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Full text of "Der moderne Kapitalismus; historisch-systematische Darstellung des gesamteuropäischen Wirtschaftslebens von seinen Anfängen bis zur Gegenwart"

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DER  MODERNE  KAPITALISMUS 

IH.  AUFLAGE 

ERSTER  BAND/ZWEITE  HÄLFTE 


NUNC  COGNOSCO  EX  PARTE 


TRENT  UNIVERSITY 
LIBRARY 


PRESENTED  BY 


KARL  HELLEINER 


Werner  Sombart 


Der  moderne  Kapitalismus 

Historisch-systematische  Darstellung  des  gesamteuropäischen 
Wirtschaftslebens  von  seinen  Anfängen  bis  zur  Gegenwart 


Dritte  unveränderte  Auflage 


Mit  Registern  über  Band  I  und  II 

Erster  Band 

Einleitung  —  Die  vorkapitalistische  Wirtschaft  —  Die 
historischen  Grundlagen  des  modernen  Kapitalismus 

Zweiter  Halbband 


München  und  Leipzig 
Verlag  von  Duncker  &  Humblot 
1919 


Alle  Rechte  Vorbehalten 

Copyright  by  Duncker  &  Humblot,  München  and  Leipzig  1916 


Altenbui'g 

Piei  ersehe  Hofbuchdruckerei 
Stephan  Geibel  &  Co. 


III 


Inhaltsverzeichnis 

Seite 

Zweites  Buch 

Die  historischen  Grundlagen  des  modernen 

Kapitalismus 

Dritter  Abschnitt 

Die  Technik 

Neunundzwanzigstes  Kapitel:  Der  Geist  der  Technik  .  .  .  463 


Dreißigstes  Kapitel:  Die  Fortschritte  der  Technik  ....  480 

Vorbemerkung . 480 

Quellen  und  Literatur . 481 

I.  Die  Produktionstecknik . 483 

1.  Allgemeine  Entwicklungstendenzen  S.  483.  2.  Die 


entscheidenden  Fortschritte  auf  den  einzelnen  Gebieten, 
a)  Die  Landwirtschaft  S.  488.  b)  Gewerbe,  a)  Bergbau- 
und  Hüttenwesen  S.  490.  ß)  Metallverarbeitung  S.  495. 
y)  Textilindustrie  S.  496.  ö)  Neue  Industrien  S.  501. 

II.  Die  Kriegstechnik . 504 

III.  Die  Meß-  und  Orientierungstechnik . 505 

IV.  Die  Transporttechnik . 510 

Vierter  Abschnitt 

Die  Edelmetallproduktion 

Übersicht . 513 

Einunddreißigstes  Kapitel:  Der  Gang  der  Edelmetallproduktion 
und  der  Edelmetallbewegung . 515 

Vorbemerkung . 515 

Erste  Periode :  Vom  Niedergang  des  römischen  Reichs  bis  ins 

8.  Jahrhundert . 517 

Zweite  Periode:  Vom  8.  Jahrhundeti  bis  gegen  Ende  des 

13.  Jahrhunderts . 518 

Dritte  Periode:  Vom  Ende  des  13.  bis  Mitte  des  15.  Jahr¬ 
hunderts  ,  ...  522 


IV 


Inhaltsverzeichnis 


Seite 

524 


Vierte  Periode:  Von  der  Mitte  des  15.  Jahrhunderts  bis  154  5 

1.  Der  Aufbruch  neuer  Gold-  und  Silberquellen  in 
Deutschland  und  Österreich  S.  524.  2.  Die  Niederlassung 
der  Portugiesen  in  den  Goldländern  Afrikas  und  Asiens 
S.  526.  3.  Die  Plünderung  Mexikos  und  Perus  durch  die 

Spanier  S.  529. 

Fünfte  Periode:  Von  der  Mitte  des  16.  bis  zum  Anfang  des 

17.  Jahrhunderts  ( 1545  bis  etwa  1620) .  529 

Sechste  Periode:  Pas  17.  Jahrhundert . 532 

Siebente  Periode:  Pas  18.  Jahrhundert . 533 

Achte  Periode:  Von  1810—1848  .  534 

Zweiunddreifeigstes  Kapitel :  Die  Bedeutung  der  Edelmetalle 

für  das  Wirtschaftsleben  im  allgemeinen . 536 

Literatur . 536 

I.  Die  chimärische  Bedeutung  der  Edelmetalle . 536 

II.  Die  reale  Bedeutung  der  Edelmetalle . 538 

Dreiuuddrei feigstes  Kapitel:  Geldwert  und  Preis . 543 

Literatur . 543 

I.  Die  „Preisgesetze“ . 543 

II.  Die  Anwendung  der  Preisgesetze  auf  das  Geld.  .  .  .  546 

III.  Die  denkbare  Beeinflussung  der  Preise  durch  Masse  und 

Wert  der  Geld  wäre . 549 

Vierunddreifeigstes  Kapitel:  Die  Gestaltung  der  Preise  während 
der  friihkapitalistisehen  Epoche . 554 

Quellen  und  JAteratur . 554 

Fünfunddreifeigstes  Kapitel:  Der  Einllufe  der  Edelmetall¬ 
produktion  auf  die  Preisbildung . 559 

Vorbemerkung . .  .  559 

I.  Die  Verwertung  der  Edelmetalle . 559 

II.  Die  Produktionskosten  der  Edelmetalle . 571 

Fünfter  Abschnitt 

Die  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums 

Sechsunddreifeigstes  Kapitel :  Machtreichtum  und  Reichtums¬ 
macht  . 581 

Verhältnis  des  Pcgriffs  Vermögen  zu  den  Rechtslcategorien  .  585 

Siebenunddreifeigstes  Kapitel:  Zur  Theorie  der  Vermögens¬ 
bildung  . 588 

Achtunddreifeigstes  Kapitel :  Der  feudale  Reichtum  ....  594 

I.  Der  Großgrundbesitz . 594 

II.  Die  öffentlichen  Haushalte . 601 

Neununddreifeigstes  Kapitel:  Die  Yermögeusbildung  in  der 
handivorksniäfeigen  Wirtschaft  .  ,  .  . . 608 


Inhaltsverzeichnis 


V 

Seite 


Vierzigstes  Kapitel:  Die  Vermögensbildung  durch  Geldleihe  621 

I.  Die  Verbreitung  der  Geldleihe . 621 

Pachtung  von  Steuereinkünften,  Zollgefällen  ustv . 628 

II.  Die  Ergiebigkeit  der  Geldleihe . 632 

1.  Die  Juden  S.  635.  2.  Die  Augsburger  S.  637. 

3.  Die  französischen  financiers  S.  638. 

Eiuundvierzigstes  Kapitel :  Die  Akkumulation  städtischer 
Grundrenten . 643 

Zweiundvierzigstes  Kapitel:  Die  unmittelbare  Vermögens¬ 
bildung  . 651 

Dreiundvierzigstes  Kapitel:  Betrug,  Diebstahl,  Unterschlagung 
als  Vermögensbildner . 664 

Vierund vierzigstes  Kapitel:  Der  Raub . 668 

Fünfundvierzigstes  Kapitel:  Der  Zwangshandel . 680 

Preise  im  Zivangshandel . 682 

Profite . 683 

Sechsundvierzigstes  Kapitel :  Die  Sklavenwirtschaft  in  den 

Kolonien . 687 

Literatur . 687 

I.  Die  Tatsache  und  die  Art  der  Sklaverei  in  den  ver¬ 
schiedenen  Kolonien . 689 


1.  Sklaverei  und  Hörigkeit  in  den  Levantekolonien 
S.  689.  2.  Die  Sklaverei  in  den  transozeanischen  Kolonien, 
a)  Die  Beschaffung  des  Arbeitermaterials  S.  692.  b)  Die 
verschiedenen  Formen  der  Zwangsarbeit  S.  696. 


II.  Die  Ausdehnung  der  Zwangsarbeit . 698 

III.  Die  Rentabilität  der  Sklavenwirtschaft . 703 


1.  Der  Sklavenhandel  S.  704.  2.  Die  Sklavenarbeit 

S.  708. 

Siebenundvierzigstes  Kapitol:  Die  Vermögensbildung  im 


Rahmen  der  kapitalistischen  Wirtschaft . 715 

Sechster  Abschnitt 
Die  Neugestaltung  des  Güterbedarfs 

Übersicht . 717 

Aclitund vierzigstes  Kapitel:  Der  Luxusbedarf . 719 

I.  Begriff  und  Ursprung  des  Luxus . 719 

II.  Die  Eürstenhöfe  als  Mittelpunkte  der  Luxusentfaltung  .  720 

III.  Der  Luxus  in  der  Gesellschaft . 726 


1.  Der  Eßluxus  S.  731.  2.  Der  Kleiderluxus  S.  733. 

3.  Der  Wohnluxus  S.  735.  4.  Der  Luxus  in  der  Stadt 

S.  736. 

IV.  Die  allgemeinen  Entwicklungstendenzen  des  Luxuskonsums  739 
Die  Entstehung  der  Mode . .  ,  .  .  743 


VI 


Inhaltsverzeichnis 


Seite 

Neunundvierzigstes  Kapitel:  Der  Bedarf  der  Heere.  .  .  .  750 

I.  Der  Bedarf  an  Waffen . 750 

II,  Der  Bedarf  an  Lebensmitteln . 752 

III.  Der  Bedarf  an  Kleidern . 756 

IV.  Der  Gesamtbedarf . 758 

Fünfzigstes  Kapitel:  Der  Schiffsbedarf . 760 

1.  Die  Zahl  der  Schiffe  S.  762.  2.  Die  Größe  der 

Schiffe  S.  763.  3.  Das  Tempo  des  Schiffbaus  S.  766. 

4.  Der  Bedarf  an  Schiffbaumaterialien  S.  767. 

Eiiiundfünfzigstes  Kapitel :  Der  Massenbedarf  der  Großstädte  769 
Zweiundfiiufzigstes  Kapitel:  Der  Bedarf  der  Kolonien  .  .  776 

Quellen  und  Literatur . 776 

Siebenter  Abschnitt 

Die  Beschaffung  der  Arbeitskräfte 

Übersicht . 785 

Literatur . 786 

Dreiundfünfzigstes  Kapitel:  Die  Arbeiternot . 788 

I.  Massenelend  und  Massenbettel . 788 

II.  „Die  Entstehung  des  Proletariats“ . 792 

III.  Der  Mangel  an  Arbeitskräften  und  seine  Gründe  .  .  .  798 
Die  Anschauungen  über  die  Psyche  des  Arbeiters  jener  Zeit  802 

Yierundfiinfzigstes  Kapitel:  Die  Maßnahmen  der  staatlichen 

Arbeiterpolitik . 809 

I.  Die  leitenden  Ideen . 809 

II.  Alte  und  neue  Formen  der  Hörigkeit . 812 

III.  Die  Erziehung  zur  Arbeit:  das  Arbeitshaussystem  .  .  .  817 

Lieferung  von  Arbeitskräften  durch  Arbeits-  und  Waisenhäuser  821 

IV.  Der  Kampf  der  Staaten  um  den  gelernten  Arbeiter  .  ,  824 

V.  Die  Regelung  des  Arbeits  Vertrages . 831 

Achter  Abschnitt 

Die  Entstehung  der  Unternehmerschaft 

Fiinfundfünfzigstes  Kapitel:  Die  Geburt  des  kapitalistischen 
Unternehmers . 836 

Sechsundfünfzigstes  Kapitel:  Die  Fürsten  .  .  .  .  m.  .  .  842 

Siebenundfünfzigstes  Kapitel:  Die  adligen  Grundherren..  .  850 

I.  Die  Stellung  der  Grundherren  zur  Erwerbswirtschaft .  .  850 

II.  Die  Verbürgerlichung  des  Adels . 853 

III.  Die  Besonderheit  des  grundhendichen  Unternehmertums  .  857 

IV.  Der  tatsächliche  Anteil  der  adligen  Unternehmer  am  Aufbau 

des  Kapitalismus  858 


Inhaltsverzeichnis 


VII 

Seil« 

Achtundfünfzigstes  Kapitel :  Die  Bürger  .......  866 

Neunundfünfzigstes  Kapitel:  Die  Gründer . 872 

Sechzigstes  Kapitel:  Die  Ketzer . 877 

Einundsechzigstes  Kapitel:  Die  Fremden . 888 

Vorbemerkung.  Literatur . 883 

I.  Die  Eignung  des  Fremden  zum  kapitalistischen  Unter¬ 
nehmer  . 884 

TT.  Der  Anteil  der  Fremden  am  Aufbau  der  kapitalistischen 

Wirtschaft . 887 

1.  Einzelfremde  S.  887.  2.  Die  „Emigranten“  S.  889. 

Zweiundsechzigstes  Kapitel:  Die  Juden . 896 

I.  Die  wichtigsten  Leistungen  der  Juden  als  Unternehmer 

im  frühkapitalistischen  Zeitalter . 897 

1.  Die  Belebung  des  internationalen  Warenhandels 
S.  897.  2.  Der  Anteil  an  der  Kolonisierung  Amerikas 

S.  901.  3.  Die  Kriegslieferungen  S.  906. 

IT.  Die  Eignung  der  Juden  zum  Kapitalismus . 909 

1.  Die  räumliche  Verbreitung  S.  911.  2.  Die  Fremd¬ 


heit  S.  914.  3.  Das  Halbbürgertum  S.  915.  4.  Der 

Reichtum  S.  916.  5.  Das  Geldleihertum  S.  918. 


' 


463 


Dritter  Abschnitt 
Die  Technik 

Neunundzwanzigstes  Kapitel 

Der  Geist  der  Technik 

Wir  sind  gewohnt,  die  .Jahrhunderte,  die  Renaissance  und 
Reformation,  Gegenreformation  und  Barock  umschließen,  trotz¬ 
dem  oder  vielleicht  gerade  weil  sie  auf  dem  Gebiete  der  Staats¬ 
und  Religionsbildung,  der  Philosophie,  der  Dichtkunst,  der 
Malerei  und  Bildnerei ,  kurz  auf  allen  Gebieten ,  auf  denen  der 
Menschengeist  sich  in  Größe  ausleben  kann,  das  Allergrößte 
geleistet  haben,  für  unfruchtbar  zu  halten  in  allen  Dingen,  die 
technischer  Natur  sind  (trotz  Leonardo  da  Vinci!).  Weil  sie  so 
groß  sind:  denn  wir  schließen  (vielleicht  voreilig)  aus  den  Er¬ 
fahrungen,  die  uns  der  Tag  zuträgt,  daß  Zeitalter,  in  denen  die 
Technik  „Ruhmesblätter“  sammelt,  in  andern  menschlichen  Sachen 
nur  klein  sein  können.  Und  wir  erinnern  uns  der  traurigen 
Schicksale,  die  berühmte  „Erfinder“  in  jenen  Jahrhunderten  ge¬ 
habt  haben:  von  Berthold  dem  Schwarzen  angefangen,  der  unsere 
Periode  einleitet,  bis  zu  Denis  Papin,  der  sie  abschließt,  und 
glauben  darin  den  Haß  zu  verspüren,  den  jene  Menschen  gegen 
alle  technischen  Neuerer  hatten,  oder  auch  die  Angst,  die  sie 
v>r  ihnen  hatten.  Und  in  der  Tat:  wir  finden  die  Abneigung 
und  die  Verachtung-  der  Zeit  den  „Erfindern“  gegenüber  auch 
mit  dürren  Worten  oft  genug  ausgesprochen.  So  wenn  Pascal 
die  Stimmung  seiner  Zeitgenossen  in  die  Sätze  zusammenfaßt1: 
„Ceux  qui  sont  capables  d’inventer  sont  rares;  ceux  qui  n’in- 
ventent  point  sont  en  plus  grand  nombre  et  par  consequent  les 
plus  forts.  Et  l’on  voit  que  pour  l’ordinaire  ils  refusent  aux  in- 
venteurs  la  gloire  qu’ils  meritent  et  qu’ils  cherchent  par  leurs 
inventions.  S  ils  s  abstinent  ä  la  vouloir  avoir  et  ä  traiter  de 
niepris  ceux  qui  n  inventent  pas,  tout  ce  qu’ils  y  gagnent,  c’est 


1  Pascal,  Pensees  XXXI.  Ausgabe  von  1679  p.  326/37. 


464 


Dritter  Abschnitt:  Die  Technik 


qu’on  leur  donne  des  noms  ridicules,  et  qu’on  les  traite  de 
visionaires.  Ils  fönt  donc  bien  se  garder  de  se  piquer  de  cet 
avantage  tout  grand  qn’il  est;  et  l’on  doit  se  contenter  d  estre 
estime  du  petit  nombre  de  ceux  qui  en  connaissent  le  prix  meine. 
Oder  wenn  Joachim  Becher ,  der  es  wissen  mußte,  mahnt1: 
„Darumb  man  nicht  alle  speculanten  vor  Gecken  und  Narren 
halten  soll,  als  welche  einen  Sparren  zu  viel  haben,  sondern 
man  muss  wissen,  dass  durch  solche  Leute  der  Welt  grosser 
Nutz  und  Dienste  getan  werden,  und  dass  sie  darmit  ihre  Mühe, 
Zeit  und  Geld  verl ohren  nur  dass  sie  dem  gemeinen  Wesen  dienen 
möchten.“ 

Aber  so  deutlich  die  Feindschaft  der  „öffentlichen  Meinung“ 
gegen  den  „Erfinder“  aus  diesen  und  ähnlichen  Worten  spricht: 
es  wäre  doch  falsch,  nun  aus  ihnen  und  andern  Anzeichen  ohne 
weiteres  auf  ein  erfindungsarmes  Zeitalter  zu  schließen.  Ja,  im 
Gegenteil:  die  Spannung,  die  wir  aus  jenen  Auslassungen  und 
aus  ihnen  gemäßen  Handlungsweisen  herauslesen ,  muß  uns 
geradezu  zu  der  Annahme  führen,  daß  starke  Strömungen 
erfinderischen  Wesens  durch  die  Zeit  hingegangen  sind. 
Und  diese  Annahme  finden  wir  denn  auch  bestätigt,  wenn  wir 
uns  etwas  eingehender  mit  der  technischen  Literatur  jener  Jahr¬ 
hunderte  beschäftigen.  Es  ist  erstaunlich  beispielsweise,  wie 
viele  Schriften  während  des  16.  und  17.  Jahrhunderts  Dar¬ 
stellungen  von  den  im  Gebrauch  befindlichen  Maschinen  und 
ihrer  Verwendung  enthalten.  Um  nur  die  wichtigsten  Werke 
jener  alten  technischen  Literatur  anzufuhren,  nenne  ich: 

Vanuccio  Biringuccio,  Pirotecnica.  Venedig  1540,  oft  auf¬ 
gelegt  ; 

Georg  Agricola,  De  re  metallica.  Basel  1556,  das  bekannte 
Werk,  das  sich  zum  großen  Teil  mit  dem  Maschinenwesen 
beschäftigt ; 

Jaques  Besson,  Theätre  des  instruments  mathematiques  et 
mechaniques.  Lyon  1578; 

Agostino  Ramelli,  Le  diverse  et  artificiose  machine.  Paris  1588; 

Vittorio  Zonca,  Nuovo  Teatro  delle  macchine.  Padova  1621; 

Heinrich  Zeisin g,  Theatrum  machinarum  (deutsch).  Leipzig 
1612—14; 

Sal.  de  Ca  us,  Les  raisons  des  forces  mouvantes.  Frankfurt  1615 ; 

Jakob  de  Strada,  Künstlicher  Abriß  usw.  Frankfurt  1618; 

Giov.  Branca,  Le  macchine.  Koma  1629. 

G.  A.  Bö  ekler,  Theatrum  macchinarum.  Nürnberg  1667. 


Joachim  Becher,  Närrische  Weisheit  usw.  (1686),  128  f. 


l 


Neunundzwanzigstes  Kapitel:  Der  Geist  der  Technik 


465 


Dann  haben  wir  aus  der  zweiten  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts 
eine  Reihe  von  Schriften,  die  man  als  Erfinderbücher  oder  Bücher 
der  Erfindungen  oder  auch  als  Sammlungen  von  Vorschlägen  für 
neue  Erfindungen  bezeichnen  kann. 

Das  berühmteste,  dessen  ich  schon  Erwähnung  tat,  ist  das 
von  Joachim  Becher,  Närrische  Weisheit  und  weise  Narrheit 
oder  Ein  Hundert  so  Politische  als  physikalische  /  mechanische 
und  merkantilische  Concepta  und  Propositionen  /  usw.  1686. 
Ein  paar  englische  Gegenstücke  dazu  sind : 

E.  Sommerset,  Marquis  of  Worcester,  A  Century  of  the 
names  and  Scantlings  of  such  Inventions  as  at  present  I  can 
call  to  mind  to  have  tried  and  perfected  usw. ,  zuerst  London 
1663,  dann  ott  gedruckt,  zuletzt  in  dem  Werke  von  Henry 
Dircks,*The  Life,  times  and  scientific  Labours  of  the  Second 
Marquis  of  W.  1865. 

Au  Account  of  several  new  inventions  and  improvements  etc. 
(by  William  Petty?).  1691. 

John  White,  Arts  treasury  of  Rareties  and  eurious  in¬ 
ventions  s.  a.  (17.  Jahrhundert). 

Angesichts  dieser  Literatur  nimmt  es  uns  gar  kein  Wunder, 
wenn  wir  die  Zeitgenossen  von  einem  „Erfinderzeitalter“  reden 
hören,  einem  „projecting  age“,  von  dem  z.  B.  Defoe  in  seinem 
bekannten  Traktat:  An  Essay  on  Projects  (1697)  spricht1. 

Und  wirklich :  wenn  man  sich  die  Mühe  nimmt  und  alles  zu¬ 
sammenstellt  ,  was  seit  dem  Mittelalter  etwa  bis  beiläufig  zur 
Mitte  des  18.  Jahrhunderts  an  bedeutsamen  Neuerungen  zu  dem 
Bestände  an  technischem  Wissen  und  Können  hinzugekommen 
ist,  so  ergibt  sich  doch  eine  ganz  stattliche  Reihe  wahrhaft 
wichtiger  Erfindungen  und  Entdeckungen :  der  Leser  findet  eine 
solche  Übersicht  im  folgenden  Kapitel. 

Aber  wir  müssen  uns  doch  wiederum  davor  hüten,  nur  wegen 
dieses  Reichtums  an  Erfindungen  jene  Jahrhunderte  etwa  mit 
unserer  Zeit  irgendwie  gleich  zu  setzen.  Vielmehr  müssen 
wir  uns,  wenn  wir  die  Stellung  der  Technik  in  der  frühkapita¬ 
listischen  Epoche  richtig  bewerten  wollen,  des  tiefen  Unter¬ 
schiedes  bewußt  werden,  der  zwischen  der  Technik  von  damals 

1  Die  Schrift  ist  deutsch  u.  d.  T.  Sociale  Fragen  vor  200  Jahren 
1890  erschienen.  Postlethwayt  bringt  in  seinem  Dict.  of  Corarn. 

2 2,  552  ff.  einen  Artikel  „Projector“,  in  dem  er  dieselben  Gedanken 
wie  Defoe  äußert.  Der  Artikel  ist  aber  nur  ein  wörtlicher  Abdruck 
der  Einleitung  und  der  ersten  Kapitel  des  Defoe  sehen  Essays. 

So m hart,  Der  moderne  KapilaÜRmns.  I. 


30 


466 


Dritter  Abschnitt:  Die  Technik 


und  der  von  heute  obwaltet  —  freilich  auch  des  Unterschiedes, 
der  zwischen  der  Technik  im  Zeitalter  des  Frühkapitalismus  und 
der  Technik  in  vorkapitalistischer  Zeit  besteht.  Es  erscheint  als 
eine  außerordentlich  reizvolle  Aufgabe,  die  besondern  Eigentüm¬ 
lichkeiten  des  Erwerbes  und  des  Besitzes  technischen  Vermögens 
im  Zeitalter  der  Renaissance  und  des  Barocks  herauszuarbeiten : 
insbesondere  auch  die  Wendungen  zu  verfolgen,  die  der  Stil  der 
Technik  vom  Mittelalter  zur  Renaissance  und  wieder  von  der 
Renaissance  zum  Barock  durchmacht;  zu  verfolgen,  wie  die 
Eigenarten  dieser  sonderbaren  und  großen  Zeitalter  sich  ganz 
deutlich  ebenso  in  der  Technik  wie  in  allen  andern  Kultur¬ 
erscheinungen  widerspiegeln.  Die  folgenden  Zeilen  enthalten 
einen  ersten,  zaghaften  Versuch,  diese  Aufgabe  zu  lösen,  können 
aber  selbstverständlich  nur  auf  die  Punkte  hindeuten,  "*die  es  ins 
Auge  zu  fassen  gilt,  und  wollen  —  wie  so  viele  Ausführungen  in 
diesem  Werke  —  nur  die  Wege  weisen,  auf  denen  die  Forscher 
in  den  nächsten  Menschenaltern  zu  wandeln  haben  werden. 

Vor  allem:  der  Technik  jener  Jahrhunderte  fehlt  noch 
die  exakt- wissenschaftliche  Grundlage ,  wie  sie  aller  früheren 
Technik  gefehlt  hatte.  Freilich  haben  wir  beträchtliche  Ansätze  zur 
wissenschaftlichen  Untermauerung,  aber  doch  eben  nur  Ansätze. 
Wir  dürfen  uns  durch  eine  Erscheinung  wie  Leonardo  da  Vinci 1 
nicht  täuschen  lassen,  der  allerdings,  wenigstens  in  seinen  Grund¬ 
sätzen,  eine  ganz  und  gar  moderne  Forscher-  und  Erfindernatur 
ist.  Modern  in  dem  Sinne,  daß  er  „speculare“,  das  heißt:  daß 
er  beobachten  und  verstehen,  empirisch  forschen  und  den  Ur¬ 
sachen  nachgehen,  das  Besondere  erschauen  und  das  Allgemeine 
darin  erdenken  will.  Daß  er  insbesondere  auch  schon  nach  der 
Quantifizierung  aller  menschlichen  Erkenntnis  strebt.  „Keine 
menschliche  Untersuchung  kann  wahre  Wissenschaft  genannt 
werden,  wenn  sie  nicht  durch  die  mathematischen  Demonstrationen 
ceoeben  ist“,  lehrt  er.  Und:  „wer  die  höchste  Sicherheit  der 
Mathematik  verschmäht,  nährt  sich  von  Verwirrung  und  wird 

1  Die  wissenschaftlichen  und  technischen  Arbeiten  L.s  sind  zum 
größten  Teil  gedruckt.  Eine  Übersicht  über  die  verschiedenen  Aus¬ 
gaben  sowie  eine  Auswahl  wichtiger  Stellen  gibt  Marie  Herzfeld 
in  dem  Buche:  Leonardo  da  Vinci,  der  Denker,  Forscher  und  Poet. 
2.  Aufl.  1Q06,  zu  dem  sie  eine  recht  verständige  Einleitung  geschrieben 
hat.  Zu  vergleichen:  H.  Grothe,  L.  da  V.  als  Ingenieur  und  Philo¬ 
soph.  1874,  und  die  drei  Abhandlungen  über  L.  von  Theodor 
Beck,  die  jetzt  in  seinen  „Beiträgen  zur  Geschichte  des  Maschinen¬ 
baues“  (2.  Aufl.  1900)  vereinigt  sind. 


Neunundzwanzigstes  Kapitel:  Der  Geist  der  Technik  4(57 

niemals  Schweigen  auferlegen  den  sophistischen  Wissenschaften 
die  nichts  erzeugen  als  ein  ewiges  Geschrei  (gridore).“ 

Das  kausale  Denken  ist  für  Leonardo  strenges  Gebot:  Die 
Notwendigkeit  ist  Meisterin  und  Vormünderin  der  Natur.  "Die 
Notwendigkeit  ist  der  Grundgedanke  und  die  Erfinderin  der 
JNatur  und  Zaum  für  sie  und  ewige  Regel." 

„Die  Natur  bricht  ihr  Gesetz  nicht.“ 

„Die  Natur  ist  unter  dem  Zwang  der  vernünftigen  Ursache 
des  Gesetzes,  das  in  ihr  ausgegossen  lebt.“ 

.  ist  aber  Leonardo  auch  als  Techniker  und  Erfinder, 

insofern  er  alle  seine  technischen  Ideen  naturwissenschaftlich  zu 
verankern  bemüht  ist:  „Mußt  zuerst  die  Theorie  beschreiben 
und  hierauf  die  Praxis.“  „Jene,  die  sich  in  die- Praxis  ohne 
Wissenschaft  verlieben,  sind  wie  der  Pilot,  so  ein  Schiff  ohne 
Steuer  noch  Kompaß  betritt:  welches  dann  nie  Sicherheit  besitzt, 

wohin  es  geht.  Immer  muß  die  Praxis  auf  die  gute  Theorie  be¬ 
baut  sein.“ 

.  .  vei'höhnt  die,  die  das  Perpetuum  mobile  suchen,  ebenso 

wie  die  Schwarzkünstler:  „0  Erforscher  der  beständigen  Be¬ 
wegung,  wie  viele  eitle  Pläne  habt  ihr  in  dergleichen  Suchen 
geschaffen.  Gesellet  Euch  denen,  so  Gold  suchen.“ 

Aber  Leonardo  ragt  doch  als  ein  ganz  Einziger  in  eine  ihm 
fremde  Welt  hinein.  Die  meisten  andern  „Erfinder“,  wollten  diesen 
streng  wissenschaftlichen  Weg  gar  nicht  gehen.  Und  er  selbst 
hätte  auch  gar  nicht  diese  hohen  Anforderungen,  die  er  in  seinen 
Lehren  aufstellt,  erfüllen  können.  Dazu  war  die  wissenschaftliche 
Einsicht  in  die  Zusammenhänge  der  Natur  noch  viel  zu  gering. 
Jetzt  erst  fing  man  ja  an,  die  ersten  Grundlagen  für  die  neue 
Weltbetrachtung  zu  legen;  jetzt  erst  formte  man  die  ersten  Sätze 
des  neuen  Weltsystems:  die  wissenschaftliche  Mechanik  wurde 
erst  nach  dem  Tode  Leonardos  begründet.  Und  die  Männer,  die 
diesen  Riesenbau  zusammenzifferten,  kümmerten  sich  um  praktisch¬ 
technische  Probleme  nur  selten.  Es  sind  ‘Ausnahmen,  wenn  wir 
im  16.  und  17.  Jahrhundert  theoretischen  Forschern  unter  den 
Eifindern  begegnen,  wie  etwa  Otto  von  Guericke  oder  Christian 
Huygens.  Die  Wege  der  Naturwissenschaftler  und  der  Techniker, 
die  sich  in  Leonardo  geschnitten  hatten  und  eine  Zeitlang  viel¬ 
leicht  noch  nebeneinander  herliefen  (ich  denke  an  Männqr  wie 
J acques  Bresson  u.  a.),  trennten  sich  für  die  nächsten  Jahrhunderte 
wieder:  auf  dem  einen  wandeln  die  Galilei,  Newton,  Leibnitz, 
auf  dem  andern  die  Becher,  Hautsch,  Papin. 


30* 


468 


Dritter  Abschnitt:  Die  Technik 


Die  Welt  der  Technik,  der  Erfinder,  war  noch  die  alte,  bunte, 
lustige,  schaurige  Welt,  in  der  die  Menschen  gelebt  hatten,  ehe 
die  Wissenschaftler  sie  in  Trümmer  schlugen.  Noch  übertrug 
man  den  eigenen  Gleist  und  die  eigene  Phantasie  in  die  Natur, 
und  Himmel  und  Erde  waren  beseelt  für  das  Empfinden  des 
Betrachters.  Aus  diesem  Glauben  an  die  Beseeltheit  der  Natur 
fließen  ja  alle  jene  mystischen  Besinnungen  und  phantastischen 
Betätigungen,  an  denen  gerade  die  Zeit,  die  wir  hier  überblicken, 
namentlich  das  glaubensstarke  17.  Jahrhundert,  so  reich  ist;  das 
gilt  selbst  von  jenen  praktischen  Technologen,  die  als  Hof-  oder 
Stadt- „Ingenieure“  wirkten,  und  denen  wir  die  vielen  Sammlungen 
der  technischen  Erfahrungen  ihrer  Zeit  verdanken:  der  größte 
„Technologe“  des  16.  Jahrhunderts,  Agricola,  bevölkert  die  Berg¬ 
werke,  deren  Betrieb  er  uns  so  sachkundig  beschreibt,  mit 
„Dämonen“ ,  die  dem  Bergmann  nach  Leben  und  Gesundheit 
trachten.  Viele  nennen  ihre  Traktate  „Magia  naturalis“  und 
lassen  darin  dem  Wunderbaren  einen  großen  Spielraum.  Der 
große  Kepler  erklärte  Ebbe  und  Flut  noch  aus  dem  Atmen, 
Schlafen  und  Erwachen  des  mit  Vernunft  begabten  Untiers,  als 
welches  er  sich  die  Erde  vorstellte. 

Magie  ist  ja  nichts  anderes  als  der  Ausdruck  dieses  Glaubens 
an  die  Beseeltheit  der  Natur,  an  den  sich  der  andere,,  „praktische“ 
Glaube  anschließt:  daß  die  lebendigen  Wesen,  die  in  der  Natur 
hausen,  insonderheit  auch  die  niedrigen  Naturdämonen,  mit  dem 
Menschen  Verkehr  pflegen  und  durch  den  Menschen  in  ihrem 
Verhalten  beeinflußt  werden  können. 

„Nun  ist  die  Welt  von  solchem  Spuk  so  voll, 

Daß  niemand  weiß,  wie  er  ihn  meiden  soll.“ 

Aus  dem  Glauben  an  die  Beseeltheit  der  Natur  -folgte  ebenso 
der  Glaube  an  die  Bestimmung  des  Menschen  durch  den  Stand 
der  Gestirne  und  die  Überzeugung,  das  Menschenschicksal  aus 
den  Sternen  lesen  zu  können:  die  Astrologie. 

Aus  demselben  Glauben  erwuchs  der  Hexenwalm :  der  Glaube 
an  Weiber,  die  mit  dem  Teufel  einen  Pakt  geschlossen  hätten, 
um  mit  allerhand  Hokuspokus  den  Mitmenschen  Schaden  zuzu¬ 
fügen. 

Auf  demselben  Glauben  baute  sich  die  Alchimie  auf,  und  mit 
der  Alchimie  in  allerengstem  Zusammenhänge  steht  das  Erfinder- 
tum  jener  Zeit,  steht  die  Technik,  die  von  diesen  Erfindern  ge¬ 
schaffen  wurde. 

Aus  der  mittelalterlichen  AVelt  nahm  man  jene  geheimnisvolle 


Neimundzwanzigstes  Kapitel:  Der  Geist  der  Technik  4(39 

Verehrung,  jene  andächtige  Scheu  vor  allem  technischen  Können, 
die  wir  im  Handwerk  gefunden  haben. 

Auch  das  Hantieren  mit  Geschossen,  diese  Kunst,  deren  Ent¬ 
faltung  dann  recht  eigentlich  die  neue  Zeit  herbeiführt,  und 
gerade  sie,  galt  in  den  ersten  Jahrhunderten  noch  als  Geheim¬ 
kunst,  die  von  wenigen  viel  begehrten  Leuten  verstanden  wurde. 
Es  ist  bekannt,  welcher  Sagenkreis  sich  um  Berthold  den 
Schwarzen  1  schlang,  weil  er  als  der  erste  galt,  der  die  Geschütze 
zu  bedienen  und  das  Pulver  zu  bereiten  wußte.  Diese  unbewußte 
Scheu  vor  dem  Geheimnisvollen  wurde  dann  von  den  Späteren 
gerade,  wie  man  sagen  könnte,  bewußt  in  ein  System  gebracht. 
Und  dieses  System  war  dann  die  Erfinderkunst.  Man  muß 
noch  eine  Schrift  wie  die  von  J oachim  Becher  lesen,  der  also 
Ende  des  17.  Jahrhunderts  lebte  und  als  eines  der  größten  Er¬ 
findergenies  seines  Zeitalters  galt,  um  diesen  eigentümlichen 
Zauber  wahrzunehmen,  mit  dem  man  alle  technischen  Vorgänge 
und  Vornahmen  zu  umkleiden  liebte:  „Insonderheit  hat  der  ge¬ 
meine  flüssige  Sand,  als  eine  Gebähr-Mutter  der  Mineralien,  grosse 
Liebe  mit  den  Metallen,  dergestalt,  daß  sie  damit  tractirt,  allzeit 
verbessert  herauskommen.“  2  „Die  steigenden  "Wasser  .  .  .  haben 
einen  warmen  Geist  in  sich,  derentwegen  sie  lebendige  Quell- 
Wasser  genannt  werden;  aber  die  Wasser,  so  da  fallen  oder 
gehoben  werden  müssen,  sind  todte  Wasser.“  3 

Noch  „ist  die  Welt  von  solchem  Spuk  so  voll“  „ .  .  .  so  will 
ich  doch  nicht  verwerffen,  die  heimliche  Krafffc  etlicher  Charak¬ 
teren,  Worten  und  Talismanen.  Wir  haben  noch  zu  unserer  Zeit 
erlebt  die  Historie  von  einem  Physiologo  zu  Wien,  Namens  Lutz, 
welcher  sich  bey  dem  General  Heuster  auffgehalten  und  bey 
Padua  den  berühmten  grossen  Schatz  gegraben  hat  /  wie  weit 
er  damit  kommen  habe  ich  seine  eigene  Hand  gelesen  /  wie  er 
alles  gebannt  /  ausgenommen  den  Schlaff-Teuffel  vergessen  /  der 
ihn  hemacher  zu  Tode  schlaffend  gemacht“  .  .  .4  Das  war  das 
Zeitalter,  von  dem  man  treffend  gesagt  hat5,  daß  es  „Quintessenzen 
suchte  und  geheimnisvolle  Kräfte  lieber  verehrte  als  studierte“. 

1  Über  ihn.  hat  neues  Wissen  vei'breitet:  Feldhaus,  Ruhmes¬ 
blätter  der  Technik  (1910),  106  ff. 

2  Becher,  Närrische  Weisheit,  87. 

3  Becher,  Närrische  Weisheit,  247/48. 

4  Becher,  Närrische  Weisheit,  232. 

5  C.  Fr  aas,  Geschichte  der  Landbau-  und  Forstwissenschaft 
(1865),  134. 


470 


Dritter  Abschnitt:  Die  Technik 


Die  wichtige  Schlußfolgerung  aber,  die  man  nun  aus  dieser 
Auffassung  zog,  war  die:  daß  die  Erfinderkunst  nicht  etwa  ge¬ 
lernt  werden  könne,  daß,  um  technische  Neuerungen  herbeizu¬ 
führen,  man  nicht  wissenschaftliche  Studien  machen  müsse :  daß 
vielmehr  das  „Erfinden“  ein  geheimnisvoller  Vorgang  sei,  und 
daß  man  die  Befähigung  dazu  als  eine  Gabe  des  Himmels  anzu¬ 
sehen  habe. 

Becher  (in  dem  uns  der  vollkommenste  Typ  jener  Erfinder 
des  Barock  entgegentritt)  drückt  diesen  Gedanken  in  der  Vor¬ 
rede  zu  seiner  „Närrischen  Weisheit“  also  aus:  „Wiewol  der  liebe 
Gott  unterschiedliche  Argumenta  und  Documenta  seiner  Gütig¬ 
keit,  Providentz  und  Existentz  sichtlich  in  die  Natur  geleget, 
so  ist  doch  das  Donum  inventionis  bey  den  Menschen  nicht  das 
geringste  .  .  .  Hier  ist  kein  Ansehen  der  Person  noch  Profession: 
Könige  und  Bauern ,  Gelehrte  und  Ungelehrte ,  Heyden  und 
Christen,  Fromme  und  Böse  seyn  darmit  begabet  worden  .  .  . 
Die  göttliche  Gnade  hat  mir  auch  etwas  von  diesem  Dono  ge¬ 
geben,  gleichwie  meine  Schriften  ausweisen“  usw. 

„Hier  ist  kein  Ansehen  der  Person  noch  Profession“ :  und  in 
der  Tat,  wenn  wir  die  Reihe  der  Männer  überblicken,  denen  die 
Technik  bis  in  die  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  im  wesentlichen 
ihre  Fortbildung  verdankt,  so  finden  wir  unter  ihnen  die  Ver¬ 
treter  aller  Stände  und  Berufe,  von  denen  die  meisten  überhaupt 
kein  „Fachstudium“  getrieben  hatten.  Hat  aber  eine  der  typischen 
Erfindernaturen  jener  Zeit  wirklich  „Physik“  oder  so  etwas  ähn¬ 
liches  „studiert“,  so  kann  man  sicher  sein,  daß  seine  Erfindungen 
nur  zum  kleinsten  Teile  diesem  Studium  ihr  Dasein  verdanken: 
man  denke  etwa  an  Männer  wie  Reaumur  oder  Cornelius  Drebbel. 

Ich  nenne  aufs  Geratewohl  folgende  „Außenseiter“,  die  während 
des  17.  und  18.  Jahrhunderts  wichtige  Erfindungen  (in  Klammern  hin¬ 
zugefügt)  gemacht  haben: 

Fürsten:  Oheim  Karls  II.  von  England,  Prinz  Ruprecht  (ein  nach 
ihm  benanntes  Metall,  Flößmaschinen,  Hebemaschinen);  Ferdinand  II. 
von  Toscana  (Kondensationshygrometer)  ;  Leopold  von  Dessau  (eiserner 
Ladestock). 

Adlige:  Comte  de  Lauraguais ,  M.  de  Montaney,  Comte  de  Milly 
(Verbesserungen  der  Porzellanfabrikation);  De  Montbruel  (hydraulische 
Wasserhebemaschine);  M.  de  Lille  (Sichelart);  Chev.  de  Solages 
(Dampfmaschine:  als  einer  unter  vielen);  Marquis  von  Worcester: 
s.  u. ;  auch  Abenteurer  wie  Cyrano  de  Bergerac  finden  wir  unter  den 
Erfindern  ihrer  Zeit. 

Höhe  Beamte ,  Offiziere ,  Gelehrte ,  Ärzte  usw.:  Gerard  Desargues 
(Lehre  von  den  Kegelschnitten);  Marschall  Moritz  von  Sachsen  (Ketten- 


Neunundzwanzigstes  Kapitel:  Der  Geist  der  Technik  471 

Schiffahrt)  ;  M.  Bon,  Präsident  der  Chambre  des  comptes  (Verbesse- 
sungen  in  der  Seidenfabrikation);  Rektor  John  Beal  (Barometer¬ 
schwankungen);  der  Philologe  Joh.  Heinr.  Schulze  (Lichtbilder);  der 
Student  der  Theologie  Lee  (Strickmaschine);  der  Arzt  Andr.  Cassius 
(Goldpurpur);  der  Arzt  Eirinis  (Asphalt);  Benjamin  Franklin  (Blitz¬ 
ableiter);  der  schwedische  Oberst  Christ.  Treuleben  („die  Kunst,  unter 
dem  Wasser  zu  gehen“). 

Priester,  Ordensbrüder  usw. :  der  Jesuit  Athan.  Ivircher  (Laterna 
magica,  Äolsharfe);  der  Jesuit  Bonami  (Emaille);  der  Minime  Marinus 
Mersennus  (Unterseebot);  der  Kapuziner  Ant.  Maria  Schyrläus  de 
Rheita  (terrestrisches  Okular) ;  der  Mönch  Perignon  (Champagner !) ; 
der  Pfarrer  Cartwright  (mechanischer  Webstuhl);  der  Abbe  Soumille 
(die  Devidage  der  Seide);  der  Cure  Langruet  (Vervollkommnung  der 
Seidenspinnerei). 

Handwerker,  Arbeiter  usw. :  der  Zimmermann  Perse  (Flutmühlen) ; 
der  Arbeiter  Dugaure  (die  erste  geruchlose  Grubenentleerung) ;  der 
Arbeiter  Humphrey  Potter  (Steuerung  der  D  am  p  f  in  aschine);  der 
Barbier  Arkwright  (Spinnmaschine);  der  Zimmermann  John  Harrison 
(Längenuhr). 

Neben  diesen  Pastoren  und  Barbieren  müssen  wir  uns  dann 
natürlich  auch  noch  den  Fachmann  als  Erfinder  vorstellen: 
das  heißt  den  Uhrmacher,  der  neue  Uhrmechanismen,  den  Färber, 
der  neue  Färbemethoden,  den  Weber,  der  Verbesserungen  des 
Webstuhls  erfindet. 

Hier  müssen  dann  auch  jene  Männer  genannt  werden,  die  wir 
als  die  Väter  unserer  Berufsingenieure  und  Berufschemiker  an¬ 
zusehen  haben,  und  die  bis  zu  einem  gewissen  Grade  Theorie 
und  Praxis  vereinigten:  die  „Hof- Architekten“ ,  die  Stadtbau¬ 
meister,  die  „Kriegsingenieure“  im  Gefolge  der  großen  Con- 
dottieri,  denen  die  Leitung  aller  „technischen“  Arbeiten  ob¬ 
lag,  und  die  dann  jene  Abhandlungen  über  die  Kriegs-  und 
Festungsbaukunst ,  über  Maschinenwesen  und  Bergbau ,  über 
Wasserkünste  und  „ Mühlen “anlagen  schrieben1,  denen  wir  des 
öfteren  schon  begegnet  sind  und  denen  wir  noch  mehrmals 
begegnen  werden,  weil  sie  tatsächlich  die  beste  Quelle  für  die 
Geschichte  der  Technik  darstellen.  Wie  viel  diese  praktischen 
Technologen  von  den  Anlagen  und  Mechanismen  und  Verfahrungs- 
weisen ,  die  sie  in  ihren  Büchern  beschreiben ,  selbst  erfunden 
hatten,  läßt  sich  in  den  meisten  Fällen  mit  Sicherheit  nicht  fest¬ 
stellen.  Im  wesentlichen  werden  sie  wohl  bloß  Kompilatoren 

1  Theodor  Beck  bringt  in  seinen  „Beiträgen“  bei  jedem  der 
von  ihm  kommentierten  Werke  eine  kurze  Lebensbeschreibung  des 
Verfassers. 


472 


'Dritter  Abschnitt:  Die  Technik 


gewesen  sein,  was  einige  von  ihnen  auch  ohne  weiteres  zugeben. 
Andere  werden,  wie  die  Handwerker  in  den  einzelnen  Gewerken, 
schon  im  heutigen  Sinne  gleichsam  „berufsmäßig“  —  wenn  auch 
ohne  viel  wissenschaftlichen  Ballast  —  Verbesserungen  an  diesem 
oder  jenem  Mechanismus  angebracht  haben. 

Man  kann  sie  die  Alltagserfinder  nennen,  während  die  Zeit 
doch  gekennzeichnet  wird  durch  jene  Sonntagskinder,  denen  das 
donum  inventionis  durch  Gottes  Gnade  zuteil  geworden  war,  und 
die  nun  mit  ihrem  Pfunde  wucherten  und  ihr  ganzes  Leben  dem 
Erfinden  widmeten,  die  auch  ihre  Wirksamkeit  nicht  etwa  auf 
einen  bestimmten  Zweig  beschränkten,  sondern  auf  allen  Gebieten 
wild  darauflos  erfanden.  Die  für  jene  Zeiten,  insonderheit  für 
das  Zeitalter  des  Barock,  recht  eigentlich  charakteristischen  Er¬ 
findertypen  sind  doch  aber  jene  Viel  erfind  er,  von  denen  ich 
schon  einige  genannt  habe.  Es  wimmelt  von  ihnen. 

Da  ist  „ein  Schwabe,  namens  Paul  Weber  in  Wien  ...  er 
war  ein  sehr  ingeniöser  Mann,  in  allerhand  Manufacturen  zu¬ 
mahlen  in  Firnüssen  und  LufftRöhren“ ;  da  ist  Isaac  von  Nickeln: 
ein  guter  Opticus,  der  die  Kunst  versteht,  Maulbeerbäume  und 
Seidenwürmer  aufzuziehen;  da  ist  Faustus  Verantius  (um  1617): 
ein  Geistlicher,  der  ein  Wörterbuch  in  5  Sprachen  veröffentlicht 
und  daneben  über  Mühlen,  Brücken,  Getreidereinigung,  Über¬ 
schwemmungen,  Anlage  venetianischer  Brunnen  sich  seine  Ge¬ 
danken  macht  und  in  Schriften  niederlegt1.  Es  sind  jene  Leute, 
von  deren  einem  (Hans  Flautsch)  Neudörfer  schreibt:  er  sei 
„ein  inventiöser  und  künstlicher  Mann“.  Da  ist  James  Young, 
ein  Schreiber  in  Edinburg,  der  1684  eine  Schreibmaschine  er¬ 
findet,  im  folgenden  Jahr  einen  neuen  Verschluß,  ein  paar  Jahre 
später  eine  Webmaschine  („an  engine  for  weawing,  never  before 
practised  in  any  nation,  whereby  several  kinds  of  cloth  may  be 
manufactured  without  manual  Operation  or  weaving  looms“)2. 

Dieses  barocke  Vielerfindertum  gipfelt  dann  in  so  seltsamen 
Erscheinungen  wie  Somerset,  Reaumur,  Papin,  Becher. 

Somerset,  Second  Marquis  of  Worcester  (1601 — 1670).  Er 
erfindet:  verschiedene  Art  von  Siegeln  (Seals),  eine  neue  Schrift 
(Art  von  Stenographie),  eine  Art  von  Telegraphie,  mit  Kanonen 
bei  Nacht  zu  schießen,  ein  nicht  versenkbares  Schiff,  ein  Boot, 

1  Über  Faustus  Verantius:  Theodor  Beck,  Beiträge  zur  Ge¬ 
schichte  des  Maschinenbaus  (2.  Aufl.  1900),  513  ff. 

1  Reg.  of  the  Privy  Council;  Acts  Pari.  Scot.  Vol.  X,  bei  John 
Mackintosh,  The  History  of  Civilization  in  Scotland  3  (1895),  333. 


Neumtudzwauzigstes  Kapitel:  Der  Geist  der  Technik 


473 


gegen  Wind  und  Flut  zu  fahren,  eine  schwimmende  Festung,' 
einen  Garten  auf  der  Themse,  künstliche  Fontainen,  Bremsvor¬ 
richtung,  eine  Wage  mit  Wasserkraft,  eine  Wasseruhr,  Hebe¬ 
maschine,  eine  transportierbare  Brücke,  eine  transportierbare 
Festung,  eine  Universalschrift,  verschiedene  Alphabete,  ein  Feuer¬ 
zeug,  einen  künstlichen  Vogel,  eine  Geheimschrift,  ein  Wasser¬ 
werk  mit  Benutzung  von  Flut  und  Ebbe,  einen  Revolver  (how  to 
make  a  pistol  to  descharge  a  dozen  times  without  one  leading), 
Repetiergewehr,  Mitrailleuse,  die  Dampfmaschine  (an  admirable 
and  most  fascible  way  to  drive  up  water  by  fire),  ein  Sicher- 
heits-(Alarm-)Schloß,  eine  neue  Webetechnik,  die  Flugmaschine 
(how  to  make  a  man  to  fly),  eine  immer  gehende  Uhr,  eine 
Rechenmaschine,  eine  Schiffhebemaschine  usw.  usw. 

A.  R.  F.  de  Reaumur  (1683 — 1767)  finden  wir  gleich  stark 
als  Erfinder  des  SOteiligen  Thermometers  wie  als  Neuerer  auf  dem 
Gebiete  der  Eisenbereitung,  der  Porzellanbereitung,  der  Färberei, 
der  Spiegelfabrikation;  er  schreibt  aber  auch  ein  Promemoria 
über  Tauwerk  und  seine  Haltbarkeit  oder  über  die  Methode,  zu 
allen  Jahreszeiten  Hühner  ausbrüten  zu  lassen  und  groß  zu 
ziehen;  er  erfindet  ein  Verfahren,  Eier  zu  konservieren  usw. 

Denis  Papin  (1647 — 1714)  erfindet  bzw.  verbessertu.  a.  die 
Luftpumpe,  eine  Pulvermaschine,  ein  Taucherschiff,  einen  Heiz¬ 
ofen,  eine  Wasserhebemaschine,  eine  Zentrifugalpumpe,  Ventila¬ 
toren,  Windgeschütze,  die  Hochdruckdampfmaschine,  das  Dampf¬ 
schiff;  interessiert  sich  für  das  künstliche  Raschwachsen  der 
Blumen ;  legt  der  Kgl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften  zu  London 
(1685)  einen  Plan  vor  zur  Kraftübertragung;  schreibt  (1681)  den 
Traite  des  operations  sans  douleurs  etc.  etc. 

Und  dann  ist  da  der  köstlichste  von  allen:  der  Prachtkerl 
Joh.  Joachim  Becher  (1635 — 1682),  aus  dessen  ingenium  die 
erfinderischen  Gedanken  wie  Funken  und  Leuchtkugeln  heraus¬ 
sprühen  und  herausplatzen.  Was  hat  er  alles  „erfunden“ !  Ein 
Instrument,  die  rauhen  Wind  oder  QeißHaare  aus  der  Wolle  zu 
scheiden;  ein  Webinstrument,  mit  zwey  Personen  in  einem  Tage 
100  Elen  Lacken  zu  weben;  ein  höltzern  Instrument,  wollene, 
feine  Strümpffe  zu  stricken,  des  Tags  ein  Paar;  ein  Seiden  Fila- 
torium  oder  Abwind  -  Instrument ,  die  feine  Seide  mit  wenig 
Menschen  in  grosser  Quantität  abzuwinden;  das  perpetum  mobile, 
physico-mechanicum,  alle  Uhren,  die  an  einem  Orte  stehen  bleiben, 
continuirlich  ohn  aufgezogen,  gehn  zu  machen;  Invention  aller 
Orten  Wasser-Mühlen  zu  bauen;  ein  neues  Wasser-Rad  zu  einer 


474 


Dritter  Abschnitt:  Die  Technik 


Schiffmühle ;  ein  wunderliches  Salz,  kein  Acidum  und  kein  Alcali 
und  doch  beydes  zugleich,  gibt  auch  in  der  distillation  einen  - 
absonderlichen  Spiritum  und  Solvens  von  wunderlichen  Opera¬ 
tionen;  aus  gemeinem  Haffner-Leym  Eysen  zu  machen;  aus  Stein¬ 
kohlen  Theer  zu  machen;  eine  Invention,  ein  Getränke,  es  sey 
Wein  Bier  oder  Aepffel  Most  lU  Jahr  lang  in  der  Fermentation 
zu  erhalten;  eine  Weltschrift;  eine  Weltsprache;  eine  Art  von 
Regimentstücken  .  .  .  die  ein  Mann  tragen  und  ein  Pferd  gar 
gemächlich  etliche  führen  kann,  sind  ein  Species  eines  Musquetons; 
ein  Thermoscop ;  einen  neuen  Ofen,  der  Holz  spart  .  .  . 

W  i  e  solche  Köpfe  erfanden ,  läßt  sich  leicht  denken :  im 
wesentlichen  mit  Hilfe  ihrer  Phantasie,  unsystematisch,  un¬ 
begründet.  Ihre  Phantasie  trieb  sie,  in  alle  Richtungen  hinaus¬ 
zuschweifen,  ohne  rechten  Sinn  und  ohne  eigentlichen  Plan: 

„Acht  Sachen  sind ,  wonach  die  Gelehrten  und  Curiosen 
streben,  nemlich: 

1.  der  Lapis  philosophorum ; 

2.  liquor  Alcabest; 

3.  das  Glas  weich  zu  machen; 

4.  ein  ewiges  Licht; 

5.  eine  Linea  hyperbole  in  einem  Brenn-Spiegel ; 

6.  die  gradus  longitudinis  zu  finden; 

7.  die  Quadratura  circuli  und 

8.  das  Perpetuum  mobile. 

AVer  nun  Geld,  Zeit  und  Lust  hat,  der  kan  hierinnen  occasion 
finden  ..." 1 

Und  allzu  häufig  führte  der  eingeschlagene  Weg  nicht  zum 
Ziele:  weil  man  plötzlich  auf  ihm  halt  machen  mußte.  So  gibt 
es  eine  Menge  von  Erfindungen  in  jener  Zeit,  die  dicht  vor  der 
Lösung  stehen,  die  heute  jeder  Student  der  Physik  oder  Chemie  in 
wenigen  Wochen  schulmäßig  „zu  Ende  erfinden“  würde,  und  die 
doch  damals  unvollendet  blieben,  weil  ihre  Vollendung  von  dem 
Zufall  des  glücklichen  Gedankens  abhängig  war,  der  sich  gerade 
nicht  einstellen  wollte.  Oder  die  Versuche  scheiterten,  weil 
irgendein  Fehler  in  der  Konstruktion  der  Maschine  gemacht  war, 
den  der  Erfinder  nicht  wahrnahm:  so  litt  Papin  sehr  darunter' 
daß  er  kein  geschulter  Mechaniker  war.  Seine  häufigen  Mißerfolge 
hingen  möglicherweise  oft  nur  an  einer  Kleinigkeit:  einer  zu 
schwachen  Schraube  oder  Klammer.  Man  muß  erwägen,  daß  einem 


1  Becher,  Närrische  Weisheit,  213  f. 


Neunundzwanzigstes  Kapitel:  Der  Geist  der  Technik  475 

Manne  wie  Papin  die  Lehre  von  der  Festigkeit,  von  der  Trag¬ 
fähigkeit  der  Materialien  nsw.  nocli  so  gut  wie  unbekannt  waren. 

Aber  offenbar:  was  jenen  Männern  an  wissenschaftlicher 
Bildung  und  Schulung  abging,  das  wußten  sie  zu  ersetzen  durch 
eine  blühende  Phantasie,  von  deren  schöpferischer  Kraft  wir  uns 
kaum  noch  eine  Vorstellung  machen  können.  Jene  Jahrhunderte, 
die  dem  Aufklärungszeitalter  vorangehen,  in  die  die  Epoche  des 
Frühkapitalismus  fällt,  sind  ja  auf  allen  Gebieten  der  mensch¬ 
lichen  Kultur  von  einer  unerhörten  Fruchtbarkeit  des  Erfindens 
und  Gestaltens:  es  wäre  seltsam,  wenn  sich  diese  schöpferische 
Kraft  nicht  auch  auf  dem  Gebiete  der  Technik  hätte  bewähren 
sollen,  da  das  Zeitalter  doch,  wrie  nun  noch  zum  Schlüsse  fest¬ 
gestellt  werden  muß,  tatsächlich  von  einem  starken  und  zähen 
Erfinder  willen  erfüllt  gewesen  ist. 

Ist  die  Art,  wde  die  Pfadfinder  auf  dem  Gebiete  der  Technik 
ihr  Wesen  entfalten,  immer  noch  im  Grunde  von  mittelalter¬ 
licher  Mystik  umwoben,  so  ist  dieser  entschlossene  Wille 
zum  technischen  Fortschritt  das,  was  die  Geister  im 
Zeitalter  namentlich  des  Barock  als  eigentümlich  „modern“  kenn¬ 
zeichnet,  wras  sie  ebenso  mit  unserer  Zeit  verbindet,  wie  ihre 
Gewohnheit  zu  denken  sie  dem  Mittelalter  verwandt  macht. 

Wie  war  dieser  Erfinderwille  lebendig  geworden?  Wenn 
Defoe,  der  als  Zeitgenosse  diese  Frage  schon  damals  auf¬ 
geworfen  hat,  darauf  die  Antwort  gibt:  weil  die  geschäft¬ 
lichen  Verluste  während  der  Zeit  des  Commonwealth  und  der 
Restauration  viele  Leute  zwangen,  auf  Verbesserungen  ihrer 
Leistungen ,  auf  neue  Möglichkeiten  einer  wirtschaftlichen 
Existenz  zu  sinnen:  so  scheint  mir  diese  Antwort  zu  eng  zu 
sein.  Vor  allem,  möchte  ich  glauben,  enthält  sie  letztenfalls  eine 
Erklärung  nur  für  eine  Zeit,  in  der  schon  neue  Kräfte  auf  die 
Vervollkommnung  der 'Technik  hindrängten:  Kräfte,  die  aus  der 
Spannung  der  kapitalistischen  Interessen  hervorgebrochen,  und 
die  dann  ja  bis  in  unsere  Tage  hinein  die  eigentlich  treibenden 
Kräfte  für  den  technischen  Fortschritt  geworden  sind,  die  aber 
in  all  den  Jahrhunderten,  in  denen  wir  vorher  doch  schon  den 
Erfinderwillen  sich  entfalten  sehen,  gar  nicht  oder  nur  ganz  keim¬ 
haft  vorhanden  waren,  und  die,  wie  mir  scheinen  will,  selbst 
noch  in  der  Spätzeit  des  Barock,  von  der  Defoe  spricht,  kaum 
die  hervorragende  Bedeutung  hatten,  die  sie  später  gewannen, 
und  auf  die  wir  also  selbst  in  dieser  Epoche,  geschweige  denn 
in  den  Tagen  des  Quattrocento  und  Cinquecento  den  zweifellos 


476 


Dritter  Abschnitt:  Die  Technik 


damals  auch  schon  stark  betätigten  Erfinderwillen  zurückführen 
können. 

Was  hob,  müssen  wir  also  fragen,  den  mittelalterlichen  Tra- 
ditionalismus,  der  nicht  nur  keine  technischen  Neuerungen  wollte, 
sondern  der  sich  gegen  sie  mit  aller  Gewalt  sträubte:  was  hob 
diesen  in  sich  beharrenden  Traditionalismus ,  der  niemals  aus 
sich  heraus  die  Technik  weiterzubilden  vermocht  hätte,  über 
sich  selbst  hinaus,  ehe  das  Geschäftsinteresse,  ehe  das  dem 
Kapitalismus  innewohnende  Gewinnstreben  auf  seine  Über¬ 
windung  hindrängte? 

Ich  sehe  drei  Quellen,  aus  denen  der  Erfinde rwille 
entspringen  konnte  und  entspringen  mußte,  auch  ehe 
der  Kapitalismus  ihn  erzeugte,  die  alle  drei  wiederum  aus  dem 
Urquell  des  Unendlichkeitsstrebens  gespeist  werden,  aus  dem  alles 
Leben  des  neuen  Europa  geflossen  ist.  Die  eine  Quelle  ist  der 
allgemeine  Drang  der  Zeit,  wenigstens  des  ausgehenden  15.  und 
des  16.  und  17.  Jahrhunderts  nach  Erkenntnis  der  Welt,  ist  der 
Faustische  Zug  der  Zeit,  wie  man  auch  sagen  könnte: 
„Wie  obgemeldt  stund  D.  Fausti  Datum  dahin,  das  zu  lieben, 
was  nicht  zu  lieben  war,  dem  trachtet  er  Tag  und  Nacht  nach, 
warne  an  sich  Adlers  Flügel,  wolte  alle  Gründ  am  Himmel  und 
Erden  erforschen“,  heißt  es  in  dem  ältesten  Faustbuche. 

„Daß  ich  erkenne,  was  die  Welt 

Im  Innersten  zusammenhält“ : 

führte  dieses  Streben  die  einen  in  die  Höhen  der  Spekulation, 
so  die  andern  in  die  Niederungen  der  Experimente  und  der 
Teufelskünste.  Und  hier  hauste  der  Erfinder  und  Entdecker, 
zumal  wenn  sich  mit  jenem  dunkeln  Drange  nach  Erkenntnis 
die  unbestimmte  Sehnsucht  nach  Neugestaltung,  nach  neuen 
Lebensformen,  neuen  Welten  paarte:  jene  Sehnsucht,  die  ebenso 
in  den  Forschungsreisen  jener  Tage  wie  in  den  Träumereien  von 
neuen  Staatsformen,  die  ebenso  in  Drake  und  Raleigh  wie  in 
Morus,  Campanella  und  Vairasse  ihren  Ausdruck  findet. 

Aber  freilich :  reale  Interessen  mußten  doch  jenem  rein  idealen 
Streben  zu  Hilfe  kommen,  um  ihm  die  große  Durchschlagskraft 
zu  geben,  die  es  tatsächlich  besessen  hat.  Und  da  stoßen  wir 
nun  bei  näherer  Prüfung  auf  zwei  Interessenzentren,  von  denen 
auch  in  vorkapitalistischer  Zeit  seit  dem  Ausgange  des  Mittel¬ 
alters  immer  von  neuem  und  immer  mächtiger  ein  heißes  Be¬ 
mühen  um  Niederzwingung  der  Natur,  um  Beherrschung  der 
Naturkräfte  und  damit  ein  unausgesetztes  Suchen  nach  neuen 


Neummdzwanzigstes  Kapitel:  Der  Geist  der  Technik 


477 


technischen  Möglichkeiten  mit  zwingender  Notwendigkeit  hervor¬ 
brechen  mußte:  ich  meine  das  Interesse  am  Geldbesitz  und  das 
Interesse  an  glücklicher  Kriegsführung. 

Aus  dem  Drange  nach  dem  Golde  ist  die  Alchimie  er¬ 
wachsen,  die  selbst  wieder  die  Mutter  zahlreicher  Erfindungen 
und  Entdeckungen  wurde;  aus  demselben  Streben  entsprangen 
die  bedeutsamen  Reformen  auf  dem  Gebiete  der  Bergbautechnik ; 
dasselbe  Trachten  nach  dem  Golde  wies  die  Menschen  auf  den 
Ozean  hinaus  und  erzwang  die  Fortschritte  im  Reiche  der  Nautik. 

Ebenso  hat  die  Entwicklung  des  Heerwesens  syste¬ 
matisch  den  technischen  Fortschritt  befördert1.  Hier  war  eine 
Stelle  menschlicher  Tätigkeit  aufgebrochen,  der  das  grundsätz¬ 
liche  Bestreben  nach  Neuerung  und  Besserung  ebenso  eine  Not¬ 
wendigkeit  wurde,  wie  auf  allen  andern  Gebieten  der  Kultur  das 
grundsätzliche  Verharren  am  Althergebrachten.  Wir  können  ganz 
deutlich  verfolgen,  wie  sich  um  diese  beiden  Kerne  alle  fort¬ 
schrittliche  Technik  jener  Zeit  herumlagert:  die  alchimistischen 
Schriften,  die  Feuerwerksbücher  und  andern  artilleristischen 
Schriften,  die  Bergbaubücher,  die  Seemannsschriften  sind  die 
ersten  Wahrzeichen  des  Dranges  nach  klarer  Überblickung  des 
technischen  Besitzes  und  vor  allem  der  Sehnsucht  nach  Erweite¬ 
rung  dieses  Besitzes,  nach  Vervollkommnung  des  technischen 
Könnens. 

Was  sich  an  wichtigen  Neugestaltungen  auf  dem  Gebiete  der 
Technik  während  des  halben  Jahrtausends  von  Mitte  des  13.  bis 
Mitte  des  18.  Jahrhunderts  aus  jenen  Bemühungen  heraus  ergeben 
hat,  werde  ich  in  dem  folgenden  Kapitel  zusammenstellen.  Wir 
werden  dort  erfahren,  daß  die  technischen  Neuerungen  im  wesent¬ 
lichen  freilich  erst  seit  dem  Beginn  der  Renaissancezeit  und  dann 
während  des  17.  und  18.  Jahrhunderts  rasch  an  Zahl  zunehmen; 
daß  unter  diesen  Neuerungen  einige  von  schon  grundsätzlich 
großer  Bedeutung  sind,  die  der  Entfaltung  des  Kapitalismus, 
schon  in  seiner  Frühzeit,  einen  weiteren  Spielraum  geben,  einige, 
an  deren  Erscheinen  die  Entstehung  der  kapitalistischen  Wirt¬ 
schaft  geradezu  gebunden  erscheint. 

Hier  mag  nur  noch  das  allgemeine  W esen  der  Technik 
während  dieser  Zeit  dahin  gekennzeichnet  werden,  daß  wir  fest¬ 
stellen:  das  technische  Können  und  Wissen  blieb  auch  während 
der  frühkapitalistischen  Epoche  auf  denselben  Grundlagen  auf- 

1  Vgl.  F.  Toennies,  Die  Entwicklung  der  Technik  (Festgabe 
für  Ad.  Wagner.  1905.  S.  130  f.). 


478 


Dritter  Abschnitt :  Die  Technik 


gebaut,  auf  denen  es  bis  dahin  geruht  hatte.  Das  will  sagen: 
die  Technik  bleibt  in  diesem  Zeitraum  nach  wie  vor  1.  em¬ 
pirisch;  2.  organisch. 

Die  rein  empirische  Ausrichtung  und  Begründung  des 
technischen  Könnens  gilt  noch  für  fast  das  ganze  18.  Jahrhundert, 
und  zwar  sowohl  für  chemische  wie  mechanische  Produktionsprozesse. 
Ein  2^aar  Beispiele :  ich  wähle  die  wichtigste  chemische  Industrie,  die 
Eisen-  und  Stahlbereitung  und  die  (neben  der  Textilindustrie)  wich¬ 
tigste  mechanische  Industrie,  den  Schiffbau,  mögen  das  erweisen. 

Eisen-  und  Stahlindustrie: 

„Bis  jetzt  sind  noch  die  Meinungen  der  Naturforscher  geteilt,  was 
eigentlich  für  eine  Veränderung  vorgehe,  wenn  Eisen  in  Stahl  ver¬ 
wandelt  wird,  ob  bloß  der  überflüssige  Schwefel  müsse  abgesondert 
werden  oder  ob  man  dem  Eisen  mehrere  brennbare  Teile  beibringen 
müsse,  wenn  es  Stahl  werden  soll.  Im  ersten  Pall  würde  man  den 
Schwefel  durch  alkalische  Salze  wegschaffen  müssen ;  im  letzten  aber 
müßten  Horn,  Beine  von  Tieren,  Kohlenstaub,  Kuß  und  andere  Dinge, 
die  viel  brennbares  enthalten,  diese  Teile  dem  E.  mitteil en  usw.“ 

P.  N.  Sprengels  Handwerke  und  Künste,  5.  Sammlg., 

2.  Aufl.  (1790),  187. 

„Eine  gute  Kohle  erkennet  man  daran,  wenn  sie  nicht  zu  schwer 
und  auch  nicht  zu  leicht  ist,  beim  An-  oder  Entzweischlagen  einen 
gewissen  (!)  Klang  von  sich  giebt,  inwendig  glänzet  und  eine  mehr 
bläulich-schwarze  als  mohren-schwarze  Farbe  an  sich  hat;  welches 
alles  sich  besser  aus  der  Erfahrung  erkennen,  als  beschreiben  läßt.“ 
Bergius,  Neues  Pol.  u.  Cam.-Mag.  2  (1776),  166. 

„Man  hat  zu  Baruth  durch  die  Erfahrung  gut  befunden,  daß  es 
besser  sei,  wenn  die  Kohlen  durch  ein  unten  gemachtes  Feuer  an¬ 
gezündet  sind,  daß  die  Bälge  nicht  sogleich  angelassen,  sondern  die 
Mauern  des  Ofens  bis  auf  die  Dicke  von  3'  ohngefähr  auf  folgende 
Art  gewärmet  werden“  ...  ib.  p.  168. 

„Man  gibt  folgende  Erscheinungen  und  Umstände  an,  welche  sich 
bei  dem  hohen  Ofen  zeigen,  und  von  welchen  man  urteilen  kann,  ob 
Kohlen  oder  Erz  aufzugeben  sind“  (folgt  Aufzählung  von  äußern 
Symptomen). 

Aus  der  Beschreibung  des  Hüttenwerkes  in  Baruth,  ebenda  170. 

Schiffbau : 

Der  Jesuitenpater  und  Lehrer  der  Mathematik  am  Seminar  zu 
Toulon,  Paul  Hoche,  schreibt  in  seiner  Theorie  de  la  con- 
struction  des  vaisseaux  (1690):  „Man  kann  nicht  leugnen,  daß  die 
für  den  Staat  so  notwendige  Schiffbaukunst  von  allen  Künsten  die 
am  wenigsten  ausgebildete  ist.  Der  Zufall  hat  bei  dem  Schiff¬ 
bau  so  viel  zu  sagen,  daß  die  mit  der  größten  Aufmerk¬ 
samkeit  gebauten  ^Schiffe  gewöhnlich  sehr  schlecht 
ausfallen,  während  jene  Schiffe,  die  sehr  nachlässig- 
gebaut  werden,  oft  die  besten  sind.  So  sind  die  großen 
Schiffe  meistens  ganz  verfehlt,  und  unter  den  Kauffahrern  findet  man 
mehr  gute  Schiffe  als  in  der  König!.  Flotte.“ 


Nemnmdzwanzigstes  Kapitel:  Der  Geist  der  Technik  479 

Im  Jahre  1757  veröffentlichte  zwar  Daniel  Bernouilli  eine 
Denkschrift,  in  der  er  die  Bedingungen  für  die  statische  Stabilität 
wissenschaftlich  feststellte.  Noch  30  Jahre  später  vermochten  aber 
englische  Autoritäten  im  Schiffbau  die  Ursache  der  mangelhaften 
Stabilität  dreier  Schiffe  nicht  zu  ergründen.  Das  lag  zum  Teil  daran, 
daß  die  damaligen  theoretischen  Abhandlungen  zu  hohe  mathematische 
und  technische  Kenntnisse  voraussetzten,  um  von  den  Praktikern  ver¬ 
standen  zu  werden:  zwischen  diesen  und  der  technologischen  Wissen¬ 
schaft  klaffte  noch  eine  Lücke,  die  erst  in  den  nächsten  Menschen¬ 
altern  überbrückt  werden  sollte.  So  heißt  es  in  der  Einleitung  zu 
Eulers  1776  erschienenen  „Theorie  complete  de  la  construction  et 
de  la  manceuvre  des  vaisseaux“ :  „Wenngleich  schon  vierzig  Jahre 
vergangen  sind,  seit  die  Mathematiker  mit  einigem  Erfolg  diesen  Gegen¬ 
stand  bearbeiten,  so  sind  ihre  Entdeckungen  doch  noch  von  so  schwie¬ 
rigen  Berechnungen  begleitet,  daß  die  Seeleute  kaum  irgend  einen 
Nutzen  davon  haben.“  Vgl.  Buch  der  Erfindungen  9,  600. 

War  also  die  Technik  nach  wie  vor  empirisch  begründet,  so¬ 
fern  sie  nicht  auf  wissenschaftlicher  Naturerkenntnis  sich  auf¬ 
baute,  so  war  sie  doch  nicht  mehr  durchaus  traditionalistisch. 
Vielmehr  beginnt  die  Technik  mit  Entschiedenheit  in  unserm 
Zeitraum  rationell  zu  werden.  Faßt  man  den  Begriff  der  Empirie 
als  Gegensatz  zum  wissenschaftlichen  Verfahren  (und  nicht:  wie 
es  der  Sprachgebrauch  auch  zuläßt:  als  Gegensatz  zum  rationellen 
Verfahren),  so  kann  man  zusammenfassend  sagen:  die  Technik 
des  Mittelalters  war  empirisch  -  traditionalistisch ;  die  des  früh- 
kapitalistischen  Zeitalters  war  empirisch-rationalistisch,  während 
die  moderne  Technik  wissenschaftlich  -  rationalistisch  ist.  Der 
Ausdruck  der  rationellen  Technik  verbindet  sich  in  unserer  Vor¬ 
stellung  am  leichtesten  mit  der  Landwirtschaft.  Hier  hat  es  (seit 
der  Mitte  des  18.  bis  in  die  Mitte  des  19.  Jahrhunderts)  eine 
Periode  der  „rationellen  Landwirtschaft“  gegeben,  die  ebenfalls 
zwischen  die  Periode  der  traditionellen  und  der  szientifischen 
Landwirtschaft  sich  einschiebt.  Ganz  ähnlich  hat  sich  die  Technik 
als  Ganzes  entwickelt.  Und  will  man  das  frühkapitalistische  Zeit¬ 
alter  formaltechnisch  mit  einem  Worte  kennzeichnen,  so  muß 
man  sagen :  es  ist  das  Zeitalter  der  rationellen 
Technik. 

Das  Verharren  der  frühkapitalistischen  Technik  im  Bannkreise 
der  lebendigen  Natur,  wodurch  sie  ihren  „organischen“ 
Charakter  bewahrt  wird  füglich  dort  nachgewiesen,  wo  ich  die 
materiellen  Entwicklungstendenzen  der  Produktions-  und  Trans¬ 
porttechnik  beschreibe. 


480 


Dreifsigstes  Kapitel 

Die  Fortschritte  der  Technik 

Vorbemerkung 

Im  folgenden  wird  der  Versuch  unternommen ,  diejenigen  Neue¬ 
rungen  auf  dem  Gebiete  der  Instrumental -Technik  zusammen¬ 
zustellen,  die  für  den  Verlauf  des  Wirtschaftslebens  von  entscheidender 
Bedeutung  geworden  sind.  Diese  Bedeutung  kann  sehr  mannigfacher 
Art  sein :  eine  Erfindung  kann  dadurch  wichtig  sein ,  daß  sie  den 
Produktionsprozeß  in  seinen  äußeren  Formen  umgestaltet  und  also : 
neue  Betriebsformen  notwendig  macht,  andere  Arten  von  Arbeitskräften 
erheischt,  den  Standort  der  Produktion  verschiebt  u.  dgl.  Ihre  Wirkung 
kann  aber  auch  eine  indirekte  sein :  dadurch,  daß  sie  den  Produktivitäts- 
grad  steigert,  dadurch  also  wiederum  die  Ausdehnung  der  Produktion 
befördert,  die  Verteilung  des  Ertrages  verändert  u.  dgl.  Die  Wirkung 
einer  Erfindung  kann  auch  insofern  auf  Umwegen  bedeutungsvoll  werden, 
als  durch  sie  andere  Produktionszweige  zur  Entwicklung  gebracht  oder 
gar  außerwirtschaftliche  Vorgänge  entscheidend  bestimmt  werden,  die 
dann  selbst  wieder  von  Einfluß  auf  die  Gestaltung  des  Wirtschafts¬ 
lebens  sind.  Wiederum  kann  die  Produktionstechnik  durch  andere 
Techniken,  diese  durch  jene  beeinflußt  werden:  man  denke  etwa  an 
die  engen  Zusammenhänge,  die  zwischen  der  Vervollkommnung  der 
Eisenproduktionstechnik,  der  Vervollkommnung  der  Waffentechnik  und 
der  Herausbildung  des  modernen  Staates  bestehen,  oder:  an  die  Zu¬ 
sammenhänge  zwischen  Meßtechnik  und  Transporttechnik.  Über  der¬ 
artige  entferntere  Beziehungen  zwischen  Technik  und  Kultur  spreche 
ich  in  einem  Aufsatze  im  Archiv  für  Soz.-Wiss.  Bd.  33  S.  305  ff. 

Woher  die  Erfindung,  deren  Wirkung  wir  beobachten,  stammt,  ist 
für  unsere  Zwecke  gleichgültig:  gleichgültig  ist  es  also,  ob  die  Er¬ 
findung  neu ,  das  heißt  zum  ersten  Male  gemacht  worden  ist  in  dem 
Augenblicke,  in  dem  sie  während  unseres  Zeitraums  zur  Anwendung 
gelangt ;  oder  ob  sie  schon  längst  auf  der  Erde  bekannt  war,  ohne  von 
den  europäischen  Völkern  genutzt  zu  werden.  Wenn  also  die  Chinesen 
vor  1000  Jahren  oder  die  Araber  vor  500  Jahren  schon  ein  Verfahren 
angewandt  haben,  das  meinetwegen  in  Europa  während  des  15.  Jahr¬ 
hunderts  in  Aufnahme  kommt,  so  bedeutet  dies  Verfahren  in  unserm 
Sinne  ebenso  gut  eine  Neuerung  wie  ein  Verfahren,  dessen  sich  etwa 
die  Völker  des  klassischen  Altertums  bedient  haben,  das  aber  erst  im 
Zeitalter  der  Renaissance  wieder  in  Übung  kommt. 

Der  Zeitraum,  den  die  folgende  Übersicht  umspannt,  reicht  von 
etwa  Ende  des  13.  Jahrhunderts  bis  zur  Mitte  (oder  dem  Ende)  des 
18.  Jahrhunderts. 


Dreißigstes  Kapitel:  Die  Fortschritte  der  Technik 


481 


-Das  Material  für  diese  Übersicht  ist  aus  zahlreichen  technologischen 
Werken  zusammengetragen:  der  Wert  der  Übersicht  kann  also  aus¬ 
schließlich  in  der  richtigen  Auswahl  der  wirklich  bedeutenden  Er¬ 
findungen  bestehen.  Bei  einzelnen  Umwälzungen,  die  die  Technik  in 
unserm  Zeiträume  erfahren  hat,  werde  ich  die  Quellen,  aus  denen  ich 
geschöpft  habe,  ausdrücklich  nennen.  Im  allgemeinen  hat  es  aber  keinen 
Sinn,  daß  ich  bei  jeder  Neuerung,  die  ich  erwähne,  angebe,  woher  ich  die 
Angabe  genommen  habe.  Es  genügt,  wenn  ich  versichere,  daß  ich  bei  jedem 
wichtigen  Ereignis  verschiedene  Gewährsmänner  miteinander  verglichen 
und  dem  vertrauenswürdigsten  den  Vorzug  gegeben  habe,  falls  sich 
keine  Übereinstimmung  ergab.  Im  übrigen  kommt  es  für  unsere  Zwecke 
gar  nicht  so  sehr  darauf  an,  eine  Erfindung  nach  Tag  und  Stunde 
genau  zu  datieren :  es  ist  ziemlich  gleichgültig,  zu  wissen,  ob  die  Flinte 
mit  Feuerstein  1630  oder  1640  oder  ob  die  Bandmühle  1590  oder  1600 
erfunden  worden  ist:  es  genügt  (in  den  meisten  Fällen)  vollständig, 
den  Zeitpunkt  ungefähr,  das  heißt  mit  einer  Spannung  von  zwei  bis 
drei  Jahrzehnten,  bestimmen  zu  können. 

Quellen  und  Literatur 

Die  Quellen  und  die  Literatur  gehen  auf  diesem  Gebiete  wie 
auf  so  manchem  andern  vielfach  ineinander  über :  die  älteren  Literatur¬ 
werke  sind  unsere  besten  Quellen.  Es  handelt  sich  entweder  um 
Spezialbearbeitungen:  dann  werde  ich  sie  je  an  ihrem  Platze  namhaft 
machen;  oder  um  allgemeine  Darstellungen  der  Erfindungs¬ 
geschichte  oder  des  Standes  der  Technik  in  einem  gegebenen  Zeit¬ 
punkte.  Von  diesen  nenne  ich  die  wichtigsten  gleich  hier: 

Eine  Quelle  von  unübertrefflicher  Güte  besitzen  wir  —  freilich  im 
wesentlichen  nur  für  die  in  England  seit  dem  Beginne  des  17.  Jahr¬ 
hunderts  gemachten  Erfindungen  —  in  der  Sammlung  der  Patent¬ 
schriften  (Patents  for  Inventions),  die  bis  in  die  ersten  Jahre  des 
17.  Jahrhunderts  zurückreicht.  Sie  ist  bisher  meines  Wissens  nur  in 
einzelnen  englischen  Monographien  auf  ihren  geschichtlichen  Gehalt  hin 
ausgebeutet  worden.  Die  Benutzung  wird  erleichtert  durch  die  Regesten- 
bände  (Specification),  die  in  der  Zahl  von  vielen  Hunderten  alphabetisch 
nach  den  Gewerben  und  innerhalb  der  Gewerbe  chronologisch  nach  den 
Erfindungen  angeordnet  sind.  Ein  vollständiges  Exemplar  der  Sammlung 
befindet  sich  in  Deutschland  in  der  Bibliothek  des  K.  Patentamts  in 
Berlin. 

Eine  wichtige  Gruppe  von  quellen-literarischen  Werken  bilden  sodann 
die  alten  „Geschichten  der  Erfindungen“.  Der  Ruhm,  die  erste 
„Geschichte  der  Erfindungen“  gewesen  zu  sein,  gebührt  dem  (sonst  recht 
wenig  brauchbaren)  W erke  des  Polydori  Virgilii  Urbinatis  De 
rerum  inventoribus  libri  octo;  zuerst  1499;  dann  oft  aufgelegt,  im 
16.  Jahrhundert  allein  39  mal  (ich  benutze  die  Ausgabe  von  1576). 
Joh.  Beckmann,  Beiträge  zur  Geschichte  der  Erfindungen.  5  Bde. 
1780 — 1805;  derselbe,  Beiträge  zur  Ökonomie,  Technologie,  Polizei- 
und  Kameralwissenschaft.  12  Bde.  1777 — 91.  Joh.  II.  M.  von  Poppe, 
Geschichte  der  Technologie.  3  Bde.  1807 — 11  ;  derselbe,  Geschichte 

läorabart,  Der  moderne  Kapitalismus.  I,  81 


482 


Dritter  Abschnitt:  Die  Technik 


aller  Erfindungen  und  Entdeckungen  usw.  1837.  Beckmann  und  nament¬ 
lich  Poppe  sind  fiir  die  ältere  Zeit  noch  nicht  überholt :  sie  sind  gerade 
für  den  Zeitraum,  der  hier  in  Frage  steht,  unentbehrlich,  weil  die 
ersten  Quellen,  aus  denen  sie  schöpfen,  teilweise  überhaupt  nicht  zu 
beschaffen  sind.  Edouard  Fournier,  Le  Vieux -Neuf.  Histoire 
ancienne  des  inventions  et  decouvertes  modernes.  2.  ed.  3  Vol.  1877. 
Enthält  ein  reiches,  wenn  auch  ungeordnetes  Material.  Der  Wert  wird 
zuweilen  beeinträchtigt  durch  die  chauvinistische  Tendenz  des  Verf., 
möglichst  viele  Erfindungen  auf  Franzosen  zurückzuführen.  Manche 
Spezialuntersuchungen  historischer  Natur  enthält  auch  Das  Buch  der 
Erfindungen.  9.  (neueste)  Aufl.  10  Bde.  1896 — 1901.  Der  ge¬ 
schichtliche  Teil  ist  freilich  das  Stiefkind  dieses  großen  Werkes. 
F.  M.  Feldhaus,  Ruhmesblätter  der  Technik.  1910.  Mit  Abbildungen. 
Zeichnet  sich  durch  das  Bemühen  aus,  die  Entstehung  einzelner  Er¬ 
findungen  —  meist  kriegs-  und  verkehrstechnischer  Natur  —  quellen¬ 
mäßig  zu  begründen. 

In  lexikalischer  Form,  die  früher,  namentlich  im  18.  Jahr¬ 
hundert  sehr  beliebt  war,  sind  abgefaßt :  (Ph.  Macquer),  Dictionnaire 
portatif  des  arts  et  metiers.  3  Vol.  1766—67;  mehr  ein  Gewerbe¬ 
lexikon,  brauchbar.  Dictionnaire  de  l’industrie  ou  Collection  raisonnee 
des  procedes  utiles  dans  les  Sciences  et  dans  les  arts  etc.  etc.  3  Vol. 
1776;  brauchbar.  Gabr.  Chr.  B.  Busch,  Handbuch  der  Erfindungen. 
12  Teile.  1802 — 22:  eine  Art  Konversationslexikon,  da  es  alle  mög¬ 
lichen  „Erfindungen“  auch  rein  geistiger  Natur  enthält:  Astronomie, 
Aufschrift,  Aufzüge,  Ausdünstung,  Aussatz  usw.;  oft  genug  ohne  Kritik. 
Aber  doch  ganz  brauchbar  neben  den  andern  älteren  Werken,  da  es 
wie  diese  auf  Literatur  und  Quellen  Bezug  nimmt,  die  heute  längst 
verschollen  sind,  und  da  es  die  meisten  andern  Bücher  gleichen  In¬ 
halts  an  Reichhaltigkeit  übertrifft.  Von  demselben  Verfasser  ist 
der  Almanach  der  Fortschritte,  neuesten  Erfindungen  und  Entdeckungen 
in  Wissenschaften,  Künsten  etc.  (1795  ff.),  der  ergänzend  neben  das 
Handbuch  tritt:  eine  Art  von  Jahresbericht  aus  dem  Gebiete  der 
Chemie,  Physik  und  Technologie.  A.  Ure,  A  dictionary  of  Arts, 
Manufactures  and  Mines.  3.  ed.  1843;  in  seinen  geschichtlichen  Ein¬ 
leitungen  für  uns  verwendbar.  Neuerdings  ist  wieder  ein  alphabetisch 
geordnetes  Erfindungslexikon  erschienen :  das  quellenkritisch  sehr  wert¬ 
volle  Werk  von  F.  M.  Feldhaus,  Die  Technik  der  Vorzeit,  der 
geschichtlichen  Völker  und  der  Naturvölker.  Mit  873  Abbildungen. 
1914.  Jetzt  das  beste  Gesamtwerk. 

Zu  rascher  Orientierung  dienen  einige  Zusammenstellungen  in 
chronologisch-tabellarischer  Form:  Franz  M.  Feldhaus, 
Lexikon  der  Erfindungen  und  Entdeckungen.  1904.  L.  Darm- 
staedter  und  R.  du  Bois-Reymond,  4000  Jahre  Pionierarbeit 
in  den  exakten  Wissenschaften.  1904.  2.  Aufl.  1908,  u.  d.  T.  Hand¬ 
buch  zur  Geschichte  der  Naturwissenschaften  und  der  Technik. 

Dann  kommen  in  Betracht  die  Lehrbücher  der  mecha¬ 
nischen  und  chemischen  Technologie,  deren  wir  eine  Menge 
aus  dem  17.  und  18.  Jahrhundert  besitzen.  Ich  werde  sie  bei  der 
Darstellung  des  Gewerbewesens  in  unserer  Epoche  im  2. -Bande  nam¬ 
haft  machen. 


Dreißigstes  Kapitel:  Die  Foitscliritte  der  Technik 


483 


Eine  gute  Bibliographie  alter  technischer  und  technolog.  Schriften 
des  16.  und  17.  Jahrhunderts  sowie  der  darauf  bezüglichen  Literatur 
findet  sich  im  Anhang  zu  Henry  Dircks,  The  Life  etc.  of  the 
Sec.  Marquis  of  Woreester.  1865. 

I.  Die  Produktionstechnik 
1.  Allgemeine  Entwicklungstendenzen 

Auch  die  Technik  des  frühkapitalistischen  Zeitalters,  konnten 
■wir  schon  feststellen,  trägt  den  Stempel  einer  Übergangserschei¬ 
nung.  Im  großen  und  ganzen  bewegt  sie  sich  in  denselben  Bahnen 
weiter,  in  denen  sie  während  des  Mittelalters  gelaufen  war:  ihr 
(xrundzug  bleibt  empirisch-organisch.  "Was  sie  von  der  früheren 
Technik  dagegen  unterscheidet,  ist  nicht  sowohl  die  Tatsache, 
daß  hier  und  da  sich  Anläufe  zur  grundsätzlichen  Neugestaltung 
finden:  erste  Versuche  eines  wissenschaftlichen  Maschinenbaus! 
erste  Versuche  mit  dem  Kokesverfahren  in  der  Eisenindustrie!, 
als  vielmehr  der  Umstand,  daß  die  Kenntnisse  und  Fertigkeiten, 
daß  insbesondere  die  Verfahrungs weisen,  über  die  man  seit  alters- 
her  verfügte,  eine  außerordentliche  Vervollkommnung  in  dieser 
Epoche  erfahren  bis  zu  dem  Punkte,  wo  „die  Quantität  in  die 
Qualität  umschlägt“,  das  heißt  wo  eine  starke  Steigerung  eines 
technischen  Prinzips  praktisch  so  gut  wie  eine  grundsätzliche 
Neuerung  wirkt. 

Ein  Überblick  über  die  verschiedenen  Elemente  des  tech¬ 
nischen  Vermögens  wird  das  bestätigen. 

Die  Stoffe,  deren  man  sich  zur  Gütererzeugung  bedient, 
bleiben  im  wesentlichen  dieselben  wie  früher :  nur  daß  sie  eine 
Bereicherung  erfahren  durch  die  Entdeckung  neuer  Stoffe  in  den 
Ländern  der  neuerschlossenen  Erdteile.  Die  Stoffe  gehören  nach 
wie  vor  fast  ausschließlich  dem  Tier-  und  Pflanzenreiche  an,  und 
der  wichtigste  Stoff,  der  aus  dem  Mineralreich  genommen  wurde : 
das  Eisen,  blieb  insofern  auf  das  engste  den  organischen  Stoffen 
verwandt,  als  es  zu  seiner  Herstellung  großer  Mengen  eines 
Hilfsstoffes  bedurfte,  den  wiederum  das  Pflanzenreich  liefern 
mußte  (des  Holzes). 

Ein  Satz  wie  dieser,  der  sieh  in  einer  neueren  Geschichtsdarstellung 
findet  (Th.  Lindner,  Weltgeschichte  6,  407):  „Die  Eisenindustrie 
hatte  sich  in  Deutschland  aus  den  Niederlanden  (?)  gegen  Ende  des 
15.  (!)  Jahi'hunderts  soweit  entwickelt,  daß  das  wahre  Eisenzeitalter 
begonnen  hatte“,  führt  durchaus  irre.  Gerade  das  kennzeichnet  das 
Zeitalter  des  Frühkapitalismus,  daß  es  durchaus  kein  „eisernes“,  sondern, 
wenn  man  will,  „hölzernes“  Zeitalter  ist.  Man  bedenke  zum  Beispiel, 


484 


Dritter  Abschnitt:  Die  Technik 


daß  die  Walzen  der  Kalander,  daß  die  ersten  Dampfmaschinen,  daß 
alle  Schiffe,  Brücken,  Balken,  Träger,  daß  die  meisten  größeren  Gefäße 
aus  Holz  waren.  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  wurden  in  ganz  England 
etwas  über  17  000  t  Eisen  produziert  (soviel  wie  heute  ein  Hochofen 
durchschnittlich  in  vier  Monaten  erzeugt).  In  Deutschland  war  es 
nicht  viel  anders;  selbst  in  Schweden  nicht,  dem  damals  klassischen 
Lande  der  Eisengewinnung.  Ich  verweise  im  übrigen  auf  meine  Dar¬ 
stellung  im  2.  Bande  dieses  Werkes.  Vgl.  auch  meine  Deutsche 
Volkswirtschaft,  1.  und  2.  Kapitel. 

Auch  die  Kräfte,  die  man  bei  der  Gütererzeugung  und  dem 
Gütertransport  nutzte,  blieben  einstweilen  die  gleichen  wie  früher: 
Mensch  und  Tier;  Wasser  und  Wind.  Da  die  Verwendung  der 
Spannung  des  Wasserdampfes  als  treibende  Kraft  (von  der  uns 
die  Maschinenbücher  der  Zeit  berichten)  wohl  einstweilen  noch 
den  Charakter  einer  Spielerei  behielt,  und  auch  die  „Gewicht- 
Mühlen“,  bei  denen  die  Schwerkraft  die  Holle  der  üblichen  Kräfte 
übernehmen  mußte  (Abbildungen  und  Beschreibungen  solcher 
Gewicht-Mühlen  finden  wir  bei  Andr.  Böckler,  Fig.  XXIV 
bis  XXX  und  S.  6  bis  8),  kaum  eine  nennenswerte  Verbreitung 
dürften  gefunden  haben.  Aber  was  unser  Zeitalter  wesentlich 
von  den  früheren  unterscheidet,  ist  die  außerordentliche  Ver¬ 
vollkommnung  in  der  Nutzung  dieser  Kräfte.  Diese  Vervollkomm¬ 
nung  wurde  zunächst  bewirkt  durch  die  zunehmende  Ersetzung 
der  menschlichen  und  tierischen  Kraft  durch  die  Elementarkräfte 
Wasser  und  Wind;  sodann  aber  vor  allem  durch  die  Herrichtung 
kunstvoller  Mechanismen,  die  eine  bessere  Verwendung  der  Kräfte 
erst  möglich  machte.  Die  wichtigsten  technischen  Neuerungen, 
deren  wir  Erwähnung  zu  tun  haben,  liegen  in  unserm  Zeitraum 
also  in  der  Ausbildung  vollkommenerer  Verfahr ungsweisen. 

Die  mechanischen  Verfahrungsweisen  entwickeln  sich 
mächtig  in  der  Dichtung  des  Maschinenprinzips  (das  selbst  so 
alt  wie  die  Menschheit  ist)  weiter:  vor  allem  erfahren  die  Be¬ 
wegungsmaschinen  in  diesem  Zeitraum  eine  wesentliche  Weiter¬ 
bildung,  während  auf  dem  Gebiete  der  Arbeitsmaschinen  weniger 
Erfolge  erzielt  werden,  was  dazu  beiträgt,  den  „organischen“ 
Charakter  der  Technik  zu  bewahren. 

Ich  will,  um  die  Fortschritte  der  Maschinen  deutlich  zu 
machen,  aus  dem  verwirrenden  Wust  von  Einzeltatsachen 1  zwei 

1  Als  Quellen  kommen  hier  vornehmlich  die  auf  S.  464  aufgeführten 
„Maschinenbücher“  in  Betracht.  Über  ihren  Inhalt  berichtet  kritisch 
Theodor  Beck  in  seinen  Beiträgen  zur  Gesell,  d.  Maschinenbaues. 
2.  Aufl.  1900. 


Dreißigstes  Kapitel:  Die  Fortschritte  der  Technik  485 

Entwicklungsreihen  herausgreifen,  die  mir  besonders  wichtig  in 
der  Geschichte  des  Maschinenwesens  erscheinen:  die  Entwick¬ 
lung  der  Mühle  und  die  Entwicklung  der  Kraftübertragung. 

1.  Man  kann  unsern  Zeitraum,  besonders  aber  die  beiden 
letzten  Jahrhunderte,  geradezu  als  das  klassische  Zeitalter 
der  Mühle  bezeichnen,  wenn  man  darunter  eine  Anlage  ver¬ 
steht,  die  die  Wasserkraft  (in  geringerem  Umfange  auch  die 
Wind-,  Tier-  und  Menschenkraft)  durch  Umsetzung  in  die  Dreh¬ 
bewegung  eines  Rades  den  verschiedenen  Hantierungen  dienst- 
bar  machte.  Die  älteste  Gestalt  der  Fabrik,  die  als  Betriebsform 
in  der  frühkapitalistischen  Epoche  schon  durchaus  neben  der 
Manufaktur  Bedeutung  hatte,  ist  unstreitig  die  „Mühle“  (weshalb 
ja  die  Engländer  lange  noch  während  des  Zeitalters  des  Dampfes 
ihre  Fabrikanlagen  als  „Mill“  bezeichnet  haben).  Die  beliebteste 
Kraft,  eine  Mühle  zu  treiben,  war,  wie  schon  erwähnt,  die  Wasser¬ 
kraft,  die  man  entweder  als  natürliche  Kraft  des  fließenden 
Wassers  oder  durch  Hinaufpumpen  auf  einen  höheren  Punkt  als 
Kraft  des  künstlich  fallenden  Wassers  zu  nutzen  wußte. 

So  waren  z.  B.  in  der  Stadt  Augsburg  und  in  ihrer  nächsten  Um¬ 
gebung  gegen  Ende  des  18.  Jahrhunderts  137  Mühlräder  oder  „Gänge“ 
vorhanden:  74  außerhalb  der  Stadt  an  den  aus  dem  Lech  fließenden 
Kanälen,  46  innerhalb  der  Stadt,  17  am  Senkelbach  —  davon  nur  44 
für  Getreidemühlen.  Siehe  das  Verzeichnis  bei  Friedrich  Nicolai, 
Reise  durch  Deutschland,  Band  ‘8,  Beilage  IV.  14. 

In  Ermangelung  des  Wassers  spannte  man  den  Wind  an  oder 
aber  man  legte  Treträder  für  Tiere  oder  Menschen  oder  Göpel  an. 

Ich  zähle  die  wichtigsten  Arten  der  gegen  Ende  unserer 
Periode  betriebenen  „Mühlen“  nach  dem  Zwecke,  dem  sie  dienten, 
hier  auf  und  behalte  mir  vor,  auf  die  in  diesen  verschiedenen 
„Mühlen“  zur  Verwendung  gelangenden  Arbeits-  oder  Werkzeug¬ 
maschinen  in  dem  besonderen  Teile  dieser  Übersicht  näher  ein¬ 
zugehen. 

Getreide-M.:  als  Wasser-  und  Windmühlen  längst  bekannt, 
erfahren  in  unserm  Zeiträume  verschiedene  Vervollkomm¬ 
nungen  :  die  Holländerwindmühle  kommt  Mitte  des  15.  Jahr¬ 
hunderts  auf; 

Graupen-M. :  erste  Graupenmühle  1600  in  Saardam; 

Öl-M.:  als  sog.  holländische  seit  der  letzten  Hälfte  des  17.  Jahr¬ 
hunderts  ; 

Säge-M.:  mit  Wasser  betrieben:  mit  einer  Säge  schon  im  Mittel- 
alter,  mit  mehreren  seit  1575;  mit  Wind  betrieben  seit  Ende 
des  16.  Jahrhunderts:  1633  errichtet  ein  Holländer  ein  durch 


486 


Dritter  Abschnitt:  Die  Technik 


Wind  zu  treibendes  Sägewerk  am  Ufer  der  Themse,  mit 
dessen  Hilfe  ein  Mann  und  ein  Knabe  soviel  Bretter  zu 
schneiden  vermochten  wie  vorher  20  Männer;  aber  —  diese 
Methode  wurde  später  wieder  aufgegeben:  „lest  our  la- 
bouring  people  should  want  employment.“  Anderson, 
Orig,  of  Com.  2,  354; 

Dreh.M.:  zum  Abdrehen  zahlreicher  Gegenstände,  unter  anderen 
der  Metallwaren  der  Rotgießer:  mit  Wasser  getrieben  schon 
während  des  Mittelalters,  1661  vervollkommnet; 

Hohr-M. :  zum  Bohren  von  Holz-  oder  Metallröhren :  schon  bei 
Leonardo  da  Vinci  und  Biringuccio ; 

Hammer -M. :  zum  Hämmern  großer  Metallstücke:  seit  dem 
15.  Jahrhundert;  über  die  Zainhämmer  (Reckhämmer)  sowie 
über  die  Pochhämmer,  die  nur  besondere  Arten  der  Hammer¬ 
mühlen  darstellen,  spreche  ich  noch; 

( Metall)schneide-M seit  dem  16.  Jahrhundert; 

( Md  all)  schleif -M . :  bei  Zonca  (Fig.  360)  zuerst  (?)  beschrieben ; 
Schleifmühlen  bestanden  aber  schon  weit  früher:  nach 
Stetten,  Kunst-  und  Handwerksgeschichte  der  Stadt  Augs¬ 
burg  (1779),  141,  war  eine  Schleifmühle  in  A.  schon  im 
Jahre  1389  im  Betriebe ; 

Draht-M. :  der  Name  Drahtmüller  kommt  in  Nürnberg  schon 
vor  1400  vor;  ob  auch  die  Handdrahtmaschine  Drahtmühle 
genannt  wurde,  ist  zweifelhaft;  jedenfalls  kommt  die  durch 
Wasser  bewegte  Drahtmühle  erst  im  15.  Jahrhundert  in 
Aufnahme;  1532  wird  sie  von  Eobanus  Hessus  in  seiner 
urbs  Nor.  noch  als  Wunderwerk  beschrieben;  Biringuccio 
beschreibt  eine  Drahtmühle  mit  Wasserbetrieb  im  8.  Kapitel 
des  9.  Buches  seiner  Pirotecnica  (Fig.  139); 

Messing- M.  nannte  man  diejenigen  Veranstaltungen,  in  denen 
sowohl  die  Messingschlägerei  wie  die  Drahtzieherei  mittels 
Wasserkraft  besorgt  wurde;  man  sprach  vom  „Mühlen¬ 
schläger“,  vom  „Messingschlaghammer“,  mit  dem  ein  „Draht¬ 
rad“  verbunden  war.  Das  Schicksal  einer  solchen  Messing¬ 
mühle  in  Thos  bei  Fürth  seit  dem  Jahre  1484  schildern 
Nürnbergs  Annalen.  Siehe  Roth,  Gesch.  des  nürnberg. 
Handels  2  (1801),  76  f.  Vgl.  auch  die  Abbildung  des 
„Messingschlägers“  bei  Weigel; 

Blas-M.:  Anlagen  mit  Wasserradantrieb,  um  Blasebälge  (zum 
Metallschmelzen)  in  Bewegung  zu  setzen:  schon  bei  Marianus 
Jacobus  (15.  Jahrhundert) :  siehe  Theod.  Beck,  Beiträge, 


Dreißigstes  Kapitel:  Die  Fortschritte  der  Technik 


487 


289.  Abbildungen  einer  „Blasmühle“  im  17.  Jahrhundert 
bei  Bö  ekler,  Fig.  78.  146.  147; 

Papier- M. :  17.  Jahrhundert;  erste  (?)  Abbildung  einer  Papier¬ 
mühle  bei  Zonca  (Fig.  376); 

Pulver- M.:  16.  Jahrhundert  (bei  Biringuccio) ,  wahrscheinlich 
sind  Kollergänge  mit  Wasserradbetrieb  schon  im  15.  Jahr¬ 
hundert  im  Gebrauch; 

Farb-M.:  bei  Leonardo  da  Vinci,  Cod.  atl.  Fig.  682  fol.  60  v 
(nach  Theod.  Beck,  Beiträge,  451); 

Seidemwirn-M. :  zuerst  (?)  bei  Zonca;  im  17.  Jahrhundert  in 
Italien  verbreitet;  siehe  unten; 

Band-M.:  seit  Ende  des  16.  Jahrhunderts;  siehe  unten; 

Tuch-M.:  Walkmühlen  seit  dem  14.  Jahrhundert:  1389  eine 
% 

Walkmühle  in  Augsburg  (P.  v.  Stetten,  a.  a.  0.);  Tuch¬ 
scheren  mit  Wasserkraftbetrieben  seit  dem  17.  Jahrhundert: 
1684  die  erste  Anlage  in  England; 

Mang- M. :  seit  dem  17.  (?)  Jahrhundert:  Beschreibung  und 
Abbildung  einer  „Mangmühl“  bei  Bö  ekler,  S.  20  und 
Fig.  80. 

2.  Das  andere  Moment  in  der  Geschichte  der  Maschinen,  das 
ich  hier  verfolgen  wollte,  war  die  Entwicklung  der  Kraft¬ 
übertragung,  die  in  unserm  Zeitraum  einige  ganz  außer¬ 
ordentlich  und  grundsätzlich  bedeutsame  Fortschritte  macht. 

a)  Die  Kunst  der  Kraftübertragung  durch  „Übersetzung“, 
das  heißt  durch  das  Ineinandergreifen  mehrerer  gezähnter  Bäder, 
war  bereits  bekannt:  sie  wird  aber  in  den  Jahrhunderten  der 
Renaissance  sehr  vervollkommnet:  die  Räderwerke  werden  ver¬ 
wickelter  und  dadurch  wirksamer. 

In  unsere  Epoche  fallen  nun  aber  erst  die  Erfindungen  einer 
Reihe  neuer  und  wichtiger  kinematischer  Einrichtungen:  jetzt 
tritt  zu  den  bisherigen  Maschinismen  hinzu: 

b)  das  Schwungrad:  es  findet  sich  in  den  technologischen 
Werken  des  16.  Jahrhunderts:  bei  Leonardo  da  Vinci  (zuerst?), 
Agricola,  Lorini; 

c)  der  Riemenantrieb:  nach  Th.  Beck,  Beiträge,  306, 
zuerst  bei  Vitt.  Zonca; 

d)  die  Transmissionsanlage,  das  heißt  also  eine  Vor¬ 
richtung,  mittels  welcher  mehrere  Arbeitsmaschinen  von  derselben 
Kraftmaschine  in  Bewegung  gesetzt  werden.  Die  Erfindung  dieser 
außerordentlich  wichtigen  Einrichtung  fällt  in  die  Zeit  um  1500: 
Agricola  beschreibt  Transmissionsanlagen,  die  bei  den  sächsischen 


488 


Dritter  Abschnitt:  Die  Technik 


Hüttenleuten  schon  längere  Zeit  —  wie  lange,  sagt  er  nicht  — 
im  Betriebe  waren;  Biringuccio  aber  spricht  von  der  Trans¬ 
mission  als  von  einer  neuen  Erfindung,  woraus  wir  schließen 
dürfen  (da  B.  auch  mit  den  deutschen  Verhältnissen  gut  vertraut 
war),  daß  die  Neuerung  in  seine  Lebzeiten  fällt. 

II.  Die  chemischen  Verfahrungs weisen  bleiben  zunächst 
dieselben,  die  die  Technik  der  Handwerker  und  Apotheker  während 
des  Mittelalters  herausgebildet  hatte  und  wurden  bereichert  durch 
die  Phantastik  der  Alchimisten,  die  die  wissenschaftliche  Chemie 
vorbereiten.  Diese  und  mit  ihr  die  grundstürzenden  Neuerungen, 
die  die  chemischen  Industrien  (im  weiten,  nicht  im  gebräuch¬ 
lichen  Sinne)  dadurch  erfahren,  gehören  aber  der  nächstfolgenden 
Epoche  an.  "Was  an  einzelnen,  freilich  sehr  bedeutsamen  Er¬ 
rungenschaften  die  chemische  Technik  vor  der  Mitte  des  18.  Jahr¬ 
hunderts  aufzuweisen  hat  (in  der  Pulver-,  Eisen-  und  Silber¬ 
erzeugung  namentlich),  werde  ich  weiter  unten  verzeichnen.  Hier 
begnüge  ich  mich  damit,  den  Leser  auf  einige  Werke  hinzu¬ 
weisen,  aus  denen  er  den  allgemeinen  Stand  des  chemischen 
Wissens  am  Schlüsse  der  frühkapitalistischen  Epoche  zu  erkennen 
vermag. 

J.  H.  Gl.  von  Justi,  Gesammlete  Chymische  Schriften,  wo¬ 
rinnen  das  Wesen  der  Metalle  und  die  wichtigsten  chymischen 
Arbeiten  vor  dem  Nahrungsstand  und  das  Bergwesen  ausführlich 
abgehandelt  werden.  2  Bände.  1760/61. 

Joh.  Kunkels  von  Löwenstern,  Vollständiges  Labora¬ 
torium  chymicum,  worinnen  von  den  wahren  Principiis  in  der 
Natur,  der  Erzeugung,  den  Eigenschaften  und  der  Scheidung  der 
Vegetabilien,  Mineralien  und  Metalle,  wie  auch  von  Verbesserung 
der  Metalle  gehandelt  wird.  4.  verb.  Aufl.  1767. 

2.  Die  entscheidenden  Fortschritte  auf  den  einzelnen  Gebieten 

d)  Die  Landwirtschaft 

Die  technischen  Fortschritte  im  Bereiche  der  Landwirtschaft 
in  diesem  Zeitraum  sind  gering.  Die  „Hausväterliteratur“,  in  der 
das  Wissen  und  Können  niedergelegt  ist,  enthält,  von  einigen 
Erinnerungen  an  die  Landbauschriftsteller  der  Alten  abgesehen, 
nichts  als  die  Erfahrung  des  Mittelalters.  „Die  Idee  des  Zeit¬ 
alters  ,  welches  die  Quintessenzen  suchte  und  geheimnisvolle 
Kräfte  lieber  verehrte  als  studierte,  beherrschte  begreiflich  auch 
die  Landwirte,  welche  überdies  glaubensreicher  als  andere  Stände 


Dreißigstes  Kapitel:  Die  Fortschritte  der  Technik  439 

waren“:  mit  diesen  Worten  schließt  C.  Fr  aas  seine  Darstellung 
der  Landbau-  und  Forstwirtschaft  in  dieser  Periode  ab1. 

Immerhin  bemerken  wir  einige  Ansätze  zu  rationellerer  Wirt¬ 
schaftsführung  wenigstens  seit  dem  16.  Jahrhundert:  die  Einsicht 
in  die  Bedeutung  des  Fruchtwechsels  beginnt  in  Italien  um  diese 
Zeit:  1550  lehrt  B.  Palis sy',  daß  ein  Boden  durch  fortgesetzten 
Anbau  unfruchtbar  werde,  weil  ihm  dadurch  alle  löslichen  Stoffe 
entzogen  würden.  Der  Ricordo  d’  agricoltura  (Venezia  1567) 
schreibt  die  „Erfindung“  der  Fruchtwechselwirtschaft  einem  ge¬ 
wissen  Tarello  zu. 

In  dasselbe  Jahrhundert  fallen  die  ersten  Versuche  einer 
rationellen  Viehzüchtung:  in  Deutschland  machen  Marx  Fuggers 
Züchtungsbuch  (1578)  und  Löhneisens  Deila  Cavalleria  (1609) 
Epoche. 

Die  Vervollkommnung  der  Bodenbestellung  beginnt  mit  der 
Erfindung  der  Reihensäemaschine ,  die  nach  den  einen  auf 
M.  Giovanni  Cavallina  (1500),  nach  den  andern  auf  Locatelii 
(1663)  zurückgeht.  Die  in  diesem  Falle  außerordentlich  weit 
voneinander  abweichenden  Angaben  der  Entstehungszeit  werden 
sich  vermutlich  dadurch  erklären  lassen,  daß  das  frühere  Jahr 
den  Zeitpunkt  der  ersten  Erwähnung,  das  spätere  den  der  dauern¬ 
den  Verwendung  des  neuen  Verfahrens  bezeichnet. 

Einen  bedeutenden  Fortschritt  in  der  Landbauwissenschaft  und 
der  Landbautechnik  stellen  die  Schriften  des  Olivier  de  Serres2 
dar.  Auf  ihn  geht  die  Schaffung  künstlicher  Wiesen  zurück ;  er 
behandelt  als  erster  die  Obstzucht  eingehend ;  er  beschreibt  und 
empfiehlt  als  erster  seit  dem  Altertum  die  Drainage  wieder  usw. 

Aber  das  alles  bleiben  doch  nur  Ansätze.  Selbst  in  Frank¬ 
reich,  das  damals  die  beste  Landwirtschaft  hatte,  und  das  um 
seine  Landwirtschaft  von  den  andern  Nationen  beneidet  wurde3, 
beginnt  doch  erst  in  der  zweiten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts 
die  Brache  sich  zu  verringern,  die  bis  dahin  mehr  als  das  halbe 
Land  eingenommen  hatte,  erst  dann  beginnt  man  mit  dem  Anbau 
von  Futterpflanzen,  erst  dann  wendet  man  der  Pflege  des  Viehes 

1  0.  Fr  aas,  Gesch.  der  Landbau-  und  Forstwirtschaft  (1865),  184. 

2  Das  Hauptwerk  des  Olivier  de  Serres,  das  Theatre  d’agriculture, 
erschien  1600  und  erlebte  bis  1675  19  Auflagen.  Über  O.  de  S.: 
G.  Fagniez,  L’economie  sociale  de  la  France  sous  Henry  IV  (1897), 
36  ff. ;  Fournier,  Le  Vieux-neuf  2,  179  ff. ;  über  die  Einführung  der 
künstlichen  Wiesen:  Fr  aas,  Gesch.  der  Landbauwiss.,  206  ff, 

8  D’Avenel,  Hist.  econ.  1  (1894),  293  ff. 


Dritter  Abschnitt:  Die  Technik 


490 

f 

mehr  Sorgfalt  zu ,  fängt  man  an ,  sich  um  die  Düngung  zu 
kümmern.  Alle  bedeutenden  Fortschritte  der  Technik  liegen  in 
unserer  Epoche  vielmehr  auf  dem  Gebiete  der  gewerblichen 
Produktion. 

b)  Gewerbe 

a)  Bergbau  und  Hüttenwesen 

Der  Bergbau  ist  während  des  Mittelalters  bis  ins  17.  Jahr¬ 
hundert  hinein  im  wesentlichen  Bergbau  auf  Eisen-,  Kupfer-, 
Zink-  und  Silbererze.  Erst  gegen  das  Ende  unserer  Epoche  ge¬ 
winnt  der  Steinkohlenbergbau  eine  größere  Bedeutung.  Sowohl 
die  Bergbautechnik  im  engeren  Sinne  wie  die  Verhüttungstechnik 
hatten  fast  das  ganze  Mittelalter  hindurch  auf  einer  ganz  und  gar 
primitiven  Stufe  gestanden.  Die  allgemeine  Kegel  beim  Bergbau 
war  wohl  der  Tagebau  oder  ein  einfacher  Stollenbau.  Die  Hilfs¬ 
mittel  zur  Gewinnung  der  Erze  bestanden  in  den  üblichen  Hand¬ 
werkszeugen  des  Häuers,  in  Kübel  und  Karre  zur  Förderung,  die 
entweder  auf  dem  Rücken  oder  vermittels  einer  einfachen  Hand¬ 
haspel  geschehen  mußte.  Diese  primitive  Technik  ist  im  wesent¬ 
lichen  das  ganze  Mittelalter  hindurch  unverändert  geblieben, 
bis  auf  einen  Fortschritt:  den  Stollenbau,  der  im  13.  Jahr¬ 
hundert  in  Böhmen  ausgebildet  wird  und  dort  schon  o-egen  1300 
Bedeutung  erlangt  hatte,  während  er  anderwärts  erst  im  Laufe  des 
14.  Jahrhunderts  Verbreitung  findet.  Man  versteht  bekanntlich 
unter  einem  Stollen  in  diesem  Sinne  horizontale  oder  wenio-  an- 

#  O 

steigende  Gänge,  die  man  unterhalb  der  Abbaustelle  eintreibt, 
damit  durch  sie  von  den  darüberliegenden  Punkten  das  Gruben¬ 
wasser  abgeführt  und  Wetter  den  Orten  zugeführt  werden. 

Alle  andern  belangreichen  Fortschritte  in  der  alten  Bergbau¬ 
technik  gehören  dem  16.  Jahrhundert  oder  gar  erst  dem  17.  Jahr¬ 
hundert  an.  Unter  ihnen  ist  für  die  Entwicklung  namentlich 
des  Silberbergbaus  von  ausschlaggebender  Wichtigkeit  (weil  sie 
seine  Fortführung  in  größeren  Tiefen  überhaupt  erst  ermöglichte 
und  damit  der  raschen  Erschöpfung  der  Lager  Einhalt  tat)  die 
Einführung  von  Kunstge zeugen 1 ,  die  man  zur  Hebung 
des  Grubenwassers  benutzen  konnte. 

Man  setzt  ihre  Erfindung  auf  das  Jahr  1560  an.  Die  Versuche 
dagegen  sind  älteren  Datums.  Interessante  Details  bei  M.  v.  Wolf- 
strigl-Wolfskron,  Die  Tiroler  Erzbergbaue  (1903),  39  ff.  50.  Über 
den  Stand  der  , Wasserkunst’  um  1680  unterrichtet  J.  J.  Bechers 
Kurtzer,  doch  gründlicher  Bericht  von  Wasser- Wercken  und  Wasser¬ 
künsten,  Anhang  zu  der  Närrischen  Weisheit  (1686). 


Dreißigstes  Kapitel:  Die  Fortschritte  der  Technik  491 

Zum  Antrieb  dieser  Maschinen  bediente  man  sich  seit  dem 
16.  Jahrhundert  immer  mehr  der  Treträder  und  namentlich  der 
Göpel:  der  erste  im  Bergbau  genutzte  Göpel  war  der  zu  S.  Andreas 
bei  Joachimsthal. 

Die  Fördermaschinen,  von  denen  uns  Agricola  Abbildungen 
gibt,  sind  schon  imposante  Anlagen.  Belangreiche  Erfindungen 
im  Gebiete  der  Bergbautechnik  sind  dann  noch  vor  dem  18.  Jahr¬ 
hundert  : 

1.  die  Erd-  und  Bergbohrer:  B.  Palissy  1550; 

2.  das  Sprengen  mit  Pulver:  1613  werden  die  ersten  Versuche 
damit  gemacht.  Es  fehlt  jedoch  noch  an  einem  sichern  „Besätze“, 
der  1687  gefunden  wird 1 ; 

3.  die  Spur-  und  später  Schienenbahn :  Spurbahnen,  das  heißt 
ausgehölte  Holz-,  Stein-  oder  auch  Eisenbahnen,  gab  es  im  deutschen 
Bergbau  seit  dem  16.  Jahrhundert  (bei  Agricola  im  5.  Buche 
de  re  metallica  beschrieben) ;  (Holz-)  Schienen  wurden  zuerst  in 
England  gegen  Ende  des  17.  Jahrhunderts  genutzt:  seit  1671  im 
New  Castler  Steinkohlenbergbau:  „Diese  Einrichtung  bewirkt, 
daß  ein  Pferd  4 — 5  Clialdrons  herunter  (zur  Küste)  bringen  kann, 
was  den  Kaufleuten  einen  ungeheuren  Vorteil  verschafft2.“ 

4.  Die  Erfindung  der  'Wettermaschinen  wird  irrtümlich  in  das 
18.  Jahrhundert  (1721.  1734)  verlegt:  Agricola  kennt  deren  be¬ 
reits  drei  verschiedene  Gattungen. 

Auch  die  Aufbereitung  der  Erze  wurde  bis  um  das  Jahr 
1500  in  sehr  primitiver  Weise  vorgenommen:  „sie  haben  die  Erze  in 
Mörsern  mit  der  Hand  zu  einem  gröblichen  Pulver  zerstoßen  und 
dieses  mit  solchen  Handmühlen,  als  sie  beim  Getreide  brauchten, 
so  fein  zermalen,  daß  das  Schlämmen  und  Waschen  möglich 
ward.  Zum  Waschen  des  Schlichs  bedienten  sie  sich  der  Siebe.“ 

In  den  Anfang  des  16.  Jahrhunderts  (1512 — 1519) 3  fällt  die 

1  Buch  der  Erfind.  Bd.  V.  Dazu  vgl.  Zirkel  in  der  Zeitschrift 
für  Bergrecht  28,  367.  Z.  stimmt  in  der  Datierung  der  —  fertigen  — 
Erfindung  „um  1690“  mit  jenen  Angaben  überein.  Sehr  wenig  beweis¬ 
kräftig  erscheinen  mir  die  Gründe,  die  Neuburg  (Goslars  Bergbau, 
212)  dafür  anführt,  daß  Pulver  zum  Sprengen  im  Rammeisberge  schon 
gegen  Ende  des  15.  Jahrhunderts  verwandt  worden  sei. 

°2  Aus  dem  Leben  des  Lord  Keeper-North  (1696),  zit.  in  Four- 
nier,  Le  Vieux-neuf  1,  60. 

3  Die  Jahreszahl  1519  gibt  Albinus,  Meißner  Chron.  S.  75/76, 
für  die  Einrichtung  eines  Pochwerks  durch  Paul  Grommesdetter  in 
Joachimsthal  an.  Agricola  berichtet,  daß  Sigmund  Malthiz ,  dem 
1512  das  Hecht  auf  alle  aus  den  Gruben  herausgeschafften  Erdhaufen 


492 


Dritter  Abschnitt:  Die  Technik 


wichtige  Erfindung  der  (nassen)  Pochwerke  und  des  Anreicherns 
der  ärmeren  Erze  durch  Schlemmen.  Diese  Erfindung  war  aus 
einem  doppelten  Grunde  bedeutungsvoll:  sie  machte  Menschen¬ 
kräfte  überflüssig  und  führte  eine  Ersparung  an  Erzen  herbei. 

Die  eigentliche  Verhüttung  der  Erze  erlebte  nun  aber  um 
die  Wende’  des  15.  Jahrhunderts  und  im  weiteren  Verlauf  des 
16.  Jahrhunderts  eine  entscheidende  Wandlung,  die  für  die  gesamte 
wirtschaftliche  Entwicklung  von  weitesttragender  Bedeutung  ge¬ 
worden  ist:  in  der  Eisengewinnung  erfolgt  der  Übergang  zum 
Hochofenbetrieb;  in  der  Silberproduktion  die  Einführung  des 
Amalgamierungsverfahrens. 

Bis  in  das  15.  Jahrhundert  hinein  kannte  man  nur  die  sog. 
direkte  Eisengewinnung  mittels  des  sog.  Rennverfahrens. 

Danach  wurden  leicht  reduzierbare  Braun-  und  Spateisensteine 
m  einem  offenen  Kasten  (dem  Rennfeuer)  mit  Hilfe  von  Gebläse¬ 
luft  geschmolzen,  und  der  durch  Zusammensinken  entstandene 
Eisenklumpen  wurde,  um  die  eingeschmolzene  Schlacke  zu  ent¬ 
fernen,  stark  gehämmert,  dann  in  mehrere  Stücke  geteilt,  die  man 
ausreckte. 

Der  wichtige  Fortschritt,  den  man  im  15.  Jahrhundert  machte, 
bestand  in  der  Erfindung  des  Eisengusses  und  dem 
Übergang  zum  Hochofenbetrieb:  das  heißt  zur  sog.  in¬ 
direkten  Eisengewinnung,  mittels  deren  man  erst  Roheisen  her¬ 
stellt  und  aus  diesem  Schmiedeeisen  und  Stahl  bereitet.  Den 
Ausgangspunkt  sowohl  der  Erfindung  des  Eisengusses  als  des 
Überganges  zur  Roheisendarstellung  bildete  die  Benutzung  des 
Wassers  als  Triebkraft.  Hauptsächlich  nach  zwei  Richtungen 
wmde  die  Wasserkraft  nutzbar  gemacht:  zur  Bewegung  eiserner 
Hämmer  beim  Ausschmieden  der  Luppen  —  der  sog.  Zainhämmer 
(Reckhämmer) 1  —  und  zur  Bewegung  der  Blasebälge  (die  ur¬ 
sprünglich  aus  Leder,  seit  dem  17.  Jahrhundert  aus  Holz2  an¬ 
gefertigt  wurden).  Beim  Schmelzen  der  Erze  war  die  Wirkung 
der  verstärkten  Windzufuhr  die,  daß  man  das  Eisen  nicht  mehr 
als  eine  zähe,  wachsartige  Masse,  die  sich  unter  dem  Hammer 
schmieden  ließ,  aus  dem  Ofen  erhielt,  sondern  als  ein  flüssiges 
Metall,  das,  erstarrt,  unter  dem  Hammer  auseinanderflog.  All¬ 


verliehen  sei ,  „zum  Dank“  das  Naßpochen  erfunden  habe:  die  Er¬ 
findung  fällt  also  zwischen  1512  und  1519.  Für  die  Geschichte  der 
ochweike  vgl.  auch  Joh.  Beckmann,  Beiträge  zur  Gesch.  der 
Erfind.  5  (1800),  101  ff.  1  Vgl.  unten  Seite  495. 

Beckmann,  Gesch.  der  Erfind.  1,  319  ff. 


Dreißigstes  Kapitel:  Die  Fortschritte  der  Technik  493 

mählich  kam  die  Einsicht,  daß  man  dieses  flüssige  Metall  in 
Formen  gießen,  es  aber  auch,  wenn  man  es  zum  zweiten  Male, 
und  zwar  in  einem  Herdfeuer  vor  dem  Winde,  wieder  schmolz, 
in  ein  weiches ,  schmiedbares  Eisen  verwandeln  konnte ,  das 
gleichmäßiger  und  in  vielen  Fällen  auch  besser  war  als  das  seit¬ 
her  in  Luppenfeuem  und  Stückfeuern  gewonnene  Eisen1. 

Die  große  Bedeutung  dieser  technischen  Neuerungen  liegt  in 
folgendem : 

1.  durch  den  Hochofenprozeß  wurde  die  Verhüttung  schwerer 
schmelzbarer  Erze,  wie  sie  den  bei  weitem  größten  Teil 
der  Vorräte  auf  der  Erde  bilden,  erst  möglich.  Das  hieß 
aber  natürlich  eine  außerordentlich  große  Ausweitung  des 
Produktionsspielraums,  die  zudem  durch  die  größeren  Aus¬ 
maße  des  Hochofens  noch  weiter  gesteigert  wurde; 

2.  der  Eisenguß  ermöglichte  eine  sehr  viel  raschere  und 
billigere  Herstellung  größerer  Stücke,  was  namentlich  bei 
der  nun  erst  recht  beginnenden  Geschützerzeugung  sehr  in 
Betracht  kam; 

3.  die  Nutzung  der  Wasserkraft  bewirkte  eine  Umschichtung 
der  Standorte  _  der  Gewerbe :  die  Eisenindustrie  zog  sich 
von  den  Höhen  der  Berge,  aus  den  Wäldern  in  die  Täler; 

4.  dies  neue  Verfahren  stellte  ganz  andere  Anforderungen  an 
die  Betriebsorganisation:  an  Stelle  zahlreicher,  kleiner 
Schmelzfeuer  entstehen  neue  stattliche  Öfen  mit  Hütten¬ 
gebäuden,  Wasserrädern,  Blasebälgen,  Pochwerken  und 
schweren  Hämmern.  Alles  das  siehe  genauer  im  2.  Bande. 

Gegen  Ende  des  15.  Jahrhunderts  ist  der  Sieg  des  Hochofen¬ 
betriebs  über  den  Bennwerkbetrieb  im  Prinzip  entschieden.  Die 
Einbürgerung  des  neuen  Verfahrens  vollzieht  sich  aber  nicht 
plötzlich,  sondern  ganz  allmählich:  in  Frankreich  und  Italien 
beginnt  der  Hochofenbetrieb  Wurzel  zu  fassen  im  Anfang  des 
16.,  in  Deutschland  und  England  Mitte  des  16.,  in  Schweden 


1  Ludw.  Beck,  Geschichte  des  Eisens  2  (1893),  12  f.  Dieses 
bedeutende  Werk  (5  Bde.  1892 — 19031  behandelt  die  Geschichte  des 
Eisens  (seiner  Bereitung  und  seiner  Verwendung)  erschöpfend.  Der 
Übergang  zum  Hochofenbetrieb  und  zum  Eisenguß  wird  am  Schlüsse 
des  ersten  Bandes  dargestellt;  der  zweite  Band  umfaßt  das  16.  und 
17.  Jahrhundert.  Mit  dem  dritten  Bande  beginnt  die  Darstellung  schon 
zu  den  grundstürzenden  Neuerungen  überzugehen,  die  die  hochkapita¬ 
listische  Epoche  einleiten  und  hier  noch  nicht  in  Betracht  zu  ziehen 
sind, 


494 


Dritter  Abschnitt:  Die  Technik 


Ende  des  16.  Jahrhunderts.  Aber  das  ganze  16.  Jahrhundert  und 
auch  das  17.  Jahrhundert  sind  noch  voller  Rennwerkbetriebe. 

Der  Hilfsstoff,  den  man  sowohl  für  die  Herstellung  des  Roh¬ 
eisens  wie  für  die  Bereitung  von  Schmiedeeisen  und  Stahl  be¬ 
nötigte,  blieb  in  unserer  Epoche  das  Holz. 

Von  nicht  geringerer  Bedeutung  für  den  Verlauf  der  wirt¬ 
schaftlichen  Entwicklung  als  die  eben  geschilderten  Veränderungen 
in  der  Eisenverhüttungstechnik  war  die  Umwälzung,  die  die 
Technik  der  Silb ererzeugung  um  die  Mitte  des  16.  Jahr¬ 
hunderts  durch  die  Einführung  des  Amalgamverfahrens  erfuhr. 

Die  Gewinnung  des  Silbers  aus  den  Erzen  war  bis  dahin 
durch  Ansammeln  des  Silbers  im  Blei  und  seine  Abscheidung 
daraus  durch  den  sog.  Treibprozeß  erfolgt. 

Die  Umwälzung  bestand  in  der  Nutzung  des  Quecksilbers 
zum  Zweck  der  Silberabscheidung  auf  dem  Wege  der  Amalga¬ 
mierung,  daher  der  Name:  Amalgamationsprozeß. 

Der  Amalgamationsprozeß  wurde  im  Jahre  1557  von 
Bartholome  de  Medina  in  Pachuca  erfunden  und  kam  seit  1566 
in  größerem  Umfange  zur  praktischen  Anwendung.  1571  wurde 
er  nach  Peru  verpflanzt.  Das  Verfahren  bestand  (oder  besteht: 
da  noch  heute  ein  großer  Teil  des  amerikanischen  Silbers  ver¬ 
mittels  dieses  kalten  Amalgamations-  oder  Patioprozesses  gewonnen 
wird)  in  folgendem1:  Die  Erze  werden  in  einer  Arrastra,  einer 
Schleppmühle,  zerkleinert.  Dann  wird  das  Erzmehl  auf  dem  mit 
Steinplatten  gepflasterten  Amalgierhofe ,  „Patio“,  ausgebreitet, 
und  Kochsalz,  Magistrat  (gerösteter  Kupferkies)  und  Quecksilber 
weiden  darunter  gemischt.  Die  verschiedenen  Bestandteile  wurden 
früher  (bis  1793)  durch  Menschen  und  werden  jetzt  durch  Maul¬ 
esel  durcheinander  getreten.  Bei  der  in  dem  Erzhaufen  vor  sich 
gehenden  Reaktion  bildet  sich  Silberamalgam,  das  später  durch 
Verwaschen  vom  Erzmehl  getrennt  wird.  Durch  Destillation 
werden  Silber  und  Quecksilber  geschieden.  Der  große  Vorzug 
dieses  neuen  Verfahrens  bestand  darin,  daß  es  fast  gar  keiner 
Anlagen  und  vor  allem  gar  keines  Brennmaterials  benötigte. 
Damit  aber  machte  es  die  Verarbeitung  der  Silber¬ 
erze  auf  den  kahlen  Höhen  der  Kordilleren  erst 
möglich.  Seine  Nachteile  sind  freilich  beträchtlich.  Sie  be- 

1  B.  Neumann,  Die  Metalle  (1904),  169.  Buch  der  Erfind,  5, 
o32.  Eine  sehr  eingehende  Beschreibung  des  Patioprozesses  findet 
man  bei  Humboldt,  Essai  4,  51  ff.  Vgl.  auch  Beckmann,  Gesch. 
der  Erfind.  1,  44  ff. 


Dreißigstes  Kapitel:  Die  Fortschritte  der  Technik  495 

stehen  in  der  sehr  langen  Dauer  des  Prozesses,  der  3 — G  Wochen 
währt,  und  in  dem  starken  Verbrauch  von  Quecksilber.  Die 
Quecksilberverluste  bei  dieser  kalten  Amalgamation  betragen  10 
bis  20%,  durchschnittlich  das  IV2  fache  des  ausgebrachten  Silbers. 
Die  Silberproduktion  trat  damit  in  Abhängigkeit  von  der  Queck¬ 
silbererzeugung,  wie  am  passenden  Ort  ziffernmäßig  dargetan 
werden  wird  (siehe  unten  Kapitel  36). 

Aber  diese  Nachteile  treten  doch  zurück  gegenüber  den  er¬ 
wähnten  Vorteilen  und  konnten  die  ganz  ungeheuer  große  Be¬ 
deutung  dieses  neuen  Verfahrens  nicht  beeinträchtigen.  Ihm 
verdankt  die  Welt,  wie  wir  noch  sehr  genau  verfolgen  werden, 
die  Überschwemmung  mit  Silber,  ihm  die  starke  Wertverminde¬ 
rung  des  Silbers  und  also  die  große  Preisteigerung  aller  Waren, 
was  alles  nicht  zum  wenigsten  zum  raschen  Siege  des  Kapitalis¬ 
mus  beigetragen  hat. 

ß)  Metallverarbeitung 

Die  Eisen  Verarbeitung  erfährt  einige  wichtige  Verände¬ 
rungen:  die  Drahtzieherei  entwickelt  sich  zur  Feindrahtzieherei 
(16.  Jahrhundert);  das  Verzinnen  der  Eisenbleche  kommt  auf 
(erste  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts);  die  Walzwerke  verbreiten 
sich  im  17.  Jahrhundert  (nachdem  sie  bei  Sal.  de  Gaus  1615  zum 
ersten  Male  erwähnt  worden  sind) ;  Eisenschneidewerke  gesellen 
sich  ihnen  zu;  1738  erfindet  John  Payne  das  Walzen  der  Eisen¬ 
bleche  usw.  Dazu  kommen  einige  Neuerungen  der  Eisenver¬ 
arbeitung,  die  zunächst  und  vor  allem  bei  der  Waffenfabrikation 
eine  große  Rolle  gespielt  haben:  schon  vor  1500  war  die  Bohr¬ 
maschine  zum  Bohren  von  Kanonenrohren  erfunden:  sie  wird 
von  Biringuccio  beschrieben. 

Beachten  müssen  wir  auch,  daß  es  in  der  Zeit  vor  dem 
19.  Jahrhundert  schon  eine  Hammermaschine  gab,  die  die 
Bearbeitung  mannsgroßer  Eisenblöcke,  wie  sie  namentlich  in  der 
Ankerfabrikation1  vorkamen,  möglich  machte.  Auch  das  Aus¬ 
schmieden  der  Luppen  auf  den  Reckhämmern  erfolgte  mit 
Maschinenhämmern,  die  6—10  Zentner  wogen  und  zwei  Schläge 
in  der  Minute  ausführten2. 

1  Siehe  die  Abbildungen  im  1.  Bande  der  ,Planches’ ,  die  der 
Enc.-meth.  Abt-  Arts  et  manuf.  beigegeben  sind  unter  dem  Stichwort: 
„ancre“. 

2  Die  beste  Beschreibung  dieser  vordampflichen  Maschinenhämmer 
habe  ich  gefunden  in  Joh.  Gottl.  Volkets  gesammleten  Nachrichten 


496 


dritter  Abschnitt:  Die  Technik 


So  wichtig  diese  und  andere  Fortschritte  auf  dem  Gebiete* 
der  Eisenyerarbeitung  sind,  so  verschwindet  ihre  Bedeutung  doch 
gegenüber  den  Veränderungen,  die  die  Verarbeitung  der 
Edelmetalle  erfahrt.  Ich  meine  nicht  die  Tatsache,  daß  im 
17.  Jahrhundert  eine  neue  Vergoldungstechnik  aufkommt:  Gfou- 
thiere  unter  Ludwig  XV. :  „l’inventeur  de  la  dorure  au  mat“*  1  — 
ich  denke  vielmehr  an  die  Umwälzungen,  die  die  Verarbeitung 
der  Edelmetalle  zu  Münzen  erfahrt:  im  16.  und  17.  Jahrhundert 
geht  man  zur  mechanischen  Münzprägung  über.  Und  zwar  in 
folgenden  Etappen: 

1.  1552  Streckwerk  des  Franzosen  Brulier2; 

2.  zweite  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts  Adjustierwerk; 

3.  zur  selben  Zeit :  Ausstückelungsmaschine ; 

4.  zur  selben  Zeit:  Prägewerk  (die  Münzpresse); 

5.  1685  Bändel-  oder  Kräuselwerk  von  Castaing  erfunden, 
nachdem  eine  Bandschriftenmaschine  in  England  schon 
unter  Cromwell  in  Tätigkeit  gewesen  sein  soll. 

Welche  weittragende  Bedeutung  dieser  Übergang  zur  mecka- 
mchen  Münzprägung  haben  mußte,  liegt  auf  der  Hand:  er  er¬ 
möglichte  erst  ein  geordnetes  Münzwesen,  ohne  das  wenigstens 
hochkapitalistische  Wirtschaft  nicht  denkbar  ist.  Freilich  will  ich 
hier  noch  einmal  wiederholen,  daß  die  Wirksamkeit  dieser  Bevolu- 
tionierung  der  Münzprägetechnik  im  wesentlichen  in  die  folgende 
Periode  fällt;  daß  sie  zu  denjenigen  Fortschritten  der  Technik 
gehört,  die  die  hochkapitalistische  Periode  einleitet:  siehe  im 
übrigen  das  26.  Kapitel  dieses  Bandes.  Erwähnen  mußte  ich  diese 
wichtigen  Erfindungen  an  dieser  Stelle  aber  doch,  da  sie  alle  in 
die  frühkapitalistische  Epoche  fallen:  vielleicht  beruht  ihre  lange 
Unwirksamkeit  auf  der  wohlüberlegten  Absicht  der  maßgebenden 
Instanzen. 

Y)  Hie  Textilindustrie 

Unsere  Wirtschaftshistoriker  schauen  immer  nur  wie  gebannt 
auf  die  Fortschritte  der  Technik,  die  der  Textilindustrie  während 

von  schlesischen  Bergwerken  (1775),  265;  Joh.  Phil.  Becher, 
Mineralische  Beschreibung  der  oranisch- nassauischen  Lande  (1798), 
•>60  f . ;  L.  Lecornu,  Sur  la  Metallurgie  du  Per  en  Basse-Normandie, 
in  den  Mein,  de  l’academie  nation.  des  Sciences  etc.  de  Caen  (1884),  94. 

1  k'furnier,  Le  Vieux-neuf  2,  377.  Vgl.  Beckm*ann,  Gesch. 
der  Erfind.  1,  55  ff. 

2  Nach  Beckmann,  Gesch.  der  Erfind.  2,  527,  ist  damit  die  Walz¬ 
kunst  zum  ersten  Male  zur  Anwendung  gelangt. 


Dreißigstes  Kapitel:  Die  Fortschritte  der  Technik 


497 


des  18.  Jahrhunderts  zuteil  wurden,  wenn  sie  sich  überhaupt  um 
die  Technik  bekümmern.  Nun  soll  gewiß  nicht  geleugnet  werden, 
daß  die  technischen  Umwälzungen ,  die  die  Textilindustrie  im 
18.  Jahrhundert  erlebte  (und  die  wir  an  dieser  Stelle  noch  nicht 
zu  würdigen  haben),  von  entscheidender  Bedeutung  für  den  Ver¬ 
lauf  des  Wirtschaftslebens  geworden  sind.  Aber  sie  sind  doch 
immer  nur  im  Zusammenhänge  mit  den  andern  grundstürzenden 
-Neuerungen  in  jener  Zeit  zu  betrachten  und  demgemäß  zu  be¬ 
werten.  Auf  der  andern  Seite  sollte  man  nicht  vergessen ,  daß 
alle  die  epochalen  Erfindungen  des  18.  Jahrhunderts,  die  zur 
Revohutionierung  der  Textilindustrie  beigetragen  haben,  grund¬ 
sätzlich  schon  in  unserer  Epoche  gemacht  worden  sind:  bis  auf 
die  drei  Walzen  Pauls! 

Der  Spinnprozeß  wurde  1530  durch  die  Anbringung  der 
Tretvorrichtung  am  Spinnrade,  das  bis  dahin  mit  der  Hand  gedreht 
wurde,  wesentlich  vervollkommnet.  Andere. Vervollkommnungen 
der  Spinnerei  im  17»  Jahrhundert1.  Für  die  Abhaspelung  der 
Seide  bestanden  seit  dem  15.  Jahrhundert  besondere  Maschinen. 
Becher2  erfand  ein  „Seyden-Filatorium  oder  Abwind-Instrument“ 
—  besser  als  das  in  Bologna  genutzte:  einfach,  geräuschlos, 
„gantz  leicht  zu  bewegen,  also  dass  ein  Mensch  gar  füglich  auf 
einmahl  tausend  Stränge  abwinden  kann,  dahingegen  die  Bolog- 
nesische  Maschine  mit  Wasser  getrieben  werden  muß“  (!). 

Die  mechanische  AVeberei  wurde  Ende  des  16.  Jahrhunderts 
in  Holland  (nach  andern  im  Jahre  1600  von  Anton  Möller  in 
Danzig,  „4000  Jahre“  s.  h.  a.)  erfunden  in  Gestalt  der  Band- 
mühle.  Nach  den  Beschreibungen,  die  wir  von  den  Bandmühlen 
aus  der  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  besitzen,  bis  zu  welchem 
Zeitpunkt  wir  von  keiner  Vervollkommnung  erfahren,  handelt  es 
sich  schon  um  eine  vollständige  Maschine,  der  grundsätzlich 
kein  einziger  Bestandteil  des  mechanischen  AVebstuhles  fehlte. 
Es  war  dem  Ansehen  nach  ein  Webstuhl,  doch  wird  mit  der 
Hand  kein  Schütze  durchgeworfen,  sondern  der  Stuhl  webet 
selbst:  alles  wird  durch  Bewegung  eines  Rades  (Getriebes)  ver¬ 
richtet.  Die  Bandmühle  kann  10,  12,  16,  20  und  mehr  Gänge 

1  Der  auf  die  Spinnerei  bezügliche  Regesten-Band  der  englischen 
Patentsammlung  enthält  acht  Erfindungen  zur  mechanischen  Spinnerei 
im  17.  Jahrhundert,  darunter  (im  Jahre  1678)  „a  new  spinning  engin 
never  used  in  E.“,  mittels  deren  man  in  einem  Tage  dasselbe  Quantum 
erspinnen  könne  als  früher  in  zwei  oder  drei  Tagen. 

2  Becher,  Närrische  AVeisheit,  19. 

Bombart,  Der  moderne  Kapitalismus.  I.  JJ2 


498 


Dritter  Abschnitt:  Die  Technik 


haben.  Es  arbeitet  hier  eine  einzige  Person,  und  es  entstehen 
zugleich  10,  20  und  mehr  Bänder,  jedes  von  anderer  Farbe;  „und 
der  Arbeiter  webet  ohne  einen  einzigen  Durchschuß  mit  der 
Hand  zu  verrichten,  ohne  das  Bandmachen  zu  verstehen,  ohne 
eine  Lade  zu  ziehen“. 1 

Aber  auch  der  breite  mechanische  Webstuhl  war  Ende  des 
17.  Jahrhunderts  schon  erfunden.  Unser  alter  Freund  Becher 
erzählt  uns  (Närrische  Weisheit,  14  f.),  daß  er  ein  „Web-Instrument, 
mit  zwey  Personen  in  einem  Tage  hundert  Elen  Lacken  zu  weben“ 
erfunden  habe.  „Und  verhält  sich  dieses  Instrument  so  ich  er¬ 
funden  auf  die  Art  der  IJarmelischen  Seyden-Ba,ndmühlen  aber 
diß  ist  der  Unterschied,  daß  es  so  breit  Lacken  weben  kan  als 
man  wil  und  daß  es  viel  gleicher  webt,  als  man  mit  Händen 
thun  kan.“ 

Freilich:  es  scheint,  als  ob  diese  Erfindungen  in  den  meisten 
Ländern  längere  Zeit  ungenutzt  geblieben  wären.  Nicht  zuletzt,  weil 
die  Obrigkeit  ihre  Verwendung  im  Interesse  der  Handwerksmeister 
gesetzlich  verbot:  der  Erfinder  der  Bandmühle  wurde  (so  heißt  es)  von  den 
holländischen  Generalstaaten  in  ewigen  Arrest  gesteckt,  das  Werk  aber 
zurückbehalten.  In  den  Jahren  1623,  1639,  1661  verbieten  die  General¬ 
staaten  ausdrücklich  die  Anwendung  der  Bandmühle  und  aller  darauf 
verfertigter  Sachen;  dasselbe  Verbot  erläßt  1664  die  Regierung  der 
(damals  spanischen)  Niederlande  zu  Brüssel.  In  Deutschland  wurde 
die  Bandmühle  durch  komiss.  Dekret  vom  5.  Juni  1685  im  ganzen 
deutschen  Reich,  durch  solches  vom  19.  Februar  1685  in  den  öster¬ 
reichischen  Landen  verboten.  1719  werden  diese  Verbote  erneuert. 
Die  Verbote  scheinen  allerdings  nicht  streng  durchgeführt  worden  zu 
sein:  „so  ist  die  Sache  auf  sich  sitzen  geblieben  und  die  Bandmühlen 
sind  hie  und  da  ungehindert  beibehalten  worden.“  1765  erkennt  ein 
chursächsisches  Generalreskript  den  Status  an  und  erlaubt  ausdrück¬ 
lich  Bandmühlen,  ja  belegt  sogar  die  Einrichtung  mit  einer  Prämie 
J.  H.  L.  Bergius,  a.  a.  0. 

Genau  unterrichtet  sind  wir  über  die  Geschichte  der  Bandmühle 
in  der  Schweig.  Hier  hat  den  ersten  Kunststuhl  nach  Basel  ein  Woll- 
webenneister  im  Jahre  1668  aus  Amsterdam  gebracht.  Bereits  1669 
bemerkt  Zürich,  der  Mühlstuhl  für  Floretband  sei  in  Basel,  Schaff¬ 
hausen  und  Chur  eingeführt.  Bald  erheben  die  Zünftigen  Klage,  aus 
denen  wir  erfahren,  daß  die  neue  Erfindung  tatsächlich  in  Wirksamkeit 
getreten  war.  „Ein  Ungelernter  nimmt  die  Arbeit  von  16  Meistern 
weg“  usw.  Siehe  die  eingehende  aktenmäßige  Darstellung  bei  Tr. 
Geering,  Handel  und  Ind  der  Stadt  Basel,  609  f.  Nach  dem  Gut- 


1  J.  H.  L.  Bergius,  Neues  Policey-  und  Cameral-Magazin  1 
(1775),  191  ff.,  wo  eine  ausführliche  Beschreibung  des  damaligen 
Standes  der  „Bandmanufaktur“  'und  ihrer  Geschichte  sich  findet.  Vgl. 
Beckmann,  Gesch.  der  Erfind.  1 ,  1 22  ff. 


Dreißigstes  Kapitel:  Die  Fortschritte  der  Technik  499 

achten  einer  Untersuchungskommission,  die  der  Baseler  Rat  im  Jahre 
1670  eingesetzt  hatte,  um  die  Beschwerden  der  Passementerzunft  zu 
prüfen ,  soll  der  Bandstuhl  schon  damals  geduldet  worden  sein  in : 
Bayern,  Wien,  Chur,  Schaffhausen,  Feuerthalen  und  Zürich. 

Der  Handwebstuhl  erfährt  eine  wesentliche  und  praktisch 
bedeutsame  Verbesserung  durch  die  Erfindung  des  mechanisch 
bewegten  Schnellschützen  durch  John  Kay  (1733) h 

Eine  ganze  Reihe  maschineller  Einrichtungen  bestanden  für 
die  Appretur  der  Gewebe:  Walkmühlen  gab  es,  wie  wir 
bereits  sahen,  in  Augsburg  schon  im  14.  Jahrhundert;  Tuclischeer- 
maschinen  beschreibt  Leonardo  da  Vinci  (es  gab  ihrer  mehrere 
Systeme);  Tuchrauhmaschinen  ebenso:  beide  im  Cod.  atl.  Ebenso 
finden  wir  Beschreibungen  von  Maschinen  zum  Kratzen  wollener 
Tücher  bei  Zonca  (Fig.  377).  Mangen  zum  Glätten  des  Gewebes, 
die  mit  Pferden  getrieben  wurden,  gab  es  ebenfalls  schon  im 
14.  Jahrhundert  (Stetten,  a.  a.  0.  S.  143).  Daß  sie  im  17.  Jahr¬ 
hundert  in  Mühlenform  angewandt  wurden,  sahen  wir  oben,  als 
wir  die  verschiedenen  Arten  von  Mühlen  kennen  lernten. 

Von  ganz  besonderer  praktischer  Bedeutung  aber  wurde  die 
Einführung  des  Zeug  drucks  in  Europa.  Man  kann  nicht  sagen: 
die  Erfindung,  da  das  Bemalen  oder  Bedrucken  von  Baumwoll- 
geweben  ä  la  Siamois  in  Indien  und  Ostasien  schon  seit  Jahr¬ 
hunderten*  in  Übung  gewesen  war,  als  die  ostindischen  Kom¬ 
pagnien  Anfang  des  17.  Jahrhunderts  diese  indischen  Stoffe 
nach  Europa  brachten.  Aber  hier  war  doch  die  Anwendung 
dieser  Technik,  die  auch  bald  durch  Einführung  des  Platten¬ 
drucks  wesentlich  vervollkommnet  wurde,*  etwas  neues.  Die 
Nachahmung  des  indischen  Zeugdrucks  beginnt  etwa  gleich¬ 
zeitig  (gegen  Ende  des  17.  Jahrhunderts)  in  Frankreich,  in 
England,  in  Augsburg  und  in  Genf:  die  erste  in  Europa  nach¬ 
weisbare  Kattundruckerei  nach  indischer  Art  in  Indigo  und 
Krapp  gründete  im  Jahre  1678  der  Kaufmann  Jakob  ter  Gouw 
in  Amsterdam1 2.  Die  große  praktische  Bedeutung  dieser  tech¬ 
nischen  Neuerung,  von  der  ich  sprach,  lag  darin  begründet,  daß 
(wie  wir  sehen  werden)  die  Kattundruckereien  ein  besonders 
günstiges  Feld  für  die  Betätigung  des  kapitalistischen  Unter- 


1  Pat.  for  Inv.  Specif.  rel.  to  Spinning  etc.  1866. 

2  Tr.  Geering,  Die  Entwicklung  des  Zeugdrucks  im  Abendlande 
seit  dem  17.  Jahrhundert,  in  der  'Vierteljahr Schrift  f.  Soc.  u.  WG.  1, 
379  f.  Nach  andern  soll  die  Kattundruckerei  in  London  bereits  im 
Jahre  1676  einsreführt  sein. 

O 


dritter  Abschnitt:  Die  Technik 


m 

nehmertums  boten,  daß  sie  sich  rasch  zu  expansionsgeneigten 
Großbetrieben  auswuchsen  und  dadurch  einen  starken  Anreiz 
auf  die  Entwicklung  der  textilen  Grundgewerbe:  Spinnerei  und 
Weberei,  ausübten. 

Auch  die  Wirkerei  (Strickerei)  erlebte  schon  Ende  des 
IG.  Jahrhunderts  den  entscheidenden  Übergang  zur  rein  maschi¬ 
nellen  Technik  durch  die  Erfindung  der  Stocking-fr  ame,  der  Strumpf¬ 
wirkmaschine,  den  „Handkulierstuhl  für  Strumpfwirkerei“.  Diese 
Wirkmaschine  des  Theologiestudenten  Lee  war  schon  ein  un¬ 
geheuer  komplizierter  Mechanismus  mit  Hunderten  von  Nadeln  und 
ist  im  Prinzip  bis  heute  nicht  überholt  worden.  Die  späteren  Er¬ 
findungen  waren  unwesentlich  „und  hauptsächlich  auf  Herstellung 
neuer  Muster  und  der  sog.  Hund-  und  Schlauchstühle  gerichtet, 
auf  denen  schlauchartige  Wirkwaren  ohne  Naht  erzeugt  werden 
(Strickmaschinen)“.  Die  Wirkmaschine  fand  im  Laufe  des  17.  Jahr¬ 
hunderts  in  der  Praxis  Eingang:  die  erste  Manufacture  de  Bas 
au  metier  in  Frankreich  wurde  1G56  errichtet1. 

Erwägen  wir  noch,  daß  sich  während  des  16.  und  17.  Jahr¬ 
hunderts  wesentliche  Veränderungen  in  der  Färbetechnik  voll¬ 
zogen:  Mitte  des  IG.  Jahrhunderts  kommt  die  Indigofärberei  auf2; 
1630  wird  die  Scharlachfärberei  (Salpeter-Salzsäure  und  Coche¬ 
nille)  erfunden,  so  wird  man  zugeben  müssen,  daß  die  technischen 
Neuerungen,  die  die  Textilindustrie  schon  vor  dem  18.  Jahrhundert 
erfuhr,  an  Tragweite  kaum  hinter  den  späteren  zurückstehen,  und 
daß,  wenn  die  Wirkung  der  Erfindungen  des  IG.  und  17.  Jahr¬ 
hunderts  nicht  so  dynamische  waren,  dies  seinen  Grund  in  andern 
Umständen  haben  muß.  Immerhin  werden  wir  sehen,  daß  auch 
die  Erfindungen  der  Frühzeit  Veranlassung  zu  mancher  wirt¬ 
schaftlichen  Änderung  boten,  die  in  der  Textilindustrie  in  dieser 
Zeit  deshalb  immer  von  ganz  besonderer  und  allgemeiner  Be¬ 
deutung  sind,  weil  sie  die  Leitindustrie  in  der  frühkapitalisti¬ 
schen  Epoche  war. 


1  Sa vary,  Dict.  du  Comm.  1,  274.  Nach  S.  soll  ein  Franzose 
der  Erfinder  der  Wirkmaschine  sein:  eine  Auffassung,  die  darin  ihren- 
Grund  haben  mag,  daß  der  englische  Erfinder,  der  in  seinem  Vater¬ 
lande  wenig  Sympathie  fand,  bald  sich  nach  Frankreich  begeben  hat, 
um  seine  Erfindung  zu  verwerten.  Vgl.  auch  Fournier,  Le  Vieux- 
neuf  2,  240  ff. 

2  1616  wurde  noch  in  300,  1629  nur  noch  in  80  thüringischen 
Dörfern  Waid  erzeugt :  Poppe,  191. 


Dreißigstes  Kapitel:  Die  Fortschritte  der  Technik 


501 


o)  Neue  Industrien 

Einen  nicht  unwesentlichen  Einfluß  auf  die  Gestaltung  des 
Wirtschaftslebens  üben  die  technischen  Neuerungen  in  unserm 
Zeitraum,  insbesondere  während  der  letzten  beiden  Jahrhunderte, 
dadurch  aus,  daß  sie  den  Anlaß  bieten  zur  Einführung  ganz  neuer 
Industrien  oder  doch  wenigstens  zu  einer  so  entscheidenden 
Neueinrichtung  alter  Gewerbe,  daß  diese  einer  Neubegründung 
nahekommt.  Die  Neuheit  der  Industrie  kann  darin  liegen,  daß  ein 
ganz  neuer  Stoff  zu  schon  bekannten  Gebrauchszwecken  ver¬ 
arbeitet  wird,  oder  darin,  daß  neue  Gebrauchsgegenstände  auf- 
kommen,  oder  endlich  darin,  daß  ein  altes  Gebrauchsgut  mit 
demselben  Stoffe  aber  in  wesentlich  anderer  Form  hergestellt 
wird. 

Es  genügt,  wenn  ich  die  wichtigsten  dieser  neuen  Industrie¬ 
zweige,  deren  Begründung  in  unsere  Epoche  fällt,  hier  einfach 
aufzähle : 

Eine  besondere  Kategorie  bilden  diejenigen  Industriezweige,  die 
sich  an  neu  aus  den  Kolonien  eingeführte  Rohstoffe  anschlossen,  unter 
ihnen  ist  die  bedeutendste : 

1.  die  Schokoladenindustrie.  Sie  kommt  Ende  des  16.  Jahr¬ 
hunderts  in  Italien  auf;  ist  gegen  1650  in  Frankreich  verbreitet:  1659 
erhält  David  Ckaillon  ein  Privileg  zur  Fabrikation  und  zum  Vertrieb 
von  Schokolade.  Fournier,  Le  Vieux-neuf  2,  366  ff.  In  England 
findet  die  erste  Errichtung  eines  Schokoladenhauses  im  Jahre  1657  statt. 

2.  Herstellung  von  Schaumweinen.  Sie  wurde  erst  möglich, 
nachdem  der  Flaschenverschluß  mit  Korken  erfunden  war.  Diese  Er¬ 
findung,  die  mit  der  der  Schaumweinbereitung  im  Zusammenhänge  stellt, 
wird  dem  Pater  Kellermeister  der  Abtei  von  Hautvilles,  Dom  Perignon, 
um  das  Jahr  1670  zugeschrieben.  Im  Anfang  des  18.  Jahrhunderts  ist 
der  Champagner  schon  in  weiten  Kreisen  bekannt.  Fournier,  Le 
Vieux-neuf  2,  311.  Eine  Reihe  neuer  Industriezweige  setzt  der  alte 
Stamm  der  Textilindustrie  an: 

3.  die  Strumpfstrickerei,  die  in  der  ersten  Hälfte  des 
16.  Jahrhunderts  in  Spanien  erfunden  sein  soll:  Heinrich  VIII.  besaß 
ein  Paar  seidene  Trikots,  die  ein  Geschenk  aus  Spanien  waren.  1564 
wird  der  erste  Strumpfmacher  in  England:  William  Rider,  erwähnt. 
Wie  rasch  der  Strickprozeß  selbst  dann  wieder  vervollkommnet  wurde, 
haben  wir  bereits  gesehen.  Die  Strickerei  wurde  dadurch  bedeutsam, 
daß  sie  von  Weibern  und  Kindern  ausgeübt  wurde  und  die  alte 
Schneiderarbeit  der  Männer  verdrängte. 

4.  Die  Gobelinweberei  war  schon  längere  Zeit  bekannt,  als 
sie  im  Anfang  des  17.  Jahrhunderts  von  Peter  Dupont  in  Paris  sehr 
vervollkommnet  und  1667  von  den  Gebrüder  Gobelins  auf  den  höchsten 
Grad  der  Vollendung  gebracht  wurde.  J.  Guiffrey,  Hist,  de  la 


502 


Dritter  Abschnitt:  Die  Technik 


tapisserie,  1883.  Ger  spach,  La  manufacture  nationale  des  Gobelins, 
1892.  Fenaille,  Etat  general  des  tapisseries  de  la  manufacture  des 
Gobelins  1600 — 1900,  1903  (war  mir  nicht  zugänglich). 

5.  Die  Spitzenindustrie.  Seit  dem  Ende  des  15.  Jahrhunderts 
sind  Eiechtspitzen  (älteste  Klöppelspitze)  in  Spanien ,  Italien ,  den 
Niederlanden  und  Deutschland  heimisch.  Die  rechte  Entwicklung  setzt 
aber  erst  im  16.  Jahrhundert  von  Italien  aus  ein  sowohl  für  die  Näh- 
wie  für  die  Klöppelspitzen.  In  Italien  (Venedig!)  erfuhr  die  Technik 
der  Spitzemnacherei  im  punto  a  rilievo  die  edelste  Ausbildung.  Diese 
mit  äußerster  Feinheit  hergestellten  Reliefspitzen  suchte  man  dann  in 
den  andern  Ländern  axich  heimisch  zu  machen:  1664  ließ  Colbert  (wie 
wir  noch  in  anderm  Zusammenhänge  genauer  verfolgen  werden)  venetia- 
nische  Arbeiter  nach  Frankreich  kommen,  um  die  einheimische  grobe 
Spitzenmacherei  zu  heben  und  damit  recht  eigentlich  erst  die  berühmte 
französische  Spitz enindnstrie  zu  begründen. 

1561  soll  Barbara  Uttmann  die  Spitzenklöppelei  im  Erzgebirge 
heimisch  gemacht  haben.  Bury  Palliser,  History  of  Lace  (ich  be¬ 
nutzte  die  illustrierte  Traduction  frau<?aise  von  1890). 

6.  Die  Wäscheindustrie:  kommt  in  Frankreich  seit  dem 
16.  Jahrhundert  auf.  Damals  wurden  das  Plätteisen  und  eine  Menge 
Methoden  zur  Wäscheanfertigung  erfunden.  Sehr  amüsant  sind  die 
unzähligen',, Livres  de  lingerie“,  die  zwischen  1530  und  1597  erscheinen. 
Auszüge  daraus  bei  Fournier,  Le  Vieux-neuf  2,  212  ff. 

Und  dann  noch  eine  bunte  Menge  verschiedener  Industrien:  zu¬ 
nächst  einige  Holz  verarbeitende: 

7.  die  Klavierindustrie.  Nach  den  neuesten  Forschungen 
gilt  Bartol.  Cristofori,  Instrumentenmacher  in  Florenz  (1655 — 1731), 
als  Erfinder  des  Klaviers,  sofern  man  dessen  neues  Prinzip  in  der 
Verwendung  der  Hammertechnik  erblickt.  Die  neue  Erfindung  wurde 
1711  im  Giornale  dei  letterati  d’  Italia  bekannt  gemacht. 

8.  Die  Kutschenindustrie.  Was  wir  heute  Kutsche  nennen, 
das  heißt  ein  bedeckter  Wagen,  dessen  Kasten  in  Riemen  oder  Federn 
hängt,  ist  nicht  älter  als  drei-  bis  vierhundert  Jahre.  Der  Name  Kutsche 
soll  von  dem  ungarischen  Dorf  Kocs  stammen,  und  Wagen  von  dort¬ 
her,  die  die  bezeichneten  Merkmale  trugen,  sollen  zuerst  gegen  Ende 
des  15.  Jahrhunderts  in  Gebrauch  genommen  worden  sein.  (Feld- 
haus.)  Nach  andern  (Poppe)  sei  die  erste  wirkliche  „Kutsche“  1546 
in  Spanien,  die  erste  in  England  1580  nachweisbar.  Nach  dritten 
(Fournier)  sei  die  Kutsche  auf  Federn  ein  Patent  des  M.  Dufresny, 
das  aus  dem  Jahre  1686  stammt.  Um  allen  Meinungen  gerecht  zu 
werden,  können  wir  sagen,  daß  es  eine  Kutschenindustrie  sicher  nicht 
vor  dem  Ende  des  15.  Jahrhunderts  gibt,  daß  sie  sich  aber  sicher  im 
17.,  wahrscheinlich  schon  im  16.  rasch  entwickelt:  jedenfalls  begegnen 
wir  schon  vielen  gedeckten  Staatskarossen  im  Gefolge  der  Großen 
während  des  16.  Jahrhunderts,  deren  Herstellung  —  ob  „Kutsche“ 
oder  nicht  —  einer  neuen  Industrie  Beschäftigung  gab. 

Im  17.  Jahrhundert  sehen  wir  die  Galakutschen  mit  großen  Glas¬ 
fenstern  sich  überall  hin  verbreiten.  „In  Münster  war  die  Kai’osse 
der  Herzogin  von  Longueville  aufgefallen  und  veranlaßte  manche 


Dreißigstes  Kapitel:  Die  Fortschritte  der  Technik  503 

deutsche  Prinzessin,  sie  nachzuahmen;  nach  Warschau  brachten  sie 
die  polnischen  Königinnen,  und  Christine  von  Schwedens  Reisezug, 
größtenteils  Mietskutschen,  die  Ludwig  XIV.  bezahlte,  gab  halb  Europa 
Veranlassung,  die  Wunderwerke  aus  Glas,  vergoldetem  Holz  und 
damastenen  Kissen  zu  preisen. “  A.  v.  Gleichen-Russwurm,  Das 
Galante  Europa  (1911),  143.  Vgl.  mit  den  genannten  Gewährsmännern 
noch  Beckmann,  Beiträge  1,  390  ff. 

9.  Die  Schirmindustrie  gehört  den  Stoffen  nach,  die  sie  ver¬ 
arbeitet,  verschiedenen  Gewerbszweigen  an.  Ihre  Entstehung  fällt  in 
den  Anfang  des  17.  Jahrhunderts:  1622  war  der  Regenschirm  in  Paris 
eine  Nouveaute ;  etwas  später  kommt  der  Sonnenschirm  in  Mode.  Um 
die  Mitte  des  Jahrhunderts  bemerkt  ihn  Evelyn  in  Montpellier;  1675 
fällt  er  dem  Philosophen  Locke  auf  einer  Reise  nach  Paris  auf. 
Fournier,  Le  Vieux-neuf  2,  228  ff. 

10.  Die  Lampenindustrie  entwickelt  sich  ebenfalls  seit  dem 
17.  Jahrhundert:  damals  werden  die  ersten  Lampen,  die  Reverberier- 
und  bald  danach  die  Fontainelampen,  erfunden.  Poppe,  234  ff. 

11.  Die  Spiegelglasindustrie  knüpft  an  die  Erfindung  des 
Franzosen  Thevart  an,  Glastafeln  zu  gießen  (Ende  des  17.  Jahrhunderts). 

12.  Die  Porzellanindustrie  ist  in  Europa  wahrscheinlich  nicht 
älter  als  zweihundert  Jahre.  Die  Behauptung,  daß  schon  im  16.  und 
17.  Jahrhundert  Porzellan  in  Europa  fabriziert  worden  sei,  die  Four¬ 
nier,  Le  Vieux-neuf  2,  331  ff.  aufstellt  (um  auch  in  diesem  Falle 
wieder  die  Erfindung  auf  die  Franzosen  zurückzuführen),  scheint  mir 
nicht  bewiesen.  Es  bleibt  also  einstweilen  dabei,  daß  Joh.  Friedr. 
Böttcher  (auch  nicht  Ehrenfried  Walther  v.  Tschirnhaus)  der  Erfinder 
des  Porzellans  ist,  und  daß  in  das  Jahr  1710  die  Gründung  der  ersten 
europäischen  Porzellanmanufaktur  auf  dem  Schlosse  Albrechtsburg  bei 
Meißen  zu  verlegen  ist.  Eine  genaue  Untersuchung  über  die  Anfänge 
der  Porzellanindustrie  in  Europa,  die  auch  auf  die  Frage  nach  der 
Priorität  der  Erfindung  eingeht,  findet  man  bei  Willy  Do  enges, 
Meißner  Porzellan  (1907),  13  ff. 

13.  Die  Tapetenindustrie  befaßte  sich  zunächst  mit  der  Her¬ 
stellung  von  Ledertapeten,  die  schon  im  12.  Jahrhundert  von  den 
Mauren  in  Spanien  gemacht  wurden.  Die  Ledertapetenindustrie  ver¬ 
breitete  sich  seit  dem  15.  Jahrhundert  in  sämtlichen  europäischen 
Ländern;  sie  hatte  während  des  17.  und  18.  Jahrhunderts  in  Deutsch¬ 
land  ihren  Hauptsitz  in  Augsburg.  Die  Kunst,  Papiertapeten  zu 
fertigen,  stammt  aus  China;  sie  kam  wohl  während  des  17.  Jahr¬ 
hunderts  nach  Europa,  wo  nachweislich  seit  dem  18.  Jahrhundert 
Papiertapeten  hergestellt  werden.  Anfangs  bemalte  man  das  Papier 
mit  Hilfe  von  Schablonen,  bis  1760  Reveillon  die  Schablonen-  und 
Patronenmalerei  durch  das  in  der  Kalikodruckerei  angewandte  Druck¬ 
verfahren  ersetzte.  Zu  rechter  Entfaltung  kam  die  Tapetenindustrie 
erst  seit  der  Erfindung  des  endlosen  Papiers  (1799),  da  bis  dahin  die 
Zusammenstückelung  langer  Streifen  aus  viereckigen  Papierbogen  sehr 
mühsam  war.  W.  F.  Exner,  Die  Tapeten-  und  Buntpapierindustrie 
(1869),  16  ff.  Dortselbst  findet  man  weitere  Literatur  angegeben. 


504 


Dritter  Abschnitt:  Die  Technik 


II.  Die  Kriegstechnik 

Eine  besondere  Erwähnung  verdienen  die  Fortschritte,  die 
die  Waffentechnik  in  unserer  Periode  gemacht  hat.  Sie  sind  von 
großer  Bedeutung  nicht  nur  wegen  des  Einflusses,  den  sie  auf 
die  Umgestaltung  der  Betriebsformen  gehabt  haben  (die  Geschütz  - 
und  Gewehrmanufakturen  und  -fabriken  sind,  wie  wir  sehen 
werden,  die  ersten  modernen  gesellschaftlichen  Großbetriebe); 
nicht  nur  wegen  der  belebenden  Wirkung,  die  die  Waffenfabriken 
auf  andere  wichtige  Industriezweige  ausgeübt  hat  (die  Eisen¬ 
gießerei  und  damit  die  gesamte  Eisenerzeugung  erfuhren  ihre 
größte  Förderung  durch  die  Ausbildung  der  Geschütztechnik); 
sondern  jene  Fortschritte  sind  vor  allem  natürlich  auch  von  so 
weittragender  Bedeutung  wegen  der  schwerwiegenden  Folgen, 
die  sie  für  die  ganze  neuere  Staatenbildung  mit  sich  gebracht 
haben. 

Ich  begnüge  mich  damit,  im  folgenden  die  wichtigsten  Er¬ 
findungen  ihrer  Zeitfolge  nach  zusammenzustellen  und  verweise 
für  weitere  Einzelheiten  auf  die  waffengeschichtliche 
Literatur,  von  der  ich  eine  Auswahl  in  meinem  Krieg  und 
Kapitalismus  S.  214  zusammengestellt  habe. 

Die  Erfindung  des  Schießpulvers  und  seine  Ver¬ 
wendung  in  der  Schießtechnik  ist  in  ein  undurchdringliches 
Dunkel  gehüllt,  das,  scheint’s,  um  so  dichter  wird,  je  mehr  sich 
die  Forschung  mit  dem  Problem  beschäftigt.  Man  weiß  jetzt, 
daß  die  Gelehrten  des  13.  Jahrhunderts  —  Roger  Baco  und 
Albertus  Magnus  —  das  Schießpulver  bereits  kennen  und  nimmt 
an,  daß  es  seit  dem  14.  Jahrhundert  auch  in  Europa  zu  Schie߬ 
zwecken  benutzt  worden  ist. 

Im  „Feuerwerksbuch“  (1450)  wird  zuerst  des  gekörnten  Pulvers 
Erwähnung  getan.  Kollergänge  mit  Wasserradbetrieb  zum  leich¬ 
teren  und  sicheren  Mahlen  des  Pulvers  sind  wahrscheinlich  schon 
im  15.,  sicher  Anfang  des  16.  Jahrhunderts  im  Gebrauche :  Birin- 
guccio  (1540)  kennt  sie  bereits. 

Die  Darstellung  des  Pulvers  in  größeren  Mengen  beginnt  aber 
wahrscheinlich  erst  im  16.  Jahrhundert:  bis  dahin  hatte  man 
immer  nur,  wenn  gerade  eine  Fehde  drohte,  von  den  herum¬ 
ziehenden  Feuerwerkern  und  Büchsenmachern  sich  einen  kleinen 
Vorrat  anfertigen  lassen.  Die  erste  Pulvermühle  ist  im  Jahre 
1578  in  Spandau  nachweisbar. 

Die  Anfänge  der  Feuerwaffen  reichen  ebenfalls  in  das 
14.  Jahrhundert  zurück:  damals  kannte  man  und  verwandte  man 


Dreißigstes  Kapitel:  Die  Fortschritte  der  Technik  505 

bereits  Handfeuerwaffen  (das  Feuergewehr  mit  dem  Luntenschloß) 
und  Geschütze  (gegossene  Kanonen). 

Die  Fortschritte  der  Handfeuerwaffen  werden  durch  folgende 
Erfindungen  bezeichnet:  1515  das  deutsche  Kadschloß;  Mitte  des 
16.  Jahrhunderts:  gezogene  Köhren;  im  Verlauf  des  16.  Jahr¬ 
hunderts:  die  Muskete,  deren  Gewicht  Gustav  Adolf  (1626)  auf 
5  kg  herabmindert;  zwischen  1630  und  1640:  das  Feuerstein¬ 
oder  sog.  französische  Schloß;  um  dieselbe  Zeit  das  Bajonett. 

Die  Geschütztechnik  entwickelt  sich  in  folgenden  Etappen: 
1471  führt  Ludwig  XI.  an  Stelle  der  Steinkugeln  die  eisernen 
Kugeln  ein;  das  16.  Jahrhundert  bringt:  die  Verbesserung  der 
Laffetten;  die  Hinterladekanonen;  die  gegossene  Kanonenkugel; 
die  mit  Pulver  gefüllten  Bomben  (Granaten)  (deren  erste  1588 
in  die  Stadt  Wachtendonk  geworfen  sein  soll);  den  gezogenen 
Geschützlauf  (von  dem  die  erste  Nachricht  aus  dem  Jahre  1591 
stammt);  1627  erste  Verwendung  zylindrischer  Granaten;  1692 
wird  das  Schießen  mit  Granaten  aus  Kanonen  erfunden;  seit 
Mitte  des  18.  Jahrhunderts  werden  die  Kanonenrohre  voll  ge¬ 
gossen  (1740  horizontale  Bohrmaschine  des  Genfer  Maritz). 

Von  nicht  unerheblicher  Bedeutung  für  einzelne  Zweige  der 
gewerblichen  Produktion  war  auch  die  Änderung,  welche  seit 
dem  Aufkommen  der  Feuerwaffen  die  Technik  des  Festungs¬ 
baues  erfuhr. 

IH.  Die  Meß-  und  Orientierungstechnik 

Wiederum  stehen  wir  vor  technischen  Ereignissen,  deren 
Eintritt  wir  als  unerläßliche  Bedingung  für  die  Erfüllung  des 
kapitalistischen  Wirtschaftssystems  betrachten  müssen,  wenn  wir 
der  epochalen  Erfindungen  gedenken,  die  seit  dem  Ausgang  des 
Mittelalters  bis  zum  Ende  unserer  Periode  auf  dem  Gebiete  der 
Meßtechnik  gemacht  worden  sind. 

Von  den  drei  Grundeinheiten,  die  wir  messen:  Länge,  Zeit 
und  Masse,  kommen  hier  nur  die  beiden  ersten  in  Betracht.  Nicht 
als  sei  die  Gewichtsbestimmung  nicht  ebenfalls  von  größter 
Wichtigkeit  für  die  Ausgestaltung  des  Wirtschaftslebens  wie  des 
Kulturlebens  überhaupt:  aber  in  dem  Zeitraum,  den  wir  über¬ 
blicken,  sind  im  Bereiche  der  Wägetechnik  keine  irgendwie  be¬ 
deutsamen  Erfindungen  gemacht  worden.  Die  Wage  in  ihren 
beiden  Formen,  als  Feder-  und  Hebelwage,  ist  uralt.  Und  die 
Verfeinerungen  des  Wägemechanismus,  die  zur  chemischen  Wage 
oder  zur  Präzisionswage  führen,  fallen  in  eine  spätere  Zeit.  Sie 


506 


Dritter  Abschnitt:  Die  Technik 


gehören  wieder  zu  denjenigen  Erfindungen,  die  den  Übergang 
zum  Hochkapitalismus  vorbereiten,  insbesondere  auch  dadurch, 
daß  sie  die  moderne  Chemie  möglich  machen. 

Dagegen  weist  die  Technik  sowohl  der  Zeit-  wie  der  Längen¬ 
messung  sehr  bedeutende  Fortschritte  gerade  in  den  Jahr¬ 
hunderten  auf,  mit  denen  wir  uns  beschäftigen. 

Instrumente  zur  Zeitmessung  nennen  wir  Uhren1. 
Das  Altertum  kannte  Sonnen-  und  Wasseruhren  (zum  Teil  recht 
kunstvoll),  das  Mittelalter  (seit  Beginn  des  11.  Jahrhunderts  in 
den  Klöstern,  diesen  Pflanzschulen  der  rationalen  Lebensführung, 
zumeist  als  Nacht-  und  Weckuhren)  Räderuhren.  Die  Uhren  in 
ihrer  heutigen  Gestalt  sind  aber  ein  Werk  des  15.,  16.  und  17.  Jahr¬ 
hunderts.  Das  Jahr  1500  bringt  die  Erfindung  der  Taschenuhr 
durch  Peter  Hele,  das  heißt  des  auf  dem  Prinzip  der  Elastizität 
bestimmter  Körper  aufgebauten  Zeitmessers:  die  Federuhr2,  die 
im  Laufe  der  nächsten  Jahrhunderte  noch  wesentlich  vervoll¬ 
kommnet  wird: 'Anfang-  des  17.  Jahrhunderts  die  Schnecke,  die 
den  ungleichen  Zug  der  Feder  korrigieren  muß;  1674  Spiral¬ 
feder;  1680  Ankerhemmung,  um  dieselbe  Zeit  Zylinderhemmung, 
Äquationsuhr ,  Repetieruhr;  Anfang  des  18.  Jahrhunderts:  Uhr 
mit  tragbarem  Sekundenzeiger. 

In  die  Mitte  des  17.  Jahrhunderts  fällt  die  Erfindung  der 
zweiten  Gattung  von  Uhren,  derjenigen,  die  eine  völlig  fehler¬ 
freie  Zeitbestimmung  erst  möglich  gemacht  haben:  der  Pendel¬ 
uhr.  Man  nimmt  an,  daß  sie  Galilei  1641  schon  erfunden,  aber 
aus  Angst  vor  Verfolgungen  nicht  bekannt  gegeben  habe,  während 
die  Erfindung  dann  unabhängig  von  Galilei  1656  (1657)  durch 
Huygens  noch  einmal  und  zu  praktischem  Ende  gemacht 
worden  ist. 

Die  Bedeutung  der  exakten  Zeitmessung  liegt  zum  Teil 
darin,  daß  durch  sie  erst  die  Güterproduktion  wie  der  Transport 

1  Über  die  Geschichte  der  Uhren  bringt  viel  Material  bei :  Beck¬ 
mann,  Gesch.  der  Erfind.  1,  149  ff.  301  ff.;  2,  465  ff.  Aus  der  neueren 
Literatur  eignen  sich  zur  Einführung:  Saunier -Speck  har  dt,  Ge¬ 
schichte  der  Zeitmeßkunst.  1902.  Ernst  ßassermann- Jordan, 
Die  Geschichte  der  Räderuhren.  1907.  Zwar  unter  vorwiegend  kunst¬ 
historischem  Gesichtspunkt  geschrieben,  doch  auch  wertvoll  für  die 
Geschichte  der  Technik. 

2  Nach  neueren  Forschungen  hat  es  Federuhren  als  Tischuhren 
schon  im  15.  Jahrhundert  gegeben:  die  Standuhr  Philipps  d.  G.  von 
Burgund  war  wahrscheinlich  eine  Federuhr:  Bass  ermann,  a.  a.  O. 
S.  26  f. 


Dreißigstes  Kapitel:  Die  Fortschritte  der  Technik  5^7 

einen  höheren  Grad  der  Genauigkeit  und  Zuverlässigkeit  er¬ 
reichen,  vor  allem  aber  in  dem  Einfluß,  den  die  genaue  Zeit¬ 
bestimmung  auf  das  Behaben  der  wirtschaftenden  Menschen  aus¬ 
übt,  dessen  Rationalisierung  umgekehrt  an  der  fortschreitenden 
Verwendung  von  Uhren  gemessen  werden  kann1. 

AVenn  ich  auch  die  Fortschritte  auf  dem  Gebiete  der 
Längenmessung,  die  in  unsere  Periode  fallen 2,  für  ausschlag¬ 
gebend  wichtig  ansehe,  so  erklärt  sich  das  dadurch,  daß  ich  den 
Begriff  der  Längenmessung  etwas  weiter  fasse  und  darunter  auch 
die  Ortsbestimmung  mit  verstehe,  deren  Technik  vor  allem  in 
diesen  Jahrhunderten  von  Grund  aus  umgewälzt  wurde.  Man 
sieht,  was  ich  meine:  erst  die  Möglichkeit,  sich  an  jeder  Stelle 
der  Erde  rasch  und  sicher  orientieren  zu  können,  erschloß  den 
Erdball  den  Menschen:  erst  die  Möglichkeit,  ins  offene  Meer 
hinauszufahren,  bahnte  ihnen  den  Weg  nach  Amerika  und  den 
Seeweg  nach  Indien. 

Die  Erfindung  des  Kompasses  verliert  sich  ähnlich  wie  die 
des  Pulvers  in  das  Dunkel  des  Mittelalters.  Man  will  die  erste 
schriftliche  Nachricht  von  der  Verwendung  des  Kompasses  in 
Europa  in  den  Schriften  des  Engländers  Alexander  Neckam  (um 
1195)  finden.  Die  Wasserbussole,  in  deren  Form  der  Kompaß 
zunächst  erscheint,  beschreibt  ausführlich  im  Jahre  1205  der 
Minnesänger  Guiot.  Auch  wird  in  den  Schriften  des  13.  Jahr¬ 
hunderts  auch  sonst  der  Kompaß  häufig  erwähnt.  Lange  Zeit 
galt  bekanntlich  Flavio  di  Gioia  in  Arnalfi  als  der  Erfinder  des 
Kompasses,  und  seine  Erfindung  wurde  in  das  Jahr  1305  verlegt. 
Die  „Gioia-Sage“  ist  durch  die  neueren  Forschungen  zerstört3. 
Ihre  Entstehung  beweist  aber  doch,  daß  die  allgemeine  Ver¬ 
wendung  des  Kompasses  nicht  hinter  das  14.  Jahrhundert  zu 
verlegen  ist.  Ja,  andere  Anzeichen  sprechen  dafür,  daß  er  erst 
sehr  viel  später  sich  eingebürgert  hat:  noch  1499  erwähnt  ihn 
Polydorius  Vergilius  in  seinem  Buch  der  Erfindungen  überhaupt 
nicht;  1560  nennt  ihn  Cardio  die  Krone  aller  Erfindungen  usw. 

1  Siehe  meinen  Bourgeois,  421.  Vgl.  auch  im  2.  Bande  dieses 
Werkes  das  Kapitel,  das  von  der  Entstehung  der  kapitalistischen 
Unternehmung  handelt.  Dort  gebe  ich  auch  einen  Überblick  über  die 
Geschichte  des  Aufkommens  der  Uhren  und  ihre  Verbreitung. 

2  Erst  der  folgenden  Periode  gehört  die  seit  dem  17.  Jahrhundert 
sich  entwickelnde  metrische  Messung  an:  L.  Gr ummacher,  Maß 
und  Messen,  im  Buch  der  Erfindungen  2,  195  ff. 

3  Feldhaus,  Ruhmesblätter,  431  ff. 


508 


Dritter  Abschnitt:  Die  Technik 


Jedenfalls  bringt  erst  das  16.  Jahrhundert  die  entscheidenden 
Fortschritte  vor  allem  auch  in  der  Nutzung  des  Kompasses.  Am 
13.  September  1492  trägt  Chr.  Columbus  die  erste  Beobachtung 
der  Deklination  in  sein  Schiffsbuch  ein;  1510  beobachtet  die 
Deklination  zum  ersten  Male  auf  dem  Lande  Georg  Hartmann 
aus  Nürnberg.  Weitere  Vervollkommnungen  in  der  Bestimmung 
der  Deklination  fallen  in  die  Jahre  1525,  1538,  1585  usw.  1544 
entdeckt  Georg  Hartmann  die  Inklination,  die  1576  zum  ersten 
Male  genau  beobachtet  wird  durch  den  Nautiker  Bob.  Norman. 
Wichtig  für  die  Nutzung  des  Kompasses  ist  die  Erfindung  des 
Cardanischen  Gelenks  (1545). 

Neben  dem  Kompaß  sind  die  Instrumente  zur  Ortsbestimmung 
auf  dem  Meere  unentbehrlich  für  eine  ungehinderte  und  sichere 
Befahrung  des  Ozeans.  Ihre  Erfindung  (die  Vasco  de  Gamas 
und  Colons  Reisen  erst  möglich  machte)  fällt  in  die  letzten  Jahr¬ 
zehnte  des  15.  Jahrhunderts  (wenn  man  den  angeblich  1325  von 
Levi  ben  Gerson  erfundenen  „Jacobsstab“,  der  auch  schon  zu 
geographischen  Ortsbestimmungen  auf  See  diente,  als  unvoll¬ 
kommen  außer  Betracht  läßt):  Im  Jahre  1473  verfaßt  Abrah. 
Zacuto  seine  astronomischen  Tabellen  und  Tafeln  (Almanach 
perpetuum),  auf  Grund  deren  Jose  Vecinho  und  der  Mathematiker 
Moses  im  Verein  mit  zwei  christlichen  Kollegen  das  Astrolabium 
erfinden :  das  Instrument,  mit  dessen  Hilfe  man  aus  dem  Stande 
der  Sonne  die  Entfernung  des  Schiffes  bestimmen  kann  b 

Lange  hat  dann  das  entsprechende  Instrument  zur  Bestimmung 
bzw.  Messung  der  geographischen  Länge  auf  sich  warten  lassen: 
seine  Erfindung  wurde  mit  wahrer  Inbrunst  herbeigesehnt: 
Akademien  und  Regierungen  setzten  im  17.  Jahrhundert  Preise 
aus  für  die  glückliche  Lösung  des  Problems. 

Nach  vielen  vergeblichen  Experimenten  wird  1714  in  England 
durch  das  Parlament  auf  Isaac  Newtons  und  Dr.  Halleys  Gutachten 
hin  ein  Preisausschreiben  erlassen:  for  the  discover  of  the  longitude, 
wenn  er  die  Länge  bis  auf  1°  bestimmen  kann  10  000  wenn  bis 
auf 1  2la°  15  000  wenn  bis  V20  20  00T)  jgk  Bei  Anderson,  Orig. 

1  An  dieser  wichtigen  Erfindung  sind,  wie  aus  der  Darstellung 
schon  hervorgeht,  mehrere  Juden  beteiligt.  Die  jüdischen  Geschichts¬ 

schreiber  wachen  infolgedessen  mit  Eifersucht  darauf,  daß  der  Anteil 
ihrer  Stammesgenossen  an  diesem  Erfindungswerk  nicht  geschmälert 
werde:  siehe  z.  B.  Graetz,  Gesch.  d.  Juden  8,  361,  der  die  Quellen 
zusammenstellt  und  gegen  Al.  von  Humboldt  polemisiert,  der  im 
Kosmos  (2,  296)  die  Anlegung  der  astronomischen  Tafeln  und  die 
Verbesserung  des  Astrolabs  dem  Martin  von  Behaim  allein  zuschreibt. 


Dreißigstes  Kapitel:  Die  Fortschritte  der  Technik 


509 


3,  59.  Erst  im  Anfang  des  18.  Jahrhunderts  gelang  es  John  Harrison, 
die  sog.  Längenuhr  zu  erfinden,  die  jene  Anforderungen  wenigstens 
theoretisch  erfüllte. 

Den  praktischen  Bedürfnissen  scheint  die  Harrisonsche  Erfindung 
noch  nicht  genügt  zu  haben.  Wenigstens  wiederholt  das  englische 
Parlament  sein  1714  erlassenes  Preisausschreiben  in  den  Jahren  1765, 
1770,  1780,  1781.  1765  werden  1000  %  Vorschuß  einem  Mr  Witchel 
gegeben,  der  eine  Seekarte  und  Längenbestimmungsmethode  .vorlegt: 
um  sie  in  die  Praxis  zu  übertragen.  Anderson,  Orig.  4,  71. 

Endlich  rüsten  wir  den  Seefahrer  noch  mit  einem  Fernrohr 
aus,  das  seine  Ausstattung  erst  vollständig  macht:  seine  Erfindung 
wird  jetzt,  nach  den  sorgfältigen  Untersuchungen  des  Professor 
Harting,  in  das  Jahr  1608  verlegt1. 

Auch  die  besten  Instrumente  zur  Ortsbestimmung  nützen  aber 
dem  Schiffer  nichts,  wenn  er  nicht  zuverlässige  Seekarten  besitzt. 
Die  ältesten  Seekarten  sind  die  des  Marino  Sanuto  (1306 — 1324) 
und  des  Pedro  Yesconte  (1318).  Diese  Karten  waren  noch  sog. 
Kompaßkarten  und  infolgedessen  sehr  lückenhaft.  Einen  be¬ 
deutenden  Fortschritt  bedeutete  die  Einführung  der  sog.  Mercator- 
projektion,  die  ihr  Erfinder,  der  berühmte  Kartograph  Mercator 
(1512 — 1594),  zuerst  1569  auf  seiner  großen  Weltkarte  angewandt 
hat.  Ende  des  17.  Jahrhunderts  verfertigt  Halley  die  erste  Karte 
der  Luftströmungen  für  den  Gebrauch  der  Seefahrer;  1665  ver¬ 
zeichnet  der  Jesuit  P.  Athanasius  Kircher  zum  ersten  Male  die 
Meeresströmungen  auf  den  Karten. 

Seit  dem  16.  Jahrhundert  wird  die  Steuermannskunst  zum 
Gegenstand  einer  besonderen  Wissenschaft:  der  ‘Nautik’,  ge¬ 
macht.  1575  erscheint  das  erste  bessere  Werk  über  die  Ozean¬ 
schiffahrt,  der  Itinerario  de  Navegacion  ä  los  mares  y  tierres 
occidentales 2. 

Wie  ersichtlich,  dient  die  vervollkommn eto  Meß-  und  Orien¬ 
tierungstechnik  vor  allem  dem  Verkeim,  der  nun  aber  auch  seine 
besondere  Technik  entwickelt. 


1  N.  Grün mach  im  Buch  der  Erfindungen  2,  384. 

2  Über  diese  Dinge  unterrichten  am  besten  die  Arbeiten  von  E. 

Gelcich:  1.  Studien  zur  Entwicklungsgeschichte  der  Schiffahrt  mit 
besonderer  Berücksichtigung  der  nautischen  Wissenschaften  nebst  einem 
Anhang  über  die  nautische  Literatur  des  16.  und  17.  Jahrh.  usw. 
1882;  2.  Die  Instrumente  und  die  wissenschaftlichen  Hilfsmittel  der 
Nautik  z.  Z.  der  großen  Länder-Entdeckung,  in  der  Hamburger  Fest¬ 
schrift  zur  Erinnerung  an  die  Entdeckung  Amerikas.  Bd.  1.  1892. 

Nr.  2. 


510 


Dritter  Abschnitt:  Die  Technik 


IV.  Die  Transpo  rttechnik 

Es  ist  ein  die  Epoche  des  Frühkapitalismus  be¬ 
sonders  kennzeichnendes  Merkmal,  daß  die  Fort¬ 
schritte  der  Transporttechnik  während  dieses  Zeit¬ 
raums  sehr  gering  sind  und  sich  im  wesentlichen  nur  auf 
eine  einzige  Transportgelegenheit:  die  Binnenwasserstraßen,  be¬ 
ziehen. 

Die  Seeschiffahrt  bleibt  in  den  Grundzügen  unverändert. 
Man  verbesserte  die  Schiffe  in  mancher  Hinsicht :  man  beschlug 
die  Schiffsboden  mit  Kupferplatten  (wichtig  für  die  Entwicklung 
der  Kupferindustrie !),  man  fing  wohl  hier  und  da  an,  die  Taue 
durch  eiserne  Ketten  zu  ersetzen  (seit  sie  im  Jahre  1634  Phil. 
White  eingeführt  hatte);  man  verteilte  Masten  und  Segel  besser; 
die  Schififstypen  vergrößerten  sich :  aber  eine  irgendwelche  grund¬ 
sätzlich  bedeutsame  Wandlung  erfuhren  weder  die  Technik  des 
Schiffsbaues  noch  die  des  Navigierens, 

Die  Landstraßen  wurden,  wie  wir  sahen,  ebenfalls  ver¬ 
bessert;  aber  man  erfand  keine  neue  Straßenbautechnik,  die 
vielmehr  auch  erst  am  Ende  unserer  Epoche  ihre  große  Reform 
erlebte.  Man  verbesserte  die  Wagen,  indem  man  neue  Typen 
schuf:  die  „Kutschen“,  die  Berliner,  die  Journalieren,  die  Turgo- 
tinen,  die  Mail-coaches  u.  a.  Das  bedeutete  wohl  eine  Förderung 
der  Industrien,  wie  wir  ebenfalls  schon  feststellen  konnten,  aber 
auf  die  Gestaltung  des  Transports  übte  es  nur  geringen  Ein¬ 
fluß  aus.  Die  bedeutsamste  Erfindung  auf  dem  Gebiete  der 
Wagenbautechnik  war  wohl  die  Drehbarmachung  der  Vorder¬ 
räder,  die  in  das  16.  oder  17.  Jahrhundert  zu  fallen  scheint. 

Wir  erfahren  von  einer  grundsätzlich  neuen  Form  der  Fort¬ 
bewegung  auf  dem  Lande  mittels  der  sog.  Segel  wagen. 

Bischof  Wilkins  beschreibt  diese  Art  von  Verkehrsmitteln  in  seinem 
Mathematical  Magic,  1648  und  berichtet,  daß  sie  in  Holland  ihren 
größten  Erfolg  errungen  haben.  „Dort  sind  mit  diesen  Wagen  in 
wenigen  Stunden  6 — 10  Personen  auf  Entfernungen  bis  zu  20 — 30 
holländ.  Meilen  befördert  worden,  wobei  der  am  Steuer  sitzende  Steuer¬ 
mann  dem  Fahrzeuge  mit  Leichtigkeit  jede  beliebige  Richtung  geben 
konnte  .  .  .“  Bei  Th.  Beck,  3937. 

Aber  sie  hatten  wohl  nur  eine  ganz  beschränkte,  rein  lokale  Be¬ 
deutung  für  Holland.  In  den  andern  Ländern  würde  ihre  Ver¬ 
breitung  vor  allem  der  schlechte  Zustand  der  Wege  gehindert 
haben. 

Auch  jene  Einrichtung,  die  bestimmt  war,  eine  der  größten 
technischen  Neuerungen  des  Transportwesens  vorzubereiten:  die 


Dreißigstes  Kapitel :  Die  Fortschritte  der  Technik 


511 


Scliienenbahn,  die  wir  zuerst  in  den  Bergwerken  (den  deut¬ 
schen  schon  im  16.,  den  englischen  im  17.  Jahrhundert)  finden, 
kam  für  den  oberirdischen  Verkehr  nur  in  ganz  geringem  Um¬ 
fange  in  Betracht. 

Der  Erfinderwille  konzentrierte  sich  einstweilen  noch  ganz 
auf  das  Verkehrsmittel  der  Binnenwasserstraßen.  Bei  der 
Schwierigkeit  des  Landtransports  war  der  Verkehr,  wie  wir  früher 
sahen,  während  des  Mittelalters,  soweit  es  irgendwie  anging,  auf 
die  Wasserstraßen  übergeführt  worden.  Sie  blieben  auch  während 
des  frühkapitalistischen  Zeitalters  eine  beliebte  Verkehrsbahn,  und 
ihrer  Verbesserung  dienten  die  einzigen  Erfindungen  auf  dem 
Gebiete  der  Transporttechnik,  denen  wir  eine  grundsätzliche 
Bedeutung  zuerkennen  müssen.  Es  waren: 

1.  die  Erfindung  der  Schleusen,  zuerst  der  Stauschleuse, 
dann  der  Kammerschleuse. 

Wann  und  von  wem  diese  Erfindung  gemacht  worden  ist,  hat  man 
bisher  noch  nicht  einwandfrei  feststellen  können.  Nach  den  Verfassern 
der  „4000  Jahre“  läßt  Wilhelm  von  Holland  schon  im  Jahre  1253  den 
ersten  bekannten  Bau  einer  Kammerschleuse  bei  Spaarndam  ausführen. 
Andere  nennen  Leonardo  da  Vinci,  andere  L.  B.  Alberti,  andere  Simon 
Stevin  als  Erfinder.  Einige  sehen  in  der  1489  durch  die  Visconti  er¬ 
bauten,  einige  in  der  1488  am  Brentafluß  bei  Padua  errichteten  die 
erste  Kammerschleuse.  Sicher  ist  nur  soviel,  daß  die  Erfindung  in 
ihrem  vollen  Umfange  am  Ende  des  15.  Jahrhunderts  bekannt  war. 
Dafür  sprechen  die  zahlreichen  Beschreibungen  in  Leonardos 
Werken,  dafür  spricht  eine  Stelle  bei  Stevin,  auf  die  Th.  Beck, 
Beiträge,  317,  hinweist,  wo  er  die  Kammerschleuse  als  eine  Einrichtung 
bezeichnet,  „die  seit  langer  Zeit  in  Gebrauch  ist“.  1617  läßt  sich  ein 
Engländer  ein  Patent  für  verbesserte  Schleusen  erteilen :  siehe  den 
Text  bei  Forbes-Ashford,  69. 

2.  Die  Erfindung  der  Baggermas cliinen. 

W’ir  finden  bei  Leonardo  schon  Beschreibungen  (mit  Abbildungen) 
von  Baggermaschinen,  die  den  unsrigen  ganz  ähnlich  sind,  nur  daß 
sie  mit  der  Hand  angetrieben  werden.  Wir  finden  Baggermaschinen 
bei  Lorini  (geb.  um  1545).  Und  wir  finden  sie  bei  Faust 
Verantius  (Machinae  novae,  etwa  1617).  Dort  heißt  es:  „Man  hat 
mancherlei  Instrumente ,  um  den  Sclilam  und  Sand  von  dem  Boden 
des  Meeres  (!)  zu  schöpfen,  wovon  man  viele  in  Venedig  sieht,  aber 
diese  Instrumente  sind  gar  langsam  und  können  nicht  bei  mehr  als 
6 '  Tiefe  in  den  Grund  eingreifen  (eine  solche  Maschine  beschreibt 
Lorini!),  das  unsrige  aber  kann  füglich  bei  jeder  Tiefe  des  Meeres 
oder  Flusses  gebraucht  werden.“  Bei  Th.  Beck,  527.  In  England 
wird  am  16.  Juli  1618  John  Gilbert  ein  Patent  für  eine  Baggermaschine 
erteilt,  als  ob  die  Erfindung  ganz  neu  wäre;  die  Maschine  wird  wie 
folgt  beschrieben:  „a  water  plough  for  the  taking  upp  of  sand,  gravele, 


512 


Dritter  Abschnitt:  Die  Technik 


shelves,  or  banckes  out  of  tlie  river  of  Tharnes  and  other  haveüs, 
harbours,  rivers  or  waters.“  Pat.  for  Invent.  Spec.  rel.  to  Harbours, 
Docks,  Canals  etc.  1876.  Hier  sind  noch  18  Erfindungen  zur  Ver¬ 
besserung  der  Wasserwege  verzeichnet,  die  während  des  17.  Jahr¬ 
hunderts  als  Patente  in  England  angemeldet  wurden.  Vgl.  auch  Spec. 
rel.  to  Roads  and  ways.  1868. 

Im  Jahre  1634  finden  wir  ein  in  Holland  gekauftes  sog.  Düpeschiff 
in  Hamburg  in  Gebrauch,  dessen  Maschinen  „wahrscheinlich  die  eines 
sog.  Drehe vers“  waren.  Mitteil.  d.  Ver.  f.  Hamb.  Gesell.  13  (1890), 
101.  135. 

Im  Besitze  dieser  beiden  Erfindungen,  deren  erste  vor  allem 
ja  dadurch  bedeutungsvoll  war,  daß  man  nunmehr  zu  Wasser 
auch  über  den  Berg  fahren  konnte,  ging  man  seit  dem  16.  Jahr¬ 
hundert  energisch  an  den  Ausbau  eines  Netzes  von  Binnenwasser¬ 
straßen:  sei  es  daß  man  die  Flußläufe  schiffbar  machte  (indem 
man  sie  entweder  „korrigierte“  oder  „kanalisierte“),  sei  es  daß 
man  künstliche  Wasserstraßen  (Kanäle)  anlegte.  Ich  berichte 
darüber  im  2.  Bande  ausführlich. 

V.  Die  Buchdruckerkunst 

Ihre  Erwähnung  genügt. 


518 


Vierter  Abschnitt ' 

Die  Edelmetallproduktion 

Übersicht 

Es  ist  ein  tragender  Gedanke  dieses  Werkes,  daß  der  moderne 
Kapitalismus  so  wie  er  geworden  ist  nur  werden  konnte,  weil 
der  geschichtliche  „Zufall“  die  Menschen  zu  starken,  reichen 
Lagern  von  Edelmetallen  geführt  hat.  Und  eine  der  Aufgaben, 
die  sich  dieses  Werk  stellt,  ist  diese:  den  Nachweis  zu  führen 
nicht  nur  für  die  Richtigkeit  der  Behauptung,  daß  der  moderne 
Kapitalismus  überhaupt  nicht  da  wäre,  nicht  da  sein  könnte  ohne 
die  Hebung  der  Silber-  und  Goldschätze  Amerikas,  Afrikas  und 
Australiens,  sondern  auch  daß  er  in  seiner  ganzen  Eigenart  be¬ 
stimmt  wird  durch  den  eigentümlichen  Gang  der  Edelmetall¬ 
produktion.  Es  ist  wie  ein  Strom  des  Lebens,  der  von  dem  Golde 
(das  hier  immer  für  Edelmetalle  überhaupt  gesetzt  ist,  wenn  nichts 
Besonderes  bemerkt  wird)  ausgeht  und  dem  Kapitalismus  zur 
Entwicklung  verhiift.  Jedesmal ,  wenn  neue  Goldquellen  auf¬ 
brechen,  reckt  und  streckt  sich  der  Kapitalismus  in  neuem 
Wachstum;  jedesmal,  wenn  der  Strom  des  Goldes  schwächer 
wird,  befällt  den  Kapitalismus  ein  Zustand  der  Mattigkeit;  sein 
Wachstum  stockt,  seine  Kräfte  nehmen  ab. 

So  ist  die  Geschichte  des  modernen  Kapitalismus  (auch !)  die 
Geschichte  der  Edelnaetabproduktion:  die  Namen  Kuttenberg  und 
Goslar,  Schwazund  Joachimstal,  Potosi  und  Guanaxuato,  Brasilien 
und  Guinea,  Kalifornien  und  Australien,  Klondike  und  Witwater- 
strand  bezeichnen  ebensoviele  Etappen  auf  dem  Entwicklungs¬ 
gänge  des  modernen  Kapitalismus.  Die  Launen  der  Edelmetall¬ 
produktion,  die  wie  Liebeslaunen  der  Natur  sind  und  mit  ihrer 
eigenen  Irrationalität  in  so  sonderbarem  Gegensatz  zum  Grund¬ 
gedanken  des  Kapitalismus :  dem  Rationalismus,  stehen :  sie  sind 
es  auch,  die  die  beiden  Hauptepochen  bestimmen,  die  wir  in 
dem  bisherigen  Verlauf  der  kapitalistischen  Entwicklung  unter¬ 
scheiden:  die  frühkapitalistische  und  die  hochkapitalistische:  jene 
fällt  zusammen  mit  dein,  was  man  das  silberne  Zeitalter  des 

Sombart,  Der  moderne  Kapitalismus.  I.  33 


514 


Vierter  Abschnitt:  Die  Edelmetallproduktiou 


Kapitalismus  nennen  könnte,  diese  ist  gleichbedeutend  mit  dessen 
goldenem  Zeitalter.  Denn  Silber  ist  das  edle  Metall,  das  während 
des  ganzen  Mittelalters  und  während  der  ersten  J ahrhunderte 
nach  Erschließung  der  neuen  Welt  überragende  Bedeutung  hat. 
Das  Gold,  das  im  13.  Jahrhundert  auf  kurze  Zeit  hervorgeleuchtet 
war,  tritt  dann  erst  mit  der  Entdeckung  der  brasilianischen  Gold¬ 
felder  bestimmend  in  die  Wirtschaftsgeschichte  ein.  Das  brasilia¬ 
nische  und  das  afrikanische  Gold  leiten  das  goldene  Zeitalter 
des  Kapitalismus  ein,  sind  aber  nicht  mächtig  genug,  den  Hoch¬ 
kapitalismus  zur  Entfaltung  zu  bringen.  Dazu  bedurfte  es  der 
neuen,  ungewöhnlich  starken  Ströme,  die  sich  von  den  kalifor¬ 
nischen  und  australischen  Goldfeldern  her  um  die  Mitte  des 
19.  Jahrhunderts  ergossen. 

Das  alles  soll  die  folgende  Darstellung  erweisen.  Damit  sie 
aber  diese  Aufgabe  befriedigend  zu  lösen  vermag,  ist  es  not¬ 
wendig,  zuvor  Einsicht  in  den  Verlauf  und  die  Bedingungen  der 
Edelmetallproduktion  selbst  zu  gewinnen,  die  eben  für  die  ver¬ 
schiedenen  Entwicklungsreihen  des  Kapitalismus  von  Bedeutung 
ist,  weshalb  sie  zu  den  selbständigen  „Grundlagen“  des  kapitali¬ 
stischen  Wirtschaftssystems  gehört.  Es  empfiehlt  sich  also  aus 
Gründen  des  logischen  Aufbaus  dieses  Werkes,  alle  auf  die  Edel¬ 
metalle  bezüglichen  Erörterungen  vorwegzunehmen  und  ihnen 
eine  besondere  Darstellung  zu  widmen.  In  diesem  Abschnitt 
werde  ich  demnach  in  ebenso  viel  Kapiteln  abhandeln: 

1.  den  Gang  der  Edelmetallproduktion  und  der  Edelmetall¬ 
bewegung  ; 

2.  das  System  der  Wirkungen,  die  die  Gestaltung  der  Edel¬ 
metallproduktion  auf  das  Kultur-  und  Wirtschaftsleben  im' 
allgemeinen  auszuüben  vermag; 

3.  den  Zusammenhang  zwischen  Edelmetallproduktion  und 
Preisbildung  im  besonderen,  sowohl  theoretisch  als  em¬ 
pirisch-geschichtlich. 

Die  Darstellung  wird  im  wesentlichen  den  Zeitraum  von  etwa 
1250  bis  1850,  also  die  frühkapitalistische  Epoche  im  weitesten 
Sinne  umfassen.  Nur  in  dem  Überblick  über  den  Gang  der 
Edelmetallproduktion  greife  ich  noch  weiter  zurück,  um  die 
großen  historischen  Zusammenhänge  herzustellen. 


615 


Einunddreifsigstes  Kapitel 

Der  Gang  der  Edelmetallprodxiktion  und  der 
Edelmetallbewegung 

Vorbemerkung.  Literatur 

Eine  leidlich  zuverlässige  Statistik  der  Edelmetallproduktion  und 
Edelmetallbewegung  besitzen  wir  erst  für  die  Zeit  nach  1493.  Für 
das  Mittelalter  zitfernmäßige  Angaben  zu  machen  ist  dagegen  sehr 
gewagt  und  unterbleibt  besser.  Die  Zwecke  dieser  Darstellung  heischen 
aber  auch  gar  nicht  unbedingt  eine  genaue  zahlenmäßige  Erfassung 
der  absolut  erzeugten  oder  bewegten  Edelmetallmenge.  Worauf  es 
uns  vielmehr  vor  allem  ankommt,  ist:  zu  erfahren:  ob  in  einem  Zeit¬ 
raum  der  Bestand  der  Edelmetalle  in  Westeuropa  (denn  von  hier  aus 
stellen  wir  die  Betrachtung  an)  sich  (rasch  oder  langsam)  vermehrt 
oder  vermindert  hat  oder  stabil  geblieben  ist.  Das  können  wir  auch 
mit  einiger  Sicherheit  feststellen,  selbst  wenn  wir  die  absoluten  Be¬ 
träge  der  Edelmetallproduktion  und  Edelmetallbewegung  nicht  kennen : 
auf  Grund  sei  es  der  allgemeinen  Produktionsgeschichte  oder  aus 
sicheren  Symptomen  verschiedener  Art. 

Entsprechend  unserm  Interesse :  vor  allem  die  Bewegung  des  Edel-  • 
metallvorrats  kennen  zu  lernen,  habe  ich  auch  —  entgegen  der  sonst 
beliebten  Periodenbildung  —  die  verschiedenen  Epochen  unterschieden 
in  solche,  in  denen  wir  eine  Vermehrung  oder  eine  Verminderung  oder 
ein  Sichgleichbleiben  des  Edelmetall  Vorrats  in  Westeuropa  wahrnehmen. 

Zusammenfassende  Darstellungen,  in  denen  die  Geschichte  der  Edel¬ 
metalle  für  den  ganzen  von  uns  in  Betracht  gezogenen  Zeitraum  ent¬ 
halten  wäre,  besitzen  wir  aus  neuerer  Zeit  keine,  die  das  trotz  seiner 
großen  Mängel  verdienstvolle  Werk  von  William  Jacob,  Historical 
Inquiry  into  the  Production  and  consumption  of  Precious  Metals. 

2  Vol.  1831  (deutsch  mit  Zusätzen  von  C.  Th.  Kleinschrod  1838) 
zu  ersetzen  vermöchten.  Denn  die  Werke  Del  Mars  (History  of  the 
Precious  Metals.  1880,  2.  ed.  1902,  und  Money  and  Civilization.  1886), 
so  dankenswert  und  anregend  sie  sind,  fußen  doch  —  namentlich  für 
die  ältere  Zeit  —  fast  durchgekends  auf  den  Angaben  Jacobs.  Glück¬ 
licherweise  sind  wir  über  den  Edelmetallbergbau  Deutschlands  und 
Österreichs  während  des  Mittelalters,  dem  gegenüber  Jacob  und  Del 
Mar  völlig  versagen,  durch  eine  große  Reihe  gründlicher  Arbeiten 
in  den  letzten  Jahrzehnten  gut  unterrichtet  worden,  so  daß  wir  jetzt, 
da  ja  Deutschland  und  Österreich  für  die  Versorgung  mit  Edelmetallen 
vor  der  Entdeckung  Amerikas  fast  ausschließlich  in  Betracht  kommen 
(wenn  wir  auf  ziffernmäßige  Erfassung  der  Mengen  verzichten),  ein 
ganz  klares  Bild  von  dem  Gang  der  Edelmetallproduktion  auch  vor 
1493  uns  machen  können. 


33* 


Vierter  Abschnitt:  Die  Edelmetallproduktion 

Mit  dem  Jahre  1493  setzt  dann,  wie  gesagt,  eine  bessere  Statistik 
ein.  Für  sie  haben  die  Grundlage  gelegt  die  Mitteilungen  Alex, 
v.  Humboldts  in  seinem  Essai  sur  la  Nouvelle  Espagne.  Das  ge¬ 
samte  Zahlenmaterial  für  die  Zeit  nach  1493  ist  dann  in  mustergültigen 
Weise  zusammengestellt  von  Ad.  Soetbeer  in  seiner  Studie;  Edel¬ 
metall-Produktion  und  Wertverhältniß  zwischen  Gold  und  Silber  seit 
der  Entdeckung  Amerikas  bis  zur  Gegenwart,  im  57.  Ergänzungsheft 
zu  Petermanns  Mitteilungen.  1879.  Die  „Gegenwart“  ist  das  Jahr 
1875.  Über  die  Fortsetzungen  der  So etbe ersehen  Arbeiten  spreche 
ich  dann  an  anderer  Stelle,  wo  ich  die  neue  Zeit  behandele. 

Soetbeer s  Ziffern  haben  autoritative  Geltung  erlangt,  die  sie 
zweifellos  auch  verdienen.  Einige  Korrekturen,  die  aber  die  Ergebnisse 
S.s  nicht  wesentlich  verändern,  enthält  die  ausgezeichnete  Studie  von 
W.  Lexis,  Beiträge  zur  Statistik  der  Edelmetalle  nebst  einigen  Be¬ 
merkungen  über  die  Wertrelation,  in  den  Jahrb.  f.  Nat.ök.  Bd.  34 
S.  361—417-  Lexis  rechnet  einen  etwas  geringeren  Betrag  für  die 
mexikanische  und  südamerikanische  Edelmetallproduktion  heraus, 
nämlich  in  dem  Zeitraum  von  1493—1800  2  420  000  kg  Gold, 

90  200  000  kg  Silber,  während  bei  Soetbeer  bezugsweise  2  490  000 
und  101  400  000  kg  sich  ergeben.  Diese  höhere  Abschätzung  ist  da¬ 
durch  entstanden,  daß  S.  für  die  eigentliche  peruanische  Silberbeute 
mehr  rechnet.  Daß  die  Ziffern  in  ihrem  wesentlichen  Bestände  richtig 
sind,  dafür  bürgt  die  Quelle,  aus  der  sie  stammen:  für  die  spanischen 
Kolonien  die  Versendungslisten  des  Quinto.  Natürlich  haben  die  Gesamt¬ 
ziffern,  auf  Grundlage  dieser  authentischen  Angaben  errechnet,  „ab¬ 
geschätzt“  werden  müssen,  was  aber  in  durchaus  einwandfreier  Weise 
von  den  beiden  genannten  Forschern  geschehen  ist.  Daß  Abweichungen 
dabei  möglich  sind,  ergeben  die  verschiedenen  Ziffern  bei  Soetbeer 
oder  Lexis.  Daß  aber  diese  beiden  Gelehrten  übereinstimmend  un¬ 
sinnige  Zahlen  herausgerechnet  haben  sollten ,  würde  schon  ihre  all¬ 
bekannte  Akribie  unglaubwürdig  erscheinen  lassen,  auch  wenn  nicht 
das  eigene  Urteil  nachprüfend  ihnen  recht  geben  müßte. 

Und  doch  würden  die  Soetbeer -  Lexis  sehen  Zahlen  schlechthin 
unsinnig  sein,  wenn  ein  neuerer  spanischer  Autor,  den  S  up  an,  a.  a.  O. 
S.  41  zitiert,  recht  hätte.  Dieser  (F.  de  Laiglesia,  Los  caudales 
de  Indias  en  la  primera  mitad  del  siglo  XVI,  Madrid  1904)  kommt, 
gestützt  „auf  die  Rechnungsbücher  der  spanischen  Kroneinnahmen  in 
Amerika“  (Indienarchiv  Sevilla)  zu  folgenden  Produktionsziffern ; 


1509—14: 

995  925 

Pesetas 

1516—23: 

624210 

1525: 

2121460 

» 

1526—29: 

943152 

n 

1530—40: 

3110  896 

jj 

1541—46: 

2  419  840 

1547—50: 

1225  312 

1551—55: 

10145  760 

1509—55: 

21  559  555 

Pesetas ; 

das  sind  17  277  244  Mk.  h.  \V. 


Einunddreißigstes  Kapitel:  Gang  d.  Edelmetallproduktion  u.  -bewegung  517 

Demgegenüber  nimmt  Soetbeer  an  eine  durchschnittliche  Jahres¬ 
produktion,  wie  wir  sehen  werden: 

1521 — 44  von  90200  kg 
1545—60  „  311600  „ 

das  heißt  also  eine  Gesamtproduktion  von  annähernd  1  Milliarde  Mk. 
in  dieser  Periode,  gegenüber  17  Millionen  Mk.  des  spanischen  Autors. 
Eine  dieser  beiden  Ziffern  ist  natürlich  irrsinnig;  ich  glaube,  es  ist 
die  zuletzt  genannte.  Man  braucht,  um  das  einzusehen,  nur  etwa 
folgende  Ziffer  zum  Vergleich  heranzuziehen:  das  Bergwerk  Annaberg 
in  Sachsen  erzeugte  in  der  Mitte  des  16.  Jahrhunderts  (nach  ganz 
zuverlässigen  Angaben)  rund  40  000  Pfund  Silber  im  Jahre,  das  sind 
also  rund  4  000  000  Mk.  h.  W.,  in  etwa  vier  Jahren  also  soviel  wie 
sämtliche  amerikanische  Minen  in  den  ergiebigsten  Jahren  während 
einer  Periode  von  46  Jahren  nach  Ansicht  des  Herrn  Laiglesia  er¬ 
zeugt  haben  sollen! 

Welchen  Unsinn  der  spanische  Autor  begangen  hat,  vermag  ich 
nicht  zu  sagen ,  da  ich  seines  Buches  nicht  habhaft  werden  kann. 
Vielleicht  hat  er  Pesos  mit  Pesetas  verwechselt,  hat  den  Quinto  für 
die  Gesamtausbeute  gehalten  und  hat  nur  die  Ziffern  einer  Münzstätte 
berücksichtigt. 

Wenn  Supan  a.  o.  O.  meint,  der  Unterschied  der  beiden  Ziffern 
(der  des  Laiglesias  und  der  Soetbeerschen)  sei  „sehr  beträchtlich“ : 
nämlich  17  Mill.  Mk.  gegen  73  Milk  Mk.,  so  passiert  ihm  das  Ver¬ 
sehen,  daß  er  die  S  o  e  tb  e  er  sehen  Ziffern  für  die  Gesamtsumme  hält, 
während  es  die  Jahresdurchschnitte  sind;  der  Unterschied  ist 
also,  wie  wir  sehen,  noch  „beträchtlicher“:  17  Millionen  zu  1000 
Millionen !  Danach  sind  auch  die  Irrtümer  bei  J.  Strieder,  Studien 
z.  Gesch.  d.  kapital.  Organisationsformen  (1914),  zu  berichtigen. 

Erste  Periode:  Venn  Niedergang  des  römischen  Beichs  bis  ins 

8.  Jahrhundert 

In  der  römisclien  Kaiserzeit  hatte  sich  ein  großer  Vorrat  von 
Edelmetall  in  dem  Mittelpunkte  des  Weltreichs  angesammelt. 
Viel  war  im  Laufe  der  Jahrhunderte  durch  Eroberung  und 
Plünderung  gewonnen :  man  denke  an  die  Siege  über  Antiochus, 
an  die  Beute  des  Aetolischen  Krieges ,  an  Mummius  Raub  in 
Korinth,  an  Sullas  Plünderung  in  Griechenland,  an  Verres 
Plünderung  in  Sizilien  u.  a. 

Noch  mehr  aber  hatte  wohl  die  unausgesetzte  Neugewinnung 
hinzugetan:  Rom  hatte  allmählich  fast  alle  Bergwerke  der  be¬ 
rühmten  Völker  der  Vorzeit  in  seinen  Besitz  gebracht:  in  Dacien, 
Illyrien,  Dalmatien,  Thracien  und  vor  allem  in  Spanien,  dessen 
Silbergruben  und  Goldfelder  ja  wohl  das  heißest  umstrittene 
Kampfesstück  in  den  punischen  Kriegen  gebildet  hatten.  Wenn 
die  Schätzungen,  die  Lexis  anstellt,  richtig  sind,  so  betrug  der 


518 


Vierter  Abschnitt:  Die  Edelmetall  Produktion 


Vorrat  an  Edelmetallen  im  römischen  .Reich  zu  Beginn  unserer 
Zeitrechnung  etwa  10  Milliarden  Mk.  h.  W. :  zu  annähernd 
gleichen  Teilen  Gold  und  Silber. 

Von  diesem  Reichtum  nun  geht  schon  in  den  letzten  Jahr¬ 
hunderten  der  Römerherrschaft,  noch  mehr  aber  in  dem  darauf¬ 
folgenden  Zeitraum  der  größte  Teil  "Westeuropa  verloren. 

Zunächst  verminderte  sich  seit  der  Zeit  Konstantins  d.  Gr. 
die  Zufuhr  an  neuem  Material  aus  den  Goldwäschen  und  Berg¬ 
werken  immer  mehr1:  ob  wegen  der  verminderten  Zufuhr  der 
Sklaven  oder  infolge  der  Erschöpfung  der  Lager,  bleibt  ungewiß. 

In  den  folgenden  Jahrhunderten  hörte  sie  dann  ganz  auf,  als 
die  Barbaren  Besitz  vom  römischen  Reiche  nahmen.  In  Spanien, 
der  wichtigsten  Produktionsstätte  jener  Zeit,  finden  wir  noch 
413  einen  Comes  metalli,  der  die  Leitung  des  Bergwesens  aus¬ 
übte.  Bald  danach  aber  ward  der  Betrieb  ganz  eingestellt  sein. 

Der  vorhandene  Vorrat  aber  verringerte  sich  rasch:  nicht 
sowohl  durch  seinen  natürlichen  Untergang,  als  vielmehr  dadurch, 
daß  er  nach  dem  Osten,  sei  es  in  das  Kalifenreich  (auf  dem 
Wege  des  freilich  sehr  geringen  Handels),  sei  es  (vor  allem!) 
nach  Byzanz  abströmte :  namentlich  wohl  in  Gestalt  von  Steuern 
und  Abgaben.  Wir  dürfen  annehmen,  daß  im  8.  Jahrhundert  der 
Tiefstand  dieser  Bewegung  erreicht,  daß  damals,  das  heißt  also 
in  jener  Zeit,  in  der  die  westeuropäische  Wirtschaftsgeschichte, 
wie  ich  an  anderer  Stelle  nachzuweisen  versucht  habe,  ihren 
Anfang  nimmt,  Westeuropa  bis  auf  wenige  Reste  von  Edel¬ 
metallen  entblößt  war,  daß  insbesondere  das  Edelmetall  in  Gestalt 
des  Geldes  verschwindend  wenig  geworden  war2. 

Zweite  Periode:  Vom  8.  Jahrhundert  bis  gegen  Ende  des  13.  Jahr¬ 
hunderts 

Das  ist  eine  Zeit,  in  der  sich  der  Vorrat  an  Edelmetall  in 
Westeuropa  erst  langsam,  dann  —  in  den  letzten  beiden  Jahr¬ 
hunderten  —  rascher  wieder  vermehrt. 

Die  ersten  Minen,  die  der  Nutzung  in  größerem  Umfange 
wieder  zugänglich  gemacht  wurden,  sind  wohl  die  spanischen 
gewesen.  Wenigstens  soweit  sie  arabischer  Herrschaft  unter¬ 
worfen  wurden.  Die  reichen  Goldwäschereien  von  Leon  freilich, 

1  v.  Ungern- Sternberg,  Geschichte  des  Goldes  (1835),  23. 

2  Siehe  die  wenigen  Quellenbelege  bei  Soetbeer,  in  den  For¬ 
schungen  zur  deutschen  Geschichte,  namentlich  im  6.  Bande,  und  vgl. 
Hanauer,  Etudes  1,  177,  und  Inama,  DWG.  1,  465, 


Einunddreißigstes  Kapitel:  Gang  d.  Edelmetallproduktion  u.  -bewegung  519 

das  ja  in  den  Händen  der  „Barbaren“  verblieb,  wurden  erst 
später  von  neuem  in  Betrieb  gesetzt.  Dagegen  erfahren  wir,  daß 
dort,  wo  die  Araber  sich  niedergelassen  hatten:  also  in  Anda¬ 
lusien,  Jaen  usw. ,  bald  nach  ihrer  Ankunft  die  Edelmetall- 
gewinnung  wieder  aufgenommen  wurde  k  Daß  sie  eine  beträcht¬ 
liche  Ausbeute  lieferte,  ersehen  wir  aus  dem  /Reichtum  an  Gold 
und  Silber,  den  wir  bei  den  spanischen  Kalifen  im  9.  und  10. 
Jahrhundert  vorfinden:  die  Jahreseinnahmen  Abderahmans  I. 
sollen  betragen  haben  10000  Unzen  Gold  und  10000  Pfund  Silber; 
diejenigen  Abderahmans  III.  über  100  Millionen  Mk.  h.  W.  Im 
Jahre  938  sandte  dieser  an  den  Kalifen  400  Pfund  reinen  Goldes, 
eine  schwere  Menge  Silber  in  Barren,  30  goldgestickte  Gewänder: 
48  Pferdedecken  aus  Gold  und  Silber1 2. 

Aber  auch  sonst  in  Westeuropa  belebten  sich  die  alten  Fund¬ 
stätten  der  Edelmetalle  um  jene  Zeit  von  neuem:  in  Böhmen, 
Ungarn,  Siebenbürgen  wird  viel  Gold  gewonnen.  Und  dann  folgt 
nun  die  Entdeckung  immer  neuer  Fundstätten,  namentlich  für 
Silber,  Schlag  auf  Schlag:  schon  im  9.  Jahrhundert  im  Elsaß; 
im  10.  Jahrhundert  (urkundlich  seit  1028)  im  Schwarzwalde  und 
im  Harze  (970  Kammelsberg).  Vor  allem  reich  an  neuen  Auf¬ 
schließungen  von  Silbergruben  sind  aber  das  12.  und  13.  Jahr¬ 
hundert:  in  diese  gesegnete  Zeit  fällt  die  Blüte  des  Mansfeld- 
schen,  des  sächsischen  (Ereiberger:  seit  1167),  des  böhmischen 
(Kuttenberger)  und  des  älteren  tiroler  (Trienter)  Silberbergbaus ; 
im  12.  Jahrhundert  sind  aber  auch  Silberminen  abgebaut,  von 
denen  heute  keine  Spuren  mehr  vorhanden  sind:  z.  B.  in  West¬ 
falen3;  in  derselben  Zeit  (im  13.  Jahrhundert)  beginnt  in  der 
Goldberger,  Löwenberger  und  Bunzlauer  Gegend  die  Gold¬ 
gewinnung4,  die  in  Ungarn  größeren  Umfang  annimmt. 

Die  Länder  der  deutschen  Krone  waren  das  Mexiko  und  Peru 
der  Erde  vor  der  Entdeckung  Amerikas.  Aber  auch  in  den  andern 
Ländern  Westeuropas  regte  sich  die  Edelmetallproduktion:  wir 

1  Zehn  Jahre  nach  der  Eroberung  wurde  dem  Kalifen  eine  Karte 
von  Spanien  vorgelegt,  auf  der  auch  die  Produktion  von  Mineralien 
verzeichnet  war:  Cardonne,  Geschichte  Afrikas  und  Spaniens  1, 
116;  zit.  bei  Del  Mar,  Money  and  Civilisation,  80. 

2  Del  Mar,  1.  c.  pag.  81. 

3  Urk.  Heinrichs  IV.  von  1189,  bei  Goldast,  Cath.  rei  monet. 
(1620),  98/99. 

4  Steinbeck,  Geschichte  des  schlesischen  Bergbaus  2  (1857), 
125  ff. 


520 


Vierter  Abschnitt:  Die  Edelmetallproduktion 


erfahren  von  einem  Silberbergbau  in  Italien  während  des  12.  und 
13.  Jahrhunderts1,  ebenso  in  Frankreich2 3. 

Aus  allem,  was  wir  über  die  Entwicklung-  der  Gold-  und 
namentlich  Silberproduktion  in  diesen  beiden  Jahrhunderten  er¬ 
fahren8,  dürfen  wir  schließen,  daß  sich  der  Vorrat  an  Edel¬ 
metallen  in  "Westeuropa  in  jener  Epoche  verhältnismäßig  rasch 
vermehrte:  vorausgesetzt,  daß  die  erzeugten  Mengen  nicht  etwa 
wo  andershin  abflossen.  Die  Tendenz  dazu  bestand  nun  freilich 
immer,  sobald  die  Westeuropäer  mit  dem  Osten  in  Handels¬ 
beziehungen  traten:  denn  der  Levantehandel  ist  von  jeher  für 
Westeuropa  passiv  gewesen.  Und  deshalb  treffen  die  Worte 
Pescheis,  mit  denen  er  seine  ausgezeichneten  Untersuchungen 
über  diese  Frage  abschließt,  zweifellos  das  Richtige 4 :  „Die  Ver¬ 
teilung  der  Metallausbeute  unter  die  Völker  ist  seit  den  ältesten 
historischen  Zeiten  nach  eigenen  Kegeln  vor  sich  gegangen.  Die 
Kultur  drang  beständig  nach  Westen,  Gold  und  Silber  floß  immer 
ostwärts,  und  zwar  mußten  die  Metalle  ihre  Richtung  gen  Osten 
nehmen,  weil  die  Kultur  von  dort  gekommen  war.“ 

Ich  möchte  aber  glauben,  daß  in  der  Zeit,  von  der  hier  die 
Rede  ist,  der  Abfluß  von  Edelmetallen  nach  dem  Osten  aus¬ 
geglichen  wurde  durch  einen  Rückstrom  von  dort,  der  der  italie¬ 
nischen  Kolonisierung  der  Levante5  sein  Dasein  verdankt.  Der 
Ausgleich  konnte  vollkommen  sein,  ja  sogar  mit  einem  Überfluß 
für  Westeuropa  abschließen:  weil  der  Umfang  der  Handels¬ 
beziehungen  damals  noch  nicht  sehr  groß  war,  und  weil  anderer¬ 
seits  gerade  in  jene  Zeit  die  Eroberung  reicher  Kulturstätten 
fiel,  und  diese  bekanntermaßen  mit  Raub  und  Plünderung  stets 
verbunden  zu  sein  pflegte.  Dadurch  kamen  aber  plötzlich  große 
Mengen  von  Edelmetall  in  den  Besitz  der  Eroberer. 

1  R.  Davidsohn,  Geschichte  von  Florenz,  und  Forschungen  3 

(1901),  3.  ö 

2  Pigeonneau,  1,  264. 

3  Auch  gelegentliche  Zifferangaben  bestätigen  jene  Annahme:  so 
betrug  die  Kuttenberger  Ausbeute  20—40  000  Mk.  Feinsilber  in  der 
ersten  Zeit. 

O.  Peschei,  Histor.  Erörterungen  über  die  Schwankungen  der 
Wertrelationen  zwischen  den  edlen  Metallen  und  den  übrigen  Handels¬ 
gütern,  in  der  Deutschen  Vierteljahrsschrift  1853,  4.  Heft,  S.  35. 
Abweichender  Meinung  war  seltsamerweise  Alex,  von  Humboldt 
(Deutsche  Vierteljahrsschrift  1 838,  4.  Heft).  Er  ist  aber  schon  schlagend 
widerlegt  worden  von  J.  Helfer  ich,  Periodische  Schwankungen 
(1843),  S.  49  ff.  p 

5  Siehe  oben  Kapitel  27, 


Eiuundclreißigstes  Kapitel:  Gang  d.  Edelmetallproduktiou  u.  -bewegung  521 

Daß  aber  bei  der  Ankunft  der  Westeuropäer  in  dem  byzan¬ 
tinischen  und  arabischen  Reiche  große  Mengen  von  Edelmetall 
vorhanden  waren,  bezeugen  uns  die  Schilderungen  der  Zeit¬ 
genossen  l. 

Von  diesen  Edelmetallmassen  ist  nun  sicherlich  ein  beträcht¬ 
licher  Teil  auf  dem  Wege  der  Besteuerung,  der  Geschenke 2  und 
nicht  am  wenigsten  durch  Diebstahl  und  Beute  in  die  Taschen 
dei  Eiobeier  geflossen.  Daß  wir  auch  hier  die  Beträge  nicht 
einmal  annähernd  zu  bestimmen  vermögen,  versteht  sich  wohl 
von  selbst.  Aber  die  Erwägungen  allgemeiner  Natur  haben  doch 
auch  hier ,  wie  so  oft ,  eine  gute  Beweiskraft ,  zumal  wenn  wir 
gelegentliche  Berichte  über  Plünderungen  usw.  mit  zu  Rate 
ziehen. 

Siehe  die  Tafel  bei  Del  Mar,  Hist,  of  Precious  Metals,  239  f., 
und  vgl.  damit  die  Abhandlung  von  A.  Soetbeer,  Das  Wertverhältnis 
zwischen  Gold  und  Silber  usw.,  in  57.  Erg.-Heft  zu  Petermanns  Mit¬ 
teilungen  S.  114  ff.  Die  Goldwelle  hatte  zunächst  ihren  Ursprung  im 
Süden  Europas  und  setzte  sich  von  dort  fort  nach  Deutschland,  wo 
sie  ein  halbes  Jahrhundert  später  anlaugte  (Folge  1.  günstiger  Handels¬ 
bilanz  der  Hanseaten  mit  den  Niederlanden :  Brügge;  2.  Kriegsbeihilfe 
seitens  Englands,  wohin  die  blanken  italienischen  Goldstücke  auf  dem 
Wege  des  Leiheverkehrs  geflossen  waren).  Sie  wurde  dann  verstärkt 
durch  die  zunehmende  Ergiebigkeit  der  schlesischen  und  böhmischen 
Goldminen  und  erreichte  ihren  Höhepunkt  in  der  kurzen  Episode 
deutscher  Goldmünzenausprägung  (1325  König  Johann  von  Böhmen). 

Solchen  allgemeinen  Erwägungen  entspringt  auch  meine  Ver¬ 
mutung:  daß  infolge  .der  geschilderten  Vorgänge  sich  in  dem 
Edelmetall  Vorrat  Westeuropas  eine  Verschiebung  zugunsten  des 
Goldes  vollzogen  habe.  Mit  (deutschem)  Silber  bezahlte  man  die 
Waren  des  Orients,  und  Gold  erbeutete  man  mehr  als  Silber  bei 
der  Eroberung  der  asiatischen  Reiche.  Für  die  Richtigkeit  meiner 
Vermutung  sprechen  zwei  Tatsachen: 

1.  die  Ausprägung  von  Goldmünzen,  die  im  13.  Jahrhundert 
eine  Reihe  italienischer  Städte  vornimmt:  1252  fiorino  d’oro; 
1283  venetianischer  Dukat  u.  a.; 

1  Ich  verweise  für  Byzanz  auf  J.  H.  Krause,  Die  Byzantiner 
im  Mittelalter  (1869),  49.  51  ff.  55  f.  280;  für  das  Kalifenreich  auf 
die  Darstellungen  bei  A.  von  Krem  er,  Kulturgeschichte  des  Orients 

2  (1877),  194  f.  300  f. :  vgl.  denselben,  in  den  Verhandlungen  des 
VII.  Internationalen  Orientalisten-Kongresses ,  Semit.  Sekt.  Wien 
1888.  S.  12. 

2  Heyd  1,224.  252.  260.  265,  berichtet  über  die  Ehrengeschenke 
und  ihre  Rolle,  die  sie  in  den  Levantekolonien  spielten, 


522 


Vierter  Abschnitt:  Die  Edelmetallproduktion 


2.  die  Verschiebung  der  Wertrelation  zuungunsten  des  Goldes 
im  13.  und  14.  Jahrhundert,  die  während  des  späteren 
Mittelalters  zwischen  1 : 10  und  1:11  sich  bewegt  haben 
dürfte  b  « 

Br  Hie  Periode:  Vom  Ende  des  13.  bis  zur  Mitte  des  15.  Jahrhunderts 

Auf  die  Entwertung  des  Goldes,  von  der  eben  die  Rede  war, 
wird  aber  nicht  nur  die  vorteilhaftere  Lage  des  Goldes,  sondern 
ebenso  sehr  und  vielleicht  noch  mehr  die  Verschlechterung  der 
Produktionsverhältnisse  des  Silbers  eingewirkt  haben.  Denn  das 
Kennzeichen  der  nun  folgenden  Periode,  die  die  letzten  beiden 
Jahrhunderte  des  Mittelalters  (das  letzte  nicht  mehr  ganz)  um¬ 
faßt,  ist  die  Abnahme  der  Silberproduktion  infolge  ver¬ 
schlechterter  Abbaubedingungen.  Die  zutage  liegenden  Lager,  die 
im  12.  und  13.  Jahrhundert  erschlossen  waren,  waren  erschöpft!, 
die  tiefer  gelegenen  Erze  vermochte  man  nicht  zu  gewinnen,  weil 
man  der  eindringenden  Wasser  nicht  Herr  zu  werden  vermochte. 
So  ersoffen  vielfach  die  Bergwerke1 2,  und  fast  überall  hören  wir 
von  einer  Abnahme  der  Förderung.  Als  König  Wenzel  H. 
Kuttenberg  seine  Verfassung  gibt  (anno  1300),  sagt  er3 :  „Mit  zum 
Himmel  aufgehobenen  Händen  wollen  wir  dem  Schöpfer  danken, 
der  uns  auch  hierin  beglückt  hat,  daß,  während  fast  in  allen 
Königreichen  der  Welt  der  Bergsegen  vertrocknet 
ist,  das  einzige  fruchtbare  Böhmen  zu  unserer  Zeit  mit  seinem 
Gold  und  Silber  uns  erquickt.“ 

Von  diesen  unmittelbar  uns  aufklärenden  Zeugnissen  ab¬ 
gesehen,  kennen  wir  dann  auch  noch  eine  Reihe  von  Symptomen, 
aus  denen  wir  auf  eine  starke  Verminderung  der  Edelmetall-, 
insonderheit  der  Silberproduktion  während  des  14.  und  eines 
Teils  des  15.  Jahrhunderts  schließen  dürfen. 

Hierhin  rechne  ich: 

1.  die  Verbote  der  Edelmetallausfuhr,  die  gegen  Ende  des 

1  Über  die  Beute,  die  bei  der  Eroberung  Antiochias  im  Jahre  1098 
gemacht  wurde,  berichtet  Matth.  Paris.  Chron.  maj.  in  Rer.  br.  med. 
Aevi  SS.  Ed.  H.  Richards  Luard.  Vol.  II  (1874),  p.  78/79. 

2  Den  urkundlichen  Nachweis  für  den  Niedergang  Goslars  seit  An¬ 
fang  des  14.  Jahrhunderts  (wobei  die  im  Text  angeführten  Ursachen 
hauptsächlich  wirksam  waren)  führt  C.  Neuburg,  Goslars  Bergbau 
S.  49  ff. 

3  Bei  K.  Graf  Sternberg,  Umrisse  einer  Gesch.  d.  böhmischen 

Bergwerke.  2  Bde.  1836/38.  1,  52, 


Einunddreißigstes  Kapitel:  Gang  d.  Edelmetallproduktion  u.  -bewegung  523 


Mittelalters  ganz  allgemein  von  Städten  und  Territorien 
erlassen  werden  1 ; 

die  Verminderung  der  in  den  Münzen  zur  Ausprägung  ein¬ 
gelieferten  Edelmetallmengen.  Allerdings  ist  mir  nur  eine 
darauf  sicli  beziehende  Ziffer  bekannt  —  die  der  englischen 
Ausmiinzungen  — ,  aber  ich  denke  doch ,  daß  man  sie  als 
typisch  für  die  Gesamtlage  des  Edelmetallmarktes  ansehen 
darf.  Wir  kennen  die  in  die  englische  Münze  eingelieferten 
Mengen  Silbers  und  Goldes:  für  Silber  seit  1272,  für  Gold 
seit  1345 2.  Danach  berechne  ich  einen  Jahresdurchschnitt 
(in  heutiger  Währung)  für: 


Silber 

1272—1377  8906  # 
1377—1461  1157  „ 

1461—1509  3184  „ 


Gold 

2538  g  (1345-1377) 
1845  „ 

4338  „ 


Also  am  Ende  des  14.  Jahrhunderts  ein  förmlicher  Sturz  in 
die  Tiefe,  und  zwar  viel  rascher  und  größer  noch  beim  Silber 
als  beim  Golde. 

Gleichen  Schritt  mit  der  Abnahme  der  Produktion  hielt  nun 
aber  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  der  Abfluß  der  Edel¬ 
metalle  nach  dem  Orient.  Wir  dürfen  annehmen,  daß  dieser 
am  stärksten  gerade  in  den  Jahrhunderten  am  Ausgange  des  Mittel¬ 
alters  gewesen  ist:  weil  in  dieser  Zeit  sich  der  Levantehandel  recht 
eigentlich  erst  zur  Blüte  entwickelte,  andererseits  aber  die  einen 
Rückstrom  bewirkenden  Ursachen  (die,  wie  wir  annahmen,  in 
der  voraufgehenden  Epoche  den  Abfluß  aufwogen)  in  Wegfall 
kamen  oder  doch  in  ihrer  Wirksamkeit  abgeschwächt  wurden. 
Was  an  deutschem  und  österreichischem  Silber  gewonnen  wurde, 
ging  zunächst  im  Austausch  gegen  die  Orientwaren  und  wohl 


1  Jacob,  History  passim;  für  Italien  Salvioni,  Snl  valore  della 
Lira  Bolognese,  in  den  Atti  e  Mem.  della  R.  Dep.  di  Stör.  patr.  delle 
Prov.  di  Romagna  17,  334  sg. ;  zit.  bei  Gino  Arrias,  Const.  econ., 
158;  für  England  W.  A.  Shaw,  The  History  of  Currency  (1894), 
54  ff.  Andere  Belege  siehe  im  42.  Kapitel. 

2  Ruding,  Annals  of  the  coinage  of  Great  Britain  1,  135;  vgl. 
Jacob  (deutsche  Ausg.)  1,  244  ff.  Wie  die  ganze  englische  Münz- 
und  Währungspolitik  des  14.  und  15.  Jahrhunderts  durch  diese  Tat¬ 
sache:  die  zunehmende  Edelmetallknappheit  bestimmt  wird,  schildert 
in  anschaulicher  Weise  Shaw,  a.  a.  0  Im  Jahre  1453  petitionieren 
die  Commons :  der  seit  langer  Zeit  ruhende  Betrieb  der  Silberminen 
in  Devon  und  Cornwall  möge  wieder  aufgenommen  werden ,  um  dem 
Silbermangel  zu  steuern. 


524 


Vierter  Abschnitt:  Die  Edelmetallproduktion 


auch  Landeserzeugnisse  in  die  südlichen  und  westlichen  Länder 
Europas 1 ;  von  dort  aber  wurde  es  ausgeführt  nach  dem  Orient, 
um  dessen  Waren  zu  bezahlen2. 

Verschiedene  Umstände  also  wirkten  zusammen,  um  Europa 
gegen  den  Ausgang  des  Mittelalters  mehr  und  mehr  von  Edel¬ 
metall  zu  entblößen.  Da  trat  um  die  Mitte  des  15.  Jahrhunderts 
die  entscheidende  Wendung  ein,  die  für  den  ganzen  weiteren 
Verlauf  des  europäischen  Wirtschaftslebens  maßgebend  werden 
sollte. 

Vierte  Periode:  Von  der  Mitte  des  15.  Jahrhunderts  bis  1545 

Die  Wendung,  durch  die  die  Armut  an  Edelmetallen  über 
Nacht  in  Reichtum  verwandelt  wurde,  geht  auf  drei  verschiedene 
Ursachenreihen  zurück : 

1.  den  Aufbruch  neuer  Gold-  und  Silberquellen  in  Deutschland 
und  Österreich; 

2.  die  Niederlassung  der  Portugiesen  in  den  Goldländern 
Afrikas  und  Asiens; 

3.  die  Plünderung  Mexikos  und  Perus  durch  die  Spanier. 

1.  Der  Anfbrucli  neuer  Gold-  und  Silberquellen  in  Deutschland  und  Österreich 

Teils  einem  glücklichen  Zufall,  teils  einer  Vervollkommnung 
der  Bergbautechnik3  ist  es  zuzuschreiben,  daß  seit  der  Mitte 
des  15.  Jahrhunderts  eine  Leihe  neuer,  reicher  Fundstätten  von 
Edelmetall  in  Deutschland  und  Österreich  erschlossen,  alte  Ab¬ 
baue  neu  belebt  wurden,  aus  denen  eine  bis  dahin  unerhörte 
Menge  von  Gold  und  Silber  gewonnen  werden  konnte. 

Gold  lieferte  das  salzburgische  Land.  Die  Blütezeit  seines 
Goldbergbaus  fällt  in  das  Jahrhundert  von  1460  — 1560.  In 
Gastein  zählte  man  damals  30  Bergherren  und  viele  Neuschürfer, 

1  „Germania  .  .  .  weicht  ...  an  Reich tümern  aller  Metalle  keinem 
Erdreich;  denn  alle,  welsche,  gallische,  hispanische  und  andere  Nationen 
haben  schier  alles  Silber  aus  den  deutschen  Kaufleuten.“  Buch  der 
Chroniken  (1493),  bei  Janssen  1,  419. 

2  Die  Barausfuhr  an  Edelmetall  aus  Venedig  nach  Alexandrien  be¬ 
trug  im  15.  Jahrhundert  jährlich  300  000  Duk.  Gutachten  des  venetia- 
nischen  Botschafters  Trevisano  im  Journal  Asiatique.  Tome  IV  (1829) 
pag.  23  quest.  XI,  zit.  bei  Peschei,  28. 

3  Das  trifft  zu  z.  B.  für  Goslar,  wo  es  seit  den  1450  er  Jahren 
gelang,  der  andringenden  Wässer  Herr  zu  werden,  um  nur  dadurch 
den  Ertrag  gegen  früher  sehr  beträchtlich  zu  steigern.  .C.  Neuburg, 
Goslars  Bergbau  (1892),  S.  105  ff,  149.  Vgl.  oben  Kap.  30, 


Einunddreißigstes  Kapitel:  Gang'  d.  Edelmetallproduktion  u.  -bewegung  525 

die  während  dieser  Zeit  an  1000  Gruben  eröffneten.  Gewonnen 
wurden  um  diese  Zeit  4000  Mk.  Gold,  8000  Mk.  Silber  im  Jahre1* 

Aber  vor*allem  waren  es  neue  Silberfunde,  die  der  Zeit  ihr 
Gepräge  geben:  in  Tirol,  in  Sachsen,  in  Böhmen.  In  Tirol  be- 
oinnt  der  Schwazer  Bergbau  bedeutende  Ausbeuten  zu  liefern 
just  um  die  Mitte  des  15.  Jahrhunderts;  als  die  berühmtesten 
Lagerstätten  —  der  Falkenstein  —  in  Angriff  genommen  werden2. 
Die  Ausbeute  steigt  rasch  gegen  das  Ende  des  Jahrhunderts 
und  noch  in  den  ersten  Jahrzehnten  des  16.  Jahrhunderts,  bis 
sie  1523  mit  55855  Mk.  Feinsilber  ihren  Höhepunkt  erreicht3. 
(Dann  beginnt  der  Absturz.  Und  im  Jahre  15/0  werden  nur  noch 
2000  Mk.  gewonnen.) 

Nach  Tirol:  Sachsen.  Hier  werden  im  Jahre  1471  die  reichen 
Gruben  von  Schneeberg,  1496  die  von  An  nab  erg  eröffnet. 
Schneeberg  liefert  von  1471—1550  im  Jahresdurchschnitt  etwa 
5400  Mk.  Feinsilber  (in  der  zweiten  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts 
höchstens  1400  Mk.);  Annabergs  durchschnittliche  Jahres¬ 

produktion  beträgt: 

1493—1520  22145  Pfund 

1520—1544  31 180  „ 

1545—1560  39  700  „ 

Und  nach  Sachsen:  Böhmen,  wo  man  im  Jahre  1516  mit  dem 
Abbau  der  Joachimsthaler  Gruben  beginnt.  Deren  Ausbeute 
steigt  wiederum  rasch  in  die  Höhe:  von  2064  laler  im  ersten 
Jahre  auf  254259  Taler  im  Jahre  1532.  (Von  da  ab  sinken  die 
Produktionserträge  ebenso  rasch,  wie  sie  gestiegen  waren,  bis 
sie  am  Ende  des  16.  Jahrhunderts  so  gut  wie  verschwinden.) 

Leider  haben  wir  keine  Möglichkeit,  die  rasche  Vermehrung 
der  Edelmetallproduktion  in  den  deutschen  Landen  während  des 
15.  und  16.  Jahrhunderts  dadurch  anschaulich  zu  machen,  daß 
wir  sie  mit  der  Produktion  bis  1450  in  Vergleich  stellen.  Denn 


1  Koch- Sternfels,  Die  Tauern  (1820),  bei  Soetbeer,  Edel- 

metallprod.,  30.  „  , 

2  Nach  neueren  Forschungen  1446  :  Worms,  Schwazer  Bergbau,  11. 
8  Worms,  a.  a.  O.  S.  86,  womit  zu  vergleichen  M.  v.  Wolfstrigl- 

Wolfskron,  Die  Tiroler  Erzbergbaue  (1903),  S.  35  (wo  die  Lieferung 
von  Schwazer  Brandsilber  innerhalb  der  Jahre  1470  1623  nach  den 

Akten  des  k.  k.  Statthaltereiarchivs  Innsbruck-Pest.  Arch.  Suppl.  897 
o-enau  verzeichnet  ist).  Die  Angaben  Soetbeers  und  Schmollers, 
die  sich  auf  Sperges  stützten,  sind  nach  diesen  neuen  Unter¬ 
suchungen  zu  berichtigen. 


526 


Vierter  Abschnitt:  Die  Edelmetallproduktion 


die  zuverlässigen  Ziffern  beginnen  erst  um  diese  Zeit.  Aber  daß 
der  Zuwachs  ein  ganz  gewaltiger  war,  lassen  schon  die  wenigen 
Angaben  erkennen,  die  ich  eben  gemacht  habe.  Wie  groß  aber 
auch  noch  nach  den  neuen  Funden  die  Steigerung  der  Produktion 
bis  m  die  Mitte  des  folgenden  Jahrhunderts  war,  machen  die 
von  Soetbeer  für  dm  Zeit  nach  1493  zusammengestellten  Ziffern 
ersichtlich.  Die  (salzburgische)  Goldproduktion  erreichte  freilich 
schon  um  die  Wende  des  15.  Jahrhunderts  ihren  Höhepunkt  mit 
einem  durchschnittlichen  Jahres  ertrage  von  5,58  Mill.  Mk.  während 
des  Zeitraums  von  1493 — 1520  (im  Durchschnitt  der  Jahre  1521 
bis  1544:  4,18,  1545 — 1560:  2,79  Mill.).  Dagegen  steigt  die  ge¬ 
samte  Ausbeute  der  Silbergruben  Deutschlands  und  Österreichs 
von  1493 — 1560  noch  wie  folgt:  Deutschland  produzierte  Silber 
im  J ahresdurchschnitt : 

1493—1520  22145  Pfund 

1521—1544  31 180  „ 

1545—1560  39700  „ 

Österreich  ebenso: 


1493 — 1520  24000  Kilogramm 

1521—1544  32  000 

1545—1560  30000 

2.  Die  Niederlassung  der  Portugiesen  in  den  Goldländern  Afrikas  und  Asiens 

Das  für  Westeuropa  entscheidende  Ereignis,  das  zwei  Welt¬ 
alter  trennt,  von  dessen  Eintritt  an  wir  mit  Recht  einen  neuen 
Abschnitt  der  Geschichte  beginnen  lassen,  ist  die  Verdrängung 
der  Araber  aus  ihrer  zwischen  Orient  und  Abendland  ver¬ 
mittelnden  Stellung:  wie  bekannt,  das  Werk  der  Portugiesen. 
Mit  Waffengewalt  wird  die  Herrschaft  der  Muhamedaner  in  Afrika 
und  Ostindien  gebrochen:  ihre  Verdrängung  aus  Afrika  beginnt 
mit  der  Eroberung  von  Ceuta  (1415),  sie  wird  vollendet  mit  der 
Schlacht  von  Alacer  Kebir;  mit  der  Eroberung  von  Malakka 
(1511)  war  der  Einfluß  der  Araber  in  Indien  vernichtet.  Die 
Nachricht  von  der  unwiderstehlichen  Gewalt  der  Portugiesen 
verbreitete  sich  über  das  ganze  Land ;  von  allen  Seiten ,  selbst 
von  den  Königen  in  Siam  und  Pegu,  kamen  Gesandte,  um  Bünd¬ 
nisse  und  Handelsverträge  zu  schließen.  Albuquerques’  Weitblick 
eikannte  dann  aber  die  Notwendigkeit,  die  Araber  im  eigenen 
Lande  anzugreifen,  das  Rote  und  Persische  Meer,  die  Verbin dungs- 
sti  aßen ^  des  arabischen  Zwischenhandels,  zu  sperren,  diesen  also 
in  seiner  Wurzel  zu  treffen.  Diesem  Zwecke  diente  die  Eroberung 


Einunddreißigstes  Kapitel:  Gang  d.  Edeimetallproduktion  u.  -bewegung  527 

von  Aden  und  Hormus.  Mit  diesem  Augenblicke  war  in  der  Tat 
eine  neue  Kultur epo che  angebrochen:  "Westeuropa  hatte  die  Erb¬ 
schaft  des  Kalifenreiches  endgültig  angetreten. 

Was  das  für  die  weitere  Entwicklung  des  europäischen  Wirt¬ 
schaftslebens  im  ganzen  bedeutete,  versuche  ich  an  anderer  Stelle 
nachzuweisen.  Hier  ist  einstweilen  nur  die  Wirkung  der  neuen 
Verhältnisse  auf  die  Versorgung  Europas  mit  Edelmetallen  zu 
verfolgen.  Denn  auch  in  dieser  Hinsicht  erwies  sich  das  Vor¬ 
dringen  der  Portugiesen  außerordentlich  bedeutsam:  es  half  die 
Zufohr  an  Edelmetallen,  vor  allem  Gold,  namentlich  in  den  ersten 
Jahrzehnten  nach  der  Niederlassung  beträchtlich  vermehren. 

Die  direkte  Verbindung  mit  Ostindien  und  die  aus 
ihr  folgende  Steigerung  des  europäisch-indischen  Handelsverkehrs 
vermehrte  zwar  zunächst  die  nach  dem  Osten  abströmenden 
Mengen  von  Edelmetall,  namentlich  Silber.  Silber  war  die  ge¬ 
wöhnliche  Ladung  der  von  Lissabon  abgehenden  Schiffe;  ge¬ 
wöhnlich  führte  jede  Caracca  40 — 50000  spanische  Taler  auf 
königliche  Rechnung  zum  Einkauf  des  Pfeffers  an  Bord.  Ebenso 
mußten  die  Holländer  noch  einen  großen  Teil  ihrer  ostindischen 
Importen  mit  barem  Gelde  bezahlen:  „die  Ausfuhr  der  übrigen 
Güter  war  nicht  sehr  bedeutend.“ 

Aber  die  direkte  Verbindung  mit  den  Völkern  des  Ostens 
schuf  doch  auf  der  andern  Seite  auch  eine  Reihe  von  Verbesse¬ 
rungen  zum  Rückstrom  der  edlen  Metalle.  Wieder  einmal  schuf 
die  koloniale  Ansiedlung  vor  allem  die  Möglichkeit  zur  Tribut¬ 
erhebung,  zur  Plünderung  und  Erpressung,  zu  Raub  und  Diebstahl. 

Das  Plünderungssystem  der  vordringenden  Europäer  hatte 
natürlich  um  so  mehr  Erfolg,  je  reicher  ein  Gebiet  an  Edel¬ 
metallen  war,  die  entweder  schon  von  den  Eingeborenen  ge¬ 
wonnen  waren  oder  nun  von  ihnen  zutage  gefördert  werden 
mußten.  Es  erwies  sich  aber,  daß  sowohl  das  asiatische  Festland 
als  namentlich  die  asiatische  Inselwelt  außerordentlich 
reich  an  Gold  waren,  als  die  Portugiesen  sich  daselbst  fest¬ 
setzten.  Diese  Tatsache  ist  heute  so  sehr  in  Vergessenheit  ge¬ 
raten,  daß  unsere  ersten  Spezialisten  der  Edelmetallstatistik  des 
asiatischen  Goldes  nicht  einmal  Erwähnung  tun1.  Und  doch 

1  Weder  bei  Soetbeer  (Petermanns  Erg. -Heft  57)  noch  bei 
E.  Suess,  Die  Zukunft  des  Goldes  (1877),  findet  Asien  als  Goldland 
Berücksichtigung.  Aber  auch  Del  Mar  in  seiner  History  of  the 
Precious  Metals  (1880)  kennt  nur  Japan  als  Goldquelle.  Dasselbe  gilt 

von  Lexis  (Art,  „Gold“  im  H.St. 2). 


52$  Vierter  Abschnitt:  Die  Edelmetallproduktion 

müssen  während  des  16.  Jahrhunderts  große  Mengen  Goldes  von 
den  Portugiesen  aus  ihren  asiatischen  Besitzungen  herausgeholt 
sein,  wenn  sich  so  reiche  Gebiete  so  rasch  erschöpfen  konnten. 
Denn  offenbar  waren  jene  Inseln  um  1500  noch  Goldländer  ersten 
Ranges,  obwohl  wir  verfolgen  können,  wie  die  Araber  damals 
bereits  an  alle  Stellen  der  Goldproduktion  vorgedrungen  waren 
und  wohl  das  ganze  Mittelalter  hindurch  Gold  aus  jenen 
Ländern  herausgezogen  hatten1. 

Aber  es  scheint,  als  ob  die  arabische  Herrschaft  für  die  Er¬ 
schöpfung  eines  Gebietes  an  Edelmetallen  nicht  annähernd  so 
verhängnisvoll  gewesen  sei  als  diejenige  der  goldsüchtigen  Euro¬ 
päer:  wozu  jene  Jahrhunderte  gebraucht  hatten,  das  vollbrachten 
diese  in  Jahrzehnten. 

Gilt  dies  für  die  Goldländer  Asiens,  so  gilt  es  nicht  minder 
für  die  goldreichen  Gebiete  Afrikas2.  Auch  diese,  deren 
es  drei  gibt,  waren  während  des  Mittelalters  lange  Zeiträume 
hindurch  von  den  Arabern  genutzt  worden,  ohne  jedoch  auch 
nur  annähernd  erschöpft  zu  sein,  als  die  Portugiesen  zu  ihnen 
vordrangen.  Abermals  bedeutete  es  daher  einen  starken  Zuwachs 
an  Gold,  dessen  Europa  teilhaftig  wurde,  als  die  europäischen 
Eioberei  eist  zu  den  Goldstätten  des  Senegalgebietes  und  als¬ 
bald  auch  zu  den  reichen  Fundstätten  Ostafrikas  an  der  Küste 
von  Sofala  gelangten. 

Daß  eine  ziffernmäßige  Erfassung  der  Goldeinfuhrmengen  in 
jenen  entlegenen  Zeiträumen  kaum  möglich  ist,  haben  alle  Sach¬ 
kenner  zugegeben.  Denn  wenn  man  selbst  das  „produzierte“ 
Metall  annähernd  richtig  ermitteln  könnte,  so  würde  sich  die 
Menge  des  geraubten  Goldes  und  Silbers  doch  jeder  Feststellung 
entziehen.  Unter  diesem  Vorbehalte  mögen  die  Ziffern  hier  Platz 
finden,  die  Soetbeer  für  die  Goldausfuhr  aus  Afrika  annimmt. 
Diese  betrug  nach  Meinung  dieses  Gelehrten  im  Durchschnitt 
jedes  Jahres  in  den  Perioden3: 

1  Ich  habe  die  Quellenbelege  in  der  ersten  Auflage  Bd.  I  S.  373  ff. 
zusammengestellt,  wo  der  spezieller  Interessierte  sie  nachprüfen  ma°’. 

2  Siehe  die  vorige  Anmerkung.  c‘ 

Diese  Ziffern  stellen  m.  E.  nur  ein  Minimum  dar,  was  sich  aus 
den  obigen  Erwägungen  ergibt.  Gewiß  hätte  auch  Soetbeer  einen 
hofieren  Betrag  angenommen,  wenn  ihm  die  Angabe  des  Thome  Lopez 
über  die  Erträgnisse  der  Sofala-Minen  bekannt  gewesen  wäre.  Diese 
wurden,  als  die  Portugiesen  daselbst  eintrafen,  bereits  auf  2  Mill.  Mitkal 
(zu  1  /3  Dukaten,  also  etwa  24  Mill.  Mk.)  pro  Jahr  geschätzt.  Sicher 
aber  haben  dann  die  Europäer  mehr  Ausbeute  erzielt  als  die  Araber. 


Einunddreißigstes  Kapitel:  Gang  d.  Edelmetallproduktion  u.  -bewegung  529 


1493—1520  3000  kg  oder  8370000  Mk. 

1521—1544  2500  „  „  6975000  „ 

Für  die  Zufuhr  aus  Asien  fehlt  jede  ziffernmäßige  Feststellung. 

.3.  Die  Plünderung  Mexikos  und  Perus  durch  die  Spanier 

Überreich  war  der  Vorrat  an  edlen  Metallen,  die  zumeist  als 
Schmuck  und  Schatz  gewertet  wurden,  in  den  Ländern  der  alten 
amerikanischen  Kultur* 1,  in  die  die  Spanier  zu  Beginn  des 
16.  Jahrhrmderts  erobernd  eindrangen. 

Die  Menge  des  durch  die  Plünderung  dieser  Länder  nach 
Europa  gebrachten  Edelmetalls  ziffernmäßig  zum  Ausdruck  zu 
bringen,  ist  außerordentlich  schwierig.  Die  Schätzungen  (oder 
Berechnungen)  der  besten  Kenner  weichen  so  sehr  voneinander 
ab3,  daß  ich  lieber  darauf  verzichte,  eine  Zahlenfeststellung  zu 
machen.  Daß  es  sich  dabei  um  große  Beträge  handelte,  dafür 
sprechen  schon  die  Summen  einzelner  Beutemengen,  von  denen 
ich  weiter  unten  noch  einige  anführe. 

Fünfte  Periode:  Von  der  Mitte  des  16.  bis  zum  Anfang  des  17.  Jahr¬ 
hunderts  ( 1545  bis  etwa  1620 ) 

So  gewaltig  die  Veränderungen  sind,  die  während  dieser 
Epoche  die  Produktion  und  damit  der  Bestand  der  Edelmetalle 
erleben:  so  kurz  kann  mein  Bericht  sein.  Denn  wie  schon  be¬ 
merkt  wurde,  treten  wir  mit  der  Entdeckung  Amerikas  in  die 

Th.  Lopez,  Navigatione  verso  le  Indie  orientali  (1502),  bei  Ka¬ 
rn  usio  1,  134  C.  Damit  in  Übereinstimmung  steht  die  Angabe,  die 
uns  Saalfeld,  Portug.  Kol.,  174,  auf  Grund  anderer  Quellen  macht, 
wonach  die  Ausbeute  IV2  Mill.  betragen  haben  soll. 

1  Siehe  die  Schilderungen  des  Reichtums  an  Gold-  und  Silber¬ 
schätzen  in  Peru  bei  W.  H.  Pr  e  scott,  Geschichte  der  Eroberung 
von  Mexiko,  deutsch  1848,  1,  22  f.  74 f.  194.  214.  329  f.  348.  354—358 
(Lösegeld  des  Atahualpa).  397  f. ;  desgl.  in  Mexiko ,  bei  Prescott, 
Geschichte  der  Eroberung  von  Mexiko,  deutsch  1845,  1,  143.  239. 
448.  539  ff. ;  desgl.  im  Lande  der  Chibcha ,  insonderheit  im  Reiche  der 
Zippa  von  Bogota  und  der  Zaque  in  Tunja,  bei  Häbler,  Amerika,  300. 
Gute  Zusammenstellung  bei  Max  Wich  mann,  Über  die  Metalle  bei 
den  altamerikanischen  Kulturvölkern.  Hall.  In.-Diss.  (1885),  S.  27  ff. 

2  Alex.  v.  Humboldt  berechnet  den  Gesamtbetrag  der  Beute, 
die  bis  zur  Eröffnung  der  Potosi-Minen  den  Eroberern  in  die  Hände 
fiel,  auf  186  000  Goldmark,  das  sind  rund  25  Mill.  Piaster  oder 
130  Mill.  Frcs.  damaliger  Währung  (Essai  sur  la  Nouvelle  Espagne  4, 
253  ff.).  L  exis  dagegen  (Art.  Gold  in  H.St. 2)  rechnet  nur  20  Mill.  Mk. 
heraus. 

Rombart,  Der  moderne  Kapitalismus.  I. 


■  34 


530 


Vierter  Abschnitt:  Die  Edelmetallproduktion 


Periode  brauchbarer  statistischer  Feststellungen  ein  und  sind 
außerdem  in  der  angenehmen  Lage ,  die  oft  erwähnte  S  o  e  t  - 
beer  sehe  Arbeit  in  ihrem  vollen  Umfange  benützen  zu  können. 
Ihr  sind  denn  auch,  wo  nichts  besonderes  hinzugefügt  ist,  die 
folgenden  Zahlenangaben  entnommen. 

Was  die  Edelmetallverhältnisse  um  die  Mitte  des  16.  Jahr¬ 
hunderts  so  von  Grund  aus  umgestaltete,  war  die  Erschließung 
der  reichsten  amerikanischen  Minen  (Zacatecas,  Guanaxuato)  sowie 
vor  allem  Potosis  einerseits,  die  schon  gewürdigte  (siehe  S.  494  f.) 
Einführung  des  Amalgamierungsverfahrens  andererseits.  Diesen 
beiden  Ereignissen  ist  die  plötzliche  und  starke  Vermehrung  der 
Silberproduktion  während  der  zweiten  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts 
zuzuschreiben.  Denn  daß  in  demselben  Zeitraum  die  Silber-  und 
Goldquellen  Deutschlands  und  Österreichs  versiegten,  habe  ich  im 
vorigen  Abschnitt  schon  mit  einigen  Ziffern  belegt.  Aber  auch  die 
(Gold-)  Ausbeute  Afrikas  ging  von  der  Mitte  des  16.  Jahrhunderts 
an  zurück:  der  neu  entdeckte  Erdteil  mußte  für  alle  diese  Aus¬ 
fälle  Ersatz  schaffen  und  schuf  ihn  in  überschwänglicher  Weise, 
wenigstens  was  das  Silber  anbetrifft.  Dieses  Edelmetall  tritt  mit 
der  Erschließung  der  amerikanischen  Minen  in  die  Periode  seiner 
absoluten  Vorherrschaft  ein  (die  bis  zur  Entdeckung  der  brasilia¬ 
nischen  Goldfelder  reicht)  :  hatte  sein  Wertanteil  an  der  Gesamt¬ 
edelmetallproduktion  1521 — 1544  erst  44,9 °/o  betragen,  so  stieg 
er  auf  70,3,  73,9  78,6  am  Schlüsse  des  16.  Jahrhunderts. 

Die  Goldproduktion  der  Erde  bleibt  während  des  ganzen 
16.  Jahrhunderts  annähernd  gleich  hoch:  sie  steigt  von  7160  kg 
im  Jahresdurchschnitt  1521 — 1544  auf  8510  kg  im  Jahresdurch¬ 
schnitt  1545 — 1560,  sinkt  dann  aber  auf  6840  kg  und  7380  kg  im 
Jahresdurchschnitt  der  beiden  folgenden  Doppeldekaden. 

Dagegen  nun  die  Zunahme  der  Silberproduktion !  Sie  beträgt 
im  Jahresdurchschnitt: 

1521—1544  .  90200  kg 

1545—1560  .  311600  „ 

1561—1580  .  299500  „ 

1581—1600  .  418900  „ 

1600—1621  .  422900  „ 

Also  eine  Verdreifachung  um  die  Mitte  des  Jahrhunderts  und 
(nach  vorübergehendem  Stillstand)  ein  Weitersteigen  bis  in  die 
ersten  Jahrzehnte  des  17.  Jahrhunderts:  dank,  wie  gesagt,  vor 
allem  Mexikos  und  namentlich  Potosis. 


Einunddreißigstes  Kapitel:  Gang  d.  Edelmetallproduktion  u.  -bewegung  53p 


Die  Silberproduktion  Mexikos  steigt  in  den  oben  angeführten 
Jahrzwanzigen  im  Jahresdurchschnitt  von: 


3400  kg  auf 


15000 

50200 

74300 

81200 


)) 

1) 


Diejenige  Potosis  setzt  gleich  mit  183200  kg  im  Jahresdurch¬ 
schnitt  1545 — 1560  ein  und  sinkt  dann  auf  151 800  im  folgenden 
Zeitraum,  um  in  den  Jahren  1581 — 1600  ihr  Maximum  von 
254300  kg  zu  erreichen. 

Bedeutsam  für  die  Entwicklung  des  europäischen  "Wirtschafts¬ 
lebens  in  dieser  Epoche  wurde  aber  nicht  nur  die  rasche  Ver¬ 
mehrung  der  Edelmetallmengen,  sondern  ebenso  sehr  die  Ver¬ 
legung  ihrer  Produktionsstätten:  der  Quell  des  ökonomischen 
Lebens  war  in  Deutschland  versiegt,  in  den  Kolonien  der  west¬ 
europäischen  Nationen  frisch  aufgesprungen.  Diese  aber  sind 
es  nun  nicht  gewesen,  die  von  dem  neuen  Goldstrome  befruchtet 
werden  sollten,  der  vielmehr  (um  im  Bilde  zu  bleiben)  gleich¬ 
sam  wie  in  einer  künstlichen  Leitung  über  Spanien  (und  später 
Portugal)  hinweg  in  die  Wirtschaftsgebiete  Hollands,  Frankreichs 
und  Englands  abfloß.  Ich  werde  davon  und  von  den  damit  im 
Zusammenhänge  stehenden  nationalen  Verschiebungen  noch  später 
ausführlich  zu  handeln  haben.  Hier  soll  einstweilen  nur  die 
Tatsache  registriert  werden :  daß  Deutschland  austrocknete,  weil 
seine  eigenen  Edelmetallquellen  versiegten,  Spanien  aber  eben¬ 
falls  trocken  blieb,  trotz  seiner  amerikanischen  Besitzungen.  Die 
Gründe,  weshalb  das  amerikanische  Silber  nicht  in  Spanien  blieb 
oder  gar  nicht  erst  nach  Spanien  kam,  sind  vornehmlich  folgende : 

1.  ein  Teil  der  Produktion  wurde  in  den  Kolonien  zurück¬ 
gehalten  ; 

2.  ein  anderer  Teil  ging  verloren  durch  Kaperei1  usw. ; 

3.  viel  wurde  dem  Verkehr  entzogen  und  in  kostbare  Geräte 
usw.  verwandelt; 

4.  das  meiste  wurde  zur  Bezahlung  der  nordischen  Völker¬ 
schaften,  namentlich  der  Holländer,  der  Franzosen2  und 

1  Del  Mar,  Money  and  Civilization,  166  ff. 

2  In  Frankreich  sollen  zur  Zeit  Heinrichs  IV.  mehr  spanische 
Golddublonen,  Dukaten  und  Pistolen  im  Umlauf  gewesen  sein  als  zur 
Zeit  Karls  IX.  kleine  Silbermünzen:  übertrieb  man,  Brantome, 
Oeuvres  3,  197  ff. 


84* 


532 


Vierter  Abschnitt:  Die  Edelmetallproduktion 


der  Engländer,  verwandt,  die  Waren  an  Spanien  oder  die 
Kolonien  lieferten  1; 

5.  der  Rest  diente  zur  Begleichung  der  Zinsverpflichtung  des 
spanischen  Staates. 

Um  welche  Edelmetallbeträge  es  sich  im  einzelnen  Falle 
handelte,  die  auf  einem  dieser  Wege  Spanien  entzogen  wurden, 
lassen  uns  einige  zahlenmäßige  Feststellungen  erkennen,  die  aus 
jener  Zeit  überliefert  sind.  So  betrug  der  Wert  des  Silbers,  das 
Philipps  II.  Flotte  im  Jahre  1577  für  die  Fugger  nach  Antwerpen 
brachte  (wo  er  es  dann  mit  Beschlag  belegen  ließ) :  800  000  Du¬ 
katen.  Im  Jahre  1595,  das  den  Ertrag  von  drei  Jahren  geliefert 
haben  muß,  gingen  35  Mill.  Scudi  in  Gold  und  Silber  über  die 
Barre  von  San  Lucar,  von  denen  im  Jahre  1596  kein  Real  mehr 
in  Kastilien  sich  vorfand2. 

Angesichts  dieser  Ziffern  vermögen  wir  wohl  der  Behauptung 
Glauben  zu  schenken:  daß  hundert  Jahre  nach  der  Entdeckung 
Amerikas  Holland,  England,  Frankreich  viel  mehr  Edelmetall, 
zumal  in  der  Geldform,  besaßen  als  Spanien3. 

Sechste  Periode:  Das  17.  Jahrhundert 

In  dieser  Periode  sinkt  die  Edelmetallproduktion  zunächst 
etwas,  um  während  des  letzten  Drittels  des  Jahrhunderts  wieder 
rasch  zu  steigen.  Europas  Anteil  an  der  Silberproduktion  wird 
verschwindend  gering.  Die  Goldproduktion  nimmt  zu.  Hier  sind 
die  summarischen  Ziffern. 

Jährliche  Produktion  nach  Gewicht  (in  Kilogramm): 


Zeitraum 

Silber 

Gold 

1601—1620 

.  422900 

8520 

1621—1640 

.  393600 

8300 

1641—1660 

.  366300 

8  770 

1661—1680 

.  337  000 

9260 

1681—1700 

.  341900 

10  765 

1  Siehe  darüber  den  6.  Hauptabschnitt  des  2.  Bandes,  der  die  inter¬ 
nationalen  Wirtschaftsbeziehungen  behandelt. 

2  Gonzales  Davila,  Vida  y  hechos  del  Rey  Felipe  III.,  p.  35. 
Ranke,  der  diese  Mitteilung  macht,  meint:  sie  laute  unglaublich, 
doch  versichere  sie  „ein  glaubwürdiger  Mann“.  Ranke,  Fürsten  und 
Völker  Süd-Europas  l8,  428. 

8  Auch  darüber  enthält  genaue  Feststellungen  der  genannte  6.  Haupt¬ 
abschnitt  des  2.  Bandes 


Eimmddreißigstes  Kapitel:  Gang  d.  Edelmetallproduktion  u.  -bewegung  533 

Noch  deutlicher  tritt  der  schwankende  Verlauf,  der  diese 
Periode  kennzeichnet,  uns  vor  Augen,  wenn  wir  die  Produktions¬ 
mengen  der  beiden  Edelmetalle  zusammenwerfen  und  sie  in  einer 
(Geld-)  Wertziffer  zum  Ausdruck  bringen.  Dann  beziffert  sich 
nämlich  die  Gesamtedelmetallproduktion: 

1621—1640  ....  auf  1880,1  Mill.  Mk. 

1641—1660  ....  „  1808,1  „ 

1661— 1680  ....  „  1729,9  „  „ 

1681-1700  ,  .  .  .  „  1831,5  „  „ 

In  den  letzten  beiden  Jahrzehnten  des  Jahrhunderts  macht 
sich  die  starke  Zunahme  der  Goldproduktion  besonders  fühlbar. 

Siebente  Periode:  Das  18.  Jahrhundert 

Eine  Periode  rascher  und  anhaltender  Vermehrung  der  Edel¬ 
metallproduktion.  Im  Anfang  des  Jahrhunderts  bis  in  dessen 
Mitte  etwa  ist  es  das  neu  entdeckte  brasilianische  Gold,  das 
über  Europa  hereinflutet.  Brasilien,  dessen  Goldfelder  gerade 
etwa  um  die  Wende  des  Jahrhunderts  reichlichere  Erträge  zu 
geben  anfangen,  liefert: 

1701—1720  ...  für  150  Mill.  Mk.  Gold 

1721-1740  .  .  .  „  490  „  „ 

1741-1760  .  .  .  ,  816  „  „  „ 

Dann  (vom  Jahre  1764  an)  läßt  die  Ausbeute  nach,  bis  sie  im 
Anfang  des  19.  Jahrhunderts  fast  ganz  aufhört1. 

Gerade  aber  in  diesem  Augenblick,  als  das  brasilianische  Gold 
knapper  zu  werden  anfangt,  setzt  die  starke  Steigerung  der 
mexikanischen  Silberproduktion  ein :  im  Jahre  1760  wurden  durch 
die  Arbeiten  des  Spaniers  Obregon  die  reichsten  Teile  der  Grube 
Valenciana  auf  der  Veta  Madre  von  Guanajuato  aufgeschlossen; 
in  das  Jahr  1765  fällt  der  Aufschluß  der  Bonanza  in  der  Con- 
cession  S.  Acasio  auf  der  Veta  Grande  zu  Zacatecas2.  Mexiko 
bringt  im  Jahre  an  Silber  auf: 

1721—1740  .  230  800  kg 

1741—1760  .  301000  „ 

1761—1780  .  366400  „ 

1781—1800  .  562400  „ 

1800—1810  .  553800  „ 

1H.  Handel  mann,  Geschichte  Brasiliens  (1889),  S.  579/80. 
v.  Eschwege,  Pluto  brasiliensis  (1833),  145. 

2  Suess,  Gold,  172, 


534  Vierter  Abschnitt:  Die  Edelmetallproduktion 

Insgesamt  beträgt  die  Jahresproduktion  an: 


Silber 

Gold 

1721—1740 

.....  431200 

19080 

1741—1760 

.  533145 

24160 

1761—1780 

.  652  740 

20  705 

1781—1800 

.  879060 

17790 

1801—1810 

.  894150 

17  778 

In  Wertsummen  ausgedrückt  ergibt  sich  folgendes  Bild,  das 
die  rasche  Steigerung  der  Edelmetallproduktion  in  diesem  Zeit¬ 
raum:  genau  genommen  während  des  18.  Jahrhunderts  und  des 
ersten  Jahrzehnts  des  19.,  wiederum  noch  deutlicher  erkennen 
läßt.  Die  Gesamtproduktion  betrug: 

1701—1720  .  1995,5  Mill.  Mk. 

1721—1740  .  2617 

1741—1760  .  3292,6  „ 

1761—1780  .  3505,2  „ 

1781—1800  .  4157,3  „ 

1801—1810 . 2106 

Auch  von  diesen  Beträgen,  die  aus  spanischen  und  portugie- 
sichen  Kolonien  vornehmlich  stammten,  geht  der  größte  Teil  an 
den  Mutterländern  vorbei  oder  rasch  über  sie  hinweg  zu  den 
wirtschaftlich  rascher  fortschreitenden  Ländern  Nordwesteuropas, 
jetzt  namentlich  nach  England1. 

Achte  Periode:  Von  1810—1848 

In  diesen  Zeitraum  fällt  eine  so  starke  und  plötzliche  Ver¬ 
minderung  der  Edelmetall-,  namentlich  der  Silberproduktion,  wie 
sie  sich  kaum  je  in  einer  andern  Periode  nachweisen  läßt.  Ur¬ 
sache:  vor  allem  politische  Störungen  in  den  amerikanischen 
Produktionsgebieten  (wodurch,  wie  später  zu  zeigen  sein  wird, 
die  Produktionsbedingungen  sich  verschlechtern). 

Die  Silberausbeute  Mexikos  sinkt  in  ein  paar  Jahren  auf 
weniger  als  die  Hälfte:  von  553  800  kg  im  Jahresdurchschnitt 
1801—1810  auf  312000  kg  und  264800  kg  in  den  beiden  folgenden 
Jahrzehnten.  Ebenso  sehr  verringert  sich  die  amerikanische 
Goldproduktion,  und  nur  dem  Umstande,  daß  mit  dem  dritten 
Jahrzehnte  des  19.  Jahrhunderts  Rußland  in  rasch  wachsendem 


1  Siehe  die  Darstellung  im  2,  Bande, 


Einuuddreißigstes  Kapitel:  Gang  d.  Edelmetallproduktion  u.  -bewegung  535 

Umfange  Gold  liefert,  ist  es  zu  danken,  wenn  die  Goldgewinnung 
der  Erde  nickt  in  gleichem  Verhältnis  wie  die  Silberproduktion 
abnimmt.  Die  Zunahme  der  russischen  Goldproduktion  ist  dann  in 
den  1830  er  und  1840  er  Jahren  noch  größer  und  trägt  (zusammen 
mit  der  langsam  sich  wieder  erholenden  Silberproduktion  Mexikos: 
1831 — 40  =  331000  kg,  1841 — 50  =  420300  kg  Jahresproduktion) 
dazu  bei,  daß  sich  von  den  1830er  Jahren  an  der  Gesamtwert¬ 
betrag  der  Edelmetallproduktion  langsam  wieder  hebt.  Die 
summarischen  Ziffern  sind  folgende: 


Jahre 

Gesamtproduktion 
der  Edelmetalle 

Millionen  Mark 

Davon  Silber 

Millionen  Mark 

Gold 

Millionen  Mark 

1801—1810 

2106,1 

1609,1 

497,0 

1811—1820 

1292,7 

973,4 

319,3 

1821—1830 

1225,6 

829,0 

396,6 

1831—1840 

1639,7 

1073,6 

566,1 

Im  Jahre  1848  aber  tritt  die  entscheidende  Wendung  ein,  die 
die  Weltgeschichte  in  neue  Bahnen  lenken  sollte:  das  goldene 
Zeitalter  des  Kapitalismus  entfaltet  sich.  Dessen  Darstellung 
aber  gehört  noch  nicht  hierher. 


536 


Zweiunddreifsigstes  Kapitel 

Die  Bedeutung  der  Edelmetalle  für  das  Wirt¬ 
schaftsleben  im  allgemeinen 

Literatur 

Natürlich  haben  zahlreiche  Forscher  gelegentlich  auf  die  Bedeutung 
hingewiesen,  die  die  Edelmetalle  und  die  Edelmetallproduktion  für  das 
Wirtschaftsleben  in  dieser  oder  jener  Beziehung  besitzen.  Diese  hier 
zu  nennen  erübrigt  sich.  Dagegen  müssen  einige  Werke  angeführt 
werden,  die  sich  grundsätzlich  mit  diesem  Probleme  beschäftigt  und  eben¬ 
falls  den  Versuch  gemacht  haben,  die  Gesamtwirkung  der  Edelmetalle 
zu  erfassen.  Das  sind  namentlich  folgende ,  seltsamerweise  sämtlich 
von  Amerikanern  herrührendo  Bücher:  Al.  del  Mar,  von  dessen 
zahlreichen  Werken  hier  insbesondere  Money  and  Civilization  (1886), 
mit  Bibliographie,  in  Betracht  kommt;  Brooks  Adam,  The  law  of 
civilization  and  decay.  1895;  deutsch  (vollständiger) :  Die  Gesetze  der 
Zivilisation  und  des  Verfalls.  1907;  Irv.  Fisher,  The  purchasing 
power  of  money.  New  Ed.  1913.  Vgl.  Seite  543. 

Außer  der  Überzeugung,  daß  der  Einfluß  der  Edelmetallproduktion 
auf  den  Gang  des  Wirtschaftslebens  sowie  der  gesamten  Kultur  ein 
überragend  großer  ist,  verbindet  mich  aber  mit  den  genannten  Forschern 
nichts.  Die  Art  und  Weise,  wie  wir  den  Einfluß  begründen,  ist  ver¬ 
schieden,  wie  wir  denn  auch  diesen  Einfluß  in  sehr  verschiedenen 
Richtungen  sich  betätigen  sehen. 


I.  Die  chimärische  Bedeutung  der  Edelmetalle 

Vom  Golde  und  welche  wichtige  Rolle  es  im  Leben  der 
Menschheit  spielt,  wissen  die  Sagen  der  meisten  Völker  vieles 
zu  erzählen:  vom  goldenen  Vließ  und  wie  ihm  die  Helden  zu 
Tod  oder  Sieg  nachgezogen  sind;  vom  unglückseligen  Midas, 
dem  alle  Dinge,  die  er  anrührte,  zu  Gold  wurden  und  der  darum, 
als  dies  auch  mit  Speise  und  Trank  geschah,  einem  kläglichen 
Hungertode  entgegenging,  bis  er  sich  im  Flusse  Pactolus  badete, 
der  seitdem  reichlich  Gold  ■  mit  sich  zu  führen  begann.  In  der 
deutschen  Mythe  ist  aber  das  Goldproblem  am  tiefsten  gefaßt, 
wenn  dem  Besitz  des  Goldes  alles  Weh  zugeschrieben  wird,  das 
Götter  und  Menschen  ergreift,  und  wenn  die  Erlösung  von  allem 
Übel  daran  geknüpft  wird,  daß  der  aus  den  Tiefen  des  Rheins 


Zweiunddreißigstes  Kapitel:  Bedeutung  d.  Edelmetalle  f.  d.Wirtschaftsleben  537 

zum  Unheil  ans  Licht  gebrachte  Goldreif  den  Eheintöchtern 
zurückgegeben  werde.  Hier  ist  nicht  mehr  und  nicht  minder 

o  o 

gesagt,  als  daß  das  Schicksal  der  Götter  und  der  Menschen  das 
Schicksal  des  Goldes  sei. 

Und  aus  den  Volkssagen,  das  wissen  wir,  spricht  fast  immer 
eine  tiefe  "Wahrheit  zu  uns.  Was  ist  es,  das  uns  die  vielen 
Goldsagen  verkünden?  Was  lehrt  uns  die  Geschichte  der  Mensch¬ 
heit?  Hat  auch  in  ihr  das  Gold  jene  große,  überragende  Be¬ 
deutung  gehabt,  die  ihm  die  Mythen  zuschreiben? 

Sicher  ist  dieses:  daß  das  Gold  in  der  Vorstellung  auch 
der  historischen  Menschheit  immerdar  einen  allerhöchsten  Wert 
besessen  hat,  und  daß  die  Menschheit  immerdar  bereit  gewesen 
ist,  Großes  zu  wagen,  um  in  den  Besitz  des  edlen  Metalls  zu 
gelangen.  Dadurch  aber  allein  hat  das  Gold  eine  ganz  gewaltige 
Bedeutung  in  dem  Ablauf  der  menschlichen  Geschichte  bekommen: 
daß  die  Sehnsucht  nach  ihm  zu  einer  mächtigen  Triebkraft  für 
entscheidendes  Geschehen  wurde.  Vor  allem  zur  Triebkraft  für 
Eroberungszüge  und  Kriege,  von  deren  Ausgang  oft  das  Schicksal 
ganzer  Völker,  ganzer  Kulturen  abgehangen  hat:  Darius  ging 
dem  Golde  nach,  ebenso  wie  Alexander  der  Große;  Eömer  und 
Karthager  kämpften  letzten  Endes  um  das  spanische  Gold ;  Cäsar 
hoffte  in  Germanien  vor  allem  Gold  zu  finden;  um  Böhmens 
Silber-  und  Goldschätze  sind  viele  Kriege  im  Mittelalter  entbrannt: 
„quid  est  quod  Cuthno  (Kuttenberg)  fames  avaritiae  ac  abyssus 
malitiae,  diversa  ac  peregrina  ingentiaque  gentium  genera  ad 
contemplationem  sui  contrahit  regesque  ac  principes  exteros  allicit, 
nisi  quia  in  sinu  suo,  in  terrarum  abditis,  fomentum  avaritiae 
argentum  nutrit?“  wußte  schon  der  Chronist  der  alten  Zeit;  um 
das  amerikanische  Gold  haben  sich  jahrhundertelang  die  euro¬ 
päischen  Staaten  gebalgt,  und  dem  Kampfe  um  Goldminen  ver¬ 
dankt  einer  der  letzten  großen  Kriege  seine  Entstehung. 

Bedeutsam  ist  aber  das  Gold  für  die  Kulturentwicklung  auch 
dadurch  geworden,  daß  wichtige  Ereignisse  sich  bei  jener  Jagd 
nach  dem  Golde  einstellten,  an  deren  Eintritt  niemand  dachte, 
als  er  die  Jagd  begann,  die  wir  aber  darum  doch  als  mittelbare 
Folgen  des  Goldsehnens  ansprechen  müssen:  das  Institut  der 
Sklaverei  ist  im  Gefolge  des  Goldbergbaus  erst  zur  vollen  Ent¬ 
wicklung  gelangt, 

Sorglose  Schmiede, 
schufen  wir  sonst  wohl 
Schmuck  unsern  Weibern. 

Wir  lachten  lustig  der  Müh. 


538  Vierter  Abschnitt:  Die  Edelmetallproduktion 

Nun  zwingt  uns  der  Schlimme 
in  Klüfte  zu  schlüpfen, 
für  ihn  allein 
uns  immer  zu  müh’n; 

auf  der  Suche  nach  dem  Golde  ist  das  Pulver  gefunden,  ist  die 
Chemie  als  Wissenschaft  ausgebildet  worden ;  auf  der  Suche  nach 
dem  Golde  ist  Amerika  entdeckt,  sind  die  modernen  Großstaaten 
formiert  worden. 

Ist  also,  wie  man  es  heißen  könnte,  die  chimärische  Be¬ 
deutung  des  Goldes  für  die  Entwicklung  der  Menschheit 
wohl  außer  allem  Zweifel,  so  ist  damit  doch  noch  nichts  ausgesagt 
über  seine  reale  Bedeutung;  ob  es  wirklich  einen  so  starken 
Einfluß  auf  den  Gang  des  Kulturlebens  ausübt,  ob  dieses  durch 
den  Besitz  und  die  Benutzung  des  Goldes  in  seiner  Eigenart 
und  Richtung  tatsächlich  bestimmt  wird,  und  ob  seine  Gewinnung 
für  die  Einzelnen  und  die  Gemeinschaft,  die  sich  darum  bemühen, 
denn  nun  in  Wahrheit  ein  Segen  sei,  wie  alle,  die  danach  trachten, 
wähnen,  oder  ein  Fluch,  wie  die  Mythen  uns  warnend  verkünden. 

Der  letzte  Teil  dieser  Frage  hat  einen  philosophisch-meta- 
physischen  Sinn  und  schließt  die  Frage  nach  Sinn  und  Bedeutung 
des  Menschendaseins  ein;  das  ist  der  Sinn,  der  hier  nicht  in 
Betracht  kommt.  Daneben  aber  bleibt  die  rein  historische  Frage 
bestehen:  nach  dem  Einfluß,  den  tatsächlich  die  Nützung  der 
Edelmetalle,  ihre  Vermehrung  und  ihre  Verminderung  auf  den 
Gang  der  Kultur  ausgeübt  haben. 

II.  Die  reale  Bedeutung  der  Edelmetalle 

Die  voraufgehende  Darstellung  hat  die  Beantwortung  der 
Frage:  welche  reale  Bedeutung  die  Edelmetalle  und  die  Ge¬ 
staltung  ihrer  Produktionsverhältnisse  nach  Menge  und  Art  für 
das  Wirtschaftsleben  haben,  vorbereitet;  die  Antwort  selber 
wird  in  den  folgenden  beiden  Kapiteln  sowie  in  diesem  Werke 
enthalten  sein.  Hier  soll  nur  vorerst  ein  kurzer  Hinweis  ge¬ 
geben  werden  auf  die  Vielseitigkeit  und  Mannigfaltigkeit  der 
Wirkungen,  die  die  Edelmetalle  auszuüben  imstande  sind:  soll 
ihre  Bedeutung  für  das  Wirtschaftsleben  in  schematischer  Ge¬ 
stalt  zum  Ausdruck  gebracht  werden,  damit  unser  Augen¬ 
merk  von  vornherein  auf  die  verschiedenen  Zusammenhänge 
hingelenkt  werde,  in  denen  Sachwirkungen  der  Edelmetalle 
zutage  treten  oder  verborgen  sein  können.  Denn  das  ist  die 
Beobachtung,  die  sich  jedem  aufdrängt,  der  die  früheren  Ver- 


Zweiunddreißigstes  Kapitel:  Bedeutung  d. Edelmetalle  f.  d. Wirtschaftsleben  539 

suche  ähnlicher  Art:  die  Rolle  der  Edelmetalle  im  Ablauf  der 
Geschichte  zu  schildern,  überblickt:  so  oft  die  Frage  nach  der 
Bedeutung  der  Edelmetalle  für  das  Wirtschafts-  (und  weiterhin 
alles  Kultur-)  Leben  gestellt  ist :  ihre  erschöpfende  Beantwortung 
ist  noch  immer  unterblieben,  sei  es  daß  man  dem  Problem  nicht 
systematisch  genug  zu  Leibe  ging,  sei  es  (was  noch  häufiger 
sich  ereignete)  daß  man  viel  zu  einseitig  nur  diese  oder  jene 
Wirkung,  ja  in  der  Regel  nur  eine  einzige  Wirkung  der  Edel¬ 
metalle  (auf  die  Preisbildung)  ins  Auge  faßte,  und  auch  diese 
eine  Wirkung  nicht  gründlich  genug  in  allen  ihren  Verzweigungen 
und  allen  ihren  Nuancierungen  verfolgte. 

Diese  Fehler  möchte  dieses  Werk  vermeiden.  Und  deshalb 
erscheint  es  mir  zunächst  einmal  geboten:  ein  möglichst  voll¬ 
ständiges  Schema  der  denkbaren  Wirkungen,  die  die  Edelmetalle 
je  einmal  ausüben  können  (oder  ausgeübt  haben),  aufzustellen. 

Ich  sagte  schon:  meist  denkt  man  überhaupt  nur  an  die  Ein¬ 
wirkung  der  Edelmetalle  auf  die  Preisbildung.  Demgegenüber 
ist  nun  gleich  von  vornherein  festzustellen,  daß  die  Bedeutung 
der  Edelmetalle  sich  auch  äußern  kann,  ohne  daß  sie  überhaupt 
oder  wenigstens  ehe  sie  einen  Einfluß  auf  die  Preise  ausüben, 
ja  sogar  ehe  sie  zur  Geldware  geworden  sind.  Wir  müssen  also 
unterscheiden : 

1.  Wirkungen  unmittelbarer  und  mittelbarer  Art, 
d.  h.  Wirkungen  der  Edelmetalle  als  bloßes  Gebrauchsgut  und 
Wirkungen  als  Geld.  Wenn  die  Wirkung  auf  dem  zuletzt  be- 
zeichneten  Wege  erfolgt,  so  wird  sie  wesensverschieden  sein-, 

2.  je  nachdem  es  sich  um  eine  bloß  quantitative  Be¬ 
einflussung  der  Nachfrage  oder  gleichzeitig  um  eine 
Einwirkung  auf  die  Preise  handelt. 

Von  Bedeutung  für  die  Eigenart  der  Wirkungen  ist 

3.  die  Herkunft  der  Edelmetalle. 

Hier  sind  folgende  verschiedene  Weisen  zu  unterscheiden, 
wie  Edelmetalle  (von  dem  Einzelnen  und  damit  auch  von  einer 
wirtschaftenden  Gesamtheit)  erworben  werden  können: 

a)  direkt:  durch  Raub,  Tributzahlung  unterworfener  Länder 
oder  eigene  Produktion;  oder 

b)  indirekt:  dann  ist  die  erste  Möglichkeit  die,  daß  sie  durch 
den  Handel  in  das  Land  kommen:  als  Bezahlung  für  gelieferte 
Waren.  Es  gibt  aber  noch  andere  Wege,  vor  allem  den  der 
Zahlung,  die  ein  Land  an  das  andere  aus  Schuldverpflichtungen 


540 


Vierter  Abschnitt:  Die  Edelmetallproduktion 


zu  leisten  hat.  Ein  besonderer  Fall  solcher  Schuldzahlungen  ist 
die  Kriegsentschädigung. 

Insoweit  die  Edelmetalle  durch  eigene  Produktion  erworben 
werden,  werden  die  Wirkungen  der  Edelmetalle  große  Ver¬ 
schiedenheit  aufweisen 

4*  je  nach  der  Verschiedenheit  ihrer  Produktions¬ 
verhältnisse:  wer  die  Edelmetalle  zutage  fördert:  ob  Sklaven, 
ob  Handwerker,  ob  Lohnarbeiter ;  wer  an  dem  Ertrage  der  Pro¬ 
duktion  unmittelbar  Anteil  nimmt :  ob  der  Staat  (als  Inhaber  der 
Bergwerke  oder  als  .Regalherr),  ob  kleine  Leute,  ob  spanische 
Granden  oder  Londoner  Geschäftsmänner.  Es  wird  auch  von  Be¬ 
deutung  sein:  wie  die  Berechtigten  ihre  Anteile  empfangen:  ob  als 
Verzinsung  ihres  Kapitals  oder  Vergütung  ihrer  Arbeit;  ob  als 
regelmäßige,  stetig  fließende  Einnahme  oder  als  plötzliche  glück¬ 
spielartige  Zuwendung;  ob  sie  durch  Bergbau  reich  geworden  sind 
oder  in  ärmlichen  Verhältnissen  leben;  ob  sie  durch  ihn  reicher 
werden:- aus  reichen  Leuten  noch  reichere,  aus  armen  Leuten  reiche. 
Wie  ersichtlich,  ist  es  hier  die  verschiedene  Art  und  Weise,  wie 
die  Edelmetallproduktion  auf  die  Einkommensbildung  wirkt,  die 
bedeutungsvoll  für  die  Gestaltung  des  Wirtschaftslebens  wird. 

Insbesondere  wird  wiederum  von  der  Eigenart  der  Ein¬ 
kommensbildung  abhängen 

5.  die  Verschiedenheit  der  Verausgabung,  die  auch 
durch  die  unter  4.  erwähnten  Produktionsweisen  wesentlich  be¬ 
einflußt  wird:  ob  notwendige  Lebensmittel,  ob  Luxusgüter,  ob  Pro¬ 
duktionsmittel  von  den  Überschüssen  der  Edelmetallproduktion 
oder  von  den  indirekt  an  ihnen  gemachten  Profiten  gekauft  werden. 

Nun  leuchtet  aber  sofort  ein,  daß  alle  jene  Möglichkeiten  der 
Wirkungen,  von  denen  bisher  die  Rede  war,  ihr  eigentümliches 
Gepräge  erhalten 

6.  je  nach  dem  Milieu,  in  das  die  Edelmetalle  hin¬ 
einkommen:  insbesondere  je  nach  dem  Wirtschaftssysteme, 
auf  das  sie  wirken  sollen:  ob  dieses  die  Eigenwirtschaft,  die 
erweiterte  Eigenwirtschaft,  das  Handwerk  oder  der  Kapitalismus 
ist,  und  in  welchem  Ent wicklungs Stadium  wiederum  sich  je  das 
Wirtschaftssystem  befindet.  Anders  die  Wirkung  in  der  früh¬ 
kapitalistischen  als  in  der  hochkapitalistischen  Epoche;  anders 
wenn  die  Kreditorganisation  in  einem  Wirtschaftsgebiet  niedrig, 
anders  wenn  sie  hoch  entwickelt  ist:  also  ganz  verschiedene 
Wirkungen  1750—1850—1900. 

Wie  aber  soll  eine  Darstellung  allen  diesen  unendlich  variablen 


ZAveiunddreißigstes  Kapitel:  Bedeutung  d.  Edelmetalle  f.d. Wirtschaftsleben  541 

Wirkungsmöglichkeiten  gerecht  werden,  ohne  sich  ins  Chaos  einer 
unübersichtlichen  Kasuistik  zu  verlieren?  Ich  glaube,  nur  auf 
einem  Wege:  die  allgemeine  Bedeutung  der  Edelmetalle  muß 
im  Hinblick  auf  ein  einzelnes  scharf  gestelltes 
Problem  untersucht  werden.  Und  das  wird  hier  geschehen. 
Wie  ich  schon  in  den  einleitenden  Bemerkungen  zu  diesem  Ab¬ 
schnitte  ausgeführt  habe,  wollen  wir  den  Zusammenhang  zwischen 
Edelmetallproduktion  und  Kapitalismus,  zunächst  aber  deren 
Bedeutung  für  die  Genesis  des  Kapitalismus  zu  er¬ 
kennen  trachten.  In  diesen  Zusammenhang  also  fügen  wir  nun 
die  verschiedenen  Wirkungen  der  Edelmetalle  ein,  indem  wir 
wiederum  feststellen,  daß  sie  sich  vornehmlich 

7.  in  vier  verschiedenen  Richtungen,  auf  vier  ver¬ 
schiedene  Arten  äußern  können. 

Diese  vier  Richtungen  sind: 

a)  die  Staatenbildung, 

b)  die  Seelenbildung, 

c)  die  Vermögensbildung, 

d)  die  Marktbildung'. 

Die  unter  a)  zusammengefaßten  Einwirkungen  haben  wir  zu 
verfolgen  bereits  Gelegenheit  gehabt,  als  wir  die  Wachstums¬ 
bedingungen  des  modernen  Staates  kennen  lernten. 

Ihren  seelenbildenden  Einfluß  üben  die  Edelmetalle  da¬ 
durch  aus,  daß  sie  die  verschiedenen  Seiten  des  kapitalistischen 
Geistes  zur  Entfaltung  bringen,  wenn  sie  entweder  durch  plötz¬ 
liche  und  starke  Vermehrung  den  Erwerbstrieb  zum  Erwerbs- 
paroxismus  steigern  und  den  Spekulationsgeist  entfalten  oder 
durch  ihre  ständige  Verwendung  als  Geld  den  rechnerischen 
Sinn  entwickeln  helfen.  Dieser  Teil  ihrer  Wirkung  kommt  in 
diesem  Werke,  in  dem  der  kapitalistische  Geist  nicht  ab¬ 
geleitet,  sondern  als  gegeben  angenommen  wird,  nicht  zur 
Darstellung ;  ich  habe  mich  vielmehr  darüber  bereits  an  anderer 
Stelle  geäußert1. 

Vermögenbildende  Kraft  besitzen  die  Edelmetalle  und 
haben  sie  in  mehr  als  einer  Richtung  bewiesen:  bei  ihrer  Ge¬ 
winnung  sowohl  als  bei  ihrer  Verwandlung  in  Geld.  Es  ist  er¬ 
sichtlich,  daß  diese  Kraft  in  demselben  Maße  wachsen  muß,  als 
die  Produktion  von  Edelmetallen  gesteigert  wird,  und  daß  die 
Formen  der  Vermögensbildung  abhängen  von  der  Organisation 


1  Siehe  meinen  Bourgeois,  das  25.  Kapitel. 


542 


Vierter  Abschnitt:  Die  Edelmetallproduktion 


des  Bergbaus  und  der  Verwertung  der  Edelmetalle,  weshalb  es 
so  wichtig  ist,  von  diesen  Dingen  sich  genaue  Kenntnisse  zu 
verschaffen.  Neben  dieser  —  wie  man  sie  nennen  kann  —  un¬ 
mittelbaren  Vermögensbildung,  die  sich  an  die  Edelmetalle  an¬ 
knüpft  und  der  ich  im  42.  Kapitel  nachgehe,  gibt  es  dann  noch 
eine  andere,  mittelbare  Art  des  Einflusses,  den  die  Edelmetalle 
als  Vermögensbildner  ausüben:  durch  das  Medium  der  Preis¬ 
bildung. 

Endlich  erscheinen  die  Edelmetalle  als  Marktbildner.  Als 
solche  äußern  sie  ihre  Wirkung  in  vierfacher  Hinsicht: 

1.  sofern  sie  den  Übergang  zur  marktmäßigen  Pro¬ 
duktion  überhaupt  erst  ermöglichen:  eine  Wirkung, 
der  wir  bereits  früher  auf  die  Spur  gekommen  sind:  siehe  oben 
Kapitel  8.  H.  4; 

2.  sofern  sie  als  stete  (Nur-)  Nachfrage  nach  Waren  den 
Markt  genau  in  dem  Maße  ausweiten,  als  die  Menge  der 
neu  zutage  geförderten  Edelmetalle  anschwillt; 

8.  sofern  sie  als  Bedingung  erscheinen,  damit  die  durch  Ver¬ 
mögenssteigerung  hervorgerufene  Mehrnachfrage  nach 
Waren  sich  betätigen  könne; 

4.  sofern  sie  die  Preise  beeinflussen,  also  im  Palle 
einer'preissteigemden  Wirkung  eine  allgemeine  Aufwärtsbewegung 
der  Konjunktur  zu  erzeugen  imstande  sind. 

Die  meisten  der  hier  behaupteten  Zusammenhänge  werden 
sich  je  am  passenden  Ort  durch  bloßen  Augenschein  unschwer 
wahrnehmen  lassen:  auf  sie  hinweisen  heißt  schon  sie  aufdecken, 
denn  sie  liegen  bloß  zutage,  wie  Waschgold,  das  man  leicht 
greifen  kann.  Dagegen  bedarf  es  in  einem  Fall  eines  etwas  um¬ 
ständlicheren  Verfahrens:  um  die  Erkenntnis  zu  gewinnen,  daß 
und  weshalb  die  Edelmetalle  einen  Einfluß  auf  die  Preise  und 
dadurch  sei  es  auf  die  Vermögensbildung,  sei  es  auf  die  Markt¬ 
bildung  ausüben  können  und  während  der  frühkapitalistischen 
Epoche  ausgeübt  haben.  Diese  Erkenntnis  ist  dem  Golde  ver¬ 
gleichbar,  das  sich  durch  die  goldhaltigen  Erze  in  dünnen  Adern 
hinzieht  und  das  mit  einem  kunstvollen  Apparate  abgebaut  werden 
muß. 

Die  folgenden  Kapitel  sollen  dem  Zwecke  dienen,  die  Zu¬ 
sammenhänge  zwischen  Edelmetallproduktion  und  Preisbildung 
aufzudecken:  theoretisch  (Kapitel  33)  und  empirisch  -  historisch 
(Kapitel  34). 


543 


Dreiunddreifsigstes  Kapitel 

Geldwert  und  Preis 

Literatur 

Das  Problem  wird  in  jedem  Lehrbuch  der  politischen  Ökonomie 
abgehandelt.  Von  deutschen  Lehrbüchern  seien  diejenigen  von 
Philippovich  und  Ad.  Wagner  besonders  genannt.  Eine  gute 
Übersicht  über  den  Stand  der  Forschung  gibt  P.  S.  Alt  mann  in 
dem  Artikel  „Quantitätstheorie“  im  HSt. 3,  woselbst  der  Leser  auch 
weitere  Literatur  findet.  Für  die  Dogmengeschichte  verweise  ich 
noch  auf  das  Buch  von  F.  Hoffmann,  Kritische  Dogmengeschichte 
der  Geldwerttheorie.  1907. 

Aus  der  neuesten  Literatur  verdient  hervorgehoben  zu  werden  das 
Buch  von  Irving  Fisher,  The  Purchasing  Power  of  Money.  1911. 
New  and  revised  ed.  1913,  vor  allem  wegen  der  Entschlossenheit,  mit 
der  sein  Verfasser  sich  der  viel  gelästerten  Quantitätstheorie  wieder 
annimmt.  Leider  kann  ich  nicht  finden,  daß  F.,  der  im  wesentlichen 
auf  dem  Boden  der  „naiven“  Quantitätstheorie  steht,  der  unzweifel¬ 
haft  richtigen  und  wichtigen  Erkenntnis,  daß  die  Menge  des  Geldes, 
insonderheit  die  Produktionsverhältnisse  der  Edelmetalle,  von  be¬ 
stimmendem  Einfluß  auf  die  Höhenlage  der  Preise  sind,  neue  Stützen 
verschafft  habe.  Mit  den  Argumenten  der  klassischen  Quantitäts¬ 
theoretiker  kann  man  das  nicht.  —  Im  Vorbeigehen  sei  darauf  auf¬ 
merksam  gemacht,  welch  vortreffliches  Schulbeispiel  der  Streit  um 
die  Quantitätstheorie  für  „die  Herrschaft  des  Worts“  in  unserer 
Wissenschaft  ist.  Die  meisten  Schriftsteller  verbinden  mit  dem 
Worte  Quantitätstheorie  die  Vorstellungen  der  alten  Schule  und 
sind  dadurch  für  jede  neue  Belebung  der  Materie  taub. 


I.  Die  „Preisgesetze“ 

Es  kann  nicht  meine  Aufgabe  an  dieser  Stelle  sein,  eine  aus¬ 
führliche  Preislehre  zu  entwickeln.  Vielmehr  muß  es  genügen, 
diejenigen  Punkte  zu  belichten,  die  mir  bei  meiner  Beweis¬ 
führung  von  besonderer  Bedeutung  zu  sein  scheinen. 

Ich  stehe  im  wesentlichen  auf  dem  Boden  der  „klassischen“ 
Preislehre  und  halte  also  das  „Gesetz  von  Angebot  und  Nach¬ 
frage“  sowie  das  „Produktionskostengesetz“  für  die  besten 
Fassungen  der  „Preisgesetze“ ,  über  deren  Natur  selbst  ich 


\ 


544 


Vierter  Abschnitt:  Die  Edelmetallproduktioii 


folgendes,  um  Mißverständnissen  vorzubeugen,  ausdrücklich  be¬ 
merken  möchte. 

Die  Preisgesetze,  deren  Formulierung  eine  der  wichtigsten 
Aufgaben  der  sog.  „theoretischen  Nationalökonomie“  bildet,  sind 
Hilfsmittel  unseres  Denkens,  die  wir  zu  dem  Zwecke  bilden,  um 
die  empirisch-historische  Preisgestaltung  zu  begreifen.  Sie  stellen 
nicht  den  wirklichen  Verlauf  der  Preisbildung  dar,  sondern 
geben  eine  schematisierte  Vorstellung,  wie  diese  unter  bestimmten 
Voraussetzungen  verlaufen  würde. 

„Preisgesetze“  sind  Begriffsbilder,  die  in  der  Weise  entstehen, 
daß  wir  eine  der  im  wirklichen  Leben  wirksamen  Ursachen 
(Motive)  in  ihrer  Wirksamkeit  verfolgen  unter  der  Annahme, 

1.  daß  diese  Ursache  immer  gleich  und  immer  gleich  stark 
bleibt ; 

2.  daß  sie  unter  immer  gleichen  Bedingungen,  die  wir  eben¬ 
falls  bestimmen,  wirkt. 

Das  Motiv,  dessen  Wirksamkeit  wir  verfolgen,  ist  das  Be¬ 
streben,  so  vorteilhaft  wie  möglich  eine  Kaufhandlung  zu  voll¬ 
ziehen;  das  Bestreben  also  des  Verkäufers,  so  teuer  wie  möglich 
zu  verkaufen,  des  Käufers,  so  billig  wie  möglich  einzukaufen. 
Die  Bedingungen,  die  wir  als  gegebenes  Mittel  voraussetzen,  sind 
folgende : 

a)  volle  Rationalität  der  Käufer  und  Verkäufer:  sie  sollen 
allein  durch  das  genannte  Motiv  sich  bei  ihren  Handlungen 
leiten  lassen  und  sollen  durchaus  wissen,  wo  sie  ihren  Vor¬ 
teil  zu  suchen  haben,  sollen  also  stets  über  die  günstigste 
Kaufgelegenheit  usw.  unterrichtet  sein; 

b)  freier  Verkehr:  die  Möglichkeit  für  den  Käufer  soll  be¬ 
stehen,  die  als  beste  erkannte  Kaufgelegenheit  auch  jeder¬ 
zeit  aufzusuchen,  ebenso  die  Möglichkeit  für  den  Verkäufer, 
Handel  und  Produktion  in  eine  Richtung  zu  lenken,  wo 
ihnen  die  höchsten  Gewinne  zuteil  werden; 

c)  daß  schon  Preise  bestehen.  Das  ist  besonders  wichtig,  ein¬ 
zusehen,  daß  der  Preis  ein  A  priori  der  Preis¬ 
gesetze  ist. 

Die  Preise  folgen  in  Wirklichkeit  niemals  (oder  höchstens 
durch  Zufall)  den  aufgestellten  Preisregeln,  weil  eben  die  dazu 
notwendigen  Voraussetzungen  niemals  in  vollem  Umfange  zu¬ 
treffen. 

Eine  oder  mehrere  der  folgenden  Abweichungen  wird  sich  immer 
einstellen : 


Dreiunddreißigstes  Kapitel:  Geldwert  und  Preis 


545 


1.  neben  dem  Streben  nach  dem  höchsten  Vorteile  sind  andere 
Motive  wirksam :  der  Sinn  für  Tradition ,  wenn  ich  einem  Schneider 
treu  bleibe,  weil  er  30  Jahre  lang  mein  Schneider  war;  Mitleid,  wenn 
ich  dem  alten  Schuster  die  Stiefeln  in  Auftrag  gebe,  weil  er  alt  und 
gebrechlich  ist;  Bequemlichkeit,  wenn  ich  im  nächsten  Laden  ein- 
kaufe ;  Standesrücksichten ,  wenn  ich  nur  in  eleganten  Geschäften 
kaufe;  Modesucht,  wenn  ich  Warenhäuser  frequentiere;  politische 
Grundsätze ,  wenn  ich  jüdische  Geschäfte  vermeide  usw.  usw.  (was 
in  diesem  Falle  wirklich  nicht  nur  eine  fagon  de  parier  ist,  da  es 
unzählige  Seelenregungen  geben  kann,  die  den  Preis  bestimmen) ; 

2.  die  Rationalität  besteht  nicht:  wir  wissen  sehr  häufig  nicht,  wo 
es  die  billigsten  Waren  zu  kaufen  gibt;  der  Verkäufer  weiß  sehr 
häufig  nicht,  wo  die  stärkste  Nachfrage  herrscht; 

3.  die  Verkehrsfreiheit  besteht  nicht  für  die  Warenbewegung: 
allerlei  künstliche  (gesetzliche !)  und  natürliche  Hindernisse  treten  dem 
Warenbesitzer  in  den  Weg,  der  seine  Waren  an  den  Ort,  der  die 
günstigsten  Absatzbedingungen  hat,  bringen  will ; 

4.  die  Verkehrsfreiheit  besteht  nicht  für  Kapital  und  Arbeit:  die 
Produktion  kann  in  Wirklichkeit  nicht  immer  (oder  meistens  nicht) 
so  rasch  ausgedehnt  werden,  wie  unser  Schema  voraussetzt;  der  Preis 
kann  also  längere  Zeit  über  dem  rationalen  Preise  verharren.  Ebenso¬ 
wenig  wh'd  die  Produktion  in  dem  erforderlichen  Maße  eingeschränkt, 
wenn  die  Preise  unter  den  „natürlichen“  Preis  sinken,  weil  die  Anlagen 
verwertet  werden  sollen,  die  Arbeiter  (Handwerker)  nicht  sofort  um¬ 
lernen  können  usw.  Der  Preis  verharrt  also  unter  Umständen  lange 
Zeit  unter  dem  rationalen  Preise; 

5.  ein  und  derselbe  Warenverkäufer  (Produzent,  Händler)  berechnet 
seinen  Profit  häufig  nicht  gleichmäßig  auf  die  sämtlichen  Waren,  die 
er  verkauft ,  sondern  setzt  einige  von  ihnen  vielleicht  ohne  Profit, 
andere  sogar  mit  Verlust  ab,  weil  er  an  andern  um  so  mehr  verdient : 
die  Folge  sind  Preise  für  einzelne  Gegenstände,  die  über,  für  andere, 
die  unter  ihrem  rationalen  Preise  stehen  (und  doch  in  ihrer  Gesamt¬ 
heit  dem  Preisgesetz  gemäß  gebildet  werden) :  sogenannte  zusammen¬ 
hängende  Preise. 

In  Summa :  ein  Chaos  verschiedener  Einzelheiten.  Aber  —  in 
einem  nur  einige  Verkehrsfreiheit  genießenden  Wirtschafts¬ 
gebiete  —  doch  eine  gewisse  Regelmäßigkeit,  die  dadurch  hervor¬ 
gerufen  wird,  daß  das  dem  Preisschema  zugrunde  gelegte  Motiv 
doch  immer  (als  Konstante)  wirksam  ist,  die  andern  nicht  mit 
gleicher  Regelmäßigkeit.  Das  Bild  des  sturmgopeitschten  Meeres, 
dessen  Oberfläche  von  tausend  und  abertausend  Wellen  ge¬ 
kräuselt  und  dessen  Wasser  doch  von  ganz  großen  Wellen  in 
gleichförmiger  Bewegung  gehalten  wird. 

Die  „Preisgesetze“  sollen  zunächst  nur  dazu  dienen,  um  die 
Wirkung  zu  bezeichnen,  die  durch  Veränderungen  im  Tauschwert 
der  Waren  herbeigeführt  werden.  Da  nun  aber  im  Preise  eine 

Sombart,  Der  moderne  Kapitalismus.  I.  35 


546  Vierter  Abschnitt:  Die  Edelmetallproduktioü 

Gleichung  zwischen  dem  Tauschwert  des  Geldes  und  dem  der 
Ware  enthalten  ist,  so  wird  man  Preisveränderungen  nicht  nur 
von  der  Warenseite  her,  sondern  auch  von  der  Geldseite  her  zu 
erklären  suchen  müssen.  Es  ist  von  vornherein  einleuchtend,  daß 
auch  im  Geldwerte  Veränderungen  ein  treten  können  und  daß 
eine  solche  Veränderung  —  im  umgekehrten  Sinne  —  den  Preis 
wird  beeinflussen  können:  sinkt  der  Geldwert,  müssen  die  Preise 
steigen,  steigt  er,  müssen  sie  sinken.  Es  ist  an  dieser  Stelle 
gerade  diesem  Einflüsse  der  Veränderungen  im  Geldwerte  auf  die 
Preise  nachzugehen,  da  ich  ihn  historisch  besonders  hoch  ein¬ 
schätze.  Deshalb  werde  ich  im  folgenden,  abweichend  von  dem 
bisherigen  Verfahren ,  ausführlich  den  Zusammenhang 
zwischen  Geldwert  und  Preis  erörtern.  Ich  antworte 
damit  gleich  auf  so  viele  Fragen,  die  man  in  der  Kritik  zu 
diesem  Punkte  an  mich  gerichtet  hat. 

II.  Die  Anwendung  der  Preisgesetze  auf  das  Geld 

Eine  frühere ,  naive  Zeit  nahm  ohne  viel  Kopfzerbrechen 
gleichsam  als  etwas  Selbstverständliches  an,  daß  ein  Zusammen¬ 
hang  zwischen  Geldwert  und  Preis  obwalte  und  wußte  auch 
schon,  wodurch  der  Geldwert  bestimmt  wurde  :  durch  die  Menge 
des  vorhandenen  Geldes.  Das  sind  die  Anhänger  der  von  uns 
als  Quantitätstheorie  alterPrägung  bezeichneten  Lehre, 
die  in  ihren  Reihen  die  besten  Köpfe :  Locke,  H u m e ,  Mon¬ 
tesquieu  und  andere,  gezählt  haben.  Sie  leiteten  die  Preishöhe 
ab  aus  der  Menge  der  in  einem  Lande  umlaufenden  Geldmenge, 
indem  sie  einfach  die  Summe  der  zu  bezahlenden  Preise  in  die 
Wertsumme  der  vorhandenen  Münzen  dividierten.  Vermehrte 
sich  nun  deren  Menge,  das  heißt  vergrößerte  sich  der  Dividendus, 
während  der  Divisor  (die  Größe  des  Warenumsatzes)  gleich  blieb, 
so  mußte  sich  ihrer  Meinung  nach,  die  sich  ausschließlich  auf 
die  Autorität  von  Adam  Riese  stützte,  der  Quotient,  eben  der 
Warenpreis,  ebenfalls  vergrößern.  Umgekehrt,  umgekehrt. 

Diese  Betrachtungsweise  erscheint  uns  heute  so  naiv,  daß 
wir  nicht  recht  zu  begreifen  vermögen,  wie  so  hervorragende 
Denker,  die  in  allen  andern  Dingen  so  klar  sahen,  sie  sich  zu 
eigen  machen  konnten.  Die  Erklärung  mag  wohl  darin  liegen, 
daß  jener  Zeit  die  uns  heute  so  selbstverständliche  psychologische 
Erklärung  aller  sozialen  und  somit  auch  ökonomischen  Vorgänge 
fern  lag  und  daß  sie  das  Groteske  nicht  empfanden,  das  in  dem 
Versuche  liegt,  einen  Willensakt,  wie  die  Preisbildung,  ohne  jede 


Dreiunddreißigstes  Kapitel:  Geldwert  und  Preis  54? 

Beziehung  zu  seinen  seelischen  Gründen  erklären  zu  wollen.  Für 
uns  ist  das  mechanische  Divisionsverfahren  der  naiven  Quantitäts- 
theoretiker  schiere  Mystik  und  überhaupt  nicht  einer  Erörterung- 
wert. 

Übrigens  gab  es  während  der  frühkapitalistischen  Epoche  Fälle,  in 
denen  wirklich  die  Preise-  auf  scheinbar  rein  mechanischem  Wege 
durch  Divisionsverfahren  zustande  kamen.  Ein  solcher  Fall  war  die 
Preisbildung  auf  den  Messen  von  Vera  Cruz  und  Portobelo,  auf  denen 
sich,  wie  bekannt,  fast  der  gesamte  Güteraustausch  zwischen  den 
europäischen  und  den  Süber  produzierenden  Ländern  Süd-  und  Mittel¬ 
amerikas  vollzog.  Hier  begegneten  sich  also  Süberproduzenten  und 
Warenverkäufer  unmittelbar.  Die  Menge  der  auf  die  Messen  geführten 
Waren  war  natürlich  eine  gegebene,  ebenso  die  Menge  des  von  den 
Käufern  gewonnenen  Edelmetalls.  Da  alle  Waren  verkauft  wurden, 
und  alles  mitgebrachte  Edelmetall  (Geld)  verausgabt  wurde,  so  richtete 
sich  der  jeweilige  Preis  nach  der  (nicht  vorausbestimmbaren,  zufälligen) 
Menge  Geldes ,  das  sich  in  den  Händen  der  Nachfragenden  befand. 
Dieser  Tatbestand  wird  anschaulich  gemacht  von  Ulloa,  Retablisse¬ 
ment  2,  101.  Vgl.  auch  Ricard,  Neg.  d’Amst.  528. 

Natürlich  lag  auch  dieser  scheinbar  mechanischen  Preisbildung  ein 
seelischer  Vorgang  zugrunde.  Aber  die  Wirkung  war  doch  frappant 
und  konnte  schon  zur  Aufstellung  der  alten  Quantitätstheorie  einen 
Anlaß  bieten. 

Wir  wissen  heute:  eine  soziale  Theorie  wird  psychologisch 
begründet  sein  oder  sie  wird  nicht  sein.  Zu  den  psychologisch 
begründeten  Preistheorien  gehört  diejenige,  wonach  Angebot  und 
Nachfrage  den  Preis  bestimmen.  Denn  hinter  den  Abstrakten  An¬ 
gebot  und  Nachfrage  stecken  doch  die  Nöte  des  Verkäufers  und 
die  Süchte  des  Käufers.  Seelische  Vorgänge  (wie  objektiv  auch 
immer  bestimmt)  führen  dazu,  die  Preise  zu  steigern  oder  zu 
senken.  Deshalb  werden  wir  jenen  Preistheoretikern,  die  das 
Gesetz  von  Angebot  und  Nachfrage  auf  die  Geldware  anwenden 
und  nach  ihm  den  Geldwert  steigen  oder  fallen  lassen  wollen, 
immerhin  mehr  Gehör  schenken  müssen.  Soviel  ich  sehe,  ist 
es  die  große  Mehrzahl  der  nachklassischen  Nationalökonomen, 
die  in  dieser  Weise  einen  Zusammenhang  zwischen  Geldwert 
und  Preis  herzustellen  suchen.  So  wenn  Roscher  schreibt 1 : 
„Es  handelt  sich  hier  zunächst  um  die  Anwendung  der  all¬ 
gemeinsten  Preisgesetze.  Also  Angebot  und  Nachfrage  des 
Geldes.“ 

Es  ist  nicht  schwer,  nachzuweisen,  daß  diese  schematische 
Übertragung  der  Warenpreisgesetze  auf  die  Geldwertbildung  un- 


1  Roscher,  System  Bd.  I,  §  122. 


35* 


548  Vierter  Abschnitt:  Die  Edelmetallproduktion 

statthaft;  ist.  Aus  dem  sehr  einfachen  Grunde ,  weil  es  für  die 
Geldware  ein  Angebot  und  eine  Nachfrage  in  dem  Sinne,  den 
wir  diesen  Begriffen  für  die  gemeinen  Waren  unterlegten,  über¬ 
haupt  nicht  gibt1. 

Diese  Erwägungen  haben  dann  manchen  dazu  geführt:  nun 
überhaupt  die  Möglichkeit  zu  leugnen,  daß  von  der  Geldseite 
her  eine  Beeinflussung  der  Preise  stattfinden  könne. 

Das  heißt  aber  wiederum  zu  weit  gehen.  Wenn  eine  Beweis¬ 
führung  als  irrtümlich  erkannt  ist,  braucht  das  zu  Beweisende 
noch  nicht  falsch  zu  sein.  Ich  glaube,  daß  sehr  wohl  Ver¬ 
änderungen  des  Geldwertes  stattfinden  und  bestimmend  auf 
die  Preise  wirken  können.  Nur  daß  die  Zusammenhänge,  die 
zwischen  dem  Geldwerte  und  den  Preisen  obwalten,  auf  anderm 
Wege  gefunden  werden  müssen,  als  man  bisher  versucht  hat. 
Sehen  wir  nach,  auf  welchem. 

Am  besten :  wir  nehmen  unsern  Ausgangspunkt  von  dem  Edel¬ 
metallproduzenten  und  seiner  ganz  einzigen  Stellung  im  Wirt¬ 
schaftsleben.  Er  ist  der  einzige  unter  allen  Produzenten,  der 
seine  Waren  nicht  zu  verkaufen  braucht  und  sie  doch  ver¬ 
werten  kann.  Damit  aber,  daß  er  der  einzige  Nichtverkäufer 
ist,  wird  er  zum  einzigen  Nurkäufer.  Er  kann  kaufen  —  er 
allein  —  ehe  er  verkauft  hat.  Seine  Produkte  stellen 
kein  Angebot  dar,  wie  alle  andern,  sondern  Nach¬ 
frage.  Denn  sie  sind  schlechthin  austauschfähig,  schlechthin 
absatzfähig:  in  welcher  Menge  auch  immer  sie  erzeugt  werden. 
Aus  den  Tiefen  der  Silberbergwerke,  der  Goldminen  und  gold¬ 
führenden  Ströme  quillt  also  ununterbrochen  eine  Nachfrage  nach 
Gütern,  die  gleichsam  aus  dem  Nichts  hervorbricht,  die,  solange 
sie  da  ist,  keine  Unterbrechung  erfahren  kann,  die  eine  neue 
Welt  des  Begehrs  immerfort  schafft:  eine  Quelle  ökonomischen 
Lebens,  wie  sie  nirgends  sonst  fließen  kann. 

Sollte  von  dieser  Stelle  aus  nicht  das  Wertverhältnis  zwischen 
Edelmetallen  und  Waren  maßgebend  beeinflußt  werden  können? 
Ich  denke  doch.  Und  zwar  werden  wir  uns  die  Zusammenhänge 
etwa  so  vorstellen  müssen. 


1  Der  Nachweis  ist  schon  öfters  erbracht  worden.  Gute  Aus¬ 
führungen  finden  sich  darüber  bei  Philippovich,  Grundriß  der 
pol.  Ökon.  Bd.  I,  auf  den  ich  verweise.  Meine  Argumentation  weicht 
in  wesentlichen  Punkten  von  der  üblichen  ab,  die  sie  sich  in  andern 
wichtigen  Punkten  jedoch  zu  eigen  macht. 


Dreiunddreißigstes  Kapitel:  Geldwert  und  Preis  519 

III.  Die  denkbare  Beeinflussung  der  Preise  durch 
Masse  und  Wert  der  Geld  wäre 

Eine  Veränderung,  sage  eine  Vermehrung,  der  Produktion  der 
Edelmetalle  verändert,  im  angenommenen  Falle:  vermehrt  die 
Nachfrage  nach  Waren,  seien  es  Produktionsmittel,  seien  es 
Genußgüter.  Sobald  das  Produkt  des  Goldproduzenten  in  den 
Verkehr  kommt,  wirkt  es  ja  eben  als  Nachfrage.  Also  werden, 
wenn  sich  die  Masse  des  gewonnenen  Goldes  vermehrt,  die 
Warenpreise  zunächst  der  an  den  Goldproduzenten  angelagerten 
Produktionsgebiete  steigen.  Und  jede  hier  bewirkte  Steigerung 
der  Preise  bedeutet  natürlich  ein  Steigen  der  Nachfrage  abseiten 
der  ersten  Produzentengruppe ,  die  sich  in  einem  Steigen  der 
Preise  in  der  zweiten  Produktionszone  äußern  muß.  Bei  einer 
Verminderung  der  Edelmetallproduktion  ist  der  Verlauf  der  um¬ 
gekehrte. 

Wir  werden  also  unbedenklich  aufstellen  können  den 

1.  Satz:  Jede  Vermehrung  ( Verminderung )  der  Produktion  von 
Edelmetall  ( Geldware )  hat  die  Tendenz,  die  Warenpreise  zu 
erhöhen  {zu  erniedrigen). 

Ob  diese  Preisveränderung  nun  von  Dauer  sein  und  ob  sie 
sich  verallgemeinern,  das  heißt  also  in  einer  Entwertung  der 
Geldware  sich  niederschlagen  wird,  hängt  von  einer  Reihe  be¬ 
sonderer  Umstände  ab.  Zunächst  möchte  ich  folgenden  Satz 
aufstellen : 

2.  Satz:  Eine  Ereisbeeinflussung  durch  die  Produldionsver¬ 
schiebungen  der  Edelmetalle 'kann  immer  nur  kommen,  wenn 
diese  Verschiebung  von  einer  entsprechenden  Veränderung  der 
Produktionsbedingungen ,  das  heißt  von  einer  Herabminderung 
oder  Steigerung  der  Produktionskosten  der  Edelmetalle  be¬ 
gleitet  ist. 

Wir  nehmen  an:  durch  eine  starke  Vermehrung  der  Gold¬ 
produktion  ist  ein  starkes  und  weitgehendes  Steigen  der  Waren¬ 
preise  bewirkt  worden  —  gemäß  unserm  1.  Satz  — ,  die  Kosten 
der  Edelmetallproduktion  sind  aber  dieselben  geblieben.  Die 
Folge  wird  sein,  daß  deren  Geldausdruck  entsprechend  der  all¬ 
gemeinen  Preissteigerung  für  Produktionsmittel  und  Arbeitslöhne 
sich  erhöht.  Wenn  die  Produktion  eines  Pfundes  Goldes  sage 
1000  Mk.  gekostet  hatte,  so  wird  bei  einer  Preissteigerung  um 
50%,  wenn  eine  gleiche  Menge  Maschinen  und  Arbeiter  ver¬ 
wendet  werden,  um  das  Pfund  Gold  zu  gewinnen,  der  Betrag 


550 


Vierter  Abschnitt:  Die  Edelmetallproduktion 


von  1000  Mk.  nunmehr  sich  in  den  Betrag  von  1500  Mk.  ver¬ 
wandeln.  Ein  Pfund  Gold  ist  aber  nach  wie  vor  gleich  1392  Mk. : 
sein  Produzent  setzt  also  bei  jedem  Pfund  108  Mk.  zu,  statt  zu 
verdienen.  Die  Folge  wird  sein,  daß  er  sein  Kapital  zurückzieht, 
den  Betrieb  einstellt.  Damit  fällt  er  aber  als  Nachfrage  aus. 
Wenn  sich  solcherweise  die  Nachfrage  auf  seiten  der  Goldprodu- 
zenten  verringert,  so  entsteht  die  Tendenz,  die  Warenpreise  zum 
Sinken  zu  bringen.  Ist  das  Sinken  weit  genug  fortgeschritten, 
so  wird  die  Produktion  für  unsere  Goldproduzenten  wieder 
lohnend,  er  tritt  wieder  in  Beih  und  Glied,  vermehrt  die  Nach¬ 
frage,  erzeugt  die  Tendenz  zum  Steigen  der  Warenpreise  usw. 
Hier  ist  der  Schematismus  derselbe  wie  bei  der  Preisbildung 
durch  Veränderungen  auf  der  Seite  der  Ware. 

Also :  eine  dauernde  Beeinflussung  der  Preise  durch  eine 
Verschiebung  in  den  Produktionsmengen  der  Edelmetalle  kann 
überhaupt  nur  eintreten,  wenn  gleichzeitig  die  Produktionskosten 
sich  verändert  haben:  muß  sie  alsdann  aber  auch  eintreten; 
oder  wann  muß  sie  alsdann  eintreten? 

Antwort:  das  wird  abhängen  von  der  Größe  der  Edelmetall¬ 
produktion  und  von  ihrem  Verhältnis  zur  Größe  der  Waren¬ 
produktion.  Beweis  ist  etwa  wie  folgt  zu  führen.  Eine  erste 
Preissteigerung  (um  wiederum  mit  dieser  zu  beginnen),  die  sich 
gemäß  unserm  1.  Satze  vollzieht,  wirkt  natürlich  zunächst  profit¬ 
steigernd,  damit  aber  auch  produktionssteigernd.  Die  mehr  und 
zu  höherem  Preise  verlangten  Waren  werden  in  größeren  Mengen 
herbeige  schafft  und  erzeugt  werden.  Damit  ist  (nach  dem  be¬ 
kannten  Warenpreisschema)  die  Gegenbewegung  eingeleitet:  die 
Preise  werden  zu  sinken  beginnen,  bis  sie  den  „natürlichen“ 
Preis,  das  heißt  denjenigen,  bei  dem  die  Durchschnittsprofitrate 
erzielt  wird,  erreicht  haben.  Hat  sich  nun  in  dieser  Zeit  die 
Edelmetallproduktion  nicht  weiter  vermehrt,  so  wird  das  schließ- 
liche  Ergebnis  sein:  daß  die  Edelmetallproduzenten  (wenn  wir 
annehmen ,  daß  sich  ihre .  Produktionsbedingungen  nicht  ver¬ 
schlechtert  haben)  einen  überdurchschnittlichen  Profit  beziehen, 
der  in  dem  erwiesenen  Monopolcharakter  ihrer  Erzeugnisse  seine 
Begründung  findet.  Haben  sich  in  der  Zwischenzeit  die  Pro¬ 
duktionsbedingungen  verschlechtert,  so  war  die  ganze  Preis¬ 
steigerung  eine  Episode. 

Tritt  nun  aber  der  Fall  ein,  daß  die  Edelmetallproduktion 
zu  den  günstigen  oder  immer  günstigeren  Bedingungen  lange 
anhält  |  daß  die  Produktion  der  von  den  Edelmetallproduzenten 


Dreiunddreißigstes  Kapitel:  Geldwert  und  Preis  55 [ 

verlangten  Güter  sich  nicht  so  rasch  vermehren  kann  wie  die 
Nachfrage  erheischt,  so  wird  sich  die  Wirkung  einstellen,  daß  die 
Preise  über  die  erste  Zone  hinaussteigen:  die  ersten  Gewinner 
werden  (dank  ihrer  Extraprofite)  höhere  Preise  auch  ihren  Liefe¬ 
ranten  zahlen,  diese  den  ihrigen  und  so  fort.  Kapital  und  Arbeit 
werden  nicht  Veranlassung  haben,  in  die  zuerst  bevorzugte  Pro¬ 
duktion  ssphäre  abzuströmen,  sondern  werden  an  Ort  und  Stelle 
günstige  Verwertungsbedingungen  vorfinden.  Wenn  dieser  Prozeß 
aber  lange  genug  dauert,  wenn  die  Ringe,  die  der  ins  Wasser 
geworfene  Stein  gebildet  hat,  sich  über  den  ganzen  Teich  ver¬ 
breitet  haben;  unbildlich:  wenn  alle  Zweige  des  Wirtschafts¬ 
lebens  von  der  Preissteigerung  ergriffen  sind,  so  fallt  die  Ver¬ 
anlassung  zu  einer  Gegenbewegung,  die  zu  einer  Preissenkung 
führen  könnte:  das  ist  eine  Vermehrung  der  Produktion  einer 
Güterkategorie  über  den  Bedarf  hinaus,  fort:  da  keine  Sphäre 
mehr  einen  überdurchschnittlichen  Profit  aufweist,  die  Profite 
vielmehr  auf  der  Grundlage  der  allgemein  höheren 
Preise  sich  nivelliert  haben.  Dann  ist  eine  allgemeine 
Senkung  des  Geldwertes,  eine  allgemeine  (und  dauernde)  Preis¬ 
steigerung  zur  Wirklichkeit  geworden. 

In  gleicher  Weise  wiederum  würde  im  umgekehrten  Sinne 
eine  Verschlechterung  der  Produktionsbedingungen  der  Edel¬ 
metalle  wirken.  Nur  daß  diese  sich  wohl  schneller  in  einer 
Preissenkung  ausdrücken  würde.  Der  Vorgang  wäre  der:  daß 
die  Nachfrage  der  Edelmetallproduzenten  sich  verringerte,  infolge 
davon  die  Preise  bei  den  ersten  Lieferanten  sänken  und  nun  von 
diesen  der  Stoß  weitergegeben  würde.  Wie  noch  später  zu  zeigen 
sein  wird,  muß  die  Wirkung  hier  verschieden  sein,  je  nach  der 
allgemeinen  Organisation  des  Wirtschaftslebens:  anders  in  einer 
handwerksmäßigen  Wirtschaft  (15.  Jahrhundert!);  anders  in  einer 
kapitalistischen  Wirtschaft  (1880  er  Jahre).  Gemeinsam  für  alle 
wird  sich  aber  auch  für  diesen  Fall  als  gültig  der  Satz  erweisen, 
den  wir  nunmehr  aufstellen  können  als 

3.  Satz:  Die  Verallgemeinerung  der  Preisveränderung  hängt 
ah  von  dem  Größenverhältnis  der  Edelmetallproduktion  zur 
Warenproduktion. 

Nicht  erst  der  besonderen  Erwähnung  bedarf  es,  daß  das  auf 
den  vorhergehenden  Blättern  entwickelte  Schema  der  Geldwert¬ 
bildung  ganz  ebenso  ideellen  Charakters  ist,  wie  es  das  Schema 
der  Warenpreisbildung  ist;  daß  in  Wirklichkeit  dieselben 
Unregelmäßigkeiten  die  schematisch  reine  Entwicklung 


552 


Vierter  Abschnitt:  Die  Edelmetallproduktion 


stören  hier  wie  dort.  "Was  aber  noch  hervorgehoben  und  an- 
gemerkt  zu  werden  verdient,  ist  dieses:  daß  zu  allen  den  die 
Warenpreisbildung  „zufällig“  beeinflussenden  Umständen  noch 
eine  Reihe  von  Unregelmäßigkeiten  hinzukommt,  die  der  Geld¬ 
wertbildung  eigentümlich  sind.  Sie  entstammen  sämtlich  der 
besonderen  Art,  unter  der  die  Beschaffung  von  Edelmetallen  vor 
sich  geht  und  sind  vornehmlich  folgende: 

1.  die  Voraussetzung,  daß  die  Edelmetallproduktion  den  durch¬ 
schnittlichen  Profit  abwerfen  müsse,  trifft  noch  viel  häufiger 
nicht  zu  als  bei  der  Warenproduktion.  Weil  gerade  bei  ihr  be¬ 
sonders  oft  ohne  allen  Profit  weiter  gearbeitet  wird  in  der  Hoff¬ 
nung  auf  zukünftigen  Gewinn.  Es  ist  bekannt,  daß  von  den 
Goldsuchern  die  meisten  zugrunde  gehen;  es  ist  ebenso  bekannt, 
daß  unter  den  Gold-  wie  Silberminen  zu  jeder  Zeit  ein  großer 
(meist  der  größte)  Teil  ohne  Gewinn  betrieben  wird. 

In  Joachimsthal  (um  an  ein  paar  Beispielen  das  Gesagte  zu 
verdeutlichen)  gab  es  (nach  Sternberg  l1,  426): 


im  Jahre 

Ausbeutezechen 

Zubußzechen 

1525 

125 

471 

1535 

217 

697 

1545 

120 

452 

1555 

83 

312 

1565 

63 

237 

1575 

34 

128 

Ebenso  wird  die  Vorstellung  einer  verkehrsfreien  Regelung  der 
Produktion  unter  dem  Gesichtspunkt  des  durchschnittlichen  Er¬ 
trages  über  den  Haufen  geworfen  durch  die  gerade  wieder  bei 
der  Edelmetallerzeugung  häufige  Verwendung  unfreier  Arbeiter ; 

2.  umgekehrt  ist  es  wohl  nur  bei  den  Edelmetallen  möglich, 
daß  große  Mengen  von  ihnen  in  den  Verkehr  gebracht  werden, 
die  überhaupt  keine  Herstellungskosten  verursacht  haben,  wenn 
sie  auf  dem  Wege  des  Raubes  und  der  Beute  erworben  worden 
sind ; 

3.  die  Edelmetalle  scheiden  zu  Zeiten  überhaupt  aus  der  Reihe 
der  vermehrbaren  Güter  aus;  wenn  etwa  alle  bekannten  Abbau¬ 
stellen  erschöpft  sind  oder  der  Betrieb  an  den  bekannten  Stellen 
(aus  technischen  Gründen :  Wassernot!)  nicht  fortgesetzt  werden 
kann.  Damit  werden  sie  Monopolgüter,  und  alle  Aussagen  über 
ihre  Produktionsbedingungen  sind  hinfällig; 

4.  auch  solange  sie  vermehrbar  sind,  sind  die  Produktions- 


Dreiunddreißigstes  Kapitel:  Geldwert  und  Preis 


553 


kosten,  die  ihren  Tauschwert  bestimmen,  nicht  immer  gleicher 
Natur.  Bald  sind  es  die  Produktionskosten  der  ergiebigsten, 
bald  die  der  unergiebigsten  Mine,  die  auf  den  Preis  bestimmend 
ein  wirken. 

*  * 

* 

Nunmehr  steigen  wir  mit  den  Lichtern,  die  wir  uns  in  diesen 
schematischen  Betrachtungen  aufgesteckt  haben,  wiederum  in  das 
Dunkel  der  Geschickte  hinunter  und  schauen  zu,  ob  wir  in  dem 
Verlauf  sinnvolle  Zusammenhänge  nachzuweisen  vermögen  der 
Art,  wie  wir  sie  in  Gedanken  einstweilen  uns  vorgestellt  haben. 


554 


Vierunddreifsigstes  Kapitel 

Die  Gestaltung  der  Preise  während  der  früh- 
kapitalistischen  Epoche 

Quellen  und  Literatur 

Über  das  Tatsächliche  unterrichten  folgende  Werke : 

Italien:  Carli,  Delle  monete,  in  den  Scrittori  dass.  P,  M.  Vol.  13. 
Cibrario,  Dell’  economia  politica  del  medio  evo.  2  ed.  1842.  Vol.  III. 

Frankreich:  (Dupre  de  St.  Maur),  Essai  sur  les  monnoies  ou 
reflexions  sur  le  rapport  entre  l’argent  et  les  denrees.  1746. 
G.  d  ’  A  v  e  n  e  1 ,  Histoire  economique  de  la  valeur  et  du  revenu  de  la 
terre  du  XIII  sc.  jusqu’au  commencement  du  XVII  sc.  6  Vol. 
1894  ff.  Daraus  ein  Auszug  von  demselben:  La  fortune  privee  ä 
travers  sept  siecles.  1895.  Leber,  Essay  sur  l’appreciation  de  la 
fortune  privee  au  moyen  age.  2  ed.  1847.  A.  Hanauer,  Etudes 
economiques  sur  l’Alsace  ancienne  et  moderne.  2.  Vol.  1878.  (Denrees 
et  salaires.) 

England:  Fleetwood,  Chronicon  preciosum  or  an  account  of 
English  gold  and  silver  money,  the  price  of  corn  and  other  Com¬ 
modities  ec.  ec.  1745  (die  beste  Ausgabe).  Fl.  war  die  Hauptquelle 
für  die  meisten  preisgeschichtlichen  Exkurse  bei  Ad.  Smith.  Th. 
Rogers,  A  History  of  agriculture  and  prices  in  England  from  the 
year  after  the  Oxford  Parliament  (1259)  to  the  commencement  of  the 
Continental  war  (1793).  7  Vol.  1866—1902.  Rogers  selbst  sowie 

sein  Sohn  haben  mehrfach  Auszüge  aus  dem  großen  Werk  gemacht. 
Tooke  and  Newmarch,  A  History  of  Prices  and  the  State  of  the 
Circulation  from  1793 — 1856.  6  Vol.  Deutsch  von  C.  W.  Asher 

2  Bde.  1859—62. 

Niederlande:  Hub.  van  Houtte,  Documents  pour  servir  ä 
l’histoire  des  prix  de  1381  ä  1794.  Academie  royale  de  Belgique. 
Commission  royale  d’Histoire.  1902. 

Deutschland:  die  oft  genannten  Werke  von  Lamprecht,  DW.- 
Leben  im  M.A,,  von  Inama- Sternegg,  DWG.  Dazu:  G.  Wiebe, 
Zur  Geschichte  der  Preisrevolution  des  16.  und  17.  Jahrhunderts.  1895. 

Dann  kommt  eine  Menge  lokalgeschichtlicher  Untersuchungen 
in  Betracht:  Kius  für  Thüringen,  Falke  für  Sachsen,  Hildebrand 
für  Hessen  usw.,  die  ich  aber  aufzuzählen  unterlasse. 

Man  findet  die  Literatur  im  übrigen  verzeichnet  in  dem  Artikel 
Preis  (Geschichte)  im  HSt.  •  daselbst  sind  für  alle  Länder,  zu  ver¬ 
gleichen  die  Übersichten  und  Einzelangaben  von  Preisen  in  den  ver¬ 
schiedenen  Zeitläuften. 

Über  die  Schwierigkeiten  der  mittelalterlichen  Preisstatistik  unter¬ 
richtet  am  besten  v.  Inama,  z.  B.  DWG.  2,  427  f.-,  3n,  4S7 ;  über 


Vieruuddreißigstes  Kapitel :  Gestaltg.  d.  Preise  während  d.  frühkap.  Epoche  555 

das  unglückselige  Problem  der  „Kaufkraft  des  Geldes“  hat  schon 
endgültig  gehandelt  Ad.  Held,  Noch  einmal  über  den  Preis  des 
Geldes,  in  den  Jahrbüchern  f.  N.Ö.  16  (1871),  315 — 340.  Zu  ver¬ 
gleichen  W.  Sombart,  DVW.  im  19.  Jahrhundert.  3.  Aufl.  S.  438. 
Neuerdings  behandelt  das  Thema:  Andreas  Walther ,  Geldwert  in 
der  Geschichte.  Ein  methodol.  Versuch,  in  der  Vierteljahrschrift  f. 
Soz.  u.  WG.  10,  1  ff.  W.  verzichtet  mit  Kecht  darauf,  den  „Geld¬ 
wert“  zu  messen;  er  möchte  ihn  „veranschaulichen“,  indem  er  eine 
Einkommensskala  aufstellt,  „in  der  der  Organismus  der  ökonomischen 
Schichtung  zur  lebendigen  Einheit  kommt“.  Dagegen  ist  natürlich 
nichts  einzuwenden:  es  sei  denn  das,  was  ich  in  meiner  DVW.  (die 
W.  leider  nicht  kennt)  geltend  gemacht  habe :  daß  die  Verschiebungen 
in  der  Qualität  des  Konsums  jede  Vergleichung  verschiedener 
Epochen  unmöglich  macht. 

WTas  uns  das  Studium  der  Güterpreise  in  der  Vergangenheit 
bisher  eingetragen  hat,  ist  vor  allem  die  zuverlässige  Erkenntnis, 
daß  eine  ganze  Menge  interessanter  Dinge  mit  Sicherheit  sich 
werden  nicht  feststellen  lassen.  Wir  werden  wohl  für  alle 
Zeiten  auf  allgemeine  Preisstatistiken  verzichten,  aber  ebenso 
auch  uns  endlich  von  dem  Irrwahn  befreien  müssen,  die  „Kauf¬ 
kraft“  des  Geldes  für  eine  bestimmte  Zeit  feststellen  oder  gar 
die  Veränderung  der  „Kaufkraft“  des  Geldes  im  Ablauf  der 
Jahrhunderte  in  einer  Ziffer  ausdrücken  zu  können. 

Glücklicherweise  haben  wir  es  hier  mit  diesem  Problem  nicht 
zu  tun,  sondern  mit  einer  Frage,  auf  die  es  sehr  wohl  eine  Ant¬ 
wort  gibt. 

Etwas  können  wir  nämlich  auf  dem  Gebiete  der  Preisgeschichte 
mit  einiger  Sicherheit  und  Zuverlässigkeit  auch  für  entfernte  Zeit¬ 
räume  feststellen.  Und  es  ist  —  erfreulicherweise !  — .  das,  was 
den  Wirtschaftshistoriker  an  der  Preisgeschichte  vornehmlich 
interessiert,  ich  möchte  sagen :  ausschließlich  interessieren  sollte, 
weil  es  allein  von  Bedeutung  ist  für  die  Erkenntnis  der  großen 
Zusammenhänge:  ich  meine  die  Bewegung  der  Preise:  ihre 
Veränderung  im  Ablauf  der  Jahrhunderte.  Um  von  ihr  ein  leid¬ 
lich  klares  Bild  zu  gewinnen :  dafür  reicht  das  preisgeschichtliche 
Material,  das  für  alle  Länder  im  Laufe  des  letzten  Menschenalters 
gesammelt  ist,  vollkommen  aus.  Und  eine  Skizze  der  allgemeinen 
Preisbewegung  von  1250 — 1850  zu  geben ,  ist  ausschließlich  der 
Zweck  der  folgenden  Darstellung,  die  sich  die  Ergebnisse  der 
großen  Materialsammlungen  zu  eigen  macht,  ohne  etwa  neue  und 
eigene  Ermittlungen  zu  bringen. 

Das  Studium  dieser  Werke  läßt  folgenden  Verlauf  der  Preise 
■während  unserer  Periode  erkennen: 


556 


Vierter  Abschnitt:  Die  Edelmetallproduktion 


Die  Zeit  um  1250  wie  das  ganze  13.  Jahrhundert  fällt  in  die 
Periode  steigender  Preise,  die  schon  früher,  besonders  deut¬ 
lich  wohl  seit  dem  12.  Jahrhundert,  ihren  Anfang  genommen 
hatte.  Dieses  Steigen  der  Preise  hält  an  bis  in  das  14.  Jahr¬ 
hundert:  nach  den  einen  bis  zur  Mitte,  nach  den  andern  (z.  B. 
D’Avenel)  bis  zum  zweiten  Drittel  des  Jahrhunderts. 

Die  Preise  fallen  von  da  ab  bis  ums  Jahr  1500.  Das  ist 
das  Ergebnis,  zu  dem  alle  Preishistoriker  gelangen. 

Rogers  vertritt  an  zwei  verschiedenen  Stellen  zwei  verschiedene 
Meinungen.  In  seinen  Lectures  (1891)  p.  191  behauptet  er  für  England, 
daß  die  Nominalpreise  in  Pfund  Sterling,  Schillingen  und  Pence  allerdings 
von  1300  bis  1500  sich  annähernd  gleich  bleiben  und  begegnet  demEin- 
wande,  daß  sie  also  doch  gesunken  seien,  da  sich  der  Metallgehalt  des 
Pfundes  in  diesem  Zeitraum  verringert  habe  (siehe  die  Ziffern  Seite  415), 
mit  der  Behauptung:  die  meisten  Preisfestsetzungen  hätten  auf  wirk¬ 
licher  Wiegung  der  Münzen  beruht.  Aber  diese  Sitte  ist  doch  wohl  nicht 
so  allgemein  gewesen  wie  Rogers  annimmt.  Und  dann  würden  auch 
in  England  (was  aus  allgemeinen  Gründen  anzunehmen  ist)  die  Preise 
in  Wirklichkeit  im  15.  Jahrhundert  gesunken  sein.  Diese  Auffassung 
hat  R.  auch  in  seinem  Hauptwerk  (History  4,  715  ff.),  wo  er  aus¬ 
drücklich  bemerkt:  „there  is  a  marked  decline  in  the  price  from  the 
average  of  1261 — 1400  to  that  of  1401 — 1540.“ 

Von  1500  an  beginnen  die  Preise  zu  steigen,  in  einem 
Maße  bekanntlich,  wie  es  wohl  ein  zweites  Mal  in  der  Geschichte 
nicht  wieder  vorgekommen  ist.  Sind  auch  die  früheren  An¬ 
nahmen:  die  Preise  hätten  sich  während  des  16.  Jahrhunderts 
verfünffacht,  versiebenfacht,  ja  verzehnfacht1,  als  übertrieben 
nachgewiesen,  so  ergibt  doch  die  gewissenhafte  Prüfung  der 
Tatsachen,  daß  sicher  eine  Steigerung  fast  aller  Preise  um  100 
bis  150  %  eingetreten  ist.  Einige  Waren,  wie  z.  B.  das  Getreide, 
erleben  noch  weit  größere  Steigerungen.  So  steigen  die  Getreide¬ 
preise  im  16.  Jahrhundert  z.  B.  in: 


England  .  . 

. um 

155  °/o 

Paris  .  .  . 

. n 

165  % 

Orleans  .  . 

. .  • 

200  % 

Straßburg  . 

. 5? 

280% 

Sachsen  .  . 

. » 

300  °/o 

Spanien  .  . 

.  ,  .  .  .  .  um  453— 

-556% 

1  Siehe  die  Zusammenstellung  der  Schätzungen  bei  Wiebe,  a.  a.  O. 
S.  180:  „Es  ist  bemerkenswert,  daß  im  allgemeinen  jede  neuere  Unter¬ 
suchung  zu  immer  kleineren  Zahlen  für  die  Größe  der  (Geld-)  Ent¬ 
wertung  gekommen  ist.“ 


Vierunddreißigstes  Kapitel:  Gestaltg.  d. Preise  während  d.  friihkap. Epoche  557 

übereinstimmend  geht  auch  die  Ansicht  der  Forscher  dahin, 
daß  der  größte  Teil  der  Preissteigerung  auf  die  zweite  Hälfte, 
insonderheit  die  letzten  Jahrzehnte  des  16.  Jahrhunderts  (Spanien 
von  1586 — 1598)  entfällt. 

Vom  Ende  des  16.  Jahrhunderts  an  sind  die  Ergebnisse  der 
preisgeschichtlichen  Untersuchungen  nicht  mehr  so  einheitlich 
wie  bis  dahin.  Das  hat  seinen  Hauptgrund  wohl  in  der  ver¬ 
schiedenen  Entwicklung,  die  von  jetzt  ab  sowohl  die  verschie¬ 
denen  Länder  wie  auch  die  verschiedenen  "Warengattungen  er¬ 
leben. 

Ganz  im  großen  dürfte  zu  sagen  sein:  daß  ein  Teil  des 
17.  Jahrhunderts  eine  Zeit  des  Preisstillstandes  gewesen 
ist,  daß  aber  seit  dem  Ende  des  17.  Jahrhunderts  und  dann 
im  18.  Jahrhundert  —  wahrscheinlich  schon  in  der  ersten 
Hälfte,  sicher  in  der  zweiten  Hälfte  —  die  Preise  allgemein  in 
Europa  zu  steigen  die  Tendenz  haben.  Dieses  ist  wiederum 
eine  allgemein  beobachtete  Tatsache.  Im  zweiten  Jahrzehnt  des 
19.  Jahrhunderts  setzt  dann  ein  Preisstillstand  oder  Rückgang 
ein,  der  bis  in  die  1840  er  Jahre  anhält. 

Um  dem  Auge  die  großen  Züge  der  Preisbewegung  von  1250 
bis  1850  besser  einzuprägen,  stelle  ich  die  eben  gemachten  An¬ 
gaben  zu  folgender  Tabelle  zusammen: 

1250—1350  Steigen 

1350 — 1500  Stillstand.  Sinken 

1500 — 1600  rasches  Steigen 

1600 — 1700  Stillstand.  Unsicherheit 

1700 — 1750  Ungewißheit 

1750—1815  Steigen 

1815 — 1840  Stillstand.  Sinken 

Eine  noch  weitergehende  Schematisierung,  in  der  die  aller¬ 
letzten,  ganz  allgemeinen  Bewegungen  der  Preise  von  1500  bis 
1800  aber  doch  im  wesentlichen  richtig  zum  Ausdruck  kommen, 
hat  A.  Aupetit  vorgenommen1,  indem  er  die  Index  numbers, 
zu  denen  die  Untersuchungen  D’Avenels,  Lebers  und  Ha- 
nauers  die  Grundlagen  bieten,  zu  einem  einzigen  Durchschnitt 
zusammenfaßt.  Dann  ergibt  sich,  wenn  man  das  Preisniveau  des 
Jahres  1800  gleich  100  setzt,  eine  Veränderung  des  Preisniveaus 
in  den  Jahren  1500 — 1800,  das  folgende  Ziffern  ausdrücken: 

1  A.  Aupetit,  Essai  sur  la  theorie  generale  de  la  monnaie  (1901), 
245,  zit.  bei  Irv.  Fisher,  1.  c.  p.  234  f. 


558 


Vierter  Abschnitt:  Die  Edelmetallproduktion 


1500  .  35 

1000  .  75 

1700  ......  90 


1800  ......  100 

Was  graphisch  so  ausschaut: 


35 


1500  1600  1700  1800 

Welchen  Anteil,  so  lautet  nun  unsere  Frage,  haben  an  dieser 
für  den  Gesamtverlauf  des  europäischen  Wirtschaftslebens  ent¬ 
scheidend  wichtigen  Preissteigerung  die  Edelmetalle;  ist  und 
—  wenn  ja  —  inwieweit  ist  die  Preishausse  durch  die  eigentüm¬ 
lichen  Produktionsverhältnisse  der  Edelmetalle  während  der  früh- 
kapitalistischen  Epoche  hervorgerufen? 

Auf  diese  Fragen  versucht  das  folgende  Kapitel  eine  Antwort 
zu  geben. 


559 


Fünfunddreifsigstes  Kapitel 

Der  Einfluß  der  Edelmetallproduktion  auf  die 

Preisbildung 

Vorbemerkung 

Der  Beweis  für  die  tatsächlich  erfolgte  Einwirkung  des  Geld¬ 
wertes  auf  die  Preise  zerfällt  in  zwei  Teile : 

zum  ersten  ist  nachzuweisen:  daß  eine  Veränderung  des  Geldwertes 
gerade  in  unserm  Zeiträume,  wenn  sie  eintrat,  sich  besonders  leicht 
in  den  Preisen  ausdrücken  konnte; 

zum  zweiten:  daß  Veränderungen  im  Tauschwert  des  Geldes  ein¬ 
getreten  sind,  die  der  Bewegung  der  Preise  entsprechen. 

Der  erste  Teil  der  Beweisführung  wiederum  besteht  in  dem  Nach¬ 
weis  eigentümlicher  Gestaltungen  der  Warenproduktionsverhältnisse 
einerseits,  der  Geldverhältnisse  andererseits,  aus  denen  sich  die  Richtig¬ 
keit  der  aufgestellten  Behauptung  ergibt.  Die  Güterproduktionsverhält¬ 
nisse  sind  bereits  dort  geschildert,  wo  die  handwerksmäßige  Organi¬ 
sation  der  Wirtschaft  beschrieben  wurde,  und  werden  im  weiteren 
Verlauf  der  Darstellung  (für  die  frühkapitalistische  Periode)  noch  weiter 
(im  2.  Bande)  geschildert  werden.  Der  hier  in  Betracht  kommende 
Grundzug  der  Produktionsverhältnisse  ist  die  geringe  Entwicklung  der 
Produktivkräfte  und  infolge  davon  geringe  Ausdehnungsfähigkeit  der 
Produktion.  Dagegen  muß  die  andere  Seite  des  Problems  genauer 
untersucht  werden. 

So  seltsam  es  klingt:  ein  Versuch,  den  empirischen  Nachweis  eines 
Zusammenhangs  zwischen  dem  Verlauf  und  der  Gestaltung  der  Edel¬ 
metallproduktion  und  dem  Verlauf  und  der  Gestaltung  der  Preise  zu 
erbringen,  ist  (meines  Wissens)  bisher  überhaupt  noch  nicht  unter¬ 
nommen.  Daher  gibt  es  auch  keine  Literatur. 


I.  Die  Verwertung  der  Edelmetalle 

Unter  Verwertung  der  Edelmetalle  verstehe  ich  hier  die  Ge¬ 
samtheit  der  Bedingungen,  unter  der  ihre  Verwandlung  in  Geld 
vor  sich  geht :  betrachtet  unter  dem  Gesichtspunkt  des  Interesses 
eines  Besitzers  von  Edelmetall,  der  diese  Verwandlung  in  Geld 
tunlichst  zu  seinem  Nutzen  gestaltet  wissen  möchte. 

Der  Verwertungsprozeß  der  gewonnenen  (produzierten)  Edel¬ 
metalle  (und  nur  auf  diese  brauchen  wir  hier  Rücksicht  zu 


560 


Vierter  Abschnitt :  ' Die  Edelmetallproduktion 


nehmen)  beginnt  mit  dem  Augenblick ,  da  das  Erz  zutage  ge¬ 
fördert,  der  Goldstaub  (bei  Waschgold)  von  Sand  und  Geröll 
getrennt  ist.  Während  dieser  nun  bis  zu  seiner  Verwendung  zu 
Münzzwecken  nur  geringe  Veränderungen  noch  durchzumachen 
hat,  müssen  die  Erze  —  in  unserer  Periode  handelt  es  sich  nur 
um  Silbererze  —  in  einem  langwierigen  Verfahren  erst  noch  ver¬ 
hüttet  werden.  Der  Erzproduzent  kann  also  sein  Produkt  nicht 
sofort  als  Münzstoff  verwerten:  er  muß  erst  das  fertige  (reine) 
Edelmetall  herstellen  lassen.  Für  ihn  bedeutet  also  Verwertung 
zunächst  den  Absatz  der  Erze  an  die  Hütte. 

Nur  für  den  Fall ,  daß  er  gleichzeitig  Hüttenbesitzer  ist, 
braucht  er  ebenfalls  wie  der  Goldproduzent  erst  an  Verwertung 
zu  denken,  wenn  das  Metall  münzfertig  ist.  Diese  Vereinigung 
des  Silberbergbaus  und  der  Silberhütten  in  einer  Hand  fand  in 
Europa  gegen  Ende  des  Mittelalters  häufiger  statt,  in  den  amerika¬ 
nischen  Produktionsgebieten  hat  sie  wohl  immer  die  Regel  ge¬ 
bildet  (eine  ausdrückliche  Bestätigung  der  Richtigkeit  dieser 
Annahme  habe  ich  nirgends  finden  können). 

Dagegen  waren  das  ganze  europäische  Mittelalter  hindurch 
der  Regel  nach  Bergbau  und  Hüttenbetrieb  zwei  durchaus  von¬ 
einander  getrennte  Handwerke.  Das  heißt  also :  der  Produzent  der 
Erze  mußte  sein  Erzeugnis  „verkaufen“  (wenn  wir  den  für  jene 
Zeit  seltenen  Fall  außer  acht  lassen,  daß  er  die  Erze  gegen  Lohn 
verhütten  ließ),  um  es  zu  verwerten.  Der  Preis  für  die  Erze  wurde 
freihändig  auf  dem  Markte  festgesetzt.  Als  Käufer  traten  entweder 
die  Hüttenbesitzer  selbst  auf  oder  was  (wie  es  scheint)  die  Regel 
bildete,  eine  besondere  Klasse  von  Zwischenhändlern:  „Erz¬ 
käufer“,  wie  sie  in  den  Berg-  und  Hüttenordnungen  genannt 
werden  (in  der  Kuttenberger  Ordnung  z.  B.  handelt  das  22.  Kapitel 
von  ihnen).  Diese  Erzkäufer  waren  bei  der  damaligen  Einrichtung 
der  Bergwerke,  wo  Tausende  von  Arbeitern,  jeder  auf  eigenen 
Gewinn,  arbeiteten,  notwendig.  Die  kleineren  Gewerken  hatten 
keine  Schmelzen :  was  sollten  sie  mit  ihren  Erzen  anfangen?  So 
wurden  denn  also  in  jeder  "Woche  die  ausgehauenen  Erze  in 
Anwesenheit  eines  Beamten  „lizitiert“.  Die  Bergleute  brachten 
ihren  Karren  mit  Erzen  an  den  bestimmten  Platz,  wo  dann  die 
Erzkäufer  mit  ihnen  um  den  Preis  feilschten1. 

Der  Zustand,  der  sich  dabei  herausbildete,  scheint  nun  überall, 
soviel  wir  sehen,  insofern  derselbe  gewesen  zu  sein,  als  aller- 


1  Graf  Sternberg,  Geschichte  des  böhm.  Bergbans  2,  92  Amn. 


1’  iintunddreißigstes  Kapitel :  Einfluß  d.  Edelmetallprodukt,  a.  d.  Preisbildung-  5ß  [ 

oyten  die  Erzkäufer  die  stärkere  Partei  waren,  die  den  Gewerken 
die  Preise  diktierten.  Selir  häufig-  wenigstens  -vernehmen  wir 
Klagen  über  „Ausbeutung“  der  Bergleute  und  sehen  die  Obrig¬ 
keit  bemüht,  die  Gewerken  gegen  die  übermächtigen  Erzkäufer 
zu  schützen.  In  der  Kuttenberger  Ordnung  ist  von  deren  „de- 
testabilis  conspiracio“  die  Bede,  die  darauf  ausgehe,  durch  ver¬ 
abredete  Unterbietung  die  Erzpreise  zu  drücken. 

Ebenso  wenden  sich  zu  wiederholten  Malen  die  Tiroler  Berg¬ 
leute  gegen  den  preisdrückenden  „Fürkauf“  der  Erze,  das  heißt 
eben  gegen  die  Zwischenhändler,  die  den  Gewerken  das  Erz 
billig  abkauften  und  dann  beim  Schmelzen  einen  ungebührlichen 
Gewinn  machten.  Auf  solcher  Art  Klagen  hin  verbietet  Herzog 
Friedrich  in  seinem  Bergbrief  für  Gossensaß  den  Fürkauf1;  ihm 
folgt  darin  die  Bergordnung  für  Schwaz  von  1468 2. 

Der  Wunsch,  den  Übelständen  zu  steuern,  die  aus  der  für  die 
Gewerken  empfindlichen  Lage  erwuchsen,  war  dann  einer  der 
Gründe,  die  gegen  das  Ende  des  Mittelalters  vielfach  die  Landes¬ 
herren  bewogen,  den  Silberhüttenbetrieb  in  eigene  Regie  zu 
nehmen.  So  richten  die  Tiroler  Landesherren  eigene  Silber¬ 
schmelzen  in  Innsbruck  ein ;  die  bayrischen  Herzoge  begründeten 
in  der  zweiten  Hälfte  des  15.  Jahrhunderts  das  große  Schmelz¬ 
werk  zu  Brixlegg,  das  von  Beamten  verwaltet  wurde  und  das 
Silber  nicht  nur  aus  den  benachbarten  herzoglichen  Gruben  ver¬ 
hüttete,  sondern  auch  aus  verschiedenen  Tiroler  Revieren  und 
selbst  aus  großer  Entfernung  Silbererze  zur  Verhüttung  an  sich 
zog 3. 

Um  die  eigentümlichen  Bedingungen  zu  verstehen,  unter  denen 
ehemals  die  Verwandlung  der  münzfertigen  Edelmetalle 
in  Geld  vor  sich  ging,  müssen  wir  der  allgemeinen  Züge  ein¬ 
gedenk  sein,  die  das  Geld-  und  Münzwesen  in  unserer  Epoche 
trug:  vor  allem  seines  ausgesprochen  fiskalischen  Charakters. 
Das  gesamte  Geldwesen  sollte  den  Interessen  des  fürstlichen 
Haushaltes  dienstbar  sein.  Also  auch  —  und  zwar  in  ganz  be¬ 
sonders  hervorragendem  Maße  —  die  Münze.  Das  Ausmünzen 
der  Edelmetalle  erfolgte  nicht,  um  den  privaten  Interessen  der 
Gold-  und  Silberbesitzer  zu  dienen,  noch  um  volkswirtschaftliche 
Interessen  zu  pflegen:  sondern  so  gut  wie  ausschließlich,  um 


1  Abgedruckt  bei  Worms,  Schwazer  Bergbau  (1904),  Urk.  1. 

2  Bei  Wagner,  Corp.  jur.  met.  p.  133  ff. 

3  v.  Inama,  DWG.  3 JI,  195. 

S o m b  a r t ,,  Der  moderne  Kapitalismus.  I.  90 


562 


Vierter  Abschnitt:  Die  Edelmetallproduktion 


dem  Münzherrn  eine  Einnahmequelle  zu  eröffnen.  Eie  Münze 
war  also  in  aller  früheren  Zeit  auf  die  Erzielung  von  Gewinn 
gerichtet.  Sie  wurde  aber  geradezu  zu  einem  gewerblichen  Unter¬ 
nehmen  dann,  wenn  sie  vom  Münzherrn  nicht  in  eigener  Regie 
verwaltet,  sondern  von  Privaten,  denen  die  Ausübung  des  Münz¬ 
regales  übertragen  war,  „auf  eigene  Rechnung  und  Gefahr  be¬ 
trieben  wurde.  Und  das  bildete . 


-  o 

wie  man  weiß ,  während  des 


späteren  Mittelalters  in  den  meisten  Ländern  die  Regel :  mochte 
es  sich  dabei  um  kurzfristige  Pacht-  oder  Pfandverträge  zwischen 
dem  Münzherrn  und  einer  Anzahl  von  Geschäftsleuten  handeln 
(eine  Form,  der  wir  in  Italien  besonders  häufig  begegnen),  mochte 
die  Münze  als  dauerndes  Recht  einer  mit  mancherlei  -Begünsti¬ 


gungen  ausgestatteten  Körperschaft,  den  Hausgenossen,  über¬ 
lassen  seni  (wie  in  den  größeren  deutschen  Städten)  h 

Eenn  wenn  Private  die  Münze  zu  eigenem  Gewinn  betrieben, 


so  mußte  ihr  Bestreben  darauf  gerichtet  sein,  nicht  nur  (wie  es 
stets  der  Fall  wTar,  mochte  es  sich  um  Staats-  oder  Privatbetrieb 
handeln)  den  Schlagschatz  —  das  heißt  die  Steuer  für  den 
Münzherrn  —  bei  der  Ausmünzung  herauszu,, schlagen“,  sondern 
einen  möglichst  hohen  Überschuß  über  die  Ausgaben  zu  erzielen. 

Aus  dieser  Sachlage  ergaben  sich  nun  aber  zwei  Leitsätze  für 
das  Geschäftsgebahren  der  Münze  in  unserer  Zeit,  die  für  die 
Verwertung  der  Edelmetalle  von  ausschlaggebender  Bedeutung 
wurden.  Offenbar  nämlich  mußte '  alles  Streben  des  Münzers 
darauf  gerichtet  sein: 

1.  soviel  Edelmetall  wie  nur  irgend  möglich  auszumünzen; 

2.  das  Prägematerial  (die  Edelmetalle)  so  „billig“  wie  möglich 
sich  zu  beschaffen. 

Und  in  der  Tat:  das  (objektive)  Präge  recht,  wie  man  die 
Gesamtheit  der  rechtlichen  Bedingungen,  unter  denen  die  Ver¬ 
wandlung  der  Edelmetalle  in  (gemünztes)  Geld  erfolgt,  nennen 
kann,  wird  in  seinem  Charakter  durch  diese  beiden  Leitsätze 


1  Über  die  Formen  der  Münzverwaltung  im  allgemeinen:  Luschin 
v.  Ebengreuth,  Allgem.  Münzkunde  (1904),  85  f . ;  über  die  Haus¬ 
genossenschaften  insbesondere  Karajan,  Beyträge  zur  Geschichte 
der  landesfürstlichen  Münzen  Wiens  im  Mittelalter,  in  Chm  eis  österr. 
Geschichtsfreund  Bd.  1.  Daselbst  auch  die  Hauptquelle:  Das  Wiener 
Münzbuch  aus  dem  15.  Jahrhundert.  Zu  vergleichen:  K.  Ehe b erg, 
Über  das  ältere  deutsche  Münzwesen  und  die  Hausgenossenschaften. 
1879.  E.s  Buch  ist  aber  —  soweit  es  nicht  Karajan  benutzt  — 
wesentlich  verfassungsgeschichtlichen  Inhalts. 


Fünfunddreißigstes  Kapitel:  Einfluß  d.Edelmetallprodükt.  a.  d. Preisbildung  5ßg 

während  des  gesamten  Zeitraums,  den  wir  überblicken,  und  zwar 
in  allen  Ländern,  soviel  ich  sehe,  gleichmäßig  bestimmt. 

Sein  Inhalt  ist  in  den  Grundzügen  folgender: 

1.  das  für  unsere  Begriffe  bei  weitem  wichtigste  Hecht  des 
Edelmetallbesitzers :  jede  beliebige  Menge  Edelmetall  —  ob  Gold 
oder  Silber  bei  der  Münze  einzuliefern  und  ausmünzen  zu 
lassen,  wird  in  jener  Zeit  für  so  selbstverständlich  erachtet,  daß 
es  in  den  meisten  Münzordnungen  gar  nicht  einmal  ausdrücklich 
erwähnt  wird.  Wo  davon  die  Rede  ist,  heißt  es  nur:  wer  Edel¬ 
metall  in  die  Münze  zum  Ausmünzen  einliefert,  soll  soundsoviel 
Landesmünze  für  die  Gewichtseinheit  Silber  (oder  Gold?)  er¬ 
halten. 

Beispiele:  Florentiner  Gesetz  vom  19.  August  1345:  bei  Shaw, 
19  ff,  —  Strafsburger  Münzord.  von  1470,  Nr.  9,  ediert  von  Eheberg,, 
a.  a.  0.  S.  201.  —  Französische  Ordonnanzen  von  1329.  1332.  1350 
u-  a* —  Joachimsthaler  Münzord.  (nach  Verstaatlichung  der  Münze!), 
bei  Sternberg,  1,  322  ff.  —  Böhm.  Landesordnung  Ferdinands  I. 
von  1534,  bei  Goldast,  103  f.  —  Spanien:  Recop.  tit  XXI.  Ley  X. 
—  Brasilien:  v.  Eschwege,  Pluto  brasil.,  192  ff. 

Ganz  unverständlich  ist  es,  wenn  Del  Mar  behauptet,  daß  die 
unbeschränkte  Prägefreiheit  (in  dem  hier  verstandenen  Sinne)  erst  von 
dem  englischen  Gesetze  vom  Jahre  1666  datiere.  Es  ist  nicht  einmal 
richtig,  daß  damals  zum  erstem  Male  eine  Ausprägung  „zum  Selbst¬ 
kostenpreise“  erfolgt  sei.  Die  drei  genannten  französischen  Ordonnanzen 
sprechen  z.  B.  den  Verzicht  auf  jeden  Schlagschatz  aus;  nur  daß  die 
Begründung  natürlich  eine  andere  war  als  in  dem  Gesetz  von  1666. 

Eine  gesetzliche  Beschränkung  dieses  Rechts  auf  unbeschränkt 
freie  Ausprägung  einer  beliebigen  Menge  Edelmetalls  —  dessen 
also,  was  wir  heutzutage  die  Prägefreiheit  nennen  —  ist  mir 
aus  der  ganzen  Zeit  von  1250 — 1750  nicht  bekannt  geworden. 

Dieser  Rechtszustand  folgt,  wie  gesagt,  unmittelbar  aus  dem 
Geiste,  der  die  Münzpolitik  jener  Jahrhunderte  beherrschte. 

2.  Dieser  „Prägefreiheit“  (in  unserm  Sinne)  entsprach  nun 
aber  auf  der  andern  Seite  eine  sehr  weitgehende  Gebundenheit 
in  der  Art  und  Weise,  wie  diese  „Freiheit“  ausgeübt  werden 
konnte.  Der  Besitzer  von  Edelmetall  war  nämlich  gezwungen, 
dieses  an  dem  Orte  ausmünzen  zu  lassen,  wo  es  gewonnen  war. 
Überall  begegnen  wir  gesetzlichen  Bestimmungen,  die  die  Aus¬ 
fuhr  von  Edelmetall  aus  dem  Produktionsgebiet  verbieten  und 
die  Einlieferung  an  einem  bestimmten  Münzamte  vorschreiben : 
das  gilt  gleichmäßig  für  Schlesien1,  für  Sachsen2,  für  Böhmen: 

1  In  Breslau  ist  ein  herzoglicher  Brenngaden,  in  dem  Gold  und 
Silber  geschmolzen ,  eingelöst ,  probiert  und  gewogen  wurden ,  schon 

86* 


5(34  Vierter  Abschnitt:  Die  Edelmetallproduktion 

und  zwar  für  Kuttenberg  1  sowohl  wie  für  J oachimstlial 2 ,  für 
Tirol3,  für  Mexiko4.  Nur  für  das  brasilianische  Gold  habe  ich 
keinen  Prägezwang  (wenn  auch  gelegentlich  das  Barrengold  ver¬ 
boten  wurde)  und  vor  allem  kein  Ausfuhrverbot  herausfinden 
können. 

3.  Wären  die  Ausfuhrverbote  streng  durchgeführt  worden, 
so  hätte  also  Edelmetall  außerhalb  seines  Produktionsgebietes 
sich  in  ungemünztem  Zustande  gar  nicht  vorfinden  können:  die 
Münzen  der  Städte  und  Länder,  in  deren  Bereich  kein  Edelmetall 
gewonnen  wäre,  hätten  veröden  müssen,  weil  sie  kein  Präge¬ 
material  bekamen,  oder  hätten  sich  darauf  beschränken  müssen, 
fremde  Münze  einzuschmelzen  und  in-  die  eigene  Landesmünze 
umzumünzen5.  Wir  wissen  nun  aber,  daß  dies  nicht  der  Fall 
war.  Wir  wissen,  daß  zu  allen  Zeiten  während  unserer  Epoche 
ein  Markt  auch  für  ungemünztes  Edelmetall  bestand,  daß  also 
Edelmetalle  in  den  freien  Verkehr  gelangten. 

Darauf  lassen  zunächst  die  Verbote  des  freihändigen  Gokl- 
und  Silberverkaufs  schließen,  die  wiederum  eine  allgemeine  Er- 

1203  nachweisbar:  er  hat  das  Vorkaufsrecht  für  alle  edlen  Metalle. 
Tschoppe  und  Stenzei,  U.-Sainmlung,  278. 

2  [Zu  Seite  563.]  Als  beim  Aufblühen  Schneebergs  (also  gegen  Ende 
des  15.  Jahrhunderts),  das  seine  Erze  zuerst  in  Zwickau  schmelzen  ließ, 
die  dort  errichtete  Münze  nicht  alles  Silber  prägen  konnte,  mußte  man 
den  Gewerken  zeitweise  den  freien  Silberverkauf  und  die  freie  Silber¬ 
ausfuhr  gestatten.  Schmoller,  in  seinem  Jahrbuch  15,  978. 

1  Münzordnung  König  Georgs  von  Podebrad  (1469),  bei  Stern- 
berg  2,  175.  Verordnung  König  Wladislaus’ II.  von  Böhmen  (1492), 
Kuttenberger  Copiar.  Nr.  205,  bei  Sternberg  1,  86.  Wiederholung 
1494,  UB.  bei  Sternberg  2,  135  (böhmisch). 

2  Vergleich  mit  dem  Grafen  Schlick,  bei  Sternberg  1,  322  ff. 
Die  Landordnung  Ferdinands  I.  (1534)  bestimmt:  daß  nur  wenn  die 
Kgl.  Münze  das  angebotene  Silber  nicht  annehmen  könne,  „Grund¬ 
herren  und  Gewerken“  das  Recht  haben  sollen,  ihr-  Silber  anderswohin 
zu  verkaufen.  Doch  auch  in  diesem  Falle  müssen  sie  den  Betrag,  den 
sie  über  7  Guld.  14  Weißgr.  und  6  Weißpfenn.  für  die  Mark  erhalten, 
der  Kgl.  Kasse  zuführen.  Goldast,  103  f. 

3  Siehe  Worms,  a.  a.  0.  S.  87. 

4  Metallbarren  durften  nicht  ausgeführt  werden.  Daher  ist  ein 
großer  Teil  der  Silbermünzen  Europas  und  Asiens  durch  die  Form 
des  Piasters  hindurchgegangen. 

5  Das  geschah  natürlich  in  weitem  Umfange.  Um  recht  viel  fremde 
Münze  an  sich  zu  ziehen,  war  der  Münz  Wechsel  vielerorts  zu  einem 
Monopol  der  Münzer  oder  der  Münzergenossenschaften  erklärt.  Das 
belegt  mit  vielem  Quellenmaterial  für  die  deutschen  Städte  im  Mittel- 
alter  Eheberg,  a.  a.  0.  59  ff.  142  ff. 


Füufunddrcißigstes  Kapitel:  Einfluß  d.  Edelmetallprodukt,  a.d.  Preisbildung  5(J5 

scheinung  des  europäischen  Mittelalters  sind.  Wie  nämlich  die 
Münzherren  in  den  Produktionsgebieten  sich  den  Bezug  der  er¬ 
zeugten  Edelmetalle  dadurch  zu  sichern  suchten,  daß  sie  die 
Ausfuhr  verboten  und  die  Ablieferung  der  gesamten  Ausbeute 
verlangten,  so  waren  die  Münzherren  aller  andern  Orte  bemüht, 
sich  möglichst  viel  Prägematerial  dadurch  zu  verschaffen,  daß 
sie  jedermann,  der  Gold  oder  Silber  feil  zu  bieten  habe,  ver¬ 
pflichteten,  es  zunächst  der  Münze  zum  Kauf  anzutragen: 

„quicunque  argentum  vendere  voluerit  ad  monetam  debeat 
illud  presentare  nec  ad  nundinas  nec  alias  presumat  deferre“ 
hatte  der  König  dem  Erzbischof  von  Worms  als  des  Reiches 
Recht  verkündet1,  und  diesen  Rechtssatz  machten  sich  dann 
zahlreiche  Städte  und  Landesherrn  zu  eigen2. 

Daß  aber  ein  Edelmetallmarkt  bestand,  entnehmen  wir  auch 
aus  andern  Zeugnissen:  so  erfahren  wir  zum  Beispiel  von  den 
Wiener  Hausgenossen,  daß  sie  ferne  Märkte  bezogen,  um  Edel¬ 
metalle  für  ihre  Münze  einzukaufen3;  wir  sehen  den  fremden 
Edelmetallhändler  zur  Straßburger  Münze  kommen  und  sein  Präge¬ 
material  anbieten  und  sehen  ihn,  ohne  daß  man  handelseinig 
geworden  war,  wieder  abziehen  „ohne  geverde“4. 

Nun  könnte  man  annehmen:  das  Material  für  diesen  Edel¬ 
metallhandel  habe  nur  Altedelmetall  geliefert:  Bruch,  Geräte, 
Schmuck,  alte  Münzen  oder  das  alles  in  wieder  eingeschmolzenem 
Zustande.  Aus  zahlreichen  Stellen  der  Quellen  können  wir  aber 
schließen,  daß  zweifellos  auch  neuproduziertes  Silber  und  Gold 
gehandelt  wurden.  Und  wir  würden  auch  ohne  solche  Zeugnisse 
glauben  dürfen,  daß  dem  so  war.  Weil  wir  wiederum  zahlreiche 
Belege  für  die  Tatsache  einer  Durchbrechung  des  Ausfuhrverbots 
besitzen.  Wir  wissen,  daß  diese  Durchbrechung  auf  zwei  Wegen 
erfolgte : 

1.  durch  Schmuggel; 

2.  durch  Vertrag. 

1  Sententia  de  argento  vendendo  MG.  Const.  II.  Nr.  283  (1224). 

2  Siehe  die  lange  Liste  derartiger  Bestimmungen  bei  Eheberg, 
a.  a.  0.  59  ff.  142  ff. 

3  Karajan,  a.  a.  0.  S.  316.  Von  den  obersten  Kammern  wurde 
Klage  geführt,  daß  die  Wiener  Hausgenossen  Handel  mit  Gold  und 
Silber  auf  eigene  Paust  trieben,  jahrelang  ihr  Silber  nicht  zugunsten 
der  Münze ,  sondern  in  ihrem  eigenen  Interesse  verwendeten. 
Karajan,  325  und  Urk.  XLVI. 

4  Ordenunge  der  münsser  vom  Jahre  1470,  Nr,  5:  ediert  von 
Eheberg,  a.  a.  0.  200, 


566 


Vierter  Abschnitt:  Die  Edelmetallproduktion 


Daß  immer,  wo  der  Verkehr  in  Edelmetallen  beschränkt  ist, 
Schmuggel  geübt  wird,  erscheint  so  selbstverständlich,  daß  es 
kaum  einer  besonderen  Bestätigung  bedürfte.  Zum  Überfluß  be¬ 
sitzen  Avir  aber  sowohl  für  das  europäische  Mittelalter  wie  für 
die  amerikanischen  Silberländer  eine  Menge  Zeugnisse,  die  auf 
einen  ausgedehnten  Schmuggel  schließen  lassen.  Ihre  Aufzählung 
erübrigt  sich,  da  die  Tatsache  nicht  bezweifelt  werden  dürfte. 

Zum  andern  kennen  wir  zahlreiche  Verträge,  namentlich  aus 
der  Zeit  des  15.  und  16.  Jahrhunderts,  in  denen  bestimmten 
Händlern  die  Edelmetallausfuhr  gestattet  wird.  Deiche  Geld¬ 
männer  erkauften  sich  die  Befreiung  von  dem  Ausfuhrverbot  oft 
mit  hohen  Summen.  So  verpflichtete  sich  der  reiche  Gewerke 
Antony  von  Roß  im  Jahre  1486  zur  Zahlung  einer  Pauschal¬ 
summe  von  4000  fl.  an  den  Landesfürsten  für  die  Erlaubnis,  sein 
Silber  ein  Jahr  lang  frei  verführen  zu  dürfen  wohin  er  wollte, 
auch  dann,  wenn  der  von  seinem  Silber  entfallende  Wechsel 
nicht  so  hoch  sein  sollte  b  Ähnliche  Verträge  schließen  Augs¬ 
burger  Kaufleute  mit  dem  Könige  von  Böhmen  ab  (16.  Jahr¬ 
hundert)1 2,  die  Fugger  mit  dem  König  von  Spanien3  usw. 

So  leicht  wir  einzusehen  vermögen,  daß  es  Mittel  und  Wege 
gab ,  trotz  der  Ausfuhrverbote  die  Edelmetalle  in  den  Verkehr 
zu  brino-en,  so  auffallend  ist  auf  den  ersten  Blick  die  Tatsache: 
daß  es  einen  Handel  mit  Edelmetallen  geben  konnte,  da 
doch  beide,  wie  wir  gesehen  haben,  frei  ausprägbar  waren.  Nach 
unsern  heutigen  Begriffen  hätte  es  also  damals  immer  nur  einen 
Handel  mit  Gold  oder  mit  Silber  geben  können,  wenn  das  eine 
Metall  mit  dem  andern  gekauft  wurde.  Zweifellos  bildeten  denn 
auch  diese  Käufe:  Gold  mit  Silber,  Silber  mit  Gold,  einen 
wesentlichen  Teil  des  Edelmetallhandels.  Wir  werden  aber  auch 
annehmen  müssen,  daß  sogar  Silber  mit  Silber(münze)  und  (wenn 
auch  in  geringerem  Umfange)  Gold  mit  Gold(münze)  gekauft 
wurde. 

Die  Erklärung  für  diese  auffallende  Erscheinung  hegt  wiederum 
in  der  uns  bekannten  Eigenart  des  Geld-  und  Münzwesens  jener 
Zeit,  die  es  mit  sich  brachte,  daß  zwischen  dem  Edelmetall  in 
Barrenform  und  in  Münzform  große  und  stetig  schwankende 
Wertdifferenzen  obwalteten,  und  daß  sich  infolgedessen  auf  dem 

1  Worms,  Schwazer  Bergbau,  S.  87. 

2  Sternberg  1,  223.  225. 

?  Ehrenberg,  Zeitalter  der  Fugger,  öfters. 


Fünfunddveißigstes  Kapitel:  Einfluß  d. Edelmetallprodukt,  a.  d. Preisbildung  567 

Markte  sehr  wohl  ein  durch  Angebot  und  Nachfrage  bestimmter 
Silberpreis  in  Silber,  ein  Goldpreis  in  Gold  bilden  konnten.  Jene 
großen  und  schwankenden  Wertunterschiede  zwischen  Barren  - 
form  und  Münzform  (die  heute  bei  frei  ausprägbaren  Metallen 
so  gut  wie  verschwunden  sind)  entstanden  durch  folgende  Um¬ 
stände  : 

a)  Höhe  und  Schwanken  der  Transportkosten; 

b)  Höhe  und  Schwanken  des  Schlagschatzes  (eventuell  noch 
der  Bergwerksabgaben :  Schmuggel  unversteuerten  Edel¬ 
metalls  !) ; 

c)  Höhe  und  Schwanken  der  Prägekosten; 

d)  Schwanken  des  Silbergehalts  der  Groschen  und  Pfennige, 
also  auch  des  Kurswertes  des  Pfundes. 

4.  Mit  diesen  Feststellungen  —  und  deshalb  wurden  sie  ge¬ 
macht  —  ist  nun  aber  auch  schon  die  wichtige  Frage  zum  Teil 
wenigstens  beantwortet :  zu  welchen  Bedingungen  nahm  die 
Münze  dem  Edelmetallbesitzer  sein  Gold  und  Silber  ab?  Die 
Antwort  muß  nämlich  nach  dem,  was  wir  über  die  Marktfähigkeit 
der  Edelmetalle  in  Erfahrung  gebracht  haben,  offenbar  lauten: 
die  Münze  zahlte  dem  Besitzer  einer  bestimmten  Menge  Edel¬ 
metall  —  trotzdem  dieses  „frei  ausprägbar“  war  —  einen  Preis. 
Mit  andern  Worten:  es  gab  kein  ein  für  allemal  fest¬ 
gesetztes  Verhältnis  zwischen  Landes  münze  und 
Metallgewicht,  es  fand  nicht  einfach  eine  Übertragung  einer 
gleichgroßen  Wertsumme,  es  fand  nicht  einfach  eine  Formver¬ 
änderung  statt.  Sondern:  die  Menge  Landesmünze,  die  für  ein 
Pfund  Silber  (oder  Gold:  obwohl  für  dieses  diese  Ausführungen 
in  viel  geringerem  Umfange  gelten)  gezahlt  wurde,  konnte  sehr 
verschieden  hoch  bemessen  sein,  wenn  auch  nie  höher —  salvo 
errore  monetarii  —  als  die  gleiche  Silbermünze  abzüglich  aller 
Unkosten  (für  Prägung,  Schlagschatz  usw.).  Nehmen  wir  an,  diese 
hätten  25  °/o  betragen,  so  konnte  der  Einlieferer  von  1  Pfund  Silber 
Silbermünzen  im  Höchstbetrage  von  8U  Pfund  feinen  Silbers  als 
Vergütung  erhalten.  Dieser  Betrag  konnte  aber  höher  oder 
niedriger  sein  aus  so  viel  Gründen,  als  Variationen  der  die  Höhe 
der  Produktionskosten  bestimmenden  Momente  möglich  sind.  Er 
konnte  ferner  um  soviel  niedriger  sein,  als  es  der  Münze  ge¬ 
lang,  ihren  Gewinn  zu  erhöhen.  Die  Preisschwankungen  ver¬ 
doppeln  sich  durch  die  Schwankungen  der  AVertrelationen  der 
beiden  Edelmetalle  gegeneinander. 

Wie  wurden  nun  diese  schwankenden  Preise  bestimmt?  Auf 


Vierter  Abschnitt:  Die  Edelmetallproduktiou 


5G8 

zwei  verschiedene  Weisen:  einseitig  durch  eine  Verordnung  des 
Münzherrn  oder  der  Münzen;  oder  vertragsmäßig  durch  besondere 
Abmachung  zwischen  jenen  und  dem  Edelmetallbesitzer. 

Beispiele  für  jene  Form  der  Preisfestsetzung  bieten  fast  alle 
Münzordnungen.  Genau  wie  heute  ein  Münzgesetz  bestimmte 
damals  die  Münzordnung:  wieviel  Landesmünze  für  ein  gewisses 
Quantum  Edelmetall  ausbezahlt  werde.  Was  jene  Festsetzungen 
äußerlich  aber  wesentlich  von  modernen  Normierungen  ähnlichen 
Inhalts  unterscheidet,  ist  eben  das  beständige  Schwanken  der 
Beträge. 

Ein  paar  beliebig  herausgegriffene  Beispiele  werden  das  ver¬ 
deutlichen  : 

Die  Florentiner  Münze  zahlt  für  1  Pfund  (Libbra)  Silber: 

nach  dem  Gesetz  vom  19.  August  1345 
132  Grossi  und  behält  2  Grossi  Prägegebühr; 

nach  dem  Gesetz  vom  Oktober  1345 
140  Grossi  und  behält  2  Grossi  Prägegebühr; 

nach  dem  Gesetz  von  1347  * 

llP/s  Grossi  und  behält  52/s  Guelfigrossi  Prägegebühr. 

In  Breslau  galt  die  Mark  Feinsilber: 

1532  —  1547  zwischen  6  fl.  3  g  Gr.  (34  g  Gr.  =  1  fl.)  und  7  fl.  7  g  Gr. 

1547  ,  »  7  » 10  »  »  „  7  „18  „  „ 

1558  71U  Taler  (zu  30  Weißgroschen). 

In  der  Landordnung  von  1534  setzt  Ferdinand  I.  den  „Preis“  für 
die  „marck  fein  silber  weniger  ein  Quintlein  Nürnberger  Gewicht“, 
zahlbar  den  Gewerken  auf  allen  Bergwerken  Böhmens ,  auf  7  Gulden 
Bk.  54  (offenbarer  Druckfehler  für  14)  Weißgroschen  und  6  Wei߬ 
pfennig  fest.  Bei  Goldast,  96. 

Nach  dem  Bilder- Kodex  (1556)  war  der  Einlösungspreis  für 
1  Mark  Feinsilber : 

unter  Herzog  Sigmund  ....  5 —  6  old. 

„  Maximilian  1 . 8 — 10 

„  Ferdinand  I.  .  .  .  - .  .  .  9 — 12 

Die  Schwankungen  konnten  allein  von  den  Wertverände¬ 
rungen  der  Landesmünze  herrühren :  sie  konnten  aber  ebenso  gut 
verschieden  hohen  Gewinnen  der  Münzen  ihr  Dasein  verdanken. 

Nun  scheint  es  aber  fast,  als  sei  in  den  meisten  Fällen  gar 
nicht  dieser  sagen  wir  „gesetzliche“  Preis  bezahlt  worden, 
sondern  als  habe  man  vielmehr  häufiger  den  Preis 'jedesmal  erst 
vereinbart.  So  häufig  begegnen  uns  vertragsmäßige  Preisfest¬ 
setzungen, 


Fünfuuddreißigstcs  Kapitel:  Einfluß  d.Edelmctallprodukt.  a.d.  Preisbildung  5<JC> 

Wieder  ein  paar  Beispiele: 

1449  vereinbart  Herzog  Sigmund  mit  den  Schweizern  und  Gossen- 
sassern :  daß  er  ihnen  6Va  fl.  für  1  Mark  Silber  zahlen  werde, 
abzüglich  21h  fl.  Wechsel;  Quellen  bei  Worms,  a.  a.  0.  S.  129. 

1488  wird  mit  den  Fuggern  ein  Vertrag  abgeschlossen,  wonach  sie 
8  fl.  für  die  Mark  bekommen  sollen:  5  fl.  für  die  Schmelzer, 

3  fl.  für  sich.  Worms,  65. 

1476  wird  den  neuen  Gruben  in  Ireiherg  eine  Vergütung  von  8  fl.  ■ 
für  8  Jahre  statt  der  alten  6  fl.  für  6  Jahre  versprochen.  Frei¬ 
berger  UB.  2,  217.  Meist  wurde  in  Sachsen  den  Ausbeutezechen 
von  der  Silberkammer  etwas  weniger  bezahlt  als  den  Zubu߬ 
zechen. 

In  Schlesien  bezahlt  Markgraf  Georg  Friedrich  in  Tarnowitz 
(16.  Jahrhundert)  „nach  Umständen“  die  Mark  bald  mit  6  Taler 
83  g  Gr.  und  oft  mit  7  Taler  8  g  Gr.  Aem.  Stein beck,  Gesell, 
des  schles.  Bergbaus  2  (1857),  233/34. 

Von  den  Wiener  und  Strafsburgcr  Hausgenossen,  die  freihändig  ihr 
Silber  kaufen  mußten,  erfuhren  wir  schon. 

Und  was  endlich  war  es,  das  den  Preis  - —  sei  es  den  gesetz¬ 
lichen,  sei  es  denvertragsmäßigen  —  bestimmte?  Natürlich:  die 
Machtlage  der  beiden  Parteien,  da  wir  ohne  weiteres  annehmen 
dürfen,  daß  beide  zu  den  vorteilhaftesten  Bedingungen  ihr  Ge¬ 
schäft  absehließen  wollten. 

Wo  wir  gesetzliche  Normierungen  finden,  wird  ihre  Höhe 
mehr  bestimmt  worden  sein  durch  die  politische  Lage,  aber  doch 
auch  durch  die  Lage  des  Edelmetallmarktes.  Wurden  die  Edel¬ 
metalle  knapp,  so  gestaltete  man  die  Bedingungen  der  Aus- 
münzung  günstiger.  So  enthalten  zum  Beispiel  die  französischen 
Ordonnanzen  des  14.  Jahrhunderts  förmliche  Geschäftsanprei¬ 
sungen:  die  Münze  zahlte  den  vollen  Betrag  des  eingelieferten 
Silbers  zurück;  nur  die  Prägekosten  sollten  zurückbehalten 
werden  usw. 

Bei  den  vertragsmäßigen  Festsetzungen  entschied  natürlich 
ganz  die  ökonomische  Lage:  sei  es  die  allgemeine:  Nähe  eines 
andern  Absatzgebietes  usw.;  sei  es  die  besondere:  Notlage 
des  Münzherrn  (dem  der  Silberproduzent  Gelder  vorgestreckt 
hatte),  Notlage  des  Silberproduzenten:  „nach  Umständen“  be¬ 
zahlte  die  Silberhandlung  in  Tarnowitz  bald  mehr,  bald  weniger, 
haben  wir  gesehen.  Und  wir  erfahren  auch,  welcher  Art  diese 
Umstände  waren:  diejenigen  Gewerken,  welche  Vorschüsse  be¬ 
kamen,  mußten  ihr  Silber  wohlfeiler  ablassen 1 


1  Aem.  Steinbeck,  a.  a.  0, 


570 


Vierter  Abschnitt:  Die  Edelmetallproduktion 


Ob  es  richtig  ist,  was  Carl  Schalk  in  seiner  höchst  ver¬ 
dienstvollen  Untersuchung  über  den  Münzfuß  der  Wiener  Pfennige 
behauptet:  daß  die  Marktpreise  und  die  gesetzlichen  Preise  nie 
sehr  voneinander  verschieden  gewesen  seien,  ist  mir  zweifelhaft. 
Die  Annahme  würde  natürlich  zutreffen,  wenn  man  tatsächlich 
(wie  Schalk  annimmt)  das  Silber  anderswo  immer  gleich  hätte 
erwerben  können,  das  heißt,  wenn  man  es  nicht  abgeliefert, 
sondern  exportiert  hätte.  Aber  häufig  genug  wird  diese  Möglich¬ 
keit  gefehlt  haben:  sei  es  aus  rechtlichen  Gründen  (Ausfuhr¬ 
verbot!),  sei  es  aus  tatsächlichen  Gründen:  all  den  oben  an¬ 
geführten,  außer  denen  noch  ein  weiterer  Umstand  zu  berück¬ 
sichtigen  bleibt:  die  Länge  der  Zeit,  die  verging,  ehe  man  die 
Münze  bekam,  und  die  natürlich  in  einer  Zeit  unentwickelten 
Verkehrs  weit  lästiger  empfunden  wurde  als  heute. 

Alles  zusammengenommen  müssen  wir  zu  dem  Ergebnis 
kommen:  daß  die  frühere  Zeit  wohl  die  Prägefreiheit  de  jure 
besaß ,  daß  aber  ihr  Inhalt  ein  wesensanderer  war  wie  heute : 
daß  sie  einen  wechselnden  Edelmetallpreis  nicht  ausschloß,  daß 
also  der  Besitzer  des  Edelmetalls  —  wenn  auch  mit  wesent¬ 
lichen  Abweichungen  zu  seinen  Gunsten  —  doch  in  der  Lage 
jedes  andern  Warenbesitzers  sich  befand:  zwar  brauchte  er  nicht 
einen  Absatz  für  seine  Ware  zu  suchen  (der  war  ihm  ein  für 
allemal  gesichert),  aber  er  war  doch  im  Ungewissen:  wie  hoch 
sie  ihm  bezahlt  wurde,  und  sah  sich. also  genötigt,  um  einen 
angemessenen  Preis  zu  feilschen.  „Umstände“  aller  Art  ent¬ 
schieden  über  dessen  schließliche  Höhe. 

Es  liegt  offen  zutage,  welche  Bedeutung  die  eigenartige  Ver¬ 
wertung  der  Edelmetalle,  wie  ich  sie  eben  dargestellt  habe,  für 
die  Preisbildung  haben  mußte.  In  dem  Maße  nämlich,  wie 
die  Edelmetallbesitzer  Verkäufer  ihrer  Produkte 
waren,  mußte  sich  jede  Veränderung  im  Tauschwert 
der  Edelmetalle  weit  rascher  in  die  Preise  umsetzen 
als  in  einer  Zeit  vollständig  mechanisierter  Aus- 
prägefreiheit  wie  der  unsrigen.  Gerade  diese  schema¬ 
tische  und  automatische  Verwandlung  der  Geldware  in  die  immer 
völlig  gleich  große  Münzmenge  muß  den  Einfluß  von  Geldwert¬ 
änderungen  auf  die  Preisbildung  notwendigerweise  abschwächen. 
So  daß  also  in  früherer  Zeit  diese  Abschwächung  geringer,  die 
Einwirkung  unmittelbarer  war. 

Stieg  also  der  Geldwert,  so  konnte  der  Edelmetallbesitzer  für 
seine  Ware  bald  einen  höheren  Preis  erzielen;  sank  er,  mußte 


Fünfunddreißigstes  Kapitel:  Einfluß  d.  Edelmetallprodukt,  a.d.  Preisbildung  571 

er  sich  mit  einem  geringeren  begnügen :  alles  innerhalb  gewisser 
Grenzen ,  wie  die  vorhergehende  Darstellung  gezeigt  hat.  So 
daß  wir  nunmehr  nur  noch  zu  untersuchen  hätten:  in  welchem 
Umfange  sich  in  unserm  Zeitraum  der  Geldwert  verändert  hat. 
Frühere  Betrachtungen  ergaben,  daß  bloße  Yerändenmgen  in 
den  Mengen  der  produzierten  Edelmetalle  einen  Einfluß  auf 
deren  Tauschwert  nicht  ausüben  können,  daß  vielmehr  dieser 
ausschließlich  —  oder  richtiger:  letzten  Endes  immer  —  von 
den  Produktionskosten  bestimmt  wird.  Daher  hat  die  folgende 
Erörterung  sich  mit  der  Frage  zu  beschäftigen:  welche  Ver¬ 
änderungen  in  den  Produktionskosten  der  Edelmetalle  sich  für 
den  Zeitraum,  der  unserer  Betrachtung  untersteht,  nachweisen 
lassen. 

II.  Die  Produktionskosten  der  Edelmetalle 

Wenn  ich  ein  einzelnes  Problem  der  Nationalökonomie 
und  der  Wirtschaftsgeschichte  als  das  wichtigste  bezeichnen 
sollte :  ich  glaube ,  ich  würde  sagen :  es  sei  die  Höhe  der  Pro¬ 
duktionskosten  der  Edelmetalle.  Denn  wenn  ich  recht  sehe, 
steht  mit  dieser  zum  guten  Teile  die  Gestaltung  des  gesamten 
Wirtschaftslebens  in  einem  irgendwelchen  näheren  oder  ent¬ 
fernteren  Zusammenhänge.  Und  gerade  dieses  zentrale  Problem 
zweier  Wissenschaften  ist  bisher  nur  ganz  selten  zum  Gegen¬ 
stände  auch  nur  der  Erörterung  gemacht 1 ;  geschweige  denn  daß 
es  in  einem  irgendwie  befriedigenden  Sinne  gelöst  sei.  Für  die 
Vergangenheit  lassen  sich  brauchbare  Angaben  fast  gar  nicht 
auftreiben:  man  ist  zu  allermeist  auf  eine  symptomatische  Er¬ 
kenntnis  angewiesen.  Erst  in  der  Gegenwart  liefert  uns  das  auf 
die  Edelmetallproduktion  hingelenkte  Interesse  der  Techniker 
und  der  kapitalistischen  Unternehmer  ein  reicheres  Tatsachen¬ 
material,  aus  dem  wir  mit  hinreichender  Sicherheit  die  Pro¬ 
duktionskosten  berechnen  können.  Aber  das  nützt  uns  jetzt  noch 

1  Eine  erstaunliche  Tatsache:  in  dem  419  Großoktavseiten  dicken 
Buche  von  Wiebe,  das  sich  die  Untersuchung  des  Zusammenhangs 
zwischen  Geldwert  und  Preis  zur  besonderen  Aufgabe  gemacht  hat, 
kommt  (wenn  ich  recht  gelesen  habe)  das  Wort  „Produktionskosten“ 
überhaupt  nicht  vor !  Ebensowenig  in  dem  Buche  Bonns,  das  den 
Untertitel  trägt:  „Ein  induktiver  Versuch  zur  Geschichte  der  Quan¬ 
titätstheorie“  ;  ebensowenig  in  der  neuesten,  515  Seiten  umfassenden 
Monographie  über  die  Quantitätstheorie,  dem  oben  S.  536  genannten 
Werke  Irving  Fishers  (wenigstens  nicht  mit  Bezug  auf  die  Pro¬ 
duktion  der  Geldware!). 


572  Vierter  Abschnitt:  Die  Edelmetallproduktion 

nichts,  wo  wir  den  Zeitraum  von  1250 — 1850  überblicken.  Was 
sich  über  die  Gestaltung  der  Produktionskosten  in  ihm  aussagen 
läßt,  ist,  wie  gesagt,  wenig  und  durch  Schlüsse  aus  allgemeinen 
Zuständen  gewonnen  worden.  Zum  Teil  ist  es  unausgesprochen 
schon  in  den  Darlegungen  enthalten  gewesen,  die  ich  über  den 
Gang  der  Edelmetallproduktion  sowie  über  die  Produktionsver¬ 
hältnisse  der  Edelmetalle  im  31.  Kapitel  gemacht  habe,  und  auf 
die  ich  jetzt  verweise.  Ich  will  aber  hier  im  Zusammenhänge 
vortragen,  was  wir  genaueres  über  die  Produktionskosten  der 
Edelmetalle  in  unserm  Zeiträume  wissen. 

Im  12.  und  13.  Jahrhundert  werden  frische  Silberlager  in 
Abbau  genommen,  deren  Hüte  zweifellos  einen  bis  dahin  un¬ 
bekannten  Grad  der  Ergiebigkeit  darstellten.  Waschgold  wurde 
gefunden.  Stattliche  Beträge  wurden  ohne  jeden  Aufwand  (als 
Beute)  von  den  Italienern  aus  dem  Orient  gebracht :  eine  Senkung 
des  Geldwerts  ist  wahrscheinlich.  Genaueres  wissen  wir  nicht. 

Im  15.  Jahrhundert  wird  das  Edelmetall  knapp:  darüber 
lassen  die  Quellen  keinen  Zweifel.  Das  Bild,  das  uns  die  Zeit 
gewährt,  ist  ganz  deutlich  dieses:  sämtliche  Münzherren  (deren 
fiskalische  Interessen,  wie  wir  sahen,  eine  reiche  Edelmetall¬ 
zufuhr  ersehnten)  zerren  an  der  zu  kurz  gewordenen  Silberdecke. 
Ob  das  Silber  aus  Gründen  gestiegener  Produktionskosten  auch 
„teurer“  geworden  ist  in  jener  Zeit?  Wir  dürfen  es  annehmen, 
da  die  Hüte  der  alten  Erzgänge  abgebaut  waren,  neue  Funde 
aber  noch  nicht  gemacht  waren.  Aber  auch  ohne  diese  Annahme 
liegt  genug  Grund  vor ,  auf  eine  Erhöhung  des  Silberwertes  zu 
schließen.  Offenbar  nämlich  trat  das  Silber  in  dieser  Zeit  in  die 
Kategorie  der  überhaupt  nicht  vermehrbaren  Güter  ein.  Denn 
die  alten  Gruben  konnten  großenteils  nicht  weiter  in  Betrieb 
gehalten  werden,  da  man  der  Wasser  nicht  Herr  wurde:  die 
Produktion  hörte  also  schließlich  ganz  auf.  Daß  das  Silber 
„teurer“  werde,  ist  eine  beständige  Klage  der  Münzer.  Die  all¬ 
gemeine  Münzentwertung ,  die  gerade  um  jene  Zeit  besonders 
stark  war,  ist  ebenfalls  eine  Bestätigung  dafür,  daß  in  der  Tat 
der  Geldwert  gestiegen  war. 

Daß  er  von  Ende  des  15.  Jahrhunderts  an  fiel,  ist  außer 
Zweifel,  sowohl  der  des  Goldes  als  des  Silbers.  Gold  wurde  als 
Waschgold  in  reichen  Mengen  im  Salzburgischen  gefunden  und 
als  (unbezahlte)  Beute  von  den  Conquistadoi'es  aus  Amerika 
heimgebracht. 

Daß  aber  sowohl  mit  den  neuen  Edelmetallfunden  in  Deutsch- 


Füufündclreißlgstes  Kapitel :  Einfluß  d.  Edelmetailpiodiikt.  a.  d. Preisbildung  573 

land  und  Österreich  als  auch  mit  der  Erschließung  der  amerika¬ 
nischen  Silberminen  das  Silber  eine  ganz  wesentliche  Minderung 
seines  Tauschwertes  —  und  zwar  als  unmittelbare  Folge  einer 
starken  Verringerung  der  Produktionskosten  —  erfährt,  dürfen 
wir  ebenfalls  als  sicher  annehmen. 

Schon  die  Silberminen  Joachimsthals  und  der  Schwazer  Gegend 
waren  erheblich  ergiebiger  als  diejenigen  Sachsens  und  des  Harzes. 
Beträchtlich  ergiebiger  aber  waren  dann  wieder  die  Silberlager 
Mexikos,  Perus  und  Boliviens.  Die  Eigenart  der  Produktionsver¬ 
hältnisse  geben  für  die  .Richtigkeit  dieser  Behauptung  hinreichend 
sichere  Anhaltspunkte.  Wir  besitzen  außerdem  noch  eine  ziffern¬ 
mäßige  Bestätigung  in  einer  vergleichenden  Kostenaufstellung 
A.  von  Humboldts  für  eine  Freiberger  und  eine  mexikanische 
Grube:  freilich  aus  der  Zeit,  in  der  er  seine  Werke  über  Neu¬ 
spanien  abgefaßt  hat,  also  für  das  Ende  des  18.  Jahrhunderts. 
In  dieser  Zeit  lagen  aber  die  Verhältnisse  vergleichsweise  für 
Mexiko  ungünstiger  als  für  Sachsen,  verglichen  mit  der  früheren 
Zeit,  weil  nämlich  damals,  als  Humboldt  seine  Beobachtungen 
machte,  die  mexikanischen  Bergarbeiter  offenbar  schon  größten¬ 
teils  freie ,  sehr  hoch  gelohnte  Arbeiter  waren :  er  berechnet 
ihren  Tagesverdienst  auf  5 — 6  Francs ,  gegen  90  Centimes  in 
Sachsen!  Während  in  den  ersten  Jahrhunderten  der  mexika¬ 
nische  wie  aller  amerikanische  Silberbergbau  auf  der  Verwendung 
von  Sklaven  aufgebaut  war.  Die  auf  jeden  Fall  äußerst  lehrreiche 
Gegenüberstellung  Humboldts  findet  sich  in  folgendem1  (von 
mir  verdeutschten) 


Vergleich.  Zahlenbüd  der  Bergwerke  Amerikas  und  Europas 


Gemeinsames  Jahr 
(Ende  des  18.  Jahr¬ 
hunderts) 

Amerika 

Mine  von  Valenciana, 
die  reichste  Mexikos 
(2320  m  über  dem 
Meeresspiegel) 

Europa 

Mine  Himmelsfürst, 
die  reichste  Sachsens 
(410  m  über  dem 
Meeresspiegel) 

Gewonnenes  Silber  .  . 
Gesamte  Produktions¬ 
kosten  . 

360  000  (Gewichts)Mk. 

5  000  OOOLivres  tourn.2 

3  000000  Liv. 

1 0  000  (Gewichts)Mark 

240  000  Livres  tourn. 

90  000  Liv 

Beingewinn  der  Aktio- 
näre . 

1  Essai  3,  413. 

2  1  Livre  tourn.  damals  etwa  0,95  Francs  heutiger  Währung. 


574  Vierter  Abschnitt:  Die  Edelmetallproduktion 


Gemeinsames  Jahr 
(Ende  des  18.  Jahr¬ 
hunderts) 

Amerika 

Mine  von  Valenciana, 
die  reichste  Mexikos 
2320  m  über  dem 
Meeresspiegel) 

Europa 

Mine  Himmelsfürst, 
die  reichste  Sachsens 
(410  m  über  dem 
Meeresspiegel) 

Der  Zentner  Erz  ent- 

hält  Silber . 

4  Unzen 

6 — 7  Unzen 

Zahl  der  Arbeiter  .  .  . 

3100  Indianer  und 

700  Bergleute,  davon 

Tagesverdienst  der  Ar- 

Mestizen,  davon  1800 
im  Innern  des  Berg¬ 
werks  beschäftigt 

550  unter  Tage 

beiter . 

5 — 6  Liv. 

18  sous 

Ausgabe  für  Pulver  .  . 

400  000  Liv. 

27  000  Liv. 

M  enge  der  zur  Arnalga- 
mation  bzw.  Verhüt- 

(etwa  1600  Zentner) 

(etwa  270  Zentner) 

tung  gebrachten  Erze 

720  000  Zentner 

14  000  Zentner 

Erzgänge  . 

ein  Gang,  oft  in  drei 

fünf  Hauptgänge  von 

Arme  geteilt,  von  einer 

2 — 3  dzm  Mächtigkeit 

Mächtigkeit  von  40  bis 

(in  Gneis) 

50  m  (in  Tonschiefer) 

Wasser . ,  .  . 

kein  Wasser 

8  Kubikfuß  in  der 
Minute.  Zwei  hydrau¬ 
lische  Hebewerke 

Teufe . 

514  m 

330  m 

Zu  diesen  eminenten  Vorzügen  der  natürlichen  Abbau  Verhält¬ 
nisse,  die  Mexikos  (und  natürlich  ebenso  alle  andern  amerika¬ 
nischen)  Silberminen  vor  den  europäischen  voraus  hatten,  gesellte 
sich  nun  noch,  wie  wir  schon  früher  sahen,  von  Ende  der  1550  er 
Jahre  an  das  so  sehr  viel  ergiebigere  Amalgamationsver- 
fahren.  Dessen  Kosten  stehen,  wie  ich  schon  an  anderer 
Stelle  hervorgehoben  habe,  im  engsten  Zusammenhang  mit  den 
Quecksilber  preisen,  weshalb  über  die  Entwicklung  dieser 
hier  einiges  zu  bemerken  ist. 

Die  Produktion  von  Quecksilber  ist  auf  der  Erde  immer  nur 
gering  gewesen  und  war  von  jeher  auf  wenige  Fundstätten  be¬ 
schränkt.  Als  das  Amalgamierungsverfahren  erfunden  wurde, 
waren  die  beiden  einzigen  Quecksilberbergwerke  von  Bedeutung 
Almaden  in  Spanien1  und  das  eben  (1490  oder  1497)  erschlossene 

1  A.  Nöggerath,  Mitteilungen  über  die  Quecksilberbergwerke  zu 
Almaden  usw.  in  der  Zeitschrift  für  Berg-,  Hütten-  und  Salinenwesen 


Fünfunddreißigstes  Kapitel:  Einfluß  d.Edelmetallprodukt.  a.  d.  Preisbildung  575 

Idria  in  Krain  h  Ihre  Ausbeute  war  jedoch  bis  dahin  unbedeutend 
gewesen.  Erst  durch  den  neu  geschaffenen  Bedarf  nahm  die 
Produktion  einen  Aufschwung.  Der  Zufall  wollte  es  dann,  daß 
just  um  dieselbe  Zeit,  als  das  Amalgamierungsverfahren  sich  in 
Peru  auszubreiten  begann,  daselbst  eine  Quecksilbergrube  ent¬ 
deckt  wurde,  die  im  ersten  Jahrhundert  mehr  Quecksilber  lieferte 
als  irgendeines  der  vorher  in  Betrieb  gewesenen  Bergwerke ;  das 
war  die  Grube  von  Huanvelica  im  Gebirge  Santa  Barbara  (seit 
1567  in  Betrieb)* 1 2. 

Über  den  Anteil,  den  diese  drei  Hauptproduktionsgebiete  in 
den  ersten  Jahrhunderten  nach  der  Einführung  des  Amalga¬ 
mierungsverfahrens  an  der  gesamten  Quecksilberproduktion 
nehmen,  geben  folgende  Ziffern  Aufschluß3:  Quecksilber  wurde 
erzeugt 


in 

seit 

bis  1700 

1700—1800 

1800—1! 

t 

t 

t 

Almaden  .  . 

.  1564 

17  860 

42141 

37  642 

Huanvelica .  . 

.  1571 

80424 

18756 

2608 

Idria  .... 

.  1525 

19  795 

21002 

8357 

Nun  ist  aber  mit  diesen  Feststellungen  nur  wenig  gesagt,  so 
lange  wir  nicht  wissen,  wie  sich  unter  den  neuen  Produktions¬ 
verhältnissen  der  Preis  des  Quecksilbers  gestaltete.  Da 
ist  denn  nun  die  Tatsache  von  entscheidender  Wichtigkeit,  daß 
die  Zufuhr  von  Quecksilber  bis  ins  19.  Jahrhundert  als  Monopol 
von  der  spanischen  Regierung  ausgeübt  worden  ist.  Diese  also 
setzte  den  Preis  ziemlich  willkürlich  fest,  so  daß  nicht  die  natür¬ 
liche  Gestaltung  der  Quecksilberproduktionsverhältnisse,  sondern 
die  größere  oder  geringere  Einsicht  der  Yizekönige  in  den 
spanischen  Kolonien  über  die  Höhe  des  Quecksilberpreises  und 
damit  bis  zu  einem  sehr  hohen  Grade  über  das  Schicksal  der 
Silberproduktion  zu  entscheiden  hatte.  Nach  den  Angaben  Hum¬ 
boldts4  betrug  nun  der  Preis  für  einen  Zentner  Quecksilber 


10  (1862),  S.  361  ff.  M.  H.  Kuss,  Memoire  sur  les  mines  d’Almaden, 
in:  Annales  des  mines.  1878. 

1  (Lipoid)  Quecksilberbergwerk  Idria.  Festschrift.  1879. 

2  B.  Neumann,  Die  Metalle  (1904),  267  f. 

3  Nach  den  Angaben  von  G.  F.  Becker,  Quicksilver-Ore-Deposits. 
Monogr.  XIII.  U.S.  Geol.  Survey,  berechnet  und  ergänzt  von  B.  Neu¬ 
mann,  a.  a.  0.  S.  281. 

4  Essai  4,  89. 


576 


Vierter  Abschnitt:  Oie  Edelmctallproduktioii 


unter  dem  Vizekönig  Don  Luis  de  Yelasco  II.  im  Jahre  1590 
in  Mexiko  187  Piaster.  Im  Jahre  1750  kostete  der  Zentner 
82  Piaster:  ob  und  welche  "Wandlungen  der  Preis  von  1590  bis 
1750  erfahren  hat,  gibt  Humboldt  nicht  an,  der  als  einzige 
Quelle  ein  Manuskript  ohne  Datum  zitiert1. 

Wir  dürfen  annehmen,  daß  die  Preisherabsetzungen  im  Be¬ 
ginne  des  18.  Jahrhunderts  stattfanden,  und  daß  sie  wahrschein¬ 
lich  unter  dem  Drucke  erfolgt  sind,  den  die  Einfuhr  von  Queck¬ 
silber  aus  China  und  Ostindien  durch  die  englisch-ostindische 
Kompagnie  (als  Ballast !)  auf  den  europäischen  Quecksilbermarkt 
ausübte.  Nach  neueren  Ermittlungen 2  sinkt  nämlich  plötzlich 
der  Quecksilberpreis  im  freien  Verkehr  an  der  Amsterdamer 
Börse  in  den  ersten  Jahren  des  18.  Jahrhunderts  (von  1704  bis 
1710)  von  64  auf  48  und  41  Stüver  pro  Pfand. 

Seit  der  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  erfährt  dann  auch  der 
Bergbau  zu  Almaden  eine  völlige  Umgestaltung,  die  offenbar 
mit  einer  Verringerung  der  Produktionskosten  verbunden  ge¬ 
wesen  ist. 

Ende  der  1750  er  Jahre  wurde  der  1755  in  Brand  geratene  Haupt¬ 
schacht  wieder  in  Betrieb  gesetzt.  Die  Regierung  ließ  deutsche 
Ingenieure  und  Arbeiter  kommen.  Ein  regelmäßiges  System  des  Baues 
wurde  eingeführt,  der  Kompaß  verschaffte  sich  Geltung,  und  brauch¬ 
bare  Grubenbilder  wurden  angefertigt.  Der  Abbau  geschah  durch 
Strossen-  und  Firstenbau.  Die  Lager  nach  der  Teufe  nahmen  an 
Mächtigkeit  zu,  boten  jedoch  größere  Schwierigkeiten  des  Abbaus  dar: 
diese  wurden  aber  (in  den  1760  er  Jahren  offenbar)  durch  den  Refor¬ 
mator  des  Quecksilberbergbaus  in  Spanien,  D.  Diego  Larranaga,  be¬ 
hoben,  so  daß  nun  die  Förderung  der  tiefer  gelegenen  Erze  nicht  nur 
möglich,  sondern  sogar  rationeller  und  ökonomischer  wurde.  A.  Nögge- 
rath,  a.  a.  O.  S.  365.  Vgl.  M.  H.  Kuss,  Memoire  sur  les  mines 
d’Almaden,  in  den  Annales  des  mines  13  (1878). 

Infolge  aller  dieser  Verbesserungen  steigt  die  Produktion  in  Almaden 
rasch;  Sie  betrug  in  den  Jahren: 

1646 — 1757  429  560  Ztr.  55  Pfd.  13V2  Unze,  also  im  Jahresdurch¬ 
schnitt  3835  Ztr.  17  Pfd.  6V2  Unze; 

1757 — 1793  460  442  Ztr.  74  Pfd.,  also  im  Jahresdurchschnitt 
13155  Ztr.  26  Pfd.  7Va  Unze. 

M.  Hoppen  sack,  Über  den  Bergbau  Spaniens  und  den  Quecksilber¬ 
bergbau  im  besonderen  (1796),  S.  155. 


1  Influxo  del  precio  del  azogue  sobre  su  consumo  por  Don  Antonio 
del  Campo  Marin. 

2  H.  v.  Srbik,  Exporthandel  Österreichs  (1907),  230  ff. 


Fünfunddreißigstes  Kapitel:  Einfluß  d. Edelmetallprodukt,  a.  d.  Preisbildung  577 


Dieser  Vermehrung  der  Qu  eck  s  ilb  e  r  z  ufuhr  und  Verbilligung  der 
Quecksilberproduktion  entspricht  nun  auch  die  Steigerung  des 
Verbrauchs  an  Quecksilber  in  den  Silberminen: 


Jalir 

Preis  eines 
Zentners  Quecksilber 

Verbrauch 
an  Quecksilber 

1762/66 

82  Piaster 

35  750  Ztr. 

1767/71 

62 

42  000  „ 

1772/77 

62  „ 

53  000  „ 

1778/82 

41  „ 

59  000  „ 

Nach  dem  Seite  576  Anm.  1  genannten  Manuskript  mitgeteilt  bei 
AL.  von  Humboldt,  Essai  4,  92. 

"Wir  erinnern  uns  aus  dem  31.  Kapitel,  wie  sich  diese  Steigerung 
des  Quecksilberverbrauchs  in  der  vermehrten  Silberproduktion 
während  des  letzten  Drittels  des  18.  Jahrhunderts  widerspiegelte. 
"Wir  vermögen  aber  aus  dieser  Tatsache  den  Schluß  zu  ziehen: 
daß  bis  zu  einem  sehr  hohen  Grade  die  Quecksilberproduzenten 
in  jener  Zeit  gleichsam  die  Kurbel  in  der  Hand  hatten, 
mittels  deren  sie  die  gesamte  Entwicklung  der 
Kulturvölker  zu  beleben  oder  stillzulegen  imstande 
waren. 

Wie  aber  wurde  durch  die  geschilderten  Vorgänge  der 
Tauschwert  des  Silbers  beeinflußt?  Um  diese  Erage  zu 
beantworten,  müssen  wir  uns  der  Eigenarten  erinnern,  die  die 
Produktionsverhältnisse  der  Edelmetalle  in  unserer  Periode  auf¬ 
weisen,  da  diese  von  bestimmendem  Einfluß  auf  die  Gestaltung 
des  Tauschwerts  der  Edelmetalle  waren. 

Alle  Anzeichen  sprechen  dafür,  daß  die  Senkung  der  Pro¬ 
duktionskosten  bei  Silber  schon  im  Laufe  des  16.  Jahrhunderts 
eine  sehr  beträchtliche  gewesen  sein  muß.  Sie  fand  ihren  ersten 
Ausdruck  in  der  sofort  einsetzenden  (subjektiven)  Entwertung 
des  Edelmetalls,  das  sich  in  den  Händen  der  Pro¬ 
duzenten  anhäufte.  In  Böhmen  und  Tirol  (wo  auf  kurze  Zeit 
wenigstens  wohl  eine  ähnliche  Verbilligung  der  Silberproduktion 
eintrat),  waren  es  zum  Teil  noch  handwerksmäßige  Gewerken, 
die  die  ersten  Vermittler  zwischen  den  Silbergruben  und  dem 
Warenmärkte  abgaben.  Daß  die  plötzliche  Bereicherung  aber 
zu  allen  Zeiten  dieselben  seelischen  Vorgänge  bei  Leuten  solcher 
Art  auslösten,  bezeugt  folgende  Schilderung,  die  uns  ein  Chronist 

So m hart,  Der  moderne  Kapitalismus.  I. 


578 


Vierter  Abschnitt:  Die  Edelmetallproduktion 


jener  Zeit  (es  ist  das  15.  Jalir hundert)  hinterlassen  hat:  „In 
Rotenberg  (Ratemberg)  vallis  Oeni  inventa  notabili  minera  argenti, 
ex  omnibus  terris  multitudo  confluxit  mercantium,  tot  et  tarn 
variis  contractibus,  ut  vix  pecunia  amplius  ae stimaretur; 
adeoque  liomines  illi  ad  ditandum  avidi  fuerunt,  ut  sine  ratione 
et  prüden tia  pecunias  suas  effuderint  h 

In  Amerika  und  Spanien  floß  der  reiche  Silberstrom  zunächst 
in  die  Taschen  der  spanischen  Granden:  auch  sie  waren  eine 
Menschenspezies,  die  geneigt  ist,  den  neuen  Besitz  rasch  in 
Gebrauchsgüter  umzusetzen:  durch  Steigerung  des  Prunkes  und 
Verfeinerung  der  Lebensführung,  wie  wir  das  im  48.  Kapitel 
verfolgen  werden.  "Was  wir  an  Schilderungen  aus  dem  IG.  Jahr-  4 
hundert  vom  spanischen  Wesen  besitzen,  bestätigt  die  Richtig¬ 
keit  dieser  Beurteilung:  überall  rasch  steigende  Preise,  ins¬ 
besondere  auch  von  Luxusgegenständen ;  die  Elle  Tuch  beispiels¬ 
weise  steigt  im  Preise  in  wenigen  Jahrzehnten  auf  mehr  als  das 
”  dreifache  dessen,  was  sie  im  Anfang  des  16.  Jahrhunderts  ge¬ 
kostet  hatte.  In  Granada  kostete  der  Sammt  28 — 29  Realen,  aber 
die  indische  Nachfrage  trieb  den  Preis  in  14  Tagen  auf  35  bis 
36  Realen.  Ähnlich  war  es  in  Sevilla1 2. 

Also  gleich  eine  mächtige  Preishausse  als  unmittelbare  Wirkung 
der  neuen  Edelmetallfunde  auf  die  ersten  Besitzer.  Und  was 
nun  den  Zuständen  im  16.  Jahr  hundert  eigentümlich  ist:  das 
unaufhörliche  Nachströmen  der  so  viel  billigeren  Edelmetalle. 
Keine  kurze  Episode  ist  es,  wie  die  Aufschließung  neuer  reicher 
Goldseifen :  es  ist  ein  gleichmäßig  starker  Riesenstrom,  der  sich 
durch  die  Jahrhunderte  wälzt:  Grund  genug  —  zumal  wenn  wir 
die  unentwickelten  Zustände  der  Warenproduktion  der  Zeit  da¬ 
neben  halten  — ,  daß  die  Erschließung  der  amerikanischen  Silber¬ 
minen  —  und  bis  heute  nur  sie  —  jene  Preisrevolution  hervor- 
rufen  konnten. 

Gegen  Ende  des  16.  Jahrhunderts  scheint  dann  die  Preis¬ 
steigerung  ungeßihr  sich  der  Senkung  des  Silberwertes  angepaßt 
zu  haben;  aber  eine  Gegenbewegung  konnte  immer  noch  nicht 
einsetzen,  dafür  waren  die  Massen  des  immer  wieder  gewonnenen 
amerikanischen  Silbers  zu  groß.  So  stellte  sich  denn  im  17.  Jahr¬ 
hundert  ein  Preisstillstand  ein,  der  sich  aber,  wie  wflr  gesehen 

1  Xanisii  lect.  ant.  T.  III,  in  v.  Sperges,  Tiroler  Bergwerks- 
gesch.  S.  87. 

2  Fr.  Tom.  de  Mercado,  Tratos  y  contratos  de  mercadores 
(1569)  p.  178. 


I'  ünfunddreißigstes  Kapitel:  Einfluß  d.  Edelmetallprodukt  a.  d.  Preisbildung  579 


haben,  in  der  zweiten  Hälfte  jenes  Jahrhunderts  und  im  nächsten 
Jahrhundert  bald  wieder  in  eine  Preishausse  verwandelte. 

Was  war  geschehen?  Die  unerhört  reichen  Gr  oldlag  er 
Brasiliens  waren  entdeckt  worden  und  begannen  ihre  Wirkung. 
Über  ihre  Ergiebigkeit  habe  ich  schon  gesprochen.  Wie  die 
glücklichen  Funde  die  Preise  in  der  nächsten  Umgebung  sofort 
in  die  Höhe  trieben,  erfahren  wir  aus  den  Berichten  der  Zeit¬ 
genossen.  In  Brasilien  kostete  in  jener  Zeit1: 


1  Paar  Katzen  (wegen  Ratten-  und  Mäuse- 

plage) . 

1  Milchkuh . 

1  Metze  Mais . .  . 

1  Metze  Bohnen . 

1  Teller  Salz . 

1  Huhn . 

1  Schwein . 

1  Pfund  trockenes  Rindfleisch  oder  Speck 


1  Pfund  Gold 

1  )!  >1 

6 — 30 — 40  oitavas 
zu  je  etwa  10  Mk.  h.W.) 

8—10—30 

4 

6 

28 

2 


Aber  Gold  ist  ein  unsicherer  Gast,  solange  es  nur  als  Wasch¬ 
gold  gefunden  ist.  Meist  erschöpfen  sich  diet.  Seifen  so  rasch, 
daß  sie  keine  nachhaltige  Senkung  des  Geldwertes  zu  bewirken 
vermögen  und  also  auch  die  Preise  nicht  dauernd  auf  ihrer  Höhe 
erhalten  können.  Daher  vielleicht  auch  die  Wirkung  des  brasi¬ 
lianischen  Goldes  auf  den  Geldwert  nur  eine  vorübergehende 
gewesen  wäre. 

Aber  daß  dieser  auch  weiter  sank,  dafür  sorgte  abermals  das 
Silber. 

Wir  wissen  nämlich  schon  aus  der  früheren  Darstellung,  daß 
dieses  Metall  von  den  1760er  Jahren  ab  abermals  eine  Revolutio- 
nierung  seiner  Produktionsverhältnisse  erlebte :  das  Quecksilber 
ging  von  82  Piaster  in  den  Jahren  1762/66  auf  41  Piaster  in  den 
Jahren  1778/82  herab.  Die  Folge  davon:  rasche  Steigerung  der 
Silberproduktion:  offenbar  aber  auch  eine  Verbilligung  der  Pro¬ 
duktionskosten,  von  denen  der  Quecksilberverbrauch  bei  dem 
damals  noch  allein  angewandten  kalten  Amalgamationsverfahren 
einen  recht  beträchtlichen  Teil  ausmachte. 

Ende  des  J8.  Jahrhunderts  haben  sich  die  Preise  wohl  wiederum 
den  veränderten  Produktionsbedingungen  von  Silber  angepaßt, 
die  sich  dann  noch  einmal  zur  Zeit  der  mexikanischen  Befreiungs- 


1  Nach  v.  Eschwege,  Pluto  bras.,  15.  59.  88.  90. 


37* 


580 


Vierter  Abschnitt:  Die  Edelmetallproduktion 


kriege  wesentlich  verschlechtern.  Die  Preissenkung  oder  wenig¬ 
stens  Preis  Stagnation  nach  den  napoleonischen  Kriegen  bis  in 
die  1830  er  und  1840  er  Jahre  hinein  fällt  jedenfalls  zusammen 
mit  einer  erheblich  verminderten  Silberzufuhr  aus  Mexiko. 

In  Summa:  trotz  der  wenigen  Angaben,  die  wir  über  die 
Produktionskosten  der  Edelmetalle  besitzen,  vermögen  wir  doch 
für  den  Zeitraum  von  1250 — 1850  im  ganz  großen  Ganzen  die 
Preisbewegung  in  einen  Zusammenhang  mit  der  Entwicklung 
der  Produktionsverhältnisse  von  Gold  und  namentlich  Silber  zu 
bringen. 


Fünfter  Abschnitt 

Die  Entstehung'  des  bürgerlichen  Reichtums 

Sechsunddreifsigstes  Kapitel 

Machtreichtum  und  Reichtumsmacht 

Wenn  wir  in  diesem  Abschnitt  verfolgen  wollen,  wie  der 
„bürgerliche  Reichtum“  „entsteht“,  so  werden  wir  uns  zuvor 
Klarheit  darüber  verschaffen  müssen,  was  „bürgerlicher  Reich¬ 
tum“  sei  (36.  Kapitel)  und  was  „entstehen“  heißt  (37.  Kapitel). 

„Bürgerlicher  Reichtum“  ist  offenbar  eine  besondere  Art  des 
„Reichtums“ ,  der  hier  gemeint  ist  im  Sinne  eines  mit  einer 
Person  verknüpften  Zustandes  (etwas  anderes  bedeutet  das  Wort, 
wenn  wir  vom  „Reichtum  der  Nationen“,  vom  „Volksreichtum“ 
sprechen).  Reichtum  aber  in  diesem  Sinne  ist  entweder,  wenn 
wir  das  Wort  in  neutraler  Bedeutung  fassen,  dasselbe  wie  „Ver¬ 
mögen“  oder  (wie  es  häufiger  gebraucht  wird)  so  viel  wie  ein 
gesteigertes  Vermögen.  Zu  einem  vertieften  Verständnis  des 
Wortes  Reichtum  kommen  wir  deshalb  am  ehesten,  wenn  wir 
den  Sinn  des  AVortes  Vermögen  zu  begreifen  trachten. 

In  prachtvoller  Sinnfälligkeit  drückt  das  deutsche  Wort  Ver¬ 
mögen  eine  Menge  verschiedenartiger  Zustände  der  Macht 
aus:  es  umfaßt  alle  Möglichkeiten,  in  denen  jemand  etwas  ver¬ 
mag.  Es  nähert  in  unserer  Vorstellung  die  mannigfachen  Arten 
des  Machthabens  einander,  die  in  fremden  Sprachen  voneinander 
getrennt  sind  —  pouvoir,  power  —  fortune  — ,  und  drängt  uns 
daher  den  gemeinsamen  Ursprung  aller  dieser  Arten  von  Macht 
auf  und  damit  den  verborgenen  inneren  Sinn  sonst  veräußer¬ 
lichter  Verhältnisse.  Es  sagt  uns,  daß  wir  es  mit  demselben 
Urphänomen  zu  tun  haben;  ob  wir  sagen:  das  steht  nicht  in 
meinem  Vermögen  oder  dieser  Mann  hat  ein  großes  Vermögen 
(schlechthin:  im  Sinne  des  Reichtums)  oder  er  hat  ein  großes 
Beherrschungs-  oder  Vorstellungs vermögen  oder  er  ist  unver¬ 
mögend,  wobei  wir  im  Zweifel  lassen,  ob  wir  sagen  wollen:  er 
kann  nichts  oder  er  hat  nichts. 

s 


582  Fünfter  Abschnitt:  Die  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums 

Was  alles  mit  dem  Worte  Vermögen  zum  Ausdruck  gebracht 
wird,  ersehen  wir  am  besten,  wenn  wir  die  einzelnen  Bedeutungen 

in  ihrer  Wesenheit  zu  erkennen  und  voneinander  zu  unterscheiden 

* 

trachten. 

Da  ergibt  sich  denn  vor  allem,  daß  zwei  ganz  verschiedene 
Arten  von  .Vermögen  vorerst  mal  voneinander  gesondert  werden 
müssen,  je  nach  der  letzten  Quelle,  der  die  eine  oder  die  andere 
Art  entspringt. 

Es  gibt  ein  Vermögen,  das  ganz  und  gar  auf  uns  selbst  und 
unsere  höchst  persönliche  Kraft  gestellt  ist,  und  daneben  ein 
Vermögen,  das  uns  die  Gesellschaft  verleiht,  dessen  Bestand 
daher  auf  deren  Macht  aufgebaut  ist.  Ich  nenne  jenes  Individual-, 
dieses  Sozialvermögen  und  meine  damit  das  Folgende: 

Das  Individualvermögen  entspringt  der  Macht  der 
Persönlichkeit  und  wird  begrenzt  durch  deren  Leistungsfähigkeit 
allein,  reicht  soweit  also  wie  die  durch  keine  gesellschaftliche 
(staatliche)  Garantie  gesicherte  oder  unterstützte  Macht  des 
einzelnen  Individuums  reicht.  Es  kann  beruhen  in  einem  persön¬ 
lichen  Können,  dann  nennen  wir  es  unser  Leistungsver¬ 
mögen:  einen  Berg  zu  besteigen  oder  drei  Flaschen  Sekt  zu 
trinken  oder  eine  gute  Bede  zu  halten  oder  das  hohe  C  zu 
singen  usw.  Oder  es  beruht  in  einer  Verfügungsgewalt  über 
Menschen  oder  Dinge :  dann  könnte  man  es  als  Herrschafts- 
vermögen  bezeichnen. 

Eine  Verfügungsgewalt  über  Menschen  und  Dinge  sage  ich; 
wohlverstanden :  die  als  einzige  Quelle  die  Macht  der  Persön¬ 
lichkeit  hat. 

Also  wenn  ein  Mensch  imstande  ist,  über  andere  zu  herrschen, 
sie  zu  Leistungen  oder  Unterlassungen  zu  zwingen,  sie  sich 
dienstbar  zu  machen  allein  kraft  seiner  Schönheit,  seiner  persön¬ 
lichen  Größe,  seiner  Güte,  seiner  Stärke.  Wie  der  Hypnotiseur 
ein  rein  physiologisches  Vermögen  über  andere  hat.  Durch 
direkte  Einwirkung  von  Mensch  zu  Mensch.  Jemand  hat  ein 
individuelles  Sachvermögen,  wenn  dieses  selbst  rein  individualer 
Macht  sein  Dasein  verdankt;  also  nicht  etwa  auf  irgendeinem 
Bechtstitel,  sei  es  auch  das  dürftigste  Besitzrecht,  beruht  (als 
womit  es  zum  sozialen  Vermögen  werden  würde). .  Solcherart 
Sachvermögen  sind  naturgemäß  sehr  selten :  Fafner  hat  den 
Nibelungenhort  individualiter  im  Vermögen.  Oder  ein  Dieb  eine 
gestohlene  und  verborgene  Sache  .(sobald  er  jedoch  etwa  einen 


Sechsimddreißigstes  Kapitel:  Machtreichtum  und  Reichtumsmacht  583 

gestohlenen  Schmuck  in  Geld  einlöst  und  dann  mit  dem  Gelde 
etwas  bezahlt,  hat  er  ein  soziales  Vermögen  gewonnen). 

Das  Sozialvermögen  ist  dem  entgegen  immer  von  der 
Gesellschaft  garantiert  und  schließt  stets  ein  Rechtsverhältnis 
ein.  Daß  es  ein  soziales  Leistungsvermögen  gäbe ,  wird  man 
theoretisch  nicht  bestreiten  dürfen.  Praktisch  ist  es  bedeutungs¬ 
los.  Praktisch  ist  vielmehr  das  Sozialvermögen  immer  ein  Herr¬ 
schaftsvermögen  (denn  auch  z.  B.  Patentschutz,  Schutz  des 
geistigen  Eigentums,  die  also  ein  individuelles  Leistungsvermögen 
schützen  sollen,  begründen  doch  immer  ein  soziales  Herrschafts¬ 
vermögen,  insofern  sie  andere  verhindern,  etwas  zu  tun). 

Wiederum  kann  sich  das  Herrschaftsvermögen  unmittelbar 
auf  Personen  oder  auf  Sachen  beziehen. 

Sozial  beherrscht  Personen,  wen  die  Gesellschaft  (der 
Staat)  dazu  ermächtigt.  In  der  Sphäre  des  öffentlichen  Rechtes 
liegt  das  soziale  Herrschaftsvermögen  allem  Beamtenverhältnis, 
aller  militärischen  Disziplin,  allem  Polizeiwesen  zugrunde,  während 
in  der  Sphäre  des  Privatrechts  heute  das  rein  personale  Herr¬ 
schaftsvermögen  stark  beschränkt  ist.  Im  Zeitalter  der  Sklaverei 
konnte  es  sich  beliebig  auf  alle  Menschen  und  alle  ihre  Lebens¬ 
funktionen  ausdehnen ;  heute  findet  es  sich  häufiger  nur  noch  in 
familienrechtlichen  Beziehungen :  alle  elterliche  Autorität  (soweit 
sie  nicht  einem  Individualvermögen  der  Eltern  entspringt)  ruht 
auf  dem  Sozialvermögen ,  dem  von  der  Gesellschaft  mit  ihren 
Machtmitteln  sanktionierten  Herr  Schafts  Verhältnis  zwischen  Eltern 
und  Kindern.  Dagegen  ist  das  eigentliche  Gebiet  des  Sozial¬ 
vermögens  die  Sachbeherr schung.  Hier  also  erscheint  es  als 
soziales  Sachvermögen  und  beruht  in  der  durch  die  Ge¬ 
sellschaft  (Staat)  gewährleisteten  Verfügungsgewalt  einer  Person 
über  Sachgüter. 

Das  ist  diejenige  Spielart  des  „Vermögens“,  an  die  wir  denken, 
wenn  wir  (ohne  weiteres)  von  großen,  mittleren  und  kleinen 
Vermögen  reden,  die  die  fremden  Nationen  mit  einem  besonderen 
Worte  (fortune,  riches)  bezeichnen,  die  aber  (wie  aus  meinen 
Ausführungen  wohl  hervorgeht)  in  der  Tat  nichts  Wesensanderes 
darstellt  als  alle  andern  Bedeutungen  des  deutschen  Wortes  Ver¬ 
mögen  auch.  Dieser  Mann  hat  ein  großes  Vermögen  heißt:  dieser 
Mann  kann  auf  Grund  irgendwelcher  Rechtstitel  über  große 
Mengen  von  Sachgütern  verfügen  und  wird  hierbei  vom  Staate 
geschützt.  Und  einen  solchen  Mann  nennen  wir  „reich“  (im 
materiellen  Sinne).  Sein  Reichtum  erstreckt  sich  soweit,  als  der 


584  Fünfter  Abschnitt:  Die  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums 

Kreis  von  Sachgütern,  über  die  er  verfügen  kann;  über  die  zu 
verfügen  die  Gesellschaft  ihm  gestattet. 

Der  Inhalt  dieser  Verfügungsgewalt  ist  nun  ein  sehr  mannig¬ 
faltiger.  Bei  weitem  ihr  wichtigster  Bestandteil  ist  die  Macht, 
die  der  Vermögende  kraft  seines  Sachvermögens  über  andere 
Menschen  ausübt.  Es  ist  eine  andere  Macht  als  die  dem  Individual¬ 
vermögen  entspringende ;  es  ist  auch  eine  andere  als  die  aus  dem 
personalen  Sozialvermögen  fließende  (z.  B.  Herrschermaclit) :  sie 
wird  immer  vermittelt  durch  ein  Sachgut,  mit  dessen 
Hilfe  die  Leistungen  anderer  Personen  „bezahlt“,  „gekauft“ 
werden  (diese  Ausdrücke  im  weitesten  Sinne  gebraucht).  Ich 
kann  jemandes  Liebe  oder  Dankbarkeit  durch  ein  Geschenk  „er¬ 
kaufen“,  ich  kann  jemanden  für  geleistete  Dienste  durch  Über¬ 
lassung  eines  Sachguts  „bezahlen“  (Dienstlehen!);  ich  kann  eine 
Schauspieltruppe  gegen  Darreichung  von  Sachgütern  mir  Vor¬ 
spielen  lassen;  ich  kann  mir  die  Dienste  eines  Bechtsanwaltes 
oder  Arztes  gegen  „Bezahlung“  sichern;  ich  kann  endlich  die 
Arbeitsprodukte  anderer  gegen  meine  Güter  Umtauschen,  „kaufen“. 
Daß  andere  Menschen  für  mich  tätig  sein  müssen, 
gibt  allem  Beicht  um  erst  seinen  Sinn  und  seine  Be¬ 
deutung.  Zwar  kann  Bobinson  Güter  aufspeichern;  er  kann 
„Vermögen“  ansammeln;  aber  es  bleibt  Individualvermögen.  Und 
zum  Individualvermögen  schrumpft  das  Sozialvermögen  zusammen, 
wenn  etwa  aus  irgendeinem  Grunde  jene  geheimnisvolle  "Wirkung 
der  Sachgüter,  die  mein  „Vermögen“  ausmachen:  andere  Menschen 
zur  Leistung  zu  veranlassen,  aufhört:  etwa  infolge  eines  Krieges, 
in  einer  Bevolution  oder  einer  schweren  Krisis.  Wenn  ich  in 
solchen  Fällen  mit  meinem  Sach  „vermögen“  niemandes  Dienste 
(oder  Arbeitsprodukte)  mehr  „kaufen“  kann,  reicht  mein  Ver¬ 
mögen  nur  so  weit,  als  ich  mit  meiner  Person  einzuwirken  ver¬ 
mag  :  sei  es  unmittelbar  auf  Sachen  (indem  ich  mit  eigener  Hand 
meinen  Acker  bearbeite),  sei  es  mittelbar  auf  andere  Menschen 
(indem  ich  z.  B.  durch  die  Macht  der  Überredung  oder  durch 
Drohung  oder  durch  Güte  andere  bewege,  für  mich  zu  arbeiten). 
Oder  aber  mein  soziales  Personalvermögen  muß  mir  weiter  helfen. 
Mein  sozialesSach  vermögen  hat  aber  aufgehört  zu  existieren : 
ich  besitze  nur  noch  Individual-  oder  personales  Sozialvermögen. 

In  welcher  Form  sich  ein  Vermögen  darstellt,  ist  gleichgültig 
für  den  Begriff  des  Vermögens.  Es  können  Forderungen  sein; 
es  kann  aber  auch  mein  Vermögen  sich  in  Sachgütern  ver¬ 
körpern  :  sind  dieses  Grundstücke,  sprechen  wir  von  Immobiliar- 


Sechsunddreißigstes  Kapitel:  Machtreichtum  und  Reichtumsmacht  585 


vermögen,  ist  es  Fahrhabe,  von  beweglichem  oder  Mobiliarver¬ 
mögen.  Nur  eine  besondere  Form  des  Mobiliarvermögens  ist  das 
G-eldvermögen.  Es  ist  das  Vermögen  in  abstrakter  Gestalt,  so¬ 
fern  im  Gelde  alle  beliebigen  Güter  symbolisch  dargestellt  werden. 
Es  ist  das  Vermögen  in  seiner  wirksamsten  Gestalt,  sofern  in 
verkehrswirtschaftlicher  Organisation  (in  normalen  Zeiten)  das 
Symbol  „Geld“  von  jedermann  gern  genonmen  wird  und  folge¬ 
weise:  pecuniam  habens  habet  omnem  rem  quam  vult  habere; 
richtiger:  der  Geldbesitzer  über  jede  Arbeitsleistung  anderer 
verfügen  kann. 


Verhältnis  des  Begriffs  Vermögen  zu  den  Rechts¬ 
kategorien 

Das  soziale  Sachvermögen  stellt  sich  juristisch  dar  in  den  ver¬ 
schiedensten  Rechtskategorien,  nicht  etwa  nur  im  Eigentum.  Alle 
Rechtsverhältnisse  des  Sachenrechtes  sowie  auch  des  Obligationen¬ 
rechtes  gehören  hierher.  Denn  in  allen  handelt  es  sich  am  letzten 
Ende  immer  darum,  daß  eine  Person  die  Verfügungsgewalt  über  eine 
bestimmte  Menge  von  Sachgütern  hat  (oder  einer  andern  streitig  macht 
oder  erst  zu  erlangen  trachtet  oder  auf  eine  andere  übertragen  oder 
gegen  einen  andern  Sachgüterkomplex  eintauschen  oder  über  sie  eine 
vorübergehende  Verfügungsgewalt  für  sich  oder  andere  feststellen 
lassen  wäll  usw.). 

(Daß  letzten  Endes  auch  rechtlich  in  der  „Sach“beherrschung  nur 
eine  Personenbeherrschung  steckt ,  weiß  jeder  Jurist.  Auch  ein 
„Sachenrecht  begründet  nicht  ein  Rechtsverhältnis  zwischen  einer 
Person  und  einer  Sache,  sondern  zwischen  Personen.  Selbstverständ¬ 
lich.) 

Was  den  Begriff  des  „Vermögens“  von  allen  Rechtsverhältnissen 
unterscheidet  ist  dieses:  daß  die  im  „Vermögen“  begründete  Herr¬ 
schaftsgewalt  dem  Berechtigten  die  endgültige  Verfügung  über  die 
der  Herrschaft  unterliegenden  Gütermengen  gewährt.  Insofern  umfaßt 
das  „Vermögen“  die  Fähigkeit,  zu  dem  Gegenstände  in  ein  Rechts¬ 
verhältnis,  welches  immer  es  sei,  aber  auch  in  ein  physisches  Ver¬ 
hältnis,  welches  immer  es  sei,  beliebig  zu  treten.  Kraft  der  in  meinem 
„Vermögen“  eingeschlossenen  Befugnisse  kann  ich  auch  dritten  Per¬ 
sonen,  so  viel  mir  gut  dünkt,  Rechte  auf  die  Sache  einräumen:  selbst 
das  Eigentum,  ohne  mich  des  Vermögens  zu  entäußern.  Das  geschieht 
beispielsweise  mit  Notwendigkeit  in  der  Rechtsform  des  Darlehns. 
Hier  erlangt  der  Schuldner  Eigentum  an  dem  Gelde,  das  zum  Ver¬ 
mögen  des  Gläubigers  gehört.  Der  Umfang  unseres  Vermögens  wird 
also  festgestellt  durch  die  Reichweite  unseres  Eigentumsrechtes,  zu¬ 
züglich  unserer  Forderungen,  abzüglich  unserer  Schulden.  (Wenn  ich 
hier  von  Geld  und  Kredit  gesprochen  habe,  so  geschah  es  natürlich 
nur,  um  jedermann  vertraute  Beispiele  zu  wählen.  Die  mit  den  Bei¬ 
spielen  verdeutlichten  Tatbestände  können  in  jeder  Gestaltung  des 


580  Fünfter  Abschnitt  .  Die  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums 

Wirtschaftslebens  wirklich  werden,  gehören  also  zu  den  Elementar¬ 
erscheinungen.) 

Betrachten  wir  nun  die  historische  Entwicklung  des 
Vermögens,  so  ist  ersichtlich,  daß  das  Individualvermögen  immer 
zuerst  da  sein  muß.  Auf  ihm  baut  sich  dann  das  Sozialvermögen 
auf:  die  mit  besonderen  Kräften,  Mächten,  Fähigkeiten  aus¬ 
gestatteten  Personen:  Medizinmänner,  Priester,  Heerführer,  be¬ 
kommen  soziale  „Gleitung“ :  werden  mit  sozialen  Machtmitteln 
von  der  Gesellschaft  ausgestattet:  zunächst  mit  bloßer  Herr¬ 
schaftsgewalt,  sodann  auch  mit  Sachvermögen.  Die  Mächtigen 
werden  die  Reichen :  ihnen  fällt  das  eroberte  Land,  die  eroberte 
Beute  in  größerem  Umfange  anheim.  Sie  sind  reich  (an  Sach¬ 
gütern),  haben  ein  großes  Sachvermögen,  weil  sie  mächtig  waren, 
kraft  ihrer  Herrscherstellung  in  der  Gesellschaft:  einen  solchen 
Reichtum  will  ich  Machtreichtum  nennen.  Es  war  der  Reich¬ 
tum,  wie  wir  ihn  bei  den  europäischen  Völkern  beim  Eintritt  in 
die  Geschichte  allein  finden,  wie  er  noch  einen  größeren  Teil  des 
Mittelalters  hindurch  vorwiegt.  Es  ist  der  Reichtum  der  Könige, 
der  Großgrundbesitzer,  der  Kirche.  Dieser  Reichtum  trägt  ein 
stark  feudales  Gepräge,  und  wir  können  ihn  deshalb  (nicht  ganz 
genau,  aber  treffend)  als  feudalen  Reichtum  bezeichnen. 
Er  bestand  teils  in  Grundbesitz,  teils  in  Fahrhabe,  auch  in 
Geld. 

Das  Geld  bewirkt  es  nun,  daß  der  Reichtum  sich  unmerklich 
seinem  innersten  Wesen  nach  wandelt.  Der  Geldbesitz,  als  die 
abstrakte  Form  des  Sachvermögens,  verleiht  als  solcher  jedem, 
der  ihn  hat,  Macht.  Diese  Macht  stammt  von  nichts  anderem 
als  von  der  Tatsache  her,  daß  jemand  über  eine  Anzahl  Geld¬ 
stücke  verfügt.  Und  diese  aus  dem  (Sach)Reichtum  abgeleitete 
Macht  tritt  nun  mit  der  Zeit  ebenbürtig  neben  die  aus  Herr¬ 
schaftsverhältnissen  fließende  Macht,  so  sehr,  daß  sie  diese 
staatlichen  Herrschaftsverhältnisse  schließlich  gar  aus  eigener 
Kraft  schafft.  Es  kommt  dahin,  daß  die  Reichen  die  Mächtigen 
werden.  Eine  solche  Macht,  die  aus  Reichtum  stammt,  will  ich 
Reicht  ums  macht  nennen.  Diese  Reichtumsmacht  erstarkt  nun 
in  den  europäischen  Staaten  seit  den  Kreuzzügen  je  mehr  und 
mehr.  Ihre  Träger  sind  die  nouveaux  riches,  die  gente  nuova,  die 
homines  novi,  quos  fortuna  e  faece  tulit:  sie  stehen  zunächst 
außerhalb  des  Nexus  der  feudalen  Gesellschaft  (in  die  sie 
höchstens  kraft  ihres  Reichtums  eindringen).  Wir  können  ihren 
Reichtum  deshalb  als  bürgerlichen  Reichtum  bezeichnen. 


Sechsundclreißigstes  Kapitel:  Maclitreichtum  und  Reichtumsmacht  587 

Das  ist  nun  also  der  große  welthistorische  "Wandel,  den  wir 
in  seinen  Etappen  verfolgen  wollen:  wie  aus  Machtreich¬ 
tum  sich  Reichtumsmacht  entwickelt.  Das  ist  das 
Problem  der  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums. 

Noch  einmal:  nicht  sowohl  die  Träger  des  Reichtums  sind 
es,  die  den  tiefen  Unterschied  begründen:  dieser  liegt  in  der 
Wesenheit  der  beiden  Reichtumsarten  selbst  in  ihrer  verschie¬ 
denen  Ableitung,  in  ihrem  verschiedenen  Geiste. 

Was  bist  du?  fragte  man  früher.  Ein  Mächtiger.  Also  bist 
du  reich. 

Was  bist  du?  fragt  man  jetzt.  Ein  Reicher.  Also  bist  du 
mächtig. 

Es  mag  noch  bemerkt  werden,  daß  die  Begriffe  Reichtum 
oder  Vermögen  ganz  und  gar  nicht  mit  dem  Begriffe  Kapital 
gleich  zu  setzen  sind.  Es  war  ein  grober  Fehler  der  ersten 
Auflage  dieses  Werkes,  daß  zwischen  Vermögen  und  Kapital  und 
somit  auch  zwischen  Vermögensbildung  und  Kapitalbildung  nicht 
scharf  genug  unterschieden  wurde.  Wir  werden  sehen,  wie  diese 
beiden  in  der  europäischen  Geschichte  sich  verschieden  ent¬ 
wickeln.  Zunächst  haben  wir  es  aber  nur  mit  dem  bürgerlichen 
Vermögen  (Reichtum),  nicht  mit  Kapital,  zu  tun.  Dessen  Ent¬ 
stehung  ist  ein  großes  Ereignis  von  ganz  eigner  Prägung,  das 
nicht  nur  über  das  Problem  der  Kapitalbildung,  sondern  sogar 
über  das  der  Entstehung  des  Kapitalismus  hinaus  von  einziger 
Bedeutung  ist. 


588 


Siebenunddreifsigstes  Kapitel 

Zur  Theorie  der  Yermögensbildung 

Nachdem  wir  nun  uns  klar  gemacht  haben,  was  „bürgerlicher 
Reichtum“  ist,  müssen  wir  uns  noch,  ehe  wir  seine  Entstehung 
verfolgen,  vergegenwärtigen,  was  man  denn  unter  „Entstehung“ 
von  Reichtum  (oder  „Vermögen“  in  dem  festgestellten  Sinne) 
zu  verstehen  hat. 

Wir  besitzen  zwei  Methoden,  um  die  Vermögensbildung  zur 
Darstellung  zu  bringen:  die  subjektiv-biographische  und 
die  objektiv-soziologische. 

Nach  jener  wird  der  Weg  untersucht,  der  eine  Person  und 
noch  eine  und  noch  eine  zum  Reichtum  geführt  hat. 

Neben  den  objektiven  Umständen  werden  vor  allem  die 
subjektiven  Eigenarten  aufgewiesen,  die  diesen  oder  jenen  zu 
vermögenden  Leuten  gemacht  haben.  Man  bemüht  sich,  den 
Erfolg  dem  einzelnen  zuzurechnen ;  man  versucht  eine  Aufteilung 
des  erworbenen  Reichtums  auf  die  beiden  Kategorien:  G-lück 
und  Verdienst.  Man  versucht,  um  es  in  der  hier  gezeigten 
Terminologie  auszudrücken,  nachzuweisen:  welcher  Zusammen¬ 
hang  im  einzelnen  Falle  zwischen  Individual-  und  Sozialvermögen 
obwaltet. 

Ob  eine  solche  Aufgabe  im  monographischen  Rahmen  lösbar 
ist,  mag  dahingestellt  bleiben.  Auf  die  gewaltigen  Schwierigkeiten 
hat  in  epigrammatischer  Form  schon  Mephisto  hingewiesen,  und 
Friedrich  Albert  Lange  hat  in  dem  berühmten  dritten 
Kapitel  seiner  „Arbeiterfrage“  einen  streng  wissenschaftlichen 
Beweis  dafür  erbracht,  daß  „der  Zufall“  an  jedem  wirtschaft¬ 
lichen  Erfolge  den  größten  Anteil  hat. 

Wollte  man  aber  auch  für  den  einzelnen  Fall  den  Nachweis 
als  vollkommen  gelungen  erachten,  daß  ein  bestimmtes  Vermögen 
als  das  Ergebnis  ganz  bestimmter  persönlicher  Leistungen  und 
Begabungen  anzusehen  sei,  so  wäre  damit  für  die  Erkenntnis 
eines  gesellschaftlichen  Gresamtzustandes  noch  herzlich  wenig 
gewonnen.  Denn  jene  besonderen  Zusammenhänge  ohne  weiteres 
zu  verallgemeinern,  das  Schicksal  des  einzelnen  als  typisch  an- 


♦ 


Siebenimdclreißigstes  Kapitel:  Zur  Theorie  der  Vermögeusbildung  589 

zusehen  und  aus  ihm  auf  die  übrigen  Fälle  zu  schließen,  ist 
natürlich  nicht  angängig.  Man  könnte  höchstens  einen  Induktions¬ 
beweis  versuchen,  indem  man  eine  größere  Anzahl  „typischer“ 
Fälle  untersuchte,  um  aus  ihnen  allgemeinere  Schlüsse  abzuleiten. 
Diese  allgemeinen  Feststellungen  könnten  sich  dann  immer  nur 
auf  zweierlei  beziehen:  auf  die  objektiven  Möglichkeiten,  Ver¬ 
mögen  zu  erwerben,  und  auf  die  subjektiven  Qualitäten,  die  be¬ 
sonders  geeignet  machen,  jene  objektiven  Möglichkeiten  auszu¬ 
nutzen.  Damit  aber  hätte  man  schon  den  Boden  der  subjektiv¬ 
biographischen  Methode  verlassen  und  hätte  sich  auf  den  der 
objektiv-soziologischen  gestellt.  Denn  diese  besteht  eben  darin, 
daß  man  sich  mit  der  Feststellung  der  objektiven  Möglichkeiten 
und  der  Aufzählung  der  ihnen  angepaßtesten  Eigenschaften  begnügt, 
zu  deren  Erkenntnis  man  auf  zahlreichen  andern  Wegen  außer 
dem  der  biographischen  Einzeluntersuchung  gelangt.  (Die  Öko¬ 
nomie  dieses  Werkes  bringt  es  mit  sich,  daß  der  Aufweisung 
der  objektiven  Möglichkeiten  der  Vermögensbildung  dieser  fünfte 
Abschnitt  fast  ausschließlich  gewidmet  ist,  während  der  Nach¬ 
weis  der  subjektiven  Eignung  nur  gelegentlich  in  diesem  Ab¬ 
schnitte,  ausführlicher  jedoch  unter  Verwertung  noch  anderer 
Gesichtspunkte  später  erfolgt.) 

Eine  allgemeine  Theorie  der  Vermögensbildung 
ist  meines  Wissens  bisher  noch  niemals  aufzustellen  versucht 
worden.  Außer  den  wenigen  Bemerkungen  in  der  Pantschatantra 
ist  mir  überhaupt  nichts  zu  Gesichte  gekommen,  das  die  theore¬ 
tischen  Möglichkeiten  und  Voraussetzungen  der  Vermögens¬ 
bildung  systematisch  zusammenzustellen  unternommen  hätte.  Ich 
gebe  hier  das  Schema. 

Die  Frage  nach  den  Umständen  der  Vermögensbildung  ist 

I.  die  Frage  nach  den  Quellen,  aus  denen  das  Vermögen 
fließt. 

Danach  ist  die  Vermögensbildung 

(1.  formal )  entweder  originär  oder  abgeleitet. 

Um  diese  besonders  wichtige  Unterscheidung  richtig  zu  ver¬ 
stehen,  muß  vorausgeschickt  werden,  daß  es  sich  bei  dieser  Be¬ 
trachtung  immer  nur  um  die  Entstehung  „größerer“  Vermögen, 
das  heißt  solcher  Vermögen  handeln  soll,  die  mehr  Sachgüter 
umfassen,  als  sich  in  den  Händen  der  primitiven,  gleichgestellten 
Wirtschaftssubjekte  befinden,  so  daß  das  Problem  der  Vermögens¬ 
bildung  in  gewissem  Sinne  gleichgesetzt  wird  mit  dem  Problem 
derVermögensdifferenzierung,  mit  der  Entstehung  des  „Reichtums“. 


590  Fünfter  Abschnitt:  l)ie  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums 

Originär  ist  die  Vermögensbildung  wiederum  in  einem 
doppelten  Sinne :  im  ökonomischen  oder  im  geographischen  Sinne, 
wie  ich  kurzweg  sagen  will.  Originäre  Vexmögensbildung  im 
ökonomischen  Sinne  nenne  ich  diejenige,  die  sich  im  Kreise 
gleichvermögender  Genossen  vollzieht:  wro  sich  also  sowohl  die 
kleinen  Vermögen  aller  Genossen  erst  bilden  als  auch  größere  Ver¬ 
mögen  aus  dem  Nichts  oder  aus  diesen  kleinen  Vermögen  der  an¬ 
nähernd  gleichgestellten  Genossen  erwachsen ;  abgeleitete  Ver- 
rnögensbildung  dagegen  diejenige,  bei  der  ein  größeres  Vermögen 
durch  Übertragung  schon  vorhandener  größerer  Vermögen  sich 
bildet.  Im  Falle  der  abgeleiteten  Vermögensbildung  ist  also  das 
Vermögen  schon  an  einer  Stelle  angehäuft:  es  wechselt  nur 
seinen  Besitzer.  Das  kann  sich  im  Nahmen  eines  und  desselben 
Wirtschaftssystems  abspielen  oder  es  kann  sich  bei  dieser  Ver¬ 
mögensübertragunggleichzeitig  um  einen  Wechsel  des  Wirtschafts¬ 
systems  handeln,  wenn  etwa  sich  Feudalvermögen  in  bürgerliches 
Vermögen  wandelt  oder  wenn  dereinst  beim  Übergang  aus  der 
kapitalistischen  in  die  sozialistische  Gesellschaftsordnung  nach 
dem  Wunsche  der  Sozialisten  die  „Expropriateurs  expropriiert“ 
werden.  (Die  ganze  Marx  sehe  Evolutionstheorie  fußt  auf  dem 
Gegensatz  zwischen  originärer  und  abgeleiteter  Vermögensbildung 
in  dem  hier  geprägten  Sinne.)  Auch  jede  „Verstaatlichung  oder 
Verstadtlichung“  gehört  hierher.  Originär  oder  abgeleitet  im 
geographischen  Sinne  ist  die  Vermögensbildung,  je  nachdem 
sie  sich  innerhalb  eines  bestimmten,  räumlich  begrenzten  Gebietes 
(z.  B.  eines  Landes)  vollzieht  oder  von  einem  Lande  auf  das 
andere  überspringt.  Soweit  z.  B.  die  Bildung  der  englischen 
großen  Vermögen  innerhalb  Englands  erfolgt,  nenne  ich  sie 
originär,  beruht  sie  auf  der  Übertragung  von  Vermögen,  die  sich 
vorher  in  Spanien,  Italien,  Holland  usw.  schon  gebildet  hatten: 
abgeleitet. 

(2.  material )  erfolgt  die  Vermögensbildung  entweder  bei 
gleichbleibendem  Reichtum.  oder  bei  wachsendem  Reich- 
tum  oder  bei  sinkendem  Reichtum,  wobei  ich  das  Wort 
Reichtum  dieses  Mal  im  Sinne  von  Nationalreichtum  fasse.  Der 
nationale  Reichtum  wächst,  wenn  die  produktiven  Kräfte  wachsen: 
diese  wiederum  wachsen  entweder  extensiv,  wenn  die  Bevölke¬ 
rung  sich  vermehrt;  oder  intensiv,  wenn  die  Arbeit  durch  bessere 
Organisation  oder  Vervollkommnung  der  Technik  produktiver 
gestaltet  wird.  Findet  eine  Vermögensbildung  unter  stabilen 
Reichtumsverhältnissen  statt,  dann  kann  sie  natürlich  immer  nur 


biebenunddreißigstea  Kapitel:  Zur  Theorie  der  Yermögensbildung  59 [ 

diü  Kosten  anderer  Vermögen  erfolgen;  es  kann  sich  alsdann 
nur  um  eine  Vermögensverschiebung'  handeln.  Ln  andern  Falle 
können  neue  Vermögen  neben  den  alten  entstehen.  Eine  Ver¬ 
mögensbildung  bei  sinkendem  Reichtum  bedeutet  in  der  Regel 
©ine  Raubwirtschaft ,  sei  es  daß  der  Boden ,  sei  es  daß  die 
Menschen  ausgesogen  werden.  „Ausgesogen“  Averden  das  heißt 
so  genutzt  werden,  daß  eine  Erneuerung  (Reproduktion)  ihrer 
Klüfte  nicht  stattfindet,  also  von  der  Substanz  und  nicht  nur 
von  den  Erträgnissen  gezehrt  wird.  Sehr  häufig  ist  alsdann  die 
A  ermögensbildimg  die  AMranlassung  zur  Raubwirtschaft. 

Das  hier  berührte  Problem  läßt  sich  auch  so  umschreiben 
ein  Vermögen  wird  entweder  gebildet  aus  den  schon  vorhandenen 
Genußgütern  oder  Produktionsmitteln  (die  alsdann  nur  den  Be¬ 
sitzer  wechseln:  formal  „abgeleitete“  Vermögensbildung);  oder 
es  wird  gebildet  aus  den  Arbeitserträgnissen  einer  neuen  Pro¬ 
duktionsperiode.  AVerden  diese  so  stark  zur  Vermögensbildung 
verwendet,  daß  eine  Reproduktion  des  gesellschaftlichen  Reich¬ 
tums  nicht  möglich  ist,  so  hegt’  Raubwirtschaft  vor. 

Das  Problem  der  Vermögensbildung  (sofern  nach  den  Quellen 
gefragt  wird,  aus  denen  die  neuen  Vermögen  entspringen)  ist 
also  sowohl  ein  Produktionsproblem  als  ein  Verteilungsproblem : 
die  Produktion  entscheidet  über  die  überhaupt  zur  AMrmögens- 
bildung  vorhandenen  Sachgüter,  die  Verteilung  über  deren  An¬ 
schoppung  an  einzelnen  Stellen. 

II.  Die  Mittel,  mittels  deren  Vermögen  gebildet  wird,  sind 
natürlich  außerordentlich  zahlreich.  Man  wird  die  wichtigsten 
Gruppen  etwa  in  folgender  Weise  unterscheiden  können: 

1.  nach  der  Art  der  Tätigkeit  (oder  des  Verhaltens),  die 
(oder  das)  zur  Vermögensbildung  führt:  ob  es  wirtschaftliche 
oder  außerwirtschaftliche  Tätigkeit  ist;  ob  es  sich  um  Produktions¬ 
oder  Konsumtionsakte  handelt:  ob  also  durch  Überschüsse  im 
Geschäft  oder  durch  „Sparen“  das  Vermögen  vermehrt  wird 
(oder  natürlich:  durch  beides);  ob  ein  aktives  Tun  oder  ein 
passives  Leiden  Grund  der  \rermögensbildung  wird :  ob  Raub 
oder  Erbschaft  etwa  ein  Vormögen  entstehen  lassen. 

2.  nach  der  Form,  in  der  die  Vermögensbildung  erfolgt. 
Die  Vermögensbildung  kann  im  Rahmen  der  bestehenden  Rechts¬ 
und  Sittenordnung  oder  unter  Mißachtung  von  Recht  und  Sitte 
vor  sich  gehen;  sie  kann  also  eine  „rechtmäßige“  oder  „unrecht¬ 
mäßige“  sein.  Sie  kann  auf  einseitigem  Zwang  oder  auf  Über¬ 
einkommen  beruhen.  Sie  kann  auf  entgeltlichen  oder  unentgelt- 


592  Fünfter  Abschnitt:  Die  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums 

liehen  Wertübergängen  beruhen,  je  nachdem  derjenige,  dem  man 
einen  Wert  abnimmt,  diesen  Wert  (ganz  oder  zum  Teil)  zurück¬ 
erhält  oder  nicht. 

III.  Eine  wichtige  Unterscheidung  ist  endlich  noch  die  nach 
dem  Tempo:  ob  eine  Vermögensbildung  schrittweise  oder 
sprungweise  vor  sich  geht.  Schrittweise :  so  daß  während  eines 
langen  Lebens  oder  erst  während  mehrerer  Generationen  aus 
kleinen  Anfängen  sich  ein  mittleres,  dann  ein  größeres  und  großes 
Vermögen  bildet;  sprungweise:  so  daß  in  wenigen  Jahren  Riesen¬ 
vermögen  wie  Pilze  aus  der  Erde  schießen.  Diese  Unterscheidung 
ist  deshalb  so  wichtig,  weil  diese  beiden  Arten  der  Vermögens¬ 
bildung  ganz  verschiedene  Wirkung  auf  das  Wirtschaftsleben 
ausüben:  weil  die  schrittweise  Vermögensbildung  das  langsame 
Ileranwachsen  neuer  Formen,  gleichsam  die  Herausbildung  von 
innen  nach  außen  im  Gefolge  hat ;  während  die  sprunghafte  Ent¬ 
stehung  eine  rasche ,  mechanische  Hervorbringung  bewirkt, 
gleichsam  von  außen  nach  innen  die  Entwicklung  beeinflußt. 

* 

* 

Aus  all  diesen  theoretischen  Betrachtungen  ergibt  sich  nun 
aber  die  Einsicht  vor  allem,  daß  das  Problem  der  Vermögens - 
bi  1  düng  ein  historisches  Problem  ist,  das  heißt:  daß  die 
Art  und  Weise,  wie  Vermögen  entstehen:  die  Quellen,  die  Mittel, 
das  Tempo  der  Vermögensbildung  durch  die  geschichtlichen  Um¬ 
stände  bestimmt  werden.  Die  allgemeinen  Sätze  haben  ja  in 
diesem  Zusammenhänge  auch  nur  den  Sinn,  die  nun  zu  schildernde 
empirische  Phase  der  Vermögensbildung  —  diejenige,  in  der 
bürgerliche  große  Vermögen,  also  der  bürgerliche  Reichtum 
entstehen  —  leichter  verständlich  zu  machen  dadurch,  daß  die 
Gesichtspunkte  herausgehoben  sind,  unter  denen  wir  füglich  die 
Einzelerscheinungen  betrachten  werden. 

Die  Anlage  dieses  Abschnitts  ist  nun  diese :  in  dem  folgenden 
(38.)  Kapitel  gebe  ich  einen  Überblick  über  das,  was  wir  den 
feudalen  Reichtum  nennen  wollten,  das  heißt  diejenigen  Reich¬ 
tumsformen,  bei  denen  der  Reichtum  ein  Ergebnis  der  sozialen 
Macht  ist:  dahin  gehört  aller  Reichtum  der  (feudalen)  Gro߬ 
grundbesitzer,  der  Reichtum  der  Könige  und  Fürsten  und  aller 
öffentlichen  Körper. 

In  den  folgenden  Kapiteln  (89  bis  47)  werden  die  Entstehungs- 
arten  des  bürgerlichen  Reichtums  geschildert:  es  wird  nach- 
gewiesen,  wie  weit  er  (von  feudalem  Reichtum)  abgeleitet,  wie 


Siebenunddreißigstes  Kapitel:  Zur  Theorie  der  Vermögensbildung  508 

weit  er  originären  Ursprungs  ist;  wann  er  rascli  und  sprunghaft 
entstand, wann  allmählich;  mit  welchen  Mitteln  endlich  er  erworben 
wurde.  Da  nun  nicht  gleichzeitig  sämtliche  Unterscheidungsmerk¬ 
male  zu  Einteilungen  des  Stoffes  verwandt  werden  können,  so  muß 
ein  Merkmal  als  oberstes  Einteilungsprinzip  ausgewählt  werden, 
ch  habe  dazu  die  Mittel  der  Vermögensbildung  erkoren. 
Danach  gliedert  sich  die  Darstellung  nach  folgendem  Schema, 
das  ich  in  der  äußeren  Anordnung  nicht  wiederholt  habe,  um 
die  Einteilung  in  Kapitel  leichter  möglich  zu  machen.  Die  ein¬ 
zelnen  Kapitel  stehen  also  im  Verhältnis  der  Über-,  Unter-  und 

Nebenordnung,  wie  folgende  Übersicht  über  die  Gesamtdisposition 
ergibt : 

A.  Die  Vermögensbildung  außerhalb  der  kapitalistischen  Wirt¬ 
schaft  : 

I.  Die  gebundenen  Formen  der  Vermögensbildung: 

1.  Die  Vermögensbildung-  in  der  handwerksmäßigen  Wirt¬ 
schaft:  30.  Kapitel; 

2.  Die  Vermögensbildung  durch  Geldleihe:  40.  Kapitel; 

3.  Die  Akkumulation  städtischer  Grundrente:  41.  Kapitel; 

4.  Die  unmittelbare  Vermögensbildung:  42.  Kapitel. 

II.  Die  freien  Formen  der  Vermögensbildung: 

1.  Betrug,  Diebstahl,  Unterschlagung  als  Vermögens¬ 
bildner:  43.  Kapitel; 

2.  Der  Baub:  44.  Kapitel; 

3.  Der  Zwangshandel:  45.  Kapitel; 

4.  Die  Ausbeutung!  der  Kolonien  durch  Zwangsarbeit: 
46.  Kapitel. 

B.  Die  Vermögensbildung  im  Rahmen  der  kapitalistischen 
Wirtschaft:  47.  Kapitel. 


38 


Sombart,  Der  moderne  Kapitalismus.  I. 


594 


Aclitunddreifsigstes  Kapitel 

Der  feudale  Reichtum 

I.  Der  Großgrundbesitz 

Ich  habe  an  anderer  Stelle  schon  an  die  bekannte  Tatsache 
erinnert,  daß  sich  im  Laufe  des  Mittelalters  ein  sehr  beträcht¬ 
licher  Teil  der  Länder  Europas  in  den  Händen  der  Grundherren 
zu  mehr  oder  weniger  großen  Besitzungen  zusammenballte. 

Dieser  Besitz,  der  in  den  Anfängen  zweifellos  ein  fast  aus¬ 
schließlich  naturaler  war  und  seine  Bedeutung  im  wesentlichen 
in  der  Möglichkeit  erschöpfte,  eine  größere  Anzahl  von  Menschen 
leben  zu  lassen,  wurde  allmählich,  wie  wir  annehmen  dürfen, 
immer  mehr  „mobilisiert“,  je  mehr  die  Abgaben  der  zinspflichtigen 
Hintersassen  in  Geld  erhoben  oder  die  Ernteerzeugnisse  von  den 
Besitzern  selber  zum  Verkauf  gebracht  wurden. 

Gleichzeitig  erfuhren  die  Erträgnisse  des  Grund  und  Bodens 
dank  den  Fortschritten  der  landwirtschaftlichen  Technik  sowie 
infolge  der  dichteren  Besiedelung  eine  unausgesetzte  Steigerung, 
an  denen  die  Grundherren  in  dem  Maße  teilnahmen,  als  es  ihnen 
gelang,  die  Abgabepflicht  der  Bauern  auf  gleicher  Höhe  zu  er¬ 
halten  oder  gar  zu  steigern. 

Den  „Wert“  des  Grund  und  Bodens  in  früherer  Zeit  zu  er¬ 
mitteln  ist  natürlich  fast  eine  unlösbare  Aufgabe.  Wir  müssen 
daher  uns  damit  zufrieden  geben,  wenn  uns  einige  Forscher  ein 
paar  Annäherungswerte  zusammengerechnet  haben,  die  ja  im 
Grunde  keine  andere  Bedeutung  haben,  als  einer  selbstverständ¬ 
lichen  Tatsache  einen  ziffernmäßigen  Ausdruck  zu  verleihen. 

Für  einzelne  Teile  Deutschlands  hat  Lamprecht  solche 
Berechnungen  angestellt.  Er  nimmt  an,  daß  es  das  Ereignis  der 
ersten  Hälfte  des  Mittelalters  ist,  überhaupt  erst  einen  irgendwie 
nennenswerten  Bodenpreis  gebildet  zu  haben,  und  daß  demgemäß 
eine  Steigerung  der  Bodenpreise  vom  9.  bis  zum  12.  Jahrhundert 
im  Verhältnis  wie  100  zu  1184,3  erfolgt  sei;  bis  zum  13.  Jahr¬ 
hundert  steige  dann  der  Preis  auf  1671,3,  bis  zum  Ende  des 
14.  Jahrhunderts  auf  3085  h 


1  Lamprecht,  DWL.  1,  602  ff. 


Aelitunddreißigstes  Kapitel:  Der  feudale  Reichtum 


595 


Die  noch  viel  vageren  Ziffern,  die  uns  D’Avenel1  für  das 
Mittelalter  gibt ,  setzen  den  Preis  des  Hektars  pflügbaren 
Landes  an: 

für  das  9.  Jahrhundert  auf  70  Frcs. 

»  »  12-  „  „  93  „ 

»  »  13.  »  „  135—261  Frcs. 

v  ?)  16.  „  „  317  Frcs. 

Es  ist  anzunehmen,  daß  ein  nicht  unbeträchtlicher  Teil  dieser 
"Wertsteigerung,  die  sich  natürlich  in  den  folgenden  Jahrhunderten 
fortsetzt,  den  Großgrundbesitzern  in  Gestalt  höherer  Eenten  zu¬ 
gute  gekommen  ist.  Vielleicht  auch  weist  die  Entwicklung  hier 
in  den  verschiedenen  Ländern  eine  verschiedene  Eichtung  auf: 
insbesondeie  scheint  es  fast,  als  ob  in  Deutschland  zeitweise 
wenigstens  die  steigenden  Bodenerträgnisse  sich  nicht  in 
steigende  Eenten  umgesetzt  hätten,  ja  als  ob  seit  dem  13.  Jahr¬ 
hundert  in  vielen  Gegenden  Deutschlands  die  Abgaben  der  Bauern 
immer  geringer  geworden  wären,  weil  sie  (bei  den  Erbzinsgütern, 
die  aber  die  Eegel  bildeten)  fixiert  wurden  und  deshalb  sanken: 
als  Geldzinse  infolge  der  seit  1250  überhandnehmenden  Mtinz- 
verschlechterungen,  als  Getreidezinse  infolge  des  Sinkens  der 
Getreidepreise  (seit  1400 ?)2.  In  allen  den  Ländern  aber,  und 
das  waren  die  meisten  westeuropäischen  Staaten,  wo  es  den 
Grundbesitzern  gelingt,  die  zeitpachtähnlichen  Verhältnisse  ein¬ 
zuführen,  fließen  die  Mehrerträge  des  Bodens  zum  größten  Teil 
den  Grundherren  zu  und  steigern  deren  Einkommen. 

Um  welche  Summen  handelte  es  sich  bei  diesen  Einkommen 
und  Vermögen  der  Grundherren? 

Einen  klaren  Einblick  in  die  Struktur  der  mittelalterlichen 
Gesellschaft  würde  uns  allein  eine  Einkommens-  und  Vermögens¬ 
statistik  der  genannten  Kreise  gewähren.  Und  es  wäre  wohl  eine 
dankbare  Aufgabe  für  gebildete  Wirtschaftshistoriker,  einmal  eine 
Geschichte  des  ländlichen  Eeichtums  im  Mittelalter  zu  schreiben, 
als  Gegenstück  zu  den  zahlreichen  Darstellungen  städtischer  Ein¬ 
kommens-  und  Vermögensverhältnisse.  Es  scheint  mir  kein  un¬ 
ausführbarer  Plan,  etwa  vom  Domesday-Book  und  den  Polyptiquen 
des  10.  und  11.  Jahrhunderts  an  die  Vermögen  der  weltlichen 
und  geistlichen  Herren  in  ihrer  Entwicklung  zu  verfolgen.  Die 
Hauptsache  wird  auch  hier  die  Fragestellung  sein.  Was  wir 


28* 


1  D’Avenel,  Hist.  econ.  Livre  II  Ch.  VI. 

2  Siehe  z.  B.  Meitzen,  Siedlungen  2,  341.  639. 


596  Fünfter  Abschnitt:  Die  Entstehung  de3  bürgerlichen  Reichtums 

einstweilen  an  Kenntnissen  besitzen,  ist  freilich,  nur  dürftiges 
Stückwerk.  Immerhin  reicht  es  hin,  um  ungefähre  Vorstellungen 
von  dem  Reichtumszustande  auf  dem  Lande  während  des  Mittel¬ 
alters  zu  gewinnen.  Da  ist  denn  nun  wohl  die  Tatsache  als  fest¬ 
stehend  anzunehmen,  daß  (auch  an  sog.  „beweglichen“  Vermögen, 
insonderheit  Edelmetallbesitz)  bis  tief  in  das  Mittelalter  hinein, 
ja  bis  über  das  Mittelalter  hinaus  die  großen  Privatvermögen 
allein  bei  den  weltlichen  Grundherren,  Stiftern  und  Klöstern  zu 
finden  waren.  Städte,  wie  Lübeck  und  Hamburg  in  ihrer  Blüte¬ 
zeit,  hatten  gewiß  nicht  die  Einnahmen,  die  ein  großer  englischer 
Lord  aus  seinen  Besitzungen  bezog  oder  die  einem  reichen  Kloster 
aus  Gefällen  und  Gülten  zuflossen.  Von  den  halb  fürstlichen 
großen  Grundherren,  wie  den  Herzogen  von  Burgund,  den  Grafen 
von  Flandern  oder  den  Markgrafen  von  Tuscien1,  ganz  abgesehen. 
Wir  dürfen  uns  überhaupt  wohl  den  Übergang  von  dem  könig¬ 
lichen  Vermögen  zu  denen  der  Großen  im  Lande  während  des 
Mittelalters  nicht  so  schroff  vorstellen  wie  heute.  Die  Grand¬ 
seigneurs  behaupteten  tatsächlich  jahrhundertelang  eine  der  fürst¬ 
lichen  verwandte  Stellung. 

Wir  besitzen  für  verschiedene  Länder  ziffernmäßige  Angaben, 
die  die  Dichtigkeit  des  Gesagten  bestätigen.  Ich  wähle  einige 
aus  der  Zeit  des  späten  Mittelalters  und  den  ersten  nachmittel¬ 
alterlichen  Jahrhunderten  aus,  weil  diese  Epochen  für  die  Ver¬ 
mögensbildung  naturgemäß  am  wichtigsten  sind. 

In  England  sind  die  Durchschnittseinkommen  der  verschiedenen 
Adelsgrade  des  öfteren  von  kundigen  Leuten  geschätzt  worden,  und 
die  verschiedenen  Schätzungen  helfen  einander  ihre  Glaubwürdig¬ 
keit  vermehren  durch  die  ziemliche  Übereinstimmung  ihrer  Ziffern. 

Nach  einer  solchen  Schätzung  aus  der  Zeit  Eduards  IV.2  hatten 
Einkommen : 


ein 

Herzog . 

.  4000  £ 

Y) 

Marquess  .  .  .  . 

....  3000  , 

» 

Earl . 

.  2000  „ 

?? 

Vicomte . 

....  1000  „ 

J) 

Baron . 

....  500  „ 

Banneret  .  .  .  . 

....  200  „ 

Ritter . 

....  200  „ 

Squire . 

.  50  „ 

1  Über  deren  bekannten  Reichtum  macht  Angaben  K.  Hegel, 
Städteverfassung  von  Italien  2,  80  f. 

2  Mitgeteilt  z.  B.  bei  Stubbs,  Const.  Hist.  3 5  (189G),  557. 


Achtunddreißigstes  Kapitel:  Der  feudale  Reichtum 


597 


Natürlich  hatten  einzelne  Große  ein  Vielfaches  von  diesem  Ein¬ 
kommen:  so  wurden  die  jährlichen  Einkünfte  des  Herzogs  von 
Buckingham  im  15.  Jahrhundert  von  dem  venetianischen  Ge¬ 
sandten  Giustiniani  auf  30000  Duk.  geschätzt1. 

Bekannt  ist  die  Einkommensschätzung  Gregory  Kings2 
aus  dem  17.  Jahrhundert.  Danach  betrug  das  Durchschnitts¬ 
einkommen  eines 

weltlichen  Lords . 

Baronets . 


Knights  . 
esquire 
gentleman 


3200  jg 
880  „ 
656  „ 
450  „ 
280  „ 


400  SS 
198  „ 
45  ,, 
38  „ 


während  nach  demselben  Gewährsmann 
ein  größerer  Kaufmann.  .  . 

„  geringerer  „  ... 

„  Detailhändler . 

„  Handwerker . 

durchschnittliches  Einkommen  bezogen. 

Außerordentlich  begütert  war  der  ■italienische  Adel.  Von  den 
Orsini  und  Colonna  hören  wir,  daß  sie  im  15.  Jahrhundert  jähr¬ 
lich  je  25 000 fl.  vereinnahmten3. 

Von  dem  reichen  Besitz  der  Florentiner  Adelsgeschlechter 
an  Gold-  und  Silbergerät  schon  in  älterer  Zeit  wird  uns  oft  be¬ 
richtet  4. 

Durch  seinen  Reichtum  zeichnete  sich  der  Mailänder  Adel 
aus.  Man  zählte  etwa  fünf  Familien ,  die  zwischen  10  000  und, 
30000  Duk.  Einkünfte  hatten.  Man  rechnete  im  16.  Jahrhundert 
die  Medici  von  Marignano ,  die  Sforzen  von  Caravaggio  auf 
12000,  die  Borromeen  auf  15000,  die  Trivulzen  auf  20000,  die 
Serbelloni  auf  30000  Duk.  Renten.  Solche  Häuser  dagegen,  die 
zwischen  2000  und  4000  Duk.  Einkünfte  hatten,  gab  es  eine 
ungemeine  Menge  5. 


1  Bei  Denton,  England  in  the  XV.  Century  (1888),  266. 

2  G.  King,  Natural  and  political  observations  etc.  (1696);  siehe 
darüber  die  kritischen  Bemerkungen  bei  Rogers,  Hist,  of  agri- 
culture  etc.  5  (1887),  90  f. 

3  Carte  Strozziane  Ms.,  mitgeteilt  bei  Gregorovius,  Gesch.  der 
Stadt  Rom  7  4 *  (1894),  342/43. 

4  Siehe  z.  B.  Davidsohn,  Gesch.  von  Florenz  1,  762. 

5  Nach  einer  Relatione  di  tutti  li  stati  signord  e  principi  d’  Italia 

und  Leoni  mitgeteilt  von  Ranke,  Fürsten  und  Völker  Südeuropas 

l8,  469. 


598  Fünfter  Abschnitt.:  Die  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums 

In  Spanien  gehörte  105  weltlichen  und  geistlichen  Herren  im 
15.  Jahrhundert  der  größte  Teil  des  Landes.  Die  Herzoge  von 
Infantado  und  Medina  de  Rioseco,  von  Escalona,  von  Ossuna 
besaßen  je  100  000  Duk. ,  der  Herzog  von  Medina  -  Sidonia 
130000  Duk.  Jahresrente;  mancher  hatte  30000  Familien  Unter¬ 
tanen  h 

Vom  Reichtum  des  französischen  Adels  sind  wir  besonders  gut 
durch  die  Vorgänge  der  großen  Revolution  unterrichtet.  Was 
im  Jahre  1789  zum  Adel  gehörte,  war  zwar  nicht  alles  Uradel, 
also  nicht  alles  „feudalen“  Ursprungs,  sondern  zum  größten  Teil 
schon  wieder  ein  Erzeugnis  der  bürgerlichen  Vermögensbildung: 
aber  immerhin  gibt  der  Zustand  am  Vorabend  der  Revolution 
doch  ein  annähernd  getreues  Spiegelbild  des  feudalen  Reichtums 
beim  Ausbruch  der  Revolution,  weil  ja  der  Rechtscharakter 
des  ehemals  ritterlichen  Landes  erhalten  geblieben  war,  so  daß 
man  genau  feststellen  kann,  wie  groß  sein  Umfang  ehedem  war, 
auch  wenn  es  jetzt  schon  in  die  Hände  der  Nouveaux  riches 
gelangt  war.  Übrigens  bewahrte  dieser  Reichtum,  solange  er 
mit  Privilegien  ausgestattet  war,  auch  während  der  bürgerlichen 
Periode  einen  Teil  seines  alten  feudalen  Charakters.  Man  rechnet, 
daß  damals  die  Zahl  der  Adligen  in  Frankreich  140  000  betrug,  und 
daß  ihnen  ein  ganzes  Fünftel  des  Landes  zu  eigen  gehörte1  2.  Das 
wird  der  Zustand  sein,  wie  er  sich  im  Mittelalter  herausgebildet 
hatte. 

Und  mit  den  weltlichen  Granden  wetteiferten  die  geist¬ 
lichen  Fürsten  und  Herren.  Die  beiden  englischen  Erz¬ 
bischöfe,  sagt  Stubbs,  hielten  Haus  -wie  die  Herzoge;  die 
Bischöfe  lebten  auf  dem  Fuße  der  Earls.  Daß  die  Klöster 
während  des  Mittelalters  zu  fürstlichen  Reichtümern  gelangten, 
ist  eine  bekannte  Tatsache. 

Eine  Art  von  „Akkumulation“  des  Reichtums  erfolgte  im  14.  Jahr¬ 
hundert  bei  zahlreichen  Prälaten  durch  Häufung  der  Beneficia:  „et 
quae  utique  abominatio,  quod  unus  tenet  ducenta,  alter  tre- 
centa  beneficia  ecclesiastica.“  Gersonis  Declar.  defectuum 
viror.  eccles.  t.  II.  p.  314  in  fol.  Urban  V.  sagt  in  einer  Bulle,  daß 
einzelne  Benefizien  besitzen  „in  numero  detestabiliter  excessivo“.  Coli. 

1  Ranke,  a.  a.  O.  S.  266. 

2  II.  Taine,  Origines  de  la  France  contemporaine  1  14  (1885),  18. 
Für  das  Zeitalter  Ludwigs  XIV,  wurden  die  Einkünfte  des  franzö¬ 
sischen  Adels  auf  520  Mill.  1.  geschätzt:  100  Mill.  aus  Feudalrechten, 
420  Mill.  aus  der  Nutzung  des  Grundbesitzes:  A.  Moreau  de  Jonnes, 
Etat  econ.  de  la  France  (1867),  402. 


Achtunddreißigstes  Kapitel:  Der  feudale  Reichtum 


599 


magn.  concil.  t.  VII;  beide  Zitate  bei  J.  F.  Andre,  Hist,  de  la 
Papaute  a  Avignon  2.  ed.  (1887),  282.  Es  gab  eine  förmliche  „Börse“ 
in  Benefizien  mit  Hausse-  und  Baisse-Spekulation,  Agenten,  Maklern 
usw.  Die  Geldbesitzer  kaufen  die  Pfründen  wie  Renten.  Andere 
Zahlenangaben  bei  E.  Müntz,  L’argent  et  le  luxe  ä  la  cour  pontiii- 
cale  d’Avignon,  in  der  Revue  des  Quest.  histor.  Vol.  56  (1899),  1  ff. 
20  ff. 

Und  zwar  handelt  es  sich  —  das  möchte  ich  betonen  —  bei 
diesen  „grundherrlichen“  Vermögen  und  Einkünften  keineswegs 
auch  in  den  früheren  Zeiten  nur  um  Grundbesitz  und  Natural¬ 
bezüge.  Wir  werden  uns  vielmehr  denken  müssen,  daß  nach 
dem  Untergang  des  römischen  Reichs  bis  in  das  späte  Mittel- 
alter  hinein  der  größte  Teil  des  gesamten  Edelmetallvorrats 
in  den  Schatzkammern  der  Grundherren,  der  Stifter  und  Klöster 
zusammenfloß.  „In  einer  Zeit,  wo  Geld  eine  große  Seltenheit 
war,  besaßen  die  Klöster  fast  sämtlich,  dank  der  Opferspende  der 
Gläubigen,  den  unschätzbaren  Vorteil,  über  reichliche  Geld¬ 
reserven  zu  verfügen.“ 1  Oft  genug  wird  freilich  das  zusammen¬ 
strömende  Edelmetall  seine  Gestalt  geändert  haben  und  aus  der 
Geldform  in  Schmuck  und  Geräte  umgewandelt  worden  sein. 
Nur  so  werden  uns  die  Berichte  verständlich,  die  wir  aus  dem 
Mittelalter  über  den  ungeheuren  Reichtum  an  Gold-  und  Silber¬ 
sachen  in  Kirchen  und  Klöstern2  oder  in  den  Haushalten  welt¬ 
licher  Großer3  vernehmen,  wenn  wir  ihre  Inventare  durch¬ 
blättern. 

Der  Landbesitz  der  Kirche  scheint  sich  durch  fast  ein  Jahr¬ 
tausend  auf  der  gleichen  Höhe  gehalten  zu  haben.  Wenn  wir 
erfahren,  daß  zur  Zeit  der  Merovinger  ein  Drittel  Frankreichs 
in  geistlichen  Händen  gewesen  sein  soll,  so  brauchen  wir  von 
dieser  Ziffer  gar  nicht  so  viel  abzustreichen,  um  sie  mit  den 
Angaben  in  Einklang  zu  bringen,  die  wir  von  dem  Kirchenbesitz 
im  revolutionären  Frankreich  haben.  Denn  daß  dieser  etwa  ein 
Fünftel  des  Landes  umfaßt  habe,  ist  ziemlich  sicher  erwiesen. 
Man  schätzte  den  Wert  der  Kirchengüter  damals  auf  4  Milliarden 


1  H.  Pirenne,  Gesch.  Belgiens  1  (1899),  148  ff.  Vgl.  Sackur, 
Beiträge  zur  W. Gesch.  der  französ.  und  lotkring.  Klöster  usw.,  in  der 
Zeitschrift  f.  Soz.  u.  W.G.  1,  167  f. 

2  Siehe  z.  B.  die  Schenkungsurkunde  bei  C.  A.  Marin,  Storia 
civile  e  politica  del  Commercio  de’  Veneziani  1  (1798),  273  f. 

3  Douet  D’Arqu,  Sur  les  comptes  des  ducs  de  Bourgogne,  publ. 
par  M.  de  Labordp.  In  der  Bibliotheque  de  l’ecole  des  chartes.  3.  ser. 
t.  IV  (1853),  p.  125  ff. 


600  Fünfter  Abschnitt  :  Die  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums 

Francs,  die  einen  Ertrag  von  80  bis  100  Millionen  erbrachten. 
Rechnet  man  zu  diesem,  noch  die  123  Millionen  des  Zehnten 
hinzu,  so  hätte  sich  das  Einkommen  der  französischen  Geistlich¬ 
keit  am  Vorabend  der  Revolution  auf  rund  200  Mill.  Francs  be¬ 
ziffert1.  Die  Riesenhaftigkeit  dieses  Vermögens  erscheint  noch 
deutlicher,  wenn  wir  uns  die  Besitzungen  und  Bezüge  einzelner 
Kirchen  und  Stifter  vergegenwärtigen. 

Die  399  Prämonstratenser  schätzten  ihr  Einkommen  auf  mehr  als 
eine  Million,  ihr  Vermögen  auf  45  Millionen.  Die  Dominikaner  in 
Toulouse  haben  200  000  1.  reines  Einkommen.  „Non  compris  leurs 
couvent  et  leurs  enclos  et,  dans  les  colonies,  des  biens  fonds,  des 
negres  et  autres  effets,  evalues  ä  plusieurs  millions.“  (Hier  bemerken 
wir  übrigens,  wie  sich  der  feudale  Reichtum  zum  Teil  schon  in  Kapital 
verwandelt  hat!)  Die  Benediktiner  von  Cluny  haben  1800  000  1. 
Revenu;  diejenigen  von  Saint -Maur  schätzten  das  Mobiliar  ihrer 
Kirchen  und  Häuser  auf  24  Millionen,  ihre  Reineinkünfte  auf  8  Millionen, 
„sans  compter  ce  qui  retourne  ä  MM  les  abbes  et  prieurs  comm&n- 
dataires“.  Dom  Rocourt,  Abt  von  Clairvaux,  hat  300  000  bis  400  000  1. 
Rente  •,  der  Kardinal  von  Rohan,  Erzbischof  von  Straßburg,  mehr  als 
eine  Million  usw.  Siehe  die  Quellen  bei  Taine,  Origines  1,  19  f. 
Diese  Ziffern  erscheinen  gering,  wenn  wir  sie  mit  der  ziemlich  ge¬ 
nauen  Schätzung  vergleichen,  die  wir  für  den  Reichtum  der  Kirche 
aus  der  Zeit  Ludwigs  XIII.  besitzen:  damals  sollen  die  Gesamt¬ 
einkünfte  104,5  Mill.  ecus  betragen  haben:  nach  einer  amtlichen  Auf¬ 
stellung  aus  dem  Jahre  1636;  Ms.  in  der  Bibi.  Mazarine,  mitgeteilt 
in  den  Doc.  d’Histoire  IVe  annee  (1913),  390/91. 

Nicht  viel  anders  wird  die  Vermögenslage  der  Kirchen  in  den 
übrigen  Ländern  gewesen  sein.  Von  dem  Reichtum  der  Klöster 
in  England  erfahren  wir  einiges  bei  ihrer  Aufhebung  im  16.  Jahr¬ 
hundert.  Leider  weichen  die  Angaben  zu  sehr  voneinander  ab, 
um  sich  ein  ganz  klares  Bild  von  dem  Vermögen  der  Klöster 
im  damaligen  England  machen  zu  können:  nur  daß  es  sehr  be¬ 
deutend  war,  ist  außer  Zweifel. 

Die  niediigste  Schätzung  der  Jahreseinkünfte  der  Klöster  im  Augen¬ 
blick  ihrer  Aufhebung  ist  131607  sie  wird  von  Hall  am,  Con- 
stitutional  History  of  E.  1  (1827),  102,  angeführt,  der  sie  aber  selbst 
lur  zu  niedrig  hält;  Dr.  Lmgard,  unter  Berufung  auf  Nasmith’s  Aus¬ 
gabe  von  Tauners  Notitia  Monastica,  nimmt  142  914  £  an-  die  be¬ 
kannteste  Schätzung,  die  auch  Hume,  Hist,  of  E.  4,  182,’  sich  zu 
eigen  macht,  ist  die  Lord  Herberts,  nämlich  161 100  £.  Wären  diese 
Zmein  annähernd  richtig,  und  wäre  Humes  Schätzung  der  Gesamt¬ 
einkünfte  Englands  in  jener  Zeit  ebenfalls  richtig  (3  000  000  ,  so 

1  Auf  224  800  000  L.  belief  sich  das  Einkommen  der  Kirche  nach 
i Q°on7 a!1et-Desbrosses:  B o i  1  e a u ,  Etat  de  la  France  (Nouv,  Ed, 

J-OOi/  Jf  41  * 


Achtunddreißigstes  Kapitel:  Der  feudale  Reichtum  (301 

hätten  die  Einkünfte  der  Klöster  nur  etwa  V20  davon  betragen.  Nun  wird 
aber  sowohl  die  Schätzung  der  Gesamteinkünfte  für  zu  hoch,  als  die  der 
Klosterrenten  für  zu  niedrig  erachtet:  so  daß  vielleicht  der  Verfasser 
von  Harmer’s  Observations  on  Bumet  der  Wahrheit  näher  kommt, 
wenn  er  annimmt,  die  Mönche  hätten  ein  Fünftel  von  England  be¬ 
sessen,  das  freilich  nur  ein  Zehntel  des  Wertes  alles  Grund  und 
Bodens  dargestellt  hätte:  Hall  am,  1.  c.  Wir  wissen  jedenfalls  (nach 
den  Angaben  in  Camdens  Britannia),  daß  643  (645?)  Klöster  auf¬ 
gehoben  wurden  und  daß  einzelne  von  ihnen  sehr  reich  waren.  Nach 
der  Schätzung  in  Speed’s  .Catalogue  of  Keligions  Houses,  bei  Collier, 
Append.  p.  34,  hatten  16  Äbte  ein  Einkommen  von  mehr  als  1000  £. 
St.  Peters,  Westminster,  war  der  reichste  mit  3977  £,  Glastonbury 
hatte  3508  £,  St.  Albans  2510  £  usw. 

Vgl.  noch  Anderson,  Annals  a.  1539  (2,  65)  und  die  daselbst 
angeführte  Literatur. 

Neuerdings  ist  die  Frage  nach  dem  Umfang  des  englischen  Kirchen¬ 
besitzes  zur  Zeit  der  Konfiskation  wieder  aufgeworfen  und  auf  Grund 
eines  inzwischen  zutage  geförderten  breiteren  Quellenmaterials  ge¬ 
wissenhaft  zu  beantworten  versucht  worden  von  Al.  Savine,  English 
Monasteries  on  the  Eve  of  the  Dissolution.  1909.  Das  Ergebnis  ist 
nicht  so  sehr  verschieden  von  den  früheren  Annahmen.  S.  nimmt  ein 
Einkommen  der  Klöster  aus  Grundbesitz  in  Höhe  von  100  000  £  an, 
von  denen  ein  Zehntel  in  eigener  Landwirtschaft  erworben  wurde, 
während  der  Rest  als  Pacht  einkam. 

II.  Die  öffentlichen  Haushalte 

Die  öffentlichen  Haushalte  sind  der  andere  Punkt,  an  dem  sich 
vorbürgerliche  Vermögen  in  größerem  Umfange  kristallisieren; 
wo  namentlich  größere  Geldbeträge  regelmäßig  zusammenfließen. 
Das  aber  ist  immer,  wie  wir  noch  genauer  sehen  werden,  für 
die  bürgerliche  Vermögensbildung  gerade  von  besonderer  Be¬ 
deutung. 

Ich  führe  zunächst  zwei  Haushalte  auf,  die  dadurch  wichtig 
geworden  sind,  daß  sie  die  ersten  waren,  die  schon  im  frühen 
Mittelalter  zu  Mittelpunkten  eines  großen  Geldverkehrs  sich  ge¬ 
stalteten,  um  dann  die  wichtigsten  derjenigen  öffentlichen  Haus¬ 
halte,  die  durch  alle  Jahrhunderte  ihre  hervorragende  Stellung 
sich  bewahrten,  in  ihren  Ausmessungen  kennen  zu  lernen. 

1.  die  Camera  apostolica. 

Wenn  man  die  Camera  apostolica  mater  pecuniarum  ge¬ 
nannt  hat1,  so  ist  damit  der  unzweifelhaft  richtige  Gedanke 


1  Glossa  in  reg.  66  canc.  Innoc.  VIII.,  zit.  bei  Ph.  Woker,  Das 
kirchliche  Finanzwesen  der  Päpste.  1878.  S.  2.  Wokers  Buch  ist 
noch  heute  das  umfassendste  Werk  über  päpstliches  Finanzwesen, 


602  Fünfter  Abschnitt:  Die  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums 

ausgesprochen ,  daß  auf  die  päpstlichen  Finanzoperationen  die 
früheste  Anhäufung  größerer  Bargeldvermögen  im  europäischen 
Mittelalter  zurückzuführen  ist.  Bis  ins  9.  Jahrhundert  hinauf 
reichen  die  Schatzungen  der  Christenheit  aller  Länder  mittels 
des  .Peterspfennigs;  und  bereits  im  13.  Jahrhundert  wird  das 
päpstliche  Finanzwesen  zu  dem  imposanten  Systeme  ausgebildet, 
das  wir  aus  der  späteren  Zeit  kennen.  Die  Anfänge  des  päpst¬ 
lichen  Finanzwesens  gehen,  wie  bekannt,  auf  die  Maßnahmen 
Innocenzens  III.  (1198 — 1216)  zurück.  Seit  dieser  Zeit  tritt  das 
allgemeine  kirchliche  Abgabenwesen  mehr  hervor  und  überholt 
die  grundherrlichen  Patrimoniengefälle  und  die  lehnsrechtlichen 
Census  an  kassenmäßiger  Bedeutung,  um  sich  gegen  Ende  des 
Mittelalters  zu  jener  „kirchlichen  Universalfiskalität“  auszu¬ 
wachsen,  die  schließlich  zur  Revolution  führt. 

Was  dem  päpstlichen  Finanzwesen  die  große  historische  Be¬ 
deutung  verschafft,  ist  nun  aber  vor  allem  der  Umstand,  daß 
die  Finanzwirtschaft  der  Päpste  in  hervorragender  Weise  die 
Tendenz  zur  Monetarisierung  größerer  Yermögensbezüge  ge¬ 
fördert  hat.  Wir  können  deutlich  verfolgen,  wie  es  die  durch 
die  päpstliche  Besteuerung  geschaffene  Kumulierung  zahlreicher 
Abgaben  und  Leistungen  ist,  die  mit  Notwendigkeit  zu  der 
Verwandlung  der  ursprünglich  vielfach  naturalen  Darbietungen 
in  Geld  hindrängt.  So  finden  wir  die  Bezelmtung  in  ihren  An¬ 
fängen  überall  als  naturale  sich  entwickeln:  das  war  den  meist 
naturalen  Einkünften  der  Bischöfe,  Klöster  usw.  durchaus  an¬ 
gemessen,  „der  Übergang  zur  Zentralisierung  bedingte  die  reine 
Geldwirtschaft.  Wie  wäre  es  anders  möglich  gewesen,  in  aller 


Es  ist  in  den  einzelnen  Teilen  durch  die  Arbeiten  von  Kirsch, 
Gottlob,  Müntz  u.  a.  überholt,  aber  als  ganzes  noch  nicht  ersetzt. 
Bedauerlich  ist  die  häufige  Trübung,  die  das  Urteil  des  Verfassers 
durch  dessen  (evangelischen)  Parteifanatismus  erfährt,  ein  Vorwurf, 
der  den  aus  katholischer  Feder  stammenden  neueren  quellenmäßigen 
Darstellungen  ganz  und  gar  nicht  zu  machen  ist.  Unter  diesen  ragen 
hervor  A.  Gottlob,  Aus  der  Camera  apostolica  des  15.  Jahrhunderts. 
1889;  derselbe,  Die  päpstlichen  Kreuzzugssteuern  des  13.  Jahr¬ 
hunderts.  1892;  derselbe,  Päpstliche  Darlehnsschulden  des  13.  Jahr¬ 
hunderts.  Histor.  Jahrbuch  20  (1899).  Joh.  Peter  Kirsch,  Die 
päpstlichen  Kollektorien  in  Deutschland  während  des  14.  Jahrhunderts. 
Quellen  und  Forschungen,  hrsg.  von  der  Görres- Gesellschaft.  Bd.  III. 
1894.  E.  Müntz,  L’argent  et  le  luxe  ä  la  Cour  pontificale  d’Avignon, 
in  der  Revue  des  questions  historiques  33.  annee.  N.  S.  t.  XXII 
(1899),  p.  1  ff. 


Aclituiiddreißigstes  Kapitel:  Der  feudale  Reichtum 

Welt  päpstliche  Zehntscheuern,  Zehntkeller,  Zehntspeicher  u.  dgl.  . 
kostspielige  Anlagen  zu  errichten“  ?  Honorius  III.  gab  1217  den 
ungarischen  Bischöfen  den  Befehl,  ,,ut  vicesimam  fideliter  redigant 
in  pecuniam“.  Später  sind  naturale  Lieferungen  in  Mittel-  und 
Südeuropa  nur  noch  selten,  während  sie  im  Norden  lange  Zeit 
noch  andauern.  Aber  auch  hier  wird  die  Monetarisierung  mit 
allen  Kräften  zu  bewerkstelligen  versucht,  so  groß  die  Schwierig¬ 
keiten  oft  genug  waren.  Dann  mußten  wohl  goldene  oder  silberne 
Geräte  eingeschmolzen  werden,  tun  die  fehlenden  Geldbeträge  zu 
erschaffen  h  (Wichtigkeit  der  vermehrten  Edelmetallproduktion !) 

Wir  beobachten  also,  wie  der  päpstliche  Steuerdruck  inmitten 
einer  wesentlich  naturalen  Wirtschaft  größere  Geldsummen  gleich¬ 
sam  aus  der  Erde  stampft  und  in  den  Säckchen  und  Kisten  der 
päpstlichen  Kollektoren  sich  zu  beträchtlichen  Mengen  ansammeln 
läßt.  Auch  über  die  Höhe  der  solcherweise  angehäuften 
Beträge  sind  wir  unterrichtet;  wenigstens  können  wir  aus  den 
Rechnungen,  die  für  einzelne  Jahre  vorliegen,  auf  die  regelmäßig 
einkommenden  Summen  schließen.  Im  allgemeinen  läßt  sich  sagen, 
daß  die  früheren  Annahmen  von  den  ungeheuren  Beträgen,  über 
die  die  Päpste  verfügt  haben  sollen,  stark  übertrieben  waren. 
Immerhin  handelte  es  sich  für  jene  Zeit  um  sehr  respektable 
Summen. 

Die  größten  Erträge  lieferten  wohl  die  sogen.  „Kreuzzugs¬ 
zehnten“,  die  seit  Ende  des  12.  Jahrhunderts  in  periodischer 
Wiederkehr  bald  auch  zu  andern  Zwecken  als  demjenigen,  dem 
sie  ursprünglich  hatten  dienen  sollen,  erhoben  wurden.  Der 
beste  Kenner  dieser  Materie  schätzt  die  Höhe  der  papalen  Zehnt¬ 
erträge  im  13.  Jahrhundert  für  die  ganze  Christenheit  auf  etwa 
800000  Pfd.  tur. 2;  das  wären  also  etwa  15 — 20000  000  Mk.  Metall¬ 
wert  heutiger  Währung.  Die  regelmäßig  vom  Papste  komman¬ 
dierten  Summen  waren  erheblich  geringer  als  jener  Ertrag  eines 
Zehnten,  und  noch  geringer  die  Beträge,  die  tatsächlich  in  den 
Tresors  des  heiligen  Stuhls  sich  ansammelten.  Diese  Einnahmen 
bezifferten  sich  im  14.  Jahrhundert  auf  etwa  200 — 250000  Gold¬ 
gulden  (je  9  bis  10  Mk.)  jährlich  und  stiegen  auch  im  nächsten 
Jahrhundert  nicht  erheblich  über  diesen  Betrag.  Zu  dieser 
Summe  sind  noch  etwa  100000  Dukaten  zu  rechnen,  die  nicht 
der  Hauptkasse,  aber  doch  der  Kurie  zuflossen,  so  daß  sich 


1  Gottlob,  Kreuzzugssteuern,  236/37- 
3  Ebenda  135. 


(304  Fünfter  Abschnitt:  Die  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums 

« 

deren  Gesamteinnahme  auf  etwa  400000  Dukaten  belief.  Der 
Rest  der  Einkünfte  kam  nicht  nach  Rom1.  Immerhin  waren  die 
effektiven  Einnahmen  der  Päpste  bedeutend  genug,  um  wenigstens 
einzelnen  der  Nachfolger  Petri  die  Ansammlung  größerer  Ver¬ 
mögen  zu  gestatten.  So  hinterließ  Clemens  V.  einen  Barschatz 
von  1000  000,  Johann  XXII.  (1316 — 34)  einen  solchen  von 
775000  Goldgulden2. 

Gleichwohl  wurden  die  Einnahmen  der  Päpste  ganz  erheblich 
überflügelt  von  den  Beträgen,  die 

2.  die  Ritterorden  in  ihren  Zentralen  aufzuspeichern  in 
der  Lage  waren 3.  Es  handelt  sich  hier  in  erster  Linie  um  Land¬ 
renten,  die  sogar  meist  direkt  jenen  Orden  aus  ihren  ungeheuren 
Besitzungen  zuflossen.  Diese  erstreckten  sich,  wie  man  weiß,  fast 
über  die  ganze  bekannte  Erde.  Von  Griechenland  bis  Portugal, 
von  Sizilien  bis  zur  Eider  und  bis  nach  Schottland  lag  der  Guts¬ 
besitz  der  Templer  im  14.  Jahrhundert  zerstreut,  der  nach  der 
Aufhebung  des  Ordens  dem  schon  enormen  Besitz  der  Johanniter 
zuwuchs.  Die  Zahl  der  Manoirs  der  Templer  betrug  im  13.  Jahr¬ 
hundert  9000  und  stieg  bis  1307  auf  10  500;  diejenige  der  Hospi¬ 
taliter  wird  schon  im  13.  Jahrhundert  auf  19000  angegeben.  Von 
diesen  konnte  jedes  einen  Ritter  ausrüsten  und  erhalten,  was 
einer  Jahresrente  von  je  200  Byzantinern  entsprechen  würde. 
Danach  hätte  die  Jahresrente  des  Ordens  einen  Metallwert  von 
36 100000  Frcs.  gehabt;  während  diejenige  der  Templer  auf  nicht 
weniger  als  2  Mill.  Pfd.  geschätzt  wird. 

Von  den  weltlichen  Machthabern  interessieren  uns  hier  vor 
allem  zwei :  deshalb,  weil  ihre  Haushalte  zu  den  ältesten  gehören 
und  sich  gleichwohl  durch  die  Jahrhunderte  in  ununterbrochener 

1  Gottlob,  Aus  der  Camera  apostolica,  257;  derselbe,  im 
Histor.  Jahrbuch  20,  669,  sich  stützend  auf  Ehrle,  Prozeß  über  den 
Nachlaß  Clemens  V.,  im  Archiv  f.  Literatur-  u.  Kirchengesch.  5,  147. 

2  Nach  Sägmüller,  Der  Schatz  Johanns  XXII.,  im  Histor. 
Jahrbuch  18,  37  f. 

3  Über  die  Finanzen  der  geistlichen  Ritterorden  unter¬ 
richtet  in  großen  Zügen  H.  Prutz,  Kulturgeschichte  der  Kreuzzüge 
(1888),  244  ff.  Über  die  Besitzungen  des  Hospitaliterordens  handelt 
derselbe  Verfasser  ausführlich  in  der  Zeitschrift  des  deutschen 
Palästinavereins  4,  157  ff. ;  über  die  Finanzoperationen  dieses  Ordens 
in  den  Sitzungsberichten  der  philos. -philol.  u.  histor.  Klasse  der  Kgl. 
Bayr.  Akademie  der  Wiss.  zu  München.  1906.  Heft  1.  Eine  Über¬ 
sicht  über  den  Güterbesitz  der  Templer  zu  Anfang  des  14.  Jahr¬ 
hunderts  gibt  Wilcke,  Geschichte  des  Ordens  der  Tempelherren  2 3 
(1860),  7  ff. 


Achtunddreißigstes  Kapitel:  Der  feudale  Reichtum 


605 


Entwicklung  erkalten  haben,  und  weil  sie  außerdem  die  größten 
sind,  so  daß  sie  für  die  zahllosen  andern  Haushalte  der  Kaiser, 
Könige  und  Fürsten  als  Beispiel  stehen  können.  Ich  meine  die 
Könige  von  Frankreich  und  England. 

Ich  verzeichne,  was  wir  an  Ziffern  besitzen,  zur  Abschätzung 
der  Größe  ihrer  Finanzen. 

3.  der  König  von  Frankreich. 

Philippe  Auguste  hinterließ  bei  seinem  Tode  893000  Mk. 
Silber  (also  ca.  38  000000  Mk.  h.  W.)1 

Im  Jahre  1238  ergaben  die  Bruttoeinnahmen  die  Summe  (in 
Pariser  Pfund)  von  235  285,7  lb. ;  1248  von  178530,  12,9  lb.2 

Am  Ende  der  Regierungszeit  Philipps  des  Schönen  berechnet 
das  älteste  französische  Budget  die  ordentlichen  Einnahmen  auf 
177500  lb.  tur.3 

Man  wird  für  jene  Zeiten  das  Pariser  Pfund  mit  22  bis 
23  Frcs. ,  das  Tournayer  Pfand  mit  16  — 17  Frcs.  Metallwert 
heutiger  "Währung  ansetzen  dürfen.  Dann  ergäben  sich  also  für 
das  13.  und  den  Anfang  des  14.  Jahrhunderts  Einnahmen  in  Höhe 
von  4 — 5  Mill.  Frcs.  heutiger  Währung.  Die  Einnahmen  Karls  V. 
(1364 — 1380)  sollen  1600000  L. ,  diejenigen  Karls  VII.  1439  — 
1700000  L.,  1449  =  2  300000  L.  betragen  haben4. 

Nach  den  (wahrscheinlich  etwas  zu  hohen)  Schätzungen  der 
venetianischen  Gesandten  bezifferten  sich  die  Einnahmen  des 
Königs  von  Frankreich  (in  heutiger  Währung): 

1497  auf .  16306000  Frcs. 

1535  .  28750000  „ 

1546  „ .  46  000000  „ 

1554  „ .  57  500000  „ 

1563  „ .  69000000  „ 

Für  die  Zeit  vom  Ende  des  16.  Jahrhunderts  bis  zum  Beginn 
des  18.  Jahrhunderts  stehen  uns  die  gewissenhaften  Berechnungen 

1  C.  Leber,  Essai  sur  l’appreciation  de  la  fortune  privee  au 
moyen  äge.  2.  ed.  1847,  p.  28. 

2  deWailly,  Dissertation  sur  les  depenses  et  les  recettes  ordi- 
naires  de  St.  Louis,  in  dem  Recueil  des  Histoires  des  Gaules  et  de 
la  France  t.  XXI  (1855),  p.  LXXVI. 

3  Ordonnance  fixant  le  budget  des  recettes  et  des  depenses  de 
l’Etat  (1311),  abgedruckt  bei  Edg.  Boutaric,  La  France  sous  Philippe 
le  Bel.  1861,  S.  342  ff.  Vgl.  auch  noch  Ad.  Vuitry,  Etudes  sur  le 
regime  financier  de  la  France.  Nouv.  Ser.  T.  I  (1883),  3e  etude,  Cb.  VII. 

4  Clamageran  1,  XXIV.  LXVIII.  Vuitry,  tome  II,  4e  etudes, 
chap.  VII. 


OOG  Fünfter  Abschnitt:  Die  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums 


von  Forbonnais1  zur  V erfügung.  Danach  betrugen  die  (Brutto-) 
Revenuen  des  Königs  von  Frankreich: 


1574  .  8628980  Livres 

1581  .  11491775  „ 

1595  .  23000000 

1620  .  16000000 

1649  . .  50294208 

1661  .  84222096 

1670  .  96338885 

1685  .  124296635 

1690  .  156740783 

1715  .  165  576792 


(Der  Metallwert  des  Livre  war  Ende  des  16.  Jahrhunderts  etwa 
3mal,  im  ersten  Drittel  des  17.  Jahrhunderts  etwa  2 mal,  bis  1700 
etwa  IV2  mal  so  groß  als  der  jetzige  Franc.)  Der  Voranschlag 
Neckers  (1789)  setzte  die  Einnahme  mit  475  294288  L.  fest. 

4.  der  König  von  England. 

Seine  Einnahmen  kennen  wir  ziemlich  genau  von  Wilhelm 
dem  Eroberer  an.  Sie  betrugen  je  beim  Tode  eines  Königs2: 


Wilhelm  d.  E.  .  . 

.  .  400000 

Richard  I . 

.  .  376666 

77 

Eduard  III.  .  .  . 

.  .  154139 

33 

Henry  VI . 

.  .  64946.4 

33 

Mary . 

.  .  300000 

73 

Elisabeth  .... 

.  .  500  000 

77 

James  I . 

.  .  450000 

33 

Charles  I.  (1637/41) . 

.  .  895819 

73 

Charles  II . 

.  .  1800000 

7) 

James  II.  ...  . 

.  .  2  001855 

73 

William  III.  (1701)  . 

.  .  3895205 

73 

Anne . 

.  .  5  691803 

73 

George  I . 

.  .  6762643 

73 

George  II . 

.  .  8523540 

73 

1770  . 

.  .  9500000 

3) 

1780  . 

.  .  12255  214 

33 

1788  . 

.  .  15572  971 

73 

1800  . 

.  .  36728000 

33 

1  Recherches  et  considerations  sur  les  finances  de  la  France  depuis 
l’annee  1595  jusqu’ä  l’annee  1721.  2  Vol.  1758. 

2  Nach  den  genauen  Ermittlungen  bei  J.  Sinclair,  The  history 
of  the  public  revenue  of  the  british  empire.  3  ed.  2  Vol.  1803. 


Aclitunddreißigstes  Kapitel:  Der  feudale  Reichtum 


G07 


Dank  der  Rolle,  die  vor  dem  Emporkommen  des  modernen 
Fürstentums  im  europäischen  Leben  die  Städte  spielen,  müssen  sie 
der  Vollständigkeit  halber  an  dieser  Stelle  erwähnt  werden,  wenn 
auch  mir  nm  ihren  Abstand  von  den  bisher  betrachteten  Mächten 
deutlich  zu  machen. 

5.  die  städtischen  Haushalte.  Wir  dürfen  annehmen, 
daß  während  des  Mittelalters  wahrscheinlich  nur  die  Stadthaus¬ 
halte  von  Venedig,  Mailand  und  Neapel  auch  nur  annähernd  so 
große  Einnahmen  gehabt  haben  wie  Papst  und  Könige.  Nach  einem 
Manuskript,  dessen  Wert  ich  nicht  beurteilen  kann,  sollen  im 
Jahre  1492  Venedig  1000000  fl.,  Mailand  und  Neapel  je  600000  fl. 
Einkünfte  besessen  haben  b  Dagegen  wird  von  anderer  Seite 
berichtet,  daß  bereits  1395  (Man  Galeazzo  Visconti,  der  erste 
Herzog  von  Mailand ,  1  200  000  fl.  vereinnahmt  habe1  2 3.  Eine  zu¬ 
verlässige  Ziffer  kenne  ich  für  Bologna.  Dortselbst  beliefen  sich8 
im  Jahre  1406  die  Einnahmen  auf  L.  320611,  18,  11.  Für  Florenz 
gibt  Villani  bekanntlich  300  000  fl.  an.  Alle  übrigen  italienischen 
Städte  werden  diese  Summe  nicht  erreicht  haben.  Mit  Italiens 
Städten  rivalisieren  konnten  höchstens  noch  Paris,  London, 
Barcelona,  Sevilla,  Lissabon,  Brügge  und  Gent,  später  Antwerpen. 
Die  deutschen  Städte  blieben  weit  hinter  den  genannten  zurück. 
Die  Einnahmen  einer  der  reichsten  (Nürnbergs)  in  der  Blütezeit 
(1483)  beziffern  sich  doch  nur  auf  421926  19  sh.  8  h.,  d.  h. 

also  auf  etwas  mehr  als  60000  fl. 4  Köln  hatte  1370  eine  Ein¬ 
nahme  von  114780  Mk.  heutiger  Währung,  1392  von  441397  Mk. 
Und  erst  unsere  „großen“  Seeplätze:  Hamburg  hat  Einnahme: 
1 360  =  35  440  Mk.,  1400  =  102 104  Mk. ;  Lübeck  1421  =  96617  Mk., 
1430  =  87  576  Mk.,  alles  in  heutiger  Währung  ausgerechnet5 *.  Das¬ 
selbe  wird  für  die  große  Menge  der  französischen  und  englischen 
Städte  gelten.  Sie  werden  das  Einkommen  mittlerer  Baronien 
«•©habt  haben. 

1  Arch.  Flor.  Carte  Strozz.  App.  F.  11  p.  189;  zit.  bei  F.  Grego- 
rovius,  Gesch.  der  Stadt  Rom  im  Mittelalter  7 4  (1894),  342/43. 

2  Nach  Corio :  Cibrario,  Ec.  pol.  3  2,  200.  Cibrario  rechnet  den 
Florin  mit  L.  14,51  um;  m.  E.  zu  hoch. 

3  Gio,v.  Nie.  Pasqu.  Alidosi,  Instruttione  delle  cose  notabili 
della  cittä  di  Bologna.  1621,  p  35/36. 

4  Chr.  d.  Städte  Bd.  I.  Vgl.  Lo  ebner,  Nürnbergs  Voi’zeit 
und  Gegenwart  (1845),  84. 

5  Nach  W.  St  re  da,  Städtische  Finanzen  im  Mittelalter,  in  den 

Jalirb.  f.  N.Ö.  17,  11/12. 


608 


Neununddreifsigstes  Kapitel 

Die  Vermögensbildung  in  der  handwerks¬ 
mäßigen  Wirtschaft 

Wenn  man  sich  die  Eigenart  der  handwerksmäßigen  Organi¬ 
sation  vor  Augen  hält,  sei  es  die  der  gewerblichen  Produktion, 
sei  es  die  des  Handels  oder  Transports,  so  sollte  man  es  für 
ausgeschlossen  halten,  daß  in  Zeiten  wie  denen  des  Mittelalters 
und  auch  noch  der  folgenden  Jahrhunderte  von  den  Wirtschafts¬ 
subjekten  dieses  Wirtschaftssystems  in  irgendwie  beträchtlichem 
Umfange  Vermögen  angehäuft  sein  könnten.  Dagegen  scheint 
die  Kleinheit  des  Betriebsumfanges  zu  sprechen  und  beim  Waren¬ 
handel  noch  insbesondere  die  Höhe  der  Transportspesen  und 
andere  Unkosten. 

Wir  müssen  doch  folgende  Erwägungen  anstellen: 

Die  Preisaufschläge  stellen  den  Bruttogewinn  des  Händlers 
dar;  wollen  wir  den  Beingewinn  ermitteln,  den  er  an  dem  be¬ 
treffenden  Geschäfte  macht,  so  müssen  wir  —  kaufmännisch  ge¬ 
sprochen  —  die  ihm  erwachsenen  Spesen  von  der  draufgeschlagenen 
Summe  abziehen.  Dies  dürfte  nicht  unbekannt  sein.  Nun  wissen 
wir  äber,  daß  die  Spesen  in  jenen  Zeiten,  in  denen  wir  uns  be¬ 
wegen,  nach  heutigen  Begriffen  außerordentlich  hoch  waren.  Sie 
setzen  sich  zusammen: 

a)  aus  den  sehr  beträchtlichen  Transportkosten; 

b)  aus  den  nicht  minder  beträchtlichen  Zollgefällen; 

c)  aus  denjenigen  Unkosten  oder  Verlusten,  die  aus  der  Un¬ 
sicherheit  der  Straßen  entsprangen.  Diese  forderte  entweder  teures 
Geleit  oder  führte  zu  häufigen  Beraubungen  und  Einbußen,  ver¬ 
teuerte  also  auf  alle  Fälle  den  Transport,  auch  da,  wo  etwa  schon 
die  Transportversicherung  eingedrungen  war,  die  alsdann  natür¬ 
lich  mit  sehr  hohen  Prämien  arbeiten  mußte. 

Über  die  Höhe  der  Transportkosten  mache  ich  Angaben  im 
3.  Hauptabschnitt  des  2.  Bandes.  Ich  verweise  den  Leser  darauf 
sowie  auf  die  Angaben  in  der  ersten  Auflage  1,  222.  278.  Für  den 
hier  geführten  Beweis  ist  ein  ziffernmäßiger  Beleg  der  unbestrittenen 
Tatsache,  daß  die  Transportkosten  im  Mittelalter  hohe  waren,  unnöti°-. 


Nennundclreißigstes  Kapitel:  VermögensbÜdg.  in  handwerksmäß.  Wirtschaft  609 

Die  hohen  Spesen  lassen  anf  niedrige  Gewinnraten  schließen. 

A\ ir  dürfen  aber  auch  nicht  annehmen,  daß  die  Profit¬ 
raten  wesentlich  höhere  gewesen  seien.  Da  diese  bei  gegebener 
Gewinnrate  bestimmt  werden  durch  die  Häufigkeit  des  Umschlags 
des  Geschäftsvermögens  in  einem  Jahre,  so  ist  nicht  einzusehen, 
wie  eine  erhebliche  Steigerung  der  Profitratenhöhe  über  die  Ge¬ 
winnraten  hätte  erzielt  werden  können.  Denn  was  wir  von  den 
Umschlagszeiten  des  Geschäftsvermögens  im  mittelalterlichen 
Handel  erfahren,  läßt  darauf  schließen,  daß  dieses  höchstens 
zweimal  im  Jahre  umgeschlagen  worden  ist. 

Das  westliche  flandrische  Geschwader  Venedigs  fahr  regelmäßig 
Neapel,  Sizilien,  Tripolis,  Tunis,  Algier,  Oran,  Tanger,  Marokko, 
Spanien,  Portugal,  französische  Küste,  London,  Brügge,  Antwerpen 
an  und  nahm  die  Rückfahrt  über  Cadiz  und  Barcelona.  Diese  Reise 
dauerte  durchschnittlich  ein  Jahr.  Auch  im  Verkehr  mit  der  Levante 
scheint  die  einmalige  Fahrt  der  italienischen  Handelsflotte  die  Regel 
gewesen  zu  sein.  Heyd  1,  453.  Diese  lange  Umschlagsperiode  ist  hier, 
wo  es  sich  ja  überwiegend  um  landwirtschaftliche  Produkte  handelte, 
durchaus  wahrscheinlich.  Ein  hansischer  Kaufmann  machte  die  Reise 
von  Reval  oder  Riga  über  die  Ostsee  zweimal  im  Jahre.  Stieda, 
Revaler  Zollbücher,  CXVII.  Weitere  Angaben  über  Dauer  der  Reisen 
im  Mittelalter  (die  ja  über  die  Länge  der  Umschlagsperioden  entscheiden) 
bei  Götz,  Verkehrswege  (1888),  515  ff.  Rogers  1,  134  ff. 

Die  Pointe  ist  ja  nun  aber  die,  daß  doch  auch  die  Höhe  der 
Profitrate  noch  nicht  entscheidet  über  die  mögliche  und  tatsäch¬ 
liche  Höhe  der  Akkumulation.  Diese  wird  vielmehr  be¬ 
stimmt,  wie  ersichtlich,  durch  die  Höhe  der  Akkumulationsrate, 
d.  h.  das  Verhältnis  des  kapitalisierten  zum  verbrauchten  Teile 
des  Profits  einerseits,  durch  die  Profitmengen  andererseits.  Nun 
stehen  die  Höhe  der  Akkumulationsrate  und  die  Profitmengen 
im  geraden  Verhältnis  zueinander:  je  größer  die  Profitmengen, 
die  dem  einzelnen  zufallen,  desto  größer  die  Beträge,  die  er 
persönlich  nicht  verzehrt,  also  akkumuliert.  Was  alles  selbst¬ 
verständliche  Dinge  sind.  Hier  ist  nun  aber  durch  Erinnerung 
an  die  Kleinheit  der  Vermögen,  die  im  handwerksmäßigen  Handel 
angelegt  waren,  an  sich  oder  doch  infolge  der  Zersplitterung  des 
Gesamtprofits,  den  ein  größeres  —  weil  genossenschaftliches  — 
Handelsunternehmen  abwarf,  unter  die  Genossenschafter  festzu¬ 
stellen,  daß  auch  bei  hoher  Profitrate  nur  sehr  niedrige  Akkumu¬ 
lationsraten  und  dementsprechend  niedrige  Akkumulationsbeträge 
anzunehmen  sind.  Der  Gedanke ,  daß  die  mittelalterlichen 
Berufskaufleute  durch  ihre  Handelstätigkeit  zu  Reichtum  ge¬ 
langt  wären,  scheint  sich  gar  nicht  denken  zu  lassen.  Wenn 

Sombart,  Der  moderne  Kapitalismus.  I.  39 


CIO  Fünfter  Abschnitt:  Die  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums 

•wir  alle  Umstände  in  Betracht  ziehen,  die  den  Handel  alten  Stils 
in  handwerksmäßigem  Rahmen  charakterisieren:  Kleinheit  der 
Umsätze,  Länge  der  Reisen  und  des  Aufenthalts  in  der  Fremde, 
so  werden  wir  zu  dem  Ergebnis  kommen  müssen,  daß  die  Händler 
froh  sein  konnten,  wenn  sie  außer  dem,  was  sie  persönlich  auf 
der  Reise  verbraucht  hatten,  noch  genug  nach  Hause  brachten, 
um  ihrer  Familie  den  Unterhalt  zu  gewähren  und  die  Zinsen  für 
ihr  Häuschen  an  den  Grundeigentümer  zu  zahlen. 

Was  hier  vom  Handel  gesagt  ist,  gilt  von  allen  anderen 
Zweigen  vorkapitalistischer  Wirtschaft  in  ent¬ 
sprechender  AVeise,  also  vor  allem  auch  von  dem  gewerblichen 
Handwerk. 

„Min  dynge  mach  ick  recht  en  siecht, 

Daerum  blif  ic  een  arm  Knecht“ 

lautet  der  Spruch  eines  Werkzeugma chers  auf  einem  Kupfer  von 
Israel  von  Meckenem.  (15.  Jahrhundert.  Wien,  K.  K.  Kupferstich¬ 
sammlung,  B.  222.) 

Der  normale  Handwerksmeister  des  Mittelalters  "war  nichts 
weiter  als  ein  einfacher,  gewerblicher  Arbeiter,  der  sich  kaum 
von  seinen  Gesellen  unterschied.  Nach  der  Berechnung  von 
Th.  Rogers  waren  die  Einnahmen  des  Meisters  (im Baugewerbe) 
etwa  20%  höher  als  die  Gesellenlöhne1. 

Und  doch!  in  dieser  scheinbar  festgeschlossenen  Kette  der 
Beweisführung  muß  an  irgendeiner  Stelle  ein  Glied  brüchig  sein, 
das  sie  zum  Reißen  bringt:  die  geschichtliche  Wirklichkeit 
stimmt  nicht  überein  mit  den  Ergebnissen,  zu  denen  uns  unsere 
theoretischen  Erwägungen  geführt  haben:  es  sind  auch  im 
Rahmen  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft  Vermögen  angehäuft 
worden,  es  sind  gewerbliche  Handwerker  und  handwerksmäßige 
Händler  im  Laufe  des  Mittelalters  zu  Reichtum  gelangt. 

Freilich  gar  so  leicht  wie  die  meisten  Historiker  dürfen  wir 
uns  die  Sache  nicht  machen.  Wir  dürfen  aus  der  Tatsache,  daß 
es  im  Mittelalter  reiche  Gewerbetreibende  und  namentlich  reiche 
Kaufleute  gegeben  hat  —  dafür  bringen  ja  die  Ziffern,  die  ich 
selbst  über  Vermögen  und  Umsätze  im  mittelalterlichen  Hand¬ 
werk  mitgeteilt  habe,  genügend  Belege  — ,  noch  nicht  den  Schluß 
ziehen,  daß  —  also!  —  die  handwerksmäßige  Tätigkeit  ja  ver¬ 
mögenbildende  Kraft  besessen  habe.  Das  wäre  ganz  und  gar 
nicht  beweiskräftig,  denn  erstens  konnten  die  Leute,  die  wir 


1  Th.  Rogers,  Hist,  of  agr.  4,  502  ff. 


^eununddreißigstes Kapitel:  Vermogensbildg.  in  handwerksmäß.  Wirtschaft  Oll 


namentlich  Handel  treiben  sehen,  schon  reich  sein,  ehe  sie  Handel 
trieben.  Tatsächlich  ist  das  denn  auch  in  weitem  Umfange  in 
Wirklichkeit  der  Fall  bei  demjenigen  Handel,  den  ich  als  Ge¬ 
legenheitshandel  bezeichnet  habe  b 

Zweitens  könnte  unser  Handwerker  reich  geworden  sein  durch 
irgend  etwas  anderes  als  seine  Tätigkeit  als  Handwerker :  sei  es 
durch  eine  reiche  Heirat,  eine  Erbschaft,  eine  glückliche  Grund¬ 
stücksspekulation  oder  sonst  einen  „Glückszufall“. 

Aber  auch  wenn  wir  solche  Glückszufälle  gar  nicht  in  den 
Bereich  unserer  Erwägungen  ziehen  wollen:  wir  wissen,  daß  in 
zahlreichen  Fällen  Gewerbetreibende  und  namentlich  Händler 
während  des  Mittelalters  neben  ihrem  Handwerke  Geschäfte  be¬ 
trieben,  denen  sie  ihren  Reichtum  sehr  wohl  verdanken  konnten 
(und  wie  wir  in  der  Folge  sehen  werden:  in  der  Tat  wahrschein¬ 
lich  auch  meistens  verdankten).  Ich  meine  ihre  Beteiligung  am 
Bergbau,  namentlich  an  der  Gold-  und  Silbergewinnung,  und 
ihre  Geldleihetätigkeit. 

Ich  denke  an  den  Hühner- Thorir.  Der  war  ein  Packenträger, 
der  von  Landschaft  zu  Landschaft  zog.  Er  erwarb  so  viel,  daß 
er  sich  ein  Grundstück  kaufen  konnte.  Wenige  Jahre  wirt¬ 
schaftete  er  da,  bis  er  ein  so  vermögender  Mann  wurde,  daß  er 
so  ziemlich  bei  jedermann  große  Summen  stehen  batte.  Sein 
Vermögen  wuchs  immer  noch  an;  er  wurde  einer  der  reichsten 
Männer  .  .  .2 

Oder  ich  denke  an  Andrew  Bäte,  den  Fleischer  von  Lydd, 
der,  einer  der  „führenden“  und  reichsten  Männer  seines  Orts, 
ebenso  bekannt  war  durch  die  Übergriffe  seiner  großen  Vieh¬ 
herden  wie  durch  seinen  Landhunger  und  seine  Bodenspekula¬ 
tionen  wie  durch  die  rücksichtslose  Art,  mit  der  er  von  den 
<  Western  Men1  Abgaben  erpreßte3. 

Oder  ich  denke  an  den  Züricher  Gerbermeister  und  Eisen¬ 
händler,  späteren  Bürgermeister  Hans  Waldmann,  der  als  schwer 
reicher  Mann  starb,  von  dem  wir  wissen,  daß  er  ein  ausgedehntes 
Geldleihegesehäft  betrieb  und  große  Summen  als  „Pensionsherr“ 
bezog4. 

Oder  ich  denke  an  Hagenel,  den  Schlächtermeister  in  Orleans, 

1  Siehe  oben  Seite  279  f. 

2  Übersetzt  von  A.  Heus ler  (1900),  S.  31/32. 

8  Hist.  MSS.  Com.  V,  523 — 531,  bei  Green,  2,  60. 

4  Siehe  das  Belegmaterial  bei  J.  Maliniak,  Die  Entstehung  der 
Exportindustrie  und  des  Unternehmerstandes  in  Zürich  (1913),  43  ff. 


612  fünfter  Abschnitt:  Die  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums 

und  seine  Frau  Hersent,  (qui)  „se  sont,  au  dire  dun  trouvere 
(Aiol  v.  2656  suiv.)  si  fort  enrichis  par  le  pret  sur  gage  et  ä 
interet,  qu’une  grande  partie  des  maisons  de  la  ville  leur  est 
engagee  et  qu’ils  achetent  aux  nobles  fours,  moulins  et 
ehäteaux“  .  .  . 1 

Oder  ich  denke  an  die  Vermögen  der  Baumgartner,  der 
Gossembrots,  vor  allem  der  Fugger. 

Und  frage  in  allen  diesen  und  hundert  andern  Fällen  ver- 
geblich :  ob  nun  das  Packenträgertum  oder  die  Fleischerei  oder 
die  Gerberei  oder  die  Weberei2 3 *  oder  aber  die  Geldleihe  oder 
die  Landwirtschaft  oder  die  Bodenspekulation  oder  die  Berg¬ 
werkstätigkeit  diese  Leute  reich  gemacht  habe. 

Ich  denke  aber  auch  an  die  vortrefflichen  Untersuchungen 
von  J.  Kuli  sch  er8,  der,  wie  mir  scheint,  den  bündigen  Nach¬ 
weis  erbracht  hat ,  daß  im  Mittelalter  mit  allem  Waren¬ 
handel  immer  auch  Geldhandel  verbunden  war,  um  nach 
alledem  zu  dem  Ergebnis  zu  kommen,  daß  ein  reich  gewordener 
Handwerker  noch  immer  nichts  für  die  vermögenbildende  Kraft 
des  Handwerks  beweist. 

Ich  möchte  aber  doch  den  früheren  Historikern  entgegen- 
kommen  und  will  die  Tatsache  gar  nicht  leugnen,  daß  in  Wirk¬ 
lichkeit  wohl  ein  Teil  der  Handwerker  durch  sein  Handwerk  zu 
Vermögen  gelangt  (und  wie  ich  in  anderem  Zusammenhänge 
zeigen  werde :  auch  persönlich  zum  kapitalistischen  Unternehmer 
aufgestiegen)  ist.  Dann  freilich  erwächst  mir  (im  Gegensatz  zu 
andern  Historikern)  das  Problem:  wie  in  aller  Welt  ist 
das  möglich  gewesen? 

Von  den  drei  Möglichkeiten,  hohe  Überschüsse  zu  erzielen, 
waren,  wie  wir  sahen,  zwei  dem  Handwerker  des  Mittelalters 
verschlossen:  Herabminderung  der  Produktions(Transport-)kosten 
mid  Beschleunigung  oder  Ausdehnung  des  Umsatzes.  Blieb  die 
dritte  Möglichkeit:  hohe  Aufschläge  auf  die  eingekauften  oder 

1  Flach,  Origines  2,  869. 

2  „Wenn  die  Kölner  Handwerker  im  Mittelalter  wohlhabend  oder 
sogar  reich  wurden ,  so  beruhte  das  nicht  auf  ihrer  Tätigkeit  in  der 
Werkstatt,  sondern  darauf,  daß  sie  beim  Absatz  ihrer  kleinen  gewerb¬ 
lichen  Überschüsse  auf  den  auswärtigen  Märkten  in  den  allgemeinen 
Waren-  und  Geldhandel  hineinwuchsen,  auf  diesen  das  Schwergewicht 
ihrer  Arbeit  verlegten  und  nur  nebenher  noch  ihre  gewerblichen  Be¬ 
triebe  beibehielten.“  Bruno  Kuske,  a.  a.  0.  S.  82. 

3  J.  Kulischer,  Warenhändler  und  Geldausleiher  im  Mittelalter, 

in  der  Zeitschr.  f.  VW.,  Soz.,  Pol.  u.  Verw.  Bd.  XVII,  1908. 


Neunuuddreißigstes  Kapitel:  Vermögensbildg.  iu  handwerksmäß.  Wirtschaft  (3X3 

angefertigten  Waren.  Genauer:  eine  möglichst  hohe  Spannung 
-zwischen  Einkaufspreis  und  Verkaufspreis  herzustellen. 

Das  Zahlenmaterial,  das  uns  zur  Verfügung  steht,  um  die 
tatsächliche  Höhe  der  Preisaufschläge  im  Mittelalter 
festzustellen,  ist  außerordentlich  dürftig.  Die  wichtigsten  der 
mir  bekannten,  einwandsfreien  Angaben  sind  folgende: 

Wollhandel :  in  dem  berühmten  Beispiele,  das  Uzzano  (118)  aus 
dem  englisch-florentinischen  Wollhandel  anführt,  kosten  100  Pfd.  Wolle 
(brutto)  an  der  Produktionsstätte  in  England  10 %  fl.,  200  Pfd.  netto 
(die  300  Pfd.  brutto  entsprechen)  werden  in  Florenz  mit  76—88  fl. 
verkauft.  Nach  einer  andern  Aufstellung- bei  Uzzano  (186/87)  Averden 
für  11  Ballen  englischer  Wolle  in  Calais  beim  Einkauf  (nachdem  schon 
mindestens  50  °/o  Spesen  erwachsen  waren)  612  fl.,  in  Mailand  beim 
Verkauf  1315%  fl.  bezahlt. 

Tuchhandel.  Die  fünf  Packen  flandrischer  Tücher,  von  deren 
Schicksalen  uns  Joh.  Tölners  Handelsbuch  (1345 — 1350)  berichtet, 
weisen  beim  Verkauf  folgende  Aufschläge  auf  den  Einkaufspreis  auf: 
26°/o,  27  °/o,  21°/o,  19%,  30  °/o,  also  im  Durchschnitt  25%.  Joh. 
Tölners  Handlungsbuch,  ed.  K.  Koppmanu,  in  den  Geschichtsquellen 
der  Stadt  Rostock  I  (1885). 

Ganz  damit  übereinstimmend  sind  die  Preisaufschläge,  die  wir  aus 
dem  Tuchhandel  Vickos  von  Geldersen  kennen.  Sie  belaufen  sich  in 
den  Jahren  1370 — 1376  auf  bzw.  15,  9,  I8V2,  19,  21%,  29%,  251/s, 
228/io,  12,  221h°lo.  Das  Handlungsbuch  Vickos  von  Geldersen,  ed. 
II.  Nirrnheim  (1895),  LXVTII. 

Johann  Wittenborg  kann  in  einem  Falle  (1356)  auf  Brüggesche 
Laken  70  %,  ein  anderes  Mal  (1353)  auf  den  Einkaufspreis  von  32  Stück 
Poperinger  Laken  aber  nur  5  %  aufschlagen.  Das  Handlungsbuch  von 
Herrn,  und  Joh.  Wittenborg,  ed.  C.  Mollwo  (1901),  LXXI. 

Hildebrand  Vecklinchusen  kauft  (1409)  eine  Sarge  in  Köln  für 
2V4  Duk.  ein,  für  die  er  in  Venedig  3  Duk.  erlöst.  Stieda,  Hans.- 
ven.  Handelsbeziehungen  (1894),  110. 

20  Stück  Tuch  (panni  bianchi  di  Cadix)  wei'den  in  Cadix  für 
fl.  256.  13.  4  gekauft,  in  Florenz  für  395  fl.  verkauft;  ein  anderer 
Posten  von  35  Stück  Tuchen  wird  zu  207,6  fl.  eingekauft,  zu  408  fl. 
verkauft;  ein  dritter  zu  262  fl.  eingekauft,  zu  300 — 350  fl.  verkauft; 
in  einem  vierten  Posten  kostet  das  Stück  beim  Einkauf  20  fl.,  beim 
Verkauf  26 — 28  fl. ;  in  einem  fünften  bzw.  21  fl.  und  32 — 34  fl. 
Sämtliche  Angaben  bei  Uzzano,  123 — 130. 

Hosen  kauft  H.  Vecklinchusen  das  Dutzend  für  4  Mk.  5  sh.  und 
verkauft  sie  für  6V2  Duk.  Stieda,  a.  a.  O.  S.  111. 

3Iützen,  die  Gegenstände  des  flandrisch-florentinischen  Handels  im 
14./15.  Jahrhundert  bilden,  werden  zum  Teil  mit  ungeheurem  Aufschlag 
verkauft;  feine  das  Dutzend  Einkaufspreis  lVa  fl.,  Vei kaufspreis 
15  fl.  (!);  mittelfeine  bzw.  9/io  fl.  und  6  fl.;  ordinäre  (tonde  a  orrecchi) 
bzw,  %o  und  2 — 2V2  fl.  Uzzano,  128  f, 


614  Fünfter  Abschnitt:  Die  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums 

Eisen  in  Barren  wird  für  12—13  fl.  der  Tausender  eingekauft 
^1  migliaio  =  980  Pfd.  flor.),  für  17 — 18  fl.  verkauft;  ein  andermal 
kostet  der  Tausender,  der  für  47  venetianiscke  Lire  di  grossi  verkauft 
wird,  beim  Einkauf  42  Lire.  Uzzano  168,  4. 

Zinngeräte  (Stagno  lavorato  =  piatelli,  scodelle,  salsieri)  haben 
einen  Einkaufspreis  in  London  von  8  fl.  und  werden  in  Florenz  zu  1 3 1  /2 
bis  132/3  fl.  verkauft  (beide  Preise  berechnet  für  100  engl.  Pfd.,  die 
gleich  133V3  flor.  Pfd.  sind). 

Im  13.  Jahrhundert  kosteten: 

100  kg  Pfeffer 

in  Marseille  (1264)  481  Mk., 

„  Lombardei  (1268)  512  „ 

„  Champagne  (12521  602  „ 

*  „  (1265)  629  „ 

„  England  (1265)  683  „ 

„  „  (1159-70)  796  „ 

A.  Schaube,  Ein  italienischer  Kursbericht  von  der  Messe  von  Troyes 
aus  dem  13.  Jahrhundert,  in  der  Zeitschrift  für  Soz.  und  Wirtschafts¬ 
geschichte  5,  279.  282. 

Eine  Pipe  Öl  kostet  beim 

Einkauf  Verkauf 

1374  ca.  22  J  5  ß  6  23  # 

1375  „  17  /  8  ß  21  $ 

Handlungsbuch  Vickos  von  Geldersen,  LXII. 

Immerhin  genügen  diese  Ziffern,  um  den  Eindruck  in  uns  zu 
erzeugen,  daß  in  der  Tat  die  Waren  im  Mittelalter  mit  oft  recht 
beträchtlichen  Zuschlägen  gehandelt  sind.  Eine  gleiche  Berech¬ 
nung  für  die  Preisaufschläge  bei  der  Produktion  anzustellen,  ist 
ganz  unmöglich.  Wenn  wir  aber  der  außerordentlich  hohen 
Preise  uns  erinnern,  die  im  Mittelalter  für  gewerbliche  Erzeug¬ 
nisse  der  Regel  nach  gezahlt  wurden,  und  damit  die  niedrigen 
Rohstoffpreise  vergleichen,  so  müssen  wir  den  Schluß  ziehen, 
daß  offenbar  auch  hier  die  Spannung  zwischen  Einkaufs-  und 
Verkaufspreisen  eine  recht  hohe  gewesen  ist. 

Wie  aber,  müssen  wir  uns  weiter  fragen,  war  es  möglich, 
diese  hohe  Spannung  zu  erzielen;  warum  kaufte  man  so  billig 
ein  oder  (und)  warum  konnte  man  so  teuer  verkaufen? 

Die  nächstliegende  Antwort  auf  diese  Fragen  ist  die:  weil 
sich  Händler  und  Produzenten  in  einer  Monopolstellung 
befanden.  Damit  Reichtum  entstehe,  muß  immer  irgendein 
Monopol  vorhanden  sein.  Das  Monopol  mochte  ein  künstlich 
geschaffenes  sein;  Privilegierung  des  Handels!  Zunftordnung! 


desgl.  Wachs 

in  Piemont  (1262)  335  Mk. 

„  Champagne  (1262)  420  „ 

„  England  (1259—70)  530  „ 


Neununddreißigstes  Kapitel:  Vermögensbildg.  iu  handwerksmäß.  Wirtschaft  (j  1 5 

Weinzapfrecht  der  Geschlechter !  oder  mochte  in  der  natürlichen 
Lage  ohne  weiteres  begründet  sein. 

Ein  natürliches  Monopol  hatten,  wie  wir  schon  sahen, 
die  gewerblichen  Produzenten,  namentlich  die  geschickten  unter 
ihnen,  in  Zeiten  so  gering  entwickelter  Produktivität  wie  den 
Jahrhunderten  des  Mittelalters. 

Von  besonderer  Bedeutung  scheint  mir  aber  für  jene  Zeiten 
die  Monopolstellung  gewesen  zu  sein,  die  bestimmte  Städte  oder 
Gegenden  durch  die  Hervorbringung  irgendeines  stark 
begehrten  Boden-  (oder  Wasser-)erzeugnisses  er¬ 
rangen.  Man  kann  geradezu  manche  Städte  nach  ihrem  wich¬ 
tigsten  (Monopol-)  Produkt  kennzeichnen:  als  Weinstädte :  Preß- 
burg,  Köln;  Bierstädte  (wegen  Malz  und  Hopfen!),  wie  etwa 
Hamburg;  als  Herings  Städte :  Lübeck,  Wismar,  Rostock,  Stral¬ 
sund,  Greifswald  (an  denen  bis  zum  12.  Jahrhundert  der  Hering 
in  so  dichten  Massen  vorbeizog,  „daß  man  im  Sommer  nur  den 
Korb  in  das  Meer  zu  tauchen  hatte,  um  ihn  gefüllt  herauszu¬ 
ziehen,“  bis  er  sich  an  die  Küste  von  Schonen  und  an  das  nor¬ 
wegische  Ufer  zog  und  die  Hanseaten  in  blutige  Kriege  mit  den 
Dänen,  den  Herren  des  Nordstrandes,  mit  Engländern,  Schotten 
und  Holländern  verwickelte) ;  vor  allem  aber  als  Salzstädte. 
Berühmte  „Salzstädte“  sind  Lüneburg,  Danzig  (Salzhandel!), 
Hallein,  Halle,  Salzburg,  Venedig. 

Zum  Teil  waren  es  freilich  wohl  die  Grundherren,  die  von  der 
Salzproduktion  den  Hauptgewinn  zogen;  oder  ihre  Kreaturen, 
die  unter  dem  Namen  der  „Salzjunker“  oder  „Pfänner“  bekannt 
geworden  sind.  Zum  Teil  aber  scheinen  auch  kleine  handwerks- 
mäßige  Existenzen,  sei  es  als  Produzenten,  sei  es  als  Händler, 
sich  mit  Hilfe  des  Salzes  in  die  Höhe  gearbeitet  zu  haben.  Ich 
denke  an  die  Hallenses  oder  Hallarii  in  Salzburg,  aber  doch 
auch  an  die  Venetianer.  „Die  Lagunenbewohner  waren  (NB.  so¬ 
fern  sie  nicht  etwas  anderes  waren,  wie  z.  B.  Grundherren!) 
Eischer,  wie  die  heutigen  Chioggioten,  und  gewannen  Meersalz, 
das  für  das  steinsalzarme  Italien  so  wichtig  ist,  daß  eine  Gegend, 
die  das  Salz  nahezu  von  selbst  hervorbringt,  wie  die  Lagunen, 
hohe  Bedeutung  haben  mußte.“1  Wenn  es  wahr  ist,  daß  sich 

1  L.  M.  Hartmann,  Gesell.  Italiens  II/2,  102.  Über  das  Auf¬ 
kommen  der  Pfännerschaften  unterrichten  im  allgemeinen  Inama  2, 
341  ff.  361  f.;  Schmoller  in  seinem  Jahrbuch  15,  654  ff.;  über  die 
besondere  Entwicklung  in  Salzburg:  P.  V.  Zillner,  Gesch.  der  Stadt 
Salzburg  2  (1890),  139.  157;  in  Halle  a.S.:  Gust.  Ferd.  Hertz- 


01(3  Fünfter  Abschnitt:  Die  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums 

im  Langobardenreiche  in  zwei  Generationen  eine  reiche,  grund¬ 
besitzlose  Kaufmannschaft  entwickelt  hat  —  man  schließt  be¬ 
kanntlich  darauf  aus  der  Lex  Aistolf,  o* 1  — ,  so  war  das  im 
wesentlichen  dem  Salzhandel  von  Commaccliio  aus  geschuldet: 
von  den  Salinen  von  Commacchio  wurde  ganz  Oberitalien  mit  Salz 
versorgt;  der  Salzhandel  von  Commachio  war  zu  gewissen  Zeiten 
der  Pohandel  überhaupt2. 

Nun  nützt  aber,  wie  man  wissen  muß,  keine  Monopolstellung 
der  Welt,  sie  sei  noch  so  ausschließlich,  dazu,  Waren  nun  auch 
tatsächlich  mit  hohen  Aufschlägen  zu  handeln.  Damit  dieses 
möglich  sei,  müssen  abermals  ganz  bestimmte  Bedingungen  er¬ 
füllt  sein,  muß  mit  andern  Worten  die  ökonomische  Natur  der 
Verkäufer  und  Käufer  eine  ganz  besondere  sein.  Dieses  müssen 
nämlich  entweder  Völker  sein,  mit  denen  man  Raubbau  treiben 
kann,  wie  es  der  Fall  mit  den  Bewohnern  der  Kolonialgebiete 
war  (worüber  im  Zusammenhänge  an  anderer  Stelle  gehandelt 
werden  soll),  oder  es  müssen  „reiche“  Leute  sein,  das  heißt 
Menschen,  die  nicht  von  ihrer  Hände  Arbeit  leben.  Als  solche 
kommen  aber  im  Mittelalter  fast  nur  Landrentenbezieher 
oder  Steue re mpfäng er  in  Betracht,  und  nur  wenn  wir  die 
überragende  Bedeutung  dieser  Kategorie  von  Verkäufern  und 
namentlich  Käufern  in  Betracht  ziehen,  vermögen  wir  uns  inner¬ 
halb  der  Kulturländer  überhaupt  die  (gelegentlich)  vermögen¬ 
bildende  Kraft  des  mittelalterlichen  Handels  und  Gewerbes  ver¬ 
ständlich  zu  machen. 

Bei  den  Landrentenbeziehern  konnte  man  besonders  billig 
einkaufen.  Die  englischen  Klöster  beispielsweise,  von  denen 
die  florentiner  und  hanseatischen  Händler  die  Wolle  bezogen3, 

berg,  Gesch.  der  Stadt  Halle  a.  S.  1  (1889),  55;  in  Lüneburg:  Luise 
Zenker,  Zur  volksw.  Bedeutung  der  Lüneburger  Saline  für  die  Zeit 
von  950 — 1370,  in  den  Forschungen  z.  Gesch.  Niedersachsens  1.  Bd. 
2.  Heft.  1906  (gut);  H.  Heineken,  Salzhandel  L.  mit  Lübeck  bis 
zum  Anfang  des  15.  Jahrhunderts.  1908. 

1  Ed.  cet.  que  Lang.  11  ed.  F.  Blulnne  (1869),  162. 

2  L.  M.  Hart  mann,  Zur  W.Gesch.  Italiens,  75. 

3  In  dem  Geschäftsberichte  des  Reisenden  Gherardi  der  florentiner 
Firma  Spigliati-Spini  aus  dem  Jahre  1284  werden  24  Klöster  in  Eng¬ 
land  erwähnt,  die  auf  4 — 11  Jahre  hinaus  ihre  Wollen  dem  genannten 
Hause  verkauft  haben.  Deila  decima  3,  324  f.  In  einem  Merkbüchlein 
des  Bald.  Pegolotti  aus  dem  14.  Jahrhundert  sind  etwa  200  Namen 
von  englischen  Stiftern  und  Klöstern  aufgeführt,  die  den  florentiner 
Händlern  Wolle  lieferten.  Das  Verzeichnis  (2441  Ms.  der  Riccardiana) 


Neununddreißigstes  Kapitel:  Vermögensbildg.  in  handwerksmäß.  Wirtschaft  017 

waren  in  der  Preisgestaltung  an  gar  keine  feste  Untergrenze 
gebunden,  wie  es  jeder  selbständige  Produzent  notwendig  ist. 
Sie  verkauften  ja  unentgeltlich  (d.  h.  von  ihren  Hörigen)  gelieferte 
Wolle,  ein  Erzeugnis  also,  das  sie  überhaupt  nichts  kostete,  und 
das  sie  mit  Freuden  hingaben,  wenn  sie  dafür  auch  nur  einen 
verhältnismäßig  geringen  Geldbetrag  erhielten.  Will  man  durch¬ 
aus  die  in  einem  Produkt  verkörperte  Arbeit  als  den  „Wert“  dieser 
Ware  bezeichnen,  so  würden  wir  sagen:  die  genannten  Renten¬ 
berechtigten  konnten  unausgesetzt,  ohne  eine  Schädigung  zu 
erfahren,  die  in  ihre  Verfügungsgewalt  kommende  Ware  unter 
ihrem  Werte  verkaufen.  Anders  gewandt:  was  die  Käufer  dieser 
Waren  auf  den  Einkaufspreis  zuschlugen,  waren  bis  zu  einem 
gewissen  Betrage  Arbeitserträge  rentenverpflichteter  Höriger. 

Diese  Tatsache,  daß  der  mittelalterliche  Handel  zmnal  in  seiner 
früheren  Zeit  zum  großen  Teile  Handel  mit  Landrentenbeziehern 
war,  gewinnt  nun  aber  ihre  volle  Bedeutung  erst,  wenn  wir  sie 
auch  und  gerade  für  den  Verkauf  namentlich  der  kostbaren 
Gegenstände  beachten.  Es  ist  wohl  nicht  zu  viel  gesagt,  wenn 
man  behauptet,  daß  drei  Viertel  aller  Kolonialprodukte  und  aller 
gewerblichen  Erzeugnisse,  die  von  dem  vorkapitalistischen  Handel 
abgesetzt  wurden,  als  Abnehmer  Rentenbezieher  hatten :  nämlich 
Fürsten,  Ritter,  Kirchen,  Klöster,  Stifte. 

Eine  Statistik  der  Käufer  mit  Angabe  ihrer  sozialen  Stellung 
gibt  es  natürlich  nicht.  Was  wir  aber  aus  den  gelegentlichen 
Mitteilungen  namentlich  der  Handlungsbücher,  dieser  fast  einzig- 
zuverlässigen  und  brauchbaren  Quelle  für  die  ältere  Handels¬ 
geschichte,  über  die  Qualität  der  Käufer  erfahren,  bestätigt  die 
Annahme,  daß  ein  sehr  großer  Teil  Rentenbezieher  war. 

Vor  allem  sind  es  die  Erzeugnisse  des  Ostens,  die  wohl  aus¬ 
schließlich  in  den  höheren  Sphären  der  Gesellschaft  ihre  Ab¬ 
nehmer  fanden.  Man  begegnete  ihnen  in  großen  Mengen  in  den 
Schlössern  der  Großen  und  an  den  Höfen  der  Fürsten.  Ins¬ 
besondere  trat  auch  die  Kirche  als  zahlungsfähiger  Käufer  orien¬ 
talischer  Produkte  auf,  deren  sie  zur  Ausstattung  ihrer  Gebäude, 
zum  Schmuck  ihrer  Diener  und  zur  Verherrlichung  ihrer  Kult- 

mitgeteilt  bei  S.  L.  Peruzzi,  Storia  del  commercio,  e  dei  banchieri 
di  Firenze  dal  1200  al  1345  (1868),  71  ff.  Das  Verzeichnis  Peruzzis 
ist  ausführlicher  als  das  bei  Varenbergh,  Hist,  des  relat.  diplom.  etc. 
(1874),  214 — 217,  das  dem  Arch.  de  Douay  Reg.  L.  fol.  44  entnommen 
ist;  soll  aber  fehlerhaft  sein  nach  den  Feststellungen  der  Miss  E. 
Pixon.  Vgl.  Transactions  of  the  Royal  Hist.  Soc,  12,  151. 


018  Fünfter  Abschnitt:  Die  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums 

handlungen  bedurfte.  Zu  diesem  Behufe  fragte  sie  fortwährend 
Prachtgewändern,  Behängen,  Decken  und  Teppichen,  Perlen  und 
Edelsteinen,  Weihrauch  und  wohlriechenden  Stoffen  nach  \  Auch 
für  Reliquien ,  wirkliche  und  vermeintliche ,  wurden  oft  die 
höchsten  Summen  bezahlt:  man  erinnere  sich  der  köstlichen 
kleinen  Geschichte,  die  uns  Mon.  Sang,  von  dem  Verkauf  der 
einbalsamierten  Maus  erzählt :  wie  für  dieses  fingierte  Reliquien¬ 
tier  der  reiche  Kirchenfürst  dem  Juden  ein  Vermögen  bietet. 

Daneben  werden  manche  gewerbliche  Erzeugnisse,  namentlich 
Rüstungen,  Waffen  und  feine  Tücher,  bei  den  reichen  Grund¬ 
herren  leichten  Absatz  zu  beliebigen  Preisen  gefunden  haben. 
Gerade  die  Gewandschneider  sehen  wir  oft  am  ehesten  und  am 
vollzähligsten  zu  Ansehen  und  Reichtum  in  den  Städten  empor¬ 
steigen.  Und  wir  können  uns  vorstellen ,  wie  sie  zu  ihrem 
Vermögen  gelangten.  „Ganze  Dörfer  und  Güter  nimmt  der 
Gewandschneider  nicht  selten  in  Versatz  für  die  Mengen  kost¬ 
barer  Tücher,  die  er  —  vielleicht  aus  Anlaß  eines  Hochzeits¬ 
festes  —  an  ein  großes,  aber  nicht  jederzeit  an  barem  Gelde 
reiches  Haus  geliefert“  ...1  2  Denn  die  fremden  Tücher,  nament¬ 
lich  die  niederländischen,  gehörten  zu  den  begehrtesten  Luxus¬ 
artikeln  :  als  Stoff  für  Schmuckkleider  und  als  Draperie  der 
Festräume.  Daß  der  zunehmende  Luxus  hier  das  seinige  bei¬ 
trug,  die  Nachfrage  nach  solcherart  Gütern  immer  mehr  zu 
steigern,  versteht  sich  von  selbst.  Auch  das  Kürschnerhandwerk 
bot  oft  Gelegenheit,  sich  in  der  gedachten  Weise  zu  bereichern3. 

Bisher  habe  ich  nur  Beispiele  aus  der  Welt  des  gewerblichen 
und  kommerziellen  Handwerks  angeführt.  Es  lassen  sich  aber 
natürlich  auch  Fälle  denken,  in  denen  etwa  ein  Transport¬ 
handwerker  sich  Vermögen  zu  erwerben  verstand  durch  ge¬ 
schickte  Ausnutzung  einer  reichen  Kundschaft.  .  Solch  ein  Pall, 
der  sogar  von  großer  historischer  Bedeutung  geworden  ist,  war 
die  Ausbeutung  der  Kreuzfahrer  durch  die  italienischen  Kom¬ 
munen,  namentlich  Venedig,  die  den  armen  Kerls  ihre  letzten 
Groschen  abnahmen,  wenn  sie  sie  über  das  Meer  fahren  sollten. 
Daß  hier  wirkliche  Wucherpreise  gefordert  wurden,  ist  durch 
eine  Reihe  ziffernmäßiger  Angaben  verbürgt.  Wir  erfahren  bei¬ 
spielsweise,  daß  sich  die  Venetianer  für  die  Überfahrt  eines  Ritters 


1  Siebe  z.  B.  H.  Prutz,  Kulturgesch.  der  Kreuzzüge  (1885),  45. 

2  Jul.  Lippert,  Soz. Gesell.  Böhmens  2  (1898),  361. 

3  Strieder, -Zur  Genesis  des  modernen  Kapitalismus,  182  ff. 


Neununddreißigstes Kapitel:  Vemiögensbildg.  in  handwerksmäß.  Wirtschaft  610 

nebst  zwei  Knappen,  eines  Pferdes  und  eines  Pferdejungen  8V2  Mk. 
Silber  (—  340  Silber  Mark  =  200  österr.  fl.  h.  W.)  bezahlen 
ließen1,  während  man  heute  für  die  Überfahrt  von  Triest  nach 
Konstantinopel  dem  Österreichischen  Lloyd  in  der  ersten  Klasse 
124,4,  in  der  zweiten  85,(3,  in  der  dritten  37  fl.  zahlt. 

Also  „reiche“  Leute  waren  es  oder  öffentliche  Körper,  mit 
denen  allein  gewinnbringende  Geschäfte  im  Mittelalter  geschlossen 
werden  konnten  (wie  denn  Vermögensbildungen  im  Handwerk 
zu  allen  Zeiten  an  diese  Voraussetzungen  geknüpft  sind). 

Ich  lege  auf  diesen  Umstand  das  größte  Gewicht.  Seine 
Würdigung  ist  für  das  Verständnis  mittelalterlicher  Verkehrs¬ 
beziehungen  unerläßliche  Voraussetzung.  Denn  offenbar  ist  alle 
Preisgestaltung  durch  ihn  beeinflußt.  Er  bewirkt,  daß  alle  die 
ofenannten  Waren  ebenso  wie  die  Rohstoffe  unter  ihrem  „Werte“ 

o  _ 

ein  gekauft ,  so  über  ihrem  Werte  verkauft  werden  konnten. 
Werden  konnten:  darauf  ist  der  Nachdruck  zu  legen.  Denn 
sie  wurden  eben  mit  Rentenanteilen  bezahlt,  und  damit  war  für 
die  Höhe  ihrer  Preise  jede  Grenzbestimmung  nach  oben  hinfällig 
geworden.  Es  kostete  den  Ritter  nicht  einen  Solidus  mehr,  wenn 

o  . 

er  für  eine  Mailänder  Rüstung  statt  des  Jahreszinses  von  zwei 
oder  zwanzig  Bauern  den  von  vier  oder  vierzig  bezahlte-,  wie 
es  dem  Abt  des  Klosters  keine  Schädigung  an  seinem  leiblichen 
oder  geistigen  Wohlbefinden  bereitete,  wenn  er  für  ein  kostbares 
Meßgewand  oder  ein  paar  Pfund  Pfeffer  den  Ertrag  von  zwei 
oder  drei  abgabenpflichtigen  Hufen  mehr  erlegte.  Was  also  hier 
die  Händler  beim  Verkauf  auf  den  Einkaufspreis  zuschlagen,  sind 
wiederum  Landrenten  (oder  Steuerbeträge). 

Das  Vermögen  aber,  das  sich  etwa  ein  gewerblicher  Produzent 
oder  ein  kleiner  Händler  im  Verkehr  mit  diesen  reichen  Leuten 
des  Mittelalters  bildete,  war  ein  „abgeleitetes“:  es  entstand  da¬ 
durch,  daß  Teile  des  (schon  vorhandenen)  feudalen  Reichtums 
in  den  Händen  von  Handwerkern  sich  zu  größeren  Beträgen 
wieder  zusammenballten. 

So  erklärt  es  sich,  weshalb  entgegen  aller  „vernünftigen“ 
Erwägung  auch  im  Rahmen  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft 

o  o 

hie  und  da  sich  Vermögen  bilden  konnten. 

Freilich:  eine  übermäßig  große  Bedeutung  möchte  ich  der 
Vermögensbildung  aus  Warenhandels-  und  Produzentengewinn 
im  Mittelalter  und  auch  späterhin  nicht  beimessen.  Vielleicht, 


1  P  r  u  t  z  ,  Kreuzzüge,  1 00  ff. 


620  Fünfter  Abschnitt:  Die  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums 

daß  fortgesetzt  eine  größere  Anzahl  mittlerer  Vermögen  im 
Rahmen  der  handwerksmäßigen  Wirtschaft  sich  gebildet  haben: 
sie  mögen  jene  unmerkliche  Umformung  des  Handwerks  in  klein¬ 
kapitalistische  Unternehmungen  bewirkt  haben,  der  wir  ein  Jahr¬ 
tausend  lang  zusehen  und  die  natürlich  für  die  Entstehung  des 
Kapitalismus  auch  von  Bedeutung  gewesen  ist.  Wollen  wir  das 
große  Phänomen  der  Entstehung'  eines  neuen,  des  bürgerlichen 
Reichtums,  in  seiner  ganzen  Weite  umfassen,  so  müssen  wir 
noch  an  andern  Stellen  Umschau  halten,  wo  sich  während  des 
Mittelalters  Vermögen  in  größerem  Umfang  bilden  konnten. 


I 


021 


Vierzigstes-  Kapitel 

Die  Vermögensbildung  durch  Deldleilie 

I.  Die  Verbreitung  der  G-eldleihe 

Mehr  als  tausend  Jahre  lang  hat  der  Kampf  gewährt  zwischen 
dem  Geldgedanken,  der  endlich  den  modernen  Kapitalismus  aus 
sich  gebar,  und  den  alten  feudalen  Mächten  in  Staat  und  Gesell¬ 
schaft,  der  Kampf,  den  zu  schildern  im  Grunde  die  Aufgabe 
dieses  ganzen  Werkes  ist,  den  wir  an  dieser  Stelle  aber  nur 
nach  einer  bestimmten  Seite  hin  verfolgen:  wie  er  zur  Bildung 
von  größeren  Vermögen  außerhalb  des  Umkreises  des  feudalen 
Reichtums  führt. 

Im  ganzen  Verlauf  des  europäischen  Mittelalters  hat  es  wohl 
keine  Zeit  gegeben,  in  der  nicht  an  dieser  oder  jener  Stelle  des 
Volkes  und  vor  allem  —  worauf  wir  hier  allein  unser  Augenmerk 
richten  —  innerhalb  der  feudalen  Gesellschaft,  bei  Adel  oder 
Geistlichkeit,  bei  Fürsten  oder  Kirchen,  ein  Bargeldbedarf  auf¬ 
getreten  wäre.  Selbst  im  9.  Jahrhundert,  das  in  seiner  ökono¬ 
mischen  Struktur  am  weitesten  entfernt  von  allen  geldwirtschaft¬ 
lichen  und  kreditmäßigen  Verhältnissen  war,  in  dem  sich  die 
Grundsätze  der  eigenwirtschaftlichen  Organisation  am  tiefsten 
und  am  allgemeinsten  Geltung  verschafft  hatten:  selbst  in  diesem 
geldflüchtigsten  aller  Jahrhunderte  der  christlichen  Zeitrechnung 
begegnet  uns  die  Geldleihe  als  eine  keineswegs  vereinzelte  Er¬ 
scheinung.  Ich  brauche  nur  an  das  Capitulare  de  Judaeis  (814) 
oder  an  den  Liber  manualis  (814—844)  zu  erinnern,  um  die 
Richtigkeit  dieser  Behauptung  zu  erweisen  h 

Seit  den  Kreuzzügen  wird  dann  die  Geldnot  des  Adels  oder 
wenigstens  eines  großen  Teils  des  Adels  wohl  ein  chronisches 
Leiden.  Von  da  ab  hören  wir  auch  allerorten,  daß  der  Adel  in 
Schulden  gerät,  einen  Teil  seines  Besitzes  verliert  u.  dgl. 

Ich  begnüge  mich  damit,  einige  Hinweise  auf  Quellen  und  Literatur 
zu  machen  ,  aus  denen  diese  im  allgemeinen  bekannte  Tatsache  sich 
ersehen  läßt. 

1  Ein  reiches  Belegmaterial  findet  man  bei  A.  Dop  sek,  W.  Entw. 
der  Kar.  Zeit  2,  234  ff. 


622  Fünfter  Abschnitt:  Die  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums 

Für  die  Auswucherung  der  Kreuzfahrer  insbesondere :  H  e  y  d , 
Levantehandel  1,  159.  Prutz,  Kulturgeschichte  der  Kreuzzüge, 
364  ff.  Schaube,  in  den  Jahrbüchern  für  Nat.  -Ök.  15,  605  ff. 
Cuningham,  Growth  1,  191.  Piton  1,  21. 

Italien.  Im  fl  or  ent  in  er  Gebiet  beobachten  wir,  wie  schon  seit 
dem  Ende  des  11.  Jahrhunderts  der  Großadel  zu  verschulden  und 
damit  zu  verarmen  beginnt:  Davidsohn,  Gesch.  von  Florenz  1, 
284  f.  795  ff.  Forschungen  (1896),  158  f.  Für  das  Toscana  des 
13.  Jahrhunderts  bringt  derselbe  Autor  im  4.  Bande  seiner  Forschungen 
S.  281  ff.  wieder  ein  reiches  Material  bei.  Yon  einer  Verarmung 
eines  Teiles  des  Adels  hören  wir  im  12.  Jahrhundert  auch  in  Venedig: 
„Multos  nobiles,  qui  ad  paupertatem  devenerunt,“  unterstützt  der  Doge 
Ziani,  der  selbst  „ein  ungeheures  Vermögen  besaß“.  „Man  sieht,  wie 
ein  offenbar  nicht  geringer  Teil  des  Adels,  unfähig,  'dem  Zuge  der  Zeit 
sich  anzupassen,  in  Armut  versank.“  Lenel,  Vorherrschaft,  46. 
Offenbar  mußten  die  Güter  dieses  Adels  also  vorher  in  die  Hände 
anderer  übergegangen  sein;  und  das  konnten  doch  auch  nur  Geldgeber 
gewesen  sein.  Für  Savoyen:  Qu.  Sella,  Del  codice  d’Asti  etc., 
in  den  Atti  della  B.  Acc.  dei  Lincei.  Ser.  2a  Vol.  IV  (1887),  229  ff. 

Frankreich.  „Gentilshommes  et  usuriers,  ayant  un  constant  besoin 
les  uns  des  autres  paraissent  vivre  .  .  .  en  bonne  intelligence.“ 
D’Avenel  1,  109  f.  Ein  interessantes  Dokument  ist  das  Testament 
eines  der  reichsten  Pariser  Wucherer  im  13.  Jahrhundert,  des  be¬ 
rühmten  Gandulphus  de  Arcellis  (Gandoufile),  der  (wie  es  häufig  vor¬ 
kam) ,  auf  dem  Totenbette  von  Angst  gequält,  alle  die  Opfer  seiner 
Berufstätigkeit  aufzählt,  denen  er  die  von  ihnen  empfangenen  „usurae“ 
zurückzuerstatten  heißt.  Die  Liste  enthält  fast  ausschließlich  geist¬ 
liche  und  weltliche  Herren.  Abgedruckt  bei  Piton,  161  ff. 

Mes  peres  fu  francs  liom  et  de  grant  parente : 

Pui  kei  en  malage  et  en  grant  poverte, 

Et  engaga  ses  terres,  petit  l’en  fu  remes. 

Cis  hom  ert  par  usure  en  grant  avoir  montes: 

A  mon  pere  fist  toute  se  terre  racater; 

Puis  m’i  dona  a  ferne  .  .  . 

Aiol.  v.  7065  suiv.  7111  suiv. 

Ed. :  Societes  des  anciens  textes  fran^. 

„  Jaques  Nonnand  et  Gast.  Eaynard.  . 

Vgl.  auch  noch  den  Chronisten  Eigor d,  Vie  de  Philippe  Auguste, 
in  der  Collect,  des  Mem.  rel.  ä  l’Hist.  de  France  (1825),  p.  22  (der 
Volume  trägt  keine  Nummer).  Davidsohn,  Forsch.  3  Nr.  139  (sehr 
instruktive  Urkunde).  In  der  ganzen  Troubadourpoesie  spielt  der  von 
Gläubigern  gepeinigte  Edelmann  eine  große  Bolle.  Vgl.  Ferd.  Herr¬ 
mann,  Schilderung  und  Beurteilung  der  gesellschaftl.  Verhältnisse 
Frankreichs  in  der  Fabliauxdichtung  usw.  Leipz.  Diss.  1908,  S.  31  f. 

In  England  begegnen  wir  erst  den  Juden,  dann  den  Lombarden 
als  Geldgebern  der  Großgrundbesitzer.  „The  Jews  obtained  forty  per- 
cent  by  lending  money  to  extravagant  or  heavily  taxed  landowners.“ 
Cunningham  1,  189  ff.  328.  1235  sind  der  König  und  die  meisten 


Vierzigstes  Kapitel :  Die  Vermögensbildung  durch  Geldleihe  623 

Prälaten  Schuldner  der  Lombarden,  so  daß  der  Erzbischof  von  London 
diese  ausweisen  will,  was  der  Papst  verbietet.  Piton,  216.  Vgl. 
noch  Madox,  The  History  and  Antiquities  of  the  Exchequer  of  the 
Kings  of  England  1  (1769),  222  ff.  249  f. 

Für  die  Bewucherung  der  großen  Grundbesitzer  in  Flandern  findet 
man  ein  reiches  Material  bei  G.  des  Marez,  La  letti'e  de  Foire  ä 
Ypres  au  XIII.  sc.  (1901);  vgl.  S.  165.  174.  183.  195.  254  f.  Vgl. 
auch  Vanderkindere,  223. 

Dem  Gui  de  Dampierre  beispielsweise  sitzen  die  Geldmänner, 
namentlich  die  Italiener,  wie  Läuse  im  Pelz.  Eine  hübsche  Charakte¬ 
ristik  dieses  prächtigen,  echt  seigneurialen  Typus,  der  nie  Geld,  dafür 
aber  um  so  mehr  Schulden  hat,  findet  man  bei  Funck-Brentano, 
Philippe  le  Bel  en  Flandre,  76  £f. 

Für  Deutschland  und  die  Schweis  stimmen  Schulte  1,  290  ff., 
Lamprecht,  Zum  Verständnis  usw.,  in  der  Zeitschr.  für  Soz.  und 
W.G.  1,  233  f.,  und  Jannssen  1,  444,  so  sehr  ihre  Auffassungen 
sonst  voneinander  abweichen,  in  der  Beurteilung  des  Adels  überein. 
Über  die  Bewucherung  von  Grundbesitzern  durch  die  Juden  S  t  o  b  b  e , 
117  f.  240  f. 

So  reich  die  Kirche  all  die  Jahrhunderte  hindimcli  gewesen 
und  geblieben  ist,  so  hat  es  doch  Zeiten  gegeben,  hat  es  nament¬ 
lich  immer  einzelne  Kirchen  und  Stifte,  einzelne  Geistliche  ge¬ 
geben,  die  einen  starken  Geldbedarf  hatten  und  die  diesen  Geld¬ 
bedarf  auf  dem  Wege  der  Anleihe  (wenn  nicht  des  Verkaufs  von 
Hab  und  Gut)  zu  decken  versuchten. 

Eine  solche  Zeit,  in  der  die  Kirche  einer  weitgehenden  Ver¬ 
schuldung  anheimfiel,  in  der  auch  ein  Teil  des  Kirchengutes  in 
weltliche  Hände  überging,  scheinen  das  11.  und  12.  Jahrhundert 
gewesen  zu  sein,  als  jener  mächtige  Hang  nach  Verweltlichung 
über  den  Klerus  kam.  Damals  soll  das  Kirchengut  „in  Saus  und 
Braus  vertan“,  die  Kirchen  und  Klöster  sollen,  um  ihre  Schulden 
los  zu  werden,  einen  Teil  ihres  Besitzes  hingegeben  haben.  Eine 
liegende  des  13.  Jahrhunderts,  berichtet  von  Cesarius,  erzählt: 
,,1’on  voit  l’argent  d’un  usurier  mis  dans  un  coffre  avec  l’argent 
d’une  abbaye  le  devorer  comme  une  proie;  de  sort  qu’au  bout 
de  peu  de  temps  on  ne  trouve  plus  rien  dans  le  coffre  .  .  .“ 

Übertreibungen:  gewiß.  Aber  darin  steckt  ohne  Zweifel  ein 
richtiger  Tatsachenkern.  Im  übrigen  sind  das  bekannte  Dinge. 

Was  die  geistlichen  Herren  dann  später  noch  einmal  so  sehr 
in  Schulden  verwickelte,  waren,  wie  bekannt,  ihre  Verpflichtungen 
gegen  Born,  die  Leistung  der  Servitia  communia.  Daher  war  ihr 
Geldbedürfhis  eine  Zeitlang  eine  allgemeine  Erscheinung  in  allen 
I Andern  und  darum  die  Aussicht  namentlich  für  die  leistungs¬ 
fähigeren  Geldbesitzer,  sich  rasch  zu  bereichern,  eine  sehr  gute. 


624  Fünfter  Abschnitt :  Die  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums 


Durch  die  Untersuchungen  Gottlobs,  Schneiders  (S.  50  ff. ) 
u.  a. ,  durch  die  überaus  reichhaltige  Materialsammlung  Schultes 
(1,  235  ff.)  sind  wir  jetzt  über  die  Beziehungen  zwischen  den  geld¬ 
suchenden  Prälaten  und  ihren  Gläubigern  bis  in  die  kleinsten  Details 
unterrichtet.  AVir  wissen,  daß  es  wiederum  vor  allem  italienische 
Häuser  waren,  die  auch  außerhalb  Italiens  die  Geschäfte  mit  den  geist¬ 
lichen  Herren  machten. 

Dabei  bat  es  sich  um  ganz  gewaltige  Summen  gehandelt. 
AYenn  wir  die  Umrechnung  zugrunde  legen,  die  Schneider  (S.  53) 
vorgenommen  hat,  so  würden  an  die  Bischöfe  in  den  Jahren 
1295 — 1304  kreditiert  haben  die 

Mozzi .  282460  Mk.  Metallwert 

Abbati  ....  525868  „ 

Chiarenti  .  .  .  706280  „  „ 

Ammanati  .  .  .  942274  „  „ 

Spini .  1629465  „ 

Bedenken  wir  nun  noch,  welchen  großen  und  wachsenden 
Geldbedarf  die  sich  zu  öffentlichen  Haushalten  ent¬ 
wickelnden  Fürsten-  und  Stadtwirtschaften  hatten,  so  werden 
wir  uns  einen  Begriff  machen  können,  welchen  ganz  gewaltigen 
Umfang  der  Leihverkehr  schon  in  verhältnismäßig  früher  Zeit 
—  sage  während  des  Hochmittelalters  —  angenommen  haben 
mußte. 

Soviel  ist  jedenfalls  sicher,  daß  die  durch  den  Handel  um¬ 
gesetzten  Werte  in  wesenlosem  Scheine  verschwinden,  sobald 
wir  sie  in  Vergleich  stellen  mit  den  Ziffern  des  Kreditverkehrs 
in  demselben  Zeiträume,  daß  aber  in  noch  größerem  Abstande 
die  voraussichtlich  bei  diesem  verdienten  Summen  die  denkbar 
höchsten  Handelsprofite  hinter  sich  lassen.  Man  wolle  sich  etwa 
vergegenwärtigen,  daß  ungefähr  in  derselben  Epoche  (Mitte  bzw. 
Ende  des  14.  Jahrhunderts),  als  der  Wert  des  gesamten 
Ausfuhrhandels  einer  Stadt  wie  Reval  1 — IV2  Mi  11.  Mk., 
derjenige  Lübecks  2—3  Mill.  Mk.  h.  W.  (nach  Stiedas  Berech¬ 
nungen)  betrug,  ein  einziges  florentiner  Bankhaus  (die  Bardi) 
dem  König  von  England  über  8  Mill.  Mk.  h.  W.  (900000  fior. 
d’oro),  ein  anderes  (die  Peruzzi)  über  5  Mill.  Mk.  geliehen  hatte 1 ; 
daß  zu  der  Zeit,  da  die  sämtlichen  hansischen  Kaufleute  für 
5—600000  Alk.,  die  italienischen  zusammen  für  IV2 — 2  Mill.  Alk. 

1  Nach  Arillani,  der  für  diese  Ziffern  gewiß  zuverlässig  ist. 
1320  schuldeten  die  Johanniter  den  genannten  beiden  Bankhäusern 
575  000  Goldgulden.  Bosio,  1.  c.  2,  28. 


Vierzigstes  Kapitel:  Die  Vermögensbildung  durch  Geldleilie  625 

h.  W.  Wolle  in  England  einkauften  (Ende  des  13.  Jahrhunderts), 
ein  einziger  Pariser  Wucherer  (Gandouffle)  einen  Umsatz  von 
546  000  Mk.,  die  sämtlichen  Lombarden  aber  in  Paris  einen  solchen 
von  61 440  000  Mk.  h.  W.  versteuerten x.  Was  würde  dagegen 
sogar  die  Million  Dukaten  Umsatz  im  Fondaco  dei  Tedeschi  be¬ 
deuten,  selbst  angenommen,  sie  sei  richtig!  Oder  man  bedenke, 
was  es  heißt,  daß  die  Genuesen  und  Pisaner  den  Kreuzfahrern 
vor  Accon  schon  im  12.  Jahrhundert  26400  Mk.  Silber,  2220  lb. 
tur.  und  930  Unzen  Gold  borgen1 2,  also  etwa  IV2  Mill.  Mk.  Metall¬ 
wert  h.  W. ;  daß  Ludwig  der  Heilige  bei  Kaufleuten  ein  Darlelm 
von  102 7082/3  lb.  tur.,  also  von  mehr  als  2Va  Mill.  Mk.  h.  W. 
aufnimmt3;  daß  1390,  als  die  Judenschulden  in  Regensburg  auf¬ 
gehoben  wurden,  sie  einen  Betrag  von  ca.  100000  Goldgulden, 
also  etwa  1  Mill.  Mk.  ergaben.  „Und  wie  viel  mögen  die  Regens¬ 
burger  Juden  an  auswärtigen  Schuldnern  verloren  haben!“4 * 

Die  Geldleihe  ist  während  des  ganzen  Mittelalters  eine  wich¬ 
tige  Nebenbeschäftigung  der  Warenhändler  gewesen,  wie  das 
Kulischer  in  der  auf  Seite  612  genannten  Schrift  nachgewiesen 
hat.  Ich  möchte  ergänzend  hinzufügen:  sie  ist  eine  gewinn¬ 
bringende  Geschäftstätigkeit  der  Warenhändler  geblieben  bis 
zum  Schlüsse  der  früh  kapitalistischen  Epoche,  das 
heißt  bis  die  Kreditvermittlung  in  Banken  und  Genossenschaften 
organisiert  wurde.  Wenn  wir  uns  z.  B.  die  Yermögensbildung 
eines  reichen  Hirschberger  Großkaufmanns  im  18.  Jahrhundert 
ansehen,  so  staunen  wir  über  die  weitverzweigte  Geldleihetätig¬ 
keit  eines  solchen  Warenhändlers.  Das  Testament  des  „großen“ 
Christian  Mentzel  weist  eine  lange  Reihe  von  Darlehnen  auf, 
deren  größte  an  adlige  Herren  gegeben  sind ,  die  aber  bis  zu 
Beträgen  von  12  Talern  herunter  auch  an  arme  bürgerliche 
Schuldner  verabfolgt  wurden. 

Die  ausstehenden  Darlehnsforderungen  belaufen  sich  nebst 
rückständigen  Zinsen  auf  109  635  Tlr.  4  Sgr.  5  Pf.,  während  der 
Wert  des  Warenlagers  und  der  Handlungsaktiva  auf  121038  Tlr. 
26  Sgr.  11  Pf.  veranschlagt  ist6. 

o  o 

1  Nach  den  Steuerbeträgen  einwandsfrei  berechnet.  Siehe  z.  B. 
Clamageran  1,  300;  Ed.  Moranville,  Rapports  ä  Philippe  VI 
sur  l’etat  de  ses  finances,  in  der  Bibi,  de  l’Ecole  des  Chartes  XLVIir, 
p.  387. 

2  P  i  1 0  n ,  21. 

3  Schaube,  Wechselbriefe,  608. 

4  Stobbe,  137. 

Rombart,  Der  moderne  Kapitalismus,  I. 


40 


G2G  Fünfter  Abschnitt:  Die  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums 

II.  Die  Gewinne  ans  der  Geld  leihe 

Daß  an  diesen  großen  Summen  auch  große  Verdienste  ge¬ 
macht  wurden ,  dürfen  wir  als  ausgemacht  ansehen.  Dafür 
bürgte  schon  die  Höhe  des  Zinsfußes  während  der  langen 
Jahrhunderte  des  Mittelalters.  Man  weiß,  daß  20 — 25%  etwa  der 
übliche  Betrag  war,  zu  dem  Darlehn  ausgeliehen  wurden,  daß 
dieser  Betrag  in  seltenen  (für  den  Schuldner  günstigen)  Fällen 
auf  etwa  10%  sank,  sehr  häufig  aber  auch  zu  einer  für  unsere 
Begriffe  schwindelhaften  Höhe  emporldetterte  h  Man  ist  geneigt, 
manche  der  „gesetzlich“  normierten  Zinsbeträge  für  Ausgeburten 
der  Phantasie  zu  halten:  so  wenn  man  erfährt,  daß  ein  Statut 
vom  23.  Mai  1243  für  die  Juden  der  Provence  einen  Zinsfuß  von 
300%,  das  Judenprivilegium  Friedrichs  H.  (1244)  einen  solchen 
von  173%,  eine  Bestimmung  des  Freisinger  Stiftes  (1259)  einen 
Zinsfuß  von  120  %  festsetzen  —  wird  aber  doch  gezwungen,  an 
derartige  Möglichkeiten  zu  glauben,  da  genug  Belege  dafür  vor¬ 
handen  sind,  daß  in  Wirklichkeit  Zinssätze,  die  um  50% 
schwankten,  gar  keine  Seltenheit  waren:  in  den  acht  Seedarlehnen, 
die  ein  Schiffseigner  in  Venedig  im  Jahre  1167  abschloß,  beträgt 
der  niedrigste  Zinsfuß  40%,  der  höchste  50  %* 1 2.  Eine  Summe  von 
20  000  Mk.  (853  000  Silber  Mk.),  die  Bichard  Lejons  von  Winchelsea 
(1375/76)  dem  König  von  England  borgte,  ließ  er  sich  mit  50% 
verzinsen3.  Um  nur  ein  paar  Beispiele  aus  ganz  und  gar  ver¬ 
schiedenen  Lebensumständen  des  Mittelalters  anzuführen. 

Auch  in  den  auf  das  Mittelalter  folgenden  Jahrhunderten 
blieb  der  Zinsfuß  für  geliehenes  Geld  hoch :  noch  Ludwig  XIV. 
mußte  15  °l o  für  seine  Anleihen  bezahlen. 

Ebenso  waren  die  Provisionen  beträchtliche,  die  den 
cBankiers’  für  ihre  Dienste  gezahlt  wurden.  So  betrug  beispiels¬ 
weise  die  Provision  der  Campsores  cam.  apost.  in  den  mir  be¬ 
kannten  Fällen4:  8,  11,  12%,  24,  25,  35%. 


5  [Zu  Seite  625].  Siehe  das  Testament  des  1748  verstorbenen  Chr. 
Mentzel  in  der  Familienchronik  der  Mentzel-Gerstmann,  herausgegeben 
von  B.  E.  H.  G erstmann  (1909),  S.  26  ff. 

1  Siehe  z.  B.  die  Zinstabelle  bei  David  so  hn,  Forschungen  1 
(1896),  158  f.:  Min.  10,  Max.  50,  Med.  20,  26%. 

2  K.  Hevnen,  Zur  Entstehung  des  Kapitalismus  in  Venedig 
(1905),  99. 

3  Alice  Law,  1.  c.  p.  66. 

4  Schneider,  37;  Gottlob,  Kreuzzugssteuern,  249;  David« 
sohn,  Forsch.  3,  Urk.  Nr.  771,  787. 


Vierzigstes  Kapitel:  Die  Vermögensbildung  durch  Geldleilie  (]27 

Dazu  kam,  daß  das  mittelalterliche  Pfand-  und  Hypothekar¬ 
recht  dem  Gläubiger  viel  größere  Machtbefugnisse  gewährte  als 
unser  heutiges.  Die  Verpfändung  kam ,  in  sehr  vielen  Fällen 
wenigstens,  einer  Veräußerung  gleich,  deren  Inkrafttreten  an  die 
Suspensivbedingung  der  Nichterfüllung  des  Vertrages  geknüpft 
war.  Es  lief  meistens  auf  einen  Eventualkauf  hinaus.  Die  Ver¬ 
kaufsurkunde  wurde  dem  Darlehnsgeber  in  Pfand  gegeben ;  dem 
Verkaufs  vertrage  wurde  eine  Klausel  angefügt,  daß  es  hinfällig 
werde,  wenn  Darlehn  und  Zins  zum  vereinbarten  Termin  ein¬ 
bezahlt  seien,  andernfalls  trat  die  Veräußerung  ohne  weiteres  in 
Kraft,  der  Darlehnsgeber  wurde  Eigentümer  des  verpfändeten 
Gutes.  „ Hab  und  Gut  Adliger  wie  klösterlicher  Stiftungen  stand 
deshalb  stets  in  Gefahr,  in  die  Hände  der  Wucherer  zu  geraten.“ 

Als  Beispiel:  Urk.  von  1287 :  Günther  von  Schwarzburg  hat  einem 
Juden  ein  Grundstück  verpfändet  tali  pacto,  ufc  si  termino  statuto  non 
redimeremus,  quod  tune  sibi  absque  contradictione  maneret  et  titulo 
proprietatis  liberae  suum  esset-,  Stobbe,  240.  Bei  der  Beschränktheit 
des  Rechts  der  Juden,  Grundeigentum  zu  besitzen,  erfolgte  bei  ihnen  die 
Darlehnsgewährung  meist  gegen  Verpfändung  von  Kleinodien,  Kostbar¬ 
keiten,  Silber- und  Schmuckgeräten.  Beispiele  dafür  bei  Stobbe,  240. 

Ein  anderer  Truc,  den  der  Geldgeber  (unter  dem  Drucke 
des  kanonischen  Zinsverbotes)  seinem  Klienten  gegenüber  anzu¬ 
wenden  pflegte,  bestand  in  einer  Art  von  Wettvertrag,  nach  dem 
z.  B.  ein  Pilger  das  Keisegeld  unter  der  Bedingung  erhielt,  daß 
seine  Erbschaft  oder  doch  gewisse  Güter,  falls  er  nicht  zurück¬ 
kehrte,  dem,  der  die  Zahlung  geleistet  hatte,  zufielen 1. 

Der  Hauptgrund  aber,  weshalb  in  aller  früheren  Zeit:  das 
heißt  während  des  ganzen  Mittelalters  bis  zum  Ende  des  18.  Jahr¬ 
hunderts  alle  Geldleihe,  namentlich  an  die  kleinen  und  großen 
Inhaber  der  öffentlichen  Gewalt,  so  außerordentlichen  Gewinn 
brachte,  ist  die  in  der  Vergangenheit  allgemein  übliche  Sitte, 
dem  Gläubiger  Befriedigung  zu  verschaffen  durch  Überlassung 
bestimmter  Einkünfte :  wie  Steuern,  Zölle,  Sporteln,  Bergwerks¬ 
abgaben  usw. ;  von  Einkünften,  die  hn  Anfang  wohl  meist  aus 
grundherrlicher  Machtvollkommenheit  flössen,  allmählich  aber 
auf  bestimmte  Hoheitsrechte  als  Quelle  zurückgeführt  wurden. 
Diese  Sitte  entsprach  der  früheren  Staatspraxis,  allen  öffentlichen 
Befugnissen  den  Charakter  von  veräußerlichen  Werten  zu  ver- 
leihen  und  sie  als  solche  bei  entstehenden  Bedürfnissen  zu  ent- 
äußern. 

1  Belege  bei  Bender,  Die  öffentlichen  Glückspiele.  1862.  Vgl. 
Meitzen,  Siedelungen  2,  637. 


40* 


628  Fünfter  Abschnitt:  Die  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums 

Der  Gläubiger,  der  bei  den  kleineren  Herren  häufig  zugleich 
Vermögens  Verwalter,  bei  den  größeren  Fürsten  Hofbankier  wird, 
erscheint  meist  als  „Pächter“  der  verschiedenen  Einnahmequellen, 
aus  denen  er  nach  Gutdünken  sich,  sei  es  für  seine  Zinsen,  sei 
es  für  sein  Hauptgut,  bezahlt  macht :  begreiflicherweise  in  einem 
seinen  Interessen  nicht  nachteiligen  Umfange.  "Was  die  Finanzen 
jener  Jahrhunderte  also  beherrschte,  können  wir  als  Publi- 
kanenwirtschaft  bezeichnen:  sie  nimmt  ihren  Anfang  im 
frühen  Mittelalter  (römische  Erbschaft?)  und  erreicht  ihren  Höhe¬ 
punkt  in  der  Einrichtung  der  französischen  fermiers  generaux 
oder  der  „Partisans“  des  18.  Jahrhunderts. 

Wie  allgemein  verbreitet  dieses  Gebahren  war,  erweist  schon 
die  folgende,  gewiß  sehr  lückenhafte  Sammlung  von  Belegen,  die 
ich  mir  zusammengestellt  habe: 

Pachtung  von  Steuereinkünften,  Zollgefällen  usw. 

(mit  Ausschluß  der  Bergwerke  und  der  Münze) 

Päpste.  Einer  Verpachtung  bzw.  Verpfändung  der  Decimen  begegnen 
wir  sehr  häufig.  Genaue  Angaben  findet  man  in  den  bereits  namhaft 
gemachten  W erken  von  Kirsch,  Gottlob,  Schneider,  deren 
Ergebnisse  unter  Hinzufügung  zahlreicher  weiterer  Details  Schulte 
zusammenfassend  dargestellt  hat. 

Eine  besondere  Berühmtheit  haben  die  Campsores  camerae 
apostolicae  erlangt,  auf  die  uns  der  alte  Pagnini  schon  hinweist 
und  mit  deren  Schicksalen  uns  zahlreiche  gründliche  Spezialunter¬ 
suchungen  in  ganz  besonders  liebevoller  Weise  vertraut  gemacht  haben. 

Wir  wissen  jetzt  genau  Bescheid  über  die  Art,  wie  die  Päpste 
das  ihnen  aus  aller  Herren  Länder  zuströmende  Geld  vermittels  eines 
kunstvollen  Sammelsystems  in  ihre  Zentralkasse  leiteten.  Wir  können 
die  Generalkollektoren,  Kollektoren  und  Subkollektoren  auf  ihren 
Wanderungen  verfolgen,  kennen  die  Säckchen  und  Kisten,  Avomöglich 
mit  ihren  Signaturen,  in  denen  die  Gelder  aufbeAvahrt  zu  werden 
pflegten,  ehe  sie  an  eine  höhere  Zentrale  abgeliefert  Avurden.  Wir 
Avissen  daher  jetzt  auch,  Avas  hier  interessiert:  daß  schon  seit  dem 
13.  Jahrhundert  Kaufleute  mit  der  Einziehung  und  Übermittlung  päpst¬ 
licher  Gelder  betraut  wurden;  die  ersten  „Bankiers“  der  Kurie  be¬ 
gegnen  uns  unter  dem  Pontifikate  Gregors  IX.  (1227— — 1241). 

Die  früheste  Urkunde,  Avelche  die  Verwendung  von  Kaufleuten  in 
der  päpstlichen  Finanzverwaltung  bestätigt,  ist  ein  Brief*  Gregors  IX. 
vom  Jahre  1233,  worin  er  quittiert  „ad  Angelicum  Solaficum  quemdam 
campsorem  nostrum  et  eius  socios  mercatores  senenses  de  omnibus 
rationibus,  quos  in  Anglia,  Francia  et  Curia  Romana  vel  etiam  alibi 
nostro  vel  Ecclesiae  Romanae  nomine  receperunt“.  Aus  dem  Cod. 
Cenc.  Cam.  publiziert  bei  Muratori,  Ant.  ital.  diss.  16.  t.  I.  pag.  118. 

Dann  aber  im  11.  Jahrhundert,  zumal  nach  Aufhebung  des  Templer- 


Vierzigstes  Kapitel:  Die  Vermögensbildung  durch  Geldleihe  620 

Ordens,  der  während  seines  Bestehens  besonders  gern  zum  Einsammeln 
der  Gelder  benutzt  worden  war,  entwickelte  sich  das  Institut  der 
Campsores  camerae  apostolicae  zu  großer  Bedeutung.  Waren  anfangs 
Kaufleute  der  verschiedensten  italienischen  Städte,  als  Lucca,  Pistoja, 
namentlich  Siena,  zu  derartigen  Punktionen  verwandt  worden,  so  ge¬ 
wannen  mit  der  Zeit  die  Florentiner  bei  dem  heiligen  Stuhl  immer 
größeren  Einfluß,  bis  sie  zuletzt  die  Bankiergeschäfte  fast  völlig  mono¬ 
polisierten.  Die  Spini  und  Spigliati,  die  Bardi,  die  Cerchi,  die  Pulci, 
die  Alfani,  sie  haben  es  sich  stets  zu  besonderer  Ehre  angerechnet, 
die  Geldgeschäfte  des  heiligen  Vaters  zu  besorgen,  bis  ihnen  allen  die 
Medici  den  Rang  abliefen,  die  während  des  15.  und  16.  Jahrhunderts 
die  Bankiers  der  Päpste  par  excellence  sind:  die  Rothschilds  der 
italienischen  Renaissance.  Vgl.  noch  Otto  Meltzing,  Das  Bank¬ 
haus  der  Medici  und  seine  Vorgänger.  1906. 

Die  Ritterorden  finden  wir  ebenfalls  in  Verbindung  mit  Kaufleuten, 
die  ihnen  als  Bankiers  dienen  oder  auch  (bei  den  enormen  Einkünften 
erscheint  dies  fast  unglaublich)  mit  Vorschüssen  dienstbar  sind.  Wenig¬ 
stens  gilt  dies  für  die  Johanniter,  die  wir  1320  in  der  Schuld  der 
Bardi  und  Peruzzi  finden.  J.  B  o  sio  ,  Dell’  istoria  della  sacra  religione 
et  illma  militia  di  S.  Griovanni  hjerosolimitano  2  (1594),  28.  Außer  den 
genannten  italienischen  Häusern  sind  es  Geldwechsler  in  Montpellier 
und  Narbonne,  die  wir  als  Bankiers  der  Hospitaliter  antreffen.  Vgl. 
Heyd,  Gesch.  des  Levantehandels  1,  576. 

Italien.  Venedig.  Als  im  12.  Jahrhundert  eine  Anzahl  Cives  das 
Geld  zur  Herstellung  einer  Flotte  aufbringen,  „promissum  fuit  civi- 
bus,  restituere  mutuatam  pecuniam  eis  obligantes  redditus  communis“. 
H.  Simonsfeld,  Venetianische  Studien  1,  137.  So  wurden  der 
Reihe  nach  den  Staatsgläubigern  verpfändet  die  Einkünfte  aus  dem 
Salzmonopol,  die  Gelder  der  decime,  die  Grundsteuer  der  terra  firma. 
Ferrara,  Docum.  per  servire  alla  storia  de’  banclii  Veneziani,  im 
Arch.  Veneto  1  (1871),  106  f.  332  f.  Vgl.  Lattes,  Dir.  comm.,  232. 
Im  Jahre  1169  verpachtet  der  Doge  Dandolo  an  einen  gewissen 
Mairano  auf  sechs  Jahre  alle  an  der  Riva  in  Konstantinopel  befind¬ 
lichen  Gebäude,  Tabernen,  Wagen  und  Gewichte,  Maße  für  Öl,  Wein 
und  Honig.  Cecchetti,  La  vita  dei  Veneziani  fino  al  1200,  p.  38, 
bei  Heynen ,  102. 

Genua.  Verpachtung  bzw.  Verpfändung  zahlreicher  Zölle  und 
Abgaben,  des  Salzmonopols,  der  Münze  usw.,  seit  dem  12.  Jahrhundert. 
„Steuerverpachtung  bildet  bis  Schluß  der  Republik  das  herrschende 
System  der  Steuererhebung.“  Sieveking,  Genueser  Finanzwesen  1, 
41.  Genuesen  im  Besitz  eines  Drittels  der  Hafenzölle  in  Accon: 
Prutz,  378. 

Pisa.  Davidsohn,  Gesch.  von  Florenz,  685. 

Florenz.  1329  Verpfändung  der  Gabella  an  die  Acciaiuoli  und 
Konsorten.  Davidsohn,  Forsch.  3,  186. 

Neapels  Staatsämter  finden  wir  häufig  an  Florentiner  verpachtet. 
Davidsohn,  Forsch.  3,  XVII  (Übersicht). 

Zuweilen  verschafften  sich  die  Steuerpächter  in  den  italienischen 
Kommunen  die  für  die  Pachtübernahme  erforderliche  Summe  durch 


(380.  Fünfter  Abschnitt:  Die  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums 

vorherige  Ausgabe  von  Anteilscheinen,  ideellen  Quoten,  sog.  portiones 
an  dem  Pfandobjekte.  Die  Käufer  der  portiones  hießen  portionarii, 
partionarii  und  participes,  ihr  Verhältnis  zum  Unternehmer  partecipatio. 
Dieselben  Erscheinungen  finden  wir  später  bei  den  französischen  Par¬ 
tisans  wieder.  Lästig,  Beiträge  zur  Geschichte  des  Handelsrechts, 
in  der  Zeitschrift  für  das  gesamte  Handelsrecht  24,  425. 

England.  Eine  umfassende  Bearbeitung  des  Gegenstandes  hat  schon 
Bond  in  der  Archaeologia  Bd.  28  vorgenommen.  Uralt  ist  die  Ein¬ 
richtung  des  Sheriffs,  dem  die  Eintreibung  der  Steuer  in  je  einer 
country  gegen  Gewährung  fester  Pachtsummen  überantwortet  wurde. 
Sinclair  1,  55.  Siehe  die  interessante  Arbeit  von  G.  J.  Turner, 
The  Sheriffs  Farm,  in  den  Transactions  of  the  R.  Hist.  Soc.  12  (1898), 
117 — 149.  Uber  die  Firma  burgi  handeln  neuerdings  vortrefflich 
Round,  Domesday  Finance,  in  den  Domesday  Studies  Vol.  I,  und 
Haiti  and,  1.  c.  p.  204  seg.  Der  erste  König,  der  sich  fremder  Kauf¬ 
leute  bediente,  soll  Johann  gewesen  sein;  unter  Heinrich  III.  bürgert 
sich  ihre  Verwendung  ein.  1276 — 1292  finden  wir  Lucchesen  als  Zoll¬ 
einnehmer;  1294  sind  zehn  verschiedene  Handelshäuser  aus  Lucca  und 
Florenz  an  Wolltransaktionen  beteiligt.  Anfang  des  14.  Jahrhunderts 
sehen  wir  die  Frescobaldi  als  Pfand  für  ihre  Darlehnen  an  die  eng¬ 
lische  Krone  fast  sämtliche  Zolleinkünfte  des  Königreichs  in  ihrer 
Hand  vereinigen.  Deila  dec.  2,  70,  wo  die  englische  Quelle  zitiert 
ist.  Vgl.  auch  Toniolo,  L’  econ«  di  credito  ec.,  in  der  Riv.  int.  8, 
563,  und  Stubbs,  Const.  Hist.  24,  561.  Weiteres  Tatsachen¬ 
material  enthalten  Fox  Bourne,  English  merchants.  New  ed.  1886, 
und  der  außerordentlich  interessante  Aufsatz  von  Alice  Law,  The 
English  „Nouveaux-Rickes“  in  the  fourteenth  Century,  in  den  Trans¬ 
actions  of  the  R.  Hist.  Soc.  New  Series.  Vol.  IX  (1895),  S.  49  ff. 
Fräulein  Law  führt  den  Nachweis ,  daß  auf  die  Bardi  und  Peruzzi, 
die  noch  im  Jahre  1340  im  Besitz  des  Neunten  in  sechs  Graf¬ 
schaften  sich  befinden,  eine  Reihe  englischer  Häuser  folgt,  die  ganz 
im  Sinne  der  Italiener  ihre  Geschäfte  betreiben.  „They  undertook 
the  farm  not  only  of  the  customs  but  even  of  the  war  subsidies 
and  in  return  for  the  ready-money  payments  they  made  the  king  they 
were  allowed  to  take  not  only  the  legal  custom  of  40  /  a  sack,  but 
any  additional  impost  they  might  be  able  to  extort  from  the  extremities 
of  the  other  wool  merchants“  (63).  Neues  Licht  über  die  Anteil¬ 
nahme  der  fremden  und  englischen  Geldgeber  an  den  öffentlichen 
Einkünften  verbreitet  die  sehr  gründliche  Arbeit  von  Schuyler 
B.  Terry,  The  Financing  of  the  Hundred  Year’s  War  (1337  bis 
1360).  1914.  Aber  auch  im  17.  Jahrhundert  besteht  die  Sitte  noch 
immer ,  den  Gläubigern  des  Königs  öffentliche  Einkünfte  zu  ver¬ 
pachten;  so  bei  dem  Darlehn,  das  1625  Sir  William  Courten  dem 
König  in  Höhe  von  27  000  £  gewährt.  Rhymer,  Foedera  18, 
156,  bei  Anderson,  Annals  Ao  1625.  In  den  „fundierten“  An¬ 
leihen  finden  sich  dann  die  letzten  Spuren  dieses  Publikanentums. 
In  demselben  Jahrhundert  begegnen  wir  auch  noch  der  Vergabung 
von  Sporteln,  der  uralten  Sitte  der  Anticipations  an  die  Regierung  usf. 
Gute,  aber  nicht  ganz  klare  Darstellung  der  zeitgenössischen  Zustände 
bei  P  o  s  tl  e  th  w  ay  t ,  Dict.  of  Comm.  Art.  Monied  Interest  2  2,  284  f. 


Vierzigstes  Kapitel:  Die  Vcrmögeusbilclung  durch  Geldleihe  p 

Deutschland.  1187  verpfändet  der  Burggraf  von  Cöln  die  Einkünfte 
aus  seiner  B.  Eunen  1,  102,  bei  Inama,  DWG.  2,  447.  Danzig 
und  Worms  (seit  13.  Jahrhundert),  Nürnberg  seit  1360  und  andere 
Städte  verpachten  ihre  Einkünfte.  Quellen  bei  Neumann,  Gesch. 
des  Wuchers,  538  f.  Lüneburg  verpfändet  1372  den  cKalkberg’,  1375 
die  Stadtwage,  1381  die  Salzeinkünfte  der  Stadt.  Lüneb.  DB.  2,  765. 
857.  961.  Vgl.  Inama  311,  491.  Im  14.  Jahrhundert  verpfändet 
Erzbischof  Wilhelm  von  Köln  das  Gutamt  bei  dem  Bierbrauen  an 
Joh.  Hirzeliu  um  4450  Goldschilde*,  an  denselben  die  ihm  zustehenden 
Mühlen-  und  Torgefälle  in  der  Stadt  um  9000  Goldschilde,  Chr.  d.  St. 
14,  CXXVI.  Während  des  14.  Jahrhunderts  begegnen  wir  häufig 
Italienern  als  Pächtern  der  fürstlichen  Gefälle  in  Mitteldeutschland; 
Neumann,  377.  Vgl.  auch  A.  von  Kostanecki,  Der  öffentliche 
Kredit  im  Mittelalter  (1899),  32  f. ,  und  die  reiche  Sammlung  ein¬ 
schlägiger  Daten  wieder  bei  Schulte  1,  328  f.  „Italiener  an  deutschen 
Zöllen.“ 

Über  Verpfändungen  von  Zöllen  usw.  an  Juden  O.  Stobbe, 
a.  a.  O.  S.  116  f. 

Aber  das  klassische  Land  der  Publikanenwirtschaft  scheint  doch 
Frankreich  gewesen  zu  sein.  Hier  begegnen  uns  die  Steuerpächter 
seit  dem  frühesten  Mittelalter  bis  in  die  neueste  Zeit  hinein.  Um  das 
Jahr  584  begegnen  wir  einem  Juden  Armentarius,  dem  für  ein  Darlehn 
von  einem  Viscarius  und  einem  Grafen  Eunomius  aus  Tours  Schuld¬ 
verschreibungen  über  die  öffentlichen  Abgaben  ausgestellt  worden  sind. 
Aronius,  Regesten  Nr.  47. 

Von  wohlhabenden  Gefälleinnehmern  im  12.  Jahrhundert  erzählt 
Pigeonneau  1,  266:  „Ces  bourgeois  sont  charges  d’encaisser  les 
redevances  du  domaine  et  chacun  d’eux  a  une  clef  des  coffres  oü 
sont  deposes  les  deniers  royaux,  au  tresor  du  Temple.“  „Lombarden“ 
während  des  13.  Jahrhunderts  „receveurs“  in  Frankreich.  Belege  bei 
C.  Piton,  Les  Lombards  ä  Paris  et  en  France  1  (1892),  36.  Der 
bekannte  Held  einer  Novelle  des  Boccaccio,  Sir  Ciapperello  Distaiuti 
da  Prato,  ist  von  1288  bis  1292  receveur  de  la  baillie  d’Auvergne. 
Piton  1,  69;  1295  auch  anderer  Steuern  unter  Philipp  dem  Schönen. 
Auch  die  Freres  De  Bonis  waren  collecteurs  de  tailles  (14.  Jahrhundert). 
Le  Livre  de  Comptes  des  Freres  Bonis;  ed.  E.  Forestie  1  (1890), 
XXVII.  Ordonnanzen  von  1323  und  1347  untersagen  die  Anstellung 
von  Italienern,  aber  ohne  Erfolg.  Vgl.  J.  J.  Clamage ran,  Hist,  de 
l’impöt  en  France  (1867),  337. 

Les  banquiers  se  chargeaient  aussi  d’operer  la  recette  des  grandes 
proprietes  seigneuriales ;  ils  faisaient,  en  quelque  Sorte,  fonction  de 
regisseurs  ou  d’intendants.  Tel  est  en  ce  genre  ä  la  'fin  du  XIV.  sc. 
Digne  Rapponde,  Lombard  en  vogue,  qui  a  des  Comptoirs  ä  Paris  et 
ä  Bruges.  II  est  l’homme  d’affaires  du  duc  de  Bourgogne,  du  comte 
de  Flandres ,  d’Yolande  de  Cassel,  du  sire  de  la  Tremoille  et  sans 
nul  cloute  de  Cents  autres.“  „Des  domaines  sont  donnes  aux  Lombards 
par  de  puissants  princes,  ,en  reconnaissance  de  leurs  bons  Services.“1 
Die  Quellen  bei  D’Avenel,  Hist.  econ.  1,  109110.  Vgl.  auch 
Marx,  Kapital  I4,  709/10.  In  den  Jahren  1403 — 11  ist  ein  Oddonius 


632  Fünfter  Abschnitt:  Die  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums 

Asinerii  Domicellus  Gläubiger  und  Kastellan  des  Grafen  von  Greyerz 
in  den  Herrschaften  Aubonne  und  Coppet.  J.  F.  Amiet,  Die  franzö¬ 
sischen  und  lombardischen  Geldwucherer  des  Mittelalters  namentlich 
in  der  Schweiz,  im  Jahrbuch  für  Schweiz.  Gesch.  2,  251  ff. 

Berühmt  (und  berüchtigt)  sind  dann  die  cPartisans’  oder  tTraitans5 
geworden,  die  ihre  höchste  Blüte  im  17.  und  18.  Jahrhundert  erlebten: 
das  waren  die  Bankiers,  welche  der  Regierung  die  Geldsummen,  deren 
sie  bedurfte,  vorstreckten  und  die  dafür  auf  bestimmte  Gefälle  an¬ 
gewiesen  wurden,  die  einzuziehen  ihnen  selbst  überlassen  blieb.  Sie 
trugen  ihren  Namen  von  dem  ,-PartF ;  so  nannte  man  „une  Operation 
linanciere  qui  avait  jjour  but  d’avancer  au  Roi  des  fonds  soit  sur  la 
creation  de  nouveaux  impöts  et  de  nouveaux  offices,  pour  en  percevoir 
en  suite  soi-meme  le  produit ;  soit  sur  la  recherche  des  impöts  im- 
payes,  des  fonds  royaux  divertis,  des  non  privilegies  qui  avaient  reussi 
ä  se  soustraire  aux  charges  publics“.  Ebenfalls  bekannt  ist  die  Ein¬ 
richtung  der  ferme,  die  Stellung  der  fermiers  generaux. 

Eine  besondere  Bedeutung  für  Frankreich  hat  namentlich  in  den 
letzten  Zeiten  des  ancien  regime  der  Ämterkauf  gehabt.  Alle 
irgendwie  faßbaren  Dienstleistungen,  von  den  höchsten  bis  zu  den 
niedrigsten,  von  der  Stelle  eines  ersten  Präsidenten  des  Parlaments 
bis  zu  der  eines  Holzmessers  uud  Heuverkäufers,  waren  zu  Ämtern 
erhoben  worden,  die  man  an  Privatpersonen  verkaufte.  Die  Inhaber 
dieser  Ämter  erhielten  dann  die  Befugnis,  die  mit  dem  Amte  ver¬ 
bundenen  Gefälle  und  Sporteln  zu  ihren  Gunsten  einzutreiben.  (Ich 
komme  auf  diese  Einrichtung  des  Ämterkaufs  noch  in  einem  andern 
Zusammenhang  zu  sprechen,  wo  ich  noch  weitere  Einzelheiten  mit- 
teilen  werde). 

Die  Hauptquelle  für  das  Studium  der  französischen  Publikanen- 
wirtschaft  in  neuerer  Zeit  ist  die  zeitgenössische  Flugschriftenliteratur. 
Siehe  z.  B.  N.  Froumenteau,  Le  thresor  des  thresors  de  France; 
le  President  La  Barre,  Formulaire  des  Eins  1622.  La  Chasse  aux 
Larrons.  Paris  1618.  Loyseau,  Traite  des  Ordres.  Les  Caquets 
de  TAccouchee.  Gourville,  Mem.  Catechisme  des  Partisans.  1649. 
Tallement  des  Re  aux,  Histoire  u.  a.  Da  diese  Schriften  nament¬ 
lich  im  Auslande  fast  gar  nicht  aufzutreiben  sind,  muß  man  dankbar 
solche  Bearbeitungen  begrüßen,  die  sie  in  den  Auszügen  mitteilen. 
Unter  ihnen  verdienen  vor  allem  Erwähnung  H.  Thirion,  La  vie 
privee  des  financiers  au  18.  sc.  1895.  Ch.  Norm  and,  La  bour- 
geoisie  fran^aise  au  XVII.  sc.  1908  (ein  ausgezeichnetes  Buch). 
Daneben  ist  immer  Forbonnais  als  Fundgrube  zahlreicher  Einzel¬ 
angaben  schätzbar.  Gute  Übersichten  gibt  auch  Ranke,  Franz. 
Gesch.  33,  50  f.  192  f.  Neuerdings  sind  diese  Dinge  in  glänzender 
und  erschöpfender  Weise  dargestellt  in  dem  sehr  wertvollen  Buche 
von  G.  Martin,  L’histoire  du  credit  en  France  sous  le  re°ne  de 
Louis  XIV.  T.  I.  Le  credit  public.  1913. 

"Wie  einträglich  die  Geschäfte  der  Steuerpächter  zu  allen 
Zeiten  gewesen  sein  müssen,  geht  aus  den  Klagen  hervor,  die 
wir  auch  zu  allen  Zeiten  über  sie  und  ihre  Bedrückungen  hören. 


Vierzigstes  Kapitel:  Die  Vermögensbildung  durch  Geldleihe  (333 

Was  uns  der  Sire  de  JoinviUe  im  Jahre  1269  erzählt:  „Je  fu 
moult  presse  du  roy  de  Navarre  moy  croisier.  A  ce  respondis-je 
que,  tandis  comme  j’avoie  ete  .  .  .  outremer  .  .  .  les  serjans  au 
roy  de  France  et  le  roy  de  Navarre  m’avoient  destruite  ma  gent 
et  apouroiez  si  que  il  ne  seroit  jam.es  heure  que  moi  et  eulz 
n’en  vausissent  piz“  1  und  was  durch  die  Ordonnanzen  von  1254 
und  1256  bestätigt  wird2,  wiederholen  die  verzweifelten  Anklagen 
gegen  die  Partisans  und  fermiers  generaux  im  16.,  17.  und 
18.  Jahrhundert:  „La  pluralite  des  officiers  font  autant  de- roy - 
telets  en  teile  monarchie,  plus  devotionnez  ä  establir  et  conserver 
une  je  ne  sais  quelle  damnee  tyrannie,  ambition  et  avarice,  par 
le  moyen  de  la  quelle  de  jour  en  jour  ils  se  font  plus  tost  riches, 
qu’ä  rendre  la  fidelite  du  Service  qu’ils  doivent  ä  Sa  Majeste  et 
Soulagement  de  ses  sujets.“  3  „Publicanus  mala  bestia,  tyrannus 
populormn  et  regnorum.“  (Gui  Patin.) 

Ein  französisches  Sprüchwmrt,  das  bis  ins  18.  Jahrhundert  im 
Schwange  war,  lautet:  „l’argent  du  roi  est  sujet  ä  la  pince“,  und 
ebenso  vielsagend  ist  der  Vergleich,  den  man  zwischen  den 
Financiers  der  Zeit  und  den  Engeln,  die  die  Bundeslade  be¬ 
wachen,  anstellte:  sie  haben  vier  Flügel:  „deux  dont  ils  se  ser- 
vaient  pour  voler  et  les  deux  autres  pour  se  couvrir.“ 

Diese  Anklagen  erscheinen  uns  begründet,  wenn  wir  von  den 
gewaltigen  Verdiensten  hören ,  die  die  Steuerpächter 
machten.  Bei  der  Steuerpacht  im  Jahre  1348  (farm  of  the  subsidy) 
werden  die  Kauf  Leute  von  den  Communs  beschuldigt,  60%  ver¬ 
dient  zu  haben4. 

Im  17.  Jahrhundert  wurde  behauptet,  daß  nur  der  fünfte  Teil 
des  Steuerertrages  in  die  Hand  der  Regierung  käme5.  Eine  eben¬ 
solche  Berechnung  an  der  Hand  eines  Einzelfalles  finden  wir  in 
dem  bekannten  „Anti-Financier“  für  das  18.  Jahrhundert 6.  Und 
wenn  das  auch  übertrieben  sein  mag,  so  besitzen  wir  doch  ge- 

1  Mein,  du  Sire  de  Joinville,  in  der  Nouv.  Coli,  des  mein,  pour 
servir  ä  l’hist.  de  France;  ed.  Michaud  1  (1836),  323/24. 

2  Clamageran  1,  264. 

3  Froumenteau,  Le  thresor  des  tbresors  de  France.  2e  livre, 
p.  45,  bei  Levass  eur,  Hist.  2,  127. 

4  A.  Law,  Nouveaux  Riches,  63  f. 

5  Nach  der  Flugschrift  Catechisme  des  partisans  (1649).  Ranke, 
Franz.  Gesch.  3 s,  50/51. 

6  L’Anti-Financier  ou  releve  de  quelques-unes  des  malversations 
dont  se  rendent  journellement  coupables  les  Fermiers-Generaux  etc, 
(1763),  p.  59  seq. 


(334  Fünfter  Abschnitt:  Die  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums 


.Trügend  verbürgte  Ziffern,  die  beispielsweise  den  Betrag  der  er¬ 
hobenen  Steuern  auf  80—90  Mill.  Frcs.,  den  der  abgeführten 
Steuern  auf  30 — 35  Mill.  Frcs.  angeben.  In  den  Beispielen,  die 
uns  Forbonnais  von  Traites  extraordinaires  mitteilt,  verdienen 
die  Partisans  das  eine  Mal  auf  14  Mill.  3653333  1. ,  das  andere 
Mal  betragen  ihre  Gewinne  107  513861  1.,  während  der  König 
von  ihnen  aus  denselben  Verträgen  329  691513  1.  empfängt1. 

In  gewissem  Sinne  gehören  hier  auch  die  Gewinne  her,  die 
z.  B.  die  Fugger  an  der  Pacht  der  spanischen  Maestrazzos  ge¬ 
macht  haben  (obwohl  es  sich  dabei  schon  zum  Teil  um  Gewinn 
aus  Bergbau  handelt,  von  dem  ich  an  einer  andern  Stelle  aus¬ 
führlicher  reden  werde).  Der  Pachtschilling  der  Maestrazzos 
betrug  1538 — 42  jährlich  152  000  Duk. ,  der  Durchschnittsertrag 
aber  224000  Duk.,  während  in  den  Jahren  1551 — 54  gar  85°/o 
Reingewinn  erzielt  wurden.  Während  der  40  Jahre  1563 — 1604 
verdienten  die  Fugger  an  diesen  Pachtungen  bar  2 127  000  Duk. 
Während  der  Jahre  1551 — 54  war  der  D urc hs chnittser t ratr  der 
Maestrazzos  114646  370  mrs.  Für  die  Jahre  von  1563  bis  1604 
ergaben  sich  im  einzelnen  folgende  Gewinne2 3: 

1563 — 1567  . ca.  200000  Duk. 

1567—1572  . „  570000  „ 

1572—1577.  ......  „  490000  „ 

1577—1582  . „  167  000  „ 

1582—1594  . „  400000  „ 

1595—1604  . „  300000  „ 

Daß  nun  aber  die  Geldleihe  in  dem  hier  beschriebenen  Sinne 
auch  wirklich  vermögenbildende  Kraft  im  großen  Stile 
besessen  hat,  würde  uns  unser  Verstand  sagen,  auch  wenn  wir 
nicht  zahlreiche  ausdrückliche  Bestätigungen  der  großen  Er¬ 
giebigkeit  und  Einträglichkeit  dieser  Geschäfte  hätten. 

Einen  ersten  Anhalt  zur  Beurteilung  gewähren  die  Angaben 
über  Geschäftsprofite,  die  wir  von  bekannten  Geldhäusern 
besitzen.  Sie  sind  zu  allen  Zeiten  recht  beträchtlich8. 

Aber  ganz  schlüssig  sind  doch  erst  die  Berichte,  die  wir  über 
wirkliche  erfolgte  Vermögensbildung  machen  bei  Leuten,  die  sich 

1  Forbcrnnais  1,  475.  476;  2,  122.  123. 

2  Zusammengestellt  nach  K.  Häbler ,  Geschielte  der  Fuggerschen 
Handlung  in  Spanien.  Ergänzungsheft  zur  Zeitschrift  für  Soz.  u.  W.G. 
Heft  1  (1897),  72  ff.  82  ff.  145.  169.  176.  193. 

3  Beispiele  in  der  ersten  Auflage  1,  224. 


Vierzigstes  Kapitel:  Die  Vermögensbildung  durch  Geldlcihe  (335 

vorwiegend  mit  Geldleihe  beschäftigt  haben.  Deren  gibt  es  nun 
aber  auch  in  reicher  Fülle.  Ich  begnüge  mich,  als  besonders 
beweiskräftig  die  Gruppen  herauszugreifen,  deren  jede  zwar  ver¬ 
schiedene  Arten  von  Geldgeschäften  betrieben  hat,  die  aber  doch 
alle  drei  gleichmäßig- als  Beispiele  für  die  vermögenbildende  Kraft 
der  Geldleihe  (und  zwar  im  wesentlichen  noch  außerhalb  des 
kapitalistischen  Nexus)  .dienen  können,  und  über  deren  Schicksal 
wir  auch  hinreichend  genau  unterrichtet  sind:  die  Juden,  die 
reichen  Augsburger  Familien  des  1(3.  Jahrhunderts  und  ch*Q 
französischen  financiers  des  17.  und  18.  Jahrhunderts. 

1.  Die  Juden 

Daß  die  Juden  während  des  ganzen  Mittelalters  immer  ver¬ 
mögende  Leute  unter  sich  hatten,  wird  durch  die  Angaben,  die 
wir  über  jüdischen  Reichtum  besitzen,  außer  Zweifel  gesetzt, 
und  daß  diese  Vermögen  fast  ausschließlich  aus  der  Geldleihe 
erwuchsen,  dürfen  wir  aus  den  allgemeinen  Verhältnissen 
schließen.  Bekanntlich  war  der  Reichtum  der  Juden  nie  von 
langer  Dauer,  weil  die  Fürsten  und  Städte  den  Schwamm  jedes¬ 
mal,  wenn  er  voll  genug  gesogen  war,  auspreßten.  Aber  es  ist 
doch  erstaunlich,  in  wie  rascher  Zeit  Israel  das  abgenommene 
Hab  und  Gut  wieder  zu  ersetzen  wußte,  es  ist  erstaunlich,  um 
welch  große  Summen  es  sich  bei  der  Plünderung  gelegentlich 
handelte.  Es  genügt,  wenn  ich  einige  Belege  gebe: 

Deutschland:  Für  ihre  Privilegien  zahlten  die  Juden  in  Speier 
an  den  Bischof  jährlich  3V2  Pfund  Goldes  (1084).  1096  schenkten 
die  Kölner  und  Mainzer  Juden  dem  Führer  des  Kreuzzugs,  Gott¬ 
fried  von  Bouillon,  1000  Silberstücke.  1171  wurden  zwei  Juden 
in  Köln  für  105  Silberstücke  ausgelöst.  1179  bekommt  der  Kaiser 
von  der  jüdischen  Gemeinde  500  Silberstücke,  der  Erzbischof 
von  Köln  von  den  Juden  seiner  Herrschaft  4200  Silberstücke. 
Einer  Überlieferung  zufolge  baute  der  Erzbischof  Dietrich  von 
Köln  fast  alle  Gebäude  im  Kastell  Godesberg  von  dem  Gelde, 
das  er  von  einem  gefangenen  Juden  erpreßt  hatte  h 

1375.  „in  den  Zeiten  da  fiengen  die  von  Augspurg  alle  ihre 
juden  und  legten  sie  in  fanknus  und  beschatzten  sie  umb 

10000  fl.“ 

1381.  „vieng  man  die  juden  allhie  und  muesten  der  stat 
geben  5000  fl.“ 

1  Die  Angaben  sind  sämtlich  den  Regesten  des  Aronius  ent¬ 
nommen. 


G36  Fünfter  Abschnitt:  Die  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums 

1384.  Desgl.  20000  11.  usw. 

Bei  der  Schatzung  in  Nürnberg  im  Jahre  1385  zahlten  einzelne 
Juden  13000  11.,  Jekel  von  Ulm  und  seine  zwei  Söhne  150000  fl. 1 

1414  schätzt  König  Sigismund  die  Juden  Nürnbergs  und 
Kölns  um  je  12  000  fl.,  die  Juden  zu  Heilbronn  müssen  1200  11., 
einer  zu  Windsheim  2400  fl.,  einer  zu  Schwäbisch  Hall  2000  11. 
zahlen 2. 

England:  Olfenbar  waren  die  Juden  in  England  im  Verlauf 
des  12.  und  13.  Jahrhunderts  zu  großem  Reichtum  gelangt.  Wir 
finden  viele  von  ihnen  im  Besitze  von  Schlössern  und  Landsitzen, 
die  ihnen  dann  gelegentlich  abgenommen  werden,  und  selbst¬ 
verständlich  vor  allem  von  großen  Barvermögen.  Einen  Einblick 
in  die  Vermögensverhältnisse  der  Juden  im  damaligen  England 
(1290  werden  sie  bekanntlich  vertrieben)  gewähren  wiederum  die 
Beträge  der  Steuern  und  die  zahlreichen  Bußen,  die  ihnen  auf¬ 
erlegt  werden. 

1140  legt  der  König  den  Juden  Londons  eine  Geldstrafe  von 
2000  Mk.3  auf. 

1108  vertrieb  Heinrich  I.  die  reichen  Juden  aus  England  und 
ließ  sie  so  lange  in  der  Verbannung,  bis  ihre  Stammesgenossen 
5000  Mk.  bezahlten. 

1185  zahlte  Jurnet  Judaeus  de  Norvico  dem  Könige  2000  Mk. ; 
bald  darauf  derselbe  6000  Mk. ;  in  demselben  Jahre  ein  anderer 
3000  Mk.,  ein  anderer  500  Mk. ;  1189  ein  anderer  2000  Mk. 

1210  zahlt  Isaac,  der  „Eigenhänder“,  1336  1.  9  s.  6  d.  Steuer  - 
(also  etwa  60  000  Mk.  h.  W.)  usw. 

Gesamtschatzungen:  1210  —  66  000  Mk.  (ca.  2 lk  Mill.  Mk. 
Metallwert),  im  28.  Jahr  Heinrichs  III.  20000  Mk.  (Buße),  um 
dieselbe  Zeit  60000  Mk.  (Steuer). 


1  Chron.  des  Burkard  Zink,  in  der  Chron.  d.  St.  5,  13.  27.  30. 
Weitere  Belege  für  die  „Schatzungen“  der  Juden  in  Deutschland  siehe 
bei  ffeumann,  Gesch.  des  Wuchers,  328  ff.  Vgl.  auch  Arthur 
Süß  mann,  Die  Judenschuldentilgung  unter  König  Wenzel,  in  den 
Schriften  der  Gesellschaft  zur  Förderung  der  Wissenschaft  des  Juden¬ 
tums.  1906. 

2  Chron.  d.  St.  1,  121  ff.  Stobbe,  37. 

3  Es  handelt  sich  immer  um  die  Gewichtsmark  (sofern  nichts 
anderes  vermerkt  ist),  die  in  Silber  gleich  42,8  Mk.  h.  W.  ist.  Die 
Angaben  sind  dem  VII.  Kapitel  des  ersten  Bandes  von  Madox, 
Hist,  of  the  exchequer,  entnommen,  wo  eine  ungeheure  Masse  ur¬ 
kundlichen  Materials,  noch  der  Verarbeitung  harrend,  aufgeschichtet 
liegt. 


Vierzigstes  Kapitel:  Die  Vermögensbildung  durch  Geldleihe  (337 

Dasselbe  Bild  in  Frankreich:  „Les  juifs  .  .  .  se  trouverent 
tellement  enrichis ,  qu’ils  s’etaient  appropries  pres  de  la  moitie 
de  la  ville  .  .  meint  der  Chronist  Rigord  schon  am  Ende  des 
12.  Jahrhunderts.  Und  daß  sie  wirklich  zu  großem  Reichtum 
während  des  13.  Jahrhunderts  gelangt  waren,  bestätigen  nament¬ 
lich  die  Ausweise  über  den  Wert  ihrer  (1306  und  1311)  kon¬ 
fiszierten  Güter,  von  denen  wir  einige  besitzen.  Man  darf  an¬ 
nehmen,  daß  es  sich  im  wesentlichen  nur  um  den  Grundbesitz 
handelte,  von  dem  wir  wenigstens  in  den  Urkunden  allein  ver¬ 
nehmen.  Die  Barone  reklamierten  (vom  Könige)  die  in  ihrem 
Gebiet  eingezogenen  Judengüter.  Der  König  traf  ein  Abkommen 
mit  ihnen  und  teilte.  So  erhielt  der  Vicomte  von  Narbonne  auf 
seinen  Teil  5000  lb.  tur. ,  mehrere  Häuserfluchten  und  Grund¬ 
stücke  1.  In  der  Senechausse  Toulouse  ergab  die  Versteigerung 
(non  compris  les  bijoux)  75  264  lb.  tur2.  In  elf  Orten  des  Baillage 
von  Orleans  kamen  33700  1.  46  s.  5  d.  (Par.)  (ohne  Schmuck  und 
Silbergerät)3,  in  der  Stadt  Toulouse  45  740  lb.  auf4.  1321  aber¬ 
mals  Verfolgung  und  Gütereinziehung.  Der  König  soll  dabei 
150000  lb.  profitiert  haben5. 

Ich  beschränke  mich  hier  absichtlich  auf  Angaben  aus  dem 
Mittelalter,  da  in  den  späteren  Jahrhunderten  der  Ursprung  der 
jüdischen  Vermögen  aus  der  Geldleihe  nicht  ebenso  unzweifel¬ 
haft  ist  wie  in  der  früheren  Zeit.  An  einer  andern  Stelle  dieses 
Werkes6  habe  ich  einiges  Material  zusammengestellt,  aus  dem 
der  Reichtum  der  Juden  gerade  auch  im  17.  und  18.  Jahrhundert 
deutlich  sich  ersehen  läßt.  Daß  er  ebenfalls  auch  in  dieser  Zeit 
zum  sehr  großen  Teile  aus  der  Geldleihe  stammte,  ist  natürlich 
ohne  weiteres  anzunehmen. 

2.  Die  Augsburger 

Über  das  Schicksal,  insbesondere  auch  über  die  Vermögens¬ 
verhältnisse,  weniger  anderer  Gruppen  von  Geschäftsleuten  des 
ausgehenden  Mittelalters  sind  wir  so  genau  unterrichtet,  wie  über 
das  der  Augsburger  Kaufleute  des  15.  und  16.  Jahrhunderts: 


1  Rigor d,  Vie  de  Philippe  Auguste,  in  der  Coli,  des  Mein.  rel. 
ä  l’Histoire  de  Prance  (1825),  p.  22. 

2  Boutaric,  Philippe  le  Bel,  303. 

8  Boutaric,  304.  *■ 

4  Vuitry,  Etudes  1,  96. 

5  Coli,  des  Mein.  etc.  13,  352. 

6  Siehe  unten  das  Kapitel  über  die  Juden  im  8.  Abschnitt. 


038  Fünfter  Abschnitt:  Die  Entstehung  des  bürgerlichen  «Reichtums 

dank  den  vorzüglichen  Quellen,  die  gerade  Augsburg  für  diese 
Zeit  bietet  (der  Steuerbücher!)  und  dank  den  ausgezeichneten 
Bearbeitungen,  die  sie  in  neuerer  Zeit  gefunden  haben,  dank 
vor  allem  dem  überaus  gründlichen  Buche  Jakob  Strieders1. 

Wir  können  danach  genau  verfolgen,  wie  sich  die  Vermögens  - 
Verhältnisse  der  einzelnen  Bürger  etwa  von  Mitte  des  15.  bis 
zur  Mitte  des  16.  Jahrhunderts  gestalten.  Wir  sehen,  wie  in 
dieser  Zeit  die  Augsburger  Vermögen  eine  plötzliche  Steigerung- 
erfahren  und  können  im  wesentlichen  auch  feststellen,  worin 
dieses  rasche  Anwachsen  des  Reichtums  begründet  war. 

Die  Entwicklung  der  „großen  Vermögen“  in  Augsburg  (d.  h. 
derjenigen  über  3600  fl.)  nimmt  während  jenes  kritischen  Jahr¬ 
hunderts  folgenden  Verlauf: 


Jahr 

Anzahl 
der  Besitzer 

Summe  der  Vermögen 

1467 

39 

232  209  bis  464  418  fl. 

1498 

99 

956168  „  1  912  336  „ 

1509 

122 

1  295  867  „  2  591  734  „ 

1540 

278 

5110  783  „  10  221566  „ 

Die  Quellen,  aus  denen  diese  großen  Reichtümer  flössen, 
waren  vornehmlich  (wenn  nicht  ausschließlich): 

1.  die  Kolonialwirtschaft; 

2.  der  Bergbau ; 

3.  die  Geldleihe. 

Daß  auch  diese,  die  uns  einstweilen  ja  allein  angeht,  ihren  sehr 
wesentlichen  Anteil  namentlich  an  der  Ausweitung  der  Vermögen 
gehabt  hat,  erweisen  aufs  klarste  die  Untersuchungen  Strieders, 
denen  die  Rieh.  Ehrenbergs  natürlich  immer  ergänzend  zur 
Seite  stehen. 

Die  Gossenbrot,  die  Bimmel,  die  Menting,  die  Höchstetter, 
die  Herbrot,  die  Kraffter  u.  a. ,  vor  allem  die  Fugger  werden 
ausdrücklich  als  Geldhändler  erwähnt,  und  zum  Teil  wird  ihr 
Reichtum  in  unmittelbaren  Zusammenhang  mit  der  von  ihnen 
im  großen  Stile  betriebenen  Geldleihe  gebracht. 

3.  Die  französischen  flnanciers 

Während  bei  den  eben  erwähnten  Augsburger  Handelshäusern 
sich  nicht  feststellen  läßt,  welchen  Anteil  nun  gerade  die  Geld- 

1  Jak.  Stried  er,  Zur  Genesis  des  modernen  Kapitalismus.  1904. 
Diese  Schrift  ist  eine  der  wertvollsten  von  den  Arbeiten,  die  meinem 
M.  K.  ihre  Entstehung  verdanken. 


Vierzigstes  Kapitel:  Die  Vermögensbildung  durch  Geldleihe  (339 

leihe  an  dem  Aufbau  ihres  Gesamtvermögens  gehabt  hat,  können 
wir  die  Entstehung  zahlreicher  großer  Vermögen  in  Frankreich 
während  des  17.  und  18.  Jahrhunderts  mit  ziemlicher  Sicherheit 
auf  eine  einzige  Ursache  zurückführen :  die  Anteilnahme  an  den 
öffentlichen  Einkünften  durch  geschickte  Finanzoperationen, 
namentlich  auch  vermittels  der  Steuerpacht1. 

Diderot  fragt  einen  jungen  Ehrgeizigen:  „Savez-vous  liro? 

Oui.  U11  peu  calculer?  —  Oui.  —  Et  vous  voulez  etre  riche 
ä  quelque  prix  que  ce  soit?  —  A  peu  pres.  —  Eh  bien  mon 
ami,  faites-vous  secretaire  d'un  fermier  general  et  continuez  dans 
cette  voie.“ 2 

Zeitgenössische  Urteile  bestätigen  zur  Genüge ,  daß  diese 
Weisung  Diderots  richtig  war.  In  einer  Eingabe  der  Assemblee 
des  Notables  vom  Jahre  1626  heißt  es:  „on  les  voit  devenir 
rickes“  nämlich  die  „officiers  de  finances“  usw.  —  „et  opulents 
en  peu  d’annees“3. 

Ein  Pamphletist  schreibt4:  „II  ne  suffit  pas  aux  tresoriers  de 
gagner  cent  mille  ecus  en  un  an.  Ils  veulent  faire  leurs  commis 
et  partisans  aussi  riches  qu’eux.“  „Cela  fit  beaucoup  de  personnes 
extremement  riches“,  urteilt  der  besonnene  und  immer  gut  unter¬ 
richtete  Gourville. 

Wir  besitzen  aber  auch  genug  Einzelangaben,  um  die  Dichtig¬ 
keit  solcher  allgemeinen  Aussprüche  nachprüfen  zu  können. 

Beispiele  aus  dem  17.  Jahrhundert: 

Bullion  hatte  1622  60  000  ecus  /Rente;  1632  wurde  er  Surintendant; 
1640  (bei  seinem  Tode)  hinterließ  er  eine  Rente  von  700  000  1. 

Fouquet,  dessen  Reichtum  sprichwörtlich  geworden  ist,  war  Enkel 
eines  Krämers  in  Nantes. 

La  Baziniere,  Sohn  eines  Bauern  in  Anjou,  kommt  nach  Paris,  wird 
Lakai  (der  beliebteste  Anfang!)  beim  Präsidenten  Gayan,  Schreiber 
bei  einem  Procureur  („excellente  ecole  pour  les  fonctions  de 
financier  telles  qu’on  les  comprenait  alors“),  dann  Commis,  end¬ 
lich  tresorier:  stirbt  sehr  reich. 


1  Zu  einem  sehr  beträchtlichen  Teil  freilich  wird  das  Vermögen 
dieser  Leute,  soweit  sie  Beamte  waren,  ohne  den  Umweg  der  Geld¬ 
leihe  ,  unmittelbar  durch  betrügerische  Amtsführung  erworben  sein : 
dann  gehören  sie  in  das  43.  Kapitel.  Mazarin! 

2  Mitgeteilt  bei  H.  Thirion,  La  vie  privee  des  Financiers  au 
XVJIIe  siede  (1895),  19/20. 

3  Charles  Normand,  La  bourgeoisie  frai^aise  au  XVIR  siede 
(1908). 

4  Les  caquets  de  l’accouchee.  Coli.  Jannet-Picard,  2e  journee, 
50/51. 


ß40  Fünfter  Abschnitt:  Die  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums 

Bordier,  Sohn  eines  Lichtemachers  der  Place  Maubert,  Avird  Intendant 
der  Finanzen  und  baut  sich  u.  a.  ein  Palais  für  400  000  1.,  gibt 
seiner  letzten  Tochter  eine  Mitgift  von  800  000  1.,  kauft  eine 
Charge  A'on  800  000  1.  und  hat  noch  Güter,  die  sechsmal  so  viel 
wert  sind. 

Galland,  Sohn  eines  Bauern,  wird  in  wenig  Jahren  so  reich,  daß 
ein  President  a  mortier  seine  Witwe  heiratet. 

Lambert,  Sohn  eines  procureur  des  comptes,  hinterläßt  4  500  000  1. 

Camus,  aus  dem  Nichts,  hinterläßt  jedem  seiner  neun  Kinder  mehr 
als  400  000  ecus. 

Catelan,  fängt  als  Lakai  an,  wird  unter  Bullion  reich. 

Marin,  der  Sohn  eines  Bauern,  hinterläßt  jedem  Kinde  1  Million. 

Tabouret,  der  Sohn  eines  fripier,  gibt  seiner  Tochter  600  000  1.  als 
Mitgift  und  hinterläßt  ihr  ebensoviel. 

Piardiere,  pauvre  gar£on  de  Loches,  besitzt  mehr  als  1  Million  1. ; 

Marin  2  Milhonen  5 

Rambouillet  6  Millionen; 

Yidal  mehr  als  1  Million. 

So  lassen  sich  noch  Dutzende  von  Namen  anführen.  Die  obigen 
Beispiele  sind  der  besten  Quelle  entnommen,  aus  der  wir  das  Empor¬ 
kommen  der  französischen  Finanzmänner  im  17.  Jahrhundert  erfahren 
können,  dem  Catalogue  des  partisans  etc.  (vom  26.  Jan.  1649),  ab¬ 
gedruckt  bei  C.  Moreau,  Choix  de  Mazarinades  etc.  1  (1858),  115. 

Andere  Beispiele  bei  G.  Martin,  Hist.  etc.  1,  162.  Sehr  treffendes 
Material  findet  sich  auch  bei  P.  Boissonade  in  den  Annales  du 
Midi  14  (1902),  87  ff. 

Beispiele  aus  dem  18.  Jahrhundert:  der  Herr  de  Sainte-Foix  erbt 
ein  Vermögen  von  60  000  1.  von  seinem  Vater.  Nachdem  er  Schatz¬ 
meister  (tresorier)  der  Marine  und  namentlich  des  Grafen  von  Artois 
gewesen  ist,  verfügt  er  über  eine  Rente  von  80  000  1.,  Wohnungen 
und  Einrichtungen  in  Paris  und  Neuilly,  die  einen  Wert  von  2  Millionen 
darstellen,  besitzt  30  Pferde  in  Paris,  10  in  Neuilly  usw. ,  kauft  ein 
Amt  für  300  000  1.  „D’oü  vient  une  pareille  future?“  fragt  unser 
Gewährsmann.  Thirion,  1.  c.  p.  290.  291. 

Nogaret,  ebenfalls  Angestellter  beim  Grafen  von  Artois,  hatte  im 
Jahre  1757  nichts  als  800  1.  Pension.  1763  heiratet  er  ein  Mädchen 
ohne  Vermögen.  Er  hat  aber  inzwischen  erworben  das  Amt  eines 
Schatzmeisters  beim  Grafen  Artois  für  300  000  1.,  den  Posten  eines 
Sekretärs  des  Königs  für  110  000  1.,  ein  Landhaus  für  300  000  1.  In 
Paris  besitzt  er  ein  Hotel  mit  kostbarer  Einrichtung,  ebenso  in  Ver¬ 
sailles  ,  in  Compiegne ,  in  Fontainebleau.  Er  lebt  auf  großem  Fuße. 

.  „Encore  une  fois,  d’oü  coule  cet  argent?“ 

Bourvalais,  der  reichste  Partisan  der  Regence,  fängt  als  Bedienter 
des  Partisan  Thevenin,  dann  Bonnet  an.  Thirion,  1.  c.  p.  8. 

Einen  ganz  vorzüglichen  Gesamtüberblick  über  den  Reichtum 
der  französischen  Finanzmänner  gewährt  die  Liste  der  zu  Strafen 
Avegen  unsauberer  Machenschaften  eingeschätzten  „Gens  d’affaire“ 


Vierzigstes  Kapitel:  Die  Vermögensbiltliuig  chu-cli  Geldleihe  (]41 

im  Jahre  1716.  Die  Liste1  weist  726  Namen  auf,  die  zusammen 
auf  147  355433  1.  Buße  eingeschätzt  wurden.  Die  einzelnen 
Summen  schwanken  zwischen  2000  1.  und  6600000  1.,  zu  welchem 
Höchstbetrage  der  bekannte  Antoine  Crozat  herangezogen  werden 
sollte  (in  Wirklichkeit  ist  nur  ein  kleiner  Teil  der  Schatzung 
—  man  nimmt  an,  etwa  20  Millionen  —  in  die  Kassen  des  Königs 
geflossen).  Eine  Verteilung  auf  einzelne  Steuerstufen  ergibt 
folgendes  Bild.  Es  wurden  eingeschätzt  auf: 


unter  50000  1.  .  .  . 

....  298 

50001—100000  1.  .  . 

....  105 

100001—200000  1.  . 

....  127 

200001—300000  1.  . 

....  68 

300001—400000  1.  . 

....  42 

400001—500000  1.  . 

....  26 

500001—1000000  1.  . 

....  40 

1000001—2000000  1. 

....  13 

über  2  Millionen  1.  . 

....  C 

* 


Alle  diese  Vermögensbildung,  deren  Mittel  die  Geldleihe  (und 
mit  ihr  verwandte  Geschäfte)  ist,  ist  abgeleitete  Vermögens¬ 
bildung,  beruht  auf  der  Übertragung  schon  vorhandener  Ver¬ 
mögen  oder  doch  in  der  Ableitung  eines  schon  zu  gehöriger 
Breite  entwickelten  Stromes  von  Wertbeträgen  (wo  es  sich  um 
die  Anteilnahme  an  öffentlichen  Einkünften  handelt).  Die  starke 
Betonung  dieses  Umstandes,  daß  es  sich  in  allen  bisher  betrach¬ 
teten  Fällen  um  abgeleitete  Vermögensbildung  handelt,  soll  das 
Verständnis  für  die  Tatsache  wecken  oder*  schärfen,  daß  in  Zeiten 
unentwickelten  Verkehrs  immer  nur  durch  einen  hohen  Grad 
von  Intensität  der  Austauschbeziehungen  Vermögensbildung  in 
größerem  Stile  möglich  ist  (während  später  die  Intensität  auch 
durch  eine  hoch  gesteigerte  Extensität  ersetzt  werden  kann). 

Sonach  lege  ich  auch  dem  Leihegeschäft,  das  sich  auf 
den  Verkehr  mit  „kleinen  Leuten“  beschränkt,  nur  eine  unter¬ 
geordnete  Bedeutung  als  vermögenbildendem  Faktor  bei  (wenn 


1  Sie  ist  vollständig  abgedruckt  bei  (D 'Arge nvi Ile) ,  Vie  priv£e 
de  Louis  XV,  Nouv.  ed.  1  (1783),  231 — 256.  Vgl.  auch  die  Angaben 
in  meinem  Luxus,  9  f. 

Sorabart,  Der  moderne  Kapitalismus.  T. 


41 


Ö42  fünfter  Abschnitt:  Die  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums 

ich  auch  selbstverständlich  nicht  leugnen  will,  daß  es  in  ver¬ 
einzelten  Fällen  die  Quelle  größerer  Vermögen  geworden  ist)  h 

Wenn  wir  gelegentlich  aber  von  Männern,  die  Kleinwucher 
betrieben,  hören,  daß  sie  zu  Reichtum  gelangen,  so  müssen  wir 
immer  erst  prüfen ,  ob  sie  sich  nicht  etwa  hauptsächlich  doch 
durch  die  Großen  bereicherten. 

Das  gilt  z.  B.  von  dem  typischen  Wucherer  des  16.  Jahr¬ 
hunderts  in  England,  wie  ihn  uns  Hub.  Hall  in  M1  Geoige 
Stoddarde  vorführt,  der  im  Kiemen  anfängt,  seinen  Reichtum 
aber  durch  Auswucherung  der  Gentlemen  erwirbt2. 

Von  den  Formen  der  originären  Vermögensbildung'  kommen 
vielmehr,  soviel  ich  sehe,  im  wesentlichen  nur  zwei  für  jene 
Zeiten  in  Betracht:  die  Akkumulation  von  Grundrenten  in  den 
Händen  städtischer  Grundbesitzer  und  das,  was  ich  die  unmittel¬ 
bare  Vermögensbildung  nenne:  die  Vermögensbildung  aus  Edel¬ 
metallbergbau,  an  die  sich  —  als  eine  Spielart  —  die  V ermögens- 
bildung  durch  Gewinn  am  baren  Gelde  anschließt.  Von  ihnen 
handeln  die  beiden  folgenden  Kapitel. 

1  In  der  ersten  Auflage  1,  271  ff.  habe  ich  eine  Reihe  von  An¬ 
gaben  über  die  Ergiebigkeit  des  Kleinkredits  im  Mittelalter  gemacht, 
auf  die  ich  den  Leser  verweise. 

2  Hub.  Hall,  Society  in  the  Elizabethan  Age  (4.  ed.  1901), 
p.  48  ff. 


043 


Einundvierzigstes  Kapitel 

Die  Akkumulation  städtischer  Grundrenten 

Der  Eigenart  der  mittelalterlichen  Städte  und  ihrer  Entwick¬ 
lung  entspricht  es,  daß  ein  beträchtlicher  Teil  des  Grund  und 
Bodens,  anf  dem  die  Stadt  sich  entfaltete,  lange  Zeit  hindurch 
in  der  Hand  einer  nicht  sehr  großen  Anzahl  meist  sehr  alter 
Familien  sich  befand. 

Im  Falle,  daß  es  sich  um  das  Hineinwachsen  einer  Dorf-  in  die 
Stadtgemeinde  handelte,  waren  dies  die  alten  Dorfgenossen,  die 
Hufner,  die  vollberechtigten  Wirte,  „ceux  qui  ont  entre  leurs 
mains  une  portion  du  sol  communal“ ;  „coloro  che  partecipavano 
a  questi  medisimi  beni“ ;  „die  in  Grund  und  Boden  in  der  Stadt¬ 
mark  angesessenen  Leute“,  „welche  in  der  Stadtmark  wohnten 
und  ihr  Gut  selbst  bebauten“,  die  burgage  tenants.  War  das 
Recht  dieser  Wirte  an  Grund  und  Boden  der  Gemarkung  beim 
Beginn  der  städtischen  Entwicklung  durch  allerhand  Übergriffe 
des  Obereigentümers  eingeschränkt,  so  werden  wir  annehmen 
dürfen,  daß  sie  es  bald  von  jenen  Beschränkungen  zu  befreien 
wußten.  „Die  Entwicklung  der  Stadt  als  Gemeinde  besteht  in 
wesentlichen  Teilen  gerade  darin,  die  Abhängigkeit  der  Gemeinde 
tunlichst  zu  beseitigen  und  der  letzteren  den  Zustand  wieder¬ 
zugeben,  in  welchem  sie  sich  vor  der  Ausbildung  der  Großgrund- 
herrschaften,  also  etwa  in  vorkarolingischer  Zeit  befand.“  1 

Wo  aber  etwa  das  Stadtgebiet  ganz  oder  zum  Teil  in  das  volle 
Eigentum  des  Kaisers,  des  Grafen  oder  des  Bischofs  übergegangen 
war,  da  wird  es  auf  dem  Wege  der  Schenkung  oder  der  Be¬ 
lehnung  in  die  Hände  der  Ministerialen  gelangt  sein,  die  nun 
kraft  ihres  Grundbesitzes  die  Vollbürgerschaft  erwerben  und 
damit  zu  Ahnen  städtischer  Geschlechter  werden. 

Wo  wir  endlich  auf  Neuland  sich  Stadtgemeinden  entwickeln 
sehen,  in  den  Kolonialgebieten,  da  sind  die  grundbesitzenden 
Familien  jene  famosen  „Kaufleute“,  denen,  wie  wir  schon  sahen, 
bäuerliche  Anwesen,  Eigen  oder  Anteile  in  Hufengröße  vor  allem 

1  v.  Belo  w,  Die  Entstehung  der  deutschen  Stadtgemeinde  (1889),  50. 

41* 


644  Fünfter  Abschnitt:  Die  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums 

natürlich  zum  Betrieb  einer  Bauernwirtschaft  von  dem  Grund¬ 
herrn  überwiesen  werden. 

Diese  ursprünglichen  Stadtgrundbesitzer  waren  gewiß  in  den 
meisten  Städten  nur  eine  kleine  Anzahl  Familien  und  begreif¬ 
licherweise,  da  der  Betrieb  einer  selbständigen  Landwirtschaft, 
den  wir  bei  ihren  Stammvätern  voraussetzen  dürfen,  ihre  Zahl 
auf  der  gegebenen  Fläche  der  Stadtflur  beschränken  mußte. 

Alles,  was  sich  später  in  der  Stadt  niederließ,  der  ganze 
Troß  der  Kaufleute  und  Handwerker,  der  marchands  et  manou- 
vriers  Sans  heritage,  mit  einem  Worte  die  gesamte  städtische 
Bevölkerung  —  soweit  sie  nicht  auf  städtischem  Gebiete  oder 
auf  den  Besitzungen  der  Kirchen  und  Klöster  Unterkunft  fand  — 
siedelte  sich  auf  dem  Grund  und  Boden  dieser  paar  Familien  an. 
Wir  müssen  uns  im  Anfang  der  städtischen  Entwicklung  die  ge¬ 
samte  werktätige  Bevölkerung  als  Losleute,  als  Hofsassen  der 
wenigen  grundbesitzenden  Familien  denken ;  daher  auch  zunächst 
als  Bürger  minderen  Hechts,  jedenfalls  ehe  sie  Hausbesitzer 
wurden,  in  ökonomischer  Abhängigkeit  von  den  Vollbürgern, 
den  ITofherren,  zu  denen  sie,  wie  man  weiß,  vielfach  sogar 
in  ein  Klientenverhältnis  treten  b  Der  hierdurch  geschaffene 
Gegensatz  zwischen  den  beiden  Bestandteilen  der  städtischen 
Bevölkerung  (den  Grundbesitzern  und  den  Schutzbefohlenen 
Hintersassen,  das  sind  alle  Gewerbetreibenden,  die  „Zünfte“), 
aus  dem  sich  dann  erst  der  des  verfassungsrechtlichen  Einflusses 
ableitete,  ist  so  mächtig,  daß  er  alle  Verschiedenheiten  der 
ständischen  Entwicklung  in  den  Städten  des  Mittelalters  zurück¬ 
treten  läßt  und  allerwärts  zu  der  großen  Spannung  führt,  die  in 
den  Klassenkämpfen  des  13.  und  14.  Jahrhunderts  ihre  Lösung 
findet.  Die  Einheitlichkeit  der  städtischen  Entwicklung,  wie  wir 
sie  in  allen  westeuropäischen  Staaten  beobachten,  würde  völlig- 
unerklärlich  sein,  wenn  wir  sie  nicht  zurückzuführen  vermöchten 
auf  die  in  allen  Städten  sich  gleichmäßig  abwickelnde  Gestaltung 
der  Grundbesitzverhältnisse,  mochte  im  übrigen  die  verfassungs¬ 
rechtliche  Struktur  der  Stadt,  mochte  die  zufällige  Veranlassung 
der  Stadtgründung  sein  welche  sie  wollte. 

1  von  Maurer  2,  235  f.  Arnold,  Freistädte  2,  192  ff.  Neuere 
Untersuchungen  haben  diesen  Sachverhalt  in  seiner  für  die  gesamte 
städtische  Entwicklung  grundlegenden  Bedeutung  festgestellt.  Siehe 
z.  B.  für  Köln  die  Einleitung  K.  Hegels  zum  14.  Bd.  d.  Chr.  d.  St.; 
für  Konstanz  die  besonders  lehrreichen  Studien  von  K.  Beyerle, 
Grundeigentums-  und  Bürgerrechtsverhältnisse  im  mittelalterlichen 
.  Konstanz  (1901),  60  ff. 


Eimuidvicrzigstcs  Kapitel:  Die  Akkumulation  städtischer  Grundrenten  (j45 

Was  uns  nun  aber  an  dieser  Stelle  interessiert,  ist  ein  anderes; 
es  ist  die  Tatsache ,  die  sich  schon  ohne  weiteres  aus  den  vor¬ 
aufgegangenen  Feststellungen  ergibt,  daß  der  größte  Teil 
der  städtischen  Grundrente  als  jmearned  increm  ent’ 
den  wenigen  grundbesitzenden  Familien  der  Stadtgemeinde  Zu¬ 
wachsen  mußte.  Die  quellenmäßige  Bestätigung  dieser  ein¬ 
leuchtenden  Feststellung  enthält  jedes  Erbebuch,  jede  Sammlung 
städtischer  Privaturkunden,  die  uns  aus  dem  Mittelalter  über¬ 
kommen  sind  x.  Es  wird  für  unsere  Zwecke  genügen,  wenn  ich 
die  folgenden  Punkte  hervorhebe. 

1.  Die  Verwendung  des  Grund  und  Bodens,  der  sich 
in  den  Händen  der  Geschlechter  befand,  erfolgte  nicht  nur  durch 
Überlassung  der  nötigen  Bauplätze  für  Wohnhäuser  an  die  werk¬ 
tätige  Bevölkerung,  sondern  auch  durch  Anlage  und  entgeltliche 
Übertragung  von  Werkstätten,  Verkaufsbuden  u.  dgl.  In  diesem 
Falle  war  sie  natürlich  besonders  einträglich.  Jeder  Grundbesitzer 
durfte  auf  seinem.  Grund  und  Boden  Straßen  und  Märkte  anlegen 
und  darauf  bauen  was  er  wollte:  Privathäuser,  aber  auch  Gewerbs- 
bilden ,  Stände ,  Gewerbshallen  usw. ,  und  für  deren  Benutzung 
eine  Abgabe  in  irgendeiner  Form  erheben.  So  hatten,  wie  wir 
annehmen  dürfen  und  wie  uns  auch  aus  verschiedenen  Städten 
berichtet  wird1  2,  viele  alte  Geschlechter  Metzger-  und  Fleischer¬ 
bänke,  Brottische,  Schrotämter,  Mühlen  u.  dgl.  Gewerbsanstalten 
zu  eigen,  die  sie  gegen  Entgelt  den  Handwerkern  überließen. 
Eine  noch  intensivere  Verwertung  des  Grundeigentums  ermög¬ 
lichte  endlich  die  Ausnutzung  der  auf  bestimmten  Grundstücken 
haftenden  Gerechtsamen,  wie  das  Recht,  Bier  zu  brauen,  Wein 
zu  schenken3,  Müllerei  zu  betreiben4  und  ähnliches. 


1  Zur  Orientierung:  L.  M.  B.  Aubert,  Beiträge  zur  Gesell,  der 
deutschen  Grundbücher,  in  der  Zeitschr.  f.  RG.  14,  1  ff. 

2  Siehe  z.  B.  für  Hamburg:  den  Lib.  act.  a.  a.  0.  XVIII,  13  f. 

LXXII,  12.  CXLVII,  9,  26;  für  Frankfurt:  Joh.  Carl  von  Fichard, 
Die  Entstehung  der  Reichsstadt  Fr.  usw.  1819.  S.  150/51,  und 

Böhmer,  217.  247.  288.  350.  352.  384;  für  Augsburg :  P.  von 

Stetten,  Kunst-  und  Gewerbegesch.  von  Augsb.  1  (1779),  4;  für 

Würzburg.  Rosenthal,  Gesch.  des  Eigentums  in  der  Stadt  W. 

(1878),  44;  für  Breslau:  Klosen.  Von  Breslau.  Dok.  Gesch.  und 
Beschreibung  1  (1781),  501.  516.  632.  Tschoppe  und  Stengel, 
Sammlung  zur  Gesch.  des  Ursprungs  der  Städte  usw.  (1832),  259, 

3  von  Maurer  2,  179. 

4  Für  Köln:  Chr.  d.  St.  14,  XXIII, 


646  Fünfter  Abschnitt:  Die  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums 

2.  Die  Form  der  Nutzung1  ist  ursprünglich,  vorwiegend 
die  Leihe,  sei  es  als  Erbleihe,  sei  es  als  Zeitleihe,  in  diesem 
Falle  auf  Lebzeiten  2  oder  auf  bestimmte  Termine,  z.  B.  100  oder 
200  Jahre3.  Diese  Rechtsform  leihweiser  Überlassung  entsprach 
der  geringen  Produktivität  der  Arbeit  in  der  frühen  Zeit  und 
der  damit  zusammenhängenden  geringen  Leistungsfähigkeit  des 
werktätigen  Volks,  wie  Arnold  sehr  richtig  ausgeführt  hat. 
Diese  der  älteren  Zeit  eigentümliche  Nutzung  des  Grund  und 
Bodens  ist  aber  ökonomisch  deshalb  vor  allem  bedeutsam,  weil 
sie  den  Grundeigentümern  gestattete,  von  der  Steigerung  der 
Grundrente  zu  profitieren.  Denn  auch  bei  der  Erbleihe  dürfen 
wir  sowohl  eine  Erhöhung  der  Zinsen  von  Zeit  zu  Zeit4,  als 
sogar  wohl  auch  einen  gelegentlichen  Rückkauf  der  Rente  und 
häufig  oder  meist  ein  Vorkaufsrecht  bei  der  Veräußerung5  an¬ 
nehmen. 

Sicherlich  war  auch  die  einfache  Miete  in  den  mittelalterlichen 
Städten  verbreitet;  siehe  für  Konstanz  Beyerle,  76.  Auch  hier  gilt, 
daß  man  aus  der  Seltenheit  der  Urkunden  nicht  auf  die  Seltenheit  des 
Vorkommens  dieser  Rechtsverhältnisse  schließen  darf.  Nach  älterer 
deutscher  Auffassung  entbehrte  bekanntlich  die  Miete  der  dinglichen 
Wirkung;  sie  galt  wohl  gar  nicht  im  eigentlichen  Sinne  als  Rechts¬ 
geschäft,  sondern  vielmehr  als  eine  Art  von  rechtsverbindlicher  Über¬ 
einkunft.  Daher  sie  in  den  meisten  Fällen  der  urkundlichen  Fixierung 
entbehrte,  von  Brünneck,  Zur  Geschichte  der  Miete  und  Pacht 
in  den  deutschen  und  germanischen  Rechten  des  Mittelalters,  in  der 
Zeitschr.  f.  R.G.  1,  138  ff.  Lange  Listen  von  Handwerkern,  die  zur 
Miete  wohnen,  im  England  des  13.  Jahrhunderts :  Reg.  Malmesbur.  1 
(1879),  117  ff.;  dgl.  des  14.  Jahrhunderts:  Lappenberg,  Urk.  39 
und  öfters. 

In  diesem  Falle  sowie  überall  dort,  wo  wir  eine  Befristung 
der  Leihe  finden,  sicherte  sich  also  der  Grundeigentümer  die 
Möglichkeit,  höhere  Renten  zu  fordern  bzw.  das  Grundstück 
vorteilhafter  zu  verkaufen.  Dadurch  aber  wurde  bewirkt,  daß 

1  Über  diesen  Punkt  sind  wir  am  besten  unterrichtet,  dank  der 
reichen  rechtsgeschichtlichen  Literatur. 

2  Z.  B.  Strafst).  U.B.  Bd.  III,  Nr.  225.  313.  Siehe  auch  die  vor¬ 
treffliche  Einleitung  zum  Straßb.  U.B.  von  A.  Schulte  im  3.  Bde. 
1884. 

3  Strafst),  U.B.  3,  Nr.  75.  120.  173.  Vgl.  Jos.  Gobbers,  Die 
Erbleihe  und  ihr  Verhältnis  zum  Rentenkauf  im  mittelalterl.  Köln  des 
12.  bis  14.  Jahrhunderts,  in  der  Zeitschr.  f.  RG.  4,  130 — 214. 

4  Dafür  enthält  besonders  viele  Beispiele  das  Lübecker  Ober- 
Stadtbuch.  Siehe  P.  Rehme,  Das  Lübecker  Ober-Stadtbuch.  1895. 

5  Siehe  z.  B.  für  Würzburg  Rosenthal,  a.  a-  O.  49. 


Einundvierzigstes  Kapitel:  Die  Akkumulation  städtischer  Grundrenten  (347 


sich  das  Grundeigentum  in  den  Händen  seiner  ursprünglichen 
Besitzer  bis  in  eine  Zeit  hinein  erhielt,  da  sein  Wert  auf  eine 
gegen  früher  ungeheure  Höhe  gestiegen  war1. 

3.  Daß  die  tatsächliche  Steigerung  der  Grundrente  in, 
den  mittelalterlichen  Städten  eine  sehr  beträchtliche  gewesen  ist, 
wie  es  in  dem  letzten  Satze  angedeutet  wurde,  müßten  wir  ohne 
weiteres  annehmen,  auch  wenn  wir  keine  quellenmäßigen  Belege 
dafür  hätten.  Ich  glaube,  daß  (verhältnismäßig)  das  Anwachsen 
der  städtischen  Grundrente  während  des  Mittelalters,  namentlich 
wohl  in  der  Zeit  von  1200  bis  1400,  seinesgleichen  erst  wieder 
in  den  Städten  des  19.  Jahrhunderts  erlebt  hat,  abgesehen  natür¬ 
lich  vom  Altertum. 

Die  rasche  Zunahme  der  Bevölkerung,  die  beträchtliche 
Steigerung  der  Produktivität  der  Arbeit  und  die  durch  die  Mauer- 
ringe  hervorgerufene  Zusammenpferchung  der  Bewohner  wirkten 
zusammen,  um  die  Preise  der  Grundstücke  rasch  in  die  Höhe 
zu  treiben  und  auf  einem  Punkte  anlangen  zu  lassen,  der  uns 
in  Erstaunen  setzt.  Es  ist  nicht  leicht,  zu  glauben,  daß  der 
Quadratmeter  Bauland  in  Florenz  am  Ende  des  13.  Jahrhunderts 
in  einem  großen  Komplexe  (500  qm)  5—6  Mk.  heutiger  Währung, 
in  kleinen  Parzellen  (man  verkaufte  fünfquadratfußweise)  sogar 
10 — 20  Mk.  kostete,  und  doch  geht  es  aus  einer  großen  Anzahl 
von  Verkaufsurkunden,  wie  wir  noch  sehen  werden,  mit  Sicher¬ 
heit  hervor.  Bedurfte  es  nun  wohl,  um  solche  Preise  zu  erzielen, 
des  ganzen  Reichtums  der  rasch  anwachsenden  Arnostadt,  so 
erfahren  wir  doch  auch  aus  andern  Städten,  daß  während  des 
13.  und  14.  Jahrhunderts  die  Grundpreise  enorm  in  die  Höhe 
gehen  und  die  Bauplätze  bald  „mit  unglaublich  hohen  Preisen 
bezahlt“ 2  wurden.  Und  wenn  beispielsweise  in  Frankfurt  a.  M. 
der  Preis  einer  Rente  von  1  Mk.  (beim  Rentenkauf) 

1304  .  14—15  Mk.3 

1314/18 . 16—17  „ 

1  Der  Einwand  Strieders:  daß  die  ersten  Bodeneigner  von  der 
Wertsteigerung  nicht  Vorteil  gezogen  hätten,  weil  sie  in  früherer 
Zeit  alles  zur  Erbleihe  weggegeben  hätten,  wird  sich  soweit  nicht 
halten  lassen,  als  eben  die  Vergebung,  was  sicher  in  zahlreichen  Fällen 
geschah,  allmählich  erfolgte  und  gerade  erst  mit  dem  Emporblühen 
der  Städte.  Das  betont  auch  R.  Häpke  in  Schmollers  Jahrbuch  29, 
1059. 

2  Arnold,  Geschichte  des  Eigentums,  64  (für  Basel)',  Pauli  1, 
46  (für  Lübeck)- 

3  Bücher,  Bevölkerung,  340. 


(548  Fünfter  Abschnitt:  Die  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums 


1323/27  .  18  Mk. 

1333  .  . .  19  „ 

1358  .  24  „ 

betrug,  so  läßt  diese  Steigerung  wohl  auf  ein  annähernd  gleiches 
Anwachsen  der  Bodenpreise  schließen. 

4.  Mit  zunehmender  Verkehrsentwicklung  in  den  Städten  tritt 
mehr  und  mehr  an  die  Stelle  der  Leihe  der  Verkauf  des  Grund 
und  Bodens:  es  kommt  die  Zeit  der  Versilberung  des  Grund¬ 
besitzes  der  Geschlechter,  und  damit  beginnen  wachsende  Geld¬ 
beträge  in  deren  Händen  zusammenzuströmen.  Dieser  Zufluß 
wird  aber  noch  dadurch  verstärkt,  daß  in  einzelnen  Städten,  wie 
Lübeck1,  schon  seit  dem  Ende  des  13.  Jahrhunderts,  in  andern 
Städten  später:  in  Wien  1360 2,  in  München  1391,  in  Landsberg 
1392,  in  allen  niederbayrischen  Städten  1420,  in  Worms  1366, 
in  Ulm  1388,  in  Zürich  1419,  in  Frankfurt  a.  M.  1439,  in  Basel 
1441 3  die  Ablösung  der  Zinse  und  Benten  gestattet  und 
großenteils  ausgeführt  wird. 

Blicken  wir  von  den  Eechtstiteln  des  Erwerbs  (Eigentum  an 
Grund  und  Boden)  auf  die  Quellen,  aus  denen  diese  Vermögen 
stammen,  so  ist  es  „Mehrwert“  der  städtischen  Arbeit,  der  in 
Jahrhunderte  lang  währendem  Entwicklungsgänge  Schritt  vor 
Schritt  mit  zunehmender  Produktivität  der  Arbeit  abgenommen 
und  akkumuliert  werden  könnte. 

Es  handelt  sich  also  in  diesem  Falle  zum  ersten  Male  um 
das,  was  ich  eine  originäre  Vermögensbildung  nenne,  und  darum 
erscheint  diese  Form  der  Vermögensbildung  von  besonderem 
Interesse. 

Die  Höhe  der  städtischen  Grundrente,  die  wir  hier 
die  Vermögen  bilden  sehen,  hing  im  wesentlichen  ab  von  der 
Anziehungskraft,  die  eine  Stadt  auf  die  werktätige  Bevölkeruno¬ 
der  umliegenden  Landschaften  auszuüben  vermochte.  Je  mehr 
Ansiedler,  desto  höher  die  Beträge,  die  von  ihrer  Arbeit  ein¬ 
behalten  werden  konnten.  Selbstverständlich  spielten  andere 
Umstände  mit:  vor  allem  der^Grad  von  Produktivität,  den  die 
gewerbliche  Arbeit  in  einer  Stadt  zu  erreichen  vermochte.  Wenn 

1  Mit  dem  20 fachen,  teilweise  sogar  dem  25 fachen  Betrage- 

Pauli,  48.  -  ’ 

2  Mit  dem  12  Vs  fachen  Betrage;  Eulenburg,  in  der  Zeitschr  f 
Soz.-  u.  W.G.  1,  287. 

3  A.  Bruder,  Studien  über  die  Handelspolitik  H.  Rudolfs  IV 
(1886),  99;  vgl.  Inaroa,  DWG.  3ir,  469, 


Eimmdvierzigstes  Kapitel:  Die  Akkumulation  städtischer  Grundrenten  (349 

eine  Stadt  etwa  ein  blühendes  Exportgewerbe  schuf,  so  ist  er¬ 
sichtlich,  daß  die  Grundbesitzer  größere  Wertbeträge  in  ihre 
Taschen  zu  leiten  imstande  waren,  als  wenn  dies  nicht  der  Fall 
war.  In  welchem  Umfange  derartige  glückliche  Umstände  die 
Grundrentenakkumulation  in  einer  Stadt  zu  beschleunigen  ver¬ 
mochten,  dafür  ist  ein  treffendes  Beispiel  Florenz.  Dann  hing 
nicht  wenig  davon  ab,  wie  eine  Stadt  topographisch  gelegen  war: 
je  enger  der  Baum,  auf  dem  sich  eine  Bevölkerung  zusammen¬ 
drängen  mußte,  desto  höher  die  ihnen  in  Form  der  Grundrente 
abgenommene  Mehrwertrate:  Genua,  Venedig,  Konstanz,  viele 
flandrische  Städte  (wegen  der  sumpfigen  Umgebung!)  sind  Bei¬ 
spiele  hierfür.  Es  liegt  nicht  fern,  die  rasche  Bildung  großer 
Vermögen  in  ihren  Mauern  auch  auf  die  Eigenart  ihrer  Laue 
zurückzuführen. 

* 

Welche  ziffernmäßig  faßbare  Bedeutung  diese  Form 
der  Vermögensbildung  gehabt  habe,  wird  sich  ebensowenig  fest- 
steilen  lassen,  wie  wir  diejenigen  Vermögen  mit  Sicherheit  werden 
ermitteln  können ,  die  gerade  nur  durch  Akkumulation  von 
städtischer  Grundrente  entstanden  sind.  Das  darf  uns  aber  nicht 
abhalten,  die  wichtige  Bolle  anzuerkennen,  die  bei  der  Ent¬ 
stehung  des  bürgerlichen  Beichtums  das  „Millionenbauerntum“ 
gespielt  hat. 

Nachdem  durch  meine  etwas  provozierende  Behandlung  des 
Gegenstandes  und  die  allzu  scharf  zugespitzte  Problemstellung 
in  der  ersten  Auflage  dieses  Werkes  die  Aufmerksamkeit  der 
Wirtschaftshistoriker 1  rege  gemacht  worden  war,  ist  durch  eine 
Beihe  vortrefflicher  Untersuchungen  gerade  erst  recht  die  Be¬ 
deutung  klargestellt  worden,  die  der  hier  behandelten  Form  der 
Vermögensbildung  zukommt.  Da  es  der  Anlage  dieses  Buches 
zuwiderlaufen  würde,  dieses  an  sich  ja  gewiß  interessante,  aber 
im  Zusammenhänge  doch  nur  nebensächliche  Thema  noch  ein- 


1  Die  hervorragendsten  haben  sich  meine  These  teilweise  wenigstens 
zu  eigen  gemacht;  ein  besonders  wertvolles  Zeugnis  ist  das  Georg 
von  Belows,  der  (Das  ältere  deutsche  Städtewesen,  116)  zusammen¬ 
fassend  schreibt:  „Die  Einwohner  der  alten  Städte,  die  über  großen 
Grundbesitz  verfügten,  konnten  bei  dem  schnellen  Wachstum  der  Ge¬ 
meinden,  wie  wir  es  im  12.  und  13.  Jahrhundert  bemerkten,  mühelos 
zu  Reichtum  gelangen:  in  den  zahlreichen  Ankömmlingen  fanden  sie 
willige  Käufer  von  Hausplätzen.  Damals  entwickelte  sich  bereits  ein 
bedeutender  Grundstücksverkehr,  “ 


650  Fünfter  Abschnitt:  Die  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums 

gehender  abzuhandeln,  so  begnüge  ich  mich  damit,  zum  Schlüsse 
dieses  Kapitels  die  wichtigsten  Schriften,  die  sich  mit  meiner 
„Grundrententheorie“  befaßt  haben,  aufzuzählen,  damit  der 
Spezialist  sich  weiter  in  die  Materie  vertiefen  könne. 

G.  von  Below,  Die  Entstehung  des  modernen  Kapitalismus.  (Hist. 
Zeitschr.  91.) 

Jakob  Strieder,  Zur  Genesis  des  modernen  Kapitalismus.  Forschungen 
zur  Entstehung  der  großen  bürgerlichen  Kapitalvermögen  am  Aus¬ 
gange  des  Mittelalters  und  zu  Beginn  der  Neuzeit,  zunächst  in 
Augsburg.  1904. 

Ausführliche  Besprechungen  dieser  Schrift  lieferten  Carl  Ko  ebne, 
in  den  Mitteilungen  aus  der  histor.  Literatur  XXXIII.  Jahrg.  2  Heft 
(1905),  S.  178  ff. ;  S.  Rietschel,  in  der  Zeitschrift  der  Savigny- 
Stiftung  (1906),  1.  Band. 

A.  Nuglisch,  Zur  Frage  der  Entstehung  des  modernen  Kapitalismus, 
in  den  Jahrb.  f.  NÖ.  III.  F.  Bd.  28. 

Reinli.  Heynen,  Zur  Entstehung  des  Kapitalismus  in  Venedig.  1905. 
Herrn.  Flamm,  Der  wirtschaftliche  Niedergang  Freiburgs  i.  B.  1905. 
Friedr.  Bothe,  Die  Entwicklung  der  direkten  Besteuerung  in  der 
Reichsstadt  Frankfurt  bis  zur  Revolution  1612 — 14.  1906.  Exkurs. 
Ruch  Häpke,  Die  Entstehung  der  großen  Vermögen  im  Mittelalter, 
in  Schmollers  Jahrb.  Bd.  XXIX. 

G.  Caro,  Ländlicher  Grundbesitz  von  Stadtbürgern  im  Mittelalter,  in 
den  Jahrbüchern  für  N.Ö.  III.  F.  Bd.  31. 

Ignaz  Schipper,  Anfänge  des  Kapitalismus  bei  den  abendländischen 
Juden  im  früheren  Mittelalter.  1907. 

H.  Sieveking,  Die  mittelalterliche  Stadt,  in  der  Viertel] ahrsschr. 
für  Soz.-  u.  W.G.  Bd.  2. 

Derselbe,  Die  kapitalistische  Entwicklung  in  den  italienischen 
Städten  des  Mittelalters,  ebenda  Bd.  7. 

R.  Davidsohn,  Über  die  Entstehungen  des  Kapitalismus,  in  seinen 
Forschungen  zur  Gesch.  von  Florenz  4  (1908),  268  ff. 

A.  Vetter,  Bevölkerungsverhältnisse  Mülhausens  i.  Th.  im  15.  und 
16.  Jahrhundert.  1910. 

J.  Maliniak,  Die  Entstehung  der  Exportindustrie  und  des  Unter¬ 
nehmerstandes  in  Zürich  im  16.  und  17.  Jahrhundert.  1913. 

H.  Voltelini,  Die  Anfänge  der  Stadt  Wien.  1913. 

Theod.  Th.  Neubauer,  Wirtschaftsleben  im  mittelalterlichen 
Erfurt,  in  der  Vierteljahrsschr.  für  Soz.-  u.  W.G.  Bd.  XIII. 


651 


.  Zweiundvierzigstes  Kapitel 

Die  unmittelbare  Verinögensbildung 

Unmittelbare  Vermögensbildung  nenne  ich  die  Vermögens¬ 
bildung  durch  Gelderzeugung.  Gelderzeugung  umfaßt:  den  Berg¬ 
bau  auf  Edelmetalle  (Gold  und  Silber,  in  manchen  Fällen  auch  auf 
Kupfer),  die  Verhüttung  der  Erze  und  die  Prägung  der  Metalle. 
Soweit  sich  an  die  Ausübung  dieser  Tätigkeit  eine  Vermögens¬ 
bildung  anknüpft,  nenne  ich  sie  „unmittelbare  Vermögensbildung“, 
weil  es  sich  dabei  in  der  Tat  um  G  e  1  d  akkumulation  handelt 
ohne  das  Erfordernis  eines  Austausches  oder  einer  Gestaltsver¬ 
änderung  des  erzeugten  Produkts. 

Diese  Form  der  Vermögensbildung  ist  für  die  Entstehung  des 
Kapitalismus  von  ganz  besonderer  Bedeutung  geworden. 

Zunächst  deshalb,  weil  hier  große  Vermögen  aus  dem  Nichts 
über  Nacht  erwachsen  konnten.  Selbst  der  kleinste  Handwerker 
kann  binnen  kurzem  im  Gold-  und  Silberbergbau,  dank  dem 
ganz  und  gar  aleatorischen  Charakter  dieses  Wirtschaftszweiges, 
ein  reicher  Mann  Averden.  Wenn  er  täglich  ein  Pfund  Gold  er- 
wäscht,  ist  er  in  drei  Jahren  Millionär.  Das  ist  zunächst  theoretisch 
möglich.  Daß  es  auch  in  Wirklichkeit  vorgekommen  ist,  werden 
wir  noch  sehen. 

Dann  aber  ist  die  Vermögensbildung  durch  Gelderzeugung 
deshalb  so  bedeutsam,  verdient  sie  deshalb  ganz  besonders 
unsere  Beachtung,  weil  sie  eines  der  Mittel  ist,  durch  die  die 
Edelmetalle  ihren  entscheidenden  Einfluß  auf  den  Gang  des  Wirt¬ 
schaftslebens  ausüben.  Die  starke  Vermögensbildung  in  den  Zeiten 
reicher  Edelmetallzufuhr  —  und  natürlich  ist  die  unmittelbare 
Vermögensbildung  dann  am  stärksten,  wenn  neue  und  ergiebige 
Lager  von  Gold-  oder  Silbererzen  aufgeschlossen  werden  —  bildet 
den  Bestandteil  eines  ganzen  Komplexes  von  Erscheinungen,  die 
alle  auf  die  Vermehrung  der  Edelmetallproduktion  zurückgehen 
und  in  ihrer  Gesamtheit  die  Entfaltung  des  Kapitalismus  stark 
zu  fördern  geeignet  sind.  Die  unmittelbare  Vermögensbildung 
ist  vor  allem  auch  der  Anlaß  für  die  raschere  Bildung  größerer 
Vermögen  in  andern  Wiötschaftssphären,  und  alle  die  bisher  von 


052  Fünfter  Abschnitt  :  Die  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums 

uns  gewürdigten  Formen  der  Vermögensbildung  sind  melir  oder 
weniger  abhängig  von  dem  Gange,  den  die  unmittelbare  Ver¬ 
mögensbildung  nimmt. 

Die  großen  Epochen  der  unmittelbaren  Vermögensbildung  sind 
auch  die  großen  Epochen  des  „wirtschaftlichen  Aufschwungs“ : 
die  Zeiten  der  raschen  Vermehrung  der  Gold-  und  Silber¬ 
produktion:  das  13.  Jahrhundert,  die  zweite  Hälfte  des  15.  und 
die  erste  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts,  die  erste  Hälfte  des  18.  Jahr¬ 
hunderts  und  dann  die  verschiedenen  Male  im  19.  Jahrhundert, 
das  bereits  in  die  hochkapitalistische  Wirtschaftsepoche  fällt. 

Wenn  wir  die  unmittelbare  Vermögensbildung  nunmehr  an 
einigen  Beispielen  wenigstens  auch  ziffernmäßig  erfassen  wollen, 
wie  die  übrigen  Arten  der  Vermögensbildung,  so  müssen  wir  uns 
der  eigentümlichen  Organisation  erinnern,  die  die  Edelmetall¬ 
produktion  im  Mittelalter  und  den  folgenden  Jahrhunderten  besaß 
und  uns  vergegenwärtigen,  daß  der  Gold-  und  Silberstrom  in 
sehr  viele  Arme  sich  teilte. 

Diejenigen,  die  an  dem  „Bergsegen“  teilnahmen,  waren  meist: 

1.  der  Regalherr  des  Bergwerks, 

2.  der  Grundherr  (und  neben  ihm  zuweilen  noch  2  a.  der 
Bodenbesitzer), 

3.  die  Gewerken  (oder  andere  Bergwerksbesitzer), 

4.  die  Hüttenleute, 

5.  der  Münzherr, 

6.  der  Münzmeister, 

7.  die  Münzer. 

Natürlich  hing  die  Höhe  des  Betrages,  die  auf  den  einzelnen 
entfiel,  bei  den  drei  ersten  Gruppen  ab  von  der  Ergiebigkeit  des 
Bergwerks  einerseits,  von  der  Höhe  des  Anteils,  den  jeder  zu 
beziehen  berechtigt  war,  andererseits. 

Daß  auch  im  deutsch-österreichischen  Silberbergbau  gelegent¬ 
lich  (namentlich  solange  die  Hüte  abgebaut  wurden)  sehr  hohe 
Beträge  erzielt  -worden  sind,  lehrt  uns  die  Sage.  Was  wir  aus 
alten  Chroniken  darüber  hören,  ist  natürlich  keine  verbürgte 
Tatsache.  Es  hat  aber  Wert  als  Ausdruck  der  Volksmeinunm 

o  ' 

die  schon  ihre  Anhaltspunkte  gehabt  haben  wird.  Wer  1363  im 
Bergwerk  zur  Eule  V 30  gehabt,  der  hat  dazumal,  so  berichtet  die 
Chronik,  auf  ein  Quartal  zur  Ausbeute  50  000  ung.  Gulden  gehabt  b 

1  Chronica  Wenceslai  Hagecii,  jetzt  aus  böhmischer  in  die 
teutsche  Sprache  .  .  .  transferieret  ,  ,  .  durch  Joh,  Sandei  (1596),  1,  95, 


Zweinndvierzigstes  Kapitel:  Die  unmittelbare  V ermögensbildung  (553 

In  Annaberg  fielen  einmal,  bald  nach  der  Eröffnung  des  Berg¬ 
baus,  tausend  Gulden  Quartalausbeute  auf  einen  Kux  b  Und  von 
Sclmeeberg  vernehmen1 2  wir,  daß  „auff  einem  kux  ungefehrlich 
biss  in  die  zwei  und  dreissig  tausend  gülden  sol  zur  aussbeut 
gefallen  sein  und  die  Römer  von  Zwickau  darvon  reich  worden 
sein.  Denn  alda  hat  man  auff  einmal  hundert  marck  silbers  und 
sechs  hundert  gülden  rheinisch  auff  ein  kux  aussgetheilt.“ 

Daß  die  amerikanischen  Silbergruben  noch  viel  reichere  Aus¬ 
beute  gewährten,  habe  ich  schon  in  anderem  Zusammenhänge 
feststellen  können.  Einige  Ziffern  teilt  Alexander  von  Hum¬ 
boldt  mit3.  Danach  hätte  eine  einzige  Grube  einen  Jahres¬ 
gewinn  von  5  bis  6  Mill.  Eres,  abgeworfen. 

Und  daß  die  Goldproduktion,  namentlich  solange  sie  als  Gold¬ 
wäscherei  auftritt,  gelegentlich  märchenhafte  Gewinne  abwirft, 
ist  eine  bekannte  Tatsache:  die  Kingfu-Grube  in  Alaska  lieferte 
jahrelang  einen  Ertrag  von  2500  %.  Und  daß  es  beim  Abbau  der 
Goldlager  in  früheren  Jahrhunderten  anders  gewesen  sein  sollte, 
liegt  kein  Grund  vor  anzunehmen. 

So  erklärt  es  sich,  daß  auch  dort,  wo  die  Erträge  des  Berg¬ 
baus  in  sehr  viele  Teile  sich  auflösen,  doch  noch  auf  jeden 
Anteilsberechtigten  oft  recht  ansehnliche  Summen  entfielen. 

In  Deutschland  und  Österreich  war  gewiß  der  Reg'alherr 
(und  Grundherr)  bis  in  die  neuere  Zeit  hinein  am  besten  von 
allen  Anteilnehmern  gestellt.  Man  nimmt  an,  daß  noch  im  IG. 
bis  18.  Jahrhundert  seine  Einnahmen  aus  den  Bergwerken  denen 
der  Gewerken  etwa  gleich  kamen4. 

Man  braucht  sich  ja  nur  Prag,  Meißen,  Dresden,  Salzburg 
anzusehen,  die  großenteils  aus  dem  Silber  und  Golde  der  um¬ 
liegenden  Lande  gebaut  sind,  um  die  Einträglichkeit  des  Berg¬ 
regals  in  früherer  Zeit  richtig  abzumessen.  Aber  auch  von  dem 
amerikanischen  Silber,  wissen  wir,  bezogen  Spaniens  Herrscher 
in  Gestalt  des  Quinto  große  Summen  und  ebenso  die  portu¬ 
giesische  Regierung  von  dem  brasilianischen  Golde,  von  dem 
sogar  nur  30%  den  Goldgräbern  verblieben  sein  sollen5. 


1  Joh.  Matthe sius,  Sarepta  (1587),  16b. 

1  Joh.  Matthesius,  1.  c. 

3  A.  von  Humboldt,  N.  E.  3,  404;  4,  20. 

4  Die  Anteile  der  Bergherren  waren  in  den  verschiedenen  Berg¬ 
rechten  verschieden  hoch  bemessen.  Im  allgemeinen  hatten  sie  eine 
Tendenz,  sich  zu  verringern. 

f*  Del  Mar,  Money  and  Civilisation.  149. 


654  Fünfter  Abschnitt:  Die  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums 

Sehr  häufig  wurde  nun  aber  der  Strom,  der  aus  dem  Edel¬ 
metallbau  in  die  Schatzkammern  der  Fürsten  und  Könige  floß, 
abgeleitet  in  die  Taschen  derer,  die  jenen  mit  williger  Hand  die 
fehlenden  Barbeträge  leihweise  Vorschüssen  und  dafür  die  Ver¬ 
pfändung  oder  Verpachtung  eines  Bergwerks  (bzw. 
der  darauf  ruhenden  Gerechtsame)  beanspruchten.  Es  handelt 
sich  hier  um  eine  Abart  jener  Geschäfte,  die  wir  in  dem  Kapitel, 
das  von  der  Geldleihe  handelte,  schon  zur  Genüge  kennen  gelernt 
haben,  nur  daß  die  Verpfändung  eines  Bergwerks  dem  Pfand¬ 
nehmer  dank  dem  aleatorischen  Charakter  des  Bergbaubetriebes 
ganz  besondere  Gelegenheiten  zu  Bereicherung  schafften.  Die 
Sitte,  Bergwerke  in  Pfand  zu  geben,  bestand  während  des  ganzen 
Mittelalters  bis  in  die  neuere  Zeit  hinein. 

K.  Wenzel  II.  verordnete  1305  in  seinem  Testament,  der  siebente 
Teil  des  Einkommens  vom  böhmischen  Bergwerk  Kuttenberg  sollte 
wöchentlich  zur  Abzahlung  seiner  Schulden  seinen  Gläubigern  gegeben 
werden,  und  König  Rudolf  bezahlte  auch  von  den  hinterlassenen 
Schulden  der  verstorbenen  Könige  wöchentlich  aus  dem  Einkommen 
von  Kuttenberg  1000  Mark  Silber.  Hagec,  Böhmische  Chronik  (deutsch 
1697),  492;  zit.  bei  Gmelin,  Beyträge  zur  Geschichte  des  teutschen 
Bergbaas  (1783),  82. 

1429  verschrieb  K.  Sigmund  dem  Rat  und  den  Bürgern  der  Stadt 
Eger  das  Pflegamt  bei  dem  Dorfe  Weß  im  Bechiner  Kreise  mit  allen 
Bergwerken  ob  und  unter  der  Erde  gegen  ein  Darlehn  von  300  Schock 
böhmische  Groschen  pfandweise.  Gmelin,  94.  (1  Schock  bökm.  Gr. 
damals  etwa  =  19 — 20  Mk.  heutiger  Währung.) 

Für  die  Verpfändungen  schlesischer  Bergregale  siehe  die  Urkunden 
bei  A.  Steinbeck,  Geschichte  des  schlesischen  Bergbaus  1  (1857), 
105  (Die  Liegnitzschen  Herzoge  verpfänden  Berg-  und  Münzregal  an 
Liegnitzer  Bürger);  2,  134  und  öfters;  sächsischer:  H.  Er  misch, 
Cod.  dipl.  Sax.  reg.  13  (1886),  XLVI. 

Über  die  Verpfändung  Schwager  Silbers  an  die  Meuttingers  che 
Gesellschaft  zu  Augsburg  durch  Erzherzog  Sigismund  im  Jahre  14  5 
berichtet  nach  den  Akten  Max  vonWolfstrigl-Wolfskron,  Die 
Tiroler  Erzbergbaue  (1903),  32. 

Auf  das  Silber  aus  den  Tiroler  Bergwerken  hatte  auch  Christoph 
Scheurl  dem  Kaiser  Maximilian  (1494)  eine  „tapfere“  Summe  Geldes 
vorgestreckt,  wofür  ihm,  Scheurl,  und  seinem  Mitgesellschafter  Heinrich 
Wolf  jährlich  wenigstens  12  000  Mark  Silber  geliefert  werden  sollten, 
um  es  in  kaiserlichen  Münzen  für  sich  münzen  zu  lassen.  A.  von 
Scheurl,  Christoph  Scheurl  (1884),  17. 

Im  16.  Jahrhundert  waren  die  Regalien  der  meisten  modernen 
Staaten  schon  an  reiche  Geldgeber  verpfändet.  Über  Ungarn  z.  B. 
F.  Dobel,  Der  Fugger  Bergbau  und  Handel  in  Ungarn,  in  der  Zeit¬ 
schrift  des  histor.  Vereins  für  Schwaben  und  Neuburg  6  (1879),  43  f. 
Seit  1487  datieren  die  zahlreichen  Bergbauverträge  der  Fugger  mit 


Zweiundvierzigstes  Kapitel:  Die  unmittelbare  Vermögensbilduug  (555 

den  Erzherzögen  von  Tirol,  mittels  deren  die  Fugger  teils  die  an 
den  Landesherrn  zu  leistenden  Abgaben  der  Gewerken  überwiesen  er¬ 
halten,  teils  sich  das  Recht  zum  eigenen  Bergbaubetriebe  verschaffen. 
F.  Dobel,  Über  den  Bergbau  und  Handel  des  Jacob  und  Anton  Fugger 
in  Kärnten  und  Tirol  (1495 — 1560),  in  der  Zeitschr.  des  histor.  Ver¬ 
eins  für  Schwaben  und  Neuburg  9  (1882),  198  ff. ,  und  M.  von  Wolf- 
strigl-Wolfskron,  a.  a.  0.  S.  32  f. 

Ebenso  wie  die  Tiroler  und  Ungarischen  Bergwerke  den  Fugger 
als  Pfand  für  geliehenes  Geld  überlassen  wurden,  kamen  in  ihren  Besitz 
auch  die  den  Herzogen  von  Münsterberg-Öls  gehörigen  Reichensleiner 
Bergwerke,  aus  denen  sie  ebenfalls  großen  Nutzen  zogen.  E.  Fink, 
Die  Bergwerksunternehmungen  der  Fugger  in  Schlesien,  in  der  Zeit¬ 
schrift  des  Vereins  für  Geschichte  und  Altertum  Schlesiens  28  (1894), 
309  ff,  Ursprünglich  waren  es  nur  Überlassungen  von  Regalrechten, 
die  diese  Häuser  mit  den  Bergwerken  verbanden;  allmählich  griffen 
sie  dann  weiter  um  sich  und  brachten  entweder  die  Gewerken  in  ihre 
Abhängigkeit  oder  wurden  selbst  Bergwerksunternehmer. 

Damit  sind  wir  schon  zu  den  Bergwerksbesitzern 
selbst  gelangt.  Es  ist  bekannt,  daß  in  den  Anfängen  der  Silber¬ 
bergbau  in  Deutschland  und  Österreich  (wenn  nicht  vom  Grund¬ 
herrn  so)  von  Handwerkern  betrieben  wurde.  Sofern  diese  die 
Anteilsberechtigten  an  der  Ausbeute  waren,  konnte  jede  glück¬ 
liche  Schürfung  aus  dem  Nichts  zu  Reichtum  führen.  Und  auch 
die  Gewerken  der  früheren  Zeit,  selbst  wo  sie  schon  nicht  mehr 
selbst  mit  Hand  anlegen,  sind  doch  wenigstens  gelegentlich  auch 
wohl  kleine  Leute,  Handwerker  in  den  Städten,  die  mit  ihren 
Ersparnissen  einen  Kux  erwerben,  wie  sie  sonst  eine  Rente  ge¬ 
kauft  hätten1,  Bauern,  "denen  ihr  Anspruch  auf  Grundentschädi¬ 
gung  mit  einer  Anzahl  Kuxe  abgekauft  wurde2,  oder  die  als 


1  Im  Jahre  1447  beklagen  sich  die  Knappen  im  Freiberger  Revier, 
daß  die  vermögenden  Bürger  der  Stadt  sich  nicht  am  Bergbau  be¬ 
teiligen.  „Also  müsse  mir  arme  gnappen  meins  herrn  perckwerck 
alleyne  pauen  mit  etlichen  armen  handwerkman.“  U.B.  der  Stadt 
Freiberg  im  Cod.  dipl.  Sax.  reg.,  ed.  H.  Er  misch  13  (1886),  102. 

2  In  Schlesien  wurde  häufig  den  Ackerbesitzern  (nicht  bloß  den 
Gutsherren)  die  Alternative  gestellt,  statt  Grundentschädigung  Auf¬ 
nahme  in  die  Gewerkschaft  zu  1/s  ihres  Grubeneigentums  (also  mit 
I3U2  Kux)  zu  verlangen.  Dadurch  geschah  es,  daß  Grundherren  und 
Bauern  (nur  mit  Ausschluß  der  bloßen  Laßbauern)  Mitgewerken  wurden. 
Steinbeck,  Gesch.  des  schlesischen  Bergbaus  2,  186.  Ein  gleiches 
Recht  bestand  in  Sachsen.  Hier  konnte  der,  des  das  Erbe  war  (sc. 
der  freie  Bauer),  sein  „Ackerteil“  beanspruchen,  d.  h.  es  stand  ihm 
frei,  sich  mit  1/32  „an  der  Grube  zu  beteiligen“.  H.  Ermisch,  Das 
sächsische  Bergrecht  im  Mittelalter  (1887),  XXXV.  Analog  in  Böhmen, 


656  Fünfter  Abschnitt:  Die  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums 

Markgenossen  das  Recht  zum  Goldwäschen  besaßen 1,  und  der¬ 
gleichen  Elemente,  bei  denen  ebenfalls  ein  zufällig  reicher  Ertrag 
eines  Bergwerks  nichts  anderes  als  Neuschaffung  von  Vermögen 
bedeutete.  Und  was  solcher  Art  Erwägungen  allgemeiner  Natur 
nahelegen,  bestätigen  uns  gelegentliche  Nachrichten  von  reich 
gewordenen  kleinen  Frönern.  „In  der  Tat,“  heißt  es  im  1.  Kapitel 
des  3.  Buches  der  Kuttenberger  B.O.  (um  1300),  „ergibt  sich 
öfters  zwischen  2  Bergleuten,  die  nicht  soviel  besitzen,  um  sagen 
zu  können,  wo  sie  in  nächster  Nacht  ihr  Haupt  hinlegen  sollen, 
oder  wo  sie  morgen  Nahrung  finden  werden,  ein  Streit  über  eine 
Verleihung,  der  mehrere  Tausend  Mark  Silber  betragen  kann.“ 
Die  Absalon  in  Todtnau,  die  Kreuz  in  Münster  waren  aus  dem 
Bergarbeiterstande  emporgestiegen  und  zu  Vermögen  gelangt, 
die  sie  dem  Adel  naherückten,  infolgedessen  ihre  Töchter  be¬ 
gehrte  Partien  für  Söhne  adliger  Familien  wurden,  denen  an 
Neuvergoldung  ihres  Adelsschildes  gelegen  sein  mußte2.  Ebenso 
wird  uns  ausdrücklich  berichtet3,  daß  eine  Menge  Bürger  beim 
Eyler  Bergbau  zu  Reichtum  gelangten.  Aus  der  Geschichte  seines 
eigenen  lieben  „Thaies“  (Joachimsthal)  weiß  uns  aber  der  freund¬ 
liche  Pfarrer  zu  erzählen 4,  „wie  ein  armer  Bergmann,  der  selber 
mit  seinem  Weibe  geschürfft,  und  vorm  Ort  gearbeitet,  bis  inn 
hunderttausent  güldengro sehen  .  .  .  aussbeut  gehaben“  habe. 

Noch  im  Jahre  1539  soll  das  von  Anbeginn  an  überaus  er¬ 
giebige  (1552  schon  22913  Mark  Silbers  liefernde)  Bergwerk 
Rörerbühl  in  Tirol  von  Michel  Rainer,  einem  armen  Bergmann, 
zusammen  mit  zwei  Gefährten,  die  auf  der  Wanderschaft  die 
Erze  entdeckt  hatten,  gemutet  worden  sein5. 

Das  Vermögen  der  Weitmoser  wurde  durch  Erasmus  W. 
(f  1526)  begründet,  dem  Sohn  eines  armen  Häuers  zu  Gudaunem, 
der  mit  Hilfe  eines  Vorschusses  von  100  Talern  am  Radhausberge 
reiche  Goldadern  aufschloß0. 

Aber  zu  diosen  Zeiten  waren  es  doch  schon  vorwiegend  andere 
Kreise,  denen  die  reichen  Ausbeuten  der  neuerschlossenen  Berg- 


1  Das  Goldwäschen  im  Schwarmalde •  wurde  von  allen  Genossen 
der  grundkörigen  Mark  geübt.  Gothein,  609 — 612. 

2  Gothein,  603.  637. 

3  Siehe  die  Zusammenstellung  der  Chronistenstellen  bei  Stern  - 
berg,  Gesch.  des  böhrn.  Bergbaus  1.  2,  32  ff. 

4  Joh.  Matthesius,  Sarepta,  17a. 

5  von  Sperges,  Tiroler  Bergwerksgeschichte,  120, 

0  H.  Peetz,  Volksw.  Studien  (18.80),  68. 


Zweiundvierzigstes  Kapitel:  Die  unmittelbare  Vermögensbildung  657 

werke  zugute  kamen.  Schon  seit  dem  14.  Jahrhundert  sehen 
wir  die  Anteile  an  den  älteren  Silbergruben  langsam  aus  den 
Händen  der  Grundherren  oder  armen  Gewerke  in  den  Besitz 
wohlhabender  Bürger  übergehen.  Und  die  neuerschlossenen  des 
15.  und  16.  Jahrhunderts  finden  wir  meist  schon  von  vornherein 
in  den  Händen  reicher  Handelshäuser,  so  daß  man  sie  schon 
(wie  ich  später  genauer  begründen  werde)  als  frühkapitalistische 
Unternehmungen  ansprechen  muß. 

Diese  schon  wohlhäbigen  Geschäftsmänner  sind  es  also,  denen 
dann  im  15.  und  16.  Jahrhundert  aus  dem  „Bergsegen“  ein  großer 
Reichtum  zufließt. 

Das  läßt  sich  am  deutlichsten  bei  den  Bergwerken  Tirols  und 
Ungarns  verfolgen.  Hier  bewerben  sich  „die  vermögendsten  aus 
den  fremden  Handelsleuten  um  die  Wette,  einigen  Teil  an  den 
. . .  Bergwerken  zu  haben,  und  diejenigen  schätzen  sich  glücklich, 
welche  in  die  Bergwerksgesellschaft  zu  Schwaz  aufgenommen 
werden“  h  Hier  begegnen  wir  unter  den  Gewerken  im  16.  Jahr¬ 
hundert  den  Fueger,  den  Lichtenstein,  den  Firmian,  den  Tänzel 
von  Tratzberg,  den  Jöchel  von  Jöchelsthurn,  den  Stöckel  und 
anderen  Notabein  des  Landes,  die  durch  Ausbeutung  der  Berg¬ 
werke  große  Reichtümer  erwarben1 2.  Wir  begegnen  aber  auch 
den  Link  und  Haug,  den  Scheurl,  den  Fugger  u.  a.  aus  Augsburg 
und  können  ziffernmäßig  verfolgen,  welche  enormen  Summen  aus 
dem '  „Bergsegen“  jener  Tage  in  die  Taschen  der  schon  ver¬ 
mögenden  Handelsherren  flössen3. 

Die  vier  Hauptgewerken  des  Schwazer  Bergbaus  (außer  den 
Fugger):  die  Andorfer,  Tänzl,  Hofer,  Fueger,  hatten  in  den  Jahren 
1470 — 1535  eine  Ausbeute  von  je  350  000  Mark  Brandsilber.  Diese 
Ziffer  teilt  (nach  den  Akten)  H.  Peetz,  Yolksw.  Stud.  (1880),  49, 
mit.  Sigismund  Fueger,  der  Sohn  Hans  F.,  hinterließ  bei  seinem  Tode 
ein  Vermögen  von  200  000  fl.  Die  Aussteuer  eines  „Gewerkentöchter¬ 
leins“  betrug  80  000  fl.  bei  den  Lichtenstein,  den  Tänzl,  noch  mehr 
bei  den  Jöchlin.  H.  Peetz,  a.  a.  O.  S.  50. 

Die  Aktiva  der  Handelsgesellschaft  Link  &  Haug  steigen  in  Schwaz 
von  60  262  fl.  im  Jahre  1533  auf  193  547  fl.  im  Jahre  1563;  im  Neu¬ 
sohl  und  Testhen  betrugen  sie  1560  (erstes  Jahr)  bzw.  5020  fl.  und 
8853  fl.,  im  Jahre  1562  bzw.  10191  und  54503  fl.  J.  Hartung, 
Aus  dem  Geheimbuch  eines  deutschen  Handelshauses  im  16.  Jahr¬ 
hundert,  in  der  Zeitschr.  f.  Soz.-  u.  W.G.  4,  39. 

1  von  Sperges,  Tiroler  Bergwerksgesch.,  97/98. 

2  von  Sperges,  a.  a.  O.  S.  105  ff. 

3  Vgl.  jetzt  noch  Jak.  Strieder,  Studien  zur  Gesell,  kapital. 
Organisationsformen  (1914),  3  ff.  13  ff. 

Sombart,  Der  moderne  Kapitalismus.  I. 


42 


658  Fünfter  Abschnitt:  Die  Entstehung  des  bürgerlichen  Keichtums 

Aus  ihren  ungarischen  Bergwerken  zogen  die  Fugger  und  Tliurzo 
in  den  Jahren  1495 — 1504  eine  Dividende  von  119  500  fl.  rhein.  1504 
bis  1507  betrug  die  Dividende  für  jeden  Teil  238  474  fl.,  1507 — 1510 
142  609  fl.  Die  Fugger  allein  berechneten  ihren  Beingewinn  aus  dem 
„ungarischen  Bergwerkhandel“  (worin  allerdings  die  verpfändeten  Kron- 
einkünfte  eingeschlossen  gewesen  sein  werden)  auf  1  297  192  fl.  rhein. 
F.  Dobel,  Der  Fugger  Bergbau  und  Handel  in  Ungarn,  in  der  Zeit¬ 
schrift  des  histor.  Vereins  für  Schwaben  u.  Neuburg  6  (1879),  33  ff’. 

In  unmittelbarem  Zusammenhänge  mit  der  Entwicklung  des  Silber¬ 
bergbaus  stand  die  ungeheure  Einträglichkeit,  die  der  Bergbau  auf 
Quecksilber  hatte,  da  seit  der  Erfindung  des  Algamierungsprozesses 
das  Quecksilber  neben  Silber  und  Gold  der  meistbegehrte  Gegenstand 
wurde.  Wieder  waren  es  die  Fugger,  die  durch  die  monopolisierte 
Ausbeutung  der  von  ihnen  gepachteten  Gruben  von  Almaden  ungeheure 
Beichtümer  sammelten.  Ihr  Gewinn  betrug  85  und  100%;  in  einer 
fünfjährigen  Pachtperiode  verdienten  sie  166  370  Duk.,  von  1572  bis 
1582  ca.  300  000  Duk.,  1582  bis  1594  636  000  Duk.,  1595—1604 
ca.  600  000  Duk.  K.  Häbler,  Gesch.  der  Fuggerschen  Handlung  in 
Spanien  102  f.  156.  169.  176  f.  193. 

Ebenso  begegnen  wir  in  dieser  Zeit  anderswo  den  Spuren 
großer,  am  Bergbau  beteiligter  Handelshäuser:  in  Schlesien *,  in 
Sachsen1  2,  in  Böhmen 3,  im  Schicarswalde 4. 

Und  wir  finden  bestätigt,  was  ich  weiter  oben  behauptete: 
daß  die  Beichtümer  der  oberdeutschen  Handelshäuser  soweit 
nicht  aus  der  Geldleihe  aus  dem  Bergbau  geflossen  sei. 

Es  erübrigt  sich,  im  einzelnen  die  vermögenbildende  Wirkung 
des  überseeischen  Gold-  und  Silberbergbaus  zu  verfolgen. 
Es  ist  selbstverständlich,  daß  hier  in  noch  viel  größerem  Stile 
von  einzelnen  Personen  Beichtümer  erworben  worden  sind.  Die 
spanischen  Eroberer,  die  freilich  zum  großen  Teil,  wie  wir  noch 
sehen  werden,  in  den  Anfängen  den  Eingeborenen  die  schon 
angehäuften  Gold-  und  Silbermassen  einfach  Wegnahmen,  konnten 
schon  Karl  V.  8  Millionen  Dukaten  als  Darlehn  an  tragen  5.  Einige 
Angaben  über  die  Beichtümer  amerikanischer  Minenbesitzer  finden 


1  E.  Fink,  Die  Bergwerksunternehmungen  der  Fugger  in  Schlesien, 
in  der  Zeitschr.  des  Ver.  f.  Gesch.  u.  Alt.  Schlesiens  28  (1894),  und 
C.  Faulhaber,  Die  ehemalige  schlesische  Goldproduktion.  Bresl. 
Diss.  1896. 

2  Ehrenberg,  Z.  d.  F.  1,  187  ff. 

3  A.  von  Scheurl,  Chr.  Scheurl  (1884),  30. 

4  „Augsburger  Bankiers  haben  überall  die  Hand  im  Spiel  gehabt; 
auch  im  Bergbau  des  Münstertals  haben  zuletzt  die  Fugger  die  Frei¬ 
burger  Patrizier  abgelöst.“  Gothein,  599. 

5  Nach  Soriano  Banke,  Fürsten  und  Völker  Südeuropas  1  3,  407. 


Zweiundvierzigstes  Kapitel:  Die  unmittelbare  Vermögensbildung  (359 

sich  bei  Humboldt1,  der  sein  Urteil  dahin  zusammenfaßt :  „les 
mines ,  saus  doute ,  ont  ete  la  source  des  grandes  fortunes  du 
Mexique“ ;  der  Graf  de  la  Yalenciana  hat  aus  seinem  Silberberg- 
werk  manches  Jahr  bis  6  Mill.  livres  Rente  bezogen;  während 
der  letzten  25  Jahre  seines  Lebens  sank  diese  Rente  nie  unter 
2 — 3  Mill.  livres.  Eine  einzige  Erzader,  die  die  Familie  des 
Marquis  von  Fagoaga  im  Distrikt  Sombrerete  besaß,  lieferte  in 
5—6  Monaten  einen  Reinertrag  von  20  Mill.  Frcs.  In  Peru  gab 
es  nach  demselben  Gewährsmann  nicht  so  große  Reichtümer  wie 
in  Mexiko:  Renten  von  80  000  Frcs.  seien  „ziemlich  selten“. 
Einen  wohl  typischen  Fall  rascher  Bereicherung  durch  Edel¬ 
metallgewinnung  aus  späterer  Zeit  (1855)  bietet  uns  das  Schick¬ 
sal  des  D.  Pedro  Tereros,  später  Conte  de  Regia,  dar2.  Wenn 
man  die  gewaltigen  Mengen  von  Gold  und  Silber  in  Betracht 
zieht,  die  seit  der  Mitte  des  16.  Jahrhunderts  aus  Amerika  heraus  - 
geholt  wurden,  so  muß  man  auch  ihre  vermögenbildende  Kraft 
um  so  vielmal  höher  ansetzen  als  die  der  viel  geringeren  Pro¬ 
duktionsmengen  der  deutschen  und  österreichischen  Bergwerke, 
die  doch  schon  so  bedeutend  war,  wie  wir  sahen. 

Außer  den  unmittelbar  am  Bergbau  beteiligten  Personen  sehen 
wir  aber  noch  andere  Personen  sich  an  der  Gelderzeugung  be¬ 
reichern:  die  Hüttenherren,  die  oftmals  die  wirtschaftlich 
Stärkeren  waren  —  schon  in  der  Kuttenberger  B.O.  wird  ihre 
„detestabilis  conspiracio“  gerügt,  die  darauf  ausgehe,  durch  ver¬ 
abredete  Unterbietung  die  Erzpreise  zu  drücken  —  und  von 
denen  behauptet  wird 3,  daß  sie  oft  viel  größere  Gewinne  als  die 
Gewerken  machten;  vor  allem  aber  Münzherren  und  Münzer. 

Auch  die  Münze,  als  ein  nutzbringendes  Regal,  finden  wir 
im  Mittelalter  und  darüber  hinaus  in  der  Regel  verpfändet 
oder  verpachtet. 

In  Deutschland  begegnen  wir  häufig  den  Hausgenossen  als  Pächtern 
der  Münze.  1296  verpachtet  Bischof  Konrad  von  Lichtenberg  die 
Straßburger  Münze  auf  vier  Jahre  an  sieben  Bürger.  Str.  U.B.  2.  D. 
201  f.  Mitte  des  13.  Jahrhunderts  verpfändet  der  Erzbischof  von 
Mainz  seine  Münze  für  ein  Darlehn  an  die  Münzer  auf  zwei  Jahre. 
Kirchhof f,  Die  älteren  Weistümer  der  Stadt  Erfurt  S.  168.  1221 

wird  die  Münze  von  Trier,  1237  die  von  Kreuznach  verpachtet.  M.  Rh. 
U.B.  3,  174,  und  dazu  Lamprecht,  DWL.  2,  373.  Auch  die  Regens¬ 
burger  Münze  ist  häufig  verpfändet.  Muffat,  Beiträge  zur  Gesell. 

1  Humboldt,  Essai  2,  25  ff. 

2  Bei  Suess,  Gold,  173. 

3  Schmoller,  in  seinem  Jahrbuch  15,  692. 

42* 


6GÖ  Fünfter  Abschnitt:  Die  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums 

des  bayrischen  Münzwesens,  in  den  Abhandlungen  der  Kgl.  bayr.  Akad. 
d.  Wiss.,  III.  Klasse,  Bd.  IX,  Abt.  I,  S.  217  ff.  Verpfändung  der 
böhmischen  M.  Sternberg,  a.  a.  0.  2  (1838),  56  ff.  Im  Laufe  des 
14.  und  15.  Jahrhunderts  hatten  vielfach  die  Regalbeamten  und  Münzer 
die  besten  Gruben  und  Hütten  an  sich  gebracht,  sie  verlangten,  teil¬ 
weise  schlecht  bezahlt,  von  Gewerken  und  Arbeitern  Grubenanteile 
und  Geschenke.  K.  Sternberg,  Gesch.  der  böhmischen  Bergwerke 
2,  184.  Juden  als  Münzmeister:  Schipper,  Anfänge,  52.  Über 
die  außerordentlich  zahlreichen  Italiener  an  deutschen  Münzstätten 
siehe  die  eingehende  Darstellung  bei  Schulte  1,  328  ff,  Italiener 
finden  wir  auch  sonst  häufig  in  diesen  Stellungen.  Italiener  als 
Münzmeister  in  Frankreich  Piton  passim;  1278  Vertrag  zwischen 
dem  König  von  Frankreich  und  den  TJniversitates  der  Lombarden  und 
Toskaner.  Ein  Frescobaldi  an  die  Spitze  des  englischen  Münzwesess 
unter  Eduard  I.  berufen.  Deila  dec.  2,  74.  Der  Betrieb  der  Münz¬ 
stätten  in  den  Kreuzfahrerstaaten ,  in  Syrien  und  Palästina,  war  meist 
in  den  Händen  der  Venetianer.  Prutz,  Kulturgeschichte  der  Kreuz¬ 
züge,  373.  Verkauf  oder  Verpfändung  der  M.  in  den  italienischen 
Städten:  in  Venedig  1112.  W.  Lenel,  Vorherrschaft,  40;  vgl. 
S.  42  f. ;  in  Genua  seit  dem  12.  Jahrhundert.  Sieveking,  Gen. 
Fin.  1,  41.  Vgl.  auch  noch  S.  Alexi,  Die  Münzmeister  der  Calimala- 
und  Wechslerzunft  in  Florenz,  in  der  Zeitschrift  für  Numismatik  17 
(1890),  258  ff,  und  Gino  Arrias,  Constit.  econ.  (1905),  158  seg. 

Zu  dem  reichen  Gewinn,  den  die  Münze  abwarf,  verhalfen 
vor  allem  die  sich  immerfort  wiederholenden  Verrufungen  der 
Geldstücke.  Jedes  Jahr,  manchmal  mehr  als  einmal  im  Jahre 
—  Münzmeister  Heinrich  von  Salza  der  Jüngere  berief  im  Jahre 
1308  in  der  Stadt  Görlitz  siebenmal  die  Denare  ein ! 1 2 3  — ,  wurden 
die  Münzen  gegen  hohen  Schlagschatz  neu  geprägt.  Und  das 
trug  offenbar  viel  ein.  Dazu  kam  das  Monopol  des  Geldwechsels, 
das  in  vielen  Städten  ebenfalls  die  Münzer  besaßen,  und  das 
nicht  weniger  einträglich  gewesen  sein  muß. 

Meist  waren  auch  die  Münzer  schon  begüterte  Leute,  die 
aber  in  ihren  Stellungen  als  Münzmeister  rasch  zu  Reichtum 
gelangten.  Im  Mittelalter  werden  sie  als  „monetarii  opulen- 
tissimi“  bezeichnet.  Und  von  den  sächsischen  Münzmeistern 
lesen  wir,  wie  sie  sich  durch  ihre  Amtsführung  so  bereichern, 
daß  sie  Schlösser  in  der  Landschaft  ankaufen8. 

1  Tschoppe  und  Stengel,  Urkundensammlung  Nr.  108. 

2  Über  die  lukrativen  „Münz verrufungen“  für  Deutschland:  Iv.  Ehe- 
berg,  Das  ältere  deutsche  Münzwesen  usw.  (1879),  50  ff.  55  ff. ;  für 
England:  Cunningham  1,  301  ff. ;  für  Frankreich:  Vuitry,  Etudes 
2,  261;  für  Böhmen:  Sternberg  2,  57  ff. ;  für  die  Kreuzfahrer¬ 
staaten  :  Prutz,  in  den  Sitzungsberichten  der  Münchener  Akad.  d. 
Wiss.  1906,  S.  21  ff.  Vgl.  im  übrigen  das  26.  Kapitel. 

3  Cod.  dipl.  Sax.  reg.  Bd.  13,  Urk.  1003. 


Zweiundvierzigstes  Kapitel:  Die  unmittelbare  Vermögensbildung  (3(31 

Offenbar  sind  die  Klagen  des  Doktors  in  AVilliam  Staffords 
„Drei  Gesprächen“  nickt  aus  der  Luft  gegriffen,  sondern  sicher 
zum  guten  Teil  aus  einer  richtigen  Beobachtung  der  Wirklich¬ 
keit  geschöpft.  „Wenn  sie  auch,  nämlich  die  Münzbeamten,“ 
heißt  es  da,  „dem  Fürsten  einreden,  daß  der  Gewinn  für  alles 
das  Seiner  Gnaden  zu  Gute  komme ,  so  klebt  doch  der  meiste 
Gewinn  an  ihren  Fingern  .  .  .  Das  meiste  an  dem  Reingewinn 
fällt  ihnen  doch  zu,  wie  es  früher  den  Alchymisten  und  Gold¬ 
machern  zuzufallen  pflegte.  Und  das  zeigt  sich  deutlich  darin, 
wie  diejenigen,  welche  dieses  Geschäft  betreiben  oder  betrieben 
haben,  so  plötzlich  reich  geworden  sind,  als  ob  sie,  wie  das 
Sprichwort  sagt,  den  Ring  des  Gyges  gefunden  hätten.“ 1 

Die  Bedeutung,  die  die  Edelmetallgewinnung  und  die  Geld¬ 
erzeugung  als  Vermögensbildner  haben,  wäre  sicher  nicht  an¬ 
nähernd  so  groß  als  sie  in  Wirklichkeit  ist,  wenn  sich  die  durch 
sie  bewirkte  Vermögensbildung  auf  die  bisher  besprochene  direkte 
Anteilnahme  an  den  Erträgnissen  des  Bergbaus  und  den  Gewinnen 
an  der  Münzung  beschränkte.  Ich  deutete  aber  schon  darauf  hin, 
daß  Edelmetallproduktion  und  Geldmacherei  auch  noch  —  und 
zwar  in  sehr  beträchtlichem  Umfange  —  auf  Umwegen,  „in¬ 
direkt“  ihre  y ermögenbildende  Kraft  betätigt  haben. 
Man  kann  hier  den  Gewinn,  der  durch  die  Menge  der  pro¬ 
duzierten  Geldware  veranlaßt  wurde,  von  dem  Gewinne  unter¬ 
scheiden,  den  man  aus  der  besonderen  Formung  der  Geldware 
zu  ziehen  wußte. 

Die  Menge  der  erzeugten  Edelmetalle  hat  insofern  (nicht  nur 
direkt,  wie  wir  vorher  festgestellt  haben,  sondern  auch)  indirekt 
zum  Reichtum  einzelner  Personen  geführt,  als  durch  sie  die  ab¬ 
geleitete  Vermögensbildung  in  allen  ihren  Formen  natürlich 
wesentlich  gefördert  werden  mußte. 

Wenn  sich  seit  dem  Ende  des  15.  Jahrhunderts  das  öffent¬ 
liche  Schuldenwesen  so  rasch  und  mächtig  entwickelt  und 
damit  eine  der  stärksten  Quellen  der  privaten  Vermögensbildung 
auftritt,  so  hatte  das  nicht  zuletzt  seinen  Grund  in  der  außer¬ 
ordentlichen  Vermehrung,  die  die  Edelmetallproduktion  erfahren 
hatte 2. 

1  William  Staffords,  Drei  Gespräche  über  die  in  der  Bevölke¬ 
rung  verbreiteten  Klagen  (1581).  Übers,  von  Hoopsj  krag,  von  E.  Leser. 

2  Im  Grunde  läuft  der  ganze  Inhalt  z.  B.  der  E  h  r  e  n  b  er  g sehen 
Untersuchungen  (im  Z.  d.  E.)  darauf  hinaus,  nachzuweisen,  daß  sich 
der  enorme  Kreditverkehr  jener  Zeit  an  der  Hand  der  Silberimporte 


662  Fünfter  Abschnitt:  Die  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums 

Eine  starke  Belebung  erfährt  aber  auch  die  Vermögensbildung 
im  Warenkandel  durch  die  plötzliche  und  große  Anhäufung 
von  Gold-  und  Silbermengen  in  den  Händen  der  ersten  (oder 
auch  späteren)  Besitzer. 

Bekannt  (und  typisch)  sind  die  Gewinne,  die  die  Kaufleute 
Sevillas  unmittelbar  nach  der  Erschließung  der  amerikanischen 
Silberminen  machten:  in  9 — 12  Monaten  gewann  man  100  bis 
500%.  Während  der  Wert  der  ausgeführten  Waren  8,  10, 
15  Mill.  Pesos  betrug,  belief  sich  der  der  eingeführten  Waren 
auf  20,  30,  40  Mill.  Pesos  x.  Einzelne  Kaufleute  in  Sevilla  zogen 
das  ganze  Silber  der  zurückkehrenden  Flotte  an  sich* 1 2,  eine 
einzige  Silberflotte  brachte  für  sie  oft  mehr  als  1000  Maravedis 
Bargeld  (ca.  300000  Duk.)  aus  Amerika  zurück3. 

Angesichts  dieser  Ziffern  ist  man  geneigt,  denjenigen  zuzu¬ 
stimmen,  die  behaupten,  daß  den  größten  Nutzen  von  der  ver-  • 
mehrten  Edelmetallproduktion  nicht  die  Produzenten,  sondern 
die  ihnen  Waren  liefernden  Kaufleute  hätten,-  wie  es  mit  Bezug 
auf  das  brasilianische  Gold  so  gute  Kenner  wie  Handelmann4 
und  v.  Eschwege5  annehmen.  Man  erinnere  sich  der  Preise 
für  Lebensmittel,  Handwerkszeug  usw. ,  die  die  brasilianischen 
Goldsucher  zahlen  mußten,  um  das  verständlich  zu  finden. 

Die  Händler  (und  Produzenten)  gewannen  aber  nicht  nur  durch 
diese  plötzliche  Steigerung  der  Preise,  sondern  ebenso  sehr  und 
vielleicht  nachhaltiger  durch  die  Preisdifferenzen,  die 
sich  infolge  dauernder  Senkung  des  Tauschwerts  der  Edelmetalle 
zwischen  den  Preisen  im  Anfang  einer  Lieferungs-  oder  Produktions¬ 
periode  und  an  deren  Schlüsse  ergaben.  Naturgemäß  mußte  dieser 
Umstand,  daß  die  Preise  namentlich  seit  dem  16.  Jahrhundert  stetig 
stiegen,  vor  allem  der  Vermögensbildung  bei  den  Landwirten 
zugute  kommen:  so  mag  mancher  Pächter,  der  den  Grundzins 
noch  im  veralteten  Geldwerte  bezahlte,  wenn  sämtliche  Agrar¬ 
produkte  im  Preise  stiegen,  sich  rasch  bereichert  haben  6;  so 

nach  Spanien  entwickelte:  siehe  z.  B.  Z.  d.  F.  2,  222  ff.  (E.  selbst 
spricht  nie  von  diesen  Zusammenhängen.) 

1  Colmeiro,  Hist,  de  la  economia  pol.  en  Espana  2,  403  sea. 

2  Colmeiro  2,  402. 

3  Häbler,  Blüte  Spaniens,  69.  Vgl.  auch  noch  Häbler,  Zur 
Geschichte  des  spanischen  Kolonialhandels  im  16.  und  17.  Jahrhundert, 
in  der  Zeitschi*  für,  Soz.-  u.  W.G.  7,  373  ff,  insbes.  413  ff. 

4  H.  Handelmann,  Geschichte  Brasiliens  (1860),  581. 

5  v.  Eschwege,  Pluto  Brasiliensis  (1833),  15.  59.  88. 

Für  England:  Jacob,  Edelinet,  2,  69.  Das  ist  merkwürdiger- 


Zweiundvierzigstes  Kapitel:  Die  unmittelbare  Vermögensbildung  663 

kamen  aber  umgekehrt,  was  sicher  der  häufigere  Fall  war,  Grund¬ 
besitzer  zu  beträchtlichen  Geldvermögen,  weil  ihre  Grundrente 
bzw.  der  Preis  der  Agrarprodukte  ohne  ihr  Zutun  in  die  Höhe 
gingen. 

Der  andere  Weg,  auf  dem  die  Edelmetallproduktion  und 
Gelderzeugung  auch  die  nicht  unmittelbar  an  ihr  Beteiligten  zu 
Reichtum  führten ,  war  die  geschickte  Ausnutzung  der 
eigenartigen  Münz-  und  Währungsverhältnisse  wäh¬ 
rend  des  Mittelalters  und  während  der  ganzen  frühkapitalistischen 
Periode,  von  denen  ich  ausführlich  im  26.  Kapitel  gesprochen 
habe.  Das  Nebeneinanderbestehen  von  Gold-  und  Silberwährung 
einerseits,  die  Ungleichheit  der  Ausmünzungen  andererseits  boten 
reichliche  Gelegenheit  zu  einem  ausgebreiteten  und  wie  es  scheint 
sehr  einträglichen  Münzhandel  oder  (um  im  modernen  Börsen¬ 
jargon  zu  reden)  Arbitragegeschäft. 

„Nun  aber  die  kauffleut  den  auffsatz  der  muntz  erschmeckt 
haben ,  so  lassn  sie  feyren  ihr  gewerb  dass  sie  treiben  und 
fuhren  miintz  von  einem  Land  in  das  andere :  wann  sie  emp¬ 
finden  davon  des  ungerechten  gewine  grösslich“, 
klagt  Kaiser  Sigismund  \ 

Diese  Gewinne  mußten  ins  Unermeßliche  steigen,  als  im  16. 
und  17.  Jahrhundert  das  Silber  seinen  Preissturz  erlebte.  „There 
are  so  great  abuses  of  late  yeeres  groune  by  the  corrupt  dealing 
of  sundry  Merchants  and  Brokers  as  well  strangers  as  English 
upon  bargaines  of  exchanges  and  rechanges  of  Moneyes  to  be 
payed  both  out  and  within  the  Realm  ..."  heißt  es  in  einer 
Proklamation  vom  20.  September  1576,  und  wir  erfahren  von 
vielen  reichen  Finanzleuten  in  England,  die  sich  mit  Hilfe  dieses 
„Arbitragegeschäfts“  ihr  Vermögen  bildeten2.  Wie  andererseits 
wieder  die  Holländer  sich  auf  dieselbe  Weise  an  den  Engländern 
bereicherten  (im  16.  und  17.  Jahrhundert)3. 

weise  die  einzige  Beziehung,  die  Marx  zwischen  der  Edelmetallver¬ 
mehrung  und  der  „ursprünglichen  Akkumulation“  kennt  oder  wenigstens 
ausdrücklich  hervorhebt.  Kapital  1  4,  709. 

1  In  den  Reform.  Bas.  part.  II  tit.  XXIX,  bei  Goldast,  228. 

2  Cunningham,  Growth  2,  141. 

3  Shaw,  Hist,  of  Curr.,  73.  Das  Buch  von  Shaw  hat  sich  zu 
seiner  besonderen  Aufgabe  gemacht,  zu  zeigen,  wie  die  „bullionist, 
financiers  and  arbitragist“,  „the  merchant  exchangers“  von  den  Wirr¬ 
nissen  der  Währung  Vorteil  zogen  und  zu  Reichtum  gelangten. 


664 


.  Dreiundvierzigstes  Kapitel 

Betrug,  Diebstahl,  Unterschlagung  als  Yer- 

mögensbildner 

Wir  haben  zur  Bezeichnung  dessen,  was  ich  die  „freien“ 
Formen  der  Vermögensbildung  nenne,  zum  Teil  keine  andern 
Ausdrücke  als  die,  die  dem  Strafgesetzbuch  entnommen  sind. 
Was  eigentlich  ausgedrückt  werden  soll,  ist  die  Freiheit  von 
der-  Bindung  sei  es  durch  das  Gesetz  oder  die  Sitte,  sei  es  durch 
einen  Vertrag  mit  einem  zurechnungsfähigen  Partner.  Vielleicht 
könnte  man  diese  freien  Formen  auch  einseitige  nennen  und  sie 
als  solche  den  vertragsmäßigen  gegenüberstellen.  Aber  es  kommt 
ja  nicht  sowohl  auf  die  richtige  Bezeichnung  als  auf  die  genaue 
Erfassung  des  wirklichen  Tatbestands  an.  Und  da  kann  kein 
Zweifel  herrschen,  was  im  einzelnen  Falle  gemeint  ist. 

Wenn  ich  Betrug,  Diebstahl,  Unterschlagung  als  eine  be¬ 
sondere  Form  der  Vermögensbildung  in  früherer  Zeit  aufzähle, 
so  denke  ich  dabei  nicht  an  die  Bereicherung,  die  dem  einzelnen 
Privatmann  auf  diesen  Wegen  widerfahren  ist.  Die  würde  nie 
eine  besondere  „soziale  Kategorie“  bilden  können,  sondern  als 
Begleiterscheinung  der  übrigen  Formen  der  Vermögensbildung 
erscheinen  müssen.  Wenn  wir  also  erfahren,  daß  Handel  und 
Gewerbe  in  allen  früheren  Jahrhunderten  mit  einem  starken 
Einschlag  von  Betrug  betrieben  worden  sind,  so  würde  (auch 
wenn  anerkannt  werden  muß,  daß  häufig  genug  nur  die  unehr¬ 
liche  Geschäftsführung  die  vermögenbildende  Kraft  besessen 
hat)  diese  Methode  der  Bereicherung  doch  unter  die  Kategorie : 
Gewinn  aus  gewerblicher  oder  kommerzieller  Tätigkeit  fallen. 

Es  sind  vielmehr  besondere  Fälle,  in  denen  die  genannten 
Formen  der  Bereicherung  besondere  und  selbständige  Bedeutung 
erlangen.  Ich  möchte  sagen:  überall  dort,  wo  eine  Vertrauens¬ 
stellung  ausgenutzt  wird,  um  sich  widerrechtlich  Vermögens¬ 
vorteile  zu  verschaffen  und  dann,  wenn  diese  widerrechtliche 
Bereicherung  nicht  auf  Ausnahmefälle  sich  beschränkt,  sondern 
gleichsam  zum  Geschäftsbetriebe  als  solchem  zu  gehören  scheint. 


Dreiundvierzigstes  Kapitel:  Betrug,  Diebstahl,  Unterschlagung  usw.  665 


Man  sieht,  was  ich  meine :  die  betrügerische  Amts¬ 
führung. 

Die  Unehrlichkeit  der  Beamten  scheint  eine  allgemeine  Er¬ 
scheinung  zu  sein  —  möchte  man  fast  sagen  — ,  die  nur  in  ihrer 
Allgemeinheit  durch  einige  Ausnahmefälle :  wie  namentlich 
Preußen,  bestätigt  wird.  Jedenfalls  ist  sie  in  allen  früheren 
Zeiten  die  Regel. 

Wir  wissen  aus  dem  Mittelalter,  daß  die  regierenden  Familien 
in  den  Städten  häufig  genug  aus  den  öffentlichen  Mitteln  ihre 
Taschen  füllten  h  Wir  erfahren  von  ungeheuren  Vermögen,  die 
Staatsbeamte  in  jener  Zeit  hinterließen:  in  Frankreich:  Pierre 
Remy,  general  des  finances,  hinterließ  bei  seinem  Tode  (1328) 
ein  Vermögen  von  1200000  livres  (52  Mill.  Frcs.  heutiger  Wäh¬ 
rung)  ;  der  Kanzler  Duprat  ein  solches  von  800  000  ecus  und 
300000  livres1 2. 

In  Deutsch! and  wie  in  Frankreich :  das  Kanzleipersonal  unter 
Friedrich  III.  schildert  iEneas  Silvius  als  ein  Gesindel,  vor  dem 
er  Ekel  empfunden  habe,  als  eine  hungrige  Meute,  die  jede  Ge¬ 
legenheit  benutzt  habe,  wo  es  etwas  zu  verdienen  gab.  Der 
Kanzler  Kaspar  Schlick,  der  erste  Kanzler  bürgerlicher  Herkunft, 
riet  einem  Freunde:  man  müsse  6000  verlangen,  um  3000  zu 
bekommen  3. 

Besondere  Gelegenheit,  zu  raschem  Reichtum  zu  gelangen, 
boten  überall  namentlich  auch  die  Stellungen  in  der  Bergbau¬ 
verwaltung. 

„Gegen  Ende  des  15.  Jahrhunderts  (1496)  nahmen  durch  Treu¬ 
losigkeit  der  darüber  gesetzten  Amtleute,  die  sich  sichtbarlich 
dabei  bereicherten,  die  königlichen  Einkünfte  aus  den  Bergwerken 
zu  Kuttenberg  (Böhmen)  sehr  ab.“  4 

Aus  dem  spanischen  Neapel  des  16.  Jahrhunderts  hören  wir 
von  Beamten,  deren  Gehalt  600  Duk.  beträgt,  die  aber  trotzdem 
große  Reichtümer  ansammeln5. 

1  Für  Flandern:  Vanderkindere,  Siede  des  Artevelde,  140. 
Für  Köln:  Hegei  in  den  Chr.  d.  deutschen  Städte.  Bd.  14,  Einl.  Für 
die  französischen  Städte  im  16.  und  17.  Jahrhundert:  Normand,  149. 

2  D’Avenel,  Hist.  econ.  1,  149.  154. 

3  Ohne  Quellenangabe  mitgeteilt  bei  A.  Salz,  Gesch.  der  böhm. 
Industrie  (1913),  405. 

4  Belege  bei  Gmelin,  Beyträge  zur  Gesch.  des  teutsch.  Bergbaus 
(1783),  69. 

5  „E  cosa  grande  il  considerare  le  smisurate  richezze  che  molti 
di  essi  sono  stati  soliti  di  accumulare  in  brevissimo  tempo.“  Lettera 


6G6  Fünfter  Abschnitt:  Die  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums 

Wie  bestechlich  die  Beamten  in  'England  zur  Zeit  der  jung¬ 
fräulichen  Königin  waren,  ist  bekannt:  die  Richter  hatten  feste 
Taxen  für  Freispruch  schuldiger  Verbrecher  usw.  Selbst  noch 
im  17.  Jahrhundert  wird  uns  die  Verwaltung  des  vereinigten 
Königreichs  als  „utterly  corrupt“  geschildert*  1 :  1621  wird  Bacon 
der  Bestechung  überführt,  1624  Cranfield ;  1621  wird  der  Prozeß 
dem  Schatzmeister  für  Irland,  Sir  George  Carey,  gemacht,  der 
während  seiner  Amtszeit  150  000  jg'  veruntreut  hatte 2.  Über  die 
Zustände  in  der  englischen  Flotte  schreibt  Norreys  an  Sir  John 
Coke  im  Jahre  1603:  „To  say  truth  the  whole  body  is  so  cor- 
rupted  as  there  is  no  sound  part  almost  from  the  head  to  the 
foot;  the  great  ones  feed  on  the  less  and  enforce  them  to  steal 
both  for  themselves  and  their  Commanders.“  3 

Daß  in  Amerika,  im  Norden  wie  im  Süden,  das  Stehlen  zu 
allen  Zeiten  die  eigentliche  Funktion  der  Beamten  war,  versteht 
sich  von  selbst4. 

Ein  fruchtbarer  Boden  für  gewinnbringende  Betrügereien 
wurden  dann  die  halböffentlichen  großen  Erwerbs¬ 
gesellschaften  des  17.  und  18.  Jahrhunderts;  ebenso  wie  die 
Verwaltung  der  Kolonialgebiete.  Die  Verwaltung  entfernter  Pro¬ 
vinzen  wurde  nicht  immer  dem  Tüchtigsten  und  Redlichsten 
anvertraut;  die  Gouverneure  gingen  meist  ihren  Untergebenen 
mit  gutem  Beispiele  voran  und  häuften  Reichtümer  durch  Be¬ 
trügereien  und  Erpressungen.  Der  Anklage  wußten  sie  durch 
Bestechung  der  Richter  zu  begegnen. 

Dasselbe  Bild  im  portugiesischen  Kolonialgebiete 5  wie  im 
holländischen  Indien,  wo  die  Beamten  der  ostindischen  Kompagnie 
wie  die  Raben  stehlen:  ein  Finanzbeamter,  der  1709  starb, 
hinterließ  nach  3 — 4jähriger  Tätigkeit  ein  Vermögen  von 
300000  Tlrn. ;  der  Gouverneur  Walkenier  (1737 — 41)  brachte  bei 
seiner  Rückkehr  nach  Europa  5  Mill.  fl.  heim,  die  er  gestohlen 

al  Cardinal  Borgia,  bei  Ranke,  Fürsten  und  Völker  Südeuropas 

l  3,  477. 

1  Cunningham,  Growth  2,  181  ff.  . 

2  Hall,  Society  in  the  Elizabethan  Age  (4.  ed.  1901),  128  ff. 
Daselbst  werden  auch  die  Betrügereien  der  Kriegslieferanten  ausführ¬ 
lich  behandelt:  p.  124  ff. 

3  Coke  Mss.  Cal.  Hist.  Mss.  Com.  Rep.  XII.  App.  pt.  1,  41,  bei 
M.  Oppenheim,  The  Administration  of  the  Royal  Navy  (1896),  192/93. 

4  Über  die  Korruption  in  den  Neu-England-Staaten  während  der 
Kolonialzeit:  Doc.  rel.  to  the  Col.  Hist.  4  (1854),  317  f.  u.  pass. 

5  Hamilton,  A  new  account  of  the  East  Indies. 


Dreiundvierzigstes  Kapitel:  Betrug,  Diebstahl,  Unterschlagung  usw.  (367 

hatte  h  Einen  guten  Gradmesser  für  das  Maß  von  Betrügereien, 
die  die  Beamten  der  Gesellschaft  begingen,  bilden  die  Sendungen 
'  an  Privatwechseln  nach  dem  Mutterlande,  die  im  Laufe  der  Zeit 
immer  häufiger  werden.  Ln  Jahre  1705  nicht  höher  als  fl.  274434, 
stieg  dieser  Betrag  im  Jahre  1746  auf  fl.  1209586  und  im  Jahre 
1764  auf  fl.  1333419.  Einzelne  Inhaber  weisen  ganz  bedeutende 
Beträge  an.  In  der  Berechnung  vom  Jahre  1746  zahlt  ein  ins 
Vaterland  zurückgewanderter  Fiskal  fl.  55386  auf  Wechsel  ein; 
den  Waisenhausmeistern  in  Amsterdam  werden  fl.  74808,  denen 
zu  Utrecht  fl.  117  766,  denen  zu  ’s  Gravenhage  fl.  37  839,  denen 
zu  Delft  fl.  33253  überwiesen1 2. 

Ein  Amt,  dem  zu  allen  Zeiten  und  bei  allen  Völkern  der 
Makel  einer  unehrlichen  Führung  angehaftet  hat,  ist  das  Kriegs- 
kommissariat.  Hier  hören  wir  selbst  aus  dem  anständigsten 
Milieu:  dem  preußischen,  Klagen  über  betrügerische  Amtsführung: 
„Nichts  ist  einem  Kommissarius  oder  Offizianten  so  erwünscht, 
als  wenn  ihm  die  Verwaltung  eines  Magazins  oder  einer  Kasse 
anvertraut  wird.  War  er  auch  vorher  bettelarm,  ein  Monat  schon 
vermag  ihn  in  einen  angenehmen  Zustand  zu  versetzen.  Und 
zwey,  drey  und  mehrere  Monate  machen  ihn  zu  einem  großen, 
reichen  und  bedeutenden  Mann,  der  seine  Kutsche  oder  Chaise, 
Pferde  —  oft  10  oder  12  —  und  Bedienten  hält,  der  nicht  anders 
als  in  prächtigen  Kleidern,  mit  zwey  goldenen  Uhren,  mehreren 
Ringen  an  den  Fingern  und  dergleichen  kostbaren  Dingen  er¬ 
scheint  ,  .  .  .  kurz,  der  einen  Aufwand  macht,  als  sey  er  ein  Diener 
des  Großmoguls  und  als  habe  er  monatlich  mehrere  Tausend  zu 
verzehren  .  .  .  Gescheidte  Leute  .  .  .  urteilen:  Der  muß  den  König 
recht  betrügen  .  .  .  “  Folgen  die  verschiedenen  Machenschaften, 
deren  sich  der  ungetreue  Knecht  bedient3. 

Ging’s  so  in  Preußen  zu,  so  darf  es  uns  nicht  wundernehmen, 
wenn  wir  aus  andern  Ländern  noch  viel  Ärgeres  erfahren. 

1  Belege  bei  P.  L  er  oy -  B  e  auli e n ,  De  la  colonis.  4,  73.  Neuere 
Ziffern  bei  Bokemeyer,  Die  Molukken,  279  f. 

2  Bokemeyer,  279.  Vgl.  noch  Saalfeld,  Gesch.  des  holl. 
Kolonialwesens,  254. 

3  Karl  Georg  Weisse,  Über  das  Feld-Kriegskommissariat  der 
kgl.  preußischen  Armee  (1794),  35  f.  Der  Verfasser  ist  zwar  ein 
gnitteriger  Staatshämorrhoidarius,  der  viel  mit  seinen  Vorgesetzten  Be¬ 
hörden  gestänkert  hat,  der  aber  doch  den  Eindruck  des  kenntnisreichen 
und  ehrlichen  Beurteilers  macht. 


6G8 


Vierundvierzigstes  Kapitel 

Der  Raub 

Wie  hoch,  oder  wie  niedrig  man  die  Bedeutung  veranschlagen 
mag,  die  Betrug,  Diebstahl  und  Unterschlagung  für  die  Ent¬ 
stehung  des  bürgerlichen  Reichtums  gehabt  haben:  sicherlich 
ist  die  viel  größer,  die  der  hier  zu  betrachtenden  freien  Erwerbs¬ 
art  zukommt:  dem  Raube.  Von  ihr  können  wir  sogar  mit  Be- 
stimmheit  sagen,  daß  sie  wirklich  sehr  groß  ist. 

Auf  welche  Ursprünge  der  Raub  zurückgeht,  welcher  grund¬ 
sätzlichen  Auffassung  vom  Leben  und  seiner  Erhaltung  er  ent¬ 
spricht,  ist  hier  nicht  zu  prüfen.  Für  unsere  Zwecke  genügt  uns 
die  Feststellung,  daß  die  gewaltsame  Wegnahme  von  Gütern  das 
ganze  Mittelalter  hindurch  bis  in  das  18.  Jahrhundert  hinein  in 
allen  europäischen  Kulturländern  zu  den  üblichen  Formen  der 
Vermögensbildung  gehört  hat,  daß  sie  keineswegs  eine  seltene, 
von  dem  Strafgesetz  und  der  öffentlichen  Meinung  durchgängig- 
verdammte  verbrecherische  Tat,  sondern  eine  gelegentlich  zwar 
bestrafte,  aber  dann  doch  immer  wieder  halb  oder  ganz  an¬ 
erkannte,  in  weiten  Kreisen  auch  der  anständigen  Leute  ver¬ 
breitete  Gepflogenheit  war,  die  einen  Bestandteil  der  „Sitte“ 
jener  Zeiten  gebildet  hat1.  (Wenn  auch  nicht  immer  der  Landes¬ 
sitte,  so  doch  ganz  gewiß  der  Standessitte.) 

Nicht  überall  und  immer  hat  der  Raub  auch  für  die  Ent¬ 
stehung  des  bürgerlichen  Reichtums  eine  Bedeutung  gehabt.  Die 
ganze  große  Erscheinung  des  Raubrittertums  beispielsweise 
kommt  für  uns  kaum  in  Betracht.  So  sehr  dieses,  wie  man  weiß, 
Jahrhunderte  hindurch  das  gesamte  Wirtschaftsleben,  namentlich 
in  Deutschland,  eigentümlich  beeinflußt  hat:  schon  daß  es  das 
Geleitwesen  aus  sich  erzeugte,  mußte  Handel  und  Wandel  in 

1  „When  such  a  judge  as  Sir  John  Fortescue  could  exult  that 
more  Englishmen  were  hanged  for  robbery  in  one  year  than  French 
in  seven,  and  that,  ,if  an  Englishman  be  poor  and  see  another  having 
riches  which  may  be  taken  from.  him  by  xnight,  he  will  not  spare  to 
do  so‘,  it  may  be  perceived  how  thoroughly  these  Sentiments  had 
pervaded  the  public  mind,“  H.  Hallam,  State  of  Europe  3,  163, 


Viel'undvierzigsteg  Kapitel:  Der  Raub 


669 


ganz  bestimmte  Bahnen  lenken  —  so  hat  es  doch  zur  Entstehung 
des  bürgerlichen  Reichtums  nichts  beitragen  können,  weil  seine 
Träger  zu  allen  Zeiten  sich  in  einen  trotzigen  Gegensatz  zu 
allem  bürgerlichen  "Wesen  gestellt  haben1  und  auch  in  den  Jahr¬ 
hunderten,  in  denen  anderwärts  die  reich  gewordenen  Landadligen 
langsam  verbürgerlichten ,  höhnisch  auf  die  Pfeffersäcke  herab¬ 
sahen.  Wie  stolz  nimmt  sich  das  „Krippenreitertum“  aus,  in 
dem  schließlich  das  Raubrittertum  sich  verlief! 

„Und  hätten  die  Pfeffersäcke  in  den  Städten  noch  so  viel  Schmuck 
um  sich  hängen,  der  Bürger  bleket  doch  allemal  heraus  ..."  „Das 
Herz  möchte  mir  im  Leibe  zerspringen,  wenn  ich  diese  Leute  in  der 
Stadt  in  so  prächtigem  Kleide  und  Schmucke  auf  goldenen  Karreten 
herprahlen  sehe.  Prahlet,  so  denke  ich  dann,  wie  ihr  wollt,  und  wenn 
ihr  gleich  alle  Tage  statt  eines  Weines  gar  Perlen  söffet,  so  seid  Ihr 
doch  Bürger,  bleibet  Bürger  und  werdet  es  nimmermehr  dahin  bringen, 
uns  gleich  zu  sein.“  So  unterhalten  sich  die  Frauen  der  „Krippen¬ 
reiter“  bei  Hering  und  Kartoffeln  und  Dünnbier  auf  ihrer  armseligen 
Klitsche  gegen  Ende  des  17.  Jahrhunderts.  Aus  der  Erzählung  „Der 
Edelmann“,  die  der  Schlesier  Paul  Win  ekler  (f  1686)  uns  hinter¬ 
lassen  hat.  2.  Aufl.  Nürnberg  1697. 

Wie  o-anz  abseits  vom  Strome  der  modern- wirtschaftlichen 

o 

Entwicklung  steht  der  Krippenreiter  zu  derselben  Zeit,  in  der 
der  englische  „Gentleman“  mit  dem  Gelde,  das  vielleicht  auch 
erst  sein  Vater  oder  sein  Großvater  durch  ganz  gewöhnlichen 
Seeraub  erworben  hatte,  ein  Zinnbergwerk  oder  eine  Glasmanu¬ 
faktur  begründen  hilft.  Auch  die  Raubzüge  der  Normannen  und 
Sarazenen  gehen  uns  hier  nichts  an.  Ebenso  brauchen  wir  uns 
in  diesem  Zusammenhänge  nicht  um  die  allerdings  wohl  aus¬ 
gedehnte  Brigandage  zu  kümmern,  die  in  Frankreich  infolge  der 
Religionskriege  im  16.  Jahrhundert  sich  einstellt2. 

Dagegen  hat  in  den  italienischen  Städten  auch  während  des 
Mittelalters  der  Raub  wohl  in  weiterem  Umfange  dazu  bei¬ 
getragen,  bürgerliche  Vermögen  zu  bilden. 

Man  weiß,  daß  vor  allem  Genua3  und  Pisa  ihren  Reichtum 


1  „Sollen  Bürger,  Kaufleute  und  Krämer  uns  Gesetze  vorschreiben 

und  unsere  Herren  werden?“  sprechen  die  Raubritter,  als  1253  der 
rheinische  Städtebund  sich  bildete,  um  das  Land  gegen  ihre  Gewalt¬ 
taten  zu  schützen.  Alb.  Stadensis.  Staindel,  bei  Raumer,  Hohen¬ 
staufen  4,  243.  . 

2  Siehe  die  Quellen  bei  Fagniez,  Henry  IV.,  15,  164  ff.;  1  i- 

geonneau,  Hist,  du  comm.  2,  34. 

3  Für  das  12.  und  13.  Jahrhundert  teilt  ein  reiches  Quellenmaterial 
mit:  Ed.  Heyck,  Genua  und  seine  Marine,  182  ff. 


070  Fünfter  Abschnitt:  Die  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums 

zum  nicht  geringen  Teile  dem  Seeraube  (an  den  sich  oft  genug 
ein  ausgedehnter  Landraub  anschloß)  zu  danken  gehabt  haben. 
Muß  aber  auch  für  die  Entstehung  der  großen  Vermögen  in 
Venedig  Raub  und  Plünderung  als  wichtige  Quelle  in  Betracht 
ziehen1.  Venedig  hat  vor  allem  den  größten  Anteil  an  der  Aus¬ 
plünderung  der  orientalischen  Städte,  insonderheit  Konstantinopels 
genommen. 

Das  war  aber  deshalb  so  bedeutsam,  weil  es  sich  hier  um 
große  Mengen  von  Gold.  und  Silber  handelte,  die  den  Räubern 
zur  Beute  fielen.  Dann  aber  erst  werden  Raub  und  Plünderung 
recht  einträglich  und  bekommen  ihre  selbständige  große  Be¬ 
deutung  als  Vermögensbildner.  Daß  wirklich  beträchtliche  Mengen 
an  Edelmetallen  von  den  Italienern  und  namentlich  den  Vene- 
tianern  aus  dem  Orient  herausgeholt  wurden,  habe  ich  in  anderm 
Zusammenhänge  schon  festzustellen  versucht2. 

Aber  die  von  den  Italienern  erbeuteten  Summen  verschwinden 
doch,  wenn  wir  sie  in  Betracht  ziehen  mit  denen,  die  den  Räubern 
der  späteren  Jahrhunderte  zur  Verfügung  standen,  seitdem  die 
Gold-  und  Silberschätze  Amerikas  den  europäischen  Nationen 
erschlossen  waren.  Auch  die  freien  Formen  der  Vermögens¬ 
bildung  gewinnen  natürlich  an  Bedeutung  ganz  erheblich,  wenn 
die  Edelmetallproduktion  einen  Aufschwung  nimmt,  deren  ver¬ 
mögenbildende  Kraft  sich  also  auch  hier  wieder  in  einem  ganz 
neuen  Zusammenhänge  äußert. 

Im  16.,  17.,  18.  Jahrhundert  sind  es  Spanier,  Portugiesen, 
Holländer,  Franzosen,  vor  allem  aber  Engländer  und  Nordameri¬ 
kaner,  die  den  Raub  als  wichtiges  Mittel  zur  Reichtumsbildung 
verwenden. 

Wir  begegnen  den  Spaniern  und  Portugiesen  gelegentlich  als 
Seeräubern,  vor  allem  aber  als  Eroberern  in  den  neuentdeckten 

1  Was  wir  an  Quellenmaterial  für  die  Geschickte  des  Raubes  und 
der  Plünderung  in  den  italienischen  Städten  während  des  Mittelalters 
besitzen,  hat  im  wesentlichen  He  yd  verarbeitet.'  Siehe  Levante- 
Handel' 1,  255  ff.  258.  263.  487  f.  489;  2,  16. 

Wohl  die  beste  Quelle  bilden  die  Protokolle  einer  Untersuchungs¬ 
kommission,  die  der  Doge  Giac.  Contarini  im  Jahre  1278  niedersetzte : 
zur  Ermittelung  aller  der  Beraubungen  und  Mißhandlungen,  welche  die 
Venetianer  in  den  letzten  zehn  Jahren  von  seiten  der  Griechen  und 
ihrer  Verbündeten  zu  erdulden  gehabt  hatten.  Wir  erfahren  dort  allein 
die  Geschichte  von  etwa  90  Freibeutern.  Abgedruckt  bei  Tafel  und 
Thomas  3,  159 — 281. 

2  Siehe  Seite  520  f. 


Vierimdvierzigstes  Kapitel:  Der  Raub 


671 


süd amerikanischen  Ländern,  die  sie  als  erste  ausplündern.  Gleich 
Raubtieren,  hat  man  gesagt,  durchstreiften  die  Spanier  die  neuen 
Länder,  gleich  Raubtieren  nach  Beute  spähend  h  Betrug  und  List, 
Roheit  und  Gewalt  mußten  sämtlich  der  Reihe  nach  dazu  mit¬ 
helfen,  die  seit  Jahrtausenden  hier  angesammelten  Schätze  in 
den  Besitz  der  neuen  Herren  zu  bringen.  Sie  erpreßten  Lösegeld 
von  den  Fürsten,  öffneten  die  Gräber,  rissen  die  Goldplatten  von 
den  Tempeln  und  stahlen  die  Schmucksachen  den  Bewohnern 
vom  Leibe  wes-. 

ir  wissen  aber  auch,  daß  es  sich  bei  diesen  Plünderungen 
um  recht  erhebliche  Beträge  handelte  und  können  in  manchen 
Fällen  sogar  genau  die  damit  bewirkte  Anhäufung  von  Vermögen 
in  den  Händen  einzelner  verfolo-em 

Als  Albuquerque  im  Jahre  1511  Malakka  plünderte,  erbeutete 
er  eine  Million  Dukaten,  von  denen  der  König  als  Quinto  200  000 
erhielt Auf  einer  Expedition  in  das  Innere  von  Venezuela  er¬ 
beutete  eine  Weiserexpedition  (1535)  40  000  Goldpesos  aus  Gräbern, 
Wohnungen  oder  Lösegeld;  bei  einem  andern  Zuge  wurden  einem 
Stamme  140000  Pesos  reinen  und  30000  Pesos  geringen  Goldes 
abgenommen1 2 3.  Dem  Montezuma  nahm  man  einen  Schatz  ab,  der 
in  Barren  gegossen  einen  Wert  von  162  000  Pesos  darstellte, 
während  die  kleineren  Schmucksachen  dabei  500  000  Dukaten  wert 
waren4.  Die  nach  Eroberung  der  Hauptstadt  von  Mexiko  ge¬ 
machte  und  eingeschmolzene  Beute  wird  auf  19200  Unzen  oder 
131000  Pesos  angegeben.  Cortez  brachte  bei  seiner  Rückkehr 
nach  Spanien  im  Jahre  1528  Gold  im  Betrage  von  200000  Gold¬ 
pesos  und  1500  Mark  Silber  heim5.  Ein  Brief  des  Bischofs 
Zumarraga  aus  Mexiko  vom  17.  August  1529  erwähnt,  daß  bei 
Salazar ,  dem  Stellvertreter  des  Cortez,  als  er  verhaftet  wurde* 
sich  30000  Pesos  feinen  Goldes  vorfanden:  der  Rest  des  nach 
Spanien  gesandten  Goldes.  Andere  Beamte  hätten  je  25  bis 
30000  Pesos  erpreßt.  Von  dem  gefangenen  Kaziken  von  Meclioacan 

1  Siehe  die  Schilderungen  bei  Herrera,  Xerez,  Gomara,  aus 
denen  uns  Prescott,  Help  u.  a.  Auszüge  mitteilen. 

2  Peschei,  Zeitalter  der  Entdeckungen,  605,  Quelle?.  Odoardo 
Barbosa  spricht  nur  von  einem  „Sacco  d’incredibili  ricchezze  in  oro 
e  mercanzie“,  bei  Ramusio  1,  318 D. 

3  Herrn.  A.  Schuhmacher,  Die  Unternehmungen  der  Augs¬ 
burger  Welser  in  Venezuela,  a.  a.  O.  S.  72.  124.  von  Langegg, 
El  Dorado  (1888),  13/14. 

4  Prescott,  Eroberung  von  Mexiko  1,  541. 

6  Herrera,  Dec.  IV,  3.  .8. 


672  Fünfter  Abschnitt:  Die  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums 

habe  man  als  Lösegeld  800  Goldscheiben  im  Gewicht  von  je  einer 
halben  Mark  nnd  1000  Silberscheiben  je  eine  Mark  schwer  ver¬ 
langt.  In  einem  weiteren  Schreiben  vom  April  1582  wird  er¬ 
wähnt,  daß  ein  gewisser  Uchichila  von  den  Eingeborenen  in 
Mechoacan  Goldschmncksachen  erpreßt  nnd  zu  15 — 16  Barren 
Gold  eingeschmolzen,  jedoch  nur  zwei  deklariert  habe1.  Indem 
Registro  del  Consejo  de  Indias  findet  sich  die  Angabe,  daß  1535 
in  vier  Schiffen  von  Peru  Gold  und  Silber  im  Werte  von  2  Mill. 
Dukaten  nach  Sevilla  gelangt  sei.  Es  war  dies  die  Beute,  die 
den  Spaniern  bei  der  Zerstörung  des  Reiches  Atahualpas  zufiel 2, 
genauer  gesprochen  der  Betrag  des  Lösegeldes  Atahualpas,  das 
an  Gold  1326539  Pesos  de  oro,  an  Silber  51  610  Mark  enthielt3. 

Von  diesem  Lösegelde  erhielten4: 


der  Gobernador  . 

.  .  . 

2350  Mark  Silber 

und 

57  220 

Pesos  de 

oro 

Hernando  Pizarro 

.  .  . 

1267  „ 

)) 

1  1 

31080 

11 

11 

n 

Hernando  de  Soto 

... 

724  „ 

11 

11 

17  740 

11 

11 

n 

der  P.  Juan  de  Sosa .  . 

310  „ 

» 

11 

7  770 

11 

n 

11 

Juan  Pizarro 

.  .  . 

407  „ 

n 

n 

11100 

11 

-  n 

n 

48  Ritter  .  . 

je  ca. 

360  „ 

11 

11 

9  000 

11 

11 

ii 

die  übrigen  der 

170  Partizipianten 

Je 

etwa 

die  Hälfte 

dieses 

Betrages. 

Auch  über  die  bei  der  Eroberung  Cuzcos  im  Jahre  1535  er¬ 
beuteten  Beträge  an  Gold  und  Silber,  soweit  sie  abgeliefert 
worden,  sind  wir  genau  unterrichtet,  da  das  Original  Protokoll 
im  Archivio  de  Indias  noch  erhalten  ist5.  Danach  hätte  sich  die 
Beute  auf  242 160  Castellanos  Gold  und  83  560  Mark  5  Unzen 
Silber  belaufen.  Lösegeld  des  Inka  und  die  Beute  in  dieser  einen 
Stadt  zusammen  betragen  also  über  33000000  Mk.  in  unserem 
Gelde.  Das  sind  die  Ziffern,  von  denen  man  erfährt.  Welche 


1  Mitgeteilt  bei  Soetbeer,  a.  a.  O. 

2  K.  H  ä  b  1  e  r ,  Zur  Geschichte  des  spanischen  Kolonialhandels  im 
16.  und  17.  Jahrhundert,  in  der  Zeitschr.  f.  Soz.-  u.  W.G.  7,  392  f. 

3  Prescott,  Eroberung  von  Peru  1,  356/57.  Damit  stimmt  ziem¬ 
lich  genau  die  Aufstellung  der  „Acta  de  reparticion  del  rescate  de 
Atahualpa“  überein,  die  bei  M.  J.  Quintana,  Vidas  de  Espagnoles 
celebres  1  (1841),  389  f.  abgedruckt  ist. 

4  Testimonio  de  la  Acta  de  reparticion  del  rescate  de  Atahualpa 
otorgata  por  el  escribano  Pedro  Sancho.  Ap.  VI.  ä  la  Vida  de  Pizarro. 
Quintana,  Vidas  de  Espanoles  celebres  2 2,  387  ff. 

5  Abgedruckt  in  der  Colleccion  de  documentos  ineditos  relativos 
al  descubrimento,  conquista  y  colonizacion  de  las  posesiones  Espanoles 
in  America  e  Oceanda;  im  Auszuge  bei  Soetbeer,  a.  a.  O.  S.  65/66. 


Vierundvierzigstes  Kapitel:  Der  Raub  6^3 

ungeheuren  Beträge  müssen  außerdem  den  Eroberern  im  kleinen 
von  Raub  zu  Raub  zur  Beute  gefallen  sein! 

Nur  eine  etwas  verschleierte  Form  der  Beraubung  war  die 
„Besteuerung“,  Tributerhebung,  von  der  auch  die  Eroberer 
Amerikas  weitestgehenden  Gebrauch  machten.  Die  Privatpersonen 
erhielten  hieran  den  entsprechenden  Anteil  durch  Besoldungen 
oder  sie  wurden  unmittelbar  mit  den  Einkünften  größerer  Gebiete 
belehnt.  Die  Güter,  mit  denen  die  spanischen  Offiziere  in  Peru 
belehnt  wurden,  sollen  bis  zu  150000  und  200  000  Pesos  jährlich 
eingetragen  haben1.  Die  Familie  Cortez  erhielt  als  Marquesado 
das  Tal  von  Oaxaco  mit  einer  Bevölkerung  von  17  700  Einwohnern2, 
die  zu  Cortez’  Zeiten  60000  Dukaten  Abgaben  zu  entrichten 
hatten.  Der  Gouverneur  der  portugiesischen  Kolonie  Mozambique 
hatte  gewöhnlich  nach  Beendigung  seiner  dreijährigen  Regierung 
einen  Gewinn  von  300000  Crusados3. 

In  den  folgenden  Jahrhunderten  wird  der  Raub  gleichsam 
berufsmäßig  organisiert  in  der  Seeräuber  ei,  der  alle  see¬ 
fahrenden  Nationen  gleichmäßig  gehuldigt  haben.  Befördert 
wurde  die  Seeräuberei  als  Erwerbsart  durch  die  ewigen  Kriege, 
die  namentlich  während  des  16.  und  17.  Jahrhunderts  tobten, 
und  in  denen  die  Kaperei  nach  damals  geltendem  Seerecht  eine 
hervorragende  Rolle  spielte.  Kaperei  und  Seeräuberei  gehen 
nun  aber  fortgesetzt  ineinander  über:  der  Privateer  wird  zum 
Pirate,  wie  dieser  wiederum  im  Dienst  des  Staats  als  Kaper¬ 
führer  Verwendung  findet. 

Von  französischer  Seeräuberei  hören  wir  des  öfteren  im  16.  Jahr¬ 
hundert4,  erfahren  aber,  daß  sie  im  17.  Jahrhundert  einen  hohen 
Grad  der  Entwicklung  erreicht  hatte.  Wir  sind  über  ihren  Stand 
und  ihre  Ausdehnung  deshalb  besonders  gut  unterrichtet,  weil 
wir  zwei  verschiedene  Berichte  besitzen5,  die  sich  Colbert,  weil 
er  den  Plan  faßte,  die  Seeräuber  Dünkirchens  zu  einem  Ge¬ 
schwader  zu  vereinigen  und  (unter  dem  Kommando  von  Jan 
Bart)  in  den  Dienst  des  Königs  zu  stellen,  über  die  bekanntesten 

1  Roscher,  a.  a.  O.  (Zitat  stimmt  nicht).  Nach  Herrera, 
Dec.  VII.  6.  3 ,  waren  die  Güter  des  Gonzalo  Pizarro  einträglicher 
als  das  Bistum  Toledo. 

2  Humboldt,  Essai  2,  191. 

3  Saalfeld,  Portug.  Kolonien,  174. 

4  Nach  Herrera:  Anderson,  Origins  2,  73,  a°  1544. 

5  Veröffentlicht  bei  Eugene  Sue,  L’histoire  de  la  marine 
fran^aise.  Vol.  IV  (1836),  Livre  VIT,  Ch.  I  et  II. 

Sombart,  Der  moderne  Kapitalismus.  I.  43 


(374  Fünfter  Abschnitt :  Die  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums 

Seeräuber,  die  „capitaines  corsaires“,  erstatten  ließ.  Die  Berichte 
beziehen  sich  auf  33  Kapitäne ,  die  15  Fregatten  und  12  lange 
Barken  befehligen. 

Wir  erfahren  auch  einiges  über  den  Umfang  und  den  Ertrag 
dieses  Seeräubergewerbes.  So  hören  wir  beispielsweise,  daß  der 
berühmteste  aller  Piraten  seiner  Zeit :  Jan  Bart,  Sohn  und  Enkel 
ebenfalls  berühmter  Piraten,  am  1.,  2.,  3.,  4.  und  5.  Januar  1677 
je  ein  holländisches  Schiff“  aufgreift  und  daß  er  die  fünf  Schiffe 
für  10600  Livres  holländischer  Währung  freiläßt.  Ein  anderes 
Schiff  wird  ihm  für  480  £  abgekauft,  ein  drittes  hat  80  000  Livres 
in  Goldstaub  an  Bord  usw. 1 

Man  hat  berechnet,  daß  französische  Piraten  zur  Zeit  Wil¬ 
helms  III.  von  englischen  Schiffen  Prisen  in  Höhe  von  9  Mill.  £ 
in  einem  Zeitraum  von  drei  Jahren  machten2. 

Ebenfalls  ursprünglich  französischer  Herkunft  waren  die  Bu¬ 
kanier  oder  Flibustier,  die  namentlich  in  den  Gewässern  der 
spanischen  Kolonien,  bei  Jamaica,  Haiti  usw.,  im  17.  Jahrhundert 
ihr  Unwesen  trieben3. 

Ein  Bild  aus  Holland  um  dieselbe  Zeit:  die  holländisch-west¬ 
indische  Kompagnie  rüstet  von  1623  bis  1636  mit  einem  Auf- 
wande  von  4500  000  £  800  Schiffe  aus:  sie  kapert  aber  540  Schiffe, 
deren  Ladung  nahe  an  6  Mill.  betrug;  zu  diesen  fügt  sie  3  Mill. 
hinzu,  die  sie  durch  Kaub  und  Plünderung  den  Portugiesen  ab¬ 
genommen  hatte4.  In  den  Gewinn-  und  Verlustrechnungen  der 
großen  Kompagnien  findet  sich  regelmäßig  eine  Summe :  Gewinn 
oder  Verlust  aus  Kaperei  oder  Seeraub. 

Die  Beute,  die  toskanische  Galeeren  im  16.  Jahrhundert  machten, 
als  sie  eine  osmanische  Handelsflotte  an  der  afrikanischen  Küste 
überfielen,  soll  2  000  000  Dukaten  wert  gewesen  sein5 

1  Nach  den  Akten  E.  Sue,  Hist,  de  la  mar.  frany.  4,  1  ft. 

2  J.  Sinclair,  The  History  of  the  Public  Revenue  2 3  (1803),  42. 

3  Hauptwerk:  Histoire  des  Aventuriers  qui  se  sont  signales  dans 

les  Indes  etc.  Par  A.  O.  Oexmelin,  richtiger  J.  Esquemeling,  ur¬ 
sprünglich  holländisch  geschrieben  (1678);  dann  ins  Spanische  und 
Französische  übersetzt;  vollständigste  Ausgabe  1744.  4  Vol.  Vgl. 

Pow.  Pyle,  The  buccaneers  and  marooners  of  America.  1891; 
Burney,  History  of  the  B.  of  Am.  1816;  zuletzt  1902;  H.  Handel¬ 
mann,  Geschichte  der  Insel  Hayti  (1856),  22  ff. 

4  Oshlow  Burrish,  Batavia  illustrata  or  a  view  of  the  Policy 
and  Commerce  of  the  United  Provinces  (1728),  333. 

5  G.  Uzielli,  Cenni  storici  sulle  imprese  scientißche,  maritime 
e  coloniali  di  Ferdinando  I.  1587—1609  (1901),  35. 


Vierundvierzigstes  Kapitel:  Der  Raub 


675 


Die  Seeräubernationen  par  excellence  im  16.  und  17.  Jahr¬ 
hundert  sind  aber  England  und  die  Neuenglandstaaten  in  Amerika. 

Um  die  Mitte  des  16.  Jahrhunderts  wimmelt  es  von  englischen 
Seeräubern  an  den  Küsten  Englands  und  Schottlands :  nach  einem 
Bericht  des  Sir  Thomas  Chaloner  waren  im  Sommer  1563  über 
400  Seeräuber  im  Kanal,  die  in  wenigen  Monaten  6 — 700  franzö¬ 
sische  Schilfe  gekapert  hatten  h 

In  einer  Eintragung  im  Privy  Council  Register  von  Schott¬ 
land  aus  dem  Jahre  1546  heißt  es:  „Forasmuch  as  there  is  a 
peace  taken  and  standing  betwixt  our  Sovereign  Lady  and  her 
dearest  uncle,  the  King  of  England,  who  has  written  to  her  Grace, 
showing  that  there  are  certain  Scottish  ships  in  the  east  sea  and 
other  places,  that  daily  take,  rob  and  spoil  her  ships  and  lieges 
of  his  realm  passing  to  and  fro“  etc.  Solchen  Eintragungen  be¬ 
gegnen  wir  in  jenen  Jahren  häufig1 2. 

Man  erinnert  sich  auch  der  Schilderungen,  die  Erasmus  in 
seinem  Naufragium  von  den  Gefahren  der  Seeräuberei  im  Kanal 
entwirft. 

Die  englischen  Geschichtsschreiber  führen  diese  plötzliche 
Ausdehnung  der  Piraterie  auf  die  Marianischen  Verfolgungen ' 
zurück:  damals  hätte  eine  Menge  der  besten  Familien  sich  als 
Seeräuber  beteiligt,  und  ihre  Scharen  seien,  vermehrt  durch  be¬ 
schäftigungslose  Fischer,  auch  nach  dem  Regierungsantritt  der 
Elisabeth  zusammengeblieben3. 

Binnen  wenigen  Jahren  jedenfalls  nimmt  England  als  See¬ 
räuberland  im  Norden  dieselbe  Stelle  ein,  wie  Algerien  im  Süden. 
Die  Piraterie  wird  zu  einem  wesentlichen  Bestandteile  des  eng¬ 
lischen  Volkstums.  In  einem  Promemoria,  das  Cecil  im  Anfang 
der  Regierung  Elisabeths  ausarbeitet,  werden  als  Mittel  zur  Ent¬ 
wicklung  einer  Flotte  drei  angeführt:  darunter  die  Pflege  der 
Seeräuberei. 

In  der  Tat  werden  diejenigen  Historiker  recht  haben,  die  be¬ 
haupten,  daß  auf  ihr  Englands  Seemacht  sich  aufgebaut  hat.  Sie 
lieferte  dem  Lande  nicht  nur  ein  ausgezeichnetes  Matrosenmaterial: 
sie  erzeugte  auch  jene  große  Reihe  kühner  Abenteurer  und  See¬ 
helden,  an  denen  das  Elisabethsche  England  so  reich  ist  und  die 

1  Froude,  Hist,  of  E.  8  (1863),  451. 

2  Reg.  Priv.  Counc.  1,  471;  2,  500  u.  ö.,  bei  P.  Hume  Brown, 
Scotland  in  the  time  of  Queen  Mary  (1904),  69  ff.  Dort  sind  auch 
noch  andere  Quellen  angeführt. 

3  Douglas  Campbell,  The  Puritan  etc.  1,  389  seg. 


43* 


676  Fünfter  Abschnitt:  Die  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums 

durch  ihre  kühnen  Eroberungszüge  die  englische  Nation  in  kurzer 
Zeit  zu  Macht  und  Ansehen  emporführten. 

Alle  die  berühmten  Seefahrer  und  Entdecker  und  Kolonie¬ 
gründer  jener  Zeit  waren  im  Grunde  nichs  anderes  als  Seeräuber 
und  wurden  doch  als  Helden  verehrt.  Francis  Drake,  auf  dessen 
Piratenschiff  bei  seiner  Rückkehr  nach  seiner  denkwürdigen 
Beutefahrt  (1577 — 80)  die  Königin  das  Frühstück  einnimmt,  den 
sie  eigenhändig  zum  Ritter  schlägt,  nennt  Hentzner,  der  das 
Schiff  1598  sah:  „the  noble  pirate,  Francis  Drake.“  Und  wenn  die 
Königin  den  obersten  der  Seeräuber  zum  Ritter  schlug,  konnten 
die  Gerichte  den  Seeraub  selbst  nicht  als  Verbrechen  strafen. 
„The  present  practice  of  pardoning  notables  crimes,  of  pardoning 
piracy  especially,  ought  to  cease“  .  .  .  fordert  (sicher  vergebens) 
eine  Adresse  an  die  Königin  vom  Jahre  1579. 

Wir  kennen  dem  Namen  nach  aus  jener  Zeit  nur  zwei  oder 
drei  dieser  Seeräuber:  außer  Francis  Drake  vielleicht  noch  Sir 
Walter  Raleigh,  John  Hawkins  und  einige  andere.  Aber  selbst 
die  hervorragenden  unter  ihnen ,  die  große  Beutezüge  unter¬ 
nehmen,  zählen  nach  vielen  Dutzenden  und  Hunderten.  Man 
braucht  nur  etwa  den  dritten  Band  von  Hakluyts  Reise¬ 
beschreibungen  durchzublättern,  um  zu  erstaunen  über  die  große 
Anzahl  unternehmender  Räuber,  die  in  jenen  Tagen  aus  eng¬ 
lischen  Häfen  aussegelten,  um  Schätze  zu  erbeuten.  Die  John 
Oxham  von  Plymouth ,  die  Andrew  Baker  von  Bristol ,  die 
Christoph  Newport,  die  William  King,  die  Rob.  Duddeley,  die 
Armfas  Preston,  die  Sir  Anthony  Sherley,  die  William  Parker 
und  viele  andere  sind  alle  aus  gleichem  Holze  geschnitzt. 

Wie  zahlreich  müssen  aber  erst  diejenigen  gewesen  sein,  die 
ihr  Räubergewerbe  in  der  Nähe  des  Heimatlandes  betrieben! 
„Nearly  every  gentleman  along  the  western  coast  .  .  .  was 
engaged  in  the  business.“  (D.  Campbell.) 

Der  Betrieb  der  Seeräüberei  war  ein  geschäftsmäßig  wohl- 
geordneter.  Die  Schiffe  der  Piraten  wurden  von  wohlhabenden 
Leuten  ausgerüstet,  die  man  „gentlemen  adventurers“  nannte, 
hinter  denen  dann  oft  noch  andere  standen,  die  ihnen  die  Mittel 
zur  Ausrüstung  gegen  hohe  Zinsen  vorschossen.  Zum  Teil  war 
der  hohe  Adel  bei  solchen  Unternehmungen  beteiligt.  Wenn  der 
Earl  of  Bothwell  zur  Zeit  der  Königin  Maria  von  Schottland 
teilnahm  am  Seeraub,  so  tat  er  nichts  anderes,  als  daß  er  einen 
einträglichen  und  durchaus  üblichen  Beruf  seiner  Tage  ergriff1, 


1  P.  Hu  me  Brown,  1.  c.  p.  72. 


Vierundvierzigstes  Kapitel:  Der  Raub  (377 

Zur  Zeit  der  Stuarts  sehen  wir  den  Earl  of  Derby  und  andere 
Royalisten  zahlreiche  Seeräuber  ausrüsten1. 

Und  das  Geschäft  lohnte  sich.  Namentlich  natürlich,  wenn 
man  so  glücklich  war,  auf  den  Gold-  oder  Silberstrom,  der  sich 
aus  Amerika  beständig  ergoß,  zu  stoßen.  Verfolgen  wir  etwa 
Francis  Drake  auf  seiner  großen  Fahrt  in  den  Jahren  1577  bis 
1580:  an  der  spanischen  Küste  Südamerikas  plündert  er  die 
Küstenstädte ;  dann  erbeutet  er  große  Mengen  Silbers,  die  gerade 
aus  den  Minen  Perus  angelangt  sind ;  dann  kapert  er  ein  treasure- 
ship  mit  einer  reichen  Ladung  Gold,  Silber,  Perlen,  Diamanten, 
und  so  geht  es  weiter,  bis  sein  Schiff  „a  cargo  such  as  the  world 
had  never  seen  before  and  never  has  seen  since  bis  day“  mit 
sich  führt.  Von  dem  Ertrage  empfängt  Drake  selbst  einen  reichen 
Anteil,  100  %  werden  an  die  Anteilseigener  ausbezahlt,  der  Rest 
kommt  an  —  die  Königin.  (Froude.) 

1592  empfangen  von  einer  Expedition,  die  Raleigh  unter¬ 
nommen  hat,  die  „adventurers“,  das  heißt  eben  die  Ausrüster, 
sogar  10  für  1  zurück,  machen  also  1000%  Gewinn2. 

John  Hawkins  gibt  seine  Beute,  namentlich  an  Gold,  Silber 
und  Edelsteinen ,  selbst  auf  1 800  000  £  an.  Wir  'hören  von 
einzelnen  Prisen,  die  60000  Duk.,  200  000  Duk.  bringen3  usf. 

Im  Jahre  1650  klagt  die  Levante-Gesellschaft,  daß  sie  durch 
Seeräuberei  innerhalb  zweier  Jahre  verschiedene  große  Schiffe 
verloren  habe,  die  einen  Wert  von  mindestens  1  Mill.  £  dar¬ 
gestellt  hätten4. 

Wie  die  Seeräuber  selber  auch  zu  Wohlstand  und  Reichtum 
kamen,  erzählen  uns  die  Zeitgenossen.  Von  einem  berühmten 
Seeräuber,  Mr  Cavendish,  wird  berichtet5:  „The  passing  up  the 
river  of  Thames  by  Mr  Cavendish  is  famous,  for  his  mariners 
and  soldiers  were  all  clothed  in  silk,  his  sails  of  damask,  his 
top  cloth  of  gold,  and  the  richest  prize  that  ever  was  brought 
at  any  time  into  England.“ 

Gelehrige  Schülerinnen  des  Mutterlandes  sind  dann  die 
amerikanischen  Kolonien  geworden.  Die  Ausdehnung,  die  hier 
die  Seeräuberei  gewann,  namentlich  im  Staate  New  York,  würde 

1  Gardiner,  Commonwealth  1,  330,  bei  Cunningham  2,  188. 

2  Strypes,  Annals  4,  129,  bei  D.  Campbell  1,  374. 

3  Nach  Hakluyt:  Fronde  9,  360. 

4  S.P.D.  (1650)  9,  34,  bei  Cunningham  2,  189. 

5  Capt.  Francis  Allen  to  Anthony  Bacon,  Aug.  the  17  th  1589, 
Birch  1,  57,  bei  Campbell  2,  20, 


078  Fünfter  Abschnitt:  Die  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums 

unglaublich,  erscheinen,  wenn  sie  nicht  durch  eine  Fülle  einwand- 
freier  Zeugnisse  erwiesen  wäre.  Vor  allem  enthalten  die  Berichte 
des  Earl  of  Bellomont  an  die  Lords  of  Trade  anschauliche 
Schilderungen  von  den  schier  unglaublichen  Zuständen  unter 
dem  Governor  Fletcher,  der  mit  den  ärgsten  Seeräubern  spazieren 
fährt,  nach  Belieben  Freibriefe  für  die  anzuwerbenden  Matrosen 
—  100  $  pro  Kopf  —  erteilt,  ganze  Schiffsladungen  geschenkt 
bekommt,  die  er  dann  für  800  weiter  verkauft  usw.  Wir  er¬ 
fahren  von  ganz  großen  Summen,  die  die  Piraten  erbeuten,  und 
daß  es  von  ihnen  in  New  York  und  Boston  wimmelt,  wo  auch 
viele  alte  Cbucaneers5  in  Komfort  und  Ansehen  leben1.  Nach 
dem  Zeugnis  des  Sekretärs  von  Pennsylvania,  James  Logan, 
kreuzten  im  Jahre  1717  1500  Seeräuber  an  der  Küste  von  Caro¬ 
lina  allein,  von  denen  800  ihr  Standquartier  in  New  Providence 
hatten1 2 3.  Im  17.  Jahrhundert:  „nearly  every  colony  in  A.  was 
in  one  way  or  another  offering  encouragement  to  the  pirates.“8 

Von  einem  indischen  Piraten  des  18.  Jahrhunderts,  Angria, 
der  einer  alten  Seeräuberfamilie  entstammte,  hören  wir,  daß  er 
eine  ganze  Flotte  besaß,  daß  er  mehrere  Inseln  bei  Bombay  be¬ 
festigt  und  eine  Besitzung  von  100  Meilen  Länge  und  60  Meilen 
Breite  sich  zu  eigen  gemacht  hatte4. 

*  * 

* 

Ich  weiß  nicht,  wo  ich  anders  als  in  dem  Kapitel,  das  die 
Vermögensbildung  durch  Raub  behandelt,  die  Entstehung  der- 

1  Die  wichtigsten  Aktenstücke ,  namentlich  clie  Berichte  des  Earl  * 
of  Bellomont,  sind  veröffentlicht  in  den  Doc.  relat.  to  the  Colon.  Hist, 
of  the  State  of  New  York  4  (1854),  306  ff.  323.  447.  480.  512  ff. 
Vgl.  auch  Macaulay,  H.  of  E.  10,  14.  21,  wo  die  hübsche  Geschichte 
vom  Capt.  Kidd  erzählt  wird,  der  als  ..Privateer5  zur  Bekämpfung  der 
Seeräuberei  von  der  Regierung  ausgesandt  wurde  und  mit  einer  reichen 
Beute  als  tPirate5  wiederkam,  da  er  sich  unterwegs  besonnen  hatte, 
daß  es  viel  ersprießlicher  sei,  friedliche  Kaufleute  zu  fangen,  statt 
kriegerische  Seeräuber  zu  bekänrpfen. 

2  ShirleyCarterHughson,  The  Carolina  Pirates  and  Colonial 
Commerce  1670 — 1740  (1894),  59.  Die  Studie  behandelt  den  Gegen¬ 
stand  mit  großer  Liebe  und  Ausführlichkeit.  Nach  der  Auffassung  H.s 
soll  die  Begünstigung  der  Seeräuberei  durch  die  amerikanischen  Kolonien 
eine  Folge  der  englischen  Schiffahrtspolitik  gewesen  sein,  die  die  Ko¬ 
lonien  dem  Mutterlande  opferte :  die  Seeräuberei  bot  das  beste  Mittel, 
billige  Waren  zu  kaufen  (p.  17). 

3  Hughson,  1.  c.  p.  39. 

*  John  Campbell,  The  Political  Survey  2  (1774),  599, 


i 


Vierundvierzigstes  Kapitel:  Der  Kaub 


679 


jenigen  bürgerlichen  Vermögen  erwähnen  soll,  die  der  Auf¬ 
hebung  der  Klöster  und  der  Einziehung  der  Kloster- 
und  Kirchengüter  durch  den  Staat  ihr  Dasein  verdanken. 
Diese  Erwerbsart  hat  namentlich  für  England  eine  große  Be¬ 
deutung.  Um  welche  Beträge  es  sich  dabei  handelte,  habe  ich 
bereits  angegeben1.  Es  bedarf  hier  nur  der  Feststellung ,  daß 
der  König  seine  Beute  dazu  verwandte,  seine  Günstlinge  aus¬ 
zustatten,  und  daß  diese  mit  einer  durchaus  bürgerlichen  Wirt- 
schaftsgesinnung  die  Ausbeutung  des  ihnen  geschenkten  Landes 
in  Angriff  nahmen2. 

Die  englischen  'Wirtschaftshistoriker  erblicken  eine  der  wich¬ 
tigsten  ökonomischen  Wirkungen  der  Aufhebung  der  Klöster  in 
der  Tatsache,  daß  nunmehr  der  Geldabfluß  nach  Born  aufhörte. 
In  der  Tat  scheint  dieser  alle  Jahrhunderte  hindurch  mindestens 
in  gleicher  Stärke  angehalten  zu  haben,  wie  wir  es  für  die  Zeit 
des  Mittelalters  rechnungsmäßig  feststellen  können.  England 
trug  den  ehrenden  Beinamen  einer  „Milchkuh  des  Papstes“.  Für 
die  normale  Vermögensbildung  mußte  offenbar  diese  Änderung 
von  erheblicher  Bedeutung  sein. 

1  Siehe  oben  S.  600  f.  Zu  dem  eingezogenen  Grundbesitz  kamen 
übrigens  noch  andere  Vermögensstücke,  so  daß  sich  der  Betrag  des 
kirchlichen  Einkommens,  den  Heinrich  VIII.  konfiszierte,  auf  160  000  £ 
erhöht. 

2  Vgl.  noch  mit  der  auf  Seite  600  f.  genannten  Literatur: 

J.  Th.  Rogers,  Hist,  of  agriculture  4,  113. 

Russell  M.  Garnier,  History  of  the  english  landed  filterest. 

2.  ed.  1908,  Vol.  I,  Ch.  XXI. 

F.  A.  Gasquet,  Henry  VIII.  and  the  English  Monasteries.  2  Vol. 

1889,  namentlich  Vol.  II,  p.  387  ff. 


680 


Fünfundvierzigstes  Kapitel 

Der  Zwangs liandel 

Zwangshandel  nenne  ich  dasjenige  Verfahren,  mittels  dessen 
einem  Urteilsunfähigen  oder  Willenlosen  durch  Anwendung  von 
List  oder  Gewalt  auf  dem  Wege  einer  scheinbar  freiwilligen 
Tauschhandlung  möglichst  unentgeltlich  Wertobjekte  abgenommen 
werden.  Zwangshandel  in  diesem  Sinne  ist  fast  aller  Warenaus¬ 
tausch  zwischen  den  europäischen  Völkerschaften  und  den  Natur¬ 
völkern,  wenigstens  in  seinen  Anfängen  und  in  der  Art,  wie  er 
bei  der  Begründung  der  europäischen  Kolonialwirtschaft  zur 
Anwendung  gelangte,  aber  auch  aller  Handel  mit  den  indischen 
Kulturvölkern  in  den  ersten  Jahrhunderten  ist  Kaub,  Betrug 
oder  Diebstahl. 

Wer  heute  die  Quellenwerke  liest,  staunt  über  die  schamlose 
Selbstverständlichkeit,  mit  der  die  Menschen  jener  Zeit,  vor  allem 
natürlich  immer  die  Engländer,  die  Ausbeutung  der  unterjochten 
Völker  als  gottgewollte  und  den  Handel  als  Ausbeutung  ansahen. 
So  schreibt  einer  der  besonnensten  Publizisten  seiner  Zeit  über  den 
Zustand  in  Ostindien:  „Instead  of  that  incertain  and  precarious 
State  in  which  our  Commerce  remained  here  for  many  years ,  we 
enjo}7  now  the  most  certain  and  ample  security  from  the  nature 
of  our  fortifications ,  and  particularly  the  extensive  and  highly  im- 
proved  Fortress  at  Calcutta,  the  large  body  of  troops  that  we  maintain 
and  pay  ..."  usw.  John  Campbell,  Polit.  Survey  of  Britain  2 
(1774),  613. 

Es  ist  nur  englisch,  wenn  derselbe  Verfasser  kurz  darauf  fest¬ 
stellt:  daß  die  Kompagnie  ihre  Keichtümer  erwerbe  „ohne  jeden  Be¬ 
trug  und  jede  Unterdrückung“  (without  eitker  Fraud  or  Oppression), 
und  daß  die  Engländer  in  Indien  herrschten  nach  den  „Grundsätzen 
der  Billigkeit  und  Milde“  (principles  of  equity  and  indulgence). 

Je  größer  die  Übermacht  des  europäischen  Staates,  desto 
gewinnbringender  gestaltete  sich  natürlich  dies  Verfahren.  Wäh¬ 
rend  des  Mittelalters  war  dieser  Kolonialhandel  für  die  West¬ 
europäer  in  verhältnismäßig  enge  Schranken,  gebannt.  Wider¬ 
standslose  Völker  zu  beliebiger  Ausbeutung  gab  es  nur  im 
russischen  Keiche,  in  das  von  Norden  her  die  Hanseaten,  von 
Süden  her  die  Gemiesen  ihre  Fangarme  ausgestreckt  hatten, 


Fünfundvierzigstes  Kapitel:  Der  Zwaugshandel 


681 


Zwischen  die  Völker  des  Orients  und  Westeuropa  schob  sich 
dagegen  das  arabische  Händlertum,  das  dem  europäischen  im 
wesentlichen  als  ebenbürtiger  Kontrahent  gegenübertrat.  Ein 
Jahrtausend  hindurch  haben  die  Araber  die  orientalischen  Völker 
in  ihrem  Interesse  ausgebeutet,  haben  sie  sich  des  Reichtums 
des  Orients  als  eines  mächtigen  Tragbalkens  für  ihre  glänzende 
Kultur  bedient1 2. 

Die  Entdeckungen  und  Eroberungen  um  die  Wende  des 
15.  Jahrhunderts  setzten  nun  die  europäischen  Völker  in  den 
Stand,  die  Araber  als  Mittler  zwischen  sich  und  dem  Osten  zu 
umgehen.  Um  zu  ermessen,  was  das  bedeutete,  den  Zwischen¬ 
handelsprofit  der  Araber  in  europäische  Taschen  zu  leiten,  muß 
man  den  ungeheuren  Preisaufschlag  kennen,  mit  dem  die  arabischen 
Händler  die  Waren  weiter  verkauft  hatten.  Eine  uns  überkommene 
Berechnung  englischer  Kaufleute  aus  dem  16.  Jahrhundert  ergibt, 
daß  die  ostindischen  Waren  in  London  halb  so  viel  kosteten  als 
in  Aleppo ;  daß  sich  aber  die  Preise  der  in  Ostindien  direkt  ge¬ 
kauften  bzw.  über  Aleppo  bezogenen  Waren  wie  folgt  stellten: 

Preise  der  Waren  in  Ostindien 

1  Pfd.  Pfeffer  ...  —  Sh.  21/«  d. 

1  Nelken  ...  —  „9  „ 

1  „  Muskatnüsse  .  —  „4  „ 

1  „  Muskatblüte  .  —  „8  „ 

1  „  Indigo  ...  1  „  2  „ 

1  „  Rohseide  .  .  2  „  —  „ 

Maynes,  Center  of  the  Circle  of  Commerce.  1623;  zit.  bei 
Anderson,  Orig.  2,  304.  Nach  einem  andern  Preiskurant,  den 
wir  einem  anonymen  Begleiter  Vasco  de  Gamas  verdanken,  kostete 
ein  Quintal  Ingwer  in  Alexandria  11  Crusaden  (Dukaten),  in  Calicut 
der  Bachar,  der  5  Quintais  hielt,  nur  20  Crusaden.  Ein  Quintal  Weih¬ 
rauch  kostete  in  Alexandrien  2  Crusaden,  genau  so  viel  wie  der  Bachar 
in  Mekka.  Roteiro  da  viagem  em  descobrimento  da  India  (1838),  115. 
Zit.  bei  0.  Peschei,  Geschichte  des  Zeitalters  der  Entdeckungen 
(1858),  27. 


1  Wie  sehr  ein  großer  Teil  des  arabischen  Reichtums  auf  der 
kommerziellen  Ausbeutung  der  afrikanischen  und  namentlich  asiatischen 
Völkerschaften  beruhte,  lehrt  jede  Geschichtsdarstellung.  Vgl.  noch 
insbesondere  Stüwe,  Die  Handelszüge  der  Araber  unter  den  Abassiden 
(1836),  und  namentlich  von  Kremer,  Kulturgeschichte  des  Orients 

2  (1877),  274  ff.  189  (Reichtum  der  Kaufleute ;  Vermögen  von  20  bis 
30  Milk  Frcs.). 


Preise  in  England, 
in  Aleppo  gekauft 
—  Sh.  20  d. 


d 

6 

5 

20 


082  Fünfter  Abschnitt:  Die  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums 

War  man  im  Osten  durch  Verdrängung  der  Araber  an  die  wehr¬ 
losen  Völker  unmittelbar  herangekommen,  so  hatte  schon  während 
der  zweiten  Hälfte  des  15.  Jahrhunderts  Portugal  ein  stattliches 
Ausbeutungsgebiet  an  der  Westküste  von  Afrika  erschlossen,  und 
dazu  kam  nun  ein  ganzer  neuer,  noch  unberührter  Weltteil,  den 
jetzt  das  westeuropäische  Händlertum  in  den  Kreis  seiner  Wirk¬ 
samkeit  ziehen  konnte. 

Daß  diese  Wirksamkeit  aber  so  gewinnbringend  werden  konnte, 
hatte  zur  Voraussetzung,  daß  man  den  Völkern,  mit  denen  man 
„Handel“  trieb,  europäische  Waren  zu  Phantasiepreisen  anbängte 
dagegen  die  Produkte  der  Eingeborenen  für  ein  Butterbrot  an 
sich  brachte.  Dadurch  entstand  dann  jene  ungeheure  Spannung 
zwischen  Einkaufs-  und  Verkaufspreis,  die  wir  heute  kaum  noch 
für  möglich  halten. 

Preise  im  Zwangshandel 

Den  Indiern  teilte  der  Corregidor  ohne  Rücksicht  auf  den  Bedarf 
europäische  Waren  zu.  Nach  Bodin  kosteten  alte  Stiefeln  300  Duk., 
ein  spanischer  Mantel  1000  Duk.,  1  Pferd  4 — 5000  Duk.,  ein  Becher 
Wein  200  Duk.  Die  unglücklichen  Eingeborenen  erhielten  oft  Sachen, 
deren  Gebrauch  sie  nicht  entfernt  kannten.  Sie  mochten  dagegen  Vor¬ 
stellungen  machen  soviel  sie  wollten:  die  „Verkäufer“  weigerten  sich, 
irgend  etwas  zurückzunehmen.  Oft  verdienten  sie  kaum  genug  für  den 
eigenen  und  Familienunterhalt,  sollten  aber  sich  in  Samt  und  Seide 
kleiden,  die  kahlen  Wände  ihrer  baufälligen  Hütten  mit  Spiegeln 
schmücken;  man  gab  ihnen  Spitzen,  Bänder,  Knöpfe,  Bücher  und 
tausend  andere  unnütze  Dinge,  und  alles  für  die  unsinnigsten  Preise. 
Dergleichen  Austeilungen  der  europäischen  Importen  nannte  man  im 
spanischen  Amerika  ripertimentos.  Vgl.  die  Darstellungen  bei  Scherer, 
225  ff.,  und  Bonn,  Spaniens  Niedergang,  111,  wo  auch  die  Quellen 
angegeben  sind. 

Die  Hudson  Bay  Comp,  tauscht  (1743)  gegen  ein  Bib  e r f eil  je  : 

4  Pfd.  Kupferkessel 

H/2  „  Schießpulver 

5  „  Schrot 

6  „  brasil.  Tabak 

1  Elle  bays 

2  Kämme 

2  Ellen  Strumpfband 

1  Paar  Hosen 

1  Pistole 

2  Beile 

Da  im  gleichen  Jahre  26  750  Biberfelle  für  9780  g  verkauft  sind, 
so  wertet  ein  Biberfell  7 — 8  sh.  Aus  den  Streitschriften  zwischen 
Mr  Dobbs  und  Cap.  Middleton,  bei  Anderson,  Orig.  3,  230  ff. 


Fünfundvierzigstes  Kapitel:  Der  Zwangsliandel 


683 


Bei  der  Entdeckung  des  Altai  gaben  die  Eingeborenen  für  die 
eisernen  Kessel  usw.  den  Russen  so  viel  Zobelfelle,  wie  sich  liinein- 
s topfen  ließen.  Man  konnte  für  10  Rub.  in  Eisen  leicht  5 — 600  Rub. 
in  Pelzen  bekommen:  Stock,  Gemälde  des  russischen  Reichs  2,  16; 
Ritter,  Erdk.  2,  577,  zit.  bei  Roscher  1,  238. 

„Tarife",  nach  denen  den  Negern  ihre  kostbaren  Erzeugnisse,  wie 
Elfenbein,  Goldstaub  usw.,  abgenommen  wurden,  bei  Labat,  Nouvelle 
Relation  de  l’Afrique  occidentale,  namentlich  Tome  IV  (1728),  Ch.  XVI  ff. 
„Les  marchands  ont  la  politique  de  les  laisser  (die  Neger)  presque 
toujours  dans  la  disette,  afin  de  leur  faire  acheter  plus  eher  ce  qu’ils 
leur  portent.“  1.  c.  p.  44. 

Der  Bahar  Gewürznelken,  der  auf  den  Molukken  1  —  2  Duk. 
kostete,  wurde  bereits  in  Malakka  mit  10 — 14  Duk.,  in  Calicut  mit 
50 — 60  Goldskudi  bezahlt.  Odoardo  Barbosa  bei  Ramusio, 
Delle  navigationi  1  (1563),  323  f.  Von  ähnlichen  Einkäufen  zu  Spott¬ 
preisen  auf  der  Insel  Gigolo  erzählt  Ant.  Pigafetta;  man  erstand 
einen  Bahar  Nelken  für  10  Ellen  oder  15  Ellen  schlechten  Zeuges; 
für  35  Wassergläser  usw.  Viaggio  di  A.  P.  atorno  il  mondo,  bei 
Ramusio  1,  366  B. 

Die  holländisch-ostindische  Kompagnie  kaufte  den  Pfeffer  zu  IV2 
bis  2  Stüber  das  Pfund  und  verkaufte  ihn  in  Holland  zu  17  Stüber; 
die  Portugiesen  zahlten  in  Ostindien  3 — 5  Duk.  für  den  Zentner  Pfeffer, 
für  den  sie  in  Lissabon  40  Duk.  erlösten.  Saalfeld,  Gesch.  des 
portug.  Kolonialwesens  1,  148.  258.  282.  290;  dort  finden  sich  noch 
zahlreiche  andere  Preisberechnungen,  die  übrigens  meist  für  das  Ende 
des  18.  Jahrhunderts  gelten.  Man  darf  annehmen,  daß  die  Differenzen 
zwischen  Einkaufs-  und  Verkaufspreis  in  den  Anfängen  des  indischen 
Handels  noch  viel  beträchtlicher  waren. 

Im  Jahre  1663  brachten  fünf  Schiffe  eine  Ladung  nach  Holland, 
deren  Einkaufspreis  600  000  fl.,  deren  Verkaufspreis  2  000  000  fl.  be¬ 
trug;  1697  eine  solche  für  bzw.  5  und  20  Mill.  fl.  (Luders.) 

Bei  der  französisch-ostindischen  Kompagnie  betrug  1691: 


Einkaufspreis  Verkaufspreis 


Weiße  Baumwollstoffe  und  Musselin  . 

327  000 

1. 

1267 

000 

1. 

Seidenstoffe . 

32  000 

97 

000 

Pfeffer  (100  000  Pfd.) . 

27  000 

101 

600 

Rohseide . 

58  000 

ll 

111 

900 

Salpeter . 

3  000 

45 

000 

T) 

Baumwollgarn . 

9  000 

n 

28 

500 

Einige  kleinere  Artikel: 

Insgesamt . 

487  000 

1  700 

000 

P.  Kaeppelin,  La  Comp,  des  I.O.  (1908),  224. 

Profite 

Der  „Handels“profit  der  Welser  Expedition  betrug  175%.  Rems 
Chronik,  Chr.  d.  St.  25,  279. 

Die  niederl.  -  ostind.  Kompagnie  verteilte  in  den  198  Jahren  ihres 
Bestehens  durchschnittlich  1 8  °/o  jährlich. 


084  Fünfter  Abschnitt:  Die  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums 


In  den  ersten  Jahren: 

1610/11  (erste  Auszahlung)  162%%  (in  Gold  und  Gewürzen) 


1619 

37%  % 

in 

Gold 

1623 

25  % 

n 

Gewürznelken 

1625 

20% 

5) 

Gold 

1626 

12%  % 

1628 

25% 

n 

1630 

17%  % 

)) 

1632 

12%  % 

1633 

20% 

1634 

20  % 

D 

1635 

12%  % 

Gewürznelkeu 

im  17. 

Jahrhundert  und  im  ersten  Drittel  des  18.  Jahrhunderts  etwa 

25  °l o  im  Durchschnitt. 


Siehe  die  genauen  Ziffern  bei  G.  C.  Klerk  de  Heus,  Gesckicktl. 
Überblick  der  niederl.-ostind.  Komp.  (1894),  Beil.  VI. 


Von  1605  bis  1728  betrug  die: 

niedrigste  Dividende . 

*  höchste  „  . 

durchschnittliche  Dividende 
Gesamtdividende . 

»  . 

(bei  einem  Grundkapital  von  650  000  j£). 


=  121/2°/o 

=  75% 

=  24% 

=  2784%% 

=  18  000  000  £ 


Dazu  zu  rechnen : 

1.  die  dem  Staate  gezahlten  Beträge  (für  Erneuerung  des  Privilegs); 

2.  die  von  den  Beamten  erworbenen  Vermögen; 

3.  die  bei  den  Anlagen  für  die  Gesellschaft  und  die  Produktion 
erzielten  Gewinne. 


In  Ceylon  war  der  Gewinn  der  holländisch- ostindischen  Kompagnie 
an  den  Handelsartikeln ,  die  dort  eingeführt  und  verkauft  wurden : 
1764  durchschnittlich  142%,  1783  durchschnittlich  145%%;  in 
Suratte  und  Malabar  wurden  1764  durchschnittlich  176  7/s  gewonnen 
und  in  Malakka  1647  durchschnittlich  52%%,  1784  durchschnittlich 
40%%.  H.  Bokemeyer,  Die  Molukken  (1888),  278. 

Selbst  bei  indirektem  Handel  rechnet  Usselincx  (Anfang  des 
17.  Jahrhunderts),  daß  die  Holländer  an  den  Waren,  die  sie  über 
Spanien  nach  W'estindien  schicken,  durchschnittlich  20  °/o  (de  een  tyd 
min  en  d’ander  tyd  meerder)  gewinnen.  Zit.  bei  L asp eyr es ,  Gesch. 
der  volksw.  Anschauungen  der  Niederländer  (1863),  66. 

Die  ersten  acht  Reisen  der  englisch- ostindischen  Kompagnie  sollen 
171%  reinen  Gewinn  abgeworfen  haben.  Rez.  des  Werkes  Miles 
Brit.  Ind.  in  Ed.  Rev.  31. 

In  einer  Denkschrift  aus  dem  Jahre  1733  stellt  die  englische  Süd¬ 
seegesellschaft  für  das  Schiff,  das  sie  gemäß  dem  Assientovertrag  nach 
dem  spanischen  Westindien  verfrachten  durfte,  selbst  folgende  Kosten- 
und  Gewinnrechnung  auf: 


Fünfundvierzigstes  Kapitel:  Der  Zwangshandel 


685 


Kosten  für  Ankauf  der  Ladung  .  • . Sg  200  000 

„  „  Löhne  und  Unterhaltung  der  Mannschaft  „  25  000 

„  n  Angestellte  und  Geschenke . .  10  000 

„  „  Kommission  für  Super  Kargos  ....  „  .  20  000 

„  zwei  Jahre  Zinsen  für  das  in  der  Ladung 

T)  )'  #  O 

angelegte  Kapital . .  16  000 

Unkosten  zu  Hause,  Anteil  für  dieses  Geschäft  .  .  „  5  000 

Insgesamt  Kosten . äg  276  000 

Erlös  der  Ladung  - . „  350000 

Gewinn  .  .  , . 74  000 


Im  direkten  „Handel“  mit  dem  spanischen  Amerika  rechnete  man 
noch  im  Anfang  des  18.  Jahrhunderts  mit  Gewinnen  bis  zu  300  %, 
während  solche  von  „mindestens“  100 — 200  °/o  die  Kegel  bildeten. 
Savary,  Dict.  de  Comm.  1,  1233. 

Die  englische  Levante  Co.  machte  in  den  Anfängen  des  17.  Jahr¬ 
hunderts  300  %  Gewinn.  Zeugnis  ihres  Zeitgenossen,  des  Autors  des 
„Trade’s  Increase“  (1615):  „at  first  this  company’s  ordinary  returns 
were  three  to  one ;  and  this  has  generally  been  the  cäse  in  nearly 
discovered  trades.“  Anderson,  Orig.  2,  225.  A°  1605. 

Will  man  die  starke  vermögenbildende  Kraft  des  Zwangshandels 
richtig  abmessen,  so  muß  man,  wie  ich  schon  des  öfteren  angedeutet 
habe,  neben  den  Dividenden  der  Handelsgesellschaften  die  oft  recht 
ansehnlichen  Gewinne  in  Rücksicht  ziehen,  die  die  Beamten  und 
andere  Private  nebenbei  machten.  Gerade  diese  Gewinne  waren 
manchesmal  der  einzige  Grund,  weshalb  nach  außen  hin  eine  Gesell¬ 
schaft  scheinbar  nicht  gedieh  und  womöglich  mit  Verlusten  abschloß. 
Ein  Beispiel  dafür  liefern  uns  die  Rechnungsabschlüsse  der  französiscli- 
ostindischcn  Kompagnie. 

Seit  1681  war  es  den  französischen  Kaufleuten  erlaubt,  auf  den 
Schiffen  der  ostindischen  Kompagnie  Waren  auf  eigene  Rechnung  zu 
verfrachten.  Während  nun  die  Comp,  des  I.  O.  durch  ihren  großen 
Aufwand  für  Kriege,  wegen  verlorener  Schiffe  usw.  trotz  reichlichen 
Gewinns  an  den  gehandelten  Waren:  von  1675 — 1684  hatte  sie  nach 
Indien  gesandt: 

14  Schiffe  mit .  3  400  000  1.  Gold  und  Gütern 

waren  zurückgekehrt 

8  Schiffe,  deren  Ladung  gekostet  hatte  ....  1870000  1. 

verkauft  wurde  zu .  4  370  000  „ 

doch  nicht  übermäßige  Gewinne  machte,  profitierten  die  Privaten :  sie 
verfrachteten  z.  B.  auf  zwei  Schiffen  Waren  zum  Einkaufspreise  von 
232  000  1.  und  erlösten  —  nach  Abzug  der  Pracht  —  400  720  1., 
hatten  also  fast  74%  Gewinn.  Nach  den  Akten  Paul  Kaeppelin, 
La  Comp,  des  I.  O.,  142.  144. 

In  einer  Denkschrift  der  englischen  Südsee gesellschaft 
aus  dem  Jahre  1733  heißt  es  mit  Bezug  auf  ihren  Assientohandel : 
...  the  Companys  factors  and  agents  in  America  .  .  .  got  large 


086  fünfter  Abschnitt:  Die  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums 

estates  in  a  very  few  years,  and  some  of  them  in  little  more  than 
one  year,  whilst  the  Company  continued  to  be  such  great  losers.“ 
Ganz  allgemein  und  von  beträchtlichem  Umfang  war  der  private 
„Handel“  der  Angestellten  der  englisch  -  ostindischen  Kompagnie  in 
Indien.  Siehe  z.  B.  John  Campbell,  The  Political  Survey  2 
(1774),  104.  Über  die  Erpressungen  der  Angestellten  der  großen 
Kompagnien,  namentlich  der  britisch-ostindischen  enthält  nach  zeit¬ 
genössischen  Quellen  wertvolle  Angaben  auch  Büsch,  Über  die  öffent¬ 
lichen  Handlungskompagnien,  in  der  von  ihm  und  Ebeling  heraus¬ 
gegebenen  Handlungsbibliothek  1  (1785),  72  ff. 


087 


Sechsimdvierzigstes  Kapitel 

Die  Sklavenwirtschaft  in  den  Kolonien 

Literatur 

Levantekolonien.  Über  die  Sklaverei  im  Mittelalter  unterrichten 
im  Zusammenhänge  Otto  Langer,  Sklaverei  in  Europa  während 
der  letzten  Jahrhunderte  des  Mittelalters.  1891;  L.  Cibrario,  Deila 
schiavitü  e  del  servaggio.  2  Yol.  1868;  idem,  Nota  sul  commercio  degli 
schiavi  a  Genova  nel  secolo  XIV,  in  seinen  Operette  varie  (1860); 
V.  Lazari,  Del  traffico  e  delle  condizioni  degli  schiavi  in  Venezia 
nei  tempi  di  mezzo  in  Miscellanea  di  storia  italiana  1  (1862),  463  ff. ; 
F.  Zamboni,  Gli  Ezzelini ,  Dante  e  gli  schiavi.  Nuova  ed.  1897; 
Wattenbach,  Sklavenhandel  im  Mittelalter,  im  Anzeiger  für  Kunde 
der  deutschen  Vorzeit.  N.  F.  21  (1874),  37  f.  Vgl.  auch  die  auf 
Seite  431  f.  genannten  Schriften. 

Auch  in  Italien  wurden  während  des  Mittelalters  und  der  Renaissance 
Sklaven  aus  den  Kolonien  verwandt.  Die  Nachweise  sind  neuerdings 
zusammengestellt  bei  N.  Tamassia,  La  famiglia  ital.  nei  sec.  XV 
e  XVI  (1910),  Cap.  XII.  Im  13.  und  14.  Jahrhundert  bringen  die 
venetianischen  und  genuesischen  Schiffe  große  Ladungen  Sklaven  von 
der  Küste  des  Schwarzen  Meeres,  der  Krim,  aus  Afrika,  dem  mau¬ 
rischen  Spanien.  Vgl.  Livi,  in  der  Riv.  ital.  di  sociol.  Anno  XI. 
fase.  4/5.  Frati  zählt  im  13.  Jahrhundert  5807  Sklaven  in  403  Familien 
in  Bologna.  Rass.  naz.  1.  Nov.  1907,  zit.  Tamassia,  359.  Nach  einer 
Entscheidung  von  Bari  1127  sind  die  Angehörigen  der  slavischen  Rasse 
Sklaven  „uire  sanguinis“.  Das  florentinische  Statut  erklärt  die  Sklaverei 
für  legitim  für  alle  Ungläubigen. 

Transozeanische  Kolonien.  Über  die  gelbe  Sklaverei :  F.  Saal- 
feld,  Gesch.  d.  holländischen  Kolonialwesens  in  Ostindien.  1813. 
H.  Bokemeyer,  Die  Molukken.  Gesch.  u.  quellenmäßige  Darstellung 
der  Eroberung  und  Verwaltung  der  ostindischen  Gewürzinseln  durch  die 
Niederländer.  1888;  namentlich  S.  275  ff.  Day,  The  policy  and  ad- 
ministration  of  the  Dutch  in  Java.  1904.  —  Über  die  Ausbeutung 
Ostindiens  durch  die  Engländer  insbesondere  unterrichten:  die 
Reiseberichte  von  Francis  Buchanan,  Journey  f'rom  Madras.  ‘3  Vol. 
1807.  Montgomery  Martin,  History  of  Eastern  India.  3  Vol.  1838; 
ferner  die  Parlamentsberichte  über  Indien  aus  den  letzten  Jahrzehnten 
des  18.  Jahrhunderts,  z.  B.  der  neunte  aus  dem  Jahre  1783.  Neuer¬ 
dings  ist  auch  die  erste  brauchbare ,  wenn  auch  skizzenhafte  Wirt¬ 
schaftsgeschichte  des  britischen  Indiens  erschienen:  Romesh  Dutt, 
The  economic  histoiy  of  India  under  early  british  rule.  3.  ed.  1908. 


68g  Fünfter  Abschnitt:  Die  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums 

Über  die  rote  Sklaverei:  A.  Helps,  a.  a.  0.  K.  Häbler, 
Amerika  und  Geschichte  Spaniens,  Kap.  15.  H.  Handelmann,  Ge¬ 
schichte  der  Insel  Hayti  (1856),  5  ff.;  über  die  rote  Sklaverei  ins¬ 
besondere  in  den  nordamer  Manischen  Kolonien :  Bernard  G.  Steinei, 
History  of  Slavery  in  Connecticut.  1893;  John  Spencer  Bassett, 
Slavery  and  Servitude  in  the  Colony  of  North  Carolina.  1896;  Hemy 
Scofield  Cooley,  A  Study  of  Slavery  in  New  Jersey.  1896. 

Für  die  Geschichte  der  schwarzen  Sklaverei  sind  wir  auch  auf 
die  älteren  Werke  noch  immer  angewiesen  wie :  M.  Chr.  Sprengel, 
Vom  Ursprung  des  Negerhandels.  1799.  Alb.  Hüne,  Vollständige 
historisch-philosophische  Darstellung  aller  Veränderungen  des  Neger¬ 
sklavenhandels  usw.  2  Bde.  1820.  An  Essay  on  the  Slavery  and 
Commerce  of  the  human  species  particulary  the  african.  1786  (enthält 
eine  Übersicht  über  weitere  zeitgenössische  Schriften).  Falconbridge , 
An  account  of  the  slave  trade.  1788;  deutsch  1790.  Th.  F.  Buxton, 
The  african  slave  trade.  1840;  deutsch  1841.  A.  Moreau  de  Jonnes, 
Recherches  statistiques  sur  l’esclavage  colonial.  1842.  J.  E. 
Cairnes,  The  Slawe  Power.  2.  ed.  1863  (das  theoretische  Haupt¬ 
werk  über  Sklavenarbeit).  —  Unter  den  neueren  Arbeiten  ragen  hei- 
vor:  Henry  Wilson,  Hist,  of  the  rise  and  fall  of  the  slave  power 
in  America.  4.  ed.  3  Vol.  1875  f.  G.  F.  Kn ap  p  ,  Der  Ursprung  der 
Sklaverei  in  den  Kolonien,  in  Brauns  Archiv  Bd.  II.  1889.  K.  Häbler, 
Die  Anfänge  der  Sklaverei  in  Amerika,  in  der  Zeitsckr.  f.  Soz.-  u. 
W.G.  Bd.  IV.  Luc.  P e y t r a u d ,  L’esclavage  aux  Antilles  fran^aises 
avant  1789  (1897)  (enthält  eine  erste  durchgängig  aus  den  Quellen 
des  Kolonialarchivs  geschöpfte  Gesamtdarstellung  der  Sklavenwirtschaft 
eines  Gebietes ,  ist  daneben  aber  auch  reich  an  Ausblicken  auf  die 
Gesamtentwicklung  dieser  Institution).  Gomer  William,  History 
of  the  Liverpool  Privateers  with  an  account  of  the  Liverpool  Slave 
Trade.  1897.  John  R.  Spears,  The  American  Slave  Trade.  1901. 
G.  Sc  eile,  Histoire  polit.  de  la  traite  negriere  aux  Indes  de  Castille. 
Contrats  et  Traites  d’Assiento.  Vol.  I.  1905. 

Über  die  Bedeutung  der  weißen  Sklaverei  namentlich  für  einige 
der  nordamerikanischen  Kolonien  sind  wir  erst  in  den  letzten  Jahr¬ 
zehnten  durch  eine  Reihe  vorzüglicher  Bearbeitungen  gründlich  unter¬ 
richtet  worden.  Die  Schriften,  denen  wir  vielen  Aufschluß  verdanken, 
sind  außer  den  oben  genannten  von  Bernard  C.  Steiner,  J.  S. 
Basset  und  Henry  Scofield  Cooley;  J.  C.  Ballagh,  White 
servitude  in  the  Colonie  of  Virginia.  1895;  Eug.  Irv.  McCormac, 
White  servitude  in  Maryland.  1904. 

Über  alle  drei  Arten  der  Sklaverei  in  den  englischen  Kolo¬ 
nien  in  Nordamerika  unterrichtet  das  Buch  von  A.  Sartorius  Frh. 
von  Waltershausen,  Die  Arbeitsverfassung  der  engl.  Kolonien 
in  Nordamerika.  1894.  Allumfassend  aber  dürftig  ist  das  Werk  von 
J.  K.  Ingram,  Gesch.  der  Sklaverei  und  der  Hörigkeit ;  deutsch  von 
L.  Kätscher.  1895. 

Soweit  man  mit  den  Einwohnern  der  Kolonie  „Handel“  trieb, 
ist  ihre  Ausbeutung  schon  in  dem  vorhergehenden  Abschnitte 


beclisund  vierzigstes  Kapitel:  Die  Sklaven  Wirtschaft  in  den  Kolonien  ßg9 

geschildert  worden.  Aber  man  wollte  doch  mit  dem  kriegerischen 
Apparate,  den  man  aufwandte,  um  fremde  Völker  zu  unterwerfen, 
tunlichst  noch  mehr  erreichen  als  nur  eine  Ausbeutung  der  Ein¬ 
wohner  auf  dem  Wege  des  Zwangshandels,  die  immer  nur  soweit 
reichte  als  die  freiwillige  Gütererzeugung  der  Eingeborenen.  Man 
wollte  diese  zur  Arbeit  veranlassen,  damit  ihre  Arbeitskraft  voll 
ausgenutzt  werde,  in  der  schon  nach  dem  Ausspruche  Colons  der 
ganze  Reichtum  der  Kolonien  lag.  Also  gelangte  man  dazu,  die  Ein¬ 
geborenen  (oder  Hinzugezogenen)  zur  Arbeit  zu  zwingen, 
das  heißt  man  gelangte  zur  Sklavenwirtschaft  in  den  verschieden¬ 
sten  Formen.  Es  kann  nun  gar  nicht  oft  genug  betont  werden, 
daß  der  bürgerliche  Reichtum  sowohl  in  den  italienischen  Stadt¬ 
staaten  wie  in  den  westeuropäischen  Großstaaten  vor  der  vollen 
Entfaltung  des  kapitalistischen  Wirtschaftssystems  zu  einem  ganz 
beträchtlichen  Teile  der  Sklavenwirtschaft  in  den  Kolonien  seine 
Entstehung  verdankt.  Das  soll  im  folgenden  nachzuweisen  ver¬ 
sucht  werden. 

Wir  werden  uns  zu  diesem  Behufs  zunächst  einen  Überblick 
verschaffen  müssen  über 

I.  Die  Tatsache  und  die  Art  der  Sklaverei  in  den 
verschiedenen  Kolonien 

1.  Sklaverei  und  Hörigkeit  in  den  Levantekolonien 

Was  die  Westeuropäer  auf  dem  flachen  Lande  in  den  bis 
dahin  arabischer  oder  türkischer  Herrschaft  unterstehenden 
Gebieten  antrafen,  war  eine  zu  Abgaben  und  Leistungen  ver¬ 
pflichtete  halbhörige  Bevölkerung,  die  in  diesem  Abhängigkeits¬ 
verhältnis  seit  Jahrhunderten  verharrte.  Die  Berichte,  die  wir 
über  das  Verhalten  der  neuen  Herrscher  besitzen,  machen  es 
wahrscheinlich ,  daß  die  Lage  der  Bauern  sich  unter  fränkisch¬ 
italienischer  Herrschaft  eher  verschlechterte.  Sie  sanken  vielfach 
auf  die  Stufe  der  Sklaverei  herab.  „Ein  Zug  unmenschlicher 
Härte  geht  durch  die  fränkischen  Einrichtungen  auf  diesem  Ge¬ 
biete;  es  wird  sich  kaum  noch  ein  Beispiel  anführen  lassen  von 
einer  so  erbarmungslosen  Geltendmachung  des  harten  Rechtes 
der  Eroberung,  von  dem  hier  nicht  bloß  die  besiegten  Feinde, 
sondern  die  Glaubensgenossen  der  Sieger  betroffen  wurden  . .  . 
Danach  wird  man  füglich  nichts  anderes  annehmen  können,  als 
daß  fast  die  ganze  ländliche  Bevölkerung  der  von  den  Franken 
eingenommenen  Landschaften  einfach  in  Sklaverei  geriet.“ 

SomUart,  Der  moderne  Kapitalismus.  I. 


44 


090  Fünfter  Abschnitt:  Die  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums 

Prutz,  Kulturgeschichte,  327.  Damit  übereinstimmend  bemerkt 
Beugnot,  1.  c.:  „Le  servage  sous  les  Francs  ne  parait  avoir  eu 
d’autre  regle  que  la  volonte  absolue,  illimitee  des  proprietaires.“  In 
160  Dörfern,  die  die  Tempelherren  in  der  Gegend  von  Safed  besaßen, 
finden  wir  nicht  weniger  als  11  000  Sklaven  beschäftigt.  Prutz,  a.  a.  0. 
Die  Formel  der  Beleihung  war:  „alle  Hechte  und  Besitzungen  an  Männern, 
Weibern  und  Kindern“  : —  werden  übertragen.  Vgl.  noch  H.  Prutz, 
Die  Besitzungen  des  deutschen  Ordens  im  heiligen  Lande  (1877),  60. 

Was  aber  für  die  Lande  arabisch-türkischer  Herrschaft  gilt, 
dürfen  wir  auch  für  die  Gebiete  des  byzantinischen  Reichs 
annehmen,  in  denen  sich  die  Italiener  niederließen:  daß  sie,  an 
Stelle  der  alten  Herren  tretend,  eine  mit  Abgaben  und  Diensten 
stark  belastete,  meist  schollenpflichtige  Bauernschaft  zu  ihrer 
Verfügung  bekamen  und  diese  sicher  nicht  weniger,  sondern  eher 
mehr  als  ihre  Vorgänger  anzuspannen  verstanden1. 

Wo  uns  die  Quellen  eingehender  über  die  Art  der  Ansied¬ 
lung  unterrichten,  wird  diese  Auffassung  durch  sie  bestätigt.  So 
erfahren  wir  Genaues  über  die  Festsetzung  der  Venetianer  in 
Kreta.  Hier  wurden  nach  dem  ersten  Aufstande  der  Kreter  die 
Güter  der  „Rebellen“  zunächst  einmal  systematisch  „konfisziert“ 
und  nun  den  venetianischen  Nobili  zugeteilt.  Die  Casalia  gingen 
in  die  Hände  der  venetianischen  Kolonisten  mit  ihrem  gesamten 
Bestände  „an  Vieh  und  Sklaven“  über.  Jeder  Kolonist  erhielt 
als  erste  Kation  25  „Villani“  (also  wohl  Hörige)  zur  Bebauung 
seines  Landes  überwiesen 2.  Auf  Chios  waren  die  Paroikoi  (Villani) 
Leibeigene  der  Maona  oder  einzelner  Maonesen.  Ihre  Lage  -war 
so  gedrückt,  daß  viele  sich  durch  die  Flucht  von  der  Insel  zu 
retten  suchten3. 

Welches  das  Rechtsverhältnis  war,  in  dem  die  gewerbe¬ 
treibende  Bevölkerung  in  den  Städten  vor  Ankunft  der 
Italiener  sich  befand  bzw.  in  welches  sie  später  geriet,  vermag 
ich  nicht  deutlich  zu  sehen.  Nach  dem  jedoch,  was  wir  über 
ihre  Zusammensetzung  und  Organisation  erfahren4,  scheint  mil¬ 
der  Schluß  zulässig,  daß  ein  großer  Teil  in  einem  sklavenartigen 
Verhältnis  zu  den  herrschenden  Klassen  stand,  mindestens  aber 


1  Über  die  mannigfach  abgestuften  Hörigkeitsverhältnisse  im  späteren 
oströmischen  Reiche  sind  wir  gut  unterrichtet.  Daß  auch  die  Sklaverei 
während  des  ganzen  Mittelalters  im  byzantinischen  Reiche  fortdauerte, 
dürfen  wir  jetzt  als  verbürgt  annehmen.  Otto  Langer,  8 — 10. 

2  Noiret,  1.  c.,  und  dazu  A.  Haudecour,  Introduction. 

8  Art.  Giustiniani,  a.  a.  O.  S.  338  ff. 

4  von  Kremer,  Kulturgeschichte  des  Orients  2,  152  f. 


Seclisundvierzigstes  Kapitel :  Die  Sklavenwirtschaft  iu  den  Kolonien  ß91 

zu  Abgaben  und  Leistungen  in  starkem  Maße  verpflichtet  war. 
Wäre  das  nicht  der  Fall  gewesen,  d.  h.  hätte  der  Beherrscher 
einer  Stadt  keine  Vorteile  von  ihren  Bürgern  gezogen,  so  wäre 
ja  die  Zuteilung  von  ganzen  Stadtteilen,  wie  sie  bekanntlich  der 
Regel  nach  stattfand,  ohne  allen  Sinn  gewesen. 

Nun  müssen  wir  aber,  um  das  Ausbeutungsfeld,  das  sich  den 
Italienern  in  der  Levante  erschloß,  in  seiner  vollen  Ausdehnung 
zu  ermessen,  in  Betracht  ziehen,  daß  während  der  ganzen  Zeit 
ihrer  Kolonialherrschaft  das  Arbeitermaterial  durch  fortgesetzte 
starke  Zuführung  von  Sklaven  unaufhörlich  vermehrt  wurde. 
Byzantiner  und  namentlich  Araber  hatten  bereits  einen  schwung¬ 
vollen  Sklavenhandel  getrieben.  In  das  Kalifenreich  wurden 
schwarze  sowohl  als  weiße  Sklaven  jährlich  zu  vielen  Tausenden 
eingeführt.  Jene  bezog  man  aus  Zawyla,  der  damaligen  Haupt¬ 
stadt  der  Landschaft  Fezzan,  wo  ein  Hauptmarkt  hierfür  war, 
aus  Ägypten  oder  von  der  afrikanischen  Ostküste,  „und  zwar  in 
solchen  Massen,  daß  mehrmals  gefährliche  Sklavenaufstände  statt¬ 
fanden“  ;  die  weißen  kamen  aus  Zentralasien  oder  aus  den  frän¬ 
kischen  und  griechischen  Ländern1.  Was  wir  über  das  Vorgehen 
der  Italiener  wissen,  läßt  nun  aber  ohne  weiteres  den  Schluß 
zu,  daß  sie  diese  Sklavenzufuhr  nicht  verringerten,  sondern  gewiß 
noch  steigerten;  nur  mit  dem  Unterschiede,  daß  sie  jetzt  an  Stelle 
kriegsgefangener  Christen  kriegsgefangene  Muselmänner  in  die 
Sklaverei  verführten. 

Auch  wenn  wir  nicht  so  viele  Einzelzeugnisse  über  die  Ver¬ 
wendung  von  Sklaven  und  den  Handel  mit  ihnen  aus  jener  Zeit 
besäßen,  so  müßte  uns  der  Geist  der  Gesetze  und  Verordnungen 
in  den  Kolonialgebieten  davon  überzeugen,  daß  es  sich  dort 
um  eine  Wirtschaftsverfassung  handelte ,  die  sich  mehr  und 
mehr  auf  der  Verwendung  von  Sklaven  auf  baute  und  sich 
in  nichts  von  derjenigen  unterschied,  die  später  Portugiesen, 
Spanier  und  Holländer  in  ihren  Kolonien  einführten. 

Da  sind  zunächst  in  großer  Menge  Kundgebungen  der  Regierungen 
des  Mutterlandes,  aus  denen  die  Sorge  um  die  Erhaltung  und  Ver¬ 
mehrung  des  Sklavenbestandes  hervorgeht.  Prämien  werden  ausgesetzt, 
um  die  Sklavenzufuhr  zu  heben,  die  gleichen  Summen,  die  bisher  dem¬ 
jenigen  vorgeschossen  waren,  der  sich  zur  Vermehrung  des  Pferde¬ 
bestandes  bereit  erklärt  hatte:  „de  conducendo  ad  dictam  nostram  in- 
sulam  Crete  majorem  quantitatem  sclavorum  masculorum  qui  sint  ab 
annis  quinquaginta  infra“  gewährt  die  venetianische  Regierung  Dar- 


1  von  Krem  er  2,  152. 


41* 


692  Fünfter  Abschnitt:  Die  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums 

lehen  von  3000  Hyperpen  (etwa  500 — 700  Duk.).  Noiret,  Doc. 
ined.  54.  Oder  es  werden  von  der  Regierung  selbst  Sklaven  und 
Kriegsgefangene  in  die  Kolonien  versandt.  So  stieg  beispielsweise  die 
Bevölkerungsziffer  von  Kreta  dank  solcher  Einfuhr  unter  venetianischer 
Herrschaft  von  50000  auf  192725.  Haudecour,  1.  c.  Am  15.  Jan. 
1447  schenkt  die  Regierung  von  Kreta  dem  Sudan  von  Babylon  ein 
Schiff  mit  44  Sklaven,  aus  Erkenntlichkeit  für  seine  Handelserleichte¬ 
rungen.  Noiret,  416. 

Da  fehlen  aber  vor  allem  jene  Dekrete  nicht,  die  eine  auf  Sklaverei 
aufgebaute  Wirtschaft  in  so  reicher  Fülle  notwendig  macht:  Straf¬ 
bestimmungen  für  den  Fall  des  Entlaufens  von  Sklaven,  Schutzvor¬ 
kehrungen  gegen  Sklavenaufstände  usw. :  „si  aliqui  ex  hominibus  quos 
habebit  ad  suum  Stipendium  sive  salarium  pro  coquendo  seu 
laborando  dictos  zucharos  fugerent,  possit  et  liceat  sibi  hostales 
fugitivos  ubique  in  terris  et  super  Insula  intromittere  et  capere  et 
illos  ponere  in  manibus  Rectorum  nostrorum  qui  fugitivi  tractentur  et 
puniantur  eodem  modo,  quo  tractantur  faliti  galearum.“  Noiret,  325. 
Man  könnte  hier  an  „freie  Lohnarbeiter“  denken.  Dann  wäre  aber 
deren  Arbeit  in  Wirklichkeit  ebenso  sehr  Zwangsarbeit  gewesen  wie 
die  eines  gemeinen  Sklaven.  —  Allgemeine  Strafandrohung  11.  März 
1303:  wer  flüchtige  Sklaven  bei  sich  aufnimmt.  Item  concedatur  sibi 
et  quinque  personis  apud  eum  licentia  armorum  de  die  et  de  nocte, 
in  omnibus  terris  et  locis  Insule  Crete  pro  securitate  personarum  et 
rerum  suarum“  wird  zugunsten  eines  Industriellen  verfügt. 

Wer  die  Sammlungen  dieser  Dekrete  durchgeblättert  hat,  wird 
gründlich  von  der  Meinung  geheilt  sein,  die  noch  heute  vielfach  ver¬ 
nommen  wird:  es  habe  sich  während  des  Mittelalters  lediglich  um 
eine  mehr  oder  weniger  patriarchalische  Haussklaverei  gehandelt.  Nein; 
die  Sklavenwirtschaft  in  der  Levante  war  um  nichts  „gemütlicher“  als 
die  spätere  in  Amerika  und  Indien. 

2.  Die  Sklaverei  in  den  transozeanischen  Kolonien 

Bei  aller  Mannigfaltigkeit  der  Formen,  deren -man  bei  Besitz¬ 
ergreifung  der  neuen  Gebiete  sich  bediente:  die  Arbeitsver¬ 
fassung  lief  auch  hier  überall  auf  Sklaverei  hinaus,  wenn  mau 
deren  Kern  und  Wesenheit  in  der  Zwangsarbeit  erblickt.  Inner¬ 
halb  dieses  -weiten  Begriffes  der  Zwangsarbeit  hat  es  dann  frei¬ 
lich  sehr  erhebliche  Abstufungen  der  Unfreiheit  gegeben,  die  für 
die  ökonomische  Wirkung  aber  von  untergeordneter  Bedeutung 
waren. 

a )  Die  Beschaffung  des  Arb  eit  cm  taten  als 

Das  Arbeitermaterial  wurde  für  die  verschiedenen  Kolonien 
und  auch  für  dieselbe  Kolonie  auf  verschiedenem  Wege  beschafft: 

1.  die  Holländer  und  Engländer  haben  in  ihren  indischen 
Besitzungen  sich  während  all  der  Jahrhunderte  der  dort  an- 


Sechsundvierzigstes  Kapitel:  Die  Sklavenwirtschaft  in  den  Kolonien  693 

sässigen  gelben  Bevölkerung  bedienen  können:  Ergebnis:  dio 
gelbeSklaverei; 

2.  die  amerikanischen  Kolonien  sind  zunächst  ebenfalls  von 
den  Eingeborenen,  also  den  Indianern,  bearbeitet  worden:  Er¬ 
gebnis:  die  rote  Sklaverei.  Man  weiß  aber,  daß  sich  die  rote 
Rasse  als  ungeeignet  zur  Sklaverei  erwies:  die  Indianer  starben 
aus,  sei  es  weil  der  Druck  der  Arbeit,  die  sie  zu  leisten  hatten, 
zu  schwer  für  sie  war:  >;,se  mueren  los  pobres  como  animales  sin 
dueno,“  schreibt  ein  Augenzeuge,  der  Bruder  Domingo  de  Santo 
Tornas  in  einem  Berichte  über  die  Bergwerke  in  Potosi;  sei  es 
weil  sie  aus  Verzweiflung  in  Massen  Selbstmord  verübten  oder 
sich  vom  Geschlechtsverkehr  enthielten.  Dazu  kam,  daß  sich 
frühzeitig  Menschenfreunde  für  sie  interessierten,  die  bei  der 
spanischen  Regierung  eine  Art  „Indianerschutz“  durchzusetzen 
wußten.  Genug :  den  Anforderungen  der  Plantagenbesitzer  ge¬ 
nügte  auf  die  Dauer  die  einheimische  Bevölkerung  in  den  amerika¬ 
nischen  Kolonien  nicht:  das  fehlende  Arbeitermaterial  mußte 
daher  von  außen  her  beschafft  werden.  Das  ist  auf  zwei  Wbisen 
geschehen:  einerseits  durch  Einfuhr  von  Negern  aus  Afrika: 

3.  die  schwarze  Sklaverei  beginnt  ihre  welthistorische 
Sendung x.  Nicht  daß  sie  erst  aufgetreten  wäre.  Aber  sie  er¬ 
langt  doch  nun  erst  ihre  überragende  Bedeutung.  Zentralamerika, 
Brasilien  und  Westindien  gaben  zunächst  den  Schauplatz  für  sie 
ab.  Mit  bewundernswerter  Schnelligkeit  dehnt  sich  die  Neger¬ 
sklaverei  in  diesen  Gebieten  aus.  1501  bemerken  wir  die  ersten 
Einfuhren  von  Negern,  1510  beginnt  der  Handel  von  Lissabon 
aus  zur  Bergwerksarbeit,  zwischen  1513  und  1515  fällt  der  Anfang 
des  Zuckerrohrbaus  auf  den  Antillen,  1530  erfolgt  das  Verbot  der 
Indianersklaverei,  aber  schon  1520  waren  in  S.  Domingo  die 
Negersklaven  so  zahlreich,  daß  die  europäischen  Ansiedler  mit 
Zagen  die  Möglichkeit  einer  Erhebung  der  Schwarzen  erwogen. 
Ähnlich  lagen  zeitweise  die  Verhältnisse  in  Puerto  Rico.  Im 
Jahre  1535  bestanden  auf  S.  Domingo  bereits  30  Zuckersiedereien. 
Im  August  1690  landet  das  erste  Sklavenschiff  mit  20  Neger¬ 
sklaven  an  der  Küste  von  Virginia:  seit  jenem  Tage  beginnt  die 


1  Negersklaverei  hat  es  das  ganze  Mittelalter  hindurch  gegeben; 
Negerhandel  wurde  die  längste  Zeit  über  Land  von  den  Mauren  ge¬ 
trieben:  Sprengel,  Vom  Ursprung  des  Negerhandels,  14  ff. ;  seit 
1445  treten  die  Portugiesen  an  ihre  Stelle.  Peschei,  68  ff.  Vgl, 
$uch  die  auf  Seite  688  unter  Literatur  genannten  Schriften, 


C94  Fünfter  Abschnitt:  Die  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums 

schwarze  Sklaverei  in  den  nordamerikanisclien  Kolonien  sich 
auszudehnen. 

Zur  Entfaltung  der  Negersklaverei  haben  Staat  und  Kirche 
wesentlich  beigetragen:  die  Kirche,  weil  sie  durch  ihre  Diener 
verkünden  ließ,  daß  der  Neger  ein  zur  Sklaverei  eher  geeignetes 
Geschöpf  sei  als  der  Indianer,  dessen  Seele  man  noch  dazu  vor 
der  Verdammnis  rette,  wenn  man  ihm  in  der  Sklaverei  die 
Möglichkeit  zur  Bekehrung  gewähre ;  der  Staat,  wenn  er  zunächst 
durch  seine  Juristen  die  Rechtmäßigkeit  der  Negersklaverei  wie 
folgt  beweisen  ließ:  „porque  en  estos  vamos  con  buena  fe  de 
que  ellos  se  venden  por  sa  voluntad  o  tienen  justas  guerras 
entre  si  en  que  cautivan  unos  a  otros  y  ä  estos  cautivos  los 
venden  despues  ä  los  Portugueses,  que  nos  los  traen,  que  ellos 
llaman  Pombeiros  6  Tangomangos  como  lo  dizen  Navarro,  Molina, 
Rebelo,  Mercado  i  otros  Autores  .  .  . U1  Sodann  hat  aber  der 
Staat  zur  Pflege  der  Negersklaverei  auch  dadurch  beigetragen, 
daß  er  sich  die  Heranschaffung  des  nötigen  Materials  aus  Afrika 
angelegen  sein  ließ.  Der  Sklavenhandel  wurde  zum  Regal  er¬ 
klärt  und  die  Berechtigung,  ihn  auszuüben,  mit  der  aber  gleich¬ 
zeitig  die  Verpflichtung  zur  Lieferung  einer  bestimmten  Menge 
Neger  verbunden  war,  gegen  Erstattung  einer  Vergütung  einer 
Privatperson  oder  einer  Gesellschaft  übertragen. 

Die  Verträge,  die  solcherart  zwischen  der  spanischen  Krone  und  dem 
Sklavenhändler  abgeschlossen  wurden,  trugen  den  Namen  Assiento 
(span,  asiento).  1517  erteilte  Karl  V.  zum  ersten  Male  flämischen 
Schiffern  das  Privilegium,  alljährlich  4000  Neger  in  Amerika  einzu¬ 
führen,  1580  erhielten  es  die  Genuesen,  die  es  durch  eine  britische 
Gesellschaft  ausbeuten  ließen.  1702  wird  der  Assiento  mit  der  franzö¬ 
sischen  Guinea-Kompagnie  abgeschlossen,  und  1713  im  Frieden  von 
Utrecht  wird  durch  Übereinkommen  zwischen  Frankreich  und  England 
der  Assiento  an  England  abgetreten:  England,  das  heißt  die  englische 
Südsee-Kompagnie,  verpflichtete  sich,  während  der  nächsten  30  Jahre 
mindestens  144  000  Neger  nach  „Indien“  zu  liefern:  das  ist  eine 
Verpflichtung,  aber,  wie  gesagt,  auch  ein  Monopol:  niemand  anderes 
darf  Neger  nach  „India“  liefern  (art.  XVIII  des  Vertrages,  der  sich 
im  Wortlaut  z.  B.  bei  P  o  s  tl  e  th  w ay  t ,  Dict.  1,  131  f.,  findet).  Später 
wird  noch  ein  besonderer  Vertrag  zwischen  dem  König  von  Spanien 
und  einer  Gesellschaft  englischer  Kaufleute  abgeschlossen  zur  Liefe¬ 
rung  von  Negern  nach  Buenos-Ayres :  Postletliwayt  1,  134.  (Der 
wirkliche  Sklavenhandel  war,  wie  wir  noch  sehen  werden,  viel  aus¬ 
gedehnter,  als  ihn  die  Assiento-Verträge  vorsahen,  die  uns  hier,  wo 
wir  der  Staatstätigkeit  nachgehen,  allein  interessieren.) 


1  Solorzano,  Politica  Indiana  lib.  2  cap.  1,  bei  Helps  4,  381. 


Sechsund  vierzigstes  Kapitel:  Die  Sklavenwirtschaft  in  den  Kolonien  (595 

4.  Der  andere  Weg,  auf  dem  man  zu  den  nötigen  Arbeits¬ 
kräften  gelangte,  nachdem  die  Eingeborenen  versagt  hatten,  und 
der  besonders  von  den  Plantagenbesitzern  in  den  nordamerika¬ 
nischen  Kolonien  begangen  worden  ist,  war  die  Einfuhr  unfreier 
Ai'beiter  aus  Europa ,  die  zu  einem  Arbeitssystem  führte ,  das 
man  der  Gleichförmigkeit  des  Ausdrucks  zu  Liebe  als  weiße 
Sklaverei  bezeichnen  kann. 

Die  Zwangsarbeit  weißer  Arbeiter  ist  die  Grundlage  gewesen, 
auf  der  sich  die  meisten  nordamerikanischen  Kolonien,  vor  allem 
natürlich  die  Pflanzerkolonien ,  während  des  17.  und  teilweise 
auch  noch  während  des  18.  Jahrhunderts ,  als  die  schwarze 
Sklaverei  schon  eine  größere  Verbreitung  erfuhr,  entwickelt 
haben.  Virginia  hatte  z.  B.  1671  etwa  2000  Negersklaven 
neben  6000  weißen  Zwangsarbeitern;  1683  war  deren  Zahl  auf 
12  000  gestiegen,  die  der  Neger  betrug  immer  erst  3000. 

Die  „weiße  Sklaverei“  entstand  auf  verschiedene  Weise: 

1.  durch  freiwillige  Hingabe:  arme  Leute  gewannen  damit 
die  Möglichkeit,  aus  zu  w  andern,  ohne  den  anfangs  sehr  hohen 
Überfahrtspreis  —  im  Anfang  des  19.  Jahrhunderts  betrug  er 
noch  80  (£  —  im  Voraus  zu  bezahlen; 

2.  durch  Überredung,  Überlistung,  auf  dem  Wege  des  sog. 
Kidnapping:  durch  falsche  Versprechungen  usw. ; 

3.  durch  Zwang.  Zwangsweise  wurden  in  die  Kolonien  ver¬ 
schickt  seit  den  Stuarts  zahlreiche  Verbrecher,  namentlich  auch 
politische  Verbrecher;  ebenso  Kriegsgefangene. 

Von  den  schottischen  Gefangenen,  die  in  der  Schlacht  von  Wor- 
cester  gemacht  werden,  werden  610  im  Jahre  1651  nach  Virginia 
geschickt;  1653  werden  100  irische  Tories  deportiert;  1685  eine  An¬ 
zahl  Anhänger  von  Monmouth;  1666  viele  der  Rebellen;  viele  der 
Gefangenen  von  Dunbar.  J.  C.  Ballagh,  1.  c.  p.  35  ;  MeCormac, 
1.  c.  p.  92  ff.  Als  Strafe  in  den  Kolonien  wird  die  Zwangsarbeit  ver¬ 
hängt  für  Weglaufen,  für  Verheiratung  mit  Sklaven  usw.  Ballagh, 
57.  Dann  aber  ergänzten  sich  die  weißen  Zwangsarbeiter  vielfach 
aus  Kindern  und  Vagabunden,  die  einfach  für  die  Kolonien  „bestimmt“ 
wurden.  Me  Cormac  (p.  9)  berichtet  darüber  nach  guten  Quellen 
wie  folgt:  „The  practice  of  apprenticing  poor  children  to  the  Virginia 
Comp,  began  as  early  as  1620.  In  that  years,  Sir  Edwin  Sandys 
petitioned  Secretary  Naunton  for  authority  to  send  out  one  hundred 
children  who  had  been  ,appointed  for  transportation1  by  the  city 
of  London,  but  who  were  unwilling  to  go.  By  making  use  of  the 
apprenticeship  Statute  ofElisabeth  this  difficulty  was 
removed  and  both  children  and  vagrants  were  regularly  gath'ered 


t 


606  Fünfter  Abschnitt:  Die  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums 

up  in  London  and  elsewhere  and  contracts  made  with  merchants  for 
carying  them  to  America.“ 

Deutlich  tritt  auch  hier  die  Unterstützung  zutage,  die  der 
Staat  mit  seinen  Machtmitteln  den  Interessenten  zu  teil  werden 
ließ:  ihr  allein  verdankten  diese  nicht  nur  die  Möglichkeit.  Ar¬ 
beiter  zwangsweise  beschäftigen  zu  können ,  sondern  auch  die 
wirkliche  Beschaffung  des  nötigen  Arbeitermaterials. 

Uber  verwandte  Methoden  zur  Beschaffung  des  Arbeiter 
materials  auch  in  Europa  spreche  ich  im  54.  Kapitel. 

b)  Die  verschiedenen  Formen  der  Zwangsarbeit 

Ich  sagte:  alle  europäischen  Kolonien  haben  sich  entwickelt 
auf  der  Grundlage  der  Zwangsarbeit;  diese  aber  weist  in  den 
verschiedenen  Zeiten  und  an  den  verschiedenen  Orten  sehr  ver¬ 
schiedene  Formen  auf: 

1.  volle  Sklaverei,  mit  der  also  das  Eigentum  an  der 
Person  des  Sklaven  verbunden  ist,  war  nur  die  Neger  Sklaverei; 

2.  die  übrigen  Zwangsarbeiter  haben  in  einer  Art  von 
Hörigkeit  gelebt: 

a)  die  Indianer  ließ  man  meist  nur  fronden.  Sie  mußten  8 
bis  9  Monate  auf  dem  Felde  oder  in  den  Goldwäschereien  den 
europäischen  Gebietern  sich  zur  Verfügung  stellen  und  durften 
während  des  Restes  des  Jahres  in  ihrer  Heimat  ihre  eigenen 
Felder  bebauen1.  Oder  aber  man  bedang  sich  Lieferungen  be¬ 
stimmter  Erzeugnisse  aus.  Dio  Encomiendas  z.  B.,  die  1499 
von  Colon  verteilt  wurden,  lauteten  über  10 — 20000  Matas  Maniok¬ 
wurzeln.  Der  Kazike  war  dann  verpflichtet,  durch  seine  Leute 
diese  Felder  bestellen  zu  lassen.  Die  Einwohner  aber  wagten 
nicht,  diesen  Fronden  zu  entweichen,  denn  die  Spanier  spürten 
den  Entlaufenen  nach,  die,  wenn  nichts  Schlimmeres  geschah, 
als  Sklaven  verkauft  werden  durften2. 

b)  Ein  ähnliches  System  führten  die  Portugiesen  in  ihren 
afrikanischen  Kolonien  ein,  wo  sie,  wie  auf  S.  Thomas,  haupt¬ 
sächlich  das  Zuckerrohr  anbauten.  Schon  Anfang  des  16.  Jahr¬ 
hunderts  finden  wir  hier  Plantagen  mit  150 — 300  Arbeitern :  „fra 

1  In  Ovandos  Instruktion  vom  September  1500  beißt  es:  que  los 
Indios  pagasen  tributos  y  derechos  como  los  demas  vasallas  ä  sus 
altezas  y  que  serviesen  en  coger  el  oro  pagandoles  su  trabajo, 
Schumacher,  a.  a.  O.  S.  300, 

8  0.  Peschei,  303, 


Sechsundvierzigstes  Kapitel:  Die  Sklaven  Wirtschaft  in  den  Kolonien  997 

negri  et  negre,  liquali  hanno  questa  obligatione,  di  lavorar  tutta 
la  settimana  per  il  patron ,  eccetto  il  sabbato  che  lavorano  per 
causa  di  vivere  .  . . “  1 * 

c)  Dieses  System  des  indirekten  Arbeitszwanges  bzw.  der  er¬ 
zwungenen  Lieferungen  ist  dann  unter  dem  Namen  des  Systems 
van  den  Boschs  in  den  holländischen  Kolonien  zur  Berühmtheit 
gelangt.  Wir  begegnen  ihm  beim  Einsammeln  der  Gewürznägel 
auf  den  Molukken,  bei  dem  Kaffee-  und  Zuckeranbau  auf  Java, 
bei  der  Zimmtgewinmmg  auf  Ceylon,  bei  der  Muskatbaumzucht 
auf  den  Bandainseln  usw. 

d)  Ganz  besonders  raffiniert  war  das  System  der  Ausbeutung 
Indiens  durch  die  Engländer,  das  heißt  also  im  wesentlichen 
durch  die  englisch-ostindische  Kompagnie.  Raffiniert  deshalb, 
weil  —  unter  dem  Scheine  völliger  Freiheit  und  der  Anwendung- 
gerechter  und  billiger  Verwaltungsgrundsätze  —  das  indische  Volk 
zweimal  ausgepumpt  wurde.  Das  „System“  war  folgendes: 

1.  wurden  drückende  Abgaben  unter  allen  möglichen  Vor¬ 
wänden  erhoben,  unter  denen  die  Landtax  die  wichtigste  war: 
diese  war  nicht  eigentlich  eine  Steuer,  sondern  näherte  sich  einer 
Konfiskation,  sofern  sie  in  manchen  Fällen  die  Hälfte  und  mehr 
des  Ertrages  des  Bauern  in  die  Taschen  der  Eroberer  abführte. 
Nach  einer  Kostenaufstellung  Buchanans  z.  B.  betrug  die 
Landrente  auf  einem  Felde  schlechter  Bodenklasse  14/;  die 
Produktionskosten  beliefen  sich  auf  19/;  dem  Bebauer  blieben 
7/8;  auf  einem  Felde  bester  Bodenklasse:  Landtaxe  17/;  Pro¬ 
duktionskosten  19/;  Reinertrag  des  Bauern  |  1  s,  63A; 

2.  mit  den  Erträgnissen  dieser  „Steuern“  wurden  nun  (nach¬ 
dem  davon  alle  Kosten  der  Kompagnie  gedeckt  waren)  gewerb¬ 
liche  Erzeugnisse  im  Lande  „angekauft“ :  man  „legte“  diese 
Beträge  in  Handelswaren  „an“,  lautete  der  Ausdruck:  das  „In¬ 
vestment“  hieß  die  also  verwandte  Summe.  Dieser  „Ankauf“ 
bestand  nun  abermals  in  einer  Beraubung.  Die  gewerblichen 
Produzenten,  namentlich  die  Weber,  wurden  nämlich  zusammen¬ 
gerufen,  es  wurde  ihnen  mitgeteilt,  daß  man  so  und  so  vie 
Produkt  von  ihnen  angefertigt  zu  sehen  wünsche,  wofür  man 
ihnen  so  und  so  viel  zahlen  werde:  einen  Widerspruch  gegen 
diese  Festsetzungen  gab  es  nicht.  Für  andere  zu  produzieren 
war  ihnen  verboten.  Daß  die  „Abmachungen“  von  den  Webern 


1  Navigatione  da  Lisbona  all’  isola  di  san  Thome  ec.  bei 

Ramusio,  Delle  navigationi  ec,  (3,  ed.  1563),  1 1 7 A, 


698  Fünfter  Abschnitt:  Die  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums 

eingehalten  wurden,  das  heißt :  daß  diese  eine  bestimmte  Menge 
Fronarbeit  lieferten  (für  einen  Entgelt,  wie  wir  noch  sehen 
werden,  bei  dem  sie  nicht  einmal  immer  vor  dem  Verhungern 
geschützt  waren):  dafür  sorgte  der  von  der  Kompagnie  bestellte 
Aufseher,  der  mit  einem  spanischen  Kohr  (!)  ausgerüstet  wurde. 
Das  Gesetz  gab  dem  Besteller-  volle  Freiheit,  seine  Sache  zu 
führen.  Die  Aussagen,  die  die  Zeugen  vor  der  Untersuchungs¬ 
kommission  im  Jahre  1813  über  das  Verfahren  des  „Investment“ 
gemacht  haben,  lassen  es  deutlich  erkennen,  daß  es  sich  um 
nackte  Zwangsarbeit  bei  dem  Ankauf  der  gewerblichen  Erzeug¬ 
nisse  handelte  1. 

Also  mit  dem  Gelde,  das  man  den  indischen  Bauern  ab¬ 
preßte,  unterhielt  man  den  indischen  gewerblichen  Hörigen. 

3.  daneben  bestanden  in  Indien  auch  Indigo-  und  Teeplantagen 
mit  nicht  verdeckter  Zwangsarbeit 2. 

e)  Das  System  der  Zwangsarbeit  Weißer  ist  unter  dem  Namen 
der  „white  oder  intented  Servitude“  bekannt  geworden.  Die 
Zwangsarbeiter  selber  hießen  „intented  servants“.  Mit  diesen 
Bezeichnungen  ist  auch  schon  der  Charakter  des  Arbeitsverhält¬ 
nisses  angedeutet:  es  war  in  der  Tat  eine  Art  Hörigkeit,  m 
der  diese  Zwangsarbeiter  lebten.  Sie  waren  zur  Leistung  „an¬ 
gemessener  Dienste“  verpflichtet:  sei  es  in  den  Plantagen  (Tabak¬ 
bau  !),  sei  es  im  Hause  der  Farmer,  sei  es  als  Handwerker,  Lehrer 
oder  dgl.  Ilire  Verpflichtung  erstreckte  sich  meist  nur  auf  eine 
bestimmte  Anzahl  von  Jahren  (sieben).  Ihr  Entgelt  bestand  in 
Beköstigung  und  Bekleidung  sowie  in  Lieferung  bestimmter 
Naturalien  (später  auch  in  Auszahlung  von  Geld  am  Ende  der 
Hörigkeitsdienstzeit). 

H.  Die  Ausdehnung  der  Zwangsarbeit 

Für  die  italienischen  Kolonien  besitzen  wir  keine  umfassenden 
Statistiken  weder  der  Produktion  noch  der  beschäftigten  Sklaven. 
Wir  sind  daher  auf  Schlüsse  aus  irgendwelchen  beweiskräftigen 
Umständen  oder  auf  gelegentliche  Berichte  angewiesen.  Einen 
Schluß  auf  die  Weite  des  Exploitationsgebietes  dürfen  wir  aus 
den  Schilderungen  machen,  die  wir  von  den  reichen  Produktions¬ 
gelegenheiten  in  der  Levante  besitzen. 


1  Siehe  die  Auszüge  bei  Dutt,  264  f.  Vgl.  John  Campbell, 
Survey  2,  613  und  öfters, 

2  Dutt,  267, 


Sechsundvierzigstes  Kapitel:  Die  Sklavenwirtschaft  in  den  Kolonien  (j99 

Palästina  und  Syrien  waren  unter  den  Segnungen  der  ein 
halbes  Jahrtausend  dort  heimischen  Kultur  der  Araber  zu  einem 
wahren  Paradiese  erblüht.  Die  Zeitgenossen  der  Kreuzfahrer 
finden  gar  nicht  Worte  genug,  um  den  überquellenden  Reichtum 
des  Landes  zu  schildern.  Und  dazu  ein  musterhafter  Anbau 
ringsum.  In  den  Gärten  wuchs  eine  Fülle  von  Südfrüchten: 
Zitronen,  Orangen,  Feigen,  Mandeln,  so  besonders  in  der  Um¬ 
gebung  von  Tripolis  und  bei  Tyrus.  Vielerorts  wurden  Wein  und 
Ol  gewonnen;  ferner  baute  man  das  Zuckerrohr  und  die  Baum¬ 
wollstaude,  zog  man  die  Seidenraupe,  pflanzte  man  Indigo  und 
Färberröte.  Auf  den  Bergen  aber  rauschten  die  Zeder-  und 
Zypressenwälder  und  weideten  die  Herden  der  nomadisierenden 
Araber1. 

Dieselbe  Fülle  anf  dem  kleinasiatischen  Festlande  und 
vor  allem  auf  den  Inseln  d  e  s  Ä  g  ä  i  s  c  h  e  n  M  e  e  r  e  s 2 ,  die  alle 
noch  von  Fruchtbarkeit  strotzten,  als  die  Italiener  ihr  Werk  be¬ 
gannen.  Perlen  unter  ihnen  waren  Zypern,  Kreta  und  Chios, 
dieses  vor  allem  durch  seine  Mastixpflanzungen  berühmt,  aber 
auch  reich  an  Wein,  Ölbäumen,  Maulbeerbäumen,  Feigen  usw. 
Während  Zypern  neben  Salz,  Wein,  Baumwolle,  Indigo,  Laudanum- 
liarz,  Koloquinten,  Karuben  vor  allem  Zucker  lieferte:  man  baute 
nicht  nur  das  Zuckerrohr  in  großem  Stile  plantagenmäßig  auf 
den  meisten  dieser  Inseln  an,  sondern  gewann  auch  gleich  den 
Zucker  an  Ort  und  Stelle.  Im  Gebiete  von  Limisso  besaß  die 
venetianische  Familie  Cornaro  eine  ausgedehnte  und  ertragreiche 
Zuckerplantage,  welche  Ghistele  den  rechten  Stapel  des  Zuckers 
von  ganz  Zypern  nannte;  zur  Zeit,  als  der  Italiener  Casola  das 
Gut  besichtigte  (1494),  waren  400  Personen  daselbst  mit  der  Be¬ 
reitung  des  Zuckers  beschäftigt. 

Für  diese  Zeit  haben  wir  auch  ein  paar  glaubwürdige  Ziffern : 
im  Jahr  1489  ließ  der  venetianische  Senat  die  Menge  des  erzeugten 


1  Vgl.  die  Schilderungen  bei  Heyd,  1,  195  ff.;  Prutz,  315  ff.; 
Rey,  235  ff.  Beugnot,  258  ff-,  und  A.  von  Kremer,  Kultur¬ 
geschichte  des  Orients  2,  320  ff.  Eine  Zusammenstellung  der  Urteile 
zeitgenössischer  Dichter  findet  sich  bei  Emil  Dreesbach,  Der 
Orient  in  der  alten  französischen  Kreuzzugsliteratur.  Bresl.  Diss. 
(1901),  S.  24  ff.  49  ff. 

2  Vgl.  mit  Heyd  (namentlich  im  Anhang  I)  den  Artikel  „Giusti- 
niani“  bei  Ersch  und  Gruber.  Aus  der  späteren  Literatur:  E.  Gerland, 
Kreta  als  venetianische  Kolonie,  im  Histor.  Jahrbuch  20  (1899),  1  ff., 
der  hauptsächlich  aus  H.  Noiret,  Docum.  inedits  schöpft. 


700  Fünfter  Abschnitt:  Die  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums 


Zuckers  auf  Zypern  feststellen.  Das  waren  2000  Quintal  (ä  250  kg) 
einmal  gekochter  Zucker,  250  Quintal  Zamburri  (Abfälle)  und 
250  Quintal  Melazzi  (Melasse);  im  Jahre  1540  beliefen  sich  nach 
Attar  dieselben  Ziffern  auf  1500,  450,  850. 

Was  aber  den  italienischen  Besitzungen  ihren  hohen  Wert 
verlieh,  war  vor  allem  der  Umstand,  daß  allerorts  die  Bevölke¬ 
rung  bereits  einen  bedeutenden  Grad  gewerblicher  Kunstfertigkeit 
besaß  und  daher  Industrien  in  großem  Stile  betrieben 
werden  konnten.  Unter  diesen  wiederum  ragte  die  Seiden  - 
manufaktur  hervor.  Sie  blühte  in  Antiochia,  Tripolis,  Tyrus. 
Eine  der  Rezensionen,  in  welchen  uns  die  Burchardsche  Be¬ 
schreibung  des  heiligen  Landes  erhalten  ist,  gibt  die  Zahl  der 
Seiden-  .und  Kamelotweber  in  Tripolis  auf  4000  und  darüber  an. 
Tyrus  erzeugte  namentlich  kostbare  weiße  Stoffe,  die  weithin 
ausgeführt  wurden 1.  Aber  auch  auf  fast  allen  Inseln  fanden  die 
Italiener  die  Seidenindustrie  in.  Flor,  namentlich  auch  auf  Zypern2, 
oder  aber  sie  legten  selbst  Manufakturen  an,  wie  in  Sizilien  und 
Morea.  Neben  der  Seidenindustrie  betrieb  man  die  Baum  Woll¬ 
industrie,  z.  B.  in  Armenien3,  die  Glas-  und  Töpfer¬ 
industrie  in  Syrien4  u.  a.  Endlich  aber  lieferten  die  Berg¬ 
werke  hohe  Erträge,  insonderheit  die  Alaunbergwerke,  die 
namentlich  auf  der  Halbinsel  von  Phokäa  im  Gange  waren.  Hier 
beutete  mehrere  Generationen  hindurch  das  genuesische  Haus 
Zaccaria  das  Land  aus.  Man.  Zaccaria  (f  1288)  hatte  durch  die 
Alaungewinnung  Reichtümer  erworben,  „die  sich  der  Schätzung 
entziehen“.  Im  Jahre  1298  wurden  beispielsweise  250  Zentner 
Alaun  für  1800 000  (?)  Lire  verkauft5,  während  die  Jahresaus¬ 
beute  auf  durchschnittlich  14  000  (?)  Zentner  angegeben  wird  6. 

Daß  in  den  Kolonien  der  Portugiesen,  Spanier,  Franzosen, 
Holländer  und  Engländer  die  Sklavenarbeit  im  wesentlichen  in 
der  Plantagenwirtschaft  Verwendung  gefunden  hat,  ist  bekannt: 
im  Osten  ist  es  der  Gewürzbau,  im  Westen  der  Zuckerrohrbau, 
die  zuerst  die  Blüte  und  den  Reichtum  der  neuen  Kolonien  be¬ 
gründen;  zu  ihnen  gesellen  sich  später  Tabak,  Kaffee,  Kakao,  Indigo, 
Baumwolle  als  die  wichtigsten  Sklaven-Plantagenerzeugnisse. 

1  Heyd  1,  197.  Vgl.  Rey,  Col.  franques,  211  ff.  * 

2  F.  Michel,  Recherches  sur  les  etoffes  de  soie  etc.  1  (1852),  306  ff 

3  Ad.  Beer  1,  188/89. 

4  Heyd  1,  197. 

5  Art.  Giustiniani,  bei  Er  sch  und  Grub  er  S,  310, 

6  Pegolotti,  1.  c.  pag.  370, 


Sechsundvierzigstes  Kapitel:  Die  Sklavenwirtschaft  in  den  Kolonien  .  701 

AVenn  wir  auch  au  der  Hand  der  bisher  erschlossenen  Quellen, 
die  teilweise  schon  von  einer  tüchtigen  Spezialliteratur  aus¬ 
gebeutet  sind  1 ,  ziemlich  genau  das  Anwachsen  der  Produktion 
in  den  Sklavenkolonien  verfolgen  können  (so  daß  sich  eine  zu- 
sammenfassende  Darstellung  der  Kolonialwirtschaft  wohl  lohnen 
würde),  so  erscheint  es  mir  doch  für  die  Zwecke  dieser  Dar¬ 
stellung  ratsam,  den  Umfang  der  Sklavenarbeit  in  den  modernen 
Kolonien  auf  direktem  Wege  durch  Ermittelung  der  Zahl  der 
Sklaven  festzustellen ,  da  hierfür  brauchbare  Ziffern  in  großer 
Anzahl  vorliegen  und  der  Überblick  sich  leichter  geben  läßt  als 
durch  eine  Zusammenstellung  der  vielen  einzelnen  Produktions¬ 
und  Handelsziffern. 

Freilich  läßt  sich  die  G-esamtzahl  der  Sklaven  in  den 
europäischen  Kolonien  erst  für  den  Anfaug  des  19.  Jahrhunderts 
einigermaßen  genau  ermitteln.  Für  die  früheren  Zeiten  sind  wir 
auf  gelegentliche  Mitteilungen  angewiesen.  Danach  dürfen  wir 
annehmen,  daß  der  Höhepunkt  des  Sklavenbetriebes  erst  kurz 
vor  der  Aufhebung  der  Sklaverei  erreicht  wurde,  und  daß  gerade 
im  letzten  halben  Jahrhundert  vor  der  Aufhebung  die  Yer- 
mehrung  eine  besonders  rasche  war2. 

Der  Gesamtbestand  aller  Sklavenländer  an  Sklaven  in  den 
1830  er  Jahren  bezifferte  sich  auf  6822759;  davon  entfielen  auf: 


Frankreich . 

.  .  275808 

Großbritannien . 

.  .  728  805 

Spanien . 

.  .  321182 

Holland . 

.  .  72963 

Dänemark  und  Schweden 

.  .  46  500 

Brasilien . 

.  .  1930000 

Kap  d.  g.  H . 

.  .  36096 

U.  S.  A.  (1830) . 

.  .  2328642 

5  739996 

Dazu  Freigelassene.  .  .  . 

.  .  1 082  763 

6  822  759 

1  Nur  darf  man  niemals  m  den  Werken  suchen,  die  ex  professo 
die  Geschichte  der  Kolonien  zur  Darstellung  bringen.  Aber  man  ziehe 
etwa  zu  Kate:  von  älteren  Schriften  Barläus,  D’Avenant,  An¬ 
derson,  Postlethwayt,  John  Campbell,  Buchanan,  Al. 
von  Humboldt,  Usselincx,  Saalfeld;  von  neueren  Handel¬ 
mann,  Lippmann,  Bokemeyer,  Peytraud,  um  nur  einige  der 
wichtigeren  zu  nennen. 

2  Siehe  die  genaue  Statistik  in  „Luxus  und  Kapitalismus“,  172. 


702  Fünfter  Abschnitt:  Die  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums 

In  den  U.  S.  A.  stieg  dann  die  schwarze  Bevölkerung  bis 
zur  Emanzipation  der  Sklaven  noch  weiter,  fast  auf  das  Doppelte 
ihres  Bestandes  im  Jahre  1830;  nämlich  auf: 

1840  .  .  .  2  873648 

1850  .  .  .  3638808 

1860  .  .  .  4441830 

Diese  Mengen  schwarzer  Sklaven  mußten,  da  die  Sklaven¬ 
bevölkerung  sich  auf  natürlichem  "Wege  nicht  vermehrte,  durch 
Zufuhren  aus  den  Negerländern  regelmäßig  ergänzt  werden.  Das 
gab  Veranlassung  zu  einem  hoch  entwickelten  Sklavenhandel. 

Über  den  Umfang  des  Sklavenhandels  bestehen  eine 
Menge  zum  Teil  recht  sehr  voneinander  abweichende  Angaben. 
Die  bekannte  Rechnung,  die  Buxton1  anstellt,  ist  folgende: 

Jährlich  wurden  aus  Afrika  weggeholt 

durch  den  christlichen  Sklavenhandel  rund  .  400  000  Neger 

durch  den  mohammedanischen  Sklavenhandel 

rund . . .  100000  „ 

500000  Neger 

Von  den  400000  Objekten  des  christlichen  Sklavenhandels 
gehen  280000  beim  Fang,  auf  dem  Transport  und  im  ersten  Jahre 
zugrunde,  so  daß  nur  120000  Sklaven  schließlich  zur  Verfügung 
bleiben.  Diese  Ziffer  erscheint  angesichts  des  Gesamtbedarfs  an 
Sklaven  zu  Beginn  des  19.  Jahrhunderts  kaum  zu  hoch  und  wird 
durch  die  in  neuerer  Zeit  bekannt  gewordenen  amtlichen  Ziffern 
in  ihrer  Richtigkeit  bestätigt.  So  erfahren  wir  z.  B.,  daß  in  den 
französischen  Antillen  während  der  Jahre  1780  —  89  durchschnitt¬ 
lich  im  Jahre  30 — 35000  Neger  eingeführt  worden  sind.  Setzen 
wir  die  Gesamtzahl  der  Sklaven,  die  damals  in  den  französischen 
Antillen  gehalten  wurden,  auf  240 — 260000  an,  so  würde  die 
Jahreszufuhr  Vt— Vs  betragen  haben.  Wenn  aber  schließlich 
6 — 7  Millionen  Sklaven  im  ganzen  da  waren,  so  erscheinen  als 
jährlicher  Gesamtersatz  120 — 150000  Sklaven  eher  zu  niedrig  als 
zu  hoch. 

Aber  es  kommt  auf  eine  genaue  ziffernmäßige  Erfassung  der 
gehandelten  Sklavenware  gar  nicht  so  sehr  an.  Es  genügt  für 
unsern  Zweck  vollständig  die  Feststellung,  daß  es  sich  dabei 
schließlich  um  viele  Zehntausende  im  Jahre  und  während  der 
ganzen  Periode,  während  welcher  der  Sklavenhandel  betrieben 


1  The  African  Slave  Trade.  1840. 


Sechsundvierzigstes  Kapitel:  Die  Sklavenwirtschaft  in  den  Kolonien  703 

worden  ist,  um  Millionen  Menschen  gehandelt  hat,  die  (das  ist 
das  einzige,  was  uns  hier  interessiert)  Anlaß  zu  guten  Geschäften 
boten. 

Die  Nationen,  die  nacheinander  die  führende  Rolle  im  Sklaven¬ 
handel  gespielt  haben,  ohne  daß  darum  die  andern  Nationen  aus¬ 
geschlossen  gewesen  wären,  sind  die  Juden1,  die  Venetianer2, 
die  Genuesen,  die  Portugiesen,  die  Franzosen  und  die  Engländer. 
Diese  letzten  vier  Nationen  sind  es,  die  nacheinander  das  Monopol 
des  Negerhandels  in  ihren  Händen  haben.  Der  Anteil  der  ver¬ 
schiedenen  Händlers chaften  am  Sklavenhandel  in  seiner  Blütezeit 
ist  aus  folgenden  Ziffern  zu  ersehen. 

Im  Jahre  17G9  wurden  von  der  Küste  Afrikas  (vom  Kap  Blanco 
bis  zum  Kongo-Flusse)  Neger  fortgeholt  von3: 


Großbritannien . 53100 

Frankreich .  23520 

Holland . 11300 

Britisch- Amerika .  6  300 

Portugal . 1700 

Dänemark . 1 200 


Zweifellos  war  Großbritannien  während  des  ganzen  18.  Jahr¬ 
hunderts,  also  in  der  wichtigsten  Epoche,  der  Mittelpunkt  des 
Sklavenhandels,  und  in  Großbritannien  selbst  war  der  Mittelpunkt 
wiederum  Liverpool:  von  192  englischen  Sklavenschiffen  liefen 
im  Jahre  1771  aus:  von  Liverpool  107,  von  London  58,  von 
Bristol  23,  von  Lancaster  4. 

LH.  Die  Rentabilität  der  Sklaven wirts chaft 

Daß  so  viele  Menschen  als  Sklaven  Verwendung  fanden,  ist 
nun  natürlich  noch  kein  Beweis  dafür,  daß  hier  für  die  Sklaven¬ 
händler  und  Sklavenhalter  eine  Quelle  der  Bereicherung  geflossen 
sei.  Es  ist  sogar  oft  genug  von  hervorragenden  Männern  der 
Nachweis  zu  führen  versucht  worden4,  daß  die  Sklavenarbeit 

1  Schipper,  Anfänge  d.  Kapit.  bei  den  Juden  (1907),  19  ff.; 
Caro,  Soz.-  u.  W.G.  d.  J.  1,  137  ff.  Vgl.  noch  Heyd  2,  542  ff. 

2  Belegstellen  bei  R.  Heynen,  Zur  Entst.  d.  Kapit.  in  Venedig 
(1905),  32  ff. 

3  Anderson,  Orig.  4,  130  (nach  einem  „französischen  Autor“). 

4  Zuletzt  wieder  von  A.  L  oria,  Die  Sklavenwirtschaft  im  modernen 
Amerika  und  im  europäischen  Altertume,  in  der  Zeitschr.  f.  Soz.-  u. 
W.G.  4,  67  ff.,  wo  die  Ansichten  des  Verfassers  am  ausführlichsten 
vorgetragen  sind.  Vgl.  damit  seine  Schrift:  II  capitalismo  e  la 


704  Fünfter  Abschnitt:  Die  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums 

unproduktiv,  somit  unrentabel  sei,  daß  die  Sklaverei  eine  „Be¬ 
grenzung  des  Profits“  bedeute  und.  diesen  auf  eine  ganz  niedrige 
Stufe  zu  bringen  die  Tendenz  habe.  Woraus  sich  dann  mit  Not¬ 
wendigkeit  die  Folge  ergeben  müßte,  daß  die  Europäer  während 
der  langen  Jahrhunderte  so  viele  Millionen  von  Menschenleben 
im  Grunde  nutzlos  geopfert  haben,  d.  h.  ohne  den  Zweck  zu 
erreichen,  mit  hohen  Profiten  ihr  Vermögen  anzuschwellen. 

Einer  solchen  Auffassung  gegenüber  erscheint  es  nicht  über¬ 
flüssig,  die  Rentabilität  der  Sklavenarbeit  als  Tatsache  nachzu¬ 
weisen. 

Zunächst  ist  selbständig  für  sich  zu  würdigen 

1.  Der  Sklavenhandel 

Daß  dieser  min  ein  sehr  einträgliches  Geschäft  zu  allen  Zeiten 
gewesen  ist,  daran  darf  nicht  gezweifelt  werden.  Das  wußte 
man  schon  im  Mittelalter  sehr  genau.  Daher  vor  allem  das 
heiße  Bemühen  der  Venetianer  und  Genuesen,  am  Schwarzen 
Meer  Fuß  zu  fassen,  die  Byzantiner  zu  verdrängen,  um  die 
dort  gelegenen  Sklavenmärkte  völlig  zu  beherrschen.  Und  viel 
mehr  als  der  Verlust  des  Levantehandels  hat  insbesondere  Venedig 
die  Abdrängung  von  dem  einträglichen  Sklavenhandel  nach 
Ägypten  geschädigt,  wie  sie  sich  als  notwendige  Folge  der  Er¬ 
oberung  der  kleinasiatischen  Gebiete  durch  die  Türken  einstellte. 

Wie  hoch  der  Betrieb  des  Negersklavenhandels  gewertet  wurde, 
ist  bekannt:  England,  als  ihm  im  Utrechter  Frieden  (1713)  das 
Recht  der  Sklaveneinfuhr  in  die  spanischen  Kolonien  zugesprochen 
wurde,  betrachtete  die  Errungenschaft  als  eine  der  bedeutendsten, 
die  ihm  der  Utrechter  Vertrag  gebracht  hatte* 1. 

Die  Gründe  für  die  Einträglichkeit  des  Sklavenhandels 
sind  aber  nicht  schwer  festzustellen.  Die  menschliche  Arbeitskraft, 
mit  der  hier  „Handel“  getrieben  wird,  ist  eine  „AVare“,  bei  deren 
Einkauf  zunächst  einmal  jede  Beziehung  zu  ihren  Produktions¬ 
kosten  aufgehoben  ist.  Die  Preise  für  Sklaven  können  beliebig- 
niedrig  festgesetzt  werden,  sie  sind  stets  irrationale  und  hängen 
lediglich  ab  von  der  größeren  oder  geringeren  Gewalt  oder  List, 


scienza  (1901),  insbes.  pag.  218  seg.  Die  beiden  besten  theoretischen 
Erörterungen  des  ökonomischen  Problems  der  Sklavenarbeit  finden  sich 
bei  J.  E.  Cairnes,  The  Slave  Power.  2.  ed.  1863,  und  bei  Ad. 
AVagner,  Grundlegung.  3.  Aufl.  (1894),  2.  Teil,  S.  43  ff.,  insbes. 
S.  60  ff. 

1  C.  Grünberg,  Art.  „Unfreiheit“  im  H.St.  6,  334. 


Sechsundvierzigstes  Kapitel:  Die  Sklavenwirtschaft  in  den  Kolonien  705 

über  die  der  Händler  verfügt.  Es  bandelt  sich  meist  um  reinen 
Zwangsbandel :  in  den  Anfängen  des  modernen  Sklavenbandeis 
waren  Hum,  Pulver,  Stoffe  usw.  die  Gegengabe.  Wo  die  Sklaven 
überhaupt  nicht  gekauft,  sondern  geraubt  werden,  tritt  diese 
Sachlage  am  deutlichsten  zutage.  Der  Sklavenraub  wird  aber 
seit  etwa  1750  die  Hegel1. 

Bei  der  Eigenart  der  Ware  „Menschenkraft“,  sich  durch  eigene 
Arbeit  bezahlt  zu  machen,  können  dann  andererseits  verhältnis¬ 
mäßig  viel  höhere  Preise  für  sie  als  für  irgendeine  andere  Ware 
seitens  ihres  Erwerbers  bezahlt  werden.  Ziehen  wir  endlich  in 
Betracht,  daß  der  Sklavenhandel  auch  dort,  wo  er  nicht  eines 
rechtlichen  Monopols  genoß  (was  während  der  längsten  Zeit 
seines  Bestehens  der  Fall  war),  doch  dank  seiner  ganzen  Eigen¬ 
art  einen  gewissen  exklusiven  Charakter  trägt,  so  werden  wir 
begreifen,  wie  es  möglich  war,  daß  hier  jahrhundertelang  mit 
ungeheuren  Extraprofiten  „Handel“  getrieben  werden  konnte,  daß 
der  Sklavenhandel  tatsächlich  der  am  meisten  lohnende  „ Handels  “- 
zweig  gewesen  ist,  den  es  jemals  gegeben  hat. 

Die  Höhe  der  Profite,  die  jahrhundertelang  im  Sklavenhandel 
gemacht  worden  sind ,  können  wir  nun  aber  auf  Grund  zahlen¬ 
mäßiger  Überlieferungen  auch  empirisch  genau  feststellen.  Dabei 
müssen  wir  ganz  absehen  von  den  Gewinnen,  die  im  Anfang  der 
Negersklaverei,  als  die  Häuptlinge  ihren  eigenen  Nutzen  noch 
gar  nicht  zu  wahren  verstanden,  erzielt  wurden.  Kaufte  man 
doch  anfangs,  zumal  im  Innern  von  Guinea,  einen  jungen,  wohl¬ 
gewachsenen  und  gesunden  Mann  für  ein  Stück  Leinwand  im 
Werte  von  3Mitkals2,  für  einen  Anker  Branntwein ;  gaben  doch 
damals  die  Negerfürsten  für  ein  Pferd  10—15  Menschen  als  Gegen¬ 
wert  hin. 


1  Die  beste  Darstellung  des  Sklavenhandels  ist  jetzt  John  H. 
Spears,  The  American  Slave  Trade.  1901.  Die  Hauptquelle  für 
das  Ende  des  18.  Jahrhunderts,  die  leider  fast  gar  keine  ziffern¬ 
mäßigen  Angaben  enthält,  ist  die  in  den  Jahren  1790  und  1791  vom 
englischen  Unterhause  veranstaltete  Enquete.  Die  Ergebnisse  sind 
zusammengefaßt  in  An  abstract  of  the  evidence  delivered  before  a 
select  Committee  of  the  house  of  commons  in  the  years  1790  and  1791 
on  the  part  of  the  petitioners  for  the  abolition  of  the  Slave  Trade.  1791. 

2  Nach  dem  Berichte  des  Valentin  Ferdinand  über  Arguim: 
F.  Kunstmann,  Die  Handelsverbindungen  der  Portugiesen  mit 
Timbuktu,  in  den  Abh.  der  III.  Klasse  der  K.  bayr.  Akad.  der  Wiss. 
Bd.  VI  1.  Abt.  S.  179. 

Sombart,  Der  moderne  Kapitalismus.  I. 


45 


70G  Fünfter  Abschnitt:  Die  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums 

Reisebericht  des  Mess.  Alvise  de  la  da  Mosto  (1454),  bei 
Ramusio  Delle  navigationi  (1563),  99  Rückseite.  Freilich  standen 
damals  auch  die  Preise  für  fertige  Neger  noch  viel  niedriger  als  im 

17.  und  namentlich  18.  Jahrhundert.  Bis  Ende  des  18.  Jahrhunderts 
hatten  sich  die  Verkaufspreise  versieben-  bis  verachtfacht.  Peytraud, 
127.  Einen  Tarif  aus  dem  Anfang  des  18.  Jahrhunderts  will  ich  noch 
mitteilen.  Die  Kgl.  französische  Senegal-Gesellschaft  hatte  mit  dem 
Häuptling  Damel  folgende  „Äquivalente“  für  einen  Sklaven  vereinbart : 
4  Flinten  mit  5  Steinen  oder  6  Flinten  mit  3  Steinen  oder  30  Kupfer¬ 
becken  oder  9  Unzen  Korallen  oder  2  Trommeln  oder  100  Pfd.  gelben 
Wachs  oder  4  Ellen  rotes  Tuch  oder  30  Ellen  groben  Wollstoff  (revecke) 
oder  100  Pinten  Branntwein  oder  4  seidene  Schürzen  oder  30  Barren 
(=  15  Ztr.)  Eisen  oder  4  Pfd.  Gewürznelken  oder  15  Rollen  Tapete 
oder  100  Pfd.  Blei  oder  1000  Flintensteine  oder  20  Pfd.  Pfeffer  oder 
4  Pfd.  Spica  celtica  oder  100  Stück  Leinwand  (toiles  platilles?)  oder 
4  Stück  indische  Leinwand.  Savary,  Dict.  1,  1046. 

Aber  auch  für  die  spätere  Zeit  haben  wir  genug  Zeugnisse 
dafür,  daß  der  Profit  im  Negerhandel  kaum  je  weniger  als  50%, 
meist  viel  mehr,  in  der  letzten  Zeit  bis  180  und  200%  betrug. 

Einige  Zahlenbelege  für  die  Einträglichkeit  des  Sklavenhandels 

Ein  Bericht  des  Commandant  Directeur  et  Inspecteur  general  de 
Guinee,  Mr.  Courbe ,  vom  26.  März  1693  enthält  folgende  Ziffern: 
800  Sklaven  werden  für  29  200  livres  eingekauft  und  für  240  000  livres 
verkauft.  Er  fügt  hinzu:  „au  Senegal  on  traite  communement 
200  captifs  qui  ne  coütent  pas  plus  de  30  livres  la  piece  et  sont 
vendus  aux  iles  300  livres  au  moins.“  Peytraud,  99 — 103. 

Die  französischen  Sklavenhändler  sollen  (nach  Berechnungen,  die 
auf  Grund  der  spanischen  Ausfuhrregister  angestellt  sind)  204  Mill. 
Piaster  nach  Frankreich  gebracht  haben  (NB.  schon  bis  Mitte  des 

18.  Jahrhunderts!).  Postlethwayt  1,  134. 

Aus  dem  Liverpooler  Handel:  das  Schiff  .Lottery’  hat  460  Neger 
an  Bord,  verkauft  davon  453  für  gg  22  726,  davon  sind  abzuziehen 
gg  2  307  10  s.  für  Schiffsausrüstung,  gg  8326  14  s.  für  den  Trans¬ 
port;  Reingewinn  der  Reise:  gg  12  091. 


.Lottery’  betrug 

ein  andermal 

gg  19021 

Enterprise'1 

mit 

392  Sklaven 

„  24430 

.Fortune’ 

n 

343  „ 

„  9  487 

.Louisa’ 

n 

326 

„  19133 

.Bloom’ 

u 

308 

„  8123 

Im  Jahre  1786  verkaufen  die  Liverpooler  Sklavenhändler  31690 
Sklaven  für  gg  1  282  690  netto.  Der  Preis  der  nach  Afrika  eingeführten 
Waren  beziffert  sich  auf  gg  864  895,  der  Unterhalt  der  Sklaven  auf 
gg  15  845.  Die  Ausgaben  für  „Fracht“,  an  der  aber  ebenfalls  verdient 
wird,  betragen  gg  103  488.  So  daß  ein  Reingewinn  in  diesem  Jahre 
von  gg  298  462  in  die  Taschen  der  Sklavenhändler  fließen  würde. 
Dabei  ist  aber  zu  berücksichtigen ,  daß  bei  dieser  Rechnung  Höchst- 


Sechsundvierzigstes  Kapitel:  Die  Sklavenwirtschaft  in  den  Kolonien  707 

betrage  für  die  Ausgaben ,  Mindestbeträge  für  die  Einnahmen  an¬ 
genommen  sind.  Immerhin  würde  auch  bei  diesem  Reingewinn  auf 
jeden  der  100 — 120  Schiffseigner  eine  Jahreseinnahme  von  2500  bis 
3000  SS  entfallen.  William,  Liverpool  Slave  Trade. 

Nach  einer  andern  Aufstellung  erfahren  wir  folgende  Zahlenangaben : 
im  Jahre  1771  wurden  insgesamt  47  146  Neger  aus  Afrika  ausgeführt, 
davon  29  250  von  Liverpooler  Händlern.  Der  Gewinn,  der  an  ihnen 
gemacht  wurde,  bezifferte  sich  nach  vorsichtiger  Schätzung,  „according 
to  moderate  Computation“  ,  auf  IV2  Mill.  SSt  der  übrige  Gewinn  bei 
diesem  Handel  auf  Vs  Mill.  £.  John  Campbell,  Political  Survey 
2,  633. 

Mit  diesen  Ziffern  stimmen  fast  vollständig  überein  die  Angaben, 
die  Nemnich,  Reise  nach  England  (1800),  337,  ohne  Quellenvermerk 
macht:  1783 — 1793  wurden  303  737  Sklaven  von  den  Liverpoolern 
verhandelt.  Bei  diesem  Handel  wurden  verdient  15  186850  ■£. 
Jeder  Sklavenhändler  würde  also  durchschnittlich  in  diesem  Jahrzehnt 
ein  Vermögen  von  etwa  3  Mill.  Mk.  erworben  haben. 

Ganz  außerordentliche  Gewinne  wurden  aber  im  Sklavenhandel  erst 
erzielt,  als  er  für  Seeraub  erklärt  worden  und  also  zum  Schmuggel¬ 
handel  geworden  war. 

Aus  der  Geschichte  des  englischen  Sklavenhandels  sind  uns  amtlich 
für  diese  Zeit  folgende  Kostenberechnungen  überliefert.  Das  Schiff 
cFirm’  (1838)  brachte  laut  gerichtlicher  Feststellung  eine  Gesamt¬ 
einnahme  von  145  000  Dollar-,  die  Gesamtausgabe  für  Einkauf,  Pro¬ 
visionen,  Munition,  Löhnung  usw.  betrug  52  000  Dollar,  der  Gewinn 
also  180  °/o.  Ein  Schiff  (Venus5  ladet  850  Sklaven,  die  ihm  3400  SS 
beim  Einkauf  kosten,  die  Spesen  bis  zum  Ankunftshafen  belaufen  sich 
auf  2500  der  Verkaufserlös  erreicht  die  enorme  Höhe  von  42  500  SS- 
Pari.  Pap.  Nr.  381  p.  37,  bei  Buxton,  222  f.  Ähnliche  Fälle  sind 
uns  zu  Dutzenden  bekannt.  Es  ist  unnütz,  die  Beispiele  zu  häufen, 
um  einzusehen,  welche  Bedeutung  der  Sklavenhandel  für  die  Vermögens¬ 
bildung  in  den  Seestädten  der  europäischen  Staaten  besessen  hat. 

Ein  sehr  lehrreicher,  vollständiger  Rechnungsauszug  für  ein  Sklaven¬ 
handelsgeschäft  findet  sich  in  der  Autobiographie  des  Kapitäns  Theo¬ 
dore  Canot,  „Twenty  Years  of  an  Af'rican  Slaver“  (p.  101).  Er 
erweist,  daß  man  mit  einem  Schiffe,  das  $  3700  kostet,  und  einem 
Gesamtkapital  von  $  21  000  in  sechs  Monaten  einen  Reingewinn  von 
$  41438.54  erzielen  konnte. 

Auch  in  dem  Handel  mit  „weißen  Sklaven“  (oder  Hörigen),  der, 
wie  wir  sahen,  in  den  nordamerikanischen  Kolonien  lange  Zeit  eine 
große  Bedeutung  gehabt  hat,  sind  reiche  Gewinne  gemacht  worden. 
Schiffsführer,  Kaufleute,  Agenten  usw.  warben  eine  Anzahl  solcher 
Dienstlinge  (intended  servants)  an  und  verkauften  die  Kontrakte 
meistbietend  an  die  Plantagenbesitzer  in  den  Kolonien.  Ein  Servant 
konnte  für  6—8  SS  befördert  und  für  40 — 60  SS  drüben  verkauft 
werden.  J.  C.  Ballagh,  White  servitude  in  the  Col.  of  Virginia, 
34.  38.  41.  Genauere  Angaben  macht  E.  Irving  Mc  Cormac,  White 
servitude  in  Maryland,  42,  nach  Cal.  St.  Pap.  Col.  Sept.  28.  1670. 

45* 


^08  Fünfter  Abschnitt:  Die  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums 

2.  Die  Sklavenarbeit 

Es  kann  nun  aber  ebensowenig  zweifelhaft  sein,  daß  auch 
die  Produktion  mit  Sklaven  oder  sonstwie  zwangsweise  heran¬ 
gezogenen  Arbeitern  —  ich  will  vorsichtig  sein  und  nicht  sagen : 
rentabel  ist,  sondern:  Jahrhunderte  hindurch  rentabel  ge¬ 
wesen  ist.  Damit  soll  dem  Gedanken  Ausdruck  gegeben 
werden:  daß  es  von  bestimmten  äußeren  Umständen  abhängt, 
ob  die  Sklavenarbeit  rentabel  ist,  und  daß  diese  Umstände 
während  der  letzten  Jahrhunderte  dazu  angetan  waren,  sie 
rentabel  zu  machen. 

Die  Bedingungen  für  ihre  Rentabilität  scheinen  aber  vor¬ 
nehmlich  folgende  zu  sein: 

1.  Plantagenbetrieb,  wie  er  in  den  europäischen 
Kolonien,  die  hier  in  Frage  kommen,  tatsächlich  geherrscht  hat: 
auf  die  Erfüllung  dieser  Bedingung  legt  Cairnes  den  größten 
Nachdruck; 

2.  eine  gewisse  Höhe  der  Pr o duktenpr eise.  Erst  wenn 
diese  durch  Beschäftigung  billigerer  freier  Arbeiter  gedrückt 
werden  können,  liefert  die  Sklavenarbeit  keinen  „Mehrwert“  mehr. 
Diese  Senkung  der  Produktenpreise  tritt  aber  erst  spät  ein:  that 
is,  whenever  the  demand  for  labourers  is  abondantly  supplied  h 

3.  Raubbau  an  der  Menschenkraft,  das  heißt  ein  Auf¬ 
wand  für  die  Pflege  des  Körpers,  der  hinter  dem  physiologischen 
Existenzminimum  zurückbleibt.  Die  Sklaven  sind  physisch  ver¬ 
braucht,  nicht  nur  g  e  braucht  worden.  Es  wurde  zuletzt  üblich, 
den  Sklaven  in  seinem  besten  Mannesalter  tot  zu  arbeiten,  um 
ihn  nicht  als  älteren  Mann  ernähren  zu  müssen.  Daß  die  Sklaven¬ 
bevölkerung  sich  physiologisch  nicht  reproduzierte,  ist  bekannt. 
Daher  die  ungeheuren  Opfer  an  Menschenleben,  das  ungeheure 
Verschwenden  von  Menschenkraft,  das  wir  als  die  Begleit¬ 
erscheinung  der  Kolonialwirtschaft  kennen. 

Bekannt  ist  vor  allem  das  rascke  Verlöschen  der  roten 
Rasse  unter  dem  Drucke  der  europäischen  Herrschaft,  ein  Ver¬ 
löschen,  wie  Pesch el  treffend  bemerkt,  „welches  dem  Verdrängen 
von  Tiergeschlechtern  in  der  geologischen  Zeit  ziemlich  nahe  kommt“. 
Als  die  Spanier  auf  die  Bahamainseln  kamen ,  fanden  sie  sie  dicht 
bevölkert.  Als  1629  die  Engländer  sich  auf  New-Providence  nieder¬ 
ließen,  waren  keine  Eingeborenen  mehr  da.  1503  siedelten  die  ersten 


1  Merivale,  Lect.  on  Col.  1,  297/98;  wo  auch  die  später  so  oft 
aufgestellte  Theorie  vom  Einfluß  des  Aufhörens  der  terra  libera  auf 
die  Gestaltung  des  Arbeitslohns  schon  voll  entwickelt  ist. 


Secksundvierzigstes  Kapitel:  Die  Sklavenwirtschaft  in  den  Kolonien  709 

Spanier  sich  auf  Jamaika  an,  und  schon  1558  waren  sämtliche  Indianer 
verschwunden.  K.  Andree,  Geogr.  des  Welthandels  2  (1872),  705. 
706.  Espanola  hatte  1508  (bei  der  Eroberung)  60  000  Ureinwohner, 
1548  nur  noch  500.  Auf  Kuba  war  1548  die  einheimische  Bevölkerung 
bereits  erloschen.  Peschei,  546  f.  Peru  hatte  1575  (also  fast 
schon  ein  halbes  Jahrhundert  nach  der  Eroberung)  immer  noch  ca. 
1500  000  Einwohner;  1793  nur  noch  600  000.  A.  v.  Humboldt, 
Nouv.  Esp.  1  2,  298/99.  Über  die  dichte  Besiedelung  Perus  spricht 
auch  K.  Häbler,  Amerika,  in  Helmolts  Weltgeschichte  1  (1899), 
310.  312.  Ebenso  ist  in  Mexiko  die  Bevölkerung  zusammengeschmolzen. 
Die  W  aisen  der  in  den  Bergwerken  zugrunde  gegangenen  Männer  und 
Frauen  sind  nach  wenigen  Jahren  so  zahlreich  „wie  die  Sterne  am 
Himmel  und  der  Sand  am  Meere“:  Quiroga  an  den  Rat  von  Indien 
Col.  de  Munoz.  Ms.  t.  79,  bei  Helps  3,  208.  Brief  Frai  Geronimo 
de  San  Miguel  aus  Santa  Fe  20.  August  1550:  „para  poblar  50  casas 
de  Espanoles  se  despueblan  500  de  Indios“  Col.  de  Munoz.  Ms.  t.  85. 
„Daremos  por  cuenta  muy  eierte  y  verdadera,  que  son  muertos  en  los 
dichos  quarenta  anos  por  las  dichas  tiranias,  e  infernales  obras  de  los 
Christianos,  injusta  y  tiranicamente,  mas  de  doze  cuentos  de  animas 
hombres  y  mugeres  y  ninos  y  en  verdad  que  creo  sin  pensar  en- 
ganarme,  que  son  mas  de  quinze  cuentos.“  Las  Casas,  Destruycion 
de  las  Indias  p.  5. 

Aber  auch  die  gelbe  Rasse  hat  gewaltige  Opfer  an  Menschen¬ 
leben  erfahren  müssen.  Banjuwangi,  eine  Provinz  von  Java,  zählte 
1750  noch  über  80 000  Einwohner,  1811  nur  noch  8000.  Th.  Stam- 
ford  Raffles,  Java  and  its  dependencies  (1817),  zit.  bei  Marx, 
Kapital  1  4,  717.  Genaue  Ziffern  über  die  Verminderung  der  Bevölke¬ 
rung  sind  nicht  zu  geben;  daß  sie  vorhanden  ist,  ist  eine  von  niemand 
geleugnete  Tatsache.  Ein  so  besonnener  Schriftsteller  und  vorzüglicher 
Kenner  des  Gegenstandes  wie  Bokemeyer  faßt  sein  Urteil  dahin  zu¬ 
sammen:  „Die  Abnahme  der  Bevölkerung  (auf  den  Gewürzinseln),  die 
von  Geschlecht  zu  Geschlecht  sich  ausbreitenden  Mißgestaltungen  und 
Hautkrankheiten  unter  den  Insulanern  sind  das  nicht  mißzuverkennende 
Merkmal  der  jahrhundertelangen  Bedrängungen  und  Leiden,  welche  als 
ein  Fluch  auf  diesen  schönen  Landen  ruhten“  (a.  a.  O.  S.  293  f.). 

Das  alles  aber  verschwindet  gegenüber  den  Hekatomben  von 
Negern,  die  der  Kolonialwirtschaft  geopfert  sind :  man  darf  getrost 
sagen,  daß  ein  ganzer  dichtbevölkerter  Erdteil  ausgeraubt  worden  ist, 
um  der  Plantagenwirtschaft  das  notwendige  (und  seiner  Überfülle  wegen 
billige)  Arbeitermaterial  zu  schaffen. 

4.  Raubbau  an  der  Natur.  Auch  diese  Bedingung  ist  in 
weitem  Umfange  in  den  europäischen  Kolonien,  namentlich  den 
lange  Zeit  wichtigsten:  in  den  Zuckerkolonien  erfüllt  gewesen: 
Aussaugung  der  Bodenkräfte,  Ausräubung  der  natürlichen  Schätze 
an  Tieren  und  Pflanzen  sind  die  regelmäßigen  Begleiterschei- 
-nungen  der  Kolonialwirtschaft  seit  dem  Mittelalter  bis  in  die 
letzte  Zeit  hinein  gewesen, 


710  Fünfter  Abschnitt:  Die  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums 

Das  gilt  für  die  Milteimeerländer  nicht  minder  als  für  fast  alle 
Kolonialgebiete  der  neuen  Zeit.  Raubbau  war  das  Losungswort 
hier  wie  dort.  Wir  haben  gesehen,  welchen  Garten  die  Pranken  be¬ 
traten,  als  sie  in  Syrien  und  Palästina  landeten,  wo  heute  die  Einöde 
ist;  wir  hörten  von  der  Fruchtbarkeit  der  Inseln  im  Mittelmeer,  wie 
Zypern,  wo  heute  mehr  als  die  Hälfte  des  Landes  als  Wüstenei  ge¬ 
schildert  wird.  Unger  und  Kotschy,  Die  Insel  Zypern  (1865), 
426  ff.  Als  Hans  Ulrich  Krafft  im  Jahre  1573  —  zwei  Jahre 
nach  dem  Ende  der  venetianischen  Herrschaft  —  die  Insel  bereiste, 
fand  er  sie  schon  verödet.  Denkwürdigkeiten  Kraffts  (1862),  81  ff. 

Zypressenwälder  auf  der  Insel  Kreta,  die  der  Axt  der  Venetianer 
zum  Opfer  fielen.  Haudecour,  Introduction. 

Dasselbe  Bild  der  Verödung  in  den  transozeanischen  Kolonien  der 
neueren  Zeit.  In  Westindien  war  die  Zuckerkultur  so  erschöpfend, 
daß  bald  fast  alle  besseren  Ländereien  unbrauchbar  wurden.  Meri- 
vale,  Lectures  on  colonization  and  colonies  1,  41  ff.  75  ff.  Dasselbe 
wird  aus  den  Provinzen  Minas  (Uruguay)  und  Bahia  (Brasilien)  berichtet. 
J.  v.  Liebig,  Chem.  Briefe.  6.  Aufl.  (1878),  423;  dasselbe  für  die 
Baumwollkultur  von  den  Sklavenstaaten  der  U.  S.A. :  C  airnes,  Slave 
Power,  56  seq. 

Überall  fielen  die  herrlichen  Wälder  den  europäischen  Unternehmern 
zum  Opfer.  Bereits  im  Jahre  1548  war  in  der  Nähe  von  S.  Domingo 
die  Landschaft  so  sehr  von  Wald  entblößt,  daß  man  Holz  aus  einer 
Entfernung  von  12  Meilen  zuführen  mußte.  Peschei,  Zeitalter  der 
Entdeckungen,  559.  Über  Entwaldungen  auf  Cura9ao  durch  die  Spanier 
siehe  Friedemann,  Niederländisch-Ostindien  (1860),  262.  Wald¬ 
devastation  in  Mexiko:  A.  von  Humboldt,  Essai  1  283.  Hierher 
gehört  auch  die  systematische  Ausrottung  mancher  Pflanzen,  nament¬ 
lich  der  Nelkenwälder,  wie  sie  die  Holländer,  um  ihr  Handelsmonopol 
zu  sichern,  auf  den  Molukken  Vornahmen.  H.  Bokemeyer,  117  ff. 
179  ff. 

Ein  Schulbeispiel  für  die  Raubwirtschaft  bietet  die  Tätigkeit  der 
holländisch-ostindischen  Kompagnie.  Bokemeyer,  275. 

Daß  die  den  ostindischen  Bauern  von  den  Engländern  ab¬ 
gepreßte  Abgabe  so  hoch  war ,  daß  sie  den  Landwirtschaftsbetrieb 
schädigte,  die  notwendigen  Aufwendungen  verhinderte  und  schließlich 
die  Bevölkerung  dem  Hungertode  preisgab,  wird  von  allen  Bericht¬ 
erstattern  bestätigt.  Siehe  die  Zeugnisse  bei  Buchanan  und  vgl. 
Dutt,  z.  B.  p.  224.  231.  244  und  öfters. 

Daß  nun  aber  die  Sklavenwirtschaft,  wenn  diese  Bedingungen 
erfüllt  sind,  in  der  Tat  recht  gewinnbringend  sein  kann  und  also 
durch  die  Jahrhunderte  hindurch  gewesen  ist:  dafür  besitzen 
wir  hinreichend  beweiskräftige  Zeugnisse,  von  denen  ich  einige 
hier  zur  Bekräftigung  des  Gesagten  mitteilen  will,  * 


Sechsundvierzigstes  Kapitel:  Die  Sklaven  Wirtschaft  in  den  Kolonien  711 

Einige  Zalilenhelege  für  die  Einträglichkeit  der  Sklavenarbeit 

1.  Neger  Sklaverei 

Gegen  1700  wird  auf  den  französischen  Antillen  eine  Plantage 
nach  Labat  auf  350 — 400000  Frcs.  geschätzt,  die  90000  Pres.  Ertrag 
liefert,  also  etwa  25%.  Labat,  Nouv.  Yoyage  aux  isles  d’Amerique. 
1742.  Nach  einer  andern  Berechnung  ergibt  sich  folgendes  Gewinn- 
und  Verlustkonto  für  eine  Zuckerplantage  (Ende  des  18.  Jahrhunderts), 
deren  Wert  mit  Ländereien,  Gebäuden  und  220  Sklaven,  einbegriffen 
Weiber  und  Kinder,  auf  35  000  £  veranschlagt  wurde: 

Produktionsertrag:  500  Fässer  Zucker  ä  20  gj  .  .  10  000  ■£ 

Rum  und  Sirup .  800  „ 

10  800  £ 

Produktionskosten:  Unterhaltungskosten  der  Gebäude, 

Sklaven  usw .  1  200  <£ 

Ankäufe  von  12  neuen  Negern . . 600  „ 

1800  £ 

Gesamtertrag  danach .  9-000  „ 

was  auch  wieder  fast  genau  einer  Profitrate  von  25%  entspricht. 
Hüne,  Darstellung  aller  Veränderungen  des  Sklavenhandels.  1820. 

Eine  andere  größere  Zuckerplantage  auf  Cuba  braucht  (Ende  des 
18.  Jahrhunderts): 

650  ha  Land 

300  Neger  ä  4 — 500  Piaster 
2  000  000  Frcs.  Anlagekapital. 

Jahresproduktion:  400  000  Arroben  Zucker 
=  550  000  Frcs.  Wert. 

Reingewinn  =  300 — 350  000  Frcs.  =  15 — 17  %, 

da  der  aus  der  Melasse  dargestellte  Alkohol  zur  Deckung  der  täglichen 
Unkosten  zu  genügen  pflegt.  Humboldt,  Nouv.  Esp.  3,  179. 

Im  allgemeinen  rechnete  man  den  Gewinn,  den  ein  Sklave  im  Jahre 
abwarf,  in  Zucker-  und  Kaffeeplantagen  auf  30,  in  Baumwollpflanzungen 
auf  25,  bei  Reis  auf  20,  bei  Tabak  und  Getreide  auf  15  jg.  Bereits 
die  ersten  zwei  Jahre  pflegten  den  Ankaufspreis  des  Sklaven  zurück¬ 
zuzahlen,  dann  aber  blieb  natürlich  ein  beträchtlicher  Überschuß  über 
die  Unterhaltskosten,  die  sehr  niedrige  waren.  Labat  berechnete 
sie  für  eine  Plantage  mit  120  Negern  auf  6610  livres ,  d.  h.  also 
55  livres  pro  Kopf  und  Jahr;  Schoelcher  rechnet  100  livres  p.  a. 
Zu  ähnlichen  Ergebnissen  kommen  von  Spix  und  von  Martius, 
Reise  in  Brasilien;  zit.  bei  F.  Nebenius,  Über  die  Natur  und  die 
Ursachen  des  öffentlichen  Kredits  usw.  2.  Aufl.  1829.  S.  58  Anm. 
Nebenius  selbst  macht  dazu  einige  gute  Bemerkungen. 

Für  den  Anfang  des  19.  Jahrhunderts  veranschlagt  ein  sachkundiger 
Beurteiler  die  Durchschnittsprofite  bei  Zuckerplantagen  auf  10%,  bei 
Baumwollplantagen  auf  12—15%,  bei  Kaffeeplantagen  auf  15—20%. 


712  Fünfter  Abschnitt:  Die  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums 

Alles  Vermögen,  fügt  er  hinzu,  strebt  deshalb  in  die 
Kolonien.  G.  J.  Ouvrard,  Memoirs.  4.  ed.  1827.  1,  6. 

Für  die  erste  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  und  für  die  U.  S.A. 
urteilt  ein  früherer  Sklavenhalter  wie  folgt:  „Negro  slaverjr  was  pro¬ 
fitable  in  producing  rice,  cotton  and  turpentine.  One  good  hand  could 
thus  make  in  rice  from  $  300  to  $  400  a  year  above  his  expences 
and  in  turpentine  he  could  make,  as  much  as  $  1000  a  year,“  bei 
John  Spencer  Basset,  Slavery  in  the  State  of  North  Carolina,  86. 

2.  Produktionserzwingung  in  den  holländischen  Kolonien 

Das  holländisch-indische  System  bestand,  wie  wir  wissen,  darin, 
die  Eingeborenen  zur  Lieferung  bestimmter  Produktionsmengen  zu 
verpflichten,  die  ihnen  zu  einem  Taxpreise  abgekauft  wurden;  diese 
waren  dann  so  berechnet,  daß  der  Verkaufspreis  immer  etwa  100  bis 
150  °/o  höher  stand:  z..B.  im  Jahrfe  1762  berechnet  der  Gouverneur 
von  Javas  Ostküste,  Nicolaas  Hasting,  den 

Einkaufspreis  der  Kontingente  auf .  82  223.6  Ktlr. 

Verkaufspreis  „  „  . .  215  874.8  „ 

G.  C.  Klerk  de  Reus,  Geschichtl.  Überblick  der  ...  niederl.-ostind. 
Komp.  (1894),  213. 

Um  jedoch  die  Eingeborenen,  die  z.  B.  den  Kaffee  zu  10  Stüber 
das  Pfund  gern  abgaben,  nicht  übermütig  werden  zu  lassen,  wurde 
1724  bestimmt,  daß  1U  des  Preises  in  Kleidchen  entrichtet  würde; 
bi.  228.  Damals  verkaufte  sie  den  Kaffee  in  Gamron  (Persien)  zu 
1  fl.  14  St.,  zu  Bassalor  zu  1  fl.  11  St.  das  Pfund;  ib. 

3.  Ausbeutung  Britisch-Ost Indiens 

Es  würde  genügen,  auf  die  Profite  der  englisch-ostindischen  Kom¬ 
pagnie  zu  verweisen,  um  die  Einträglichkeit  des  englischen  Erpressungs¬ 
systems  darzutun.  Wir  besitzen  aber  auch  Ziffern,  aus  denen  wir  die 
absolute  Höhe  des  erzielten  Gewinnes,  der  gar  nicht  vollständig  in 
den  Dividenden  der  Kompagnie  zum  Ausdruck  kommt,  deutlich  er¬ 
sehen  können.  So  betrug  der  Tribut,  den  man  von  den  Bewohnern 
der  Provinz  Bengalen  in  den  sechs  Jahren  von  1765—1771  erhob: 
£  20 133  579 ;  davon  wurde  ein  Teil  dem  Großmogul  und  dem  Nabob 
überwiesen,  ein  anderer  Teil  blieb  in  den  Taschen  der  Gesellschafts¬ 
beamten,  die  die  Eintreibung  besorgten,  zurück  (charges  of  collection, 
salaries,  Commission  etc.),  so  daß  in  die  Kassen  der  Kompagnie  rund 
£  13  066  761  flössen.  Davon  lebten  nun  zunächst  wieder  die  Zivil¬ 
verwaltung  und  die  Armee  der  Kompagnie,  die  £  9  027  609  verzehrten. 
Verblieb  ein  Überschuß  von  £  4  037152.  Fourth  Report  .  .  .  on  the 
administration  of  Justice  in  India  1773  p,  335,  bei  Dutt,  46.  Diese 
4  Mill.  £  waren  der  Betrag,  der  zum  „investment“,  das  heißt  dazu 
diente,  die  gewerblichen  Produzenten  zur  Fronarbeit  heranzuziehen. 
Die  den  Zwangsarbeitern  bezahlten  Summen  waren,  wie  ich  schon 
sagte,  ganz  geringfügig  und  genügten  wohl  selbst  in  Indien  nicht,  um 
die  Bevölkerung  zu  erhalten,  die  vielmehr  entweder  sich  einen  Unter¬ 
halt  nebenbei  in  der  Landwirtschaft  erwarb  oder  —  wegstarb.  Was 


Sechsundvierzigstes  Kapitel:  Die  Sklavenwirtschaft  in  den  Kolonien  713 

uns  Buchanan  von  „Arbeitslöhnen“  mitteilt,  erscheint  kaum  glaub¬ 
lich:  40,  50,  60,  70,  höchstens  80  Schilling  im  Jahr.  So  daß  die 
Gütermenge,  die  für  die  4  Mill.  £  hergestellt  wurde,  eine  ganz  be¬ 
trächtliche  war,  die  natürlich  in  Europa  zum  Vielfachen  des  „Her¬ 
stellungspreises“  verkauft  wurde.  Ein  Autor  meinte:  zum  anderthalb¬ 
fachen  Betrage,  was  sehr  niedrig  erscheint.  Immerhin:  das  wären 
10  Mill.  200  Mill.  Mk.,  für  die  kein  Pfennig  bezahlt  war, 
die  man  vielmehr  —  „without  sending  an  ounce  of  Silver  from  hence", 
wie  stolz  John  Campbell,  Pol.  Survey  2,  613,  meint  —  einfach 
den  Eingeborenen  „wegnahm“.  „The  whole  exported  produce  of  the 
countiy,  so  far  as  the  Company  is  concerned,  is  not  exchanged 
in  the  course  of  harter,  but  it  is  t a k e n  a w a y  without  any 
return  or  payment  whatever.“  Select  Committees.  Ninth  Report 
1783,  p.  55;  ib.  p.  69. 

4.  Weiße  Z  w a  11  g s  a r b  e i  t  in  den  U.  S.  A. 

Der  Servant  produzierte  nach  Aussage  eines  Zeitgenossen  (Ende 
17.  Jahrhunderts)  2500 — 3000  Pfd.  Tabak  im  Durchschnitt  der  Jahre: 
McCormac,  33,  und  kostete  12 — 15  (außer  der  Beköstigung). 

Noch  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  schreibt  Governor  Sharpe:  „the 
Plantar’s  Fortune  here  consist  in  the  number  of  their  Servants  .  .  . 
much  as  the  Estates  of  an  English  Farmer  do  in  the  Multitude  of 
Cattle.“  Mc  Cormac,  35.  Freie  Arbeiter  sind  nicht  zu  bezahlen. 
Ein  Pflanzer  muß  zwei  Ochsen  verkaufen,  um  seinen  Arbeiter  zu  be¬ 
zahlen,  und  entläßt  ihn,  weil  er  nicht  weiß,  wie  ihn  weiter  bezahlen. 
Der  Arbeiter:  er  möge  mehr  Vieh  verkaufen;  der  Pflanzer:  but  how 
shall  I  do  when  all  my  cattle  are  gone?  The  servant:  you  shall 
than  serve  me  and  so  you  may  have  your  cattle  again.  McCormac, 
1.  c.  Nach  Winthrop,  Hist,  of  New  England  2,  219.  220. 

Die  sachkundigsten  Bearbeiter  jener  Epochen  der  amerikanischen 
Kolonialwirtschaft  stimmen  darin  überein:  daß  die  White  servitude 
eine  äußerst  einträgliche  Arbeitsform  gewesen  ist.  Cormac,  111  ff. 
Ballagh,  89  ff. 

Angesichts  so  vieler  Zeugnisse  dürfen  wir  wohl  an  der  ver- 
mogenbildenden  Kraft  der  Sklavenwirtschaft  nicht  zweifeln.  Zu 
allem  Überfluß  wissen  wir  genug  von  dem  sprichwörtlichen 
Reichtum  der  Pflanzer,  den  ich  nur  durch  zwei  beliebig  heraus¬ 
gegriffene  Aussagen  von  Zeitgenossen  belegen  will. 

Ein  Zeitgenosse  des  holländischen  Krieges,  Bruder  Manoel 
de  Salvador,  berichtet  von  dem  Luxus  der  Pflanzeraristokratie 
in  Brasilien  am  Ausgang  des  16.,  Anfang  des  17.  Jahrhunderts: 
„Wer  nicht  von  Silber  aß,  galt  für  arm;  die  Frauen  hielten 
Kleider  von  Seide  und  Atlas  für  zu  gering,  wenn  nicht  die 
reichste  Stickerei  hinzukam,  und  schmückten  sich  mit  so  vielen 
Juwelen,  als  ob  es  Edelsteine  geregnet  hätte;  die  Männer  ihrer¬ 
seits  folgten  jeder  neuen  Mode,  prunkten  mit  kostbaren  Dolchen 


714  Fünfter  Abschnitt:  Die  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums 

und  Degen;  keiner  der  köstlichen  Leckerbissen  Portugals  oder 
der  Inseln  durfte  auf  ihrer  Tafel  fehlen.  Kurz,  Pernambuco 
glich  kaum  einem  irdischen  Lande,  soweit  Reichtum  und  Ver¬ 
schwendung  es  dazu  machen  konnten,  schien  es  ein  Bild  des 
Paradieses.“ 1 

Und  der  immer  klar  blickende  und  wohlunterrichtete  D  e  f  o  e 
schreibt  im  Anfang  des  18.  Jahrhunderts:  „We  see  now  the 
ordinary  planters  of  Jamaica  and  Barbados  rise  to  immense 
estates,  riding  in  their  coaches  and  six,  especially  in  Jamaica, 
with  20  or  30  negroes  on  foot  running  before  there  whenever 
they  please  to  appear  in  publick.“  2 


1  Zit.  bei  Handel  mann,  Geschichte  von  Brasilien  (1840),  344. 

2  Defoe  (1727),  316.  Vgl.  noch  George  Louis  Beer,  The 

old  colonial  System  (1660 — 1754).  2  Vol.  1912,  wo  viel  neues  und 

interessantes  Material  verarbeitet  ist.  Über  die  rasche  Zunahme  des 
Reichtums  der  Pflanzer  in  Barbados  siehe  z.  B.  2,  9. 


715 


Siebenundvierzigstes  Kapitel 

Die  Vermögensbildung  im  Rahmen  der 
kapitalistischen  Wirtschaft 

An  verschiedenen  Stellen  sind  wir  der  Vermögensbildung  aus 
Unterneh m  erpr ofit  begegnet.  Im  allgemeinen  jedoch  war  dieser 
Abschnitt  dazu,  bestimmt,  zu  zeigen,  daß  der  bürgerliche  Reich¬ 
tum  zu  einem  sehr  großen ,  wenn  nicht  zum  größten  Teile 
außerhalb  des  kapitalistischen  Rahmens  erwächst,  neben  der 
kapitalistischen  Wirtschaft  entsteht,  so  daß  er  für  diese 
eine  „Grundlage“,  eine  „Vorbedingung“  bildet.  Es 
versteht  sich  nun  aber  wohl  von  selbst,  daß  von  dem  ersten  An¬ 
beginn  kapitalistisch  betriebenen  Handels  und  kapitalistischer 
Produktion  der  Profit  auch  als  Quelle  der  Vermögensbildung 
dient.  Um  das  grundsätzlich  festzustellen,  bedarf  es  weder 
großen  Scharfsinns  noch  übermäßig  ausgedehnten  historischen 
Wissens.  Ich  würde  es  auch  nicht  erst  ausdrücklich  erwähnt 
haben,  wenn  nicht  einige  Kritiker  der  ersten  Auflage  diese 
Kategorie  der  Vermögensbildung  (oder  wie  es  damals  irrtümlich 
hieß :  der  Kapitalbildung)  vermißt  und  ihr  Pehlen  getadelt  hätten. 
Also  um  ihretwillen  wird  die  Trivialität  hier  festgestellt. 

Wie  der  Kapitalprofit  sich  bildet,  habe  ich  an  anderer  Stelle 
bereits  schematisch  dargestellt  (siehe  das  19.  Kapitel).  Wir  wissen 
danach : 

1.  daß  aller  Kapitalprofit  entsteht  durch  das  vertragsmäßige 
Zusammenwirken  zwischen  den  Kapitalbesitzern  und  den  gegen 
bestimmten  Entgelt  für  sie  tätigen,  freien  Nur- Arbeiter ; 

2.  daß  also  aller  Kapitalprofit  in  dem  Überschuß  des  Verkaufs¬ 
preises  über  die  dem  Arbeiter  gezahlten  Beträge  oder,  wenn 
man  beide  auf  den  gleichen  Nenner  des  in  ihnen  verkörperten 
Arbeitsaufwandes  oder  „Arbeitswertes“  bringen  will,  auf  dem 
„Mehrwert“  beruht,  den  der  Unternehmer  über  den  im  Arbeits¬ 
lohn  verkörperten  „Wert“  im  Produktenpreise  erzielt.  Diese 
Feststellung,  die  Marx  so  viel  Kopfzerbrechen  gemacht  hat,  ist, 
wie  schon  Lexis  ausgeführt  hat,  eine  Tautologie  und  schließt 


716  Fünfter  Abschnitt:  Die  Entstehung  des  bürgerlichen  Reichtums 

natürlich  auf  der  andern  Seite  nicht  aus,  daß  der  im  Arbeitslohn 
verkörperte  Güterbetrag  größer  ist,  als  der  vom  vereinzelten 
Arbeiter  erzeugte  Güterbetrag  sein  würde.  Ob  er  wirklich  größer 
oder  kleiner  ist,  ist  eine  empirisch  zu  ermittelnde  und  von  Fall 
zu  Fall  sich  verschieden  gestaltende  Tatsache.  Der  grundsätzliche 
Streit  um  die  „Produktivität  des  Kapitals“  ist  ein  müßiger; 

3.  wissen  wir,  daß  die  Höhe  des  Profits  von  zahlreichen  Um¬ 
ständen  bestimmt  wird,  die  ich  ebenfalls  bereits  auf  Seite  324  ff. 
schematisch  zusammengefaßt  habe  und  deren  empirisch-historische 
Feststellung  eine  der  Hauptaufgaben  dieses  Werkes  ist. 

Hinzufügen  will  ich  nur  noch,  daß  die  Profite  der  kapita¬ 
listischen  Unternehmungen  in  der  frühkapitalistischen  Epoche 
wahrscheinlich  sehr  hoch  gewesen  sind ,  angesichts  einerseits 
des  Monopolcharakters,  den  Handel  und  Produktion  noch  viel¬ 
fach  trugen  (siehe  den  2.  und  6.  Abschnitt);  andererseits  der 
niedrigen  Löhne,  die  sich  mit  Notwendigkeit  aus  der  all¬ 
gemeinen  Wirtschaftslage  ergaben,  und  um  deren  Niedrighaltung 
die  öffentlichen  Körper  außerdem  besorgt  waren  (siehe  den 
7.  Abschnitt). 

Welchen  Umfang  die  Vermögensbildung  aus  Profit 
angenommen  habe,  läßt  sich  natürlich  nicht  feststellen,  zumal  wir 
selbst  im  Falle  des  einzelnen  Unternehmers  nicht  wissen,  ob 
er  seinen  Reichtum  in  seinem  Geschäft  oder  außerhalb  dieses 
gewonnen  habe:  wir  lernten  verschiedene  Fälle  kennen,  die  be¬ 
wiesen,  daß  noch  im  18.  Jahrhundert  beispielsweise  die  Geld¬ 
leihe  eine  ganz  übliche  Nebenbeschäftigung  industrieller  Unter¬ 
nehmer  war. 

Immerhin  werden  wir  die  quantitative  Bedeutung  dieser 
Reichtumsquelle  einigermaßen  in  den  Geschmack  und  in  das 
Gefühl  bekommen,  wenn  wir  die  Fortschritte  verfolgen,  die  der 
Kapitalismus  im  Güterumsatz  und  in  der  Güterproduktion 
während  der  frühkapitalistischen  Epoche  gemacht  hat.  Das  ge¬ 
schieht  im  2.  Bande  dieses  Werkes,  auf  den  hier  verwiesen 
werden  muß. 


717 


Sechster  Abschnitt 

Die  Neugestaltung  des  Güterbedarfs 

Übersicht 

Wer  die  Entwicklungsgeschichte  des  Frühkapitalismus  mit 
Aufmerksamkeit  verfolgt,  wird  den  Einfluß,  den  die  Neugestaltung 
des  Güterbedarfs  auf  den  Handel  und  die  Produktion  ausübt, 
natürlich  auf  allen  Seiten  wahrnehmen.  Er  wird  aber,  wenn  er 
die  Einzelerscheinungen  zu  ordnen  unternimmt  und  diejenigen 
Stellen  genauer  festzuhalten  sich  bemüht,  an  denen  dieser  Ein¬ 
fluß  sich  besonders  fühlbar  macht,  immer  wieder  dazu  kommen, 
eine  Anzahl  Konsumentengruppen  vor  den  andern  herauszuheben 
und  als  diejenigen  zu  bezeichnen,  die  durch  die  Neugestaltung 
ihres  Bedarfs  recht  eigentlich  die  Umbildung  der  wirtschaftlichen 
Organisation,  soweit  der  Güterabsatz  dabei  von  Bedeutung  ge¬ 
wordenist,  bewirkt  haben.  Diese  revolutionären  Gruppen 
sind  folgende: 

1.  die  Reichen; 

2.  die  Armeen ; 

3.  die  Schiffsbauer ; 

4.  die  Großstädter; 

5.  die  Bewohner  der  Kolonien. 

Von  diesen  fünf  Gruppen  habe  ich  die  ersten  drei  in  ihrer 
Wirksamkeit  als  Konsumbildner  bereits  an  anderer  Stelle  verfolgt. 
Meine  beiden  -„Studien“ :  „Luxus  und  Kapitalismus“  und  „Krieg 
und  Kapitalismus“  haben  es  sich  gerade  zur  Aufgabe  gemacht,  den 
überragend  großen  Einfluß  aufzudecken,  den  die  Lebensführung 
der  Reichen  und  der  wachsende  Bedarf  der  Heere  (einschließlich 
der  Flotten)  auf  die  Neugestaltung  des  Güterbedarfs  in  einer 
der  Entstehung  des  Kapitalismus  förderlichen  Richtung  ausgeübt 
haben.  Ich  könnte  den  Leser  auf  diese  Untersuchungen  ver¬ 
waisen  und  hier  auf  eine  Behandlung  dieser  Probleme  ganz  ver¬ 
zichten.  Dadurch  würde  aber  in  dem  Aiifbau  dieses  Werkes 
eine  empfindliche  Lücke  entstehen,  weshalb  ich  es  für  notwendig 
erachte,  wenigstens  in  kurzer  Zusammenfassung  die  Ergebnisse 


718  Sechster  Abschnitt:  Die  Neugestaltung  des  Güterbedarts 

hier  zu  wiederholen,  zu  denen  ich  in  den  genannten  Büchern 
gelangt  hin.  Sie  bildet  den  Inhalt  der  Kapitel  48  bis  5(X. 

Diese  Wiederholung  wird  auch  dadurch  gerechtfertigt,  daß 
ich  an  verschiedenen  Stellen  die  früheren  Ausführungen  be¬ 
richtigt  und  namentlich  ergänzt  habe.  Das  50.  Kapitel  gewinnt 
dem  Stoffe  noch  insbesondere  dadurch  neue  Seiten  ab,  daß  ich 
den  Bedarf  des  Schiffbaus  auf  denjenigen  der  Handelsmarine 
ausgedehnt  habe. 

Die  Neugestaltung,  die  der  Güterbedarf  durch  die  Großstädte 
und  die  Kolonien  erfahren  hat,  bringe  ich  dagegen  hier  in  dem 
51.  und  52.  Kapitel  zum  ersten  Male  zur  Darstellung. 

*  * 

* 

Zum  besseren  Verständnis  der  diesem  Werke  zugrunde 
liegenden  Systematik  bemerke  ich  noch  ausdrücklich,  daß 
ich  in  diesem  Abschnitt  nur  das  Problem  der  Bedarfsgestaltung, 
noch  nicht  das  der  Marktbildung  behandele.  Diese  beiden  Problem¬ 
komplexe  sind,  wie  nicht  weiter  ausgeführt  zu  werden  braucht, 
zwar  verwandt,  aber  keineswegs  dieselben :  sie  stellen  nicht  sich 
deckende,  sondern  sich  schneidende  Problemkreise  dar.  Während 
einerseits  die  Bedarfsgestaltung  noch  unter  anderm  Gesichts¬ 
punkte  als  dem  ihrer  Bedeutung  für  die  Marktbildung  (z.  B.  in 
ihrem  Verhältnis  zur  Kapitalbildung)  gewürdigt  werden  muß,  ist 
andererseits  die  Marktbildung  noch  von  andern  Umständen  ab¬ 
hängig  als  von  der  Bedarfsgestaltung,  die  für  sie  vielmehr  nur 
als  eine  von  mehreren  Vorbedingungen  erscheint.  Deshalb  handele 
ich  hier,  wo  ich  die  allgemeinen  Grundlagen  des  modernen 
Kapitalismus  bespreche,  das  Kapitel  von  der  Bedarfsgestaltung 
ab,  während  ich  die  Marktbildung,  die  einen  notwendigen  Be¬ 
standteil  der  eigentlichen  Wirtschaftsorganisation  bildet,  dort 
erörtere,  wo  ich  das  Wirtschaftsleben  im  Zeitalter  des  Früh¬ 
kapitalismus  systematisch  zur  Darstellung  bringe,  das  ist  im 
2.  Bande» 


719 


Achtundvierzigstes  Kapitel 
Der  Luxusbedarf 

I.  Begriff  und  Ursprung  des  Luxus 

Luxus  ist  jeder  Aufwand,  der  über  das  Notwendige  hinaus- 
geht.  Der  Begriff  ist  offenbar  ein  Relationsbegriff,  der  erst  einen 
greifbaren  Inhalt  bekommt,  wenn  man  weiß,  was  „das  Not¬ 
wendige“  sei.  Um  dieses  festzustellen’,  gibt  es  zwei  Möglich¬ 
keiten:  man  kann  es  subjektiv  in  einem  Werturteile  (ethischer, 
ästhetischer  oder  welcher  Art  immer)  verankern  h  Oder  man 
kann  einen  irgendwelchen  objektiven  Maßstab  ausfindig  zu 
machen  suchen,  an  dem  man  es  ausmessen  kann.  Als  solcher 
bietet  sich  entweder  die  physiologische  Notdurft  des  Menschen 
oder  das  dar,  was  man  die  Kulturnotdurft  nennen  kann.  Jene 
ist  nur  je  nach  den  Klimaten,  diese  je  nach  der  historischen 
Epoche  verschieden.  Man  hat  es  in  der  Hand,  die  Grenze  der 
Kultumotdurft  oder  des  Kulturnotwendigen  beliebig  zu  ziehen 
(wird  aber  gebeten,  diesen  Willkürakt  nicht  mit  der  oben  er¬ 
wähnten  Wertung  zu  verwechseln). 

Luxus  hat  dann  aber  einen  doppelten  Sinn:  er  kann  quanti¬ 
tativ  oder  qualitativ  ausgerichtet  sein. 

Luxus  in  quantitativem  Sinne  ist  gleichbedeutend  mit  „Ver¬ 
geudung“  von  Gütern:  wenn  man  hundert  Dienstboten  hält,  wo 
einer  „genügt“,  oder  wenn  man  drei  Schwefelhölzer  auf  einmal 
ansteckt,  um  sich  die  Zigarre  anzuzünden.  Luxus  in  qualitativem 
Sinne  heißt  Verwendung  besserer  Güter,  heißt  Feinbedarf.  Luxus 
in  quantitativem  und  Luxus  in  qualitativem  Sinne  können  sich 
vereinigen  (und  sind  in  Wirklichkeit  meist  vereinigt). 

Verfeinerung  ist  alle  Zurichtung  der  Güter,  die  für  die 
notdürftige  Zweckerfüllung  überflüssig  ist.  Die  Verfeinerung 
kann  grundsätzlich  in  zwei  Richtungen  sich  betätigen:  in  der 
Richtung  des  Stoffes  oder  der  Form. 

Faßt  man  die  Verfeinerung  in  absolutem  Sinne,  so  gehört 

1  Das  geschieht  meistens.  Siehe  jetzt  wieder  die  Festrede  von 
Anton  Koch,  Wesen  und  Wertung  des  Luxus.  1914. 


720  Sechster  Abschnitt:  Die  Neugestaltung  des  Güterbedarfs 

die  große  Mehrzahl  aller  unserer  Gebrauchsgüter  zu  den  ver¬ 
feinerten  Gütern:  denn  fast  alle  befriedigen  mehr  als  die  (ani¬ 
malische)  Notdurft.  Man  wird  deshalb  auch  von  einem  Fein¬ 
bedarf  in  einem  relativen  Sinne  sprechen  müssen,  indem  man 
die  bei  einem  gegebenen  Stande  der  Güterkultur  über  das  Durch¬ 
schnittsmaß  hinausgehende  Verfeinerung  erst  als  Verfeinerung 
im  engeren  Verstände  bezeichnet.  Den  solchermaßen  enger  um¬ 
schriebenen  Feinbedarf  nennen  wir  dann  wohl  Luxusbedarf;  die 
Güter,  die  zu  seiner  Deckung  dienen,  Luxusgüter  im  engeren 
Sinne. 

Luxus  in  dem  Sinne  von  Feinbedarf  und  seiner  Befriedigung 
dient  sehr  verschiedenen  Zwecken  und  kann  deshalb  auch  sehr 
verschiedenen  Beweggründen  sein  Dasein  verdanken:  ob  ich 
Gott  einen  goldgeschmückten  Altar  weihe  oder  mir  ein  seidenes 
Hemd  kaufe:  beide  Male  treibe  ich  Luxus,  aber  man  empfindet 
alsogleich,  daß  diese  beiden  Akte  weltenverschieden  sind.  Man 
kann  vielleicht  jene  Weihe  einen  idealistischen  oder  auch 
altruistischen  Luxus,  diese  Anschaffung  einen  materialistischen 
oder  auch  egoistischen  Luxus  nennen,  indem  man  damit  Be¬ 
stimmung  und  Beweggrund  gleichermaßen  unterscheidet. 

Beide  Arten  des  Luxus  sehen  wir  in  unserer  Epoche  sich 
entwickeln.  Aber  weit  mächtiger  entfaltet  sich  gerade  in  dieser 
Zeitspanne  zwischen  Giotto  und  Tiepolo,  die  wir  als  die  Zeit 
des  Frühkapitalismus  kennen,  der  Strom  des  materialistischen 
Luxus.  Seine  Quellen  liegen  vor  allem  in  der  Entwicklung, 
die  das  Staatsleben  nimmt  einerseits:  sofern  eine  notwendige 
Begleiterscheinung  des  absoluten  Fürstenstaates  der  Fürstenhof 
ist  dieser,  wie  wir  alsobald  sehen  werden,  fruchtbarste  Nähr¬ 
boden  eines  verschwenderischen  Luxus;  in  der  Entfaltung  des 
Deich  tu  ms  und  der  Anhäufung  großer  Privatvermögen  sowie  in 
der  Großstadtbildung  andererseits. 

II.  Die  Fürstenhöfe  als  Mittelpunkte  der  Luxus¬ 
entfaltung 

*  Eine  wichtige  Folgeerscheinung  und  dann  auch  wieder  eine 
entscheidende  Ursache  der  Wandlungen,  die  die  Staats  Verfassung 
und  das  Heerwesen  am  Ausgange  des  Mittelalters  durchmachen, 
ist  die  Entstehung  größerer  Fürstenhöfe  in  dem  Sinne,  den  wir 
dem  Worte  heute  unterlegen. 

Vorgänger  und  Vorbilder  der  späteren  Entwicklung  sind  auch 
hier,  wie  auf  so  vielen  Gebieten,  die  Kirchenfürsten  gewesen. 


Achtundvierzigstes  Kapitel:  Der  Luxusbedarf  721 

Vielleicht  war  Avignon  der  erste  „moderne“  Hof,  weil  hier  zu- 
*  erst  die  beiden  Gruppen  von  Personen  dauernd  sich  zusammen¬ 
fanden  und  den  Ton  angaben,  die  in  den  folgenden  Jahrhunderten 
das  bildeten,  was  man  die  Hofgesellschaft  nannte :  Edelleute  ohne 
einen  andern  Beruf,  als  den  Interessen  des  Hofes  zu  dienen,  und 
schöne  Frauen,  „souvent  distinguees  par  les  manieres  et  l’esprit“, 
die  recht  eigentlich  dem  Leben  und  Treiben  ihr  Gepräge  auf¬ 
drückten.  Die  Bedeutung  der  Avignoneser  Episode  lag  vor  allem 
darin,  daß  sich  hier  zum  ersten  Male  um  das  Oberhaupt  der 
Kirche  die  geistlichen  Grand  Seigneurs  fast  ganz  Europas  ver¬ 
sammelten  und  ihren  Glanz  entfalteten,  wie  uns  das  Johann  XXII. 
in  dem  Dekret  Etsi  deceat  anschaulich  vor  Augen  geführt  hat1. 

An  die  hellbelichtete  Avignoner  Epoche  reiht  sich  in  unserer 
Vorstellung  unmittelbar  an  die  Glanzzeit  des  Papsttums  in  Rom 
unter  der  Herrschaft  der  großen  Renaissancepäpste  von  Paul  II. 
bis  Leo  X.,  die,  je  einer  den  andern  überbietend,  ein  Leben  voller 
Glut  und  Glimmer  entfalten. 

Mit  den  Höfen  der  Päpste  wetteiferten  die  der  übrigen  Fürsten 
Italiens.  Begreiflicherweise  entwickelten  sich  gerade  in  Italien 
die  Grundzüge  dieses  Lebens  am  frühesten ,  weil  hier  die  Be¬ 
dingungen  am  frühesten  erfüllt  waren:  Niedergang  des  Ritter¬ 
tums,  „Verstadtlichung“  des  Adels,  Ausbildung  des  absoluten 
Staates,  "Wiedergeburt  der  Künste  und  Wissenschaften,  gesell¬ 
schaftliche  Talente,  größerer  Reichtum  usw. 2 

Aber  für  die  Geschichte  des  Hofwesens  von  entscheidender 
Bedeutung  wurde  doch  die  Herausbildung  eines  modernen  Hofes 
in  dem  so  viel  größeren  und  mächtigeren  Frankreich ,  das  ja 
dann  seit  dem  Ende  des  16.  und  während  der  beiden  folgenden 
Jahrhunderte  der  unbestrittene  Lehrmeister  in  allen  Angelegen¬ 
heiten  wurde,  die  das  höfische  Leben  betrafen. 

Für  die  Geschichte  des  höfischen  Luxus  (ebenso  wie  für  die 
Geschichte  der  Höfe  überhaupt)  wurde  die  Tatsache  bedeutsam, 
daß  die  französischen  Könige  die  Erbschaft  der  italienischen 
Fürsten  auch  in  allem  antraten ,  was  Lebensauffassung  und 
Lebensführung  betraf:  Katharine  von  Medici  war  die  Mittlerin, 

1  Das  Nähere  siehe  in  meinem  „Luxue  und  Kap.“,  S.  177  ff. 

2  Über  den  Luxus,  der  an  diesen  Höfen  damals  getrieben  wurde, 
unterrichtet  das  Tagebuch,  das  Andre  de  la  Yigne,  der  Sekretär 
Annas  von  Bretagne,  auf  der  Reise  mit  Karl  VIII.  durch  Italien  auf¬ 
gezeichnet  hat:  Le  Vergier  d’Honneur.  Einige  Auszüge  bei  Roscoe, 
Life  of  Leo  X.  (1806)  1,  238  f.  und  App.  XXIX. 

Sombart,  Der  moderne  Kapitalismus,  I,  4G 


722  Sechster  Abschnitt:  Die  Neugestaltung  des  Güterbedarfs 

nachdem  schon  vor  ihr  das  Haus  der  Valois  in  Karl  VIII.  und 
Ludwig  XII.  seine  starke  Hinneigung  zur  italienischen  Kultur  ^ 
in  seiner  ganzen  Politik,  wie  man  weiß,  betätigt  hatte. 

Mit  dem  Eintritt  des  französischen  Hofes  in  die  Geschichte 
—  das  ist  das  Entscheidende  —  wuchsen  die  äußeren  Möglich¬ 
keiten  einer  Luxusentfaltung  in  dem  Verhältnisse,  wie  Frankreich 
größer  war  als  die  italienischen  Fürstentümer.  Die  letzten  Valois 
verausgabten  für  ihren  Haushalt  doch  schon  erheblich  mehr  als 
selbst  die  reicheren  Staaten  Italiens  an  öffentlichen  Gesamt¬ 
einnahmen  hatten  h 

Im  Jahre  1512  belief  sich  (nach  dem  Bericht  des  Matteo  Dandolo 
bei  Alberi  4,  42/43)  die  Gesamtausgabe  des  Königs  von  Frankreich 
auf  5  788  000  1.  (das  Livre  turn,  hat  1541—1560  den  Metallwert  von 
3,34  Frcs.  heut.  Währung.  Davon  sind  Luxusausgaben:  2  995  000  L. 

Von  Heinrich  IV.  ab  steigen  die  Ausgaben  Jahr  für  Jahr:  in 
der  letzten  Regierungszeit  Ludwigs  XIV.  erreicht  die  Entwick¬ 
lung  ihren  Gipfel.  Die  Etats  für  die  Jahre  von  1(580  bis  1715 
zeigen  annähernd  dasselbe  Bild.  Ich  greife  beliebig  ein  Jahr 
(1685)  heraus1 2.  In  ihm  wurden  rund  20  Mill.  Frcs.  für  die 
persönlichen,  das  heißt  überwiegend  Luxusausgaben  des  Königs 
verwandt,  bei  einem  Gesamtetat  (Brutto)  von  100  640257  L. 

Was  für  Riesensummen  unter  solchen  Umständen  den  Luxus¬ 
gewerben  zuflossen,  tritt  noch  deutlicher  in  die  Erscheinung, 
wenn  man  einzelne  Ausgaben  für  sich  betrachtet. 

Obenan  steht  natürlich  der  Bauluxus. 

Insgesamt  wurden  für  die  königlichen  Bauten  während  der  Regie¬ 
rungszeit  Ludwigs  XIV.  ausgegeben:  * 

198  957  579  1.  14  s.  11  d. 

(Das  sind,  da  in  dieser  Zeit  das  Livre  turn,  zwischen  1,22  und  1,63 
stand,  rund  300  Mill.  Frcs.  heutiger  Währung.) 

J.  Guiffrey,  Comptes  des  bätiments  du  roi  sous  le  regne  de 
Louis  XIV.  5  Vol.  1881  —  1896,  in  der  Collect.  deDoc.  inedits.  IID  Serie. 

Wie  sich  die  Ausgaben  auf  die  einzelnen  Posten  verteilen,  können 
wir  aus  den  Zusammenstellungen  entnehmen,  die  der  Herausgeber  in 
dankenswerter  Weise  gemacht  hat. 

Von  der  Gesamtsumme  wurden  z.  B.  verwandt: 

für  Ankäufe  in  den  Manufakturen  und  von 


Händlern .  1  730  206  1.  10  s.  2  d. 

Ankäufe  in  der  Manuf.  des  Gobelins 

(Möbel)  .  .  .  f .  4  041068  „  2  „  7  „ 

große  Silberschmuckstücke  ....  2  245  289  „  14  „  10  „ 

Ankauf  von  Marmor,  Blei  und  Zinn.  3  790  446  „  16  „  2  „ 


1  Siehe  die  Ziffern  oben  Seite  605  f. 

2  (Forbonnais)  Recherches  (1758)  2,  101. 


Achtundvierzigst.es  Kapitel:  Der  Luxusbedarf 


723 


Die  eigentlichen  Bauarbeiten  sind  für  die  erste  Epoche  (1664  bis 
1680)  im  einzelnen  in  der  Gesamtsumme  angegeben  und  weisen  für  die 
Schlösser  Versailles,  Louvre  und  Tuilerien,  St.  Germain,  Fontainebleau, 
incennes ,  Trianon,  Clagry  und  Marly  den  Betrag  atoii  insgesamt 
43  537  491  1.  16  s.  6  d.  auf. 


Welcher  Reichtum  und  welche  Pracht  in  den  Möbeln 
der  königlichen  Schlösser  zur  Entfaltung’  kamen ,  ersehen  wir 
jetzt  aus  den  Veröffentlichungen  der  Inventars,  die  auch  mit 
Abbildungen  reichlich  geschmückt  sind.  Eine  Auszählung  ergibt 
beispielsweise,  daß  allein  an  vollständigen  großen  gewebten  Wand- 
behängen  (tentures  completes)  334  in  den  Schlössern  Ludwigs  XIV. 
vorhanden  waren,  die  aus  2G00  Teppichen  und  140  Einzelstücken 
bestanden,  daß  aus  den  Manufactures  des  Gobelins  822  Stücke 
oder  101  Wandbehänge  (tenture)  dorthin  geliefert  waren. 

Einige  Aufträge  aus  dem  Jahre  1669  zeigen  den  Luxus,  der  in 
Möbelstoffen  getrieben  wurde  1 : 


An  die  Herren  Duc  &  Marsollier,  Kaufleute,  für 
64  Ellen  Gold-  und  Silberbrokat,  zu  138  1. 
10  s.  die  Elle,  und  für  44  Ellen  Gold-  und 
Silberbrokat,  ponceau  und  grün,  die  Elle  zu 
133  1.  5  s.,  die  sie  Sr.  Majestät  geliefert  haben 

An  dieselben  für  Brokate  aus  Lyon  .  .  .  . 

An  dieselben  7070  1.,  nämlich:  4090  1.  für 
62  Ellen  Gold-  und  Silberbrokat,  violetter 
Fond,  lyoneser  Fabrikat,  zu  66  1.  die  Elle, 
und  2979  1.  10  s.  für  259  Ellen  karmoisin- 
roten  Damast,  touroneser  Fabrikat,  die  Eile 
zu  11  1.  10  s. 

An  Herrn  Reynon  für  Gold-  und  Silberbrokat  . 

An  Herrn  Marcelin  Charlier  für  Samte  und 
Brokatelle . 


16  545  1.  5 

22155  „ 


s. 


70  716  1.  18  s.  11  d. 
5  572,,  5  „ 


Den  Einrichtungen  der  Schlösser  entsprach  der  Glanz  der 
Gewänder,  die  in  diesen  zur  Schau  getragen  wurden.  Man 
lese  die  Schilderungen  der  Feste  im  „Mercure  galante“,  wo  ein 
L.  P.  des  17.  Jahrhunderts  jede  einzelne  Toilette  der  Hofgesell¬ 
schaft  ausführlich  beschreibt!  Ludwig  selbst  trug  ein  Gewand, 
das  für  14  Mill.  Eres.  Brillanten  enthielt. 

Als  Ludwig  eines  Tages  die  in  Paris  angelegte  Spitzen¬ 
manufaktur  besichtigte,  kaufte  er  für  22  000  1.  Spitzen  ein2. 


1  J.  Guiffrey,  Comptes  des  bätiments  1.  c.  Vgl.  noch  J.  Guiffrey, 
Inventaire  general  du  mobilier  de  la  couronne  sous  Louis  XIV  (1663 
bis  1715).  5  Vol.  1885. 

2  Diar.  Europ.  c.  24.  Okt.  1666,  bei  Ranke,  Franz.  Gesch.  33,  214. 


724  Sechster  Abschnitt:  Die  Neugestaltung  des  Güterbedarfs 

Der  Kleiderluxus  am  französischen  Hofe  steigerte  sich  während 
des  18.  Jahrhunderts  unausgesetzt  weiter  und  erreichte  einige 
Jahre  vor  der  Revolution  seinen  Höhepunkt.  Wir  sind  genau 
unterrichtet  über  den  Kleideretat  der  Marie  Antoinette  1 : 

Im  Jahre  1773  betrug  das  Garderobengeld  der  damaligen  Kron¬ 
prinzessin  120  000  1.  Diese  Summe  blieb  wohl  auch  später  gleichsam 
das  Ordinarium,  das  aber  Jahr  für  Jahr  durch  größere  Summen  über¬ 
schritten  wurde.  Die  Ausgabe  für  Toiletten  beträgt: 

1780  .  194118  1.  17  s. 

1781  .  151290  „  3  „ 

1782  .  199  509  „  4  „ 

1787  .  217  187  „  —  „ 

Von  da  ab  gehen  die  Ausgaben  zurück. 

Es  ist  kein  Zufall ,  sondern ,  wie  ich  das  in  meiner  Studie 
„Luxus  und  Kapitalismus“  glaube  nachgewiesen  zu  haben,  eine 
mit  Notwendigkeit  aus  der  Eigenart  der  gesamten  Gestaltung 
der  frühkapitalistischen  Gesellschaftskultur  sich  ergebende  Selbst¬ 
verständlichkeit,  daß  die  Luxus entfaltung  des  AncienRegime  ihren 
Höhepunkt  erreicht  in  dem  verschwenderischen  Leben  der  großen 
Königsmaitressen.  Geradezu  eine  repräsentative  Bedeutung  für 
ihre  Zeit  hat  Mme  de  Pompadour  besessen.  Sie  wird  mit  ihrem  Ge¬ 
schmack  zur  Beherrscherin  der  gesamten  Lebensgestaltung:  „Nous 
ne  vivons  plus  que  par  Mme  de  P.  Carosses  ä  la  P.,  habits  en 
drap  couleur  ä  la  P.,  ragoüts  ä  la  P.,  cheminees,  miroirs,  tables, 
sophas,  chaises  ä  la  P. ,  eventails,  etuis,  curedents  ä  la  P.“ 
schreibt  ein  Zeitgenosse.  Ihre  Luxusausgaben  aber  erreichen 
Ziffern,  wie  sie  nie  vorher  bekannt  gewesen  waren.  Sie  gibt  in 
den  19  Jahren  ihrer  Herrschaft  für  ihre  persönlichen  Bedürfnisse 
nachweislich  36  327  268  1.  aus 2. 

Der  Marquise  de  Pompadour  steht  die  Comtesse  Du  Barry 
nicht  nach.  Nach  der  gewissenhaften  Berechnung  Le  Rois  ver¬ 
zehrt  sie  seit  dem  Augenblicke  ihres  Emporstiegs  im  wesentlichen 
zur  Befriedigung  eines  exzentrischen  Luxusbedarfs  12481804  1. 
11  d.  Davon  entfallen  6  427  803  1.  11  d.  auf  die  Zahlungs¬ 
anweisungen,  die  sie  während  der  Jahre  ihrer  Herrschaft  (1769 
bis  1774)  für  den  Bankier  Baujon  ausschreibt. 

1  Arck.  nat.  O  1,  3792  —  94,  mitgeteilt  in  dem  sehr  lehrreichen 
Buche  von  Emile  Langlade,  La  marchande  de  modes  de  Marie 
Antoinette  Rose  Bertin  (s.  a.),  29.  122. 

2  Etat  des  depenses  de  Mme  la  Marquise  de  Pompadour  du  9  sept. 
1745  au  15  avr.  1769  jour  de  sa  mort,  publ.  par  M.  Luc.  Leroy, 
zit.  bei  Baudrillart  4,  327. 


Achtundvierzigstes  Kapitel:  Der  Luxusbedarf 


725 


Die  Originalrechnungen  finden  sich  unter  den  Mss.  der  National¬ 
bibliothek  Suppl.  fraiiQ.  8157,  8158.  Sie  sind  in  der  Hauptsache  ver¬ 
öffentlicht  von  den  Goncourts  im  Anhang  zu  ihrem  Buche  über 
die  Du  Barry.  Siehe  die  Auszüge,  die  ich  daraus  gemacht  habe,  in 
Luxus  und  Kapitalismus  Seite  89  ff. 

*  * 

* 

Eine  kurze  Zeitspanne  hindurch  hat  der  Glanz  am  spanischen 
Hofe  vielleicht  den  der  französischen  Hofhaltung  in  den  Schatten 
gestellt :  sagen  wir  von  der  Erschließung  der  Silberminen  Potosis 
und  Guanaxuatos  an  bis  in  die  Regierungszeit  Philipps  IY.  hinein 
war  Madrid  der  Schauplatz  einer  unerhörten  Prachtentfaltung, 
und  der  spanische  Stil  wurde ,  wie  man  weiß ,  seitdem  vielfach 
zum  herrschenden.  Die  Einnahmen,  auf  denen  diese  pompöse 
Lebensgestaltung  ruhte,  waren  noch  unter  Philipp  III.  bedeutend. 
Nach  den  Schätzungen  des  venetianischen  Gesandten  Tomaso 
Contarinis  betrugen  sie  16  Mill.  Duk.  (also  etwa  150  Mill.  Pres.). 
Die  Richtigkeit  dieser  Schätzung  wird  bestätigt  durch  die  Er¬ 
gebnisse  einer  Untersuchung,  die  Heinrich  IY.  anstellen  ließ  (um 
die  Hilfsquellen  seines  Gegners  zu  erforschen) ;  diese  ergab  eine 
(Netto -)Einn ahme  von  15  658000  Duk.,  während  etwa  noch  5  Milk 
bei  den  Yizekönigen,  Steuereinnehmern  usw.  hängen  blieben. 
Freilich:  ein  recht  erheblicher  Teil  dieser  Summe  diente  zur 
Verzinsung  der  Staatsschuld  (die  aber  natürlich  auch  im  wesent¬ 
lichen  der  Luxus entfaltung  zugute  kam,  wie  wir  noch  sehen 
werden).  So  daß  nach  einer  Aufstellung  des  Grafen  Lerma  vom 
Jahre  1610  nur  4487  350  Duk.  zur  Verfügung  des  Königs  blieben, 
von  denen  nicht  ganz  eine  Million  für  die  Hofhaltung  verwandt 
wurde  k 

*  * 

* 

Hinter  Frankreich  und  Spanien  folgt  (in  Westeuropa)  un¬ 
mittelbar  England.  Hier  bildet  den  Höhepunkt  des  höfischen 
Glanzes  die  Regierungszeit  der  Stuarts,  die  ja  in  den  franzö- 
sichen  Königen  ihr  Vorbild  sahen.  Wir  haben  einen  Abglanz 
von  der  Pracht  des  Hofes  unter  diesen  Fürsten  in  den  Bildern 
Van  Dyks,  Peter  Lelys,  Huysmans,  die  uns  die  geckenhaften 
Männer  und  die  schönen,  stolzen  Frauen  in  den  herrlichen 
Brokat-  und  Atlasgewändern  mit  den  schweren  Barockfalten  ge- 

1  Coli,  de  doc.  ined.  t.  IV,  p.  545 — 561,  zit.  von  Mme  B.  Carey, 

La  Cour  et  la  ville  de  Madrid  etc.  (1876),  App.  Note  C.  Vgl.  Ranke, 

Fürsten  und  Völker  1 1 *  3,  131  ff. 


726  Sechster  Abschnitt:  Die  Neugestaltung  des  Güterbedarfs 

malt  haben.  Die  Schilderungen  der  Zeitgenossen,  wie  sie  etwa 
das  Journal  von  Pepys  enthält,  entsprechen  sehr  wohl  dem  Bilde 
satter  Lebensfreudigkeit,  das  die  Gemälde  dieser  Künstler  in  uns 
wachrufen.  Es  gemahnt  uns  an  den  großen  Ludwig,  wenn  wir 
von  Karl  I.  hören,  der  24  Schlösser  so  vollständig  ausstattete, 
daß  er  aus  einem  in  das  andere  reisen  konnte,  ohne  sich  mit 
Gepäck  zu  belasten,  oder  von  Jakob  I.,  der  für  die  Hochzeit 
seiner  Tochter  93278  £  ausgibt,  während  wir  dann  wieder  den 
Abstand  gegen  Frankreich  gewahr  werden,  wenn  wir  von  Karl  H. 
erfahren ,  wie  er  weh-  und  demütig  dem  Hause  der  Gemeinen 
das  Versprechen  ablegt-,  in  Zukunft  weniger  verschwenderisch 
zu  sein  als  bisher,  damit  er  mit  seiner  Zivilliste  endlich  einmal 
reichen  möge.  Der  respektable  Bürger  mag  in  solchen  Augen¬ 
blicken  Morgenluft  gewittert  haben:  eine  neue  Welt,  die  Welt, 
in  der  der  Geist  der  auskömmlichen  Wohlanständigkeit  herrschen 
sollte,  kündigte  sich  an.  Aber  auch  der  Oranier  liebte  den  Glanz 
an  seinem  Hofe  1,  und  das  Haus  Hannover  hat  in  seinen  beiden 

ersten  Vertretern  ihnen  nachgeeifert. 

Die  Summen,  über  die  die  englischen  Könige  verfügten,  reichen 
nicht  an  diejenigen  heran,  die  Ludwig  XIV.  dem  Lande  abpreßte . 
sie  waren  immerhin  für  jene  Zeiten  ansehnlich  genug  und  stellen 
eine  recht  erhebliche  Nachfrage  nach  Luxusartikeln  dar2. 

*  * 

* 

Die  ganz  ähnlichen  Verhältnisse  an  den  deutschen  Fürsten¬ 
höfen,  unter  denen  Sachsen,  Hannover,  Württemberg  die  luxuriö¬ 
sesten  waren ,  oder  auch  in  den  östlichen  Ländern  zu  schildern, 
hat  keinen  Zweck,  da  diese  Höfe  die  Höfe  der  westlichen  Staaten 
nach  Möglichkeit  nachzuahmen  trachteten. 

III.  Der  Luxus  in  der  Gesellschaft 

Der  Luxus,  den  der  Hof  trieb,  verbreitete  sich  allmählich 
über  alle  die  Kreise,  die  ihr  Ideal  im  Hofe  erblickten  oder  mit 
dem  Hofe  irgendwie  in  Beziehung  standen;  das  waren  aber,  wie 
wir  getrost  sagen  können,  alle  reichen  Leute,  die  nun  von  dem¬ 
selben  Streben  nach  weltlichem  Glanze  ergriffen  wurden,  wie 
es  die  höfischen  Kreise  beherrschte. 

1  Hübsche  Beschreibung  des  luxuriösen  Hoflebens  Wilhelms  von 
Oranien,  als  er  noch  nicht  englischer  König  war,  bei  Berg,  De  ߧ- 
fugies  1,  269  f. 

2  Siehe  die  Ziffern  oben  Seite  606, 


Aclitundvierzigstes  Kapitel:  Der  Luxusbedarf 


727 


Wir  können  genau  verfolgen,  wie  geradezu  ein  Zwang  zum  Luxus 
vom  Könige  ausging,  namentlich  von  Ludwig  XIV.,  von  dessen  Einfluß 
auf  die  Gesellschaft  uns  ein  in  diesen  Fragen  gewiß  einwandfreier 
Augenzeuge  wie  folgt  berichtet:  „II  aima  en  tout  la  splendeur,  la 
magnificence,  la  profusion,  il  la  tourna  en  maxime  par  politique  et  il 
l’inspira  ä  toute  sa  cour.  C’etait  lui  plaire  que  de  s’y  jeter  en  tables, 
en  habits,  en  equipages,  en  bätiments,  en  jeu  .  .  .  C’est  une  plaie  qui, 
une  fois  introduite ,  est  devenu  le  cancer  interieur  qui  ronge  tous 
les  partiouliers ,  parce  que  de  la  cour  il  s’est  prompteinent  com- 
munique  a  Paris ,  dans  les  provinces  et  les  armees ,  oü  les  gens  en 
place  ne  sollt  contes  qu’en  proportion  de  leur  fable  et  de  leurs  magni- 
ficences  .  .  .  Par  la  folie  des  gens,  eile  va  toujours  Croissant;  les 
suites  en  sollt  infinies,  et  ne  vont  ä  rien  qu’a  la  ruine  et  au  ren- 
versement  general.“  Saint  Simon,  Mein.  t.  VIII  de  l’ed.  Hachette, 
p.  125/26. 

Man  schaute,  zumal  in  Frankreich,  zu  dem  Könige  auf  wie  zu 
einem  Gotte:  Ludwig  wurde  zum  arbitre  du  goüt  für  Paris:  —  „Paris 
—  pour  l’ordinaire  singe  de  la  cour“  meint  La  Bruyere  — ;  für 
die  Provinz;  für  Europa.  Wie  Mansart  baute,  wie  Le  Notre  die 
Gärten  anlegte,  wie  Lebrun  die  Möbel  zeichnete,  wie  Rigaud  malte : 
so  wollte  jeder,  dem  die  Mittel  es  erlaubten,  seine  Häuser  bauen, 
seine  Gärten  anlegen,  seine  Einrichtung  gestalten,  sich  malen  lassen. 
Nicht  nur  in  Frankreich!  Man  weiß  es  ja. 

Aber  der  Prozeß  der  Verweltlichung  hätte  sich  gewiß  nicht 
so  schnell  vollzögen,  die  Entfaltung  des  Luxus  wäre  nicht  in  so 
kurzer  Zeit  ins  Unermeßliche  gewachsen,  wenn  neben  dem  Hofe 
nicht  ein  anderer  wichtiger  Quell  aufgesprungen  wäre,  aus  dem 
in  breitem  Strom  Genußsucht,  Lebensfreudigkeit  und  eitler  Prunk¬ 
sinn  sich  über  die  AVelt  ergossen  hätten:  wenn  nicht  ein  ganz 
intensives  Luxusbedürfhis  bei  den  Nouveaux  riches,  deren 
Werdegang  wir  kennen  gelernt  haben,  wie  eine  verheerende 
Krankheit  ausgebrochen  wäre.  Ihren  Einfluß  auf  die  Umgestaltung 
des  Lebensstils,  vor  allem  ihre  Mitwirkung  bei  der  quantitativen 
Ausweitung  des  Luxusbedarfs,  müssen  wir  nun  verfolgen. 

*  * 

* 

In  der  Geschichte  wird  der  Weg  des  Reichtums  durch  eben- 
soviele  Etappen  der  Luxusentfaltung  bezeichnet:  von 
dem  ersten  Auftauchen  bürgerlicher  Emporkömmlinge  an. 

Diderot  hat  .sicher  nicht  richtig  beobachtet,  wenn  er  die  Meinung 
äußerte,  daß  die  reichgewordenen  Knoten  früher  bescheiden  im  Ver¬ 
borgenen  gelebt  und  erst  zu  seiner  Zeit  ihre  Reichti'imer  zur  Schau 
gestellt  hätten;  wenn  er  sogar  denjenigen  glaubt  mit  Namen  nennen 
zu  können,  der  als  einer  der  ersten  mit  seinem  Reichtum  durch 
Luxusentfaltung  geprotzt  habe  :  Bonuier, 


728  Sechster  Abschnitt:  Die  Neugestaltung  des  Güterbedarfs 

Zu  Dantes  Zeit  begegnen  wir  schon  den  verschwenderischen  Knall¬ 
protzen:  wie  jenen  Giacomo  da  Sant  Andrea,  der  silberne  und  goldene 
Geräte  in  den  Fluß  warf  oder  Gebäude  in  Brand  setzte,  um  die  fest¬ 
liche  Stimmung  zu  erhöhen,  gab  es  eine  Menge,  die  ähnlich  lebten 
und  eine  ganze  Gesellschaft  von  Verschwendern  bildeten:  die  brigata 
godericcia  oder  spendericcia.  Inf.  XIII,  118—122,  und  dazu  Kosta- 
necki,  Dantes  Philosophie  des  Eigentums.  (1912),  8  f. 

Nicht  einmal  für  Frankreich  hatte  Diderot  recht.  Oder  sollen 
wir  den  Jacques  Coeur  im  15.  Jahrhundert,  den  reich  gewordenen 
Geldgeber,  der  Palais  in  Paris,  Lyon,  Tours  und  sieben  andern  Orten 
besaß,  sollen  wir  die  Semblam^ay, .  sollen  wir  Thomas  Bohier,  den  Er¬ 
bauer  von  Chenonceaux,  im  16.  Jahrhundert  nicht  zu  den  Protzen 
rechnen?  Wollen  wir  vor  allem  die.  reichgewordene  Kanaille  des 
17.  Jahrhunderts,  die,  wie  Ludwig  XIV.  selbst  sagte,  einen  „frechen 
Luxus“  trieb,  vergessen?  Die  Ludwig  in  den  Mund  gelegten  Worte 
sind  außerordentlich  lehrreich;  er  spricht  von  „Gens  d’affaires,  qui 
d’un  cote  couvraient  leurs  malversations  par  toutes  sortes  d’artifices 
et  les  decouvraient  de  l’autre  par  un  luxe  insolent  et  audacieux, 
comme  s’ils  eussent  craint  de  me  les  laisser  ignorer  (!)“.  Louis  XIV, 
Memoires,  zit.  bei  Baudrillart,  II.  du  L.  4,  68. 

Schließlich  gehört  doch  auch  Fouquet,  der  Obergauner,  zu  dieser 
Sorte;  er,  der  20 — 80  Mill.  Frcs.  für  Luxuszwecke  vergeudete  (davon 
allein  18  Mill.  Frcs.  für  sein  Schloß  in  Vaux),  wie  uns  Colbert  (der 
übrigens  selbst  keineswegs  den  Aufwand  großen  Stils  verschmähte) 
mit  Entrüstung  in  seiner  Denkschrift  über  FouqueWvorrechnet. 

Und  hatte  Diderot  den  wundervollen  Typus  ganz  und  gar  ver¬ 
gessen,  den  hundert  Jahre  vor  ihm  sein  größerer  Vorfahre  in  dem 
1670  zuerst  gespielten  .Bourgeois  gentilhomme’  unsterblich  gemacht 
hatte  ? 

Den  innigen  Zusammenhang,  der  zwischen  dem  Emporkommen 
der  Roture  und  der  Ausweitung  des  Luxusbedarfs  besteht,  können 
wir  ganz  genau  verfolgen,  wenn  wir  uns  die  Etappen  gegen-, 
wärtig  halten,  in  denen  die  Leute,  .quos  virtus  aut  Fortuna  e 
faece  hominum  extulit“  \  in  größerer.  Mengen  auftauchen.  Diese 
Etappen  bilden  ebensoviele  Schichten  in  dem  Aufbau  des  mo¬ 
dernen  Luxus:  in  dem  wir  also  ebenso  wie  in  der  Geschichte 
des  Reichtums  die  italienische  Epoche  des  14.,  15.  und  16.  Jahr¬ 
hunderts,  die  deutsche  des  15.  und  16.  Jahrhunderts,  die  spanisch¬ 
holländische  des  17.  Jahrhunderts  und  die  französisch-englische 
des  18.  Jahrhunderts  unterscheiden  können. 

Für  unsere  Betrachtung  hat  die  größte  Bedeutimg  immer  der 
ungeheure  Ruck,  den  die  europäischen  Völker  seit  dem 
Ende  des  17.  Jahrhunderts  in  der  Richtung  des  „Wohl- 

1  Diese  reizende  Wendung  findet  sich  bei  Camden,  Britannia 
(1580),  106,  ? 


Aclitundvierzigstes  Kapitel:  Der  Luxusbedarf  729 

Standes“  und  vor  allem  des  Wohllebens  vorwärts  tun.  Die  ent¬ 
scheidende  Wandlung  der  europäischen  Gesellschaft  bestand  wohl 
eben  darin,  daß  damals  der  Luxus  immer  weitere  Kreise  ergriff. 
Wir  können  das  beispielsweise  aus  den  Haushaltungsbüchern  er¬ 
sehen.  deren  viele  aus  jener  Zeit  uns  erhalten  sind:  man  empfindet 
um  die  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  in  den  oberen  Schichten  den 
Abstand  gegen  das  17.  Jahrhundert  ebenso  deutlich  in  den  reichen 
Ländern ,  wie  wir  Deutsche  etwa  den  der  heutigen  Zeit  gegen 
die  Jahre  vor  1870 :  „on  a  bien  de  la  peine  ü  s’entretenir  aujourd’hu 
avec  ce  qui  reste“1:  solche  Klagen  begegnen  uns  häufig.  Und 
wir  werden  uns  über  die  darin  zutage  tretenden  Ansichten  nicht 
wundern,  wenn  wir  erfahren,  daß  ein  großer  Teil  der  großen 
Vermögen,  die  in  jener  Zeit  erworben  wurden2,  in  Luxusausgaben 
vertan  wurden.  D’Epinay  gibt  von  1751—1755  1500000  1.  aus. 
Roussel  verschwendet  12  Millionen,  Dupin  de  Chenonceaux  7 — 8, 
Savalette  10,  Bouret  40.  Der  Graf  von  Artois,  der  Nachbar  des 
reichen  Faventenes,  meinte:  „Je  voudrais  bien  faire  passer  chez 
moi  un  bras  de  ruisseau  d’or  qui  coule  de  son  rocher.“  „On 
ne  fit  plus  de  capitaux.“  Man  trieb  vielmehr  „Luxus“:  in 
Möbeln,  Bauten,  Kleidern.  Die  Magazine  der  Eue  St.  Honore,  die 
damals  mit  den  schönsten  Stoffen  Frankreich  und  das  Ausland  ver¬ 
sorgten,  waren  im  Jahre  1720,  als  der  Goldregen  über  Paris  nieder¬ 
ging,  in  wenigen  Tagen  geleert.  „On  n’y  trouve  plus  de  velours, 
d’etoffes  d’or;  mais  on  fab rique  partout.“  Duhautchamp,  dem 
wir  diese  Schilderungen  verdanken,  beschreibt  uns  den  Anblick 
der  Straßen,  die  von  Toiletten  in  den  verschiedensten  Farben, 
mit  herrlichen  Stickereien  geschmückt,  aus  goldenen  und  silbernen 
Geweben  hergestellt,  angefüllt  waren. 

Und  überall  dasselbe  Bild.  So  erzählt  uns  Defoe  von  Eng¬ 
land:  „This  is  an  age  of  gallantry  and  gaitey  and  never  was  the 
city  transpos’d  to  the  court  as  it  is  now:  the  play-houses  and 

1  Aus  dem  Livre  de  Raison  de  M.  Pierre  Cesar  de  Cadenet  de 
Charleval,  angefangen  1728,  fortgesetzt  1763  von  Francois  de  Ck.  und 
abgeschlossen  von  dessen  Sohne  bei  Ch. 'de  Ribbe,  Les  familles  2  2 
(1874),  144.  Eine  überaus  wertvolle  Sammlung  von  englischen  Haus¬ 
haltungsbudgets  aus  der  Zeit  von  1650  — 1750  besitzt  das  Smithsonian 
Institut  in  Washington.  Einige  Auszüge  daraus  teilt  der  Besitzer 
dieser  Sammlung  mit,  der  sie  zusammengebracht  und  dem  Sm.  I  ge¬ 
schenkt  hat,  J.  A.  Halliwell,  in  der  Schrift:  Some  account  of  a 
Collection  of  a  several  thousand  Bills,  Accounts  and  Inventories  etc. 
1852. 

2  Siehe  die  Zusammenstellungen  im  40.  Kapitel, 


730  Sechster  Abschnitt:  Die  Neugestaltung  des  Güterbedarfs 

balls  are  now  fill’d  witli  citizens  and  young  tradesmen  instead 
of  gentlemen  and  families  of  distinction“  .  .  .  „’£is  an  age  of 
drunkness  and  extravagances  .  .  .  ’tis  an  age  of  luxnrious  and 
expensive  living  .  .  .  “ 1 

*  * 

* 

Ein  Punkt,  der  mir  für  die  Entwicklung  der  modernen  Ge¬ 
sellschaft  von  großer  und  allgemeiner  Bedeutung  zu  sein  scheint, 
ist  nun  die  Tatsache,  daß  die  reichen  Emporkömmlinge,  die 
nichts  besitzen  als  ihr  Geld ,  die  nur  Reichtumsmacht  und 
keine  andere  Eigenart  haben,  die  sie  auszeichnen  könnte,  als 
die  Fähigkeit,  mit  ihren  großen  Mitteln  ein  üppiges  Leben  zu 
führen;  daß  diese  Parvenüs  ihre  materialistische  und  mammo- 
nistische  Weltauffassung  auch  den  alten  vornehmen  Familien 
mitteilen,  die  sie  dadurch  in  den  Strudel  des  Wohllebens  mit 
hineinreißen.  Ich  habe  in  dem  Abschnitt  dieses  Werkes,  der 
von  der  Vermögensbildung  handelt,  die  Verarmung  des  Adels 
als  eine  der  Quellen  der  Bereicherung  für  die  bürgerlichen  Geld¬ 
geber  angeführt  und  habe  dort  gezeigt,  wie  dieser  Prozeß  der 
Verwandlung  feudaler  Vermögen  in  bürgerliche  seit  den  Kreuz¬ 
zügen  unausgesetzt  in  allen  Ländern  Europas  sich  vollzieht.  Hier 
muß  nun  ergänzend  hinzugefügt  werden,  daß  einer  der  häufigsten 
Gründe,  weshalb  die  alten  Geschlechter  verarmen  und  homines, 
quos  fortuna  e  faece  extulit  an  ihre  Stelle  treten,  der  Drang  ge¬ 
wesen  ist,  jenen  bürgerlichen  Protzen  es  an  Luxusaufwand  gleich¬ 
zutun:  diese  Verleugnung  der  alten,  vornehmen  Traditionen 
führte  entweder  zum  wirtschaftlichen  Untergang  der  alten 
Familien  oder  zu  den  thonteuses  alliances’  mit  den  reich  ge¬ 
wordenen  Finahzbaronen ,  von  denen  die  Zeit  erfüllt  ist:  das 
Zwischenglied  in  dieser  Entwicklung,  das  uns  an  dieser  Stelle 
interessiert,  war  meist  die  Verweltlichung,  die  Ver- 
materialisierung  der  adeligen  Geschlechter.  Daß 
die  cSubiti  guadagni'  der  Turcarets  diese  Wirkung  hervor¬ 
gebracht  haben  —  und  sie  sind  vor  allem  an  dieser  Wandlung 
schuld,  die  freilich  durch  den  Einfluß  des  Hofes,  wie  wir  schon 
sahen,  unterstützt  wurde  — ,  das  scheint  mir,  wie  gesagt,  ein 
Ereignis  von  ganz  besonderer  Tragweite  zu  sein. 

Dieser  verhängnisvollen  Neigung  des  Adels,  mit  den  Pfeffer¬ 
säcken  in  der  Luxus entfaltung  Schritt  zu  halten,  begegnen  wir  in 

1  Defoe,  Tradesman  (1729),  55  f.  Vgl.  desselben  Verfassers 
Compl.  Engl.  Gentleman,  ed.  1890,  p.  257- 


Achtundvierzigstes  Kapitel :  Der  Luxusbedarf 


731 


allen  Ländern  zu  allen  Zeiten,  in  denen  plötzlich  der  bürger¬ 
liche  Reichtum  an  Umfang  zunimmt1. 

Wie  sehr  nun  aber  die  ganze  obere  Schicht  der  Gesellschaft, 
also  im  wesentlichen  der  alte  und  neue  Adel  und  die  Haute 
Finance,  die  selbst  auf  das  engste  mit  dem  Adel  wie  dieser  mit 
ihr  verbunden  war,  zumal  im  18.  Jahrhundert  von  einem  förm¬ 
lichen  Genußtaumel,  der  sich  in  der  unsinnigsten  Luxusentfaltung 
äußerte,  ergriffen  wurde,  ist  ja  allgemein  bekannt.  Die  Urteile 
der  Zeitgenossen  bestätigen  es  zur  Genüge2. 

Daß  und  wie  sich  der  Luxus  auf  alle  Gebiete  des  Güter- 
beda*rfs  erstreckte,  werden  ein  paar  Einzelangaben,  die  uns  Be¬ 
kanntes  in  Erinnerung  bringen  sollen,  am  ehesten  augenfällig 
machen. 

1.  Der  Eßluxus 

ist  in  Italien  während  des  15.  und  IG.  Jahrhunderts  ausgebildet 
worden,  als  dort  eine  „Kochkunst“  neben  den  andern  Künsten 
entstand.  Vorher  hatte  es  nur  Freßluxus  gegeben:  nun  ver¬ 
feinerte  man  diesen  Genuß  und  setzte  die  Qualität  an  Stelle  der 
Quantität. 

Auch  der  Eßluxus  wandert  von  Italien  nach  Frankreich,  avo 
er  seit  dem  Ende  des  IG.  Jahrhunderts  seine  eigentliche  Pflege 
erhält.  Ihn  in  seiner  Entwicklung  zu  verfolgen  ist  kaum  mög¬ 
lich,  ohne  eine  lange  Abhandlung  über  Speisenzubereitung  zu 
schreiben,  wie  sie  in  den  Rahmen  dieser  Untersuchung  doch 
nicht  passen  würde. 

Ein  Blick  in  die  „Almanache  für  Feinschmecker“  genügt,  um 
zu  erkennen,  daß  am  Ende  des  18.  Jahrhunderts  die  Gourmandise 
ihren  Höhepunkt  bereits  erreicht  hatte,  den  sie  nicht  mehr  über¬ 
schreiten  konnte. 

Eine  große  Bedeutung  für  den  Ablauf  des  Wirtschaftslebens 
gewann  die  zunehmende  VerAvendung  der  tropischen  Erzeugnisse 
als  Reiz-  und  Genußmittel:  also  des  Kaffees,  des  Kakaos, 
des  Tees,  und  mit  diesen  und  durch  diese  des  Zuckers,  sowie 
des  Tabaks.  Anfangs  bleiben  alle  diese  Genußmittel,  vielleicht 
mit  Ausnahme  des  Tabaks,  auf  die  Kreise  der  Wohlhabenden 
beschränkt,  die  aber  rasch  eine  große  Konsumkraft  entwickelten, 
bis  dann  gegen  das  Ende  unserer  Epoche  diese  Güter  immer 
mehr  in  den  Bedarfskreis  der  großen  Masse  eintreten. 

1  Siehe  nähere  Angaben:  Luxus  und  Kapitalismus,  100  ff, 

ß  Siehe  die  Belege  in  Luxus  und  Kapitalismus,  75  ff, 


732 


Sechster  Abschnitt:  Die  Neugestaltung  des  Güterbedarfs 


Folgende  Ziffern  geben  eine  annäherungsweise  richtige  Vorstellung 
von  der  Ausdehnung  des  Konsums  der  wichtigsten  Genußmittel  in  den 
vergangenen  Jahrhunderten. 

Tee  wurde  in  Großbritannien  verbraucht: 


1668  . 

....  100 

1711  . 

....  141992 

1730  . 

....  537016 

1760'  . 

....  2293613 

1784  . 

....  8608473 

1785  . 

.  .  .  .  13165715 

1786  . 

.  .  .  •  13  985  506 

Die  Ziffern  sind  gewonnen  durch  Abzug  der  Ausfuhrziffern  von  den 
durch  die  Ostindische  Gesellschaft  nach  dem  Ausweis  ihrer  Berichte 
verkauften  Mengen.  Die  plötzliche  Steigerung  des  Verbrauchs  von 
1784  bis  1785  hängt  mit  der  Herabsetzung  des  Zolls  von  119  auf 
121/2  °/o  durch  Pitt  zusammen.  McC  ulloch,  Dict.  s.  v.  tea. 

Der  Kaffeekonsum  Europas  betrug  (nach  Al.  v.  Humboldt!) 
um  das  Jahr  1800  etwa  1400  000  Ztr.;  die  Bevölkerung  Europas  belief 
sich  (nach  Beloch)  um  dieselbe  Zeit  auf  etwa  120  000 000,  also  wäre 
damals  schon  etwa  1  Pfd.  Kaffee  im  Jahre  auf  jeden  lebendigen  Europäer 
entfallen ;  jpan  wird  sagen  können,  daß  damit  dieses  Genußmittel  an¬ 
fing,  Massengebrauchsgut  zu  werden.  Im  Jahre  1910  konsumierte  jeder 
Reichsdeutsche  auch  erst  etwa  6  Pfd.  Kaffee  im  Jahre. 

Der  Kaffeeverbrauch  in  England  belief  sich: 

1790  auf  ...  .  973111  Pfd. 

1795  „  ....  1054588  „ 

1800  „  ....  826  590  „ 

McCulloch,  Dict.  s.  v.  Coffee.  Allerdings  ist  England  niemals  ein 
Kafifeekonsumland  gewesen. 

Zucker  soll  (ebenfalls  nach  Humboldt)  damals  4  500  000  Ztr. 
in  Europa  verbraucht  sein,  3 — 4  Pfd.  auf  den  Kopf  der  Bevölkerung. 

Zur  Ergänzung  der  Humboldt  sehen  Schätzung  mögen  noch 
folgende  auf  genaueren  Feststellungen  beruhende  Ziffern  dienen: 

Frankreich  verbrauchte  im  Jahre  1788  bei  einer  Bevölkerung  von 
23,6  Milk  21  300  t,  das  sind  0,906  kg  auf  den  Kopf  der  Bevölkerung. 
Nach  guten  Quellen  Montveran,  Essai  de  statistique  sur  les  Colonies, 
96,  zit.  bei  McC ulloch,  Dict.  s.  v.  sugar. 

In  Großbritannien  stieg  der  Zuckerkonsum  während  des  18.  Jahr¬ 
hunderts  wie  folgt.  Er  betrug: 


1700  ....... 

10  000 

1710 . 

14  000 

1734  . 

42  000 

1754  . 

53  270 

1770 — 75  im  Durchschnitt 

72  500 

1786—90  „ 

81000 

)) 


Achtundvierzigstes  Kapitel:  Der  Luxusbedarf  733 

McC ulloch,  1.  c.  Das  ergäbe  also  schon  für  das  Ende  des  18.  Jahr¬ 
hunderts  einen  Verbrauch  von  etwa  10  kg  auf  den  Kopf  der  Be¬ 
völkerung. 

Der  Tabakverbrauch  endlich  war  in  Großbritannien ,  für  das 
wir  immer  die  zuverlässigsten  Ziffern  besitzen,  gegen  Ende  des 
18.  Jahrhunderts  auf  8 — 10  Milk  Pfd.  gestiegen:  1789  8,2,  1795 
10,9,  1800  11,8  Milk  Pfd.  Park  Papers  N»  340  Sess.  1829,  bei 
Meß  ulloch,  s.  v.  tobacco. 

Mit  der  Entwicklung  des  Eßluxus  hielt  natürlich  der  Trinkluxus 
gleichen  Schritt,  den  wir  namentlich  an  dem  Verbrauch  von  Wein 
(in  nicht  Wein  erzeugenden  Ländern)  ermessen  können.  Es  mag  ge- 
nügen,  die  Ziffern  für  Großbritannien  mitzuteilen,  wo  der  Verbrauch 
vor  allem  von  heißen  Weinen  (Portweinen!  Kapweinen!)  während  des 
18.  Jahrhunderts  einen  großen  Umfang  angenommen  hat,  der  im  Lauf 
des  19.  Jahrhunderts  erst  sehr  spät  übertroffen  wurde.  Im  Jahre  1789 
verblieben  daselbst  zum  heimischen  Verbrauch: 

französische  Weine  .  .  .  234  299  Gallonen 

andere  Weine .  5  580  366  „ 

insgesamt  .....  .  5814665  Gallonen 

McCulloch,  Dict.  s.  v.  Wine.  Der  Zollertrag,  den  diese  Weine 
eintrugen,  belief  sich  auf  #721518. 

Die  Verfeinerung  des  Eßluxus  hatte  die  für  die  kapitalistische 
Entwicklung  wichtige  Folge,  daß  nun  auch  ein  immer  raffinierterer 
Luxus  in  Eß  und  Trinkgeschirren  sowie  in  Tafelwäsche 
und  Bestecken  usw.  getrieben  wurde. 

2.  Der  Kleiderluxus 1 

wurde  in  einer  Weise  betrieben,  von  der  wir  uns  heute  kaum 
noch  eine  richtige  Vorstellung  machen  können.  Es  war  ja  ein 
Kennzeichen  seigneurialer  Lebensführung,  die  durchaus  noch 
auch  in  den  Kreisen  der  bürgerlichen  Reichen  beliebt  war,  daß 
auch  die  Männer  sich  mit  prunkvollen  Gewändern  aus  Samt, 
Seide ,  Goldstickerei  und  Spitzen  behängten ,  und  daß  auch  die 
Toiletten  der  Damen  in  viel  höherem  Maße  als  heute  mit  Kost¬ 
barkeiten  übersät  waren. 

Über  den  Kleiderluxus  im  15.  und  16.  Jahrhundert  unterrichten 
uns  am  besten  die  Garderobeninventare,  deren  uns  eine  ganze  Reihe 
erhalten  ist:  so  von  der  Valentina  und  Elisabetta  Visconti,  der  Bianca 
Maria  Sforza,  der  Lucrezia  Borgia  u.  a.  Lucrezia  beispielsweise  hatte 
in  ihrer  Aussteuer  50  Kleider  in  Brokat,  Samt  mit  Stickerei  und 
Spitzen:  150  Maultiere  trugen  ihre  Kleidung  und  Wäsche,  als  sie  aus 

1  Das  neueste  Buch  über  die  Geschichte  des  Kleiderluxus :  E  m. 
Gallo,  II  valore  sociale  dell’  abbigliamento  (1914),  ist  feuilletonistisch. 
Sein  Wert  beruht  in  einer  Chronologie  der  Luxusgesetze  im  App.  und 
einer  guten  Bibliographie, 


734  Sechste?  Abschnitt:  Die  Neugestaltung  des  Güterbedarfs 

ßom  auszog.  Polifilo,  La  guarderoba  di  Lucrezia  Borgia.  Dali’ 
archivio  di  Stato  di  Modena  1903. 

Für  alle  Zeiten  bieten  uns  die  Kunstwerke  eine  gute  Quelle  dar, 
um  den  Kleiderluxus  zu  ermessen,  ebenso  Schilderungen  von  Festen, 
Aufzügen  usw.  So  entwirft  z.  B.  Burcar dus  in  seinem  Tagebuch 
von  dem  Einzug  des  Prinzen  Federigo  von  Neapel  in  Rom  (1492) 
folgendes  Bild:  „Die  einzelnen  ritten  überaus  prächtige  Pferde,  alle 
in  Goldbrokat  gekleidet,  Kleinodien  von  großem  Wert  auf  der  Brust, 
auf  den  Baretten  und  Hüten.  Der  Prinz  trug  ein  Gewand  von 
violettem  Samt,  die  Halskette  aus  Perlen  und  Edelsteinen  im  Wert 
von  6000  Dukaten ,  einen  Gürtel  nebst  Schwert  im  gleichen  Wert, 
der  ganze  Zügel  mit  Perlen  und  Edelsteinen  besetzt  im  Werte  von 
3000  Dukaten,  und  das  ganze  Pferdegeschirr  vorn  und  hinten  ver¬ 
goldet.  “ 

Die  Renaissancetracht  steigert  sich  in  die  Barocktracht,  diese  ver¬ 
feinert  sich  zum  Rokoko.  Wir  wissen,  wie  beispielsweise  in  England 
im  17.  Jahrhundert  die  elegante  Kleidung  des  Kavaliers  geradezu  als 
ein  Standesabzeichen  angesehen  wurde.  Damals  brachte  die  herrschende 
Mode  eine  besonders  ausgesprochene  Eleganz  mit  sich :  die  hohen 
Reiterstiefeln  werden  mit  kostbarem  Stoff  gefüttert  und  mit  Spitzen 
besetzt.  Auch  die  Kleider  des  Mannes  bestehen  zum  großen  Teil  aus 
schweren  Seiden-  und  Samtstoffen.  Van  Dyck! 

Und  welch  ein  Aufwand  wurde  getrieben!  Der  Herzog  von 
Buckingham  besaß  (1625)  27  kostbare  Anzüge  aus  Samt,  Seide, 
Spitzen,  Perlen  usw.,  von  denen  jeder  etwa  35  000  Frcs.  gekostet 
hatte.  Der  Festanzug,  in  dem  er  auf  der  Hochzeit  Karls  I.  erschien, 
hatte  die  Summe  von  500  000  Frcs.  verschlungen.  (Weiß.)  Ein  Edel¬ 
mann  und  seine  Frau  gaben  im  17.  Jahrhundert  in  Frankreich  ein 
ganzes  Drittel  ihres  Einkommens  für  Kleidung  aus  ;  für  Toilette  und 
Equipage  fast  die  Hälfte :  5000  Livres  von  12  000.  Brief  der  M™e 
de  Maintenon  an  ihren  Bruder  vom  25.  Sept.  1679;  vgl.  Ahne  Houze 
de  l’Aulnont,  La  finance  d’un  bourgeois  de  Lille  au  17.  siede 
(1889),  51.  116. 

Im  18.  Jahrhundert  steigerte  sich  der  Kleiderluxus  eher  noch:  er 
ging  mehr  ins  Feine,  ins  Raffinierte.  Der  Durchschnittspreis  des 
eleganten  Herrenanzugs  war  1200 — 1500  1.  Wer  auf  sich  hielt,  hatte 
6  Sommer- ,  6  Winteranzüge.  Festkleider  der  Männer  kosteten  bis 
15  000  1.  Feines  graues  Tuch:  70 — 80  J.  die  Elle.  (Barbier.) 

Audi  der  Luxus  in  feiner  Wäsche  entfaltete  sich  rasch. 
„L’on  doit  avoir  esgard  ä  ce  qui  couvre  le  corps“,  heißt  es  in  den 
1644  erschienenen  Lois  de  la  galanterie,  „et  qui  n’est  pas  seulement 
estably  pour  le  cacher  et  le  garder  du  froid,  mais  encore  pour  l’orne- 
ment.  II  faut  avoir  le  plus  beau  linge  et  le  plus  fin  que  l’on  pourra 
trouver.  L’on  ne  S9auroit  estre  trop  envieux  de  ce  qui  approclie  de 
si  pres  de  la  personne.“  Über  den  außerordentlichen  Umfang  einer 
eleganten  Wäscheausstattung  im  17.  Jahrhundert  unterrichtet  M. 
de  Garsault,  l’Art  de  la  lingerie.  In  4°.  1780.  Siehe  die  Ver¬ 

zeichnisse  in  Les  createurs  de  la  mode  (1910),  83  seg. 


Achtundvierzigstos  Kapitel :  Der  Liixusbedarf1  735 

Eine  ganz  besondere  Sorgfalt  wurde  dann,  namentlich  im  18.  Jahr- 
lundert,  den  „Modeartikeln“,  also  Hüten,  Hauben  usw. ,  gewidmet. 
„La  depense  des  modes  excede  aujourdhui  celle  de  la  table  et  oelle 
des  equipages“  schreibt  Mercier  im  Tableau  de  Paris  2,  203. 

Dei  4  eifasser  des  Complete  English  Tradesman  entrüstet  sich 
sehr  darüber,  daß  der  gewöhnliche  „beau“  seiner  Zeit,  „our  nicer 
gentleman“,  „the  ordinary  beau“  Hemden  aus  Leinen  die  Elle  zu  10 
oder  12  sh.  trüge  und  sie  zweimal  am  Tage  wechsele!  Zu  Großvaters 
Zeiten  habe  man  sich  mit  halb  so  teuerem  holländischen  Leinen  be¬ 
gnügt  und  habe  das  Hemd  vielleicht  zweimal  in  der  "Woche  gewechselt. 
Complete  English  Tradesman  2  (1745),  328. 

3.  Der  lVolniluxus 

Die  Entfaltung1  des  Wohnluxus  steht  im  engsten  Zusammen¬ 
hänge  mit  der  Entwicklung  der  Großstadt.  Diese  ist  es,  die 
den  Luxus  der  Wohnungen  und  Einrichtungen ,  wie  er  seit 
der  Renaissance,  namentlich  aber  seit  dem  Ende  des  17.  Jahr¬ 
hunderts  mehr  und  mehr  beliebt  wird,  wesentlich  gefördert 
hat.  Sie  tat  es  durch  die  Einschränkung  des  Lebensspiel¬ 
raums,  die  notwendig  im  Gefolge  der  Zusammenballung  großer 
Menschenmassen  auf  einem  Flecke  sich  einstellen  mußte,  einer¬ 
seits  ;  durch  die  Einschränkung  des  personal  gefärbten  Luxus 
andererseits,  die  ebenfalls  eintreten  mußte,  sobald  der  Seisneur 
seinen  Wohnsitz  in  der  Stadt  aufschlug.  Diese  inneren  und 
äußeren  Beschränkungen,  die  die  Lebenshaltung  der  reichen 
Leute  in  der  Stadt  erlebte,  führten  nun  aber,  wenn  ich  mich  so 
ausdrücken  darf,  zu  einer  Intensivierung  des  Luxus,  der  einer¬ 
seits  versachlicht,  andererseits  verfeinert  wurde.  Was  der  Eß- 
luxus  erlebte:  die  Emporhebung  durch  Vervollkommnung  der 
Kochtechnik,  das  erfuhr  der  Wohnluxus  in  der  Großstadt  eben¬ 
falls  :  an  Stelle  riesiger,  leerer  Burgen  traten  kleinere,  aber  mit 
einer  wachsenden  Menge  von  Kostbarkeiten  ausgefüllte  Stadt¬ 
wohnungen:  der  Palast  wurde  vom  Palais  abgelöst. 

Diese,  sagen  wir,  städtische  Wohnweise  wird  dann  nun  aber 
auf  das  Land  übertragen:  die  mit  städtischer  Eleganz  aus¬ 
gestatteten  Landhäuser  entstehen:  die  „Villen“,  die  also  (just 
wie  im  Altertum)  die  unmittelbare  Folge  des  Stadtlebens  sind. 
Damit  dringt  der  Luxus  bis  in  die  entferntesten  Teile  des  Landes, 
das  auch  in  diesem  Punkte  der  Großstadt  und  ihren  Lebens¬ 
bedingungen  unterworfen  wird. 

Wenn  wir  die  Schilderungen  von  den  Stadt-  und  Landhäusern 
der  reichen  Leute  etwa  Frankreichs  und  Englands  lesen,  die 


736  Sechster  Abschnitt:  Die  Neugestaltung  des  Güterbedavfs 

uns  die  Zeitgenossen  im  17. 1  und  im  18.  Jahrhundert  entwerfen, 
so  denken  wir  zunächst,  daß  es  sich  um  Übertreibungen  handelt. 
Bis  wir  gewahr  werden,  durch  die  Häufung  von  zahlreichen, 
immer  gleichen  Urteilen,  daß  der  Wohnluxus  in  jener  Zeit  tat¬ 
sächlich  eine  Höhe  erreicht  haben  muß,  die,  selbst  von  dem 
Standpunkt  unserer  protzigen  Zeit  aus  gesehen,  ganz  ungeheuer 
gewesen  ist.  Wir  erinnern  uns  dann  der  Beste  des  herrlichen 
Barock-  und  Rokokomobiliars,  die  wir  heute  bei  den  Altwaren¬ 
händlern  zum  Verkaufe  stehen  sehen,  erinnern  uns  der  Ab¬ 
bildungen  von  Einrichtungsgegenständen  aus  jener  Zeit  in  den 
Kunstgeschichten  und  bedenken,  daß  all  das,  was  wir  jetzt  nur 
als  Einzelstücke  vor  Augen  haben :  abgebildet  oder  in  Wirklich¬ 
keit,  daß  das  alles  einst  zusammenstand  und  die  Bäume  der 
Marquis  und  der  Finanzbarone  des  Ancien  regime  erfüllt  hat. 

4.  Der  Luxus  in  der  Stadt 

Die  Großstadt  steigerte  den  Hang  zum  Luxus:  die  besten 
Beobachter  jener  Tage,  wie  Montesquieu  in  Frankreich, 
Mandeville  in  England,  bestätigen  das  für  ihre  Zeit  ausdrück¬ 
lich,  und  wir  können  es  aus  zahlreichen  Symptomen  schließen. 

Wie  die  Großstadt  mit  ihren  Luxusansprüchen  die  Leute  in  der 
Provinz  damals  anfing  in  ihrer  Lebensgewohnheit  ganz  entscheidend 
zu  beeinflussen,  sie  an  Luxusausgaben  zu  gewöhnen,  ihren  Lebens¬ 
standard  „hinaufzuschrauben“,  weiß  uns  ein  Landedelmann,  Pierre 
de  Cadet,  anschaulich  vor  Augen  zu  führen  durch  folgende  Erzählung, 
die  er  in  seinem  Haushaltungsbuche  niedergeschrieben  hat:  „Mon 
grand-pere  voulut  aller  ä  Paris  et  dans  un  an  ü  depensa  14  000  livres, 
ce  qui  fit  dire  ä  son  pere  qu’une  paire  de  lunettes,  qu’il  luy  apporta 
en  present,  lui  coütait  14  000  livres.  II  y  avoit  dejä  un  equipage 
dans  la  maison  et  quatre  chevaux  blancs ;  mon  grand  pere  vint  de 
Paris  avec  un  grand  goüt  pour  les  chevaux  de  main  ...  II  avoit  amene 
de  Paris  un  valet  de  chambre,  du  quel  son  pere  disoit,  en  badinant, 
qu’il  n’osoit  lui  demander  ä  boire,  le  voyant  mieux  vetu  que  luy.“ 
Bei  Ch.  de  Ribbe,  Une  grande  dame  dans  son  menage  au  temps 
de  Louis  XIV  d’apres  le  journal  de  la  comtesse  de  Rochefort  (1689). 
1889,  p.  167. 

Hie  Gründe  dieser  Erscheinung  erkennt  man  leicht,  wenn 
man  sich  die  soziale  Struktur  der  Großstädte  im  Zeitalter  des 
Frühkapitalismus  vor  Augen  führt1 2. 

1  Siehe  z.  B.  das  Inventaire  des  merveilles  du  monde  rencontrees 
dans  le  palais  du  Cardinal  Mazarin  bei  C.  Moreau,  Choix  de  Maza- 
rinades  1  (1853),  148  ff. 

2  Ich  habe  der  Entstehung  und  inneren  Gliederung  der  Großstädte 


Achtundvierzigstes  Kapitel:  Der  Luxusbedarf 


737 


Fragen  wir,  was  diese  Städte  groß  gemacht  hatte,  so  finden 
wir  im  wesentlichen  noch  dieselben  Städtebildner  am 
Werke  wie  während  des  Mittelalters.  Auch  (und  gerade!)  die 
Großstädte  der  frühkapitalistischen  Epoche  sind  Konsumenten¬ 
städte  in  hervorragendem  Sinne.  Die  Großkonsumenten  sind  die 
uns  bekannten:  die  Fürsten,  die  Geistlichkeit,  die  Granden,  zu 
denen  sich  nun  eine  neue,  wichtige  Gruppe  gesellt:  die  Haute 
finance  (die*  man  füglich  als  „Konsumenten“  einsetzen  darf,  ohne 
beileibe!  ihrer  „produktiven“  Funktion  im  volkswirtschaftlichen 
Organismus  Abbruch  tun  zu  wollen).  Die  größten  Städte  sind 
darum  so  groß,  weil  sie  Sitze  der  größten  (und  meisten)  Kon¬ 
sumenten  sind;  die  Ausweitung  der  Stadtkörper  ist  also  im  wesent¬ 
lichen  einer  Konzentration  des  Konsums  in  den  städtischen  Mittel¬ 
punkten  des  Landes  geschuldet. 

Die  Städtebildner  waren  aber  fast  alles  Leute,  die  sich 
amüsieren  wollten,  denen  es  vor  allem  darum  zu  tun  war,  ihr 
Geld  in  einer  die  Reize  des  Lebens  steigernden  Weise  auszu¬ 
geben.  Ihr  dichtes  Beieinanderwohnen  veranlaßte  sie ,  sich  in 
Luxus  und  Aufwand  zu  überbieten,  also  daß  aus  jeder  ver¬ 
schwenderischen  Handlung  ein  Anreiz  zu  weiterer  Verschwendung 
erwuchs. 

Aber  bedeutsam  für  die  Entfaltung  des  Luxus  wird  die  Gro߬ 
stadt  vor  allem  dadurch,  daß  sie  ganz  neue  Möglichkeiten  heiterer 
und  üppiger  Lebensführung  und  damit  neue  Formen  des 
Luxus  schafft.  Sie  überträgt  die  Feste,  die  bis  dahin  die  Höflinge 
im  Schlosse  des  Fürsten  allein  gefeiert  hatten,  auf  breite  Schichten 
der  Bevölkerung,  die  nun  ebenfalls  sich  ihre  Stätten  schaffen, 
wo  sie  ihren  Vergnügungen  regelmäßig  nachgehen.  Als  Ende 
des  18.  Jahrhunderts  der  Fürst  von  Monaco  nach  dem  Tode  des 
bei  ihm  verstorbenen  Herzogs  von  York  auf  die  Einladung  des 
Königs  nach  London  kam  und  am  Abend  die  vielen  Lichter  auf 
den  Straßen  und  in  den  Schaufenstern  der  bis  10  Uhr  geöffneten 
Läden  erblickte,  bildete  er  sich  ein,  die  ganze  Beleuchtung  sei 
ihm  zu  Ehren  veranstaltet  worden:  in  dieser  Anekdote  spiegelt 
sich  wunderhübsch  die  grundsätzliche  Umwandlung  wider,  die 
sich  lim  jene  Zeit  zu  vollziehen  freilich  erst  eben  anfing:  an  die 
Stelle  streng  privater  Luxusentfaltung  tritt  eine  Art  von  kollek- 


in  frühkapitalistischer  Zeit  eine  besonders  ausführliche  Darstellung  in 
meinem  „Luxus“  gewidmet,  auf  die  ich  den  Leser  verweise.  Vgl. 
auch  das  9.,  10.  und  51.  Kapitel  dieses  Bandes. 

Sombart,  Der  moderne  Kapitalismus.  I, 


47 


738 


Sechster  Abschnitt:  Die  Neugestaltung  des  Güterbedarfs 

tiver  Luxusgestaltung.  Die  Kommunisierung  der  Lebensführung, 
die  dann  recht  eigentümlich  erst  für  die  folgende  Periode  der 
Volkswirtschaft  ist,  beginnt:  wir  nehmen  hier  kurz  davon 
Kenntnis  und  stellen  fest,  daß  diese  bedeutsame  Wirkung  der 
Großstadt  —  darum  gehört  ihre  Erwähnung  an  diese  Stelle  — 
einstweilen  sich  durchaus  in  den  Grenzen  des  Luxusbedarfs  be¬ 
wegt,  daß  nur  die  obersten  Spitzen  der  Gesellschaft  von  der 
Neuerung  berührt  werden. 

Was  hier  in  Betracht  kommt,  ist  namentlich  folgendes: 

L  Die  Theater,  vor  allem  die  eleganten  Opernhäuser,  die 
zuerst  in  Italien  mit  großer  Prachtentfaltung  gebaut  werden  und 
dann  in  den  übrigen  Großstädten  Europas  ebenfalls  eine  Stätte 

finden. 

Epoche  in  der  Geschichte  des  Theaterbaues  macht  das  1737  er¬ 
baute  Theater  S.  Carlo  in  Neapel.  In  Paris  bestehen  seit  1673:  die 
Oper,  unter  dem  Namen  Academie  royale  de  Musique,  die  seit  dem 
Tode  Molieres  im  Palais  royale  ihre  Vorstellungen  gibt;  die  Comedie 
francaise,  die  ihr  neues  Haus  in  der  rue  S.  Germain  des  Pres  am 
18.  April  1689  eröffnet;  und  die  Comedie  italienne,  die  im  Hotel  de 
Bourgogne  spielt  (mit  einer  Unterbrechung  von  1697  1716).  De  Leiis, 

Dictionnaire  ...  des  Theatres  (1763),  XX  ff.  Vgl.  A.  du  Gasse, 
Histoire  aneedotique  de  l’ancien  theatre  en  France.  2  Vol.  1862  bis 
1864  (wesentlich  literärgeschichtlicli).  - 

Zunächst  sind  es  meist  nur  Hoftheater,  zu  denen  außer  dem  Hole 
selbst  nur  geladenes  Publikum  Zutritt  hat;  allmählich  werden  die 
Häuser  jedermann  geöffnet,  der  sein  Eintrittsgeld  bezahlt.  Aber  auch 
dann  sind  die  besseren  Theater  lange  Zeit  noch  der  Rendezvousplatz 
ausschließlich  der  oberen  Schichten  der  Gesellschaft,  denen  hier  eine 
neue  Gelegenheit  geboten  wird,  zu  flirten  und  ihren  Staat  zu  entfalten. 
Für  das  London  des  17.  Jahrhunderts:  The  character  of  a  town 
Gallant.  Stellen  daraus  bei  A.  Savine,  La  cour  galante  de  Charles  II., 
130  suiv.  Vgl.  auch  Joli.  Eberh.  Zetzner,  Eeißbüchlein ;  ed. 
Eeuss  (1912),  674. 

Von  Paris  urteilt  Capon :  die  Königliche  Akademie  der  Musik  und 
des  Tanzes,  respektive  die  Oper,  sei  nichts  anderes  als  eine  „maison 
publique  pour  gentilhommes “ . 

2.  Die  öffentlichen  Musikhallen  und  Ballhäuser 
(würden  wir  heute  sagen),  die  zuerst  (scheint  es)  in  London  mit 
allem  Aufwand  errichtet  wurden  und  wegen  ihrer  Eleganz  von 
allen  Londonern  und  namentlich  von  den  Fremden  bewundert 
wurden. 

London  muß  im  1 7 •  und  18.  Jahrhundert  ein  wahrer  Sündenpfuhl 
gewesen  sein.  Schon  im  Anfang  des  17.  Jahrhunderts  ist  es  voll  der 
üppigsten  und  laszivsten  öffentlichen  Vergnügungshäuser  großen  Stils. 
Siehe  z.  B.  die  einpräglichen  Schilderungen  des  oben  genannten 


Achtundvierzigstes  Kapitel :  Der  Luxusbedarf  739 

Zetzner  im  6.  Kapitel  seines  Reißbüehleins.  Und  während  des 
18.  Jahrhunderts  wurde  es  noch  schlimmer,  wie  alle  Reisenden  über¬ 
einstimmend  berichten.  Vgl.  auch  D  ef 0  e  -  Richards  0  n,  A  Tour 
through  the  island  of  Great  Britain  etc.  8th  ed.  2  (1778),  92.  93. 

Neben  den  Theatern  und  Konzertsälen  liegen 

3.  die  feinen  Restaurants,  die  Tavernen:  im  17.  und 
18.  Jahrhundert  ebenfalls  noch  eine  Spezialität  Londons,  das  z.  B. 
von  den  Parisern  um  diese  Einrichtungen  beneidet  wurde. 

In  den  vornehmen  Restaurants  und  in  den  Salons  particuliers,  die 
damit  verbunden  waren,  war  der  Aufwand  so  groß,  „daß  er  das  Bon¬ 
mot  des  berühmten  Beaumarchais  gewissermaßen  rechtfertigt,  der,  so 
bekannt  er  auch  mit  den  Schwelgereien  von  Paris  war,  dennoch  über 
die  Londoner  Wollüste  erstaunte  und  behauptete,  daß  in  einem  Winter¬ 
abende  in  den  Bagnios  und  Tavernen  in  London  mehr  verzehrt  würde, 
als  die  sieben  vereinigten  Provinzen  in  sechs  Monaten  zu  ihrem  Unter¬ 
halt  brauchten“.  (Ar  chenholtz.) 

Übrigens  fehlten  auch  in  Paris  die  feinen  Restaurants  im  18.  Jahr¬ 
hundert  keineswegs :  cTie  „schicksten“  waren  die  des  Palais  Royal,  wie 
Beauvilliers,  Hure  oder  die  Taverne  anglaise.  Die  Lage  im  Palais  royale, 
dem  Treffpunkt  der  „Lebewelt“,  läßt  auf  ihren  Charakter  schließen. 

4.  Die  Luxushotels. 

In  London  war  das  Savoy-Hotel  berühmt,  das  auf  demselben  Platze 
stand,  wo  sich  heute  das  bekannte  Hotel  gleichen  Namens  erhebt. 
Was  es  für  ein  Ding  war,  solch  ein  Hotel  in  einer  aristokratischen 
Welt,  zeigt  uns  heute  noch  das  Hotel  des  Reservoirs  in  Versailles. 
Das  älteste  Luxushotel  in  Europa  war  wohl  der  seit  Sixtus  IV.  be¬ 
stehende  „Gasthof  zum  Bären“  (Locanda  dell’  Orso)  in  Rom. 

Es  gab  nun  aber  noch  einen  Ort,  wo  die  wachsende  Gro߬ 
stadt  einen  öffentlichen,  allen  zugänglichen  Luxus  zur  Entfaltung 
kommen  ließ,  das  war  die  Stelle,  wo  die  elegante  Welt  ihre 
Luxuswaren  einzukaufen  pflegte;  wir  müssen  deshalb 

5.  die  Läden  erwähnen,  denen  seit  der  Mitte  des  18.  Jahr¬ 
hunderts  mehr  und  mehr  Sorgfalt  zugewendet  wurde ,  die  man 
seit  jener  Zeit  auszuschmücken  begann:  eine  Tatsache,  die  das 
Kopfschütteln  so  biederer  Leute  wie  Daniel  Defoe  hervorrief1. 

IV.  Die  allgemeinen  Entwicklungstendenzen  des 

Luxuskonsums 

Aus  der  Beobachtung  der  tatsächlichen  Gestaltung  des  Luxus 
in  den  verschiedenen  Jahrhunderten  ergibt  sich  uns  die  Einsicht, 
daß  die  Luxuskonsumtion  bestimmte  Wandlungen  durchmacht, 

1  Siehe  in  (Defoe)  Complete  englisli  Tradesman ,  2.  ed.  1727, 
das  Kapitel:  Of  fine  shops  and  fine  shows. 


740  Sechster  Abschnitt:  Die  Neugestaltung  des  Güterbedarfs 

die  wir,  weil  sie,  aus  bestimmten,  sich  gleichbleibenden  Ursachen 
folo-end,  einen  Verlauf  in  gleicher  Richtung  nehmen,  als  allgemeine 
Entwicklungstendenzen  des  Luxuskonsums  bezeichnen  können. 
■Wohlgemerkt :  des  Luxus  in  dieser  ganz  bestimmten  historischen 
Periode,  sage  von  1200  bis  1800,  die  es  nur  ein  einziges  Mal  in 
der  Weltgeschichte  gegeben  hat.  Alle  Bemühungen,  allgemeine 
Epochen  des  Luxus  zu  bilden,  wie  es  etwa  Ros  eh  er  versucht 
hat,  werden  erfolglos  bleiben  müssen. 

Die  jene  Entwicklungstendenzen  erzeugenden  Ursachen  liegen 
in  der  allgemeinen  Gesellschaftsstruktur  eingeschlossen  und  sind 
uns  bekannt.  Eine  ganz  besondere  Bedeutung  messe  ich  der 
zunehmenden  Herrschaft  der  Frau  oder,  wie  ich  die  Frau,  die 
hier  wirkt,  genannt  habe,  des  Weibchens  bei.  Daneben  hat  ge¬ 
rade  auf  die  Umbildung  des  Luxuskonsums  auch  die  fortschreitende 
Verstadtlichung  der  Lebensführung  einen  bestimmenden  Einfluß 
ausgeübt  k 

Die  Entwicklungstendenzen,  die  ich  im  einzelnen  unterscheide, 
sind  aber  folgende: 

1.  Tendenz  zur  Verhäuslichung.  Der  meiste  mittel¬ 
alterliche  Luxus  war  öffentlicher,  nun  wird  er  privater ;  er  wurde 
aber  auch  als  privater  weit  mehr  außerhalb  des  Hauses  entfaltet 
wie  in  dem  Hause:  jetzt  wird  er  immer  mehr  in  das  Haus,  in 
die  Häuslichkeit  verlegt:  die  Frau  holt  ihn  zu  sich  herein. 

Ehedem  (noch  zur  Zeit  der  Renaissance)  Turniere,  Schau¬ 
gepränge,  Aufzüge,  öffentliche  Gastereien :  nun  Luxus  im  Hause. 
Damit  verliert  der  Luxus  seinen  periodischen  Charakter,  den  er 
früher  hatte,  und  wird  ständig.  Unnütz,  zu  sagen,  wie  sehr  mit 
dieser  Wandlung  eine  Steigerung  des  Luxusbedarfs  verbunden  ist. 

2.  Tendenz  zur  Ver sachljcliung.  Wir  können  wahr¬ 
nehmen,  daß  der  Luxus  unserer  Periode  noch  immer  einen  stark 
personalen  und  damit  quantitativ  gerichteten  Charakter  trägt  und 
feststellen,  daß  hierin  sich  sein  seigneurialer  Ursprung  zu  erkennen 
gab,  da  diese  starke  Bewertung  zahlreicher  Dienerschaft  ein 
Überbleibsel  der  alten  Gefolgschaft  ist.  Zweifellos  wird  nun  aber 
seit  dem  Mittelalter  der  personale  Zug  in  der  Luxus  entfaltung- 
unausgesetzt  schwächer.  Ehedem  erschöpfte  sich  der  Luxus  viel¬ 
fach  im  Aufgebot  zahlreicher  Trabanten,  in  deren  Beköstigung 
und  Belustigung  bei  Festen  usw.  Jetzt  ist  die  zahlreiche  Diener¬ 
schaft  nur  noch  eine  Begleiterscheinung  der  immer  mehr  wachsen- 


1  Das  Nähere  siehe  in  „Luxus  und  Kapitalismus“. 


Aclitimdvierzigstes  Kapitel:  Der  Luxusbedarf 


741 


den  Verwendung  von  Sachgütern  zu  Luxuszwecken.  An  dieser 
Versachlichung,  wie  ich  den  Prozeß  nenne,  hatte  besonders  die 
Frau  ein  Interesse.  Denn  die  Aufbietung  zahlreicher  Gefolgs- 
mannen  kommt  ihr  weniger  zugute  als  die  prächtigere  Kleidung, 
die  behaglichere  Wohnung,  der  kostbarere  Schmuck.  Ökono¬ 
misch.  ist  diese  Wandlung  wieder  äußerst  bedeutsam:  Adam 
Smith  würde  sagen:  man  geht  von  „unproduktivem“  zu  „pro¬ 
duktivem“  Luxus  über,  wreil  jener  personale  Luxus  „unproduk¬ 
tive“,  der  versachlichte  Luxus  dagegen  „produktive“  Hände  (im 
kapitalistischen  Sinne:  das  heißt  Lohnarbeiter  in  einer  kapita¬ 
listischen  Unternehmung)  beschäftigt.  In  der  Tat  ist  die  Ver¬ 
sachlichung  des  Luxusbedarfs  für  die  Entwicklung  des  Kapitalis¬ 
mus  von  grundlegender  Bedeutung. 

Hand  in  Hand  mit  dieser  Versachlichung  des  Luxus  geht 
aber  die  vom  Weibchen  mit  besonderer  Energie  geförderte 

3.  Tendenz  zur  Versinnlichung  und  Verfeinerung. 

Als  Tendenz  zur  Versinnlichung  sehe  ich  jene  Entwicklung 
an,  die  dahin  führt,  daß  der  Luxus  immer  weniger  irgendwelchen 
idealen  Lebenswerten  (wie  namentlich  der  Kunst)  und  immer 
mehr  den  niedrigen  Instinkten  der  Animalität  dient.  Wenn  jener 
Prozeß  sich  vollzieht,  den  die  Goncourts  einmal  so  bezeichnen: 
„la  protection  de  hart  tombe  aux  ciseleurs  de  bronzes,  aux  sculp- 
teurs  du  bois,  aux  brodeurs,  aux  couturieres“  usw.  Sie  wollen 
damit  den  Unterschied  der  Du -Barry -Epoche  gegenüber  der 
Pompadour-Zeit  kennzeichnen.  Mir  scheint,  diese  —  unnütz  zu 
sagen:  ökonomisch  wiederum  ganz  hervorragend  wichtige  — 
Wandlung  charakterisiert  mehr  den  Übergang  vom  17.  ins 
18.  Jahrhundert,  also  den  Sieg  des  Rokoko  über  das  Barock. 
Dieser  Sieg  aber  bedeutet  nichts  anderes  als  den  endgültigen 
und  vollständigen  Triumph  der  femininen  Kultur.  Das  sieg¬ 
reiche  Weibchen  strahlt  uns  aus  allen  Schöpfungen  der  Kunst 
und  des  Kunstgewerbes  dieser  Zeit  entgegen :  aus  Pfeilerspiegeln 
und  Lyoner  Kissen,  himmelblauseidenen  Kissen  mit  weißen  Tüll¬ 
gardinen,  aus  zartblauen  Jupons,  grauseidenen  Strümpfen  und 
rosigen  Seidenkleidern,  aus  koketten,  mit  Schwanendaunen  be¬ 
setzten  Peignoirs ,  aus  Straußenfedern  mit  Brabanter  Spitzen, 
was  dann  alles,  wie  Richard  Muther,  dieser  unvergleichliche 
Schilderer  des  Rokoko,  dem  auch  die  vorhergehenden  Worte 
entnommen  sind,  es  ausdrückt,  ein  Pater  zu  einer  „Symphonie 
des  Salons“  zusammengedichtet  hat. 

Mit  der  Tendenz  zur  Versinnlichung  des  Luxus  im  engsten 


742  Sechster  Abschnitt:  Die  Neugestaltung  des  Güterbedarfs 

Zusammenhänge  steht  die  Tendenz  zu  seiner  Verfeinerung.  Ver¬ 
feinerung  heißt  Vermehrung  des  Aufwandes  an  lebendiger  Arbeit 
bei  der  Herstellung  eines  Sachgutes,  heißt  Durchdringung,  V oll- 
sauguug  des  Stoffes  mit  mehr  Arbeit  (soweit  nicht  die  Verfeine¬ 
rung  in  der  Verwendung  nur  seltenerer  Stoffe  besteht). 

4.  Tendenz  zur  Zusammendrängung  —  in  der  Zeit 
nämlich.  Sei  es,  daß  viel  Luxus  innerhalb  einer  gegebenen  Zeit 
entfaltet  wird :  viele  Gegenstände  genutzt  werden,  viele  Genüsse 
durchgekostet  werden;  sei  es,  daß  früher  periodische  Luxus¬ 
veranstaltungen  nun  zu  ständigen  Einrichtungen  werden:  aus 
Jahresfesten  werden  regelmäßig  wiederkehrende  Feste,  aus  Auf¬ 
zügen  an  Jubeltagen  werden  tägliche  Maskeraden,  aus  Schmause¬ 
reien  an  AVeihetagen  und  Quartalssaufereien  werden  Diners  und 
Soupers  des  Alltags;  sei  es  (worauf  ich  besonderen  Nachdruck 
legen  möchte),  daß  in  kürzerer  Zeit  die  „Luxusgüter“  hergestellt 
werden,  um  rascher  ihrem  Besitzer  dienen  zu  können. 

Die  Regel  im  Mittelalter  war  die  lange  Produktionszeit: 
Jahre  und  Jahrzehnte  wurde  an  einem  Stück,  an  einemAVerk 
gearbeitet:  man  hatte  keine  Eile,  es  vollendet  zu  sehen.  Man 
lebte  ja  auch  so  lange,  weil  man  in  einem  Ganzen  lebte:  die 
Kirche,  das  Kloster,  die  Stadtgemeinde,  das  Geschlecht  würden 
die  Vollendung  sicher  erleben,  wenn  auch  der  einzelne  Mensch, 
der  die  Arbeit  in  Auftrag  gegeben  hatte,  längst  vermodert  war. 
AVie  viele  Geschlechter  haben  an  der  Certosa  von  Pavia  gebaut ! 
Die  Mailänder  Familie  Sacchi  hat  während  dreier  Jahrhunderte, 
durch  acht  Generationen  hindurch,  an  den  Inkrustierungen  und 
Intarsien  der  Altarplatten  gearbeitet.  Jeder  Dom,  jedes  Kloster, 
jedes  Rathaus,  jede  Burg  des  Mittelalters  legt  Zeugnis  ab  von 
dieser  Überbrückung  der  Lebensalter  des  einzelnen  Menschen: 
ihre  Entstehung  zieht  sich  durch  Geschlechter  hindurch,  die 
ewig  zu  leben  glaubten. 

Seitdem  das  Individuum  sich  herausgerissen  hatte  aus  der 
es  überdauernden  Gemeinschaft,  wird  seine  Lebensdauer  zum 
Maßstab  seines  Genießens.  Der  Einzelmensch  will  als  er  selbst 
möglichst  viel  von  dem  AVandel  der  Dinge  erleben.  Selbst  ein 
König  ist  zu  sehr  er  selbst  geworden:  er  will  das  Schloß  noch 
selbst  bewohnen,  das  er  zu  bauen  anfängt.  Und  als  nun  gar  die 
Herrschaft  dieser  AVelt  auf  das  AVeibchen  überging,  da  wurde 
das  Tempo,  in  dem  die  Mittel  zur  Befriedigung  des  Luxusbedarfs 
herbeigeschafft  wurden,  abermals  beschleunigt.  Die  Frau  kann 
nicht  warten.  Der  verliebte  Mann  aber  erst  gar  nicht. 


Aelituud vierzigstes  Kapitel:  Der  Luxusbedarf 


743 


Welch  ein  Wandel  in  dem  Zuschnitt  des  Lebens:  Maria  von  Medici 
ließ  den  Luxemburg-Palast  in  der  unerhört  kurzen  Zeit  von  fünf  Jahren 
vollenden.  W.  Liibke,  Gesch.  d.  Renaissance  Frankreichs  (1868),  227. 

Am  Versailler  Schloß  wurde  Tag  und  Nacht  gearbeitet:  „Pour 
Versailles,  il  y  a  deux  ateliers  de  charpentiers,  dont  l’un  travaille  le 
jour  et  l’autre  la  nuit,“  hat  uns  Colbert  selbst  erzählt.  Lettres,  in- 
structions  et  memoires  de  Colbert,  publ.  par  P.  Clement  in  der 
Coli,  de  doc.  inedits  IIIe  serie,  t.  8,  p.  XLV. 

Der  Graf  von  Artois  läßt  Bagatelle  von  Grund  aus  neu  bauen, 
damit  er  der  Königin  dort  ein  Fest  gebe,  und  beschäftigt  900  Arbeiter 
bei  Tag  und  bei  Nacht:  als  es  ihm  nicht  schnell  genug  geht,  schickt 
er  seine  Haussiers  auf  die  Landstraße,  um  Stein-  und  Kalkwagen  ab¬ 
zufangen. 

5.  Tendenz  zum  Wechsel,  das  bedeutet  also  fort¬ 
schreitende  Herrschaft  der  Mode,  dieses  „Allgemeinbegriffs 
für  einen  Komplex  zeitweise  gültiger  Kulturformen“,  wie  sie 
Fr.  V i s c h e r  treffend  definiert  hat. 

Die  Quellen  zur  Geschichte  der  Mode  sind  sehr  zahlreich. 
In  Betracht  kommen  zuvörderst  die  meisten  vom  Luxuskonsum  handeln¬ 
den  Werke,  da  dieser  ja  immer  der  Mode  unterworfen  gewesen  ist. 
Eine  besondere  Quelle  sind  die  seit  dem  Ende  des  17.  Jahrhunderts 
erscheinenden  „Mode “-Zeitschriften:  wie  der  Mercure  galant  (später 
M.  de  France)  seit  1672,  der  allerdings  mehr  eine  allgemeine  Zeit¬ 
schrift  für  die  elegante  Welt  ist  als  eine  Modezeitschrift;  das  Journal 
des  Luxus  und  der  Moden,  herausgegeben  von  F.  J.  Bertuch  und 
G.  M.  Kraus,  seit  1786:  das  Journal  für  Fabrik,  Manufaktur,  Hand¬ 
lung  und  Mode,  seit  1794;  das  Leipziger  Modemagazin,  für  das 
Neueste  in  Kunst,  Geschmack,  Mode,  Lebensgenuß  usw. ,  heraus- 
«e^eben  von  Gr  über  und  B  er  rin,  seit  1796,  u.  a. 

°  ° Aber  auch  fast  alle  Gesellschafts-  und  Sittenschilderungen,  die 
reiche  Memoiren-Literatur,  sind  zu  Rate  zu  ziehen.  Eine  Fundgrube 
sind  Werke  wie  The  Spectator  (1710—1714),  Merciers  Tableau  de 
Paris  (1787)  und  ähnliche. 

Die  Literatur  hingegen  ist  dürftig.  Soviel  ich  zu  beurteilen  ver¬ 
mag,  sind  die  besten  Schriften  diejenigen  des  18.  Jahrhunderts,  die 
man’ fast  noch  als  Quellenliteratur  bezeichnen  kann.  Bis  heute  nicht 
übertroffen  sind  die  Abhandlung  Chr.  Garves  im  1.  Teil  seiner  Ver¬ 
suche  über  verschiedene  Gegenstände  aus  der  Moral,  der  Literatur 
und  dem  gesellschaftlichen  Leben,  1792;  sowie  der  sich  daran  an¬ 
lehnende  Artikel  „Mode“  im  92.  Bande  der  Krünitzschen  Enzy¬ 
klopädie  (1803).  Ganz  vortrefflich  ist  auch  eine  Aufsatzreihe  über 
Mode  und  Luxus  im  38.  Bande  der  Schlesischen  Provinzialblätter  (1803). 

In  neuerer  Zeit  haben  die  ästhetische  Seite  der  Mode  durch  Fr. 
Theod.  Vis  eher  (Mode  und  Cynismus.  3.  Aufl.  1888),  die  sozial¬ 
psychologische  durch  G.  Simmel  (Philosophie  der  Mode,  o.  J. 
119051)  eine  anregende  Behandlung  erfahren.  Die  ökonomische  Be- 
deutuno-  der  Mode  habe  ich  in  der  Schrift  „Wirtschaft  und  Mode“ 
(1902)°zu  beleuchten  versucht.  Die  dadurch  angeregte  Literatur,  wie 


744 


Sechster  Abschnitt:  Die  Neugestaltung  des  Güterbedarfs 


z.  B.  die  gehaltvolle  Bektoratsrede  von  W.  Troeltsch,  gehört  nicht 
hierher,  da  sie  die  Bolle  schildert,  die  die  Mode  in  der  hochkapita¬ 
listischen  Epoche  spielt. 

Einige  Beiträge  zur  Geschichte  der  Mode  enthält  das  Buch  von 
Otto  Neubur'ger,  Die  Mode.  Wesen,  Entstehen  und  Wirken.  1910. 

Für  das  Wirtschaftsleben  sind  es  zwei  notwendige  Begleit¬ 
erscheinungen  jeder  Mode,  die  vornehmlich  in  Betracht  zu 
ziehen  sind: 

1.  die  durch  sie  erzeugte  Wechselhaftigkeit,  aber  ebenso, 
was  häufig  übersehen  wird, 

2.  die  von  ihr  bewirkte  Vereinheitlichung  der  Bedarfsgestal¬ 
tung.  Denken  wir  uns  eine  Bedarfsgestaltung,  die  von  der  Mode 
unabhängig  ist,  so  würde  die  Nutzungsdauer  für  den  einzelnen 
Gebrauchsgegenstand  vermutlich  länger,  die  Mannigfaltigkeit  der 
einzelnen  Gebrauchsgüter  wahrscheinlich  erheblich  größer  sein. 
Jede  Mode  zwingt  immer  eine  große  Anzahl  von  Personen,  ihren 
Bedarf  zu  vereinheitlichen,  ebenso  wie  sie  sie  nötigt,  ihn  früher  zu 
ändern,  als  es  der  einzelne  Konsument,  wäre  er  unabhängig,  für 
erforderlich  halten  würde.  Beides:  Vereinheitlichung  und  Wechsel 
sind  relative  Begriffe.  Wann  insbesondere  dieser  beispielsweise 
die  „Tracht“  zur  „Mode“  werden  läßt,  ist  schwerlich  durch  eine 
Zeitangabe  zu  bestimmen.  Man  wird  sagen  dürfen,  daß  jede 
Geschmacksänderung,  die  zu  einer  Umgestaltung  des  Bedarfs 
während  der  Lebensdauer  einer  Generation  führt,  „Mode“  sei. 

Wenn  wir  also  belehrt  werden,  daß. eine  Bevölkerung  „die 
Sitten  der  Väter  aufgegeben“  und  Kleider  und  Haare  anders 
getragen  habe  wie  diese ,  so  können  wir  daraus  mit  einiger 
Sicherheit  schließen,  daß  in  jener  Zeit  eine  „Mode“  noch  nicht 
geherrscht  habe.  Das  war  im  frühen  und  hohen  Mittelalter 
wohl  der  herrschende  Zustand,  und  die  Schlüsse,  die  Friedr. 
Kaum  er  aus  einer  Quellenstelle  des  11.  Jahrhunderts  zieht:  als 
habe  damals  schon  ein  Modewechsel  bestanden,  scheinen  mir 
nicht  statthaft  h 

Dagegen  scheint  die  Mode  mit  der  Verweltlichung  der  Lebens¬ 
führung,  mit  dem  zunehmenden  Luxuskonsum  aus  genießerischer 
Absicht  als  notwendige  Begleiterscheinung  sich  einzustellen. 
Wenigstens  finden  wir  sie  in  dem  italienischen  Quattrocento  und 


1  Order  Vit.  zu  1092:  „militares  viri  mores  paternos  in  vestitu 
et  capülorum  tonsura  dereliquerunt ,  quos  paulo  post  burgenses  et 
rustici  et  paene  totum  vulgus  imitati  sunt  .  .  ,  “  Zit.  bei  Raumer 
Hohenst.  6‘  520, 


Achtunclvierzigstes  Kapitel:  Der  Luxusbedarf 


745 


Cinquecento  schon  allgemein  verbreitet,  wenn  auch  noch  im 
Kampfe  mit  der  „Tracht“ ,  soweit  die  Kleidung  in  Betracht 
kommt.  Vor  allem  wird  uns  auch  schon  über  einen  raschen 
Wechsel  der  Mode  berichtet,  der  innerhalb  eines  Jahres  mehr¬ 
fach  erfolgt  sein  soll. 

Von  Italien  schreibt  Iov.  Pontanus,  de  principe:  „.  .  .  quan- 
quam  mutari  vestes  sic  quotidie  videamus,  ut  quas  quarto  ante 
inense(!)  in  deliciis  habebamus,  nunc  repudiamus  et  tanquam  vete- 
ramenta  objicianms.“  Bei  Burckhardt  2,  170.  Siehe  daselbst  noch 
andere  Belege.  • 

In  dem  Frankreich  der  Valois  schaute  es  nicht  anders  aus,  wie 
uns  der  scharf  blickende  Montaigne  wissen  läßt: 

„  .  .  .  nostre  changement  est  si  subit  et  si  prompt  en  cela 
—  Kleiderschnitt  — ,  que  l’invention  de  touts  les  tailleurs  du  monde 
ne  S£aurait  fournir  assez  de  nouvelletez,  il  est  force  que  bien  souvent 
les  formes  mesprisees  reviennent  en  credit,  et  celles  lä  mesmes 
tumbent  en  mespris  tantost  aprez ;  et  qu’un  mesme  jugement  prenne 
en  l’espace  de  quinze  ou  vingt  ans  deux  ou  trois,  non  diverses  seule- 
ment,  mais  contraires  opinions,  d’une  inconstance  et  legierete  in- 
croyable.“  Montaigne,  Essais  2  (1820),  174/75. 

Ebenso  wurde  in  England  um  dieselbe  Zeit  der  Modewechsel  schon 
zu  einem  „sozialen  Übelstande“,  den  zu  bekämpfen  sich  in  den  Jahren 
von  1511  bis  1570  fünf  Statuten  zur  Aufgabe  machten.  Unwin, 
Industrial  organizätion  (1904),  71  ff. 

Eine  sehr  drollige  Kapuzinade  gegen  den  Modeteufel,  der  auch  in 
Deutschland  sein  Wesen  trieb,  findet  sich  in  der  1565  in  2.  Auflage 
erschienenen  Schrift:  Schulrecht  wider  den  Hoffahrtsteufel.  Dort  heißt 
es:  „Wer  wollte  oder  könnte  wohl  zählen,  die  mancherley  wunder¬ 
liche  und  seltsame  Muster  und  Art  der  Kleidung,  die  bey  Manns-  und 
Weibspersonen  in  30  Jahren  herauf  und  wieder  abgekommen  ist.  Von 
Kutten,  Schauben,  Mänteln,  Pelzen,  Korsen,  Hocken,  Kappen,  Kollern, 
Hüten,  Stiffeln,  Jacken,  Schörzen,  Wammsen,  Harzkappen,  Hemden, 
Kragen,  Brustlazen,  Hosen,  Schuen  etc.  etc.  Da  hats  müssen  sein 
Polisch,  Böhemisch,  Ungerisch,  Türkisch,  Französisch,  Welsch,  Englisch, 
Nürmbergisch,  Braunschweigisch,  Fränkisch,  Sächsisch,  kurz,  lang, 
eng,  weit,  schlicht,  gefaltet,  auf  ein  und  zwey  recht,  verbrehmet,  ver- 
ködert,  verwulstet,  verbörtelt,  mit  Fränzlin,  mit  Knoten,  ganz,  zer- 
schnieten,  gefüttert,  ungefüttert,  gefüllet,  mit  Ermeln,  ohne  Ermeln, 
gezupft,  geschoben,  unternehet,  mit  Tallaren,  ohne  Tallaren,  mit  ver¬ 
loren  Ermeln,  bunt,  kraus  etc.  etc.“  Der  „Einsender“,  der  diese  Stellen 
dem  „Journal  des  Luxus  und  der  Moden“,  wo  sie  im  2.  Bande  (1787), 
S.  169  ff.  abgedruckt  sind,  zur  Verfügung  stellt,  überschreibt  seine 
Mitteilung:  „Es  war  sonst  ebenso“  und  schließt  mit  den  Worten: 
„C’etait  tout  comme  fchez  nous.“  Gleichwohl  werden  wir  Unterschiede 
zwischen  dem  16.  und  dem  20.,  aber  auch  zwischen  dem  16.  und 
dem  18.  Jahrhundert  in  der  Behandlung  der  Mode  deutlich  wahr¬ 
nehmen:  wir  brauchen  nur  ein  „Trachten“buch  aus  dem  16.  Jahr- 


746 


Sechster  Abschnitt :  Die  Neugestaltung  des  Güterbedarfs 


hundert  aufzu schlagen ,  um  zu  sehen,  wie  damals  Mode  und  Tracht 
sich  noch  um  die  Herrschaft  über  die  Kleidung  streiten. 

Das  eigentliche  Zeitalter  der  Moden,  denke  ich,  beginnt  doch 
recht  eigentlich  mit  Ludwig  XIV.,  der  auch  für  zwei  Jahrhunderte 
Frankreich  zum  Mittelpunkte  des  modischen  Geschmackes  ge¬ 
macht  hat.  Es  ist  wohl  nur  der  Ausdruck  einer  inneren  Ent¬ 
wicklung,  wenn  im  Jahre  1672  die  erste  Modezeitschrift  (der 
Mercure  galant,  der  spätere  Mercure  de  France)  gegründet  wird, 
die  in  der  Literatur  die  Stelle  der  früheren  Trachtenbücher  ein¬ 
zunehmen  berufen  ist.  „La  mode  presse“,  sagt  Labruyere  von 
dieser  Zeit,  in  der  schon  eine  Mode  die  andere  jagte.  „Une 
mode  a  ä  peine  detruit  une  autre  mode,  qu’elle  est  abolie  par 
une  plus  nouvelle,  qui  cede  elle-meme  ä  celle  qui  la  suit  et  qui 
ne  sera  pas  la  derniere ;  teile  est  notre  legerete  .  .  .  “ 1 

Und  nun  gar  erst  das  18.  Jahrhundert!  Sein  Lebensstil  war 
—  wohlgemerkt  immer  erst  für  die  Luxuskonsumenten!2 * 4 5  —  in 
nichts  verschieden  von  dem  unsrigen.  „Une  femme  qui  quitte 
Paris  pour  aller  passer  six  mois  ä  la  Campagne  en  revient  aussi 
antique  que  si  eile  s’y  etoit  oubliee  trente  ans.  Le  fils  meconnait 
le  portrait  de  sa  mere,  tant  l’habit  avec  lequel  eile  est  peinte 
lui  paroit  etranger;  il  s’imagine  que  c’est  quelque  Americaine 
qui  y  est  representee  ou  que  le  peintre  a  voulu  exprimer  quel- 
qu’unes  de  ses  fantaisies  .  .  .  “  so  schildert  schon  im  Anfänge  des 
Jahrhunderts  der  Verfasser  der  Lettres  persianes  die  Modetollheit 

1  Labruyere,  Caracteres.  De  la  mode. 

2  In  der  Encyclopedie  (Art.  Mode)  wird  die  Mode  noch  definiert: 
„tout  ce  qui  sert  ä  la  parure  et  au  luxe.“  Das  „Bürgertum“  (ge¬ 
schweige  denn  die  unteren  Volksklassen)  war  in  den  Strudel,  in  dem 
„die  Gesellschaft“  lebte,  noch  nicht  hineingezogen  und  wurde  deshalb 

auch  von  dem  raschen  Modewechsel  noch  weniger  berührt.  Ich  zweifle 
nicht,  daß  die  Erinnerung  eines  Neunzigjährigen  in  der  ersten  Hälfte 
des  19.  Jahrhunderts:  zu  seiner  Zeit  habe  die  Mode  höchstens  alle 

4,  5,  6  Jahre  gewechselt,  für  seine  Kreise  zutraf:  „Les  modes 
changeaient  bien  quelquefois,  mais  ce  n’etait  guere  qu’au  bout  de  4, 

5,  6  ans  et  meine  apres  un  plus  long  intervalle  de  temps.“  Besnard, 
Memoires  d’un  nonagenaires  1,  187,  zit.  von  Levasseur,  Hist.  2, 
780.  „Gemeiniglich  lernt  der  wohlhabende  Bürger  die  Etiquette  und 
den  Luxus  der  vornehmen  Welt  erst  nach  und  nach  kennen  .  .  .  So¬ 
bald  eine  bürgerliche  Familie  Anspruch  darauf  macht,  genau  modisch 
zu  sein:  sobald  ist  die  größere  Schwierigkeit,  welche  sie  hat,  dazu 
zu  gelangen,  und  das  öftere  Mißlingen  der  Bemühungen,  die  sie  darauf 
wendet,  für  sie  ebensowohl  eine  Quelle  von  Sorgen  und  Mißvergnügen 
als  eine  Veranlassung  zu  Fehltritten.“  Art.  „Mode“  bei  Krünitz 
92,  465. 


Aclitund vierzigstes  Kapitel:  Der  Luxusbedarf 


747 


seiner  Zeit,  die  auf  dem  Gipfel  angekommen  war,  als  Mercier 
ihr  den  Spiegel  vorkielt.  Was  dieser  über  die  Mode  des  damaligen 
Paris  schreibt,  könnte  heute  in  jedem  Modeblatt  als  Leitartikel 
stehen  L 

Enp-stens  im  Zusammenhang  mit  der  Modesucht  steht  die 

6.  Tendenz  zum  Verbrauch  ausländischer  Luxus¬ 
güter.  Seitdem  der  Luxuskonsum  einsetzt,  vernehmen  wir  die 
Klagen  der  Patrioten  (und  Ortsinteressenten !)  über  diese  Unsitte 
der  reichen  Kundschaft,  fremde  Waren  den  einheimischen  vor¬ 
zuziehen.  Vielleicht  (oder  vielmehr  ziemlich  sicher)  hängt  diese 
allgemein  verbreitete  Neigung  mit  der  Tatsache  zusammen1 2,  daß 
in  den  Anfängen  der  neu  -  europäischen  Kultur  Luxuskonsum 
gleichbedeutend  mit  dem  Verbrauch  ausländischer 
Güter  war,  weil  die  heimische  Erde  überhaupt  noch  keine  Luxus¬ 
güter  erzeugte.  Woher  hätten  die  Gecken  am  Hofe  Karls  d.  Gr. 
ihre  kostbaren  Gewänder  und  ihre  Schmuckgegenstände  und  ihre 
kunstvoll  gearbeiteten  Waffen  andersher  beziehen  sollen  als  aus 
dem  Orient?  Und  auch  die  reichen  Leute  der  Kreuzzugszeit 
Waren  im  wesentlichen  auf  fremde  Waren  angewiesen,  wenn  sie 
Luxus  treiben  wollten.  So  setzte  sich  die  Vorstellung:  fein  = 
fremd  in  den  Köpfen  der  Luxuskonsumenten  fest  und  blieb  darin, 
als  sie  von  der  Wirklichkeit  längst  überholt  war  (wir  in  unsern 
Tagen  erleben  ja  dasselbe).  So  empfanden  es  die  Italiener  des 
Quattrocento  schon  als  Widersinn,  wenn  ihre  Landsleute  immer 
nur  französische  Moden  mitmachen  wollten,  da  doch  großenteils 
die  Moden  erst  den  Franzosen  von  den  Italienern  gebracht 
wurden,  die  also  ihre  eigenen  Ideen  und  Erzeugnisse  aus  dem 
Auslande  wieder  einführten3. 

1  Siehe  z.  B.  das  173.,  176-,  177.  Kapitel  im  Tableau  de  Paris. 
Über  die  ganz  andere  Kolle ,  die  die  Mode  im  Zeitalter  des  Hoch¬ 
kapitalismus  spielt,  habe  ich  in  einem  späteren  Bande  dieses  Werkes 
mich  zu  äußern. 

2  Eine  andere  auch  nicht  von  der  Hand  zu  weisende  Erklärung 
der  Vorliebe  für  das  Fremdländische  gibt  der  Verfasser  des  Artikels 
„Mode“  bei  Krünitz  (92,  435):  die  fremden  Moden  am  frühesten 
zu  kennen,  sei  ein  Zeichen  vornehmer  Stellung:  erst  Hof,  dann  Adel 
usw.  Außer  jenem  ist  mir  kein  Versuch  bekannt  geworden,  das 
wichtige  Phänomen  zu  deuten. 

3  „Quodque  tolerari  vix  potest,  nullum  fere  vestimenti  genus  pro¬ 
bat  ur,”  quod  e  Gallis  non  fuerit  adductum,  in  quibus  levia  pleraque  in 
pretio  sunt  tametsi  nostri  persaepe  homines  modum  illis  et  quasi  for- 
mulam  quandam  praescribant.“  Jovian.  Pontan.  de  principe,  zit.  bei 
Burckhardt  23,  170. 


748  Sechster  Abschnitt:  Die  Neugestaltung  des  Gäterbedarfs 

Dagegen  entsprach  es  noch  der  tatsächlichen  Entwicklungs¬ 
stufe  der  Luxusgewerbe  in  den  verschiedenen  Ländern,  wenn 
in  dem  Frankreich  des  16.  Jahrhunderts  die  Yalois,  wie  wir 
sahen,  ihre  Lebensführung  italienisierten ;  und  ebenso  hatten 
wohl  die  englischen  Beaus  noch  in  der  Zeit  der  Tudors  recht, 
wenn  sie  ausländische  Waren  bevorzugten. 

„They  must  kave  their  geare  from  London;  and  yet  many  things 
there  of  are  not  tkeare  made  but  beyond  the  sea  whereby  the  arti- 
ficers  of  our  towns  are  idle.“  Discourse  of  the  Commonweal,  ed. 
Lamond,  p.  125.  Zit.  bei  Unwin,  71. 

In  den  Milliner  shops,  die  zwischen  Ed.  VI.  und  1580  wie  Pilze 
aus  dem  Boden ‘Wachsen,  sind  feil: 
französische  oder  spanische  Handschuh, 
flämische  Kersies, 

französisches  Tuch,  Spangen  (brooches),  Halsbänder  (ouches), 
venetianische  oder  mailändische  Agglets, 
spanische  Dolche,  Schwerter,  Messer,  Gürtel, 

Mailänder  Sporen,  Mützen,  Gläser,  Uhren,  gemalte  Krüge,  Tische, 
Karten,  Bälle,  Tintenfässer,  Federbehälter  (penners),  Puggets  (?), 
Seiden-  und  Silberbottoms  (?),  feine  Tongefäße,  hawks  bells  (?), 
Salzfässer,  Löffel  und  Schüsseln  aus  Zinn  .  .  . 

Brief  conceit  of  English  Poesie,  zit.  J.  S.  Burn,  Foreign  protest. 
refugees  (1846),  252. 

In  Ben  Jonsons  Comedy  of  „The  New  Inn“,  acted  1629,  spricht 
ein  Beau: 

„I  would  put  on 

The  Savoy  chain  about  my  neck,  the  ruff, 

The  cuffs  of  Flanders,  then  the  Naples  hat 
With  the  Rome  hatband,  and  the  Florentine  agate 
The  Milan  sword,  the  cloak  of  Geneva  set 
With  Brabant  buttons;  all  my  given  pieces. 

My  gloves  the  natives'  of  Madrid“  etc.  etc. 

Zit.  bei  John  Luard,  A  Hist,  of  the  Dress  of  the  British  soldier 
(1852), ‘  76. 

Seit  dem  17.  Jabrliundert  wird  dann,  wie  wir  wissen,  Frank¬ 
reich  Meister  des  Geschmacks,  und  von  da  an  ist  die  Vorliebe 
für  französische  Mode  geblieben.  Die  frühkapitalistischen  Schrift¬ 
steller  des  17.  und  18.  Jahrhunderts  außerhalb  Frankreichs  sehen 
diese  Entwicklung  mit  besonders  scheelen  Augen  an:  verdarb 
sie  ihnen  ja  das  ganze  Konzept  ihrer  nationalistischen  "Wirt¬ 
schaftspolitik.  So  macht  —  um  einen  statt  vieler  anzuführen  — 
Hoernigk  seinem  Arger  über  seine  Landsleute  folgendermaßen 
Luft  (Österreich  über  alles,  Seite  18): 

„Freylick  aber  seynd  unsere  Vor-Eltern  auch  vnd  in  Oeconomicis 
gewiss  andere  Leute  gewesen  als  wir.  Sie  jagten  nicht  alle  Jahr  nur 


Acktundvierzigstes  Kapitel :  Der  Luxusbedarf 


749 


allein  für  die  Frantzösischen  SckandWaaren  drey  oder  vier  Millionen 
Gulden  baares  Geldt  aus  den  Erblanden  hinaus,  gleich  wie  wir,  sondern 
beholffen  sich  mehrentheils  mit  dem  was  das  eigene  Hauss  bescherete. 
Es  bestanden  ihre  kostbaren  Zierrathen  in  gutem  Massiv-Gold,  Silber 
und  Edelgesteinen  oder  Zobeln  und  dergleichen  Bauch- Waar ;  welche, 
ob  sie  zwar  zum  Theil  ausländisch  gleichwol  auf  Kinder  und  Kindes- 
Kinder  erben  konten;  nicht  aber  in  zerreisslichen  Frantzösischen 
Lumpen,  die  noch  dazu  alle  halbe  Jahre  durch  Aenderung 
der  Mode  unnütz  gemacht  werden  .  .  .  “ 

Ebenso  finden  wir  in  andern  Ländern  die  Herrschaft  der 
Pariser  Mode  h  Aber  die  Franzosen  waren  nicht  zufrieden,  den 
andern  Nationen  die  Gesetze  der  Mode  zu  diktieren:  sie  schielten 
(wie  sie  es  heute  zum  Teil  wieder  tun)  nach  England  hinüber, 
und  das  18.  Jahrhundert  endigte  mit  einer  Anglomanie  der  Pariser. 

Ein  sehr  amüsanter  Schriftsteller  der  Zeit  äußert  sich  mit  fast 
Heine  schem  Witz  darüber  wie  folgt:  „Zum  Teil  sind  wir  durch  die 
Anglo-Manie  gerächt.  Sie  treffen  überall  auf  wandelnde  Biding-Coats, 
in  deren  Falten  ein  gebrechliches,  übel  ebauchiertes,  halb  wieder  auf¬ 
gelöstes  Wesen  zappelt,  oder  auf  englische  Fuhrwerke  überthront  von 
einem  Kutscher  aus  der  Titanenfamilie ,  der  Streitrosse  mit  einer 
Donnerstimme  lenkt-,  hintenauf  haben  sich  noch  ein  Paar  Biesen  ge¬ 
lagert,  nebenher  springt  nicht  selten  ein  furchtbarer  Hund  und  in  einer 
Ecke  des  Kastens  werden  Sie  das  einballierte  Bestehen  einer  alten 
Familie  gewahr  —  es  jammert  Sie  des  mit  Ungeheuern  umringten 
Pigmäen. 

Zu  gleicher  Zeit  wimmelt  es  von  Engländern  hier,  die  durchaus 
pariser  Stutzern  ähnlich  sein  wollen  .  .  .  Ich  schweige  von  meinen 
Landsleuten;  ihre  Mißgestalten  belustigen  mich  nicht.  Es  geht  mir 
nahe,  manchen  mit  dem  Clinquant  aller  Nationen  ausstaffiert  zu  sehen, 
wie  einen  von  Europäern  beschenkten  Wilden  .  .  .  Viele  sind  mit  einer 
allgemeinen  Musterkarte  drapiert  und  tragen  ihre  Beisegeschichte  auf 
sieji  herum,  man  kann  ihnen  von  ihrem  Hut  zu  den  Stiefeln  aus  Italien 
durch  Frankreich  nach  England  folgen  .  .  .  “  7.  Brief  von  Helfrich 

Peter  Sturz  aus  Paris  (12.  Nov.  1768).  Erste  Sammlung]  (1786), 
200  ff. 

Von  Holland  um  die  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  heißt  es:  „Les 
marchands  en  detail  ont  aujourd’hui  leurs  boutiques  remplies  d’etoffes 
etrangeres.  Tout  ce  qu’on  porte,  tout  ce  qui  sert  ä  l’usage  et  aux 
commodites  de  la  vie  vient  de  l’etranger.“  La  Bichesse  de  la  Hollande 
(1778)  2,  228. 

1  Für  Portugal  bestätigt  es  z.  B.  Duc  du  Chatelet,  Voyage 
en  Portugal.  2  Vol.  1798.  1,  75;  während  ein  anderer  Beiseschrift- 
steller  der  Zeit  den  Einfluß  der  Londoner  Mode  auf  den  Geschmack 
der  Portugiesen  glaubt  feststellen  zu  können.  L.  Bernard,  Neue 
Beise  durch  England  und  Portugal  (1802),  277.  Vgl.  Lueder,  Über 
die  Industrie  und  Kultur  der  Portugiesen  (1808),  50. 


750 


Neunundvierzigstes  Kapitel 

Der  Bedarf  der  Heere 

I.  Der  Bedarf  an  Waffen 

Der  Bedarf  an  Waffen,  das  folgt  unmittelbar  aus  dem,  was 
wir  über  die  Entwicklung  des  modernen  Bewaffnungswesens 
(siebe  oben  Seite  352  ff.)  in  Erfahrung  gebracht  haben,  weitet  sich 
aus.  Extensiv  gleichsam  drängt  auf  seine  Vermehrung  hin  die 
Vergrößerung  der  Heere  und  Flotten,  intensiv  wirkt  in  gleicher 
Richtung  die  immer  bessere  Ausrüstung  der  Truppen:  tritt  ja 
doch,  wie  wir  sahen,  der  Bedarf  an  Artilleriematerial  ganz  neu 
zu  dem  schon  vorhandenen  AVaffenbedarf  hinzu. 

Gleichzeitig  vereinheitlicht  sich  der  Bedarf  durch  zunehmende 
Uniformierung  und  ballt  sich  zu  immer  größeren  Massen  zu¬ 
sammen  infolge  der  fortschreitenden  Verstaatlichung  der  Waffen¬ 
lieferung. 

Was  wir  so  aus  allgemeinen  Betrachtungen  einsehen  können, 
bestätigen  uns  die  ziffernmäßigen  Ausweise  über  die  tatsäch¬ 
liche  Höhe  des  Bedarfs,  deren  wir  freilich  gern  noch  mehrere 
und  genauere  und  umfassendere  hätten.  Aber  auch  was  wir  an 
statistischen  Angaben  über  den  AVaffenbedarf  während  der  Periode, 
die  wir  betrachten,  besitzen,  gibt  uns  manchen  Fingerzeig  und 
gestattet  uns,  ziemlich  sichere  Schlüsse  auf  den  Gesamtumfang 
des  Bedarfs  an  Waffen.  Vor  allem  können  wir  mit  hinreichender 
Deutlichkeit  verfolgen,  wie  rasch  und  wie  nachhaltig  sich  dieser 
Bedarf  während  der  verhältnismäßig  kurzen  Spanne  weniger 
Jahrhunderte  oder  gar  Jahrzehnte  ausdehnt;  denn  die  erste 
entscheidende  Steigerung  fällt  erst  in  das  17.  Jahrhundert. 

AVas  schon  im  16.  Jahrhundert  als  Artilleriebedarf  eines 
kleinen  Heeres  (von  10000  Fußgängern  und  1500  Reitern)  an¬ 
gesehen  wurde,  ergeben  folgende  Aufstellungen: 

Ein  Überschlag,  was  von  Geschütz  für  ein  Heer  von  10  000  Fu߬ 
gängern  und  1500  Reitern  nötig  ist,  vom  Jahre  1540  im  Stadtarchiv 
zu  Stuttgart,  verlangt: 

4  Scharfmetzen,  4  Nachtigallen,  4  kurze  und  2  lange  Sängerinnen, 
4  große  Schlangen,  8  Falconen,  12  Falconetten,  2  Feuerbüchsen,  2 
große  und  2  kleine  Mörser. 


Neunund vierzigstes  Kapitel:  Der  Bedarf  der  Heere 


751 


Das  gesamte  Metall :  1180  Ztr.,  kostet.  .  .  9  440  G. 

Kader  und  Gestell .  2  000  „ 

Die  Kugeln . 2  315  „ 

600  Ztr.  Pulver . .  .  .  8  400  „ 

Zusammen  22155  G. 


„Notaverzeichnis ,  was  in  einem  kleinen  Feldzug  an  Geschütz 


;ehört“  : 

3  Scharfmetzen 

(70 

Pfd.)  für  jede  200  Kugeln  60 

Ztr.  Pulver 

4  Quarten 

(40 

»  ) 

7?  7? 

250  •„  50 

77  77 

4  Notschlangen 

(20 

„  ) 

7?  77 

300  „  45 

77  77 

6  Feldschlangen 

(11 

„  ) 

77  77 

300  „  24 

77  7? 

6  Halbschlangen 

(  8 

„  ) 

77  » 

350  „  18 

77  77 

6  Falconet 

(  6 

„  ) 

400  „  12 

77  77 

60  Hacken,  dazu 

•  • 

.  20 

Ztr.  Blei  und  8 

77  77 

Alle  Kugeln 

und 

Blei 

wiegen 

zusammen  1541 

Ztr. 

Alles  Pulver 

...  892 

77 

Zum  Transport  gehören  66  Wagen  und  330  Pterde.  Bei  Jälins, 
Ivriegswiss.  1,  747  ff. 

Danach,  läßt  sich  leicht  bemessen,  was  von  großen  Heeren 
bedurft  wurde. 

Als  die  Artillerie  Wallensteins  in  Schlesien  zugrunde  gegangen 
war  (beim  Antritt  des  zweiten  Generalates),  schlug  er  selbst  die  zur 
Wiederbeschaffung  nötige  Summe  auf  300  000  fl.  an.  Wallenstein  an 
Questenberg,  W.  E.  1,  71,  bei  Loewe,  Organisation  und  Verwaltung 
der  Wallensteinschen  Heere  (1895),  93. 

Sully  gibt  während  seiner  Regierung  12  Mill.  Frcs.  für  Watten 
und  Munition  aus.  Sully,  Oec.  roy.  t.  III,  ch.  VIII,  bei  Boutaric, 
360  f.  Und  die  Arsenale  enthalten  bei  seinem  Tode  noch:  400  Ge¬ 
schütze,  200  000  Kugeln,  4  Mill.  Pfd.  Pulver. 

Ein  ganz  besonders  gieriger  Waffenkonsument  wurde  die  Kriegsflotte. 
Die  Felicisima  Armada  führte  mit  sich: 

2431  Kanonen,  davon  1497  bronzene,  934  eiserne;  7000  Arke¬ 
busen,  1000  Musketen  (außerdem  noch  10  000  Piken,  6000  Halbpiken, 
Schwerter,  Äxte  usw.).  Für  die  Kanonen  waren  123  790  Schüsse  (50 
im  Durchschnitt)  vorgesehen.  Duro,  L’Armada  inv.  doc.  109,  bei 
Laird  Clowes  1,  560. 

Der  Bestand  der  französischen  Schiffskanonen  versiebenfachte  sich 
unter  der  Regierung  Colberts:  er  stieg  von  1045  im  Jahre  1661  auf 
7625  im  Jahre  1683,  und  zwar  kam  die  Vermehrung  im  wesentlichen 
den  eisernen  Kanonen  zugute,  deren  es  1661  erst  475,  1683  da¬ 
gegen  5619  gab.  Nach  dem  amtlichen  Material  E.  Sue,  Hist,  de  la 
marine  franp.  4,  170. 

Dasselbe  mächtige  Emporwachsen  zeigt  uns  die  englische  Schiffs¬ 
artillerie.  Der  Bestand  auf  den  Schiffen  war  (siehe  die  Quellen  bei 
Laird  Clo  wes  1,  409,  421;  2,  267): 


752  Sechster  Abschnitt:  Die  Neugestaltung  des  Güterbedarfs 


1548: 

2087 

Kanonen 

1653: 

3840 

J) 

1666: 

4460 

5? 

1700: 

8396 

An  Munition  führte  ein  Schiff  wie  der  Henry  Grace  ä  Dieu  (also 
schon  ein  Schiff  des  16.  Jahrhunderts)  mit  sich  4800  Pfd.  Serpentin- 
und  14  400  Pfd.  gekörntes  Pulver.  Ms.  de  Pepysion  Library,  bei 
Laird  Clowes  1,  412. 

Die  Armierung  des  Sovereign  of  the  Seas ,  des  Prachtschiffes 
Karls  I.,  die  aus  102  bronzenen  Kanonen  bestand,  kostete  £  24  753 
—8  sh  —8  d.  State  Pap.  Dom.  CCCLXXIV,  30  und  CCCLXXXVII, 
87,  bei  Oppenheim  262. 

II.  Der  Bedarf  an  Lebensmitteln 

Größe  und  Art  des  Bedarfs  eines  Heeres  auch  an  Lebens¬ 
mitteln  wird  bestimmt  durch  die  Stärke  der  Armee  und  die 
Eigenart  des  Verpflegungssystems. 

Die  Menge  der  Truppen,  die  unter  Waffen  stehen,  bestimmt 
immer  die  absolute  Größe  des  Bedarfs;  das  heißt  bestimmt  die 
Anzahl  von  Mündern,  die  gespeist  sein  wollen,  ohne  daß  ihre 
Träger  bei  der  Erzeugung  der  Güter  mithelfen.  Denn  das  ist 
natürlich  das  ökonomisch  Wichtige  dabei,  daß  im  Heere  ebenso- 
viele  Nur -Konsumenten  geschaffen  werden,  als  Krieger  (oder 
Kriege rfamilien)  da  sind.  Diese  Eigenschaft,  Nur-Konsument  zu 
sein,  hat  der  Soldat  immer,  gleichgültig,  ob  er  seinen  Unterhalt 
in  natura  bezieht  oder  ihn  von  einem  Produzenten  einkauft. 

Das  Verpflegungssystem  entscheidet  dann  darüber,  in  welchem 
Umfange  ein  durch  größere  Heere  hervorgerufener  größerer  Be¬ 
darf  an  Lebensmitteln  ein  Massenbedarf,  das  will  sagen:  ein 
zusammengeballter,  einheitlich,  im  Ganzen  auftretender  Bedarf, 
wird.  Wir  erwägen,  daß  ein  großer  Bedarf  um  so  eher  ein 
Massenbedarf  wird ,  je  weiter  die  Zentralisation  der  Bedarfs¬ 
deckung  fortgeschritten  ist.  Ferner:  wenn  die  Zentralisation 
nur  in  Kriegszeiten  eintritt,  je  länger  die  Kriege  dauern.  Endlich 
(bei  Schiffen),  je  weiter  sich  die  Ausreisen  dehnen. 

Die  Notwendigkeit,  größere  Truppenmassen  für  eine 
längere  Seereise  zu  verproviantieren,  hat  wohl  zuerst  einen 
Massenbedarf  an  Lebensmitteln  erzeugt.  Und  hat  ihn  zu  einer 
Zeit  hervorgerufen,  als  die  Welt  noch  in  Träumen  dahinlebte. 
Es  muß  mächtige  Erschütterungen  in  den  traumseligen  Menschen 
jener  Tage  hervorgerufen  haben,  wenn  eines  Tages  in  Genua 
sich  die  Nachricht  verbreitete:  Philipp  August  von  Frankreich 


Neunundvierzigstes  Kapitel:  Der  Bedarf  der  Heere  753 

will  sein  Kriegsheer  mit  Proviant  und  Pferdefutter  für  8  Monate 
und  mit  Wein  für  4  Monate  versehen1. 

Oder  wenn  der  Ausrufer  durch  die  Dörfer  Frankreichs  ritt 
und  verkündete,  was  die  Bailliage  an  Lebensmitteln  aufzubringen 
und  nach  Calais  zu  liefern  habe  für  die  Ausrüstung  der  dort 
sich  einschiffenden  Truppen. 

Wir  besitzen  eine  Übersicht  über  die  einzelnen  Leistungen,  die 
den  Baillis  im  Jahre  1304  aufgegeben  wurden.  Die  Ziffern  sind 
natürlich  ebensowenig  voll  zu  nehmen  wie  die  einer  mittelalterlichen 
Gestellungsliste.  Sie  drücken  wohl  immer  nur  das  erhoffte  Maximal¬ 
quantum  aus.  Immerhin  geben  sie  doch  eine  annähernde  Größenvor¬ 
stellung  von  den  Mengen,  die  in  so  früher  Zeit  für  die  Verpflegung 
eines  Heeres  zusammengebracht  werden  mußten.  An  ihrer  Richtigkeit 
ist  wohl  nicht  zu  zweifeln.  Die  Aufstellung  findet  sich  im  Reg.  XXXV 
des  Tresors  des  chartes  Nr.  138  und  ist  abgedruckt  bei  Boutaric, 
278/79. 

„Requirierungen,  die  im  Januar  1304  den  Baillis  aufgegeben  wurden 
(behufs  Lieferung  nach  Calais) : 

Bailliage  de  Sens:  250  Malter  (Muids)  Getreide,  500  Tonnen 
Wein,  150  Malter  Hafer; 

B.  de  Caen:  500  Malter  Getreide,  500  Tonnen  Wein,  500  Malter 
Hafer,  1000  lebende  Schweine,  1000  Schinken,  10  Malter  Erbsen, 
10  Malter  Bohnen. 

Und  so  fort  für  15  Baillis  und  Senechaussees. 

Dann  trat  aber  ein  rechter  und  ständiger  Massenbedarf  an 
Lebensmitteln  natürlich  erst  auf,  als  die  modernen  Heere  und 
Flotten  entstanden.  Namentlich  die  Flottenausrüstune 

t  o 

heischte  frühzeitig  eine  regelmäßig  starke  Zufuhr  von  Proviant. 
Die  entscheidende  Wandlung  scheint  hier  in  das  16.  Jahrhundert 
zu  fallen.  Damals  ging  man  dazu  über,  die  Schiffe  im  Winter 
zu  verproviantieren,  und  ein  englisches  Reglement  stellt  eine  Ver¬ 
proviantierung  von  2  zu  2  Monaten  für  4  Monate  als  Norm  fest. 
Diese  höheren  Ansprüche  an  das  Verpflegungswesen  hingen  damit 
zusammen,  daß  man  seit  der  Mitte  des  Jahrhunderts  ganz  andere 
Gepflogenheiten  bei  der  Handhabung  der  Kriegsschiffahrt  walten 
ließ.  Bis  in  die  Zeit  Heinrichs  VIH.  hatten  die  Flotten  Soldaten 
gelandet  und  waren  umgekehrt;  oder  sie  hatten  den  Feind  ge¬ 
schlagen  und  waren  umgekehrt:  nun  begann  die  Ära  der  langen 
Fahrten. 

Was  aber  schon  im  16.  Jahrhundert  an  Proviantmengen  bei 
größeren  Unternehmungen  in  Frage  kam,  zeigen  die  Bestände  an 


1  Ed.  Heyck,  Genua  und  seine  Marine,  177. 

Sombart,  Der  moderne  Kapitalismus.  I.  48 


754  Sechster  Abschnitt:  Die  Neuregelung  des  Güterbedarfs 

Nahrungsmitteln,  die  die  spanische  Armada  im  Jahre  1588  mit 
sich  führte.  Wir  sind  auch  darüber  sehr  genau  und  zuverlässig 
unterrichtet  und  wissen,  daß  die  195  Schiffe  dieser  Flotte  an 
Bord  nahmen1: 

110  000  Zentner  Biskuit, 

11117  Mayors  (ä  56,2  gal.)  Wein, 

6  000  Zentner  Schweinefleisch, 

3  000  „  Käse, 

6  000  „  Fisch, 

4  000  „  Reis, 

6  000  Fanegas  (ä  1,5  busli.)  Erbsen  und  Bohnen, 

10  000  Arrobas  (ä  3,5  gal.)  Öl, 

21000  „  Essig, 

11000  Pipen  Wasser. 

Im  17.  Jahrhundert  häuften  sich  die  Gelegenheiten,  in  denen 
so  große  Massen  Proviant  in  kurzer  Zeit  —  das  gab  dem  Ganzen 
erst  sein  eigentümliches  Gepräge  —  aufgebracht  werden  mußten. 
So  erfahren  wir  beispielsweise  von  einer  plötzlich  auftretenden 
'  Nachfrage  bei  der  englischen  Flotte  nach  7  500000  lbs.  Brot, 
7  500000  lbs.  Beef  und  Schwein,  10000  Fässern  (butts)  Bier,  außer 
Butter,  Käse,  Fisch  usw.,  was  alles  binnen  ganz  kurzer  Zeit  (die 
Länge  ist  nicht  angegeben)  zu  beschaffen  ist2. 

Den  Holländern  kostet  der  Unterhalt  ihrer  Flotte  im  Jahre 
1672  für  7  Monate  6972  768  fl.3 

Sehr  genaue  Aufstellungen  für  die  Proviantierung  eines 
Schiffes  oder  einer  Flotte  -um  die  Mitte  des  18.  Jahrhunderts 
findet  man  bei  De  Chennevieres  in  seinen  Details  militaires 
I  (1750),  238  seg. 

Man  wird  nun  vielleicht  meinen,  das  Scliiffsverproviantierungs- 
problem  sei  gar  kein  spezifisch  militärisches,  da  ja  auch  jedes 
Handelsschiff  mit  Mundvorrat  für  die  Mannschaft  versehen  werden 
muß.  Das  ist  richtig ;  aber  die  Größe  der  Proviantierungen  waren 
doch  ganz  andere  bei  den  Kriegsschiffen,  und  erst  diese 
Ausweitung  des  Versorgungs  Spielraum  es  enthielt 
das  Problematische. 

Man  muß  sich  stets  vor  Augen  halten,  wie  geringfügig  die 


1  Dui’o,  L’Armada  inv.,  doc.  109. 

2  State  Pap.  Dom.  XXX,  10,  bei  Oppenheim,  325.  Vgl.  auch 
das  vollständige  „inventaire  d’ armement“  in  Savary’s  Dict.  de 
Commerce  Suppl. 

3  J.  C.  De  Jonge,  Geschied.  van  het  nederl.  Zeew.  3  1  (1837), 
Bil.  I. 


Neunundvierzigstes  Kapitel:  Der  Bedarf  der  Heere  755 

Besatzungen  der  Kauffahrteischiffe  im  Vergleich  zu  denen  der 
Kriegsschiffe  war.  Im  Mittelalter  schon  waren  auf  den  Kriegs¬ 
schiffen  große  Menschenmassen  zusammengepfercht:  die  Galeeren 
waren  die  Kriegsschiffe  der  italienischen  Seemächte,  und  Ga¬ 
leeren  waren  Kuder  schiffe  und  schon  deswegen  sehr  viel 
stärker  bemannt  als  gleich  große  Segelschiffe.  Schon  im  13.  Jahr¬ 
hundert  haben  die  Galeeren  der  Republik  Genua  140  Ruderer1. 
Im  Jahre  1285  kommen  184  Mann  auf  ein  Fahrzeug.  Ein  gleich 
großes  Handelsschiff  hatte  vielleicht  kaum  20  Mann  an  Bord. 
Selbst  wenn  die  Kauffarteisegelschiffe  mit  Kriegern  zu  ihrem 
Schutze  ausgerüstet  waren,  wiesen  sie  im  12.  und  13.  Jahrhundert 
nur  folgende  Besatzungen  auf :  25,  50,  32,  85,  60,  55,  50,  45.  Die 
Sache  änderte  sich  sofort  wieder,  wenn  die  Handelsschiffe,  mit 
oder  ohne  Ladung  fahrend,  hauptsächlich  auf  den  Krieg  oder 
die  Kaperei  gerüstet  waren ;  dann  wurden  sie  unverhältnismäßig 
viel  stärker  bemannt;  sie  hießen  dann  „armiert“,  navis  armata, 
und  hatten  dann  folgende  Besatzungen :  zwei  Schiffe  haben  1234 
600  Mann,  ein  pisanisches  Schiff  hat  1125  400  Mann,  ein  anderes 
Schiff  gleicher  Herkunft  hat  500,  ein  venetianischer  Kauffahrer 
hat  900  Mann  an  Bord2. 

Im  16.  Jahrhundert  rechnete  man  bei  Kriegsschiffen  3  Mann 
auf  5  Tonnen  brutto:  ein  Drittel  Soldaten,  ein  Siebentel  des 
Restes  Feuerwerker  (gunners)  und  der  Rest  Seeleute ;  bei  Handels¬ 
schiffen  dagegen  nur  1  Mann  auf  5  Tonnen  netto:  ein  Zwölftel 
Feuerwerker,  der  Rest  Seeleute3. 

Es  kamen  bei  diesem  Besatzungsverhältnis  also  ziemlich  statt¬ 
liche  Mannschaften  auf  Kriegsschiffen  heraus. 

Zieht  man  die  Zahl  der  Schiffe  in  Betracht,  die  zusammen 
gegen  den  Feind  zogen,  so  handelte  es  sich  leicht  ryn  recht 
große  Massen  von  Soldaten  und  Matrosen,  die  sich  an  Bord 
befanden. 

1511  verspricht  Heinrich  VIII.,  mit  3000  Mann  den  Kanal  frei¬ 
zuhalten.  1513  werden  für  die  englische  Flotte  (außer  der  Besatzung 
von  28  Lastschiffen)  2880  Seeleute  angeworben.  1514  befinden  sich 
auf  23  Königsschiffen,  21  gemieteten  und  15  Lastschiffen  3982  See¬ 
leute  und  447  Artilleristen  (gunners),  also  4429  Mann  ohne  die  Sol¬ 
daten.  Bei  Oppenheim,  74. 


1  E.  Heyck,  Genua  und  seine  Marine,  65  ff. 

2  Ann.  Jan.  183,  35;  112,  3;  124,  30;  zit.  bei  Heyck,  129. 

3  State  Paper  Dom.  CXII,  19,  bei  Oppenheim,  134. 


48* 


756  Sechster  Abschnitt:  Die  Neugestaltung  des  Güterbedarfä 

Aber  auch  beim.  Landheere  wuchsen  die  Bedarfsmengen 
begreiflicherweise  rasch. 

Die  12  000  Mann  Brandenburger,  die  1694  als  Hilfstruppen  am 
Ehein  und  in  den  Niederlanden  standen,  erhielten  (außer  einem  Geld¬ 
lohn  von  monatlich  38  180  Talern)  2  Pfund  Brot  pro  Mann  und  Tag. 
Das  ergab  für  11608  Gemeine  und  Unteroffiziere  täglich  23  216  Pfund, 
in  31  Tagen  also  719  696  Pfund;  144  Pfund  Brot  auf  1  Zentner  Mehl 
Nürnberger  Gewicht  gerechnet,  ergab  es  4898  Zentner  Mehlbedarf  pro 
Monat.  Bei  C.  W.  Hennert,  Beyträge  zur  brandenb.  Kriegsgesch. 
unter  Friedrich  III.  (1790),  15.  1727  werden  200  000  Taler  aus  dem 
Tresor  angewiesen,  um  dafür  Eoggen  zu  kaufen  für  die  Kriegsmagazine. 
Acta  Bor.,  1.  c.  2,  285.  In  den  21  preußischen  Magazinen  lagerten 
am  Ende  der  Eegierungszeit  Friedrich  Wilhelms  I.  45  000  Wispel: 
eine  ausreichende  Versorgung  von  200  000  Menschen  auf  ein  Jahr. 
Acta  Bor.,  1.  c.  2,  278.  Man  rechnete  in  Preußen  im  18.  Jahrhundert 
2  Pfund  Brot  pro  Tag  und  Mann,  was  7  Scheffel  im  Jahre  ausmacht. 
Die  preußische  Armee  brauchte  also  schon  während  der  ersten  Hälfte 
des  17.  Jahrhunderts  24—25  000  Wispel  Getreide,  während  die  Zivil¬ 
bevölkerung  Berlins  1720  nur  7200  Wispel  beanspruchte.  Acta  Bor., 
1.  c.  2,  297. 

Ähnliche  Ziffern  ergeben  sich  für  die  Armeen  der  andern  Länder. 
Dupre  d’ Aulnay  stellt  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  folgende  Kech- 
nung  für  Frankreich  auf:  die  Versorgung  einer  Armee  von  150  000 
Mann  mit  Kommißbrot,  das  sind  54  Millionen  Kationen  im  Jahr,  er¬ 
heischt  300  000  Sack  Getreide  zu  200  lb. ;  also  30  000  t.  Dupre 
d’Aulnay,  Traite  general  etc.  1,  165. 

III.  Der  Bedarf  an  Kleidern 
Wie  groß  der  Kleiderbedarf  eines  modernen  Heeres  war,  kann 
sich  jeder  leicht  ausrechnen,  wenn  er  die  Ziffern,  die  ich  über 
die  Stärke  der  Armeen  oben  mitgeteilt  habe,  multipliziert  mit 
den  Mengen  Stoff,  Zutaten  usw.,  die  der  einzelne  Krieger  nötig 
hatte,  und  wenn  er,  was  die  Kleider,  Mäntel,  Hüte,  Stiefeln  usw. 
usw.  anbetrifft,  die  Zahl  der  Personen  als  die  mindeste  Zahl  der 
hiervon  bedurften  Stücke  ansieht. 

Was  zu  der  Montur  eines  Soldaten  im  17.  und  18.  Jahrhundert 
gehörte,  ersieht  man  aus  folgenden  Zusammenstellungen: 

Verzeichnis,  waz  uf  193  Soldaten  zur  Kleidung  vonnöthen, 

965  ein  lundisch  (—  Londoner)  Thuch  zue  Hosen  Cosiaken  undt 
sti’ümpfen  jedem  5  ein, 

965  ein  Futtertuch  jedem  5  ein, 

2316  ein  weiße,  schwarze,  rohe  undt  steife  Leinwanth  jedem  12  ein, 
1158  duzet  Schleufen,  jedem  6  duzet  uf  Hosen  und  Cosiaken, 

193  lot  Seide  jedem  1  loth, 

579  duz.  eisen  Knopf,  jedem  5  duz., 

50  ein  schlechten  4.  Drath  die  Cosiaken  zustaffiren, 

193  Hüte. 


Neunundvierzigstes  Kapitel:  Der  Bedarf  der  Heere 


757 


Kapitän  von  Burgsdorff  an  den  Grafen  von  Schwarzenberg,  Berlin, 
den  16.  Okt.  1620.  Staatsarchiv  Berlin:  abgedr.  Gesch.  d.  Bekl.  2,  40, 
Anl.  16. 

Bedarf  eines  Infanteristen  am  Anfänge  des  18.  Jahrhunderts: 

Thlr.  Gr.  Pf. 


5  Ellen  Tuch  ä  15  Gr . e  3  3  _ 

7  „  Boy  a  4  Gr . 14  — 

1  Elle  Kronenroth  zu  Aufschlägen . .  14  _ 

20  Stück  messingne  Knöpfe  ä  Dutzend  4  Gr.  .  .  —  6  8 

1  Loth  Karne  eihaar . .  3  

2  Paar  Schleifen  a.  Kameelhaar . —  6  — 

1  Hut  mit  einer  gelben  Einfassung  .  .  .  .  .  —  12  — 

6—8 


C.  W.  Hennert,  Beitr.  zur  brandenb.  Kriegsgesch.  unter  Churfürst 
Friedr.  III.  (1790),  12,  bei  Frhr.  v.  Richthofen,  Haushalt,  495. 

Die  vollständige  Bekleidung  und  Ausrüstung  eines  Reiters  ein¬ 
schließlich  Sattel  und  Zaumzeug  kostete  zur  Zeit  Friedrich  Wilhelms  I. 
73  Tlr.  2  Gr.  A.  Cronsay,  Die  Organisation  des  brandenb urg.  und 
preuß.  Heeres  von  1640  bis  1865  1  (1865),  45. 

Jeder  Soldat  der  Savoia  Cavria  und  Piemte  Rle  kostete  im  Anfang 
des  18.  Jahrhunderts  131,16  1.,  jeder  Dm  Genevois  110,14  1.,  jeder 
Kanonier  68,16  1.  Die  Ausrüstung  des  Pferdes  eines  Cavaliere  stellte 
sich  auf  75,5  1.,  eines  Dragoners  auf  67,4  1.  G.  Prato,  II  Costo 
della  guerra  (1907),  302.  Zur  Bekleidung  eines  Regiments  englischer 
Soldaten  waren  (1730)  1570  165  s.  2V2  d.  erforderlich.  F.  Gr  ose, 

Military  Antiquity  2  Vol.  1812,  1,  315. 

Stellen  wir  nur  für  das  Tuch  eine  Rechnung  an:  um  eine  Armee 
von  100  000  Mann  einzukleiden,  sind  500  000  Ellen  oder  20  000  Stück 
erforderlich.  Eine  Erneuerung  der  Montur  alle  zwei  Jahre  angenommen, 
ergäbe  das  einen  Jahresverbrauch  von  10  000  Stück  im  Jahr.  Schmoller 
rechnet  für  den  Gesamtkonsum  der  brandenburgischen  Bevölkerung  im 
Anfang  des  18.  Jahrhunderts  50  000  Stück  Tuch  heraus.  Umrisse,  514. 
Friedrich  d.  Gr.  gibt  in  den  brandenburgischen  Memoiren  die  Ausfuhr 
von  Tüchern  aus  der  Kur-  und  Neumark  auf  rund  44  000  Stück  an. 
Oeuvres  1,  234;  zit.  ebenda  522. 

Um  die  Tragweite  dieser  Ziffern  zu  ermessen,  müssen  wir 
uns  klarmachen,  daß  dieser  große  Bedarf  ein  Massenbedarf 
gleichförmiger  Gegenstände  in  dem  Maße  wurde,  als 
Verstaatlichung  und  Uniformierung  des  Bekleidungs wesens  fort¬ 
schreiten.  Man  darf  getrost  sagen,  ohne  sich  einer  Übertreibung- 
schuldig  zu  machen,  daß  solche  Zusammenballungen  von  Bedarf, 
wie  sie  schon  im  17.  Jahrhundert  bei  den  Lieferuno-en  für  die 

ö 

großen  Heere  Vorkommen,  für  die  damalige  Zeit  ganz  unerhört 
waren. 

Den  Leuten,  auch  den  Kaufleuten,  müssen  die  Augen  übergegangen 
sein,  wenn  sie  hörten,  daß"  in  einem  einzigen  Vertrage  die  sofortige 


758  Sechster  Abschnitt:  Die  Neugestaltung  des  Güterbedavfs 

Lieferung  von  5000  kompletten  Soldatennionturen  ausbedungen  wuide, 
wie  es  der  Fall  war  in  dem  Vertrage,  den  im  Jahre  1603  die  englische 
Regierung  mit  Ury  Babington  und  Robert  Bromley  schloß.  H.  Hall, 
Society  in  the  Elizab.  Age,  126. 

Oder  wenn  sie  Ziffern  lasen,  wie  sie  etwa  in  den  Bestellungen 
Wallensteins  vorkamen.  Da  heißt  es  z.  B. : 

„Laßt  auch  10  000  Paar  Schuhe  machen  vor  die  Knecht  auf  daß 
ich  sie  nachher  auf  die  Regimenter  kann  austeilen  .  .  .  Laßt  derweil 
Leder  präparieren,  denn  ich  werde  baldt  lassen  auch  ein  paar  tausend 
Stiefel  fertig  machen.  Laßt  auch  Tuch  fertig  machen,  vielleicht  wird 
man  auch  Kleider  bedürfen.“ 

Aschersleben,  den  13.  Juni  1626: 

„(Mein  Vetter  Max)  .  .  .  wird  auch  befohlen  haben,  daß  ihr  4000 
Kleider  vor  die  Knecht  sollt  machen  lassen,  das  ist  ein  Jupen  von 
Tuch  mit  Leinwand  gefüttert ,  ein  tuchernes  paar  Hosen  und  ein 
tuchernes  par  strimpf.“  Wallenstein  an  seinen  Landeshauptmann  von 
Taxis,  abgedr.  in  der  Handbibliothek  für  Offiziere  5,  439  fl. 

„Der  Kriegszahlmeister  zieht  auf  Gitschin,  soll  um  13  000  Reichs- 
thaler  Schuh,  Strümpf  und  Kleider  (in  einem  späteren  Briefe  kommt 
noch  eine  Bestellung  von  40  000  Rtlr.  hinzu)  für  die  Armee  machen 
lassen;  assistiert  ihm  fleißig  in  allem.  Die  4000  Kleider,  so  ihr  vorm 
Jahr  habt  machen  lassen,  daß  er  euch  bezahlt,  was  sie  mich  kosten, 
dieselbige  führt  ihr  auch  ab,  sobald  ers  bezahlt  hat“  usw.  Wallenstein 
an  Taxis,  abgedr.  bei  Heil  mann,  Beil.  4. 

Am  26.  September  1647  erhielt  Conrad  von  Burgsdorf  den  Auftrag, 
mit  dem  Kaufmann  Eberhard  Schief  in  Hamburg  folgenden  Kontrakt 
über  die  Lieferung  von  Tüchern  und  Boy  zu  schließen.  „Er  soll  für 
die  Kurfürstl.  Krieges- Officiere  1512  brabant.  Ellen  blau  Tuch  wie 
die  Probe  ausweiset,  jede  Elle, zu  5  Orts  Reichsthaler  gerechnet 
und  für  die  gemeinen  Knechte  20  000  brabantische  Ellen  blau  Tuch 
nach  Ausweis  der  Probe,  jede  um  1  Rthlr.  .  .  .  ferner  an  Boy 
21512  brab.  Ellen,  jede  zu  6  Sgr.  liefern.  Termin  ist  3  Wochen 
nach  Martini.“  Gesch.  d.  Bekl.  2,  211. 

IV.  Der  Gesamt!) edarf 

Den  Gesamtbedarf  der  Heeresverwaltungen,  den  wir  natürlich 
nur  in  einer  Geldziffer  ausdrücken  können,  ersehen  wir  aus  den 
Ausgaben  für  militärische  Zwecke,  die  wir  in  den  öffentlichen 
Haushalten  verzeichnet  finden.  Es  ist  bekannt,  daß  diese  Aus¬ 
gaben  in  früherer  Zeit  eine  sehr  viel  größere  Quote  der  gesamten 
Staatsausgaben  als  heute  bildeten,  ja  daß  sie  in  den  Anfängen 
der  modernen  Staatsfinanzen  zuweilen  fast  die  ganzen  Einnahmen 
verschlangen,  daß  sie  aber  trotzdem  in  raschem  Tempo  während 
des  16.  bis  18.  Jahrhunderts  anwuchsen.  Die  wichtigsten  Ziffern 
für  die  einzelnen  Länder  sind  folgende  1 : 


Neunundvierzigstes  Kapitel:  Der  Bedarf  der  Heere  759 

Piemont,  der  Militärstaat  Italiens,  verausgabte  für  Heeres¬ 
zwecke  : 

1580  .  334673  L  di  Piem. 

1680  .  1610958  „  „ 

1708/09  .  8  000  000  „  „ 

Die  Heeresausgaben  machten  von  1700  bis  1713  77,72  °/o  der 
Gesamtausgaben  des  Staates  aus. 

Spanien:  gibt  3356463  duc.  im  Jahre  1610  für  Heereszwecke 
aus  (==  93°/o  aller  Staatseinnahmen). 

Frankreich:  die  Heeresausgaben  betragen: 

1542  2114000  Franchi 

1601 — 1609  (durchschnittlich)  ca.  6000  000  L. 

1639  19 100  000  L.  =  60  %  der  Gesamtausgaben 
1680  97  869754  „  =  74%  „ 

1784  404350  000  „  =  66%  „ 

Brandenburg-Preußen  verausgabt  für  Heereszwecke: 

unter  dem  Großen  Kurfürsten 

2500  000  Tlr.  =  66%%  der  Gesamtausgaben 
17-39/40  .  .  5  954079  „  =  86% 

unter  Friedrich  M.  (Durchschnitt  der  letzten  3  Jahre) 

12419457  Tlr.  =  75,7%  der  Gesamtausgaben 
1797/98  .  .  14606325  „  =  71%  „ 

England:  die  Gesamtausgaben  für  •  Heereszwecke  (Landheer 
und  Flotte)  betragen  in  dem  Jahrhundert  von  1688  bis  1788: 

für  die  Flotte . •  •  .  .  244  380  685  £  ■ 

„  das  Landheer .  240  312967  „ 

„  die  Artillerie .  29959345  „ 

Die  Kriege  gegen  Napoleon  kosteten  England  (1801  bis  1814) 
633634614  jg,  das  sind  13— 14  Milliarden  Mk.  oder  durchschnitt¬ 
lich  im  Jahre  45  259  615  jg\  das  sind  900  Mill.  Mk.  bei  einer 
Einwohnerzahl  von  10  bis  12  Millionen. 

1  [Zu  Seite  758.]  Die  Quellen  siehe  in  „Krieg  und  Kap.“ 

Für  England  trage  ich  noch  die  folgende  bequeme  Zusammenstellung 
nach:  Ch.  Whitworth,  A  collection  of  the  supplies  and  ways  and 
means  (Steuer  usw.)  from  the  reVolution  to  the  present  time.  London 
1765. 


760 


Fünfzigstes  Kapitel 

Der  Scliiffsbedarf 

Die  Schiffahrt  übt  eine  doppelte  Wirkung  auf  die  Gestaltung 
des  Güterbedarfs  aus: 

1.  durch  die  Schiffe,  die  sie  beansprucht; 

2.  durch  die  Baumaterialien,  die  die  Schiffe  beanspruchen. 

Das  Schiff  ist  das  erste  große,  „zusammengesetzte“  Gut,  das 

neben  dem  Palast  und  der  Kirche,  also  dem  Groß-Hause,  ver¬ 
langt  wird.  Ich  habe  das  Groß-Haus  unter  dem  Rubrum  Luxus¬ 
bedarf  abgehandelt,  weil  es  sich  in  der  Tat  in  aller  früheren 
Zeit  fast  nur  um  Luxusbauten  handelt,  wenn  die  Häuser  einen 
größeren  Umfang  annehmen.  Das  Schiff  dahingegen  wird  füglich 
hierher  verwiesen,  da  es  selbst  kein  Luxusgut  ist  und  aus  ordi¬ 
nären  Gütern  zusammengefügt  wird. 

Die  Wirkung,  die  die  Schiffahrt  auf  die  Gestaltung  des  Güter¬ 
bedarfs  ausübt,  ist  nun  um  so  größer: 

1.  je  mehr  Schiffe  gebaut  werden,  was  ja  keiner  Erläuterung 
bedarf;  aber  auch 

2.  je  größere  Schiffe  gebaut  werden.  Wiederum  selbstverständ¬ 
lich  ist  die  Wirkung  der  Größe,  sofern  die  gleiche  Anzahl  größerer 
Schiffe  natürlich  einen  größeren  Gesamtbedarf  erzeugt  an  Bau¬ 
materialien,  eine  größere  Nachfrage  nach  Arbeitskräften  usw.  Die 
Schiffsgröße  ist  aber  auch  an  und  für  sich  bedeutsam :  sie  bewirkt 
eine  stärkere  Zusammenballung  der  lebendigen  Arbeit  und  des 
Bedarfs  an  Material  und  Werkvorrichtungen :  die  Werften  müssen 
größer  sein,  um  größere  Schiffe  auf  ihnen  bauen  zu  können ;  die 
Mengen  an  Holz,  an  Tauwerk,  an  Eisen  usw.,  die  in  einem  ver¬ 
langt  werden,  sind  größer,  nur  weil  das  Schiff,  ein  zusammen¬ 
gesetztes  Gut,  eine  größere  Bedarfseinheit  schafft. 

Was  hier  die  Schiffsgröße  aus  sich  heraus  bewirkt,  kann  nun 
auch  bewirkt  werden  durch  organisatorische  Zusammenschließung 
der  Schiffbautätigkeit.  Man  kann  deshalb  sagen:  die  Wirkung 
des  Schiffbaues  auf  das  Wirtschaftsleben  ist  um  so  größer, 


Fünfzigstes  Kapitel:  Der  Schiffsbedarf 


761 


3.  je  einheitlicher ,  je  zusammengedrängter ,  je  verdichteter 
der  Schiffbau  erfolgt:  wenn  100  Schiffe  auf  einer  Werft  erbaut 
werden,  entsteht  ein  größerer  und  einheitlicherer  Bedarf,  als 
wenn  dieselben  100  Schiffe  auf  10  Werften  erbaut  werden. 

Endlich  ist  noch  daran  zu  erinnern,  daß  die  Einflußsphäre 
des  Schiffbaues  (der  hier  natürlich  nicht  anders  wie  jede  beliebige 
Industrie  wirkt),  um  so  größer  ist, 

4.  je  rascher  die  Schiffe  erbaut  werden:  stelle  ich  100  Mann 
an  eine  Baustelle,  so  wird  ein  Schiff  von  bestimmter  Größe  in 

—  sage  —  einem  Jahre  fertig.  Soll  es  schon  nach  drei  Monaten 
vom  Stapel  laufen,  so  muß  ich  die  gleichzeitig  tätigen  Arbeiter 
entsprechend  vermehren.  Das  Gleiche  gilt  für  die  Beschaffung 
der  Materiahen. 

Es  wird  im  folgenden  zu  zeigen  sein,  daß  der  Bedarf  an 
Schiffen  sich  rasch  ausweitet,  daß  gleichzeitig  die  Schiffe  immer 
größer,  ihre  Produktionszeit  jedoch  (verhältnismäßig)  immer 
kürzer  wird.  Daß  dadurch  aber  der  Bedarf  an  Schiffsbau¬ 
materiahen  sich  zu  einem  ansehnlichen  Massenbedarf  auswächst, 
der  ebenbürtig  neben  den  Massenbedarf  der  Großstädte  und  der 
Heeresverwaltungen  tritt. 

Ich  habe  in  meiner  bereits  erwähnten  Studie:  „Krieg  und 
Kapitalismus“,  wie  ich  glaube,  den  Nachweis  geführt,  daß  die 
starke  treibende  Kraft  bei  der  Entwicklung  der  Flotten  im  Zeit¬ 
alter  des  Frühkapitahsmus  das  kriegerische  Interesse  der 
Staaten  gewesen  ist,  das  auf  die  Vergrößerung  der  Kriegs¬ 
marine  und  vor  allem  der  Schiffstypen  hindrängte.  Diese  wird 
Schrittmacherin  und  Vorbild  der  Handelsmarine,  die  eine 

—  freilich  auch  nicht  unbedeutende  —  Anregung  vor  allem  durch 
die  rasche  Ausweitung  des  Kolonialbesitzes  und  des  Kolonial¬ 
handels  erfährt.  Neben  das  Kriegsschiff  tritt  im  17.  und  18.  Jahr¬ 
hundert  als  der  jüngere  und  kleinere ,  aber  doch  auch  kräftige 
Bruder  der  Ostindienfahrer. 

Im  folgenden  mache  ich  einige  ziffernmäßige  Angaben1,  die 
sowohl  die  eben  bezeichneten  Tendenzen  erweisen  werden,  als 
auch  eine  annähernde  Größenvorstellung  von  dem  Massenbedarfs 
geben  werden,  den  die  Schiffahrt  erzeugt. 

1  Die  Darstellung  dieses  Gegenstandes ,  die  ich  im  „Krieg  und 
Kapitalismus“  gegeben  habe,  dient  der  obigen  als  Unterlage,  ist  aber 
an  verschiedenen  Punkten  durch  besseres  und  reichhaltigeres  Material 
ergänzt  worden. 


762 


(Sechster  Abschnitt:  Die  Neugestaltung  des  Güterbedarfs 


1.  Die  Zahl  der  Schiffe 

Für  das  16.  Jahrhundert  besitzen  wir  folgende  Anhaltspunkte, 
um  den  Umfang  der  englischen  Handelsflotte  zu  bemessen:  In 
seinem  Treatise  of  Commerce,  der  1601  erschien,  meint  Wheeler, 
daß  vor  ungefähr  60  Jahren  nicht  4  Schilfe  (außer  denen  der  König-' 
liehen  Flotte)  in  den  Themsehäfen  größer  als  120  t  gewesen  seien. 
Die  Richtigkeit  dieses  Urteils  wird  durch  andere  Angaben  bestätigt. 
1544/45  bis  1553  kommen  in  Abgang  Schiffe  über  100  t: 

London  gehörig . 17  mit  2530  t 

Bristol  gehörig . 13  „  2380  „ 

andern  Häfen  gehörig  ...  5. 

1577  weist  eine  Liste  auf: 

135  Kauffahrer  mit  100  t  und  mehr,  davon  haben: 


56  ...  . 

...  100 

11  ...  . 

...  110 

20  ...  . 

...  120 

7  .  .  .  . 

...  130 

15  ...  . 

...  140 

5  .  .  .  . 

...  150 

656  zwischen 

40  und  100 

1582  finden  wir  177  Handelsschiffe  mit  mehr  als  100  t. 

Die  Flotte  Heinrichs  VIII.  maß  aber  schon  zu  Beginn  seiner  Re¬ 
gierung,  wie  wir  oben  sahen,  8460  t,  am  Ende  10  550  t;  Elisabeth 
hinterläßt  eine  Kriegsflotte  von  14  060  t. 

Für  das  England  des  17.  Jahrhunderts  sind  mir  folgende 
Schätzungen  bekannt : 

1628  ergibt  eine  Bestandsaufnahme  der  englischen  Kauffahrerflotte  in 


der  Themse : 

7  Indienfahrer . mit  4200  t 

34  andere  Kauffahrer  ....  ,  7850 


22  Newcastler  Kohlenfahrer. 

1629  werden  in  ganz  England  350  Schiffe  über  100  t  ermittelt,  das 
sind  also  35 — 40  000  t  Raumgehalt.  Die  Quellen  bei  Oppen¬ 
heim. 

1642  hat  die  Ostindische  Kompagnie  einen  Schiffsbestand  von  15  000  t 
Raumgehalt.  Nach  den  Accounts  der  Ostind.  Komp. 

1651  haben  die  Kaufleute  von  Glasgow  12  Schiffe  mit  zusammen  957  t 
Laderaum. 

1692  gehören  zum  Hafen  von  Leith  29  Schiffe  mit  1702  t  Tragfähig¬ 
keit.  Dav.  Bremner,  The  industries  of  Scotland  (1869),  60. 

AVährend  dieses  Zeitraums  beträgt  der  Raumgehalt  der  Königs¬ 
schiffe  15—20  000  t  mindestens  (1618:  15  670  t,  1624:  19  339  t,  1660 
aber  schon  62  594  t)  nach  den  oben  mitgeteilten  Quellen. 

Die  französische  Handelsmarine  soll  nach  einer  amtlichen  Ermittlung 
im  Jahre  1664  aus  2368  Schiffen  bestanden  haben,  für  die  ich  nach 
den  in  jener  Übersicht  verzeichneten  Größenverhältnissen  etwa  180  000 1 


Fünfzigstes  Kapitel:  Der  Schiffsbedarf 


763 


Raumgehalt  herausrechne.  Kriegsschiffe  hatte  Frankreich  1661  erst 
30,  bei  Colberts  Tode  jedoch  244,  wie  wir  sahen,  deren  Raumgehalt 
wir  sicher  auf  80—100  000  t  ansetzen  müssen. 

Für  das  18.  Jahrhundert  haben  wir  für  die  englische  Handelsflotte 
gleich  aus  dem  Anfang  (1701)  eine  ziemlich  zuverlässige  Angabe :  die 
Commissioners  of  Custom  hatten  bei  den  verschiedenen  Hafenbehörden 
eine  Umfrage  veranstaltet.  Diese  ergab  für  die  gesamte  englische 
Kauffahrteiflotte  einen  Bestand  von  8281  Schiffen  mit  einem  Raum¬ 
gehalt  von  261222  t.  und  einer  Besatzung  von  27  196  Mann.  Mac- 
pherson,  Annals  s.  h.  a.  Vgl.  McCulloch,  Dictionary,  Art. 
Amsterdam. 

Für  das  Jahr  1754  liegt  dann  eine  Schätzung  vor,  wonach  sie 
bestand  aus : 

ca.  2000  Seeschiffen  mit  ca.  170  000  t  Raumgehalt  und 

„  2000  Küstenfahrern  „  „  150  000  „  „ 

zus.  aus  ca.  4000  Schiffen  mit  ca.  320  000  t  Raumgehalt. 

Diese  Ziffer  nimmt  auch  ein  so  vorzüglicher  Kenner  wie  P  o  s  1 1  e  t  h  - 
wayt  für  seine  Zeit  als  richtig  an.  Art.  Middlesex. 

Das  wäre  eine  glaubhafte  Zunahme  in  50  Jahren.  London  allein 
gehörten  (nach  den  Generalregistern  des  Zollhauses  berechnet)  im 
Jahre  1732  1417  Schiffe,  die  zusammen  einen  Raumgehalt  von  178  557  t 
hatten. 

Im  18.  Jahrhundert  fängt  die  S  chif fahrt  s  Statistik  an,  genauer 
zu  werden,  und  sie  kann  uns  auch  über  die  Größe  des  Schiffsbestandes 
einigen  Aufschluß  geben.  Wir  müssen  für  jene  Zeit  annehmen,  daß 
beispielsweise  die  in  den  englischen  Häfen  einlaufenden  Schiffe  die 
Fahrt  ein-  bis  zweimal  im  Jahre  machten:  auf  ca.  zwei  einmalige 
Reisen  kam  eine  wiederholte.  Postlethwayt  2,  335.  Nun  liefen 
aber  nach  dem  Generalregister  of  the  Custom  House  im  Durchschnitt 
der  Jahre  1743,  1747,  1749  in  sämtlichen  englischen  Häfen  603 
fremde  Schiffe  mit  einem  Tonnengehalt  von  86  094  t  ein.  Während 
z.  B.  aus  den  südenglischen  Häfen  (1786/87)  nach  Westindien  abgingen 
233  Schiffe  mit  47  257  t,  gingen  ebenso  aus  London:  218  mit  61695  t, 
ebenso  aus  nordenglischen  Häfen:  77  mit  14  629  t.  Die  Gesamtzahl 
der  1786/87  in  den  Vereinigten  Staaten  von  Amerika  angekommenen 
Schiffe  betrug  509  mit  35  546  t,  während  in  demselben  Jahre  von 
dort  absegelten  373  Schiffe  mit  36145  t.  Anderson  4,  659  f. 

Ganz  beträchtlich  vergrößerte  sich  dann  die  englische  Handelsflotte 
in  den  letzten  Jahrzehnten  des  18.  Jahrhunderts.  Nach  den  gewissen¬ 
haften  Zusammenstellungen  Moreaus  war  der  Bestand  folgendei . 

1788  9  360  Schiffe  mit  1  053  610  Tonnen 

1791  10  423  „  „  1168  469 

1802  13  446  „  „  1  642  224 

2.  Die  Größe  der  Schiffe 

Wir  haben  oben  schon  eine  Vorstellung  von  der  Größe  der  Handels¬ 
schiffe  während  des  16.  und  17.  Jahrhunderts  bekommen.  Ich  teile 


764  Sechster  Abschnitt:  Die  Neugestaltung  des  Güterbedarfs 

noch  ein  paar  Ziffern  mit,  um  das  Bild  recht  deutlich  erscheinen  zu 
lassen. 

In  der  schon  erwähnten  amtlichen  Statistik  der  französischen 
Handelsschiffe  im  Jahre  1664  verteilen  sich  die  2368  auf  die  einzelnen 
Größenklassen  wie  folgt: 


10—  30 

t 

. 1063 

30—  40 

. 345 

40—  60 

n 

. 320 

60—  80 

. 178 

80—100 

» 

. 133 

100—120 

n 

. 102 

120—150 

.  72 

150—200 

.  70 

200—250 

}) 

.  39 

250—300 

» 

.  27 

300—400 

)5 

.  19 

2368 

Die  erste  Flotte  der  französischen  Indiengesellschaft  bestand  aus 
3  Schiffen  zu  je  300  t  und  1  Schiff  zu  120  t;  die  zweite  setzte  sich 
wie  folgt  zusammen:  2  Schiffe  zu  je  5—600  t,  2  Schiffe  je  800  t, 
1  Schiff  250  t,  1  Schiff  200  t,  4  Schiffe  je  60  —  80  t.  1682  laufen 
1  Schiff  zu  700  t,  1  Schiff  zu  800  t  aus.  P.  Kaeppelin,  La  Com¬ 
pagnie  des  Indes  Orientales  (1908)  10,  12,  137. 

Die  Schiffe,  die  während  des  17.  Jahrhunderts  aus  dem  Hamburger 
Hafen  ausliefen,  waren  durchschnittlich  17 — 18  Lasten  zu  2000  kg  groß; 
1625  z.  B.  17,521  Lasten.  Das  größte  Schiff  in  diesem  Jahre  segelte 
nach  Venedig  und  hatte  eine  Tragfähigkeit  von  200  Lasten  (also  400  t), 
1616  finden  wir  eins  mit  150,  1615  eins  mit  130,  1617  eins  mit 
120  Lasten  usw.  E.  Baasch,  Hamburgs  Seeschiffahrt  und  Waren¬ 
handel  vom  Ende  des  16.  bis  zur  Mitte  des  17.  Jahrhunderts,  in  der 
Zeitschrift  des  Vereins  für  Hamburg.  Gesch.  9,  295  ff. 

In  England,  meinte  Sir  William  Monson  in  seinen  Naval  Tracts 
p.  294,  waren  beim  Tode  der  Elisabeth  (also  im  Anfang  des  17.  Jahr¬ 
hunderts)  keine  4  Kauffahrer  von  je  400  t  Tragfähigkeit.  Zit.  bei 
Anderson  2,  211.  Wird  gestimmt  haben;  denn  noch  in  der  Mitte 
des  Jahrhunderts  hatten  die  Schiffe  der  ostindischen  Kompagnie  (also 
die  größten  des  Landes)  erst  300—600  t  Ladefähigkeit. 

Die  Holländisch  -  ostindische  Kompagnie  benutzte  am  Ende  des 
17.  Jahrhunderts  Schiffe  von  durchschnittlich  300  Lasten.  G.  C.  Klerk 
de  Ileus,  Geschichtlicher  Überblick  der  Niederländisch- ostindischen 
Kompagnie  (1894),  116  ff. 

Besonders  stattlich  waren  die  Indienfahrer  der  spanischen  Flotte. 
1686  umfaßten  Flota  und  galeones  zusammen  50  Schiffe  mit  27  500  t. 
Alvarez  Osorio ,  Extension  politica  y  econom.  punto  III,  bei  Col¬ 
in  eiro,  Econ.  politica  2,  404. 

Diese  Größen  bleiben  auch  während  des  18.  Jahrhunderts 
üblich:  große  Ostindienfahrer  haben  300—500  t,  die  Europafahrer 
100 — 300  t  ßaumgehalt. 


fünfzigstes  Kapitel:  Der  Schiffsbedarf  765 

So  waren  von  den  schon  erwähnten  1417  Schiffen,  die  London  im 
Jahre  1732  besaß: 

130  zwischen  300  und  500  t 
83  „  200  „  300  „  groß. 

Die  übrigen  waren  kleiner ,  und  das  berühmte  Schiff  der  Südsee¬ 
gesellschaft  hatte  750  t  Raumgehalt. 

Am  1.  Mai  1737  hat  Liverpool  211  Schiffe  über  30  t,  davon: 


1 

mit 

400 

t 

2 

mit 

340 

t 

7 

mit 

160 

t 

13 

mit 

120 

t 

1 

55 

350 

55 

2 

55 

200 

55 

15 

55 

150 

55 

6 

55 

110 

55 

1 

55 

300 

55 

2 

n 

190 

55 

10 

55 

140 

55 

16 

55 

100 

55 

1 

n 

250 

55 

4 

55 

180 

55 

5 

55 

130 

55 

135 

„  30- 

-90 

55 

Nach  einer  namentlich  geführten  Liste  Anderson  3,  324. 


Die  1749  in  den  englischen  Häfen  einlaufenden  fremden  Schiffe 
wiesen  folgende  Größen  auf: 


Holländische 

Schiffe 

62 

mit 

6  282  t  =  100  t 

Dänemark  . 

.  .  . 

292 

47  382  „  =  160  „ 

Schweden  . 

.  .  . 

71 

8  400  „  =  120  „ 

Hamburg  . 

•  •  • 

40 

55 

6  746  „  =  170  „ 

Frankreich 

•  •  • 

24 

1  289  „  =  50  „ 

Preußen 

•  •  • 

26 

2  420  „  =  130  „ 

Danzig  . 

«  •  • 

16 

55 

2  748  „  =  170  „ 

Portugal 

•  •  • 

26 

55 

2100  „  =  80  „ 

Bremen 

... 

16 

55 

1  975  „  =  125  „ 

Rußland 

•  •  • 

5 

55 

440  „  =  90  „ 

Spanien 

• 

16 

55 

940  „  =  60  „ 

594  mit  81  740  t  =  ca.  140  t 

Das  größte  Schiff  ist  ein  dänisches  mit  510  t;  die  kleinsten 
sind  französische  Kähne  —  offenbar  von  Calais  nach  Dover 
fahrend  —  mit  4  t  Tragfähigkeit.  Aber  auch  von  Bremen  kommt  ein 
Schiff  mit  35  t,  von  Danzig  mit  44  t  usw.  Postlethwayt,  Art. 
Navigation. 

Ende  des  18.  Jahrhunderts  hatte  das  normale  holländische  Kauf¬ 
fahrerschiff  eine  Tragfähigkeit  von  180 — 190  Lasten;  es  maß  115' 
auf  dem  Kiel,  120'  vom  Vorder-  zum  Hintersteven,  bei  einer  Breite 
von  34'.  Joh.  Beckmann,  Beyträge  zur  Ökonomie  3,  739  f. 

Zum  Inventarium  der  aus  der  Guinäischen  Handelsgesellschaft,  der 
Ostseeischen  Handelsgesellschaft  und  der  Grönländischen  Handelsgesell¬ 
schaft  1781  gebildeten  Kgl.  Dänischen ,  Ostseeischen  und  Guinäischen 
Handelsgesellschaft  gehörten  37  Schiffe;  davon  hatten  Tragfähig¬ 
keit  in  Commercelasten  (zu  2000  kg): 

50—  60  Lasten . 10  Schiffe 

61—100  „  . 2 

101—150  „  21 

151— 1621/»  „  4 


37  Schiffe. 


766  Sechster  Abschnitt:  Dei  Neugestaltung  des  Güterbedarfs 

Siehe  §  4  des  Octroi  der  Gesellschaft,  abgedruckt  in  J oh.  Beck¬ 
mann,  Beyträgen  zur  Ökonomie  6,  416  ff. 

Stellen  wir  nun  diesen  Ziffern  die  ihnen  entsprechenden  für  die 
Kriegsmarine  gegenüber,  so  bemerken  wir  sehr  bald,  daß  die  Kriegs¬ 
schiffe  ganz  beträchtlich  viel  größer  sind  als  die  Handelsschiffe,  daß 
insbesondere  auch  die  großen  Typen  viel  häufiger  sich  unter  jenen 
als  unter  diesen  finden. 

Schon  im  16.  Jahrhundert  kommen  englische  Kriegsschiffe  (of  the 
Tower)  von  1000  t  vor;  in  der  Liste,  die  Oppenheim  für  die  Zeit 
Heinrichs  VII.  zusammenstellt,  erscheinen  9  Schiffe  von  500  bis  1000  t. 

Im  17.  Jahrhundert  vergrößern  sich  die  Kriegsschiffe  rasch. 

Es  scheint  fast,  als  ob  noch  im  17.  Jahrhundert  der  1000  t-Typ 
bei  den  Kriegsschiffen  der  normale  wird.  Im  Jahre  1688  finden  wir 
ihn  in  der  englischen  Flotte  bereits  bei  41  Schiffen,  deren  größtes 
1739  t  groß  ist.  Die  Höhe  der  Besatzungen  dieser  großen  Schiffe 
schwankte  zwischen  400  und  800,  die  Zahl  der  Geschütze  zwischen 
70  und  100.  Nach  den  Listen  in  Pepys’  Mem.  rel.  to  the  state  of 
the  Royal  Navy  Laird  Clowes  2,  244  seg. 

3.  Das  Tempo  des  Schiffbaus 

Dieses  ist  es  vor  allem,  das  durch  die  militärischen  Interessen 
beeinflußt  wird.  Um  zu  erkennen,  wie  hastig  und  oft  sprunghaft  der 
Schiffbau  sich  entwickelte,  seit  die  Erbauung  von  Kriegsschiffen  seine 
Hauptaufgabe  wurde,  genügt  es,  sich  die  Ziffern  vor  Augen  zu  führen, 
in  denen  sich  die  Vermehrung  des  Bestandes  der  Kriegsflotten  aus¬ 
drückt.  Ich  habe  sie  bereits  mitgeteilt  und  verweise  den  Leser  darauf. 
Zur  Belebung  des  Bildes  führe  ich  noch  ein  paar  besonders  markante 
Beispiele  aus  der  Schiffbaugeschichte  an,  an  denen  sich  das  für  jene 
Zeiten  unerhörte  Tempo  der  Herstellung  erkennen  läßt. 

In  England  befinden  sich  im  Jahre  1554  29  Kriegsschiffe  im  Bau 
(„in  Commission“),  1555/56  38,  1557  24,  zu  denen  im  Dezember  des¬ 
selben  Jahres  noch  8  andere  hinzukommen.  Aber  das  Tempo  wird 
immer  hastiger.  Dafür  enthält  den  Beleg  die  folgende  überaus  lehr¬ 
reiche  Tabelle : 

Es  waren  Kriegsschiffe  in  Kommission  in  den  22  Jahren  1559  bis 
1580  und  1581  bis  1602:  insgesamt  142  und  362. 

Und  dann  kommt  ja  erst  der  große  Vorstoß  im  17.  Jahrhundert, 
in  dem  sich  alle  militaristischen  Interessen  ins  Gigantische  (ins  Barock 
können  wir  auch  sagen)  auswachsen.  Unter  der  Republik  werden  in 
England  207  Schiffe  in  11  Jahren,  also  fast  20  Schiffe  in  jedem  Jahre, 
gebaut.  In  dem  einen  Jahrfünft  von  1690  bis  1695  werden  in  England 
zum  Bau  von  45  Schiffen  1011576.8.11  bewilligt.  Charnock, 
Mar.  Arch.  2,  462. 

An  Paroxismus  grenzt  ebenso  das  Tempo,  in  dem  zu  Colberts 
Zeiten  die  französische  Kriegsflotte  vergrößert  wurde :  Colbert  fand, 
wie  wir  sahen,  bei  seinem  Eintritt  in  die  Regierung  (1661)  30  Kriegs¬ 
schiffe  vor;  nach  wenig  mehr  als  20  Jahren  hatte  er  244  daraus  ge- 


Fünfzigstes  Kapitel:  Der  Schiffsbedarf 


76? 


macht,  diese  aber  meist  in  viel  größerem  Ausmaße :  es  wurden  also 
jährlich  im  Durchschnitt  10 — 12  Kriegsschiffe  vom  Stapel  gelassen. 

4.  Der  Bedarf  an  Schiffbaumaterialien 

Dieser  Bedarf  läßt  sich  zunächst  durch  die  Kosten  ausdrücken, 
die  die  Herstellung  der  Kriegsschiffe  verursachte.  Jeder  solcher  Be¬ 
trag,  soweit  er  nicht  für  Arbeitslöhne  auf  den  Werften  ausgegeben 
wurde,  bedeutete  eine  Nachfrage  nach  Schiffbaumaterialien. 

Ein  englisches  Kriegsschiff  mittlerer  Größe  kostete  im  16.  Jahr¬ 
hundert  3 — 4000  j^,  unter  Jakob  I.  7 — 8000  £ ,  unter  Karl  I. 
10 — 12  000  £,  im  Anfang  des  18.  Jahrhunderts  15 — 20  000  £ 
(Quellen  bei  Oppenheim). 

Eine  sehr  genaue  Aufstellung  der  Kostenbeträge  für  die  Schiffe  der 
verschiedenen  Klassen  besitzen  wir  für  England  im  18.  Jahrhundert. 
Sie  schwanken  für  das  Jahr  1706  zwischen  3138  und  78  581  £,  für 
das  Jahr  1741  zwischen  6309  und  41151  £.  Siehe  die  Quelle  bei 
Charnock  3,  126. 

Nun  sagen  uns  die  Ziffern  immer  erst  etwas,  wenn  wir  ihre  Ver¬ 
wendung  im  einzelnen  verfolgen ,  wenn  wir  feststellen ,  wofür  denn 
eigentlich  jede  der  Ausgaben  gemacht  wurde.  Wir  wollen  versuchen, 
ob  eine  solche  Spezifikation  möglich  ist. 

Die  Materialien ,  die  hauptsächlich  für  den  Schiffbau  in  Betracht 
kamen,  Avaren : 

1.  Holz,  das  eine  überragend  große  Bedeutung  in  allen  früheren 
Zeiten  für  den  Schiffbau  hatte,  wie  wir  gleich  sehen  werden; 

2.  Takelwei’k  oder  der  Rohstoff  dazu :  Hanf,  Flachs  usw. ; 

3.  Segehverk  oder  das  Halbfabrikat  oder  der  Rohstoff  dazu; 

4.  Eisenwerk:  Anker,  Ketten,  Nägel,  Draht; 

5.  Teer  und  Pech; 

6.  Messing,  Kupfer,  Weißblech,  Zinn. 

Im  16.  Jahrhundert  werden  (auf  dem  „Henry  Grace  ä  Dieu“)  schon 
56  t  Eisen,  also  112  000  Pfd.,  gebraucht,  während  das  Bauholz,  das 
in  diesem  Schiff  aufging,  3739  t  wog.  Auffallend  gering  sind  die 
Mengen  von  Werg  (oakum)  und  Flachs,  nämlich  nur  565  Stones  (1  Stone 
Hanf  =  32  Pfd.)  und  1711  lbs.,  wenn  wir  nicht  annehmen  Avollen,  daß 
die  letzte  Ziffer  „Schiffspfund“  (ä  2*1/2  Ztr.)  bedeutet.  Oppenheim  53. 

Was  üblicherweise  an  Takelwerk  auf  einem  Schiff  im  16.  Jahr¬ 
hundert  gebraucht  wurde ,  erfahren  wir  von  einer  andern  gut  unter¬ 
richteten  Seite  (J.  Marperger,  Das  Neueröffnete  Manufakturenhaus 
[1704],  142):  es  waren  auf  einem  1565  erbauten  Schiffe  1140  Ztr. 
oder  456  Schiffspfund,  also  114  600  Pfd.  Das  Holz  des  ebenfalls  im 
16.  Jahrhundert  erbauten  „Triumph“  kostete  1200  £  (bei  einer  Gesamt¬ 
ausgabe  von  3788  £). 

Ein  Kostenanschlag  für  den  Bau  von  10  neuen  englischen  Kriegs¬ 
schiffen  im  Jahre  1618  nimmt  sich  wie  folgt  aus  (von  den  Schiffen 
waren  6  je  650,  3  je  450,  1  350  t  groß  (Rep.  vom  Jahre  1618: 
Mar.  arch.  2,  256): 


768  Sechster  Abschnitt:  Die  Neugestaltung  des  Güterbedarfs 


£  s  d 

Building  with  all  matterialls  (Bau  des  Rumpfes)  .  43  425  —  — 


Bullys  (Taljen),  topps  (Stengen) .  513  6  8 

Finishing  boates  and  pinnaces  (Boote)  ....  320  10  — 

Cordage  (Takelwerk) . 671616 

Sailes  (Segelwerk) . .  2  740  15  6 

Anchors  (Anker).  . .  2287  4  — 


56  002  17  8 

Im  18.  Jahrhundert  war  der  Bedarf  an  allen  Materialien  wieder 
außerordentlich  viel  größer  geworden. 

Ein  englisches  Kriegsschiff,  das  mit  100  Kanonen  ausgerüstet  ist, 
braucht  3600  Ellen  Segeltuch. 

Ein  französisches  Kriegsschiff  mit  100 — 120  Kanonen,  einer  Länge 
von  170 — 180',  einer  Breite  von  50',  erfordert  zum  Bau: 

4000  Stück  ausgewachsene,  gesunde  Eichen 
300  000  Pfd.  Eisen 

219  000  „  gepichtes  Tauwerk.  Krünitz  50,  354  ff. 

Nach  einer  amtlichen  (englischen)  Feststellung  betrug  der  Ver¬ 
brauch  an  Pech  und  Teer  im  Anfang  des  18.  Jahrhunderts  jährlich: 

in  Britannien  und  Irland .  1000  Last  (zu  29  hl) 

„  Holland  (für  den  eigenen  Bedarf  sowie 
für  die  Ausfuhr  nach  Spanien,  Portugal 

und  ins  Mittelmeer) .  4000  „ 

„  Frankreich .  500  „ 

„  Hamburg,  Lübeck  und  andern  deutschen 
Häfen .  500  „ 

Mitgeteilt  bei  Anderson  3,  17. 

Weitere  Zahlenangaben  siehe  in  „Krieg  und  Kap.“  6.  Kapitel. 


769 


Einundfünfzigstes  Kapitel 

Der  Massenbedarf  der  Großstädte 

Hatten  das  Heer  und  der  Schiffbau  einen  Massenbedarf  da¬ 
durch  hervorgebracht ,  daß  viele  Güter  von  einer  Wirtschaft 
bedurft  wurden,  war  also  dort  die  Entstehung  des  Massenbedarfs 
eine  Folge  organisatorischer  Umbildungen  gewesen,  so  entsteht 
in  den  Großstädten  ein  massenhafter  Bedarf  an  bestimmten 
Gütern  durch  die  äußerliche  Tatsache ,  daß  viele  Menschen 
dauernd  an  einer  und  derselben  Stelle  Zusammenleben,  Menschen, 
die  ihren  Unterhalt  nicht  mehr  auf  dem  Wege  der  Eigenproduktion 
sich  beschaffen  können,  die  alles,  was  sie  brauchen,  also  ein¬ 
kaufen  müssen. 

I.  Das  Anwachsen  der  Großstädte 

Vergegenwärtigen  wir  uns  zunächst,  welchen  Verlauf  die 
Großstadtbildung  während  des  frühkapitalistischen  Zeitalters  ge¬ 
nommen  hatte. 

Während  des  16.  Jahrhunderts  wächst  die  Zahl  der  Städte  mit 
100  000  Einwohnern  und  mehr  bereits  auf  13 — 14.  Es  sind  zunächst 
die  italienischen  Städte:  Venedig  (1563:  168  627,  1575/77:  195  863), 
Neapel  (240  000),  Mailand  (gegen  200  000),  Palermo  (1600:  gegen 
100  000),  Rom  (1600:  gegen  100  000),  während  Florenz  1530  erst 
60  000  Einwohner  zählte. 

Sodann  die  spanisch -portugiesischen  Städte:  Lissabon  (1620: 
110  800),  Sevilla  (Ende  des  16.  Jahrhunderts  18  000  Feuerstellen,  also 
gegen  100  000  Einwohner);  und  die  niederländischen  Städte:  Antwerpen 
(1560:  104  092),  Amsterdam  (1622:  104  961). 

Endlich  Paris  und  London. 

Paris ,  gegen  dessen  Ausdehnung  schon  Mitte  des  Jahrhunderts 
königliche  Edikte  erlassen  worden  waren  (ich  komme  gleich  darauf  zu 
sprechen),  geht  infolge  der  Religionskriege  offenbar  an  Einwohnerzahl 
zurück,  die  im  Jahre  1594  etwa  180  000  beträgt. 

London  wächst  rasch  an  und  weist  Ende  des  Jahrhunderts  alle 
Anzeichen  der  übervölkerten  Großstadt  auf,  wie  wir  aus  einem  Erlaß 
der  Elisabeth  vom  Jahre  1602  deutlich  zu  erkennen  vermögen.  Seine 
Einwohnerzahl  müssen  wir  zur  Zeit  der  Elisabeth  auf  etwa  250  000 
ansetzen. 

Im  Verlaufe  des  17.  Jahrhunderts  gehen  nun  einige  der  früheren 
Großstädte  an  Einwohnerzahl  zurück:  Lissabon,  Antwerpen  sinken 
unter  die  100  000;  Mailand,  Venedig  ebenfalls  beträchtlich. 

Sombart,  Der  moderne  Kapitalismus.  I. 


49 


770 


Sechster  Abschnitt:  Die  Neugestaltung  des  Güterbedarfs 


Dagegen  steigen  neu  zu  Großstädten  empor :  Wien  (1720:  130  000) 
und  Madrid. 

Basch  wachsen  an:  Bom,  Amsterdam,  Paris  und  London.  Born  hat 
Ende  des  Jahrhunderts  140  000,  Amsterdam  200  000  Einwohner;  Paris 
erreicht  die  halbe  Million,  London  überschreitet  sie  (1700:  674  350). 

Während  London  allmählich  an  Größe  während  dieses  Jahrhunderts 
zunimmt,  schnellt  Paris  offenbar  in  die  Höhe.  Es  nimmt  insbesondere 
während  der  Begierungszeit  der  beiden  ersten  Bourbons  einen  raschen 
Aufschwung.  Wir  begegnen  jetzt  häufiger  jenen  seltsamen  Edikten, 
die  das  Erbauen  neuer  Häuser  verbieten,  um  dem  Wachstum  der  Stadt 
Einhalt  zu  tun:  „Beconnaissant  que  l’augmentation  de  notre  bonne 
ville  de  Paris  est  grandement  prejudiciable.“  „Attendu  que  l’intention 
de  Sa  Majeste  a  ete  que  sa  ville  de  Paris  füt  d’une  etendue  certaine 
et  limitee  .  .  (In  diesen  Verboten  äußert  sich,  könnte  man  sagen, 
ein  ähnlicher  Wille,  wie  er  in  den  Zunftordnungen  zur  Anerkenntnis 
kommt:  das  Widerstreben,  ein  organisches  Gebilde  ins  Maßlose  wachsen 
zu  lassen;  das  Widerstreben  gegen  die  rücksichtslose  Vergrößerungs¬ 
und  Quantifizierungstendenz  des  kapitalistischen  W esens ;  das  Wider¬ 
streben  des  alten  Nahrungsmäßigen,  Ständischen  gegen  die  schranken¬ 
lose  Ausdehnungssucht  des  Erwerbstriebes.) 

Die  Verbote  fruchteten  natürlich  nichts;  trotzdem  sie  wiederholt 
werden  (1627,  1637),  wächst  Paris  gerade  in  diesen  Jahrzehnten 
mächtig  an.  Zwischen  dem  Paris  Ludwigs  XIII.  und  dem  der  Liga, 
meint  ein  urteilsfähiger  Geschichtschreiber  (Bau drill art),  sei  ein 
größerer  Unterschied  als  zwischen  diesem  und  dem  Paris  der  dritten 
Bepublik.  Wie  stark  die  Zeitgenossen  den  Wandel  empfinden,  spricht 
Corneille  in  seinem  1642  geschriebenen  Lustspiel  „Le  Monteur“ 
(Acte  II,  scene  V)  aus : 

„Toute  une  ville  entiere,  avec  pompe  bätie 
Sernble  d’un  vieux  fosse  par  miracle  sortie 
Et  nous  fait  presumer,  ä  ses  superbes  toits, 

Que  tous  ses  habitants  sont  des  dieux  ou  des  rois.“ 

Das  18.  Jahrhundert  bringt  folgende  Verschiebungen: 

Die  Zahl  200  000  überschreiten  die  Einwohner  von  Moskau,  Peters¬ 
burg,  Wien,  *Palermo  (1795  :  200  162).  Nicht  weit  davon  bleibt  Dublin 
(1798:  182  370,  1753:  128  870,  1644:  8159). 

An  die  100  000  kommen  heran :  Hamburg,  Kopenhagen,  Warschau. 
Berlin  steigt  auf  141283  (1783),  *Lyon  auf  135  207  (178  7). 

^Neapel  nähert  sich  der  halben  Million  (1796:  435  930),  London 
der  Million  (864  845),  *Paris  hat  beim  Ausbruch  der  Bevolution 
640 — 670  000  Einwohner. 

Die  Kiffern  sind  entnommen  der  sorgfältigen  Arbeit  Beiochs, 
Die  Entwicklung  der  Großstädte  in  Europa ,  in  den  Comptes  rendus 
du  VIIIe  Congres  international  d’Hyg.  et  de  Dem.,  55  ff.  Wo  ich 
ein  *  vor  den  Städtenamen  angebracht  habe ,  sind  die  Ziffern  dem 
Aufsatze  Inama-Sterneggs  im  Handwörterbuch  der  Staatswiss., 
3.  Auf!.,  entlehnt.  Die  Einwohnerzahlen  von  Dublin  fand  ich  bei  Al. 
Moreau  de  Jonnes,  Statistique  de  la  Grande  Bretagne  1,  88. 


Einundfünfzigstes  Kapitel:  Der  Massenbedarf  der  Großstädte  771 

Die  letzte  Zahl  für  London  ist  die  amtliche  Zahl  des  Zensus  von 
1801;  die  Zahl  für  Berlin  nach  den  Normannschen  Zusammen¬ 
stellungen,  die  mitgeteilt  sind  bei  Mirabeau,  d.  J.,  De  la  monarchie 
prussienne  1  (1788),  395  f. 

JX  Die  Höhe  des  Verbrauchs  der  Großstädte 

Um  eine  ziffernmäßige  Vorstellung  von  der  Höhe  des  Bedarfes 
dieser  Städte  zu  geben,  will  ich  einige  Ziffern  mitteilen,  die  wir 
für  einige  Gegenstände  des  Verzehrs  in  den  beiden  großen  Städten: 
London  und  Paris  besitzen.  Sie  sollen  lediglich  dazu  dienen, 
eine  nicht  erst  zu  erweisende  Tatsache  in  ihrer  meßbaren  Größe 
dem  Verständnis  näher  zu  bringen. 

1.  London:  der  Auftrieb  von  Schlachtvieh  auf  dem  Londoner 
Schlachtviehmarkte  Smithfield  betrug : 


im  Durchschnitt 
der  Jahre 

Schafvieh 

Schwarzvieh 

1736—1740 

599  466 

97  548 

1741—1745 

531134 

85  892 

1746—1750 

655  516 

80  878 

1751—1755 

610  618 

80  843 

1756—1760 

616  750 

91699 

1761—1765 

730  608 

93  480 

1766—1770 

632  812 

84  244 

Übrigens  werden  diese  von  Anderson  4,  156  mitgeteilten  Ziffern 
beanstandet.  Ein  Bericht  an  das  Haus  der  Gemeinen  vom  Jahre  1795 
enthält  zum  Teil  abweichende  Angaben.  Aber  es  kommt  hier  ja  nur 
auf  ganz  ungefähre  Annäherungswerte  an.  Daß  die  Ziffern  insofern 
richtig  sind,  als  sie  keine  oder  nur  eine  geringe  Zunahme  des  Auf¬ 
triebs  auf  die  Londoner  Fleischmärkte  erkennen  lassen ,  dürfte  sich 
aus  der  Tatsache  ergeben,  daß  um  jene  Zeit  (in  den  1760  er  Jahren), 
just  wie  bei  uns  1912,  über  Eleischteuerung  geklagt  wurde,  die  man 
(eine  Enquete  des  Jahres  1764  gibt  darüber  Aufschluß)  von  bestimmter 
Seite  auf  die  mangelnde  Viehzufuhr  zurückführen  zu  sollen  glaubte. 

Von  der  Branntweinsteuer,  die  im  Jahre  1784  ^  371  921 
—  3  — 9  betrug,  bezahlte  in  diesem  Jahre: 


London . 106  091  — 15  —  2 

Surrey . .  39  644  —  1  — IIV4 

Hertfort . „  184628  — 15  —  OV2 


London  und  Umgebung  .  330  364  — 12  —  laU 

Das  ganze  übrige  England  „  41  556  —  8  —  2 

Allerdings  war  die  Branntweinproduktion  in  London  und  Um¬ 
gegend  zusammengedrängt,  wie  aus  folgenden  Ziffern  der  amtlichen 
Statistik  hervorgeht: 


49* 


772  Sechster  Abschnitt:  Die  Neugestaltung  des  Güterbedarfs 

Gallonen  wurden  gebrannt  vom  10.  Sept.  1784  bis  5.  Juli  1785: 
in  bei  Distillers  bei  Rectifiers 

London .  96  909  102  643% 

übrigen  England  .  .  .  126  968  57  208% 

Der  Vergleich  der  beiden  Ziffern  läßt  aber  erkennen,  daß  es  sich 
doch  gerade  auch  um  den  soviel  größeren  Verzehr  von  Branntwein 
in  London  handelte. 

Die  Steinkohle  ist  als  Heizstoff  in  London  schon  im  Mittelalter 
verwandt  worden:  wir  hören  schon  im  14-  Jahrhundert  von  Blagen 
über  die  Belästigung  mit  Steinkohlenrauch.  M.  Dünn,  The  Coal 
Trade  (1844)  11;  The  Coal  Trade;  App.  zu  Anderson  4,  701. 
Ihr  Gebrauch  soll  allgemein  geworden  sein  seit  Karl  I.  Dünn,  15. 
Das  bedeutete  einen  erheblichen  Verbrauch  in  der  großen  Stadt.  Wir 
sind  genau  über  die  im  Hafen  von  London  eingeführten  Mengen  Stein¬ 
kohle  unterrichtet.  Sie  bezifferten  sich  auf  6 — 700  000  Chaldrons  in 
den  Jahren  zwischen  1770  und  1790  (1779:  587895;  1787:  764272). 
Anderson  4,  321-  692;  das  sind,  da  der  Chaldron  36  bushel  um¬ 
faßt,  also  1272.265  1  mißt,  etwa  1  Million  Tonnen.  Wir  dürfen  an¬ 
nehmen,  daß  diese  Mengen  im  wesentlichen  dem  Londoner  Ver¬ 
zehr  dienten,  da  in  jener  Zeit  aus  ganz  England  nur  wenig  mehr  als 
100  000  Chaldrons  ausgeführt  wurden,  und  wir  aus  späteren  Nach¬ 
weisungen  wissen  (Pari.  Enquete  von  1829,  bei  Dünn,  74),  daß  da¬ 
mals,  vor  Einführung  der  Gasbeleuchtung,  9  Chaldrons  auf  8  P ersonen 
Heizverbrauch  in  London  gerechnet  wurden.  Da  wiederum  nach  andern 
Angaben  der  Versand  nach  London  z.  B.  im  Jahre  1776  über  68% 
von  der  Gesamtausfuhr  Newcastles  betrug,  so  kann  man  ohne  weiteres 
sagen,  daß  die  gesamte  Kohlenförderung  Englands  am  Tyne  und  Wear 
bis  fast  zum  Ende  des  18.  Jahrhunderts  auf  dem  Massenverbrauch 
der  Londoner  Bevölkerung  für  Heizzwecke  beruhte. 

2.  Für  Paris  besitzen  wir  aus  verschiedenen  Jahren  ziemlich  ein¬ 
gehende  Verbrauchsberechnungen,  die  für  die  hier  verfolgten  Zwecke 
durchaus  verwendbar  sind,  so  sehr  die  einzelne  Ziffer  in  ihrer  ab¬ 
soluten  Höhe  mag  beanstandet  werden  können. 

Drei  amtliche  Denkschriften  enthalten  die  Einführungen  der  wich¬ 
tigsten  Lebensmittel  für  Menschen  und  Pferde.  Es  sind  folgende: 

a)  aus  dem  Jahre  1634  eine  Statistik,  die  im  Aufträge  M.  le  Telliers, 
des  damaligen  Procureur  du  Roi  au  Chätelet,  späteren  Staatsministers 
und  Staatsrats,  angefertigt  wurde; 

b)  aus  dem  Jahre  1659  eine  Aufstellung  Savarys  des  Alteren,  der 
damals  die  Ferme  du  Domaine,  Barrage  et  Entree  von  Paris  inne  hatte; 

c)  aus  dem  Jahre  1722  eine  zweite  Aufstellung  desselben.  Die 
Angaben  dieser  drei  Statistiken  beziehen  sich  auf  den  Verzehr  von 
Salz,  gesalzenem  Maquereau,  gesalzenem  Lachs,  Stockfisch,  Hering, 
Kohle,  Rindern,  Schweinen,  Kälbern,  Hammeln,  Getreide,  Hafer,  Heu 
und  Stroh. 

Die  letzte  Quelle  endlich  ist 

d)  die  im  Jahre  1791  im  Aufträge  der  Assemblee  nationale  ge¬ 
druckte  Studie  Lavoisiers  —  Resultats  extraits  d’un  ouvrage  in- 


Einundfünfzigstes  Kapitel:  Der  Massenbedarf  der  Großstädte  773 

titule :  De  la  ricbesse  territoriale  du  royaume  de  Trance  — ,  in  der 
er  unter  Benutzung  amtlichen  Materials  (der  Steuererhebungsregister) 
für  ein  „gewöhnliches  Jahr  vor  der  Revolution“  („une  annee  commune, 
prise  anterieurement  ä  la  revolution“)  den  Verbrauch  der  Pariser  an 
fast  allen  wichtigen  Lebensmitteln  und  den  meisten  gewerblichen  Er¬ 
zeugnissen  festgestellt  hat.  Gemäß  den  Quellen,  aus  denen  Lavoisier 
schöpfte ,  sind  nach  seinem  eigenen  Erteil  genau  und  zuverlässig  die 
Angaben  der  Mengen  von  Brot,  Getränken,  Vieh,  Eiern,  Fischen, 
frischem  Käse,  Brennstoffen,  Zucker,  Farin,  öl,  Wachs,  Lichten,  Holz, 
Baumaterialien;  dagegen  tragen  einen  „mehr  hypothetischen“  Charakter 
die  Ziffern  für  ungesalzene  Seefische,  Metalle  und  „einige  andere 
Warengattungen“ . 

Immerhin  wird  es  sich  lohnen,  sämtliche  Ziffern  der  Lavoisier- 
schen  Statistik,  die  ziemlich  wenig  bekannt  sind,  hier  mitzuteilen,  unter 
Verzicht  auf  eine  Wiedergabe  der  viel  unvollkommeneren  Statistiken 
der  früheren  Jahre. 

Lavoisier  veranschlagt  die  Einwohnerzahl  des  damaligen  Paris 
auf  Grund  der  Geburten  (19  769),  die  er  mit  30  multipliziert,  auf  rund 
600  000.  Dann  stellt  er  zunächst  an  der  Hand  besonderer  Erhebungen, 
die  Turgot  für  die  Jahre  1764 — 1773  hatte  machen  lassen,  genau  die 
Menge  des  nach  Paris  eingeführten  Getreides  und  Mehles  fest.  Wir 
entnehmen  daraus,  daß  zu  jener  Zeit  bereits  der  größte  Teil  des  Brot¬ 
korns  in  gemahlenem  Zustande  die  Stadtgrenze  überschritt  (das  Bild 
mit  den  vielen  Mühlen  an  der  Seine,  das  Paris  im  13.  Jahrhundert 
bot,  hatte  sich  also  geändert!).  Während  eines  Jahres  wurden  zwischen 
1764  und  1773  in  Paris  eingeführt: 

Getreide .  14  351  muids 

Mehl .  66  289  „ 

Auf  Brotmengen  umgerechnet  heißt  das,  daß 

in  Gestalt  von  Getreide  .  .  14  330  880  Pfd.  Brot 

„  „  „  Mehl  .  .  .  165  457  344  „  „ 

nach  Paris  hineinkommen. 

Es  folgt  dann  in  der  Denkschrift  Lavoisier s  die  Aufstellung 
des  Vieh-  bzw.  Fleischverbrauchs  der  Stadt.  Bekannt  ist  die  Stück¬ 
zahl  des  aufgetriebenen  Viehs,  dessen  Schlachtgewicht  unser  Gewährs¬ 
mann  wie  folgt  anä%tzt:  Ochse  700  Pfd.,  Kuh  360  Pfd.,  Kalb  72  Pfd., 
Hammel  50  Pfd.,  Schwein  200  Pfd. 

Danach  ergibt  sich  folgender  Jahresverbrauch : 


Viehgattung 

Stückzahl 

Schlachtgewicht 

Pfund 

Ochsen . 

70  000 

49  000  000 

Kühe . 

18  000 

6  480  000 

Kälber . . 

120000 

8  640  000 

Hammel . 

350  000 

17  500  000 

Schweine . 

35  000 

7  000  000 

Fleisch  in  geschlachtetem  Zustande 

— 

1  380  000 

Insgesamt 

593  000 

90  000  000 

774 


Sechster  Abschnitt:  Die  Neugestaltung  des  Güterbedarfs 


Die  übrigen  Verbrauchs-  oder  Gebrauchsgegenstände,  auf  die  sich 
Lavoisiers  Feststellungen  beziehen,  sind  dann  zunächst  nach  Ge¬ 
wicht  oder  Stückzahl  ermittelt;  in  einer  zweiten  Tabelle  hat  er  ihren 
Wert  auf  Grund  des  Tagespreises  festzustellen  versucht.  Ich  teile 
die  wichtigsten  Ansätze  mit  und  füge  nach  dem  Vorgehen  des  Ver¬ 
fassers  denjenigen  Waren  ein  Sternchen  (*)  bei,  deren  Mengen  nur 
schätzungsweise  ermittelt  werden  konnten. 


Warengattung 

Menge 

Wert 

Livres 

Brot . 

206  000  000  Pfd. 

20  600  000 

Wein . 

250  000  muids 

32  500  000 

Branntwein . 

8  000 

2  400  000 

Cidre  . 

2  000 

120  000 

Bier . 

20  000  „ 

1200  000 

Früchte  und  Gemüse . 

— 

12  500  000 

Fleisch . 

90  000  000  Pfd. 

40  500  000 

Eier . 

78  000  000  Stück 

3  500  000 

Frische  Butter . 

3150  000  Pfd. 

3  500  000 

Gesalzene  und  geschmolzene  Butter 

2  700  000  „ 

1  800  000 

Frische  Käse . 

424  500  „ 

900  000 

Trockene  Käse . 

2  600  000  „ 

1  500  000 

*FrischeSeefische  (Maree  fraiche)  . 

— 

3  000  000 

Frische  Heringe . 

— 

400  000 

^Gesalzene  Fische  (Saline)  . 

— 

1  500  000 

^Süßwasserfische . 

— 

1  200  000 

Brennholz . 

— 

20  000  000 

*Holz  in  Balken  und  zu  verarbeiten 

1  600  000  Kubikfuß 

4  000  000 

Holzkohle . 

700  000  „Fuhren“ 

3  500  000 

Steinkohle  (?  charbon  de  terre) 

(Voies  ä  1,92  m3) 
10  000  „Fuhren“ 

600  000 

Heu . 

6  388  000  „Faß“ 

2100  000 

Stroh . 

(bottes) 

11090  000  „Faß“ 

1  980  000 

Zucker  und  Farin . 

6  500  000  Pfd. 

7  800  000 

Öle . 

6  000  000  „ 

6  000  000 

Wachs  und  Lichte  ...... 

538  000  „ 

1345  000 

Kaffee . 

2  500  000  „ 

3125  000 

*Kakao . 

250  000 

500  000 

*Papier . 

6  000  000  „ 

10  000  000 

Pottasche,  Natron  usw.  (Potasse, 
soude  et  cendres  gravelees)  .  . 

2  300  000  „ 

1000  000 

Kupfer . 

450  000  „ 

450  000 

Eisen . 

8  000  000  „ 

1  600  000 

Blei . 

3  200  000  „ 

960  000 

Zinn . 

350  000  „ 

350000 

Quecksilber . .  .  . 

18  000  „ 

63  000 

Einundfünfzigstes  Kapitel:  Der  Massenbedarf  der  Großstädte  775 


Fortsetzung 


Warengattung 

Menge 

Wert 

Livres 

*Kolonialwaren  (epiceries)  . 

__ 

10  000  000 

^Drogerien . 

— 

3  000  000 

*  Schnittwaren  (merceries)  .  . 

— 

4  000  000 

*Kurzwaren  (quincailleries)  . 

— 

4  000  000 

*Tuche  . . 

— 

8  000  000 

^Wollstoffe . 

— 

5  000  000 

*Seide  und  Seidenstoffe  .... 

— 

5  000  000 

Leinwand . 

8  000  000  Ellen 

12  000  000 

Baumaterialien  (Steine,  Ziegel,  Kalk, 

verschieden, 

4  000  000 

Schiefer,  Pflastersteine  usw.) 
Verschiedene  WTaren . 

einzeln  angegeben 

6  857  000 

darunter  Seife . 

1900  000  Pfd. 

■ — 

Gesamtwert:  Livres  260  000  000 


3.  Für  Berlin  hat  Nicolai  in  seiner  Beschreibung  dieser  Stadt 
(1,  234)  eine  ebenso  eingehende  Aufstellung  aller  Verzehrungsgegen¬ 
stände  gemacht,  die  abgedruckt  und  ergänzt  ist  von  Mirabeau,  De 
la  monarchie  prussienne  2,  148  ff. 

4.  Ingleichen  für  Wien  in  seiner  Reise  durch  Deutschland  Band  III. 

5.  Die  Statistik  des  Verzehrs  Dresdens  im  Jahre  1778  findet  man 
in  Schlözers  Briefwechsel  4,  287. 


776 


Zweiundfünfzigstes  Kapitel 

Der  Bedarf  der  Kolonien 

Quellen  und  Literatur 

Eine  Literatur,  die  insbesondere  das  Problem  der  marktbildenden 
Kraft  der  Kolonien  in  frübkapitalistischer  Zeit  behandelte ,  ist  mir 
nicht  bekannt.  Gestreift  wird  es  in  handelsgeschichtlichen  und  in¬ 
dustriegeschichtlichen  Werken :  siehe  z.  B.  für  die  Vereinigten  Staaten 
Bishop,  A  History  of  American  Manufacturers.  2.  ed.  3  Vol.  1868. 
Vol.I;  Th.  Vogelstein,  a.  a.  0.;  Beer,  Colonial  Policy ;  Taussig, 
Tariff  Hist,  of  the  U.S.,  zuerst  1889;  Eabbeno,  The  American 
Comm.  Policy.  2.  ed.  1895.  Will.  B.  Weeden,  Econ.  and  social 
History  of  New  England  (1620 — 1789).  2  Vol.  1890.  Auch  bei 

Bancroft  findet  man  mancherlei. 

Für  die  übrigen  Kolonialreiche  siehe  die  oben  Seite  431  f.  genannten 
Schriften. 

An  Quellen  und  insbesondere  Quellenliteratur  kommen  von  den  bereits 
erwähnten  Werken  zur  Kolonialgeschichte  für  das  „Bedarfsproblem“ 
verschiedene  in  Befracht,  wie  Raynal,  Buchanan  u.  a. 

Außerdem:  für  das  gesamte  britische  Kolonialreich:  John  Camp¬ 
bell,  A  Political  Survey  of  Britain.  2  Vol.  1774;  Vol.  2  p.  586  ff. 

Für  Indien:  die  Reports  .  .  .  on  Administration  of  Justice  in  India. 

Für  die  nordamerilcanischen  Kolonien:  die  Berichte  der  Governors 
an  die  Lords  Commissioners  of  Trade  and  Plantation  (z.  B.  im  Jahre 
1732). 

Für  die  spanischen  Besitzungen :  f^rn.  deUlloa,  Retablissement 
des  manufactures  et  du  commerce  d’Espagne;  trad.  de  l’Espagne  1753. 


Daß  die  Kolonien  und  die  ihnen  verwandten  Niederlassungen 
der  Europäer  in  den  unerschlossenen  und  unentdeckten  fremden 
Erdteilen  die  „Entwicklung  von  Handel  und  Industrie“,  wie  die 
saloppe  Ausdrucksweise  gemeinhin  lautet,  richtig  also:  die  Aus¬ 
bildung  des  kapitalistischen  Wirtschaftssysteme,  ganz  wesentlich 
gefördert  haben,  ist  eine  Ansicht,  die  von  jeher  die  besten  Sach¬ 
kenner  mit  aller  Entschiedenheit  und  mit  vollem  Hechte  ver¬ 
treten  haben.  Vor  allem  waren  die  Zeitgenossen  darüber  einig, 
daß  die  Kolonien  einen  unermeßlichen  Wert  für  das  Mutterland 
bedeuteten,  und  daß  der  Reichtum  der  seefahrenden  europäischen 
Länder  nicht  zuletzt  auf  den  kolonialen  Beziehungen  sich  auf- 


Zweiundfünfzigstes  Kapitel:  Der  Bedarf  der  Kolonien  777 

baute.  Wir  selbst  sind  dem  Einfluß  der  Kolonien  auf  die  Um¬ 
gestaltung  des  europäischen  Wirtschaftslebens  ebenfalls  schon 
begegnet  dort,  wo  wir  der  Entstehung  des  bürgerlichen  Reich¬ 
tums  nachgingen.  Und  müssen  nun  hier  feststellen,  daß  nicht 
zuletzt  die  Bedeutung  der  Kolonien  in  ihrem  Einfluß  auf  die 
Neugestaltung  des  Bedarfs  zu  suchen  ist,  die  sie  in  verschiedenen 
Richtungen  ausgeübt  haben.  Gerade  auch  dort,  wo  man  ihre 
Wirkung  nicht  gleich  sucht.  So  weist  z.  B.  John  Campbell, 
einer  der  besten  Kenner  des  Kolonialwesens  seiner  Zeit,  mit 
Recht  darauf  hin,  daß  die  Kolonien  für  den  Absatz  der  euro¬ 
päischen  Waren  schon  deshalb  so  bedeutungsvoll  geworden  sind, 
weil  sie  die  Schiffahrt  befördert  und  dadurch  einen  starken 
Bedarf  an  Unterhaltsmitteln  für  die  Seeleute  und  Materialien  für 
den  Schiffbau  erzeugt  haben: 

„All  the  Trades  that  are  connected  with  building,  rigging  and 
supplying  materials  of  every  Kinds  for  ships  and  fitting  out  seamen 
are  indebted  to  the  same  causes  for  their  subsistance.  The  freight 
also  both  out  and  home  is  a  matter  of  great  consequence,  amounts 
offen  to  as  much  and  sometimes  more  than  the  value  of  Goods.  The 
provisions  and  other  necessaries  consumed  by  the  Seamen  in  these 
long  voyages ,  with  many  more  articles  which  would  be  tedious  to 
ennumerate,  concur  to  promote  and  to  reward  almost  every  species 
of  industry  exercised  amongst  us.“  J.  Campbell,  A  political  sur- 
wey  of  Britain  2,  566. 

Man  wird  die  Berechtigung  dieser  Ausführungen  ohne  weiteres 
zugeben,  wenn  man  sich  vergegenwärtigt,  daß  die  spanische 
Flotte  fast  ganz,  aber  auch  von  den  übrigen  seefahrenden 
Nationen  alle  großen  Schiffstypen,  wie  wir  sie  sich  seit  dem 
17.  Jahrhundert  entwickeln  sahen,  dem  Kolonialhandel  dienten, 
daß  von  der  englischen  Flotte  ein  volles  Fünftel  allein  den  Ver¬ 
kehr  mit  Westindien  vermittelte,  daß  England  (1769)  1078  Schiffe 
mit  28  910  Seeleuten  nur  für  den  Verkehr  mit  seinen  nordamerika¬ 
nischen  Kolonien  unterhielt  usw.  Den  großen  Anteil  des  Kolonial¬ 
handels  an  dem  Gesamthandel  der  europäischen  Staaten  werden 
wir  später  noch  genauer  ziffernmäßig  festzustellen  versuchen. 
Hier  wollte  ich'  nur  auf  eine  der  Nebenwirkungen  aufmerksam 
machen,  die  der  Verkehr  mit  den  Kolonien  auf  den  Markt 
ausübte,  und  der  über  dem  Warenabsatz  an  die  Einwohner  der 
Kolonien  selbst  nur  zu  leicht  imbeachtet  gelassen  wird. 

Was  Campbell  für  den  Bedarf  der  Schiffahrt  und  der 
Schiffsmannschaften  ausführt,  hätte  er  übertragen  können  auf 
eine  andere  wichtige  Bedarfskategorie,  die  ebenfalls  durch  die 


778  Sechster  Abschnitt:  Die  Neugestaltung  des  Güterbedarfs 

Kolonien  eine  wichtige  Ausweitung  erfuhr:  ich  meine  den  Be¬ 
darf  der  Kolonialheere  sowie  alle  Ausgaben,  die  für  mili¬ 
tärische  Zwecke  in  der  Kolonie  gemacht  wurden.  "Wir  wissen, 
wie  sehr  die  kolonialen  Unternehmungen  kriegerische  Unter¬ 
nehmungen  waren  und  um  welche  mächtigen  Besatzungen  und 
Festungen  es  sich  handelte.  Der  Bau  der  Forts,  der  Unterhalt 
der  Truppen  beanspruchten  große  Aufwendungen,  die  in  Gestalt 
eines  wachsenden  Massenbedarfs  sich  auf  dem  Warenmärkte 
niederschlugen.  Es  ist  nützlich,  sich  vor  Augen  zu  halten,  daß 
beispielsweise  in  Britisch-Indien  noch  in  der  zweiten  Hälfte  des 
18.  Jahrhunderts  der  Markt,  der  durch  den  Heeresbedarf  gebildet 
wurde,  etwa  fünfmal  so  groß  war  als  derjenige,  der  durch 
den  Warenabsatz  in  Indien  selbst  entstand,  wie  folgende  Ziffern 
erweisen:  in  den  Jahren  1766,  1767,  1768  betrug  der  Gesamtwert 
der  Wareneinfuhr  nach  Bengalen  624375  1 ;  dagegen  kostete  die 
Zivil-  und  Militärverwaltung  in  demselben  Zeitraum  £  3971 836  2. 
Da  sich  die  militärischen  zu  den  administrativen  Ausgaben  etwa 
wie  5  zu  1  verhielten,  so  würden  von  jenem  Betrage  6—700  000  £ 
auf  die  Ausgaben  für  die  Zivilverwaltung  abzurechnen  sein,  so 
daß  der  Heeresbedarf  3 — 31/*  Mill.  betragen  hätte:  eben  das 
Fünffache  des  Wertes  der  Wareneinfuhr. 

Aber  natürlich  kam  auch  der  Warenabsatz  an  die  Bewohner 
der  Kolonialgebiete  in  Frage.  Über  Art  und  Menge  der  in  die 
Kolonien  abgesetzten  Waren  wird  der  Überblick  über  die  inter¬ 
nationalen  Handelsbeziehungen  Aufschluß  geben,  den  der  Leser 
in  dem  6.  Hauptabschnitt  des  2.  Bandes  findet.  Dort  werden  wir 
sehen,  daß  es  sich  sowohl  um  den  Absatz  von  vielen  und  kost¬ 
baren  Luxusgütern  als  auch  um  einen  ansehnlichen  Massenabsatz 
ordinärer  Güter  auf  dem  Kolonialmarkte  handelte.  Hier  möchte 
ich  nur  angeben,  worin  mir  die  Besonderheit  dieses 
Absatzes  zu  bestehen  scheint;  weshalb  gerade  die  Kolonien  in 
so  hervorragendem  Maße  befähigt  waren,  Waren  in  großen 
Mengen  aus  Europa  aufzunehmen. 

Um  auf  diese  Fragen  eine  befriedigende  Antwort  zu  geben, 
müssen  wir  zweifellos  die  sehr  verschiedenen  Kolonialgebiete 
einzeln  betrachten  und  je  ihre  Eigenarten  als  Abnehmer  uns 
klar  zu  machen  versuchen. 


1  View  of  the  rise  etc.  of  the  English  Government  in  Bengal. 
App.  bei  Dutt,  47. 

2  4.  Indian  Report  etc.  (1773);  1.  c.  pag.  46. 


779 


Zweiundfünfzigstes  Kapitel:  Der  Bedarf  der  Kolonien 


So  verschieden  nun  aber  auch  Indien  und  Nordamerika,  die 
Antillen  und  Mexiko  voneinander  waren :  in  einigen  Punkten,  die 
für  ihre  marktbildende  Kraft  von  besonderer  Wichtigkeit  sind, 
wiesen  sie  doch  viel  übereinstimmende  Züge  auf: 

1.  alle  verfügten  sie  über  eine  hervorragend  starke  Kaufkraft, 
wie  das  im  einzelnen  noch  zu  zeigen  sein  wird,  mochten  die 
Quellen  dieser  Kraft  auch  recht  verschieden  sein:  hier  Edel¬ 
metallproduktion,  dort  reiche  Ergiebigkeit  an  begehrten  Natur¬ 
erzeugnissen,  dort  wiederum  ein  allgemeiner  Reichtum  einei  alten 
Kulturbevölkerung ; 

2.  in  allen  besaßen  die  Mutterländer  ein  mehr  oder  weniger 
vollständiges  Absatzmonopol,  das  wiederum  sehr  verschiedenen 
Gründen  —  natürlichen  oder  künstlichen  —  seine  Entstehung 
verdankte ; 

3.  der  Absatz  war  durch  die  Art  der  Warenzufuhr  überallhin 
von  vornherein  zusammengeballt ,  so  daß  die  Versorgung  von 
einer  Stelle  aus:  dem  Ankunftshafen,  der  oft  zugleich  ein  Meß - 
ort  war  (Portobello !  Vera  Cruz !),  notwendig  im  großen  erfolgen 

mußte. 

Im  einzelnen  ergibt  sich  folgendes  Bild : 

Die  asiatischen  Kulturreiche,  in  denen  sich  nament¬ 
lich  Holländer  und  Engländer  einnisteten,  kamen  als  Absatz¬ 
gebiete  für  europäische  Waren  am  wenigsten  in  Betracht.  So¬ 
wohl  ihren  Fein-  wie  ihren  Grobbedarf  an  Gebrauchsgütern 
deckten  sie  seit  Jahrhunderten  durch  eigene  Produktion  oder 
durch  Austausch  untereinander  \  Als  die  Europäer  sich  der 
asiatischen  Gebiete  bemächtigten,  fanden  sie,  wie  bekannt,  einen 
blühenden  Handel  zwischen  den  einzelnen  Reichen,  insbesondere 
auch  mit  Japan  und  China,  vor,  den  muhamedanische  und 
chinesische  Kaufleute  betrieben.  Wenn  sie  diesen  auch  einen 
Teil  des  Handels  mit  Gewalt  Wegnahmen,  so  bedeutete  das 
immer  noch  nicht  einen  Ersatz  der  einheimischen  Waren  durch 
europäische.  Genuß  wurde  auch  hier  ein  mehr  oder  weniger 
empfindlicher  Druck  auf  die  Bevölkerung  ausgeübt,  die  man  von 
der  Vortrefflichkeit  der  europäischen  Waren  zu  „überzeugen“ 
sich  angelegen  sein  ließ.  „They  (the  Dutch)  have  brought  the  ' 


1  Abounding  in  herseif  with  all  the  Necessaries  and.  Gonveniencies 
of  Life,  she  (the  country  of  Bengal)  scarce  took  any  thmg  m  exchange 
but  Gold  and  Silver,  if  we  except  sometimes  for  the  Supply  ofManu- 
factures  to  be  again  exported,  Cotton  from  Surat.  John  Camp¬ 
bell,  Pol.  Survey  2,  611. 


780 


Sechster  Abschnitt:  Die  Neugestaltung  des  Güterbedarla 


natives,  where  they  liave  any  influence,  to  cloath  in  tho  European 
manner,  which  has  wonderfully  (!)  increased  their  commerce 
from  Europe  thither“  —  sc.  to  the  In  dies,  ruft  Postlethwayt 
(Dict.  1 ,  248)  begeistert  aus.  Und  wir  werden  sehen ,  daß  es 
den  europäischen  Herren  gelang,  immerhin  schon  während 
unserer  Epoche  einige  Waren  in  ihren  asiatischen  Besitzungen 
abzusetzen.  Aber  die  eigentliche  Eroberung  des  indischen  Marktes, 
insbesondere  des  britisch  -  indischen  durch  die  Engländer,  fällt 
doch  erst  in  das  19.  Jahrhundert,  nachdem  seit  den  Zeiten  der 
Kontinentalsperre  die  systematische  Vernichtung  des  indischen 
Gewerbes  begonnen  wurde.  Erst  die  berühmte  Untersuchungs- 
kommission  des  Jahres  1813  hatte  die  folgenschwere  Frage  zu 
beantworten:  wie  bringen  wir  Engländer  es  fertig,  unsere 
Schundwaren  den  Indiern  an  Stelle  ihrer  vortrefflichen  eigenen 
Erzeugnisse  aufzudringen? 

Die  amerikanischen  Kulturländer  waren  weniger 
widerstandsfähig  als  die  asiatischen,  hatten  wohl  auch  nicht  eine 
so  hochentwickelte  gewerbliche  Produktion  wie  diese.  Dazu  kam, 
daß  in  ihnen  mehr  wohlhabende  Europäer  angesiedelt  waren  als 
in  den  asiatischen  Kolonien,  so  daß  sie  namentlich  als  Ab¬ 
nehmer  europäischer  Luxuswaren  erheblicher  in  Betracht  kommen. 
Ein  striktes  Verbot  eigener  gewerblicher  Tätigkeit  bestand  nicht. 
Die  spanische  Regierung  erklärte  mit  einer  gewissen  Pose  den 
Grundsatz:  „Importa  menos  que  cesen  algunas  fäbricas  que  el 
menos  agravios  que  puedan  recibir  los  indios.“ 1  Ein  gewisses 
Absatzmonopol  schuf  eben  die  berüchtigte  Einrichtung  der  re- 
partimientos,  von  denen  wir  in  anderm  Zusammenhang© 2  bereits 
Kenntnis  erhalten  haben. 

Jedenfalls  wissen  wir,  daß  namentlich  im  16.  Jahrhundert, 
bald  nach  der  Eroberung,  eine  mächtige  Nachfrage  nach  Luxus¬ 
gütern  von  jenen  Gebieten  ausging,  in  denen  die  Spanier  Fuß 
gefaßt  hatten,  und  daß  diese  es  waren,  die  zuerst  davon  Nutzen 
zogen.  Im  Jahre  1545  soll  die  indische  Nachfrage  so  groß  ge¬ 
wesen  sein,  daß  die  ganze  Nation  zu  ihrer  Befriedigung  zehn 
Jahre  hätte  arbeiten  müssen.  Auf  sechs  Jahre  waren  Vorbestel¬ 
lungen  eingegangen3.  Samt  in  Granada  kostete  20—29  Realen, 

1  Ley  4  tit.  XXVI  lib.  IV.  Recop.  de  Indias,  bei  Colmeiro, 
Econ.  pol.  2,  395  ff. 

2  Siehe  oben  Seite  442. 

3  Campomanes,  Educacion,  406;  zit.  bei  Bonn,  109.  110. 


Zweiundfünfzigstes  Kapitel:  Dev  Bedarf  dev  Kolonien 


781 


die  indische  Nachfrage  trieb  ihn  in  14  Tagen  auf  35 — 36  Realen. 
Ähnlich  lagen  die  Dinge  in  Sevilla1 2. 

Ganz  anders  war  die  Lage  der  europäischen  Besitzungen  auf 
den  Inseln  in  der  Südsee,  den  sog.  Zuckerkolonien.  Hier 
gab  es  eine  einheimische  Gütererzeugung,  die  den  Bedarf  der 
weißen  und  schwarzen  Bevölkerung  an  Nahrungsmitteln,  Be¬ 
kleidungsgegenständen,  Produktionsmitteln,  Luxusgütern  zu  be¬ 
friedigen  vermocht  hätte,  überhaupt  nicht.  Es  war  aber  auch 
ganz  ausgeschlossen,  daß  sie  sich  in  nennenswertem  Umfange 
hätte  entwickeln  können :  die  Einwohner  hatten  besseres  zu  tun, 
als  Getreide  zu  bauen  oder  Stiefeln  und  Hüte  zu  machen.  Sie 
brachten  die  stark  begehrten  Kolonialprodukte  hervor,  durch 
deren  Absatz  sie  auf  das  beste  in  die  Lage  versetzt  wurden, 
ihren  gesamten  Güterbedarf,  namentlich  ihren  Bedarf  an  gewerb¬ 
lichen  Erzeugnissen  von  auswärts  zu  beziehen.  Hier  erwuchs 
den  Mutterländern  ein  bedeutendes  Absatzgebiet,  auf  dem  sie 
sowohl  Luxusgüter  für  die  reichen  Pflanzer 3 * * *  als  Massenartikel 
für  die  Neger  anbringen  konnten.  .  Die  einförmige  Bekleidung 
der  Sklaven  hat  offenbar  einen  beträchtlichen  Bedarf  an  ordinärer 
Leinwand  und  Kattun  erzeugt. 

„Les  habitans  des  Colonies  de  lAmerique  ont  les  memes  besoins 
que”  ceux  d’Europe,  si  on  excepte  les  vetemens  d’hyver,  que  leur 
clima  leur  rend  inutiles.  Ils  n’ont  ni  vins,  ni  eaux  de  vie  de  sucre, 
ni  farines,  ni  salaisons,  ni  aucune  Sorte  de  manufactures.  11  faut  leur 
porter  des  etoffes  legeres,  des  toiles  de  toutes  sortes,  de  la  quin- 
caillerie.  des  parures,  des  bas,  des  chapeaux,  des  meubles,  des  usten- 
siles  de  toute  espece,  des  armes  et  des  munitions  de  guerre.  Le 
commerce  n’offre  aucune  branche  qui  embrasse  une  exportation  si 
avantageuse  et  qui  donne  en  meme  temps  un  retour  si  riebe.“  Le 
commerce  de  la  Hollande  etc.  1  (1768),  255. 

Die  auf  den  Inseln  vereinigten  Bevölkerungsmengen  hatten 
gegen  Ende  des  18.  Jahrhunderts  bereits  eine  ansehnliche  Höhe 
erreicht,  wie  aus  folgenden  Ziffern  hervorgeht. 

Die  Bevölkerung  der  „Zuckerinseln“  (Westindien)  betrug  1793 
nach  Bryan  Edwards  (zitiert  bei  Hüne,  Sklavenhdl.  1,  348  f.) : 


1  Mercado,  Tratos  y  contratos  (1591)*,  ebenda. 

2  In  den  französischen  Kolonien  bleiben  9/io  der  reichen  Plantagen¬ 

besitzer  wohnen,  während  allerdings  die  Engländer  eine  andere  Praxis 

befolgten:  aus  ihren  Kolonien  zogen  die  reich  gewordenen  Unternehmer 

fort,  um  von  London  aus  durch  Agenten  ihre  Plantagen  leiten  zu 

lassen.  Raynal,  Histoire  3,  85.  82. 


782 


Sechster  Abschnitt:  Die  Neugestaltung  des  Güterbedarfs 


Weiße 

Schwarze 

Jamaica 

30  000 

250  000 

Barbados . 

16167 

62  115 

Granada 

1  000 

23  926 

St.  Vincent  ... 

1450 

11  853 

Dominico . 

1  236 

14  967 

Antigua . 

2  590 

37  808 

Montferat  ... 

1300 

10  000 

Nevis  ... 

1000 

8  420 

St.  Christoph  .  .  . 

1  900 

20  435 

Virg.  Inseln  .  . 

1  200 

9  000 

Bahamas  ... 

2  000 

2  241 

Bermudas . 

5  462 

4  919 

Insgesamt 

65  305 

455  684 

Blieben  die  nordamerikanischen  Kolonien  Englands, 
die  ein  besonders  wichtiger  Markt  für  die  Waren  des  Mutter¬ 
landes  wurden.  Man  weiß,  daß  England  hier  ein  striktes  Verbot 
der  gewerblichen  Produktion  erließ  und  auch,  soviel  wir  zu  be¬ 
urteilen  vermögen,  ziemlich  streng  durchführte.  Bis  auf  einige 
grobe  Bedarfsartikel  haben  die  englischen  Kolonien  in  Nord¬ 
amerika  keine  gewerblichen  Erzeugnisse  hergestellt»  Ein  paar 
„Manufakturen“  (z.  B.  von  Hüten),  die  sich  hier  und  da  dem 
\ erböte  zum  Trotz  auftaten,  bilden  eine  belanglose  Ausnahme. 

Die  oben  erwähnte  Denkschrift  aus  dem  Jahre  1732  gibt  uns 
ein  gutes  Bild  von  dem  Stande  der  gewerblichen  Produktion  in 
den  nordamerikanischen  Kolonien.  Ich  teile  einiges  daraus  mit : 

New  Hampshire,  „there  were  no  settled  manufactures  .  .  .  the  people 
almost  wholly  cloatked  with  wollen  from  Great  Britain.“ 

Massachuset's  Bay  (New  England):  „in  someparts  of  this  province, 
the  inhabitants  worked  up  their  wool  and  flax  into  an  ordinary  coarse 
cloath  of  their  own  use  .  .  .  the  greatest  part  of  both  woollen  and 
linen  cloathing  worn  in  this  province  was  imported  from  Great  Britain 
there  were  a  few  hatters  set  up  in  the  maritime  towns  .  .  .  the  greater 
part  of  the  leather  used  in  that  country  was  manufactured  amongst 
themselves  .  .  .  there  had  been  for  many  years  some  iron-w,orks  in 
that  province  .  .  .  (but)  that  province  were  not  able  to  supply  the 
twentieth  part  of  what  was  necessary  for  the  use  of  the  country.“ 
Aus  einem  späteren  Bericht:  „Some  othcr  manufactures  are  carried 
on  there ;  as  the  making  of  brown  Hollands ,  for  womens  wear 
they  also  make  some  small  quantities  of  clotk  made  of  linen  and 
cotton,  for  ordinary  shirting  and  sheeting.  By  a  paper-mill,  set  up 
three  years  ago,  they  make  to  the  value  of  200  j£  yearly.“ 

„Theie  are  also  several  forges  for  making  of  bar  iron  and  some 
foinaces  for  casf  iron  —  and  one  slitting  mill :  —  and  a  manufacture 
of  nails.  The  governor  writes,  concerning  the  woollen  manufacture, 


Zweiundfünfzigstes  Kapitel:  Der  Bedarf  der  Kolonien  783 

that  the  country  people  who  used  formerly  to  make  most  of  their 
cloathing  out  of  their  own  wool,  do  not  now  make  a  third  part  of 
what  they  wear,  but  are  mostly  cloathed  witk  British  manufactures  .  .  . 
there  are  some  few  copper  mines  in  this  province  but  so  far  distant 
from  water  carriage,  and  the  are  so  poor,  that  it  is  not  worth  the 
digging  .  .  .  they  have  in  New  England  6  furnaces  and  19  forges  for 
making  iron  ...  in  this  province,  many  ships  are  built  for  the  French 
and  Spaniards  .  .  .  Great  quantities  of  hats  are  made  in  New  England 
(das  schwerste  Delikt !)  .  .  .  they  also  make  all  sorts  of  iron-work  for 
shipping.  There  are  several  still-houses  and  sogar  bakers  establishe- 
ments  in  New  England  .  .  .  “ 

Neu-England  war  aber  auch  das  Schmerzenskind  der  Mutter  Eng¬ 
land!  Und  trotzdem:  wie  winzig  ist  der  Umfang  der  gewerblichen 
Produktion  selbst  hier. 

New  Yorlc:  „they  had  no  manufactures  in  that  province  that  de- 
served  mentioning“ ;  in  einem  späteren  Bericht :  „the  Company  of 
Hatters  of  London  have  since  informed  us,  that  hats  are  manufactured 
in  great  quantities  in  this  province.“ 

New  Jersy :  „no  manufactures  here  that  deserve  mentioning“; 

Pennsylvanien :  „having  no  manufactures  established;  their  cloathing 
and  Utensils  for  their  houses  being  all  imported  from  Great  Britain“  ; 

Rhode  Island:  „there  are  iron  mines  there;  but  not  a  fourth  part 
mon  enough  to  serve  their  own  use.“ 

Was  uns  die  späteren  Sachverständigen  über  den  Stand  der 
gewerblichen  Produktion  berichten,  läßt  erkennen,  daß  diese  in 
den  nordamerikanischen  Kolonien  im  Laufe  des  18.  Jahrhunderts 
sich  nicht  wesentlich  ausgedehnt  hat1. 

Um  zu  ermessen,  welch  großes  Absatzgebiet  sich  hier  für  das 
Mutterland  erschloß,  müssen  wir  uns  die  Zahlen  der  Ein¬ 
wohner  in  den  nordamerikanischen  Kolonien  um  jene  Zeit  ver¬ 
gegenwärtigen.  Ist  auch  die  Schätzung  des  „Congress  of  America“ 
aus  dem  Jahre  1774  offenbar  zu  hoch,  nämlich  3 026 678 2,  so 
dürfen  wir  doch  annehmen,  daß  zur  Zeit  ihres  Abfalls  die  Kolo¬ 
nien  von  mehr  als  einer  Million  Menschen  bewohnt  waren.  Ich 
teile  hier  die  ziemlich  übereinstimmenden  Ziffern  mit,  die  zwei 
vertrauenswerte  Gewährsmänner  offenbar  aus  guten  Quellen  in 
ihren  Werken  angeben3: 


1  Siehe  z.  B.  die  Angaben  bei  Raynal,  Histoire  3,  316.  317. 
347.  366,  und  vergleiche,  was  Vogels  fcein  a.  a.  0.  aus  andern 
Quellen  an  Material  beibringt. 

2  Bei  Anderson  4,  178. 

3  John  Campbell,  Pol.  Survey  2,  639  ff.,  und  Raynal, 
Histoire  Vol.  2  passim 


784  Sechster  Abschnitt:  Die  Neugestaltung  des  Güterbedarfs 

Kolonie 

Nach  Campbell 

Nach  ßaynal 

Neu-England . 

New  York . 

Pennsylvanien  .... 

New  Jersey . 

Maryland . 

Virginia . . 

500  000 

120  000 

2—300  000 

600  000 

100  000 

150  000 

1 

1 

| 

K 

400  000 

150  000 

'  150  000  Weiße 
[  30  000  Schwarze 
'  50  000  Weiße 

20  000  Schwarze 

40  000  Weiße 

60  000  Schwarze 

1  70  000  Weiße 

110  000  Schwarze 

Insgesamt 

1130  000 

1080  000 

785 


Siebenter  Abschnitt 
Die  Beschaffung  der  Arbeitskräfte 

Übersicht 

Ohne  geeignete  Arbeitskräfte  in  genügender  Menge  —  kein 
moderner  Kapitalismus.  Deshalb  bildet  die  „Entstehung  eines  Lohn¬ 
arbeiterstandes“  eine  der  notwendigen  Bedingungen  kapitalistischer 
Wirtschaft.  Bei  näherem  Hinsehen  ergibt  sich,  daß  das  Problem 
zwieschlächtig  ist:  es  handelt  sich  einerseits  um  die  Frage,  wie  und 
wann  und  warum  eine  genügende  Menge  besitzloser  Menschen 
(Lohnarbeiter  in  potentia)  heranwuchs ;  andererseits  aber  um  die, 
wie  wir  sehen  werden,  weit  wichtigere  Frage :  wie  der  Unternehmer 
geeignete  und  willige  Arbeitskräfte  (Lohnarbeiter  in  actu)  sich 
verschaffte.  Der  zweite  Teil  dieses  Problems  bildet  einen  Teil  der 
staatlichen  Politik  im  merkantilistischen  Zeitalter.  Ich  sagte 
oben  auf  Seite  340,  weshalb  ich  die  „Arbeiterpolitik“  gesondert 
behandeln  wollte:  weil  sie  zu  ihrem  Verständnis  ein  Eingehen  auf 
die  Gestaltung  der  Arbeiterverhältnisse  selber  erheischte  und  weil 
dieses  erst  an  einer  späteren  Stelle  dieses  Werkes  möglich  sei. 
Dieser  Punkt  ist  jetzt  erreicht.  Gemäß  der  durch  diese  Sonder¬ 
behandlung  bewirkten  eigentümlichen  Anordnung  des  Stoffes 
zerfällt  dieser  Abschnitt  in  die  zwei  getrennten  Bestandteile,  die 
durch  je  ein  besonderes  Kapitel  vertreten  werden:  Darstellung 
der  Gegenständlichkeit  der  Arbeiterverhältnisse  (53.  Kapitel)  und 
Darstellung  des  dadurch  hervorgemfenen  Verhaltens  der  staat¬ 
lichen  Gewalten  (54.  Kapitel). 

*  * 

* 


Sombart,  Der  moderne  Kapitalismus.  I 


50 


786 


Siebenter  Abschnitt:  Die  Beschaffung  der  Arbeitskräfte 


Literatur 

Von  der  Literatur  ist  dieser  Teil  der  Wirtschaftsgeschichte  und 
Politik  recht  stiefmütterlich  behandelt.  Außer  für  England  ist  mir  eine  zu¬ 
sammenfassende  Spezialliteratur  nicht  bekannt.  Die  zahlreichen  Schriften, 
die  sich  mit  der  „Geschichte  der  arbeitenden  Klassen“  beschäftigen,  auch 
wenn  sie  diese  als  „Proletariat“  bezeichnen,  sind  doch  unter  völlig 
andern  Gesichtspunkten  ausgerichtet ,  auch  meist  viel  zu  allgemein 
gehalten,  als  daß  sie  uns  wesentliche  Dienste  leisten  könnten.  So 
wird  das  hier  herausgestellte  Problem  kaum  berührt  in  bekannten 
Werken,  wie  etwa  H.  W.  Bensen,  Die  Proletarier.  Eine  historische 
Denkschrift.  1847;  E.  Baumstark,  Zur  Geschichte  der  arbeitenden 
Klassen.  1853  (Rede);  Eccardus,  Geschichte  des  niederen  Volkes 
in  Deutschland.  2  Bde.  1907.  Robert  (du  Var),  Histoire  de  la 
classe  ouvriere  depuis  l’esclavage  jusqu’au  proletaire  de  nos  jours. 
4  Vol.  1845  —  50  (handelt  im  wesentlichen  von  den  revolutionären 
Bewegungen  der  arbeitenden  Bevölkerung,  nicht  von  dieser  selbst). 
A.  Villard,  Histoire  du  Proletariat  ancien  et  moderne.  1882  (der 
Verfasser  kennt  bis  1789  eigentlich  nur  Landarbeiter  und  Handwerker). 

Meist  werden  die  Arbeiterverhältnisse  und  die  Arbeiterpolitik  von 
den  Forschern  bei  der  Darstellung  der  Gewerbepolitik  oder 
in  den  allgemeinen  Wirtschaftsgeschichten  mit  erledigt  (Levasseur 
nennt  sogar  sein  Buch :  Geschichte  der  Industrie  und  der  arbeitenden 
Klassen :  trotzdem  enthält  es  über  diese  in  der  Frühzeit  nichts  wesent¬ 
lich  Interessantes).  Deshalb  ist  auf  diejenigen  Werke  zu  verweisen, 
die  ich  im  24.  Kapitel  namhaft  gemacht  habe. 

Dazu  kommen  dann  diejenigen  Schriften,  die  die  Geschichte 
des  Armenwesens  zum  Gegenstände  haben,  da  sich  Armenwesen 
und  Arbeiterwesen  (the  Poor,  the  labouring  Poor,  Le  Pauvre  = 
Lohnarbeiter!)  in  jenen  Jahrhunderten  eng  berühren.  Ich  verweise 
auf  den  Artikel  „Armenwesen“  (Geschichte  der  öffentlichen  Armen¬ 
pflege)  im  H.St.  und  die  dort  genannte  Literatur.  Für  unsere 
Zwecke  kommen  von  den  allgemeinen  Darstellungen  vornehmlich  in 
Betracht:  De  Gerando,  De  la  bienfaisance  publique.  4  Vol. 
1839,  das  aber  jetzt  überholt  ist  von  dem  großen  Werke:  Leon 
L  allem  and,  Histoire  de  la  Charite,  dessen  4.  Band  (1910 — 12) 
die  neuere  Zeit  vom  16.  bis  19.  Jahrhundert  behandelt.  Das  2.  Buch 
des  1.  Teiles  enthält  einen  erschöpfenden  Überblick  über  die  gegen 
Bettel,  Vagabondage  usw.  in  den  verschiedenen  Staaten  getroffenen 
Maßregeln.  Selbständigen  Wert  behält  daneben  wegen  seiner  Statistiken 
das  Buch  von  F.  M.  L.  Naville,  De  la  charite  legale  ...  et  speciale- 
ment  des  maisons  de  travail.  2  Vol.  1836.  —  Aus  der  neuen,  zu¬ 
sammenfassenden  Literatur  der  einzelnen  Länder  verdient  besonders 
hervorgehoben  zu  werden  das  ausgezeichnete  Buch  von  Chr.  Paultre, 
De  la  Repression  de  la  mendicite  et  du  vagabondage  en  France  sous 
l’ancien  regime.  1906.  Einzelne  Spezialschriften  nenne  ich  noch  mehr 
im  Verlauf  der  Darstellung. 

Die  Geschichte  der  englischen  Arbeiterverhältnisse  und  der  eng¬ 
lischen  Arbeiterpolitik  während  des  Zeitalters  des  Merkantilismus  ist 


Siebenter  Abschnitt:  Die  Beschaffung  der  Arbeitskräfte  787 

mehrfach  Gegenstand  besonderer  Darstellungen  geworden.  Es  lassen 
sich  drei  Gruppen  von  Autoren  unterscheiden,  von  denen  ich  je  die 
wichtigsten  nenne:  1.  die  Ge  werkverein  ler:  L.  Brentano, 
Die  Arbeitergilden  der  Gegenwart.  Band  I.  1871;  S.  u.  B.  Webb, 
The  History  of  Trade-Unionism.  1894;  deutsch  1895;  2.  die  Geschichts¬ 
schreiber  der  Preis-  und  Lohnverhältnisse:  J.  S.  Thor. 
Rogers,  Six  centuries  ofWork  and  Wages.  2  Yol.  1884;  deutsch 
u.  d.  T.  Geschichte  der  englischen  Arbeit.  1896;  Gust.  Steffen, 
Geschichte  der  englischen  Arbeiter.  3  Bände;  deutsch  1901  f.  (Die 
beste  Darstellung,  jedoch  vorwiegend  Lohngeschichte);  3.  die 
Marxisten:  sie  gehen  alle  auf  das  24.  Kapitel  des  „Kapitals“  zurück 
und  paraphrasieren  es,  ohne  ihm  wesentlich  Neues  hinzuzufügen.  Es 
kommen  vornehmlich  in  Betracht:  H.  M.  Hyndman,  The  historical 
basis  of  Socialism  in  England.  1883;  K.  Kautsky  und  Ed.  Bern¬ 
stein,  Die  Vorläufer  des  neueren  Sozialismus.  1.  Band.  2.  Teil. 
Zuerst  1895.  Marxens  Kapitel  über  die  „ursprüngliche  Akkumulation 
des  Kapitals“  war  zu  seiner  Zeit  eine  geniale  Leistung.  Heute  ist 
seine  Darstellung  veraltet.  Wir  wissen,  daß  fast  kein  Wort  darin 
„richtig“  ist,  das  heißt  sich  mit  den  Tatsachen  in  Einklang  bringen  läßt. 

Unentbehrlich  beim  Studium  der  älteren  englischen  Arbeiter-  und 
Armenpolitik  ist  das  Werk  von  Eden,  The  State  of  the  Poor.  3  Vol. 
1797.  Es  enthält:  1.  die  heute  noch  beste,  jedenfalls  ausführlichste  ge¬ 
schichtliche  Darstellung  des  Gegenstandes,  die  vor  allem  wertvoll  ist 
durch  die  langen  Auszüge  aus  den  schwer  erhältlichen  Streitschriften  des 
17.  und  18.  Jahrhunderts;  2.  (der  Hauptinhalt)  eine  Enquete  über  die 
Lage  der  Arbeiter  und  den  Stand  des  englischen  Armenwesens  in  den 
1790er  Jahren;  ferner  in  den  Anhängen:  3.  alle  wichtigen  arbeiter¬ 
politischen  Gesetze  und  Verordnungen  im  Wortlaut  (App.  VIII); 
4.  Regesten  sämtlicher  arbeiterpolitischen  Gesetze,  Verordnungen 
usw.  von  1  Ed.  III  c.  7  bis  36  Geo.  III  c.  51  (App.  IX);  5.  eine 
Bibliographie  von  ca.  300  Schriften  über  Arbeiterverhältnisse  und 
Armenwesen  in  englischer  Sprache  von  1524  bis  1797. 

Dem  Stande  unseres  heutigen  Wissens  entsprechende  Unter¬ 
suchungen  über  den  Ursprung  der  Lohnarbeiterschaft,  über  die  Lage 
der  Lohnarbeiter  während  der  frühkapitalistischen  Epoche  sowie  über 
die  merkantilistische  Arbeiterpolitik  täten  dringend  not.  Einige  Spezial¬ 
schriften,  die  diese  Themata  behandeln,  nenne  ich  noch  im  weitei’en 
Verlauf  der  Darstellung. 


50» 


788 


Dreiundfünfzigstes  Kapitel 

Die  Arbeiternot 

I.  Massenelend  und  Masse nbettel 

Das  Arbeiterproblem  während  der  frühkapitalistischen  Epoche 
läßt  sich  nur  verstehen ,  wenn  man  sich  den  seltsamen  "Wider¬ 
spruch  zum  Bewußtsein  bringt,  der  die  eigentümliche  Gestaltung 
des  Arbeitsmarktes  während  dieses  ganzen  Zeitalters  recht 
eigentlich  ausmacht :  den  Widerspruch,  daß  gleichzeitig  ein  Über¬ 
angebot  an  Arbeitskräften  herrscht  und  vielerorts  sich  ein  Mangel 
an  Arbeitskräften  fühlbar  macht.  Wenn  ich  sage:  es  herrschte 
ein  Überangebot  an  Arbeitskräften,  so  ist  darunter  zu 
verstehen:  daß  es  in  allen  Staaten  vom  15.  bis  zum  18.  Jahr¬ 
hundert  eine  große  Masse  besitzloser,  armer,  arbeitsfähiger  Leute 
gab,  die  ihren  Unterhalt  durch  eine  Erwerbstätigkeit  nicht  oder 
nicht  in  ausreichendem  Maße  fanden,  und  die  infolgedessen  ent¬ 
weder  bettelten  oder  hungerten  und  schließlich  Hungers  starben. 
Die  Tatsache  des  Massenelends  während  aller  Jahrhunderte 
des  Frühkapitalismus  und  in  allen  europäischen  Ländern  ist  durch 
eine  hinreichende  Menge  von  Belegen  als  verbürgt  anzusehen. 

Frankreich:  Schon  im  14.  und  15.  Jahrhundert  vernehmen  wir  von 
einem  „fast  allgemeinen  Elend“:  Levasseur  hat  die  Quellen  im 
2-  Kapitel  des  4.  Buches  seines  Werkes  u.  d.  T.  „Appauvrissement 
du  pays“  zusammengestellt.  Ich  füge  noch  hinzu:  Anfang  des  15.  Jahr¬ 
hunderts  schätzt  Gruillebort  von  Metz  die  Zahl  der  Bettler  in  Paris 
auf  80  000  (!  ?).  In  Troyes  wohnten  nach  einer  Zählung  des  Jahres 
1482  damals  15  309  Menschen  „außer  etwa  3000  Bettlern“.  Chr. 
Paultre,  1.  c.  2  f .  Gegen  Ende  des  16.  Jahrhunderts  nimmt  die 
Zahl  der  Bettler  erschreckend  zu.  1578  berichten  die  Schöffen  von 
Amiens  von  5 — 6000  Arbeitern  „estans  ä  l’aumosne  nourris  par  les 
autres  habitans  aises“.  Die  reichsten  Städte  hatten  die  meisten  Annen, 
weil  alle  Vagabunden  dort  zusammenströmten.  In  den  letzten  Jahren 
des  Jahrhunderts  spricht  L’Estoile  von  den  „processions  de  pauvres 
qui  s’y  (in  Paris)  voyaient  par  les  rues  en  teile  abondance  qu’on  n’y 
pouvait  passer“  und  erzählt,  daß  im  Hotel  Dien  „il  mouroit  pres  de 
six  cents  personnes  par  mois ,  la  plupart  de  faim  et  de  necessite“. 
Le  grand  Journal  de  Henry  IV  p.  269.  Im  Jahre  1576  errichtet  man 
in  Paris  „öffentliche  Werkstätten“,  „des  ateliers  publics“,  um  die 


Dreiundfüufzigstes  Kapitel:  Die  Arbeiternot 


789 


Bettler  und  Vagabunden  zu  beschäftigen,  die  die  Straßen  anfüllten. 
Robiquet,  Hist,  munic.  de  Paris  1  (1880),  653  f. 

Paris  blieb  immer  der  Hauptsitz  des  Elends  und  des  Bettels :  1634 
gab  es  daselbst  nach  Omer  Talon  (Oeuvres  1,  98  f.)  65  000  Bettler, 
das  wäre  ein  Viertel  der  Bevölkerung  gewesen.  Zit.  bei  Moreau 
de  Jonnes,  Et.  econ.  de  la  France,  217.  218.  Nach  einer  andern 
Quelle  wird  die  Zahl  der  Bettler  in  Paris  im  Jahre  1640  auf  40  000 
bemessen.  Histoire  de  l’höpital  general  de  Paris.  1676 ,  zit.  bei 
Gerando  4,  486. 

In  einer  Denkschrift  an  den  Polizeipräsidenten  von  Paris  im  Jahre 
1684  wird  gesprochen  von  der  „misere  affreuse  qui  afflige  la  plus 
grande  partie  des  habitants  de  cette  grande  ville“  (Paris).  Bestätigt 
durch  offizielle  Berichte.  Levasseur  2,  333. 

In  einer  Petition  der  Armen  von  Paris  vom  Mai  1662  heißt  es : 
„que  les  pauvres  de  Paris  sont  en  tres  grand  nombre  et  tres  grande 
necessite  .  .  .  Leur  misere  est  parvenue  ä  son  comble.  Les  höpitaux 
sont  si  pleins  qu’ils  ne  peuvent  plus  recevoir  .  .  .  “  Corr.  adm.  sous 
Louis  XIV.  p.  654. 

Man  erachtete  den  Bettel  großen  Stils  geradezu  als  eine  unver¬ 
meidliche  Begleiterscheinung  der  Kultur  und  des  Reichtums.  So  ver¬ 
trat  Voltaire  einem  Schriftsteller  gegenüber,  der  behauptet  hatte, 
je  barbarischer  ein  Land  sei,  desto  mehr  Bettler  fänden  sich  dort,  die 
Auffassung,  daß  im  Gegenteil  viel  Bettel  ein  Zeichen  höchster  Zivili¬ 
sation  sei:  denn  keine  Stadt  der  Welt  sei  weniger  barbarisch  als 
Paris,  und  in  keiner  Stadt  gäbe  es  mehr  Bettler  als  in  Paris:  „je 
pense  qu’il  n’y  a  point  de  ville  moins  barbare  que  Paris  et  pourtant 
oü  il  y  ait  plus  de  mendiants.  C’est  une  vermine  qui  s’attache  ä 
la  richesse ;  les  faineants  accourent  du  bout  du  royaume  ä  Paris  pour 
y  mettre  ä  contribution  l’opulence  et  la  bonte.“  Voltaire,  Lettre 
ä  Mr  T.,  sur  l’ouvrage  le  M.  Melon  et  sur  celui  de  M.  Dutot.  1738; 
1.  c.  p.  675. 

Auch  M  e  r  c  i  e  r  meinte  noch :  „Les  mendians  vagabonds  se  multi- 
plient  dans  les  pays  riches.“  Im  übrigen  stellt  er  eine  Abnahme  des 
Bettels  in  Paris  fest:  an  seine  Stelle  sei  jene  „aktive  und  arbeitsame 
Armut“  (cette  pauvrete  active  et  laborieuse)  getreten,  die  allein  den 
Reichtum  der  Königreiche  ausmache  (!).  Tableau  de  Paris  11,  340  f. 

Aber  nicht  nur  in  Paris,  auch  im  Lande  herrschte  das  Elend  und 
machten  der  Bettel  und  die  Vagabundage  sich  breit.  Am  liebsten 
natürlich  in  Teuerungsjahren,  wie  es  1693  und  1694  waren.  Am 
15.  Januar  1693  bittet  der  Bischof  von  Noyon  den  Contröleur  general, 
einen  Befehl  gegen  die  Zusammenrottung  der  Armen  zu  ei’lassen :  „La 
chose  presse  d’autant  plus  qu’ils  menacent  les  eures,  les  religieux 
et  les  principaux  habitans  des  villages  de  les  piller  s’ils  ne  font  des 
aumosnes  au-dessus  de  leur  pouvoir.“ 

„Les  ville s  se  remplissent  de  pauvres  que  les  bourgeois  ne  peuvent 
plus  soutenir.  La  calamite  est  encore  plus  affreuse  dans  les  villages  . . 
schreibt  dei  Intendant  des  Languedoc  6.  Nov.  1693. 

Bischof  von  Montauban  (16.  April  1694).  „nous  trouvons  presque 
tous  les  jours  ä  la  porte  de  cette  ville  7  4  8  personnes  mortes,  et 


790  Siebenter  Abschnitt:  Die  Beschaffung  der  Arbeitskräfte 

dans  mon  diocese,  qui  cornpte  750  pajoisseis,  il  nieurt  bien  450  per- 
sonnes  tous  les  jours  faute  de  nourriture.“ 

Intendant  von  Bordeaux  (19.  April  1692):  „il  nieurt  tous  les  jours 
un  si  grand  nombre  de  pei’sonnes  qu’il  y  aura  des  paroisses  oü  il  ne 
restera  pas  le  tiers  des  habitants.“  Bei  Levasseur  2,  351  f. 

„Le  menu  peuple  .  .  .  est  beaucoup  diminue  dans  ces  derniers  ternps 
par  la  guerre ,  les  maladies  et  par  la  unsere  des  cheres  annees  qui 
en  ont  fait  mourir  de  faim  un  grand  nombre  et  reduit  beaucoup 
d’autres  ä  la  mendicite  .  .  Vauban,  Dime  royale  (1707),  ed. 
Daire  p.  86. 

Am  4.  August  1710  schreibt  Fenelon  an  den  Herzog  von 
Chevreuse:  „La  culture  des  terres  est  presque  abandonnees ;  les 
villes  et  la  Campagne  se  depeuplent;  tous  les  metiers  languissent  et 
ne  nourrissent  plus  les  ouvriers.  La  France  entiere  n’est  plus  qu’un 
grand  höpital  desole  et  sans  provision.“ 

1740  der  Bischof  von  Clermont  an  Fleury:  „Unser  Volk  lebt  in 
furchtbarem  Elend,  es  fehlt  an  Betten  und  Möbeln,  die  meisten  ent¬ 
behren  das  V 2  Jahr  hindurch  sogar  das  Gersten-  und  Haferbrod,  das 
ihre  einzige  Nahrung  bildet  .  .  .  “  Zit.  bei  Jäger,  Franz.  Rev.  1,  167. 

Ein  Intendant  schreibt  1772  an  Terray:  „La  disette  et  la  misere 
sont  extremes  dans  divers  cantons  de  la  Bretagne  .  .  .  “  Bei  L  e  - 
vasseur  2,  773. 

In  vielen  Provinzen  konnte  man  wie  in  Le  Berri  sprechen:  „de 
la  misere  extreme  des  dernieres  classes  de  la  societe.“  Ib.  p.  785. 

Ein  Pfarrer  im  Pas-de-Calais  schreibt  im  Juni  1786:  „Je  suis 
eure  depuis  trente  trois  ans;  je  n’ai  pas  encore  vu  la  misere  et  la 
pauvrete  montees  ä  un  si  haut  degre  qu’elle  est  aujourdhui.  Puis-je 
avec  cinq  ou  six  habitants  nourrir  trente -trois  autres  menages  ne- 
cessiteux?“  .  .  . 

Ich  trage  noch  einige  Schriften  nach,  aus  denen  die  Verbreitung 
der  Elendszustände  in  den  einzelnen  Teilen  Frankreichs  während  des 
16.  bis  18.  Jahrhunderts  zu  ersehen  ist: 

C.  Hippe  au,  L’industrie  etc.  en  Normandie  (1870),  129  ff. 
H.  See,  Les  classes  rurales  en  Bretagne  etc.  (1906),  469  ff. 
H.  C  h  o  t  a  r  d ,  La  mendicite  en  Auvergne  au  XVIII.  siecle  ,  in  der 
Revue  d’Auvergne  t.  XV  (1898).  G.  Vale  an,  Misere  et  charite  en 
Provence  au  XVIII.  siecle  (1899),  Ch.  III. 

Alp h.  Feillet,  La  misere  au  temps  de  la  Fronde.  1862.  (Die 
Darstellung  wird  getrübt  durch  die  liberalisierende  Tendenz  des  Ver¬ 
fassers.) 

Eine  gute  Übersicht  über  die  französische  Elendsliteratur  gibt 
J.  Letaconnoux  in  der  Revue  d’hist.  moderne  t.  VIII  (1906/07),  418. 

Im  18.  Jahrhundert  entstand  der  Ausdruck:  „mendianisme“. 

Dasselbe  Bild  in  England-:  Nach  W.  Harrison  (1577 — 1587) 
gab  es  seit  etwa  60  Jahren  „viele  unbeschäftigte  Bettler“  in  England; 
erst  seit  kurzem  seien  sie  eine  wirkliche  Landplage  geworden;  als  re 
schrieb  (1580),  schätzte  er  ihre  Zahl  auf  etwa  10  000.  Zitiert  bei 
Steffen  1,  462. 


Dreiuudfiinfzigstes  Kapitel:  Die  Arbeiternot 


791 


Im  17.  Jahrhundert  nimmt  der  Bettel  in  England  rasch  zu. 
Gregory  King  schätzte  die  Zahl  derjenigen  Personen,  die  auf  Unter¬ 
stützung  angewiesen  seien,  auf  ein  Viertel  der  Gesamtbevölkerung,  die 
er  mit  5V2  Millionen  .ansetzte.  Wir  können  in  England  den  Stand 
der  bettelhaften  Existenzen  wie  von  einem  Barometer  aus  der  Höhe 
der  Armensteuer  ablesen.  Diese  aber  betrug  im  Jahre  1698  schon 
819  000  j£:  das  war  etwa  ein  Viertel  (!)  des  Wertes  des  damaligen 
Ausfuhrhandels,  Als  ob  wir  heute  21h  Milliarde  Mark  an  Armensteuer 
aufbringen  müßten.  Daneben  bestand  aber  der  Straßenbettel  noch 
weiter.  Auch  in  England  scheint  sich  der  Bettel  mit  Vorliebe  auf 
die  Hauptstadt  ausgedehnt  zu  haben.  Noch  Ende  des  18.  Jahrhunderts 
trifft  man  „eine  .  .  .  ungeheure  Anzahl  Bettler  auf  den  Straßen  in  London 
an“.  J.  W.  von  Archenholtz,  England  und  Italien  1  (1787),  151. 

Wie  in  England  so  in  Schottland:  Ende  des  17.  Jahrhunderts 
sollen  dortselbst  200  000  arbeitsfähige  Vagabunden  leben.  Eletchers 
Second  Discourse  on  Public  Affairs  1698;  zit.  bei  Mackintosh, 
Hist,  of  the  Civ.  in  Sc.  3,  255.  Derselbe  Gewährsmann  schreibt: 
„viele  Tausende  unseres  Volkes  sterben  heute  aus  Mangel  an  Brot.“ 

Und  selbst  in  Holland  sah  es  nicht  anders  aus:  „das  ganze  Land 
wimmelte  von  Bettlern“  (im  17.  Jahrhundert).  Pringsheim,  61. 

Wenn  die  drei  reichen  westeuropäischen  Länder  dieses  Bild  des 
Massenelends  boten,  so  läßt  sich  ohne  weiteres  annehmen,  daß  es  in 
den  übrigen  Staaten  nicht  besser  stand. 

In  Deutschland  rechnete  man  im  18.  Jahrhundert  in  den  geistlichen 
Territorien  auf  je  1000  Einwohner  50  Geistliche  und  260  Bettler.  In 
Cöln  soll  es  12  000  Bettler  gegeben  haben.  Perthes,  Deutschland 
unter  der  französischen  Herrschaft,  116;  zit.  bei  Roscher,  Syst. 
5  2,  Nach  andern  Berichten  soll  die  Zahl  der  Bettler  in  Cöln  im 
Jahre  1790  sogar  20  000  (von  50  000  Einwohnern)  betragen  haben. 
G.  Förster,  Ansichten  vom  Niederrhein.  1791;  zit.  bei  Br.  Ivuske, 
Handels-  und  Verkehrsarbeiter  in  Köln  (1914),  74.  Für  das  16.  Jahr¬ 
hundert  vgl.  auch  Seb.  Brant,  63.  Narren  im  Narrenschiff.  —  Keines¬ 
wegs  beschränkte  sich  aber  der  Bettel  als  soziale  Massenei  scheinung 
auf  die  geistlichen  oder  auch  nur  auf  die  katholischen  Länder  (wie 
z.  B.  Fried r.  Nicolai  behauptete).  Auch  in  den  evangelischen 
Staaten  fehlte  es  nicht  an  Bettelei.  Überall  sind  die  Bettelmandate 
an  der  Tagesordnung.  Die  Worte  des  Gesetzgebers :  der  Bettel  nehme 
„je  länger,  je  mehr“  zu,  sind  ständige  Formeln.  In  den  brandenburg- 
preufsischen  Ediktensammlungen  zählen  wir  während  des  17.  und 
18.  Jahrhunderts  über  100  Erlasse  gegen  das  Bettler-  und  Vagabunden¬ 
unwesen,  davon  die  Hälfte  während  der  Zeit  von  1700  bis  1789. 
1790  erläßt  die  hambur gische  Gesellschaft  zur  Beförderung  der  Künste 
und  nützlichen  Gewerbe  ein  Preisausschreiben:  die  zweckmäßige  Be¬ 
schäftigung  der  faulen  und  widerspenstigen  Armen  —  dadurch  an¬ 
geregt-  Fried r.  Wilh.  Wilcke,  Über  Entstehung,  Behandlung 
und  Erwehrung  der  Armuth.  1792.  Vgl.  noch  Paul  Frauenstädt, 
Bettel  und  Vagabundenwesen  in  Schlesien  vom  16.  bis  18.  Jahrhundert, 
in  der  Zeitschrift  f.  d.  ges.  Strafrechtswiss.  Bd.  17  (von  da  über¬ 
nommen  in  die  Preuß.  Jahrb.  89). 


792  Siebenter  Abschnitt  :  Die  Beschaffung  der  Arbeitskräfte 

Über  den  Bettel  in  allen  deutschen  Landen  während  des  17.  und 
18.  Jahrhunderts  bringt  noch  andere  Quellenbelege  bei  Hans 
Scho  rer,  Das  Bettlertum  in  Kurbayern  in  der  zweiten  Hälfte  des 
18.  sc.,  in  den  Forschungen  zur  Gesch.  Bayerns  12  (1904),  177  ff. 
Siehe  auch  die  bei  der  Erörterung  des  Arbeitshausproblems  sowie  des 
Problems  der  Entstehung  des  Bettels  genannte  Literatur. 

Im  17.  und  18.  Jahrhundert  nehmen  Müßiggang  und  Bettel  auch 
in  der  Schweis  bedrohliche  Ausdehnung  an:  Hans  Joneki,  Arbeits¬ 
losenfürsorge  im  alten  Basel.  S. -A.  aus  der  Basler  Zeitschrift  für 
Gesch.  u.  Altertumskunde  6,  184  ff. 

Österreich  (im  17.  und  18.  Jahrhundert):  in  Wien  war  die  Zahl 
der  Bettler  so  groß,  daß  man  vor  der  Türkenbelagerung  zu  der  Ma߬ 
regel  griff,  ihrer  7000  aus  der  Stadt  zu  schaffen.  In  Iglau  gab  es, 
wie  in  andern  Städten,  zahlreiche  Bürger,  die,  außerstande,  sich  als 
Handwerksmeister  fortzubringen,  um  Tagelohn  dienten.  Im  Jahre  1719 
zählte  die  Stadt  unter  6246  Einwohnern  886  Bettler.  In  den  1720  er 
Jahren,  als  die  orientalische  Kompagnie  in  Oberösterreich  nach  Arbeitern 
für  die  Linzer  Schafwoll waren  suchte,  wurde  die  Zahl  der  Bettler  in 
diesem  Lande  auf  180  000  geschätzt.  Belege  bei  Max  Adler,  Die 
Anfänge  der  merkantil.  Gewerbepolitik  in  Österreich  (1903),  49. 

Italien  (Piemont):  nach  einer  Herdfeuerstatistik  des  Jahres  1743 
waren  von  8500  Familien  eines  Bezirks  3162  Almosenempfänger.  Eine 
Aufnahme  im  folgenden  Jahre  ergibt  in  zahlreichen  Gemeinden  „Scharen 
von  Bettlern“.  L.  Prato,  La  vita  economica  in  Piemonte  a  mezzo 
il  secolo  XVIII  (1908),  331. 

II.  „Die  Entstehung  des  Proletariats“ 

Nach  den  Ursachen  der  Entstehung  dieses  Massen¬ 
elends,  das  heißt  also  dieser  elenden  Masse,  haben  vor  allem 
Marx  und  seine  Schüler  gefragt.  Da  sie  ihre  Beobachtungen 
auf  England  «eingestellt  hatten,  so  lag  es  nahe,  daß  sie  zwei 
Ereignisse  vor  allem  für  die  Entstehung  besitzloser  Volksmassen 
verantwortlich  machten:  die  Einhegungen  und  die  Aufhebung 
der  Klöster.  Beide  mit  Recht.  Nur  soll  man  sich  davor  hüten, 
ihre  AVirkungen  zu  überschätzen. 

Die  erste  Periode  der 

(1)  Enclosures  fällt  in  die  Zeit  von  etwa  1450  bis  1550. 
Damals  wurde  in  der  Tat  in  weitem  Umfange  Gemeindeland  ein¬ 
gehegt  und  wohl  auch  Ackerland  eingezogen  zum  Zwecke,  die 
Weidewirtschaft  auszudehnen.  Nur  darf  man  den  Hyperbeln  der 
Harrison  und  Morus  nicht  ohne  weiteres  Glauben  schenken, 
sondern  muß  versuchen,  sich  ziffernmäßig  vorzustellen,  wieviel 
Bauern  etwa  durch  jene  Einhegungen  besitzlos  geworden  sein 
können. 


Dreiundfünfzigstes  Kapitel:  Die  Arbeiternot 


793 


In  der  ersten  Auflage  dieses  Werkes  (2,  161  f.)  habe  ich  den  Ver¬ 
such  gemacht,  die  den  Einhegungen  anheimgefallenen  Flächen  auf 
Grund  der  Wollausfuhrziffern  zu  berechnen  und  bin  zu  dem  Er¬ 
gebnis  gekommen ,  daß  etwa  3  %  der  Gesamtfläche  des  Ackerlandes 
Englands  bis  Ende  des  16.  Jahrhunderts  in  Weide  umgewandelt  worden 
sei.  Erst  nachträglich  sind  mir  die  Veröffentlichungen  der  Royal 
Historical  Society  bekannt  geworden,  in  denen  die  Ergebnisse  der  im 
Jahre  1517  veranstalteten  amtlichen  Enquete  über  die  Ausdehnung 
der  Enclosures  von  1488  bis  1517  verarbeitet  worden  sind:  The 
Domesday  of  inclosures  1517 — 1518  .  .  .  edited  .  .  .  by  J.  S.  Leadam. 
2  Vol.  1897. 

Wenn  ich  die  Grafschaft  Berkshire  als  Beispiel  nehme  (für  Berk¬ 
shire  und  Buckinghamshire  liegen  genauere  Angaben  vor),  so  ergibt 
sich  folgende  Rechnung : 

in  den  Jahren  1488  bis  1517  sind  von  dem  gesamten  Areal  der 
Grafschaft  0,59  °/o  durch  Einhegungen  in  Weideland  verwandelt  (1.  c. 
p.  515):  nehmen  wir  an,  daß  dieses  Verhältnis  sich  von  1450  bis 
1600  gleich  geblieben  wäre,  so  würden  bis  Ende  des  16.  Jahrhunderts 
von  der  Gesamtfläche  2,95  °/o  in  Weideland  verwandelt  worden  sein. 
Meine  Rechnung  würde  sich  also  als  ziemlich  richtig  erweisen.  Natür¬ 
lich  ist  eine  solche  fast  völlige  Übereinstimmung  nicht  mehr  als  ein 
glücklicher  Zufall,  der  zudem  auf  einer  Reihe  willkürlicher  Annahmen 
mit  beruht.  Aber  was  die  Ziffern  der  Enquete  mit  aller  nur  wünschens¬ 
werten  Deutlichkeit  erweisen,  ist  die  Tatsache:  daß  die  Richtigkeit 
meiner  Annahme,  es  handle  sich  bei  den  Einhegungen  im  lo.  und 
16.  Jahrhundert  um  verschwindend  kleine  Teile  der  gesamten  Acker¬ 
fläche,  durchaus  bestätigt  wird.  Die  Flächen,  die  in  den  fünf  über¬ 
haupt  untersuchten  Grafschaften  von  1488  bis  1575  eingehegt  wurden, 
betragen  1,39  bis  1,98%  der  Gesamtflächen  (1.  c.  p.  72).  Ein  großer 
Teil  des  eingehegten  Landes  ist  aber,  das  ergeben  die  Ziffern  der 
Enquete  ebenfalls,  nicht  zu  Weidezwecken,  sondern  zu  Ackerzwecken 
bestimmt  worden.  Wir  erfahren  aber  auch  für  zwei  Grafschaften  die 
Zahl  der  durch  die  Einhegungen  entsetzten  Personen ;  es  sind  in  den 
30  Jahren,  auf  die  sich  die  Enquete  bezieht,  in  Berkshire  670,  in 
Buckinghamshire  1131  (1.  c.  p.  509.  579).  Berkshire  hat  jetzt  etwa 
200  000  Einwohner,  bei  gleich  angenommenem  Verhältnis  vor  400  Jahren 
also  vielleicht  25  000,  davon  würden  jährlich  22  bis  23  Personen  durch 
die  Einhegungen  von  ihren  Besitzungen  entfernt  worden  sein. 

Während  des  17.  und  18.  Jahrhunderts  machten  die  Ein¬ 
hegungen  zum  Zwecke  einer  Ausdehnung  der  Schafweide  nur 
geringe  Fortschritte,  ebenso  bis  in  die  Mitte  des  18.  Jahrhunderts 
auch  diejenigen,  die  dem  Zwecke  dienen  sollten,  zu  intensiverem 
Ackerbau  überzugehen.  Diese  aber ,  die  allerdings  die  selb¬ 
ständigen  Bauernstellen  verringerten,  verringerten  nicht  einmal 
die  Nachfrage  nach  landwirtschaftlicher  Arbeit. 

Enclosed  had  gave  employment  to  a  greater  number  of  hands 
than  unenclosed.“  Haie,  Compleat  Book  of  Husbandry  (1758)  1, 
208,  bei  Cunningham  2,  558, 


794  Siebenter  Abschnitt:  Die  Beschaffung  der  Arbeitskräfte 

Umgekehrt  wurden  gerade  die  Commons  verantwortlich  gemacht 
für  die  müßiggehende  Bevölkerung:  die  meisten  Armen  gibt  es  in 
Landesteilen ,  wo  viele  Allmende  sind,  wie  in  Kent.  „Commons 
do  rather  make  poor  by  creasing  idlenesse  than  maintaine  them.“ 
Hartlibs  Legacie,  54,  zit.  ib.  568. 

Zu  keinen  wesentlich  andern  Ergebnissen  kommen  auch  die  Unter¬ 
suchungen  der  letzten  Jahre,  die  für  das  16.  und  17.  Jahrhundert 
keine  neueren  Ziffern  beibringen,  aber  gute  Überblicke  geben :  R.  H. 
Tawnejf,  The  agrarian  problem  in  the  sixteenth  Century  (1912),  113. 
156  ff.  270  ff.,  und  K.  C.  G.  Gönner,  Common  Land  and  Inclosure 
(1912),  387  ff. 

Also  die  Einhegungen  haben  gewiß  nur  einen  ganz  kleinen 
Teil  der  Besitz-  und  Arbeitslosen  geliefert,  denen  wir  namentlich 
während  des  17.  und  18.  Jahrhunderts  in  England  begegnen. 
AVoher  kamen  sie  sonst?  "Waren  es  die  durch 

(2)  die  Aufhebung  der  Klöster  um  ihren  Unterhalt 
gebrachten  Armen,  die  jetzt  bettelnd  durch  das  Land  ziehen 
mußten  ? 

Zweifellos  hat  diese  Maßnahme  viel  dazu  beigetragen,  die 
Zahl  der  unversorgten  Armen  in  England  zu  vermehren.  Vor 
Auflösung  der  Klöster  und  als  England  noch  katholisch  war, 
diente  ein  Drittel  des  Zehnten  zur  Unterstützung  der  Armen, 
der  sich  außerdem  die  Klöster  und  Stiftungen  widmeten.  Nun 
wurden  644  Klöster,  110  Hospitäler  und  2374  chantries  (Bethäuser, 
an  denen  meist  Almosen  verteilt  wurden)  aufgehoben,  und  alle 
die  hier  versorgten  Armen  —  man  hat  berechnet,  daß  es  mehr 
als  88000  Personen  waren1  —  sahen  sich  genötigt,  nun  auf 
andere  Weise  ihren  Lebensunterhalt  sich  zu  beschaffen.  Sie 
stellten  gewiß  ein  beträchtliches  Kontingent  zu  dem  Heere  der 
Arbeitslosen,  Bettler  und  Vagabunden.  Aber  selbst  wenn  wir 
annehmen  wollten,  daß  alle  88  000  Klosterarmen,  die  eigentlich 
nur  35  000  waren,  zu  Bettlern  geworden  wären:  woher  kamen 
die  übrigen  Hunderttausende,  die  es  doch  allem  Anschein  nach 
im  damaligen  England  gab?  Wir  können  es  nur  vermuten. 

Ich  denke,  sie  entstammten  sowohl  der  Überschußbevölkerung 
wie  der  Zuschußbevölkerung.  Eine 


Neuere  Forscher  kommen  zu  viel  niedrigeren  Ziffern.  So  nimmt 
Al.  Savine  in  seiner  oben  Seite  601  zitierten  Studie  über  die  eng¬ 
lischen  Klöster  an,  daß  höchstens  35  000  arme  Personen  (nämlich  das 
fünffache  der  7000  Mönche)  von  den  Klöstern  unterhalten  worden 
seien,  deren  Wohltätigkeit  großenteils  in  außerordentlichen  Material¬ 
leistungen  (Festspeisungen  u.  dgl.)  bestanden  habe. 


Dreiimdfünfzigstes  Kapitel:  Die  Arbeiternot 


795 


(3)  Ü  b  e  r  s  c  h  u  ß  b  e  v  ö  1  k  e  r  u  n  g ,  das  heißt  eine  Bevölkerung, 
die  über  die  vorhandenen  Nahrungsstellen  hinauswuchs,  mußte 
sich  mit  Notwendigkeit  ergeben,  sobald  das  Land  besiedelt,  die 
Bauern-  und  Handwerks  stellen  besetzt  waren,  die  Bevölkerung 
sich  aber  gleichwohl  vermehrte.  Das  war  nun,  wenn  auch  in 
bescheidenem  Umfange,  gerade  in  England  der  Fall.  Die  Be¬ 
völkerung  Englands  scheint  (nach  Rogers)  bis  gegen  das  Ende 
des  16.  Jahrhunderts  annähernd  stationär  geblieben  zu  sein,  dann 
aber  im  17.  Jahrhundert  ziemlich  beträchtlich  zugenommen  zu 
haben.  Am  Ende  des  17.  Jahrhunderts  schätzte  sie,  wie  wir 
sahen,  Gregory  King  auf  öVa  Millionen;  1740  betrug  sie  6, 
1750  fast  6Va,  1770  71/«,  1780  8  Milionen. 

Aber  gewiß  werden  wir  in  der  frühkapitalistischen  Epoche 
immer  in  erster  Linie  mit  der  Zuschußbevölkerung 
rechnen  müssen,  also  mit  solchen  Personen,  die  ihre  wirtschaft¬ 
liche  Selbständigkeit  einbüßten,  wenn  wir  die  große  Masse 
der  Besitzlosen  erklären  wollen.  Nur  ist  es  falsch ,  wie  Marx 
es  getan  hat,  in  jenen  beiden  erwähnten  Methoden  einer  gewalt¬ 
samen  Besitz-  oder  Einkommensentziehung  die  einzigen  Wege 
zur  Schaffung  eines  besitzlosen  Proletariats  zu  erblicken.  Das 
gilt  nicht  einmal  für  England.  Hier  werden  wir  vielmehr  als 
mindestens  ebenso  bedeutsam  wie  jene  plötzliche  „Beraubung“ 
den  Prozeß  der 

(4)  allmählichen  Verarmung  selbständiger  bäuerlicher 
oder  gewerblicher  Produzenten  ansehen  müssen,  wenn  wir  die 
Entstehung  eines  Lohnarbeiterstandes  erklären  wollen.  Es  sind 
ganz  natürliche  Differenzierungsvorgänge,  die  aus  Bauerntum 
und  städtischem  Handwerkertum  im  Laufe  der  Jahrhunderte 
lebensunfähige  Existenzen  ausscheiden,  die  entweder  zu  Bettlern 
herabsinken  oder  doch  wenigstens  eines  Zuschußverdienstes  be- 
iwAigen. 

Diese  allmähliche  Verarmung  der  alten  handwerksmäßigen  Existenzen 
iat  wohl  eine  der  allerwichtigsten  Ursachen  für  die  Entstehung  einer  zum 
Kapitalismus  reifen  Arbeiterschaft.  Wir  werden  später  genauer  verfolgen, 
wie  diese  verarmten  Bauern  und  Meister  ein  sehr  großes  Kontingent  zu 
den  hausindustriell  beschäftigten  Arbeitern  stellten.  Die  Tatsache  ist 
so  allgemein  bekannt,  daß  sie  nicht  erst  durch  Quellenbelege  erwiesen 
werden  muß.  Namentlich  in  der  Textilindustrie  ist  diese  Art 
der  Entstehung  des  Proletariats  besonders  häufig.  Siehe  z.  B.  für 
Italien  (Florenz) :  Dören,  Studien  1,  266  ff. ;  für  England:  Bonwick, 
Wool  Trade,  403  ff. ;  für  Deutschland:  Schmoller,  Tucherbuch.  TJrk., 
77;  Stieda,  Entst.  d.  Hausindustrie,  135;  Zimmer  manu,  Schles. 


796  Siebenter  Abschnitt:  Die  Beschaffung  der  Arbeitskräfte 

Leinengewerbe,  56  f. ;  W.  Troeltsch,  Calwer  Zeughandlungskom¬ 
pagnie,  22. 

Ganze  Gewerbe  werden  in  ihrem  Bestände  erschüttert,  ihre 
Vertreter  werden  plötzlich  ruiniert  durch 

(5)  große  Absatzstockungen,  die  (wie  wir  noch  sehen 
werden)  während  des  frühkapitalistischen  Zeitalters  sehr  häufig 
sind,  aber  auch  schon  zum  eisernen  Bestände  der  handwerks¬ 
mäßig  organisierten  Wirtschaft  gehören.  Wie  kann  man  selbst 
in  England  angesichts  der  jahrhundertelangen  Entwicklung  einer 
kapitalistischen  Hausindustrie,  namentlich  im  Textilgewerbe,  alle 
besitzlose  Lohnarbeiterschaft  auf  jene  beiden  Gewaltakte  zurück¬ 
führen  wollen? 

Wir  dürfen  auch  nicht  vergessen,  daß 

(6)  die  Aufhebung  der  Leibeigenschaft,  die  in  Eng¬ 
land  schon  im  14.  Jahrhundert  beginnt,  Existenzen,  die  früher 
in  den  großen  Grundherrschaften  mit  durchgehalten  waren,  nun 
von  dem  Boden,  in  dem  sie  bisher  ihre  Nahrung  gefunden  hatten, 
loslöst  und  zur  freien  Bettelei  treibt.  In  gleichem  Sinne  wird 

(7)  die  Auflösung  der  Gefolgschaften  sich  hier  und 
da  fühlbar  gemacht  haben. 

Wie  kann  man  aber  gar  behaupten 1 * *,  daß  die  englische  Ent¬ 
wicklung  ein  allgemeines  Gesetz  darstelle? 

Während  jene  beiden  Ereignisse  (Einhegungen  und  Aufhebung 
der  Klöster)  bei  der  Bildung  des  englischen  Proletariats  zweifel¬ 
los  mit  gewirkt  haben  (neben  andern,  wahrscheinlich  wichtigeren 
Ursachen),  kommen  sie  für  die  übrigen  Länder  überhaupt  nicht 
in  Betracht.  Was  hat  in  diesen,  was  hat  insbesondere  in  Frank¬ 
reich,  dem  klassischen  Lande  des  Frühkapitalismus,  die  besitz¬ 
losen  oder  besitzarmen  Massen  erzeugt,  aus  denen  sich  die 
Lohnarbeiterschaft  bildete?  Vor  allem  natürlich  wiederum  die 
bereits  unter  3  bis  7  gewürdigten  Umstände.  Zu  diesen  all¬ 
gemeinen  Ursachen  gesellen  sich  in  den  Ländern  des  euro¬ 
päischen  Festlandes : 

(8)  der  Krieg,  dessen  zerstörende  und  verheerende  Wir- 


1  „Die  Expropriation  des  ländlichen  Produzenten,  des  Bauern,  von 

Grund  und  Boden  bildet  die  Grundlage  des  ganzen  Prozesse^.  Ihre 

Geschichte  nimmt  in  verschiedenen  Ländern  verschiedene  Färbung  an 
und  durchläuft  die  verschiedenen  Phasen  in  verschiedener  Reihen¬ 
folge  (?)  und  in  verschiedenen  Geschichtsepochen.  Nur  in  England, 

das  wir  daher  als  Beispiel  (!)  nehmen,  besitzt  sie  klassische  Form.“ 
K.  Marx,  Kapital  1 4,  682. 


Dreiimclfünfzigstes  Kapitel:  Die  Arbeiternot 


707 


ktmgen,  namentlich  in  Frankreich  und  Deutschland,  mit  Händen 
zu  greifen  sind 1 * * ; 

(9)  der  Steuerdruck,  von  dem  wir  mit  Sicherheit  an¬ 
nehmen  dürfen,  daß  er  wiederum  vor  allem  in  Frankreich,  dann 
aber  auch  in  einem  Lande  wie  Holland,  zahlreiche  ehemals  selb¬ 
ständige  Existenzen  vernichtet  hat.  AVer  die  ökonomische  Lite¬ 
ratur  Frankreichs  aus  dem  Jahrhundert  von  1650  bis  1750  kennt, 
weiß,  daß  die  ersten  Sachverständigen,  wie  Vauban,  Bois- 
guillebert,  Melon,  die  Verarmung  des  französischen  Volkes 
vor  allem  aus  den  hohen  und  namentlich  schlecht  veranlagten 
und  parteiisch  erhobenen  Steuern  erklären. 

Hier  müssen,  wie  ich  schon  sagte,  umfassende  Studien  ein- 
setzen,  die  über  den  Stand  der  bloßen  Vermutungen,  die  freilich 
in  allgemeineren  Erwägungen  wohlbegründet  sind,  hinauskommen. 

Einen  hübschen  Anfang  macht  das  mehrfach  erwähnte  Buch  von 
B.  Kuske,  in  dem  die  Herkunft  der  städtischen  Handels-  und  Ver¬ 
kehrsarbeiterschaft  in  Köln  anschaulich  geschildert  wird.  „Es  waren 
Kleinhändler  und  Schänkwirte,  , verdorbene  Handwerksmeister4,  ferner 
Handwerksgesellen,  die  nicht  Meister  werden  konnten,  Ungelernte,  die 
aus  , unehrlichen4  Kreisen  stammten  usw.  Die  Handwerksmeister 
stellten  jedoch  den  Hauptteil.“  S.  92  f.  Es  müssen  mehr  solche 
monographische  Untersuchungen  über  die  Herkunft  1.  der  Arbeitenden 
aber  auch  2.  der  Armen  (Bettler)  angestellt  werden.  Von  dieser 
andern  Seite  her  wird  Licht  verbreitet  durch  die  interessante 
Studie  von  E.  Detleffen,  die  ich  in  der  Anmerkung  genannt  habe. 
Sie  enthält  Auszüge  aus  einem  Rechnungsbuch  über  die  Armenverwaltung 
des  Kirchspiels  Neuenkirchen  a.  d.  Stör.  Es  wimmelt  von  Bettlern  aus 
aller  Herren  Länder.  Almosenempfänger  sind:  Kriegsbeschädigte,  Ver¬ 
wundete,  Verstümmelte,  abgedankte  Offiziere,  gewesene  Feldprediger, 
Abgebrannte,  Schiffbrüchige,  durch  Wassersnot  Verarmte,  vertriebene 
Prediger,  Schulmeister,  Organisten,  Predigerwitwen,  wandernde 
Studenten ,  Blinde ,  Lahme ,  Besessene  und  andere  Kranke  ,  über¬ 
getretene  Katholiken  und  Juden  usw.  A.  a.  0.  S.  138.  Ähnliche 
Untersuchungen  für  ein  beschränktes  Gebiet  haben  schon  einige  ältere 
Arbeiten  angestellt  wie:  G.  Brückner,  Die  Bettler  zu  Effelder  des 
Jahres  1667  usw.,  in  der  Zeitschr.  f.  deutsche  Kulturgesch.  1  (1856), 
31  ff.,  und  Karl  Pfaff,  Die  Landstreicher  und  Bettler  in  Schwaben 
vom  16.  bis  in  das  18.  Jahrhundert,  ebenda  2  (1857),  431  ff.  Vgl. 
auch  L.  M.  Leonard,  The  Early  History  of  English  Poor  Relief 
(1900),  14  ff. 

Eine  ergiebige,  noch  gar  nicht  ausgeschöpfte  Quelle  ist  die  zeit¬ 
genössische  Armenliteratur.  Ich  verweise  z.  B.  auf  Pastor 

1  Siehe  z.  B.  R.  Detleffen,  Ein  Beitrag  z.  Gesch.  des  Bettels,  in 

der  Zeitschr.  d.  Ges.  f.  Schleswig-Holsteinsche  Geschichte  31  (1901), 

117  ff. 


798  Siebenter  Abschnitt:  Die  Beschaffung  der  Arbeitskräfte 

Wagemann,  Über  einige  vorzügliche  Ursachen  des  Verarmens  und 
Betteins  usw.,  im  1.  Bande  des  von  ihm  herausgeg.  Gotting.  Magazins 
für  Industrie  und  Armenpflege.  1789;  ferner  auf  die  lehrreiche  Artikel¬ 
reihe  :  Über  die  Betteley  in  Niederschlesien,  in  den  Schles.  Provinzial¬ 
blättern  Band  31  und  32  (1800),  deren  Verfasser  mit  großer  Kenner¬ 
schaft  die  verschiedenen  Gruppen  von  Bettlern  schildert;  auf  F.  W. 
Wilke,  Über  Entstehung  usw.  der  Armut.  1792. 

III.  Der  Mangel  an  Arbeitskräften  und  seine  Gründe 

Wenn  man  gewisse  Quellen  zur  Industriegeschichte  des  16., 
17.  und  18.  Jahrhunderts  durchliest:  Eingaben  von  Unternehmern, 
Berichte  von  Beamten,  Verhandlungen  von  Sachverständigen¬ 
kollegien  oder  Behörden,  Denkschriften  oder  Erzählungen  ge- 
werbskundiger  Personen:  immer  klingt  die  Klage  hindurch:  es 
fehlt  nicht  an  Arbeit,  es  fehlt  an  Arbeitern.  Es  wird  genügen, 
wenn  ich  ein  paar  Stichproben  hier  mitteile,  die  erkennen  lassen, 
daß  dieselbe  Erscheinung  in  den  verschiedenen  Ländern  unter 
ganz  verschiedenen  Bedingungen  sich  beobachten  läßt,  die  nur 
darin  übereinstimmen,  daß  es  sich  um  die  Nachfrage  nach  Ar¬ 
beitern  aufkommender  kapitalistischer  Industrien  während  der 
letzten  drei  Jahrhunderte  des  frühkapitalistischen  Zeitalters 
handelt: 

In  Spanien ,  das  bekanntlich  im  16.  Jahrhundert  ein  rasches  Auf¬ 
blühen  der  Industrie  erlebte,  klagen  die  Cortes  im  Jahre  1552  pet.  120 
(bei  Colmeiro  2,93):  „pues  antes  faltaban  jornaleros  que  jornales.“ 

Frankreich:  Im  Jahre  1764  beschweren  sich  die  Wollwarenfabrikanten 
von  Vienne,  daß  die  Baumwollwarenfabriken  von  Neuville  ihre  Baumwolle 
auch  in  dem  Gebiete  der  Dauphine  spinnen  lassen,  wo  die  Vienneser 
Fabrikanten  in  langjähriger  Arbeit  mit  vielem  Aufwand  einen  Stamm 
guter  Spinner  herangezogen  haben.  Tableau  de  la  manufacture  de 
Vienne  en  Dauphine.  1764  (Ms.),  bei  M.  Kowalewsky,  La  France 
econ.  2,  86.  Dieselbe  Klage  vernehmen  wir  von  den  Fabrikanten  in 
Sedan.  Tricou,  Tableau  de  la  Situation  des  manufactures  des  Trois 
Eveches.  1785  (Ms.)  1.  c.  p.  88. 

In  Languedoc  erklären  die  Provinzialstände,  daß  die  Arbeiter  in 
der  Landwirtschaft  fehlten,  dank  der  Entwicklung  der  Wollindustrie. 
Des  Cilleuls,  190. 

In  den  Pariser  Cahiers  der  Generalstaaten  von  1614  dieselbe  Klage: 
Henry  Hauser,  Les  questions  industrielles  et  commerciales  dans 
les  cahiers  de  la  Ville  et  des  communautes  de  Paris  aux  Etats  generaux 
de  1614,  in  der  Vierteljahrsschrift  f.  Soz.  u.  WG.  1  (1903),  389. 

„Les  tireuses  et  les  devideuses  deviennent  rares“  .  .  .  Brief  des 
Intendanten  Letourneur  an  den  Vorsteher  der  Kaufleute  in  Lyon  vom 
17.  Sept.  1745:  bei  Cilleuls,  La  grande  industrie,  163. 

In  einem  Briefe  vom  20.  Nov.  1781  erörtert  einer  der  Fabrik- 


Dreiundfünfzigstes  Kapitel:  Die  Arbeiternot 


799 


inspektoreil  von  Montaurais  die  Frage :  ob  und  in  welchem  Umfange 
der  Aufschwung,  den  die  Baumwollindustrie  während  der  letzten 
Monate  erfahren  hat,  die  Wollwarenfabrikanten  ihrer  Arbeiter  beraubt 
hat.  Ms.  bei  Kowalewski,  La  France  econ.  et  soc.  2,  91. 

Arbeitermangel  in  der  südfranzösischen  Eisenindustrie  :  1.  c.  S.  104. 

England:  Defoe  stellt  in  seiner  Schrift  Giving  Alms  no  Charity 
(1704)  als  erste  These  auf:  „there  is  in  England  more  labour  than 
liand  to  perform  it,  and  consequently,  a  want  of  people,  not  of  em- 
ployment.“  Belegstellen  für  das  18.  Jahrhundert  bei  Cunningham 
2,  529. 

Als  Mr  Dale  im  Jahre  1784  seine  Baumwollspinnerei  in  Lanark 
anlegen  wollte,  erzählt  R.  Owen  (New  view  of  Society,  34):  „it 
was  .  .  .  necessary  to  collect  a  new  population  to  supply  the  infant 
establishment  witli  labourers.  This  however  was  no  light  task.-1 

Spinner  fehlen  in  der  Hausindustrie  im  18.  Jahrhundert.  J ames, 
Worsted  Manufacture,  252  tf. 

Deutschland :  Es  fehlt  an  Arbeitern  in  der  badischen  Eisenindustrie 
(16.  Jahrhundert).  Beck,  G.  d.  E.  2,  702;  an  Berg-  und  Hütten¬ 
arbeitern  im  Oberharz  (16.  Jahrhundert);  ebenda  S.  794. 

„oft  muß  der  fleißige  Landmann  diesen  Müssiggängern  von  seinem 
sauer  erworbenen  Vorrath  eben  zu  einer  Zeit  mittheilen,  da  er  für 
theures  Geld  keinen  Tagelöhner  zu  seiner  Feldarbeit  aufzutreiben  im 
Stande  ist.“  (Joh.  Willi.  Klein)  Über  Armuth,  Abstellung  des 
Betteins  und  Versorgung  der  Armen  (1792),  131. 

Es  giebt  keinen  Mangel  an  Beschäftigung:  Eberh.  v.  Rochow, 
Versuch  über  Armenanstalten  und  Abschaffung  aller  Bettler  (1789),  34. 

Der  Verfasser  der  oben  genannten  Aufsätze  in  den  Schlesischen 
Provinzialblättern  berichtet  von  bettelnden  Knechten,  „die  bei  allem 
Mangel  an  Arbeitern  in  Schlesien  doch  nach  einem  Dienst  umher¬ 
laufen“  (a.  a.  0.  32,  203),  und  an  einer  andern  Stelle  von  dem  „aus 
der  Betteley  erwachsenden  Mangel  an  Arbeitern“  (32,  237). 

Leutemangel  in  Baden  (18.  Jahrhundert):  Otto  Konrad  Roller, 
Die  Einwohnerschaft  der  Stadt  Durlach  im  18.  Jahrhundert  (1907),  337. 

Es  fehlt  allerorts  an  Spinnern  (18.  Jahrhundert):  in  Sachsen: 
König,  83;  in  Schlesien:  Bergius,  Neues  Pol.  und  Cam.  Magazin 
2  (1776),  372  ff. 

Schweiz:  in  der  Baseler  Seidenbandindustrie  (17.  Jahrhundert): 
Geering,  602. 

Österreich:  Eine  Taglohnfestsetzung  für  Handwerker  von  1686  stellt 
Mangel  an  Gesellen  fest:  Cod.  austr.  2,  324.  Mangel  in  der  mäh¬ 
rischen  Tuchindustrie  (18.  Jahrhundert):  v.  Mises,  in  der  Zeitschr. 
f.  VW.  usw.  14  (1905),  235. 

Schweden:  siehe  J.  Fr.  Krügers  Rede  (1758)  in  Schrebers 
Sammlung  10,  361  ff» 

Fragt  man  nach  den  Gründen  eines  solchen  Arbeite r  - 
mangels,  der  doch  eine  höchst  auffallende  Erscheinung  an¬ 
gesichts  der  Tatsache  eines  allgemeinen  Massenüberschusses  von 
Menschen  ist,  so.  kann  man  äußere  und  innere  Gründe  unterscheiden. 


800 


Siebenter  Abschnitt:  Die  Beschaffung  der  Arbeitskräfte 


Die  äußeren  Gründe  wird  man  vor  allem  in  der  mano-el- 

ö 

haften  Verständigung  und  Verbindung  erblicken  dürfen,  die  in 
jener  Zeit  zwischen  den  einzelnen  Gegenden  eines  Landes  und 
zwischen  den  einzelnen  Gewerben  bestanden.  Dadurch  kam  es, 
daß  ein  Überangebot  an  Arbeitskräften  an  einem  Orte  nicht  ohne 
weiteres  eine  Lücke  an  einem  andern  Orte  ausfüllen  konnte. 
Dieser  Mangel  eines  Ausgleichs  der  Arbeitermengen  hat  ja  bis 
in  die  neueste  Zeit  hinein  bestanden  und  muß  für  die  Frühzeit 
des  Kapitalismus  selbstverständlich  als  in  erhöhtem  Maße  wirk¬ 
sam  angenommen  werden.  Es  wird  auch  zuzugeben  sein,  daß 
dieser  Übelstand  in  einem  Lande  wie  England,  dessen  Armen¬ 
gesetzgebung  den  Erwerbslosen  künstlich  an  einem  Orte  fest¬ 
hielt,  sich  besonders  fühlbar  machen  mußte  \  während  anderswo 
die  noch  überall  bestehende  Beschränkung  der  Freizügigkeit  das 
ihrige  dazu  beitrug,  eine  gleichmäßige  Verteilung  der  Arbeits¬ 
kräfte  über  das  ganze  Land  hintanzuhalten. 

Mir  scheint  aber  doch  die  Bedeutung  der  inneren  Gründe, 
die  den  Arbeitermangel  trotz  Arbeiterüberflusses  erzeugten,  die 
jener  äußeren  bei  weitem  zu  übertreffen. 

Unter  inneren  Gründen  verstehe  ich  die  Beschaffenheit 
des  Arbeitermaterials  selbst.  Wir  wollen  uns  zum  Bewußt¬ 
sein  bringen,  daß  das  bloße  körperliche  Dasein  von  Arbeits¬ 
kräften  noch  keineswegs  genügt,  um  einen  bestimmten  Bedarf 
an  Arbeitsleistungen  zu  befriedigen.  Es  kann  nämlich  sehr  wohl 
sein,  daß  jene  Menschen,  die  körperlich  da  und  auch  rein  physisch 
arbeitsfähig  sind  (von  den  im  physischen  Sinne  Arbeitsunfähigen, 
wie  Säuglingen,  Greisen,  Kranken,  Invaliden  usw. ,  sehen  wir 
natürlich  ab,  wenn  wir  von  „Arbeitskräften“  sprechen),  doch 
entweder  nicht  arbeiten  können  oder  nicht  arbeiten  wollen. 
Beide  Mängel  oder  einen  von  ihnen  dürfen  wir  nun  aber  bei  den 
Arbeitern  jener  frühkapitalistischen  Zeit  voraussetzen,  und  diese 
in  den  Arbeitern  selbst  gelegenen  Mängel  sind  es  vornehmlich 
gewesen,  die  den  Mangel  an  Arbeitern  hervorriefen. 

Sie  konnten  nicht  arbeiten,  weil  sie  in  den  meisten  Fällen 
nicht  die  genügende  Vorbildung  besaßen.  Die  im  wesentlichen 
noch  empirische  Technik  jener  Zeit  brachte  es  nu"n  aber  mit 
sich,  daß  das  kunstvolle  Arbeitenkönnen  in  viel  größerem  Um¬ 
fange  als  etwa  heute  an  die  Person  des  Arbeiters  gebunden 
war.  Deshalb  konnte  es  nicht  oder  nicht  so  rasch,  wie  man  es 


1  Diesen  Umstand  betont  Steffen  a.  a.  0.  besonders. 


Dreiundfüufzigstes  Kapitel:  Die  Arbeiternot 


801 


wünschte,  auf  andere  Personen  übertragen  werden.  Industrien, 
die  einiges  Geschieh  und  einige  Ausbildung  erheischen,  konnten 
deshalb  fast  nur  dadurch  gepflegt  oder  erweitert  werden,  daß 
man  gelernte  Arbeiter  aus  andern  Gegenden  oder  Ländern  herbei¬ 
zog.  Diese  vollkommen  von  der  heutigen  verschiedene  technische 
Eigenart  der  industriellen  Arbeit  erklärt  zum  guten  Teil  die 
Tatsache,  daß  man  inmitten  arbeitsfähiger  Menschen  doch  Mangel 
an  Arbeitern  empfinden  konnte ,  erklärt  aber  auch  eine  ganze, 
wichtige  Gruppe  von  Maßregeln  der  staatlichen  Arbeiterpolitik, 
wie  das  in  dem  folgenden  Kapitel  gezeigt  werden  wird. 

Wir  haben  verfolgen  können,  wie  sich  im  Mittelalter  während  der 
handwerksmäßigen  Epoche  dieses  Gebundensein  des  Könnens 
an  die  Person  des  Arbeiters  fühlbar  machte :  im  Mangel  an 
Handwerkern,  in  Verpflanzung,  Abspenstigmachung  von  Handwerkern 
usw.  Es  muß  nun  aber  festgestellt  werden,  daß  dieses  persönliche 
Gebundensein  des  technischen  Vermögens  während  des  ganzen 
frühkapitalistischen  Zeitalters  andaue  rn  mußte,  w'eil  ja 
die  Technik  grundsätzlich  empirisch  begründet  blieb.  Ein  Beispiel: 
Jahrhundertelang  waren  die  Hüte  der  römischen  Kardinäle  in 
Caudebec ,  einer  Stadt  der  Normandie ,  gemacht  worden.  Als  die 
Hutmacher  nach  der  Aufhebung  des  Edikts  von  Nantes  nach  Eng¬ 
land  auswanderten ,  wanderte  ihre  Kunst  mit :  Kardinalhüte  konnten 
jetzt  nur  in  England  gemacht  werden.  In  der  Mitte  des  18.  Jahr¬ 
hunderts  kehrte  ein  französischer  Hutmacher,  Mattliieu,  nach  Frank¬ 
reich  heim  und  eröffnete  in  Paris  eine  große  Hutmanufaktur:  damit 
kehrte  das  Geheimnis  nach  Frankreich  zurück.  W.  Cunningham, 
Alien  Immigrants  to  England  (1897),  243.  Diese  Abhängigkeit  der 
Produktion  von  der  Person  des  Arbeiters  dauert  das  ganze  18.  Jahr¬ 
hundert  hindurch  an:  1768  werden  40  Französinnen  nach  Glasgow 
gebracht,  um  feine  Garne  zu  verweben:  Cunningham,  Growth  3, 
331,  und  reicht  bis  tief  ins  19.  Jahrhundert  hinein:  noch  in  den 
1820er  Jahren  konnte  die  Maschinenindustrie  in  Deutschland 
nur  eingeführt  werden  durch  den  Import  englischer  Sachverständiger 
und  Arbeiter.  L.  Berger  (Witten),  Der  alte  Harkort  (1895),  153.  Dgl. 
die  Eisenindustrie:  die  ersten  Arbeiter,  mittels  deren  die  Kemy 
das  Puddel verfahren  in  Deutschland  einführten,  hatte  John  Cockerill 
zu  Seraing  bei  Lüttich  (ib.  165)  ihnen  vorübergehend  überlassen. 
Dagegen  holt  H.  (1826)  wieder  englische  Arbeiter  zur  Anlegung  eines 
Puddel-  und  Walzwerks  herüber  (166). 

Ein  anschauliches  Bild  von  der  Schwierigkeit,  die  sog.  steirische 
Sensenfabrikation  in  Itemscheid  einzuführen,  entwirft  Eversmann,. 
Eisen-  und  Stahlerzeugung  zwischen  Lippe  und  Lahn,  392  f. 

Nun  würde  aber  auch  diese  sagen  wir  technische  Unbeholfen- 
heit  der  Arbeiterschaft  sich  viel  rascher  —  wenigstens  im  Ablauf 
mehrerer  Generationen  —  haben  beheben  lassen,  wenn  nicht  ein 
anderes  Hindernis  der  Heranbildung  eines  für  die  kapitalistische 

Sombart,  Der  moderne  Kapitalismus.  I.  51 


802 


Siebenter  Abschnitt :  Die  Beschaffung  der  Arbeitskräfte 

Produktion  geeigneten  Arbeiterstandes  im  Wege  gestanden  hätte: 
ein  Hindernis,  das  in  der  Seelenverfassung  der  Menschen  selbst 
begründet  war.  Es  läßt  sich  nämlich  ganz  deutlich  erkennen, 
daß  die  besitzlosen  oder  besitzarmen  Leute  jener  Jahrhunderte 
nicht  arbeiten  wollten,  jedenfalls  nicht  so  arbeiten  und 
das  arbeiten  wollten,  wie  es  und  was  die  kapitalistischen  Unter¬ 
nehmer  von  ihnen  verlangten.  Diese  sagen  wir  natürliche  Faul¬ 
heit,  Trägheit,  Indolenz  der  großen  Masse  wird  von  allen  Zeit¬ 
genossen,  die  sich  über  Arbeiterverhältnisse  jener  Jahrhunderte 
geäußert  haben,  mit  seltsamer  Übereinstimmung  in  allen  Ländern 
der  frühkapitalistischen  Kultur  festgestellt.  Dieses  Urteil  ver¬ 
dichtet  sich  dann  in  den  ökonomischen  Theorien  und  in  den 
praktischen  Reformvorschlägen  zu  der  Behauptung :  daß  nur  bei 
niedrigen  Löhnen  die  Menschen  zum  Arbeiten  zu  bewegen  seien, 
und  folgeweise  auch  natürlich  bei  allen,  denen  es  um  eine  Aus¬ 
dehnung  der  kapitalistischen  Wirtschaft  zu  tun  war ,  zu  der 
Forderung  einer  möglichst  niedrigen  Bemessung  des  Arbeits- 
entgeltes,  d  a  m  i  t  die  Menschen  zu  regelmäßiger  Arbeit  sich  ge¬ 
zwungen  sähen.  Diese  Lohn-  und  Arbeits-,  auch  Armutstheoiien 
sind  Ausfluß  einer  allgemeinen  Meinung  über  die  seelische  Be¬ 
schaffenheit  der  großen  Massen  und  können  uns  deshalb  als 
Quelle  dienen,  aus  der  wir  die  Erkenntnis  der  damaligen  An¬ 
sichten  über  Arbeiterverhältnisse  (nicht  ohne  weiteres  dieser 
Arbeiterverhältnisse  selbst)  schöpfen  können. 

Ich  teile  einige  besonders  kennzeichnende  Äußerungen  von 
Praktikern  und  Theoretikern  des  16.,  17.  und  18.  Jahrhunderts 
mit,  in  denen  sich 

die  Anschauungen  über  die  Psyche  des  Arbeiters  jener  Zeit 

widerspiegeln : 

Italien  (16.  Jahrhundert):  „Voleno  inanze  stentare  e  morire  di 
fame  che  lavorare  per  bon  mercato  e  guadagnare  la  spesa.“  Cronache 
modanesi  di  Jacopino  de  Bianchi:  Hon.  di  storia  patria  per  le  prov. 
modenesi.  Parma  1861.  a.  1528.  a.  1584.  Zit.  Nino  Tamassia, 
La  famiglia  ital.  nei  sc.  XV  e  XVI  (1910),  28.  Cf.  A.  Palmieri, 
I  lavoratori  del  contado  bolognese  durante  le  signorie  in  Atti  e  mein, 
della  R.  Dep.  di  Storia  patria  per  la  Romagna.  S.  III.  Vol.  26.  27 
(1909). 


1  Sie  sind  zum  Gegenstände  besonderer  Untersuchungen  gemacht 
worden  u.  a.'  von  G.  v.  Sehulze-Gaevernitz,  Der  Großbetrieb. 
1894,  und  neuerdings  von  A.  v.  Kostanecki  in  seinem  interessanten 
Buche:  Arbeit  und  Armut.  1909. 


Dreiundfünfzigstes'  Kapitel:  Die  Arbciternot  803 

Frankreich:  Für  Frankreich  besitzen  wir  vor  allem  in  den  Äuße¬ 
rungen  Colberts  und  seiner  Beamten  ein  reiches  Material  zur  Beurteilung 
der  damaligen  Arbeiterverhältnisse.  Sie  sind  verzweifelt  über  die  Träg¬ 
heit  und  Schwerfälligkeit  der  Bevölkerung,  die  ihnen  bei  ihren  Be¬ 
strebungen  ,  die  Industrie  im  Lande  zu  fördern ,  wie  eine  schwere, 
zähe  Masse  sich  entgegenstemmt. 

In  seinen  Briefen  spricht  Colbert  von  Avranchey,  in  dem  „le 
peuple  est  tres  faineant“,  von  Bourges ,  dessen  Einwohner  „d’une 
faineantise  sans  pareille“  sind.  An  Basville  schreibt  er  1662:  er 
möge  Anstalt  treffen,  „de  retirer  les  habitants  de  Poitiers  de  l’extreme 
faineantise  dans  laquelle  ils  ont  este  de  tout  temps  et  sont  encore 
plonges“.  Er  empfiehlt  den  Schöffen  von  Abbeville  die  Industrie  als 
das  beste  Mittel  „pour  bannir  la  faineantise  et  reduire  la  mendicite 
aux  malades  et  aux  invalides“.  „Comme  la  ville  d’Auxerre  veut  re- 
tourner  dans  la  faineantise  et  l’aneantissement  dans  lesquels  eile  a 
este,  mes  autres  affaires  et  ma  sante  m’obligent  ä  l’abandonner  ä  sa 
mauvaise  conduite.“ 

In  Chevreuse ,  der  Domäne  seines  Schwiegersohns ,  versucht  C. 
eine  Wollstrumpfindustrie  einzubürgern:  „Ils  preferent  emplir  les 
cabarets“,  schreibt  er. 

Auf  denselben  Ton  sind  die  Berichte  der  Intendanten  an  Colbert 
abgestimmt.  1669  berichtet  der  Intendant  von  Bourges :  viele  Ge¬ 
meinden  hätten  darauf  verzichtet,  die  Spitzenklöppelei  bei  sich  ein¬ 
zuführen:  „pretendant  que  l’application  ä  cet  ouvrage  gastait  la  vue.“ 

Der  Intendant  von  Bourges  schreibt  ein  andermal:  „La  faineantise 
est  si  grande  dans  la  ville  et  le  plat  pays,  que  j’avance  que  je  ne 
puis  revenir  de  l’etonnement  oü  m’a  mis  leur  paresse  et  ce  ne  sera 
pa3  une  petite  affaire  que  de  reduire  ces  gens-ci  ä  travailler  de  la 
bonne  maniere.“ 

Dieselbe  Faulheit  berichtet  aus  St.  Flour,  Auxerre,  Avranches. 
Depping,  Corr.  administrat.  sous  Louis  XIV.*  3,  768.  770.  Siehe 
den  2.  Band  der  Lettres  de  Colbert  p.  209.  356.  515.  542  Note  1. 
589.  680.  714.  731.  760.  792. 

Die  umfassenden  Erziehungsversuche  Colberts  hatten  die  Aufgabe 
nicht  zu  lösen  vermocht:  die  ..faineantise5  bleibt  (nach  den  Urteilen 
der  Zeitgenossen)  auch  im  18.  Jahrhundert  der  Grundzug  der  franzö¬ 
sischen  Massen. 

In  der  Dauphine  beklagt  sich  zu  Anfang  der  Regierung  Ludwigs  XIV. 
der  Intendant  Fontanien  über  „l’indolence  espagnole  et  du  genie  des 
Valentinois,  paresseux  par  temperament  et  par  education.“ 

In  Auxerre  sprach  man  in  der  zweiten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts, 
wie  zur  Zeit  Colberts,  von  der  Notwendigkeit,  „de  tirer  le  peuple  de 
son  inertie  et  de  son  assoupissement“.  Aus  Lokalarchiven  L  e  - 
vasseur,  Hist.  2,  774. 

Aus  diesen  Beobachtungen  zogen  dann  die  Lohntheoretiker  und 
Lohnpolitiker  den  Schluß :  also  müsse  dem  Arbeiter  so  wenig  wie 
möglich  gegeben  werden,  damit  er  zur  Arbeit  komme.  Ich  verweise 
z.  B.  auf:  Bigot  de  Saint e-Croix,  Memoire  sur  les  corporations. 
May  et,  Mein,  sur  les  manufactures  de  Lyon  (bei  Godart,  L’ouvrier 


804  Siebenter  Abschnitt:  Die  Beschaffung  der  Arbeitskräfte 

en  soie,  266):  „Dans  une  certaine  classe  du  peuple,  trop  d’aisance 
assouplit  l’industrie,  engendre  l’oisivite  et  tous  les  vices  qui  en  de- 
pendent  ...  Si  la  necessite  cesse  de  contraindre  l’ouvrier  ä  recevoir 
de  l’occupation,  quelque  salaire  qu’on  lui  oflre,  s’il  parvient  ä  se  de- 
gager  de  cette  esjrnce  de  servitude,  si  ses  profits  excedent  ses  besoins 
au  point  qu’il  puisse  subsister  quelque  temps  sans  le  secour  de  ses 
mains,  il  emploira  ce  temps  ä  former  une  ligue  .  .  .  “ 

England:  Alle  Beobachter  der  Arbeiterzustände  des  17-  Jahrhunderts 
stimmen  dahin  überein,  daß  der  Arbeiter  nur  im  äußersten  Notfall 
sich  zur  Arbeit  bequeme  und  gerade  nur  immer  soviel  arbeite,  als  er 
für  den  notwendigsten  Unterhalt  brauche.  Daher  er  um  so  fauler  sei, 
je  billiger  die  Lebensmittel  (und  je  höher  die  Löhne). 

„Es  ist  beobachtet  worden  von  Tuchmachern  und  andern ,  die 
große  Massen  Arbeiter  beschäftigen,  daß  wenn  Korn  reichlich  ist,  die 
Arbeit  verhältnismäßig  teuer  und  kaum  zu  beschaffen  ist  (scarce  to 
be  had  at  alle).“  William  Petty,  der  dieses  Urteil  sich  zu  eigen 
macht,  fügt  hinzu:  „so  liederlich  sind  die,  die  nur  arbeiten,  um  zu 
essen  oder  vielmehr  zu  trinken“  („so  licentious  are  tkejr  wlio  labour 
only  to  eat,  or  rather  to  drink“).  Several  Essays  (1699),  205. 

Dieselbe  Ansicht  finden  wir  bei  Manley:  „We  have  thousends 
people  miserably  poor,  yet  will  not  work  on  such  moderate  terms  the 
employers  can  chearfully  afford  them  .  .  .  “  Bei  W.  Temple;  bei 
Locke;  bei  John  Houghton  u.  a.  Siehe  die  Belege  bei 
Kostanecki  und  Schulze-Gaevernitz. 

Ein  sachkundiges  Urteil  aus  dem  Anfang  des  18.  Jahrhunderts: 
Defoe  äußert  sich  in  seinem  bekannten  Aufsatz:  „Giving  Alms  no 
Charity“  (1704)  folgendermaßen  (ich  zitiere  nach  der  deutschen  Über¬ 
setzung  in  Leckys  Gesch.  Englands  1,  602):  „Ich  kann  aus  eigener 
Erfahrung  versichern,  daß  mir  Burschen,  die  vor  meiner  Türe  lungerten 
und  denen  ich  9  Schilling  wöchentlichen  Arbeitslohn  bot,  häufig  ins 
Gesicht  sagten,  sie  könnten  mit  Betteln  mehr  machen.  Wirtschaftlich¬ 
keit  ist  keine  englische  Tugend  .  .  .  Wir  sind  die  fleißigste  und  die 
trägste  Nation  der  Welt.  Nichts  ist  bei  einem  Engländer  gewöhnlicher, 
als  zu  arbeiten,  bis  er  seine  Taschen  voll  Geld  hat,  und  dann  müßig 
zu  gehen  oder  vielleicht  sich  zu  betrinken,  bis  alles  durchgebracht 
und  er  selbst  vielleicht  in  Schulden  ist;  und  fragt  man  ihn,  wenn  er 
so  sitzt  und  trinkt,  was  er  nun  zu  tun  gedenkt,  so  wird  er  ganz  offen 
sagen,  er  werde  trinken,  solange  es  reicht  und  dann  wieder 
arbeiten,  um  mehr  trinken  zu  können.  Ich  mache  mich  ohne  Zögern 
anheischig,  in  ganz  kurzer  Frist  über  1000  Familien  in  England  nach¬ 
zuweisen,  die  ich  persönlich  kenne,  die  in  Lumpen  gehen,  deren  Kinder 
kein  Brot  haben,  und  deren  Väter  15  bis  25  (?)  Schilling  verdienen 
könnten,  aber  nicht  arbeiten  wollen.“ 

Ein  anderes:  „Jedermann  weiß,  daß  es  eine  große  Masse  Tage¬ 
löhner  (journey-men)  unter  den  Webern,  Schmieden,  Tuchmachern 
und  in  zwanzig  andern  Gewerben  gibt,  die,  wenn  sie  durch  die  Arbeit 
von  4  Tagen  in  der  Woche  ihren  Unterhalt  gewinnen,  kaum  zu  über¬ 
reden  sind,  5  Tage  zu  arbeiten  .  .  .  Wenn  die  Leute  eine  solche  außer¬ 
ordentliche  Neigung  zu  Faulheit  und  Vergnügen  haben,  mit  welchem 


Dreiundfünfzigstes  Kapitel:  Die  Arbeiternot 


805 


Hecht  sollen  wir  annehmen,  daß  sie  überhaupt  arbeiten  würden,  wenn 
sie  nicht  durch  die  wirkliche  Not  dazu  gezwungen  sind.“  Mande- 
ville,  Fable  of  the  Bees;  Remark  Q.  (Sein  arbeiterpolitisches  Pro¬ 
gramm  faßt  der  große  Zyniker  dann  in  die  Worte  zusammen:  „Der 
Arbeiter  soll  so  viel  bekommen,  daß  er  vor  dem  Verhungern  geschützt 
ist,  aber  nicht  einen  Pfennig,  den  er  spüren  könnte.“  Ib.)  An  einer 
andern  Stelle  führt  dann  M.  aus ,  wie  notwendig  für  ein  Land,  das 
reich  werden  will,  eine  große  Menge  armer  Menschen  sei,  die  arbeiten 
müssen,  weil  sie  Not  leiden  (deshalb  um  Gottes  willen  keine  Wohl¬ 
tätigkeit!):  „if  no  body  did  Want  no  body  would  work.“  An  Essay 
on  Charity  and  Charity-Schools.  Fable  6.  ed.  p.  326  sq. 

Ähnlich  ist  noch  der  Eindruck,  den  Arthur  Young  Mitte  des 
18.  Jahrhunderts  von  der  Arbeiterbevölkerung  in  und  um  Manchester 
empfängt :  fleißig  sind  die  Leute  nur ,  wenn  die  Lebensmittel  teuer 
sind  und  sie  arbeiten  müssen,  um  nicht  zu  verhungern:  ist  der 
Unterhalt  billig,  so  sterben  die  Kinder  der  Arbeiterfamilien,  „denn 
die  halbe  Zeit  verbringt  dann  der  Vater  im  Wirtshause“.  „Die  Unter¬ 
nehmer  von  Manchester  wünschen,  daß  die  Preise  stets  hoch  genug 
seien,  um  einen  allgemeinen  Fleiß  zu  erzwingen,  um  die  Arbeiter 
6  Tage  in  der  Woche  bei  der  Arbeit  zu  halten.“  A.  Young,  North. 
Tour  3,  244.  249. 

Holland:  Von  der  Lebensweise  eines  Leydener  Webers  Ende  des 
18.  Jahrhunderts  wird  uns  folgendes  Bild  entworfen:  „Den  ganzen 
Sommer  hindurch  ist  auf  den  umliegenden  Dörfern  abwechselnd  Kirmeß, 
wozu  eine  Anzahl  Wagen  vor  den  Toren  bereit  steht,  um  den  aus¬ 
gelassenen  Weber  mit  Frau  und  Kind  nach  dem  angenehmen  Dorf  zu 
führen.  Hier  angekommen,  ist  alles  Freude  und  Lust,  und  ich  brauche 
nicht  zu  sagen,  daß  der  ausgelassene  Arbeiter,  nachdem  er  wacker 
getrunken  und  getanzt  hat ,  nach  Hause  gekommen ,  gar  keine  oder 
mindestens  sehr  wenig  Lust  zur  Arbeit  hat  und  lieber  alles  liegen 
läßt,  als  seine  Begierden  zügelt.“  Brender  a  Brandis,  Vader- 
landsch  Kabinet  van  Koophandel,  zeevart  etc.  2  (1768),  167;  zit.  bei 
Pringsheim,  53. 

Schweiz:  ...  es  ist  anzumerken,  „daß  die  meisten  hiesigen  Unter- 
thanen  bey  ihrem  Verdienst  auf  kein  Spahren  gedenckhen,  sondern 
Landkündig  sich  Wiederholtermassen  mit  Brodt  und  Nahrung  also  über¬ 
füllen,  als  wann  alles  auf  einmahl  durch  die  Gurgel  müsste“.  Gut¬ 
achten  des  Direktoriums  der  Baseler  Kaufmannschaft  von  1717.  Bei 
Hans  Joneli,  Arbeitslosenfürsorge  im  alten  Basel,  a.  a.  0.  S.  191. 

„Die  geringe  Zahl  der  in  diesem  Jahre  von  solchen  Leuten  ge¬ 
sponnenen  Baumwolle  beweist,  daß  selbige  sich  lieber  dem  Bettel  und 
dem  Müssiggang  als  nützlichen  Arbeiten  widmen  .  .  .  einige  haben 
sich  sogar  erfrechet,  die  ihnen  zugestellte  Baumwolle  und  das  zum 
Spinnen  nötige  Gerähte  zu  versetzen  und  zu  verkauffen  und  das  Geld 
durchzubringen.“  Bericht  der  Armenhausdeputation  an  den  Kleinen 
Rat  (in  Basel)  1761,  a.  a.  0.  S.  205.  Die  Ursache  der  Arbeitslosig¬ 
keit  und  des  sich  mehrenden  Straßenbettels,  heißt  es  in  einem  andern 
Bericht  derselben  Deputation  vom  Jahre  1771,  liege  vielfach  in  einem 
„üblen  Wirtschaften  und  liederlicher  Aufführung“,  da  viele  Bürger 


80G  Siebenter  Abschnitt:  Die  Beschaffung  der  Arbeitskräfte 

„statt  ihrem  Beruf  oder  Gewerb  fleissig  obzuliegen  und  für  die  Ver¬ 
pflegung  der  ihrigen  zu  sorgen,  vielmehr  das  erworbene  in  denen 
Würtshäusern  verzechen  und  darbey  Weib  und  Kinder  elendiglich 
darben  lassen“.  Ebenda  S.  218. 

Dieselben  Gedanken  kehren  noch  häufiger  in  den  Akten ,  die 
Jon  eil  i  im  Auszuge  mitteilt,  wieder. 

Für  Deutschland ,  Österreich  und  andere  Länder  wird  ein 
Gleiches  berichtet. 

Es  fragt  sich  nun:  werden  wir  diese  Ansichten,  wie  sie  die 
Zeitgenossen  übereinstimmend  äußern,  teilen?  Ich  denke,  ja. 
Dazu  veranlaßt  uns  zunächst  das  Zeugnis  so  vieler,  zum  Teil 
völlig  uninteressierter  Männer,  denen  wir  nicht  zumuten  dürfen, 
daß  sie  die  Dinge  falsch  sahen  oder  parteiisch  dargestellt  hätten. 
Dafür  waren  sie  zu  gute  Sachkenner.  Die  Urteile  werden  erst 
schief,  als  sie  aus  doktrinärem  Sinne  kommen.  Um  ein  Beispiel 
anzuführen :  Mirabeau  zitiert  einen  Ausspruch  Normanns 
.über  die  Faulheit  der  Arbeiter  in  Deutschland,  dessen  Sinn  eben¬ 
falls  darin  gipfelt:  das  Volk  arbeitet  nur  soviel,  als  es  zum  Leben 
braucht ;  ist  das  Brot  billig,  wird  kein  Garn  mehr  geliefert.  Dazu 
bemerkt  der  physiokratische  Doktrinär:  das  könne  nicht  stimmen: 
der  freie  Mensch  und  der  das  Seine  frei  verwenden  könne,  habe 
solche  groben  Beweggründe  nicht  nötig,  um  zu  arbeiten!  Aber 
die  Männer  des  17.  und  des  frühen  18.  Jahrhunderts  sahen  ohne 
solche  Brillen  in  die  Welt,  und  da  werden  sie  wohl  richtig  be¬ 
obachtet  haben. 

Wir  haben  aber  noch  andere  Gründe,  an  die  Indolenz  und 
Faulheit  der  Massen  in  der  frühkapitalistischen  Zeit  zu  glauben. 
Ich  denke  nicht  einmal  an  die  zahlreichen  Indizien,  die  auf 
eine  bequeme  und  gemütliche  Seelenverfassung  schließen  lassen, 
wie  es  etwa  die  Menge  von  Feiertagen  sind,  die  bis  in  unsere 
strengere  Zeit  hinein  die  Arbeit  unterbrachen.  Von  ihrer  Aus- 
dehnung  machen  wir  uns  schwer  eine  richtige  Vorstellung.  Noch 
im  17.  Jahrhundert  wurden  in  der  Kärnthner  Eisenindustrie 
kaum  100  achtstündige  Arbeitsschichten  verfahren.  In  Paris,  wo 
man  1660  die  103  Feiertage  auf  80  herabsetzen  wollte,  brachen 
Krawalle  aus  und  es  wurden  6  mehr  durchgesetzt. 

Ich  meine  vielmehr,  wir  sollten  uns  erinnern,  daß  der  Seelen¬ 
zustand  der  großen  Masse  der  Arbeiter  in  den  Anfängen  der 
kapitalistischen  Entwicklung  gar  nicht  anders  sein  konnte, 
als  ihn  uns  jene  Männer,  deren  Stimme  wir  hörten,  geschildert 
haben.  Der  Arbeiter  befand  sich  noch  in  der  Verfassung  jedes 


807 


Dreiundfünfzigjates  Kapitel:  Die  Arbeiternot 

„natürlichen“  Menschen,  und  das  ist  die  Faulheit  oder  mindestens 
die  Bequemlichkeit-.  Vor  allem  herrschte  auch  in  ihm  noch  die 
Meinung,  die  wir  bei  den  vorkapitalistischen  Wirtschaftssubjekten 
verbreitet  fanden:  daß  man  wirtschafte,  arbeite,  um  zu  leben, 
nicht  lebe ,  um  zu  wirtschaften ,  zu  arbeiten.  Also  daß  man 
nicht  weiter  arbeitet,  wenn  man  „genug“  hat.  Auch  diese  Vor¬ 
stellung  eines  „Genug“  ist  ja  nichts  anderes  als  Geist  vom  Geiste 
der  vorkapitalistischen  Wirtschaftsgesinnung :  es  ist  dieselbe  Vor¬ 
stellung,  die  in  der  Idee  der  Nahrung  und  des  standesgemäßen 
Unterhalts  in  philosophischer  Vertiefung  und  programmatischer 
Zuspitzung  wiederkehrt. 

Daß  diese  „natürliche“,  vorkapitalistische  Wirtschaftsgesinnung 
kein  leerer  Wahn  ist,  daß  sie  sich  in  den  wirtschaftlich  unselb¬ 
ständigen  Massen  auch  dann  noch  erhält,  wenn  der  Wille  zum 
.  Kapitalismus  längst  eine  Oberschicht  beseelt,  und  daß  ein  Kenn¬ 
zeichen  der  frühkapitalistischen  Gesellschaftsschichtung  dieser 
AViderstreit  zwischen  einzelnen  AVirtschaftssubjekten,  in  denen 
der  Erwerbssinn,  der  Rationalismus,  die  Unternehmungslust  be¬ 
reits  wirksam  sind,  und  einer  noch  im  traditionalistischen  Hand¬ 
werkertum  dahinlebenden  Masse  von  AVirtschaftsobjekten  beruht, 
das  lehrt  uns  ein  Studium  der  AVirtschaftszustände  in  solchen 
Ländern,  die  noch  zu  unsern  Lebzeiten  jenen  Übergang  vom 
Handwerk  zum  Kapitalismus  durchmachen.  Ich  habe  einmal  ge¬ 
schildert1,  welche  Schwierigkeiten  noch  heute  (und  vielleiclit- 
irnrner?)  dem  Kapitalismus  in  Italien  in  der  aller  ökonomischen 
Disziplin  und  allem  spezifisch  kapitalistischen  Erwerbssinn  ab¬ 
geneigten  Bevölkerung  vieler  Teile  des  Landes  sich  entgegen¬ 
stellen.  Noch  bis  vor  wenigen  Jahren  konnte  man  dem  Lazzaroni 
in  Neapel  begegnen,  der  sein  Dolce  far  niente  immer  nur  auf 
Stunden  oder  Tage  unterbrach,  um  durch  Arbeit  die  paar  Soldi 
zu  verdienen,  die  er  zu  seinem  bescheidenen  Lebensunterhalte 
brauchte,  den  aber  keine  Macht  der  Erde  hätte  bewegen  können, 
auch  nur  eine  Minute  länger  zu  arbeiten,  als  es  die  Erlangung 
lenes  Mindestbetrages  erheischte,  den  er  zur  Fristung  des  Lebens 
nötio-  hatte.  Gewiß:  Klima  und  Volkstum  tragen  das  ihrige  dazu 
bei ,°  um  den  Typus  des  Lazzaroni  zu  voller  Entwicklung  zu 
bringen.  Aber  der  Geist  des  Lazzaronitiuns  ist  doch  der  Geist 
jedes  vorkapitalistischen  Menschen,  und  nichts  anderes  als 

1  Studien  zur  Entwicklungsgeschichte  des  italienischen  Proletariats, 
in  Brauns  Archiv  Band  6  (1893), 


808 


Siebenter  Abschnitt:  Die  Beschaffung  der  Arbeitskräfte 


Lazzaronitum  ist  es,  was  uns  in  allen  Arbeitern  der  frühkapita- 
listisclien  Epoche  begegnet  und  was  alle  Freunde  des  „industriellen 
Fortschritts“  zur  Verzweiflung  brachte  —  wie  es  sie  heute  noch 
zur  Verzweiflung  bringt,  wo  es  sich  erhalten  hat. 

Sehen  wir  nun  zu,  wie  der  moderne  Staat  sich  zu  diesem 
Problem  stellte,  was  er  tat,  um  den  Zwiespalt  zu  beseitigen,  der 
zwischen  der  Beschaffenheit  der  Arbeiterschaft  und  den  kapita¬ 
listischen  Interessen  klaffte. 


809 


V i eru ndfünfzi gstes  Kapitel 

Die  Maßnahmen  der  staatlichen  Arbeiterpolitik 

I.  Die  leitenden  Ideen 

Nirgends  so  deutlich  wie  in  seinem  arbeiterpolitischen  Vor¬ 
gehen  läßt  sich  die  Grundauffassung  des  absoluten  Fürstenstaates 
erkennen. 

Daß  er  keine  Maßnahmen  trifft  unter  einem  andern  Gesichts¬ 
punkte  als  dem  des  Staatswohles  (das  sich  mit  dem  Interesse 
des  Monarchen  ganz  unwillkürlich  verschmolzen  hatte),  versteht 
sich  von  selbst.  Alle  Gedanken  an  das  Wohlergehen  der  einzelnen, 
alle  „humanitären“  Regungen  fehlten.  Erst  in  der  zweiten  Hälfte 
des  18.  Jahrhunderts  fangen  sie  an,  auf  die  Entschließungen 
der  Regierungen  Einfluß  zu  gewinnen.  Die  Menschen  des  früh¬ 
kapitalistischen  Zeitalters  waren  ein  hartes  Geschlecht,  das  im 
Kampfe  für  objektive  Ideale  —  mochten  sie  religiöser,  mochten 
sie  staatlicher  Natur  sein  —  sich  verzehrte,  und  das  seine 
individuellen  Neigungen  opferte,  um  dem  höheren  Zwecke  zu 
dienen.  Aus  dieser  staatsidealistischen  Grundstimmung  heraus 
muß  vor  allem  auch  die  Arbeiterpolitik  des  Merkantilismus  ver¬ 
standen  werden.  Wir  müssen  uns  hüten,  mit  der  Vorstellung 
von  Klassengegensätzen,  wirtschaftlichen  Interessen  und  andern 
individualistischen  Kategorien,  wie  sie  unsere  Zeit  herausgebildet 
hat,  an  die  Deutung  von  Zuständen  und  Vorgängen  in  der  früh- 
kapitalistischen  Epoche  heranzugehen. 

Deshalb  sind  Untersuchungen,  wie  sie  die  Wirtschaftshistoriker 
mancher  Schulen  anstellen  (typisch  dafür  ist  z.  B.  das  Buch  von 
R.  Faber,  Die  Entstehung  des  Agrarschutzes  in  England.  1888),  die 
die  Maßregeln  der  merkantilistischen  Politik  aus  bestimmten  Interessen¬ 
gruppierungen  ableiten  möchten,  grundsätzlich  verfehlt.  Ist  es  schon 
Tn  unserer'Zeit  der  nackten  Interessenkämpfe  wenigstens  für  ein  Land 
wie  Deutschland  bedenklich,  etwa  die  Agrarpolitik  als  reine  „Interessen¬ 
politik“  zu  erklären,  so  ist  die  Übertragung  des  bekannten  Fragespiels: 
wer  hat  ein  „Interesse“  an  hohen,  wer  an  niedrigen  Getreidepreisen? 
(wie  es  den  Inhalt  des  genannten  Fab  er  sehen  Buches  bildet,  das  hier 
nur  als  Vertreter  einer  ganzen  Schule  steht)  in  das  England  des  17.  und 
18.  Jahrhunderts,  auch  wenn  man  in  Rücksicht  zieht,  daß  dieses  Land 


810  Siebenter  Abschnitt:  Die  Beschaffung  der  Arbeitskräfte 

damals  schon  seine  Politik  nach  Krämergesichtspunkten  auszurichten 
begann,  daß  es  schon  eine  „parlamentarische“  Verfassung  und  meist 
minderwertige  Könige  hatte ,  ein  grober  Fehler.  Selbst  in  England 
hatte  damals  das  „Gemeininteresse“  noch  eine  starke  Macht  bewahrt 
und  entschied  auch  über  die  wirtschafts-  und  „sozialpolitischen  Ma߬ 
regeln. 

Was  das  Staatswohl  aber  erheischte,  war  klar:  die  Macht  des 
Staates  ruhte  in  seiner  militärischen  Kraft;  diese  also  vor  allem 
war  zu  erhalten  und- zu  stärken.  Es  ist  reizvoll,  zu  verfolgen, 
wie  selbst  in  einem  Staate  wie  England  noch  bis  in  die  Mitte 
des  18.  Jahrhunderts  hinein  die  militärischen  Interessen  bei  allen 
wirtschaftspolitischen  Erwägungen  im  Vordergründe  stehen:  man 
lese  daraufhin  die  Schriften  der  Temple,  Petty,  Defoe  und 
die' zahlreichen  Flugschriften  des  17.  und  frühen  18.  Jahrhunderts 
über  das  Armenwesen,  und  man  wird  erstaunt  sein,  selbst  bei 
einem  so  ‘„fortschrittlich“  (in  der  .Richtung  der  Kommerziali¬ 
sierung)  gesinnten  Manne  wie  Defoe  immer  wieder  auf  den¬ 
selben  Gedanken  zu  stoßen:  wenn  Ihr  diesen  Vorschlag  annehmt, 
könnt  Ihr  Armee  und  Flotte  um  so  und  so  viel  Mann  verstärken. 

Aus  diesem  Grundstreben  war  ja,  wie  wir  wissen,  die  gesamte 
merkantilistische  Politik  geboren:  viel  Kriege  erheischen  viel 
Menschen  und  viel  Geld;  viel  Menschen  wrerden  durch  die  Ver¬ 
mehrung  der  „Manufakturen“  erzeugt ;  viel  Geld  wTird  durch  den 
auswärtigen  Handel,  wenn  er  „aktiv“  ist,  ins  Land  gebracht. 
Manufakturen  und  auswärtiger  Handel  werden  von  den  aufstreben¬ 
den  Wirtschaftselementen  getragen:  also  ergab  sich  eine  Inter¬ 
essengemeinschaft  zwischen  Kapitalismus  und  Fürstentum;  also 
mußten  die  kapitalistischen  Interessen  gepflegt  werden.  Kapita¬ 
listische  Interessen  pflegen  hieß  aber  den  kapitalistischen  Unter¬ 
nehmern  die  Wege  ebnen.  Also  —  aus  wohlverstandenem  Staats¬ 
interesse  —  bekam  die  merkantilistische  Politik  „unternehmer¬ 
freundliches“  Gepräge,  und  also  wurde  auch  die  Arbeiterpolitik 
unter  dem  Gesichtspunkt  betrieben :  Maßregeln  zu  treffen,  mittels 
deren  man  dem  Unternehmer  eine  reichliche,  fleißige,  tüchtige, 
billige  Arbeiterschaft  sichern  könne.  Wo  sich  nun  Unternehmer- 
interesse  und  Arbeiterinteresse  gegenüberstehen,  wird  unbedingt 
das  Unternehmerinteresse  gewahrt:  die  Arbeiterpolitik  des  Mer¬ 
kantilismus  ist  deshalb  fast  durchgängig  ein  Unternehmerschutz, 
kein  Arbeiterschutz.  Weil  es  das  Wohl  des  Staates  so  erheischte, 
aus  keinem  andern  Grunde,  ganz  und  gar  nicht  etwa,  weil  man 
der  Klasse  des  Unternehmertums  als  solcher  mehr  Sympathien 
entgegengebracht  hätte  als  der  der  Arbeiterschaft.  Noch  einmal: 


Vierundfünfzigstes  Kapitel :  Die  Maßnahmen  der  staatlichen  Arbeiterpolitik  gH 

solche  individualistische  Regungen  sind  jener  Zeit  ganz  fremd. 
Sobald  etwa  einmal  die  Unternehmerinteressen  in  einen  Gegensatz 
mit  den  Staatsinteressen  gerieten,  wandte  sich  die  staatliche  Gesetz¬ 
gebung  auch  gegen  sie.  Das  beweisen  die  Bauernschutzgesetze, 
die  selbst  in  England  (wo  man  im  übrigen  die  Ausdehnung  der 
Weidewirtschaft  grundsätzlich  durchaus  als  ein  Gebot  der  staat¬ 
lichen  Wohlfahrt  ansah)  eine  Zeitlang  nicht  fehlen1;  das  be¬ 
weisen  die  Ansätze  zu  dem,  was  wir  heute  „Arbeiterschutz“ 
nennen:  wie  die  Truckverbote  und  ähnliche  Maßnahmen. 

Wollte  man  aus  den  Vorgängen  in  England  während  des 
18.  Jahrhunderts,  wo  man  die  Arbeiter,  die  eine  strengere 
Durchführung  gerade  der  staatlichen  Gebote  des  16.  und  17.  Jahr¬ 
hunderts  forderten,  abwies  und  die  Unternehmer  jene  Gesetze 
der  elisabethanischen  Zeit  ruhig  übertreten  ließ,  folgern,  daß 
hier  offenbar  das  „Klasseninteresse“  dem  Staatsinteresse  voran¬ 
gestellt  worden  sei,  so  wäre  das  irrig.  Ich  glaube  vielmehr,  daß 
man  jenes  Verhalten  der  englischen  Regierung  immer  noch  mit 
ihrem  Bestreben,  das  zeitgemäße  Interesse  des  Staates  gegen¬ 
über  veralteten  Geboten  desselben  Staates  wahrzunehmen,  er¬ 
klären  kann. 

Aber  wie  dem  auch  sei :  darüber  kann  kein  Zweifel  obwalten, 
daß  in  der  überwiegenden  Mehrzahl  aller  Fälle  die  Arbeiter¬ 
politik  des  Merkantilismus  die  Interessen  des  Unter¬ 
nehmertums  zu  wahren  bestimmt  war.  . 

Ihr  eigentümliches  Gepräge  erhält  sie  nun  durch  die  Art  und 
Weise,  wie  der  Staat  diese  seine  praktischen  Ziele  mit  den  sitt¬ 
lichen  und  sozialen  Anschauungen,  die  ihm  aus  dem  Mittelalter 
überkommen  waren,  in  Einklang  zu  bringen  verstand. 

Der  Grundgedanke  der  mittelalterlichen  Soziallehren  blieb 
auch  in  diesem  Teile  der  merkantilistischen  Politik  unberührt: 
wie  alle  wirtschaftliche  Tätigkeit,  so  galt  es  auch  die  Verrich- 
tuno-en  und  Obliegenheiten  des  Arbeiters  in  den  großen  Kosmos 
der  menschlichen  Wirtschaft  einzuordnen.  Ungeheuerlich  wäre 
jener  Zeit  die  Ansicht  erschienen:  daß  der  Abschluß  eines 
Arbeitsvertrages  und  die  Regelung  der  Arbeitsbedingungen  eine 
rein  private  Angelegenheit  sei,  die  nur  den  Unternehmer  und  den 
Arbeiter  etwas  angingen.  Nein  —  auch  diese  Beziehungen  sind 


1  4  Hen.  VII.  c.  19;  6  Hen.  VIII.  c.  5 ;  7  Hen.  VIII.  c.  1. 
Siehe  die  Darstellung  und  Würdigung  dieser  Gesetzgebung  bei  J.  S, 
Leadain,  The  Domesday  of  Inclosures,  6  ff, 


812 


Siebenter  Abschnitt:  Die  Beschattung  der  Arbeitskräfte 


nach  objektiven  "Regeln  zu  ordnen,  und  diese  Ordnung  geht  von 
der  Obrigkeit  aus.  Die  Beobachtung,  daß  die  individualistischen 
Mächte  schon  während  der  frühkapitalistischen  Epoche  diese 
objektiv-organischen  Grundsätze  mehr  und  mehr  außer  Geltung 
setzten,  darf  uns  nicht  abhalten,  die  Gesamtausrichtung  der 
merkantilistischen  Arbeiterpolitik  von  jener  mittelalterlichen  An¬ 
schauung  noch  beherrscht  zu  sehen. 

Freilich:  die  materiellen  Forderungen  der  mittelalterlichen 
Sozialpolitik,  die,  wie  wir  sahen,  von  der  Idee  der  „Nahrung“ 
und  des  standesgemäßen  Unterhalts,  vom  „gerechten“  Preise 
und  somit  auch  „gerechten“  Lohne  beherrscht  wurde,  konnte 
der  moderne  Staat  in  seiner  Arbeiterpolitik  nur  in  beschränktem 
Umfange  erfüllen.  Er  geht  in  seinen  Bestimmungen  immer  noch 
von  diesen  Grundgedanken  aus ;  aber  er  biegt  sie  in  einer  Rich¬ 
tung  um,  in  der  seinen  unternehmerfreundlichen  Tendenzen  kein 
Abbruch  zu  geschehen  brauchte:  hatte  das  Mittelalter  den  o-e- 

“o 

rechten“  Arbeitslohn  sei  es  durch  die  Anforderungen  des  traditio¬ 
nellen  Unterhalts,  sei  es  durch  das  Herkommen  bestimmt,  so 
setzt  der  moderne  Staat  (wie  schon  vor  ihm  modernisierende 
Stadtverwaltungen)  zwar  auch  noch  einen  „gerechten“  Lohn  fest, 
der  nun  aber  zu  einem  Maximallohn  wird,  und  (das  ist  der  Fort¬ 
schritt  des  Gesetzes  5  Elis.  c.  4)  der  den  wechselnden  Markt¬ 
preisen  angepaßt  ist:  die  Autonomie  des  Sittlichgebotenen  wird 
dadurch  erstmalig  erschüttert. 

II.  Alte  und  neue  Formen  der  Hörigkeit 

Das  wirksamste  Mittel,  über  das  die  öffentlichen  Gewalten 
verfügen,  um  dem  Unternehmer  die  fehlenden  Arbeitskräfte  zu 
verschaffen,  hat  zu  allen  Zeiten,  solange  es  noch  keinen  Stamm 
besitzloser,  freier  Menschen  gibt,  darin  bestanden,  daß  die  zwangs¬ 
weise  Einstellung  des  Arbeiters  und  der  äußere  Zwang  zur  Arbeit 
gesetzlich  gestattet  wird.  Dieses  Mittels  hat  sich  auch  der 
moderne  Fürstenstaat  bedient,  sofern  er  einerseits  lange  Jahr¬ 
hunderte  während  seines  Bestehens  altüberkommene  Formen  der 
Unfreiheit  bewahrte,  andererseits  wo  solche  nicht  mehr  erhalten 
waren,  neue  zuließ  oder  selbst  entwickelte. 

Die  alte  Hörigkeit  des  Landvolks  hat  bis  zum  Ende 
der  frühkapitalistischen  Epoche  in  den  mitteleuropäischen  Staaten, 
in  Osteuropa  bis  tief  in  das  19.  Jahrhundert  hinein  bestanden. 
Sie  hat  dem  emporstrebenden  Kapitalismus  wesentliche  Dienste 
geleistet.  Nicht  nur  im  Bereiche  der  Landwirtschaft  selbst,  wo 


\  ierundnjnfzigstes  Kapitel:  Die  Maßnalimen  der  staatlichen  Arbeiterpolitik  81  g 

bekanntermaßen  die  modernen  Großgrundwirtschaften  sich  auf  der 
Fronpflicht  der  Bauern  und  der  Dienstpflicht  der  Bauernkinder 
aufbauten,  sondern  auch  in  der  Sphäre  der  gewerblichen  Pro¬ 
duktion.  Ein  großer  Teil  des  Bergbaues  und  der  Industrien 
Deutschlands ,  Österreichs ,  Polens ,  Bußlands ,  zum  Teil  auch 
Skandinaviens  während  der  Frühzeit  des  Kapitalismus  ist  mit 
alt-hörigen,  das  heißt  fronpflichtigen  Arbeiten  betrieben  worden. 

In  Deutschland  waren  in  den  Anfängen  der  kapitalistischen  Industrie 
wohl  in  weitem  Umfange  hörige  Arbeiter  verwandt  worden.  So  erfalireu 
wir  z.  B.,  daß  im  16.  Jahrhundert  ganze  Landstriche ,  die  der  Herr¬ 
schaft  der  Fugger  unterstehen,  für  diese  weben.  C.  Jäger,  Ulms 
Verfassung  (1831),  648.  Aber  auch  noch  im  18.  Jahrhundert  wurden 
die  Untertanen  der  Herrschaften  zum  Spinnen  herangezogen;  nament¬ 
lich  in  Schlesien.  Siehe  die  Angaben  bei  C.  Grünhagen,  Über  den 
grundherrlichen  Charakter  des  hausiudustriellen  Leinengewerbes  in 
Schlesien,  in  der  Zeitschr.  f.  Soz.-  u.  WG.  2,  242. 

Ebenso  zur  Arbeit  im  Bergbau  und  der  Montanindustrie. 
In  einer  Druckschrift  aus  den  1780  er  Jahren  wird  uns  über  Ober- 
sclilesien  folgendes  berichtet:  „Die  große  Menge  der  neuangelegten 
Eisenhütten  und  Hämmer  sind  noch  neuerlich  ein  wahrer  Verderb  für 
den  Ackerbau  dadurch  geworden,  daß  man  die  dabei  nötigen  Hand¬ 
arbeiten  und  Fuhren  nicht  vor  bar  Geld  und  eigenes  Zugvieh,  sondern 
durch  Frondienste  verrichten  läßt.  Dadurch  entsteht  für  jenen  der 
wesentliche  Nachteil,  daß  ihm  die  zu  seiner  Betreibung  ursprünglich 
bestimmten  Hand-  und  Spanndienste  größtenteils  entzogen  werden.“ 
Schlesische  Provinzialblätter  7  (1788),  234. 

Das  Privilegium  für  die  Bergleute  in  Nassau- Saarbrücken  vom 
25.  Jan.  1788  bestimmt:  „Ein  leibeigener  Untertan  ist,  wenn  er  in 
der  Grube  arbeitet,  gegen  Zahlung  eines  Beichsthalers  von  Natural- 
und  Jagdfronden  frei.“  Bei  Hue,  Die  Bergarbeiter  1  (1910),  338. 

Österreich:  In  den  Geschäftsbüchern  vieler  industrieller  Unter¬ 
nehmungen,  z.  B.  der  Oberleutensdorfer  Tuchfabrik,  finden  sich  noch 
im  18.  Jahrhundert  keinerlei  Angaben  über  Arbeitslöhne:  die  Herr¬ 
schaftsangehörigen  mußten  die  Arbeit  in  der  Fabrik  als  botmäßige 
Pflicht  verrichten.  Dieses  Verhältnis  dauert  bis  in  das  19.  Jahrhundert 
fort.  Ludw.  Schlesinger,  Zur.  Gesch.  d.  Ind.  in  österr.,  in  den 
Mitt.  d.  Ver.  f.  d.  Gesch.  d.  Deutsch,  in  Böhmen  3,  139  f.  Die  ge¬ 
samten  Untertanen  der  Waldsteinschen  Herrschaften  spinnen  lange 
Zeit  für  die  benachbarte  grfl.  Bolzasche  Kattunfabrik  in  Cosmanos. 
Mitt.  usw.  28,  331  f. 

Über  die  häufige  Nutzbarmachung  bäuerlicher  Frondienste  zu  in¬ 
dustriellen  Zwecken  siehe  im  übrigen  C.  Grünberg,  Die  Bauern¬ 
befreiung  usw.  1  (1893),  86;  2  (1894),  181  ff. 

Pulen:  Die  Beschäftigung  Leibeigener  in  den  aufkommenden  In¬ 
dustrien  des  17.  und  18.  Jahrhunderts  war  allgemein.  „Die  Tuchfabrik 
(in  Wengrow)  stützt  sich  auf  die  Arbeit  der  Leibeigenen,  die  fertiges 
Garn  liefern.  Die  ausländischen  Meister  verarbeiten  dieses  Garn  in 


814  Siebenter  Abschnitt:  Die  Beschaffung  der  Arbeitskräfte 

Tuch;  alle  vorhergehenden  Stadien  des  Produktionsprozesses,  wie  das 
Kämmen  der  Wolle,  das  Spinnen  derselben,  werden  von  den  Händen 
der  Leibeigenen  vollzogen.  So  trug  die  Manufakturindustrie  noch  einen 
Lehenscharakter :  die  Arbeitgeber  verwendeten  die  Leibeigenen  auch 
zur  Gewerbstätigkeit.  Diese  charakteristische  Eigentümlichkeit  trat 
noch  deutlicher  hervor  in  den  Industrieunternehmungen ,  die  die 
polnischen  Magnaten  auf  ihren  Besitzungen  errichteten,  und  die  fast 
ausschließlich  auf  der  Ausbeutung  der  unentgeltlichen  Arbeit  der  Leib¬ 
eigenen  beruhten.“  K.  Wobly,  Beitr.  z.  WG.  Polens,  in  der  Zeitschr. 
f.VW.  18,  377  ff. 

Rufsland:  Es  ist  bekannt,  daß  die  russische  Industrie  noch  während 
des  ganzen  18.  Jahrhunderts,  aber  auch  noch  darüber  hinaus  auf  der 
Beschäftigung  leibeigener  Bauern  beruhte,  die  in  wechselnden  Formen 
den  Unternehmern  zur  Verfügung  gestellt  wurden.  Die  Staatsbauern, 
die  in  die  Staatswerke  (Bergbau,  Eisen)  eingeschrieben  waren,  wurden 
ebenfalls  den  Privaten  überlassen.  Die  Zahl  der  männlichen  Seelen, 
die  solcherweise  Zwangsarbeit  allein  in  der  Montanindustrie  verrich¬ 
teten,  betrug : 

in  den  Staatswerken  in  den  Privatwerken  Zusammen 

1741—43  .  .  .  63  054  24199  87  253 

1794—94  .  .  .  241253  70965  312  218 

J.  Mavor,  An  economic  history  of  Kussia  1  (1912),  434  ff.  Außer¬ 
dem  gab  es  noch  Zwangsarbeiten  in  andern  Produktionszweigen,  nament¬ 
lich  auch  in  der  Tuchindustrie.  1.  c.  489  tf.  Siehe  im  übrigen  die 
ausführliche  Darstellung  bei  Tugan-Baranowski,  Die  russische 
Fabrik  (1900),  24'ff.  51  ff.  u.  ö. 

* 

* 

Aber  die  Gesetzgeber  schreckten  auch  davor  nicht  zurück, 
eine  Art  von  staatlicher  Hörigkeit,  wie  es  Steffen  richtig  be¬ 
zeichnet,  dort  neu  einzuführen,  wo  die  mittelalterliche  Hörigkeit 
des  Landvolks  entweder  überhaupt  nicht  mehr  bestand  oder  doch 
nicht  wirksam  war  ohne  besondere  staatliche  Verfügung.  Diese 
neue  Hörigkeit  beruhte  darin,  daß  in  bestimmten  Fällen 
die  zwangsweise  Einstellung  von  Arbeitskräften  in  landwirtschaft¬ 
liche  oder  industrielle  Betriebe  gestattet  wurde,  auch  wenn  die 
Personen  vorher  einem  Armenhause  nicht  angehört  hatten,  ja 
auch  wenn  sie  vielleicht  gar  nicht  als  Bettler  aufgegriffen  waren : 
es  genügte  ihr  Status  der  Besitzlosigkeit,  um  sie  diesem  Arbeits¬ 
zwange  zu  unterwerfen. 

Arbeitszwang  (staatliche  Hörigkeit):  In  Spanien  wurden 
schon  im  16.  Jahrhundert,  in  der  Zeit  des  großen  Aufschwungs  in 
Valladolid,  Zamora  und  Salamanca  die  Bettler  und  Vagabunden  zur 
Arbeit  in  den  Fabriken  genötigt.  K.  Häbler,  Die  Blüte  Spaniens,  59. 

In  Frankreich  bestand  ein  Zwangsdienst  für  gewisse  Wegearbeiter 
(Paveurs)  im  16.  Jahrhundert,  der  mit  der  Corvee  nicht  identisch  ist. 


\  ierundfünfzigstes  Kapitel:  Die  Maßnahmen  der  staatlichen  Arbeiterpolitik  815 

5  ignon  (Pieces  justif.)  1,  19.  Wir  sehen  aber  auch,  wie  Colbert 
zwangsweise  Steinhauer  zur  Arbeit  an  den  kgl.  Schlössern  heranzieht. 
Ordre  vom  Sept,  1682:  „II  est  ordonne  ä  Antoine  Thevenet,  garde 
de  la  prevoste  de  l’hötel  et  grande  prevoste  de  France,  de  se  trans- 
porter  incessamment  dans  les  villages  de  Herblay  ...  et  autres  lieux 
et  inaisons  particulieres,  oti  il  trouvera  des  carriers  en  gres  et  les 
amenera  aux  carrieres  de  Louveciennes  et  de  Marly  pour  y  faconner 
du  pave“  etc.  etc.  Lettres  de  Colbert  5,  802  Note  2. 

Die  Holländer  lassen  die  Kinder  derjenigen,  „die  zu  arm  sind,  sie 
selbst  zu  erhalten“  (NB.  also  nicht  nur  Waisen)  auf  öffentliche 
Kosten  aufziehen,  die  dann  von  den  Bürgermeistern  als  Lehrlinge  an 
den  Unternehmer  ausgeliefert  werden.  Davies,  The  History  of 
Holland  and  the  Dutch  Nation  1,  488,  zit.  bei  Hob.  Pashley, 
Pauperism  and  Poor  Laws  (1852),  207. 

Deutschland:  vielfach  Spinnzwang:  „Auf  angebrachte  Beschwerde 
der  Tuchfabrikanten,  daß  es  ihnen  an  Gespinst  ermangele  .  .  .  wurde 
zu  Aufang  des  Jahres  1761  denen  sämtl.  Dominiis  —  sc.  Schlesiens  — 
anbefohlen,  daß  sie  die  in  ihren  Dörfern  befindlichen  Personen  beiderlei 
Geschlechts,  alte  und  junge,  welche  sonst  kein  anderes  Gewerbe  oder 
Verdienst  haben  und  auf  der  faulen  Bank  liegen  .  .  .  zum  Wollspinnen 
vor  die  in  ihren  Gegenden  befindlichen  Tuch-  und  andern  Fabrikanten 
anhalten  .  .  .  “  Circ.  vom  9.  Jan.  1761.  Die  Soldaten  -  Frauen  und 
-Kinder  sollen  zwangsweise  spinnen.  Circ.  vom  6.  Juni  1763.  Das 
ländliche  Gesinde  dgl.  Vgl.  Regl.  vom  7.  Juli  1765.  Siehe  Bergius, 
Neues  Pol.  u.  Cam.  Magaz.  2  (1776),  872  ff. 

Aber  auch  in  andern  Gewerben  begegnen  wir  der  Arbeitserzwingung, 
z.  B.  im  Bergbau.  Im  Jahre  1616  befahl  der  Landgraf  von  Hessen- 
Kassel,  daß  „alle  starken  Bettler,  Biersäufer,  so  ständig  in  den  Wirts¬ 
häusern  liegen“,  auch  „herrenloses  Gesindel  und  Gartenknechte,  so 
sich  des  Betteins  bei  unseren  Untertanen  befleißigen“,  angehalten 
werden  sollten,  „auf  unseren  Bergwerken  um  gebührlichen  Lohn  zu 
arbeiten“,  und  wenn  sie  sich  weigerten,  seien  sie  „in  die  Eisen  zu 
schlagen  und  auf  die  Bergwerke  zu  liefern“,  0.  Hue,  Die  Berg¬ 
arbeiter  1,  336  f. 

Sdhiceiz:  In  der  Stadt  St.  Gallen  sucht  die  Obrigkeit  besonders 
die  Armengenössigen,  „an  Gesicht  blöde  öder  sonst  zu  anderer  Arbeit 
untaugliche,  alte  Personen“,  zum  Spulen  und  Bauinwollspinnen  anzu¬ 
halten:  siehe  z.  B.  Rathsprotokoll  vom  18.  Juni  1773,  bei  AV.  Wart- 
mann,  Handel  u.  Ind.  des  Kant.  St.  G.  (1875),  151. 

Österreich:  Der  Bericht  der  böhmischen  Statthalterei  vom  5.  Aug. 
1717  spricht  die  Erwartung  aus,  daß  die  Einführung  der  feineren 
Tuchmanufaktur  in  Böhmen  insbesondere  mit  Hilfe  eines  geplanten 
„Armen-  Waisen-  undt  Ai’beitshauses“  möglich  sein  werde.  In  einer 
Denkschrift  von  1721  meint  die  innerösterreichische  Kammer,  daß  dem 
herrschenden  Elend  und  Müßiggang  durch  Errichtung  einer  Tuchfabrik 
abgeholfen  werden  könne,  die  zugleich  ein  Zwangsarbeitshaus  sein 
müßte.  Arme,  arbeitsfähige  Leute  seien  „in  kundtbahrlichem  Über¬ 
fluß“  vorhanden.  Es  sei  notwendig,  die  erforderliche  Anzahl  Arbeiter 


816  Siebenter  Abschnitt:  Die  Beschaffung  der  Arbeitskräfte 

unter  den  Grazer  Straßenbettlern  „aufzufangen  und  einzusperren“. 
Das  Fabriksgebäude  müsse  gemauert  und  mit  Mauern  umfaßt  sein, 
damit  das  schlechte  Gesindel  nicht  ausbrechen  könne.  Max  Adler, 
Die  Anfänge  der  merkant.  Gewerbe-Politik,  89. 

Auch  befehlen  die  Regierungen  wohl  den  Dominien,  „muntere  und 
fähige  Ivöpfe  von  beiderlei  Geschlecht“  den  Fabrikinhabern  zur  Ver¬ 
fügung  zu  stellen.  Kreisamtliches  Zirkular  an  die  Herrschaften  der 
Kremser  Gegend  vom  2.  April  1767,  betreffend  die  Beistellung  von 
Lehrlingen  für  die  Samtfabrik  des  Andre  Tetier  in  Krems,  v.  Mises, 
Zur  Gesch.  der  öster  Fabrikgesetzgebung,  in  der  Ztschr.  f.  VW.  usw. 
14,  216. 

Zu  einem  kunstvollen  System  wurde  aber  die  „staatliche  Hörig¬ 
keit“  in  England  und  Schottland  ausgebildet.  Die  Magna  Charta  der 
Unfreiheit  ist  das  von  uns  fälschlicherweise ,  weil  viel  zu  engdeutig, 
als  „Lehrlingsgesetz“  bezeichnete  Gesetz:  5  Elis.  c.  4.  Sein  aus¬ 
gesprochener  Zweck  war:  „dem  Müßiggang  zu  steuern“  (to  bannisk 
idleness).  Zu  diesem  Behufes  traf  es  folgende  Bestimmungen: 

§  4:  alle  unverheirateten  Personen  unter  30  Jahren,  die  in  einem 
der  genannten  Gewerbe  (die  wichtigsten)  geleimt  oder  es  3  Jahre  lang 
ausgeübt  haben,  besitzlos  und  ohne  Beschäftigung  sind,  können  (unter 
Mitwirkung  der  Behörden)  von  irgendeinem,  der  eins  dieser  Gewerbe 
betreibt,  zwangsweise  in  Dienst  genommen  werden; 

§  7  :  trifft  ähnliche  Bestimmungen  über  die  zwangsweise  Einstellung 
in  landwirtschaftliche  Betriebe ; 

§  28 :  junge  Leute  können  zwangsweise  in  die  Lehre  genommen 
werden  (ausgenommen  von  einem  mercer ,  draper ,  goldsmith ,  iron- 
monger,  imbroider  oder  clothier:  da  müssen  die  Eltern  des  jungen 
Mannes  ein  kleines  Anwesen  haben,  das  mindestens  40  /  trägt). 

Ähnliche  Bestimmungen  enthalten  die  schottischen  Gesetze  von  1617, 
1649,  1663.  Siehe  die  Darstellung  bei  John  Mackintosh,  Hist, 
of  Civilization  of  Scottland  3,  249  ff. 

Aber  auch  außerhalb  des  Geltungsbereichs  jener  Elisabethischen 
Frongesetze  herrschten  in  der  englischen  und  schottischen  Industrie 
das  ganze  18.  Jahrhundert  hindurch  bis  in  das  19.  Jahrhundert  hinein 
vielfach  leibeigenähnliche  Zustände.  Das  gilt  namentlich  vom  Kohlen¬ 
bergbau  hauptsächlich  in  Schottland.  Hier  hatten  sich  Verhältnisse 
herausgebildet,  „by  which  tke  miners  were  just  as  definitely  astricted 
to  particular  mines  as  villains  had  been  to  particular  estates  in  the 
middle  age“.  Die  Gesetze  15  Geo.  III  c.  28  (1775),  39  Geo.  III 
c.  56  (1799)  versuchten  vergeblich,  Abhilfe  zu  schaffen.  Noch  im 
Jahre  1842  konnten  die  Commissioners  von  Staffordshire  berichten: 
„hier  im  Mittelpunkte  Englands  herrscht  eine  Sklaverei,  die  so  ver- 
absekeuenswürdig  ist  wie  je  die  Sklaverei  in  Westindien.“ 

Neben  dieser  direkten  Arbeitserzwingung  entwickelte  sieb 
nun  aber  während  der  frübkapitalistischen  Epoche  ein  Verfahren, 
das  darin  bestand:  auf  Umwegen  die  lässigen  Arbeiter  zum 
Arbeiten  zu  bringen,  indem  man  sie  „zur  Arbeit  erzog“.  Aus 


Vierundfünfzigstes  Kapitel:  Die  Maßnahmen  der  staatlichen  Arbeiterpolitik  817 

diesen  Bemühungen  erwuchs  ein  kunstvolles  System  der  Zwangs¬ 
arbeit,  das  wir  im  folgenden  genauer  kennen  lernen  müssen. 

III.  Die  Erziehung  zur  Arbeit:  das  Arbeitshaus¬ 
system 

Aus  den  Gesetzen  und  Verordnungen,  die  seit  der  Mitte  des 
14.  Jahrhunderts  in  allen  Ländern  fast  mit  gleichen  Worten  er¬ 
lassen  werden,  um  dem  Bettel  und  der  Vagabondage  zu  steuern, 
entwickeln  sich  im  Laufe  der  Zeit  zwei  verschiedene  Zweige 
innerpolitischer  Tätigkeit.  Den  einen  bildet  das  große,  immer 
mehr  sich  ausweitende  und  vertiefende  Verwaltungsgebiet,  das 
wir  heute  mit  den  Worten  Armenwesen  oder  Armenpflege  be¬ 
zeichnen.  Es  geht  uns  hier  nichts  an. 

Der  andere  Zweig  stirbt  gegen  Ende  des  18.  Jahrhunderts 
ab.  Er  hat  aber  für  die  Epoche  des  Frühkapitalismus  die  größere 
Bedeutung.  Es  sind  alle  Bemühungen  der  Regierung,  das  Volk 
zur  Arbeit  zu  erziehen.  Mit  diesen  Bemühungen  müssen  wir 
uns  jetzt  vertraut  machen. 

Schon  aus  den  frühesten  Anti-Bettelgesetzen  tönt  die  Klage 
heraus:  welchen  Verlust  erleidet  doch  das  Land,  wenn  so  viele 
Menschen  müßig  gehen.  Nicht  das  Bedürfnis,  das  elende  Los 
der  armen  Teufel,  die  um  Brot  betteln,  zu  verbessern  ist 
es,  was  die  Gesetzgeber  zum  Einschreiten  bestimmt,  sondern 
—  neben  dem  Bemühen,  Ordnung  und  Sicherheit  im  Lande  her¬ 
zustellen  —  der  Wunsch,  die  im  Lande  vorhandenen  Arbeits¬ 
kräfte  auszunutzen. 

Dieser  Wunsch  mußte  sich  besonders  stark  fühlbar  machen 
in  den  ersten  Jahren  nach  der  großen  Pest,  in  die  denn  auch 
die  Anfänge  der  Vagabundengesetzgebung  in  vielen  Ländern 
fallen:  Spanien  1351;  England  1350:  Ord.  Eduards  III.;  Frank¬ 
reich  1350 :  Ord.  König  Johanns.  Übereinstimmend  verfügen 
diese  Gesetze :  die  Bettler  sollen  arbeiten ,  andernfalls  werden 
sie  mit  schweren  Strafen  belegt:  auch  für  diese  bildet  sich  in 
allen  Ländern  ein  gleiches  Maß  aus :  im  ersten  Betretungsfalle 
Auspeitschung,  im  zweiten  Verstümmelung  oder  Brandmalung, 
im  dritten  Tod  oder  Landesverweisung  oder  Zwangsarbeit  auf 
den  Galeeren.  Man  glaubte ,  mit  diesen  harten  Strafen  den 
Willen  zum  Müßiggang  brechen  zu  können.  Man  täuschte  sich ; 
die  Gesetze  bleiben  meist  tdine  Erfolg.  Ihre  häufige  Wieder¬ 
holung  beweist  es. 

Sombart,  Der  moderne  Kapitalismus.  I.  52 


818  Siebenter  Abschnitt:  Die  Beschaffung  der  Arbeitskräfte 

So  verfiel  man  denn  auf  ein  anderes  Mittel,  um  die  müßig- 
eehende  Bevölkerung  zur  Arbeit  anzulialten:  die  Behörden 

o  *— 

stellten  Arbeitsmittel  zur  Verfügung,  mit  denen  man  die  Bettler 
beschäftigen  konnte. 

Dieser  Gedanke  wuchs  sich  zu  dem  Arbeitshaussystem 
aus ,  wonach  alle  arbeitsfähigen  Bettler  behördlicherseits  zur 
Arbeit  angehalten  wurden ,  die  der  Staat  selber  organisierte. 
Meist  war  die  Arbeit  im  Arbeitshause  auf  indirektem  -Zwange 
aufgebaut:  der  Bettler  verlor  das  Anrecht  auf  Unterstützung, 
wenn  er  die  Arbeit  im  Arbeitshause  nicht  verrichtete  (so  in  der 
Blütezeit  des  englischen  Work-House),  oder  es  war  Zwangsarbeit 
im  eigentlichen  Sinne  (so  in  den  französischen  depöts  de  men¬ 
dicite). 

Arbeitshäuser  scheint  es  zuerst  in  Italien  gegeben  zu  haben: 
1539  finden  wir  im  Albergo  dei  Poveri  in  Genua  schon  500  Männer 
und  1800  Weiber  mit  Weben  beschäftigt.  1582  (1618)  wird  das 
Albergo  di  Caritä  in  Turin  eröffnet,  in  dem  ebenfalls  Wolle,  Flachs 
und  Baumwolle  verarbeitet  werden.  Andere  Spinn-  und  Webhäuser 
finden  sich  schon  frühzeitig  in  Cannagnola,  Novarra,  Vigevano,  Venedig, 
Bergamo,  Florenz,  Siena,  Born.  Gerando,  1.  c.  3,  538  ff.  Förderung 
der  Industrie  in  den  Arbeitshäusern  in  Piemont  durch  Victor  Amadeus  II. 
Prato,  II  costo  della  guerra  di  succ.  span.  (1907),  353. 

Auch  in  Spanien  wurde  die  Errichtung  von  Arbeitshäusern  bereits 
im  Jahre  1545  von  P.  Juan  de  Medina  angeregt.  Gerando  3, 
580  f. 

In  Frankreich  eröffnete  man  im  Jahre  1576  in  Paris  „öffentliche 
Werkstätten“,  um  die  Bettler  und  Vagabunden  zu  beschäftigen,  die 
die  Straßen  füllten.  Levasseur  2,  144.  Daß  Arbeitshäuser  im 
Anfang  des  17.  Jahrhunderts  bereits  vorhanden  waren,  läßt  das  kgl. 
Mandat  vom  27.  Aug.  1612  erkennen.  Zu  rechter  Blüte  gelangen  sie 
aber  erst  unter  der  Regierung  Colberts.  Durch  zahlreiche  Edikte, 
die  im  Jahre  1652  beginnen  und  deren  wichtigstes  das  vom  Juni  1662 
ist,  werden  die  „Höpitaux  generaux“  geschaffen:  Anstalten,  in  denen 
sich  allerhand  arbeitsfähiges,  müßiges  Volk  zusammenfand  und  denen 
die  Prärogativen  der  kgl.  Manufakturen  erteilt  wurden.  „D’autant  que 
l’abondance  procede  toujours  du  travail  et  la  misere  de  l’oisivete, 
vostre  principale  application  doit  estre  de  trouver  les  moyens  d’en- 
fermer  les  pauvres  et  de  leur  donner  de  Foccupation,  pour  gagner  leur 
vie“  —  schrieb  Colbert  am  22.  Sept.  1667  an  Maire  und  Schöffen 
von  Auxerre.  Die  Höpitaux  generaux  breiteten  sich  über  zahlreiche 
Städte  aus.  Neck  er  fand  ihrer  700  vor,  während  später  von  dem 
Comite  de  mendicite  während  der  Revolutionszeit  2185  ermittelt  wurden. 
Im  Jahre  1764  Avurden  dann  die  Depöts  de  mendicite  (maisons  de 
force,  de  renfermement,  de  travail)  ins  Leben  gerufen,  deren  es  zur 
Zeit  Neckers  33  mit  6 — 7000  Insassen  gab.  Neck  er,  De  l’administr. 
des  fin.  3,  159  sq. 


Vierundfünfzigstes  Kapitel:  Die  Maßnahmen  der  staatlichen  Ärbciterpolitik  81Ö 

In  England,  das  man  nicht  mit  Unrecht  als  das  klassische  Land  der 
Arbeitshäuser  bezeichnet,  setzt  die  Entwicklung  doch  erst  später  ein. 

Im  Jahre  1575  (durch  18  Elis.  c.  3)  wurde  zum  ersten  Male  be¬ 
stimmt:  die  Friedensrichter  sind  ermächtigt,  in  jeder  Grafschaft  ein 
Haus  zu  kaufen  oder  zu  mieten,  in  dem  ein  Vorrat  von  Wolle,  Hanf, 
Flachs,  Eisen  und  andern  Rohstoffen  bereitgestellt  sein  soll,  um 
damit  arbeitsfähige  Bettler  zu  beschäftigen.  Dieser  Gedanke,  der  in 
43  Elis.  c.  2  wiederholt  wird ,  scheint  aber  zunächst  wenig  oder  gar 
nicht  ausgeführt  worden  zu  sein.  Jedenfalls  beklagt  noch  Sir  Matthew 
Haie  in  seinem  1683  geschriebenen  „Discourse“,  daß  es  keine  Arbeits¬ 
häuser  in  England  gebe.  Der  zunehmende  Bettel  wurde  dann  gegen 
Ende  des  Jahrhunderts  Anlaß  zur  Errichtung  verschiedener  Work- 
Houses,  dessen  erstes  das  von  Bristol  (1697)  war.  Das  Gesetz  9 
Geo.  I  c.  7  (1722)  sprach  dann  ausdrücklich  aus,  daß  derjenige  Bettler, 
der  nicht  ins  Armenhaus  gehe,  keine  Unterstützung  zu  empfangen  habe. 

Zu  den  Arbeitshäusern,  die  auch  in  andern  Ländern  sich  aus¬ 
breiteten  ,  gesellen  sich  dann  als  andere  Zwangsarbeitsanstalten  die 
Waisenhäuser  und  die  Findelhäuser.  Vielfach  wurden  diese 
mit  den  Arbeitshäusern  zu  einheitlichen  großen  Anstalten  vereinigt. 
Eine  solche  Musteranstalt  war  das  1718  gegründete  „Pforzheimer  Waisen¬ 
haus“.  Siehe  darüber  die  ausführliche  Darstellung  bei  Gothein, 
WG.  des  Schwarzwaldes  1,  699  ff. 

In  Österreich  begegnen  wir  dem  Arbeits-(Spinn-)Zwang  in  Waisen-, 
Zucht-  und  Armenhäusern.  1762  erfolgte  die  Weisung,  Arbeitshäuser 
in  allen  Provinzen,  wo  noch  keine  bestanden,  zu  errichten.  Archiv 
f.  österr.  Gesch.  81,  61  ff. 

Die  beste  Übersicht  über  den  Stand  der  Arbeitshäuser  in  der 
zweiten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  gibt  das  Buch  von  John  Howard, 
dessen  französische  Ausgabe :  Etat  des  Prisons,  des  Höpitaux  et  des 
maisons  de  Forces.  2  Vol.  1788,  von  mir  benutzt  wurde. 

Die  Männer,  die  die  Arbeitshäuser  empfahlen  und  ins  Leben 
riefen,  erblickten  in  ihnen  das  Allheilmittel  gegen  Bettelei  und 
Müßiggang  und  sahen  in  ihnen  die  Pflanzstätten  womöglich  ganzer 
Industrien,  vor  allem  weil  die  Arbeitshäuser  eine  wichtige  Ein¬ 
richtung  waren,  um  das  Volk  zur  Betriebsamkeit  zu  erziehen 
und  an  Zucht  und  Ordnung  zu  gewöhnen;  „das  Genie  zu  den 
Commereien  und  Gewerben  in  den  Gemütern  der  Kinder,  die 
hernach  das  Volk  ausmachen“  \  hervorzubringen.  Wie  überein¬ 
stimmend  diese  Auffassung  in  allen  europäischen  Ländern  geteilt 
wurde,  erweisen  folgende  Äußerungen: 

„This  would  prevent  poverty  and  in  a  little  tract  of  time  brii  g 
up  hundreds  to  be  able  to  gain  their  livelihoods  .  .  .  this  course, 
within  one  seven  years  .  .  .  brings  people  and  their  children  after 

1  Justi,  Staatswirtschaft  §  310.  Vgl.  auch  Rumpfort,  Essais. 
Prem,  essay  ch.  5.  6.  7.  Auszüge  bei  Gerando  3,  522. 


820  Siebenter  Abschnitt:  Die  Beschaffung  der  Arbeitskräfte 

thern  in  a  regulär,  orderly  and  industrious  course  of  life,  whicli 
will  be  as  natural  to  them  as  now  idleness  and  begging 
and  thieving  i  s  .  .  .  By  this  means  the  wealth  of  the  nation  will 
be  increased,  manufactures  advanced  .  .  Alb.  Haie,  A  Discourse 
touching  Provisions  for  the  Poor  (1683),  zit.  bei  Hob.  Pashley, 
Pauper.  (1852),  222/23. 

„Wenn  Land  und  Stadt  mit  Bürgern  und  Bauern  versehen  seyn, 
so  ist  weiter  nothwendig,  daß  man  auch  des  ledigen  Gesindes  und  der 
Handwercks  Leute  nicht  vergesse ,  welche  beyde  versorget  werden 
können  durch  ein  Werck-Haus.  Die  ersten  zwar,  nämlich  das  ledig- 
laufende  bettelnde  Gesind,  Jungen  und  Alten,  seynd  einem  Lande  eine 
große  Beschwerde  und  Schande ,  wenn  und  so  lange  sie  betteln  .  .  . 
Solche  Leute  nun  in  die  Arbeit  zu  stellen  und  in  ehrliche  bürgerliche 
Nahrung  zu  bringen,  ist  kein  näher  Mittel  als  ein  allgemeines  Werck- 
Haus  .  .  .  Was  ich  .  .  .  allhier  von  Bettlern  schreibe,  eben  dasselbe 
kan  man  auch  von  Waysen-Haus-Armen,  jungen  und  wandernden  Ge¬ 
sinde  und  Gesellen  verstehen,  welche  alle  in  die  Arbeit  in  dem  Werck- 
Haus  gestehet  werden  können  .  .  .  Die  Bestellung  eben  eines  Werck- 
Hauses  bestehet  in  wenigen  Puncten,  1)  in  Permission  der  Obrigkeit 
2)  in  Verlegern  3)  in  guter  obrigkeitlicher  Inspection  und  der 
Verleger  Direction  4)  in  Consumtion  und  Verhandlung  der  darin 
verarbeiteten  Güter  und  Waren  5)  in  guter  Bezahlung  der  Arbeiter  .  .  . 
Wie  aber  und  welcher  Gestalt  dergleichen  Werck-Haus  seinen  Ver¬ 
legern  ansehnlichen  Nutzen  bringen  können,  das  ist  leichtlich  zu 
erachten.  Kan  nun  ein  Gesell  den  Meister,  der  gemeiniglich  nicht 
arbeitet,  sondern  ein  Herr  ist,  samt  Weib,  Magd  und  Kind  ernähren, 
so  werden,  so  Gott  will,  ihrer  hundert  wol  einen  ernähren  können.“ 
Besoldi,  Thesaur.  Pract.  continuatio  (1740)  s.  v.  Werck-Haus. 

Ein  Land  kommt  in  Aufschwung,  „wenn  die  Seyden-  und  Woll- 
manufacturen  wohl  eingerichtet  seyn  und  nur  ein  Zuchthaus  dabei  ist, 
durch  dessen  Furcht  das  liederliche  Gesindlein  zum  erforderten  Fleiß 
und  Arbeit  angewiesen  wird“  .  .  .  Anm.  dazu:  .  .  .  „das  ist  .  .  .  gewiß, 
daß  mit  Zucht-  und  Waysenhäusern  neue  anzulegende  und  einzu¬ 
führende  Manufacturen  gar  unvergleichlich  und  am  besten  mit  einander 
zu  verknüpfen  sind.  Ein  Zucht-  und  Waysenhaus  sollte  von  Rechts¬ 
wegen  ein  allgemeines  Kunst-Werck  und  Manufactur  Haus,  ja  eine 
öconomische  Kunst-  und  Werckschule  seyn  .  .  .  Der  Zweck  ist,  daß 
solche  Häuser  gleichsam  Pflantz-  und  Baumschulen  von  1000  guten 
Sachen  und  Manufacturen  vor  das  gantze  Land  und  alle  andern  Städte 
seyn  sollen.“  Vorstellung  an  einen  Regenten  wegen  des  Zustandes 
einer  an  einem  Orte  um  An.  1676  herum  versuchten  und  nun  wieder 
längst  verschwundenen  Seyden  Manufactur  in  den  Leipziger  Samm¬ 
lungen  Bd.  3  S.  165. 

„In  Policey-Gesetzen  und  Anstalten  trachtet  allein  der  väterliche 
Sinn  derer  Väter  des  Vaterlandes  das  positive  Beste  der  Untertanen 
zu  befördern  und  also  einen  Jeden  darzu  fähig  zu  machen,  ihn  zu 
bessern,  und  durch  allerhand  veranstelleten  Unterricht,  liebreiche 
Reitzung,  ernstliche  Erinnerung  und  Ermahnung,  strenges  Befehlen 
und  züchtigende  Strafen,  gleichsam  als  die  Kinder  im  Hause  jedes 


Vierundfünfzigstes  Kapitel:  Die  Maßnahmen  der  staatlichen  Arbeiterpolitik  821 

nach  seiner  Art  sehr  weislich,  klug  und  behutsam  zu  ziehen,  das  ist 
eine  gewisse  Fertigkeit  des  Gemiiths  in  ihnen  zu  erwecken ,  krafft 
welcher  er  thut,  was  seine  nothdürfftige  und  bequeme  Lebens  Unter¬ 
haltung  erfordert  und  unterläßt  was  solche  stöhrt:  diese  Fertigkeit  ist 
alsdenn  die  Eigenschafft  wohlgezogener  Leute,  die  da  Zucht  haben 
und  welche  durch  gute  gelinde  und  strenge  Zucht  der  Unterrichts- 
Anstalten  zu  solchen  Leuten  gemacht  werden.“  Gedanken  von  der 
Einrichtung  eines  Arbeits-  Werck-  oder  sogenannten  Zucht-Hauses  in 
den  Leipziger  Sammlungen  3  (1746),  809  f.  Vgl.  auch  12,  713  f. 

Die  Fundationsordnung  des  Hamburger  Werk-  und  Zuchthauses 
vom  Jahre  1622  hatte  den  Wahlspruch:  „labore  nutrior,  labore  plector.“ 
Franz  R.  Bertheau,  Chronologie  zur  Gesch.  der  geistigen  Bildung 
und  des  Unterrichtswesens  in  H.  (1912),  90. 

Erzieherisch  wirkten  aber  diese  Anstalten  zweifellos;  nicht 
nur  unmittelbar  dadurch,  daß  sie  eine  —  vielleicht  gar  nicht 
einmal  sehr  große  —  Masse  von  erwachsenen  Menschen  an  in¬ 
dustrielle  Tätigkeit  gewöhnten,  sondern  mittelbar  dadurch,  daß 
sie  als  abschreckendes  Beispiel  dienten  und  viele,  die  sonst  der 
öffentlichen  Armenpflege  anheimgefallen  wären,  sich  zur  „freien“ 
Arbeit  entschlossen,  um  der  Aufnahme  im  Armenhause  zu  ent¬ 
gehen.  Die  zu  Arbeitshäusern  umgewandelten  Waisen-  und 
Findelhäuser  waren  wirkliche  Pflanzschulen  für  ein  „industriöses“ 
Geschlecht.  Aber  der  Nutzen  dieser  Arbeitshäuser  für  die  auf¬ 
kommende  Industrie  äußerte  sich  auf  viel  unmittelbarere  Weise 
dadurch,  daß  sie  (namentlich  die  Waisenhäuser)  vielfach  dazu 
dienten,  um  den  Unternehmer  mit  dem  fehlenden  Arbeitermateriale 
zu  versehen. 

Lieferung  von  Arbeitskräften  durch  Arbeits-  und  Waisenhäuser 

Italien:  „nelle  seconda  metädel  secolo  (sc.  XVIII.)  e  tutto  un 
succedersi  di  tentativi  per  aprire  negli  ospizii,  col  concorso  di  abiti 
direttori,  manifatture  diverse.“ 

1759  vermietet  das  Armenhaus  von  Mandovi  an  den  Tuchfabrikanten 
G.  B.  Tempia  eine  Manufaktur  mit  der  Abmachung,  daß  er  mindestens 
400  Arme  der  Stadt  und  Umgebung  dort  beschäftige. 

1761  errichtet  die  Congregazione  von  Nizza  eine  Seidenspinnerei, 
die  sie  einem  gewissen  Fo  Vierne  verpachtet,  der  dort  mit  Armen 
arbeitet.  Noch  mehrere  ähnliche  Fälle  bei  G.  Prato,  La  vita  econ. 
di  Piemonte,  340  seg. 

Frankreich :  Eine  genaue  Beschreibung  der  gewerblichen  Arbeit  in 
den  Pariser  Arbeits-  und  Armenhäusern  im  Jahre  1666  gibt  nach  einer 
zeitgenössischen  Darstellung:  Paultre,  La  repress.  de  la  mend.. 
183  ff.  Völlige  arbeitsteilige  Manufaktur:  „il  y  a  dans  la  maison  de 
Bicestre  des  drapiers  pour  les  draps ,  pour  les  serges  et  pour  les 
tiretaines;  il  y  a  des  pauvres  qui  peignent,  d’autres  qui  cardent, 


822 


Siebenter  Abschnitt:  Die  Beschaffung  der  Arbeitskräfte 


d’autres  qui  filent,  d’autres  qui  sont  sur  les  mestiers  etc.  etc.“.  Haupt¬ 
industrie:  le  tricot.  Verträge  mit  vier  marckands  bonnetiers :  ib. 
186  f.  188  f.  1.  Produktion  für  eigene  Rechnung;  2.  Produktion  für 
Genossenschaften;  3.  Produktion  für  Verleger:  diese  verpflichten  sich 
zur  Erteilung  von.  Aufträgen ;  das  Höpital  zur  Lieferung  einer  be¬ 
stimmten  Anzahl  Arbeiter. 

Nach  einer  Aufstellung  dieses  Jahres  arbeiten  in  den  verschiedenen 
Häusern  des  Höpital  general  für  industrielle  Zwecke  6000  Personen. 

Über  Verträge  zwischen  Unternehmern  und  Arbeitshäusern  im 
18.  Jahrhundert  berichtet  Lallemand,  Hist,  de  la  Charite  41,  542. 

England-.  Anfang  des  18.  Jahrhunderts  arbeiteten  in  48  Work- 
Houses  in  London  4000  Arbeiter  und  Arbeiterinnen  für  Unternehmer 
zu  Spottpreisen.  Siehe  die  Einzelverträge  der  Arbeitshäuser  mit^  den 
Lieferanten  und  Händlern  in  der  Schrift:  An  Account  of  the  \Vork- 
Houses  in  Great  Britain  in  the  year  1732.  3.  ed.  repr.  1786,  p.  8  f. 
25.  60.  Über  den  Stand  der  Arbeitshäuser  in  E.  im  Jahre  1795  und 
vorher  geben  der  2.  und  3.  Band  des  Eden  sehen  Werkes  den  er¬ 
wünschten  Aufschluß.  Danach  gab  es  eine  Menge  ganz  großer  Arbeits¬ 
häuser  mit  mehreren  Hundert  Insassen,  die  insgesamt  11 142  Personen 
industriell  beschäftigten. 

Daneben  bestand  die  Sitte,  Arbeiter,  namentlich  Kinder,  aus  solchen 
Anstalten  den  Unternehmern  in  ihre  Fabriken  zu  liefern.  Ein  sprechendes 
Beispiel  für  diese  Übung  ist  die  Anlage  der  Baumwollspinnerei  duich 
Mr  Dade  im  Jahre  1784,  die  Rob.  Owen  ausführlich  beschreibt. 
In  dem  New  View  of  Society  (4.  ed.  1818,  p.  34  f.)  erzählt  er  uns, 
wie  schwer  die  Beschaffung  der  Arbeitskräfte  war  („was  no  light 
task“).  nTwo  modes  then  only  remained  of  obtaining  these  labourers: 
the  one,  to  procure  children  from  the  various  pub.lic  charities 
of  the  country;  and  the  other,  to  induce  families  to  settle  round  the 
works. 

To  accomodate  the  first,  a  large  house  was  erected,  which  ulti- 
mately  contained  about  500  children,  who  were  procured  chiefly  from 
workhouses  and  charities  in  Edinburgh.  These  children  were 
to  be  fed,  clothed  and  educated  .  . 

Holland-.  1683  wird  den  Refugies  in  Amsterdam  ein  Waisenhaus 
eröffnet,  um  dort  Seide  spinnen  zu  lassen.  Berg,  Refugies,  160. 
In  Middelburg  schloß  die  Armenverwaltung  mit  einem  Franzosen  einen 
Vertrag,  nach  welchem  in  dessen  Tuchweberei  eine  Anzahl  Waisen¬ 
kinder  beschäftigt  werden  sollten.  Coronel,  Middelburg  voorheen 
en  thans,  120,  bei  Pringsheim,  Beiträge,  55. 

Das  „Raspel-  und  Spinnhaus“  in  Amsterdam  beschreibt  Zetzner 
in  seinem  Reiss- Journal ;  lierausgeg.  von  R.  Reuss  (1912),  17  f. 

Schweiz :  1665/69  errichtet  Basel  ein  Zunft- und  Waisenhaus,  d.  h. 
Arbeitshaus.  Das  Waisenhaus  wurde  dann,  wie  es  scheint,  in  Sub¬ 
mission  jeweilen  an  denjenigen  Fabrikanten,  gleichviel  welcher  Branche, 
verliehen,  der  für  den  Unterhalt  der  Kinder  am  ausgiebigsten  zu  sorgen 
sich  verpflichtete.  1676  wird  es  dem  Strumpffabrikanten  Gernler  ein¬ 
geräumt.  G.  erhält  die  Befugnis  zur  Errichtung  einer  „ Strumpffabrique “ 
ipi  Waisenhaus,  Tr.  Geering,  Basels  Handel  und  Ind.,  608.  619, 


Vierundfünfzigstes  Kapitel:  Die  Maßnahmen  der  staatlichen  Arbeiterpolitik  823 

Deutschland.  Brandenburg -Pr eufsen:  1687  wird  «das  Zucht-  und 
Spinnhaus  zu  Spandau  angelegt.  Anfänglich  wurden  die  Gefangenen 
zum  Wollspinnen  angehalten.  1688  überließ  man  den  Seidenhändlern 
Müller  und  Kopisch  sämtliche  Gefangene  zum  Seidenspinnen,  wofür 
wöchentlich  8  gr.  pro  Person  bezahlt  wurden.  Acta  bor.,  Seidenind. 

1 ,  6.  Desgl.  liefert  das  Waisenhaus  in  Potsdam  den  Seidenfabriken 
Arbeitskräfte:  ib.  Nr.  94. 

Der  König  Friedrich  Wilhelm  I.  verfügt,  daß  einem  Fabrikanten 
von  Leonischen  Tressen  3 — 400  Waisenkinder  zur  Anlernung  auf 
dessen  Kosten  überwiesen  werden ;  für  die  Anlage  einer  Gewehrfabrik 
erhalten  die  Unternehmer  das  Recht,  aus  den  Waisenhäusern  zu  Potsdam 
und  Berlin  brauchbaren  Nachwuchs  zu  entnehmen.  Festschrift  des 
Bankhauses  der  Gebr.  Schickler  (1912),  20  f.  34.  Im  Potsdamer 
Waisenhause  ließen  (1778)  die  Juden  Spitzen  klöppeln.  Cromes  Selbst¬ 
biographie  (1833),  69  ff. 

Im  Königreich  Sachsen  wurden  Arbeits  -  Armenhäuser  und  Straf¬ 
anstalten  der  Gespinnsterzeugung  dienstbar  gemacht.  Die  Insassen 
produzierten  vornehmlich  die  feineren  Garne.  A.  König,  Die  sächs. 
Baumwollindustrie  (1899),  82  f. 

Hannover-,  die  Gräzelsche  Fabrik  in  Göttingen  liefert  die  Kamm¬ 
wolle  in  die  Arbeitsschule  zum  Verspinnen,  ebenso  in  das  Werkhaus. 
Pastor  Wagemann,  Über  Industrieschulen  im  allgemeinen  und  über 
die  Göttingische  insbesondere ,  im  Gött.  Magazin  für  Industrie  und 
Armenpflege  (!),  herausgeg.  von  L.  G.  Wagemann,  1  (1789),  20  0’. 

Arbeitsschulen  in  Hessen  spinnen  Baumwolle  für  die  Fabriken  in 
Elberfeld;  ähnliche  Schulen  gibt  es  in  Magdeburg,  Strafsburg,  Böhmen. 
Cand.  Wagemann,  Erste  Arbeitsschule  in  Hessen,  im  Gött. 
Magazin  usw.  1,  38. 

Baden  :  Das  Zuchthaus  in  Breisach  gab  Anlaß,  „daran  eine  Fabrik 
zu  lehnen.  Ein  Jude,  Götz  Uffenheimer,  pachtete  es  und  richtete 
eine  Hanf-  und  Leinenspinnerei  ein“  (18.  Jahrh.);  ein  Italiener, 
Fornaro,  pachtet  das  Zuchthaus  zu  Hüfingen  im  Schwarzwald,  wo  erst 
Wolle,  später  Seide  gesponnen  wird.  Gothein,  WG.  d.  Schw.  1,  756. 

Österreich:  Über  ähnliche  Verhältnisse  berichtet  die  „Relation“  von 
1756,  die  von  A.  Fournier  im  Archiv  f.  österr.  Gesell.  Bd.  69  ver. 
öffentlicht  ist.  Vgl.  Ad.  Demuth,  Das  Manufacturhaus  in  Wei߬ 
wasser  (Böhmen),  in  den  Mitt.  d.  Ver.  f.  d.  Gesch.  d.  Deutsch,  i.  B. 
28,  293  ff. 

*  * 

* 

Das  verstand  man  im  16.,  17.  und  18.  Jahrhundert  unter 
„Erziehung  zur  Arbeit“.  Sie  war  ungefähr  gleichbedeutend  mit 
Erzwingung  der  Arbeit.  Sie  bezog  sich  fast  ausschließlich  auf 
die  moralische  Seite  des  Arbeitsproblems,  fast  gar  nicht  auf  die 
technische.  Eür  die  technische  Ausbildung  des  Arbeiters  tat 
man  bis  ins  19.  Jahrhundert  hinein  gar  nichts;  bis  auf  eine  Aus¬ 
nahme:  in  den  meisten  Staaten  wurden  Spinnschulen  ein- 


824  Siebenter  Abschnitt:  Die  Beschaffung  der  Arbeitskräfte 

gerichtet.  Diese  völlig  andere  Orientierung  der  industriellen 
Volkserziehung  in  frühkapitalistischer  Zeit,  die  auch  nicht  das 
geringste  Band  mit  der  unserer  Tage  verknüpft,  war  begründet 
in  der  oben  von  mir  hervorgehobenen  Eigenart  der  damaligen 
Arbeiter  und  der  damaligen  Technik.  Hauptproblem  war:  den 
Arbeiter  überhaupt  erst  zur  Arbeit  zu  erziehen.  Seine  technische 
Befähigung  aber  konnte  man  ihm  auf  theoretischem  Wege  nicht 
beibringen.  Da  galt  es  eine  praktische  Übertragung  von  Mann 
zu  Mann,  da  galt  es  vor  allem  eine  Vermehrung  des  Bestandes 
an  technisch  leistungsfähigen  Arbeitern.  Dieses  Problem  zu  lösen 
waren  ganz  andere  Maßnahmen  der  staatlichen  Arbeiterpolitik 
bestimmt :  ich  stelle  sie  im  folgenden  zusammen. 

IV.  Der  Kampf  der  Staaten  um  den  gelernten 

Arbeiter 

Daß  die  Einbürgerung  der  kapitalistischen  Wirtschaftsweise 
zum  großen  Teil  das  Werk  der  „Fremden“  ist,  ist  eine  der  für 
das  Verständnis  aller  europäischen  Geschichte  grundlegend  wich¬ 
tigen  Feststellungen.  Sie  ist  in  doppeltem  Sinne  wichtig:  inso¬ 
fern  die  Wirtschaftssubjekte  (Unternehmer)  und  insofern  die 
Wirtschaftsobjekte  (Arbeiter)  der  neuen  Wirtschaftsform  in 
weitem  Umfange  eingewanderte  Fremde  sind.  Über  jene  handele 
ich  noch  in  anderem  Zusammenhänge  ausführlich :  siehe  das 
61.  Kapitel;  von  diesen  habe  ich  hier  zu  reden:  welche  politische 
Maßnahmen  sie  auslösen. 

Die  Eigenart  der  empirischen  Technik  bringt  es  mit  sich, 
wie  wir  gesehen  haben,  daß  das  technische  Können  an  der 
lebendigen  Person  des  Arbeiters  haftet :  Einführung  eines  neuen 
Verfahrens  heischt  also  Einführung  von  Menschen,  die  dieses 
Verfahrens  kundig  sind.  Deshalb  war  schon  die  Gewerbepolitik 
des  Mittelalters  erfüllt  von  dem  Bestreben,  die  Handwerker  einer 
Stadt  durch  Zuzug  zu  vermehren,  ihren  Wegzug  zu  verhindern. 
An  diese  Politik  der  mittelalterlichen  Städte  knüpft  die  des 
Fürstenstaates  wiederum  an :  in  den  ersten  Jahrhunderten  seines 
Bestehens  handelte  es  sich  auch  für  ihn  vor  allem  darum,  tüchtige 
Handwerker  ins  Land  zu  ziehen.  Eine  Trennung  zwischen 
Unternehmer  und  Arbeiter  war  noch  nicht  erfolgt.  Später,  nach¬ 
dem  diese  eingetreten  war,  galt  es,  die  doppelte  Aufgabe  zu 
lösen:  Unternehmer  und  (gelernte)  Arbeiter  herbeizuschaffen. 
Die  zur  Lösung  dieser  Aufgaben  getroffenen  Maßnahmen  sind 
gum  Teil  dieselben;  so  alle  diejenigen,  die  wir  als  religions- 


Vierundfünfzigstes  Kapitel:  Die  Maßnahmen  der  staatlichen  Arbeiterpolitik  §25 

oder  kirchenpolitische  Maßnahmen  zusammenfassen  können  und 
von  denen  im  28.  Kapitel  bereits  die  Rede  war.  Eine  andere 
Gruppe  von  Maßnahmen  trägt  aber  den  Charakter  einer  aus¬ 
gesprochen  eigenen  Arbeiterpolitik. 

Ähnlich  wie  im  Mittelalter  die  einzelnen  Städte  um  den  Besitz 
von  Handwerkern  kämpfen,  so  sehen  wir  die  modernen  Staaten 
bis  zum  Ende  des  18.  Jahrhunderts  in  einem  erbitterten  Kampfe 
um  den  gelernten  Arbeiter  liegen.  Naturgemäß  zeitigte  dieser 
Kampf  einerseits  das  Bestreben,  die  in  einem  Lande  vorhandenen 
Könner  und  Künste  zu  erhalten,  andererseits  das  Bestreben,  den 
Vorrat  daran  zu  vermehren. 

In  vielen  Staaten  begegnen  wir  in  der  Frühzeit  des  Kapita¬ 
lismus  den  Verboten  der  Auswanderung  gelernter 
Arbeiter. 

Italien:  Venedig  konfiszierte  die  Güter  jedes  Glasarbeiters,  der 
sein  Vaterland  verließ.  Noch  1754  ließ  es  venetianische  Arbeiter,  die  sich 
im  Auslande  niedergelassen  hatten,  vergiften.  Bei  Levasseur  2,  258. 
Die  Tuchmacher  in  Mailand  mußten  noch  im  16.  Jahrhundert  den 
Verbleibungseid  schwören.  Bei  Ranke,  Fürsten  und  Völker  Süd¬ 
europas  1  3,  472.  Auswanderungsverbote  für  Seidenarbeiter  in  Piemont : 
Edikt  vom  28.  Aug.  1701.  Vgl.  G.  Prato,  La  vita  economica  in 
Piemonte,  52  seg. 

In  Frankreich  erließ  Colbert  mehrfach  Auswanderungsverbote.  Ein 
Edikt  vom  Monat  August  1669  untersagte  den  Untertanen  des  Königs 
„de  s’habituer  dans  les  pays  etrangers  ä  peine  de  confiscation  de 
corps  et  de  bien“.  Am  31.  Mai  1682  werden  die  Bestimmungen 
wiederholt,  vornehmlich  mit  Bezug  auf  die  Protestanten.  Es  werden 
nicht  mehr  mit  den  Galeeren,  sondern  mit  dem  Tode  (!)  bestraft  die 
„ouvriers  qui  sortiront  du  royaume“.  G.  Martin,  La  grande  In¬ 
dustrie  sous  .  .  .  Louis  XIV,  80  f.  Vgl.  noch  (für  das  Languedoc) 
L.  Dutil,  L’etat  econ.  du  L.  (1911),  294. 

England:  5  Geo.  I  und  23  Geo.  II  stellen  unter  Strafe:  die  An¬ 
werbung  englischer  Arbeiter  zur  Auswanderung  und  Arbeitsübernahme 
im  Auslande:  „if  .  .  .  any  person  .  .  .  shall  contract  with,  entice, 
persuade  or  endeavour  to  persuade ,  sollicit  or  seduce  any  manu- 
facturer  or  artificer,  of  or  in  wool,  mohair,  cotton  or  silk  or  of  or  in 
any  manufactures  made  of  wool  etc.  .  .  .  or  of  or  in  iron  steel,  brass 
or  other  manufacturer,  workman  or  artificer  etc.  to  go  out  this  king- 
dom  .  .  Vgl.  Postlethwayt,  Dict.  22,  135. 

1794  wird  noch  einmal  die  Auswanderung  aller  gelernten  Arbeiter 
verboten.  Nach  Walsh’s  App.  Sees  VII  und  VIII.  E.  Irv.  Mc 
Cormac,  White  Servitude  in  Maryland  (1904),  109. 

Ein  Zwischenstadium  der  Entwicklung  bedeutet  das  Verbot  von 
Geräte-  und  Maschinenausfuhr,  dem  wir  in  der  englischen 
Gesetzgebung  besonders  häufig  schon  im  17-  Jahrhundert  begegnen. 
Procl,  vom  15.  Jan.  1666  und  Stat.  7  und  8  Will.  III  c.  20  §  8 


826  Siebeuter  Abschnitt:  Die  Beschaffung  der  Arbeitskräfte 

verbieten  die  Ausfuhr  der  unter  der  Königin  Elisabeth  erfundenen 
Strickmaschinen  (stocking-frame).  Die  oben  angeführten  Gesetze  unter 
dem  ersten  und  zweiten  Georg  verbieten  die  Ausfuhr  von  Geräten  der 
Wollen-  und  Seidenindustrie.  Andere  Maßnahmen  gleichen  Inhalts  sind: 

1774.  Verbot  der  Ausfuhr  von  Utensilien,  die  in  der  Baumwoll¬ 
industrie  Verwendung  finden:  Anderson,  Orig.  4,  176; 

1775.  dsgl.  in  der  Wollindustrie:  Anderson  4,  187; 

1787.  dsgl.  in  der  Eisen-  und  Stahlindustrie:  Anderson  4,  668. 

Österreich:  Auswanderungsverbote  werden  erlassen  1752  (Pat.  vom 
12.  Aug.),  1769,  1779  und  öfters  für  die  Glasarbeiter  Böhmens,  für 
die  Kunstweber  Österreichs  u.  a.  J.  Kropatschek,  österr.  Ge¬ 
setze  ,  welche  im  Kommerzialgew.  usw.  vorgeschrieben  worden  sind 
1,  316  ff. 

Ähnliche  Gesetze  finden  wir  auch  in  andern  Ländern. 

Diesem  Bemühen,  die  gelernten  Arbeiter  im  Lande  festzu¬ 
halten,  steht  nun  das  eifrige  Bestreben  aller  Begierungen 
gegenüber,  gelernte  Arbeiter  aus  fremden  Ländern 
her  bei  zu  ziehen.  Zur  Belebung  des  Bildes  führe  ich  aus  dem 
unerschöpflich  reichen  Material  ein  paar  Beispiele  an: 

England:  Das  Buch  von  W.  Cunningham,  Alien  immigrants 
to  England  (1897),  behandelt  den  Gegenstand  fast  erschöpfend.  Da 
zahlreiche  Flüchtlinge  namentlich  aus  den  Niederlanden  und  Frank¬ 
reich  freiwillig  England  aufsuchten ,  so  bestand  die  Politik  der  eng¬ 
lischen  Könige  im  wesentlichen  darin,  diese  arbeitsamen  und  technisch 
hochgebildeten  Elemente  aufzunehmen  und  gegen  die  zünftigen  Hand¬ 
werker  zu  beschützen.  Wir  werden  noch  sehen,  daß  fast  die  gesamte 
englische  Industrie  solchen  fremden  Einwanderern  ihre  Entstehung 
verdankte.  Wo  die  Franzosen  und  Niederländer  Lücken  ließen,  da 
war  die  englische  Regierung  bedacht,  von  anderswoher  die  nötigen 
Arbeitskräfte  herbeizuziehen.  Heinrich  VI.  ließ  (1452)  sächsische, 
österreichische  und  böhmische  Bergleute  nach  England  kommen. 
Ehymer,  Foedera  11,  317;  bei  Roscher  3,  817.  Heinrich  VIII. 
führte  die  Waffenschmiederei  in  England  mit  Hilfe  fast  nur  von 
deutschen  Arbeitern  ein.  Als  1670  sich  eine  Gesellschaft  zur  Her¬ 
stellung  von  verzinntem  Eisenblech  bildete,  wurden  ebenfalls  deutsche 
Arbeiter  hereingeholt  usw. 

Frankreich :  Schon  im  Mittelalter  beginnen  die  französischen  Könige, 
sich  um  die  Herbeischaffung  fremder  Handwerker  und  gelernter  Arbeiter 
zu  bemühen.  Vor  allem  ist  es  die  Fürsorge  für  die  Seidenindustrie, 
die  sie  an  treibt,  und  da  sind  es  natürlich  vor  allem  die  italienischen 
Arbeitskräfte,  die  sie  ins  Land  zu  ziehen  beflissen  sind.  Mitte  des 
15s  Jahrhunderts  ruft  Ludwig  XI.  italienische  Seidenweber  nach 
Frankreich,  die  sich  in  Tours  niederlassen.  R.  Eberstadt,  Franz. 
Gew. -Recht,  317  f.  Katharina  von  Medici  errichtet  in  Orleans  eine 
Seidenweberei  mit  Hilfe  fremder  Arbeiter.  Aber  auch  für  andere 
Gewerbe  benötigte  man  die  italienischen  Arbeiter.  Unter  Karl  VIII. 
wurden  sie  bereits  systematisch  und  in  großem  Stile  herbeigeholt: 


Vierundfünfzigstes  Kapitel:  Die  Maßnahmen  der  staatlichen  Arbeiterpolitik  827 


„une  armee  de  parfumeurs,  de  joailliers,  de  brodeurs ,  de  tailleurs 
pour  dames,  de  menuisiers,  de  jardiniers,  de  facteurs  d’orgues  et  de 
toumeurs  d’albätre,  qu’il  installera  au  cliäteau  d’Ambroise.“  A.  de 
Montaiglon,  Etats  des  gages  des  ouvriers  italiens  employes  par 
Charles  VIII.  Archives  de  l’art  fr  an  9.  Doc.  t.  I  p.  94  ff. ,  zit.  von 
Pigeonneau,  Hist,  du  comm.  2,  24. 

Franz  I.  läßt  Arbeiter  aus  Flandern  und  Italien  kommen ,  mit 
denen  er  eine  Teppichweberei  in  Fontainebleau  errichtet.  Heinrich  II. 
begründet  in  St.  Germain  en  Laye  eine  Glashütte,  wo  der  Italiener 
Mutio  die  Technik  von  Murano  anwandte.  Levasse ur  2,  34.  35. 
Heinrich  IV.  zieht  flandrische  Teppichmacher  herein,  um  eine  Haute 
lice  -  Teppichweberei  ins  Leben  zu  rufen.  Fagniez,  L’econ.  soc. 
de  la  France  sous  Henry  IV,  147.  Colbert  betreibt  den  Import 
fremder  Arbeiter  in  großem  Umfange:  er  holt  Kunsthandwerker  und 
Künstler  für  die  Manufactures  des  Gobelins  aus  Italien,  Holland, 
England;  gelernte  Arbeiter  für  die  Teppichweberei,  für  die  Spitzen¬ 
industrie  ,  für  die  Seidenindustrie ,  für  die  Spiegelindustrie  meist  aus 
Italien ;  für  die  Tuchindustrie  aus  Holland ;  für  die  Bergwerke ,  die 
Eisengießereien,  die  Teerfabrikation  aus  Schweden;  für  die  Weißblech¬ 
fabrikation  aus  Deutschland  usw.  Depping,  Introd.  ä  la  corr.  adm. 
so’us  le  regime  de  Louis  XIV  Tome  III:  Affaire  de  Finances  Com¬ 
merce  —  Industrie;  Clement,  Lettres  de  Colbert  II,  CCLX  und 
die  Table  im  8.  Bande  s.  v.  couvrier’. 

Deutschland:  Fast  alle  deutschen  Fürsten  sehen  wir  in  gleicher 
Richtung  bemüht  wie  die  englischen  und  französischen  Könige.  Vor 
allem  ist  es  Friedrich  II.  von  Preufscn ,  der  es  sich  eifrig  angelegen 
sein  ließ,  seinem  Lande  die  fehlenden  Arbeitskräfte  zu  verschaffen. 
Vor  allem  handelte  es  sich  um  Spinner  und  W eber.  Da  fehlen  den 
französischen  Wollenmanufakturen  die  Spinner :  Friedrich  bezieht,  sie 
vom  Auslande  und  siedelt  sie  in  zahlreichen  Dörfern  an.  Chr.  Weiss, 
Hist,  des  refugies  prot.  1,  201.  1750-  vernehmen  wir  eine  Klage 

der  Dresdener  Kaufmannschaft ,  daß  ein  kgl.  preuß.  Hofrat  namens 
Mentzel  in  der  Oberlausitz  herumreist,  um  Damastzieher^  und  andere 
Fabrikanten  „unter  allerhand  Verheißungen  aus  Ihrer  Kgl.  Majestät 
in  Pohlen  hiesigen  Landen  nach  Schlesien  zu  locken“.  Promemoria 
vom  24-  Jan.  1750,  abgedr.  bei  Gerstmann,  Beitr.  zur  Kult.-Gesch. 
Schlesiens  (1909),  61/62.  Ein  reiches  Material  zur  Geschichte  des 
Kampfes  um  den  gelernten  Arbeiter  in  der  Seidenindustrie  enthält  die 
Hintze-Schmoller sehe  Publikation  in  den  Acta  bor.  Siehe  z.  B. 
Bd.  I  Nr.  48.  52.  53.  93.  115.  128.  131.  139.  166.  233.  245.  248. 
260.  283.  317.  363.  461  u.  a.  Aber  auch  andere  Gewerbe  als  die 
Textilindustrie  wurden  mit  auswärtigen  Arbeitern  versorgt.  So  wurden 
17G3  Lederarbeiter  nach  Schlesien  gezogen:  siehe  Avertissement  wegen 
der  Benefizien  vor  die  auswärtige  in  Schlesien  sich  etablierende  Leder- 
fabricanten  vom  14.  Mai  1763.  Abgedr.  bei  Bergius,  Neues  Pol. 
u.  Comm.-Mag.  4,  20.  B.  stellt  dabei,  folgende,  das  Problem  in  seiner 
grundsätzlichen  Bedeutung  gut  beleuchtende  Betrachtung  an:  „Ohne 
hinlängliche  Kenntnis,  Wissenschaft  und  Erfahrung  wird  kein  Gerber 
im  Stande  sein,  solche  Leder  zu  bereiten,  welche  den  Namen  eines 


828 


Siebenter  Abschnitt::  Die  Beschaffung  der  Arbeitskräfte 


vorzüglich  guten  und  tüchtigen  Leders  in  der  Tat  verdienen  sollte  .  .  . 
Finden  sich  nun  im  Lande  keine  Gerber,  welche  diese  Eigenschaft 
besitzen,  so  ist  kein  anderes  Mittel  übrig,  als  ausländische 
Gerber  in ’s  Land  zu  ziehen.“ 

Eisenarbeiter  werden  im  Badenschen  gesucht:  „Gleich  den 
preußischen  Werbern  durchzogen  Emissäre  benachbarter  Fabriken  das 
Land,  um  einander  durch  größere  Versprechungen  die  besten  Arbeiter 
abspenstig  zu  machen.“  Gothein,  WG.  d.  Schwarzwaldes  1,  779/80. 

Auch  Österreich  bemüht  sich  unter  Maria  Theresia  um  Hereinziehung 
fremder  Arbeiter.  Schon  seit  mehreren  Jahren,  so  berichtet  im  Jahre 
1766  die  Behörde,  sei  sie  bestrebt,  alle  dienlichen  Mittel  zur  Ver¬ 
besserung  der  inländischen  Manufakturen  anzuwenden  und  lasse  es 
nicht  an  Erteilung  von  Prämien  und  andern  Unterstützungen  an 
tüchtige  Arbeiter  fehlen.  Zahlreiche  Industriezweige  aber  könne  man 
„nicht  anderst  als  durch  Verschreibung  fremder  Künstler 
in  die  Höhe  bringen.“  So  wäre  die  Samtfabrikation  niemals  „zur 
Perfektion  gediehen,  wenn  man  nicht  derley  geschickte  Meister  (be- 
nanntlich  Fleuriet,  Gautier  und  Tetier)  aus  Frankreich  mittels  einer 
lebenslangen  Pension  anher  behandlet  hätte.“  Zur  Verbesserung  der 
Stahlindustrie  beziehe  man  Arbeiter  aus  England;  Graf  Joseph  Kinsky 
verdanke  die  Güte  der  von  ihm  erzeugten  gezogenen  Leinwand  und 
feinen  Barchente  dem  Umstande,  daß  er  anläßlich  des  letzten  Krieges 
einige  tüchtige  Meister  aus  Sachsen  zu  überkommen  das  Glück  gehabt 
habe.  Plibram,  a.  a.  0.  S.  149. 

Andererseits  äußert  sich  die  Kärntner  Repräsentation  unter  dem 
4.  Juli  1750:  die  Eisenarbeiter  wanderten  aus.  Daran  seien  die 
Emissäre  von  auswärtigen  Potentien  und  Eisengewerkschaften  schuld, 
„welche  Emissäre  sich  al  incognito  in  diese  k.  k.  Erblande  begeben 
und  mit  Verheißung  eines  großen  Lohnes  und  Verdienstes  die  besten 
Arbeiter  heimlich  aufreden  und  per  tertium  et  quartum  abcapern  lassen, 
wie  solches  leider  seit  kurzer  Zeit  geschehen  ist.  Alf.  Müller, 
Geschichte  der  Eis.-Ind.  in  Inner-Österr.  1  (1909),  468. 

Notwendig  mußten  zwischen  den  einzelnen  Staaten,  die  jeder 
seine  Arbeiter  zurückhalten  und  jeder  fremde  Arbeiter  haben 
wollten,  Konflikte  entstehen.  In  der  Tat  finden  wir  während 
des  17.  und  18.  Jahrhunderts  unausgesetzt  die  Regierungen 
im  Streit  untereinander  um  ihre  Arbeiter,  finden  wir 
ganze  Systeme  ausgebildet,  einerseits  um  neue  Arbeiter  heimlich 
herbeizulocken,  andrerseits  um  ihre  Anwerbung  und  Auswande¬ 
rung  zu  überwachen  und  zu  verhindern.  Der  Kampf  um  die  ge¬ 
lernten  Arbeiter  bildet  einen  regelmäßigen  Gegenstand  der  diplo¬ 
matischen  Verhandlungen  jener  Zeit. 

Nachdem  Frankreich  das  klassische  Land  der  modernen 
Industrie  geworden  war,  wurde  es  auch  das  Bezugsgebiet  für 
hochqualifizierte  Arbeiter.  „Les  etrangers  sont  fort  empresses 
de  nous  enlever  nos  ouvriers“  lesen  wir  in  einem  Briefe 


Vierundfünfzigstes  Kapitel:  Die  Maßnahmen  der  staatlichen  Arbeiterpolitik  829 

Gournays  vom  22.  Januar  1753.  Bigot  de  St.  Croix  schätzte, 
daß  das  Ausland  jährlich  10  000  gelernte  Arbeiter  aus  Frank¬ 
reich  bezöge1.  Und  nachdem  die  Kirchenpolitik  Ludwigs  XIV. 
eine  Menge  der  besten  Arbeiter  aus  dem  Lande  getrieben 
hatte,  war  die  Regierung  während  des  18.  Jahrhunderts 
doppelt  darauf  bedacht,  die  Entführung  französischer  Arbeiter 
zu  verhindern.  So  können  wir  die  eigentümliche  Arbeiterpolitik 
jener  Jahrhunderte  besonders  deutlich  verfolgen,  wenn  wir  den 
Kampf  beobachten,  den  Frankreich  mit  den  fremden  Ländern 
um  seine  Arbeiter  ausficht.  Es  trifft  sich  glücklich,  daß  schon 
durch  die  Publikationen  Deppings  u.  a.,  namentlich  aber  neuer¬ 
dings  durch  die  beiden  Bücher  G.  Martins,  zumal  das  zweite, 
zur  Aufhellung  dieser  Verhältnisse  ein  so  reiches  Material  zutage 
o-efördert  ist,  wie  es  für  kein  anderes  Land  der  Fall  ist.  Ich 
gebe  im  Folgenden  im  wesentlichen  an  der  Hand  der  genannten 
Publikationen  eine  Art  von  Regesten  zu  dem  Thema: 

Frankreichs  Kampf  mit  den  fremden  Völkern  um  den  gelernten 
Arbeiter : 

17.  Jahrhundert : 

1672  steckt  Colbert  einen  schweizerischen  Kaufmann  ins  Gefängnis, 
weil  er  sich  unterfing,  französische  Arbeiter  anzuwerben. 

Als  venetianische  Glasarbeiter  wieder  nach  Italien  zurückkehren 
wollen,  läßt  er  sie  an  der  Grenze  verhaften  und  im  Schlosse  Pierre- 
Seize  gefangen  setzen;  ebenso  einen  Pariser  Seidenweber,  der  nach 
Spanien  auswandern  will. 

1679  versucht  der  spanische  Gesandte,  30  Seidenarbeiter  zu  ex¬ 
portieren,  wird  aber  daran  verhindert. 

In  Lyon  plant  ein  Samtweber,  sich  in  Florenz  anzusiedeln:  der 
Erzbischof  von  Lyon  erfährt  es  und  wirft  ihn  ins  Gefängnis. 

18.  Jahrhundert: 

Bufsland:  1717  lockt  Rußland  150  Arbeiter  an:  Uhrmacher,  Ver¬ 
golder,  Maler,  Kutschenmacher,  Schmiede  u.  a. 

Flüchtige  Arbeiter  der  Manufaktur  von  Sevres  halfen  die  kgl. 
Porzellanmanufaktur  in  St.  Petersburg  begründen. 

Die  patriotische  Gesellschaft  von  St.  Petersburg  setzt  einen  Preis 
von  200  Rub.  für  die  französischen  Gerber  aus,  die  ihr  Geheimnis 
verraten. 

Gebr.  Rulliere  bekommen  von  der  russischen  Regierung  2  ecus  zu 
je  6  1.  für  jeden  Arbeiter,  den  sie  liefern.  Es  gibt  besondere  Agenten: 
„emolleurs  pour  la  Russie“,  denen  die  französische  Regierung  nach¬ 
spürt  (wie  heute  etwa  den  Mädchenhändlern),  und  die  sie  ins  Ge¬ 
fängnis  steckt,  sobald  sie  ihrer  habhaft  wird.  Sie  wohnen  deshalb 
meist  im  Auslande.  Berühmt  ist  ein  gewisser  Fevrier,  Uhrmacher  zu 

1  E.  Martin,  La  grande^  industrie  sous  Louis  XV,  300. 


§30  Siebenter  Abschnitt:  Die  Beschaffung  der  Arbeitskräfte 

Paris,  der  sich  damit  befaßt,  gute  Uhrmacher  in  Paris  und  Lyon  aus¬ 
findig  zu  machen,  um  sie  ins  Ausland  zu  bringen.  Als  er  sich  wieder 
einmal  mit  mehreren  Arbeitern  nach  Rouen  begibt,  um  sich  auf  einem 
holländischen  Schiffe  einzuschiffen,  werden  alle  ergriffen  und  gefangen 
gesetzt. 

Ein  förmlicher  Spionendienst  wird  organisiert,  um  die  Wege  zu 
erkunden,  die  die  auswandernden  Arbeiter  nehmen. 

1767  beklagt  sich  der  französische  Gesandte  in  Moskau,  daß 
mehrere  Zeichner  aus  Lyon  nach  Rußland  durchgekommen  sind,  wo 
man  ihnen  große  Vorteile  gewähre.  . 

Muster  schickt  man  in  Weinfässern,  um  den  Nachstellungen  zu 
entgehen;  auch  hier  sind  die  französischen  Behörden  hinter  den  Misse¬ 
tätern  her. 

Dänemark:  Schultze,  Sekretär  der  dänischen  Gesandtschaft  in 
Paris,  befördert  Tuchmacher. 

Ein  Genfer  wird  verhaftet,  weil  er  Agent  für  den  Transport  von 
Färbern  aus  Lyon  nach  Kopenhagen  ist.  Ein  anderer  wirbt  unter 
dem  Schutze  der  dänischen  Gesandtschaft  Peilenschmiede  für  Uhr¬ 
macherei  und  Instrumentenmacherei. 

England:  Eine  Agentin  liefert  7  Jahre  hindurch  regelmäßig  junge 
Arbeiter  und  Arbeiterinnen  nach  E.  1763  wird  ein  Trupp,  bestehend 
aus  MeBuast,  7  Arbeitern  und  Arbeiterinnen  und  2  Kindern,  auf  Grund 
einer  Denunziation  angehalten. 

Ein  Bewohner  von  Beauvais  hat  häufig  Zusammenkünfte  mit  dem 
englischen  Gesandten:  er  soll  in  London  eine  Teppichweberei  ein¬ 
richten,  ähnlich  der  in  Beauvais.  Er  hat  sich  verpflichtet,  die  Hälfte 
der  französischen  Arbeiter  nach  E.  zu  bringen.  Entdeckt  und  fest¬ 
genommen. 

Die  Gebr.  Grignon,  Arbeiter  der  Gobelins,  lassen  sich  bestimmen, 
nach  London  überzusiedeln;  einem  gelingt  es,  der  andere  wird  ge¬ 
fangen  genommen. 

Das  gleiche  Geschick  ereilt  Jean  Coillat,  Arbeiter  in  der  Porzellan¬ 
manufaktur  zuVincennes;  das  gleiche  einen  marchand  eventailliste. 

Österreich-Ungarn :  1750  wird  ein  Nie.  Fran<?ais  festgenommen,  der 
Messerschmiede  nach  Wien  bringen  will. 

Deutschland:  Hannong,  ein  Fayencearbeiter  von  Talent,  wird  für 
die  sächsische  Porzellanmanufaktur  gewonnen.  Arbeiter  aus  der  M. 
des  Gob.  desgleichen. 

Ein  geschickter  Zeichner  ist  schon  in  Deutschland:  als  Frau  und 
Kinder  nachkommen  wollen,  verhaftet  man  sie  und  zwingt  so  den 
Vater,  zurückzukehren. 

Abgesandte  Friedrichs  II.  werden  in  Straßburg  und  Dünkirchen 
aufgespürt,  wo  sie  Tabakarbeiter  anwerben  wollen.  Vgl.  auch  Acta 
borussica.  Seidenindustrie. 

Ähnliche  Beziehungen  bestanden  zwischen  Frankreich  und  Spanien , 
Portugal ,  Belgien ,  Schweden ,  Italien. 

Die  Strafen,  die  über  die  Missetäter  verhängt  wurden,  waren  oft 
sehr  hart.  Am  31.  März  1751  werden  zwei  maitres  ouvriers  aus  Lyon 
zu  lebenslänglichem  Zuchthaus  verurteilt,  weil  sie  sich  schuldig  ge- 


Vierundfünfzigstes  Kapitel:  Die  Maßnahmen  der  staatlichen  Arbeiterpolitik  831 

macht  hatten,  Arbeiter  zur  Auswanderung  zu  verführen.  Ihre  Opfer, 
ouvriers  en  soie ,  compagnons ,  mouliniers ,  passementiers  bekommen 
teils  Geld-,  teils  Freiheitsstrafen  von  2  bis  5  Jahren. 

Um  doch  das  Ziel,  außer  Landes  zu  kommen,  zu  erreichen,  griff 
man  zu  den  gewagtesten  Mitteln :  vielfach  wurde  ein  Pilgerzug  vor¬ 
geschützt  und  ähnliches.  Vgl.  auch  noch  Go  darf,  L’ouvrier  en  soie 
(1899),  202  f. 

V.  Die  Regelung  des  Arbeitsvertrages 

Wie  sehr  eine  systematische  Darstellung  des  Arbeits-  oder 
Arbeiterrechts  in  der  Zeit  des  Merkantilismus  nottut,  empfindet 
man  besonders  lebhaft,  wenn  man  daran  geht,  diejenigen  Be¬ 
stimmungen  zusammenzustellen,  die  damals  den  Arbeitsvertrag 
regelten:  man  findet  nichts  als  hier  und  da  zerstreute  Notizen 
in  der  Literatur,  die  sich  niemals  mit  dem  Probleme  eindring¬ 
lich  und  gesondert  befaßt  hat. 

AVas  sich  aus  einem  einstweiligen  Studium  des  Gesetzes¬ 
materials  ergibt,  ist  etwa  folgendes: 

Ehe  der  Staat  sich  um  die  Arbeiter  kümmerte,  war  ihre  Tätig¬ 
keit  eingeschlossen  in  die  Ordnungen  der  Grundherrschaften  oder 
der  Zünfte.  Beide  bleiben  nun  auch  während  des  frühkapita¬ 
listischen  Zeitalters  sachlich  wie  örtlich  teilweise  in  Kraft.  Überall, 
wo  die  Hörigkeit  noch  nicht  beseitigt  war,  also  in  so  gut  wie 
allen  Ländern  mit  Ausnahme  von  Italien  und  England,  bestand 
auch  in  unsrer  Epoche  die  Arbeitspflicht  der  Hintersassen,  aus 
der,  wie  wir  gesehen  haben,  ein  nicht  unbeträchtlicher  Teil  der 
kapitalistischen  Industrie  (und  natürlich  auch  Landwirtschaft) 
erwachsen  ist.  Das  Handwerk  andrerseits  namentlich  in  den 
Städten  regelte  seine  Arbeit  nach  wie  vor  durch  die  nur  hier 
und  da  der  staatlichen  Oberaufsicht  unterworfenen  Zunftord¬ 
nungen. 

Daneben  und  darüber  schob  sich  der  Staat  mit  seinem  be¬ 
sonderen  Arbeitsrecht. 

Das  staatliche  Arbeitsrecht  dieser  Zeit  ist  nun,  wenn  wir  es 
als  Ganzes  fassen,  durchaus  noch  aus  demselben  Geiste  geboren 
•wie  die  früheren  Rechte:  es  geht  wie  diese  von  dem  Grundge¬ 
danken  einer  Arbeitspflicht  aus,  die  sich,  wie  wir  schon  fest¬ 
stellen  konnten,  häufig  in  einen  unmittelbaren  Arbeitszwang  ver¬ 
dichtete.  Aus  dieser  Grundauffassung  ergaben  sich  nun  aber 
ohne  weiteres  die  Grundzüge,  die  das  merkantilistische  Arbeits¬ 
recht  kennzeichnen.  Es  sind  folgende: 

1.  Die  Dauer  des  Arbeitsvertrages  wird  der  Lebens- 


832  Siebenter  Abschnitt:  Die  Beschaffung  der  Arbeitskräfte 

länglichkeit,  wie  sie  dem  Stande  der  Hörigkeit  entspricht,  nach 
Möglichkeit  angenähert :  das  Arbeitsverhältnis  soll  sich  in  langen 
Zwischenräumen  nur  verändern  dürfen; 

2.  demgemäß  wird  das  Wechseln  der  Arbeitsstelle 
nach  Möglichkeit  erschwert:  lange  Kündigungsfristen,  Verbote, 
die  unvollendete  Arbeit  zu  verlassen,  oder  wegzugehen,  ehe  der 
Arbeitgeber  einen  Ersatz  hat;  Beschränkung  der  Freizügigkeit; 
Abgangszeugnispflicht  u.  dgl. 

3.  Die  Dauer  der  Arbeitszeit  wird  ebenso  wie 

4.  die  Höhe  der  Löhne  von  der  Obrigkeit  bestimmt; 

5.  die  persönliche  Freiheit  des  Arbeiters  auch  außer¬ 
halb  der  Arbeit  ist  stark  beschränkt:  häufig  darf  er  den  ^ 
Arbeitsort  überhaupt  nicht  verlassen,  und  selbstverständlich  hat 
er  kein  Recht,  sich  mit  seinesgleichen  zu  verständigen,  um  etwa 
seine  Arbeitsbedingungen  zu  verbessern. 

Alle  derartigen  Bestrebungen  wären  gegen  den  Geist  des 
ganzen  Rechts  gewesen:  danach  wurde  ja  das  Arbeitsverhältnis 
von  der  Obrigkeit  geregelt,  war  es  eine  Art  von  Beamtenver¬ 
hältnis.  Wie  aber  das  Koalitions-  und  Streikrecht  dem  Sinne 
des  Beamtenverhältnisses  innerlich  widerspricht,  so  galt  auch  in 
der  Frühzeit  des  Kapitalismus  alles  das,  was  wir  heute  unter 
der  Einrichtung  der  gewerkschaftlichen  Arbeiterbewegung  zu¬ 
sammenfassen,  als  verpönt. 

Im  einzelnen  stoßen  wir  auf  folgende  Bestimmungen: 

Das  gebundene  Arbeitsrecht  finden  wir  schon  in  den  italienischen 
Industrien  des  14.  und  15.  Jahrhunderts,  so  beispielsweise  in  den 
florentiner  Tuch-  und  Seidenindustrien,  die  ja  überhaupt  noch  halb 
handwerksmäßiges  Gepräge  tragen :  der  Arbeiter  muß  die  Woche  aus- 
halten,  er  muß  sein  Stück  fertig  machen,  er  hat  langfristige  Kontrakte 
und  muß  4  Monate  vorher  kündigen;  den  „discipuli  und  laborantes“ 
der  Seidenzunft  wird  verboten,  „oft  den  Meister  zu  wechseln“. 

Lohntaxen  bestehen  für  die  Spinnerei  und  Weberei  in  der  floren¬ 
tiner  Tuchindustrie  im  IG.  Jahrhundert,  ebenso  für  die  Seidenindustrie. 
Siehe  die  Quellen  bei  Doren,  Studien  1,  232  f.  274. 

England  und  Schottland  haben  dann  die  grundsätzliche  Gebunden¬ 
heit  des  Arbeiterrechts  wohl  am  folgerichtigsten  und  schärfsten  durch¬ 
geführt. 

In  England  wurde  das  Arbeiterrecht ,  wie  wir  wissen ,  kodifiziert 
durch  5  Elis.  c.  4  (1563),  das  34  Arbeitergesetze  aus  der  Zeit  von 
1350  bis  1560  außer  Kraft  setzte.  Daß  durch  dieses  Gesetz  der 
Arbeitszwang  eingeführt  wurde,  haben  wir  bereits  gesehen.  Hatte  nun 
der  Arbeiter  freiwillig  oder  zwangsweise  seine  Arbeit  angetreten,  so 
banden  ihn  zahlreiche  Bestimmungen  an  diese  eine  Stelle  fest:  als 
„Lehrling“  war  er  auf  7  Jahre  gebunden,  das  heißt  also  hörig;  aber 


Vierundtünfzigstes  Kapitel:  Die  Maßnahmen  der  staatlichen  Arbeiterpolitik  883 

auch  die  älteren  Arbeiter  mußten  „ihre  Zeit“  abdienen.  War  diese 
abgelaufen,  so  konnten  sie  ihre  Stelle  nur  verlassen:  ein  Vierteljahr 
nach  vorheriger  Kündigung  (§§  5.  6),  gegen  einen  Entlassungsschein 
(§  10),  und  wenn  sie  eine  angefangene  Arbeit  vollendet  hatten  (§  13). 

Die  Löhne  (Maximallöhne:  §  18)  wurden  vom  Friedensrichter 
festgesetzt.  Lohnmaxima  hatten  die  englischen  Könige  seit  1350  zahl¬ 
reiche  erlassen.  Siehe  Eden  1,  30  ff.  Die  Neuerung  5  Elis.  c.  4 
bestand  darin,  daß  die  Löhne  mit  den  Lebensmittelpreisen  in  Einklang 
gebracht  werden  sollten  (§  15).  Man  streitet  darüber,  wie  lange  die 
Festsetzung  der  Löhne  tatsächlich  stattgefunden  hat.  Cunningham, 
Growth  44,  nimmt  an :  bis  Karl  II.  Später  wird  aber  die  Lohnregulierung 
wieder  aufgenommen:  1727  finden  wir  eine  genaue  Spezifizierung  der 
Stücklöhne  in  Gloucestershire  (13  Geo.  VI  c.  23);  1756  wurde  ein 
neues  Lohnstatut  erlassen  (29  Geo.  II  c.  33).  Der  neueste  Bearbeiter 
des  Themas:  R.  H.  Tawney,  The  Assessment  of  Wages  in  E.  by 
the  Justices  of  the  Peace,  in  der  Vierteljahrsschrift  f.  Soc.-  u.  WG. 
11,  307  ff.  533  ff.,  legt  den  Lohnfestsetzungen  wieder  höhere  Bedeutung 
bei  als  Cunningham  u.  a.  (p.  337). 

Staatliche  Ko  ali  t  i  o n  s  v e r  b  o  t  e  bestanden  seit  dem  16.  Jahr¬ 
hundert.  2  u.  3  Edw.  VI  c.  4  u.  15  verbietet  alle  Vereinigungen, 
um  Löhne  und  Arbeitszeit  zu  beeinflussen ,  bei  hohen  Strafen :  beim 
zweitenmal  20  £  und  Pranger;  beim  drittenmal  40  j£,  Verlust  des 
Ohres  und  des  guten  Rufs.  Verbote  aus  dem  18.  Jahrhundert  bei 
Steffen  1,  505.  Vgl.  Held,  Zwei  Bücher,  432  ff. 

Eine  Art  wirklicher  Hörigkeit  bestand  noch  Ende  des  18.  Jahr¬ 
hunderts  in  den  englischen  Kohlengruben.  Wir  finden  in  jener  Zeit 
die  typischen  Sklavenannoncen  in  den  Zeitungen:  „Ein  Arbeiter 
entlaufen:  wer  den  Ort  angibt,  wo  er  sich  aufhält,  erhält  1  jjP  Be¬ 
lohnung;  wer  ihn  anwirbt,  macht  sich  strafbar.“  Jars,  Voyages 
metallurgiques  1  (1774),  190  f. 

Ähnlich  war  das  Ärbeitsverhältnis  in  den  schottischen  Kohlen¬ 
bergwerken  und  Salzwerken  geregelt.  Ein  Gesetz  vom  Jahre  1606 
bestimmte:  niemand  darf  ohne  Zustimmung  des  Arbeitgebers  Salz¬ 
arbeiter,  Häuer  oder  Kohlenträger  anwerben;  war  es  doch  geschehen, 
so  konnte  sich  der  frühere  Arbeitgeber  den  Arbeiter  zurückholen.  Das 
Gesetz  wurde  1661  bestätigt  und  auf  Wasserträger  ausgedehnt,  „as 
they  are  as  necessary  to  the  owners  and  masters  of  the  pits  as  the 
Colliers  and  the  bearers“.  Beim  Verkauf  der  Berg-  und  Salzwerke 
wurden  die  Arbeiter  mit  verkauft.  Erst  im  Jahre  1775  hob  ein  Gesetz 
des  britischen  Parlaments  diese  Hörigkeit  auf,  die  aber  in  Wirklich¬ 
keit,  da  die  Arbeiter  einen  Teil  der  Bedingungen,  an  die  die  Frei¬ 
lassung  geknüpft  war,  nicht  erfüllen  konnten,  bis  1799  bestehen  blieb. 
John  Mackintosh,  Hist,  of  Civilization  in  Scotland  3  (1895),  291. 

Die  zwangsweise  in  Arbeit  genommenen  Bettler  und  Vagabunden, 
von  denen  wir  oben  Kenntnis  erhielten,  wurden  gleichfalls  als  Hörige 
behandelt. 

Das  Gesetz  von  1617  bestimmte,  daß  die  in  die  Lehre  gegebenen 
Kinder  „should  be  subject  to  their  master’s  discipline  in  all  sorts 
of  punishments,  except  torture  and  death“.  Acts  Pari.  Scot.  Vol.  IV. 

Sombart,  Der  moderne  Kapitalismus.  I  f>3 


834  Siebenter  Abschnitt:  Die  Beschaffung  der  Arbeitskräfte 

Im  Gesetz  von  1663,  wonach  Bettler  zur  Arbeit  von  jedermann 
angenommen  werden  konnten,  heißt  es:  „The  poor  thus  employed 
shall  continue  in  the  service  of  their  employers ,  under  their 
direction  and  correction,  not  only  during  the  time  which  the 
parishes  pa}r  for  them,  but  also  for  seven  years  thereafter, 
receiving  only  their  meat  and  clothing.“  Acts  Pari.  Scot. 
Vol.  VII  p.  485/86.  Bei  Mackintosh,  1.  c.  3,  249  ff. 

Frankreich:  Arrets  du  Conseil  von  1699,  1723,  1729,  1749,  1786. 
Lettre  Pat.  1781.  Gesetz  von  1791.  Nur  auf  Kündigung  konnte  der 
Arbeiter  seine  Stelle  verlassen:  er  mußte  so  zeitig  vorher  kündigen, 
daß  der  Unternehmer  Zeit  hatte,  neue  Arbeiter  zu  suchen. 

Es  war  verboten ,  einen  Arbeiter  ohne  Entlassungsschein  anzu¬ 
nehmen,  den  er  nicht  erhält,  solange  er  seine  Arbeit  nicht  beendigt, 
Vorschüsse  usw.  nicht  zurückbezahlt  hat.  Das  scheint  die  übliche 
Behandlung  gewesen  zu  sein:  wo  der  Arbeiter  nicht  schlechthin 
betriebsgebunden  war,  wurde  er  als  „Gesinde“  behandelt:  das  Arbeits¬ 
recht  entsprach  dann  unsern  heutigen  Gesindeordnungen.  Beispiele 
der  Ausführung :  Während  der  Regentschaft  verlassen  Bandweber  von 
Saint-Lö  die  Vicomte :  es  ergeht  ein  Verbot  an  die  Zurückbleibenden, 
sich  zu  entfernen,  die  Aufforderung  an  die  „Flüchtigen“,  zurückzu¬ 
kehren.  Arr.  Cons.  22.  Sept.  1722.  Einige  Jahre  später  bricht  ein 
Konflikt  zwischen  Tuchfabrikanten  und  Arbeitern  in  Louviers  aus:  die 
Arbeiter  beanspruchen  das  Recht  der  Freizügigkeit  und  gehen  nach 
Rouen.  Arr.  Cons.  vom  23.  Sept.  1729:  „ordre  aux  ,transfuges‘  de 
reintegrer  les  fabriques  de  Louviers  sous  menaces  d’etre  reconduits 
par  la  marechaussee.“ 

Einer  besonders  strengen  Zucht  waren  die  Arbeiter  der  kgl.  Manu¬ 
fakturen  unterworfen:  sie  schuldeten  ihren  Arbeitgebern  „Treue“  und 
konnten  sich  nicht  entfernen,  wenn  es  ihnen  gutdünkte.  Die  Arbeiter 
der  Manufacture  de  St.  Gobain  konnten  sich  zwei  Jahre  lang  nicht 
weiter  als  eine  Meile  entfernen,  bei  Geld-  oder  Gefängnisstrafen. 

Lohntaxen  begegnen  wir  hier  und  da.  So  wurde  der  Lohn  der 
Lastträger  (gagne-deniers,  porte-faix,  cocheteurs,  hommes  de  peine  etc.) 
in  Paris  vom  Prevöt  des  Marchands  et  echevins  festgesetzt.  Art. 
Gagne-derniers  im  Dict.  de  commerce  2  (1726). 

Koalitionen  und  Streiks  sind  verboten.  Einzelne  Gewerbe: 
städtische  Ordonnanzen  von  1712  für  Pariser  Arbeiter.  Allgemein: 
Patent  von  1749;  wiederholt  1781,  1785,  1786;  bestätigt  durch  das 
bekannte  Revolutionsgesetz  vom  14. — 17.  Juni  1791,  in  dem  (schon 
wesentlich  aus  Doktrinarismus)  jede  Arbeitervereinigung  und  jede 
gewerbliche  Verbindung  verboten  werden. 

Deutschland :  Reichsrechtliche  und  landesherrliche  Lohntaxen: 
Schönlank,  Soziale  Kämpfe  vor  300  Jahren  (1894),  135  ff.  Got- 
hein,  WG.  d.  Schwarzwaldes  1,  728  u.  ö.  0.  von  Zwiedeneck- 
Südenhorst,  Lohnpolitik  und  Lohntheorie  (1900),  54  ff. 

Zahlreiche  Lohntaxen  des  18.  Jahrhunderts  abgedruckt  bei  Bergius, 
Neues  Pol.  u.  Cam. -Magazin  3  (1777),  176  ff. 

Eine  besondere  Stellung  im  deutschen  Arbeiterrecht  nehmen  die 
Berg-  und  Hüttenordnungen  ein,  die  von  den  Landesfürsten 


\  ieruudfünfzigstes  Kapitel:  Die  Maßnahmen  der  staatlichen  Arbeiterpolitik  835 


oder  den  „Herrschaften“  erlassen  wurden  und  namentlich  seit  dem 
16.  Jahrhundert  eine  starke  Tendenz  zur  „Bindung“  des  Arbeiters 
aufweisen.  So  setzen  sie  in  der  Mehrzahl  langfristige  Vertragszeiten 
und  lange  Kündigungsfristen  fest;  bestrafen  vorzeitiges  Aufhören  der 
Arbeit,  verlangen  den  „Abkehrschein“  usw. 

Am  Kammeisberg  bei  Goslar  wurde  schon  1476  die  Dauer  des 
Arbeitsvertrags  „für  alles  Gesinde“  auf  ein  Jahr,  mindestens  aber  auf 
ein  halbes  Jahr  bemessen.  Wer  vertragswidrig  den  Dienst  verließ 
oder  wegen  schlechten  Verhaltens  entlassen  wurde,  durfte  während 
der  Mietzeit  nicht  anderswo  angelegt  werden.  Ähnlich  die  Goslarer 
BO.  von  1544.  Nach  der  Salzburger  BO.  von  1532  sollten  nur  dienst¬ 
willige  Arbeiter  angelegt  werden,  die  mit  „Possporten  und  Urkund“ 
beweisen  konnten,  daß  sie  andernorts  ordnungsmäßig  abgekehrt  seien. 
Ähnlich  die  ungarische  BO.  von  1575. 

Die  oberpfälzische  Eisenhütten- 0.  von  1694  gebot  den  Schmied¬ 
knechten,  die  sich  auf  ein  Jahr  verdingten,  treulich  auszuhalten;  die 
preußische  Hütten-  und  Hammer- 0.  von  1769  schrieb  für  „sämtliche 
Hütten-  und  Hammerleute“  „wenigstens“  einjährige  Kontrakte  vor. 
Ebenso  die  hessen-darmstädtische  BO.  von  1718  u.  a. 

Die  Neuanlegung  wurde  in  manchen  Fällen  von  der  Zustimmung 
des  früheren  Lohnherrn  abhängig  gemacht:  siehe  die  Sayn-  und  Wittgen- 
steinsche  BO.  von  1597 ;  die  BO.  für  Nassau  von  1559,  für  Pfalz- 
Zweibrücken  von  1565,  für  Hessen-Kassel  von  1616.  Das  Hessen- 
Kasseler  Patent  von  1652  bedrohte  Bergleute,  die  die  übernommenen 
Arbeiten  nicht  fertigstellten,  mit  Lohnverlust  und  Ablegung. 

Ein  vom  Bergamt  Zellerfeld  1692  erlassenes  Patent  befahl,  daß 
„hausgesessene  Bergleute,  die  sich  auf  fremde  Bergwerke  begeben“, 
zurückkehren  sollten,  andernfalls  würden  ihre  Häuser  „mit  schwerem 
Baugeld  belegt“  oder  gar  öffentlich  zum  Verkauf  gestellt. 

Die  Koalitionsfreiheit  der  Knappen  war  stark  beschnitten  usw. 
Vgl.  0.  Hue,  Die  Bergarbeiter  1  (1900),  260  f. 

Österreich:  Weitgehende  Regelung  des  Arbeitsverhältnisses;  Lohn¬ 
festsetzungen,  insbesondere  für  Baumwollspinnerei  (Normierung  des 
sog.  „Spinnfußes“).  Ad.  Beer,  Studien  zur  Gesch.  der  österr.  VW. 
unter  Maria  Theresia,  im  Archiv  für  österr.  Gesch.  81,  87  ff.;  Max 
Adler,  Die  Anfänge  usw.  9  4  ff. ;  in  der  Manufakturs-(Qualitäts-)0. 
für  die  Seidenzeuge  vom  16.  Okt.  1751  wird  bestimmt:  20.  „damit 
die  hier  gemachte  Waare  durch  übermäßigen  Arb.  Lohn  nicht  ver- 
theuret,  noch  auch  die  Gesellen  wider  Billigkeit  gedrücket“  werden, 
wird  Lohntaxe  eingeführt.  Abgedr.  in  Cod.  austr.  Supp.  V.  Vgl. 
Hel.  Deutsch,  Die  Entw.  der  Seid.-Ind.  in  Österreich  (1909),  67. 
Über  hörigkeitsähnliche  Arbeiterverhältnisse  im  Krainer  Bergbau : 
Alf.  Müller,  Gesch.  d.  Eis.  in  Innerösterreich  1,  318. 


53 


836 


Achter  Abschnitt 

Die  Entstellung  der  Unternehmerschaft 

Fünfundfünfzigstes  Kapitel 

Die  Geburt  des  kapitalistischen  Unternehmers 

Der  Kapitalismus  ist  das  Werk  einzelner  hervorragender 
Männer,  daran  kann  kein  Zweifel  sein.  Jede  Annahme  einer 
„kollektivistischen“,  gleichsam  vegetativen  Entstehungsweise  ist 
falsch.  Kein  Mensch  weiß,  wer  die  Dorfgemeinschaft  oder  die 
Zünfte  begründet  hat.  Sie  sind  wirklich  gewachsen,  „organisch“ 
entstanden.  Alle  und  niemand  und  jeder  sind  an  ihrer  Ent¬ 
stehung  beteiligt.  Anders  der  Kapitalismus,  der  in  Gestalt  von 
„Unternehmungen“  zur  Welt  gekommen  ist:  in  Gestalt  also 
rationaler,  überlegter,  weitausschauender  Bildungen  des  mensch¬ 
lichen  Geistes.  Im  Anfang  war  die  „schöpferische  Tat“  des 
einzelnen;  eines  „wagenden“,  „unternehmenden“  Mannes,  der 
beherzt  den  Entschluß  faßt,  aus  den  Gleisen  der  herkömmlichen 
Wirtschaftsführung  herauszutreten  und  neue  Wege  einzuschlagen. 

Wir  kennen  daher  auch  viele  einzelne  bei  Namen,  die  irgendwo 
zuerst  sich  als  kapitalistische  Unternehmer  betätigt  haben.  Die 
Entstehungsgeschichte  des  Kapitalismus  ist  eine  Geschichte  von 
Persönlichkeiten. 

Es  liegt  nahe,  zwischen  der  kapitalistischen  Unternehmung 
und  derjenigen  wirtschaftlichen  Unternehmung,  die  ihr  historisch 
vorangegangen  ist:  der  Grundherrschaft  und  Fronhofwirtschaft, 
Vergleiche  anzustellen.  Sicherlich  haben  beide  Wirtschaftsformen 
sehr  viel  Gemeinsames,  In  gewissem  Sinne  ist  die  kapitalistische 
Unternehmung  geradezu  die  Fortsetzung  der  grundherrschaft¬ 
lichen  Unternehmung.  Sie  führt  die  Bewegung  fort,  die  diese 
begonnen  hatte.  Beide  bedeuten  eine  Heraushebung  der  Wirt¬ 
schaft  aus  den  Bahnen  volkstümlich-kollektivistischer  Wirtschafs¬ 
führung.  Beide  sind  aristokratische  Organisationen,  die  an  Stelle 


Fünfundfünfzigstes  Kapitel :  Die  Geburt  des  kapitalistischen  Unternehmers  837 

demokratischer  treten.  Der  Grundherr  hebt  sich  ebenso  aus  der 
Schar  der  bäuerlichen  "Wirte  heraus  wie  der  kapitalistische 
Unternehmer  aus  der  Masse  der  gewerblichen  und  kommerziellen 
Handwerker. 

Was  aber  den  kapitalistischen  vom  grundherrlichen  Unter¬ 
nehmer  unterscheidet,  ist  dieses :  daß  er  in  viel  höherem  Maße 
umstürzlerisch  und  umbildend  wirkt.  Der  Grundherr  hatte  zwar 
auch  neue  Gebilde  aus  schöpferischem  Geiste  aufgebaut.  Aber 
sein  Sinn  war  doch  noch  gebunden  geblieben  an  die  alten  Grund¬ 
anschauungen  der  großen  Masse.  Der  Fronhof  war  nur  ein 
großer  Bauernhof.  Er  diente  wie  dieser  der  Erzeugung  selbst¬ 
bedurfter  Güter,  er  war  wie  dieser  in  seiner  ganzen  Ausrichtung 
vom  „Bedarfsdeckungsprinzip“  beherrscht.  Der  kapitalistische 
Unternehmer  bricht  mit  den  alten  Überlieferungen ,  indem  er 
seiner  Wirtschaft  ganz  neue  Ziele  steckt.  Er  durchstößt  bewußt 
die  Schranken  der  alten  Wirtschaftsweise ,  er  ist  ein  Zerstörer 
und  Aufbauer  in  Einem.  Und  während  der  Grundherr  in  seinen 
stillen  Wäldern  unberührt  von  dem  Getriebe  anderer  seine  neue 
Welt  aufgebaut  hatte,  erfaßt  der  kapitalistische  Unternehmer  mit 
seiner  Tätigkeit  ganze  Länder,  reißt  er  ganze  Bevölkerungen  aus 
ihrer  gewohnten  Daseinsweise  heraus.  Dem  Bauer,  den  der 
Grundherr  sich  zins-  oder  dienstpflichtig  machte ,  blieb  seine 
alte  Wirtschaftsverfassung  erhalten,  während  der  kapitalistische 
Unternehmer  für  Tausende  neue  Wirtschaftsweisen  schafft.  Sein 
Blick  ist  in  die  Weite  gerichtet,  er  will  mit  seinem  Willen  die 
Willen  von  vielen  Menschen  lenken,  auch  wenn  sie  entfernt  von 
ihm  wohnen  und  arbeiten. 

Auch  wenn  es  uns  die  Geschichte  nicht  bestätigte :  unsere 
Einsicht  in  das  Wesen  der  menschlichen  Natur  würde  uns  zu 
dem  Schlüsse  führen:  solche  Andersmacher,  solche  Neuerer, 
solche  Umstürzler,  solche  Schöpfer  waren  immer  nur  einzelne, 
waren  immer  nur  wenige. 

Nun  ist  es  aber  die  Eigenart  soziologischer  Betrachtung 
der  Geschichte,  daß  sie  immer  nur  für  Massenerscheinungen  ein 
Auge  hat.  Und  deshalb  interessiert  uns  auch  diese  Äußerung 
persönlicher  Erinnerung,  wie  sie  in  der  Schöpfung  der  kapita¬ 
listischen  Unternehmung  zutage  tritt,  nur  deshalb,  weil  wir  be¬ 
obachten,  daß  sie  tatsächlich  eine  Massenerscheinung  ist.  Unsere 
Stellung  zu  dem  Problem  ist  damit  gegeben:  wir  haben  nicht 
das  Schicksal  und  die  Leistung  der  einzelnen  hervorragenden 
Persönlichkeiten,  die  wir  als  die  Schöpfer  des  kapitalistischen 


888 


Achter  Abschnitt:  Die  Entstehung  der  Unternehmerschaft 


Wirtschaftslebens  erkennen,  zu  schildern,  vielmehr- besteht  unsere 
Aufgabe  darin,  daß  wir  das  Lebendigwerden  eines  bestimmten 
(des  „neuen“)  Geistes  in  zahlreichen  Einzelnen  zur  Kenntnis 
nehmen  und  diese  zahlreichen,  gleichstrebenden,  gleichhandelnden 
Einzelnen  als  einen  besonderen  Typus  biologisch-psychologischer 
Veranlagung  erfassen,  dessen  Ursprung  wir  verfolgen;  will  sagen: 
den  wir  zu  begreifen  versuchen  als  das  Ergebnis  einer  Auslese 
aus  der  großen  Masse  verschieden  veranlagter  Individuen. 

Welcher  Art  dieser  Typus  ist,  vermögen  wir  leicht  festzustellen, 
wenn  wir  uns  der  Funktionen  erinnern,  die  der  kapitalistische 
Unternehmer  auszuüben  hat  h 

Einer  reichen  Ausstattung  mit  den  Gaben  des  „Intellekts“ 
muß  entsprechen  eine  Fülle  von  „Lebenskraft“,  „Lebensenergien 
oder  wie  wir  sonst  diese  Veranlagung  nennen  wollen,  von  der 
wir  nur  soviel  wissen,  daß  sie  die  notwendige  Voraussetzung 
allen  „unternehmerhaften“  Gebarens  ist:  daß  sie  die  Lust  an 
der  Unternehmung ,  die  Taten  1  u  s  t  schafft  und  dann  für  die 
Durchführung  des  Unternehmens  sorgt,  indem  sie  die  nötige 
Tatenkraft  dem  Menschen  zur  Verfügung  stellt.  Es  muß  etwas 
Forderndes  in  dem  Wesen  sein,  etwas,  das  die  träge  Ruhe  auf 
der  Ofenbank  zur  Qual  werden  läßt.  Und  etwas  Starkknochiges 
—  mit  dem  Beil  Zugehauenes  — ,  etwas  Starknerviges.  Wir 
haben  deutlich  das  Bild  eines  Menschen  vor  Augen,  den  wir 
„unternehmend“  nennen.  Alle  jene  Unternehmereigenschaften, 
die  notwendige  Bedingungen  eines  Erfolges  sind :  die  Entschlossen¬ 
heit,  die  Stetigkeit,  die  Ausdauer,  die  Rastlosigkeit,  die  Ziel¬ 
strebigkeit,  die  Zähigkeit,  der  Wagemut,  die  Kühnheit:  alle 
wurzeln  sie  in  einer  starken  Lebenskraft,  in  einer  durchschnitt¬ 
lichen  Lebendigkeit  oder  „Vitalität“,  wde  wir  zu  sagen  gewohnt 
sind.  Eher  ein  Hemmnis  für  ihr  Wirken  ist  dagegen  eine  starke 
Entwicklung  der  gemütlichen  Anlagen,  die  eine  starke  Betonung 
der  Gefühlswerte  zu  erzeugen  pflegt. 

Unternehmernaturen,  können  wir  zusammenfassend  sagen,  sind 
Menschen  mit  einer  ausgesprochenen  intellektuell  voluntaristischen 
Begabung,  die,  wenn  sie  als  Begründer  kapitalistischer  Wirtschaft 
auftreten,  einen  starken  Sinn  für  die  materiellen  Werte,  für  die 
Bewährung  des  Menschen  in  irdischen  Werken  besitzen :  „praktisch¬ 
tatkräftig“  sind,  wie  wir  ganz  landläufig  sagen  können :  allem  be¬ 
schaulichen  Wesen  sowohl  des  Homo  religiosus,  wie  des  Künstlers 


1  Siehe  Band  I  Seite  322  ff.  Vgl.  Bourgeois,  256  ff. 


Fünfundfünfzigstes  Kapitel :  Die  Geburt  des  kapitalistischen  Unternehmers  839 

ebenso  abhold  wie  aller  handwerklichen  Selbstgenügsamkeit  und 
genießerischen  Bequemlichkeit. 

Solcherart  veranlagte  Menschen  fanden  sich  nun  in  allen 
Völkern,  die  die  europäische  Geschichte  gemacht  haben:  gewiß» 
in  verschiedenem  Mengenverhältnis,  auch  in  verschiedener  Aus¬ 
prägung,  aber  sie  fanden  sich  doch  m  Italien  und  in  Spanien, 
in  Deutschland  und  in  Frankreich,  kurz,  in  allen  europäischen 
Völkern  sowie  in  demjenigen  fremden  Volke,  das  so  starken 
Anteile  am  Aufbau  der  europäisch  -  amerikanischen  Geschichte 
genommen  hat :  den  Juden.  Sie  fanden  sich  aber  auch  in 
allen  sozialen  Schichten :  unter  den  Königen  wie  unter  den 
Bettlern,  unter  den  Grundherrn  wie  unter  den  Handwerkern; 
sie  fanden  sich  in  allen  Berufen:  unter  den  Bittern  wie  unter 
den  Bauern,  unter  den  Kaufleuten  wie  unter  den  Schneidern 
und  Schustern;  sie  fanden  sich  in  allen  Beligionen:  unter  den 
Katholiken  wie  unter  den  Protestanten  aller  Schattierungen. 

Was  diese  Unternehmertypen  nur  unterscheidet,  was  sie  deut¬ 
lich  in  zwei  große  Gruppen  teilt,  ist  die  Verschiedenheit  der 
Mittel,  deren  sie  sich  zur  Durchführung  ihrer  Pläne  bedienen: 
während  die  einen  sich  der  Machtmittel  bedienen,  die  ihnen  ihre 
bevorzugte  Stellung  im  Staate  verschafft  hatte,  müssen  die 
andern  ohne  solche  Hilfsmittel  trachten,  ihr  Ziel  zu  erreichen,  in¬ 
dem  sie  Überredungs-  und  Verführungskünste  an  Stelle  der  äußern 
Machtmittel  zur  Anwendung  bringen.  Während  jene  mehr  die¬ 
jenige  Seite  des  Unternehmertums  entwickeln,  die  den  Unter¬ 
nehmer  als  Eroberer  erscheinen  läßt,  bilden  diese  die  händlerische 
Funktion  des  kapitalistischen  Unternehmers  zur  Vollendung  aus. 
Jenes  sind  die  Gewaltigen,  dieses  die  Listigen,  wenn  wir  diesen 
Gegensatz  in  ganz  allgemeinem  Verstände  begreifen.  Zu  jenen 
gehören  diejenigen  kapitalistischen  Unternehmer,  die  aus  den 
Beihen  der  Staatsleiter  und  Staatsbeamten  oder  aus  den  Beihen 
der  Grundherrn  hervorgehen,  wenn  sie  ihre  Unternehmertätigkeit 
auf  die  ihnen  aus  diesen  Stellungen  erwachsenden  Machtmittel 
stützen;  zu  diesen  gehören  alle  diejenigen,  die  aus  Bürgerkreisen 
stammen,  mögen  sie  Kaufleute  oder  Handwerker  gewesen  sein, 
wenn  sie  auf  eine  direkte  Unterstützung  durch  den  Staat  ver¬ 
zichten.  Selbstverständlich  gehen  diese  beiden  Arten  in  einander 
über,  aber  begrifflich  lassen  sie  sich  völlig  rein,  geschichtlich 
auch  im  wesentlichen  voneinander  unterscheiden,  wie  die  folgende 
Darstellung  erweisen  wird. 

Ein  Problem  für  sich  ist  es:  ob  und  in  welchem  Umfange 


840  Achter  Abschnitt:  Die  Entstehung  der  Unternehmerschaft 

sich  ebenso  wie  die  kapitalistischen  Varianten  überhaupt  so  ent¬ 
weder  die  Eroberervarianten  oder  die  Händlervarianten  stärker 
oder  schwächer  in  einem  bestimmten  Volke  vorfinden,  also 
daß  man  kapitalistisch  höher  oder  minder  begabte  Völker  und 
Eroberer-  oder  Händlervölker  unterscheiden  kann.  Ich  bin  diesem 
Probleme  in  meinem  „Bourgeois“  nachgegangen  und  verweise 
den  Leser  auf  die  dort  (S.  266  ff.)  gemachten  Ausführungen. 
An  dieser  Stelle  brauche  ich  auf  diese  Frage  der  nationalen 
Differenzierung  nicht  näher  einzugehen,  da  es  uns  hier  ja  darum 
zu  tun  ist,  die  Entstehung  des  kapitalistischen  Unternehmertums 
in  seiner  Allgemeinbedeutung  zu  erkennen.  Da  können  (und 
müssen)  wir  von  der  nationalen  Verschiedenheit  der  Entwicklung, 
der  ich  in  meinem  „Bourgeois“  einen  breiten  Raum  gewidmet 
habe,  absehen,  indem  wir  feststellen,  daß  allen  Verschiedenheiten 
zum  Trotz  sich  in  allen  Völkern  gleiche  Tendenzen  nachweisen 
lassen,  die  also  auf  das  (wenn  auch  vielleicht  verschieden  starke) 
Vorhandensein  aller  Varianten  in  allen  Völkern  schließen  lassen. 

Etwas  anderes  ist  es  nun  aber,  wenn  wir  den  Anteil  be¬ 
stimmter.  Bevölkern ngs gruppen  innerhalb  der  Völker 
an  der  Herausbildung  des  kapitalistischen  Unternehmertums  fest¬ 
zustellen  trachten.  Es  ergibt  sich  nämlich  mit  voller  Sicherheit, 
daß  einzelne  Personengruppen  zweifellos  durch  ihre  Eigenart 
vor  andern  bevorzugt  sind,  kapitalistische  Unternehmer  zu  liefern, 
daß  die  Kontingente,  die  sie  zum  Heere  der  modernen  Wirt¬ 
schaftssubjekte  gestellt  haben,  jedenfalls  besonders  stark  gewesen 
sind. 

Solche  Gruppen  sind  vornehmlich  folgende : 

1.  Die  Ketzer,  das  heißt  die  nicht  zur  Staatskirche  ge¬ 
hörenden  Bürger,  die  „Andersgläubigen“ ; 

2.  die  Fremden,  das  heißt,  die  in  ein  Land  Eingewanderten, 
unter  denen  die  religionsverfolgten  Christen  seit  dem  16.  Jahr¬ 
hundert  die  wichtigsten  sind; 

3.  die  Juden,  die  eine  Sonderstellung  einnehmen,  sofern 
sie  ein  besonderes  Volk  sind,  aber  auch  sich  in  einer  sozial  be¬ 
sonders  bedingten  Lage  befanden. 

Diese  drei  Gruppen  kapitalistisch  disponierter  Personen  stehen 
nun  natürlich  mit  den  vorhin  unterschiedenen  Gruppen  der 
kapitalistischen  Wirtschaftssubjekte  nicht  im  Verhältnis  der  Neben¬ 
ordnung,  vielmehr  überschneiden  sich  die  verschiedenen  Kreise 
mehrfach.  Gleichwohl  scheint  es  zweckmäßig,  die  Bedeutung, 
die  jeder  dieser  Gruppen  für  die  Entstehung  des  Kapitalismus 


Fünfundfünfzigstes  Kapitel:  Die  Geburt  des  kapitalistischen  Unternehmers  841 

zukommt,  gesondert  festzustellen.  Deshalb  werde  ich  in  den 
folgenden  Kapiteln  der  Reihe  nach  die  namhaft  gemachten  Typen 
des  kapitalistischen  Unternehmertums  zu  schildern  versuchen, 
indem  ich  ihren  quantitativen  Anteil  am  Aufbau  der  kapitalisti¬ 
schen  Volkswirtschaft  zu  ermitteln  und  gleichzeitig  festzustellen 
trachte,  welche  Gründe  sie  befähigt  haben,  ihre  besondere  Rolle 
zu  spielen  und  welche  eigentümliche  Note  sie  etwa  in  die  Ge¬ 
samtheit  der  kapitalistischen  Welt  hineingetragen  haben. 


842 


Secbsundfünfzigstes  Kapitel 

Die  Fürsten 

Wir  haben  früher  uns  davon  überzeugt,  welches  lebhafte 
Interesse  das  moderne  Fürstentum  an  der  Entwicklung  der 
kapitalistischen  Wirtschaftsweise  nahm,  wie  es  in  den  Vertretern 
dieser  neuen  Wirtschaft  recht  eigentlich  die  staatserhaltenden 
und  staatsfördernden  Kräfte  erblickte.  Der  lebhafte  Wunsch, 
die  Keime  des  Kapitalismus  zu  rascher  Entfaltung  zu  bringen, 
führte  in  zahlreichen  Fällen  die  Fürsten  und  ihre  Diener  dazu, 
mit  eigener  Hand  in  das  wirtschaftliche  Getriebe  einzugreifen, 
selbst  an  dem  Aufbau  der  neuen  Wirtschaftsform  teilzunehmen : 
selbst  sich  als  Unternehmer  zu  betätigen. 

Dem  eifrigen  Wollen  entspricht  ebenso  oft  ein  starkes  Können. 
In  den  Frühzeiten  des  Kapitalismus  begegnen  wir  unter  den 
Staatsoberhäuptern  und  Staatsbeamten  auffällig  vielen  kraftvollen 
Persönlichkeiten  mit  einem  ausgeprägten  Sinn  für  die  Wirklich-  * 
keit  des  Wirtschaftslebens,  mit  einem  ungewöhnlichen  Verständnis 
für  die  neuen  Anforderungen  der  wirtschaftlichen  Praxis;  Per¬ 
sönlichkeiten  voller  Unternehmungsgeist  und  Unternehmertalenten. 

An  schöpferischen  Ideen,  an  umfassenden  Kenntnissen,  an 
wissenschaftlicher  Schulung :  wer  sollte  den  genialen  Leitern  der 
modernen  Staaten  gleichkommen? 

Was  ein  kluger  Mann  von  Gustav  Wasa  in  Schweden  sagt1, 
gilt  von  allen  bedeutenden  Fürsten  des  Ancien  regime :  „Er  war 
der  erste  Unternehmer  seiner  Nation;  wie  er  die  Metallschätze 
des  schwedischen  Bodens  herauszuholen  und  der  Krone  dienstbar 
zu  machen  suchte,  so  wies  er  nicht  nur  durch  Handelsverträge 
und  Schutzzölle,  sondern  auch  durch  eigenen  Seehandel  großen 
Stils  seinen  Kaufleuten  den  Weg.  Alles  ging  von  ihm  aus.“ 

Hinter  zahlreichen  Unternehmungen  während  des  17.  und 
18.  Jahrhunderts  in  England  steht  als  umnittelbar  treibende 
Kraft,  weil  mit  seinem  Geldbeutel  interessiert,  der  König  (oder 

1  Friedr.  v.  Bezold,  Staat  und  Gesellschaft  des  Reformations¬ 
zeitalters  (1908),  64.  Kultur  der  Gegenwart  II.  V.  1. 


Seclisundfünfzigstes  Kapitel:  Die  Fürsten 


843 


di©  Königin),  In  langen  Zwiesprachen  werden  die  Drake,  die 
Raleigli  von  ihnen  zu  neuen  Fahrten  veranlaßt:  so  geht  der 
letzte  Plan  Raleighs ,  noch  einmal  nach  Guiana  zu  segeln,  von 
dem  geldbedürftigen  Jakob  I.  aus1 2;  so  sehen  wir  Karl  I.  seine 
Agenten  im  Lande  herumschicken,  um  mit  Industriellen  gewinn¬ 
bringende  Verträge  abzuschließen3. 

"Wie  sehr  der  geldbedürfende  Staatsleiter  recht  eigentlich 
die  kapitalistische  Welt  zur  Entfaltung  brachte,  hat  für  die  Zeit 
Karls  V.  und  Ferdinands  I.  in  Deutschland  jetzt  wieder  Jacob 
Strieder  an  der  Hand  vielen  neu  zutage  geförderten  Materials 
nachgewiesen3. 

In  Österreich  war  ein  wahres  Unternehmergenie  Franz  I.,  der 
Gemahl  der  Maria  Theresia,  den  Friedrich  M.  den  „größten 
Fabrikanten“  seinerzeit  genannt  hat:  ein  Urteil,  welches  Für  sts 
Aufzeichnungen  über  die  unleugbare  Begabung  des  Kaisers  für 
die  ökonomischen  Fächer,  seinen  praktischen  Geschäftsgeist,  sein 
Glück  im  Erwerbe  bestätigt  (Ranke). 

Unter  seine  glücklichen  Güterkäufe  gehörte  die  Erwerbung 
der  Herrschaften  Pardubitz,  Bresnitz,  Podiebrad  in  Böhmen. 
1748  bereiste  er  selbst  mit  seinem  vertrauten  Zahlmeister  Toussaint 
die  Provinz,  um  sie  auf  die  Einrichtung  von  Leinenfabriken  hin 
zu  prüfen.  Es  entstand  das  Brandeiser  Etablissement  und  die 
Herrschaft  Pottenstein  wurden  zu  gleichem  Zwecke  angekauft. 
Hier  wurden  dann  unter  der  Leitung  eines  aus  Preuß. -Schlesien 
nach  Österreich  übergesiedelten  Grafen  Charme  kaiserliche  Bleiche¬ 
reien  und  eine  Warenniederlage  errichtet;  auch  entstanden  solche 
in  Pardubitz,  Wamberg  und  Tetschkewald  usw.4. 

"Wir  erinnern  uns  der  preußischen  Könige,  wir  erinnern  uns 
Peters  d.  Gr.,  und  vieler,  vieler  kleinerer  Fürsten,  um  das  Urteil 
bestätigt  zu  finden,  daß  in  keiner  sozialen  Schicht  soviel  tüch¬ 
tiges  Unternehmertum  vorhanden  war,  wie  unter  den  meist  im 
harten  Kampfe  zur  Selbständigkeit  und  Macht  gelangten  Staats¬ 
leitern. 

Die  nun  von  einer  Schar  auserlesener  Männer  umgeben  waren, 
die  entweder  als  ausführende  Organe  oder  aber  als  selbstschöpfe¬ 
rische  Geister  ebenfalls  stark  an  der  Entstehung  eines  frühkapi¬ 
talistischen  Unternehmertums  beteiligt  sind :  die  Regierungsstuben 

1  Selincourt,  1.  c.  p.  259. 

2  Unwin,  1.  c.  p.  168  f. 

3  J.  Strieder,  Organisationsformen.  1914. 

4  Fournier  im  Archiv  f.  österr.  Gesch.  69,  344. 


844  Achter  Abschnitt:  Die  Entstehung  der  Unternehmerschaft 


waren  voll  von  Talenten,  die  damals  sich  der  Staatsverwaltung 
noch  nicht  fern  hielten.  Colbert  —  'der  größte  von  ihnen  — , 
war  eine  rechte  Unternehmernatur :  weitblickend ,  tatkräftig, 
nüchtern,  rücksichtslos,  umsichtig,  arbeitsam.  Er  sagte  von 
sich  selber  und  gewiß  mit  Recht,  daß  er  „keine  Zeit  verliere, 
keine  Vergnügungen  und  Zerstreuungen  habe,  noch  irgendeine 
andere  Erholung  und  von  Natur  aus  nur  zu  sehr  die  Arbeit 
liebe.“  Nach  seinem  eigenen  Geständnis  besaß  er  „eine  ganz 
natürliche  Neigung  zur  Arbeit;“  ja  es  war  ihm  geradezu  un¬ 
möglich,  „Trägheit  oder  auch  nur  gemäßigte  Arbeit“  zu  ertragen. 
„Mein  Sohn,  sprach  er,  man  soll  am  Morgen  und  am  »Nachmittag 
arbeiten“  b  Sein  Sinn  war  aber  vor  allem  auf  die  Pflege  der 
"Wirtschaft  gerichtet,  für  deren  Aufbau  im  kapitalistischen  Geiste 
er  mehr  als  ein  Privatunternehmer  seiner  Zeit  getan  hat. 

Wem  boten  sich  auch  vollkommnere  Mittel  zur  Durchführung 
weitsichtiger,  wirtschaftlicher  Pläne  dar  als  dem  Staatsoberhaupt 
und  seinen  Dienern?  In  Zeiten  ungenügender  Kapitalbildung 
besaß  oft  nur  der  Staat  die  genügenden  Mittel,  um  ein  großes 
Unternehmen  überhaupt  beginnen  zu  können. 

Ebenso  überragend  war  der  Organisationsapparat,  über  den 
der  Staat  verfügte.  Wiederum  versetze  man  sich  in  Zeiten,  in 
denen  es  an  geschultem  Personal  noch  fehlte,  um  zu  ermessen, 
welchen  Vorsprung  der  Staat  in  seinem  Beamtenapparat  hatte 
vor  privaten  Unternehmern,  die  sich  ihren  Stab  von  Leuten  und 
Aufsehern  erst  heranbilden  mußten. 

An  keiner  Stelle  außer  beim  Fürsten  konnte  das  Interesse  so 
sehr  auf  die  ferne  Zukunft  eingestellt  sein  und  konnten  deshalb 
ganz  weit  angelegte  Pläne  entworfen  und  ausgeführt  werden. 
Was  alles  kapitalistische  Wesen  auszeichnet:  die  Langsichtigkeit 
der  Unternehmung,  die  Dauerhaftigkeit  der  geistigen  Energie: 
das  mußte  bei  staatlichen  Unternehmungen  wie  von  selbst  aus 
ihrem  Wesen  heraus  wachsen. 

So  verstehen  wir  sehr  gut  den  Ausspruch  eines  deutschen 
Kameralisten,  der  meinte:  zur  Verbesserung  der  Manufakturen 
gehörten  Klugheit ,  Nachdenken,  Kosten  und  Belohnungen,  und 
dann  zu  dem  Schlüsse  kommt:  „Das  sind  Staatsbeschäf¬ 
tigungen;  der  Kaufmann  aber  bleibt  bei  dem,  was 
er  erlernt  hat  und  wie  er  es  gewohnt  ist.  Er  be- 


1  Franz  Aug.  Schweizer,  Merkantilismus  von  Colbert  (1908),  6. 


Sechsundfünfzigstes  Kapitel:  Die  Fürsten  845 

kümmert  sicli  nicht  um  die  allgemeinen  Vorteile  seines  Vater¬ 
landes“  x. 

Die  Art  und  Weise,  wie  die  Fürsten  an  der  Begründung 
kapitalistischer  Unternehmungen  teilnahmen,  war  verschieden. 
In  vielen  Fällen  handelt  es  sich  nur  um  „Anregung“  oder  besser 
„Anstachelung“,  um  Lenkung  und  Leitung. 

Der  Staat  ist  es,  der  vielerorts  die  Privaten  an  den  Ohren 
herbeizieht,  damit  sie  sich  als  kapitalistische  Unternehmer  be¬ 
tätigen.  Er  stößt  und  treibt  sie  mit  Gewalt  und  Überredung 
in  den  Kapitalismus  hinein.  Das  Bild  der  körperlichen  Nötigung, 
das  ich  hier  gebrauche,  ist  der  Schrift  eines  kameralistischen 
Schriftstellers  des  18.  Jahrhunderts  entlehnt,  der  da  meint:  „daß 
der  Plebs  von  seiner  alten  Leyer  nicht  abgehe,  bis  man  ihn  bei 
Nase  und  Arme  zu  seinem  neuen  Vorteile  hinschleppe“1 2. 

Ein  paar  Beispiele  mögen  die  für  unsere  heutigen  Begriffe  recht 
intime  Art  der  „Aufmunterung“,  wie  sie  die  Staatsleiter  in  früher  Zeit 
ihren  „Untertanen“  zuteil  werden  ließen,  deutlich  machen: 

Der  König  von  Frankreich  (also  Colbert)  kündigt  den  Behörden 
von  Autun  die  Sendung  von  Camuset  an:  „De  par  le  roy,  Chers  et 
bien  amez,  envoyant  le  sieur  Camuset  pour  etablir  ä  Autun  la  manu- 
facture  des  bas  d’estame  au  tricot  nous  avons  bien  voulu  vous  dire 
en  mesme  temps  que  vous  lui  donniez  toutes  les  assistances 
qui  dependront  de  vous  pour  faire  le  dit  etablissement  et  pour 
cet  effet  que  vous  obligiez  ceux  des  dits  habitans  tant 
hommes,  femmes  que  les  enfants  depuis  l’äge  de  huit  ans  qui  sont 
sans  occupation  ä  travailler  en  la  dite  manufacture  et  que  vous  ayez 
ä  lui  fournir  une  maison  .  .  Ms.  mitget.  von  Levasseur, 
Hist.  2,  256. 

Der  Intendant  von  Bourges  an  Colbert:  „J’ay  parle  aux  officiers 
de  ville  pour  les  inviter  ä  chercher  des  bourgeois  qui  veuillent  entre- 
prendre  ce  commerce :  ils  demeurent  tous  d’accord  de  l’avantage  qu’ils 
en  retireroient ;  mais  il  n’y  en  a  pas  un  qui  veuille  s’y  engager.  Cela 
m’a  oblige,  pour  commencer  ä  faire  quelque  chose,  de  m’adresser  aux 
directeurs  du  grand  hospital,  ahn  de  les  obliger  ä  commencer  la 
manufacture  de  bas  d’estam.“  Corr.  adm.  sous  Louis  XIV.,  ed. 
D  epping  3,  766. 

Eine  gute,  zusammenfassende  Darstellung  der  Colbertschen  Wirk¬ 
samkeit  als  Begründer  neuer  Industrien  enthält  P.  Boissonnade, 
Colbert,  son  Systeme  et  les  entreprises  industrielles  d’Etat  en  Languedoc 
(1661—1683),  in  den  Annales  du  Midi  XIV.  Annee  1902.  Interessant, 
daß  C.  die  Aktiengesellschaften  begünstigte,  weil  er  in  ihnen  einen 
unmittelbaren  Einfluß  auf  die  Geschäftsführung  ausüben  konnte.  Die 

1  Leipziger  Sammlungen  (ed.  Zinken  1745)  9,  973.  Von  Schmoller 
zitiert;  Zit.  in  der  von  mir  benutzten  Ausgabe  nicht  auffindbar. 

2  Leipziger  Sammlungen  2,  615.  Wie  Anm.  1. 


846  Achter  Abschnitt:  Die  Entstehung  der  Unternehmerschaft 

Aktionäre  waren  meist  „fonctionnairs“:  „surtout  des  financiers,  traitants, 
tresoriers,  receveurs  generaux,  fermiers  des  droits  du  roi,  tous  places 
plus  ou  moins  directement  sous  l’autorite  du  pouvoir  central.“ 

Besonders  farbenreich  ist  folgendes  Stimmungsbild  aus  der  Re- 
gierungstätigkeit  Friedrichs  M.  von  Preufsen. 

Als  die  Hirschberger  Kaufmannschaft  sich  nicht  bequemen  wollte, 
die  von  Friedrich  nach  Schlesien  gezogenen  Damastweber  mit  ihren 
Aufträgen  zu  unterstützen,  sperrte  ihnen  das  Zollamt  ihre  eigenen 
Waren,  die  zur  Ausfuhr  gelangen  sollten,  und  der  Minister  Graf 
Schlabrendorf  schrieb  ihnen  folgendes :  „ .  .  .  ich  mache  .  .  .  denen 
Kaufmanns-Eltesten  bekandt ,  daß  wenn  sie  sich  nicht  bald  hierunter 
bequemen  und  die  Leinen-Damast-Fabriquen  nach  dem  Exempel  der 
Schmiedeberger  und  Greifenberger  Kaufleuthe  soitteniren  werden, 
denenselben  militairische  Execution  eingelegt  werden  und  solche  so 
lange  bey  ihnen  verbleiben  solle,  bis  sie  sich  zur  Befolgung  der  Kgl. 
zu  ihrem  eigenen  und  dem  Commercium  Besten  abzielenden  aller¬ 
gnädigsten  Willensmeynung,  wie  es  ohnedem  ihre  Schuldigkeit  er¬ 
fordert,  bequemet  haben.  Bishero  habe  ich  alle  gradus  der  Gelindigkeit 
mit  der  Kaufmannschaft  vorgenommen,  allein,  da  sie  sich  renitent  be¬ 
zeiget  und  sogar  bey  der  Conferentz  zu  erkennen  gegeben,  daß  es 
solange  es  von  ihr  dependire,  die  Damast-Fabrique  niemals  in  Schlesien 
in  Aufnahme  kommen  werde ,  so  veroffenbahret  sich  dadurch  ihre 
Caprice  und  es  bleibt  nichts  übrig,  als  ihr  zu  zeigen,  daß  sie  Unter- 
thanen  seyn,  welche  die  Königl.  zum  Besten  des  Landes  gereichenden 
Befehle  befolgen  müssen  .  .  .  Ich  mache  denen  Hrn.  Kaufmanns- 
Eltesten  demnach  bekandt,  daß  Sie  angehalten  werden  sollen,  diese 
herausgejagten  Damast-Weber  wieder  in’s  Land  zu  schaffen,  darin  zu 
etabliren  und  mit  Arbeit  zu  versehen  .  .  Und  eigenhändig  als  Nach¬ 
schrift:  „Ich  werde  diesen  Sommer  hinkommen  und  alles  recherchiren 
und  bey  fernerer  renitence  so  durchgreiffen ,  alß  es  die  Umstände 
erfordern  und  die  Kaufmannschafft  nicht  vermuthet  .  .  .  “ 

Sie  selber  aber ,  die  Hirschberger  Kaufleute ,  sollen  sich  eines 
besseren  Verfahrens  bei  der  Bleiche  befleißigen:  „Mit  den  Torff- 
Bleichen  soll  der  Anfang  gemacht  werden.  Was  in  Holland  und  in 
vielen  Ländern  profitable,  ist  in  Schlesien  auch.“  Breslau,  11.  Juni  1764. 

Aus  dem  Archiv  der  Hirschberger  Kaufmanns-Societät  mitgeteilt 
von  B.  E.  Hugo  Gerstmann,  in  der  Mentzel  -  Gerstmannschen 
Familienchronik  (1909),  85  ff. 

Andere  Regierungen  wiederum  ließen  es  sich  angelegen  sein, 
ihre  privaten  Unternehmer  durch  eigene  Betriebsamkeit  zu 
fördern.  Die  Beamten  der  österreichischen  Regierung  z.  B.  be¬ 
gaben  sich  förmlich  als  Handlungsreisende  auf  die  Suche  nach 
Abnehmern  der  österreichischen  Waren,  führten  Muster  davon 
mit  sich,  studierten  Geschmack  und  Bedarf,  empfahlen  ihre 
Artikel,  brachten  Aufträge  heim  oder  doch  schätzbare  Kennt¬ 
nisse.  Diese  Reisen  gingen  von  der  Mährischen  Kompagnie  in 
Brünn  aus.  Die  bekannteste  dieser  amtlichen  „Handluno'sreisen“ 

Ti  O 


Sechsundfünfzigstes  Kapitel:  Die  Pürsten 


847 


ist  die  des  Grafen  Haugwitz  und  des  Inspektors  des  'Brunner 
Manufaktur  amte  s  L.  F.  Procop  in  den  Jakren  1755  und  1756  h 

Noch  andere  gründen  Unternehmungen  auf  Regierungskosten 
und  übergeben  sie  nachher  Privatunternehmern ;  oder  sie  schießen 
den  Unternehmern  beträchtliche  Summen  zinslos  vor  oder  sie 
versehen  diejenigen  Privatpersonen,  die  Fabriken  gründen,  mit 
Produktionsmitteln  und  Arbeitern1 2.  Viele  der  Maßnahmen,  die 
wir  als  Bestandteile  der  merkantilistischen  Wirtschaftspolitik 
kennen  gelernt  haben,  sind  ja  einer  eigentlichen  Unternehmer¬ 
tätigkeit  nahe  verwandt  und  müssen  deshalb  hier  ebenfalls  in 
Erinnerung  gebracht  werden3. 

Endlich  traten,  wie  genugsam  bekannt  ist,  die  Staaten  (und 
Städte)  als  selbständige  Begründer  und  Leiter  eigener  Unter¬ 
nehmungen  auf  und  erwiesen  sich  als  solche  vielfach  als 
Bahnbrecher  kapitalistischer  Wirtschaftsformen. 

Als  öffentliche  (staatliche  oder  städtische)  Unternehmungen 
erscheinen  zunächst  vielerorts  die  seit  dem  16.  Jahrhundert  in 
immer  größerem  Umfange  errichteten  Banken.  Hierher  ge¬ 
hören:  die  Staatsbanken  Venedigs,  Genuas,  Mailands,  Amster¬ 
dams;  die  Hamburger  Bank ;  der  Nürnberger  banco  publico;  die 
Laws dien  Banken;  die  russische  Assignationsbank ;  die  kgl.  Bank 
in  Berlin  u.  a.  Da  ich  über  die  Banken  in  anderm  Zusammen¬ 
hänge  spreche,  so  genügt  hier  diese  Erinnerung. 

Auch  einige  H  a  n  d  e  1  s  kompagnien  tragen  staatliches  Ge¬ 
präge. 

Das  wichtigste  Feld  der  staatlichen  Unternehmertätigkeit 
war  aber  natürlich  die  Industrie. 

Hier  begegnen  wir  zunächst  dem  Bestreben,  durch  Errichtung 
staatlicher  Musteranstalten  vorbildlich  auf  den  privaten 
Unternehmungsgeist  zu  wirken.  Solche  Musteranstalt  war  die 
von  Heinrich  IV.  ins  Leben  gerufene,  von  Colbert  vervoll- 
kommnete  Manufacture  royale  des  Gobelins ,  die  wir  noch  ge- 


1  Der  interessante  Bericht  („Die  Haugwitz -Procopsche  Relation 
1756“)  ist  abgedruckt  im  Archiv  für  österreichische  Geschichte  69, 
373  ff.  Über  die  Veranstaltungen  dieser  Art  A.  Fournier,  Handel 
und  Verkehr  in  Ungarn  und  Polen  a.  a.  0.  S.  317  ff.  Vgl.  auch  die 
Angaben  bei  A.  Beer,  Studien  zur  Gesch.  der  österr.  VW.  unter 
Maria  Theresia,  im  gleichen  Archiv  81,  107  f. 

2  Über  Maßregeln  ähnlicher  Art  in  Rufslantl  unter  Peter  d.  Gr. 
siehe  M.  Tugan-Baranowski,  Die  russische  Fabrik  (1900),  13  f. 

3  Siehe  das  24.  Kapitel  in  diesem  Bande. 


848  Achter  Abschnitt:  Die  Entstehung  der  Unternehmerschaft 

nauer  kennen  lernen  werden;  solche  Musteranstalt  sollte  aber 
auch  das  Manufakturhaus  auf  dem  Tabor  in  Wien  sein1. 

Die  auf  Betreiben  J.  J.  Bechers  im  Jahre  1676  errichtete  Anstalt 
enthielt : 

1 .  ein  großes  chemisches  Laboratorium  zur  Erzeugung : 

a)  der  für  die  chemischen  Hauptprodukte  notwendigen  Salze  und 
Spirituosen ; 

b)  metallischer  Farben  (Grünspan,  Berggrün,  Bleiweiß,  Zinnober 
usw.) ; 

c)  von  Gold  und  Silber  mittels  Alchymie  (!) ; 

2.  Werkstatt  zur  Erzeugung  des  Majolikgeschirrs; 

3.  Apotheke,  um  gute  Medizin  zu  billigem  Preise  herzustellen; 

4.  Werkstatt  zur  Herstellung  guter  Hausgeräte  (aus 

einer  von  B.  erfundenen  Metallegierung) ; 

5.  die  Seidenmanufaktur,  betrieben  mit  drei  „Bandmühlen“; 

6.  die  Wo  lim  an  u  fakt  u  r. 

Außer  dem  Hauptgebäude,  in  dem  diese  Manuf.  untergebracht 
werden,  umfaßt  das  „Kunst-  und  Werkhaus“  noch: 

7.  das  „Häuslein  zur  Wohnung  des  Direktors“; 

8.  die  Sckellenbergische  Schmelzhütte; 

9.  die  venetianische  Glashütte. 

Das  Manufakturhaus,  das  sich  Becher  auch  noch  als  eine  Art 
staatlicher  Lehrwerkstätte  gedacht  hatte  (siehe  Närrische  Weisheit, 
S.  120  ff.),  war  im  übrigen  eine  verfehlte  Gründung,  so  daß  es  1683 
sehr  zu  Hecht  abbrannte,  was  uns  hier  aber  nicht  interessiert,  wo  wir 
es  nur  als  ein  Wahrzeichen  des  staatlichen  Unternehmuno-sdranges 
jener  Zeit  zu  würdigen  haben. 

Aber  die  Staatsbetriebe  dehnten  sich  über  den  engeren  Kreis 
der  Musteranstalten  aus  und  -wurden  für  eine  Reihe  von  Industrie¬ 
zweigen  neben  den  privaten  Unternehmungen  bedeutungsvoll. 
Diejenigen  Gebiete,  auf  denen  sie  am  meisten  Boden  gewannen, 
waren  der  Bergbau  und  die  eigentlichen  Kriegsindustrien.  Fast 
in  allen  Ländern,  namentlich  aber  in  Österreich,  Deutschland 
und  Rußland,  begegnen  wir  hier  zahlreichen  staatlichen  Be¬ 
trieben.  Eine  statistische  Erfassung  ihres  Anteils  an  der  Gesamt¬ 
heit  der  Unternehmungen  ist  nicht  möglich,  für  unsere  Zwecke 
auch  nicht  notwendig.  Uns  genügt  es  hier,  festgestellt  zu  haben; 
daß  unter  den  Schöpfern  und  Begründern  des  modernen  Kapita¬ 
lismus  die  Staatsleiter  eine  hervorragende  Stellung  einnehmen. 
Freilich:  „kapitalistisch“  im  strengen  Sinne  sind  ja  die  von  ihnen 
ins  Leben  gerufenen  Unternehmungen  nicht.  Aber  sie  bilden 
doch  ein  wichtiges  Glied  in  der  Entwicklung  des  Kapitalismus, 


1  Hans  J.  Hatschek,  Das  Manufakturhaus  auf  dem  Tabor  in 
Wien.  1886.  Siehe  insbes.  S.  35  ff. 


Sechsuüdfüntzigstes  Kapitel:  Die  Dürsten  840 

dem  sie  vielfach  als  Vorbild,  als  Schrittmacher  dienen,  aus  dessen 
Geiste  sie  geboren  sind,  dem  sie  wesentliche  Züge  entlehnen. 
Auch  gehen  diese  ersten  Unternehmungen  noch  häufig  aus  der 
einen  Form  in  die  andere  über:  Staatsanstalten  werden  Privat¬ 
unternehmungen  ,  Privatunternehmungen  werden  vom  Staate 
übernommen.  Es  würde  also  eine  empfindliche  Lücke  in  der 
genetischen  Darstellung  des  Kapitalismus  bedeutet  haben,  hätte 
ich  der  Fürsten  und  ihrer  Diener  als  Typen  moderner  Unter¬ 
nehmer  an  dieser  Stelle  nicht  Erwähnung  getan. 


Sombart,  Der  moderne  Kapitalismus.  I. 


54 


850 


Siebenundftmfzigstes  Kapitel 

Die  adeligen  Grundlierren 

I.  Die  Stellung  der  Grundherren  zur  Erwerbs¬ 
wirt  s  c  li  a  ft 

An  und  für  sich  enthält  das  grundherrschaftliohe  Verhältnis 
keinen  irgendwelchen  chrematistischen  oder  gar  kapitalistischen 
Zuff.  Selbst  die  im  Rahmen  der  Grundherrschaften  entstandenen 
Wirtschaften,  die  Fronhofwirtschaften,  sind  von  Hause  aus,  wie 
wir  wissen,  keine  Erwerbs  wirtschaften,  sondern  bleiben  lange 
Zeit  hindurch  ßedarfsdeckungswirtschaften ,  auch  nachdem  sie 
schon  (was  ziemlich  früh  eintritt)  ihren  Überschuß  an  Erzeug¬ 
nissen  auf  den  Markt  bringen. 

Aber  im  Laufe  der  Zeit  haben  sie  ihren  alten  Charakter  ab¬ 
gestreift.  Die  Eigenwirtschaft  des  Grundherrn  wird  mehr  und 
mehr  eingeschränkt,  und  neben  ihr  entwickelt  sich  innerhalb  des 
Machtbereichs  des  Grundherrn  eine  Erwerbswirtschaft,  die  sich 
allmählich  zur  kapitalistischen  Wirtschaft  auswächst. 

Der  Grundherr  wird  zum  kapitalistischen  Unternehmer  und 
trägt  nicht  unwesentlich  zur  Entfaltung  des  Kapitalismus  bei. 

Also  das,  was  der  Kapitalismus  durch  den  Grundherrn  an  Förderung 
erfährt,  soll  hier  gewürdigt  werden.  Während  alles  das  unserer  Be¬ 
trachtung  fernliegt,  was  sich  als  eine  Belastung  etwa  des  kapitalistischen 
Gewerbes  durch  den  Grundherrn  darstellt,  wie  Erhebung  von  Gebühren 
für  Erteilung  der  Gewerbebefugnis ,  Abgaben  (Weberzinse!)  u.  dgl., 
an  das  die  Tendenzhistoriker  ausschließlich  denken,  wenn  sie  von 
dem  Einfluß  der  Grundherrschaft  auf  die  moderne  Wirtschaftsentwick¬ 
lung  sprechen. 

Was  trieb  die  Herren,  die  Mühen  und  Sorgen  auf  sich  zu 
laden,  die  unausbleiblich  waren,  wenn  sie  etwa  eine  Industrie 
auf  ihrem  Grund  und  Boden  ins  Leben  riefen? 

Gewiß  war  es  oft  reine  Nächstenliebe,  war  es  der  Wunsch, 
die  Hintersassen  leiblich  und  geistig  zu  heben,  was  sie  zu  in¬ 
dustriellen  Unternehmern  machte.  Namentlich  die  Kirchen  und 
Klöster  werden,  wenn  sie  Industrien  begründeten,  von  solchen 
Beweggründen  sich  oft  haben  leiten  lassen. 


Siebemmdfiinfzigstes  Kapitel:  Die  adeligen  Grundherrn  851 

Ein  Beispiel ,  das  gewiß  für  viele  Fälle  als  typisch  gelten  kann : 
Der  1691  zum  Abt  des  Osseger  Klostei's  gewählte  Benedikt  Litwehrig 
sah ,  daß  die  meisten  seiner  Untertanen  in  Osseg  und  den  dazu  ge¬ 
hörigen  Dörfern,  weil  sie  außer  dem  geringen  Ackerbau  keine  weitere 
Beschäftigung  hatten,  „die  langen  Winterabende  in  arbeitsscheuer 
Untätigkeit  größtentheils  verschnarchten,  und  dabei  sehr  kümmerlich 
leben  mußten“.  Er  sann  auf  Mittel  zur  Abhilfe  und  verschrieb  einen 
gewissen  Paul  Rodig,  einen  geschickten  Strumpfwirker  aus  Sachsen,- 
damit  dieser  sein  Gewerbe  in  Osseg  ausübe  und  Einheimische  darin 
unterrichte.  Noch  vor  Ablauf  des  17.  Jahrhunderts  waren  auf  der 
Osseger  Herrschaft  50  ausgelernte  Strumpfwirker ,  die  dort  ihr  Ge¬ 
schäft  ausübten  und  nicht  in  das  Fremde  gehen  durften.  Ludw.  Schle¬ 
singer,  Zur  Gesch.  d.  Ind.  in  Oberleutensdorf,  in  den  Mitt.  d.  Ver. 
f.  d.  Gesch.  d.  D.  in  Böhmen  3  (1865),  88  f. 

Aber  die  Regel  werden  solche  Erwägungen  nicht  gebildet 
haben.  Vielmehr  bezweckte  der  Grundherr,  der  kapitalistischer 
Unternehmer  wurde,  auch  nichts  anderes  als  das,  was  die  meisten 
wollten,  die  sich  auf  diese  Bahn  begeben:  er  wollte  seine  Kräfte 
verwenden,  um  seinen  Machtbereich  auszuweiten,  um  seinen 
Reichtum  zu  vergrößern,  vielleicht  auch,  wenn  er  Abt  oder 
Bischof  war,  um  den  Glanz  seines  Klosters,  seines  Bistums  zu 
mehren.  Der  Geist,  der  die  Grundherrn  in  den  Kapitalismus 
hineintrieb,  war  derselbe*  Unternehmungsgeist  mit  chre- 
matistischer  Einstellung,  der  alle  kapitalistischen  Unter¬ 
nehmer  beseelte.  Wie  aber  hatte  der  mittelalterliche  Seigneur, 
der  kriegerische  Feudalherr  diesen  Wandel  vollziehen  können? 
Wir  müssen  diese  Frage  zunächst  zu  beantworten  versuchen 
mit  dem  Hinweis  auf  die  allgemein  gültige  Tatsache,  an  die 
ich  oben  schon  erinnerte:  daß  in  jeder  Gruppe  von  Menschen 
einer  bestimmten  Volkheit  verschiedene  Varianten  vorhanden 
sind,  und  daß  wir  unter  den  Rittern  und  Herrn  des  Mittelalters 
auch  kapitalistische  Varianten  annehmen  müssen,  die  in  der  mittel¬ 
alterlichen  Umwelt  ebensowenig  zur  Entfaltung  kommen  konnten, 
wie  sie  nun,  als  sich  die  Bedingungen  der  kapitalistischen  Wirt¬ 
schaft  allmählich  erfüllten,  je  mehr  und  mehr  die  Vorherrschaft 
erlangten.  Selbst  unter  den  Kirchenfürsten  fehlten  solche  Unter¬ 
nehmertypen  nicht.  Ich  denke  etwa  an  manche  Äbte  von 
Klosterrath  (Klosterrode)  im  Wonnthal,  auf  deren  Grund  das 
erste  (?)  Steinkohlenbergwerk  in  Europa  betrieben  worden  ist. 
Männer,  wie  der  Abt  Haghen  und  namentlich  P.  J.  Chaineux, 
die  im  18.  Jahrhundert  die  Abtei  leiteten,  unterscheiden  sich  in 
nichts  von  irgendeinem  „wagenden  Kaufmann“  und  industriellen 
Unternehmer.  Das  gilt  insbesonders  von  Chaineux,  der  unter 


852  Achter  Abschnitt:  Die  Entstehung  der  Unternehmerschaft 

Haffhen  Provisor,  das  heißt  Verwalter  der  Abteilichen  Güter  war. 
Er  galt  als  einer  der  besten  Mineralogen  und  Bergingenieure 
seiner  Zeit,  obwohl  er  von  jung  an  dem  geistlichen  Orden  an¬ 
gehörte.  Er  veranlagte  seinen  einsichtsvollen  Vorgänger  Haghen, 
in  den  Bergwerken  des  Klosters  Anlagen  im  großen  Maßstabe  zu 
machen:  es  wurden  bis  1771  dazu  über  669000  Frcs.  zu  unterirdi¬ 
schen  Vor  rrichtungen  und  eine  ähnlich  große  Summe  zu  Tagebauten 
verwendet.  Damals  waren  in  dem  Bergwerk  800  Bergleute  unter 
Tage  und  wohl  ebensoviel  über  Tage  beschäftigt:  eine  für  jene 
Zeit  ganz  ungewöhnlich  große  Menge  h 

Inmitten  der  geistlichen  Grundherrschaft  werden  wir  nun 
freilich  das  Auftreten  soleher  Unternehmertypen  eher  als  „zu¬ 
fällig“  bezeichnen  müssen,  da  die  Auslese  der  Kirchenfürsten 
unter  wesentlich  anderen  Gesichtspunkten  als  dem  ihrer  geschäft¬ 
lichen  Tüchtigkeit  erfolgte.  Bei  den  weltlichen  Grundherrn  dürfen 
wir  schon  an  eine  Art  von  Neubildungs-  oder  Anpassungsprozeß 
an  die  sich  allmählich  verändernde  Umwelt  (die  natürlich  unter 
dem  Einfluß  der  neuen  Menschen  selbst  sich  bildete)  denken. 
"Wir  können  uns  vorstellen,  daß  aus  dem  Feudaladel  die  Erwerbs¬ 
menschen  mit  der  Zeit  ausgelesen  wurden. 

Aber  dieser  Prozeß  der  organischen  Auslese  unfeudaler  Ele¬ 
mente  wäre  doch  vermutlich  ein  langsamer  gewesen,  und  er 
allein  erklärt  nicht  die  rasche  Vermehrung  der  kapitalistischen 
Unternehmer  unter  den  Grundherrn,  die  wir  beobachten.  Diese 
war  vielmehr  die  ganz  natürliche  Folge  einer  anderen  Ent¬ 
wicklung,  die  wdr  in  verschiedenen  Ländern  seit  dem  16.  Jahr¬ 
hundert  sich  abspielen  sehen ;  ich  meine  die  V erbürger- 
lichung  des  Adels. 

Dieser  begegnen  wir  überall,  auch  in  Deutschland  und  Öster¬ 
reich:  unter  dem  böhmischen  Adel  beispielsweise  gibt  es  eine 
ganze  Menge  von  bürgerlichen  Emporkömmlingen,  schon  im  17. 
und  18.  Jahrhundert,  wie  das  berühmte  Geschlecht  der  Grafen 
Schlick.  Aber  zu  einer  allgemeinen  sozialen  Erscheinung  wird 
diese  Entfeudalisierung  des  Adels  erst  in  den  westeuropäischen 
Ländern:  Frankreich  und  namentlich  England,  wfle  sie  es  schon 
vor  dem  15.  Jahrhundert  in  Italien  gewesen  war.  Wenn  hier 
der  Kapitalismus  so  viel  raschere  Fortschritte  gemacht  hat,  als 
beispielsweise  in  Deutschland,  so  ist  daran  die  Verbürgerlichung 


1  Siehe  Franz  Büttgenbach,  Der  erste  Steinkohlenbergbau  in 
Europa  (1898),  167. 


Siebemuidfixnfzigstes  Kapitel:  Die  adeligen  Grundherren  853 

des  Adels  zweifellos  stark  beteiligt.  Denn  daß  diese  eine  Ver- 
kommerzialisiemng  der  Gesinnung  im  Gefolge  batte,  versteht  sich 
von  selbst,  ebenso  also  auch,  daß  damit  der  kapitalistische  Geist 
sich  leichter  verbreitete ,  leichter  die  gesamte  Gesellschaft  und 
das  ganze  Staats  wesen  zu  durchdringen  vermochte ,  als  es  in 
einem  Lande,  wo  sich  die  un-  oder  gar  an  ti  -  merkantile  Macht 
des  alten  feudal  und  seigneurial  gesinnten  Adels  länger  erhielt 
wie  bei  uns. 

II.  Die  Verbürgerlichung  des  Adels 

Die  Verbürgerlichung  des  Adels  erfolgt  auf  zwei  Wegen: 
entweder  dadurch,  daß  Bürgerliche  adlig  werden  oder  dadurch,  daß 
Adlige  Bürgertöchter  heiraten.  Es  wird  genügen,  wenn  ich  für  Eng¬ 
land  und  Frankreich  diesen  Prozeß  der  Verbürgerlichung  des  Adels 
etwas  genauer  schildere.  (Ausführlicher  habe  ich  das  Thema  in  meiner 
Studie:  Luxus  und  Kapitalismus,  S.  10  ff.  behandelt). 

1.  England:  In  England  bildete  (und  bildet  noch  heute)  den  Adel 
im  engeren  Sinne  nur  die  Nobili ty.  Diese  ist  im  wesentlichen  neu 
geboren  worden  mit  dem  Regierungsantritt  der  Tudors,  genauer  mit 
Heinrich  VIII.  Nach  dem  Krieg  der  beiden  Rosen  waren  die  alten 
Geschlechter  bis  auf  29  verschwunden;  auch  die,  die  übrig  geblieben 
waren,  waren  zum  Teil  noch  geächtet,  geschwächt,  verarmt.  Heinrich  VIII 
erhob  zunächst  diese  alten  Geschlechter  wieder  zu  Macht  und  Reich¬ 
tum  (und  unterwarf  sie  dadurch  der  Krone,  die  von  jetzt  ab  ihre 
unbestrittene  Vorherrschaft  bewahrte).  Die  Mittel  zur  Ausstattung 
boten  sich  dem  Könige  in  den  konfiszierten  Kirchengütern  dar  (die 
damit  einer  „weltlichen“  Verwendung  zugeführt  wurden).  Die  Reihen 
der  alten  Geschlechter  werden  nun  aber  seit  Heinrich  VII.  und  VIII. 
immer  wieder  durch  Neuernennungen  ergänzt.  Und  diese  neuen  Peers, 
die  dem  alten  Grundadel  durchaus  gleichgestellt  wurden,  wählte  sich 
der  König  unter  allen  Notabein,  vor  allem  auch  unter  den  reichen 
Bürgern  aus.  Jakobi,  hat  sogar  Pairien  verkauft.  Von  Heinrich  VII. 
bis  Jakob  II.  wurden  839  Pairien  geschaffen. 

Nachdem  unter-  den  Stuarts  99  Pairien  erloschen  waren,  sind  von 
1700 — 1800  neu  kreiert  worden  237. 

Natürlich  sind  diese  Erhebungen  nicht  immer  von  ganz  unten  auf, 
d.  h.  aus  den  Tiefen  des  Volkes  erfolgt  wie  bei  den  Russell  und 
Cavendishes.  Oft  (vielleicht  meist)  haben  diese  Peers  erst  verschiedene 
Vorstufen:  die  des  Esquire,  des  Ritters,  des  Baronets  durchlaufen. 
Aber  wir  wissen  doch,  daß  in  zahlreichen  Fällen  der  Stammbaum  auf 
einen  reich  gewordenen  Homo  novus  der  City  zurückgeht.  Zum  Be¬ 
lege  führe  ich  nur  folgende  Beispiele  an: 

°  Die  Herzoge  von  Leeds  stammen  ab  von  Edward  Osborne,  der  als 
armer  Kaufmannslehrling  nach  London  kam;  die  Herzoge  von  North- 
umberland  führen  auf  Hugh  Smithson  zurück,  der  Kommis  in  einer 
Drogenhandlung  war  und  von  Lady  Elizabeth  Seymour  geheiratet 
wurde;  ebenso  haben  bürgerliche  Stammväter:  die  Russell;  die  Marquis 


g54  Achter  Abschnitt:  Die  Entstehung  der  Unternehmerschaft 

von  Salisbury,  die  Marquis  von  Bath,  die  Grafen  Brownlow,  die  Grafen 
von  Warwick,  die  Grafen  von  Carrington,  die  Grafen  von  Dudley,  die 
Grafen  von  Spencer,  Grafen  von  Tilney  (der  erste  Earl  of  Tilney  ist 
niemand  anders  als  der  Sohn  von  Josiah  Child!),  die  Grafen  von  Essex, 
die  Grafen  von  Covehtry,  die  Grafen  von  Dartmouth,  die  Grafen  von 
Uxbridge,  die  Grafen  Tankerville,  die  Grafen  von  Harborough,  die 
Grafen  von  Pontefract,  die  Grafen  Fitzwater,  die  Viscounts  Devereux, 
die  Viscounts  Weymouth,  die  Grafen  Clifton,  die  Grafen  Leigh,  die 
Grafen  Haversham,  die  Grafen  Masham,  die  Grafen  Bathurst,  die  Grafen 
Romney,  die  Grafen  Donner,  die  Herzoge  von  Dorset  und  die  von 
Bedford;  Geschlechter,  deren  Pairwtirde  heute  zum  Teil  längst  er¬ 
loschen  ist,  die  aber  (soweit  sie  nicht  jüngeren  Datums  sind)  in  der 
ersten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  blühten.  Siehe  die  Quellen  in 
Luxus  und  Kap.  a.  a.  0. 

Aber  was  der  sozialen  Gliederung  Englands  vor  allem  ihr  eigen¬ 
tümliches  Gepräge  gibt  und  vor  allem  in  der  Zeit  gab,  die  uns  inter¬ 
essiert,  ist  die  Gentry:  d.  h.  eine  Gruppe  von  Personen,  die  nicht 
eigentlich  zum  Adel  gehört  und  doch  Adel  ist;  eine  Art  von  „niederem 
Adel“,  die  aber  nach  dem  Gesetz  nicht  adelig  ist.  Die  oberste  Schicht 
der  Gentry  bilden  die  Ritter,  unter  denen  wiederum  die  Baronets  den 
höchsten  Rang  einnehmen :  ein  Ritter  und  Baronet  erhält  das  Prädikat 
Herr  (Sir)  vor  den  Vornamen  gesetzt.  Zu  den  Rittern  gehören  die 
Inhaber  der  Ritterlehen,  die  ursprünglich  die  einzigen  Ritter  waren; 
dann  die  Inhaber  bestimmter  Orden,  des  Hosenband-  und  Bathordens 
(seit  Eduard  III.  und  Heinrich  IV.)  und  einiger  Ämter;  endlich  die¬ 
jenigen,  die  sich  die  Ritterwürde  gekauft  haben:  die  Käuflichkeit  der 
Ritterwürde  (sie  wurde  gegen  Zahlung  von  1095  erworben)  hat 
Jakob  I.  im  Jahre  1611  eingeführt.  Diese  Ritter  von  Geldsacksgnaden 
hießen  Baronets:  sie  sollten  den  Vorrang  vor  den  alten  haben  und 
gleich  hinter  dem  Adel  rangieren.  Solcher  Baronets  sind  während  des 
17.  und  18.  Jahrhunderts  viele  Hunderte  entstanden:  Mitte  des  19. 
Jahrhunderts  betrug  ihre  Zahl  700.  Es  versteht  sich,  daß  schon  auf 
diesem  Wege  ein  großer  Teil  der  reich  gewordenen  Roture  in  den 
Adel  (was  die  Ritter  gesellschaftlich  unzweifelhaft  waren)  empor¬ 
gestiegen  ist.  Das  ganz  besonders  Seltsame  an  der  englischen  Gentry 
ist  nun  aber  dieses:  daß  sie  überhaupt  nicht  und  jedenfalls  nach  unten 
hin  nicht  abgrenzbar  ist: 

Mit  dieser  eigentümlichen  Auffassung  war  es  aber  gegeben,  daß 
die  Zugehörigkeit  zum  Adel  in  England  gleichsam  automatisch  durch 
die  Umbildung  der  wirtschaftlichen  Verhältnisse  bestimmt  wurde,  die 
emporstrebenden  Geldmänner  immer  in  dem  Maße  Zutritt  zum  Adel 
erhielten,  wie  ihre  Bedeutung  im  gesellschaftlichen  Leben  wuchs.  Da 
es  bis  tief  in’s  18.  Jahrhundert  zum  Begriff  des  Gentleman  gehörte, 
daß  er  Großgrundbesitzer  war,  so  war  damit  die  Durchsetzung  des 
Landadels  mit  bürgerlichen  Elementen  zu  einer  notwendigen  Folge  des 
wachsenden  Reichtums  in  den  Städten  geworden. 

Noch  fester  aber  wird  das  Band  zwischen  Adel  und  Reichtum  ge¬ 
knüpft,  wenn  die  Söhne  und  Töchter  aus  den  beiden  Gruppen  sich 
heiraten  und  Kinder  zeugen.  Solcher  Art  Verbindungen  zwischen 


Sicbenundfünfzigstes  Kapitel:  Die  adeligen  Grundherren 


85a 


Adligen  und  Emporkömmlingen  gehören  in  England  mindestens  seit 
den  Stuarts  zu  den  alltäglichen  Erscheinungen.  Wenn  Sir  William 
Temple  tatsächlich  die  Feststellung  gemacht  hat,  daß  es  seiner  Er¬ 
innerung  nach  etwa  50  Jahre  her  sei,  seit  die  adligen  Familien  in  die 
City  hineingeheiratet  hätten,  „und  zwar  bloß  um  des  Geldes  willen“ 
(for  downright  money),  so  könnten  wir  angesichts  der  großen  Autorität 
dieses  ganz  hervorragenden  Beobachters  den  Anfang  dieser  Blutver¬ 
mischung  ziemlich  sicher  in  die  Regierungszeit  Jakobs  I.  verlegen. 
Jedenfalls  ist  100  Jahre  später,  in  der  Zeit,  als  Defoe  schreibt,  die 
Zahl  der  adlig-bürgerlichen  Mischehen  offenbar  bereits  recht  beträcht¬ 
lich  ,  denn  Defoe  spricht  von  ihnen  wie  von  selbsverständlichen 
Erscheinungen.  Natürlich  waren  es  vornehmlich  Edelmänner,  die  reiche 
Erbinnen  aus  dem  Kaufmannsstande  heirateten,  um  ihre  Wappen  neu 
zu  vergolden.  Defoe  führt  solcher  Heix-aten  allein  hoher  Adliger  mit 
Krämerstöchtern  78  namentlich  auf,  die  hier  einzeln  zu  nennen  keinen 
Sinn  hat;  es  ist  ja  im  Grunde  gleichgültig,  ob  der  Lord  Griffin  Mary 
Weldon,  eine  Kaufmannstochter  aus  Well  in  Lincolnshire,  oder  Lord 
Cobham  Anne  Halse}',  eine  Brauerstochter  aus  Southwark,  heiratet; 
uns  interessieren  diese  Heiraten  lediglich  als  Massenerscheinungen, 
die  sie  (in  Vergleich  gesetzt  zu  der  Anzahl  der  Adligen)  sicher  im 
18.  Jahrhundert  in  England  bereits  geworden  waren. 

2.  Frankreich:  Für  Frankreich  tritt  der  Wendepunkt  gegen  Ende 
des  16.,  zu  Anfang  des  17.  Jahrhunderts  etwa  ein:  damals  springen 
mit  einem  Male  mächtige  Quellen  auf,  aus  denen  neuer  Adel  hervor¬ 
geht:  Das  wichtigste  ist,  daß  1614  der  Uebergang  auch  feudalen  Grund¬ 
besitzes  in  die  Hände  der  Roture,  der  seit  jeher  sich  vollzogen  hatte, 
ausdrücklich  als  gesetzlich  erlaubt  anerkannt  wurde.  Diese  Form  des 
Adelerwerbs  hat  für  Frankreich  eine  ganz  besonders  große  Bedeutung 
gehabt:  im  18.  Jahrhundert  wimmelt  es  von  neugebackenen  Seigneurs, 
die  zu  ihrer  Würde  einfach  durch  den  Ankauf  eines  adligen  Gutes 
gelangt  waren.  Die  Reichen  schmücken  sich  mit  Seigneurien  wie 
heute  etwa  mit  exotischen  Orden.  Paris  Montmatre,  der  Sohn  eines 
kleinen  Schankwirts  in  Moirans,  unterzeichnet  sich  bei  einer  Taufe 
als  Comte  de  Sampigny,  Baron  de  Dagouville,  Seigneur  de  Brunoy, 
Seigneur  de  Villers,  S.  de  Foucy,  S.  de  Fontaine,  S.  de  Chateauneuf  etc. 

Zu  den  verschiedenen  Wegen,  zum  Adel  zu  gelangen,  kam  gegen 
Ende  des  17.  Jahrhunderts  noch  der  Kauf:  1696  wurden  500,  1702 
200,  1711  100  Adelsbriefe  verkauft.  Vic.  de  Broc,  La  France  sous 
l’ancien  regime  1  (1887),  353. 

Kein  Wunder,  wenn  schließlich  der  französische  Adel  immer  mehr 
aus  nobilitierten  Turcarets  bestand.  Es  ist  keine  XJebeitieibung,  wenn 
Cherrin  sagt,  daß  das,  was  man  im  17.  und  18.  Jahrhundert  in 
Frankreich  „Noblesse“  nannte,  im  wesentlichen  „du  tiers  etat  enrichi, 
eleve,  decore,  possessionne“  sei;  wenn  der  Marquis  d’Argenson 
um  die  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  schreibt,  daß  bei  der  Leichtigkeit, 
den  Adel  für  Geld  zu  erwerben,  es  keinen  Reichtum  gebe,  der  nicht 
alsbald  adlig  würde. 

Die  ziffermäßigen  Angaben,  die  wir  über  den  Bestand  des  Adels 
beim  Ausbruch  der  Französischen  Revolution  besitzen,  bestätigen  die 


856 


Achter  Abschnitt:  Die  Entstehung  der  Unternehmerschaft 


Richtigkeit  dieser  Urteile,  obwohl  sie  im  einzelnen  von  einander  ab¬ 
weichen.  Nach  Cher  in  gab  es  17  000  adlige  Familien ;  davon  hatten 
höchstens  3000  einen  Adel,  der  älter  war  als  400  Jahre;  höchstens 
1500  waren  „Uradel“,  d.  h.  stammten  von  Ritterlehen  ab;  8000  Familien 
waren  Beamtenadel,  6000  Kaufadel.  Nach  einer  andern  Annahme  zählte 
man  damals  26  600  adlige  Familien,  unter  denen  13 — 1400  dem  Uradel 
(der  „noblesse  immemoriale  ou  de  race“)  angehörten,  während  von  den 
übrigen  4000  Beamtenadel  gewesen  wäre.  Siehe  die  "Zusammenstellungen 
bei  Boileau,  Etat  de  la  France,  vgl.  V ic.  d  e  B r  o  c  ,  35,  La  France 
sous  l’ancien  regime  1,  350  seg.  Der  Anteil,  den  die  Haute  fiuance 
an  der  Zusammensetzung  des  französischen  Adels  hatte,  ist  nun  aber 
noch  weit  größer,  als  diese  Ziffern  zum  Ausdruck  bringen,  wenn  wir 
auch  hier  wieder  die  außerordentlich  zahlreichen  Verheiratungen  Adliger 
mit  reichen  Erbinnen  der  Roture  in  Betracht  ziehen. 

Dieser  Verschmelzungsprozeß  ist  im  Anfang  des  17.  Jahrhunderts 
offenbar  schon  in  vollem  Gange,  wenn  wir  dem  echten  alten  Edelmann, 
dem  Marquis  de  Sully,  Glauben  schenken  wollen,  der  darüber 
bittere  Klage  führt. 

Am  Ende  des  18.  Jahrhunderts  konnte  Mercier  (2,  201)  schreiben: 
„La  dot  de  presque  toutes  les  epouses  des  seigneurs  est  sortie  de 
la  caisse  des  fermes“. 

Einige  besonders  deutlich  sprechende  Beispiele  will  ich  hersetzen, 
an  denen  man  die  eigenartigen  gesellschaftlichen  Zustände  des  18. 
Jahrhunderts  (das  in  dieser  Hinsicht  dem  neunzehnten  und  zwanzig¬ 
sten  schon  recht  ähnlich  ist)  zu  erkennen  vermag: 

Der  eine  Sohn  des  Samuel  Bernard,  der  allgemein  „le  Juif  Bernard“ 
heißt,  ist  der  Comte  de  Coubert ;  er  heiratet  M>e  Frottier  de  la  Coste 
Messeliere,  Tochter  des  Marquis  de  la  Coste;  der  andere  kauft  eine 
Charge  als  Präsident  beim  Parlament  in  Paris  und  nennt  sich  Comte 
de  Rieur:  er  heiratet  Mme  de  Boulainvilliers.  Durch  diese  Ehe  wird 
„der  Jude  Bernard“  Großvater  der  Gräfinnen  d’Entraygues,  de  Saint- 
Simon,  Courtorner,  d’Apchon,  der  künftigen  Marquise  de  Mirepoix. 

Antoine  Crozat,  dessen  Großvater  noch  Dienstbote  war,  verheiratet 
seine  Tochter  an  den  Comte  d’Evreux  aus  dem  prinzlichen  Hause 
Boullon.  Sein  zweiter  Sohn,  Baron  de  Thiers,  heiratet  Mme  de  Laval- 
Montmorency,  und  die  Töchter  dieser  Ehe  heiraten  den  Marquis  de 
Bethune  und  den  Marschall  de  Broglie. 

Der  Bruder  Crozat  verheiratet  seine  Tochter  an  den  Marquis  de 
Montsampere,  Seigneur  de  Gleves. 

Eine  Verwandte  des  Herzogs  de  la  Vrilliere  heiratet  den  Empor¬ 
kömmling  Panier. 

Der  Marquis  d’Oise  heiratet  die  zwei  Jahre  alte  Tochter  des 
Mississipien  Andre  (gegen  20  000  1.  Rente  bis  zur  Heirat  und  4  Mill. 
Mitgift). 

Die  Tochter  des  BerthMot  de  Pleneuf  heiratet  den  Marquis  de 
Prie:  es  ist  die  bekannte  Geliebte  des  Regenten; 

die  des  Prondre  wird  Mme  de  la  Rochefoucauld; 

Le  Bas  de  Montargis  wird  Schwiegervater  des  Marquis  d’Arpajon, 
Großvater  des  Grafen  von  Noailles  und  des  Herzogs  von  Duras ; 


Siebenundfünfzigstes  Kapitel:  Die  adeligen  Grundherren 


857 


Olivier-Senozan,  dessen  Vater  noch  mit  alten  Hosen  gehandelt  hatte, 
gibt  seine  Tochter  dein  Grafen  von  Luce,  späteren  Prinzen  von  Tingry ; 

Villemorien  die  seine  dem  Marquis  von  Beranger; 

die  Grafen  von  Erreux,  von  Iviy,  die  Herzoge  von  Brissac,  von 
Pecquigny:  alle,  alle  gehen  denselben  schweren  Gang  zu  den  Geld¬ 
schränken  der  Turcarets. 

Das  (vortreffliche,  aber,  wie  es  scheint,  auch  in  Frankreich  ziem¬ 
lich  unbekannte)  Hauptwerk  über  die  Verbürgerlichung  des  französischen 
Adels,  das  mir  erst  nach  Abschluß  meiner  eigenen  Studien  zu  Gesicht 
kam,  ist  Ernest  Bert  in,  Les  mariages  dans  l’ancienne  societe 
'  franqaise.  1<?79. 

III.  Die  Besonderheit  des  grnndherrlichen 
Untern  ehmert  u  m  s 

Ihr  eigentümliches  Gepräge  erhalten  die  von  adligen  Grund¬ 
herrn  ins  Leben  gerufenen  Unternehmungen  dadurch,  daß  sie 
alle  als  Ausgangs-  und  Stützpunkt  den  Machtreichtum  haben. 
AVas  den  Grundherrn  vor  allem  befähigt,  sich  als  kapitalistischen 
Unternehmer-  zu  betätigen  ist  die  Verfügungsgewalt,  die  er  als 
Grundbesitzer  über  wichtige  Produktivkräfte  hat.  Er  verfügt: 
1.  über  den  Grund  und  Boden  als  Pflanzenerzeuger ;  2.  über 
die  im  Boden  ruhenden  Schätze  (Mineralien  usw.);  3.  über  die 
Erzeugnisse  des  Bodens:  Holz,  Faserstoffe  usw.;  4.  über  die 
seiner  grundherrlichen  Gewalt  unterstellten  Arbeitskräfte.  Indem 
er  diese  produktiven  Kräfte  zu  Erwerbszwecken  ausnutzt,  ent¬ 
stehen  die  verschiedensten  Arten  kapitalistischer  Unternehmungen. 

Die  Macht  im  Staate,  die  der  Grundherr  zu  seinem  Vorteil  aus¬ 
nutzen  kann,  besteht  nun  aber  nicht  nur  in  der  unmittelbaren  Ver¬ 
fügungsgewalt  über  Menschen  und  Dinge :  sie  äußert  sich  auch  in 
dem  Einfluß,  den  er  etwa  indirekt  zugunsten  eines  vorteilhaften 
Einkaufs  oder  eines  vorteilhaften  Absatzes  der  Produkte  in  die 
AVagschale  werfen  kann:  durch  Erlangung  von  Privilegien,  Kon¬ 
zessionen  usw.  Dadurch  entsteht  eine  andere,  wichtige  Abart 
der  feudal  -  kapitalistischen  Unternehmung.  Häufig  finden  wir 
einflußreiche  Adlige  mit  bürgerlichen  Geldmännern  oder  auch 
armen  Erfindern  sich  verbinden  zu  gemeinsamem  Vorgehen:  der 
Höfling  sorgt  dann  für  die  nötigen  Freiheits-  oder  Schutzrechte, 
während  der  andere  Teilnehmer  Geld  oder  Ideen  beibringt. 
Solchen  Bündnissen  begegnen  wir  in  Frankreich  und  England 
namentlich  während  des  17.  und  18.  Jahrhunderts  immer  wieder1. 

1  Siehe  solche  Fälle  im  Dict.  de  Comm.  s.  v.  Societe ;  in  der  In- 
troduction  a  la  Corresp.  administr.  de  Louis  XIV  T.  III  p,  LIV  seg. 


858 


Achter  Abschnitt:  Die  Entstehung  der  Unternehmerschaft 


Die  Unternehmungen  der  adligen  Grundherren  spielen  nun 
aber  während  der  Epoche  des  Frühkapitalismus  eine  größere 
Rolle,  als  man  gemeinhin  anzunehmen  geneigt  ist.  Der  Anteil, 
den  sie  am  Aufbau  der  kapitalistischen  Unternehmungen  haben, 
läßt  sich  natürlich  mangels  fast  jeder  Statistik  in  den  meisten 
Fällen  nicht  ziffernmäßig  ausdrücken.  Wohl  aber  kann  man 
sich  doch  ungefähr  eine  Vorstellung  von  der  Bedeutung  dieses 
Unternehmertyps  in  den  früheren  Jahrhunderten  machen,  wenn 
man  sich  eine  Reihe  von  Fällen  solcher  grundherrlicjien  kapita-  . 
listischen  Unternehmungen  vor  Augen  führt. 

IV .  Der  tatsächliche  Anteil  der  adligen  Unter¬ 
nehmer  am  Aufbau  des  Kapitalismus 

Die  Anteilnahme  des  Adels  (sei  es  des  Land-  oder 
des  Stadtadels)  am  Kapitalismus  reicht  bis  in  die  früheste 
Zeit  zurück.  In  den  Anfängen  der  kapitalistischen  Entwicklung 
ist  es  mehr  der  Handel,  der  von  reichen  adligen  Geschlechtern 
(oft  zuerst)  in  die  Bahnen  des  Kapitalismus  gelenkt  wird.  Das 
gilt  für  alle  Länder;  vielleicht  aber  am  meisten  für  Italien,  wo 
diese  allerälteste  Epoche  des  rein  kommerziellen  Kapitalismus 
in  klassischer  Gestalt  erscheint. 

Ich  habe  die  Rolle ,  die  der  Adel  in  den  Anfängen  des 
modernen  Kapitalismus  spielt,  ausführlich  geschildert  in  der 
ersten  Auflage  dieses  Werkes.  Alle  Kritiken,  so  feindselig  sie 
sein  mochten,  haben  die  von  mir  aufgewiesene  Tatsache  nicht 
aus  der  Welt  zu  schaffen  vermocht,  daß  ein  außerordentlich 
großer  Teil  des  frühen  kapitalistischen  Großhandels  nament¬ 
lich  auch  des  frühen  Geldhandels  in  den  Händen  reicher,  adliger 
zum  Teil  auch  grundherrlicher  Geschlechter  gelegen  hat.  Ich 
verweise  also  für  diese  Frühzeit  den  Leser  auf  das  12.  Ka¬ 
pitel  der  ersten  Auflage  und  die  dort  mitgeteilten  Namensver¬ 
zeichnisse,  deren  Inhalt  von  diesem  oder  jenem  Lokalhistoriker 
in  einzelnen  Punkten  richtig  gestellt,  aber  keineswegs  als  im 
wesentlichen  falsch  erwiesen  ist.  (Man  sehe  z.  B.  die  lächerlich 
geringen  Korrekturen,  die  Davidsohn  (in  seinen  Forschungen 
Band  4)  an  meiner  Liste  der  florentiner  Handels-  und  Geld- 

(par  Depping).  Ferner  bei  Cf.  Martin,  La  grande  industrie  sous 
Louis  XV  (1900),  109  und  öfters.  A.  des  C illeul s,  La  grande 
industrie  (1898)  p.  64  und  öfters.  Postlethwayt,  Dict.  of  Comm. 

2,  778.  Anderson,  Origin.  of  Commerce  2, '594.  George  Unwin, 
Industrial  Organization  in  the  sixteenth  and  seventeenth  Centimes 
(1904),  145  f.  165  f 


Siebenundfünfzigstes  Kapitel :  Die  adeligen  Grundherren  859 

geschäfte  treibenden  Adelsfamilien  vorgenommen  hat,  und  die 
in  wirklich  keinem  richtigen  Verhältnis  zu  dem  gehässigen, 
schnoddrigen  Tone  stehen,  in  dem  er  mein  Werk  beurteilt). 

Hier  will  ich  dagegen  mehr  den  Anteil  des  grundbesitzenden 
Adels  am  Aufbau  der  kapitalistischen  Industrie  aufzeichnen  und 
deshalb  berücksichtige  ich  mehr  die  nördlichen  Länder  im  wesent¬ 
lichen  seit  dem  16.  Jahrhundert. 

1 .  England:  Der  Ber  gb  a  u  und  die  Hüttenindustrie  sind  gern 

von  den  Grundherren  betrieben  worden.  Betrieben  worden :  nicht  nur 
als  Regale  ausgenutzt  worden.  Diese  i'einen  Nutzungsrechte  scheiden 
hier  ganz  aus,  wo  wir  dem  Unternehmer  selbst  nachspüren.  Aber 
auch  als  solche  begegnen  wir  den  Grundherren  häufig  in  den  beiden 
genannten  Produktionszweigen.  Im  15.  Jahrhundert  tragen  die  „forges“ 
des  Bischofs  von  Durham  zu  Bedburn  in  Weardale  schon  ein  durch¬ 
aus  kapitalistisches  Gepräge,  namentlich  was  die  Größe  des  Personals 
anbetrifft.  G.  T.  Lapsley  in  der  Engl.  Hist.  Review  14  (1899),  509. 
1616  schließt  ein  Höfling  mit  der  Stecknadlerzunft  einen  Vertrag  über 
Lieferung  des  nötigen  Drahts,  den  er  also  doch  wohl  selbst  auf  seinen 
Besitzungen  erzeugt  hat.  Unwin,  1.  c.  p.  167.  1627  erhält  Lord 

d’Acre  ein  Patent  zur  alleinigen  Anfertigung  von  Stahl  nach  einem 
neuen  Patente.  Rhymer,  Foedera  18,  870.  Seit  dem  16-  Jahr¬ 
hundert  legen  die  Grundherren  Zinnwerke  auf  ihren  Besitzungen  an, 
„clashmills“,  um  das  Zinn  zu  verarbeiten,  das  sie  aus  ihren  Gruben 
gewonnen  haben.  Hugh  de  Selincourt,  Great  Ralegh  (1908),  89. 
1690  halfen  zahlreiche  Lords  und  Gentlemen  die  Zinn-  und  Kupfer- 
minen-Gesellschaft  The  Mine  Adventurers  Co.  gründen.  Anderson, 
Origins  2,  594.  Auch  am  Steinkohlenbergbau  finden  wir  in  seinen 
Anfängen  zahlreiche  Adlige  beteiligt. 

Textilindustrie:  „Die  großen  Schafzüchter  waren  oft  Tuch¬ 
macher  und  verwandelten  selbst  in  Tuch  die  Wolle,  die  sie  gezogen 
hatten.“  W.  J.  Ashley,  Woollen  Industry,  80;  vgl.  Gibbins, 
Industry  of  England  4.  ed.  1906.  p.  147. 

Desgleichen  betrieben  die  englischen  Grundherren  die  Seidenzucht. 
1629:  ”a  grant  to  Walter,  Lord  Aston  etc.  of  the  Keeping  of  the 
Garden,  Hulberry-trees  and  silk-worms  near  St.  James  in  the  County 
of  Middlesex“  :  bei  Anderson,  Orig.  2,  335. 

Oder  man  gründete  eine  beliebige  Industrie  zur  Ausnutzung 
der  billigen  Brennstoffe,  die  man  auf  seinem  Besitz  hatte,  wie 
Torf  usw.  1637  erhält  Thomas  Earl  of  Berkshire  ein  Patent  für  eine 
neue  von  ihm  erfundene  Malz-  und  Hopfendarre,  eben  zur  Ausnützung 
seiner  Torflager:  bei  Anderson  2,  376. 

2.  Frankreich:  Bergbau-  und  Hüttenindustrie:  Die  Hütten 
in  der  Provinz  Nevers ,  wo  ein  Hauptsitz  der  Hüttenindustrie  war, 
sind  bis  in  18.  Jahrhundert  hinein  in  den  Händen  des  alten  Adels; 
2.  B.  Villemenant  im  Besitze  der  Arnault  de  Lange  und  Chäteau- 
Renaud,  die  im  16-  Jahrhundert  größere  Werke  errichteten;  ihr  Nach¬ 
bar  ist  Seigneur  von  Bizy,  der  ebenfalls  eine  Hütte  und  einen  Hoch¬ 
ofen  auf  seinem  Grund  und  Boden  betreibt ;  die  Hütten  von  Demenrs 


860 


Achter  Abschnitt:  Die  Entstehung  der  Unternehmerschaft 


gehören  den  Herren  Gascoing  usw.  (Alle  diese  Anlagen  gehen  im 
Laufe  des  18.  Jahrhunderts  in  die  Hände  des  reichen  Pariser  Bankiers 
Masson  über).  Claude  Corbier,  Les  forges  ä  Guerigny  im  Bull, 
de  la  Soc.  nivernaise  1870.  Aber  auch  in  der  Branche  Comte  stoßen 
wir  auf  altadlige  Hüttenbesitzer.  Martin,  Louis  XV.,  115  ff. 

Von  den  13  Hütten  in  der  Generalite  de  Tours  sind  Eigentümer: 


Marquis  de  Sauce 

Duc  de  Villeroy 

Duc  de  la  Valliere  (zweimal) 

Comte  de  Tesse 

Marquis  de  Bethomas 

Creancier  du  Duc  de  Gesvres 


Abesse  d’Etival 
Marquis  de  Sourches 
Vidame  de  Vasse 
Duc  de  la  Tremoille 
Duchesse  de  Mazarin 
Comte  de  Rhone 


P.  Dumas,  La  generalite  de  Tours  au  XVIII.  siede  (1894),  168. 

Auch  die  Eisenverarbeitung  fand  z.  T.  auf  den  Besitzungen  der 
Grundherren  statt:  der  Ritter  E.  E.  de  Blumenstein  errichtet  (1715) 
in  der  Nähe  seines  Schlosses  eine  Gießerei.;  der  Herzog  von  Choiseul 
betreibt  um  dieselbe  Zeit  ein  Stahlwerk;  der  Herr  von  Montroger  hat 
einen  Blechhammer  usf.  Martin,  1.  c.  110.  214  ff.  115  ff. 

Im  hohen  Grade  waren  die  Adligen  in  Frankreich  an  der  Ausbeute 
der  Steinkohlengruben  beteiligt.  Heinrich  II.  hatte  das  Recht  der 
Ausbeute  an  FranQois  de  la  Roque,  Seigneur  de  Roberval  erteilt;  das 
Recht  ging  über  an  Claude  Grizon  de  Guillien,  Seigneur  de  St.  Julien 
und  einen  anderen  Seigneur.  Ludwig  XIV.  beschenkte  dann  den 
Herzog  von  Montauzier  mit  dem  Rechte,  alle  Kohlengruben,  mit  Aus¬ 
nahme  der  von  Nevers,  innerhalb  40  Jahren  auszubeuten.  Der  Regent 
erteilt  das  Recht  der  Bergwerksausbeute  an  eine  Gesellschaft;  unter 
dem  Namen  Jean  Gobelin,  sieur  de  Joncquier,  die  also  auch  einen 
vorwiegend  adligen  Charakter  trug.  Aber  nicht  nur  das  Recht  der 
Ausbeute  besitzen  Adlige :  auch  der  Betrieb  ist  vielfach  in  ihren  Händen. 
Zur  Zeit  Ludwig  XIV.  eröffnet  ein  Bergwerk  im  Herzogtum  von 
Bournonville  der  Herzog  von  Noailles;  eins  in  Bourbonnais  der  Duc 
d’Aumont;  eins  der  Herzog  d’Uzes,  Depping,  Corr.  adm.  3,  LX; 
während  der  Duc  de  la  Meilleraye  die  Lager  von  Giromagny  abbaut. 
Martin,  Louis  XIV.  3,  1.  8. 

In  der  zweiten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  häufen  sich  die  Fälle, 
in  denen  Adlige  —  sei  es  auf  ihren  eigenen  Besitzungen ,  sei  es 
anderswo  —  das  Recht  zum  Bergwerksbetriebe  (Kohlen!)  erlangen, 
so  die : 


Prinzen 

von 

Croy 

Beauffremont 

Herzoge 

» 

Chaulnes 

33 

Charost 

Marquis 

33 

Mirabeau 

r> 

Lafayette 

3) 

Cernay 

33 

Villepinte 

33 

Balleroy 

)  i 

Foudras 

Marquis 

von 

Luchet 

33 

Traisnel 

33 

Gallet 

33 

Mondragon 

Graf 

33 

Entraigues 

33 

Flavigny 

Vicomte 

3} 

Vesins 

Baron 

jj 

Vaux 

Chevalier 

3? 

Solages 

Siebeuundfiinfzigstes  Kapitel:  Die  adeligen  Grundherrn!  gßf 

(Die  Angaben  über  die  Beteiligung  des  französischen  Adels  am 
Kohlenbergbau  beruhen,  soweit  ich  keine  anderen  Hinweise  gemacht 
habe ,  auf  den  Auszügen  aus  den  Akten  des  Nationalarchivs  in  der 
guten  Arbeit  von  A.  desCilleuls,  La  grande  industrie  (1898),  59  ff. 
und  Notes  210  ff.). 

Textilindustrie:  Auch  von  Frankreich  wird  uns  berichtet,  daß 
die  Grundherren  auf  ihren  Gütern  Webereien  errichteten,  um  die  Wolle 
ihrer  Herden  oder  die  Cocons  ihrer  Seidenraupen  zu  verwerten.  Bei¬ 
spiele  aus  dem  18.  Jahrhundert:  Marquis  de  Caulaincourt  errichtet 
eine  Man.  des  musselines  et  des  gazes  de  soie ;  Marquis  de  Louvencourt: 
in  Longpre  eine  Man.  de  toiles ;  Marquis  d’Hervilly :  bei  seinem  Chateau 
de  Lanchelles  eine  Leinenweberei;  Duchesse  de  Choiseul-Gouffier: 
eine  Baumwollspinnerei  in  Heilly;  Comtesse  de  Lameth  läßt  100  Räder 
in  Henencourt  verteilen.  Sieur  Gaulme  hat  beim  Schlosse  de  Bas  eine 
Manufaktur  für  feine  Tücher;  de  Kamel  ebenso;  Baron  de  Sumene 
Seidenfilande ;  Marquis  d'Hervilly  Tischzeugmanufaktur;  Sieur  du  Sei 
des  Monts  Baumwollmanufaktur ;  die  Seigneurs  Requin  und  Desbois 
Baumwoll-  und  Flachsspinnerei ;  le  sieur  Marie  de  Perpignan  Teppich¬ 
weberei;  Ch.  Pascal  de  Carcosonne  feine  Tücher  usw.  Die  Zahl  der 
adligen  Textilindustriellen  in  Frankreich  während  des  18.  Jahrhunderts 
ist  in  der  Tat  sehr  groß.  Martin,  Louis  NY.,  113  ff.  199.  214  ff. 
Vgl.  A.  de  Calonne,  La  vie  agricole  sous  l’ancien  regime  etc. 
(1883),  III. 

(Die  Glasfabrikation  der  adligen  Glasmacher  [gentilhomm.es 
verriers]  wird  man  nicht  hierher  rechnen  dürfen.  Es  waren  arme 
Schlucker,  die  aus  einem  noch  nicht  aufgeklärten  Grunde  im  15.  Jahr¬ 
hundert  den  Adel  erhalten  hatten  und  eifersüchtig  bewahrten,  trotz 
ihrer  Armut,  derentwegen  sie  von  Adel  und  Bourgeosie  gleicherweise 
über  die  Achsel  angesehen  wurden.  Siehe  die  hübsche  Studie  von 
M.  Beaupre,  Les  gentilhommes  verriers  on  recherches  sur  l’ind.  et 
les  Privileges  verriers  dans  l’ancienne  Lorraine.  2.  ed.  1846.) 

Die  Beteiligung  am  Handel  als  Unternehmer,  also  auch  offen  zu 
Tage  tretender  Gesellschafter  (anders  stand  es  um  die  Beteiligung  mit 
Geldeinlagen)  derogierte  im  Allgemeinen  in  Frankreich.  Doch  gab  es 
Ausnahmen,  namentlich  im  Süden.  So  finden  wir  den  Adel  massen¬ 
haft  beteiligt  (auch  als  genannte  Gesellschafter)  in  den  Korallen- 
Kompagnien  Südffankreichs  im  16.  Jahrhundert.  Paul  Mas  so  n,  Les 
compagnies  du  Corail  (1908),  19  ff. 

3.  Deutschland:  Die  Eisen- und  Kupferindustrie  in  Deutsch¬ 
land  verdankt  an  vielen  Orten  ihre  erste  Ausbildung  in  kapitalistischem 
Geiste  unternehmungslustigen  Grundherren.  So  sehen  wir  die  Grafen 
Stolberg  im  16.  Jahrhundert  eifrig  bei  der  Förderung  der  Hüttenindustrie, 
der  Gießerei  usw.  tätig;  Graf  Wolfgang  legt  im  16.  Jahrhundert  die 
Hütte  zu  Königshof  an ,  machte  Ilseburg  zu  einem  Mittelpunkte  der 
Eisenindustrie,  errichtet  daselbst  die  erste  Messinghütte  usw.  Mit  ihm 
wetteifert  der  benachbarte  Graf  Julius  von  Braunschweig-Lüneburg. 
Ein  besonders  lehrreiches  Beispiel  sind  die  Gittelder  Hütten  am  Harz, 
für  die  wir  die  Rechnungen  vom  Jahre  1573  bis  1849  besitzen.  Im 


862  Achter  Abschnitt:  Die  Entstehung  der  Unternehmerschaft 

Archiv  des  Oberbergamts  zu  Klausthal.  Auszüge  daraus  macht  L.  Beck, 
Geschichte  des  Eisens  2,  152  ff. 

Über  die  Unternehmertätigkeit  der  Braunschweiger  Grafen  und 
Herzoge  unterrichtet  gut  E.  Wilczek,  Beiträge  z.  Gesell,  d.  Berg- 
und  Hüttenbetriebs  im  Unterharz  (Sammlung  berg-  und  hüttenmänni¬ 
scher  Abh. ,  Heft  10.  1897),  S.  8  if.  Ygl.  jetzt  Möllenberg,  Die 
Eroberung  des  Weltmarktes  durch  das  Mansfelder  Kupfer,  19. 

Diese  „Grundherren“  waren  kleine  Fürsten  und  könnten  ebenso¬ 
gut  als  Beispiele  fürstlicher  als  grundherrlicher  Unternehmertätigkeit 
gelten.  Nur  werden  sie  besser  unter  den  „Grundherren“  abgehandelt, 
weil  über  ihr  Unternehmertum  vielmehr  die  eigene,  persönliche  Ver¬ 
anlagung  entschied  als  beim  Monarchen  größerer  Staaten,  bei  dem  der 
Staat  (vertreten  durch  seinen  Beamtenapparat)  eine  überindividuelle 
Instanz  darstellte,  die  unabhängig  von  den  persönlichen  Neigungen  des 
Herrschers  ihre  gleichbleibende  Richtung  einliält.  Aber  bei  den  kleineren 
Fürsten  war  es  in  der  Tat  rein  persönliche  Initiative,  die  sie  in  die 
Bahnen  des  geschäftlichen  Unternehmertums  hineinriß. 

Ein  besonders  lehreiches  Beispiel  hierfür  bietet  der  bekannte  Herzog 
Julius  zu  Braunschweig  und  Lüneburg,  der  Begründer  zahlreicher  In¬ 
dustrien  in  seinem  Ländchen.  Von  ihm  hat  eine  vortreffliche  Charakte¬ 
ristik  Paul  Zimmermann  in  den  Hansischen  Geschichtsblättern 
1904/05,  Seite  83  ff.  entworfen.  Wir  erfahren,  daß  der  Herzog  von 
Natur  schwächlich ,  verkrüppelt ,  zum  Kriegsdienst  ungeeignet  war, 
aber  auch  seinen  Neigungen  nach  aus  dem  Rahmen  seiner  kriegerischen 
Familie  völlig  herausfiel.  Als  seine  Stiefmutter,  die  Herzogin  Sophie 
ihn  ermahnte,  zu  seiner  Erholung  —  er  arbeitete  immer  —  gelegent¬ 
lich  auch  des  Waidwerks  zu  pflegen,  antwortete  er:  „Wie  andere 
Chur-  und  Fürsten  meistenteils  dem  Jagdteufel  anhängig,  also  hats 
mit  uns  die  Gelegenheit,  wie  E.  G.  u.  L.  zum  Theil  wissen,  daß  wir 
dem  Bergteufel  nachhängen.“  A.  a.  0.  S.  46.  Ebenso  begabt  erwies 
er  sich  als  Verwerter  seiner  Erzeugnisse:  „er  war  ohne  Zweifel  der 
bedeutendste  Kaufmann  in  seinem  Gebiet“  (S.  52).  Er  erwog  allen 
Ernstes,  selbst  ein  Schiff  auszurüsten,  das  seine  Güter  bis  nach  Narva 
in  Rußland  führen  und  dort  andere  Ware  dafür  in  Tausch  nehmen 
sollte  (S.  54).  Er  kanalisierte  und  korrigierte  die  Oker  und  andere 
seiner  Flüßchen. 

Daß  die  schlesische  Montanindustrie  bis  in  unsere  Zeit  hinein  in 
den  Händen  der  Grundherren  geruht  hat,  ist  bekannt. 

Von  243  Werken  gehörten  (1785)  in  Schlesien: 

20  dem  Könige, 

14  dem  Herzog  von  Oels,  dem  Fürsten  Anhalt-Cöthen,  dem  Fürsten 
von  Lobkowitz, 

191  „den  anderen  Gräfl.  Freikerrl.  und  adligen  Gutsbesitzern“ 

2  der  Breslauer  Kaufmannschaft, 

2  den  gräfl.  Stiften. 

Schles.  Prov. -Blätter  3  (1786),  206. 

Auch  andere  Industrien  verdanken  in  Deutschland  namentlich  den 
kleineren  Fürsten  ihre  Entstehung  oder  Förderung.  So  die  Glas¬ 
industrie,  die  Porzellanindustrie  u.  a.  Wilhelm  St.ieda 


Siebenundfünfzigstes  Kapitel:  Die  adeligen  Grundherren  gß3 

hat  uns  anschaulich  die  Begründung  der  Porzellanindustrie  im  Kloster 
Veilsdorf  i.  Thür.  (1760)  durch  Prinz  Friedrich  Wilhelm  Eugen  von 
Hildburghausen  geschildert.  Der  Prinz  war  ein  Gegenstück  zu  dem 
Braunschweiger  Julius:  als  geschickter  Feuerwerker  und  Mechaniker 
geschätzt,  ein  unternehmender  Mann,  immer  in  Geldnot  ohne  ver¬ 
schwenderisch  zu  sein,  genug  „Bürger“,  um  den  Wert  kapitalistischer 
Anlagen  zu  würdigen.  Siehe  W.  Stieda,  Die  Anfänge  der  Porz.- 
Ind.  auf  dem  Thüringer  Walde  (1902),  176  ff. 

Auch,  an  der  Begründung  der  Textilindustrie  war  der  Adel 
beteiligt.  Zahlreiche  Beispiele  bei  Gothein,  WG.  des  Schwarzwaldes 
1,  751.  762.  791  u.  ö. 

Aber  auch  dem  überseeischen  Handel,  der  ja  immer  noch  ein 
halbabenteuerliches  Gepräge  trug,  wandte  sich  der  deutsche  Adel  zu. 
Einen  typischen  Vertreter  solcher  Art  merkantil  interessierter  Grund¬ 
herren  schildert  Diet.  Kohl,  Überseeische  Handelsunternehmungen 
oldenburgischer  Grafen  im  16.  Jahrhundert  in  den  Hans.  Gesell. -Blatt. 
16  (1910),  417  ff.  Sie  organisieren  Islandfahrten. 

4.  Österreich:  Die  Gewerken  am  Bergbau  sind  ursprünglich  oft 
nur,  während  der  Übergangszeit  zum  kapitalistischen  Betriebe  (16. 
Jahrhundert)  vorwiegend,  Adlige.  So  finden  wir  unter  den  „Herren 
und  Gewerken  von  der  Kais.  Geb.  zu  St.  Kathrein“  (Quecksilberberg¬ 
werk  zu  Idria)  von  1520  —  26:  Gabriel  Graf  zu  Ortenburg,  Bernard  von 
Cles,  Kardinalbischof  von  Trient,  Hans  v.  Auersberg,  Herrn  zu  Schön¬ 
berg,  Sigrn.  von  Dietrichstein,  Freiherrn  zu  Hollenberg  und  Finkenstein. 

Urkunde  von  1536:  die  HH. ; 

Hans  Jos.  v.  Egg 

Franz  von  Lamberg  zu  Stein,  ferner: 

Niclas  Räuber  Freiherr  zu  Plankenstein 
Niclas  Freiherr  von  Thurn. 

Schrift  von  1557  erwähnt: 

Anton  Freiherr  von  Thurn 
Wolf  Freiherr  von  Auersberg 
Leonh.  von  Siegersdorfer. 

Urkunden  von  1569  und  1574: 

Hans  von  Gallenberg 
Franz  Wagen  von  Wagensberg 
Georg  Graf  von  Thurn  zu  Kreuz 
Herward  von  Hohenburg  usw. 

Peter  Hitzinger,  Das  Quecksilber-Bergwerk  Idria  von  seinem 
Beginn  bis  zur  Gegenwart.  Nach  Sehr,  des  Bergwerksarchivs  usw. 
(1860)  S.  13/14. 

Ebenso  bewahrt  die  Eisenindustrie  in  Steiermark  lange  Jahr¬ 
hunderte  hindurch  ihren  grundherrlichen  Charakter.  Beck,  Gesell, 
des  Eis.  2,  620  ff. 

Ueber  den  grundherrlichen  Bergbau  in  Böhmen  (Grafen  Schlick, 
die  Begründer  Joachimsthals,  Wilh.  v.  Pernstein,  die  Rosenbergs  u.  a.) : 
A.  Salz,  Gesell,  der  böhmischen  Industrie  (1913),  62  ff.  405  und  öfters. 


8C4  Achter  Abschnitt:  Die  Entstehung  der  Unternehmerschaft 


Ein  reiches  Quellenmaterial  und  eine  Reihe  tüchtiger  Bearbeitungen 
gestatten  uns  in  den  Werdegang  gerade  der  böhmischen  Industrie 
wertvolle  Einblicke.  So  sehen  wir  auch  die  böhmischen  Grundherrn 
besonders  deutlich  an  der  Arbeit,  sehen  wie  viel  Unternehmungsgeist 
und  Tatkraft  in  ihnen  wirksam  geworden  ist.  Ein  ganz  hervorragend 
tüchtiger  Unternehmer  war  Joh.  Jos.  Graf  von  Waldstein,  der  Be¬ 
gründer  der  Oberleutensdorfer  Tuchfabrik  (1715).  Er  zieht  Holländer 
und  Engländer  auf  seine  Herrschaft,  die  in  der  Gegend  noch  nie  ge¬ 
sehene  Werkzeuge  mitbringen  und  die  Fabrik  ins  Werk  seften.  Die 
Bewohner  müssen  erst  zur  Arbeit  herangebildet  werden.  Hinter  allem 
steht  als  treibende  Kraft  der  Graf,  „der  keine  Mittel  und  keine  Kosten 
scheute11.  Seine  Anlagen,  die  auch  von  den  Nachfolgern  gepflegt 
wurden,  gediehen.  L.  Schlesinger,  Zur  Geschichte  der  Industrie 
in  Böhmen  in  den  Mitteilungen  des  Ver.  f.  d.  Gesch.  d,  Deutschen 
in  Böhmen  3,  134  ff. 

Für  die  Entwicklung  der  Großindustrie ,  namentlich  der  Textil- 
industrie  in  Böhmen  während  des  17.  Jahrhunderts  wird  es  geradezu 
entscheidend,  daß  sich,  angeregt  durch  das  Beispiel  des  Konzefi- 
präsidenten  Grafen  Jos.  Kinsky,  eine  Reihe  von  Aristokraten  zur  Ein¬ 
führung  von  Manufakturen  auf  ihren  Gütern  entschloß.  Schon  1762 
konnte  Kinsky  der  Kaiserin  die  „erfreuliche  Nachricht“  geben,  daß 
verschiedene  Herrschaften  in  Böhmen,  darunter  Graf  Waldstein,  Fürst 
Lobkowitz ,  Graf  Bolza,  „auch  Neigung  bezeigten“,  das  Manufaktur¬ 
wesen  auf  ihren  Besitzungen  zu  fördern.  Akten  bei  Karl  Pfibram, 
Geschichte  der  österreichischen  Gewerbepolitik  1,  127. 

Ein  vom  Grafen  Kinsky  eingesendetes  Verzeichnis  der  von  dem 
Adel  gegründeten  Fabriken  aus  dem  Anfang  der  1760  er  Jahre  siehe 
bei  Ad.  Beer,  Stud.  z.  Gesch.  der  VW.  unter  Maria  Theresia,  im 
Archiv  für  österr.  Gesch.  81,  101. 

5.  Rußland:  Die  Anfänge  der  modernen  Industrie  in  der  petrini- 
schen  Zeit  sind  nicht  adlig;  dann  aber:  seit  der  zweiten  Hälfte  des 
18.  Jahrhunderts  geht  die  Industrie  wieder  mehr  in  den  Besitz  des 
Adels  über.  (Grund:  nur  der  Adel  behält  das  Recht,  Leibeigene 
als  Fabrikarbeiter  zu  beschäftigen,  den  Kaufleuten  wird  ihr  Ankauf 
verboten.) 

1773  produzieren  die  dem  Adel  gehörigen  Fabriken  für  1041  000  Rb. 
von  3  548  000  Rb.  insgesamt. 

Von  40  Tuchfabriken  gehören  ihm  19; 

Anfang  des  19.  Jahrhunderts  (1809)  gehören  von  98  Tuchfabriken, 
die  ihre  Produkte  für  die  Regierung  lieferten: 

12  Kaufleuten 
19  dem  hohen  Adel 
55  einfachen  Adligen 
12  Ausländern  und  Raznocinci. 

M.  v.  Tugan-Baranowski,  Die  russ.  Fabrik,  35. 

6.  In  Schweden  waren  früher  viele  Gruben  Nebenbetriebe  von 
Gütern;  der  Gutsherr  beschäftigte  die  Bergleute  wie  seine  Statare- 
Aibeiter  (landwirtschaftliche  Deputanten).  Noch  heute,  nachdem  Gruben 


Siebenundfiinfzigstes  Kapitel :  Die  adeligen  Grundherren  gß5 

und  Landwirtschaft  getrennt  sind,  lebt  das  alte  Abhängigkeits Verhältnis 
in  Dannemora  fort.  Gustaf  af  Gejerstam,  Arbetarnes  ställning 
vid  fyra  svenska  grufoor.  Ich  verdanke  den  Hinweis  einem  Mitgliede 
meines  Seminars,  Herrn  Dr.  Bulle. 

7.  Kolonien:  Gerade  der  Kolonialkapitalismus  ist  in  weitem  Um¬ 
fange  als  das  Werk  adliger,  häufig  noch  ganz  feudal  orientierter  Unter¬ 
nehmer  zu  betrachten,  die  hier  fast  als  reine  Eroberer  erscheinen. 
Das  gilt  schon  von  den  „Franken“,  die  die  Levante  ausbeuteten.  Das 
gilt  von  den  Spaniern  und  Portugiesen,  die  sich  im  16.  Jahrhundert 
in  Amerika  festsetzten  und  sich  hier  völlig  als  Grundherren  betrachte¬ 
ten  :  die  Bezeichnungen  encomiendas  und  repartiementos ,  Kapitanien 
und  Sesmarias  deuten  es  schon  an.  Siehe  im  übrigen  die  Darstellung 
im  27.  Kapitel  des  1.  Bandes. 

Das  gilt  aber  endlich  auch  von  den  ersten  Unternehmern ,  denen 
die  Südstaaten  Nordamerikas  zur  Ausbeutung  übertragen  wurden. 
Wir  erinnern  uns  des  Lord  Delaware,  der  der  Hauptbeteiligte  an  der 
Virginia  Co.  of  London  (gegründet  1606)  war,  an  Lord  Baltimore,  den 
„Begründer“  von  Maryland,  dessen  gewinnsüchtige  Absichten  heute  nicht 
mehr  bezweifelt  werden;  wir  denken  an  die  acht  Eigentümer,  denen 
1663  das  Land  zwischen  Virginia  und  Florida  („Carolina“)  übertragen 
wurde  und  finden  unter  diesen  den  Herzog  von  Albermale,  den  Earl 
von  Clarendon,  Sir  William  Berkeley  und  vor  allem  Lord  Shaftesbury. 
J.  C.  Ballagh,  White  servitude  in  Virginia  (1895),  17;  E.  Jrv. 
Mc.  Cormac,  Withe  servitude  in  Maryland  (1904),  11  ff.  Zur 
raschen  Orientierung  eignet  sich:  Heg.  W.  Jeffrey,  The  History 
of  the  13  colonies  of  North  America  1908;  über  die  Besiedelung 
Carolinas  daselbst  p.  64. 


Sombart,  Der  moderne  Kapitalismus.  I. 


55 


866 


Achtundfüiifzigstes  Kapitel 

Die  Bürger 

Bürgerliche  Unternehmer  nenne  ich  alle  diejenigen,  die  von 
unten  kommen  und  sich  zu  Leitern  kapitalistischer  Unternehmungen 
aufschwingen,  kraft  ihres  guten  Bürgertums.  Es  sind  gewerbliche 
Kleinproduzenten,  Krämer,  bäuerliche  Wirte,  die  „sich  empor¬ 
arbeiten.“  Sie  stellen  also  als  kapitalistische  Unternehmer  eine 
Auslese  aus  dem  Handwerkertum  dar. 

Was  sie  hinauf-  und  aus  der  Masse  ihrer  Genossen  hinaus¬ 
gehoben  hat,  ist  zunächst  ihre  wirtschaftliche  (bürgerliche) 
Tugendhaftigkeit:  sie  sind  fleißiger,  sparsamer,  rechnen  besser 
als  die  andern.  Ihre  Schutzpatrone  sind  L.  B.  Alberti  und  Ben¬ 
jamin  Franklin,  die  Kanonisatoren  der  Lehre  von  der  „heiligen 
Wirtschaftlichkeit“,  der  Sancta  masserizia1. 

Aber  mit  Fleiß  und  Sparsamkeit  —  industry  and  frugality  — 
diesen  beiden  Kardinaltugenden  des  guten  Hausvaters  wird  man 
noch  kein  Leiter  einer  kapitalistischen  Unternehmung,  zumal 
nicht  in  den  Frühzeiten  des  Kapitalismus,  wo  erst  die  Ziele  auf¬ 
gesteckt,  die  Wege  gebahnt  werden  müssen.  Wer  vom  Hand¬ 
werker  zum  kapitalistischen  Unternehmer  aufsteigen  will,  muß 
auch  Unternehmereigenschaften  besitzen.  Aus  der  Masse  gleich¬ 
gestellter  Genossen  löst  sich  nur  der  weiterblickende,  aber 
gleichzeitig  auch  tatkräftige  Mann  los;  „wagende“  Kaufleute, 
„wagende“  Handwerker  sind  es  immer,  die  die  Stellen  der  neuen 
Wirtschaftssubjekte  einnehmen.  Dieser  Wagemut  ist  es,  der  sie 
mit  den  vorher  gekennzeichneten  Unternehmertypen  verbindet. 
Aber  was  sie  nun  ebenso  sehr  von  diesen  unterscheidet,  ist  die 
starke  Betonung  der  händlerischen  Seiten  des  Unternehmertums. 
Sie  kommen  empor  vor  allem,  weil  sie  begabte  „Händler“  sind. 
Ihre  Stärke  beruht  in  ihrer  Geschicklichkeit  beim  Abschluß  von 
Verträgen:  mit  den  Lieferanten,  mit  den  Arbeitern,  mit  den 
Kunden.  Für  sie  tritt  damit  das  Geld  erst  völlig  in  den  Mittel¬ 
punkt  ihrer  wirtschaftlichen  Tätigkeit :  vom  Gelde  kommts,  zum 


1  Siehe  die  ausführliche  Darstellung  in  meinem  Bourgeois,  S.  135  ff. 


Achtuudfünfzigstea  Kapitel:  Die  Bürger  8G7 

Gelde  strömts.  Im  Geld©  erblicken  sie  erst  den  eigentlichen,  ja 
den  einzigen  Machtfaktor ,  da  sie  andere  Macht  als  die  Reich  - 
tmnsmacht  nicht  kennen.  Durch  sie  wird  die  völlige  Durch¬ 
dringung  des  Wirtschaftsprozesses  mit  dem  Geldgedanken  erst 
vollendet.  Sie  sind  recht  eigentlich  erst  kapitalistische 
Unternehmer ,  weil  für  sie  das  (Geld-)  Kapital  die  unerläßliche 
Voraussetzung  ihrer  Wirksamkeit  als  Unternehmer  wird.  Ganz 
gewiß  werden  sie  nicht  deshalb  Unternehmer,  weil  sie  Geld  haben ; 
das  wäre  eine  schlimme  mechanistische  Annahme.  Sondern  Unter¬ 
nehmer  werden  auch  sie,  weil  sie  kraft  ihrer  persönlichen  Eigen¬ 
schaften  dazu  befähigt  sind.  Aber  ihr  Unternehmertum  ist  doch 
weit  enger  an  den  Geldbesitz  gebunden ,  als  das  der  andern 
Typen.  Durch  sie  gewinnt  der  bürgerliche  Reichtum ,  dessen 
Entstehung  wir  verfolgt  haben,  seine  Bedeutung  für  den  Aufbau 
der  kapitalistischen  Volkswirtschaft:  sie  schlagen  das  Feuer  aus 
dem  Stein.  Bürgerlicher  Reichtum,  sahen  wir,  braucht  ganz 
und  garnicht  sich  in  Kapital  zu  verwandeln.  Ein  sehr  beträcht¬ 
licher  Teil  des  bürgerlichen  Reichtums,  der  in  der  Frühzeit  des 
Kapitalismus  entstanden  ist,  ist  für  diesen  verloren  gegangen, 
weil  er  in  die  Hände  verschwenderischer,  seigneurial  veranlagter 
Menschen  gelangte.  Nur  derjenige  bürgerliche  Reich  turn ,  der 
auch  wirklich  von  „Bürgern“  erworben  wird,  konnte  seine  Um¬ 
wandlung  in  Kapital  erleben,  und  diejenigen,  unter  deren  Füh¬ 
rung  er  seine  Rolle  im  Wirtschaftsleben  zu  spielen  berufen  war, 
das  waren  eben  die  bürgerlichen  Unternehmer,  die  uns  hier  be¬ 
schäftigen.  Nicht  daß  sie  immer  selbst  Geld  genug  besaßen, 
(obwohl  wir  das  in  sehr  zahlreichen  Fällen  annehmen  dürfen), 
um  eine  kapitalistische  Unternehmung  ins  Leben  zu  rufen:  es 
war  doch  immer  wieder  bürgerlicher  Reichtum,  den  sie  in  Kapital 
verwandelten,  indem  sie  sich  mit  andern  Bürgern  zu  gemeinsamer 
Tätigkeit  vereinigten,  oder  fremde  Gelder  in  ihren  eigenen  Unter¬ 
nehmungen  mitwerben  ließen1. 

Wir  finden  den  bürgerlichen  Unternehmer  in  allen  Zweigen 
des  Wirtschaftslebens  an  der  Arbeit.  Doch  sind  die  Formen, 
in  denen  er  sein  Werk  vollbringt,  sehr  verschieden,  so  daß 
mannigfache  Typen  kapitalistischer  Unternehmungen  gerade  durch 
ihn  ins  Leben  gerufen  werden:  wir  werden  ihren  inneren  Bau 
später  noch  (im  zweiten  Bande)  zu  untersuchen  haben,  hier  ver- 


1  Über  die  verschiedenen  Formen  der  Kapitalbildung  unterrichtet 
der  zweite  Band. 


868 


Achter  Abschnitt:  Die  Entstehung  der  Unternehmerschaft 

folgen  wir  nur  die  verschiedene  Gestaltung  des  Unternehmer¬ 
tums  selbst. 

Der  erste  Weg,  auf  dem  der  bürgerliche  Mensch  zum  kapita¬ 
listischen  Unternehmer  wird,  führt  durch  den  von  ihm  ge¬ 
leiteten  Handwerksbetrieb  hindurch:  dieser  wird 
allmählich  ausgeweitet,  bis  er  zu  einer  kapitalistischen  Unter¬ 
nehmung  sich  umgebildet  hat:  das  kann  bei  allen  Arten  von 
„Handwerk“  geschehen:  beim  bäuerlichen,  beim  gewerblichen, 
beim  merkantilen,  beim  Transporthandwerk:  es  entsteht  in  der 
ersten  Generation  das,  was  ich  den  kleinkapitalistischen  Unter¬ 
nehmer  nenne. 

Dieser  Fall  einer  allmählichen,  schrittweisen  Vergrößerung, 
bei  der  unmerklich  die  eine  Wirtschaftsform  in  die  andere  übei 
geht,  bis  schließlich  die  „Quantität  in  die  Qualität  umschlägt  , 
ist  sicher  ein  sehr  häufiger  gewesen  (wie  er  ja  heute  noch  täglich 

vorkommt).  Ein  großer  Teil  der  handwerksmäßigen  „negiotia- 
tores“  ist  im  Laufe  der  Zeit  zu  kapitalistischen  Unternehmern 
geworden:  das  sind  die  florentiner  Wollhändler,  die  englischen 
tradesmen,  die  französischen  marchands,  die  jüdischen  Schnitt¬ 
warenhändler. 

Ebenso  häufig  begegnen  wir  dem  emporgekommenen  gewerb¬ 
lichen  Handwerker.  Es  ist  derjenige  Unternehmer,  den  die 
Engländer  „Manufacturer“,  die  Franzosen  „fabricant“  (im  Gegen- 

o  77 

satz  zu  „entrepreneur“)  nennen. 

In  wichtigen  Industrien,  wie  der  Maschinenindustrie,  hat  dieser 
Typus  geradezu  die  Eegel  in  den  Anfängen  der  kapitalistischen 
Entwicklung  gebildet. 

Besonders  lehrreich  ist  die  Geschichte  der  Berliner  Maschinen¬ 
industrie.  Über  sie  unterrichtet  in  anschaulicher  Weise  die  kleine 
Studie  von  Hans  Dominik,  Die  Anfänge  der  Berliner  Maschinen¬ 
industrie,  im  Großberliner  Kalender  1915.  Die  Haupttypen  der  Hand¬ 
werker-Industriellen  sind  folgende : 

1.  Freund,  geb.  1798,  erlernt  das  Mechanikerhandwerk,  macht 
sich,  von  einem  Geldgeber  unterstützt,  1812  in  der  Mauerstraße  selb¬ 
ständig  „und  beginnt  mit  gutem  Erfolge  und  unter  geschickter  Be¬ 
nutzung  eigener  Ideen  und  Erfindungen  Dampfmaschinen  zu  bauen  ; 

2.  F.  A.  J.  Ege  11s,  geb.  1788,  hat  das  Schlosserhandwerk  erlernt 
und  gründet,  nach  längeren  Keisen  in  England,  1821  in  Berlin  eine 
Eisengießerei.  E.  fängt  an,  nach  eigenen  Ideen  zu  arbeiten,  ohne 
englische  Vorlagen  nachzuahmen; 

3.  Aug.  Borsig,  geb.  1804  als  Sohn  eines  Zimmerpoliers,  erlernt 
das  Zimmerhandwerk.  Er  studiert  von  1821 — 1825  auf  dem  von 
Beuth  begründeten  Gewerbeinstitut,  tritt  1825  in  die  Egellsche  Fabrik 


Achtundfünfzigsteß  Kapitel:  Die  Bürger 


869 


ein,  wird  1827  daselbst  als  „Factor“  angestellt  und  giündet  1837  mit 
einer  in  jener  Stellung  ersparten  Summe  von  10  000  Talern  vor  dem 
Oranienburger  Tor  eine  Fabrik,  in  der  er  in  einfachen  Bretterbuden 
mit  den  primitivsten  Mitteln  Gießerei  und  Maschinenbau  betreibt; 

4.  Joh.  Friedr.  Ludw.  Wo  liiert,  geb.  1797,  erlernt  die 
Tischlerei,  tritt  1818  bei  Egells  ein,  wird  1837  Angestellter  in  der 
Borsigschen  Fabrik  und  macht  sich  später  ebenfalls  selbständig. 

(Hoppe  &  Schwartzkopff  fangen  schon  als  Ingenieure  an.) 

Wir  finden  den  Handwerkertypus  aber  in  fast  allen  Industrien 
zerstreut.  Etwa  in  der  Zuckersiederei,  wo  der  „Meisterknecht“ 
der  größeren  Fabriken,  sieb  zum  selbständigen  Unternehmer 
aufschwingt1.  Oder  in  der  Metallgewinnungsindustrie. 

So  schreibt  von  den  Aachener  Ivupfermeistern,  den  Inhabern  der 
Kupferhöfe,  der  Chronist  (vom  17.  Jahrhundert):  „Diss  Handwerk 
hab  ich  anfangs  getaufft  einen  Handel,  dieweil  die  Knecht  die  Arbeit 
allein  thun,  und  die  Meister  nichts  mehr  darzu  thun  können,  als  auss- 
und  inwogen  und  Buch  halten,  dahero  auch  so  wol  Frauen  als  die 
Männer  diesen  Handel  treiben  können.“  Noppius,  Arch.  Chr. 
(1623)  I,  111,  bei  R.  A.  Peltzer,  Gesch.  d.  Messing-Ind.,  in  der 
Ztschr.  d.  Aach.  Gesch.  Yer.  30,  315. 

Auch  in  der  Textilindustrie  hat  der  kleinere  und  größere 
„Tuchfabrikant“  eine  Rolle  gespielt. 

Der  Typus  ist  in  allen  Ländern  gleichmäßig  verbreitet  ge¬ 
wesen.  In  großen  Städten  fand  man  ihn  besonders  häufig.  Für 
Berlin  behauptet  ein  guter  Kenner  geradezu:  „In  der  Haupt¬ 
sache  erwuchs  die  Großindustrie  aus  dem  Handwerk,  indem 
tüchtige,  intelligente  Meister,  die  durch  die  vorzügliche  Schule 
des  Kgl.  Gewerbeinstituts  gegangen  waren,  sich  im  Ausland  und 
namentlich  in  Paris  die  nötigen  technischen  Fähigkeiten  vollends 
angeeignet  und  nach  der  Heimat  zurückgekehrt,  Fabriken  grün¬ 
deten.“  2  Irgendwelche  annäherungsweise  Schätzung  des  nume¬ 
rischen  Anteils  ist  selbstverständlich  bei  diesem  Typus  ebenso' 
unmöglich  wie  bei  irgendeinem  der  andern. 

Endlich  finden  wir  in  manchen  Ländern,  wie  z.  B.  England, 
unter  den  landwirtschaftlichen  Unternehmern  manch 
einen,  der  auf  einem  Bauernhof  groß  geworden  war,  der  selbst 
oder  dessen  Yater  noch  selbst  den  Pflug  geführt  hatte.  Die 
ganze  Generation  der  mittelgroßen  kapitalistichen  Pächter  in 
England,  die  während  des  18.  Jahrhunderts  emporkommt,  wird 
zum  großen  Teil  aus  dem  Bauernhandwerk  hervorgegangen  sein. 

1  Anschaulich  geschildert  von  J.  G.  Büsch,  Über  die  Hamburger 
Zukkerfabriken  (1790),  9  f. 

2  O.  Wiedfeldt,  Die  Berliner  Industrie  (1899),  79, 


870  Achter  Abschnitt:  Die  Entstehung  der  Unternehmerschaft 

Der  andere  Weg  zum  bürgerlichen  Unternehmertum  ist  der 
„Verlag“,  das  heißt  (wie  wir  noch  genauer  sehen  werden), 
diejenige  Organisationsform  der  Produktion,  bei  der  gewerbliche 
Arbeiter  durch  reiche  Leute  mit  Vorschüssen  ausgestattet  werden, 
bis  sie  zu  reinen  Lohnarbeitern  in  einer  kapitalistischen  Unter¬ 
nehmung  geworden  sind. 

Zum  Teil  waren  es  reichere  „Kollegen“,  die  zu  Brot¬ 
gebern  der  verarmten  Handwerker  sich  aufschwangen. 

Um  nur  ein  paar  frühe  Beispiele  anzuführen : 

Die  Arte  della  Lana  in  Pisa  verbietet  im  14.  Jahrhundert,  dem 
„Arbeiter“  mehr  als  25  Pfund  in  der  Stadt,  50  Pfund  in  der  Land¬ 
schaft  anzuvertrauen.  Kein  Lanaiuolo  der  Stadt  Pisa  soll  eine  W erk- 
statt  errichten,  in  der  er  gegen  Löhne  (ad  pregio)  weben  läßt,  außer 
seiner  eigenen. 

In  der  Zunft  der  Wollscherer  finden  wir  (1537)  in  England  zwei 
Darlehen  von  100  und  50  j£,  die  reichere  an  ärmere  Handwerker  dar- 
leilien.  Eine  Keihe  von  Streitfällen  betrifft  diese  Darlehen,  aus  denen 
wir  entnehmen  können,  daß  die  ärmeren  Meister  ihre  Schuld  abarbeiten 
mußten.  „Davy  Ellys  had  commandement  to  worke  with  Humphrey 
Hitchcock  or  with  Thomas  Saunders  untyll  such  tyme  as  they  be  both 
satisfied  of  their  debts  which  is  due  to  theym  by  the  said  Ellys“. 
Aus  Clothworkers  Court  Book,  July  12,  34  Henry  VIII,  beiUnwin,57. 

1548  verbietet  ein  englisches  Gesetz  den  reichen  Meistern  der 
Lederzünfte,'  die  ärmeren  mit  Leder  zu  versorgen;  1549/50  wird  das 
Gesetz  aufgehoben  mit  der  Begründung:  ohne  dem  ginge  es  nicht. 
„Most  of  the  artificers  are  poor  men  and  unable  to  provide  such  störe 
of  materials  as  would  serve  their  turn“.  3  and  4  Edw.  VI  c.  6. 
Ähnliche  Bestimmungen  im  Baugewerbe.  Zitiert  bei  Unwin,  56. 

In  Frankreich  dasselbe  Bild  um  dieselbe  Zeit:  arme  Hutmacher 
.in  Abhängigkeit  von  reichen.  „Les  maitres  qui  n’auront  moyen  de 
tenir  boutique  ouverte  et  qui  travailleront  chez  les  autres  nies  ne 
pourront  sortir  de  la  maison  du  me  oü  ils  travailleront  pour  aller 
‘  travailler  ailleurs  quilz  ne  l’en  ayent  averty  quinze  jours  auparavant 
soutz  les  peines  ci-dessus  dernieres  dictes“.  Art.  31  des  Statuts 
der  Hutmacher  von  Bourges.  Bei  Levasseur,  Hist.  2,  163. 

Aber  viel  häufiger  waren  es  Kaufleute,  meist  Zwischen¬ 
händler,  die  zu  Verlegern  der  Plandwerker  wurden.  Dieser  Vor¬ 
gang  ist  so  häufig,  daß  er  fast  als  der  normale  erscheint:  „ce 
sont  ordinairement  (!)  les  marchands  en  gros,  qui  entreprennent 
les  manufactures“,  meint  kategorisch  Savary h  Sein  häufiges  Vor¬ 
kommen  hat  sogar  die  Blicke  vieler  Historiker  so  sehr  geblendet, 
daß  sie  das  Problem  der  Entstehung  kapitalistischer  Produktions¬ 
unternehmungen  in  ein  allmähliches  „Übergreifen  des  Handels- 


1  Savary,  Parf.  negoc.  1,  14. 


Achtundfünfzigstes  Kapitel:  Die  Bürger 


871 


kapitals“  in  die  Produktionssphäre  simplifizieren  (Marx!).  Davon 
ist  nun  natürlich  keine  ßede,  wie  dieses  Buch  zu  genügend  deut¬ 
licher  Erkenntnis  bringt.  Aber  daß,  wie  gesagt,  die  Fälle  häufig 
waren,  in  denen  Warenhändler  zu  Leitern  von  Produktions¬ 
unternehmungen  wurden,  unterliegt  keinem  Zweifel.  Diejenigen 
Gewerbe,  in  denen  dieser  Vorgang  besonders  häufig  sich  ab¬ 
spielte,  sind: 

1.  (vor  allem!)  die  Textilindustrie,  wo  in  sämtlichen  Ländern 
sicher  seit  dem  14.  Jahrhundert,  vielleicht  schon  früher,  die  Mit¬ 
glieder  der  Calamala  -  Zunft,  die  Gewandschneider,  die  Clothiers, 
die  marchands  drapiers,  das  heißt  also :  die  Tuchhändler  (ebenso 
wie  die  Seidenwarenhändler)  auf  der  einen  Seite,  die  Garnhändler 
auf  der  andern  Seite,  Handwerker  verlegen; 

2.  der  Bergbau  und  das  Hüttenwesen,  soweit  sie  nicht  grund¬ 
herrliches  Gepräge  beibehielten;  hier  sind  die  Verleger  die  „Erz¬ 
käufer“,  die  Eisenhändler  usw. ; 

3.  die  Galanteriewarenbranche  (Paternostermacher!): 

4.  die  Schneiderei:  mindestens  im  17.  Jahrhundert  haben 
sich  in  allen  größeren  Städten  aus  den  Kleiderhändlern  „Kon¬ 
fektionäre“  entwickelt. 

Bleibt  endlich  die  Neubegründung  großkapitalistischer 
Unternehmungen  auf  dem  Gebiete  des  überseeischen  Handels 
oder  der  gewerblichen  Produktion  oder  des  Transportgewerbes, 
an  denen  wir  ebenfalls  bürgerliche  Unternehmer  beteiligt  finden. 
Hier  bekommen  sie  häufig  ein  ganz  bestimmtes  Gepräge,  das 
sie  von  den  bisher  gekennzeichneten  Typen  des  bürgerlichen 
Unternehmertums  deutlich  unterscheidet  und  einen  ganz  neuen, 
eigenartigen  Typus  kapitalistischer  Unternehmer  entstehen  läßt, 
dem  wir  unsere  besondere  Aufmerksamkeit  schenken  müssen: 
das  folgende  Kapitel  handelt  von  ihm. 


872 


Neunundfünfzigstes  Kapitel 

Die  Gründer 

Auch  derjenige  Unternehmertyp,  den  ich  als  den  der  „Gründer“ 
bezeichne,  kann  seine  Ahnenreihe  bis  in  eine  frühe  Zeit  verfolgen. 
Seine  Stammväter  sitzen  in  der  edlen  Zunft  der  Projektanten 
oder  Projektenmacher:  jener  erfindungsreichen  Köpfe,  deren 
Lebenslauf  darin  bestand,  allerhand  Reform-  und  Neugestaltungs- 
pläne  zu  schmieden,  und  Fürsten,  Große,  Reiche  im  Lande  für 
ihre  Pläne  zu  gewinnen,  sie  zu  ihrer  Ausführung  zu  bewegen. 
Überall,  wo  einflußreiche  Personen  sind :  an  den  Höfen,  bei  den 
Parlamenten  begegnen  wir  solchen  Projektenmachern;  aber  auch 
auf  der  Straße,  auf  dem  Markte  stehen  sie  und  halten  ihre  Ideen 
feil.  Da  dieses  Phänomen  der  berufsmäßigen  Projekten¬ 
macher  ei  außerordentlich  wichtig  ist,  so  will  ich  einige  Einzel¬ 
heiten  über  die  Verbreitung  und  die  Eigenart  dieser  seltsamen 
Menschengattung,  die  man  schon  zu  ihrer  Zeit  „Projektanten“ 
nannte,  hier  mitteilen1. 

Schon  im  16.  Jahrhundert  tauchen  solche  Projektanten 
auf:  wir  begegnen  ihnen  damals  an  den  Höfen  der  spanischen 
Könige.  Von  einem  von  ihnen  berichtet  uns  Ranke  wie 
folgt 2 : 

„Noch  gab  es  eigentlich  keine  Wissenschaft  der  Staatswirt¬ 
schaft;  es  fehlen  selbst  die  Kenntnisse,  die  Fertigkeiten,  welche 
eine  umfassende  Verwaltung  der  Finanzen  erfordert:  es  taten 
sich  mehr  einzelne  hervor,  welche  die  Ergebnisse  ihres  Nach¬ 
denkens  als  ein  Geheimnis  betrachteten  und  nur  für  besondere 
Belohnung  mitteilen  wollten;  gleichsam  Abenteurer  und  Ver¬ 
lorene,  die  sich  den  zahlreichen  Scharen  kameralistischer  Meister 


1  Ausführlicher  ist  der  Gegenstand  von  mir  in  meinem  (Bourgeois5 
(Seite  53  ff.)  behandelt  worden.  Auf  jene  Darstellung ,  von  der  ich 
hier  nur  einen  Auszug  gebe,  sei  hier  verwiesen. 

2  Ranke,  Fürsten  und  Völker  von  Südeuropa  l3 *  (1857),  410. 

Jener  Benevento,  von  dem  Ranke  erzählt,  erschien  auch  bei  Pius  V., 

der  indes  seinen  Künsten  nicht  traute. 


Neunundfünfzigstes  Kapitel:  Die  Gründer 


873 


und  Jünger  auf  gut  Glück  vorauswagten.  Es  waren  haupt¬ 
sächlich  Florentiner.  Ein  gewisser  Benevento,  der  sich  schon 
der  Signoria  von  Venedig  angeboten,  ,ohne  das  Volk  zu  be¬ 
steuern,  ohne  eine  Neuerung  von  Bedeutung  wolle  er  ihre  Ein¬ 
künfte  beträchtlich  in  die  Höhe  bringen;  er  fordere  nichts  als 
5°/o  von  den  Vorteilen,  die  er  ihr  verschaffe1,  war  nun  zugleich 
angesehen;  Kaiser  Ferdinand  berief  ihn  an  seinen  Hof;  er  er¬ 
schien  auch  bei  Philipp.  Diesem  gab  er  wirklich  einen  vorteil¬ 
haften  Anschlag.  Auf  seinen  Rat  kaufte  Philipp  in  Seeland 
das  Privilegium  der  Salzbereitung  von  den  Inhabern  desselben 
zurück  usw.“ 

Aber  das  rechte  Zeitalter  der  Projektenmacherei  scheint  doch 
erst  das  auch  auf  allen  anderen  Gebieten  so  reiche  und  gesegnete 
17.  Jahrhundert  gewesen  zu  sein.  Ein  glücklicher  Zufall  hat 
uns  eine  Quelle  aufbewahrt,  aus  der  wir  für  England  ziem¬ 
lich  genau  die  Zeit  bestimmen  können,  in.  der  die  Projekten¬ 
macherei  jedenfalls  ihre  größte  Ausdehnung  gewonnen  hat1: 
diese  Quelle  ist  die  Schrift  Defoes  über  Projekte  (An  Essay 
onProjects),  die  1697  erschienen  und  1890  von  Hugo  Fischer 
unter  dem  Titel:  „Soziale  Fragen  vor  zweihundert  Jahren“  ins 
Deutsche  übertragen  worden  ist. 

Darin  bezeichnet  der  wie  bekannt  außerordentlich  kenntnis¬ 
reiche  Verfasser  seine  Zeit  geradezu  als  das  Zeitalter  der 
Projektenmacherei  und  nennt  das  Jahr  1680  als  den  Beginn 
dieses  „Zeitalters“:  „um  das  Jahr  1680  begann  die  Kunst  und 
das  Geheimnis  des  Projektenmachens  in  die  Welt  zu  kriechen“ 
(übersetzt  nicht  ganz  richtig  der  Deutsche  den  englischen  Text, 
der  heißt:  „about  the  year  1680,  the  art  or  mystery  of  projecting 
began  visibly  to  creep  into  the  world“,  da  „mystery“  hier  offenbar 
die  Bedeutung  „Handwerk“  hat).  Er  meint  damit,  daß  jedenfalls 
nie  zuvor  ein  so  hoher  Grad  des  Projektmachens  und  Erfindens 
erreicht  worden  sei,  „wenigstens  was  Handelsangelegenheiten 
und  Staatseinrichtungen  anbetrifft“. 

Es  wimmelte  zu  seiner  Zeit  von  solchen  Leuten,  „welche 
—  abgesehen  von  den  zahllosen  Ideen,  die  während  der  Geburt 
sterben  und  (gleich  Fehlgeburten  des  Gehirns)  nur  ans  Licht 
kommen,  um  sich  aufzulösen  —  wirklich  täglich  neue  Künsteleien, 


1  Daß  sie  schon  im  Anfang  des  Jahrhunderts  grassierte,  dafür  ist 
die  Komödie:  Ben  Jonsons  „Der  dumme  Teufel“  ein  Beweis,  m 
der  der  Projektenmacher  Meercraft  die  Hauptrolle  spielt. 


874  Achter  Abschnitt:  Die  Entstehung  der  Unternehmerschaft 

Kniffe  und  Pläne,  um  Geld  zu  gewinnen,  an  die  niemand  zuvor 
gedacht  hätte,  hervorbringen.“ 

An  einer  Stelle  seines  Werkes  macht  Defoe  die  Bemerkung: 
die  Franzosen  seien  „nicht  so  fruchtbar  an  Erfindungen  und 
Auskunftsmitteln“  gewesen  wie  die  Engländer.  Darin  irrt  er 
aber  sehr.  Im  Gegenteil:  man  ist  versucht,  zu  sagen:  das 
klassische  Land  der  Projektenmacher  sei  Frankreich,  wo  um 
dieselbe  Zeit  wie  in  England,  sage  von  Mitte  oder  Ende  des 
17.  Jahrhunderts  bis  tief  ins  18.  hinein,  dieselben  Vorgänge 
sich  abspielen  wie  jenseits  des  Kanals,  und  vielleicht  noch,  der 
Volks  Veranlagung  entsprechend,  in  etwas  temperamentvollerer  und 
dramatischerer  Form.  Auch  und  gerade  für  Frankreich  stellen 
gute  Kenner  jener  Zeitläufte  sogar  für  den  Anfang  des  17.  Jahr¬ 
hunderts  „eine  Sucht  zu  erfinden  und  sich  schnell  damit  zu  be¬ 
reichern“  fest1.  Die  Projektenmacher  hießen  in  Frankreich: 
„donneurs  d’avis“,  „brasseurs  d’affaires“. 

Der  Typ  des  Projektenmachers  war  in  Frankreich  am  Ende 
des  18.  Jahrhunderts  noch  immer  nicht  ausgestorben,  wie  uns 
die  Beschreibungen  des  damaligen  Paris  erkennen  lassen2. 

Auch  in  anderen  Ländern  blühte  die  Projektenmacherei:  so 
in  Österreich  zur  Zeit  Leopolds  1. 3 ;  am  Hofe  der  Maria  Theresia 
spielte  ein  gewisser  Caratto  eine  bedeutende  Rolle,  von  dem 
Stu pan  bemerkt4:  „Der  Caratto  (der  am  25.  Januar  1765  über 
einige  Kommerzialvorschläge  eine  Schrift  eingereicht  hatte)  treibt 
schon  durch  mehr  als  vierzig  Jahre  das  Handwerk  eines 
Projektanten;  seine  Grundsätze  sind  gut  und  unwidersprech- 
lich,  seine  Schlüsse  aber  übertrieben.“ 

In  Sachsen  war  (Ende  des  17.  Jahrhunderts)  der  „entrepreneur“ 
Joh.  Dan.  Krafft  eine  allbekannte  Persönlichkeit5;  aus  Sachsen 


1  „Fievre  d’invention  et  cVenrichissement  rapide“  :  nach  Marbault, 
Remarques  sur  les  memoires  de  Sully,  am  Ende  der  Econ.  royales 
Coli.  Michaud  p.  35.  G.  Fagniez,  L’economie  sociale  de  la  France 
sous  Henry  IV.  (1897),  333.  Vgl.  Ch.  Normand,  La  bourgeoisie 
franpaise  au  XVII  siede  (1908),  185  ff.  13.  Dieses  gute  Buch  enthält 
vieles,  was  die  Donneurs  d’avis  uns  bekannt  macht. 

2  Mercier  im  Tabl.  de  Paris  1,  222. 

3  Siehe  H.  Ritter  von  Sr bik,  Abenteurer  am  Hofe  Leopolds  I., 
im  Archiv  f.  Kulturgeschichte  8  (1910),  92  ff. 

4  Bei  Ad.  Beer,  Die  Staatsschulden  und  die  Ordnung  des  Staats¬ 
haushalts  unter  Maria  Theresia  1  (1894),  37  f.  Vgl.  noch  J.  K.  G. 
von  Justi,  Ges.  Pol.  und  Finanzschriften  1  (1761),  256  ff. 

5  Leipziger  Sammlungen  2  (1745),  366  ff. 


Neunundfüufzigstes  Kapitel:  Die  Gründer 


875 


kam  auch  dev  Leiter  der  Fayence  Fabrik  zu  Mosbach  in  13 (i (Ich  . 
Tännich,  der  schon  das  Zwischenglied  zwischen  dem  Projektanten 
und  dem  Gründer  bildet1. 

Welche  Stellung  den  Projektenmachern  in  der  Genesis  des 
kapitalistischen  Unternehmers  zukommt,  liegt  ziemlich  deutlich 
zutage:  sie  sind  die  Stammväter  der  Laws,  der  Pereire,  der  Lesseps, 
der  Strousbergs,  der  Saccards,  aber  auch  der  Tausend  und  Aber¬ 
tausend  kleinen  „Gründer“ Seelen,  mit  denen  unsere  Zeit  erfüllt 
ist.  Was  ihnen  noch  fehlte,  und  was  sie  zum  Teil  schon  (wie 
wir  an  einzelnen  Punkten  bemerken  konnten)  selbst  zu  schaffen 
suchten,  das  war  der  Tätigkeitskreis  selbst:  die  Unternehmung. 
Sie  standen  noch  draußen,  sie  waren  selbst  noch  nicht  Ge¬ 
schäftsleute,  waren  selbst  noch  keine  Unternehmer.  Die  Ideen,  ' 
die  berufen  sein  sollten,  kapitalistisches  Wesen  zu  erzeugen, 
schwebten  gleichsam  noch  wie  leblose  Schatten  umher  und  harrten 
der  Stunde  ihrer  Geburt.  Diese  konnte  erst  kommen,  nachdem 
sich  die  Idee  der  Unternehmung  mit  ihnen  verbunden  hatte. 
Dieser  Zeitpunkt  ist  nun  aber,  soviel  wir  sehen  können,  gegen 
das  Ende  des  17.  Jahrhunderts  erreicht.  Wir  erfahren,  daß 
damals  schon  viele  der  Projektanten  ein  williges  Gehör  bei  den 
Geldbesitzern  finden,  und  daß  es  infolgedessen  zu  „Gründungen“ 
von  allerhand  Unternehmungen  kommt,  die  wir  als  Spekulations¬ 
unternehmung  bezeichnen  müssen.  D  e  f  o  e  ,  dem  wir  schon 
mehr  als  einmal  wertvolle  Aufschlüsse  verdankt  haben,  unter¬ 
richtet  uns  auch  über  diesen  Punkt. 

Damit  aber  ist  ein  neuer  Unternehmertypus  in  die  Welt  ge¬ 
kommen:  eben  der  „Gründer“.  Er  hat  wie  wir  sehen  eine  ganz 
erlauchte  Reihe  geistiger  Ahnen:  sozial  ist  er  völlig  wurzellos. 
Er  stammt  aus  allen  beliebigen  Schichten  der  Gesellschaft,  aber 
was  ihn  ganz  besonders  kennzeichnet,  ist  das:  daß  er  von  keinei 
sozialen  Schicht,  aus  der  er  hervorgegangen  ist,  ein  bestimmtes 
Gepräge  empfängt.  Er  ist  gleichsam  frei  geboren;  vom  Himmel 

.OH» 

Er  ist  aber  grundverschieden  in  seinem  Gebahren  von  allen 
bisher  betrachteten  Unternehmertypen.  Man  kann  ihn  höchstens 
dem  bürgerlichen  Händler  vergleichen,  sofern  seine  Begabung 
in  gleicher  Richtung  liegt.  Aber  doch  trennen  ihn  Welten 
von  seinem  bürgerlichen  Bruder. 


1  Siehe  seine  Charakteristik  bei  Joh.  März,  Die  Fayencefabrik 
zu  Mosbach  i.  B.  (1906),  8  f. 


876 


Achter  Abschnitt:  Die  Entstehung  der  Unternehmerschaft 


Bürger  und  Gründer  sind  darin  einander  gleich,  daß  sie  beide 
auf  die  äußeren  Machtmittel  verzichten,  deren  sich  Staat  und 
Grundherr  bei  ihrer  Unternehmertätigkeit  bedienen.  An  die 
Stelle  des  äußeren  Zwanges  tritt  bei  ihnen  der  innere  Zwang. 
Aber  während  der  Bürger  zu  überzeugen  sucht,  trachtet  der 
Gründer  zu  überreden.  Jener  errechnet  sich  den  Erfolg,  dieser 
erzwingt  ihn  sich.  Der  Gründer  träumt  das  Eiesengroße.  Er  lebt 
wie  in  einem  beständigen  Fieber.  Die  Übertreibung  seiner  eigenen 
Ideen  reizt  ihn  immer  von  neuem  und  hält  ihn  in  immerwährender 
Bewegung.  Die  Grundstimmung  seines  Wesens  ist  ein  enthu¬ 
siastischer  Lyrismus.  Und  aus  dieser  Grundstimmung  heraus 
vollbringt  er  sein  größtes  Werk:  er  reißt  andere  Menschen  mit 
sich  fort,  daß  sie  ihm  seinen  Plan  durchführen  helfen.  Ist  er  ein 
großer  Vertreter  seiner  Art,  so  eignet  ihm  eine  dichterische  Fähig¬ 
keit,  vor  den  Augen  der  anderen  Bilder  von  verführerischem  Eeiz 
und  bunter  Pracht  erstehen  zu  machen,  die  von  den  Wundern, 
die  er  vollbringen  will,  eine  Vorstellung  geben:  welchen  Segen 
das  geplante  Werk  für  die  Welt  bedeutet,  welchen  Segen  für 
die,  die  es  ausführen.  Er  verspricht  goldene  Berge  und  weiß 
seine  Versprechungen  glaubhaft  zu  machen.  Er  regt  die  Phan¬ 
tasie  an,  er  weckt  den  Glauben.  Und  er  erweckt  mächtige 
Instinkte,  die  er  zu  seinem  Vorteil  verwendet:  er  stachelt  vor 
allem  die  Spielwut  auf  und  stellt  sie  in  seinen  Dienst.  Stimmung 
machen  ist  die  Losung.  Und  dazu  sind  alle  Mittel  recht,  die 
die  Aufmerksamkeit,  die  Neugierde,  die  Kauflust  erringen.  Lärm 
wird  Selbstzweck. 

Und  die  Arbeit  des  Gründers  ist  vollbracht,  seinen  Zweck 
hat  er  erreicht,  wenn  weite  Kreise  in  einen  Zustand  des  Bausches 
geraten,  in  dem  sie  alle  Mittel  zu  bewilligen  bereit  sind,  die  er 
zur  Durchführung  seines  Unternehmens  braucht. 

Je  weniger  leicht  sich  der  Plan  eines  Unternehmens  über¬ 
sehen  läßt,  je  mehr  die  möglichen  Wirkungen  allgemeiner  Natur 
sind,  desto  besser  eignet  es  sich  für  den  Gründer,  desto  größere 
Wunder  kann  der  Spekulationsgeist  vollbringen.  Daher  große 
Bankunternehmungen,  große  Überseeunternehmungen,  große  Ver¬ 
kehrsunternehmungen  besonders  geeignete  Objekte  für  die  Be¬ 
tätigung  des  Spekulationsgeistes  von  Anfang  an  gewesen  und 
bis  heute  geblieben  sind. 


877 


Sechzigstes  Kapitel 
Die  Ketzer 

Schon  mit  der  Aufzählung  des  vorigen  Unternehmertyps  habe 
ich  das  Einteilungsprinzip,  das  mich  die  ersten  drei  Typen  untei- 
scheiden  ließ,  verlassen.  Noch  mehr  entferne  ich  mich  jetzt  von 
der  rein  sozialgenetischen  Anordnung  der  einzelnen  Unternehmer¬ 
typen,  wenn  ich  nunmehr  eine  Eeihe  von  Gruppen  als  Herkunfts¬ 
stätten  des  Unternehmertums  hervorhebe,  die  durch  die  Gemein¬ 
samkeit  des  Glaubens  sowie  des  äußeren  Schicksals  ihrer  Glieder 
gebildet  werden.  Ich  wiederhole  auch  noch  einmal,  was  ich 
bereits  gesagt  habe :  daß  sich  die  Kreise,  aus  denen  ich  die  ver¬ 
schiedenen  Typen  der  kapitalistischen  Unternehmer  hervorgehen 
lasse,  zum  Teil  überschneiden,  daß  also  die  einzelnen  Gruppen, 
aus  denen  die  Unternehmer  stammen,  nicht  durchgängig  im  Ver¬ 
hältnis  der  Nebenordnung  zu  einander  stehen.  Das  wird  ersicht¬ 
lich,  wenn  wir  jetzt  den  Menschenbereich  des  Ketzertums.  als 
eine’  der  „Geburtsstätten“  des  Unternehmerstandes  zu  würdigen 
versuchen.  Aber  der  verständige  Leser  wird  durch  diese  An¬ 
ordnung  des  Stoffes  nicht  beirrt  werden,  sondern  aus  ihm  gerade, 
wie  ich  hoffe,  starke  Anregung  empfangen.  _ 

Der  Staat  hat,  wie  wir  bereits  festgestellt  haben  (siehe  das 
Kapitel  25  dieses  Bandes)  —  durch  die  Ausbildung  des  Staats- 
kirchentums  vornehmlich  —  den  Begriff  und  die  Erscheinung 
des  Ketzers  oder  Heterodoxen  als  eine  politische  oder  soziale 
Kategorie  in  Europa  geschaffen.  Womit  gesagt  sein  soll,  daß  m 
den  modernen  Staaten  zwei  Kategorien  von  Bürgern:  Vollburger 
und  Halbbürger  je  nach  ihrem  Glaubensbekenntnis  unterschieden 
wurden,  von  denen  die  einen  also:  die  Mitglieder  der  Landes¬ 
kirche,  im  vollen  Besitze  aller  bürgerlichen  Kechte  waren,  während 
als  „Halbbürger“  die  Mitglieder  anderer  Konfessionen  galten, 
denen  namentlich  der  Zugang  zu  den  öffentlichen  Ämtern  un 
Würden  gesperrt  oder  erschwert  war.  Halbbürger  m  diesem 
Sinne  waren  die  Juden  fast  überall  bis  ins  18.  Jahrhundert 
hinein  und  meist  darüber  hinaus;  in  den  katholischen  Landern 
waren  es  außerdem  noch  die  Protestanten;  in  den  protestan- 


878  Achter  Abschnitt:  Die  Entstehung  der  Unternehmerschaft 


tischen  Ländern  umgekehrt  die  Katholiken  und  die  nicht  zur 
Staatskirche  gehörigen  Richtungen ,  in  Großbritannien  also  die 
Presbyterianer,  die  Quäker  usw. ;  in  den  presbyterianischen  Neu- 
englandstaaten  Amerikas  die  Anhänger  der  Hochkirche  usw. 

Dieses  „Ketzertu  m“  als  solches,  ganz  unabhängig  von 
dem  Bekenntnis  selbst,  das  als  ketzerisch  angesehen  wurde,  ist 
nun  offenbar  eine  wichtige  Pflanzschule  des  kapitalistischen 
Unternehmertums  gewesen,  weil  es  mächtig  das  Erwerbsinteresse 
stärkte  und  die  geschäftliche  Tüchtigkeit  steigerte.  Und  zwar 
aus  naheliegenden  Gründen:  von  der  Anteilnahme  am  öffentlichen 
Leben  ausgeschlossen,  mußten  die  Häretiker  ihre  ganze  Lebens¬ 
kraft  in  der  Wirtschaft  verausgaben.  Diese  bot  ihnen  allein  die 
Möglichkeit,  sich  diejenige  angesehene  Stellung  im  Gemeinwesen 
zu  verschaffen,  die  ihnen  der  Staat  vorenthielt.  Es  konnte  gar 
nicht  ausbleiben,  daß  in  diesen  Kreisen  der  „Ausgeschlossenen“ 
die  Bedeutung  des  Geldbesitzes  höher  bewertet  wurde  als 
unter  sonst  gleichen  Umständen  bei  den  anderen  Bevölkerungs- 
schichten,  weil*  für  sie  das  Geld  den  einzigen  Weg  zur  Macht 
bedeutete. 

Andererseits  brachte  es  ihre  Stellung  als  Heterodoxe  mit 
sich,  daß  sie  ihre  ökonomischen  Fähigkeiten  stärker  entwickeln 
mußten ,  weil  naturgemäß  für  sie  die  Erwerbsgelegenheiten  sich 
schwieriger  gestalteten.  Nur  die  peinlichste  Gewissenhaftigkeit, 
nur  die  gerissenste  Rechenhaftigkeit,  nur  die  weitestgehende  An¬ 
passung  an  die  Bedürfnisse  der  Kundschaft  versprachen  ihnen 
einen  geschäftlichen  Erfolg.  Verfolgt  und  verdächtigt,  schreibt 
Benoit  von  den  Hugenotten:  wie  hätten  sie  sich  anders  be¬ 
haupten  können,  als  durch  „die  Weisheit  ihres  Verhaltens  und 
du* ch  ihie  Ehrenhaftigkeit“  (par  la  sagesse  de  leurs  moeurs  et 
par  leur  honnetete“). 

Naheliegend  war  es  auch,  daß  diese  Häretiker  in  der  Zeit 
des  beginnenden  Kapitalismus  sich  gerade  den  kapitalistischen 
Unternehmungen  mit  besonderem  Eifer  widmeten,  da  ja  diese 
die  meisten  Erfolge  versprachen,  die  sicherste  Handhabe  boten, 
um  zu  Reichtum  und  dadurch  zu  Ansehen  zu  gelangen.  Deshalb 
finden  wir  sie  in  jenen  kritischen  Zeiten,  also  vornehmlich  vom 
10.  bis  18.  Jahrhundert  überall  an  erster  Stelle  als  Bankiers, 
als  Großkaufleute,  als  Industrielle.  „Handel  und  Wandel“,  „the 
Trade“,  wurden  von  ihnen  geradezu  beherrscht.  Diese  Zusammen¬ 
hänge  haben  die  besten  Beurteiler  schon  während  jener  Jahr¬ 
hunderte  richtig  erkannt. 


Sechzigstes  Kapitel:  Die  Ketzer  879 

Die  Spanier  sagten  schlechthin :  die  Ketzerei  befördert  den 
Handelsgeist. 

Und  ein  hellsichtiger  Mann  wie  William  Petty  fällt  über 
die  Bedeutung  der  „Ketzerei“  für  die  Entfaltung  des  kapita¬ 
listischen  Geistes  folgendes  interessante  Urteil 1 :  Der  Handel 
liegt  in  allen  Staaten  und  unter  jeder  Regierung  in  den  Händen 
der  lieterodoxen  Partei  und  solcher,  die  eine  andere  als  die 
öffentlich  anerkannte  Meinung  vertreten;  also  in  Indien,  wo 
die  mohammedanische  Religion  anerkannt  ist,  sind  die  Hindus 
(the  Banians)  die  bedeutendsten  Kaufleute.  Ln  türkischen 
Reich  die  Juden  und  Christen.  Li  Venedig,  Neapel,  Livorno, 
Genua  und  Lissabon  die  Juden  und  Nichtpäpstlichen.  Selbst  in 
Frankreich  sind  die  Hugenotten  verhältnismäßig  viel  stärker 
im  Handel  vertreten ,  während  in  Irland ,  wo  die  katholische 
Religion  nicht  vom  Staate  anerkannt  ist,  die  Anhänger  dieser 
Religion  einen  großen  Teil  des  Handels  in  den  Händen  haben. 
Woraus  folgt,  daß  der  Handels g eist  nicht  mit  irgend¬ 
welcher  Religion  als  solcher  verknüpft  ist,  sondern 
wie  vorher  schon  gesagt 'wurde  mit  der  Hetero  doxie  als 
Ganzem,  wie  auch  das  Beispiel  aller  großen  englischen  Handels¬ 
städte  bestätigt“  (Trade  is  not  fixed  to  any  species  of  Religion 
as  such ;  but  rather  .  .  .  to  the  Heterodox  part  of  the  whole). 

Än liehen  Urteilen,  insbesondere  auch  über  die  Bedeutung 
der  Non  -  Conformists  für  die  Entwicklung  von  Handel  und 
Industrie  in  Großbritannien  begegnen  wir  häufiger. 

„Thev  (the  non  -  conformist)  are  not  excluded  from  the  nobility, 
among  the  gentiy  they  are  not  a  few ;  but  none  are  of  more  importance 
than  tliev  in  the  trading  part  of  the  people  and  those  that  live  by 
industry ,  upon  whose  hands  the  business  of  the  nation  lies  niuch. 
Discourse  of  the  Religion  of  England  1667 ,  p.  23.  Zitiert  bei 
H.  Hall  am,  Const.  Hist.  3  (1827),  451. 

Daß  diese  Beobachtungen ,  wie  sie  uns  diese  Männer  mit- 
teilen ,  richtig  waren ,  lehrt  uns  ein  Blick  in  die  Wirtschafts¬ 
geschichte  jener  Zeit.  Wir  sind  besonders  gut  unterrichtet  über 
die  Verhältnisse  in  Frankreich  durch  die  Intendanturberichte,  die 
nach  der  Aufhebung  des  Edikts  von  Nantes  vom  Könige  ein¬ 
gefordert  wurden  und  die  Boulainvilliers  gesammelt  und  im 
Auszuge  mitgeteilt  hat2.  Daraus  ersieht  man,  daß  in  der  Tat 

1  W.  Petty,  Several  Essays  in  Pol.  Arithm.  (1699),  185  f. 

2  Etat  de  la  France  .  .  .  Par  le  Comte  de  Boulainvilliers. 

6  Vol.  1737. 


880  Achter  Abschnitt:  Die  Entstehung  der  Unternehmerschaft 

der  vielleicht  größte  Teil  der  kapitalistischen  Industrie  und  des 
Überseehandels  in  den  Händen  der  Reformierten  lag  (oder  bis 
zu  jener  für  Frankreich  so  überaus  kritischen  Zeit  gelegen 
hatte).  Die  Eisenarbeiten  in  Sedan,  die  Papierfabrikation  in 
Auvergne,  in  Angoumois,  in  der  Generalitö  von  Bordeaux,  die 
Lohgerbereien  in  Touraine,  die  mit  den  englischen  wetteiferten, 
waren  ausschließlich  in  ihren  Händen ;  in  der  Normandie,  Maine 
und  Bretagne,  „hatten  sie  fast  den  meisten  Anteil  an  den 
blühenden  Leinwandwebereien“ ;  in  Tours  und  Lyon  an  der 
Fabrikation  von  Seide,  Samt  und  Taffet;  in  Languedoc,  Provence, 
Dauphinee,  Champagne  an  der  Wollindustrie;  in  der  Generalite 
von  Paris  an  der  Spitzenanfertigung  usw. 

In  Guienne  liegt  der  Weinhandel  in  ihren  Händen;  in  zwei 
Gouvernements  (de  Brouage  et  d’Oleron)  hat  ein  Dutzend  Fa¬ 
milien  das  Monopol  des  Salz-  und  Weinhandels;  in  Sancerre 
sind  sie  nach  Aussage  des  Intendanten  „den  Katholiken  an  Zahl, 
Reichtum  und  Bedeutung  überlegen“.  In  der  Generalite  von 
Alen9on  beherrschen  4000  Protestanten  fast  den  ganzen  Handel. 
Dasselbe  Bild  in  Rouen,  Caen,  Nimes,  Metz. 

Den  auswärtigen  Handel  trieben  sie  am  liebsten  nach  Holland 
und  Großbritannien,  und  die  Holländer  und  Engländer  machten 
am  liebsten  mit  ihnen  Geschäfte,  weil  sie  mehr  Vertrauen  zu 
ihnen  hatten,  wie  zu  den  Katholiken  —  meint  B  e  n  o  i  t. 

Auch  als  Bankiers  begegnen  wir  zahlreichen  Reformierten 
im  damaligen  Frankreich,  und  gern  unternehmen  sie  auch  Steuer¬ 
pachten,  zu  denen  sie  zugelassen  waren.  Man  weiß,  daß  Colbert 
sich  sehr  sträubte  gegen  die  Edikte,  die  ihre  Verwendung  in  der 
Steuerverwaltung  verboten. 

So  daß  man  sich  dem  Urteil  Rankes  über  die  wirtschaftliche 
Stellung  der  protestantischen  Ketzer  im  Frankreich  des  17.  Jahr¬ 
hunderts  wohl  wird  anschließen  dürfen,  wenn  er  zusammen¬ 
fassend  sagt 1 : 

„Von  dem  Krieg  und  den  eigentlichen  Staatsämtern  aus¬ 
geschlossen,  nehmen  die  Reformierten  um  so  größeren  Anteil  an 
der  Verwaltung  der  Finanzen,  den  Staatspachtungen,  dem  An¬ 
leihewesen  ;  es  ist  bemerkenswert,  mit  welchem  Eifer  und  Erfolg 
sie  sich  der  auf  kommenden  Manufaktur  widmeten.“ 

Man  wird  vielleicht  einwenden :  die  Hugenotten  in  Frankreich 
seien  die  Träger  der  kapitalistischen  Entwicklung  gewesen,  nicht 


1  Ranke,  Französische  Geschichte  38,  456. 


Sechzigstes  Kapitel:  Die  Ketzei1 


881 


weil  sie  Ketzer,  sondern  weil  sie  Protestanten  waren,  wie 
ja  Max  Weber  ganz  allgemein  die  Hypothese  aufgestellt  hat, 
daß  die  Zugehörigkeit  zu  bestimmten  Religionsgemeinschaften 
(den  Richtungen,  des  „asketischen  Protestantismus“)  die  Ursache 
des  „kapitalistischen  Geistes“  gewesen  sei. 

Ich  leugne  nun  keineswegs  den  Einfluß,  den  die  besondere 
Struktur  des  religiösen  Bekenntnisses  auf  die  Wirtschafts¬ 
gesinnung  ausgeübt  hat,  wie  ich  mich  natürlich  auch  der  Tat¬ 
sache  nicht  verschließe,  daß  die  „Ketzer“  in  Europa  vorwiegend 
Protestanten  (und  Juden)  waren.  Ich  zweifle  nicht,  daß  bestimmte 
Dogmen  dazu  beigetragen  haben,  den  kapitalistischen  Geist  zu 
versteifen  (obwohl  ich  auch  viele  Hemmungen  für  seine  Ent¬ 
wicklung  gerade  im  Puritanismus  und  im  Quäkertum  finde). 

Angesichts  jedoch  der  unzweifelhaften  Tatsache,  daß  auch 
„Ketzer“  anderer  Observanz  ein  großes  Kontingent  zum  kapita¬ 
listischen  Unternehmertum  gestellt  haben,  bin  ich  geneigt,  den 
Hauptanteil  an  dem  Einflüsse  dem  Ketzertum  als  solchem,  nicht 
einem  bestimmten  Religionssystem  oder  einer  bestimmten  Sekte, 
zuzuschreiben.  In  dieser  Auffassung  bestärkt  mich  folgende  Er¬ 
wägung.  Die  ganze  Fragestellung :  ob  ein  bestimmtes  Religions¬ 
bekenntnis  eine  bestimmte  Wirtschaftsgesinnung  erzeugt  habe 
(und  nicht  vielmehr,  wie  andere  behaupten,  diese  jene),  scheint 
mir  nicht  glücklich.  Ich  meine  vielmehr,  daß  beide  Bekennt¬ 
nisse  (sei  es  zum  Kapitalismus,  sei  es  zum  Protestantismus) 
Ausflüsse  derselben  Grundveranlagung  sind ,  daß  in  beiden 
nur  der  „neue“  Geist  seinen  Ausdruck  findet,  den  wir  überall 
am  Werke  sehen,  wo  es  sich  um  die  Herausbildung  des 
modernen  Europa  handelt1.  Beides:  Protestantismus  und  Kapi¬ 
talismus,  sind  ihrem  innersten  Wesen  nach  „Ketzergeist“,  Geist 
der  Auflehnung  gegen  Schlendrian,  Indolenz,  Selbstgenügsam¬ 
keit,  Stilleben.  Kirchenreform  und  Wirtschaftsreform  entspringen 
im  Grunde  demselben  Geiste  des  „Non-Conformismus“ 2,  der 
vielleicht  sogar  (was  wir  nur  vermuten  können)  an  bestimmte 
Blutsveranlagung  gebunden  war.  Selbstverständlich  beeinflussen 
sich  dann  diese  beiden  Äußerungen  des  gleichen  Geistes  gegen¬ 
seitig.  Und  insofern  kann  man  von  einem  Einfluß  bestimmter  Reli¬ 
gionssysteme  auf  den  Kapitalismus  (und  dieses  auf  jene)  sprechen. 

1  Siehe  das  20.  Kapitel  dieses  Bandes. 

2  Von  der  Konstruktion  eines  solchen  allgemeinen  Geistes  des 
„Non-Conformismus“  wird  getragen  das  gute  Buch  von  Henry 
W.  Clark,  History  of  English  non  conformity.  2  Vol.  1911 — 13. 

Sombart,  Der  moderne  Kapitalismus.  I  5ö 


882 


Achter  Abschnitt:  Die  Entstehung  der  Unternehmerschaft 


Indem  ich  das  Ketzertum  als  solches,  nicht  die  Zugehörigkeit 
zu  einer  bestimmten  Religionsgemeinschaft  für  die  Entstehung 
des  kapitalistischen  Unternehmertums  verantwortlich  mache,  ver¬ 
allgemeinere  ich  also  das  Problem,  verzichte  dagegen  gemäß  der 
Gesamtanlage  dieses  Werkes  darauf,  die  Ursprünge  des  neuen 
Geistes  aufzudecken  und  hebe  nur  die  sozialen  Bedingungen 
hervor,  unter  denen  wir  diesen  zur  Entfaltung  kommen  sehen. 

Nun  aber  steht  mit  dem  religiösen  —  und  man  kann  hinzu¬ 
fügen  :  mit  dem  politischen  —  Ketzertum  eine  andere  soziale 
Erscheinung  im  engsten  Zusammenhänge,  die  noch  viel  größeren 
Anteil  am  Aufbau  der  kapitalistischen  Wirtschaft  gehabt  hat  als 
die  Ketzerei  selber:  ich  meine  die  Wanderungen  aus  einem  Lande 
in  das  andere,  die  wir  die  aus  religiösen  oder  politischen  Gründen 
Verfolgten  in  jenen  Jahrhunderten  des  Frühkapitalismus  machen 
sehen.  Die  Ketzer  werden  zu  Emigranten;  der  Emigrant  wird 
zum  Fremden  in  der  neuen  Heimat. 

Das  Problem  der  Wanderungen  greift  aber  über  das  „Emi¬ 
granten“  -  Problem  hinaus,  sofern  solche  Wanderungen  auch  aus 
anderen  als  religiösen  oder  politischen  Gründen  erfolgten.  Des¬ 
halb  behandle  ich  sie  gesondert  und  im  Zusammenhänge  und 
widme  ihnen  das  ganze  folgende  Kapitel,  «p. 


Einundsechzigstes  Kapitel 

Die  Fremden 


Vorbemerkung 

Es  wäre  eine  reizvolle  Aufgabe,  die  gesamte  Menschheitsgeschichte 
unter  dem  Gesichtspunkt  „des  Fremden“  und  seines  Einflusses  aut 
den  Gang  der  Ereignisse  zu  schreiben.  In  der  Tat  beobachten  wir 
von  den  Anfängen  der  Geschichte  an ,  wie  im  kleinen  und  im  großen 
es  den  Einwirkungen  von  außen  her  zuzuschreiben  ist,  daß  die  Volks¬ 
gemeinschaften  sich  eigenartig  entwickeln.  Es  mag  sich  um  Beligions- 
S}Tsteme  oder  technische  Erfindungen ,  um  Formen  des  Alltagslebens 
oder  Moden  und  Trachten,  um  Staatsumwälzungen  oder  Börsenein¬ 
richtungen  handeln :  immer  oder  wenigstens  sehr  häufig  finden  wir, 
daß  die  Anregung  von  „Fremden“  ausgeht.  So  spielt  auch  in  der  Ge¬ 
schichte  des  kapitalistischen  Unternehmers  der  Fremde  eine  über¬ 
ragend  große  Bolle.  Unausgesetzt  während  des  europäischen  Mittel¬ 
alters  und  in  größerem  Umfange  noch  in  den  späteren  Jahrhunderten 
verlassen  Familien  ihren  angestammten  Wohnsitz,  um  in  einem  anderen 
Lande  ihren  Herd  zu  errichten.  Und  das  sind  gerade  diejenigen  Wirt¬ 
schaftssubjekte  ,  die  wir  in  zahlreichen  Fällen  als  die  Begründer  und 
Förderer  kapitalistischer  Organisation  ansprechen  müssen.  Es  lohnt 
deshalb  wohl,  den  Zusammenhängen  nachzugehen ,  die  etwa  zwischen 
den  Wanderungen  und  der  Geschichte  des  kapitalistischen  Unternehmers 
bestehen.  Dabei  kann  man  Einzelwanderungen  und  Massenwanderungen 
unterscheiden. 

Literatur 

Eine  systematische  und  zusammenfassende  Darstellung  des  Ein¬ 
flusses,  den  die  Fremden  auf  die  Kultur  eines  Landes  ausgeübt  haben, 
besitzen  wir  für  England  in  dem  Buche  von  W.  Cunningham,  Alien 
Immigrants  to  England.  1897.  Ferner  für  Itufsland  in  mehreren 
Schriften,  unter  denen  besonders  genannt  zu  werden  verdient  Ernst 
Frh.  v.  d.  Brüggen,  Wie  Bußland  europäisch  wurde.  Studien  zur 
Kulturgeschichte.  1885,  sowie  das  Werk  von  B.  Jschchanian,  Die 
ausländischen  Elemente  in  der  russischen  Volkswirtschaft.  1913,  in 
dem  auch  die  übrige  Literatur  verarbeitet  ist.  Dann  gibt  es  aber  eine 
Fülle  von  Schriften  über  die  Geschichte  und  den  Einfluß  der  einzelnen 
Wanderbewegungen. 

Die  L i t e r a tu r  ü b e r  d i e  „Emigranten“  ist  besonders  umfang¬ 
reich  und  zum  Teil  sehr  gut.  Sie  schildert  teilweise  das  Schicksal 
der  religionsverfolgten  Auswanderer  aus  einem  Lande,  teilweise 
das  der  Einwanderer  in  ein  Land.  Beide  Darstellungsweisen 


§84  Achter  Abschnitt:  Die  Entstehung  der  Unternehmerschaft 

ergänzen  sich.  Aus  der  fast  unübersehbaren  Fülle  von  Schriften  nenne 
ich  folgende  als  die  brauchbarsten:  Ch.  Weiß,  Histoire  des  refugies 
protestants  de  France  depuis  la  revocation  de  l’edit  de  Nantes  jusqu’ä 
nos  jours.  2  Vol.  1853;  grundlegend  und  noch  nicht  überholt. 

W.  E.  J.  Berg,  De  Refugies  in  de  Nederlanden  na  de  heiroeping 
van  het  edict  van  Nantes.  2  Vol.  1845.  Für  unsere  Zwecke  kommt 
wesentlich  nur  der  erste  Band  in  Beti'acht,  der  ’handel  en  nijverheid’ 
behandelt.  Gute,  ausführliche  Darstellung. 

J.  S.  Burn,  History  of  the  French,  Walloon,  Dutch,  and  other 
Foreign  Protestant  Refugees  settled  in  England,  from  Hemy  VIII.  to 
the  Revocation  of  the  Edict  of  Nantes ,  with  Notices  of  their  Trade 
and  Commerce ,  Copious  Extracts  from  the  Registers ,  Lists  of  the 
Early  Settiers,  etc.  1846.  Die  große  englische  Literatur  über  das 
Emigrantenproblem  hat  im  wesentlichen  Cunningham  in  seiner  zu- 
,  sammenfassenden,  oben  genannten  Darstellung  verarbeitet.  Seit  1887 
erscheint  jähi’lich  ein  Band  Publications  der  Huguenot  Society. 

Erman  und  Reel  am,  Memoires  pour  servir  ä,  l’histoire  des  re¬ 
fugies.  9  Vol.  1782 — 99.  Sehr  eingehende  Darstellung  des  Schicksals 
der  Emigranten  in  deutschen  Landen,  vornehmlich  in  Brandenburg - 
Preußen.  Vol.  V  und  VI  enthalten  die  uns  hier  interessierenden  An¬ 
gaben. 

Charles  W.  Baird,  History  of  the  Huguenot  Emigration  to 
America.  2  Vol.  1885. 

Dann  aber  kommen  fast  alle  wirtschafts-  insonderheit  industrie¬ 
geschichtlichen  Schriften  in  Betracht,  da  fast  in  jedem  Gebiet,  an  jedem 
Ort,  wie  wir  sehen  werden  der  Einfluß  der  Fremden  auf  den  Gang 
des  Wirtschaftslebens  sich  fühlbar  macht  und  also  von  der  Literatur 
vermerkt  werden  muß.  Eine  Aufzählung  der  einzelnen  Werke  hätte 
keinen  Sinn.  Am  passenden  Orte  werde  ich  noch  einige  Quellen  nennen. 

I.  Die  Eignung  des  Fremden  zum  kapitalistischen 

Unterneh m e  r 

Während  wir  bei  den  ersten  drei  Arten  von  Unternehmer¬ 
typen,  die  wir  nach  ihrer  sozialen  Herkunft  unterschieden,  nur 
vermuten  konnten,  was  sie  zu  kapitalistischen  Unternehmern 
geeignet  gemacht  habe,  während  wir  bei  ihnen  aus  der  Tatsache, 
daß  sie  kapitalistische  Unternehmer  geworden  waren,  auf  ihre 
Eignung  schließen  mußten,  konnten  wir  schon  bei  dem  Ketzer, 
können  wir  aber  in  noch  viel  eindringlicherer  Weise  bei  dem 
Fremden  feststellen,  weshalb  gerade  er  zum  kapitalistischen 
Unternehmer  berufen  war.  Mit  andern  Worten:  die  (Gründe  der 
Auslese,  auf  die  wir  alle  Herausbildung  des  Unternehmertums 
zurückführen  wollten,  liegen  bei  dem  vorigen  und  noch  mehr 
bei  diesem  Typus  offen  zutage ;  ebenso  wie  die  Gründe,  die  den 
einmal  ausgelesenen  Typ  bei  der  Entwicklung  seiner  Unternehmer¬ 
fähigkeiten  fördern  mußten. 


Einundsechzigstes  Kapitel:  Die  Fremden 


885 


Machen  wir  uns  klar,  daß  es  sich  in  den  Jahrhunderten,  die 
wir  hier  überblicken,  bei  jeder  Ortsveränderung  um  einen  Aus¬ 
leseprozeß  handelt,  bei  dem  die  kapitalistischen  Varianten  zur 
Abwanderung  kommen.  Die  kapitalistischen  Varianten:  das  heißt 
die  entweder  schon  zu  kapitalistischen  Wirtschaftssubjekten  ent¬ 
wickelten  oder  die  zu  solchen  bestdisponierten  (veranlagten) 
Personen.  Diejenigen  Individuen,  die  sich  zur  Auswanderung 
entschließen,  sind  —  zumal  oder  vielleicht :  nur  in  den  früheren 
Zeiten,  als  jeder  Ortswechsel  und  vor  allem  jede  Übersiedlung 
in  ein  Kolonialland  noch  ein  kühnes  Unterfangen  war  —  die 
tatkräftigsten ,  willensstärksten ,  wagemutigsten ,  kühlsten ,  am 
meisten  berechnenden ,  am  wenigsten  sentimentalen  Naturen ; 
ganz  gleich,  ob  sie  wegen  religiöser  oder  politischer  Unter¬ 
drückung  oder  aus  Erwerbsgründen  sich  zu  der  Wanderung  ent¬ 
schließen.  Gerade  die  Unterdrückung  in  der  Heimat  ist,  wie 
wir  schon  feststellen  konnten,  die  beste  Vorschule  für  die  kapi¬ 
talistische  Ausbildung.  Durch  .die  Auswanderung  werden  aber 
aus  diesen  Unterdrückten  wiederum  diejenigen  ausgelesen,  die 
es  satt  sind,  durch  Anpassung  und  Kriecherei  sich  im  eigenen 
Lande  am  Leben  zu  erhalten.  Daß  es  sich  auch  bei  diesen  um 
eine  „Auslese“  der  Tüchtigsten  (in  dem  hier  verstandenen  Sinne) 
handelt,  ersehen  wir  ja  schon  aus  der  Tatsache,  daß  ein  großer 
Teil  der  aus  religiösen  oder  politischen  Gründen  Verfolgten  den 
Entschluß  zum  Auswandern  nicht  faßt,  sondern  sich  lieber  da¬ 
heim  anzupassen  sucht :  die  meisten  Hugenotten  (vier  Fünftel) 
blieben  in  Frankreich  zurück,  ebenso  haben  viele  Juden  im  Osten 
jahrhundertelang  verharrt,  ehe  sie  sich  in  Bewegung  setzten. 

Vielleicht  läßt  sich  dann  auch  feststellen,  daß,  als  Ganzes 
betrachtet,  diejenigen  Stämme,  in  denen  die  kapitalistischen 
Varianten  häufig  vertreten  sind,  die  eigentlichen  Wandervölker 
bilden:  die  Etrusker  (Lombarden!),  die  Juden,  die  Schotten, 
andere  germanische  Stämme  (aus  denen  in  Frankreich  z.  B.  sich 
die  Hugenotten  bildeten),  die  Alemannen  (Schweizer)  usw. 

Sodann  werden  wir  vor  die  Frage  gestellt:  ob  und  wodurch 
der  Aufenthalt  in  der  neuen  Heimat  —  ob  und  wodurch  also 
„die  Fremde“  als  solche  —  zur  Entfaltung  und  Steigerung  der 
kapitalistischen  Fähigkeiten  beiträgt. 

Will  man  diesen  zweifellos  vorhandenen  Einfluß  auf  eine 
einzige  Ursache  zurückführen,  so  kann  man  sagen:  die  Wande¬ 
rung  entwickelt  den  kapitalistischen  Geist  durch  den  Abbruch 
alle?  alten  Lebensgewohnheiten  und  Lebens- 


886  Achter  Abschnitt:  Die  Entstehung  der  Unternehmerschaft 

be Ziehungen,  den  sie  im  Gefolge  hat.  In  der  Tat  ist  es  nicht 
schwer,  alle  die  seelischen  Vorgänge,  die  wir  an  dem  „Fremden“ 
in  der  neuen  Heimat  beobachten,  und  die  ihn  zu  einem  guten 
kapitalistischen  Unternehmer  machen,  auf  diese  eine  entscheidende 
Tatsache  zurückzuführen;  auf  die  Tatsache  also,  daß  für  ihn  die 
Sippe,  das  Land,  das  Volk,  der  Staat,  in  die  er  bis  dahin  mit 
seinem  ganzen  "Wesen  eingeschlossen  war,  aufgehört  haben,  eine 
Wirklichkeit  zu  sein. 

Wenn  wir  die  Erwerbsinteressen  bei  ihm  den  Primat  er¬ 
langen  sehen,,  so  müssen  wir  sofort  begreifen,  daß  dies  gar  nicht 
anders  sein  kann,  da  ja  eine  Betätigung  in  andern  Berufen  für  den 
Fremden  nicht  möglich  ist:  in  dem  alten  Kulturstaat  ist  er  von 
der  Teilnahme  am  öffentlichen  Leben  ausgeschlossen,  das  Kolonial¬ 
land  hat  überhaupt  noch  keine  andern  Berufe.  Auch  alles  be¬ 
hagliche  Sichausleben  verbietet  sich  in  der  Fremde:  die  Fremde 
ist  öde.  Sie  hat  gleichsam  für  den  Ankömmling  keine  Seele. 
Die  Umgebung  bedeutet  ihm  nichts.  Höchstens  kann  er  sie  als 
Mittel  zum  Zweck  —  des  Erwerbes  benutzen.  Diese  Tatsache 
scheint  mir  von  großer  Wichtigkeit  zu  sein  für  die  Herausbildung 
eines  nur  auf  das  Erwerben  gerichteten  Sinnes.  Das  gilt  nament¬ 
lich  für  die  Neusiedlung  auf  Kolonialland.  „Unsere  Bäche  und 
Flüsse  drehen  Mühlräder  und  führen  Flöße  ins  Tal  wie  die 
schottischen;  aber  keine  Ballade,  kein  einfachstes  Lied  erinnert 
uns,  daß  Männer  und  Frauen  auch  an  ihren  Ufern  sich  fanden, 
liebten,  auseinandergingen,  daß  unter  jedem  Dach  in  ihren  Tälern 
Lust  und  Leid  des  Lebens  empfunden  wurden“ :  diese  Klage 
eines  Amerikaners  aus  den  Frühzeiten  drückt  deutlich  aus,  was 
ich  meine.  Diese  Beobachtung,  daß  die  einzige  Beziehung  der 
Yankees  zu  ihrer  Umgebung  die  der  reinen  praktischen  Nutz¬ 
bewertung  ist  (oder  wenigstens  früher  war),  ist  oft  schon  ge¬ 
macht  worden,  namentlich  von  denen,  die  Amerika  im  Anfang 
des  19.  Jahrhunderts  bereisten. 

Es  gibt  für  den  Ausgewanderten  —  das  gilt  gleichermaßen 
für  den  Emigranten  wie  für  den  Kolonisten  —  keine  Vergangen¬ 
heit,  es  gibt  für  ihn  keine  Gegenwart.  Es  gibt  für  ihn  nur 
eine  Zukunft.  Und  wenn  erst  einmal  das  Geld  in  den  Mittel¬ 
punkt  des  Interesses  gerückt  ist,  so  erscheint  es  fast  als  selbst¬ 
verständlich,  daß  für  ihn  der  Gelderwerb  den  einzigen  Sinn 
wahrt  als  dasjenige  Mittel,  mit  Hilfe  dessen  er  sich  seine  Zu¬ 
kunft  erbauen  will.  Geld  erwerben  kann  er  nur  durch  Aus¬ 
dehnung  seiner  Unternehmertätigkeit.  Und  da  er  ein  auserlesen 


Einundsechzigstes  Kapitel :  Die  Fremden 


887 


Tüchtiger,  Wagemutiger  ist,  so  wird  sich  sein  schrankenloser 
Erwerbstrieb  alsobald  umsetzen  in  eine  rastlose  Unternehmer¬ 
tätigkeit.  Auch  diese  folgt  also  unmittelbar  aus  der  Wertlosig¬ 
keit  der  Gegenwart,  der  Überwertung  der  Zukunft. 

Und  der  Fremde  ist  durch  keine  Schranke  in  der  Ent¬ 
faltung  seines  Unternehmergeistes  gehemmt,  durch  keine  persön¬ 
lichen  Rücksichten :  in  seiner  Umgebung,  mit  der  er  in  geschäft¬ 
liche  Beziehungen  tritt,  stößt  er  wieder  nur  auf  Fremde.  Und 
unter  Fremden  sind  überhaupt  zuerst  gewinnbringende  Geschäfte 
gemacht  worden,  während  man  dem  Genossen  half:  zinstragende 
Darlehen  gibt  man  nur  dem  Fremden,  sagt  noch  Antonio  zu 
Shylock,  denn  nur  vom  Fremden  kann  man  Zinsen  und  Stamm¬ 
summe  rücksichtslos  zurückfordern,  wenn  sie  nicht  bezahlt  werden. 

Aber  auch  nicht  irgendwelche  Schranken  sachlicher  Natur 
sind  dem  Unternehmungsgeist  in  der  Fremde  gesteckt.  Feine 
Tradition!  Kein  altes  Geschäft!  Alles  muß  neu  geschaffen 
werden ,  gleichsam  aus  dem  Nichts :  keine  Bindung  an  einen 
Ort:  in  der  Fremde  ist  jeder  Ort  gleich,  oder  man  vertauscht 
den  einmal  gewählten  leicht  mit  einem  andern,  wenn  dieser  mehl 
Gewinnchancen  bietet. 

Aus  alledem  muß  mit  Notwendigkeit  ein  Zug  folgen,  der 
allem  Wirken  des  Fremden  wiederum,  sei  er  Kolonist,  sei  er 
Emigrant,  anhaftet:  die  Entschlossenheit  zur  vollendeten  Aus¬ 
bildung  des  ökonomisch-technischen  Rationalismus. 
Er  muß  diesen  durchführen,  weil  ihn  die  Not  oder  weil  ihn  sein 
Zukunftshunger  dazu  zwingen;  er  kann  ihn  leichter  zur  An¬ 
wendung  bringen,  weil  ihm  keinerlei  Tradition  hindernd  im  AVege 
steht.  So  erklärt  sich  mühelos  die  Tatsache,  die  wir  beobachten, 
daß  die  Emigranten  in  Europa  die  Förderer  des  kommerziellen 
und  industriellen  Fortschritts  wurden,  wohin  sie  kamen.  So  erklärt 
sich  nicht  minder  ungezwungen  die  bekannte  Erscheinung,  daß 
nirgends  so  entschieden  wie  in  Amerika  die  neuen  technischen 
Erfindungen  zur  Anwendung  gelangt  sind. 

II.  Der  Anteil  der  Fremden  am  Autbau  der  kapita¬ 
listischen  Wirtschaft 

1.  Eiuzelfremde 

Einzelwanderungen,  denen  also  die  Tatsache  zugrunde 
hegt,  daß  aus  individueller  Veranlassung  eine  Familie  (oder  auch 
ein  paar  Familien)  ihren  Wohnsitz  verändern,  das  heißt  m  ein 
anderes  Land  oder  doch  in  eine  andere  Landschaft  übersiedeln, 


888  Achter  Abschnitt:  Die  Entstehung  der  Unternehmerschaft 


tat  es  natürlich  zu  allen  Zeiten  gegeben.  Uns  interessieren  hier 
diejenigen,  an  die  sich  eine  irgendwelche  Förderung  des  kapita¬ 
listischen  Wesens  anknüpft,  wie  wir  sie  namentlich  dann  ver¬ 
muten  dürfen,  wenn  wir  die  Einwanderer  als  Träger  einer  höheren 
Form  des  Wirtschaftsverkehrs  oder  als  Begründer  neuer  In¬ 
dustrien  antreffen  .  .  .  Ich  denke  im  ersten  Falle  an  die  „Lom¬ 
barden“  und  andere  italienische  Geldhändler,  die  während  des 
Hochmittelalters  in  Frankreich,  England  und  anderswo  ihr  Ge¬ 
schäft  betreiben ;  und  ich  erinnere  daran ,  wie  unter  andern 
Industrien  während  des  Mittelalters  und  späterhin  von  fremden 
Einwanderern  namentlich  die  Seidenindustrie  gefördert  worden 
ist.  Und  zwar  im  kapitalistischen  Sinne  gefördert  worden  ist 
(denn  die  Übertragung  von  Handwerkern  aus  einem  Orte  in  den 
andern  geht  uns  in  diesem  Zusammenhänge  nichts  an). 

So  erfahren  wir  z.  B.  über  den  Einfluß  der  Einwanderung  von 
Lucchesen  auf  die  Entwicklung  der  venetianischen  Seidenindustrie 
folgendes : 

„Eine  neue  Phase  der  Entwicklung  trat  mit  Einwanderung  von 
Kaufleuten  und  Seidenarbeitern  aus  Lucca  ein,  worauf  erst  die  Industrie 
ganz  zur  Entfaltung  gelangte :  zugleich  trat  das  kaufmännische  Element 
mehr  in  den  Vordergrund:  die  Kaufleute  wurden  Leiter  der  Produktion; 
sie  übergaben  ihr  eigenes  Rohmaterial  den  Meistern  zu  Verarbeitung 
in  den  verschiedenen  Stadien  der  Produktion“.  Broglio  d’Ajano, 
Die  venetianer  Seidenindustrie  (1895),  24. 

Und  über  die  genuesische  Seidenin.dustrie : 

„Ähnlich  wie  in  Venedig  mit  der  Einwanderung  der  Lucchesen 
nahm  die  Seidenindustrie  in  Genua  einen  großen  Aufschwung  erst 
durch  die  Gebrüder  Perolerii  und  andere  Kaufleute,  welche  im  Beginn 
des  15.  Jahrhunderts  lucchesische  Musterzeichner  in  ihren  Dienst 
zogen.  Ihnen  wurde  sogar  die  Einführung  der  Seidenindustrie  über¬ 
haupt  zugeschrieben.  Zugleich  wurde  damals  eine  soziale  Ordnung 
im  Genueser  Seidengewerbe  eingeführt  —  nämlich  die  kapitalistische 
Hausindustrie  - — ,  welche  ihren  Ausdruck  1432  in  der  Gründung  der 
Seidenzunft  fand“.  S i e v e k i n g ,  Gen.  Seidenindustrie  inSchmollers 
Jahrbuch  21,  102  f. 

In  Bologna  wurde  die  vielleicht  erste  moderne  Fabrik,  eine  Seiden- 
filande,  „in  der  eine  einzige  Maschine  die  Arbeit  von  4000  Spinne¬ 
rinnen  verrichtete“,  von  einem  gewissen  Bolognino  di  Barghesano  aus 
Lucca  angeblich  im  Jahr  1341  errichtet.  G.  N.  P.  Alidosi,  Instruttione 
delle  cose  notabili  di  Bologna  (1621),  27. 

Die  Lyoneser  Seidenindustrie  führt  ihren  Ursprung  ebenfalls  auf 
eingewanderte  Italiener  zurück,  die  sie  zunächst  wohl  in  rein  hand¬ 
werksmäßiger  Form  betrieben.  Uns  interessiert,  daß  die  Ueberfiihrung 
in  die  kapitalistische  Organisation  im  16.  Jahrhundert  wiederum  auf 
die  Initiative  zweier  Fremden  zurückzuführen  ist.  E,  Pariset, 
Histoire  de  la  Fabricjue  Lyonnaise  (1901),  19/20. 


Einundseclizigstes  Kapitel:  Die  Fremden 


889 


Dasselbe  gilt  von  der  schweizerischen  Seidenindustrie:  1575  er¬ 
öffnen  die  Pelligari  eine  Seidenmanufaktur  mit  15,  später  30  Knechten: 
„ein  Betrieb  von  15  resp.  30  Gesellen  war  bisher  selbst  bei  Papierern 
und  Buchdruckern  unerhört“  Geering,  Basels  Industrie,  471;  das¬ 
selbe  von  der  österreichischen  Seidenindustrie.  Buj  atti ,  Geschickte 
der  Seidenindustrie  Österreichs  (1893),  16  ff. 

Die  Seidenindustrie  ist  nur  das  Hauptbeispiel;  daneben  sind 
aber  zahlreiche  Industrien  bald  hier,  bald  dort,  bald  von  Franzosen, 
bald  von  Deutschen,  bald  von  Holländern,  bald  von  Italienern 
in  fremden  Ländern  —  und  zwar  meist,  wenn  sie  im  Begriff 
waren,  in  die  kapitalistische  Form  überzugehen,  begründet  worden. 

2.  Die  „Emigranten“ 

Noch  viel  fühlbarer  wird  aber  der  Einfluß  der  „Fremden“ 
auf  den  Gang  des  Wirtschaftslebens  in  den  Fällen,  in  denen  es 
sich  um  Massen  Wanderungen  aus  einem  in  das  andere 
Land  handelt.  Solcher  Massenwanderungen  können  wir  seit  dem 
16.  Jahrhundert,  in  dem  sie  einsetzen,  folgende  drei  unter¬ 
scheiden  : 

1.  die  Wanderungen  der  Juden; 

2.  die  Kolonisation  der  überseeischen  Länder,  namentlich  der 
Vereinigten  Staaten  von  Amerika; 

3.  die  Wanderungen  der  religionsverfolgten  Christen,  ins¬ 
besondere  der  Protestanten:  die  „Emigranten“. 

Über  die  Bedeutung  der  Juden  spreche  ich  im  Zusammen¬ 
hänge  im  folgenden  Kapitel.  Den  Anteil  der  „Fremden“  an  der 
Kolonisation  darzustellen,  wäre  widersinnig,  da  alle  Kolonisa¬ 
toren  „Fremde“  sind.  Bleibt  als  Aufgabe,  die  Bedeutung  wenigstens 
annähernd  aufzuzeigen,  die  den  „Emigranten“  für  die  Heraus¬ 
bildung  eines  kapitalistischen  Unternehmertums  in  Europa  zu¬ 
kommt.  • 

Die  Wanderungen  der  religionsverfolgten  Christen,  insbeson¬ 
dere  der  Protestanten,  nahmen  seit  dem  Ausbruch  der  Reformation 
den  Charakter  von  Massenwanderungen  an.  Wohl  alle  Länder 
haben  gegeben  und  empfangen,  aber  man  weiß,  daß  die  meisten 
Verluste  Frankreich  erlitt,  und  daß  die  andern  Länder  mehr 
französische  Emigranten  aufnahmen,  als  sie  eigene  Landeskinder 
verloren.  Eine  genaue  ziffernmäßige  Feststellung  des  Umfangs 
dieser  Wanderungen  ist  nicht  möglich.  Doch  kann  man  getrost 
sagen,  daß  es  sich  um  viele  Hunderttausend  gehandelt  hat,  die 

_ nur  innerhalb  der  Grenzen  Europas  —  ihre  Heimat  wechselten, 

weil  sie  ihren  Glauben  nicht  wechseln  wollten.  Die  Zahl  der- 


* 


890  Achter  Abschott:  Die  Entstehung  der  Unternehmerschaft 

j eiligen  Protestanten,  die  allein  nach  der  Aufhebung  des  Edikts 
von  Nantes  (1685)  Frankreich  verließen,  schätzt  Weiß1  auf 
250 — 300  000  (von  1  000  000  Protestanten  überhaupt ,  die  damals 
in  Frankreich  lebten).  Aber  die  Abwanderungen  hatten  schon 
im  16.  Jahrhundert  begonnen,  und  Frankreich  war  nicht  das 
einzige  Land,  aus  dem  eine  Abwanderung  stattfand.  Aber  es 
kommt  auch  nicht  so  sehr  darauf  an,  zu  wissen,  ob  es  hundert¬ 
tausend  mehr  oder  weniger  waren,  die  damals  an  den  Wande¬ 
rungen  teil  nab  men ,  als  vielmehr  die  Bedeutung  sich  klar  zu 
machen,  die  diese  Wanderungen  für  die  Neugestaltung  des  Wirt¬ 
schaftslebens  (was  uns  hier  angeht)  gehabt  haben.  Und  die  läßt 
sich  leicht  ermessen,  wenn  man  sich  die  Mühe  nimmt,  die  Wirk¬ 
samkeit  der  Emigranten  in  den  Ländern  ihrer  Bestimmung  zu 
verfolgen.  Da  ergibt  sich,  daß  sie  überall  am  Aufbau  des 
Kapitalismus  allerregsten  Anteil  nahmen,  und  daß  im  Bankwesen 
und  namentlich  in  der  Industrie  alle  Länder  den  Eingewanderten 
eine  wesentliche  Förderung  verdanken,  wie  folgender  Überblick 
erweisen  wird. 

Die  deutschen  Staaten  empfingen,  wie  man  weiß,  Flüchtlinge 
in  größeren  Massen  aus  Österreich,  Schottland  und  Frankreich.  Die 
Schotten  und  Franzosen  kommen  als  Vertreter  des  kapitalistischen 
Geistes  vornehmlich  in  Betracht. 

1.  Schotten  kamen  während  des  16.  und  17.  Jahrhunderts  nach 
Ostpreußen  und  Posen  in  großen  Scharen.  Sie  waren  reformierten 
und  katholischen  Bekenntnisses,  aber  in  beiden  Fällen  verließen  sie 
ihre  Heimat,  weil  sie  die  Bedrückungen  um  ihres  Glaubens  willen 
nicht  ertragen  konnten.  Die  Schotten  in  Ostpreußen  waren  in  der 
Mehrzahl  „wohlhabend  und  intelligent“  und  galten  als  gefährliche  Kon¬ 
kurrenten.  Joh.  Semberjycki,  Die  Schotten  und  Engländer  in  Ost¬ 
preußen,  Altpreußische  Monatsschrift  29  (1892),  228  ff.  Aber  auch 
ins  Innere  drangen  sie  vor:  am  Schlüsse  des  16.  Jahrhunderts  finden 
wir  ansässige  schottische  Kolonien  'in  Krakau,  Bromberg,  Posen; 
überall  waren  die  Schotten  unter  den  angesehensten  Kaufleuten.  Im 
Anfang  des  17.  Jahrhunderts  waren  mehr  als  die  Hälfte  der  Posener 
Großkaufleute  Schotten;  noch  1713  unter  36  Mitgliedern  der  Kauf¬ 
mannsinnung  8.  In  einer  Petition  der  Posöner  Kaufleute  an  den 
Grafen  Hoym  vom  11.  August  1795  heißt  es: 

„Die  Stadt  Posen  hat  ihren  ehemaligen  Glanz  und  die  Größe  seines 
Handels  demjenigen  Teile  seiner  Einwohner  zu  verdanken,  welche 
aus  Schottland  emigriert  waren  und  unter  der  Erhaltung  vieler  Privi¬ 
legien  sich  allhier  als  Kaufleute  etabliert  hatten“. 

G.  St.  A.  Gen.  Dir.  Südpr.  Ortsch.  LXXII  978  bei  Moritz  Jaffe, 
Die  Stadt  Posen  unter  preuß.  Herrschaft  (Schriften  d,  Ver,  f.  Soz 


1  Weiß,  Hist,  des  refugies  1,  104. 


Einundsechzigstes  Kapitel:  Die  Fremden 


891 


Pol.  119.  II.  S.  14);  vgl.  (zit.  ib.)  Th.  A.  Fischer,  The  Scots  in 
Germany;  idem,  The  Scots  in  Eastern  and  Western  Prussia.  Ferner 
A.  Rode,  Rob.  Bargraves  Reisebeschreibung  (Progr.  der  Oberreal¬ 
schule  in  Eimsbüttel  zu  Hamburg.  1905).  Ein  größeres  Werk  über 
die  Schotten  in  Polen  aus  der  Feder  der  Miss  Beatrice  Baskerville 
stellt  (1913)  die  Scott.  Hist.  Soc.  in  Aussicht. 

Im  16.  Jahrhundert  begegnen  wir  (ansässigen?)  Schotten  als  Spitzen- 
und  Posamentenhändlern  im  Erzgebirge :  Ed.  Siegel,  Geschichte  des 
Posamentiergewerbes  (1892),  42. 

Ebenso  waren  sie  in  Schlesien  zu  Hause.  In  Breslau  werden 
Schotten  schon  1596  erwähnt.  Die  Brieger  Kramer- Ordnung  von 
1629/1729  verbietet  Schotten,  Juden,  Italienern  usw.  das  Hausieren. 
In  Hirschberg  wurden  Borten  und  Schleier  von  Fremden,  „Juden, 
Schotten  und  Polacken“  abgeholt.  Sie  machen  sich  seßhaft  mittels 
einer  „Schotten  Kram-“  oder  „Schottenkammergerechtigkeit“.  Schles. 
Provinzialblätter  24  (1796),  459  ff. 

2.  Flüchtlinge  aus  der  Pfalz  und  Holland,  Reformierte  und  Menno- 
niten,  sind  es  gewesen,  die  den  Grund  zu  der  (gleich  auf  kapitalisti¬ 
scher  Basis  errichteten)  Crefelder  Seidenindustrie  gelegt  haben.  Mit¬ 
glieder  der  um  1688  eingewanderten  Familie  von  der  Leyen  sind  als 
die  Begründer  der  Seidenindustrie  in  Crefeld  anzusehen.  Im  Jahre 
1768  beschäftigte  die  Firma  Friedr.  und  Heinr.  von  der  Leyen  2800 
Menschen  in  der  Seidenindustrie.  Paul  Schulze,  Die  Seidenindustrie 
im  Handbuch  der  Wirtschaftskunde  Deutschlands  3  (1904),  658;  vgl. 
Berg,  De  Refugies  in  de  Nederlanden  1,  285. 

Holländer  waren  (neben  Juden)  die  führenden  Bankhäuser  der 
Reichsstadt  Frankfurt  a.  M. 

Die  Plüsch-  und  Moquetteindustrie  in  Gera  wurde  auf  kapitalistischer 
Basis  begründet  durch  Nicolas  de  Smit  aus  Tournay  (Doornik)  im 
Jahre  1595.  Karl  Germann,  Die  Möbelplüsch-  und  Moquette¬ 
industrie  (1913),  19.  _  . 

Niederländer  (neben  Schweden  und  Hugenotten)  sind  es,  die  im 
17.  Jahrhundert  die  Stahl-  und  Eisenwarenindustrie  im  Bergischen  zur 
Entwicklung  bringen.  Ernst  Voye,  Die  Kleineisenindustrie  usw.  in 
der  Gesch.  d.  Ind.  im  Märk.  Sauerlande  4  (1913),  276. 

3.  Bekannt  ist  die  Rolle,  die  die  französischen  Emigranten  im 
deutschen  Wirtschaftsleben  des  17.  und  18.  Jahrhunderts  gespielt 
haben,  daß  sie  hier  allerorts  vor  allem  die  kapitalistische  Industrie 
meist  ’erst  begründet  haben  und  einzelne  große  Handelszweige  (wie 
z.  B.  den  in  Seidenwaren)  fast  ganz  (zusammen  mit  den  Juden)  in 

ihren  Händen  hatten.  . , 

Die  wichtigsten  Kolonien  französischer  Refugies  waren  (Weiss, 
1,  245  ff.)  im  Kurfürstentum  Sachsen,  in  Frankfurt  a.  M.,  in  Hamburg, 
in  Braunschweig,  in  der  Landgrafschaft  Hessen  (Kassel!)  und  vor 
allem  —  in  Brandenburg-Preußen.  Die  Zahl  der  unter  Friedrich  Wilhelm  I. 
und  Friedrich  III.  aufgenommenen  Franzosen  wird  auf  25  000  ge¬ 
schätzt,  davon  in  Berlin  allein  10  000.  Die  Refugies  führten  überall  das 
System  der  „Manufactures  reunies“  ein;  namentlich  in  der  Erzeugung 
yon  Wollstoffen,  so  in  Magdeburg  (1687  beschäftigten  Andre  Valentin 


892  Achter  Abschnitt:  Die  Entstehung  der  Unternehmerschaft 

aus  Nimes  und  Pierre  Claparede  aus  Montpellier  100  Arbeiter  an  Web¬ 
stühlen  und  400  Spinnerinnen),  Halle  a.  S.,  Brandenburg,  Westfalen, 
Berlin,  nur  in  der  Seidenfabrikation.  Andere  Industrien,  die  den  Fran¬ 
zosen  ihre  Begründung  oder  Weiterentwicklung  im  kapitalistischen 
Sinne  verdanken,  war  die  Erzeugung  von  Strümpfen,  Hüten  (1782 
wird  die  erste  Hutfabrik  mit  37  Arbeitern  von  einem  Franzosen  in 
Berlin  begründet),  Leder,  Handschuhen,  Papeterien,  Spielkarten,  Leinöl, 
Luxusseifen  (1696  wird  die  erste  Luxusseifenfabrik  von  einem  Fran¬ 
zosen  in  Berlin  errichtet)  0.  Wiedfeldt,  a.  a.  0.  S.  386.,  Lichter, 
Glas,  Spiegeln  u.  a. 

Die  von  den  Franzosen  begründeten  Industrien  sind  vollständig 
aufgezählt  im  5.  und  6.  Bande  des  angeführten  Werkes  von  Er  man 
und  Reel  am. 

Die  Einführung  der  Zeugmacherei  in  Deutschland  geht  im  16.  Jahr¬ 
hundert  auf  flüchtige  Niederländer;  im  17.  Jahrhundert  auf  flüchtige 
Hugenotten  zurück:  so  sind  z.  B.  die  Zeug-Manufaktur  in  Göttingen, 
Kassel,  Mühlhausen,  Eisenach  1680 — 1720  auf  hugenottische  Einwohner 
zurückzuführen.  Journal  für  Fabriken  und  Manufakturen  XXIII.  268. 
277.  283. 

Hugenotten  sind  die  Begründer  der  Industrie  in  Baden  und  Kur¬ 
pfalz.  Gothein,  WG.  des  Schvvarzwaldes  1,  674  ff.,  ebenso  in  den 
fränkischen  Herzogtümern.  G.  Schanz,  Colonisation  usw.  1884. 

Unter  den  386  Mitgliedern  der  Tuch-  und  Seidenzunft  in  Berlin 
finden  sich  noch  zu  Anfang  des  Jahres  1808  nicht  weniger  als  81 
französische  Namen.  Verzeichnis  der  Vorsteher  und  sämtlicher  Mit¬ 
glieder  der  deutsch  und  französisch  vereinigten  Kaufmannschaft  der 
Tuch-  und  Seidenhandlung  hiesiger  Residenzien  nach  alphabetischer 
Ordnung  zum  Anfang  des  Jahres  1808  von  den  Ältesten  aus  den 
Gildebüchern  angefertigt  und  zu  haben  bei  der  Witwe  Arendt  im 
Börsenhause. 

4.  Auch  (katholische)  Italiener  finden  wir  unter  den  Begründern 
der  kapitalistischen  Wirtschaft  in  Deutschland.  So  im  Breisgau. 
Gothein,  a.  a.  0.  S.  739  ff. 

Holland  ist  seit  der  Lostrennung  der  sieben  Provinzen  der  Zu¬ 
fluchtsort  aller  möglichen  Arten  von  Flüchtlingen  gewesen.  „La  grande 
arche  des  fugitifs“  nannte  es  schon  Bayle.  Das  religiöse  Interesse 
war  keineswegs  immer  das  entscheidende;  die  holländischen  Staaten 
nahmen  auf,  was  ihnen  Vorteil  für  Handel  und  Industrie  zu  bringen 
versprach:  Heiden,  Juden,  Christen,  Katholiken  und  Protestanten. 
„Eigenbelang  .  .  .  meer  nog  dan  medelijden  voor  vervolgde  geloofs- 
genooten  .  .  ,  (had)  zijn  deel  in  de  edelmoedige  en  liefderijke  ont- 
vangst  der  vlugtelingen  .  .  .“  W.  E.  J.  Berg,  De  Refugiös  in  de 
Nederlanden  1,  167  ff. 

So  kamen  unter  Maria  Tudor  30  000  protestantische  Engländer 
nach  Holland ;  während  des  Dreißigjährigen  Krieges  zahlreiche  Deutsche, 
während  der  spanischen  Gewaltherrschaft  (also  schon  im  16.  Jahr¬ 
hundert)  Wallonen,  Flamländer,  Brabanter  aus  den  spanischen  Nieder¬ 
landen;  seit  ihrer  Vertreibung  aus  Spanien  viele  Juden;  seit  dem 
16.  und  namentlich  im  17.  Jahrhupdert  große  Massen  französischer 


Einundseclizigstes  Kapitel:  Die  Fremden 


803 


Protestanten,  deren  Zahl  man  gegen  Ende  des  17.  Jahrhunderts  auf 
55 — 75  000  schätzte. 

Interessant  ist  nun  die  Feststellung:  daß  auch  in  diesem  Lande 
die  Fremden  einen  besonders  starken  Anteil  an  dem  „Aufschwünge 
des  Wirtschaftslebens“ ,  heißt  also  an  Begründung  und  Ausbreitung 
des  Kapitalismus  genommen  haben.  Wie  sehr  namentlich  der  Börsen¬ 
handel  und  die  Spekulation  durch  die  Juden  befördert  worden  sind, 
die  die  Amsterdamer  Börse  im  17.  und  18.  Jahrhundert  fast  vollständig 
beherrschten,  habe  ich  ausführlich  in  meinem  Judenbuche  dargetan. 
Aber  auch  die  andern  Einwanderer  nahmen  bald  eine  hervorragende 
Stellung  in  Handel  und  Industrie  ein.  So  finden  wir  beispielsweise 
einen  Franzosen,  den  „genialen  und  rastlosen“  Balthasar  de  Moucheron, 
als  Begründer  von  Handelsgesellschaften  neben  seinem  Bruder  Melchior, 
der  ebenfalls  ein  berühmter  Kaufmann  war.  J.  N.  de  Stoppelaar, 
Balthasar  de  Moucheron  (holl.).  1911,  zitiert  bei  S.  van  Brakei, 
De  kollandsche  Handelscompagnieen  der  zeventiende  eeuw  (1908),  4. 

Besonders  aber  —  wie  fast  überall  —  erwiesen  sich  die  franzö¬ 
sischen  Emigranten  geschickt  in  der  Einbürgerung  neuer  kapitalistischer 
Industrien.  Ein  zeitgenössischer  Schriftsteller  des  17.  Jahrhunderts 
stellt  fest,  daß  mehr  als  zwanzig  verschiedene  Manufakturen  in  Holland 
von  Refugies  eingeführt  seien.  „Hanno  introdotto  i  Rifuggiati  l’uso 
nel  Paese  ...  di  piu  di  venti  specie  differenti  di  Manufatture  .  .  .“ 
Leti,  Teatro  belgico  2,  148,  bei  Berg  1,  212. 

Die  Blüte  Amsterdams  führt  ein  anderer  Schriftsteller  der  Zeit 
auf  den  Einfluß  der  Fremden  zurück.  S  c  i  o  n  schreibt  an  den  Magistrat 
von  Amsterdem :  „toutes  ces  industries  se  sont  etablies  en  deux  ans 
de  temps  et  sans  depense  .  .  .  Cela  remplit  de  plus  en  plus  la  ville 
d’habitants,  accroit  ses  revenus  publics,  affermit  ses  murailles  et  ses 
boulevards,  y  multiplie  les  arts  et  les  fabriques,  y  etablit  les  nouvelles 
modes ,  y  fait  rouler  l’argent ,  y  eleve  de  nouveaux  edifices ,  y  iait 
fleurir  de  plus  en  plus  le  commerce,  y  fortifie  la  rehgion  protestante, 
y  porte  encore  plus  l’abondance  de  toutes  choses  .  .  .  Cela  enfin  con- 
tribue  ä  rendre  Amsterdam  l’une  des  plus  fameuses  villes  du  monde  .  .  . 
Zitiert  bei  Chr.  Weiß,  Hist,  des  Refugies  2,  135/36. 

Neben  Amsterdam  zogen  vor  allem  Leyden  und  Harlem  Vorteil 
von  ihnen.  Die  Industrien,  die  durch  die  französischen  Refugies  ge¬ 
pflanzt  wurden,  sind,  wie  üblich,  in  erster  Linie  die  Textil-(Seiden-) 
Industrie,  dann  die  Hutmacherei,  die  Papierfabrikation,  die  Buch¬ 
druckerei.  Wir  können  auch  deutlich  wahrnehmen,  wie  gerade  immer 
die  Wendung  zur  kapitalistischen  Organisation  auf  den  Einfluß  der 
Einwanderer  zurückzuführen  ist:  bis  zum  17.  Jahrhundert  ist  das 
Handwerk  ziemlich  intakt;  dann  setzen  —  namentlich  m  der  zweiten 
Hälfte  des  Jahrhunderts  —  die  Kontrakte  der  Städte  mit  fremden 
Unternehmern  ein:  1666  Vertrag  des  Magistrats  von  Harlem  mit  einem 
Engländer  zwecks  Errichtung  einer  Spiegelfabrik,  1678  mit  J.  J.  lecher 
zwecks  Begründung  einer  Seidenzwirnerei  usw.  Einen  Überblick  über 
die  Emigrantenindustrie  in  Holland  gibt  Berg,  1.  c.  1,  109  11.  Vg  . 
Pringsheim,  32  f. 


894  Achter  Abschnitt:  Die  Entstehung  der  Unternehmerschaft 

Daß  auch  in  England  die  kapitalistische  Entwicklung  wesentlich 
gefördert  ist  durch  fremde  Einwanderer,  ist  weniger  bekannt  und  kann 
doch  nicht  in  Zweifel  gezogen  werden.  Dahingestellt  bleibe,  welche 
dauernden  Spuren  die  Italiener,  die  im  14.  Jahrhundert  England  über¬ 
schwemmten  ,  im  englischen  Wirtschaftsleben  zurückgelassen  haben. 
Ein  so  gründlicher  Kenner  wie  Cunningham  will  beispielsweise  in 
den  ersten  englischen  Kapitalistenvereinigungen  Nachahmungen  italie¬ 
nischer  Vorbilder  sehen.  Sicher  aber  haben  die  Einwanderer  des  16. 
und  17.  Jahrhunderts,  die  namentlich  aus  Holland  und  Frankreich 
kamen,  tiefe  Furchen  im  englischen  Wirtschaftsleben  gezogen.  Ihre 
Zahl  ist  beträchtlich:  1560  sollen  schon  10  000,  1563  gar  30  000 
flandrische  Flüchtlinge  in  England  Aufnahme  gefunden  haben  (nach 
dem  Berichte  des  spanischen  Gesandten).  Mögen  diese  Ziffern  auch 
übertrieben  sein ,  so  können  wir  doch  annehmen ,  daß  sie  von  der 
Wirklichkeit  nicht  weit  entfernt  waren,  wie  zuverlässige  Statistiken 
bestätigen:  eine  Zählung  des  Lordmayor  von  London  aus  dem  Jahre 
1568  ergibt  6704  Fremde  in  London,  davon  5225  Niederländer;  1571 
sind  in  Norwich  3925  Holländer  und  Wallonen,  1587  besteht  die 
Majorität  der  Bevölkerung  (4679)  aus  ihnen.  Quellen  bei  Douglas 
Campbell,  The  Puritans  1,  269.  Es  gibt  gute  Gewährsmänner,  die 
behaupten,  daß  mit  diesen  Niederländern  die  Geschichte  der  englischen 
Industrie  beginne.  Beträchtlicher  noch  war  die  Zahl  der  französischen 
Flüchtlinge,  die  namentlich  im  17.  Jahrhundert,  nach  England  kamen. 
Sie  wird  übereinstimmend  von  Baird,  Poole,  Cunningham  auf 
etwa  80  000  geschätzt ,  von  denen  die  Hälfte  etwa  nach  Amerika 
weitergewandert  sein  soll.  Und  zwar  waren  es  gerade  die  reicheren 
Hugenotten,  die  sich  nach  England  begaben.  Jurieu,  Lettres  pasto- 
rales  2  (1688),  451;  bei  Weiß  1,  132. 

Die  fremden  Einwanderer  betätigten  nun  ihren  Unternehmungsgeist 
auf  den  verschiedensten  Gebieten  des  Handels  und  der  Industrie,  für 
die  sie  vielfach  bahnbrechend  geworden  sind.  Hauptsächlich  von  ihnen 
eingebürgert  wurden:  die  Seidenindustrie,  die  Schleier-  und  Battist- 
weberei,  die  Teppichweberei,  die  Hutfabrikation:  früher  wurden  Hüte 
aus  Flandern  bezogen,  Kefugies  begründen  eine  Manufaktur  für  Filz- 
und  thrummed  liats  unter  5  und  6  Ed.  VI.  1 ;  die  Papierfabrikation : 
die  Erzeugung  von  Luxuspapier  1598  durch  einen  Deutschen,  Spill- 
rnann,.  eingeführt;  nach  einem  Gedicht  von  Thomas  Churchyard  be¬ 
schäftigt  er  600  Personen;  die  Glasindustrie:  Privileg  an  Anthony 
Been  und  John  Care  (Niederländer)  für  21  Jahre  zur  Errichtung, 
von  Glashütten ,  „um  Glas  nach  Art  des  französischen ,  burgun- 
dischen  und  holländischen  zu  machen“,  1670  errichten  Venetianer 
eme  große  Spiegelglasfabrik;  die  Eisendrahtfabrikation:  1662  durch 
Holländer  eingeführt;  die  Färberei.  1577  zeigt  der  Portugiese  Pero 
Vaz  Devora  den  englischen  Färbern  die  Indigofärberei,  im  17.  Jahr¬ 
hundert  führt  der  Fläme  Kepler  die  berühmte  Scharlachweberei  ein 
em  anderer  Fläme,  Bauer,  bringt  (1667)  die  Wollfärberei  zu  hoher 
Blüte;  die  Kalikodruckerei:  1690  durch  einen  Franzosen  eingeführt; 
die  Cambricfabrikation :  im  18.  Jahrhundert  durch  einen  französischen 
Reformierten  in  Edinburg  eingeführt;  die  Standard-industry  Englands : 


Einundsechzigstes  Kapitel:  Die  Fremden 


895 

die  Baumwollindustrie  wird  durch  Fremde  in  Manchester  begründet; 
die  Uhrenindustrie :  Holländer  machen  zuerst  Pendeluhren,  die  Dutch 
clocks  heißen;  Wasserwerke  werden  für  London  von  einem  Italiener, 
Genelli,  geplant;  eine  Kompagnie  deutscher  Unternehmer  betreibt  im 
16.  Jahrhundert  den  Kupferbergbau  und  die  Kupferindustrie;  die 
Sheffielder  Messerindustrie  wird  erst  durch  Flämen  berühmt  gemacht, 
und  so  weiter  in  langer  Folge.  Die  angeführten  Tatsachen  nach 
J.  S.  Bum,  1.  c.  254  ff.;  Cunningham,  Alien  Immigrants,  178  ff. 
212  ff.  235.  263.  Vgl.  auch  Campbell,  The  Puritans  1,  489  f., 
und  W.  H.  Lecky,  Geschichte  des  18.  Jahrhunderts  (deutsche  Über¬ 
setzung)  1,  205  ff.  Ich  habe  nur  einen  kleinen  Auszug  aus  der  Fülle 
des  Materials  gegeben. 

Wie  groß  der  Einfluß  der  fremden  Einwanderer  auf  den  Gesamt¬ 
verlauf  auch  der  schwelgerischen  Volkswirtschaft  gewesen  ist,  hat  in 
meisterhafter  Weise  schon  Traugott  Geering  in  seinem  schönen 
Buche  über  Handel  und  Industrie  der  Stadt  Basel  (1886)  gezeigt, 
dessen  neuntes  Kapitel  die  „Locarner  und  Hugenotten“  behandelt. 
Vgl.  noch  H.  Wart  mann,  Handel  und  Industrie  des  Kantons 
St.  Gallen  (1875),  87  ff.  Peter  Bion  —  der  Begründer  der  St.  Galler 
Baumwollindustrie  —  ist  ein  typischer  Vertreter  des  unternehmenden 
und  erfolgreichen  „Fremden“. 

Daß  Rufslands  wirtschaftliche  Entwicklung  im  wesentlichen  ein 
Werk  der  Fremden  ist,  ist  bekannt. 


896 


Zweiimdsechzigstes  Kapitel 

Die  Juden 

Wenn  ich  den  Juden  in  dieser  genetischen  Darstellung  des 
kapitalistischen  Unternehmertums  ein  besonderes  Kapitel  widme, 
so  geschieht  es  deshalb,  weil  ihre  Kolle,  die  sie  in  der  Geschichte 
des  modernen  Kapitalismus  spielen,  in  der  Tat  eine  einzigartige 
ist:  sowohl  ihre  Betätigung  als  kapitalistische  Unternehmer  wie 
auch  die  Gründe  ihrer  hervorragenden  Bedeutung  für  den  Gang 
der  wirtschaftlichen  Ereignisse  weisen  soviel  Besonderheit  auf, 
daß  keine  Wirtschaftsgeschichte,  die  einigen  Anspruch  auf  Voll¬ 
ständigkeit  erhebt,  an  ihnen  vorübergehen  kann. 

Nun  glaube  ich  in  meinem  Judenbuche 1  den  Nachweis  er¬ 
bracht  zu  haben ,  daß  die  eigentümliche  Bedeutung  der  Juden 
für  die  neuzeitliche  Geschichte  in  der  Beförderung  desjenigen 
Zuges  der  kapitalistischen  Entwicklung  zu  suchen  ist,  den  ich 
die  Kommerzialisierung  des  Wirtschaftslebens  genannt  habe. 
Deren  Verallgemeinerung  bezeichnet  nun  aber  den  Übergang 
zum  hochkapitalistischen  Zeitalter.  Die  besondere  und  ent¬ 
scheidende  Bedeutung  der  Juden  muß  also  darin  gefunden 
werden,  daß  ihr  em  Ein  wirken  die  beschleunigte  Über¬ 
führung  frühkapitalistischer  Wirtschaftsformen  in 
hoch  kapitalistische  zu  zu  sch  reiben  ist. 

Von  dieser  Tätigkeit  der  Juden  ist  hier,  wo  wir  erst  den 
Aufbau  der  frühkapitalistischen  Wirtschaft  verfolgen,  noch  nicht 
zu  handeln. 

Irrtümlich  wäre  nun  aber  die  Annahme,  daß  die  Juden  an 
diesem  ersten  Aufbau  des  Kapitalismus  überhaupt  keinen  Anteil 
hätten.  Vielmehr  finden  wir  sie  auch  in  der  Frühzeit  der  modernen 
Wirtschaft  sehr  rege  als  Unternehmer  tätig,  wie  ich  das  in  meinem 
genannten  Buche  ebenfalls  ausführlich  dargestellt  habe.  Und 
auch  in  dieser  Zeit  lassen  sich  schon  bestimmte ,  den  Juden 
eigentümliche  Formen  der  wirtschaftlichen  Tätigkeit  aufzeichnen, 
in  denen  gleichsam  die  Keime  ihrer  späteren  welthistorischen 
Mission  gelegen  sind. 


1  Di©  Juden  und  das  Wirtschaftsleben.  1911. 


Zweiundsechzigstes  Kapitel:  Die  Juden 


897 


Folgendes  sind 

I.  die  wichtigsten  Leistungen  der  Juden  als  Unter¬ 
nehmer 

im  frühkapitalistischen  Zeitalter: 

1.  Die  Belebung  des  internationalen  Wareuliandels 

Bedeutend1  ist  der  Anteil,  den  die  Juden  an  der  Neugestaltung 
des  Handels  genommen  haben,  wie  sie  sich  seit  der  Verschiebung 
des  Wirtschaftsgebietes  vollzieht.  Bedeutend  zunächst  durch  die 
offenbar  rein  quantitativ  hervorragende  Beteiligung 
an  den  bewirkten  Warenumsätzen. 

So  soll  sich  der  Umfang  des  Handels  der  Juden,  schon  vor 
ihrer  Zulassung,  also  in  der  ersten  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts, 
auf  ein  Zwölftel  des  gesamten  englischen  Handels  belaufen 
haben2.  Leider  erfahren  wir  nicht,  welcher  Quelle  diese  Ziffer 
entnommen  ist.  Daß  sie  aber  nicht  allzuweit  von  der  Wirklich¬ 
keit  sich  entfernt,  beweist  eine  Angabe,  die  wir  in  einer  Denk¬ 
schrift  der  Londoner  Kaufleute  finden.  Es  handelte  sich  darum, 
ob  die  Juden  den  Fremdenzoll  auf  Einfuhrgüter  zahlen  sollten 
oder  nicht.  Die  Denkschreiber  meinen,  wenn  er  aufgehoben 
würde,  würde  die  Krone  einen  Verlust  von  jährlich  mindestens 
10000  ü7  erleiden3 * *. 

Auffallend  gut  sind  wir  unterrichtet  über  die  Beteiligung  der 
Juden  an  der  Leipziger  3Iesse,  die  ja  lange  Zeit  hindurch  der 
Mittelpunkt  des  deutschen  Handels  war  und  für  dessen  intensive 
und  extensive  Entwicklung  einen  guten  Gradmesser  bildet,  die 
aber  auch  für  einige  der  angrenzenden  Länder,  namentlich  Polen 
und  Böhmen,  eine  wichtige  Rolle  gespielt  hat.  Hier  auf  der  Leip¬ 
ziger  Messe  finden  wir  nun  seit  dem  Ende  des  17.  Jahrhunderts  in 
wachsendem  Umfange  Juden  als  Meßfieranten,  und  die  Bearbeiter 
des  Ziffernmaterials  kommen  sämtlich  dahin  überein,  daß  die 
Juden  es  seien,  die  den  Glanz  der  Leipziger  Messe  begründet 
haben.  Überblicken  wir  den  ganzen  Zeitraum  von  1767—1839, 
so  zeigt  sich,  daß  die  Messen  durchschnittlich  im  Jahre  von  3185 
jüdischer  Meßfieranten  besucht  waren ,  denen  13005  Christen 

1  Für  alle  Einzelheiten  verweise  ich  auf  mein  Buch:  Die  Juden 
und  das  Wirtschaftsleben,  Seite  25  ff. 

2  Alb.  M.  Hyamson,  A  History  of  the  Jews  in  England 

(1908),  178. 

8  Blossiers  Tovey,  Anglia  Judaica  (1788). 

Sombart,  Der  moderne  Kapitalismus.  I. 


57 


898  Achter  Abschnitt:  Die  Entstehung  dev  Unternehmerschaft 

gegenüberstellen:  die  Zahl  betrug  demnach  24,49 °/o  oder  fast 
ein  Viertel  von  der  der  christlichen  Kaufleute.  In  einzelnen 
Jahren,  wie  z.  B.  zwischen  1810' und  1820  steigt  das  Verhältnis 
der  Juden  zu  den  Christen  bis  auf  4896  Juden,  14366 

Christen  h 

Während  des  16.  und  17.  Jahrhunderts  bis  tief  ins  18.  hinein 
bildeten  der  Levantehandel  und  der  Handel  mit  und  über  Spanien- 
Portugal  noch  die  bei  weitem  wichtigsten  Zweige  des  Welthandels. 
Siehe  den  6.  Hauptabschnitt  des  2.  Bandes.  Auf  diesen  Handels¬ 
wegen  spielten  aber  die  Juden  die  führende  Holle.  Schon  von 
Spanien  aus  hatten  sie  den  größten  Teil  des  Levantehandels  in 
die  Hände  bekommen;  schon  damals  hatten  sie  überall  in  den 
levantinischen  Seeplätzen  Kontore.  Bei  der  Vertreibung  aus 
der  Pyrenäenhalbinsel  ging  ein  großer  Teil  der  Spaniolen  selbst 
in  den  Orient;  ein  anderer  Teil  zog  nordwärts  und  somit  glitt 
ganz  unmerklich  der  Orienthandel  zu  den  nordischen  Völkern 
hinüber.  Ebenso  leiteten  sie  den  neuentstehenden  Kolonialhandel, 
soweit  er  über  Spanien  und  namentlich  Portugal  ging ,  nach 
Norden  und  machten  dadurch  zunächst  Antwerpen  zum  Welt¬ 
handelsplatz. 

Später  wird  Holland  durch  die  Knüpfung  dieser  Beziehungen 
erst  eine  Welthandelsmacht.  Das  Netz  des  Welthandels  wurde 
größer  und  engmaschiger  genau  in  dem  Maße ,  wie  die  Juden 
ihre  Kontore  an  entferntere  und  in  näher  beieinander  liegende 
Orte  verlegten1 2.  Zumal  dann,  als  der  Westen  der  Erde  in  den 
Welthandel  einbezogen  wurde. 

Einen  interessanten  Bericht  des  Magistrats  von  Antwerpen  an  den 
Bischof  von  Utrecht  vom  30.  Sept.  1546  lesen  wir  bei  J.  Nanninga 
Uitterdigk,  Een  Kamper  Handelshuis  te  Lissabon  (1904),  LXIV  f. 
Darin  wird-  ganz  unumwunden  ausgesprochen,  daß  die  Marranen  die 
Begründer  des  großen  Überseehandels  namentlich  in  Kolonialwaren 
seien,  daß  das  kommerzielle  Aufblühen  der  Niederlande  —  ihnen  ge¬ 
schuldet  sei:  „on  veoit  par  experience  que  la  pluspairt  des  navires 
qu’arriverent  en  Zelande  et  la  dicte  ville  d’Anvers  du  costel  de  Wetst, 


1  Rieh.  Markgraf,  Zur  Gesell,  der  Juden  auf  den  Messen  in 
Leipzig  usw.  (1894).  Max  Freudenthal,  Leipziger  Meßgäste,  in 
der  Monatsschrift  für  die  Gesch.  des  Jud.  45  (1901),  460  lf. 

2  Über  diese  Zusammenhänge  spricht  ausführlich  H.  J.  Koenen, 
Geschiedenes  der  Joden  in  Nederland  (1843),  176  ff.  Zu  vergleichen 
etwa  noch  H.  Sommershausen,  Die  Geschichte  der  Niederlassung 
der  Juden  in  Holland  und  den  holländischen  Kolonien,  in  der  Monats¬ 
schrift  Band  2. 


Zweiuudsechzigstes  Kapitel.  Die  Juden 


899 


est  de  Portugal  et  des  Isles  d’Algarbe  et  le  conduysent  et  le  font 
venir  icliy  les  dicts  nouveaulx  Chrestiens.“  1.  c.  p.  LXV.  Um  welche 
Umsätze  es  sich  handelte,  ersehen  wir  aus  folgenden  Zilfern:  Diego 
Mendes  hat  an  Pfeifer  und  andern  Gewürzen  auf  Lager : 

für  seinen  Bruder  ....  für  60  000  duc. 

„  Georg  Lopez . .  50  000  „ 

„  Diego  Rodriguez  Pinto  .  „  48  000  „  h  c.  LXIII. 

Durch  die  Artbeschaffenheit  ihres  Handels  fast  noch 
mehr  als  durch  dessen  Umfang  gewinnen  sie  großen  Einfluß  auf 
die  Gesamtgestaltung  des  Wirtschaftslebens,  wirken  sie  teilweise 
revolutionierend  auf  die  alten  Lebensformen  ein. 

Da  tritt  uns  zunächst  die  bedeutsame  Tatsache  entgegen,  daß 
die  Juden  den  Handel  mit  wichtigen  Luxuswaren  lange  Zeit 
hindurch  so  gut  wie  monopolisiert  haben.  Und  während  des 
aristokratischen  17.  und  18.  Jahrhunderts  bedeutete  dieser  Handel 
das  meiste.  Die  Luxusgegenstände,  über  die  die  Juden  vor  allem 
verfügten,  sind  Bijouterien,  Edelsteine,  Perlen,  Seide  und  Seiden¬ 
waren:  Bijouterien  aus  Gold  und  Silber,  weil  sie  von  jeher  den 
Edelmetallmarkt  beherrscht  hatten;  Edelsteine  und  Perlen,  weil 
sie  die  Fundstätten  (namentlich  Brasilien)  als  die  ersten  besetzt 
hatten ;  Seide  und  Seidenwaren  wegen  ihrer  uralten  Beziehungen 
zu  den  östlichen  Handelsgebieten. 

Juwelen-  und  Perlenhandel:  in  Hamburg:  v.  Gries¬ 
heim,  Die  Stadt  Hamburg  (1759),  119.  Holland  (Begründer  der 
Diamantenschleiferei !) :  Jewisch  Enc.  Art.  Netherlands  9,  231..  E.  E. 
Danekamp,  Die  Amsterdamer  Diamantindustrie.  1895,  zitiert  bei 
N.  W.  Goldstein,  Die  J.  in  der  Amsterdamer  Diamantenindustrie 
(Zeitschrift  f.  Dem.  u.  Stat.  d.  J.  3,  178  ff.);  in  Italien:  Dav.  Kauf¬ 
mann,  Die  Vertreibung  der  Marranen  aus  Venedig  usw.  (Jew.  Quart. 

Rev.  13,  520  ff.)  _  _  ,  ,  , 

Handel  mit  Seide  und  Seidenwaren:  Die  Juden  haben 
jahrtausendelang  den  Seidenhandfel  (und  die  Seidenzucht)  gepflegt.  Sie 
bringen  die  Seidenindustrie  aus  Griechenland  nach  Sizilien  und  später 
nach  Spanien  und  Frankreich.  Einiges  bei  Graetz,  Gesell,  d.  J. 
5 2  244.  Im  16.  Jahrhundert  finden  wir  sie  als  Herren  des  Seiden¬ 
handels  in  Italien:  Dav.  Kaufmann,  a.  a.  O.;  im  18.  Jahrhundert 
in  Frankreich,  dem  Zentrum  der  Seidenindustrie  sowie  des  beiden- 
und  Seidenwarenhandels.  Im  Jahre  1760  nennt  der  Vorstand  der 
Lyoner  Seidenzunft  die  jüdische  Nation  „Maitresse  du  commerce  de 
toutes  les  provinces“  (für  Seide  nnd  Seidenwaren).  Bei  J.  G  o  d  ar  t, 
L’ouvrier  en  soie  (1899),  224.  1755  gibt  es  14,  1759  22  jüdische 

Seidenwarenhändler  in  Paris.  Kahn,  Juifs  de  Paris  sous  Louis  XIV, 
63.  In  Berlin  beherrschten  sie  diesen  Handelszweig  zusammen  mit 
den  französischen  Emigranten  fast  ausschließlich,  wie  folgende  Ziffern 
erweisen.  In  dem  Halbjahr  vom  1.  August  1753  bis  Januar  1  <.54 
haben  in  Berlin: 


900  Achter  Abschnitt  :  Die  Entstehung  der  Unternehmerschaft 


an  ausländischen  Seiden-  aus  den  Berliner  und  Pots¬ 
waren  eingebracht  damer  Fabriken  entnommen 

christliche  Kaufleute  für  8  225  Tlr.  2  522  Tlr. 

jüdische  „  „  22135  „  22473  „ 

Ber.  d.  Gen. -Dir.  vom  11.  März  1754.  Acta  bor.  Seidenindustrie. 
Bd.  I  Nr.  343.  Vgl.  Nr.  360. 

Auf  der  andern  Seite  finden  wir  die  Juden  überall  dort  mit, 
überragendem  Einfluß  am  Handel  beteiligt,  wo  es  den  Vertrieb 
von  Massenprodukten  gilt.  Einige  der  großen  Stapelartikel 
der  neuen  Zeit,  wie  Getreide,  Wolle,  Flachs,  später  Spiritus, 
Tabak  und  namentlich  Zucker  haben  sie  vornehmlich  zu  Markte 
gebracht. 

Stark  aufreizend  und  umstürzend  wirkte  auf  den  Gang  des 
Wirtschaftslebens  dann  aber  vor  allem  der  Handel  mit  neuen,  alte 
Verfahrungsweisen  revolutionierenden  Artikeln  ein,  an 
dem  wiederum  die  Juden  offenbar  einen  besonders  starken  Anteil 
hatten.  Ich  denke  an  den  Handel  mit  Baumwolle  1,  ausländischen 
Baumwollwaren  (Kattunen)2,  Indigo3  usw..  Die  Vorliebe  für 
solche  Artikel,  die  man  nach  damaliger  Denkweise  als  Stören¬ 
friede  der  heimischen  „Nahrung“  empfand,  trug  dem  Handel 
der  Juden  wohl  gelegentlich  den  Vorwurf  des  „unpatriotischen 
Handels“  ein,  des  „Judenkommerz,  welches  wenige  deutsche 
Hände  nützlich  beschäftigt  und  größtenteils  auf  der  inländischen 
V erzehrung  beruht 4  “ . 

Was  das  „ Judenkommerz“  sonst  noch  kennzeichnete  und  es 
vorbildlich  für  allen  Handel  machte,  der  dadurch  in  neue  Bahnen 
gelenkt  wurde,  war  die  Mannigfaltigkeit  und  Reich¬ 
haltigkeit  der  gehandelten  Waren.  Als  sich  die  Kauf¬ 
leute  von  Montpellier  über  die  Konkurrenz  beschweren,  die  ihnen 
die  jüdischen  Händler  bereiteten,  ahtwortetete  ihnen  der  Intendant 
(1740):  wenn  sie,  die  Christen,  ebenso  wohlassortierte  Lager  hätten 


1  Artikel  „America“  TJ.S.A.  in  der  Jew.  Encycl.  1,  495  ff. 

2  Nachweislich  z.  B.  für  Hamburg:  A.  Feilchenfeld,  Anfang 
und  Blütezeit  der  Portugiesengemeinde  in  Hamburg,  in  der  Zeitschr. 
d.  V.  f.  Hamb.  Gesch.  10,  211. 

8  Moses  Lindo,  Hauptförderer  der  Indigogewinnung;  kommt  1756 
nach  Süd-Carolina  und  legt  120  000  £  in  Indigo  an.  Von  1756  bis 
1776  verfünffacht  sich  die  Indigoproduktion.  L.  wird  Generalinsjoektor 
des  Indigo.  B.  A.  Eigas,  The  Jews  of  South  Carolina.  1903;  zit. 
im  Art.  South  Carolina  der  Jew.  Encycl. 

-  4  Risbeck,  Briefe  usw.  (1780).  Auszüge  bei  H.  Scheube,  Aus 
den  Tagen  unserer  Großväter  (1873),  382  ff. 


Zweiundsechzigstes  Kapitel:  Die  Juden 


901 


wie  die  Juden,  würde  die  Kundschaft  schon  ebenso  gern  zu  ihnen 
kommen  wie  zu  den  jüdischen  Konkurrenten1.  Und  von  der 
Tätigkeit  der  Juden  auf  den  Leipziger  Messen  entwirft  uns  Rieh. 
Markgraf  in  seinem  Schlußwort  folgende  Schilderung2 *:  „Fürs 
zweite  wirkten  sie  (die  jüdischen  Fieranten)  fördernd  auf  die  Me߬ 
geschäfte  durch  die  Mannigfaltigkeit  ihrer  Einkäufe,  insofern  sie 
dadurch  den  Meßhandel  immer  vielseitiger  gestalteten  und  die 
Industrie,  besonders  die  inländische,  zu  immer  größerer  Mannig¬ 
faltigkeit  in  der  Produktion  anspornten.  Auf  vielen  Messen  waren 
die  Juden  wegen  ihrer  verschiedenen  und  umfangreichen  Ein¬ 
käufe  sogar  ausschlaggebend.“ 

Worin  ich  aber  vor  allem  die  Bedeutung  sehe,  die  das  „Juden¬ 
kommerz“  während  der  frühkapitalistischen  Epoche  für  die  meisten 
Volkswirtschaften  gewann,  ist  der  Umstand,  daß  die  Juden  ge¬ 
rade  diejenigen  Uandelsgebiete  fast  ausschließlich  beheirschten, 
aus  denen  große  Mengen  Bargeld  zu  holen  waren :  also  die 
neuerschlossenen  Silber-  und  Goldländer  (Mittel-  und  Südamerika), 
sei  es  im  direkten  Verkehr,  sei  es  auf  dem  Umwege  über  Spanien 
und  Portugal.  Oft  genug  hören  wir  denn  auch  berichten,  daß 
die  Juden  bares  Geld  ins  Land  hineinbringen8.  Begründung  der 
modernen  Volkswirtschaft  hieß  aber  zu  einem  guten  Teile  Herbei¬ 
ziehung  von  Edelmetallen,  und  daran  war  niemand  so  sehr  be¬ 
teiligt  als  die  jüdischen  Kaufleute. 

2.  Der  Anteil  an  der  Kolonisierung  Amerikas4 * * * 

Es  ist  nur  natürlich,  daß  die  Juden  bei  allen  kolonialen 
Gründungen  stark  beteiligt  gewesen  sind  (da  ihnen  die  neue 
Welt,  wenn  sie  auch  nur  eine  alte  ummodelte,  immer  mehr 
Lebensglück  in  Aussicht  stellte  als  das  mürrische  alte  Europa, 
zumal  seit  hier  das  letzte  Dorado  sich  auch  als  unwirtliches 


1  Text  bei  Bloch,  Les  juifs  (1899),  36. 

2  Rieh.  Markgraf,  a.  a.  0.  S.  93.  . 

8  Siehe  z.  B.  Alb.  M.  Hyamson,  Hist,  of  the  Jews  m  England, 
174  f.  178,  oder  den  Bericht  des  Magistrats  von  Antwerpen  an  den 
Bischof  von  Arras  bei  Sal.  Ullmann,  a.  a.  0.  8.  35  („große  Reich- 
tümer  haben  sie  aus  ihrer  Heimat  mitgebracht,  insbesondere  Silber, 
Juwelen  und  viele  Dukaten“).  Vgl.  hierzu  den  6.  Hauptabschnitt  des 

4  Zur  Ergänzung  meiner  Darstellung  in  meinem  Judenbuche  dient 

ietzt  die  an  jene  Darstellung  anknüpfende  Studie  von  Herrn.  W atj  en, 

Das  Judentum  und  die  Anfänge  der  Kolonisation,  im  11,  Bande  der 

Vierteljahrschrift  f,  Soz.-  u.  WG, 


902 


Achter  Abschnitt :  Die  Entstehung  der  Unternehmerschaft 


Land  erwiesen  hatte).  Das  gilt  für  den  Osten  ebenso  wie  für 
den  Westen  und  für  den  Süden  der  Erde. 

Bei  weitem  das  wichtigste  Kolonisationsgebiet  der  Juden  aber 
sind  Mittel-  und  Südamerika,  namentlich  die  sogenannten 
„  Zuckerkolonien  “ . 

Die  ersten  Kaufleute  in  dem  neuentdeckten  Amerika  waren 
Juden.  Die  ersten  industriellen  Anlagen  in  den  amerikanischen 
Kolonien  rührten  von  Juden  her.  Schon  1492  lassen  sich  portu¬ 
giesische  Juden  in  St.  Thomas  nieder  und  beginnen  hier  die 
Plantagenwirtschaft  im  Großen :  sie  errichten  zahlreiche  Zucker¬ 
fabriken  und  beschäftigen  bald  3000  Negersklaven.  Der  Zu¬ 
strom  der  Juden  nach  Südamerika  gleich  nach  der  Entdeckung 
war  so  groß,  daß  im  Jahre  1511  die  Königin  Johanna  es  für 
notwendig  erachtete,  dagegen  einzuschreiten.  Offenbar  aber  blieb 
diese  Verordnung  ohne  Wirkung,  denn  der  Juden  drüben  wurden 
immer  mehr.  Durch  Gesetz  vom  21.  Mai  1577  wurde  dann  end¬ 
lich  das  Verbot  der  gesetzlichen  AusAvanderung  in  die  spanischen 
Kolonien  formell  aufgehoben. 

Um  die  rege  Wirksamkeit,  die  die  Juden  als  Begründer  des 
kolonialen  Handels  und  der  kolonialen  Industrie  in  dem  Bereiche 
südamerikanischen  Gebietes  entfalteten,  ganz  würdigen  zu  können, 
tut  man  gut,  das  Schicksal  einiger  Kolonien  im  einzelnen  zu 
verfolgen. 

Die  Geschichte  der  Juden  in  den  amerikanischen  Kolonien  und 
damit  deren  Geschichte  selbst  zerfällt  in  zwei  große  Abschnitte ,  die 
gebildet  werden  durch  die  Vertreibung  der  Juden  aus  Brasilien  (1654). 

Wie  die  Juden  gleich  nach  der  Entdeckung  im  Jahre  1492  in 
S.  Thome  die  Zuckerindustrie  begründen,  wurde  schon  erwähnt.  Um 
1550  finden  wir  diese  Industrie  auf  der  Insel  schon  in  voller  Blüte: 
60  Plantagen,  mit  Zuckermühlen  und  Siedepfannen  versehen,  erzeugen, 
wie  der  an  den  König  entrichtete  Zehnte  ausweist,  jährlich  150  000 
Arroben  Zucker  (ä  25  Pfd.).  Kitter,  Über  die  geographische  Ver¬ 
breitung  des  Zuckerrohrs  in  den  Berichten  der  Berl.  Akad.  1839,  397  (?), 
bei  Lippmann,  Gesch.  d.  Zuckers  (1890),  249.  Von  hier  aus  oder 
von  Madeira  aus  (nach  Max  J.  Köhler,  Phases  of  Jewish  Life  in 
New  York  before  1800  [Am.  Jew.  Hist.  Soc.  2,  94]),  wo  sie  ebenfalls 
seit  langem  die  Zuckerindustrie  betrieben,  verpflanzen  die  Juden  diesen 
Industriezweig  in  die  größte  der  amerikanischen  Kolonien :  nach  Bra¬ 
silien,  das  damit  in  seine  erste  Blüteperiode  —  die  durch  die  Vor¬ 
herrschaft  der  Zuckerindustrie  bestimmt  wird  —  eintritt. 

Das  Menschenmaterial  für  die  neue  Kolonie  lieferten  in  der  ersten 
Zeit  fast  ausschließlich  Juden  und  Verbrecher,  von  denen  jährlich 
zwei  Schiffsladungen  von  Portugal  hinübergehen.  Jew.  Enc.  Art. 
„America“.  Vgl.  G.  Al.  Kohut,  Les  Juifs  dans  les  colonies  hol- 


Zweiundsechzigstes  Kapitel:  Die  Juden 


903 


landaises  in  der  Rev.  des  etudes  juives  dl  (1895),  293  f.  Die  Juden 
werden  sehr  bald  die  herrschende  Kaste:  „ein  nicht  geringer  Teil  dei 
wohlhabendsten  brasilianischen  Kaufmannschaft  bestand  aus  , neuen 
Christen1.  H.  Handelmann,  Gesch.  v.  Brasilien  (1860),  412.  Einer  ihres 
Volksstammes  war  es  auch,  der  als  erster  Generalgouverneur  die  Ver¬ 
waltung  der  Kolonie  in  Ordnung  brachte:  in  der  Tat  begann  die  neue 
Besitzung  erst  recht  in  Blüte  zu  kommen,  als  man  im  Jahre  1549 
Thome  de  Souza,  einen  Mann  von  hervorragenden  Eigenschaften,  hinüber¬ 
schickte.  P.  M.  Net  scher,  Les  Hollandais  au  Bresil  (1853),  1. 
Über  die  reiche,  jüdische  Familie  der  Souza:  M.  Kayserling,  Gesch. 
der  J.  in  Portugal  (1867),  307;  M.  Grunwald,  Portugiesengräber 
(1902),  123.  Aber  ihren  vollen  Glanz  beginnt  die  Kolonie  erst  zu  ent¬ 
falten,  als  sie  (1624)  in  die  Hände  der  Holländer  übergeht  und  nun 
die  reichen  holländischen  Juden  anfangen,  hinüberzuströmen..  1624 
vereinigen  sich  zahlreiche  amerikanische  Juden  und  gründen  in  Bia- 
silien  eine  Kolonie,  in  die  600  angesehene  Juden  von  Holland  hei 
übersiedeln.  Max  J.  Köhler,  Pliases  etc.  Transactions  2,  94.  Noch 
in  dieser  ersten  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts  waren  alle  großen  Zucker¬ 
plantagen  in  den  Händen  von  Juden  (Jew.  Enc.  Art.  „America“),  von 
deren  umfassender  Wirksamkeit  und  von  deren  Reichtum  uns  die 
Reisenden  berichten.  So  äußert  sich  Nienhoff,  der  Brasilien  1640  bis 
1649  bereiste,  wie  folgt:  Among  the  free  inhabitants  of  Brazil  that 
were  not  in  the  (Dutsch  West  India)  Companys  Service  the  Jews 
were  the  most  considerable  in  number,  who  had  transplanted  themselves 
thither  from  Holland.  They  had  a  vast  traffic  beyond  all  the  rest, 
they  purchased  sugar-mills  and  built  stately  houses  in  the  Receif. 
They  were  all  traders ,  which  would  have  been  of  great  consequence 
to  the  Dutsch  Brazil  had  they  kept  themselves  within  the  due  bounds 
of  traffic“.  Und  in  F.  Pyrards  Reisebericht  lesen  wir:  „The  profits 
they  make  after  being  nine  or  ten  years  in  those  lands  are  marvellous, 
for  they  all  come  back  rieh.“  Transactions  2,  95.  Vgl.  auch  Netscher 

1.  c.  p.  103.  .  ,  .  , 

Diese  Vorherrschaft  des  jüdischen  Elements  im  Plantagenbetrieb 
überdauerte  die  Episode  der  holländischen  Herrschaft  über  Brasilien 
und  dehnte  sich  —  trotz  der  „Vertreibung“  (Eine  eigentliche  Ver¬ 
treibung  fand  nicht  statt.  Den  Juden  wurde  in  dem  Friedensvertrage 
von  1654  sogar  Amnestie  gewährt;  dann  aber  wurde  die  Bemerkung 
hinzugefügt:  „Juden  und  andere  Nichtkatholiken  sollen  wie  in  Portugal 
behandelt  werden“.  Das  genügte  ja!  Der  Friedensvertrag  ist  im  Wort¬ 
laut  abgedruckt  bei  Aitzema,  Historia  etc.  1626  ff.,  zit.  bei  Netscher 
a.  a.  O.  p.  163)  der  Juden  im  Jahre  1654  —  bis  in  das  18.  Jahr¬ 
hundert  aus.  Jedenfalls  erfahren  wir  noch  aus  der  ersten  Hälfte  des 
18.  Jahrhunderts  (H.  Handelmann,  Gesch.  v.  Brasil.,  412/13):  ein¬ 
mal  als  mehrere  der  angesehensten  Kaufleute  von  Rio  de  Janeiro 
dem  Heiligen  Amte  (der  Inquisition !)  in  die  Hände  fielen,  stockte  der 
Betrieb  auf  so  vielen  Plantagen,  daß  Produktion  und  Handel  der  Pro¬ 
vinz  (sc.  Bahia)  sich  erst  nach  längerer  Zeit  von  diesem  Schlage  er¬ 
holen  konnte“.  Durch  Dekret  vom  2.  März  1768  werden  dann  alle 
Register  über  die  neuen  Christen  zur  Vernichtung  eingeliefert;  durch 


904  Achter  Abschnitt:  Die  Entstehung  der  Unternehmerschaft 


Gesetz  von  25.  März  1773  werden  die  „neuen  Christen“  in  bürger¬ 
licher  Hinsicht  den  alten  Christen  vollkommen  gleichgestellt.  Es 
haben  sich  also  offenbar  wieder  zahlreiche  Kryptojuden  auch  nach  der 
Besitzergreifung  des  Landes  durch  die  Portugiesen  im  Jahre 
1654  in  Brasilien  an  hervorragender  Stelle  erhalten  und  haben  dem 
Lande  zu  seiner  Zuckerblüte  dann  noch  die  Edelsteinblüte  gebracht, 
da  sie  den  Handel  mit  Edelsteinen  sehr  bald  ebenfalls  sich  unter¬ 
warfen. 

Aber  darum  bleibt  das  Jahr  1654  in  der  jüdisch-amerikanischen 
Geschichte  doch  von  epochaler  Bedeutung.  Denn  ein  sehr  großer  Teil 
der  brasilianischen  Juden  wandte  sich  doch  damals  anderen  Gebieten 
Amerikas  zu  und  verlegte  dadurch  das  wirtschaftliche  Schwergewicht 
dorthin. 

Vor  allem  sind  es  nun  aber  einige  wichtige  Teile  des  westindischen 
Archipels  und  der  angrenzenden  Küste,  die  durch  die  Erfüllung  mit 
jüdischem  Wesen  seit  dem  17.  Jahrhundert  erst  recht  zur  Blüte  kommen. 
So  Barbados ,  das  fast  nur  von  Juden  bevölkert  wurde.  Es  war  1627 
von  den  Engländern  in  Besitz  genommen  worden;  1641  wurde  das 
Zuckerrohr  eingeführt;  1648  begann  der  Zuckerexport.  Die  Zucker¬ 
industrie  konnte  sich  aber  nicht  behaupten,  da  die  Zucker  wegen  ihrer 
schlechten  Qualität  die  Transportkosten  nach  England  nicht  deckten. 
Erst  die  aus  Brasilien  vertriebenen  „Holländer“  führten  daselbst  eine 
regelmäßige  Fabrikation  ein  und  lehrten  die  Einwohner,  trockenen 
und  haltbaren  Zucker  zu  bereiten,  dessen  Ausfuhr  alsbald  in  raschem 
Maße  zunahm.  1661  konnte  schon  Karl  II,  13  Besitzer,  die  aus 
Barbados  eine  Einnahme  von  10  000  £  bezogen,  zu  Baronen  eimennen, 
und  um  1676  war  die  Insel  bereits  imstande,  jährlich  400  Schiffe  mit 
je  180  t  Rohzucker  zu  beladen.  John  Camden  Hatten,  The 
Original  Lists  etc.  (1874),  p.  449;  Ligon,  History  of  Barbados, 
1657,  zit.  bei  Lippmann,  Gesch.  d.  Zuck.  (1890),  301  ff.;  Reed, 
The  History  of  sugar  and  sugar  yielding  plants  (1868),  7  dsgl.;  Morely , 
Abhandlung  über  den  Zucker,  deutsch  von  Nöldechen  (1800)  dsgl.; 
M.’ Cu  11  och,  Dict.  of  Commerce  2,  1087.  Zu  vergleichen  sind 
natürlich  auch  die  allgemeinen  kolonialhistorischen  Werke  also  vor 
allem  etwa  C.  P.  Lucas,  A  historical  Geography  of  the  British 
Colonies ,  z.  B.  22  (1905),  121  f.  274.  277. 

Von  Barbados  führte  1664  Thomas  Modyford  die  Zuckerfabrikation 
nach  Jamaica  ein,  das  damit  rasch  zu  Reichtum  gelangte.  1656 
hatten  es  die  Engländer  den  Spaniern  endgültig  entrissen.  Während 
es  damals  nur  drei  kleinere  Siedereien  auf  Jamaica  gab,  waren  1670 
schon  75  Mühlen  im  Betriebe,  deren  manche  2000  Ztr.  Zucker  er¬ 
zeugten  und  im  Jahre  1700  war  Zucker  der  Hauptartikel  Jamaicas 
und  die  Quelle  seines  Wohlstandes.  Wie  stark  die  Juden  an  dieser 
Entwicklung  beteiligt  waren,  schließen  wir  aus  der  Tatsache,  daß 
schon  1671  von  den  christlichen  Kaufleuten  bei  der  Regierung  der 
Antrag  auf  Ausschließung  gestellt  wird,  der  aber  nur  die  Wirkung 
hat,  daß  die  Ansiedlung  der  Juden  von  der  Regierung  noch  mehr  be¬ 
fördert  wird.  Der  Governor  verwarf  die  Petition  mit  den  denkwürdigen 
Worten:  „he  was  of  opinion  that  His  Majesty  could  not  have  more 


Zweiundsechzigstes  Kapitel:  Die  Juden 


905 


profitable  subjects  than  tbe  Jews  and  the  Holländers ;  they  bad  great 
Stocks  and  correspondance“.  Brief  des  Gouverneurs  vom  17.  12.  1671 
an  den  Staatssekretär  Lord  Arlington  bei  M.  Kayserling  in  dem 
unten  zitierten  Aufsatz  p.  710.  So  kam  es,  daß  die  Juden  aus 
Jamaica  nicht  ausgewiesen  wurden,  vielmehr  „they  became  the  first 
traders  and  merchants  of  the  English  colony“.  Monumental  Inscriptions 
of  the  British  West  Indies  coli,  by  Capt.  J.  H.  Lawrence  Archer. 
Introd.  p.  4  bei  Köhler,  Jew.  Life  a.  a.  0.  p.  98.  Im  18.  Jahr¬ 
hundert  tragen  sie  alle  Steuern  und  haben  Industrie  und  Handel 
größtenteils  in  ihren  Händen.  M.  Kayserling,  The  Jews  in 
Jamaica  etc.,  in  The  Jewish  Quarterly  Review  12  (1900),  708  ff. ; 
Alb.  M.  Hyamson,  A.  Hist,  of  de  Jews  in  England,  Ch.  XXVI. 
Viel  Belege  aus  zeitgenössischen  Queilen  bei  Max  J.  Köhler, 
Jewish  activity  in  American  Colon.  Commerce  in  den  Publ.  10,  59  ff. ; 
derselbe,  Jew.  Life  etc.,  Am.  Jew.  Hist.  Soc.  2,  98- 

Von  den  übrigen  englischen  Kolonien  bevorzugten  sie  inbesondere 
Surinam.  Hier  saßen  seit  1644  Juden,  die  bald  mit  Privilegien 
ausgestattet  wurden,  „whereas  we  have  found  that  the  Hebrew  na- 
tion  .  .  have  .  .  proved  themselves  useful  and  beneficial  to  the  colony“. 
Diese  bevorzugte  Lage  dauerte  natürlich  an,  als  Surinam  (1667)  von 
England  auf  Holland  überging.  Ende  des  17.  Jahrhunderts  ist  ihr 
numerisches  Verhältnis  wie  1  zu  3.  Sie  besitzen  1730  von  den  344 
Plantagen  in  Surinam,  auf  denen  meist  Zucker  gebaut  wurde,  115. 
Die  wichtigste  Quelle  für  die  Geschichte  der  Juden  in  Surinam 
ist  der  Essai  sur  la  Colonie  de  Surinam  avec  l’histoire  de  la 
Nation  Juive  Portugaise  y  etablie  etc.,  2  Vol.  Paramaribo  1788. 
Koenen,  der  in  seiner  Geschiedenes  der  Joden  in  Nederland  (1843), 
313  f.  einiges  daraus  mitteilt,  nennt  ihn  „de  hoofdbron  .  .  .  voor  de 
geschiedenes  der  Joden  in  die  gewesten“.  Leider  habe  ich  das  Origi¬ 
nal  selbst  nicht  einsehen  können.  Die  neuere  Literatur  hat  viel  neues 
Material  zutage  gefördert:  Rieh.  Gottheil,  Contributions  to  the 
history  of  the  Jews  in  Surinam  (Publ.  9 ,  129  ff.) ;  enthält  Auszüge 
aus  den  Katasterkarten;  J.  S.  Roos,  Additional  Notes  on  the  History 
of  de  J.  of  S.  (Publ.  13,  127  ff.);  P.  A.  Hilfman,  Some  further 
Notes  on  the  History  of  the  J.  in  S.  (Publ.  16,  7  ff.).  Uber  die  Be¬ 
ziehungen  zwischen  S.  und  Guianar  Sam.  Oppenheimer,  An  early 
Jewish  Colony  in  Western  Guiana  1658 — 1666  and  its  relation  to  the 
Jews  in  Surinam,  Cayenne  and  Tobago.  (Publ.  16,  95  186).  Vgl. 

auch  Hyamson  1.  c.  Ch.  XXVI  und  C.  P.  Lucas  1.  c. 

Dasselbe  Bild  wie  die  englischen  und  holländischen  Kolonien  ge¬ 
währen  die  wichtigeren  französischen:  Martinique,  Guadeloupe,  S.  Do¬ 
mingo.  Auch  hier  ist  die  Zuckerindustrie  die  Quelle  des  „Wohlstan¬ 
des“  und  auch  hier  sind  die  Juden  die  Beherrscher  dieser  Industrie 
und  des  Zuckerhandels. 

In  Martinique  wurde  die  erste  große  Plantage  und  Siederei  1655 
von  Benjamin  Dacosta  angelegt,  der  dorthin  mit  900  Glaubensgenossen 
und  1100  Sklaven  aus  Brasilien  geflüchtet  war. 

In  S.  Domingo  wurde  die  Zuckerindustrie  schon  1587  begonnen,  aber 
erst  die  „holländischen“  Flüchtlinge  aus  Brasilien  bringen  sie  in  Blüte. 


906  Achter  Abschnitt:  Die  Entstehung  der  Unternehmerschaft 

Über  Juden  in  Martinique ,  Guadeloupe  und  S.  Domingo:  Lippmann, 
Gesch.  d.  Zuckers  (1890),  301  ff.,  wo  auf  Quellen  und  frühere  Literatur 
verwiesen  ist.  Ab.  Cahen,  Les  juifs  de  la  Martinique  au  XVII  sc. 
(Revue  des  etudes  juives  Vol.  II);  idem,  Les  juifs  dans  les  Colonies 
fran^aises  au  XVIII  sc.  (Revue  Vol.  IV.  V.).  Handelmann, 
Geschichte  der  Insel  Hayti.  1856. 

Man  muß  sich  nun  immer  vor  Augen  halten,  daß  in  jenen  kriti¬ 
schen  Jahrhunderten,  als  die  amerikanische  Kolonialwirtschaft  begründet 
wurde ,  die  Zuckergewinnung  (außer  natürlich  der  Silberproduktion 
und  der  Gewinnung  von  Gold  und  Edelsteinen  in  Brasilien)  das  Rück¬ 
grat  der  ganzen  kolonialen  Volkswirtschaft  und  damit  indirekt  der 
einheimischen  Volkswirtschaft  bildete,  wie  ich  im  6.  Hauptabschnitt  des 
2.  Bandes  ziffernmäßig  nachzuweisen  versuchen  werde. 

•i.  Die  Kriegslieferungen 

Eine  ganz  hervorragende  Rolle  haben  jüdische  Händler 
während  der  Jahrhunderte,  in  denen  der  moderne  Staat  empor- 
kommt,  als  Lieferanten  des  Heeresbedarfs  gespielt,  so  daß  man 
fast  sagen  kann:  dieser  Geschäftszweig  sei  durch  sie  erst  recht 
entwickelt,  wie  er  es  auf  der  andern  Seite  gewesen  ist,  der  sehr 
viele  Juden  in  die  Höhe  gebracht  hat. 

Wir  begegnen  ihnen  zunächst  in  England  während  des  17. 
und  18.  Jahrhunderts  in  der  gedachten  Eigenschaft.  Während 
des  Commonwealth  ist  der  bei  weitem  bedeutendste  Heeres¬ 
lieferant  Ant.  Fern.  Carvajal ,  „the  great  Jew“ ,  der  zwischen 
1630  und  1635  in  London  einwandert  und  sich  bald  zu  einem 
der  leitenden  Kaufleute  des  Landes  aufschwingt.  Ln  Jahre  1649 
gehört  er  zu  den  fünf  Londoner  Kaufleuten,  denen  der  Staatsrat 
die  Getreidelieferung  für  das  Heer  überträgt1.  Er  soll  jährlich 
für  100  000  E  Silber  nach  England  gebracht  haben.  In  der  darauf¬ 
folgenden  Periode,  namentlich  in  den  Kriegen  Wilhelms  III.,  tritt 
als  „the  great  contractor“  vor  allem  Sir  Solomon  Medina,  „the 
Jew  Medina“,  hervor,  der  daraufhin  in  den  Adelstand  erhoben 
wird:  er  ist  der  erste  (ungetaufte)  adlige  Jude  in  England2. 

Und  ebenso  sind  es  Juden,  die  auf  der  feindlichen  Seite  im 
spanischen  Erbfolgekriege  die  Heere  mit  dem  Nötigen  versorgen : 
„Und  bedient  sich  Frankreich  jederzeit  ihrer  Hiilffe,  bey  Krieges- 


1  Luc.  Wolf,  The  First  English  Jew.  Repr.  from  the  Transac¬ 
tions  of  the  Jew.  Hist.  Soc.  of  England.  Vol.  II.  Zu  vergleichen 
Alb.  M.  Hyamson,  A  Hist,  of  the  Jews  in  E.,  171—173. 

2  Hyamson  1.  c.  p.  269.  J.  Picciotto,  Sketches  of  Anglo- 
Jewish  History  (1875),  58  ff. 


Zweiundsechzigstes  Kapitel:  Die  Juden 


907 


Zeiten  seine  Reuterey  beritten  zu  machen.“  1  1716  berufen  sich 
die  Straßburger  Juden  auf  die  Dienste,  die  sie  der  Armee  Lud-  _ 
wigs  XIV.  durch  Nachrichten  und  Proviant  geleistet  haben2. 
Jacob  Worms  hieß  der  Hauptkriegslieferant  Ludwigs  XIV3.  Im 
18.  Jahrhundert  treten  sie  dann  in  dieser  Eigenschaft  in  Frank¬ 
reich  immer  mehr  hervor.  Im  Jahre  1727  lassen  die  Juden  von 
Metz  innerhalb  von  sechs  Wochen  2000  Pferde  zum  Verzehr  und 
mehr  als  5000  als  Remonte  in  die  Stadt  kommen4.  Der  Marschall 
Moritz  von  Sachsen,  der  Sieger  bei  Font-enoy,  äußerte:  daß  seine 
Armeen  niemals  besser  verproviantiert  gewesen  seien,  als  wenn 
er  sich  an  die  Juden  gewandt  hätte5.  Eine  als  Lieferant  hervor¬ 
ragende  Persönlichkeit  zur  Zeit  der  beiden  letzten  Ludwige  w’  ai 
Cerf  Beer,  von  dem  es  in  seinem  Naturalisationspatent  heißt: 
„que  la  derniere  guerre  ainsi  que  la  disette,  qui  s  est  fait  sentir 
en  Alsace  pendant  les  annees  1770  et  1771  lui  ont  donne  1  occasion 
de  donner  des  preuves  de  zele  dont  il  est  anime  pour  notre 
Service  et  celui  de  l’Etat.“ 6  Ein  Wblthaus  ersten  Ranges  im 
18.  Jahrhundert  sind  die  Gradis  von  Bordeaux:  der  Abraham 
Gradis  errichtete  in  Quebec  große  Magazine,  um  die  in  Amerika 
fechtenden  französischen  Truppen  zu  versorgen7.  Eine  hervor¬ 
ragende  Rolle  spielen  die  Juden  in  Frankreich  als  Fournisseure 
unter  der  Revolution,  während  des  Direktoriums  und  auch  in 
den  napoleonischen  Kriegen  8.  Ein  hübscher  Beleg  für  ihre  über¬ 
ragende  Bedeutung  ist  das  Plakat,  das  1795  in  den  Straßen  von 
Paris  angeschlagen  wurde,  als  dieses  von  einer  Hungersnot  be¬ 
droht  war,  und  in  dem  die  Juden  aufgefordert  wurden,  sich  für 
die  ihnen  von  der  Revolution  verliehenen  Rechte  dadurch  er¬ 
kenntlich  zu  erweisen ,  daß  sie  Getreide  in  die  Stadt  kommen. 


1  Th.  L.  Lau,  Einrichtung  der  Intraden  und  Einkünfte  der  Sou¬ 
veräne  usw.  (1719),  258. 

2  Angeführt  bei  Liebe,  Das  Judentum  (1903),  75. 

3  Artikel  Banking  in  der  Jew.  Enc. 

4  Memoire  der  Juden  von  Metz  vom  24.  3.  1733,  im  Auszuge  ab¬ 
gedruckt  bei  Bloch  1.  c.  p.  35. 

5  Angeführt  bei  Bloch  1.  c.  p.  23. 

6  Auszüge  aus  den  Lettres  patentes  bei  Bloch  1.  c.  24. 

^  Über  die  Gradis:  Theoph.  Malve zin,  Les  juifs  ä  Bordeaux 
11875')  241  ff.  und  H.  Grätz,  Die  Familie  Gradis  in  der  Monats¬ 

schrift  ’  24  (1875),  25  (1876).  Beide,  auf  guten  Quellen  fußenden, 
Darstellungen  sind  unabhängig  voneinander. 

8  M.  Capefigue,  Banquiers,  fourmsseurs  etc.  (1856),  68.,  «14 

und  öfters. 


908  Achter  Abschnitt:  Die  Entstehung  der  Unternehmerschaft 

ließen.  „Eux  seuls“,  meint  der  Verfasser  des  Plakats,  „peuvent 
mener  cette  entreprise  ä  bonne  fin,  vu  leurs  nombrenses  relations, 
dont  ils  doivent  faire  profiter  leurs  concitoyens.“  1 

Ein  äh  n  lieb  es  Bild:  wie  im  Jahre  1720  der  Hofjude  Jonas 
Meyer  durch  Herbeischaffung  großer  Mengen  von  Getreide  (der 
Chronist  spricht  von  40  000  Scheffeln)  Dresden  vor  einer  Hungers¬ 
not  bewahrte2. 

Auch  in  Deutschland  finden  wir  die  Juden  frühzeitig  und 
oft  ausschließlich  in  den  Stellungen  der  Heereslieferanten.  Im 
16.  Jahrhundert  ist  da  der  Isaak  Meyer,  dem  Kardinal  Albrecht 
bei  seiner  Aufnahme  zu  Halberstadt  1537  mit  Rücksicht  auf  die 
bedrohlichen  Zeitläufte  die  Bedingung  stellt:  „unser  Stift  mit 
gutem  Geschütz,  Harnisch,  Rüstung  zu  versorgen“  ;  und  der  Josef 
von  Rosheim,  der  1548  einen  kaiserlichen  Schutzbrief  empfängt, 
weil  er  dem  König  in  Frankreich  Geld  und  Proviant  für  das 
Kriegsvolk  verschafft  hatte.  Im  17.  Jahrhundert  (1633)  wird 
dem  böhmischen  Juden  Lazarus  bezeugt,  daß  er  „Kundschaften 
und  Avisen,  daran  der  Kaiserlichen  Armada  viel  gelegen,  ein¬ 
holte  oder  auf  seine  Kosten  einholen  ließ,  und  sich  stets  be¬ 
mühte,  allerlei  Kleidung  und  Munitionsnotdurft  der  Kaiserlichen 
Armada  zuzuführen“.3  Im  Jahre  1546  begegnen  wir  böhmischen 
Juden,  die  Decken  und  Mäntel  an  das  Kriegsheer  liefern4.  Der 
große  Kurfürst  bediente  sich  der  Leimann  Gompertz  und  Salomon 
Elias  „bei  seinen  kriegerischen  Operationen  mit  großem  Nutzen, 
da  sie  für  die  Notwendigkeiten  der  Armeen  mit  vielen  Lieferungen 
an  Geschütz,  Gewehr,  Pulver,  Mondierungsstücken  etc.  zu  tun 
hatten“.5  Samuel  Julius:  Kaiserl.  Königl.  (Remonte-)  Pferde¬ 
lieferant  unter  Kurfürst  Friedrich  August  von  Sachsen ;  die 
Familie  Model:  Hof-  und  Kriegslieferanten  im  Fürstentum  Ans¬ 
bach  (17.,  18.  Jahrhundert)6.  „Dannenhero  sind  alle  Commissarii 

1  Mitgeteilt  in  der  Revue  de  la  Revolution  fran^aise  16.  1.  1892. 

2  Historische  Nachlese  zu  den  Nachrichten  der  Stadt  Leipzig,  ed. 
M.  Heinrich  Engelbert  Schwartze  (1744),  122,  zit.  bei  Alphonse 
Levy,  Geschichte  der  Juden  in  Sachsen  (1900),  58. 

3  Alle  3  Fälle  entnahm  ich  G.  Liebe,  Das  Judentum  (1903), 
43  f.,  70,  der  sie  ohne  Quellenangabe  mitteilt. 

4  Bondy,  Zur  Geschichte  der  Juden  in  Böhmen  1,  388. 

5  (König),  Annalen  der  Juden  in  den  preußischen  Staaten,  be¬ 
sonders  in  der  Mark  Brandenburg  (1790),  93/94. 

6  Reski’ipt  vom  28.  Juni  1777;  abgedruckt  bei  Alphonse  Levy, 
Die  J.  in  Sachsen  (1900),  74;  S.  Haenle,  Gesch,  d.  J.  im  ehemal. 
Fürstentum  Ansbach  (1867),  70. 


Zweiundsechzigstes  Kapitel:  Die  Juden 


909 


Juden,  und  alle  Juden  sind  Commissarii“  sagt  apodiktisch. 
Mosclierosch  in  den  Gesichten  Philanders  von  Sittewald1. 

Die  ersten  reichen  Juden,  die  unter  Kaiser  Leopold  nach  der 
Austreibung  (1670)  wieder  in  Wien  wohnen  durften:  die  Oppen¬ 
heimer,  Wertheimer,  Mayer  Herscliel  usw. ,  waren  alle  auch 
Armeelieferanten2.  Zahlreiche  Belege  für  die  auch  im  18.  Jahr¬ 
hundert  fortgesetzte  Tätigkeit  als  Armeelieferanten  besitzen  wh 
für  alle  österreichischen  Lande3. 

Endlich  sei  noch  der  jüdischen  Lieferanten  Erwähnung  getan, 
die  während  des  Revolutionskrieges  (ebenso  wie  später  während 
des  Bürgerkrieges)  die  amerikanischen  Truppen  verproviantierten4. 

Ich  habe  hier  nur  die  den  Juden  eigentümlichen 
Leistungen  als  Unternehmer  der  frühkapitalistischen  Epoche 
aufgezählt:  deshalb  habe  ich  nicht  ihrer  hervorragenden  Be¬ 
deutung  als  Finanzmänner  Erwähnung  getan,  weil  hier  keine 
Unternehmertätigkeit  ausgeübt  wird,  noch  habe  ich  über  ihren 
Anteil  am  Aufbau  der  frühkapitalistischen  Industrie  berichtet, 
weil  darin  nichts  den  Juden  Eigentümliches  zutage  tritt.  Zur 
Vervollständigung  des  Bildes  von  dem  Anteil  der  Juden  an  dei 
Entstehung  des  Kapitalismus  mag  immerhin  auch  diese  Seite 
ihrer  Tätigkeit  mit  in  Rücksicht  gezogen  werden. 

II.  Die  Eignung  der  Juden  zum  Kapitalismus 

Die  Ausnahmestellung  der  Juden  in  der  Geschichte  des  euro¬ 
päischen  Kapitalismus  wird  begründet  sowohl  durch  die  eigen¬ 
tümliche  Veranlagung  des  jüdischen  Volks  als  durch  die  besondere 
Lage,  in  der  die  Juden  während  der  Jahrhunderte,  in  der  die 
kapitalistische  Wirtschaft  begründet  wurde,  sich  befanden. 

1  Gesichte  Philanders  von  Sittewaldt  das  ist  Straffs-Schriften 
Hanss  Wilh.  Mosclierosch  von  Wilstätt  (1677),  779. 

2  F.  von  Mensi,  Die  Finanzen  Österreichs  von  1701  J740 

(1890),  132  ff.  Samuel  Oppenheimer,  „Kaiserlicher  Kriegsoberfaktor 
und  Jud“,  wie  er  offiziell  bezeichnet  wurde  und  sich  auch  selbst  zu 
unterfertigen  pflegte,  schloß  namentlich  in  den  Feldzügen  des  Prinzen 
Eugen  „fast  alle  bedeutenden  Proviant-  und  Munitionslieferungsver¬ 
träge“  ab  (S.  133).  ,,  • 

3  Siehe  z.  B.  die  Eingabe  der  Wiener  Hofkanzlei  vom  12.  Mai 

1762  bei  Wolf,  Gesch.  d.  Jud.  in  Wien  (1894),  70;  Komitatsarchiv 
Neutra  Iratok  XII/3336  (für  Mähren),  nach  einer  Mitteilung  des  Herrn 
stud.  Jos.  Reizmann;  Verproviantierung  der  Festungen  Raab,  Ofen 
und  Komorn  durch  Breslauer  Juden  (1716):  Wolf  a.  a.  O.  S.  61. 

4  Herb.  Friedenwald,  Jews  mentioned  in  the  Journal  of  the 
Continental’ Congress  (Publ.  of  the  Amer.  Jew.  Hist.  Soc.  1,  65-89). 


910  Achter  Abschnitt:  Die  Entstehung  der  Unternehmerschaft 

Wie  man  sich  auch  zu  der  Frage  stellen  möge,  deren  Er¬ 
örterung  der  größte  Teil  meines  Judenbuches  gewidmet  ist:  ob 
die  geistige  Struktur,  in  der  wir  das  jüdische  Volk  beim  Aus¬ 
gang  des  Mittelalters  antreffen,  auf  einer  Urveranlagung  beruhe 
oder  durch  die  mehr  als  tausendjährige  Leidensgeschichte  der 
Juden  in  der  Verbannung  erst  herausgebildet  worden  ist:  da¬ 
rüber  kann  unter  sachlich  Urteilenden  kein  Zweifel  herrschen, 
daß  in  dem  geschichtlichen  Augenblick,  als  der  Kapi¬ 
talismus  sich  zu  entfalten  beginnt,  die  Juden  bereits  mit  einer 
Fülle  von  Eigenschaften  ausgestattet  waren ,  die  sie 
geeignet  machten,  bestimmend  in  den  Gang  der  wirtschaft¬ 
lichen  Entwicklung  einzugreifen.  Insbesondere  sind  es  händle¬ 
rische  und  rechnerische  Fähigkeiten  sowie  die  bürgerlichen 
Tugenden ,  die  sie  vor  vielen  anderen  ihrer  Umgebung  aus¬ 
zeichnen.  Eigenschaften  also,  die  zum  guten  kapitalistischen 
Unternehmer  gehören  und  die  in  andern  Völkern  erst  im  Laufe 
der  kapitalistischen  Entwicklung  herausgezüchtet  werden  mußten, 
besaßen  sie  schon  in  beträchthchem  Umfange,  ehe  diese  Ent¬ 
wicklung  begann. 

Dazu  kommt  nun  der  Umstand,  daß  die  äußeren  Lebens¬ 
bedingungen  der  Juden  ebenfalls  derart  waren,  wie  sie  förder¬ 
licher  für  die  Herausbildung  kapitalistischer  Unternehmer  nicht 
gedacht  werden  können.  Was  wir  bei  Ketzern  und  Fremden  als 
solche  günstigen  Bedingungen  kennen  lernten,  kehrt  im  Schicksal 
der  Juden  wieder,  das  außerdem  noch  einige  andere  fördernde 
Momente  zu  jenen  hinzutut. 

Wodurch  wird  denn  die  eigentümliche  Lage  gekennzeichnet, 
in  der  sich  die  Juden  Westeuropas  und  Amerikas  etwa  seit  dem 
Ende  des  15.  Jahrhunderts  befanden? 

Ganz  allgemein  hat  das  der  Gouverneur  von  Jamaika  in 
einem  Brief  an  den  Staatssekretär  vom  17.  Dezember  1671 
treffend  ausgesprochen,  als  er  schrieb  1 :  „he  was  of  opinion  that 
His  Majesty  could  not  have  more  profitable  subjects  than  the 
Jews:  they  had  great  Stocks  and  correspondence“. 
In  der  Tat  ist  mit  diesen  beiden  Besonderheiten  ein  wesent¬ 
licher  Teil  des  Vorsprungs  bezeichnet,  den  die  Juden  vor  den 
andern  voraus  hatten.  Nur  muß  zur  Vervollständigung  hinzu¬ 
gefügt  werden:  ihre  eigentümliche  Stellung  innerhalb  der  Volks¬ 
gemeinschaften,  in  denen  sie  wirkten.  Sie  läßt  sich  als  Freind- 

1  M.  Kayserling,  The  Jews  in  Jamaica,  in  Jew.  Quart.  Rev. 
12,  708  ff. 


Zweiimdsechzigstes  Kapitel:  Die  Juden 


911 


heit  und  als  Halbbürgertum  kennzeichnen.  Ich  will  also  vier  Um¬ 
stände  hervorheben,  die  die  Juden  besonders  geeignet  machten 
(und  machen),  so  Bedeutsames  zu  leisten: 

1.  ihre  räumliche 'Verbreitung; 

2.  ihre  Fremdheit; 

3.  ihr  Halbbürgertum ; 

4.  ihren  Reichtum ;  dazu  kommt 

5.  ihr  Geldleihertum. 

1.  Die  räumliche  Verbreitung 

Bedeutungsvoll  für  das  Verhalten  der  Juden  ist  natürlich  zu- 
nächst  und  vor  allem  ihre  Zerstreuung  über  alle  Länder 
der  bewohnten  Erde  geworden,  wie  sie  ja  seit  dem  ersten  Exil 
bestand ,  wie  sie  aber  von  neuem  in  besonders  wirkungs¬ 
reicher  Weise  sich  seit  ihrer  Vertreibung  aus  Spanien  und  Por¬ 
tugal  und  seit  ihrer  Rückströmung  aus  Polen  wieder  vollzogen 
hatte.  Wir  folgen  ihnen  auf  ihrer  Wanderung  während  der 
letzten  Jahrhunderte  und  finden  sie  sich  in  Deutschland  und  in 
Frankreich,  in  Italien  und  in  England,  im  Orient  und  in  Amerika, 
in  Holland  und  in  Österreich,  in  Südafrika  und  in  Ostasien  frisch 
ansiedeln. 

Die  natürliche  Folge  dieser  abermaligen  Verschiebungen  inner¬ 
halb  kulturell  zum  Teil  schon  hoch  entwickelter  Länder  war  die, 
daß  Teile  einer  und  derselben  Familie  an  den  verschiedensten 
Zentren  des  Wirtschaftslebens  sich  ansiedelten  und  große  AVelt- 
häuser  mit  zahlreichen  Filialen  bildeten.  Um  nur  ein  paar  zu 
nennen:  die  Familie  Lopez  hat  ihren  Sitz  in  Bordeaux  und  Zweig¬ 
häuser  in  Spanien,  England,  Antwerpen,  Toulouse;  die  Familie 
Mendes,  ein  Bankhaus,  residiert  ebenso  in  Bordeaux  und  hat 
Filialen  in  Portugal,  Frankreich,  Flandern,  ein  Zweig  der  Fa¬ 
milie  Mendes  sind  wieder  die  Gradis  mit  zahlreichen  Zweig¬ 
niederlassungen  ;  die  Carceres  finden  wir  in  Hamburg,  in  England, 
in  Österreich,  Westindien,  Barbados,  Surinam  ansässig;  andere 
bekannte  Familien  mit  einem  weltumspannenden  Netz  von  Filialen 
sind  die  Costa  (Acosta,  D’Acosta),  die  Conegliano,  die  Alhadib, 
die  Sassoon ,  die  Pereire ,  die  Rothschild.  Aber  es  hat  keinen 
Sinn,  die  Liste  zu  verlängern:  die  jüdischen  Geschäftshäuser, 
die  wenigstens  an  zwei  Handelsplätzen  der  Erde  vertreten  sind, 
zählten  nach  Hunderten  und  Tausenden.  Es  gibt  kaum  eines  von 
Bedeutung,  das  seinen  Fuß  nicht  mindestens  in  zwei  verschiedenen 
Ländern  gehabt  hätte  l. 


912 


Achter  Abschnitt:  Die  Entstehung  der  Unternehmerschaft 


Und  was  für  eine  große  Bedeutung  diese  Zerstreuung  für 
das  Fortkommen  der  Juden  haben  mußte,  braucht  auch  kaum 
ausführlich  begründet  zu  werden:  es  liegt  auf  der  Hand.  Was 
sich  christliche  Häuser  erst  mit  Mühe  schaffen  mußten,  was  sie 
aber  nur  in  den  seltensten  Fällen  in  gleich  vollkommener  Weise 
erreichten :  das  nahmen  die  Juden  von  Anbeginn  ihrer  Tätigkeit 
mit  auf  den  Weg :  die  Stützpunkte  für  alle  internationalen  Handels¬ 
und  Kreditoperationen :  die  „great  correspondence“,  diese  Grund¬ 
bedingung  erfolgreicher  internationaler  Geschäftstätigkeit,  zumal, 
wie  ich  später  ausführlich  dartun  werde :  im  Zeitalter  des  Früh¬ 
kapitalismus. 

Ich  erinnere  an  das,  was  ich  über  die  Anteilnahme  der  Juden 
am  spanisch  -  portugiesischen  Handel,  am  Levantehandel,  an  der 
Entwicklung  Amerikas  gesagt  habe :  ganz  besonders  wichtig  war 
der  Umstand,  daß  sich  ein  großer  Teil  von  ihnen  gerade  von 
Spanien  aus  verzweigte:  dadurch  leiteten  sie  den  Strom  des 
Kolonialhandels  und  vor  allem  den  Silberstrom  in  die  Betten 
der  neu  emporkommenden  Mächte :  Holland,  England,  Frankreich: 
Deutschland. 

Bedeutsam,  daß  sie  gerade  nach  diesen  Ländern,  die  im  Be¬ 
griffe  waren,  einen  großen  wirtschaftlichen  Aufschwung  zu  er¬ 
leben,  mit  Vorliebe  sich  wandten  und  damit  gerade  diesen  Ländern 
die  Vorteile  ihrer  internationalen  Beziehungen  zuteil  werden 
ließen.  Bekannt  ist  es,  daß  die  flüchtigen  Juden  mit  Vorbedacht 
den  Strom  des  Handels  von  den  Ländern,  die  sie  vertrieben 
hatten,  ablenkten,  um  ihn  denjenigen  zuzuführen,  die  sie  gastlich 
aufgenommen  hatten. 

So  machten  sie  eine  Zeitlang  Antwerpen  zum  Mittelpunkt 
des  Welthandels,  weil  sie  die  Beziehungen  zu  Spanien  und 
Portugal  besonders  lebhaft  unterhielten.  Einen  Teil  der 
Handelsbedeutung  Antwerpens  übertrugen  sie  dann  auf  London, 
auf  Amsterdam,  auf  Hamburg,  auf  Frankfurt  am  Main:  Orte, 
denen  sie  sich  mit  besonderer  Vorliebe  zuwandten.  Aber  auch 
andere  Städte  zogen  Nutzen  von  den  ausgedehnten  Handels¬ 
beziehungen  der  einwandernden  sephardischen  Juden.  Ich  denke 

1  [Zu  Seite  911.]  Einen  Überblick  über  die  jüdischen  Welthäuser 
seiner  Zeit  und  ihre  Verzweigungen  gibt  Manasseh  ben  Israel  in  seiner 
Denkschrift  an  Cromwell.  Die  Geschichte  der  einzelnen  Familien  findet 
man  ausführlich  dargestellt  in  der  Jewish  Encyclopedia,  die  naturgemäß 
gerade  in  ihren  biographischen  Teilen  besonders  wertvoll  ist.  Im  übrigen 
ist  auf  die  judaistischen  Allgemein-  und  Spezialvverke  zu  verweisen. 


Zweiundsechzigstes  Kapitel:  Die  Juden 


913 


an  das  besonders  lelirreiclie  Beispiel  des  spanischen  Juden  Marco 
Perez,  der,  ursprünglich  einer  der  ersten  Finanzmänner  Wilhelms 
von  Oranien,  aus  Antwerpen  nach  Basel  einwandert,  wo  er  den 
gesamten  Handelsstand  durch  seine  neuen  Praktiken  in  Auf¬ 
regung  versetzt,  während  es  doch  anerkannt  werden  muß,  daß 
er&  „zum  Nutzen  der  Völker  Handel  treibe  mit  allen  Ländern 

und  Zonen“ h 

Sehr  hübsch  veranschaulicht  diese  eigentümliche  Bedeutung 
des  jüdischen  Internationalismus  für  die  Entwicklung  des  modernen 
Wirtschaftslebens  ein  Bild,  dessen  sich  vor  zweihundert  Jahren 
ein  geistvoller  Beobachter  in  einer 'Studie  über  die  Juden  be¬ 
diente,  und  das  noch  heute  seine  Frische  vollauf  bewahrt  hat. 
In  einer  Korrespondenz  des  Spectator  vom  27.  September  1712 
heißt  es:  „Tliey  are  ...  so  disseminated  through  all  the  trading 
Parts  of  the  World  ,  that  they  are  become  the  Instruments  by 
which  the  most  distant  Nations  converse  with  one  another  and 
by  which  mankind  are  knittogether  in  a  general  Correspondance: 
they  are  like  the  Pegs  and  Nails  in  a  great  Building,  which, 
though  they  are  but  little  valued  in  themselves,  are  absolutely 
necessary  to  keep  the  whole  Frame  togetlier. 

~  Die  „räumliche  Verbreitung  der  Juden“  ist  nun  aber  nicht 
nur  dadurch  bedeutsam,  daß  sie  die  internationale  Zerstreuung 
der  Juden  herbeiführte:  sie  dient  zur  Erklärung  mancher  Er¬ 
scheinungen  auch  nur  insoweit,  als  sie  sich  auf  die  Vertei¬ 
lung  über  das  Innere  der  Länder  erstreckt.  _  Wenn  wir 
beispielsweise  den  Juden  oft  als  Lieferanten  von  Kriegsmaterial 
und  Lebensmitteln  für  die  Armeen  begegnet  sind  —  sie  sind 
auch  das  seit  alten  Zeiten  gewesen:  bei  der  Belagerung  Neapels 
durch  Beiisar  erklärten  die  dortigen  Juden  die  Stadt  mit  Lebens¬ 
mitteln  versorgen  zu  wollen* 2  — ,  so  hat  das  seinen  Grund  gewi 
zum  o-uten  Teil  in  der  Tatsache,  daß  sie  leichter  als  die  Christen 
rasch*3 * eine  große  Masse  von  Gütern,  namentlich  Lebensmitteln, 

.  aus  dem  Lande  zusammenbringen  konnten:  dank  den  Verbin¬ 
dungen,  die  sie  von  Stadt  zu  Stadt  unterhielten.  „Der  jüdische 
Entrepreneur  darf  sich  vor  allen  diesen  Schwierigkeiten  nie  t 
scheuen.  Er  darf  nur  die  Judenschaft  am  rechten  Orte  elek¬ 
trisieren  und  im  Augenblick  hat  er  so  viele  Helfer  und  Helfers- 

"  i  Die  ^Wirksamkeit  des  Marco  Perez  ist  anschaulich  geschildert 
von  Tr  Geering  in  seinem  Baselbuch  Seite  454  ff. 

2  Nach  Procop  B.G.I  8  und  16  Friedländer,  Sittengeschichte 

Roms  3  5,  577.  5g 

Sombart.  Der  moderne  Kapitalismus.  I. 


914  Achter  Abschnitt:  Die  Entstehung  der  Unternehmerschaft 

Helfer  als  er  immer  braucht“ l.  Denn  in  der  Tat  handelte  der 
Jude  früherer  Zeit  „niemals  als  isoliertes  Individuum,  sondern 
als  Glied  der  ausgebreitetsten  Handelskompagnie  in  der  Welt“ 2. 
„Ce  sont  des  particules  de  vif  argen t  qui  courent,  qui  s’egarent 
et  qui  ä  la  moindre  pente  se  reunissent  en  un  bloc  principal“, 
wie  es  in  einer  Eingabe  der  Pariser  Kaufleute  aus  der  zweiten 
Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  heißt3. 

2.  Die  Fremdheit 

Fremde  sind  die  Juden  während  der  letzten  Jahrhunderte  in 
den  meisten  Ländern  zunächst  einmal  in  dem  rein  äußerlichen 
Sinne  der  Neu  eingewanderten  gewesen.  Gerade  an  den 
Orten,  wo  sie  ihre  wirksamste  Tätigkeit  entfaltet  haben,  waren 
sie  nicht  alteingesessen,  ja :  dorthin  waren  sie  meist  nicht  einmal 
aus  der  näheren  Umgebung,  sondern  von  fernher,  aus  Ländern 
mit  andern  Sitten  und  Gebräuchen,  zum  Teil  sogar  andern  Kli- 
maten  gelangt.  Nach  Holland,  Frankreich  und  England  kamen 
sie  aus  Spanien  und  Portugal  und  dann  aus  Deutschland;  nach 
Hamburg  und  Frankfurt  aus  anderen  deutschen  Städten  und 
dann  nach  ganz  Deutschland  aus  dem  russisch  -  polnischen  Osten. 

Fremd  aber  war  Israel  unter  den  Völkern  all  die  Jahrhunderte 
hindurch  noch  in  einem  andern,  man  könnte  sagen  psychologisch¬ 
sozialen  Sinne,  im  Sinne  einerinnerlichen  Gegensätzlich¬ 
keit  zu  der  sie  umgebenden  Bevölkerung,  im  Sinne  einer  fast 
kastenmäßigen  Abgeschlossenheit  gegen  die  Wirtsvölker.  Sie, 
die  Juden,  empfanden  sich  als  etwas  Besonderes  und  wurden 
von  den  Wirtsvölkern  als  solches  wieder  empfunden.  Und  da¬ 
durch  wurden  alle  die  Handlungsweisen  und  die  Gesinnungen  bei 
den  Juden  zur  Entwicklung  gebracht,  die  notwendig  sich  im 
Verkehr  mit  „Fremden“  zumal  in  einer  Zeit,  die  dem  Begriff 
des  Weltbürgertums  noch  fern  stand,  ergeben  müssen. 

Die  bloße  Tatsache,  daß  man  es  mit  einem  „Fremden“  zu 
tun  habe ,  hat  zu  allen  Zeiten,  die  noch  nicht  von  humanitären 
Wertungen  durchsetzt  waren,  genügt,  das  Gewissen  zu  erleichtern, 
und  die  Bande  der  sittlichen  Verpflichtungen  zu  lockern.  Der 
Verkehr  mit  Fremden  ist  stets  „rücksichtsloser“  gestaltet  worden. 
Und  die  Juden  hatten  es  immerfort,  zumal  wenn 'sie  in  das 
große  wirtschaftliche  Getriebe  eingriffen,  mit  „Fremden“,  mit 

1  (v.  Kor  tum),  Über  Judentum  und  Juden  (1795)  165. 

2  (v.  Kortum),  a.  a.  0.  S.  90. 

3  Revue  des  4t.  juives  23  (1891),  90. 


Zweiundsechzigstes  Kapitel:  Die  Juden 


915 


„Nicht- Genossen“  zu  tun,  weil  sie  ja  obendrein  stets  in  kleiner 
Minderheit  waren.  Brachte  für  einen  Angehörigen  des  Wirts¬ 
volkes  jeder  zehnte  oder  jeder  hundertste  Verkehrsakt  eine  Be¬ 
ziehung  zu  einem  „Fremden“ ,  so  erfolgten  umgekehrt  bei  den 
Juden  neun  Akte  von  zehn  oder  neunundneunzig  vom  Hundert 
im  Verkehr  mit  Fremden :  so  daß  die  „Fremdenmoral“,  wenn 
ich  diesen  Ausdruck  ohne  mißverstanden  zu  werden  gebrauchen 
darf,  eine  immer  wieder  geübte  wurde,  auf  die  sich  das  ganze 
Geschäftsgebaren  dann  gleichsam  einstellen  mußte.  Der  Verkehr 
mit  Fremden  wurde  für  den  Juden  das  „Normale“,  während  er 
für  die  anderen  die  Ausnahme  blieb. 

Engstens  im  Zusammenhänge  mit  ihrer  Fremdheit  steht  die 
eigentümliche  und  absonderliche  .Rechtslage,  in  der  sie  sich  aller 
Orten  befanden.  Doch  hat  sie  als  Erklärungsgrund  ihre  eigene 
Bedeutung  und  soll  daher  in  folgender  selbständiger  Darstellung 
abgehandelt  werden. 

B.  Das  Halbbtirgertum 

Es  scheint  auf  den  ersten  Blick,  als  sei  die  bürgerliche 
Rechtsstellung  der  Juden  insbesondere  dadurch  für  ihr  ökono¬ 
misches  Schicksal  von  Bedeutung  gewesen,  daß  sie  ihnen  be¬ 
stimmte  Beschränkungen  in  der  Wahl  der  Berufe,  wie  über¬ 
haupt  in  ihrer  Erwerbstätigkeit  auferlegte.  Aber  ich 
glaube,  daß  die  Einwirkung,  die  die  Rechtslage  in  dieser  Hin¬ 
sicht  ausgeübt  hat,  überschätzt  worden  ist. 

An  einem  Punkte  nur  läßt  sich  die  entscheidende  Einwir¬ 
kung  der  alten  Gewerbeverfassung  auf  den  Werdegang  der  Juden 
nachweisen :  das  ist  dort ,  wo  das  Wirtschaftsleben  durch  die 
Herrschaft  korporativer  Verbände  beeinflußt  wurde  oder  richtiger: 
wo  die  wirtschaftlichen  Vorgänge  sich  im  Rahmen  genossenschaft¬ 
licher  Organisation  abspielten.  In  die  Zünfte  und  Innungen 
fanden  die  Juden  keinen  Zutritt:  das  Kruzifix,  das  in  allen  Amts¬ 
stuben  dieser  Verbände  aufgestellt  war  und  um  das  sich  alle 
Mitglieder  versammelten,  hielt  sie  zurück.  Und  darum:  wenn 
sie  ein  Gewerbe  betreiben  wollten,  so  konnten  sie  es  nur  außer¬ 
halb  der  Kreise,  die  von  den  christlichen  Genossenschaften  be¬ 
setzt  gehalten  wurden;  gleichgültig,  ob  ein  Produktionsgebiet 
oder  ein  Handelsgebiet  in  Frage  stand.  Und  deshalb  waren  sie 
die  geborenen  „interlopers“,  die  Bönhasen,  die  Zunftbrecher,  die 
„Freihändler“,  als  die  wir  sie  allerorten  antreffen. 

Viel  einschneidender  haben  das  Schicksal  der  Juden  offenbar 

58* 


916  Achter  Abschnitt:  Die  Entstehung  der  Unternehmerschaft 

diejenigen  Teile  der  Rechtsordnung.  bestimmt,  die' ihr  Verhältnis 
zur  Staatsgewalt,  also  insbesondere  ihre  Stellung  im  öffent¬ 
lichen  Leben  regelten.  Sie  weisen  zunächst  in  allen  Staaten 
eine  auffallende  Übereinstimmung  auf,  denn  sie  laufen  letzten 
Endes  sämtlich  darauf  hinaus:  die  Juden  von  der  Anteilnahme 
am  öffentlichen  Leben  auszuschließen,  also  ihnen  den  Zugang  zu 
den  Staats-  und  Gemeindeämtern,  zur  Barre,  zum  Parlamente, 
zum  Heere,  zu  den  Universitäten  zu  versperren.  -Das  gilt  auch 
für  die  Weststaaten  —  Frankreich,  Holland,  England  —  und 
Amerika,  bis  zum  Ende  unserer  Epoche.  i 

Welche  Wirkungen  diese  Zurücksetzung  der  Juden  im  öffent¬ 
lichen  Leben  haben  mußte,  ergibt  sich  aus  dem,  was  ich  über 
die  Bedeutung  des  Ketzertums  für  die  Ausbildung  der  kapita¬ 
listischen  Gesinnungen  und  Fähigkeiten  gesagt  habe  b 

Das  treffende  Wort  eines  Zeitgenossen  des  17.  Jahrhunderts, 
in  dem  die  hervorragende  merkantile  Befähigung  der  Juden  be¬ 
stätigt  und  als  die  Wirkung  der  hier  unter  2.  und  3.  geschil¬ 
derten,  eigentümlichen  Lage  der  Juden  richtig  erfaßt  wird,  will 
ich -noch  mitteilen.  Er  schreibt2:  ‘„the  jews  are  held  the  most 
Mercuriall  people  in  the  world  by  reasön  of  their  so  often  trans- 
migrätions,  persecutions  and  Necessity,  which  is  the  Mother 
ofWit“. 

4.  Der  Reichtum 

Wir  können  unbedenklich  zu  den  objektiven  Bedingungen, 
unter  denen  die  Juden  ihre  ökonomische  Mission  während  der 
letzten  drei  oder  vier  Jahrhunderte  erfüllt  haben  und  deren 
eigenartige  Gestaltung  ihr  Werk  selbst  zu  einem  eigenartigen 
machte,  die  Tatsachen  rechnen,  daß  sie  immer  und  überall,  wo 
sie  eine  Bolle  im  Wirtschaftsleben  gespielt  haben,  über  einen 
großen  Geldreichtum  verfügten. 

Schwerreich  muß  eine  große  Anzahl  der  Flüchtlinge  gewesen 
sein,  die  seit  dem  16.  Jahrhundert  die  Pyrenäenhalbinsel  ver¬ 
ließen.  Wir  vernehmen  von  einem  „exodo  de  capitaes“,  einer 
Auswanderung  des  Kapitals,  die  durch  sie  herbeigeführt  sein 
soll.  Wir  wissen  aber  auch,  daß  sie  bei  ihrer  Vertreibung  ihre 
zahlreichen  Besitzungen  verkaufen  und  sich  in  Wechseln  auf 
fremde  Plätze  dafür  bezahlen  lassen8. 

1  Siehe  oben  Seite  877  ff.  ’ 

2  James  Howell,  Instructions  and  directions  for  forren  travell 
etc.  (1650),  54. 

8  Siehe  z.  B.  Bento  Carqueja,  0  capitalismo  moderno  e  as 
suas  origens  em  Portugal  (1908),  73  ff.  82  ff.  91  ff. 


Zweiundsechzigstes  Kapitel :  Die  Juden 


917 


Di©  Alierreichsten  wandten  sich  wohl  nach  Holland.  "Wenig¬ 
stens  erfahren  wir  hier  von  den  ersten  Ansiedlern:  den  Manuel 
Lopez  Homen,  Maria  Nunez,  Miguel  Lopez  und  andern,  daß  sie 
große  Reichtum  er  besaßen1.  Ob  dann  im  17.  Jahrhundert  viele 
reiche  Spagniolen  noch  einwanderten,  oder  ob  die  Alteingesessenen 
zu  immer  größerem  Reichtum  gelangten,  wird  kaum  für  die  Ge¬ 
samtheit  festzustellen  sein.  Es  genügt  auch,  zu  wissen:  daß 
die  Juden  in  Holland  während  des  17.  und  18.  Jahrhunderts 
durch  ihren  Reichtum  berühmt  waren. 

Aber  auch  in  den  andern  Ländern  ragten  die  Juden  durch 
ihren  Reichtum  hervor.  Der  kluge  Savary  bestätigt  uns  das 
für  das  Frankreich  des  17.  und  angehenden  18.  Jahrhunderts,  in¬ 
dem  er  ganz  summarisch  ein  allgemeines  Urteil  folgenden  Inhalts 
vermittelt:  „on  dit  qu’un  marchand  est  riche  comme  un 
Juif,  quand  il  a  la  reputation  d’avoir  amasse  de  grands  biens“  2. 

Und  für  j England  besitzen  wir  sogar  ziffermäßige  Angaben 
über  die  Vermögenslage  der  reichen  Spagniolen  bald  nach  ihrer 
offiziellen  Zulassung.  Wir  erfahren,  daß  die  Halbjahrsumsätze 
der  reichen  jüdischen  Geschäftshäuser  schon  im  Jahre  1663 
zwischen  13  000  und  41000  ^  schwanken3. 

In  Deutschland  waren  die  Zentren  jüdischen  Lebens  während 
des  17.  und  18.  Jahrhunderts  Hamburg  und  Frankfurt  a.  M. 
Für  beide  Städte  können  wir  ziffermäßig  genau  den  Vermögens¬ 
stand  der  Juden  feststellen,  und  was  wir  erfahren,  bestätigt  unser 
Urteil  durchaus4. 

Fragen  wir  nun  wieder  nach  der  Bedeutung,  die  solcherart 
hervorragender  Geldbesitz  für  das  ökonomische  Schicksal  der 
Juden  haben  mußte,  so  ist  diese  offensichtlich  ganz  allgemeiner 
Natur,  wie  nicht  des  näheren  dargelegt  zu  werden  braucht. 

1  Wagenaar,  Beschrijving  van  Amsterdam  Dl  VIII  bl.  127,  bei 
H.  J.  Koenen,  Gesckiedenis,  142.  Außer  den  bei  Koenen  erwähnten 
Quellen  unterrichtet  über  den  Reichtum  der  holländischen  Juden 

(natürlich  mit  stark  übertreibender  Blague:  siehe  z.  B.  die  Ziffern  aus 
den  Testamenten  De  Pintos  auf  Seite  292)  Joh.  Jac.  Schudt, 
Jüdische  Merkwürdigkeiten  usw.  1  (1714),  277  ff.;  4  (1717),  208  f.  Aus 
der  neueren  Literatur  ist  noch  zu  nennen:  M.  Henriquez  Pimentei, 
Geschiedkundige  Aanteekeningen  betreffende  de  Portugesche  Israeliten 
in  den  Haag  (1876),  34  ff. 

3  Savary,  Dict.  2  (1726),  448. 

3  L.  Wolf,  The  Jewry  of  the  restauration  1660 — 1664;  repr. 
from  The  Jewish  Chronicle  (1902),  p.  11. 

4  Siehe  die  Angaben  in  meinem  Judenbuche  S.  214  ff. 


918  Achter  Abschnitt:  Die  Entstehung  der  Unternehmerschaft 


Dagegen  verdient  ein  anderer  Umstand,  der  ebenfalls  mit 
dem  Geldbesitz  der  Juden  im  Zusammenhänge  steht,  etwas  heller 
beleuchtet  zu  werden.  Ich  meine  den  ausgiebigen  Gebrauch, 
den  die  Juden  von  ihrem  Gelde  zu  Leihezwecken  machten. 
Diese  besondere  Verwendungsart  nämlich  (an  deren  allgemeiner 
Verbreitung  nicht  gezweifelt  werden  kann)  ist  offenbar  eine 
der  wichtigsten  Vorbereitungen  für  den  Kapitalismus  selbst  ge¬ 
worden. 

5.  Das  Geldleihertum 

Wenn  die  Juden  in  jeder  Hinsicht  sich  als  geeignet  erweisen, 
die  kapitalistische  Entwicklung  zu  fördern,  so  verdanken  sie  das 
ganz  gewiß  nicht  zuletzt  ihrer  Eigenschaft  als  Geldleiher  (im 
Großen  wie  im  Kleinen).  Denn  die  Geldleihe  ist  eine  der 
wichtigsten  Wurzeln  des  Kapitalismus.  Seine  Grund¬ 
idee  ist  schon  in  der  Geldleihe  im  Keime  enthalten;  wichtigste 
Merkmale  hat  er  aus  der  Geldleihe  empfangen: 

In  der  Geldleihe  ist  alle  Qualität  ausgelöscht  und  der  wirt¬ 
schaftliche  Vorgang  erscheint  nur  noch  quantitativ  bestimmt. 

In  der  Geldleihe  ist  das  Vertragsmäßige  des  Geschäfts  das 
Wesentliche  geworden:  die  Verhandlung  über  Leistung  und 
Gegenleistung ,  das  Versprechen  für  die  Zukunft,  die  Idee  der 
Lieferung  bilden  seinen  Inhalt. 

In  der  Geldleihe  ist  alles  Nahrungsmäßige  verschwunden. 

In  der  Geldleihe  ist  alle  Körperlichkeit  (alles  „Technische“) 
ausgemerzt:  die  wirtschaftliche  Aktion  ist  rein  geistiger  Natur 
geworden. 

In  der  Geldleihe  hat  die  wirtschaftliche  Tätigkeit  als  solche 
allen  Sinn  verloren :  die  Beschäftigung  mit  Geldausleihen  hat 
aufgehört  eine  sinnvolle  Betätigung  des  Körpers  wie  des  Geistes 
zu  sein.  Damit  ist  ihr  Wert  aus  ihr  selbst  in  ihren  Erfolg  ver¬ 
rückt.  Der  Erfolg  allein  hat  noch  Sinn. 

In  der  Geldleihe  tritt  zum  ersten  Male  ganz  deutlich  die 
Möglichkeit  hervor,  auch  ohne  eigenen  Schweiß  durch  eine  wirt¬ 
schaftliche  Handlung  Geld  zu  verdienen ;  ganz  deutlich  erscheint 
die  Möglichkeit:  auch  ohne  Gewaltakte  fremde  Leute  für  sich 
arbeiten  zu  lassen. 

Man  sieht:  in  der  Tat  sind  alle  diese  eigentümlichen  Merk¬ 
male  der  Geldleihe  auch  eigentümliche  Merkmale  aller  kapita¬ 
listischen  'Wirtschaftsorganisation. 

Dazu  kommt  nun  noch,  daß  ein  recht  beträchtlicher  Teil  des 
modernen  Kapitalismus  historisch  aus  der  Geldleihe  (dem 


Zweiundsechzigstes  Kapitel:  Die  Juden 


919 


Vorschuß,  dem  Darlelm)  erwachsen  ist.  Überall  nämlich  dort, 
wo  wir  die  Form  des  Verlags  als  die  Urform  der  kapitalistischen 
Unternehmung  linden.  Aber  auch  dort,  wo  diese  aus  Kommende¬ 
verhältnissen  erwachsen  ist.  Und  schließlich  doch  auch  dort, 
wo  sie  in  irgend  welcher  Aktienform  zuerst  aufgetreten  ist. 
Denn  in  höchstprinzipieller  Konstruktion  ist  doch  die  Aktien¬ 
gesellschaft  nichts  anderes  als  ein  Geldleihegeschäft  mit  unmittel¬ 
bar  produktivem  Inhalt. 

So  scheint  mir  in  der  Ausübung  des  Geldleihegeschäfts  aber¬ 
mals  ein  Umstand  zu  liegen,  der  die  Juden  objektiv  befähigte, 
kapitalistisches  Wesen  zu  schaffen,  zu  fördern,  zu  verbreiten. 

Das  alles  wird  aber  erst  Leben  gewinnen,  wenn  wir  nun  im 
nächsten  Buche  verfolgen,  wie  auf  diesen  Grundlagen  das  Ge¬ 
bäude  der  kapitalistischen  Wirtschaft  sich  aufbaut. 


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DATE  DUE 


TRENT  UN 


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RS  TY 


64  0230737  9 


HB501 


.  S67  1919  Bd.l 


pt .  2 

UTLAS 


Sombart,  Werner,  1863-1941 
Der  moderne  Kapitalismus 

historisch-systematische  Darstel¬ 
lung  des  gesamteuropäischen 
Wirtschaftslebens  von  s  r 

Anf  angen  bis  zur  £  U  O  y  /  O 
Gegenwart  


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