
schah, daß  er  in  die  Richtung,  woher  er  gekommen  war, 
zurückkehrte,  während  er  vorwärts  zu  reiten  glaubte. 

Endlich  fühlte  er  sich  von  dem  lauten  Rufen,  von 
dem  Weinen,  der  ausgestandenen  Angst  und  dem 
langen  Fasten  so  angegriffen,  daß  er  nicht  mehr  von 
der   Stelle  konnte.   Als  nun   auch  die  Nacht  anbrach, 

35 


stieg  Pietro,  der  sich  auf  keinerlei  Weise  anders  zu 
raten  und  zu  helfen  wußte,  von  dem  Pferde,  band 
dieses  an  eine  hohle  Eiche  und  kletterte  dann,  um 
nur  nicht  von  den  wilden  Tieren  zerrissen  zu  werden, 
auf  die  Äste.  Bald  darauf  ging  der  Mond  auf,  und 
der  Himmel  war  schön  und  hell;  Pietro  aber  enthielt 
sich  aus  Furcht,  herunterzustürzen,  des  Schlafes,  ob- 
gleich ihn  auch  in  der  sichersten  und  bequemsten 
Stellung  sein  Gram  und  seine  Sorgen  um  das  Mädchen 
kaum  hätten  schlafen  lassen,  und  so  verbrachte  er 
unter  Seufzen,  Tränen  und  Verwünschungen  seines 
Mißgeschickes  wachend  die  ganze  Nacht. 

Inzwischen  war  das  Mädchen,  wie  wir  schon  oben 
erzählt  haben,  ohne  einer  anderen  Richtung  zu  folgen, 
als  der,  in  welcher  sie  das  Pferd  nach  eigener  Lust 
davontrug,  so  weit  in  den  Wald  geflohen,  daß  sie  die 
Stelle,  wo  sie  hineingekommen  war,  nicht  mehr  er- 
kennen konnte.  Und  so  verbrachte  denn  auch  sie,  bald 
verweilend  und  bald  umherirrend,  bald  rufend  und 
bald  ihr  Unglück  mit  tausend  Tränen  beweinend,  den 
ganzen  Tag  in  dieser  waldigen  Wildnis.  Wie  sie  nun, 
als  es  schon  Abend  wurde,  Pietro  immer  noch  nicht 
kommen  sah,  schlug  sie  einen  kleinen  Pfad  ein,  den 
sie  gewahr  geworden  war.  Das  Pferd  verfolgte  die 
Spur,  und  als  sie  etwas  über  zwei  Meilen  weit  ge- 
ritten war,  erblickte  sie  von  ferne  ein  kleines  Häus- 
chen. Sie  eilte,  dies  so  schnell  als  möglich  zu  er- 
reichen, und  fand  es  von  einem  wackeren  alten  Manne 
und  von   seiner   ebenfalls  betagten   Frau  bewohnt. 

Als  diese  sahen,  daß  sie  allein  sei,  sagten  sie:  „Ach, 
Tochter,  was  tust  du  um  diese  späte  Stunde  so  allein 
hier   im   Freien?" 

Das  Mädchen  erwiderte  weinend,  daß  sie  ihren  Ge- 

36 


fährten  im  Walde  verloren  habe,  und  fragte  dann,  wie 
weit  es  noch  bis  Anagni  sei. 

„Meine  Tochter,"  antwortete  der  gute  Mann,  „hier 
geht  der  Weg  nach  Anagni  nicht  vorüber,  und  es 
sind  mehr  als  ein  Dutzend  Meilen  bis  dorthin." 

Darauf  sagte  das  Mädchen:  „Sind  denn  nicht  wenig- 
stens Häuser  hier  in  der  Nähe,  wo  man  beherbergt 
werden  kann?" 

Der  gute  Mann  aber  entgegnete:  „Keines  so  nahe, 
daß  du  es  noch  vor  Nacht  erreichen  könntest." 

„Wenn  ich  denn  nirgends  anders  unterkommen 
kann,"  erwiderte  das  Mädchen,  „würdet  also  Ihr  wohl 
so  freundlich  sein,  mich  diese  Nacht  aus  Barmherzig- 
keit bei  Euch  zu  behalten?" 

Darauf  antwortete  der  gute  Mann:  „Mein  Kind,  es 
soll  uns  lieb  sein,  wenn  du  diese  Nacht  bei  uns  bleibst; 
doch  wollen  wir  dir  im  voraus  bemerken,  daß  übel- 
gesinnte Heerhaufen  der  einen  wie  der  anderen  Partei 
bei  Tage  und  bei  Nacht  diese  Gegenden  zu  durch- 
streifen pflegen  und  uns  gar  häufig  großen  Schaden 
und  Verdruß  antun.  Würden  wir  nun  zum  Unglück, 
während  du  hier  bist,  von  einer  solchen  Bande  heim- 
gesucht, so  würden  sie  dir  um  deiner  Schönheit  und 
Jugend  willen  gewiß  Schaden  und  Schande  antun, 
ohne  daß  wir  dich  im  mindesten  zu  schützen  ver- 
möchten. Das  haben  wir  dir  im  voraus  sagen  wollen, 
damit  du,  wenn  es  wirklich  geschehen  sollte,  dich 
nachher  nicht  über  uns  beschweren  könntest." 

So  sehr  die  Worte  des  alten  Mannes  das  Mädchen 
erschreckten,  so  sagte  sie  dennoch  in  Anbetracht  der 
späten  Stunde:  „Gott  wird,  wenn  es  ihm  gefällt,  Euch 
und  mich  vor  solchem  Unglück  schützen.  Ist  es  aber 
über  uns  verhängt,  so  ist  es  immer  noch  besser,  von 

37 


den    Menschen    mißhandelt,    als    im    Walde    von    den 
wilden  Tieren  zerrissen  zu  werden." 

Mit  diesen  Worten  stieg  sie  vom  Pferde,  trat  in 
das  Haus  des  armen  Mannes  ein  und  teilte  das  spär- 
liche Abendessen  der  guten  Leute.  Dann  legte  sie  sich, 
angekleidet  wie  sie  war,  mit  ihnen  auf  ihre  kleine 
Lagerstätte  und  fand  die  ganze  Nacht  über  kein  Ende, 
zu  seufzen  und  neben  ihrem  eigenen  Unglück  das  des 
Pietro  zu  beweinen,  für  den  sie  sich  ja  auch  nichts 
anderes  als  das  schlimmste  denken  konnte. 

Als  es  schon  gegen  Morgen  war,  hörte  sie  die  Tritte 
von  einer  Menge  Leute  immer  näher  kommen.  Besorgt 
vor  der  drohenden  Gefahr,  erhob  sie  sich  still  von 
ihrem  Lager,  ging  in  den  weiten  Hofraum,  der  hinter 
dem  Häuschen  gelegen  war,  und  verbarg  sich  dort  in 
einem  großen  Heuhaufen,  den  sie  in  dem  einen  Winkel 
liegen  sah,  um,  wenn  die  Leute  auch  dorthin  kommen 
sollten,  doch  nicht  sobald  von  ihnen  gefunden  zu 
werden.  Kaum  hatte  sie  sich  indessen  versteckt,  als 
jene,  die  einen  großen  Heerhaufen  bösen  Raubgesindels 
bildeten,  auch  schon  bei  dem  Häuschen  angelangt 
waren  und  sich  die  Tür  öffnen  ließen.  Als  sie  nun 
eintraten  und  das  Pferd  des  Mädchens  noch  völlig 
gesattelt  und  gezäumt  sahen,  fragten  sie,  wer  denn 
da  sei. 

Da  der  gute  Mann  das  Mädchen  nicht  mehr  sah, 
antwortete  er:  „Niemand,  als  wir  selber.  Jenes  Pferd 
aber,  das  der  Himmel  weiß  wem  entlaufen  sein  mag, 
hat  sich  gestern  abend  hier  eingefunden,  und  da  haben 
wir  es  denn  ins  Haus  geführt,  damit  die  Wölfe  es 
nicht  fressen  sollten." 

„Wenn  es  denn  keinen  Herrn  hat,"  sagte  der  älteste 
von  jenem  Gesindel,   „so  wird  es  gut  für  uns  sein." 

38 


Nach  diesen  Worten  verteilten  sie  sich,  das  ganze 
kleine  Haus  zu  durchsuchen;  einige  besichtigten  auch 
den  Hof  und  legten  der  größeren  Bequemlichkeit 
wegen  Lanzen  und  Schilde  ab.  Dabei  geschah  es  aber, 
daß  einer,  ohne  zu  wissen,  was  er  tat,  seine  Lanze 
in  jenen  Heuhaufen  warf  und  dadurch  auf  ein  Haar 
den  Tod  des  verborgenen  Mädchens  oder  doch  wenig- 
stens ihre  Entdeckung  herbeigeführt  hätte,  denn  die 
Lanze  drang  noch  mit  solcher  Kraft  bis  in  die  Gegend 
ihrer  linken  Brust,  daß  die  eiserne  Spitze  ihr  die 
Kleidungsstücke  zerriß  und  das  arme  Mädchen,  aus 
Furcht,  verwundet  zu  werden,  schon  im  Begriff  war, 
einen  lauten  Schrei  auszustoßen,  als  sie  noch  zur 
rechten  Zeit  bedachte,  wo  sie  sei,  und  sich  hinläng- 
lich zusammennahm,  um  still  zu  schweigen. 

Als  nun  das  Gesindel,  der  eine  hier,  der  andere  da, 
ihre  Zicklein  und  allerlei  anderes  Fleisch  gebraten 
und  dann  gegessen  und  getrunken  hatten,  gingen  sie 
ihren  ferneren  Unternehmungen  nach  und  führten  das 
Pferd  des  Mädchens  mit  sich  hinweg.  Erst  nachdem 
sie  schon  eine  gute  Strecke  entfernt  waren,  fragte  der 
gute  Mann  seine  Frau:  „Was  ist  denn  aber  nur  aus 
dem  Mädchen  geworden,  das  gestern  abend  bei  uns 
einkehrte?  Ich  habe  es  doch  heute  morgen,  seit  wir 
aufgestanden   sind,   nicht   mehr  gesehen?" 

Die  Frau  erwiderte,  sie  wisse  es  nicht  und  ging, 
sich  nach  ihr  umzusehen;  das  Mädchen  aber,  das  sich 
inzwischen  überzeugt  hatte,  daß  jene  abgezogen  seien, 
machte  sich  aus  dem  Heu  wieder  hervor. 

Der  gute  Mann  freute  sich  sehr,  daß  sie  dem  Ge- 
sindel nicht  in  die  Hände  gefallen  war,  und  sagte,  als 
es  schon  zu  dämmern  begann:  „Nun  der  Tag  anbricht, 
wollen  wir,  wenn  es  dir  recht  ist,  dich  zu  einer  Burg 

39 


geleiten,  die  nicht  weiter  als  fünf  Miglien  von  hier 
gelegen  ist  und  dir  völlige  Sicherheit  gewähren  wird. 
Du  wirst  den  Weg  aber  schon  zu  Fuß  machen  müssen, 
da  das  böse  Volk,  das  eben  hier  war,  dein  Pferd  mit- 
genommen hat." 

Das  Mädchen  beruhigte  sich  leicht  über  diesen  Ver- 
lust und  bat  die  guten  Leute  um  Gottes  willen,  sie 
nach  jener  Burg  zu  führen,  und  so  machten  sie  sich 
denn  auf  den  Weg  und  langten  noch  vor  der  zweiten 
Tagesstunde  dort  an.  Die  Burg  gehörte  aber  einem 
Verwandten  der  Orsini,  namens  Liello  von  Campo 
di  Fiore,  und  es  traf  sich,  daß  seine  Frau,  eine  vor- 
treffliche und  fromme  Dame,  eben  um  jene  Zeit  dort 
war.  Als  diese  das  Mädchen  erblickte,  erkannte  sie 
sie  sogleich,  empfing  sie  auf  das  freundlichste  und 
verlangte  den  ganzen  Zusammenhang  der  Ereignisse 
zu  hören,  die  sie  dorthin  geführt  hätten. 

Das  Mädchen  erzählte  ihr  alles,  und  die  Dame,  der 
auch  Pietro  als  ein  Freund  ihres  Mannes  bekannt  war, 
betrübte  sich  über  diesen  Unfall,  da  sie  aus  der  Be- 
schreibung des  Ortes,  wo  er  gefangen  worden  war,  mit 
Gewißheit  schließen  zu  müssen  glaubte,  daß  man  ihn 
umgebracht  haben  werde.  Deshalb  sagte  sie  denn  zu 
dem  Mädchen:  „Da  du  nun  doch  nicht  weißt,  was 
aus  Pietro  geworden  ist,  so  bleibe  hier  bei  mir,  bis 
ich  Gelegenheit  finde,  dich  auf  sichere  Weise  nach 
Rom  zu  schicken." 

Während  indessen  Pietro  in  grenzenloser  Betrübnis 
noch  auf  seiner  Eiche  saß,  sah  er  um  die  Zeit,  da 
andere  Leute  kaum  eingeschlafen  zu  sein  pflegen,  wohl 
zwanzig  Wölfe  durch  den  Wald  herankommen,  welche 
sich  sämtlich  an  sein  Pferd  machten,  sobald  sie  es 
gewahr   geworden   waren.    Als   das   Pferd   sie   witterte, 

4o 


zerriß  es  gewaltsam  die  Zügel,  mit  denen  es  an- 
gebunden war  und  suchte  zu  entfliehen.  Da  die  Wölfe 
es  aber  von  allen  Seiten  umringten  und  die  Flucht 
ihm  abschnitten,  verteidigte  es  sich  eine  lange  Weile 
mit  Hufen  und  Zähnen,  bis  es  endlich  dennoch  von 
ihnen  zu  Boden  geworfen,  erwürgt  und  sogleich  in 
Stücke  zerrissen  wurde.  Die  Wölfe  verschlangen  das 
Fleisch,  ohne  etwas  anderes  als  die  Knochen  zurück- 
zulassen, und  liefen  dann  wieder  weiter.  Pietro,  der 
das  Pferd  als  seinen  Leidensgefährten  betrachtet  hatte, 
der  ihm  seine  Mühseligkeiten  erleichtern  half,  ent- 
setzte sich  nicht  wenig  über  diesen  Anblick  und  gab 
nachgerade  alle  Hoffnung  auf,  aus  diesem  Walde 
wieder  herauszukommen.  Wie  er  sich  nun  immer 
forschend  nach  allen  Seiten  umsah,  erblickte  er  schon 
in  der  Morgendämmerung  in  einer  Entfernung  von 
etwa  einer  Miglie  ein  großes  Feuer.  Kaum  erwartete 
er  nach  dieser  Entdeckung  den  hellen  Tag,  um,  nicht 
ohne  große  Angst,  von  seiner  Eiche  herabzusteigen 
und  die  Richtung  des  Feuers  zu  verfolgen. 

Als  er  es  endlich  erreicht  hatte,  fand  er  Hirten 
ringsumher  gelagert,  die  ihr  Frühstück  fröhlich  ver- 
zehrten und  ihn  mitleidig  aufnahmen.  Sie  hießen  ihn 
mit  essen  und  sich  wärmen,  worauf  er  ihnen  sein 
Mißgeschick  erzählte  und  wie  er  allein  dorthin  ge- 
raten sei,  und  sie  fragte,  ob  denn  kein  Landgut  oder 
keine  Burg  in  der  Nähe  sei,  wohin  er  sich  wenden 
könne.  Die  Hirten  sagten  ihm,  daß  etwa  drei  Miglien 
von  dort  entfernt  eine  Burg  des  Liello  von  Campo 
di  Fiore  sei,  auf  der  die  Frau  des  Besitzers  sich  eben 
befinde.  Erfreut  über  diese  Nachricht,  bat  Pietro,  daß 
jemand  von  ihnen  ihn  bis  zu  der  Burg  begleiten  möge, 
und  sogleich  fanden  zwei  sich  gern  dazu  bereit. 

4i 


Während  nun  Pietro,  sobald  er  auf  der  Burg  an- 
gelangt war,  durch  ein  paar  Bekannte,  die  er  dort  an- 
traf, noch  zu  bewirken  suchte,  daß  das  Mädchen  in 
dem  Walde  gesucht  würde,  ließ  die  Frau  des  Hauses 
ihn  zu  sich  rufen.  Er  verfehlte  nicht  sogleich  zu  ge- 
horchen, und  unbeschreiblich  groß  war  seine  Freude, 
als  er  Agnolella  bei  ihr  fand.  Kaum  wußte  er  sich  zu 
bezwingen,  daß  er  ihr  nicht  gleich  um  den  Hals  fiel, 
und  nur  die  Srfieu  vor  der  Dame  vermochte  ihn  daran 
zu  hindern.  War  er  aber  voller  Freude,  so  fühlte  sich 
das  Mädchen  nicht  weniger  glücklich. 

Als  nun  die  Dame  ihn  mit  vieler  Höflichkeit  bei 
sich  aufgenommen  und  alles,  was  sich  zugetragen,  von 
ihm  gehört  hatte,  tadelte  sie  ihn  sehr,  daß  er  sich 
gegen  den  Willen  seiner  Angehörigen  vermählen  wolle. 
Als  sie  jedoch  gewahr  wurde,  daß  er  durch  das  alles 
in  seinem  Entschlüsse  durchaus  nicht  wankend  war 
und  daß  auch  das  Mädchen  gleiche  Wünsche  hegte, 
sagte  sie:  „Was  gebe  ich  mir  viel  Mühe?  Sie  lieben 
sich,  sie  kennen  sich,  beide  sind  gleichmäßig  mit 
meinem  Manne  befreundet,  ihre  Wünsche  sind  der 
Sittsamkeit  nicht  zuwider,  und  ich  muß  wohl  glauben, 
daß  Gott  seinen  Willen  dazu  gegeben  hat,  da  er  den 
einen  vom  Galgen,  die  andere  vom  Lanzenstich  und 
beide  vor  den  wilden  Tieren  gerettet  hat.  So  möge  es 
denn  in   Gottes   Namen  geschehen." 

Darauf  fügte  sie,  zu  jenen  beiden  gewandt,  hinzu: 
„Ist  es  denn  noch  immer  euer  Wille,  Mann  und  Frau 
zu  werden,  so  gebe  ich  auch  den  meinigen  darein, 
und  die  Hochzeit  soll  hier  auf  Liellos  Kosten  gefeiert 
werden.  Dann  werde  ich  euch  auch  mit  euren  An- 
gehörigen schon  wieder  versöhnen." 

Pietro    war    entzückt    über    diesen    Entschluß,    und 


Agnolella  war  es  womöglich  noch  mehr.  Die  Hochzeit, 
zu  der  die  edle  Dame  die  Festlichkeiten  so  gut  ver- 
anstaltet hatte,  als  es  sich  dort  im  Gebirge  nur  irgend 
machen  ließ,  wurde  auf  der  Burg  gefeiert,  wo  denn 
die  beiden  Liebenden  mit  unbeschreiblicher  Lust  die 
ersten  Freuden  der  Liebe  kosteten.  Einige  Tage  darauf 
stieg  die  Dame  mit  den  beiden  zu  Pferde,  und  sie 
ritten  unter  guter  Bedeckung  zusammen  nach  Rom 
zurück,  wo  sie  die  Angehörigen  Pietros  zwar  über  alles, 
was  er  getan  hatte,  sehr  erzürnt  fand,  dennoch  aber 
bald  darauf  dazu  gelangte,  den  Frieden  wiederherzu- 
stellen. Und  von  der  Zeit  an  lebte  Pietro  mit  seiner 
Agnolella  in  Ruhe  und  in  Freuden  bis  zu  ihrem 
weiteren  Alter. 


43 


VIERTE  GESCHICHTE 

Ricciardo  Manardi  wird  von  Messer  Lizio  da  Valbona  bei 
der  Tochter  des  letzteren  betroffen.  Er  heiratet  indessen 
das  Mädchen  und  söhnt  sich  mit  ihrem  Vater  wieder  aus. 

Als  Elisa  schwieg  und  den  Lobsprüchen  zuhörte, 
welche  die  Gefährtinnen  ihrer  Geschichte  erteilten, 
hieß  die  Königin  den  Filostrato  mit  einer  anderen 
fortfahren.  Dieser  aber  begann  mit  lachendem  Munde: 

Ihr  habt  mich  fast  alle  so  oft  gescholten,  daß  meine 
Aufgabe,  Geschichten  traurigen  Inhalts,  über  den  ihr 
weinen  mußtet,  herbeigeführt  habe,  daß  ich  nun,  um 
e^uch  einigermaßen  für  jene  Schmerzen  zu  entschädi- 
gen, mir  selber  auferlegen  will,  euch  mit  etwas  zu 
unterhalten,  das  euer  Zwerchfell  ein  wenig  erschüttere. 
Zu  dem  Zwecke  denke  ich  denn  in  einem  kurzen  Ge- 
schichtchen euch  von  einer  Liebe  zu  erzählen,  die 
ohne  anderes  Ungemach  als  vorübergehende  Seufzer 
und  ein  wenig  mit  Scham  verbundene  Angst  erfahren 
zu  haben,  zu  fröhlichem  Ende  gediehen  ist. 

Es  ist  noch  nicht  gar  lange  her,  ihr  edlen  Damen, 
daß  in  der  Romagna  ein  gar  wackerer  und  wohl- 
gesitteter Ritter,  Messer  Lizio  da  Valbona,  lebte,  den 
Madonna  Giacomina,  seine  Ehefrau,  als  er  schon  ziem- 
lich bejahrt  war,  noch  mit  einer  Tochter  beschenkte, 
welche,  als  sie  heranwuchs,  schöner  und  anmutiger 
wurde  als  alle  anderen  Mädchen  in  der  ganzen  Um- 
gegend. Auch  hatten  Vater  und  Mutter,  weil  ihnen 
nur  dieses  einzige  Kind  geblieben  war,  sie  über  die 
Maßen  lieb  und  wert  und  bewachten  sie  in  der  Meinung, 
dereinst  durch  sie  noch  gar  einen  vornehmen  Schwieger- 
sohn zu  bekommen,  mit  unglaublicher  Sorgfalt. 

Nun  besuchte  ein  junger  Mann  von  schönem  und 
frischem   Aussehen,   der    zu   der   Familie    Manardi   in 

44 


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ßrettinoro  gehörte  und  Ricciardo  hieß,  häufig  das 
Haus  des  Herrn  Lizio  und  verweilte  oft  längere  Zeit 
daselbst.  Vor  diesem  aber  hüteten  weder  Messer  Lizio 
noch  seine  Frau  das  Mädchen  mit  größerer  Vorsicht, 
als  sie  es  vor  ihrem  eigenen  Sohne  getan  haben  würden. 

Der  junge  Mann  wurde  indessen,  nachdem  er  das 
nun  reif  gewordene  Mädchen  einige  Male  beobachtet 
hatte,  gewahr,  wie  schön,  wie  anmutig,  wie  gesittet 
und  wohlerzogen  sie  sei,  und  verliebte  sich  auf  das 
feurigste  in  sie,  hielt  jedoch  seine  Liebe  mit  der 
größten  Sorgfalt  verborgen.  Dennoch  erriet  das 
Mädchen  schnell  seine  Gefühle  und  entsprach  den- 
selben, weit  entfernt,  sie  von  sich  abzulehnen,  zu 
Ricciardos   größter    Freude    durch   gleiche   Gegenliebe. 

Oftmals  hatte  er  schon  von  seiner  Liebe  zu  ihr 
sprechen  wollen,  und  immer  hatte  er  aus  Scheu  doch 
wieder  geschwiegen.  Endlich  nahm  er  eines  Tages  seine 
Zeit  wahr,  faßte  sich  ein  Herz  und  sagte  zu  ihr: 
„Caterina,  ich  bitte  dich,  laß  mich  nicht  vor  Liebe 
sterben  !" 

Das  Mädchen  antwortete  sogleich:  „Wollte  Gott,  du 
tätest  es  mir  nicht  noch  ärger  an!" 

Diese  Antwort  freute  und  ermutigte  den  Ricciardo 
so  sehr,  daß  er  erwiderte:  „An  mir  soll  es  gewiß  nie 
liegen,  alles  zu  tun,  was  dir  willkommen  ist.  Du  aber 
vermagst  die  Mittel  auszufinden,  die  uns  beiden  das 
Leben  wiedergeben  können." 

„Ricciardo,"  entgegnete  das  Mädchen,  „du  siehst 
wohl,  wie  sehr  ich  bewacht  werde.  Ich  weiß  nicht, 
wie  es  anzustellen  wäre,  daß  du  zu  mir  kommen 
kannst;  weißt  du  aber  ein  Mittel,  wie  es  ohne  meine 
Schande  geschehen  könnte,  so  will  ich  gern  tun,  was 
du  verlangst." 

45 


Ricciardo  hatte  zu  dem  Zwecke  schon  allerhand 
überdacht  und  antwortete  nun  sogleich:  „Meine  süße 
Caterina,  auch  ich  weiß  kein  Mittel,  als  wenn  du 
auf  dem  Erker,  der  nach  dem  Garten  deines  Vaters 
hinausgeht,  schlafen  oder  wenigstens  nachts  dorthin 
kommen  könntest.  Wüßte  ich  dann,  daß  du  da  wärest, 
so  würde  ich,  so  hoch  es  auch  ist,  doch  auf  jeden 
Fall  schon  sehen,  daß  ich  hinaufkommen  könnte." 

Darauf  erwiderte  Caterina:  „Wenn  du  dich  denn 
getraust  hinaufzukommen,  so  denke  ich,  es  soll  mir 
schon  gelingen,  daß  ich  dort  schlafen  darf." 

Nachdem  Ricciardo  das  noch  einmal  bejaht  hatte, 
küßten  sie  sich  ein  einziges  Mal  gar  flüchtig  und 
trennten   sich    alsdann. 

Nun  war  der  Mai  schon  nahe  und  am  anderen  Tage 
fing  das  Mädchen  an,  sich  gegen  ihre  Mutter  gewaltig 
zu  beklagen,  daß  sie  die  vergangene  Nacht  vor  über- 
mäßiger Hitze  nicht  habe  schlafen  können. 

„Wie,  meine  Tochter,"  erwiderte  die  Mutter,  „warm 
wäre  es  gewesen?  Im  Gegenteil,  es  war  ja  eher  kühl." 

Caterina  aber  antwortete:  „Mutter,  Ihr  solltet  lieber 
reden  wie  ich,  dann  würdet  Ihr  wohl  die  Wahrheit 
sagen;  auf  jeden  Fall  aber  solltet  Ihr  bedenken,  daß 
junge  Mädchen  mehr  innere  Wärme  haben  als  bejahrte 
Frauen." 

Darauf  sagte  die  Mutter:  „Darin  hast  du  freilich 
recht,  mein  Kind,  ich  kann  nun  aber  doch  einmal 
warm  und  kalt  nicht  nach  Belieben  machen,  wie  es 
dir  vielleicht  passen  möchte.  Das  Wetter  muß  man 
schon  ertragen,  wie  die  Jahreszeit  es  eben  mit  sich 
bringt.  Möglich,  daß  es  in  der  nächsten  Nacht  kühler 
wird,  und  dann  wirst  du  ja  besser  schlafen." 

„Wollte  Gott,"  entgegnete  Caterina,  „aber  es  pflegt 

46 


nicht  gerade  zu  geschehen,  daß  die  Nächte  gegen  den 
Sommer  kühler  werden." 

„Was  verlangst  du  denn  aber,  das  man  tun  soll?" 
sagte  die  Mutter. 

Caterina  erwiderte:  „Wenn  es  meinem  Vater  und 
Euch  nicht  unlieb  wäre,  ließe  ich  mir  gern  auf  dem 
Erker,  der  an  Eure  Stube  stößt  und  nach  dem  Garten 
hinausgeht,  ein  Bettchen  machen  und  schliefe  da. 
Gewiß  hätte  ich  es  da,  beim  Gesänge  der  Nachtigall 
und  bei  größerer  Kühle,  viel  besser  als  in  Eurem 
Schlafzimmer." 

Darauf  sagte  die  Mutter:  „So  beruhige  dich  denn, 
meine  Tochter,  ich  werde  es  deinem  Vater  sagen, 
und  was  der  beschließen  wird,  das  werden  wir  tun." 

Als  indessen  Messer  Lizio,  der  vielleicht  wegen  seines 
Alters  etwas  eigensinnig  war,  diese  Dinge  vernahm, 
sagte  er:  „Was  ist  das  für  eine  Nachtigall,  bei  deren 
Gesänge  sie  schlafen  will?  Ich  will  sie  lehren,  beim 
Gesänge  der   Heuschrecken   einschlafen." 

Die  nächste  Nacht  schlief  Caterina,  weniger  vor 
Hitze  als  vor  Ärger  über  die  abschlägige  Antwort  ihres 
Vaters  nicht  allein  selber  nicht,  sondern  ließ  auch, 
unter  beständigem  Klagen  über  die  Wärme,  ihre  Mutter 
zu  keinem  Schlafe  kommen.  Am  Morgen  nach  dieser 
übel  verbrachten  Nacht  suchte  die  Mutter  Messer  Lizio 
auf  und  sagte  zu  ihm:  „In  der  Tat,  mein  Gemahl, 
Ihr  scheint  unsere  Tochter  nicht  besonders  lieb  zu 
haben.  Was  kann  es  Euch  denn  verschlagen,  wenn 
sie  die  Nacht  auf  dem  Erker  schläft?  Sie  hat  sich 
diese  ganze  Nacht  vor  Hitze  nicht  zu  lassen  gewußt. 
Und  wie  könnt  Ihr  Euch  nur  wundern,  daß  sie  Ge- 
fallen daran  findet,  die  Nachtigall  singen  zu  hören? 
Ist  sie  doch  noch  ein  halbes  Kind,  und  junge  Leute 

47 


ergötzen  sich  nun  einmal  an  den  Dingen,  die  ihnen 
gleichen." 

Als  Messer  Lizio  diese  Vorwürfe  mit  angehört  hatte, 
sagte  er:  „Nun,  meinetwegen,  so  laß  ihr  denn  ein 
Bett  zurecht  machen,  das  klein  genug  ist,  um  auf 
dem  Erker  Platz  zu  finden;  sorge  auch  dafür,  daß 
Vorhänge  herum  sind,  und  dann  mag  sie  in  Gottes 
Namen  dort  schlafen  und  die  Nachtigall  singen  hören, 
soviel  es  ihr  beliebt." 

Sobald  das  Mädchen  die  Einwilligung  ihres  Vaters 
vernommen  hatte,  ließ  sie  sich  sogleich  ihr  Bett  auf 
dem  Erker  aufschlagen,  um  schon  die  nächste 
Nacht  dort  schlafen  zu  können,  und  lauschte  dann 
solange,  bis  sie  den  Ricciardo  zu  sehen  bekommen  und 
ihm  das  unter  ihnen  beiden  verabredete  Zeichen,  das 
er  auch  sogleich  verstand,  gemacht  hatte. 

Als  Messer  Lizio  nun  am  Abend  hörte,  das  Mäd- 
chen sei  zu  Bett  gegangen,  verschloß  er  die  Tür,  die 
von  seinem  Zimmer  aus  auf  jenen  Erker  führte,  und 
legte  sich  dann  gleichfalls  schlafen. 

Ricciardo  aber  erkletterte,  sobald  alles  im  ganzen 
Hause  still  geworden  war,  mittels  einer  Leiter  zuerst 
eine  Mauer;  dann  arbeitete  er  sich  an  den  einzelnen 
vorstehenden  Steinen  einer  anderen  anstoßenden  Mauer 
mit  unsäglicher  Mühe  und  mit  großer  Gefahr,  her- 
unterzustürzen, bis  zu  dem  Erker,  wo  sein  Mädchen 
ihn  in  aller  Stille,  aber  voller  Entzücken  empfing. 
Dann  legten  beide  sich  nach  tausend  ausgetauschten 
Küssen  nieder  und  genossen  fast  die  ganze  Nacht 
hindurch  alle  Lust,  die  Liebende  einander  gewähren 
können,  wobei  sie  denn  natürlich  die  Nachtigall  gar 
vielmals  schlagen  ließen.  Da  indessen  ihre  Freuden 
groß,   die   Nächte   aber   kurz   waren,   geschah   es,  daß 

48 


sie,  als  der  Tag,  von  ihnen  unvermutet,  schon  nahe 
war,  beide,  von  der  warmen  Luft  sowohl  als  von  den 
miteinander  getriebenen  Liebesspielen  erhitzt,  ohne  alle 
Bedeckung  einschliefen,  und  daß  Caterina,  die  den 
rechten  Arm  unter  Ricciardos  Arm  gelegt  hatte,  mit 
der  linken  Hand  das  Ding  festhielt,  das  ihr  Mädchen 
euch  vor  Männern  zu  nennen  besonders  zu  scheuen 
pflegt. 

Während  sie  so  noch  fortschliefen,  überfiel  sie  der 
Tag,  ohne  sie  zu  wecken.  Inzwischen  war  Messer 
Lizio  aufgestanden,  und  da  ihm  eben  einfiel,  daß 
seine  Tochter  auf  dem  Erker  schlafe,  sagte  er  bei 
sich  selber:  „Wir  müssen  doch  einmal  zusehen,  ob 
die  Nachtigall  diese  Nacht  Caterina  besser  schlafen 
gemacht  hat." 

Damit  ging  er  sachte  auf  den  Erker  zu,  hob  den 
Vorhang  auf,  der  um  das  Bett  gehangen  war,  und 
erblickte  sie  nackt  und  bloß  mit  Ricciardo  umarmt 
in  der  beschriebenen  Weise  schlafen.  Sobald  Messer 
Lizio  sich  vollkommen  überzeugt  hatte,  daß  es  Ric- 
ciardo sei,  schlich  er  sich  wieder  fort,  ging  in  das 
Schlafgemach  seiner  Frau  und  weckte  diese  mit  folgen- 
den Worten:  „Hurtig,  Frau,  steh'  auf  und  komm 
geschwind,  dir  mit  anzusehen,  wie  deine  Tochter  an 
der  Nachtigall  so  viel  Wohlgefallen  gefunden,  daß 
sie  sie   gefangen  hat  und  noch  in  Händen  hält." 

„Wie  wäre  denn  das  aber  zugegangen?"  sagte  die 
Frau. 

„Komm  nur  schnell,"  erwiderte  Messer  Lizio,  „und 
du  wirst  schon  selber  sehen." 

Madonna  Giacomina  zog  sich  in  aller  Eile  an  und 
folgte  dann  stillschweigend  ihrem  Gemahle  zu  dem 
Bette  ihrer  Tochter,  wo  sie  dann  allerdings,  als  dieser 

III  4  '  49 


die  Vorhänge  auseinander  schlug,  deutlich  genug  sah, 
wie  Caterina  die  Nachtigall,  die  sie  so  gern  singen 
hörte,  gefangen  hatte  und  noch  festhielt. 

Hoch  erzürnt,  daß  Ricciardo  sie  so  hintergangen 
habe,  wollte  Madonna  Giacomina  schon  Lärm  machen 
und  den  jungen  Mann  schelten;  Messer  Lizio  aber 
hielt  sie  zurück  und  sagte:  „Frau,  sofern  du  Liebe 
zu  mir  hegst,  so  hüte  dich,  den  Mund  auf  zutun; 
denn  wahrlich,  da  sie  ihn  nun  einmal  eingefangen  hat, 
so  soll  sie  ihn  auch  behalten.  Ricciardo  ist  von  gutem 
Hause  und  dabei  ein  wohlhabender  junger  Mann,  die 
Verwandtschaft  mit  ihm  kann  uns  nur  Ehre  bringen. 
Und  will  er  in  Gutem  aus  meinem  Hause  entlassen 
werden,  so  muß  er  sich  zuvor  mit  ihr  versprechen, 
damit  er  dann  die  Nachtigall  in  seinen  eigenen  und 
nicht  in  einen  fremden  Bauer  getan  habe." 

Madonna  Giacomina  beruhigte  sich,  als  sie  ihren 
Mann  so  wenig  über  das  Geschehene  erzürnt  sah,  und 
war  am  Ende  ganz  zufrieden,  daß  ihre  Tochter  eine 
schöne  Nacht  gehabt,  gut  geschlafen  und  obendrein 
die  Nachtigall  gefangen  habe.  Auch  dauerte  es  nach 
diesem  Gespräch  nicht  mehr  lange,  so  erwachte  Ricciardo 
und  hielt  sich,  als  er  sah,  daß  der  helle  Tag  schon 
angebrochen  war,  für  verloren,  rief  Caterina  und 
sagte:  „Was  soll  nun  aus  uns  werden,  mein  Leben? 
Der  Tag  ist  schon  angebrochen  und  hat  mich  hier 
betroffen?" 

Bei  diesen  Worten  trat  Messer  Lizio  hinzu,  hob  den 
Vorhang  auf  und  sagte:  „Wir  werden's  schon  machen." 

Als  Ricciardo  ihn  erblickte,  war  es  ihm  nicht  anders, 
als  würde  ihm  das  Herz  aus  dem  Leibe  gerissen.  So- 
gleich setzte  er  sich  im  Bette  auf  und  sagte:  „Ach, 
Herr,   um   Gottes   willen,  ich   bitte   Euch   um  Gnade. 

5o 


Ich  erkenne,  daß  ich  als  ein  nichtswürdiger,  böser 
Mensch  den  Tod  verdient  habe,  macht  also  mit  mir, 
was  Euch  immer  beliebt.  Dennoch  aber  bitte  ich  Euch, 
wenn  es  sein  kann,  mir  das  Leben  aus  Gnade  zu 
schenken   und   mich   nicht  umzubringen." 

Darauf  antwortete  Messer  Lizio:  „Ricciardo,  das 
habe  ich  mit  der  Liebe  und  dem  Vertrauen,  die  ich 
zu  dir  hegte,  nicht  um  dich  verdient.  Da  es  aber  nun 
einmal  so  ist  und  deine  Jugend  dich  zu  einem  solchen 
Vergehen  verleitet  hat,  so  nimm  nun,  um  dich  vom 
Tode,  mich  aber  von  der  Schande  zu  retten,  die  Cate- 
rina zu  deiner  gesetzmäßigen  Frau,  und  dann  mag  sie, 
wie  sie  diese  Nacht  über  die  deine  gewesen  ist,  so  ihr 
ganzes  Leben  über  es  bleiben.  Auf  diese  Weise  allein 
kannst  du  mich  wieder  versöhnen  und  dir  selbst  dein 
Leben  retten;  bist  du  aber  nicht  gesonnen,  also  zu  tun, 
so  eile,  deine  Seele  Gott  zu  befehlen." 

Während  dieses  Gespräches  hatte  Caterina  die  Nachti- 
gall fahrengelassen  und  sich  zugedeckt;  nun  aber 
weinte  sie  bitterlich  und  bat  einesteils  ihren  Vater,  er 
solle  dem  Ricciardo  vergeben,  und  anderenteils  bat 
sie  auch  den  letzteren,  er  möchte  tun,  was  Messer 
Lizio  verlangte,  damit  sie  dann  noch  lange  dergleichen 
Nächte  in  allem  Frieden  genießen  könnten. 

Indessen  bedurfte  es  dazu  nicht  erst  vieler  Bitten; 
denn  teils  die  Scham  wegen  des  begangenen  Fehl- 
trittes und  der  Wunsch,  ihn  wieder  gutzumachen,  teils 
die  Furcht  vor  dem  Tode  und  das  Verlangen  der  Ret- 
tung, teils  endlich  die  glühende  Liebe  und  die  sehn- 
liche Lust,  den  geliebten  Gegenstand  zu  besitzen,  be- 
wogen ihn  insgesamt,  sich  aus  freien  Stücken  und  ohne 
Besinnen  zu  allem,  was  Messer  Lizio  begehrte,  bereit 
zu  erklären. 

5i 


Darauf  ließ  der  letztere  sich  von  Madonna  Giaco- 
mina  einen  Ring  leihen,  mit  dem  Ricciardo  in  beider 
Gegenwart  gleich  am  Orte  sich  der  Caterina  ehelich 
verloben  mußte.  Erst  nachdem  dies  geschehen  war, 
ließen  Messer  Lizio  und  seine  Gemahlin  die  Neuver- 
lobten mit  den  Worten  allein:  „Ruht  euch  nun  aus, 
denn  das  möchte  euch  vielleicht  wohler  tun,  als  auf- 
zustehen." 

Kaum  waren  jene  beiden  fortgegangen,  so  umarmten 
die  jungen  Leute  sich  aufs  neue  und  fügten  zum  Be- 
schluß der  ersten  Tagereise  den  sechs  Posten,  die  sie 
während  der  Nacht  zurückgelegt  hatten,  bevor  sie  auf- 
standen, noch  zwei  andere  hinzu.  Nachdem  darauf 
Ricciardo  sich  mit  Messer  Lizio  noch  ausführlicher 
besprochen  hatte,  vermählte  er  sich  wenige  Tage  später 
in  herkömmlicher  Weise  und  in  Gegenwart  der 
Freunde  und  Anverwandten  abermals  mit  Caterina, 
führte  sie  mit  vielen  Festlichkeiten  in  seine  Heimat, 
wo  er  eine  prächtige,  ehrenvolle  Hochzeit  ausgerichtet 
hatte,  und  ging  dann  in  Ruhe  und  in  Freuden  bei 
Tag  und  bei  Nacht,  soviel  es  ihm  nur  beliebte,  lange 
noch  mit  ihr  auf  den  Nachtigallenfang. 


52 


/.,•  Min-  e  Q 


FÜNFTE   GESCHICHTE 

Guidotto  von  Cremona  vertraut  dem  Giacomino  von  Pavia 
sterbend  seine  Pflegetochter  an.  Giannole  di  Severino  und 
Minghino  de  Mingole  verlieben  sich  zu  Faenza  beide  in 
sie  und  werden  darüber  miteinander  handgemein.  Endlich 
wird  entdeckt,  daß  das  Mädchen  eine  Schwester  des  Giannole 
ist,  und  Minghino  erhält  sie  zur  Frau. 

Über  die  Geschichte  von  der  Nachtigall  hatten  die 
Mädchen,  während  Filostrato  erzählte,  so  sehr  gelacht, 
daß  sie  auch,  nun  er  aufgehört  hatte  zu  reden,  des 
Lachens  kein  Ende  finden  konnten.  Nachdem  sie  aber 
ihrer  Lachlust  eine  Weile  freien  Lauf  gelassen  hatten, 
sagte  endlich  die  Königin: 

„Wahrlich,  betrübtest  du  uns  gestern,  so  hast  du  heute 
unser  Zwerchfell  so  gekitzelt,  daß  sich  keine  mit  gutem 
Grunde  mehr  über  dich  beschweren  kann." 

Darauf  richtete  sie  ihre  Worte  an  Neifile  und  gebot 
ihr  fortzufahren.  Diese  aber  begann  mit  freundlichem 
Munde  also  zu  reden  : 

Da  Filostrato  uns  in  seiner  Geschichte  nach  der 
Romagna  geführt  hat,  so  beliebt  es  auch  mir,  in 
meiner  Erzählung  jene  Landschaft  lustwandelnd  ein 
wenig   zu  durchstreifen. 

Vor  Zeiten  wohnten  in  der  Stadt  Fano  zwei  Lom- 
barden, Guidotto  von  Cremona  und  Giacomino  von 
Pavia  genannt,  die  zwar  beide  schon  bejahrt  waren, 
in  ihrer  Jugend  aber  fast  beständig  das  Waffenhand- 
werk als  rüstige  Krieger  betrieben  hatten.  Als  nun 
Guidotto  seinen  Tod  ahnte  und  weder  einen  Sohn  noch 
sonst  einen  Freund  oder  Verwandten  besaß,  dem  er 
mehr  getraut  hätte  als  dem  Giacomino,  so  hinterließ 
er  diesem,  nachdem  er  ihm  noch  mancherlei  über  seine 
Angelegenheit   gesagt   hatte,   nebst   allem,   was    er   be- 

53 


saß,  seine  etwa  zehnjährige  Tochter  und  starb  als- 
dann. 

Um  dieselbe  Zeit  geschah  es  aber,  daß  die  Stadt 
Faenza,  die  lange  Zeit  von  Krieg  und  Mißgeschick 
heimgesucht  worden  war,  sich  einigermaßen  wieder 
erholte  und  daß  allen  denen,  die  wieder  dorthin  zu- 
rückkehren wollten,  freie  Befugnis  dazu  erteilt  wurde. 
Deswegen  zog  denn  auch  Giacomino,  der  früher  dort 
gewohnt  hatte  und  dem  der  Aufenthalt  gefiel,  mit 
allem,  was  ihm  gehörte,  wieder  nach  Faenza  und 
nahm  dabei  das  Mädchen,  das  Guidotto  ihm  hinter- 
lassen und  das  er  gleich  seiner  eigenen  Tochter  liebte 
und  pflegte,  mit  hinüber. 

Als  das  Mädchen  allmählich  heranwuchs,  wurde  sie 
ausnehmend  schön,  wie  damals  kaum  eine  andere  in 
jener  Stadt  zu  finden  war,  und  mit  ihrer  Schönheit 
hielten  ihre  Sittsamkeit  und  ihr  Anstand  gleichen 
Schritt.  Da  fanden  sich  denn  natürlich  manche  Lieb- 
haber ein,  unter  denen  jedoch  vorzüglich  zwei  Jüng- 
linge, die  beide  wohlerzogen  und  gut  geartet  waren, 
ihr  gleichmäßig  die  innigste  Liebe  zuwandten  und 
darüber  aus  Eifersucht  gegeneinander  den  bittersten 
Haß  faßten. 

Von  diesen  jungen  Leuten  hieß  der  eine  Giannole 
di  Severino  und  der  andere  Minghino  di  Mingole, 
und  keiner  von  ihnen  beiden  würde,  als  das  Mädchen 
fünfzehn  Jahr  alt  war,  einen  Augenblick  angestanden 
haben,  sie  zur  Frau  zu  nehmen,  wenn  anders  ihre 
Angehörigen  es  zugelassen  hätten.  Da  sie  aber  sahen, 
daß  man  ihren  Wünschen  Gründe  entgegensetzte,  die 
sie  nicht  zu  beseitigen  vermochten,  beschloß  ein  jeder 
von  ihnen,  sich  auf  jede  nur  mögliche  Weise  in  ihren 
Besitz  zu  setzen. 

54 


Nun  hatte  Giacomino  eine  alte  Magd  und  einen  Diener 
im  Hause,  der  Crivello  hieß  und  ein  lustiger  und 
gar  umgänglicher  Kauz  war.  Mit  diesem  freundete 
sich  Giannole  an  und  entdeckte  ihm,  als  er  glaubte, 
daß  es  an  der  Zeit  sei,  seine  Liebe  mit  der  Bitte,  ihm 
dazu  zu  verhelfen,  daß  er  seine  Wünsche  erreiche, 
wofür  er  ihm  auf  den  Fall  seiner  Willfährigkeit 
große  Belohnungen  versprach. 

Darauf  erwiderte  ihm  Crivello:  „Ich  sehe  nicht, 
wie  ich  dir  in  dieser  Angelegenheit  anders  behilflich 
sein  könnte,  als  dadurch,  daß  ich  dich  selber,  sobald 
Giacomino  einmal  zum  Abendessen  ausgehen  sollte, 
in  ihr  Zimmer  führe;  denn  wollte  ich  ihr  nur  das 
mindeste  von  dir  sagen,  so  würde  sie  mir  gewiß  kein 
Gehör  geben.  Ist  dir  nun  damit  gedient,  so  verspreche 
ich  es  dir  und  werde  mein  Wort  halten;  dann  sieh 
du  aber  selber  zu,  wie  du  tun  willst,  um  zu  deinem 
Ziele   zu  gelangen." 

Giannole  versicherte,  weiter  nichts  zu  verlangen,  und 
mit  dieser  Verabredung  gingen  sie  voneinander. 

Auf  der  anderen  Seite  hatte  Mingole  die  alte  Magd 
gewonnen  und  so  sehr  sich  geneigt  gemacht,  daß  sie 
schon  mehrmals  Bestellungen  an  das  Mädchen  besorgt 
und  dieses  beinahe  für  Mingole  entflammt  hatte.  Über- 
dies aber  hatte  sie  ihm  auch  versprochen,  daß  sie  ihn 
zu  seiner  Geliebten  führen  wolle,  sobald  Giacomino 
einmal  einen  Abend  außerhalb  des  Hauses  zubringen 
würde* 

Nun  geschah  es  aber  nicht  gar  lange  nachdem  die 
verschiedenen  Parteien  auf  solche  Weise  sich  ver- 
abredet hatten,  daß  Giacomino  auf  Veranlassung  des 
Crivello  einmal  bei  einem  seiner  Freunde  zu  Abend 
aß.    Der    Diener    ermangelte    nicht,    es   den    Giannole 

55 


wissen  zu  lassen,  und  verabredete  mit  ihm,  daß  er  auf 
ein  gewisses  Zeichen  kommen  und  die  Haustür  offen 
finden  solle.  Zugleich  unterrichtete  aber  auch  die 
Magd,  die  von  dem  allen  nichts  wußte,  den  Minghino, 
daß  Giacomino  nicht  zu  Hause  esse,  und  sagte  ihm, 
er  möge  sich  nur  in  der  Nähe  des  Hauses  bereithalten, 
um,  sobald  er  ein  verabredetes  Zeichen  erblicken 
werde,  sogleich  kommen  zu  können  und  zu  seiner  Ge- 
liebten zu  gehen. 

Als  der  Abend  herankam,  zogen  die  Verliebten,  ohne 
voneinander  zu  wissen,  obgleich  ein  jeder  den  anderen 
wegen  seiner  Absichten  in  Verdacht  hatte,  beide  mit 
bewaffneter  Begleitung  aus,  um  von  dem  Gegenstande 
ihrer  Wünsche  Besitz  zu  ergreifen.  Minghino  versteckte 
sich  mit  den  Seinigen  in  das  nahegelegene  Haus  eines 
seiner  Freunde,  um  dort  das  Zeichen  der  Magd  ab- 
zuwarten. Giannole  dagegen  hielt  sich  mit  seinen  Ge- 
fährten in  einiger   Entfernung  von  dem  Hause. 

Inzwischen  suchten  Crivello  und  die  Magd,  sobald 
Giacomino  fortgegangen  war,  einer  den  anderen  auf 
alle  Weise  zu  entfernen. 

Crivello  sagte  zu  der  Magd:  „Warum  gehst  du  denn 
noch  nicht  schlafen?  Was  in  aller  Welt  hast  du  nur 
dich  noch  im  Hause  herumzutreiben?" 

„Ich  möchte  nur  wissen,"  entgegnete  die  Magd, 
„warum  du  deinen  Herrn  nicht  holen  gehst?  Warum 
wartest  du  denn,  nun  du  gegessen  hast?" 

Und  so  gelang  es  keinem,  den  anderen  von  der  Stelle 
zu  bringen.  Als  aber  endlich  die  Stunde  herangekommen 
war,  die  Giannole  mit  Crivello  verabredet  hatte,  sagte 
dieser  bei  sich  selbst:  „Was  habe  ich  mich  um  die 
Alte  zu  kümmern?  Will  sie  nicht  still  sein,  so  kann 
sie  auch  noch  ihr  Teil  abkriegen."   Damit  machte  er 

56 


das  verabredete  Zeichen  und  ging,  die  Tür  zu 
öffnen. 

Sogleich  traten  Giannole,  der  schon  herbeigekommen 
war,  und  zwei  seiner  Begleiter  in  das  Haus  ein  und 
ergriffen  das  Mädchen,  das  sie  im  Saale  fanden,  um  es 
fortzuschleppen.  Das  Mädchen  wehrte  sich  und  schrie, 
was  sie  nur  konnte,  und  die  Magd  nicht  minder.  Min- 
ghino vernahm  das  Geschrei  und  eilte  mit  den  Seinigen 
gleich  dahin,  von  wo  er  es  kommen  hörte.  Als  diese 
nun  das  Mädchen  schon  zur  Tür  hinausschleppen  sahen, 
zogen  sie  sämtlich  ihre  Schwerter  und  riefen:  „Ihr 
Verräter,  ihr  seid  des  Todes  !  Das  soll  euch  nicht  ge- 
lingen! Was  ist  das  für  ein  Unfug!" 

Mit  diesen  Worten  schlugen  sie  auf  jene  los,  und 
über  dem  Lärm  kamen  denn  auch  die  Nachbarn  mit 
Lichtern  und  mit  Waffen  herbeigelaufen  und  tadelten 
nicht  allein  den  versuchten  Frevel,  sondern  standen 
auch  dem  Minghino  tätig  bei.  So  gelang  es  dem  letz- 
teren nach  langem  Kampfe,  das  Mädchen  dem  Gian- 
nole wieder  abzunehmen  und  es  in  die  Wohnung  des 
Giacomino  zurückzubringen.  Das  Handgemenge  hatte 
aber  nicht  eher  ein  Ende,  als  bis  die  Lanzenknechte 
des  Stadthauptmanns  dazu  gekommen  waren  und  viele 
der  Anwesenden  und  unter  diesen  namentlich  den  Min- 
ghino, den  Giannole  und  den  Crivello  festnahmen  und 
ins  Gefängnis  brachten. 

Erst  nachdem  der  ganze  Lärm  vorüber  war,  kam 
Giacomino  nach  Haus  und  war  im  Anfang  äußerst 
ungehalten  über  das  Geschehene.  Als  er  aber  bei  ge- 
nauerer Untersuchung,  wie  sich  alles  zugetragen,  sich 
überzeugte,  daß  das  Mädchen  dabei  ohne  jede  Schuld 
sei,  beruhigte  er  sich  ein  wenig  und  nahm  sich  im 
Stillen  vor,  damit  dergleichen  sich  nie  mehr  wieder- 

57 


holen  könne,  sie  sobald  wie  möglich  zu  ver- 
heiraten. 

Als  die  Angehörigen  des  einen  und  des  anderen  Teiles 
am  anderen  Morgen  der  Wahrheit  gemäß  gehört  hatten, 
was  geschehen  war,  sahen  sie  wohl  ein,  wie  üble  Folgen 
die  Sache  für  die  beiden  jungen  Leute  haben  konnte, 
wenn  Giacomino  diejenigen  Schritte  tat,  zu  denen  er 
völlig  berechtigt  war.  Deshalb  gingen  sie  zu  ihm  und 
baten  ihn  mit  gar  guten  Worten,  daß  er  weniger  auf 
die  Beleidigung  sehen  möchte,  welche  die  jungen 
Männer  in  ihrer  Unbesonnenheit  ihm  zugefügt  hätten, 
als  auf  die  Liebe  und  das  Wohlwollen,  das  er,  wie  sie 
glaubten,  für  sie,  die  Bittenden,  hege,  wobei  sie  denn 
noch  überdies  sowohl  sich  selbst  als  jene  beiden  An- 
stifter des  Unfugs  zu  jeder  Buße  erböten,  die  es  ihm 
belieben  würde,  zu  fordern. 

Giacomino,  der  in  seinen  Tagen  gar  mancherlei  erlebt 
hatte  und  ein  Mann  von  wohlmeinender  Gesinnung 
war,  erwiderte  mit  wenig  Worten:  „Werte  Herren, 
wäre  ich  hier  in  meiner  Heimat,  wie  ich  in  der  eurigen 
bin,  so  würde  ich  doch  viel  zu  viel  Freundschaft  für 
euch  hegen,  um  in  dieser  Sache  anders,  als  nach 
euren  Wünschen  zu  verfahren.  Umsomehr  aber  muß 
ich  mich  eurem  Verlangen  fügen,  da  ihr  durch  das 
Geschehene  niemand  als  euch  selbst  zu  nahe  getreten 
seid.  Wisset  nämlich,  daß  das  Mädchen,  um  das  es  sich 
handelt,  nicht,  wie  die  meisten  glauben  mögen,  aus 
Cremona  oder  aus  Pavia  gebürtig,  sondern  daß  sie  eine 
Faentinerin  ist,  wenn  auch  weder  ich  noch  sie  selbst 
noch  der,  von  dem  ich  sie  erhalten  habe,  anzugeben 
wissen,  wessen  Tochter  sie  sei.  Darum  soll  denn  in  der 
Angelegenheit,  um  derenwillen  ihr  mich  bittet,  alles 
so  geschehen,  wie  ihr  selbst  bestimmen  werdet." 

58 


Als  die  guten  Männer  vernahmen,  daß  das  Mädchen 
aus  Faenza  sei,  wunderten  sie  sich  nicht  wenig  und 
baten  deshalb  den  Giacomino,  nachdem  sie  ihm  zuvor 
für  seine  wohlwollende  Antwort  gedankt  hatten,  daß 
er  ihnen  doch  sagen  möge,  wie  das  Mädchen  in  seine 
Hände  gekommen  sei  und  wie  er  erfahren  habe,  daß  sie 
aus  Faenza  stamme. 

Giacomino  erwiderte  ihnen:  „Guidotto  von  Cremona, 
der  mein  Freund  und  Waffengefährte  gewesen  ist, 
sagte  mir  auf  seinem  Totenbette,  daß  er,  als  die  Stadt 
Faenza  von  Kaiser  Friedrich  eingenommen  und  dabei 
geplündert  wurde,  mit  einigen  seiner  Gefährten  in  ein 
Haus  gedrungen  sei,  das  sie  zwar  voller  Sachen,  aber 
von  den  Einwohnern  verlassen  gefunden  hätten.  Nur 
ein  Kind  von  etwa  zwei  Jahren  sei  zurückgeblieben  und 
habe,  wie  er  die  Treppe  hinaufgekommen  sei,  ihm 
,Vater'  entgegengerufen.  Dadurch  zum  Mitleid  be- 
wogen, habe  er  das  kleine  Mädchen  nebst  vielen  Sachen, 
die  er  dort  im  Hause  vorgefunden,  mit  sich  nach  Fano 
genommen.  Dasselbe  Mädchen  nun  hinterließ  er  mir 
bei  seinem  Tode  mit  allem,  was  er  hatte,  und  trug  mir 
auf,  sie,  wenn  es  an  der  Zeit  sein  würde,  zu  verheiraten 
und  ihr  alsdann  alles,  was  sein  gewesen  wäre,  als  Mit- 
gift zu  geben.  Alt  genug  wäre  sie  zwar  wohl,  um  zu 
heiraten;  noch  aber  habe  ich  niemand  gefunden,  der 
mir  genehm  gewesen  wäre;  doch  täte  ich  es  gerne  bald, 
damit  Vorfälle,  wie  die  von  gestern  abend,  sich  nicht 
mehr  wiederholen  können." 

Unter  den  Anwesenden  war  ein  gewisser  Guglielmo 
aus  Medicina,  der  sich  genau  erinnerte,  was  für  ein 
Haus  in  Faenza  es  gewesen  sei,  das  Guidotto  aus- 
geplündert hatte.  Und  da  er  den  Eigentümer  desselben 
ebenfalls  unter  den  Anwesenden  sah,  trat  er  zu  ihm 


59 


und  sagte:  „Bernabuccio,  hörst  du  wohl,  was  Gia- 
comino da  sagt?" 

„Freilich,"  erwiderte  Bernabuccio,  „und  eben  be- 
denke ich  mir  die  Sache  genauer;  denn  ich  erinnere 
mich  sehr  wohl,  daß  ich  in  der  damaligen  Verwirrung 
eine  Tochter,  gerade  von  dem  Alter,  das  Giacomino 
angab,  verlor." 

„Gewiß,  das  muß  sie  sein,"  entgegnete  Guglielmo, 
„denn  ich  habe  selber  einmal  den  Guidotto  be- 
schreiben gehört,  wo  er  zu  jener  Zeit  geplündert  habe, 
und  daraus  ganz  deutlich  entnommen,  daß  es  dein 
Haus  gewesen  ist.  Besinne  dich  also,  ob  du  sie  an 
keinem  Zeichen  wiederzuerkennen  weißt,  und  dann 
schicke  nach  ihr,  und  du  wirst  ohne  Zweifel  finden, 
daß  sie  deine  Tochter  ist." 

Bernabuccio  sann  eine  Weile  nach  und  entsann  sich 
am  Ende  wirklich,  daß  sie  über  dem  linken  Ohr  eine 
kreuzförmige  Narbe  haben  müsse,  die  davon  ent- 
standen war,  daß  er  ihr  kurz  vor  jenem  Ereignis 
dort  ein  kleines  Gewächs  hatte  ausschneiden  lassen. 
So  zögerte  er  denn  nicht  weiter,  sondern  ging  auf 
Giacomino  zu,  der  noch  gegenwärtig  war,  und  bat 
ihn,  daß  er  ihn  mit  sich  nach  Hause  nehmen  und  ihm 
das  Mädchen  zeigen  möge. 

Giacomino  war  gern  bereit  dazu  und  ließ  das 
Mädchen  rufen,  sobald  sie  nach  Hause  gekommen 
waren.  Als  Bernabuccio  sie  aber  zu  sehen  bekam,  war 
es  ihm,  als  sähe  er  die  Züge  der  Mutter,  die  noch  eine 
schöne  Frau  zu  nennen  war,  leibhaftig  vor  sich.  Ohne 
sich  indessen  dabei  zu  beruhigen,  bat  er  Giacomino 
um  die  Erlaubnis,  ihr  die  Haare  über  dem  linken  Ohr 
ein  wenig  aufheben  zu  dürfen,  was  dieser  auch  be- 
willigte.  So  trat  denn  Bernabuccio  zu  dem  Mädchen, 

60 


das  verlegen  und  beschämt  dastand,  und  hatte  ihr 
kaum  mit  der  rechten  Hand  die  Haare  ein  wenig  ge- 
lüftet, als  er  auch  schon  das  Kreuz  erblickte  und 
sich  durch  das  Zeichen  völlig  überzeugte,  daß  sie 
wirklich  seine   Tochter   sei. 

Sogleich  umarmte  er  sie  unter  vielen  Tränen,  so 
sehr  sie  sich  auch  sträuben  mochte,  und  sagte,  zu 
Giacomino  gewandt:  „Teuerster  Freund,  das  Mädchen 
ist  meine  Tochter;  das  Haus,  das  Guidotto  geplündert 
hat,  war  das  meinige,  indem  meine  Frau  bei  dem 
plötzlichen  Schrecken  das  Kind  vergessen  hatte,  und 
bis  heute  haben  wir  alle  geglaubt,  es  sei  an  jenem 
Tage,  wo  mein  Haus  verbrannte,  ebenfalls  ein  Raub 
der  Flammen  geworden. 

Als  das  Mädchen  diese  Worte  vernahm,  maß  sie 
teils,  da  sie  ihn  schon  bei  Jahren  sah,  seinen  Worten 
Glauben  bei,  teils  regte  sich  auch  in  ihrem  Herzen 
eine  verborgene  Stimme,  und  sie  fing,  von  nicht 
minderer  Rührung  ergriffen,  gleichfalls  zu  weinen 
an.  Bernabuccio  schickte  sogleich  nach  ihrer  Mutter 
und  nach  den  anderen  Verwandten  sowie  nach  den 
Schwestern  und  Brüdern,  zeigte  sie  ihnen  allen,  er- 
zählte ihnen,  Avas  geschehen  war,  und  führte  sie  dann 
nach  tausend  Umarmungen  unter  großen  Festlich- 
keiten und  mit  voller  Zustimmung  des  Giacomino  in 
sein   Haus. 

Als  diese  Neuigkeiten  dem  Stadthauptmann,  einem 
wohlwollenden  Manne,  bekannt  wurden,  beschloß  er, 
weil  Giannole,  Bernabuccios  Sohn,  den  er  noch  ge- 
fangen hielt,  des  Mädchens  leibhaftiger  Bruder  war, 
sein  Vergehen  für  diesmal  ungestraft  hingehen  zu 
lassen. 

Zu  dem  Zwecke  redete  er  dem  Giacomino  zu  und 

61 


brachte  es  glücklich  dahin,  daß  dem  Giannole  wie 
dem  Minghino  verziehen  und  dem  letzteren  zur  großen 
Freude  der  Anverwandten  das  Mädchen,  das  Agnesa 
hieß,  verlobt  wurde,  worauf  er  dann  auch  den  Crivello 
und  die  anderen,  die  um  der  gleichen  Angelegenheiten 
willen  eingesperrt  worden  waren,  mit  ihnen  zugleich 
freiließ. 

Minghino  aber  feierte  bald  darauf  mit  vielem  Auf- 
wand fröhliche  Hochzeit,  führte  seine  Braut  heim 
und  lebte  noch  viele  Jahre  mit  ihr  glücklich  und  in 
Frieden. 


62 


Gwtki  aw ,  r.ni.K.s 


SECHSTE   GESCHICHTE 

Gian  von  Procida  wird  bei  seiner  Geliebten,  die  inzwischen 
dem  König  Friedrich  geschenkt  worden  war,  überrascht  und 
mit  ihr  an  einen  Pfahl  gebunden,  um  verbrannt  zu  werden. 
Ruggieri  dell'Oria  erkennt  und  rettet  ihn  und  er  heiratet  sie. 

Als  die  Geschichte  der  Neifila,  die  den  Damen  sehr 
wohl  gefallen  hatte,  beendigt  war,  befahl  die  Königin 
der  Pampinea  sich  zu  rüsten,  eine  neue  zu  erzählen. 
Pampinea  erhob  ihr  klares  Antlitz  und  begann  sofort 
also  : 

„Gewaltig,  ihr  munteren  Mädchen,  sind  die  Kräfte 
der  Liebe,  und  zu  den  kühnsten  Unternehmungen,  zu 
übermäßigen  und  unglaublichen  Gefahren  leihen  sie 
den  Liebenden  Mut,  wie  das  aus  mehreren  der  Beispiele 
entnommen  werden  kann,  die  heute  und  an  den  vo- 
rigen Tagen  bereits  erzählt  worden  sind.  Dennoch  aber 
bin  ich  gesonnen,  euch  durch  die  Geschichte  eines  ver- 
liebten jungen  Mannes  einen  neuen  Beweis  davon  zu 
geben. 

Ischia  ist  eine  Insel  nahe  bei  Neapel,  auf  der  vor 
einiger  Zeit  unter  anderen  ein  gar  schönes  und  mun- 
teres Mädchen  lebte,  das  Restituta  hieß  und  die  Tochter 
eines  Edelmannes  von  jener  Insel,  namens  Marin  Bol- 
garo,  war.  Diese  nun  liebte  ein  junger  Mensch  von  der 
benachbarten  kleinen  Insel  Procida,  der  Gianni  ge- 
nannt wurde,  mehr  als  sein  Leben  und  sie  ihn  nicht 
minder.  Nicht  allein,  daß  er  bei  Tage  nach  Ischia  zu 
kommen  und,  um  sie  zu  sehen,  dort  zu  verweilen 
pflegte,  war  er  schon  oftmals  auch  bei  Nacht,  wenn  er 
eben  keinen  Kahn  gefunden  hatte,  von  Procida  bis 
Ischia  hinübergeschwommen,  um,  wenn  auch  nichts 
weiter,  doch  wenigstens  die  Mauern  ihrer  Wohnung  zu 
erblicken. 

63 


Während  aber  diese  glühende  Liebe  noch  bestand, 
geschah  es,  daß  das  Mädchen,  als  es  eines  Tages  zur 
Sommerszeit  ganz  allein  am  Meeresufer  lustwandelte  und 
mit  einem  Messer  Seemuscheln  von  den  Steinen  los- 
brach, sich  von  Fels  zu  Fels  bis  zu  einer  zwischen 
Klippen  verborgenen  Bucht  verstieg,  wo  sich  eben  eine 
Anzahl  junger  Sicilianer,  die  von  Neapel  kamen,  an- 
gelockt von  dem  kühlen  Schatten  und  von  der  An- 
nehmlichkeit einer  eiskalten  Quelle,  mit  ihrem  Ruder- 
schiffchen ausruhte.  Als  sie  die  Schönheit  des  Mädchens 
sahen  und  zugleich  gewahr  wurden,  daß  sie  allein  sei 
und  sie  noch  nicht  bemerkt  habe,  beschlossen  sie,  sie 
festzuhalten  und  mit  sich  fortzuführen.  Dem  Ent- 
schlüsse folgte  die  Ausführung  auf  dem  Fuße;  soviel 
das  Mädchen  auch  schreien  mochte,  schleppten  sie  es 
doch  in  ihr  Fahrzeug  und  fuhren  mit  ihm  davon. 

Als  sie  indessen  in  Galabrien  landeten  und  mit- 
einander zu  verhandeln  anfingen,  wem  sie  zufallen 
solle,  begehrte  jeder  einzelne  sie  für  sich  allein.  Als  sie 
sich  nun  gar  nicht  einigen  konnten  und  wohl  sahen, 
daß  sie  um  des  Mädchens  willen  noch  miteinander  in 
üble  Händel  kommen  und  ihre  übrigen  Angelegen- 
heiten zugrunde  richten  könnten,  kamen  sie  endlich 
dahin  überein,  daß  sie  sie  dem  König  Friedrich  von  Si- 
cilien,  der  um  jene  Zeit  noch  jung  war  und  an  schönen 
Frauen  großes  Gefallen  fand,  zum  Geschenk  machen 
wollten.  Und  so  taten  sie  auch  wirklich,  sobald  sie 
nach  Palermo  gekommen  waren. 

Der  König  fand  die  Geraubte  schön  und  nahm  das 
Geschenk  mit  Freuden  an.  Da  er  aber  eben  ein  wenig 
kränkelte,  befahl  er,  daß  sie,  bis  er  sich  wieder  kräf- 
tiger fühlen  würde,  ein  gar  schönes  Gebäude  in  einem 
königlichen  Garten,  der   Cuba  genannt  wird,  beziehen 

64 


und  dort  gehörig  gepflegt  werden  solle.  Und  so  wurde 
denn  auch  getan. 

Inzwischen  war  ganz  Ischia  wegen  des  geraubten 
Mädchens  in  der  größten  Bewegung,  und  was  dessen 
Angehörigen  dabei  am  meisten  schmerzte,  war,  daß 
sie  nicht  erforschen  konnten,  wer  die  Räuber  gewesen 
seien. 

Gianni  indessen,  dem  mehr  als  einem  anderen  daran 
gelegen  war,  genügende  Auskunft  zu  erlangen,  wollte 
nicht  abwarten,  bis  der  Zufall  ihm  in  Ischia  Nach- 
richten zuführen  würde,  sondern  rüstete,  sobald  er 
erfahren,  nach  welcher  Seite  das  Fahrzeug  sich  ge- 
wandt hatte,  selber  ein  Schiff  aus  und  befuhr  auf 
diesem,  so  schnell  er  konnte,  die  ganze  Küste  vom 
Minerva-Vorgebirge  bis  nach  Scalea  in  Calabrien. 
Überall  forschte  er  nach  Kunde  von  seiner  Geliebten, 
und  wirklich  wurde  ihm  in  Scalea  berichtet,  daß 
sicilianische  Schiffer  sie  nach  Palermo  geführt  hätten. 
Sogleich  schiffte  Gianni  nach  Palermo  und  suchte 
lange  Zeit  nach  seiner  Geliebten. 

Als  er  aber  endlich  erfuhr,  daß  sie  dem  Könige 
geschenkt  worden  sei  und  für  diesen  in  der  Cuba 
bewacht  werde,  betrübte  er  sich  gar  sehr  und  gab  fast 
alle  Hoffnung  auf,  sie  nur  noch  einmal  wiederzusehen, 
geschweige  denn,  sie  jemals  zu  besitzen.  Dennoch  aber 
von  der  Liebe  festgehalten,  schickte  er  sein  Schiffchen 
heim  und  ging,  da  er  sicher  war,  von  niemandem 
gekannt  zu  sein,  bei  seinem  längeren  Verweilen  häufig 
an  der  Cuba  vorüber. 

Da  traf  es  sich  denn  eines  Tages  so  glücklich,  daß 
er  seine  Restituta  an  einem  Fenster  erblickte  und  sie 
ihn  ebenfalls  gewahr  wurde,  worüber  beide  sich  un- 
säglich freuten.  Da  Gianni  aber  sah,  wie  einsam    und 

III  5  65 


abgelegen  die  Gegend  war,  näherte  er  sich  dem  Fenster,  so 
viel  er  konnte,  redete  seine  Geliebte  an  und  ging  nicht 
eher  wieder  von  dannen,  als  bis  sie  ihm  gesagt  hatte,  wie 
er  es  anzustellen  habe,  um  mehr  in  der  Nähe  mit  ihr  zu 
sprechen,  und  bis  er  selber  sich  die  Gelegenheit  des  Ortes 
auf  das  genaueste  betrachtet  hatte. 

Als  nun  die  Nacht  gekommen  und  schon  ein  Teil 
derselben  verstrichen  war,  kehrte  er  zurück  und 
kletterte  über  eine  Mauer,  die  so  glatt  war,  daß  kein 
Specht  sich  daran  hätte  festhalten  können,  glücklich 
in  den  Garten  hinüber.  Hier  fand  er  eine  Stange, 
stützte  sie  bei  dem  Fenster,  das  das  Mädchen  ihm 
bezeichnet  hatte,  an  die  Mauer  und  gelangte  auf 
diese  Weise  ziemlich  leicht  hinauf.  Das  Mädchen  aber 
meinte  bei  sich  selbst,  ihre  Ehre,  um  derenwillen  sie 
bis  dahin  gegen  ihren  Geliebten  ein  wenig  streng  ge- 
wesen war,  sei  nun  doch  verloren  und  sie  könne  sich 
wenigstens  niemandem  ergeben,  der  ihrer  würdiger 
sei,  als  eben  er.  Auch  hoffte  sie  ihn  zu  bewegen,  daß 
er  sie  mit  sich  fortführe,  und  aus  allen  diesen  Gründen 
hatte  sie,  entschlossen,  ihm  alles  zu  gewähren,  was 
er  von  ihr  wünschen  könnte,  das  Fenster  offen  ge- 
lassen, damit  er  gleich  ohne  weiteres  in  das  Zimmer 
gelangen    könne. 

So  schlüpfte  denn  Gianni  durch  das  offene  Fenster 
in  das  Zimmer  und  legte  sich  sofort  zu  dem  Mäd- 
chen, das  noch  wachte.  Bevor  sie  jedoch  etwas  weiteres 
vornahmen,  offenbarte  ihm  Restituta  alle  ihre  Wünsche 
und  bat  ihn  auf  das  inständigste,  daß  er  sie  von  dort 
befreien   und   sie   mit  sich  nehmen   möge. 

Gianni  erwiderte  ihr  darauf,  daß  ihm  selber  nichts 
erwünschter  sein  könne  und  daß  er  in  keinem  Falle 
ermangeln   werde,   sobald   er   sie   jetzt   verlassen   habe, 

66 


alles  auf  solche  Weise  vorzubereiten,  daß  er  sie  mit 
sich  führen  könne,  wenn  er  das  nächstemal  wieder 
zu  ihr  komme.  Nachdem  sie  diese  Verabredungen  mit- 
einander getroffen  hatten,  umarmten  sie  sich  voller 
Entzücken  und  genossen  das  Vergnügen,  das  Amor 
selbst  durch  kein  größeres  zu  überbieten  vermag. 
Einige  Male  wiederholten  sie  diese  Genüsse  und  schliefen 
endlich,  ohne  es  selber  gewahr  zu  werden,  einer  in 
des   anderen   Armen   ein. 

Inzwischen  erinnerte  sich  der  König  an  das  Mädchen, 
das  ihm  gleich  beim  ersten  Anblick  besonders  Wohl- 
gefallen hatte,  und  beschloß,  da  er  sich  wieder  voll- 
kommen wohl  fühlte,  sich  eine  Weile  mit  ihr  zu  er- 
götzen, obgleich  es  schon  gegen  Morgen  war.  So  machte 
er  sich  denn,  von  einigen  seiner  Diener  begleitet,  in 
aller  Stille  nach  der  Cuba  auf  den  Weg,  ging  in 
das  Wohngebäude  und  trat,  nachdem  er  die  Tür  leise 
sich  hatte  öffnen  lassen,  mit  einer  brennenden  großen 
Wachsfackel  in  das  Zimmer,  in  dem  das  Mädchen 
schlief.  Gleich  beim  ersten  Blick  auf  das  Bett  aber 
sah  er  sie,  wie  sie  nackt  und  schlafend  in  Giannis 
Armen  lag. 

Im  ersten  Augenblick  waren  sein  Unmut  und  sein 
Zorn  über  diese  Entdeckung  so  groß,  daß  wenig 
daran  fehlte,  so  hätte  er,  ohne  ein  Wort  zu  sagen, 
beide  mit  seinem  Messer  auf  der  Stelle  erstochen. 
Dann  aber  überlegte  er  wieder,  daß  es  jedermann,  ge- 
schweige denn  einen  König,  schänden  würde,  zwei 
Nackende  im  Schlafe  umzubringen,  und  bezwang  sich 
deshalb  in  der  Absicht,  sie  öffentlich,  und  zwar  durch 
Feuer,  hinrichten  zu  lassen.  „Was  dünkt  dir,"  sagte 
er  darauf  zu  dem  einzigen  Begleiter,  der  bei  ihm 
war,    „was    dünkt    dir    von    diesem    verworfenen    Ge- 

67 


schöpf,  auf  das  ich  bisher  meine  Hoffnung  gerichtet 
hatte?"  Dann  fragte  er  ihn  weiter,  ob  er  den  jungen 
Menschen  kenne,  der  keck  genug  gewesen  sei,  ihm, 
dem  König,  in  seinem  eigenen  Hause  Schimpf  und 
Kränkung   zuzufügen. 

Der  Gefragte  erwiderte  indessen,  daß  er  sich  nicht 
erinnere,  ihn  jemals  gesehen  zu  haben.  Darauf  verließ 
der  König  in  großer  Erbitterung  das  Zimmer  und  be- 
fahl, daß  die  beiden  Liebenden,  nackend,  wie  sie 
wären,  gefangen  und  gebunden  und,  sobald  es  heller 
Tag  wäre,  nach  Palermo  geführt  würden.  Dort  solle 
man  sie  dann  auf  dem  großen  Platze,  die  Rücken 
gegeneinander  gekehrt,  an  einen  Pfahl  binden  und, 
nachdem  sie  bis  zur  dritten  Stunde  den  Augen  aller 
in  diesem  Zustande  bloßgestellt  worden  wären,  wie 
sie  es  verdient  hätten,  verbrennen. 

Nachdem  er  dies  alles  angeordnet  hatte,  kehrte  er, 
noch  immer  sehr  zornig,  nach  Palermo  in  seine  Ge- 
mächer zurück.  Kaum  aber  war  der  König  fort- 
gegangen, so  fielen  die  Diener  des  Königs  in  Menge 
über  die  beiden  Liebenden  her  und  erweckten  sie 
nicht  allein  aus  dem  Schlafe,  sondern  fingen  und 
banden  sie  auch   alsbald  ohne  alles  Mitleiden. 

Wie  erschrocken  und  traurig  die  Liebenden  bei 
alle  dem  waren,  was  sie  mit  sich  geschehen  sahen, 
und  wie  sehr  sie  unter  Tränen  und  Wehklagen  für 
ihr  Leben  zitterten,  das  erkennt  wohl  jeder,  ohne  daß 
ich  davon  spreche.  Wie  der  König  befohlen  hatte, 
wurden  sie  nach  Palermo  geführt  und  auf  dem  Platze 
an  einen  Pfahl  gebunden.  Dann  ward  vor  ihren  Augen 
Scheiterhaufen  und  Feuer  gerüstet,  um  sie  zu  der 
vom  Könige   angeordneten   Stunde   zu   verbrennen. 

Binnen  kurzem  zog  die  Neugier,  die  beiden  Lieben- 

68 


den  zu  sehen,  alle  Männer  und  Weiber  von  Palermo 
auf  jenen  Platz.  Die  Männer  strömten  herbei,  um 
den  Anblick  des  Mädchens  zu  genießen,  und  ebenso, 
wie  sie  ihre  vollkommene  und  in  allen  Teilen  gleiche 
Schönheit  priesen,  versicherten  die  Frauen,  die  alle 
herbeikamen,  um  den  jungen  Mann  zu  sehen,  ein- 
stimmig, daß  auch  er  durchaus  schön  und  wohlgebaut  sei. 
Die  unglücklichen  Liebenden  aber  standen,  beide  voller 
Scham,  in  steter  Erwartung  des  grausamen  Feuertodes 
mit  gesenktem  Haupte  und  beweinten  ihr  Mißgeschick. 

Während  sie  aber  noch  also  bis  zur  bestimmten 
Stunde  ausgestellt  dastanden  und  ihr  Vergehen  von 
Mund  zu  Mund  ging,  gelangte  die  Nachricht  auch  zu 
Ruggieri  dell'Oria,  einem  Manne  von  unschätzbarer 
Tapferkeit,  der  damals  Admiral  des  Königs  war.  Gleich 
den  übrigen  ging  auch  er  auf  den  Platz,  wo  sie  ge- 
bunden standen,  und  beschaute,  als  er  dort  angelangt 
war,  zuerst  das  Mädchen  und  lobte  ihre  Schönheit 
gar  sehr.  Als  er  aber  darauf  den  jungen  Mann  be- 
trachtete, erkannte  er  ihn  mit  leichter  Mühe  und 
trat  deshalb  näher  zu  ihm  heran  und  fragte  ihn,  ob 
er  Gianni  von  Procida  sei. 

Als  Gianni  das  Gesicht  erhob  und  den  Admiral  er- 
kannte, erwiderte  er:  „Mein  guter  Herr,  wohl  war  ich 
der,  um  den  Ihr  mich  befragt,  bald  aber  werde  ich 
aufgehört  haben,  es  zu  sein." 

Darauf  fragte  ihn  der  Admiral,  was  ihn  denn  in  solche 
Lage  gebracht  habe  und  Gianni  antwortete  ihm:  „Die 
Liebe  und  des  Königs  Zorn." 

Der  Admiral  ließ  sich  die  ganze  Geschichte  ausführ- 
licher erzählen  und  wollte,  als  er  alles  gehört  hatte, 
von  dannen  gehen;  Gianni  aber  rief  ihn  zurück  und 
sagte  ihm  :  „Ach,  mein  werter  Herr,  wenn  es  Euch  mög- 

69 


lieh  ist,  so  erwirkt  mir  eine  Gnade  von  dem,  auf  dessen 
Gebot  ich  also  hier  stehen  muß!" 

Ruggieri  fragte:  „Was  für  eine?" 

Gianni  aber  antwortete:  „Ich  sehe  wohl,  daß  ich  hier 
und  binnen  kurzem  sterben  muß.  Nun  erbitte  ich  mir 
aber  als  Gnade,  daß,  während  ich  jetzt  mit  dem  Rücken 
gegen  das  Mädchen  gewandt  bin,  die  ich  mehr  als  mein 
Leben  geliebt  habe,  wie  sie  mich  nicht  minder,  wir  mit 
den  Gesichtern  gegeneinander  gekehrt  werden  mögen, 
auf  daß  ich  noch  im  Tode  in  dem  Anblick  ihrer  Züge 
Trost  und  Frieden  finden  möge." 

Ruggieri  erwiderte  lächelnd:  „Das  will  ich  gern  tun 
und  will  es  schon  dahin  bringen,  daß  du  sie  noch  bis 
zum  Überdrusse  sehen  sollst." 

Damit  verließ  er  ihn  und  gebot  denen,  die  beauftragt 
waren,  jene  Hinrichtung  ins  Werk  zu  setzen,  daß  sie 
nichts  weiteres  tun  sollten,  bevor  sie  nicht  neue  Be- 
fehle vom  König  erhalten  haben  würden. 

Dann  aber  ging  er  gerades  Weges  zum  Könige  und 
scheute  sich  trotz  dessen  Zorn  nicht,  ihm  über  das,  was 
er  soeben  erfahren  hatte,  unverhohlen  seine  Meinung 
zu  sagen. 

„Mein  König,"  begann  er,  „wodurch  hat  das  junge 
Paar,  das  auf  deinen  Befehl  dort  unten  auf  dem  Platze 
verbrannt  werden  soll,  dich  beleidigt?" 

Der  König  gab  ihm  Auskunft,  und  Ruggieri  fuhr 
darauf  also  fort  :  „Das  Vergehen,  dessen  sie  sich  schuldig 
gemacht  haben,  verdient  allerdings  solche  Ahndung, 
nicht  aber  von  dir;  denn  wie  den  Missetaten  Strafen 
gebühren,  so  auch  den  Wohltaten  Belohnungen;  von 
Gnade  und  von  Erbarmen  gar  nicht  einmal  zu  reden. 
Weißt  du  denn  auch,  wer  die  beiden  sind,  die  du  ver- 
brennen lassen  willst?" 


70 


„Nein,"  erwiderte  der  König. 

„So  sollst  du  es  denn  erfahren/'  sagte  Ruggieri  dar- 
auf, „damit  du  erkennen  mögest,  wie  wenig  wohlgetan 
es  war,  von  den  Aufwallungen  deines  Zornes  solcher- 
gestalt dich  hinreißen  zu  lassen.  Der  junge  Mann  ist 
der  Sohn  des  Landolfo  von  Procida,  der  selber  ein  leib- 
licher Bruder  eben  des  Messer  Gian  von  Procida  ist, 
durch  dessen  Hilfe  du  König  dieser  Insel  bist.  Das  junge 
Mädchen  aber  ist  eine  Tochter  des  Marin  Bolgaro,  dessen 
Ansehen  du  es  allein  zu  danken  hast,  wenn  deine  Herr- 
schaft über  Ischia  noch  anerkannt  wird.  Überdies  sind 
das  ein  paar  junge  Leute,  die  sich  schon  seit  lange  unter- 
einander lieben  und  nur  von  der  Gewalt  der  Liebe  be- 
zwungen, keineswegs  aber,  um  deine  Majestät  zu 
kränken,  sich  jenes  Vergehens  schuldig  gemacht  haben 
(wenn  anders  ein  Vergehen  genannt  werden  kann,  wozu 
die  Liebe  junge  Leute  führt).  Warum  also  schickst  du 
die  zum  Tode,  die  du  mit  erlesenen  Aufmerksamkeiten 
und  Geschenken  ehren  solltest?" 

Als  der  König  diese  Rede  vernahm,  erkannte  er  deut- 
lich, daß  Ruggieri  die  Wahrheit  sagte,  und  stellte  nicht 
allein  sein  grausames  Verfahren  ein,  sondern  bereute 
auch,  was  er  bis  dahin  getan  hatte.  Alsbald  befahl  er, 
daß  die  beiden  jungen  Leute  vom  Pfahle  losgebunden 
und  vor  ihn  gebracht  werden  sollten;  und  so  geschah 
es.  Dann  aber  dachte  er  darauf,  wie  er,  da  ihm  nun 
alle  ihre  Umstände  bekannt  geworden  waren,  durch 
Ehrenbezeigungen  und  Geschenke  das  ihnen  angetane 
Unrecht  wieder  gut  machen  könnte.  Zu  dem  Zwecke 
ließ  er  sie  zunächst  auf  das  anständigste  wieder  be- 
kleiden und  feierte  dann,  da  er  hörte,  daß  beide  in 
ihren  Wünschen  übereinstimmten,  die  Verlobung  zwi- 
schen Gianni  und  dem  jungen  Mädchen.  Doch  erst  als 


er  ihnen  prachtvolle  Geschenke  gegeben  hatte,  schickte 
er  sie  zu  ihrer  großen  Zufriedenheit  in  ihre  Heimat 
zurück,  in  der  sie  mit  lautem  Jubel  empfangen  wurden 
und  dann  noch  lange  in  Lust  und  Freuden  miteinander 
lebten. 


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SIEBENTE  GESCHICHTE 

Theodor  verliebt  sich  in  Violante,  die  Tochter  seines  Herrn, 
des  Messer  Amerigo,  schwängert  sie  und  wird  deshalb  zum 
Strang  verurteilt.  Während  er  aber  mit  Geißelhieben  zur 
Hinrichtung  geführt,  erkennt  und  befreit  ihn  sein  Vater, 
und  er  heiratet  Violante. 

Als  die  Damen,  die  mit  Bangigkeit  erwartet  hatten, 
ob  die  beiden  Liebenden  verbrannt  werden  würden  oder 
nicht,  vernahmen,  wie  sie  gerettet  worden  seien,  dankten 
sie  Gott  dafür  und  freuten  sich  alle.  Die  Königin  aber 
übertrug,  als  die  Geschichte  beendet  war,  Lauretta  die 
Pflicht,  weiter  zu  erzählen,  und  diese  begann  fröhlichen 
Mutes  also: 

Schöne  Damen,  zu  der  Zeit,  als  der  gute  König  Wil- 
helm Sicilien  beherrschte,  wohnte  auf  jener  Insel  ein 
Edelmann,  namens  Amerigo  Abate  von  Trapani,  der 
unter  anderen  zeitlichen  Gütern  auch  mit  Kindern  reich- 
lich gesegnet  war.  Weil  er  nun  deshalb  einer  zahlreichen 
Dienerschaft  bedurfte,  kaufte  er,  als  eines  Tages  genue- 
sische Corsaren  auf  ihren  Galeren  aus  der  Levante  zu- 
rückkamen, wo  sie,  an  den  Küsten  Armeniens  kreuzend, 
viele  Kinder  gefangen  hatten,  einige  von  diesen,  indem 
er  sie  für  Türken  hielt. 

Unter  diesen  befand  sich  aber  ein  Knabe,  namens 
Theodor,  der,  während  die  übrigen  alle  Hirtenkinder 
zu  sein  schienen,  sich  durch  ein  ausgezeichneteres  und 
adliges  Aussehen  von  ihnen  unterschied.  Als  dieser  mit 
der  Zeit  älter  wurde,  wuchs  er,  obgleich  er  für  einen 
Knecht  galt,  dennoch  im  Hause  mit  des  Messer  Amerigo 
Kindern  auf  und  nahm  dabei,  mehr  von  seiner  inneren 
Natur  als  von  der  Lage,  in  welche  der  Zufall  ihn  ver- 
setzt hatte,  geleitet,  ein  so  gefälliges  Betragen  und  so 
gute   Sitten   an,  daß   Messer  Amerigo  ihn  wegen    des 

73 


Wohlgefallens,  das  er  an  ihm  fand,  aus  der  Knecht- 
schaft freiließ.  Dann  ließ  er  ihn  auch,  in  der  Voraus- 
setzung, daß  er  ein  Türke  sei,  auf  den  Namen  Pietro 
taufen,  machte  ihn  zu  seinem  Haushofmeister  und  ver- 
ließ sich  vollkommen  auf  ihn. 

Während  aber  die  übrigen  Kinder  des  Messer  Amerigo 
heranwuchsen,  kam  auch  eine  seiner  Töchter,  die  Vio- 
lante genannt  wurde  und  ein  gar  schönes  und  zier- 
liches Mädchen  war,  zur  Reife,  und  da  der  Vater  eine 
Weile  anstand,  sie  zu  verheiraten,  wollte  der  Zufall, 
daß  sie  sich  in  Pietro  verliebte.  So  sehr  sie  ihn  aber 
auch  liebte  und  so  hohe  Meinung  sie  von  seinen  Sitten 
und  seiner  Tapferkeit  hegte,  so  scheute  sie  sich  dennoch, 
ihre  Neigung  ihm  zu  offenbaren. 

Binnen  kurzem  indessen  tat  Amor  es  an  ihrer  Stelle. 
Denn  nachdem  auch  Pietro  sie  einige  Male  aufmerk- 
samer betrachtet,  hatte  er  sich  ebenfalls  solchergestalt 
in  sie  verliebt,  daß  er  sich  unglücklich  fühlte,  solange 
er  nicht  mit  ihr  zusammen  war;  doch  fürchtete  auch 
er  sich,  daß  irgend  jemand  diese  Liebe,  die  er  selber 
für  eine  unerlaubte  hielt,  gewahr  werde.  Das  Mädchen 
aber  erriet,  weil  sie  ihm  wohl  wollte,  bald  seine  Ge- 
sinnung und  zeigte  sich  ihm  daher,  um  ihm  Mut  zu 
machen,  über  seine  Aufmerksamkeiten  ausnehmend  er- 
freut, wie  sie  es  auch  wirklich  war. 

So  währte  es  denn  lange  Zeit,  daß  sie  beide,  so 
großes  Verlangen  sie  auch  danach  trugen,  dennoch  sich 
nicht  getrauten,  das  mindeste  über  ihre  Neigung  zu- 
einander zu  sagen.  Endlich  wußte  das  Ungefähr,  ge- 
rade wie  wenn  es  alle  Umstände  absichtlich  zu  dem 
Zwecke  herbeigeführt  hätte,  Mittel  und  Wege  zu  finden, 
durch  welche  sie  über  die  scheue  Furcht,  die  sie  be- 
fangen machte,  hinwegkamen. 

74 


Messer  Amerigo  hatte,  kaum  eine  Miglie  von  der  Stadt 
entfernt,  eine  gar  schöne  Besitzung,  welche  seine  Frau 
mit  ihrer  Tochter  und  mit  anderen  Damen  und  Frauen 
oft  zu  ihrer  Erholung  zu  besuchen  pflegte.  Als  sie  nun 
eines  Tages  mit  Pietro,  den  sie  mit  sich  genommen 
hatten,  hier  verweilten,  traf  es  sich,  wie  wir  es  häufig  im 
Sommer  geschehen  sehen,  daß  der  Himmel  sich  plötz- 
lich mit  finsteren  Wolken  umzog.  Um  von  dem  Un- 
wetter nicht  dort  draußen  überfallen  zu  werden,  machte 
die  Dame  sich  mit  ihrer  Gesellschaft  sogleich  und  so 
eilig,  als  sie  nur  konnten,  auf  den  Rückweg  nach  Tra- 
pani. Pietro  aber  und  das  Mädchen  überholten,  weil  sie 
beide  jung  waren,  die  Mutter  und  die  anderen  Ge- 
fährtinnen, die  bei  ihr  blieben,  um  vieles,  und  viel- 
leicht war  es  ebensowohl  die  Furcht  vor  dem  Gewitter 
als  auch  die  Liebe,  die  ihre  Schritte  beflügelte. 

Schon  mochten  die  beiden  jungen  Leute  vor  der 
übrigen  Gesellschaft  so  weit  voraus  sein,  daß  sie  kaum 
mehr  gesehen  werden  konnten,  als  es  so  heftig  zu 
donnern  und  so  dichter  und  schwerer  Hagel  zu  fallen 
begann,  daß  die  Dame  mit  ihrer  Begleitung  nur  eben 
noch  imstande  war,  sich  in  das  Haus  eines  Landmannes 
zu  flüchten.  Pietro  und  das  Mädchen  aber  suchten,  weil 
sie  in  der  Eile  keine  andere  Zuflucht  finden  konnten, 
Schutz  in  einem  alten  und  fast  ganz  verfallenen  Hause, 
das  von  niemandem  mehr  bewohnt  wurde.  Das  Dach 
dieses  Hauses  war  so  beschädigt,  daß  nur  ein  kleiner 
Teil  davon  noch  vorhanden  war  und  die  beiden  jungen 
Leute,  die  sich  unter  diesen  Rest  flüchteten,  durch  die 
Enge  dieses  geschützten  Raumes  einander  zu  berühren 
genötigt  wurden. 

So  nahe  Berührung  ermutigte  die  Liebenden,  sich  ihre 
liebevollen   Wünsche   zu  gestehen,  und  Pietro  begann 

75 


zuerst:  „Wollte  nur  Gott,  daß  dieser  Hagel  nie  ein 
Ende  nähme,  wenn  ich  so,  wie  jetzt,  bleiben  dürfte, 
solange  er  dauert." 

„Ach,  das  wäre  ich  wohl  auch  zufrieden,"  sagte  darauf 
das  Mädchen;  und  von  solchen  Reden  gingen  sie  dazu 
über,  einander  bei  der  Hand  zu  nehmen  und  zu  drücken, 
dann  umarmten,  dann  küßten  sie  sich,  und  derweilen 
hagelte  es  noch  immer  fort.  Um  aber  nicht  alles  einzeln 
zu  erzählen,  sage  ich  nur,  daß  das  Wetter  sich  noch 
nicht  aufgeheitert  hatte,  als  sie  sich  bereits  gegenseitig 
die  höchsten  Freuden  der  Liebe  kennen  gelehrt  und 
auch  schon  verabredet  hatten,  wie  sie  in  Zukunft  heim- 
lich miteinander  sich  erfreuen  wollten. 

Inzwischen  verzog  sich  das  schlechte  Wetter;  die 
beiden  jungen  Leute  aber  warteten  am  Eingange  der 
Stadt,  bis  wohin  sie  nicht  mehr  weit  hatten,  die  Mutter 
ab  und  gingen  dann  mit  ihr  nach  Hause.  Hier  kamen 
sie  später  unter  wohlgetroffenen  Vorsichtsmaßregeln 
und  zu  ihrer  großen  Lust  mehr  als  einmal  ganz  im 
Verborgenen  zusammen,  und  so  geschah  es  am  Ende, 
daß  das  Mädchen  schwanger  wurde.  Freilich  war  das 
beiden  Teilen  nichts  weniger  als  lieb,  weshalb  sie  es 
denn  auch  nicht  an  allerhand  Mitteln  fehlen  ließ,  um 
gegen  die  Ordnung  der  Natur  ihrer  Leibesfrucht  ledig 
zu  werden;  doch  alles  blieb  umsonst. 

Da  glaubte  sich  nun  Pietro  seines  Lebens  auch  nicht 
mehr  sicher  und  sagte  seiner  Geliebten,  daß  er  zu  fliehen 
gedächte. 

Sie  aber  antwortete  ihm:  „Wenn  du  mich  verläßt, 
so  tue  ich  mir  wahrhaftig  ein  Leid  an." 

Pietro  war  dem  Mädchen  von  ganzer  Seele  gut  und 
sagte  :  „Liebes  Herz,  wie  kannst  du  nur  wollen,  daß  ich 
bleiben  soll  ?  Deine  Schwangerschaft  wird  unseren  Fehl- 

76 


tritt  ans  Licht  bringen.  Du  erhältst  dann  wohl  leicht 
Vergebung,  ich  Armer  aber  werde  dann  gewißlich  zu- 
gleich für  deine  und  für  meine  Schuld  die  Buße  tragen 
müssen." 

Das  Mädchen  erwiderte  :  „Pietro,  mein  Vergehen  wird 
freilich  an  den  Tag  kommen;  das  deinige  aber,  ver- 
lasse dich  darauf,  das  soll  gewiß  niemand  erfahren, 
dem  du  es  nicht  selber  sagst." 

„Wohlan  denn,"  entgegnete  Pietro,  „weil  du  mir  das 
gelobst,  so  will  ich  bleiben;  denke  mir  aber  an  dein 
Versprechen." 

Obgleich  nun  das  arme  Mädchen  ihren  Zustand,  so- 
lange es  nur  immer  möglich  gewesen  war,  verborgen 
gehalten  hatte,  so  fühlte  sie  doch  am  Ende  selbst,  wie 
das  Anschwellen  ihres  Leibes  fernere  Heimlichkeit  un- 
möglich machte,  und  gestand  eines  Tages  unter  tausend 
Tränen  und  Bitten,  Erbarmen  mit  ihr  zu  haben,  ihrer 
Mutter  den  Zustand,  in  dem  sie  sich  befand.  Die  Mutter 
kannte  sich  kaum  vor  Zorn  und  verlangte  mit  den 
härtesten  Worten,  daß  sie  ihr  gestehen  solle,  wie  alles 
sich  zugetragen.  Um  indessen  ihrem  Pietro  keine  Un- 
annehmlichkeiten zu  bereiten,  erfand  sich  das  Mädchen 
eine  Fabel,  die  es  der  guten  Dame  statt  der  Wahrheit 
aufband.  Diese  glaubte  denn  auch  wirklich,  was  ihr 
erzählt  wurde,  und  schickte  die  Tochter,  um  ihren  Fehl- 
tritt geheim  zu  halten,  auf  eines  ihrer  Güter. 

Als  nun  aber  die  Zeit  der  Niederkunft  heran- 
gekommen war  und  die  Wöchnerin  eben  in  den  Wehen 
schrie,  traf  es  sich,  daß,  wo  die  Mutter  es  sich  am 
wenigsten  versah,  Messer  Amerigo,  der  dies  Landhaus 
bis  dahin  fast  noch  niemals  besucht  hatte,  auf  der  Heim- 
kehr vom  Vogelstellen  an  dem  Zimmer  vorüberritt,  wo 
seine   Tochter   kreißend  lag  und  voll  Erstaunen   über 

77 


ihr  Geschrei,  plötzlich  eintrat,  um  nach  der  Ursache 
davon  zu  fragen. 

Als  die  Mutter  sich  nun  so  von  ihrem  Manne  über- 
rascht sah,  erhob  sie  sich  betroffen  und  erzählte  ihm, 
was  sich  mit  ihrer  Tochter  zugetragen.  Messer  Amerigo 
aber  antwortete,  minder  leichtgläubig  als  seine  Frau 
gewesen  war,  das  könne  unmöglich  sein,  daß  das 
Mädchen  nicht  wissen  sollte,  von  wem  sie  schwanger 
sei.  Er  verlange  durchaus  die  Wahrheit  zu  wissen,  auf- 
richtiges Bekenntnis  sei  das  einzige  Mittel  zur  Ver- 
zeihung; sonst  könne  sie  sicher  sein,  daß  sie  ohne 
Barmherzigkeit  sterben  müsse.  Zwar  gab  die  Mutter  sich 
alle  Mühe,  ihrem  Manne  die  Fabel,  die  sie  ihm  erzählt 
hatte,  einzureden,  doch  half  ihr  das  zu  nichts.  Viel- 
mehr stürzte  er  im  höchsten  Zorne  mit  bloßem  Degen 
über  das  Mädchen  her,  das,  während  die  Mutter  ihn 
noch  mit  Worten  hingehalten,  von  einem  Knaben  ent- 
bunden worden  war,  und  rief  :  „Gestehe,  wer  des  Kindes 
Vater  ist  oder  stirb  auf  der  Stelle!" 

Da  machte  die  Todesfurcht  Violante  wortbrüchig 
gegen  ihren  Pietro,  und  sie  bekannte  alles,  was  unter 
ihnen  beiden  vorgefallen  war. 

Der  Ritter  geriet  über  diesen  Bericht  in  so  unmäßige 
Wut,  daß  er  sich  kaum  enthalten  konnte,  die  Tochter 
umzubringen.  Als  er  ihr  aber  alles  gesagt  hatte,  was 
der  Zorn  ihm  eingab,  ritt  er  eilig  nach  Trapani  wieder 
zurück  und  verklagte  den  Pietro  bei  Messer  Currado, 
dem  königlichen  Hauptmann,  wegen  des  Schimpfes,  den 
jener  ihm  angetan. 

Der  Hauptmann  ließ  Pietro,  der  sich  nichts  der- 
gleichen versah,  alsbald  gefangen  nehmen  und  brachte 
ihn  auf  der  Folter  schnell  zum  völligen  Geständnis, 
worauf  er  denn  nach  wenigen  Tagen  verurteilt  wurde, 

78 


erst  durch  die  ganze  Stadt  gepeitscht  und  dann  gehängt 
zu  werden.  Damit  nun  dieselbe  Stunde  dem  Leben  der 
beiden  Liebenden  und  dem  ihres  Kindes  ein  Ende  mache, 
mischte  Messer  Amerigo,  dessen  Zorn  durch  das  Todes- 
urteil, das  er  dem  Pietro  bereitet,  noch  nicht  abgekühlt 
war,  Gift  und  Wein  in  einem  Becher  zusammen.  Dann 
gab  er  diesen  nebst  einem  Messer  und  mit  folgenden 
Worten  einem  seiner  Diener:  „Geh'  mit  diesen  Dingen 
zur  Violante  und  sage  ihr  von  mir,  sie  solle  sich  schnell 
zu  einer  von  den  beiden  Todesarten,  Dolch  oder  Gift, 
entschließen,  widrigenfalls  würde  ich  sie,  wie  sie  es 
verdient  hat,  angesichts  aller  Einwohner  unserer  Stadt 
verbrennen  lassen.  Wenn  du  das  besorgt  hast,  nimm 
den  Jungen,  den  sie  vor  wenig  Tagen  zur  Welt  gebracht 
hat,  schleudere  ihn  mit  dem  Hirnschädel  an  die  Wand 
und  wirf  ihn  dann  den  Hunden  zum  Fräße  vor." 

Diesen  grausamen  Befehl  des  lieblosen  Vaters  nahm 
der  Diener  nicht  eben  mit  milderen  Gesinnungen  ent- 
gegen und  machte  sich  auf  den  Weg. 

Als  nun  inzwischen  der  zum  Tode  verurteilte  Pietro 
zum  Galgen  gepeitscht  wurde,  kam  er,  weil  die  Henkers- 
knechte, die  an  der  Spitze  des  Zuges  standen,  ihn  zu- 
fällig so  führten,  an  einem  Gasthause  vorüber,  in  dem 
drei  Edelleute  aus  Armenien  wohnten.  Es  waren  näm- 
lich diese  drei  von  dem  Könige  von  Armenien  als  Ge- 
sandte nach  Rom  geschickt,  um  mit  dem  Papste  wichtige 
Angelegenheiten  wegen  eines  neu  zu  unternehmenden 
Kreuzzuges  zu  verhandeln.  Jetzt  aber  hatten  sie  einige 
Tage  lang  in  Trapani  verweilt,  um  sich  auszuruhen 
und  zu  stärken,  und  waren  von  den  vornehmeren  Ein- 
wohnern der  Stadt,  besonders  aber  von  Messer  Amerigo, 
auf  das  ehrenvollste  aufgenommen  und  bewirtet  worden. 

Als  nun  die  drei   Edelleute  den   Zug   vorübergehen 

79 


hörten,  in  dem  Pietro  gebracht  wurde,  traten  sie  ans 
Fenster,  um  zuzusehen.  Pietro  war  oberhalb  des  Gürtels 
völlig  entkleidet  und  man  hatte  ihm  die  Hände  auf  den 
Rücken  gebunden,  und  so  konnte  denn  einer  dieser  drei 
Abgesandten,  der  Phineus  hieß  und  ein  bejahrter  Mann 
von  großem  Ansehen  war,  deutlich  auf  des  jungen 
Mannes  Brust  einen  großen  brennend  roten  Fleck  wahr- 
nehmen, der  nicht  von  vorübergehender  Färbung  her- 
rührte, sondern  von  Natur  der  Haut  selber  innewohnte, 
der  mit  anderen  Worten  ein  Muttermal  war,  wie  wir 
es  zu  nennen  pflegen. 

Beim  ersten  Anblick  dieses  Males  gedachte  Phineus 
aber  sogleich  seines  Sohnes,  der  ihm  nun  bereits  vor 
fünfzehn  Jahren  an  dem  Strande  von  Lajazzo  von  Cor- 
saren geraubt  worden  war,  ohne  daß  er  je  weitere  Nach- 
richt von  ihm  erhalten  hätte;  und  wenn  er  das  Alter 
des  Unglücklichen,  der  da  gepeitscht  wurde,  überdachte, 
so  deuchte  es  ihm,  daß  sein  Sohn,  wenn  er  noch  am 
Leben  wäre,  jetzt  in  denselben  Jahren  sein  müßte.  Dies 
alles  bestärkte  ihn  in  der  Vermutung,  die  jenes  Mal 
zuerst  in  ihm  erregt  hatte;  weil  er  dafür  hielt,  daß 
sein  Sohn,  wenn  er  es  wirklich  sei,  sich  gewiß  seines 
eigenen  sowohl  als  des  väterlichen  Namens  und  der 
armenischen  Sprache  erinnern  werde,  so  rief  er, 
als  der  Verurteilte  ihm  ganz  nahe  gekommen  war: 
„Theodor  !" 

Kaum  hatte  Pietro  diesen  Namen  vernommen,  so 
blickte  er  auf  ;  Phineus  aber  fragte  ihn  auf  armenisch  : 
„Woher  stammst  du  und  von  welchem  Vater?" 

Die  Gerichtsdiener  hielten  aus  Rücksicht  für  den 
angesehenen  Frager  inne,  so  daß  Pietro  antworten 
konnte:  „Ich  stamme  aus  Armenien,  mein  Vater  hieß 
mit  Namen  Phineus,  und  als  kleines  Kind  wurde  ich, 

80 


von  was  für  einem  Volke  weiß  ich  nicht,  hierher  ge- 
schleppt." 

Als  Phineus  diese  Antwort  vernahm,  erkannte  er  in 
dem  jungen  Manne  mit  Sicherheit  den  einst  geraubten 
Sohn.  So  eilte  er  denn  weinend  mit  seinen  Gefährten 
die  Treppe  hinab  und  umarmte  sein  Kind  mitten  unter 
den  Henkersknechten.  Dann  aber  hüllte  er  ihn  in  den 
Mantel  von  kostbarem  Stoffe,  mit  dem  er  selber  be- 
kleidet war,  und  bat  den  Schergen,  der  ihn  zum  Tode 
führen  sollte,  daß  er  ihm  zuliebe  solange  verziehen 
möge,  bis  ihm  befohlen  würde,  den  Verurteilten  weiter- 
zuführen. 

Der  Gerichtsdiener  war  gern  bereit,  zu  warten,  und 
weil  Phineus  durch  das  Gerücht,  das  sich  über  die  ganze 
Stadt  verbreitet,  schon  vorher  erfahren  hatte,  um  welcher 
Ursache  willen  der  junge  Mann  zum  Tode  geführt  werde, 
begab  er  sich  nun  mit  seinen  Gefährten  und  mit  ihrer 
ganzen  Dienerschaft  alsbald  zu  Messer  Currado  und 
sprach  zu  ihm  also:  „Herr,  der  Mensch,  den  Ihr  da 
als  einen  Knecht  zum  Tode  schickt,  ist  ein  freier  Mann 
und  mein  Sohn.  Auch  ist  er  gern  bereit  das  Mädchen, 
das  er,  wie  man  sagt,  der  Jungfrauschaft  beraubt  hat, 
zu  seiner  Frau  zu  nehmen.  Wollet  denn  also  die  Hin- 
richtung solange  verschieben  lassen,  bis  man  Erkundi- 
gungen eingezogen  haben  wird,  ob  das  Mädchen  ihn  zum 
Manne  haben  will.  Denn  weigertet  Ihr  Euch  dieser  Zöge- 
rung und  sie  erklärte  sich  nachher  bereit,  so  hättet  Ihr 
den  Gesetzen  zuwider  gehandelt." 

Die  Nachricht,  daß  der  Verurteilte  ein  Sohn  des 
Phineus  sei,  überraschte  Messer  Currado  nicht  wenig, 
und  er  schämte  sich,  daß  der  Zufall  ihn  einen  so  harten 
Spruch  hatte  tun  lassen.  Da  er  aber  gestehen  mußte,  daß 
Phineus  mit  dem,  was  er  behauptete,  recht  habe,  hieß 

III  6  8l 


er  ihn  sogleich  nach  Hause  gehen,  und  berichtete  dann 
dem  Messer  Amerigo,  den  er  inzwischen  zu  sich  be- 
rufen, was  er  soeben  erfahren  hatte.  Messer  Amerigo, 
der  nicht  anders  glaubte,  als  Tochter  und  Enkel  seien 
schon  umgebracht,  bereute  seine  Grausamkeit  über  alle 
Maßen,  denn  es  leuchtete  ihm  wohl  ein,  daß  ohne  jenen 
Mord  alles  Geschehene  wieder  hätte  gut  gemacht  werden 
können.  Nichtsdestoweniger  sandte  er  aber  in  der 
größten  Eile  hinaus  zu  der  Tochter,  damit  seine  Befehle, 
wenn  es  nicht  schon  zu  spät  wäre,  nicht  mehr  vollzogen 
werden  sollten. 

Der  Bote  fand  den  Diener,  den  Messer  Amerigo  zuvor 
hinausgesandt  hatte,  wie  er  Violanten,  die  sich  nicht  so 
schnell  hatte  entschließen  können,  zwischen  dem  vor  sie 
hingestellten  Gift  und  Dolch  zu  wählen,  die  härtesten 
Dinge  sagte  und  mit  Gewalt  sie  nötigen  wollte,  mit 
einem  von  beiden  ihrem  Leben  ein  Ende  zu  machen. 
Kaum  aber  hatte  er  nun  den  Willen  seines  Herrn  ver- 
nommen, so  ließ  er  das  Mädchen  in  Ruhe  und  kehrte 
zu  jenem  zurück,  um  ihm  über  den  Hergang  der  Sache 
Bericht  zu  erstatten. 

Voller  Freude  über  diese  Kunde  suchte  Messer  Ame- 
rigo alsbald  den  Phineus  auf,  entschuldigte  sich  fast 
unter  Tränen,  so  gut  er  es  nur  wußte  und  konnte,  wegen 
des  Geschehenen  und  versicherte,  daß  er  gern  bereit 
sei,  dem  Theodor  seine  Tochter  zur  Frau  zu  geben. 

Phineus  nahm  jene  Entschuldigungen  bereitwillig  an 
und  erwiderte  dann:  „Meine  Meinung  ist,  daß  mein 
Sohn  Eure  Tochter  zur  Frau  nehmen  soll,  daß  aber  das 
über  ihm  gefällte  Urteil  vollstreckt  werden  muß,  im 
Falle  er  es  nicht  tun  wollte." 

Als  nun  auf  solche  Weise  Phineus  und  Messer  Ame- 
rigo  übereingekommen   waren,  suchten   sie  zusammen 

82 


den  Theodor  am  Orte  seiner  einstweiligen  Verwahrung 
auf,  wo  er  noch  vor  Todesfurcht  zitterte  und  zugleich 
sich  freute,  den  Vater  wiedergefunden  zu  haben.  Als  sie 
ihn  darauf  fragten,  was  er  in  jener  Angelegenheit  zu  tun 
gedenke,  war  seine  Freude,  daß  Violante  nun  seine  Frau 
werden  würde,  so  groß,  daß  es  ihm  nicht  anders  dünkte, 
als  sei  er  aus  der  Hölle  ins  Paradies  gesprungen,  und 
ihnen  beiden  versicherte,  daß  es  für  ihn  das  größte 
Glück  sein  werde,  wenn  sie  es  nur  zufrieden  seien. 

So  schickte  man  denn  auch  zu  Violante,  um  ihren 
Willen  zu  erfahren,  und  als  diese  vernahm,  was  sich  mit 
Thodor  zugetragen  und  was  ferner  noch  in  Erfüllung 
gehen  sollte,  während  sie  in  beispielloser  Traurigkeit 
nichts  als  den  Tod  vor  Augen  sah,  maß  sie  den  Worten 
erst  nach  geraumer  Zeit  einigen  Glauben  bei  und  konnte 
sich  doch  nur  halb  freuen.  Dann  aber  sagte  sie,  wenn 
ihre  Wünsche  wahr  werden  sollten,  dann  könne  sie  frei- 
lich nichts  glücklicher  machen,  als  Theodors  Frau  zu 
sein.  In  jedem  Falle  aber  werde  sie  tun,  was  ihr  Vater 
befehle. 

So  wurde  denn  des  Mädchens  Verlobung  mit  allge- 
meiner Zustimmung  gefeiert  und  dabei  zur  großen 
Freude  der  Einwohner  von  Trapani  eine  glänzende  Fest- 
lichkeit angerichtet.  Violante  ward  ihres  Lebens  wieder 
froh  und  ließ  ihren  Knaben  von  einer  Amme  stillen, 
und  so  dauerte  es  auch  nicht  lange,  daß  sie  wieder 
schöner  wurde,  als  je  zuvor. 

Als  die  Zeit  ihrer  Wochen  vorüber  und  Phineus  auch 
von  Rom  wieder  zurückgekehrt  war,  bezeigte  sie  ihm 
alle  Ehrfurcht,  die  einem  Vater  gebührt.  Er  aber  feierte, 
hocherfreut  über  eine  so  schöne  Schwiegertochter,  unter 
Jubel  und  Festlichkeiten  ihre  Hochzeit  und  nahm  sie 
damals  und  fernerhin  gleich  einer  eigenen  Tochter  an. 

83 


Wenige  Tage  darauf  bestieg  er  mit  dem  Sohne,  ihr  und 
dem  kleinen  Enkel  eine  Galere,  auf  der  sie  glücklich 
insgesamt  in  Lajazzo  anlangten,  wo  die  beiden  Lieben- 
den, solange  sie  am  Leben  blieben,  ruhig  und  friedlich 
sich  aneinander  erfreuten. 


84 


ùravefol    in» 


ACHTE  GESCHICHTE 

Nastagio  degli  Onesti  bewirbt  sich  um  die  Liebe  einer 
Dame  aus  dem  Hause  Traversari  und  bringt,  ohne  Gegen- 
liebe zu  finden,  dabei  sein  ganzes  Vermögen  durch.  Auf 
die  Bitten  der  Seinigen  geht  er  eines  Tages  nach  Chiassi 
und  sieht  daselbst,  wie  ein  junges  Mädchen  von  einem 
Ritter  gejagt,  getötet  und  dann  von  zwei  Hunden  gefressen 
wird.  Darauf  ladet  er  seine  Familie  sowohl  als  die  der 
Dame  zu  einem  Mittagessen  dorthin,  und  der  Anblick  des 
zerfleischten  Mädchens  und  die  Furcht  vor  ähnlichem 
Schicksal  erschrecken  die  Spröde  so  sehr,  daß  sie  den 
Nastagio  zum  Manne  nimmt. 

Als  Lauretta  schwieg,  fing  Filomela  auf  der  Königin 
Geheiß  also  zu  reden  an: 

Nicht  minder,  ihr  holden  Damen,  als  mitleidige  Ge- 
sinnung an  uns  gelobt  wird,  ahndet  die  göttliche  Ge- 
rechtigkeit die  grausame  auf  das  strengste,  wo  sie  der- 
gleichen unter  uns  antrifft.  Um  euch  davon  ein  Bei- 
spiel zu  geben  und  euch  dadurch  zu  bewegen,  daß  ihr 
der  Hartherzigkeit  völlig  entsagt,  bin  ich  gesonnen,  euch 
eine  Geschichte  zu  erzählen,  die  nicht  weniger  euer  Mit- 
gefühl erwecken  als  euch  ergötzen  wird. 

In  Ravenna,  einer  uralten  Stadt  der  Romagna,  lebten 
einst  adlige  und  vornehme  Leute  in  Menge,  unter  denen 
ein  junger  Mann,  namens  Nastagio  degli  Onesti,  durch 
den  Tod  seines  Vaters  und  eines  Oheims  über  allen 
Glauben  vermögend  geworden  war.  Dieser  nun  verliebte 
sich,  wie  den  unverheirateten  jungen  Leuten  zu  ge- 
schehen pflegt,  in  die  Tochter  des  Messer  Paolo  Traver- 
sari und  hoffte  deren  Gunst,  obgleich  ihre  Familie  von 
viel  älterem  und  besseren  Geschlecht  war,  als  die  seinige, 
durch  seine  Bemühungen,  ihr  zu  dienen,  dennoch  all- 
mählich zu  gewinnen. 

So    herrlich,    lobenswert    und    großartig   aber   auch 

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diese  letzteren  waren,  nutzten  sie  ihm  dessenungeachtet 
nicht  allein  nichts,  sondern  es  schien  vielmehr,  als  ob 
sie  ihm  Schaden  brächten,  so  hart,  so  unfreundlich  und 
so  widerwillig  bewies  sich  ihm  das  geliebte  Mädchen, 
die  vielleicht  um  ihrer  vorzüglichen  Schönheit  oder  um 
ihres  Adels  willen  so  hochmütig  und  ungefüge  geworden 
war,  daß  sie  weder  ihn  noch  was  ihm  irgend  lieb  war 
leiden  konnte.  Diese  Gesinnung  der  Geliebten  wußte 
Nastagio  so  wenig  zu  ertragen,  daß  er  nach  vielen  Klagen 
mehr  als  einmal  im  Begriff  war,  vor  Schmerz  sich  das 
Leben  zu  nehmen.  Wenn  er  sich  aber  dennoch  solch 
einer  Tat  enthielt,  so  nahm  er  dann  sich  oftmals  vor, 
sie  völlig  aufzugeben  oder  womöglich  sie  ebenso  zu 
hassen,  wie  er  von  ihr  gehaßt  wurde.  Alle  diese  Vor- 
sätze indessen  blieben  eitel,  denn  es  war  nicht  anders, 
als  ob  seine  Liebe  um  so  mehr  wüchse,  je  mehr  die 
Hoffnung  schwand. 

Als  nun  der  junge  Mann  auf  solche  Weise  beharrlich 
seine  Liebe  verfolgte  und  in  seinen  übermäßigen  Aus- 
gaben fortfuhr,  dünkte  es  einigen  seiner  Angehörigen 
und  Freunde,  daß  er  dabei  sich  selbst  und  sein  Ver- 
mögen bald  verzehrt  haben  werde.  Deshalb  rieten  sie 
ihm  denn  mehrmals,  daß  er  Ravenna  verlassen  und  auf 
einige  Zeit  an  irgendeinem  anderen  Ort  sich  aufhalten 
möge,  weil,  wie  sie  meinten,  auf  solche  Weise  seine 
Liebe  sowohl  als  seine  Ausgaben  abnehmen  würden. 

Nastagio  spottete  zwar  öfters  über  diesen  Rat;  da  er 
aber  auf  ihre  vielen  Ermahnungen  doch  nicht  füglich 
immer  mit  nein  antworten  konnte,  sagte  er  es  ihnen 
endlich  zu  und  ließ  auch  in  der  Tat  nicht  geringe  Reise- 
vorkehrungen treffen,  als  ob  er  nach  Frankreich, 
Spanien  oder  sonst  einem  entfernten  Lande  hätte  ziehen 
wollen.   Als  er   aber  endlich  zu  Pferde  gestiegen  war 

86 


und,  von  seinen  zahlreichen  Freunden  begleitet,  Ra- 
venna verlassen  hatte,  ritt  er  nach  Chiassi,  einem  viel- 
leicht drei  Miglien  von  der  Stadt  entfernten  Orte,  ließ 
Zelte  mancher  Art  herbeibringen  und  aufschlagen  und 
erklärte  denen,  die  ihm  das  Geleit  gegeben  hatten,  daß 
sie,  weil  er  hier  zu  weilen  gesonnen  sei,  nach  Ravenna 
heimkehren  möchten. 

Unter  diesen  Zelten  nun  führte  Nastagio  wieder  ein 
ebenso  glänzendes  und  herrliches  Leben  wie  je  zuvor 
und  lud  nach  alter  Gewohnheit  bald  diese  und  bald  jene 
zum  Mittag-  oder  Abendessen.  Eines  Tages  aber,  ziem- 
lich zu  Anfang  des  Maimonats  und  bei  wunderschönem 
Wetter,  geschah  es,  daß  Nastagio,  ganz  in  Gedanken 
an  die  grausame  Geliebte  versunken,  allen  seinen  Leuten 
ihn  allein  zu  lassen  befahl,  um  ungestörter  seinem  Trüb- 
sinn nachhängen  zu  können,  und  daß  er,  in  solcher 
Weise  ohne  Zweck  und  Ziel  umherirrend,  bis  zum 
großen  Pinien wald e  gelangte. 

Schon  war  die  Mittagsstunde  ziemlich  herangekommen 
und  Nastagio  hatte  sich,  unbekümmert  um  Speise,  Trank 
und  andere  Dinge,  wohl  eine  halbe  Miglie  in  den  Wald 
vertieft,  als  er  das  laute  Weinen  und  verzweifelte  Weh- 
klagen eines  Weibes  zu  vernehmen  glaubte,  die  ihn 
plötzlich  aus  seinen  süßen  Träumereien  schreckten.  Als 
er  nun  aufblickte,  ward  er  nicht  allein  zu  seinem  Er- 
staunen gewahr,  daß  er  mitten  im  Pinienhaine  sei,  son- 
dern er  sah  nach  wenigen  Augenblicken  auch  wie  ge- 
rade vor  ihm  aus  einem  dicht  verwachsenen  Gebüsch 
von  Strauchwerk  und  Dornen  hervor  ein  wunderschönes 
nacktes  Mädchen  mit  fliegenden  Haaren  und  von 
Stacheln  und  Ästen  zerkratztem  Leibe  im  vollen  Lauf 
unter  lautem  Weinen  und  Rufen  um  Gnade  der  Stelle 
zueilte,  an  der  er  sich  befand.  Zu  beiden  Seiten  folgten 

87 


ihr  zwei  riesenmäßige  und  wütende  Jagdhunde  auf  den 
Fersen  und  packten  sie  oft  und  unbarmherzig,  wo  sie 
konnten;  hinterher  aber  jagte  auf  schwarzem  Pferde 
und  in  dunkler  Rüstung  ein  Ritter,  dessen  Gesicht  vor 
Zorn  glühte,  den  Degen  in  der  Hand,  und  drohte  mit 
entsetzlichen,  schmähenden  Worten,  sie  zu  morden. 

Nastagio  wurde  bei  diesem  Anblick  zugleich  von 
Staunen  und  Abscheu  ergriffen;  dann  aber  erregte  das 
Mitleid  mit  dem  unglücklichen  Weibe  den  Wunsch  in 
ihm,  wenn  er  es  irgend  vermöchte,  ihre  Qualen  zu 
endigen  und  sie  dem  Tode  zu  entreißen.  So  griff  er 
denn  in  Ermangelung  der  Waffen  zu  einem  Baumast, 
mit  dem  er  statt  eines  Stockes  den  Hunden  und  dem 
Ritter  entgegenging.  Der  Ritter  aber  rief  ihm,  sobald 
er  dies  gewahr  wurde,  von  weitem  zu  :  „Laß  ab,  Nastagio, 
und  überlasse  mir  und  meinen  Hunden,  daß  wir  voll- 
bringen, was  dies  ruchlose  Weib  verdient  hat." 

Und  als  er  so  gesprochen,  packten  die  Hunde  das 
Mädchen  aus  aller  Kraft  in  die  Weichen  und  hielten 
sie  fest;  während  aber  der  Ritter  hinzukam  und  vom 
Pferde  sprang,  trat  auch  Nastagio  heran  und  sagte: 
„Wenngleich  ich  nicht  weiß,  wer  du  bist,  der  du  mich 
so  gut  zu  kennen  scheinst,  so  kann  ich  dir  doch  so  viel 
sagen,  daß  es  eine  höchst  schmähliche  Tat  ist,  wenn  ein 
bewaffneter  Ritter  ein  nackendes  Weib  ermorden  will 
und  es  von  den  Hunden  packen  läßt,  als  wäre  es  ein 
wildes  Tier;  darum  werde  ich  es  denn  verteidigen,  so- 
lange ich  irgend  kann." 

Darauf  erwiderte  der  Ritter  :  „Nastagio,  ich  stammte 
mit  dir  aus  einer  Stadt,  und  du  warst  noch  ein  kleines 
Kind,  als  ich,  den  man  Messer  Guido  degli  Anastagi 
nannte,  in  dies  Mädchen  hier  wahrlich  noch  viel  ver- 
liebter war,  als  du  jetzt  in  die  Traversari  bist.  Ihr  Hoch- 

88 


mut  aber  und  ihre  Härte  stürzten  mich  in  solches  Un- 
glück, daß  ich  endlich  mit  dem  Degen,  den  du  hier  in 
meiner  Hand  siehst,  mich  als  ein  Verzweifelter  ent- 
leibte und  deshalb  zu  den  ewigen  Qualen  verdammt  bin. 
Nicht  lange  Zeit  verging  darauf,  so  starb  auch  sie,  die 
sich  unmäßig  über  meinen  Tod  gefreut  hatte,  und  ward 
wegen  der  Sünde  ihrer  Hartherzigkeit  und  der  Lust 
an  meinen  Martern,  die  sie  nie  bereute,  gleichfalls  zu 
den  Strafen  der  Hölle  verurteilt.  Als  sie  nun  dorthin 
gelangte,  wurde  ihr  und  mir  die  Strafe  auferlegt,  daß 
sie  vor  mir  fliehen,  ich  aber  sie,  die  sonst  so  heiß  ge- 
liebte, nicht  wie  den  Gegenstand  meiner  Liebe,  sondern 
wie  meine  Todfeindin  verfolgen  muß.  So  oft  ich  sie 
alsdann  erreiche,  so  oft  durchbohre  ich  sie  mit  diesem 
selben  Degen,  mit  dem  ich  mich  einst  umgebracht  habe, 
öffne,  wie  du  sogleich  gewahren  wirst,  mit  dem  Messer 
ihr  die  Seite,  reiße  das  harte,  kalte  Herz,  in  das  weder 
Liebe  noch  Mitleid  den  Eingang  zu  finden  wußten,  samt 
den  übrigen  Eingeweiden  aus  ihrem  Leibe  und  werfe  es 
den  Hunden  hier  zum  Fräße  vor.  Dann  vergehen  nur 
wenige  Augenblicke,  und  sie  ersteht,  nach  Gottes  ge- 
rechtem Ratschluß,  durch  seine  Allmacht  nicht  anders 
vom  Boden,  als  ob  sie  nie  getötet  wäre,  und  alsdann 
beginnen  die  klägliche  Flucht,  der  Hunde  und  meine 
eigene  Verfolgung  von  neuem.  Da  geschieht  es  denn, 
daß  ich  sie  jeden  Freitag  um  die  jetzige  Stunde  an 
diesem  Platz  einhole  und,  wie  du  sehen  wirst,  sie  miß- 
handle ;  doch  wähne  ja  nicht,  daß  wir  die  anderen  Tage 
ruhen,  sondern  wisse,  daß  ich  sie  dann  auf  anderen 
Punkten,  an  denen  sie  Grausamkeiten  gegen  mich  er- 
sann oder  vollführte,  verfolge  und  erreiche.  Weil  ich 
nun  aus  einem  zärtlich  Liebenden  ihr  Feind  geworden 
bin,  muß  ich  ebenso  viele  Jahre  sie  in  dieser  Weise 

89 


verfolgen,  als  sie  Monate  lang  hartherzig  gegen  mich 
gewesen  ist.  Laß  mich  also  den  Befehl  der  göttlichen 
Gerechtigkeit  vollziehen  und  versuche  keinen  Wider- 
stand gegen  das,  was  du  nicht  hindern  kannst." 

Von  diesen  Worten  ganz  verschüchtert,  trat  Nastagio, 
dem  sich  jedes  Haar  am  Leibe  sträubte,  die  Augen  auf 
das  unglückliche  Mädchen  gewendet,  zurück  und  harrte 
angstvoll,  was  der  Ritter  vornehmen  werde.  Dieser  aber 
stürzte  beim  Ende  seiner  Rede  gleich  einem  wütenden 
Hunde  auf  das  Mädchen  los,  das,  von  den  zwei  Rüden 
festgehalten,  auf  ihren  Knien  um  Gnade  rief,  und  stieß 
ihr  mit  aller  Macht  den  Degen,  den  er  in  der  Hand 
hielt,  mitten  durch  die  Brust,  daß  er  zum  Rücken  wieder 
herausfuhr.  Weinend  und  winselnd  fiel  die  Ärmste  von 
diesem  Stoß  zu  Boden;  der  Ritter  aber  griff  zu  einem 
Messer,  klappte  es  auf  und  öffnete  ihr  damit  die  Seite. 
Dann  weidete  er  ihr  das  Herz  und  was  um  dieses  her 
lag,  aus  und  warf  es  den  Hunden  vor,  die  es  heiß- 
hungrig verschlangen.  Wieder  aber  dauerte  es  nicht 
lange,  so  erhob  sich  das  Mädchen,  als  sei  nichts  von 
dem  allen  geschehen,  und  begann  nach  der  Richtung 
des  Meeres  ihre  Flucht  aufs  neue.  Hinter  ihr  her 
stürmten  abermals  die  Hunde,  die  nicht  abließen,  sie 
zu  zerfleischen.  Auch  der  Ritter  saß,  den  Degen  in 
der  Faust,  wieder  zu  Pferde,  und  so  schnell  stürmten 
Flucht  und  Verfolgung  dahin,  daß  nach  wenigen  Augen- 
blicken Nastagio  nichts  mehr  von  allem  gewahr  wurde. 

Noch  lange,  nachdem  dies  Schauspiel  an  ihm  vor- 
übergezogen war,  weilte  er  zwischen  Mitleid  und  Furcht 
geteilt;  dann  aber  gedachte  er  plötzlich,  wie  dies  Er- 
eignis, da  es  alle  Freitage  sich  wiederhole,  geeignet  sei, 
ihn  in  seinen  Wünschen  wesentlich  zu  fördern.  So 
merkte  er  sich  denn  die  Stelle  und  ließ,  zu  seinem  ge- 

9° 


wohnlichen  Aufenthalte  heimgekehrt,  mehrere  seiner 
Angehörigen  und  Freunde  aus  Ravenna  zu  sich  ent- 
bieten. 

„Wohlan,"  sagte  er  zu  ihnen,  als  sie  gekommen  waren, 
„schon  lange  seid  ihr  in  mich  gedrungen,  daß  ich  von 
der  Liebe  zu  jener  meiner  Feindin  ablassen  und  in 
meinen  übermäßigen  Ausgaben  einhalten  möge.  Jetzt 
bin  ich  bereit,  es  zu  tun;  jedoch  unter  der  Bedingung, 
daß  ihr  zuvor  noch  Messer  Paolo  Traversari  dazu  be- 
wegt, in  Begleitung  seiner  Frau  und  Tochter  und  aller 
ihrer  Verwandten  am  nächsten  Freitag  mit  euch  und 
den  anderen  Damen,  die  ihr  wählen  möget,  das  Mittag- 
essen hier  bei  mir  einzunehmen.  Warum  ich  dies  ver- 
lange, werdet  ihr  alsdann  erfahren." 

Jene  achteten  dieses  Begehren  für  kein  großes,  und 
so  luden  sie  denn,  nach  Ravenna  zurückgekehrt,  als  es 
ihnen  an  der  Zeit  schien,  die  im  voraus  verabredeten  Per- 
sonen ein.  War  es  nun  auch  nichts  Leichtes,  das  von 
Nastagio  geliebte  Mädchen  zur  Einwilligung  und  Teil- 
nahme zu  bestimmen,  so  kam  sie  doch  mit  den  übrigen 
zum  Feste. 

Nastagio  ließ  verschwenderisch  ein  Mittagsmahl  her- 
richten und  die  Tafeln  unter  den  Pinienbäumen  rings 
um  die  Stelle  ordnen,  wo  er  die  Strafe  des  hartherzigen 
Weibes  mit  angesehen  hatte.  Dann  wies  er  Männern 
und  Frauen  ihre  Plätze  an,  wobei  er  den  Sitz  seiner 
Geliebten  so  gewählt  hatte,  daß  der  Fleck,  an  dem  er 
die  Wiederholung  jenes  Schauspieles  erwartete,  ihr  ge- 
rade gegenüber  war. 

Schon  war  man  bis  zum  letzten  Gerichte  gediehen,  als 
das  Geschrei  des  gejagten  Mädchens  zu  aller  Ohren  zu 
dringen  begann.  Alle  befremdeten  jene  angstvollen 
Laute,  jeder  fragte,  woher  sie  rührten,  aber  keiner  ver- 

91 


mochte  Auskunft  zu  geben.  Aufgeschreckt  erhoben  sich 
alle  und  schauten  unverwandt  nach  der  Seite,  von  der 
das  Geräusch  kam;  da  gewahrten  sie  das  jammernde 
Mädchen,  den  Ritter  und  die  Hunde,  und  alsbald  waren 
diese  alle  mitten  unter  den  Gästen.  Mit  heftigen  Schelt- 
worten wehrten  diese  sowohl  dem  Ritter  als  den  Hunden, 
und  viele  traten  vor,  um  dem  Mädchen  beizustehen.  Die 
Erzählung  des  Ritters,  die  er  ihnen  fast  mit  denselben 
Worten  wiederholte,  mit  denen  er  früher  zu  Nastagio 
gesprochen  hatte,  machte  sie  indessen  nicht  nur  von 
ihrem  Vorhaben  abstehen,  sondern  erfüllte  sie  mit 
Staunen  und  Entsetzen.  Unter  den  anwesenden  Damen 
waren  viele  dem  wehklagenden  Mädchen,  andere  dem 
Ritter  verwandt  und  erinnerten  sich  seiner  Liebe  und 
seines  Todes  ;  alle  aber  weinten,  als  dieser  sein  grausames 
Beginnen,  so  wie  neulich,  vollführte,  ebenso  bitterlich, 
als  wäre  das  Gleiche  ihnen  selber  geschehen. 

Als  nun  alles  zu  Ende  gebracht  und  der  Ritter  ver- 
schwunden war,  sprachen  diejenigen,  die  dem  Schauspiel 
zugesehen  hatten,  noch  viel  und  mancherlei  darüber.  Am 
meisten  aber  von  den  anderen  hatte  Nastagios  spröde 
Geliebte  sich  entsetzt;  denn  im  Andenken  an  die  Grau- 
samkeit, die  sie  stets  gegen  ihn  geübt  hatte,  fühlte  sie 
wohl,  daß,  was  sie  mit  Auge  und  Ohr  deutlich  wahr- 
genommen hatte,  keinen  der  Anwesenden  näher  angehe, 
als  eben  sie,  und  es  war  ihr  nicht  anders,  als  jage  jener 
sie  schon  ergrimmt  durch  den  Wald  und  die  Rüden 
packten  sie  in  die  Weichen.  Und  so  groß  war  die  Furcht 
vor  diesem  Schicksal,  welche  sich  ihrer  bemächtigt  hatte, 
daß  sie  in  schnellem  Wechsel  von  Haß  zu  Liebe  die 
Zeit  nicht  erwarten  konnte  (und  noch  am  selben  Abend 
bot  sich  Gelegenheit),  eine  vertraute  Dienerin  heimlich 
an  Nastagio  zu  senden  und  ihn  um  seinen  Besuch  bitten 


zu  lassen,  da  sie  alles,  was  ihm  gefallen  werde,  zu  tun 
bereit  sei.  Darauf  ließ  ihr  Nastagio  erwidern,  diese  Bot- 
schaft sei  ihm  hochwillkommen  ;  er  gedenke  aber,  wenn 
es  ihr  gefalle,  nur  in  Ehren  an  das  Ziel  seiner  Wünsche 
zu  gelangen,  indem  er  sich  ehelich  mit  ihr  vermähle. 

Die  junge  Dame  wußte  wohl,  daß  es  nur  an  ihr  ge- 
legen habe,  daß  sie  nicht  schon  Nastagios  Frau  ge- 
worden, und  so  antwortete  sie  denn,  sie  sei  dessen  wohl 
zufrieden.  Dann  meldete  sie  als  ihre  eigene  Botin  ihrem 
Vater  und  ihrer  Mutter,  daß  sie  jetzt  den  Nastagio  zu 
heiraten  bereit  sei.  Beide  waren  darüber  hocherfreut, 
und  schon  am  nächsten  Sonntag  wurde  das  junge  Paar 
feierlich  verlobt.  Dann  hielten  sie  Hochzeit  und  lebten 
miteinander  noch  lange  Jahre  glücklich. 

Es  hatte  aber  jenes  Ereignis  nicht  nur  diese  eine 
glückliche  Folge,  sondern  alle  Ravennatinnen  wurden 
dadurch  so  eingeschüchtert,  daß  sie  gegen  die  Wünsche 
der  Männer  seitdem  um  vieles  fügsamer  geworden  sind 
als  zuvor. 


93 


NEUNTE  GESCHICHTE 

Federigo  degli  Alberighi  liebt,  ohne  Gegenliebe  zu  finden. 
Er  verzehrt  in  ritterlichem  Aufwände  sein  ganzes  Vermögen, 
sodaß  ihm  nur  ein  einziger  Falke  bleibt.  Diesen  setzt  er, 
da  er  nichts  anderes  hat,  seiner  Dame,  die  zu  ihm  auf 
Besuch  kommt,  zum  Essen  vor.  Sie  aber  ändert,  als  sie 
dies  vernommen,  ihre  Gesinnung,  nimmt  ihn  zum  Manne 
und  macht  ihn  reich. 

Schon  hatte  Filomela  zu  reden  aufgehört  und,  da  die 
Königin  vernahm,  daß  außer  dem  Dioneo  niemand  mehr 
zu  reden  hatte,  begann  sie  heiter  : 

So  ist  denn  nun  an  mir,  zu  erzählen,  und  ich  genüge 
gern  meiner  Pflicht,  indem  ich  euch,  ihr  lieben  Mädchen, 
eine  Geschichte  mitteile,  die  der  vorigen  einigermaßen 
ähnlich  ist.  Ich  tue  dies  nicht  allein,  damit  ihr  erkennt, 
welche  Macht  eure  Anmut  über  edle  Herzen  üben  könne, 
sondern  damit  ihr  abnehmt,  wie  ihr  eure  Gunstbezeu- 
gungen, da  wo  es  sich  geziemt,  von  selbst  gewähren, 
nicht  aber  euch  vom  Glücke  leiten  lassen  solltet,  welches 
nicht  nach  verständiger  Wahl,  sondern,  wie  es  sich  eben 
trifft,  in  den  meisten  Fällen  ohne  rechtes  Maß  seine 
Gaben  zu  verteilen  pflegt. 

So  sollt  ihr  denn  wissen,  daß  in  jüngst  verflossener 
Zeit  ein  Mann,  namens  Coppo  di  Borghese  Domenichi, 
in  unserer  Stadt  lebte  und  vielleicht  heute  noch  lebt, 
der  bei  allen  ein  großes  und  ehrenvolles  Ansehen  genoß, 
und  weit  mehr  noch  als  wegen  des  Adels  seines  Blutes 
um  seiner  Tugenden  und  erlesenen  Sitten  willen  ge- 
feiert und  allgemeinen  Ruhmes  würdig  war.  Dieser  fand 
nun  in  seinen  späten  Jahren  Gefallen  daran,  sowohl 
seinen  Nachbarn  als  auch  Fremden  von  vergangenen 
Ereignissen  oftmals  zu  erzählen,  wie  er  denn  solches 
mit  größerem  Redeschmuck  und  treuerem  Gedächtnis 
als  irgendein  anderer  zu  tun  verstand. 

94 


örü  a- ./,-/.  r  ut.  ir?  xl  . 


J.J.£üfjrl  Seidp . 


Unter  anderen  schönen  Geschichten  pflegte  er  nament- 
lich auch  zu  erzählen,  daß  einst  in  Florenz  ein  junger 
Edelmann,  Federigo  di  Messer  Filippo  Alberti  genannt, 
gewesen  sei,  den  man  in  ritterlichen  Übungen  und 
adligen  Sitten  höher  gehalten  habe  als  irgendeinen  seiner 
Standesgenossen  in  Toskana.  Wie  es  nun  edlen  Jüng- 
lingen zu  widerfahren  pflegt,  so  verliebte  sich  auch 
Federigo  in  eine  adlige  Frau,  namens  Monna  Giovanna, 
welche  zu  jener  Zeit  für  eine  der  holdseligsten  und 
schönsten  in  Florenz  gehalten  wurde,  und  um  ihre  Liebe 
zu  gewinnen,  scheute  er  in  Turnieren  und  Kampfspielen 
keinerlei  Aufwand,  richtete  Feste  her  und  teilte  Ge- 
schenke aus,  ohne  seines  Vermögens  irgend  zu  achten. 
Die  Dame  aber,  die  ebenso  sittsam  war  als  schön,  küm- 
merte sich  so  wenig  um  dies  alles,  das  ihr  zu  Ehren 
geschah,  als  um  diejenigen,  von  denen  es  ausging. 

Da  Federigo  jedoch  über  seine  Kräfte  hinaus  große 
Summen  vertat  und  nichts  erwarb,  verfiel  er  binnen 
kurzem  in  solche  Armut,  daß  er  von  allen  seinen  Be- 
sitztümern nichts  behielt  als  ein  kleines  Bauerngut, 
dessen  Einkünfte  ihm  kümmerlichen  Unterhalt  ge- 
währten, und  einen  Falken,  wie  es  kaum  einen  edleren 
auf  der  Welt  geben  mochte.  Inzwischen  war  seine  Liebe 
zwar  nur  noch  glühender  geworden  als  zuvor;  da  er 
jedoch  als  Städter  nicht  mehr  so,  wie  er  es  gewünscht 
hätte,  leben  zu  können  glaubte,  zog  er  sich  auf  das 
Land  zurück  und  ertrug  dort  auf  seinem  Gütchen,  ohne 
jemandes  Hilfe  anzusprechen,  unter  Vogelstellen  ge- 
duldig seine  Armut. 

Während  nun  Federigos  Vermögensumstände  sich  so 
sehr  verschlechtert  hatten,  geschah  es,  daß  der  Gemahl 
der  Monna  Giovanna  schwer  erkrankte;  und  als  er  ge- 
wahr wurde,  daß  es  mit  ihm  zu  Ende  gehe,  machte  er 

95 


ein  Testament,  in  dem  er  sein  schon  ziemlich  heran- 
gewachsenes Söhnlein  zum  Erben  aller  seiner  großen 
Reichtümer  ernannte  und  für  den  Fall,  daß  der  Knabe 
unbeerbt  versterben  sollte,  die  Monna  Giovanna,  die  er 
zärtlich  geliebt  hatte,  zur  Nachfolge  bestellte. 

Bald  darauf  starb  er,  und  die  hinterbliebene  Witwe 
zog,  wie  es  unter  den  hiesigen  Witwen  üblich  ist,  für 
den  Sommer  des  Jahres  auf  das  Land  nach  einer  ihrer 
Besitzungen,  die  dem  Gütchen  Federigos  ziemlich  nahe 
gelegen  war.  So  trug  es  sich  denn  zu,  daß  jener  Knabe, 
der  an  Hunden  und  Vögeln  seine  Freude  hatte,  mit 
Federigo  vertraut  wurde.  Als  er  nun  dessen  Falken  öfter 
hatte  fliegen  sehen,  fand  er  an  ihm  so  überschwäng- 
liches  Gefallen,  daß  er  ihn  zu  besitzen  höchlichst  be- 
gehrte; doch  traute  er  sich  nicht,  darum  zu  bitten,  da 
er  wohl  sah,  wie  wert  er  dem  Federigo  sei. 

Um  diese  Zeit  ereignete  es  sich,  daß  der  Knabe  er- 
krankte. Die  Mutter,  die  nur  dies  eine  Kind  hatte  und 
es  von  ganzer  Seele  liebte,  betrübte  sich  unsäglich  und 
wie  sie  den  ganzen  Tag  um  den  Kranken  geschäftig  war, 
sprach  sie  ihm  guten  Mut  zu  und  fragte  ihn  unter 
dringenden  Bitten,  es  ihr  zu  sagen,  ob  er  denn  nicht 
vielleicht  nach  irgend  etwas  Verlangen  hege;  sie  wolle 
ja,  wenn  es  nur  möglich  sei,  sicher  Sorge  tragen,  daß 
sie  es  ihm  verschaffe.  Schon  mehrmals  hatte  der  kranke 
Knabe  diese  Anerbietungen  vernommen,  als  er  endlich 
antwortete:  „Mutter,  könnt  Ihr  machen,  daß  ich  Fede- 
rigos Falken  erhalte,  so  glaube  ich  in  kurzem  wieder 
gesund  zu  werden." 

Eine  Zeitlang,  nachdem  sie  diese  Worte  vernommen, 
blieb  die  Edeldame  in  sich  gekehrt  und  erwog,  was  sie 
tun  sollte.  Sie  wußte  wohl,  daß  Federigo  sie  lange  ge- 
liebt hatte,  ohne  von  ihr  jemals  auch  nur  einen  Blick 

96 


zu  erlangen;  daher  sagte  sie  bei  sich  selber:  „Wie  darf 
ich  zu  Federigo  wegen  dieses  Falken  senden  oder  gar 
selbst  deshalb  zu  ihm  gehen,  da,  wie  ich  höre,  dieser 
Falke  der  edelste  ist,  der  je  einem  Jäger  diente,  und 
da  er  noch  überdies  seinem  Herrn  in  solcher  Weise  den 
Lebensunterhalt  gewährt?  Und  wie  könnte  ich  so  rück- 
sichtslos sein,  einem  Edelmann,  dem  sonst  keine  Freude 
mehr  geblieben  ist,  diese  seine  einzige  rauben  zu 
wollen?" 

Obgleich  sie  nun  sicher  war,  den  Falken  zu  erhalten, 
sobald  sie  darum  bäte,  antwortete  sie  doch,  von  jenen 
Gedanken  bestrickt,  nichts  auf  das  Verlangen  ihres  Söhn- 
leins und  schwieg.  Endlich  aber  trug  die  Liebe  zu  dem 
Knaben  doch  den  Sieg  davon,  und,  um  ihn  zufrieden 
zu  stellen,  entschloß  sie  sich,  was  auch  immer  die  Folge 
davon  sein  würde,  nicht  zu  Federigo  zu  senden,  sondern 
selber  zu  ihm  zu  gehen,  um  den  Falken  zu  holen.  Des- 
halb sagte  sie:  „Mein  Kind,  gib  dich  zufrieden  und 
sorge  nur,  daß  du  gesund  wirst;  denn  ich  verspreche 
dir,  daß  morgen  früh  mein  erster  Gang  wegen  des 
Falken  sein  wird,  und  gewiß,  ich  werde  ihn  dir 
bringen." 

Schon  diese  Antwort  erfreute  den  Knaben  so  sehr, 
daß  noch  an  demselben  Abend  einige  Besserung  an  ihm 
zu  bemerken  war. 

Am  nächsten  Morgen  nahm  Monna  Giovanna  eine 
andere  Dame  zum  Geleit  und  lustwandelte  mit  dieser 
bis  zu  Federigos  kleinem  Häuschen.  Zum  Vogelstellen 
war  es  nicht  die  Zeit,  und  schon  seit  mehreren  Tagen 
war  er  nicht  deshalb  ausgegangen  ;  so  verweilte  er  denn, 
als  sie  nach  ihm  fragte,  m  seinem  Garten  und  ließ 
dort  gewisse  kleine  Arbeiten  besorgen.  Als  er  vernahm, 
daß  sie  an  seiner  Tür  sei  und  nach  ihm  verlange,  er- 


III 


97 


staunte  er  höchlichst  und  eilte  ihr  mit  ehrfurchtsvollem 
Gruße  freudig  entgegen;  sie  aber  begrüßte  ihn  mit 
freundlicher  Anmut  und  sagte:  „Guten  Morgen,  Fede- 
rigo! Ich  bin  gekommen,  dir  für  all  das  Ungemach 
Ersatz  zu  leisten,  das  du  seither  um  meinetwillen  er- 
duldet hast,  weil  du  mich  leidenschaftlicher  liebtest,  als 
dir  dienlich  gewesen  wäre  ;  der  Ersatz  aber  besteht  darin, 
daß  ich  mit  dieser  meiner  Begleiterin  heute  vertraulich 
bei  dir  zu  Mittag  zu  essen  gedenke." 

Hierauf  antwortete  Federigo  in  Demut:  „Madonna, 
ich  weiß  von  keinem  Ungemach,  das  mir  je  durch  Euch 
zuteil  geworden  wäre,  wohl  aber  von  so  vielem  Heile, 
daß,  wenn  jemals  an  mir  irgend  etwas  Lob  verdiente, 
ich  dies  nur  Eurer  Trefflichkeit  und  meiner  Liebe  zu 
Euch  verdanke.  Und  wahrlich,  dieser  Euer  Besuch,  den 
Ihr  aus  freier  Güte  mir  gewährt,  ist  mir,  wenngleich 
Ihr  zu  einem  dürftigen  Wirte  gekommen  seid,  unend- 
lich viel  lieber,  als  wenn  mir  die  Mittel  zurückgegeben 
wären,  die  ich  zu  der  Zeit  besaß,  wo  ich  einst  den 
größten  Aufwand  machte." 

Nach  diesen  Worten  führte  er  sie  schüchtern  in  sein 
Haus  und  von  diesem  in  den  Garten.  Weil  er  aber  sonst 
niemanden  hatte,  der  ihr  hier  Gesellschaft  hätte  leisten 
können,  sagte  er:  „Madonna,  da  kein  anderer  hier  ist, 
so  wird  dieses  gute  Weib,  die  Frau  des  Mannes,  der 
hier  meinen  Acker  bestellt,  während  ich  den  Tisch  be- 
sorgen lasse,  Euch  zur  Gesellschaft  bleiben." 

Wie  groß  nun  auch  seine  Armut  war,  so  war  er  bis 
dahin  eigentlich  noch  nicht  gewahr  geworden,  wie  sein 
ungeordnetes  Verschwenden  der  früheren  Reichtümer 
ihn  Mangel  leiden  ließ.  Diesen  Morgen  aber,  als  es  ihm 
an  allem  gebrach,  um  die  Dame  zu  ehren,  der  zuliebe 
er  einst  so   Unzählige   bewirtet  und  geehrt  hatte,  er- 

98 


kannte  er  zuerst  seine  Dürftigkeit.  In  der  peinlichsten 
Herzensangst  lief  er  wie  außer  sich  hin  und  her  und 
verwünschte  sein  Schicksal,  als  er  weder  Geld  noch 
irgend  etwas,  das  er  hätte  versetzen  können,  vorfand. 
Inzwischen  war  die  Zeit  schon  vorgerückt,  und  so  groß 
auch  sein  Verlangen  war,  die  edle  Dame  einigermaßen 
wenigstens  zu  ehren,  so  konnte  er  sich  doch  nicht  ent- 
schließen, irgend  jemand,  nicht  einmal  seinen  Garten- 
arbeiter, um  etwas  anzusprechen. 

Da  fiel  ihm  sein  guter  Falke  in  die  Augen,  der  im 
Speisezimmer  auf  seiner  Stange  saß,  und  wie  er  sonst 
nirgends  einen  Ausweg  zu  entdecken  vermochte,  faßte 
er  ihn  und  erachtete  das  edle  Tier,  da  es  fett  war,  als 
eine  würdige  Speise  für  solch  edle  Dame.  Und  ohne 
sich  weiter  zu  besinnen,  drehte  er  ihm  den  Hals  um 
und  ließ  ihn  dann  eilig,  von  seiner  Magd  gerupft  und 
hexgerichtet,  an  den  Spieß  stecken  und  sorgsam  braten. 
Dann  breitete  er  schneeweiße  Tücher,  deren  ihm  noch 
einige  geblieben  waren,  über  den  Tisch  und  ging  mit 
frohem  Gesicht  wieder  hinaus  zu  seiner  Dame,  um  ihr 
zu  sagen,  daß  das  Mittagessen,  so  gut  er  es  zu  bieten 
vermöge,  bereit  sei.  So  erhoben  sich  denn  die  Dame 
und  ihre  Begleiterin,  gingen  zu  Tische  und  verzehrten, 
ohne  zu  wissen,  was  sie  aßen,  mit  Federigo,  der  sie 
mit  größter  Sorgfalt  bediente,  den  guten  Falken. 

Als  sie  darauf  von  Tische  aufgestanden  waren  und 
noch  einige  Zeit  in  freundschaftlichen  Gesprächen  mit 
ihm  verbracht  hatten,  schien  es  der  Dame  an  der  Zeit, 
das  zu  sagen,  um  dessen  willen  sie  gekommen  war,  und 
freundlichen  Blickes  zu  Federigo  gewandt,  begann  sie 
also: 

„Federigo,  gedenkst  du  deiner  früheren  Schicksale 
und  meiner  Sittenstrenge,  die  du  vermutlich  für  Härte 

99 


und  Grausamkeit  erachtet  hast,  so  zweifle  ich  nicht, 
daß  du  über  meine  Dreistigkeit  erstaunen  wirst,  wenn 
du  vernimmst,  warum  ich  eigentlich  hierher  gekommen 
bin.  Hättest  du  aber  Kinder  oder  hättest  du  welche  be- 
sessen, so  daß  du  die  Liebe,  die  man  für  sie  hegt, 
zu  kennen  vermöchtest,  so  glaube  ich  mit  Zuversicht, 
daß  ich  dir  wenigstens  zum  Teil  entschuldigt  erscheinen 
würde.  Du  besitzest  deren  nicht;  ich  aber,  die  ich  einen 
Sohn  habe,  vermag  mich  dem  Gesetze,  dem  alle  Mütter 
unterliegen,  nicht  zu  entziehen  und  sehe  mich  zufolge 
seines  Gebotes  genötigt,  gegen  meine  Neigung,  ja,  gegen 
Anstand  und  Pflicht,  dich  um  ein  Geschenk  zu  bitten, 
von  dem  ich  weiß,  wie  teuer  es  dir  ist.  Auch  hast  du 
allen  Grund,  es  so  wert  zu  halten,  da  die  Ungunst  des 
Schicksals  dir  keine  andere  Freude,  keine  Zerstreuung, 
keinen  Trost  als  diesen  einen  gelassen  hat.  Dieses  Ge- 
schenk aber  ist  dein  Falke,  nach  dem  mein  Knabe  so 
unmäßiges  Verlangen  trägt,  daß  ich  fürchten  muß,  die 
Krankheit,  an  welcher  er  darnieder  liegt,  werde  sich, 
wenn  er  ihn  nicht  erhält,  um  vieles  verschlimmern  und 
eine  Wendung  nehmen,  infolge  deren  ich  ihn  verliere. 
So  beschwöre  ich  dich  denn,  nicht  bei  der  Liebe,  die 
du  für  mich  hegst  (denn  um  derenwillen  hast  du  gegen 
mich  keinerlei  Verpflichtung),  sondern  bei  deiner  adli- 
gen Gesinnung,  welche  du  in  Hofsitte  und  Freigebigkeit 
mehr  als  irgendein  anderer  bewährt  hast,  daß  es  dir 
gefallen  möge,  mir  deinen  Falken  zu  schenken,  damit 
ich  sagen  könne,  du  habest  mir  durch  diese  Gabe  das 
Leben  meines  Sohnes  erhalten,  und  damit  er  dir  immer- 
währenden Dank  schuldig  bleibe." 

Als  Federigo  vernahm,  was  die  Dame  begehre,  und 
sich  dabei  bewußt  war,  ihr  nicht  genügen  zu  können, 
da  er  ihr  den  Falken  zur  Mahlzeit  vorgesetzt  hatte,  fing 

ioo 


er  in  ihrer  Gegenwart,  bevor  er  noch  eine  Silbe  der 
Antwort  vorbringen  konnte,  bitterlich  zu  weinen  an. 
Anfangs  glaubte  die  Dame,  diese  Tränen  gölten  dem 
Schmerze,  sich  von  dem  guten  Falken  trennen  zu  sollen, 
und  schon  war  sie  im  Begriff,  zu  sagen,  daß  sie  ihn 
lieber  nicht  haben  wolle;  doch  bezwang  sie  sich  und 
erwartete  Federigos  Antwort,  der,  nachdem  er  seine 
Tränen  bemeistert,  also  sprach: 

„Madonna,  seit  es  Gott  gefallen  hat,  daß  ich  Euch 
meine  Liebe  zuwendete,  habe  ich  bei  vielen  Gelegen- 
heiten das  Schicksal  mir  feindlich  gefunden  und  über 
seine  Ungunst  mich  zu  beschweren  gehabt;  dies  alles 
aber  war  nur  gering  im  Vergleich  mit  dem,  was  mir 
jetzt  widerfährt.  Denn  wie  sollte  ich  wohl  mit  meinem 
Geschicke  je  mich  wieder  aussöhnen,  wenn  ich  bedenke, 
daß  ich  durch  seine  Tücke  außerstande  gesetzt  bin,  Euch 
das  kleine  Geschenk  zu  geben,  das  Ihr  begehrt,  nun  Ihr 
zu  meinem  verarmten  Hause  gekommen  seid,  das  Ihr, 
solange  es  ein  reiches  war,  nie  Eures  Besuches  gewürdigt 
habt.  Warum  ich  dies  aber  nicht  vermag,  will  ich  Euch 
kurz  berichten:  Als  ich  vernahm,  Ihr  wolltet,  Dank  sei 
es  Eurer  Güte,  bei  mir  zu  Mittag  essen,  glaubte  ich, 
im  Gedanken  an  Euren  Adel  und  Eure  Trefflichkeit, 
es  sei  würdig  und  angemessen,  soweit  meine  Kräfte 
reichten,  Euch  durch  eine  wertvollere  Speise  zu  ehren, 
als  diejenigen  sind,  mit  denen  man  andere  Menschen 
zu  bewirten  pflegt.  Da  gedachte  ich  des  Falken,  den  Ihr 
jetzt  von  mir  begehrt,  und  wie  vorzüglich  er  sei,  und 
hielt  ihn  für  eine  Euer  würdige  Speise;  so  habt  Ihr  ihn 
denn  heute  mittag  gebraten  auf  der  Schüssel  gehabt, 
und  ich  glaubte,  ihm  die  beste  Stätte  bereitet  zu  haben. 
Nun  ich  aber  sehe,  daß  Ihr  in  anderer  Weise  seiner 
begehrtet,  ist  mein  Schmerz,  Euren  Wunsch  nicht  er- 

IOI 


füllen  zu  können,  so  heftig,  daß  ich  nicht  glaube,  mich 
je  wieder  darüber  beruhigen  zu  können." 

Nach  diesen  Worten  ließ  er  zum  Beweise  des  Ge- 
sagten ihr  Federn,  Fänge  und  Schnabel  des  Falken  vor- 
zeigen. 

Als  die  Dame  dies  alles  hörte  und  sah,  tadelte  sie 
ihn  anfangs,  daß  er  zur  Bewirtung  eines  Weibes  einen 
so  edlen  Falken  getötet  habe;  dann  aber  bewunderte 
sie  im  Stillen  die  Größe  seiner  Gesinnung,  die  die 
bittere  Armut  weder  abzustumpfen  vermocht  hatte,  noch 
gegenwärtig  vermochte.  Da  ihr  jedoch  alle  Hoffnung 
geraubt  war,  den  Falken  zu  besitzen,  und  die  Be- 
fürchtungen wegen  der  Genesung  des  Knaben  nun  in 
ihr  aufstiegen,  schied  sie  voller  Betrübnis  und  kehrte 
zu  ihrem  Sohne  zurück. 

War  es  nun  die  Wirkung  des  Verdrusses,  daß  ihm 
der  Falke  nicht  gewährt  werden  konnte,  oder  war  die 
Krankheit  von  der  Art,  daß  sie  auch  ohne  das  zu  solchem 
Ende  führen  mußte  —  genug,  nur  wenige  Tage  waren 
verstrichen,  als  der  Knabe  zum  größten  Leidwesen  seiner 
Mutter  aus  diesem  Leben  schied.  Infolge  dieses  Verlustes 
blieb  sie  zwar  geraume  Zeit  in  Tränen  und  Traurigkeit  ; 
da  sie  jedoch  noch  jung  und  in  den  Besitz  eines  glänzen- 
den Vermögens  gelangt  war,  drängten  ihre  Brüder  sie 
vielfach,  zu  einer  zweiten  Ehe  zu  schreiten.  Obwohl 
sie  sich  nun  dessen  am  liebsten  enthalten  hätte,  so  ge- 
dachte sie  doch  bei  solchem  Andringen*  Federigos  Treff- 
lichkeit und  des  letzten  Beweises  seiner  hochherzigen 
Gesinnung,  den  er  ihr  gegeben,  indem  er  einen  solchen 
Falken  getötet  hatte,  allein  um  sie  zu  ehren.  Darum  sagte 
sie  zu  ihren  Brüdern:  „Am  liebsten  ließe  ich,  wolltet 
ihr  es  gestatten,  meinen  Witwenstuhl  unverrückt;  ist  es 
aber  euer  Begehren,  daß  ich  zu  einer  zweiten  Ehe  schreite, 

102 


so  werde  ich  wahrlich  keinem  anderen  mich  vermählen, 
wenn  ich  Federigo  degli  Alberi ghi  nicht  erhalte." 

Auf  diese  Rede  verhöhnten  ihre  Brüder  sie  und  sagten  : 
„Törichte,  was  schwatzest  du  da?  Wie  kannst  du  ihn 
nehmen  wollen,  der  nichts  auf  der  Welt  hat?" 

Sie  aber  antwortete:  „Meine  Brüder,  wohl  weiß  ich, 
daß  es  sich  also  verhält,  wie  ihr  sagt  ;  ich  aber  ziehe  den 
Mann,  der  des  Vermögens  entbehrt,  dem  Vermögen  vor, 
das  eines  Mannes  entbehrt." 

Als  die  Brüder  diese  ihre  Gesinnung  vernahmen  und 
sich  überzeugten,  daß  Federigo  trotz  seiner  Armut  ein 
höchst  ehrenhafter  Mann  sei,  gewährten  sie  ihm  nach 
Giovannas  Wünschen  samt  allen  ihren  Reichtümern.  Er 
aber  beschloß,  im  Besitz  einer  so  trefflichen  und  so  über- 
schwänglich  von  ihm  geliebten  Gattin,  und  noch  über- 
dies eines  außerordentlichen  Vermögens,  nach  langen 
Jahren  freudig  seine  Tage. 


io3 


ZEHNTE  GESCHICHTE 

Pietro  da  Vinciolo  geht  aus,  um  anderwärts  zur  Nacht  zu 
essen.  Seine  Frau  läßt  ihren  Buhlen  kommen;  Pietro  kehrt 
aber  heim,  und  die  Frau  versteckt  den  Liebhaber  unter 
einem  Hühnerkorbe.  Pietro  erzählt,  daß  in  dem  Hause  des 
Ercolano,  bei  dem  er  zu  Nacht  gegessen,  ein  junger  Mensch, 
den  die  Frau  verborgen  hatte,  gefunden  sei,  worüber  Pietros 
Frau  die  des  Ercolano  heftig  tadelt.  Zum  Unglück  tritt  ein 
Esel  dem  Burschen  unter  dem  Korbe  auf  die  Finger,  so  daß 
er  schreien  muß.  Pietro  läuft  hinzu,  sieht  ihn  und  erkennt 
die  Falschheit  seiner  Frau,  ist  aber  niederträchtig  genug, 
sich  am  Ende  doch  wieder  mit  ihr  auszusöhnen. 

Die  Erzählung  der  Königin  war  zu  ihrem  Ende  ge- 
diehen und  alle  hatten  Gott  gepriesen,  daß  er  dem  Fede- 
rigo würdigen  Lohn  verliehen  hatte,  als  Dioneo,  der 
einen  Befehl  nicht  erst  zu  erwarten  pflegte,  also  begann  : 

Ich  weiß  nicht,  ob  ich  es  einen  fremdartigen  Fehler 
nennen  soll,  der  erst  infolge  späterer  Sittenverderbnis  die 
Sterblichen  befallen  hat  oder  ob  es  in  der  ursprüng- 
lichen Natur  des  Menschen  liegt,  daß  wir  lieber  schlechte 
Streiche  belachen  als  über  gute  Werke  uns  freuen,  und 
ersteres  vorzugsweise  so  lange,  als  wir  nicht  selbst  davon 
betroffen  werden.  Weil  nun  aber  einmal  die  Bemühung, 
der  ich  mich  schon  früher  unterzogen  habe  und  der  ich 
jetzt  mich  aufs  neue  zu  unterziehen  im  Begriff  stehe, 
keinen  anderen  Zweck  hat,  als  eure  üble  Laune  zu  zer- 
streuen und  euch  zu  Lachen  und  Freude  zu  bewegen,  so 
will  ich  die  nachfolgende  Geschichte,  die  euch,  ihr  liebe- 
vollen Mädchen,  Ergötzen  zu  bereiten  geeignet  ist,  immer- 
hin erzählen,  obwohl  sie  mitunter  nicht  eben  anständig 
genannt  werden  kann. 

Ihr  aber  mögt,  indem  ihr  dieselbe  mit  anhört,  ver- 
fahren, wie  ihr  in  den  Gärten  zu  tun  pflegt,  die  ihr 
besucht,  in  denen  ihr  die  Rosen  brecht  und  die  Dornen 

io4 


Flip  lift  < 


unberührt  laßt.  So  überlaßt  denn  auch  hier  den  ehren- 
losen Ehemann  seiner  eigenen  Schmach  und  seinem  Un- 
heil, belacht  in  Heiterkeit  den  verliebten  Trug  seiner 
Frau  und  hegt,  wo  sich  der  Anlaß  dazu  bietet,  Mitleid 
mit  fremdem  Unglück. 

In  Perugia  lebte  vor  nicht  gar  langer  Zeit  ein  reicher 
Mann,  namens  Pietro  da  Vinciolo,  der,  weit  mehr  wohl 
um  andere  zu  täuschen  und  den  üblen  Ruf  zu  mindern, 
in  dem  er  bei  allen  Peruginern  stand,  als  aus  innerem 
Verlangen  danach,  ein  Weib  nahm.  Dabei  gab  ihm  das 
Schicksal  eine  Ehegenossin,  die  seinen  Neigungen  nicht 
sonderlich  entsprach.  Das  Weibchen,  das  er  freite,  war 
ein  untersetztes  junges  Ding  mit  rotem  Haar  und 
warmem  Blut,  die  am  liebsten  zwei  Männer  auf  einmal 
genommen  hätte,  während  sie  nun  einem  Menschen  in 
die  Hände  geriet,  der  zu  ganz  anderen  Dingen  Lust  hatte, 
als  sie  zu  umarmen. 

Daß  es  sich  so  verhielt,  wurde  sie  nur  allzubald 
gewahr  und,  wenn  sie  dann  daran  dachte,  wie  jung  und 
frisch  sie  sei  und  sich  dabei  voller  Kraft  und  Lebens- 
lust fühlte,  so  übermannte  sie  anfangs  nicht  selten  der 
Zorn,  und  es  gab  häufig  anzügliche  Reden  gegen  ihren 
Mann,  immer  aber  schlechtes  Vernehmen.  Als  sie  sich 
indessen  überzeugte,  daß  sie  auf  diesem  Wege  eher  sich 
selbst  verzehren,  als  der  Abscheulichkeit  ihres  Mannes 
irgend  steuern  werde,  sagte  sie  bei  sich  selber: 

„Dieser  Elende  kümmert  sich  nicht  um  mich,  weil 
er  in  seiner  Ruchlosigkeit  nur  säen  will,  wo  sich  nicht 
ackern  läßt;  so  will  ich  denn  sorgen,  daß  ein  anderer 
das  Erdreich  bestelle,  wo  es  locker  ist.  Ich  habe  ihn 
zum  Manne  genommen  und  ihm  gute  Mitgift  zuge- 
bracht, weil  ich  voraussetzte,  daß  er  ein  Mann  sei,  und 
daß  er  begehre,  wonach  Verlangen  zu  tragen  die  Männer 

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von  Natur  angewiesen  sind.  Hätte  ich  ihn  nicht  für 
einen  Mann  gehalten,  wahrlich,  so  hätte  ich  ihn  nicht 
geheiratet.  Warum  aber,  wenn  ihm  die  Weiber  zuwider 
waren,  nahm  er  mich  zur  Frau,  da  er  doch  wußte,  daß 
ich  ein  Weib  sei  ?  Wahrhaftig,  das  ist  nicht  zu  ertragen  ! 
Hätte  ich  mich  von  der  Welt  zurückziehen  wollen,  so 
wäre  ich  ins  Kloster  gegangen.  Nun  wollte  ich  aber 
in  der  Welt  leben  und  lebe  darin  ;  soll  ich  jedoch  warten, 
bis  dieser  Mensch  mir  Lust  und  Vergnügen  gewährt,  so 
werde  ich  über  das  furchtlose  Warten  wohl  alt  und 
grau  werden.  Will  ich  meine  Reue  bis  dahin  verschieben, 
so  werde  ich  umsonst  bejammern,  daß  ich  meine  Jugend 
ungenutzt  gelassen  habe.  Ist  er  mir  doch  selbst  der  beste 
Lehrmeister,  von  dem  ich  annehmen  kann,  womit  ich 
mich  zu  trösten  habe.  Er  sucht  seine  Vergnügungen 
eben  da,  wo  auch  ich  sie  zu  finden  habe  und  wo  sie 
für  mich  löblich,  für  ihn  aber  die  ärgste  Schmach  sind. 
Folge  ich  meinem  Verlangen,  so  handle  ich  nur  den 
Gesetzen  zuwider,  während  er  die  Ordnung  der  Natur 
und  die  Gesetze  zugleich  übertritt." 

Als  das  gute  Weibchen  diese  Betrachtungen  bei  sich 
angestellt  und  vielleicht  mehr  als  einmal  wiederholt 
hatte,  zog  sie,  um  insgeheim  zur  Verwirklichung  ihrer 
Wünsche  zu  gelangen,  eine  ältere  Frau  ins  Vertrauen, 
die  so  fromm  schien  wie  die  heilige  Verdiana,  welche 
die  Schlangen  fütterte;  denn  zu  jedem  Ablaß  ging  sie, 
den  Rosenkranz  in  der  Hand,  und  redete  nie  von  etwas 
anderem,  als  von  dem  Leben  der  heiligen  Kirchenväter 
oder  von  den  Wundermalen  des  heiligen  Franziskus. 
So  galt  sie  denn  fast  allgemein  für  eine  halbe  Heilige. 
Dieser  nun  eröffnete  unser  Weibchen,  als  es  ihr  an  der 
Zeit  schien,  ihr  Verlangen  ohne  allen  Rückhalt. 

Die  Alte  aber  antwortete  :  „Gott,  der  alle  Dinge  kennt, 

106 


weiß,  daß  du  sehr  wohl  daran  tun  wirst.  Und  wäre  e9 
aus  keinem  anderen  Grunde,  so  müßtest  du,  und  gleich 
dir  müßten  alle  anderen  jungen  Weiber  also  verfahren, 
damit  ihr  die  Zeit  eurer  Jugend  nicht  ungenutzt  ver- 
streichen laßt.  Wahrlich,  für  jeden  Einsichtigen  gibt 
es  keinen  größeren  Schmerz  als  den,  seine  Zeit  ver- 
loren zu  haben  und,  zum  Teufel,  wenn  wir  einmal  alt 
sind,  zu  was  sind  wir  dann  noch  auf  der  Welt  zu  ge- 
brauchen, als  etwa  die  Asche  in  der  Kohlenpfanne  zu 
hüten?  Ich  weiß  davon  mitzureden,  wenn  keine  andere 
es  wollte  oder  könnte;  denn,  nun  ich  alt  bin,  erkenne 
ich  mit  schwerer  und  bitterer,  leider  aber  vergeblicher 
Reue,  wie  schlecht  ich  meine  Zeit  genutzt  habe. 

„Zwar  habe  ich  die  Zeit  meiner  Jugend  nicht  so 
ganz  und  gar  verloren  (denn  ich  wünschte  nicht,  daß 
du  glaubtest,  ich  sei  eine  Gans  gewesen)  ;  doch  tat  ich 
bei  weitem  nicht,  was  ich  hätte  tun  können.  Sehe  ich 
mich  nun  an,  wie  ich  gegenwärtig  aussehe,  daß  kein 
Mensch  mehr  zu  bewegen  wäre,  mir  Feuer  zu  schlagen, 
und  erinnere  ich  mich,  was  ich  versäumt  habe,  so  weiß 
Gott  am  besten,  wie  sehr  ich  mich  gräme. 

„Mit  den  Männern  ist  das  anders.  Die  Männer  sind 
zu  tausenderlei  Dingen  bestimmt,  nicht  bloß  zu  diesem 
einen,  und  die  Mehrzahl  taugt  im  Alter  viel  mehr,  als 
in  der  Jugend.  Wir  Weiber  aber  kommen  nur  zu  diesem 
Zwecke,  und  um  Kinder  zu  gebären,  auf  die  Welt; 
nur  um  dessenwillen  hält  man  uns  wert.  Vermöchtest 
du  dies  aus  nichts  anderem  zu  erkennen,  so  müßte  es 
dir  schon  dadurch  klar  werden,  daß  wir  Weiber  jeden 
Augenblick  zu  jener  Sache  bereit  sind,  während  das 
bei  den  Männern  keineswegs  der  Fall  ist.  Überdies  kann 
ein  Weib  zehn  Männer  von  Kräften  bringen;  noch  so 
viele  Männer   aber   vermögen  nicht,  ein  Weib   zu  er- 

107 


müden.  Du  siehst  also,  wir  sind  dazu  geboren,  und  so 
wiederhole  ich  dir  denn,  daß  du  ganz  recht  tust,  wenn 
du  mit  dem  Maße,  mit  dem  dein  Mann  dir  gemessen, 
ihm  wieder  mißt;  enthältst  du  dich  dessen,  so  mußt 
du  fürchten,  daß  einst  im  Alter  deine  Seele  dem  Fleische 
über  das  Versäumte  Vorwürfe  mache.  Von  dieser  Welt 
hat  ein  jeder  gerade  so  viel,  als  er  sich  davon  zunutze 
macht.  Das  gilt  mehr  noch  als  von  den  anderen  von 
uns  Weibern,  und  so  müssen  wir  denn  die  Gelegenheit, 
solange  sie  sich  uns  bietet,  weit  sorglicher  wahrnehmen 
als  die  Männer. 

„Sieh  doch  nur  selber,  wie  es  geht:  sind  wir  erst 
alt  geworden,  so  mag  weder  Ehemann  noch  sonst  jemand 
uns  vor  Augen  haben.  In  die  Küche  jagen  sie  uns, 
damit  wir  die  Katze  unterhalten  oder  uns  mit  dem 
Zählen  von  Töpfen  und  Schüsseln  die  Zeit  vertreiben. 
Ja,  was  noch  schlimmer  ist,  sogar  zum  Spotte  werden 
wir  ;  da  heißt  es  :  ,Den  Jungen  Konfekt  und  Wein, 
den  Alten  das  Zipperlein',  und  was  solcher  schlechten 
Reden  noch  mehr  sind.  Doch,  was  soll  ich  dich  jetzt 
mit  Worten  länger  hinhalten  !  Soviel  kann  ich  dir  sagen  : 
Du  konntest  niemandem  deine  Gesinnung  offenbaren, 
der  besser  als  ich  dir  zum  Ziele  zu  helfen  vermocht 
hätte;  denn  kein  Mann  ist  so  eitel  und  geschmiegelt, 
daß  ich  mich  nicht  getraute,  ihm  das  Nötige  zu  sagen, 
und  keiner  so  ungehobelt  und  tölpelhaft,  daß  ich  ihn 
nicht  kirre  zu  machen  und  dahin  zu  bringen  wüßte, 
wo  ich  ihn  haben  will. 

„So  bezeichne  mir  nur,  wen  du  willst,  und  über- 
lasse dann  mir  das  weitere  !  Um  eins  aber  muß  ich 
dich  noch  bitten,  meine  Tochter:  Vergiß  mich  nicht 
und  bedenke,  daß  ich  eine  arme  Frau  bin;  dafür  sollst 
du  aber  auch  von  heute  an  teilhaben  an  jedem  Ab- 

108 


lasse,  den  ich  bekomme,  und  an  jedem  Paternoster,  das 
ich  sage,  damit  der  liebe  Gott  sie  als  Kerzen  und  Lampen 
für  deine  verstorbenen  Angehörigen  aufnehme." 

Mit  diesen  Worten  schloß  die  Alte;  das  junge  Weib- 
chen aber  einigte  sich  mit  ihr  dahin,  daß  sie  das  Ihrige 
tun  werde,  wenn  sie  einen  jungen  Menschen  zu  sehen 
kriegte,  der  öfter  durch  jene  Straße  käme  und  den  sie 
ihr  nach  vielen  Merkmalen  genau  bezeichnete.  Dann 
gab  sie  ihr  ein  Stück  Pökelfleisch  und  entließ  sie  mit 
Gott. 

Erst  wenige  Tage  waren  seitdem  vergangen,  als  die 
Alte  ihr  auch  schon  den  jungen  Menschen,  den  sie  ihr 
bezeichnet  hatte,  heimlich  in  die  Kammer  brachte,  und 
bald  darauf  einen  zweiten  und  so  fort,  je  nachdem  der 
jungen  Frau  ein  neues  Gelüste  ankam.  Diese  aber  ließ, 
wiewohl  sie  sich  fortwährend  vor  ihrem  Manne  fürchtete, 
keine  Gelegenheit  ungenutzt,  die  sich  in  solcher  Be- 
ziehung ihr  darbot. 

So  geschah  es  denn,  daß  eines  Tages  das  Weibchen, 
als  ihr  Mann  bei  einem  seiner  Freunde,  mit  Namen  Er- 
colano,  zu  Abend  essen  sollte,  der  Alten  auftrug,  einen 
jungen  Burschen  zu  ihr  zu  bestellen,  der  zu  den 
schönsten  und  muntersten  von  Perugia  gehörte.  Diese 
tat  alsbald,  was  ihr  geheißen  war. 

Kaum  aber  hatten  das  Weibchen  und  der  junge 
Bursche  sich  zu  Tische  gesetzt,  um  das  Abendessen  zu 
verzehren,  als  Pietro  an  der  Haustür  rief,  daß  ihm 
aufgemacht  werde.  Das  Weibchen  hielt  sich  für  ver- 
loren, als  es  seine  Stimme  hörte;  doch  wollte  sie,  wenn 
immer  möglich,  gern  ihren  Buhlen  verbergen.  Indessen 
hatte  sie  nicht  Besinnung  genug,  ihn  fortzuschaffen  oder 
besser  zu  verstecken  ;  so  hieß  sie  ihn  also,  sich  auf  dem 
Hausflur,  der  an  das  Speisezimmer  anstieß,  unter  einen 

109 


Hühnerkorb  ducken.  Dann  warf  sie  die  Leinwand  von 
einer  Matratze  darüber,  die  sie  an  demselben  Tage  hatte 
ausleeren  lassen,  und  als  auch  dies  geschehen  war,  ließ 
sie  dem  Manne  eiligst  die  Tür  aufmachen. 

„Nun,"  sagte  sie,  als  er  in  das  Haus  getreten  war, 
„Ihr  habt  ja  das  Abendessen  gewaltig  schnell  herunter- 
geschluckt." 

„Wir  haben  es  gar  nicht  einmal  gekostet",  antwortete 
Pietro. 

„Wie  ist  denn  das  zugegangen?"  sagte  die  Frau. 

Darauf  erwiderte  Pietro:  „Das  will  ich  dir  sagen: 
Ercolano,  seine  Frau  und  ich,  wir  saßen  schon  bei 
Tische,  da  hörten  wir  plötzlich  ganz  in  unserer  Nähe 
niesen.  Das  erste  und  das  zweitemal  bekümmerten  wir 
uns  nicht  darum  ;  als  aber  jener  Unsichtbare  ein  drittes, 
ein  viertes  und  noch  viele  andere  Male  zu  niesen  fort- 
fuhr, wunderten  wir  uns  alle.  Ercolano  war  ohnehin 
auf  seine  Frau  nicht  gut  zu  sprechen,  weil  sie  uns, 
ohne  aufzumachen,  eine  lange  Zeit  vor  der  Tür  hatte 
stehen  lassen.  So  sagte  er  denn  in  größter  Heftigkeit: 
,Was  will  das  heißen?  Wer  ist  das,  der  hier  so  niest?' 
und  damit  sprang  er  vom  Tische  auf  und  ging  auf  eine 
Treppe  zu,  die  dort  in  der  Nähe  war. 

„Unter  dem  ersten  Absatz  dieser  Treppe  war  ein 
Bretterverschlag,  um  dort  vorkommendenfalls  etwas  aus 
der  Hand  zu  legen,  wie  man  dergleichen  zur  Bequemlich- 
keit der  Bewohner  alle  Tage  in  den  Häusern  herrichten 
sieht.  In  diesem  Bretterverschläge  nun  war  ein  Türchen, 
und  kaum  hatte  Ercolano,  der  das  Niesen  in  dieser  Rich- 
tung vernommen  zu  haben  glaubte,  dasselbe  aufgerissen, 
als  auch  der  unleidlichste  Schwefelqualm  daraus  hervor- 
drang. Schon  früher  hatten  wir  diesen  Schwefelgeruch 
empfunden  und  uns  darüber  beschwert,  worauf  die  Frau 

no 


uns  gesagt  hatte,  sie  habe  ihre  Schleier  vorhin  mit 
Schwefel  gebleicht  und  die  Kohlenpfanne,  auf  die  sie 
ihn  zum  Rauchen  gestellt  habe,  unter  jene  Treppe  ge- 
stellt, so  daß  der  Geruch  sich  noch  von  dorther  verbreite. 
Als  Ercolano  nun  das  Türchen  geöffnet  und,  nachdem 
der  Qualm  sich  ein  wenig  verzogen  hatte,  hineinsah, 
sah  er  denjenigen,  der  geniest  hatte  und,  weil  der 
Schwefeldampf  ihn  in  die  Nase  biß,  noch  immerfort 
nieste.  Noch  nieste  er  zwar,  doch  hatte  ihm  der  Schwefel 
die  Luftröhre  schon  so  zusammengezogen,  daß  es,  nur 
ein  paar  Augenblicke  später,  mit  dem  Niesen  und  mit 
allem  anderen  auf  immer  für  ihn  vorbei  gewesen  wäre. 

„Als  Ercolano  ihn  gewahr  wurde,  rief  er  :  ,Weib,  nun 
sehe  ich  wohl,  warum  du  eben  zuvor,  als  wir  kamen, 
uns  so  lange,  ohne  aufzutun,  vor  der  Türe  hast  stehen 
lassen  ;  aber  ich  will  doch  nie  wieder  froh  werden,  wenn 
ich  dich  nicht  gründlich  dafür  bezahle.'  Bei  diesen 
Worten  entfloh  die  Frau,  die  ihr  Vergehen  entdeckt  sah, 
ohne  zu  einer  Entschuldigung  ein  Wort  zu  sagen,  von 
der  Mahlzeit,  und  was  aus  ihr  geworden  ist,  weiß  ich 
nicht.  Ercolano  aber,  der  die  Flucht  seiner  Frau  gar 
nicht  bemerkt  hatte,  befahl  dem  Niesenden  wiederholt 
herauszukommen;  der  aber  war  in  solchem  Zustande, 
daß,  soviel  Ercolano  auch  redete,  er  sich  nicht  zu  regen 
vermochte. 

„Da  faßte  dieser  ihn  bei  einem  Beine,  zog  ihn  heraus 
und  lief  dann  nach  einem  Messer,  um  ihn  totzustechen. 
Weil  ich  aber  infolge  dieser  Geschichte  am  Ende  selber 
in  Untersuchung  zu  kommen  fürchtete,  sprang  ich  auf 
und  litt  nicht,  daß  er  ihn  tötete  oder  ihm  sonst  ein 
Leid  zufügte;  vielmehr  verteidigte  ich  ihn  und  schrie 
solange,  bis  Nachbarn  herbeikamen  und  den  jungen 
Menschen,  der  sich  schon  ganz  verloren  gab,  aus  dem 

in 


Hause  fortbrachten,  wohin,  weiß  ich  nicht.  So  war  denn 
unser  Abendessen  gestört,  und  ich  habe  es,  wie  ich  dir 
sagte,  nicht  einmal  gekostet,  geschweige  denn,  wie  meine 
Absicht  war,  zu  mir  genommen.  " 

Als  das  Weibchen  diese  Geschichte  vernahm,  erkannte 
sie  wohl,  daß  auch  andere  Frauen  nicht  minder  ver-* 
ständig  seien  als  sie,  daß  aber  auch  hin  und  wieder 
einmal  ein  Unglück  dazwischen  komme.  So  hätte  sie 
denn  die  Frau  des  Ercolano  wohl  gerne  mit  deutlichen 
Worten  verteidigt  ;  da  sie  indessen  durch  den  Tadel  eines 
fremden  Fehltrittes  von  dem  ihrigen  den  Verdacht  besser 
abzulenken  gedachte,  begann  sie  folgendermaßen  zu  reden  : 

„Nun,  das  sind  mir  schöne  Geschichten  !  Eine  rechte 
Tugendheldin  und  saubere  Heldin  muß  ja  das  sein! 
So  kann  man  sich  auf  den  Schein  der  Ehrbarkeit  ver- 
lassen !  Wäre  ich  doch  selber  bei  ihr  zur  Beichte  ge- 
gangen, so  fromm  und  sittsam  konnte  sie  tun.  Und 
was  noch  schlimmer  ist,  nachgerade  ist  sie  schon  bei 
Jahren  und  gibt  den  Jüngeren  solch  ein  Beispiel  !  So 
soll  doch  die  Stunde  vermaledeit  sein,  wo  sie  zur  Welt 
kam,  und  sie  selbst  nicht  minder,  daß  sie  in  ihr  fort- 
lebt, als  solch  ein  ehrvergessenes,  verworfenes  Geschöpf, 
als  eine  gemeinsame  Schmach  und  Schande  für  alle 
Frauen  in  dieser  ganzen  Stadt!  Den  Anstand  tritt  sie 
mit  Füßen  und  alle  Ehre  vor  der  Welt  und  bricht  die 
Treue,  die  sie  ihrem  Manne  gelobt  hat,  einem  wackeren 
Mann,  wie  sie  sich  keinen  besseren  wünschen  konnte, 
und  scheut  sich  nicht,  wegen  solch  eines  Kerles  sich 
selbst  zu  brandmarken  und  zugleich  auch  noch  ihren 
Mann.  So  wahr  mir  Gott  helfe,  mit  solchen  Weibsbildern 
sollte  man  gar  kein  Mitleid  haben!  Totmachen  sollte 
man  sie  und  ganz  lebendig  mitten  ins  Feuer  stecken, 
bis  sie  zu  Asche  verbrannt  wären." 


112 


Inzwischen  gedachte  sie  aber  wieder  ihres  Liebhabers, 
den  sie  dort  ganz  nahe  unter  dem  Hühnerkorbe  versteckt 
hatte,  und  darum  fing  sie  an,  dem  Pietro  zuzureden, 
daß  er  doch  zu  Bett  gehen  möge,  da  es  schon  Schlafens- 
zeit sei.  Pietro  jedoch  hatte  mehr  Lust  zum  Essen  als 
zum  Schlafen  und  fragte  sie  deshalb,  ob  nichts  zum 
Abendbrot  da  sei. 

Die  Frau  aber  antwortete:  „Abendbrot!  Da  hat  sich 
was  von  Abendbrot  !  Als  ob  wir  gewohnt  wären,  Abend- 
essen zu  besorgen,  wenn  du  nicht  daheim  bist  !  Ja,  wenn 
ich  Ercolanos  Frau  wäre!  Geh  nur,  geh,  und  sieh  für 
heute  abend,  daß  du  einschläfst  ;  da  wirst  du  besser  daran 
tun!" 

Nun  traf  es  sich,  daß  an  eben  jenem  Abend  einige 
Arbeitsleute  des  Pietro  mit  Sachen  für  ihn  vom  Lande 
gekommen  waren  und  ihre  Esel,  ohne  ihnen  zu  saufen 
zu  geben,  in  einen  Stall  neben  jenem  Hausflur  einge- 
stellt hatten.  Einer  dieser  Esel,  der  an  unmäßigem 
Durste  litt,  hatte  inzwischen  den  Hals  aus  der  Schlinge 
gezogen  und  den  Weg  aus  dem  Stall  nach  dem  Flur 
gefunden,  wo  er  jetzt  alles  beroch,  ob  er  nicht  vielleicht 
Wasser  fände.  Bei  dieser  Gelegenheit  stieß  er  auch  auf 
den  Korb,  unter  dem  der  junge  Bursche  steckte.  Dieser 
mußte  auf  allen  Vieren  kauern,  so  daß  die  Finger  seiner 
einen  Hand  ein  wenig  unter  dem  Korb  hervorkamen. 
Zu  seinem  Glück  oder  Unglück,  wie  wir  es  nehmen 
wollen,  geschah  es  nun,  daß  der  Esel  ihm  auf  die  Finger 
trat,  weshalb  er  über  den  heftigen  Schmerz,  den  er 
empfand,  laut  aufschrie. 

Als  Pietro  das  hörte,  wunderte  er  sich  und  erkannte 
wohl,  daß  dies  im  Hause  gewesen  sei.  Während  indessen 
jener  nicht  aufhörte  zu  wehklagen,  da  der  Esel  ihm 
den   Fuß   noch   immer   nicht   von   den    Fingern   weg- 

"I  8  u3 


genommen  hatte,  sondern  sie  fortwährend  heftig 
quetschte,  ging  Pietro  mit  dem  Rufe:  „Wer  ist  da?" 
aus  dem  Zimmer  gerade  auf  den  Hühnerkorb  los.  Als 
er  diesen  emporhob,  sah  er  den  jungen  Burschen,  der 
jetzt  außer  vor  Schmerz  seiner  Finger,  welche  der  Esel 
ihm  zerquetscht  hatte,  auch  vor  Furcht  zitterte,  daß 
Pietro  ihm  ein  Leid  antun  möchte.  Pietro  hatte  ihn 
indessen  als  einen  von  denen  erkannt,  denen  er  vermöge 
seiner  ruchlosen  Neigungen  lange  Zeit  nachgegangen 
war,  und  so  fragte  er  bloß:  „Was  machst  du  hier?" 
worauf  der  junge  Mensch  nichts  antwortete,  sondern 
nur  um  Gottes  willen  bat,  daß  er  ihm  nichts  tun  möge. 

Pietro  erwiderte:  „Steh'  auf  und  fürchte  nicht,  daß 
ich  dir  irgend  etwas  zuleide  tue;  sage  mir  aber,  wie 
und  zu  welchem  Zwecke  bist  du  hierher  gekommen?" 

Der  junge  Mensch  sagte  ihm  alles;  Pietro  war  aber 
so  freudig,  ihn  angetroffen  zu  haben,  als  die  Frau  be- 
trübt war.  So  führte  er  ihn  denn  bei  der  Hand  in  das 
Zimmer,  in  dem  die  Frau  ihn  mit  der  größten  Angst 
von  der  Welt  erwartete;  dann  setzte  er  sich  ihr  gegen- 
über und  sagte:  „Erst  eben  verwünschtest  du  die  Frau 
des  Ercolano  und  meintest,  man  müsse  sie  als  eine 
Schande  für  euch  alle  verbrennen.  Warum  sagtest  du 
denn  nicht  das  Gleiche  von  dir  selber?  Oder,  wenn 
du  dazu  nicht  geneigt  warst,  wie  konntest  du  dich  er-i 
frechen,  auf  sie  zu  schelten,  wenn  du  dir  bewußt  warst, 
das  Gleiche  wie  sie  getan  zu  haben?  Wahrlich,  nichts 
anderes  bewog  dich  dazu,  als  daß  von  euch  die  eine  so 
schlecht  ist  wie  die  andere,  und  daß  jede  ihren  Fehler 
mit  fremder  Schuld  zu  verdecken  strebt.  So  möchte 
doch  Feuer  vom  Himmel  fallen,  um  euch  alle  zu  ver- 
zehren, ihr  ruchlose  Brut,  die  ihr  seid!" 

Als  das  Weibchen  gewahr  wurde,  daß  der  Mann  ihr 

ix4 


auf  den  ersten  Anlauf  weiter  nichts  zuleide  getan  hatte, 
als  daß  er  schimpfte,  und  zu  bemerken  glaubte,  daß  er 
sich  vor  Kitzel,  einen  so  hübschen  Burschen  bei  der 
Hand  zu  haben,  nicht  zu  lassen  wußte,  faßte  sie  Mut 
und  sagte: 

„Freilich  glaube  ich,  du  wünschtest,  daß  ein  Feuer 
vom  Himmel  fiele  und  uns  alle  verzehrte;  denn  ich 
weiß  wohl,  du  hast  uns  Weiber  so  lieb,  wie  der  Hund 
den  Knüppel.  Aber  beim  Kreuze  Gottes,  so  gut  soll 
dir 's  nicht  werden.  Willst  du  aber  einmal  Rechnung 
machen,  so  möchte  ich  doch  wissen,  über  was  du  dich 
beschweren  kannst.  Willst  du  mich  mit  Ercolanos  Frau 
vergleichen,  so  kann  ich  mir  das  wohl  gefallen  lassen. 
Das  ist  eine  alte  Betschwester  und  Heuchlerin,  und  ihr 
Mann  gewährt  ihr,  was  sie  haben  will,  und  hält  sie, 
wie  eine  Frau  zu  halten  ist.  Mit  mir  aber  verhält  es 
sich  anders.  Gesetzt  auch,  ich  wäre  gut  gekleidet  und 
beschuht,  so  weißt  du  selbst  am  besten,  wie  es  um  das 
andere  steht  und  wie  lange  es  her  ist,  daß  du  nicht 
bei  mir  gelegen  hast.  Lieber  wollte  ich  doch  in  Lumpen 
gehen  und  barfuß,  wenn  ich  nur  im  Bette  gut  von  dir 
behandelt  würde,  als  das  alles  haben  und  von  dir  be- 
handelt werden,  wie  du  es  tust.  Vernimm  aber,  was 
ich  dir  sage,  Pietro:  Ich  bin  dein  Weib,  so  gut  wie  die 
anderen,  und  habe  die  gleiche  Lust  wie  diese.  Sorge 
ich  also,  ihr  Genüge  zu  schaffen,  wenn  du  es  nicht 
tust,  so  trifft  mich  darum  kein  Vorwurf.  Wenigstens 
halte  ich  noch  insoweit  auf  deine  Ehre,  daß  ich  mich 
nicht  mit  Straßenbuben  und  Grindköpfen  einlasse." 

Pietro  sah  wohl  ein,  daß  es  mit  solchen  Reden  die 
ganze  Nacht  kein  Ende  nehmen  würde,  und  überdies 
war  es  ihm  gar  wenig  um  sie  zu  tun;  darum  sagte  er: 
„Frau,  nun  schweige  still  davon.  Ich  sage  dir,  daß  ich 

u5 


dich  in  dieser  Sache  schon  zufrieden  stellen  will.  Von 
dir  aber  würde  es  recht  gefällig  sein,  wenn  du  sorgen 
wolltest,  daß  wir  was  zum  Nachtessen  bekämen,  da  ich 
vermute,  daß  dieser  junge  Mensch  so  wenig  wie  ich 
zu  Abend  gegessen  hat." 

„Freilich  nicht,"  sagte  die  Frau,  „freilich  hat  er  noch 
kein  Abendessen  erhalten;  denn  als  du  zu  ungelegener 
Stunde  nach  Hause  kamst,  hatten  wir  uns  eben  zu 
Tisch  gesetzt,  um  zu  essen." 

„Nun,  so  geh'  denn,"  erwiderte  der  Mann,  „und  sorge 
für  unser  Nachtessen.  Nachher  will  ich  in  dieser  Sache 
schon  Einrichtungen  treffen,  daß  du  keinen  Grund 
haben  sollst,  dich  zu  beschweren." 

Als  das  Weibchen  ihren  Mann  begütigt  sah,  stand  sie 
auf  und  ließ  den  Tisch  gar  schnell  wieder  herrichten 
und  das  Essen  auftragen,  das  sie  vorher  bereitet  hatte. 
Dann  speiste  sie  mit  ihrem  sündhaften  Manne  und  dem 
jungen  Menschen  heiter  zur  Nacht. 

Was  Pietro  nach  dem  Abendessen  ersonnen  hat,  um 
alle  drei  Teile  zufrieden  zu  stellen,  das  habe  ich  ver- 
gessen. Nur  so  viel  weiß  ich,  daß  am  anderen  Morgen 
auf  seinem  Heimwege  der  junge  Bursche  bis  zum  Markt 
noch  nicht  mit  sich  einig  geworden  war,  ob  die  Frau 
oder  der  Mann  ihm  eifriger  Gesellschaft  geleistet  hatte. 

Darum,  werte  Damen,  sage  ich  euch  zum  Schlüsse: 
Was  dir  einer  tut,  das  tu'  ihm  wieder,  und  geht's  nicht 
gleich,  so  merke  es  dir,  bis  es  einmal  geht,  damit  es 
dabei  bleibe:  Wie  man  in  den  Wald  schreit,  so  schallt 
es  wieder  heraus! 

Als  nun  die  Geschichte  des  Dioneo  beendet  und  von 
den  Damen  nicht  aus  Mangel  an  Vergnügen,  sondern 
allein  aus  Schamhaftigkeit  weniger  belacht  worden  war, 
erkannte   die   Königin,   daß   das   Ziel  ihres   Regiments 

116 


gekommen  sei.  Darum  erhob  sie  sich  von  ihrem  Sitze, 
nahm  die  Lorbeerkrone  ab  und  setzte  sie  mit  Anmut 
auf  Elisas  Haupt,  indem  sie  dabei  sagte:  „Madonna, 
nun  ist  es  an  Euch,  zu  befehlen." 

Elisa  tat,  nachdem  die  Würde  an  sie  gelangt  war, 
wie  ihre  Vorgängerinnen  getan  hatten.  Sie  erteilte  also 
dem  Seneschall  zunächst  alle  Aufträge,  die  für  die  Zeit 
ihrer  Herrschaft  erforderlich  waren;  dann  aber  sagte 
sie  unter  Zustimmung  der  ganzen  Gesellschaft: 

„Wir  haben  bisher  schon  vielfach  vernommen,  wie 
es  durch  gute  Einfälle,  treffende  Antworten  und 
schleunige  Entschlüsse  gar  manchem  gelungen  ist,  frem- 
den Zähnen  eine  Gandare  anzulegen  und  sie  stumpf  zu 
machen,  oder  drohende  Gefahren  zu  verscheuchen.  Da 
dies  nun  ein  schöner  Gegenstand  ist  und  auch  zum 
Nutzen  gereichen  kann,  so  will  ich,  daß  morgen  unsere 
Geschichten  mit  Gottes  Hilfe  auf  diesem  Gebiete  sich 
bewegen,  das  heißt,  daß  von  denen  erzählt  werde,  die 
durch  ein  geschicktes  Wort  fremde  Neckereien  abge- 
lehnt oder  durch  sofortige  Erwiderung  und  schnellen 
Entschluß  einem  Verluste,  einer  Gefahr  oder  Kränkung 
entgangen  sind." 

Diese  Aufgabe  wurde  von  allen  sehr  gelobt;  die 
Königin  aber  erhob  sich  und  entließ  sie  sämtlich  bis 
zur  Stunde  des  Abendessens.  Als  die  ehrenwerte  Gesell- 
schaft ihre  Königin  aufgestanden  sah,  erhob  sich  ein 
jeder  und  unternahm  nach  der  bisher  gebräuchlichen 
Weise  das,  wovon  er  sich  am  meisten  Vergnügen  ver- 
sprach. Nachdem  aber  die  Cicaden  aufgehört  hatten  zu 
zirpen,  wurden  alle  zusammengerufen,  und  man  ging 
zu  Tische.  Am  Schlüsse  der  Mahlzeit,  bei  der  festliche 
Heiterkeit  geherrscht  hatte,  begannen  alle  zu  singen  und 
zu  spielen.  Emilia  führte  auf  den  Wunsch  der  Königin 

117 


einen  Tanz  auf,  und  dem  Dioneo  wurde  befohlen,  ein 
Lied  dazu  zu  singen. 

Sofort  hub  er  an  :  „Frau  Trude,  Frau  Trude,  schließt 
zu  jetzt  Eure  Bude;  was  Großes  hab'  ich  zu  berichten." 

Die  Damen  lachten  alle,  am  meisten  aber  die  Köni- 
gin, die  ihm  befahl,  ein  anderes  Lied  zu  singen. 

Dioneo  sagte:  „Hätt'  ich  nur  ein  Tamburin,  so  sang' 
ich:  ,Hebt  auf  die  Röcke,  Monna  Lappa',  oder:  ,Unterm 
Ölbaum  ist  ein  Rasen*  ;  oder  sollte  ich  vielleicht  singen  : 
,Ach  wie  macht  des  Meeres  Welle,  mich  so  übel  und 
so  weh'?'  Ich  habe  nun  aber  einmal  kein  Tamburin; 
darum  müßt  ihr  schon  sehen,  was  euch  sonst  für  eins 
gefällt.  Möchtet  ihr  etwa:  ,Kommst  du  raus,  ich  hau' 
dich  um,  wie  den  Maibaum  in  dem  Busche'?" 

„Nein  doch,"  sagte  die  Königin,  „sing'  uns  ein  anderes 
Lied." 

„So  werde  ich  denn  singen:  ,Monna  Simona  füllt 
ein,  füllt  ein,  noch  ist  es  nicht  Kelterzeit',"  sagte 
Dioneo. 

Die  Königin  antwortete  lachend  :  „Ei,  zum  Geier,  sing' 
uns  ein  ordentliches  Lied;  denn  das  mögen  wir  auch 
nicht." 

„Dineo  sprach:  „Gut,  Madonna,  werdet  nur  nicht 
böse  und  wählt  nach  Eurem  Belieben;  denn  ich  weiß 
mehr  als  tausend.  Wollt  Ihr  :  ,Mein  Schneckchen  ist  wohl 
klein,  doch  will's  gekitzelt  sein'  oder  :  ,Mach's  nur  sachte, 
liebes  Männchen'  oder:  ,Für  hundert  Lire  kauft'  ich 
einen  Hahn'?" 

Obwohl  die  anderen  alle  lachten,  wurde  die  Königin 
jetzt  doch  etwas  ungehalten  und  sagte:  „Dioneo,  laß 
deine  Spaße  und  singe  uns  ein  hübsches  Lied,  sonst 
möchtest  du  erfahren,  daß  ich  ernstlich  böse  werden 
kann." 

n8 


Als  Dioneo   dies  vernahm,   hörte   er  auf  mit  jenen 
Dummheiten  und  fing  also  zu  singen  an: 

Amor,  das  holde  Licht, 

Das  mir  aus  ihrem  schönen  Auge  lacht, 

Hat  mich  zum  Knecht  von  dir  und  ihr  gemacht. 

Aus  ihrem  Auge  leuchtete  der  Strahl, 

Der  deine  Flamm'  in  mir  zuerst  entzündet, 

Als  ihn  die  meinen  sah'n.  — 

Wie  du  so  reich  an  Preisen  ohne  Zahl, 

Ihr  holdes  Angesicht  hat's  mir  verkündet.  — 

Wohl  ist's  um  mich  getan; 

Denn  ihr  nur  Untertan 

Ist  jede  Kraft,  wenn  ich  an  sie  gedacht, 

Die  neue  Seufzer  in  mir  angefacht. 

So  bin  ich  denn  von  deiner  Macht  gefangen, 
0  teurer  Herr,  erwarte  nur  von  dir, 
Daß  Lohn  mich  einst  erfreue.  — 
Ist  aber  wohl  mein  glühendes  Verlangen, 
Das  du  entzündet  hast,  gekannt  von  ihr, 
Und  jene  feste  Treue, 
Die  einzig  ihr  ich  weihe? 

Verschmäh'  ich  doch,  weil  ganz  in  ihrer  Macht, 
Sogar  den  Frieden,  den  nicht  sie  gebracht. 

Kennt  sie  es  nicht,  o  süßer  Herr,  so  bitt'  ich, 
Daß  du's  ihr  schilderst  und  ein  Fünkchen  Glut 
Ihr  leihst,  mit  mir  im  Bunde. 
Du  weißt  es  ja,  mich  selbst  verzehrend  litt  ich 
Schon  lange  herbe  Qual;  es  rinnt  mein  Blut 
Aus  immer  offner  Wunde. 


"9 


Und  dann  zu  guter  Stunde 

Sei  ihr  mich  zu  empfehlen  dir  bedacht!  — 

Wie  gern  hätt'  ich  den  Weg  mit  dir  gemacht! 

Als  das  Schweigen  des  Dioneo  anzeigte,  daß  sein  Lied 
beendet  sei,  ließ  die  Königin  zwar  noch  viele  andere 
singen,  erteilte  aber  dem  des  Dioneo  großes  Lob.  In- 
zwischen war  schon  ein  Teil  der  Nacht  verstrichen,  und 
weil  die  Königin  wahrnahm,  daß  über  die  Wärme  des 
Tages  nunmehr  die  Nachtfrische  den  Sieg  davongetragen 
hatte,  befahl  sie,  daß  bis  zum  anderen  Tage  ein  jeder 
nach  Gefallen  zur  Ruhe  gehe. 


120 


ES  SCHLIESST 

DES  DECAMERON 

FÜNFTER  TAG,  UND  ES  BEGINNT 

DER  SECHSTE, 

AN  DEM  UNTER  ELISAS  REGIMENT 

VON  DENEN  ERZÄHLT  WIRD, 

DIE  DURCH  EIN  GESCHICKTES  WORT 

FREMDE  NECKEREIEN  ABGELEHNT 

ODER  DURCH  SOFORTIGE  ERWIDERUNG 

UND  SCHNELLEN  ENTSCHLUSS 

EINEM  VERLUSTE, 

EINER  GEFAHR  ODER 

KRÄNKUNG  ENTGANGEN 

SIND 


HIER  BEGINNT 
DER  SECHSTE  TAO  DES 

DECAMERON 


Der  Mond,  der  an  des  Himmels  Mitte  stand,  hatte 
seine  Strahlen  vorloren,  und  schon  erhellte  der  be- 
ginnende neue  Tag  unsere  Welt,  als  die  Königin,  die  sich 
von  ihrem  Lager  erhoben  und  ihre  Gesellschaft  hatte 
zusammenrufen  lassen,  mit  ihnen  allen  auf  dem  tauigen 
Grase  lustwandelnd,  sich  unter  verschiedenen  Gesprächen 
von  dem  schönen  Hügel  langsamen  Schrittes  ein  wenig 
entfernte.  Bald  stritten  sie  über  den  größeren  oder  ge- 
ringeren Wert  der  erzählten  Geschichten,  bald  belachten 
sie  aufs  neue  die  verschiedenen  Zufälle,  die  in  jenen 
berichtet  worden  waren.  Weil  aber  inzwischen  die 
Sonne  schon  hoch  gestiegen  war  und  die  Wärme 
beschwerlich  zu  werden  anfing,  schien  es  ihnen  rat- 
sam, wieder  heimzukehren,  und  die  rückwärts  ge- 
wandten Schritte  führten  sie  bald  nach  ihrem  Aufent- 
haltsorte zurück. 

Hier  fanden  sie  die  Tische  bereits  gedeckt  und  den 
Fußboden  mit  wohlriechenden  Kräutern  und  schönen 
Blumen  ganz  übersät,  worauf  sie  nach  dem  Geheiß  der 
Königin  sich  alsbald  zum  Essen  setzten,  bevor  die  Hitze 
noch  weiter  zunahm.  Als  dies  unter  Heiterkeit  beendet 
war  und  die  Gesellschaft  noch  ein  paar  schöne  und 
ergötzliche  Liedlein  gesungen  hatte,  legte  der  eine  sich 
schlafen,  der  andere  vertrieb  sich  mit  Schach-  oder  Brett- 


123 


spiel  die  Zeit,  Dioneo  aber  und  Lauretta  fingen  mit- 
einander von  Troiolo  und  Criseida  zu  singen  an. 

Zu  der  Stunde,  um  die  man  sich  wieder  zu  ver- 
sammeln pflegte,  ließ  dann  die  Königin  einen  jeden 
herbeirufen,  und  alle  setzten  sich  in  der  gewohnten 
Weise  rings  um  die  Quelle.  Eben  wollte  die  Königin 
den  Befehl  zum  Beginn  der  ersten  Geschichte  erteilen, 
als  geschah,  was  noch  niemals  sich  zugetragen  hatte: 
von  der  Küche  her  drang  nämlich  zu  aller  Ohren  ein 
gewaltiger  Lärm,  den  die  Mägde  und  Diener  miteinander 
vollführten.  Der  Seneschall,  der  herbeigerufen  und  über 
die  Ursache  jenes  Lärmes  befragt  wurde,  sagte,  es  sei 
ein  Zank  zwischen  Lycisca  und  Tyndarus;  doch  wisse 
er  den  Grund  selber  nicht  anzugeben,  da  er,  um  Ruhe 
zu  gebieten,  eben  erst  hinzugekommen  sei,  als  er  den 
Befehl  erhalten  habe,  vor  der  Gesellschaft  zu  erscheinen. 

Die  Königin  hieß  ihn  die  Lycisca  und  den  Tyndarus 
herbeikommen  zu  lassen,  und  fragte  beide,  nachdem  sie 
erschienen  waren,  nach  der  Ursache  ihres  Zankes.  Tyn- 
darus wollte  antworten;  Lycisca  aber,  die  nicht  mehr 
jung  und  ziemlich  unverträglich  war,  auch  über  dem 
Streite  sich  etwas  erhitzt  hatte,  fiel  ihm  mit  einem  ver- 
ächtlichen Blicke  also  in  die  Rede:  „Seht  mir  doch  den 
unverschämten  Gesellen,  der  sich  untersteht,  vor  mir 
sprechen  zu  wollen.  Schweig  und  laß  mich  reden!" 

Dann  aber  sagte  sie  zur  Königin  gewandt  :  „Madonna, 
dieser  Mensch  will  mich  die  Frau  des  Sykophantes 
kennen  lehren,  und  gerade,  als  ob  ich  nie  mit  ihr  ver- 
kehrt hätte,  mir  weismachen,  in  jener  Nacht,  wo  Syko- 
phantes das  erstemal  bei  ihr  geschlafen,  sei  Herr 
Mauernbrecher  nur  mit  Gewalt  und  Blutvergießen  in 
Schwarzburg  eingedrungen;  ich  aber  sage,  daß  das  ge- 
logen ist  und  daß  er  seinen  Einzug  ganz  friedlich  und 

124 


mit  vollem  Einverständnis  der  Besatzung  gehalten  hat. 
Solch  ein  Einfaltspinsel  ist  Tyndarus,  daß  er  sich  ein- 
bildet, die  Mädchen  seien  dumm  genug,  ihre  Zeit  zu 
verlieren  und  auf  die  Erlaubnis  ihrer  Väter  und  Brüder 
zu  warten,  die  unter  sieben  Malen  sechsmal  ihre  Ver- 
heiratung drei  oder  vier  Jahre  länger  verschieben,  als  sie 
sollten.  Mein  Schatz,  da  wäre  schön  für  sie  gesorgt, 
wenn  sie  solange  zögern  wollten.  Nein,  wahrlich,  beim 
wahrhaftigen  Glauben,  und  wenn  ich  schwöre,  dann  weiß 
ich,  was  ich  rede,  von  allen  meinen  Bekannten  ist  auch 
nicht  eine,  die  als  Jungfrau  ins  Ehebett  gestiegen  wäre, 
und  wie  oft  und  wie  arg  die  Verheirateten  ihren  Män- 
nern Hörner  aufsetzen,  davon  weiß  auch  ich  ein  Lied 
zu  singen.  Dieses  Erzschaf  aber  will  mich  Weiber  kennen 
lehren,  als  ob  ich  erst  gestern  auf  die  Welt  gekommen 
wäre." 

Während  Lycisca  noch  also  redete,  erhoben  die  Damen 
solch  ein  lautes  Gelächter,  daß  man  ihnen  bequem 
sämtliche  Zähne  hätte  ausziehen  können.  Wohl  sechs- 
mal gebot  die  Königin  den  Schwatzenden  Stillschweigen  ; 
doch  war  es  umsonst,  und  sie  ruhte  nicht  eher,  als  bis 
sie  alles,  was  sie  sagen  wollte,  gesagt  hatte.  Nachdem 
sie  aber  von  selber  zu  reden  aufgehört  hatte,  sagte  die 
Königin,  lächelnd  zu  Dioneo  gewandt:  „Dioneo,  das  ist 
deine  Sache;  sorge  denn  also,  wenn  unsere  Geschichten 
für  heute  beendet  sein  werden,  dafür,  daß  du  unter 
den  Streitenden  eine  Entscheidung  fällst." 

Hierauf  antwortete  Dioneo  sofort:  „Madonna,  der 
Urteilsspruch  ist  gefällt,  ohne  daß  ich  weiteres  zu  hören 
brauche;  denn  ich  erkläre,  daß  Lycisca  recht  hat,  und 
halte  dafür,  daß  Tyndarus,  ganz  so,  wie  sie  gesagt  hat, 
ein  Einfaltspinsel  ist." 

Sobald  Lycisca  diese  Entscheidung  vernahm,  begann 

125 


sie  zu  lachen  und  sagte,  zu  Tyndarus  gewandt:  „Geh', 
geh'  mit  Gott,  mein  Freund;  du  dünkst  dich  klüger, 
als  ich  bin,  und  bist  noch  nicht  hinter  den  Ohren 
trocken?  Nun,  Gott  sei  Dank,  umsonst  habe  ich  nicht 
gelebt  ..."  Und  hätte  die  Königin  ihr  nicht  zürnenden 
Blickes  Stillschweigen  auferlegt  und  weiteres  Lärmen 
und  Gerede  bei  Strafe  des  Staupbesens  verboten,  so 
hätten  sie  den  ganzen  Tag  nichts  anderes  tun  können, 
als  ihr  Geschwätz  anhören.  So  aber  hieß  sie  beide  sich 
entfernen,  und  als  sie  gegangen  waren,  gebot  sie  Filo- 
mela mit  Erzählen  zu  beginnen,  und  diese  fing  fröh- 
lich also  zu  reden  an. 


126 


r  ni   .\    >.j. 


/.,„,: 


ERSTE  GESCHICHTE 

Ein  Edelmann  sagt  zu  Madonna  Oretta,  er  wolle  ihr  eine 

Geschichte    erzählen,   daß   sie    glauben    solle,   sie   sitze   zu 

Pferde.  Als   er  sie   darauf  ungeschickt  vorträgt,  bittet   sie 

ihn,  daß  er  sie  wieder  absteigen  lasse. 

Wie  in  hellen  Nächten  die  Sterne  der  Schmuck  des 
Himmels  und  im  Frühjahr  die  Blumen  die  Zierde  der 
grünen  Wiesen  und  die  neubelaubten  Gebüsche  der 
Schmuck  der  Hügel  sind,  so,  ihr  jungen  Mädchen,  ge- 
reichen glückliche  Einfälle  den  lobenswerten  Sitten  und 
verständigen  Reden  zu  besonderer  Zier.  Weil  aber  ein 
Witzwort  seiner  Natur  nach  kurz  ist,  so  kleidet  es  uns 
Frauen  besser  als  die  Männer,  während  viel  zu  sprechen 
den  Frauen  weniger  als  den  Männern  ziemt.  Wahr  ist 
es  freilich,  daß  zur  gemeinsamen  Schande  für  uns  alle 
(möge  nun  die  Schuld  in  der  Dürftigkeit  unseres  Ver- 
standes oder  in  einer  besonderen  Ungunst  der  Gestirne 
zu  suchen  sein,  die  über  unser  Jahrhundert  verhängt  ist) 
jetzt  nur  selten  eine  Frau,  ja  vielleicht  keine  zu  finden 
ist,  die  zur  rechten  Zeit  einen  guten  Einfall  zu  sagen, 
oder  wenn  ein  anderer  dergleichen  gehabt  hat,  ihn  ge- 
hörig aufzufassen  vermöchte.  Weil  indessen  Pampinea 
diesen  Gegenstand  schon  früher  hinlänglich  besprochen 
hat,  so  denke  ich  nichts  weiter  darüber  zu  sagen;  wohl 
aber  will  ich,  um  euch  zu  zeigen,  wieviel  Hübsches  in 
einem  guten  Einfall  zur  rechten  Stunde  liegt,  euch  be- 
richten, wie  eine  Dame  geschickt  einem  Edelmanne 
Stillschweigen  zu  gebieten  wußte. 

Noch  ist  es  nicht  lange  Zeit  her,  daß,  wie  manche  von 
euch  aus  eigener  Erfahrung  wissen  oder  doch  von 
anderen  vernommen  haben  können,  in  unserer  Stadt 
eine  Edeldame  weilte,  die  von  erlesenen  Sitten  und  der 
Rede  kundig  war.   Da  ihre  rühmlichen  Eigenschaften 

127 


nicht  verdienen,  daß  ihr  Name  verschwiegen  werde,  will 
ich  euch  berichten,  daß  sie  Madonna  Oretta  hieß  und 
des  Messer  Geri  Spina  Gemahlin  war.  Nun  geschah  es 
zufällig,  als  sie  einmal,  so  wie  wir  eben  auch  tun,  auf 
dem  Lande  verweilte,  daß  sie  mit  mehreren  anderen 
Damen  und  Edelleuten,  welche  sie  an  jenem  Tage  be- 
wirtet hatte,  zu  ihrem  Vergnügen  von  einem  Orte  zum 
anderen  lustwandelte. 

Da  indessen  die  Entfernung  von  dem  Platze,  von  dem 
sie  ausgegangen  waren,  zu  dem  Ziele,  das  sie  sämtlich 
zu  Fuß  zu  erreichen  beabsichtigten,  vielleicht  etwas 
groß  war,  so  sagte  ein  Edelmann  aus  der  Gesellschaft: 
„Madonna  Oretta,  beliebt  es  Euch,  so  will  ich  Euch  einen 
großen  Teil  des  Weges,  den  wir  noch  vor  uns  haben,  durch 
eine  wunderschöne  Geschichte  so  sehr  verkürzen,  daß 
Ihr  glauben  sollt,  Ihr  säßet  zu  Pferde." 

Darauf  antwortete  die  Dame:  „Nicht  nur  beliebt  es 
mir,  sondern  ich  bitte  Euch  gar  sehr  darum,  und  es 
soll  mir  höchst  willkommen  sein." 

Der  Herr  Ritter,  der  seinen  Degen  vielleicht  auch 
nicht  besser  zu  führen  wußte  als  seine  Zunge,  fing  nach 
dieser  Erlaubnis  eine  Geschichte  an,  die  an  sich  in  der 
Tat  gar  schön  war,  die  er  aber  auf  das  jämmerlichste 
verdarb,  indem  er  bald  das  gleiche  Wort  vier-  oder  sechs- 
mal wiederholte,  bald  auf  das  schon  Gesagte  zurück- 
kam, bald  sich  mit  dem  Ausruf:  „Nein,  das  habe  ich 
falsch  erzählt,"  unterbrach,  bald  endlich  die  Namen 
falsch  sagte  oder  untereinander  verwechselte;  zu  ge- 
schweigen,  daß  seine  Worte  weder  dem  Charakter  der 
Personen  noch  den  erzählten  Ereignissen  irgend  ent- 
sprachen. 

Der  Madonna  Oretta  brach  über  dieses  Erzählen  der 
Angstschweiß  aus,  und  es  wurde  ihr  beklommen  ums 

128 


Herz,  als  ob  sie  krank  wäre.  Endlich  aber  konnte  sie 
es  nicht  mehr  aushalten,  und  da  sie  gewahr  wurde, 
daß  der  Edelmann  in  die  Tinte  geraten  war  und  sich 
nicht  wieder  herausfand,  sagte  sie  scherzhaft:  „Messer, 
Euer  Pferd  ist  ein  schlimmer  Harttraber;  darum  bitte 
ich  Euch,  laßt  mich  wieder  absteigen." 

Der  Edelmann,  der  zum  Glück  geschickter  im  Ver- 
stehen als  im  Erzählen  war,  fühlte  den  Stachel  und 
kehrte  ihn  zu  Scherz  und  Heiterkeit;  dann  aber  wandte 
er  sich  zu  anderen  Geschichten  und  ließ  die  eine,  die 
er  begonnen  und  schlecht  ausgeführt  hatte,  unbeendigt. 


III  9 


1^9 


ZWEITE  GESCHICHTE 

Cisti,  der  Bäcker,  bringt  durch  eine  beißende  Antwort  Herrn 
Geri    zur  Einsicht  wegen  eines  unbescheidenen  Begehrens. 

Großes  Lob  erteilte  jedes  der  Mädchen  und  jeder  der 
jungen  Männer  dem  Einfall  der  Madonna  Oretta;  die 
Königin  aber  gebot  der  Pampinea,  in  gleicher  Weise 
fortzufahren,  worauf  diese  also  begann: 

Ich  für  mein  Teil  wüßte  nicht  zu  entscheiden,  ihr 
schönen  Mädchen,  welche  von  beiden  größerer  Tadel 
trifft,  ob  die  Natur,  wenn  sie  einer  edlen  Seele  einen 
mißgestaltenen  Körper  bereitet,  oder  Fortuna,  wenn  sie 
einem  Körper,  in  dem  eine  edle  Seele  wohnt,  ein 
niedriges  Gewerbe  überweist,  wie  wir  das  letztere  an 
unserem  Mitbürger  Cisti  und  an  manchen  anderen  sich 
haben  zutragen  sehen.  Obgleich  nämlich  Cisti  mit  einem 
hohen  Sinne  begabt  war,  hatte  Fortuna  ihn  doch  nur 
zum  Bäcker  gemacht. 

In  der  Tat,  ich  würde  deshalb  die  Natur  und  Fortuna 
gleichmäßig  verwünschen,  wüßte  ich  nicht  sonst,  daß 
die  Natur  in  allen  Dingen  verständig  ist  und  daß  For- 
tuna, wenngleich  die  Törichten  sie  blind  vorzustellen 
pflegen,  dennoch  tausend  Augen  hat.  So  glaube  ich 
denn,  daß  beide  in  jenem  Falle  sehr  weise  nicht  anders 
zu  Werke  gehen,  als  auch  die  Sterblichen  oftmals  tun, 
indem  sie  nämlich  wegen  der  Ungewißheit  der  zu- 
künftigen Ereignisse  zu  besserer  Sicherheit  ihre  wert- 
vollsten Sachen  an  den  unscheinbarsten  Orten  ihres 
Hauses  als  den  unverdächtigsten  vergraben,  um  sie  als- 
dann bei  dringenden  Bedürfnissen  hervorzuholen,  wo 
dann  jener  verachtete  Ort  besser  zur  Verwahrung  diente, 
als  das  schönste  Gemach  getan  haben  würde.  Ebenso 
verbergen  auch  die  beiden  Dienerinnen  der  Welt  häufig 
ihre  wertvollsten  Gegenstände  unter  den  Schatten  der 

i3o 


am  niedrigsten  geachteten  Gewerbe,  damit  ihr  Glanz, 
wenn  jene  sie,  wo  es  not  tut,  zutage  bringen,  um  so 
leuchtender  erscheine. 

Wie  Cisti,  der  Bäcker,  dies  in  einer  geringfügigen 
Sache  bewährt  und  Herrn  Geri  Spina  die  Augen  zu 
vernünftiger  Einsicht  geöffnet  hat,  gedenke  ich  euch 
in  einem  kleinen  Geschichtchen  zu  erzählen,  das  mir 
bei  der  eben  von  Madonna  Oretta  mitgeteilten  in  den 
Sinn   kam,   weil   diese  die   Gemahlin   jenes   Geri   war. 

Als  Papst  Bonifaz  wegen  gewisser  Angelegenheiten 
von  großer  Bedeutung  einige  Edelleute  als  seine  Ge- 
sandten nach  Florenz  geschickt  hatte  und  diese  im 
Hause  des  Messer  Geri  Spina,  der  bei  dem  Papste  in 
vorzüglich  großem  Ansehen  stand,  abgestiegen  waren 
und  mit  ihm  über  die  Geschäfte  ihres  Machtgebers  ver- 
handelten, gingen,  aus  was  immer  für  einem  Grunde, 
Messer  Geri  mit  diesen  Abgesandten  des  Papstes,  sämt- 
lich zu  Fuß,  fast  jeden  Morgen  vor  der  Kirche  Santa 
Maria  Ughi  vorüber,  neben  der  Gisti,  der  Bäcker,  seine 
Backstube  hatte  und  in  eigener  Person  seinem  Hand- 
werk oblag. 

Obgleich  nun  Fortuna  diesem  Manne  ein  gar  be- 
scheidenes Gewerbe  beschieden  hatte,  so  war  sie  doch 
insofern  ihm  günstig  gewesen,  daß  er  überreich  ge- 
worden war  und  deshalb,  ohne  sein  Geschäft  gegen 
irgend  ein  anderes  vertauschen  zu  wollen,  mit  erheb- 
lichem Aufwände  lebte.  Insbesondere  aber  führte  er 
neben  anderen  guten  Dingen  stets  die  besten  weißen 
und  roten  Weine,  die  in  Florenz  oder  in  der  Umgegend 
nur  irgend  zu  finden  waren.  Da  nun  Gisti  jeden  Morgen 
Messer  Geri  und  die  Gesandten  des  Papstes  vor  seiner 
Tür  vorübergehen  sah,  meinte  er,  daß  es  bei  der  da- 
maligen großen  Hitze  eine  willkommene  Aufmerksam- 

i3i 


keit  wäre,  wenn  er  ihnen  von  seinem  guten  Weißweine 
zu  trinken  gäbe;  zugleich  aber  gedachte  er  des  Unter- 
schiedes zwischen  seinem  Stande  und  dem  des  Messer 
Geri,  und  so  schien  es  ihm  wieder  nicht  ziemlich,  daß 
er  sich  herausnehme,  ihnen  zu  trinken  anzubieten. 
Daher  ersah  er  sich  ein  Mittel,  das  Messer  Geri  be- 
wegen sollte,  sich  selber  einzuladen. 

Zu  dem  Zwecke  setzte  er  sich  jeden  Morgen  gegen 
die  Stunde,  zu  welcher  er  Messer  Geri  mit  den  Ge- 
sandten erwarten  zu  können  glaubte,  mit  einer  schnee- 
weißen Jacke  und  einer  frisch  gewaschenen  Schürze  be- 
kleidet, so  daß  er  eher  einem  Müller  als  einem  Bäcker 
ähnlich  sah,  vor  seine  Haustür  und  ließ  einen  neuen 
verzinnten  Eimer  voll  frischen  Wassers  und  ein  kleines, 
gleichfalls  neues  Krüglein  seines  guten  weißen  Weines 
nebst  zwei  Bechern,  so  blank,  daß  sie  von  Silber  schienen, 
vor  sich  hinstellen.  Wenn  er  sie  dann  kommen  sah, 
begann  er,  nachdem  er  ein-  oder  zweimal  den  Mund 
sich  ausgespült  hatte,  mit  solchem  Ausdruck  des  Be- 
hagens von  diesem  seinen  Weine  zu  trinken,  daß  er 
wohl  selbst  einem  Toten  Appetit  gemacht  hätte.  Nach- 
dem Messer  Geri  dies  den  ersten  und  zweiten  Morgen 
mit  angesehen  hatte,  sagte  er  am  dritten:  „Nun,  Cisti, 
wie  ist  er?  Ist  er  gut?" 

Cisti  erhob  sich  sogleich  und  antwortete:  „Herr,  gut 
ist  er;  wie  gut  aber,  kann  ich  Euch  nicht  deutlich 
machen,  wenn  Ihr  ihn  nicht  versuchen  wollt." 

Sei  es  nun,  daß  die  Beschaffenheit  des  Wetters  in 
Messer  Geri  Durst  erweckt  hatte  oder  daß  eine  mehr 
als  gewöhnliche  Anstrengung  oder  auch  das  behagliche 
Trinken  des  Cisti  die  Ursache  sein  mochte,  genug,  er 
sagte,  zu  den  Botschaftern  gewandt,  mit  Lächeln:  „Ihr 
Herren,   es  wird   gut   sein,   daß   wir   den   Wein   dieses 

l32 


wackeren  Mannes  versuchen;  vielleicht  finden  wir  ihn 
von  solcher  Beschaffenheit,  daß  wir  es  nicht  zu  be- 
reuen haben." 

Und  somit  gingen  sie  gemeinsam  zum  Cisti.  Dieser 
aber  ließ  aus  der  Backstube  eine  saubere  Bank  her- 
beibringen und  lud  sie  zum  Sitzen  ein.  Zu  ihren 
Dienern  indessen,  die  sich  schon  darüber  hermachen 
wollten,  die  Becher  zu  waschen,  sagte  er:  „Kameraden, 
bleibt  mir  davon  weg  und  überlaßt  es  mir,  diesen  Dienst 
zu  besorgen.  Ich  verstehe  mich  ebensogut  darauf,  Wein 
in  die  Becher  zu  schenken,  als  Brot  in  den  Ofen  zu 
schieben;  euch  aber  hat  niemand  Hoffnung  gemacht, 
einen  Tropfen  zu  kosten." 

Während  er  so  sprach,  schwenkte  er  selbst  vier  schöne 
und  neue  Becher  aus,  ließ  ein  kleines  Krüglein  seines 
guten  Weines  bringen  und  schenkte  Herrn  Geri  und 
seinen  Gefährten  fleißig  zu  trinken  ein. 

Alle  erkannten  den  Wein  für  den  besten,  den  sie  seit 
langer  Zeit  getrunken,  und  lobten  ihn  höchlich,  weshalb 
denn  auch  Messer  Geri,  solange  die  Gesandten  verweilten, 
fast  jeden  Morgen  dorthin  zum  Trinken  ging. 

Als  aber  diese  ihre  Geschäfte  beendet  hatten  und 
wieder  abreisen  sollten,  richtete  Messer  Geri  noch  ein 
glänzendes  Festmahl  her,  zu  dem  er  viele  der  ange- 
sehendsten  Bürger  zu  kommen  bat.  Auch  den  Gisti  hatte 
er  laden  lassen;  doch  wollte  dieser  auf  keine  Weise 
der  Einladung  folgen.  Da  hieß  Messer  Geri  einen  seiner 
Diener,  um  eine  Flasche  jenes  Weines  (so  daß  auf  jeden 
Gast  ein  halbes  Glas  voll  käme,  das  beim  ersten  Gericht 
gereicht  werden  sollte)  zum  Gisti  gehen.  Der  Diener, 
den  es  vielleicht  verdrießen  mochte,  daß  er  noch  nie 
von  dem  Weine  zu  trinken  bekommen  hatte,  nahm  eine 
große  Flasche  auf  den  Weg. 

i33 


Als  Cisti  dies  gewahr  wurde,  sagte  er  :  „Mein  Sohn, 
Messer  Geri  schickt  dich  nicht  zu  mir." 

Zwar  versicherte  der  Diener  wiederholt,  daß  es  sich 
wirklich  so  verhalte;  da  er  indessen  von  Gisti  keine 
andere  Antwort  erlangen  konnte,  kehrte  er  zu  Messer 
Geri  zurück  und  berichtete  ihm  Gistis  Worte. 

Messer  Geri  erwiderte:  „Gehe  nur  noch  einmal  hin 
und  sage,  daß  ich  allerdings  dich  schicke,  und  wenn 
er  dir  dann  wieder  so  antwortet,  so  frage  ihn,  wohin 
er  denn  sonst  glaubt,  daß  ich  dich  schicke." 

Zu  Cisti  zurückgekommen,  sagte  der  Diener:  „Ge- 
wiß, Cisti,  Messer  Geri  schickt  mich  doch  zu  dir." 

Darauf  antwortete  Cisti:  „Gewiß,  mein  Sohn,  er  tut 
es  nicht." 

„Nun,"  sagte  der  Diener,  „wohin  schickt  er  mich 
denn  sonst?" 

„Zum  Arno,"  entgegnete  Cisti. 

Der  Diener  berichtete  diese  Antwort  dem  Messer 
Geri,  und  sobald  dieser  sie  vernahm,  gingen  ihm  die 
geistigen  Augen  auf,  und  er  sagte  zum  Diener:  „Laß 
mich  doch  die  Flasche  sehen,  die  du  hingetragen  hast." 
Als  er  sie  gesehen  hatte,  fügte  er  hinzu:  „Cisti  spricht 
die  Wahrheit."  Dann  schalt  er  den  Diener  und  hieß 
ihn  eine  angemessenere  Flasche  nehmen. 

Kaum  erblickte  Cisti  diese,  so  sagte  er:  „Nun  sehe 
ich  wohl,  daß  er  dich  zu  mir  schickt,"  und  füllte  sie 
ihm  bereitwillig.  Noch  an  demselben  Tage  aber  ließ 
er  ein  Fäßlein  voll  ähnlichen  Weines  füllen  und  dies 
in  der  Stille  dem  Messer  Geri  ins  Haus  tragen.  Bald 
darauf  ging  er  dann  selber  zu  ihm  und  sagte:  „Herr, 
ich  wünschte  nicht,  daß  Ihr  glaubtet,  die  große  Flasche 
von  heute  morgen  habe  mich  erschreckt.  Es  schien  mir 
nur,  als  ob  Ihr  vergessen  hättet,  was  ich  Euch  durch 

i34 


meine  kleinen  Krüglein  früher  angedeutet  hatte,  näm- 
lich, daß  dies  kein  Wein  für  Bediente  sei,  und  darum 
wollte  ich  Euch  heute  früh  daran  erinnern.  Weil  ich 
aber  nicht  mehr  der  Wächter  meines  Weines  zu  sein 
gedenke,  habe  ich  meinen  ganzen  Vorrat  Euch  zuge- 
schickt; nun  tut  damit  in  Zukunft,  was  Euch  beliebt." 
Messer  Geri  hielt  das  Geschenk  des  Cisti  äußerst  wert  ; 
er  dankte  ihm  so  angelegentlich,  wie  es  solcher  Gabe 
geziemte,  und  achtete  ihn  von  da  an  stets  als  Ehren- 
mann und  Freund. 


i35 


DRITTE  GESCHICHTE 

Monna  Nanna  de'  Pulci  gebietet  durch  eine  treffende  Ant- 
wort den  unziemlichen  Reden  des  Bischofs  von  Florenz 
Stillschweigen. 

Als  Pampinea  ihre  Geschichte  beendet  hatte  und  so- 
wohl die  Antwort  wie  die  Freigebigkeit  des  Cisti  von 
allen  höchlichst  gelobt  worden  waren,  beliebte  es  der 
Königin,  daß  Lauretta  in  der  Reihenfolge  des  Er- 
zählens fortfahre;  diese  aber  begann  freudigen  Mutes 
also  zu  reden: 

Ihr  holdseligen  Mädchen,  so  wie  früher  Filomela,  so 
hat  jetzt  eben  Pampinea  sehr  wahr  gesprochen,  wenn 
sie  beide  unseren  Mangel  an  Fähigkeit  und  das  Ver- 
dienst glücklicher  Einfälle  hervorhoben.  Wenn  deshalb 
hierauf  zurückzukehren  nicht  mehr  nötig  erscheint,  so 
will  ich  zu  dem,  was  über  die  Witzworte  bereits  ge- 
sagt ist,  nur  noch  das  eine  euch  in  Erinnerung  bringen, 
daß  sie  für  den  Hörer  zwar  beißend  sein  müssen,  aber 
nur  in  der  Art,  wie  ein  Lamm,  nicht  wie  ein  Hund 
beißt;  denn  bissen  sie  gleich  einem  Hunde,  so  wären 
sie  nicht  mehr  ein  Witzwort,  sondern  eine  Grobheit. 
Diesem  Erfordernis  genügten  vollkommen  sowohl  die 
Worte  der  Madonna  Oretta  als  die  Entgegnung  des  Cisti. 
Wird  indessen  ein  solcher  Einfall  als  Antwort  gesagt, 
so  scheint  der  Antwortende,  der  gleich  einem  Hunde 
beißt,  alsdann  nicht  zu  tadeln,  wenn  er  zuvor  selber 
von  solch  einem  Hunde  gebissen  war,  obwohl  ihn  Tadel 
getroffen  haben  würde,  wenn  er  ohne  solchen  Anlaß 
in  gleicher  Weise  geredet  hätte.  Darum  soll  man  wohl 
acht  haben,  wie,  wann  und  mit  wem,  nicht  minder  aber 
auch,  wo  man  sich  auf  Scherzreden  einläßt.  Diese  Rück- 
sichten beachtete  einst  ein  Prälat  unserer  Stadt  so  wenig, 
daß  er  keinen  geringeren  Stich  empfing,  als  er  aus- 

i36 


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teilte,   wie   ich  euch   dies  in   einer   kleinen   Geschichte 
erzählen  will. 

Um  die  Zeit,  als  Messer  Antonio  d'Orso,  ein  weiser 
und  ehrenwerter  Kirchenfürst,  Bischof  von  Florenz  war, 
kam  ein  catalonischer  Edelmann,  Messer  Diego  della 
Ratta  genannt,  als  Marschall  des  Königs  Robert  nach 
Florenz.  Schön  von  Gestalt,  wie  er  war,  und  dabei  ein 
arger  Weiberjäger,  fand  er  unter  anderen  Florentiner 
Frauen  besonders  an  einer  Behagen,  die  ein  schönes 
Weib  und  die  Enkelin  des  Bruders  jenes  Bischofs  war. 
Als  er  nun  vernahm,  daß  ihr  Mann,  obwohl  aus  gutem 
Hause,  von  schmutzigem  Geize  und  niedriger  Ge- 
sinnung sei,  einigte  er  sich  mit  ihm,  daß  er  ihm  fünf- 
hundert Goldgulden  gab  und  dieser  ihn  dafür  eine  Nacht 
bei  seiner  Frau  schlafen  lassen  solle. 

Obwohl  es  nun  wider  den  Willen  der  Frau  geschah, 
so  schlief  er  doch  bei  ihr  ;  dann  aber  gab  er  dem  Manne 
fünfhundert  Silbergroschen,  wie  sie  damals  im  Umlauf 
waren,  die  er  inzwischen  hatte  vergolden  lassen.  Binnen 
kurzem  kam  dies  zu  aller  Ohren,  und  jener  elende 
Wicht  hatte  Schaden  und  Spott  zugleich  zu  tragen;  der 
Bischof  aber  als  ein  verständiger  Mann  stellte  sich,  als 
ob  er  nichts  von  der  Geschichte  wisse. 

Inzwischen  verkehrten  der  Bischof  und  der  Marschall 
viel  miteinander,  und  so  geschah  es,  daß  an  einem  Jo- 
hannistage, als  beide  auf  der  Straße,  wo  das  Wettrennen 
abgehalten  wird,  nebeneinander  herritten  und  die  Damen 
beschauten,  der  Bischof  eine  junge  Frau  gewahr  wurde, 
welche  die  gegenwärtige  Pest  erst  vor  kurzem  uns  ge- 
raubt hat.  Ihr  Name  war  Monna  Nanna  de'  Pulci,  eine 
Base  des  Messer  Alesso  Rinucci,  und  ihr  alle  solltet  sie 
wohl  gekannt  haben.  Zu  jener  Zeit  nun  war  sie  eine 
jugendfrische  und  schöne  Frau,  die  den  Mund  auf  dem 

i37 


rechten  Flecke  hatte  und  dreisten  Sinnes  war,  auch  erst 
seit  kurzem  sich  in  der  Nähe  von  Porta  San  Piero  ver- 
heiratet hatte. 

Schon  von  Ferne  zeigte  der  Bischof  sie  dem  Mar- 
schall; als  sie  aber  näher  gekommen  waren,  legte  er 
diesem  die  Hand  auf  die  Schulter  und  sagte:  „Nanna, 
was  dünkt  dir  von  dem  hier?  Traust  du  dich  wohl,  mit 
ihm  fertig  zu  werden?" 

Nanna  glaubte,  daß  diese  Worte  ihre  Sittsamkeit 
einigermaßen  antasteten  und  geeignet  seien,  sie  in  der 
Meinung  der  Zuhörer,  und  es  waren  deren  viele,  zu 
beflecken.  Indessen  hielt  sie  es  für  geratener,  nicht  so- 
wohl jene  Makel  von  sich  abzuwaschen,  als  Stich  auf 
Stich  wiederzugeben,  und  antwortete  deshalb  sogleich: 
„Herr,  vielleicht  möchte  er  nicht  mit  mir  fertig  werden  ; 
jedenfalls  aber  müßte  er  mir  gutes  Geld  geben  !" 

Als  der  Marschall  und  der  Bischof  diese  Antwort  ver- 
nahmen, fühlten  sie  sich  beide  betroffen  :  der  eine  wegen 
der  Unsittlichkeit,  deren  er  sich  gegen  die  Enkelin  des 
Bruders  des  Bischofs  schuldig  gemacht,  der  andere,  weil 
ihm  diese  Schmach  in  der  Enkelin  des  eigenen  Bruders 
angetan  war.  Und  so  ritten  sie  denn  beide,  ohne  einander 
anzuschauen,  schweigsam  und  beschämt  ihres  Weges, 
ohne  während  jenes  Tages  weiter  etwas  zu  reden. 

Der  jungen  Dame  aber  gereichte  es  nicht  zum  Vor- 
wurf, daß  sie,  nachdem  sie  angegriffen  war,  durch  einen 
beißenden  Einfall  den  Angriff  von  sich  abwehrte. 


i38 


VIERTE  GESCHICHTE 

Chichibio,  der  Koch  des  Currado  Gianfigliazzi,  verwandelt 

zu   seinem   Heile   durch   einen   schnellen  Einfall   den  Zorn 

des  Currado  in  Gelächter  und  rettet  sich  von  dem  Unheil, 

mit  dem  Currado  ihn  schon  bedroht  hatte. 

Schon  schwieg  Lauretta,  und  die  Nanna  war  von  allen 
auf  das  höchste  belobt  worden,  als  die  Königin  der  Nei- 
file  fortzufahren  gebot;  diese  aber  begann  also  zu 
sprechen  : 

Ihr  liebevollen  Mädchen,  obwohl  ein  schneller  Ver- 
stand oft  dem  Redenden  je  nach  den  Umständen 
treffende  und  kluge  Einfälle  an  die  Hand  gibt,  so 
kommt  doch  auch  das  Glück  zu  Zeiten  den  Furchtsamen 
zu  Hilfe  und  legt  ihnen  plötzlich  Worte  auf  die  Zunge, 
wie  sie  der  Sprechende  in  ruhigen  Augenblicken  nie 
zu  ersinnen  vermocht  hätte.  Davon  denke  ich  euch 
durch  meine  Geschichte  ein  Beispiel  zu  geben. 

Currado  Gianfigliazzi  war,  wie  jede  von  euch  gesehen 
und  gehört  haben  kann,  stets  ein  gar  freigebiger  und 
gastfreier  Edelbürger  unserer  Stadt,  der,  seiner  nich- 
tigeren Leistungen  für  jetzt  zu  geschweigen,  ein  ritter- 
liches Leben  führte  und  fortwährend  sich  mit  Hunden 
und  Jagdvögeln  vergnügte.  Als  dieser  nun  eines  Tages 
unfern  von  Peretola  mit  einem  seiner  Falken  einen 
Kranich  getötet  und  diesen  jung  und  fett  gefunden  hatte, 
schickte  er  ihn  seinem  guten  Koche,  der  Chichibio  hieß 
und  ein  Venetianer  war,  und  ließ  ihm  sagen,  daß  er 
den  Kranich  zum  Abendessen  braten  und  wohl  zu- 
bereiten solle.  Chichibio,  der  aussah  wie  ein  leichtsinniger 
Geselle  und  ein  solcher  auch  wirklich  war,  rupfte  den 
Kranich,  steckte  ihn  an  den  Spieß  und  begann  ihn 
sorgsam  zu  braten.  Fast  war  er  schon  gar  und  ver- 
breitete einen  starken  Duft,  als  eine  Dirne  aus  der  Um- 

i3q 


gegend,  die  Brunetta  genannt  ward  und  in  die  Chichibio 
gewaltig  verliebt  war,  in  die  Küche  trat. 

Kaum  roch  sie  den  Duft  des  Bratens  und  sah  den 
Kranich  am  Spieß,  so  gab  sie  dem  Chichibio  die  besten 
Worte,  daß  er  ihr  einen  Schenkel  davon  abschneiden 
möchte. 

Chichibio  antwortete  singend:  „Ihr  kriegt  ihn  nicht, 
Donna  Brunetta,  Ihr  kriegt  ihn  nicht  von  mir." 

Darüber  wurde  denn  die  Dirne  ganz  zornig  und  sagte  : 
„Nun,  so  wahr  wie  Gott  lebt,  gibst  du  mir  nicht  einen 
Schenkel,  so  kriegst  du  von  mir  nie  das  kleinste,  wozu 
du  Lust  hast." 

Schließlich  löste  Chichibio,  um  sein  Mädchen  nicht 
böse  zu  machen,  wirklich  einen  Schenkel  ab  und  gab 
ihn  ihr. 

Als  indessen  dem  Currado  und  seinen  paar  Gästen 
der  Kranich  mit  nur  einem  Schenkel  vorgesetzt  wurde, 
ließ  jener  voll  Erstaunens  den  Chichibio  rufen  und 
fragte  ihn,  was  mit  dem  anderen  Schenkel  geworden  sei. 

Der  lügenhafte  Venetianer  antwortete  sogleich  :  „Herr, 
die  Kraniche  haben  nur  einen  Schenkel  und  ein  Bein." 

Zornig  erwiderte  Currado:  „Was  zum  Teufel,  sie 
hätten  nur  einen  Schenkel  und  ein  Bein  ?  Als  ob  das  der 
erste  Kranich  wäre,  den  ich  zu  sehen  bekomme!" 

Chichibio  aber  blieb  dabei  und  sagte:  „Herr,  es  ist 
so,  wie  ich  Euch  sage,  und  beliebt  es  Euch,  so  werde  ich 
es  Euch  an  den  Lebendigen  zeigen." 

Currado  wollte  aus  Rücksicht  auf  die  Fremden,  die  er 
bei  sich  hatte,  den  Wortwechsel  nicht  weiter  fortsetzen; 
darum  antwortete  er  :  „Weil  du  denn  sagst,  daß  du  mir 
an  den  Lebendigen  zeigen  willst,  was  ich  allerdings  noch 
nie  gesehen  noch  von  anderen  gehört  habe,  so  will  ich 
morgen  früh  die  Sache  mir  ansehen;  aber  beim  Leibe 

i4o 


Christi  schwöre  ich  dir,  wenn  es  sich  nachher  anders 
findet,  so  lasse  ich  dich  in  einer  Weise  zurichten,  daß 
du,  solange  du  lebst,  meines  Namens  zu  deinem  Unheil 
gedenken  sollst." 

So  endete  der  Streit  für  diesen  Abend;  am  anderen 
Morgen  aber  erhob  sich  Currado,  den  der  Ärger  nicht 
hatte  schlafen  lassen,  mit  Tagesanbruch  noch  gar  zornig 
und  gebot,  daß  die  Pferde  vorgeführt  würden.  Dann 
ließ  er  den  Chichibio  auf  ein  Rößlein  aufsitzen  und  ritt 
mit  ihm  nach  einer  Niederung,  wo  man  am  Flußufer 
in  der  Morgenfrühe  Kraniche  anzutreffen  pflegte  ;  beim 
Reiten  aber  sagte  er:  „Nun  werden  wir  ja  sehen,  wer 
gestern  gelogen  hat:  ich  oder  du." 

Als  Chichibio  gewahr  wurde,  daß  Currados  Zorn  noch 
fortdauerte  und  daß  er  seiner  Lüge  überführt  werden 
sollte,  ohne  daß  er  sich  zu  rechtfertigen  gewußt  hätte, 
ritt  er  in  der  größten  Angst  von  der  Welt  hinter  Currado 
her  und  wäre,  wenn  es  sich  hätte  tun  lassen,  gern  ge- 
flohen. Da  sich  aber  dazu  keine  Gelegenheit  bot,  blickte 
er  bald  vor-  und  bald  rückwärts  und  bald  zu  den  Seiten, 
und  alles,  was  ihm  vor  die  Augen  kam,  sah  ihm  aus, 
wie  Kraniche,  die  auf  zwei  Beinen  ständen.  Endlich, 
als  sie  schon  in  die  Nähe  des  Flusses  gelangt  waren,  er- 
blickte er  früher  als  einer  der  übrigen  am  Ufer  wohl 
ein  Dutzend  Kraniche,  die  sämtlich,  wie  diese  Vögel 
schlafend  zu  tun  pflegen,  auf  einem  Beine  standen.  Da 
zeigte  er  sie  schleunigst  dem  Messer  Currado  und  rief: 
„Herr,  nun  könnt  Ihr  deutlich  erkennen,  daß  ich  Euch 
gestern  abend  die  Wahrheit  sagte,  wenn  ich  behauptete, 
die  Kraniche  hätten  nur  einen  Schenkel  und  ein  Bein. 
Seht  nur  die  alle,  die  dort  stehen." 

Als  sie  Currado  gewahr  wurde,  sagte  er  :  „Warte  nur  ; 
ich  will  dir  schon  zeigen,  daß  sie  ihrer  zwei  haben." 

i4i 


Und  indem  er  ein  wenig  näher  herantritt,  rief  er: 
„Oh,  oh!" 

Aufgeschreckt  durch  diesen  Ruf,  ließen  die  Kraniche 
alsbald  den  anderen  Fuß  nieder  und  flogen  nach  wenigen 
Schritten  alle  davon.  Da  wandte  Currado  sich  zu  Chichi- 
bio  und  sagte  :  „Nun,  du  Näscher,  was  dünkt  dir,  glaubst 
du  nun,  daß  sie  zwei  Beine  haben?" 

Cichibio  war  ganz  bestürzt  und,  ohne  selbst  zu  wissen, 
woher  die  Antwort  ihm  komme,  entgegnete  er:  „Frei- 
lich, Herr,  freilich  ;  aber  dem  Kranich  von  gestern  habt 
Ihr  nicht  „Oh,  oh!"  zugerufen;  hättet  Ihr  es  getan, 
so  würde  er  sicher  das  andere  Bein  ebenso  ausgestreckt 
haben,  wie  vorhin  diese  hier  taten." 

Den  Currado  ergötzte  diese  Antwort  so  sehr,  daß  all 
sein  Zorn  sich  in  Scherz  und  Lachen  verkehrte  und  er 
antwortete  :  „Chichibio,  du  hast  recht,  das  hätte  ich  frei- 
lich tun  sollen." 

So  also  entging  Chichibio  durch  eine  schnelle  und 
scherzhafte  Erwiderung  seinem  Unheil  und  wandte  den 
Zorn  seines  Herrn  von  sich  ab. 


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FÜNFTE   GESCHICHTE 

Messer  Forese  da  Rabatta  und  Meister  Giotto,  der  Maler, 
die  beide  von  Mugello  zurückkommen,  machen  sich  gegen- 
seitig über  ihr  unscheinbares  Äußere  lustig. 

Als  Neifile  schwieg  und  die  Damen  an  der  Antwort 
des  Chichibio  noch  vieles  Gefallen  geäußert  hatten,  be- 
gann Pamfilo  nach  dem  Gebot  der  Königin  also  zu 
reden  : 

Oft  geschieht  es,  daß,  wie  Fortuna  nach  dem,  was 
Pampinea  eben  erst  uns  gezeigt  hat,  zuzeiten  die 
größten  Schätze  der  Fähigkeit  und  des  Verstandes  unter 
schlechten  Gewerben  verbirgt,  so  auch  die  Natur  die  er- 
staunlichsten Geistesgaben  mit  den  abschreckendsten 
Körperformen  paart.  Deutlich  erhellt  dies  an  zweien 
unsere  Mitbürger,  von  denen  ich  euch  in  Kürze  zu 
erzählen  gedenke. 

Der  eine  von  ihnen,  der  Messer  Forese  Rabatta  ge- 
nannt wurde,  war  von  so  kleinem  und  mißgestaltetem 
Körperwuchse  und  hatte  ein  so  plattgedrücktes  Gesicht 
mit  aufgeworfener  Nase,  daß  der  häßlichste  unter  den 
Baronci  es  für  eine  Schmach  gehalten  haben  würde, 
mit  ihm  zu  tauschen  ;  dennoch  aber  war  er  von  so  tiefer 
Einsicht  in  wesentlichen  Dingen,  daß  er  von  vielen  kun- 
digen Männern  eine  Fundgrube  des  bürgerlichen  Rechts 
genannt  wurde. 

Der  Name  des  anderen  war  Giotto,  und  mit  so  vor- 
züglichen Anlagen  war  er  begabt,  daß  die  Natur,  die 
die  Mutter  aller  Dinge  ist,  deren  fortwährendes  Ge- 
deihen der  Himmel  durch  sein  unablässiges  Kreisen  ver- 
mittelt, nichts  hervorbringt,  daß  er  nicht  mit  Griffel, 
Feder  oder  Pinsel  dem  Urbilde  so  ähnlich  darzustellen 
gewußt  hätte,  daß  es  nicht  als  ein  Abbild,  sondern  als 
die  Sache  selbst  erschienen  wäre;  weshalb  denn  der  Ge- 

i43 


sichtssinn  der  Menschen  nicht  selten  irregeleitet  wurde 
und  für  wahr  hielt,  was  nur  gemalt  war.  Mit  Recht 
kann  man  ihn  als  einen  der  ersten  Sterne  des  floren- 
tiner  Ruhmes  bezeichnen;  denn  er  ist  es  gewesen,  der 
die  Kunst,  die  jahrhundertelang  unter  den  Irrtümern 
derer  wie  begraben  lag,  die  durch  ihr  Malen  mehr  die 
Augen  der  Unwissenden  zu  kitzeln,  als  der  Einsicht  der 
Verständigen  zu  genügen  bestrebt  waren,  wieder  zu 
neuem  Lichte  erhoben  hat;  und  um  so  mehr  kann  man 
es,  da  er  mit  der  größten  Bescheidenheit  jenen  Ruhm 
sich  erwarb,  indem  er,  obwohl  ein  Meister  aller  derer, 
die  in  dieser  Beschäftigung  lebten,  es  dennoch  stand- 
haft ablehnte,  Meister  genannt  zu  werden.  Mit  um  so 
hellerem  Glänze  schmückte  ihn  aber  diese  Bezeichnung, 
mit  je  größerer  Gier  diejenigen  sie  sich  anmaßten,  die 
viel  weniger  von  der  Kunst  verstanden  als  er  oder  seine 
Schüler.  So  groß  nun  aber  auch  seine  Kunst  war,  so 
war  er  dennoch  der  Gestalt  und  den  Gesichtszügen  nach 
um  nichts  schöner  als  Messer  Forese. 

Um  nun  zu  meiner  Geschichte  zu  kommen,  so 
sage  ich  : 

Messer  Forese  sowohl  wie  Giotto  hatte  seine  Be- 
sitzungen im  Mugello.  Nun  war  jener  um  die  Zeit,  da 
die  Gerichte  Sommerferien  haben,  dorthin  gereist,  um 
die  seinigen  in  Augenschein  zu  nehmen,  und  als  er  zu- 
fällig auf  einem  unscheinbaren  Rößlein  heimwärtsritt, 
traf  er  auf  den  schon  gedachten  Giotto,  der  gleichfalls 
seine  Güter  besichtigt  hatte  und  nun  nach  Florenz  heim- 
kehrte. Giotto  aber  war  in  keinem  Stücke  besser  beritten 
oder  bekleidet  als  jener,  und  so  setzten  sie  denn,  wie  es 
zwei  bejahrten  Leuten  geziemt,  langsamen  Schrittes  mit- 
einander ihre  Reise  fort.  Da  geschah  es,  wie  wir  dies  im 
Sommer   oftmals   gesehen   haben,  daß  ein    plötzlicher 


Regen  sie  überfiel,  so  daß  sie,  so  schnell  sie  vermochten, 
sich  in  das  Haus  eines  Landmannes  flüchteten,  der  mit 
ihnen  beiden  bekannt  und  befreundet  war.  Inzwischen 
gewährte  der  Regen  keine  Hoffnung  nachzulassen,  und 
da  beide  noch  denselben  Tag  nach  Florenz  wollten,  liehen 
sie  sich  von  dem  Bauer  zwei  alte  Mäntel,  wie  man  sie  in 
der  Romagna  trägt,  und  da  keine  besseren  zu  haben 
waren,  auch  noch  zwei  Hüte,  die  vor  Alter  ganz  ab- 
getragen waren,  und  mit  diesen  machten  sie  sich  auf 
den  Weg. 

Nachdem  sie  eine  Weile  geritten  waren,  hatte  der 
Regen  sie  völlig  durchnäßt,  auch  waren  durch  das 
Spritzen,  das  bei  nassem  Wetter  die  Pferde  durch  ihre 
Fußtritte  vollführen,  ihre  Anzüge  ganz  beschmutzt  und 
sowohl  dieses  als  jenes  trug  nicht  dazu  bei,  ihren  Aufzug 
anständiger  erscheinen  zu  lassen.  Inzwischen  aber  hatte 
das  Wetter  sich  ein  wenig  aufgehellt,  und  so  begannen 
sie,  nachdem  sie  lange  Zeit  schweigsam  nebeneinander 
hergeritten  waren,  miteinander  Gespräche  zu  führen. 

Als  nun  Messer  Forese  des  Weges  ritt  und  dem  Giotto 
zuhörte,  der  trefflich  zu  reden  wußte,  betrachtete  er 
ihn  seitwärts  von  Haupt  bis  zu  den  Füßen  und  um  und 
um,  und  wie  er  ihn  in  allen  Stücken  so  unscheinbar  und 
übelaussehend  fand,  begann  er,  ohne  zu  bedenken, 
welche  Figur  er  selber  machte,  zu  lachen  und  sagte: 
„Giotto,  wenn  jetzt  ein  Fremder,  der  dich  nie  gesehen 
hätte,  uns  hier  entgegenkäme,  kannst  du  dir  wohl 
denken,  daß  der  dich  für  den  ersten  Maler  der  Welt,  wie 
du  es  doch  bist,  erkennen  würde?" 

Sofort  antwortete  Giotto:  „Messer,  wohl  glaube  ich, 
daß  er  mich  dafür  erkennen  würde,  sobald  er,  nach- 
dem er  Euch  angesehen,  es  für  möglich  hielte,  daß  Ihr 
das  Abc  könntet." 

Ili  10  i45 


Messer  Forese  erkannte  aus  dieser  Antwort  sein  Un- 
recht und  sah  sich  mit  einer  Münze  bezahlt,  die  der 
von  ihm  verkauften  Ware  völlig  entsprach. 


i46 


T.UI.  JV.  tj>. 


Tardieu  \.fc 


SECHSTE    GESCHICHTE 

Michele   Scalza    beweist   einigen    jungen   Leuten,    daß   die 

Baronci   das   adligste  Geschlecht  in   der  Welt  und   in   der 

Maremma  sind,  und  gewinnt  damit  eine  Mahlzeit. 

Laut  lachten  die  Damen  über  Giottos  treffende  Ant- 
wort, als  die  Königin  der  Fiammetta  fortzufahren  ge- 
bot, und  diese  folgendermaßen  zu  reden  begann: 

Daß  Pamfilo  vorhin  die  Baronci  erwähnte,  welche 
ihr,  liebe  Mädchen,  vielleicht  nicht  kennt,  hat  mir  eine 
Geschichte  in  Erinnerung  gebracht,  die,  ohne  von  unserer 
Aufgabe  abzugehen,  dartut,  wie  alt  ihr  Adel  sei,  und 
die  ich  euch  zu  erzählen  gedenke. 

Noch  ist  es  nicht  gar  lange  her,  daß  in  unserer  Stadt 
ein  junger  Mann,  namens  Michele  Scalza,  lebte,  der  der 
spaßhafteste  und  ergötzlichste  Geselle  von  der  Welt  war 
und  immer  die  neuesten  Geschichten  bei  der  Hand  hatte. 
Deshalb  sahen  denn  die  jungen  Florentiner,  so  oft  sie 
eine  muntere  Gesellschaft  veranstalteten,  es  besonders 
gern,  wenn  sie  ihn  dafür  gewinnen  konnten.  Als  er  nun 
eines  Tages  mit  einigen  anderen  zu  Mont'  Ughi  war, 
geschah  es,  daß  sich  unter  ihnen  ein  Streit  entspann, 
welches  unter  den  Florentiner  Geschlechtern  wohl  das 
edelste  und  älteste  sei.  Einige  sagten,  die  Uberti,  andere 
die  Lamberti;  dieser  nannte  die  eine  Familie  und  jener 
eine  andere,  ein  jeder  nach  seinem  Verständnis. 

Während  Scalza  ihnen  zuhörte,  hub  er  zu  lächeln 
an  und  sagte:  „Geht  doch,  geht,  ihr  Tröpfe,  die  ihr 
seid;  ihr  wißt  alle  nicht,  was  Ihr  redet.  Das  edelste  Ge- 
schlecht und  das  älteste,  nicht  nur  in  Florenz,  sondern 
auf  der  ganzen  Welt  und  auch  noch  in  der  Maremma 
sind  die  Baronci,  und  darüber  sind  die  Philosophen  und 
jeder  andere,  der  sie  kennt,  so  wie  ich  sie  kenne,  schon 
lange  einig.  Damit  ihr  aber  nicht  etwa  denkt,  ich  rede 

i47 


von  jemand  anderem,  so  sage  ich  euch,  daß  ich  die 
Baronci  von  Santa  Maria  Maggiore  meine,  die  eure 
Nachbarn  sind." 

Die  jungen  Leute  hatten  wirklich  geglaubt,  daß  er 
etwas  anderes  sagen  wollte;  bei  diesen  letzten  Worten 
aber  lachten  sie  ihm  alle  ins  Gesicht  und  sprachen: 
„Du  willst  uns  zum  Narren  haben;  als  ob  wir  die  Ba- 
ronci nicht  so  gut  kennten  wie  du." 

„Nein";  sagte  Scalza,  „bei  den  heiligen  Affenkehlien, 
das  will  ich  nicht.  Ich  sage  die  Wahrheit,  und  wenn 
einer  unter  euch  Lust  hat  und  will  eine  Mahlzeit  wetten 
für  sechs  Mann,  die  der  Gewinner  sich  nach  Belieben 
aussuchen  kann,  so  setze  ich  gern  dagegen.  Und  noch 
mehr  will  ich  tun:  ich  will  mich  dem  Ausspruch  von 
jedwedem  unterwerfen,  den  Ihr  haben  wollt." 

Da  sagte  einer  von  den  anderen,  der  Neri  Mannini 
hieß:  „Nun,  ich  bin's  zufrieden,  die  Mahlzeit  zu  ge- 
winnen." 

Hierauf  einigten  sich  beide,  daß  Piero  di  Fiorentino, 
in  dessen  Hause  sie  sich  eben  befanden,  Schiedsrichter 
sein  solle,  und  gingen  sofort  zu  ihm  hin;  die  anderen 
aber  folgten  ihnen  alle,  um  zu  sehen,  wie  Scalza  die 
Wette  verlieren  würde  und  ihn  dann  zum  besten  zu 
haben. 

Nachdem  sie  dem  Piero  ihre  Wette  erzählt  hatten, 
hörte  dieser,  der  ein  verständiger  junger  Mann  war, 
zuerst,  was  Neri  vorzubringen  hatte,  und  wandte  sich 
sodann  mit  den  Worten  zum  Scalza:  „Nun,  wie  willst 
du  jetzt  beweisen,  was  du  behauptest?"  Scalza  ant- 
wortete: „Wie?  Mit  solchen  Gründen  will  ich  es  be- 
weisen, daß  nicht  nur  du,  sondern  jeder,  der  es  jetzt 
leugnet,  selber  zugestehen  soll,  daß  ich  die  Wahrheit 
sage.  Ihr  wißt,  daß  die  Geschlechter  um  so  adliger  sind, 

i48 


je  älter  sie  sind,  und  das  war  ja  auch  vorher  eurer 
aller  Meinung.  Sind  nun  die  Baronci  älter  als  irgendein 
anderes  Geschlecht,  so  sind  sie  auch  am  adligsten.  Wenn 
ich  euch  also  beweise,  daß  sie  die  älteste  Familie  sind, 
so  habe  ich  ohne  Zweifel  die  Wette  gewonnen. 

„Ihr  müßt  wissen,  daß  unser  Herrgott  die  Baronci 
zu  einer  Zeit  gemacht  hat,  wo  er  erst  angefangen  hatte, 
malen  zu  lernen;  alle  anderen  Menschen  sind  aber  erst 
geschaffen,  als  unser  Herrgott  das  Malen  schon  konnte. 
Um  zu  sehen,  daß  ich  die  Wahrheit  sage,  so  gebt  nur 
einmal  auf  die  Baronci  und  auf  andere  Leute  acht. 
Während  ihr  alle  anderen  mit  wohlgebildeten  Gesichtern 
und  richtigem  Verhältnis  der  Teile  seht,  könnt  ihr 
wahrnehmen,  daß  von  den  Baronci  der  eine  ein  über- 
mäßig langes  und  schmales  Gesicht  hat  und  dafür  die 
gewaltig  lange  Nase,  jener  eine  kurze;  das  Kinn  eines 
dritten  steht  weit  vor  und  ist  nach  oben  gekrümmt,  die 
großen  Kinnbacken  aber  gleichen  denen  eines  Esels. 
Ja,  es  gibt  deren,  die  ein  großes  und  ein  kleines  Auge 
haben,  und  bei  denen  das  eine  höher  steht  als  das  andere, 
kurz,  ihre  Gesichter  sehen  ganz  so  aus,  wie  die,  welche  die 
Kinder  machen,  wenn  sie  erst  eben  anfangen,  zeichnen 
zu  lernen.  So  ergibt  sich  denn,  wie  ich  euch  sagte, 
gar  deutlich,  daß  unser  Herrgott  sie  gemacht  hat,  als 
er  erst  malen  lernte.  Daraus  folgt  aber,  daß  sie  älter 
sind  als  die  anderen  Geschlechter,  also  auch  adliger." 

Daß  die  Baronci  wirklich  so  aussehen,  war  sowohl 
dem  Piero,  der  Schiedsrichter  sein  sollte,  als  dem  Neri, 
der  um  die  Mahlzeit  gewettet  hatte,  und  jedem  der 
anderen  erinnerlich.  Daher  fingen  sie  denn  bei  dem 
spaßhaften  Grunde,  den  Scalza  vorbrachte,  sämtlich  zu 
lachen  an  und  versicherten,  wie  aus  einem  Munde,  Scalza 
habe  recht,  die  Mahlzeit  gebühre  ihm  und  die  Baronci 

i49 


seien  zweifellos  das  adligste  und  älteste  Geschlecht,  das 
man  nicht  nur  in  Florenz,  sondern  in  der  ganzen  Welt 
oder  in  der  Maremma  finden  könne. 

Mit  gutem  Grunde  sagte  also  Pamfilo  vorhin,  als  er 
die  Mißgestaltung  von  Messer  Foreses  Gesicht  bezeich- 
nen wollte,  daß  er  selbst  im  Vergleich  mit  einem  der 
Baronci  noch  für  häßlich  gegolten  haben  würde. 


i5o 


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Lanperctir 


SIEBENTE  GESCHICHTE 

Madonna  Filippa  wird  vor  Gericht  gefordert,  weil  ihr  Mann 

sie   mit   ihrem  Geliebten   betroffen;  durch   ihre  geschickte 

und  scherzhafte  Antwort  kommt  sie  aber  frei  und  veranlaßt 

eine  Abänderung  des  Stadtrechts. 

Fiammetta  schwieg  bereits,  und  noch  lachte  ein  jeder 
über  den  wunderlichen  Grund,  durch  den  Scalza  den 
Adel  der  Baronci  über  alle  anderen  erhoben  hatte,  als 
die  Königin  dem  Filostrato  zu  erzählen  gebot.  Dieser 
aber  begann  also  zu  reden: 

Gut  reden  zu  können,  ihr  ehrenwerten  Damen,  ist 
bei  jeder  Gelegenheit  ein  schönes  Ding,  am  schönsten 
aber  dünkt  mich  diese  Redegabe,  wenn  sie  sich  da  be- 
währt, wo  die  Notwendigkeit  sie  dringend  erfordert. 
Diese  Geschicklichkeit  besaß  eine  Edelfrau,  von  der  ich 
euch  zu  erzählen  denke,  in  solchem  Maße,  daß  sie  nicht 
nur  bei  ihren  Zuhörern  Lachen  und  Heiterkeit  er- 
weckte, sondern,  wie  ihr  vernehmen  werdet,  sich  selber 
aus  den  Schlingen   eines  schimpflichen   Todes  erlöste. 

In  der  Stadt  Prato  bestand  einst  das  in  Wahrheit 
ebenso  grausame  wie  tadelnswerte  Gesetz,  daß  eine  Ehe- 
frau, die  ihr  Mann  beim  Ehebruch  mit  einem  Geliebten 
betroffen  hätte,  ohne  den  geringsten  Unterschied  ganz 
ebenso  verbrannt  werden  sollte,  wie  diejenige,  die  dabei 
ertappt  wäre,  daß  sie  sich  dem  ersten  Besten  für  Geld 
preisgegeben  hätte.  Während  dieses  Gesetz  noch  in  Kraft 
war,  geschah  es,  daß  eine  adlige  und  schöne  Frau,  die 
Madonna  Filippa  hieß  und  verliebter  war  als  irgendeine 
andere,  eines  Nachts  in  ihrer  Kammer  von  ihrem  Manne 
Rinaldo  dei  Pugliesi  in  den  Armen  des  Lazzarino  de 
Guazzagliotri,  eines  jungen  und  schönen  Edelmannes 
aus  derselben  Stadt,  betroffen  wurde,  den  sie  liebte  wie 
ihr  eigenes  Leben.  Bei  diesem  Anblick  geriet  Rinaldo  so 

i5i 


außer  sich,  daß  er  sich  kaum  bezwingen  konnte,  nicht 
über  sie  herzufallen  und  sie  zu  töten  ;  und  wäre  er  nicht 
wegen  der  Folgen  besorgt  gewesen,  so  hätte  er  dem  Un- 
gestüm seines  Zornes  gehorcht  und  also  getan.  So  aber 
enthielt  er  sich  zwar  dieses  Verlangens,  nicht  aber  davon, 
daß  er,  was  ihm  selbst  zu  vollstrecken  verboten  war, 
von  dem  grausamen  pratenser  Gesetze  begehrte,  nämlich 
den   Tod  seiner  Frau. 

Da  er  nun  ziemlich  ausreichendes  Zeugnis  hatte,  um 
den  Fehltritt  der  Frau  zu  beweisen,  verklagte  er  sie, 
ohne  besseren  Rat  anzunehmen,  sobald  es  Tag  geworden 
war,  und  ließ  sie  vor  das  Gericht  fordern.  Die  Frau, 
die  gar  kühnen  Mutes  war,  wie  man  dies  bei  allen 
zu  finden  pflegt,  die  in  wahrhafter  Liebe  entbrannt 
sind,  beharrte,  so  nachdrücklich  ihr  auch  von  vielen 
Freunden  und  Verwandten  abgeredet  wurde,  bei  dem 
Vorsatz,  zu  erscheinen  und  lieber  mit  dem  Geständnis 
der  Wahrheit  starken  Geistes  zu  sterben,  als  auf  feiger 
Flucht  wegen  ihres  Ausbleibens  in  der  Verbannung 
zu  leben  und  sich  dadurch  eines  so  edlen  Geliebten  un- 
wert zu  bekennen,  wie  derjenige  war,  in  dessen  Armen 
sie  die  vorige  Nacht  verbracht  hatte. 

So  erschien  sie  denn  in  stattlicher  Begleitung  von 
Frauen  und  Männern,  die  sämtlich  ihr  zu  leugnen  rieten, 
vor  dem  Podestà  und  fragte  diesen  mit  furchtlosem 
Blick  und  fester  Stimme,  was  er  von  ihr  begehre. 

Als  der  Podestà  sie  ins  Auge  faßte  und  gewahr  wurde, 
wie  schön  sie  sei  und  von  wie  edlem  Anstände,  als  er 
zugleich  aus  ihren  Worten  entnahm,  welch  hohen  Sinn 
sie  hege,  fing  er  an,  Mitleiden  für  sie  zu  empfinden 
und  zu  besorgen,  daß  sie  Dinge  bekennen  möchte,  um 
derenwillen  er,  wenn  er  die  Ehre  nicht  einbüßen  wollte, 
genötigt  wäre,  sie   zum   Tode  zu  verurteilen.   Deshalb 

IÖ2 


sagte  er  zu  ihr,  da  er  doch  nicht  umhin  konnte,  sie 
um  dasjenige  zu  befragen,  was  ihr  schuld  gegeben  war  : 
„Madonna,  wie  Ihr  seht,  ist  Rinaldo,  Euer  Mann,  hier 
gegenwärtig  und  beklagt  sich  über  Euch,  die  er  mit 
einem  anderen  Manne  im  Ehebruch  betroffen  zu  haben 
behauptet.  Er  begehrt  nun,  daß  ich  Euch  einem  be- 
stehenden Gesetze  zufolge  dafür  mit  dem  Tode  be- 
strafe ;  ich  kann  dies  aber  nur  dann  tun,  wenn  Ihr  selbst 
Euch  schuldig  bekennt.  Habt  denn  also  wohl  acht,  wie 
Ihr  antwortet  und  sagt  mir,  ob  das  wahr  ist,  dessen  Euer 
Mann  Euch  beschuldigt." 

Hierauf  antwortete  die  Dame,  ohne  die  Fassung  irgend 
zu  verlieren,  mit  heiterer  Stimme:  „Messer,  es  beruht 
vollkommen  auf  Wahrheit,  daß  Rinaldo  mein  Ehemann 
ist  und  daß  er  diese  vergangene  Nacht  mich  in  Lazza- 
rinos  Armen  gefunden  hat,  in  denen  ich,  wie  ich  nie- 
mals leugnen  werde,  aus  wahrer  und  inniger  Liebe, 
die  ich  für  ihn  hege,  oftmals  geweilt  habe.  Unzweifel- 
haft aber  wißt  Ihr,  daß  die  Gesetze  gemeinsam  sein 
und  unter  Zustimmung  derer  beschlossen  werden  müssen, 
die  sie  betreffen.  So  verhält  es  sich  aber  nicht  mit  diesem 
Gesetze,  das  allein  den  armen  Weibern  Zwang  anlegt, 
obwohl  sie  doch  weit  besser  als  die  Männer  mehreren 
zugleich  zu  genügen  imstande  sind.  Außerdem  hat,  als 
dieses  Gesetz  erlassen  wurde,  nicht  nur  keine  Frau  ihre 
Einwilligung  dazu  gegeben,  sondern  ebensowenig  ist 
irgendeine  darum  befragt  worden  ;  mit  Recht  also  kann 
man  es  aus  diesen  Gründen  ein  arges  Gesetz  nennen. 
Wollt  Ihr  indessen,  meinem  Leben  und  Eurem  Gewissen 
zum  Schaden,  Euch  dazu  hergeben,  dessen  Vollstrecker 
zu  sein,  so  steht  dies  in  Eurem  Belieben;  bevor  Ihr 
jedoch  weiter  vorschreitet  und  irgendein  Urteil  fällt, 
ersuche  ich  Euch,  daß  Ihr  mir  die  kleine  Gunst    er- 

i53 


zeigt,  meinen  Mann  zu  fragen,  ob  ich  jedesmal  und 
so  oft  es  ihm  beliebte,  ohne  einmal  nein  zu  sagen, 
ihm  seine  volle  Lust  an  mir  gewährt  habe  oder  nicht." 

Ohne  die  Frage  des  Podestà  abzuwarten,  antwortete 
Rinaldo  hierauf  alsbald,  daß  die  Frau  ihm  allerdings 
auf  jedes  Begehren  volle  Befriedigung  seiner  Wünsche 
gestattet  habe. 

„Wohlan  denn,"  fuhr  sogleich  die  Dame  fort,  „so 
frage  ich  Euch,  Herr  Podestà,  was  ich,  wenn  er  zu 
jeder  Zeit  sich  genommen  hat,  wessen  er  bedurfte  und 
wonach  ihn  gelüstete,  mit  dem  machen  sollte  oder  noch 
machen  soll,  das  er  übrig  läßt.  Soll  ich  es  vielleicht  den 
Hunden  vorwerfen?  Oder  ist  es  nicht  besser,  es  einem 
Edelmann  zu  gewähren,  der  mich  mehr  lieht  als  sich 
selber,  statt  es  verloren  gehen  und  umkommen  zu 
lassen?" 

Es  waren  zu  diesem  Verhör  einer  so  ausgezeichneten 
und  namhaften  Dame  fast  sämtliche  Bewohner  von  Prato 
herbeigekommen;  alle  aber  riefen,  als  sie  diese  ergötz- 
liche Frage  vernahmen,  nach  vielem  Gelächter,  wie  aus 
einem  Munde,  daß  die  Dame  recht  habe  und  wohl 
spreche.  Bevor  sie  also  noch  von  dort  sich  entfernten, 
veränderten  sie  auf  Anraten  des  Podestà  jenes  unbillige 
Gesetz  und  bestimmten,  daß  es  in  Zukunft  nur  von 
den  Frauen  verstanden  werden  solle,  welche  für  Geld 
sich  gegen  ihre  Männer  vergingen. 

So  verließ  denn  Rinaldo,  beschämt  über  sein  törichtes 
Unternehmen,  das  Gericht;  die  Dame  aber  kehrte  fröh- 
lich und  frei,  als  wäre  sie  vom  Scheiterhaufen  er- 
standen, siegreich  in  ihr  elterliches  Haus  zurück. 


i54 


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ACHTE  GESCHICHTE 

Fresco  rät  seiner  Nichte,  niemals  in  den  Spiegel  zu  sehen, 

wenn  unausstehliche  Leute  zu  sehen  ihr  so  widerwärtig  sei, 

wie  sie  sage. 

Die  Geschichte,  die  Filostrato  erzählt  hatte,  regte  in 
den  Herzen  der  zuhörenden  Mädchen  anfangs  ein  wenig 
Scham,  wovon  die  sittsame  Röte,  mit  der  ihre  Wangen 
sich  färbten,  Zeugnis  gab;  allmählich  aber  schielte  eine 
nach  der  anderen,  und  sie  hörten  dem  Verlauf  der  Ge- 
schichte lächelnd  zu,  des  lauten  Lachens  nur  mit  Mühe 
sich  enthaltend.  Als  endlich  der  Erzähler  zum  Schlüsse 
gediehen  war,  wendete  die  Königin  sich  zu  Emilia  und 
gebot  ihr,  fortzufahren.  Diese  aber  begann,  tief  auf- 
atmend, nicht  anders,  als  ob  sie  erst  vom  Schlafe  er- 
wachte : 

Ihr  holden  Mädchen,  da  eine  Reihe  von  Gedanken, 
die  gar  vieles  in  sich  begreifen,  mich  eine  lange  Weile 
fern  von  hier  entführt  hat,  so  werde  ich,  unserer  Königin 
gehorchend,  mit  einer  viel  kürzeren  Geschichte  mich 
meiner  Schuld  entledigen,  als  ich  vielleicht  getan  haben 
würde,  wenn  mein  Geist  hier  gegenwärtig  gewesen  wäre. 
In  dieser  Geschichte  aber  will  ich  euch  die  törichte  Ver- 
kehrtheit eines  Mädchens  berichten,  die  durch  einen 
beißenden  Einfall  ihres  Onkels  gehörig  wäre  gestraft 
worden,  wenn  sie  nur  hinlängliche  Einsicht  gehabt  hätte, 
um  ihn  zu  verstehen. 

Ein  Mann,  welcher  Fresco  da  Celatico  hieß,  hatte  eine 
Nichte,  die  man  mit  Abkürzung  nur  Cesca  zu  nennen 
pflegte.  Obwohl  nun  diese  recht  hübsch  von  Gestalt  und 
von  Gesichtszügen  war,  so  konnte  man  sie  doch  nicht 
zu  jenen  Engelsbildern  zählen,  denen  wir  nicht  selten 
begegnen;  sie  aber  hielt  sich  für  so  hoch  und  so  er- 
lesen, daß  es  ihr  zur  Gewohnheit  geworden  war,  Männer 

i55 


und  Frauen,  und  was  immer  ihr  vor  die  Augen  kam, 
zu  tadeln,  ohne  daß  sie  dabei  sich  selber  nach  rechtem 
Maße  gewürdigt  hätte.  Dadurch  wurde  sie  denn  mehr 
als  irgendeine  andere  unbequem,  widrig  und  überlästig, 
da  es  unmöglich  war,  ihr  irgend  etwas  recht  zu  machen. 
Bei  dem  allen  war  sie  so  hochmütig,  daß,  selbst  wenn 
sie  zum  Stamme  Karls  des  Großen  gehört  hätte,  es 
dennoch  zu  viel  gewesen  wäre.  Und  wenn  sie  über  die 
Straße  ging,  war  ihr  jeden  Augenblick  irgend  etwas 
nicht  gelegen,  so  daß  sie  nicht  aufhörte,  die  Nase  zu 
rümpfen,  als  ob  von  jedem,  den  sie  sah  oder  der  ihr 
begegnete,  unleidlicher  Gestank  sie  anwehte. 

So  manche  ihrer  mißliebigen  und  widerwärtigen  Ma- 
nieren zu  geschweigen,  geschah  es  indessen  eines  Tages, 
daß  sie,  voll  von  ihren  Unleidlichkeiten,  nach  Hause 
zurückkehrte  und,  während  sie  sich  dort  neben  Fresco 
niedersetzte,  in  einemfort  vor  Ärger  schnaufte. 

Darum  sagte  Fresco  :  „Was  hat  das  zu  bedeuten,  Cesca, 
daß  du  schon  so  früh  nach  Hause  zurückgekehrt  bist, 
während  doch  heute  Festtag  ist?" 

Sie  aber  antwortete  mit  der  albernsten  Ziererei:  „Ja, 
freilich  bin  ich  früh  gekommen  ;  denn  ich  glaube  sicher- 
lich, daß  in  dieser  Stadt  noch  niemals  so  viele  wider- 
wärtige und  unausstehliche  Männer  und  Frauen  bei- 
sammen gewesen  sind,  als  ich  deren  heute  getroffen 
habe.  Da  geht  doch  auch  nicht  einer  über  die  Straße, 
der  mir  nicht  zuwider  wäre  wie  das  böse  Wesen.  Weil  ich 
aber  fest  überzeugt  bin,  daß  in  der  ganzen  Stadt  keine 
Frau  ist,  der  es  so  verhaßt  wäre,  unausstehliche  Leute 
zu  sehen,  als  mir,  bin  ich,  um  diesem  Anblick  zu  ent- 
gehen, so  früh  nach  Hause  gekommen." 

Fresco,  dem  das  hochfahrige  Betragen  seiner  Nichte 
auf  das  äußerste  verhaßt  war,  antwortete:  „Mein  Kind, 

i56 


wenn  die  unausstehlichen  Leute  dir  so  widerwärtig  sind, 
als  du  sagst,  so  besieh  dich,  wenn  du  deines  Lebens 
froh  werden  willst,  ja  niemals  im  Spiegel." 

Sie  aber,  die  hohler  war  als  ein  Schilfrohr  und  an 
Weisheit  dem  Salomo  zu  gleichen  vermeinte,  begriff 
den  Stich  des  Fresco  nicht  besser,  als  ein  Widder  getan 
haben  würde,  und  erwiderte,  sie  gedenke  sich  ebensogut 
im  Spiegel  zu  besehen  als  die  anderen. 

So  verharrte  sie  denn  ferner  in  ihrer  Einfalt  und 
tut  es  heute  noch. 


i57 


NEUNTE  GESCHICHTE 

Guido  Cavalcanti   sagt   einigen   florentiner  Edelleuten,  die 
ihn  überrascht  hatten,  in  versteckter  Weise  die  Wahrheit. 

Als  die  Königin  gewahr  wurde,  daß  Emilia  sich  ihrer 
Pflicht  bereits  entledigt  hatte  und  daß  mit  Ausnahme 
dessen,  der  das  Vorrecht  genoß,  seine  Geschichten  bis 
zuletzt  zu  versparen,  nur  ihr  noch  zu  erzählen  oblag, 
begann  sie  also  zu  reden: 

Obgleich  mir  von  euch,  ihr  anmutigen  Mädchen,  heute 
schon  zwei  oder  mehr  Geschichten  weggenommen  sind, 
von  denen  ich  die  eine  oder  andere  zu  erzählen  ge- 
dachte, so  ist  mir  doch  eine  noch  übrig  geblieben,  deren 
Schluß  ein  bitteres  Wort  enthält,  wie  bis  jetzt  vielleicht 
noch  keins  von  so  tiefem  Sinn  mitgeteilt  wurde. 

Ihr  müßt  wissen,  daß  vor  Zeiten  in  unserer  Stadt 
gar  manche  schöne  und  lobenswerte  Gebräuche  bestan- 
den, von  denen  uns  leider  kein  einziger  geblieben  ist, 
weil  sie  von  dem  Geize,  der  sich  bei  uns  mit  den  Reich- 
tümern fortwährend  gemehrt  hat,  einer  nach  dem 
anderen  vertrieben  sind.  So  war  es  unter  anderem  ge- 
bräuchlich, daß  an  verschiedenen  Orten  von  Florenz 
die  angeseheneren  Bürger  der  umliegenden  Straßen  sich 
versammelten  und  untereinander  eine  Gesellschaft  von 
bestimmter  Anzahl  bildeten.  Dabei  hatte  man  acht,  nur 
solche  aufzunehmen,  die  die  Kosten  füglich  bestreiten 
konnten,  und  heute  richtete  der  eine  für  die  ganze  Ge- 
sellschaft eine  Mahlzeit  aus,  morgen  der  andere,  und 
so  der  Reihe  nach  weiter,  daß  jeden  sein  Tag  traf. 
Häufig  erwiesen  sie  bei  diesen  Zusammenkünften  auch 
ausgezeichneten  Fremden  eine  Ehre,  wenn  solche  nach 
Florenz  kamen,  oder  sie  luden  auch  Einheimische  dazu. 
Auch  hielten  sie  wenigstens  einmal  im  Jahre  gleich- 
förmig gekleidet  einen  Umzug  und  ritten  an  den  vor- 

i58 


6r.u-cht  M 


IcmrcrtmSc 


züglichsten  Tagen  gemeinsam  durch  die  Stadt.  Zuzeiten 
veranstalteten  sie  Waffenspiele;  so  namentlich  an  den 
Hauptfesten  oder  wenn  die  Nachricht  von  einem  Siege 
oder  einem  sonstigen  frohen  Ereignis  eingetroffen  war. 

Unter  diesen  Gesellschaften  war  auch  die  des  Messer 
Betto  Brunelleschi,  in  welche  sowohl  Messer  Betto  als 
seine  Gefährten  Guido,  den  Sohn  des  Messer  Cavalcante 
de'  Cavalcanti  zu  ziehen,  vielfach  und  nicht  ohne  Grund 
sich  bemüht  hatten.  Abgesehen  nämlich,  daß  Guido  einer 
der  besten  Denker  auf  der  Welt  war  und  ein  vorzüglicher 
Kenner  der  natürlichen  Philosophie,  Eigenschaften,  um 
welche  die  Gesellschaft  sich  wenig  kümmerte,  war  er 
ein  ergötzlicher  Gesellschafter  von  den  besten  Sitten  und 
vorzüglicher  Redegabe,  und  was  sich  immer  für  einen 
Edelmann  zu  tun  geziemte,  das  wußte  er  auch,  wenn 
er  es  unternahm,  besser  zu  machen  als  irgendein  anderer. 
Dabei  war  er  äußerst  reich,  und  wenn  er  sich  überzeugt 
hatte,  daß  einer  es  wert  sei,  so  wußte  er  diesen  zu 
ehren,  mehr  als  sich  mit  Worten  sagen  läßt. 

Dem  Messer  Betto  hatte  es  indessen  nie  gelingen 
wollen,  ihn  für  ihre  Gesellschaften  zu  gewinnen,  und 
Betto  wie  seine  Gefährten  suchten  den  Grund  davon 
darin,  daß  Guido,  nicht  selten  ganz  in  seine  Gedanken 
vertieft,  den  Umgang  mit  den  Menschen  mied.  Und 
weil  er  sich  ein  wenig  zu  der  Meinung  der  Epikuräer 
hinneigte,  sagten  die  gemeinen  Leute,  all  sein  Nach- 
denken habe  bloß  zum  Ziel,  auszumitteln,«  ob  sich  nicht 
finden  lasse,  daß  kein  Gott  sei. 

Eines  Tages  war  nun  Guido  von  Orto  San  Michele 
ausgegangen,  hatte  den  Corso  degli  Adimari,  wie  dies 
öfter  sein  Weg  zu  sein  pflegte,  bis  San  Giovanni  ver- 
folgt und  weilte  nun  zwischen  einigen  großen  Marmor- 
grabmälern  (deren  einige  jetzt  in  Santa  Reparata  sind, 

i5q 


viele  andere  aber  noch  um  San  Giovanni  stehen), 
zwischen  den  dort  befindlichen  Porphyrsäulen  und 
zwischen  der  Pforte  von  San  Giovanni,  die  damals 
verschlossen  war.  Da  kam  von  ungefähr  Messer  Betto 
mit  seiner  Gesellschaft  zu  Pferde  über  den  Platz  der 
Santa  Reparata,  und  wie  sie  den  Guido  unter  jenen 
Grabmälern  gewahr  wurden,  sagten  sie  zueinander: 
„Gehen  wir,  ihm  ein  wenig  zuzusetzen!" 

Mit  diesen  Worten  gaben  sie  ihren  Pferden  die  Sporen, 
und  nach  Art  eines  scherzhaften  Überfalls  waren  sie, 
fast  ehe  er  sie  bemerkt  hatte,  um  ihn  her  und  begannen 
zu  ihm  zu  sagen  :  „Guido,  du  verschmähst  es,  an  unserer 
Gesellschaft  teilzunehmen;  wenn  du  nun  aber  heraus- 
gebracht hast,  daß  kein  Gott  sei,  was  willst  du  dann 
davon  haben?" 

Sofort  antwortete  Guido,  der  sich  ganz  von  ihnen 
eingeschlossen  sah:  „Ihr  Herren,  in  eurem  Hause  muß 
ich  mir  gefallen  lassen,  daß  ihr  mir  sagt,  was  euch 
gut  dünkt."  Und  mit  diesen  Worten  stützte  er  die  Hand 
auf  eines  jener  Grabmäler  von  beträchtlicher  Größe, 
und  leicht  wie  er  war,  schwang  er  sich  mit  einem  Satze 
auf  die  andere  Seite  und  eilte,  einmal  ihnen  entschlüpft, 
schnell  von  dannen. 

Jene  Zurückgebliebenen  sahen  sich  eine  Weile  einer 
den  anderen  an  und  sagten,  Guido  müsse  wohl  nicht 
recht  bei  sich  gewesen  sein;  denn  was  er  ihnen  da  ge- 
antwortet habe,  komme  auf  nichts  heraus.  Wo  sie  jetzt 
eben  seien,  hätten  sie  ja  kein  Haar  mehr  zu  sagen,  als 
alle  anderen  Bürger,  und  Guido  nicht  weniger  als 
irgendeiner  von  ihnen. 

Messer  Betto  aber  wandte  sich  zu  ihnen  und  sagte: 
„Ihr  seid  es,  die  nicht  recht  bei  sich  sind,  wenn  ihr 
ihn  nicht  verstanden  habt;  denn  in  wenig  Worten,  und 

160 


ohne  den  Anstand  zu  verletzen,  hat  er  uns  die  größte 
Grobheit  von  der  Welt  gesagt.  Diese  Grabmäler  sind 
ja,  wenn  ihr  wohl  aufmerken  wollt,  die  Häuser  der 
Toten;  denn  in  sie  legt  man  die  Toten,  und  in  ihnen 
weilen  sie.  Diese  nun  nennt  er  unsere  Wohnung,  um 
anzudeuten,  daß  wir  und  alle  anderen  ungelehrten  und 
kenntnislosen  Leute  im  Vergleich  mit  ihm  und  den 
übrigen  als  Tote  zu  achten  sind.  Darum  sagte  er,  wenn 
wir  uns  hier  befänden,  seien  wir  zu  Hause." 

Nun  erst  verstand  ein  jeder,  was  Guido  hatte  sagen 
wollen,  und  beschämt  dadurch,  fielen  sie  ihm  nie  wieder 
zur  Last;  den  Messer  Betto  aber  hielten  sie  in  Zukunft 
für  einen  einsichtigen  und  klugen  Edelmann. 


III  11 


161 


ZEHNTE  GESCHICHTE 

Bruder  Cipolla  verspricht  den  Bewohnern  einer  Landstadt, 

ihnen  eine  Feder  des  Engel  Gabriel  zu  zeigen;  da  er  aber 

an  deren  Stelle  Kohlen  findet,  sagt  er,  sie  seien  von  denen, 

mit  welchen  der  heilige  Laurentius  geröstet  wurde. 

Als  ein  jeder  von  der  Gesellschaft  sich  seiner  Ge- 
schichte entledigt  hatte,  erachtete  Dioneo,  daß  es  nun 
an  ihm  sei,  zu  erzählen.  Ohne  daher  eine  feierliche 
Aufforderung  lange  zu  erwarten,  gebot  er  denen  Still- 
schweigen, die  die  tiefsinnige  Antwort  des  Guido  noch 
zu  loben  fortfuhren  und  begann  mit  folgenden  Worten  : 

Obgleich,  ihr  reizenden  Damen,  mir  das  Vorrecht  ge- 
währt ist,  von  dem,  was  mir  gefällt,  zu  erzählen,  so 
gedenke  ich  mich  doch  heute  nicht  von  dem  Gegen- 
stande zu  entfernen,  den  ihr  sämtlich  in  euren  Ge- 
schichten gar  angemessen  besprochen  habt;  vielmehr 
will  ich,  in  eure  Fußstapfen  tretend,  erzählen,  wie  ge- 
schickt einer  der  Mönche  des  heiligen  Antonius  durch 
eine  schnell  ersonnene  Auskunft  der  Verhöhnung  ent- 
ging, die  zwei  junge  Leute  ihm  zu  bereiten  gedachten. 
Laßt  es  euch  dabei  nicht  verdrießen,  wenn  ich,  um 
die  Geschichte  gehörig  zu  erzählen,  mich  im  Reden  etwas 
ausführlicher  ergehe;  denn,  wollt  ihr  nach  der  Sonne 
sehen,  so  werdet  ihr  bemerken,  daß  sie  noch  auf  halber 
Höhe  steht. 

Wie  ihr  vielleicht  gehört  haben  werdet,  ist  Certaldo 
ein  Burgflecken  der  florentiner  Landschaft,  im  Elsatal 
belegen,  und  obwohl  es  an  Umfang  nur  klein  ist,  war 
es  doch  einst  von  adligen  und  bemittelten  Leuten  be- 
wohnt. Weil  er  nun  hier  vorzügliche  Weide  traf,  pflegte 
ein  Mönch  des  heiligen  Antonius,  welcher  Bruder  Cipolla 
hieß,  lange  Zeit  hindurch  jährlich  einmal  hier  vorzu- 
sprechen, um  die  Almosen  einzusammeln,  die  die  Kurz- 

162 


.Hartenasi  <J'< 


sichtigen  jenen  Mönchen  gewähren;  und  vielleicht  war 
er  nicht  weniger  um  seines  Namens  willen  als  wegen 
sonstiger  Frömmigkeit  willkommen,  da  die  Umgegend 
jenes  Städtchens  Zwiebeln  hervorbringt,  die  durch  ganz 
Toskana  berühmt  sind. 

Bruder  Cipolla  war  untersetzter  Gestalt,  rötlichen 
Haares  und  munteren  Gesichtes  ;  dabei  der  abgefeimteste 
Spitzbube  der  Welt,  und  obwohl  er  keinerlei  Unter- 
richt genossen  hatte,  wußte  er  doch  trefflich  und  ohne 
langes  Besinnen  zu  sprechen,  so  daß  jeder,  der  ihn 
kannte,  ihn  nicht  allein  für  einen  großen  Redekünstler 
gehalten,  sondern  ihn  dem  Tullius  selber  oder  dem 
Quintilian  an  die  Seite  gesetzt  haben  würde.  Auch  war 
er  von  allen  in  der  Umgegend  Gevatter  oder  Freund 
oder  guter  Bekannter. 

Eines  Tages  nun,  als  er  im  Augustmonat  seiner  Ge- 
wohnheit zufolge  nach  Certaldo  gekommen  und  alle 
guten  Männer  und  Weiber  der  umliegenden  Dörfer  zur 
Messe  in  der  Hauptkirche  versammelt  waren,  trat  er, 
als  es  ihm  an  der  Zeit  schien,  hervor  und  sagte  : 

Ihr  Herren  und  ihr  Frauen,  wie  ihr  wißt,  ist  es  euer 
Brauch,  alljährlich  den  armen  Dienern  des  hochadligen 
Heiligen  Herrn  Antonius  von  eurem  Korn  und  eurem 
Weizen,  der  eine  wenig,  der  andere  viel,  je  nach  dem 
Vermögen  und  der  Frömmigkeit  eines  jeden,  zu  spen- 
den, damit  dieser  gebenedeite  Heilige  eure  Ochsen  und 
Esel,  eure  Schweine  und  Schafe  in  seinen  Schutz  nehme. 
Außerdem  pflegt  ihr,  insbesondere  aber  diejenigen  unter 
euch,  die  in  unserer  Brüderschaft  eingeschrieben  sind, 
den  kleinen  Beitrag  zu  entrichten,  den  man  einmal  im 
Jahre  zu  bezahlen  hat.  Um  nun  das  eine  und  das  andere 
einzufordern,  bin  ich  von  meinem  Oberen,  nämlich  dem 
Herrn  Abt,  hierher  gesandt. 

i63 


So  mögt  ihr  denn  zu  diesem  Ende  unter  dem  Segen 
Gottes  heute  nachmittag  nach  drei  Uhr,  wenn  ihr  die 
Glöcklein  läuten  hört,  hier  außerhalb  der  Kirche  euch 
versammeln,  woselbst  ich  euch  die  gewohnte  Predigt 
halten  und  euch  das  Kreuz  zum  Küssen  reichen  werde. 
Außerdem  aber  will  ich,  da  mir  bekannt  ist,  wie  in- 
brünstige Verehrer  des  hochadligen  Heiligen  Herrn  An- 
tonius ihr  alle  seid,  euch  zu  besonderer  Gunst  eine  schöne 
und  hochheilige  Reliquie  zeigen,  die  ich  vor  Zeiten  selber 
aus  dem  heiligen  Lande  jenseits  des  Meeres  hergebracht 
habe.  Dieses  ist  nämlich  eine  der  Federn  des  Erzengels 
Gabriel,  welche  derselbe  in  der  Stube  der  Jungfrau  Maria 
verloren  hat,  als  er  nach  Nazareth  zu  ihr  kam,  um  ihr  zu 
verkündigen."  Mit  diesen  Worten  schwieg  er  und  las 
seine  Messe  weiter. 

Unter  den  vielen  anderen,  die  sich,  während  Bruder 
Cipolla  diese  Sachen  vorbrachte,  in  der  Kirche  befanden, 
waren  auch  ein  paar  junge  Leute,  von  denen  der  eine 
Giovanni  del  Bragoniera,  der  andere  aber  Biagio  Pizzini 
genannt  wurde:  beides  durchtriebene  Käuze.  Als  diese 
nun  über  die  Reliquie  des  Bruders  Cipolla  eine  Weile 
miteinander  gelacht  hatten,  nahmen  sie  sich  vor,  dem 
Mönch,  obwohl  sie  gut  mit  ihm  befreundet  waren  und 
viel  mit  ihm  verkehrten,  in  betreff  dieser  Feder  einen 
Streich  zu  spielen.  Sie  hatten  erfahren,  daß  Bruder 
Cipolla  an  jenem  Morgen  auf  der  Burg  bei  einem  seiner 
Freunde  speiste;  sobald  sie  ihn  also  bei  Tische  wußten, 
gingen  sie  hinunter  nach  der  Landstraße,  wo  das  Wirts- 
haus lag,  in  dem  jener  abgestiegen  war.  Hier  sollte 
nach  ihrer  Abrede  Biagio  sich  mit  dem  Diener  des 
Bruders  Cipolla  in  ein  Gespräch  einlassen,  während 
Giovanni  unter  den  Sachen  des  Mönches  nach  der  Feder 
suchen  und  sie,  was  immer  für  ein  Ding  es  auch  sein 

i64 


möchte,  mitnehmen  wollte,  damit  sie  sähen,  wie  er  sich 
nachher  vor  dem  Volke  herausreden  würde. 

Bruder  Cipolla  hatte  einen  Diener,  den  einige  Guccio 
Trampeltier,  andere  Guccio  Schmutzfink,  noch  andere 
aber  Guccio  Sauigel  nannten.  Dieser  war  nun  ein  so 
jämmerlicher  Wicht,  daß  es  nicht  wahr  ist,  wenn  man 
sagt,  Lippo  Topo  habe  jemals  ebenso  einfältige  Streiche 
gemacht.  Bruder  Cipolla  spaßte  oft  über  ihn  gegen  seine 
Bekannten,  und  dann  pflegte  er  wohl  zu  sagen:  „Mein 
Diener  hat  neun  Eigenschaften  solcher  Art,  daß,  wenn 
eine  von  ihnen,  gleichgültig  welche,  sich  an  Salomo, 
Aristoteles  oder  Seneca  fände,  sie  hinreichen  würde,  um 
deren  Tugenden,  Weisheit  und  heiligen  Wandel  völlig 
wertlos  zu  machen.  Denkt  euch  also,  welch  ein  Mensch 
der  sein  muß,  in  welchem  sich,  obwohl  er  weder  Tugend 
noch  Weisheit  noch  heiligen  Wandel  besitzt,  jene  Eigen- 
schaften alle  neun  beieinander  befinden." 

Da  man  ihn  nun  nicht  selten  fragte,  was  für  neun 
Eigenschaften  das  denn  seien,  so  hatte  er  einen  Vers 
daraus  gemacht,  der  also  lautete: 

Ein  Lügenmaul 

Sehr  fett  und  faul 

Verboßt  in  Trutz 

Und  reich  an  Schmutz; 

Stets  voll  Verdacht 

Und  unbedacht; 

Ein  Feind  der  Pflicht, 

Ein  grober  Wicht, 

Und  was  er  soll,  das  tut  er  nicht. 

„Außerdem,"  pflegte  Bruder  Cipolla  zu  sagen,  „hat 

er  noch  einige  andere  Fehlerchen;  doch  die  wollen  wir 

mit  dem  Mantel  der  christlichen  Liebe  zudecken.  Was 

indessen  an  seinen  seltsamen  Manieren  das  Spaßhafteste 

i65 


ist:  in  jedem  Dorfe,  wohin  er  gerät,  will  er  ein  Weib 
nehmen  und  ein  Haus  mieten,  und,  so  lang  und  schwarz 
und  schmutzig  auch  sein  Bart  ist,  bildet  er  sich  dennoch 
ein,  so  schön  und  so  anmutig  zu  sein,  daß  seiner  Meinung 
nach  alle  Frauenzimmer,  die  ihn  zu  Gesicht  bekommen, 
sich  in  ihn  verlieben,  und  ließe  man  ihn  gewähren,  so 
liefe  er  allen  nach  und  verlöre  Gürtel  und  Kragen. 

Einräumen  muß  ich  indessen,  daß  er  mir  vielfach 
sehr  behilflich  ist;  denn,  so  geheim  auch  jemand  mit 
mir  zu  reden  hat,  so  ist  er  immer  auf  dem  Platze,  um  sich 
sein  Teil  davon  abzuhorchen  ;  und  wenn  ich  vorkommen- 
den Falles  um  etwas  gefragt  werde,  so  ist  er  so  besorgt, 
ob  ich  auch  auf  die  Antwort  gerüstet  sei,  daß  er  jedes- 
mal sich  vordrängt  und  alsbald  ja  oder  nein  für  mich 
antwortet,  wie  es  ihm  eben  gut  dünkt." 

Diesen  Diener  hatte  Bruder  Cipolla  im  Wirtshaus  zu- 
rückgelassen und  ihm  angelegentlich  anbefohlen,  dar- 
auf zu  wachen,  daß  niemand  seine  Sachen,  besonders 
aber  seinen  Quersack  anrühre,  weil  sich  darin  heilige 
Gegenstände  befänden.  Guccio  Schmutzfink  indessen 
weilte  überhaupt  in  der  Küche  noch  lieber  als  die 
Nachtigall  auf  grünem  Zweige;  am  liebsten  aber,  wenn 
er  dort  irgendeine  Magd  witterte.  Nun  hatte  er  in  der 
Wirtsküche  solch  ein  Frauenzimmer  zu  sehen  be- 
kommen, die  dick  und  fett,  klein  und  mißgestaltet  war, 
ein  Paar  Brüste  hatte  wie  zwei  Mistkörbe,  ein  Gesicht, 
als  gehörte  sie  zur  Familie  der  Baronci,  und  dabei 
schmutzig  war,  schmierig  und  eingeräuchert. 

An  diese  nun  machte  er  sich  heran,  nicht  anders  wie 
der  Geier  an  das  Aas,  und  ließ  die  Stube  des  Bruders 
Cipolla  und  dessen  sämtliche  Sachen  in  Stich. 

Obwohl  es  August  war,  setzte  er  sich  zu  ihr,  die  Nuta 
hieß,  ans  Feuer,  fing  ein  Gespräch  mit  ihr  an  und  sagte 

166 


ihr,  daß  er  ein  Edelmann  sei  und  daß  er  Gulden  hätte 
mehr  als  lügenmal  tausend,  die  noch  nicht  einmal  ge- 
rechnet, die  er  anderen  schuldig  sei,  und  daß  er  Gott 
weiß  was  könne  und  verstehe.  Obwohl  nun  seine  Kapuze 
so  schmierig  und  eingesalbt  war,  daß  sie  für  den  großen 
Suppenkessel  von  Altopascio  zur  Würze  gelangt  hätte, 
obwohl  sein  Wams  zerrissen  und  geflickt  war  und  um 
den  Hals  und  unter  den  Achseln  so  glänzend  vor 
Schmutz,  mit  Flecken  von  so  vielerlei  Farben  übersät, 
daß  tartarische  und  indische  Stoffe  nie  buntere  Farben 
zeigten,  obwohl  endlich  seine  Schuhe  völlig  zerrissen 
und  seine  Strümpfe  vielfach  durchlöchert  waren,  so  be- 
kümmerte ihn  dies  alles  nicht  im  mindesten;  vielmehr 
versicherte  er  der  Magd,  nicht  anders,  als  wäre  er  der 
gnädige  Herr  von  Castiglione,  daß  er  sie  neu  bekleiden 
und  ausstatten  und  jener  Knechtschaft,  wo  sie  fremden 
Leuten  dienen  müsse,  ohne  sich  groß  etwas  erwerben 
zu  können,  entheben  und  ihr  Aussichten  auf  glückliche 
Umstände  eröffnen  wolle. 

Mit  so  vielem  Nachdruck  er  aber  auch  dies  alles  und 
noch  viel  anderes  vorbrachte,  so  war  es  doch,  wie  es 
immer  mit  seinen  Unternehmungen  zu  geschehen 
pflegte,  nicht  anders,  als  hätte  er  in  den  Wind  ge- 
sprochen, und  seine  Beredsamkeit  blieb  ohne  Erfolg. 

Die  zwei  jungen  Leute  fanden  sonach  den  Guccio 
Sauigel  mit  der  Nuta  beschäftigt.  Höchlichst  zufrieden 
darüber,  da  sie  nun  halbe  Mühe  zu  haben  glaubten, 
gingen  sie,  ohne  von  jemand  angehalten  zu  werden, 
nach  Bruder  Cipollas  Zimmer,  das  offenstand,  und  das 
erste,  worüber  sie  sich  hermachten,  um  es  zu  durch- 
suchen, war  der  Quersack  des  Mönches,  in  dem  die 
Feder  stecken  mußte.  Wirklich  fanden  sie  denn  auch 
hier  in  einem  großen,  vielfach  mit  Zindeltaffett  um- 

167 


wickelten  Bündel  ein  kleines  Kästchen  und  in  diesem, 
nachdem  sie  es  geöffnet  hatten,  eine  der  Schwanzfedern 
eines  Papageien,  von  der  sie  mit  Recht  vermuteten, 
daß  es  dieselbe  sein  werde,  die  er  den  Certaldesen  zu 
zeigen  versprochen  hatte. 

In  der  Tat  konnte  er  zu  jener  Zeit  dergleichen  dem 
Volke  wohl  weismachen;  denn  noch  waren  die  glän- 
zenden Spielereien  aus  Ägypten  nur  zu  einem  kleinen 
Teil  nach  Toskana  herübergebracht,  während  sie  später 
zum  größten  Unheil  von  ganz  Italien  in  unzähliger 
Menge  bei  uns  eingeführt  wurden.  Waren  sie  aber  da- 
mals überhaupt  noch  wenig  bekannt,  so  wußten  die 
Bewohner  jenes  Landstädtchens  so  gut  als  nichts  von 
ihrem  Dasein,  und  solange  die  anspruchslose  Einfalt 
unserer  Altvordern  bestand,  hatte  doch  wohl  die  große 
Mehrzahl  nie  den  Namen  eines  Papageien  nennen  ge- 
hört, geschweige  denn  einen  solchen  gesehen. 

Zufrieden,  die  Feder  gefunden  zu  haben,  nehmen  die 
zwei  jungen  Leute  sie  zu  sich  und  füllten  das  Kästchen, 
um  es  nicht  leer  zu  lassen,  mit  einigen  Kohlen  an, 
die  sie  in  einer  Ecke  des  Zimmers  liegen  sahen.  Dann 
verschlossen  sie  es,  brachten  alles  wieder  in  denselben 
Zustand,  wie  sie  es  gefunden  hatten  und  kehrten,  ohne 
von  jemand  bemerkt  zu  sein,  mit  ihrer  Feder  vergnügt 
nach  Hause  zurück,  wo  sie  voller  Neugier  erwarteten, 
was  Bruder  Cipolla  sagen  werde,  wenn  er  Kohlen  statt 
der  Feder  fände. 

Inzwischen  gingen  die  Männer  und  die  einfältigen 
Weiblein,  die  in  der  Kirche  gewesen  waren  und  ver- 
nommen hatten,  daß  sie  nachmittags  drei  Uhr  eine  Feder 
des  Engels  Gabriel  zu  sehen  bekommen  sollten,  nach 
beendeter  Messe  wieder  heim,  und  ein  Nachbar  teilte 
seinem  Nachbarn,  eine  Gevatterin  der  anderen  die  Nach- 

168 


rieht  mit.  So  strömten  denn,  nachdem  alle  zu  Mittag 
gegessen  hatten,  im  sehnsüchtigen  Verlangen,  die  Feder 
zu  sehen,  so  viele  Männer  und  Weiber  in  dem  Burg- 
flecken zusammen,  daß  sie  kaum  darin  Platz  fanden. 

Bruder  Cipolla  erhob  sich  indessen,  nachdem  er  gut 
zu  Mittag  gegessen  und  demnächst  ein  wenig  ge- 
schlafen hatte,  bald  nach  drei  Uhr  von  seinem  Lager 
und  ließ  auf  die  Nachricht,  daß  schon  eine  große  Menge 
von  Landleuten  herbeigeströmt  sei,  um  die  Feder  zu 
sehen,  dem  Guccio  Schmutzfink  sagen,  er  möge  mit 
den  Glöcklein  hinaufkommen  und  den  Quersack  mit- 
bringen. 

Nur  mit  Mühe  vermochte  dieser  sich  von  der  Küche 
und  der  Nuta  loszureißen;  doch  tat  er  es  und  langte 
keuchend  und  außer  Atem  mit  den  begehrten  Gegen- 
ständen oben  an,  weil  das  viele  Wassertrinken  ihm  den 
Leib  so  aufgetrieben  hatte.  Dann  stellte  er  sich  auf  das 
Geheiß  des  Bruders  Cipolla  an  die  Kirchtür  und  läutete 
seine  Glöcklein  nach  Kräften. 

Bruder  Cipolla  aber  begann,  als  er  alles  Volk  bei- 
sammen sah,  ohne  irgend  zu  bemerken,  daß  jemand 
über  seinen  Sachen  gewesen  war,  die  Predigt  und  sagte 
gar  vielerlei,  das  ihm  für  seine  Absichten  dienlich  schien. 
Als  es  nun  endlich  so  weit  war,  daß  er  die  Feder  des 
Engels  Gabriel  zeigen  sollte,  sprach  er  zuerst  mit  großer 
Feierlichkeit  das  Confiteor,  dann  ließ  er  zwei  Wachs- 
fackeln anzünden,  nahm  sich  die  Kapuze  ab,  wickelte 
langsam  den  Taffet  auf  und  zog  das  Kästchen  hervor. 
Hierauf  sagte  er  noch  einige  Worte  zum  Lob  und  Preis 
des  Engels  Gabriel  und  seiner  Reliquie  und  öffnete 
alsdann  das  Kästchen. 

Als  er  dies  mit  Kohlen  gefüllt  sah,  fiel  sein  Verdacht 
nicht  etwa  auf  Guccio  Trampeltier;  denn  er  wußte  zu 

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wohl,  daß  der  zu  so  etwas  nicht  den  Witz  hatte.  Auch 
verwünschte  er  ihn  nicht,  daß  er  das  Kästchen  nicht 
besser  vor  den  Händen  anderer,  von  denen  dieser  Streich 
ausgegangen  war,  verwahrt  hatte;  auf  sich  selbst  aber 
fluchte  er  im  stillen,  daß  er  die  Obhut  seiner  Sachen 
dem  Guccio  anvertraut  hatte,  von  dem  er  doch  selber 
wußte,  wie  er  war:  „Unbedacht,  ein  Feind  der  Pflicht, 
ein  fauler  Wicht,  und  was  er  soll,  das  tut  er  nicht."  — 
Ohne  indessen  die  Farbe  zu  wechseln,  erhob  Bruder 
Cipolla  Augen  und  Hände  gen  Himmel  und  sagte,  so  daß 
alle  ihn  vernahmen:  „0  Gott,  gepriesen  sei  immerdar 
deine  Allmacht!"  Dann  machte  er  das  Kästchen  wieder 
zu  und  sagte,  zum  Volke  gewandt  : 

„Ihr  Herren  und  ihr  Frauen,  ihr  müßt  wissen,  daß 
ich  zu  einer  Zeit,  wo  ich  noch  sehr  jung  war,  von  meinem 
Oberen  in  jene  Länder  geschickt  wurde,  wo  die  Sonne 
aufgeht.  Dabei  war  mir  der  ausdrückliche  Auftrag  er- 
teilt, den  Porzellanprivilegien  nachzuforschen,  welche 
stempeln  zu  lassen  zwar  nichts  kostet,  die  aber  dennoch 
anderen  Leuten  von  weit  größerem  Nutzen  sind  als  uns. 
Zu  diesem  Zwecke  machte  ich  mich  von  Venedig  aus 
auf  den  Weg,  passierte  die  Vorstadt  Griechenland  und 
ritt  dann  durch  das  Königreich  Algarbien  über  Bagdad 
nach  Parione,  von  wo  ich  nicht  ohne  beträchtlichen 
Durst  nach  Sardellien  gelangte.  Doch  zu  was  soll  ich 
euch  die  Länder,  die  ich  durchreist  habe,  einzeln  auf- 
zählen? Genug,  ich  setzte  über  den  Arm  des  heiligen 
Georg  und  kam  nach  Lügeland  und  Trügeland,  welche 
Gegenden  von  zahlreichen  Völkern  dicht  bewohnt  sind. 
Von  hier  aus  erreichte  ich  Täuschenhausen,  woselbst 
ich  viele  von  unseren  Klostergeistlichen  und  eine  Menge 
von  Mönchen  anderer  Orden  antraf,  die  sämtlich  die 
Beschwerden  um  Gottes  willen  mieden  und,  solange  sie 

170 


nur  ihren  Vorteil  dabei  fanden,  sich  um  fremde  Müh- 
seligkeiten wenig  kümmerten,  auch  in  jenen  Ländern 
nie  anderes  Geld  ausgaben  als  ungeprägtes. 

Demnächst  gelangte  ich  in  das  Land  der  Abruzzen, 
wo  Männer  und  Frauen  in  Holzschuhen  auf  die  Berge 
klettern  und  die  Schweine  mit  ihren  eigenen  Kaidaunen 
bekleiden.  Nur  wenig  weiterhin  traf  ich  Leute,  welche 
das  Brot  an  Stöcken  und  den  Wein  in  Säcken  trugen. 
Von  diesen  kam  ich  dann  in  das  Wurmgebirge,  wo 
alles  Wasser  abwärtsfließt,  und  in  kurzem  drang  ich 
dort  so  weit  vor,  daß  ich  nach  Pastinakisch  Indien 
kam,  wo,  wie  ich  euch  bei  dem  Gewände  zu- 
schwöre, daß  ich  trage,  ich  das  Federvieh  in  der  Luft 
fliegen  sah,  was  allerdings  für  jeden,  der  es  nicht  selbst 
gesehen  hat,  kaum  glaublich  ist.  Daß  ich  euch  indessen 
darin  keine  Unwahrheit  sage,  das  kann  mir  Maso  del 
Saggio  bezeugen,  der  ein  großer  Kaufmann  ist  und  den 
ich  dort  antraf,  wie  er  Nüsse  knackte  und  die  Schalen 
nach  der  Elle  verkaufte. 

„Da  ich  indessen  nicht  finden  konnte,  was  ich  eigent- 
lich suchte,  indem  man  von  dort  aus  zu  Wasser  Weiter- 
reisen muß,  so  kehrte  ich  wieder  um  und  kam  in  jenes 
heilige  Land,  wo  das  alte  Brot  in  einem  Sommer  jähre 
vier  Heller  gilt,  das  frische  aber  umsonst  gegeben  wird. 
Hier  fand  ich  den  ehrwürdigen  Pater  Messer  Tumir- 
nichts  Wennsbeliebtius,  den  verdienstvollen  Patriarchen 
von  Jerusalem.  Dieser  wollte  aus  Ehrerbietung  für  das 
Gewand  des  hochachtigen  Heiligen  Messer  Antonius,  das 
ich  von  jeher  getragen  habe,  mich  alle  die  heiligen 
Reliquien  sehen  lassen,  die  er  bei  sich  führte.  Deren 
war  nun  so  viel,  daß,  wenn  ich  sie  euch  alle  herzählen 
wollte,  ich  auf  mehrere  Miglien  weit  nicht  fertig  würde. 
Um  euch  indessen  durch  mein  Schweigen  nicht  zu  sehr 

171 


zu  betrüben,  will  ich  euch  wenigstens  von  einigen  be- 
richten. 

Zuvörderst  zeigte  er  mir  den  Finger  des  Heiligen 
Geistes,  der  noch  so  frisch  und  unverwest  war  als  je 
zuvor.  Sodann  die  Locken  des  Seraphs,  der  dem  heiligen 
Franziskus  erschien,  den  Fingernagel  eines  Cherubs  und 
eine  der  Rippen  des  heiligen  Hoc  est  porcus.  Ferner 
einige  Kleidungsstücke  des  heiligen  Katholistenglaubens, 
ein  paar  Strahlen  des  Sternes,  der  den  drei  Weisen  im 
Morgenlande  erschien,  ein  Fläschchen  von  dem  Schweiß, 
den  der  heilige  Michael  vergossen,  als  er  mit  dem  Teufel 
kämpfte,  eine  Kinnbacke  des  Todes,  an  dem  der  heilige 
Lazarus  gestorben  ist,  und  noch  viele  andere. 

„Weil  ich  mich  nun  gefällig  gegen  ihn  bewies  und 
ihm  einen  der  Abhänge  des  Monte  Morello  in  italie- 
nischer Übersetzung  und  einige  Kapitel  des  Capretium, 
die  er  schon  lange  zu  haben  gewünscht  hatte,  abließ, 
so  teilte  er  auch  mir  von  seinen  heiligen  Reliquien  mit. 
Er  schenkte  mir  einen  der  Zähne  des  heiligen  Kreuzes, 
ferner  in  einem  zierlichen  Fläschchen  ein  wenig 
Glockenklang  vom  Salomonischen  Tempel,  sodann  die 
Feder  des  Engels  Gabriel,  von  der  ich  euch  schon  ge- 
sagt habe,  einen  der  Holzschuhe  des  heiligen  Gherardo 
von  Villamagna,  den  ich  erst  ganz  vor  kurzem  in  Florenz 
dem  Gherardo  von  Bonsi  gegeben  habe,  der  eine  große 
Ehrfurcht  dafür  hegt.  Endlich  aber  schenkte  er  mir 
einige  von  den  Kohlen,  mit  denen  der  hochheilige  Mär- 
tyrer Sankt  Laurentius  geröstet  wurde. 

Alle  diese  heiligen  Gegenstände  führe  ich  nun  an- 
dächtig bei  mir  und  habe  sie  auch  sämtlich  hier  am 
Orte.  Indessen  hat  mein  Oberer  bis  jetzt  und  bis  ihre 
Echtheit  nicht  dargetan  wäre,  mir  bisher  niemals  ge- 
stattet, sie  vorzuweisen.  Jetzt  aber  hat  er  sich  teils  durch 

172 


einige  Wunder,  die  sie  bewirkt  haben,  und  teils  durch 
Briefe,  die  er  von  dem  Patriarchen  empfangen  hat, 
überzeugt,  daß  sie  sind,  wofür  sie  ausgegeben  wurden, 
und  mir  deshalb  die  Erlaubnis  erteilt,  sie  zu  zeigen. 
Und  so  sehr  bin  ich  besorgt,  sie  einem  anderen  anzu- 
vertrauen, daß  ich  sie  überall  mithinnehme;  nament- 
lich verwahre  ich  die  Feder  des  Engels  Gabriel,  damit 
sie  keinen  Schaden  nehme,  in  einem  Kästchen  und  die 
Kohlen,  mit  denen  der  heilige  Laurentius  gebraten 
wurde,  in  einem  anderen.  Nun  sind  diese  beiden  Käst- 
chen einander  so  ähnlich,  daß  ich  schon  öfter  das  eine 
mit  dem  anderen  verwechselt  habe,  und  so  ist  es  mir 
denn  auch  heute  geschehen.  Während  ich  glaubte,  das 
Kästchen  mitgebracht  zu  haben,  in  dem  sich  die  Feder 
befindet,  habe  ich  das  andere  mit  den  Kohlen  des 
heiligen  Laurentius  ergriffen. 

Aber  ich  halte  dafür,  daß  dies  keineswegs  ein  zu- 
fälliger Irrtum,  sondern  daß  es  vielmehr  sicherlich  eine 
Fügung  Gottes  gewesen  ist,  welcher  meine  Hände  das 
Kästchen  mit  den  Kohlen  ergreifen  ließ,  um  mich  da- 
durch zu  erinnern,  daß  in  zwei  Tagen  das  Fest  des 
heiligen  Laurentius  falle.  Darum  nämlich  ließ  Gott  mich 
statt  der  Feder,  die  ich  mit  mir  nehmen  wollte,  die 
gebenedeiten  Kohlen  ergreifen,  die  durch  den  Saft  aus- 
gelöscht wurden,  der  von  jenem  hochheiligen  Leibe 
niedertroff,  weil  es  seine  Absicht  war,  daß,  indem  ich 
euch  die  Kohlen  vorzeige,  mit  denen  er  einst  geröstet 
wurde,  ich  in  euren  Herzen  die  fromme  Verehrung  neu 
entzünde,  die  ihr  diesem  Märtyrer  schuldig  seid. 

„Darum,  meine  Kinder,  die  Gott  segnen  möge,  nehmet 
Eure  Mützen  ab  und  tretet  in  Ehrfurcht  und  Andacht 
alle  heran,  diese  Kohlen  zu  schauen.  Vorher  aber  sollt 
ihr  wissen,  daß,  wer  mit  diesen  Kohlen  in  dem  Zeichen 

i73 


des  Kreuzes  berührt  ist,  während  des  ganzen  folgenden 
Jahres  sicher  ist,  daß  kein  Feuer  ihm  auch  nur  so 
viel  anhaben  kann,  daß  er  es  fühle." 

Nachdem  er  also  gesprochen  und  einen  Lobgesang 
auf  den  heiligen  Laurentius  gesungen  hatte,  öffnete  er 
das  Kästchen  und  zeigte  die  Kohlen.  Einige  Zeitlang 
beschaute  die  einfältige  Menge  sie  mit  ehrfurchtsvollem 
Erstaunen;  bald  aber  drängten  sie  sich  ungestüm  um 
den  Bruder  Cipolla  und  verlangten  unter  viel  größeren 
Opfern,  als  sie  sonst  zu  geben  gewohnt  waren,  inständig, 
daß  er  einen  jeden  mit  den  heiligen  Kohlen  berühre. 

Infolge  dieser  Bitten  nahm  Bruder  Cipolla  eine  jener 
Kohlen  nach  der  anderen  zur  Hand  und  malte  ihnen 
auf  ihre  Jacken  und  weißen  Kamisole  und  den  Weibern 
auf  ihre  Kopftücher  so  große  Kreuze,  als  nur  irgend 
darauf  Platz  hatten.  Dabei  versicherte  er  ihnen,  daß, 
wie  er  schon  oftmals  erfahren,  ebensoviel  als  von  diesen 
Kohlen  durch  das  Aufmalen  der  Kreuze  abgerieben 
werde,  in  dem  Kästchen  von  selbst  wieder  nachwachse. 

So  machte  Bruder  Cipolla  nicht  ohne  seinen  erheb- 
lichen Nutzen  die  Einwohner  von  Certaldo  zu  Kreuz- 
rittern ;  denjenigen  aber,  die  ihm  einen  Possen  zu  spielen 
gedachten,  indem  sie  ihm  seine  Feder  fortnahmen, 
spielte  er  durch  seine  Geistesgegenwart  einen  ebenso 
großen.  Beide  waren  bei  der  Predigt  anwesend,  und 
als  sie  hörten,  wie  geschickt  er  sich  aus  der  Verlegenheit 
zu  ziehen  wußte  und  wie  weit  er  dazu  ausholte  und  mit 
was  für  Redensarten,  gerieten  sie  in  ein  solches  Lachen, 
daß  sie  die  Maulsperre  bekommen  zu  müssen  glaubten. 
Nachdem  aber  die  Volksmenge  sich  verlaufen  hatte, 
gingen  sie  zu  ihm,  entdeckten  ihm  unter  dem  größten 
Jubel  von  der  Welt,  was  sie  getan  hatten,  und  er- 
statteten ihm  seine  Feder  zurück.  Diese  trug  ihm  im 

174 


darauffolgenden  Jahre  nicht  weniger  ein,  als  in  diesem 
Jahre  die  Kohlen. 

Diese  Geschichte  hatte  der  ganzen  Gesellschaft  ausneh- 
mendes Vergnügen  und  Ergötzen  gewährt,  und  allgemein 
hatte  man  über  den  Bruder  Cipolla  und  besonders  über 
seine  Pilgerreise  und  über  die  Reliquien  gelacht,  die  er 
teils  gesehen  und  teils  mitgebracht  hatte.  Als  aber  die 
Königin  wahrnahm,  daß  die  Geschichte  und  mit  dieser 
ihr  Regiment  ein  Ende  genommen  habe,  erhob  sie  sich 
von  ihrem  Sitze,  nahm  sich  die  Krone  vom  Haupte 
und  setzte  sie  auf  das  des  Dioneo,  indem  sie  lächelnd 
sprach  : 

„Zeit  ist  es,  Dioneo,  daß  du  auf  eine  Weile  erfahrest, 
was  es  heißen  will,  Weiber  lenken  und  regieren  zu 
müssen.  Sei  denn  nun  König  und  führe  dein  Regiment 
also,  daß  wir  auch  bei  seiner  Endschaft  es  loben  können." 

Lachend  empfing  Dioneo  die  Krone  und  antwortete: 
„Wertere  Könige,  als  ich  bin,  werdet  ihr  freilich  schon 
manchmal  gesehen  haben,  auch  die  Schachkönige  mit 
eingerechnet.  Wahrlich  aber,  wolltet  ihr  mir  gehorchen, 
wie  es  einem  wahren  Könige  zu  gehorchen  Pflicht  ist, 
so  wollte  ich  euch  Freuden  genießen  lassen,  ohne  welche 
jeder  Lustbarkeit  etwas  zum  vollen  Ergötzen  fehlt. 
Besser  indessen,  ich  schweige  davon  ;  genug,  ich  will  re- 
gieren, so  gut  ich  vermag." 

Hierauf  ließ  er  dem  bisherigen  Gebrauch  zufolge  den 
Seneschall  herbeikommen  und  gebot  ihm  in  der  ge- 
hörigen Reihenfolge,  was  er  zu  tun  habe,  solange  dieses 
Regiment  dauern  würde;  dann  aber  sagte  er: 

„Schon  in  verschiedenen  Weisen,  ihr  verehrten 
Damen,  ist  von  dem  menschlichen  Scharfsinn  und  von 
den  mannigfachen  Geschicken  gesprochen  worden,  so 

i75 


daß  ich  fürchten  muß,  wäre  nicht  Frau  Lycisca  vor 
kurzem  hierher  gekommen,  und  hätte  sie  mir  nicht 
durch  ihr  Gerede  einen  für  die  morgigen  Erzählungen 
zu  bestimmenden  Gegenstand  an  die  Hand  gegeben,  so 
würde  ich  lange  Zeit  gebraucht  haben,  um  eine  solche 
Aufgabe  zu  finden.  Wie  ihr  vernommen  habt,  behauptete 
sie,  daß  keine  ihrer  Bekannten  als  Jungfrau  zu  ihrem 
Manne  gekommen  sei,  und  ferner  fügte  sie  hinzu,  daß 
sie  wohl  wisse,  wie  zahlreich  und  wie  arg  die  Streiche 
seien,  die  auch  die  Eheweiber  ihren  Männern  spielen. 
Wenn  wir  nun  auch  die  erste  Hälfte  dieser  Behauptung 
auf  sich  beruhen  lassen,  denn  das  sind  nur  Kindereien, 
so  halte  ich  doch  dafür,  daß  über  die  zweite  ergötzlich 
zu  sprechen  sei.  Aus  diesem  Grunde  ist  es  denn  mein 
Wille,  daß,  weil  Frau  Lycisca  uns  einmal  darauf  ge- 
bracht hat,  morgen  von  den  Streichen  erzählt  werde, 
welche  die  Frauen  aus  Liebe  oder  um  sich  aus  einer 
Verlegenheit  zu  ziehen,  ihren  Männern  gespielt  haben, 
mögen  nun  diese  es  gewahr  geworden  sein  oder  nicht." 

Einige  von  den  Damen  meinten,  es  passe  sich  schlecht 
für  sie,  solch  einen  Gegenstand  in  ihren  Erzählungen 
zu  besprechen,  und  baten  daher  den  König,  daß  er  die 
bereits  gestellte  Aufgabe  wieder  abändere. 

Er  aber  antwortete  ihnen:  „Damen,  wie  meine  Auf- 
gabe beschaffen  sei,  weiß  ich  nicht  minder  als  ihr,  und 
die  Gründe,  die  ihr  gegen  sie  anführt,  können  mich 
nicht  bewegen,  davon  wieder  abzugehen;  denn  ich  bin 
der  Überzeugung,  daß  unter  den  jetzigen  Zeitumständen 
den  Männern  wie  den  Frauen,  wenn  sie  nur  acht  geben, 
in  ihren  Handlungen  sich  ehrbar  zu  erweisen,  gestattet 
ist,  zu  reden,  was  ihnen  beliebt.  Wißt  ihr  etwa  nicht, 
daß  infolge  der  bösen  Geißel,  die  uns  heimsucht,  die 
richterlichen    Beamten    ihre    Gerichtsstätten    verlassen 

176 


haben;  daß  die  göttlichen  sowohl  wie  die  menschlichen 
Gesetze  schweigen  und  jedem  die  Befugnis,  sein  Leben 
selbst  zu  schützen,  im  weitesten  Umfange  gewährt  ist? 
Wenn  also  eure  Sittsamkeit  jetzt  in  den  Gesprächen 
ein  wenig  von  ihrer  Strenge  nachläßt,  keineswegs  um 
daraufhin  in  Handlungen  die  kleinste  Unziemlichkeit 
zu  gestatten,  sondern  allein,  um  euch  selber  und  anderen 
Unterhaltung  zu  gewähren,  so  sehe  ich  nicht  ein,  mit 
welchem  irgend  zuzugestehenden  Grunde  euch  deshalb 
in  Zukunft  jemand  tadeln  könnte.  Überdies  hat  diese 
eure  Gesellschaft  vom  ersten  Tage  bis  zur  gegenwärtigen 
Stunde  die  strengste  Ehrbarkeit  gewahrt  und  sich,  was 
immer  auch  der  Inhalt  der  Erzählungen  gewesen  sein 
möge,  nicht  durch  die  kleinste  Unziemlichkeit  befleckt, 
wie  sie  dies  auch  in  Zukunft  mit  Gottes  Hilfe  nicht  tun 
wird.  Und  wem  wäre  denn  eure  Sittsamkeit  nicht  zur 
Genüge  bekannt,  die  weder  die  heiteren  Gespräche  noch, 
wie  ich  überzeugt  bin,  die  Schrecken  des  Todes  auf  Ab- 
wege zu  leiten  vermöchten?  Die  Wahrheit  zu  sagen, 
glaube  ich  vielmehr  umgekehrt,  daß,  wolltet  ihr  euch 
weigern,  an  solchen  Scherzreden  gelegentlich  teilzu- 
nehmen, ein  Böswilliger  eher  den  Verdacht  äußern 
könnte,  daß  ihr  euch  in  solchen  Dingen  schuldig  fühltet 
und  um  deswillen  da  zu  reden  euch  scheutet.  Endlich 
würde  es  mir,  der  ich  jedem  meiner  Vorgänger  ge- 
horsam gewesen  bin,  zu  schlechter  Ehre  gereichen,  wenn 
ihr  mich  zwar  zum  Könige  machen  und  mir  dadurch  die 
Befugnis,  euch  Gesetze  zu  geben,  erteilen,  dann  aber 
dennoch  euch  weigern  wolltet,  so  zu  erzählen,  wie  ich 
es  verordnet  habe.  Lasset  also  jene  Besorgnis  fahren, 
die  schuldbewußten  Gemütern  besser  geziemt  als  den 
euren  und  sorgt  vielmehr  eine  jede,  wenn  das  Glück 
gut  ist,  uns  eine  recht  schöne  Geschichte  zu  erzählen." 

III 12  177 


Als  die  Damen  dies  vernommen,  sagten  sie,  so  möge 
es  denn  bleiben,  wie  es  ihm  beliebte.  Der  König  aber  ge- 
stattete jedem,  bis  zur  Stunde  des  Abendessens  seinem 
Vergnügen  nach  Gutdünken  nachzugehen.  Da  indessen 
die  Erzählungen  des  heutigen  Tages  besonders  kurz  ge- 
wesen, stand  die  Sonne  noch  hoch  am  Himmel;  als 
daher  Dioneo  mit  den  zwei  anderen  jungen  Männern 
sich  zum  Brettspiel  niedergesetzt  hatte,  rief  Elisa  die 
übrigen  Damen  beiseite  und  sagte  zu  ihnen: 

„Schon  so  lange  wie  wir  hier  sind,  habe  ich  ge- 
wünscht, euch  nach  einem  gar  nicht  weit  von  hier  ent- 
legenen Platze  zu  führen,  an  dem,  soviel  ich  vermute, 
noch  keine  von  euch  jemals  gewesen  ist  und  der  das 
Frauental  heißt.  Bis  jetzt  konnte  ich  noch  keine  ge- 
eignete Zeit  dazu  finden;  heute  aber  steht  die  Sonne 
noch  hoch.  Beliebt  es  euch  also,  mit  mir  zu  kommen, 
so  zweifle  ich  nicht,  daß  es  euch  keineswegs  gereuen 
wird,  wenn  ihr  erst  dort  gewesen  seid." 

Die  Damen  erwiderten,  sie  seien  bereit,  und  so 
machten  sie  sich,  ohne  den  Männern  das  geringste  zu 
sagen,  nur  von  einer  Dienerin  begleitet,  auf  den  Weg. 

Nach  einem  Wege  von  wenig  mehr  als  einer  Miglie 
gelangten  sie  zu  dem  Frauental,  zu  dem  ein  ziemlich 
enger  Fußpfad,  auf  dessen  einer  Seite  ein  kristallheller 
Bach  ihnen  entgegenrieselte,  den  Eintritt  gewährte. 
Dies  Tal  erschien  ihnen  an  sich  schön  und  besonders 
zu  jener  Tageszeit,  wo  die  Hitze  noch  sehr  groß  war, 
so  ergötzlich  und  schön,  wie  man  zu  erdenken  nur 
immer  vermag.  Wie  eine  jener  Damen  später  mir  be- 
richtet hat,  war  die  Ebene,  die  den  Boden  des  Tales  aus- 
machte, so  rund,  als  wäre  sie  mit  dem  Zirkel  abge- 
messen, obwohl  man  leicht  erkannte,  daß  sie  ein  Kunst- 
werk der  Natur,  nicht  aber  menschlicher  Hände  sei; 

178 


der  Umkreis  jener  Ebene  aber  betrug  wenig  mehr  als 
eine  halbe  Miglie,  und  rings  umher  erhoben  sich  sechs 
Hügel  von  mäßiger  Höhe,  deren  jeder  auf  dem  Gipfel 
ein  Landhaus  trug,  dessen  Gestalt  der  einer  schönen 
Burg  fast  zu  vergleichen  war.  Die  Abhänge  dieser  Hügel 
stiegen  in  solchen  Abstufungen  zu  der  Ebene  nieder, 
wie  wir  in  den  Theatern  die  Sitzreihen  von  der  höchsten 
Umkränzung  bis  zu  der  niedrigsten  angeordnet  sehen, 
so  nämlich,  daß  ihre  Weite  nach  unten  sich  vermindert. 
Soweit  diese  Gesenke  nach  der  Mittagsseite  abfielen, 
waren  sie  von  Weinreben,  Oliven-,  Mandel-  und  Kirsch- 
bäumen, Feigen-  und  vielen  anderen  fruchtbringenden 
Bäumen  ganz  überdeckt,  ohne  daß  auch  nur  eine  Spanne 
unbebaut  geblieben  wäre.  Die  Abhänge  aber,  welche  den 
mitternächtigen  Wagen  anschauten,  strotzten  oder 
grünten  so  dicht,  als  es  der  Raum  nur  zuließ,  von 
Eichen-,  Eschen-  und  allerlei  anderem  Gebüsch.  Die 
Talebene  dagegen,  die,  außer  dem  einen,  durch  den  die 
Damen  gekommen  waren,  keinen  anderen  Eingang  hatte, 
war  von  Edeltannen,  Cypressen,  Lorbeerbäumen  und 
einigen  dazwischen  verteilten  Pinien  in  so  wohl  ge- 
ordneten Gruppen  bewachsen,  als  hätte  der  erste 
Künstler  für  solche  Anlagen  sie  gepflanzt.  Durch  dieses 
Laubdach  vermochten  die  Strahlen  der  Sonne,  auch 
wenn  sie  hoch  stand,  entweder  gar  nicht  oder  doch  nur 
sehr  sparsam  auf  den  Boden  zu  dringen,  der  eine  einzige 
Wiese  des  kürzesten  grünen  Grases  bildete,  zwischen  dem 
unzählige  purpurfarbene  und  andere  Blumen  sprossen. 
Was  aber  außerdem  nicht  minder  erfreute,  als  alles 
übrige,  war  ein  Bächlein,  das  aus  einem  Tale  zwischen 
zweien  jener  Hügel  über  mehrere  Felsenabsätze  nieder- 
floß, im  Fallen  ein  dem  Ohre  angenehmes  Rauschen 
hervorrief  und  in  so  glänzenden  Wasserstaub  sich  zer- 

*79 


schlug,  daß  man  von  ferne  Quecksilber  zu  sehen  glaubte, 
das  infolge  eines  Druckes  in  kleinen  Tröpfchen  aus 
einem  Behältnis  hervorspritzt.  Auf  dem  Boden  des 
kleinen  Tales  angelangt,  vereinigte  sich  das  Wasser  in 
einem  schmalen  Bette,  durch  das  es  eilig  bis  zur  Mitte 
der  Ebene  dahinfloß,  um  dort  ein  kleines  Teichlein  zu 
bilden,  nicht  größer  als  die  Wasserbehälter  sind,  die  die 
Städter,  wo  die  Gelegenheit  dazu  sich  bietet,  in  ihren 
Gärten  einzurichten  pflegen.  Dieser  kleine  Teich  war 
nicht  tiefer,  als  um  einem  Manne  bis  an  die  Brust  zu 
reichen,  und  da  das  Wasser  von  der  leisesten  Trübung 
frei  war,  gestattete  es  in  seiner  Klarheit,  genau  zu  er- 
kennen, daß  der  Grund  aus  dem  feinsten  Kies  bestand, 
dessen  einzelne  Steinchen  man  hätte  zählen  können, 
wenn  man  die  Muße  dazu  gehabt  hätte.  Aber  nicht  nur 
den  Boden  sah,  wer  auf  das  Wasser  blickte,  sondern  zu- 
gleich so  unzählige  hin-  und  herschlüpfende  Fische,  daß 
es  Vergnügen  und  Staunen  erregte.  Kein  anderes  Ufer 
umschloß  dieses  Wasserbecken,  als  allein  der  Rand  jener 
Wiese,  die  um  so  schöner  grünte,  je  näher  sie  sich  zu 
dem  Teiche  niedersenkte  und  je  mehr  sie  von  dessen 
Feuchtigkeit  erfrischt  war.  Alles  Wasser,  das  in  dem 
Umfange  dieses  Beckens  keinen  Raum  fand,  wurde  von 
einem  zweiten  Kanal  aufgenommen,  durch  den  es,  aus 
dem  Tale  geleitet,  in  das  tiefer  gelegene  Land  abfloß. 
Als  die  jungen  Damen  nun  hier  angelangt  waren  und 
nach  allen  Richtungen  sich  umgeschaut  hatten,  lobten 
sie  zuerst  auf  das  lebhafteste  die  Schönheit  des  Ortes; 
dann  aber  weckte  die  große  Hitze  und  der  Anblick  des 
kleinen  Sees,  der  vor  ihnen  lag,  da  sie  sicher  waren, 
von  niemand  belauscht  zu  werden,  in  ihnen  die  Lust, 
sich  zu  baden.  So  befahlen  sie  denn  ihrer  Dienerin,  auf 
dem  Wege,  durch  den  man  in  das  Tal  gelangt,  Wache 

180 


zu  halten  und,  falls  jemand  sich  nähern  sollte,  ihnen 
ein  Zeichen  zu  geben,  und  entkleideten  sich  dann  alle 
sieben. 

Das  Wasser,  in  das  sie  nun  niederstiegen,  verbarg 
ihre  schneeweißen  Körper  nieht  mehr  als  ein  durch- 
sichtiges Glas  eine  Rose  verbergen  würde.  Auch  wurde 
das  klare  Wasser  nicht  im  mindesten  getrübt,  so  daß 
sie  Gefallen  daran  fanden,  den  Fischen,  die  sich  nirgends 
zu  verstecken  wußten,  nachzujagen,  so  gut  es  gelang, 
und  zu  versuchen,  ob  sie  deren  mit  den  Händen  zu 
fangen  vermöchten.  Wirklich  erhaschten  sie  unter  all- 
gemeinem Jubel  ein  paar;  als  sie  aber  eine  Zeitlang 
im  Wasser  geweilt  hatten,  stiegen  sie  wieder  heraus  und 
kleideten  sich  an. 

Zu  dem  Lobe,  das  sie  diesem  schönen  Orte  bereits 
erteilt  hatten,  noch  größeres  hinzuzufügen,  vermochten 
sie  nicht;  da  es  ihnen  indessen  an  der  Zeit  schien,  nach 
Hause  zu  gehen,  machten  sie  sich  langsamen  Schrittes 
unter  Gesprächen  über  die  Schönheit  dieses  Spazier- 
ganges auf  den  Weg.  Ziemlich  früh  bei  dem  Palast 
wieder  angelangt,  fanden  sie  die  jungen  Männer  noch, 
wie  sie  sie  verlassen  hatten,  bei  dem  Spiele  beschäftigt. 

Pampinea  sagte  lächelnd  zu  ihnen  :  „Heute  haben  auch 
wir  euch  angeführt." 

„Wie,"  antwortete  Dioneo,  „fangt  ihr  damit  an  zu 
tun,  wovon  ihr  nachher  erzählen  sollt?" 

„Allerdings,  Herr  König,"  entgegnete  Pampinea  und 
erzählte  ihm  ausführlich,  woher  sie  kämen,  wie  jener 
Ort  beschaffen,  wie  wenig  entfernt  er  sei  und  was  sie 
dort  vorgenommen  hätten. 

Die  Erzählung  von  der  Schönheit  jenes  Platzes  er- 
regte in  dem  König  das  Verlangen,  ihn  zu  sehen;  er 
ließ  daher  schnell  das  Abendessen  auftragen,  und  nach- 

181 


dem  dies  in  gemeinsamer  Heiterkeit  beendet  war,  ver- 
ließen die  drei  jungen  Männer  die  Damen  und  gingen 
mit  ihren  Dienern  nach  dem  Tal,  das  auch  von  ihnen 
noch  keiner  zuvor  betreten  hatte.  Aufmerksam  betrach- 
teten sie  alle  seine  Schönheiten  und  erklärten  es  für 
eine  der  anmutigsten  Stellen  auf  der  Welt.  Dann  badeten 
sie  sich,  kleideten  sich  aber  bald  wieder  an  und  kehrten, 
weil  es  schon  spät  war,  nach  Hause  zurück,  wo  sie  die 
Damen  fanden,  wie  sie  zu  einem  Liede,  das  Fiammetta 
sang,  einen  Ringelreigen  tanzten. 

Nach  dem  Ende  des  Tanzes  unterhielten  sie  sich  von 
der  Schönheit  des  Frauentals  und  sagten  viel  zu  dessen 
Lob.  Daher  ließ  denn  der  König  den  Seneschall  herbei- 
rufen und  befahl  ihm,  Sorge  zu  tragen,  daß  am  näch- 
sten Morgen  einige  Betten  hergerichtet  und  dort  auf- 
gestellt würden,  falls  vielleicht  jemand  Gefallen  fände, 
dort  während  der  Mittagsstunden  zu  schlafen  oder  aus- 
zuruhen. Dann  aber  ließ  er  Lichter,  Wein  und  Zucker- 
werk herbeibringen  und  gebot  der  Gesellschaft,  nach- 
dem sie  sich  ein  wenig  erquickt  hatte,  sich  zum  Tanz 
zu  rüsten. 

Pamfilo  leitete  auf  sein  Verlangen  den  Tanz;  der 
König  aber  sagte,  zu  Elisa  gewandt,  freundlich: 
„Schönes  Mädchen,  du  übertrugst  mir  heute  die  Ehre 
der  Krone;  so  will  ich  dir  denn  für  heute  abend  die 
des  Liedes  übertragen.  Singe  uns  also  eines,  wie  es  dir 
am  besten  gefällt." 

Elisa  erwiderte  lächelnd,  daß  sie  gern  dazu  bereit  sei, 
und  begann  mit  süßer  Stimme  in  folgender  Weise: 

Kann,  Amor,  ich  mich  deiner  Klau'  entwinden, 
So  hoff  ich  sicherlich, 
Kein  andrer  Namen  soll  mich  fürder  binden. 

182 


Als  Kind  schon  ward  ich  dein  mit  Leib  und  Blut, 
Denn  Frieden,  dacht'  ich,  solltest  du  hiir  spenden, 
Und,  wie  bei  völligstem  Vertraun  man  tut, 
Warf  alle  Waffen  selbst  ich  aus  den  Händen. 
Doch,  du  Tyrann,  wie  eiltest  du,  zu  wenden 
Die  Waffen  gegen  mich, 
Und  mich  mit  schwerer  Kette  zu  umwinden  ! 

Kaum  aber,  daß  sie  mich  gefesselt  hat, 

Gibst  du  mich  auch,  an  Tränen  fast  erstickend, 

Dem  Mann,  der  mir  zum  Tod  ins  Leben  trat, 

Und  der  mir  noch  gebeut,  den  Sinn  berückend.  — 

So  schwer  ist  keine  Tyrannei,  so  drückend, 

Daß  sie  kein  Haar  breit  wich 

Den  Seufzern,  die  mein  Leid  verzehrend  künden. 

Mein  Flehen  all,  die  Winde  streun's  umher, 

Er  hört's  nicht  ;  horcht'  ihm  nicht,  wenn  sie's  im  böten. 
Drum  wächst  mein  Leiden  auch  je  mehr  und  mehr; 
Das  Leben  hass'  ich,  weiß  mich  nicht  zu  töten. 
Erbarm  dich  meiner,  Herr,  in  diesen  Nöten; 
Du  kannst  es  ja,  nicht  ich. 
Laß  mich,  von  dir  für  mich  besiegt,  ihn  finden. 

Verweigerst  du  mir  das,  so  wolle  nun 

Das  Band,  das  Hoffnung  einst  geknüpft,  zerhauen, 

Inständig  bitt'  ich,  Herr,  dich,  das  zu  tun  ! 

Tust  du's,  so  heg'  ich  sicheres  Vertrauen, 

So  schön  mich  wieder,  als  ich  war,  zu  schauen, 

Und  froh  zu  sehn,  wie  sich 

Die  Rosen  meiner  Wangen  neu  entzünden. 

Als  Elisa  ihr  Lied  mit  einem  gar  kläglichen  Seufzer 
beendet  hatte,  wunderten  sich  zwar  alle  über  diese  Worte; 

i83 


keiner  aber  unter  ihnen  vermochte  zu  entdecken,  was 
für  einen  Anlaß  sie  habe,  also  zu  singen. 

Inzwischen  ließ  der  König,  der  in  der  besten  Laune 
war,  den  Tyndarus  herbeirufen  und  befahl  ihm,  seine 
Sackpfeife  zu  bringen,  bei  deren  Klange  nach  seiner 
Anordnung  noch  zahlreiche  Tänze  aufgeführt  wurden. 
Erst  als  ein  beträchtlicher  Teil  der  Nacht  bereits  ver- 
strichen war,  hieß  er  einen  jeden  schlafen  gehen. 


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INHALT 

FÜNFTER  TAG i 

Erste  Geschichte 5 

Cimon  wird  durch  Liebe  vernünftig  und  raubt  auf 
dem  Meere  Iphigenie,  seine  Geliebte.  In  Rhodus  ver- 
haftet, befreit  ihn  Lysimachus,  und  beide  entführen 
gemeinschaftlich  Iphigenie  und  Kassandra  vor  ihrem 
Hochzeitsfest.  Sie  fliehen  nach  Kreta  und  heiraten 
dort  ihre  Geliebten,  mit  denen  sie  endlich  in  die 
Heimat  zurückgerufen  werden. 

Zweite  Geschichte 22 

Constanza  liebt  Martuccio  Gomito  und  überläßt  sich 
auf  die  Nachricht  von  seinem  Tode  verzweifelt  und 
allein  einem  Kahne,  den  der  Wind  nach  Susa  führt. 
In  Tunis  findet  sie  ihn  lebendig  wieder  und  gibt  sich 
ihm,  der  durch  die  dem  König  erteilten  Ratschläge 
inzwischen  dessen  Gunst  erworben  hatte,  zu  erkennen. 
Er  heiratet  sie  und  kehrt  als  reicher  Mann  mit  ihr 
nach  Lipari  zurück. 

Dritte  Geschichte 32 

Pietro  Boccamazza  flieht  mit  Agnolella  und  stößt  auf 
Räuber.  Das  Mädchen  flüchtet  in  einen  Wald  und 
wird  von  dort  nach  einer  Burg  geführt.  Pietro  fällt 
gefangen  in  die  Hände  der  Räuber,  entgeht  ihnen 
aber  wieder  und  gelangt  endlich,  nachdem  er  noch 
andere  Gefahren  überstanden,  in  dieselbe  Burg,  wo 
Agnolella  sich  schon  befindet.  Dort  vermählt  er  sich 
mit  ihr,  uud  beide  kehren  nach  Rom  zurück. 

Vierte  Geschichte 44 

Ricciardo  Manardi  wird  von  Messer  Lizio  da  Val- 
bonabei  der  Tochter  des  letzteren  betroffen.  Erheiratet 
indessen  das  Mädchen  und  söhnt  sich  mit  ihrem  Vater 
wieder  aus. 

Fünfte  Geschichte 53 

Guidotto  von  Cremona  vertraut  dem  Giacomino  von 
Pavia  sterbend  seine  Pflegetochter  an.  Giannole  di 
Severino  und  Minghino  di  Mingole  verlieben  sich  zu 
Faenza  beide  in  sie  und  werden  darüber  miteinander 

185 


handgemein.  Endlich  wird  entdeckt,  daß  das  Mädchen 
eine  Schwester  des  Giannole  ist,  und  Minghino  er- 
hält sie  zur  Frau. 

Sechste  Geschichte 63 

Gian  von  Procida  wird  bei  seiner  Geliebten,  die  in- 
zwischen dem  König  Friedrich  geschenkt  worden  war, 
überrascht  und  mit  ihr  an  einen  Pfahl  gebunden,  um 
verbrannt  zu  werden.  Ruggieri  dell'Oria  erkennt  und 
rettet  ihn  und  er  heiratet  sie. 

Siebente  Geschichte 73 

Theodor  verliebt  sich  in  Violante,  die  Tochter  seines 
Herrn,  des  Messer  Amerigo,  schwängert  sie  und  wird 
deshalb  zum  Strang  verurteilt.  Während  er  aber  mit 
Geißelhieben  zur  Hinrichtung  geführt  wird,  erkennt 
und  befreit  ihn  sein  Vater,  und  er  heiratet  Violante. 

Achte  Geschichte 85 

Nastagio  degli  Onesti  bewirbt  sich  um  die  Liebe 
einer  Dame  aus  dem  Hause  Traversari  und  bringt, 
ohne  Gegenliebe  zu  finden,  dabei  sein  ganzes  Ver- 
mögen durch.  Auf  die  Bitten  der  Seinigen  geht  er 
eines  Tages  nach  Chiassi  und  sieht  daselbst,  wie  ein 
junges  Mädchen  von  einem  Ritter  gejagt,  getötet 
und  dann  von  zwei  Hunden  gefressen  wird.  Darauf 
ladet  er  seine  Familie  sowohl  als  die  der  Dame  zu 
einem  Mittagessen  dorthin,  und  der  Anblick  des  zer- 
fleischten Mädchens  und  die  Furcht  vor  ähnlichem 
Schicksal  erschrecken  die  Spröde  so  sehr,  daß  sie  den 
Nastagio  zum  Manne  nimmt. 

Neunte  Geschichte 94 

Federigo  degli  Alberighi  liebt,  ohne  Gegenliebe  zu 
finden.  Er  verzehrt  in  ritterlichem  Aufwände  sein 
ganzes  Vermögen,  sodaß  ihm  nur  ein  einziger  Falke 
bleibt.  Diesen  setzt  er,  da  er  nichts  anderes  hat,  seiner 
Dame,  die  zu  ihm  auf  Besuch  kommt,  zum  Essen 
vor.  Sie  aber  ändert,  als  sie  dies  vernommen,  ihre 
Gesinnung,  nimmt  ihn  zum  Manne  undmacht  ihn  reich. 

Zehnte  Geschichte 104 

Pietro  da  Vinciolo  geht  aus,  um  anderwärts  zur  Nacht 
zu  essen.  Seine  Frau  läßt  ihren  Buhlen  kommen;  Pietro 

186 


kehrt  aber  heim  und  die  Frau  versteckt  den  Lieb- 
haber unter  einem  Hühnerkorbe.  Pietro  erzählt,  daß 
in  dem  Hause  des  Ercolano,  bei  dem  er  zur  Nacht 
gegessen,  ein  junger  Mensch,  den  die  Frau  verborgen 
hatte,  gefunden  sei,  worüber  Pietros  Frau  die  des 
Ercolano  heftig  tadelt.  Zum  Unglück  tritt  ein  Esel 
dem  Burschen  unter  dem  Korbe  auf  die  Finger,  so- 
daß  er  schreien  muß.  Pietro  läuft  hinzu,  sieht  ihn  und 
erkennt  die  Falschheit  seiner  Frau,  ist  aber  nieder- 
trächtig genug,  sich  am  Ende  doch  wieder  mit  ihr 
auszusöhnen. 

SECHSTER  TAG 121 

Erste  Geschichte 127 

Ein  Edelmann  sagt  zu  Madonna  Oretta,  er  wolle  ihr 
eine  Geschichte  erzählen,  daß  sie  glauben  solle,  sie 
sitze  zu  Pferde.  Als  er  sie  darauf  ungeschickt  vor- 
trägt, bittet  sie  ihn,  daß  er  sie  wieder  absteigen  lasse. 

Zweite  Geschichte 130 

Cisti,  der  Bäcker,  bringt  durch  eine  beißende  Ant- 
wort Herrn  Geri  zur  Einsicht  wegen  eines  unbe- 
scheidenen Begehrens. 

Dritte  Geschichte 136 

Monna  Nanna  de'  Pulci  gebietet  durch  eine  treffende 
Antwort  den  unziemlichen  Reden  des  Bischofs  von 
Florenz  Stillschweigen. 

Vierte  Geschichte 139 

Chichibio,  der  Koch  des  Currado  Gianfigliazzi,  ver- 
wandelt zu  seinem  Heile  durch  einen  schnellen 
Einfall  den  Zorn  des  Currado  in  Gelächter  und 
rettet  sich  von  dem  Unheil,  mit  dem  Currado  ihn 
schon  bedroht  hatte. 

Fünfte  Geschichte 143 

Messer  Forese  da  Rabatta  und  Meister  Giotto,  der 
Maler,  die  beide  von  Mugello  zurückkommen,  machen 
sich  gegenseitig  über  ihr  unscheinbares  Äußere  lustig. 

Sechste  Geschichte 147 

Michele  Scalza  beweist  einigen  jungen  Leuten,  daß 
die  Baronci  das  adligste  Geschlecht  in  der  Welt  und  in 
der  Maremma  sind,  und  gewinnt  damit  eine  Mahlzeit. 

187 


Siebente  Geschichte 151 

Madonna  Filippa  wird  vor  Gericht  gefordert,  weil 
ihr  Mann  sie  mit  ihrem  Geliebten  betroffen  ;  durch 
ihre  geschickte  und  scherzhafte  Antwort  kommt  sie 
aber  frei  und  veranlaßt  eine  Abänderung  des  Stadt- 
rechts. 

Achte  Geschichte 155 

Fresco  rät  seiner  Nichte,  niemals  in  den  Spiegel  zu 
sehen,  wenn  unausstehliche  Leute  zu  sehen  ihr  so 
widerwärtig  sei,  wie  sie  sage. 

Neunte  Geschichte '     .     .     158 

Guido  Cavalcanti  sagt  einigen  florentiner  Edelleuten, 
die  ihn  überrascht  hatten,  in  versteckter  Weise  die 
Wahrheit. 

Zehnte  Geschichte 162 

Bruder  Cipolla  verspricht  den  Bewohnern  einer  Land- 
stadt, ihnen  eine  Feder  des  Engel  Gabriel  zu  zeigen; 
da  er  aber  an  deren  Stelle  Kohlen  findet,  sagt  er, 
sie  seien  von  denen,  mit  welchen  der  heilige  Lau- 
rentius  geröstet  wurde. 


188 


Die  Übersetzung  von  Boccaccios  Decamerone 
besorgte  Heinrich  Conrad,  den  Druck  Poeschel 
dt  Trepte,  Leipzig,  die  Gravüre-Kupferdrucke 
nach  den  Originalkupfern  der  Ausgabe  von  1757 
J.  B.  Obernetter,  München.  Von  dieser  Aus- 
gabe wurden  100  Exemplare  für  die  Mitglieder 
der  Vereinigung  „Die  Hundert"  auf  Velin  von 
Van  Gelder  mit  dem  Hundertzeichen,  weitere 
100  Exemplare  auf  gleichem  Velin  mit  dem 
Wasserzeichen  „Boccaccio"  für  die  Luxusaus- 
gabe  abgezogen 


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