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Full text of "Der Mensch ist gut"

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ForThe  Blind  INC. 


Digitized  by  the  Internet  Archive 

in  2010  with  funding  from 

Lyrasis  IVIembers  and  Sloan  Foundation 


http://www.archive.org/details/dermenschistgutOOIeon 


Europäische  Bücher 


In  der  gleichen  Sammlung  sind  erschienen: 

LEONID  ANDREJEW,    Das  Joch  des  Krieges,  3.-5.  Tausend 

ALBERT  S.  ASSEO,  Das  Massengrab,  i.-5.  Tausend 

HENRI  BARBUSSE,  Das  Feuer,  33.-52.  Tausend 
C.  J.  A.  VAN  BRUGGEN,  Das  Reich  Gottes 

in  Sibirien,  l— 5.  Tausend 

BRIEFE  EINES   SOLDATEN  l.-5.  Tausend 

GEORGES  DUHAMEL,    Leben    der  Märtyrer,  i.-5.  Tausend 

ALFRED  H.  FRIED,    Mein  Kriegstagebuch    I,  i.-5.  Tausend 

r,  V  V  V  V  n,        1—5.  Tausend 

ANDREAS  LATZKO,  Friedensgericht,  i.-i4.  Tausend 

„                  „        ,  Menschen  im  Krieg,  23.-33.  Tausend 

K.  M.  OBERUTSCHEW,  Die  Morgenröte,  i.-5.  Tausend 

ROMAIN  ROLLAND,  Beethoven,  17.-21.  Tausend 

LEO  TOLSTOI,  Tagebuch  1895—1899,  3.-5.  Tausend 
H.  G.  WELLS,  Mr.  Britlings  Weg  zur  Erkenntnis. 

K.  ZIMMERMANN,  Der  Hauptmann  Deutschle,  i.-5.  Tausend 

IN  VORBEREITUNG  BEFINDEN  SICH: 


HENRI  BARBUSSE,  Klarheit. 

ALFRED  H.  FRIED,   Mein  Kriegstagebuch.    Band  III. 
DOUGLAS  GOLDRING,  Das  Glück. 
ROMAIN  ROLLAND,  Michelangelo. 
,  Haendel. 

„  „         ,  Theater  für  das  Volk. 

„  „         ,  Glaubenstragödien. 

PAUL  SABATIER,  Leben  des  heiligen  Franz  von  Assisi. 


Leonhard  Frank 

Der  Mensch  ist  gut 


Sechzehntes  bis  fünfundzwanzigstes  Tausend 
Max  Rascher  Verlag,  A.-G.,  Zürich,  1919 


Copyright  1918  by  Max  Rascher  Verlag,  A.-G.,  Zürich 


UN^t-bS-iT 


Zürich  —  Buchdruckerei  Berichthaus  —  1919 


Geschrieben  1916  bis  Frühling  1917 


Den  kommenden  Generationen 


I 

Der  Vater 

Ihr  Ottemgezüclite,  wer  hat  denn  euch  gewiesen, 
daß  ihr  dem  künftigen  Zorn  entrinnen  werdet? 

Es  ist  schon  die  Axt  an  die  Wurzel  gelegt. 
Darum,  welcher  Baum  nicht  gute  Frucht  bringt, 
wird  abgehauen  und  ins  Feuer  geworfen. 

Ev.  Matth.  Kap.  III 

Kobert  war  Servierkellner  in  einem  deutschen 
Hotelrestaurant.  Gewöhnlich.  Blond.  Und  wenn  er, 
in  devoter  Verbeugung  erstarrt,  vor  dem  Gaste  stand 
und  eine  Bestellung  entgegennahm,  kroch  der  Ge- 
danke durch  sein  Gehirn:  jeder  andere  Beruf  ver- 
trägt sich  eher  mit  der  Menschenwürde. 

Auf  ihn  wirkte  das  hingeschobene  Trinkgeld  wie 
eine  Ohrfeige,  für  die  man  sich  bedanken  mußte. 
Und  wenn  das  Trinkgeld  von  einem  Gaste  kam,  der 
ärmer  als  der  Empfangende  war,  stieg  aus  Koberts 
verletzter  Menschenwürde  sichtbar  die  Verachtung 
empor,  steigerte  sich  manchmal  zu  Rachsucht  und 
Frechheit.  Es  kam  vor,  daß  Robert  solch  einem 
Gaste  das  Trinkgeld  zurückschob.  Vornehmen  Gästen 
Kredit  zu  gewähren,  war  ihm  eine  Erlösung. 

Im  Jahre  1894  bekam  seine  Frau  den  lange  ver- 
geblich erwarteten  Sohn.  Und  Roberts  Liebe  stürzte 
sich  auf  dieses  Kind.   Das  bekam  alles:  ein  Kinder- 


zimmer,  sterilisierte  Kindermilch,  einen  federnden 
Kinderwagen,  einen  weißlackierten  Stall,  Hampel- 
männer. Später  Dampfmaschinchen,  Eisenbahnen, 
Luftballons,  Trommeln,  Säbel,  Schießgewehrchen, 
Bleisoldaten.  Später  ein  Spazierstöckchen,  einen 
Matrosenanzug  mit  einer  Mütze,  auf  der  stand 
„S.  M.  S.  Hohenzollern",  einen  rindsledernen  Bücher- 
ranzen, eine  Rechenmaschine  mit  roten  und  weißen 
Kugeln,  einen  polierten  Griffelkasten. 

Der  Sohn  bekam  Geigenstunden,  mußte  Klavier- 
spielen lernen.  Und  durfte  das  Gjnunasium  besuchen. 
Er  sollte  studieren.  Nicht  Kellner  werden.  Schon 
mit  zehn  Jahren  besaß  der  Sohn  ein  Fahrrad.  Und 
gehörte  mit  zwölf  Jahren  der  patriotischen  Jugend- 
vereinigung an. 

Roberts  Leben  erschöpfte  sich  im  Dasein  des  Soh- 
nes. Und  der  Satz:  jeder  Arbeiter  ist  seines  Lohnes 
wert,  war  ihm  zur  Weltanschauung  geworden.  Robert 
flog,  die  Bestellungen  auszuführen,  verbeugte  sich, 
dankte  fürs  Trinkgeld,  verbeugte  sich,  dankte,  sparte, 
scharrte  zusammen,  rechnete,  strebte,  wurde  Zimmer- 
kellner, dann  Oberkellner,  wies  heimlichen  Liebes- 
pärchen stille  Zimmer  an  für  ein  paar  Stunden,  drückte 
Augen  zu,  sank  in  einen  Abgrund  der  Liebe  für  seinen 
Sohn,  schickte  ihn  auf  die  Universität,  bekam  graue 
Haare,  war  selig  im  Dienen,  selig  in  seinem  Sohne, 
besaß  hundert  Photographien  von  ihm,  hatte  die 
Kinderkleidchen  aufgehoben,  das  Spielzeug:  die  Sä- 
belchen, die  Gewehrchen,  die  Bleisoldaten.  Das  Mütz- 
chen, auf  dem  stand  „S.  M.  S.  Hohenzollern". 


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Der  Sohn  war  zwanzig  Jahre  alt.  Er  bekam  die 
Einberufung  an  einem  Dienstag,  bekam  ein  halbes 
Jahr  später  das  eiserne  Kreuz. 

Und  im  Sommer  1916  bekam  Kobert  die  Nachricht, 
daß  sein  Sohn  gefallen  war.  Auf  dem  Felde  der  Ehre. 

Eine  Welt  war  erschlagen. 

Der  Erschlagene  las  immer  wieder:  „Gefallen  auf 
dem  Felde  der  Ehre".  Den  Zettel  trug  er  bei  sich  in 
der  Brieftasche,  zwischen  den  Banknoten.  Er  las  ihn, 
wenn  ein  Fremder  kam  und  ein  Zimmer  verlangte, 
wenn  er  an  der  Billardecke  stand  und  Bestellungen 
erwartete,  wenn  er,  von  der  Glocke  gerufen,  durch 
den  langen  Gang  lief,  las  ihn,  bevor  er  das  Zimmer 
betrat  und  nachdem  er,  die  bezahlte  Eechnung  und 
das  Trinkgeld  in  der  Hand,  das  Zimmer  wieder  ver- 
lassen hatte.  Er  las  ihn  in  der  Küche,  im  Weinkeller, 
auf  dem  Klosett.  „Gefallen  auf  dem  Felde  der  Ehre". 
Ehre.  Das  war  ein  Wort  und  bestand  aus  vier  Buch- 
staben. Vier  Buchstaben,  die  zusammen  eine  Lüge 
bildeten  von  solch  höllischer  Macht,  daß  ein  ganzes 
Volk  an  diese  vier  Buchstaben  angespannt  und  von 
sich  selbst  in  ungeheuerlichstes  Leid  hineingezogen 
hatte  werden  können. 

Das  Feld  der  Ehre  war  nicht  sichtbar,  nicht  vor- 
stellbar, war  Kobert  nicht  begreifbar.  Das  war  kein 
Feld,  kein  Acker,  war  keine  Fläche,  war  nicht  Nebel 
und  nicht  Luft.  Es  war  das  absolute  Nichts.  Und 
daran  sollte  er  sich  halten.  Sein  ganzes  Leben  lang. 
Hinter  ihm  lag  nichts  und  vor  ihm  lag  nichts.  Kobert 
stand  in  der  Mitte  auf  dem  Nichts. 


9 


Seine  Hände  servierten,  quittierten,  empfingen 
Trinkgelder.  Wofür  ?  Es  gab  keine  Banknoten  mehr. 
Und  sein  Sparkassenbuch  war  für  ihn  das  Feld  der 
Ehre.    Und  das  Feld  der  Ehre  war  nicht  begreifbar. 

Robert  gab  die  besten  Zimmer  auf  Wunsch  um 
die  Hälfte  des  festgesetzten  Preises  ab,  gab  noch  einen 
Salon  dazu,  ein  Badezimmer.  Wurde  zum  Servier- 
kellner degradiert.  Gab  im  Restaurant  ohne  Wider- 
streben die  teueren  Speisen  und  Weine  billiger  ab, 
wenn  den  Gästen  die  Rechnung  zu  hoch  erschien. 
Wurde  daraufhin  nur  noch  zur  Mithilfe  herange- 
zogen, wenn  im  großen  Hotelsaal  ein  Fest,  eine  Ver- 
sammlung war. 

Gab  es  etwas  Gleichgültigeres,  als  aus  der  Lebens- 
stellung verdrängt  worden  zu  sein?  Das  alles  war 
nur  das  Feld  der  Ehre.   War  ein  absolutes  Nichts. 

Oft  fand  er  sich  in  seines  Sohnes  Zimmer,  wohin 
er  während  des  Krieges  die  Photographien,  Kinder- 
kleidchen, Säbelchen,  Trommelchen,  Gewehrchen, 
Bleisoldaten  zusammengetragen  hatte,  und  empfand 
nichts  beim  Betrachten  dieser  vergilbten  und  ver- 
kratzten Überbleibsel,  ging,  automatisch  wie  er  ein- 
getreten war,  wieder  hinaus. 

Dieser  Zustand,  in  dem  Robert  sich  nur  noch  wie 
eine  Maschine  bewegte,  dauerte  wochenlang,  bis  eines 
Tages  der  Mensch  in  ihm  die  Kraft  fand,  sich  dem 
Schmerze  zu  stellen.  Seiner  Hand  entfiel  die  Photo- 
graphie des  Söhnchens  —  in  Infanterieuniform,  mit 
präsentiertem  Gewehrchen  — ,  und  Robert  sauste,  von 
einem  Dampfhammerschlag  getroffen,  hinunter  in  den 


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Abgrund,  das  Herz  bloßgelegt  dem  Schmerze  und  der 
Liebe.   Robert  schrie.   Nur  einmal.   Und  ganz  kurz. 

Von  etwas  Unnennbarem  berührt,  wich  er  der 
Erlösung,  die  im  Schmerze  liegt,  aus. 

Und  als  seine  Frau  ihn  trösten  wollte  mit  den 
Worten,  die  sie  von  dem  unter  dem  gleichen  Leide 
stehenden  Kolonialwarenhändler,  Bäcker,  von  der 
Nachbarin  übernommen  hatte:  jetzt  müsse  man  sich 
halt  damit  abfinden,  schrak  sie  zurück  vor  Roberts 
gefährlich  blickenden  Augen  und  schwieg  fernerhin. 

Auch  Robert  schwieg,  tat  die  Arbeit,  die  man  ihm 
zuwies.  Und  da  man  ihn,  der  wiederholt  Gäste  fort- 
laufen ließ,  ohne  daß  sie  bezahlt  hatten,  nur  noch  als 
Wasserträger  im  Hotelcafe  verwenden  wollte,  er- 
klärte er  sich  auch  hierzu  bereit. 

Robert  wußte,  daß  etwas  geschehen  werde.  Des- 
halb ertrug  er  weiter  diese  gefährliche  Ruhe.  Denn 
wie  konnte  es  möglich  sein,  daß  nichts  geschah  durch 
ihn,  der  nichts  mehr  verlieren  konnte,  da  er  alles 
schon  verloren  hatte  ?  Der  von  einer  dünnen  Kellner- 
haut überzogen  war,  unter  welcher  der  Mensch  schrie, 
entsetzlich  lautlos  der  Schmerz,  die  Liebe  schrieen  ? 
Durch  den  geringsten  Anlaß  konnte  die  Haut  zer- 
springen.   Dann  stieg  der  Schrei. 

Die  Kindergewehrchen  und  Säbelchen  hatte  er, 
sich  aus  den  Augen,  hinüber  ins  Hotel  getragen  und 
hinter  das  Klavier  gesteckt.  Denn  wenn  er  dieses 
Spielzeug  nur  anblickte,  brannte  ihn  die  Schuld. 
Aber  wenn  er  einen  mit  dem  Kriegsorden  verzierten 
Leutnant  bediente,  zitterten  seine  Hände  nicht. 

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Und  als  eines  Tages  ein  patriotischer  Jugend- 
verein —  halbwüchsige  Jungen  unter  Gewehr  —  die 
Straße  herauf  und  am  Hotel  vorbei  das  Lied  trug: 
„Kann  dir  die  Hand  nicht  geben,  dieweil  ich  eben 
lad'  . . . ",  fraß  sich  das  Schuldbewußtsein  glühend  in 
Robert  hinein.  Denn  auch  er  hatte  seinen  Sohn  solche 
Lieder  gelehrt  und  lehren  lassen  und  voll  Vaterstolz 
ihm  zugehört. 

In  wilder  Spannung  stand  er  unterm  Hotelportal 
und  fühlte,  daß  sein  Sprung  auf  die  vorbeimarschie- 
renden, schlecht  beratenen  Jünglinge  ein  Sprung  in 
die  Luft  sein  würde.  Denn  hinter  den  Jünglingen 
und  hinter  dem  Kampfliede  stand  etwas,  das  nicht 
zu  greifen  war:  ein  unsichtbarer,  unkörperlicher  Geg- 
ner. Gott  hielt  ihn  zurück  von  dem  Sprunge.  Gott 
hob  ihn  auf  für  die  Minute,  da  der  Feind  greifbar 
werden  würde,  fühlte  Robert. 

Und  eines  Tages  hatte  er  den  Feind,  der  im  Men- 
schen selbst  und  nicht  außer  ihm  ist,  so  scharf  er- 
kannt, daß  seine  Augen  die  eines  schuldbewußten 
Mörders  wurden.  Da  geschah  es,  daß  Tränen  wilden 
Zornes  ihm  hinter  die  Augen  traten,  wenn  er  ein 
Mädchen  sah,  das  ihren  Bräutigam,  eine  Frau,  die 
ihren  Mann,  ein  Elternpaar,  das  seinen  Sohn  verloren 
hatte  und  doch  lächeln  und  wie  immer  das  Glas  Bier 
bestellen  konnte. 

Einer  Mutter,  der  ihre  Stütze  fürs  Alter,  ihre 
Hoffnung,  der  Zentralpunkt  all  ihrer  Liebe  —  ihr 
einziger  Sohn  zerstampft  worden  war  auf  dem  Felde 
der  Ehre  und  die  zu  Robert  sagte,  , jetzt  muß  man 


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sich  halt  damit  abfinden^  griff  er  wild  an  den 
Hals. 

Gott  strich  über  des  Kellners  Hände  und  legte 
dessen  plötzlich  von  Liebe  durchbebten  Finger  der 
Mutter  sanft  auf  die  Schulter.  Denn  nicht  die  Frau 
war  schuld,  nicht  sie  war  der  Feind  und  nicht  ihre 
Worte,  sondern  das,  was  hinter  den  Worten  stand. 
Und  das  war  etwas,  das  nicht  da  war.  Es  war  das 
Nichtvorhandensein  der  Liebe. 

Das  mörderische  Schuldbewußtsein  brannte  die 
kleine  Vaterliebe  weg,  so  daß  das  Urgef  ühl  der  großen 
Liebe  aufstehen  konnte  in  ihm. 

In  tiefster  Demut,  in  deren  Mittelpunkt  die  un- 
versiegbare Kraft  der  Liebe  stand,  verrichtete  er  die 
Arbeit  des  Pikkolos,  trug  den  Gästen  Wasser  zu, 
spülte  Gläser  aus,  ging,  als  die  Glocke  ihn  rief,  in 
den  großen  Hotelsaal. 

Schlosser,  Maurer,  Schreiner,  Spengler,  Tape- 
zierer, Glaser  —  zerarbeitete  Männer,  die  haarigen, 
abschreckend  häßlichen  Tieren  mit  Menschenaugen 
glichen  —  füllten  den  großen  Hotelsaal:  die  Bau- 
arbeitervereinigung hielt  ihre  Jahresversammlung  ab. 

Robert  brachte  dem  Redner,  der  auf  dem  Podium 
stand,  eine  Flasche  voll  Wasser  und  hörte,  ans  Kla- 
vier gelehnt,  hinter  dem  die  Säbelchen  und  Schieß- 
gewehrchen steckten,  dem  Redner  zu. 

Der  erklärte,  daß  Unterstützungsgelder  an  arbeits- 
lose und  kranke  Mitglieder  dieses  Jahr  nicht  ausbe- 
zahlt werden  könnten.  Denn  es  seien  so  gut  wie  keine 
Beiträge  eingelaufen.    Zudem  habe  man  den  Mit- 


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gliedern,  die  im  Felde  standen  —  und  die  gingen  allen 
andern  vor  —  fortlaufend  Unterstützungsgelder  ge- 
schickt. „Die  Keserven  sind  aufgebraucht.  Die  Kasse 
ist  leer." 

Siebenhundert  Augenpaare  von  siebenhundert 
dumpf  schweigenden  Menschen  blickten  ratlos  auf  den 
Redner.  Die  Frauen,  deren  Küchentöpfe  leer  waren, 
und  die  Frauen,  deren  Männer  im  Felde  standen  oder 
schon  gefallen  waren,  hatten  rotgefleckte  Wangen  be- 
kommen. Die  Eisenplatte,  die  seit  zwei  Jahren  über 
ganz  Europa  lag,  lag  sichtbar  auch  über  diesen  sieben- 
hundert in  Leid  und  Not  verkrampften  Last- 
tieren. 

Ein  kleiner  Junge  hatte  das  Kinderschießgewehr 
hinterm  Klavier,  das  auf  dem  Podium  stand,  hervor- 
gezogen und  zielte,  den  Schaft  an  der  grauen  Backe, 
hinunter  auf  die  siebenhundert  reglosen  Männer  und 
Frauen.  Alle  blickten  auf  das  Loch  des  Rohrlaufes 
aus  Weißblech. 

Und  draußen  standen,  den  Gewehrschaft  an  der 
Backe,  in  Schuld  und  Sünde  Millionen  Menschen 
gegenüber  Millionen  Menschen,  die  in  Schuld  und 
Sünde  standen. 

Da  tat  Robert  den  Sprung.  Es  war  ein  ganz  lang- 
samer Sprung.  Er  ging  traumwandlerisch  sicher  auf 
den  Jungen  zu,  nahm  ihm  das  Spielzeug  von  der 
Backe  weg  und  trat  vor,  bis  an  den  Rand  des  Po- 
diums. 

Und  während  der  Redner  Wasser  trank  und  seine 
Abrechnungslisten  zurechtlegte,  sagte  Robert: 


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„Das  hier  ist  ein  Schießgewehr.  Das  habe  ich  . . . 
ich  selbst  habe  das  meinem  Jungen  gekauft.  Damit 
hat  er  gespielt.  Damit  hat  er  sich  unmerklich  die 
Liebe  aus  seinem  Herzen  hinausgespielt.  Damit  hat 
er  schießen  gelernt.  Ich  habe  ihn  das  Schießen,  habe 
ihn  das  Morden  gelehrt.  Mein  Sohn  ist  gefallen.  Er 
ist  tot.  Ich  bin  sein  Mörder  . . .  Vaterstolz,  Ruhm- 
sucht, Gedankenlosigkeit  und  Gewohnheit  haben  mich 
zum  Mörder  werden  lassen.  Und  doch  habe  ich  nur 
getan,  was  auch  ihr  getan  habt.  Auch  von  euch  hat 
mancher  seinen  Sohn  ...  verloren." 

Robert  hieb  das  Gewehrchen  gegen  die  Knie  und 
legte  die  zwei  Stücke  ruhig  zu  seinen  Füßen  nieder. 
,,Das  hätte  ich  vor  fünfzehn  Jahren  tun  müssen  . . . 
Habt  ihr  es  getan?  ...    Also  seid  auch  ihr  Mörder. 

Unsere  Männer  und  unsere  Söhne  erschießen 
Männer  und  Söhne.  Und  jene  Männer  und  Söhne 
erschießen  unsere  Männer  und  Söhne.  Und  jeder 
Daheimgebliebene  hofft:  mein  Mann,  mein  Sohn 
kommt  zurück;  mögen  die  anderen  fallen  und  sterben. 

Solches  kann  nur  ein  Wahnsinniger  wünschen  . . . 
Ich  frage  euch:  ist  der  kein  Mörder,  der  ein  unschul- 
diges Kind  so  erzieht,  daß  es  erst  zum  Mörder  wer- 
den muß,  bevor  es  selbst  ermordet  wird  ?  Wird  der 
so  erzogene  Unschuldige,  wenn  er  einen  gleichfalls 
schlechtberatenen  Unschuldigen  erschießt,  nicht  zum 
Mörder  ?  Es  gibt  heute  in  Europa  keinen  Menschen 
mehr,  der  nicht  ein  Mörder  wäre !  . . .  Wir  sind  ver- 
blendet und  Mörder,  weil  wir  den  Gegner  außer  uns 
suchen  und  zu  finden  glaubten.  Nicht  der  Engländer, 


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Franzose,  Kusse  und  für  diese  nicht  der  Deutsche, 
sondern  in  uns  selbst  ist  der  Feind.  Und  wir  sehen 
deshalb  in  anderen  Menschen  den  Feind,  weil  der 
tatsächliche  Feind  etwas  ist,  das  nicht  da  ist.  Das 
Nichtvorhandensein  der  Liebe  ist  der  Feind  und  die 
Ursache  aller  Kriege.  Ganz  Europa  weint,  weil  ganz 
Europa  nicht  mehr  lieben  kann.  Ganz  Europa  ist 
wahnsinnig,  weil  es  nicht  lieben  kann. 

Oder  ist  es  nicht  Wahnsinn,  wenn  ihr  euch  freut 
über  die  Notiz:  zweitausend  französische  Leichen 
lagen  vor  unserer  Linie?  Ist  die  Einwohnerschaft 
von  Paris  nicht  wahnsinnig,  wenn  sie  sich  freut  über 
die  Notiz:  zweitausend  deutsche  Leichen  lagen  vor 
unserer  Linie  ? 

Wir  schreien  vor  Schmerz  oder  die  Augen  bleiben 
trocken  vor  Schmerz,  wenn  unser  Sohn  fällt.  So- 
lange wir  nicht  ebenso  vor  Schmerz  schreien,  wenn 
ein  Franzose  fällt,  lieben  wir  nicht.  Solange  wir  nicht 
fühlen:  ein  Mensch,  der  uns  nichts  getan  hat,  fiel 
und  starb,  so  lange  sind  wir  Wahnsinnige.  Denn 
dieser  Mensch,  der  fiel  und  starb,  hatte  eine  Mutter, 
einen  Vater,  eine  Frau,  die  vor  Schmerz  schreien. 
War  ein  Mensch.  Wollte  so  gerne  leben.  Und  mußte 
sterben.  Wofür  ?  Warum  ?  Wir,  seine  Mörder,  ließen 
ihn  sterben,  weil  wir  nicht  lieben." 

Robert  machte  während  des  Sprechens  ganz  kleine 
Bewegungen  mit  der  Hand,  daß  die  weiße  Serviette 
baumelte.  Es  war  so  schwer,  auch  den  anderen  mit- 
zuteilen, was  man  selbst  fühlte  und  erkannt  hatte. 
Und  dabei  war  das  Ganze  doch  so  einfach,  so  selbst- 


16 


verständlich.  Aber  die  Menschen  hatten  sich  von  der 
Selbstverständlichkeit  weggestellt.  Sie  hatten  die 
Liebe  einfach  vergessen,  wie  man  seinen  Schirm 
stehen  läßt. 

„Man  braucht  ja  nur  zu  lieben,  dann  fällt  kein 
Schuß  mehr.  Dann  ist  der  Friede  da.  Kinder  sind 
wir  dann  auf  unserer  Erde  ...  Der  ganze  Erdteil 
weint.  Daran  merkt  man  doch,  daß  der  Erdteil  fähig 
ist  zur  Liebe.  Ganz  hoffnungslos  wäre  erst  dann  alles, 
wenn  Europa  lachen  würde,  weil  ganz  Europa  blutet. 
Aber  es  gibt  kein  Haus  in  Europa,  in  dem  nicht  die 
Tränen  fließen.  Das  ist  die  Liebe,  die  aus  den  Men- 
schenaugen heraus  weint,  weil  sie  vertrieben  worden 
ist  aus  den  Herzen  der  Menschen. 

Was  tut  ihr,  wenn  jetzt  im  Augenblick  ein  euch 
fremder  Mensch  in  diesen  Saal  hereintritt  und  einem 
von  euch,  den  er  nie  gesehen  hat,  das  Bajonett  in 
den  Leib  stößt  ?  Ihr  würdet  den  Wahnsinnigen  nicht 
begreifen.  Genau  dasselbe  tun  eure  Männer  und 
Söhne;  auch  sie  stoßen  Männern  und  Söhnen,  die 
sie  nie  gesehen  haben,  das  Bajonett  in  den  Leib,  daß 
der  Durchstoßene  aufschreit,  sich  krümmt  und  fällt. 
Was  hat  er  eurem  Sohne  getan  ?  Und  was  hat  euer 
Sohn  dem  getan,  der  ihm  das  Bajonett  in  den  Leib 
stieß?  ...  Habt  ihr  euch  schon  einmal  vorgestellt, 
auf  welche  Weise  euer  junger  Sohn,  der  so  gerne,  ach 
so  gerne  noch  hätte  leben  mögen,  sterben  mußte? 
...  Mädchen,  vergegenwärtige  dir  den  letzten  Blick 
deines  Bräutigams,  der  verwundet,  dürstend,  sechs 
Stunden  lang  in  der  Sommerhitze  im  Stacheldraht 


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hing.  Stelle  dir  seinen  letzten,  furchtbar  langen  Blick 
vor. 

„Frau",  sagte  Robert  zu  einer  Erbleichenden,  leise, 
daß  es  alle  Siebenhundert  hörten,  ,,was  hat  dein 
Mann,  den  du  liebtest,  der  dir  Brot  und  Kinder  gab, 
dem  getan,  der  ihm  das  Bajonett  in  den  Leib  stieß  ?" 

Die  Frau  wimmerte,  ihr  Kopf  sank  dem  neben 
ihr  Sitzenden  auf  die  Schulter. 

,,Die  Menschen  sind  wahnsinnig,  wirklich  und 
wahrhaftig  wahnsinnig,  weil  sie  die  Liebe  vergessen 
haben.  Und  weil  sie  die  Liebe  vergessen  haben,  glau- 
ben sie,  es  müsse  alles  so  sein,  wie  es  ist  ...  Unser 
Volk,  wie  wir  es  sehen,  besteht  nur  noch  aus  Krüp- 
peln und  elend  aussehenden  Kindern,  Frauen  und 
Greisen.  Wenn  man  jetzt  noch  die  Arme  und  Beine, 
die  losgetrennten  Körperteile,  die  Millionen  zerrisse- 
ner Leichen,  unter  denen  auch  eure  Söhne  und  Männer 
sind,  von  den  Schlachtfeldern  holen  und  auf  eure 
Straßen  werfen  würde,  euch  vor  die  Augen,  würdet 
ihr  auch  dann  noch  sagen:  man  muß  sich  halt  damit 
abfinden  ?  Oder  würdet  ihr  endlich  bereit  sein  zum 
Lieben,  was  auch  dabei  herauskomme  ?  Würdet  ihr 
dann  endlich  sagen:  ich  will  nicht  leben,  wenn  ich 
nicht  lieben  darf?  Würdet  ihr  einsehen,  daß  die- 
jenigen, die  euch  das  Lieben  verbieten.  Feinde  sind? 
Feinde  des  Menschen!  Volksfeinde!  Seht  ihr  nicht 
die  Berge  zerrissener  Menschenleiber  ?  Sie  liegen  vor 
euren  Augen,  liegen  auf  euren  Straßen,  daß  kein 
Wagen  mehr  fahren  kann  und  ihr  keinen  Schritt 
mehr   machen   könnt.    Eure    Söhne!    Eure  Söhne! 


18 


Eure  Männer!  Väter!  Blutig!  Zerrissen!  Unkennt- 
lich!" 

Ein  Schrei  stieg  aus  der  Saalmitte  empor.  Hin- 
ten, beim  Saaleingang,  erklang  ein  tierisches  Stöhnen. 
Einem  alten  Manne  fiel  die  Stirn  in  die  Hand.  Ein 
Mädchen  verließ  die  Stuhlreihen;  sie  hatte  große 
Augen  bekommen  und  stürzte  in  die  Kniee. 

„Wir  dürfen  uns  nicht  länger  belügen  und  sagen: 
nur  der  Zar,  der  Kaiser,  der  Engländer  ist  schuld." 
Robert  legte  langsam  die  Hand  mit  der  Serviette  an 
die  Brust:  „Ich  bin  schuld.  Und  du  bist  schuld.  Und 
du  und  du  . . .  Denn  auch  wir  hatten,  ebenso  wie  der 
Zar,  der  Engländer,  der  Kaiser,  der  Millionär  und  der 
Milliardär,  die  Liebe  vergessen.  Nehmt  die  Schuld 
auf  euch,  damit  ihr  der  Liebe  wieder  teilhaftig  wer- 
den könnt.  Denn  nur  wer  hier  sich  schuldig  fühlt, 
kann  entsündigt  werden  und  wieder  lieben. 

Und  jetzt  wisset:  die  Liebe  trägt  in  sich  ein  hartes 
Gebot.  Die  Liebe  sagt:  wer  nicht  liebt,  ist  schuldig 
und  böse  und  soll  weichen,  damit  der  Liebe  auf  Erden 
keine  Schranken  mehr  gesetzt  werden  können.  Wir 
wollen  fallen  und  sterben  dafür,  daß  der  Liebe  die 
Regierung  Europas  übergeben  werde." 

Die  Menschengesichter  unten  im  Saale  waren  auf- 
gelöst. 

Weitersprechend  stieg  Robert  vom  Podium  her- 
unter.  Alle  waren  aufgestanden,  drängten  ihm  nach. 

,,Das  Gebot  der  Liebe  ist:  wer  sich  nicht  schuldig 
fühlt,  die  Schuld  nicht  auf  sich  nimmt,  liebt  nicht, 
ist  unser  Feind  und  muß  weichen.    Das  ist  Gesetz. 


19 


Neues  Gesetz!  Ihr,  die  ihr  nichts  mekr  verlieren 
könnt,  da  ikr  alles  schon  verloren  habt..." 

Roberts  Worte  gingen  unter  in  den  hundert- 
stimmig wiederholten  Worten:  ,, Alles  verloren!  Wir 
haben  nichts  mehr  zu  verlieren!  Wir,  die  wir  nichts 
mehr  zu  verlieren  haben...    Nichts!   Nichts!" 

Die  Nachricht  hatte  sich  schon  verbreitet,  als  sie 
durch  die  Straßen  zogen.  Voran  der  Kellner,  ohne 
Hut,  im  schmierigen  Smoking,  die  Serviette  in  der 
Hand.  ,,Die  wollen  Frieden  machen.  Die  wollen 
Frieden  machen." 

Verkäuferinnen  —  verwaiste  Bräute  —  verließen 
den  Ladentisch  und  schlössen  sich  an.  Zwei  Schau- 
fensterreiniger, alte  Männer,  ließen  die  Leiter  stehen 
und  schlössen  sich  an.  Der  Wagenführer  der  Elek- 
trischen hörte  das  Wort  ,, Friede",  erstarrte  und 
sprang  vom  Wagen  herunter,  schloß  sich  an.  Die 
Fahrgäste  schlössen  sich  an.  In  wenigen  Minuten 
hatte  sich  die  Menge  verdreifacht.  Und  verzehnfachte 
sich,  als  Robert,  auf  dem  Platze  angelangt,  auf  der 
Brunnenschale  stand  und  sprach.  Sein  Mund  zeich- 
nete den  letzten  Satz  in  weithin  sichtbaren  Buch- 
staben an  den  Himmel:  ,,Es  ist  schon  die  Axt  an  die 
Wurzel  gelegt.  Darum,  welcher  Baum  nicht  gute 
Frucht  bringt,  wird  abgehauen  und  ins  Feuer  ge- 
worfen." 

Eine  junge  Frau  stand  da  und  tat  nichts  als 
lächeln  und  „Friede"  sagen.  Reisende,  die  vom  Bahn- 
hof kamen,  vergaßen  alles  und  schlössen  sich  an,  als 
die  Menge  weiterzog.   Flammend.    Schnell.   Entzün- 


20 


det  vom  Glauben.  Eine  Schar  Urlauber,  feldmarsch- 
mäßig ausgerüstet,  das  Gewehr  quer  über  dem  Kücken 
und  das  Grauen  des  Schlachtfeldes  in  den  Augen, 
schloß  sich  an.  Alte  Mütterchen  kamen  kaum  mit. 
Kinder  bekamen  schmale  Gesichter  vor  Staunen  und 
ahnten  das  Große.  Ein  alter  Polizeiwachtmeister  mit 
grauem  Spitzbart,  das  Trauerband  am  rechten  Arme, 
bekam  fanatische  Augen  und  schloß  sich  an.  Men- 
schen, die  dem  Zuge  entgegenkamen,  machten  kehrt, 
vom  Feuer  ergriffen.  Eadfahrer  sausten  durch  die 
Straßen.  „Die  wollen  Frieden  machen!"  Die  Wirts- 
häuser entleerten  sich.  Werkstätten,  Baustellen  ent- 
leerten sich.  Transmissionen  standen  still.  Eine  Ab- 
teilung Soldaten  unter  Gewehr  wurde  mitgerissen. 
Gesänge  der  Liebe  ertönten  im  Marschtempo.  Kranke 
stiegen  aus  den  Betten,  schleppten  sich  ans  Fenster. 
Kilometerlange  Linien  von  Frauen,  schräg  bewegt, 
trieben  aufeinander  zu,  stießen  zum  Zuge. 

Ein  Zwanzigjähriger  —  Fanatismus  und  Geist  auf 
der  Stirn  —  sprang  aus  einer  menschengefüllten 
Seitengasse  heraus,  auf  den  Kellner  zu,  küßte  ihn. 
Und  sein  heißer  Blick  öffnete  die  Herzen. 

Die  ganze  Stadt  war  aufgestanden  und  schrie  ein 
Wort.  Friede!  Das  so  gesprochene  Wort  wurde  zu 
vieltausendstimmigem,  gewaltigem  Gesänge.  Alle 
Kirchenglocken  läuteten. 


21 


II 

Die  Kriegswitwe 

Ihr  Mann  war  Versicherungsagent  gewesen,  war 
gefallen,  gestorben.   Kopfschuß. 

,,Die  Kugel  hätte  ihn  auch  in  die  Brust  treffen 
können,  ins  Herz,  in  die  Lunge.  Die  Kugel  hätte 
ebensogut . . .  den  Magen  meines  Mannes  zerfetzen 
oder  die  Wirbelsäule  zersplittern  können.  Der  eine 
jstirbt  so,  der  andere  so.  Das  ist  ganz  gleich.  Tot  ist 
tot . . .  Oder  ein  Bajonettstich  in  seinen  Unterleib, 
daß  mein  Mann  seine  Gedärme,  die  er  nie  gesehen 
hatte,  noch  ein  paar  Minuten  lang  hätte  betrachten 
können." 

Unwillkürlich  legte  die  Frau  schützend  die  Hand 
auf  ihren  hohen  Unterleib :  das  Kind  des  toten  Vaters 
bewegte  sich. 

,, Versicherungsagent ...  Er  hätte  ebensogut  irgend 
ein  Handwerker,  Kaufmann,  Arbeiter,  Beamter,  Ge- 
lehrter sein  können,  ganz  gleich  was,  die  Kugel  hätte 
ihn  doch  getroffen  . . .  Sauste  auf  meinen  Mann  zu 
und  machte  keinen  Bogen  um  ihn  herum,  machte 
natürlich  keinen  Bogen  um  den  armen  Versicherungs- 
agenten herum.  Die  Kugel  wählt  ja  nicht  aus.  Trifft 
jeden ...  Ich,  eine  Versicherungsagentenwitwe,  könnte 
ebensogut  eine  Beamten-  oder  Arbeiterwitwe  sein. 


22 


Zwischen  mir  und  allen  anderen  gibt's  keinen  Unter- 
schied. Ich  bin  eine  Kriegswitwe.  Wie  alle.  Eine 
Kriegswitwe ! . . .  Und  wenn  meinen  Mann  eine  Gra- 
nate so  zerfetzt  und  in  die  Luft  gesprengt  hätte,  daß 
nicht  ein  Teilchen  seines  Körpers  mehr  zu  finden  ge- 
wesen wäre  ?  Ganz  gleichgiltig !  Tot  ist  tot . . .  Mein 
Schicksal  ist  das  Schicksal  von  Millionen  Frauen. 
Einen  Unterschied  gibt's  gar  nicht  zwischen  mir  und 
allen  anderen  Frauen  . . .,  zwischen  mir  und  der  Nach- 
barin, die  an  der  Ecke  wohnt  und  seit  drei  Wochen 
auch  keinen  Mann  mehr  hat,  zwischen  mir  und  den . . . 
Ja  wieviel  Frauen  sind's  denn  ?  Zwei  Millionen  viel- 
leicht, die  in  ihrem  Zimmer  sitzen  und,  wie  ich,  an 
ihren  toten  Mann  denken  ?  Zum  Fenster  hinaussehen 
und  an  ihren  toten  Mann  denken.  Staub  wischen, 
Kinder  warten,  Strümpfe  stricken,  kochen,  auf  die 
Arbeit  gehen  und  an  ihren  toten  Mann  denken,  an 
ihren  toten  Mann  denken,  toten  Mann  denken.  Sich 
abends  ins  Bett  legen  und  an  ihren  toten  Mann  den- 
ken. Zwei  Millionen  vielleicht?  Zwischen  all  denen 
und  mir  gibt  es  keinen  Unterschied.  Unsere  Männer 
sind  tot . . .  Der  Nachbarin  ihr  Mann  ist  in  einem 
Lazarett  gestorben.  Meiner  durch  Kopfschuß.  War 
sofort  tot.  Ganz  gleichgiltig  . . .  Kopfschuß !  In  die 
Stirn  ?  Vielleicht  bei  der  Nasenwurzel  hinein  ?  Oder 
durchs  Auge  hinein?  Durch  sein  Auge?  Ja  aber, 
was  geschah  mit  seinem  Auge?  Mit  seinem  lieben 
Auge.  Mit  dem  Auge  meines  lieben  Mannes  ...  Ist 
ja  ganz  gleichgiltig;  es  ist  ganz  gleichgiltig,  ob  das 
Auge,  die  Brust,  die  Lunge,  das  Gehirn,  der  Unter- 


23 


leib  zerfetzt  wird.  Tot  ist  tot . . .  Millionen  Kriegs- 
witwen sitzen  wie  ich  da  und  stellen  sich  vor,  wie 
der  Mann  eigentlich  gestorben  sein  mag.  Es  ist  aber 
ganz  gleich,  wie  er  den  Tod  fand.  Fand  ?  Sucht  man 
denn  den  Tod?  ...  Und  ob  er  jetzt  Schlosser  oder 
Student,  Fabrikarbeiter  oder  Bauer,  Gelehrter  oder 
Beamter  gewesen  wäre,  ganz  gleich.  Das  ist  ganz 
gleich  ...  Es  geht  Millionen  Frauen  so  wie  mir.  Gott 
sei  Dank." 

, Wieso  denn  Gott  sei  Dank?' 

Sie  stand  schwerfällig  auf ;  die  Hand  blieb  auf  die 
Tischkante  gestützt.  „Das  lindert."  , . . .  Was  lin- 
dert V  „ . . .  Doch,  das  lindert.  Es  ist  doch  ein  Unter- 
schied, daß  es  nicht  mir  allein,  sondern  Millionen 
Frauen  so  geht.  Ein  bedeutender  Unterschied.  Der 
Unterschied  ist  sehr  groß.  Und  es  lindert.  Ich  würde 
es  einfach  nicht  ertragen,  wenn  es  mir  allein  so  ginge. 
Sich  das  nur  vorzustellen!  Könnte  ich  es  denn  er- 
tragen ?  Ich  ganz  allein !  Das  wäre  unmöglich  . . . 
Es  geht  Millionen  Frauen  so  wie  mir." 

Plötzlich  sah  sie  Millionen  Frauengesichter, 
schmerzbehangen. 

„Das  läßt  einen  das  Unglück  leichter  ertragen, 
ertragen  ...  Es  geht  eben  allen  so  wie  mir.  Wir 
müssens  ertragen,  wir  Frauen.  Wir  haben  unsere 
Männer  dem  Vaterlande  geopfert.  Auf  dem  Altare 
des  Vaterlandes  geopfert.  Al...tar  des  Vater... 
landes",  schmeckte  sie  mit  der  Zunge,  sah  fernhin, 
versuchte,  sich  den  Altar  des  Vaterlandes  vorzustel- 
len.   Das  gelang  ihr  nicht. 


24 


Immer  wieder  sah  sie  den  Altar,  vor  dem  sie  als 
Mädchen  das  erste  Abendmahl  genommen  hatte,  sah 
Kerzen  und  das  Christusbild.  „Aber  Altar  des  Vater- 
landes ?   Gibts  denn  das  überhaupt  ?" 

Da  machte  ihr  Wesen  einen  blitzschnellen  Sprung 
zurück  zu  dem  Glauben:  ,,Ich  habe  meinen  Mann 
auf  dem  Altare  des  Vaterlandes  geopfert ...,  wie  alle 
andern  Kriegswitwen  auch." 

„Der  Altar  steht  allerdings  nicht  in  einer  Kirche, 
sondern  ist  ein  mit  Elektrizität  geladener  Stachel- 
drahtzaun, in  dem  dein  Mann  hängen  geblieben  ist", 
versuchte  der  Schmerz  zu  flüstern,  ,,also  müßte  man 
eigentlich  sagen:  geopfert  im  Stacheldrahte  des  Vater- 
landes." 

Es  gelang  ihr,  den  noch  ganz  undurchlittenen 
Schmerz  um  den  toten  Mann  wegzuhalten  mit  den 
Worten:  „Er  starb  den  Heldentod  fürs  Vaterland." 
Stolz  glitt  mit  diesem  Worte  in  ihr  armes  Herz  hinein. 

„Die  Befriedigung,  daß  es  Millionen  Frauen  so 
geht,  und  die  Worte:  , Geopfert  auf  dem  Altare  des 
Vaterlandes  —  Er  starb  für  eine  heilige  Sache  — 
Er  starb  für  den  Sieg  unserer  Waffen*,  sind  Betäu- 
bungsmittel gegen  den  Schmerz  um  deinen  gelieb- 
ten Mann;  aber  nicht  immer  kannst  du  Betäubungs- 
mittel nehmen;  einmal  wirken  sie  nicht  mehr", 
flüsterte  der  Schmerz,  der  empfunden  sein  wollte  und 
so  fest  in  Worte  eingepackt  war,  daß  seine  Stimme 
von  der  Kriegswitwe  nicht  gehört  wurde. 

Die  Abzementierung  des  Gefühls,  des  Schmerzes 
war  undurchdringlich;  so  undurchdringlich  war  die 


25 


einzementierte  Wortplatte  —  von  den  noch  im  dun- 
kelsten Geiste  alter  Jahrhunderte  Stehenden  ein- 
zementiert in  das  empfängliche,  gedankenlos-gläu- 
bige Gehirn  des  Volkes  — ,  daß  der  noch  undurch- 
littene  Schmerz  nicht  eine  Sekunde  lang  in  ihr  Herz 
vordringen  konnte. 

Der  Gesichtsausdruck  der  Witwe  wurde,  da  Ge- 
fühl und  Schmerz  nicht  fließen  konnten,  von  Tag  zu 
Tag  steinerner.  Die  Tränen  wurden  nicht  vom  Herzen 
geschickt;  sie  liefen  von  oben  weg. 

Ein  verspäteter  Brief  des  toten  Mannes  kam  an. 
Der  Schmerz  setzte  sich  in  den  Brief  hinein,  wollte 
mit  jedem  Worte,  das  die  Frau  las,  ihr  ins  Herz 
springen. 

Das  war  abzementiert. 

Er  erzählte  vom  Schützengraben,  vom  Feuer  des 
Feindes,  vom  Essen.  ,,Ich  rauche  jetzt  viel,  das  tut 
gut",  schrieb  der  tote  Mann.  ,,Und  wann  werde  ich 
dich  wiedersehen?  Sende  mir  eine  wollene  Unter- 
jacke; es  ist  kalt  geworden.   Und  bleib  mir  treu." 

Die  einzementierte  Platte  rückte;  Schmerz  schoß 
heiß  auf.  Ganz  kurz.  Dann  saß  die  Platte  wieder 
fest.  Das  eine  Sekunde  lang  ungeheuer  verändert 
gewesene  Witwengesicht  wurde  wieder  steinern. 

In  ihrem  Kopfe  war  verwirrender  Nebel  zurück- 
geblieben, von  dem  sich  vage  der  Gedanke  loslöste: 
„Zwei  solche  wollene  Unterleibchen  müssen  doch 
noch  da  sein,  Trikotleibchen.  Da  könnte  er  immer 
das  eine  waschen,  wenn  er  das  andere  anhat . . . 
Müssen  doch  noch  da  sein." 


26 


Der  Schrank  öffnete  sich.  Das  Unterleibchen 
wurde  bei  den  zwei  Ärmelenden  gefaßt,  untersucht. 
„Nur  den  Knopf  muß  ich  annähen." 

Der  Schmerz  hatte  sich  im  Unterleibchen  ver- 
steckt; sein  Sprung  ins  Witwenherz  wurde  vom 
,  Nebel  in  ihrem  Gehirn  verhindert. 

Während  sie  den  Knopf  annähte,  packte  sie  in 
Gedanken  das  Unterleibchen  schon  ein,  trugs  zur 
Post:  es  rollte  an  die  Front,  wurde  vom  toten  Mann 
ausgepackt,  angezogen. 

Da  verschwand  der  Nebel.  Und  ihr  ganzes  Wesen 
flüchtete  hinein  in  das  Wort:  „Ich  habe  meinen  Mann 
auf  dem  Altare  des  Vaterlandes  geopfert,  für  eine 
heilige  Sache  . . . ,  wie  alle  andern  Frauen  auch,  wie 
viele  Frauen,  wie  zwei  Millionen  Frauen  ...  Es  geht 
mir  nicht  allein  so." 

Sie  trug  das  Leibchen  in  den  Schrank  zurück.  Da 
hing  eine  alte  Hose.  Bei  den  Knien  war  die  Hose 
etwas  heller  und  herausgedrückt,  als  seien  die  Kniee 
des  Mannes  noch  in  der  Hose. 

Sie  tippte  mit  dem  Zeigefinger  gegen  das  heraus- 
gedrückte Hosenknie,  in  dem  der  Schmerz  saß: 
lauernd,  sprungbereit. 

Und  flüchtete,  den  Blick  auf  die  schaukekde  Hose 
gerichtet,  in  die  kleine  Befriedigung  hinein:  „Die 
hätte  er  doch  nicht  mehr  lange  tragen  können." 

Automatisch  ging  sie  fort,  um  Einkäufe  zu  machen 
für  den  Haushalt.  „Lange  hätte  er  die  nicht  mehr 
tragen  können  . . .  Wenn  er  zu  den  Leuten  geht,  um 
sie  zu  überreden,  sich  versichern  zu  lassen,  und  ist 


27 


moht  gut  angezogen,  wer  läßt  sich  da  von  ihm  in  die 
Versicherung  aufnehmen  . . . ,  wenn  er  schlecht  ange- 
zogen ist.   Die  Leute  sind  ja  gleich  so  mißtrauisch." 

Sie  hatte  ein  schwarzes  Kleid  an.  Ihr  Gesicht 
war  leblos,  weiß,  das  Auge  leblos:  nicht  starr,  nicht 
ruhig,  nicht  glänzend;  es  sah  tot  aus.  Die  Witwe  sah 
tot  aus.  Wie  ein  Gipsabguß.  Mechanisch  bewegte  sich 
ihr  Körper  vorwärts,  in  den  Kolonialwarenladen  hinein . 

„Aber  wenn  er  abends  heim  kam,  und  es  waren 
ihm  ein  paar  Abschlüsse  gelungen.  Wie  schön!  Die 
Prozente ! . . .  Da  sind  ein  paar  ganz  Hartnäckige. 
Gott,  wie  oft  war  er  schon  bei  denen!  Die  sind  sehr 
reich;  die  Versicherimg  wäre  sehr  hoch;  und  wenn 
ihm  der  Abschluß  gelingt . . .  Die  Prozente !  Wenn  er 
vielleicht  jetzt  noch  einmal  hinginge,  wer  weiß?  ... 
Er  aoll  doch  noch  einmal  hingehen." 

Der  alte,  nach  Petroleum  riechende  Kolonial- 
warenhändler bediente  die  Kriegswitwe  mit  beson- 
derer und  bedeutsamer  Zartheit. 

Und  ihr  stieg  schmerzhaft  schnell  die  unabänder- 
liche Tatsache  wieder  ins  Bewußtsein,  daß  ihr  Mann 
zu  den  paar  Hartnäckigen,  die  so  reich  waren,  gar 
nicht  mehr  gehen  konnte,  weil  er  ja  nicht  mehr  lebte. 

Ihr  Gesicht  zerfiel.  Und  der  Kolonialwarenhänd- 
ler zeigte  deutlicher,  daß  er  wohl  wisse,  was  das  für 
eine  Frau  bedeute,  den  Mann  verloren  zu  haben. 
Seine  gespannte  Bereitwilligkeit,  wie  er  ihre  Bestel- 
lungen entgegennahm,  tat  ihr  wohl.  Mit  einem  leisen 
Druck  legte  er  die  gefüllte  Düte  vor  sie  hin,  sah  ihr, 
Oberkörper  vorgebeugt,  ins  Auge. 


28 


Und  die  Hausfrau  in  ihr  fragte,  ob  sie  den 
Kaffee  noch  einmal  zum  alten  Preis  bekommen 
könne. 

Da  hob  er  die  Schultern:  das  täte  ihm  leid.  Schlug 
das  Klappbrett  des  Ladentisches  hoch,  schlüpfte  vor, 
öffnete  höflich  die  Tür:  „Die  enormen  Einkaufspreise 
jetzt.  Nicht  zu  sagen."  Es  täte  ihm  ja  wirklich  sehr 
leid,  aber  da  sei  nichts  zu  machen. 

Gebeugt  und  langsam  ging  sie  hinaus,  vorüber  an 
einem  spielenden  Kinde,  das,  seinen  mit  Ahnung  ge- 
füllten Blick  zu  ihr  emporgerichtet,  im  Halbkreise 
auswich  und  ihr  nachsah. 

Daß  sie  eine  Kriegswitwe  war,  konnte  jeder  sehen. 
Auch  die  Leute  im  Trambahnwagen  fühlten  das  so- 
fort, schlössen  jedoch  die  Augen.  Denn  da  war  nichts 
zu  machen.  Krieg  ist  Krieg.  Und  dabei  fallen  Män- 
ner. Alles  Mitleid  nützt  nichts.  Mitleid  ist  hier 
Schwäche.    Außerdem  gehts  vielen  so. 

Die  Kriegswitwe  stierte  wie  ein  Mensch,  der  in 
seinem  Blute  liegt.  Und  alle  gehen  vorüber.  Sie 
steckten  die  Gesichter  in  die  noch  feuchten  Zeitungen, 
lasen  die  neueste  Siegesnachricht:  wieviel  Feinde 
gefangen,  wieviel  gefallen  waren,  freuten  sich  und 
nahmen  sich  konzentriert  vor:  ,Mich  solls  nicht 
packen  . . .    Aber  denen  werden  wirs  zeigen.* 

„Siebentausend!"  las  laut  ein  gutmütig  aus- 
sehender alter  Mann  und  sah  die  Kriegswitwe  an. 
„Siebentausend  Gefangene!  Ungeheuer  blutige  Ver- 
luste!  Berge  von  feindlichen  Leichen!" 

Gesichter  glänzten.  Freudenworte  sprangen  durch 


29 


den  Wagen.  Hände  flatterten.  Befriedigter  Haß  saß 
auf  den  Bänken. 

Die  bisher  tot  und  blau  gewesenen  Augen  der 
Agenten witwe  waren  schwarz  geworden.  „Was  steht 
da?    Berge  von  feindlichen  Leichen ?    Berge?" 

Da  trat,  gleich  einem  Fremden,  der  unerwartet 
und  unerwünscht  in  eine  geschlossene  Gesellschaft 
eindringt,  von  der  Plattform  aus  der  Kellner  in  den 
Türrahmen:  „Über  was  freut  ihr  euch  denn  so  ?  Über 
was?...  Weil  jetzt  wieder  einige  tausend  Eures- 
gleichen auf  dem  Felde  der  . . .  Ehre  liegen  ?  Blutig 
und  zerfetzt!  Noch  atmend  oder  schon  tot!  ...  Viel- 
leicht ist  auch  Ihr  Sohn  unter  den  zerstampften 
Opfern.  Und  liegt  seit  der  gestrigen  Schlacht  ohne 
Hilfe  schwer  verwundet  zwischen  Toten  und  glotzt 
zu  seinem  Beine  hin,  das  zwei  Meter  von  ihm  entfernt 
liegt.  Glauben  Sie  denn,  daß  Ihr  Sohn  den  wahren 
Grund  gekannt  hat,  der  ihn  veranlaßte,  zum  Mörder 
zu  werden,  bevor  er  selbst  ermordet  wurde?"  fragte 
er,  mühsam  seine  Erregung  bändigend,  den  gutmütig 
aussehenden  alten  Mann, 

in  dessen  Gesicht  die  Siegesfreude  fassungslosem 
Staunen  wich. 

Der  Zwanzigjährige,  der  seit  dem  Tage,  da  der 
Kellner  in  seiner  Heimatstadt  die  Herzen  für  die 
Liebe  aufgerissen  hatte,  mit  durch  das  Land  und 
durch  die  Städte  fuhr  und,  scheinbar  ganz  unbe- 
teiligt, auf  der  Plattform  stand,  machte  plötzlich 
einen  schnellen  Schritt  in  den  Wagen  hinein,  auf 
den  Offizier  zu,  der  abweisende  Glasaugen  bekam: 


30 


„steht  auf  gegen  den  Krieg.  Protestiert!  Alle! 
Alle!" 

„Sie  sind  ruhig  jetzt!  Hier  wird  nicht  so  ge- 
sprochen", sagte  der  Schaffner. 

„Bleibt  nicht  sitzen  in  eurer  Freude  darüber,  daß 
Ochsen  und  Kälber  humaner  als  Menschen,  humaner 
als  eure  Männer  und  Söhne  geschlachtet  werden." 

Sekundenlang  stand  das  Schreckgespenst  der 
Wahrheit  im  "Wagen. 

„Wenn  man's  richtig  überlegt,  sind  das  natürlich 
auch  Menschen...  die  Feinde",  sagte  jemand  und 
wunderte  sich,  daß  er  diese  Worte  gesprochen  hatte. 

Da  wurden  alle  erlöst  vom  gutmütigen  alten 
Manne,  der  sich  schon  wieder  beruhigt  hatte:  „Ja, 
Menschen!  Warum  haben  sie  uns  dann  überfallen? 
...  Hätten  wir  uns  nicht  verteidigen  sollen?" 

Das  Leben  kehrte  zurück:  Köpfe  nickten.  Augen 
blickten  glänzend  und  hart.  Die  Agentenwitwe  rich- 
tete sich  straff  auf. 

Der  gutmütige  Alte  stieß  mit  dem  Zeigefinger  auf 
seine  Zeitung  und  rief,  hassend  und  frohlockend: 
,, Unsere  Verluste  sind  ja  ganz  gering.  Hier  steht's  ja." 

,, Immer  heißt  es:  ,Unsere  Verluste  sind  gering'. 
Wie  steht's  dann  damit,  daß  wir  bis  jetzt  schon  mehr 
als  zwei  Millionen  Tote  haben  ?  Und  wie  viele  sind, 
wie  ich,  für  das  ganze  Leben  ruiniert?"  fragte  ein 
invalider  Soldat,  in  einem  Tonfalle,  der  aus  einer 
anderen  Haßquelle  kam,  und  starrte  unbekümmert 
dem  Offizier  ins  Gesicht. 


31 


„Berge  von  feindlicken  Leichen!"  wiederholte  der 
Alte  und  faltete  die  Zeitung  zusammen. 

Der  Schmerz  um  den  toten  Mann  war  von  einem 
Leichenhaufen  zugedeckt. 

Die  Zeit  ging  hin.  Mit  Hilfe  des  Glaubens,  daß 
ihr  Mann  für  eine  heilige  Sache,  für  den  endlichen 
Sieg  gestorben  sei,  auf  dem  Felde  der  Ehre,  und  mit 
der  lindernden  Tatsache,  daß  es  Millionen  Frauen  so 
ging  wie  ihr,  hielt  sie  den  Schmerz  auch  noch  wäh- 
rend der  nächsten  Wochen  von  sich  weg. 

Gläubiger  schickten  Kechnungen,  dann  Mah- 
nungen, dann  Drohbriefe,  in  denen  noch  der  Satz 
stand:  die  Zeiten  seien  schlecht,  jetzt  brauche  jeder 
sein  Geld;  dann  kurze  Mitteilungen,  in  denen  die 
Pfändung  unverschleiert  angekündigt  wurde. 

Das  hatte  die  Kriegswitwe,  deren  Mann  doch  auf 
dem  Felde  der  Ehre  gefallen  war,  nicht  für  möglich 
gehalten.  Diese  Rücksichtslosigkeit  und  Ungerech- 
tigkeit übertraf  alles,  was  ihr  bisher  widerfahren  war, 
übertraf,  wenn  sie  genau  überlegte,  sogar  die  Un- 
gerechtigkeit, daß  ihr  Mann,  gerade  ihr  Mann,  der 
arme  Versicherungsagent,  der  doch,  weiß  der  liebe 
Gott,  schon  vor  dem  Kriege  in  Not  und  Krieg  ge- 
standen war,  in  den  Krieg  hatte  ziehen  und  fallen 
müssen. 

Starr  trug  sie  das  Gefühl  und  das  gepeinigte  Ge- 
sicht eines  unschuldig  verfolgten  Menschen  herum, 
bis  sie,  täglich  und  durch  verschiedenerlei  Erlebnisse 
immer  wieder  daraufgestoßen,  einsehen  mußte,  daß 
das  Leben  keine  Rücksicht  auf  ihr  Schicksal  nahm. 


32 


das  ja  schließlich  das  Schicksal  von  Millionen  Kriegs- 
witwen war,  sondern  offenbar  kraß  weiterschritt,  ganz 
unverändert,  was  die  Geld-  und  Selbstsucht  an- 
langte. 

Dieser  bitteren  Erkenntnis  setzte  sie  anfangs  so- 
viel Härte  und  dunkle  Wut  entgegen,  wie  in  einem 
Menschenkörper  Platz  hat. 

Aber  das  Leben  war  noch  härter  und  mürbte  täg- 
lich und  mit  mörderischer  Monotonie  weiter,  bis  die 
Witwe  dieser  aussichtslosen  Wut  müde  wurde. 

Der  noch  undurchlittene  Schmerz  hatte  Zeit, 
konnte  warten,  bis  die  Schutzwehren  —  der  Altar 
des  Vaterlandes,  das  Feld  der  Ehre  und  die  lindernde 
Tatsache,  daß  es  zwei  Millionen  Frauen  so  erging  — 
ins  Nichts  zurückstürzten  und  das  Herz  der  Kriegs- 
witwe bloßgelegt  war  für  den  Sprung  des  Schmerzes, 
hinein  ins  Witwenherz. 

Und  was  dem  Tage  nicht  ganz  gelang,  vollbrachten 
die  Träume.  Dem  Tage,  da  ein  Bekannter  es  sich 
wohl  sein  ließ  bei  der  Bemerkung:  ,, Liebe  Frau,  die 
Zeit  lindert  jedes  Leid",  folgte  die  Traumnacht,  in 
der  der  Schmerz  erstaunlich  deutlich  erklärte:  „Aber 
den  noch  undurchlittenen  Schmerz  kann  die'  Zeit 
nicht  lindern.  Kann  Liebe  vergehen,  bevor  sie  da 
war  und  empfunden  worden  ist  ?  ...  Erst  muß  der 
wahnsinnig  singende,  mörderische  Schmerz  emp- 
funden worden  sein,  ehe  die  Zeit  ihn  lindern  kann. 

In  derselben  Nacht  träumte  die  Witwe :  der  Mann 
kommt  zu  spät  nach  Hause.  Sie  liegt  schon  lange  im 
Bett.    Sie  ist  böse,  schimpft:  ,,Wo  bleibst  du  denn!" 


33 


,,  Je,  je,  ich  kann  mich,  doch  auch  einmal  ein  bißchen 
unterhalten."    „So!    Und  ich?" 

Er  zieht  sich  aus  (jede  seiner  Bewegungen  ist  ihr 
genau  bekannt),  legt  sich  neben  sie  ins  Ehebett.  Sie 
beobachtet  alles  durch  die  "Wimpern,  hört  seinen  Er- 
leichterungsseufzer und  wartet  auf  des  Mannes  ver- 
langende Hand,  hüstelt,  um  ihm  die  Annäherung  zu 
erleichtem,  bewegt  den  Körper,  lockt,  bis  der  Mann 
zu  ihr  schlüpft. 

Alles  könnte  schön  sein,  wenn  sie  nicht  plötzlich 
merkte,  daß  nicht  ihr  Mann,  sondern  ein  Fremder 
sie  umfangen  will. 

,,Es  erfährts  ja  niemand",  sagt  der  Fremde.  Und 
sie  denkt:  das  ist  wahr,  es  erfährts  ja  niemand.  Ist 
bereit.  Und  alles  wäre  in  Ordnung,  wenn  nicht  im 
Nebenzimmer  ein  Mensch  herumginge,  der  jeden 
Moment  ins  Schlafzimmer  kommen  konnte.  Dieser 
Mensch  ist  der  Schmerz  um  den  toten  Mann,  hat 
eine  feldgraue  Uniform  an,  das  Gewehr  quer  über 
dem  Rücken. 

Jetzt  steht  er  unterm  Türrahmen,  ist  aber  nicht 
mehr  der  Schmerz  in  Uniform,  sondern  der  Fremde, 
während  bei  ihr  im  Bett  der  Schmerz  liegt,  der  zu- 
gleich ihr  Mann  ist. 

Sie  will  ihren  Mann  zu  sich  nehmen  und  kann 
nicht,  weil  der  im  Türrahmen  stehende  Fremde  nicht 
wegsieht.  Und  wie  der  Fremde  endlich  geht,  die  Tür 
hinter  sich  zuschlägt  und  die  Treppe  hinunterpoltert, 
kann  der  Mann  seine  Uniform  nicht  ausziehen.  Und 
immer  ist  das  Gewehr  zwischen  ihm  und  der  Frau. 


34 


„Das  Gewehr  könnte  losgehen",  sagt  sie,  „nimm 
das  Gewehr  weg."    Sie  will  ihm  helfen. 

Und  erwacht.  Euft  nach  ihrem  Manne,  horcht. 
Und  tastet  das  Ehebett  ab.  „So  eine  Gemeinheit! 
Jetzt  ist  er  noch  nicht  heimgekommen."  Sie  schimpft: 
„Dieser  Lump!" 

Der  Mann  lacht:  „Schon  seit  zwei  Stunden  liege 
ich  neben  dir,  und  du  hast  es  nicht  bemerkt." 

Sie  ist  froh,  lacht  auch.  Er  zieht  sich  aus,  kommt 
zu  ihr.  Und  wieder  liegt  das  Gewehr,  in  dessen  Rohr- 
lauf ein  Blumenstrauß  steckt,  hindernd  zwischen 
ihnen.  „Nimms  doch  weg  .. .  Warte,  ich  drehe  das 
Licht  an." 

Die  Hand  am  Schalter,  erwacht  sie  diesmal  wirk- 
lich, dreht  das  Licht  an,  sucht  neben  sich  im  leeren 
Bett.    „Der  gemeine  Kerl  ist  noch  nicht  da." 

Jetzt  erst  ergreift  eine  dunkle  Faust  das  Herz. 
Und  wie  sie  dem  Schmerze  entfliehen  will  auf  den 
Worten:  „Er  ist  den  Heldentod  gestorben",  preßt  die 
Faust  das  Herz  zusammen. 

„Wie  allen  andern  Frauen  auch,  geht  es  mir", 
will  sie  flüstern.  Und  ihre  Lippen  formen  diese  Buch- 
staben nicht.  Die  Begriffe  ,Vaterland,  Heldentod, 
Feld  der  Ehre'  zerflattern,  sinken  ins  Nichts  zurück 
vor  der  entsetzlichen  Wirklichkeit,  daß  der  Mann 
niemals  mehr  zu  ihr  kommen  kann. 

Und  wie  ein  Mensch,  der  ein  auf  seiner  Handfläche 
liegendes  Brettchen  unter  die  Bohrmaschine  hält, 
schmerzlos  das  monotone  Wühlen  des  Bohrers  fühlt 


35 


empfand  sie,  starren  Auges,  noch  schmerzlos,  das 
rapide,  unabänderlich  näherkommende  Bohren,  bis 
plötzlich  der  Schmerz  das  letzte  Hindernis  durch- 
stoßen hatte  und,  wie  der  Bohrer  in  die  Handfläche, 
hineinsauste  ins  Herz  der  noch  schlaftrunkenen  Kriegs- 
witwe. 

Sekündlich  und  mit  der  ganzen  Kraft  ihres  We- 
sens versuchte  sie,  die  Begriffe  ,Heilige  Sache,  Altar, 
Feld  der  Ehre,  Heldentod'  als  Betäubungsmittel  dem 
Schmerze  wieder  entgegenzustemmen. 

Da  gelang  es  ihr  nicht  mehr,  diese  Begriffe  wie 
bisher  mit  Glauben  an  sie,  mit  falscher  Empfindung, 
mit  irgend  einer  Bedeutung  zu  füllen. 

Und  der  Schmerz  um  den  toten  Mann  war,  in 
den  Zeitraum  weniger  Sekunden  zusammengepreßt, 
ganz  plötzlich  so  unmenschlich  furchtbar,  daß  die 
Witwe,  wollte  sie  nicht  im  Augenblick  Besinnung  und 
Verstand  einbüßen,  mit  einem  gewaltigen  innerlichen 
Sprung  von  ihrem  Leben  der  Lüge,  Gedankenlosig- 
keit und  Selbstsucht  heraus  —  ins  höhere  Menschen- 
tum hineinspringen  mußte.  Sie  hatte  das  tief  ent- 
setzliche Gefühl,  die  Kraft  ihres  Wesens  reiche  nicht 
aus  zum  Sprunge,  umklammerte,  aufrecht  im  Bette 
sitzend,  mit  beiden  Händen  den  Hals,  den  Wahn- 
sinnsschrei abzuwürgen,  der  gurgelnd  hervorquirlte. 
Flog  aus  dem  Bett  in  den  Rock  hinein.  Und  raste, 
halb  angekleidet,  durch  die  Straßen.  Suchte  sich 
eines  Menschen  zu  entsinnen,  der,  vom  gleichen 
Seelenschlag  zertrümmert,  ihren  vom  Wahnsinn  schon 
bedrohten  Zustand  begreifen  könnte.    Und  fand  kei- 


36 


nen  in  ihrer  Welt.  Alle  trösteten  sich  selbst  und 
wollten  sie  trösten  mit  dem  Altare  des  Vaterlandes, 
mit  dem  Felde  der  Ehre. 

Plötzlich  sprang  aus  diesen  trostlosen  Worten  der 
Kellner  heraus  und  in  den  Türrahmen  der  Straßen- 
bahn:,  Steht  auf !  Auf!  Protestiert!  Alle!...  Glaubt 
ihr  denn,  daß  eure  Söhne,  eure  Männer  den  wahren 
Grund  kannten,  der  sie  veranlaß te,  Menschen  za 
morden,  bevor  sie  selbst  ermordet  wurden  ?  . . .  Bleibt 
nicht  sitzen  in  eurer  Freude  darüber,  daß  Ochsen  und 
Kälber  humaner  als  Menschen,  humaner  als  eure 
Söhne  und  Männer  geschlachtet  werden.' 
Dunkel  stieg  der  Protest  in  ihr  auf. 
Gegen  Abend  traf  sie  im  Laden  des  Kolonial- 
warenhändlers mit  der  an  der  Ecke  wohnenden  jungen 
Arbeiterwitwe  zusammen,  deren  Mann  im  Lazarett 
verendet  war. 

Die  war  in  den  wenigen  Monaten  eine  alte  Frau 
geworden ;  ihre  Augen,  durch  das  Weinen  blutrot  und 
um  die  Hälfte  verkleinert,  glichen  nicht  mehr  Men- 
schenaugen, sondern  furchtbaren  Wunden,  die  sich 
tief  in  die  Höhlen  hineingefressen  hatten.  Ihr  Mann 
war  erschlagen.  Ihre  Welt  war  erschlagen.  Sie  war 
erschlagen.    Lebte  nicht  mehr. 

Ihrem  tödlichen  Schicksale  unterstellt,  lehnte  sie 
zermürbt  und  verbraucht  am  Ladentisch. 

Und  als  der  Kolonialwarenhändler  den  Tages- 
bericht vorlas:  „Unsere  todesmutigen  Helden  ver- 
teidigten mit  bewunderungswürdiger  Tapferkeit . . . 
jeden  Handbreit  Boden",  bat  sie  mit  dünner  Stimme, 


37 


er  möge  ihr  doch  die  drei  Düten  zusammen  in  eine 
Düte  geben,  so  sei's  leichter  zu  tragen. 

,, Handbreit  Boden!  Handbreit!"  schrie  die  Agen- 
tenwitwe und  erblickte,  von  Wut  und  Abscheu  in 
die  Vision  hochgerissen,  ein  nur  handgroßes  Stück 
Erde,  auf  dem  sich  eine  ungeheure  Pyramide  von 
hunderttausend  zerfetzten  Siegern  und  Besiegten 
erhob. 

Der  alte  Kolonialwarenhändler  erschrak,  als  sei- 
nem beifallslüsternen  Patriotenblick  ein  von  Mord- 
wut verzerrtes,  wildes  Frauenantlitz  entgegengestellt 
wurde.  Instinktiv  flüchtete  er  in  das  Wort  hinein: 
„Sie  sterben  den  Heldentod,  auf  dem  Felde  der 
Ehre." 

,,Ja,  Feld  der  Ehre!  Ihr  habt  meinen  Mann  er- 
schlagen.  Mein  Mann  ist  tot.  Tot!" 

,,Aber  Frau!  Und  die  Heimaterde?  Die  muß 
doch  schließlich  verteidigt  werden.  Unsere  heiligsten 
Güter  stehen  auf  dem  Spiele." 

Die  Gedankenfetzen:  , Güter,  heilig...  Güter- 
schuppen steht  auf  dem  Spiele,  Heimat . . .  Börsen- 
spiel mit  Heimaterde',  passierten  das  Witwengehirn. 
Sie  schleuderte  die  gefüllte  Düte  zurück.  ,,A  was! 
Heiligste  Güter !  Mein  Mann  war  mein  heiligstes  Gut. 
Er  lebte,  hatte  Augen,  verstehen  Sie  —  Augen !  Hatte 
Arme,  die  er  um  mich  herumlegen  konnte,  und  hatte 
. . .  hatte,  hatte,  hatte  —  war  mein  Mann.  Ja,  glotzen 
Sie  mich  nur  an.  Ist  mir  gleichgiltig.  Was  sind  denn 
eigentlich  die  heiligsten  Güter  ?  Wo  denn  ?  Ich  hab 
sie  nicht.  Ich  hab  weder  heilige  noch  andere.  Heilig ! 


38 


Nichts  als  Lüge  und  Schwindel!  Schwindel!  Ah... 
ihr  Hunde!'* 

„Aber  Frau!  Sie  machen  sich  ja  unglücklich,  wer- 
den eingesperrt.  Sie  werden  eingesperrt,  das  prophe- 
zeie ich  Ihnen,  wenn  Sie  so  über . . .  unsere  heiligsten 
Güter  sprechen." 

„Ich,  eingesperrt?" 

Unvermittelt  fühlte  der  Kaufmann  die  Macht  der 
Kriegswitwe,  legte  einen  geradeliegenden  Notizblock 
gerade. 

Alter  Schmerz  hatte  der  anderen  Kriegswitwe  die 
Brauen  hochgezogen,  daß  die  Stirn  nur  noch  aus  drei 
dicken  Querfalten  bestand.  Aus  ihren  Wunden  liefen 
zwei  Tränen  heraas,  glitten  schnell  in  die  Wangen- 
löcher, in  den  offenen  Mund  hinein.  Ob  sie  noch 
etwas  Malzkaffee  dazu  bekommen  könne.  Ihre  lang- 
same Hand  schob  das  Geldstück  hin. 

„Einsperren  ?  Das  wollen  wir  sehen,  ob  die  mich 
auch  noch  einsperren." 

,, Liebe  Frau,  hier  dürfen  Sie  nicht  so  reden,  hier 
bei  mir  ...  Sie  müssen  sich  trösten,  müssen  sich  trö- 
sten. Da  hilft  alles  nichts.  Vielen  geht  es  so  wie  Ihnen. 
Ja,  es  geht  Millionen  so." 

„Dann  halt  adieu,  wenn  Sie  keinen  Malzkaffee  mehr 
haben",  sagte  die  andere  Kriegswitwe.  Das  Tränen- 
wasser lief  in  den  gewohnten  Bahnen  herunter,  schau- 
kelte am  Kinn.  Die  mit  den  drei  kleinen  Düten  ge- 
füllte große  Düte  in  die  konkave  Brust  hineingepreßt, 
ging  sie  langsam  hinaus. 

„Was  gehen  mich  die  andern  an.    Und  wenn  es 


39 


zehn  Millionen  so  geht.  Das  gibt  mir  meinen  Mann 
nicht  zurück."  Der  Schmerz  hockte  und  hüpfte  in 
ihrem  zuckenden  Gesicht.  „Mein  Mann  ist  fort,  tot,  weg, 
kommt  nie  mehr,  nie  mehr.  Verstehen  Sie:  nie  mehr!" 

,,Ist  ja  wahr,  aber  warum  sagen  Sie  denn  mir  das 
alles  ?  Habe  ich  den  Krieg  gemacht  ?  Warum  sagen 
Sie  mir  das  alles?" 

,, Warum  ?"  fragte  sie  in  ungeheuerem  Erstaunen. 
,, Warum  kommen  Sie  mir  mit  Ihren  heiligsten  Gütern 
daher?    Sie  ...  stehen  da  und  verkaufen  Ihr  Zeug." 

,,Wir  werden  siegen",  sagte  der  Mann  einfach. 
„Dann  ist  der  Krieg  aus." 

Als  hätte  er  ihr  eine  weißglühende  Eisenstange 
wie  eine  Längsachse  in  den  Körper  gestoßen,  bei  der 
Schädeldecke  hinein  und  beim  Unterleib  heraus, 
drehte  sie  sich  einmal  blitzschnell  um  sich  selbst, 
herumgeschleudert  vom  höllischen  Schmerze,  der  ihr 
Herz  gesprengt  hatte  mit  der  Vorstellung:  der  Krieg 
ist  aus,  alle  Menschen  freuen  sich  grenzenlos  . . . ,  mid 
mein  Mann  ist  tot,  kommt  nicht  zurück.  Kommt  nie 
mehr!  „Und  was  wird  dann  mit  mir?  He?  Sie! 
He,  was  wird  dann  mit  mir?    He!    He!" 

„Sagen  Sie  mal,  bin  ich  denn  schuld  daran?  Sie 
tun  ja  gerade,  als  ob  ich...    Was  kann  ich  dafür." 

Von  einem  Blitze  der  Intuition  grellweiß  erleuch- 
tet, erkannte  sie:  ,,Ja,  du  bist  schuld,  du,  du  ...  ihr 
Hunde!    Ihr  alle  seid  schuld  daran.    Alle!" 

Da  konnte  der  Kaufmann  nur  die  Schultern  heben, 
wie  er  tat,  wenn  er  eine  Ware  nicht  billiger  abgeben 
wollte. 


40 


Und  als  sie  schon  hinausgerast  war  auf  die  ver- 
kehrsreiche Straße,  sprach  er  noch:  ,,Sie  werden  tod- 
sicher eingesperrt.  Sie  sperrt  man  ja  glatt  ein... 
Ihren  Geldbeutel  vergißt  sie  auch  noch.  Die  scheint 
endgiltig  närrisch  zu  sein  . . .   Was  wünschen  Sie  ?" 

Die  Kundin  wünschte  Petroleum,  stellte  die  Kanne 
auf  den  Ladentisch. 

,,Na,  jetzt  das  ist  mir  aber  eine",  begann  er  und 
erzählte  der  neuen  Kundin  die  ganze  Sache.  ,, . . .  Was 
sagen  Sie  dazu?" 

,, Recht  hat  sie",  erklärte  die  Frau  mürrisch.  ,,Was 
haben  denn  wir  davon,  wenn  die  Land  erobern.  Wir 
haben  nichts  davon." 

,,Ist  Ihr  Mann  auch  im  Krieg?" 

,, Schon  tot  ist  er,  wenn  Sie's  wissen  wollen." 

,,Er  starb  für  unsere  gerechte  Sache,  Frau,  müs- 
sen Sie  sich  sagen." 

„Ja,  Sache",  sagte  die  Frau,  dumpf  wie  ein  Hund, 
der  verhalten  knurrt.  Dann  sagte  sie  noch,  was  sie 
jedem  sagte:  ,,Sie  haben  seinen  Kopf  nicht  gefunden. 
Nur  das  Andere.  Die  Erkennungsmarke  war  weg; 
deshalb  wollten  sie  mir  erst  keine  Unterstützung 
geben." 

,,Aber  jetzt  bekommen  Sie  doch,  wie?" 

,, Meine  zwei  Söhne  sind  auch  schon  verreckt.  Im 
Westen." 

,, Jetzt  bekommen  Sie  doch?" 

,,Ich  pfeif  darauf.  Verdiene  mir  selbst  mein  Geld. 
Will  nichts  haben  von  diesen  ..." 


41 


Der  vorsichtige  Kolonialwarenhändler  schnitt  das 
Gespräch  ab;  denn  neue  Kunden  waren  eingetreten. 

,,Da  vorne  auf  dem  Platz  ist  eine  Menschen- 
ansammlung. Jemand  spricht  gegen  den  Krieg",  er- 
zählte ein  grauer  Alter,  der  Zigarren  verlangte.  „Und 
plötzlich  kommt  eine  Frau  gesprungen.  Ganz  außer 
sich.  Die  schreit  und  schimpft  nicht  schlecht . . .  Was 
will  der  Schutzmann  machen:  —  es  ist  eine  Kriegs- 
witwe." 

„So,  schreit  sie  ?  Die  wird  natürlich  eingelocht. . . , 
wenn  sie  solche  Sachen  daherredet." 

,,Nun,  so  ohne  weiteres  kann  man  eine,  die  ihren 
Mann  im  Kriege  verloren  hat,  auch  nicht  einsper- 
ren . . .  Wenn  sie  doch  ihren  Mann  verloren  hat.  Das 
ist  keine  Kleinigkeit." 

„Aber  das  Vaterland  ist  doch  schließlich  auch  keine 
Kleinigkeit.    Und...  unsere  Kultur,  was?" 

Während  der  Alte  seine  Zigarre  anzündete: ,, Schon 
recht,  gewiß  . . .  Vaterland  . . .  gewiß  . . . ,  aber  wenn 
eine  ihren  Mann  ..." 

,,Na  ja,  da  haben  Sie  auch  wieder  recht." 

,,...  verloren  hat,  kann  sie  schon  rabiat  werden. 
Das  ist  zu  verstehen  ...  Es  ist  ein  Eiesenmenschen- 
auflauf .  Dreitausend  Menschen,  schätze  ich.  Können 
auch  viertausend  sein.  Die  Frauen  schreien  . . .  Ge- 
rade als  ob  sie  am  Kreuz  hingen,  als  ob  jede  an  einem 
Kreuz  hinge.  Der  Redner  —  kann  nicht  mehr 
weitersprechen  . . .  Ich  bin  weggegangen.  Will  nichts 
zu  tun  haben  mit  so  was.  Bin  ein  alter  Mann."  Übri- 


42 


gens  habe  er  sich  schon  lange  gewundert,  daß   bis 
jetzt  nicht  mehr  Kriegswitwen  ... 

,,Ja,  es  ist  schon  am  besten,  man  kümmert  sich 
nicht  darum." 

Auch  manche  von  den  Männern,  die  um  die 
schreiende  Agentenwitwe,  um  den  verstummten  Kell- 
ner herumstanden,  dachten  das.  Die  Frauen  dachten 
das  nicht;  es  waren  viele  Kriegswitwen  darunter  und 
Mütter,  die  ihre  Söhne  verloren  hatten. 

Der  Schutzmann  sagte:  ,, Schreien  Sie  jetzt  nicht 
mehr." 

Die  Agentenwitwe  schrie:  ,,Ich  schreie!" 

Ein  Bürger  sagte:  ,,Die  wird  verhaftet.''  Und 
ging  nach  Hause. 

Der  Kellner  stand  auf  einem  umgestürzten 
Wagen. 

Die  Trambahn  konnte  nicht  weiterfahren.  Drosch- 
kenkutscher standen  auf  den  Böcken,  Fahrgäste 
streckten  die  Oberkörper,  schief  wie  gotische  Ge- 
stalten, aus  den  Wagenfenstern  heraus.  Die  Menge 
vergrößerte  sich  rapid.  Auch  die  Seitengassen,  die 
zum  Platze  führten,  waren  schon  schwarz  von  Men- 
schen. 

Der  Schutzmann  faßte  die  Kriegswitwe  am  Arme : 
,, Gehen  Sie  jetzt  heim." 

,,Heim?  Habe  ich  denn  ein  Heim?"  Ihr  Lachen 
war  Tiergebrüll,  riß  Hohngelächter  aus  tausend 
Frauenmündern  heraus.  Sie  hatte  sich  mit  einem 
kurzen  Ruck  losgemacht  von  der  Schutzmannsfaust. 


43 


Ein  Frauengesicht,  höhnisch  und  gefährlich,  schoß 
dem  Schutzmann  vor  die  Augen:  ,, Gehen  Sie  einmal 
nach  Hause  in  ein  Heim,  in  dem  niemand  mehr 
ist." 

„Auseinander  jetzt!"  rief  der  Schutzmann.  ,, Macht 
euch  nicht  unglücklich." 

Das  war  für  alle  Kriegswitwen  zum  Lachen. 

,,Bin  schon  unglücklich.  Mehr  kann  ichs  nicht 
werden",  schrie  die  Agentenwitwe,  immer  mit  dem 
gleichen  schmerzdurchtobten  Tiergebrüll. 

Dieselbe  Gefühlswelle  bewegte  gleichzeitig  alle 
Witwenleiber.  Und  alle  Münder  schrien  dem  Schutz- 
mann und  einander  zu:  „Wir  sind  schon  unglücklich. 
Unglücklich!" 

Die  Rufe  vereinigten  sich,  wurden  ein  tausend- 
facher, wilder  und  ganz  wortloser  Schrei.  Das  klang 
in  der  Ferne  wie  Kirchengesang. 

Johlen.  Gebrülle.  Die  Menge  war  ein  einziger, 
langsam  bewegter  Riesenkörper  geworden,  entbunden 
von  Zwang  und  Ordnung,  aufgestiegen  in  anarchische 
Freiheit. 

Der  Schutzmann  sah  plötzlich  wie  ein  hilfloses 
Kind  aus.  Er  drückte  sich,  seitwärts  gedreht,  durch 
die  drohend  enge  Menschengasse  durch  und  ver- 
schwand. 

Die  Agentenwitwe  machte  mit  den  Händen  ganz 
kleine,  gebundene  Bewegungen,  die  mit  den  Zuk- 
kungen  ihres  Gesichtes  korrespondierten,  und  bemühte 
sich,  den  andern  zu  erklären,    wie  qualvoll  es  sei, 


44 


wenn  ihr  ein  alter  Anzug,  ein  Trikotleibchen,  eine 
gebrauchte  Hose  des  toten  Mannes  vor  die  Augen 
komme.  ,,Ich  sehe  den  Stuhl  an,  auf  dem  sonst  mein 
Mann  gesessen  war,  sehe  den  Stuhl  an  . . .  Und  wenn 
ich  unsern  Sekretär  ansehe,  vor  dem  oft  mein  Mann 
gestanden  war,  ist  das  gar  kein  Sekretär  mehr  ..." 

Alle  sahen  in  der  Zimmerecke  den  lackierten 
Muschel- Sekretär  stehen,  der  die  unabänderlich  sich 
gleich  bleibende  Einsamkeit  war  und  jede  aufkei- 
mende Hoffnung  erschlug.  Qualvolle  Hilflosigkeit 
strich  lautlos  über  die  Menschengesichter  und  erzeugte 
bei  allen  den  toten  Blick. 

Da  griff  der  Kellner  auf  den  Grund  der  Sehn- 
sucht und  rief:  ,,Wir  wollen  Frieden  machen!" 

Sofort  öffneten  sich  die  Menschengesichter;  eine 
Wolke  heißen  Gefühles  ballte  sich  zusammen  und 
platzte:  das  Wort  , Friede'  donnerte  hoch,  umdon- 
nerte minutenlang  den  Kellner,  der  sich  unter 
tiefer  Qual  den  Entschluß  abrang,  in  die  plötzlich 
entstehende,  offene,  fruchtbare  Stille  die  kalte 
Wahrheit  hineinzustoßen : 

,,Aber  wir  können  nur  dann  helfen,  Frieden  zu 
machen,  wenn  wir  wissen  und  zugeben,  daß  auch  wir 
den  Krieg  mitverschuldet  haben," 

,,Was  sagt  der?  Was?"  Die  Agentenwitwe  war 
vor  Empörung  und  Staunen  gelähmt. 

,,Nur  wer  denkt  und  die  Menschen  liebt,  kann 
ihnen  den  Frieden  bringen  . . .  Wir  denken  nicht  und 
lieben  nur  uns  selbst." 


45 


Die  Gesichter  veränderten,  verschlossen  sich;  eine 
leere  Fläche  entstand  zwischen  der  Menge  und  dem 
Kellner. 

Der  sagte:  ,, Schon  vor  dem  Kriege  war  die  Liebe 
tot  in  uns.  Wir  waren  gedankenlose,  meinungslose 
Maschinen.  Deshalb  hat  jeder  Einzelne  von  uns  den 
Krieg  mitverschuldet." 

„Krieg  mitverschuldet?  Wir  haben  den  Krieg 
nicht  gewollt.  Das  Volk  nicht!  ...  Wir  nicht!"  Eine 
Welle  des  Zornes  bewegte  die  Menge. 

„Laßt  euch  das  sagen.  Das  müßt  ihr  euch  sagen 
lassen.  Wir  müssen  erst  umkehren  zur  Wahrheit: 
wir  hatten  das  Gute  —  die  Liebe  —  vergessen;  wir 
hatten  uns  gar  nicht  überlegt,  was  gut  ist;  wir  haben 
überhaupt  nichts  überlegt,  überhaupt  nicht  gedacht 
und  Zeit  unseres  Lebens  das  Böse  wachsen  lassen, 
bis  es  uns  zur  Gewohnheit  geworden  war,  und  wir 
mit  entsetzlicher  Selbstverständlichkeit  glaubten,  daß 
das  Böse  —  Egoismus,  Gewalt,  Macht,  Erfolg,  Geld 
und  Autorität  —  das  Erstrebenswerteste  im  mensch- 
lichen Dasein  sei.  Und  dieses  zur  Selbstverständlich- 
keit gewordene,  kalte,  mörderische  Prinzip  jeden 
Europäers,  den  Mitmenschen  übervorteilen  zu  wollen, 
mußte  die  Menschen  dazu  führen,  daß  sie  am  Ende 
einander  erschlagen  . . .  Dann  wird  von  Ehre,  Helden- 
mut, Heldentod,  von  einem  Felde  der  Ehre  gespro- 
chen." 

Da  flog,  die  Zustimmungsrufe  auseinanderschnei- 
dend, die  Agenten witwe  durch  die  vor  ihren  geballten 
Händen  entstehende  Menschengasse  durch,  bis  zum 


46 


Wagen.  ,, Krieg  mitverschuldet ?  Wir?  Mein  Mann? 
Mein  Mann  wollte  nur  leben",  schrie  sie  fassungslos. 
Kletterte  hinauf.  Wurde  heruntergezogen.  Kletterte 
noch  einmal  halb  hinauf. 

Noch  bevor  sie  vom  Wagen  wieder  losgerissen 
werden  konnte,  beugte  sich  der  Kellner  herab  und 
berührte  mit  seiner  Hand  sanft  ihren  zerrauften 
Scheitel. 

,,Red  du  nicht  so  weiter",  drohte  ein  Arbeiter. 

Johlende,  halbwüchsige  Burschen,  zum  Kriege 
noch  nicht  tauglich,  klebten  auf  den  Mauervor- 
sprüngen. 

,,Wir  alle  haben  rücksichtslos  nach  nichts  ande- 
rem gestrebt,  als  so  viel  Erfolg  wie  nur  möglich  zu 
haben,  unbekümmert,  daß  wir  dadurch  das  Bild 
unserer  Seele  zerstörten,  unbekümmert,  ob  dadurch 
ein  Mitmensch  ins  Leid  und  in  das  Elend  sank.  Wir 
alle  haben  die  erfolgreichsten  Gewalttätigen,  die  am 
meisten  Macht,  Besitz  und  Autorität  auf  sich  ver- 
einigen, gedankenies  als  Autoritäten  anerkannt  und 
bewundert . . .  Wir  waren  stolz,  wenn  unsere  schlecht 
beratenen  Kinder  patriotische  Kampf-  und  Mord- 
lieder sangen.  Und  als  die  mächtigen  Autoritäten 
die  Truppen  marschieren  ließen,  jubelten  wir  und 
waren  begeistert.  Wir  jubelten,  als  die  ersten  Sieges- 
nachrichten einliefen.  Wir  jubelten.  Und  kümmerten 
uns  nicht  darum,  daß  beim  Erstürmen  einer  Festung 
fünfzigtausend  Menschen  zerrissen  werden.  Zerrissen 
werden  mußten,  damit  durch  diesen  ungeheuer  ver- 
brecherischen   Gewaltakt   die   Erfolgreichsten   noch 


47 


mehr  Macht,  die  Besitzenden  noch  mehr  Besitz  be- 
kommen können.  Wir  kümmerten  uns  nicht  darum, 
weil  wir  selbst  nichts  anderes  als  das  Verlangen  nach 
Erfolg,  Besitz  und  Macht  in  uns  trugen.  Und  dieses 
Verlangen  logen  wir  um  in  Patriotismus.  Wir  müssen 
den  Frieden  bringen.  Wir  haben  den  Krieg  mitver- 
schuldet. Wir  sind  Mörder.  Wir  müssen  uns  ent- 
sündigen." 

Gefährliches  Murren  wuchs  an,  verdichtete  sich  zu 
einzelnen  Zornrufen,  die  sich  schnell  aneinanderreih- 
ten, bis  zuletzt  ein  einziger  langer  Schrei,  so  dick  wie 
der  Platz,  zum  Himmel  stieg. 

Den  Tumult  durchstach  die  sich  überschlagende 
Stimme  der  Agenten witwe :  ihr  Mann  sei  kein  Mör- 
der gewesen.  Ihre  Stimme  tanzte  messerscharf  und 
hoch  über  das  zusammengeballte  Brüllen  der  Menge 
hin.  Sie  raste,  streckte  ihre  Hände,  halb  flehend  und 
halb  würggespreizt,  zum  Kellner  hoch. 

Der  trug  in  den  Gesichtszügen  die  Kühnheit  eines 
Menschen,  welcher  infolge  übergroßen  persönlichen 
Leides  persönliche  Gefahr  nicht  mehr  fürchtet  und 
persönliches  Leid  nicht  mehr  kennt. 

,,Wir  haben  erst  dann  das  Recht,  nach  dem  Frieden 
zu  rufen,  wenn  wir  nicht  mehr,  wie  bisher,  gedanken- 
los und  meinungslos  falsche  Pflichten  erfüllen.  Und 
wir  können  erst  dann  den  Frieden  auf  Erden  ver- 
wirklichen, wenn  wir  aufhören,  die  großen  Nichtig- 
keiten in  den  Mittelpunkt  des  Lebens  zu  stellen,  wenn 
wir  keine  entseelten,  gewohnheitsmäßig  funktionieren- 
den Besitzanhäufungs- Automaten  mehr  sind,  sondern 


48 


Wesen  mit  dem  göttlichen  Wissen,  daß  jeder  Mensch 
unser  Bruder  ist,  daß  alle  Menschen  dieser  Erde 
Träger  der  ewigen  Seele  sind,  und  daß  das  Wort: 
,In  dem  Augenblicke,  da  du  dir  vornimmst,  einem 
Menschen  zu  schaden,  hast  du  schon  dir  selbst  ge- 
schadet', unumstößliches,  göttliches  Gesetz  ist. 

Nur  der  Mensch,  der  sich  zu  seiner  Seele  bekennt, 
die  ihm  verbietet,  dem  Bruder  zu  schaden,  ist  reich, 
steht  ununterbrochen  im  glühenden  Fluß  der  Gefühle. 
Wir  sind  ganz  verarmt . . .  Das  gewohnheitsmäßige 
Übervorteilen  des  Mitmenschen,  das  Verlangen  nach 
Besitz  und  die  gewohnheitsmäßige  Anhäufung  von 
Besitz,  weswegen  die  Europäer  heute  einander  er- 
schlagen müssen,  haben  uns  ganz  erniedrigt,  gemein 
und  arm  gemacht . . .  Die  Kathedrale  der  Seele  ist 
zusammengebrochen  im  Europäer.  Deshalb  wird  er 
Offizier,  Staatsbeamter,  Börseaner,  deshalb  ist  er  hab- 
gierig, brutal,  elegant,  schuftig,  gebildet,  deshalb 
stiehlt  er,  raubt  und  wuchert,  wird  reich,  bleibt  arm, 
mordet,  duelliert  sich,  macht  Kriege  und  Geschäfte, 
läßt  Erfolglosere  für  sich  arbeiten,  so  schwer  für  sich 
arbeiten,  daß  der  großen  Mehrzahl  des  Volkes  nicht 
eine  Minute  Zeit  zur  Selbstbesinnung  bleibt,  so  daß 
auch  diese  betrogenen  Armen  nicht  mehr  an  die 
Liebe  im  Menschen  glauben  können,  und  ihr  ganzes 
entgöttlichtes  Streben  darauf  richten  müssen,  eben- 
falls in  die  Klasse  der  Besitzenden  aufzurücken. 

Wir  alle  —  Reiche  und  Arme  —  sind  brutal  wie 
Mörder,  schamlos  und  gierig  wie  harte  Wucherer,  wir 
alle  sind  Offiziere  und  Börseaner,  auch  wenn  wir  er- 


49 


folglose  Sklaven  geblieben  sind  . . .  Glückliche,  un- 
endlich reiche  Kinder  könnten  wir  sein  auf  unserer 
unendlich  reichen  Erde,  und  sind  erfolggierige  Geld- 
menschen, bedauernswerte,  erlebnisarme  Schurken, 
die  zu  staatlich  sanktionierten  Mördern  wurden.  Der 
Krieg  ist  durch  den  Krieg  nur  sichtbarer  geworden." 

Die  Menge,  berührt  vom  Worte  des  Kellners,  war 
schwankend  geworden ;  nie  empfundene  Gefühle  stan- 
den auf,  gerieten  in  Schwingung,  erklangen  und  ver- 
dichteten sich  zu  vereinzelten  Zustimmungsrufen. 

Da  schrie  die  Agentenwitwe  einen  Satz,  der  die 
Nächststehenden  in  den  Mittelpunkt  des  Gefühles 
traf  und,  mit  Zusätzen  versehen  und  von  Mund  zu 
Mund  weitergegeben,  die  Menge  durchlief,  so  daß  den 
Kellner  plötzlich  die  tausendfach  gebrüllten  Schrei- 
fetzen umtosten:  ,, Ganze  Volk!  Leid  gestürzt!... 
Millionen  Tote !  . . .  Hunger !  Kriegsgewinne !  Hal- 
lunken!" 

Im  tiefsten  Grunde  des  BrüUens  klang  ein  ferner 
Jubel  mit. 

Mit  der  ganzen  Kraft  seines  Wesens  versuchte  der 
Kellner,  die  Menge  auf  der  Irrtumsspirale  zurück- 
zuführen bis  zum  Ausgangspunkt,  wo  die  Wahrheit 
steht,  während  die  Agentenwitwe  ohne  Besinnen  mit 
den  Irrtümern  vorwärtsstürmen  wollte  und  die  ganze 
Menge  geschlossen  hinter  sich  hatte. 

Noch  einmal  gelang  es  ihm,  die  anarchisch  be- 
wegte Menge  aufzuhalten  und  still  werden  zu  lassen, 
da  er  sagte:  ,, Unsere  Autoritäten  konnten  uns  mar- 
schieren lassen,  nur  deshalb  jeden  Einzelnen  von  uns 


50 


als  Menschenmetzger  anstellen  und  ganz  Europa  in 
ein  Menschenschlachthaus  verwandebi,  weil  unsere 
Lebensauffassung  entsetzlich  genau  ihrer  Lebensauf- 
fassung entspricht.  Weil  wir,  in  notwendiger  Folge 
unserer  Gedankenlosigkeit,  Meinungslosigkeit,  un- 
seres Verlangens  nach  Geachtetwerden,  nach  Besitz, 
Stellung  und  Macht,  bisher  immer  nur  die  Luft  ge- 
atmet, die  Worte  gesprochen,  die  Gedanken  gedacht 
und  nach  den  Gefühlen  gehandelt  haben,  die  uns  von 
der  Autorität  geliefert  worden  sind  . . .  Von  der  Au- 
torität, die  mit  dem  gleichen  Munde,  mit  dem  sie  den 
Befehl  zum  Feuern  auf  Menschen  gibt,  uns  von  Zivili- 
sation spricht.  Bedeutet  das  nicht,  von  allem  Anfang 
an  in  der  Lüge  ertrunken  sein,  von  Zivilisation  zu 
sprechen,  solange  noch  durch  jede  Straße  Europas 
Menschen  gehen,  die  an  der  Seite  Messer  hängen 
haben,  dafür  bestimmt,  in  Menschenleiber  hinein- 
gebohrt zu  werden?    Zivilisation! 

Zehn  Millionen  Menschen  sind  jetzt  verendet. 
Warum?  Für  was  sind  diese  zehn  Millionen  Men- 
schen gestorben  ?  Hat  ein  einziger  von  euch  darüber 
nachgedacht,  weshalb  die  Europäer  ihre  Jugend,  ihre 
Jünglinge  abschlachten?  Warum  dieser  Krieg  aus- 
gebrochen ist?  Ausbrechen  mußte!"  Er  wartete. 
Lange, 

bis  ein  abgearbeiteter  Mann  die  für  ihn  selbst  ver- 
braucht und  nicht  mehr  überzeugend  klingende  Ant- 
wort gab:  ,, Unser  Volk  ist  angegriffen  worden  und 
mußte  sich  verteidigen." 

Getroffen  von  diesem  oft  vernommenen   Satze, 


51 


rief  der  Kellner:  ,,Und  ich  sage  euch,  so  lautet  — 
und  mit  mindestens  demselben  Recht  wie  bei  un- 
serem Volke  —  die  Antwort  von  jedem  Volke,  von 
jedem  Einzelnen  jeden  Volkes;  von  den  neunzigjähri- 
gen Greisinnen,  die  nur  noch  lallen  können,  bis  zum 
Premierminister  jeden  Volkes  lautet  die  Antwort: 
,Wir  sind  angegriffen  worden  und  mußten  uns  ver- 
teidigen/ ...  Wie  kommt  das?  Wo  ist  die  Wahr- 
heit? 

Die  Wahrheit  ist,  daß  unser  meinungsloses,  kritik- 
loses, raffiniert  belogenes  Volk  gar  nicht  wissen  kann, 
ob  es  angegriffen  wurde  oder  angegriffen  hat,  und 
daß  nichts  leichter  war,  als  es  glauben  zu  machen,  es 
sei  angegriffen  worden.  Die  furchtbare  Wahrheit  ist, 
daß  die  falschen  Ideale,  deren  vollkommener  Sieg  den 
Tod  der  Ideale  —  der  Menschlichkeit,  der  Liebe  — 
bedeuten  würde,  daß  diese  Lügenideale  —  Macht, 
Gewalt,  Erfolg,  Autoritätsglaube,  Heldentum,  Welt- 
herrschaft, Vaterlandsverteidigung  —  im  Gehirn  und 
Herz  jeden  Europäers  ein  solch  mächtiges  Eigenleben 
führten,  daß  jeder  zum  Schießen  bereit  war. 

Ich  sage  euch:  die  Kultur  eines  Volkes  ist  unab- 
hängig von  der  Besitzanhäufung.  Die  Größe  eines 
Volkes  liegt  nicht  in  seinen  Interessensphären,  nicht 
bei  seinen  Rohstoffquellen,  nicht  auf  seinen  Absatz- 
gebieten. Größe,  Kultur,  Glück  und  Zukunft  eines 
Volkes  liegen  niemals  auf  dem  Wasser.  Aber  der 
geistige  Tod  eines  Volkes  liegt  in  seinen  Geldschränken. 
Der  Geist  Europas,  die  Menschlichkeit  und  die  Liebe 
sind  im  Gelde  erstarrt.    Und  das  bedingt  mit  ent- 


52 


setzlicher  Sicherheit  das  Ende,  die  Zukunftslosigkeit, 
den  Untergang  des  europäischen  Menschen." 

Auch  die  Agentenwitwe  war  erstarrt.  Auch  die 
Menge  war  erstarrt  und  quälend  still. 

Die  robuste  Kriegswitwe,  von  deren  Mann  der 
Kopf  und  die  Erkennungsmarke  nicht  hatten  ge- 
funden werden  können,  stellte  ihre  Petroleumkanne 
auf  den  Wagen,  zu  Füßen  des  Kellners.  Alle  Fenster, 
rund  um  den  Platz,  waren  schwarz  von  Menschen. 

Der  Kellner,  tief  leidend  unter  dem  Gesetze,  daß 
die  Liebe  hart  sein  muß,  weil  sie  das  Herz  der  Wahr- 
heit ist,  redete  eindringlich  hinunter  zum  düsteren 
Gesicht:  „Wir  haben  zugesehen,  wie  Kampf parteien 
gebildet  wurden;  wir  haben  Kanonen,  Schiffe,  ge- 
waltige Menschenmordmaschinen  erfunden,  gebaut. 
Bezahlt.  Bewundert!  Trotzdem  wir  hätten  wissen 
können,  daß  die  von  uns  bezahlten,  bewunderten 
Massenmordmaschinen  eines  Tages  sich  gegen  die 
Menschheit  und  auch  gegen  die  Brust  unserer  Män- 
ner, Söhne,  Väter  richten  würden.  Das  war  unaus- 
bleiblich . . .  Dann  wird  gesagt  und  geglaubt,  von  den 
meinungslosen,  gedankenlosen,  von  den  immer  noch 
gedankenlosen  Volksmassen  geglaubt:  wir  sind  an- 
gegriffen worden  und  müssen  das  Vaterland  vertei- 
digen, unsere  Kultur  schützen.  Es  wird  von  Helden- 
tum und  von  einem  Felde  der  Ehre  gesprochen  . . . 
War  alle  Ehre  nicht  schon  tot,  noch  bevor  der  Krieg 
begonnen  hatte  ?  Ist  es  eine  Ehre,  ist  es  Heldentum, 
um  Besitz  und  Macht  und  für  falsche  Ideale  Menschen 
zu  erschlagen  ?    Wenn  das  Ehre  ist,  dann  wollen  wir 


53 


ehrlos  sein,  um  wieder  ehrenvoll  leben  zu  können. 
Wenn  das  Heldentum  ist,  dann  wollen  wir  Feiglinge 
sein,  damit  der  Mut  in  dieser  Welt  nicht  aussterbe  . . . 
Man  spricht  von  Zivilisation:  Ist  das  Zivilisation,  daß 
ganz  Europa  schon  vor  dem  Kriege  ein  einziger  gro- 
ßer Fabriksaal  war,  in  dem  nicht  Menschen  lebten, 
sondern  Maschinen  automatisch  sich  bewegten  ?  Ma- 
schinen aus  Fleisch  und  Blut,  die  nicht  mehr  denken, 
keine  Meinung  haben,  keine  Erinnerung  mehr  daran 
haben,  daß  sie  einmal  Menschen  waren,  sondern  wie 
die  Maschinen  aus  Stahl,  die  sie  bedienen,  betrieben 
werden  ?  Betrieben  werden  von  der  Notdurft,  von 
dem  Verlangen  nach  Achtung  der  Mitmaschinen, 
vom  Verlangen  nach  Besitz,  betrieben  von  Gewohn- 
heit, Egoismus  und  Lüge.  Lüge,  in  der  die  euro- 
päische Menschheit  ertrunken  ist,  so  daß  es  keinen 
Europäer  mehr  gibt,  der  eine  eigene  Meinung  hätte, 
keinen,  der  das  Feuer  der  Wahrheit  in  den  Augen 
trüge  . . .  Wenn  das  Vernunft  ist,  dann  wollen  wir 
unvernünftig  sein,  dann  wollen  wir  wahnsinnig  sein, 
damit  die  Weltvernunft  sich  in  uns  am  Leben  er- 
halten kann.  Wenn  das  nützlich  ist,  dann  wollen  wir 
unnütze  Menschen  sein.  Wenn  das  Kesultat  der  Or- 
ganisation und  Ordnung  ist,  daß  die  Menschheit  ver- 
elendet, blutet  und  sich  abwürgt,  dann  wollen  wir 
diese  mörderische  Ordnung  sprengen  mit  Unordnung, 
damit  der  Sinn  des  Lebens  sich  wieder  manifestieren 
kann.  Wenn  Organisation,  Ordnung,  Gewalt,  Macht, 
Gewohnheit,  Meinungslosigkeit,  Lüge,  Besitz  und 
Egoismus . . .    Zivilisation    ergibt,    dann    wollen    wir 


54 


Wilde  sein,  wollen  wir  die  Liebe  im  Herzen  tragen 
und  das  Gesetz:  jeder  liebe  jeden,  so  wird  jeder  von 
allen  geliebt . . .  Das  wollt  ihr  nicht  ?  Habt  den  Mut, 
Menschen  zu  erschlagen  und  nicht  den  Mut,  Menschen 
zu  lieben  ?  Weil  ihr  lieben  würdet,  aber  die  anderen 
euch  nicht  lieben,  sondern  ausnützen  und  erdrücken 
würden  ?  Wollt  nicht  Märtyrer  sein  ?  Da  Märtyrer 
ausgenützt,  erdrückt,  eingesperrt  und  hingerichtet 
werden  . . . ,  weil  sie  lieben  ?  Es  fliege  die  Frage  don- 
nernd über  den  Erdball:  was  ist  menschenwürdiger 
und  ehrenvoller,  Menschen,  die  uns  nichts  angetan 
haben,  im  Kriege  zu  erschlagen  und  selbst  zu  sterben, 
oder  dafür  zu  leiden  und  zu  sterben,  daß  der  Liebe 
die  Regierung  der  Erde  übergeben  werde?" 

Der  Blick  der  schweigenden  Menge  fragte  dumpf 
zurück.  Zwei  Equipagenpferde,  zwischen  Menschen 
eingekeilt,  bewegten  sich.  Die  Agentenwitwe  fühlte 
körperlich,  wie,  von  ihrer  Seele  überglänzt,  die  Fin- 
sternis in  ihr  zur  blendend  weißen  Fläche  wurde.  Ihr 
Gesicht  war  plötzlich  tränennaß. 

Der  Kellner  warf  die  Hand  an  den  Hals,  die  an- 
dere in  den  Nacken;  seine  Augen  wurden  groß  und 
sahen : 

„Zehn  Millionen  Leichen!  Zehn  Millionen  Men- 
schen sind  jetzt  verendet.  Das  fließende  Blut  dieser 
zehn  Millionen  Ermordeten  —  vierzig  Millionen  Liter 
dampfendes  Menschenblut  —  könnte  einen  ganzen 
Tag  lang  die  riesenhafte  Wassermenge  des  Niagara- 
falles ersetzen  und  durch  seine  Sturzkraft  den  elek- 
trischen Strom  für  eine  ganze  Weltstadt  liefern  . . . 


55 


Sämtliches  Rollmaterial  der  Eisenbahnen  von  ganz 
Preußen  würde  nicht  ausreichen,  allein  die  losgetrenn- 
ten Köpfe  dieser  zehn  Millionen  Ermordeten  auf  ein- 
mal zu  transportieren.  Zivilisation!...  Stellt  euch 
den  phantastisch  langen  Eisenbahnzug  vor:  es  steht 
der  erste  Wagen  schon  in  München,  im  Berliner  Haupt- 
bahnhof noch  der  letzte,  und  alle  sind  gefüllt  mit 
blutigen  Menschenköpfen.  Zivilisation !  . . .  Man  lege 
die  zehn  Millionen  armen  ermordeten  Mörder  Kopf 
an  Kopf,  Fußsohlen  an  Fußsohlen!  Das  gibt  eine 
sechzehntausend  Kilometer  lange,  lückenlose  Leichen- 
linie, ein  sechzehntausend  Kilometer  —  nicht  Meter 
—  Kilometer  langes  Grab,  das  ganz  Deutschland  um- 
spannt. Sechzehntausend  Kilometer  Leichen!  Zivili- 
sation!" 

Ein  wildes  Schluchzen,  das  wie  das  Bellen  eines 
Hundes  klang.  Aufgelöste  Gesichter  drehten  sich  ein- 
ander zu.  Weit  offene  Augen.  Wortloses  Fragen. 
Die  Agenten witwe  sah  Farben  kreisen.  Und  taumelte 
dem  Nächststehenden  an  die  Brust. 

Das  Gesicht  der  Menge  leuchtete  wieder  weiß  auf. 

,,Ich  sage  euch:  von  diesem  Zeitalter  der  Nütz- 
lichkeit, Ordnung,  Organisation  und  Vernunft,  von 
diesem  Zeitalter  des  Egoismus,  des  Geldes,  der  Macht, 
Gewalt,  Lüge  und  Autorität  wird  nichts  übrig  bleiben 
als  ein  Grauen  davor  und  für  die  noch  späteren  Ge- 
schlechter ein  Gelächter." 

Da  spannte  er  weit  die  Arme  aus,  daß  hinter  ihm 
der  von  der  Abendsonne  rosig  beleuchtete  Kirch- 
turm zum  riesenhaften  Kreuzespfahl  wurde: 


56 


,,Wir  wollen  uns  jetzt  endlich  besinnen.  Wollen 
denken.  Uns  daran  erinnern,  daß  der  Mensch  gut 
und  unser  Bruder  ist.  Wir  wollen  endlich  heraus- 
reißen aus  unseren  Herzen :  die  Gewohnheit,  die  Lüge, 
die  Gewinnsucht,  die  Bewunderung  der  Gewalt,  Au- 
torität und  Macht,  damit  nicht  auch  der  Same  der 
noch  ungeborenen  Geschlechter  den  Keim  in  sich 
trage  zu  neuem  Morde." 

Plötzlich  klang  Kraft  und  großes  Flehen  in  seiner 
Stimme : 

„Jeden  Tag  werden  zehntausend  Menschen  ge- 
tötet, die  so  gerne,  ach  so  gerne  noch  hätten  leben 
wollen.  Und  doch  sitzt  der  Schuster  wie  sonst  in  seiner 
Werkstatt,  besohlt  Stiefel,  macht  der  Schreiner  Mö- 
bel, steht  der  Fabrikarbeiter  vor  der  Maschine,  den 
ganzen  Tag,  der  Kaufmann  hinterm  Ladentisch;  es 
schreibt  der  Beamte  Kanzleibogen  voll  und  der  Buch- 
halter rechnet,  der  Kellner  bedient . . . ,  während  jeden 
Tag  zehntausend  Menschen  fallen  und  verenden,  die 
vorher  selbst  Menschen  töten  mußten.  Welch  ein 
wahnwitziger,  gedankenloser  Egoismus!  Wenn  wir 
das  Recht  nicht  verlieren  wollen,  uns  noch  Menschen 
zu  heißen,  dann  müssen  wir  ohne  Besinnen  von  den 
Hämmern,  Hobeln,  Schreibpulten  und  Maschinen  weg- 
laufen auf  die  Straße,  den  Nächstbesten  am  Arme 
packen,  ihn  packen,  und  unsere  Stimme  muß  ihm 
das  Herz  durchgellen:  ,Es  werden  jeden  Tag  zehn- 
tausend Menschen  erschlagen.  Was  sollen  wir  tun? 
Wie  dürfen  wir  arbeiten,  unserem  Verdienste  nach- 
gehen,  schlafen,    essen,    während   jeden   Tag   zehn- 


57 


tausend  Menschen  ermordet  werden  ?  Das  darf  nicht 
sein.  Was  sollen  wir  tun?'  ...  Ich  rufe  euch  zu,  ich 
trage  die  Worte  in  euere  Herzen  hinein:  wer  heute, 
da  täglich  zehntausend  Menschen  grauenvoll  verenden, 
seine  Hand  hebt  zur  Arbeit,  ist  ein  Mörder.  Denn  er 
läßt  Menschen  töten  und  fragt  nicht:  was  soll  ich 
tun,  daß  sie  nicht  erschlagen  werden." 

Da  erbrach,  ihre  Petroleumkanne  schwingend,  die 
robuste  Kriegswitwe  ein  wildes  Gelächter. 

Und  die  Sätze:  ,,Man  muß  doch  leben;  was 
bleibt  uns  übrig;  wir  müssen  doch  verdienen,  essen", 
sprangen,  von  ihr  zuerst  geschrien,  aus  tausend  Mün- 
dern heraus,  dem  verstummten  Redner  entgegen.  Es 
schwoll  der  Tumult,  vom  Hasse  in  ein  Ganzes  zu- 
sammengeschmolzen, und  stieß  den  Schrei  ab  und 
zum  Himmel  empor:  ,,Was  sollen  wir  denn  tun!  Was  ? 
Was  sollen  wir  tun?" 

Das  war  eine  furchtbare  Frage.  Eine  Frage,  rund 
umstellt  von  grinsenden  Ungeheuern,  die  eine  Ant- 
wort nicht  hereinlassen  wollten. 

jWenn  ich  ihnen  sage:  jede  Arbeitsleistung  fügt 
sich  in  das  Getriebe  ein,  das  die  Fortsetzung  des  täg- 
lichen Massenmordes  ermöglicht,  deshalb  wird  der 
Schlosser,  der  heute  eine  Schraube  dreht,  praktisch 
zum  Mörder,  rufen  sie:  wir  müssen  doch  verdienen, 
leben,  essen  und  deshalb  arbeiten.' 

,Aber  das  dürft  ihr  nicht.  Arbeiten  dürft  ihr  nicht. 
Arbeiten  ist  heute  Mord.' 

Das  weiße  Gesicht  der  Menge  war  eine  Frage,  die 
gleich  einer  Lichtreklame  selbsttätig  die  blutrote  Ant- 


58 


wort  „Revolution"  langsam,  Buchstabe  nach  Buch- 
stabe, an  den  dunklen  Himmel  schrieb. 

Die  tödlich  bedrohte  Liebe,  die  dem  Untergange 
nahe  Menschlichkeit,  die  den  Kellner  gewählt,  ihn  aus 
dem  mörderischen  Wahnsinn  dieses  Zeitalters  heraus- 
gehoben und  ihm  das  Wort  auf  die  Lippen  gegeben 
hatte,  erleuchtete  ihn,  so  daß  die  ewige  Seele,  für 
alle  sichtbar,  ihm  in  die  weitgeöffneten  Augen  trat: 

„Von  dieser  Sekunde  an  soll  alle  Arbeit  ruhen. 
Denn  alle  Arbeit  würde  noch  im  Dienste  dieses  Zeit- 
alters des  organisierten  Mordes  stehen.  Das  Zeitalter 
des  Egoismus  und  des  Geldes,  der  organisierten  Ge- 
walt und  der  Lüge  hat  in  dieser  weißen  Sekunde,  hat 
in  uns  eben  sein  Ende  erreicht.  Zwischen  zwei  Zeit- 
alter schiebt  sich  eine  Pause  ein.  Alles  ruht.  Die  Zeit 
steht.  Und  wir  wollen  über  die  Erde,  durch  die  Städte, 
durch  die  Straßen  gehen  und  im  Geiste  des  kommen- 
den neuen  Zeitalters,  des  Zeitalters  der  Liebe,  das 
eben  begonnen  hat,  jedem  sagen:  ,Wir  sind  Brüder. 
Der  Mensch  ist  gut.'  Das  sei  unser  einziges  Handeln 
in  der  Pause  zwischen  den  Zeitaltern.  Wir  wollen  mit 
solch  überzeugender  Kraft  des  Glaubens  sagen :  ,Der 
Mensch  ist  gut',  daß  auch  der  von  uns  Angesprochene 
das  tief  in  ihm  verschüttete  Gefühl  ,der  Mensch  ist 
gut',  unter  hellen  Schauern  empfindet  und  uns  bit- 
tet: ,Mein  Haus  ist  dein  Haus,  mein  Brot  ist  dein 
Brot.'  Eine  Welle  der  Liebe  wird  die  Herzen  der 
Menschen  öffnen  im  Angesichte  der  ungeheuerlichsten 
Menschheitsschändung . 

Und  wenn  der  Zehnmillionenmord,  den  jeder  Ein- 


59 


zelne  von  uns  mitverschuldet  hat,  Martyrium  von 
uns  verlangt,  wenn  die  Menschheitsfeinde  Gewalt 
gegen  uns  anrollen  lassen,  so  wollen  wir  uns  sagen: 
,Wir  haben  erschlagen,  gelitten,  geblutet,  gearbeitet 
für  falsche,  lügenhafte  Ideale,  sind  schuldig,  sind 
Mörder  geworden ;  wir  wollen  uns  entsündigen,  wollen 
den  gegen  uns  gehetzten  Brüdern,  dem  Heere  der 
Gewalt,  uns  als  stilles,  unüberwindlich  starkes  Heer 
des  Geistes  und  der  Verbrüderung  entgegenstellen, 
bereit  zum  Leiden  für  das  ewig  unverrückbare  Ideal 
der  Menschheit:  für  die  Liebe.'  Und  unsere  Brüder 
werden,  bezwungen  von  unserem  Glauben  an  das 
Gute  im  Menschen,  in  ihren  Augen  plötzlich  die  Frage 
tragen,  die  zugleich  die  Antwort  ist:  der  Mensch  ist 
gut. 

Der  Mensch  ist  gut.  Er  ist  gut.  Geht  hin,  jeder 
durch  seine  Straße,  in  die  Häuser,  läutet,  klopft  an. 
Und  verkündet  den  Satz  des  neuen  Zeitalters:  ,Der 
Mensch  ist  gut.'...  Es  stehen  die  Transmissionen! 
Es  stehen  die  Maschinen !  Die  Arbeit  ruhe !  Die  Zeit 
steht.  Feurige  Gesänge  der  Liebe  durchfliegen  die 
Städte,  öffnen  die  Herzen,  die  Tore  der  Paläste,  die 
Magazine.  Und  Menschenarme,  die  dem  Morde  dien- 
ten, umfangen  jetzt  den  Bruder...  Und  wenn  wir 
dann  in  diesem  Geiste  wieder  zu  arbeiten  beginnen, 
wird  unsere  Arbeit  nicht  mehr  Mord  sein,  sondern 
Geschenk  für  den  Bruder,  und  seine  Arbeit  Geschenk 
für  uns  . . .  Jetzt  ruhe  die  Arbeit.  Die  Zeit  steht. 
Die  Pause  zwischen  zwei  Zeitaltern  ist  da." 

Das   Gesicht  der  Agentenwitwe  war  von  wilder 


60 


Hingabe  zerklüftet;  das  Kind  in  ihrem  Leibe  be- 
wegte sich. 

Da  geschah  etwas  Unerwartetes :  ein  bärtiger  Herr 
sprang  aus  seiner  eleganten  Equipage  heraus,  stand 
auf  dem  Bock  und  brüllte:  „Landesverräter!  Vater- 
landsverräter! Herunter  mit  dem  Schuft,  der  den 
Sieg,  der  das  Durchhalten  unseres  Volkes  verhindern 
will!"  Wutspeichel  spritzte  aus  seinem  Munde  heraus. 

Das  weiße  Profil  der  Menge  drehte  sich  dem  Bär- 
tigen zu. 

Der  warf  die  Fäuste  vor  und  bewegte  sie,  in  gro- 
ßem Bogen  die  Menge  überdachend,  wagrecht  über 
die  Köpfe  weg,  stieß  sie  himmelwärts  und  knallte  sie 
auf  seine  Brust: 

„Mein  einziger  Sohn  ist  gefallen.  Auf  dem  Felde 
der  Ehre!  Ist  tot.  Und  dieser  bleiche  Schuft  wagt 
es,  das  Volk  gegen  das  Vaterland  aufzuhetzen.  Tau- 
sendfachen Tod  diesem  bestochenen  Hundsfott,  der 
den  Sieg  verhindern  will!  Umsonst  wäre  mein  Sohn 
gestorben.  Umsonst  wären  alle  Söhne  und  Väter  ge- 
storben. Millionen  wären  umsonst  gefallen.  Alles 
Blut  würde  umsonst  geflossen  sein,  wäre  der  Sieg 
nicht  unser."  Er  riß  den  Browning  aus  der  Hinter- 
tasche. 

So  still  war  es  auf  einem  Platze  nie  gewesen. 

Der  Kellner  sagte:  „Mein  junger  Sohn  ist  gefallen. 
Umsonst  wäre  sein  Blut  und  alles  Todesblut  ge- 
flossen, wenn  in  diesem  dampfenden  roten  Meere  auch 
diesmal  das  Prinzip  des  Egoismus  nicht  verlöschen 
würde,  umsonst,  wenn  die  Liebe  auch  nach  diesem 


61 


Kriege  das  Menschenherz  nicht  berühren  könnte.  Um- 
sonst die  den  Himmel  verdunkelnde  Menschheits- 
schändung, wenn  aus  Lüge,  Macht,  Gewalt,  wenn  aus 
Mord  . . .  Sieg  hervorgeht.  Nicht  Demütigung  für  ein 
Volk  sei  das  Ende  und  der  neue  Anfang,  sondern  Ver- 
brüderung aller  Völker . . .  Verbrüderung,  die  tiefen 
Glanz,  Stille,  Menschlichkeit  und  Lebensfreude  in 
sich  schließt." 

Der  Bärtige  war  fassungslos.  „Schuft!  Und  das 
Vaterland  ?  Unser  heiliges  Vaterland  ?  Unsere  heilig- 
sten Güter?    Unser  Vaterland!" 

Dunkle,  unbezähmbare  Wut  war  urplötzlich  in  der 
robusten  Kriegs witwe  entstanden.  Da  stieg,  von  ihr 
entladen,  ein  vielstimmiger  Protestschrei,  der  erst  an 
seinem  Ende  in  helles  Gelächter  und  in  den  Hohnruf: 
,, Heiligste  Güter!"  zersplitterte. 

Die  Morgenröte  einer  kommenden  Zeit  traf  das 
Gesicht  des  verblüfften  Bärtigen ;  er  legte  den  Brow- 
ning neben  sich  auf  den  Bock. 

Der  Kellner  sagte  weich:  ,,Das  Vaterland  ist  eine 
Gasse,  in  der  wir  als  Kinder  am  Abend  gespielt  haben, 
ist  ein  von  der  Petroleumlampe  sanft  beleuchtetes 
Tischrund,  ist  das  Schaufenster  des  Kolonialwaren- 
händlers im  Nachbarhause;  das  Vaterland  ist  im 
Garten  der  Nußbaum,  auf  dessen  Früchte  wir  ge- 
wartet haben,  ist  ein  Flußtal,  die  Biegung  eines  Fluß- 
tales; das  Vaterland  ist  eine  altersgraue  Holzpforte 
an  der  Rückseite  des  Gartens,  ist  der  Geruch  von 
Äpfeln,  die  auf  dem  Ofen  brieten,  ist  Kaffee-  und 
Kuchengeruch  im  durchwärmten  Elternhause,  durch 


62 


Wiesen  ein  schmaler  Pfad,  der  zur  Stadt  zurück  oder 
aus  der  Stadt  hinausführt,  ist  ein  Gang  auf  diesem 
Pfade,  das  Verklingen  eines  Kinderliedes,  das  Abend- 
läuten an  einem  bestimmten  Tage  unserer  Kind- 
heit . . .  Nicht  der  Staat  —  die  Organisation  des  Gel- 
des, der  Lüge,  Macht,  Gewalt  und  Autorität  —  ist 
das  Vaterland  für  den  Menschen,  sondern  die  Er- 
innerung an  freundliche  Minuten  der  Kinderzeit,  die 
Erinnerung  an  die  von  Hoffnung  noch  verschönten 
Blicke  ins  zukünftige  Leben." 

In  diesem  Momente,  da  er  das  Gesicht  der  Menge 
ansah,  erkannte  er  entsetzlich  klar,  daß  bei  der  gro- 
ßen Mehrzahl  auch  diese  Erinnerungen  vom  ununter- 
brochenen Lebenskampfe,  von  den  Leiden  des  Krie- 
ges, vom  Hasse  gegen  seine  Entfeßler  aufgefressen 
worden  waren,  und  fühlte,  daß  ein  Wort  der  Liebe 
jetzt  noch  nicht  vordringen  konnte  bis  zu  diesen  ver- 
armten, haß  verkrampften  Witwenherzen.  Nur  bei 
wenigen  war  der  suchende  Kinderblick  wieder  er- 
wacht und  zum  Rückblick  auf  das  vergangene  Leben 
geworden. 

Und  als  der  Bärtige  der  Witwen  nicht  mehr  vor- 
handene Gefühle  für  das  Vaterland  erneuern  wollte 
mit  dem  Worte  „national",  stieg  aus  des  Kellners 
plötzlicher  Hoffnungslosigkeit,  die  Liebe  in  die  Herzen 
führen  zu  können,  Zorn  auf,  der  zur  Menge  hinunter 
den  Satz  trug:  „International  ist  alles  Große:  die 
Kunst,  der  Gedanke,  der  Glaube,  die  Sinne,  das 
Leben,  der  Tod." 

Und  der  Zwanzigjährige  schrie  zurück:  „Es  gibt 


63 


National-Banken,  National- Speisen,  National-Re- 
gistrierkassen,  National-Hymnen." 

Vor  Wut  verlor  der  Bärtige  die  Sprache,  konnte 
das  Gegenargument,  daß  auch  die  Sprache  national 
sei,  nicht  finden  und  griff  automatisch  zum  Brow- 
ning, um  mit  dem  zu  argumentieren. 

Der  robusten  Witwe  mit  der  Petroleumkanne 
waren  der  Bärtige  und  sein  Gefährt  zu  elegant.  Noch 
bevor  er  den  Mund  wieder  offenen  und  den  Brow- 
ning heben  konnte,  rief  sie  unwirsch:  ,,Halt's  Maul, 
du!"  Und  ihr  Wort  war  von  einer  Armgebärde  be- 
gleitet, die  hundert  Fäuste  mit  in  die  Höhe  riß.  Sie 
stürzte  zum  Bock,  kletterte  hinauf. 

Sein  Wutschrei:  „Verräterisches  Pöbelpack!  Man 
wird  euch  einsperren.  Alle  einsperren!"  gab  das 
Signal  für  alle  zum  Sturze  auf  den  Bärtigen,  so  daß 
der  Browningschuß,  der  dem  Kellner  gegolten  hatte, 
schräghoch  ging  und  den  Kirchturm  traf. 

Ein  Schrei  dauerte  minutenlang. 

„Uns  könnt  ihr  nicht  einsperren.  Millionen  Kriegs- 
witwen könnt  ihr  nicht  einsperren." 

Der  Petroleumstrahl  schoß  farblos  durch  die  Luft. 

Hochgebäumte  Pferde.  Die  Equipage  brannte 
hell  imd  farbig.  Wurde  von  den  rasenden  Pferden 
zerstörerisch  schnell  über  den  Platz  und  die  Straße 
hinauf  getragen,  von  der  stürmenden  Menge  ver- 
folgt. 

Die  robuste  Kriegswitwe  stand,  ringend  mit  dem 
Bärtigen,  flammenumloht  auf  dem  Bocke. 


64 


Eine  Anzahl  Witwen  und  Mütter,  im  Blick  noch 
das  große  Fragen,  blieb  zögernd  zurück. 

Die  Agenten witwe  trug  im  schmerzdurchwirkten, 
aufgelösten  Gesicht  den  unbegreiflich  tiefen  Glanz 
stiller  Bereitschaft,  als  sie  zum  Kellner  trat,  der  in 
der  Dämmerung  erschöpft  an  der  Hausmauer  lehnte 
und  auf  das  in  der  Ferne  verklingende,  fanatische 
Triumphgebrüll  der  Kriegswitwen  lauschte.  Er 
glaubte,  den  anhaltenden,  zündenden  Schrei  der 
robusten  Witwe  herauszuhören, 

blickte  zur  Agentenwitwe  hin,  die  in  ungeheurer 
Befreiung  vor  dem  neuen  Anfang  stand,  entrückt, 
wie  vor  einer  Wiege,  in  der  sie  selbst  lag, 

horchte  auf  das  ganz  ferne  Knallen  mehrerer 
Schüsse.  (Das  stärker  werdende  ferne  Gebrüll  wurde 
wieder  hörbar,  schwach,  wie  das  Summen  einer 
Fliege.) 

,Revolution  steht  auf  den  Stirnen  der  Menschen; 
und  was  auf  den  Stirnen  der  Menschen  steht,  wird 
Ereignis.* 

Von  schwarzen  Blitzen  durchzuckt,  brach  aus  sei- 
nem Herzen  lautlos  donnernd  die  entscheidende 
Menschheitsfrage  heraus:  , Werden  Wille  und  Sehn- 
sucht die  Gewalt  sprengen,  die  Finsternis  durch- 
stoßen, den  Geist  befreien  und  sich  so  von  ihm  führen 
lassen,  daß  die  tiefste,  die  radikalste  Revolution,  die 
Revolution  der  Liebe  zum  Ereignis  werden  kann? 
Oder  wird  die  Gewalt  weiter  bestehen  und  weiter 
siegen  über  die  Sehnsucht  nach  Freiheit,  Gleichheit, 


65 


Brüderlichkeit,  die  der  Menschheitszukunft  in  ewigem 
Flusse  immer  neu  geboren  wird  vom  tiefsten  Sinne 
der  Welt:  von  der  Liebe?' 

Der  Platz,  vom  Tumulte  verlassen,  sah  verbraucht 
aus. 

Dämmerung,  Luft  und  Sein  gebaren  auf  ihm  eine 
stille  Sekunde. 


66 


III 
Die  Mutter 

Ihr  Sohn  war  nicht  als  Freiwilliger  an  die  Front 
gefahren. 

Wenn  die  Mutter  aus  dem  Bette  stieg,  um  sechs 
Uhr  morgens,  sah  sie  ihren  Sohn.  Sah  ihn,  wenn  sie 
in  der  noch  kalten  Küche  stand.  Sah  ihn  im  Haus- 
flur. In  der  Holzlage.  Im  Keller.  Auf  der  Straße. 
Immer. 

Durch  ihren  Schlaf  schreitet  der  Sohn  durch;  er 
marschiert  durch.  Wird  kleiner,  nebelig,  verschwin- 
det. Und  marschiert  trotzdem  ununterbrochen  durch. 
Durch  jeden  Schlaf.  Durch  jede  Nacht  und  jeden 
Traum. 

Der  Sohn  sitzt  auf  einem  Stuhle,  an  der  ver- 
schwimmenden Peripherie  des  schweren  Angsttrau- 
mes, der  an  ihr  Bett  den  harten  Hauswirt  stellt: 
„Jetzt  endlich  das  Geld  für  die  Miete!" 

Drohender  Hauswirt,  alle  Qual  der  Pfennigsorgen, 
alle  Mühe  und  Not  der  Täglichkeiten  werden  gewicht- 
los, verdunsten ;  denn  der  Stuhl  mit  dem  Sohne  rückt 
in  den  Mittelpunkt  des  Traumes,  ihr  auf  die  Brust. 

Sie  wischt  den  Staub  von  den  lackierten  Muschel- 
möbeln ;  der  Sohn  steht  neben  ihr,  begleitet  sie :  vom 
Schrank  zur  Kommode,  vom  Bett  zum  Tisch. 


67 


Sie  sieht  ihn  und  sich  hinauswandern  zur  Ka- 
serne. Viele  junge  Männer,  noch  in  Zivilkleidern. 
Ärmliche  Köfferchen  und  Pappschachteln.  Viele 
Menschen  stehen  vor  der  Kasernenhof mauer:  Frauen, 
Kinder,  Bräute,  Mütter.    Machtlos. 

Diese  entsetzlich  kalte,  mitleidlose  Eisenkonstruk- 
tion der  Bahnhofshalle.  Stumme  und  weinende  Müt- 
ter und  Frauen.  Trockene  Gaumen.  Zerrissenes 
Lächeln  der  jungen  Soldaten.  Wie  Leichen  mit  Blu- 
men geschmückt:  wilde,  mit  Blumen  geschmückte 
Machtlosigkeit. 

Der  Zug  fährt  ab.  Erfährt.  Fährt.  Verschwindet. 

Ist  verschwunden. 

Einsames,  furchtbares  Nachhausegehen. 

Zwischen  der  Mutter  Hand  und  den  Deckel  des 
Kochtopfes  schiebt  sich  die  graue  Gestalt  des  Sohnes. 
Die  Überlegung,  ob  das  Gemüse  noch  etwas  Salz 
brauche,  wird  zerschnitten  vom  Sohne,  der  in  den 
Schützengraben  springt.  Immer  wieder  rasend  schnell 
in  den  Schützengraben  springt,  aus  dem  heraus  die 
Bajonette  nach  ihm  stoßen. 

Jeder  Gedanke  wurde  vom  Denken  an  ihren  Sohn 
durchschnitten. 

Während  der  Bäcker  das  Brot  für  sie  einwickelte, 
entdeckte  sie  in  einer  von  weißen  Schußwölkchen  bös- 
artig still  belebten,  öden  Flachlandschaft,  die  sie  nie 
gesehen  hatte,  den  Sohn,  wie  er  mit  der  ihm  eigenen 
Handbewegung  sich  über  das  rechte  Auge  streicht. 

Und  in  dem  Moment,  da  sie  sagte:  „Frisches  Brot 


68 


wäre  mir  lieber  gewesen",  streckt  der  Solin  den  Kopf 
zu  weit  aus  dem  Schützengraben  heraus. 

Entsetzt  ließ  sie  das  Brot  auf  den  Ladentisch  zu- 
rückfallen, preßte  beide  Fäuste  an  die  Wangen  und 
starrte;  sieht,  wie  der  feindliche  Soldat  auf  den  Kopf 
des  Sohnes  zielt. 

,, Jesus!    Kind,  wie  kannst  du  mir..." 

Sohn  beugt  sich  zum  Kameraden  hinab. 

„...  das  antun." 

Der  feindliche  Soldat  senkt  das  Gewehr. 

,, Morgen  gibt  es  wieder  frisches  Brot." 

Die  Mutter  verließ  die  Bäckerei,  den  Blick  stier 
auf  der  Szene:  der  gegnerische  Soldat  lugt,  das  Ge- 
wehr wieder  schußbereit  an  der  Backe,  zum  hinab- 
gebeugten Sohn  hinüber. 

„Wenn  er  sich  jetzt  aufrichtet.  Mein  Gott,  wenn 
er  sich  aufrichtet!...  Allmächtiger  Gott,  lasse  den 
Kameraden  eine  Geschichte  erzählen,  damit  mein 
Sohn  zuhört,  sich  nicht  aufrichtet.  Lasse  den  Kame- 
raden eine  Bitte  aussprechen,  die  mein  guter  Sohn 
erfüllen  wird,  so  daß  er  sich  nicht  aufrichtet." 

Das  feindliche  Gewehr  sinkt. 

Da  steigt  des  Sohnes  Kopf:  das  feindliche  Ge- 
wehr hebt  sich  zur  entsetzlichen  Wagrechten. 

Ein  Schrei  der  Mutter. 

Sie  glotzte  auf  die  zwei  langhaarigen  Hunde,  die 
knapp  vor  ihr  aufeinander  losfuhren.  Gefletschte 
Zähne.    Ineinander  verbissene  Mäuler. 

(Graue  Gestalten  verlassen  den  Graben,  huschen 
farblos  über  die  farblose  Fläche.  Wildes,  entsetzlich 
lautloses  Handgemenge.) 

69 


Die  Mutter  stürzte  sich  zwischen  die  zwei  kämp- 
fenden Hunde,  die  der  Sohn  und  der  gegnerische  Sol- 
dat sind.  Mit  ihren  alten,  von  der  Lebensarbeit 
stumpf  gewordenen  Händen  riß  sie  die  Hunde  aus- 
einander, die  knurrend  in  entgegengesetzten  Rich- 
tungen forttrabten.  (Die  farblosen  Gestalten  huschen 
in  die  Gräben  zurück.) 

Die  Mutter  lehnt  atmend  an  der  Hausmauer  und 
vernimmt  das  lautlose  Stöhnen,  das  aufsteigt  vom 
tiefsten  Urgrund  des  Weiblichen,  vom  mystischen 
Punkt:  Mutterliebe. 

Die  Mutter  hat  während  der  drei  Kriegsjahre  ge- 
lernt, vollkommen  lautlos  zu  stöhnen.  Denn  würde 
ihr  und  aller  Mütter  Stöhnen  Ton,  ganz  Europa 
würde  Tag  und  Nacht  ununterbrochen  klingen  von 
wildklagendem,  dumpfem  Stöhnen,  für  das  noch  keine 
Sprache  Worte  gefunden  hat. 

Über  Europa  lastet  Stille,  das  qualvollste  Leid: 
das  ,Leid  Machtlosigkeit'.  Furchtbarste  Stille,  unter 
der  Menschenherzen  sich  krümmen.  Lebendem  W^urme 
am  Angelhaken  ist  kein  Ton  gegeben. 

Und  an  den  Fronten  zucken,  in  geist schände- 
rischem Kreise  aufgestellt,  die  Rohrläufe  der  Ge- 
schütze vor,  gleiten  zurück,  zucken  vor,  zurück,  wer- 
den heiß :  ein  Donnerkreis.  Kreis  von  Blut.  Zerfetzten 
Menschenleibern.  Losgetrennten  Armen,  Beinen.  Ein 
Riesen-Kreis- Grab  umspannt  das  stille  Europa.  Grab- 
Blut- Geschützdiagonalen  durchschneiden  es,  grenzen 
stille  Leid  bezirke  ab,  in  denen  die  Mutter  Europas 
bebend  kniet,  nicht  atmen  kann.   Denn  sie  hört  den 


70 


Schuß  krachen,  sieht  die  Kugel  fliegen,  auf  den  Sohn 
zu,  sieht  Milliarden  Kugeln  fliegen.  Denn  sie  sieht 
beständig  eine  Kugel  fliegen.    Auf  den  Sohn  zu. 

Das  Herz  tut  ihr  weh.  Tag  und  Nacht.  Schon 
drei  Jahre  lang.    Drei  Ewigkeiten. 

Die  Mutter  —  ein  wandelndes,  verzerrtes  Herz, 
das  Antlitz,  Gehirn  und  Augen  bekommen  hatte,  die 
kopflose  Mutter,  die  nur  noch  mit  dem  Herzen  dachte 
und  sah,  deren  Gefühl  die  Last,  die  Angst,  die  Schmer- 
zen, das  Leid,  den  Jammer  ganz  Europas  trug,  die 
europäische  Mutter  eilte,  das  Brot  gegen  die  schlaffen 
Hautsäcke  ihrer  Brust  gedrückt,  nach  Hause,  den 
Feldpostbrief  zu  erwarten,  der  den  krachenden,  blu- 
tigen Kreis  des  Menschenmord ens  —  „vielleicht,  viel- 
leicht doch  nicht,  vielleicht  doch"  —  verlassen  haben 
und  mit  der  nächsten  Post  in  der  verdüsterten  Vor- 
stadtwohnung eintreffen  konnte. 

Sie  eilte.  Ihre  Gedanken,  alle  vom  Herzen  ge- 
dacht, eilen  voraus:  sehen  den  Briefträger. 

Der  winkt.  ,Ich  habe  etwas  für  Sie',  sucht,  reicht 
ihr  einen  Brief.  ,Halt,  noch  etwas.*  Keicht  ihr  noch 
zwei.  Noch  fünf.  Keicht  ihr  eine  Hand  voll  Briefe. 
Alle  sind  vom  Sohne.  Sie  rennt  mit  den  Briefen  die 
Treppe  hinauf. 

Und  biegt  in  die  leere  Gasse  ein.  Blickt:  ,Kein 
Briefträger.' 

Während  sie  die  Treppe  hinaufsteigt,  sieht  sie  den 
Sohn,  wie  er  vor  dem  Leutnant  steht. 

Der  sagt:  ,Wenn  ich  noch  einmal  bemerke,  daß 
Sie  absichtlich  nicht  schießen,  melde  ich  Sie.  Dann 
werden  Sie  erschossen.' 

71 


Von  wilder  Angst  befallen,  bleibt  die  Mutter  auf 
dem  Treppenabsatz  stehen  und  fleht:  „Schieße!" 

Der  Sohn  hebt  das  Gewehr,  zielt  auf  den  Fran- 
zosen. 

Die  Mutter  sieht  die  französische  Mutter,  die  in 
Paris  am  Fenster  sitzt  und  an  ihren  Sohn  denkt,  auf 
den  in  diesem  Augenblicke  gezielt  wird  vom  Sohne. 

Die  Mutter  schreit:  ,, Schieße  nicht." 

Der  Leutnant:  , Schießen!  Oder  Sie  werden  er- 
schossen.' 

Fleht  die  Mutter:  „Schieße!  0  Gott,  schieße!" 
Sieht  die  französische  Mutter.  „Nicht!  Schieße 
nicht!" 

Läßt  das  Gewehr  sinken.  ,Ich  schieße  nicht,  Herr 
Leutnant.* 

,Ihn  sofort  abführen',  befiehlt  der  Leutnant. 

Und  die  Mutter  brüllt:  „Um  Gotteswillen!  Schieße! 
Schieße!" 

Da  reißt  der  Sohn  das  Gewehr  an  die  Backe, 
zielt:  der  Franzose  wirft  die  Hände  hoch,  krümmt 
sich  und  stürzt  aufs  Gesicht. 

Die  Mutter  preßt  die  Hand  aufs  Herz,  deutet  ent- 
setzt mit  der  Rechten  nach  Paris  zum  Fenster,  wo  die 
französische  Mutter  sitzt,  eben  den  amtlichen  Brief 
öffnet  und  liest:  „Ist  gefallen."  Sieht,  wie  die  fran- 
zösische Mutter  aufschreit,  gläsern  glotzt. 

Langsam,  wie  mit  einer  furchtbaren  Mordtat  be- 
lastet, steigt  die  Mutter  die  zweite  Treppe  hinauf, 
und  ihr  sehendes  Herz  verfolgt  den  mörderischen 
Lauf  der  Kugel,  die  durch  den  Franzosen  durch  und 


72 


weiter  fliegt,  nach  Paris,  der  französischen  Mutter 
ins  Herz. 

Aber  der  Sohn  lebt,  wird  nicht  erschossen,  weil  er 
erschossen  hat,  auf  das  Flehen  der  Mutter  hin. 

Immerzu  sieht  das  Herz  der  Mutter,  wie  die  Kugel 
ihres  Sohnes  den  Franzosen  durchschlägt,  weiter- 
saust, nach  Paris :  der  französischen  Mutter  ins  Herz. 

Schritte  klingen  auf  der  Gasse.  Blitzschnell  fährt 
ihr  Oberkörper  durchs  Fenster:  ,Nicht  der  Brief- 
träger.' 

Ungedacht,  ungewollt,  dunkel  steigt  vom  Urgrund 
des  Seins  schicksalhaft  das  Gesetz  „Schuld  und 
Sühne"  auf  und  stellt  die  Mutter  vor  die  tödliche 
Gewißheit :  der  zum  Mörder  gewordene  Sohn  wird  er- 
mordet werden. 

Ihr  Oberkörper  fährt  durchs  Fenster.  Der  Blick 
blitzt  die  Gasse  hinunter,  die  Gasse  hinauf.  Kein 
Briefträger. 

Und  wie  sie  den  Blick  zurückzieht:  —  Landschaft 
mit  künstlich  aufgeworfenen  Hügeln.  Schutzwehre, 
Dämme,  Hecken.   Ausgetretene,  lehmige  Pfade. 

,Wir  schleppen  die  mit  Munition  gefüllten  Bast- 
körbe an  die  vorderste  Linie.  Über  uns  zeichnen  Gra- 
naten drohende  Bogen  an  den  Himmel.  Weiße  Ex- 
plosionen. Links  und  rechts,  vor  und  hinter  uns. 
Erdwolken.  Leichen.  Menschenteile.  Unermeßlich 
furchtbar',  hatte  der  Sohn  geschrieben. 

Die  Mutter  sieht,  wie  weiter  rückwärts,  noch  in 
Sicherheit   vor   den    einschlagenden    Granaten,    der 


73 


Sohn  und  der  Kamerad  den  Munitionskorb  hoch- 
heben, ihn  vorschleppen  in  die  rote  Feuerwolke. 

Und  kann  den  Sohn  nicht  zurückhalten,  ihn  nicht 
zurückreißen,  ist  machtlos. 

,Hat  es  geläutet?'  Sie  zerrt  die  Tür  auf.  Stiert 
in  den  leeren  Hausflur. 

Und  als  die  Wohnungsglocke  später  wirklich  läu- 
tete und  das  Aufreißen  der  Tür  den  Briefträger  zeigte, 
griff  die  Hand  der  Mutter  nach  einer  Postkarte,  auf 
der  stand:  ,Den  verehrlichen  Mitgliedern  zur  Kennt- 
nis, daß  der  Gesangverein  ,Frohsinn'  bis  auf  weiteres 
die  Singproben  ausfallen  lassen  muß,  da  immer  mehr 
Sänger  dem  Rufe  des  Vaterlandes  gefolgt  sind  und 
es  keinen  Zweck  mehr  hat.    Der  Schriftführer.' 

Sie  legte  die  Karte  auf  den  Tisch,  neben  den  Sup- 
penteller des  Vaters.  ,, Nächste  Post ...  Jetzt  kann 
vor  vier  Stunden  kein  Brief  kommen."   Vom  Sohne, 

der  in  diesem  selben  Augenblicke,  da  seine  Mutter 
das  in  Angst,  Qual  und  Machtlosigkeit  dachte,  im 
Schützengraben  auf  einer  Munitionskiste  saß. 

Seine  lehmgelbe  Hand  hielt  einen  Brief,  den  er 
selbst  vor  länger  als  einem  Jahre  in  einem  Schützen- 
graben in  Rußland  an  eine  imaginäre  Person  ge- 
schrieben, abgesandt  und  jetzt,  machtlos  eingemauert 
in  einen  Schützengraben  der  Westfront,  zurückbe- 
kommen hatte,  mit  der  Aufschrift:  Adressat  unbe- 
kannt. 

Als  er  beginnen  wollte,  zu  lesen,  brüllte  das  tau- 
sendfache Brüllen  der  Geschütze  ihm  zu,  er  brauche 
nicht  den  Brief  zu  lesen,  er  könne  die  Wirklichkeit 


74 


ablesen,  die  entsetzlich  genau  der  an  der  Ostfront 
gleiche. 

Er  hob  den  Blick:  eine  weite,  öde,  gelbliche,  leere 
Fläche,  stellenweise  dicht  bedeckt  mit  alten  und  fri- 
schen Leichen,  langsam  sich  bewegenden  Verwundeten, 
die  nicht  geholt  werden  konnten  und  langsam  starben. 

, Alles  geschieht  nahe  der  Erde.  Niedrig,  tückisch, 
gefährlich,  flächig,  farblos,  grau...  Frischfröhliche 
Reiterattacken,  nach  denen  wir  uns  auch  vor  dem 
Kriege  nicht  gesehnt  hatten,  gibt  es  nicht  mehr',  las 
er.  Und  sah  hinaus:  der  Brief  aus  gelber  Erde  lag 
flach  aufgeschlagen  vor  ihm. 

Zwischen  dem  feindlichen  Graben  und  dem  des 
Sohnes  lagen  sie:  flach,  schon  halb  in  die  Erde  ver- 
sunken. Tote.  Eigentlich  nur  Unif ormf etzen ;  Ge- 
sichter und  Hände  waren  schon  der  Erde  gleich  ge- 
worden. Eine  zweite  Erdschicht,  die  aus  Toten  be- 
stand. Ganz  nahe  beim  Sohn  lag  ein  Toter  und 
glotzte  blau.  Auch  der  konnte,  obwohl  er  kaum  zwei 
Meter  entfernt  lag,  nicht  geholt  werden.  Denn  hob 
sich  nur  ein  Kopf,  so  hoben  sich  zehn  feindliche  Ge- 
wehre. Der  Tote  lag  schon  sechs  Wochen  vor  dem 
Graben,  glotzte  und  stank.  Das  Wimmern  des  Ver- 
wundeten, der  neben  dem  Toten  lag,  hörte  nie  auf. 
Hörte  seit  drei  Tagen  und  seit  drei  langen  Nächten 
nie  auf. 

,Brand-  und  Leichengestank  ist  unsere  Luft.  Seit 
drei  Jahren',  las  der  Sohn. 

Und  betrachtete  seinen  links  neben  ihm  hocken- 
den Kameraden,  der  gesund-rote,  dicke,  feste  Backen 

75 


hatte  und,  vollkommen  gleichgiltig  gegenüber  all  dem 
Entsetzlichen,  das  um  ihn  herum  geschah,  vor  sich 
hin  glotzte.    Apathisch.    Stumpf.    Entseelt. 

,So  weit  bin  ich  noch  nicht.  Ich  schreibe  noch 
Briefe.  An  die  Mutter.  An  die  Mutter.  Schreibe 
alles  Elend,  alle  Schmach,  alles  Grauen  aus  mir  her- 
aus, um  atmen  zu  können.  An  die  Mutter  . . .  Und 
dann  kann  die  Mutter  nicht  atmen.* 

Ein  qualvolles  Lächeln  der  Selbstverachtung  zog 
seinen  linken  Mundwinkel  herunter,  bei  der  Erinne- 
rung, daß  er,  damit  seine  seit  drei  Jahren  im  Zeichen 
von  Blut-,  Brandstiftungs-  und  Morddunst  stehenden 
Gefühle  nicht  ganz  unkontrolliert  bleiben,  ihm  die 
Seele  nicht  auf  Lebenszeit  verhärten  sollten,  immer 
wieder  Briefe  geschrieben  hatte.  Viele  Briefe.  An 
die  Mutter.  Beichten.  Anklagen.  Selbstanklagen. 
Schreie.  An  fingierte  Adressaten.  Nicht  mehr  an 
die  Mutter.  Um  die  Mutter  zu  schonen.  Briefe. 
Briefe.  Um  sich  mitzuteilen.  Um  nicht  zu  vergessen. 
Nichts  zu  vergessen.  Um  sich  der  Furchtbarkeiten 
bewußt  zu  bleiben.  Sie  nicht  als  notwendige  und 
selbstverständliche  Tatsache  hinzunehmen.  Um  nicht 
ein  ebenso  vollkommen  fatalistischer,  vollkommen  ab- 
gestumpfter, gegen  alle  Entsetzlichkeiten  vollkommen 
gleichgiltig  gewordener,  maschinierter  Mörder  zu  wer- 
den, wie  sein  neben  ihm  hockender  armer  Kamerad, 
der  sich  die  Seele  aus  dem  Leibe  hinausgemordet 
hatte.  Der  auf  Befehl  geschossen  hatte.  Geschossen 
hatte.  Weiter  schoß,  schoß,  schoß.  Automatisch  wie 
ein  automatisches  Gewehr. 


76 


,Hmter  uns,  mörderisch  genau  eingestellt,  kracht 
die  Geschützkette,  schleudert  Granaten  über  uns  weg 
in  die  feindlichen  Stellungen.  Ununterbrochen.  Un- 
unterbrochen Mord!  Tag  und  Nacht.  Zahllose  Gra- 
naten, die  den  ununterbrochen  herüberfliegenden 
Granaten  begegnen.  An  der  ganzen  Front  entlang. 
Laut  meckerndes  Maschinengewehrfeuer.  Menschen 
fallen  und  sind  still.  Menschen  fallen,  stöhnen,  brül- 
len, wimmern,  bellen.  Fernes  Maschinengewehrfeuer. 
Gegnerisches  Maschinengewehrfeuer.  Bomben  und 
Minen  platzen.  Schuß wölkchen.  Zahllose  Schuß- 
wölkchen, soweit  ich  sehen  kann  . . .  Alles  flach,  grau, 
farblos,  tückisch.* 

Der  Sohn  sah  auf:  sah  alles,  was  er  gelesen  hatte. 
Und  sein  vor  Entsetzen  kranker  BIick  traf  heute  zum 
tausendsten  Male  den  Soldaten,  der  schwer  verwun- 
det und  lebendig  seit  fünf  Tagen  und  fünf  langen 
Nächten  im  Stacheldrahte  hing,  grauenhaft  langsam 
die  Glieder  bewegte.  Ganz  lautlos.  Immer  matter. 
Manchmal  schrie  er.  Immer  den  gleichen  Ton,  für 
den  noch  keine  Sprache  das  Wort  gefunden  hat. 

„Ein  Mensch  schreit",  fühlte  des  Sohnes  ganzes 
Wesen.    „Ein  Mensch  schreit." 

,Menschen,  Millionen  Menschen,  Menschen  schie- 
ßen aufeinander,  ermorden,  erschlagen,  erwürgen, 
zerfetzen  einander.    Seit  drei  Jahren.    Warum?' 

Interesse  und  gleichzeitig  Staunen  darüber,  daß 
er  sich  für  einen  Gedanken  noch  interessierte,  be- 
rührte den  Sohn,  als  er  las: 

,  Aber  nicht  gegen  das,  was  hier  im  Felde  geschieht, 


77 


muß  gekämpft  werden.  Denn  diese  paradoxe  Men- 
schenschlächterei  ist  nur  vordergründig,  ist  nur  die 
Oberflächenwirkung  des  gemeinen  Geistes  im  Lande. 
Wenn  dieser  räuberische  Geist,  der  als  das  lügenhafte 
Ideal  „Nationalismus"  gepredigt  und  gefeiert  wird, 
überwunden  ist,  verrosten  die  Geschütze  von  selbst. 

Wir  wollen  uns  opfern, 
wollen  lieben, 

denkend  die  Gefühle  lieben, 
daß  der  Präsident  der  Erde 
Präsident  der  Liebe  werde.' 

Der  Leutnant,  den  Revolver  in  der  Knabenfaust, 
schritt  gebeugt  c  .a'ch  den  Graben,  vorbei  am  Sohne, 
vorbei  am  Kameraden,  der  zielte  und  schoß. 

Lautlos,  ununterbrochen  und  qualvoll  langsam 
bewegte  der  im  Stacheldraht  hängende  Soldat  die 
Glieder. 

Der  Sohn  suchte  die  Sätze,  die  er  vor  einem  Jahre 
geschrieben  hatte.  , Gestern  ist  ein  Kamerad  neben 
mir  Mensch  geworden.  Er  legte  das  Gewehr  weg, 
sah  uns  an,  lächelte  beseligt.  Und  als  der  Vorgesetzte 
befahl: ,, Nicht  lachen!  Schießen!"  lächelte  der  Mensch 
ihn  an  und  schüttelte  den  Kopf.  Mit  welch  kindlicher, 
grenzenloser  Liebe  lächelte  er  uns  an.  Er  hatte  durch 
eine  mystische  Kraftkurve  den  Geist  der  Disziplin,  der 
Knechtschaft,  den  Geist  des  Militarismus  überwun- 
den, war  wieder  Mensch:  war  wahnsinnig  geworden. 
Er  wurde  ins  Irrenhaus  gebracht.  Es  hieß,  er  würde 


78 


wieder  gesund  werden,  wieder  schießen  können.  Viel- 
leicht schießt  er  jetzt  auf  dem  Balkan.' 

Das  Geschützfeuer  war  immer  wilder  geworden, 
hatte  sich  vervielfacht,  stieg  rasend  an.  Die  ein- 
schlagenden Granaten  rissen  Unterstände,  Balken  und 
Menschen  auseinander.  Trotzdem  verließen,  vom  Be- 
fehle vorgestoßen,  lange,  dichte  Keihen  lehmiger  Ge- 
stalten die  gegnerischen  Gräben,  wurden  vom  flan- 
kierenden Maschinengewehrfeuer  glatt  auf  die  Erde 
gestrichen. 

Heulen.  Schreie.  Wimmern.  Zuckende  Körper. 
Augen  glotzten  tot.  Ungezählte  frische  Leichen  lagen 
auf  den  alten  Leichen. 

Und  nach  dem  abschließenden  wilden  Graben- 
kampfe las  der  Sohn:  ,Hunderttausende  überwinden 
den  Militarismus  durch  den  Wahnsinn.  Zehn  Mil- 
lionen verwesen.  Zehn  Millionen  sind  Krüppel.  Und 
von  den  übrigen  werden  viele  als  präzis  funktionie- 
rende Mordmaschinen  heimkehren.  Wie  den  Kindern 
das  ABC,  hat  man  ihnen  den  Geist  der  Gewalt  ein- 
gepflanzt. Der  sitzt.  Muß  weiter  wirken.  Meinen 
neben  mir  hockenden  einfachen  Mordkameraden,  die- 
sen reinen  Eepräsentanten  seiner  Millionen  einfacher 
Mordkameraden,  diesen  im  täglich  gleichen  Laufe  von 
drei  Jahren  gegen  alle  Entsetzlichkeiten  abgestumpf- 
ten reinen  Träger  der  Gewalt  wird  auch  der  wildeste 
Schmerzensschrei  nicht  mehr  berühren.  Wie  auch 
euch  in  der  Heimat  das  Leid  der  Menschen  nicht  mehr 
trifft,  da  ihr,  ohne  den  Verstand  zu  verlieren,  in  der 
Zeitung  lesen  könnt:  dreißigtausend  sind  gefallen.* 


79 


Da  erlebte  der  Sohn  etwas,  dem  er  sich  nicht  ent- 
ziehen konnte:  er  fühlte,  wie  seine  rechte  Körper- 
hälfte dagegen  war,  diesen  Brief  doch  noch  an  die 
Mutter  zu  senden;  und  fühlte  gleichzeitig,  wie  die 
Herzseite  ihn  zwang,  den  Brief  abzuschicken  an  die 
Mutter:  das  einzige  europäische  Wesen,  das  niemals 
abgestumpft  und  gleichgiltig  werden  konnte  gegen- 
über dem  Leide  der  Menschen,  die  alle  von  Müttern 
geboren  worden  waren. 

Vergebens  versuchte  er,  das  immer  noch  von  Se- 
kunde zu  Sekunde  rasend  ansteigende  Artilleriefeuer 
nicht  zu  hören.  Die  Erde  knallte.  Seine  Ohren  knall- 
ten. Sein  Gehirn  knallte.  Er  sah,  wie  der  Hammer 
des  neben  ihm  hängenden  Telephons  trommelte,  las 
von  des  Leutnants  Lippen  das  auf  die  Membrane  ge- 
brüllte Wort  „Jawohl"  ab.  Und  wußte,  daß  die 
Todesstunde  gekommen  war  für  die  Grabenbesatzung, 
die  zum  Sturmangriffe  vorgeschickt  wurde. 

Fäuste  packten  die  Gewehre.  Bajonette  starrten. 
Graue  Gestalten,  im  Graben  eng  zusammengedrängt. 
Das  waren  keine  Menschengesichter  mehr.  Gesichter 
aus  Glas.  Augen  aus  Glas.  Das  Denken,  jede  Über- 
legung war  aus  dem  Sein  der  Soldaten  hinausgefallen. 

Auch  der  Sohn  steckt  das  Bajonett  auf  den  Eohr- 
lauf,  denkt  noch:  ,Und  dann  kann  die  Mutter  nicht 
atmen,  wenn  sie  den  Brief  bekommt.'  Denkt:  , Falle 
ich?'    Und  wurde  vom  Befehle  vorgestoßen, 

während  die  Mutter  machtlos  am  Eßtische  stand 
und  des  Vaters  Suppenteller  füllte. 

Ihr   abwesender   Blick   traf   die   farbige   Photo- 


80 


graphie  des  beliebtesten  Heerführers,  die  der  Vater 
gekauft  und  an  die  Wand  gehängt  hatte.  Der  lange 
Perpendikel  der  höher  hängenden  Schwarzwälderuhr 
schwang  über  dem  Gesichte  des  Heerführers  hin 
und  her. 

Genau  senkrecht  unter  dem  beständig  überquer- 
ten Heerführergesicht  saß  der  Vater  und  las  zur 
Suppe  ,Ein  kühnes  Patrouillenstückchen'  in  der  Zei- 
tung. 

Die  Mutter  wußte  nicht,  ob  sie  sich  den  Sohn 
hinter  der  Front  oder  in  der  vorderen  Linie  denken 
sollte, 

während  in  dieser  Sekunde  der  Sohn,  von  ge- 
schwungenen Gewehrkolben  und  wildglotzenden  Men- 
schengesichtern überdacht,  im  feindlichen  Graben  ins 
Knie  glitschte. 

,...  und  machte  ihn  kurzerhand  nieder',  las  der 
Vater  zu  Ende.    „...Was  gibts  denn?" 

„Es  ist  wieder  kein  Brief  gekommen." 

„Nein,  was  du  zu  essen  hast . . .  Wird  schon  kom- 
men.   Ist  ja  noch  immer  gekommen." 

Dann  las  er  den  Leitartikel,  in  dem  geschrieben 
stand,  daß  das  Volk,  in  unerschütterlichem  Vertrauen 
zu  seiner  bewährten  Regierung,  ausharren  und,  in- 
folge seiner  Einigkeit,  neugestärkt  aus  diesem  blutigen 
Ringen  hervorgehen  werde.  Angefangen  bei  den  gei- 
stigen Spitzen  und  durch  alle  Volksschichten  durch, 
wisse  jeder  Soldat,  jeder  Heim-Krieger,  jedes  Schul- 
kind, daß  dieser  Krieg  ein  uns  aufgezwungener  Krieg 
sei,  und  daß  das  Vaterland  in  Gefahr  war. 


81 


Das  las  er  der  Mutter  vor.  Und  sagte:  ,,Da  ist 
wieder  einmal  alles  ganz  klar  auseinandergesetzt . . . 
Diese  ausländischen  Sakramentslumpen!" 

Die  Mutter  hätte  nicht  sagen  können,  weshalb 
sie  unter  die  Uhr  trat  und  den  Perpendikel  anhielt, 
so  daß  er  das  Gesicht  des  beliebten  Heerführers  in 
zwei  Teile  schnitt.  Sie  sagte  müde:  ,,Woher  soll  denn 
ein  Schulkind  wissen,  ob  uns  der  Krieg  aufgezwungen 
worden  ist . . .  Und  auch  wir  gewöhnlichen  Leute, 
was  wissen  denn  wir  davon." 

„Das  weiß  doch  jeder  Mensch.  Und  die  Kinder 
. . . ,  für  was  sind  denn  die  Schullehrer  da.  Und  wir, 
wir  könnens  doch  jeden  Tag  in  der  Zeitung  lesen  ... 
Was  gibts  denn?" 

,,...Nur  diese  Karte  ist  gekommen  .. .  Iß  halt 
noch  einen  Teller  Suppe.  Vor  dem  Metzgerladen  sind 
zwei  Polizisten  und  vielleicht  dreihundert  Frauen 
gestanden.    Ich  habe  nichts  mehr  bekommen." 

.  „Hättest  eben  früher  dort  sein  müssen  . . .  Wenn 
nur  dieser  Saukrieg  einmal  ein  Ende  hätte  . . .  Diese 
ausländischen  Sakramentslumpen!" 

Hungerschwäche  und  Angst  um  den  Sohn,  den 
sie  plötzlich  lautlos  auf  das  Gesicht  stürzen  sah,  ver- 
dunkelten der  Mutter  den  Blick.  Und  als  sie  wieder 
sehen  konnte  und  den  alten  Vater  betrachtete,  der 
schwer  arbeiten  mußte  und  stark  abgemagert  war, 
weil  er  oft  nur  eine  Wassersuppe  vorgestellt  bekam, 
schob  sie  ihm  ihren  Teller  hin.  ,,Das  Vaterland  war 
in  Gefahr?  Nun  und  jetzt?  Eine  größere  Gefahr  für 
das  Vaterland  ist  überhaupt  nicht  möglich.    Jetzt  ist 


82 


das  ganze  Volk  in  Gefahr.  Ich  weiß  ja  nicht  —  ich 
brauche  aber  nur  in  seinem  Briefe  nachzulesen  — , 
wieviel  schon  gefallen  sind,  und  wieviel  Krüppel  sind 
und  wieviel  im  Lande  krank  werden  und  sterben, 
weil  sie  so  wenig  zu  essen  haben.  Und  die  Kinder, 
die  so  aufwachsen!  Schau  sie  nur  einmal  an.  Und 
daß  sie  jahrelang  nur  von  Mord  reden  hören.  Was 
werden  denn  das  für  Menschen.  Von  uns  alten  Leuten 
will  ich  ganz  schweigen.  Und  von  den  Soldaten 
draußen  sollen  ja  so  viele  krank  sein.  Du  weißt  schon 
wie." 

„Was  der  dir  immer  schreibt!" 

„Daß  das  Volk  jetzt  in  allergrößter  Gefahr  ist, 
das  kann  man  leicht  wissen.  Das  weiß  jeder.  Dazu 
braucht  man  nicht  viel  Verstand  zu  haben  ...  Der 
Krieg  wäre  auch  sicher  gar  nicht  gekommen,  wenn 
die  vorher  gewußt  hätten,  was  jetzt  daraus  geworden 
ist.  Die  haben  sich  einfach  verrechnet.  Und  grauen- 
hafter Weise  nicht  wie  der  Kaufmann  nur  um  eine 
Geldsumme,  sondern  um  das  Blut  von  Millionen.  Um 
das  Blut  unserer  Söhne.  Jetzt  würden  sie  nicht  mehr 
anfangen...  In  seinem  letzten  Briefe  schreibt  er: 
,Der  Schuß,  der  den  Einzelnen  traf,  hat  das  ganze 
Volk  in  die  Brust  getroffen.'   Und  so  ist  es." 

„Brust  getroffen!    Wenn  wir  doch  siegen!" 

„Was  gibts  da  noch  zu  siegen,  wenn  die  Lebens- 
kraft, ja,  ,die  beste  Lebenskraft  des  Volkes',  schreibt 
er,  , versiegt  ist  durch  den  Tod  von  Millionen  junger 
Männer;  wenn  das  Volk  nur  noch  aus  Verrohten  und 
aus  Krüppeln,   Kranken,   Irrsinnigen,  verhungerten 

83 


Kindern  und  Frauen  und  aus  ganz  alten  Leuten  be- 
steht'." 

,,Ja  warum  niclit  gar!''  Er  klammerte  sich  an 
seine  Zeitung  an,  las  die  neueste  Siegesnachricht 
des  Kriegsberichterstatters:  in  sein  sofort  wieder  be- 
ruhigtes Gehirn  ließ  sich  ein  Ausschnitt  leichenbe- 
deckte Erde  nieder.  , ...  in  einer  seitlichen  Ausdeh- 
nung von  mindestens  500  Metern,  bei  reichlich  acht- 
zig Meter  Tiefe  . . .  Von  unseren  sturmerprobten  Stoß- 
truppen im  Handgemenge  unter  auffallend  geringen 
Verlusten  mit  einer  Bravour  genommen,  die  ...' 

,,Lies  das,  dann  kommst  du  gleich  auf  andere  Ge- 
danken." 

,,Ja,  ich  will  die  Zeitung  gar  nicht  mehr  lesen." 
In  der  des  Denkens  ungewohnten  Mutter  löste  sich 
ein  Gefühl  los  und  sank  bleischwer  in  die  Worte  hin- 
ein: ,,...Wenn  nur  alle  einmal  nicht  mehr  daran 
denken  wollten,  was  in  der  Zeitung  steht;  wenn  nur 
alle  einmal  an  die  Menschen  denken  wollten,  die  jetzt 
da  sterben  müssen." 

,,Das  ist  ja  Unsinn."  Der  Vater  packte  die  Zei- 
tung fester,  sah  den  leeren  Suppenteller  an,  sah  die 
danebenliegende  Postkarte.  ,,Und  was  ist  denn  das  ?" 

„...Nur  diese  Karte  ist  gekommen." 

...  ,,daß  der  Gesangverein  ,Frohsinn'  bis  auf  wei- 
teres die  Singproben  ausfallen  lassen  muß,  da  immer 
mehr  Sänger  dem  Rufe  des  Vaterlandes  gefolgt  sind 
und  es  keinen  Zweck  mehr  hat." 

Eine  schwarze,  durch  nichts  auszufüllende  Lücke 


Si 


tat  sich  auf  in  seinem  Leben.  Er  suchte  in  der  Zei- 
tung nach  Fettgedrucktem. 

„Keinen  Zweck  mehr  hat.    Unsinn!" 

Plötzlich  schrie  er  wütend  die  verstört  blickende 
Mutter  an:  „Warum  hältst  du  denn  die  Uhr  auf", 
begann  noch  einmal  ,Ein  kühnes  Patrouillenstück- 
chen' zu  lesen. 

„Dann  ist  ja  gar  kein  Zusammenhalt  mehr,  wenn 
die  Proben  jetzt  ganz  ausfallen . . .  Singen  hätten 
wir  immer  noch  können",  sagte  der  Vater, 

während  der  Sohn,  verdreckt,  mit  Menschenblut 
bespritzt  und  vor  Grauen  und  Entsetzen  gläsern 
glotzend,  mit  den  wenigen  noch  übriggebliebenen,  ver- 
dreckten und  mit  Menschenblut  besudelten  Kame- 
raden über  die  gefallenen  Kameraden  weg,  wieder 
zurück  in  den  Glraben  taumelte. 

Die  Artillerie  arbeitete  weiter.  Die  Schüsse  krach- 
ten in  rasender  Folge.  Der  Sohn  fiel  sofort  in  Schlaf. 

Die  Mutter  trat  unter  die  Uhr:  der  Perpendikel 
schwang  weiter  hin  und  her  über  dem  Gesichte  des 
beliebten  Heerführers.  Das  sah  in  dem  düstern  Hof- 
zimmer aus,  als  hätte  der  Heerführer  an  Stelle  des 
Gehirns  eine  Maschinerie,  die  unabänderlich  weiter- 
ging, wenn  nicht  ein  Mensch  vortrat  und  sie  aufhielt. 

Wenn  nicht  ein  Mensch  oder  Gott  selbst  vortrat. 

So  eine  wunderschöne,  unbeschreiblich  süße,  herr- 
lich durch  den  Weltenraum  schwingende  Musik  hatte 
der  Sohn  noch  nie  gehört.  Wer  sie  vernahm,  wurde 
gut.    Scharfrichter  warf  das  Beil  weg,  stürzte  in  die 


85 


Knie  zu  dem  am  Blocke  knieenden  Mörder.  Und 
beide  begriffen  ihr  früheres  Leben  nicht  mehr. 

Der  Sohn  fragte  den  guten  Herrn,  der  ihn  in  den 
deckenlosen,  vom  Sternenfirmament  blau  überdachten 
Saal  geführt  hatte,  wer  diese  Musik  geschrieben  habe. 

Der  gute  Herr  mit  den  traurigen  Augen  flüsterte: 
„Diese  Musik  hätte  ein  Soldat  geschrieben,  der  ge- 
fallen ist." 

,,Ach",  flüsterte  der  Sohn,  fühlte  aber  im  selben 
Augenblicke,  wie  sein  ganzes  Wesen  sich  in  weiß- 
fließendes Glück  verwandelte.  Denn  plötzlich  sah  er 
,Die  einfache  Stadt':  Gebäude  von  solch  unsäglich 
durchseelter  Architektur,  daß,  im  Angesichte  dieser 
göttlichen  Klarheit,  alle  schweren,  dunklen  Gefühle 
aus  den  Menschen  hinaus  und  in  das  Nichts  zurück- 
fielen. Der  Sohn  stand  so  im  Glücke,  daß  er  kaum 
wagte,  es  zu  betasten  mit  der  Frage:  ,,Wer  hat  diese 
Stadt  gebaut?" 

Die  Lippen  des  guten  Herrn  bebten. 

„Nein!  Schweig",  flüsterte  der  Sohn,  entsetzt, 
wie  nie  in  seinem  Leben. 

,, Wahrlich,  diese  Stadt  hätte  ein  Soldat  gebaut, 
der  gefallen  ist." 

Da  verschwand  die  Stadt.  Und  der  Sohn  hielt 
,Das  Buch  der  Menschheitszukunft'  in  der  Hand.  Und 
las  in  einer  Sekunde  das  ganze  Buch  von  Anfang 
bis  zu  Ende.  Denn  öffnete  man  es,  so  flössen  alle 
seine  Bilder  und  Gedanken  zusammen  in  ein  einziges 
Wort.  Und  wessen  Seele  von  diesem  Wort  berührt 
wurde,  der  war  erlöst  und  gut.   Liebe  stand  auf  sei- 


86 


nem  Angesichte.  „Da  brauchen  wir  dieses  herrliche, 
allmächtige  ,Buch  der  Menschheitszukunft'  ja  nur  vor 
das  Auge  der  Menschheit  zu  legen,  und  die  Welt  ist 
von  allem  Bösen  erlöst  und  der  milden  Eegierung  der 
Liebe  heimgegeben.  0,  fließende  Verschwisterung", 
flüsterte  der  Sohn.  „Wer  hat  denn  dieses  Buch  ge- 
schrieben?" 

„Das  hätte  ein  junger  Dichter  geschrieben,  der 
gefallen  ist." 

Schwarzer  Donner  klang  von  fernher. 

Von  seiner  klagenden  Seele  getragen,  flog  der 
Sohn  erbebend  vor  die  dunkle  Frage  hin:  „Welcher 
Nation  gehörten  diese  Toten  an?" 

Das  Gesicht  des  guten  Herrn  wurde  zu  zwei  trost- 
los weinenden  Augen,  deren  Blick  langsam  und  deut- 
lich die  Worte  sprach:  „Das  weiß  man  nicht." 

Plötzlich  sah,  mit  allen  grausigen  Einzelheiten,  der 
Träumende,  was  er  vor  einer  halben  Stunde  beim 
Sturmangriff  wirklich  erlebt  und  gesehen  hatte:  das 
leinenweiß  gewordene  Gesicht  des  jungen  Franzosen, 
der  in  das  Bajonett  des  Sohnes  hineingerannt  war. 

Und  er  brüllte  in  der  ewigen  Sekunde,  die  zwischen 
Schlaf  und  Wachsein  stand,  dem  zum  Unteroffizier 
werdenden  guten  Herrn  in  unermeßlichem  Entsetzen 
zu:  „Aber  ich  weiß  es.    Ich!" 

„Auf!  Noch  ein  Sturmangriff!"  schrie  der  Unter- 
offizier, der  den  Sohn  wachgerüttelt  hatte. 

„Ich!...    Ich  weiß  es." 

„Warum  schlafen  Sie  denn  dann?" 


87 


Der  ganze  Himmel  donnerte.  Von  Menschenblut 
nocli  durchnäßte  Soldaten,  im  Graben  eng  zusammen- 
gedrängt.   Gesichter  aus  Glas.    Augen  aus  Glas. 

Die  Welle  entseelter  Menschen  wurde  vom  Be- 
fehle vorgestoßen.  Und  das  zu  einem  einzigen  un- 
geheuren, erderschütternden  Knall  zusammentönende 
Knallen  der  mit  rasender  Schnelligkeit  feuernden  Ge- 
schützkette wurde  mild  überflüstert  von  des  Sohnes 
Seele,  die  ihm  gebot,  zu  sühnen,  indem  er  sterbe,  da- 
mit er  lebe. 

Er  stand  reglos,  umtobt  von  den  in  wildem 
Kampfe  ineinander  Verbissenen.  Hier,  im  Mittel- 
punkte des  Knallens,  war  es  totenstill.  Es  wurde 
handwerklich  und  ganz  lautlos  gemordet:  es  wurde 
gearbeitet. 

Eine  nachkindliche,  zweite  Naivetät  beseelte  ihn 
mit  der  Frage:  ,, Weshalb  tun  die  Menschen  das  ?  Das 
darf  kein  Mensch  befehlen.  Kein  Mensch  darf  diesem 
Befehle  folgen." 

Die  Sekunde  gebar  ihm  ein  letztes,  noch  irdisches 
Bild:  er  sah  den  ganzen  Erdball  sich  zu  einer  Trom- 
mel ordnen,  auf  der  der  Militarismus  mit  Granaten 
einen  Wirbel  schlug. 

, Menschen,  die  einander  nie  gesehen,  einander 
nichts  getan  haben,  Menschen,  die  sich  lieben,  ja,  sich 
lieben,  Kameraden,  Kameraden  erschlagen  einander' 
fühlte  er  noch,  vom  Jenseits  schon  berührt.  Und  das 
schon  nicht  mehr  gedachte,  nicht  mehr  gefühlte,  als 
zerfließendes,  jenseitiges  Bild  geschaute  Ahnen  be- 
suchte ihn :  ,Die  Seele,  die  den  ganzen  Umfang  dieser 


88 


Furchtbarkeiten  sähe,  müßte  sterben ;  die  Seele  macht 
das  Auge  zu/ 

Die  Augen  des  Sohnes,  der  inmitten  von  morden- 
den und  fallenden  Menschen  reglos  stehen  blieb,  waren 
weit  geöffnet. 

Das  Bajonett  fuhr  unterm  Kinn  beim  Halse  hin- 
ein, durch  den  Kopf:  sein  Körper  schlug,  wie  der 
Akrobat,  einen  Bogen  nach  rückwärts,  daß  die  Fuß- 
sohlen und  die  Handflächen  die  Erde  berührten,  und 
verharrte  tot,  von  Leichen  gestützt,  in  dieser  Stel- 
lung, einem  Brückenbogen  gleich. 

Die  Mutter,  die  unter  der  Haustür  stand  und  auf 
den  Briefträger  wartete,  baute  sich  das  Glück  auf, 
daß  der  Sohn  leicht  verwundet  und  auf  diese  Weise 
dem  Unausdenkbaren  entronnen  sei.  Er  befindet  sich 
schon  auf  der  Heimreise.  Er  kommt  sogar  mit  einem 
früheren  Zuge  an,  als  die  Mutter  erwartet  hat.  ,Gut, 
daß  ich  früher  da  war',  fühlt  sie.  Und  steht  in  der 
Bahnhofshalle,  an  das  Gitter  gelehnt,  blickt  hinaus, 
die  Schienen  entlang,  auf  denen  der  Zug  eben  ein- 
läuft. , Entronnen',  fühlt  sie,  , entronnen',  sieht,  wie 
der  Sohn  aus  dem  Zuge  herausspringt  und  schon  von 
ferne  den  verwundeten  Arm  grüßend  hebt.  ,Eine 
kleine,  ganz  ungefährliche  Verwundung,  sonst  könnte 
er  den  Arm  ja  nicht  heben.  Glücklich  dem  Tode  ent- 
ronnen', fühlt  immerzu  die  Mutter,  fühlt  gleichzeitig 
immerzu  das  schwarze  Gespenst,  daß  ja  alles  nur 
ein  Wunsch  von  ihr  war.  Und  springt,  lautlos  jubelnd, 
in  das  Glück  hinein:  dem  Sohne  an  die  Brust. 

Der  Postbote  bog  langsam  um  die  Ecke,  den  sor- 


tierenden  Blick  auf  die  Briefe  in  seiner  Hand  gerich- 
tet. Und  die  Mutter  stürzte  in  die  Wirklichkeit  zu- 
rück: dem  lächelnden  Postboten  entgegen,  der  ihr 
den  seit  vierzehn  Tagen  und  vierzehn  Nächten  er- 
warteten Brief  gab ;  einen  der  Beruhigungsbriefe  des 
Sohnes,  in  denen  er,  gepeinigt  von  Selbstanklagen 
und  in  Angst  um  die  Mutter,  seine  mit  Schrecknissen 
angefüllten  Beichtbriefe  wirkungslos  zu  machen  ver- 
suchte. 

,Eigentlich,  genau  besehen,  weißt  Du,  geht  es 
mir  ausgezeichnet.  Ich  war  körperlich  nie  so  gesund 
wie  jetzt.  Denk  an,  körperlich  nie  so  gesund  wie 
jetzt',  schrieb  der  tote  Sohn.  ,Und  wenn  ich  zurück- 
komme, dann  gehen  Du  und  ich  zusammen  einige 
Wochen  aufs  Land.  Einmal  sind  wir  vornehm  und 
gehen  auch  aufs  Land.  So  viel  Geld  habe  ich  ge- 
spart. Wir  wohnen  an  einem  Flusse.  Direkt  am 
Flusse.  Du  in  einem  sonnigen  Zimmer,  ich  daneben; 
es  ist  eine  Verbindungstür  da.  Unsere  Fenster  gehen 
auf  den  Fluß  hinaus.  Hinter  dem  Flusse  sind  die 
Hügel,  steht  der  Wald.  Es  wird  gerade  Frühling  sein, 
wenn  ich  zurückkomme.  Solltest  mich  sehen:  so  ge- 
sund wie  jetzt  war  ich  nie',  wiederholte  der  Sohn,  der, 
von  Leichen  gestützt,  als  toter,  verwesender  Brücken- 
bogen zwischen  den  Schützengräben  stand. 

Das  Glück  floß  breit  in  der  Mutter. 

Wie  immer,  wenn  sie  einen  Brief  erhalten  hatte, 
war  ihr  der  Sohn  so  nahe,  daß  sie  seine  körperliche 
Anwesenheit  fühlte,  mit  ihm  sprach,  ihm  Ratschläge 
erteilte,    solche    von    ihm    annahm,    ihm    Vorwürfe 


90 


machte.  ,  Jetzt  setze  dich  einmal  dorthin,  dort  in  die 
Kanapee-Ecke.' 

,Nun,  also  jetzt  sitze  ich.' 

,Sieh  mal,  du  weißt  doch,  daß  der  Vater  für  nichts 
Interesse  hat,  als  nur  für  seine  Zeitung  und  für  seinen 
Gesangverein.' 

,Aber  das  kann  ja  vielleicht  gar  nicht  anders  sein, 
Mutter.  Er  ist  fünfundsechzig  Jahre  alt  und  steht  seit 
fünfzig  Jahren  täglich  von  früh  sechs  bis  abends  sechs 
an  der  Hobelbank.  So  ist  er  aufgewachsen;  so  ist  er 
alt  geworden.  Deshalb  hat  er  nichts  als  seine  Zei- 
tung und  seinen  Gesangverein.' 

jAber  er  könnte  sich  doch  denken  . . .' 

,Er  hat  längst  vergessen  müssen,  daß  er  ein 
Mensch  ist,  Mutter.  Abgerackert  und  totmüde  ist  er 
seit  fünfzig  Jahren  am  Feierabend.  Er  darf  nicht 
denken;  denn  sonst  würde  er  sich  vielleicht  daran 
erinnern,  daß  er  einmal  ein  Mensch  war.' 

,Davon  wollte  ich  überhaupt  gar  nicht  reden.  Ich 
wollte  ja  ...' 

Der  Sohn  saß  nicht  mehr  in  der  Kanapee-Ecke. 
Er  war,  vom  Tode  bedroht,  in  der  vordersten  Linie. 

,Ich  wollte  ja  den  einundneunzigsten  Psalm 
beten',  dachte  die  Mutter,  die  im  Laufe  eines  Lebens 
immer  sich  gleichgebliebener  grauer  Not  und  abso- 
luter Aussichtslosigkeit,  daß  jemals  eine  Besserung 
eintreten  könnte,  ihren  Glauben  verloren  und  das 
Betea  verlernt  hatte;  die  fünfundsechzig  Jahre  unter 
der  Eisenplatte  geatmet  hatte,  unter  der  die  euro- 
päischen Träger  der  Armut  stehen  und  vergehen,  und 


91 


durch  die  sie  hoffnungslos  getrennt  bleiben  vom 
Geiste,  vom  Lichte,  vom  Leben,  vom  Menschentum. 
Nur  wenn  der  Sohn  auf  dem  wüsten  Wege,  der,  durch 
die  Eisenplatte,  empor  zum  Geiste  führt,  von  einer 
Gefahr  bedroht  gewesen  war,  hatte  die  Mutter  den 
einundneunzigsten  Psalm  gebetet. 

Sie  mußte  nicht  suchen:  die  Bibel,  immer  nur 
und  oft  an  dieser  Stelle  gebraucht,  tat  sich  beim  ein- 
imdneunzigsten  Psalm  auf.  Und  die  Mutter  sah,  wie 
die  auf  ihren  Sohn  zusausenden  Kugeln,  vom  Gebete 
in  ihrem  mörderischen  Fluge  aufgehalten,  vor  des 
Sohnes  Brust  senkrecht  zu  Boden  fielen,  als  sie  die 
mit  Bleistift  unterstrichenen  Stellen  wiederholte: 

,,Wer  unter  dem  Schirm  des  Höchsten  sitzt,  und 
unter  dem  Schatten  des  Allmächtigen  bleibt, 

der  spricht  zu  dem  Herrn :  Meine  Zuversicht  und 
meine  Burg,  mein  Gott,  auf  den  ich  hoffe. 

. . .  Seine  Wahrheit  ist  Schirm  und  Schild, 

daß  du  nicht  erschrecken  müssest  vor  dem  Grauen 
der  Nacht,  vor  den  Pfeilen,  die  des  Tages  fliegen, 

vor  der  Pestilenz,  die  im  Finstern  schleicht,  vor 
der  Seuche,  die  im  Mittage  verderbt. 

Ob  tausend  fallen  zu  deiner  Seite,  und  zehntausend 
zu  deiner  Rechten,  so  wird  es  doch  dich  nicht  treffen", 

betete  die  Mutter.  Und  blieb,  in  Hoffnung  und 
in  düstere  Angst  gespalten,  sitzen  und  war  nicht  er- 
löst. 

Denn  die  Welt  war  nicht  erlöst,  da  nicht  alle  Men- 
schen gleich  den  Müttern  und  nicht  alle  Mütter . . . 
Mütter  waren. 


92 


Der  Brief,  den  der  Sohn  in  Rußland  an  eine  ima- 
ginäre Person  geschrieben,  nach  einem  Jahre  an  der 
Westfront  zurückerhalten  und  doch  noch  an  die 
Mutter  geschickt  hatte,  traf  erst  Wochen  nach  dem 
Tode  des  Sohnes  ein,  zu  einer  Zeit,  in  der  die  Mutter 
noch  immer  nicht  wußte,  daß  der  Sohn  schon  gefallen 
war.  Von  den  fetten  Schützengrabenratten  schon 
halb  aufgefressen  war. 

Der  Sohn  hatte  vergessen,  die  Überschrift  zu  än- 
dern; die  bebende  Mutter  las: 

„Sehr  geehrter  Herr,  erlauben  Sie  mir,  Ihnen  den 
Seelenzustand  meines  Freundes  zu  schildern.  Es  ist 
gewiß  auch  Ihnen  schon  widerfahren,  daß  Sie  beim 
Hinabsteigen  einer  Ihnen  seit  Jahren  vertrauten 
Treppe,  im  Dunkeln  vor  der  letzten  Stufe  irrtümlich 
vermuteten,  schon  ganz  unten  zu  sein :  Ihr  zum  Aus- 
schreiten vorgestrecktes  Bein  findet  keinen  Boden. 
Sie  kennen  diese  körperliche  Erschütterung,  die  so 
plötzlich  eintritt,  daß  Dunkelheit  und  Tiefe,  in  die 
Ihr  Bein  versinkt,  in  die  Höhe  und  in  das  überraschte 
Gehirn  hineinsausen  und  einen  seelischen  Schreck 
verursachen.  Stellen  Sie  sich  vor,  Sie  würden  drei 
Jahre  lang,  so  ununterbrochen  wie  Sie  atmen,  in 
diese  unerwartet  vor  Ihnen  sich  auftuende  Tiefe 
hineintreten,  drei  Jahre  lang  ununterbrochen  diesen 
kleinen  Seelenschreck  erleben.  Und  stellen  Sie  sich 
jetzt,  wenn  Sie  können,  diese  beständige  Seelen- 
erschütterung millionenfach  gesteigert  vor. 

Dagegen  gibt  es,  wie  unglaublich  Ihnen  das  auch 
erscheinen  mag,  ein  Hilfsmittel:  die  Gewohnheit.  Die 


meisten  Menschen  vermögen  an  Stelle  ihrer  Seele  die 
Gewohnheit  zu  setzen.  Das  tun  die  Millionen  ent- 
seelter Soldaten,  die  dann  gewohnheitsmäßig  weiter- 
schießen, weiter  ihre  Gewehrkolben  in  feuchte  Men- 
schengehirne hineinschlagen,  weiter  das  leise  zischende 
Bajonett  in  weiche  Unterleiber  hineinstoßen  und  nicht 
erschüttert  werden,  weil  der  sich  Krümmende  genau 
so  glotzt  wie  der,  der  sich  gestern  krümmte  und  fiel. 

Es  gibt,  sehr  geehrter  Herr,  noch  ein  Mittel:  den 
Wahnsinn.  Diesen  Vorgang  brauche  ich  Ihnen  nicht 
näher  zu  erklären;  ich  brauche  Ihnen  einstweilen 
(denn  ich  werde  Ihnen  noch  viele  Briefe  schreiben) 
nur  zu  sagen,  daß  die  Träger  einer  stärkeren  Seele, 
eines  empfindlicheren  Gewissens  sich  in  die  Gewohn- 
heit nicht  hineinzuretten  vermögen  imd  deshalb  natür- 
lich wahnsinnig  werden  müssen. 

Ich  habe  versucht,  Ihnen  die  Seelenerschütterung 
begreiflich  zu  machen,  die  ein  drei  Jahre  lang  un- 
unterbrochen treppab  steigender  Mensch  empfände, 
der  drei  Jahre  lang  bei  jeder  Stufe  ununterbrochen 
mit  dem  zum  Ausschreiten  vorgestreckten  Bein  in 
die  nicht  erwartete  Tiefe  sänke.  Und  habe  gesagt, 
daß  diese  beständige  Seelenerschütterung  beim  Front- 
soldaten millionenfach  gesteigert  ist.  Setzen  Sie  bei- 
spielsweise an  Stelle  der  nicht  mehr  erwarteten  Trep- 
penstufe folgenden  unwahrscheinlichen  Vorgang  (auch 
die  Menschenschlächterei  ist  absolut  unwahrschein- 
lich): Sie  mieten  ein  möbliertes  Zimmer  im  vierten 
Stock  und  öffnen  zum  erstenmal  die  Balkontür,  treten 
hinaus,  um  sich  an  der  schönen  Fernsicht  zu  erfreuen. 


94 


und  stürzen  hinunter,  weil  hinter  der  Tür  kein  Balkon 
ist.  Stellen  Sie  sich  vor  allem  den  Moment  vor,  in 
dem  Ihr  überraschtes  Bewußtsein  in  blitzartiger  Er- 
schütterung erkennt,  daß  kein  Balkon  da  ist  und  daß 
Sie  rettungslos  hinunter  in  die  Tiefe  stürzen  müssen. 
Da  der  Mensch  Mitgefühl  mit  seinem  Nächsten  hat, 
werden  Sie,  auch  wenn  Sie  nicht  dieser  Unglückliche 
sind,  sondern  unten  auf  der  Straße  stehen  und  zu- 
sehen, wie  ein  Mensch  vom  vierten  Stock  herabstürzt, 
ebenfalls  diese  plötzliche  Seelenerschütterung  erleben. 
Und  wenn  Sie  eine  Woche  lang  ununterbrochen  zu- 
sehen müßten,  wie  Menschen  aus  dem  vierten  Stocke 
herabstürzen,  würden  Sie  endlich  zu  lachen  beginnen, 
das  heißt:  wahnsinnig  werden.  Oder  Sie  würden  die 
Augen  zumachen,  das  heißt:  sich  allmählich  daran 
gewöhnen,  daß  Menschen  vom  vierten  Stocke  herab- 
stürzen. 

Vergegenwärtigen  Sie  sich  jetzt,  wenn  Sie  können, 
diesen  Seelenschlag  in  unausrechenbarer  Steigerung 
und  ununterbrochen  drei  Jahre  lang  erfolgend,  dann 
werden  Sie  begreifen,  daß  die  große  Mehrzahl  meiner 
armen  Kameraden  sich  in  die  Gewohnheit  und  die 
übrigen  sich  in  den  Wahnsinn  hinein  retten  müssen. 

Und  nun  bitte  ich  Sie,  eine  Seele  schreit  in  Todes- 
not, ich  bitte  Sie,  raten  Sie  mir:  Was  soll  mein  Freund 
tun,  der  nicht  wahnsinnig  und  auch  nicht  eine  ge- 
wohnheitsmäßig funktionierende  Mordmaschine  wer- 
den kann,  da  er,  göttlich  auserkoren,  Träger  eines  be- 
ständig wachen  Gewissens,  Träger  einer  beständig 
fließenden  Seele  ist. 


95 


Ich  bitte  Sie,  verschieben  Sie  jede  noch  so  wich- 
tige Tätigkeit  und  beantworten  Sie  mir  erst  diese 
Frage,  wenn  Sie  eine  Antwort  auf  diese  Frage  haben. 
Legen  Sie  diese  Frage  allen  Ihren  Freunden  und  Be- 
kannten, legen  Sie  diese  Frage  der  ganzen  Mensch- 
heit vor.   Eine  Seele  wartet  auf  Antwort. 

Sollte  jedoch  Ihre  Antwort  sein,  daß  meine  Aus- 
führungen die  gefühlsmathematische  Notwendigkeit 
ergeben,  solch  einem  Menschen  bleibe  nichts  anderes 
übrig,  als  zu  fallen  und  zu  sterben,  dann  brauchen 
Sie  mir  nicht  zu  antworten,  da  ich  selbst  schon  seit 
langer  Zeit  diese  Antwort  auf  die  Frage  meines  Freun- 
des bereithalte.  Sollten  Sie  und  die  Welt  dieselbe 
Antwort  haben,  so  würde  die  Erfahrungstatsache, 
daß  unter  den  Gefallenen  immer  die  Besten  des  Volkes 
sind,  zu  der  seelischen  Gesetzmäßigkeit  erhoben  wer- 
den, daß  unter  den  Gefallenen  die  Besten  des  Volkes 
sein  müssen.  Daß  die  erkorenen,  jungen  Träger  der 
Wahrheit  fallen  müssen.  Daß  die  jungen,  feurigen 
Träger  des  ewig  unverrückbaren  Menschheitsideales 
,Liebe'  fallen  müssen.  Daß  die  jungen  Dichter  nicht 
zurückkehren  können.  Daß  bei  ihnen  allen  einmal 
der  Augenblick  kommen  muß,  in  dem  sie  ganz  bei  sich 
selbst  angelangt  sind,  ihr  Körper  sich  bedingungslos 
dem  ewigen  Geiste  der  Wahrheit  unterordnet  und 
ohne  Gegenwehr  den  Todeshieb  empfängt...'^ 

Weiter  las  die  Mutter  nicht.  Die  Möglichkeit, 
weiter  zu  lesen,  war  nicht  mehr  vorhanden;  die  Denk- 
fähigkeit war  aus  der  Mutter  hinausgefallen.  Und  ihr 
Gefühl  war  abgekapselt.    Sie  saß  ganz  unbewegt  am 


96 


Tische  und  sah.  interesselos  den  zweiten  Brief  an,  den 
sie  noch  nicht  geöffnet  hatte,  weil  die  Adresse  nicht 
vom  Sohne  geschrieben  war. 

Dieses  amtliche  Schreiben  enthielt  die  kurze  Nach- 
richt, daß  der  Sohn  gefallen  sei.  „Auf  dem  Felde  der 
Ehre."  Die  ahnungslose  Mutter  ließ  das  Schreiben 
uneröffnet  liegen. 

Plötzlich  und  schnell,  als  dürfte  nicht  eine  Sekunde 
Zeit  verloren  werden,  wurde  ihr  Körper  vor  die  Kom- 
mode gestellt;  sie  nahm  aus  dem  Drahtkörbchen,  das 
einen  bemalten  Porzellanboden  hatte,  den  alten  Trost- 
brief heraus  und  las: 

, Eigentlich,  genau  besehen,  weißt  Du,  geht  es  mir 
ausgezeichnet.  Ich  war  körperlich  nie  so  gesund  wie 
jetzt.  Denk  an,  körperlich  nie  so  gesund  wie  jetzt . . . 
Zurückkomme,  dann  gehen  Du  und  ich  einige  Wochen 
aufs  Land  ...  In  einem  sonnigen  Zimmer,  ich  da- 
neben . . .  Verbindungstür  da  . . .  Gerade  Frühling 
sein  . .  / 

Neue  Hoffnung  durchbrach  die  Kruste.  Und  in 
der  Mutter  stand  ein  ungeheurer  Wille  auf,  den  Sohn 
aus  der  Todesgefahr  herauszureißen,  hinein  in  diese 
Frühlingswochen,  wo  nur  noch  Glanz  und  Liebe  war. 

Ihr  werde  es  gelingen,  bis  zum  Kaiser  vorzudringen. 
Und  wenn  es  nicht  anders  ginge,  sie  werde  hinaus- 
laufen an  die  Front,  in  den  Schützengraben  und  ihren 
Sohn  holen.  Sie  werde  sagen:  ,Das  ist  mein  Sohn. 
Mein!  Mein  Sohn!'  „Es  gibt  Mittel  und  Wege.  Mittel 
und  Wege.  Viele  Mittel  und  Wege.  Ich  werde  tot- 
krank, damit  der  Sohn  Urlaub  bekommt.  Was  auch 


97 


geschieht,  ich  lasse  ihn  nicht  mehr  fort.  Ich  werde 
ihn  einsperren.  Ich  werde  ihn  verstümmeln.  Ver- 
stecken. Keller.  Wald.  Meinen  Sohn  in  meinen  Leib 
zurücknehmen !" 

Automatisch  öffnete  sie  das  amtliche  Schreiben. 
Las:  ,Feld  der  Ehre  gefallen.' 

„Wer  denn?    Wer?"    Sah  auf. 

Die  glänzende  Kante  des  lackierten  Kleider- 
schrankes, das  Gesicht  des  beliebtesten  Heerführers, 
der  hin-  und  herschwingende  Perpendikel  stürzten 
auf  sie  zu. 

Ohne  den  Bruchteil  einer  Sekunde  zu  warten, 
machte  sie  eine  blitzschnelle  Drehung  türwärts.  Und 
flog  schreilos  aus  dem  Zimmer,  den  dunklen  Gang 
vor,  aus  der  Wohnung  hinaus,  die  Treppe  hinunter, 
die  Gasse  hinunter,  die  breite  Asphaltstraße  hinunter. 
Immer  in  der  Mitte:  schwarz,  vornüberstürzend,  laut- 
los.   Sie  hatte  Filzschuhe  an. 

Passanten  blieben  stehen;  es  bildeten  sich  Grup- 
pen. ,,Was  hat  sie?"  Das  selten  berührte  Gefühl 
gedankenlos  lebender  Menschen  wurde  von  etwas  Un- 
begreiflichem getroffen.  Kein  einziger  wußte,  daß 
es  die  absolute  Ziellosigkeit  war,  die  sie,  erschüttert, 
aus  dem  Rennen  der  Mutter  herausfühlten.  Und  als 
ein  junger  Arbeiter  das  amtliche  Schreiben,  das  er 
gefunden  und  aufgehoben  hatte,  vorlas,  sanken  die 
Worte  in  die  aufspringenden  Herzen  hinein.  Junge 
Leute  galoppierten  der  Mutter  nach. 

Sie  hetzte  durch  Stadtviertel,  dem  Schrei  ent- 


98 


gegen,  der  zusammengeballt  in  ihrem  Halse  saß  und 
nicht  durch  konnte. 

In  allen  Straßen  bildeten  sich  Gruppen  betroffe- 
ner Menschen,  die  von  den  Nachspringenden  über  das 
Unglück  der  Mutter  aufgeklärt  wurden,  sich  ihnen 
anschlössen. 

Eine  Kompagnie  junger  Soldaten,  feldmarsch- 
mäßig ausgerüstet,  blumengeschmückt,  singend  auf 
dem  Wege  zum  Bahnhof,  sauste  auf  die  Mutter  zu 
und  im  Fluge  an  der  Rasenden  vorbei. 

„...dir  die  Hand  nicht  geben..." 

Ein  Lastfuhrwerk.    Ein  Schutzmann  zu  Pferde. 

,,...dieweil  ich  eben  lad'..." 

Schon  weit  hinter  ihr  verklingend. 

Erst  Minuten  später  sprengte  das  von  ihrer  Seele 
im  Fluge  aufgenommene  Mordlied  den  Schrei,  der 
sich  im  Halse  zusammengeballt  hatte. 

Der  Schrei  platzte.  Die  Mutter  schrie  und  rannte. 
Schrie  länger  als  ein  Atemzug  reicht.  Stolperte.  Fiel 
nicht.   Holte  Atem.    Schrie  weiter. 

Das  war  kein  Klagegeschrei.  Rennen  und  Schrei 
kamen  aus  einer  Quelle  und  verschmolzen  in  Eins. 
Stille  auf  der  ganzen  Erde.  Nur  die  europäische 
Mutter  schrie.  Schrie  jetzt  die  unterdrückten  Schreie 
dreier  Jahre. 

Niemand  wagte  den  Versuch,  sie  aufzuhalten. 
Denn  hier  schrie  nicht  ein  Mensch;  hier  schrie  die 
Menschheit.    Alle  fühlten  das. 

Und  eher  könnte  es  einem  neben  dem  Geleise 
Stehenden  gelingen,  den  heransausenden  D-Zug  mit 


99 


dem  Zeigefinger  aufzuhalten,  als  daß  es  aller  Macht 
der  Welt  zusammen  gelänge,  Schweigen  zu  erzwingen, 
wenn  die  getroffene  Menschheit  schreit. 

Der  Schrei  wurde  gehört.  In  Paris,  London,  Eom, 
in  Amerika,  in  Kasernen  und  in  Dachkammern.  Er 
wurde  in  Petersburg  gehört.  Er  sauste  hinein  in  die 
Herzen.  Und  er  riß  die  Herzen  der  Menge  auf,  die 
der  springenden  Mutter  straßenentlang  folgte. 

Die  ganze  Stadt  fühlte  zum  ersten  Male  plötzlich 
den  Tod  der  Millionen  Söhne,  das  Leid  der  Millionen 
Mütter,  da  sie  das  Leid  dieser  einen  Mutter  sah. 

Ihr  Schrei  war  schon  nicht  mehr  der  einer  Frau; 
er  war  tief  und  rauh  geworden,  geschlechtlos:  ein 
Menschenschrei,  unterbrochen  von  kurzen  Atem- 
pausen, in  denen  das  horchende  Herz  der  Menschheit 
stockte. 

Ein  junger  Schutzmann  überholte  galoppierend 
die  gewaltige  Menge  und  packte  den  Arm  der  schrei- 
enden Mutter,  die  mit  dem  Schutzmann  weitersprang, 
als  habe  sie  einen  brüderlichen  Leidensgenossen  be- 
kommen. Seine  Hand  wurde  lahm  und  sank,  als  er, 
beim  Blick  in  ihr  Gesicht,  fühlte,  daß  er  dem  Schmerze 
der  Menschheit  ins  Gesicht  sah. 

Jetzt  erst  stieg  der  tausendstimmige  Entrüstungs- 
schrei der  Menge,  getragen  wie  ein  Choral,  und  der 
junge  Schutzmann  ahnte,  von  diesem  Tone  tief  ge- 
troffen, daß  hier  nicht  Sensation,  sondern  der  un- 
besiegbare Geist  der  Menschhchkeit  sich   kundtat. 

Hemmungslos,  blind  für  alle  Hindernisse,  sprang 
die  vornüberstürzende  Mutter  wie  eine  schwarze  Kegel- 


100 


kugel  die  Asphaltstraße,  die  vom  Dome  abgeschlossen 
war,  hinauf,  durch  das  offene  Portal  in  die  Kirche 
hinein,  lautlos  weiter  geradeaus,  durch  den  Mittelgang, 
bis  vor  den  Altar, 

über  dem  der  Sohn  am  Kreuze  hing  und  hinunter- 
sah zum  Priester,  der,  von  Kindheit  an  in  der  Lüge 
versunken  und  ertrunken,  eben  zum  schmerzverzerr- 
ten Gesicht  empor  log: 

„. . .  der  du  unseren  Waffen  deinen  göttlichen  Bei- 
stand schenktest,  Lob  und  Preis  und  Dank  sei  dir, 
der  du  unsere  Waffen  gesegnet  und  mit  Sieg  gekrönet 
hast." 

Sie  rannte  die  drei  Stufen  hinauf,  prallte  gegen  den 
Priester. 

Durch  alle  Türen  drängte  die  Menge  herein.  Und 
die  Veranlassung  dazu  verbreitete  sich  schnell  unter 
den  Kirchenbesuchern:  fast  nur  alten  Frauen,  von 
denen  die  meisten  ihrer  Söhne  beraubt  waren.  Müt- 
ter, die,  von  tödlicher  Verzweiflung  getrieben,  ihre 
letzte  Zuflucht  bei  Gott  suchten,  und  von  Gott,  von 
der  Liebe  getrennt  blieben  durch  die  Lügenmauer, 
die  der  um  Sieg  und  Segen  für  unsere  Waffen  und  um 
Verderben  und  Tod  für  den  Feind  bittende  Priester 
vor  ihren  Seelen  auftürmte. 

Die  Mutter  vernahm  seine  letzten  Worte  und 
stand,  wie  von  Gott  gesandt,  eine  ewige  Sekunde  auf- 
gerichtet vor  dem  Priester.  Da  flog  das  von  Gott 
selbst  ihr  auf  die  Lippen  gegebene  Wort  „Lüge"! 
durch  die  Kirche  und  zerriß  die  ungeheure  Spannung. 

Sie  warf  in  einem  wilden   Schwung  die  Hände 


101 


empor  zum  schmerzverzerrten  Sohne.  Der  geängstigte 
Priester  wollte  die  Mutter  wegreißen.  Während  des 
kurzen  Kampfes  prallten  beide  gegen  den  Altar: 

der  Sohn  schwankte  und  neigte  sich  und  sank  nach 
vorne  in  die  empfangenden  Arme  der  Mutter. 

Der  entsetzte  Priester  trat  zurück. 

Ein  Hauch  zog  durch  die  Kirche,  verdichtete  sich 
zu  vielstimmigem  Geflüster  und  wurde  ein  Ton,  den 
die  Orgel  aufnahm  und  motivisch  mit  dem  melodisch 
ansteigenden  Vorspiele  verband. 

Die  erhöhte  Mutter  stand,  das  Gesicht  den  Ge- 
sichtern zugedreht,  den  umschlungenen  Sohn  an  der 
Brust,  reglos  vor  dem  Altare,  entschlossen  zum 
Sturme  gegen  Gewalt  und  Mord.  Und  alle  sahen, 
daß  sie  das  persönliche  Leid  hinter  sich  gelassen  hatte 
und  nach  dem  wilden  Schmerzenslauf  durch  die 
Stadt  in  dieser  Sekunde  den  dunklen  Mächten  ent- 
ronnen und  eingetreten  war  in  die  weißfließende  Liebe. 

Ganz  in  ruhevollem  Glänze  versunken,  stieg  die 
Verklärte  die  drei  Stufen  herunter,  ging  langsam 
durch  den  Mittelgang. 

Und  die  unglücklichen  Mütter  brachen,  vom  Un- 
nennbaren berührt,  los  von  der  Lüge  und  folgten.  Es 
wurde  kein  Wort  gesprochen,  und  nicht  ein  Mensch 
blieb  zurück. 

Nur  noch  der  Priester  stand  seitwärts  neben  dem 
Altare,  die  weitgeöffneten  Augen  auf  die  einmütig 
Abziehenden  gerichtet.  Da  brach  sein  Kopf  auf  die 
Brust,  als  habe  er  einen  Hammerschlag  in  den  Nacken 


102 


bekommen.  Der  Bekehrte  hob  das  nicht  wieder  zu 
erkennende  Gesicht  und  folgte 

dem  Zuge,  der  schweigend  und  mit  göttlicher 
Selbstverständlichkeit  die  Stadt  durchzog  und  von 
Minute  zu  Minute  mächtiger  anschwoll,  beständig 
vergrößert  durch  die  plötzlich  Sehendgewordenen. 

Drei  Jahre,  gefüllt  mit  Begeisterung,  mit  Blut, 
mit  zehnmillionenfachem  Morde,  mit  Glauben  an  die 
Lüge,  mit  Standhaftigkeit,  Arbeit,  Hunger,  mit  Leid 
und  Leid  und  Leid  waren  durchschritten.  Nichts  war 
unversucht  geblieben ;  alles  war  ertragen  worden.  Ver- 
gebens.  Der  blutige  Kreis  hatte  keinen  Ausweg. 

Jetzt  schritten  die  Menschen  geschlossen  und  still 
in  den  Ausweg:  in  die  Wahrheit  hinein.  Ohne  Worte 
der  Erklärung.  Die  Neuhinzukommenden  fragten 
nicht.  Niemand  sprach  ein  Wort.  Die  Wahrheit 
braucht  nicht  den  Ton.   Die  Wahrheit  ist  still. 

Der  für  die  Menschen  am  Kreuze  gestorbene  Sohn, 
von  der  Mutter  Europas  dem  Kriege  vor  das  Mord- 
gesicht gehalten,  öffnete  von  neuem  die  Herzen  für 
die  Liebe,  deren  weißglühender  Strom  den  kilometer- 
langen Zug  beständig  durchfloß  und  allen  Widerstand 
der  noch  von  dunklen  Mächten  Gefesselten  verbrannte. 

Aus  den  Augen  eines  reitenden  Schutzmannes,  der 
den  Zug  begleitete,  brach  plötzlich  das  innere  Licht. 
Er  stieg  ab. 

Und  das  Pferd,  getrennt  von  seinem  Herrn,  ganz 
verbunden  mit  den  Menschen,  schritt  mit  und  blickte 
tief,  kindlich  und  gut. 


103 


Stumpfe  Menschen,  vom  Leide  ausgehöhlt,  emp- 
fingen den  Keim  neuen  Lebens.  Väter,  Mütter, 
Kriegswitwen,  Krüppel,  in  den  mildglänzenden  Augen 
die  unmeßbar  tiefe  Freude  von  Menschen,  die  alles 
hingegeben  und  verloren  hatten  und  nun  plötzlich 
zusammen  mit  Brüdern  gingen: 

von  Zweifel  und  Frage  nicht  berührt,  dicht  hinter- 
einander, fast  am  Platze  marschierend,  dem  Ziele  zu, 
das  alle  im  Herzen  trugen. 

Ein  endloser,  schweigender  Zug  von  Brüdern,  dem 
Menschheitsziele  entgegen,  über  den  Untergang  hin- 
aus, hinein  in  das  neue  Zeitalter,  das  im  Zeichen  der 
Wahrheit,  der  Freiheit  und  der  Liebe  steht. 

Sie  schritten  ganz  langsam  eine  breite,  unabsehbar 
lange  Asphaltstraße  hinunter  und  nahmen,  tief  ver- 
traut mit  der  Atmosphäre  der  großen  Zeitwende,  in  der 
die  Ereignisse  ohne  Frage  und  Antwort  begriffen  wer- 
den, mit  göttlicher  Selbstverständlichkeit  wahr,  daß 
ihrem  Zuge  ein  gewaltig  langer  Bruderzug  entgegen- 
kam.   Ganz  langsam  und  schweigend. 

Voran  der  Kellner,  auf  dessen  von  Mund  zu  Mund 
getragenes  Wort  Millionen  horchten. 

Neben  ihm  die  Versicherungsagentenwitwe,  die 
vom  Kellner  dem  Hasse  entrissen  und  in  den  tieferen, 
in  den  radikalsten  Protest  gegen  den  Mord:  in  die 
Liebe  gestellt  worden  war. 

Der  von  diesen  beiden  angeführte  Revolutions- 
zug der  Liebe  traf  mit  dem  unabsehbar  langen  Re- 
volutionszug der  Liebe,  den  die  Mutter  und  der  Ge- 


104 


kreuzigte  anführten,  bei  einer  asphaltierten,  breiten 
Querstraße  zusammen. 

Keine  Frage.  Keine  Erklärung.  Kellner  und 
Agentenwitwe  und  die  Mutter  mit  dem  gekreuzigten 
Sohne  blieben  voreinander  stehen,  Auge  in  Auge. 

Die  Seitwärtsgehenden  beider  Züge  bogen  links 
und  rechts  in  die  Querstraße  ein :  ordneten  sich  zu 
einem  riesenhaft  großen,  schwarzen  Menschenkreuz. 

Unvermittelt  kam  die  Erleuchtung  über  abgear- 
beitete, vom  Hunger  geschwächte  Menschen.  Sie 
lösten  sich  los,  standen  plötzlich  auf  Baikonen. 

Und  sprachen  hinunter  zum  schwarzen  Menschen- 
kreuz, in  dessen  Mitte  der  gekreuzigte  Sohn  ragte. 

Das  zu  den  Rednern  emporgerichtete  Gesicht  der 
verbrüderten  Menge  leuchtete  weiß.  Und  die  Worte 
des  neuen  Zeitalters  sanken,  wie  vor  zweitausend 
Jahren,  hinein  in  die  durch  mörderisches  Leid  wieder 
für  die  Liebe  bereit  gewordenen  Menschen. 


105 


IV 
Das  Liebespaar 

Früh  um  fünf  Uhr  läutete  die  Wohnungsglocke 
langgezogen  in  den  Traum  des  Rechtsanwaltes  hinein. 

Der  Schlaftrunkene  tappte  durch  den  dunklen 
Wohnungsflur  zur  verschlossenen  Tür.  ,,Wer  ist  da  ?" 

„Die  Polizei/' 

Sofort  fiel  ihm  ein,  daß  er  am  Tage  vorher  in  einer 
Gesellschaft  gesagt  hatte:  ,,Der  Hotelkellner,  der  die 
revolutionären  Friedensdemonstrationen  verursacht 
und  dabei  den  Leuten  erklärt,  daß  militärische  Er- 
oberungen menschenunwürdig  und  militärische  Siege 
nicht  maßgebend  sind  für  den  inneren  Wert  einer  Na- 
tion, leistet  für  die  Zukunft  des  Volkes  mehr  als  unser 
berühmtester  Heerführer." 

Und  3  etzt  lassen  mich  die  Scharfrichter  der  Mensch- 
lichkeit verhaften,  dachte  der  Rechtsanwalt  und  öff- 
nete.  „Wen  suchen  Sie?" 

„Der  bin  ich  selbst." 

„Sie  möchten  ins  Leichenschauhaus  kommen,  Herr 
Doktor.  Dort  ist  ein  Selbstmörder  eingeliefert  wor- 
den, bei  dem  nur  Ihre  Visitenkarte  gefunden  wurde. 
Sonst  nichts." 


106 


„Sonst  nichts?  ...  Ich  meine,  sonst  liegt  nichts 
vor?" 

„Sie  möchten  feststellen,  wer  der  Selbstmörder 
ist." 

Noch  Morgenstille  in  Berlin.  Dämmerung  in  den 
Asphaltstraßen. 

Eine  leicht  bewegte,  in  Viererreihen  streng  geord- 
nete Menschenmenge  steht  an  der  Markthalle  entlang. 
G-rau,  spukhaft  und  ungeheuer  bedrückt. 

„Auf  was  warten  die  Leute?"  fragte  der  Anwalt 
einen  alten  Arbeiter,  der  zerrissene,  mit  Bindfaden  ge- 
flickte Lackschuhe  anhatte. 

„Es  gibt  städtische  Fische  . . .  Um  ein  Uhr  mittags 
beginnt  der  Verkauf." 

„Und  da  stehen  die  Leute  jetzt  schon  hier  ?  Früh 
um  fünf  Uhr?" 

Wie  die  Worte  klingen  in  der  Stille,  dachte  er. 

„Wir  stehen  schon  seit  gestern  abend  um  zehn  Uhr 
hier  . . .  Die  Rückwärtigen,  die  erst  gegen  Mitternacht 
gekommen  sind,  kriegen  wahrscheinlich  nichts  ... 
Vielleicht  aber  doch;  wahrscheinlich  aber  nicht." 

Der  Anwalt  ging  mit  dem  Schutzmann  weiter. 
,Man  hat  diesem  wunderbaren,  geistig  entsetzlich 
ruinierten  Volk  die  Pflicht,  für  den  Staat  zu  leben  und 
zu  sterben,  eingegeben,  und  an  diesem  Brocken  wür- 
gen die  siebzig  Millionen  —  daheim  und  an  den  Fron- 
ten —  so  lange,  bis  sie  erstickt  sein  werden  im  Dienste 
eines  Staates,  dessen  Geist  —  vorsichtig  gesprochen 
—  schwer  mitschuldig  ist  am  Kriege.   Millionen  sind 


107 


schon  an  dieser  falschen  Pflicht  erstickt.  Wann  wird 
dieses  Volk  ebenso  stoisch  für  die  Freiheit  dulden?' 

„Hier  ist  das  Leichenschauhaus." 

„Danke.  Ich  schreibe  den  Bericht  heute  noch  an 
das  Polizeipräsidium."  ,Wenn  täglich  Tausende  an 
der  Front  sterben,  weshalb  da  nicht  täglich  Hunderte 
in  der  Stadt  für  die  hohe  Idee  ?  Für  die  Freiheit  ? 
Für  die  Verbrüderung?  ...  Wo  ist  der  Idealismus 
dieses  Volkes  geblieben?' 

Der  lag  im  Leichenschauhause,  in  Gestalt  von 
momentan  zwanzig  Selbstmördern,  die,  ohne  zu  re- 
voltieren, protestlos  die  Kulturgemeinschaft  verlas- 
sen hatten. 

Ein  mit  den  letzten  Errungenschaften  der  Hygiene 
ausgestatteter  Raum:  große  Glasscheiben,  große  Ven- 
tilatoren, große  Eisblöcke,  die  langsam  schmolzen  und 
die  Leichen  frisch  erhielten.  Kein  Gestank.  Peinlich- 
ste Ordnung, 

etwas  gestört:  fünf  Selbstmörder,  für  welche  Prit- 
schen nicht  übrig  geblieben  waren,  lagen  auf  dem 
reingewaschenen,  weißen  Steinplattenboden. 

,  Jetzt,  beim  Morgengrauen,  wird  an  den  Fronten 
die  phantastisch  wilde  Mörderei  armer  Menschen  schon 
wieder  begonnen  haben',  dachte  der  Anwalt  und  be- 
trachtete die  zwei  Erhängten,  die,  schief  und  steif, 
in  der  Ecke  hockten,  nebeneinander:  ein  Ehepaar, 
dem  der  Krieg  zum  Stricke  geworden  war.  Aus  den 
weitaufgerissenen  Mündern  heraus  strotzten  die  zwei 
Zungen:  dick,  steif,  lang,  blau. 

,ünd  wieviele  Mütter,  Bräute  und  Väter  Euro- 


108 


pas  liegen  in  dieser  Sekunde  wachend  in  den  Betten, 
mit  starr  offenen,  sehenden  Augen  ?  . . .  Es  gibt  städ- 
tische Fische',  dachte  der  Anwalt.  ,So  beginnt  der 
Tag/ 

Beim  Fenster  lag  ein  Haufen  blutiger  Dreck,  Ge- 
därme, Knochen:  ein  alter  Mann,  der  vom  vierten 
Stocke  aus  hinunter  auf  das  Pflaster  gesprungen  war, 
nachdem  sein  Sohn  den  Heldentod  gefunden  hatte. 

Auf  dem  niedrigen,  breiten  Fenstersims,  in  das 
die  Dampfheizung  eingebaut  war,  lag  langgestreckt 
eine  sehr  elegante,  leichtgeschminkte  alte  Dame,  die 
Gift  genommen  hatte  und  mit  ihren  toten  Augen  einen 
toten  Jüngling  anstarrte,  dessen  Lippen  leises  Er- 
staunen offen  hielten. 

,Und  wie  haben  der  alte  Mann  und  die  alte  Dame 
und  der  Knabe  gelitten,  bevor  sie  den  letzten  Schritt 
taten  ?  Und  wie  die  Millionen  Soldaten,  bevor  sie  ins 
Nichts  stürzten?' 

Die  übrigen  sechzehn  Kriegsselbstmörder  lagen 
langgestreckt  oder  krampfkrumm,  blutig  oder  gift- 
bleich auf  den  abwaschbaren,  weißlackierten  Prit- 
schen, über  denen  die  drei  großen  Horizontalventila- 
toren kreisten.  Auch  in  die  Fenster  waren  sausende 
Ventilatoren  eingebaut,  die  das  Wort  ,Krieg'  Tag  und 
Nacht  in  die  Länge  zogen. 

Der  Leichenwärter  führte  den  Anwalt  zu  dem 
vierzigjährigen  Manne,  der,  von  links  gezählt,  auf  der 
fünften  Pritsche  lag  und  ein  ungeheuer  klagendes, 
zart  hellblaues  Gesicht  hatte. 

Der  Anwalt  erkannte  in  der  Leiche  sofort  den 


109 


Philosophen,  dessen  Einleitungsband  einer  ,  Gegen- 
satzphilosophie' erst  kürzlich  erschienen  war. 

Schrecken  und  Zorn  wechselten  in  schneller  Folge 
in  den  Augen  des  Anwaltes,  beim  Erblicken  dieses 
hellblauen  Gesichtes,  das  erstarrt  war  in  der  Klage 
darüber,  daß  ein  dreist  materialistisches,  ungeistiges 
Zeitalter  nicht  erlaubt  hatte,  das  Lebenswerk  aufzu- 
bauen und  zu  vollenden. 

,, Weshalb  hat  er  sich  denn  umgebracht?  Wes- 
halb denn?" 

„Weiß  nicht.  Aber  gewöhnlich  liegt  die  Einbe- 
rufung zum  Militärdienst  auf  dem  Tische;  oder  die 
Nachricht,  daß  der  Mann  gefallen  ist,  der  Sohn  ... 
Bei  dem  Mädchen  dort  wars  der  Bräutigam."  Er  deu- 
tete auf  das  Mädchen,  das,  von  links  gezählt,  auf  der 
sechsten  Pritsche  neben  dem  Philosophen  lag  und  wie 
er  ein  zart  hellblaues  Gesicht  hatte. 

Beide  hatten  sich  mit  Gas  vergiftet. 

„Weshalb  griff  er  denn  dem  Schicksal  vor?  Er 
hätte  sich  doch  sagen  können :  nicht  alle  fallen  an  der 
Front." 

,,So  habe  ich  bis  vor  zwei  Jahren  auch  gedacht; 
seither  habe  ich  mit  vielen  Angehörigen  gesprochen  . . . 
Es  ist  bei  vielen  nicht  die  Furcht  vor  dem  Tode;  es 
ist  die  Furcht  vor  der  Kaserne.  Es  gibt  Leute,  die  den 
Kasernenhof  ...  und  so  weiter,  nicht  ertragen."  Der 
Leichenwärter  setzte  sich,  stützte  den  Ellenbogen  auf 
eine  Bahre,  auf  der  eine  Wasserleiche  lag :  ein  schlam- 
miges, grünes  Etwas  ohne  Nase  und  Augen.  Der 
Bauch  war  hoch  aufgetrieben.  Wasser  tropfte  immer 


110 


noch  gleichmäßig  von  der  reinen,  weißen  Bahre  hin- 
unter auf  den  reinen,  weißen  Boden.  Die  Leiche  war 
drei  Wochen  lang  geschwommen. 

,Ist  das  Leichenschanhaus  auch  ein  Feld  der  Ehre, 
auf  dem  Menschen  liegen,  die  gestorben  sind  für  des 
Reiches  Größe  und  Weltmachtstellung  V  „. . .  Wer  ist 
dieser  Ertrunkene?" 

„Das  weiß  man  nicht.  Zurzeit  werden  siebzehn 
Leute  in  Berlin  vermißt.  Einer  von  diesen  ist  er  . . . 
Man  kommt  gar  nicht  mehr  zu  sich."  Der  Leichen- 
wärter war  stark  abgemagert,  sah  übermüdet  und 
schwindsüchtig  aus  und  trug  ein  offenes  Hemd  mit 
Schillerkragen. 

„Viel  zu  tun?"  ...., Weshalb  frage  ich  ihn  das?' 

.„Es  geht  ununterbrochen.  Ununterbrochen!  Je- 
den Tag  werden  durchschnittlich  acht  bis  zehn  Selbst- 
mörder eingeliefert  . . .  Vor  dem  Kriege  einer,  höch- 
stens zwei  im  Tage." 

„Jeden  Tag  acht?  Allein  in  Berlin?"  Dabei  wer- 
den längst  nicht  alle  Selbstmörder  ins  Leichenschau- 
haus gebracht,  weiß  ich  aus  Erfahrung,  dachte  der 
Anwalt.  „Elektrisches  Licht  ist  auch  hier  ?"  ,. . .  Wes- 
halb frage  ich  das?' 

Ein  paar  Sekunden  blieb  es  still  im  Schauhause. 
Die  Morgendämmerung  lag  noch  über  den  Leichen, 
schmolz  sie  zusammen  zu  einer  dunklen  Masse. 

„Ja,  auch  elektrisches  Licht ...  Und  rollbare  Prit- 
schen. Elektrische  Weckapparate.Dynamo  Ventilatoren. 
Überhaupt  das  Allerneueste  auf  diesem  Gebiete  ... 
Dieses  Luftsaugröhrensystem  ist  ganz  neu."  Er  stand 

111 


müde  auf,  drehte  am  Schalter;  drei  Bogenlampen 
zischten,  spritzten  grellweißes  Licht: 

die  zwanzig  Leichen  schienen  lebendig  geworden 
zu  sein.  Stille  und  wilde  Gesichter.  Manche  sahen 
aus,  als  wollten  sie  etwas  sagen. 

,,Auch  ein  Sauerstoffapparat  für  die  mit  Gas 
Vergifteten  ist  da.  Und  ein  kleines  Wartezimmer  für 
die  Angehörigen.    Nebenan  wohne  ich." 

„Wohnen  Sie?  ...  Alles  tadellos."  ,...  Was  ge- 
schieht mit  diesem  Volke  ?  Warum  ruiniert  man  die- 
ses Volk?  Dieses  geduldige,  fleißige,  tüchtige,  tem- 
peramentlose, gründliche  Volk,  das  protestlos  alle 
Qualen  des  Daseins  trägt  und  protestlos  stirbt,  an 
der  Front  und  in  der  Stadt.  Dieses  Duldervolk,  dem 
mit  Hilfe  des  denkbar  raffiniertesten  Systems  das 
Denken  und  damit  schon  von  vornherein  jeder  Ein- 
zelprotest unmöglich  gemacht  worden  ist . . .  Wenn  es 
endlich  einmal  protestiert,  wird  sein  Protest  geduldig, 
fleißig,  temperamentlos  und  ungeheuer  gründlich,  un- 
geheuer blutig  sein  . . .  falls  seine  Herren  in  dem  von 
Gott  gesetzten  Augenblick  nicht  freiwillig  gehen.' 

Ohne  gefragt  worden  zu  sein,  sagte  der  Wärter: 
,,Ich  führe  eine  Statistik  der  Todesarten  Berliner 
Selbstmörder.  Momentan  habe  ich  drei  Erhängte, 
fünf  Wasserleichen,  zwei  Giftleichen,  sieben  Gas- 
leichen, drei,  die  sich  aus  dem  Fenster  gestürzt  haben, 
und  nur  einen,  der  sich  erschossen  hat;  einen  Solda- 
ten, der  auf  Urlaub  war.  Dort  liegt  er  . . .  Die  Prit- 
schen reichen  nicht  mehr  aus.  Am  häufigsten  sind 
die  Gasleichen." 


112 


„Weiß  man,  weshalb  der  Soldat  sich  erschossen 
hat?" 

„Wird  seine  Frau  nicht  so  vorgefunden  haben,  wie 
sich  das  gehört.  Oder  er  wollte  nicht  mehr  hinaus. 
Viele  wollen  nicht  mehr  hinaus  ...  Der  Mann  bringt 
sich  wegen  seiner  Frau  um.  Und  die  Frauen  bringen 
sich  um,  weil  die  Männer  gefallen  sind.  So  löscht 
kreuzweise  Eines  das  Andere  aus."  Er  deutete  auf 
das  Mädchen,  das  neben  dem  Philisophen  lag:  „Das 
ist  eine  Ladnerin;  bei  ihr  wars  der  Bräutigam." 

„Das  haben  Sie  mir  schon  gesagt."  ,...  Und  jetzt 
liegt  der  Philosoph  neben  der  Ladnerin.  Der  Knabe 
neben  der  alten  Dame.  Die  Wasserleiche  neben  der 
Giftleiche.  Und  am  häufigsten  sind  die  Gasleichen. 
Und  an  der  Front  liegen  Millionen  Leichen.  Und  in 
Berlin  lebt,  siegt  und  verdient  man  weiter.  Die  Elek- 
trischen fahren.  Und  in  den  Theatern  wird  gespielt. 
Und  darauf  ist  man  stolz.  Denn  das  ist  ein  Zeichen 
von  Kultur.'  „Haben  Sie  von  der  revolutionären 
Friedensdemonstration  gehört?" 

Der  Leichenwärter  gab  keine  Antwort;  er  wischte 
wieder  das  Wasser  auf,  das  von  der  Leiche  herunter- 
getropft war  auf  den  weißen  Steinplattenboden. 

Plötzlich  zerbrach  ein  letzter  Widerstand,  eine 
letzte  Vorsicht  im  Anwalt:  er  entschloß  sich,  sofort 
den  Hotelkellner  aufzusuchen. 

'  Unwillkürlich  drehte  er  beim  Abschiednehmen  das 
Licht  aus.  Die  Leichen  schwammen  wieder  zu  einer 
dunkeln  Masse  zusammen. 

Die  Rechnung  des  Leichen  Wärters  war  einfach: 


113 


,Da  sich  in  Berlin,  das  drei  Millionen  Einwohner  hat, 
in  den  letzten  drei  Jahren  achttausendfünfhundert 
Menschen  wegen  des  Krieges  umgebracht  haben,  wer- 
den sich  in  ganz  Deutschland,  das  siebzig  Millionen 
Einwohner  hat,  wohl  hundertneunzigtausend  Men- 
schen wegen  des  Krieges  das  Leben  genommen  ha- 
ben . . .  Und  wie  viele  sind  aus  Gram  über  den  Heldentod 
ihrer  Angehörigen  allmählich  eingegangen  ?  Und  wie- 
viele sind  wahnsinnig  geworden  ?  Und  wieviele  Pro- 
testler sitzen  im  Zuchthause?  Wieviele  Schwache, 
Widerstandsunfähige  sind  krank  geworden  und  ein- 
gegangen, bei  denen  der  Befund  des  Arztes  nur  hätte 
lauten  können:  eigentlich  sind  sie  verhungert?' 

Der  Wärter  war  ein  vorsichtiger  Mann;  er  stand 
in  seinem  Privatzimmer  vor  dem  Tisch  und  wog  seine 
Tagesbrotration  pedantisch  genau  ab ;  er  wollte  nicht 
verhungern;  er  wollte  den  Krieg  überleben;  er  war 
interessiert,  zu  erfahren,  welches  positive  Resultat 
das  Leid  und  der  Tod  so  vieler  Menschen  mm  eigent- 
lich haben  werde. 

,Das  sind  die  Hinterlandkriegstoten:  bis  jetzt,  vor- 
sichtig gerechnet,  hundertneunzigtausend  Kriegs- 
selbstmörder in  Deutschland.  Macht  mindestens  eine 
Million  Selbstmörder  in  allen  kriegführenden  Nationen 
zusammen.  Kommen  hinzu  die  zehn  Millionen  Hel- 
dentote. Total :  elf  Millionen  Tote  . . .  Kommen  hinzu 
die  zehn  Millionen  lebens-  und  arbeitsunfähig  gewor- 
denen Krüppel.  Und  fünfhundert . . .  nein  achthundert, 
nein  tausend  verpulverte  Milliarden,  für  die  den  Zins 
zu    erschuften  den    arbeitenden  Massen   überlassen 


114 


werden  wird  . . .  Wenn  ich  nun  noch  das  leider  nicht 
zahlenmäßig  errechenbare  Seelenleid  der  Hinterblie- 
benen als  unbekannte  Pauschalgröße  hinzunehme, 
habe  ich  ein  Recht,  auf  das  positive  Resultat,  das 
dieser  ungeheure  Gesamteinsatz  zeitigen  wird,  neu- 
gierig zu  sein.' 

Er  betrachtete,  mit  diesem  Gedanken  beschäftigt, 
das  von  einer  mächtigen  elektrischen  Glocke  über- 
dachte Klappensystem,  das  —  wie  das  Klappen- 
system in  einer  Telephonzentrale  mit  den  Teilnehmern 
—  durch  elektrische  Drahtleitung  mit  den  Toten  ver- 
bunden war.  Gift-  und  Gasleichen  und  solche,  bei 
denen  die  Todesursache  nicht  bekannt  war,  lagen 
drei  Tage  unter  Kontakt  mit  dem  Weckapparat.  Ein 
Erwachungsseufzer,  die  winzigste  Fingerbewegung 
löste  den  Kontakt  aus. 

Eine  Weile  saß  der  Wärter  ganz  reglos  am  Tische; 
er  hörte  nur  das  Rauschen  der  Ventilatoren  in  der 
Leichenhalle,  glitt  immer  tiefer  in  einen  Gefühls- 
trichter hinunter  und  kam  wieder  zu  dem  alles  zu- 
sammenfassenden Schlüsse:  ,Wenn  man  sich  über- 
legt, daß  alle,  daß  auch  die  kompliziertesten,  phan- 
tastischesten Scheußlichkeiten,  die  sich  ein  Menschen- 
gehirn auszudenken  vermag,  in  diesem  Kriege  began- 
gen worden  sind,  daß  man  sich  keine  Grausamkeit, 
keine  Ungerechtigkeit,  keine  Niedertracht  ausdenken 
kann,  die  nicht  begangen  worden  wäre,  und  daß,  außer 
diesem  Vorstellbaren,  zahllose  Schandtaten  geschehen 
sind,  die  man  sich  gar  nicht  ausdenken  kann,  ist  Jeder 
der  im  Angesichte  dieser  Bluttatsache  nicht  als  Pro- 


115 


testler  im  Zuchtkause  sitzt,  nicht  irrsinnig  wird  oder 
sich  das  Leben  nimmt,  ein  robustes,  gemeines,  er- 
bärmliches Individuum.  Ein  anständiger  Mensch,  ein 
Mensch  erträgt  das  Leben  nicht,  in  dem  solches  mög- 
lich ist  und  auch  noch  als  Heldentum  gefeiert  wird  . . . 
Unter  den  hundertneunzigtausend  Kriegsselbstmör- 
dern waren  —  und  in  den  Irrenhäusern  und  Zucht- 
häusern sind  —  die  anständigsten,  edelsten  Menschen 
unseres  Volkes.' 

Da  riß  das  markerschütternde  Läuten  der  Toten- 
glocke den  Wärter  aus  der  Tiefe  des  Gefühlstrichters 
herauf.  Im  selben  Moment  sah  er,  daß  eine  Klappe 
gefallen  war,  sah  die  Zahl  6.  „Einer  aufgewacht!" 
Stürzte  hinüber  in  die  Leichenhalle. 

Und  wurde,  trotz  seiner  naturwissenschaftlichen 
Weltanschauung:  ,tot  ist  tot  und  lebendig  ist  leben- 
dig,' von  einem  gewaltigen  Schrecken  in  den  Tür- 
rahmen festgenagelt: 

denn  zwei  Wiedererwachte,  der  Philosoph  und  die 
Ladnerin,  die  erst  vor  einer  Stunde  kurz  hinterein- 
ander eingeliefert  worden  waren,  saßen  aufrecht  auf 
den  Pritschen. 

Schneller,  als  die  Frage:  ,Sind  die  Gasleichen 
vielleicht  infolge  der  ganz  besonders  frischen  Venti- 
latoren- und  Eisluft  wieder  zu  sich  gekommen?'  in 
seinem  Kopfe  entstand,  sprang  er  zum  Sauerstoff- 
apparat, mit  den  roten  Schläuchen  zu  den  zwei  Wie- 
dererwachten, schob  ihnen  die  Mundstücke  zwischen 
die  Lippen.  „Tief  einatmen!"  Und  rannte  zum  Ap- 
parat zurück,  drehte  die  Kurbel. 


116 


Die  mächtige  Totenglocke  läutete  weiter. 

Ein  Lächeln,  so  winzig  und  fein,  als  habe  er  es  aus 
der  endlosen  Ferne  des  Todes  mit  herüber  ins  Leben 
gebracht,  saß  zwischen  den  halbgeschlossenen  Augen- 
lidern des  Philosophen. 

Die  weißgesichtige  Ladnerin  hatte  das  klare  Ge- 
fühl, daß  sie  wieder  bei  Bewußtsein  war,  noch  nicht 
erlangt. 

„Tief  . . .  gleichmäßig  und  tief  . . .  einatmen  . . .  und 
ausatmen  ...  und  einatmen",  bat  der  kurbelnde 
Wärter. 

Die  summenden  Horizontalventilatoren  beschirm- 
ten das  Atemtempo.  Die  achtzehn  nicht  wieder- 
wachten Leichen  umgaben  —  wie  an  den  Fronten  die 
Heldentoten  ihre  noch  mordenden  Kameraden  — 
bleich  und  blau,  steif  und  krumm,  blutig,  totenstill 
und  ungeheuer  interesselos  die  zwei  Atmenden. 

Der  Philosoph  war  schon  bei  dem  Gedanken  an- 
gelangt: ,Ich  hatte  die  Einberufung  bekommen,  hatte 
mich  konsequenterweise  umgebracht,  war  ...  tot  im 
Leichenschauhause  gelegen.  Das  ist  ein  Vorteil.  Jetzt 
werden  sie  mich  wohl  in  Ruhe  lassen.  Werden  doch 
wenigstens  einen,  der  von  den  Toten  auferstanden 
ist,  in  Frieden  lassen.  Werden  doch  nicht  zum  zweiten 
Male  versuchen,  einen  konsequenten  Geist  in  den 
Kasernenhof  zu  stellen,  um  ihn  für  den  Menschen- 
mord brauchbar  zu  drillen.  Man  hat  doch  auch 
Christus,  nachdem  er  gestorben  und  wieder  auf- 
erstanden war,  nicht  noch  einmal  gekreuzigt.*  Das 
ferne,  kleine  Lächeln  der  Befriedigung  steckte  noch 


117 


immer  zwisclien  seinen  halbgescUossenen  Augen- 
lidern. 

Während  er  folgsam  atmete,  saß  er  in  Gedanken 
schon  wieder  am  Schreibtisch  bei  seinem  unvoll- 
endeten Lebenswerke,  dessen  Geist  und  Idee  dem 
Kasernenhof geist  entgegengesetzt  waren. 

„Einatmen!  Ausatmen!  Tief  atmen!"  Der  Wär- 
ter schaltete  den  Strom  für  den  elektrischen  Betrieb 
des  Sauerstoffapparates  ein, 

sprang  hinüber  in  sein  Privatzimmer,  um  einen 
leichten  Tee  für  die  Wiedererwachten  zu  kochen. 

Die  Totenglocke  trommelte  immer  noch:  rufend, 
alarmierend,  ohrenbetäubend. 

Elementarster  Lebenswille  stand  auf  in  der  ent- 
setzten Ladnerin,  als  sie  die  dunkelvioletten  Zungen 
der  Erhängten,  die  aufgetriebene  Wasserleiche,  den 
Haufen  blutigen  Drecks,  Gedärme  und  Knochen  er- 
blickte. 

Vom  Grauen  wurde  ihr  Oberkörper  auf  die  Prit- 
sche zurückgedrückt;  sie  wandte  hilfesuchend  die 
Augen  weg  vom  Tode,  nach  links,  wo  das  Leben  auf- 
recht auf  der  Pritsche  saß,  streckte  ihre  flehende  Hand 
aus. 

Und  plötzlich  lagen  die  vom  Tode  umgebenen  zwei 
Lebenden  Hand  in  Hand  und  senkten  Jeder  den  Blick 
auf  den  Seelengrund  des  Andern:  der  Philosoph  aus 
Freundlichkeit  und  deshalb,  weil  ihm  zur  Schärfung 
seiner  Erkenntnisfähigkeit  die  Menschheitsschande 
nicht  erst  plakatiert  zu  werden  brauchte,  die  Ladnerin, 


118 


um  auf  dem  G-rauen  nicht  in  den  Wahnsinn  hinein- 
zugleiten. 

Der  Wieder  erwachte  legte  den  Schlauch  weg;  als 
Philosoph  ohne  Verdienst  und  Privatvermögen  hatte 
er  sich  daran  gewöhnen  müssen,  körperliche  Schläge 
schnell  zu  überwinden.  Er  beobachtete  aufmerksam 
seine  wieder  folgsam  ein-  und  ausatmende  Leidens- 
genossin: eines  der  geduldigen,  ältlichen  Mädchen, 
die,  damit  ihre  glücklicheren  Schwestern  gepflegt, 
sorgenlos  und  mit  äußerlichem  Glänze  umgeben  im 
Leben  stehen  können,  sich  für  einen  Monatsgehalt  von 
hundertzwanzig  Mark  in  die  Tretmaschine  der  ewig 
gleichen  Täglichkeiten  einspannen  lassen  müssen  und 
sich  ihre  Brautausstattung  —  einmal  drei  Hemden, 
im  nächsten  Jahre  die  Bettstellen,  dann  die  Matratzen, 
hin  und  wieder  ein  Stück  von  der  Kücheneinrichtung 
—  allmählich  anschaffen  und  endlich,  wenn  die  Haut 
grau,  das  Blut  schon  still  geworden  ist  und  die  Sehn- 
sucht nach  dem  Wunder  schon  im  Sterben  liegt,  dem 
Bräutigam  in  eine  nur  etwas  anders  geartete  Tret- 
maschine folgen. 

Dieses  kleine,  armselige  Lebensziel  hatte  der  Krieg 
gefressen:  der  Bräutigam  war  zerstampft  worden. 

,Auf  dem  Felde  der  Ehre.  Für  Deutschlands  Welt- 
machtstellung. Für  Kaiser  und  Reich  und  Erzgruben 
und  Eisenbahnkonzessionen*,  dachte  der  Leichen- 
wärter. 

Und  der  Philosoph  dachte:  ,Zwei  sehen  einander, 
werden  miteinander  bekannt.  Und  heiraten,  ohne 
einander  zu  kennen.    Dreißig  Jahre  später  kennen 


119 


sie  einander  auch  noch  nicht.  Und  wenn  der  eine 
stirbt,  weiß  der  andere  immer  noch  nicht,  mit  wem  er 
eigentlich  verheiratet  gewesen  war.  Denn  jeder  gibt 
sich  sein  Leben  lang  die  größte  Mühe,  nur  ja  nicht  zu 
erfahren,  wie  und  wer  er  selbst  ist.  Wie  könnte  er  da 
die  Fähigkeit  besitzen,  zu  erkennen,  wer  ein  Anderer 
ist?  ...  Wenn  aber  zwei  tot  im  Leichenschauhause 
zusammentreffen,  miteinander  wieder  aufwachen,  so- 
zusagen als  Geschwister  von  der  ,Allmutter  Nichts* 
neu  geboren  werden  — ' 

Der  Philosoph  betrachtete  die  Dampfheizung,  die 
Warmwassereinrichtung  mit  den  vernickelten  Hähnen 
und  der  großen,  weißglasierten  Schüssel  darunter. 
jDiesen  Komfort  werden  wir  allerdings  nicht  haben 
in  unserer  Wohnung.' 

Der  Wärter  kam  mit  dem  Tee  zurück.  „Sie  atmen 
nicht?" 

„Sagen  Sie  mir",  fragte  der  Philosoph  dagegen, 
„für  was  ist  denn  eigentlich  die  Dampfheizung  nötig 
in  diesem  Hause,  wo  doch  für  einen  glatten  Betrieb  die 
erste  Grundbedingung  ist,  daß  alles  . . .  frisch  bleibt  ?" 

„Ganz  leichter  Tee.  Und  ohne  Zucker  muß  er  ge- 
trunken werden  . . .  W^enn  ich  in  einem  kalten  Winter 
die  Temperatur  von  wenigstens  ein  Grad  über  Null 
nicht  beibehalten  könnte,  müßte  ich  ja  die  Wasser- 
leichen von  den  Pritschen  loseisen." 

„Also  alles  bedacht!  Hier  wenigstens  ist  für  alles 
gesorgt,  wie?" 

„Ja,  hier  fehlt  nichts  . . .  Die  Organisation  für  die 
Toten  ist  bei  uns  einwandfrei.  Und  die  Organisation 


120 


für  das  Massensterben  ist,  wie  wir  jetzt  zugeben  müs- 
sen, bei  uns  ebenfalls  einwandfrei." 

„Sie  sind  also  auch  gegen  den  Krieg?"  Der  Phi- 
losoph betrachtete  die  achtzehn  Selbstmörder,  die 
blauzüngig,  starrgesichtig  und  stumm  gegen  den 
Krieg  protestierten.  „...  Dieses  Leichenschauhaus  ist 
ja  geradezu  ein  pazifistischer  Schlupfwinkel."  Er  stieg 
von  der  Pritsche  herunter. 

Die  Ladnerin  hatte  das  Mundstück  noch  zwischen 
den  Lippen,  sah  aus  wie  ein  Kind,  das  in  ein  Spielzeug 
bläst. 

,Am  allermeisten,  mehr  als  die  graue  Not  ihres 
Lebens  und  mehr  als  ihr  Selbstmordversuch,  rührt 
mich  an  ihr  die  Spitzen-Halskrause:  dieses  schüch- 
terne, mißglückte  Bestreben,  schön  zu  erscheinen', 
dachte  der  Philosoph. 


Die  Truppen  näherten  sich  im  Laufschritt.  Der 
vorauswippende  Leutnant,  mit  geschultertem  Degen, 
schien  nur  aus  einer  Brust  zu  bestehen. 

„Ob  sie  schießen  werden?"  Der  Kechtsanwalt 
riß  den  Philosophen  in  ein  Haus.  „Hat  noch  einen 
Ausgang.  Durch  die  andere  Tür  kommen  wir  auf  den 
Platz  und  näher  an  das  Denkmal  heran." 

Eine  gewaltige  Menschenmenge.  Auf  dem  Sockel 
des  Denkmals  stand  der  Kellner. 

Die  beiden  verstanden  keines  seiner  Worte.  Hör- 
ten nur  das  fanatische  Bravogebrüll  von  der  anderen 
Seite  herüberklingen. 


121 


Hoch  auf  dem  Mäste,  knapp  unter  dem  weiß- 
violett leuchtenden  Bogenlampen-Dreistern,  hing  der 
Zwanzigjährige.    Mit  wilder  Körpergebärde. 

„Den  werden  sie  herunterknallen." 

In  der  Allee  stand  eine  lange  Reihe  Fuhrwerke, 
die  den  Platz  nicht  überqueren  konnten. 

Plötzlich  hing  an  Stelle  des  Zwanzigjährigen  hoch 
am  Lampenmaste  ein  flatternder,  roter  Fetzen. 

Das  tausendfache  Jauchzen  wurde  von  den  im 
Laufschritt  ankommenden  Truppen  auseinander- 
geschnitten. Die  Menge  —  junge  Burschen  und 
hauptsächlich  Frauen  mit  aufgelösten  Gesichtern  — 
wich  durch  das  dreiteilige  Tor  mid  in  die  Parkanlage 
zurück. 

Eine  knabenhaft  hohe  Kommandostimme.  Klat- 
schen auf  Gewehrkolben.  Drohendes  Gelächter.  Flie- 
hende, dunkle  Rücken. 

Eine  Frau  mit  loderndem  Antlitz  trat  vor: 
„Schießt!  Schießt!''    Sie  wurde  verhaftet. 

Der  Kellner  stand  dicht  beim  Leutnant  und  sah 
ihm  in  die  Augen. 

Als  der  Philosophiedoktor  und  der  Rechtsanwalt 
den  Platz  schon  verlassen  hatten  und  sich  umwandten, 
sahen  sie,  wie  ein  Soldat  am  Lampenmaste  empor- 
kletterte und  die  Hand  nach  dem  roten  Fetzen  aus- 
streckte. 

„Es  ist  doch  nicht  unmöglich,  daß  die  revolutio- 
näre Geistigkeit  das  letzte,  entscheidende  Wort  haben 
wird",  sagte  der  Anwalt. 


122 


Sie  gingen  eilig  durch,  eine  menschenleere  Ge- 
schäftsstraße; nur  in  der  Ferne  rannte  ein  dunkler 
Frauentrupp  davon. 

„Leider  ist  die  revolutionäre  Geistigkeit,  bis  auf 
zwei  oder  fünf  halbverhungerte  Vertreter,  die  gleich 
Irrsinnigen  in  einem  Blut-  und  Lügenmeere  ohne 
Balken  machtlos  herumschwimmen,  schon  in  den 
Massengräbern  oder  in  den  Zuchthäusern.  Das  muß 
zu  ihrer  Ehrenrettung  den  kommenden  Generationen 
gesagt  werden  ...   Hier!    Sehen  Sie,  hier!" 

Das  Schaufenster  war  eingeschlagen;  der  Lebens- 
mittelladen leergeplündert.  Frauen  hatten  die  Ge- 
legenheit, daß  Polizei  und  Truppen  auf  dem  Platze 
beschäftigt  waren,  schnell  benutzt. 

„Das  ist  nackter  Hunger.  Kein  revolutionärer 
Geist",  sagte  der  Philosoph.  Und  hob  einen  geräu- 
cherten Fisch  von  der  Straße  auf.  „...  Wegen  des 
Fisches  und  auch  aus  Kameradschaftlichkeit." 

Er  schob  ihn  unter  seinen  schwarzen  Havelock. 
„Dieses  rapid  ins  Geld  verdienen  hineingeratene  Volk 
hat,  aus  einem  öden  Materialismus  heraus,  vor  dem 
Kriege  ,Hoch'  geschrien,  bei  Kriegsausbruch  nichts 
als  ,Hoch'  geschrien.  Und  jetzt  schreit  es  nur  deshalb 
nicht  mehr  ,Hoch',  weil  der  Magen  schreit." 

,,Wenn  aber  in  jenem  entscheidenden  Moment  die 
Führer  nicht  abgeschwenkt  wären,  in  das  Lager,  das 
sie  bis  dahin  bekämpft  hatten  ?  Dann  würden  wenig- 
stens die  . . .  organisierten  Massen  schon  lange  in  den 
Protest  hineinmarschiert  sein,  ebenso  geschlossen, 
wie  sie  in  den  Krieg  marschiert  sind." 


123 


„Und  ebenso  ahnungslos,  wie  sie  in  den  Krieg 
marschiert  sind  . . .  Daran  können  Sie  das  menschen- 
unwürdige und  überaus  gefährliche  System  einer 
Organisation  erkennen,  die  ihre  Mitglieder  nur  für 
den  Klassenkampf  um  materielle  Vorteile  drillt,  sie 
in  allen  Städten  jährlich  in  dreihundertfünf undsechzig 
Parteiversammlungen  nur  zum  Durchbringen  von  Ee- 
solutionen  im  politischen  Parteiinteresse  benutzt,  an- 
statt sie  ...  geistig  zu  befreien,  sie  zu  denkenden 
Menschen  eigener  Entschlußfähigkeit  für  das  Gute  zu 
machen  . . .  Da  braucht  sich  im  entscheidenden  Mo- 
ment nur  der  Hauptführer  als  Dummkopf  zu  erweisen, 
braucht  nur  der  Hauptführer  zum  Verräterchen  zu 
werden,  und  die  . . .  organisierten,  denkunfähigen  Mas- 
sen schwenken  mit  ab,  folgen  ihm  in  den  Krieg,  ebenso 
geschlossen,  wie  sie  ihm  in  den  Protest  gefolgt  wären 
. . .  Die  Geistigkeit  ist  verurteilt,  untätig  am  Bande 
dieses  Krieges  zu  verharren.  Denn  zwischen  ihr  und 
dem  Volke  besteht  nicht  der  geringste  bewußte  Kon- 
takt. Und  selbst  der  Tod  der  Millionen  konnte  bei  den 
Hinterbliebenen  nicht  den  geringsten  geistesverwand- 
ten Gefühlsprotest  auslösen.  Nur  der  Magen  pro- 
testiert. Das  ist  Materialismus.  Christus  und  Kant, 
Schiller  und  Goethe  sind  vor  dem  Kriege  für  eine  Le- 
berwurst, für  drei  Mark  Wochenlohn  mehr,  für  eine 
Wohnung  mit  Dampfheizung,  für  das  Aufrücken  in 
die  ungeistige  bürgerliche  Lebenshaltung,  oder  für 
das  Verharren  in  ihr  hingegeben  worden.  Materialis- 
mus: angefangen  beim  entseelten,  maschinierten  Fa- 
brikarbeiter, über  den  vor  Bequemlichkeit  stinkenden 


124 


Kanapeebürger  und  über  den  Kapitalisten,  den  mo- 
dernen Philosoplien  und  Dichter  weg,  bis  hinunter 
zum  ersten  Diener  des  Staates.  Hier  haben  Sie  die 
Ursache  des  Krieges  . . .  Dieser  gewaltige  Block  von 
Egoismus,  Gemeinheit  und  granitener  Dummheit  kann 
schwerlich  von  heute  auf  morgen  gesprengt  werden." 

„Und  deshalb,  meinen  Sie,  bleibt  Ihnen  nichts 
anderes  übrig,  als  den  Gashahn  zu  öffnen,  wenn  die 
Einberufung  kommt?" 

„Es  gäbe  noch  etwas  anderes:  ich  könnte  (,weg 
von  meinem  Werke,  weg  von  meinem  Werke')  den 
Sprung  in  die  blutnasse  Gegenwart,  den  Sprung  ins 
blutnasse  Volk  machen  und,  gleich  den  vielen  dunk- 
len Volksexistenzen,  die  vom  Gifte  der  Organisation 
verschont  geblieben  sind  und  deshalb  protestierend 
auf  die  Straße  steigen  konnten,  zusammen  mit  den 
vor  Machtlosigkeit  schon  irrsinnig  gewordenen,  we- 
nigen jungen  Dichtern,  die  noch  leben,  unter  be- 
ständiger Todesgefahr  versuchen,  das  wegzureden, 
was  seit  Jahrzehnten  in  das  Volk  hineingeredet  wor- 
den ist  ...  Der  dritte  Weg,  den  der  Stellungsbefehl 
dem  Untertanen  aufreißt,  existiert  für  mich  nicht. 
Da  das  tiefste  Wort  von  Jesus  Christus:  ,  Jede  Sünde 
kann  euch  vergeben  werden,  nur  die  Sünde  wider 
den  Geist  nicht',  sich  mit  meiner  Weltanschauung 
scharf  deckt,  kann  ich  nicht  in  den  Kasernenhof  gehen, 
oder  ins  Kriegspresseamt,  oder  in  irgend  ein  Er- 
nährungsamt . . .  Ich  bin  mit  einer  Ladnerin  und  mit 
meiner  Philosophie  verheiratet.  Und  kann  zur  Not 
in  ein  Christushoch,  in  ein  Sokrateshoch,  in  ein  Kant- 


125 


hoch  einstimmen.  In  ein  Hindenburghoch  oder  in 
ein  Kaiserhoch  kann  ich  nicht  einstimmen;  denn  ich 
bin  kein  Sozialdemokrat/' 

Das  Sprechen  hatte  ihn  angestrengt  und  erregt; 
ein  Abglanz  geistiger  Heiterkeit  war  nie  ganz  aus 
seinem  Gesichte  verschwunden. 

Und  entstand  wieder,  als  er,  heftig  atmend  im 
vierten  Stocke  angelangt,  seine  Frau  begrüßte. 

Die  scheintot  gewesene  Ladnerin  hatte  sich  wenig 
verändert;  die  Spitzenkrause  schmückte  noch  ihren 
kindlich-dünnen  Hals.  Und  in  ihren  Augen  stand  der 
innere  Blick,  den  Menschen  haben,  die  halb  dem  Tode 
gehören. 

Behutsam  führte  er  seine  schon  schwangere  Frau 
in  den  niedrigen,  schiefdeckigen  Eaum,  der  Wohn-, 
Schlaf-,  Arbeitszimmer  und  Küche  in  einem  war. 

Und  sah  plötzlich,  daß  auf  dem  weißgescheuerten 
Küchentisch,  den  er  auch  als  Schreibtisch  benutzte, 
wieder  ein  Stellungsbefehl  lag. 

Der  ungeheure  Schrecken,  gepaart  mit  augen- 
blicklichem Erkennen  seiner  Situation,  riß  ihn  sofort 
auf  die  reine  Fläche,  wo  alle  Dinge  und  Gedanken 
im  schärfsten  Lichte  stehen,  so  daß  keinerlei  Ausflucht 
Vorspiegelung,  Selbstbelügung  mehr  möglich  ist. 

-Da  fühlte  er  wieder  das  furchtbare  innere  Weinen, 
das  nicht  bis  in  sein  geistesstarr  werdendes  Gesicht 
vordrang.  Es  glich  dem  kalten  Antlitz  Gottes,  als  er 
dachte : 

,Es  gibt  zwei  Pole:  das  korrumpierte,  krumm- 
genagelte Weltgeschehen  und  das  höchste,  herrlichste 


126 


Ziel  für  den  Menschen:  das  ,Reine  Ich'  und  eine 
menschliche  Gemeinschaft,  für  die  er  als  Reines  Ich 
handeln,  leben  und  auch  sein  Leben  hingeben  kann. 
Diesem  Ziele  kann  der  Mensch  nur  so  lange  zustreben, 
solange  er  mit  der  Korruption,  der  Lüge,  dem  Zwange, 
dem  Ungeiste  unablässig  kämpft.    In  dem  Moment, 
da  er  eine  Handlung  begeht,  die  zu  diesem  Streben 
im  Widerspruche  steht,  ist  die  Linie  gebrochen.   Der 
Mensch,  der  für  eine,  für  seine  Idee  kämpft  und  stirbt, 
ist  groß,  denn  er  kämpft  und  stirbt  auf  dem  Wege 
zu  sich,  stirbt  im  Kampfe  um  sein  Reines  Ich.  Der 
Mensch,  der  sich  zwingen  läßt,  zu  handehi,  zu  käm- 
pfen, zu  sterben  für  eine  Idee,  die  zu  dem  Streben 
nach   seinem   Ich   im  Widerspruche   steht,    ist   der 
Ärmste  der  Armen;  denn  er  verliert  das  Kostbarste, 
das  einzige,  das  der  Mensch  in  Wahrheit  besitzen 
kann:  verliert  sein  Ich,  verliert  sich,  ist  nicht  mehr, 
wird  von  den  andern,  die  selbst  nicht  sind,  besessen.' 
In  Gedanken  las  er  das  Wort  , Stellungsbefehl'. 
,. . .  Wenn  ich  dieser  Aufforderung,  mich  zu  stellen  — 
wem  stellen  ?  ich  habe  mich  nur  mir  selbst,  nur  der 
reinen  Idee  zu  stellen,  und  einer  menschlichen  Ge- 
meinschaft nur  dann,  wenn  sie  das  Streben  der  Men- 
schen nach  ihrem  Ich  als  berechtigt  anerkennt  und 
fördert  —  wenn  ich  dieser  Aufforderung  folge,  werde 
ich,  zusammen  mit  einer  Reihe  von  Menschen,  ver- 
mutlich zuerst  im  Kasernenhof  aufgestellt,  in  dem  der 
Grundsatz  herrscht:  ,Du  hast  keine  eigene  Meinung 
zu  haben'.   Und  der  Grundsatz:  ,Macht  und  Gewalt 
stehen  über  Geist  und  Recht'.   Ein  Unteroffizier,  ein 

127 


Vorgesetzter  —  nur  das  Reine  Ich  ist  mein  Vorgesetz- 
ter —  ein  Unteroffizier,  ein  Mensch,  der  sich,  der  sein 
Selbst  aufgegeben  hat,  also  nicht  mehr  ist,  ein  Etwas 
wird  im  Auftrage  derer,  die  ihn  besitzen,  sagen:  ,Das 
dürft  ihr  nicht  tun;  und  das  müßt  ihr  tun.*  Ich  werde 
also  gezwungen,  irgend  etwas  zu  tun,  oder  nicht  zu  tun. 
Gezwungen!  Das  heißt:  ich  werde  schlecht  behandelt, 
eingesperrt,  oder  erschossen,  wenn  ich  mich  diesem 
Zwange  nicht  füge.  Mit  andern  Worten:  ich  werde  er- 
schossen, wenn  ich  weiter  gehe  auf  dem  Wege,  der  zur 
Wahrheit,  zum  Geiste,  zu  Gott,  zum  Reinen  Ich  führt. 
. . .  Ich  werde  erschossen,  wenn  ich  mich  bemühe,  so  zu 
sein,  wie  ich  bin!' 

Der  Philosoph  rief  seine  Frau,  die  im  Hinter- 
grunde des  Zimmers  reglos  am  kalten  Gasherd  saß, 
vom  Dunkel  schon  halb  verschlungen. 

„Weißt  du,  was  Militarismus  ist?'' 

Sie  wollte  antworten :  , Wenn  uns  das  Einzige,  das 
Liebste,  das  wir  haben,  genommen,  erschlagen  wird.' 
Und  sagte:  ,,Du  meinst  die  Schiffe,  die  Kanonen  ... 
die  Rüstungen."    Sie  konnte  nicht  weinen. 

„Nein,  diese  Sachen  aus  Stahl  und  Eisen,  die  dem 
Volke  so  viel  Geld  und  Arbeitsschweiß  kosten,  sind 
ungefährlich,  verglichen  mit  dem,  was  Militarismus 
ist.  Gefährlich  und  tötlich  ist  der  geistige  Zwang,  der 
negative  Geist,  der  konservierende  Kollektiv-  und 
Staatsgeist,  der  sich  gegen  den  Geist  richtet  . . .  Ich 
werde  dir  an  einem  Vorfall  erklären,  was  Militarismus 
ist." 

,Er  will  mir  nur  deshalb  erklären,  was  Militaris- 


128 


mus  ist,  um  mir  begreiflich  zu  machen,  daß  ihm  nichts 
anderes  übrig  bleibe,  als  sich  umzubringen',  fühlte  die 
Frau  und  sah  schon  jetzt  ihre  armen  Einwände  zer- 
flattern. 

,,Was  ich  dir  jetzt  erzähle,  denke  ich  mir  nicht 
zurecht.   Alle  Zeitungen  haben  das  berichtet: 

Ein  deutscher  Soldat,  der  ein  Stück  der  Grenze 
zwischen  Deutschland  und  der  Schweiz  zu  bewachen 
hatte,  sah,  wie  ein  Mensch  über  die  Grenze  sprang.  Die 
Pflicht  dieses  Soldaten  war,  hörst  du,  seine  Pflicht  war, 
gut  zu  zielen  und  sofort  auf  diesen  Menschen  zu 
schießen,  diesem  Menschen  dadurch,  daß  er  ihn  ver- 
wundete oder  erschoß,  das  Passieren  der  Grenze  un- 
möglich zu  machen.  Das  war  seine  . . .  Pflicht.  Aber 
sein  Wesen,  sein  eigenes  Ich  stand  dunkel  auf  gegen 
diese  ...  Pflicht.  Er  wollte  nicht  schießen  und  ... 
schoß.  Sah,  wie  der  Getroffene  fiel,  sich  bäumte  und 
verröchelte.  Und  wurde  . . .  wahnsinnig.  Der  Wider- 
stand gegen  das  Morden  muß  also  sehr  stark  gewesen 
sein;  aber  die  Disziplin  war  noch  etwas  stärker  ... 
Hier  hast  du  auf  der  einen  Seite,  repräsentiert  durch 
diesen  Soldaten,  die  guten  Eigenschaften  des  Volkes, 
und  auf  der  andern  Seite,  gleichfalls  repräsentiert 
durch  diesen  Soldaten,  den  Militarismus." 

Die  Frau  bewegte  die  trocken  gewordenen  Lippen. 

„Du  meinst",  sagte  der  Philosoph,  „der  Soldat 
hätte  ja  nur  so  zu  tun  brauchen,  als  ziele  er,  hätte  in 
die  Luft  schießen  können.  Das  wäre  dann  sozusagen 
nur  eine  kleine  Notlüge  gewesen.  Aber  selbst  dies 
lassen  die  Disziplin  und  das  falsche  Pflichtbewußtsein, 


129 


die  seit  Generationen  mit  allen  erdenklichen  Mitteln 
in  das  Volk  hineingepaukt  worden  sind,  nicht  zu  ... 
Außerdem  trieb  den  Soldaten  auch  noch  der  Wunsch, 
von  seinen  Kameraden  nicht  für  empfindlich  und 
schwächlich  gehalten  zu  werden.  Dieses  falsche  Ehr- 
gefühl, das  sich  allmählich  beim  ganzen  Volke  heraus- 
gebildet hat,  ist  das  Allergefährlichste.  Einem  Men- 
schen ohne  Besinnen  einen  gutgezielten  tötlichen 
Treffer  in  den  Kopf  hineinzujagen,  ist  eine  Ehre;  ihn 
nicht  zu  treffen,  ist  ein  wenig  ehrenrührig  . . .  Dieser 
arme,  bedauernswerte  Mörder  will  nicht  schießen' 
zielt  schnell  und  genau,  schießt,  trifft  gut  und  wird 
wahnsinnig.    Das  ist  Militarismus." 

,,Du  mußt  hingehen.  Vielleicht  kommst  du  nur 
in  ein  Bureau."  Das  hatten  nur  ihre  Lippen  ge- 
sprochen. 

„Nein!  ...  Höre,  ein  vielleicht  noch  klareres  Bei- 
spiel dafür,  was  Militarismus  ist:  ein  Soldat  bekommt 
den  Befehl,  einen  siebzigjährigen  Bauern  zu  erschießen. 
Das  war  in  Serbien.  Der  Soldat  weiß  nicht  einmal, 
weshalb  der  Alte  erschossen  werden  soll.  Der  Soldat 
bekam  nur  den  Befehl,  in  dem  stand,  daß  er  den  Alten 
in  das  zwei  Stunden  entfernt  liegende  Dorf  zu  führen 
und  dort  zu  erschießen  habe  . . .  Sein  ganzes  Wesen, 
das  heißt,  sein  eigenes  Wesen  empört  sich  dagegen, 
diesen  vollkommen  wehrlosen  alten  Mann  zu  er- 
schießen, dessen  Verbrechen  er  nicht  einmal  kennt 
und  der  auf  dem  Wege  zwei  Stunden  lang  seine  Un- 
schuld beteuert  in  einer  Sprache,  die  der  Soldat  nicht 
versteht,  und  mit  Tränen  und  Gebärden,  die  der  Sol- 


130 


dat  ungeheuer  versteht.    Zwei  Stunden  lang  kämpft 
der  Soldat,  während  er  neben  dem  Opfer  über  Feld 
geht,   mit  seinem   Gewissen,    hinter  dem   starr   die 
Pflicht  und  die  Disziplin  stehen.    Dieser  Soldat  hat 
für  sich  persönlich  folgende  Lösung  gefunden :  er  schoß 
zuerst  den  Alten  nieder,  und  dann  erschoß  er  sich  selbst. 
. . .  Jetzt  meinst  du  vermutlich  wieder :  wenn  sein  Ge- 
wissen, der  dunkle,  wilde  Drang  nach  Wahrheit,  nach 
seinem  eigenen  Ich,  nicht  zuließ,  den  Alten  zu  er- 
schießen, ohne  auch  sich  selbst  zu  erschießen,  hätte 
er  doch  wenigstens  nur  sich  selbst  erschießen  und  den 
Alten  laufen  lassen  sollen  . . .   Aber  das  wäre  ja  gegen 
die  Disziplin,  wäre  ja  eine  Pflichtverletzung  und  wäre 
ehrenrührig   gewesen.     Das   ist    eben    Militarismus. 
Nicht  die  Kanonen,  sondern  der  negative  Geist  des 
Zwanges  ist  der  Militarismus,  den  der  Grenzsoldat 
und  dieser  Soldat  als  gegen  den  Geist,  gegen  das  Ge- 
wissen, gegen  ihr  eigenes  Ich  gerichtet  empfunden 
haben,  und  den  gleich  ihnen  noch  viele  empfinden. 
Diese  erleiden  ein  tragisches  Schicksal;  denn  sie  er- 
kennen dunkel  das  vor  Gott  und  den  Menschen  sünd- 
hafte dieses  Geistes,  leiden  unter  diesem  Geiste.  Und 
können  sich  nicht  vor  ihm  retten.    Millionen  andere 
—  nicht  nur  die  Soldaten,  sondern  das  Volk  in  seiner 
großen  Mehrzahl  —  haben,  zwar  nicht  vor  Gott,  aber 
vor  ihrem,  allerdings  nur  scheinbar  vorhandenen,  ei- 
genen Selbst  —  das  Recht,  im  Dienste  dieses  Geistes 
zu  kämpfen,  Menschen  zu  ermorden  und  selbst  zu 
sterben;  denn  sie  morden  in  dem  guten   Glauben, 
nicht  zu  morden,  sondern  für  ein  Ideal  zu  kämpfen, 


131 


für  ein  Vaterland,  für  den  Staat,  für  eine  Gemein- 
schaft, die  wert  ist,  beschirmt  und  erhalten  zu  werden. 
Man  hat  sie  von  ihrer  frühesten  Kindheit  an  mit  diesem 
Geiste  getränkt  und  gefüttert,  ihr  eigenes  Wesen,  ihr 
Ich  in  diesem  Geiste  total  ertränkt.  Sie  sind  für  ihre 
Handlungen  nicht  verantwortlich  zu  machen.  Denn 
sie  konnten  zu  eigenem  Denken,  zu  der  Fähigkeit, 
sich  moralisch  zu  entscheiden,  konnten  zu  sich  selbst, 
zu  ihrem  Ich  nie  kommen;  sie  sind  nicht,  sind  nicht 
vorhanden,  sind  keine  Menschen,  sondern  denkun- 
fähige, seelenlose,  unverantwortliche  Automaten,  die 
funktionieren  ...  Verstehst  du  jetzt,  daß  es  sehr 
schwer  sein  wird,  den  Militarismus  umzubringen?" 

Er  bekam  keine  Antwort;  die  Frau  war  ganz 
plötzlich,  von  einer  Sekunde  zur  andern,  eingeschlafen. 

Unter  dem  Philosophen  versank  die  Welt.  Sein 
Wesen  wurde  grau  vor  Einsamkeit. 

Erst  Minuten  später  betrachtete  er  wieder  das 
Gesicht  der  Schlafenden,  das  den  Ausdruck  furcht- 
barster Trauer  und  Klage  trug. 

Sie  sieht  aus  wie  ein  ungeborenes  Wesen,  das  klagt, 
weil  es  nicht  geboren  werden  kann,  dachte  der  Philo- 
soph. Und  wußte  plötzlich:  ,Sie  ist  eingeschlafen, 
weil  sie  erkannt  hat,  daß  sie  selbst  eines  dieser  Wesen 
ist,  die  zu  eigenem  Denken,  zu  eigenem  Leben,  zu  sich 
selbst  nicht  kommen  durften.' 

Wilde  Liebe  und  schmerzdurchtobtes  Erbarmen 
drückte  des  Philosophen  Kopf  auf  die  Tischplatte. 
Vor  seinem  inneren  Gesicht  stand  klar  der  Gedanke : 
,Für  eine  Gesellschaft  zu  handeln,  deren  Geist  die 


132 


Mitglieder  zwingt,  nicht  zu  denken,  kein  eigenes  Leben, 
kein  eigenes  Ich,  kein  warnendes  Gewissen  zu  haben, 
sondern  seelenlose,  unverantwortliche  Automaten  zu 
sein,  die,  wenn  sie  nicht  jede  befohlene  Schandtat  wil- 
lenlos ausführen,  eingesperrt  oder  erschossen  werden, 
für  eine  solche  Gesellschaft  zu  handehi,  ist  ein  Ver- 
brechen wider  den  Geist,  das  nicht  vergeben  werden 
kann.  Es  bleibt  die  sittliche  Pflicht  gegen  Gott,  gegen 
unser  reines  Ich,  diese  Gesellschaft  zu  bekämpfen  und 
damit  für  die  Möglichkeit  zu  arbeiten,  daß  einmal 
eine  Gemeinschaft  entstehe,  in  welcher  der  Mensch  . . . 
gut  sein  darf,  in  welcher  der  Mensch  er  selbst,  ein  Ich, 
ein  für  seine  Handlungen  moralisch  verantwortliches 
Ich  und  als  solches  ...  gut,  das  bedeutet:  für  die  Ge- 
meinschaft sein  kann.' 

„Vielleicht  kommst  du  nur  in  ein  Bureau." 

Der  Philosoph  hob  den  Kopf;  die  Frau  hatte  aus 
dem  Schlafe  gesprochen.  Ihr  Gesicht  war  tränennaß. 
Durch  eine  leise  Berührung  erwachte  sie  sofort. 

Er  sprach  eindringlich  und  sanft:  „Nehmen  wir 
einmal  an,  ich  käme  nur  in  ein  Bureau.  Und  müßte 
nur  ganz  untergeordnete  Arbeiten  verrichten  . . .  Viel- 
leicht nur  Stellungsbefehle  ausfüllen,  mit  den  Namen 
derer,  die  daraufhin,  meinungslos-pflichtbewußt  oder 
vielleicht  gegen  ihren  Willen,  sich  einfinden  und,  nach 
der  Ausbildung,  Menschen  erschlagen  oder  selbst  ster- 
ben würden  für  eine  Gemeinschaft,  deren  Geist  schwer 
mitschuldig  ist  an  diesem  Kriege." 

„Ich  weiß  nichts  mehr."  Die  Frau  hätte  schwören 
können,  daß  sie  diese  vier  Worte  nicht  gesagt  habe. 

133 


,,Es  könnte  aber  auch  sein,  daß  ich,  eingefügt  als 
meinungsloser  Handlanger  in  die  Maschinerie  dieses 
höllischen  Geistes,  den  Befehl  schreiben  müßte: 

,Sie  haben  den  Mann,  namens  so  und  so,  serbischer 
Staatsangehörigkeit,  siebzig  Jahre  alt,  ins  Dorf  zu 
führen  und  ihn  dort  zu  erschießen/ 

Was  sollte  ich  dann  tun?" 

Nach  minutenlanger  Stille  fragte  er  noch  einmal: 
„Was  sollte  ich  dann  tun?" 

Die  Frau  wußte  imd  gab  auch  diesmal  keine  Ant- 
wort. Aus  ihren  Augen  heraus  fragte  stumm  das  ganze 
Volk:  ,Was  sollen  wir  denn  tun?' 

In  der  Stube  stand  schon  die  Finsternis.  Und  in 
ihr  die  dunkle  Gewalt,  die  den  Körper  töten  kann. 

Da  fühlte  plötzlich  der  Philosoph,  wie  im  tiefsten 
Urgrund  seiner  Seele,  im  mystischen  Punkt,  die 
Flamme  entstand,  die  rapid  zur  Feuersbrunst  wurde 
und  seine  Bereitschaft,  sich  wieder  protestlos  ins  Lei- 
chenschauhaus zu  legen,  sekündlich  verbrannte. 

In  ihm  stand  ein  ungeheurer  Wille  auf:  die  Be- 
reitschaft eines  tödlich  verzweifelten  reinen  Geistes, 
sich  der  Notdurft  der  Gegenwart  anheimzugeben. 

Von  dieser  Stunde  an  begann  der  stürmische  Pil- 
gergang. 

Die  schwangere  Frau  hatte  nur  ein  wollenes  Brust- 
tuch mitgenommen  aus  ihrer  Wohnung,  in  die  sie  nicht 
mehr  zurückkehrten.  Der  Stellungsbefehl  lag  auf  dem 
Tische. 

Aus  der  unvermittelt  in  ihm  entstandenen  wilden 
Hoffnung,  daß  das  unmeßbare  Leid  dreier  Kriegs- 


134 


jähre  den  Aufstieg  des  Menschenrechtes  ermöglicht 
habe,  wuchs  dem  Philosophen  die  Kraft  zu  dem  Ver- 
suche, den  vergewaltigten  Menschen  zu  erklären,  wes- 
halb ihr  Ausharren  und  ihre  Arbeit  Mord  und  gegen 
sie  selbst  gerichtet  sei. 

Seine  Stimme  hallte  durch  die  Stadtviertel,  in 
denen  der  Gestank  der  Armut  und  des  Hungers 
stand. 

Die  , Unbekannten' :  dunkle  Existenzen,  aus  dem 
nie  versiegbaren  Behälter  der  Volksseele  plötzlich 
emporgestoßen  in  die  ewige  Freiheitsidee,  stiegen 
auf  die  Straße.  Volk,  dem  Zwange  entrissen,  ins 
Menschentum  hochgerissen,  stieg  auf  die  Straße. 

Und  während  die  Führer  des  Volkes  in  blutüber- 
strömter Bescheidenheit  weiter  über  kleine  Reformen 
resultatlos  diskutierten,  weiter  unverdrossen  neue  be- 
setzte Länder,  neue  Versenkungen  und  neue  Kriegs- 
erklärungen buchten,  neuen  Zwangserlassen  gegen  das 
gemarterte  Volk  und  neuen  Dankadressen  an  die  Sie- 
ger zustimmten,  während  so  das  Volk  zu  Millionen 
im  Blute  ersoff,  versuchten  in  der  überreif  gewordenen 
Zeit  der  Philosoph  und  seine  Anhänger,  zusammen 
mit  dem  Kellner  und  dem  Zwanzigjährigen,  die  ge- 
quälten, vergewaltigten  Herzen  für  die  Idee  der  Frei- 
heit und  der  Liebe  aufzureißen.  Versuchte  mit  letzter 
Hingabe  der  Philosoph,  dem  Volke  zu  zeigen,  auf  wel- 
cher Seite  im  Lande  der  Feind,  die  Brutalität  und  die 
Dummheit  waren. 

Das  Netz  maßlosen  Leides  und  dunklen  Aufruhrs 
lag  über  der  Stadt. 


135 


Erst  bei  der  wuchtigen  Massenerhebung  gegen  den 
Kaubrittergeist  einiger  zehntausend  mittelalterlicher 
Existenzen,  gegen  den  Raubrittergeist,  der  den  Krieg 
losgebunden  hat,  traf  die  Gewalt  den  Philosophen, 
als  er  in  der  Menschengasse,  die  von  herangaloppieren- 
den Schutzleuten  in  die  Menge  hineingeritten  worden 
war,  das  Recht  des  Menschen  proklamierte;  vor  dem 
Leutnant, 

der  den  Befehl  zum  Feuern  gab. 

Die  Frau  ging  langsam  auf  den  Ermordeten  zu: 
schritt  langsam  hinein  in  die  zweite  Gewehrsalve 
junger  Soldaten,  die,  bleich  und  im  Herzen  schon 
empört,  noch  in  der  falschen  Pflicht  standen. 

Die  vierzig-  und  fünfzigjährigen  Landsturmmänner 
hatten  sich  geweigert,  ins  Volk  und  damit  sich  selbst 
ins  Herz  zu  schießen. 

Am  andern  Morgen  lagen  der  Philosoph  und  die 
Ladnerin,  als  Repräsentanten  des  Volkes,  wieder  im 
Leichenschauhause,  nebeneinander. 

Die  Idee,  die  nicht  erschossen  werden  kann,  brach 
in  Millionen  Herzen  ein. 

Der  Wärter  stand  vor  dem  Paare.  Und  plötzlich 
rückte  er  die  zwei  Pritschen  dicht  zusammen.  ,Man 
liebt  doch  die  Menschen.  Liebt  doch  die  Menschen  . . . 
Die  armen  Menschen.' 

Das  Leichenschauhaus  war  vergrößert,  die  Wand, 
die  das  Zimmer  des  Wärters  und  das  Wartezimmer 
für  die  Angehörigen  abgesondert  hatte,  war  heraus- 
gebrochen, der  weiße  Steinplattenboden  fortgesetzt 


136 


und  die  Pritschen  um  sechzehn  Stück  vermehrt 
worden. 

Der  Bruch  war,  wie  bei  Typenmöbehi,  die  glatt 
aneinandergefügt  werden  können,  nicht  zu  bemerken. 

Ein  vierter,  neuer  Horizontalventilator  kreiste 
zusammen  mit  den  drei  alten  über  den  zweiunddreißig 
Leichen. 


137 


V 

Die  Kriegskrüppel 

jDie  Metzgerküche'  ist  ein  sehr  großer  Raum,  dop- 
pelt so  lang  wie  breit,  und  so  niedrig,  daß  der  Stabs- 
arzt, im  langen,  von  frischem  und  altem  Menschen- 
blute  steifgewordenen  Operationsmantel,  die  Hand- 
fläche an  die  Decke  legen  kann. 

,Ein  Kino  hätte  man  hier  nicht  einrichten  dürfen. 
Ein  Kino  nicht',  fällt  ihm  immer  wieder  ein.  Denn 
schließlich  sind  alle  seine  Wünsche  zusammengeflossen 
in  den  einen  unerfüllbaren  Wunsch,  wieder  einmal 
ruhig  in  einem  Kino  sitzen  zu  dürfen. 

Auf  dem  Steinplatten-Boden  Strohsack  neben 
Strohsack.  Auf  jedem  Strohsack  ein  Mensch;  auf 
jedem  Strohsack  das,  was  von  einem  Menschen  übrig- 
geblieben ist.   Zugedeckt  bis  zum  Kinn. 

Die  abgesägten  Hände,  Arme,  Füße,  Beine 
schwimmen  in  Blut,  Watte  und  Eiter  in  einem  meter- 
hohen, zwei  Meter  breiten,  fahrbaren  Kübel,  der  bei 
der  Tür  in  der  Ecke  steht  und  jeden  Abend  ausgeleert 
wird.  Tadellose  Ordnung.  Kein  Strohhalm  auf  den 
nur  zwanzig  Zentimeter  breiten  Zwischengängen  und 
im  Mittelgang.   Fünf  Reihen  Strohsäcke. 


138 


Der  mit  Zinkblech  beschlagene  Operationstisch 
steht  im  Mittelgang. 

Die  Fenster  werden  geschlossen.  Und  drei  Minu- 
ten später  steht  wieder  der  dicke,  warme  Gestank  von 
faulenden,  brandigen  Wunden,  Eiter,  altem  Blute, 
Todesschweiß,  Schmerzausdünstung,  Karbol  und 
Lysol  in  der  Metzgerküche,  so  daß  ein  gesunder,  kräf- 
tiger Mensch,  der,  an  frische  Luft  gewöhnt,  herein- 
tritt, eine  Minute  später  Farben  vor  seinen  Augen 
kreisen  sieht  und  den  Boden  unter  seinen  Füßen 
schwanken  fühlt. 

In  der  Metzgerküche,  knapp  hinter  der  Front, 
wird  die  erste  Hilfe  gewährt.  Schnell.  Keine  Sekunde 
Zeitverlust.  Hier  wird  amputiert.  In  die  Metzger- 
küche werden,  direkt  vom  Schlachtfeld  weg,  die  Am- 
putationsbedürftigen geschleppt,  wahllos:  Offiziere 
und  Soldaten.  Eine  Viertelstunde  Zeitverlust  kann 
den  Tod  bedeuten. 

Diejenigen  Amputierten,  die  nicht  bewußtlos  sind, 
nicht  schlafen  und  doch  reglos  liegen,  ganz  unbeweg- 
lich und  lautlos  liegen,  glänzende  Fieberkugeln  im 
Gesicht,  sind  verloren,  entschweben  schon. 

Die  andern  brüllen,  schmeißen  sich  hoch,  krüm- 
men, winden  sich,  wimmern  wie  neugeborene  Katzen, 
lachen  im  Fieberirrsinn,  oder  bewegen  die  verstüm- 
melten Körper  ganz  langsam,  aber  ununterbrochen. 

Das  Leben  der  Glücklichsten  besteht  abwechselnd 
darin,  daß  sie  aus  der  Ohnmacht  erwachen  und  wie- 
der ohnmächtig  werden.  Dazu  trägt  der  dicke  Ge- 
stank bei.  Es  ist  nicht  sehr  hell  in  der  Metzgerküche. 


139 


Der  Stabsarzt  muß  nach  ein  bis  zwei  Amputationen, 
muß  nach  jeder  halben  Stunde  hinaus  in  die  Luft, 
damit  ihm  während  der  nächsten  Amputation  die  Säge, 
das  Messer  nicht  aus  der  Hand  fällt. 

Jeden  Tag  werden  vier  bis  sechs  Tote  hinausge- 
tragen. 

Frisches  Stroh,  frische  Leintücher.  Frische  Ver- 
wundete. Kein  Halm  auf  den  Zwischengängen.  Ord- 
nung. Der  Gliederkübel  in  der  Ecke  füllt  sich.  Und 
leert  sich  pünktlich  um  sechs  Uhr  abends.  Die  Stroh- 
säcke liegen  genau  ausgerichtet  in  linealgeraden 
Reihen. 

Der  Stabsarzt  sägt. 

In  die  Metzgerküche  kommt  keine  Zeitung.  Hier 
wird  gelitten.  Hier  interessiert  man  sich  nicht  für 
Siegesnachrichten  und  nicht  für  Lügennachrichten. 
Hier  interessiert  man  sich  für  das  Bein,  das  abgesägt 
wurde  und  vom  Sanitäter  eben  in  den  Kübel  geworfen 
wird.  Man  will  sein  Bein  wieder  haben.  Es  noch  ein- 
mal in  die  Hände  nehmen.  Man  will  es  betrachten. 
Sehr  genau  betrachten. 

,,Mein  Bein!  Es  ist  mein  Bein.  Meines!  Mein 
Bein!"  Zuerst  schreit  er  nach  seinem  Beine,  dann 
bettelt  er:  ,,Gib  her.   Komm,  gib  her.    Gib  mirs." 

Der  Bettelnde  liegt  nicht  in  den  Fensterreihen; 
er  liegt  in  der  dunklen  Reihe,  im  vierten  Bett,  von  der 
Rückwand  aus  gezählt.  Er  muß  doch  wieder  schreien, 
das  Schmerzgebrüll,  Gewimmer,  Geheule  überschreien, 
damit  der  Sanitäter  ihn  hört.    - 

„So  ein  Unsinn!    Verfluchter  Unsinn!"  schimpft 


140 


der  erschöpfte  Sanitäter.  Und  trägt  dem  Bettelnden 
ein  langes  Bein  hin,  das  zwischen  dem  Knie  und  der 
Schnittfläche  am  Schenkel  ein  furchtbares,  tiefes, 
brandiges,  stinkendes  Loch  hat.  Legt  es  ihm  wagrecht 
auf  die  gierig  ausgestreckten  Hände. 

Der  Soldat  betrachtet,  die  Augen  weit  aufgerissen, 
von  einem  mystischen  Schauer  durchjagt,  das  lange, 
schwere  Bein,  das  zwanzig  Jahre  ihm  gehört  hat, 
hält  es  weg  von  sich,  immer  weiter  weg,  weicht  mit 
dem  Oberkörper  immer  weiter  zurück.  Und  schmeißt 
das  Bein,  plötzlich  von  tödlichem  Ekel  geschüttelt, 
in  den  Mittelgang.  Brüllt:  ,,Das  ist  nicht  mein 
Bein." 

Es  war  nicht  sein  Bein.  Der  erschöpfte  Sanitäter 
hatte  ein  falsches  Bein  aus  dem  Kübel  herausgezogen. 

Der  Mann  im  vierten  Bett  ist  jetzt  ruhig.  Er  ist 
ohnmächtig  geworden. 

Der  neben  ihm  Liegende,  der  auch  nur  noch  ein 
Bein  hat,  dreht  das  Gesicht  zum  Ohnmächtigen  hin 
und  sagt  zu  ihm:  ,,Du  schläfst  ein,  Lieber,  und  hast 
zwei  Beine,  und  wenn  du  aufwachst,  hast  du  nur 
noch  ein  Bein."  Dabei  lächelt  er:  ein  Lächeln,  das 
dafür  zeugt,  daß  die  gramvollste  Hoffnungslosigkeit 
mit  einem  Lächeln  ausgedrückt  werden  kann. ,,  Schläfst 
ein.  Lieber,  und  hast  zwei  Beine,  und  wenn  du  auf- 
wachst, hast  du  nur  noch  ein  Bein."  Diesen  Satz  hat 
er  gefunden  und  sagt  ihn  immer  wieder. 

Das  vierte  Bett  in  der  dunklen  Reihe,  von  der 
Rückwand  aus  gezählt,  quält  den  Stabsarzt.  Mit 
diesem  vierten  Bett  hat  er  Unglück.   Entweder  ster- 


141 


ben  ihm  die  Inhaber  des  vierten  Bettes  unter  der  Säge, 
oder  sie  führen  sich  ganz  besonders  wild  auf. 

jWieder  das  vierte  Bett',  denkt  der  Stabsarzt, 
krank  vor  Überarbeitung,  wirft  einen  Blick  auf  das 
Bein,  das  noch  im  Mittelgang  liegt  und  die  tadellose 
Ordnung  stört.  Einen  Blick  zur  niedrigen  Decke. 
,Ein  Kino  hätte  man  hier  nicht  einrichten  dürfen. 
Ein  Kino  nicht.  Und  sägt  vorsichtig  und  mit  Kraft 
den  Oberarmknochen  knapp  unterm  Schulterblatt 
durch. 

Der  Soldat  auf  dem  Operationstisch,  ein  unifor- 
mierter Knabe,  hat  nur  eine  blutnasse  Hose  an.  Der 
Oberkörper  ist  mager.  Schmale  Brust.  Unausgewach- 
sen. Der  Knabe  ist  bewußtlos.  Die  blauen  Lippen 
sind  fest  aufeinandergepresst.  Nur  beim  rechten 
Mundwinkel  ist  ein  kleines,  ganz  rundes  Loch  offen 
geblieben,  wie  bei  einem  total  erschöpften  Wettläufer, 
der  durch  einen  Mundwinkel  die  Luftmassen  hinaus- 
stößt. 

Manchmal  schreien  und  stöhnen  gleichzeitig  alle 
Verwundeten  wilder  auf,  als  würden  in  dieser  Sekunde 
alle  Wunden  von  einem  bösen  Weltgeist  betastet. 
Dann  werden  die  Mittel  angewandt. 

Es  werden  verschiedene  Mittel  angewandt,  um 
den  Schmerz  erträglicher  zu  machen.  Der  eine  hat 
gefunden,  daß  der  Schmerz  geringer  wird,  wenn  er 
die  Zunge  herausstreckt,  mit  all  seiner  Kraft  die  Zunge 
so  weit  wie  nur  irgend  möglich  herausstreckt.  Noch 
einen  Millimeter  weiter.    Er  hockt  aufgerichtet  im 


142 


Strohsack,  die  Zunge  lang  und  blau  gebläkt,  und 
keucht. 

Ein  anderer  kann  sich  nur  helfen,  wenn  er  ,,Uu!" 
schreit.  Er  hat  das  Alphabet  durchprobiert.  E  hilft 
ihm  nicht.  J  hilft  ihm  nicht.  Nur  U.  Er  brüllt  mit 
der  ganzen  Kraft  seiner  Lungen:  ,,Uu!" 

Der  Stabsarzt  sägt. 

Einer  muß,  die  Muskeln  angespannt,  den  Arm 
senkrecht  emporrecken  und  die  Luft  zurückhalten,  so 
lange  zurückhalten,  bis  der  Schrei  als  wildansteigen- 
des ,,0!"  aus  seinem  Munde  herausplatzt.  Das  hilft 
ihm. 

Der  Stabsarzt  sägt. 

Langsam  und  unaufhörlich  schwingt  einer  den 
Oberkörper  hin  und  her.  Wenn  er  das  nicht  tut,  kann 
er  den  Schmerz  nicht  aushalten. 

Ganz  feines  Wimmern  neugeborener  Katzen. 

Einer  schlürft,  als  habe  er  einen  zu  heißen  Bissen 
im  Munde. 

Bewegung  bei  der  Tür:  zwei  Amputationsbedürf- 
tige werden  hereingetragen. 

,,Ganz  unmöglich!  Kein  Platz!"  Dabei  sägt  der 
Stabsarzt  weiter,  ein  dünnes  Handgelenk  durch. 

Die  Bahrenträger  bleiben  stehen.    Ratlos. 

,, Tragt  sie  hinüber  in  den  ,Tanzsaar." 

,,Zu  Befehl!  Aber  in  den  Tanzsaal  haben  wir  eben 
sechs  getragen.  Man  hat  uns  hierher  geschickt.  Der 
Tanzsaal  ist  überfüllt.'' 

„Uu !" 


143 


„Hier  auch!  Voll!  Voll!  Alles  voll!  Kein  Platz 
mehr!" 

Ganz  feines  Wimmern  neugeborener  Katzen. 

Der  Oberkörper  kreist  langsam  und  ununterbro- 
chen. 

Es  wird  Platz  gemacht:  die  Strohsäcke  werden 
noch  enger  zusammengeschoben,  so  daß  auch  die 
Zwischenräume  von  zwanzig  Zentimetern  nicht  mehr 
da  sind.  Ein  einziges,  langes,  genau  ausgerichtetes 
brüllendes,  stöhnendes,  wimmerndes,  ordentliches 
Schmerzenslager. 

Als  wild  ansteigendes  „0"!  platzt  der  Schrei  aus 
dem  Munde  heraus,  während  die  Bahrenträger  gehen. 

Die  Zunge  bläkt  lang  und  blau.  Warmer,  dicker 
Gestank. 

Die  Metzgerküche  ist  nur  eine  kleine  Nebenab- 
teilung vom  immer  vollen  ,Tanzsaar,  der  fünfmal  mehr 
Strohsäcke  faßt  als  die  Metzgerküche. 

,Und  wieviel  ,Tanzsäle'  gibt  es  in  Europa  ?  Wie 
viele,  in  denen  erste  Hilfe  gewährt  wird?  Und  wie 
viele,  in  denen  solche  liegen,  die  in  Schmerzen  auf  die 
Heilung  warten?  Wie  viele  Schmerzenslager  gibt  es 
knapp  hinter  der  Front  ?  Und  wie  viele  in  allen  Städten 
und  Städtchen  des  Heimatlandes  ?  Wie  viele  in  Ruß- 
land, Frankreich,  England,  Italien  ?  Wie  viele  Schmer- 
zenslager gibt  es  in  Europa? 

Für  was,  für  wen  leiden  diese  Millionen  ihre 
Schmerzen?  Warum  müssen  Millionen  Menschen- 
beine, Millionen  Arme  abgesägt  werden?  Für  was 
wird  gekämpft  und  ermordet  ?  Und  verstümmelt  und 


144 


gesägt  und  gelitten  ?  Für  was  ist  dieser  Krieg  ?  Für 
was?'  denkt  der  Stabsarzt  und  schneidet  erst  sauber 
und  exakt  ein  Pfund  Menschenfleisch  aus  einem 
Oberschenkel  heraus,  bevor  er  zu  sägen  beginnt. 
,. . .  Viel  zu  niedrig  für  ein  Kino/  Farben  kreisen  vor 
seinen  Augen. 

Den  Gekreuzigten  in  der  Metzgerküche  ist  es  ganz 
gleichgiltig,  ob  sie  knapp  hinter  der  Front,  oder  in  der 
Heimatstadt,  oder  gefangen  im  Feindesland,  oder  in 
einem  indischen  Urwald  sich  winden,  ,,Uu"  schreien, 
,,0",  die  Zunge  bläken,  fein  wie  neugeborene  Katzen 
wimmern.  Und  wer  den  Krieg  gewinnt,  das  ist  ihnen 
so  gleichgiltig  wie  der  Schneefall  von  vorgestern. 

,Der  Bürgermeister  irgend  eines  kleinen  Dorfes 
soll  ganz  allein  den  Weltkrieg  gewinnen,  wenn  da- 
durch meine  Schmerzen  nur  um  einen  Grad  geringer 
werden.  Und  wenn  ich  mein  Bein  wieder  hätte',  denkt 
der  plötzlich  ganz  schmerzlos  und  gefährlich  still  lie- 
gende, zwanzigjährige  Dichter,  der  schon  entschwebt, 
,mein  weißes,  langes,  hunderttausend  Kilometer  langes 
Bein  mit  dem  herrlichen  Knie  wieder  hätte,  würde  ich 
das  Leben  lieben  so  ewig  wie  . . .  die  Sonne 

tönt,  nach  alter  Weise, 
In  Brudersphären  Wettgesang, 
Und  ihre  vorgeschriebne  Reise 
Vollendet  sie  mit  Donnergang.' 

,Mein  Bein!  das  heißt,  wenn  ich  mein  Bein  wieder 
hätte,  wäre  ja  überhaupt  gar  nicht  Krieg  ...  Krieg 
ist  ja  gar  nicht  möglich.   Krieg  gibt  es  nicht.   Krieg 

10  145 


ist  Einbildung.  Ist  Lüge.  Mein  Bein  allein  ist  die 
Wahrheit.'  „Die  Wahrheit",  sagt  er  laut  und  deutlich 
in  die  Metzgerküche  hinein.   Und  schließt  die  Augen. 

Fünf  Minuten  später  wird  er  tot  hinausgetragen. 

Frisches  Stroh.  Frische  Leintücher.  Kein  Stroh- 
halm im  Mittelgang.  Ordnung.  Eine  Fußsohle  ragt 
über  den  Rand  des  Gliederkübels  heraus. 

Der  andere  Beinlose  dreht  sich  um  und  sagt  zum 
frischen,  leeren  Strohsack:  „Du  schläfst  ein,  Lieber, 
und  hast  zwei  Beine,  und  wenn  du  aufwachst,  hast 
du  nur  noch  ein  Bein." 

Die  Augen  des  jungen,  kräftigen  Bauschlossers 
im  Nebenbett  glotzen  glanzlos  und  wütend.  Er  hat 
keinen  rechten  Arm  mehr.  Mächtiger  Brustkasten. 
Gesundes  Blut.  Mächtige  Muskeln,  gewölbt,  glatt. 
Wie  geölt.  Er  weiß,  daß  er  alles  überstehen  wird, 
knirscht  den  Schmerz  nieder.  Und  grübelt  in  seine 
Zukunft  hinein:  ,Ein  Tübelloch  werde  ich  in  meinem 
ganzen  Leben  nicht  mehr  schlagen  ...  Künstlicher 
Arm?  ...  Ist  Scheiße.  Mit  einem  künstlichen  Arm 
schlägt  keiner  ein  Tübelloch  in  harten  Stein  . . .  Ein 
Bein,  meinethalben  ein  Bein;  warum  fehlt  nicht  das 
rechte  Bein,  anstatt  des  rechten  Armes.  Das  Bein! 
Das  Bein!' 

Im  ersten  Bett  der  Fensterreihe,  bei  der  Tür,  liegt 
ein  junger  Offizier,  der  kein  Bein  mehr  hat.  Seine 
Gedanken  steigen  auf,  über  sich  windende,  brüllende 
Menschen  weg,  bis  zum  Strohsack  des  Schlossers,  und 
schieben  sich  zwischen  dessen  Verzweiflungsgrübelei 
als  gedachte  Gegenreden  hinein:  ,Wenn  nur  ein  Arm 


146 


fehlen  würde.  Ein  Arm !  Ich  würde  mir  einen  weiten 
Mantel  machen  lassen.  Weite  Ärmel.  Künstliche 
Hand  in  der  Tasche.  Und  auf  der  Straße  würde  kein 
Mensch  etwas  bemerken.  Auch  mit  den  Frauen  wäre 
es  nicht  so  arg,  lange  nicht  so  arg.  Aber  wenn  ein  Bein 
fehlt.    Bei  einer  Frau  sein  . . .  und  nur  ein  Bein.' 

,Mir  kann  doch  niemand  weismachen,  daß  einer, 
der  einen  künstlichen  rechten  Arm  hat,  mit  der 
Schrubbfeile  arbeiten  kann.  Aber  ohne  Bein!  geht 
das  alles.* 

,ünd  reiten?    Mit  einem  Bein?' 
,Oder  schmieden  und  schweißen  kann  ...' 
,Bei  einer  Frau  liegen,  mit  nur  einem  Bein.' 
,...  oder  nieten,  oder  eine  Schloßfalle  feilen,  die 
genau  passen  muß  . . .  mit  einem  künstlichen  Arm  ? 
Ja,  Scheiße  ...  Warum  fehlt  nicht  ein  Bein?    Ein 
Bein!' 

,Tanzen  ohne  Bein  ?  . . .  Ausgetanzt  . . .  Ohne  Arm 
kann  man  tanzen  . . .  Alles  ist  aus.' 

,Ohne  Arm  ...  Mein  ganzes  Geschäft  ist  futsch.' 
Beide  haben  während  der  letzten  Tage  alle  Mög- 
lichkeiten abgegrübelt.  Und  plötzlich  stellen  sie  sich 
der  Wahrheit:  gestehen  sich  ein,  daß  es  sich  im  Grunde 
ja  gar  nicht  um  das  nicht  mehr  Tanzen-,  Keiten-, 
Feilen-,  Schmiedenkönnen  handelt,  sondern  nur  um 
das  schöne  Bein,  einzig  und  allein  um  den  prachtvollen, 
dicken  Arm.  Um  mein,  mein,  mein  Bein,  meinen  Arm, 
meinen,  meinen  Arm.  Um  meinen!  Meinetwegen  nie 
mehr  tanzen,  nie  mehr  reiten,  und  mögen  sich  die 


147 


Weiber  zweibeinige  Männer  nehmen,  wenn  ich  nur 
mein  schlankes  Bein  wieder  hätte  . . .  Ich  scheiße  ja  auf 
das  ganze  Schlosserhandwerk;  ich  werde  Landstrei- 
cher; wenn  ich  nur  meinen  Arm  wieder  hätte,  wieder 
hätte,  wieder  hätte. 

jMeinetwegen  blind  sein/  Beinahe  gleichzeitig 
steigt  diese  Überlegung  in  beiden  auf.  ,Nur  das  Bein, 
nur  den  großen,  starken  Arm  wieder  haben.  In  Gottes 
Namen  blind  sein;  aber  die  Glieder  beisammen  haben', 
denken  sie  tausendmal  im  Tag,  tausendmal  in  der 
Nacht.    ,Lieber  blind  sein.' 

Und  der  neben  dem  Gliederkübel  liegende  blinde 
Soldat,  dessen  schwere  Schenkelwunde  überraschender- 
weise verheilte,  so  daß  die  Amputation  nicht  nötig  ist, 
denkt  ununterbrochen  und  wird  sein  ganzes  Leben 
lang  denken:  , Meinetwegen  beide  Beine  weg,  beide 
Arme  weg.  Nur  nicht  blind  sein.  Nicht  blind  sein. 
Nie  mehr  sehen  . . .  Ich  werde  meine  Frau  nie  mehr 
sehen.  Nie  ...  mehr  ...  meine  Frau  sehen  ...  Und 
wer  führt  mich  ?  ...  Und  nie  mehr  eine  Straße  sehen 
...  Wie  sieht  ein  Pferd  aus?  Braun,  Es  gibt  auch 
Schimmel  . . .  Und  die  Hunde  ?  Wie  laufen  sie  ?  Wie 
laufen  die  Hunde  ?  Und  und  und  und  . .  .*  Tausend 
Gegenstände  stürzen  vorbei.  Zuletzt  versucht  er 
krampfhaft,  sich  vorzustellen,  wie  das  Gepäcknetz  in 
einem  Eisenbahnwagen  aussieht.  Das  gelingt  ihm 
nicht.  Er  schläft  darüber  ein.  Und  sieht  sofort  wieder 
alles.  Strahlender  Helligkeit  weicht  die  Finsternis, 
die,  begleitet  von  einem  wild  ansteigenden  0- Schrei, 
von    langgezogenem    U- Gebrüll,    von    ganz    feinem 


148 


Wimmern  neugeborener  Katzen,  von  der  Erdkugel 
hinunterstürzt. 

Der  bärtige  Bauer  hockt  aufgerichtet  in  seinem 
Strohsack  und  winkt  den  Sanitäter  heran,  in  unge- 
heurer Spannung.    Er  winkt,  macht:  „Pst!" 

„Nun,  was  denn?" 

„Es  mußte  also  nicht  abgenommen  werden  ?  Aber 
furchtbare  Schmerzen  habe  ich  in  der  Wade." 

Der  Sanitäter  hat  gehört,  daß  es  Reflexgefühle 
gibt.  Er  sagt  beruhigend:  „Das  sind  nur  Reflex- 
schmerzen." 

Des  Bauern  Bein  mit  der  schmerzenden  Wade  liegt 
schon  seit  zwei  Stunden  im  Gliederkübel. 

„So,  nur  Reflexschmerzen?  Aber  die  Wade  zieht 
und  brennt  und  reißt  ...  So,  nur  Reflexschmerzen  ?" 
fragt  er  noch  einmal  und  steigt  zu  kirchturmhohem 
Glück  empor;  denn  jetzt  weiß  er  ja  ganz  bestimmt, 
daß  er  sein  Bein  noch  hat.  Und  sinkt  beseligt  in  Ohn- 
macht. 

Aus  der  er  wieder  erwachen  wird. 

Der  fiebernde  Stabsarzt  kann  nicht  mehr;  er  sieht 
den  reglos  und  langgestreckt  auf  dem  Operations- 
tisch liegenden  Menschenkörper  doppelt.  ,Und  wenn 
ich  den  Arm  erst  heute  abend  abnehme,  stirbt  der 
Mann  vielleicht.  Und  wenn  ich  den  Arm  erst  morgen 
früh  abnehme,  stirbt  der  Mann  sicher.'  Der  Stabsarzt 
beginnt.  Sein  kleiner,  leichenblasser  Unterarzt  tau- 
melt schon  wie  ein  leicht  Angetrunkener. 

Der  Stabsarzt  schneidet  und  denkt:  ,Krieg'. 

149 


Er  denkt:  ,Dieses  Wort  ,Krieg'  offenbart  den  ge- 
dankenlosen Menschen  nicht  den  billionsten  Teil  von 
der  unmeßbaren  Menge  Ungeheuerlichkeiten,  die  mit 
dem  Worte  ,Krieg'  bezeichnet  werden  . . .  Das  Wort 
selbst  ist  schwach  wie  der  Atemzug  eines  Säuglings; 
und  verglichen  mit  dem  Inhalte  des  AVortes  ,Krieg', 
ist  ein  Taifun,  der  Schiffe  und  Städte  und  Inseln  ver- 
schlingt, nur  der  Atemzug  eines  Säuglings  . . .  ,Krieg' 
ist  ein  Wort  von  fünf  Buchstaben.  Und  wenn  es  ohne 
e  geschrieben  würde,  hätte  es  nur  vier  Buchstaben', 
denkt  der  fiebernde  Stabsarzt.   Dabei  operiert  er. 

Der  Stabsarzt  hat  in  einer  klinischen  Wochen- 
schrift einen  Artikel  über  Staatenbevölkerungs-Politik 
gelesen :  einen  statistischen  Bericht,  in  dem  als  ,Mini- 
malzahr  zehn  Millionen   Gefallene  angegeben  sind. 

,,Als  Minimalzahl...  Minimalzahl  zehn  Millionen 
Tote.  Das  ergibt  die  Minimalzahl,  vorsichtig  ange- 
nommen, die  Minimalzahl . . .  nur  ja  sehr  behutsam  und 
vorsichtig",  flüstert  lautlos  der  Stabsarzt  sich  selbst 
zu  und  legt  sehr  behutsam  und  vorsichtig  mit  dem 
Messer  den  Oberschenkelknochen  frei,  ,,die  Minimal- 
zahl von  fünf  Millionen  Amputierten." 

„Uu !  Uu  !" 

Der  Stabsarzt  richtet  sich  auf,  betrachtet  den 
nackten  Mann,  übersieht  mit  einem  Blicke  den  ein- 
geschrumpften Geschlechtsteil,  die  abgebundenen 
Hauptadern,  den  für  die  Säge  freigelegten  Knochen. 
,  Sieht  aus  wie  eine  Stange  des  Lebens  ...  Er  liegt  so 
still,  so  langgestreckt.  Seine  Lippen  sind  so  blau. 
Himmelblau  . . .  Und  draußen  donnern  die  Geschütze. 


150 


Donnern  seit  drei  Jaliren  die  Geschütze.  Warum? 
Wann  wird  man  darüber  nachzudenken  beginnen  ?  . . . 
Donnern  stille  und  langgestreckt  liegende  Menschen 
zu  mir  in  die  Metzgerküche  herein.* 

Er  betrachtet  die  Sägezinken,  die  ganz  eng  bei- 
einander und  schon  stumpf  sind.  , Knochenmehl  vom 
Arme  mischt  sich  mit  dem  Knochenmehl  vom  Bein.* 
Betrachtet  den  eingeschrumpf  tenGeschlechtsteil.  ,Das 
Leben  schrumpft  ein  ...  Minimalzahl  fünf  Millionen 
Amputierte.  Minimalzahl  ...  Jeden  Tag,  seit  drei 
Jahren,  von  früh  bis  in  die  Nacht  hinein,  jeden  Tag: 
sägen,  sägen,  sägen  . . .  und  wenn  das  Wort  mit  e  ge- 
schrieben würde,  hieße  es :  Segen  . . .  Säge  ich  Arme, 
Beine,  Hände  ab.  Sägte  fünf  Millionen  Beine,  Arme, 
Hände  ab.   Ich  allein,  der  Stabsarzt  von  Europa.* 

Er  legt,  wie  der  Schreiner  an  das  Brett,  den  Dau- 
mennagel an  den  Knochen,  setzt  die  Säge  an,  sägt  und 
rechnet:  , Siebzig  Zentimeter  lang  ist  ein  Menschen- 
bein.   Der  Arm  nur  sechzig.' 

,Die  Länge  der  abgeschnittenen  Hände,  Arme, 
Beine  ineinander  gerechnet,  ergibt  —  vorsichtig  ..., 
sehr  ...  vorsichtig  ...  sein  — ,  eine  Minimaldurch- 
schnittslänge von  fünfzig  Zentimeter  für  das  ampu- 
tierte Glied.  Fünf  Millionen  amputierte  Glieder  mit 
einer  Durchschnittslänge  von  je  fünfzig  Zentimeter 
ergeben  zweimillionenfünf hunderttausend  Meter  ... 
sind  gleich  zweitausendfünfhundert  Kilometer  Men- 
schenglied.' 

„Uu !" 

,Der  Herr  segne  und  behüte  euch  Amputierte,  er 


151 


lasse  sein  Angesicht  leuchten  über  euch.  Segen,  Segen 
sägen,  sägen,  absägen.  Zweitausendfünfhundert  Kilo- 
meter Menschenglied  absägen  . . .  Bei  der  Peripherie 
von  Berlin  das  Menschengliedgeleise  begonnen:  die 
zwei  ersten  Arme  in  Geleisespannweite  niedergelegt. 
Dann  zwei  Beine,  dann  zwei  Arme,  dann  zwei  Beine, 
dann  zwei  Arme,  dann  zwei  Beine,  Arme,  Beine,  Arme, 
zwischenraumlos  zusammengefügt,  als  Geleise  gelegt, 
bis  nach  Essen.  Um  Essen  herum.  Und  —  vorbei  an 
Dörfern,  Städten,  vielen  Dörfern,  bergauf,  bergab, 
Flußläufe,  Wälder,  Felder  entlang  —  flach  nach  Berlin 
zurück  und  herum,  bis  die  Hände  der  zwei  letzten  Ar- 
me die  Hände  der  zwei  ersten  Arme  fassen  können  . . . 
Ein  Geleise  von  blutigen,  brandigen,  stinkenden,  am- 
putierten, jungen  Menschengliedern,  durch  Schwellen 
abgeschnittener  Menschenhände  verstärkt  und  zu- 
sammengehalten. Ein  Gliedergeleise,  herumgelegt  um 
den  Militarismus :  ein  Menschengliederkranz,  der  um- 
gelogen wird  in  einen  Lorbeerkranz.* 
Uu !'' 

,Wer  fährt  auf  diesem  Geleise?  Wer  setzt  sich 
diesen  Gliederlorbeerkranz  aufs  Haupt?*  grübelt  der 
sägende,  fiebernde  Stabsarzt.  ,Wer?  Wer  setzt  ihn 
auf  ?  Will  ihn  am  düsteren  Ende  vielleicht  doch  nie- 
mand aufsetzen?' 

Der  Spalt  klafft;  der  Knochen  ist  durchgesägt. 
Er  rückt  das  Bein  bis  ans  Ende  des  Operationstisches, 
so  daß  der  Soldat  plötzlich  ein  kurzes  und  ein  sehr 
langes  Bein  hat.  Denn  der  Stabsarzt  sieht  den  Zwi- 
schenraum nicht;  er  sieht  nur  noch  Beine,  Millionen 


152 


Beine,  alle  von  ihm  allein  abgesägt.  Sieht  Farben: 
Rot,  das  in  Violett  übergeht  und  zu  einer  gelbum- 
randeten, giftgrünen  Scheibe  wird,  in  deren  Mittel- 
punkt klar  und  scharf  der  Gedanke  steht:  ,Die  Herren, 
die  mit  einem  Worte,  mit  einem  Wunsche,  mit  einem 
Traume,  mit  einem  Gedanken,  mit  einem  Befehle  dazu 
beigetragen  haben,  daß  dieser  Krieg  kam,  müssen  an 
Ketten  gelegt  werden.' 

Plötzlich  weiß  er  mit  lautlos  donnernder  Gewiß- 
heit: , Werden  an  Ketten  gelegt  werden',  und  beugt 
sich  tief  und  treu  zu  seiner  blutigen  Arbeit  hinunter. 

Bewegung  bei  der  Tür:  acht  Krankenträger  mar- 
schieren hintereinander  herein,  mit  vier  Bahren,  auf 
denen  zwei  ganz  stille  Männer  liegen,  ein  brüllender 
und  einer,  dessen  zersplittertes  Bein,  nur  noch  durch 
die  Haut  gehalten,  verdreht  am  Rumpfe  hängt.  Die 
Ferse  steht  nach  oben. 

Der  Stabsarzt  sagt  sehr  ruhig:  „Hier  ist  kein  Platz 
mehr." 

Der  bärtige  Bauer  erwacht  aus  der  Ohnmacht,  hat 
unerträgliche  Schmerzen  im  Bein,  das  er  nicht  mehr 
hat.  Und  ist  ungeheuer  glücklich.  Schiebt  die  Hand 
vorsichtig  unter  die  Decke  zum  schmerzenden  Beine, 
greift  behutsam  an  die  Schmerzen  und  greift  doch 
kein  Bein. 

„Diesmal  müßt  ihr  die  Leute  in  den  Tanzsaal  hin- 
übertragen." 

Der  blonde  Soldat  hockt  aufgerichtet  im  Bett, 
bläkt  die  Zunge  lang  und  blau  und  keucht.  Sein  Nach- 


153 


bar  kreist  den  Oberkörper,  langsam  und  ununterbro- 
chen.   Der  0- Schrei  platzt. 

„Zu  Befehl!   Aber  der  Tanzsaal  ist  überfüllt." 
U  '" 

Ganz  feines  Wimmern  neugeborener  Katzen. 
U  '" 

jy^ 

„Drüben  beim  Tanzsaal  ist  ein  großes  Klosett; 
legt  die  Leute  ins  Klosett." 

Der  mit  Glück,  Schmerzen  und  Zuversicht  aus- 
gefüllte bärtige  Bauer  wundert  sich  über  seine  Un- 
geschicklichkeit, das  Bein  nicht  zu  finden,  das  ihm  so 
entsetzlich  wehtut.  Er  greift  resoluter  an  die  Schmerz- 
zentrale und  langt  immer  ins  Leere.  Tastet  den  wü- 
tenden Schmerz  der  ganzen  Länge  nach  ab  und  hat 
dabei  ganz  unbegreiflicherweise  doch  die  Empfindung, 
immerzu  in  die  Luft  zu  langen,  trotzdem  er  den 
Schmerz  gleichsam  in  der  Hand  hält. 

,,Auch  das  Klosett  ist  besetzt,  Herr  Stabsarzt." 

„Uu !" 

Der  Stabsarzt,  tief  und  treu  bei  der  Arbeit,  und 
innerlich  erleuchtet  von  der  Gewißheit:  , Werden  alle 
an  Ketten  gelegt  werden',  sagt  weich:  ,, Meine  Kol- 
legen dürfen  halt  das  Klosett  nicht  benützen ;  sie  müs- 
sen hinters  Haus  gehen." 

Der  bärtige  Bauer  winkt:  ,,Pst!" 

,,Das  sind  nur  Reflexschmerzen"',  beruhigt  der 
Sanitäter. 

Ein  Lächeln  wächst  in  der  Metzgerküche,  wächst 
im  Gesicht  des  ersten  Bahrenträgers : ,, Nicht  so  besetzt, 


154 


Herr  Stabsarzt.  Von  Kranken  besetzt.  Es  liegen  zehn 
Kranke  im  Klosett  ...  Überall.    Ganz  überfüllt." 

Welcher  Mensch  weiß,  woher  das  Lachen  kommt  ? 
Der  Stabsarzt  erinnert  sich,  daß  er  bei  seiner  Kon- 
firmation in  dem  Moment,  da  ihm  der  Pfarrer  den 
Kelch  mit  dem  Blute  des  Herrn  an  die  Lippen  an- 
setzte, gelacht  hat,  lachen  mußte,  in  das  Blut  des 
Herrn  hineingelacht  hat. 

Der  Stabsarzt  lacht.  Das  Lachen  donnert  unter- 
irdisch in  ihm,  quirlt  zum  Halse  empor.  Und  platzt 
heraus.  Er  lacht  und  sägt.  Er  meckert,  brüllt,  win- 
selt, lacht  in  allen  Tongraden.  Und  sägt. 

Sprechen  kann  er  nicht.  Nur  seine  Hand,  die  das 
Messer  hält,  sagt:  , Bitte,  abstellen.    Stellt  nur  ab.' 

Der  bärtige  Bauer  sieht  plötzlich  wie  ein  Christus 
aus,  schlägt,  den  Blick  noch  geradeaus  auf  die  Wand 
geheftet,  die  Decke  zurück,  senkt  den  Blick.  Und  sieht, 
daß  da,  wo  die  ungeheuren  Schmerzen  sind,  kein 
Bein  ist.  Blitzschnell  saust  er  vom  kirchturmhohen 
Glück  herunter,  kommt  ins  Bett  zu  hocken  und  glotzt. 
Glotzt  den  großen,  weißen  Verbandstumpf  an,  der 
knapp  unterm  Rumpfe  sitzt.  In  seinem  Gehirn  ist  gar 
nichts.  Nicht  der  fernste  Abglanz  eines  Gedankens 
ist  in  seinem  Gehirn.  Das  Gehirn  ist  leer.  Er  gleitet 
in  die  Ohnmacht  hinein. 

Die  vier  Bahren  werden  in  den  Mittelgang  gestellt. 
Verstellen  den  Mittelgang. 

,,Ja  aber!  Ja  aber!"  schreit  der  Stabsarzt  auf 
und  springt,  das  blitzende  Messer  in  der  Hand,  zur 
ersten  Bahre,  trennt  mit  einem  schnellen  Schnitt  das 


155 


ganz  lose  hängende  Bein  vom  Eumpfe.  ,,Ja  aber! 
Ja  aber!  Der  Mann..."  , verblutet  ja',  will  er  sagen, 
und  sagt:  ,,...  ist  ja  schon  tot." 

Aus  den  Hauptadern  tropft  noch  das  wunderbar 
rote  Blut  heraus.  ,,Ist  verblutet...  Den  könnt  ihr 
gleich  wieder  mitnehmen",  sagt  der  Stabsarzt,  reicht 
dem  Sanitäter  das  Bein.  Und  wird  plötzlich  zur 
Karusselachse  der  Welt,  die  sich  schwankend  um  ihn 
zu  drehen  beginnt.  Farben  kreisen.  Grün  herrscht 
vor.  Vorbei  gleiten  der  Pfarrer  mit  dem  Kelche,  der 
bärtige  Bauer,  der  Gliederkübel,  das  vierte  Bett.  Die 
Geschütze  donnern.  Die  lang  und  blau  gebläkte 
Zunge  gleitet  vorbei  und  verlängert  sich  aus  sich  selbst 
heraus,  wird  ungeheuer  lang,  saust  aus  sich  heraus  und 
vorwärts,  unbegreiflich  schnell  hinaus  an  die  Peri- 
pherie der  Welt,  rundet  sich  zum  weltumspannenden 
Menschengliederkranze,  in  dessen  Mitte  ganz  allein 
der  Stabsarzt  steht  und  schwankt  und  sanft  und  weich 
in  Ohnmacht  gleitet.    Alles  gleitet. 

„Uu !" 

Der  Lazarettzug  mit  Irren,  die  durch  das  Grauen 
oder  durch  eine  Schußverletzung  in  das  gewaltige 
Heer  der  Lebendig-Toten  eingereiht  worden  sind, 
mit  Blinden,  deren  feste  Arbeitshände  sich  in  kraft- 
lose, durchsichtige  Krankenhände  verwandelt  haben, 
mit  Amputierten,  mit  Schwerverwundeten,  kriecht 
langsam  durch  die  Landschaft,  bohrt  sich  ganz  lang- 
sam vorwärts  in  die  heimatliche  Landschaft  hinein. 
Frühherbst. 


156 


,,Zweiundzwaiizig",  sagt  das  Kind,  das  an  der 
Landstraßenschranke  steht  und  dem  Zuge  nachsieht. 

Es  sind  nur  zwanzig  Wagen;  das  Kind  hat  die 
Lokomotive  und  den  Tender  mitgezählt.  In  jedem 
Wagen  zwanzig  Kranke,  langgestreckt  und  unbeweg- 
lich in  den  übereinander  befestigten  Betten. 

Die  Blinden  stehen  im  Laufgang  an  den  Fenstern 
und  schauen  hinaus  in  die  wunderbare,  schimmernde 
Herbstlandschaft.  Sie  fühlen  die  Sonne  und  sehen 
die  Finsternis. 

Die  Irrsinnigen  sind  beisammen  in  einem  Wagen. 
Eine  Bank  an  den  vier  Wänden  entlang.  Genügend 
viel  Sitzplätze.  Aber  alle  Irren  hocken  am  Boden, 
in  einem  dreifachen  Kreise,  und  lachen,  lächeln, 
schwätzen,  schweigen,  schütteln  schlau  den  Kopf.  Nur 
einer  steht.  Er  betrachtet  die  Wand.  Er  betrachtet 
seit  sechzig  Stunden  die  Wand. 

Im  Wagen  hinter  dem  Tender  ist  die  Apotheke 
und  das  Operationszimmer,  mit  dem  Zinkblechtisch 
in  der  Mitte.  Im  vorletzten  Wagen  schlafen  die  Sa- 
nitätssoldaten. Im  letzten  Wagen  des  Zuges  liegen 
die,  die  während  der  Reise  verendet  sind.  Der  letzte 
Wagen  füllt  sich  allmählich. 

Niemand  weiß  den  Grund,  auch  der  Stabsarzt 
weiß  nicht,  weshalb  die  Irren,  die  kurz  vorher  noch 
lachend  und  schwätzend  in  dreifachem  Kreise  am 
Boden  gehockt  sind,  jetzt  ganz  still  an  den  vier  Wän- 
den entlang  auf  der  Bank  sitzen.  Einer  dicht  neben 
dem  andern.  Aufrecht.  Schweigend.  Blicklos.  Alle 
Hände  liegen  auf  den  Schenkeln.   Ernste  Puppen. 

157 


Ein  Irrsinniger,  ganz  iinverwundet,  ein  dreißig- 
jähriger Mensch,  in  dessen  ernstem  Gesicht  noch  die 
Züge  früheren  Geistes  zu  sehen  sind,  steht  auf,  streckt 
ein  geöffnetes,  leeres  Streichholzschächtelchen  dem 
Stabsarzt  hin  und  sagt:  ,, Sehen  Sie,  hier  sind  die 
Augen  meiner  Mutter.  Meine  Mutter  hat  sich  um 
mich  die  Augen  herausgeweint  und  sie  mir  in  diesem 
Schächtelchen  zugeschickt . . .  Braune  Augen.  Sie  hat 
sie  sich  herausgeweint." 

,,  Ja,  das  stimmt'^,  sagt  der  Stabsarzt,  der  in  vielen 
, Metzgerküchen'  und  ,Tanzsälen'  drei  Jahre  lang 
knapp  hinter  der  Front  amputiert  hat  und,  von  einem 
Plane,  von  einem  Entschlüsse,  von  einer  scharf  um- 
rissenen  Absicht  plötzlich  erleuchtet,  sofort  nach  dem 
Erwachen  aus  der  Ohnmacht  Urlaub  verlangt  und 
erhalten  hat. 

Der  Stabsarzt  liebt  die  Nebenwege  und  Winkel- 
züge nicht.  Nach  seiner  Meinung  sind  das  herrschende 
europäische  Winkelzugsystem,  die  Halbheiten,  der 
Lügenknäuel  mitschuld  am  Kriege. 

,Wenn  mich  der  Oberst  fragt,  warum  ich  Urlaub 
haben  will,  antworte  ich  nicht:  ,Weil  ich  überarbeitet 
bin',  sondern  ich  sage  zu  ihm:  ,Ich  habe  drei  Jahre 
lang  Soldatenbeine  und  -arme  abgesägt;  jetzt  habe 
ich  die  Absicht,  dafür  zu  wirken,  daß  Soldatenbeine 
nicht  mehr  abgesägt  werden.  Dazu  muß  ich  ins  Land 
zurück.' 

In  zwei  Ecken  erheben  sich  ganz  gleichzeitig  zwei 
Irre;  sie  hocken  auf  den  Boden  nieder.  Und  unver- 
sehens steht  der  Stabsarzt  wieder  im  Mittelpunkt 


158 


eines  dreifachen  Kreises  von  Irren,  die  am  Boden 
hocken,  lächeln,  lachen,  schweigen,  schwätzen.  Einer 
schreit  lustig  und  ausdauernd  „Bö!"  zur  Wagendecke 
empor.  Dabei  schließt  er  die  Augen;  seine  Nase  be- 
kommt Runzeln  und  der  gespitzte  Mund  wird  klein 
und  rund.    „Bö!" 

Der  Stabsarzt  wird  von  der  Alarmglocke  aus  dem 
Wagen  der  Irrsinnigen  herausgerissen.  Und  springt 
schneller  als  der  Zug  fährt,  in  der  Fahrtrichtung  den 
Gang  vor,  in  einen  Wagen.  Und  hinein  in  die  Blut- 
lache am  Boden. 

Der  von  den  Schmerzen  auf  die  Pritsche  fest- 
genagelte, reglos  liegende  Soldat  kann  nur  mit  seinen 
Augen  den  Stabsarzt  aufmerksam  machen  auf  den 
Kameraden,  für  den  er  geläutet  hat. 

Der  Kamerad  hat  den  Verband  von  seiner  zer- 
fetzten Hüfte  heruntergerissen,  ist  dabei  aus  dem  Bett 
gestürzt,  macht  ein  sehr  befriedigtes  Gesicht,  und  ist 
schon  tot.  Er  wird,  vorbei  an  den  Blinden,  die  fragend 
und  tot  blicken,  hintergetragen  in  den  Leichenwagen. 
Ein  armlanger,  scharfzackiger  Fetzen  von  einem 
großen  Geschoß  hat  ihm  die  rechte  Bauchwand  ein- 
gedrückt, die  Hüfte  zersplittert  und  die  Hoden  weg- 
gerissen. Zehn  Tage  und  zehn  lange  Nächte  hat  er  ge- 
braucht zu  dem  Entschlüsse,  den  Verband  herunter- 
zureißen. 

Alle  liegen,  von  den  Schmerzen  auf  die  Pritschen 
festgenagelt,  reglos  wie  Tote.  Jeder  fühlt  dem  näch- 
sten Stoß  entgegen,  der  bei  jeder  Schienenverbindung 


159 


erfolgt.  In  jeder  Sekunde  ein  Stoß,  hinein  in  die 
Schmerzzentrale . 

Das  schmale,  lange,  rollende  Spital,  gefüllt  mit 
dickem  Karbol-  und  Wundgestank,  tastet  sich,  von 
frischer  Luft  umspielt,  durch  die  schwerfarbige,  schim- 
mernde Herbstlandschaft,  vorüber  an  den  Grenz- 
dörfern, deren  Bewohner  an  den  Schranken  stehen, 
Hüte  und  Taschentücher  schwenken,  ,,Hurra!" 
schreien.  Viele  Militärzüge,  mit  Truppen,  die  an  die 
Front  oder  in  Urlaub  fahren,  passieren  diese  Gegend. 

Der  Sanitäter  steht  am  Fenster  und  schüttelt  den 
Kopf,  winkt  mit  der  Hand  ab ;  die  schon  zum  Hurra- 
schreien aufgerissenen  Münder  bleiben  rund  und  laut- 
los offen.  Langsam  kriecht  der  Zug  vorüber  an  den 
Verstummten,  die  nur  die  Hinterköpfe  der  liegenden 
Soldaten  sehen.  Die  Kolbenstange  der  Lokomotive 
steigt,  greift  vorsichtig  und  behutsam  wie  die  Hand 
eines  Taschendiebes  vor,  sinkt,  zieht  zurück,  stiehlt 
sich  vor.    Langsam. 

Der  Stabsarzt  kann  die  Gefühle  der  Dorfbewohner 
am  Aussehen  und  an  der  Lage  des  Dorfes  erkennen, 
an  der  Profillinie  der  umliegenden  Wälder  und  Hügel ; 
daran,  wie  das  Dorf  in  die  Landschaft  hineinkompo- 
niert ist,  erkennt  der  Stabsarzt:  ,Die  werden  nicht 
hurra  schreien.*  Der  Stabsarzt  macht  über  viele  Ge- 
dankenzwischenglieder weg  einen  Sprung  zu  dem  Ge- 
danken: ,Die  Landschaft  ist  das  Vaterland  für  den 
Menschen,  die  Heimat;  nicht  der  Staat.* 

,Die  schönen  Felder,  die  schönen  Felder,  o,  das 
Vaterland',  denkt  der  Soldat,  der  für  den  Kameraden 


160 


geläutet  hat  und  hinaussieht  auf  die  Felder,  die,  lang- 
sam und  sanft  einen  Bogen  beschreibend,  an  seinen 
Augen  vorüberziehen.  Er  hat  seit  langer  Zeit  die 
heimatliche  Erde  nicht  gesehen.  Und  in  die  Weich- 
heit seines  Herzens  brennt  sich  tief  das  unabänderliche 
Unglück  ein:  „Was  sind  für  mich  die  schönen  Felder, 
die  Wälder,  das  Vaterland  ...  Mein  Arm,  den  ich 
nicht  mehr  habe,  ist  mein  Vaterland  . . .,  das  ich  nicht 
mehr  habe." 

Und  der  Bauer,  im  Bett  über  ihm,  weiß,  daß 
kräftige  Beine  vor  Müdigkeit  singen,  wenn  man  einen 
kilometerlangen  Acker  Furche  neben  Furche  umgelegt 
hat,  und  weiß,  daß  er  nie  mehr  pflügen  wird,  da  er  nur 
noch  ein  Bein  hat. 

, Schön,  schön,  wunderbar,  aber  nicht  für  mich*, 
ist  der  Gedanke,  der  in  jedem  Wagen  von  zwanzig 
auf  Lebenszeit  ins  Siechtum  gestellten  Soldaten  ge- 
dacht wird,  von  dreihundertfünfzehn  Soldaten  ge- 
dacht wird.  Fünf  sind  während  der  Keise  gestorben. 
Und  die  fünfundzwanzig  Irren  leben  auf  einem  anderen 
Planeten. 

,Das  Unikum',  ein  Soldat,  dem  beide  Arme  und 
beide  Beine  fehlen,  auch  dieser  Eumpf  denkt  noch; 
er  denkt:  , Schön,  schön,  wunderbar,  aber  nicht  für 
mich.* 

,Was  nützen  mir  die  schönen  Auen.*  Diese  Vers- 
zeile, die  am  Morgen  ein  irrer  Soldat  in  den  Wagen 
hineingerufen  hat,  entsteht  immer  wieder  im  Gehirn 
des  Unikums.  Meistens  schläft  er;  er  schläft  ein  mit 
der  Verszeile:  ,Was  nützen  mir  die  schönen  Auen.^ 

11  161 


Er  ist  nicht  der  einzige,  dem  der  Stabsarzt  beide 
Arme  und  beide  Beine  amputiert  hat;  aber  alle  an- 
deren sind  gestorben.  Das  Unikum  ist  am  Leben  ge- 
blieben. 

Der  Stabsarzt  schlägt  die  Decke  zurück,  betrachtet 
das  Unikum  und  denkt:  ,Wie  schmal  ist  der  Zug  im 
Vergleiche  zu  der  weiten  Breite  der  Landschaft,  durch 
die  er  fährt  ...,  deshalb  fährt  auch  die  Landschaft 
nicht  durch  den  schmalen  Zug,  sondern  der  Zug  fährt 
durch  die  breite  Landschaft.' 

Derartig  überspitzte  Gedanken  hat  der  Stabsarzt 
oft  in  der  letzten  Zeit.  Mit  ihnen  will  er  die  Realität 
festhalten.  Die  Realität,  die  er  im  Laufe  von  drei 
Jahren,  ausgefüllt  mit  Gliederabschneiden,  in  einer 
solchen  Furchtbarkeit  kennen  gelernt  hat,  daß  er  oft 
stundenlang  an  das  Vorhandensein  der  Realität  nicht 
glauben  kann.  Aber  er  rechnet  mit  ihr,  will  mit  ihr 
rechnen.  Seine  Absicht,  wegen  der  er  Urlaub  genom- 
men hat,  veranlaßt  ihn,  sich  die  Realität  nicht  ent- 
gleiten zu  lassen.  Er  will  die  furchtbare  Realität  in 
den  Dienst  seiner  Absicht  stellen. 

Deshalb  erlöst  er  auch  das  Unikum  nicht  mit 
einer  Dosis  Morphium,  obwohl  er,  der  Träger  eines 
tiefen,  von  eigener  Meinung  diktierten  Verantwor- 
tungsgefühls, schon  viele,  die  nicht  so  elend  waren, 
durch  Morphium  erlöst  hat. 

Knapp  unter  den  Schulterblättern,  knapp  unter 
dem  Rumpfe  starren  die  Gliederstumpfe.  Rosa- 
violett.    Nach    obenhin    braungrüne    Ränder.     Die 


162 


Spitzen,  zusammengedrehte  Mißgewächse  aus  Mus- 
kelsträngen und  Haut,  sind  grau. 

Wie  der  Säugling  im  Kinderwagen,  ist  der  Rumpf 
auf  die  Bettpritsche  festgeschnallt.  Dem  Rumpfe  wird 
das  Gesicht  gewaschen.  Dem  Rumpfe  wird  die  Nase 
geputzt.  Der  Rumpf  wird  gefüttert.  Der  Rumpf 
wird  auf  das  Klosett  gesetzt.  Wird  dabei  gehalten. 
Der  Rumpf  hat  noch  einen  Geschlechtsteil,  hat  Augen, 
in  denen  die  Seele  steht,  hat  einen  Mund,  mit  dem  er 
sagt: 

„Bitte,  Herr  Stabsarzt,  sagen  Sie  mir,  wie  soll  ich 
leben?    Was  soll  ich  tun?    Was  soll  ich  tun?" 

jDiese  Frage  soll  einer  von  den  Herren  beant- 
worten, die  an  Ketten  gelegt  werden',  denkt  der  Stabs- 
arzt. Und  schweigt;  denn  er  weiß  die  Antwort  nicht. 

„Hurra a!" 

Der  langgezogene  Schrei  eleganter  Sommer- 
frischler, die  an  der  Schranke  stehen,  trifft  die  Ohren 
von  dreihundertfünfzehn  still-  und  langgestreckt  lie- 
genden Schwerverwundeten,  trifft  die  Ohren  des 
Rumpfes. 

„Was  soll  ich  tun,  Herr  Stabsarzt?" 

Der  Sanitäter  steht  am  Fenster,  schüttelt  den 
Kopf,  versucht,  mit  der  abwinkenden  Hand  die  Be- 
geisterungsschreie in  die  Münder  zurückzudrücken. 

„Hurr a!" 

Der  Stabsarzt  zieht  den  Blick  von  dem  Stück  an- 
geschnallten Menschenfleisch  zurück;  er  sieht  die 
weiche,  schmachtende  Hüftlinie  der  schönen  Blon- 
dine, deren  hochgestreckte  Hand  mit  dem  Spitzen- 


163 


tüclilein  winkt,  vorübergleiten.  Und  weiß  die  Ant- 
wort nicht.  jDiese  entzückende  Körperlinie  ...  Wie 
schön.   Wunderschön.   Aber  dumm,  so  dumm.' 

„ a!'' 

Die  behutsam  vorgreifende  Kolbenstange  der 
Lokomotive  zieht  den  Zug  am  anhaltenden  Schrei 
vorüber.    Langsam. 

,, Schmeckt  Ihnen  das  Essen?"  fragt  der  Stabs- 
arzt. Und  wendet  sich  weg.  Denn  er  fühlt  wieder, 
daß  ihm  der  Glaube  an  das  Vorhandensein  der  Reali- 
tät entgleiten  will,  beim  Anblick  des  Rumpfes. 

„Zu  Befehl,  Herr  Stabsarzt!" 

,Zu  Befehl !  . . .  Das  ist  nicht  möglich.  Nicht  mög- 
lich! Daß  er  ,zu  Befehl  gesagt'  hat',  schreit  innerlich 
der  tief  entsetzte  Stabsarzt.  ,Nicht  möglich!  ...  Der 
seelenmordende  Herrengeist,  der  Geist  der  Knecht- 
schaft, Disziplin,  Unterordnung  und  der  falschen 
Pflichterfüllung,  der  selbst  diesen  Rumpf  noch  sagen 
sagen  läßt  ,zu  Befehl',  hat  den  Krieg  mitverschuldet, 
losgebunden.* 

Der  Stabsarzt  denkt  noch  brennend  scharf,  daß 
dieser  höllische  Ungeist,  hinter  dem  schuldig  und  starr 
und  gewaltig  und  gierig  das  Kapital  steht,  mit  Halb- 
heiten, mit  kleinen  oder  großen  Reformen  nicht  über- 
wunden werden  kann ;  und  wird  von  einer  Empfindung, 
die  vom  tiefsten  Urgründe  des  Seins  aufsteigt,  plötz- 
lich zum  Rumpfe  zurück  und  auf  die  Knie  gerissen. 

Unbewußtes  Zartgefühl  veranlaßt  ihn,  die  Hände 
nicht  zu  gebrauchen,  da  ja  auch  der  Rumpf  Hände 
nicht  gebrauchen  kann  in  dieser  großen   Sekunde, 


164 


in  der  das  Wort  „Bruder"  wiedergeboren,  neu- 
geboren, der  Wahrheit  und  der  Menschheit  zurück- 
gegeben wird  vom  Stabsarzt,  der,  die  Hände  auf 
dem  Rücken,  die  Augen,  die  Stirn,  die  Wangen  des 
Rumpfes  küßt  und  in  wilder  Hingabe:  „Bruder"  sagt. 
,,Wir  sind  Brüder.    Du  und  ich  sind  Brüder." 

Zwanzig  erschütterten  Soldaten  wird  das  ver- 
armte Herz  berührt  von  dem  Worte  „Bruder".  Nicht 
mehr  erhofftes  Glück  steht  groß  im  Wagen. 

Der  Stabsarzt  steht  in  der  Mitte  und  verkündet 
allen  das  neue,  das  wieder  erneute  Gesetz  der  Liebe: 
„Ich  sage  euch:  wir  sind  Brüder."  Er  sagt  das  Wort 
laut,  nicht  weich.  Die  Wahrheit  klingt  im  Tonfall 
seiner  Stimme. 

Finsternis  reißt  entzwei;  die  Morgenröte  der  neuen 
Zeit  steigt,  trifft  und  verklärt  die  zwanzig  Soldaten- 
gesichter. 

Verkünde  einem  zu  lebenslänglichem  Zuchthause 
Verurteilten,  der  schon  zehn  Jahre,  Nacht  um  Nacht, 
dreitausendfünfhundert  lange  Tage  in  der  gleichen 
Zelle  geatmet  hat,  und  der  weiß,  daß  er  diese  Zelle 
nie  verlassen  wird,  verkünde  ihm  plötzlich,  er  sei  frei, 
könne  gehen,  könne  jetzt  sofort  hinausgehen  in  die 
Freiheit,  so  wird  er  noch  eine  halbe  Stunde  in  seiner 
Zelle  bleiben  wollen.  Das  plötzliche  Glück  ist  so  un- 
geheuer groß,  daß  es  ihn  zu  verbrennen  droht. 

Auch  der  Rumpf  wagt  nicht,  sich  dem  Glücke 
sofort  zu  überlassen.  Schon  allein  die  ihn  plötzlich 
durchfließende  Gewißheit,  daß  auch  für  ihn  ein  Glück 
noch  möglich  ist,  kann  seine  Seele  verwirren.  Er  wagt 


165 


noch  nicht,  das  Wort  „Bruder"  zu  flüstern,  und  weiß, 
daß  er  es  flüstern,  sprechen,  beten  wird.  „Bruder." 
So  schläft  er  ein.  Und  träumt  sofort  die  wunderbare 
Antwort,  die  ihm  der  Stabsarzt  gab  auf  die  Frage: 
„Was  soll  ich  tun?  ...  Bruder." 

Der  revolutionäre  Geist  der  Liebe  durchdringt  den 
Zug,  dringt  in  alle  Wagen,  in  die  Herzen  aller  Soldaten 
ein.  Und  wird  von  der  Lokomotive  langsam  in  das 
Innere  des  Landes  getragen,  der  Absicht  des  Stabs- 
arztes zu  dienen,  der  im  Gange  bei  den  Blinden  steht, 
vor  einem  Soldaten,  der  kein  Gesicht  mehr  hat. 

Von  der  Stelle,  wo  das  Kinn  war,  bis  zum  Haar- 
ansatz bei  der  Stirn:  —  eine  Fläche.  Oben  verbreitert 
durch  die  Ohren.  Kein  Mund.  Keine  Zähne.  Keine 
Nase.  Keine  Augen.  Alles  ist  weg.  Zwei  Löcher,  wo 
die  Nase  war.  Ein  kleines,  lippen-  und  formloses, 
narbiges,  schiefes  Loch,  wo  der  Mund  war.  Die  Augen- 
lider, die  Augenbrauen,  die  Augen  sind  ganz  weg:  eine 
grauenvolle  Fläche,  entstellt  durch  farbige  Narben 
und  Mißgewächse  aus  Haut. 

Der  Stabsarzt  sieht  die  flache,  leere  Kiesennarbe 
an  und  fragt:  ,, Sagen  Sie,  Lieber,  erkennen  Sie  Jhre 
Kameraden  schon  an  der  Stimme? 

Der  Soldat  macht  eine  ungeheure  Anstrengung, 
ein  Wort  zu  formen.  Die  rote  Zungenspitze  durch- 
stößt immer  wieder  das  schiefe,  lippenlose  Loch.  Er 
gestikuliert  mit  den  Händen. 

Jetzt  erst  erinnert  sich  der  Stabsarzt,  daß  der 
Mann  nicht  sprechen  kann,  weil  er  keinen  Mund,  keine 


166 


Zäline  mehr  hat.   Und  drückt  in  grenzenloser  Liebe 
die  Narbe  an  seine  Wangen. 

Der  Gefühlssturm,  der  den  Soldaten  durchfliegt, 
wird  nicht  sichtbar,  da  der  Soldat  kein  Antlitz  hat. 
In  wilder  Erregung  tastet  er  nach  der  Menschenhand, 
preßt  sie.  Und  steht  im  Glücke,  das  nicht  sichtbar 
werden  kann. 

Der  Stabsarzt  verkündet  den  Blinden  das  neue, 
das  erneute  Gesetz. 

Herzen  ziehen  sich  zusammen.  Krampfhaft. 
Schmerzlich. 

Und  öffnen  sich  weit. 

Die  Alarmglocke  ruft.  Zusammen  mit  dem  auf- 
geregt winkenden  Sanitäter  springt  der  Stabsarzt 
in  den  Wagen  der  Irrsinnigen  hinein. 

Das  in  der  Lokomotive  über  dem  Manometer  an- 
gebrachte Telephon  klingelt.  Der  Lokomotivführer 
wird  hastig  aufgefordert,  schneller  zu  fahren  und  im 
nächsten  Dorfe  zu  halten. 

Ein  Irrer  hat  sich  unterm  Knie  die  Sehnen,  die 
Hauptadern,  die  tieferliegenden  Arterien  durch- 
schnitten, die  ganze  Wade  weggeschnitzt.  Bis  zum 
Knochen.  Das  Blut  strömt.  Niemand  weiß,  woher 
er  die  kleine  Gilletterasierklinge  hat. 

Alle  Irren  sitzen  dicht  nebeneinander  an  den  vier 
Wänden  entlang,  reglos  auf  der  Bank.  Ernstes  Pub- 
likum. Der  Schwer  verwundete  wird  hinausgetragen. 
An  den  Blinden  vorbei.   In  den  Operationswagen. 

Die  Apfelbaumallee  gleitet  schnell  nach  rückwärts. 


167 


Schneller.  Saust  nach  rückwärts.  Die  Stöße  erfolgen 
schneller,  heftiger.    Schmerzensschreie  werden  laut. 

Telegraphenstangen,  ein  vereinzelt  stehend esHaus, 
ein  pflügender  Bauer,  eine  Scheune  stürzen  nach  rück- 
wärts.   Die  weiße  Landstraße  saust  mit  dem  Zuge. 

Der  Irre  ist  schon  entkleidet.  Liegt  auf  dem  Ope- 
rationstisch. Wehrt  sich  wütend.  Kann  schwer  ge- 
halten werden. 

Donnernd  über  eine  Brücke,  Wasser  blitzt  auf. 

Das  Blut  strömt  dick.  Wird  vom  Herzen  stoß- 
weise zu  den  offenen  Adern  hinausgepumpt.  Der  Stabs- 
arzt kann  die  Adern  des  Wütenden  nicht  abbinden. 
Läßt  ihn  festschnallen.   Äthermaske. 

Der  Turm  der  Dorfkirche  erscheint  gleichzeitig  mit 
dem  Ertönen  des  langgezogenen  Warnungspfiffes. 

Die  Mütze  des  herbeieilenden  Stationsvorstandes 
leuchtet  rot  auf.  Und  während  der  Zug  einläuft  und, 
unter  Schmerzen  für  die  Verwundeten,  heftig  stoßend 
allmählich  auf  ein  Nebengeleise  rangiert  wird,  ist  der 
Stabsarzt  schon  mitten  in  der  blutigen  Arbeit. 

Der  Zug  steht. 

Jetzt  erst  vernehmen  die  still  werdenden  Bauern- 
kinder das  laute,  vielstimmige  Stöhnen. 

Der  Stabsarzt  arbeitet  hastig.  Die  obere  Ge- 
sichtshälfte des  Narkotisierten  gewährt  den  Anblick 
eines  friedlich  Schlafenden;  der  ganz  schmal  geöffnete, 
starre  Mund  lächelt  ein  spitziges,  bewußt  boshaftes 
Lächeln.    ,Ich  sterbe  doch.' 

,Ich  muß  das  Bein  retten  . . .  Gerade  dein  Lächeln 
veranlaßt  mich,  das  Bein  zu  retten',  denkt  der  Stabs- 


168 


arzt,  während  er  mit  der  Sonde  arbeitet,  mit  der  Pin- 
zette die  Arterien  zurechtlegt  in  ihre  anatomische 
Ordnung,  die  Arterien  und  die  Hauptadern  abklemmt, 
die  durchschnittene,  zurückgeschnellte  Sehne  hervor- 
zerrt. Schnell,  exakt,  fast  schon  automatisch.  ,Wärst 
du  unheilbar  irr,  dann  würdest  du  mir  nicht  dieses 
schadenfrohe  Lächeln  zeigen  können,  das  deiner  Tat 
so  genau  entspricht.  Bist  heilbar.  Und  kannst  deine 
Beine  brauchen!' 

Dabei  sieht  er,  so  oft  er  den  Kopf  hebt,  über  die 
Bauernkinder,  die  auf  den  Zehenspitzen  stehen  und 
doch  nur  die  blutigen  Arzthände  sehen  können, 
schnell  hinweg  und  zur  Güterhalle,  wo  eine  Menschen- 
ansammlung ist,  die  sich  beständig  vergrößert :  Weiber, 
Bauern,  einige  Soldaten,  die  auf  Urlaub  sind.  Die 
rote  Mütze  des  Stationsvorstehers.  Auf  einer  Kiste 
steht  ein  Mensch  und  spricht. 

Satzfetzen  dringen  bis  zum  Stabsarzt  herüber. 

Ein  kleiner  Bauernjunge  neigt  sich  zu  einem  an- 
dern, flüstert,  deutet  mit  dem  Zeigefinger.  Er  hat  ein 
Instrument  aufblitzen  sehen.  Sein  Mund  bleibt  offen. 

„...  und  wenn  im  Kriege  fremdes  Land  erobert 
wird,  dann  ist  das  gar  keine  Ehre,  sondern  Kaub", 

hört  der  Stabsarzt,  wundert  sich,  daß  jetzt  das 
boshafte  Lächeln  verschwunden  ist. 

,,Wenn  ein  Bauer  glaubt,  er  könne,  nur  weil  er 
kräftiger  ist,  einem  schwächern  Bauern  Land  weg- 
nehmen, dann  ist  er  kein  Ehrenmann,  sondern  ein- 
fach ein  Käuber." 

Der  Stabsarzt  vernimmt  zustimmende  Antworten. 


169 


Und  einen  lauten  Zuruf.  Sein  Staunen  wird  zur  Be- 
friedigung. Seine  Absicht  steht  groß  und  ausführbar 
vor  ihm. 

„...  natürlich,  da  haben  Sie  ganz  recht,  natürlich 
ist  der  Bauer  außerdem  noch  dumm.  Denn  er  wird 
gestraft.    Muß  gestraft  werden." 

, Werden  an  Ketten  gelegt  werden.' 

„Es  wird  einen  Prozeß  geben.  Streit  und  Haß  . . . 
Ebenso  ist  es,  wenn  im  Kriege  Land  erobert  wird: 
Haß,  Vergeltung.   Ein  neuer  Krieg." 

,Ist  denn  das  wirklich  eine  Frau?  Eine  Frau?* 
denkt  der  Stabsarzt  und  hört  sie  sagen: 

„Mein  Mann  war  Versicherungsagent  ..." 

Die  Glocke  der  Dorfkirche  beginnt  zu  läuten, 
übertönt  die  weiteren  Worte.  Der  D-Zug  saust  durch 
die  Station.  Der  Operierte  wird  vorsichtig  vom  Tische 
heruntergehoben. 

Die  Art,  wie  die  Bauersleute  um  die  Sprechende 
herumstehen,  zuhören,  kommt  dem  Stabsarzt  bekannt 
vor.  ,Das  Ganze  sieht  improvisiert  aus.'  Der  Stabs- 
arzt möchte  hingehen.  ,Und  vielleicht  fünf  Minuten 
lang  sprechen  . . .  Drei  Minuten  Zeit  könnte  ich  mir 
vielleicht  nehmen.' 

Das  Stöhnen  der  dreihundfünfzehn  Soldaten  klingt 
zusammen  in  einen  Ton.  Im  Wagen  der  Irrsinnigen 
platzt  eine  Lachsalve. 

Der  Stationsvorsteher  springt  von  der  Menschen- 
ansammlung weg  zum  Lazarettzug:  der  Schnellzug 
sei  durch;  der  Lazarettzug  müsse  jetzt  weiterfahren, 
damit  die  Strecke  frei  werde. 


170 


tatsächlich,  der  Vorsteher  läuft  gleich  wieder 
hin!  Interessiert  sich/  Das  freut  den  Stabsarzt  sehr. 
Jetzt  erst  erinnert  er  sich,  daß  er,  wenn  der  Zug  lang- 
sam an  den  Dörfern  vorübergefahren  war,  vor  den 
Kneipen,  vor  den  Kirchen,  vor  den  Rathäusern  schon 
öfters  solche  improvisiert  aussehenden  Gruppen  her- 
umstehender Bauern  bemerkt  hat,  die  aussahen,  als 
warteten  sie  auf  etwas. 

,Hat  die  alte  Ordnung,  Zucht  und  Meinungslosig- 
keit  Risse  bekommen?  Ist  auf  unkontrollierbaren 
Wegen  der  neue  Geist  schon  bis  zu  den  Bauern  ge- 
drungen ?  . . .  Die  Bewohner  vieler  Dörfer  haben  nicht 
hurra  geschrien,  sind  stumm  und  nachdenklich  an  den 
Schranken  gestanden,  im  auffallenden  Gegensatze  zu 
den  noch  hurra  schreienden  Bewohnern  der  Grenz- 
dörfer.' 

Der  Zug  hat  nach  mehrfachem  Vor-  und  Rück- 
wärtsfahren, unter  Pfiffen  und  Pufferstößen  und  unter 
Wimmern,  Stöhnen  und  Keuchen  der  Verwundeten 
das  Hauptgeleise  wieder  erreicht.   Und  rollt. 

Während  der  Stabsarzt  zurückblickt  und  sieht, 
wie  der  Weichensteller  aus  dem  Hebelhäuschen  schnell 
heraus  und  auch  auf  die  Gruppe  zuläuft,  stoßen  seine 
Gedanken  vor  in  die  kommende  Zeit.  Er  empfmdet 
das  erstemal  in  seinem  Leben,  mit  einer  ihn  tief  be- 
rührenden Feierlichkeit,  daß  der  Gedanke  Macht  und 
Wirkung  erlangt  hat;  daß  die  Untertanen,  die  bisher 
als  meinungslose,  gedankenlose  Einzelzellen  dem  na- 
tionalen Riesenuniversalgehirn  willen-  und  macht- 
los   zugeteilt   und   untergeordnet   waren,    begonnen 

171 


haben,  sich  loszureißen,  Einzelwesen  mit  eigenem  Ge- 
hirn, eigener  Meinung  zu  werden. 

,Sie  beginnen,  zu  denken.  Das  ungeheure  1/eid 
hat  die  Verkalkung  zerbrochen.  Der  Geist  zieht  über 
das  Land.  Das  Alte  bricht  auseinander,  getroffen 
vom  Leide  und  von  der  wilden  Sehnsucht  nach  Frei- 
heit. Die  Einzelnen  und  das  Volk  wollen  ihr  Schicksal 
selbst  gestalten.    Der  Einzelne  beginnt,  zu  denken.* 

Mit  feierlicher  Gewißheit  weiß  der  Stabsarzt,  daß 
der  Anbruch  des  neuen  Zeitalters,  in  dem  der  Mensch 
gut  sein  darf,  nahe  herbeigekommen  ist.  Frohlockend 
fühlt  er,  daß  seiner  Absicht,  der  neuen  Zeit,  dem  neuen 
Geiste,  dem  revolutionären  Geiste  der  Liebe  zum 
Durchbruch  zu  verhelfen,  die  Ereignisse  entgegen- 
kommen. 

Damit,  wie  der  Stabsarzt  durch  den  Gang  und 
durch  die  Wagen  schreitet,  zu  den  Verwundeten 
spricht,  sie  anblickt,  revolutioniert  er  den  ganzen  Zug. 
Das  Überzeugende  liegt  mehr  im  Tone  seiner  Stimme 
und  im  Ausdruck  seines  Gesichtes,  als  in  den  Worten, 
mit  denen  der  Stabsarzt  ohne  Haß  und  ohne  Freude 
den  Soldaten  beweist:  ,,Die  werden  an  Ketten  gelegt 
werden." 

Augen  glänzen.  Verehrung  und  stürmische  Liebe 
empfängt  überall  den  Stabsarzt. 

Er  bittet  zwei  Sanitäter,  einen  hilflosen  Krüppel 
vom  Bett  herunterzuheben.  Der  Krüppel  soll  zeigen, 
ob  er  schon  laufen  kann ;  er  bekommt  seine  zwei  Spa- 
zierstöckchen  in  die  Hand.  Die  Stöckchen  sind  nur 
fünfzig  Zentimeter  hoch.    Der  Krüppel  gewährt  den 


172 


Anblick  eines  halbgeöffneten  Taschenmessers.  Der 
Krüppel  ist  ein  rechter  Winkel.  Ein  Geschoß  hat  ihm 
den  Rückenwirbel  zersplittert.  Und  der  Rückenwirbel 
ist  falsch  zusammengewachsen.  Der  Krüppel  kann 
sich  nicht  mehr  aufrichten.  Kann  sich  in  seinem  Leben 
nie  mehr  aufrichten.  Er  geht,  ein  wandehider  rechter 
Winkel,  am  Stabsarzt  vorüber,  wendet  sich  um,  lang- 
sam wie  eine  Kuh,  hebt  mühsam  das  Gesicht,  fragt 
den  Stabsarzt  mit  den  Augen.  Und  muß  den  Kopf 
gleich  wieder  sinken  lassen :  das  Gesicht  steht  wieder 
horizontal  zum  Boden.  Der  Mensch  mit  den  zwei 
niedrigen  Spazierstöckchen  sieht  aus  wie  ein  vier- 
beiniges Tier. 

Der  Stabsarzt  überlegt,  was  er  schon  während 
.  der  ganzen  Reise  überlegte:  ob  er  wagen  soll,  den 
Rückenwirbel  noch  einmal  zu  brechen  und  den  Mann 
aufzurichten,  damit  der  Wirbel  richtig  zusammen- 
wachsen kann.  ,Es  ist  fast  unmöglich,  eine  tödliche 
Verletzung  des  Rückenmarks  dabei  zu  vermeiden*, 
denkt  der  Stabsarzt.  Denkt:  ,AVerden  an  Ketten  ge- 
legt werden.' 

Und  läßt  den  Menschenwinkel  wieder  auf  das  Bett 
zurücklegen. 

„Und  im  Grunde  sind  wir  alle  Kameraden",  sagt 
zu  sich  selbst  ein  Soldat,  der  sich  vorstellt,  daß  auf 
vielen  Geleisen  von  Europa  langsam  solche  Züge 
fahren,  gefüllt  mit  Krüppeln,  Irren,  Blinden.  „Sie 
haben  uns  verwundet,  wir  haben  sie  verwundet.  Und 
im  Grunde  sind  wir  alle  Kameraden." 

Das  lange,  schmale  Spital  schiebt  sich  durch  die 


173 


schon  abendliche  Herbstlandschaft.  Der  Stabsarzt 
muß  immer  wieder  das  Wort  , Auflösung'  denken, 
wenn  er  vom  Fenster  aus  die  improvisierten  Gruppen 
herumstehender  Bauern  sieht.  Auch  einen  mit  hin- 
kenden Soldaten  untermischten  großen  Zug  von 
Bauern,  dem  ein  Kruzifix  und  eine  rote  Fahne  voran- 
getragen werden,  überholt  langsam  das  Spital. 

An  die  Realität  dieses  Ereignisses  will  der  Stabs- 
arzt nicht  glauben.  Erst  die  Einzelheiten  überzeugen 
ihn:  ein  Feldarbeiter,  der  seine  Hacke  schultert,  eine 
Ackerfurche  entlang  läuft  und  sich  dem  Zuge  der 
Bauern  anschließt;  ein  beinloser  Soldat,  der,  neben 
der  Fahne,  mitkrückt ;  die  lange  Staubwolke,  die  hinter 
dem  Zuge  steht. 

Der  rote  Schein  der  untergehenden  Sonne  trifft 
den  Zug,  das  Kruzifix,  und  durchleuchtet  rosa  die 
Staubwolke  und  glühend  die  rote  Fahne. 

,Die  Herren  trieben  die  Lüge  auf  die  Spitze:  sie  be- 
fahlen, die  Kirchenglocken  in  Geschoße  umzugießen, 
und  die  Priester  gebrauchten  zu  diesem  Befehle  die 
Worte  ,Gott'  und  ,Christentum*.  Sie  vergaßen,  daß 
der  Untertan  begonnen  hat,  zu  denken.' 

Die  Hauptstraße  eines  Städtchens,  an  dem  das 
Spital  vorbeikriecht,  ist  schwarz  von  langsam  sich 
bewegenden  Menschen. 

,Das  Leid  zog  durch  das  ganze  Volk,  ließ  sich  in 
jedem  Hause  nieder.  Das  Leid  entfesselt  das  Ereignis.' 

Im  Stabsarzt  läßt  sich  Stille  nieder,  voll  und 
schön  wie  die  Nacht,  aus  der  das  Frührot  bricht. 


174 


überrascht  bleibt  er  vor  dem  Wagen  der  Irr- 
sinnigen stehen:  sie  hocken  nicht  am  Boden  in  drei- 
fachem Kreise,  sitzen  nicht,  ernsten  Puppen  gleich, 
reglos  an  den  Wänden  entlang,  sondern  gehen  alle 
im  Wagen  umher,  um  einander  herum,  in  Schlangen- 
linien kreuz  und  quer,  beständig  und  unregelmäßig, 
meditierend,  gestikulierend,  den  Blick  zu  Boden  ge- 
richtet. Tief  mit  sich  selbst  beschäftigt.  Der  Schein 
der  untergehenden  Sonne  trifft  rot  ihre  Gesichter. 

Ein  Irrer  wendet  sich  plötzlich  um,  geht  schnell 
auf  den  Stabsarzt  zu  und  sagt:  ,,Jehovah  sitzt  in 
meinem  Bauche  . . .  Jehovah  ist  eine  der  Wissenschaft 
ganz  unbekannte  Masse."  Er  lächelt  den  Stabsarzt 
wohlwollend,  mitleidig  und  mit  einem  Schein  von 
Schadenfreude  an,  weil  der  davon  nichts  weiß.  Hebt 
die  Schultern:  ,,Tut  mir  leid,  eine  der  Wissenschaft 
ganz  unbekannte  Masse." 

Erst  als  der  Stabsarzt  den  zweiten  Alarmruf  ver- 
nimmt, klingt  auch  der  erste,  den  er  überhört  hat,  in 
seinen  Ohren. 

Der  übermüdete  Sanitäter,  der  den  operierten 
Irren  bewachen  sollte,  war  sitzend  eingeschlafen  und 
zu  spät  aus  dem  Schlafe  aufgefahren. 

Die  blutigen  Fetzen  des  Verbandes  liegen  auf  dem 
Boden,  im  blutnassen  Bett,  hängen  vom  Bein  her- 
unter. Fleischfetzen  hängen  vom  Bein  herunter.  Der 
Operierte  hat  die  sorgfältige  Arbeit  des  Stabsarztes 
zerstört.  Hat  die  Fingernägel  in  die  Wunde  tief  hin- 
eingebohrt und  alles  herausgerissen.  Das  Herz  pumpt 
das  Blut  stoßweise  zu  den  offenen  Adern  hinaus.  Der 


175 


Mann  ist  bei  Bewußtsein  und  keucht.  Das  Bein  ist 
verwüstet.    Muß  amputiert  werden. 

Der  Kranke  liegt  still,  blickt  den  Stabsarzt  wie  aus 
einem  tiefen  Abgrunde  heraus  ruhig  und  müde  an. 
Und  sagt  plötzlich,  langsam  und  klar:  ,, Lassen  Sie, 
bitte.  Will  nicht." 

Der  Stabsarzt  bittet  zögernd  zwei  Sanitäter,  den 
Blutüberströmten  in  den  Operationswagen  zu  tragen. 

Und  wendet  sich  um  zu  einem  andern  Kranken, 
der  vorgebeugt  auf  dem  Stuhle  sitzt  und,  mit  jedem 
Buchstaben  mehrere  Male  Atem  holend,  „Herr  Stabs- 
arzt" zu  sagen  versucht. 

Der  Mann  hat  einen  Schuß  in  den  Magen  be- 
kommen. Das  Zwerchfell  ist  verletzt.  Luft  ist  in  die 
Brusthöhle  eingedrungen  und  komprimiert  die  Lunge. 
Unaufhörliche  schwerste  Atemnot.  Auch  wenn  er 
spricht,  muß  er  ununterbrochen  in  rasender  Folge 
Atem  holen.  Sein  Gesicht  ist  blau.  Er  ist  total  ab- 
gemagert. Sieht  zum  Stabsarzt  auf  mit  einem  Blicke, 
der  aus  Bitten,  Frage  und  Angst  besteht.  Und  atmet. 
Und  atmet.  Schnell  wie  ein  Hund,  der  einem  Auto- 
mobil nachgerast  ist.  Er  will  am  Leben  bleiben.  Sein 
bittender  Angstblick  fragt,  ob  es  ihm  einmal  wieder 
besser  gehen  werde. 

,,Ja,  es  wird  besser  werden",  sagt  der  Stabsarzt. 
Und  denkt:  ,Im  Laufe  von  drei  bis  vier  Jahren  ..., 
wenn  nicht  vorher  seine  Kraft  schon  erschöpft  und 
seine  komprimierte  Lunge  nicht  schon  vorher  abge- 
storben ist.' 


176 


Schon  oft  hat  der  Stabsarzt  überlegt,  welcher 
von  seinen  Kranken  der  Beklagenswerteste  sei.  Und 
hat  sich,  wenn  er  machtlos  vor  diesem  Atmenden 
stand,  der  während  des  ganzen  Tages  und  in  den 
schlaflosen  Nächten  nie  eine  Sekunde  lang  von  seiner 
schweren  Not  zu  erlösen  ist,  für  ihn  entschieden. 

Und  wenn  er  dann  vor  dem  Rumpfe  steht 

Und  wenn  er  vor  dem  Menschen  steht,  der  keine 
Augenbrauen,  keine  Augenlider,  keine  Augen,  keine 
Nase,  keinen  Mund,  kein  Gesicht  mehr  hat 

Und  wenn  er  vor  dem  ,Rechten  Menschenwinkel' 
steht  —  —  — 

Und  wenn  er  im  Wagen  der  Irrsinnigen 
steht 

Langsam  kriecht  der  Zug  durch  die  breite  Land- 
schaft in  den  Abend  hinein. 

Der  Stabsarzt  steht  vor  dem  Operationstisch. 
,Das  Kniegelenk  wenigstens  kann  gerettet  werden', 
denkt  er.  Und  beginnt:  klemmt  die  Hauptadern  und 
die  tieferliegenden  Arterien  ab,  zerrt  so  weit  wie  mög- 
lich die  Sehne  vor,  die  unter  dem  Stumpfe  verwachsen 
und,  zusammen  mit  der  Haut  und  den  Muskelsträngen, 
das  Polster  für  das  künstliche  Glied  liefern  soll. 

Der  langsam  fahrende  Zug  klappert  dazu  langsam 
die  Melodie  von  ,Deutschland,  Deutschland  über  alles', 
tröpfelt  die  Melodie  in  das  vergebens  widerstrebende 
Gehirn  des  Stabsarztes  hinein.  Er  will  dem  langsamen 
Tempo  des  Zuges  die  Melodie  von  ,Nun  danket  alle 
Gott'  unterlegen.  Es  gelingt  ihm  nicht.  ,Deutschland, 
Deutschland  über  alles'  behauptet  sich  hartnäckig. 

12  177 


Furchtbare  Wildheit  erstarrt  im  Gesichte  des 
Stabsarztes.  Der  Knochen  ist  durchgesägt.  Unterm 
Knie.  Der  Sanitäter  schiebt  das  abgesägte  Bein  zur 
Seite. 

Der  Amputierte  liegt  reglos.  Seine  Lippen  sind 
weiß. 

,Sein  Mund  weint . . .  Kann  denn  ein  Mund  weinen  V 
denkt  der  Stabsarzt,  nimmt  die  Metallklemmen  von 
den  Adern  ab,  reinigt  noch  einmal  sorgfältig  die  blut- 
rünstige Innenseite  der  aufgesparten  Haut. 

Und  während  er  die  Hautlappen  und  die  durch- 
schnittenen Muskelstränge  unter  dem  Stumpfe  mit- 
einander verbindet,  klappert  langsam  der  Zug  weiter: 
,Deutschland,  Deutschland  über  alles'.  Und  zu  der 
Melodie  entstehen  im  Gehirn  des  Stabsarztes  plötzlich 
von  selbst  die  Worte: 

,, Dunkle,  wilde  Leidenssphäre 
Hüllet  die  Millionen  ein. 
Seht  das  neue  Feld  der  Ehre: 
Kampf  um  Liebe,  Eecht  und  Sein! 
Die  gewaltgen  Krüppelheere 
Brechen  in  den  Lichtkreis  ein 
Jener  großen,  tiefen  Lehre: 
Menschen  werden  Brüder  sein." 

Eine  weithin  übersehbare  Ebene,  die  schon  in 
abendblauer  Dämmerung  liegt.  Der  Zug  schleicht 
langsam  weiter,   vorüber   an  großen  Keklametafeln. 

Der  Stabsarzt  denkt:  ,Von  allen  Seiten  kommen 
die  langen,   schmalen   Spitale  ins  Land,   auf  allen 


178 


Geleisen  tragen  die  Lazarettzüge  die  Krüppel  ins 
Land.  Täglich  seit  drei  Jahren.  In  alle  Städte,  in 
alle  Städtchen,  in  alle  Dörfer.* 

Er  sieht  in  der  Ferne  die  niedere,  schwarze  Sil- 
houette von  Berlin.  Das  Ziel  der  Reise. 

Er  will  nicht  glauben,  daß  dies  die  Sonne  ist: 
eine  ganz  kleine  Scheibe,  nicht  größer  als  eine  hal- 
bierte Blutorange,  dunkelrot  wie  eine  halbierte  Blut- 
orange,  steht  tief  am  gefleckten  Himmel  krank  und 
düster  hinter  Berlin. 

,Wie  eine  tödliche  Wunde.* 

,, Dunkle,  wilde  Leidenssphäre 
Hüllet  die  Millionen  ein", 

singt  der  Stabsarzt  im  Tempo  des  Zuges  und  trocknet, 
den  Blick  auf  Berlin  gerichtet,  die  Hände  ab  am 
Tuche,  das  sich  rosa  färbt. 

,,Wenn  Sie  den  Vertrag  nicht  einhalten,  gerate 
ich  mit  meiner  ganzen  Familie  ins  Elend." 

,,Das  täte  mir  ja  sehr  leid,  wirklich  sehr  leid  ... 
Aber  in  unserer  Branche  muß,  wie  Sie  ja  wissen 
werden,  mein  Vertreter  fortwährend  mit  in  der  Regel 
sehr  vornehmen  und,  sagen  wir  ...  empfindlichen 
Damen  verkehren  und  unterhandeln.  Im  Geschäfts- 
interesse. Er  muß  diese  Damen  unausgesetzt  mit 
allen  möglichen  Feinheiten  bearbeiten.  Das  verlangt 
nun  einmal  das  Geschäftsinteresse.  Es  handelt  sich 
in  jedem  einzelnen  Falle  um  den  Gewinn  oder  den 
Ausfall  von  Tausenden.  Sehen  Sie  ein,  mein  Vertreter 


179 


muß  diesen  Damen  doch  . . .  die  Hand  geben  können. 
Das  zum  Beispiel  ist  unbedingt  notwendig.  Aber  Sie 
können  das  nicht . . .  gut,  da  Sie  ja  keine  Hände  haben 
. . .  Tut  mir  ja  wirklich  sehr  leid,  aber  diesen  Direktor- 
posten können  Sie  nicht  versehen.  Das  ist  unmöglich." 

„Das  mag  ja  ..." 

„Wirklich  unmöglich!" 

„...  vor  dem  Kriege  so  gewesen  sein,  ..." 

,,Ganz  und  gar  unmöglich!" 

„...  aber  für  jetzt,  für  diese  Zeit  gilt  das  sicher 
nicht  mehr.  Jetzt  ist  doch  jeder  anständige  Mensch  in 
dieser  Hinsicht  rücksichtsvoll.  Jetzt  stößt  sich  doch 
niemand  daran,  stößt  sich  doch  eine  noch  so  vor- 
nehme Dame  nicht  daran,  daß  ein  Mensch  ...  keine 
Hände  hat." 

,, Jetzt?  Gewiß,  jetzt  vielleicht  noch  nicht.  Aber 
—  es  tut  mir  ja  wirklich  sehr  leid,  Ihnen  das  sagen 
zu  müssen  —  meiner  Meinung  nach  wird  das  nicht 
immer  so  bleiben.  Es  wird  nicht  einmal  allzu  lange 
so  bleiben  ...  Das  Leben  geht  weiter.  Bekanntlich. 
Und  ich  brauche  für  mein  großes,  erstklassiges  Unter- 
nehmen einen  repräsentativen  Vertreter,  der  im 
vollen  Besitze  seiner,  sagen  wir  ...  gesellschaftlichen 
Fähigkeiten  ist.  Das  begreifen  Sie.  Ja  wirklich  leid 
. . .  Eine  entsprechende  Entschädigung  —  in  Grenzen." 

„Danke.  Da  bleibt  mir  nichts  anderes  übrig,  als 
mich  auf  den  gesetzlichen  Rechtsstandpunkt  zu  stellen. 
Ihr  früherer  Vertreter  hat,  während  Sie  im  Militär- 
dienste waren  und  bevor  er  selbst  einrücken  mußte, 


180 


einen  rechtsgültigen  Vertrag  mit  mir  abgeschlossen. 
Er  war  von  Ihnen  ermächtigt,  Angestelltenverträge 
abzuschließen.  Der  Vertrag  ist  juristisch  unanfecht- 
bar." 

„Also  tun  Sie  mir  den  Gefallen,  und  reden  Sie 
nicht  von  Verträgen.  Verträge  sind  nur  ...  Papier. 
Kanzleipapier." 

Auch  der  verstümmelte  Herr  erhebt  sich.  „Darin 
wird  Ihnen  kein  Richter  der  Welt,  kein  objektiver 
Richter  recht  geben.  Keiner  wird  sagen,  Verträge 
seien  nur  Papier." 

„Möglich.  Aber,  sagen  Sie  selbst,  was  kann  ich 
tun?  Es  handelt  sich  hier  um  den  exponiertesten, 
wichtigsten  Posten  meines  ganzen  Unternehmens. 
Halte  ich  den  Vertrag  ein,  dann  wird  meine  Firma 
mit  mathematischer  Sicherheit  von  der  Konkurrenz 
überflügelt.  Und  in  der  Not  . . .  was  tut  ein  Mensch, 
der  vorwärts  kommen  will,  der  etwas  erreichen  will, 
sagen  wir,  ein  bestimmtes  Ziel  erreichen  will,  was 
tut  der  nicht  alles  in  der  Not . . .  Wir  haben  in  dieser 
Hinsicht  schon  ganz  andere  Dinge  erlebt." 

Der  Herr  ohne  Hände  fragt  noch  ganz  ruhig: 
„Und  wenn  nun  alle  nach  . . .  diesem  Prizip  handeln 
würden?  Wenn  das  ganze  Geschäftsleben  unseres 
Landes  nach  dem  Prinzip :  Verträge  sind  nur  Kanzlei- 
bogen, gehandhabt  würde?" 

Der  Kaufmann  hebt  die  Schultern.  „Jeder  sehe, 
wie  er  fertig  werde  ...  Soweit  wie  möglich  will  ich 
ja  gerne  die  Sache  wieder  gutmachen." 

„Ich  sage  Ihnen   aber:   Verpflichtungen  müssen 


181 


eingehalten  werden.  Verträge  müssen  eingehalten 
werden.  Das  ist  ein  moralisches  Gesetz,  das  in  ganz 
Europa  sogar  zum  geschriebenen  Gesetze  erhoben 
worden  ist."  Das  Gesicht  des  Verstümmelten  wird 
dunkelrot.  „Und  ich  sage  Ihnen:  es  gibt  im  deutschen 
Volke  noch  Menschen,  die  das  Raubsystem  nicht  mit- 
machen. Die  unser  Volk  wieder  rehabilitieren  wer- 
den ...    Auf  Kosten  der  Straßenräuber  Ihrer  Art." 

„Das  ist  eine  Beleidigung.  Ich  kann  Sie  belangen", 
schreit  der  Kaufmann  in  falschem  Zorne. 

Der  Verstümmelte  geht.  Sein  Schicksal  ist  das 
Schicksal  der  Kriegsbeschädigten. 

Hunderttausende  werden  mit  ähnlichen  Gründen 
abgefertigt  von  den  Unternehmern.  Hundertausende 
—  Schlosser,  Schreiner,  Spengler,  Maurer,  Schmiede, 
Bergleute,  Handlanger,  Taglöhner,  Erdarbeiter,  Bau- 
arbeiter —  verlassen  als  Abgewiesene,  stillgeworden 
und  hoffnungslos,  die  Fabriken,  die  Werkstätten,  die 
Baubüros.  In  den  Arbeitsnachweisen  hängen  Tafeln, 
auf  denen  steht:  ,Für  diese  Arbeiten  kommen  nur 
kräftige,  unbeschädigte  Leute  in  Frage'.  ,Kräftige, 
unbeschädigte  Leute  haben  den  Vorzug'.  ,Für  diese 
Stellen  kommen  ../ 

In  keinem  Berliner  Grandhotel  sind  Servierkellner 
angestellt,  die  künstliche  Hände  haben.  Der  Anblick 
einer  Kunsthand  verschlägt  kultivierten  Gästen,  die 
fünfzehn  Mark  für  das  Diner  bezahlen,  den  Appetit. 
Sie  bezahlen  in  einem  anderen  Grandhotel  lieber 
zwanzig  Mark  für  das  Diner  und  lassen  sich  dafür 
von  gepflegten  Händen  bedienen,  die  gewachsen  sind. 


182 


Das  weiß  der  gebildete  Hotelier.  Aber  sein  Konkur- 
rent weiß  das  auch.  Der  Servierkellner  begreift  das 
auch  sehr  schnell  und  wird  Zuhälter  oder  Bordellwirt. 

Kinder  und  Frauen,  die  sich  während  des  Krieges 
in  die  Berufe  eingearbeitet  haben,  lassen  sich  nicht 
verdrängen,  werden  von  den  Unternehmern  den 
Krüppeln  vorgezogen.  Nur  wenn  große  Aufträge 
schnell  ausgeführt  werden  müssen  und  Mangel  an 
tüchtigen  Arbeitskräften  ist,  stellt  der  Unternehmer 
Krüppel  vorübergehend  ein.  Auf  Akkordarbeit.  Die 
Entlohnung  entspricht  genau  der  Leistung.  Die 
Leistung  bleibt  weit  zurück  hinter  der  des  unbeschädig- 
ten Arbeiters.  Der  Krüppel  wird  entlassen,  sobald 
Ersatz  für  ihn  zu  haben  ist. 

Für  Sentimentalität  ist  jetzt  nicht  die  Zeit.  Jetzt 
nicht.  Gewaltige  Steuern.  Atemlose  Hetze  des  Unter- 
nehmers nach  Verdienst.    Sein  oder  Untergang. 

Das  Tempo  eines  Kartonnagenarbeiters,  der, 
wenn  er  das  Allernötigste  verdienen  will,  jetzt  nicht 
mehr  in  zwölf  Minuten  vierzehnhundertmal,  sondern 
sechzehnhundertmal  in  zehn  Minuten  denselben  Hand- 
griff machen  muß,  kann  der  Beschädigte,  auch  wenn 
ihm  nur  ein  halber  Finger  fehlt,  nicht  einhalten. 

Das  Mitleid  mit  den  invaliden  Vaterlandsvertei- 
digern fliegt  weg.  Das  Wort  des  Kaufmanns  ,Das 
Leben  geht  weiter'  schlägt  seinen  Bogen  über  die 
Enterbten  des  Lebens. 

Und  gegen  die  verkrüppelten  Kopfarbeiter  — 
Lehrer,  Wissenschaftler,  Bank-,  Magistrats-  und 
Staatsbeamten  —  holt  das  Leben  von  einer  andern 


183 


Seite  her  aus:  junge,  streng  erzogene  Bürgermädchen 
vertrauen  einander  freimütig  den  Entschluß  an, 
Krüppel  zu  heiraten,  um  versorgt  zu  sein,  und  sich 
dann  an  den  Gesunden,  die  zu  selten  und  nicht  zu 
haben  sind,  schadlos  zu  halten.  Das  werde  jeder 
Mensch  begreifen. 

Der  verstümmelte  junge  Kaufmann  steht  noch 
im  kostbar  und  geschmackvoll  eingerichteten  Vor- 
räume des  Geschäftspalastes.  Sieht,  wie  eine  jener 
vornehmen  Damen  vorfährt,  vom  Besitzer  devot 
empfangen  wird.  Und  begreift  in  einer  Sekunde,  daß 
das  Leben  weitergeht.  Sein  knabenhafter  Glaube  an 
die  strömende  Dankbarkeit  gegenüber  den  tapferen 
Opfern  des  Krieges  fliegt  weg,  als  er  die  Verbeugung 
und  das  zerfließende  Gesicht  des  Geschäftsinhabers 
sieht,  hinter  dessen  Kücken  das  Unternehmen  zittert 
und  wackelt  und  die  gewaltigen  Steuern  und  die  rück- 
sichtslos strebende  Konkurrenz  grinsen. 

Die  heimatlosen,  alternden  Landstreicher,  die 
Leierkastenmänner,  die  verkrüppelten  Bettler,  die  an 
der  Hausmauer  auf  dem  Pflaster  hocken  und  den  Filz 
vorstrecken,  sind  keine  aussterbenden  Erscheinungen 
einer  alten  Zeit  mehr,  sondern  zählen  nach  Hundert- 
tausenden. 

„Ich  habe  ,Uu!'  geschrien.  Tag  und  Nacht  ,üu!' 
geschrien.  Das  half  mir",  erzählt  in  der  Stadtbahn 
der  verstümmelte  Kaufmann  einem  jungen  Burschen. 

Der  Stabsarzt  nennt  seinen  Namen.  Wird  erkannt. 
Und  läßt  sich  die  Adresse  des  Verstümmelten  geben. 


184 


Nichts  wird  sonst  gesprochen.  ,Ist  auch  nicht  nötig*, 
fühlen  beide. 

Es  liegt  in  der  leidgesättigten  Zeit,  daß  Dinge,  die 
früher  erklärt  werden  mußten,  jetzt  als  Selbstver- 
ständlichkeiten ohne  Erklärung  von  manchen  Leuten 
begriffen  werden. 

Die  Absicht,  die  den  Stabsarzt  veranlaßt,  in 
Fühlung  zu  bleiben  mit  den  dreihundertfünfzehn 
revolutionierten,  invaliden  Soldaten,  die  in  Berliner 
Irrenhäusern,  Krankenhäusern  und  zum  Teile  bei 
ihren  Angehörigen  untergebracht  sind,  führt  ihn  auch 
mit  dem  Kellner  zusammen. 

Der  Kellner  sagt  unvermittelt:  ,,Uns  alle  wird 
man  hinrichten  ...  vorher."  Und  das  kleine  Lächeln 
zeigt  seine  absolute  Bereitschaft  zum  Sterben  für  die 
Idee. 

Die  Stille  steht  im  Zimmer. 

,,  Sehen  Sie",  sagt  der  Stabsarzt,  ,,das  können  die 
Herren  heute  nicht  mehr  wagen;  sie  wissen,  daß  für 
jeden  Platz,  der  heute  auf  diese  Weise  frei  wird,  so- 
fort hundert  Anwärter  da  sind,  hinter  denen  Millionen 
Anhänger  stehen.  Heute  ist  das  so  . . .  Auch  der  mutige 
Sozialist  sitzt  nicht  umsonst  im  Zuchthause;  dieses 
Ereignis  bohrt  in  hunderttausend  Köpfen." 

Der  Zwanzigjährige  sagt:  „Zum  Beispiel  könnte 
man  die  ganz  hartnäckigen  Untertanen  auch  auf- 
fordern: gut,  stellt  euch  einmal  glatt  auf  den  Stand- 
punkt der  Kegierung:  ,Kriege  müssen  sein.  Sieg 
bringt  Macht  und  Reichtum'.  Und  jetzt  betrachtet 
das  Resultat:   Millionen  Tote!     Millionen  Krüppel! 


185 


Elend  und  Leid  in  jedem  Hause!  In  jeder  Familie! 
Ein  ausgehungertes  Volk!  Syphilis!  Tuberkulose! 
Tuberkulose!  Hundert  Milliarden  Schulden,  für  die 
wir,  unsere  Kinder  und  Kindeskinder  die  Zinsen  er- 
arbeiten sollen!  Und  die  ganze  Welt  gegen  uns!  ... 
Und  jetzt  fragt  euch:  hätten  zwölf  Männer,  die  aus 
dem  Vertrauen  der  Massen  emporstoßen,  das  nicht 
verhindern  können?  Nicht  verhindern  können,  daß 
die  ganze  Welt  gegen  uns  aufsteht?  Besitzen  diese 
Männer  aus  dem  Volke  nicht  soviel  einfache  Lebens- 
klugheit, daß  sie  diesen  Krieg  und  den  Zusammen- 
schluß der  ganzen  Welt  gegen  uns  hätten  verhindern 
können?" 

Der  verstümmelte  junge  Kaufmann  tritt  ein;  er 
kommt  von  der  Unterredung  mit  dem  Besitzer  des 
Geschäftspalastes,  erzählt  sachlich,  was  er  eben  er- 
lebt hat.    Und  geht  wieder. 

,  Solche  und  Milliarden  ähnliche  Erlebnisse,  dazu 
der  Hunger,  die  phantastischen  Steuern  und  Milliarden 
andere  Erlebnisse',  denkt  der  Stabsarzt  und  denkt  an 
die  , Metzgerküche',  ballen  sich  zusammen  ...  Und 
platzen  endlich.' 

Jemand  sagt:  „Wirklich,  eine  Sekunde  spielt  jetzt 
labil  im  Räume,  schwebt  jetzt  labil  zwischen  zwei 
Ewigkeiten.  In  dieser  Sekunde  geschieht  der  neue 
Anfang." 

Und  der  Stabsarzt  denkt:  ,Man  kann  nur  auf  die 
Sekunde  warten,  lauern,  in  der  das  Leid  so  ungeheuer 
geworden  ist,  daß  das  Volk  nicht  mehr  nur  leidet, 
sondern  auch  darüber  nachzudenken  beginnt,   was 


186 


und  wer  dieses  ungeheure  Leid  verursacht  hat.  Man 
muß  fühlen,  wann  dieser  Augenblick  da  ist.  Dann 
muß  man  die  Sekunde  aufreißen.  Den  letzten  kleinen 
Stoß  geben.'  Er  denkt  brennend  an  die  zwischen  zwei 
Ewigkeiten  labil  spielende  Sekunde,  der  sich  die  Er- 
eignisse nähern.  ,Vielleicht  schon  morgen  ?  In  einem 
Monat?  In  einem  Jahre?  In  einer  Woche  ...  In 
einer  Woche?' 

Der  Zwanzigjährige  bemüht  sich,  den  Gedanken 
zu  formulieren,  daß  die  Bewegung  nicht  vom  Hunger 
—  „wenigstens  nicht  vom  Hunger  allein"  —  ihren 
Antrieb  bekommen  dürfe.  „Das  ist  nicht  durch- 
greifend genug  und  reicht  nicht  weit  . . .  Dreht  sich 
ins  Alte  zurück." 

„Der  Mensch  ist  gut",  sagt  der  Kellner.  „Das 
Gute  im  Menschen  und  das  unermeßlich  furchtbare 
Leid  werden  die  Bewegung  verursachen." 

,Die  Leidtragenden',  denkt  der  Stabsarzt,  denkt 
an  die  zweitausendfünfhundert  Kilometer  ampu- 
tiertes Menschenglied. 

Und  der  Kellner  sieht  die  Agentenwitwe,  die  fana- 
tisierten  Kriegswitwen.  Er  sieht  die  Mutter,  die  den 
gekreuzigten  Sohn  dem  gewaltigen  Zuge  der  Mütter 
voranträgt. 

Alle  schweigen.   Alle  glauben  an  die  Sekunde. 

Und  plötzlich  gewähren  alle  den  Anblick  von 
zertrümmerten  Kindheiten,  von  seelisch  restlos  er- 
schöpften Menschen,  denen  nichts  mehr  geblieben  ist, 
als  ihre  Idee  und  der  Ausblick  in  die  nahe  Zukunft. 


187 


Da  tritt  dieser  Mensch  ein,  über  den  ein  Wort 
auszusagen,  dessen  Namen  zu  nennen,  keine  Tortur 
der  Welt  von  den  im  Zimmer  Versammelten  er- 
zwingen kann. 

Und  draußen  in  den  Straßen  der  Millionenstadt, 
in  allen  Häusern  alle?  Städte,  in  allen  Dörfern  ar- 
beitet das  Leid,  rundet  sich  die  Zeit,  rollt  der  Sekunde 
entgegen. 

Massenstreike,  nicht  nur  vom  Hunger  verursacht, 
entstehen  von  einem  Tage  zum  andern,  brechen  aus, 
brauchen  nicht  gemacht,  nicht  organisiert  zu  werden. 
Sind  da.  Plötzlich  legen  Hunderttausende  das  Werk- 
zeug hin.  Trotz  des  raffiniert  und  glänzend  organi- 
sierten Zwanges  ruhen  die  Maschinen. 

Aus  jedem  Fenster  jeden  Hauses  schaut  dunkel 
das  Leid  heraus.  Es  gibt  keinen  Pflasterstein  mehr, 
der  nicht  schon  vom  Leide  berührt  worden  ist.  Denn 
es  gibt  keinen  Menschen  mehr,  den  das  Leid  nicht 
schon  getroffen  hat.    Und  verwandelt  hat. 

Und  das  Ungeheuerste  wird  zum  Ereignis:  es 
kommt  vor,  daß  man  auf  der  Straße  Menschen  be- 
gegnet, denen  man  ansieht,  daß  sie  nicht  nur  leiden, 
sondern  auch  ...  denken. 

Der  Stabsarzt,  immer  unterwegs,  von  Kranken- 
haus zu  Krankenhaus,  von  Krüppel  zu  Krüppel,  blickt 
auf  der  Straße  die  Menschengesichter  an  und  denkt: 
,Der  Geist  bricht  los.  Und  wo  der  Geist  losbricht  und 
Macht  und  Wirkung  erlangt,  gehen  die  Herren  der 
Gewalt  von  selbst  ...,  wenn  sie  klug  sind.' 


188 


Seismographen,  die  ausschlagen,  noch  bevor  das 
Erdbeben  Ereignis  ist,  gibt  es  nicht.  Es  gibt  Seelen- 
seismographen, Menschen,  die  fühlen,  wann  die  Se- 
kunde da  ist,  in  der  das  verhärtete,  versteinerte  Leid 
eines  ganzen,  niedergehaltenen,  unermeßlich  gequälten 
Volkes  plötzlich  in  Fluß  gerät  und  die  Dämme  des 
organisierten  Zwanges,  der  Gewalt,  der  Lüge,  der 
Autorität,  der  falschen  Pflicht  sprengt. 

An  diesem  Tage  reißt  der  Stabsarzt  die  erste 
Sekunde  des  neuen  Zeitalters  auf: 

mit  einem  Krüppelzuge,  der  schon  früh  um  neun 
Uhr  aus  zwanzigtausend  amputierten  Soldaten  be- 
steht. 

Eine  halbe  Stunde  später  fünfzigtausend;  das 
Leid  schmettert  die  niedergehaltenen,  plötzlich fanati- 
sierten  Arbeitermassen  in  den  Zug  hinein.  Jedes 
Lazarett  am  Wege  wird  vom  vorüberwallenden  Krüp- 
pelzuge ausgesaugt. 

Blinde,  die  Hand  auf  den  Schultern  der  Armlosen. 
Irre,  die,  ernst  und  schweigend,  aufgeregt  sprechend, 
gläubig  lächeln,  mitgehen.  Beinlose  in  Selbstfahrern. 
Zwischen  Krücken  rhythmisch  baumehide  Soldaten- 
körper. Hinken  der  Invaliden.  Stampfen  der  Stöcke, 
Krücken  und  Kunstbeine  auf  dem  Asphalt. 

Ein  grauer  Zug.  StiUer  Zug.  Endlos.  Langsam 
durch  die  Straßen.  Nicht  einem  Ziele  zu.  Sie  be- 
wegen sich  im  Ziele.  Tragen  das  Ziel  in  sich.  Sind 
selbst  das  Ziel:  denkende  Seelenträger. 

Sie  sprechen  nicht.  Beratschlagen  sich  nicht.  Das 

189 


verlorene  Augenliclit,  die  Gliederstumpfe,  der  ent- 
schwundene Verstand,  das  losgebrochene  Leid  des 
ganzen  Volkes  spricht:  lehrt  allen  leiddurchseuchten 
Zuschauern,  Spaziergängern  und  Geschäftigen  in 
einer  Sekunde  das  ABC:  ,Einander  zu  erschlagen, 
einander  zu  zerfetzen,  ist  der  Sinn  des  Lebens  nicht.' 

Bei  den  Zuschauern  platzt  die  dünne  Haut.  Ek- 
stase flammt.  Schreie  steigen.  Die  Wahrheit  gerät  in 
Fluß.  Die  Seele  tagt.  Und  reiht  die  Träger  der  be- 
freiten Seele  ein  in  den  Zug. 

Kein  Mensch  bleibt  zurück.  Die  durchkrückten 
Straßen  sind  leergesaugt. 

Kleine  Trupps  stoßen  aus  den  Nebengassen  im 
Laufschritt  auf  den  Zug  zu. 

Siebzig  Fensterausschnitte  eines  Lazarettes,  dicht 
ausgefüllt  mit  den  Köpfen  heißblickender  Soldaten, 
werden  plötzlich  siebzig  leere,  schwarze  Löcher:  und 
dreihundert  Krüppel  und  Invalide,  noch  in  der  blau- 
weiß gestreiften  Anstaltskleidung,  humplen,  hinken, 
schwanken,  krücken  mit  dem  Zuge. 

Kinder,  auf  dem  Wege  in  die  Schule,  verlängern 
den  Zug.  Verzweifelte,  auf  dem  Wege  zur  Kirche, 
verlängern  den  Zug.  Die  Bewohner  der  engen  Gassen, 
in  denen  der  Gestank  der  Armut  steht,  verlängern 
den  Zug.  Aus  den  Parterrefenstern  einer  Fabrik 
springen  die  Arbeiter  heraus. 

Zwei  Regimenter  siebzehnjähriger  Infanteristen, 
auf  dem  Wege  zum  Religionsunterricht,  werden  ge- 
schluckt. 


190 


Dem  Zuge  voran  fährt  langsam  ein  flacher  Last- 
wagen, auf  dem  sonst  mehlgefüllte  Säcke  transpor- 
tiert werden.  Zwölf  kräftige  Männer,  die  zusammen 
fünf  Arme  und  sieben  Beine  haben,  stehen  und  sitzen 
auf  dem  Wagen.  An  der  Längsstange,  an  der  sonst 
das  zum  Schutze  für  das  Transportgut  bestimmte 
Segeltuch  befestigt  ist,  hängen  große,  farbige  Papier- 
lampions. Blau.  Kot.  Grün.  Violett.  Eot.  Eine  Reihe 
schaukelnder,  erleuchteter  Papierlampions.  Auch  die 
Sonne  leuchtet. 

Der  Atmende,  dem  ein  Geschoß  den  Magen  und 
das  Zwerchfell  verletzt  hat,  ist  um  acht  Uhr  früh  ver- 
endet. Sein  noch  uniformierter  Leichnam  sitzt  neben 
dem  Kutscher  auf  dem  Bocke.  Die  angebundene 
Leiche  wackelt.  Das  Gesicht  ist  weißlich-grün.  Die 
toten  Augen  sind  offen. 

Von  der  Stange,  an  der  die  leuchtenden  Papier- 
lampions schaukeln,  hängt  ein  Seil  herunter;  und 
in  der  Schlinge,  die  unter  den  Armen  um  die  Brust 
herumgelegt  ist,  hängt  der  Soldat,  der  kein  Kinn, 
keinen  Mund,  keine  Nase,  keine  Augen,  kein  Gesicht 
mehr  hat.  Links  von  ihm  hängt  ein  Seil  herunter, 
das  den  ,Rechten  Menschenwinker  hält.  Er  stützt 
sich  auf  seine  fünfzig  Zentimeter  hohen  Spazierstöck- 
chen.  Die  Asphaltstraße  gleitet  vorüber  unter  seinem 
Gesicht,  das  der  Krieg  horizontal  gestellt  hat. 

In  der  Mitte  hockt  der  Rumpf  erhöht  auf  einem 
thronartigen  Aufbau  mit  Rückenlehne,  an  welcher 
der  Rumpf  festgeschnallt  ist.  Der  Rumpf  ist  nackt. 
Eine  Infanteristenmütze  sitzt  schief  auf  seinem  Kopfe. 


191 


Die  inkarnierte  Liebe  lebt  in  seinen  tiefen,  ruhigen 
Augen. 

Untertanen,  die  ihn  erblicken,  bekommen  weiße 
Lippen,  erleben  die  Sekunde.  Menschen,  die  ihn  er- 
blicken, brüllen  auf  und  brechen  brüllend  in  die  Knie. 
Kinderhänden  entfallen  die  kleinen  Spielzeug-Degen, 
die  Schießgewehrchen  aus  Blech.  Elegante  Damen 
brechen  in  Weinen  zusammen  und  erheben  sich  als 
Magdalenen. 

Jesus-Christus  allein  hat,  als  er  am  Kreuze  hing 
und  für  die  Menschheit  starb,  im  Leiden  so  tiefstes 
Glück  der  Liebe  empfunden,  wie  der  nackte,  von  far- 
bigen Lampions  beleuchtete,  auf  den  Thron  des  Krie- 
ges festgeschnallte  Rumpf  empfindet. 

Schutzleute  erbleichen,  erlahmen,  erleben  die  Se- 
kunde. Sein  Anblick  saugt  die  Straße  leer.  Saugt  die 
Menschen  aus  den  Häusern  heraus.  Aus  den  Laden- 
geschäften heraus.  Aus  der  Lüge  heraus.  In  die  Wahr- 
heit, in  die  Liebe  hinein. 

Es  gibt  keinen  Soldaten,  der  den  Befehl,  auf  den 
Rumpf  zu  schießen,  ausführt.  Die  Division,  die  hin- 
einschießt in  den  Zug  der  Krüppel,  in  den  Zug  der 
Kameraden,  gibt  es  nicht. 

Die  Rolläden  der  Geschäfte,  an  denen  der  Zug 
vorüberwallt,  rasseln  herunter.  Ladnerinnen,  Haus- 
diener, Liftjungen  schließen  sich  an.  Staunende 
Kommis  zögern,  begreifen  das  Ereignis,  daß  die  vom 
Leide  durchstürmten  Bewohner  der  Millionenstadt  in 
Bewegung  geraten  sind,  und  schließen  sich  an. 


192 


Der  Zug  schließt  die  Werkstätten,  schließt  die 
Büros,  schließt  die  Geschäfte,  schließt  die  Fabriken. 
Der  Zug  zieht  durch  lange  Geschäftsstraßen,  in  denen 
er  noch  nicht  gewesen  ist.  Und  doch  sind  alle  Koll- 
läden schon  heruntergelassen.  Das  Ereignis  fliegt 
dem  Zuge  voraus.  Es  gibt  in  der  ganzen  Stadt  keinen 
Menschen  mehr,  dessen  Seele  nicht  schon  berührt 
worden  ist  von  dem  Ereignis. 

In  den  Vorstädten  bilden  sich  schnellmarschie- 
rende Züge,  die  zum  Hauptzuge  stoßen. 

Aus  den  letzten  Fabriken  brechen  die  Arbeiter 
aus:  Fanatismus  in  den  ölverschmierten,  rußigen, 
bleichen  Gesichtern. 

Dieser  Mensch,  der  zum  Kellner  ins  Zimmer  ge- 
treten ist,  spricht  zu  den  Arbeitern.  Und  deutet 
auf  den  Wagen,  von  dem  der  Rumpf  pyramidisch 
aufsteigt  als  nacktes  Symbol  des  Krieges. 

Gewaltige  Züge  leiddurchtobter  Mütter,  Kriegs- 
witwen, Väter,  Bräute  stoßen  im  Eiltempo  durch  die 
Menge,  lösen  sich  auf,  bilden  sich  neu. 

Die  Bekenner  der  Wahrheit  verlassen  die  auf- 
springenden Zuchthauszellen,  finden  den  Zug,  ge- 
führt von  dem  Einen,  dessen  Namen  die  ganze 
Menschheit  kennt  und  ehrt:  Liebknecht! 

Die  breiten,  unübersehbar  langen  Asphaltstraßen 
sind  zu  schmal  und  zu  kurz  für  den  Zug.  Der  Zug 
schwillt  von  Sekunde  zu  Sekunde.  Strömt  über.  Steht. 
Ist  kein  Zug  mehr.  Alle  Straßen  stehen  voll  Menschen. 

Die  entfesselten  Bewohner  der  Millionenstadt 
stehen. 

13  193 


Plötzlicli  fliegt  die  Nachricht  von  Herz  zu  Herz, 
daß  auch  in  den  großen  Provinzstädten  das  Leid  ge- 
platzt ist  und  die  Menschen  zusammengeschweißt  hat 
in  Züge  von  Frauen,  die  ihre  Männer,  von  Müttern 
und  Vätern,  die  ihre  Kinder,  von  zahllosen  Kindern, 
die  ihre  Väter,  von  Soldaten,  die  ihre  Glieder,  von 
Blinden,  die  das  Augenlicht,  von  Irren,  die  den  Ver- 
stand verloren  haben. 

Das  ganze  vergewaltigte  Volk  steht. 

Die  uniformierte  Leiche  des  Atmenden  auf  dem 
Bocke  glotzt  tot  und  wackelt.  An  seinem  Seile  schwankt 
rhythmisch  der  rechte  Menschenwinkel.  Der  Krieg  ist 
plakatiert  auf  der  Riesennarbe,  die  an  der  Stelle  des 
Menschengesichtes  grinst.  Der  nackte  Rumpf  thront 
erhöht  und  blickt  die  Menschheit  an. 

Der  Anblick  der  hunderttausend  Krüppel  reißt 
die  Untertanen  hoch  ins  Menschentum.  Leidausströ- 
mende Freiheitsschreie  ordnen  sich  zu  Liebesgesängen. 
In  den  Gesängen  der  Liebe  pulst  die  Ekstase  der  Ver- 
brüderung und  Freiheit. 

Die  vom  Blitze  der  Liebe  getroffene,  erleuchtete 
und  dem  Zwange  entrissene  Militärwache  des  Ge- 
bäudes, in  dem  der  Herr  und  alle  Machthaber  ver- 
sammelt sind,  wird  aus  der  Wachtstube  herausgesaugt 
und  geschluckt  vom  Krüppelheere  der  Kameraden, 
in  deren  Augen  die  Freiheit  brennt. 

Dieser  Mensch,  der  zum  Kellner  ins  Zimmer  ge- 
treten ist,  geht  ganz  allein  durch  das  Tor.  In  das  Ge- 
bäude hinein. 


194 


In  dieser  weißen  Sekunde  wird  es  vor  dem  Ge- 
bäude totenstill. 

Die  Stille  wirft  Wellen,  breitet  sich  aus ;  eine  Be- 
wegung zieht  über  den  Platz: 

die  Menge,  die  Menschheit  steht,  steil  durchstoßen 
und  im  Tiefsten  berührt  von  dem  Triumphe,  das  zu- 
künftige Geschehen  in  das  Zeichen  der  großen  Liebe 
gestellt  zu  haben,  und  blickt  empor  zum  Fenster,  an 
dem,  neben  dem  Herrn  in  Uniform  und  den  Gesichtern 
der  Machthaber,  der  Mensch  erscheint  und  herunter- 
deutet. 

Der  Atem  setzt  aus. 

Der  Mensch  tritt  vom  Fenster  zurück.  Die  Ge- 
sichter verschwinden.   Die  Uniform  verschwindet. 

Verschwindet  aus  der  Welt. 

Minuten  später  telegraphieren  die  vor  den  Morse- 
Apparaten  sitzenden  Beamten,  die  kurz  vorher  noch 
Bekanntmachungen,  Erlasse,  Befehle,  Zwangsver- 
ordnungen in  das  gemarterte  Volk  hineingestoßen 
haben,  die  Namen  der  neuen  Männer:  den  Aufstieg 
der  Freiheit  und  der  Liebe  ins  Land. 


195 


Inhalt: 

Der  Vater Seite     7 

Die  Kriegswitwe „      22 

Die  Mutter „67 

Das  Liebespaar „106 

Die  Kriegskrüppel „138 


Von   Leonhard  Frank  erschienen 
im  Inselverlag,  Leipzig: 

Die    Räuberbande 

Roman.    Elftes  bis  Zwanzigstes  Tausend 

Die    Ursache 

Erzählung.    Elftes  bis  Zwanzigstes  Tausend 


Alfred  H.  Fried 

Mein  Kriegstagebuch 

Bd.  I:  Das  erste  Kriegsjahr 

Geh.  Fr.  7.—   geb.  Fr.  9.50. 


„Nicht  strategische  Darstellung  des  Krieges, 
nicht  Aufzählung  der  rein  äußeren  Vorgänge 
gibt  dieses  Buch,  sondern  ankämpfende  Kritik 
der  Geschehnisse.  Man  stellt  mit  Erstaunen  die 
oft  fast  prophetische  Voraussage  des  Verlaufs 
der  Ereignisse  fest.  Durch  die  chronologische 
Folge  der  Eintragungen  wird  dieses  Werk  auch 
zu  einem  historischen  Dokument  unserer  Zeit. 
Eine  pazifistische  und  kritische  Geschichte  der 
vergangenen  Jahre,  so  könnte  man  dieses  Werk 
nennen.  Jeder,  dem  diese  Zeit  neue  Gedanken 
und  neue  Hoffnungen  erweckte,  lese  es." 

(Zürcher  Post.) 


Europäische' 
Bibliothek 

Jeder  Band  kart.  Fr.  2.— 


I.  SERIE: 

1.  Henri  Barbusse,  Das  Säulentor. 

2.  Leonid  Andrejew,  Hinter  der  Front. 

3.  Anthologie  menschlicher  Gedichte  im  Krieg. 

4.  H.  G.  Wells,  Mr.  Britling  schreibt  bis  zum 
Morgengrauen. 

5.  Henri  van  de  Velde,  Die  drei  Sünden  wider 
die  Schönheit. 

II.  SERIE: 

6.  Svend  Borberg,  Das  Lächeln  von  Reims. 

7.  Walt  Whitman,  Der  Wundarzt. 

8.  Rene  Schickele,  Der  deutsche  Träumer. 

9.  Bernard  Shaw,  Der  gesunde  Menschenver- 
stand im  Krieg  I. 

10.  Bernard  Shaw,  Der  gesunde  Menschenver- 
stand im  Krieg  II. 

Weitere  Serien  in  Vorbereitung. 


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Frank,   Leonhard 

Der  Mensch  ist  ^it» 


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