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Full text of "Der Literat oder Mythos und Persönlichkeit"

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Der Literat 


oder 


Mythos und Perſönlichkeit 


von 


Jakob Waſſermann 


Erſchienen 
im Inſel-Verlag zu Leipzig 1910 


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er Literat, ein geheimmisvoll befchloffenes 

Weſen, hat der Kultur unſerer Zeit ſeinen 
underwiſchbaren Stempel aufgeprägt. Ja, man 
könnte ſagen, daß alles, was ſich heute gemeinhin 
inter dem Titel Kultur begreift, ein Werk des 
Lueraten iſt. 
Was iſt ein Literat? Die nachfolgenden Unter⸗ 
ſuchungen wollen dieſe Frage beantworten; fie 
wollen die Art und die Wirkung des Literaten, 
die Bedingungen ſeines Lebens, die Fundamente 
und Ziele ſeines Geiſtes mit Hilfe einiger typiſier— 
ter Charaktere erforſchen. 
Die damit aufgeſtellten repräſentativen Figuren 
werden ſich natürlich in der Wirklichkeit kaum ſo 
unterſchieden und formelhaft finden laſſen; das 
Leben gibt Miſchungen. Man wird im Pſycho— 
logen viel vom Tribun, im Dilettanten viel vom 
Pſychologen, im Apoſtel viel vom Schöngeiſt 
nachweiſen können. Auch iſt es möglich, daß in 
einer einzigen Perſon die Elemente von mehreren 
jener Typen ſtecken, daß Schöngeiſt und Pſy— 
cholog, oder Dilettant, Tribun und Apoſtel ver— 
einigt ſind. Sogar im ſchöpferiſchen Menſchen 
ſind Züge des Literaten vorhanden, vielleicht hat 
die moderne Zeit überhaupt keinen ſchöpferiſchen 
Menſchen hervorgebracht, der davon ganz frei 


7 


wäre. Beim Literaten werden aber die bezeich— 
neten Eigenſchaften von einem jener Repräſen— 
tanten immer in beſtimmter und auffallender Art 
zur Erſcheinung gelangen, und die Beſonderheit 
und das wechſelnde Ausmaß der Miſchung ſind 
dazu angetan, ihm in ſeiner menſchlichen und 
künſtleriſchen Wirkung das Intereſſante, reizvoll 
Problematiſche und Unergründliche zu verleihen. 


Der Literat als Dilettant 


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ine Kunſt aus Liebe zur Sache üben, das 
a den Dilettanten in der edlen Bedeu— 
tung des Wortes. Der Dilettant und der Künſtler 
unterſcheiden ſich vielleicht nur durch die Konſe— 
quenz eines leidenden Zuſtandes, welcher den Künſt— 
ler im Bereich ſeiner Kunſt gefeſſelt hält, wäh— 
rend der Dilettant frei bleibt. Der Künſtler iſt 
gefeſſelt, nur ſeine Sehnſucht, das Vermögen 
ſeines Geiſtes, ſich mit allen Dingen dieſer Welt 
zu identifizieren, macht ihn ſcheinbar frei. Beim 
Dilettanten iſt es umgekehrt. Der Dilettant 
identifiziert ſich wirklich mit den Dingen dieſer 
Welt, indes ſein Geiſt gebunden iſt. Seine 
Sehnſucht richtet ſich daher nicht gegen die Welt 
als gegen etwas, das erobert, begriffen, gedeutet 
werden ſoll, ſondern gegen die Kunſt, deren er ſich 
bemächtigen will. Der Künſtler hat die Kunſt 
innen und möchte ſich gleichſam ihrer entledigen 
im Austauſch gegen Göttliches und gegen ein 
Stück Welt; der Dilettant hat ſie draußen und 
wünſcht ſie zu gewinnen, indem er Welt und Gott 
in ſeinem Innern dadurch zu beruhigen und in 
Harmonie zu bringen ſucht. 


Der Literat als Dilettant hat aber weder Welt 
noch Gott noch Kunſt in ſich ſelbſt. Ihm iſt nicht 
nur die Kunſt ein Äußeres, zu Erraffendes, ſondern 
auch Welt und Gott. Er tritt leer auf den Plan. 
Wahrſcheinlich iſt er ermüdet von Erlebniſſen. 
Er iſt nicht von ſtark organifierter Seele, ſonſt 
würden geringe Kämpfe nicht imſtande ſein, ihn 
zu ermüden. Er hat einer Schlacht beigewohnt; 
in den hinterſten Reihen hat er den Kanonendonner 
gehört und zugeſehen, wie man Verwundete und 
Tote vorübertrug. Das hat genügt, ihn mit Ab—⸗ 
ſcheu gegen den Krieg zu erfüllen, ja, er iſt der 
gründlichſte Haſſer alles Kriegsweſens geworden, 
ein Quietiſt aus Philoſophie, da ihn die Beſchaffen— 
heit ſeines Geiſtes zwingt, ſeine Schwäche wie 
eine Stärke zu behandeln. 

Schon daraus läßt ſich ſchließen, daß er nicht aus 
innerer Notwendigkeit am Kampf teilgenommen 
hat, ſozuſagen aus Vaterlandsliebe oder aus Luſt 
am Soldatenleben oder aus Begierde nach Aus— 
zeichnung. Man hat ihn einfach wie ſo viele 
andere Rekruten dazu ausgehoben, und er war von 
vornherein ein ſkeptiſcher Soldat, alſo der ſchlech— 
teſte Soldat, der zu denken iſt. Da man etwas 
treiben muß in der Welt, iſt er Soldat geworden; 
nimmt er den Abſchied, ſo iſt er, mit Ausnahme 


10 


des gewonnenen Cfels und Abſcheus, wieder fo 
leer wie er vorher war, und er weiß nicht recht, 
was jetzt beginnen. Er tritt daher nicht nur leer, 
ſondern auch unentſchieden auf den Plan, und 
weil ihn kein Muß befehligt, iſt er nicht hungrig. 
Nur Leute, die unter einem tyranniſchen Muß 
knirſchen, ſind hungrig, alle andern ſind mehr 
oder weniger ſatt. 

Er merkt es wohl, daß Hunger dazu gehört, um 
ſich zu entſcheiden: Hunger, Spannung, Sehn— 
ſucht, eine ideelle Begierde. Die Welt, die Men— 
ſchen, die Erſcheinungen des Lebens erregen ſeine 
Teilnahme kaum oder nur inſoweit, als ſeine 
Perſon dadurch berührt wird. Auf einmal richtet 
ſich ſeine Begierde, ſeine ganze Spannung und 
Sehnſucht gegen die eigene Perſon. Er entſcheidet 
ſich ganz und gar für ſeine eigene Perſon, deren 
er ſich bisher, in den hinterſten Reihen der Kämp— 
fenden, nur dumpf bewußt geworden war. Seine 
eigene Perſon enthüllt ſich ihm plötzlich als ein 
Gegenſtand von ungeahnter Wichtigkeit, als ein 
unentdeckter Bezirk, von deſſen Schönheit und 
Vorzügen die übrigen Menſchen zu unterrichten 
jetzt ſein gebieteriſcheſter Trieb iſt. Alles was er 
tut, denkt und empfindet, erſcheint ihm erſtaun— 
lich, beſonders und in hohem Grade mitteilens— 


11 


wert. Je unbeachteter und dunkler fein Daſein 
bis nun geweſen, je mehr drängt es ihn, ſich 
in einen Mittelpunkt zu ſtellen. Wie aber fängt 
er dieſes an? 

Er geht mit inſtinktiver Pfiffigkeit ans Werk. Er 
ſchmückt ſich; und zwar ſchmückt er ſich mit ſeinen 
Leiden, mit feinen Erfahrungen, mit einer in auf- 
fallender Weiſe zugeſpitzten, verſchärften und nach— 
drücklichen Meinung über Menſchen und Schick— 
ſale. Damit reizt er die Neugierde, und ſein 
Juſtinkt hat ihn trefflich geführt, denn Neugierde, 
in einem gemeinen wie in einem höheren Sinn, 
iſt der hervorſtechendſte Zug der Geſellſchaft, aus 
der er kommt und deren Mittelpunkt er ſein 
möchte, deren Mittelpunkt der ſchöpferiſche Menſch 
wirklich iſt. Auch der ſchöpferiſche Menſch über— 
treibt das Bild der Welt, aber dadurch, indem 
er es vergrößert, dadurch allein ſchon, indem er 
die eigene Perſon aus ſeinem Werk ausſchaltet 
und an deſſen Stelle etwas ſetzt, was ich fiktive 
Perſönlichkeit nenne. Dem ſchöpferiſchen Men— 
ſchen iſt feine Perſon nur ein Vorwand, ein Aus— 
gangspunkt, der Literat als Dilettant ſieht in ihr 
die Eſſenz und das Ziel. Der ſchöpferiſche Menſch 
iſt einſam, von Natur und durch Beſtimmung; 
dennoch lebt er unter den Menſchen, weil die 


12 


Menſchheit ihm ein unentbehrliches Element ift, 
durch welches er leidet, weil er geboren iſt, um zu 
leiden, weil das Leiden derjenige Seelenzuſtand 
iſt, der ihn befähigt zu ſchaffen. Der Literat als 
Dilettant iſt niemals einſam; je weniger, je mehr 
er bei ſich und in ſich ſelber ſteckt. Er ſtellt ſich 
abſeits, um in der künſtlichen Einſamkeit einen 
Erſatz für die natürliche des ſchöpferiſchen Men— 
ſchen zu gewinnen; er ſchmückt ſich mit Einſam⸗ 
keit, und auch dies iſt ein Mittel, um Neugierde 
zu erwecken. Die Menſchen ſind ihm entbehrlich, 
obgleich er ſie ſucht; er iſt der Menſchen über— 
drüſſig und ſatt, nur ſeiner eigenen Perſon wird 
er niemals ſatt, fie erſcheint ihm ſtets intereffant, 
begehrenswert, wichtig und ausgezeichnet. Nicht 
durch die Menſchen leidet er, ſondern durch ſich 
ſelbſt, und je nach Rang und Art ſeines Geiſtes 
und Charakters in allen Graden und Möglich— 
keiten: angefangen von unerfüllten Anſprüchen 
niedriger Sorte bis zum Durſt nach Stillung 
eines bedeutenden Ehrgeizes. 

Dieſer Ehrgeiz iſt ſorgfältig zu trennen von dem, 
was die Griechen Ruhmſucht genannt haben, als 
welche ein überſinnliches Verlangen und in ihren 
Wurzeln mit dem Unſterblichkeitsgedanken iden— 
tiſch iſt. Der Ehrgeiz hat nichts mit Anonymität 


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zu tun; der Ehrgeizige gibt ſich nicht grenzenlos 
und unbedingt hin wie der Ruhmſüchtige, er löſt 
ſich nicht auf in der Idee; er leitet feine Sache, 
er ſteht vor ſeinem Werk, er iſt immer der Herr, 
immer ſichtbar, und ſein Name umflammt ſeine 
Tat wie ein Programm. Die antiksheroiſche 
Eigenſchaft der Ruhmſucht iſt den modernen 
Zeiten und Menſchen faſt abhanden gekommen. 
Vielleicht iſt darum unſere Kultur, oder was wir 
mit dieſem Namen bezeichnen, ſo zerſtückt, brüchig 
und disharmoniſch, weil ſie völlig auf einzelnen, 
auf „namhaften“ Trägern ruht. Jede wahre 
Kultur ſetzt Anonymität voraus. 

Der Literat als Dilettant verabſcheut die Ano— 
nymität, denn tritt er ohne ſeinen Namen auf, 
ſo iſt es, als wenn ein General ohne Uniform zu 
Hof ginge. Durch ſeinen Willen getragen, von 
ſeinen Zwecken befehligt, abhängig von der Gunſt 
der Menſchen und der Umſtände und ſomit von 
dem, was die Geſellſchaft den Erfolg nennt, kann 
er in keinem Fall auf äußere Beſtätigungen ver— 
zichten, und die edle Gelbftvergeffenheit des ledig— 
lich von der Sache erfüllten ſchöpferiſchen Men— 
ſchen iſt ihm fremd bis zum Unbegreiflichen. 
Doch ſehen wir von jener höchſten Selbſtoergeſſen— 


heit vorläufig ab, die nur eine ideale Annahme 


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fein mag. Der Ehrgeiz des Künſtlers würde auch 
dann in Kraft treten, wenn dieſer Künſtler auf 
einer einſamen Inſel lebte, denn ſein Ehrgeiz iſt 
der Ruhmbegierde inſofern verwandt, als er von 
dem Beſtreben, das Werk zu möglichſter Voll— 
kommenheit zu führen, nicht zu trennen iſt. Der 
Literat als Dilettant hingegen iſt beſeſſen von der 
Sucht nach der Prämie. Eines feiner untrüg— 
lichſten Kennzeichen iſt: daß er der Selbſtkritik 
ermangelt. Selbſtkritik iſt das Vermögen zu 
vergleichen. Der Literat als Dilettant kann ſich 
nur mit ſich vergleichen, aus diefern Grunde er- 
ſcheint er ſich bald überklein, bald übergroß, da 
ſein einziger Spiegel nur das eigene, beſtändig 
ſchwankende, beſtändig wechſelnde, niemals ru— 
hende, losgelöſte und iſolierte Ich iſt. Er kann 
ſeine Arbeit nicht allgemein an Arbeit und 
Leiſtung meſſen; nur an ſich ſelber kann er ſie 
meſſen, an den verbrachten Stunden, gefühlten 
Anſtrengungen; feine Intenſität zu fein und zu 
ſchaffen dünkt ihm die ſtärkſte überhaupt erreich— 
bare, und ein ſolches Bewußtſein genügt ihm, um 
alle Erinnerungen an Qualität auszulöſchen oder 
zu trüben. Im Grunde ſeiner Seele hält er die 
höhere Geltung, welche die Meiſterwerke ge— 
nießen, für einen Zufall, wenn nicht für 


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Schlimmeres; auch jedes Gelingen hält er für 
einen Zufall, da ihm entweder das Talent zu in— 
ſpirieren oder das Talent zu adminiſtrieren im 
Gegenſatz zum elementaren Künſtler fehlt. Wer 
ohne Selbſtkritik iſt, hat zu keinem Ding eine 
wahrhafte Diftanz; fo betrachtet er alle Künſt⸗ 
ler als ſeine Kollegen, und das unterſcheidende 
Merkmal zwiſchen ihm und ihnen beſteht nur 
in der Tatſache der größeren oder geringeren 
Prämie. Wohl vermag er zu bewundern, aber 
ſeine Bewunderung iſt von perſönlichen Vorbe— 
halten niemals frei; er gibt ſich nicht hin, er 
will insgeheim profitieren, er will denen, die die 
höhere Prämie erhalten haben, den Handgriff 
abſehen, und das ſcheint ihm ausführbar, weil er 
die Diſtanz nicht kennt. Die Prämie, nach der 
er ſtrebt, kann er nie erhalten — ein Kater 
zeugt nicht Löwen. Er aber, der da wähnt, alles 
Vierbeinige ſei letztlich von gleichem Rang, dem 
die Art und die Natur der Löwen völlig fremd 
ſind, weil er in einem ganz anderen Klima lebt, 
muß notwendigerweiſe zu der Überzeugung ge— 
langen, daß er das Opfer einer Ungerechtigkeit 
ſei; die Vergeblichkeit ſeiner Forderungen erfüllt 
ihn nach und nach mit Eiferſucht und Neid, ſo 
daß er alle Menſchen gegen ſich verſchworen 


16 


glaubt, vom niedrigften Skribenten an, um deſſen 
Ermunterung er buhlt, bis hinauf zu Homer, der 
eine allzu reichliche Menge des in der Welt vor— 
handenen Beifalls verzehrt hat. 

Eiferſucht und Neid vermögen am Ende ſeine 
Fähigkeiten ungeahnt zu ſteigern; faſt allein durch 
Eiferſucht und Neid iſt er zuweilen imſtande, die 
Gebärde, die Rhythmik, die Melodik des Künſt⸗ 
lers zu treffen und wenn er ſich auch nicht hin— 
geben kann, ſo verliert er ſich doch manchmal, 
verliert ſich in einer ſeltſamen Form übertragener 
Nachahmung, in welcher die großen Werke wie 
abgeblaßt und wiederempfunden, ſchattenhaft, 
ſtimmungshaft ein zweites, unwirkliches Leben 
führen. Er übertreibt das ſchon Vergrößerte, 
verwickelt das ſchon Vereinfachte, und die Welt, 
die ihr Bild in einer immer auffälligeren egoiſti— 
ſchen Verzerrung erblickt, wendet ſich beleidigt 
und gequält ab, auch wenn ſie dem Urheber vor— 
übergehend gehuldigt hat. 


17 


Der Literat als Pfycholog 


un 


Di Pſychologie des ſchöpferiſchen Menſchen 
iſt, mit einem Gleichnis aus der Chemie 
geſprochen, ein Nebenprodukt. Dem Literaten 
wird die Pſychologie zur Idee, was ungefähr ſo 
viel ſagen will, als ließe ſich jemand nur darum 
ein Schiff bauen, weil er einen Kompaß beſttzt. 
Der Pſycholog hält alles für erlaubt, denn er 
kann alles erklären. Er hat für jede Tat ein Für 
und Wider, für keine ein Entweder — Oder. 
Der ſchöpferiſche Menſch iſt Wahrheitszeuge, 
Blutzeuge, indes der Pſycholog die Menſchheit 
und ſich ſelbſt verrät. Dieſer Prozeß des Verrats 
iſt wichtig genug, um näher betrachtet zu wer— 
den. 

Ebenſo wie der Literat als Dilettant iſt der Lite— 
rat als Pſycholog ein iſolierter Menſch. Aber 
er iſt die ungleich reichere und tiefere Natur. Er 
iſt auch die kompliziertere Matur, ja, im Gegen— 
ſatz zum ſchöpferiſchen, der kompliziert geborene 
Menſch, das will ſagen, daß ſeine Eigenſchaften, 
Triebe und Jnſtinkte nicht aus einem einheitlichen 
Gefühl, nicht aus einem elementaren Sein und 
Betrachten erwachſen, ſondern daß ſie vielfache 


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Wurzeln haben, daß kein reiner einfacher Strom 
des Lebens ihn trägt, ſondern daß er ein Spiel 
vieler, verſchiedener, oft einander entgegengeſetzter 
Strömungen iſt, wider die er ſich zu behaupten 
hat, woraus ſich ergibt, daß er ſich fortwährend 
im Zuſtand der Abwehr, der Verteidigung und 
des Kampfes befindet. Er iſt ein wirklich Kämp— 
fender, nicht bloß wie der Literat als Dilettant 
einer der in den hinterſten Reihen zuſchaut. 

Der Wilde und das Kind ſind ſchlechthin un— 
komplizierte Menſchen; ſie ſind unkompliziert 
geboren. Der ſchöpferiſche Menſch iſt eben— 
falls unkompliziert, aber dort, wo ſich der Ring 
wieder ſchließt, auf der anderen Seite der Er⸗ 
ſcheinungen; iſt er der einfach gewordene, der— 
jenige, der ſeine Einheit gefunden hat, nicht nur 
durch eigenes Streben und eigene Beſtimmung, 
ſondern auch durch unbewußte Mitwirkung der 
Geſchlechter, die ihn hervorgebracht haben und 
deren Aufgabe es war, ihn hervorzubringen. Der 
Pſycholog hat nun gleichſam dieſe Kette ſtummer 
Vorbereitung ſelbſtherrlich verlaſſen, er hat ſich 
losgelöſt und tritt mit dem ganzen Willen der 
„Kette“, mit Belaſtungen von rückwärts und 
vorwärts, mit unerledigten Verantwortungen, 
eigentlich als ein Deſerteur, allein auf den Plan. 


19 


Schon dies ſetzt ſchwere und nachhaltige Erleb— 
niſſe voraus, innerhalb des eigenen Gemüts wie 
gegen den Kreis der Welt und des Lebens. Sein 
Los iſt: ſich zu verantworten, ununterbrochen ſich 
zu verantworten, gegen Gott, gegen die Menſchen 
und gegen ſich ſelbſt. Der ſchöpferiſche Menſch 
hat nicht nötig, ſich zu verantworten, er iſt eben 
da, er empfindet ſich als notwendig und geſetz— 
mäßig, ſeine ganze Exiſtenz heißt: Ja; ſeine 
Anſchauung des Lebens iſt daher ein innerlich 
fundierter Optimismus. Jenem andern aber iſt 
immer zumute, als ob er verneint würde, er 
fühlt ſich als zufällig, er ſpürt keine Sicherheit, 
in ihm ſelbſt ſteckt eine glühende Verneinung, und 
deshalb iſt ſein Tun und Weſen, ob er will oder 
nicht will, der Peſſimismus. Will er ihn, fo iſt 
er ehrlich, und es gelingen ihm bisweilen Werke 
dämoniſcher Art; will er ihn nicht, ſo verſtellt er 
ſich nur, und was er zutage fördert, trägt den 
Fluch einer geheimen Lüge. 

So wie er nur ein Teil iſt, Glied aus der Kette, 
vermag er nur eine Teilwelt zu geben; er ſieht nicht 
mehr als den Teil, er lebt nicht mehr als den Teil, 
das iſt ſein Schickſal. Nun iſt es aber im Weſen 
des Menſchen und im Weſen der Kunſt begründet, 
daß ſein Werk ein Ganzes, ein Gebilde von all— 


20 


gemeiner Gültigkeit und Glaubhaftigkeit vorzu— 
ſtellen ſtrebt. Da klafft nun der Abgrund. Je mehr 
er ſich beſcheidet, deſto enger und bedingter, deſto 
mehr perſönlich gebunden ſtellt ſich ſein Geſchaffe— 
nes dar; je weniger er ſich beſcheidet, deſto auffälliger 
und ſchmerzlicher tritt die Kluft zwiſchen dem Per— 
fonlichen und dem objektiven Gebilde hervor. Es gibt 
keine Rettung, keinen Ausgleich. Je ſtärker Ta⸗ 
lent und Potenz ſind, deſto mehr verführt ihn die 
Sprache, das Erlebnis, die Leidenſchaft, die In— 
fenfität der Viſion, ſich auf ſich ſelbſt zu ſtellen 
und ſich ſelbſt gegen Welt und Gott auszuſpielen, 
deſto mehr verführt er die Menſchen, an ihn zu 
glauben ſtatt an feine Welt und an Gott. Er 
iſt immer zugleich Verführer und Verführter, 
während der ſchöpferiſche Meuſch Führer iſt; er 
iſt ſtets der Sklave ſeiner Eingebungen, Ideen, 
Worte und Geſtalten, indes der ſchöpferiſche 
Menſch immer Herr iſt. Und je mehr er ſeinem 
Werk Notwendigkeit, Freiheit und Gültigkeit 
verleihen will, defto mehr muß er feine Fähigkeit 
überſpannen, die Empfänglichkeit ſeiner Stimme 
dem Krampfhaften, alſo dem der Natur Feind— 
lichen nähern, und niemals das Göttliche, höch— 
ſtens das Titaniſche iſt ſein Gipfel. 

Dieſer unausgeſetzte Kampf iſt ohne die äußerſte 


21 


Wachſamkeit kaum zu denken; in der Tat iſt der 
Pſycholog das wachſamſte Geſchöpf der Welt. 
Wo der Dichter träumt, iſt er wachſam. Eine 
ſolche Wachſamkeit hat zur Folge, daß er über 
alle Vorgänge ſeines Innern und zuletzt über die 
Art und Wirkung des Zwieſpalts, in dem er ſich 
befindet, aufs genaueſte unterrichtet iſt. Jener 
Kampf führt nie zu dauernder Entſcheidung; in 
jedem Augenblick fällt die Entſcheidung anders, 
und er ſelbſt darf die Waffen nicht ablegen. Nie— 
mals ſieht er ruhend die Welt. Und nun: im 
Zuſtand der Unruhe und der Bewegung alles 
von ſich ſelbſt zu wiſſen; ſich von ſich ſelbſt los— 
löſen wollen und doch einſehen müſſen, daß man 
unlösbar mit und in ſich ſelbſt verſtrickt iſt, ſich 
ununterbrochen rechtfertigen zu müſſen, gegen das 
Werk, gegen die Menſchheit, gegen Gott und 
gegen die eigene Seele, in einem derartigen Zu— 
ſtand iſt das dringendſte Verlangen das nach einem 
Heilmittel oder einem Betäubungsmittel, nach 
einem Stimulans; dieſes Stimulans iſt eben die 
Pſychologie. 

Die Pſychologie entſpringt der Wachſamkeit. 
Sie kann ſich bis zu halluzinatoriſcher Kraft 
ſteigern. Sie iſt beim ſchöpferiſchen Menſchen 
in den Phaſen vor der Entſcheidung, beim Lite— 


22 


raten ift fie die Entſcheidung felbft, und zwar in 
jeder Bewegung. Jede Bewegung bringt eine 
Wandlung hervor, jedoch dieſe Fülle von Wand— 
lungen führt keineswegs zu einer Verwandlung; 
die Mittel ſind auf dem Wege verausgabt 
worden, ſo daß es ein Ziel darüber hinaus nicht 
mehr gibt. Der Literat hat den Weg, der ſchöp— 
feriſche Menſch hat das Ziel. Der Literat wan— 
delt ſich, — auf dem Weg, und das beſtändig; 
der ſchöpferiſche Menſch verwandelt ſich, — am 
Ziel. Ein Mann, der nicht an das jenſeitige 
Leben glaubt, wird aus dem diesſeitigen die ganze 
Summe von Genüſſen hervorpreſſen, die nach 
feiner Anſicht darin enthalten find. Dermaßen . 
ift das Verhältnis des Literaten zur Pſychologie 
beſchaffen, und ſo kommt es auch, daß die 
Pſychologie ein fortgeſetzter Verrat am Ziel, an 
Gott iſt. 

Man verfolge dies im einzelnen, und man wird 
ſtets bemerken, daß das ſchlechthin, das Nur— 
Pſychologiſche immer den Verrat in ſich birgt. 
Es mag ſo erſtaunlich wie möglich beobachtet 
ſein, nie wird man es ohne die Überwindung einer 
geheimen und tiefen Scham hinnehmen, als ob 
ſich ein Menſch vor uns entblößte. Der Pſycho— 
log verrät die Welt, indem er ſich ſelbſt in ſeinen 


23 


geheimſten und tiefſten Regungen verrät. Dies 
iſt ihm die Brücke zur Welt, denn eine andere 
hat er nicht in feiner Iſolierung. Der Pſycholog 
kennt keine Scham; das iſt ſein Rauſch, ja, ſeine 
Ekſtaſe. Er trifft dich mit den Entdeckungen, die 
er in ſeiner Seele gemacht hat, er reißt dich in 
ſeine Abgründe, begräbt dich in ſeinen Finſter— 
niſſen, ſchleift dich durch ſeine Zweifel und ſeine 
Qualen, und am Ausgang und am Eingang ſteht 
er, nur er, Pförtner und Totengräber. Der ſchöp— 
feriſche, der handelnde Menſch übernimmt die 
Leiden der Welt und reinigt die Menſchheit da— 
von, der Pſycholog gießt ſeine Leiden über die 
Welt, und die Pſychologie iſt ihm der Schlüſſel 
zur Welt, das Mittel, um dir zu ſagen: Du biſt 
wie ich! Ein umgekehrtes tat-twam asi. Diefes 
„du biſt wie ich“, mit Hilfe der Pſychologie, des 
fortwährenden Belauerns konſtatiert, bringt etwas 
wie eine künſtliche Sozialität bei ihm hervor, in— 
des ihm die natürliche von Anfang an fehlt. Wo 
er haßt, iſt ſein Verrat ohne Hemmung, gewiſſer— 
maßen ſachlich; wo er liebt, glaubt er ſich zu 
opfern durch den Verrat, und er muß verraten, 
weil die einzige Form ſeiner Produktivität darin 
beſteht, das Ganze der Welt in Stücke zu reißen 
und in dem Schmerz über die Zerſtörung und 


24 


Zertrümmerung die Unvollkommenheit der Dinge 
zu geſtalten. Während der ſchöpferiſche Menſch 
in einem göttlichen Sinne grauſam iſt, iſt der 
Pſycholog in einem menſchlichen Sinne grauſam, 
da er durch ein tragiſch widerſpruchsvolles Geſetz 
trotz ſeiner Einſamkeit immer an die Menſchheit 
gefeſſelt bleibt und ſich ſo wenig wie von ſich ſelbſt 
richtend von ihr löſen kann. Er richtet nicht, 
er klagt an; es geht bei ihm um Recht oder Un— 
recht, doch nie um Gerechtigkeit. 

Pſychologie iſt Naturalismus. Wie ſie ſich auch 
gebärden mag, iſt ſie der Feind und der Gegen— 
ſatz der Schonung, der Scham, der Abbreviatur, 
der Andeutung, der Deutung, der Ahnung, der 
Sehnſucht, der Religion. Sie iſt immer ein 
irdiſch Erfülltes, rationaliſtiſch Fertiges; fie iſt 
das Wörtliche, nicht das Bildliche, das Allego— 
riſche, nicht das Symboliſche, der Weg und nicht 
das Ziel. 

Tun entſteht die Frage: Wie verhält ſich die 
Welt, die Geſellſchaft hiezu, wie nehmen die Ver— 
ratenen den Verrat auf? Sie werden ja beſtändig 
in Anklagezuſtand verſetzt, beſtändig ihrer Geheim— 
niſſe beraubt, beſtändig in ihrer Scham beleidigt, 
wie können ſie das ertragen? 


Die Antwort iſt: Der Pſycholog bedient fich des 
8 


Kniffs, daß er alles einzelne, Vereinzelte und 
Sonderliche zum Typus verdichtet (während der 
ſchöpferiſche Menſch umgekehrt den Typus indi— 
vidualiſtert). Dadurch wird allem Widerſpruch 
die Spitze gebrochen, und es entſteht ein Werk von 
großer Leidenſchaftlichkeit, gegründeter Bewegt— 
heit und ſeeliſcher Durchführung, ein Werk von 
je ſtärkerer perſönlicher Einheit zumeiſt, je geringer 
eben die Objektivierung der Welt darinnen iſt. 
Obwohl jene Eigenſchaften nur mittelft der 
Kunſt, und zwar einer bedeutenden Kunſt zur Er— 
ſcheinung gelangen können, nenne ich doch das 
Verfahren des Pſychologen — in höherem Be— 
tracht — einen Kniff, denn er deckt ſich damit 
nach zwei Seiten: nach der einen gegen die Men— 
ſchen, denen er einen Zerrſpiegel vorhält und ſie 
dabei durch ſeine Leidenſchaft, ſein Gefühl, ſeine 
Kunſt, ſeine Perſönlichkeit verhindert, die Will— 
kür in den Zerrbildern zu erkennen; nach der 
andern Seite gegen Gott, oder, wenn man will, 
gegen das ſchöpferiſche Prinzip, indem er ſich als 
einen leidenden, leidenſchaftlich ergriffenen Men— 
ſchen preisgibt, aufgibt und zugleich darauf pocht, 
daß er in unabhängigen Geſtaltungen zur Ge— 
rechtigkeit und zur Wahrheit ſtrebt. 

Ich ſpreche ſelbſtverſtändlich nicht von der Pſycho— 
26 


logie als Wiſſenſchaft; diefe iſt eine gerade Sache 
und hat mit der Pſychologie in der Kunſt wenig 
oder nichts gemein. In der Kunſt iſt ſie nicht 
nur eine analytiſche Methode, ſondern eine Em— 
pirie höherer Ordnung, nicht mehr eine Difziplin, 
die von Realitäten ausgeht, ſondern eine Realität 
an ſich. Sie verpflichtet und verbindet das künſt⸗ 
leriſche Gebilde der Erde, verleiht der Viſton, 
dem Gleichnis, dem Schwebenden, dem ſchon Zu— 
ſammengefaßten, Verdichteten ſein unverrückbares 
Geſetz, ſeeliſche Anwendung, wechſelvolles Leben 
und die Glaubhaftigkeit, die ſich auf die Erfahrung 
beruft. Der Literat als Pſycholog will aber durch 
die Pſychologie die Viſion, das Gleichnis, das 
Verdichtete, das Gedicht erſt erzeugen. Ihm iſt 
der Teil mehr als das Ganze, das Kleinſpiel 
wichtiger als die Zuſammenfaſſung, und bevor 
er zur Idee gelangt iſt, erlahmt er in den Wirk— 
lichkeiten. Die Wirklichkeit vermag er zu er— 
ſchöpfen, er weiß ſie immer neu, anziehend, ſelt— 
fan und treffend zu geſtalten, denn fie iſt ja fein 
Perſönliches, ſein Erbe, während die Idee das 
Göttliche vorſtellt, von dem er abgeſchnitten iſt. 

Durch das außerordentliche, zauberhafte, verführe— 
riſche Talent, die in ſich ſelbſt beſchloſſene Realität 
zu geſtalten, wird nun die Menſchheit, die Ge— 


27 


ſellſchaft oder das, was man Publikum nennt, 
über den begangenen Verrat hinweggetäuſcht. 
Und zwar nicht erſt ſeit geſtern. 

Mit dem Eintritt des Chriſtentums in die Welt 
hat die geiſtige und ſittliche Indiovidualiſterung 
der Menſchheit begonnen. Der chriſtliche Kern— 
gedanke iſt eigentlich die vollſtändige und frei— 
willige Selbſtiſolierung des Individuums unter 
jedem Verzicht auf ſoziale Miſſion. Im Geiſt 
des Evangeliums Chriſt fein heißt: allein da- 
ſtehen gegen Gott; im Einzelnen, der ſich er— 
löſt, wird die Menſchheit erlöſt. Es konnte bei 
der Sublimität einer derart aufs äußerſte ge 
triebenen Idee nicht ausbleiben, daß ſie, um eine 
Wirkung zu üben, mißverſtanden werden mußte 
und daß Chriſtſein ſchließlich nur hieß: erlöſt 
werden durch das Leiden eines andern, deſſen 
nämlich, der ſeiner Lehre das welthiſtoriſche Bei— 
ſpiel gegeben. Dadurch wurde das Chriſtentum 
nach der ſozialen Seite hin nutzbar gemacht. 
Die chriſtliche, den Leib leugnende, die Form zer— 
ſtörende Idee iſt die der Kunſt entgegengeſetzte 
Idee ſchlechthin. Der chriſtliche Mythos konnte 
der Kunſt nur dort Nahrung zuführen, wo ent— 
weder gläubige Gemüter den gläubig Schaffenden 
umgaben, oder wo ſein menſchlicher Gehalt die 


28 


Strenge der Überlieferung ſprengte und Motive 
und gewiſſe Freiheiten der Darſtellung bekam, die 
eher altteſtamentariſch oder, im ganzen Marien— 
kult, antikiſierend und dem Erlöſergedanken fremd 
waren. Es konnte alſo nur das leidende, in— 
brünſtige, ekſtatiſche, lebenverzichtende Gefühl zum 
Ausdruck gelangen, wozu die volle naive Fröm— 
migkeit erforderlich war, oder es mußten über— 
nommene Vorſtellungskomplexe eine immer wieder— 
holte Darſtellung finden, deren perſönliche Be— 
ſeelung aber unmöglich wurde, als die Tradition 
ermattet und die Zahl ihrer Motive verbraucht 
war. Die bildende Kunſt und die Muſtk, deren 
Gehalt ausſchließlich in der Empfindung wur— 
zelt, die ihre geiſtigen Werte in Form und 
Rhythmus verlegen, konnten einen, wenn auch 
meiſt nur ſcheinbaren Zuſammenhang mit dem 
Chriſtentum am längſten bewahren; die Literatur 
hingegen, Drama, Epos und Gedicht, ſind ſchon 
durch das Weſen der Sprache und des Wortes 
auf eine ſtärkere geiſtige Exiſtenz geſtellt. Dies 
bedingt einerſeits eine größere Kälte, größere 
Ferne und geringere Unmittelbarkeit der Gefühls— 
werte, andererſeits wird aber dadurch jede Ver— 
ſchleierung und Verdunkelung der Idee erſchwert, 
da die Auflöſung der unerläßlichen Harmonie 


29 


zwiſchen Idee und Ausdruck zur Wirkungsloſig⸗ 
keit führen würde. 

Der Dichter mußte ſich alſo um ſo eher und 
nachhaltiger vom Religiöſen befreien, je mehr dies 
Religiöſe feines nationalanythiſchen Gehalts ent— 
kleidet und, was dem Geiſt des Chriſtentums 
widerſpricht, zu einer ſtaatlichen und ſozialen Ein⸗ 
richtung wurde. Das chriſtliche Gebot der Ab— 
ſonderung, der leben-, form- und freudezerſtörenden 
Individualiſterung zwang ihn, ſozuſagen wider 
feinen Willen, zu einer Indioidualiſterung auf 
geiſtigem Weg, vor allem zu einer losgelöſten, 
vom Volk abgeſonderten Exiſtenz. Das Chriſten— 
tum hatte ihn des lebendigen, aus dem Volk ihm 
zuſtrömenden, im ſeeliſchen Leben des Volks ge— 
wachſenen Mythos beraubt, und dies bedeu— 
tete: daß er ſeinen Mythos ſelbſt erſchaffen mußte, 
aus ſeiner eigenen Bruſt heraus. Die antiken 
Dichter befanden ſich im Kreiſe des religiöſen 
Mythos ihres Volkes, der ſtets identiſch war 
mit dem nationalen Mythos. Das Chriſtentum 
zerbrach dieſe Einheit nicht nur, ſondern ſein le— 
bensfeindlicher und alles Schöpferiſche verneinen— 
der Mythos entzog den Dichtern auch die weſent— 
lichſte Nahrung, entzog ihrem Daſein die wun— 
derbar tiefe Notwendigkeit und Geſetzmäßigkeit, 


30 


die jene Genien beſaßen, die von einem ununter— 
brochenen Strom mythiſch vorhandener Geſtalten 
ſchon getragen wurden, bevor ſie ans Werk gingen. 
Wie wäre denn ſonſt das chriſtliche Mittelalter, 
inſonderheit das deutſche, ſo arm an großen Dich— 
terperſönlichkeiten? Die wenigen von Rang führ— 
ten nur ein privates Daſein, waren einſam, wa⸗ 
ren geduldet, oder auch wohlgelitten, „Sänger“, 
Koſtgänger, Mitläufer, nicht Führer, nicht 
Propheten. 

Der Dichter mußte ſeinen Mythos ſelbſt er— 
ſchaffen. Dabei iſt es geblieben. Die Entwicke⸗ 
lung der Geſellſchaft, der Staaten, der Völker, 
die geiſtigen und ſozialen Revolutionen, die un— 
geheuere, durch die fortſchreitende Dezentraliſation 
und die beſtändige Verſchiebung der Kaſten und 
Klaſſen beſtändig wachſende Fülle von Schick— 
ſalsmöglichkeiten, alle dieſe Umſtände haben die 
Tendenz zur Vereinzelung verſtärkt. Kaum daß 
noch Familien ein natürliches, auf dem Herkom— 
men beruhendes Ganzes bilden; die Gemeinde, die 
Polis, der Staat, die Nation find ſchon künſt— 
liche und zufällige Zuſammenſetzungen. Das ſee— 
liſche Erwachen von Millionen Einzelnen bietet 
freilich ein großes Schauſpiel; es iſt nur die Frage, 
ob es durch die gegebene Freiheit im Grenzenloſen 


31 


nicht eben ins Grenzenloſe und Verhängnisvolle 
geſteigert wird. 

Da dem Dichter alſo die geglaubte und geficherte 
Grundlage des nationalen Mythos fehlt, muß 
er ihn aus ſeinem Innern erſetzen. An die Stelle 
der lebendigen Überlieferung tritt diejenige des 
Schrifttums, und ſtatt der natürlichen Sprache, 
die der Mythos hat und in der er zu allen ſpricht, 
ergibt ſich der Stil. Sein Gedachtes, ſein Geſchau— 
tes, ſein Geträumtes, ſein Werden, ſein perſönliches 
Erleben, ſeine Anſchauung der Welt, ſein Kampf 
gegen die Geſellſchaft, ſein Verhältnis zur Natur, 
dies alles verdichtet, vereinfacht, verbildlicht und zur 
Schönheit verwandelt, wird nun für den Dichter 
zum Mythos, wird es erſt dann, wenn er zu— 
gleich Künſtler iſt, wenn er alle Lebenselemente zu 
Kunſtelementen umgeſchmolzen und das Perſön— 
liche in ein Göttliches verwandelt hat. 

Dies ſetzt nicht nur eine gewaltige Arbeit, einen 
heiligen Ernſt voraus, eine Kraft zur Entſagung 
und einen Willen zur Einſamkeit und Selbſtver— 
tiefung, die den Dichter vollkommen zum Sklaven 
ſeiner Aufgabe machen müſſen, damit er Herr des 
Werkes werde, ſondern es fordert auch bei den 
Empfangenden eine Eigenſchaft, die faſt Konge— 
nialität zu nennen iſt und die ſich natürlich nur 


32 


bei erwählten Geiſtern findet, zunächſt wenigſtens; 
ſpäter greift dann die Tradition von Bildung, 
Stil und Kultur ein, dieſelbe Tradition, deren 
ſich der Nachfahr bedienen und die er zu— 
gleich bekämpfen muß, um ſich ſelbſt zu fin— 
den. So vollzieht ſich nie ein harmoniſches 
Kräfteſpiel; alles iſt Kampf und Abſonderung, 
und das Mißoerſtändnis zeugt, nicht das Ein— 
verſtändnis. 

In Kürze: der ſchöpferiſche Menſch erſetzt das 
Real⸗Mythiſche durch das Fiktivo-Mythiſche, das 
um ſo bedeutender und großartiger iſt, je größer 
eben ſein Geiſt, ſein Blick, ſeine innere Welt, ſein 
Genie ſind. Es gelingt ihm durch unermüdlichen 
Fleiß, durch glühendes Welt-Erraffen, ſelbſtver— 
geſſenes Welt-Erſchauen, fein Egoiſtiſch-Perſön— 
liches gleichſam auszutilgen und dafür das Fiktio— 
Perſönliche zu geben. Dies iſt dem Literaten 
verſagt; alſo auch dem Pſychologen. Wohl 
ſchöpft er ebenfalls alle Nahrung aus ſich ſelbſt, 
gräbt eine Welt aus ſeiner Bruſt, erlebt tief 
und wahrhaftig, aber da er nicht die Gabe 
der Verwandlung beſitzt, bleibt er immer, der er 
war, wandelt ſich nur von einem Werk in das 
andere, von einer Geſtalt in die andere, nie in das 
Göttliche empor, und er iſt fern von den Men— 


33 


ſchen — wie der ſchöpferiſche Menſch, und fern 
von Gott — wie die Menſchen. Er verwandelt 


ſich nicht in das Herrlich-Fiktive; auch ſeine Ge— 
ſtalten nicht; ſie treten nicht in die ewige Region, 
in die Sphäre der höheren Wahrheit, des ver— 
einfachten Lebens, ſie bleiben ihm zugeſchmiedet, 
bleiben Suchende, Irrende, Leidende, Unbefreite, 
und ſie ſollen Boten ſein von ihm zur Welt, von 
ihm zu Gott, Boten, die er dingt, um ſich ſelbſt, 
ſeine Schmerzen, ſeine Scham, ſeinen Ehrgeiz, 
ſeine Einſamkeit (die ihm doch ein errungenes 
Gut, nicht ein erzwungenes Joch ſein müßte) zu 
bezeugen, zu verraten. Die Menſchen aber, in 
ihrer Neugierde, ihrer Eitelkeit, ihrer Luſt an 
Spiegelbildern, an Enthüllungen, entſchleierten 
Geheimniſſen, zerſtörten Vorbehalten und unter 
dem Druck ihrer Not gewahren in ihm nicht ein 
Gleichnis für Göttliches, nicht eine Idee, ſondern 
für Menſchliches, eine Wirklichkeit. Das danken 
ſie ihm, das bewundern ſie an ihm, das zieht ſie 
zu ihm. Seine Wachſamkeit hält fie wach, feine 
Bewegtheit zerſtreut ſie, ſeine Treffſicherheit trifft 
ſie, ſeine Geſpanntheit ergötzt ſte, ſeine Einſamkeit 
verſtehen und betrauern fie, in allem finden fte ein 
Gleichnis für ſich ſelbſt, und das iſt etwas an— 
deres, viel Luſtigeres, Glaubhafteres und Reizen: 


34 


deres als beim ſchöpferiſchen Meuſchen, wo fie 
ein Gleichnis für das Göttliche finden, die Syn— 
theſe. 

Freilich, ſo wenig der ſchöpferiſche Menſch heute 
das Volk für ſich hat, die belebte, organiſche Ge— 
ſamtheit einer Kulturperiode, fo wenig der Literat 
als Pſycholog. Jener hat eine Gemeinde, eine 
geiſtige Polis, die an Macht zunimmt; der Pfy- 
cholog hat ein Publikum. Und was iſt ein 
Publikum? Es find die „Getroffenen“, die Neu— 
gierigen, die Gelangweilten, eine ungeordnete 
Horde von Freiſchärlern der Bildung, die Wahl— 
loſen, Geſetzloſen, Zuſammenhangloſen und völlig 
Gottloſen. Darin beruht der tiefſte Schmerz des 
Pſychologen, und deshalb wird ihm Erfolg, Bei— 
fall und Echo niemals zur reinen Freude. Was 
kann es ihm auch bedeuten, die Gottloſen für ſich 
zu haben? Ihm, der doch daran leidet, daß er 
gottlos ift? 

Mit der Genugtuung, die nicht frei von dem 
Glück des Darüberſtehens iſt, mag er auf den 
blicken, der geradeswegs für das „Publikum“ er- 
ſchaffen wurde und der nicht mehr daran leidet, 
daß er gottlos iſt. 


35 


Der Literat als Tribun 


XxX XxX 


r ſtammt zumeiſt aus kleinen Verhältniſſen 

und kennt die Not, die leibliche wie die 
geiſtige. Zwei Dinge haben ihn emporgehoben: 
ſein Ehrgeiz und das Wort. Sein Ehrgeiz war 
anfangs nur äußerlich, er zielte auf die Verbeſſe— 
rung der ſozialen Stellung, wurde aber ſpäter 
durch geiſtige Zuſtröme ſowohl veredelt wie von 
der Richtung abgelenkt, denn der Dienſt am Wort 
iſt ein Frondienſt, der jeden Lebensgenuß zerſtört. 
So ſpielt dieſer Ehrgeiz mit dem, der ihn hegt, 
wie ein Irrlicht mit dem Wanderer. 
Die an die Zwecke gebundene Seele kann den 
Geiſt nicht beſchwingen, aber ſie gibt ihm die 
vehemente Stoßkraft des von eingepreßtem Dampf 
getriebenen Hebels. 
Der Literat als Tribun iſt der Pſycholog des Tat— 
ſächlichen; er ift Erklärer und Propagandiſt; Ban- 
nerträger alles Neuen; Beobachter, der unfehl- 
bare Schlüſſe zieht; Alchymiſt der Überrafchungen 
und Moraliſt der Mutzanwendung; Übertreiber 
des Abſurden, Verzerrer des Trivialen, Wider— 
facher des Selbſtverſtändlichen; Leugner des Selte— 
nen, wo Seltenes anerkannt, und Verkündiger des 


36 


Genius bis zu der Stunde, wo der Genius ſich ganz 
entfaltet. Er iſt der Meiſter der Anpaſſung, der 
Aufwiegler der Stumpfen, die Polizei der Re— 
bellen, Brandſtifter und Arzt; er iſt vieles in vielem, 
alles in allem. Er ſteht, auf den Augenblick an: 
gewieſen, zwiſchen zwei Tagen, ohne des vorher— 
gehenden zu denken, ohne den gegenwärtigen hal— 
ten zu können, ohne vom folgenden zu wiſſen. 
Er iſt wie der Kapitän eines Paſſagierdampfers; 
bei jeder Fahrt ſind andere Menſchen um ihn, 
niemals gleichgeſtimmte, nie vorbereitete, nie ſolche, 
die ſich ſeiner Leiſtung von der letzten Fahrt her 
erinnern; er muß alle Vorausſetzungen ſeines 
Tuns und ſeiner Kräfte jedesmal von neuem 
erponieren. Der Wechſel der Paſſagiere vollzieht 
ſich unter beſtändigem Bruch geſchaffener Bünd— 
niſſe und Übereinkünfte, beſtändiger Veränderung 
der Formen und Normen. 

Was er mitbringt, iſt ſeine Perſon; dieſer er— 
innert man ſich wohl. Im Grund iſt es der 
Name, der Gewicht und Klang hat, der eine 
Luft des Schreckens, des Befehls, der Autorität, 
der Leidenſchaft um ſich trägt. Die Leiſtung wird 
dem Namen zugewogen, die Perſon ſchreitet über 
die Leiſtung hinweg. 

Wer iſt unglücklicher als er? Vertrauen erzwin— 


37 


gen, Anerkennung, Billigung und Freundſchaft 
mit Aufwand aller Mittel des Geiſtes erobern, 
um alles wieder zu verlieren, wenn der Tag ſich 
wendet. Immer wie am Anfang muß er ſeine 
Perſon einſetzen und bloßſtellen, immer mit dem 
ganzen Elan oder, was nicht minder aufreibend 
ift, mit der Gebärde des ganzen Clans. Hätte 
er nicht die Gebärde, ſo würde er ausgeplündert, 
ausgeſchlürft und ausgeleert, da die Vielfältigkeit 
der Aufgaben, die ihm geſtellt werden, und die 
Zerſtreutheit der Intereſſen, die zu ſammeln, zu 
befriedigen, zu beſchäftigen ſeine wichtigſte Miſ— 
ſion iſt, ihn nötigen, alles was er empfängt, ſo— 
gleich wieder zu veräußern. Der ſchöpferiſche 
Menſch verarmt nicht, ihn nähren tiefe Wurzeln; 
ſeine wirkliche Perſönlichkeit wird genährt von 
feiner mythiſch⸗fiktiven. Auch feine Einſamkeit 
iſt nur fiftio, denn er hat die Geſtalt, die ihm 
verbunden iſt, auch wenn kein Ohr ihn hörte, 
kein Auge ihn ſähe. Die Realität iſt nur ein 
Gleichnis für ihn; er ſchafft ja die Welt zum 
zweitenmal. 

Demgegenüber ift der Literat als Tribun der ein— 
ſamſte von allen Menſchen, ganz an ſich geſchmie— 
det, ganz gelöſt von der Welt. Was ihn ſchützt 
und tröſtet, ihn unermüdlich, gewiſſermaßen ver- 


38 


blendet macht, was feinen Ehrgeiz in Glut erhält, 
iſt das Wort. Er hat eine angeborene Liebe zum 
Wort, und es wäre verwunderlich, wenn er ſich 
bisweilen nicht für einen Dichter hielte. Das 
Wort iſt ſein Gefährte, er geht mit ihm um wie 
mit einem Freund, er tändelt mit ihm wie mit 
einem Kind, er betreut es wie eine Geliebte und 
iſt von der Macht des Wortes bis ins Innerſte 
durchdrungen. Iſt er von Natur feige, ſo wird 
er durch das Wort tapfer, ja tollkühn; hinter dem 
Wort verſchanzt er ſich, verbirgt er ſeine Armut, 
feine Zweifel, feinen Neid, feine Unſtcherheit. 
Das Wort gibt ihm Charakter, ſteigert ſeinen 
Willen, korrigiert und verdeckt ſeine Irrtümer 
und verleiht ihm genau die Geſtalt, die er vor— 
zuſtellen wünſcht. So wird er undurchdringlich 
mit Hilfe des Worts, als ob das Wort ein 
Panzer wäre; unſichtbar und unauffindbar hinter 
dem Wort, ein wunderliches Widerſpiel zum 
ſchöpferiſchen Menſchen, der unſichtbar iſt hinter 
der Geſtalt. Aber Worte ſchaffen nicht die Ge— 
ſtalt, nur Handlungen, Bewegungen (des Körpers 
oder der Seele). Dann find Worte von ganz an— 
derem Valeur, ja, ganz andere Organismen, Ge— 
deutetes, nicht Geſagtes. Das Wort als ſolches 
verhüllt die Geſtalt und macht ſie unſichtbar. 


39 


In einer Zeit wie der gegenwärtigen, in der un— 
geheuren Fülle der Dinge, der Geſichte, der 
Vorgänge, der Meinungen, des Wiſſenswür— 
digen, des Neuen, des ſchnellen Austauſches der 
Werte, der enormen Vergrößerung geiſtigen Be— 
ſtandes bei erſchreckender Haltloſigkeit des Befiges 
iſt der Literat als Tribun unentbehrlich. Er iſt 
es, der wägt, der urteilt, der vermittelt, der die 
Großmünze der geiſtigen Regierungen in die Klein— 
münze des Verkehrs umſetzt, der Bildung ver— 
breitet, Kenntniſſe weckt, Einſichten fördert und 
in allen Angelegenheiten des öffentlichen Lebens 
höchſte und letzte Inſtanz iſt. 

Das wäre nun eine ſehr ſegensreiche Tätigkeit 
mit heilſamen Wirkungen, müßte man glauben. 
Man müßte glauben, daß eine ſo ſtetige und hef— 
tige Teilnahme am allgemeinen Wohl, an Kunſt 
und Kultur, an ſeeliſchem Wachstum und geiſti— 
gem Fortſchritt ohne Selbſtloſigkeit, ohne Opfer— 
ſinn und ohne wahre Sachlichkeit nicht denkbar 
ſei. Sehen wir näher zu. 

Kann von Opferſinn die Rede ſein, wo ein Lohn, 
auch nur der allergeringſte Lohn in Ausſicht ſteht? 
Kann von Selbſtloſigkeit die Rede ſein, wo eine 
Handlung dazu dient, den Glanz eines Namens 
zu erhöhen? Es mag einer mit wahrer Leiden— 


40 


ſchaft eine Sache führen, und er beſitzt doch nicht 
die wahre Sachlichkeit, ſobald es unter dem 
Schutz ſeiner Perſon und unter dem Schild ſeines 
Namens geſchieht. Opferſinn und Selbſtloſigkeit, 
das wäre Auflöſung und Anonymität, — rein be— 
trachtet, meine ich, denn ich will ja keine Kom— 
promiſſe mit den Begriffen und mit den Erſchei— 
nungen ſchließen. Daß die Anonymität des Tri— 
buns jeweilen ſogar ſeiner Ehre ſchaden kann und 
muß, gehört auf ein anderes Feld; es iſt dies ein 
bedeutſames Kulturzeichen, welches die Kultur, 
nicht das anklagt, was ich unter Anonymität 
verſtehe. 

Was aber verlangft du? hält man mir dawider. 
Iſt der Opferſinn, die Selbſtloſigkeit, die Sach— 
lichkeit unzureichend, die der Literat als Tribun 
in ſeinem edelſten Typus darſtellt, was wäre dann 
zureichend? Was geſchähe ohne ihn? Wer 
würde ſeine Arbeit verrichten, die, wie geſagt, un— 
entbehrlich iſt, ſchon weil ſie der Gewohnheit und 
den eingefleiſchten Neigungen entſpricht? Viel— 
leicht diejenigen, die der Auflöſung und der Ano— 
nymität fähig ſind? Die wirken durch die Tat, 
durch die Geſtalt, nicht durch das Wort. Iſt 
jedoch der ſchöpferiſche Menſch anonym? Er 
erreicht einen gleichwertigen Zuſtand durch den 


41 


Mythos, in dem er entſchwindet wie Zeus in 
der Wolke. Wo läge aber der Mythos für den 
Literaten als Tribun? Er kann ihn nicht haben, 
denn das Wort iſt das dem Mythos ſchlankweg 
Entgegengeſetzte. 

Dafür wäre alſo abermals die Zeit zu beſchul— 
digen, die eine Kultur geſchaffen hat aus einer 
Summe von Einzelkulturen, die auf den Indi— 
vidualismus ſchwört und in ihren ſubtilſten Re— 
gungen, in ihren ahnungsvollſten Stunden noch, 
ſie weiß kaum wie ſehr, der Materie huldigt. 
Die Perſon, das iſt eben die Materie in nuce. 
Man fragt, was ohne die fegensreiche Tätigkeit 
geſchehen würde, die der Literat als Tribun ent— 
faltet. Die Wege der Bildung würden ver— 
öden; gewiß. Aber iſt es nicht ſchon genug der 
Bildung, die nur auf eine Vervollkommnung 
des Perſönlichen, perſönlicher Macht, perſön— 
licher Ausdrucksmöglichkeit, perſönlicher Stei— 
gerung zielt? Sollten nicht alle Federn einmal 
ruhen, um eine wohltuende Geiſtesdämmerung 
eintreten zu laſſen, in der die Seelen einander 
finden würden, der Streit der Meinungen, die 
Schlacht der Worte zum Austrag gelangen 
könnte? Ich behaupte nicht, daß dieſe Bildung 
nur ein Äußeres ſei, fie kann auch ein Inneres 


42 


fein, Kräftigerin des Gemüts, Reinigerin des 
Herzens; aber ein Religiöſes iſt ſie nicht, niemals 
wird ſie den Menſchen zum Mythos führen, 
ihm die große Fülle, die große Stille, die große 
Beſcheidung, den großen Zuſammenhang ſchen— 
ken und ſein Herz der Trägheit entledigen, die 
eine Folge der individuellen Iſolierung iſt; im— 
mer wird ſie ihn verperſönlichen, zum Knecht 
des Wortes machen, zum Wörtlichen, zum Ein— 
zelnen. 

Dafür eben iſt das Wort ein Merkmal, das 
Merkmal geradezu. Es hat alle Gebiete des 
Denkens und des Gefühls, die Geiſterwelt und 
die Sinnenwelt erobert. Es iſt der nützliche Ko— 
loniſaror jeder Wildnis und der voreilige Zer— 
ſtörer des Geheimnisvollen. Es hat nur kurzen 
Aten, eine flüchtige Exiſtenz, aber es hat die Kraft, 
ſich immer wieder aus ſich ſelbſt zu erneuen. Was 
es berührt, bezeichnet hat, tritt unveräußerlich in 
den Bezirk des Gewußten und Bewußten, in den 
Bannkreis der Meinungen und Urteile, wird 
ſtudiert und klaſſifiziert, iſt da und iſt fertig wie 
Raritäten in einem Muſeum, wie Naturalien 
in einer Sammlung, wo ſie aufhören, ein freies, 
organiſches und anonymes Daſein zu führen. 
Was geſtern noch Ahnung war, heute iſt es Ge— 


43 


wißheit, morgen iſt es ein Schall. Der Weg 
vom lebendigen Wort zum Schlagwort entſchei— 
det die Kürze des Wegs vom Glauben zur Ent— 
götterung, von der Gebundenheit zur Anarchie. 
In der Mitte des Wegs ſchwebt ein Scheinbild 
von Glauben und Geſetz; es iſt nicht Glauben, 
es iſt Angſt, Fatalismus; es iſt nicht Geſetz, es 
iſt Trägheit, Rationalismus — Schranken vor 
dem Chaos. 

Will der Literat als Tribun über das Wort hin- 
aus, ſo gelangt er in die Sphäre des Dilettanten 
oder in die des Pſychologen, wobei er Schatten 
beſchwört, die er für Geſtalten nimmt. Aber inner⸗ 
halb ſeines Bereichs iſt er unnachahmlich und 
wird ſeine Gaben zur Vollendung entwickeln. 
Da er in der Luft der Worte lebt, atmet er alle 
Worte ein, die über den Dingen ſchweben, über 
den Menſchen, über der Kunſt und über der Na— 
tur. Er vermag ſie ſo zu binden, ſo zu ſchleifen, 
daß ſie unter allen Umſtänden ſeinen Charakter 
und die Farbe ſeiner Perſönlichkeit annehmen. 
Dies iſt noch nicht Stil; zum Stil gehört Diſtanz 
und Ruhe, Bild und Rhythmus; es iſt das Wort 
in ſeiner Sinnlichkeit und Mähe, ſeiner Einſchich— 
tigkeit und Einzelligkeit, das naive, parteinehmende, 
werbende und ſymbolloſe. Damit es an ſeinem 


44 


Platze fei, fehlt ihm die Rede. Dies enthüllt fein 
Zwittertum wie auch den Zwieſpalt des Literaten 
als Tribun. Die Rede fordert Hörende, nicht 
Neugierige, Wißbegierige, nicht Gelangweilte, 
die flüchtig aufhorchen und wieder vergeſſen, wenn 
der Tag ſich wendet, deren Teilnahme für Ge— 
leſenes nur eine Maske der Müdigkeit und der 
Überfürterung, deren Enthuſiasmus ſogar, weil 
ſie ſich dadurch von einer Verpflichtung loskaufen, 
nur eine künſtliche Form von Gleichgültigkeit oder 
ſagen wir Objektivität iſt; ſondern die Rede for— 
dert eine von gemeinſamem Band vitaler Inter— 
eſſen umſchlungene Gemeinde. Der Literat als Tri— 
bun ſitzt alſo, trivial geſagt, zwiſchen zwei Stühlen. 
Zur Rede mangelt ihm die ſoziale Grundlage, eine 
einheitlich beteiligte Geſellſchaft; das geſchriebene 
Wort hat ganz andere Reſonanzen und An— 
ſprüche; an die Stelle des Willens zur Tat tritt 
der Ehrgeiz am Wort; er iſt zum Schriftſteller ge— 
worden, ohne zu ſpüren oder zuzugeben, daß dies 
nur ein Surrogat iſt, und über die Unmöglichkeit 
einer allgemeinen, politiſchen, beſſer: verwandeln— 
den Wirkung tröſtet er ſich mit der Anerkennung 
der einzelnen, mit dem Enthuſtasmus der Gleich— 
gültigen, mit der Zuſtimmung der Fachgenoſſen 
und einem Ruhm, der aus Papier beſteht. 


45 


Eine unausbleibliche Folge des Mangels an Hö— 
renden iſt die zunehmende Zahl derer, die ſelbſt 
etwas ſagen wollen. Es beruht dies auf dem ſelt— 
ſamen Irrtum der menſchlichen Natur, daß ſie 
das geben zu müſſen glaubt, was ſie nicht emp— 
fängt. Die fortſchreitende Indiovidualiſterung 
wirkt auf den einzelnen verlockend, ein Fantom 
der Freiheit äfft ihn, und er tritt ſelbſttätig aus 
der Kette, bevor zur Reife gelangt iſt, was durch 
die ſtumme Arbeit der Geſchlechter vollendet wer— 
den muß. Jeder ſolche einzelne iſt ein „Talent“. 
Das Talent iſt ein Losgelöſtes, vom Mythos 
Getrenntes, auf eigene Fauſt Wirkendes. Die 
Talente ſind Zauberer, nicht Prieſter in der mo— 
dernen Welt, Sektierer, nicht Apoſtel, und was 
ihnen die Zeit verdankt, Unterhaltung, Zerſtreu— 
ung, Spannung, Anſpannung (der die Ab— 
ſpannung wie eine Rache nachgeht), dafür machen 
ſie ſich bezahlt durch eine geiſtige Tyrannei und 
eine Vorherrſchaft ihrer ſpezifiſchen Art, welche 
den innerlich Unſichern, zufällig Erhobenen nicht 
verleugnen. Das Talent iſt wie der Mond; es 
zeigt immer nur eine Seite: die literariſche; die 
menſchliche iſt unſichtbar, — eine Entzweiung 
von verhängnisvoller Beſchaffenheit, die irgend— 
wo und wann zum Bankerott führen muß. 


46 


Wie oft fehen wir, daß zugunſten des „Literari— 
ſchen“ das Menſchliche geopfert wird. Wir 
müſſen auf ein Antlitz verzichten, um uns an 
Verkleidungen zu ergötzen. Die Kunſt trennt ſich 
vom Leben. Nun gibt es Fälle, wo ein Mann 
ſo von einem Erlebnis erfüllt iſt, daß er ſich ge— 
drängt fühlt, es darzuſtellen. Es handelnd aus— 
zulöſen, iſt ihm aus vielen Gründen verſagt, unter 
welchen der Mangel eines echten geſellſchaftlichen 
Zuſammenſchluſſes am ſchwerſten wiegt; er greift 
zur ſchriftlichen Mitteilung — als Beichte; zur 
übertragenen Form des geſtalteten Bildes — als 
Spiegelung. Mag es Klarheit für ihn, Auf— 
klärung, Bereicherung für die Freunde, für Gleich— 
fühlende bringen, Werbung oder Verteidigung 
ſein, es reinigt und entlaſtet ihn. Anſtatt es aber 
dabei zu laſſen, das Ungewöhnliche, Seltene, jeden— 
falls Einmalige als ſolches zu bekräftigen, indem 
man die Einmaligkeit nicht zerſtört, anſtatt deſſen 
wird der Geiſt zur Krippe getrieben, und was zuerſt 
Berufung war, wird Handwerk, dann Routine, 
dann ekler Abſud und Selbſtplagiat. Man iſt 
Schriftſteller, denn man ſchreibt. Es wird immer 
weiter geſchrieben, ein Name wird ausgenutzt, 
eine Tat wird verleugnet, Freunde werden zu 
Koſtgängern, ehedem Ergriffene zu höflichen Ja— 


47 


fagern, die Seele verarmt in der Gebärde, der 
Geiſt ſtellt ſich im Wort bloß, Erlebnis wird 
ſogleich als Stoff einkaſſtert, der Stoff hin— 
wiederum lähmt das Erlebnis, dem Schaffenden 
wird die Bahn verlegt, den Genießenden die Un— 
ſchuld und Freudigkeit getrübt, und es entſteht — 
Literatur. 

Das Notwendige ſinngemäß vollbringen, kenn— 
zeichnet den Menſchen von Berufung. Infolge 
jener Entzweiung wird entweder das Notwendige 
nicht ſinngemäß, d. h. ſtilgemäß, angeborener 
Form entſprechend zum Ausdruck gelangen, wenn 
das Menſchliche prävaliert, oder das Sinngemäße 
wird nicht immer das Notwendige, ganz Legitime, 
ganz Triebhafte ſein, wenn das Literariſche prä— 
valiert. Entweder wird alſo das Literariſche als 
dem edleren Dilettantismus verwandt, oder das 
Menſchliche, Sittliche wird nur wie ein zufälliges 
Anhängſel erſcheinen. 

Letzterem Schickſal iſt der Literat als Tribun zu— 
meiſt unterworfen. Von Anbeginn an iſt er der 
geſchworene Feind des Dilettanten, da er ſozuſagen 
auf Vorpoſten ſteht, niemals Zeit hat, nach vielen 
Seiten ſich verkettet findet und, der Offentlichkeit 
preisgegeben, eine öffentliche Perſon iſt, von der 
man beſtimmte Leiſtungen zu erwarten ſich mehr 


48 


bemüßigt als gezwungen fühlt. Schon die ſtete 
Verantwortung nötigt ihn zur Gebärde, wenn 
der Elan verraucht iſt, um wieviel mehr erſt die 
Gewohnheit, das Metier. Das Wort umpanzert 
ihn, kommandiert ihn, und wollte er ſich auf ſein 
Sittlich⸗Menſchliches beziehen, wo das Wort 
geſündigt hat, ſo fände er die Brücken abgebrochen 
und den Weg zu weit. Er muß antworten, be- 
ſtändig antworten, als ob die Welt und das Le— 
ben voll von Fragen wären; ſie ſind auch voll von 
Fragen, nur werden ſie nicht an ihn gerichtet, 
ſondern an die Welt und das Leben, und die Ant— 
wort geſchieht um der Antwort, nicht um der Fra⸗ 
gen willen. Das Wort muß ihm Maske bleiben. 
Er darf ſich nicht verraten, niemals und 
unter keinen Umſtänden. Er iſt nur treu, ſolange 
das Wort ihm treu iſt. Er geht um die Ecke 
und ſieht dich nicht mehr. Dein Geſicht iſt ihm 
nur ein Wort, und Worte werden vergeſſen (oder 
auch behalten), geſehen werden ſie nicht. Er kann 
nicht träumen, das Wort hängt mit Bleigewicht 
an den Flügeln des Traums; er kann nicht ge— 
nießen, das Wort verpflichtet ihn, dem Genuß 
auszuweichen. Er fühlt nicht mit dir, außer mit 
ſeinem Ehrgeiz für deinen Beifall, mit ſeiner 
Leiſtung für deine Schwäche, mit ſeiner Virtuo— 


49 


ſität für deinen Dank. Dahinter ſteht ein Menſch, 
gleichſam kränklich, ſehr argwöhniſch, oft fenti- 
mental, ohne Vertrauen, ohne Traditionen, Em⸗ 
porkömmling, Autodidakt, überaus einſam und 
in unruhvoller, ja atemloſer Tätigkeit. 


Der Literat als Schöngeiſt 


XX XxX 


& ift ein Kind des Reichtums, oder wenn 
nicht dies, ſo verſteht er es doch, ſich die ge— 
meinen Sorgen vom Leibe zu halten. Nicht als 
ob er ein bequemer Herr wäre; er iſt im Gegen— 
teil gar nicht bequem, er hat nur einen leiden— 
ſchaftlichen Hang zur Bequemlichkeit, der ihm 
oft das Leben ſo unbequem wie möglich macht. 
Schon das bloße Nachdenken, geſchweige denn 
die Befliſſenheit, Bedürfniſſe und Anſprüche zu 
befriedigen, die einem gewöhnlichen Menſchen 
keinerlei Kopfzerbrechen verurſachen, ſtürzt ihn in 
Qualen und aufreibende Arbeit. Bis er dazu— 
kommt, den eigentlichen Zwecken zu dienen, iſt die 
Hälfte ſeiner Seelenkraft ſchon aufgebraucht. 

Seine Neigungen find luxuriös in jedem Sinn. 
Er liebt die Fülle, die Seltenheit, die Koſtbarkeit; 
er liebt die Dinge dinglich, mit wahrer Freude 
am Gegenſtand, doch nur ſeltene und koſtbare 
Dinge, oder ſolche, die ſchon gleichſam eine Me— 
tapher bilden oder enthalten. Am Häufigen und 
Niedrigen das Charakteriſtiſche zu ſchätzen, dazu 
fehlt ihm die Luſt, ja die Möglichkeit, weil er ſich 
zu weit nach der andern Seite entfernt hat. Da 


51 


aber das Leben mehr aus Häufigem und Niedri— 
gem beſteht als aus Seltenem und Koftbarem, fo 
iſt er kein Beobachter des Lebens, ſondern ein Be— 
ſchauer. Trotzdem hat er keine Beſchaulichkeit, 
denn er hat keine ITaipität. 

Man muß ſeine Bildung als profund bezeichnen 
und ſeinen Geſchmack als über jeden Zweifel er— 
haben. Dies läßt auf große Ausdauer ſchließen, 
auf einen ſicheren Blick und ein präzis abwägendes 
Urteil. Eine derartige Vereinigung von Bildung 
und Geſchmack kann ferner nicht ohne ernſthafte 
Selbſtzucht erreicht werden; iſt ſie noch dazu einem 
Temperament abgerungen, das zu Exzeſſen ver— 
anlagt iſt, ſo entſteht eine geiſtige Kultur edelſter 
Kategorie, in welcher der Begriff Vornehmheit 
zu tiefer Bedeutung gelangt. 

Warum ift aber der ſchöpferiſche Menſch nicht 
in derſelben Bedeutung vornehm? Weil er mit 
dem Niedrigen und Häufigen des Lebens ebenſo 
verbunden iſt wie mit dem Seltenen und Koſt— 
baren; weil ſein Weſen nicht darauf gerichtet iſt, 
ſich zu diſtanzieren, ſondern ſich zu identifizieren; 
weil er nicht Beſchauer iſt, ſondern Mitlebender, 
nein, im Innern der Dinge und der Kreaturen 
Lebender. 


Wenn der ſchöpferiſche Menſch in ſich ſelbſt ſein 
52 


Werk objeftiviert, fo diſtanziert es der Literat als 
Schöngeiſt. Das Mittel zur Diſtanz verleiht 
ihm die Form, der Stil. So ausnahmshaft 
ſeine Perſon iſt, ſo ausnahmshaft iſt ſein Stil, 
durchaus das Niedrige und Häufige meidend, 
durchaus das Unterſcheidende ſuchend und unter— 
ſchieden bis zum Geſuchten. Keine Figur, keine 
Bewegung, keine Schilderung, kein Gefühl be— 
ſteht durch ſich felbft, ſchmucklos, fachlich, eigen- 
kräftig, ſondern ſie werden durch den Stil her— 
vorgebracht, anſcheinend geläutert, in Wirklichkeit 
getrübt. Denn dieſer „Stil“ iſt nicht von der 
Hand und vom Willlen gelöſt; er zwingt immer 
zur Aufnahme und Betrachtung eines perſönlichen 
Elements und verhindert, daß man ſich hingibt 
und daß man glaubt. Man glaubt nicht an den 
Schauſpieler, der verſtehen läßt, daß er eine exqui— 
ſite Rolle ſpielt, und der Literat als Schöngeiſt 
iſt ein ſolcher Schauſpieler, ein Schauſpieler, der 
ſich nicht opfern und vergeſſen kann, weil er vor 
dem Spiegel ſpielt ſtatt vor Gott, der Schau— 
ſpieler ſeiner ſelbſt. 

Er kann ohne den Stil nicht denken, nicht träu— 
men, nicht geſtalten. Seine Phantaſie iſt nicht 
wortgebunden. Im Wort iſt er frei, durch Bil— 
dung und Wiſſen ſowohl wie durch einen impe— 


53 


ratoriſchen Zug feines Geiſtes, vermöge deſſen er 
alles Detail der Erſcheinung ſammelt und ſubli⸗ 
miert. Aber rhythmiſch gebunden iſt ſeine Phantaſte, 
in Schwingung, Ton, Melodik, Abſetzung und 
Steigerung ſo gebunden, daß die Beſchäftigung 
damit, die vorbereitende wie die ausführende, die 
ganze Atmoſphäre des Lebens füllt und das Leben 
ſelbſt gewiſſermaßen zu einem prädeſtinierten Ver— 
lauf zwingt. Das Formhafte wird ein Geſetz— 
mäßiges, und die Folge davon iſt, daß das Ethiſche 
ein Zufälliges wird, zumindeſt in Abhängigkeit 
gerät. Äußerlich wie innerlich findet beſtändig 
eine Verdrängung der Hauptwerte, eine Verſchie— 
bung des Subſtantiviſchen hinter das Attributi⸗ 
pifche ſtatt, woraus ſich ein ungeſundes und un— 
klares Verhältnis zwiſchen der Anſchauung und 
dem Bild, der ſinnlichen Wahrheit und der Me— 
tapher ergibt. Bild und Gleichnis werden iſo— 
lierte Faktoren, die ſich eigenwillig aufdrängen; 
der Weg von der Auſchauung zum Bild iſt oft 
ſo weit, daß der natürliche Wärmezufluß ver— 
ſickert und an deſſen Stelle eine künſtliche Glut 
tritt, Überhitzung des Ausdrucks, Überladung des 
Gehalts, Verzerrung der Form. Die beleidigte 
Okonomie läßt keine echte Schönheit mehr auf— 
kommen; wir gewahren entweder ein kaltes Ge— 


54 


bilde, Ohr- oder Augenweide, aber im Grunde 
entſeelt, oder eines, das uns wie in willenloſem 
Trotz gegen die Überwucherung der Metapher 
durch einen vergewaltigenden Subjektivismus er⸗ 
nüchtert und zweckbewußt macht. 

Denn es iſt nicht die Leidenſchaft, die mich ver— 
wandelt, ſondern die Verwandlungen der Leiden— 
ſchaft verwandeln mich mit, alſo letzten Endes 
ein Moraliſches. Auf dieſes Moraliſche muß 
der Literat als Schöngeiſt verzichten. Er ſcheint 
es zu verſchmähen, aber er muß darauf verzichten, 
weil er ſich nicht verwandeln kann, weil er, wie der 
Pſycholog und wie der Tribun, an ſeine Perſon ge— 
ſchmiedet iſt, weil auch er nur den Weg hat, obſchon 
es ein anderer Weg iſt, und weil er am Ziel ſtets bei 
ſich ſelbſt anlangt. Er kann ſich nicht verraten; 
er ſteht zu fern. Das Moraliſche beſchwert ſein 
Gewiſſen nicht mehr, er leidet nicht darunter, es 
kommt nicht mehr in Frage für ihn. Er ſpielt. 
Seine Gebilde können leicht und ſchwebend ſein wie 
Seifenblaſen, ſie können ſchwer oder flammend 
ſein, aber ſie werden niemals jene unbedingte 
Eigenlebigkeit zeigen, die dem Werke des ſchöp— 
feriſchen Menſchen innewohnt, fie bleiben an feine 
Perſon gebunden und haben gleichwohl nicht das 


Höchſt⸗Perſönliche, das erſt aus dem Mythiſchen 
55 


ſtrömt und das daher identiſch mit höchſter Sach— 
lichkeit iſt. Inſofern iſt ſein Schaffen Spiel: weil 
es nicht höchſte Sachlichkeit iſt. Da gibt es nur 
ein Entweder — Oder. 

Er mag Gemüt beſitzen, doch iſt es wie ein Fluch: 
während er ſeine Werke hervorbringt, vielleicht 
ſchon in der Konzeption, verzehrt der Rhythmus 
einen Teil der urſprünglichen Empfindung. Der 
Rhythmus herrſcht; die Einfachheit läßt ihn erlah— 
men, erſt im Komplizierten und Beziehungsvollen 
kann er ſich entfalten, es ſei denn, daß er das Ein— 
fache ſo weit diſtanziert, daß es ſchon wieder me— 
taphoriſch wird, als Stiliſterung verblaßt, als 
Arabeske ſich verkrümmt. Niemand kennt beſſer 
denn der Literat als Schöngeiſt die ewig gültigen 
Werte ſchöpferiſcher Kunſt. Daß er ſich an ihnen 
mißt, daß er immer wieder wähnt, nicht nur mit 
ihnen wetteifern, ſondern, wenn günſtige Zufälle 
zuſammentreffen, ſie auch erzeugen zu können, daß 
er ſich darüber täuſcht und doch wieder, vermöge 
ſeines präziſen Urteils, die Täuſchung nicht auf— 
recht erhalten kann, das iſt ſein tiefſtes Leiden. 
Schon dieſes Leidens wegen iſt er kein Epigone 
zu heißen; er iſt weit mehr, er iſt der Prätendent, 
der niemals gekrönt wird, der zweitgeborene Bru— 
der, und er verſteht oft mehr vom Regieren und 


56 


— Zu 0: 


**— n 


von der Verwaltung als der Regent, der Erſt— 
geborene. 

Möglich, daß er aus dieſem Grund etwas von 
einem unruhigen Diplomaten hat. Er muß immer 
ein wenig Politik treiben, um Proſelyten zu machen. 
Denn man wehrt ſich gegen ihn; die Wahrheit 
iſt in den Menſchen wie das Herz, ſie wird nur 
verſchleiert durch die Geſchäfte des Lebens und 
durch unreine Zwecke abgelenkt. Aber auch aus 
Liebe zur Schönheit wird er zum Politiker, da er 
den Rhythmus, von dem er beſeelt iſt, in ſeiner 
täglichen Exiſtenz gleichfalls nicht miſſen will. 
Er meidet dich heute, wie er dich geſtern geſucht 
hat, denn heute ſtörſt du ſeinen Rhythmus, wie 
du ihn geſtern beſchwingt haſt. Der Rhythmus 
macht ihn treulos und tyranniſch, liebenswürdig 
oder widerſpenſtig. Je unfruchtbarer er als Künft- 
ler iſt, je mehr Kunſt verwendet er auf ſein Leben, 
d. h. darauf, den Rhythmus in ſeine tägliche Exi— 
ſtenz zu bringen, wobei dann ein ganz verwickelter 
Umweg zum Leiden entſteht, über die Kunſt und 
über das Leben hin, fern von Gott und fern von 
den Menſchen, ſo daß die Schönheit als Surro— 
gat des Göttlichen zum Wahn- und Schattenbild 
wird und das Leben eine von falſchen Zwecken 
erfüllte kalte und unglückſelige Einſamkeit. In 


57 


folcher Einſamkeit geftalten wollen heißt im luft⸗ 
leeren Raum Lieder ſingen wollen. 

So wird der Literat als Schöngeiſt zum Sklaven 
der Zeit, indem er ihren Rhythmus packt und 
ihre Seele nicht findet und zerrieben wird im Ge— 
fühl einer ihm unbegreiflichen Ohnmacht; oder er 
iſt ein Verbannter, der mit unlebendigen und eigen⸗ 
willigen Formen ſich für ſozial und ſeeliſch för— 
dernde ſcheinbar tröſtet. 


Der Literat als Apoftel 


* * 


s ift das Weſen des Apoſtels, völlig hinge— 
Er einer Idee zu dienen. Das Weſen des 
Literaten iſt es, ſich ſelbſt unterworfen zu ſein. Der 
Literat als Apoſtel: das wäre alſo der Wider— 
ſpruch kat exochen, das Paradox an ſich, denn 
wie könnte man einer Idee dienen, wenn man nur 
der eigenen Perſon dient? Wie könnte einer, 
deſſen Schickſal es iſt, vom Mythos getrennt zu 
ſein, ſich berufen glauben, den Mythos zu er— 
zeugen? 

Dieſer Widerſpruch löſt ſich nur in einer einzigen 
Weiſe: indem er ſeine eigene Perſon zur Idee 
erhebt, in der er darauf ausgeht, aus ſich ſelbſt 
einen Mythos zu machen, aus ſeinem ſtabilierten 
Ich; nicht aus Anſchauung und Erlebnis der 
Welt, nicht hingegeben, ſondern verlangend, 
wollend und in der Bezauberung des Willens. 

Der Literat als Apoſtel iſt der fanatiſch auf das 
Künſtlertum gerichtete Menſch. Genuß des Lebens, 
verweilende Ruhe ſind ihm unbekannt. Man 
könnte glauben, es ſei der Ehrgeiz, der ihn be— 
feuert, der Erfolg, der ihn lockt, die Macht, die ihn 
reizt, und es iſt wahr, etwas von alledem gibt 


« 59 


feinem Streben den Flug und die Ausdauer, 
ſeinem Geiſt die Elaſtizität. Doch laßt ſeiner 
Ruhmſucht ſo viel Genüge geſchehen, als fie über— 
haupt begehrt, laßt feinen Namen an der Spitze 
von allen ſtehen, laßt ihn den Einfluß eines Herr— 
ſchers und den Reichtum eines Großbankiers 
haben, — es iſt ihm zu wenig; er kann es wün— 
ſchen, glühend darnach eifern, doch den Beſitz 
ſolcher Güter ſpürt er kaum. Er iſt ein Beſeſſe— 
ner, ein von der Kunſt Behexter. Es iſt ihm 
nicht darum zu tun, das Leben zu genießen. Sich 
ſelbſt will er genießen, ſich ſelbſt ausſchöpfen, ſich 
ſelbſt in allen Menſchen und Dingen erkennen, 
und das ganze All, Gott und die Kreaturen, iſt 
ihm eigentlich nur ſein vielfach zerteiltes Ich, ge— 
ſehen durch das Medium Kunſt, zu ſammeln 
und zu geſtalten ihm anbefohlen durch das 
Idol Kunſt. 

Der ſchöpferiſche Menſch iſt von einer wunder— 
baren Beſcheidenheit durchdrungen. Immer bleibt 
er gleichſam Bürger der Welt; er findet ſich ein- 
geordnet, nie bevorrechtet; geſteht man ihm höhere 
Rechte zu, ſo wird er ſchon an ſich zu zweifeln 
beginnen. Er hat das feinſte Ohr für die Muſik 
des Lobes und ſetzt dem geringſten Zuspiel feine 
Verachtung entgegen. Er iſt gelaſſenen Gemüts, 


60 


GGG 


weife und gehorſam, fich felbft gehörig und der 
Welt und der Gottheit dienſtbar, fein Künſtler— 
tum wahrend, keineswegs aber es als Schild be— 
nutzend oder gar als Poſtament. Vielleicht iſt es 
der Mythos, der ihn ſo beſcheiden macht, ſo 
ſtolz⸗beſcheiden, ähnlich wie der Abkömmling eines 
alten Geſchlechts ſtolz⸗beſcheiden iſt, indem er ſeine 
Fähigkeiten und das Vermögen, zu repräſentieren, 
nicht allein ſeiner losgelöſten Perſon zuſchreibt, 
ſondern es der Kette der Ahnen mitverdanken will. 
So auch der ſchöpferiſche Menſch. Es wirken 
in ihm Kräfte von oben, von den Toten her, von 
der Erde, vom Volke her. 

Ganz anders der Literat als Apoſtel. Er iſt der 
Rebell wider alle Ordnung, es ſei denn, die Ord— 
nung habe keinen andern Bezug als auf ihn. 
Ihm iſt alles erlaubt, nicht weil er wie der Pſycho— 
log alles erklären kann, ſondern weil er es iſt, 
durch den die Dinge und Einrichtungen ſind. 
Inſoferne verhält er ſich zum Pſychologen wie 
ein Geſetzgeber zu einem Winkeladvokaten. Ihm 
iſt Lobes nie genug, obwohl er Lob verachtet; 
es gibt keinen Beifall, der ihn beſchämte, keinen 
Tadel, der ihm anderes wäre als die Frechheit 
des Neides oder der Dünkel des Unverſtands. Er 
iſt ausſchweifenden Gemüts; ſeine Nerven ſind 


61 


der höchſten Schwingungen, der tiefſten Ermat— 
tungen fähig, und die Menſchen ſind ihm nichts 
als Futter; Futter für ſeinen Ruhm, ſeine Zwecke, 
feine Kunſt. Er iſt ein Menſchenjäger, ein Men— 
ſchenfreſſer, keines Freundes Freund, kein Gelieb— 
ter, kein Gatte, kein Vater, nur Künſtler. Iſt 
der Literat als Schöngeiſt der Schauſpieler ſeiner 
ſelbſt, ſo iſt der Literat als Apoſtel der Prieſter 
ſeiner ſelbſt. 

Beachten wir jedoch, daß er ein großer Künſtler 
iſt und ſein Werk von hohem Belang, daß er 
unter Umſtänden ganzen Zeitabſchnitten die gei⸗ 
ſtige Prägung verleiht, und es wäre zu fragen, 
ob dies nicht Entſchädigung genug ſei für das 
Übermaß und die Selbſtintroniſation. 

Da iſt denn zu erwidern, daß unſere Zeit ohnehin 
geneigt iſt, ſich mehr an den Wirkenden als an 
das Werk zu wenden. Dem genialen Individuum 
iſt eine unbegrenzte Machtbefugnis faſt von vorn— 
herein zugeſtanden. Die Leiſtung, das iſt die Per— 
ſon; der Effekt, das iſt die Perſon; Glorie, Dank— 
barkeit und Enthuſtasmus knüpfen ſich an die 
Perſon. Die Perſon iſt ſchon Partei, wo das 
Werk kaum noch die Geiſter erweckt hat; ſie ge— 
bietet den Unſchlüſſigen, ſchüchtert die Zweifler 
ein und bricht den Widerſtand der Stumpfen. 


62 


N — 


3 


Wohlgemerkt aber nicht die reale Perſon, nicht 
der handelnde Menſch an ſich; dieſer hat wenig 
Spielraum, iſt eingezwängt in ein verwickeltes 
geſellſchaftliches Gewebe, ein engmaſchiges Netz 
von Pflichten und Geſetzen und führt meiſt ein 
privates, kleines Leben voller Hemmungen. Will 
er derjenige ſein, als der er gilt, ſo muß er den 
Kreis ſeines Wirkens durch die Fackel ſeines 
Namens erleuchten, er muß das Zeugnis ſeiner 
Leiſtung vorweiſen können. Dann allerdings wird 
ihm die Ehrfurcht gezollt, deren die Kunſt, als 
Idee, ſonſt völlig verluſtig geht. 

Man kann alſo ſagen: Die reale Perſon wirkt 
erſt durch das Medium der Werke, die fiktive 
durch das Medium des Künftlers, was natürlich 
das Verkehrte iſt. Es liegt darin nichts Religiöſes 
und Verwandelndes mehr, ſondern Aberglauben 
und Götzendienſt. In einer religiöfen, mythiſch— 
bewegten, ſachlich, nicht individuell fixierten Zeit 
trennen ſich Schöpfer und Geſtalt überhaupt nicht 
voneinander, führen nicht ein von der Gemeinſchaft 
der Menſchen losgelöſtes Daſein, der Schöpfer 
als Literat, als „Schrifſteller“, die Geſtalt im 
Buch oder höchſtens als äſthetiſche Metapher 
im Leben; nein, der Schöpfer, in ſeiner Beſchei— 
denheit, bleibt Teil der Gemeinſchaft, und ſeine 


63 


Geſtalten umgeben ihn wie Glieder einer Familie 
den Patriarchen; ſie allein ſind die Träger ſeines 
Namens, nicht aber die literariſche Idee, die er 
von ihnen abſtrahiert. 

Der große Künſtler wird in feinem Perſönlichkeits— 
bewußtſein leicht einem Ibermaß verfallen, da er 
es immer dort gefährdet findet, wo er von ſeiner 
Geſtaltenwelt gelöſt auftritt, alſo in feiner privaten 
Exiſtenz, oder in ſeiner öffentlichen, wenn er keine 
Harmonie ſpürt zwiſchen künſtleriſcher und per— 
ſönlicher Wirkung, und die kann er nur ſelten 
ſpüren bei der Zerſtücktheit, Unverläßlichkeit und 
Zufälligkeit aller Wirkungen. Es erſcheint ihm 
notwendig, ſich zu ſteigern, ſich in Szene zu 
ſetzen, ſich geheimnisvoll zu machen, ſich zu kom— 
mentieren und ſich ſelbſt als Idee vor das Werk 
zu ſetzen. 

Davon hat die Zeit ſich mehr und mehr täuſchen 
laſſen und ſich gewöhnt, Perſönliches für Sach— 
liches zu nehmen. Gierig greift ſie nach Perſön— 
lichem, wo das Sachliche fremd oder ſpröde iſt, 
und ſie tut es ſchon deshalb mit inſtinktiver Vor— 
liebe, weil das Sachliche ſtets in irgendeiner Weiſe 
menſchlich verpflichtet. Von ſolcher Verpflichtung 
will man ſich jedoch, wo es angeht, freihalten; 
man will reden und urteilen, nicht aber durch 


64 


handelndes Gefühl anteilvoll verkettet fein. Nicht 
umſonſt find wir überſchwemmt von Mitteilun— 
gen aus dem Privatleben der Künſtler. Nicht 
umſonſt werden Briefe, Tagebücher, Aufzeich— 
nungen, Skizzen, Fragmente der Neugier ver— 
früht preisgegeben. Wird der Alkoven geöffnet 
und die Werkſtatt ausgekehrt, fo mag der Wiſſens— 
durſtige ſicher bisweilen befriedigt, der Forſcher 
belehrt werden, doch vorzüglich wird nur dem 
Hang der Geſellſchaft nach Gachverfchleierung 
gedient. Das Göttliche wird beleidigt, indem man 
den Menſchen vergöttert. So iſt z. B. der 
Mythos Goethe eine Beute der Perſönlichkeit 
Goethe geworden, und Goethe ſelbſt hat durch 
einen Subjektivismus, der ihm anſtand und einen 
Teil ſeiner Genialität ausmachte, einen Kult des 
Redeus über die Dinge, der Meinungsäußerung, 
der perſönlichen Ausholung und Zweckſetzung und 
damit eine Armee von Literaten in die Welt ge— 
rufen, die ſehr wohl Beſcheid wiſſen über alle 
Probleme des Lebens, die aber ſehr wenig ver— 
mögen, wo es gilt ſich einzuſetzen, ſich hinzugeben, 
ſich, d. h. die Meinung zu vergeſſen, um einer 
Sache zu dienen. 

Der Literat als Apoſtel iſt bis zu einem Grad 
Eroberer, Menſch des Willens und der Sucht, 


65 


daß er fogar feinem Werk einen Willen verleiht, 
eine Sucht über die Kunſt hinaus. Er will es 
gültiger haben, als es der Kunſt eigen iſt zu gelten, 
und durch die Kraft ſeines Künſtlertums vermag 
er es in ungeheurer Weiſe ſo zu ſteigern, daß es 
dieſes Ziel wirklich zu erreichen ſcheint. Hier iſt 
eine Schwäche, die mit erſtaunlicher Täuſchungs⸗ 
macht das Schauſpiel einer Stärke bietet, um 
ſpäter freilich, wenn die Gewalt der Perſönlich— 
keit dem Walten des Schickſals gewichen iſt, ſich 
wieder als Schwäche, als Irrtum zu zeigen. 
Nur das Göttliche, das Schöpferiſche hat Be— 
ſtand; das Menſchliche iſt flüchtig, auch Ver— 
götterung iſt nur Firnis. Haben wir es nicht er— 
lebt, wie die Idee des Geſamtkunſtwerks als 
bizarre Laune eines Genies in ſich zuſammen— 
ſtürzte? Es war etwas anderes und Tieferes als 
bizarre Laune. Es war das Mißoerſtändnis 
am Mythos. 

Denn es iſt klar, daß der Literat als Apoſtel, da 
er keine Selbſtloſigkeit beſitzt, keinen Mythos 
aus ſich ſchaffen kann. Auch wo er äußerlich 
zum Mythos greift, zu einem Mythos, der mehr 
Sage iſt als lebendig gebliebene Bildung, und 
ihn durch Kunſt vergegenwärtigt, wird er nur 
Allegorie geben, privates Leiden, perſönliche 


66 


Kämpfe, feine egoiftifchen, wenn auch großartigen 
Entfaltungen und Wandlungen in Umriffen, die 
vom Mythos nur erborgt ſind. So wird auch 
die Menſchheit bloß den ſpezifizierten Schmerz 
darin erkennen; jeder einzelne wird in dieſem 
Schmerz doppelt allein mit ſich ſein, aufgereizt 
zu ſich, verlangend nach ſich, behext, berauſcht, 
aber nicht verwandelt, nicht erlöſt. 

Dieſelbe Herrſchſucht, die den modernen großen 
Künſtler dazu verführt, fein Werk über die Gren: 
zen der Kunſt hinauszutreiben, ihm gleichſam, 
nach Hamlets Worten, die Beſcheidenheit der 
Natur zu rauben, kann den Philoſophen, ſofern 
er Literat iſt, dazu überreden, ſich zum Märtyrer 
ſeiner Lehre zu machen. Daß dieſe Lehre eine 
lebenverneinende iſt, verſteht ſich nach allem Dar— 
gelegten von ſelbſt; der Literat iſt ja weſensnot— 
wendig ein Peſſimiſt. Nun kann der Peſſtmis— 
mus allerdings in einem freien Syſtem als Ge— 
ſtaltung auftreten, die ſternhaft oder kosmiſch 
exiſtent iſt wie ein Kunſtwerk; in dieſem Fall ſtellt 
eben die ſchöpferiſche Kraft des Bildners oder 
Architekten als lebensbejahendes Element den Aus— 
gleich her. Wenn aber der Peſſimiſt den Beweis— 
antrag auf das eigene Ich ſtellt und durchführt, 
iſt aus dem Symbol ein Wörtliches geworden; 


67 


da ift nicht mehr der Dualismus, der den ſchöp— 
feriſchen Menſchen in die Mitte von Irdiſchem 
und Himmliſchem führt, da iſt die Sackgaſſe, das 
Perſönliche, perſönlich Endliche, und das Prinzip 
und Geſetz des Schaffens ſelbſt wird verneint. 
Auch dies haben wir erlebt, etwa bei Philipp 
Mainländer, und es wurde bewundert, weil es 
eine Tat zu ſein ſchien, während es nur der Ver— 
zweiflungsausweg des verfolgten und iſolierten 
Gottloſen in der Sackgaſſe war. 

Der Literat kommt aber nicht von der Pfychologie 
los, von der theoretiſchen nicht und von der an— 
gewandten nicht. Man möchte ſagen, er nimmt 
es mit der Wahrheit zu genau, — ſoweit er 
Künſtler iſt, und er hütet ſich, als Menſch, zu 
wenig vor der Verzerrung. Seine Unabhängig— 
keit ſchenkt ihm keine Freiheit, ſein Ichbewußtſein 
entfernt ihn von der Liebe; er iſt die tragiſche 
Figur der modernen Welt und, zum Apoſtel be— 
rufen, bricht er auf dem höchſten Gipfel feiner 
Perſönlichkeit, ſeiner Einſamkeit und ſeines ver— 
geblichen Gottverlangens vor dem Unerreichbaren 
zuſammen. 


68 


Die Frau als Literat 


** MN 


ieſes Kapitel iſt eigentlich ein Einſchiebſel, 

denn in bezug auf die Frau als Literat iſt 
nach allem bisher Ausgeführten nur noch Selbſt— 
verſtändliches zu ſagen. Immerhin gehört das 
Thetma zur Geiſtesgeſchichte der Zeit, denn nie zu— 
vor haben Frauen in ſolcher Zahl und mit ſolcher 
Energie ſchriftſtelleriſch, künſtleriſch produzierend 
ſich bemerkbar gemacht. 
Die Frau beſitzt keine ſchöpferiſche Phantaſie. 
Das iſt kein Streitſatz, ſondern ein Erfahrungs— 
ſatz; eine Tatſache, die einem MNaturgeſetz entſpricht. 
Es iſt die Aufgabe der Frau, Mutter zu werden, 
Leben zu empfangen, Leben zu gebären. Als Weib, 
als Mutter iſt ſie gewiſſermaßen an ſich ſelbſt 
ſchon ein Stück Mythos, und Gott hat es des— 
halb für überflüſſig erachtet, fie mit einer mythos— 
ſchaffenden Kraft zu begaben. Ihr Künſtlertimm 
ruht in der Liebe, ihre Idee iſt die Mutterſchaft, 
ihr Werk iſt das Kind. Wenn alſo die Frau 
ſich künſtleriſch hingibt, ſo entſagt ſie dadurch 
ihrer wahren Beſtimmung, verzichtet freiwillig 
auf das Schöpferiſche und wird zum Literaten, 
und zwar zum Literaten ſchlechthin, zum Literaten 


69 


ohne ſchöpferiſche Phantafte, welche ja dem Pfy: 
chologen, dem Schöngeiſt, dem Apoſtel durchaus 
nicht mangelt; ganz im Gegenteil, können dieſen 
doch Werke gelingen, die den Werken des ſchöp— 
feriſchen Menſchen nahezu ebenbürtig find. 

Ich verkenne nicht die Arbeit der Frau; nicht den 
ehrlichen Willen, nicht die Tüchtigkeit und Ge: 
ſchicklichkeit, nicht die Fähigkeit zur Anpaſſung 
und Ausführung, nicht die oft zutage tretende 
Beſonderheit des Schauens, nicht den ſicheren 
Inſtinkt, nicht das vollgültige Empfinden, nicht 
die Gabe des Traums und des poetiſchen Aus— 
drucks. Ich weiß, was geleiſtet worden iſt; ich 
erinnere mich zarter Gedichte, robuſter Erzählun⸗ 
gen, anmufiger und ſtarker Bildniſſe, überzeugen— 
der Schriften; einer Fülle von reſpektablen Hervor— 
bringungen. Aber ſie waren mir um ſo reſpektabler, 
je weniger objektiv ſie ſcheinen wollten, je weniger 
ſie zu Geſtaltungen griffen, je mehr ſie einem Ge— 
fühl, einem Erlebnis, einem Unmittelbaren Stimme 
verliehen. Nicht Geſtalt alſo; Stimme, das iſt es, 
Stimme oder Stimmung, etwas, das ſo fern vom 
Mythos liegt wie ein Quellchen vom Meer. 

Das Vermögen, ein Weltbild zu objektivieren, 
iſt nur der ſchöpferiſchen Phantafie gegeben. Mit 
Hilfe des Fleißes, bewußter oder unbewußter 


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Nachahmung und der Aneignung erprobter Difzi- 
plinen gelangt die Frau bisweilen zu Gebilden 
von ſcheinbarer und äußerlicher Objektivation, 
und ihre Luſt wie ihr Talent zur Beobachtung 
befähigt ſie, eine niedere Realität von Zuſtänden 
und Geſchehniſſen darzuſtellen, welche unterhaltend, 
geiſtig und geſellſchaftlich anziehend ſein und, ſo— 
weit ſie auf Erlebtem und Gefühltem beruhen, 
der Wahrheit und Glaubhaftigkeit nicht erman— 
geln werden. Das Metaphoriſche, das Elemen— 
tare, das Schöpferiſche, die Syntheſe iſt ihr je— 
doch verſagt, und je mehr ſie darnach ſtrebt, je 
unzulänglicher müſſen ſich ihre Produkte erweiſen; 
ſie ſtehen dann in der Luft, wurzellos, ziellos, und 
wollen durch Unruhe, Leidenſchaftlichkeit und 
Fieberhaftigkeit erſetzen, was ihnen an Natur 
und Legitimität, — durch Linie und Schnörkel, 
Seltſamkeit und Überhäufung, was ihnen an 
Antlitz und Naisität fehlt. 

Bisweilen fragt man ſich: warum werden die 
Frauen zu Literaten? Ein Buch, und noch ein 
Buch, und noch eine Meinung und noch ein Vers 
und noch eine bemalte Leinwand, — darum handelt 
ſichs doch ſchließlich nicht. Ein Blick, ein echtes 
Wort, eine Wirkung von Menſch zu Menſch, 
menſchliches Aufmerken, Bereitſchaft des Herzens 


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können mehr, weit mehr bedeuten. Das Übel ift 
auch hier in einer zerklüfteten, anarchiſch⸗gelöſten 
Geſellſchaft zu ſuchen, die keine lebendige Orga— 
niſation hat und in der deshalb jede Fülle zur 
Überfülle, jeder Überfluß zur Laſt, jede Hemmung 
zu falſcher Betätigung und jede Abtrennung der 
einzelnen Mitglieder bei unzureichender individu— 
eller Kraft und Beſtimmung zur Kataſtrophe 
wird. Die Literatur gilt als ein Gewerbe wie 
jedes andere; das ſogenannte Talent genügt zum 
Vorwärtskommen. Der Einfall wird überſchätzt 
(Einfälle ſind die Läuſe der Vernunft, ſagt Hebbel 
einmal geringſchätzig). Zum Einfall gehört auch 
das Detail; die Detailkrämerei beginnt ſchon, uns 
geiſtige Verdauungsbeſchwerden zu erregen; die 
Mache, die Gebärde, der faſt von ſelbſt arbeitende 
ſprachliche Mechanismus; die Gewohnheit, ſich 
meinungsmäßig zu äußern, ſich einer ſeeliſchen 
Spannung zu entäußern, indem man ſie preis⸗ 
gibt und in einer quafi dichteriſchen Form, die 
meiſt zur Schamloſigkeit kalter Pſychologie führt, 
verſteinert zur Schau ſtellt; die Leichtigkeit und 
Schnelligkeit der Mitteilung, dies alles ermuntert 
den einzelnen immer wieder, ſich literariſch zu 
iſolieren und ſich politiſch, ſozial und menſchlich 
damit abzutöten. Wenn man zur Einſicht käme, 


72 


— 


daß das ſogenannte Talent in den meiften Fällen 
nur ein Weſen iſt, das in freiwilliger Verbannung 
von einer Gemeinſchaft lebt, der es nicht nützlich 
ſein kann, ein Paraſit und Freibeuter, wäre ſchon 
viel gewonnen, und die dreißigtauſend Bücher, 
die jährlich in Deutſchland auf den Markt 
ſtrömen, würden unter dem Druck eines weiſeren 
Urteils und einer ſachlicheren Wahl auf eine not— 
wendigere Anzahl zuſammenſchrumpfen, die viel— 
leicht mehr Gehalt in ſich fehlöffe. 

Die Frau als das zur Liebe und Empfängnis be— 
ſtimmte Geſchöpf menſchlich und geiſtig iſoliert, 
in ſozialer Unfruchtbarkeit und egoiſtiſcher Ver— 
perſönlichung ihres tieferen Schickſals, ihrer 
ſchönen anonymen Wirkung (wie vieles verdankt 
doch ihrer Teilnahme der Ruhm unſerer großen 
Künſtler), ja, ihres Lebensmythos beraubt zu ſehen, 
gewährt ein trauriges Bild weitgreifenden Miß— 
verſtändniſſes. Ich ſpreche natürlich nicht von der 
Schauſpielerin, der Sängerin, von den rezeptiven 
Künſten; dieſe harmonieren, ſolange nicht ein 
literariſcher Einſchlag durch übertreibenden Ehr— 
geiz und individuelle Zweckſetzung ſtattfindet, ſehr 
wohl mit der weiblichen Seele, mit ihrer gei— 
ſtigen Wandlungsfähigkeit, Anſchmiegung des 
Gefühls und Poetiſterung der Realität. Die 


73 


Tänzerin, die lediglich ihren Körper zur Kunſt⸗ 
äußerung verwendet, bietet vielleicht das edelſte 
Bild weiblicher Genialität. Mur wo das Schöp— 
feriſche vorgetäuſcht wird, zeigt ſich die Frau 
(mit Ausnahme von zwei oder drei Fällen inner⸗ 
halb der ganzen Geiſtesgeſchichte) ſogleich als 
Literat ſchlechthin. Die Natur läßt ſich nicht 
betrügen, auch die Menſchheit nicht; nur die 
Menſchen laſſen ſich betrügen. Sie tun, als 
glaubten ſie, auch wo ihr Inneres unbeteiligt 
iſt; ſie nehmen das Wunderliche für das Wun— 
der, den Notbehelf für das Notwendige, das 
Phantom für das Phänomen. Die Frau als 
Literat braucht ſich nicht mehr zu verraten; 
es iſt nichts zu verraten; es iſt alles von 
einfachſter Aufrichtigkeit, Geradlinigkeit und 
Durchſchaubarkeit. Wir erblicken einen tüchtigen, 
emſigen, klugen und nachdenklichen Arbeiter, dem 
weder Wort, noch Rhythmus, noch Idee zur 
Maske werden können und der den Schmerz der 
Einſamkeit nur gemütiſch ahnt, nicht geiſtig ſtei— 
gert und auflöſt; keine tragiſche, ſondern nur eine 
charakteriſterte und zufällige Geſtalt. 


74 


Ergebniffe 
zung 


D. Literat iſt der vom Mythos losgelöſte 
produktive Menſch. 


Er iſt auch der von der Geſellſchaft losgelöſte 
Menſch, der einzelne, innerhalb eines nur durch 
äußere Geſetze verkitteten Gemeinweſens. 

So wie er aber ohne das Vorbild des ſchöpferiſchen 
Menſchen nicht zu denken iſt, bleibt er auch in 
ſeinem Tun und Laſſen, durch ſein Perſönlichkeits— 
beſtreben, durch die Notwendigkeit der Spiegelung, 
durch das Element des Ehrgeizes und durch das 
Element des Verrats der Geſellſchaft verbunden. 
Der Literat iſt vergeßlich. Er iſt lieblos, weil er 
allzuſehr in ſich ſelbſt verſtrickt iſt. Er anerkennt 
keine Konvention, weil nur ſeine eigene Perſon 
ihm den Maßſtab für die Welt und die Dinge 
gibt. Dieſer Mangel an Konvention verführt 
ihn zu einer künſtlichen Originalität mit Hilfe 
der ſeltenen Beobachtung, des ſeltenen Wortes, 
des ſeltenen Rhythmus. 

Der Literat iſt eitel und ſehnſüchtig, eitel ſelbſt, 
wo er ſich bloßſtellt, und ſehnſüchtig am meiſten 
dort, wo er ſich verliert. Er iſt friedlos, immer 
nach Veränderung begierig, verſteht aber nicht zu 


75 


wandern. Sein Verhältnis zu Menſchen iſt ſel— 
ten dauernd; er ſtellt die höchſten Anſprüche von 
ſeiner Seite, ohne die billigſten von der andern 
Seite zu befriedigen. 

Er kontrolliert ſeine eigenen Handlungen, Ge— 
danken und Gefühle ſehr ſcharf, ja grauſam. Es 
mangelt ihm an jener Ehrfurcht vor ſich ſelbſt, die 
den ſchöpferiſchen Menſchen auszeichnet. Weil 
er ſo unbarmherzig und rückſichtslos gegen ſich 
ſelbſt iſt, glaubt er es auch gegen andere ſein zu 
dürfen, aber er vergißt, daß jenes Wüten gegen 
die eigene Seele nur ein Vorwand zum Verrat 
iſt, nicht aber ein Mittel zur Reinigung, Steige— 
rung und Befreiung. Selbſtbeobachtung, Selbſt— 
zerfaſerung iſt ein Unglück, wie es größer kaum 
zu denken iſt; alle urſprüngliche Kraft des Glau— 
beus, alle Fähigkeit zur ſittlichen Erhebung, zur 
Umwandlung, geht daran zugrunde. Auch der 
religiöſe oder der ſchöpferiſche Menſch beobachtet 
ſich ſelbſt, aber er wird ſich dabei zum Gleichnis; 
durch dieſe Gleichniswerdung kann er ſich korri— 
gieren und beſcheiden. 

Nicht ohne tiefen Grund findet ſich eine ſo große 
Zahl von Literaten unter den Juden. In der 
Exiſtenz des Juden gibt ſich die ſchärfſte Gegen— 
ſätzlichkeit geiſtiger und ſeeliſcher Eigenſchaften 
76 


kund. Er iſt entweder der gottloſeſte oder der 
gotterfüllteſte aller Menſchen; er iſt entweder 
wahrhaft ſozial, fei es in veralteten, lebloſen For— 
men, ſei es in neuen, utopiſchen, das Alte zerſtö— 
renden, oder er will in anarchiſcher Einſamkeit 
nur ſich ſelber ſuchen. Entweder iſt er ein Fana— 
tiker oder ein Gleichgültiger, entweder ein Söld— 
ner oder ein Prophet. Das Schickſal der Nation, 
ihre Vereinzelung unter fremden Nationen, ihre 
ungeheuren wirtſchaftlichen und geiſtigen An— 
ſtrengungen im Kampf gegen die widrigſten Um— 
ſtände, der fortwährende Zuſtand der Abwehr, 
der Selbſtbehauptung, das plötzliche Erwachen 
am Morgen eines Kulturtags, das leidenſchaft— 
liche Ergreifen der Hilfsmittel und Waffen dieſer 
Kultur und die darauf erfolgte gewaltſame Unter— 
drückung und Zerſchneidung der Tradition, all 
das hat die Juden als ganzes Volk zu einer Art 
von Literaten rolle vorbeſtimmt. Wo ſich hingegen 
der einzelne wieder des großen Zuſammenhangs 
bewußt wird, wo er im Schoß der Geſchichte, 
der Überlieferung ruht, wo urewige Symbole ihn 
tragen, urewige Blutſtröme ihm Adelsbewußtſein 
verleihen und zugleich alles Errungene und Erwor— 
bene organiſch damit verſchmilzt, da mag er wohl 
den Weg zu Göttlichem leichter als andere fin— 


77 


den. Der Jude als Europäer, als Kosmopolit iſt ein 
Literat; der Jude als Orientale, nicht im ethnogra⸗ 
phiſchen, ſondern im mythiſchen Sinne, als welcher 
die verwandelnde Kraft zur Gegenwart ſchon 
zur Bedingung macht, kann Schöpfer ſein. 

Alle Berufe und alle Stände haben ihre Lite— 
raten. Man kann den Satz aufſtellen: Jeder 
Fachmann iſt ein Literat, jeder Laie trägt noch 
etwas von Mythos in ſich. Denn alles Fach⸗ 
weſen und Spezialiſtentum iſt nur ein Merkmal 
des großen Individualiſterungsprozeſſes der Zeit. 
Vertiefung zwingt zur Abſonderung, die Fülle 
zur Arbeitsteilung. Das iſt gut und unerläßlich. 
Nun ereignet ſich aber das Seltſame, daß gerade 
bei dieſer, die Selbſtbeſcheidung gebieteriſch for— 
dernden Tätigkeit der einzelne die argwöhniſche 
Wachſamkeit des Pſychologen, die Herrſchſucht 
des Tribuns bekundet, daß er ſich von allem, was 
nicht ſein Fach betrifft, in trotziger oder gleichgül— 
tiger Entfernung hält und ein Leben außerhalb 
des Fachs oft kaum mehr kennt. Der Literat iſt 
der geborene Zünftler. 

Laien geben einem Literaten bisweilen den Rat, 
er möge, um in ſeinem Erwerb nicht ausſchließ— 
lich auf die Kunſt angewieſen zu ſein, daneben ein 
Amt oder einen Brotberuf wählen. Das iſt ge— 
78 


radeſo, als wollte man einen ärztlichen Spezialiſten 
dazu überreden, nebenbei die Tiſchlerei zu betreiben, 
weil er zu wenig Patienten hat. Mit Recht würde 
er antworten: Mein Fach fordert den Menſchen 
ganz und gar, meine ganze Zeit, meine ganze An— 
ſtrengung und alle Gedanken. Der Literat iſt 
eben nur Literat, er kann nichts anderes ſein. Der 
Vorſchlag des Laien iſt freilich in jedem Sinne 
töricht. Amt und Brotberuf taugen bloß dem 
Dilettanten; je innerlicher ſein Verhältnis zur 
Kunſt iſt, je mehr muß er unter abziehender Be— 
ſchäftigung leiden. Dem ſchöpferiſchen Menſchen 
wird ſie vollends zur Qual; auch ihn fordert ſeine 
Sache ganz, wenn ſchon in anderer Weiſe, nicht 
weil er Literat iſt, der erobern will und muß, ſon— 
dern weil er Menſch iſt, weil Mythos und Menſch— 
heit von ihm verlangen, daß er ſich unbedingt und 
ohne Vorbehalt hingebe. Erwerb oder Nichterwerb 
irdiſcher Güter kommt dabei in höherem Betracht 
nicht mehr in Frage; ſchlimm genug, wenn es in 
niederem Betracht zu erwägen iſt. 

Jundeſſen gehört die nackte und aufrichtige Gegen— 
überſtellung der ökonomiſchen und der geiſtigen 
Mächte zum großartigen Bild unſerer Epoche. 
Kapital will Leiſtung; Leiſtung will Nutznießung, 
Arbeitskraft und Lebensgefühl ſteigern ſich wechſel— 


79 


feitig; Erfolg, Beſtätigung und Lohn find dem 
einzelnen raſcher und reichlicher zugemeſſen als 
je, und wenn auch der Lockung oft nur gefolgt 
wird, weil eine Erfüllung ſo nahe ſcheint, der Ruf 
nur deshalb ſo viele Hörer findet, weil in ihm 
die Befriedigung ausſchweifender Anſprüche ver— 
heißen wird, fo kann doch kaum eine Prämie aus— 
bezahlt werden ohne den vollen, ja leidenſchaft— 
lichen Einſatz von Tüchtigkeit und Intenſttät. 
Dieſe Leidenſchaft, dieſer Schwung, der unermüd— 
liche Wetteifer, ſie ſind vielleicht Zeichen für die 
Heraufkunft einer noch größeren Zeit; ſchüchterne 
Zeichen, weil ſie noch ganz am Perſönlichen und 
Egoiſtiſchen haften. Aber wie Eiſenteile im Feuer 
des Hochofens zuſammengeſchmolzen werden, ſo 
kann die Zerſtücktheit und die Zerſplitterung einer 
individualiſtiſchen Geſellſchaft durch einen alle 
Glieder ergreifenden, ſtetigen Strom von Leiden— 
ſchaft, gleichviel wo er entſpringt, zu organiſcher 
Einheit verwandelt werden. Leidenſchaft iſt ja 
die erſte und letzte Lebensgewalt; in ihr vereinen 
ſich Element und Wille; ſie kann eine unproduk— 
tive Ordnung zum Chaos führen, aber aus dem 
Chaos wieder eine neue Welt erzeugen, Samm— 
lung aus der Diaſpora. Dann mag ſich ein 
Weg auftun zum Mythos und zu Gott. 


80 


Inhalt 


XR IAN 
Der Literat 
Der Literat als Dilettant 


Der Literat als Pſycholog. 


Der Literat als Tribun . 
Der Literat als Schöngeiſt 
Der Literat als Upoftel . 
Die Frau als Literat. 
Srgebnifje . 


EN 


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