DER MODERNE KAPITALISMUS
IH. AUFLAGE
ERSTER BAND/ZWEITE HÄLFTE
NUNC COGNOSCO EX PARTE
TRENT UNIVERSITY
LIBRARY
PRESENTED BY
KARL HELLEINER
Werner Sombart
Der moderne Kapitalismus
Historisch-systematische Darstellung des gesamteuropäischen
Wirtschaftslebens von seinen Anfängen bis zur Gegenwart
Dritte unveränderte Auflage
Mit Registern über Band I und II
Erster Band
Einleitung — Die vorkapitalistische Wirtschaft — Die
historischen Grundlagen des modernen Kapitalismus
Zweiter Halbband
München und Leipzig
Verlag von Duncker & Humblot
1919
Alle Rechte Vorbehalten
Copyright by Duncker & Humblot, München and Leipzig 1916
Altenbui'g
Piei ersehe Hofbuchdruckerei
Stephan Geibel & Co.
III
Inhaltsverzeichnis
Seite
Zweites Buch
Die historischen Grundlagen des modernen
Kapitalismus
Dritter Abschnitt
Die Technik
Neunundzwanzigstes Kapitel: Der Geist der Technik . . . 463
Dreißigstes Kapitel: Die Fortschritte der Technik .... 480
Vorbemerkung . 480
Quellen und Literatur . 481
I. Die Produktionstecknik . 483
1. Allgemeine Entwicklungstendenzen S. 483. 2. Die
entscheidenden Fortschritte auf den einzelnen Gebieten,
a) Die Landwirtschaft S. 488. b) Gewerbe, a) Bergbau-
und Hüttenwesen S. 490. ß) Metallverarbeitung S. 495.
y) Textilindustrie S. 496. ö) Neue Industrien S. 501.
II. Die Kriegstechnik . 504
III. Die Meß- und Orientierungstechnik . 505
IV. Die Transporttechnik . 510
Vierter Abschnitt
Die Edelmetallproduktion
Übersicht . 513
Einunddreißigstes Kapitel: Der Gang der Edelmetallproduktion
und der Edelmetallbewegung . 515
Vorbemerkung . 515
Erste Periode : Vom Niedergang des römischen Reichs bis ins
8. Jahrhundert . 517
Zweite Periode: Vom 8. Jahrhundeti bis gegen Ende des
13. Jahrhunderts . 518
Dritte Periode: Vom Ende des 13. bis Mitte des 15. Jahr¬
hunderts , ... 522
IV
Inhaltsverzeichnis
Seite
524
Vierte Periode: Von der Mitte des 15. Jahrhunderts bis 154 5
1. Der Aufbruch neuer Gold- und Silberquellen in
Deutschland und Österreich S. 524. 2. Die Niederlassung
der Portugiesen in den Goldländern Afrikas und Asiens
S. 526. 3. Die Plünderung Mexikos und Perus durch die
Spanier S. 529.
Fünfte Periode: Von der Mitte des 16. bis zum Anfang des
17. Jahrhunderts ( 1545 bis etwa 1620) . 529
Sechste Periode: Pas 17. Jahrhundert . 532
Siebente Periode: Pas 18. Jahrhundert . 533
Achte Periode: Von 1810—1848 . 534
Zweiunddreifeigstes Kapitel : Die Bedeutung der Edelmetalle
für das Wirtschaftsleben im allgemeinen . 536
Literatur . 536
I. Die chimärische Bedeutung der Edelmetalle . 536
II. Die reale Bedeutung der Edelmetalle . 538
Dreiuuddrei feigstes Kapitel: Geldwert und Preis . 543
Literatur . 543
I. Die „Preisgesetze“ . 543
II. Die Anwendung der Preisgesetze auf das Geld. . . . 546
III. Die denkbare Beeinflussung der Preise durch Masse und
Wert der Geld wäre . 549
Vierunddreifeigstes Kapitel: Die Gestaltung der Preise während
der friihkapitalistisehen Epoche . 554
Quellen und JAteratur . 554
Fünfunddreifeigstes Kapitel: Der Einllufe der Edelmetall¬
produktion auf die Preisbildung . 559
Vorbemerkung . . . 559
I. Die Verwertung der Edelmetalle . 559
II. Die Produktionskosten der Edelmetalle . 571
Fünfter Abschnitt
Die Entstehung des bürgerlichen Reichtums
Sechsunddreifeigstes Kapitel : Machtreichtum und Reichtums¬
macht . 581
Verhältnis des Pcgriffs Vermögen zu den Rechtslcategorien . 585
Siebenunddreifeigstes Kapitel: Zur Theorie der Vermögens¬
bildung . 588
Achtunddreifeigstes Kapitel : Der feudale Reichtum .... 594
I. Der Großgrundbesitz . 594
II. Die öffentlichen Haushalte . 601
Neununddreifeigstes Kapitel: Die Yermögeusbildung in der
handivorksniäfeigen Wirtschaft . , . . . 608
Inhaltsverzeichnis
V
Seite
Vierzigstes Kapitel: Die Vermögensbildung durch Geldleihe 621
I. Die Verbreitung der Geldleihe . 621
Pachtung von Steuereinkünften, Zollgefällen ustv . 628
II. Die Ergiebigkeit der Geldleihe . 632
1. Die Juden S. 635. 2. Die Augsburger S. 637.
3. Die französischen financiers S. 638.
Eiuundvierzigstes Kapitel : Die Akkumulation städtischer
Grundrenten . 643
Zweiundvierzigstes Kapitel: Die unmittelbare Vermögens¬
bildung . 651
Dreiundvierzigstes Kapitel: Betrug, Diebstahl, Unterschlagung
als Vermögensbildner . 664
Vierund vierzigstes Kapitel: Der Raub . 668
Fünfundvierzigstes Kapitel: Der Zwangshandel . 680
Preise im Zivangshandel . 682
Profite . 683
Sechsundvierzigstes Kapitel : Die Sklavenwirtschaft in den
Kolonien . 687
Literatur . 687
I. Die Tatsache und die Art der Sklaverei in den ver¬
schiedenen Kolonien . 689
1. Sklaverei und Hörigkeit in den Levantekolonien
S. 689. 2. Die Sklaverei in den transozeanischen Kolonien,
a) Die Beschaffung des Arbeitermaterials S. 692. b) Die
verschiedenen Formen der Zwangsarbeit S. 696.
II. Die Ausdehnung der Zwangsarbeit . 698
III. Die Rentabilität der Sklavenwirtschaft . 703
1. Der Sklavenhandel S. 704. 2. Die Sklavenarbeit
S. 708.
Siebenundvierzigstes Kapitol: Die Vermögensbildung im
Rahmen der kapitalistischen Wirtschaft . 715
Sechster Abschnitt
Die Neugestaltung des Güterbedarfs
Übersicht . 717
Aclitund vierzigstes Kapitel: Der Luxusbedarf . 719
I. Begriff und Ursprung des Luxus . 719
II. Die Eürstenhöfe als Mittelpunkte der Luxusentfaltung . 720
III. Der Luxus in der Gesellschaft . 726
1. Der Eßluxus S. 731. 2. Der Kleiderluxus S. 733.
3. Der Wohnluxus S. 735. 4. Der Luxus in der Stadt
S. 736.
IV. Die allgemeinen Entwicklungstendenzen des Luxuskonsums 739
Die Entstehung der Mode . . , . . 743
VI
Inhaltsverzeichnis
Seite
Neunundvierzigstes Kapitel: Der Bedarf der Heere. . . . 750
I. Der Bedarf an Waffen . 750
II, Der Bedarf an Lebensmitteln . 752
III. Der Bedarf an Kleidern . 756
IV. Der Gesamtbedarf . 758
Fünfzigstes Kapitel: Der Schiffsbedarf . 760
1. Die Zahl der Schiffe S. 762. 2. Die Größe der
Schiffe S. 763. 3. Das Tempo des Schiffbaus S. 766.
4. Der Bedarf an Schiffbaumaterialien S. 767.
Eiiiundfünfzigstes Kapitel : Der Massenbedarf der Großstädte 769
Zweiundfiiufzigstes Kapitel: Der Bedarf der Kolonien . . 776
Quellen und Literatur . 776
Siebenter Abschnitt
Die Beschaffung der Arbeitskräfte
Übersicht . 785
Literatur . 786
Dreiundfünfzigstes Kapitel: Die Arbeiternot . 788
I. Massenelend und Massenbettel . 788
II. „Die Entstehung des Proletariats“ . 792
III. Der Mangel an Arbeitskräften und seine Gründe . . . 798
Die Anschauungen über die Psyche des Arbeiters jener Zeit 802
Yierundfiinfzigstes Kapitel: Die Maßnahmen der staatlichen
Arbeiterpolitik . 809
I. Die leitenden Ideen . 809
II. Alte und neue Formen der Hörigkeit . 812
III. Die Erziehung zur Arbeit: das Arbeitshaussystem . . . 817
Lieferung von Arbeitskräften durch Arbeits- und Waisenhäuser 821
IV. Der Kampf der Staaten um den gelernten Arbeiter . , 824
V. Die Regelung des Arbeits Vertrages . 831
Achter Abschnitt
Die Entstehung der Unternehmerschaft
Fiinfundfünfzigstes Kapitel: Die Geburt des kapitalistischen
Unternehmers . 836
Sechsundfünfzigstes Kapitel: Die Fürsten . . . . m. . . 842
Siebenundfünfzigstes Kapitel: Die adligen Grundherren.. . 850
I. Die Stellung der Grundherren zur Erwerbswirtschaft . . 850
II. Die Verbürgerlichung des Adels . 853
III. Die Besonderheit des grundhendichen Unternehmertums . 857
IV. Der tatsächliche Anteil der adligen Unternehmer am Aufbau
des Kapitalismus 858
Inhaltsverzeichnis
VII
Seil«
Achtundfünfzigstes Kapitel : Die Bürger ....... 866
Neunundfünfzigstes Kapitel: Die Gründer . 872
Sechzigstes Kapitel: Die Ketzer . 877
Einundsechzigstes Kapitel: Die Fremden . 888
Vorbemerkung. Literatur . 883
I. Die Eignung des Fremden zum kapitalistischen Unter¬
nehmer . 884
TT. Der Anteil der Fremden am Aufbau der kapitalistischen
Wirtschaft . 887
1. Einzelfremde S. 887. 2. Die „Emigranten“ S. 889.
Zweiundsechzigstes Kapitel: Die Juden . 896
I. Die wichtigsten Leistungen der Juden als Unternehmer
im frühkapitalistischen Zeitalter . 897
1. Die Belebung des internationalen Warenhandels
S. 897. 2. Der Anteil an der Kolonisierung Amerikas
S. 901. 3. Die Kriegslieferungen S. 906.
IT. Die Eignung der Juden zum Kapitalismus . 909
1. Die räumliche Verbreitung S. 911. 2. Die Fremd¬
heit S. 914. 3. Das Halbbürgertum S. 915. 4. Der
Reichtum S. 916. 5. Das Geldleihertum S. 918.
'
463
Dritter Abschnitt
Die Technik
Neunundzwanzigstes Kapitel
Der Geist der Technik
Wir sind gewohnt, die .Jahrhunderte, die Renaissance und
Reformation, Gegenreformation und Barock umschließen, trotz¬
dem oder vielleicht gerade weil sie auf dem Gebiete der Staats¬
und Religionsbildung, der Philosophie, der Dichtkunst, der
Malerei und Bildnerei , kurz auf allen Gebieten , auf denen der
Menschengeist sich in Größe ausleben kann, das Allergrößte
geleistet haben, für unfruchtbar zu halten in allen Dingen, die
technischer Natur sind (trotz Leonardo da Vinci!). Weil sie so
groß sind: denn wir schließen (vielleicht voreilig) aus den Er¬
fahrungen, die uns der Tag zuträgt, daß Zeitalter, in denen die
Technik „Ruhmesblätter“ sammelt, in andern menschlichen Sachen
nur klein sein können. Und wir erinnern uns der traurigen
Schicksale, die berühmte „Erfinder“ in jenen Jahrhunderten ge¬
habt haben: von Berthold dem Schwarzen angefangen, der unsere
Periode einleitet, bis zu Denis Papin, der sie abschließt, und
glauben darin den Haß zu verspüren, den jene Menschen gegen
alle technischen Neuerer hatten, oder auch die Angst, die sie
v>r ihnen hatten. Und in der Tat: wir finden die Abneigung
und die Verachtung- der Zeit den „Erfindern“ gegenüber auch
mit dürren Worten oft genug ausgesprochen. So wenn Pascal
die Stimmung seiner Zeitgenossen in die Sätze zusammenfaßt1:
„Ceux qui sont capables d’inventer sont rares; ceux qui n’in-
ventent point sont en plus grand nombre et par consequent les
plus forts. Et l’on voit que pour l’ordinaire ils refusent aux in-
venteurs la gloire qu’ils meritent et qu’ils cherchent par leurs
inventions. S ils s abstinent ä la vouloir avoir et ä traiter de
niepris ceux qui n inventent pas, tout ce qu’ils y gagnent, c’est
1 Pascal, Pensees XXXI. Ausgabe von 1679 p. 326/37.
464
Dritter Abschnitt: Die Technik
qu’on leur donne des noms ridicules, et qu’on les traite de
visionaires. Ils fönt donc bien se garder de se piquer de cet
avantage tout grand qn’il est; et l’on doit se contenter d estre
estime du petit nombre de ceux qui en connaissent le prix meine.
Oder wenn Joachim Becher , der es wissen mußte, mahnt1:
„Darumb man nicht alle speculanten vor Gecken und Narren
halten soll, als welche einen Sparren zu viel haben, sondern
man muss wissen, dass durch solche Leute der Welt grosser
Nutz und Dienste getan werden, und dass sie darmit ihre Mühe,
Zeit und Geld verl ohren nur dass sie dem gemeinen Wesen dienen
möchten.“
Aber so deutlich die Feindschaft der „öffentlichen Meinung“
gegen den „Erfinder“ aus diesen und ähnlichen Worten spricht:
es wäre doch falsch, nun aus ihnen und andern Anzeichen ohne
weiteres auf ein erfindungsarmes Zeitalter zu schließen. Ja, im
Gegenteil: die Spannung, die wir aus jenen Auslassungen und
aus ihnen gemäßen Handlungsweisen herauslesen , muß uns
geradezu zu der Annahme führen, daß starke Strömungen
erfinderischen Wesens durch die Zeit hingegangen sind.
Und diese Annahme finden wir denn auch bestätigt, wenn wir
uns etwas eingehender mit der technischen Literatur jener Jahr¬
hunderte beschäftigen. Es ist erstaunlich beispielsweise, wie
viele Schriften während des 16. und 17. Jahrhunderts Dar¬
stellungen von den im Gebrauch befindlichen Maschinen und
ihrer Verwendung enthalten. Um nur die wichtigsten Werke
jener alten technischen Literatur anzufuhren, nenne ich:
Vanuccio Biringuccio, Pirotecnica. Venedig 1540, oft auf¬
gelegt ;
Georg Agricola, De re metallica. Basel 1556, das bekannte
Werk, das sich zum großen Teil mit dem Maschinenwesen
beschäftigt ;
Jaques Besson, Theätre des instruments mathematiques et
mechaniques. Lyon 1578;
Agostino Ramelli, Le diverse et artificiose machine. Paris 1588;
Vittorio Zonca, Nuovo Teatro delle macchine. Padova 1621;
Heinrich Zeisin g, Theatrum machinarum (deutsch). Leipzig
1612—14;
Sal. de Ca us, Les raisons des forces mouvantes. Frankfurt 1615 ;
Jakob de Strada, Künstlicher Abriß usw. Frankfurt 1618;
Giov. Branca, Le macchine. Koma 1629.
G. A. Bö ekler, Theatrum macchinarum. Nürnberg 1667.
Joachim Becher, Närrische Weisheit usw. (1686), 128 f.
l
Neunundzwanzigstes Kapitel: Der Geist der Technik
465
Dann haben wir aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts
eine Reihe von Schriften, die man als Erfinderbücher oder Bücher
der Erfindungen oder auch als Sammlungen von Vorschlägen für
neue Erfindungen bezeichnen kann.
Das berühmteste, dessen ich schon Erwähnung tat, ist das
von Joachim Becher, Närrische Weisheit und weise Narrheit
oder Ein Hundert so Politische als physikalische / mechanische
und merkantilische Concepta und Propositionen / usw. 1686.
Ein paar englische Gegenstücke dazu sind :
E. Sommerset, Marquis of Worcester, A Century of the
names and Scantlings of such Inventions as at present I can
call to mind to have tried and perfected usw. , zuerst London
1663, dann ott gedruckt, zuletzt in dem Werke von Henry
Dircks,*The Life, times and scientific Labours of the Second
Marquis of W. 1865.
Au Account of several new inventions and improvements etc.
(by William Petty?). 1691.
John White, Arts treasury of Rareties and eurious in¬
ventions s. a. (17. Jahrhundert).
Angesichts dieser Literatur nimmt es uns gar kein Wunder,
wenn wir die Zeitgenossen von einem „Erfinderzeitalter“ reden
hören, einem „projecting age“, von dem z. B. Defoe in seinem
bekannten Traktat: An Essay on Projects (1697) spricht1.
Und wirklich : wenn man sich die Mühe nimmt und alles zu¬
sammenstellt , was seit dem Mittelalter etwa bis beiläufig zur
Mitte des 18. Jahrhunderts an bedeutsamen Neuerungen zu dem
Bestände an technischem Wissen und Können hinzugekommen
ist, so ergibt sich doch eine ganz stattliche Reihe wahrhaft
wichtiger Erfindungen und Entdeckungen : der Leser findet eine
solche Übersicht im folgenden Kapitel.
Aber wir müssen uns doch wiederum davor hüten, nur wegen
dieses Reichtums an Erfindungen jene Jahrhunderte etwa mit
unserer Zeit irgendwie gleich zu setzen. Vielmehr müssen
wir uns, wenn wir die Stellung der Technik in der frühkapita¬
listischen Epoche richtig bewerten wollen, des tiefen Unter¬
schiedes bewußt werden, der zwischen der Technik von damals
1 Die Schrift ist deutsch u. d. T. Sociale Fragen vor 200 Jahren
1890 erschienen. Postlethwayt bringt in seinem Dict. of Corarn.
2 2, 552 ff. einen Artikel „Projector“, in dem er dieselben Gedanken
wie Defoe äußert. Der Artikel ist aber nur ein wörtlicher Abdruck
der Einleitung und der ersten Kapitel des Defoe sehen Essays.
So m hart, Der moderne KapilaÜRmns. I.
30
466
Dritter Abschnitt: Die Technik
und der von heute obwaltet — freilich auch des Unterschiedes,
der zwischen der Technik im Zeitalter des Frühkapitalismus und
der Technik in vorkapitalistischer Zeit besteht. Es erscheint als
eine außerordentlich reizvolle Aufgabe, die besondern Eigentüm¬
lichkeiten des Erwerbes und des Besitzes technischen Vermögens
im Zeitalter der Renaissance und des Barocks herauszuarbeiten :
insbesondere auch die Wendungen zu verfolgen, die der Stil der
Technik vom Mittelalter zur Renaissance und wieder von der
Renaissance zum Barock durchmacht; zu verfolgen, wie die
Eigenarten dieser sonderbaren und großen Zeitalter sich ganz
deutlich ebenso in der Technik wie in allen andern Kultur¬
erscheinungen widerspiegeln. Die folgenden Zeilen enthalten
einen ersten, zaghaften Versuch, diese Aufgabe zu lösen, können
aber selbstverständlich nur auf die Punkte hindeuten, "*die es ins
Auge zu fassen gilt, und wollen — wie so viele Ausführungen in
diesem Werke — nur die Wege weisen, auf denen die Forscher
in den nächsten Menschenaltern zu wandeln haben werden.
Vor allem: der Technik jener Jahrhunderte fehlt noch
die exakt- wissenschaftliche Grundlage , wie sie aller früheren
Technik gefehlt hatte. Freilich haben wir beträchtliche Ansätze zur
wissenschaftlichen Untermauerung, aber doch eben nur Ansätze.
Wir dürfen uns durch eine Erscheinung wie Leonardo da Vinci 1
nicht täuschen lassen, der allerdings, wenigstens in seinen Grund¬
sätzen, eine ganz und gar moderne Forscher- und Erfindernatur
ist. Modern in dem Sinne, daß er „speculare“, das heißt: daß
er beobachten und verstehen, empirisch forschen und den Ur¬
sachen nachgehen, das Besondere erschauen und das Allgemeine
darin erdenken will. Daß er insbesondere auch schon nach der
Quantifizierung aller menschlichen Erkenntnis strebt. „Keine
menschliche Untersuchung kann wahre Wissenschaft genannt
werden, wenn sie nicht durch die mathematischen Demonstrationen
ceoeben ist“, lehrt er. Und: „wer die höchste Sicherheit der
Mathematik verschmäht, nährt sich von Verwirrung und wird
1 Die wissenschaftlichen und technischen Arbeiten L.s sind zum
größten Teil gedruckt. Eine Übersicht über die verschiedenen Aus¬
gaben sowie eine Auswahl wichtiger Stellen gibt Marie Herzfeld
in dem Buche: Leonardo da Vinci, der Denker, Forscher und Poet.
2. Aufl. 1Q06, zu dem sie eine recht verständige Einleitung geschrieben
hat. Zu vergleichen: H. Grothe, L. da V. als Ingenieur und Philo¬
soph. 1874, und die drei Abhandlungen über L. von Theodor
Beck, die jetzt in seinen „Beiträgen zur Geschichte des Maschinen¬
baues“ (2. Aufl. 1900) vereinigt sind.
Neunundzwanzigstes Kapitel: Der Geist der Technik 4(57
niemals Schweigen auferlegen den sophistischen Wissenschaften
die nichts erzeugen als ein ewiges Geschrei (gridore).“
Das kausale Denken ist für Leonardo strenges Gebot: Die
Notwendigkeit ist Meisterin und Vormünderin der Natur. "Die
Notwendigkeit ist der Grundgedanke und die Erfinderin der
JNatur und Zaum für sie und ewige Regel."
„Die Natur bricht ihr Gesetz nicht.“
„Die Natur ist unter dem Zwang der vernünftigen Ursache
des Gesetzes, das in ihr ausgegossen lebt.“
. ist aber Leonardo auch als Techniker und Erfinder,
insofern er alle seine technischen Ideen naturwissenschaftlich zu
verankern bemüht ist: „Mußt zuerst die Theorie beschreiben
und hierauf die Praxis.“ „Jene, die sich in die- Praxis ohne
Wissenschaft verlieben, sind wie der Pilot, so ein Schiff ohne
Steuer noch Kompaß betritt: welches dann nie Sicherheit besitzt,
wohin es geht. Immer muß die Praxis auf die gute Theorie be¬
baut sein.“
. . vei'höhnt die, die das Perpetuum mobile suchen, ebenso
wie die Schwarzkünstler: „0 Erforscher der beständigen Be¬
wegung, wie viele eitle Pläne habt ihr in dergleichen Suchen
geschaffen. Gesellet Euch denen, so Gold suchen.“
Aber Leonardo ragt doch als ein ganz Einziger in eine ihm
fremde Welt hinein. Die meisten andern „Erfinder“, wollten diesen
streng wissenschaftlichen Weg gar nicht gehen. Und er selbst
hätte auch gar nicht diese hohen Anforderungen, die er in seinen
Lehren aufstellt, erfüllen können. Dazu war die wissenschaftliche
Einsicht in die Zusammenhänge der Natur noch viel zu gering.
Jetzt erst fing man ja an, die ersten Grundlagen für die neue
Weltbetrachtung zu legen; jetzt erst formte man die ersten Sätze
des neuen Weltsystems: die wissenschaftliche Mechanik wurde
erst nach dem Tode Leonardos begründet. Und die Männer, die
diesen Riesenbau zusammenzifferten, kümmerten sich um praktisch¬
technische Probleme nur selten. Es sind ‘Ausnahmen, wenn wir
im 16. und 17. Jahrhundert theoretischen Forschern unter den
Eifindern begegnen, wie etwa Otto von Guericke oder Christian
Huygens. Die Wege der Naturwissenschaftler und der Techniker,
die sich in Leonardo geschnitten hatten und eine Zeitlang viel¬
leicht noch nebeneinander herliefen (ich denke an Männqr wie
J acques Bresson u. a.), trennten sich für die nächsten Jahrhunderte
wieder: auf dem einen wandeln die Galilei, Newton, Leibnitz,
auf dem andern die Becher, Hautsch, Papin.
30*
468
Dritter Abschnitt: Die Technik
Die Welt der Technik, der Erfinder, war noch die alte, bunte,
lustige, schaurige Welt, in der die Menschen gelebt hatten, ehe
die Wissenschaftler sie in Trümmer schlugen. Noch übertrug
man den eigenen Gleist und die eigene Phantasie in die Natur,
und Himmel und Erde waren beseelt für das Empfinden des
Betrachters. Aus diesem Glauben an die Beseeltheit der Natur
fließen ja alle jene mystischen Besinnungen und phantastischen
Betätigungen, an denen gerade die Zeit, die wir hier überblicken,
namentlich das glaubensstarke 17. Jahrhundert, so reich ist; das
gilt selbst von jenen praktischen Technologen, die als Hof- oder
Stadt- „Ingenieure“ wirkten, und denen wir die vielen Sammlungen
der technischen Erfahrungen ihrer Zeit verdanken: der größte
„Technologe“ des 16. Jahrhunderts, Agricola, bevölkert die Berg¬
werke, deren Betrieb er uns so sachkundig beschreibt, mit
„Dämonen“ , die dem Bergmann nach Leben und Gesundheit
trachten. Viele nennen ihre Traktate „Magia naturalis“ und
lassen darin dem Wunderbaren einen großen Spielraum. Der
große Kepler erklärte Ebbe und Flut noch aus dem Atmen,
Schlafen und Erwachen des mit Vernunft begabten Untiers, als
welches er sich die Erde vorstellte.
Magie ist ja nichts anderes als der Ausdruck dieses Glaubens
an die Beseeltheit der Natur, an den sich der andere,, „praktische“
Glaube anschließt: daß die lebendigen Wesen, die in der Natur
hausen, insonderheit auch die niedrigen Naturdämonen, mit dem
Menschen Verkehr pflegen und durch den Menschen in ihrem
Verhalten beeinflußt werden können.
„Nun ist die Welt von solchem Spuk so voll,
Daß niemand weiß, wie er ihn meiden soll.“
Aus dem Glauben an die Beseeltheit der Natur -folgte ebenso
der Glaube an die Bestimmung des Menschen durch den Stand
der Gestirne und die Überzeugung, das Menschenschicksal aus
den Sternen lesen zu können: die Astrologie.
Aus demselben Glauben erwuchs der Hexenwalm : der Glaube
an Weiber, die mit dem Teufel einen Pakt geschlossen hätten,
um mit allerhand Hokuspokus den Mitmenschen Schaden zuzu¬
fügen.
Auf demselben Glauben baute sich die Alchimie auf, und mit
der Alchimie in allerengstem Zusammenhänge steht das Erfinder-
tum jener Zeit, steht die Technik, die von diesen Erfindern ge¬
schaffen wurde.
Aus der mittelalterlichen AVelt nahm man jene geheimnisvolle
Neimundzwanzigstes Kapitel: Der Geist der Technik 4(39
Verehrung, jene andächtige Scheu vor allem technischen Können,
die wir im Handwerk gefunden haben.
Auch das Hantieren mit Geschossen, diese Kunst, deren Ent¬
faltung dann recht eigentlich die neue Zeit herbeiführt, und
gerade sie, galt in den ersten Jahrhunderten noch als Geheim¬
kunst, die von wenigen viel begehrten Leuten verstanden wurde.
Es ist bekannt, welcher Sagenkreis sich um Berthold den
Schwarzen 1 schlang, weil er als der erste galt, der die Geschütze
zu bedienen und das Pulver zu bereiten wußte. Diese unbewußte
Scheu vor dem Geheimnisvollen wurde dann von den Späteren
gerade, wie man sagen könnte, bewußt in ein System gebracht.
Und dieses System war dann die Erfinderkunst. Man muß
noch eine Schrift wie die von J oachim Becher lesen, der also
Ende des 17. Jahrhunderts lebte und als eines der größten Er¬
findergenies seines Zeitalters galt, um diesen eigentümlichen
Zauber wahrzunehmen, mit dem man alle technischen Vorgänge
und Vornahmen zu umkleiden liebte: „Insonderheit hat der ge¬
meine flüssige Sand, als eine Gebähr-Mutter der Mineralien, grosse
Liebe mit den Metallen, dergestalt, daß sie damit tractirt, allzeit
verbessert herauskommen.“ 2 „Die steigenden "Wasser . . . haben
einen warmen Geist in sich, derentwegen sie lebendige Quell-
Wasser genannt werden; aber die Wasser, so da fallen oder
gehoben werden müssen, sind todte Wasser.“ 3
Noch „ist die Welt von solchem Spuk so voll“ „ . . . so will
ich doch nicht verwerffen, die heimliche Krafffc etlicher Charak¬
teren, Worten und Talismanen. Wir haben noch zu unserer Zeit
erlebt die Historie von einem Physiologo zu Wien, Namens Lutz,
welcher sich bey dem General Heuster auffgehalten und bey
Padua den berühmten grossen Schatz gegraben hat / wie weit
er damit kommen habe ich seine eigene Hand gelesen / wie er
alles gebannt / ausgenommen den Schlaff-Teuffel vergessen / der
ihn hemacher zu Tode schlaffend gemacht“ . . .4 Das war das
Zeitalter, von dem man treffend gesagt hat5, daß es „Quintessenzen
suchte und geheimnisvolle Kräfte lieber verehrte als studierte“.
1 Über ihn. hat neues Wissen vei'breitet: Feldhaus, Ruhmes¬
blätter der Technik (1910), 106 ff.
2 Becher, Närrische Weisheit, 87.
3 Becher, Närrische Weisheit, 247/48.
4 Becher, Närrische Weisheit, 232.
5 C. Fr aas, Geschichte der Landbau- und Forstwissenschaft
(1865), 134.
470
Dritter Abschnitt: Die Technik
Die wichtige Schlußfolgerung aber, die man nun aus dieser
Auffassung zog, war die: daß die Erfinderkunst nicht etwa ge¬
lernt werden könne, daß, um technische Neuerungen herbeizu¬
führen, man nicht wissenschaftliche Studien machen müsse : daß
vielmehr das „Erfinden“ ein geheimnisvoller Vorgang sei, und
daß man die Befähigung dazu als eine Gabe des Himmels anzu¬
sehen habe.
Becher (in dem uns der vollkommenste Typ jener Erfinder
des Barock entgegentritt) drückt diesen Gedanken in der Vor¬
rede zu seiner „Närrischen Weisheit“ also aus: „Wiewol der liebe
Gott unterschiedliche Argumenta und Documenta seiner Gütig¬
keit, Providentz und Existentz sichtlich in die Natur geleget,
so ist doch das Donum inventionis bey den Menschen nicht das
geringste . . . Hier ist kein Ansehen der Person noch Profession:
Könige und Bauern , Gelehrte und Ungelehrte , Heyden und
Christen, Fromme und Böse seyn darmit begabet worden . . .
Die göttliche Gnade hat mir auch etwas von diesem Dono ge¬
geben, gleichwie meine Schriften ausweisen“ usw.
„Hier ist kein Ansehen der Person noch Profession“ : und in
der Tat, wenn wir die Reihe der Männer überblicken, denen die
Technik bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts im wesentlichen
ihre Fortbildung verdankt, so finden wir unter ihnen die Ver¬
treter aller Stände und Berufe, von denen die meisten überhaupt
kein „Fachstudium“ getrieben hatten. Hat aber eine der typischen
Erfindernaturen jener Zeit wirklich „Physik“ oder so etwas ähn¬
liches „studiert“, so kann man sicher sein, daß seine Erfindungen
nur zum kleinsten Teile diesem Studium ihr Dasein verdanken:
man denke etwa an Männer wie Reaumur oder Cornelius Drebbel.
Ich nenne aufs Geratewohl folgende „Außenseiter“, die während
des 17. und 18. Jahrhunderts wichtige Erfindungen (in Klammern hin¬
zugefügt) gemacht haben:
Fürsten: Oheim Karls II. von England, Prinz Ruprecht (ein nach
ihm benanntes Metall, Flößmaschinen, Hebemaschinen); Ferdinand II.
von Toscana (Kondensationshygrometer) ; Leopold von Dessau (eiserner
Ladestock).
Adlige: Comte de Lauraguais , M. de Montaney, Comte de Milly
(Verbesserungen der Porzellanfabrikation); De Montbruel (hydraulische
Wasserhebemaschine); M. de Lille (Sichelart); Chev. de Solages
(Dampfmaschine: als einer unter vielen); Marquis von Worcester:
s. u. ; auch Abenteurer wie Cyrano de Bergerac finden wir unter den
Erfindern ihrer Zeit.
Höhe Beamte , Offiziere , Gelehrte , Ärzte usw.: Gerard Desargues
(Lehre von den Kegelschnitten); Marschall Moritz von Sachsen (Ketten-
Neunundzwanzigstes Kapitel: Der Geist der Technik 471
Schiffahrt) ; M. Bon, Präsident der Chambre des comptes (Verbesse-
sungen in der Seidenfabrikation); Rektor John Beal (Barometer¬
schwankungen); der Philologe Joh. Heinr. Schulze (Lichtbilder); der
Student der Theologie Lee (Strickmaschine); der Arzt Andr. Cassius
(Goldpurpur); der Arzt Eirinis (Asphalt); Benjamin Franklin (Blitz¬
ableiter); der schwedische Oberst Christ. Treuleben („die Kunst, unter
dem Wasser zu gehen“).
Priester, Ordensbrüder usw. : der Jesuit Athan. Ivircher (Laterna
magica, Äolsharfe); der Jesuit Bonami (Emaille); der Minime Marinus
Mersennus (Unterseebot); der Kapuziner Ant. Maria Schyrläus de
Rheita (terrestrisches Okular) ; der Mönch Perignon (Champagner !) ;
der Pfarrer Cartwright (mechanischer Webstuhl); der Abbe Soumille
(die Devidage der Seide); der Cure Langruet (Vervollkommnung der
Seidenspinnerei).
Handwerker, Arbeiter usw. : der Zimmermann Perse (Flutmühlen) ;
der Arbeiter Dugaure (die erste geruchlose Grubenentleerung) ; der
Arbeiter Humphrey Potter (Steuerung der D am p f in aschine); der
Barbier Arkwright (Spinnmaschine); der Zimmermann John Harrison
(Längenuhr).
Neben diesen Pastoren und Barbieren müssen wir uns dann
natürlich auch noch den Fachmann als Erfinder vorstellen:
das heißt den Uhrmacher, der neue Uhrmechanismen, den Färber,
der neue Färbemethoden, den Weber, der Verbesserungen des
Webstuhls erfindet.
Hier müssen dann auch jene Männer genannt werden, die wir
als die Väter unserer Berufsingenieure und Berufschemiker an¬
zusehen haben, und die bis zu einem gewissen Grade Theorie
und Praxis vereinigten: die „Hof- Architekten“ , die Stadtbau¬
meister, die „Kriegsingenieure“ im Gefolge der großen Con-
dottieri, denen die Leitung aller „technischen“ Arbeiten ob¬
lag, und die dann jene Abhandlungen über die Kriegs- und
Festungsbaukunst , über Maschinenwesen und Bergbau , über
Wasserkünste und „ Mühlen “anlagen schrieben1, denen wir des
öfteren schon begegnet sind und denen wir noch mehrmals
begegnen werden, weil sie tatsächlich die beste Quelle für die
Geschichte der Technik darstellen. Wie viel diese praktischen
Technologen von den Anlagen und Mechanismen und Verfahrungs-
weisen , die sie in ihren Büchern beschreiben , selbst erfunden
hatten, läßt sich in den meisten Fällen mit Sicherheit nicht fest¬
stellen. Im wesentlichen werden sie wohl bloß Kompilatoren
1 Theodor Beck bringt in seinen „Beiträgen“ bei jedem der
von ihm kommentierten Werke eine kurze Lebensbeschreibung des
Verfassers.
472
'Dritter Abschnitt: Die Technik
gewesen sein, was einige von ihnen auch ohne weiteres zugeben.
Andere werden, wie die Handwerker in den einzelnen Gewerken,
schon im heutigen Sinne gleichsam „berufsmäßig“ — wenn auch
ohne viel wissenschaftlichen Ballast — Verbesserungen an diesem
oder jenem Mechanismus angebracht haben.
Man kann sie die Alltagserfinder nennen, während die Zeit
doch gekennzeichnet wird durch jene Sonntagskinder, denen das
donum inventionis durch Gottes Gnade zuteil geworden war, und
die nun mit ihrem Pfunde wucherten und ihr ganzes Leben dem
Erfinden widmeten, die auch ihre Wirksamkeit nicht etwa auf
einen bestimmten Zweig beschränkten, sondern auf allen Gebieten
wild darauflos erfanden. Die für jene Zeiten, insonderheit für
das Zeitalter des Barock, recht eigentlich charakteristischen Er¬
findertypen sind doch aber jene Viel erfind er, von denen ich
schon einige genannt habe. Es wimmelt von ihnen.
Da ist „ein Schwabe, namens Paul Weber in Wien ... er
war ein sehr ingeniöser Mann, in allerhand Manufacturen zu¬
mahlen in Firnüssen und LufftRöhren“ ; da ist Isaac von Nickeln:
ein guter Opticus, der die Kunst versteht, Maulbeerbäume und
Seidenwürmer aufzuziehen; da ist Faustus Verantius (um 1617):
ein Geistlicher, der ein Wörterbuch in 5 Sprachen veröffentlicht
und daneben über Mühlen, Brücken, Getreidereinigung, Über¬
schwemmungen, Anlage venetianischer Brunnen sich seine Ge¬
danken macht und in Schriften niederlegt1. Es sind jene Leute,
von deren einem (Hans Flautsch) Neudörfer schreibt: er sei
„ein inventiöser und künstlicher Mann“. Da ist James Young,
ein Schreiber in Edinburg, der 1684 eine Schreibmaschine er¬
findet, im folgenden Jahr einen neuen Verschluß, ein paar Jahre
später eine Webmaschine („an engine for weawing, never before
practised in any nation, whereby several kinds of cloth may be
manufactured without manual Operation or weaving looms“)2.
Dieses barocke Vielerfindertum gipfelt dann in so seltsamen
Erscheinungen wie Somerset, Reaumur, Papin, Becher.
Somerset, Second Marquis of Worcester (1601 — 1670). Er
erfindet: verschiedene Art von Siegeln (Seals), eine neue Schrift
(Art von Stenographie), eine Art von Telegraphie, mit Kanonen
bei Nacht zu schießen, ein nicht versenkbares Schiff, ein Boot,
1 Über Faustus Verantius: Theodor Beck, Beiträge zur Ge¬
schichte des Maschinenbaus (2. Aufl. 1900), 513 ff.
1 Reg. of the Privy Council; Acts Pari. Scot. Vol. X, bei John
Mackintosh, The History of Civilization in Scotland 3 (1895), 333.
Neumtudzwauzigstes Kapitel: Der Geist der Technik
473
gegen Wind und Flut zu fahren, eine schwimmende Festung,'
einen Garten auf der Themse, künstliche Fontainen, Bremsvor¬
richtung, eine Wage mit Wasserkraft, eine Wasseruhr, Hebe¬
maschine, eine transportierbare Brücke, eine transportierbare
Festung, eine Universalschrift, verschiedene Alphabete, ein Feuer¬
zeug, einen künstlichen Vogel, eine Geheimschrift, ein Wasser¬
werk mit Benutzung von Flut und Ebbe, einen Revolver (how to
make a pistol to descharge a dozen times without one leading),
Repetiergewehr, Mitrailleuse, die Dampfmaschine (an admirable
and most fascible way to drive up water by fire), ein Sicher-
heits-(Alarm-)Schloß, eine neue Webetechnik, die Flugmaschine
(how to make a man to fly), eine immer gehende Uhr, eine
Rechenmaschine, eine Schiffhebemaschine usw. usw.
A. R. F. de Reaumur (1683 — 1767) finden wir gleich stark
als Erfinder des SOteiligen Thermometers wie als Neuerer auf dem
Gebiete der Eisenbereitung, der Porzellanbereitung, der Färberei,
der Spiegelfabrikation; er schreibt aber auch ein Promemoria
über Tauwerk und seine Haltbarkeit oder über die Methode, zu
allen Jahreszeiten Hühner ausbrüten zu lassen und groß zu
ziehen; er erfindet ein Verfahren, Eier zu konservieren usw.
Denis Papin (1647 — 1714) erfindet bzw. verbessertu. a. die
Luftpumpe, eine Pulvermaschine, ein Taucherschiff, einen Heiz¬
ofen, eine Wasserhebemaschine, eine Zentrifugalpumpe, Ventila¬
toren, Windgeschütze, die Hochdruckdampfmaschine, das Dampf¬
schiff; interessiert sich für das künstliche Raschwachsen der
Blumen ; legt der Kgl. Gesellschaft der Wissenschaften zu London
(1685) einen Plan vor zur Kraftübertragung; schreibt (1681) den
Traite des operations sans douleurs etc. etc.
Und dann ist da der köstlichste von allen: der Prachtkerl
Joh. Joachim Becher (1635 — 1682), aus dessen ingenium die
erfinderischen Gedanken wie Funken und Leuchtkugeln heraus¬
sprühen und herausplatzen. Was hat er alles „erfunden“ ! Ein
Instrument, die rauhen Wind oder QeißHaare aus der Wolle zu
scheiden; ein Webinstrument, mit zwey Personen in einem Tage
100 Elen Lacken zu weben; ein höltzern Instrument, wollene,
feine Strümpffe zu stricken, des Tags ein Paar; ein Seiden Fila-
torium oder Abwind - Instrument , die feine Seide mit wenig
Menschen in grosser Quantität abzuwinden; das perpetum mobile,
physico-mechanicum, alle Uhren, die an einem Orte stehen bleiben,
continuirlich ohn aufgezogen, gehn zu machen; Invention aller
Orten Wasser-Mühlen zu bauen; ein neues Wasser-Rad zu einer
474
Dritter Abschnitt: Die Technik
Schiffmühle ; ein wunderliches Salz, kein Acidum und kein Alcali
und doch beydes zugleich, gibt auch in der distillation einen -
absonderlichen Spiritum und Solvens von wunderlichen Opera¬
tionen; aus gemeinem Haffner-Leym Eysen zu machen; aus Stein¬
kohlen Theer zu machen; eine Invention, ein Getränke, es sey
Wein Bier oder Aepffel Most lU Jahr lang in der Fermentation
zu erhalten; eine Weltschrift; eine Weltsprache; eine Art von
Regimentstücken . . . die ein Mann tragen und ein Pferd gar
gemächlich etliche führen kann, sind ein Species eines Musquetons;
ein Thermoscop ; einen neuen Ofen, der Holz spart . . .
W i e solche Köpfe erfanden , läßt sich leicht denken : im
wesentlichen mit Hilfe ihrer Phantasie, unsystematisch, un¬
begründet. Ihre Phantasie trieb sie, in alle Richtungen hinaus¬
zuschweifen, ohne rechten Sinn und ohne eigentlichen Plan:
„Acht Sachen sind , wonach die Gelehrten und Curiosen
streben, nemlich:
1. der Lapis philosophorum ;
2. liquor Alcabest;
3. das Glas weich zu machen;
4. ein ewiges Licht;
5. eine Linea hyperbole in einem Brenn-Spiegel ;
6. die gradus longitudinis zu finden;
7. die Quadratura circuli und
8. das Perpetuum mobile.
AVer nun Geld, Zeit und Lust hat, der kan hierinnen occasion
finden ..." 1
Und allzu häufig führte der eingeschlagene Weg nicht zum
Ziele: weil man plötzlich auf ihm halt machen mußte. So gibt
es eine Menge von Erfindungen in jener Zeit, die dicht vor der
Lösung stehen, die heute jeder Student der Physik oder Chemie in
wenigen Wochen schulmäßig „zu Ende erfinden“ würde, und die
doch damals unvollendet blieben, weil ihre Vollendung von dem
Zufall des glücklichen Gedankens abhängig war, der sich gerade
nicht einstellen wollte. Oder die Versuche scheiterten, weil
irgendein Fehler in der Konstruktion der Maschine gemacht war,
den der Erfinder nicht wahrnahm: so litt Papin sehr darunter'
daß er kein geschulter Mechaniker war. Seine häufigen Mißerfolge
hingen möglicherweise oft nur an einer Kleinigkeit: einer zu
schwachen Schraube oder Klammer. Man muß erwägen, daß einem
1 Becher, Närrische Weisheit, 213 f.
Neunundzwanzigstes Kapitel: Der Geist der Technik 475
Manne wie Papin die Lehre von der Festigkeit, von der Trag¬
fähigkeit der Materialien nsw. nocli so gut wie unbekannt waren.
Aber offenbar: was jenen Männern an wissenschaftlicher
Bildung und Schulung abging, das wußten sie zu ersetzen durch
eine blühende Phantasie, von deren schöpferischer Kraft wir uns
kaum noch eine Vorstellung machen können. Jene Jahrhunderte,
die dem Aufklärungszeitalter vorangehen, in die die Epoche des
Frühkapitalismus fällt, sind ja auf allen Gebieten der mensch¬
lichen Kultur von einer unerhörten Fruchtbarkeit des Erfindens
und Gestaltens: es wäre seltsam, wenn sich diese schöpferische
Kraft nicht auch auf dem Gebiete der Technik hätte bewähren
sollen, da das Zeitalter doch, wrie nun noch zum Schlüsse fest¬
gestellt werden muß, tatsächlich von einem starken und zähen
Erfinder willen erfüllt gewesen ist.
Ist die Art, wde die Pfadfinder auf dem Gebiete der Technik
ihr Wesen entfalten, immer noch im Grunde von mittelalter¬
licher Mystik umwoben, so ist dieser entschlossene Wille
zum technischen Fortschritt das, was die Geister im
Zeitalter namentlich des Barock als eigentümlich „modern“ kenn¬
zeichnet, wras sie ebenso mit unserer Zeit verbindet, wie ihre
Gewohnheit zu denken sie dem Mittelalter verwandt macht.
Wie war dieser Erfinderwille lebendig geworden? Wenn
Defoe, der als Zeitgenosse diese Frage schon damals auf¬
geworfen hat, darauf die Antwort gibt: weil die geschäft¬
lichen Verluste während der Zeit des Commonwealth und der
Restauration viele Leute zwangen, auf Verbesserungen ihrer
Leistungen , auf neue Möglichkeiten einer wirtschaftlichen
Existenz zu sinnen: so scheint mir diese Antwort zu eng zu
sein. Vor allem, möchte ich glauben, enthält sie letztenfalls eine
Erklärung nur für eine Zeit, in der schon neue Kräfte auf die
Vervollkommnung der 'Technik hindrängten: Kräfte, die aus der
Spannung der kapitalistischen Interessen hervorgebrochen, und
die dann ja bis in unsere Tage hinein die eigentlich treibenden
Kräfte für den technischen Fortschritt geworden sind, die aber
in all den Jahrhunderten, in denen wir vorher doch schon den
Erfinderwillen sich entfalten sehen, gar nicht oder nur ganz keim¬
haft vorhanden waren, und die, wie mir scheinen will, selbst
noch in der Spätzeit des Barock, von der Defoe spricht, kaum
die hervorragende Bedeutung hatten, die sie später gewannen,
und auf die wir also selbst in dieser Epoche, geschweige denn
in den Tagen des Quattrocento und Cinquecento den zweifellos
476
Dritter Abschnitt: Die Technik
damals auch schon stark betätigten Erfinderwillen zurückführen
können.
Was hob, müssen wir also fragen, den mittelalterlichen Tra-
ditionalismus, der nicht nur keine technischen Neuerungen wollte,
sondern der sich gegen sie mit aller Gewalt sträubte: was hob
diesen in sich beharrenden Traditionalismus , der niemals aus
sich heraus die Technik weiterzubilden vermocht hätte, über
sich selbst hinaus, ehe das Geschäftsinteresse, ehe das dem
Kapitalismus innewohnende Gewinnstreben auf seine Über¬
windung hindrängte?
Ich sehe drei Quellen, aus denen der Erfinde rwille
entspringen konnte und entspringen mußte, auch ehe
der Kapitalismus ihn erzeugte, die alle drei wiederum aus dem
Urquell des Unendlichkeitsstrebens gespeist werden, aus dem alles
Leben des neuen Europa geflossen ist. Die eine Quelle ist der
allgemeine Drang der Zeit, wenigstens des ausgehenden 15. und
des 16. und 17. Jahrhunderts nach Erkenntnis der Welt, ist der
Faustische Zug der Zeit, wie man auch sagen könnte:
„Wie obgemeldt stund D. Fausti Datum dahin, das zu lieben,
was nicht zu lieben war, dem trachtet er Tag und Nacht nach,
warne an sich Adlers Flügel, wolte alle Gründ am Himmel und
Erden erforschen“, heißt es in dem ältesten Faustbuche.
„Daß ich erkenne, was die Welt
Im Innersten zusammenhält“ :
führte dieses Streben die einen in die Höhen der Spekulation,
so die andern in die Niederungen der Experimente und der
Teufelskünste. Und hier hauste der Erfinder und Entdecker,
zumal wenn sich mit jenem dunkeln Drange nach Erkenntnis
die unbestimmte Sehnsucht nach Neugestaltung, nach neuen
Lebensformen, neuen Welten paarte: jene Sehnsucht, die ebenso
in den Forschungsreisen jener Tage wie in den Träumereien von
neuen Staatsformen, die ebenso in Drake und Raleigh wie in
Morus, Campanella und Vairasse ihren Ausdruck findet.
Aber freilich : reale Interessen mußten doch jenem rein idealen
Streben zu Hilfe kommen, um ihm die große Durchschlagskraft
zu geben, die es tatsächlich besessen hat. Und da stoßen wir
nun bei näherer Prüfung auf zwei Interessenzentren, von denen
auch in vorkapitalistischer Zeit seit dem Ausgange des Mittel¬
alters immer von neuem und immer mächtiger ein heißes Be¬
mühen um Niederzwingung der Natur, um Beherrschung der
Naturkräfte und damit ein unausgesetztes Suchen nach neuen
Neummdzwanzigstes Kapitel: Der Geist der Technik
477
technischen Möglichkeiten mit zwingender Notwendigkeit hervor¬
brechen mußte: ich meine das Interesse am Geldbesitz und das
Interesse an glücklicher Kriegsführung.
Aus dem Drange nach dem Golde ist die Alchimie er¬
wachsen, die selbst wieder die Mutter zahlreicher Erfindungen
und Entdeckungen wurde; aus demselben Streben entsprangen
die bedeutsamen Reformen auf dem Gebiete der Bergbautechnik ;
dasselbe Trachten nach dem Golde wies die Menschen auf den
Ozean hinaus und erzwang die Fortschritte im Reiche der Nautik.
Ebenso hat die Entwicklung des Heerwesens syste¬
matisch den technischen Fortschritt befördert1. Hier war eine
Stelle menschlicher Tätigkeit aufgebrochen, der das grundsätz¬
liche Bestreben nach Neuerung und Besserung ebenso eine Not¬
wendigkeit wurde, wie auf allen andern Gebieten der Kultur das
grundsätzliche Verharren am Althergebrachten. Wir können ganz
deutlich verfolgen, wie sich um diese beiden Kerne alle fort¬
schrittliche Technik jener Zeit herumlagert: die alchimistischen
Schriften, die Feuerwerksbücher und andern artilleristischen
Schriften, die Bergbaubücher, die Seemannsschriften sind die
ersten Wahrzeichen des Dranges nach klarer Überblickung des
technischen Besitzes und vor allem der Sehnsucht nach Erweite¬
rung dieses Besitzes, nach Vervollkommnung des technischen
Könnens.
Was sich an wichtigen Neugestaltungen auf dem Gebiete der
Technik während des halben Jahrtausends von Mitte des 13. bis
Mitte des 18. Jahrhunderts aus jenen Bemühungen heraus ergeben
hat, werde ich in dem folgenden Kapitel zusammenstellen. Wir
werden dort erfahren, daß die technischen Neuerungen im wesent¬
lichen freilich erst seit dem Beginn der Renaissancezeit und dann
während des 17. und 18. Jahrhunderts rasch an Zahl zunehmen;
daß unter diesen Neuerungen einige von schon grundsätzlich
großer Bedeutung sind, die der Entfaltung des Kapitalismus,
schon in seiner Frühzeit, einen weiteren Spielraum geben, einige,
an deren Erscheinen die Entstehung der kapitalistischen Wirt¬
schaft geradezu gebunden erscheint.
Hier mag nur noch das allgemeine W esen der Technik
während dieser Zeit dahin gekennzeichnet werden, daß wir fest¬
stellen: das technische Können und Wissen blieb auch während
der frühkapitalistischen Epoche auf denselben Grundlagen auf-
1 Vgl. F. Toennies, Die Entwicklung der Technik (Festgabe
für Ad. Wagner. 1905. S. 130 f.).
478
Dritter Abschnitt : Die Technik
gebaut, auf denen es bis dahin geruht hatte. Das will sagen:
die Technik bleibt in diesem Zeitraum nach wie vor 1. em¬
pirisch; 2. organisch.
Die rein empirische Ausrichtung und Begründung des
technischen Könnens gilt noch für fast das ganze 18. Jahrhundert,
und zwar sowohl für chemische wie mechanische Produktionsprozesse.
Ein 2^aar Beispiele : ich wähle die wichtigste chemische Industrie, die
Eisen- und Stahlbereitung und die (neben der Textilindustrie) wich¬
tigste mechanische Industrie, den Schiffbau, mögen das erweisen.
Eisen- und Stahlindustrie:
„Bis jetzt sind noch die Meinungen der Naturforscher geteilt, was
eigentlich für eine Veränderung vorgehe, wenn Eisen in Stahl ver¬
wandelt wird, ob bloß der überflüssige Schwefel müsse abgesondert
werden oder ob man dem Eisen mehrere brennbare Teile beibringen
müsse, wenn es Stahl werden soll. Im ersten Pall würde man den
Schwefel durch alkalische Salze wegschaffen müssen ; im letzten aber
müßten Horn, Beine von Tieren, Kohlenstaub, Kuß und andere Dinge,
die viel brennbares enthalten, diese Teile dem E. mitteil en usw.“
P. N. Sprengels Handwerke und Künste, 5. Sammlg.,
2. Aufl. (1790), 187.
„Eine gute Kohle erkennet man daran, wenn sie nicht zu schwer
und auch nicht zu leicht ist, beim An- oder Entzweischlagen einen
gewissen (!) Klang von sich giebt, inwendig glänzet und eine mehr
bläulich-schwarze als mohren-schwarze Farbe an sich hat; welches
alles sich besser aus der Erfahrung erkennen, als beschreiben läßt.“
Bergius, Neues Pol. u. Cam.-Mag. 2 (1776), 166.
„Man hat zu Baruth durch die Erfahrung gut befunden, daß es
besser sei, wenn die Kohlen durch ein unten gemachtes Feuer an¬
gezündet sind, daß die Bälge nicht sogleich angelassen, sondern die
Mauern des Ofens bis auf die Dicke von 3' ohngefähr auf folgende
Art gewärmet werden“ ... ib. p. 168.
„Man gibt folgende Erscheinungen und Umstände an, welche sich
bei dem hohen Ofen zeigen, und von welchen man urteilen kann, ob
Kohlen oder Erz aufzugeben sind“ (folgt Aufzählung von äußern
Symptomen).
Aus der Beschreibung des Hüttenwerkes in Baruth, ebenda 170.
Schiffbau :
Der Jesuitenpater und Lehrer der Mathematik am Seminar zu
Toulon, Paul Hoche, schreibt in seiner Theorie de la con-
struction des vaisseaux (1690): „Man kann nicht leugnen, daß die
für den Staat so notwendige Schiffbaukunst von allen Künsten die
am wenigsten ausgebildete ist. Der Zufall hat bei dem Schiff¬
bau so viel zu sagen, daß die mit der größten Aufmerk¬
samkeit gebauten ^Schiffe gewöhnlich sehr schlecht
ausfallen, während jene Schiffe, die sehr nachlässig-
gebaut werden, oft die besten sind. So sind die großen
Schiffe meistens ganz verfehlt, und unter den Kauffahrern findet man
mehr gute Schiffe als in der König!. Flotte.“
Nemnmdzwanzigstes Kapitel: Der Geist der Technik 479
Im Jahre 1757 veröffentlichte zwar Daniel Bernouilli eine
Denkschrift, in der er die Bedingungen für die statische Stabilität
wissenschaftlich feststellte. Noch 30 Jahre später vermochten aber
englische Autoritäten im Schiffbau die Ursache der mangelhaften
Stabilität dreier Schiffe nicht zu ergründen. Das lag zum Teil daran,
daß die damaligen theoretischen Abhandlungen zu hohe mathematische
und technische Kenntnisse voraussetzten, um von den Praktikern ver¬
standen zu werden: zwischen diesen und der technologischen Wissen¬
schaft klaffte noch eine Lücke, die erst in den nächsten Menschen¬
altern überbrückt werden sollte. So heißt es in der Einleitung zu
Eulers 1776 erschienenen „Theorie complete de la construction et
de la manceuvre des vaisseaux“ : „Wenngleich schon vierzig Jahre
vergangen sind, seit die Mathematiker mit einigem Erfolg diesen Gegen¬
stand bearbeiten, so sind ihre Entdeckungen doch noch von so schwie¬
rigen Berechnungen begleitet, daß die Seeleute kaum irgend einen
Nutzen davon haben.“ Vgl. Buch der Erfindungen 9, 600.
War also die Technik nach wie vor empirisch begründet, so¬
fern sie nicht auf wissenschaftlicher Naturerkenntnis sich auf¬
baute, so war sie doch nicht mehr durchaus traditionalistisch.
Vielmehr beginnt die Technik mit Entschiedenheit in unserm
Zeitraum rationell zu werden. Faßt man den Begriff der Empirie
als Gegensatz zum wissenschaftlichen Verfahren (und nicht: wie
es der Sprachgebrauch auch zuläßt: als Gegensatz zum rationellen
Verfahren), so kann man zusammenfassend sagen: die Technik
des Mittelalters war empirisch - traditionalistisch ; die des früh-
kapitalistischen Zeitalters war empirisch-rationalistisch, während
die moderne Technik wissenschaftlich - rationalistisch ist. Der
Ausdruck der rationellen Technik verbindet sich in unserer Vor¬
stellung am leichtesten mit der Landwirtschaft. Hier hat es (seit
der Mitte des 18. bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts) eine
Periode der „rationellen Landwirtschaft“ gegeben, die ebenfalls
zwischen die Periode der traditionellen und der szientifischen
Landwirtschaft sich einschiebt. Ganz ähnlich hat sich die Technik
als Ganzes entwickelt. Und will man das frühkapitalistische Zeit¬
alter formaltechnisch mit einem Worte kennzeichnen, so muß
man sagen : es ist das Zeitalter der rationellen
Technik.
Das Verharren der frühkapitalistischen Technik im Bannkreise
der lebendigen Natur, wodurch sie ihren „organischen“
Charakter bewahrt wird füglich dort nachgewiesen, wo ich die
materiellen Entwicklungstendenzen der Produktions- und Trans¬
porttechnik beschreibe.
480
Dreifsigstes Kapitel
Die Fortschritte der Technik
Vorbemerkung
Im folgenden wird der Versuch unternommen , diejenigen Neue¬
rungen auf dem Gebiete der Instrumental -Technik zusammen¬
zustellen, die für den Verlauf des Wirtschaftslebens von entscheidender
Bedeutung geworden sind. Diese Bedeutung kann sehr mannigfacher
Art sein : eine Erfindung kann dadurch wichtig sein , daß sie den
Produktionsprozeß in seinen äußeren Formen umgestaltet und also :
neue Betriebsformen notwendig macht, andere Arten von Arbeitskräften
erheischt, den Standort der Produktion verschiebt u. dgl. Ihre Wirkung
kann aber auch eine indirekte sein : dadurch, daß sie den Produktivitäts-
grad steigert, dadurch also wiederum die Ausdehnung der Produktion
befördert, die Verteilung des Ertrages verändert u. dgl. Die Wirkung
einer Erfindung kann auch insofern auf Umwegen bedeutungsvoll werden,
als durch sie andere Produktionszweige zur Entwicklung gebracht oder
gar außerwirtschaftliche Vorgänge entscheidend bestimmt werden, die
dann selbst wieder von Einfluß auf die Gestaltung des Wirtschafts¬
lebens sind. Wiederum kann die Produktionstechnik durch andere
Techniken, diese durch jene beeinflußt werden: man denke etwa an
die engen Zusammenhänge, die zwischen der Vervollkommnung der
Eisenproduktionstechnik, der Vervollkommnung der Waffentechnik und
der Herausbildung des modernen Staates bestehen, oder: an die Zu¬
sammenhänge zwischen Meßtechnik und Transporttechnik. Über der¬
artige entferntere Beziehungen zwischen Technik und Kultur spreche
ich in einem Aufsatze im Archiv für Soz.-Wiss. Bd. 33 S. 305 ff.
Woher die Erfindung, deren Wirkung wir beobachten, stammt, ist
für unsere Zwecke gleichgültig: gleichgültig ist es also, ob die Er¬
findung neu , das heißt zum ersten Male gemacht worden ist in dem
Augenblicke, in dem sie während unseres Zeitraums zur Anwendung
gelangt ; oder ob sie schon längst auf der Erde bekannt war, ohne von
den europäischen Völkern genutzt zu werden. Wenn also die Chinesen
vor 1000 Jahren oder die Araber vor 500 Jahren schon ein Verfahren
angewandt haben, das meinetwegen in Europa während des 15. Jahr¬
hunderts in Aufnahme kommt, so bedeutet dies Verfahren in unserm
Sinne ebenso gut eine Neuerung wie ein Verfahren, dessen sich etwa
die Völker des klassischen Altertums bedient haben, das aber erst im
Zeitalter der Renaissance wieder in Übung kommt.
Der Zeitraum, den die folgende Übersicht umspannt, reicht von
etwa Ende des 13. Jahrhunderts bis zur Mitte (oder dem Ende) des
18. Jahrhunderts.
Dreißigstes Kapitel: Die Fortschritte der Technik
481
-Das Material für diese Übersicht ist aus zahlreichen technologischen
Werken zusammengetragen: der Wert der Übersicht kann also aus¬
schließlich in der richtigen Auswahl der wirklich bedeutenden Er¬
findungen bestehen. Bei einzelnen Umwälzungen, die die Technik in
unserm Zeiträume erfahren hat, werde ich die Quellen, aus denen ich
geschöpft habe, ausdrücklich nennen. Im allgemeinen hat es aber keinen
Sinn, daß ich bei jeder Neuerung, die ich erwähne, angebe, woher ich die
Angabe genommen habe. Es genügt, wenn ich versichere, daß ich bei jedem
wichtigen Ereignis verschiedene Gewährsmänner miteinander verglichen
und dem vertrauenswürdigsten den Vorzug gegeben habe, falls sich
keine Übereinstimmung ergab. Im übrigen kommt es für unsere Zwecke
gar nicht so sehr darauf an, eine Erfindung nach Tag und Stunde
genau zu datieren : es ist ziemlich gleichgültig, zu wissen, ob die Flinte
mit Feuerstein 1630 oder 1640 oder ob die Bandmühle 1590 oder 1600
erfunden worden ist: es genügt (in den meisten Fällen) vollständig,
den Zeitpunkt ungefähr, das heißt mit einer Spannung von zwei bis
drei Jahrzehnten, bestimmen zu können.
Quellen und Literatur
Die Quellen und die Literatur gehen auf diesem Gebiete wie
auf so manchem andern vielfach ineinander über : die älteren Literatur¬
werke sind unsere besten Quellen. Es handelt sich entweder um
Spezialbearbeitungen: dann werde ich sie je an ihrem Platze namhaft
machen; oder um allgemeine Darstellungen der Erfindungs¬
geschichte oder des Standes der Technik in einem gegebenen Zeit¬
punkte. Von diesen nenne ich die wichtigsten gleich hier:
Eine Quelle von unübertrefflicher Güte besitzen wir — freilich im
wesentlichen nur für die in England seit dem Beginne des 17. Jahr¬
hunderts gemachten Erfindungen — in der Sammlung der Patent¬
schriften (Patents for Inventions), die bis in die ersten Jahre des
17. Jahrhunderts zurückreicht. Sie ist bisher meines Wissens nur in
einzelnen englischen Monographien auf ihren geschichtlichen Gehalt hin
ausgebeutet worden. Die Benutzung wird erleichtert durch die Regesten-
bände (Specification), die in der Zahl von vielen Hunderten alphabetisch
nach den Gewerben und innerhalb der Gewerbe chronologisch nach den
Erfindungen angeordnet sind. Ein vollständiges Exemplar der Sammlung
befindet sich in Deutschland in der Bibliothek des K. Patentamts in
Berlin.
Eine wichtige Gruppe von quellen-literarischen Werken bilden sodann
die alten „Geschichten der Erfindungen“. Der Ruhm, die erste
„Geschichte der Erfindungen“ gewesen zu sein, gebührt dem (sonst recht
wenig brauchbaren) W erke des Polydori Virgilii Urbinatis De
rerum inventoribus libri octo; zuerst 1499; dann oft aufgelegt, im
16. Jahrhundert allein 39 mal (ich benutze die Ausgabe von 1576).
Joh. Beckmann, Beiträge zur Geschichte der Erfindungen. 5 Bde.
1780 — 1805; derselbe, Beiträge zur Ökonomie, Technologie, Polizei-
und Kameralwissenschaft. 12 Bde. 1777 — 91. Joh. II. M. von Poppe,
Geschichte der Technologie. 3 Bde. 1807 — 11 ; derselbe, Geschichte
läorabart, Der moderne Kapitalismus. I, 81
482
Dritter Abschnitt: Die Technik
aller Erfindungen und Entdeckungen usw. 1837. Beckmann und nament¬
lich Poppe sind fiir die ältere Zeit noch nicht überholt : sie sind gerade
für den Zeitraum, der hier in Frage steht, unentbehrlich, weil die
ersten Quellen, aus denen sie schöpfen, teilweise überhaupt nicht zu
beschaffen sind. Edouard Fournier, Le Vieux -Neuf. Histoire
ancienne des inventions et decouvertes modernes. 2. ed. 3 Vol. 1877.
Enthält ein reiches, wenn auch ungeordnetes Material. Der Wert wird
zuweilen beeinträchtigt durch die chauvinistische Tendenz des Verf.,
möglichst viele Erfindungen auf Franzosen zurückzuführen. Manche
Spezialuntersuchungen historischer Natur enthält auch Das Buch der
Erfindungen. 9. (neueste) Aufl. 10 Bde. 1896 — 1901. Der ge¬
schichtliche Teil ist freilich das Stiefkind dieses großen Werkes.
F. M. Feldhaus, Ruhmesblätter der Technik. 1910. Mit Abbildungen.
Zeichnet sich durch das Bemühen aus, die Entstehung einzelner Er¬
findungen — meist kriegs- und verkehrstechnischer Natur — quellen¬
mäßig zu begründen.
In lexikalischer Form, die früher, namentlich im 18. Jahr¬
hundert sehr beliebt war, sind abgefaßt : (Ph. Macquer), Dictionnaire
portatif des arts et metiers. 3 Vol. 1766—67; mehr ein Gewerbe¬
lexikon, brauchbar. Dictionnaire de l’industrie ou Collection raisonnee
des procedes utiles dans les Sciences et dans les arts etc. etc. 3 Vol.
1776; brauchbar. Gabr. Chr. B. Busch, Handbuch der Erfindungen.
12 Teile. 1802 — 22: eine Art Konversationslexikon, da es alle mög¬
lichen „Erfindungen“ auch rein geistiger Natur enthält: Astronomie,
Aufschrift, Aufzüge, Ausdünstung, Aussatz usw.; oft genug ohne Kritik.
Aber doch ganz brauchbar neben den andern älteren Werken, da es
wie diese auf Literatur und Quellen Bezug nimmt, die heute längst
verschollen sind, und da es die meisten andern Bücher gleichen In¬
halts an Reichhaltigkeit übertrifft. Von demselben Verfasser ist
der Almanach der Fortschritte, neuesten Erfindungen und Entdeckungen
in Wissenschaften, Künsten etc. (1795 ff.), der ergänzend neben das
Handbuch tritt: eine Art von Jahresbericht aus dem Gebiete der
Chemie, Physik und Technologie. A. Ure, A dictionary of Arts,
Manufactures and Mines. 3. ed. 1843; in seinen geschichtlichen Ein¬
leitungen für uns verwendbar. Neuerdings ist wieder ein alphabetisch
geordnetes Erfindungslexikon erschienen : das quellenkritisch sehr wert¬
volle Werk von F. M. Feldhaus, Die Technik der Vorzeit, der
geschichtlichen Völker und der Naturvölker. Mit 873 Abbildungen.
1914. Jetzt das beste Gesamtwerk.
Zu rascher Orientierung dienen einige Zusammenstellungen in
chronologisch-tabellarischer Form: Franz M. Feldhaus,
Lexikon der Erfindungen und Entdeckungen. 1904. L. Darm-
staedter und R. du Bois-Reymond, 4000 Jahre Pionierarbeit
in den exakten Wissenschaften. 1904. 2. Aufl. 1908, u. d. T. Hand¬
buch zur Geschichte der Naturwissenschaften und der Technik.
Dann kommen in Betracht die Lehrbücher der mecha¬
nischen und chemischen Technologie, deren wir eine Menge
aus dem 17. und 18. Jahrhundert besitzen. Ich werde sie bei der
Darstellung des Gewerbewesens in unserer Epoche im 2. -Bande nam¬
haft machen.
Dreißigstes Kapitel: Die Foitscliritte der Technik
483
Eine gute Bibliographie alter technischer und technolog. Schriften
des 16. und 17. Jahrhunderts sowie der darauf bezüglichen Literatur
findet sich im Anhang zu Henry Dircks, The Life etc. of the
Sec. Marquis of Woreester. 1865.
I. Die Produktionstechnik
1. Allgemeine Entwicklungstendenzen
Auch die Technik des frühkapitalistischen Zeitalters, konnten
■wir schon feststellen, trägt den Stempel einer Übergangserschei¬
nung. Im großen und ganzen bewegt sie sich in denselben Bahnen
weiter, in denen sie während des Mittelalters gelaufen war: ihr
(xrundzug bleibt empirisch-organisch. "Was sie von der früheren
Technik dagegen unterscheidet, ist nicht sowohl die Tatsache,
daß hier und da sich Anläufe zur grundsätzlichen Neugestaltung
finden: erste Versuche eines wissenschaftlichen Maschinenbaus!
erste Versuche mit dem Kokesverfahren in der Eisenindustrie!,
als vielmehr der Umstand, daß die Kenntnisse und Fertigkeiten,
daß insbesondere die Verfahrungs weisen, über die man seit alters-
her verfügte, eine außerordentliche Vervollkommnung in dieser
Epoche erfahren bis zu dem Punkte, wo „die Quantität in die
Qualität umschlägt“, das heißt wo eine starke Steigerung eines
technischen Prinzips praktisch so gut wie eine grundsätzliche
Neuerung wirkt.
Ein Überblick über die verschiedenen Elemente des tech¬
nischen Vermögens wird das bestätigen.
Die Stoffe, deren man sich zur Gütererzeugung bedient,
bleiben im wesentlichen dieselben wie früher : nur daß sie eine
Bereicherung erfahren durch die Entdeckung neuer Stoffe in den
Ländern der neuerschlossenen Erdteile. Die Stoffe gehören nach
wie vor fast ausschließlich dem Tier- und Pflanzenreiche an, und
der wichtigste Stoff, der aus dem Mineralreich genommen wurde :
das Eisen, blieb insofern auf das engste den organischen Stoffen
verwandt, als es zu seiner Herstellung großer Mengen eines
Hilfsstoffes bedurfte, den wiederum das Pflanzenreich liefern
mußte (des Holzes).
Ein Satz wie dieser, der sieh in einer neueren Geschichtsdarstellung
findet (Th. Lindner, Weltgeschichte 6, 407): „Die Eisenindustrie
hatte sich in Deutschland aus den Niederlanden (?) gegen Ende des
15. (!) Jahi'hunderts soweit entwickelt, daß das wahre Eisenzeitalter
begonnen hatte“, führt durchaus irre. Gerade das kennzeichnet das
Zeitalter des Frühkapitalismus, daß es durchaus kein „eisernes“, sondern,
wenn man will, „hölzernes“ Zeitalter ist. Man bedenke zum Beispiel,
484
Dritter Abschnitt: Die Technik
daß die Walzen der Kalander, daß die ersten Dampfmaschinen, daß
alle Schiffe, Brücken, Balken, Träger, daß die meisten größeren Gefäße
aus Holz waren. Mitte des 18. Jahrhunderts wurden in ganz England
etwas über 17 000 t Eisen produziert (soviel wie heute ein Hochofen
durchschnittlich in vier Monaten erzeugt). In Deutschland war es
nicht viel anders; selbst in Schweden nicht, dem damals klassischen
Lande der Eisengewinnung. Ich verweise im übrigen auf meine Dar¬
stellung im 2. Bande dieses Werkes. Vgl. auch meine Deutsche
Volkswirtschaft, 1. und 2. Kapitel.
Auch die Kräfte, die man bei der Gütererzeugung und dem
Gütertransport nutzte, blieben einstweilen die gleichen wie früher:
Mensch und Tier; Wasser und Wind. Da die Verwendung der
Spannung des Wasserdampfes als treibende Kraft (von der uns
die Maschinenbücher der Zeit berichten) wohl einstweilen noch
den Charakter einer Spielerei behielt, und auch die „Gewicht-
Mühlen“, bei denen die Schwerkraft die Holle der üblichen Kräfte
übernehmen mußte (Abbildungen und Beschreibungen solcher
Gewicht-Mühlen finden wir bei Andr. Böckler, Fig. XXIV
bis XXX und S. 6 bis 8), kaum eine nennenswerte Verbreitung
dürften gefunden haben. Aber was unser Zeitalter wesentlich
von den früheren unterscheidet, ist die außerordentliche Ver¬
vollkommnung in der Nutzung dieser Kräfte. Diese Vervollkomm¬
nung wurde zunächst bewirkt durch die zunehmende Ersetzung
der menschlichen und tierischen Kraft durch die Elementarkräfte
Wasser und Wind; sodann aber vor allem durch die Herrichtung
kunstvoller Mechanismen, die eine bessere Verwendung der Kräfte
erst möglich machte. Die wichtigsten technischen Neuerungen,
deren wir Erwähnung zu tun haben, liegen in unserm Zeitraum
also in der Ausbildung vollkommenerer Verfahr ungsweisen.
Die mechanischen Verfahrungsweisen entwickeln sich
mächtig in der Dichtung des Maschinenprinzips (das selbst so
alt wie die Menschheit ist) weiter: vor allem erfahren die Be¬
wegungsmaschinen in diesem Zeitraum eine wesentliche Weiter¬
bildung, während auf dem Gebiete der Arbeitsmaschinen weniger
Erfolge erzielt werden, was dazu beiträgt, den „organischen“
Charakter der Technik zu bewahren.
Ich will, um die Fortschritte der Maschinen deutlich zu
machen, aus dem verwirrenden Wust von Einzeltatsachen 1 zwei
1 Als Quellen kommen hier vornehmlich die auf S. 464 aufgeführten
„Maschinenbücher“ in Betracht. Über ihren Inhalt berichtet kritisch
Theodor Beck in seinen Beiträgen zur Gesell, d. Maschinenbaues.
2. Aufl. 1900.
Dreißigstes Kapitel: Die Fortschritte der Technik 485
Entwicklungsreihen herausgreifen, die mir besonders wichtig in
der Geschichte des Maschinenwesens erscheinen: die Entwick¬
lung der Mühle und die Entwicklung der Kraftübertragung.
1. Man kann unsern Zeitraum, besonders aber die beiden
letzten Jahrhunderte, geradezu als das klassische Zeitalter
der Mühle bezeichnen, wenn man darunter eine Anlage ver¬
steht, die die Wasserkraft (in geringerem Umfange auch die
Wind-, Tier- und Menschenkraft) durch Umsetzung in die Dreh¬
bewegung eines Rades den verschiedenen Hantierungen dienst-
bar machte. Die älteste Gestalt der Fabrik, die als Betriebsform
in der frühkapitalistischen Epoche schon durchaus neben der
Manufaktur Bedeutung hatte, ist unstreitig die „Mühle“ (weshalb
ja die Engländer lange noch während des Zeitalters des Dampfes
ihre Fabrikanlagen als „Mill“ bezeichnet haben). Die beliebteste
Kraft, eine Mühle zu treiben, war, wie schon erwähnt, die Wasser¬
kraft, die man entweder als natürliche Kraft des fließenden
Wassers oder durch Hinaufpumpen auf einen höheren Punkt als
Kraft des künstlich fallenden Wassers zu nutzen wußte.
So waren z. B. in der Stadt Augsburg und in ihrer nächsten Um¬
gebung gegen Ende des 18. Jahrhunderts 137 Mühlräder oder „Gänge“
vorhanden: 74 außerhalb der Stadt an den aus dem Lech fließenden
Kanälen, 46 innerhalb der Stadt, 17 am Senkelbach — davon nur 44
für Getreidemühlen. Siehe das Verzeichnis bei Friedrich Nicolai,
Reise durch Deutschland, Band ‘8, Beilage IV. 14.
In Ermangelung des Wassers spannte man den Wind an oder
aber man legte Treträder für Tiere oder Menschen oder Göpel an.
Ich zähle die wichtigsten Arten der gegen Ende unserer
Periode betriebenen „Mühlen“ nach dem Zwecke, dem sie dienten,
hier auf und behalte mir vor, auf die in diesen verschiedenen
„Mühlen“ zur Verwendung gelangenden Arbeits- oder Werkzeug¬
maschinen in dem besonderen Teile dieser Übersicht näher ein¬
zugehen.
Getreide-M.: als Wasser- und Windmühlen längst bekannt,
erfahren in unserm Zeiträume verschiedene Vervollkomm¬
nungen : die Holländerwindmühle kommt Mitte des 15. Jahr¬
hunderts auf;
Graupen-M. : erste Graupenmühle 1600 in Saardam;
Öl-M.: als sog. holländische seit der letzten Hälfte des 17. Jahr¬
hunderts ;
Säge-M.: mit Wasser betrieben: mit einer Säge schon im Mittel-
alter, mit mehreren seit 1575; mit Wind betrieben seit Ende
des 16. Jahrhunderts: 1633 errichtet ein Holländer ein durch
486
Dritter Abschnitt: Die Technik
Wind zu treibendes Sägewerk am Ufer der Themse, mit
dessen Hilfe ein Mann und ein Knabe soviel Bretter zu
schneiden vermochten wie vorher 20 Männer; aber — diese
Methode wurde später wieder aufgegeben: „lest our la-
bouring people should want employment.“ Anderson,
Orig, of Com. 2, 354;
Dreh.M.: zum Abdrehen zahlreicher Gegenstände, unter anderen
der Metallwaren der Rotgießer: mit Wasser getrieben schon
während des Mittelalters, 1661 vervollkommnet;
Hohr-M. : zum Bohren von Holz- oder Metallröhren : schon bei
Leonardo da Vinci und Biringuccio ;
Hammer -M. : zum Hämmern großer Metallstücke: seit dem
15. Jahrhundert; über die Zainhämmer (Reckhämmer) sowie
über die Pochhämmer, die nur besondere Arten der Hammer¬
mühlen darstellen, spreche ich noch;
( Metall)schneide-M seit dem 16. Jahrhundert;
( Md all) schleif -M . : bei Zonca (Fig. 360) zuerst (?) beschrieben ;
Schleifmühlen bestanden aber schon weit früher: nach
Stetten, Kunst- und Handwerksgeschichte der Stadt Augs¬
burg (1779), 141, war eine Schleifmühle in A. schon im
Jahre 1389 im Betriebe ;
Draht-M. : der Name Drahtmüller kommt in Nürnberg schon
vor 1400 vor; ob auch die Handdrahtmaschine Drahtmühle
genannt wurde, ist zweifelhaft; jedenfalls kommt die durch
Wasser bewegte Drahtmühle erst im 15. Jahrhundert in
Aufnahme; 1532 wird sie von Eobanus Hessus in seiner
urbs Nor. noch als Wunderwerk beschrieben; Biringuccio
beschreibt eine Drahtmühle mit Wasserbetrieb im 8. Kapitel
des 9. Buches seiner Pirotecnica (Fig. 139);
Messing- M. nannte man diejenigen Veranstaltungen, in denen
sowohl die Messingschlägerei wie die Drahtzieherei mittels
Wasserkraft besorgt wurde; man sprach vom „Mühlen¬
schläger“, vom „Messingschlaghammer“, mit dem ein „Draht¬
rad“ verbunden war. Das Schicksal einer solchen Messing¬
mühle in Thos bei Fürth seit dem Jahre 1484 schildern
Nürnbergs Annalen. Siehe Roth, Gesch. des nürnberg.
Handels 2 (1801), 76 f. Vgl. auch die Abbildung des
„Messingschlägers“ bei Weigel;
Blas-M.: Anlagen mit Wasserradantrieb, um Blasebälge (zum
Metallschmelzen) in Bewegung zu setzen: schon bei Marianus
Jacobus (15. Jahrhundert) : siehe Theod. Beck, Beiträge,
Dreißigstes Kapitel: Die Fortschritte der Technik
487
289. Abbildungen einer „Blasmühle“ im 17. Jahrhundert
bei Bö ekler, Fig. 78. 146. 147;
Papier- M. : 17. Jahrhundert; erste (?) Abbildung einer Papier¬
mühle bei Zonca (Fig. 376);
Pulver- M.: 16. Jahrhundert (bei Biringuccio) , wahrscheinlich
sind Kollergänge mit Wasserradbetrieb schon im 15. Jahr¬
hundert im Gebrauch;
Farb-M.: bei Leonardo da Vinci, Cod. atl. Fig. 682 fol. 60 v
(nach Theod. Beck, Beiträge, 451);
Seidemwirn-M. : zuerst (?) bei Zonca; im 17. Jahrhundert in
Italien verbreitet; siehe unten;
Band-M.: seit Ende des 16. Jahrhunderts; siehe unten;
Tuch-M.: Walkmühlen seit dem 14. Jahrhundert: 1389 eine
%
Walkmühle in Augsburg (P. v. Stetten, a. a. 0.); Tuch¬
scheren mit Wasserkraftbetrieben seit dem 17. Jahrhundert:
1684 die erste Anlage in England;
Mang- M. : seit dem 17. (?) Jahrhundert: Beschreibung und
Abbildung einer „Mangmühl“ bei Bö ekler, S. 20 und
Fig. 80.
2. Das andere Moment in der Geschichte der Maschinen, das
ich hier verfolgen wollte, war die Entwicklung der Kraft¬
übertragung, die in unserm Zeitraum einige ganz außer¬
ordentlich und grundsätzlich bedeutsame Fortschritte macht.
a) Die Kunst der Kraftübertragung durch „Übersetzung“,
das heißt durch das Ineinandergreifen mehrerer gezähnter Bäder,
war bereits bekannt: sie wird aber in den Jahrhunderten der
Renaissance sehr vervollkommnet: die Räderwerke werden ver¬
wickelter und dadurch wirksamer.
In unsere Epoche fallen nun aber erst die Erfindungen einer
Reihe neuer und wichtiger kinematischer Einrichtungen: jetzt
tritt zu den bisherigen Maschinismen hinzu:
b) das Schwungrad: es findet sich in den technologischen
Werken des 16. Jahrhunderts: bei Leonardo da Vinci (zuerst?),
Agricola, Lorini;
c) der Riemenantrieb: nach Th. Beck, Beiträge, 306,
zuerst bei Vitt. Zonca;
d) die Transmissionsanlage, das heißt also eine Vor¬
richtung, mittels welcher mehrere Arbeitsmaschinen von derselben
Kraftmaschine in Bewegung gesetzt werden. Die Erfindung dieser
außerordentlich wichtigen Einrichtung fällt in die Zeit um 1500:
Agricola beschreibt Transmissionsanlagen, die bei den sächsischen
488
Dritter Abschnitt: Die Technik
Hüttenleuten schon längere Zeit — wie lange, sagt er nicht —
im Betriebe waren; Biringuccio aber spricht von der Trans¬
mission als von einer neuen Erfindung, woraus wir schließen
dürfen (da B. auch mit den deutschen Verhältnissen gut vertraut
war), daß die Neuerung in seine Lebzeiten fällt.
II. Die chemischen Verfahrungs weisen bleiben zunächst
dieselben, die die Technik der Handwerker und Apotheker während
des Mittelalters herausgebildet hatte und wurden bereichert durch
die Phantastik der Alchimisten, die die wissenschaftliche Chemie
vorbereiten. Diese und mit ihr die grundstürzenden Neuerungen,
die die chemischen Industrien (im weiten, nicht im gebräuch¬
lichen Sinne) dadurch erfahren, gehören aber der nächstfolgenden
Epoche an. "Was an einzelnen, freilich sehr bedeutsamen Er¬
rungenschaften die chemische Technik vor der Mitte des 18. Jahr¬
hunderts aufzuweisen hat (in der Pulver-, Eisen- und Silber¬
erzeugung namentlich), werde ich weiter unten verzeichnen. Hier
begnüge ich mich damit, den Leser auf einige Werke hinzu¬
weisen, aus denen er den allgemeinen Stand des chemischen
Wissens am Schlüsse der frühkapitalistischen Epoche zu erkennen
vermag.
J. H. Gl. von Justi, Gesammlete Chymische Schriften, wo¬
rinnen das Wesen der Metalle und die wichtigsten chymischen
Arbeiten vor dem Nahrungsstand und das Bergwesen ausführlich
abgehandelt werden. 2 Bände. 1760/61.
Joh. Kunkels von Löwenstern, Vollständiges Labora¬
torium chymicum, worinnen von den wahren Principiis in der
Natur, der Erzeugung, den Eigenschaften und der Scheidung der
Vegetabilien, Mineralien und Metalle, wie auch von Verbesserung
der Metalle gehandelt wird. 4. verb. Aufl. 1767.
2. Die entscheidenden Fortschritte auf den einzelnen Gebieten
d) Die Landwirtschaft
Die technischen Fortschritte im Bereiche der Landwirtschaft
in diesem Zeitraum sind gering. Die „Hausväterliteratur“, in der
das Wissen und Können niedergelegt ist, enthält, von einigen
Erinnerungen an die Landbauschriftsteller der Alten abgesehen,
nichts als die Erfahrung des Mittelalters. „Die Idee des Zeit¬
alters , welches die Quintessenzen suchte und geheimnisvolle
Kräfte lieber verehrte als studierte, beherrschte begreiflich auch
die Landwirte, welche überdies glaubensreicher als andere Stände
Dreißigstes Kapitel: Die Fortschritte der Technik 439
waren“: mit diesen Worten schließt C. Fr aas seine Darstellung
der Landbau- und Forstwirtschaft in dieser Periode ab1.
Immerhin bemerken wir einige Ansätze zu rationellerer Wirt¬
schaftsführung wenigstens seit dem 16. Jahrhundert: die Einsicht
in die Bedeutung des Fruchtwechsels beginnt in Italien um diese
Zeit: 1550 lehrt B. Palis sy', daß ein Boden durch fortgesetzten
Anbau unfruchtbar werde, weil ihm dadurch alle löslichen Stoffe
entzogen würden. Der Ricordo d’ agricoltura (Venezia 1567)
schreibt die „Erfindung“ der Fruchtwechselwirtschaft einem ge¬
wissen Tarello zu.
In dasselbe Jahrhundert fallen die ersten Versuche einer
rationellen Viehzüchtung: in Deutschland machen Marx Fuggers
Züchtungsbuch (1578) und Löhneisens Deila Cavalleria (1609)
Epoche.
Die Vervollkommnung der Bodenbestellung beginnt mit der
Erfindung der Reihensäemaschine , die nach den einen auf
M. Giovanni Cavallina (1500), nach den andern auf Locatelii
(1663) zurückgeht. Die in diesem Falle außerordentlich weit
voneinander abweichenden Angaben der Entstehungszeit werden
sich vermutlich dadurch erklären lassen, daß das frühere Jahr
den Zeitpunkt der ersten Erwähnung, das spätere den der dauern¬
den Verwendung des neuen Verfahrens bezeichnet.
Einen bedeutenden Fortschritt in der Landbauwissenschaft und
der Landbautechnik stellen die Schriften des Olivier de Serres2
dar. Auf ihn geht die Schaffung künstlicher Wiesen zurück ; er
behandelt als erster die Obstzucht eingehend ; er beschreibt und
empfiehlt als erster seit dem Altertum die Drainage wieder usw.
Aber das alles bleiben doch nur Ansätze. Selbst in Frank¬
reich, das damals die beste Landwirtschaft hatte, und das um
seine Landwirtschaft von den andern Nationen beneidet wurde3,
beginnt doch erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
die Brache sich zu verringern, die bis dahin mehr als das halbe
Land eingenommen hatte, erst dann beginnt man mit dem Anbau
von Futterpflanzen, erst dann wendet man der Pflege des Viehes
1 0. Fr aas, Gesch. der Landbau- und Forstwirtschaft (1865), 184.
2 Das Hauptwerk des Olivier de Serres, das Theatre d’agriculture,
erschien 1600 und erlebte bis 1675 19 Auflagen. Über O. de S.:
G. Fagniez, L’economie sociale de la France sous Henry IV (1897),
36 ff. ; Fournier, Le Vieux-neuf 2, 179 ff. ; über die Einführung der
künstlichen Wiesen: Fr aas, Gesch. der Landbauwiss., 206 ff,
8 D’Avenel, Hist. econ. 1 (1894), 293 ff.
Dritter Abschnitt: Die Technik
490
f
mehr Sorgfalt zu , fängt man an , sich um die Düngung zu
kümmern. Alle bedeutenden Fortschritte der Technik liegen in
unserer Epoche vielmehr auf dem Gebiete der gewerblichen
Produktion.
b) Gewerbe
a) Bergbau und Hüttenwesen
Der Bergbau ist während des Mittelalters bis ins 17. Jahr¬
hundert hinein im wesentlichen Bergbau auf Eisen-, Kupfer-,
Zink- und Silbererze. Erst gegen das Ende unserer Epoche ge¬
winnt der Steinkohlenbergbau eine größere Bedeutung. Sowohl
die Bergbautechnik im engeren Sinne wie die Verhüttungstechnik
hatten fast das ganze Mittelalter hindurch auf einer ganz und gar
primitiven Stufe gestanden. Die allgemeine Kegel beim Bergbau
war wohl der Tagebau oder ein einfacher Stollenbau. Die Hilfs¬
mittel zur Gewinnung der Erze bestanden in den üblichen Hand¬
werkszeugen des Häuers, in Kübel und Karre zur Förderung, die
entweder auf dem Rücken oder vermittels einer einfachen Hand¬
haspel geschehen mußte. Diese primitive Technik ist im wesent¬
lichen das ganze Mittelalter hindurch unverändert geblieben,
bis auf einen Fortschritt: den Stollenbau, der im 13. Jahr¬
hundert in Böhmen ausgebildet wird und dort schon o-egen 1300
Bedeutung erlangt hatte, während er anderwärts erst im Laufe des
14. Jahrhunderts Verbreitung findet. Man versteht bekanntlich
unter einem Stollen in diesem Sinne horizontale oder wenio- an-
# O
steigende Gänge, die man unterhalb der Abbaustelle eintreibt,
damit durch sie von den darüberliegenden Punkten das Gruben¬
wasser abgeführt und Wetter den Orten zugeführt werden.
Alle andern belangreichen Fortschritte in der alten Bergbau¬
technik gehören dem 16. Jahrhundert oder gar erst dem 17. Jahr¬
hundert an. Unter ihnen ist für die Entwicklung namentlich
des Silberbergbaus von ausschlaggebender Wichtigkeit (weil sie
seine Fortführung in größeren Tiefen überhaupt erst ermöglichte
und damit der raschen Erschöpfung der Lager Einhalt tat) die
Einführung von Kunstge zeugen 1 , die man zur Hebung
des Grubenwassers benutzen konnte.
Man setzt ihre Erfindung auf das Jahr 1560 an. Die Versuche
dagegen sind älteren Datums. Interessante Details bei M. v. Wolf-
strigl-Wolfskron, Die Tiroler Erzbergbaue (1903), 39 ff. 50. Über
den Stand der , Wasserkunst’ um 1680 unterrichtet J. J. Bechers
Kurtzer, doch gründlicher Bericht von Wasser- Wercken und Wasser¬
künsten, Anhang zu der Närrischen Weisheit (1686).
Dreißigstes Kapitel: Die Fortschritte der Technik 491
Zum Antrieb dieser Maschinen bediente man sich seit dem
16. Jahrhundert immer mehr der Treträder und namentlich der
Göpel: der erste im Bergbau genutzte Göpel war der zu S. Andreas
bei Joachimsthal.
Die Fördermaschinen, von denen uns Agricola Abbildungen
gibt, sind schon imposante Anlagen. Belangreiche Erfindungen
im Gebiete der Bergbautechnik sind dann noch vor dem 18. Jahr¬
hundert :
1. die Erd- und Bergbohrer: B. Palissy 1550;
2. das Sprengen mit Pulver: 1613 werden die ersten Versuche
damit gemacht. Es fehlt jedoch noch an einem sichern „Besätze“,
der 1687 gefunden wird 1 ;
3. die Spur- und später Schienenbahn : Spurbahnen, das heißt
ausgehölte Holz-, Stein- oder auch Eisenbahnen, gab es im deutschen
Bergbau seit dem 16. Jahrhundert (bei Agricola im 5. Buche
de re metallica beschrieben) ; (Holz-) Schienen wurden zuerst in
England gegen Ende des 17. Jahrhunderts genutzt: seit 1671 im
New Castler Steinkohlenbergbau: „Diese Einrichtung bewirkt,
daß ein Pferd 4 — 5 Clialdrons herunter (zur Küste) bringen kann,
was den Kaufleuten einen ungeheuren Vorteil verschafft2.“
4. Die Erfindung der 'Wettermaschinen wird irrtümlich in das
18. Jahrhundert (1721. 1734) verlegt: Agricola kennt deren be¬
reits drei verschiedene Gattungen.
Auch die Aufbereitung der Erze wurde bis um das Jahr
1500 in sehr primitiver Weise vorgenommen: „sie haben die Erze in
Mörsern mit der Hand zu einem gröblichen Pulver zerstoßen und
dieses mit solchen Handmühlen, als sie beim Getreide brauchten,
so fein zermalen, daß das Schlämmen und Waschen möglich
ward. Zum Waschen des Schlichs bedienten sie sich der Siebe.“
In den Anfang des 16. Jahrhunderts (1512 — 1519) 3 fällt die
1 Buch der Erfind. Bd. V. Dazu vgl. Zirkel in der Zeitschrift
für Bergrecht 28, 367. Z. stimmt in der Datierung der — fertigen —
Erfindung „um 1690“ mit jenen Angaben überein. Sehr wenig beweis¬
kräftig erscheinen mir die Gründe, die Neuburg (Goslars Bergbau,
212) dafür anführt, daß Pulver zum Sprengen im Rammeisberge schon
gegen Ende des 15. Jahrhunderts verwandt worden sei.
°2 Aus dem Leben des Lord Keeper-North (1696), zit. in Four-
nier, Le Vieux-neuf 1, 60.
3 Die Jahreszahl 1519 gibt Albinus, Meißner Chron. S. 75/76,
für die Einrichtung eines Pochwerks durch Paul Grommesdetter in
Joachimsthal an. Agricola berichtet, daß Sigmund Malthiz , dem
1512 das Hecht auf alle aus den Gruben herausgeschafften Erdhaufen
492
Dritter Abschnitt: Die Technik
wichtige Erfindung der (nassen) Pochwerke und des Anreicherns
der ärmeren Erze durch Schlemmen. Diese Erfindung war aus
einem doppelten Grunde bedeutungsvoll: sie machte Menschen¬
kräfte überflüssig und führte eine Ersparung an Erzen herbei.
Die eigentliche Verhüttung der Erze erlebte nun aber um
die Wende’ des 15. Jahrhunderts und im weiteren Verlauf des
16. Jahrhunderts eine entscheidende Wandlung, die für die gesamte
wirtschaftliche Entwicklung von weitesttragender Bedeutung ge¬
worden ist: in der Eisengewinnung erfolgt der Übergang zum
Hochofenbetrieb; in der Silberproduktion die Einführung des
Amalgamierungsverfahrens.
Bis in das 15. Jahrhundert hinein kannte man nur die sog.
direkte Eisengewinnung mittels des sog. Rennverfahrens.
Danach wurden leicht reduzierbare Braun- und Spateisensteine
m einem offenen Kasten (dem Rennfeuer) mit Hilfe von Gebläse¬
luft geschmolzen, und der durch Zusammensinken entstandene
Eisenklumpen wurde, um die eingeschmolzene Schlacke zu ent¬
fernen, stark gehämmert, dann in mehrere Stücke geteilt, die man
ausreckte.
Der wichtige Fortschritt, den man im 15. Jahrhundert machte,
bestand in der Erfindung des Eisengusses und dem
Übergang zum Hochofenbetrieb: das heißt zur sog. in¬
direkten Eisengewinnung, mittels deren man erst Roheisen her¬
stellt und aus diesem Schmiedeeisen und Stahl bereitet. Den
Ausgangspunkt sowohl der Erfindung des Eisengusses als des
Überganges zur Roheisendarstellung bildete die Benutzung des
Wassers als Triebkraft. Hauptsächlich nach zwei Richtungen
wmde die Wasserkraft nutzbar gemacht: zur Bewegung eiserner
Hämmer beim Ausschmieden der Luppen — der sog. Zainhämmer
(Reckhämmer) 1 — und zur Bewegung der Blasebälge (die ur¬
sprünglich aus Leder, seit dem 17. Jahrhundert aus Holz2 an¬
gefertigt wurden). Beim Schmelzen der Erze war die Wirkung
der verstärkten Windzufuhr die, daß man das Eisen nicht mehr
als eine zähe, wachsartige Masse, die sich unter dem Hammer
schmieden ließ, aus dem Ofen erhielt, sondern als ein flüssiges
Metall, das, erstarrt, unter dem Hammer auseinanderflog. All¬
verliehen sei , „zum Dank“ das Naßpochen erfunden habe: die Er¬
findung fällt also zwischen 1512 und 1519. Für die Geschichte der
ochweike vgl. auch Joh. Beckmann, Beiträge zur Gesch. der
Erfind. 5 (1800), 101 ff. 1 Vgl. unten Seite 495.
Beckmann, Gesch. der Erfind. 1, 319 ff.
Dreißigstes Kapitel: Die Fortschritte der Technik 493
mählich kam die Einsicht, daß man dieses flüssige Metall in
Formen gießen, es aber auch, wenn man es zum zweiten Male,
und zwar in einem Herdfeuer vor dem Winde, wieder schmolz,
in ein weiches , schmiedbares Eisen verwandeln konnte , das
gleichmäßiger und in vielen Fällen auch besser war als das seit¬
her in Luppenfeuem und Stückfeuern gewonnene Eisen1.
Die große Bedeutung dieser technischen Neuerungen liegt in
folgendem :
1. durch den Hochofenprozeß wurde die Verhüttung schwerer
schmelzbarer Erze, wie sie den bei weitem größten Teil
der Vorräte auf der Erde bilden, erst möglich. Das hieß
aber natürlich eine außerordentlich große Ausweitung des
Produktionsspielraums, die zudem durch die größeren Aus¬
maße des Hochofens noch weiter gesteigert wurde;
2. der Eisenguß ermöglichte eine sehr viel raschere und
billigere Herstellung größerer Stücke, was namentlich bei
der nun erst recht beginnenden Geschützerzeugung sehr in
Betracht kam;
3. die Nutzung der Wasserkraft bewirkte eine Umschichtung
der Standorte _ der Gewerbe : die Eisenindustrie zog sich
von den Höhen der Berge, aus den Wäldern in die Täler;
4. dies neue Verfahren stellte ganz andere Anforderungen an
die Betriebsorganisation: an Stelle zahlreicher, kleiner
Schmelzfeuer entstehen neue stattliche Öfen mit Hütten¬
gebäuden, Wasserrädern, Blasebälgen, Pochwerken und
schweren Hämmern. Alles das siehe genauer im 2. Bande.
Gegen Ende des 15. Jahrhunderts ist der Sieg des Hochofen¬
betriebs über den Bennwerkbetrieb im Prinzip entschieden. Die
Einbürgerung des neuen Verfahrens vollzieht sich aber nicht
plötzlich, sondern ganz allmählich: in Frankreich und Italien
beginnt der Hochofenbetrieb Wurzel zu fassen im Anfang des
16., in Deutschland und England Mitte des 16., in Schweden
1 Ludw. Beck, Geschichte des Eisens 2 (1893), 12 f. Dieses
bedeutende Werk (5 Bde. 1892 — 19031 behandelt die Geschichte des
Eisens (seiner Bereitung und seiner Verwendung) erschöpfend. Der
Übergang zum Hochofenbetrieb und zum Eisenguß wird am Schlüsse
des ersten Bandes dargestellt; der zweite Band umfaßt das 16. und
17. Jahrhundert. Mit dem dritten Bande beginnt die Darstellung schon
zu den grundstürzenden Neuerungen überzugehen, die die hochkapita¬
listische Epoche einleiten und hier noch nicht in Betracht zu ziehen
sind,
494
Dritter Abschnitt: Die Technik
Ende des 16. Jahrhunderts. Aber das ganze 16. Jahrhundert und
auch das 17. Jahrhundert sind noch voller Rennwerkbetriebe.
Der Hilfsstoff, den man sowohl für die Herstellung des Roh¬
eisens wie für die Bereitung von Schmiedeeisen und Stahl be¬
nötigte, blieb in unserer Epoche das Holz.
Von nicht geringerer Bedeutung für den Verlauf der wirt¬
schaftlichen Entwicklung als die eben geschilderten Veränderungen
in der Eisenverhüttungstechnik war die Umwälzung, die die
Technik der Silb ererzeugung um die Mitte des 16. Jahr¬
hunderts durch die Einführung des Amalgamverfahrens erfuhr.
Die Gewinnung des Silbers aus den Erzen war bis dahin
durch Ansammeln des Silbers im Blei und seine Abscheidung
daraus durch den sog. Treibprozeß erfolgt.
Die Umwälzung bestand in der Nutzung des Quecksilbers
zum Zweck der Silberabscheidung auf dem Wege der Amalga¬
mierung, daher der Name: Amalgamationsprozeß.
Der Amalgamationsprozeß wurde im Jahre 1557 von
Bartholome de Medina in Pachuca erfunden und kam seit 1566
in größerem Umfange zur praktischen Anwendung. 1571 wurde
er nach Peru verpflanzt. Das Verfahren bestand (oder besteht:
da noch heute ein großer Teil des amerikanischen Silbers ver¬
mittels dieses kalten Amalgamations- oder Patioprozesses gewonnen
wird) in folgendem1: Die Erze werden in einer Arrastra, einer
Schleppmühle, zerkleinert. Dann wird das Erzmehl auf dem mit
Steinplatten gepflasterten Amalgierhofe , „Patio“, ausgebreitet,
und Kochsalz, Magistrat (gerösteter Kupferkies) und Quecksilber
weiden darunter gemischt. Die verschiedenen Bestandteile wurden
früher (bis 1793) durch Menschen und werden jetzt durch Maul¬
esel durcheinander getreten. Bei der in dem Erzhaufen vor sich
gehenden Reaktion bildet sich Silberamalgam, das später durch
Verwaschen vom Erzmehl getrennt wird. Durch Destillation
werden Silber und Quecksilber geschieden. Der große Vorzug
dieses neuen Verfahrens bestand darin, daß es fast gar keiner
Anlagen und vor allem gar keines Brennmaterials benötigte.
Damit aber machte es die Verarbeitung der Silber¬
erze auf den kahlen Höhen der Kordilleren erst
möglich. Seine Nachteile sind freilich beträchtlich. Sie be-
1 B. Neumann, Die Metalle (1904), 169. Buch der Erfind, 5,
o32. Eine sehr eingehende Beschreibung des Patioprozesses findet
man bei Humboldt, Essai 4, 51 ff. Vgl. auch Beckmann, Gesch.
der Erfind. 1, 44 ff.
Dreißigstes Kapitel: Die Fortschritte der Technik 495
stehen in der sehr langen Dauer des Prozesses, der 3 — G Wochen
währt, und in dem starken Verbrauch von Quecksilber. Die
Quecksilberverluste bei dieser kalten Amalgamation betragen 10
bis 20%, durchschnittlich das IV2 fache des ausgebrachten Silbers.
Die Silberproduktion trat damit in Abhängigkeit von der Queck¬
silbererzeugung, wie am passenden Ort ziffernmäßig dargetan
werden wird (siehe unten Kapitel 36).
Aber diese Nachteile treten doch zurück gegenüber den er¬
wähnten Vorteilen und konnten die ganz ungeheuer große Be¬
deutung dieses neuen Verfahrens nicht beeinträchtigen. Ihm
verdankt die Welt, wie wir noch sehr genau verfolgen werden,
die Überschwemmung mit Silber, ihm die starke Wertverminde¬
rung des Silbers und also die große Preisteigerung aller Waren,
was alles nicht zum wenigsten zum raschen Siege des Kapitalis¬
mus beigetragen hat.
ß) Metallverarbeitung
Die Eisen Verarbeitung erfährt einige wichtige Verände¬
rungen: die Drahtzieherei entwickelt sich zur Feindrahtzieherei
(16. Jahrhundert); das Verzinnen der Eisenbleche kommt auf
(erste Hälfte des 17. Jahrhunderts); die Walzwerke verbreiten
sich im 17. Jahrhundert (nachdem sie bei Sal. de Gaus 1615 zum
ersten Male erwähnt worden sind) ; Eisenschneidewerke gesellen
sich ihnen zu; 1738 erfindet John Payne das Walzen der Eisen¬
bleche usw. Dazu kommen einige Neuerungen der Eisenver¬
arbeitung, die zunächst und vor allem bei der Waffenfabrikation
eine große Rolle gespielt haben: schon vor 1500 war die Bohr¬
maschine zum Bohren von Kanonenrohren erfunden: sie wird
von Biringuccio beschrieben.
Beachten müssen wir auch, daß es in der Zeit vor dem
19. Jahrhundert schon eine Hammermaschine gab, die die
Bearbeitung mannsgroßer Eisenblöcke, wie sie namentlich in der
Ankerfabrikation1 vorkamen, möglich machte. Auch das Aus¬
schmieden der Luppen auf den Reckhämmern erfolgte mit
Maschinenhämmern, die 6—10 Zentner wogen und zwei Schläge
in der Minute ausführten2.
1 Siehe die Abbildungen im 1. Bande der ,Planches’ , die der
Enc.-meth. Abt- Arts et manuf. beigegeben sind unter dem Stichwort:
„ancre“.
2 Die beste Beschreibung dieser vordampflichen Maschinenhämmer
habe ich gefunden in Joh. Gottl. Volkets gesammleten Nachrichten
496
dritter Abschnitt: Die Technik
So wichtig diese und andere Fortschritte auf dem Gebiete*
der Eisenyerarbeitung sind, so verschwindet ihre Bedeutung doch
gegenüber den Veränderungen, die die Verarbeitung der
Edelmetalle erfahrt. Ich meine nicht die Tatsache, daß im
17. Jahrhundert eine neue Vergoldungstechnik aufkommt: Gfou-
thiere unter Ludwig XV. : „l’inventeur de la dorure au mat“* 1 —
ich denke vielmehr an die Umwälzungen, die die Verarbeitung
der Edelmetalle zu Münzen erfahrt: im 16. und 17. Jahrhundert
geht man zur mechanischen Münzprägung über. Und zwar in
folgenden Etappen:
1. 1552 Streckwerk des Franzosen Brulier2;
2. zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts Adjustierwerk;
3. zur selben Zeit : Ausstückelungsmaschine ;
4. zur selben Zeit: Prägewerk (die Münzpresse);
5. 1685 Bändel- oder Kräuselwerk von Castaing erfunden,
nachdem eine Bandschriftenmaschine in England schon
unter Cromwell in Tätigkeit gewesen sein soll.
Welche weittragende Bedeutung dieser Übergang zur mecka-
mchen Münzprägung haben mußte, liegt auf der Hand: er er¬
möglichte erst ein geordnetes Münzwesen, ohne das wenigstens
hochkapitalistische Wirtschaft nicht denkbar ist. Freilich will ich
hier noch einmal wiederholen, daß die Wirksamkeit dieser Bevolu-
tionierung der Münzprägetechnik im wesentlichen in die folgende
Periode fällt; daß sie zu denjenigen Fortschritten der Technik
gehört, die die hochkapitalistische Periode einleitet: siehe im
übrigen das 26. Kapitel dieses Bandes. Erwähnen mußte ich diese
wichtigen Erfindungen an dieser Stelle aber doch, da sie alle in
die frühkapitalistische Epoche fallen: vielleicht beruht ihre lange
Unwirksamkeit auf der wohlüberlegten Absicht der maßgebenden
Instanzen.
Y) Hie Textilindustrie
Unsere Wirtschaftshistoriker schauen immer nur wie gebannt
auf die Fortschritte der Technik, die der Textilindustrie während
von schlesischen Bergwerken (1775), 265; Joh. Phil. Becher,
Mineralische Beschreibung der oranisch- nassauischen Lande (1798),
•>60 f . ; L. Lecornu, Sur la Metallurgie du Per en Basse-Normandie,
in den Mein, de l’academie nation. des Sciences etc. de Caen (1884), 94.
1 k'furnier, Le Vieux-neuf 2, 377. Vgl. Beckm*ann, Gesch.
der Erfind. 1, 55 ff.
2 Nach Beckmann, Gesch. der Erfind. 2, 527, ist damit die Walz¬
kunst zum ersten Male zur Anwendung gelangt.
Dreißigstes Kapitel: Die Fortschritte der Technik
497
des 18. Jahrhunderts zuteil wurden, wenn sie sich überhaupt um
die Technik bekümmern. Nun soll gewiß nicht geleugnet werden,
daß die technischen Umwälzungen , die die Textilindustrie im
18. Jahrhundert erlebte (und die wir an dieser Stelle noch nicht
zu würdigen haben), von entscheidender Bedeutung für den Ver¬
lauf des Wirtschaftslebens geworden sind. Aber sie sind doch
immer nur im Zusammenhänge mit den andern grundstürzenden
-Neuerungen in jener Zeit zu betrachten und demgemäß zu be¬
werten. Auf der andern Seite sollte man nicht vergessen , daß
alle die epochalen Erfindungen des 18. Jahrhunderts, die zur
Revohutionierung der Textilindustrie beigetragen haben, grund¬
sätzlich schon in unserer Epoche gemacht worden sind: bis auf
die drei Walzen Pauls!
Der Spinnprozeß wurde 1530 durch die Anbringung der
Tretvorrichtung am Spinnrade, das bis dahin mit der Hand gedreht
wurde, wesentlich vervollkommnet. Andere. Vervollkommnungen
der Spinnerei im 17» Jahrhundert1. Für die Abhaspelung der
Seide bestanden seit dem 15. Jahrhundert besondere Maschinen.
Becher2 erfand ein „Seyden-Filatorium oder Abwind-Instrument“
— besser als das in Bologna genutzte: einfach, geräuschlos,
„gantz leicht zu bewegen, also dass ein Mensch gar füglich auf
einmahl tausend Stränge abwinden kann, dahingegen die Bolog-
nesische Maschine mit Wasser getrieben werden muß“ (!).
Die mechanische AVeberei wurde Ende des 16. Jahrhunderts
in Holland (nach andern im Jahre 1600 von Anton Möller in
Danzig, „4000 Jahre“ s. h. a.) erfunden in Gestalt der Band-
mühle. Nach den Beschreibungen, die wir von den Bandmühlen
aus der Mitte des 18. Jahrhunderts besitzen, bis zu welchem
Zeitpunkt wir von keiner Vervollkommnung erfahren, handelt es
sich schon um eine vollständige Maschine, der grundsätzlich
kein einziger Bestandteil des mechanischen AVebstuhles fehlte.
Es war dem Ansehen nach ein Webstuhl, doch wird mit der
Hand kein Schütze durchgeworfen, sondern der Stuhl webet
selbst: alles wird durch Bewegung eines Rades (Getriebes) ver¬
richtet. Die Bandmühle kann 10, 12, 16, 20 und mehr Gänge
1 Der auf die Spinnerei bezügliche Regesten-Band der englischen
Patentsammlung enthält acht Erfindungen zur mechanischen Spinnerei
im 17. Jahrhundert, darunter (im Jahre 1678) „a new spinning engin
never used in E.“, mittels deren man in einem Tage dasselbe Quantum
erspinnen könne als früher in zwei oder drei Tagen.
2 Becher, Närrische AVeisheit, 19.
Bombart, Der moderne Kapitalismus. I. JJ2
498
Dritter Abschnitt: Die Technik
haben. Es arbeitet hier eine einzige Person, und es entstehen
zugleich 10, 20 und mehr Bänder, jedes von anderer Farbe; „und
der Arbeiter webet ohne einen einzigen Durchschuß mit der
Hand zu verrichten, ohne das Bandmachen zu verstehen, ohne
eine Lade zu ziehen“. 1
Aber auch der breite mechanische Webstuhl war Ende des
17. Jahrhunderts schon erfunden. Unser alter Freund Becher
erzählt uns (Närrische Weisheit, 14 f.), daß er ein „Web-Instrument,
mit zwey Personen in einem Tage hundert Elen Lacken zu weben“
erfunden habe. „Und verhält sich dieses Instrument so ich er¬
funden auf die Art der IJarmelischen Seyden-Ba,ndmühlen aber
diß ist der Unterschied, daß es so breit Lacken weben kan als
man wil und daß es viel gleicher webt, als man mit Händen
thun kan.“
Freilich: es scheint, als ob diese Erfindungen in den meisten
Ländern längere Zeit ungenutzt geblieben wären. Nicht zuletzt, weil
die Obrigkeit ihre Verwendung im Interesse der Handwerksmeister
gesetzlich verbot: der Erfinder der Bandmühle wurde (so heißt es) von den
holländischen Generalstaaten in ewigen Arrest gesteckt, das Werk aber
zurückbehalten. In den Jahren 1623, 1639, 1661 verbieten die General¬
staaten ausdrücklich die Anwendung der Bandmühle und aller darauf
verfertigter Sachen; dasselbe Verbot erläßt 1664 die Regierung der
(damals spanischen) Niederlande zu Brüssel. In Deutschland wurde
die Bandmühle durch komiss. Dekret vom 5. Juni 1685 im ganzen
deutschen Reich, durch solches vom 19. Februar 1685 in den öster¬
reichischen Landen verboten. 1719 werden diese Verbote erneuert.
Die Verbote scheinen allerdings nicht streng durchgeführt worden zu
sein: „so ist die Sache auf sich sitzen geblieben und die Bandmühlen
sind hie und da ungehindert beibehalten worden.“ 1765 erkennt ein
chursächsisches Generalreskript den Status an und erlaubt ausdrück¬
lich Bandmühlen, ja belegt sogar die Einrichtung mit einer Prämie
J. H. L. Bergius, a. a. 0.
Genau unterrichtet sind wir über die Geschichte der Bandmühle
in der Schweig. Hier hat den ersten Kunststuhl nach Basel ein Woll-
webenneister im Jahre 1668 aus Amsterdam gebracht. Bereits 1669
bemerkt Zürich, der Mühlstuhl für Floretband sei in Basel, Schaff¬
hausen und Chur eingeführt. Bald erheben die Zünftigen Klage, aus
denen wir erfahren, daß die neue Erfindung tatsächlich in Wirksamkeit
getreten war. „Ein Ungelernter nimmt die Arbeit von 16 Meistern
weg“ usw. Siehe die eingehende aktenmäßige Darstellung bei Tr.
Geering, Handel und Ind der Stadt Basel, 609 f. Nach dem Gut-
1 J. H. L. Bergius, Neues Policey- und Cameral-Magazin 1
(1775), 191 ff., wo eine ausführliche Beschreibung des damaligen
Standes der „Bandmanufaktur“ 'und ihrer Geschichte sich findet. Vgl.
Beckmann, Gesch. der Erfind. 1 , 1 22 ff.
Dreißigstes Kapitel: Die Fortschritte der Technik 499
achten einer Untersuchungskommission, die der Baseler Rat im Jahre
1670 eingesetzt hatte, um die Beschwerden der Passementerzunft zu
prüfen , soll der Bandstuhl schon damals geduldet worden sein in :
Bayern, Wien, Chur, Schaffhausen, Feuerthalen und Zürich.
Der Handwebstuhl erfährt eine wesentliche und praktisch
bedeutsame Verbesserung durch die Erfindung des mechanisch
bewegten Schnellschützen durch John Kay (1733) h
Eine ganze Reihe maschineller Einrichtungen bestanden für
die Appretur der Gewebe: Walkmühlen gab es, wie wir
bereits sahen, in Augsburg schon im 14. Jahrhundert; Tuclischeer-
maschinen beschreibt Leonardo da Vinci (es gab ihrer mehrere
Systeme); Tuchrauhmaschinen ebenso: beide im Cod. atl. Ebenso
finden wir Beschreibungen von Maschinen zum Kratzen wollener
Tücher bei Zonca (Fig. 377). Mangen zum Glätten des Gewebes,
die mit Pferden getrieben wurden, gab es ebenfalls schon im
14. Jahrhundert (Stetten, a. a. 0. S. 143). Daß sie im 17. Jahr¬
hundert in Mühlenform angewandt wurden, sahen wir oben, als
wir die verschiedenen Arten von Mühlen kennen lernten.
Von ganz besonderer praktischer Bedeutung aber wurde die
Einführung des Zeug drucks in Europa. Man kann nicht sagen:
die Erfindung, da das Bemalen oder Bedrucken von Baumwoll-
geweben ä la Siamois in Indien und Ostasien schon seit Jahr¬
hunderten* in Übung gewesen war, als die ostindischen Kom¬
pagnien Anfang des 17. Jahrhunderts diese indischen Stoffe
nach Europa brachten. Aber hier war doch die Anwendung
dieser Technik, die auch bald durch Einführung des Platten¬
drucks wesentlich vervollkommnet wurde,* etwas neues. Die
Nachahmung des indischen Zeugdrucks beginnt etwa gleich¬
zeitig (gegen Ende des 17. Jahrhunderts) in Frankreich, in
England, in Augsburg und in Genf: die erste in Europa nach¬
weisbare Kattundruckerei nach indischer Art in Indigo und
Krapp gründete im Jahre 1678 der Kaufmann Jakob ter Gouw
in Amsterdam1 2. Die große praktische Bedeutung dieser tech¬
nischen Neuerung, von der ich sprach, lag darin begründet, daß
(wie wir sehen werden) die Kattundruckereien ein besonders
günstiges Feld für die Betätigung des kapitalistischen Unter-
1 Pat. for Inv. Specif. rel. to Spinning etc. 1866.
2 Tr. Geering, Die Entwicklung des Zeugdrucks im Abendlande
seit dem 17. Jahrhundert, in der 'Vierteljahr Schrift f. Soc. u. WG. 1,
379 f. Nach andern soll die Kattundruckerei in London bereits im
Jahre 1676 einsreführt sein.
O
dritter Abschnitt: Die Technik
m
nehmertums boten, daß sie sich rasch zu expansionsgeneigten
Großbetrieben auswuchsen und dadurch einen starken Anreiz
auf die Entwicklung der textilen Grundgewerbe: Spinnerei und
Weberei, ausübten.
Auch die Wirkerei (Strickerei) erlebte schon Ende des
IG. Jahrhunderts den entscheidenden Übergang zur rein maschi¬
nellen Technik durch die Erfindung der Stocking-fr ame, der Strumpf¬
wirkmaschine, den „Handkulierstuhl für Strumpfwirkerei“. Diese
Wirkmaschine des Theologiestudenten Lee war schon ein un¬
geheuer komplizierter Mechanismus mit Hunderten von Nadeln und
ist im Prinzip bis heute nicht überholt worden. Die späteren Er¬
findungen waren unwesentlich „und hauptsächlich auf Herstellung
neuer Muster und der sog. Hund- und Schlauchstühle gerichtet,
auf denen schlauchartige Wirkwaren ohne Naht erzeugt werden
(Strickmaschinen)“. Die Wirkmaschine fand im Laufe des 17. Jahr¬
hunderts in der Praxis Eingang: die erste Manufacture de Bas
au metier in Frankreich wurde 1G56 errichtet1.
Erwägen wir noch, daß sich während des 16. und 17. Jahr¬
hunderts wesentliche Veränderungen in der Färbetechnik voll¬
zogen: Mitte des IG. Jahrhunderts kommt die Indigofärberei auf2;
1630 wird die Scharlachfärberei (Salpeter-Salzsäure und Coche¬
nille) erfunden, so wird man zugeben müssen, daß die technischen
Neuerungen, die die Textilindustrie schon vor dem 18. Jahrhundert
erfuhr, an Tragweite kaum hinter den späteren zurückstehen, und
daß, wenn die Wirkung der Erfindungen des IG. und 17. Jahr¬
hunderts nicht so dynamische waren, dies seinen Grund in andern
Umständen haben muß. Immerhin werden wir sehen, daß auch
die Erfindungen der Frühzeit Veranlassung zu mancher wirt¬
schaftlichen Änderung boten, die in der Textilindustrie in dieser
Zeit deshalb immer von ganz besonderer und allgemeiner Be¬
deutung sind, weil sie die Leitindustrie in der frühkapitalisti¬
schen Epoche war.
1 Sa vary, Dict. du Comm. 1, 274. Nach S. soll ein Franzose
der Erfinder der Wirkmaschine sein: eine Auffassung, die darin ihren-
Grund haben mag, daß der englische Erfinder, der in seinem Vater¬
lande wenig Sympathie fand, bald sich nach Frankreich begeben hat,
um seine Erfindung zu verwerten. Vgl. auch Fournier, Le Vieux-
neuf 2, 240 ff.
2 1616 wurde noch in 300, 1629 nur noch in 80 thüringischen
Dörfern Waid erzeugt : Poppe, 191.
Dreißigstes Kapitel: Die Fortschritte der Technik
501
o) Neue Industrien
Einen nicht unwesentlichen Einfluß auf die Gestaltung des
Wirtschaftslebens üben die technischen Neuerungen in unserm
Zeitraum, insbesondere während der letzten beiden Jahrhunderte,
dadurch aus, daß sie den Anlaß bieten zur Einführung ganz neuer
Industrien oder doch wenigstens zu einer so entscheidenden
Neueinrichtung alter Gewerbe, daß diese einer Neubegründung
nahekommt. Die Neuheit der Industrie kann darin liegen, daß ein
ganz neuer Stoff zu schon bekannten Gebrauchszwecken ver¬
arbeitet wird, oder darin, daß neue Gebrauchsgegenstände auf-
kommen, oder endlich darin, daß ein altes Gebrauchsgut mit
demselben Stoffe aber in wesentlich anderer Form hergestellt
wird.
Es genügt, wenn ich die wichtigsten dieser neuen Industrie¬
zweige, deren Begründung in unsere Epoche fällt, hier einfach
aufzähle :
Eine besondere Kategorie bilden diejenigen Industriezweige, die
sich an neu aus den Kolonien eingeführte Rohstoffe anschlossen, unter
ihnen ist die bedeutendste :
1. die Schokoladenindustrie. Sie kommt Ende des 16. Jahr¬
hunderts in Italien auf; ist gegen 1650 in Frankreich verbreitet: 1659
erhält David Ckaillon ein Privileg zur Fabrikation und zum Vertrieb
von Schokolade. Fournier, Le Vieux-neuf 2, 366 ff. In England
findet die erste Errichtung eines Schokoladenhauses im Jahre 1657 statt.
2. Herstellung von Schaumweinen. Sie wurde erst möglich,
nachdem der Flaschenverschluß mit Korken erfunden war. Diese Er¬
findung, die mit der der Schaumweinbereitung im Zusammenhänge stellt,
wird dem Pater Kellermeister der Abtei von Hautvilles, Dom Perignon,
um das Jahr 1670 zugeschrieben. Im Anfang des 18. Jahrhunderts ist
der Champagner schon in weiten Kreisen bekannt. Fournier, Le
Vieux-neuf 2, 311. Eine Reihe neuer Industriezweige setzt der alte
Stamm der Textilindustrie an:
3. die Strumpfstrickerei, die in der ersten Hälfte des
16. Jahrhunderts in Spanien erfunden sein soll: Heinrich VIII. besaß
ein Paar seidene Trikots, die ein Geschenk aus Spanien waren. 1564
wird der erste Strumpfmacher in England: William Rider, erwähnt.
Wie rasch der Strickprozeß selbst dann wieder vervollkommnet wurde,
haben wir bereits gesehen. Die Strickerei wurde dadurch bedeutsam,
daß sie von Weibern und Kindern ausgeübt wurde und die alte
Schneiderarbeit der Männer verdrängte.
4. Die Gobelinweberei war schon längere Zeit bekannt, als
sie im Anfang des 17. Jahrhunderts von Peter Dupont in Paris sehr
vervollkommnet und 1667 von den Gebrüder Gobelins auf den höchsten
Grad der Vollendung gebracht wurde. J. Guiffrey, Hist, de la
502
Dritter Abschnitt: Die Technik
tapisserie, 1883. Ger spach, La manufacture nationale des Gobelins,
1892. Fenaille, Etat general des tapisseries de la manufacture des
Gobelins 1600 — 1900, 1903 (war mir nicht zugänglich).
5. Die Spitzenindustrie. Seit dem Ende des 15. Jahrhunderts
sind Eiechtspitzen (älteste Klöppelspitze) in Spanien , Italien , den
Niederlanden und Deutschland heimisch. Die rechte Entwicklung setzt
aber erst im 16. Jahrhundert von Italien aus ein sowohl für die Näh-
wie für die Klöppelspitzen. In Italien (Venedig!) erfuhr die Technik
der Spitzemnacherei im punto a rilievo die edelste Ausbildung. Diese
mit äußerster Feinheit hergestellten Reliefspitzen suchte man dann in
den andern Ländern axich heimisch zu machen: 1664 ließ Colbert (wie
wir noch in anderm Zusammenhänge genauer verfolgen werden) venetia-
nische Arbeiter nach Frankreich kommen, um die einheimische grobe
Spitzenmacherei zu heben und damit recht eigentlich erst die berühmte
französische Spitz enindnstrie zu begründen.
1561 soll Barbara Uttmann die Spitzenklöppelei im Erzgebirge
heimisch gemacht haben. Bury Palliser, History of Lace (ich be¬
nutzte die illustrierte Traduction frau<?aise von 1890).
6. Die Wäscheindustrie: kommt in Frankreich seit dem
16. Jahrhundert auf. Damals wurden das Plätteisen und eine Menge
Methoden zur Wäscheanfertigung erfunden. Sehr amüsant sind die
unzähligen',, Livres de lingerie“, die zwischen 1530 und 1597 erscheinen.
Auszüge daraus bei Fournier, Le Vieux-neuf 2, 212 ff.
Und dann noch eine bunte Menge verschiedener Industrien: zu¬
nächst einige Holz verarbeitende:
7. die Klavierindustrie. Nach den neuesten Forschungen
gilt Bartol. Cristofori, Instrumentenmacher in Florenz (1655 — 1731),
als Erfinder des Klaviers, sofern man dessen neues Prinzip in der
Verwendung der Hammertechnik erblickt. Die neue Erfindung wurde
1711 im Giornale dei letterati d’ Italia bekannt gemacht.
8. Die Kutschenindustrie. Was wir heute Kutsche nennen,
das heißt ein bedeckter Wagen, dessen Kasten in Riemen oder Federn
hängt, ist nicht älter als drei- bis vierhundert Jahre. Der Name Kutsche
soll von dem ungarischen Dorf Kocs stammen, und Wagen von dort¬
her, die die bezeichneten Merkmale trugen, sollen zuerst gegen Ende
des 15. Jahrhunderts in Gebrauch genommen worden sein. (Feld-
haus.) Nach andern (Poppe) sei die erste wirkliche „Kutsche“ 1546
in Spanien, die erste in England 1580 nachweisbar. Nach dritten
(Fournier) sei die Kutsche auf Federn ein Patent des M. Dufresny,
das aus dem Jahre 1686 stammt. Um allen Meinungen gerecht zu
werden, können wir sagen, daß es eine Kutschenindustrie sicher nicht
vor dem Ende des 15. Jahrhunderts gibt, daß sie sich aber sicher im
17., wahrscheinlich schon im 16. rasch entwickelt: jedenfalls begegnen
wir schon vielen gedeckten Staatskarossen im Gefolge der Großen
während des 16. Jahrhunderts, deren Herstellung — ob „Kutsche“
oder nicht — einer neuen Industrie Beschäftigung gab.
Im 17. Jahrhundert sehen wir die Galakutschen mit großen Glas¬
fenstern sich überall hin verbreiten. „In Münster war die Kai’osse
der Herzogin von Longueville aufgefallen und veranlaßte manche
Dreißigstes Kapitel: Die Fortschritte der Technik 503
deutsche Prinzessin, sie nachzuahmen; nach Warschau brachten sie
die polnischen Königinnen, und Christine von Schwedens Reisezug,
größtenteils Mietskutschen, die Ludwig XIV. bezahlte, gab halb Europa
Veranlassung, die Wunderwerke aus Glas, vergoldetem Holz und
damastenen Kissen zu preisen. “ A. v. Gleichen-Russwurm, Das
Galante Europa (1911), 143. Vgl. mit den genannten Gewährsmännern
noch Beckmann, Beiträge 1, 390 ff.
9. Die Schirmindustrie gehört den Stoffen nach, die sie ver¬
arbeitet, verschiedenen Gewerbszweigen an. Ihre Entstehung fällt in
den Anfang des 17. Jahrhunderts: 1622 war der Regenschirm in Paris
eine Nouveaute ; etwas später kommt der Sonnenschirm in Mode. Um
die Mitte des Jahrhunderts bemerkt ihn Evelyn in Montpellier; 1675
fällt er dem Philosophen Locke auf einer Reise nach Paris auf.
Fournier, Le Vieux-neuf 2, 228 ff.
10. Die Lampenindustrie entwickelt sich ebenfalls seit dem
17. Jahrhundert: damals werden die ersten Lampen, die Reverberier-
und bald danach die Fontainelampen, erfunden. Poppe, 234 ff.
11. Die Spiegelglasindustrie knüpft an die Erfindung des
Franzosen Thevart an, Glastafeln zu gießen (Ende des 17. Jahrhunderts).
12. Die Porzellanindustrie ist in Europa wahrscheinlich nicht
älter als zweihundert Jahre. Die Behauptung, daß schon im 16. und
17. Jahrhundert Porzellan in Europa fabriziert worden sei, die Four¬
nier, Le Vieux-neuf 2, 331 ff. aufstellt (um auch in diesem Falle
wieder die Erfindung auf die Franzosen zurückzuführen), scheint mir
nicht bewiesen. Es bleibt also einstweilen dabei, daß Joh. Friedr.
Böttcher (auch nicht Ehrenfried Walther v. Tschirnhaus) der Erfinder
des Porzellans ist, und daß in das Jahr 1710 die Gründung der ersten
europäischen Porzellanmanufaktur auf dem Schlosse Albrechtsburg bei
Meißen zu verlegen ist. Eine genaue Untersuchung über die Anfänge
der Porzellanindustrie in Europa, die auch auf die Frage nach der
Priorität der Erfindung eingeht, findet man bei Willy Do enges,
Meißner Porzellan (1907), 13 ff.
13. Die Tapetenindustrie befaßte sich zunächst mit der Her¬
stellung von Ledertapeten, die schon im 12. Jahrhundert von den
Mauren in Spanien gemacht wurden. Die Ledertapetenindustrie ver¬
breitete sich seit dem 15. Jahrhundert in sämtlichen europäischen
Ländern; sie hatte während des 17. und 18. Jahrhunderts in Deutsch¬
land ihren Hauptsitz in Augsburg. Die Kunst, Papiertapeten zu
fertigen, stammt aus China; sie kam wohl während des 17. Jahr¬
hunderts nach Europa, wo nachweislich seit dem 18. Jahrhundert
Papiertapeten hergestellt werden. Anfangs bemalte man das Papier
mit Hilfe von Schablonen, bis 1760 Reveillon die Schablonen- und
Patronenmalerei durch das in der Kalikodruckerei angewandte Druck¬
verfahren ersetzte. Zu rechter Entfaltung kam die Tapetenindustrie
erst seit der Erfindung des endlosen Papiers (1799), da bis dahin die
Zusammenstückelung langer Streifen aus viereckigen Papierbogen sehr
mühsam war. W. F. Exner, Die Tapeten- und Buntpapierindustrie
(1869), 16 ff. Dortselbst findet man weitere Literatur angegeben.
504
Dritter Abschnitt: Die Technik
II. Die Kriegstechnik
Eine besondere Erwähnung verdienen die Fortschritte, die
die Waffentechnik in unserer Periode gemacht hat. Sie sind von
großer Bedeutung nicht nur wegen des Einflusses, den sie auf
die Umgestaltung der Betriebsformen gehabt haben (die Geschütz -
und Gewehrmanufakturen und -fabriken sind, wie wir sehen
werden, die ersten modernen gesellschaftlichen Großbetriebe);
nicht nur wegen der belebenden Wirkung, die die Waffenfabriken
auf andere wichtige Industriezweige ausgeübt hat (die Eisen¬
gießerei und damit die gesamte Eisenerzeugung erfuhren ihre
größte Förderung durch die Ausbildung der Geschütztechnik);
sondern jene Fortschritte sind vor allem natürlich auch von so
weittragender Bedeutung wegen der schwerwiegenden Folgen,
die sie für die ganze neuere Staatenbildung mit sich gebracht
haben.
Ich begnüge mich damit, im folgenden die wichtigsten Er¬
findungen ihrer Zeitfolge nach zusammenzustellen und verweise
für weitere Einzelheiten auf die waffengeschichtliche
Literatur, von der ich eine Auswahl in meinem Krieg und
Kapitalismus S. 214 zusammengestellt habe.
Die Erfindung des Schießpulvers und seine Ver¬
wendung in der Schießtechnik ist in ein undurchdringliches
Dunkel gehüllt, das, scheint’s, um so dichter wird, je mehr sich
die Forschung mit dem Problem beschäftigt. Man weiß jetzt,
daß die Gelehrten des 13. Jahrhunderts — Roger Baco und
Albertus Magnus — das Schießpulver bereits kennen und nimmt
an, daß es seit dem 14. Jahrhundert auch in Europa zu Schie߬
zwecken benutzt worden ist.
Im „Feuerwerksbuch“ (1450) wird zuerst des gekörnten Pulvers
Erwähnung getan. Kollergänge mit Wasserradbetrieb zum leich¬
teren und sicheren Mahlen des Pulvers sind wahrscheinlich schon
im 15., sicher Anfang des 16. Jahrhunderts im Gebrauche : Birin-
guccio (1540) kennt sie bereits.
Die Darstellung des Pulvers in größeren Mengen beginnt aber
wahrscheinlich erst im 16. Jahrhundert: bis dahin hatte man
immer nur, wenn gerade eine Fehde drohte, von den herum¬
ziehenden Feuerwerkern und Büchsenmachern sich einen kleinen
Vorrat anfertigen lassen. Die erste Pulvermühle ist im Jahre
1578 in Spandau nachweisbar.
Die Anfänge der Feuerwaffen reichen ebenfalls in das
14. Jahrhundert zurück: damals kannte man und verwandte man
Dreißigstes Kapitel: Die Fortschritte der Technik 505
bereits Handfeuerwaffen (das Feuergewehr mit dem Luntenschloß)
und Geschütze (gegossene Kanonen).
Die Fortschritte der Handfeuerwaffen werden durch folgende
Erfindungen bezeichnet: 1515 das deutsche Kadschloß; Mitte des
16. Jahrhunderts: gezogene Köhren; im Verlauf des 16. Jahr¬
hunderts: die Muskete, deren Gewicht Gustav Adolf (1626) auf
5 kg herabmindert; zwischen 1630 und 1640: das Feuerstein¬
oder sog. französische Schloß; um dieselbe Zeit das Bajonett.
Die Geschütztechnik entwickelt sich in folgenden Etappen:
1471 führt Ludwig XI. an Stelle der Steinkugeln die eisernen
Kugeln ein; das 16. Jahrhundert bringt: die Verbesserung der
Laffetten; die Hinterladekanonen; die gegossene Kanonenkugel;
die mit Pulver gefüllten Bomben (Granaten) (deren erste 1588
in die Stadt Wachtendonk geworfen sein soll); den gezogenen
Geschützlauf (von dem die erste Nachricht aus dem Jahre 1591
stammt); 1627 erste Verwendung zylindrischer Granaten; 1692
wird das Schießen mit Granaten aus Kanonen erfunden; seit
Mitte des 18. Jahrhunderts werden die Kanonenrohre voll ge¬
gossen (1740 horizontale Bohrmaschine des Genfer Maritz).
Von nicht unerheblicher Bedeutung für einzelne Zweige der
gewerblichen Produktion war auch die Änderung, welche seit
dem Aufkommen der Feuerwaffen die Technik des Festungs¬
baues erfuhr.
IH. Die Meß- und Orientierungstechnik
Wiederum stehen wir vor technischen Ereignissen, deren
Eintritt wir als unerläßliche Bedingung für die Erfüllung des
kapitalistischen Wirtschaftssystems betrachten müssen, wenn wir
der epochalen Erfindungen gedenken, die seit dem Ausgang des
Mittelalters bis zum Ende unserer Periode auf dem Gebiete der
Meßtechnik gemacht worden sind.
Von den drei Grundeinheiten, die wir messen: Länge, Zeit
und Masse, kommen hier nur die beiden ersten in Betracht. Nicht
als sei die Gewichtsbestimmung nicht ebenfalls von größter
Wichtigkeit für die Ausgestaltung des Wirtschaftslebens wie des
Kulturlebens überhaupt: aber in dem Zeitraum, den wir über¬
blicken, sind im Bereiche der Wägetechnik keine irgendwie be¬
deutsamen Erfindungen gemacht worden. Die Wage in ihren
beiden Formen, als Feder- und Hebelwage, ist uralt. Und die
Verfeinerungen des Wägemechanismus, die zur chemischen Wage
oder zur Präzisionswage führen, fallen in eine spätere Zeit. Sie
506
Dritter Abschnitt: Die Technik
gehören wieder zu denjenigen Erfindungen, die den Übergang
zum Hochkapitalismus vorbereiten, insbesondere auch dadurch,
daß sie die moderne Chemie möglich machen.
Dagegen weist die Technik sowohl der Zeit- wie der Längen¬
messung sehr bedeutende Fortschritte gerade in den Jahr¬
hunderten auf, mit denen wir uns beschäftigen.
Instrumente zur Zeitmessung nennen wir Uhren1.
Das Altertum kannte Sonnen- und Wasseruhren (zum Teil recht
kunstvoll), das Mittelalter (seit Beginn des 11. Jahrhunderts in
den Klöstern, diesen Pflanzschulen der rationalen Lebensführung,
zumeist als Nacht- und Weckuhren) Räderuhren. Die Uhren in
ihrer heutigen Gestalt sind aber ein Werk des 15., 16. und 17. Jahr¬
hunderts. Das Jahr 1500 bringt die Erfindung der Taschenuhr
durch Peter Hele, das heißt des auf dem Prinzip der Elastizität
bestimmter Körper aufgebauten Zeitmessers: die Federuhr2, die
im Laufe der nächsten Jahrhunderte noch wesentlich vervoll¬
kommnet wird: 'Anfang- des 17. Jahrhunderts die Schnecke, die
den ungleichen Zug der Feder korrigieren muß; 1674 Spiral¬
feder; 1680 Ankerhemmung, um dieselbe Zeit Zylinderhemmung,
Äquationsuhr , Repetieruhr; Anfang des 18. Jahrhunderts: Uhr
mit tragbarem Sekundenzeiger.
In die Mitte des 17. Jahrhunderts fällt die Erfindung der
zweiten Gattung von Uhren, derjenigen, die eine völlig fehler¬
freie Zeitbestimmung erst möglich gemacht haben: der Pendel¬
uhr. Man nimmt an, daß sie Galilei 1641 schon erfunden, aber
aus Angst vor Verfolgungen nicht bekannt gegeben habe, während
die Erfindung dann unabhängig von Galilei 1656 (1657) durch
Huygens noch einmal und zu praktischem Ende gemacht
worden ist.
Die Bedeutung der exakten Zeitmessung liegt zum Teil
darin, daß durch sie erst die Güterproduktion wie der Transport
1 Über die Geschichte der Uhren bringt viel Material bei : Beck¬
mann, Gesch. der Erfind. 1, 149 ff. 301 ff.; 2, 465 ff. Aus der neueren
Literatur eignen sich zur Einführung: Saunier -Speck har dt, Ge¬
schichte der Zeitmeßkunst. 1902. Ernst ßassermann- Jordan,
Die Geschichte der Räderuhren. 1907. Zwar unter vorwiegend kunst¬
historischem Gesichtspunkt geschrieben, doch auch wertvoll für die
Geschichte der Technik.
2 Nach neueren Forschungen hat es Federuhren als Tischuhren
schon im 15. Jahrhundert gegeben: die Standuhr Philipps d. G. von
Burgund war wahrscheinlich eine Federuhr: Bass ermann, a. a. O.
S. 26 f.
Dreißigstes Kapitel: Die Fortschritte der Technik 5^7
einen höheren Grad der Genauigkeit und Zuverlässigkeit er¬
reichen, vor allem aber in dem Einfluß, den die genaue Zeit¬
bestimmung auf das Behaben der wirtschaftenden Menschen aus¬
übt, dessen Rationalisierung umgekehrt an der fortschreitenden
Verwendung von Uhren gemessen werden kann1.
AVenn ich auch die Fortschritte auf dem Gebiete der
Längenmessung, die in unsere Periode fallen 2, für ausschlag¬
gebend wichtig ansehe, so erklärt sich das dadurch, daß ich den
Begriff der Längenmessung etwas weiter fasse und darunter auch
die Ortsbestimmung mit verstehe, deren Technik vor allem in
diesen Jahrhunderten von Grund aus umgewälzt wurde. Man
sieht, was ich meine: erst die Möglichkeit, sich an jeder Stelle
der Erde rasch und sicher orientieren zu können, erschloß den
Erdball den Menschen: erst die Möglichkeit, ins offene Meer
hinauszufahren, bahnte ihnen den Weg nach Amerika und den
Seeweg nach Indien.
Die Erfindung des Kompasses verliert sich ähnlich wie die
des Pulvers in das Dunkel des Mittelalters. Man will die erste
schriftliche Nachricht von der Verwendung des Kompasses in
Europa in den Schriften des Engländers Alexander Neckam (um
1195) finden. Die Wasserbussole, in deren Form der Kompaß
zunächst erscheint, beschreibt ausführlich im Jahre 1205 der
Minnesänger Guiot. Auch wird in den Schriften des 13. Jahr¬
hunderts auch sonst der Kompaß häufig erwähnt. Lange Zeit
galt bekanntlich Flavio di Gioia in Arnalfi als der Erfinder des
Kompasses, und seine Erfindung wurde in das Jahr 1305 verlegt.
Die „Gioia-Sage“ ist durch die neueren Forschungen zerstört3.
Ihre Entstehung beweist aber doch, daß die allgemeine Ver¬
wendung des Kompasses nicht hinter das 14. Jahrhundert zu
verlegen ist. Ja, andere Anzeichen sprechen dafür, daß er erst
sehr viel später sich eingebürgert hat: noch 1499 erwähnt ihn
Polydorius Vergilius in seinem Buch der Erfindungen überhaupt
nicht; 1560 nennt ihn Cardio die Krone aller Erfindungen usw.
1 Siehe meinen Bourgeois, 421. Vgl. auch im 2. Bande dieses
Werkes das Kapitel, das von der Entstehung der kapitalistischen
Unternehmung handelt. Dort gebe ich auch einen Überblick über die
Geschichte des Aufkommens der Uhren und ihre Verbreitung.
2 Erst der folgenden Periode gehört die seit dem 17. Jahrhundert
sich entwickelnde metrische Messung an: L. Gr ummacher, Maß
und Messen, im Buch der Erfindungen 2, 195 ff.
3 Feldhaus, Ruhmesblätter, 431 ff.
508
Dritter Abschnitt: Die Technik
Jedenfalls bringt erst das 16. Jahrhundert die entscheidenden
Fortschritte vor allem auch in der Nutzung des Kompasses. Am
13. September 1492 trägt Chr. Columbus die erste Beobachtung
der Deklination in sein Schiffsbuch ein; 1510 beobachtet die
Deklination zum ersten Male auf dem Lande Georg Hartmann
aus Nürnberg. Weitere Vervollkommnungen in der Bestimmung
der Deklination fallen in die Jahre 1525, 1538, 1585 usw. 1544
entdeckt Georg Hartmann die Inklination, die 1576 zum ersten
Male genau beobachtet wird durch den Nautiker Bob. Norman.
Wichtig für die Nutzung des Kompasses ist die Erfindung des
Cardanischen Gelenks (1545).
Neben dem Kompaß sind die Instrumente zur Ortsbestimmung
auf dem Meere unentbehrlich für eine ungehinderte und sichere
Befahrung des Ozeans. Ihre Erfindung (die Vasco de Gamas
und Colons Reisen erst möglich machte) fällt in die letzten Jahr¬
zehnte des 15. Jahrhunderts (wenn man den angeblich 1325 von
Levi ben Gerson erfundenen „Jacobsstab“, der auch schon zu
geographischen Ortsbestimmungen auf See diente, als unvoll¬
kommen außer Betracht läßt): Im Jahre 1473 verfaßt Abrah.
Zacuto seine astronomischen Tabellen und Tafeln (Almanach
perpetuum), auf Grund deren Jose Vecinho und der Mathematiker
Moses im Verein mit zwei christlichen Kollegen das Astrolabium
erfinden : das Instrument, mit dessen Hilfe man aus dem Stande
der Sonne die Entfernung des Schiffes bestimmen kann b
Lange hat dann das entsprechende Instrument zur Bestimmung
bzw. Messung der geographischen Länge auf sich warten lassen:
seine Erfindung wurde mit wahrer Inbrunst herbeigesehnt:
Akademien und Regierungen setzten im 17. Jahrhundert Preise
aus für die glückliche Lösung des Problems.
Nach vielen vergeblichen Experimenten wird 1714 in England
durch das Parlament auf Isaac Newtons und Dr. Halleys Gutachten
hin ein Preisausschreiben erlassen: for the discover of the longitude,
wenn er die Länge bis auf 1° bestimmen kann 10 000 wenn bis
auf 1 2la° 15 000 wenn bis V20 20 00T) jgk Bei Anderson, Orig.
1 An dieser wichtigen Erfindung sind, wie aus der Darstellung
schon hervorgeht, mehrere Juden beteiligt. Die jüdischen Geschichts¬
schreiber wachen infolgedessen mit Eifersucht darauf, daß der Anteil
ihrer Stammesgenossen an diesem Erfindungswerk nicht geschmälert
werde: siehe z. B. Graetz, Gesch. d. Juden 8, 361, der die Quellen
zusammenstellt und gegen Al. von Humboldt polemisiert, der im
Kosmos (2, 296) die Anlegung der astronomischen Tafeln und die
Verbesserung des Astrolabs dem Martin von Behaim allein zuschreibt.
Dreißigstes Kapitel: Die Fortschritte der Technik
509
3, 59. Erst im Anfang des 18. Jahrhunderts gelang es John Harrison,
die sog. Längenuhr zu erfinden, die jene Anforderungen wenigstens
theoretisch erfüllte.
Den praktischen Bedürfnissen scheint die Harrisonsche Erfindung
noch nicht genügt zu haben. Wenigstens wiederholt das englische
Parlament sein 1714 erlassenes Preisausschreiben in den Jahren 1765,
1770, 1780, 1781. 1765 werden 1000 % Vorschuß einem Mr Witchel
gegeben, der eine Seekarte und Längenbestimmungsmethode .vorlegt:
um sie in die Praxis zu übertragen. Anderson, Orig. 4, 71.
Endlich rüsten wir den Seefahrer noch mit einem Fernrohr
aus, das seine Ausstattung erst vollständig macht: seine Erfindung
wird jetzt, nach den sorgfältigen Untersuchungen des Professor
Harting, in das Jahr 1608 verlegt1.
Auch die besten Instrumente zur Ortsbestimmung nützen aber
dem Schiffer nichts, wenn er nicht zuverlässige Seekarten besitzt.
Die ältesten Seekarten sind die des Marino Sanuto (1306 — 1324)
und des Pedro Yesconte (1318). Diese Karten waren noch sog.
Kompaßkarten und infolgedessen sehr lückenhaft. Einen be¬
deutenden Fortschritt bedeutete die Einführung der sog. Mercator-
projektion, die ihr Erfinder, der berühmte Kartograph Mercator
(1512 — 1594), zuerst 1569 auf seiner großen Weltkarte angewandt
hat. Ende des 17. Jahrhunderts verfertigt Halley die erste Karte
der Luftströmungen für den Gebrauch der Seefahrer; 1665 ver¬
zeichnet der Jesuit P. Athanasius Kircher zum ersten Male die
Meeresströmungen auf den Karten.
Seit dem 16. Jahrhundert wird die Steuermannskunst zum
Gegenstand einer besonderen Wissenschaft: der ‘Nautik’, ge¬
macht. 1575 erscheint das erste bessere Werk über die Ozean¬
schiffahrt, der Itinerario de Navegacion ä los mares y tierres
occidentales 2.
Wie ersichtlich, dient die vervollkommn eto Meß- und Orien¬
tierungstechnik vor allem dem Verkeim, der nun aber auch seine
besondere Technik entwickelt.
1 N. Grün mach im Buch der Erfindungen 2, 384.
2 Über diese Dinge unterrichten am besten die Arbeiten von E.
Gelcich: 1. Studien zur Entwicklungsgeschichte der Schiffahrt mit
besonderer Berücksichtigung der nautischen Wissenschaften nebst einem
Anhang über die nautische Literatur des 16. und 17. Jahrh. usw.
1882; 2. Die Instrumente und die wissenschaftlichen Hilfsmittel der
Nautik z. Z. der großen Länder-Entdeckung, in der Hamburger Fest¬
schrift zur Erinnerung an die Entdeckung Amerikas. Bd. 1. 1892.
Nr. 2.
510
Dritter Abschnitt: Die Technik
IV. Die Transpo rttechnik
Es ist ein die Epoche des Frühkapitalismus be¬
sonders kennzeichnendes Merkmal, daß die Fort¬
schritte der Transporttechnik während dieses Zeit¬
raums sehr gering sind und sich im wesentlichen nur auf
eine einzige Transportgelegenheit: die Binnenwasserstraßen, be¬
ziehen.
Die Seeschiffahrt bleibt in den Grundzügen unverändert.
Man verbesserte die Schiffe in mancher Hinsicht : man beschlug
die Schiffsboden mit Kupferplatten (wichtig für die Entwicklung
der Kupferindustrie !), man fing wohl hier und da an, die Taue
durch eiserne Ketten zu ersetzen (seit sie im Jahre 1634 Phil.
White eingeführt hatte); man verteilte Masten und Segel besser;
die Schififstypen vergrößerten sich : aber eine irgendwelche grund¬
sätzlich bedeutsame Wandlung erfuhren weder die Technik des
Schiffsbaues noch die des Navigierens,
Die Landstraßen wurden, wie wir sahen, ebenfalls ver¬
bessert; aber man erfand keine neue Straßenbautechnik, die
vielmehr auch erst am Ende unserer Epoche ihre große Reform
erlebte. Man verbesserte die Wagen, indem man neue Typen
schuf: die „Kutschen“, die Berliner, die Journalieren, die Turgo-
tinen, die Mail-coaches u. a. Das bedeutete wohl eine Förderung
der Industrien, wie wir ebenfalls schon feststellen konnten, aber
auf die Gestaltung des Transports übte es nur geringen Ein¬
fluß aus. Die bedeutsamste Erfindung auf dem Gebiete der
Wagenbautechnik war wohl die Drehbarmachung der Vorder¬
räder, die in das 16. oder 17. Jahrhundert zu fallen scheint.
Wir erfahren von einer grundsätzlich neuen Form der Fort¬
bewegung auf dem Lande mittels der sog. Segel wagen.
Bischof Wilkins beschreibt diese Art von Verkehrsmitteln in seinem
Mathematical Magic, 1648 und berichtet, daß sie in Holland ihren
größten Erfolg errungen haben. „Dort sind mit diesen Wagen in
wenigen Stunden 6 — 10 Personen auf Entfernungen bis zu 20 — 30
holländ. Meilen befördert worden, wobei der am Steuer sitzende Steuer¬
mann dem Fahrzeuge mit Leichtigkeit jede beliebige Richtung geben
konnte . . .“ Bei Th. Beck, 3937.
Aber sie hatten wohl nur eine ganz beschränkte, rein lokale Be¬
deutung für Holland. In den andern Ländern würde ihre Ver¬
breitung vor allem der schlechte Zustand der Wege gehindert
haben.
Auch jene Einrichtung, die bestimmt war, eine der größten
technischen Neuerungen des Transportwesens vorzubereiten: die
Dreißigstes Kapitel : Die Fortschritte der Technik
511
Scliienenbahn, die wir zuerst in den Bergwerken (den deut¬
schen schon im 16., den englischen im 17. Jahrhundert) finden,
kam für den oberirdischen Verkehr nur in ganz geringem Um¬
fange in Betracht.
Der Erfinderwille konzentrierte sich einstweilen noch ganz
auf das Verkehrsmittel der Binnenwasserstraßen. Bei der
Schwierigkeit des Landtransports war der Verkehr, wie wir früher
sahen, während des Mittelalters, soweit es irgendwie anging, auf
die Wasserstraßen übergeführt worden. Sie blieben auch während
des frühkapitalistischen Zeitalters eine beliebte Verkehrsbahn, und
ihrer Verbesserung dienten die einzigen Erfindungen auf dem
Gebiete der Transporttechnik, denen wir eine grundsätzliche
Bedeutung zuerkennen müssen. Es waren:
1. die Erfindung der Schleusen, zuerst der Stauschleuse,
dann der Kammerschleuse.
Wann und von wem diese Erfindung gemacht worden ist, hat man
bisher noch nicht einwandfrei feststellen können. Nach den Verfassern
der „4000 Jahre“ läßt Wilhelm von Holland schon im Jahre 1253 den
ersten bekannten Bau einer Kammerschleuse bei Spaarndam ausführen.
Andere nennen Leonardo da Vinci, andere L. B. Alberti, andere Simon
Stevin als Erfinder. Einige sehen in der 1489 durch die Visconti er¬
bauten, einige in der 1488 am Brentafluß bei Padua errichteten die
erste Kammerschleuse. Sicher ist nur soviel, daß die Erfindung in
ihrem vollen Umfange am Ende des 15. Jahrhunderts bekannt war.
Dafür sprechen die zahlreichen Beschreibungen in Leonardos
Werken, dafür spricht eine Stelle bei Stevin, auf die Th. Beck,
Beiträge, 317, hinweist, wo er die Kammerschleuse als eine Einrichtung
bezeichnet, „die seit langer Zeit in Gebrauch ist“. 1617 läßt sich ein
Engländer ein Patent für verbesserte Schleusen erteilen : siehe den
Text bei Forbes-Ashford, 69.
2. Die Erfindung der Baggermas cliinen.
W’ir finden bei Leonardo schon Beschreibungen (mit Abbildungen)
von Baggermaschinen, die den unsrigen ganz ähnlich sind, nur daß
sie mit der Hand angetrieben werden. Wir finden Baggermaschinen
bei Lorini (geb. um 1545). Und wir finden sie bei Faust
Verantius (Machinae novae, etwa 1617). Dort heißt es: „Man hat
mancherlei Instrumente , um den Sclilam und Sand von dem Boden
des Meeres (!) zu schöpfen, wovon man viele in Venedig sieht, aber
diese Instrumente sind gar langsam und können nicht bei mehr als
6 ' Tiefe in den Grund eingreifen (eine solche Maschine beschreibt
Lorini!), das unsrige aber kann füglich bei jeder Tiefe des Meeres
oder Flusses gebraucht werden.“ Bei Th. Beck, 527. In England
wird am 16. Juli 1618 John Gilbert ein Patent für eine Baggermaschine
erteilt, als ob die Erfindung ganz neu wäre; die Maschine wird wie
folgt beschrieben: „a water plough for the taking upp of sand, gravele,
512
Dritter Abschnitt: Die Technik
shelves, or banckes out of tlie river of Tharnes and other haveüs,
harbours, rivers or waters.“ Pat. for Invent. Spec. rel. to Harbours,
Docks, Canals etc. 1876. Hier sind noch 18 Erfindungen zur Ver¬
besserung der Wasserwege verzeichnet, die während des 17. Jahr¬
hunderts als Patente in England angemeldet wurden. Vgl. auch Spec.
rel. to Roads and ways. 1868.
Im Jahre 1634 finden wir ein in Holland gekauftes sog. Düpeschiff
in Hamburg in Gebrauch, dessen Maschinen „wahrscheinlich die eines
sog. Drehe vers“ waren. Mitteil. d. Ver. f. Hamb. Gesell. 13 (1890),
101. 135.
Im Besitze dieser beiden Erfindungen, deren erste vor allem
ja dadurch bedeutungsvoll war, daß man nunmehr zu Wasser
auch über den Berg fahren konnte, ging man seit dem 16. Jahr¬
hundert energisch an den Ausbau eines Netzes von Binnenwasser¬
straßen: sei es daß man die Flußläufe schiffbar machte (indem
man sie entweder „korrigierte“ oder „kanalisierte“), sei es daß
man künstliche Wasserstraßen (Kanäle) anlegte. Ich berichte
darüber im 2. Bande ausführlich.
V. Die Buchdruckerkunst
Ihre Erwähnung genügt.
518
Vierter Abschnitt '
Die Edelmetallproduktion
Übersicht
Es ist ein tragender Gedanke dieses Werkes, daß der moderne
Kapitalismus so wie er geworden ist nur werden konnte, weil
der geschichtliche „Zufall“ die Menschen zu starken, reichen
Lagern von Edelmetallen geführt hat. Und eine der Aufgaben,
die sich dieses Werk stellt, ist diese: den Nachweis zu führen
nicht nur für die Richtigkeit der Behauptung, daß der moderne
Kapitalismus überhaupt nicht da wäre, nicht da sein könnte ohne
die Hebung der Silber- und Goldschätze Amerikas, Afrikas und
Australiens, sondern auch daß er in seiner ganzen Eigenart be¬
stimmt wird durch den eigentümlichen Gang der Edelmetall¬
produktion. Es ist wie ein Strom des Lebens, der von dem Golde
(das hier immer für Edelmetalle überhaupt gesetzt ist, wenn nichts
Besonderes bemerkt wird) ausgeht und dem Kapitalismus zur
Entwicklung verhiift. Jedesmal , wenn neue Goldquellen auf¬
brechen, reckt und streckt sich der Kapitalismus in neuem
Wachstum; jedesmal, wenn der Strom des Goldes schwächer
wird, befällt den Kapitalismus ein Zustand der Mattigkeit; sein
Wachstum stockt, seine Kräfte nehmen ab.
So ist die Geschichte des modernen Kapitalismus (auch !) die
Geschichte der Edelnaetabproduktion: die Namen Kuttenberg und
Goslar, Schwazund Joachimstal, Potosi und Guanaxuato, Brasilien
und Guinea, Kalifornien und Australien, Klondike und Witwater-
strand bezeichnen ebensoviele Etappen auf dem Entwicklungs¬
gänge des modernen Kapitalismus. Die Launen der Edelmetall¬
produktion, die wie Liebeslaunen der Natur sind und mit ihrer
eigenen Irrationalität in so sonderbarem Gegensatz zum Grund¬
gedanken des Kapitalismus : dem Rationalismus, stehen : sie sind
es auch, die die beiden Hauptepochen bestimmen, die wir in
dem bisherigen Verlauf der kapitalistischen Entwicklung unter¬
scheiden: die frühkapitalistische und die hochkapitalistische: jene
fällt zusammen mit dein, was man das silberne Zeitalter des
Sombart, Der moderne Kapitalismus. I. 33
514
Vierter Abschnitt: Die Edelmetallproduktiou
Kapitalismus nennen könnte, diese ist gleichbedeutend mit dessen
goldenem Zeitalter. Denn Silber ist das edle Metall, das während
des ganzen Mittelalters und während der ersten J ahrhunderte
nach Erschließung der neuen Welt überragende Bedeutung hat.
Das Gold, das im 13. Jahrhundert auf kurze Zeit hervorgeleuchtet
war, tritt dann erst mit der Entdeckung der brasilianischen Gold¬
felder bestimmend in die Wirtschaftsgeschichte ein. Das brasilia¬
nische und das afrikanische Gold leiten das goldene Zeitalter
des Kapitalismus ein, sind aber nicht mächtig genug, den Hoch¬
kapitalismus zur Entfaltung zu bringen. Dazu bedurfte es der
neuen, ungewöhnlich starken Ströme, die sich von den kalifor¬
nischen und australischen Goldfeldern her um die Mitte des
19. Jahrhunderts ergossen.
Das alles soll die folgende Darstellung erweisen. Damit sie
aber diese Aufgabe befriedigend zu lösen vermag, ist es not¬
wendig, zuvor Einsicht in den Verlauf und die Bedingungen der
Edelmetallproduktion selbst zu gewinnen, die eben für die ver¬
schiedenen Entwicklungsreihen des Kapitalismus von Bedeutung
ist, weshalb sie zu den selbständigen „Grundlagen“ des kapitali¬
stischen Wirtschaftssystems gehört. Es empfiehlt sich also aus
Gründen des logischen Aufbaus dieses Werkes, alle auf die Edel¬
metalle bezüglichen Erörterungen vorwegzunehmen und ihnen
eine besondere Darstellung zu widmen. In diesem Abschnitt
werde ich demnach in ebenso viel Kapiteln abhandeln:
1. den Gang der Edelmetallproduktion und der Edelmetall¬
bewegung ;
2. das System der Wirkungen, die die Gestaltung der Edel¬
metallproduktion auf das Kultur- und Wirtschaftsleben im'
allgemeinen auszuüben vermag;
3. den Zusammenhang zwischen Edelmetallproduktion und
Preisbildung im besonderen, sowohl theoretisch als em¬
pirisch-geschichtlich.
Die Darstellung wird im wesentlichen den Zeitraum von etwa
1250 bis 1850, also die frühkapitalistische Epoche im weitesten
Sinne umfassen. Nur in dem Überblick über den Gang der
Edelmetallproduktion greife ich noch weiter zurück, um die
großen historischen Zusammenhänge herzustellen.
615
Einunddreifsigstes Kapitel
Der Gang der Edelmetallprodxiktion und der
Edelmetallbewegung
Vorbemerkung. Literatur
Eine leidlich zuverlässige Statistik der Edelmetallproduktion und
Edelmetallbewegung besitzen wir erst für die Zeit nach 1493. Für
das Mittelalter zitfernmäßige Angaben zu machen ist dagegen sehr
gewagt und unterbleibt besser. Die Zwecke dieser Darstellung heischen
aber auch gar nicht unbedingt eine genaue zahlenmäßige Erfassung
der absolut erzeugten oder bewegten Edelmetallmenge. Worauf es
uns vielmehr vor allem ankommt, ist: zu erfahren: ob in einem Zeit¬
raum der Bestand der Edelmetalle in Westeuropa (denn von hier aus
stellen wir die Betrachtung an) sich (rasch oder langsam) vermehrt
oder vermindert hat oder stabil geblieben ist. Das können wir auch
mit einiger Sicherheit feststellen, selbst wenn wir die absoluten Be¬
träge der Edelmetallproduktion und Edelmetallbewegung nicht kennen :
auf Grund sei es der allgemeinen Produktionsgeschichte oder aus
sicheren Symptomen verschiedener Art.
Entsprechend unserm Interesse : vor allem die Bewegung des Edel- •
metallvorrats kennen zu lernen, habe ich auch — entgegen der sonst
beliebten Periodenbildung — die verschiedenen Epochen unterschieden
in solche, in denen wir eine Vermehrung oder eine Verminderung oder
ein Sichgleichbleiben des Edelmetall Vorrats in Westeuropa wahrnehmen.
Zusammenfassende Darstellungen, in denen die Geschichte der Edel¬
metalle für den ganzen von uns in Betracht gezogenen Zeitraum ent¬
halten wäre, besitzen wir aus neuerer Zeit keine, die das trotz seiner
großen Mängel verdienstvolle Werk von William Jacob, Historical
Inquiry into the Production and consumption of Precious Metals.
2 Vol. 1831 (deutsch mit Zusätzen von C. Th. Kleinschrod 1838)
zu ersetzen vermöchten. Denn die Werke Del Mars (History of the
Precious Metals. 1880, 2. ed. 1902, und Money and Civilization. 1886),
so dankenswert und anregend sie sind, fußen doch — namentlich für
die ältere Zeit — fast durchgekends auf den Angaben Jacobs. Glück¬
licherweise sind wir über den Edelmetallbergbau Deutschlands und
Österreichs während des Mittelalters, dem gegenüber Jacob und Del
Mar völlig versagen, durch eine große Reihe gründlicher Arbeiten
in den letzten Jahrzehnten gut unterrichtet worden, so daß wir jetzt,
da ja Deutschland und Österreich für die Versorgung mit Edelmetallen
vor der Entdeckung Amerikas fast ausschließlich in Betracht kommen
(wenn wir auf ziffernmäßige Erfassung der Mengen verzichten), ein
ganz klares Bild von dem Gang der Edelmetallproduktion auch vor
1493 uns machen können.
33*
Vierter Abschnitt: Die Edelmetallproduktion
Mit dem Jahre 1493 setzt dann, wie gesagt, eine bessere Statistik
ein. Für sie haben die Grundlage gelegt die Mitteilungen Alex,
v. Humboldts in seinem Essai sur la Nouvelle Espagne. Das ge¬
samte Zahlenmaterial für die Zeit nach 1493 ist dann in mustergültigen
Weise zusammengestellt von Ad. Soetbeer in seiner Studie; Edel¬
metall-Produktion und Wertverhältniß zwischen Gold und Silber seit
der Entdeckung Amerikas bis zur Gegenwart, im 57. Ergänzungsheft
zu Petermanns Mitteilungen. 1879. Die „Gegenwart“ ist das Jahr
1875. Über die Fortsetzungen der So etbe ersehen Arbeiten spreche
ich dann an anderer Stelle, wo ich die neue Zeit behandele.
Soetbeer s Ziffern haben autoritative Geltung erlangt, die sie
zweifellos auch verdienen. Einige Korrekturen, die aber die Ergebnisse
S.s nicht wesentlich verändern, enthält die ausgezeichnete Studie von
W. Lexis, Beiträge zur Statistik der Edelmetalle nebst einigen Be¬
merkungen über die Wertrelation, in den Jahrb. f. Nat.ök. Bd. 34
S. 361—417- Lexis rechnet einen etwas geringeren Betrag für die
mexikanische und südamerikanische Edelmetallproduktion heraus,
nämlich in dem Zeitraum von 1493—1800 2 420 000 kg Gold,
90 200 000 kg Silber, während bei Soetbeer bezugsweise 2 490 000
und 101 400 000 kg sich ergeben. Diese höhere Abschätzung ist da¬
durch entstanden, daß S. für die eigentliche peruanische Silberbeute
mehr rechnet. Daß die Ziffern in ihrem wesentlichen Bestände richtig
sind, dafür bürgt die Quelle, aus der sie stammen: für die spanischen
Kolonien die Versendungslisten des Quinto. Natürlich haben die Gesamt¬
ziffern, auf Grundlage dieser authentischen Angaben errechnet, „ab¬
geschätzt“ werden müssen, was aber in durchaus einwandfreier Weise
von den beiden genannten Forschern geschehen ist. Daß Abweichungen
dabei möglich sind, ergeben die verschiedenen Ziffern bei Soetbeer
oder Lexis. Daß aber diese beiden Gelehrten übereinstimmend un¬
sinnige Zahlen herausgerechnet haben sollten , würde schon ihre all¬
bekannte Akribie unglaubwürdig erscheinen lassen, auch wenn nicht
das eigene Urteil nachprüfend ihnen recht geben müßte.
Und doch würden die Soetbeer - Lexis sehen Zahlen schlechthin
unsinnig sein, wenn ein neuerer spanischer Autor, den S up an, a. a. O.
S. 41 zitiert, recht hätte. Dieser (F. de Laiglesia, Los caudales
de Indias en la primera mitad del siglo XVI, Madrid 1904) kommt,
gestützt „auf die Rechnungsbücher der spanischen Kroneinnahmen in
Amerika“ (Indienarchiv Sevilla) zu folgenden Produktionsziffern ;
1509—14:
995 925
Pesetas
1516—23:
624210
1525:
2121460
»
1526—29:
943152
n
1530—40:
3110 896
jj
1541—46:
2 419 840
1547—50:
1225 312
1551—55:
10145 760
1509—55:
21 559 555
Pesetas ;
das sind 17 277 244 Mk. h. \V.
Einunddreißigstes Kapitel: Gang d. Edelmetallproduktion u. -bewegung 517
Demgegenüber nimmt Soetbeer an eine durchschnittliche Jahres¬
produktion, wie wir sehen werden:
1521 — 44 von 90200 kg
1545—60 „ 311600 „
das heißt also eine Gesamtproduktion von annähernd 1 Milliarde Mk.
in dieser Periode, gegenüber 17 Millionen Mk. des spanischen Autors.
Eine dieser beiden Ziffern ist natürlich irrsinnig; ich glaube, es ist
die zuletzt genannte. Man braucht, um das einzusehen, nur etwa
folgende Ziffer zum Vergleich heranzuziehen: das Bergwerk Annaberg
in Sachsen erzeugte in der Mitte des 16. Jahrhunderts (nach ganz
zuverlässigen Angaben) rund 40 000 Pfund Silber im Jahre, das sind
also rund 4 000 000 Mk. h. W., in etwa vier Jahren also soviel wie
sämtliche amerikanische Minen in den ergiebigsten Jahren während
einer Periode von 46 Jahren nach Ansicht des Herrn Laiglesia er¬
zeugt haben sollen!
Welchen Unsinn der spanische Autor begangen hat, vermag ich
nicht zu sagen , da ich seines Buches nicht habhaft werden kann.
Vielleicht hat er Pesos mit Pesetas verwechselt, hat den Quinto für
die Gesamtausbeute gehalten und hat nur die Ziffern einer Münzstätte
berücksichtigt.
Wenn Supan a. o. O. meint, der Unterschied der beiden Ziffern
(der des Laiglesias und der Soetbeerschen) sei „sehr beträchtlich“ :
nämlich 17 Mill. Mk. gegen 73 Milk Mk., so passiert ihm das Ver¬
sehen, daß er die S o e tb e er sehen Ziffern für die Gesamtsumme hält,
während es die Jahresdurchschnitte sind; der Unterschied ist
also, wie wir sehen, noch „beträchtlicher“: 17 Millionen zu 1000
Millionen ! Danach sind auch die Irrtümer bei J. Strieder, Studien
z. Gesch. d. kapital. Organisationsformen (1914), zu berichtigen.
Erste Periode: Venn Niedergang des römischen Beichs bis ins
8. Jahrhundert
In der römisclien Kaiserzeit hatte sich ein großer Vorrat von
Edelmetall in dem Mittelpunkte des Weltreichs angesammelt.
Viel war im Laufe der Jahrhunderte durch Eroberung und
Plünderung gewonnen : man denke an die Siege über Antiochus,
an die Beute des Aetolischen Krieges , an Mummius Raub in
Korinth, an Sullas Plünderung in Griechenland, an Verres
Plünderung in Sizilien u. a.
Noch mehr aber hatte wohl die unausgesetzte Neugewinnung
hinzugetan: Rom hatte allmählich fast alle Bergwerke der be¬
rühmten Völker der Vorzeit in seinen Besitz gebracht: in Dacien,
Illyrien, Dalmatien, Thracien und vor allem in Spanien, dessen
Silbergruben und Goldfelder ja wohl das heißest umstrittene
Kampfesstück in den punischen Kriegen gebildet hatten. Wenn
die Schätzungen, die Lexis anstellt, richtig sind, so betrug der
518
Vierter Abschnitt: Die Edelmetall Produktion
Vorrat an Edelmetallen im römischen .Reich zu Beginn unserer
Zeitrechnung etwa 10 Milliarden Mk. h. W. : zu annähernd
gleichen Teilen Gold und Silber.
Von diesem Reichtum nun geht schon in den letzten Jahr¬
hunderten der Römerherrschaft, noch mehr aber in dem darauf¬
folgenden Zeitraum der größte Teil "Westeuropa verloren.
Zunächst verminderte sich seit der Zeit Konstantins d. Gr.
die Zufuhr an neuem Material aus den Goldwäschen und Berg¬
werken immer mehr1: ob wegen der verminderten Zufuhr der
Sklaven oder infolge der Erschöpfung der Lager, bleibt ungewiß.
In den folgenden Jahrhunderten hörte sie dann ganz auf, als
die Barbaren Besitz vom römischen Reiche nahmen. In Spanien,
der wichtigsten Produktionsstätte jener Zeit, finden wir noch
413 einen Comes metalli, der die Leitung des Bergwesens aus¬
übte. Bald danach aber ward der Betrieb ganz eingestellt sein.
Der vorhandene Vorrat aber verringerte sich rasch: nicht
sowohl durch seinen natürlichen Untergang, als vielmehr dadurch,
daß er nach dem Osten, sei es in das Kalifenreich (auf dem
Wege des freilich sehr geringen Handels), sei es (vor allem!)
nach Byzanz abströmte : namentlich wohl in Gestalt von Steuern
und Abgaben. Wir dürfen annehmen, daß im 8. Jahrhundert der
Tiefstand dieser Bewegung erreicht, daß damals, das heißt also
in jener Zeit, in der die westeuropäische Wirtschaftsgeschichte,
wie ich an anderer Stelle nachzuweisen versucht habe, ihren
Anfang nimmt, Westeuropa bis auf wenige Reste von Edel¬
metallen entblößt war, daß insbesondere das Edelmetall in Gestalt
des Geldes verschwindend wenig geworden war2.
Zweite Periode: Vom 8. Jahrhundert bis gegen Ende des 13. Jahr¬
hunderts
Das ist eine Zeit, in der sich der Vorrat an Edelmetall in
Westeuropa erst langsam, dann — in den letzten beiden Jahr¬
hunderten — rascher wieder vermehrt.
Die ersten Minen, die der Nutzung in größerem Umfange
wieder zugänglich gemacht wurden, sind wohl die spanischen
gewesen. Wenigstens soweit sie arabischer Herrschaft unter¬
worfen wurden. Die reichen Goldwäschereien von Leon freilich,
1 v. Ungern- Sternberg, Geschichte des Goldes (1835), 23.
2 Siehe die wenigen Quellenbelege bei Soetbeer, in den For¬
schungen zur deutschen Geschichte, namentlich im 6. Bande, und vgl.
Hanauer, Etudes 1, 177, und Inama, DWG. 1, 465,
Einunddreißigstes Kapitel: Gang d. Edelmetallproduktion u. -bewegung 519
das ja in den Händen der „Barbaren“ verblieb, wurden erst
später von neuem in Betrieb gesetzt. Dagegen erfahren wir, daß
dort, wo die Araber sich niedergelassen hatten: also in Anda¬
lusien, Jaen usw. , bald nach ihrer Ankunft die Edelmetall-
gewinnung wieder aufgenommen wurde k Daß sie eine beträcht¬
liche Ausbeute lieferte, ersehen wir aus dem /Reichtum an Gold
und Silber, den wir bei den spanischen Kalifen im 9. und 10.
Jahrhundert vorfinden: die Jahreseinnahmen Abderahmans I.
sollen betragen haben 10000 Unzen Gold und 10000 Pfund Silber;
diejenigen Abderahmans III. über 100 Millionen Mk. h. W. Im
Jahre 938 sandte dieser an den Kalifen 400 Pfund reinen Goldes,
eine schwere Menge Silber in Barren, 30 goldgestickte Gewänder:
48 Pferdedecken aus Gold und Silber1 2.
Aber auch sonst in Westeuropa belebten sich die alten Fund¬
stätten der Edelmetalle um jene Zeit von neuem: in Böhmen,
Ungarn, Siebenbürgen wird viel Gold gewonnen. Und dann folgt
nun die Entdeckung immer neuer Fundstätten, namentlich für
Silber, Schlag auf Schlag: schon im 9. Jahrhundert im Elsaß;
im 10. Jahrhundert (urkundlich seit 1028) im Schwarzwalde und
im Harze (970 Kammelsberg). Vor allem reich an neuen Auf¬
schließungen von Silbergruben sind aber das 12. und 13. Jahr¬
hundert: in diese gesegnete Zeit fällt die Blüte des Mansfeld-
schen, des sächsischen (Ereiberger: seit 1167), des böhmischen
(Kuttenberger) und des älteren tiroler (Trienter) Silberbergbaus ;
im 12. Jahrhundert sind aber auch Silberminen abgebaut, von
denen heute keine Spuren mehr vorhanden sind: z. B. in West¬
falen3; in derselben Zeit (im 13. Jahrhundert) beginnt in der
Goldberger, Löwenberger und Bunzlauer Gegend die Gold¬
gewinnung4, die in Ungarn größeren Umfang annimmt.
Die Länder der deutschen Krone waren das Mexiko und Peru
der Erde vor der Entdeckung Amerikas. Aber auch in den andern
Ländern Westeuropas regte sich die Edelmetallproduktion: wir
1 Zehn Jahre nach der Eroberung wurde dem Kalifen eine Karte
von Spanien vorgelegt, auf der auch die Produktion von Mineralien
verzeichnet war: Cardonne, Geschichte Afrikas und Spaniens 1,
116; zit. bei Del Mar, Money and Civilisation, 80.
2 Del Mar, 1. c. pag. 81.
3 Urk. Heinrichs IV. von 1189, bei Goldast, Cath. rei monet.
(1620), 98/99.
4 Steinbeck, Geschichte des schlesischen Bergbaus 2 (1857),
125 ff.
520
Vierter Abschnitt: Die Edelmetallproduktion
erfahren von einem Silberbergbau in Italien während des 12. und
13. Jahrhunderts1, ebenso in Frankreich2 3.
Aus allem, was wir über die Entwicklung- der Gold- und
namentlich Silberproduktion in diesen beiden Jahrhunderten er¬
fahren8, dürfen wir schließen, daß sich der Vorrat an Edel¬
metallen in "Westeuropa in jener Epoche verhältnismäßig rasch
vermehrte: vorausgesetzt, daß die erzeugten Mengen nicht etwa
wo andershin abflossen. Die Tendenz dazu bestand nun freilich
immer, sobald die Westeuropäer mit dem Osten in Handels¬
beziehungen traten: denn der Levantehandel ist von jeher für
Westeuropa passiv gewesen. Und deshalb treffen die Worte
Pescheis, mit denen er seine ausgezeichneten Untersuchungen
über diese Frage abschließt, zweifellos das Richtige 4 : „Die Ver¬
teilung der Metallausbeute unter die Völker ist seit den ältesten
historischen Zeiten nach eigenen Kegeln vor sich gegangen. Die
Kultur drang beständig nach Westen, Gold und Silber floß immer
ostwärts, und zwar mußten die Metalle ihre Richtung gen Osten
nehmen, weil die Kultur von dort gekommen war.“
Ich möchte aber glauben, daß in der Zeit, von der hier die
Rede ist, der Abfluß von Edelmetallen nach dem Osten aus¬
geglichen wurde durch einen Rückstrom von dort, der der italie¬
nischen Kolonisierung der Levante5 sein Dasein verdankt. Der
Ausgleich konnte vollkommen sein, ja sogar mit einem Überfluß
für Westeuropa abschließen: weil der Umfang der Handels¬
beziehungen damals noch nicht sehr groß war, und weil anderer¬
seits gerade in jene Zeit die Eroberung reicher Kulturstätten
fiel, und diese bekanntermaßen mit Raub und Plünderung stets
verbunden zu sein pflegte. Dadurch kamen aber plötzlich große
Mengen von Edelmetall in den Besitz der Eroberer.
1 R. Davidsohn, Geschichte von Florenz, und Forschungen 3
(1901), 3. ö
2 Pigeonneau, 1, 264.
3 Auch gelegentliche Zifferangaben bestätigen jene Annahme: so
betrug die Kuttenberger Ausbeute 20—40 000 Mk. Feinsilber in der
ersten Zeit.
O. Peschei, Histor. Erörterungen über die Schwankungen der
Wertrelationen zwischen den edlen Metallen und den übrigen Handels¬
gütern, in der Deutschen Vierteljahrsschrift 1853, 4. Heft, S. 35.
Abweichender Meinung war seltsamerweise Alex, von Humboldt
(Deutsche Vierteljahrsschrift 1 838, 4. Heft). Er ist aber schon schlagend
widerlegt worden von J. Helfer ich, Periodische Schwankungen
(1843), S. 49 ff. p
5 Siehe oben Kapitel 27,
Eiuundclreißigstes Kapitel: Gang d. Edelmetallproduktiou u. -bewegung 521
Daß aber bei der Ankunft der Westeuropäer in dem byzan¬
tinischen und arabischen Reiche große Mengen von Edelmetall
vorhanden waren, bezeugen uns die Schilderungen der Zeit¬
genossen l.
Von diesen Edelmetallmassen ist nun sicherlich ein beträcht¬
licher Teil auf dem Wege der Besteuerung, der Geschenke 2 und
nicht am wenigsten durch Diebstahl und Beute in die Taschen
dei Eiobeier geflossen. Daß wir auch hier die Beträge nicht
einmal annähernd zu bestimmen vermögen, versteht sich wohl
von selbst. Aber die Erwägungen allgemeiner Natur haben doch
auch hier , wie so oft , eine gute Beweiskraft , zumal wenn wir
gelegentliche Berichte über Plünderungen usw. mit zu Rate
ziehen.
Siehe die Tafel bei Del Mar, Hist, of Precious Metals, 239 f.,
und vgl. damit die Abhandlung von A. Soetbeer, Das Wertverhältnis
zwischen Gold und Silber usw., in 57. Erg.-Heft zu Petermanns Mit¬
teilungen S. 114 ff. Die Goldwelle hatte zunächst ihren Ursprung im
Süden Europas und setzte sich von dort fort nach Deutschland, wo
sie ein halbes Jahrhundert später anlaugte (Folge 1. günstiger Handels¬
bilanz der Hanseaten mit den Niederlanden : Brügge; 2. Kriegsbeihilfe
seitens Englands, wohin die blanken italienischen Goldstücke auf dem
Wege des Leiheverkehrs geflossen waren). Sie wurde dann verstärkt
durch die zunehmende Ergiebigkeit der schlesischen und böhmischen
Goldminen und erreichte ihren Höhepunkt in der kurzen Episode
deutscher Goldmünzenausprägung (1325 König Johann von Böhmen).
Solchen allgemeinen Erwägungen entspringt auch meine Ver¬
mutung: daß infolge .der geschilderten Vorgänge sich in dem
Edelmetall Vorrat Westeuropas eine Verschiebung zugunsten des
Goldes vollzogen habe. Mit (deutschem) Silber bezahlte man die
Waren des Orients, und Gold erbeutete man mehr als Silber bei
der Eroberung der asiatischen Reiche. Für die Richtigkeit meiner
Vermutung sprechen zwei Tatsachen:
1. die Ausprägung von Goldmünzen, die im 13. Jahrhundert
eine Reihe italienischer Städte vornimmt: 1252 fiorino d’oro;
1283 venetianischer Dukat u. a.;
1 Ich verweise für Byzanz auf J. H. Krause, Die Byzantiner
im Mittelalter (1869), 49. 51 ff. 55 f. 280; für das Kalifenreich auf
die Darstellungen bei A. von Krem er, Kulturgeschichte des Orients
2 (1877), 194 f. 300 f. : vgl. denselben, in den Verhandlungen des
VII. Internationalen Orientalisten-Kongresses , Semit. Sekt. Wien
1888. S. 12.
2 Heyd 1,224. 252. 260. 265, berichtet über die Ehrengeschenke
und ihre Rolle, die sie in den Levantekolonien spielten,
522
Vierter Abschnitt: Die Edelmetallproduktion
2. die Verschiebung der Wertrelation zuungunsten des Goldes
im 13. und 14. Jahrhundert, die während des späteren
Mittelalters zwischen 1 : 10 und 1:11 sich bewegt haben
dürfte b «
Br Hie Periode: Vom Ende des 13. bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts
Auf die Entwertung des Goldes, von der eben die Rede war,
wird aber nicht nur die vorteilhaftere Lage des Goldes, sondern
ebenso sehr und vielleicht noch mehr die Verschlechterung der
Produktionsverhältnisse des Silbers eingewirkt haben. Denn das
Kennzeichen der nun folgenden Periode, die die letzten beiden
Jahrhunderte des Mittelalters (das letzte nicht mehr ganz) um¬
faßt, ist die Abnahme der Silberproduktion infolge ver¬
schlechterter Abbaubedingungen. Die zutage liegenden Lager, die
im 12. und 13. Jahrhundert erschlossen waren, waren erschöpft!,
die tiefer gelegenen Erze vermochte man nicht zu gewinnen, weil
man der eindringenden Wasser nicht Herr zu werden vermochte.
So ersoffen vielfach die Bergwerke1 2, und fast überall hören wir
von einer Abnahme der Förderung. Als König Wenzel H.
Kuttenberg seine Verfassung gibt (anno 1300), sagt er3 : „Mit zum
Himmel aufgehobenen Händen wollen wir dem Schöpfer danken,
der uns auch hierin beglückt hat, daß, während fast in allen
Königreichen der Welt der Bergsegen vertrocknet
ist, das einzige fruchtbare Böhmen zu unserer Zeit mit seinem
Gold und Silber uns erquickt.“
Von diesen unmittelbar uns aufklärenden Zeugnissen ab¬
gesehen, kennen wir dann auch noch eine Reihe von Symptomen,
aus denen wir auf eine starke Verminderung der Edelmetall-,
insonderheit der Silberproduktion während des 14. und eines
Teils des 15. Jahrhunderts schließen dürfen.
Hierhin rechne ich:
1. die Verbote der Edelmetallausfuhr, die gegen Ende des
1 Über die Beute, die bei der Eroberung Antiochias im Jahre 1098
gemacht wurde, berichtet Matth. Paris. Chron. maj. in Rer. br. med.
Aevi SS. Ed. H. Richards Luard. Vol. II (1874), p. 78/79.
2 Den urkundlichen Nachweis für den Niedergang Goslars seit An¬
fang des 14. Jahrhunderts (wobei die im Text angeführten Ursachen
hauptsächlich wirksam waren) führt C. Neuburg, Goslars Bergbau
S. 49 ff.
3 Bei K. Graf Sternberg, Umrisse einer Gesch. d. böhmischen
Bergwerke. 2 Bde. 1836/38. 1, 52,
Einunddreißigstes Kapitel: Gang d. Edelmetallproduktion u. -bewegung 523
Mittelalters ganz allgemein von Städten und Territorien
erlassen werden 1 ;
die Verminderung der in den Münzen zur Ausprägung ein¬
gelieferten Edelmetallmengen. Allerdings ist mir nur eine
darauf sicli beziehende Ziffer bekannt — die der englischen
Ausmiinzungen — , aber ich denke doch , daß man sie als
typisch für die Gesamtlage des Edelmetallmarktes ansehen
darf. Wir kennen die in die englische Münze eingelieferten
Mengen Silbers und Goldes: für Silber seit 1272, für Gold
seit 1345 2. Danach berechne ich einen Jahresdurchschnitt
(in heutiger Währung) für:
Silber
1272—1377 8906 #
1377—1461 1157 „
1461—1509 3184 „
Gold
2538 g (1345-1377)
1845 „
4338 „
Also am Ende des 14. Jahrhunderts ein förmlicher Sturz in
die Tiefe, und zwar viel rascher und größer noch beim Silber
als beim Golde.
Gleichen Schritt mit der Abnahme der Produktion hielt nun
aber aller Wahrscheinlichkeit nach der Abfluß der Edel¬
metalle nach dem Orient. Wir dürfen annehmen, daß dieser
am stärksten gerade in den Jahrhunderten am Ausgange des Mittel¬
alters gewesen ist: weil in dieser Zeit sich der Levantehandel recht
eigentlich erst zur Blüte entwickelte, andererseits aber die einen
Rückstrom bewirkenden Ursachen (die, wie wir annahmen, in
der voraufgehenden Epoche den Abfluß aufwogen) in Wegfall
kamen oder doch in ihrer Wirksamkeit abgeschwächt wurden.
Was an deutschem und österreichischem Silber gewonnen wurde,
ging zunächst im Austausch gegen die Orientwaren und wohl
1 Jacob, History passim; für Italien Salvioni, Snl valore della
Lira Bolognese, in den Atti e Mem. della R. Dep. di Stör. patr. delle
Prov. di Romagna 17, 334 sg. ; zit. bei Gino Arrias, Const. econ.,
158; für England W. A. Shaw, The History of Currency (1894),
54 ff. Andere Belege siehe im 42. Kapitel.
2 Ruding, Annals of the coinage of Great Britain 1, 135; vgl.
Jacob (deutsche Ausg.) 1, 244 ff. Wie die ganze englische Münz-
und Währungspolitik des 14. und 15. Jahrhunderts durch diese Tat¬
sache: die zunehmende Edelmetallknappheit bestimmt wird, schildert
in anschaulicher Weise Shaw, a. a. 0 Im Jahre 1453 petitionieren
die Commons : der seit langer Zeit ruhende Betrieb der Silberminen
in Devon und Cornwall möge wieder aufgenommen werden , um dem
Silbermangel zu steuern.
524
Vierter Abschnitt: Die Edelmetallproduktion
auch Landeserzeugnisse in die südlichen und westlichen Länder
Europas 1 ; von dort aber wurde es ausgeführt nach dem Orient,
um dessen Waren zu bezahlen2.
Verschiedene Umstände also wirkten zusammen, um Europa
gegen den Ausgang des Mittelalters mehr und mehr von Edel¬
metall zu entblößen. Da trat um die Mitte des 15. Jahrhunderts
die entscheidende Wendung ein, die für den ganzen weiteren
Verlauf des europäischen Wirtschaftslebens maßgebend werden
sollte.
Vierte Periode: Von der Mitte des 15. Jahrhunderts bis 1545
Die Wendung, durch die die Armut an Edelmetallen über
Nacht in Reichtum verwandelt wurde, geht auf drei verschiedene
Ursachenreihen zurück :
1. den Aufbruch neuer Gold- und Silberquellen in Deutschland
und Österreich;
2. die Niederlassung der Portugiesen in den Goldländern
Afrikas und Asiens;
3. die Plünderung Mexikos und Perus durch die Spanier.
1. Der Anfbrucli neuer Gold- und Silberquellen in Deutschland und Österreich
Teils einem glücklichen Zufall, teils einer Vervollkommnung
der Bergbautechnik3 ist es zuzuschreiben, daß seit der Mitte
des 15. Jahrhunderts eine Leihe neuer, reicher Fundstätten von
Edelmetall in Deutschland und Österreich erschlossen, alte Ab¬
baue neu belebt wurden, aus denen eine bis dahin unerhörte
Menge von Gold und Silber gewonnen werden konnte.
Gold lieferte das salzburgische Land. Die Blütezeit seines
Goldbergbaus fällt in das Jahrhundert von 1460 — 1560. In
Gastein zählte man damals 30 Bergherren und viele Neuschürfer,
1 „Germania . . . weicht ... an Reich tümern aller Metalle keinem
Erdreich; denn alle, welsche, gallische, hispanische und andere Nationen
haben schier alles Silber aus den deutschen Kaufleuten.“ Buch der
Chroniken (1493), bei Janssen 1, 419.
2 Die Barausfuhr an Edelmetall aus Venedig nach Alexandrien be¬
trug im 15. Jahrhundert jährlich 300 000 Duk. Gutachten des venetia-
nischen Botschafters Trevisano im Journal Asiatique. Tome IV (1829)
pag. 23 quest. XI, zit. bei Peschei, 28.
3 Das trifft zu z. B. für Goslar, wo es seit den 1450 er Jahren
gelang, der andringenden Wässer Herr zu werden, um nur dadurch
den Ertrag gegen früher sehr beträchtlich zu steigern. .C. Neuburg,
Goslars Bergbau (1892), S. 105 ff, 149. Vgl. oben Kap. 30,
Einunddreißigstes Kapitel: Gang' d. Edelmetallproduktion u. -bewegung 525
die während dieser Zeit an 1000 Gruben eröffneten. Gewonnen
wurden um diese Zeit 4000 Mk. Gold, 8000 Mk. Silber im Jahre1*
Aber vor*allem waren es neue Silberfunde, die der Zeit ihr
Gepräge geben: in Tirol, in Sachsen, in Böhmen. In Tirol be-
oinnt der Schwazer Bergbau bedeutende Ausbeuten zu liefern
just um die Mitte des 15. Jahrhunderts; als die berühmtesten
Lagerstätten — der Falkenstein — in Angriff genommen werden2.
Die Ausbeute steigt rasch gegen das Ende des Jahrhunderts
und noch in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts, bis
sie 1523 mit 55855 Mk. Feinsilber ihren Höhepunkt erreicht3.
(Dann beginnt der Absturz. Und im Jahre 15/0 werden nur noch
2000 Mk. gewonnen.)
Nach Tirol: Sachsen. Hier werden im Jahre 1471 die reichen
Gruben von Schneeberg, 1496 die von An nab erg eröffnet.
Schneeberg liefert von 1471—1550 im Jahresdurchschnitt etwa
5400 Mk. Feinsilber (in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts
höchstens 1400 Mk.); Annabergs durchschnittliche Jahres¬
produktion beträgt:
1493—1520 22145 Pfund
1520—1544 31 180 „
1545—1560 39 700 „
Und nach Sachsen: Böhmen, wo man im Jahre 1516 mit dem
Abbau der Joachimsthaler Gruben beginnt. Deren Ausbeute
steigt wiederum rasch in die Höhe: von 2064 laler im ersten
Jahre auf 254259 Taler im Jahre 1532. (Von da ab sinken die
Produktionserträge ebenso rasch, wie sie gestiegen waren, bis
sie am Ende des 16. Jahrhunderts so gut wie verschwinden.)
Leider haben wir keine Möglichkeit, die rasche Vermehrung
der Edelmetallproduktion in den deutschen Landen während des
15. und 16. Jahrhunderts dadurch anschaulich zu machen, daß
wir sie mit der Produktion bis 1450 in Vergleich stellen. Denn
1 Koch- Sternfels, Die Tauern (1820), bei Soetbeer, Edel-
metallprod., 30. „ ,
2 Nach neueren Forschungen 1446 : Worms, Schwazer Bergbau, 11.
8 Worms, a. a. O. S. 86, womit zu vergleichen M. v. Wolfstrigl-
Wolfskron, Die Tiroler Erzbergbaue (1903), S. 35 (wo die Lieferung
von Schwazer Brandsilber innerhalb der Jahre 1470 1623 nach den
Akten des k. k. Statthaltereiarchivs Innsbruck-Pest. Arch. Suppl. 897
o-enau verzeichnet ist). Die Angaben Soetbeers und Schmollers,
die sich auf Sperges stützten, sind nach diesen neuen Unter¬
suchungen zu berichtigen.
526
Vierter Abschnitt: Die Edelmetallproduktion
die zuverlässigen Ziffern beginnen erst um diese Zeit. Aber daß
der Zuwachs ein ganz gewaltiger war, lassen schon die wenigen
Angaben erkennen, die ich eben gemacht habe. Wie groß aber
auch noch nach den neuen Funden die Steigerung der Produktion
bis m die Mitte des folgenden Jahrhunderts war, machen die
von Soetbeer für dm Zeit nach 1493 zusammengestellten Ziffern
ersichtlich. Die (salzburgische) Goldproduktion erreichte freilich
schon um die Wende des 15. Jahrhunderts ihren Höhepunkt mit
einem durchschnittlichen Jahres ertrage von 5,58 Mill. Mk. während
des Zeitraums von 1493 — 1520 (im Durchschnitt der Jahre 1521
bis 1544: 4,18, 1545 — 1560: 2,79 Mill.). Dagegen steigt die ge¬
samte Ausbeute der Silbergruben Deutschlands und Österreichs
von 1493 — 1560 noch wie folgt: Deutschland produzierte Silber
im J ahresdurchschnitt :
1493—1520 22145 Pfund
1521—1544 31 180 „
1545—1560 39700 „
Österreich ebenso:
1493 — 1520 24000 Kilogramm
1521—1544 32 000
1545—1560 30000
2. Die Niederlassung der Portugiesen in den Goldländern Afrikas und Asiens
Das für Westeuropa entscheidende Ereignis, das zwei Welt¬
alter trennt, von dessen Eintritt an wir mit Recht einen neuen
Abschnitt der Geschichte beginnen lassen, ist die Verdrängung
der Araber aus ihrer zwischen Orient und Abendland ver¬
mittelnden Stellung: wie bekannt, das Werk der Portugiesen.
Mit Waffengewalt wird die Herrschaft der Muhamedaner in Afrika
und Ostindien gebrochen: ihre Verdrängung aus Afrika beginnt
mit der Eroberung von Ceuta (1415), sie wird vollendet mit der
Schlacht von Alacer Kebir; mit der Eroberung von Malakka
(1511) war der Einfluß der Araber in Indien vernichtet. Die
Nachricht von der unwiderstehlichen Gewalt der Portugiesen
verbreitete sich über das ganze Land ; von allen Seiten , selbst
von den Königen in Siam und Pegu, kamen Gesandte, um Bünd¬
nisse und Handelsverträge zu schließen. Albuquerques’ Weitblick
eikannte dann aber die Notwendigkeit, die Araber im eigenen
Lande anzugreifen, das Rote und Persische Meer, die Verbin dungs-
sti aßen ^ des arabischen Zwischenhandels, zu sperren, diesen also
in seiner Wurzel zu treffen. Diesem Zwecke diente die Eroberung
Einunddreißigstes Kapitel: Gang d. Edeimetallproduktion u. -bewegung 527
von Aden und Hormus. Mit diesem Augenblicke war in der Tat
eine neue Kultur epo che angebrochen: "Westeuropa hatte die Erb¬
schaft des Kalifenreiches endgültig angetreten.
Was das für die weitere Entwicklung des europäischen Wirt¬
schaftslebens im ganzen bedeutete, versuche ich an anderer Stelle
nachzuweisen. Hier ist einstweilen nur die Wirkung der neuen
Verhältnisse auf die Versorgung Europas mit Edelmetallen zu
verfolgen. Denn auch in dieser Hinsicht erwies sich das Vor¬
dringen der Portugiesen außerordentlich bedeutsam: es half die
Zufohr an Edelmetallen, vor allem Gold, namentlich in den ersten
Jahrzehnten nach der Niederlassung beträchtlich vermehren.
Die direkte Verbindung mit Ostindien und die aus
ihr folgende Steigerung des europäisch-indischen Handelsverkehrs
vermehrte zwar zunächst die nach dem Osten abströmenden
Mengen von Edelmetall, namentlich Silber. Silber war die ge¬
wöhnliche Ladung der von Lissabon abgehenden Schiffe; ge¬
wöhnlich führte jede Caracca 40 — 50000 spanische Taler auf
königliche Rechnung zum Einkauf des Pfeffers an Bord. Ebenso
mußten die Holländer noch einen großen Teil ihrer ostindischen
Importen mit barem Gelde bezahlen: „die Ausfuhr der übrigen
Güter war nicht sehr bedeutend.“
Aber die direkte Verbindung mit den Völkern des Ostens
schuf doch auf der andern Seite auch eine Reihe von Verbesse¬
rungen zum Rückstrom der edlen Metalle. Wieder einmal schuf
die koloniale Ansiedlung vor allem die Möglichkeit zur Tribut¬
erhebung, zur Plünderung und Erpressung, zu Raub und Diebstahl.
Das Plünderungssystem der vordringenden Europäer hatte
natürlich um so mehr Erfolg, je reicher ein Gebiet an Edel¬
metallen war, die entweder schon von den Eingeborenen ge¬
wonnen waren oder nun von ihnen zutage gefördert werden
mußten. Es erwies sich aber, daß sowohl das asiatische Festland
als namentlich die asiatische Inselwelt außerordentlich
reich an Gold waren, als die Portugiesen sich daselbst fest¬
setzten. Diese Tatsache ist heute so sehr in Vergessenheit ge¬
raten, daß unsere ersten Spezialisten der Edelmetallstatistik des
asiatischen Goldes nicht einmal Erwähnung tun1. Und doch
1 Weder bei Soetbeer (Petermanns Erg. -Heft 57) noch bei
E. Suess, Die Zukunft des Goldes (1877), findet Asien als Goldland
Berücksichtigung. Aber auch Del Mar in seiner History of the
Precious Metals (1880) kennt nur Japan als Goldquelle. Dasselbe gilt
von Lexis (Art, „Gold“ im H.St. 2).
52$ Vierter Abschnitt: Die Edelmetallproduktion
müssen während des 16. Jahrhunderts große Mengen Goldes von
den Portugiesen aus ihren asiatischen Besitzungen herausgeholt
sein, wenn sich so reiche Gebiete so rasch erschöpfen konnten.
Denn offenbar waren jene Inseln um 1500 noch Goldländer ersten
Ranges, obwohl wir verfolgen können, wie die Araber damals
bereits an alle Stellen der Goldproduktion vorgedrungen waren
und wohl das ganze Mittelalter hindurch Gold aus jenen
Ländern herausgezogen hatten1.
Aber es scheint, als ob die arabische Herrschaft für die Er¬
schöpfung eines Gebietes an Edelmetallen nicht annähernd so
verhängnisvoll gewesen sei als diejenige der goldsüchtigen Euro¬
päer: wozu jene Jahrhunderte gebraucht hatten, das vollbrachten
diese in Jahrzehnten.
Gilt dies für die Goldländer Asiens, so gilt es nicht minder
für die goldreichen Gebiete Afrikas2. Auch diese, deren
es drei gibt, waren während des Mittelalters lange Zeiträume
hindurch von den Arabern genutzt worden, ohne jedoch auch
nur annähernd erschöpft zu sein, als die Portugiesen zu ihnen
vordrangen. Abermals bedeutete es daher einen starken Zuwachs
an Gold, dessen Europa teilhaftig wurde, als die europäischen
Eioberei eist zu den Goldstätten des Senegalgebietes und als¬
bald auch zu den reichen Fundstätten Ostafrikas an der Küste
von Sofala gelangten.
Daß eine ziffernmäßige Erfassung der Goldeinfuhrmengen in
jenen entlegenen Zeiträumen kaum möglich ist, haben alle Sach¬
kenner zugegeben. Denn wenn man selbst das „produzierte“
Metall annähernd richtig ermitteln könnte, so würde sich die
Menge des geraubten Goldes und Silbers doch jeder Feststellung
entziehen. Unter diesem Vorbehalte mögen die Ziffern hier Platz
finden, die Soetbeer für die Goldausfuhr aus Afrika annimmt.
Diese betrug nach Meinung dieses Gelehrten im Durchschnitt
jedes Jahres in den Perioden3:
1 Ich habe die Quellenbelege in der ersten Auflage Bd. I S. 373 ff.
zusammengestellt, wo der spezieller Interessierte sie nachprüfen ma°’.
2 Siehe die vorige Anmerkung. c‘
Diese Ziffern stellen m. E. nur ein Minimum dar, was sich aus
den obigen Erwägungen ergibt. Gewiß hätte auch Soetbeer einen
hofieren Betrag angenommen, wenn ihm die Angabe des Thome Lopez
über die Erträgnisse der Sofala-Minen bekannt gewesen wäre. Diese
wurden, als die Portugiesen daselbst eintrafen, bereits auf 2 Mill. Mitkal
(zu 1 /3 Dukaten, also etwa 24 Mill. Mk.) pro Jahr geschätzt. Sicher
aber haben dann die Europäer mehr Ausbeute erzielt als die Araber.
Einunddreißigstes Kapitel: Gang d. Edelmetallproduktion u. -bewegung 529
1493—1520 3000 kg oder 8370000 Mk.
1521—1544 2500 „ „ 6975000 „
Für die Zufuhr aus Asien fehlt jede ziffernmäßige Feststellung.
.3. Die Plünderung Mexikos und Perus durch die Spanier
Überreich war der Vorrat an edlen Metallen, die zumeist als
Schmuck und Schatz gewertet wurden, in den Ländern der alten
amerikanischen Kultur* 1, in die die Spanier zu Beginn des
16. Jahrhrmderts erobernd eindrangen.
Die Menge des durch die Plünderung dieser Länder nach
Europa gebrachten Edelmetalls ziffernmäßig zum Ausdruck zu
bringen, ist außerordentlich schwierig. Die Schätzungen (oder
Berechnungen) der besten Kenner weichen so sehr voneinander
ab3, daß ich lieber darauf verzichte, eine Zahlenfeststellung zu
machen. Daß es sich dabei um große Beträge handelte, dafür
sprechen schon die Summen einzelner Beutemengen, von denen
ich weiter unten noch einige anführe.
Fünfte Periode: Von der Mitte des 16. bis zum Anfang des 17. Jahr¬
hunderts ( 1545 bis etwa 1620 )
So gewaltig die Veränderungen sind, die während dieser
Epoche die Produktion und damit der Bestand der Edelmetalle
erleben: so kurz kann mein Bericht sein. Denn wie schon be¬
merkt wurde, treten wir mit der Entdeckung Amerikas in die
Th. Lopez, Navigatione verso le Indie orientali (1502), bei Ka¬
rn usio 1, 134 C. Damit in Übereinstimmung steht die Angabe, die
uns Saalfeld, Portug. Kol., 174, auf Grund anderer Quellen macht,
wonach die Ausbeute IV2 Mill. betragen haben soll.
1 Siehe die Schilderungen des Reichtums an Gold- und Silber¬
schätzen in Peru bei W. H. Pr e scott, Geschichte der Eroberung
von Mexiko, deutsch 1848, 1, 22 f. 74 f. 194. 214. 329 f. 348. 354—358
(Lösegeld des Atahualpa). 397 f. ; desgl. in Mexiko , bei Prescott,
Geschichte der Eroberung von Mexiko, deutsch 1845, 1, 143. 239.
448. 539 ff. ; desgl. im Lande der Chibcha , insonderheit im Reiche der
Zippa von Bogota und der Zaque in Tunja, bei Häbler, Amerika, 300.
Gute Zusammenstellung bei Max Wich mann, Über die Metalle bei
den altamerikanischen Kulturvölkern. Hall. In.-Diss. (1885), S. 27 ff.
2 Alex. v. Humboldt berechnet den Gesamtbetrag der Beute,
die bis zur Eröffnung der Potosi-Minen den Eroberern in die Hände
fiel, auf 186 000 Goldmark, das sind rund 25 Mill. Piaster oder
130 Mill. Frcs. damaliger Währung (Essai sur la Nouvelle Espagne 4,
253 ff.). L exis dagegen (Art. Gold in H.St. 2) rechnet nur 20 Mill. Mk.
heraus.
Rombart, Der moderne Kapitalismus. I.
■ 34
530
Vierter Abschnitt: Die Edelmetallproduktion
Periode brauchbarer statistischer Feststellungen ein und sind
außerdem in der angenehmen Lage , die oft erwähnte S o e t -
beer sehe Arbeit in ihrem vollen Umfange benützen zu können.
Ihr sind denn auch, wo nichts besonderes hinzugefügt ist, die
folgenden Zahlenangaben entnommen.
Was die Edelmetallverhältnisse um die Mitte des 16. Jahr¬
hunderts so von Grund aus umgestaltete, war die Erschließung
der reichsten amerikanischen Minen (Zacatecas, Guanaxuato) sowie
vor allem Potosis einerseits, die schon gewürdigte (siehe S. 494 f.)
Einführung des Amalgamierungsverfahrens andererseits. Diesen
beiden Ereignissen ist die plötzliche und starke Vermehrung der
Silberproduktion während der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts
zuzuschreiben. Denn daß in demselben Zeitraum die Silber- und
Goldquellen Deutschlands und Österreichs versiegten, habe ich im
vorigen Abschnitt schon mit einigen Ziffern belegt. Aber auch die
(Gold-) Ausbeute Afrikas ging von der Mitte des 16. Jahrhunderts
an zurück: der neu entdeckte Erdteil mußte für alle diese Aus¬
fälle Ersatz schaffen und schuf ihn in überschwänglicher Weise,
wenigstens was das Silber anbetrifft. Dieses Edelmetall tritt mit
der Erschließung der amerikanischen Minen in die Periode seiner
absoluten Vorherrschaft ein (die bis zur Entdeckung der brasilia¬
nischen Goldfelder reicht) : hatte sein Wertanteil an der Gesamt¬
edelmetallproduktion 1521 — 1544 erst 44,9 °/o betragen, so stieg
er auf 70,3, 73,9 78,6 am Schlüsse des 16. Jahrhunderts.
Die Goldproduktion der Erde bleibt während des ganzen
16. Jahrhunderts annähernd gleich hoch: sie steigt von 7160 kg
im Jahresdurchschnitt 1521 — 1544 auf 8510 kg im Jahresdurch¬
schnitt 1545 — 1560, sinkt dann aber auf 6840 kg und 7380 kg im
Jahresdurchschnitt der beiden folgenden Doppeldekaden.
Dagegen nun die Zunahme der Silberproduktion ! Sie beträgt
im Jahresdurchschnitt:
1521—1544 . 90200 kg
1545—1560 . 311600 „
1561—1580 . 299500 „
1581—1600 . 418900 „
1600—1621 . 422900 „
Also eine Verdreifachung um die Mitte des Jahrhunderts und
(nach vorübergehendem Stillstand) ein Weitersteigen bis in die
ersten Jahrzehnte des 17. Jahrhunderts: dank, wie gesagt, vor
allem Mexikos und namentlich Potosis.
Einunddreißigstes Kapitel: Gang d. Edelmetallproduktion u. -bewegung 53p
Die Silberproduktion Mexikos steigt in den oben angeführten
Jahrzwanzigen im Jahresdurchschnitt von:
3400 kg auf
15000
50200
74300
81200
))
1)
Diejenige Potosis setzt gleich mit 183200 kg im Jahresdurch¬
schnitt 1545 — 1560 ein und sinkt dann auf 151 800 im folgenden
Zeitraum, um in den Jahren 1581 — 1600 ihr Maximum von
254300 kg zu erreichen.
Bedeutsam für die Entwicklung des europäischen "Wirtschafts¬
lebens in dieser Epoche wurde aber nicht nur die rasche Ver¬
mehrung der Edelmetallmengen, sondern ebenso sehr die Ver¬
legung ihrer Produktionsstätten: der Quell des ökonomischen
Lebens war in Deutschland versiegt, in den Kolonien der west¬
europäischen Nationen frisch aufgesprungen. Diese aber sind
es nun nicht gewesen, die von dem neuen Goldstrome befruchtet
werden sollten, der vielmehr (um im Bilde zu bleiben) gleich¬
sam wie in einer künstlichen Leitung über Spanien (und später
Portugal) hinweg in die Wirtschaftsgebiete Hollands, Frankreichs
und Englands abfloß. Ich werde davon und von den damit im
Zusammenhänge stehenden nationalen Verschiebungen noch später
ausführlich zu handeln haben. Hier soll einstweilen nur die
Tatsache registriert werden : daß Deutschland austrocknete, weil
seine eigenen Edelmetallquellen versiegten, Spanien aber eben¬
falls trocken blieb, trotz seiner amerikanischen Besitzungen. Die
Gründe, weshalb das amerikanische Silber nicht in Spanien blieb
oder gar nicht erst nach Spanien kam, sind vornehmlich folgende :
1. ein Teil der Produktion wurde in den Kolonien zurück¬
gehalten ;
2. ein anderer Teil ging verloren durch Kaperei1 usw. ;
3. viel wurde dem Verkehr entzogen und in kostbare Geräte
usw. verwandelt;
4. das meiste wurde zur Bezahlung der nordischen Völker¬
schaften, namentlich der Holländer, der Franzosen2 und
1 Del Mar, Money and Civilization, 166 ff.
2 In Frankreich sollen zur Zeit Heinrichs IV. mehr spanische
Golddublonen, Dukaten und Pistolen im Umlauf gewesen sein als zur
Zeit Karls IX. kleine Silbermünzen: übertrieb man, Brantome,
Oeuvres 3, 197 ff.
84*
532
Vierter Abschnitt: Die Edelmetallproduktion
der Engländer, verwandt, die Waren an Spanien oder die
Kolonien lieferten 1;
5. der Rest diente zur Begleichung der Zinsverpflichtung des
spanischen Staates.
Um welche Edelmetallbeträge es sich im einzelnen Falle
handelte, die auf einem dieser Wege Spanien entzogen wurden,
lassen uns einige zahlenmäßige Feststellungen erkennen, die aus
jener Zeit überliefert sind. So betrug der Wert des Silbers, das
Philipps II. Flotte im Jahre 1577 für die Fugger nach Antwerpen
brachte (wo er es dann mit Beschlag belegen ließ) : 800 000 Du¬
katen. Im Jahre 1595, das den Ertrag von drei Jahren geliefert
haben muß, gingen 35 Mill. Scudi in Gold und Silber über die
Barre von San Lucar, von denen im Jahre 1596 kein Real mehr
in Kastilien sich vorfand2.
Angesichts dieser Ziffern vermögen wir wohl der Behauptung
Glauben zu schenken: daß hundert Jahre nach der Entdeckung
Amerikas Holland, England, Frankreich viel mehr Edelmetall,
zumal in der Geldform, besaßen als Spanien3.
Sechste Periode: Das 17. Jahrhundert
In dieser Periode sinkt die Edelmetallproduktion zunächst
etwas, um während des letzten Drittels des Jahrhunderts wieder
rasch zu steigen. Europas Anteil an der Silberproduktion wird
verschwindend gering. Die Goldproduktion nimmt zu. Hier sind
die summarischen Ziffern.
Jährliche Produktion nach Gewicht (in Kilogramm):
Zeitraum
Silber
Gold
1601—1620
. 422900
8520
1621—1640
. 393600
8300
1641—1660
. 366300
8 770
1661—1680
. 337 000
9260
1681—1700
. 341900
10 765
1 Siehe darüber den 6. Hauptabschnitt des 2. Bandes, der die inter¬
nationalen Wirtschaftsbeziehungen behandelt.
2 Gonzales Davila, Vida y hechos del Rey Felipe III., p. 35.
Ranke, der diese Mitteilung macht, meint: sie laute unglaublich,
doch versichere sie „ein glaubwürdiger Mann“. Ranke, Fürsten und
Völker Süd-Europas l8, 428.
8 Auch darüber enthält genaue Feststellungen der genannte 6. Haupt¬
abschnitt des 2. Bandes
Eimmddreißigstes Kapitel: Gang d. Edelmetallproduktion u. -bewegung 533
Noch deutlicher tritt der schwankende Verlauf, der diese
Periode kennzeichnet, uns vor Augen, wenn wir die Produktions¬
mengen der beiden Edelmetalle zusammenwerfen und sie in einer
(Geld-) Wertziffer zum Ausdruck bringen. Dann beziffert sich
nämlich die Gesamtedelmetallproduktion:
1621—1640 .... auf 1880,1 Mill. Mk.
1641—1660 .... „ 1808,1 „
1661— 1680 .... „ 1729,9 „ „
1681-1700 , . . . „ 1831,5 „ „
In den letzten beiden Jahrzehnten des Jahrhunderts macht
sich die starke Zunahme der Goldproduktion besonders fühlbar.
Siebente Periode: Das 18. Jahrhundert
Eine Periode rascher und anhaltender Vermehrung der Edel¬
metallproduktion. Im Anfang des Jahrhunderts bis in dessen
Mitte etwa ist es das neu entdeckte brasilianische Gold, das
über Europa hereinflutet. Brasilien, dessen Goldfelder gerade
etwa um die Wende des Jahrhunderts reichlichere Erträge zu
geben anfangen, liefert:
1701—1720 ... für 150 Mill. Mk. Gold
1721-1740 . . . „ 490 „ „
1741-1760 . . . , 816 „ „ „
Dann (vom Jahre 1764 an) läßt die Ausbeute nach, bis sie im
Anfang des 19. Jahrhunderts fast ganz aufhört1.
Gerade aber in diesem Augenblick, als das brasilianische Gold
knapper zu werden anfangt, setzt die starke Steigerung der
mexikanischen Silberproduktion ein : im Jahre 1760 wurden durch
die Arbeiten des Spaniers Obregon die reichsten Teile der Grube
Valenciana auf der Veta Madre von Guanajuato aufgeschlossen;
in das Jahr 1765 fällt der Aufschluß der Bonanza in der Con-
cession S. Acasio auf der Veta Grande zu Zacatecas2. Mexiko
bringt im Jahre an Silber auf:
1721—1740 . 230 800 kg
1741—1760 . 301000 „
1761—1780 . 366400 „
1781—1800 . 562400 „
1800—1810 . 553800 „
1H. Handel mann, Geschichte Brasiliens (1889), S. 579/80.
v. Eschwege, Pluto brasiliensis (1833), 145.
2 Suess, Gold, 172,
534 Vierter Abschnitt: Die Edelmetallproduktion
Insgesamt beträgt die Jahresproduktion an:
Silber
Gold
1721—1740
..... 431200
19080
1741—1760
. 533145
24160
1761—1780
. 652 740
20 705
1781—1800
. 879060
17790
1801—1810
. 894150
17 778
In Wertsummen ausgedrückt ergibt sich folgendes Bild, das
die rasche Steigerung der Edelmetallproduktion in diesem Zeit¬
raum: genau genommen während des 18. Jahrhunderts und des
ersten Jahrzehnts des 19., wiederum noch deutlicher erkennen
läßt. Die Gesamtproduktion betrug:
1701—1720 . 1995,5 Mill. Mk.
1721—1740 . 2617
1741—1760 . 3292,6 „
1761—1780 . 3505,2 „
1781—1800 . 4157,3 „
1801—1810 . 2106
Auch von diesen Beträgen, die aus spanischen und portugie-
sichen Kolonien vornehmlich stammten, geht der größte Teil an
den Mutterländern vorbei oder rasch über sie hinweg zu den
wirtschaftlich rascher fortschreitenden Ländern Nordwesteuropas,
jetzt namentlich nach England1.
Achte Periode: Von 1810—1848
In diesen Zeitraum fällt eine so starke und plötzliche Ver¬
minderung der Edelmetall-, namentlich der Silberproduktion, wie
sie sich kaum je in einer andern Periode nachweisen läßt. Ur¬
sache: vor allem politische Störungen in den amerikanischen
Produktionsgebieten (wodurch, wie später zu zeigen sein wird,
die Produktionsbedingungen sich verschlechtern).
Die Silberausbeute Mexikos sinkt in ein paar Jahren auf
weniger als die Hälfte: von 553 800 kg im Jahresdurchschnitt
1801—1810 auf 312000 kg und 264800 kg in den beiden folgenden
Jahrzehnten. Ebenso sehr verringert sich die amerikanische
Goldproduktion, und nur dem Umstande, daß mit dem dritten
Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts Rußland in rasch wachsendem
1 Siehe die Darstellung im 2, Bande,
Einuuddreißigstes Kapitel: Gang d. Edelmetallproduktion u. -bewegung 535
Umfange Gold liefert, ist es zu danken, wenn die Goldgewinnung
der Erde nickt in gleichem Verhältnis wie die Silberproduktion
abnimmt. Die Zunahme der russischen Goldproduktion ist dann in
den 1830 er und 1840 er Jahren noch größer und trägt (zusammen
mit der langsam sich wieder erholenden Silberproduktion Mexikos:
1831 — 40 = 331000 kg, 1841 — 50 = 420300 kg Jahresproduktion)
dazu bei, daß sich von den 1830er Jahren an der Gesamtwert¬
betrag der Edelmetallproduktion langsam wieder hebt. Die
summarischen Ziffern sind folgende:
Jahre
Gesamtproduktion
der Edelmetalle
Millionen Mark
Davon Silber
Millionen Mark
Gold
Millionen Mark
1801—1810
2106,1
1609,1
497,0
1811—1820
1292,7
973,4
319,3
1821—1830
1225,6
829,0
396,6
1831—1840
1639,7
1073,6
566,1
Im Jahre 1848 aber tritt die entscheidende Wendung ein, die
die Weltgeschichte in neue Bahnen lenken sollte: das goldene
Zeitalter des Kapitalismus entfaltet sich. Dessen Darstellung
aber gehört noch nicht hierher.
536
Zweiunddreifsigstes Kapitel
Die Bedeutung der Edelmetalle für das Wirt¬
schaftsleben im allgemeinen
Literatur
Natürlich haben zahlreiche Forscher gelegentlich auf die Bedeutung
hingewiesen, die die Edelmetalle und die Edelmetallproduktion für das
Wirtschaftsleben in dieser oder jener Beziehung besitzen. Diese hier
zu nennen erübrigt sich. Dagegen müssen einige Werke angeführt
werden, die sich grundsätzlich mit diesem Probleme beschäftigt und eben¬
falls den Versuch gemacht haben, die Gesamtwirkung der Edelmetalle
zu erfassen. Das sind namentlich folgende , seltsamerweise sämtlich
von Amerikanern herrührendo Bücher: Al. del Mar, von dessen
zahlreichen Werken hier insbesondere Money and Civilization (1886),
mit Bibliographie, in Betracht kommt; Brooks Adam, The law of
civilization and decay. 1895; deutsch (vollständiger) : Die Gesetze der
Zivilisation und des Verfalls. 1907; Irv. Fisher, The purchasing
power of money. New Ed. 1913. Vgl. Seite 543.
Außer der Überzeugung, daß der Einfluß der Edelmetallproduktion
auf den Gang des Wirtschaftslebens sowie der gesamten Kultur ein
überragend großer ist, verbindet mich aber mit den genannten Forschern
nichts. Die Art und Weise, wie wir den Einfluß begründen, ist ver¬
schieden, wie wir denn auch diesen Einfluß in sehr verschiedenen
Richtungen sich betätigen sehen.
I. Die chimärische Bedeutung der Edelmetalle
Vom Golde und welche wichtige Rolle es im Leben der
Menschheit spielt, wissen die Sagen der meisten Völker vieles
zu erzählen: vom goldenen Vließ und wie ihm die Helden zu
Tod oder Sieg nachgezogen sind; vom unglückseligen Midas,
dem alle Dinge, die er anrührte, zu Gold wurden und der darum,
als dies auch mit Speise und Trank geschah, einem kläglichen
Hungertode entgegenging, bis er sich im Flusse Pactolus badete,
der seitdem reichlich Gold ■ mit sich zu führen begann. In der
deutschen Mythe ist aber das Goldproblem am tiefsten gefaßt,
wenn dem Besitz des Goldes alles Weh zugeschrieben wird, das
Götter und Menschen ergreift, und wenn die Erlösung von allem
Übel daran geknüpft wird, daß der aus den Tiefen des Rheins
Zweiunddreißigstes Kapitel: Bedeutung d. Edelmetalle f. d.Wirtschaftsleben 537
zum Unheil ans Licht gebrachte Goldreif den Eheintöchtern
zurückgegeben werde. Hier ist nicht mehr und nicht minder
o o
gesagt, als daß das Schicksal der Götter und der Menschen das
Schicksal des Goldes sei.
Und aus den Volkssagen, das wissen wir, spricht fast immer
eine tiefe "Wahrheit zu uns. Was ist es, das uns die vielen
Goldsagen verkünden? Was lehrt uns die Geschichte der Mensch¬
heit? Hat auch in ihr das Gold jene große, überragende Be¬
deutung gehabt, die ihm die Mythen zuschreiben?
Sicher ist dieses: daß das Gold in der Vorstellung auch
der historischen Menschheit immerdar einen allerhöchsten Wert
besessen hat, und daß die Menschheit immerdar bereit gewesen
ist, Großes zu wagen, um in den Besitz des edlen Metalls zu
gelangen. Dadurch aber allein hat das Gold eine ganz gewaltige
Bedeutung in dem Ablauf der menschlichen Geschichte bekommen:
daß die Sehnsucht nach ihm zu einer mächtigen Triebkraft für
entscheidendes Geschehen wurde. Vor allem zur Triebkraft für
Eroberungszüge und Kriege, von deren Ausgang oft das Schicksal
ganzer Völker, ganzer Kulturen abgehangen hat: Darius ging
dem Golde nach, ebenso wie Alexander der Große; Eömer und
Karthager kämpften letzten Endes um das spanische Gold ; Cäsar
hoffte in Germanien vor allem Gold zu finden; um Böhmens
Silber- und Goldschätze sind viele Kriege im Mittelalter entbrannt:
„quid est quod Cuthno (Kuttenberg) fames avaritiae ac abyssus
malitiae, diversa ac peregrina ingentiaque gentium genera ad
contemplationem sui contrahit regesque ac principes exteros allicit,
nisi quia in sinu suo, in terrarum abditis, fomentum avaritiae
argentum nutrit?“ wußte schon der Chronist der alten Zeit; um
das amerikanische Gold haben sich jahrhundertelang die euro¬
päischen Staaten gebalgt, und dem Kampfe um Goldminen ver¬
dankt einer der letzten großen Kriege seine Entstehung.
Bedeutsam ist aber das Gold für die Kulturentwicklung auch
dadurch geworden, daß wichtige Ereignisse sich bei jener Jagd
nach dem Golde einstellten, an deren Eintritt niemand dachte,
als er die Jagd begann, die wir aber darum doch als mittelbare
Folgen des Goldsehnens ansprechen müssen: das Institut der
Sklaverei ist im Gefolge des Goldbergbaus erst zur vollen Ent¬
wicklung gelangt,
Sorglose Schmiede,
schufen wir sonst wohl
Schmuck unsern Weibern.
Wir lachten lustig der Müh.
538 Vierter Abschnitt: Die Edelmetallproduktion
Nun zwingt uns der Schlimme
in Klüfte zu schlüpfen,
für ihn allein
uns immer zu müh’n;
auf der Suche nach dem Golde ist das Pulver gefunden, ist die
Chemie als Wissenschaft ausgebildet worden ; auf der Suche nach
dem Golde ist Amerika entdeckt, sind die modernen Großstaaten
formiert worden.
Ist also, wie man es heißen könnte, die chimärische Be¬
deutung des Goldes für die Entwicklung der Menschheit
wohl außer allem Zweifel, so ist damit doch noch nichts ausgesagt
über seine reale Bedeutung; ob es wirklich einen so starken
Einfluß auf den Gang des Kulturlebens ausübt, ob dieses durch
den Besitz und die Benutzung des Goldes in seiner Eigenart
und Richtung tatsächlich bestimmt wird, und ob seine Gewinnung
für die Einzelnen und die Gemeinschaft, die sich darum bemühen,
denn nun in Wahrheit ein Segen sei, wie alle, die danach trachten,
wähnen, oder ein Fluch, wie die Mythen uns warnend verkünden.
Der letzte Teil dieser Frage hat einen philosophisch-meta-
physischen Sinn und schließt die Frage nach Sinn und Bedeutung
des Menschendaseins ein; das ist der Sinn, der hier nicht in
Betracht kommt. Daneben aber bleibt die rein historische Frage
bestehen: nach dem Einfluß, den tatsächlich die Nützung der
Edelmetalle, ihre Vermehrung und ihre Verminderung auf den
Gang der Kultur ausgeübt haben.
II. Die reale Bedeutung der Edelmetalle
Die voraufgehende Darstellung hat die Beantwortung der
Frage: welche reale Bedeutung die Edelmetalle und die Ge¬
staltung ihrer Produktionsverhältnisse nach Menge und Art für
das Wirtschaftsleben haben, vorbereitet; die Antwort selber
wird in den folgenden beiden Kapiteln sowie in diesem Werke
enthalten sein. Hier soll nur vorerst ein kurzer Hinweis ge¬
geben werden auf die Vielseitigkeit und Mannigfaltigkeit der
Wirkungen, die die Edelmetalle auszuüben imstande sind: soll
ihre Bedeutung für das Wirtschaftsleben in schematischer Ge¬
stalt zum Ausdruck gebracht werden, damit unser Augen¬
merk von vornherein auf die verschiedenen Zusammenhänge
hingelenkt werde, in denen Sachwirkungen der Edelmetalle
zutage treten oder verborgen sein können. Denn das ist die
Beobachtung, die sich jedem aufdrängt, der die früheren Ver-
Zweiunddreißigstes Kapitel: Bedeutung d. Edelmetalle f. d. Wirtschaftsleben 539
suche ähnlicher Art: die Rolle der Edelmetalle im Ablauf der
Geschichte zu schildern, überblickt: so oft die Frage nach der
Bedeutung der Edelmetalle für das Wirtschafts- (und weiterhin
alles Kultur-) Leben gestellt ist : ihre erschöpfende Beantwortung
ist noch immer unterblieben, sei es daß man dem Problem nicht
systematisch genug zu Leibe ging, sei es (was noch häufiger
sich ereignete) daß man viel zu einseitig nur diese oder jene
Wirkung, ja in der Regel nur eine einzige Wirkung der Edel¬
metalle (auf die Preisbildung) ins Auge faßte, und auch diese
eine Wirkung nicht gründlich genug in allen ihren Verzweigungen
und allen ihren Nuancierungen verfolgte.
Diese Fehler möchte dieses Werk vermeiden. Und deshalb
erscheint es mir zunächst einmal geboten: ein möglichst voll¬
ständiges Schema der denkbaren Wirkungen, die die Edelmetalle
je einmal ausüben können (oder ausgeübt haben), aufzustellen.
Ich sagte schon: meist denkt man überhaupt nur an die Ein¬
wirkung der Edelmetalle auf die Preisbildung. Demgegenüber
ist nun gleich von vornherein festzustellen, daß die Bedeutung
der Edelmetalle sich auch äußern kann, ohne daß sie überhaupt
oder wenigstens ehe sie einen Einfluß auf die Preise ausüben,
ja sogar ehe sie zur Geldware geworden sind. Wir müssen also
unterscheiden :
1. Wirkungen unmittelbarer und mittelbarer Art,
d. h. Wirkungen der Edelmetalle als bloßes Gebrauchsgut und
Wirkungen als Geld. Wenn die Wirkung auf dem zuletzt be-
zeichneten Wege erfolgt, so wird sie wesensverschieden sein-,
2. je nachdem es sich um eine bloß quantitative Be¬
einflussung der Nachfrage oder gleichzeitig um eine
Einwirkung auf die Preise handelt.
Von Bedeutung für die Eigenart der Wirkungen ist
3. die Herkunft der Edelmetalle.
Hier sind folgende verschiedene Weisen zu unterscheiden,
wie Edelmetalle (von dem Einzelnen und damit auch von einer
wirtschaftenden Gesamtheit) erworben werden können:
a) direkt: durch Raub, Tributzahlung unterworfener Länder
oder eigene Produktion; oder
b) indirekt: dann ist die erste Möglichkeit die, daß sie durch
den Handel in das Land kommen: als Bezahlung für gelieferte
Waren. Es gibt aber noch andere Wege, vor allem den der
Zahlung, die ein Land an das andere aus Schuldverpflichtungen
540
Vierter Abschnitt: Die Edelmetallproduktion
zu leisten hat. Ein besonderer Fall solcher Schuldzahlungen ist
die Kriegsentschädigung.
Insoweit die Edelmetalle durch eigene Produktion erworben
werden, werden die Wirkungen der Edelmetalle große Ver¬
schiedenheit aufweisen
4* je nach der Verschiedenheit ihrer Produktions¬
verhältnisse: wer die Edelmetalle zutage fördert: ob Sklaven,
ob Handwerker, ob Lohnarbeiter ; wer an dem Ertrage der Pro¬
duktion unmittelbar Anteil nimmt : ob der Staat (als Inhaber der
Bergwerke oder als .Regalherr), ob kleine Leute, ob spanische
Granden oder Londoner Geschäftsmänner. Es wird auch von Be¬
deutung sein: wie die Berechtigten ihre Anteile empfangen: ob als
Verzinsung ihres Kapitals oder Vergütung ihrer Arbeit; ob als
regelmäßige, stetig fließende Einnahme oder als plötzliche glück¬
spielartige Zuwendung; ob sie durch Bergbau reich geworden sind
oder in ärmlichen Verhältnissen leben; ob sie durch ihn reicher
werden:- aus reichen Leuten noch reichere, aus armen Leuten reiche.
Wie ersichtlich, ist es hier die verschiedene Art und Weise, wie
die Edelmetallproduktion auf die Einkommensbildung wirkt, die
bedeutungsvoll für die Gestaltung des Wirtschaftslebens wird.
Insbesondere wird wiederum von der Eigenart der Ein¬
kommensbildung abhängen
5. die Verschiedenheit der Verausgabung, die auch
durch die unter 4. erwähnten Produktionsweisen wesentlich be¬
einflußt wird: ob notwendige Lebensmittel, ob Luxusgüter, ob Pro¬
duktionsmittel von den Überschüssen der Edelmetallproduktion
oder von den indirekt an ihnen gemachten Profiten gekauft werden.
Nun leuchtet aber sofort ein, daß alle jene Möglichkeiten der
Wirkungen, von denen bisher die Rede war, ihr eigentümliches
Gepräge erhalten
6. je nach dem Milieu, in das die Edelmetalle hin¬
einkommen: insbesondere je nach dem Wirtschaftssysteme,
auf das sie wirken sollen: ob dieses die Eigenwirtschaft, die
erweiterte Eigenwirtschaft, das Handwerk oder der Kapitalismus
ist, und in welchem Ent wicklungs Stadium wiederum sich je das
Wirtschaftssystem befindet. Anders die Wirkung in der früh¬
kapitalistischen als in der hochkapitalistischen Epoche; anders
wenn die Kreditorganisation in einem Wirtschaftsgebiet niedrig,
anders wenn sie hoch entwickelt ist: also ganz verschiedene
Wirkungen 1750—1850—1900.
Wie aber soll eine Darstellung allen diesen unendlich variablen
ZAveiunddreißigstes Kapitel: Bedeutung d. Edelmetalle f.d. Wirtschaftsleben 541
Wirkungsmöglichkeiten gerecht werden, ohne sich ins Chaos einer
unübersichtlichen Kasuistik zu verlieren? Ich glaube, nur auf
einem Wege: die allgemeine Bedeutung der Edelmetalle muß
im Hinblick auf ein einzelnes scharf gestelltes
Problem untersucht werden. Und das wird hier geschehen.
Wie ich schon in den einleitenden Bemerkungen zu diesem Ab¬
schnitte ausgeführt habe, wollen wir den Zusammenhang zwischen
Edelmetallproduktion und Kapitalismus, zunächst aber deren
Bedeutung für die Genesis des Kapitalismus zu er¬
kennen trachten. In diesen Zusammenhang also fügen wir nun
die verschiedenen Wirkungen der Edelmetalle ein, indem wir
wiederum feststellen, daß sie sich vornehmlich
7. in vier verschiedenen Richtungen, auf vier ver¬
schiedene Arten äußern können.
Diese vier Richtungen sind:
a) die Staatenbildung,
b) die Seelenbildung,
c) die Vermögensbildung,
d) die Marktbildung'.
Die unter a) zusammengefaßten Einwirkungen haben wir zu
verfolgen bereits Gelegenheit gehabt, als wir die Wachstums¬
bedingungen des modernen Staates kennen lernten.
Ihren seelenbildenden Einfluß üben die Edelmetalle da¬
durch aus, daß sie die verschiedenen Seiten des kapitalistischen
Geistes zur Entfaltung bringen, wenn sie entweder durch plötz¬
liche und starke Vermehrung den Erwerbstrieb zum Erwerbs-
paroxismus steigern und den Spekulationsgeist entfalten oder
durch ihre ständige Verwendung als Geld den rechnerischen
Sinn entwickeln helfen. Dieser Teil ihrer Wirkung kommt in
diesem Werke, in dem der kapitalistische Geist nicht ab¬
geleitet, sondern als gegeben angenommen wird, nicht zur
Darstellung ; ich habe mich vielmehr darüber bereits an anderer
Stelle geäußert1.
Vermögenbildende Kraft besitzen die Edelmetalle und
haben sie in mehr als einer Richtung bewiesen: bei ihrer Ge¬
winnung sowohl als bei ihrer Verwandlung in Geld. Es ist er¬
sichtlich, daß diese Kraft in demselben Maße wachsen muß, als
die Produktion von Edelmetallen gesteigert wird, und daß die
Formen der Vermögensbildung abhängen von der Organisation
1 Siehe meinen Bourgeois, das 25. Kapitel.
542
Vierter Abschnitt: Die Edelmetallproduktion
des Bergbaus und der Verwertung der Edelmetalle, weshalb es
so wichtig ist, von diesen Dingen sich genaue Kenntnisse zu
verschaffen. Neben dieser — wie man sie nennen kann — un¬
mittelbaren Vermögensbildung, die sich an die Edelmetalle an¬
knüpft und der ich im 42. Kapitel nachgehe, gibt es dann noch
eine andere, mittelbare Art des Einflusses, den die Edelmetalle
als Vermögensbildner ausüben: durch das Medium der Preis¬
bildung.
Endlich erscheinen die Edelmetalle als Marktbildner. Als
solche äußern sie ihre Wirkung in vierfacher Hinsicht:
1. sofern sie den Übergang zur marktmäßigen Pro¬
duktion überhaupt erst ermöglichen: eine Wirkung,
der wir bereits früher auf die Spur gekommen sind: siehe oben
Kapitel 8. H. 4;
2. sofern sie als stete (Nur-) Nachfrage nach Waren den
Markt genau in dem Maße ausweiten, als die Menge der
neu zutage geförderten Edelmetalle anschwillt;
8. sofern sie als Bedingung erscheinen, damit die durch Ver¬
mögenssteigerung hervorgerufene Mehrnachfrage nach
Waren sich betätigen könne;
4. sofern sie die Preise beeinflussen, also im Palle
einer'preissteigemden Wirkung eine allgemeine Aufwärtsbewegung
der Konjunktur zu erzeugen imstande sind.
Die meisten der hier behaupteten Zusammenhänge werden
sich je am passenden Ort durch bloßen Augenschein unschwer
wahrnehmen lassen: auf sie hinweisen heißt schon sie aufdecken,
denn sie liegen bloß zutage, wie Waschgold, das man leicht
greifen kann. Dagegen bedarf es in einem Fall eines etwas um¬
ständlicheren Verfahrens: um die Erkenntnis zu gewinnen, daß
und weshalb die Edelmetalle einen Einfluß auf die Preise und
dadurch sei es auf die Vermögensbildung, sei es auf die Markt¬
bildung ausüben können und während der frühkapitalistischen
Epoche ausgeübt haben. Diese Erkenntnis ist dem Golde ver¬
gleichbar, das sich durch die goldhaltigen Erze in dünnen Adern
hinzieht und das mit einem kunstvollen Apparate abgebaut werden
muß.
Die folgenden Kapitel sollen dem Zwecke dienen, die Zu¬
sammenhänge zwischen Edelmetallproduktion und Preisbildung
aufzudecken: theoretisch (Kapitel 33) und empirisch - historisch
(Kapitel 34).
543
Dreiunddreifsigstes Kapitel
Geldwert und Preis
Literatur
Das Problem wird in jedem Lehrbuch der politischen Ökonomie
abgehandelt. Von deutschen Lehrbüchern seien diejenigen von
Philippovich und Ad. Wagner besonders genannt. Eine gute
Übersicht über den Stand der Forschung gibt P. S. Alt mann in
dem Artikel „Quantitätstheorie“ im HSt. 3, woselbst der Leser auch
weitere Literatur findet. Für die Dogmengeschichte verweise ich
noch auf das Buch von F. Hoffmann, Kritische Dogmengeschichte
der Geldwerttheorie. 1907.
Aus der neuesten Literatur verdient hervorgehoben zu werden das
Buch von Irving Fisher, The Purchasing Power of Money. 1911.
New and revised ed. 1913, vor allem wegen der Entschlossenheit, mit
der sein Verfasser sich der viel gelästerten Quantitätstheorie wieder
annimmt. Leider kann ich nicht finden, daß F., der im wesentlichen
auf dem Boden der „naiven“ Quantitätstheorie steht, der unzweifel¬
haft richtigen und wichtigen Erkenntnis, daß die Menge des Geldes,
insonderheit die Produktionsverhältnisse der Edelmetalle, von be¬
stimmendem Einfluß auf die Höhenlage der Preise sind, neue Stützen
verschafft habe. Mit den Argumenten der klassischen Quantitäts¬
theoretiker kann man das nicht. — Im Vorbeigehen sei darauf auf¬
merksam gemacht, welch vortreffliches Schulbeispiel der Streit um
die Quantitätstheorie für „die Herrschaft des Worts“ in unserer
Wissenschaft ist. Die meisten Schriftsteller verbinden mit dem
Worte Quantitätstheorie die Vorstellungen der alten Schule und
sind dadurch für jede neue Belebung der Materie taub.
I. Die „Preisgesetze“
Es kann nicht meine Aufgabe an dieser Stelle sein, eine aus¬
führliche Preislehre zu entwickeln. Vielmehr muß es genügen,
diejenigen Punkte zu belichten, die mir bei meiner Beweis¬
führung von besonderer Bedeutung zu sein scheinen.
Ich stehe im wesentlichen auf dem Boden der „klassischen“
Preislehre und halte also das „Gesetz von Angebot und Nach¬
frage“ sowie das „Produktionskostengesetz“ für die besten
Fassungen der „Preisgesetze“ , über deren Natur selbst ich
\
544
Vierter Abschnitt: Die Edelmetallproduktioii
folgendes, um Mißverständnissen vorzubeugen, ausdrücklich be¬
merken möchte.
Die Preisgesetze, deren Formulierung eine der wichtigsten
Aufgaben der sog. „theoretischen Nationalökonomie“ bildet, sind
Hilfsmittel unseres Denkens, die wir zu dem Zwecke bilden, um
die empirisch-historische Preisgestaltung zu begreifen. Sie stellen
nicht den wirklichen Verlauf der Preisbildung dar, sondern
geben eine schematisierte Vorstellung, wie diese unter bestimmten
Voraussetzungen verlaufen würde.
„Preisgesetze“ sind Begriffsbilder, die in der Weise entstehen,
daß wir eine der im wirklichen Leben wirksamen Ursachen
(Motive) in ihrer Wirksamkeit verfolgen unter der Annahme,
1. daß diese Ursache immer gleich und immer gleich stark
bleibt ;
2. daß sie unter immer gleichen Bedingungen, die wir eben¬
falls bestimmen, wirkt.
Das Motiv, dessen Wirksamkeit wir verfolgen, ist das Be¬
streben, so vorteilhaft wie möglich eine Kaufhandlung zu voll¬
ziehen; das Bestreben also des Verkäufers, so teuer wie möglich
zu verkaufen, des Käufers, so billig wie möglich einzukaufen.
Die Bedingungen, die wir als gegebenes Mittel voraussetzen, sind
folgende :
a) volle Rationalität der Käufer und Verkäufer: sie sollen
allein durch das genannte Motiv sich bei ihren Handlungen
leiten lassen und sollen durchaus wissen, wo sie ihren Vor¬
teil zu suchen haben, sollen also stets über die günstigste
Kaufgelegenheit usw. unterrichtet sein;
b) freier Verkehr: die Möglichkeit für den Käufer soll be¬
stehen, die als beste erkannte Kaufgelegenheit auch jeder¬
zeit aufzusuchen, ebenso die Möglichkeit für den Verkäufer,
Handel und Produktion in eine Richtung zu lenken, wo
ihnen die höchsten Gewinne zuteil werden;
c) daß schon Preise bestehen. Das ist besonders wichtig, ein¬
zusehen, daß der Preis ein A priori der Preis¬
gesetze ist.
Die Preise folgen in Wirklichkeit niemals (oder höchstens
durch Zufall) den aufgestellten Preisregeln, weil eben die dazu
notwendigen Voraussetzungen niemals in vollem Umfange zu¬
treffen.
Eine oder mehrere der folgenden Abweichungen wird sich immer
einstellen :
Dreiunddreißigstes Kapitel: Geldwert und Preis
545
1. neben dem Streben nach dem höchsten Vorteile sind andere
Motive wirksam : der Sinn für Tradition , wenn ich einem Schneider
treu bleibe, weil er 30 Jahre lang mein Schneider war; Mitleid, wenn
ich dem alten Schuster die Stiefeln in Auftrag gebe, weil er alt und
gebrechlich ist; Bequemlichkeit, wenn ich im nächsten Laden ein-
kaufe ; Standesrücksichten , wenn ich nur in eleganten Geschäften
kaufe; Modesucht, wenn ich Warenhäuser frequentiere; politische
Grundsätze , wenn ich jüdische Geschäfte vermeide usw. usw. (was
in diesem Falle wirklich nicht nur eine fagon de parier ist, da es
unzählige Seelenregungen geben kann, die den Preis bestimmen) ;
2. die Rationalität besteht nicht: wir wissen sehr häufig nicht, wo
es die billigsten Waren zu kaufen gibt; der Verkäufer weiß sehr
häufig nicht, wo die stärkste Nachfrage herrscht;
3. die Verkehrsfreiheit besteht nicht für die Warenbewegung:
allerlei künstliche (gesetzliche !) und natürliche Hindernisse treten dem
Warenbesitzer in den Weg, der seine Waren an den Ort, der die
günstigsten Absatzbedingungen hat, bringen will ;
4. die Verkehrsfreiheit besteht nicht für Kapital und Arbeit: die
Produktion kann in Wirklichkeit nicht immer (oder meistens nicht)
so rasch ausgedehnt werden, wie unser Schema voraussetzt; der Preis
kann also längere Zeit über dem rationalen Preise verharren. Ebenso¬
wenig wh'd die Produktion in dem erforderlichen Maße eingeschränkt,
wenn die Preise unter den „natürlichen“ Preis sinken, weil die Anlagen
verwertet werden sollen, die Arbeiter (Handwerker) nicht sofort um¬
lernen können usw. Der Preis verharrt also unter Umständen lange
Zeit unter dem rationalen Preise;
5. ein und derselbe Warenverkäufer (Produzent, Händler) berechnet
seinen Profit häufig nicht gleichmäßig auf die sämtlichen Waren, die
er verkauft , sondern setzt einige von ihnen vielleicht ohne Profit,
andere sogar mit Verlust ab, weil er an andern um so mehr verdient :
die Folge sind Preise für einzelne Gegenstände, die über, für andere,
die unter ihrem rationalen Preise stehen (und doch in ihrer Gesamt¬
heit dem Preisgesetz gemäß gebildet werden) : sogenannte zusammen¬
hängende Preise.
In Summa : ein Chaos verschiedener Einzelheiten. Aber — in
einem nur einige Verkehrsfreiheit genießenden Wirtschafts¬
gebiete — doch eine gewisse Regelmäßigkeit, die dadurch hervor¬
gerufen wird, daß das dem Preisschema zugrunde gelegte Motiv
doch immer (als Konstante) wirksam ist, die andern nicht mit
gleicher Regelmäßigkeit. Das Bild des sturmgopeitschten Meeres,
dessen Oberfläche von tausend und abertausend Wellen ge¬
kräuselt und dessen Wasser doch von ganz großen Wellen in
gleichförmiger Bewegung gehalten wird.
Die „Preisgesetze“ sollen zunächst nur dazu dienen, um die
Wirkung zu bezeichnen, die durch Veränderungen im Tauschwert
der Waren herbeigeführt werden. Da nun aber im Preise eine
Sombart, Der moderne Kapitalismus. I. 35
546 Vierter Abschnitt: Die Edelmetallproduktioü
Gleichung zwischen dem Tauschwert des Geldes und dem der
Ware enthalten ist, so wird man Preisveränderungen nicht nur
von der Warenseite her, sondern auch von der Geldseite her zu
erklären suchen müssen. Es ist von vornherein einleuchtend, daß
auch im Geldwerte Veränderungen ein treten können und daß
eine solche Veränderung — im umgekehrten Sinne — den Preis
wird beeinflussen können: sinkt der Geldwert, müssen die Preise
steigen, steigt er, müssen sie sinken. Es ist an dieser Stelle
gerade diesem Einflüsse der Veränderungen im Geldwerte auf die
Preise nachzugehen, da ich ihn historisch besonders hoch ein¬
schätze. Deshalb werde ich im folgenden, abweichend von dem
bisherigen Verfahren , ausführlich den Zusammenhang
zwischen Geldwert und Preis erörtern. Ich antworte
damit gleich auf so viele Fragen, die man in der Kritik zu
diesem Punkte an mich gerichtet hat.
II. Die Anwendung der Preisgesetze auf das Geld
Eine frühere , naive Zeit nahm ohne viel Kopfzerbrechen
gleichsam als etwas Selbstverständliches an, daß ein Zusammen¬
hang zwischen Geldwert und Preis obwalte und wußte auch
schon, wodurch der Geldwert bestimmt wurde : durch die Menge
des vorhandenen Geldes. Das sind die Anhänger der von uns
als Quantitätstheorie alterPrägung bezeichneten Lehre,
die in ihren Reihen die besten Köpfe : Locke, H u m e , Mon¬
tesquieu und andere, gezählt haben. Sie leiteten die Preishöhe
ab aus der Menge der in einem Lande umlaufenden Geldmenge,
indem sie einfach die Summe der zu bezahlenden Preise in die
Wertsumme der vorhandenen Münzen dividierten. Vermehrte
sich nun deren Menge, das heißt vergrößerte sich der Dividendus,
während der Divisor (die Größe des Warenumsatzes) gleich blieb,
so mußte sich ihrer Meinung nach, die sich ausschließlich auf
die Autorität von Adam Riese stützte, der Quotient, eben der
Warenpreis, ebenfalls vergrößern. Umgekehrt, umgekehrt.
Diese Betrachtungsweise erscheint uns heute so naiv, daß
wir nicht recht zu begreifen vermögen, wie so hervorragende
Denker, die in allen andern Dingen so klar sahen, sie sich zu
eigen machen konnten. Die Erklärung mag wohl darin liegen,
daß jener Zeit die uns heute so selbstverständliche psychologische
Erklärung aller sozialen und somit auch ökonomischen Vorgänge
fern lag und daß sie das Groteske nicht empfanden, das in dem
Versuche liegt, einen Willensakt, wie die Preisbildung, ohne jede
Dreiunddreißigstes Kapitel: Geldwert und Preis 54?
Beziehung zu seinen seelischen Gründen erklären zu wollen. Für
uns ist das mechanische Divisionsverfahren der naiven Quantitäts-
theoretiker schiere Mystik und überhaupt nicht einer Erörterung-
wert.
Übrigens gab es während der frühkapitalistischen Epoche Fälle, in
denen wirklich die Preise- auf scheinbar rein mechanischem Wege
durch Divisionsverfahren zustande kamen. Ein solcher Fall war die
Preisbildung auf den Messen von Vera Cruz und Portobelo, auf denen
sich, wie bekannt, fast der gesamte Güteraustausch zwischen den
europäischen und den Süber produzierenden Ländern Süd- und Mittel¬
amerikas vollzog. Hier begegneten sich also Süberproduzenten und
Warenverkäufer unmittelbar. Die Menge der auf die Messen geführten
Waren war natürlich eine gegebene, ebenso die Menge des von den
Käufern gewonnenen Edelmetalls. Da alle Waren verkauft wurden,
und alles mitgebrachte Edelmetall (Geld) verausgabt wurde, so richtete
sich der jeweilige Preis nach der (nicht vorausbestimmbaren, zufälligen)
Menge Geldes , das sich in den Händen der Nachfragenden befand.
Dieser Tatbestand wird anschaulich gemacht von Ulloa, Retablisse¬
ment 2, 101. Vgl. auch Ricard, Neg. d’Amst. 528.
Natürlich lag auch dieser scheinbar mechanischen Preisbildung ein
seelischer Vorgang zugrunde. Aber die Wirkung war doch frappant
und konnte schon zur Aufstellung der alten Quantitätstheorie einen
Anlaß bieten.
Wir wissen heute: eine soziale Theorie wird psychologisch
begründet sein oder sie wird nicht sein. Zu den psychologisch
begründeten Preistheorien gehört diejenige, wonach Angebot und
Nachfrage den Preis bestimmen. Denn hinter den Abstrakten An¬
gebot und Nachfrage stecken doch die Nöte des Verkäufers und
die Süchte des Käufers. Seelische Vorgänge (wie objektiv auch
immer bestimmt) führen dazu, die Preise zu steigern oder zu
senken. Deshalb werden wir jenen Preistheoretikern, die das
Gesetz von Angebot und Nachfrage auf die Geldware anwenden
und nach ihm den Geldwert steigen oder fallen lassen wollen,
immerhin mehr Gehör schenken müssen. Soviel ich sehe, ist
es die große Mehrzahl der nachklassischen Nationalökonomen,
die in dieser Weise einen Zusammenhang zwischen Geldwert
und Preis herzustellen suchen. So wenn Roscher schreibt 1 :
„Es handelt sich hier zunächst um die Anwendung der all¬
gemeinsten Preisgesetze. Also Angebot und Nachfrage des
Geldes.“
Es ist nicht schwer, nachzuweisen, daß diese schematische
Übertragung der Warenpreisgesetze auf die Geldwertbildung un-
1 Roscher, System Bd. I, § 122.
35*
548 Vierter Abschnitt: Die Edelmetallproduktion
statthaft; ist. Aus dem sehr einfachen Grunde , weil es für die
Geldware ein Angebot und eine Nachfrage in dem Sinne, den
wir diesen Begriffen für die gemeinen Waren unterlegten, über¬
haupt nicht gibt1.
Diese Erwägungen haben dann manchen dazu geführt: nun
überhaupt die Möglichkeit zu leugnen, daß von der Geldseite
her eine Beeinflussung der Preise stattfinden könne.
Das heißt aber wiederum zu weit gehen. Wenn eine Beweis¬
führung als irrtümlich erkannt ist, braucht das zu Beweisende
noch nicht falsch zu sein. Ich glaube, daß sehr wohl Ver¬
änderungen des Geldwertes stattfinden und bestimmend auf
die Preise wirken können. Nur daß die Zusammenhänge, die
zwischen dem Geldwerte und den Preisen obwalten, auf anderm
Wege gefunden werden müssen, als man bisher versucht hat.
Sehen wir nach, auf welchem.
Am besten : wir nehmen unsern Ausgangspunkt von dem Edel¬
metallproduzenten und seiner ganz einzigen Stellung im Wirt¬
schaftsleben. Er ist der einzige unter allen Produzenten, der
seine Waren nicht zu verkaufen braucht und sie doch ver¬
werten kann. Damit aber, daß er der einzige Nichtverkäufer
ist, wird er zum einzigen Nurkäufer. Er kann kaufen — er
allein — ehe er verkauft hat. Seine Produkte stellen
kein Angebot dar, wie alle andern, sondern Nach¬
frage. Denn sie sind schlechthin austauschfähig, schlechthin
absatzfähig: in welcher Menge auch immer sie erzeugt werden.
Aus den Tiefen der Silberbergwerke, der Goldminen und gold¬
führenden Ströme quillt also ununterbrochen eine Nachfrage nach
Gütern, die gleichsam aus dem Nichts hervorbricht, die, solange
sie da ist, keine Unterbrechung erfahren kann, die eine neue
Welt des Begehrs immerfort schafft: eine Quelle ökonomischen
Lebens, wie sie nirgends sonst fließen kann.
Sollte von dieser Stelle aus nicht das Wertverhältnis zwischen
Edelmetallen und Waren maßgebend beeinflußt werden können?
Ich denke doch. Und zwar werden wir uns die Zusammenhänge
etwa so vorstellen müssen.
1 Der Nachweis ist schon öfters erbracht worden. Gute Aus¬
führungen finden sich darüber bei Philippovich, Grundriß der
pol. Ökon. Bd. I, auf den ich verweise. Meine Argumentation weicht
in wesentlichen Punkten von der üblichen ab, die sie sich in andern
wichtigen Punkten jedoch zu eigen macht.
Dreiunddreißigstes Kapitel: Geldwert und Preis 519
III. Die denkbare Beeinflussung der Preise durch
Masse und Wert der Geld wäre
Eine Veränderung, sage eine Vermehrung, der Produktion der
Edelmetalle verändert, im angenommenen Falle: vermehrt die
Nachfrage nach Waren, seien es Produktionsmittel, seien es
Genußgüter. Sobald das Produkt des Goldproduzenten in den
Verkehr kommt, wirkt es ja eben als Nachfrage. Also werden,
wenn sich die Masse des gewonnenen Goldes vermehrt, die
Warenpreise zunächst der an den Goldproduzenten angelagerten
Produktionsgebiete steigen. Und jede hier bewirkte Steigerung
der Preise bedeutet natürlich ein Steigen der Nachfrage abseiten
der ersten Produzentengruppe , die sich in einem Steigen der
Preise in der zweiten Produktionszone äußern muß. Bei einer
Verminderung der Edelmetallproduktion ist der Verlauf der um¬
gekehrte.
Wir werden also unbedenklich aufstellen können den
1. Satz: Jede Vermehrung ( Verminderung ) der Produktion von
Edelmetall ( Geldware ) hat die Tendenz, die Warenpreise zu
erhöhen {zu erniedrigen).
Ob diese Preisveränderung nun von Dauer sein und ob sie
sich verallgemeinern, das heißt also in einer Entwertung der
Geldware sich niederschlagen wird, hängt von einer Reihe be¬
sonderer Umstände ab. Zunächst möchte ich folgenden Satz
aufstellen :
2. Satz: Eine Ereisbeeinflussung durch die Produldionsver¬
schiebungen der Edelmetalle 'kann immer nur kommen, wenn
diese Verschiebung von einer entsprechenden Veränderung der
Produktionsbedingungen , das heißt von einer Herabminderung
oder Steigerung der Produktionskosten der Edelmetalle be¬
gleitet ist.
Wir nehmen an: durch eine starke Vermehrung der Gold¬
produktion ist ein starkes und weitgehendes Steigen der Waren¬
preise bewirkt worden — gemäß unserm 1. Satz — , die Kosten
der Edelmetallproduktion sind aber dieselben geblieben. Die
Folge wird sein, daß deren Geldausdruck entsprechend der all¬
gemeinen Preissteigerung für Produktionsmittel und Arbeitslöhne
sich erhöht. Wenn die Produktion eines Pfundes Goldes sage
1000 Mk. gekostet hatte, so wird bei einer Preissteigerung um
50%, wenn eine gleiche Menge Maschinen und Arbeiter ver¬
wendet werden, um das Pfund Gold zu gewinnen, der Betrag
550
Vierter Abschnitt: Die Edelmetallproduktion
von 1000 Mk. nunmehr sich in den Betrag von 1500 Mk. ver¬
wandeln. Ein Pfund Gold ist aber nach wie vor gleich 1392 Mk. :
sein Produzent setzt also bei jedem Pfund 108 Mk. zu, statt zu
verdienen. Die Folge wird sein, daß er sein Kapital zurückzieht,
den Betrieb einstellt. Damit fällt er aber als Nachfrage aus.
Wenn sich solcherweise die Nachfrage auf seiten der Goldprodu-
zenten verringert, so entsteht die Tendenz, die Warenpreise zum
Sinken zu bringen. Ist das Sinken weit genug fortgeschritten,
so wird die Produktion für unsere Goldproduzenten wieder
lohnend, er tritt wieder in Beih und Glied, vermehrt die Nach¬
frage, erzeugt die Tendenz zum Steigen der Warenpreise usw.
Hier ist der Schematismus derselbe wie bei der Preisbildung
durch Veränderungen auf der Seite der Ware.
Also : eine dauernde Beeinflussung der Preise durch eine
Verschiebung in den Produktionsmengen der Edelmetalle kann
überhaupt nur eintreten, wenn gleichzeitig die Produktionskosten
sich verändert haben: muß sie alsdann aber auch eintreten;
oder wann muß sie alsdann eintreten?
Antwort: das wird abhängen von der Größe der Edelmetall¬
produktion und von ihrem Verhältnis zur Größe der Waren¬
produktion. Beweis ist etwa wie folgt zu führen. Eine erste
Preissteigerung (um wiederum mit dieser zu beginnen), die sich
gemäß unserm 1. Satze vollzieht, wirkt natürlich zunächst profit¬
steigernd, damit aber auch produktionssteigernd. Die mehr und
zu höherem Preise verlangten Waren werden in größeren Mengen
herbeige schafft und erzeugt werden. Damit ist (nach dem be¬
kannten Warenpreisschema) die Gegenbewegung eingeleitet: die
Preise werden zu sinken beginnen, bis sie den „natürlichen“
Preis, das heißt denjenigen, bei dem die Durchschnittsprofitrate
erzielt wird, erreicht haben. Hat sich nun in dieser Zeit die
Edelmetallproduktion nicht weiter vermehrt, so wird das schließ-
liche Ergebnis sein: daß die Edelmetallproduzenten (wenn wir
annehmen , daß sich ihre . Produktionsbedingungen nicht ver¬
schlechtert haben) einen überdurchschnittlichen Profit beziehen,
der in dem erwiesenen Monopolcharakter ihrer Erzeugnisse seine
Begründung findet. Haben sich in der Zwischenzeit die Pro¬
duktionsbedingungen verschlechtert, so war die ganze Preis¬
steigerung eine Episode.
Tritt nun aber der Fall ein, daß die Edelmetallproduktion
zu den günstigen oder immer günstigeren Bedingungen lange
anhält | daß die Produktion der von den Edelmetallproduzenten
Dreiunddreißigstes Kapitel: Geldwert und Preis 55 [
verlangten Güter sich nicht so rasch vermehren kann wie die
Nachfrage erheischt, so wird sich die Wirkung einstellen, daß die
Preise über die erste Zone hinaussteigen: die ersten Gewinner
werden (dank ihrer Extraprofite) höhere Preise auch ihren Liefe¬
ranten zahlen, diese den ihrigen und so fort. Kapital und Arbeit
werden nicht Veranlassung haben, in die zuerst bevorzugte Pro¬
duktion ssphäre abzuströmen, sondern werden an Ort und Stelle
günstige Verwertungsbedingungen vorfinden. Wenn dieser Prozeß
aber lange genug dauert, wenn die Ringe, die der ins Wasser
geworfene Stein gebildet hat, sich über den ganzen Teich ver¬
breitet haben; unbildlich: wenn alle Zweige des Wirtschafts¬
lebens von der Preissteigerung ergriffen sind, so fallt die Ver¬
anlassung zu einer Gegenbewegung, die zu einer Preissenkung
führen könnte: das ist eine Vermehrung der Produktion einer
Güterkategorie über den Bedarf hinaus, fort: da keine Sphäre
mehr einen überdurchschnittlichen Profit aufweist, die Profite
vielmehr auf der Grundlage der allgemein höheren
Preise sich nivelliert haben. Dann ist eine allgemeine
Senkung des Geldwertes, eine allgemeine (und dauernde) Preis¬
steigerung zur Wirklichkeit geworden.
In gleicher Weise wiederum würde im umgekehrten Sinne
eine Verschlechterung der Produktionsbedingungen der Edel¬
metalle wirken. Nur daß diese sich wohl schneller in einer
Preissenkung ausdrücken würde. Der Vorgang wäre der: daß
die Nachfrage der Edelmetallproduzenten sich verringerte, infolge
davon die Preise bei den ersten Lieferanten sänken und nun von
diesen der Stoß weitergegeben würde. Wie noch später zu zeigen
sein wird, muß die Wirkung hier verschieden sein, je nach der
allgemeinen Organisation des Wirtschaftslebens: anders in einer
handwerksmäßigen Wirtschaft (15. Jahrhundert!); anders in einer
kapitalistischen Wirtschaft (1880 er Jahre). Gemeinsam für alle
wird sich aber auch für diesen Fall als gültig der Satz erweisen,
den wir nunmehr aufstellen können als
3. Satz: Die Verallgemeinerung der Preisveränderung hängt
ah von dem Größenverhältnis der Edelmetallproduktion zur
Warenproduktion.
Nicht erst der besonderen Erwähnung bedarf es, daß das auf
den vorhergehenden Blättern entwickelte Schema der Geldwert¬
bildung ganz ebenso ideellen Charakters ist, wie es das Schema
der Warenpreisbildung ist; daß in Wirklichkeit dieselben
Unregelmäßigkeiten die schematisch reine Entwicklung
552
Vierter Abschnitt: Die Edelmetallproduktion
stören hier wie dort. "Was aber noch hervorgehoben und an-
gemerkt zu werden verdient, ist dieses: daß zu allen den die
Warenpreisbildung „zufällig“ beeinflussenden Umständen noch
eine Reihe von Unregelmäßigkeiten hinzukommt, die der Geld¬
wertbildung eigentümlich sind. Sie entstammen sämtlich der
besonderen Art, unter der die Beschaffung von Edelmetallen vor
sich geht und sind vornehmlich folgende:
1. die Voraussetzung, daß die Edelmetallproduktion den durch¬
schnittlichen Profit abwerfen müsse, trifft noch viel häufiger
nicht zu als bei der Warenproduktion. Weil gerade bei ihr be¬
sonders oft ohne allen Profit weiter gearbeitet wird in der Hoff¬
nung auf zukünftigen Gewinn. Es ist bekannt, daß von den
Goldsuchern die meisten zugrunde gehen; es ist ebenso bekannt,
daß unter den Gold- wie Silberminen zu jeder Zeit ein großer
(meist der größte) Teil ohne Gewinn betrieben wird.
In Joachimsthal (um an ein paar Beispielen das Gesagte zu
verdeutlichen) gab es (nach Sternberg l1, 426):
im Jahre
Ausbeutezechen
Zubußzechen
1525
125
471
1535
217
697
1545
120
452
1555
83
312
1565
63
237
1575
34
128
Ebenso wird die Vorstellung einer verkehrsfreien Regelung der
Produktion unter dem Gesichtspunkt des durchschnittlichen Er¬
trages über den Haufen geworfen durch die gerade wieder bei
der Edelmetallerzeugung häufige Verwendung unfreier Arbeiter ;
2. umgekehrt ist es wohl nur bei den Edelmetallen möglich,
daß große Mengen von ihnen in den Verkehr gebracht werden,
die überhaupt keine Herstellungskosten verursacht haben, wenn
sie auf dem Wege des Raubes und der Beute erworben worden
sind ;
3. die Edelmetalle scheiden zu Zeiten überhaupt aus der Reihe
der vermehrbaren Güter aus; wenn etwa alle bekannten Abbau¬
stellen erschöpft sind oder der Betrieb an den bekannten Stellen
(aus technischen Gründen : Wassernot!) nicht fortgesetzt werden
kann. Damit werden sie Monopolgüter, und alle Aussagen über
ihre Produktionsbedingungen sind hinfällig;
4. auch solange sie vermehrbar sind, sind die Produktions-
Dreiunddreißigstes Kapitel: Geldwert und Preis
553
kosten, die ihren Tauschwert bestimmen, nicht immer gleicher
Natur. Bald sind es die Produktionskosten der ergiebigsten,
bald die der unergiebigsten Mine, die auf den Preis bestimmend
ein wirken.
* *
*
Nunmehr steigen wir mit den Lichtern, die wir uns in diesen
schematischen Betrachtungen aufgesteckt haben, wiederum in das
Dunkel der Geschickte hinunter und schauen zu, ob wir in dem
Verlauf sinnvolle Zusammenhänge nachzuweisen vermögen der
Art, wie wir sie in Gedanken einstweilen uns vorgestellt haben.
554
Vierunddreifsigstes Kapitel
Die Gestaltung der Preise während der früh-
kapitalistischen Epoche
Quellen und Literatur
Über das Tatsächliche unterrichten folgende Werke :
Italien: Carli, Delle monete, in den Scrittori dass. P, M. Vol. 13.
Cibrario, Dell’ economia politica del medio evo. 2 ed. 1842. Vol. III.
Frankreich: (Dupre de St. Maur), Essai sur les monnoies ou
reflexions sur le rapport entre l’argent et les denrees. 1746.
G. d ’ A v e n e 1 , Histoire economique de la valeur et du revenu de la
terre du XIII sc. jusqu’au commencement du XVII sc. 6 Vol.
1894 ff. Daraus ein Auszug von demselben: La fortune privee ä
travers sept siecles. 1895. Leber, Essay sur l’appreciation de la
fortune privee au moyen age. 2 ed. 1847. A. Hanauer, Etudes
economiques sur l’Alsace ancienne et moderne. 2. Vol. 1878. (Denrees
et salaires.)
England: Fleetwood, Chronicon preciosum or an account of
English gold and silver money, the price of corn and other Com¬
modities ec. ec. 1745 (die beste Ausgabe). Fl. war die Hauptquelle
für die meisten preisgeschichtlichen Exkurse bei Ad. Smith. Th.
Rogers, A History of agriculture and prices in England from the
year after the Oxford Parliament (1259) to the commencement of the
Continental war (1793). 7 Vol. 1866—1902. Rogers selbst sowie
sein Sohn haben mehrfach Auszüge aus dem großen Werk gemacht.
Tooke and Newmarch, A History of Prices and the State of the
Circulation from 1793 — 1856. 6 Vol. Deutsch von C. W. Asher
2 Bde. 1859—62.
Niederlande: Hub. van Houtte, Documents pour servir ä
l’histoire des prix de 1381 ä 1794. Academie royale de Belgique.
Commission royale d’Histoire. 1902.
Deutschland: die oft genannten Werke von Lamprecht, DW.-
Leben im M.A,, von Inama- Sternegg, DWG. Dazu: G. Wiebe,
Zur Geschichte der Preisrevolution des 16. und 17. Jahrhunderts. 1895.
Dann kommt eine Menge lokalgeschichtlicher Untersuchungen
in Betracht: Kius für Thüringen, Falke für Sachsen, Hildebrand
für Hessen usw., die ich aber aufzuzählen unterlasse.
Man findet die Literatur im übrigen verzeichnet in dem Artikel
Preis (Geschichte) im HSt. • daselbst sind für alle Länder, zu ver¬
gleichen die Übersichten und Einzelangaben von Preisen in den ver¬
schiedenen Zeitläuften.
Über die Schwierigkeiten der mittelalterlichen Preisstatistik unter¬
richtet am besten v. Inama, z. B. DWG. 2, 427 f.-, 3n, 4S7 ; über
Vieruuddreißigstes Kapitel : Gestaltg. d. Preise während d. frühkap. Epoche 555
das unglückselige Problem der „Kaufkraft des Geldes“ hat schon
endgültig gehandelt Ad. Held, Noch einmal über den Preis des
Geldes, in den Jahrbüchern f. N.Ö. 16 (1871), 315 — 340. Zu ver¬
gleichen W. Sombart, DVW. im 19. Jahrhundert. 3. Aufl. S. 438.
Neuerdings behandelt das Thema: Andreas Walther , Geldwert in
der Geschichte. Ein methodol. Versuch, in der Vierteljahrschrift f.
Soz. u. WG. 10, 1 ff. W. verzichtet mit Kecht darauf, den „Geld¬
wert“ zu messen; er möchte ihn „veranschaulichen“, indem er eine
Einkommensskala aufstellt, „in der der Organismus der ökonomischen
Schichtung zur lebendigen Einheit kommt“. Dagegen ist natürlich
nichts einzuwenden: es sei denn das, was ich in meiner DVW. (die
W. leider nicht kennt) geltend gemacht habe : daß die Verschiebungen
in der Qualität des Konsums jede Vergleichung verschiedener
Epochen unmöglich macht.
WTas uns das Studium der Güterpreise in der Vergangenheit
bisher eingetragen hat, ist vor allem die zuverlässige Erkenntnis,
daß eine ganze Menge interessanter Dinge mit Sicherheit sich
werden nicht feststellen lassen. Wir werden wohl für alle
Zeiten auf allgemeine Preisstatistiken verzichten, aber ebenso
auch uns endlich von dem Irrwahn befreien müssen, die „Kauf¬
kraft“ des Geldes für eine bestimmte Zeit feststellen oder gar
die Veränderung der „Kaufkraft“ des Geldes im Ablauf der
Jahrhunderte in einer Ziffer ausdrücken zu können.
Glücklicherweise haben wir es hier mit diesem Problem nicht
zu tun, sondern mit einer Frage, auf die es sehr wohl eine Ant¬
wort gibt.
Etwas können wir nämlich auf dem Gebiete der Preisgeschichte
mit einiger Sicherheit und Zuverlässigkeit auch für entfernte Zeit¬
räume feststellen. Und es ist — erfreulicherweise ! — . das, was
den Wirtschaftshistoriker an der Preisgeschichte vornehmlich
interessiert, ich möchte sagen : ausschließlich interessieren sollte,
weil es allein von Bedeutung ist für die Erkenntnis der großen
Zusammenhänge: ich meine die Bewegung der Preise: ihre
Veränderung im Ablauf der Jahrhunderte. Um von ihr ein leid¬
lich klares Bild zu gewinnen : dafür reicht das preisgeschichtliche
Material, das für alle Länder im Laufe des letzten Menschenalters
gesammelt ist, vollkommen aus. Und eine Skizze der allgemeinen
Preisbewegung von 1250 — 1850 zu geben , ist ausschließlich der
Zweck der folgenden Darstellung, die sich die Ergebnisse der
großen Materialsammlungen zu eigen macht, ohne etwa neue und
eigene Ermittlungen zu bringen.
Das Studium dieser Werke läßt folgenden Verlauf der Preise
■während unserer Periode erkennen:
556
Vierter Abschnitt: Die Edelmetallproduktion
Die Zeit um 1250 wie das ganze 13. Jahrhundert fällt in die
Periode steigender Preise, die schon früher, besonders deut¬
lich wohl seit dem 12. Jahrhundert, ihren Anfang genommen
hatte. Dieses Steigen der Preise hält an bis in das 14. Jahr¬
hundert: nach den einen bis zur Mitte, nach den andern (z. B.
D’Avenel) bis zum zweiten Drittel des Jahrhunderts.
Die Preise fallen von da ab bis ums Jahr 1500. Das ist
das Ergebnis, zu dem alle Preishistoriker gelangen.
Rogers vertritt an zwei verschiedenen Stellen zwei verschiedene
Meinungen. In seinen Lectures (1891) p. 191 behauptet er für England,
daß die Nominalpreise in Pfund Sterling, Schillingen und Pence allerdings
von 1300 bis 1500 sich annähernd gleich bleiben und begegnet demEin-
wande, daß sie also doch gesunken seien, da sich der Metallgehalt des
Pfundes in diesem Zeitraum verringert habe (siehe die Ziffern Seite 415),
mit der Behauptung: die meisten Preisfestsetzungen hätten auf wirk¬
licher Wiegung der Münzen beruht. Aber diese Sitte ist doch wohl nicht
so allgemein gewesen wie Rogers annimmt. Und dann würden auch
in England (was aus allgemeinen Gründen anzunehmen ist) die Preise
in Wirklichkeit im 15. Jahrhundert gesunken sein. Diese Auffassung
hat R. auch in seinem Hauptwerk (History 4, 715 ff.), wo er aus¬
drücklich bemerkt: „there is a marked decline in the price from the
average of 1261 — 1400 to that of 1401 — 1540.“
Von 1500 an beginnen die Preise zu steigen, in einem
Maße bekanntlich, wie es wohl ein zweites Mal in der Geschichte
nicht wieder vorgekommen ist. Sind auch die früheren An¬
nahmen: die Preise hätten sich während des 16. Jahrhunderts
verfünffacht, versiebenfacht, ja verzehnfacht1, als übertrieben
nachgewiesen, so ergibt doch die gewissenhafte Prüfung der
Tatsachen, daß sicher eine Steigerung fast aller Preise um 100
bis 150 % eingetreten ist. Einige Waren, wie z. B. das Getreide,
erleben noch weit größere Steigerungen. So steigen die Getreide¬
preise im 16. Jahrhundert z. B. in:
England . .
. um
155 °/o
Paris . . .
. n
165 %
Orleans . .
. . •
200 %
Straßburg .
. 5?
280%
Sachsen . .
. »
300 °/o
Spanien . .
. , . . . . um 453—
-556%
1 Siehe die Zusammenstellung der Schätzungen bei Wiebe, a. a. O.
S. 180: „Es ist bemerkenswert, daß im allgemeinen jede neuere Unter¬
suchung zu immer kleineren Zahlen für die Größe der (Geld-) Ent¬
wertung gekommen ist.“
Vierunddreißigstes Kapitel: Gestaltg. d. Preise während d. friihkap. Epoche 557
übereinstimmend geht auch die Ansicht der Forscher dahin,
daß der größte Teil der Preissteigerung auf die zweite Hälfte,
insonderheit die letzten Jahrzehnte des 16. Jahrhunderts (Spanien
von 1586 — 1598) entfällt.
Vom Ende des 16. Jahrhunderts an sind die Ergebnisse der
preisgeschichtlichen Untersuchungen nicht mehr so einheitlich
wie bis dahin. Das hat seinen Hauptgrund wohl in der ver¬
schiedenen Entwicklung, die von jetzt ab sowohl die verschie¬
denen Länder wie auch die verschiedenen "Warengattungen er¬
leben.
Ganz im großen dürfte zu sagen sein: daß ein Teil des
17. Jahrhunderts eine Zeit des Preisstillstandes gewesen
ist, daß aber seit dem Ende des 17. Jahrhunderts und dann
im 18. Jahrhundert — wahrscheinlich schon in der ersten
Hälfte, sicher in der zweiten Hälfte — die Preise allgemein in
Europa zu steigen die Tendenz haben. Dieses ist wiederum
eine allgemein beobachtete Tatsache. Im zweiten Jahrzehnt des
19. Jahrhunderts setzt dann ein Preisstillstand oder Rückgang
ein, der bis in die 1840 er Jahre anhält.
Um dem Auge die großen Züge der Preisbewegung von 1250
bis 1850 besser einzuprägen, stelle ich die eben gemachten An¬
gaben zu folgender Tabelle zusammen:
1250—1350 Steigen
1350 — 1500 Stillstand. Sinken
1500 — 1600 rasches Steigen
1600 — 1700 Stillstand. Unsicherheit
1700 — 1750 Ungewißheit
1750—1815 Steigen
1815 — 1840 Stillstand. Sinken
Eine noch weitergehende Schematisierung, in der die aller¬
letzten, ganz allgemeinen Bewegungen der Preise von 1500 bis
1800 aber doch im wesentlichen richtig zum Ausdruck kommen,
hat A. Aupetit vorgenommen1, indem er die Index numbers,
zu denen die Untersuchungen D’Avenels, Lebers und Ha-
nauers die Grundlagen bieten, zu einem einzigen Durchschnitt
zusammenfaßt. Dann ergibt sich, wenn man das Preisniveau des
Jahres 1800 gleich 100 setzt, eine Veränderung des Preisniveaus
in den Jahren 1500 — 1800, das folgende Ziffern ausdrücken:
1 A. Aupetit, Essai sur la theorie generale de la monnaie (1901),
245, zit. bei Irv. Fisher, 1. c. p. 234 f.
558
Vierter Abschnitt: Die Edelmetallproduktion
1500 . 35
1000 . 75
1700 ...... 90
1800 ...... 100
Was graphisch so ausschaut:
35
1500 1600 1700 1800
Welchen Anteil, so lautet nun unsere Frage, haben an dieser
für den Gesamtverlauf des europäischen Wirtschaftslebens ent¬
scheidend wichtigen Preissteigerung die Edelmetalle; ist und
— wenn ja — inwieweit ist die Preishausse durch die eigentüm¬
lichen Produktionsverhältnisse der Edelmetalle während der früh-
kapitalistischen Epoche hervorgerufen?
Auf diese Fragen versucht das folgende Kapitel eine Antwort
zu geben.
559
Fünfunddreifsigstes Kapitel
Der Einfluß der Edelmetallproduktion auf die
Preisbildung
Vorbemerkung
Der Beweis für die tatsächlich erfolgte Einwirkung des Geld¬
wertes auf die Preise zerfällt in zwei Teile :
zum ersten ist nachzuweisen: daß eine Veränderung des Geldwertes
gerade in unserm Zeiträume, wenn sie eintrat, sich besonders leicht
in den Preisen ausdrücken konnte;
zum zweiten: daß Veränderungen im Tauschwert des Geldes ein¬
getreten sind, die der Bewegung der Preise entsprechen.
Der erste Teil der Beweisführung wiederum besteht in dem Nach¬
weis eigentümlicher Gestaltungen der Warenproduktionsverhältnisse
einerseits, der Geldverhältnisse andererseits, aus denen sich die Richtig¬
keit der aufgestellten Behauptung ergibt. Die Güterproduktionsverhält¬
nisse sind bereits dort geschildert, wo die handwerksmäßige Organi¬
sation der Wirtschaft beschrieben wurde, und werden im weiteren
Verlauf der Darstellung (für die frühkapitalistische Periode) noch weiter
(im 2. Bande) geschildert werden. Der hier in Betracht kommende
Grundzug der Produktionsverhältnisse ist die geringe Entwicklung der
Produktivkräfte und infolge davon geringe Ausdehnungsfähigkeit der
Produktion. Dagegen muß die andere Seite des Problems genauer
untersucht werden.
So seltsam es klingt: ein Versuch, den empirischen Nachweis eines
Zusammenhangs zwischen dem Verlauf und der Gestaltung der Edel¬
metallproduktion und dem Verlauf und der Gestaltung der Preise zu
erbringen, ist (meines Wissens) bisher überhaupt noch nicht unter¬
nommen. Daher gibt es auch keine Literatur.
I. Die Verwertung der Edelmetalle
Unter Verwertung der Edelmetalle verstehe ich hier die Ge¬
samtheit der Bedingungen, unter der ihre Verwandlung in Geld
vor sich geht : betrachtet unter dem Gesichtspunkt des Interesses
eines Besitzers von Edelmetall, der diese Verwandlung in Geld
tunlichst zu seinem Nutzen gestaltet wissen möchte.
Der Verwertungsprozeß der gewonnenen (produzierten) Edel¬
metalle (und nur auf diese brauchen wir hier Rücksicht zu
560
Vierter Abschnitt : ' Die Edelmetallproduktion
nehmen) beginnt mit dem Augenblick , da das Erz zutage ge¬
fördert, der Goldstaub (bei Waschgold) von Sand und Geröll
getrennt ist. Während dieser nun bis zu seiner Verwendung zu
Münzzwecken nur geringe Veränderungen noch durchzumachen
hat, müssen die Erze — in unserer Periode handelt es sich nur
um Silbererze — in einem langwierigen Verfahren erst noch ver¬
hüttet werden. Der Erzproduzent kann also sein Produkt nicht
sofort als Münzstoff verwerten: er muß erst das fertige (reine)
Edelmetall herstellen lassen. Für ihn bedeutet also Verwertung
zunächst den Absatz der Erze an die Hütte.
Nur für den Fall , daß er gleichzeitig Hüttenbesitzer ist,
braucht er ebenfalls wie der Goldproduzent erst an Verwertung
zu denken, wenn das Metall münzfertig ist. Diese Vereinigung
des Silberbergbaus und der Silberhütten in einer Hand fand in
Europa gegen Ende des Mittelalters häufiger statt, in den amerika¬
nischen Produktionsgebieten hat sie wohl immer die Regel ge¬
bildet (eine ausdrückliche Bestätigung der Richtigkeit dieser
Annahme habe ich nirgends finden können).
Dagegen waren das ganze europäische Mittelalter hindurch
der Regel nach Bergbau und Hüttenbetrieb zwei durchaus von¬
einander getrennte Handwerke. Das heißt also : der Produzent der
Erze mußte sein Erzeugnis „verkaufen“ (wenn wir den für jene
Zeit seltenen Fall außer acht lassen, daß er die Erze gegen Lohn
verhütten ließ), um es zu verwerten. Der Preis für die Erze wurde
freihändig auf dem Markte festgesetzt. Als Käufer traten entweder
die Hüttenbesitzer selbst auf oder was (wie es scheint) die Regel
bildete, eine besondere Klasse von Zwischenhändlern: „Erz¬
käufer“, wie sie in den Berg- und Hüttenordnungen genannt
werden (in der Kuttenberger Ordnung z. B. handelt das 22. Kapitel
von ihnen). Diese Erzkäufer waren bei der damaligen Einrichtung
der Bergwerke, wo Tausende von Arbeitern, jeder auf eigenen
Gewinn, arbeiteten, notwendig. Die kleineren Gewerken hatten
keine Schmelzen : was sollten sie mit ihren Erzen anfangen? So
wurden denn also in jeder "Woche die ausgehauenen Erze in
Anwesenheit eines Beamten „lizitiert“. Die Bergleute brachten
ihren Karren mit Erzen an den bestimmten Platz, wo dann die
Erzkäufer mit ihnen um den Preis feilschten1.
Der Zustand, der sich dabei herausbildete, scheint nun überall,
soviel wir sehen, insofern derselbe gewesen zu sein, als aller-
1 Graf Sternberg, Geschichte des böhm. Bergbans 2, 92 Amn.
1’ iintunddreißigstes Kapitel : Einfluß d. Edelmetallprodukt, a. d. Preisbildung- 5ß [
oyten die Erzkäufer die stärkere Partei waren, die den Gewerken
die Preise diktierten. Selir häufig- wenigstens -vernehmen wir
Klagen über „Ausbeutung“ der Bergleute und sehen die Obrig¬
keit bemüht, die Gewerken gegen die übermächtigen Erzkäufer
zu schützen. In der Kuttenberger Ordnung ist von deren „de-
testabilis conspiracio“ die Bede, die darauf ausgehe, durch ver¬
abredete Unterbietung die Erzpreise zu drücken.
Ebenso wenden sich zu wiederholten Malen die Tiroler Berg¬
leute gegen den preisdrückenden „Fürkauf“ der Erze, das heißt
eben gegen die Zwischenhändler, die den Gewerken das Erz
billig abkauften und dann beim Schmelzen einen ungebührlichen
Gewinn machten. Auf solcher Art Klagen hin verbietet Herzog
Friedrich in seinem Bergbrief für Gossensaß den Fürkauf1; ihm
folgt darin die Bergordnung für Schwaz von 1468 2.
Der Wunsch, den Übelständen zu steuern, die aus der für die
Gewerken empfindlichen Lage erwuchsen, war dann einer der
Gründe, die gegen das Ende des Mittelalters vielfach die Landes¬
herren bewogen, den Silberhüttenbetrieb in eigene Regie zu
nehmen. So richten die Tiroler Landesherren eigene Silber¬
schmelzen in Innsbruck ein ; die bayrischen Herzoge begründeten
in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts das große Schmelz¬
werk zu Brixlegg, das von Beamten verwaltet wurde und das
Silber nicht nur aus den benachbarten herzoglichen Gruben ver¬
hüttete, sondern auch aus verschiedenen Tiroler Revieren und
selbst aus großer Entfernung Silbererze zur Verhüttung an sich
zog 3.
Um die eigentümlichen Bedingungen zu verstehen, unter denen
ehemals die Verwandlung der münzfertigen Edelmetalle
in Geld vor sich ging, müssen wir der allgemeinen Züge ein¬
gedenk sein, die das Geld- und Münzwesen in unserer Epoche
trug: vor allem seines ausgesprochen fiskalischen Charakters.
Das gesamte Geldwesen sollte den Interessen des fürstlichen
Haushaltes dienstbar sein. Also auch — und zwar in ganz be¬
sonders hervorragendem Maße — die Münze. Das Ausmünzen
der Edelmetalle erfolgte nicht, um den privaten Interessen der
Gold- und Silberbesitzer zu dienen, noch um volkswirtschaftliche
Interessen zu pflegen: sondern so gut wie ausschließlich, um
1 Abgedruckt bei Worms, Schwazer Bergbau (1904), Urk. 1.
2 Bei Wagner, Corp. jur. met. p. 133 ff.
3 v. Inama, DWG. 3 JI, 195.
S o m b a r t ,, Der moderne Kapitalismus. I. 90
562
Vierter Abschnitt: Die Edelmetallproduktion
dem Münzherrn eine Einnahmequelle zu eröffnen. Eie Münze
war also in aller früheren Zeit auf die Erzielung von Gewinn
gerichtet. Sie wurde aber geradezu zu einem gewerblichen Unter¬
nehmen dann, wenn sie vom Münzherrn nicht in eigener Regie
verwaltet, sondern von Privaten, denen die Ausübung des Münz¬
regales übertragen war, „auf eigene Rechnung und Gefahr be¬
trieben wurde. Und das bildete .
- o
wie man weiß , während des
späteren Mittelalters in den meisten Ländern die Regel : mochte
es sich dabei um kurzfristige Pacht- oder Pfandverträge zwischen
dem Münzherrn und einer Anzahl von Geschäftsleuten handeln
(eine Form, der wir in Italien besonders häufig begegnen), mochte
die Münze als dauerndes Recht einer mit mancherlei -Begünsti¬
gungen ausgestatteten Körperschaft, den Hausgenossen, über¬
lassen seni (wie in den größeren deutschen Städten) h
Eenn wenn Private die Münze zu eigenem Gewinn betrieben,
so mußte ihr Bestreben darauf gerichtet sein, nicht nur (wie es
stets der Fall wTar, mochte es sich um Staats- oder Privatbetrieb
handeln) den Schlagschatz — das heißt die Steuer für den
Münzherrn — bei der Ausmünzung herauszu,, schlagen“, sondern
einen möglichst hohen Überschuß über die Ausgaben zu erzielen.
Aus dieser Sachlage ergaben sich nun aber zwei Leitsätze für
das Geschäftsgebahren der Münze in unserer Zeit, die für die
Verwertung der Edelmetalle von ausschlaggebender Bedeutung
wurden. Offenbar nämlich mußte ' alles Streben des Münzers
darauf gerichtet sein:
1. soviel Edelmetall wie nur irgend möglich auszumünzen;
2. das Prägematerial (die Edelmetalle) so „billig“ wie möglich
sich zu beschaffen.
Und in der Tat: das (objektive) Präge recht, wie man die
Gesamtheit der rechtlichen Bedingungen, unter denen die Ver¬
wandlung der Edelmetalle in (gemünztes) Geld erfolgt, nennen
kann, wird in seinem Charakter durch diese beiden Leitsätze
1 Über die Formen der Münzverwaltung im allgemeinen: Luschin
v. Ebengreuth, Allgem. Münzkunde (1904), 85 f . ; über die Haus¬
genossenschaften insbesondere Karajan, Beyträge zur Geschichte
der landesfürstlichen Münzen Wiens im Mittelalter, in Chm eis österr.
Geschichtsfreund Bd. 1. Daselbst auch die Hauptquelle: Das Wiener
Münzbuch aus dem 15. Jahrhundert. Zu vergleichen: K. Ehe b erg,
Über das ältere deutsche Münzwesen und die Hausgenossenschaften.
1879. E.s Buch ist aber — soweit es nicht Karajan benutzt —
wesentlich verfassungsgeschichtlichen Inhalts.
Fünfunddreißigstes Kapitel: Einfluß d.Edelmetallprodükt. a. d. Preisbildung 5ßg
während des gesamten Zeitraums, den wir überblicken, und zwar
in allen Ländern, soviel ich sehe, gleichmäßig bestimmt.
Sein Inhalt ist in den Grundzügen folgender:
1. das für unsere Begriffe bei weitem wichtigste Hecht des
Edelmetallbesitzers : jede beliebige Menge Edelmetall — ob Gold
oder Silber bei der Münze einzuliefern und ausmünzen zu
lassen, wird in jener Zeit für so selbstverständlich erachtet, daß
es in den meisten Münzordnungen gar nicht einmal ausdrücklich
erwähnt wird. Wo davon die Rede ist, heißt es nur: wer Edel¬
metall in die Münze zum Ausmünzen einliefert, soll soundsoviel
Landesmünze für die Gewichtseinheit Silber (oder Gold?) er¬
halten.
Beispiele: Florentiner Gesetz vom 19. August 1345: bei Shaw,
19 ff, — Strafsburger Münzord. von 1470, Nr. 9, ediert von Eheberg,,
a. a. 0. S. 201. — Französische Ordonnanzen von 1329. 1332. 1350
u- a* — Joachimsthaler Münzord. (nach Verstaatlichung der Münze!),
bei Sternberg, 1, 322 ff. — Böhm. Landesordnung Ferdinands I.
von 1534, bei Goldast, 103 f. — Spanien: Recop. tit XXI. Ley X.
— Brasilien: v. Eschwege, Pluto brasil., 192 ff.
Ganz unverständlich ist es, wenn Del Mar behauptet, daß die
unbeschränkte Prägefreiheit (in dem hier verstandenen Sinne) erst von
dem englischen Gesetze vom Jahre 1666 datiere. Es ist nicht einmal
richtig, daß damals zum erstem Male eine Ausprägung „zum Selbst¬
kostenpreise“ erfolgt sei. Die drei genannten französischen Ordonnanzen
sprechen z. B. den Verzicht auf jeden Schlagschatz aus; nur daß die
Begründung natürlich eine andere war als in dem Gesetz von 1666.
Eine gesetzliche Beschränkung dieses Rechts auf unbeschränkt
freie Ausprägung einer beliebigen Menge Edelmetalls — dessen
also, was wir heutzutage die Prägefreiheit nennen — ist mir
aus der ganzen Zeit von 1250 — 1750 nicht bekannt geworden.
Dieser Rechtszustand folgt, wie gesagt, unmittelbar aus dem
Geiste, der die Münzpolitik jener Jahrhunderte beherrschte.
2. Dieser „Prägefreiheit“ (in unserm Sinne) entsprach nun
aber auf der andern Seite eine sehr weitgehende Gebundenheit
in der Art und Weise, wie diese „Freiheit“ ausgeübt werden
konnte. Der Besitzer von Edelmetall war nämlich gezwungen,
dieses an dem Orte ausmünzen zu lassen, wo es gewonnen war.
Überall begegnen wir gesetzlichen Bestimmungen, die die Aus¬
fuhr von Edelmetall aus dem Produktionsgebiet verbieten und
die Einlieferung an einem bestimmten Münzamte vorschreiben :
das gilt gleichmäßig für Schlesien1, für Sachsen2, für Böhmen:
1 In Breslau ist ein herzoglicher Brenngaden, in dem Gold und
Silber geschmolzen , eingelöst , probiert und gewogen wurden , schon
86*
5(34 Vierter Abschnitt: Die Edelmetallproduktion
und zwar für Kuttenberg 1 sowohl wie für J oachimstlial 2 , für
Tirol3, für Mexiko4. Nur für das brasilianische Gold habe ich
keinen Prägezwang (wenn auch gelegentlich das Barrengold ver¬
boten wurde) und vor allem kein Ausfuhrverbot herausfinden
können.
3. Wären die Ausfuhrverbote streng durchgeführt worden,
so hätte also Edelmetall außerhalb seines Produktionsgebietes
sich in ungemünztem Zustande gar nicht vorfinden können: die
Münzen der Städte und Länder, in deren Bereich kein Edelmetall
gewonnen wäre, hätten veröden müssen, weil sie kein Präge¬
material bekamen, oder hätten sich darauf beschränken müssen,
fremde Münze einzuschmelzen und in- die eigene Landesmünze
umzumünzen5. Wir wissen nun aber, daß dies nicht der Fall
war. Wir wissen, daß zu allen Zeiten während unserer Epoche
ein Markt auch für ungemünztes Edelmetall bestand, daß also
Edelmetalle in den freien Verkehr gelangten.
Darauf lassen zunächst die Verbote des freihändigen Gokl-
und Silberverkaufs schließen, die wiederum eine allgemeine Er-
1203 nachweisbar: er hat das Vorkaufsrecht für alle edlen Metalle.
Tschoppe und Stenzei, U.-Sainmlung, 278.
2 [Zu Seite 563.] Als beim Aufblühen Schneebergs (also gegen Ende
des 15. Jahrhunderts), das seine Erze zuerst in Zwickau schmelzen ließ,
die dort errichtete Münze nicht alles Silber prägen konnte, mußte man
den Gewerken zeitweise den freien Silberverkauf und die freie Silber¬
ausfuhr gestatten. Schmoller, in seinem Jahrbuch 15, 978.
1 Münzordnung König Georgs von Podebrad (1469), bei Stern-
berg 2, 175. Verordnung König Wladislaus’ II. von Böhmen (1492),
Kuttenberger Copiar. Nr. 205, bei Sternberg 1, 86. Wiederholung
1494, UB. bei Sternberg 2, 135 (böhmisch).
2 Vergleich mit dem Grafen Schlick, bei Sternberg 1, 322 ff.
Die Landordnung Ferdinands I. (1534) bestimmt: daß nur wenn die
Kgl. Münze das angebotene Silber nicht annehmen könne, „Grund¬
herren und Gewerken“ das Recht haben sollen, ihr- Silber anderswohin
zu verkaufen. Doch auch in diesem Falle müssen sie den Betrag, den
sie über 7 Guld. 14 Weißgr. und 6 Weißpfenn. für die Mark erhalten,
der Kgl. Kasse zuführen. Goldast, 103 f.
3 Siehe Worms, a. a. 0. S. 87.
4 Metallbarren durften nicht ausgeführt werden. Daher ist ein
großer Teil der Silbermünzen Europas und Asiens durch die Form
des Piasters hindurchgegangen.
5 Das geschah natürlich in weitem Umfange. Um recht viel fremde
Münze an sich zu ziehen, war der Münz Wechsel vielerorts zu einem
Monopol der Münzer oder der Münzergenossenschaften erklärt. Das
belegt mit vielem Quellenmaterial für die deutschen Städte im Mittel-
alter Eheberg, a. a. 0. 59 ff. 142 ff.
Füufunddrcißigstes Kapitel: Einfluß d. Edelmetallprodukt, a.d. Preisbildung 5(J5
scheinung des europäischen Mittelalters sind. Wie nämlich die
Münzherren in den Produktionsgebieten sich den Bezug der er¬
zeugten Edelmetalle dadurch zu sichern suchten, daß sie die
Ausfuhr verboten und die Ablieferung der gesamten Ausbeute
verlangten, so waren die Münzherren aller andern Orte bemüht,
sich möglichst viel Prägematerial dadurch zu verschaffen, daß
sie jedermann, der Gold oder Silber feil zu bieten habe, ver¬
pflichteten, es zunächst der Münze zum Kauf anzutragen:
„quicunque argentum vendere voluerit ad monetam debeat
illud presentare nec ad nundinas nec alias presumat deferre“
hatte der König dem Erzbischof von Worms als des Reiches
Recht verkündet1, und diesen Rechtssatz machten sich dann
zahlreiche Städte und Landesherrn zu eigen2.
Daß aber ein Edelmetallmarkt bestand, entnehmen wir auch
aus andern Zeugnissen: so erfahren wir zum Beispiel von den
Wiener Hausgenossen, daß sie ferne Märkte bezogen, um Edel¬
metalle für ihre Münze einzukaufen3; wir sehen den fremden
Edelmetallhändler zur Straßburger Münze kommen und sein Präge¬
material anbieten und sehen ihn, ohne daß man handelseinig
geworden war, wieder abziehen „ohne geverde“4.
Nun könnte man annehmen: das Material für diesen Edel¬
metallhandel habe nur Altedelmetall geliefert: Bruch, Geräte,
Schmuck, alte Münzen oder das alles in wieder eingeschmolzenem
Zustande. Aus zahlreichen Stellen der Quellen können wir aber
schließen, daß zweifellos auch neuproduziertes Silber und Gold
gehandelt wurden. Und wir würden auch ohne solche Zeugnisse
glauben dürfen, daß dem so war. Weil wir wiederum zahlreiche
Belege für die Tatsache einer Durchbrechung des Ausfuhrverbots
besitzen. Wir wissen, daß diese Durchbrechung auf zwei Wegen
erfolgte :
1. durch Schmuggel;
2. durch Vertrag.
1 Sententia de argento vendendo MG. Const. II. Nr. 283 (1224).
2 Siehe die lange Liste derartiger Bestimmungen bei Eheberg,
a. a. 0. 59 ff. 142 ff.
3 Karajan, a. a. 0. S. 316. Von den obersten Kammern wurde
Klage geführt, daß die Wiener Hausgenossen Handel mit Gold und
Silber auf eigene Paust trieben, jahrelang ihr Silber nicht zugunsten
der Münze , sondern in ihrem eigenen Interesse verwendeten.
Karajan, 325 und Urk. XLVI.
4 Ordenunge der münsser vom Jahre 1470, Nr, 5: ediert von
Eheberg, a. a. 0. 200,
566
Vierter Abschnitt: Die Edelmetallproduktion
Daß immer, wo der Verkehr in Edelmetallen beschränkt ist,
Schmuggel geübt wird, erscheint so selbstverständlich, daß es
kaum einer besonderen Bestätigung bedürfte. Zum Überfluß be¬
sitzen Avir aber sowohl für das europäische Mittelalter wie für
die amerikanischen Silberländer eine Menge Zeugnisse, die auf
einen ausgedehnten Schmuggel schließen lassen. Ihre Aufzählung
erübrigt sich, da die Tatsache nicht bezweifelt werden dürfte.
Zum andern kennen wir zahlreiche Verträge, namentlich aus
der Zeit des 15. und 16. Jahrhunderts, in denen bestimmten
Händlern die Edelmetallausfuhr gestattet wird. Deiche Geld¬
männer erkauften sich die Befreiung von dem Ausfuhrverbot oft
mit hohen Summen. So verpflichtete sich der reiche Gewerke
Antony von Roß im Jahre 1486 zur Zahlung einer Pauschal¬
summe von 4000 fl. an den Landesfürsten für die Erlaubnis, sein
Silber ein Jahr lang frei verführen zu dürfen wohin er wollte,
auch dann, wenn der von seinem Silber entfallende Wechsel
nicht so hoch sein sollte b Ähnliche Verträge schließen Augs¬
burger Kaufleute mit dem Könige von Böhmen ab (16. Jahr¬
hundert)1 2, die Fugger mit dem König von Spanien3 usw.
So leicht wir einzusehen vermögen, daß es Mittel und Wege
gab , trotz der Ausfuhrverbote die Edelmetalle in den Verkehr
zu brino-en, so auffallend ist auf den ersten Blick die Tatsache:
daß es einen Handel mit Edelmetallen geben konnte, da
doch beide, wie wir gesehen haben, frei ausprägbar waren. Nach
unsern heutigen Begriffen hätte es also damals immer nur einen
Handel mit Gold oder mit Silber geben können, wenn das eine
Metall mit dem andern gekauft wurde. Zweifellos bildeten denn
auch diese Käufe: Gold mit Silber, Silber mit Gold, einen
wesentlichen Teil des Edelmetallhandels. Wir werden aber auch
annehmen müssen, daß sogar Silber mit Silber(münze) und (wenn
auch in geringerem Umfange) Gold mit Gold(münze) gekauft
wurde.
Die Erklärung für diese auffallende Erscheinung hegt wiederum
in der uns bekannten Eigenart des Geld- und Münzwesens jener
Zeit, die es mit sich brachte, daß zwischen dem Edelmetall in
Barrenform und in Münzform große und stetig schwankende
Wertdifferenzen obwalteten, und daß sich infolgedessen auf dem
1 Worms, Schwazer Bergbau, S. 87.
2 Sternberg 1, 223. 225.
? Ehrenberg, Zeitalter der Fugger, öfters.
Fünfunddveißigstes Kapitel: Einfluß d. Edelmetallprodukt, a. d. Preisbildung 567
Markte sehr wohl ein durch Angebot und Nachfrage bestimmter
Silberpreis in Silber, ein Goldpreis in Gold bilden konnten. Jene
großen und schwankenden Wertunterschiede zwischen Barren -
form und Münzform (die heute bei frei ausprägbaren Metallen
so gut wie verschwunden sind) entstanden durch folgende Um¬
stände :
a) Höhe und Schwanken der Transportkosten;
b) Höhe und Schwanken des Schlagschatzes (eventuell noch
der Bergwerksabgaben : Schmuggel unversteuerten Edel¬
metalls !) ;
c) Höhe und Schwanken der Prägekosten;
d) Schwanken des Silbergehalts der Groschen und Pfennige,
also auch des Kurswertes des Pfundes.
4. Mit diesen Feststellungen — und deshalb wurden sie ge¬
macht — ist nun aber auch schon die wichtige Frage zum Teil
wenigstens beantwortet : zu welchen Bedingungen nahm die
Münze dem Edelmetallbesitzer sein Gold und Silber ab? Die
Antwort muß nämlich nach dem, was wir über die Marktfähigkeit
der Edelmetalle in Erfahrung gebracht haben, offenbar lauten:
die Münze zahlte dem Besitzer einer bestimmten Menge Edel¬
metall — trotzdem dieses „frei ausprägbar“ war — einen Preis.
Mit andern Worten: es gab kein ein für allemal fest¬
gesetztes Verhältnis zwischen Landes münze und
Metallgewicht, es fand nicht einfach eine Übertragung einer
gleichgroßen Wertsumme, es fand nicht einfach eine Formver¬
änderung statt. Sondern: die Menge Landesmünze, die für ein
Pfund Silber (oder Gold: obwohl für dieses diese Ausführungen
in viel geringerem Umfange gelten) gezahlt wurde, konnte sehr
verschieden hoch bemessen sein, wenn auch nie höher — salvo
errore monetarii — als die gleiche Silbermünze abzüglich aller
Unkosten (für Prägung, Schlagschatz usw.). Nehmen wir an, diese
hätten 25 °/o betragen, so konnte der Einlieferer von 1 Pfund Silber
Silbermünzen im Höchstbetrage von 8U Pfund feinen Silbers als
Vergütung erhalten. Dieser Betrag konnte aber höher oder
niedriger sein aus so viel Gründen, als Variationen der die Höhe
der Produktionskosten bestimmenden Momente möglich sind. Er
konnte ferner um soviel niedriger sein, als es der Münze ge¬
lang, ihren Gewinn zu erhöhen. Die Preisschwankungen ver¬
doppeln sich durch die Schwankungen der AVertrelationen der
beiden Edelmetalle gegeneinander.
Wie wurden nun diese schwankenden Preise bestimmt? Auf
Vierter Abschnitt: Die Edelmetallproduktiou
5G8
zwei verschiedene Weisen: einseitig durch eine Verordnung des
Münzherrn oder der Münzen; oder vertragsmäßig durch besondere
Abmachung zwischen jenen und dem Edelmetallbesitzer.
Beispiele für jene Form der Preisfestsetzung bieten fast alle
Münzordnungen. Genau wie heute ein Münzgesetz bestimmte
damals die Münzordnung: wieviel Landesmünze für ein gewisses
Quantum Edelmetall ausbezahlt werde. Was jene Festsetzungen
äußerlich aber wesentlich von modernen Normierungen ähnlichen
Inhalts unterscheidet, ist eben das beständige Schwanken der
Beträge.
Ein paar beliebig herausgegriffene Beispiele werden das ver¬
deutlichen :
Die Florentiner Münze zahlt für 1 Pfund (Libbra) Silber:
nach dem Gesetz vom 19. August 1345
132 Grossi und behält 2 Grossi Prägegebühr;
nach dem Gesetz vom Oktober 1345
140 Grossi und behält 2 Grossi Prägegebühr;
nach dem Gesetz von 1347 *
llP/s Grossi und behält 52/s Guelfigrossi Prägegebühr.
In Breslau galt die Mark Feinsilber:
1532 — 1547 zwischen 6 fl. 3 g Gr. (34 g Gr. = 1 fl.) und 7 fl. 7 g Gr.
1547 , » 7 » 10 » » „ 7 „18 „ „
1558 71U Taler (zu 30 Weißgroschen).
In der Landordnung von 1534 setzt Ferdinand I. den „Preis“ für
die „marck fein silber weniger ein Quintlein Nürnberger Gewicht“,
zahlbar den Gewerken auf allen Bergwerken Böhmens , auf 7 Gulden
Bk. 54 (offenbarer Druckfehler für 14) Weißgroschen und 6 Wei߬
pfennig fest. Bei Goldast, 96.
Nach dem Bilder- Kodex (1556) war der Einlösungspreis für
1 Mark Feinsilber :
unter Herzog Sigmund .... 5 — 6 old.
„ Maximilian 1 . 8 — 10
„ Ferdinand I. . . . - . . . 9 — 12
Die Schwankungen konnten allein von den Wertverände¬
rungen der Landesmünze herrühren : sie konnten aber ebenso gut
verschieden hohen Gewinnen der Münzen ihr Dasein verdanken.
Nun scheint es aber fast, als sei in den meisten Fällen gar
nicht dieser sagen wir „gesetzliche“ Preis bezahlt worden,
sondern als habe man vielmehr häufiger den Preis 'jedesmal erst
vereinbart. So häufig begegnen uns vertragsmäßige Preisfest¬
setzungen,
Fünfuuddreißigstcs Kapitel: Einfluß d.Edelmctallprodukt. a.d. Preisbildung 5<JC>
Wieder ein paar Beispiele:
1449 vereinbart Herzog Sigmund mit den Schweizern und Gossen-
sassern : daß er ihnen 6Va fl. für 1 Mark Silber zahlen werde,
abzüglich 21h fl. Wechsel; Quellen bei Worms, a. a. 0. S. 129.
1488 wird mit den Fuggern ein Vertrag abgeschlossen, wonach sie
8 fl. für die Mark bekommen sollen: 5 fl. für die Schmelzer,
3 fl. für sich. Worms, 65.
1476 wird den neuen Gruben in Ireiherg eine Vergütung von 8 fl. ■
für 8 Jahre statt der alten 6 fl. für 6 Jahre versprochen. Frei¬
berger UB. 2, 217. Meist wurde in Sachsen den Ausbeutezechen
von der Silberkammer etwas weniger bezahlt als den Zubu߬
zechen.
In Schlesien bezahlt Markgraf Georg Friedrich in Tarnowitz
(16. Jahrhundert) „nach Umständen“ die Mark bald mit 6 Taler
83 g Gr. und oft mit 7 Taler 8 g Gr. Aem. Stein beck, Gesell,
des schles. Bergbaus 2 (1857), 233/34.
Von den Wiener und Strafsburgcr Hausgenossen, die freihändig ihr
Silber kaufen mußten, erfuhren wir schon.
Und was endlich war es, das den Preis - — sei es den gesetz¬
lichen, sei es denvertragsmäßigen — bestimmte? Natürlich: die
Machtlage der beiden Parteien, da wir ohne weiteres annehmen
dürfen, daß beide zu den vorteilhaftesten Bedingungen ihr Ge¬
schäft absehließen wollten.
Wo wir gesetzliche Normierungen finden, wird ihre Höhe
mehr bestimmt worden sein durch die politische Lage, aber doch
auch durch die Lage des Edelmetallmarktes. Wurden die Edel¬
metalle knapp, so gestaltete man die Bedingungen der Aus-
münzung günstiger. So enthalten zum Beispiel die französischen
Ordonnanzen des 14. Jahrhunderts förmliche Geschäftsanprei¬
sungen: die Münze zahlte den vollen Betrag des eingelieferten
Silbers zurück; nur die Prägekosten sollten zurückbehalten
werden usw.
Bei den vertragsmäßigen Festsetzungen entschied natürlich
ganz die ökonomische Lage: sei es die allgemeine: Nähe eines
andern Absatzgebietes usw.; sei es die besondere: Notlage
des Münzherrn (dem der Silberproduzent Gelder vorgestreckt
hatte), Notlage des Silberproduzenten: „nach Umständen“ be¬
zahlte die Silberhandlung in Tarnowitz bald mehr, bald weniger,
haben wir gesehen. Und wir erfahren auch, welcher Art diese
Umstände waren: diejenigen Gewerken, welche Vorschüsse be¬
kamen, mußten ihr Silber wohlfeiler ablassen 1
1 Aem. Steinbeck, a. a. 0,
570
Vierter Abschnitt: Die Edelmetallproduktion
Ob es richtig ist, was Carl Schalk in seiner höchst ver¬
dienstvollen Untersuchung über den Münzfuß der Wiener Pfennige
behauptet: daß die Marktpreise und die gesetzlichen Preise nie
sehr voneinander verschieden gewesen seien, ist mir zweifelhaft.
Die Annahme würde natürlich zutreffen, wenn man tatsächlich
(wie Schalk annimmt) das Silber anderswo immer gleich hätte
erwerben können, das heißt, wenn man es nicht abgeliefert,
sondern exportiert hätte. Aber häufig genug wird diese Möglich¬
keit gefehlt haben: sei es aus rechtlichen Gründen (Ausfuhr¬
verbot!), sei es aus tatsächlichen Gründen: all den oben an¬
geführten, außer denen noch ein weiterer Umstand zu berück¬
sichtigen bleibt: die Länge der Zeit, die verging, ehe man die
Münze bekam, und die natürlich in einer Zeit unentwickelten
Verkehrs weit lästiger empfunden wurde als heute.
Alles zusammengenommen müssen wir zu dem Ergebnis
kommen: daß die frühere Zeit wohl die Prägefreiheit de jure
besaß , daß aber ihr Inhalt ein wesensanderer war wie heute :
daß sie einen wechselnden Edelmetallpreis nicht ausschloß, daß
also der Besitzer des Edelmetalls — wenn auch mit wesent¬
lichen Abweichungen zu seinen Gunsten — doch in der Lage
jedes andern Warenbesitzers sich befand: zwar brauchte er nicht
einen Absatz für seine Ware zu suchen (der war ihm ein für
allemal gesichert), aber er war doch im Ungewissen: wie hoch
sie ihm bezahlt wurde, und sah sich. also genötigt, um einen
angemessenen Preis zu feilschen. „Umstände“ aller Art ent¬
schieden über dessen schließliche Höhe.
Es liegt offen zutage, welche Bedeutung die eigenartige Ver¬
wertung der Edelmetalle, wie ich sie eben dargestellt habe, für
die Preisbildung haben mußte. In dem Maße nämlich, wie
die Edelmetallbesitzer Verkäufer ihrer Produkte
waren, mußte sich jede Veränderung im Tauschwert
der Edelmetalle weit rascher in die Preise umsetzen
als in einer Zeit vollständig mechanisierter Aus-
prägefreiheit wie der unsrigen. Gerade diese schema¬
tische und automatische Verwandlung der Geldware in die immer
völlig gleich große Münzmenge muß den Einfluß von Geldwert¬
änderungen auf die Preisbildung notwendigerweise abschwächen.
So daß also in früherer Zeit diese Abschwächung geringer, die
Einwirkung unmittelbarer war.
Stieg also der Geldwert, so konnte der Edelmetallbesitzer für
seine Ware bald einen höheren Preis erzielen; sank er, mußte
Fünfunddreißigstes Kapitel: Einfluß d. Edelmetallprodukt, a.d. Preisbildung 571
er sich mit einem geringeren begnügen : alles innerhalb gewisser
Grenzen , wie die vorhergehende Darstellung gezeigt hat. So
daß wir nunmehr nur noch zu untersuchen hätten: in welchem
Umfange sich in unserm Zeitraum der Geldwert verändert hat.
Frühere Betrachtungen ergaben, daß bloße Yerändenmgen in
den Mengen der produzierten Edelmetalle einen Einfluß auf
deren Tauschwert nicht ausüben können, daß vielmehr dieser
ausschließlich — oder richtiger: letzten Endes immer — von
den Produktionskosten bestimmt wird. Daher hat die folgende
Erörterung sich mit der Frage zu beschäftigen: welche Ver¬
änderungen in den Produktionskosten der Edelmetalle sich für
den Zeitraum, der unserer Betrachtung untersteht, nachweisen
lassen.
II. Die Produktionskosten der Edelmetalle
Wenn ich ein einzelnes Problem der Nationalökonomie
und der Wirtschaftsgeschichte als das wichtigste bezeichnen
sollte : ich glaube , ich würde sagen : es sei die Höhe der Pro¬
duktionskosten der Edelmetalle. Denn wenn ich recht sehe,
steht mit dieser zum guten Teile die Gestaltung des gesamten
Wirtschaftslebens in einem irgendwelchen näheren oder ent¬
fernteren Zusammenhänge. Und gerade dieses zentrale Problem
zweier Wissenschaften ist bisher nur ganz selten zum Gegen¬
stände auch nur der Erörterung gemacht 1 ; geschweige denn daß
es in einem irgendwie befriedigenden Sinne gelöst sei. Für die
Vergangenheit lassen sich brauchbare Angaben fast gar nicht
auftreiben: man ist zu allermeist auf eine symptomatische Er¬
kenntnis angewiesen. Erst in der Gegenwart liefert uns das auf
die Edelmetallproduktion hingelenkte Interesse der Techniker
und der kapitalistischen Unternehmer ein reicheres Tatsachen¬
material, aus dem wir mit hinreichender Sicherheit die Pro¬
duktionskosten berechnen können. Aber das nützt uns jetzt noch
1 Eine erstaunliche Tatsache: in dem 419 Großoktavseiten dicken
Buche von Wiebe, das sich die Untersuchung des Zusammenhangs
zwischen Geldwert und Preis zur besonderen Aufgabe gemacht hat,
kommt (wenn ich recht gelesen habe) das Wort „Produktionskosten“
überhaupt nicht vor ! Ebensowenig in dem Buche Bonns, das den
Untertitel trägt: „Ein induktiver Versuch zur Geschichte der Quan¬
titätstheorie“ ; ebensowenig in der neuesten, 515 Seiten umfassenden
Monographie über die Quantitätstheorie, dem oben S. 536 genannten
Werke Irving Fishers (wenigstens nicht mit Bezug auf die Pro¬
duktion der Geldware!).
572 Vierter Abschnitt: Die Edelmetallproduktion
nichts, wo wir den Zeitraum von 1250 — 1850 überblicken. Was
sich über die Gestaltung der Produktionskosten in ihm aussagen
läßt, ist, wie gesagt, wenig und durch Schlüsse aus allgemeinen
Zuständen gewonnen worden. Zum Teil ist es unausgesprochen
schon in den Darlegungen enthalten gewesen, die ich über den
Gang der Edelmetallproduktion sowie über die Produktionsver¬
hältnisse der Edelmetalle im 31. Kapitel gemacht habe, und auf
die ich jetzt verweise. Ich will aber hier im Zusammenhänge
vortragen, was wir genaueres über die Produktionskosten der
Edelmetalle in unserm Zeiträume wissen.
Im 12. und 13. Jahrhundert werden frische Silberlager in
Abbau genommen, deren Hüte zweifellos einen bis dahin un¬
bekannten Grad der Ergiebigkeit darstellten. Waschgold wurde
gefunden. Stattliche Beträge wurden ohne jeden Aufwand (als
Beute) von den Italienern aus dem Orient gebracht : eine Senkung
des Geldwerts ist wahrscheinlich. Genaueres wissen wir nicht.
Im 15. Jahrhundert wird das Edelmetall knapp: darüber
lassen die Quellen keinen Zweifel. Das Bild, das uns die Zeit
gewährt, ist ganz deutlich dieses: sämtliche Münzherren (deren
fiskalische Interessen, wie wir sahen, eine reiche Edelmetall¬
zufuhr ersehnten) zerren an der zu kurz gewordenen Silberdecke.
Ob das Silber aus Gründen gestiegener Produktionskosten auch
„teurer“ geworden ist in jener Zeit? Wir dürfen es annehmen,
da die Hüte der alten Erzgänge abgebaut waren, neue Funde
aber noch nicht gemacht waren. Aber auch ohne diese Annahme
liegt genug Grund vor , auf eine Erhöhung des Silberwertes zu
schließen. Offenbar nämlich trat das Silber in dieser Zeit in die
Kategorie der überhaupt nicht vermehrbaren Güter ein. Denn
die alten Gruben konnten großenteils nicht weiter in Betrieb
gehalten werden, da man der Wasser nicht Herr wurde: die
Produktion hörte also schließlich ganz auf. Daß das Silber
„teurer“ werde, ist eine beständige Klage der Münzer. Die all¬
gemeine Münzentwertung , die gerade um jene Zeit besonders
stark war, ist ebenfalls eine Bestätigung dafür, daß in der Tat
der Geldwert gestiegen war.
Daß er von Ende des 15. Jahrhunderts an fiel, ist außer
Zweifel, sowohl der des Goldes als des Silbers. Gold wurde als
Waschgold in reichen Mengen im Salzburgischen gefunden und
als (unbezahlte) Beute von den Conquistadoi'es aus Amerika
heimgebracht.
Daß aber sowohl mit den neuen Edelmetallfunden in Deutsch-
Füufündclreißlgstes Kapitel : Einfluß d. Edelmetailpiodiikt. a. d. Preisbildung 573
land und Österreich als auch mit der Erschließung der amerika¬
nischen Silberminen das Silber eine ganz wesentliche Minderung
seines Tauschwertes — und zwar als unmittelbare Folge einer
starken Verringerung der Produktionskosten — erfährt, dürfen
wir ebenfalls als sicher annehmen.
Schon die Silberminen Joachimsthals und der Schwazer Gegend
waren erheblich ergiebiger als diejenigen Sachsens und des Harzes.
Beträchtlich ergiebiger aber waren dann wieder die Silberlager
Mexikos, Perus und Boliviens. Die Eigenart der Produktionsver¬
hältnisse geben für die .Richtigkeit dieser Behauptung hinreichend
sichere Anhaltspunkte. Wir besitzen außerdem noch eine ziffern¬
mäßige Bestätigung in einer vergleichenden Kostenaufstellung
A. von Humboldts für eine Freiberger und eine mexikanische
Grube: freilich aus der Zeit, in der er seine Werke über Neu¬
spanien abgefaßt hat, also für das Ende des 18. Jahrhunderts.
In dieser Zeit lagen aber die Verhältnisse vergleichsweise für
Mexiko ungünstiger als für Sachsen, verglichen mit der früheren
Zeit, weil nämlich damals, als Humboldt seine Beobachtungen
machte, die mexikanischen Bergarbeiter offenbar schon größten¬
teils freie , sehr hoch gelohnte Arbeiter waren : er berechnet
ihren Tagesverdienst auf 5 — 6 Francs , gegen 90 Centimes in
Sachsen! Während in den ersten Jahrhunderten der mexika¬
nische wie aller amerikanische Silberbergbau auf der Verwendung
von Sklaven aufgebaut war. Die auf jeden Fall äußerst lehrreiche
Gegenüberstellung Humboldts findet sich in folgendem1 (von
mir verdeutschten)
Vergleich. Zahlenbüd der Bergwerke Amerikas und Europas
Gemeinsames Jahr
(Ende des 18. Jahr¬
hunderts)
Amerika
Mine von Valenciana,
die reichste Mexikos
(2320 m über dem
Meeresspiegel)
Europa
Mine Himmelsfürst,
die reichste Sachsens
(410 m über dem
Meeresspiegel)
Gewonnenes Silber . .
Gesamte Produktions¬
kosten .
360 000 (Gewichts)Mk.
5 000 OOOLivres tourn.2
3 000000 Liv.
1 0 000 (Gewichts)Mark
240 000 Livres tourn.
90 000 Liv
Beingewinn der Aktio-
näre .
1 Essai 3, 413.
2 1 Livre tourn. damals etwa 0,95 Francs heutiger Währung.
574 Vierter Abschnitt: Die Edelmetallproduktion
Gemeinsames Jahr
(Ende des 18. Jahr¬
hunderts)
Amerika
Mine von Valenciana,
die reichste Mexikos
2320 m über dem
Meeresspiegel)
Europa
Mine Himmelsfürst,
die reichste Sachsens
(410 m über dem
Meeresspiegel)
Der Zentner Erz ent-
hält Silber .
4 Unzen
6 — 7 Unzen
Zahl der Arbeiter . . .
3100 Indianer und
700 Bergleute, davon
Tagesverdienst der Ar-
Mestizen, davon 1800
im Innern des Berg¬
werks beschäftigt
550 unter Tage
beiter .
5 — 6 Liv.
18 sous
Ausgabe für Pulver . .
400 000 Liv.
27 000 Liv.
M enge der zur Arnalga-
mation bzw. Verhüt-
(etwa 1600 Zentner)
(etwa 270 Zentner)
tung gebrachten Erze
720 000 Zentner
14 000 Zentner
Erzgänge .
ein Gang, oft in drei
fünf Hauptgänge von
Arme geteilt, von einer
2 — 3 dzm Mächtigkeit
Mächtigkeit von 40 bis
(in Gneis)
50 m (in Tonschiefer)
Wasser . , . .
kein Wasser
8 Kubikfuß in der
Minute. Zwei hydrau¬
lische Hebewerke
Teufe .
514 m
330 m
Zu diesen eminenten Vorzügen der natürlichen Abbau Verhält¬
nisse, die Mexikos (und natürlich ebenso alle andern amerika¬
nischen) Silberminen vor den europäischen voraus hatten, gesellte
sich nun noch, wie wir schon früher sahen, von Ende der 1550 er
Jahre an das so sehr viel ergiebigere Amalgamationsver-
fahren. Dessen Kosten stehen, wie ich schon an anderer
Stelle hervorgehoben habe, im engsten Zusammenhang mit den
Quecksilber preisen, weshalb über die Entwicklung dieser
hier einiges zu bemerken ist.
Die Produktion von Quecksilber ist auf der Erde immer nur
gering gewesen und war von jeher auf wenige Fundstätten be¬
schränkt. Als das Amalgamierungsverfahren erfunden wurde,
waren die beiden einzigen Quecksilberbergwerke von Bedeutung
Almaden in Spanien1 und das eben (1490 oder 1497) erschlossene
1 A. Nöggerath, Mitteilungen über die Quecksilberbergwerke zu
Almaden usw. in der Zeitschrift für Berg-, Hütten- und Salinenwesen
Fünfunddreißigstes Kapitel: Einfluß d.Edelmetallprodukt. a. d. Preisbildung 575
Idria in Krain h Ihre Ausbeute war jedoch bis dahin unbedeutend
gewesen. Erst durch den neu geschaffenen Bedarf nahm die
Produktion einen Aufschwung. Der Zufall wollte es dann, daß
just um dieselbe Zeit, als das Amalgamierungsverfahren sich in
Peru auszubreiten begann, daselbst eine Quecksilbergrube ent¬
deckt wurde, die im ersten Jahrhundert mehr Quecksilber lieferte
als irgendeines der vorher in Betrieb gewesenen Bergwerke ; das
war die Grube von Huanvelica im Gebirge Santa Barbara (seit
1567 in Betrieb)* 1 2.
Über den Anteil, den diese drei Hauptproduktionsgebiete in
den ersten Jahrhunderten nach der Einführung des Amalga¬
mierungsverfahrens an der gesamten Quecksilberproduktion
nehmen, geben folgende Ziffern Aufschluß3: Quecksilber wurde
erzeugt
in
seit
bis 1700
1700—1800
1800—1!
t
t
t
Almaden . .
. 1564
17 860
42141
37 642
Huanvelica . .
. 1571
80424
18756
2608
Idria ....
. 1525
19 795
21002
8357
Nun ist aber mit diesen Feststellungen nur wenig gesagt, so
lange wir nicht wissen, wie sich unter den neuen Produktions¬
verhältnissen der Preis des Quecksilbers gestaltete. Da
ist denn nun die Tatsache von entscheidender Wichtigkeit, daß
die Zufuhr von Quecksilber bis ins 19. Jahrhundert als Monopol
von der spanischen Regierung ausgeübt worden ist. Diese also
setzte den Preis ziemlich willkürlich fest, so daß nicht die natür¬
liche Gestaltung der Quecksilberproduktionsverhältnisse, sondern
die größere oder geringere Einsicht der Yizekönige in den
spanischen Kolonien über die Höhe des Quecksilberpreises und
damit bis zu einem sehr hohen Grade über das Schicksal der
Silberproduktion zu entscheiden hatte. Nach den Angaben Hum¬
boldts4 betrug nun der Preis für einen Zentner Quecksilber
10 (1862), S. 361 ff. M. H. Kuss, Memoire sur les mines d’Almaden,
in: Annales des mines. 1878.
1 (Lipoid) Quecksilberbergwerk Idria. Festschrift. 1879.
2 B. Neumann, Die Metalle (1904), 267 f.
3 Nach den Angaben von G. F. Becker, Quicksilver-Ore-Deposits.
Monogr. XIII. U.S. Geol. Survey, berechnet und ergänzt von B. Neu¬
mann, a. a. 0. S. 281.
4 Essai 4, 89.
576
Vierter Abschnitt: Oie Edelmctallproduktioii
unter dem Vizekönig Don Luis de Yelasco II. im Jahre 1590
in Mexiko 187 Piaster. Im Jahre 1750 kostete der Zentner
82 Piaster: ob und welche "Wandlungen der Preis von 1590 bis
1750 erfahren hat, gibt Humboldt nicht an, der als einzige
Quelle ein Manuskript ohne Datum zitiert1.
Wir dürfen annehmen, daß die Preisherabsetzungen im Be¬
ginne des 18. Jahrhunderts stattfanden, und daß sie wahrschein¬
lich unter dem Drucke erfolgt sind, den die Einfuhr von Queck¬
silber aus China und Ostindien durch die englisch-ostindische
Kompagnie (als Ballast !) auf den europäischen Quecksilbermarkt
ausübte. Nach neueren Ermittlungen 2 sinkt nämlich plötzlich
der Quecksilberpreis im freien Verkehr an der Amsterdamer
Börse in den ersten Jahren des 18. Jahrhunderts (von 1704 bis
1710) von 64 auf 48 und 41 Stüver pro Pfand.
Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts erfährt dann auch der
Bergbau zu Almaden eine völlige Umgestaltung, die offenbar
mit einer Verringerung der Produktionskosten verbunden ge¬
wesen ist.
Ende der 1750 er Jahre wurde der 1755 in Brand geratene Haupt¬
schacht wieder in Betrieb gesetzt. Die Regierung ließ deutsche
Ingenieure und Arbeiter kommen. Ein regelmäßiges System des Baues
wurde eingeführt, der Kompaß verschaffte sich Geltung, und brauch¬
bare Grubenbilder wurden angefertigt. Der Abbau geschah durch
Strossen- und Firstenbau. Die Lager nach der Teufe nahmen an
Mächtigkeit zu, boten jedoch größere Schwierigkeiten des Abbaus dar:
diese wurden aber (in den 1760 er Jahren offenbar) durch den Refor¬
mator des Quecksilberbergbaus in Spanien, D. Diego Larranaga, be¬
hoben, so daß nun die Förderung der tiefer gelegenen Erze nicht nur
möglich, sondern sogar rationeller und ökonomischer wurde. A. Nögge-
rath, a. a. O. S. 365. Vgl. M. H. Kuss, Memoire sur les mines
d’Almaden, in den Annales des mines 13 (1878).
Infolge aller dieser Verbesserungen steigt die Produktion in Almaden
rasch; Sie betrug in den Jahren:
1646 — 1757 429 560 Ztr. 55 Pfd. 13V2 Unze, also im Jahresdurch¬
schnitt 3835 Ztr. 17 Pfd. 6V2 Unze;
1757 — 1793 460 442 Ztr. 74 Pfd., also im Jahresdurchschnitt
13155 Ztr. 26 Pfd. 7Va Unze.
M. Hoppen sack, Über den Bergbau Spaniens und den Quecksilber¬
bergbau im besonderen (1796), S. 155.
1 Influxo del precio del azogue sobre su consumo por Don Antonio
del Campo Marin.
2 H. v. Srbik, Exporthandel Österreichs (1907), 230 ff.
Fünfunddreißigstes Kapitel: Einfluß d. Edelmetallprodukt, a. d. Preisbildung 577
Dieser Vermehrung der Qu eck s ilb e r z ufuhr und Verbilligung der
Quecksilberproduktion entspricht nun auch die Steigerung des
Verbrauchs an Quecksilber in den Silberminen:
Jalir
Preis eines
Zentners Quecksilber
Verbrauch
an Quecksilber
1762/66
82 Piaster
35 750 Ztr.
1767/71
62
42 000 „
1772/77
62 „
53 000 „
1778/82
41 „
59 000 „
Nach dem Seite 576 Anm. 1 genannten Manuskript mitgeteilt bei
AL. von Humboldt, Essai 4, 92.
"Wir erinnern uns aus dem 31. Kapitel, wie sich diese Steigerung
des Quecksilberverbrauchs in der vermehrten Silberproduktion
während des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts widerspiegelte.
"Wir vermögen aber aus dieser Tatsache den Schluß zu ziehen:
daß bis zu einem sehr hohen Grade die Quecksilberproduzenten
in jener Zeit gleichsam die Kurbel in der Hand hatten,
mittels deren sie die gesamte Entwicklung der
Kulturvölker zu beleben oder stillzulegen imstande
waren.
Wie aber wurde durch die geschilderten Vorgänge der
Tauschwert des Silbers beeinflußt? Um diese Erage zu
beantworten, müssen wir uns der Eigenarten erinnern, die die
Produktionsverhältnisse der Edelmetalle in unserer Periode auf¬
weisen, da diese von bestimmendem Einfluß auf die Gestaltung
des Tauschwerts der Edelmetalle waren.
Alle Anzeichen sprechen dafür, daß die Senkung der Pro¬
duktionskosten bei Silber schon im Laufe des 16. Jahrhunderts
eine sehr beträchtliche gewesen sein muß. Sie fand ihren ersten
Ausdruck in der sofort einsetzenden (subjektiven) Entwertung
des Edelmetalls, das sich in den Händen der Pro¬
duzenten anhäufte. In Böhmen und Tirol (wo auf kurze Zeit
wenigstens wohl eine ähnliche Verbilligung der Silberproduktion
eintrat), waren es zum Teil noch handwerksmäßige Gewerken,
die die ersten Vermittler zwischen den Silbergruben und dem
Warenmärkte abgaben. Daß die plötzliche Bereicherung aber
zu allen Zeiten dieselben seelischen Vorgänge bei Leuten solcher
Art auslösten, bezeugt folgende Schilderung, die uns ein Chronist
So m hart, Der moderne Kapitalismus. I.
578
Vierter Abschnitt: Die Edelmetallproduktion
jener Zeit (es ist das 15. Jalir hundert) hinterlassen hat: „In
Rotenberg (Ratemberg) vallis Oeni inventa notabili minera argenti,
ex omnibus terris multitudo confluxit mercantium, tot et tarn
variis contractibus, ut vix pecunia amplius ae stimaretur;
adeoque liomines illi ad ditandum avidi fuerunt, ut sine ratione
et prüden tia pecunias suas effuderint h
In Amerika und Spanien floß der reiche Silberstrom zunächst
in die Taschen der spanischen Granden: auch sie waren eine
Menschenspezies, die geneigt ist, den neuen Besitz rasch in
Gebrauchsgüter umzusetzen: durch Steigerung des Prunkes und
Verfeinerung der Lebensführung, wie wir das im 48. Kapitel
verfolgen werden. "Was wir an Schilderungen aus dem IG. Jahr- 4
hundert vom spanischen Wesen besitzen, bestätigt die Richtig¬
keit dieser Beurteilung: überall rasch steigende Preise, ins¬
besondere auch von Luxusgegenständen ; die Elle Tuch beispiels¬
weise steigt im Preise in wenigen Jahrzehnten auf mehr als das
” dreifache dessen, was sie im Anfang des 16. Jahrhunderts ge¬
kostet hatte. In Granada kostete der Sammt 28 — 29 Realen, aber
die indische Nachfrage trieb den Preis in 14 Tagen auf 35 bis
36 Realen. Ähnlich war es in Sevilla1 2.
Also gleich eine mächtige Preishausse als unmittelbare Wirkung
der neuen Edelmetallfunde auf die ersten Besitzer. Und was
nun den Zuständen im 16. Jahr hundert eigentümlich ist: das
unaufhörliche Nachströmen der so viel billigeren Edelmetalle.
Keine kurze Episode ist es, wie die Aufschließung neuer reicher
Goldseifen : es ist ein gleichmäßig starker Riesenstrom, der sich
durch die Jahrhunderte wälzt: Grund genug — zumal wenn wir
die unentwickelten Zustände der Warenproduktion der Zeit da¬
neben halten — , daß die Erschließung der amerikanischen Silber¬
minen — und bis heute nur sie — jene Preisrevolution hervor-
rufen konnten.
Gegen Ende des 16. Jahrhunderts scheint dann die Preis¬
steigerung ungeßihr sich der Senkung des Silberwertes angepaßt
zu haben; aber eine Gegenbewegung konnte immer noch nicht
einsetzen, dafür waren die Massen des immer wieder gewonnenen
amerikanischen Silbers zu groß. So stellte sich denn im 17. Jahr¬
hundert ein Preisstillstand ein, der sich aber, wie wflr gesehen
1 Xanisii lect. ant. T. III, in v. Sperges, Tiroler Bergwerks-
gesch. S. 87.
2 Fr. Tom. de Mercado, Tratos y contratos de mercadores
(1569) p. 178.
I' ünfunddreißigstes Kapitel: Einfluß d. Edelmetallprodukt a. d. Preisbildung 579
haben, in der zweiten Hälfte jenes Jahrhunderts und im nächsten
Jahrhundert bald wieder in eine Preishausse verwandelte.
Was war geschehen? Die unerhört reichen Gr oldlag er
Brasiliens waren entdeckt worden und begannen ihre Wirkung.
Über ihre Ergiebigkeit habe ich schon gesprochen. Wie die
glücklichen Funde die Preise in der nächsten Umgebung sofort
in die Höhe trieben, erfahren wir aus den Berichten der Zeit¬
genossen. In Brasilien kostete in jener Zeit1:
1 Paar Katzen (wegen Ratten- und Mäuse-
plage) .
1 Milchkuh .
1 Metze Mais . . .
1 Metze Bohnen .
1 Teller Salz .
1 Huhn .
1 Schwein .
1 Pfund trockenes Rindfleisch oder Speck
1 Pfund Gold
1 )! >1
6 — 30 — 40 oitavas
zu je etwa 10 Mk. h.W.)
8—10—30
4
6
28
2
Aber Gold ist ein unsicherer Gast, solange es nur als Wasch¬
gold gefunden ist. Meist erschöpfen sich diet. Seifen so rasch,
daß sie keine nachhaltige Senkung des Geldwertes zu bewirken
vermögen und also auch die Preise nicht dauernd auf ihrer Höhe
erhalten können. Daher vielleicht auch die Wirkung des brasi¬
lianischen Goldes auf den Geldwert nur eine vorübergehende
gewesen wäre.
Aber daß dieser auch weiter sank, dafür sorgte abermals das
Silber.
Wir wissen nämlich schon aus der früheren Darstellung, daß
dieses Metall von den 1760er Jahren ab abermals eine Revolutio-
nierung seiner Produktionsverhältnisse erlebte : das Quecksilber
ging von 82 Piaster in den Jahren 1762/66 auf 41 Piaster in den
Jahren 1778/82 herab. Die Folge davon: rasche Steigerung der
Silberproduktion: offenbar aber auch eine Verbilligung der Pro¬
duktionskosten, von denen der Quecksilberverbrauch bei dem
damals noch allein angewandten kalten Amalgamationsverfahren
einen recht beträchtlichen Teil ausmachte.
Ende des J8. Jahrhunderts haben sich die Preise wohl wiederum
den veränderten Produktionsbedingungen von Silber angepaßt,
die sich dann noch einmal zur Zeit der mexikanischen Befreiungs-
1 Nach v. Eschwege, Pluto bras., 15. 59. 88. 90.
37*
580
Vierter Abschnitt: Die Edelmetallproduktion
kriege wesentlich verschlechtern. Die Preissenkung oder wenig¬
stens Preis Stagnation nach den napoleonischen Kriegen bis in
die 1830 er und 1840 er Jahre hinein fällt jedenfalls zusammen
mit einer erheblich verminderten Silberzufuhr aus Mexiko.
In Summa: trotz der wenigen Angaben, die wir über die
Produktionskosten der Edelmetalle besitzen, vermögen wir doch
für den Zeitraum von 1250 — 1850 im ganz großen Ganzen die
Preisbewegung in einen Zusammenhang mit der Entwicklung
der Produktionsverhältnisse von Gold und namentlich Silber zu
bringen.
Fünfter Abschnitt
Die Entstehung' des bürgerlichen Reichtums
Sechsunddreifsigstes Kapitel
Machtreichtum und Reichtumsmacht
Wenn wir in diesem Abschnitt verfolgen wollen, wie der
„bürgerliche Reichtum“ „entsteht“, so werden wir uns zuvor
Klarheit darüber verschaffen müssen, was „bürgerlicher Reich¬
tum“ sei (36. Kapitel) und was „entstehen“ heißt (37. Kapitel).
„Bürgerlicher Reichtum“ ist offenbar eine besondere Art des
„Reichtums“ , der hier gemeint ist im Sinne eines mit einer
Person verknüpften Zustandes (etwas anderes bedeutet das Wort,
wenn wir vom „Reichtum der Nationen“, vom „Volksreichtum“
sprechen). Reichtum aber in diesem Sinne ist entweder, wenn
wir das Wort in neutraler Bedeutung fassen, dasselbe wie „Ver¬
mögen“ oder (wie es häufiger gebraucht wird) so viel wie ein
gesteigertes Vermögen. Zu einem vertieften Verständnis des
Wortes Reichtum kommen wir deshalb am ehesten, wenn wir
den Sinn des AVortes Vermögen zu begreifen trachten.
In prachtvoller Sinnfälligkeit drückt das deutsche Wort Ver¬
mögen eine Menge verschiedenartiger Zustände der Macht
aus: es umfaßt alle Möglichkeiten, in denen jemand etwas ver¬
mag. Es nähert in unserer Vorstellung die mannigfachen Arten
des Machthabens einander, die in fremden Sprachen voneinander
getrennt sind — pouvoir, power — fortune — , und drängt uns
daher den gemeinsamen Ursprung aller dieser Arten von Macht
auf und damit den verborgenen inneren Sinn sonst veräußer¬
lichter Verhältnisse. Es sagt uns, daß wir es mit demselben
Urphänomen zu tun haben; ob wir sagen: das steht nicht in
meinem Vermögen oder dieser Mann hat ein großes Vermögen
(schlechthin: im Sinne des Reichtums) oder er hat ein großes
Beherrschungs- oder Vorstellungs vermögen oder er ist unver¬
mögend, wobei wir im Zweifel lassen, ob wir sagen wollen: er
kann nichts oder er hat nichts.
s
582 Fünfter Abschnitt: Die Entstehung des bürgerlichen Reichtums
Was alles mit dem Worte Vermögen zum Ausdruck gebracht
wird, ersehen wir am besten, wenn wir die einzelnen Bedeutungen
in ihrer Wesenheit zu erkennen und voneinander zu unterscheiden
*
trachten.
Da ergibt sich denn vor allem, daß zwei ganz verschiedene
Arten von .Vermögen vorerst mal voneinander gesondert werden
müssen, je nach der letzten Quelle, der die eine oder die andere
Art entspringt.
Es gibt ein Vermögen, das ganz und gar auf uns selbst und
unsere höchst persönliche Kraft gestellt ist, und daneben ein
Vermögen, das uns die Gesellschaft verleiht, dessen Bestand
daher auf deren Macht aufgebaut ist. Ich nenne jenes Individual-,
dieses Sozialvermögen und meine damit das Folgende:
Das Individualvermögen entspringt der Macht der
Persönlichkeit und wird begrenzt durch deren Leistungsfähigkeit
allein, reicht soweit also wie die durch keine gesellschaftliche
(staatliche) Garantie gesicherte oder unterstützte Macht des
einzelnen Individuums reicht. Es kann beruhen in einem persön¬
lichen Können, dann nennen wir es unser Leistungsver¬
mögen: einen Berg zu besteigen oder drei Flaschen Sekt zu
trinken oder eine gute Bede zu halten oder das hohe C zu
singen usw. Oder es beruht in einer Verfügungsgewalt über
Menschen oder Dinge : dann könnte man es als Herrschafts-
vermögen bezeichnen.
Eine Verfügungsgewalt über Menschen und Dinge sage ich;
wohlverstanden : die als einzige Quelle die Macht der Persön¬
lichkeit hat.
Also wenn ein Mensch imstande ist, über andere zu herrschen,
sie zu Leistungen oder Unterlassungen zu zwingen, sie sich
dienstbar zu machen allein kraft seiner Schönheit, seiner persön¬
lichen Größe, seiner Güte, seiner Stärke. Wie der Hypnotiseur
ein rein physiologisches Vermögen über andere hat. Durch
direkte Einwirkung von Mensch zu Mensch. Jemand hat ein
individuelles Sachvermögen, wenn dieses selbst rein individualer
Macht sein Dasein verdankt; also nicht etwa auf irgendeinem
Bechtstitel, sei es auch das dürftigste Besitzrecht, beruht (als
womit es zum sozialen Vermögen werden würde). . Solcherart
Sachvermögen sind naturgemäß sehr selten : Fafner hat den
Nibelungenhort individualiter im Vermögen. Oder ein Dieb eine
gestohlene und verborgene Sache .(sobald er jedoch etwa einen
Sechsimddreißigstes Kapitel: Machtreichtum und Reichtumsmacht 583
gestohlenen Schmuck in Geld einlöst und dann mit dem Gelde
etwas bezahlt, hat er ein soziales Vermögen gewonnen).
Das Sozialvermögen ist dem entgegen immer von der
Gesellschaft garantiert und schließt stets ein Rechtsverhältnis
ein. Daß es ein soziales Leistungsvermögen gäbe , wird man
theoretisch nicht bestreiten dürfen. Praktisch ist es bedeutungs¬
los. Praktisch ist vielmehr das Sozialvermögen immer ein Herr¬
schaftsvermögen (denn auch z. B. Patentschutz, Schutz des
geistigen Eigentums, die also ein individuelles Leistungsvermögen
schützen sollen, begründen doch immer ein soziales Herrschafts¬
vermögen, insofern sie andere verhindern, etwas zu tun).
Wiederum kann sich das Herrschaftsvermögen unmittelbar
auf Personen oder auf Sachen beziehen.
Sozial beherrscht Personen, wen die Gesellschaft (der
Staat) dazu ermächtigt. In der Sphäre des öffentlichen Rechtes
liegt das soziale Herrschaftsvermögen allem Beamtenverhältnis,
aller militärischen Disziplin, allem Polizeiwesen zugrunde, während
in der Sphäre des Privatrechts heute das rein personale Herr¬
schaftsvermögen stark beschränkt ist. Im Zeitalter der Sklaverei
konnte es sich beliebig auf alle Menschen und alle ihre Lebens¬
funktionen ausdehnen ; heute findet es sich häufiger nur noch in
familienrechtlichen Beziehungen : alle elterliche Autorität (soweit
sie nicht einem Individualvermögen der Eltern entspringt) ruht
auf dem Sozialvermögen , dem von der Gesellschaft mit ihren
Machtmitteln sanktionierten Herr Schafts Verhältnis zwischen Eltern
und Kindern. Dagegen ist das eigentliche Gebiet des Sozial¬
vermögens die Sachbeherr schung. Hier also erscheint es als
soziales Sachvermögen und beruht in der durch die Ge¬
sellschaft (Staat) gewährleisteten Verfügungsgewalt einer Person
über Sachgüter.
Das ist diejenige Spielart des „Vermögens“, an die wir denken,
wenn wir (ohne weiteres) von großen, mittleren und kleinen
Vermögen reden, die die fremden Nationen mit einem besonderen
Worte (fortune, riches) bezeichnen, die aber (wie aus meinen
Ausführungen wohl hervorgeht) in der Tat nichts Wesensanderes
darstellt als alle andern Bedeutungen des deutschen Wortes Ver¬
mögen auch. Dieser Mann hat ein großes Vermögen heißt: dieser
Mann kann auf Grund irgendwelcher Rechtstitel über große
Mengen von Sachgütern verfügen und wird hierbei vom Staate
geschützt. Und einen solchen Mann nennen wir „reich“ (im
materiellen Sinne). Sein Reichtum erstreckt sich soweit, als der
584 Fünfter Abschnitt: Die Entstehung des bürgerlichen Reichtums
Kreis von Sachgütern, über die er verfügen kann; über die zu
verfügen die Gesellschaft ihm gestattet.
Der Inhalt dieser Verfügungsgewalt ist nun ein sehr mannig¬
faltiger. Bei weitem ihr wichtigster Bestandteil ist die Macht,
die der Vermögende kraft seines Sachvermögens über andere
Menschen ausübt. Es ist eine andere Macht als die dem Individual¬
vermögen entspringende ; es ist auch eine andere als die aus dem
personalen Sozialvermögen fließende (z. B. Herrschermaclit) : sie
wird immer vermittelt durch ein Sachgut, mit dessen
Hilfe die Leistungen anderer Personen „bezahlt“, „gekauft“
werden (diese Ausdrücke im weitesten Sinne gebraucht). Ich
kann jemandes Liebe oder Dankbarkeit durch ein Geschenk „er¬
kaufen“, ich kann jemanden für geleistete Dienste durch Über¬
lassung eines Sachguts „bezahlen“ (Dienstlehen!); ich kann eine
Schauspieltruppe gegen Darreichung von Sachgütern mir Vor¬
spielen lassen; ich kann mir die Dienste eines Bechtsanwaltes
oder Arztes gegen „Bezahlung“ sichern; ich kann endlich die
Arbeitsprodukte anderer gegen meine Güter Umtauschen, „kaufen“.
Daß andere Menschen für mich tätig sein müssen,
gibt allem Beicht um erst seinen Sinn und seine Be¬
deutung. Zwar kann Bobinson Güter aufspeichern; er kann
„Vermögen“ ansammeln; aber es bleibt Individualvermögen. Und
zum Individualvermögen schrumpft das Sozialvermögen zusammen,
wenn etwa aus irgendeinem Grunde jene geheimnisvolle "Wirkung
der Sachgüter, die mein „Vermögen“ ausmachen: andere Menschen
zur Leistung zu veranlassen, aufhört: etwa infolge eines Krieges,
in einer Bevolution oder einer schweren Krisis. Wenn ich in
solchen Fällen mit meinem Sach „vermögen“ niemandes Dienste
(oder Arbeitsprodukte) mehr „kaufen“ kann, reicht mein Ver¬
mögen nur so weit, als ich mit meiner Person einzuwirken ver¬
mag : sei es unmittelbar auf Sachen (indem ich mit eigener Hand
meinen Acker bearbeite), sei es mittelbar auf andere Menschen
(indem ich z. B. durch die Macht der Überredung oder durch
Drohung oder durch Güte andere bewege, für mich zu arbeiten).
Oder aber mein soziales Personalvermögen muß mir weiter helfen.
Mein sozialesSach vermögen hat aber aufgehört zu existieren :
ich besitze nur noch Individual- oder personales Sozialvermögen.
In welcher Form sich ein Vermögen darstellt, ist gleichgültig
für den Begriff des Vermögens. Es können Forderungen sein;
es kann aber auch mein Vermögen sich in Sachgütern ver¬
körpern : sind dieses Grundstücke, sprechen wir von Immobiliar-
Sechsunddreißigstes Kapitel: Machtreichtum und Reichtumsmacht 585
vermögen, ist es Fahrhabe, von beweglichem oder Mobiliarver¬
mögen. Nur eine besondere Form des Mobiliarvermögens ist das
G-eldvermögen. Es ist das Vermögen in abstrakter Gestalt, so¬
fern im Gelde alle beliebigen Güter symbolisch dargestellt werden.
Es ist das Vermögen in seiner wirksamsten Gestalt, sofern in
verkehrswirtschaftlicher Organisation (in normalen Zeiten) das
Symbol „Geld“ von jedermann gern genonmen wird und folge¬
weise: pecuniam habens habet omnem rem quam vult habere;
richtiger: der Geldbesitzer über jede Arbeitsleistung anderer
verfügen kann.
Verhältnis des Begriffs Vermögen zu den Rechts¬
kategorien
Das soziale Sachvermögen stellt sich juristisch dar in den ver¬
schiedensten Rechtskategorien, nicht etwa nur im Eigentum. Alle
Rechtsverhältnisse des Sachenrechtes sowie auch des Obligationen¬
rechtes gehören hierher. Denn in allen handelt es sich am letzten
Ende immer darum, daß eine Person die Verfügungsgewalt über eine
bestimmte Menge von Sachgütern hat (oder einer andern streitig macht
oder erst zu erlangen trachtet oder auf eine andere übertragen oder
gegen einen andern Sachgüterkomplex eintauschen oder über sie eine
vorübergehende Verfügungsgewalt für sich oder andere feststellen
lassen wäll usw.).
(Daß letzten Endes auch rechtlich in der „Sach“beherrschung nur
eine Personenbeherrschung steckt , weiß jeder Jurist. Auch ein
„Sachenrecht begründet nicht ein Rechtsverhältnis zwischen einer
Person und einer Sache, sondern zwischen Personen. Selbstverständ¬
lich.)
Was den Begriff des „Vermögens“ von allen Rechtsverhältnissen
unterscheidet ist dieses: daß die im „Vermögen“ begründete Herr¬
schaftsgewalt dem Berechtigten die endgültige Verfügung über die
der Herrschaft unterliegenden Gütermengen gewährt. Insofern umfaßt
das „Vermögen“ die Fähigkeit, zu dem Gegenstände in ein Rechts¬
verhältnis, welches immer es sei, aber auch in ein physisches Ver¬
hältnis, welches immer es sei, beliebig zu treten. Kraft der in meinem
„Vermögen“ eingeschlossenen Befugnisse kann ich auch dritten Per¬
sonen, so viel mir gut dünkt, Rechte auf die Sache einräumen: selbst
das Eigentum, ohne mich des Vermögens zu entäußern. Das geschieht
beispielsweise mit Notwendigkeit in der Rechtsform des Darlehns.
Hier erlangt der Schuldner Eigentum an dem Gelde, das zum Ver¬
mögen des Gläubigers gehört. Der Umfang unseres Vermögens wird
also festgestellt durch die Reichweite unseres Eigentumsrechtes, zu¬
züglich unserer Forderungen, abzüglich unserer Schulden. (Wenn ich
hier von Geld und Kredit gesprochen habe, so geschah es natürlich
nur, um jedermann vertraute Beispiele zu wählen. Die mit den Bei¬
spielen verdeutlichten Tatbestände können in jeder Gestaltung des
580 Fünfter Abschnitt . Die Entstehung des bürgerlichen Reichtums
Wirtschaftslebens wirklich werden, gehören also zu den Elementar¬
erscheinungen.)
Betrachten wir nun die historische Entwicklung des
Vermögens, so ist ersichtlich, daß das Individualvermögen immer
zuerst da sein muß. Auf ihm baut sich dann das Sozialvermögen
auf: die mit besonderen Kräften, Mächten, Fähigkeiten aus¬
gestatteten Personen: Medizinmänner, Priester, Heerführer, be¬
kommen soziale „Gleitung“ : werden mit sozialen Machtmitteln
von der Gesellschaft ausgestattet: zunächst mit bloßer Herr¬
schaftsgewalt, sodann auch mit Sachvermögen. Die Mächtigen
werden die Reichen : ihnen fällt das eroberte Land, die eroberte
Beute in größerem Umfange anheim. Sie sind reich (an Sach¬
gütern), haben ein großes Sachvermögen, weil sie mächtig waren,
kraft ihrer Herrscherstellung in der Gesellschaft: einen solchen
Reichtum will ich Machtreichtum nennen. Es war der Reich¬
tum, wie wir ihn bei den europäischen Völkern beim Eintritt in
die Geschichte allein finden, wie er noch einen größeren Teil des
Mittelalters hindurch vorwiegt. Es ist der Reichtum der Könige,
der Großgrundbesitzer, der Kirche. Dieser Reichtum trägt ein
stark feudales Gepräge, und wir können ihn deshalb (nicht ganz
genau, aber treffend) als feudalen Reichtum bezeichnen.
Er bestand teils in Grundbesitz, teils in Fahrhabe, auch in
Geld.
Das Geld bewirkt es nun, daß der Reichtum sich unmerklich
seinem innersten Wesen nach wandelt. Der Geldbesitz, als die
abstrakte Form des Sachvermögens, verleiht als solcher jedem,
der ihn hat, Macht. Diese Macht stammt von nichts anderem
als von der Tatsache her, daß jemand über eine Anzahl Geld¬
stücke verfügt. Und diese aus dem (Sach)Reichtum abgeleitete
Macht tritt nun mit der Zeit ebenbürtig neben die aus Herr¬
schaftsverhältnissen fließende Macht, so sehr, daß sie diese
staatlichen Herrschaftsverhältnisse schließlich gar aus eigener
Kraft schafft. Es kommt dahin, daß die Reichen die Mächtigen
werden. Eine solche Macht, die aus Reichtum stammt, will ich
Reicht ums macht nennen. Diese Reichtumsmacht erstarkt nun
in den europäischen Staaten seit den Kreuzzügen je mehr und
mehr. Ihre Träger sind die nouveaux riches, die gente nuova, die
homines novi, quos fortuna e faece tulit: sie stehen zunächst
außerhalb des Nexus der feudalen Gesellschaft (in die sie
höchstens kraft ihres Reichtums eindringen). Wir können ihren
Reichtum deshalb als bürgerlichen Reichtum bezeichnen.
Sechsundclreißigstes Kapitel: Maclitreichtum und Reichtumsmacht 587
Das ist nun also der große welthistorische "Wandel, den wir
in seinen Etappen verfolgen wollen: wie aus Machtreich¬
tum sich Reichtumsmacht entwickelt. Das ist das
Problem der Entstehung des bürgerlichen Reichtums.
Noch einmal: nicht sowohl die Träger des Reichtums sind
es, die den tiefen Unterschied begründen: dieser liegt in der
Wesenheit der beiden Reichtumsarten selbst in ihrer verschie¬
denen Ableitung, in ihrem verschiedenen Geiste.
Was bist du? fragte man früher. Ein Mächtiger. Also bist
du reich.
Was bist du? fragt man jetzt. Ein Reicher. Also bist du
mächtig.
Es mag noch bemerkt werden, daß die Begriffe Reichtum
oder Vermögen ganz und gar nicht mit dem Begriffe Kapital
gleich zu setzen sind. Es war ein grober Fehler der ersten
Auflage dieses Werkes, daß zwischen Vermögen und Kapital und
somit auch zwischen Vermögensbildung und Kapitalbildung nicht
scharf genug unterschieden wurde. Wir werden sehen, wie diese
beiden in der europäischen Geschichte sich verschieden ent¬
wickeln. Zunächst haben wir es aber nur mit dem bürgerlichen
Vermögen (Reichtum), nicht mit Kapital, zu tun. Dessen Ent¬
stehung ist ein großes Ereignis von ganz eigner Prägung, das
nicht nur über das Problem der Kapitalbildung, sondern sogar
über das der Entstehung des Kapitalismus hinaus von einziger
Bedeutung ist.
588
Siebenunddreifsigstes Kapitel
Zur Theorie der Yermögensbildung
Nachdem wir nun uns klar gemacht haben, was „bürgerlicher
Reichtum“ ist, müssen wir uns noch, ehe wir seine Entstehung
verfolgen, vergegenwärtigen, was man denn unter „Entstehung“
von Reichtum (oder „Vermögen“ in dem festgestellten Sinne)
zu verstehen hat.
Wir besitzen zwei Methoden, um die Vermögensbildung zur
Darstellung zu bringen: die subjektiv-biographische und
die objektiv-soziologische.
Nach jener wird der Weg untersucht, der eine Person und
noch eine und noch eine zum Reichtum geführt hat.
Neben den objektiven Umständen werden vor allem die
subjektiven Eigenarten aufgewiesen, die diesen oder jenen zu
vermögenden Leuten gemacht haben. Man bemüht sich, den
Erfolg dem einzelnen zuzurechnen ; man versucht eine Aufteilung
des erworbenen Reichtums auf die beiden Kategorien: G-lück
und Verdienst. Man versucht, um es in der hier gezeigten
Terminologie auszudrücken, nachzuweisen: welcher Zusammen¬
hang im einzelnen Falle zwischen Individual- und Sozialvermögen
obwaltet.
Ob eine solche Aufgabe im monographischen Rahmen lösbar
ist, mag dahingestellt bleiben. Auf die gewaltigen Schwierigkeiten
hat in epigrammatischer Form schon Mephisto hingewiesen, und
Friedrich Albert Lange hat in dem berühmten dritten
Kapitel seiner „Arbeiterfrage“ einen streng wissenschaftlichen
Beweis dafür erbracht, daß „der Zufall“ an jedem wirtschaft¬
lichen Erfolge den größten Anteil hat.
Wollte man aber auch für den einzelnen Fall den Nachweis
als vollkommen gelungen erachten, daß ein bestimmtes Vermögen
als das Ergebnis ganz bestimmter persönlicher Leistungen und
Begabungen anzusehen sei, so wäre damit für die Erkenntnis
eines gesellschaftlichen Gresamtzustandes noch herzlich wenig
gewonnen. Denn jene besonderen Zusammenhänge ohne weiteres
zu verallgemeinern, das Schicksal des einzelnen als typisch an-
♦
Siebenimdclreißigstes Kapitel: Zur Theorie der Vermögeusbildung 589
zusehen und aus ihm auf die übrigen Fälle zu schließen, ist
natürlich nicht angängig. Man könnte höchstens einen Induktions¬
beweis versuchen, indem man eine größere Anzahl „typischer“
Fälle untersuchte, um aus ihnen allgemeinere Schlüsse abzuleiten.
Diese allgemeinen Feststellungen könnten sich dann immer nur
auf zweierlei beziehen: auf die objektiven Möglichkeiten, Ver¬
mögen zu erwerben, und auf die subjektiven Qualitäten, die be¬
sonders geeignet machen, jene objektiven Möglichkeiten auszu¬
nutzen. Damit aber hätte man schon den Boden der subjektiv¬
biographischen Methode verlassen und hätte sich auf den der
objektiv-soziologischen gestellt. Denn diese besteht eben darin,
daß man sich mit der Feststellung der objektiven Möglichkeiten
und der Aufzählung der ihnen angepaßtesten Eigenschaften begnügt,
zu deren Erkenntnis man auf zahlreichen andern Wegen außer
dem der biographischen Einzeluntersuchung gelangt. (Die Öko¬
nomie dieses Werkes bringt es mit sich, daß der Aufweisung
der objektiven Möglichkeiten der Vermögensbildung dieser fünfte
Abschnitt fast ausschließlich gewidmet ist, während der Nach¬
weis der subjektiven Eignung nur gelegentlich in diesem Ab¬
schnitte, ausführlicher jedoch unter Verwertung noch anderer
Gesichtspunkte später erfolgt.)
Eine allgemeine Theorie der Vermögensbildung
ist meines Wissens bisher noch niemals aufzustellen versucht
worden. Außer den wenigen Bemerkungen in der Pantschatantra
ist mir überhaupt nichts zu Gesichte gekommen, das die theore¬
tischen Möglichkeiten und Voraussetzungen der Vermögens¬
bildung systematisch zusammenzustellen unternommen hätte. Ich
gebe hier das Schema.
Die Frage nach den Umständen der Vermögensbildung ist
I. die Frage nach den Quellen, aus denen das Vermögen
fließt.
Danach ist die Vermögensbildung
(1. formal ) entweder originär oder abgeleitet.
Um diese besonders wichtige Unterscheidung richtig zu ver¬
stehen, muß vorausgeschickt werden, daß es sich bei dieser Be¬
trachtung immer nur um die Entstehung „größerer“ Vermögen,
das heißt solcher Vermögen handeln soll, die mehr Sachgüter
umfassen, als sich in den Händen der primitiven, gleichgestellten
Wirtschaftssubjekte befinden, so daß das Problem der Vermögens¬
bildung in gewissem Sinne gleichgesetzt wird mit dem Problem
derVermögensdifferenzierung, mit der Entstehung des „Reichtums“.
590 Fünfter Abschnitt: l)ie Entstehung des bürgerlichen Reichtums
Originär ist die Vermögensbildung wiederum in einem
doppelten Sinne : im ökonomischen oder im geographischen Sinne,
wie ich kurzweg sagen will. Originäre Vexmögensbildung im
ökonomischen Sinne nenne ich diejenige, die sich im Kreise
gleichvermögender Genossen vollzieht: wro sich also sowohl die
kleinen Vermögen aller Genossen erst bilden als auch größere Ver¬
mögen aus dem Nichts oder aus diesen kleinen Vermögen der an¬
nähernd gleichgestellten Genossen erwachsen ; abgeleitete Ver-
rnögensbildung dagegen diejenige, bei der ein größeres Vermögen
durch Übertragung schon vorhandener größerer Vermögen sich
bildet. Im Falle der abgeleiteten Vermögensbildung ist also das
Vermögen schon an einer Stelle angehäuft: es wechselt nur
seinen Besitzer. Das kann sich im Nahmen eines und desselben
Wirtschaftssystems abspielen oder es kann sich bei dieser Ver¬
mögensübertragunggleichzeitig um einen Wechsel des Wirtschafts¬
systems handeln, wenn etwa sich Feudalvermögen in bürgerliches
Vermögen wandelt oder wenn dereinst beim Übergang aus der
kapitalistischen in die sozialistische Gesellschaftsordnung nach
dem Wunsche der Sozialisten die „Expropriateurs expropriiert“
werden. (Die ganze Marx sehe Evolutionstheorie fußt auf dem
Gegensatz zwischen originärer und abgeleiteter Vermögensbildung
in dem hier geprägten Sinne.) Auch jede „Verstaatlichung oder
Verstadtlichung“ gehört hierher. Originär oder abgeleitet im
geographischen Sinne ist die Vermögensbildung, je nachdem
sie sich innerhalb eines bestimmten, räumlich begrenzten Gebietes
(z. B. eines Landes) vollzieht oder von einem Lande auf das
andere überspringt. Soweit z. B. die Bildung der englischen
großen Vermögen innerhalb Englands erfolgt, nenne ich sie
originär, beruht sie auf der Übertragung von Vermögen, die sich
vorher in Spanien, Italien, Holland usw. schon gebildet hatten:
abgeleitet.
(2. material ) erfolgt die Vermögensbildung entweder bei
gleichbleibendem Reichtum. oder bei wachsendem Reich-
tum oder bei sinkendem Reichtum, wobei ich das Wort
Reichtum dieses Mal im Sinne von Nationalreichtum fasse. Der
nationale Reichtum wächst, wenn die produktiven Kräfte wachsen:
diese wiederum wachsen entweder extensiv, wenn die Bevölke¬
rung sich vermehrt; oder intensiv, wenn die Arbeit durch bessere
Organisation oder Vervollkommnung der Technik produktiver
gestaltet wird. Findet eine Vermögensbildung unter stabilen
Reichtumsverhältnissen statt, dann kann sie natürlich immer nur
biebenunddreißigstea Kapitel: Zur Theorie der Yermögensbildung 59 [
diü Kosten anderer Vermögen erfolgen; es kann sich alsdann
nur um eine Vermögensverschiebung' handeln. Ln andern Falle
können neue Vermögen neben den alten entstehen. Eine Ver¬
mögensbildung bei sinkendem Reichtum bedeutet in der Regel
©ine Raubwirtschaft , sei es daß der Boden , sei es daß die
Menschen ausgesogen werden. „Ausgesogen“ Averden das heißt
so genutzt werden, daß eine Erneuerung (Reproduktion) ihrer
Klüfte nicht stattfindet, also von der Substanz und nicht nur
von den Erträgnissen gezehrt wird. Sehr häufig ist alsdann die
A ermögensbildimg die AMranlassung zur Raubwirtschaft.
Das hier berührte Problem läßt sich auch so umschreiben
ein Vermögen wird entweder gebildet aus den schon vorhandenen
Genußgütern oder Produktionsmitteln (die alsdann nur den Be¬
sitzer wechseln: formal „abgeleitete“ Vermögensbildung); oder
es wird gebildet aus den Arbeitserträgnissen einer neuen Pro¬
duktionsperiode. AVerden diese so stark zur Vermögensbildung
verwendet, daß eine Reproduktion des gesellschaftlichen Reich¬
tums nicht möglich ist, so hegt’ Raubwirtschaft vor.
Das Problem der Vermögensbildung (sofern nach den Quellen
gefragt wird, aus denen die neuen Vermögen entspringen) ist
also sowohl ein Produktionsproblem als ein Verteilungsproblem :
die Produktion entscheidet über die überhaupt zur AMrmögens-
bildung vorhandenen Sachgüter, die Verteilung über deren An¬
schoppung an einzelnen Stellen.
II. Die Mittel, mittels deren Vermögen gebildet wird, sind
natürlich außerordentlich zahlreich. Man wird die wichtigsten
Gruppen etwa in folgender Weise unterscheiden können:
1. nach der Art der Tätigkeit (oder des Verhaltens), die
(oder das) zur Vermögensbildung führt: ob es wirtschaftliche
oder außerwirtschaftliche Tätigkeit ist; ob es sich um Produktions¬
oder Konsumtionsakte handelt: ob also durch Überschüsse im
Geschäft oder durch „Sparen“ das Vermögen vermehrt wird
(oder natürlich: durch beides); ob ein aktives Tun oder ein
passives Leiden Grund der \rermögensbildung wird : ob Raub
oder Erbschaft etwa ein Vormögen entstehen lassen.
2. nach der Form, in der die Vermögensbildung erfolgt.
Die Vermögensbildung kann im Rahmen der bestehenden Rechts¬
und Sittenordnung oder unter Mißachtung von Recht und Sitte
vor sich gehen; sie kann also eine „rechtmäßige“ oder „unrecht¬
mäßige“ sein. Sie kann auf einseitigem Zwang oder auf Über¬
einkommen beruhen. Sie kann auf entgeltlichen oder unentgelt-
592 Fünfter Abschnitt: Die Entstehung des bürgerlichen Reichtums
liehen Wertübergängen beruhen, je nachdem derjenige, dem man
einen Wert abnimmt, diesen Wert (ganz oder zum Teil) zurück¬
erhält oder nicht.
III. Eine wichtige Unterscheidung ist endlich noch die nach
dem Tempo: ob eine Vermögensbildung schrittweise oder
sprungweise vor sich geht. Schrittweise : so daß während eines
langen Lebens oder erst während mehrerer Generationen aus
kleinen Anfängen sich ein mittleres, dann ein größeres und großes
Vermögen bildet; sprungweise: so daß in wenigen Jahren Riesen¬
vermögen wie Pilze aus der Erde schießen. Diese Unterscheidung
ist deshalb so wichtig, weil diese beiden Arten der Vermögens¬
bildung ganz verschiedene Wirkung auf das Wirtschaftsleben
ausüben: weil die schrittweise Vermögensbildung das langsame
Ileranwachsen neuer Formen, gleichsam die Herausbildung von
innen nach außen im Gefolge hat ; während die sprunghafte Ent¬
stehung eine rasche , mechanische Hervorbringung bewirkt,
gleichsam von außen nach innen die Entwicklung beeinflußt.
*
*
Aus all diesen theoretischen Betrachtungen ergibt sich nun
aber die Einsicht vor allem, daß das Problem der Vermögens -
bi 1 düng ein historisches Problem ist, das heißt: daß die
Art und Weise, wie Vermögen entstehen: die Quellen, die Mittel,
das Tempo der Vermögensbildung durch die geschichtlichen Um¬
stände bestimmt werden. Die allgemeinen Sätze haben ja in
diesem Zusammenhänge auch nur den Sinn, die nun zu schildernde
empirische Phase der Vermögensbildung — diejenige, in der
bürgerliche große Vermögen, also der bürgerliche Reichtum
entstehen — leichter verständlich zu machen dadurch, daß die
Gesichtspunkte herausgehoben sind, unter denen wir füglich die
Einzelerscheinungen betrachten werden.
Die Anlage dieses Abschnitts ist nun diese : in dem folgenden
(38.) Kapitel gebe ich einen Überblick über das, was wir den
feudalen Reichtum nennen wollten, das heißt diejenigen Reich¬
tumsformen, bei denen der Reichtum ein Ergebnis der sozialen
Macht ist: dahin gehört aller Reichtum der (feudalen) Gro߬
grundbesitzer, der Reichtum der Könige und Fürsten und aller
öffentlichen Körper.
In den folgenden Kapiteln (89 bis 47) werden die Entstehungs-
arten des bürgerlichen Reichtums geschildert: es wird nach-
gewiesen, wie weit er (von feudalem Reichtum) abgeleitet, wie
Siebenunddreißigstes Kapitel: Zur Theorie der Vermögensbildung 508
weit er originären Ursprungs ist; wann er rascli und sprunghaft
entstand, wann allmählich; mit welchen Mitteln endlich er erworben
wurde. Da nun nicht gleichzeitig sämtliche Unterscheidungsmerk¬
male zu Einteilungen des Stoffes verwandt werden können, so muß
ein Merkmal als oberstes Einteilungsprinzip ausgewählt werden,
ch habe dazu die Mittel der Vermögensbildung erkoren.
Danach gliedert sich die Darstellung nach folgendem Schema,
das ich in der äußeren Anordnung nicht wiederholt habe, um
die Einteilung in Kapitel leichter möglich zu machen. Die ein¬
zelnen Kapitel stehen also im Verhältnis der Über-, Unter- und
Nebenordnung, wie folgende Übersicht über die Gesamtdisposition
ergibt :
A. Die Vermögensbildung außerhalb der kapitalistischen Wirt¬
schaft :
I. Die gebundenen Formen der Vermögensbildung:
1. Die Vermögensbildung- in der handwerksmäßigen Wirt¬
schaft: 30. Kapitel;
2. Die Vermögensbildung durch Geldleihe: 40. Kapitel;
3. Die Akkumulation städtischer Grundrente: 41. Kapitel;
4. Die unmittelbare Vermögensbildung: 42. Kapitel.
II. Die freien Formen der Vermögensbildung:
1. Betrug, Diebstahl, Unterschlagung als Vermögens¬
bildner: 43. Kapitel;
2. Der Baub: 44. Kapitel;
3. Der Zwangshandel: 45. Kapitel;
4. Die Ausbeutung! der Kolonien durch Zwangsarbeit:
46. Kapitel.
B. Die Vermögensbildung im Rahmen der kapitalistischen
Wirtschaft: 47. Kapitel.
38
Sombart, Der moderne Kapitalismus. I.
594
Aclitunddreifsigstes Kapitel
Der feudale Reichtum
I. Der Großgrundbesitz
Ich habe an anderer Stelle schon an die bekannte Tatsache
erinnert, daß sich im Laufe des Mittelalters ein sehr beträcht¬
licher Teil der Länder Europas in den Händen der Grundherren
zu mehr oder weniger großen Besitzungen zusammenballte.
Dieser Besitz, der in den Anfängen zweifellos ein fast aus¬
schließlich naturaler war und seine Bedeutung im wesentlichen
in der Möglichkeit erschöpfte, eine größere Anzahl von Menschen
leben zu lassen, wurde allmählich, wie wir annehmen dürfen,
immer mehr „mobilisiert“, je mehr die Abgaben der zinspflichtigen
Hintersassen in Geld erhoben oder die Ernteerzeugnisse von den
Besitzern selber zum Verkauf gebracht wurden.
Gleichzeitig erfuhren die Erträgnisse des Grund und Bodens
dank den Fortschritten der landwirtschaftlichen Technik sowie
infolge der dichteren Besiedelung eine unausgesetzte Steigerung,
an denen die Grundherren in dem Maße teilnahmen, als es ihnen
gelang, die Abgabepflicht der Bauern auf gleicher Höhe zu er¬
halten oder gar zu steigern.
Den „Wert“ des Grund und Bodens in früherer Zeit zu er¬
mitteln ist natürlich fast eine unlösbare Aufgabe. Wir müssen
daher uns damit zufrieden geben, wenn uns einige Forscher ein
paar Annäherungswerte zusammengerechnet haben, die ja im
Grunde keine andere Bedeutung haben, als einer selbstverständ¬
lichen Tatsache einen ziffernmäßigen Ausdruck zu verleihen.
Für einzelne Teile Deutschlands hat Lamprecht solche
Berechnungen angestellt. Er nimmt an, daß es das Ereignis der
ersten Hälfte des Mittelalters ist, überhaupt erst einen irgendwie
nennenswerten Bodenpreis gebildet zu haben, und daß demgemäß
eine Steigerung der Bodenpreise vom 9. bis zum 12. Jahrhundert
im Verhältnis wie 100 zu 1184,3 erfolgt sei; bis zum 13. Jahr¬
hundert steige dann der Preis auf 1671,3, bis zum Ende des
14. Jahrhunderts auf 3085 h
1 Lamprecht, DWL. 1, 602 ff.
Aelitunddreißigstes Kapitel: Der feudale Reichtum
595
Die noch viel vageren Ziffern, die uns D’Avenel1 für das
Mittelalter gibt , setzen den Preis des Hektars pflügbaren
Landes an:
für das 9. Jahrhundert auf 70 Frcs.
» » 12- „ „ 93 „
» » 13. » „ 135—261 Frcs.
v ?) 16. „ „ 317 Frcs.
Es ist anzunehmen, daß ein nicht unbeträchtlicher Teil dieser
"Wertsteigerung, die sich natürlich in den folgenden Jahrhunderten
fortsetzt, den Großgrundbesitzern in Gestalt höherer Eenten zu¬
gute gekommen ist. Vielleicht auch weist die Entwicklung hier
in den verschiedenen Ländern eine verschiedene Eichtung auf:
insbesondeie scheint es fast, als ob in Deutschland zeitweise
wenigstens die steigenden Bodenerträgnisse sich nicht in
steigende Eenten umgesetzt hätten, ja als ob seit dem 13. Jahr¬
hundert in vielen Gegenden Deutschlands die Abgaben der Bauern
immer geringer geworden wären, weil sie (bei den Erbzinsgütern,
die aber die Eegel bildeten) fixiert wurden und deshalb sanken:
als Geldzinse infolge der seit 1250 überhandnehmenden Mtinz-
verschlechterungen, als Getreidezinse infolge des Sinkens der
Getreidepreise (seit 1400 ?)2. In allen den Ländern aber, und
das waren die meisten westeuropäischen Staaten, wo es den
Grundbesitzern gelingt, die zeitpachtähnlichen Verhältnisse ein¬
zuführen, fließen die Mehrerträge des Bodens zum größten Teil
den Grundherren zu und steigern deren Einkommen.
Um welche Summen handelte es sich bei diesen Einkommen
und Vermögen der Grundherren?
Einen klaren Einblick in die Struktur der mittelalterlichen
Gesellschaft würde uns allein eine Einkommens- und Vermögens¬
statistik der genannten Kreise gewähren. Und es wäre wohl eine
dankbare Aufgabe für gebildete Wirtschaftshistoriker, einmal eine
Geschichte des ländlichen Eeichtums im Mittelalter zu schreiben,
als Gegenstück zu den zahlreichen Darstellungen städtischer Ein¬
kommens- und Vermögensverhältnisse. Es scheint mir kein un¬
ausführbarer Plan, etwa vom Domesday-Book und den Polyptiquen
des 10. und 11. Jahrhunderts an die Vermögen der weltlichen
und geistlichen Herren in ihrer Entwicklung zu verfolgen. Die
Hauptsache wird auch hier die Fragestellung sein. Was wir
28*
1 D’Avenel, Hist. econ. Livre II Ch. VI.
2 Siehe z. B. Meitzen, Siedlungen 2, 341. 639.
596 Fünfter Abschnitt: Die Entstehung de3 bürgerlichen Reichtums
einstweilen an Kenntnissen besitzen, ist freilich, nur dürftiges
Stückwerk. Immerhin reicht es hin, um ungefähre Vorstellungen
von dem Reichtumszustande auf dem Lande während des Mittel¬
alters zu gewinnen. Da ist denn nun wohl die Tatsache als fest¬
stehend anzunehmen, daß (auch an sog. „beweglichen“ Vermögen,
insonderheit Edelmetallbesitz) bis tief in das Mittelalter hinein,
ja bis über das Mittelalter hinaus die großen Privatvermögen
allein bei den weltlichen Grundherren, Stiftern und Klöstern zu
finden waren. Städte, wie Lübeck und Hamburg in ihrer Blüte¬
zeit, hatten gewiß nicht die Einnahmen, die ein großer englischer
Lord aus seinen Besitzungen bezog oder die einem reichen Kloster
aus Gefällen und Gülten zuflossen. Von den halb fürstlichen
großen Grundherren, wie den Herzogen von Burgund, den Grafen
von Flandern oder den Markgrafen von Tuscien1, ganz abgesehen.
Wir dürfen uns überhaupt wohl den Übergang von dem könig¬
lichen Vermögen zu denen der Großen im Lande während des
Mittelalters nicht so schroff vorstellen wie heute. Die Grand¬
seigneurs behaupteten tatsächlich jahrhundertelang eine der fürst¬
lichen verwandte Stellung.
Wir besitzen für verschiedene Länder ziffernmäßige Angaben,
die die Dichtigkeit des Gesagten bestätigen. Ich wähle einige
aus der Zeit des späten Mittelalters und den ersten nachmittel¬
alterlichen Jahrhunderten aus, weil diese Epochen für die Ver¬
mögensbildung naturgemäß am wichtigsten sind.
In England sind die Durchschnittseinkommen der verschiedenen
Adelsgrade des öfteren von kundigen Leuten geschätzt worden, und
die verschiedenen Schätzungen helfen einander ihre Glaubwürdig¬
keit vermehren durch die ziemliche Übereinstimmung ihrer Ziffern.
Nach einer solchen Schätzung aus der Zeit Eduards IV.2 hatten
Einkommen :
ein
Herzog .
. 4000 £
Y)
Marquess . . . .
.... 3000 ,
»
Earl .
. 2000 „
??
Vicomte .
.... 1000 „
J)
Baron .
.... 500 „
Banneret . . . .
.... 200 „
Ritter .
.... 200 „
Squire .
. 50 „
1 Über deren bekannten Reichtum macht Angaben K. Hegel,
Städteverfassung von Italien 2, 80 f.
2 Mitgeteilt z. B. bei Stubbs, Const. Hist. 3 5 (189G), 557.
Achtunddreißigstes Kapitel: Der feudale Reichtum
597
Natürlich hatten einzelne Große ein Vielfaches von diesem Ein¬
kommen: so wurden die jährlichen Einkünfte des Herzogs von
Buckingham im 15. Jahrhundert von dem venetianischen Ge¬
sandten Giustiniani auf 30000 Duk. geschätzt1.
Bekannt ist die Einkommensschätzung Gregory Kings2
aus dem 17. Jahrhundert. Danach betrug das Durchschnitts¬
einkommen eines
weltlichen Lords .
Baronets .
Knights .
esquire
gentleman
3200 jg
880 „
656 „
450 „
280 „
400 SS
198 „
45 ,,
38 „
während nach demselben Gewährsmann
ein größerer Kaufmann. . .
„ geringerer „ ...
„ Detailhändler .
„ Handwerker .
durchschnittliches Einkommen bezogen.
Außerordentlich begütert war der ■italienische Adel. Von den
Orsini und Colonna hören wir, daß sie im 15. Jahrhundert jähr¬
lich je 25 000 fl. vereinnahmten3.
Von dem reichen Besitz der Florentiner Adelsgeschlechter
an Gold- und Silbergerät schon in älterer Zeit wird uns oft be¬
richtet 4.
Durch seinen Reichtum zeichnete sich der Mailänder Adel
aus. Man zählte etwa fünf Familien , die zwischen 10 000 und,
30000 Duk. Einkünfte hatten. Man rechnete im 16. Jahrhundert
die Medici von Marignano , die Sforzen von Caravaggio auf
12000, die Borromeen auf 15000, die Trivulzen auf 20000, die
Serbelloni auf 30000 Duk. Renten. Solche Häuser dagegen, die
zwischen 2000 und 4000 Duk. Einkünfte hatten, gab es eine
ungemeine Menge 5.
1 Bei Denton, England in the XV. Century (1888), 266.
2 G. King, Natural and political observations etc. (1696); siehe
darüber die kritischen Bemerkungen bei Rogers, Hist, of agri-
culture etc. 5 (1887), 90 f.
3 Carte Strozziane Ms., mitgeteilt bei Gregorovius, Gesch. der
Stadt Rom 7 4 * (1894), 342/43.
4 Siehe z. B. Davidsohn, Gesch. von Florenz 1, 762.
5 Nach einer Relatione di tutti li stati signord e principi d’ Italia
und Leoni mitgeteilt von Ranke, Fürsten und Völker Südeuropas
l8, 469.
598 Fünfter Abschnitt.: Die Entstehung des bürgerlichen Reichtums
In Spanien gehörte 105 weltlichen und geistlichen Herren im
15. Jahrhundert der größte Teil des Landes. Die Herzoge von
Infantado und Medina de Rioseco, von Escalona, von Ossuna
besaßen je 100 000 Duk. , der Herzog von Medina - Sidonia
130000 Duk. Jahresrente; mancher hatte 30000 Familien Unter¬
tanen h
Vom Reichtum des französischen Adels sind wir besonders gut
durch die Vorgänge der großen Revolution unterrichtet. Was
im Jahre 1789 zum Adel gehörte, war zwar nicht alles Uradel,
also nicht alles „feudalen“ Ursprungs, sondern zum größten Teil
schon wieder ein Erzeugnis der bürgerlichen Vermögensbildung:
aber immerhin gibt der Zustand am Vorabend der Revolution
doch ein annähernd getreues Spiegelbild des feudalen Reichtums
beim Ausbruch der Revolution, weil ja der Rechtscharakter
des ehemals ritterlichen Landes erhalten geblieben war, so daß
man genau feststellen kann, wie groß sein Umfang ehedem war,
auch wenn es jetzt schon in die Hände der Nouveaux riches
gelangt war. Übrigens bewahrte dieser Reichtum, solange er
mit Privilegien ausgestattet war, auch während der bürgerlichen
Periode einen Teil seines alten feudalen Charakters. Man rechnet,
daß damals die Zahl der Adligen in Frankreich 140 000 betrug, und
daß ihnen ein ganzes Fünftel des Landes zu eigen gehörte1 2. Das
wird der Zustand sein, wie er sich im Mittelalter herausgebildet
hatte.
Und mit den weltlichen Granden wetteiferten die geist¬
lichen Fürsten und Herren. Die beiden englischen Erz¬
bischöfe, sagt Stubbs, hielten Haus -wie die Herzoge; die
Bischöfe lebten auf dem Fuße der Earls. Daß die Klöster
während des Mittelalters zu fürstlichen Reichtümern gelangten,
ist eine bekannte Tatsache.
Eine Art von „Akkumulation“ des Reichtums erfolgte im 14. Jahr¬
hundert bei zahlreichen Prälaten durch Häufung der Beneficia: „et
quae utique abominatio, quod unus tenet ducenta, alter tre-
centa beneficia ecclesiastica.“ Gersonis Declar. defectuum
viror. eccles. t. II. p. 314 in fol. Urban V. sagt in einer Bulle, daß
einzelne Benefizien besitzen „in numero detestabiliter excessivo“. Coli.
1 Ranke, a. a. O. S. 266.
2 II. Taine, Origines de la France contemporaine 1 14 (1885), 18.
Für das Zeitalter Ludwigs XIV, wurden die Einkünfte des franzö¬
sischen Adels auf 520 Mill. 1. geschätzt: 100 Mill. aus Feudalrechten,
420 Mill. aus der Nutzung des Grundbesitzes: A. Moreau de Jonnes,
Etat econ. de la France (1867), 402.
Achtunddreißigstes Kapitel: Der feudale Reichtum
599
magn. concil. t. VII; beide Zitate bei J. F. Andre, Hist, de la
Papaute a Avignon 2. ed. (1887), 282. Es gab eine förmliche „Börse“
in Benefizien mit Hausse- und Baisse-Spekulation, Agenten, Maklern
usw. Die Geldbesitzer kaufen die Pfründen wie Renten. Andere
Zahlenangaben bei E. Müntz, L’argent et le luxe ä la cour pontiii-
cale d’Avignon, in der Revue des Quest. histor. Vol. 56 (1899), 1 ff.
20 ff.
Und zwar handelt es sich — das möchte ich betonen — bei
diesen „grundherrlichen“ Vermögen und Einkünften keineswegs
auch in den früheren Zeiten nur um Grundbesitz und Natural¬
bezüge. Wir werden uns vielmehr denken müssen, daß nach
dem Untergang des römischen Reichs bis in das späte Mittel-
alter hinein der größte Teil des gesamten Edelmetallvorrats
in den Schatzkammern der Grundherren, der Stifter und Klöster
zusammenfloß. „In einer Zeit, wo Geld eine große Seltenheit
war, besaßen die Klöster fast sämtlich, dank der Opferspende der
Gläubigen, den unschätzbaren Vorteil, über reichliche Geld¬
reserven zu verfügen.“ 1 Oft genug wird freilich das zusammen¬
strömende Edelmetall seine Gestalt geändert haben und aus der
Geldform in Schmuck und Geräte umgewandelt worden sein.
Nur so werden uns die Berichte verständlich, die wir aus dem
Mittelalter über den ungeheuren Reichtum an Gold- und Silber¬
sachen in Kirchen und Klöstern2 oder in den Haushalten welt¬
licher Großer3 vernehmen, wenn wir ihre Inventare durch¬
blättern.
Der Landbesitz der Kirche scheint sich durch fast ein Jahr¬
tausend auf der gleichen Höhe gehalten zu haben. Wenn wir
erfahren, daß zur Zeit der Merovinger ein Drittel Frankreichs
in geistlichen Händen gewesen sein soll, so brauchen wir von
dieser Ziffer gar nicht so viel abzustreichen, um sie mit den
Angaben in Einklang zu bringen, die wir von dem Kirchenbesitz
im revolutionären Frankreich haben. Denn daß dieser etwa ein
Fünftel des Landes umfaßt habe, ist ziemlich sicher erwiesen.
Man schätzte den Wert der Kirchengüter damals auf 4 Milliarden
1 H. Pirenne, Gesch. Belgiens 1 (1899), 148 ff. Vgl. Sackur,
Beiträge zur W. Gesch. der französ. und lotkring. Klöster usw., in der
Zeitschrift f. Soz. u. W.G. 1, 167 f.
2 Siehe z. B. die Schenkungsurkunde bei C. A. Marin, Storia
civile e politica del Commercio de’ Veneziani 1 (1798), 273 f.
3 Douet D’Arqu, Sur les comptes des ducs de Bourgogne, publ.
par M. de Labordp. In der Bibliotheque de l’ecole des chartes. 3. ser.
t. IV (1853), p. 125 ff.
600 Fünfter Abschnitt : Die Entstehung des bürgerlichen Reichtums
Francs, die einen Ertrag von 80 bis 100 Millionen erbrachten.
Rechnet man zu diesem, noch die 123 Millionen des Zehnten
hinzu, so hätte sich das Einkommen der französischen Geistlich¬
keit am Vorabend der Revolution auf rund 200 Mill. Francs be¬
ziffert1. Die Riesenhaftigkeit dieses Vermögens erscheint noch
deutlicher, wenn wir uns die Besitzungen und Bezüge einzelner
Kirchen und Stifter vergegenwärtigen.
Die 399 Prämonstratenser schätzten ihr Einkommen auf mehr als
eine Million, ihr Vermögen auf 45 Millionen. Die Dominikaner in
Toulouse haben 200 000 1. reines Einkommen. „Non compris leurs
couvent et leurs enclos et, dans les colonies, des biens fonds, des
negres et autres effets, evalues ä plusieurs millions.“ (Hier bemerken
wir übrigens, wie sich der feudale Reichtum zum Teil schon in Kapital
verwandelt hat!) Die Benediktiner von Cluny haben 1800 000 1.
Revenu; diejenigen von Saint -Maur schätzten das Mobiliar ihrer
Kirchen und Häuser auf 24 Millionen, ihre Reineinkünfte auf 8 Millionen,
„sans compter ce qui retourne ä MM les abbes et prieurs comm&n-
dataires“. Dom Rocourt, Abt von Clairvaux, hat 300 000 bis 400 000 1.
Rente •, der Kardinal von Rohan, Erzbischof von Straßburg, mehr als
eine Million usw. Siehe die Quellen bei Taine, Origines 1, 19 f.
Diese Ziffern erscheinen gering, wenn wir sie mit der ziemlich ge¬
nauen Schätzung vergleichen, die wir für den Reichtum der Kirche
aus der Zeit Ludwigs XIII. besitzen: damals sollen die Gesamt¬
einkünfte 104,5 Mill. ecus betragen haben: nach einer amtlichen Auf¬
stellung aus dem Jahre 1636; Ms. in der Bibi. Mazarine, mitgeteilt
in den Doc. d’Histoire IVe annee (1913), 390/91.
Nicht viel anders wird die Vermögenslage der Kirchen in den
übrigen Ländern gewesen sein. Von dem Reichtum der Klöster
in England erfahren wir einiges bei ihrer Aufhebung im 16. Jahr¬
hundert. Leider weichen die Angaben zu sehr voneinander ab,
um sich ein ganz klares Bild von dem Vermögen der Klöster
im damaligen England machen zu können: nur daß es sehr be¬
deutend war, ist außer Zweifel.
Die niediigste Schätzung der Jahreseinkünfte der Klöster im Augen¬
blick ihrer Aufhebung ist 131607 sie wird von Hall am, Con-
stitutional History of E. 1 (1827), 102, angeführt, der sie aber selbst
lur zu niedrig hält; Dr. Lmgard, unter Berufung auf Nasmith’s Aus¬
gabe von Tauners Notitia Monastica, nimmt 142 914 £ an- die be¬
kannteste Schätzung, die auch Hume, Hist, of E. 4, 182,’ sich zu
eigen macht, ist die Lord Herberts, nämlich 161 100 £. Wären diese
Zmein annähernd richtig, und wäre Humes Schätzung der Gesamt¬
einkünfte Englands in jener Zeit ebenfalls richtig (3 000 000 , so
1 Auf 224 800 000 L. belief sich das Einkommen der Kirche nach
i Q°on7 a!1et-Desbrosses: B o i 1 e a u , Etat de la France (Nouv, Ed,
J-OOi/ Jf 41 *
Achtunddreißigstes Kapitel: Der feudale Reichtum (301
hätten die Einkünfte der Klöster nur etwa V20 davon betragen. Nun wird
aber sowohl die Schätzung der Gesamteinkünfte für zu hoch, als die der
Klosterrenten für zu niedrig erachtet: so daß vielleicht der Verfasser
von Harmer’s Observations on Bumet der Wahrheit näher kommt,
wenn er annimmt, die Mönche hätten ein Fünftel von England be¬
sessen, das freilich nur ein Zehntel des Wertes alles Grund und
Bodens dargestellt hätte: Hall am, 1. c. Wir wissen jedenfalls (nach
den Angaben in Camdens Britannia), daß 643 (645?) Klöster auf¬
gehoben wurden und daß einzelne von ihnen sehr reich waren. Nach
der Schätzung in Speed’s .Catalogue of Keligions Houses, bei Collier,
Append. p. 34, hatten 16 Äbte ein Einkommen von mehr als 1000 £.
St. Peters, Westminster, war der reichste mit 3977 £, Glastonbury
hatte 3508 £, St. Albans 2510 £ usw.
Vgl. noch Anderson, Annals a. 1539 (2, 65) und die daselbst
angeführte Literatur.
Neuerdings ist die Frage nach dem Umfang des englischen Kirchen¬
besitzes zur Zeit der Konfiskation wieder aufgeworfen und auf Grund
eines inzwischen zutage geförderten breiteren Quellenmaterials ge¬
wissenhaft zu beantworten versucht worden von Al. Savine, English
Monasteries on the Eve of the Dissolution. 1909. Das Ergebnis ist
nicht so sehr verschieden von den früheren Annahmen. S. nimmt ein
Einkommen der Klöster aus Grundbesitz in Höhe von 100 000 £ an,
von denen ein Zehntel in eigener Landwirtschaft erworben wurde,
während der Rest als Pacht einkam.
II. Die öffentlichen Haushalte
Die öffentlichen Haushalte sind der andere Punkt, an dem sich
vorbürgerliche Vermögen in größerem Umfange kristallisieren;
wo namentlich größere Geldbeträge regelmäßig zusammenfließen.
Das aber ist immer, wie wir noch genauer sehen werden, für
die bürgerliche Vermögensbildung gerade von besonderer Be¬
deutung.
Ich führe zunächst zwei Haushalte auf, die dadurch wichtig
geworden sind, daß sie die ersten waren, die schon im frühen
Mittelalter zu Mittelpunkten eines großen Geldverkehrs sich ge¬
stalteten, um dann die wichtigsten derjenigen öffentlichen Haus¬
halte, die durch alle Jahrhunderte ihre hervorragende Stellung
sich bewahrten, in ihren Ausmessungen kennen zu lernen.
1. die Camera apostolica.
Wenn man die Camera apostolica mater pecuniarum ge¬
nannt hat1, so ist damit der unzweifelhaft richtige Gedanke
1 Glossa in reg. 66 canc. Innoc. VIII., zit. bei Ph. Woker, Das
kirchliche Finanzwesen der Päpste. 1878. S. 2. Wokers Buch ist
noch heute das umfassendste Werk über päpstliches Finanzwesen,
602 Fünfter Abschnitt: Die Entstehung des bürgerlichen Reichtums
ausgesprochen , daß auf die päpstlichen Finanzoperationen die
früheste Anhäufung größerer Bargeldvermögen im europäischen
Mittelalter zurückzuführen ist. Bis ins 9. Jahrhundert hinauf
reichen die Schatzungen der Christenheit aller Länder mittels
des .Peterspfennigs; und bereits im 13. Jahrhundert wird das
päpstliche Finanzwesen zu dem imposanten Systeme ausgebildet,
das wir aus der späteren Zeit kennen. Die Anfänge des päpst¬
lichen Finanzwesens gehen, wie bekannt, auf die Maßnahmen
Innocenzens III. (1198 — 1216) zurück. Seit dieser Zeit tritt das
allgemeine kirchliche Abgabenwesen mehr hervor und überholt
die grundherrlichen Patrimoniengefälle und die lehnsrechtlichen
Census an kassenmäßiger Bedeutung, um sich gegen Ende des
Mittelalters zu jener „kirchlichen Universalfiskalität“ auszu¬
wachsen, die schließlich zur Revolution führt.
Was dem päpstlichen Finanzwesen die große historische Be¬
deutung verschafft, ist nun aber vor allem der Umstand, daß
die Finanzwirtschaft der Päpste in hervorragender Weise die
Tendenz zur Monetarisierung größerer Yermögensbezüge ge¬
fördert hat. Wir können deutlich verfolgen, wie es die durch
die päpstliche Besteuerung geschaffene Kumulierung zahlreicher
Abgaben und Leistungen ist, die mit Notwendigkeit zu der
Verwandlung der ursprünglich vielfach naturalen Darbietungen
in Geld hindrängt. So finden wir die Bezelmtung in ihren An¬
fängen überall als naturale sich entwickeln: das war den meist
naturalen Einkünften der Bischöfe, Klöster usw. durchaus an¬
gemessen, „der Übergang zur Zentralisierung bedingte die reine
Geldwirtschaft. Wie wäre es anders möglich gewesen, in aller
Es ist in den einzelnen Teilen durch die Arbeiten von Kirsch,
Gottlob, Müntz u. a. überholt, aber als ganzes noch nicht ersetzt.
Bedauerlich ist die häufige Trübung, die das Urteil des Verfassers
durch dessen (evangelischen) Parteifanatismus erfährt, ein Vorwurf,
der den aus katholischer Feder stammenden neueren quellenmäßigen
Darstellungen ganz und gar nicht zu machen ist. Unter diesen ragen
hervor A. Gottlob, Aus der Camera apostolica des 15. Jahrhunderts.
1889; derselbe, Die päpstlichen Kreuzzugssteuern des 13. Jahr¬
hunderts. 1892; derselbe, Päpstliche Darlehnsschulden des 13. Jahr¬
hunderts. Histor. Jahrbuch 20 (1899). Joh. Peter Kirsch, Die
päpstlichen Kollektorien in Deutschland während des 14. Jahrhunderts.
Quellen und Forschungen, hrsg. von der Görres- Gesellschaft. Bd. III.
1894. E. Müntz, L’argent et le luxe ä la Cour pontificale d’Avignon,
in der Revue des questions historiques 33. annee. N. S. t. XXII
(1899), p. 1 ff.
Aclituiiddreißigstes Kapitel: Der feudale Reichtum
Welt päpstliche Zehntscheuern, Zehntkeller, Zehntspeicher u. dgl. .
kostspielige Anlagen zu errichten“ ? Honorius III. gab 1217 den
ungarischen Bischöfen den Befehl, ,,ut vicesimam fideliter redigant
in pecuniam“. Später sind naturale Lieferungen in Mittel- und
Südeuropa nur noch selten, während sie im Norden lange Zeit
noch andauern. Aber auch hier wird die Monetarisierung mit
allen Kräften zu bewerkstelligen versucht, so groß die Schwierig¬
keiten oft genug waren. Dann mußten wohl goldene oder silberne
Geräte eingeschmolzen werden, tun die fehlenden Geldbeträge zu
erschaffen h (Wichtigkeit der vermehrten Edelmetallproduktion !)
Wir beobachten also, wie der päpstliche Steuerdruck inmitten
einer wesentlich naturalen Wirtschaft größere Geldsummen gleich¬
sam aus der Erde stampft und in den Säckchen und Kisten der
päpstlichen Kollektoren sich zu beträchtlichen Mengen ansammeln
läßt. Auch über die Höhe der solcherweise angehäuften
Beträge sind wir unterrichtet; wenigstens können wir aus den
Rechnungen, die für einzelne Jahre vorliegen, auf die regelmäßig
einkommenden Summen schließen. Im allgemeinen läßt sich sagen,
daß die früheren Annahmen von den ungeheuren Beträgen, über
die die Päpste verfügt haben sollen, stark übertrieben waren.
Immerhin handelte es sich für jene Zeit um sehr respektable
Summen.
Die größten Erträge lieferten wohl die sogen. „Kreuzzugs¬
zehnten“, die seit Ende des 12. Jahrhunderts in periodischer
Wiederkehr bald auch zu andern Zwecken als demjenigen, dem
sie ursprünglich hatten dienen sollen, erhoben wurden. Der
beste Kenner dieser Materie schätzt die Höhe der papalen Zehnt¬
erträge im 13. Jahrhundert für die ganze Christenheit auf etwa
800000 Pfd. tur. 2; das wären also etwa 15 — 20000 000 Mk. Metall¬
wert heutiger Währung. Die regelmäßig vom Papste komman¬
dierten Summen waren erheblich geringer als jener Ertrag eines
Zehnten, und noch geringer die Beträge, die tatsächlich in den
Tresors des heiligen Stuhls sich ansammelten. Diese Einnahmen
bezifferten sich im 14. Jahrhundert auf etwa 200 — 250000 Gold¬
gulden (je 9 bis 10 Mk.) jährlich und stiegen auch im nächsten
Jahrhundert nicht erheblich über diesen Betrag. Zu dieser
Summe sind noch etwa 100000 Dukaten zu rechnen, die nicht
der Hauptkasse, aber doch der Kurie zuflossen, so daß sich
1 Gottlob, Kreuzzugssteuern, 236/37-
3 Ebenda 135.
(304 Fünfter Abschnitt: Die Entstehung des bürgerlichen Reichtums
«
deren Gesamteinnahme auf etwa 400000 Dukaten belief. Der
Rest der Einkünfte kam nicht nach Rom1. Immerhin waren die
effektiven Einnahmen der Päpste bedeutend genug, um wenigstens
einzelnen der Nachfolger Petri die Ansammlung größerer Ver¬
mögen zu gestatten. So hinterließ Clemens V. einen Barschatz
von 1000 000, Johann XXII. (1316 — 34) einen solchen von
775000 Goldgulden2.
Gleichwohl wurden die Einnahmen der Päpste ganz erheblich
überflügelt von den Beträgen, die
2. die Ritterorden in ihren Zentralen aufzuspeichern in
der Lage waren 3. Es handelt sich hier in erster Linie um Land¬
renten, die sogar meist direkt jenen Orden aus ihren ungeheuren
Besitzungen zuflossen. Diese erstreckten sich, wie man weiß, fast
über die ganze bekannte Erde. Von Griechenland bis Portugal,
von Sizilien bis zur Eider und bis nach Schottland lag der Guts¬
besitz der Templer im 14. Jahrhundert zerstreut, der nach der
Aufhebung des Ordens dem schon enormen Besitz der Johanniter
zuwuchs. Die Zahl der Manoirs der Templer betrug im 13. Jahr¬
hundert 9000 und stieg bis 1307 auf 10 500; diejenige der Hospi¬
taliter wird schon im 13. Jahrhundert auf 19000 angegeben. Von
diesen konnte jedes einen Ritter ausrüsten und erhalten, was
einer Jahresrente von je 200 Byzantinern entsprechen würde.
Danach hätte die Jahresrente des Ordens einen Metallwert von
36 100000 Frcs. gehabt; während diejenige der Templer auf nicht
weniger als 2 Mill. Pfd. geschätzt wird.
Von den weltlichen Machthabern interessieren uns hier vor
allem zwei : deshalb, weil ihre Haushalte zu den ältesten gehören
und sich gleichwohl durch die Jahrhunderte in ununterbrochener
1 Gottlob, Aus der Camera apostolica, 257; derselbe, im
Histor. Jahrbuch 20, 669, sich stützend auf Ehrle, Prozeß über den
Nachlaß Clemens V., im Archiv f. Literatur- u. Kirchengesch. 5, 147.
2 Nach Sägmüller, Der Schatz Johanns XXII., im Histor.
Jahrbuch 18, 37 f.
3 Über die Finanzen der geistlichen Ritterorden unter¬
richtet in großen Zügen H. Prutz, Kulturgeschichte der Kreuzzüge
(1888), 244 ff. Über die Besitzungen des Hospitaliterordens handelt
derselbe Verfasser ausführlich in der Zeitschrift des deutschen
Palästinavereins 4, 157 ff. ; über die Finanzoperationen dieses Ordens
in den Sitzungsberichten der philos. -philol. u. histor. Klasse der Kgl.
Bayr. Akademie der Wiss. zu München. 1906. Heft 1. Eine Über¬
sicht über den Güterbesitz der Templer zu Anfang des 14. Jahr¬
hunderts gibt Wilcke, Geschichte des Ordens der Tempelherren 2 3
(1860), 7 ff.
Achtunddreißigstes Kapitel: Der feudale Reichtum
605
Entwicklung erkalten haben, und weil sie außerdem die größten
sind, so daß sie für die zahllosen andern Haushalte der Kaiser,
Könige und Fürsten als Beispiel stehen können. Ich meine die
Könige von Frankreich und England.
Ich verzeichne, was wir an Ziffern besitzen, zur Abschätzung
der Größe ihrer Finanzen.
3. der König von Frankreich.
Philippe Auguste hinterließ bei seinem Tode 893000 Mk.
Silber (also ca. 38 000000 Mk. h. W.)1
Im Jahre 1238 ergaben die Bruttoeinnahmen die Summe (in
Pariser Pfund) von 235 285,7 lb. ; 1248 von 178530, 12,9 lb.2
Am Ende der Regierungszeit Philipps des Schönen berechnet
das älteste französische Budget die ordentlichen Einnahmen auf
177500 lb. tur.3
Man wird für jene Zeiten das Pariser Pfund mit 22 bis
23 Frcs. , das Tournayer Pfand mit 16 — 17 Frcs. Metallwert
heutiger "Währung ansetzen dürfen. Dann ergäben sich also für
das 13. und den Anfang des 14. Jahrhunderts Einnahmen in Höhe
von 4 — 5 Mill. Frcs. heutiger Währung. Die Einnahmen Karls V.
(1364 — 1380) sollen 1600000 L. , diejenigen Karls VII. 1439 —
1700000 L., 1449 = 2 300000 L. betragen haben4.
Nach den (wahrscheinlich etwas zu hohen) Schätzungen der
venetianischen Gesandten bezifferten sich die Einnahmen des
Königs von Frankreich (in heutiger Währung):
1497 auf . 16306000 Frcs.
1535 . 28750000 „
1546 „ . 46 000000 „
1554 „ . 57 500000 „
1563 „ . 69000000 „
Für die Zeit vom Ende des 16. Jahrhunderts bis zum Beginn
des 18. Jahrhunderts stehen uns die gewissenhaften Berechnungen
1 C. Leber, Essai sur l’appreciation de la fortune privee au
moyen äge. 2. ed. 1847, p. 28.
2 deWailly, Dissertation sur les depenses et les recettes ordi-
naires de St. Louis, in dem Recueil des Histoires des Gaules et de
la France t. XXI (1855), p. LXXVI.
3 Ordonnance fixant le budget des recettes et des depenses de
l’Etat (1311), abgedruckt bei Edg. Boutaric, La France sous Philippe
le Bel. 1861, S. 342 ff. Vgl. auch noch Ad. Vuitry, Etudes sur le
regime financier de la France. Nouv. Ser. T. I (1883), 3e etude, Cb. VII.
4 Clamageran 1, XXIV. LXVIII. Vuitry, tome II, 4e etudes,
chap. VII.
OOG Fünfter Abschnitt: Die Entstehung des bürgerlichen Reichtums
von Forbonnais1 zur V erfügung. Danach betrugen die (Brutto-)
Revenuen des Königs von Frankreich:
1574 . 8628980 Livres
1581 . 11491775 „
1595 . 23000000
1620 . 16000000
1649 . . 50294208
1661 . 84222096
1670 . 96338885
1685 . 124296635
1690 . 156740783
1715 . 165 576792
(Der Metallwert des Livre war Ende des 16. Jahrhunderts etwa
3mal, im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts etwa 2 mal, bis 1700
etwa IV2 mal so groß als der jetzige Franc.) Der Voranschlag
Neckers (1789) setzte die Einnahme mit 475 294288 L. fest.
4. der König von England.
Seine Einnahmen kennen wir ziemlich genau von Wilhelm
dem Eroberer an. Sie betrugen je beim Tode eines Königs2:
Wilhelm d. E. . .
. . 400000
Richard I .
. . 376666
77
Eduard III. . . .
. . 154139
33
Henry VI .
. . 64946.4
33
Mary .
. . 300000
73
Elisabeth ....
. . 500 000
77
James I .
. . 450000
33
Charles I. (1637/41) .
. . 895819
73
Charles II .
. . 1800000
7)
James II. ... .
. . 2 001855
73
William III. (1701) .
. . 3895205
73
Anne .
. . 5 691803
73
George I .
. . 6762643
73
George II .
. . 8523540
73
1770 .
. . 9500000
3)
1780 .
. . 12255 214
33
1788 .
. . 15572 971
73
1800 .
. . 36728000
33
1 Recherches et considerations sur les finances de la France depuis
l’annee 1595 jusqu’ä l’annee 1721. 2 Vol. 1758.
2 Nach den genauen Ermittlungen bei J. Sinclair, The history
of the public revenue of the british empire. 3 ed. 2 Vol. 1803.
Aclitunddreißigstes Kapitel: Der feudale Reichtum
G07
Dank der Rolle, die vor dem Emporkommen des modernen
Fürstentums im europäischen Leben die Städte spielen, müssen sie
der Vollständigkeit halber an dieser Stelle erwähnt werden, wenn
auch mir nm ihren Abstand von den bisher betrachteten Mächten
deutlich zu machen.
5. die städtischen Haushalte. Wir dürfen annehmen,
daß während des Mittelalters wahrscheinlich nur die Stadthaus¬
halte von Venedig, Mailand und Neapel auch nur annähernd so
große Einnahmen gehabt haben wie Papst und Könige. Nach einem
Manuskript, dessen Wert ich nicht beurteilen kann, sollen im
Jahre 1492 Venedig 1000000 fl., Mailand und Neapel je 600000 fl.
Einkünfte besessen haben b Dagegen wird von anderer Seite
berichtet, daß bereits 1395 (Man Galeazzo Visconti, der erste
Herzog von Mailand , 1 200 000 fl. vereinnahmt habe1 2 3. Eine zu¬
verlässige Ziffer kenne ich für Bologna. Dortselbst beliefen sich8
im Jahre 1406 die Einnahmen auf L. 320611, 18, 11. Für Florenz
gibt Villani bekanntlich 300 000 fl. an. Alle übrigen italienischen
Städte werden diese Summe nicht erreicht haben. Mit Italiens
Städten rivalisieren konnten höchstens noch Paris, London,
Barcelona, Sevilla, Lissabon, Brügge und Gent, später Antwerpen.
Die deutschen Städte blieben weit hinter den genannten zurück.
Die Einnahmen einer der reichsten (Nürnbergs) in der Blütezeit
(1483) beziffern sich doch nur auf 421926 19 sh. 8 h., d. h.
also auf etwas mehr als 60000 fl. 4 Köln hatte 1370 eine Ein¬
nahme von 114780 Mk. heutiger Währung, 1392 von 441397 Mk.
Und erst unsere „großen“ Seeplätze: Hamburg hat Einnahme:
1 360 = 35 440 Mk., 1400 = 102 104 Mk. ; Lübeck 1421 = 96617 Mk.,
1430 = 87 576 Mk., alles in heutiger Währung ausgerechnet5 *. Das¬
selbe wird für die große Menge der französischen und englischen
Städte gelten. Sie werden das Einkommen mittlerer Baronien
«•©habt haben.
1 Arch. Flor. Carte Strozz. App. F. 11 p. 189; zit. bei F. Grego-
rovius, Gesch. der Stadt Rom im Mittelalter 7 4 (1894), 342/43.
2 Nach Corio : Cibrario, Ec. pol. 3 2, 200. Cibrario rechnet den
Florin mit L. 14,51 um; m. E. zu hoch.
3 Gio,v. Nie. Pasqu. Alidosi, Instruttione delle cose notabili
della cittä di Bologna. 1621, p 35/36.
4 Chr. d. Städte Bd. I. Vgl. Lo ebner, Nürnbergs Voi’zeit
und Gegenwart (1845), 84.
5 Nach W. St re da, Städtische Finanzen im Mittelalter, in den
Jalirb. f. N.Ö. 17, 11/12.
608
Neununddreifsigstes Kapitel
Die Vermögensbildung in der handwerks¬
mäßigen Wirtschaft
Wenn man sich die Eigenart der handwerksmäßigen Organi¬
sation vor Augen hält, sei es die der gewerblichen Produktion,
sei es die des Handels oder Transports, so sollte man es für
ausgeschlossen halten, daß in Zeiten wie denen des Mittelalters
und auch noch der folgenden Jahrhunderte von den Wirtschafts¬
subjekten dieses Wirtschaftssystems in irgendwie beträchtlichem
Umfange Vermögen angehäuft sein könnten. Dagegen scheint
die Kleinheit des Betriebsumfanges zu sprechen und beim Waren¬
handel noch insbesondere die Höhe der Transportspesen und
andere Unkosten.
Wir müssen doch folgende Erwägungen anstellen:
Die Preisaufschläge stellen den Bruttogewinn des Händlers
dar; wollen wir den Beingewinn ermitteln, den er an dem be¬
treffenden Geschäfte macht, so müssen wir — kaufmännisch ge¬
sprochen — die ihm erwachsenen Spesen von der draufgeschlagenen
Summe abziehen. Dies dürfte nicht unbekannt sein. Nun wissen
wir äber, daß die Spesen in jenen Zeiten, in denen wir uns be¬
wegen, nach heutigen Begriffen außerordentlich hoch waren. Sie
setzen sich zusammen:
a) aus den sehr beträchtlichen Transportkosten;
b) aus den nicht minder beträchtlichen Zollgefällen;
c) aus denjenigen Unkosten oder Verlusten, die aus der Un¬
sicherheit der Straßen entsprangen. Diese forderte entweder teures
Geleit oder führte zu häufigen Beraubungen und Einbußen, ver¬
teuerte also auf alle Fälle den Transport, auch da, wo etwa schon
die Transportversicherung eingedrungen war, die alsdann natür¬
lich mit sehr hohen Prämien arbeiten mußte.
Über die Höhe der Transportkosten mache ich Angaben im
3. Hauptabschnitt des 2. Bandes. Ich verweise den Leser darauf
sowie auf die Angaben in der ersten Auflage 1, 222. 278. Für den
hier geführten Beweis ist ein ziffernmäßiger Beleg der unbestrittenen
Tatsache, daß die Transportkosten im Mittelalter hohe waren, unnöti°-.
Nennundclreißigstes Kapitel: VermögensbÜdg. in handwerksmäß. Wirtschaft 609
Die hohen Spesen lassen anf niedrige Gewinnraten schließen.
A\ ir dürfen aber auch nicht annehmen, daß die Profit¬
raten wesentlich höhere gewesen seien. Da diese bei gegebener
Gewinnrate bestimmt werden durch die Häufigkeit des Umschlags
des Geschäftsvermögens in einem Jahre, so ist nicht einzusehen,
wie eine erhebliche Steigerung der Profitratenhöhe über die Ge¬
winnraten hätte erzielt werden können. Denn was wir von den
Umschlagszeiten des Geschäftsvermögens im mittelalterlichen
Handel erfahren, läßt darauf schließen, daß dieses höchstens
zweimal im Jahre umgeschlagen worden ist.
Das westliche flandrische Geschwader Venedigs fahr regelmäßig
Neapel, Sizilien, Tripolis, Tunis, Algier, Oran, Tanger, Marokko,
Spanien, Portugal, französische Küste, London, Brügge, Antwerpen
an und nahm die Rückfahrt über Cadiz und Barcelona. Diese Reise
dauerte durchschnittlich ein Jahr. Auch im Verkehr mit der Levante
scheint die einmalige Fahrt der italienischen Handelsflotte die Regel
gewesen zu sein. Heyd 1, 453. Diese lange Umschlagsperiode ist hier,
wo es sich ja überwiegend um landwirtschaftliche Produkte handelte,
durchaus wahrscheinlich. Ein hansischer Kaufmann machte die Reise
von Reval oder Riga über die Ostsee zweimal im Jahre. Stieda,
Revaler Zollbücher, CXVII. Weitere Angaben über Dauer der Reisen
im Mittelalter (die ja über die Länge der Umschlagsperioden entscheiden)
bei Götz, Verkehrswege (1888), 515 ff. Rogers 1, 134 ff.
Die Pointe ist ja nun aber die, daß doch auch die Höhe der
Profitrate noch nicht entscheidet über die mögliche und tatsäch¬
liche Höhe der Akkumulation. Diese wird vielmehr be¬
stimmt, wie ersichtlich, durch die Höhe der Akkumulationsrate,
d. h. das Verhältnis des kapitalisierten zum verbrauchten Teile
des Profits einerseits, durch die Profitmengen andererseits. Nun
stehen die Höhe der Akkumulationsrate und die Profitmengen
im geraden Verhältnis zueinander: je größer die Profitmengen,
die dem einzelnen zufallen, desto größer die Beträge, die er
persönlich nicht verzehrt, also akkumuliert. Was alles selbst¬
verständliche Dinge sind. Hier ist nun aber durch Erinnerung
an die Kleinheit der Vermögen, die im handwerksmäßigen Handel
angelegt waren, an sich oder doch infolge der Zersplitterung des
Gesamtprofits, den ein größeres — weil genossenschaftliches —
Handelsunternehmen abwarf, unter die Genossenschafter festzu¬
stellen, daß auch bei hoher Profitrate nur sehr niedrige Akkumu¬
lationsraten und dementsprechend niedrige Akkumulationsbeträge
anzunehmen sind. Der Gedanke , daß die mittelalterlichen
Berufskaufleute durch ihre Handelstätigkeit zu Reichtum ge¬
langt wären, scheint sich gar nicht denken zu lassen. Wenn
Sombart, Der moderne Kapitalismus. I. 39
CIO Fünfter Abschnitt: Die Entstehung des bürgerlichen Reichtums
•wir alle Umstände in Betracht ziehen, die den Handel alten Stils
in handwerksmäßigem Rahmen charakterisieren: Kleinheit der
Umsätze, Länge der Reisen und des Aufenthalts in der Fremde,
so werden wir zu dem Ergebnis kommen müssen, daß die Händler
froh sein konnten, wenn sie außer dem, was sie persönlich auf
der Reise verbraucht hatten, noch genug nach Hause brachten,
um ihrer Familie den Unterhalt zu gewähren und die Zinsen für
ihr Häuschen an den Grundeigentümer zu zahlen.
Was hier vom Handel gesagt ist, gilt von allen anderen
Zweigen vorkapitalistischer Wirtschaft in ent¬
sprechender AVeise, also vor allem auch von dem gewerblichen
Handwerk.
„Min dynge mach ick recht en siecht,
Daerum blif ic een arm Knecht“
lautet der Spruch eines Werkzeugma chers auf einem Kupfer von
Israel von Meckenem. (15. Jahrhundert. Wien, K. K. Kupferstich¬
sammlung, B. 222.)
Der normale Handwerksmeister des Mittelalters "war nichts
weiter als ein einfacher, gewerblicher Arbeiter, der sich kaum
von seinen Gesellen unterschied. Nach der Berechnung von
Th. Rogers waren die Einnahmen des Meisters (im Baugewerbe)
etwa 20% höher als die Gesellenlöhne1.
Und doch! in dieser scheinbar festgeschlossenen Kette der
Beweisführung muß an irgendeiner Stelle ein Glied brüchig sein,
das sie zum Reißen bringt: die geschichtliche Wirklichkeit
stimmt nicht überein mit den Ergebnissen, zu denen uns unsere
theoretischen Erwägungen geführt haben: es sind auch im
Rahmen der handwerksmäßigen Wirtschaft Vermögen angehäuft
worden, es sind gewerbliche Handwerker und handwerksmäßige
Händler im Laufe des Mittelalters zu Reichtum gelangt.
Freilich gar so leicht wie die meisten Historiker dürfen wir
uns die Sache nicht machen. Wir dürfen aus der Tatsache, daß
es im Mittelalter reiche Gewerbetreibende und namentlich reiche
Kaufleute gegeben hat — dafür bringen ja die Ziffern, die ich
selbst über Vermögen und Umsätze im mittelalterlichen Hand¬
werk mitgeteilt habe, genügend Belege — , noch nicht den Schluß
ziehen, daß — also! — die handwerksmäßige Tätigkeit ja ver¬
mögenbildende Kraft besessen habe. Das wäre ganz und gar
nicht beweiskräftig, denn erstens konnten die Leute, die wir
1 Th. Rogers, Hist, of agr. 4, 502 ff.
^eununddreißigstes Kapitel: Vermogensbildg. in handwerksmäß. Wirtschaft Oll
namentlich Handel treiben sehen, schon reich sein, ehe sie Handel
trieben. Tatsächlich ist das denn auch in weitem Umfange in
Wirklichkeit der Fall bei demjenigen Handel, den ich als Ge¬
legenheitshandel bezeichnet habe b
Zweitens könnte unser Handwerker reich geworden sein durch
irgend etwas anderes als seine Tätigkeit als Handwerker : sei es
durch eine reiche Heirat, eine Erbschaft, eine glückliche Grund¬
stücksspekulation oder sonst einen „Glückszufall“.
Aber auch wenn wir solche Glückszufälle gar nicht in den
Bereich unserer Erwägungen ziehen wollen: wir wissen, daß in
zahlreichen Fällen Gewerbetreibende und namentlich Händler
während des Mittelalters neben ihrem Handwerke Geschäfte be¬
trieben, denen sie ihren Reichtum sehr wohl verdanken konnten
(und wie wir in der Folge sehen werden: in der Tat wahrschein¬
lich auch meistens verdankten). Ich meine ihre Beteiligung am
Bergbau, namentlich an der Gold- und Silbergewinnung, und
ihre Geldleihetätigkeit.
Ich denke an den Hühner- Thorir. Der war ein Packenträger,
der von Landschaft zu Landschaft zog. Er erwarb so viel, daß
er sich ein Grundstück kaufen konnte. Wenige Jahre wirt¬
schaftete er da, bis er ein so vermögender Mann wurde, daß er
so ziemlich bei jedermann große Summen stehen batte. Sein
Vermögen wuchs immer noch an; er wurde einer der reichsten
Männer . . .2
Oder ich denke an Andrew Bäte, den Fleischer von Lydd,
der, einer der „führenden“ und reichsten Männer seines Orts,
ebenso bekannt war durch die Übergriffe seiner großen Vieh¬
herden wie durch seinen Landhunger und seine Bodenspekula¬
tionen wie durch die rücksichtslose Art, mit der er von den
< Western Men1 Abgaben erpreßte3.
Oder ich denke an den Züricher Gerbermeister und Eisen¬
händler, späteren Bürgermeister Hans Waldmann, der als schwer
reicher Mann starb, von dem wir wissen, daß er ein ausgedehntes
Geldleihegesehäft betrieb und große Summen als „Pensionsherr“
bezog4.
Oder ich denke an Hagenel, den Schlächtermeister in Orleans,
1 Siehe oben Seite 279 f.
2 Übersetzt von A. Heus ler (1900), S. 31/32.
8 Hist. MSS. Com. V, 523 — 531, bei Green, 2, 60.
4 Siehe das Belegmaterial bei J. Maliniak, Die Entstehung der
Exportindustrie und des Unternehmerstandes in Zürich (1913), 43 ff.
612 fünfter Abschnitt: Die Entstehung des bürgerlichen Reichtums
und seine Frau Hersent, (qui) „se sont, au dire dun trouvere
(Aiol v. 2656 suiv.) si fort enrichis par le pret sur gage et ä
interet, qu’une grande partie des maisons de la ville leur est
engagee et qu’ils achetent aux nobles fours, moulins et
ehäteaux“ . . . 1
Oder ich denke an die Vermögen der Baumgartner, der
Gossembrots, vor allem der Fugger.
Und frage in allen diesen und hundert andern Fällen ver-
geblich : ob nun das Packenträgertum oder die Fleischerei oder
die Gerberei oder die Weberei2 3 * oder aber die Geldleihe oder
die Landwirtschaft oder die Bodenspekulation oder die Berg¬
werkstätigkeit diese Leute reich gemacht habe.
Ich denke aber auch an die vortrefflichen Untersuchungen
von J. Kuli sch er8, der, wie mir scheint, den bündigen Nach¬
weis erbracht hat , daß im Mittelalter mit allem Waren¬
handel immer auch Geldhandel verbunden war, um nach
alledem zu dem Ergebnis zu kommen, daß ein reich gewordener
Handwerker noch immer nichts für die vermögenbildende Kraft
des Handwerks beweist.
Ich möchte aber doch den früheren Historikern entgegen-
kommen und will die Tatsache gar nicht leugnen, daß in Wirk¬
lichkeit wohl ein Teil der Handwerker durch sein Handwerk zu
Vermögen gelangt (und wie ich in anderem Zusammenhänge
zeigen werde : auch persönlich zum kapitalistischen Unternehmer
aufgestiegen) ist. Dann freilich erwächst mir (im Gegensatz zu
andern Historikern) das Problem: wie in aller Welt ist
das möglich gewesen?
Von den drei Möglichkeiten, hohe Überschüsse zu erzielen,
waren, wie wir sahen, zwei dem Handwerker des Mittelalters
verschlossen: Herabminderung der Produktions(Transport-)kosten
mid Beschleunigung oder Ausdehnung des Umsatzes. Blieb die
dritte Möglichkeit: hohe Aufschläge auf die eingekauften oder
1 Flach, Origines 2, 869.
2 „Wenn die Kölner Handwerker im Mittelalter wohlhabend oder
sogar reich wurden , so beruhte das nicht auf ihrer Tätigkeit in der
Werkstatt, sondern darauf, daß sie beim Absatz ihrer kleinen gewerb¬
lichen Überschüsse auf den auswärtigen Märkten in den allgemeinen
Waren- und Geldhandel hineinwuchsen, auf diesen das Schwergewicht
ihrer Arbeit verlegten und nur nebenher noch ihre gewerblichen Be¬
triebe beibehielten.“ Bruno Kuske, a. a. 0. S. 82.
3 J. Kulischer, Warenhändler und Geldausleiher im Mittelalter,
in der Zeitschr. f. VW., Soz., Pol. u. Verw. Bd. XVII, 1908.
Neunuuddreißigstes Kapitel: Vermögensbildg. iu handwerksmäß. Wirtschaft (3X3
angefertigten Waren. Genauer: eine möglichst hohe Spannung
-zwischen Einkaufspreis und Verkaufspreis herzustellen.
Das Zahlenmaterial, das uns zur Verfügung steht, um die
tatsächliche Höhe der Preisaufschläge im Mittelalter
festzustellen, ist außerordentlich dürftig. Die wichtigsten der
mir bekannten, einwandsfreien Angaben sind folgende:
Wollhandel : in dem berühmten Beispiele, das Uzzano (118) aus
dem englisch-florentinischen Wollhandel anführt, kosten 100 Pfd. Wolle
(brutto) an der Produktionsstätte in England 10 % fl., 200 Pfd. netto
(die 300 Pfd. brutto entsprechen) werden in Florenz mit 76—88 fl.
verkauft. Nach einer andern Aufstellung- bei Uzzano (186/87) Averden
für 11 Ballen englischer Wolle in Calais beim Einkauf (nachdem schon
mindestens 50 °/o Spesen erwachsen waren) 612 fl., in Mailand beim
Verkauf 1315% fl. bezahlt.
Tuchhandel. Die fünf Packen flandrischer Tücher, von deren
Schicksalen uns Joh. Tölners Handelsbuch (1345 — 1350) berichtet,
weisen beim Verkauf folgende Aufschläge auf den Einkaufspreis auf:
26°/o, 27 °/o, 21°/o, 19%, 30 °/o, also im Durchschnitt 25%. Joh.
Tölners Handlungsbuch, ed. K. Koppmanu, in den Geschichtsquellen
der Stadt Rostock I (1885).
Ganz damit übereinstimmend sind die Preisaufschläge, die wir aus
dem Tuchhandel Vickos von Geldersen kennen. Sie belaufen sich in
den Jahren 1370 — 1376 auf bzw. 15, 9, I8V2, 19, 21%, 29%, 251/s,
228/io, 12, 221h°lo. Das Handlungsbuch Vickos von Geldersen, ed.
II. Nirrnheim (1895), LXVTII.
Johann Wittenborg kann in einem Falle (1356) auf Brüggesche
Laken 70 %, ein anderes Mal (1353) auf den Einkaufspreis von 32 Stück
Poperinger Laken aber nur 5 % aufschlagen. Das Handlungsbuch von
Herrn, und Joh. Wittenborg, ed. C. Mollwo (1901), LXXI.
Hildebrand Vecklinchusen kauft (1409) eine Sarge in Köln für
2V4 Duk. ein, für die er in Venedig 3 Duk. erlöst. Stieda, Hans.-
ven. Handelsbeziehungen (1894), 110.
20 Stück Tuch (panni bianchi di Cadix) wei'den in Cadix für
fl. 256. 13. 4 gekauft, in Florenz für 395 fl. verkauft; ein anderer
Posten von 35 Stück Tuchen wird zu 207,6 fl. eingekauft, zu 408 fl.
verkauft; ein dritter zu 262 fl. eingekauft, zu 300 — 350 fl. verkauft;
in einem vierten Posten kostet das Stück beim Einkauf 20 fl., beim
Verkauf 26 — 28 fl. ; in einem fünften bzw. 21 fl. und 32 — 34 fl.
Sämtliche Angaben bei Uzzano, 123 — 130.
Hosen kauft H. Vecklinchusen das Dutzend für 4 Mk. 5 sh. und
verkauft sie für 6V2 Duk. Stieda, a. a. O. S. 111.
3Iützen, die Gegenstände des flandrisch-florentinischen Handels im
14./15. Jahrhundert bilden, werden zum Teil mit ungeheurem Aufschlag
verkauft; feine das Dutzend Einkaufspreis lVa fl., Vei kaufspreis
15 fl. (!); mittelfeine bzw. 9/io fl. und 6 fl.; ordinäre (tonde a orrecchi)
bzw, %o und 2 — 2V2 fl. Uzzano, 128 f,
614 Fünfter Abschnitt: Die Entstehung des bürgerlichen Reichtums
Eisen in Barren wird für 12—13 fl. der Tausender eingekauft
^1 migliaio = 980 Pfd. flor.), für 17 — 18 fl. verkauft; ein andermal
kostet der Tausender, der für 47 venetianiscke Lire di grossi verkauft
wird, beim Einkauf 42 Lire. Uzzano 168, 4.
Zinngeräte (Stagno lavorato = piatelli, scodelle, salsieri) haben
einen Einkaufspreis in London von 8 fl. und werden in Florenz zu 1 3 1 /2
bis 132/3 fl. verkauft (beide Preise berechnet für 100 engl. Pfd., die
gleich 133V3 flor. Pfd. sind).
Im 13. Jahrhundert kosteten:
100 kg Pfeffer
in Marseille (1264) 481 Mk.,
„ Lombardei (1268) 512 „
„ Champagne (12521 602 „
* „ (1265) 629 „
„ England (1265) 683 „
„ „ (1159-70) 796 „
A. Schaube, Ein italienischer Kursbericht von der Messe von Troyes
aus dem 13. Jahrhundert, in der Zeitschrift für Soz. und Wirtschafts¬
geschichte 5, 279. 282.
Eine Pipe Öl kostet beim
Einkauf Verkauf
1374 ca. 22 J 5 ß 6 23 #
1375 „ 17 / 8 ß 21 $
Handlungsbuch Vickos von Geldersen, LXII.
Immerhin genügen diese Ziffern, um den Eindruck in uns zu
erzeugen, daß in der Tat die Waren im Mittelalter mit oft recht
beträchtlichen Zuschlägen gehandelt sind. Eine gleiche Berech¬
nung für die Preisaufschläge bei der Produktion anzustellen, ist
ganz unmöglich. Wenn wir aber der außerordentlich hohen
Preise uns erinnern, die im Mittelalter für gewerbliche Erzeug¬
nisse der Regel nach gezahlt wurden, und damit die niedrigen
Rohstoffpreise vergleichen, so müssen wir den Schluß ziehen,
daß offenbar auch hier die Spannung zwischen Einkaufs- und
Verkaufspreisen eine recht hohe gewesen ist.
Wie aber, müssen wir uns weiter fragen, war es möglich,
diese hohe Spannung zu erzielen; warum kaufte man so billig
ein oder (und) warum konnte man so teuer verkaufen?
Die nächstliegende Antwort auf diese Fragen ist die: weil
sich Händler und Produzenten in einer Monopolstellung
befanden. Damit Reichtum entstehe, muß immer irgendein
Monopol vorhanden sein. Das Monopol mochte ein künstlich
geschaffenes sein; Privilegierung des Handels! Zunftordnung!
desgl. Wachs
in Piemont (1262) 335 Mk.
„ Champagne (1262) 420 „
„ England (1259—70) 530 „
Neununddreißigstes Kapitel: Vermögensbildg. iu handwerksmäß. Wirtschaft (j 1 5
Weinzapfrecht der Geschlechter ! oder mochte in der natürlichen
Lage ohne weiteres begründet sein.
Ein natürliches Monopol hatten, wie wir schon sahen,
die gewerblichen Produzenten, namentlich die geschickten unter
ihnen, in Zeiten so gering entwickelter Produktivität wie den
Jahrhunderten des Mittelalters.
Von besonderer Bedeutung scheint mir aber für jene Zeiten
die Monopolstellung gewesen zu sein, die bestimmte Städte oder
Gegenden durch die Hervorbringung irgendeines stark
begehrten Boden- (oder Wasser-)erzeugnisses er¬
rangen. Man kann geradezu manche Städte nach ihrem wich¬
tigsten (Monopol-) Produkt kennzeichnen: als Weinstädte : Preß-
burg, Köln; Bierstädte (wegen Malz und Hopfen!), wie etwa
Hamburg; als Herings Städte : Lübeck, Wismar, Rostock, Stral¬
sund, Greifswald (an denen bis zum 12. Jahrhundert der Hering
in so dichten Massen vorbeizog, „daß man im Sommer nur den
Korb in das Meer zu tauchen hatte, um ihn gefüllt herauszu¬
ziehen,“ bis er sich an die Küste von Schonen und an das nor¬
wegische Ufer zog und die Hanseaten in blutige Kriege mit den
Dänen, den Herren des Nordstrandes, mit Engländern, Schotten
und Holländern verwickelte) ; vor allem aber als Salzstädte.
Berühmte „Salzstädte“ sind Lüneburg, Danzig (Salzhandel!),
Hallein, Halle, Salzburg, Venedig.
Zum Teil waren es freilich wohl die Grundherren, die von der
Salzproduktion den Hauptgewinn zogen; oder ihre Kreaturen,
die unter dem Namen der „Salzjunker“ oder „Pfänner“ bekannt
geworden sind. Zum Teil aber scheinen auch kleine handwerks-
mäßige Existenzen, sei es als Produzenten, sei es als Händler,
sich mit Hilfe des Salzes in die Höhe gearbeitet zu haben. Ich
denke an die Hallenses oder Hallarii in Salzburg, aber doch
auch an die Venetianer. „Die Lagunenbewohner waren (NB. so¬
fern sie nicht etwas anderes waren, wie z. B. Grundherren!)
Eischer, wie die heutigen Chioggioten, und gewannen Meersalz,
das für das steinsalzarme Italien so wichtig ist, daß eine Gegend,
die das Salz nahezu von selbst hervorbringt, wie die Lagunen,
hohe Bedeutung haben mußte.“1 Wenn es wahr ist, daß sich
1 L. M. Hartmann, Gesell. Italiens II/2, 102. Über das Auf¬
kommen der Pfännerschaften unterrichten im allgemeinen Inama 2,
341 ff. 361 f.; Schmoller in seinem Jahrbuch 15, 654 ff.; über die
besondere Entwicklung in Salzburg: P. V. Zillner, Gesch. der Stadt
Salzburg 2 (1890), 139. 157; in Halle a.S.: Gust. Ferd. Hertz-
01(3 Fünfter Abschnitt: Die Entstehung des bürgerlichen Reichtums
im Langobardenreiche in zwei Generationen eine reiche, grund¬
besitzlose Kaufmannschaft entwickelt hat — man schließt be¬
kanntlich darauf aus der Lex Aistolf, o* 1 — , so war das im
wesentlichen dem Salzhandel von Commaccliio aus geschuldet:
von den Salinen von Commacchio wurde ganz Oberitalien mit Salz
versorgt; der Salzhandel von Commachio war zu gewissen Zeiten
der Pohandel überhaupt2.
Nun nützt aber, wie man wissen muß, keine Monopolstellung
der Welt, sie sei noch so ausschließlich, dazu, Waren nun auch
tatsächlich mit hohen Aufschlägen zu handeln. Damit dieses
möglich sei, müssen abermals ganz bestimmte Bedingungen er¬
füllt sein, muß mit andern Worten die ökonomische Natur der
Verkäufer und Käufer eine ganz besondere sein. Dieses müssen
nämlich entweder Völker sein, mit denen man Raubbau treiben
kann, wie es der Fall mit den Bewohnern der Kolonialgebiete
war (worüber im Zusammenhänge an anderer Stelle gehandelt
werden soll), oder es müssen „reiche“ Leute sein, das heißt
Menschen, die nicht von ihrer Hände Arbeit leben. Als solche
kommen aber im Mittelalter fast nur Landrentenbezieher
oder Steue re mpfäng er in Betracht, und nur wenn wir die
überragende Bedeutung dieser Kategorie von Verkäufern und
namentlich Käufern in Betracht ziehen, vermögen wir uns inner¬
halb der Kulturländer überhaupt die (gelegentlich) vermögen¬
bildende Kraft des mittelalterlichen Handels und Gewerbes ver¬
ständlich zu machen.
Bei den Landrentenbeziehern konnte man besonders billig
einkaufen. Die englischen Klöster beispielsweise, von denen
die florentiner und hanseatischen Händler die Wolle bezogen3,
berg, Gesch. der Stadt Halle a. S. 1 (1889), 55; in Lüneburg: Luise
Zenker, Zur volksw. Bedeutung der Lüneburger Saline für die Zeit
von 950 — 1370, in den Forschungen z. Gesch. Niedersachsens 1. Bd.
2. Heft. 1906 (gut); H. Heineken, Salzhandel L. mit Lübeck bis
zum Anfang des 15. Jahrhunderts. 1908.
1 Ed. cet. que Lang. 11 ed. F. Blulnne (1869), 162.
2 L. M. Hart mann, Zur W.Gesch. Italiens, 75.
3 In dem Geschäftsberichte des Reisenden Gherardi der florentiner
Firma Spigliati-Spini aus dem Jahre 1284 werden 24 Klöster in Eng¬
land erwähnt, die auf 4 — 11 Jahre hinaus ihre Wollen dem genannten
Hause verkauft haben. Deila decima 3, 324 f. In einem Merkbüchlein
des Bald. Pegolotti aus dem 14. Jahrhundert sind etwa 200 Namen
von englischen Stiftern und Klöstern aufgeführt, die den florentiner
Händlern Wolle lieferten. Das Verzeichnis (2441 Ms. der Riccardiana)
Neununddreißigstes Kapitel: Vermögensbildg. in handwerksmäß. Wirtschaft 017
waren in der Preisgestaltung an gar keine feste Untergrenze
gebunden, wie es jeder selbständige Produzent notwendig ist.
Sie verkauften ja unentgeltlich (d. h. von ihren Hörigen) gelieferte
Wolle, ein Erzeugnis also, das sie überhaupt nichts kostete, und
das sie mit Freuden hingaben, wenn sie dafür auch nur einen
verhältnismäßig geringen Geldbetrag erhielten. Will man durch¬
aus die in einem Produkt verkörperte Arbeit als den „Wert“ dieser
Ware bezeichnen, so würden wir sagen: die genannten Renten¬
berechtigten konnten unausgesetzt, ohne eine Schädigung zu
erfahren, die in ihre Verfügungsgewalt kommende Ware unter
ihrem Werte verkaufen. Anders gewandt: was die Käufer dieser
Waren auf den Einkaufspreis zuschlugen, waren bis zu einem
gewissen Betrage Arbeitserträge rentenverpflichteter Höriger.
Diese Tatsache, daß der mittelalterliche Handel zmnal in seiner
früheren Zeit zum großen Teile Handel mit Landrentenbeziehern
war, gewinnt nun aber ihre volle Bedeutung erst, wenn wir sie
auch und gerade für den Verkauf namentlich der kostbaren
Gegenstände beachten. Es ist wohl nicht zu viel gesagt, wenn
man behauptet, daß drei Viertel aller Kolonialprodukte und aller
gewerblichen Erzeugnisse, die von dem vorkapitalistischen Handel
abgesetzt wurden, als Abnehmer Rentenbezieher hatten : nämlich
Fürsten, Ritter, Kirchen, Klöster, Stifte.
Eine Statistik der Käufer mit Angabe ihrer sozialen Stellung
gibt es natürlich nicht. Was wir aber aus den gelegentlichen
Mitteilungen namentlich der Handlungsbücher, dieser fast einzig-
zuverlässigen und brauchbaren Quelle für die ältere Handels¬
geschichte, über die Qualität der Käufer erfahren, bestätigt die
Annahme, daß ein sehr großer Teil Rentenbezieher war.
Vor allem sind es die Erzeugnisse des Ostens, die wohl aus¬
schließlich in den höheren Sphären der Gesellschaft ihre Ab¬
nehmer fanden. Man begegnete ihnen in großen Mengen in den
Schlössern der Großen und an den Höfen der Fürsten. Ins¬
besondere trat auch die Kirche als zahlungsfähiger Käufer orien¬
talischer Produkte auf, deren sie zur Ausstattung ihrer Gebäude,
zum Schmuck ihrer Diener und zur Verherrlichung ihrer Kult-
mitgeteilt bei S. L. Peruzzi, Storia del commercio, e dei banchieri
di Firenze dal 1200 al 1345 (1868), 71 ff. Das Verzeichnis Peruzzis
ist ausführlicher als das bei Varenbergh, Hist, des relat. diplom. etc.
(1874), 214 — 217, das dem Arch. de Douay Reg. L. fol. 44 entnommen
ist; soll aber fehlerhaft sein nach den Feststellungen der Miss E.
Pixon. Vgl. Transactions of the Royal Hist. Soc, 12, 151.
018 Fünfter Abschnitt: Die Entstehung des bürgerlichen Reichtums
handlungen bedurfte. Zu diesem Behufe fragte sie fortwährend
Prachtgewändern, Behängen, Decken und Teppichen, Perlen und
Edelsteinen, Weihrauch und wohlriechenden Stoffen nach \ Auch
für Reliquien , wirkliche und vermeintliche , wurden oft die
höchsten Summen bezahlt: man erinnere sich der köstlichen
kleinen Geschichte, die uns Mon. Sang, von dem Verkauf der
einbalsamierten Maus erzählt : wie für dieses fingierte Reliquien¬
tier der reiche Kirchenfürst dem Juden ein Vermögen bietet.
Daneben werden manche gewerbliche Erzeugnisse, namentlich
Rüstungen, Waffen und feine Tücher, bei den reichen Grund¬
herren leichten Absatz zu beliebigen Preisen gefunden haben.
Gerade die Gewandschneider sehen wir oft am ehesten und am
vollzähligsten zu Ansehen und Reichtum in den Städten empor¬
steigen. Und wir können uns vorstellen , wie sie zu ihrem
Vermögen gelangten. „Ganze Dörfer und Güter nimmt der
Gewandschneider nicht selten in Versatz für die Mengen kost¬
barer Tücher, die er — vielleicht aus Anlaß eines Hochzeits¬
festes — an ein großes, aber nicht jederzeit an barem Gelde
reiches Haus geliefert“ ...1 2 Denn die fremden Tücher, nament¬
lich die niederländischen, gehörten zu den begehrtesten Luxus¬
artikeln : als Stoff für Schmuckkleider und als Draperie der
Festräume. Daß der zunehmende Luxus hier das seinige bei¬
trug, die Nachfrage nach solcherart Gütern immer mehr zu
steigern, versteht sich von selbst. Auch das Kürschnerhandwerk
bot oft Gelegenheit, sich in der gedachten Weise zu bereichern3.
Bisher habe ich nur Beispiele aus der Welt des gewerblichen
und kommerziellen Handwerks angeführt. Es lassen sich aber
natürlich auch Fälle denken, in denen etwa ein Transport¬
handwerker sich Vermögen zu erwerben verstand durch ge¬
schickte Ausnutzung einer reichen Kundschaft. . Solch ein Pall,
der sogar von großer historischer Bedeutung geworden ist, war
die Ausbeutung der Kreuzfahrer durch die italienischen Kom¬
munen, namentlich Venedig, die den armen Kerls ihre letzten
Groschen abnahmen, wenn sie sie über das Meer fahren sollten.
Daß hier wirkliche Wucherpreise gefordert wurden, ist durch
eine Reihe ziffernmäßiger Angaben verbürgt. Wir erfahren bei¬
spielsweise, daß sich die Venetianer für die Überfahrt eines Ritters
1 Siebe z. B. H. Prutz, Kulturgesch. der Kreuzzüge (1885), 45.
2 Jul. Lippert, Soz. Gesell. Böhmens 2 (1898), 361.
3 Strieder, -Zur Genesis des modernen Kapitalismus, 182 ff.
Neununddreißigstes Kapitel: Vemiögensbildg. in handwerksmäß. Wirtschaft 610
nebst zwei Knappen, eines Pferdes und eines Pferdejungen 8V2 Mk.
Silber (— 340 Silber Mark = 200 österr. fl. h. W.) bezahlen
ließen1, während man heute für die Überfahrt von Triest nach
Konstantinopel dem Österreichischen Lloyd in der ersten Klasse
124,4, in der zweiten 85,(3, in der dritten 37 fl. zahlt.
Also „reiche“ Leute waren es oder öffentliche Körper, mit
denen allein gewinnbringende Geschäfte im Mittelalter geschlossen
werden konnten (wie denn Vermögensbildungen im Handwerk
zu allen Zeiten an diese Voraussetzungen geknüpft sind).
Ich lege auf diesen Umstand das größte Gewicht. Seine
Würdigung ist für das Verständnis mittelalterlicher Verkehrs¬
beziehungen unerläßliche Voraussetzung. Denn offenbar ist alle
Preisgestaltung durch ihn beeinflußt. Er bewirkt, daß alle die
ofenannten Waren ebenso wie die Rohstoffe unter ihrem „Werte“
o _
ein gekauft , so über ihrem Werte verkauft werden konnten.
Werden konnten: darauf ist der Nachdruck zu legen. Denn
sie wurden eben mit Rentenanteilen bezahlt, und damit war für
die Höhe ihrer Preise jede Grenzbestimmung nach oben hinfällig
geworden. Es kostete den Ritter nicht einen Solidus mehr, wenn
o .
er für eine Mailänder Rüstung statt des Jahreszinses von zwei
oder zwanzig Bauern den von vier oder vierzig bezahlte-, wie
es dem Abt des Klosters keine Schädigung an seinem leiblichen
oder geistigen Wohlbefinden bereitete, wenn er für ein kostbares
Meßgewand oder ein paar Pfund Pfeffer den Ertrag von zwei
oder drei abgabenpflichtigen Hufen mehr erlegte. Was also hier
die Händler beim Verkauf auf den Einkaufspreis zuschlagen, sind
wiederum Landrenten (oder Steuerbeträge).
Das Vermögen aber, das sich etwa ein gewerblicher Produzent
oder ein kleiner Händler im Verkehr mit diesen reichen Leuten
des Mittelalters bildete, war ein „abgeleitetes“: es entstand da¬
durch, daß Teile des (schon vorhandenen) feudalen Reichtums
in den Händen von Handwerkern sich zu größeren Beträgen
wieder zusammenballten.
So erklärt es sich, weshalb entgegen aller „vernünftigen“
Erwägung auch im Rahmen der handwerksmäßigen Wirtschaft
o o
hie und da sich Vermögen bilden konnten.
Freilich: eine übermäßig große Bedeutung möchte ich der
Vermögensbildung aus Warenhandels- und Produzentengewinn
im Mittelalter und auch späterhin nicht beimessen. Vielleicht,
1 P r u t z , Kreuzzüge, 1 00 ff.
620 Fünfter Abschnitt: Die Entstehung des bürgerlichen Reichtums
daß fortgesetzt eine größere Anzahl mittlerer Vermögen im
Rahmen der handwerksmäßigen Wirtschaft sich gebildet haben:
sie mögen jene unmerkliche Umformung des Handwerks in klein¬
kapitalistische Unternehmungen bewirkt haben, der wir ein Jahr¬
tausend lang zusehen und die natürlich für die Entstehung des
Kapitalismus auch von Bedeutung gewesen ist. Wollen wir das
große Phänomen der Entstehung' eines neuen, des bürgerlichen
Reichtums, in seiner ganzen Weite umfassen, so müssen wir
noch an andern Stellen Umschau halten, wo sich während des
Mittelalters Vermögen in größerem Umfang bilden konnten.
I
021
Vierzigstes- Kapitel
Die Vermögensbildung durch Deldleilie
I. Die Verbreitung der G-eldleihe
Mehr als tausend Jahre lang hat der Kampf gewährt zwischen
dem Geldgedanken, der endlich den modernen Kapitalismus aus
sich gebar, und den alten feudalen Mächten in Staat und Gesell¬
schaft, der Kampf, den zu schildern im Grunde die Aufgabe
dieses ganzen Werkes ist, den wir an dieser Stelle aber nur
nach einer bestimmten Seite hin verfolgen: wie er zur Bildung
von größeren Vermögen außerhalb des Umkreises des feudalen
Reichtums führt.
Im ganzen Verlauf des europäischen Mittelalters hat es wohl
keine Zeit gegeben, in der nicht an dieser oder jener Stelle des
Volkes und vor allem — worauf wir hier allein unser Augenmerk
richten — innerhalb der feudalen Gesellschaft, bei Adel oder
Geistlichkeit, bei Fürsten oder Kirchen, ein Bargeldbedarf auf¬
getreten wäre. Selbst im 9. Jahrhundert, das in seiner ökono¬
mischen Struktur am weitesten entfernt von allen geldwirtschaft¬
lichen und kreditmäßigen Verhältnissen war, in dem sich die
Grundsätze der eigenwirtschaftlichen Organisation am tiefsten
und am allgemeinsten Geltung verschafft hatten: selbst in diesem
geldflüchtigsten aller Jahrhunderte der christlichen Zeitrechnung
begegnet uns die Geldleihe als eine keineswegs vereinzelte Er¬
scheinung. Ich brauche nur an das Capitulare de Judaeis (814)
oder an den Liber manualis (814—844) zu erinnern, um die
Richtigkeit dieser Behauptung zu erweisen h
Seit den Kreuzzügen wird dann die Geldnot des Adels oder
wenigstens eines großen Teils des Adels wohl ein chronisches
Leiden. Von da ab hören wir auch allerorten, daß der Adel in
Schulden gerät, einen Teil seines Besitzes verliert u. dgl.
Ich begnüge mich damit, einige Hinweise auf Quellen und Literatur
zu machen , aus denen diese im allgemeinen bekannte Tatsache sich
ersehen läßt.
1 Ein reiches Belegmaterial findet man bei A. Dop sek, W. Entw.
der Kar. Zeit 2, 234 ff.
622 Fünfter Abschnitt: Die Entstehung des bürgerlichen Reichtums
Für die Auswucherung der Kreuzfahrer insbesondere : H e y d ,
Levantehandel 1, 159. Prutz, Kulturgeschichte der Kreuzzüge,
364 ff. Schaube, in den Jahrbüchern für Nat. -Ök. 15, 605 ff.
Cuningham, Growth 1, 191. Piton 1, 21.
Italien. Im fl or ent in er Gebiet beobachten wir, wie schon seit
dem Ende des 11. Jahrhunderts der Großadel zu verschulden und
damit zu verarmen beginnt: Davidsohn, Gesch. von Florenz 1,
284 f. 795 ff. Forschungen (1896), 158 f. Für das Toscana des
13. Jahrhunderts bringt derselbe Autor im 4. Bande seiner Forschungen
S. 281 ff. wieder ein reiches Material bei. Yon einer Verarmung
eines Teiles des Adels hören wir im 12. Jahrhundert auch in Venedig:
„Multos nobiles, qui ad paupertatem devenerunt,“ unterstützt der Doge
Ziani, der selbst „ein ungeheures Vermögen besaß“. „Man sieht, wie
ein offenbar nicht geringer Teil des Adels, unfähig, 'dem Zuge der Zeit
sich anzupassen, in Armut versank.“ Lenel, Vorherrschaft, 46.
Offenbar mußten die Güter dieses Adels also vorher in die Hände
anderer übergegangen sein; und das konnten doch auch nur Geldgeber
gewesen sein. Für Savoyen: Qu. Sella, Del codice d’Asti etc.,
in den Atti della B. Acc. dei Lincei. Ser. 2a Vol. IV (1887), 229 ff.
Frankreich. „Gentilshommes et usuriers, ayant un constant besoin
les uns des autres paraissent vivre . . . en bonne intelligence.“
D’Avenel 1, 109 f. Ein interessantes Dokument ist das Testament
eines der reichsten Pariser Wucherer im 13. Jahrhundert, des be¬
rühmten Gandulphus de Arcellis (Gandoufile), der (wie es häufig vor¬
kam) , auf dem Totenbette von Angst gequält, alle die Opfer seiner
Berufstätigkeit aufzählt, denen er die von ihnen empfangenen „usurae“
zurückzuerstatten heißt. Die Liste enthält fast ausschließlich geist¬
liche und weltliche Herren. Abgedruckt bei Piton, 161 ff.
Mes peres fu francs liom et de grant parente :
Pui kei en malage et en grant poverte,
Et engaga ses terres, petit l’en fu remes.
Cis hom ert par usure en grant avoir montes:
A mon pere fist toute se terre racater;
Puis m’i dona a ferne . . .
Aiol. v. 7065 suiv. 7111 suiv.
Ed. : Societes des anciens textes fran^.
„ Jaques Nonnand et Gast. Eaynard. .
Vgl. auch noch den Chronisten Eigor d, Vie de Philippe Auguste,
in der Collect, des Mem. rel. ä l’Hist. de France (1825), p. 22 (der
Volume trägt keine Nummer). Davidsohn, Forsch. 3 Nr. 139 (sehr
instruktive Urkunde). In der ganzen Troubadourpoesie spielt der von
Gläubigern gepeinigte Edelmann eine große Bolle. Vgl. Ferd. Herr¬
mann, Schilderung und Beurteilung der gesellschaftl. Verhältnisse
Frankreichs in der Fabliauxdichtung usw. Leipz. Diss. 1908, S. 31 f.
In England begegnen wir erst den Juden, dann den Lombarden
als Geldgebern der Großgrundbesitzer. „The Jews obtained forty per-
cent by lending money to extravagant or heavily taxed landowners.“
Cunningham 1, 189 ff. 328. 1235 sind der König und die meisten
Vierzigstes Kapitel : Die Vermögensbildung durch Geldleihe 623
Prälaten Schuldner der Lombarden, so daß der Erzbischof von London
diese ausweisen will, was der Papst verbietet. Piton, 216. Vgl.
noch Madox, The History and Antiquities of the Exchequer of the
Kings of England 1 (1769), 222 ff. 249 f.
Für die Bewucherung der großen Grundbesitzer in Flandern findet
man ein reiches Material bei G. des Marez, La letti'e de Foire ä
Ypres au XIII. sc. (1901); vgl. S. 165. 174. 183. 195. 254 f. Vgl.
auch Vanderkindere, 223.
Dem Gui de Dampierre beispielsweise sitzen die Geldmänner,
namentlich die Italiener, wie Läuse im Pelz. Eine hübsche Charakte¬
ristik dieses prächtigen, echt seigneurialen Typus, der nie Geld, dafür
aber um so mehr Schulden hat, findet man bei Funck-Brentano,
Philippe le Bel en Flandre, 76 £f.
Für Deutschland und die Schweis stimmen Schulte 1, 290 ff.,
Lamprecht, Zum Verständnis usw., in der Zeitschr. für Soz. und
W.G. 1, 233 f., und Jannssen 1, 444, so sehr ihre Auffassungen
sonst voneinander abweichen, in der Beurteilung des Adels überein.
Über die Bewucherung von Grundbesitzern durch die Juden S t o b b e ,
117 f. 240 f.
So reich die Kirche all die Jahrhunderte hindimcli gewesen
und geblieben ist, so hat es doch Zeiten gegeben, hat es nament¬
lich immer einzelne Kirchen und Stifte, einzelne Geistliche ge¬
geben, die einen starken Geldbedarf hatten und die diesen Geld¬
bedarf auf dem Wege der Anleihe (wenn nicht des Verkaufs von
Hab und Gut) zu decken versuchten.
Eine solche Zeit, in der die Kirche einer weitgehenden Ver¬
schuldung anheimfiel, in der auch ein Teil des Kirchengutes in
weltliche Hände überging, scheinen das 11. und 12. Jahrhundert
gewesen zu sein, als jener mächtige Hang nach Verweltlichung
über den Klerus kam. Damals soll das Kirchengut „in Saus und
Braus vertan“, die Kirchen und Klöster sollen, um ihre Schulden
los zu werden, einen Teil ihres Besitzes hingegeben haben. Eine
liegende des 13. Jahrhunderts, berichtet von Cesarius, erzählt:
,,1’on voit l’argent d’un usurier mis dans un coffre avec l’argent
d’une abbaye le devorer comme une proie; de sort qu’au bout
de peu de temps on ne trouve plus rien dans le coffre . . .“
Übertreibungen: gewiß. Aber darin steckt ohne Zweifel ein
richtiger Tatsachenkern. Im übrigen sind das bekannte Dinge.
Was die geistlichen Herren dann später noch einmal so sehr
in Schulden verwickelte, waren, wie bekannt, ihre Verpflichtungen
gegen Born, die Leistung der Servitia communia. Daher war ihr
Geldbedürfhis eine Zeitlang eine allgemeine Erscheinung in allen
I Andern und darum die Aussicht namentlich für die leistungs¬
fähigeren Geldbesitzer, sich rasch zu bereichern, eine sehr gute.
624 Fünfter Abschnitt : Die Entstehung des bürgerlichen Reichtums
Durch die Untersuchungen Gottlobs, Schneiders (S. 50 ff. )
u. a. , durch die überaus reichhaltige Materialsammlung Schultes
(1, 235 ff.) sind wir jetzt über die Beziehungen zwischen den geld¬
suchenden Prälaten und ihren Gläubigern bis in die kleinsten Details
unterrichtet. AVir wissen, daß es wiederum vor allem italienische
Häuser waren, die auch außerhalb Italiens die Geschäfte mit den geist¬
lichen Herren machten.
Dabei bat es sich um ganz gewaltige Summen gehandelt.
AYenn wir die Umrechnung zugrunde legen, die Schneider (S. 53)
vorgenommen hat, so würden an die Bischöfe in den Jahren
1295 — 1304 kreditiert haben die
Mozzi . 282460 Mk. Metallwert
Abbati .... 525868 „
Chiarenti . . . 706280 „ „
Ammanati . . . 942274 „ „
Spini . 1629465 „
Bedenken wir nun noch, welchen großen und wachsenden
Geldbedarf die sich zu öffentlichen Haushalten ent¬
wickelnden Fürsten- und Stadtwirtschaften hatten, so werden
wir uns einen Begriff machen können, welchen ganz gewaltigen
Umfang der Leihverkehr schon in verhältnismäßig früher Zeit
— sage während des Hochmittelalters — angenommen haben
mußte.
Soviel ist jedenfalls sicher, daß die durch den Handel um¬
gesetzten Werte in wesenlosem Scheine verschwinden, sobald
wir sie in Vergleich stellen mit den Ziffern des Kreditverkehrs
in demselben Zeiträume, daß aber in noch größerem Abstande
die voraussichtlich bei diesem verdienten Summen die denkbar
höchsten Handelsprofite hinter sich lassen. Man wolle sich etwa
vergegenwärtigen, daß ungefähr in derselben Epoche (Mitte bzw.
Ende des 14. Jahrhunderts), als der Wert des gesamten
Ausfuhrhandels einer Stadt wie Reval 1 — IV2 Mi 11. Mk.,
derjenige Lübecks 2—3 Mill. Mk. h. W. (nach Stiedas Berech¬
nungen) betrug, ein einziges florentiner Bankhaus (die Bardi)
dem König von England über 8 Mill. Mk. h. W. (900000 fior.
d’oro), ein anderes (die Peruzzi) über 5 Mill. Mk. geliehen hatte 1 ;
daß zu der Zeit, da die sämtlichen hansischen Kaufleute für
5—600000 Alk., die italienischen zusammen für IV2 — 2 Mill. Alk.
1 Nach Arillani, der für diese Ziffern gewiß zuverlässig ist.
1320 schuldeten die Johanniter den genannten beiden Bankhäusern
575 000 Goldgulden. Bosio, 1. c. 2, 28.
Vierzigstes Kapitel: Die Vermögensbildung durch Geldleilie 625
h. W. Wolle in England einkauften (Ende des 13. Jahrhunderts),
ein einziger Pariser Wucherer (Gandouffle) einen Umsatz von
546 000 Mk., die sämtlichen Lombarden aber in Paris einen solchen
von 61 440 000 Mk. h. W. versteuerten x. Was würde dagegen
sogar die Million Dukaten Umsatz im Fondaco dei Tedeschi be¬
deuten, selbst angenommen, sie sei richtig! Oder man bedenke,
was es heißt, daß die Genuesen und Pisaner den Kreuzfahrern
vor Accon schon im 12. Jahrhundert 26400 Mk. Silber, 2220 lb.
tur. und 930 Unzen Gold borgen1 2, also etwa IV2 Mill. Mk. Metall¬
wert h. W. ; daß Ludwig der Heilige bei Kaufleuten ein Darlelm
von 102 7082/3 lb. tur., also von mehr als 2Va Mill. Mk. h. W.
aufnimmt3; daß 1390, als die Judenschulden in Regensburg auf¬
gehoben wurden, sie einen Betrag von ca. 100000 Goldgulden,
also etwa 1 Mill. Mk. ergaben. „Und wie viel mögen die Regens¬
burger Juden an auswärtigen Schuldnern verloren haben!“4 *
Die Geldleihe ist während des ganzen Mittelalters eine wich¬
tige Nebenbeschäftigung der Warenhändler gewesen, wie das
Kulischer in der auf Seite 612 genannten Schrift nachgewiesen
hat. Ich möchte ergänzend hinzufügen: sie ist eine gewinn¬
bringende Geschäftstätigkeit der Warenhändler geblieben bis
zum Schlüsse der früh kapitalistischen Epoche, das
heißt bis die Kreditvermittlung in Banken und Genossenschaften
organisiert wurde. Wenn wir uns z. B. die Yermögensbildung
eines reichen Hirschberger Großkaufmanns im 18. Jahrhundert
ansehen, so staunen wir über die weitverzweigte Geldleihetätig¬
keit eines solchen Warenhändlers. Das Testament des „großen“
Christian Mentzel weist eine lange Reihe von Darlehnen auf,
deren größte an adlige Herren gegeben sind , die aber bis zu
Beträgen von 12 Talern herunter auch an arme bürgerliche
Schuldner verabfolgt wurden.
Die ausstehenden Darlehnsforderungen belaufen sich nebst
rückständigen Zinsen auf 109 635 Tlr. 4 Sgr. 5 Pf., während der
Wert des Warenlagers und der Handlungsaktiva auf 121038 Tlr.
26 Sgr. 11 Pf. veranschlagt ist6.
o o
1 Nach den Steuerbeträgen einwandsfrei berechnet. Siehe z. B.
Clamageran 1, 300; Ed. Moranville, Rapports ä Philippe VI
sur l’etat de ses finances, in der Bibi, de l’Ecole des Chartes XLVIir,
p. 387.
2 P i 1 0 n , 21.
3 Schaube, Wechselbriefe, 608.
4 Stobbe, 137.
Rombart, Der moderne Kapitalismus, I.
40
G2G Fünfter Abschnitt: Die Entstehung des bürgerlichen Reichtums
II. Die Gewinne ans der Geld leihe
Daß an diesen großen Summen auch große Verdienste ge¬
macht wurden , dürfen wir als ausgemacht ansehen. Dafür
bürgte schon die Höhe des Zinsfußes während der langen
Jahrhunderte des Mittelalters. Man weiß, daß 20 — 25% etwa der
übliche Betrag war, zu dem Darlehn ausgeliehen wurden, daß
dieser Betrag in seltenen (für den Schuldner günstigen) Fällen
auf etwa 10% sank, sehr häufig aber auch zu einer für unsere
Begriffe schwindelhaften Höhe emporldetterte h Man ist geneigt,
manche der „gesetzlich“ normierten Zinsbeträge für Ausgeburten
der Phantasie zu halten: so wenn man erfährt, daß ein Statut
vom 23. Mai 1243 für die Juden der Provence einen Zinsfuß von
300%, das Judenprivilegium Friedrichs H. (1244) einen solchen
von 173%, eine Bestimmung des Freisinger Stiftes (1259) einen
Zinsfuß von 120 % festsetzen — wird aber doch gezwungen, an
derartige Möglichkeiten zu glauben, da genug Belege dafür vor¬
handen sind, daß in Wirklichkeit Zinssätze, die um 50%
schwankten, gar keine Seltenheit waren: in den acht Seedarlehnen,
die ein Schiffseigner in Venedig im Jahre 1167 abschloß, beträgt
der niedrigste Zinsfuß 40%, der höchste 50 %* 1 2. Eine Summe von
20 000 Mk. (853 000 Silber Mk.), die Bichard Lejons von Winchelsea
(1375/76) dem König von England borgte, ließ er sich mit 50%
verzinsen3. Um nur ein paar Beispiele aus ganz und gar ver¬
schiedenen Lebensumständen des Mittelalters anzuführen.
Auch in den auf das Mittelalter folgenden Jahrhunderten
blieb der Zinsfuß für geliehenes Geld hoch : noch Ludwig XIV.
mußte 15 °l o für seine Anleihen bezahlen.
Ebenso waren die Provisionen beträchtliche, die den
cBankiers’ für ihre Dienste gezahlt wurden. So betrug beispiels¬
weise die Provision der Campsores cam. apost. in den mir be¬
kannten Fällen4: 8, 11, 12%, 24, 25, 35%.
5 [Zu Seite 625]. Siehe das Testament des 1748 verstorbenen Chr.
Mentzel in der Familienchronik der Mentzel-Gerstmann, herausgegeben
von B. E. H. G erstmann (1909), S. 26 ff.
1 Siehe z. B. die Zinstabelle bei David so hn, Forschungen 1
(1896), 158 f.: Min. 10, Max. 50, Med. 20, 26%.
2 K. Hevnen, Zur Entstehung des Kapitalismus in Venedig
(1905), 99.
3 Alice Law, 1. c. p. 66.
4 Schneider, 37; Gottlob, Kreuzzugssteuern, 249; David«
sohn, Forsch. 3, Urk. Nr. 771, 787.
Vierzigstes Kapitel: Die Vermögensbildung durch Geldleilie (]27
Dazu kam, daß das mittelalterliche Pfand- und Hypothekar¬
recht dem Gläubiger viel größere Machtbefugnisse gewährte als
unser heutiges. Die Verpfändung kam , in sehr vielen Fällen
wenigstens, einer Veräußerung gleich, deren Inkrafttreten an die
Suspensivbedingung der Nichterfüllung des Vertrages geknüpft
war. Es lief meistens auf einen Eventualkauf hinaus. Die Ver¬
kaufsurkunde wurde dem Darlehnsgeber in Pfand gegeben ; dem
Verkaufs vertrage wurde eine Klausel angefügt, daß es hinfällig
werde, wenn Darlehn und Zins zum vereinbarten Termin ein¬
bezahlt seien, andernfalls trat die Veräußerung ohne weiteres in
Kraft, der Darlehnsgeber wurde Eigentümer des verpfändeten
Gutes. „ Hab und Gut Adliger wie klösterlicher Stiftungen stand
deshalb stets in Gefahr, in die Hände der Wucherer zu geraten.“
Als Beispiel: Urk. von 1287 : Günther von Schwarzburg hat einem
Juden ein Grundstück verpfändet tali pacto, ufc si termino statuto non
redimeremus, quod tune sibi absque contradictione maneret et titulo
proprietatis liberae suum esset-, Stobbe, 240. Bei der Beschränktheit
des Rechts der Juden, Grundeigentum zu besitzen, erfolgte bei ihnen die
Darlehnsgewährung meist gegen Verpfändung von Kleinodien, Kostbar¬
keiten, Silber- und Schmuckgeräten. Beispiele dafür bei Stobbe, 240.
Ein anderer Truc, den der Geldgeber (unter dem Drucke
des kanonischen Zinsverbotes) seinem Klienten gegenüber anzu¬
wenden pflegte, bestand in einer Art von Wettvertrag, nach dem
z. B. ein Pilger das Keisegeld unter der Bedingung erhielt, daß
seine Erbschaft oder doch gewisse Güter, falls er nicht zurück¬
kehrte, dem, der die Zahlung geleistet hatte, zufielen 1.
Der Hauptgrund aber, weshalb in aller früheren Zeit: das
heißt während des ganzen Mittelalters bis zum Ende des 18. Jahr¬
hunderts alle Geldleihe, namentlich an die kleinen und großen
Inhaber der öffentlichen Gewalt, so außerordentlichen Gewinn
brachte, ist die in der Vergangenheit allgemein übliche Sitte,
dem Gläubiger Befriedigung zu verschaffen durch Überlassung
bestimmter Einkünfte : wie Steuern, Zölle, Sporteln, Bergwerks¬
abgaben usw. ; von Einkünften, die hn Anfang wohl meist aus
grundherrlicher Machtvollkommenheit flössen, allmählich aber
auf bestimmte Hoheitsrechte als Quelle zurückgeführt wurden.
Diese Sitte entsprach der früheren Staatspraxis, allen öffentlichen
Befugnissen den Charakter von veräußerlichen Werten zu ver-
leihen und sie als solche bei entstehenden Bedürfnissen zu ent-
äußern.
1 Belege bei Bender, Die öffentlichen Glückspiele. 1862. Vgl.
Meitzen, Siedelungen 2, 637.
40*
628 Fünfter Abschnitt: Die Entstehung des bürgerlichen Reichtums
Der Gläubiger, der bei den kleineren Herren häufig zugleich
Vermögens Verwalter, bei den größeren Fürsten Hofbankier wird,
erscheint meist als „Pächter“ der verschiedenen Einnahmequellen,
aus denen er nach Gutdünken sich, sei es für seine Zinsen, sei
es für sein Hauptgut, bezahlt macht : begreiflicherweise in einem
seinen Interessen nicht nachteiligen Umfange. "Was die Finanzen
jener Jahrhunderte also beherrschte, können wir als Publi-
kanenwirtschaft bezeichnen: sie nimmt ihren Anfang im
frühen Mittelalter (römische Erbschaft?) und erreicht ihren Höhe¬
punkt in der Einrichtung der französischen fermiers generaux
oder der „Partisans“ des 18. Jahrhunderts.
Wie allgemein verbreitet dieses Gebahren war, erweist schon
die folgende, gewiß sehr lückenhafte Sammlung von Belegen, die
ich mir zusammengestellt habe:
Pachtung von Steuereinkünften, Zollgefällen usw.
(mit Ausschluß der Bergwerke und der Münze)
Päpste. Einer Verpachtung bzw. Verpfändung der Decimen begegnen
wir sehr häufig. Genaue Angaben findet man in den bereits namhaft
gemachten W erken von Kirsch, Gottlob, Schneider, deren
Ergebnisse unter Hinzufügung zahlreicher weiterer Details Schulte
zusammenfassend dargestellt hat.
Eine besondere Berühmtheit haben die Campsores camerae
apostolicae erlangt, auf die uns der alte Pagnini schon hinweist
und mit deren Schicksalen uns zahlreiche gründliche Spezialunter¬
suchungen in ganz besonders liebevoller Weise vertraut gemacht haben.
Wir wissen jetzt genau Bescheid über die Art, wie die Päpste
das ihnen aus aller Herren Länder zuströmende Geld vermittels eines
kunstvollen Sammelsystems in ihre Zentralkasse leiteten. Wir können
die Generalkollektoren, Kollektoren und Subkollektoren auf ihren
Wanderungen verfolgen, kennen die Säckchen und Kisten, Avomöglich
mit ihren Signaturen, in denen die Gelder aufbeAvahrt zu werden
pflegten, ehe sie an eine höhere Zentrale abgeliefert Avurden. Wir
Avissen daher jetzt auch, Avas hier interessiert: daß schon seit dem
13. Jahrhundert Kaufleute mit der Einziehung und Übermittlung päpst¬
licher Gelder betraut wurden; die ersten „Bankiers“ der Kurie be¬
gegnen uns unter dem Pontifikate Gregors IX. (1227— — 1241).
Die früheste Urkunde, Avelche die Verwendung von Kaufleuten in
der päpstlichen Finanzverwaltung bestätigt, ist ein Brief* Gregors IX.
vom Jahre 1233, worin er quittiert „ad Angelicum Solaficum quemdam
campsorem nostrum et eius socios mercatores senenses de omnibus
rationibus, quos in Anglia, Francia et Curia Romana vel etiam alibi
nostro vel Ecclesiae Romanae nomine receperunt“. Aus dem Cod.
Cenc. Cam. publiziert bei Muratori, Ant. ital. diss. 16. t. I. pag. 118.
Dann aber im 11. Jahrhundert, zumal nach Aufhebung des Templer-
Vierzigstes Kapitel: Die Vermögensbildung durch Geldleihe 620
Ordens, der während seines Bestehens besonders gern zum Einsammeln
der Gelder benutzt worden war, entwickelte sich das Institut der
Campsores camerae apostolicae zu großer Bedeutung. Waren anfangs
Kaufleute der verschiedensten italienischen Städte, als Lucca, Pistoja,
namentlich Siena, zu derartigen Punktionen verwandt worden, so ge¬
wannen mit der Zeit die Florentiner bei dem heiligen Stuhl immer
größeren Einfluß, bis sie zuletzt die Bankiergeschäfte fast völlig mono¬
polisierten. Die Spini und Spigliati, die Bardi, die Cerchi, die Pulci,
die Alfani, sie haben es sich stets zu besonderer Ehre angerechnet,
die Geldgeschäfte des heiligen Vaters zu besorgen, bis ihnen allen die
Medici den Rang abliefen, die während des 15. und 16. Jahrhunderts
die Bankiers der Päpste par excellence sind: die Rothschilds der
italienischen Renaissance. Vgl. noch Otto Meltzing, Das Bank¬
haus der Medici und seine Vorgänger. 1906.
Die Ritterorden finden wir ebenfalls in Verbindung mit Kaufleuten,
die ihnen als Bankiers dienen oder auch (bei den enormen Einkünften
erscheint dies fast unglaublich) mit Vorschüssen dienstbar sind. Wenig¬
stens gilt dies für die Johanniter, die wir 1320 in der Schuld der
Bardi und Peruzzi finden. J. B o sio , Dell’ istoria della sacra religione
et illma militia di S. Griovanni hjerosolimitano 2 (1594), 28. Außer den
genannten italienischen Häusern sind es Geldwechsler in Montpellier
und Narbonne, die wir als Bankiers der Hospitaliter antreffen. Vgl.
Heyd, Gesch. des Levantehandels 1, 576.
Italien. Venedig. Als im 12. Jahrhundert eine Anzahl Cives das
Geld zur Herstellung einer Flotte aufbringen, „promissum fuit civi-
bus, restituere mutuatam pecuniam eis obligantes redditus communis“.
H. Simonsfeld, Venetianische Studien 1, 137. So wurden der
Reihe nach den Staatsgläubigern verpfändet die Einkünfte aus dem
Salzmonopol, die Gelder der decime, die Grundsteuer der terra firma.
Ferrara, Docum. per servire alla storia de’ banclii Veneziani, im
Arch. Veneto 1 (1871), 106 f. 332 f. Vgl. Lattes, Dir. comm., 232.
Im Jahre 1169 verpachtet der Doge Dandolo an einen gewissen
Mairano auf sechs Jahre alle an der Riva in Konstantinopel befind¬
lichen Gebäude, Tabernen, Wagen und Gewichte, Maße für Öl, Wein
und Honig. Cecchetti, La vita dei Veneziani fino al 1200, p. 38,
bei Heynen , 102.
Genua. Verpachtung bzw. Verpfändung zahlreicher Zölle und
Abgaben, des Salzmonopols, der Münze usw., seit dem 12. Jahrhundert.
„Steuerverpachtung bildet bis Schluß der Republik das herrschende
System der Steuererhebung.“ Sieveking, Genueser Finanzwesen 1,
41. Genuesen im Besitz eines Drittels der Hafenzölle in Accon:
Prutz, 378.
Pisa. Davidsohn, Gesch. von Florenz, 685.
Florenz. 1329 Verpfändung der Gabella an die Acciaiuoli und
Konsorten. Davidsohn, Forsch. 3, 186.
Neapels Staatsämter finden wir häufig an Florentiner verpachtet.
Davidsohn, Forsch. 3, XVII (Übersicht).
Zuweilen verschafften sich die Steuerpächter in den italienischen
Kommunen die für die Pachtübernahme erforderliche Summe durch
(380. Fünfter Abschnitt: Die Entstehung des bürgerlichen Reichtums
vorherige Ausgabe von Anteilscheinen, ideellen Quoten, sog. portiones
an dem Pfandobjekte. Die Käufer der portiones hießen portionarii,
partionarii und participes, ihr Verhältnis zum Unternehmer partecipatio.
Dieselben Erscheinungen finden wir später bei den französischen Par¬
tisans wieder. Lästig, Beiträge zur Geschichte des Handelsrechts,
in der Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht 24, 425.
England. Eine umfassende Bearbeitung des Gegenstandes hat schon
Bond in der Archaeologia Bd. 28 vorgenommen. Uralt ist die Ein¬
richtung des Sheriffs, dem die Eintreibung der Steuer in je einer
country gegen Gewährung fester Pachtsummen überantwortet wurde.
Sinclair 1, 55. Siehe die interessante Arbeit von G. J. Turner,
The Sheriffs Farm, in den Transactions of the R. Hist. Soc. 12 (1898),
117 — 149. Uber die Firma burgi handeln neuerdings vortrefflich
Round, Domesday Finance, in den Domesday Studies Vol. I, und
Haiti and, 1. c. p. 204 seg. Der erste König, der sich fremder Kauf¬
leute bediente, soll Johann gewesen sein; unter Heinrich III. bürgert
sich ihre Verwendung ein. 1276 — 1292 finden wir Lucchesen als Zoll¬
einnehmer; 1294 sind zehn verschiedene Handelshäuser aus Lucca und
Florenz an Wolltransaktionen beteiligt. Anfang des 14. Jahrhunderts
sehen wir die Frescobaldi als Pfand für ihre Darlehnen an die eng¬
lische Krone fast sämtliche Zolleinkünfte des Königreichs in ihrer
Hand vereinigen. Deila dec. 2, 70, wo die englische Quelle zitiert
ist. Vgl. auch Toniolo, L’ econ« di credito ec., in der Riv. int. 8,
563, und Stubbs, Const. Hist. 24, 561. Weiteres Tatsachen¬
material enthalten Fox Bourne, English merchants. New ed. 1886,
und der außerordentlich interessante Aufsatz von Alice Law, The
English „Nouveaux-Rickes“ in the fourteenth Century, in den Trans¬
actions of the R. Hist. Soc. New Series. Vol. IX (1895), S. 49 ff.
Fräulein Law führt den Nachweis , daß auf die Bardi und Peruzzi,
die noch im Jahre 1340 im Besitz des Neunten in sechs Graf¬
schaften sich befinden, eine Reihe englischer Häuser folgt, die ganz
im Sinne der Italiener ihre Geschäfte betreiben. „They undertook
the farm not only of the customs but even of the war subsidies
and in return for the ready-money payments they made the king they
were allowed to take not only the legal custom of 40 / a sack, but
any additional impost they might be able to extort from the extremities
of the other wool merchants“ (63). Neues Licht über die Anteil¬
nahme der fremden und englischen Geldgeber an den öffentlichen
Einkünften verbreitet die sehr gründliche Arbeit von Schuyler
B. Terry, The Financing of the Hundred Year’s War (1337 bis
1360). 1914. Aber auch im 17. Jahrhundert besteht die Sitte noch
immer , den Gläubigern des Königs öffentliche Einkünfte zu ver¬
pachten; so bei dem Darlehn, das 1625 Sir William Courten dem
König in Höhe von 27 000 £ gewährt. Rhymer, Foedera 18,
156, bei Anderson, Annals Ao 1625. In den „fundierten“ An¬
leihen finden sich dann die letzten Spuren dieses Publikanentums.
In demselben Jahrhundert begegnen wir auch noch der Vergabung
von Sporteln, der uralten Sitte der Anticipations an die Regierung usf.
Gute, aber nicht ganz klare Darstellung der zeitgenössischen Zustände
bei P o s tl e th w ay t , Dict. of Comm. Art. Monied Interest 2 2, 284 f.
Vierzigstes Kapitel: Die Vcrmögeusbilclung durch Geldleihe p
Deutschland. 1187 verpfändet der Burggraf von Cöln die Einkünfte
aus seiner B. Eunen 1, 102, bei Inama, DWG. 2, 447. Danzig
und Worms (seit 13. Jahrhundert), Nürnberg seit 1360 und andere
Städte verpachten ihre Einkünfte. Quellen bei Neumann, Gesch.
des Wuchers, 538 f. Lüneburg verpfändet 1372 den cKalkberg’, 1375
die Stadtwage, 1381 die Salzeinkünfte der Stadt. Lüneb. DB. 2, 765.
857. 961. Vgl. Inama 311, 491. Im 14. Jahrhundert verpfändet
Erzbischof Wilhelm von Köln das Gutamt bei dem Bierbrauen an
Joh. Hirzeliu um 4450 Goldschilde*, an denselben die ihm zustehenden
Mühlen- und Torgefälle in der Stadt um 9000 Goldschilde, Chr. d. St.
14, CXXVI. Während des 14. Jahrhunderts begegnen wir häufig
Italienern als Pächtern der fürstlichen Gefälle in Mitteldeutschland;
Neumann, 377. Vgl. auch A. von Kostanecki, Der öffentliche
Kredit im Mittelalter (1899), 32 f. , und die reiche Sammlung ein¬
schlägiger Daten wieder bei Schulte 1, 328 f. „Italiener an deutschen
Zöllen.“
Über Verpfändungen von Zöllen usw. an Juden O. Stobbe,
a. a. O. S. 116 f.
Aber das klassische Land der Publikanenwirtschaft scheint doch
Frankreich gewesen zu sein. Hier begegnen uns die Steuerpächter
seit dem frühesten Mittelalter bis in die neueste Zeit hinein. Um das
Jahr 584 begegnen wir einem Juden Armentarius, dem für ein Darlehn
von einem Viscarius und einem Grafen Eunomius aus Tours Schuld¬
verschreibungen über die öffentlichen Abgaben ausgestellt worden sind.
Aronius, Regesten Nr. 47.
Von wohlhabenden Gefälleinnehmern im 12. Jahrhundert erzählt
Pigeonneau 1, 266: „Ces bourgeois sont charges d’encaisser les
redevances du domaine et chacun d’eux a une clef des coffres oü
sont deposes les deniers royaux, au tresor du Temple.“ „Lombarden“
während des 13. Jahrhunderts „receveurs“ in Frankreich. Belege bei
C. Piton, Les Lombards ä Paris et en France 1 (1892), 36. Der
bekannte Held einer Novelle des Boccaccio, Sir Ciapperello Distaiuti
da Prato, ist von 1288 bis 1292 receveur de la baillie d’Auvergne.
Piton 1, 69; 1295 auch anderer Steuern unter Philipp dem Schönen.
Auch die Freres De Bonis waren collecteurs de tailles (14. Jahrhundert).
Le Livre de Comptes des Freres Bonis; ed. E. Forestie 1 (1890),
XXVII. Ordonnanzen von 1323 und 1347 untersagen die Anstellung
von Italienern, aber ohne Erfolg. Vgl. J. J. Clamage ran, Hist, de
l’impöt en France (1867), 337.
Les banquiers se chargeaient aussi d’operer la recette des grandes
proprietes seigneuriales ; ils faisaient, en quelque Sorte, fonction de
regisseurs ou d’intendants. Tel est en ce genre ä la 'fin du XIV. sc.
Digne Rapponde, Lombard en vogue, qui a des Comptoirs ä Paris et
ä Bruges. II est l’homme d’affaires du duc de Bourgogne, du comte
de Flandres , d’Yolande de Cassel, du sire de la Tremoille et sans
nul cloute de Cents autres.“ „Des domaines sont donnes aux Lombards
par de puissants princes, ,en reconnaissance de leurs bons Services.“1
Die Quellen bei D’Avenel, Hist. econ. 1, 109110. Vgl. auch
Marx, Kapital I4, 709/10. In den Jahren 1403 — 11 ist ein Oddonius
632 Fünfter Abschnitt: Die Entstehung des bürgerlichen Reichtums
Asinerii Domicellus Gläubiger und Kastellan des Grafen von Greyerz
in den Herrschaften Aubonne und Coppet. J. F. Amiet, Die franzö¬
sischen und lombardischen Geldwucherer des Mittelalters namentlich
in der Schweiz, im Jahrbuch für Schweiz. Gesch. 2, 251 ff.
Berühmt (und berüchtigt) sind dann die cPartisans’ oder tTraitans5
geworden, die ihre höchste Blüte im 17. und 18. Jahrhundert erlebten:
das waren die Bankiers, welche der Regierung die Geldsummen, deren
sie bedurfte, vorstreckten und die dafür auf bestimmte Gefälle an¬
gewiesen wurden, die einzuziehen ihnen selbst überlassen blieb. Sie
trugen ihren Namen von dem ,-PartF ; so nannte man „une Operation
linanciere qui avait jjour but d’avancer au Roi des fonds soit sur la
creation de nouveaux impöts et de nouveaux offices, pour en percevoir
en suite soi-meme le produit ; soit sur la recherche des impöts im-
payes, des fonds royaux divertis, des non privilegies qui avaient reussi
ä se soustraire aux charges publics“. Ebenfalls bekannt ist die Ein¬
richtung der ferme, die Stellung der fermiers generaux.
Eine besondere Bedeutung für Frankreich hat namentlich in den
letzten Zeiten des ancien regime der Ämterkauf gehabt. Alle
irgendwie faßbaren Dienstleistungen, von den höchsten bis zu den
niedrigsten, von der Stelle eines ersten Präsidenten des Parlaments
bis zu der eines Holzmessers uud Heuverkäufers, waren zu Ämtern
erhoben worden, die man an Privatpersonen verkaufte. Die Inhaber
dieser Ämter erhielten dann die Befugnis, die mit dem Amte ver¬
bundenen Gefälle und Sporteln zu ihren Gunsten einzutreiben. (Ich
komme auf diese Einrichtung des Ämterkaufs noch in einem andern
Zusammenhang zu sprechen, wo ich noch weitere Einzelheiten mit-
teilen werde).
Die Hauptquelle für das Studium der französischen Publikanen-
wirtschaft in neuerer Zeit ist die zeitgenössische Flugschriftenliteratur.
Siehe z. B. N. Froumenteau, Le thresor des thresors de France;
le President La Barre, Formulaire des Eins 1622. La Chasse aux
Larrons. Paris 1618. Loyseau, Traite des Ordres. Les Caquets
de TAccouchee. Gourville, Mem. Catechisme des Partisans. 1649.
Tallement des Re aux, Histoire u. a. Da diese Schriften nament¬
lich im Auslande fast gar nicht aufzutreiben sind, muß man dankbar
solche Bearbeitungen begrüßen, die sie in den Auszügen mitteilen.
Unter ihnen verdienen vor allem Erwähnung H. Thirion, La vie
privee des financiers au 18. sc. 1895. Ch. Norm and, La bour-
geoisie fran^aise au XVII. sc. 1908 (ein ausgezeichnetes Buch).
Daneben ist immer Forbonnais als Fundgrube zahlreicher Einzel¬
angaben schätzbar. Gute Übersichten gibt auch Ranke, Franz.
Gesch. 33, 50 f. 192 f. Neuerdings sind diese Dinge in glänzender
und erschöpfender Weise dargestellt in dem sehr wertvollen Buche
von G. Martin, L’histoire du credit en France sous le re°ne de
Louis XIV. T. I. Le credit public. 1913.
"Wie einträglich die Geschäfte der Steuerpächter zu allen
Zeiten gewesen sein müssen, geht aus den Klagen hervor, die
wir auch zu allen Zeiten über sie und ihre Bedrückungen hören.
Vierzigstes Kapitel: Die Vermögensbildung durch Geldleihe (333
Was uns der Sire de JoinviUe im Jahre 1269 erzählt: „Je fu
moult presse du roy de Navarre moy croisier. A ce respondis-je
que, tandis comme j’avoie ete . . . outremer . . . les serjans au
roy de France et le roy de Navarre m’avoient destruite ma gent
et apouroiez si que il ne seroit jam.es heure que moi et eulz
n’en vausissent piz“ 1 und was durch die Ordonnanzen von 1254
und 1256 bestätigt wird2, wiederholen die verzweifelten Anklagen
gegen die Partisans und fermiers generaux im 16., 17. und
18. Jahrhundert: „La pluralite des officiers font autant de- roy -
telets en teile monarchie, plus devotionnez ä establir et conserver
une je ne sais quelle damnee tyrannie, ambition et avarice, par
le moyen de la quelle de jour en jour ils se font plus tost riches,
qu’ä rendre la fidelite du Service qu’ils doivent ä Sa Majeste et
Soulagement de ses sujets.“ 3 „Publicanus mala bestia, tyrannus
populormn et regnorum.“ (Gui Patin.)
Ein französisches Sprüchwmrt, das bis ins 18. Jahrhundert im
Schwange war, lautet: „l’argent du roi est sujet ä la pince“, und
ebenso vielsagend ist der Vergleich, den man zwischen den
Financiers der Zeit und den Engeln, die die Bundeslade be¬
wachen, anstellte: sie haben vier Flügel: „deux dont ils se ser-
vaient pour voler et les deux autres pour se couvrir.“
Diese Anklagen erscheinen uns begründet, wenn wir von den
gewaltigen Verdiensten hören , die die Steuerpächter
machten. Bei der Steuerpacht im Jahre 1348 (farm of the subsidy)
werden die Kauf Leute von den Communs beschuldigt, 60% ver¬
dient zu haben4.
Im 17. Jahrhundert wurde behauptet, daß nur der fünfte Teil
des Steuerertrages in die Hand der Regierung käme5. Eine eben¬
solche Berechnung an der Hand eines Einzelfalles finden wir in
dem bekannten „Anti-Financier“ für das 18. Jahrhundert 6. Und
wenn das auch übertrieben sein mag, so besitzen wir doch ge-
1 Mein, du Sire de Joinville, in der Nouv. Coli, des mein, pour
servir ä l’hist. de France; ed. Michaud 1 (1836), 323/24.
2 Clamageran 1, 264.
3 Froumenteau, Le thresor des tbresors de France. 2e livre,
p. 45, bei Levass eur, Hist. 2, 127.
4 A. Law, Nouveaux Riches, 63 f.
5 Nach der Flugschrift Catechisme des partisans (1649). Ranke,
Franz. Gesch. 3 s, 50/51.
6 L’Anti-Financier ou releve de quelques-unes des malversations
dont se rendent journellement coupables les Fermiers-Generaux etc,
(1763), p. 59 seq.
(334 Fünfter Abschnitt: Die Entstehung des bürgerlichen Reichtums
.Trügend verbürgte Ziffern, die beispielsweise den Betrag der er¬
hobenen Steuern auf 80—90 Mill. Frcs., den der abgeführten
Steuern auf 30 — 35 Mill. Frcs. angeben. In den Beispielen, die
uns Forbonnais von Traites extraordinaires mitteilt, verdienen
die Partisans das eine Mal auf 14 Mill. 3653333 1. , das andere
Mal betragen ihre Gewinne 107 513861 1., während der König
von ihnen aus denselben Verträgen 329 691513 1. empfängt1.
In gewissem Sinne gehören hier auch die Gewinne her, die
z. B. die Fugger an der Pacht der spanischen Maestrazzos ge¬
macht haben (obwohl es sich dabei schon zum Teil um Gewinn
aus Bergbau handelt, von dem ich an einer andern Stelle aus¬
führlicher reden werde). Der Pachtschilling der Maestrazzos
betrug 1538 — 42 jährlich 152 000 Duk. , der Durchschnittsertrag
aber 224000 Duk., während in den Jahren 1551 — 54 gar 85°/o
Reingewinn erzielt wurden. Während der 40 Jahre 1563 — 1604
verdienten die Fugger an diesen Pachtungen bar 2 127 000 Duk.
Während der Jahre 1551 — 54 war der D urc hs chnittser t ratr der
Maestrazzos 114646 370 mrs. Für die Jahre von 1563 bis 1604
ergaben sich im einzelnen folgende Gewinne2 3:
1563 — 1567 . ca. 200000 Duk.
1567—1572 . „ 570000 „
1572—1577. ...... „ 490000 „
1577—1582 . „ 167 000 „
1582—1594 . „ 400000 „
1595—1604 . „ 300000 „
Daß nun aber die Geldleihe in dem hier beschriebenen Sinne
auch wirklich vermögenbildende Kraft im großen Stile
besessen hat, würde uns unser Verstand sagen, auch wenn wir
nicht zahlreiche ausdrückliche Bestätigungen der großen Er¬
giebigkeit und Einträglichkeit dieser Geschäfte hätten.
Einen ersten Anhalt zur Beurteilung gewähren die Angaben
über Geschäftsprofite, die wir von bekannten Geldhäusern
besitzen. Sie sind zu allen Zeiten recht beträchtlich8.
Aber ganz schlüssig sind doch erst die Berichte, die wir über
wirkliche erfolgte Vermögensbildung machen bei Leuten, die sich
1 Forbcrnnais 1, 475. 476; 2, 122. 123.
2 Zusammengestellt nach K. Häbler , Geschielte der Fuggerschen
Handlung in Spanien. Ergänzungsheft zur Zeitschrift für Soz. u. W.G.
Heft 1 (1897), 72 ff. 82 ff. 145. 169. 176. 193.
3 Beispiele in der ersten Auflage 1, 224.
Vierzigstes Kapitel: Die Vermögensbildung durch Geldlcihe (335
vorwiegend mit Geldleihe beschäftigt haben. Deren gibt es nun
aber auch in reicher Fülle. Ich begnüge mich, als besonders
beweiskräftig die Gruppen herauszugreifen, deren jede zwar ver¬
schiedene Arten von Geldgeschäften betrieben hat, die aber doch
alle drei gleichmäßig- als Beispiele für die vermögenbildende Kraft
der Geldleihe (und zwar im wesentlichen noch außerhalb des
kapitalistischen Nexus) .dienen können, und über deren Schicksal
wir auch hinreichend genau unterrichtet sind: die Juden, die
reichen Augsburger Familien des 1(3. Jahrhunderts und ch*Q
französischen financiers des 17. und 18. Jahrhunderts.
1. Die Juden
Daß die Juden während des ganzen Mittelalters immer ver¬
mögende Leute unter sich hatten, wird durch die Angaben, die
wir über jüdischen Reichtum besitzen, außer Zweifel gesetzt,
und daß diese Vermögen fast ausschließlich aus der Geldleihe
erwuchsen, dürfen wir aus den allgemeinen Verhältnissen
schließen. Bekanntlich war der Reichtum der Juden nie von
langer Dauer, weil die Fürsten und Städte den Schwamm jedes¬
mal, wenn er voll genug gesogen war, auspreßten. Aber es ist
doch erstaunlich, in wie rascher Zeit Israel das abgenommene
Hab und Gut wieder zu ersetzen wußte, es ist erstaunlich, um
welch große Summen es sich bei der Plünderung gelegentlich
handelte. Es genügt, wenn ich einige Belege gebe:
Deutschland: Für ihre Privilegien zahlten die Juden in Speier
an den Bischof jährlich 3V2 Pfund Goldes (1084). 1096 schenkten
die Kölner und Mainzer Juden dem Führer des Kreuzzugs, Gott¬
fried von Bouillon, 1000 Silberstücke. 1171 wurden zwei Juden
in Köln für 105 Silberstücke ausgelöst. 1179 bekommt der Kaiser
von der jüdischen Gemeinde 500 Silberstücke, der Erzbischof
von Köln von den Juden seiner Herrschaft 4200 Silberstücke.
Einer Überlieferung zufolge baute der Erzbischof Dietrich von
Köln fast alle Gebäude im Kastell Godesberg von dem Gelde,
das er von einem gefangenen Juden erpreßt hatte h
1375. „in den Zeiten da fiengen die von Augspurg alle ihre
juden und legten sie in fanknus und beschatzten sie umb
10000 fl.“
1381. „vieng man die juden allhie und muesten der stat
geben 5000 fl.“
1 Die Angaben sind sämtlich den Regesten des Aronius ent¬
nommen.
G36 Fünfter Abschnitt: Die Entstehung des bürgerlichen Reichtums
1384. Desgl. 20000 11. usw.
Bei der Schatzung in Nürnberg im Jahre 1385 zahlten einzelne
Juden 13000 11., Jekel von Ulm und seine zwei Söhne 150000 fl. 1
1414 schätzt König Sigismund die Juden Nürnbergs und
Kölns um je 12 000 fl., die Juden zu Heilbronn müssen 1200 11.,
einer zu Windsheim 2400 fl., einer zu Schwäbisch Hall 2000 11.
zahlen 2.
England: Olfenbar waren die Juden in England im Verlauf
des 12. und 13. Jahrhunderts zu großem Reichtum gelangt. Wir
finden viele von ihnen im Besitze von Schlössern und Landsitzen,
die ihnen dann gelegentlich abgenommen werden, und selbst¬
verständlich vor allem von großen Barvermögen. Einen Einblick
in die Vermögensverhältnisse der Juden im damaligen England
(1290 werden sie bekanntlich vertrieben) gewähren wiederum die
Beträge der Steuern und die zahlreichen Bußen, die ihnen auf¬
erlegt werden.
1140 legt der König den Juden Londons eine Geldstrafe von
2000 Mk.3 auf.
1108 vertrieb Heinrich I. die reichen Juden aus England und
ließ sie so lange in der Verbannung, bis ihre Stammesgenossen
5000 Mk. bezahlten.
1185 zahlte Jurnet Judaeus de Norvico dem Könige 2000 Mk. ;
bald darauf derselbe 6000 Mk. ; in demselben Jahre ein anderer
3000 Mk., ein anderer 500 Mk. ; 1189 ein anderer 2000 Mk.
1210 zahlt Isaac, der „Eigenhänder“, 1336 1. 9 s. 6 d. Steuer -
(also etwa 60 000 Mk. h. W.) usw.
Gesamtschatzungen: 1210 — 66 000 Mk. (ca. 2 lk Mill. Mk.
Metallwert), im 28. Jahr Heinrichs III. 20000 Mk. (Buße), um
dieselbe Zeit 60000 Mk. (Steuer).
1 Chron. des Burkard Zink, in der Chron. d. St. 5, 13. 27. 30.
Weitere Belege für die „Schatzungen“ der Juden in Deutschland siehe
bei ffeumann, Gesch. des Wuchers, 328 ff. Vgl. auch Arthur
Süß mann, Die Judenschuldentilgung unter König Wenzel, in den
Schriften der Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Juden¬
tums. 1906.
2 Chron. d. St. 1, 121 ff. Stobbe, 37.
3 Es handelt sich immer um die Gewichtsmark (sofern nichts
anderes vermerkt ist), die in Silber gleich 42,8 Mk. h. W. ist. Die
Angaben sind dem VII. Kapitel des ersten Bandes von Madox,
Hist, of the exchequer, entnommen, wo eine ungeheure Masse ur¬
kundlichen Materials, noch der Verarbeitung harrend, aufgeschichtet
liegt.
Vierzigstes Kapitel: Die Vermögensbildung durch Geldleihe (337
Dasselbe Bild in Frankreich: „Les juifs . . . se trouverent
tellement enrichis , qu’ils s’etaient appropries pres de la moitie
de la ville . . meint der Chronist Rigord schon am Ende des
12. Jahrhunderts. Und daß sie wirklich zu großem Reichtum
während des 13. Jahrhunderts gelangt waren, bestätigen nament¬
lich die Ausweise über den Wert ihrer (1306 und 1311) kon¬
fiszierten Güter, von denen wir einige besitzen. Man darf an¬
nehmen, daß es sich im wesentlichen nur um den Grundbesitz
handelte, von dem wir wenigstens in den Urkunden allein ver¬
nehmen. Die Barone reklamierten (vom Könige) die in ihrem
Gebiet eingezogenen Judengüter. Der König traf ein Abkommen
mit ihnen und teilte. So erhielt der Vicomte von Narbonne auf
seinen Teil 5000 lb. tur. , mehrere Häuserfluchten und Grund¬
stücke 1. In der Senechausse Toulouse ergab die Versteigerung
(non compris les bijoux) 75 264 lb. tur2. In elf Orten des Baillage
von Orleans kamen 33700 1. 46 s. 5 d. (Par.) (ohne Schmuck und
Silbergerät)3, in der Stadt Toulouse 45 740 lb. auf4. 1321 aber¬
mals Verfolgung und Gütereinziehung. Der König soll dabei
150000 lb. profitiert haben5.
Ich beschränke mich hier absichtlich auf Angaben aus dem
Mittelalter, da in den späteren Jahrhunderten der Ursprung der
jüdischen Vermögen aus der Geldleihe nicht ebenso unzweifel¬
haft ist wie in der früheren Zeit. An einer andern Stelle dieses
Werkes6 habe ich einiges Material zusammengestellt, aus dem
der Reichtum der Juden gerade auch im 17. und 18. Jahrhundert
deutlich sich ersehen läßt. Daß er ebenfalls auch in dieser Zeit
zum sehr großen Teile aus der Geldleihe stammte, ist natürlich
ohne weiteres anzunehmen.
2. Die Augsburger
Über das Schicksal, insbesondere auch über die Vermögens¬
verhältnisse, weniger anderer Gruppen von Geschäftsleuten des
ausgehenden Mittelalters sind wir so genau unterrichtet, wie über
das der Augsburger Kaufleute des 15. und 16. Jahrhunderts:
1 Rigor d, Vie de Philippe Auguste, in der Coli, des Mein. rel.
ä l’Histoire de Prance (1825), p. 22.
2 Boutaric, Philippe le Bel, 303.
8 Boutaric, 304. *■
4 Vuitry, Etudes 1, 96.
5 Coli, des Mein. etc. 13, 352.
6 Siehe unten das Kapitel über die Juden im 8. Abschnitt.
038 Fünfter Abschnitt: Die Entstehung des bürgerlichen «Reichtums
dank den vorzüglichen Quellen, die gerade Augsburg für diese
Zeit bietet (der Steuerbücher!) und dank den ausgezeichneten
Bearbeitungen, die sie in neuerer Zeit gefunden haben, dank
vor allem dem überaus gründlichen Buche Jakob Strieders1.
Wir können danach genau verfolgen, wie sich die Vermögens -
Verhältnisse der einzelnen Bürger etwa von Mitte des 15. bis
zur Mitte des 16. Jahrhunderts gestalten. Wir sehen, wie in
dieser Zeit die Augsburger Vermögen eine plötzliche Steigerung-
erfahren und können im wesentlichen auch feststellen, worin
dieses rasche Anwachsen des Reichtums begründet war.
Die Entwicklung der „großen Vermögen“ in Augsburg (d. h.
derjenigen über 3600 fl.) nimmt während jenes kritischen Jahr¬
hunderts folgenden Verlauf:
Jahr
Anzahl
der Besitzer
Summe der Vermögen
1467
39
232 209 bis 464 418 fl.
1498
99
956168 „ 1 912 336 „
1509
122
1 295 867 „ 2 591 734 „
1540
278
5110 783 „ 10 221566 „
Die Quellen, aus denen diese großen Reichtümer flössen,
waren vornehmlich (wenn nicht ausschließlich):
1. die Kolonialwirtschaft;
2. der Bergbau ;
3. die Geldleihe.
Daß auch diese, die uns einstweilen ja allein angeht, ihren sehr
wesentlichen Anteil namentlich an der Ausweitung der Vermögen
gehabt hat, erweisen aufs klarste die Untersuchungen Strieders,
denen die Rieh. Ehrenbergs natürlich immer ergänzend zur
Seite stehen.
Die Gossenbrot, die Bimmel, die Menting, die Höchstetter,
die Herbrot, die Kraffter u. a. , vor allem die Fugger werden
ausdrücklich als Geldhändler erwähnt, und zum Teil wird ihr
Reichtum in unmittelbaren Zusammenhang mit der von ihnen
im großen Stile betriebenen Geldleihe gebracht.
3. Die französischen flnanciers
Während bei den eben erwähnten Augsburger Handelshäusern
sich nicht feststellen läßt, welchen Anteil nun gerade die Geld-
1 Jak. Stried er, Zur Genesis des modernen Kapitalismus. 1904.
Diese Schrift ist eine der wertvollsten von den Arbeiten, die meinem
M. K. ihre Entstehung verdanken.
Vierzigstes Kapitel: Die Vermögensbildung durch Geldleihe (339
leihe an dem Aufbau ihres Gesamtvermögens gehabt hat, können
wir die Entstehung zahlreicher großer Vermögen in Frankreich
während des 17. und 18. Jahrhunderts mit ziemlicher Sicherheit
auf eine einzige Ursache zurückführen : die Anteilnahme an den
öffentlichen Einkünften durch geschickte Finanzoperationen,
namentlich auch vermittels der Steuerpacht1.
Diderot fragt einen jungen Ehrgeizigen: „Savez-vous liro?
Oui. U11 peu calculer? — Oui. — Et vous voulez etre riche
ä quelque prix que ce soit? — A peu pres. — Eh bien mon
ami, faites-vous secretaire d'un fermier general et continuez dans
cette voie.“ 2
Zeitgenössische Urteile bestätigen zur Genüge , daß diese
Weisung Diderots richtig war. In einer Eingabe der Assemblee
des Notables vom Jahre 1626 heißt es: „on les voit devenir
rickes“ nämlich die „officiers de finances“ usw. — „et opulents
en peu d’annees“3.
Ein Pamphletist schreibt4: „II ne suffit pas aux tresoriers de
gagner cent mille ecus en un an. Ils veulent faire leurs commis
et partisans aussi riches qu’eux.“ „Cela fit beaucoup de personnes
extremement riches“, urteilt der besonnene und immer gut unter¬
richtete Gourville.
Wir besitzen aber auch genug Einzelangaben, um die Dichtig¬
keit solcher allgemeinen Aussprüche nachprüfen zu können.
Beispiele aus dem 17. Jahrhundert:
Bullion hatte 1622 60 000 ecus /Rente; 1632 wurde er Surintendant;
1640 (bei seinem Tode) hinterließ er eine Rente von 700 000 1.
Fouquet, dessen Reichtum sprichwörtlich geworden ist, war Enkel
eines Krämers in Nantes.
La Baziniere, Sohn eines Bauern in Anjou, kommt nach Paris, wird
Lakai (der beliebteste Anfang!) beim Präsidenten Gayan, Schreiber
bei einem Procureur („excellente ecole pour les fonctions de
financier telles qu’on les comprenait alors“), dann Commis, end¬
lich tresorier: stirbt sehr reich.
1 Zu einem sehr beträchtlichen Teil freilich wird das Vermögen
dieser Leute, soweit sie Beamte waren, ohne den Umweg der Geld¬
leihe , unmittelbar durch betrügerische Amtsführung erworben sein :
dann gehören sie in das 43. Kapitel. Mazarin!
2 Mitgeteilt bei H. Thirion, La vie privee des Financiers au
XVJIIe siede (1895), 19/20.
3 Charles Normand, La bourgeoisie frai^aise au XVIR siede
(1908).
4 Les caquets de l’accouchee. Coli. Jannet-Picard, 2e journee,
50/51.
ß40 Fünfter Abschnitt: Die Entstehung des bürgerlichen Reichtums
Bordier, Sohn eines Lichtemachers der Place Maubert, Avird Intendant
der Finanzen und baut sich u. a. ein Palais für 400 000 1., gibt
seiner letzten Tochter eine Mitgift von 800 000 1., kauft eine
Charge A'on 800 000 1. und hat noch Güter, die sechsmal so viel
wert sind.
Galland, Sohn eines Bauern, wird in wenig Jahren so reich, daß
ein President a mortier seine Witwe heiratet.
Lambert, Sohn eines procureur des comptes, hinterläßt 4 500 000 1.
Camus, aus dem Nichts, hinterläßt jedem seiner neun Kinder mehr
als 400 000 ecus.
Catelan, fängt als Lakai an, wird unter Bullion reich.
Marin, der Sohn eines Bauern, hinterläßt jedem Kinde 1 Million.
Tabouret, der Sohn eines fripier, gibt seiner Tochter 600 000 1. als
Mitgift und hinterläßt ihr ebensoviel.
Piardiere, pauvre gar£on de Loches, besitzt mehr als 1 Million 1. ;
Marin 2 Milhonen 5
Rambouillet 6 Millionen;
Yidal mehr als 1 Million.
So lassen sich noch Dutzende von Namen anführen. Die obigen
Beispiele sind der besten Quelle entnommen, aus der wir das Empor¬
kommen der französischen Finanzmänner im 17. Jahrhundert erfahren
können, dem Catalogue des partisans etc. (vom 26. Jan. 1649), ab¬
gedruckt bei C. Moreau, Choix de Mazarinades etc. 1 (1858), 115.
Andere Beispiele bei G. Martin, Hist. etc. 1, 162. Sehr treffendes
Material findet sich auch bei P. Boissonade in den Annales du
Midi 14 (1902), 87 ff.
Beispiele aus dem 18. Jahrhundert: der Herr de Sainte-Foix erbt
ein Vermögen von 60 000 1. von seinem Vater. Nachdem er Schatz¬
meister (tresorier) der Marine und namentlich des Grafen von Artois
gewesen ist, verfügt er über eine Rente von 80 000 1., Wohnungen
und Einrichtungen in Paris und Neuilly, die einen Wert von 2 Millionen
darstellen, besitzt 30 Pferde in Paris, 10 in Neuilly usw. , kauft ein
Amt für 300 000 1. „D’oü vient une pareille future?“ fragt unser
Gewährsmann. Thirion, 1. c. p. 290. 291.
Nogaret, ebenfalls Angestellter beim Grafen von Artois, hatte im
Jahre 1757 nichts als 800 1. Pension. 1763 heiratet er ein Mädchen
ohne Vermögen. Er hat aber inzwischen erworben das Amt eines
Schatzmeisters beim Grafen Artois für 300 000 1., den Posten eines
Sekretärs des Königs für 110 000 1., ein Landhaus für 300 000 1. In
Paris besitzt er ein Hotel mit kostbarer Einrichtung, ebenso in Ver¬
sailles , in Compiegne , in Fontainebleau. Er lebt auf großem Fuße.
. „Encore une fois, d’oü coule cet argent?“
Bourvalais, der reichste Partisan der Regence, fängt als Bedienter
des Partisan Thevenin, dann Bonnet an. Thirion, 1. c. p. 8.
Einen ganz vorzüglichen Gesamtüberblick über den Reichtum
der französischen Finanzmänner gewährt die Liste der zu Strafen
Avegen unsauberer Machenschaften eingeschätzten „Gens d’affaire“
Vierzigstes Kapitel: Die Vermögensbiltliuig chu-cli Geldleihe (]41
im Jahre 1716. Die Liste1 weist 726 Namen auf, die zusammen
auf 147 355433 1. Buße eingeschätzt wurden. Die einzelnen
Summen schwanken zwischen 2000 1. und 6600000 1., zu welchem
Höchstbetrage der bekannte Antoine Crozat herangezogen werden
sollte (in Wirklichkeit ist nur ein kleiner Teil der Schatzung
— man nimmt an, etwa 20 Millionen — in die Kassen des Königs
geflossen). Eine Verteilung auf einzelne Steuerstufen ergibt
folgendes Bild. Es wurden eingeschätzt auf:
unter 50000 1. . . .
.... 298
50001—100000 1. . .
.... 105
100001—200000 1. .
.... 127
200001—300000 1. .
.... 68
300001—400000 1. .
.... 42
400001—500000 1. .
.... 26
500001—1000000 1. .
.... 40
1000001—2000000 1.
.... 13
über 2 Millionen 1. .
.... C
*
Alle diese Vermögensbildung, deren Mittel die Geldleihe (und
mit ihr verwandte Geschäfte) ist, ist abgeleitete Vermögens¬
bildung, beruht auf der Übertragung schon vorhandener Ver¬
mögen oder doch in der Ableitung eines schon zu gehöriger
Breite entwickelten Stromes von Wertbeträgen (wo es sich um
die Anteilnahme an öffentlichen Einkünften handelt). Die starke
Betonung dieses Umstandes, daß es sich in allen bisher betrach¬
teten Fällen um abgeleitete Vermögensbildung handelt, soll das
Verständnis für die Tatsache wecken oder* schärfen, daß in Zeiten
unentwickelten Verkehrs immer nur durch einen hohen Grad
von Intensität der Austauschbeziehungen Vermögensbildung in
größerem Stile möglich ist (während später die Intensität auch
durch eine hoch gesteigerte Extensität ersetzt werden kann).
Sonach lege ich auch dem Leihegeschäft, das sich auf
den Verkehr mit „kleinen Leuten“ beschränkt, nur eine unter¬
geordnete Bedeutung als vermögenbildendem Faktor bei (wenn
1 Sie ist vollständig abgedruckt bei (D 'Arge nvi Ile) , Vie priv£e
de Louis XV, Nouv. ed. 1 (1783), 231 — 256. Vgl. auch die Angaben
in meinem Luxus, 9 f.
Sorabart, Der moderne Kapitalismus. T.
41
Ö42 fünfter Abschnitt: Die Entstehung des bürgerlichen Reichtums
ich auch selbstverständlich nicht leugnen will, daß es in ver¬
einzelten Fällen die Quelle größerer Vermögen geworden ist) h
Wenn wir gelegentlich aber von Männern, die Kleinwucher
betrieben, hören, daß sie zu Reichtum gelangen, so müssen wir
immer erst prüfen , ob sie sich nicht etwa hauptsächlich doch
durch die Großen bereicherten.
Das gilt z. B. von dem typischen Wucherer des 16. Jahr¬
hunderts in England, wie ihn uns Hub. Hall in M1 Geoige
Stoddarde vorführt, der im Kiemen anfängt, seinen Reichtum
aber durch Auswucherung der Gentlemen erwirbt2.
Von den Formen der originären Vermögensbildung' kommen
vielmehr, soviel ich sehe, im wesentlichen nur zwei für jene
Zeiten in Betracht: die Akkumulation von Grundrenten in den
Händen städtischer Grundbesitzer und das, was ich die unmittel¬
bare Vermögensbildung nenne: die Vermögensbildung aus Edel¬
metallbergbau, an die sich — als eine Spielart — die V ermögens-
bildung durch Gewinn am baren Gelde anschließt. Von ihnen
handeln die beiden folgenden Kapitel.
1 In der ersten Auflage 1, 271 ff. habe ich eine Reihe von An¬
gaben über die Ergiebigkeit des Kleinkredits im Mittelalter gemacht,
auf die ich den Leser verweise.
2 Hub. Hall, Society in the Elizabethan Age (4. ed. 1901),
p. 48 ff.
043
Einundvierzigstes Kapitel
Die Akkumulation städtischer Grundrenten
Der Eigenart der mittelalterlichen Städte und ihrer Entwick¬
lung entspricht es, daß ein beträchtlicher Teil des Grund und
Bodens, anf dem die Stadt sich entfaltete, lange Zeit hindurch
in der Hand einer nicht sehr großen Anzahl meist sehr alter
Familien sich befand.
Im Falle, daß es sich um das Hineinwachsen einer Dorf- in die
Stadtgemeinde handelte, waren dies die alten Dorfgenossen, die
Hufner, die vollberechtigten Wirte, „ceux qui ont entre leurs
mains une portion du sol communal“ ; „coloro che partecipavano
a questi medisimi beni“ ; „die in Grund und Boden in der Stadt¬
mark angesessenen Leute“, „welche in der Stadtmark wohnten
und ihr Gut selbst bebauten“, die burgage tenants. War das
Recht dieser Wirte an Grund und Boden der Gemarkung beim
Beginn der städtischen Entwicklung durch allerhand Übergriffe
des Obereigentümers eingeschränkt, so werden wir annehmen
dürfen, daß sie es bald von jenen Beschränkungen zu befreien
wußten. „Die Entwicklung der Stadt als Gemeinde besteht in
wesentlichen Teilen gerade darin, die Abhängigkeit der Gemeinde
tunlichst zu beseitigen und der letzteren den Zustand wieder¬
zugeben, in welchem sie sich vor der Ausbildung der Großgrund-
herrschaften, also etwa in vorkarolingischer Zeit befand.“ 1
Wo aber etwa das Stadtgebiet ganz oder zum Teil in das volle
Eigentum des Kaisers, des Grafen oder des Bischofs übergegangen
war, da wird es auf dem Wege der Schenkung oder der Be¬
lehnung in die Hände der Ministerialen gelangt sein, die nun
kraft ihres Grundbesitzes die Vollbürgerschaft erwerben und
damit zu Ahnen städtischer Geschlechter werden.
Wo wir endlich auf Neuland sich Stadtgemeinden entwickeln
sehen, in den Kolonialgebieten, da sind die grundbesitzenden
Familien jene famosen „Kaufleute“, denen, wie wir schon sahen,
bäuerliche Anwesen, Eigen oder Anteile in Hufengröße vor allem
1 v. Belo w, Die Entstehung der deutschen Stadtgemeinde (1889), 50.
41*
644 Fünfter Abschnitt: Die Entstehung des bürgerlichen Reichtums
natürlich zum Betrieb einer Bauernwirtschaft von dem Grund¬
herrn überwiesen werden.
Diese ursprünglichen Stadtgrundbesitzer waren gewiß in den
meisten Städten nur eine kleine Anzahl Familien und begreif¬
licherweise, da der Betrieb einer selbständigen Landwirtschaft,
den wir bei ihren Stammvätern voraussetzen dürfen, ihre Zahl
auf der gegebenen Fläche der Stadtflur beschränken mußte.
Alles, was sich später in der Stadt niederließ, der ganze
Troß der Kaufleute und Handwerker, der marchands et manou-
vriers Sans heritage, mit einem Worte die gesamte städtische
Bevölkerung — soweit sie nicht auf städtischem Gebiete oder
auf den Besitzungen der Kirchen und Klöster Unterkunft fand —
siedelte sich auf dem Grund und Boden dieser paar Familien an.
Wir müssen uns im Anfang der städtischen Entwicklung die ge¬
samte werktätige Bevölkerung als Losleute, als Hofsassen der
wenigen grundbesitzenden Familien denken ; daher auch zunächst
als Bürger minderen Hechts, jedenfalls ehe sie Hausbesitzer
wurden, in ökonomischer Abhängigkeit von den Vollbürgern,
den ITofherren, zu denen sie, wie man weiß, vielfach sogar
in ein Klientenverhältnis treten b Der hierdurch geschaffene
Gegensatz zwischen den beiden Bestandteilen der städtischen
Bevölkerung (den Grundbesitzern und den Schutzbefohlenen
Hintersassen, das sind alle Gewerbetreibenden, die „Zünfte“),
aus dem sich dann erst der des verfassungsrechtlichen Einflusses
ableitete, ist so mächtig, daß er alle Verschiedenheiten der
ständischen Entwicklung in den Städten des Mittelalters zurück¬
treten läßt und allerwärts zu der großen Spannung führt, die in
den Klassenkämpfen des 13. und 14. Jahrhunderts ihre Lösung
findet. Die Einheitlichkeit der städtischen Entwicklung, wie wir
sie in allen westeuropäischen Staaten beobachten, würde völlig-
unerklärlich sein, wenn wir sie nicht zurückzuführen vermöchten
auf die in allen Städten sich gleichmäßig abwickelnde Gestaltung
der Grundbesitzverhältnisse, mochte im übrigen die verfassungs¬
rechtliche Struktur der Stadt, mochte die zufällige Veranlassung
der Stadtgründung sein welche sie wollte.
1 von Maurer 2, 235 f. Arnold, Freistädte 2, 192 ff. Neuere
Untersuchungen haben diesen Sachverhalt in seiner für die gesamte
städtische Entwicklung grundlegenden Bedeutung festgestellt. Siehe
z. B. für Köln die Einleitung K. Hegels zum 14. Bd. d. Chr. d. St.;
für Konstanz die besonders lehrreichen Studien von K. Beyerle,
Grundeigentums- und Bürgerrechtsverhältnisse im mittelalterlichen
. Konstanz (1901), 60 ff.
Eimuidvicrzigstcs Kapitel: Die Akkumulation städtischer Grundrenten (j45
Was uns nun aber an dieser Stelle interessiert, ist ein anderes;
es ist die Tatsache , die sich schon ohne weiteres aus den vor¬
aufgegangenen Feststellungen ergibt, daß der größte Teil
der städtischen Grundrente als jmearned increm ent’
den wenigen grundbesitzenden Familien der Stadtgemeinde Zu¬
wachsen mußte. Die quellenmäßige Bestätigung dieser ein¬
leuchtenden Feststellung enthält jedes Erbebuch, jede Sammlung
städtischer Privaturkunden, die uns aus dem Mittelalter über¬
kommen sind x. Es wird für unsere Zwecke genügen, wenn ich
die folgenden Punkte hervorhebe.
1. Die Verwendung des Grund und Bodens, der sich
in den Händen der Geschlechter befand, erfolgte nicht nur durch
Überlassung der nötigen Bauplätze für Wohnhäuser an die werk¬
tätige Bevölkerung, sondern auch durch Anlage und entgeltliche
Übertragung von Werkstätten, Verkaufsbuden u. dgl. In diesem
Falle war sie natürlich besonders einträglich. Jeder Grundbesitzer
durfte auf seinem. Grund und Boden Straßen und Märkte anlegen
und darauf bauen was er wollte: Privathäuser, aber auch Gewerbs-
bilden , Stände , Gewerbshallen usw. , und für deren Benutzung
eine Abgabe in irgendeiner Form erheben. So hatten, wie wir
annehmen dürfen und wie uns auch aus verschiedenen Städten
berichtet wird1 2, viele alte Geschlechter Metzger- und Fleischer¬
bänke, Brottische, Schrotämter, Mühlen u. dgl. Gewerbsanstalten
zu eigen, die sie gegen Entgelt den Handwerkern überließen.
Eine noch intensivere Verwertung des Grundeigentums ermög¬
lichte endlich die Ausnutzung der auf bestimmten Grundstücken
haftenden Gerechtsamen, wie das Recht, Bier zu brauen, Wein
zu schenken3, Müllerei zu betreiben4 und ähnliches.
1 Zur Orientierung: L. M. B. Aubert, Beiträge zur Gesell, der
deutschen Grundbücher, in der Zeitschr. f. RG. 14, 1 ff.
2 Siehe z. B. für Hamburg: den Lib. act. a. a. 0. XVIII, 13 f.
LXXII, 12. CXLVII, 9, 26; für Frankfurt: Joh. Carl von Fichard,
Die Entstehung der Reichsstadt Fr. usw. 1819. S. 150/51, und
Böhmer, 217. 247. 288. 350. 352. 384; für Augsburg : P. von
Stetten, Kunst- und Gewerbegesch. von Augsb. 1 (1779), 4; für
Würzburg. Rosenthal, Gesch. des Eigentums in der Stadt W.
(1878), 44; für Breslau: Klosen. Von Breslau. Dok. Gesch. und
Beschreibung 1 (1781), 501. 516. 632. Tschoppe und Stengel,
Sammlung zur Gesch. des Ursprungs der Städte usw. (1832), 259,
3 von Maurer 2, 179.
4 Für Köln: Chr. d. St. 14, XXIII,
646 Fünfter Abschnitt: Die Entstehung des bürgerlichen Reichtums
2. Die Form der Nutzung1 ist ursprünglich, vorwiegend
die Leihe, sei es als Erbleihe, sei es als Zeitleihe, in diesem
Falle auf Lebzeiten 2 oder auf bestimmte Termine, z. B. 100 oder
200 Jahre3. Diese Rechtsform leihweiser Überlassung entsprach
der geringen Produktivität der Arbeit in der frühen Zeit und
der damit zusammenhängenden geringen Leistungsfähigkeit des
werktätigen Volks, wie Arnold sehr richtig ausgeführt hat.
Diese der älteren Zeit eigentümliche Nutzung des Grund und
Bodens ist aber ökonomisch deshalb vor allem bedeutsam, weil
sie den Grundeigentümern gestattete, von der Steigerung der
Grundrente zu profitieren. Denn auch bei der Erbleihe dürfen
wir sowohl eine Erhöhung der Zinsen von Zeit zu Zeit4, als
sogar wohl auch einen gelegentlichen Rückkauf der Rente und
häufig oder meist ein Vorkaufsrecht bei der Veräußerung5 an¬
nehmen.
Sicherlich war auch die einfache Miete in den mittelalterlichen
Städten verbreitet; siehe für Konstanz Beyerle, 76. Auch hier gilt,
daß man aus der Seltenheit der Urkunden nicht auf die Seltenheit des
Vorkommens dieser Rechtsverhältnisse schließen darf. Nach älterer
deutscher Auffassung entbehrte bekanntlich die Miete der dinglichen
Wirkung; sie galt wohl gar nicht im eigentlichen Sinne als Rechts¬
geschäft, sondern vielmehr als eine Art von rechtsverbindlicher Über¬
einkunft. Daher sie in den meisten Fällen der urkundlichen Fixierung
entbehrte, von Brünneck, Zur Geschichte der Miete und Pacht
in den deutschen und germanischen Rechten des Mittelalters, in der
Zeitschr. f. R.G. 1, 138 ff. Lange Listen von Handwerkern, die zur
Miete wohnen, im England des 13. Jahrhunderts : Reg. Malmesbur. 1
(1879), 117 ff.; dgl. des 14. Jahrhunderts: Lappenberg, Urk. 39
und öfters.
In diesem Falle sowie überall dort, wo wir eine Befristung
der Leihe finden, sicherte sich also der Grundeigentümer die
Möglichkeit, höhere Renten zu fordern bzw. das Grundstück
vorteilhafter zu verkaufen. Dadurch aber wurde bewirkt, daß
1 Über diesen Punkt sind wir am besten unterrichtet, dank der
reichen rechtsgeschichtlichen Literatur.
2 Z. B. Strafst). U.B. Bd. III, Nr. 225. 313. Siehe auch die vor¬
treffliche Einleitung zum Straßb. U.B. von A. Schulte im 3. Bde.
1884.
3 Strafst), U.B. 3, Nr. 75. 120. 173. Vgl. Jos. Gobbers, Die
Erbleihe und ihr Verhältnis zum Rentenkauf im mittelalterl. Köln des
12. bis 14. Jahrhunderts, in der Zeitschr. f. RG. 4, 130 — 214.
4 Dafür enthält besonders viele Beispiele das Lübecker Ober-
Stadtbuch. Siehe P. Rehme, Das Lübecker Ober-Stadtbuch. 1895.
5 Siehe z. B. für Würzburg Rosenthal, a. a- O. 49.
Einundvierzigstes Kapitel: Die Akkumulation städtischer Grundrenten (347
sich das Grundeigentum in den Händen seiner ursprünglichen
Besitzer bis in eine Zeit hinein erhielt, da sein Wert auf eine
gegen früher ungeheure Höhe gestiegen war1.
3. Daß die tatsächliche Steigerung der Grundrente in,
den mittelalterlichen Städten eine sehr beträchtliche gewesen ist,
wie es in dem letzten Satze angedeutet wurde, müßten wir ohne
weiteres annehmen, auch wenn wir keine quellenmäßigen Belege
dafür hätten. Ich glaube, daß (verhältnismäßig) das Anwachsen
der städtischen Grundrente während des Mittelalters, namentlich
wohl in der Zeit von 1200 bis 1400, seinesgleichen erst wieder
in den Städten des 19. Jahrhunderts erlebt hat, abgesehen natür¬
lich vom Altertum.
Die rasche Zunahme der Bevölkerung, die beträchtliche
Steigerung der Produktivität der Arbeit und die durch die Mauer-
ringe hervorgerufene Zusammenpferchung der Bewohner wirkten
zusammen, um die Preise der Grundstücke rasch in die Höhe
zu treiben und auf einem Punkte anlangen zu lassen, der uns
in Erstaunen setzt. Es ist nicht leicht, zu glauben, daß der
Quadratmeter Bauland in Florenz am Ende des 13. Jahrhunderts
in einem großen Komplexe (500 qm) 5—6 Mk. heutiger Währung,
in kleinen Parzellen (man verkaufte fünfquadratfußweise) sogar
10 — 20 Mk. kostete, und doch geht es aus einer großen Anzahl
von Verkaufsurkunden, wie wir noch sehen werden, mit Sicher¬
heit hervor. Bedurfte es nun wohl, um solche Preise zu erzielen,
des ganzen Reichtums der rasch anwachsenden Arnostadt, so
erfahren wir doch auch aus andern Städten, daß während des
13. und 14. Jahrhunderts die Grundpreise enorm in die Höhe
gehen und die Bauplätze bald „mit unglaublich hohen Preisen
bezahlt“ 2 wurden. Und wenn beispielsweise in Frankfurt a. M.
der Preis einer Rente von 1 Mk. (beim Rentenkauf)
1304 . 14—15 Mk.3
1314/18 . 16—17 „
1 Der Einwand Strieders: daß die ersten Bodeneigner von der
Wertsteigerung nicht Vorteil gezogen hätten, weil sie in früherer
Zeit alles zur Erbleihe weggegeben hätten, wird sich soweit nicht
halten lassen, als eben die Vergebung, was sicher in zahlreichen Fällen
geschah, allmählich erfolgte und gerade erst mit dem Emporblühen
der Städte. Das betont auch R. Häpke in Schmollers Jahrbuch 29,
1059.
2 Arnold, Geschichte des Eigentums, 64 (für Basel)', Pauli 1,
46 (für Lübeck)-
3 Bücher, Bevölkerung, 340.
(548 Fünfter Abschnitt: Die Entstehung des bürgerlichen Reichtums
1323/27 . 18 Mk.
1333 . . . 19 „
1358 . 24 „
betrug, so läßt diese Steigerung wohl auf ein annähernd gleiches
Anwachsen der Bodenpreise schließen.
4. Mit zunehmender Verkehrsentwicklung in den Städten tritt
mehr und mehr an die Stelle der Leihe der Verkauf des Grund
und Bodens: es kommt die Zeit der Versilberung des Grund¬
besitzes der Geschlechter, und damit beginnen wachsende Geld¬
beträge in deren Händen zusammenzuströmen. Dieser Zufluß
wird aber noch dadurch verstärkt, daß in einzelnen Städten, wie
Lübeck1, schon seit dem Ende des 13. Jahrhunderts, in andern
Städten später: in Wien 1360 2, in München 1391, in Landsberg
1392, in allen niederbayrischen Städten 1420, in Worms 1366,
in Ulm 1388, in Zürich 1419, in Frankfurt a. M. 1439, in Basel
1441 3 die Ablösung der Zinse und Benten gestattet und
großenteils ausgeführt wird.
Blicken wir von den Eechtstiteln des Erwerbs (Eigentum an
Grund und Boden) auf die Quellen, aus denen diese Vermögen
stammen, so ist es „Mehrwert“ der städtischen Arbeit, der in
Jahrhunderte lang währendem Entwicklungsgänge Schritt vor
Schritt mit zunehmender Produktivität der Arbeit abgenommen
und akkumuliert werden könnte.
Es handelt sich also in diesem Falle zum ersten Male um
das, was ich eine originäre Vermögensbildung nenne, und darum
erscheint diese Form der Vermögensbildung von besonderem
Interesse.
Die Höhe der städtischen Grundrente, die wir hier
die Vermögen bilden sehen, hing im wesentlichen ab von der
Anziehungskraft, die eine Stadt auf die werktätige Bevölkeruno¬
der umliegenden Landschaften auszuüben vermochte. Je mehr
Ansiedler, desto höher die Beträge, die von ihrer Arbeit ein¬
behalten werden konnten. Selbstverständlich spielten andere
Umstände mit: vor allem der^Grad von Produktivität, den die
gewerbliche Arbeit in einer Stadt zu erreichen vermochte. Wenn
1 Mit dem 20 fachen, teilweise sogar dem 25 fachen Betrage-
Pauli, 48. - ’
2 Mit dem 12 Vs fachen Betrage; Eulenburg, in der Zeitschr f
Soz.- u. W.G. 1, 287.
3 A. Bruder, Studien über die Handelspolitik H. Rudolfs IV
(1886), 99; vgl. Inaroa, DWG. 3ir, 469,
Eimmdvierzigstes Kapitel: Die Akkumulation städtischer Grundrenten (349
eine Stadt etwa ein blühendes Exportgewerbe schuf, so ist er¬
sichtlich, daß die Grundbesitzer größere Wertbeträge in ihre
Taschen zu leiten imstande waren, als wenn dies nicht der Fall
war. In welchem Umfange derartige glückliche Umstände die
Grundrentenakkumulation in einer Stadt zu beschleunigen ver¬
mochten, dafür ist ein treffendes Beispiel Florenz. Dann hing
nicht wenig davon ab, wie eine Stadt topographisch gelegen war:
je enger der Baum, auf dem sich eine Bevölkerung zusammen¬
drängen mußte, desto höher die ihnen in Form der Grundrente
abgenommene Mehrwertrate: Genua, Venedig, Konstanz, viele
flandrische Städte (wegen der sumpfigen Umgebung!) sind Bei¬
spiele hierfür. Es liegt nicht fern, die rasche Bildung großer
Vermögen in ihren Mauern auch auf die Eigenart ihrer Laue
zurückzuführen.
*
Welche ziffernmäßig faßbare Bedeutung diese Form
der Vermögensbildung gehabt habe, wird sich ebensowenig fest-
steilen lassen, wie wir diejenigen Vermögen mit Sicherheit werden
ermitteln können , die gerade nur durch Akkumulation von
städtischer Grundrente entstanden sind. Das darf uns aber nicht
abhalten, die wichtige Bolle anzuerkennen, die bei der Ent¬
stehung des bürgerlichen Beichtums das „Millionenbauerntum“
gespielt hat.
Nachdem durch meine etwas provozierende Behandlung des
Gegenstandes und die allzu scharf zugespitzte Problemstellung
in der ersten Auflage dieses Werkes die Aufmerksamkeit der
Wirtschaftshistoriker 1 rege gemacht worden war, ist durch eine
Beihe vortrefflicher Untersuchungen gerade erst recht die Be¬
deutung klargestellt worden, die der hier behandelten Form der
Vermögensbildung zukommt. Da es der Anlage dieses Buches
zuwiderlaufen würde, dieses an sich ja gewiß interessante, aber
im Zusammenhänge doch nur nebensächliche Thema noch ein-
1 Die hervorragendsten haben sich meine These teilweise wenigstens
zu eigen gemacht; ein besonders wertvolles Zeugnis ist das Georg
von Belows, der (Das ältere deutsche Städtewesen, 116) zusammen¬
fassend schreibt: „Die Einwohner der alten Städte, die über großen
Grundbesitz verfügten, konnten bei dem schnellen Wachstum der Ge¬
meinden, wie wir es im 12. und 13. Jahrhundert bemerkten, mühelos
zu Reichtum gelangen: in den zahlreichen Ankömmlingen fanden sie
willige Käufer von Hausplätzen. Damals entwickelte sich bereits ein
bedeutender Grundstücksverkehr, “
650 Fünfter Abschnitt: Die Entstehung des bürgerlichen Reichtums
gehender abzuhandeln, so begnüge ich mich damit, zum Schlüsse
dieses Kapitels die wichtigsten Schriften, die sich mit meiner
„Grundrententheorie“ befaßt haben, aufzuzählen, damit der
Spezialist sich weiter in die Materie vertiefen könne.
G. von Below, Die Entstehung des modernen Kapitalismus. (Hist.
Zeitschr. 91.)
Jakob Strieder, Zur Genesis des modernen Kapitalismus. Forschungen
zur Entstehung der großen bürgerlichen Kapitalvermögen am Aus¬
gange des Mittelalters und zu Beginn der Neuzeit, zunächst in
Augsburg. 1904.
Ausführliche Besprechungen dieser Schrift lieferten Carl Ko ebne,
in den Mitteilungen aus der histor. Literatur XXXIII. Jahrg. 2 Heft
(1905), S. 178 ff. ; S. Rietschel, in der Zeitschrift der Savigny-
Stiftung (1906), 1. Band.
A. Nuglisch, Zur Frage der Entstehung des modernen Kapitalismus,
in den Jahrb. f. NÖ. III. F. Bd. 28.
Reinli. Heynen, Zur Entstehung des Kapitalismus in Venedig. 1905.
Herrn. Flamm, Der wirtschaftliche Niedergang Freiburgs i. B. 1905.
Friedr. Bothe, Die Entwicklung der direkten Besteuerung in der
Reichsstadt Frankfurt bis zur Revolution 1612 — 14. 1906. Exkurs.
Ruch Häpke, Die Entstehung der großen Vermögen im Mittelalter,
in Schmollers Jahrb. Bd. XXIX.
G. Caro, Ländlicher Grundbesitz von Stadtbürgern im Mittelalter, in
den Jahrbüchern für N.Ö. III. F. Bd. 31.
Ignaz Schipper, Anfänge des Kapitalismus bei den abendländischen
Juden im früheren Mittelalter. 1907.
H. Sieveking, Die mittelalterliche Stadt, in der Viertel] ahrsschr.
für Soz.- u. W.G. Bd. 2.
Derselbe, Die kapitalistische Entwicklung in den italienischen
Städten des Mittelalters, ebenda Bd. 7.
R. Davidsohn, Über die Entstehungen des Kapitalismus, in seinen
Forschungen zur Gesch. von Florenz 4 (1908), 268 ff.
A. Vetter, Bevölkerungsverhältnisse Mülhausens i. Th. im 15. und
16. Jahrhundert. 1910.
J. Maliniak, Die Entstehung der Exportindustrie und des Unter¬
nehmerstandes in Zürich im 16. und 17. Jahrhundert. 1913.
H. Voltelini, Die Anfänge der Stadt Wien. 1913.
Theod. Th. Neubauer, Wirtschaftsleben im mittelalterlichen
Erfurt, in der Vierteljahrsschr. für Soz.- u. W.G. Bd. XIII.
651
. Zweiundvierzigstes Kapitel
Die unmittelbare Verinögensbildung
Unmittelbare Vermögensbildung nenne ich die Vermögens¬
bildung durch Gelderzeugung. Gelderzeugung umfaßt: den Berg¬
bau auf Edelmetalle (Gold und Silber, in manchen Fällen auch auf
Kupfer), die Verhüttung der Erze und die Prägung der Metalle.
Soweit sich an die Ausübung dieser Tätigkeit eine Vermögens¬
bildung anknüpft, nenne ich sie „unmittelbare Vermögensbildung“,
weil es sich dabei in der Tat um G e 1 d akkumulation handelt
ohne das Erfordernis eines Austausches oder einer Gestaltsver¬
änderung des erzeugten Produkts.
Diese Form der Vermögensbildung ist für die Entstehung des
Kapitalismus von ganz besonderer Bedeutung geworden.
Zunächst deshalb, weil hier große Vermögen aus dem Nichts
über Nacht erwachsen konnten. Selbst der kleinste Handwerker
kann binnen kurzem im Gold- und Silberbergbau, dank dem
ganz und gar aleatorischen Charakter dieses Wirtschaftszweiges,
ein reicher Mann Averden. Wenn er täglich ein Pfund Gold er-
wäscht, ist er in drei Jahren Millionär. Das ist zunächst theoretisch
möglich. Daß es auch in Wirklichkeit vorgekommen ist, werden
wir noch sehen.
Dann aber ist die Vermögensbildung durch Gelderzeugung
deshalb so bedeutsam, verdient sie deshalb ganz besonders
unsere Beachtung, weil sie eines der Mittel ist, durch die die
Edelmetalle ihren entscheidenden Einfluß auf den Gang des Wirt¬
schaftslebens ausüben. Die starke Vermögensbildung in den Zeiten
reicher Edelmetallzufuhr — und natürlich ist die unmittelbare
Vermögensbildung dann am stärksten, wenn neue und ergiebige
Lager von Gold- oder Silbererzen aufgeschlossen werden — bildet
den Bestandteil eines ganzen Komplexes von Erscheinungen, die
alle auf die Vermehrung der Edelmetallproduktion zurückgehen
und in ihrer Gesamtheit die Entfaltung des Kapitalismus stark
zu fördern geeignet sind. Die unmittelbare Vermögensbildung
ist vor allem auch der Anlaß für die raschere Bildung größerer
Vermögen in andern Wiötschaftssphären, und alle die bisher von
052 Fünfter Abschnitt : Die Entstehung des bürgerlichen Reichtums
uns gewürdigten Formen der Vermögensbildung sind melir oder
weniger abhängig von dem Gange, den die unmittelbare Ver¬
mögensbildung nimmt.
Die großen Epochen der unmittelbaren Vermögensbildung sind
auch die großen Epochen des „wirtschaftlichen Aufschwungs“ :
die Zeiten der raschen Vermehrung der Gold- und Silber¬
produktion: das 13. Jahrhundert, die zweite Hälfte des 15. und
die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts, die erste Hälfte des 18. Jahr¬
hunderts und dann die verschiedenen Male im 19. Jahrhundert,
das bereits in die hochkapitalistische Wirtschaftsepoche fällt.
Wenn wir die unmittelbare Vermögensbildung nunmehr an
einigen Beispielen wenigstens auch ziffernmäßig erfassen wollen,
wie die übrigen Arten der Vermögensbildung, so müssen wir uns
der eigentümlichen Organisation erinnern, die die Edelmetall¬
produktion im Mittelalter und den folgenden Jahrhunderten besaß
und uns vergegenwärtigen, daß der Gold- und Silberstrom in
sehr viele Arme sich teilte.
Diejenigen, die an dem „Bergsegen“ teilnahmen, waren meist:
1. der Regalherr des Bergwerks,
2. der Grundherr (und neben ihm zuweilen noch 2 a. der
Bodenbesitzer),
3. die Gewerken (oder andere Bergwerksbesitzer),
4. die Hüttenleute,
5. der Münzherr,
6. der Münzmeister,
7. die Münzer.
Natürlich hing die Höhe des Betrages, die auf den einzelnen
entfiel, bei den drei ersten Gruppen ab von der Ergiebigkeit des
Bergwerks einerseits, von der Höhe des Anteils, den jeder zu
beziehen berechtigt war, andererseits.
Daß auch im deutsch-österreichischen Silberbergbau gelegent¬
lich (namentlich solange die Hüte abgebaut wurden) sehr hohe
Beträge erzielt -worden sind, lehrt uns die Sage. Was wir aus
alten Chroniken darüber hören, ist natürlich keine verbürgte
Tatsache. Es hat aber Wert als Ausdruck der Volksmeinunm
o '
die schon ihre Anhaltspunkte gehabt haben wird. Wer 1363 im
Bergwerk zur Eule V 30 gehabt, der hat dazumal, so berichtet die
Chronik, auf ein Quartal zur Ausbeute 50 000 ung. Gulden gehabt b
1 Chronica Wenceslai Hagecii, jetzt aus böhmischer in die
teutsche Sprache . . . transferieret , , . durch Joh, Sandei (1596), 1, 95,
Zweinndvierzigstes Kapitel: Die unmittelbare V ermögensbildung (553
In Annaberg fielen einmal, bald nach der Eröffnung des Berg¬
baus, tausend Gulden Quartalausbeute auf einen Kux b Und von
Sclmeeberg vernehmen1 2 wir, daß „auff einem kux ungefehrlich
biss in die zwei und dreissig tausend gülden sol zur aussbeut
gefallen sein und die Römer von Zwickau darvon reich worden
sein. Denn alda hat man auff einmal hundert marck silbers und
sechs hundert gülden rheinisch auff ein kux aussgetheilt.“
Daß die amerikanischen Silbergruben noch viel reichere Aus¬
beute gewährten, habe ich schon in anderem Zusammenhänge
feststellen können. Einige Ziffern teilt Alexander von Hum¬
boldt mit3. Danach hätte eine einzige Grube einen Jahres¬
gewinn von 5 bis 6 Mill. Eres, abgeworfen.
Und daß die Goldproduktion, namentlich solange sie als Gold¬
wäscherei auftritt, gelegentlich märchenhafte Gewinne abwirft,
ist eine bekannte Tatsache: die Kingfu-Grube in Alaska lieferte
jahrelang einen Ertrag von 2500 %. Und daß es beim Abbau der
Goldlager in früheren Jahrhunderten anders gewesen sein sollte,
liegt kein Grund vor anzunehmen.
So erklärt es sich, daß auch dort, wo die Erträge des Berg¬
baus in sehr viele Teile sich auflösen, doch noch auf jeden
Anteilsberechtigten oft recht ansehnliche Summen entfielen.
In Deutschland und Österreich war gewiß der Reg'alherr
(und Grundherr) bis in die neuere Zeit hinein am besten von
allen Anteilnehmern gestellt. Man nimmt an, daß noch im IG.
bis 18. Jahrhundert seine Einnahmen aus den Bergwerken denen
der Gewerken etwa gleich kamen4.
Man braucht sich ja nur Prag, Meißen, Dresden, Salzburg
anzusehen, die großenteils aus dem Silber und Golde der um¬
liegenden Lande gebaut sind, um die Einträglichkeit des Berg¬
regals in früherer Zeit richtig abzumessen. Aber auch von dem
amerikanischen Silber, wissen wir, bezogen Spaniens Herrscher
in Gestalt des Quinto große Summen und ebenso die portu¬
giesische Regierung von dem brasilianischen Golde, von dem
sogar nur 30% den Goldgräbern verblieben sein sollen5.
1 Joh. Matthe sius, Sarepta (1587), 16b.
1 Joh. Matthesius, 1. c.
3 A. von Humboldt, N. E. 3, 404; 4, 20.
4 Die Anteile der Bergherren waren in den verschiedenen Berg¬
rechten verschieden hoch bemessen. Im allgemeinen hatten sie eine
Tendenz, sich zu verringern.
f* Del Mar, Money and Civilisation. 149.
654 Fünfter Abschnitt: Die Entstehung des bürgerlichen Reichtums
Sehr häufig wurde nun aber der Strom, der aus dem Edel¬
metallbau in die Schatzkammern der Fürsten und Könige floß,
abgeleitet in die Taschen derer, die jenen mit williger Hand die
fehlenden Barbeträge leihweise Vorschüssen und dafür die Ver¬
pfändung oder Verpachtung eines Bergwerks (bzw.
der darauf ruhenden Gerechtsame) beanspruchten. Es handelt
sich hier um eine Abart jener Geschäfte, die wir in dem Kapitel,
das von der Geldleihe handelte, schon zur Genüge kennen gelernt
haben, nur daß die Verpfändung eines Bergwerks dem Pfand¬
nehmer dank dem aleatorischen Charakter des Bergbaubetriebes
ganz besondere Gelegenheiten zu Bereicherung schafften. Die
Sitte, Bergwerke in Pfand zu geben, bestand während des ganzen
Mittelalters bis in die neuere Zeit hinein.
K. Wenzel II. verordnete 1305 in seinem Testament, der siebente
Teil des Einkommens vom böhmischen Bergwerk Kuttenberg sollte
wöchentlich zur Abzahlung seiner Schulden seinen Gläubigern gegeben
werden, und König Rudolf bezahlte auch von den hinterlassenen
Schulden der verstorbenen Könige wöchentlich aus dem Einkommen
von Kuttenberg 1000 Mark Silber. Hagec, Böhmische Chronik (deutsch
1697), 492; zit. bei Gmelin, Beyträge zur Geschichte des teutschen
Bergbaas (1783), 82.
1429 verschrieb K. Sigmund dem Rat und den Bürgern der Stadt
Eger das Pflegamt bei dem Dorfe Weß im Bechiner Kreise mit allen
Bergwerken ob und unter der Erde gegen ein Darlehn von 300 Schock
böhmische Groschen pfandweise. Gmelin, 94. (1 Schock bökm. Gr.
damals etwa = 19 — 20 Mk. heutiger Währung.)
Für die Verpfändungen schlesischer Bergregale siehe die Urkunden
bei A. Steinbeck, Geschichte des schlesischen Bergbaus 1 (1857),
105 (Die Liegnitzschen Herzoge verpfänden Berg- und Münzregal an
Liegnitzer Bürger); 2, 134 und öfters; sächsischer: H. Er misch,
Cod. dipl. Sax. reg. 13 (1886), XLVI.
Über die Verpfändung Schwager Silbers an die Meuttingers che
Gesellschaft zu Augsburg durch Erzherzog Sigismund im Jahre 14 5
berichtet nach den Akten Max vonWolfstrigl-Wolfskron, Die
Tiroler Erzbergbaue (1903), 32.
Auf das Silber aus den Tiroler Bergwerken hatte auch Christoph
Scheurl dem Kaiser Maximilian (1494) eine „tapfere“ Summe Geldes
vorgestreckt, wofür ihm, Scheurl, und seinem Mitgesellschafter Heinrich
Wolf jährlich wenigstens 12 000 Mark Silber geliefert werden sollten,
um es in kaiserlichen Münzen für sich münzen zu lassen. A. von
Scheurl, Christoph Scheurl (1884), 17.
Im 16. Jahrhundert waren die Regalien der meisten modernen
Staaten schon an reiche Geldgeber verpfändet. Über Ungarn z. B.
F. Dobel, Der Fugger Bergbau und Handel in Ungarn, in der Zeit¬
schrift des histor. Vereins für Schwaben und Neuburg 6 (1879), 43 f.
Seit 1487 datieren die zahlreichen Bergbauverträge der Fugger mit
Zweiundvierzigstes Kapitel: Die unmittelbare Vermögensbilduug (555
den Erzherzögen von Tirol, mittels deren die Fugger teils die an
den Landesherrn zu leistenden Abgaben der Gewerken überwiesen er¬
halten, teils sich das Recht zum eigenen Bergbaubetriebe verschaffen.
F. Dobel, Über den Bergbau und Handel des Jacob und Anton Fugger
in Kärnten und Tirol (1495 — 1560), in der Zeitschr. des histor. Ver¬
eins für Schwaben und Neuburg 9 (1882), 198 ff. , und M. von Wolf-
strigl-Wolfskron, a. a. 0. S. 32 f.
Ebenso wie die Tiroler und Ungarischen Bergwerke den Fugger
als Pfand für geliehenes Geld überlassen wurden, kamen in ihren Besitz
auch die den Herzogen von Münsterberg-Öls gehörigen Reichensleiner
Bergwerke, aus denen sie ebenfalls großen Nutzen zogen. E. Fink,
Die Bergwerksunternehmungen der Fugger in Schlesien, in der Zeit¬
schrift des Vereins für Geschichte und Altertum Schlesiens 28 (1894),
309 ff, Ursprünglich waren es nur Überlassungen von Regalrechten,
die diese Häuser mit den Bergwerken verbanden; allmählich griffen
sie dann weiter um sich und brachten entweder die Gewerken in ihre
Abhängigkeit oder wurden selbst Bergwerksunternehmer.
Damit sind wir schon zu den Bergwerksbesitzern
selbst gelangt. Es ist bekannt, daß in den Anfängen der Silber¬
bergbau in Deutschland und Österreich (wenn nicht vom Grund¬
herrn so) von Handwerkern betrieben wurde. Sofern diese die
Anteilsberechtigten an der Ausbeute waren, konnte jede glück¬
liche Schürfung aus dem Nichts zu Reichtum führen. Und auch
die Gewerken der früheren Zeit, selbst wo sie schon nicht mehr
selbst mit Hand anlegen, sind doch wenigstens gelegentlich auch
wohl kleine Leute, Handwerker in den Städten, die mit ihren
Ersparnissen einen Kux erwerben, wie sie sonst eine Rente ge¬
kauft hätten1, Bauern, "denen ihr Anspruch auf Grundentschädi¬
gung mit einer Anzahl Kuxe abgekauft wurde2, oder die als
1 Im Jahre 1447 beklagen sich die Knappen im Freiberger Revier,
daß die vermögenden Bürger der Stadt sich nicht am Bergbau be¬
teiligen. „Also müsse mir arme gnappen meins herrn perckwerck
alleyne pauen mit etlichen armen handwerkman.“ U.B. der Stadt
Freiberg im Cod. dipl. Sax. reg., ed. H. Er misch 13 (1886), 102.
2 In Schlesien wurde häufig den Ackerbesitzern (nicht bloß den
Gutsherren) die Alternative gestellt, statt Grundentschädigung Auf¬
nahme in die Gewerkschaft zu 1/s ihres Grubeneigentums (also mit
I3U2 Kux) zu verlangen. Dadurch geschah es, daß Grundherren und
Bauern (nur mit Ausschluß der bloßen Laßbauern) Mitgewerken wurden.
Steinbeck, Gesch. des schlesischen Bergbaus 2, 186. Ein gleiches
Recht bestand in Sachsen. Hier konnte der, des das Erbe war (sc.
der freie Bauer), sein „Ackerteil“ beanspruchen, d. h. es stand ihm
frei, sich mit 1/32 „an der Grube zu beteiligen“. H. Ermisch, Das
sächsische Bergrecht im Mittelalter (1887), XXXV. Analog in Böhmen,
656 Fünfter Abschnitt: Die Entstehung des bürgerlichen Reichtums
Markgenossen das Recht zum Goldwäschen besaßen 1, und der¬
gleichen Elemente, bei denen ebenfalls ein zufällig reicher Ertrag
eines Bergwerks nichts anderes als Neuschaffung von Vermögen
bedeutete. Und was solcher Art Erwägungen allgemeiner Natur
nahelegen, bestätigen uns gelegentliche Nachrichten von reich
gewordenen kleinen Frönern. „In der Tat,“ heißt es im 1. Kapitel
des 3. Buches der Kuttenberger B.O. (um 1300), „ergibt sich
öfters zwischen 2 Bergleuten, die nicht soviel besitzen, um sagen
zu können, wo sie in nächster Nacht ihr Haupt hinlegen sollen,
oder wo sie morgen Nahrung finden werden, ein Streit über eine
Verleihung, der mehrere Tausend Mark Silber betragen kann.“
Die Absalon in Todtnau, die Kreuz in Münster waren aus dem
Bergarbeiterstande emporgestiegen und zu Vermögen gelangt,
die sie dem Adel naherückten, infolgedessen ihre Töchter be¬
gehrte Partien für Söhne adliger Familien wurden, denen an
Neuvergoldung ihres Adelsschildes gelegen sein mußte2. Ebenso
wird uns ausdrücklich berichtet3, daß eine Menge Bürger beim
Eyler Bergbau zu Reichtum gelangten. Aus der Geschichte seines
eigenen lieben „Thaies“ (Joachimsthal) weiß uns aber der freund¬
liche Pfarrer zu erzählen 4, „wie ein armer Bergmann, der selber
mit seinem Weibe geschürfft, und vorm Ort gearbeitet, bis inn
hunderttausent güldengro sehen . . . aussbeut gehaben“ habe.
Noch im Jahre 1539 soll das von Anbeginn an überaus er¬
giebige (1552 schon 22913 Mark Silbers liefernde) Bergwerk
Rörerbühl in Tirol von Michel Rainer, einem armen Bergmann,
zusammen mit zwei Gefährten, die auf der Wanderschaft die
Erze entdeckt hatten, gemutet worden sein5.
Das Vermögen der Weitmoser wurde durch Erasmus W.
(f 1526) begründet, dem Sohn eines armen Häuers zu Gudaunem,
der mit Hilfe eines Vorschusses von 100 Talern am Radhausberge
reiche Goldadern aufschloß0.
Aber zu diosen Zeiten waren es doch schon vorwiegend andere
Kreise, denen die reichen Ausbeuten der neuerschlossenen Berg-
1 Das Goldwäschen im Schwarmalde • wurde von allen Genossen
der grundkörigen Mark geübt. Gothein, 609 — 612.
2 Gothein, 603. 637.
3 Siehe die Zusammenstellung der Chronistenstellen bei Stern -
berg, Gesch. des böhrn. Bergbaus 1. 2, 32 ff.
4 Joh. Matthesius, Sarepta, 17a.
5 von Sperges, Tiroler Bergwerksgeschichte, 120,
0 H. Peetz, Volksw. Studien (18.80), 68.
Zweiundvierzigstes Kapitel: Die unmittelbare Vermögensbildung 657
werke zugute kamen. Schon seit dem 14. Jahrhundert sehen
wir die Anteile an den älteren Silbergruben langsam aus den
Händen der Grundherren oder armen Gewerke in den Besitz
wohlhabender Bürger übergehen. Und die neuerschlossenen des
15. und 16. Jahrhunderts finden wir meist schon von vornherein
in den Händen reicher Handelshäuser, so daß man sie schon
(wie ich später genauer begründen werde) als frühkapitalistische
Unternehmungen ansprechen muß.
Diese schon wohlhäbigen Geschäftsmänner sind es also, denen
dann im 15. und 16. Jahrhundert aus dem „Bergsegen“ ein großer
Reichtum zufließt.
Das läßt sich am deutlichsten bei den Bergwerken Tirols und
Ungarns verfolgen. Hier bewerben sich „die vermögendsten aus
den fremden Handelsleuten um die Wette, einigen Teil an den
. . . Bergwerken zu haben, und diejenigen schätzen sich glücklich,
welche in die Bergwerksgesellschaft zu Schwaz aufgenommen
werden“ h Hier begegnen wir unter den Gewerken im 16. Jahr¬
hundert den Fueger, den Lichtenstein, den Firmian, den Tänzel
von Tratzberg, den Jöchel von Jöchelsthurn, den Stöckel und
anderen Notabein des Landes, die durch Ausbeutung der Berg¬
werke große Reichtümer erwarben1 2. Wir begegnen aber auch
den Link und Haug, den Scheurl, den Fugger u. a. aus Augsburg
und können ziffernmäßig verfolgen, welche enormen Summen aus
dem ' „Bergsegen“ jener Tage in die Taschen der schon ver¬
mögenden Handelsherren flössen3.
Die vier Hauptgewerken des Schwazer Bergbaus (außer den
Fugger): die Andorfer, Tänzl, Hofer, Fueger, hatten in den Jahren
1470 — 1535 eine Ausbeute von je 350 000 Mark Brandsilber. Diese
Ziffer teilt (nach den Akten) H. Peetz, Yolksw. Stud. (1880), 49,
mit. Sigismund Fueger, der Sohn Hans F., hinterließ bei seinem Tode
ein Vermögen von 200 000 fl. Die Aussteuer eines „Gewerkentöchter¬
leins“ betrug 80 000 fl. bei den Lichtenstein, den Tänzl, noch mehr
bei den Jöchlin. H. Peetz, a. a. O. S. 50.
Die Aktiva der Handelsgesellschaft Link & Haug steigen in Schwaz
von 60 262 fl. im Jahre 1533 auf 193 547 fl. im Jahre 1563; im Neu¬
sohl und Testhen betrugen sie 1560 (erstes Jahr) bzw. 5020 fl. und
8853 fl., im Jahre 1562 bzw. 10191 und 54503 fl. J. Hartung,
Aus dem Geheimbuch eines deutschen Handelshauses im 16. Jahr¬
hundert, in der Zeitschr. f. Soz.- u. W.G. 4, 39.
1 von Sperges, Tiroler Bergwerksgesch., 97/98.
2 von Sperges, a. a. O. S. 105 ff.
3 Vgl. jetzt noch Jak. Strieder, Studien zur Gesell, kapital.
Organisationsformen (1914), 3 ff. 13 ff.
Sombart, Der moderne Kapitalismus. I.
42
658 Fünfter Abschnitt: Die Entstehung des bürgerlichen Keichtums
Aus ihren ungarischen Bergwerken zogen die Fugger und Tliurzo
in den Jahren 1495 — 1504 eine Dividende von 119 500 fl. rhein. 1504
bis 1507 betrug die Dividende für jeden Teil 238 474 fl., 1507 — 1510
142 609 fl. Die Fugger allein berechneten ihren Beingewinn aus dem
„ungarischen Bergwerkhandel“ (worin allerdings die verpfändeten Kron-
einkünfte eingeschlossen gewesen sein werden) auf 1 297 192 fl. rhein.
F. Dobel, Der Fugger Bergbau und Handel in Ungarn, in der Zeit¬
schrift des histor. Vereins für Schwaben u. Neuburg 6 (1879), 33 ff’.
In unmittelbarem Zusammenhänge mit der Entwicklung des Silber¬
bergbaus stand die ungeheure Einträglichkeit, die der Bergbau auf
Quecksilber hatte, da seit der Erfindung des Algamierungsprozesses
das Quecksilber neben Silber und Gold der meistbegehrte Gegenstand
wurde. Wieder waren es die Fugger, die durch die monopolisierte
Ausbeutung der von ihnen gepachteten Gruben von Almaden ungeheure
Beichtümer sammelten. Ihr Gewinn betrug 85 und 100%; in einer
fünfjährigen Pachtperiode verdienten sie 166 370 Duk., von 1572 bis
1582 ca. 300 000 Duk., 1582 bis 1594 636 000 Duk., 1595—1604
ca. 600 000 Duk. K. Häbler, Gesch. der Fuggerschen Handlung in
Spanien 102 f. 156. 169. 176 f. 193.
Ebenso begegnen wir in dieser Zeit anderswo den Spuren
großer, am Bergbau beteiligter Handelshäuser: in Schlesien *, in
Sachsen1 2, in Böhmen 3, im Schicarswalde 4.
Und wir finden bestätigt, was ich weiter oben behauptete:
daß die Beichtümer der oberdeutschen Handelshäuser soweit
nicht aus der Geldleihe aus dem Bergbau geflossen sei.
Es erübrigt sich, im einzelnen die vermögenbildende Wirkung
des überseeischen Gold- und Silberbergbaus zu verfolgen.
Es ist selbstverständlich, daß hier in noch viel größerem Stile
von einzelnen Personen Beichtümer erworben worden sind. Die
spanischen Eroberer, die freilich zum großen Teil, wie wir noch
sehen werden, in den Anfängen den Eingeborenen die schon
angehäuften Gold- und Silbermassen einfach Wegnahmen, konnten
schon Karl V. 8 Millionen Dukaten als Darlehn an tragen 5. Einige
Angaben über die Beichtümer amerikanischer Minenbesitzer finden
1 E. Fink, Die Bergwerksunternehmungen der Fugger in Schlesien,
in der Zeitschr. des Ver. f. Gesch. u. Alt. Schlesiens 28 (1894), und
C. Faulhaber, Die ehemalige schlesische Goldproduktion. Bresl.
Diss. 1896.
2 Ehrenberg, Z. d. F. 1, 187 ff.
3 A. von Scheurl, Chr. Scheurl (1884), 30.
4 „Augsburger Bankiers haben überall die Hand im Spiel gehabt;
auch im Bergbau des Münstertals haben zuletzt die Fugger die Frei¬
burger Patrizier abgelöst.“ Gothein, 599.
5 Nach Soriano Banke, Fürsten und Völker Südeuropas 1 3, 407.
Zweiundvierzigstes Kapitel: Die unmittelbare Vermögensbildung (359
sich bei Humboldt1, der sein Urteil dahin zusammenfaßt : „les
mines , saus doute , ont ete la source des grandes fortunes du
Mexique“ ; der Graf de la Yalenciana hat aus seinem Silberberg-
werk manches Jahr bis 6 Mill. livres Rente bezogen; während
der letzten 25 Jahre seines Lebens sank diese Rente nie unter
2 — 3 Mill. livres. Eine einzige Erzader, die die Familie des
Marquis von Fagoaga im Distrikt Sombrerete besaß, lieferte in
5—6 Monaten einen Reinertrag von 20 Mill. Frcs. In Peru gab
es nach demselben Gewährsmann nicht so große Reichtümer wie
in Mexiko: Renten von 80 000 Frcs. seien „ziemlich selten“.
Einen wohl typischen Fall rascher Bereicherung durch Edel¬
metallgewinnung aus späterer Zeit (1855) bietet uns das Schick¬
sal des D. Pedro Tereros, später Conte de Regia, dar2. Wenn
man die gewaltigen Mengen von Gold und Silber in Betracht
zieht, die seit der Mitte des 16. Jahrhunderts aus Amerika heraus -
geholt wurden, so muß man auch ihre vermögenbildende Kraft
um so vielmal höher ansetzen als die der viel geringeren Pro¬
duktionsmengen der deutschen und österreichischen Bergwerke,
die doch schon so bedeutend war, wie wir sahen.
Außer den unmittelbar am Bergbau beteiligten Personen sehen
wir aber noch andere Personen sich an der Gelderzeugung be¬
reichern: die Hüttenherren, die oftmals die wirtschaftlich
Stärkeren waren — schon in der Kuttenberger B.O. wird ihre
„detestabilis conspiracio“ gerügt, die darauf ausgehe, durch ver¬
abredete Unterbietung die Erzpreise zu drücken — und von
denen behauptet wird 3, daß sie oft viel größere Gewinne als die
Gewerken machten; vor allem aber Münzherren und Münzer.
Auch die Münze, als ein nutzbringendes Regal, finden wir
im Mittelalter und darüber hinaus in der Regel verpfändet
oder verpachtet.
In Deutschland begegnen wir häufig den Hausgenossen als Pächtern
der Münze. 1296 verpachtet Bischof Konrad von Lichtenberg die
Straßburger Münze auf vier Jahre an sieben Bürger. Str. U.B. 2. D.
201 f. Mitte des 13. Jahrhunderts verpfändet der Erzbischof von
Mainz seine Münze für ein Darlehn an die Münzer auf zwei Jahre.
Kirchhof f, Die älteren Weistümer der Stadt Erfurt S. 168. 1221
wird die Münze von Trier, 1237 die von Kreuznach verpachtet. M. Rh.
U.B. 3, 174, und dazu Lamprecht, DWL. 2, 373. Auch die Regens¬
burger Münze ist häufig verpfändet. Muffat, Beiträge zur Gesell.
1 Humboldt, Essai 2, 25 ff.
2 Bei Suess, Gold, 173.
3 Schmoller, in seinem Jahrbuch 15, 692.
42*
6GÖ Fünfter Abschnitt: Die Entstehung des bürgerlichen Reichtums
des bayrischen Münzwesens, in den Abhandlungen der Kgl. bayr. Akad.
d. Wiss., III. Klasse, Bd. IX, Abt. I, S. 217 ff. Verpfändung der
böhmischen M. Sternberg, a. a. 0. 2 (1838), 56 ff. Im Laufe des
14. und 15. Jahrhunderts hatten vielfach die Regalbeamten und Münzer
die besten Gruben und Hütten an sich gebracht, sie verlangten, teil¬
weise schlecht bezahlt, von Gewerken und Arbeitern Grubenanteile
und Geschenke. K. Sternberg, Gesch. der böhmischen Bergwerke
2, 184. Juden als Münzmeister: Schipper, Anfänge, 52. Über
die außerordentlich zahlreichen Italiener an deutschen Münzstätten
siehe die eingehende Darstellung bei Schulte 1, 328 ff, Italiener
finden wir auch sonst häufig in diesen Stellungen. Italiener als
Münzmeister in Frankreich Piton passim; 1278 Vertrag zwischen
dem König von Frankreich und den TJniversitates der Lombarden und
Toskaner. Ein Frescobaldi an die Spitze des englischen Münzwesess
unter Eduard I. berufen. Deila dec. 2, 74. Der Betrieb der Münz¬
stätten in den Kreuzfahrerstaaten , in Syrien und Palästina, war meist
in den Händen der Venetianer. Prutz, Kulturgeschichte der Kreuz¬
züge, 373. Verkauf oder Verpfändung der M. in den italienischen
Städten: in Venedig 1112. W. Lenel, Vorherrschaft, 40; vgl.
S. 42 f. ; in Genua seit dem 12. Jahrhundert. Sieveking, Gen.
Fin. 1, 41. Vgl. auch noch S. Alexi, Die Münzmeister der Calimala-
und Wechslerzunft in Florenz, in der Zeitschrift für Numismatik 17
(1890), 258 ff, und Gino Arrias, Constit. econ. (1905), 158 seg.
Zu dem reichen Gewinn, den die Münze abwarf, verhalfen
vor allem die sich immerfort wiederholenden Verrufungen der
Geldstücke. Jedes Jahr, manchmal mehr als einmal im Jahre
— Münzmeister Heinrich von Salza der Jüngere berief im Jahre
1308 in der Stadt Görlitz siebenmal die Denare ein ! 1 2 3 — , wurden
die Münzen gegen hohen Schlagschatz neu geprägt. Und das
trug offenbar viel ein. Dazu kam das Monopol des Geldwechsels,
das in vielen Städten ebenfalls die Münzer besaßen, und das
nicht weniger einträglich gewesen sein muß.
Meist waren auch die Münzer schon begüterte Leute, die
aber in ihren Stellungen als Münzmeister rasch zu Reichtum
gelangten. Im Mittelalter werden sie als „monetarii opulen-
tissimi“ bezeichnet. Und von den sächsischen Münzmeistern
lesen wir, wie sie sich durch ihre Amtsführung so bereichern,
daß sie Schlösser in der Landschaft ankaufen8.
1 Tschoppe und Stengel, Urkundensammlung Nr. 108.
2 Über die lukrativen „Münz verrufungen“ für Deutschland: Iv. Ehe-
berg, Das ältere deutsche Münzwesen usw. (1879), 50 ff. 55 ff. ; für
England: Cunningham 1, 301 ff. ; für Frankreich: Vuitry, Etudes
2, 261; für Böhmen: Sternberg 2, 57 ff. ; für die Kreuzfahrer¬
staaten : Prutz, in den Sitzungsberichten der Münchener Akad. d.
Wiss. 1906, S. 21 ff. Vgl. im übrigen das 26. Kapitel.
3 Cod. dipl. Sax. reg. Bd. 13, Urk. 1003.
Zweiundvierzigstes Kapitel: Die unmittelbare Vermögensbildung (3(31
Offenbar sind die Klagen des Doktors in AVilliam Staffords
„Drei Gesprächen“ nickt aus der Luft gegriffen, sondern sicher
zum guten Teil aus einer richtigen Beobachtung der Wirklich¬
keit geschöpft. „Wenn sie auch, nämlich die Münzbeamten,“
heißt es da, „dem Fürsten einreden, daß der Gewinn für alles
das Seiner Gnaden zu Gute komme , so klebt doch der meiste
Gewinn an ihren Fingern . . . Das meiste an dem Reingewinn
fällt ihnen doch zu, wie es früher den Alchymisten und Gold¬
machern zuzufallen pflegte. Und das zeigt sich deutlich darin,
wie diejenigen, welche dieses Geschäft betreiben oder betrieben
haben, so plötzlich reich geworden sind, als ob sie, wie das
Sprichwort sagt, den Ring des Gyges gefunden hätten.“ 1
Die Bedeutung, die die Edelmetallgewinnung und die Geld¬
erzeugung als Vermögensbildner haben, wäre sicher nicht an¬
nähernd so groß als sie in Wirklichkeit ist, wenn sich die durch
sie bewirkte Vermögensbildung auf die bisher besprochene direkte
Anteilnahme an den Erträgnissen des Bergbaus und den Gewinnen
an der Münzung beschränkte. Ich deutete aber schon darauf hin,
daß Edelmetallproduktion und Geldmacherei auch noch — und
zwar in sehr beträchtlichem Umfange — auf Umwegen, „in¬
direkt“ ihre y ermögenbildende Kraft betätigt haben.
Man kann hier den Gewinn, der durch die Menge der pro¬
duzierten Geldware veranlaßt wurde, von dem Gewinne unter¬
scheiden, den man aus der besonderen Formung der Geldware
zu ziehen wußte.
Die Menge der erzeugten Edelmetalle hat insofern (nicht nur
direkt, wie wir vorher festgestellt haben, sondern auch) indirekt
zum Reichtum einzelner Personen geführt, als durch sie die ab¬
geleitete Vermögensbildung in allen ihren Formen natürlich
wesentlich gefördert werden mußte.
Wenn sich seit dem Ende des 15. Jahrhunderts das öffent¬
liche Schuldenwesen so rasch und mächtig entwickelt und
damit eine der stärksten Quellen der privaten Vermögensbildung
auftritt, so hatte das nicht zuletzt seinen Grund in der außer¬
ordentlichen Vermehrung, die die Edelmetallproduktion erfahren
hatte 2.
1 William Staffords, Drei Gespräche über die in der Bevölke¬
rung verbreiteten Klagen (1581). Übers, von Hoopsj krag, von E. Leser.
2 Im Grunde läuft der ganze Inhalt z. B. der E h r e n b er g sehen
Untersuchungen (im Z. d. E.) darauf hinaus, nachzuweisen, daß sich
der enorme Kreditverkehr jener Zeit an der Hand der Silberimporte
662 Fünfter Abschnitt: Die Entstehung des bürgerlichen Reichtums
Eine starke Belebung erfährt aber auch die Vermögensbildung
im Warenkandel durch die plötzliche und große Anhäufung
von Gold- und Silbermengen in den Händen der ersten (oder
auch späteren) Besitzer.
Bekannt (und typisch) sind die Gewinne, die die Kaufleute
Sevillas unmittelbar nach der Erschließung der amerikanischen
Silberminen machten: in 9 — 12 Monaten gewann man 100 bis
500%. Während der Wert der ausgeführten Waren 8, 10,
15 Mill. Pesos betrug, belief sich der der eingeführten Waren
auf 20, 30, 40 Mill. Pesos x. Einzelne Kaufleute in Sevilla zogen
das ganze Silber der zurückkehrenden Flotte an sich* 1 2, eine
einzige Silberflotte brachte für sie oft mehr als 1000 Maravedis
Bargeld (ca. 300000 Duk.) aus Amerika zurück3.
Angesichts dieser Ziffern ist man geneigt, denjenigen zuzu¬
stimmen, die behaupten, daß den größten Nutzen von der ver- •
mehrten Edelmetallproduktion nicht die Produzenten, sondern
die ihnen Waren liefernden Kaufleute hätten,- wie es mit Bezug
auf das brasilianische Gold so gute Kenner wie Handelmann4
und v. Eschwege5 annehmen. Man erinnere sich der Preise
für Lebensmittel, Handwerkszeug usw. , die die brasilianischen
Goldsucher zahlen mußten, um das verständlich zu finden.
Die Händler (und Produzenten) gewannen aber nicht nur durch
diese plötzliche Steigerung der Preise, sondern ebenso sehr und
vielleicht nachhaltiger durch die Preisdifferenzen, die
sich infolge dauernder Senkung des Tauschwerts der Edelmetalle
zwischen den Preisen im Anfang einer Lieferungs- oder Produktions¬
periode und an deren Schlüsse ergaben. Naturgemäß mußte dieser
Umstand, daß die Preise namentlich seit dem 16. Jahrhundert stetig
stiegen, vor allem der Vermögensbildung bei den Landwirten
zugute kommen: so mag mancher Pächter, der den Grundzins
noch im veralteten Geldwerte bezahlte, wenn sämtliche Agrar¬
produkte im Preise stiegen, sich rasch bereichert haben 6; so
nach Spanien entwickelte: siehe z. B. Z. d. F. 2, 222 ff. (E. selbst
spricht nie von diesen Zusammenhängen.)
1 Colmeiro, Hist, de la economia pol. en Espana 2, 403 sea.
2 Colmeiro 2, 402.
3 Häbler, Blüte Spaniens, 69. Vgl. auch noch Häbler, Zur
Geschichte des spanischen Kolonialhandels im 16. und 17. Jahrhundert,
in der Zeitschi* für, Soz.- u. W.G. 7, 373 ff, insbes. 413 ff.
4 H. Handelmann, Geschichte Brasiliens (1860), 581.
5 v. Eschwege, Pluto Brasiliensis (1833), 15. 59. 88.
Für England: Jacob, Edelinet, 2, 69. Das ist merkwürdiger-
Zweiundvierzigstes Kapitel: Die unmittelbare Vermögensbildung 663
kamen aber umgekehrt, was sicher der häufigere Fall war, Grund¬
besitzer zu beträchtlichen Geldvermögen, weil ihre Grundrente
bzw. der Preis der Agrarprodukte ohne ihr Zutun in die Höhe
gingen.
Der andere Weg, auf dem die Edelmetallproduktion und
Gelderzeugung auch die nicht unmittelbar an ihr Beteiligten zu
Reichtum führten , war die geschickte Ausnutzung der
eigenartigen Münz- und Währungsverhältnisse wäh¬
rend des Mittelalters und während der ganzen frühkapitalistischen
Periode, von denen ich ausführlich im 26. Kapitel gesprochen
habe. Das Nebeneinanderbestehen von Gold- und Silberwährung
einerseits, die Ungleichheit der Ausmünzungen andererseits boten
reichliche Gelegenheit zu einem ausgebreiteten und wie es scheint
sehr einträglichen Münzhandel oder (um im modernen Börsen¬
jargon zu reden) Arbitragegeschäft.
„Nun aber die kauffleut den auffsatz der muntz erschmeckt
haben , so lassn sie feyren ihr gewerb dass sie treiben und
fuhren miintz von einem Land in das andere : wann sie emp¬
finden davon des ungerechten gewine grösslich“,
klagt Kaiser Sigismund \
Diese Gewinne mußten ins Unermeßliche steigen, als im 16.
und 17. Jahrhundert das Silber seinen Preissturz erlebte. „There
are so great abuses of late yeeres groune by the corrupt dealing
of sundry Merchants and Brokers as well strangers as English
upon bargaines of exchanges and rechanges of Moneyes to be
payed both out and within the Realm ..." heißt es in einer
Proklamation vom 20. September 1576, und wir erfahren von
vielen reichen Finanzleuten in England, die sich mit Hilfe dieses
„Arbitragegeschäfts“ ihr Vermögen bildeten2. Wie andererseits
wieder die Holländer sich auf dieselbe Weise an den Engländern
bereicherten (im 16. und 17. Jahrhundert)3.
weise die einzige Beziehung, die Marx zwischen der Edelmetallver¬
mehrung und der „ursprünglichen Akkumulation“ kennt oder wenigstens
ausdrücklich hervorhebt. Kapital 1 4, 709.
1 In den Reform. Bas. part. II tit. XXIX, bei Goldast, 228.
2 Cunningham, Growth 2, 141.
3 Shaw, Hist, of Curr., 73. Das Buch von Shaw hat sich zu
seiner besonderen Aufgabe gemacht, zu zeigen, wie die „bullionist,
financiers and arbitragist“, „the merchant exchangers“ von den Wirr¬
nissen der Währung Vorteil zogen und zu Reichtum gelangten.
664
. Dreiundvierzigstes Kapitel
Betrug, Diebstahl, Unterschlagung als Yer-
mögensbildner
Wir haben zur Bezeichnung dessen, was ich die „freien“
Formen der Vermögensbildung nenne, zum Teil keine andern
Ausdrücke als die, die dem Strafgesetzbuch entnommen sind.
Was eigentlich ausgedrückt werden soll, ist die Freiheit von
der- Bindung sei es durch das Gesetz oder die Sitte, sei es durch
einen Vertrag mit einem zurechnungsfähigen Partner. Vielleicht
könnte man diese freien Formen auch einseitige nennen und sie
als solche den vertragsmäßigen gegenüberstellen. Aber es kommt
ja nicht sowohl auf die richtige Bezeichnung als auf die genaue
Erfassung des wirklichen Tatbestands an. Und da kann kein
Zweifel herrschen, was im einzelnen Falle gemeint ist.
Wenn ich Betrug, Diebstahl, Unterschlagung als eine be¬
sondere Form der Vermögensbildung in früherer Zeit aufzähle,
so denke ich dabei nicht an die Bereicherung, die dem einzelnen
Privatmann auf diesen Wegen widerfahren ist. Die würde nie
eine besondere „soziale Kategorie“ bilden können, sondern als
Begleiterscheinung der übrigen Formen der Vermögensbildung
erscheinen müssen. Wenn wir also erfahren, daß Handel und
Gewerbe in allen früheren Jahrhunderten mit einem starken
Einschlag von Betrug betrieben worden sind, so würde (auch
wenn anerkannt werden muß, daß häufig genug nur die unehr¬
liche Geschäftsführung die vermögenbildende Kraft besessen
hat) diese Methode der Bereicherung doch unter die Kategorie :
Gewinn aus gewerblicher oder kommerzieller Tätigkeit fallen.
Es sind vielmehr besondere Fälle, in denen die genannten
Formen der Bereicherung besondere und selbständige Bedeutung
erlangen. Ich möchte sagen: überall dort, wo eine Vertrauens¬
stellung ausgenutzt wird, um sich widerrechtlich Vermögens¬
vorteile zu verschaffen und dann, wenn diese widerrechtliche
Bereicherung nicht auf Ausnahmefälle sich beschränkt, sondern
gleichsam zum Geschäftsbetriebe als solchem zu gehören scheint.
Dreiundvierzigstes Kapitel: Betrug, Diebstahl, Unterschlagung usw. 665
Man sieht, was ich meine : die betrügerische Amts¬
führung.
Die Unehrlichkeit der Beamten scheint eine allgemeine Er¬
scheinung zu sein — möchte man fast sagen — , die nur in ihrer
Allgemeinheit durch einige Ausnahmefälle : wie namentlich
Preußen, bestätigt wird. Jedenfalls ist sie in allen früheren
Zeiten die Regel.
Wir wissen aus dem Mittelalter, daß die regierenden Familien
in den Städten häufig genug aus den öffentlichen Mitteln ihre
Taschen füllten h Wir erfahren von ungeheuren Vermögen, die
Staatsbeamte in jener Zeit hinterließen: in Frankreich: Pierre
Remy, general des finances, hinterließ bei seinem Tode (1328)
ein Vermögen von 1200000 livres (52 Mill. Frcs. heutiger Wäh¬
rung) ; der Kanzler Duprat ein solches von 800 000 ecus und
300000 livres1 2.
In Deutsch! and wie in Frankreich : das Kanzleipersonal unter
Friedrich III. schildert iEneas Silvius als ein Gesindel, vor dem
er Ekel empfunden habe, als eine hungrige Meute, die jede Ge¬
legenheit benutzt habe, wo es etwas zu verdienen gab. Der
Kanzler Kaspar Schlick, der erste Kanzler bürgerlicher Herkunft,
riet einem Freunde: man müsse 6000 verlangen, um 3000 zu
bekommen 3.
Besondere Gelegenheit, zu raschem Reichtum zu gelangen,
boten überall namentlich auch die Stellungen in der Bergbau¬
verwaltung.
„Gegen Ende des 15. Jahrhunderts (1496) nahmen durch Treu¬
losigkeit der darüber gesetzten Amtleute, die sich sichtbarlich
dabei bereicherten, die königlichen Einkünfte aus den Bergwerken
zu Kuttenberg (Böhmen) sehr ab.“ 4
Aus dem spanischen Neapel des 16. Jahrhunderts hören wir
von Beamten, deren Gehalt 600 Duk. beträgt, die aber trotzdem
große Reichtümer ansammeln5.
1 Für Flandern: Vanderkindere, Siede des Artevelde, 140.
Für Köln: Hegei in den Chr. d. deutschen Städte. Bd. 14, Einl. Für
die französischen Städte im 16. und 17. Jahrhundert: Normand, 149.
2 D’Avenel, Hist. econ. 1, 149. 154.
3 Ohne Quellenangabe mitgeteilt bei A. Salz, Gesch. der böhm.
Industrie (1913), 405.
4 Belege bei Gmelin, Beyträge zur Gesch. des teutsch. Bergbaus
(1783), 69.
5 „E cosa grande il considerare le smisurate richezze che molti
di essi sono stati soliti di accumulare in brevissimo tempo.“ Lettera
6G6 Fünfter Abschnitt: Die Entstehung des bürgerlichen Reichtums
Wie bestechlich die Beamten in 'England zur Zeit der jung¬
fräulichen Königin waren, ist bekannt: die Richter hatten feste
Taxen für Freispruch schuldiger Verbrecher usw. Selbst noch
im 17. Jahrhundert wird uns die Verwaltung des vereinigten
Königreichs als „utterly corrupt“ geschildert* 1 : 1621 wird Bacon
der Bestechung überführt, 1624 Cranfield ; 1621 wird der Prozeß
dem Schatzmeister für Irland, Sir George Carey, gemacht, der
während seiner Amtszeit 150 000 jg' veruntreut hatte 2. Über die
Zustände in der englischen Flotte schreibt Norreys an Sir John
Coke im Jahre 1603: „To say truth the whole body is so cor-
rupted as there is no sound part almost from the head to the
foot; the great ones feed on the less and enforce them to steal
both for themselves and their Commanders.“ 3
Daß in Amerika, im Norden wie im Süden, das Stehlen zu
allen Zeiten die eigentliche Funktion der Beamten war, versteht
sich von selbst4.
Ein fruchtbarer Boden für gewinnbringende Betrügereien
wurden dann die halböffentlichen großen Erwerbs¬
gesellschaften des 17. und 18. Jahrhunderts; ebenso wie die
Verwaltung der Kolonialgebiete. Die Verwaltung entfernter Pro¬
vinzen wurde nicht immer dem Tüchtigsten und Redlichsten
anvertraut; die Gouverneure gingen meist ihren Untergebenen
mit gutem Beispiele voran und häuften Reichtümer durch Be¬
trügereien und Erpressungen. Der Anklage wußten sie durch
Bestechung der Richter zu begegnen.
Dasselbe Bild im portugiesischen Kolonialgebiete 5 wie im
holländischen Indien, wo die Beamten der ostindischen Kompagnie
wie die Raben stehlen: ein Finanzbeamter, der 1709 starb,
hinterließ nach 3 — 4jähriger Tätigkeit ein Vermögen von
300000 Tlrn. ; der Gouverneur Walkenier (1737 — 41) brachte bei
seiner Rückkehr nach Europa 5 Mill. fl. heim, die er gestohlen
al Cardinal Borgia, bei Ranke, Fürsten und Völker Südeuropas
l 3, 477.
1 Cunningham, Growth 2, 181 ff. .
2 Hall, Society in the Elizabethan Age (4. ed. 1901), 128 ff.
Daselbst werden auch die Betrügereien der Kriegslieferanten ausführ¬
lich behandelt: p. 124 ff.
3 Coke Mss. Cal. Hist. Mss. Com. Rep. XII. App. pt. 1, 41, bei
M. Oppenheim, The Administration of the Royal Navy (1896), 192/93.
4 Über die Korruption in den Neu-England-Staaten während der
Kolonialzeit: Doc. rel. to the Col. Hist. 4 (1854), 317 f. u. pass.
5 Hamilton, A new account of the East Indies.
Dreiundvierzigstes Kapitel: Betrug, Diebstahl, Unterschlagung usw. (367
hatte h Einen guten Gradmesser für das Maß von Betrügereien,
die die Beamten der Gesellschaft begingen, bilden die Sendungen
' an Privatwechseln nach dem Mutterlande, die im Laufe der Zeit
immer häufiger werden. Ln Jahre 1705 nicht höher als fl. 274434,
stieg dieser Betrag im Jahre 1746 auf fl. 1209586 und im Jahre
1764 auf fl. 1333419. Einzelne Inhaber weisen ganz bedeutende
Beträge an. In der Berechnung vom Jahre 1746 zahlt ein ins
Vaterland zurückgewanderter Fiskal fl. 55386 auf Wechsel ein;
den Waisenhausmeistern in Amsterdam werden fl. 74808, denen
zu Utrecht fl. 117 766, denen zu ’s Gravenhage fl. 37 839, denen
zu Delft fl. 33253 überwiesen1 2.
Ein Amt, dem zu allen Zeiten und bei allen Völkern der
Makel einer unehrlichen Führung angehaftet hat, ist das Kriegs-
kommissariat. Hier hören wir selbst aus dem anständigsten
Milieu: dem preußischen, Klagen über betrügerische Amtsführung:
„Nichts ist einem Kommissarius oder Offizianten so erwünscht,
als wenn ihm die Verwaltung eines Magazins oder einer Kasse
anvertraut wird. War er auch vorher bettelarm, ein Monat schon
vermag ihn in einen angenehmen Zustand zu versetzen. Und
zwey, drey und mehrere Monate machen ihn zu einem großen,
reichen und bedeutenden Mann, der seine Kutsche oder Chaise,
Pferde — oft 10 oder 12 — und Bedienten hält, der nicht anders
als in prächtigen Kleidern, mit zwey goldenen Uhren, mehreren
Ringen an den Fingern und dergleichen kostbaren Dingen er¬
scheint , . . . kurz, der einen Aufwand macht, als sey er ein Diener
des Großmoguls und als habe er monatlich mehrere Tausend zu
verzehren . . . Gescheidte Leute . . . urteilen: Der muß den König
recht betrügen . . . “ Folgen die verschiedenen Machenschaften,
deren sich der ungetreue Knecht bedient3.
Ging’s so in Preußen zu, so darf es uns nicht wundernehmen,
wenn wir aus andern Ländern noch viel Ärgeres erfahren.
1 Belege bei P. L er oy - B e auli e n , De la colonis. 4, 73. Neuere
Ziffern bei Bokemeyer, Die Molukken, 279 f.
2 Bokemeyer, 279. Vgl. noch Saalfeld, Gesch. des holl.
Kolonialwesens, 254.
3 Karl Georg Weisse, Über das Feld-Kriegskommissariat der
kgl. preußischen Armee (1794), 35 f. Der Verfasser ist zwar ein
gnitteriger Staatshämorrhoidarius, der viel mit seinen Vorgesetzten Be¬
hörden gestänkert hat, der aber doch den Eindruck des kenntnisreichen
und ehrlichen Beurteilers macht.
6G8
Vierundvierzigstes Kapitel
Der Raub
Wie hoch, oder wie niedrig man die Bedeutung veranschlagen
mag, die Betrug, Diebstahl und Unterschlagung für die Ent¬
stehung des bürgerlichen Reichtums gehabt haben: sicherlich
ist die viel größer, die der hier zu betrachtenden freien Erwerbs¬
art zukommt: dem Raube. Von ihr können wir sogar mit Be-
stimmheit sagen, daß sie wirklich sehr groß ist.
Auf welche Ursprünge der Raub zurückgeht, welcher grund¬
sätzlichen Auffassung vom Leben und seiner Erhaltung er ent¬
spricht, ist hier nicht zu prüfen. Für unsere Zwecke genügt uns
die Feststellung, daß die gewaltsame Wegnahme von Gütern das
ganze Mittelalter hindurch bis in das 18. Jahrhundert hinein in
allen europäischen Kulturländern zu den üblichen Formen der
Vermögensbildung gehört hat, daß sie keineswegs eine seltene,
von dem Strafgesetz und der öffentlichen Meinung durchgängig-
verdammte verbrecherische Tat, sondern eine gelegentlich zwar
bestrafte, aber dann doch immer wieder halb oder ganz an¬
erkannte, in weiten Kreisen auch der anständigen Leute ver¬
breitete Gepflogenheit war, die einen Bestandteil der „Sitte“
jener Zeiten gebildet hat1. (Wenn auch nicht immer der Landes¬
sitte, so doch ganz gewiß der Standessitte.)
Nicht überall und immer hat der Raub auch für die Ent¬
stehung des bürgerlichen Reichtums eine Bedeutung gehabt. Die
ganze große Erscheinung des Raubrittertums beispielsweise
kommt für uns kaum in Betracht. So sehr dieses, wie man weiß,
Jahrhunderte hindurch das gesamte Wirtschaftsleben, namentlich
in Deutschland, eigentümlich beeinflußt hat: schon daß es das
Geleitwesen aus sich erzeugte, mußte Handel und Wandel in
1 „When such a judge as Sir John Fortescue could exult that
more Englishmen were hanged for robbery in one year than French
in seven, and that, ,if an Englishman be poor and see another having
riches which may be taken from. him by xnight, he will not spare to
do so‘, it may be perceived how thoroughly these Sentiments had
pervaded the public mind,“ H. Hallam, State of Europe 3, 163,
Viel'undvierzigsteg Kapitel: Der Raub
669
ganz bestimmte Bahnen lenken — so hat es doch zur Entstehung
des bürgerlichen Reichtums nichts beitragen können, weil seine
Träger zu allen Zeiten sich in einen trotzigen Gegensatz zu
allem bürgerlichen "Wesen gestellt haben1 und auch in den Jahr¬
hunderten, in denen anderwärts die reich gewordenen Landadligen
langsam verbürgerlichten , höhnisch auf die Pfeffersäcke herab¬
sahen. Wie stolz nimmt sich das „Krippenreitertum“ aus, in
dem schließlich das Raubrittertum sich verlief!
„Und hätten die Pfeffersäcke in den Städten noch so viel Schmuck
um sich hängen, der Bürger bleket doch allemal heraus ..." „Das
Herz möchte mir im Leibe zerspringen, wenn ich diese Leute in der
Stadt in so prächtigem Kleide und Schmucke auf goldenen Karreten
herprahlen sehe. Prahlet, so denke ich dann, wie ihr wollt, und wenn
ihr gleich alle Tage statt eines Weines gar Perlen söffet, so seid Ihr
doch Bürger, bleibet Bürger und werdet es nimmermehr dahin bringen,
uns gleich zu sein.“ So unterhalten sich die Frauen der „Krippen¬
reiter“ bei Hering und Kartoffeln und Dünnbier auf ihrer armseligen
Klitsche gegen Ende des 17. Jahrhunderts. Aus der Erzählung „Der
Edelmann“, die der Schlesier Paul Win ekler (f 1686) uns hinter¬
lassen hat. 2. Aufl. Nürnberg 1697.
Wie o-anz abseits vom Strome der modern- wirtschaftlichen
o
Entwicklung steht der Krippenreiter zu derselben Zeit, in der
der englische „Gentleman“ mit dem Gelde, das vielleicht auch
erst sein Vater oder sein Großvater durch ganz gewöhnlichen
Seeraub erworben hatte, ein Zinnbergwerk oder eine Glasmanu¬
faktur begründen hilft. Auch die Raubzüge der Normannen und
Sarazenen gehen uns hier nichts an. Ebenso brauchen wir uns
in diesem Zusammenhänge nicht um die allerdings wohl aus¬
gedehnte Brigandage zu kümmern, die in Frankreich infolge der
Religionskriege im 16. Jahrhundert sich einstellt2.
Dagegen hat in den italienischen Städten auch während des
Mittelalters der Raub wohl in weiterem Umfange dazu bei¬
getragen, bürgerliche Vermögen zu bilden.
Man weiß, daß vor allem Genua3 und Pisa ihren Reichtum
1 „Sollen Bürger, Kaufleute und Krämer uns Gesetze vorschreiben
und unsere Herren werden?“ sprechen die Raubritter, als 1253 der
rheinische Städtebund sich bildete, um das Land gegen ihre Gewalt¬
taten zu schützen. Alb. Stadensis. Staindel, bei Raumer, Hohen¬
staufen 4, 243. .
2 Siehe die Quellen bei Fagniez, Henry IV., 15, 164 ff.; 1 i-
geonneau, Hist, du comm. 2, 34.
3 Für das 12. und 13. Jahrhundert teilt ein reiches Quellenmaterial
mit: Ed. Heyck, Genua und seine Marine, 182 ff.
070 Fünfter Abschnitt: Die Entstehung des bürgerlichen Reichtums
zum nicht geringen Teile dem Seeraube (an den sich oft genug
ein ausgedehnter Landraub anschloß) zu danken gehabt haben.
Muß aber auch für die Entstehung der großen Vermögen in
Venedig Raub und Plünderung als wichtige Quelle in Betracht
ziehen1. Venedig hat vor allem den größten Anteil an der Aus¬
plünderung der orientalischen Städte, insonderheit Konstantinopels
genommen.
Das war aber deshalb so bedeutsam, weil es sich hier um
große Mengen von Gold. und Silber handelte, die den Räubern
zur Beute fielen. Dann aber erst werden Raub und Plünderung
recht einträglich und bekommen ihre selbständige große Be¬
deutung als Vermögensbildner. Daß wirklich beträchtliche Mengen
an Edelmetallen von den Italienern und namentlich den Vene-
tianern aus dem Orient herausgeholt wurden, habe ich in anderm
Zusammenhänge schon festzustellen versucht2.
Aber die von den Italienern erbeuteten Summen verschwinden
doch, wenn wir sie in Betracht ziehen mit denen, die den Räubern
der späteren Jahrhunderte zur Verfügung standen, seitdem die
Gold- und Silberschätze Amerikas den europäischen Nationen
erschlossen waren. Auch die freien Formen der Vermögens¬
bildung gewinnen natürlich an Bedeutung ganz erheblich, wenn
die Edelmetallproduktion einen Aufschwung nimmt, deren ver¬
mögenbildende Kraft sich also auch hier wieder in einem ganz
neuen Zusammenhänge äußert.
Im 16., 17., 18. Jahrhundert sind es Spanier, Portugiesen,
Holländer, Franzosen, vor allem aber Engländer und Nordameri¬
kaner, die den Raub als wichtiges Mittel zur Reichtumsbildung
verwenden.
Wir begegnen den Spaniern und Portugiesen gelegentlich als
Seeräubern, vor allem aber als Eroberern in den neuentdeckten
1 Was wir an Quellenmaterial für die Geschickte des Raubes und
der Plünderung in den italienischen Städten während des Mittelalters
besitzen, hat im wesentlichen He yd verarbeitet.' Siehe Levante-
Handel' 1, 255 ff. 258. 263. 487 f. 489; 2, 16.
Wohl die beste Quelle bilden die Protokolle einer Untersuchungs¬
kommission, die der Doge Giac. Contarini im Jahre 1278 niedersetzte :
zur Ermittelung aller der Beraubungen und Mißhandlungen, welche die
Venetianer in den letzten zehn Jahren von seiten der Griechen und
ihrer Verbündeten zu erdulden gehabt hatten. Wir erfahren dort allein
die Geschichte von etwa 90 Freibeutern. Abgedruckt bei Tafel und
Thomas 3, 159 — 281.
2 Siehe Seite 520 f.
Vierimdvierzigstes Kapitel: Der Raub
671
süd amerikanischen Ländern, die sie als erste ausplündern. Gleich
Raubtieren, hat man gesagt, durchstreiften die Spanier die neuen
Länder, gleich Raubtieren nach Beute spähend h Betrug und List,
Roheit und Gewalt mußten sämtlich der Reihe nach dazu mit¬
helfen, die seit Jahrtausenden hier angesammelten Schätze in
den Besitz der neuen Herren zu bringen. Sie erpreßten Lösegeld
von den Fürsten, öffneten die Gräber, rissen die Goldplatten von
den Tempeln und stahlen die Schmucksachen den Bewohnern
vom Leibe wes-.
ir wissen aber auch, daß es sich bei diesen Plünderungen
um recht erhebliche Beträge handelte und können in manchen
Fällen sogar genau die damit bewirkte Anhäufung von Vermögen
in den Händen einzelner verfolo-em
Als Albuquerque im Jahre 1511 Malakka plünderte, erbeutete
er eine Million Dukaten, von denen der König als Quinto 200 000
erhielt Auf einer Expedition in das Innere von Venezuela er¬
beutete eine Weiserexpedition (1535) 40 000 Goldpesos aus Gräbern,
Wohnungen oder Lösegeld; bei einem andern Zuge wurden einem
Stamme 140000 Pesos reinen und 30000 Pesos geringen Goldes
abgenommen1 2 3. Dem Montezuma nahm man einen Schatz ab, der
in Barren gegossen einen Wert von 162 000 Pesos darstellte,
während die kleineren Schmucksachen dabei 500 000 Dukaten wert
waren4. Die nach Eroberung der Hauptstadt von Mexiko ge¬
machte und eingeschmolzene Beute wird auf 19200 Unzen oder
131000 Pesos angegeben. Cortez brachte bei seiner Rückkehr
nach Spanien im Jahre 1528 Gold im Betrage von 200000 Gold¬
pesos und 1500 Mark Silber heim5. Ein Brief des Bischofs
Zumarraga aus Mexiko vom 17. August 1529 erwähnt, daß bei
Salazar , dem Stellvertreter des Cortez, als er verhaftet wurde*
sich 30000 Pesos feinen Goldes vorfanden: der Rest des nach
Spanien gesandten Goldes. Andere Beamte hätten je 25 bis
30000 Pesos erpreßt. Von dem gefangenen Kaziken von Meclioacan
1 Siehe die Schilderungen bei Herrera, Xerez, Gomara, aus
denen uns Prescott, Help u. a. Auszüge mitteilen.
2 Peschei, Zeitalter der Entdeckungen, 605, Quelle?. Odoardo
Barbosa spricht nur von einem „Sacco d’incredibili ricchezze in oro
e mercanzie“, bei Ramusio 1, 318 D.
3 Herrn. A. Schuhmacher, Die Unternehmungen der Augs¬
burger Welser in Venezuela, a. a. O. S. 72. 124. von Langegg,
El Dorado (1888), 13/14.
4 Prescott, Eroberung von Mexiko 1, 541.
6 Herrera, Dec. IV, 3. .8.
672 Fünfter Abschnitt: Die Entstehung des bürgerlichen Reichtums
habe man als Lösegeld 800 Goldscheiben im Gewicht von je einer
halben Mark nnd 1000 Silberscheiben je eine Mark schwer ver¬
langt. In einem weiteren Schreiben vom April 1582 wird er¬
wähnt, daß ein gewisser Uchichila von den Eingeborenen in
Mechoacan Goldschmncksachen erpreßt nnd zu 15 — 16 Barren
Gold eingeschmolzen, jedoch nur zwei deklariert habe1. Indem
Registro del Consejo de Indias findet sich die Angabe, daß 1535
in vier Schiffen von Peru Gold und Silber im Werte von 2 Mill.
Dukaten nach Sevilla gelangt sei. Es war dies die Beute, die
den Spaniern bei der Zerstörung des Reiches Atahualpas zufiel 2,
genauer gesprochen der Betrag des Lösegeldes Atahualpas, das
an Gold 1326539 Pesos de oro, an Silber 51 610 Mark enthielt3.
Von diesem Lösegelde erhielten4:
der Gobernador .
. . .
2350 Mark Silber
und
57 220
Pesos de
oro
Hernando Pizarro
. . .
1267 „
))
1 1
31080
11
11
n
Hernando de Soto
...
724 „
11
11
17 740
11
11
n
der P. Juan de Sosa . .
310 „
»
11
7 770
11
n
11
Juan Pizarro
. . .
407 „
n
n
11100
11
- n
n
48 Ritter . .
je ca.
360 „
11
11
9 000
11
11
ii
die übrigen der
170 Partizipianten
Je
etwa
die Hälfte
dieses
Betrages.
Auch über die bei der Eroberung Cuzcos im Jahre 1535 er¬
beuteten Beträge an Gold und Silber, soweit sie abgeliefert
worden, sind wir genau unterrichtet, da das Original Protokoll
im Archivio de Indias noch erhalten ist5. Danach hätte sich die
Beute auf 242 160 Castellanos Gold und 83 560 Mark 5 Unzen
Silber belaufen. Lösegeld des Inka und die Beute in dieser einen
Stadt zusammen betragen also über 33000000 Mk. in unserem
Gelde. Das sind die Ziffern, von denen man erfährt. Welche
1 Mitgeteilt bei Soetbeer, a. a. O.
2 K. H ä b 1 e r , Zur Geschichte des spanischen Kolonialhandels im
16. und 17. Jahrhundert, in der Zeitschr. f. Soz.- u. W.G. 7, 392 f.
3 Prescott, Eroberung von Peru 1, 356/57. Damit stimmt ziem¬
lich genau die Aufstellung der „Acta de reparticion del rescate de
Atahualpa“ überein, die bei M. J. Quintana, Vidas de Espagnoles
celebres 1 (1841), 389 f. abgedruckt ist.
4 Testimonio de la Acta de reparticion del rescate de Atahualpa
otorgata por el escribano Pedro Sancho. Ap. VI. ä la Vida de Pizarro.
Quintana, Vidas de Espanoles celebres 2 2, 387 ff.
5 Abgedruckt in der Colleccion de documentos ineditos relativos
al descubrimento, conquista y colonizacion de las posesiones Espanoles
in America e Oceanda; im Auszuge bei Soetbeer, a. a. O. S. 65/66.
Vierundvierzigstes Kapitel: Der Raub 6^3
ungeheuren Beträge müssen außerdem den Eroberern im kleinen
von Raub zu Raub zur Beute gefallen sein!
Nur eine etwas verschleierte Form der Beraubung war die
„Besteuerung“, Tributerhebung, von der auch die Eroberer
Amerikas weitestgehenden Gebrauch machten. Die Privatpersonen
erhielten hieran den entsprechenden Anteil durch Besoldungen
oder sie wurden unmittelbar mit den Einkünften größerer Gebiete
belehnt. Die Güter, mit denen die spanischen Offiziere in Peru
belehnt wurden, sollen bis zu 150000 und 200 000 Pesos jährlich
eingetragen haben1. Die Familie Cortez erhielt als Marquesado
das Tal von Oaxaco mit einer Bevölkerung von 17 700 Einwohnern2,
die zu Cortez’ Zeiten 60000 Dukaten Abgaben zu entrichten
hatten. Der Gouverneur der portugiesischen Kolonie Mozambique
hatte gewöhnlich nach Beendigung seiner dreijährigen Regierung
einen Gewinn von 300000 Crusados3.
In den folgenden Jahrhunderten wird der Raub gleichsam
berufsmäßig organisiert in der Seeräuber ei, der alle see¬
fahrenden Nationen gleichmäßig gehuldigt haben. Befördert
wurde die Seeräuberei als Erwerbsart durch die ewigen Kriege,
die namentlich während des 16. und 17. Jahrhunderts tobten,
und in denen die Kaperei nach damals geltendem Seerecht eine
hervorragende Rolle spielte. Kaperei und Seeräuberei gehen
nun aber fortgesetzt ineinander über: der Privateer wird zum
Pirate, wie dieser wiederum im Dienst des Staats als Kaper¬
führer Verwendung findet.
Von französischer Seeräuberei hören wir des öfteren im 16. Jahr¬
hundert4, erfahren aber, daß sie im 17. Jahrhundert einen hohen
Grad der Entwicklung erreicht hatte. Wir sind über ihren Stand
und ihre Ausdehnung deshalb besonders gut unterrichtet, weil
wir zwei verschiedene Berichte besitzen5, die sich Colbert, weil
er den Plan faßte, die Seeräuber Dünkirchens zu einem Ge¬
schwader zu vereinigen und (unter dem Kommando von Jan
Bart) in den Dienst des Königs zu stellen, über die bekanntesten
1 Roscher, a. a. O. (Zitat stimmt nicht). Nach Herrera,
Dec. VII. 6. 3 , waren die Güter des Gonzalo Pizarro einträglicher
als das Bistum Toledo.
2 Humboldt, Essai 2, 191.
3 Saalfeld, Portug. Kolonien, 174.
4 Nach Herrera: Anderson, Origins 2, 73, a° 1544.
5 Veröffentlicht bei Eugene Sue, L’histoire de la marine
fran^aise. Vol. IV (1836), Livre VIT, Ch. I et II.
Sombart, Der moderne Kapitalismus. I. 43
(374 Fünfter Abschnitt : Die Entstehung des bürgerlichen Reichtums
Seeräuber, die „capitaines corsaires“, erstatten ließ. Die Berichte
beziehen sich auf 33 Kapitäne , die 15 Fregatten und 12 lange
Barken befehligen.
Wir erfahren auch einiges über den Umfang und den Ertrag
dieses Seeräubergewerbes. So hören wir beispielsweise, daß der
berühmteste aller Piraten seiner Zeit : Jan Bart, Sohn und Enkel
ebenfalls berühmter Piraten, am 1., 2., 3., 4. und 5. Januar 1677
je ein holländisches Schiff“ aufgreift und daß er die fünf Schiffe
für 10600 Livres holländischer Währung freiläßt. Ein anderes
Schiff wird ihm für 480 £ abgekauft, ein drittes hat 80 000 Livres
in Goldstaub an Bord usw. 1
Man hat berechnet, daß französische Piraten zur Zeit Wil¬
helms III. von englischen Schiffen Prisen in Höhe von 9 Mill. £
in einem Zeitraum von drei Jahren machten2.
Ebenfalls ursprünglich französischer Herkunft waren die Bu¬
kanier oder Flibustier, die namentlich in den Gewässern der
spanischen Kolonien, bei Jamaica, Haiti usw., im 17. Jahrhundert
ihr Unwesen trieben3.
Ein Bild aus Holland um dieselbe Zeit: die holländisch-west¬
indische Kompagnie rüstet von 1623 bis 1636 mit einem Auf-
wande von 4500 000 £ 800 Schiffe aus: sie kapert aber 540 Schiffe,
deren Ladung nahe an 6 Mill. betrug; zu diesen fügt sie 3 Mill.
hinzu, die sie durch Kaub und Plünderung den Portugiesen ab¬
genommen hatte4. In den Gewinn- und Verlustrechnungen der
großen Kompagnien findet sich regelmäßig eine Summe : Gewinn
oder Verlust aus Kaperei oder Seeraub.
Die Beute, die toskanische Galeeren im 16. Jahrhundert machten,
als sie eine osmanische Handelsflotte an der afrikanischen Küste
überfielen, soll 2 000 000 Dukaten wert gewesen sein5
1 Nach den Akten E. Sue, Hist, de la mar. frany. 4, 1 ft.
2 J. Sinclair, The History of the Public Revenue 2 3 (1803), 42.
3 Hauptwerk: Histoire des Aventuriers qui se sont signales dans
les Indes etc. Par A. O. Oexmelin, richtiger J. Esquemeling, ur¬
sprünglich holländisch geschrieben (1678); dann ins Spanische und
Französische übersetzt; vollständigste Ausgabe 1744. 4 Vol. Vgl.
Pow. Pyle, The buccaneers and marooners of America. 1891;
Burney, History of the B. of Am. 1816; zuletzt 1902; H. Handel¬
mann, Geschichte der Insel Hayti (1856), 22 ff.
4 Oshlow Burrish, Batavia illustrata or a view of the Policy
and Commerce of the United Provinces (1728), 333.
5 G. Uzielli, Cenni storici sulle imprese scientißche, maritime
e coloniali di Ferdinando I. 1587—1609 (1901), 35.
Vierundvierzigstes Kapitel: Der Raub
675
Die Seeräubernationen par excellence im 16. und 17. Jahr¬
hundert sind aber England und die Neuenglandstaaten in Amerika.
Um die Mitte des 16. Jahrhunderts wimmelt es von englischen
Seeräubern an den Küsten Englands und Schottlands : nach einem
Bericht des Sir Thomas Chaloner waren im Sommer 1563 über
400 Seeräuber im Kanal, die in wenigen Monaten 6 — 700 franzö¬
sische Schilfe gekapert hatten h
In einer Eintragung im Privy Council Register von Schott¬
land aus dem Jahre 1546 heißt es: „Forasmuch as there is a
peace taken and standing betwixt our Sovereign Lady and her
dearest uncle, the King of England, who has written to her Grace,
showing that there are certain Scottish ships in the east sea and
other places, that daily take, rob and spoil her ships and lieges
of his realm passing to and fro“ etc. Solchen Eintragungen be¬
gegnen wir in jenen Jahren häufig1 2.
Man erinnert sich auch der Schilderungen, die Erasmus in
seinem Naufragium von den Gefahren der Seeräuberei im Kanal
entwirft.
Die englischen Geschichtsschreiber führen diese plötzliche
Ausdehnung der Piraterie auf die Marianischen Verfolgungen '
zurück: damals hätte eine Menge der besten Familien sich als
Seeräuber beteiligt, und ihre Scharen seien, vermehrt durch be¬
schäftigungslose Fischer, auch nach dem Regierungsantritt der
Elisabeth zusammengeblieben3.
Binnen wenigen Jahren jedenfalls nimmt England als See¬
räuberland im Norden dieselbe Stelle ein, wie Algerien im Süden.
Die Piraterie wird zu einem wesentlichen Bestandteile des eng¬
lischen Volkstums. In einem Promemoria, das Cecil im Anfang
der Regierung Elisabeths ausarbeitet, werden als Mittel zur Ent¬
wicklung einer Flotte drei angeführt: darunter die Pflege der
Seeräuberei.
In der Tat werden diejenigen Historiker recht haben, die be¬
haupten, daß auf ihr Englands Seemacht sich aufgebaut hat. Sie
lieferte dem Lande nicht nur ein ausgezeichnetes Matrosenmaterial:
sie erzeugte auch jene große Reihe kühner Abenteurer und See¬
helden, an denen das Elisabethsche England so reich ist und die
1 Froude, Hist, of E. 8 (1863), 451.
2 Reg. Priv. Counc. 1, 471; 2, 500 u. ö., bei P. Hume Brown,
Scotland in the time of Queen Mary (1904), 69 ff. Dort sind auch
noch andere Quellen angeführt.
3 Douglas Campbell, The Puritan etc. 1, 389 seg.
43*
676 Fünfter Abschnitt: Die Entstehung des bürgerlichen Reichtums
durch ihre kühnen Eroberungszüge die englische Nation in kurzer
Zeit zu Macht und Ansehen emporführten.
Alle die berühmten Seefahrer und Entdecker und Kolonie¬
gründer jener Zeit waren im Grunde nichs anderes als Seeräuber
und wurden doch als Helden verehrt. Francis Drake, auf dessen
Piratenschiff bei seiner Rückkehr nach seiner denkwürdigen
Beutefahrt (1577 — 80) die Königin das Frühstück einnimmt, den
sie eigenhändig zum Ritter schlägt, nennt Hentzner, der das
Schiff 1598 sah: „the noble pirate, Francis Drake.“ Und wenn die
Königin den obersten der Seeräuber zum Ritter schlug, konnten
die Gerichte den Seeraub selbst nicht als Verbrechen strafen.
„The present practice of pardoning notables crimes, of pardoning
piracy especially, ought to cease“ . . . fordert (sicher vergebens)
eine Adresse an die Königin vom Jahre 1579.
Wir kennen dem Namen nach aus jener Zeit nur zwei oder
drei dieser Seeräuber: außer Francis Drake vielleicht noch Sir
Walter Raleigh, John Hawkins und einige andere. Aber selbst
die hervorragenden unter ihnen , die große Beutezüge unter¬
nehmen, zählen nach vielen Dutzenden und Hunderten. Man
braucht nur etwa den dritten Band von Hakluyts Reise¬
beschreibungen durchzublättern, um zu erstaunen über die große
Anzahl unternehmender Räuber, die in jenen Tagen aus eng¬
lischen Häfen aussegelten, um Schätze zu erbeuten. Die John
Oxham von Plymouth , die Andrew Baker von Bristol , die
Christoph Newport, die William King, die Rob. Duddeley, die
Armfas Preston, die Sir Anthony Sherley, die William Parker
und viele andere sind alle aus gleichem Holze geschnitzt.
Wie zahlreich müssen aber erst diejenigen gewesen sein, die
ihr Räubergewerbe in der Nähe des Heimatlandes betrieben!
„Nearly every gentleman along the western coast . . . was
engaged in the business.“ (D. Campbell.)
Der Betrieb der Seeräüberei war ein geschäftsmäßig wohl-
geordneter. Die Schiffe der Piraten wurden von wohlhabenden
Leuten ausgerüstet, die man „gentlemen adventurers“ nannte,
hinter denen dann oft noch andere standen, die ihnen die Mittel
zur Ausrüstung gegen hohe Zinsen vorschossen. Zum Teil war
der hohe Adel bei solchen Unternehmungen beteiligt. Wenn der
Earl of Bothwell zur Zeit der Königin Maria von Schottland
teilnahm am Seeraub, so tat er nichts anderes, als daß er einen
einträglichen und durchaus üblichen Beruf seiner Tage ergriff1,
1 P. Hu me Brown, 1. c. p. 72.
Vierundvierzigstes Kapitel: Der Raub (377
Zur Zeit der Stuarts sehen wir den Earl of Derby und andere
Royalisten zahlreiche Seeräuber ausrüsten1.
Und das Geschäft lohnte sich. Namentlich natürlich, wenn
man so glücklich war, auf den Gold- oder Silberstrom, der sich
aus Amerika beständig ergoß, zu stoßen. Verfolgen wir etwa
Francis Drake auf seiner großen Fahrt in den Jahren 1577 bis
1580: an der spanischen Küste Südamerikas plündert er die
Küstenstädte ; dann erbeutet er große Mengen Silbers, die gerade
aus den Minen Perus angelangt sind ; dann kapert er ein treasure-
ship mit einer reichen Ladung Gold, Silber, Perlen, Diamanten,
und so geht es weiter, bis sein Schiff „a cargo such as the world
had never seen before and never has seen since bis day“ mit
sich führt. Von dem Ertrage empfängt Drake selbst einen reichen
Anteil, 100 % werden an die Anteilseigener ausbezahlt, der Rest
kommt an — die Königin. (Froude.)
1592 empfangen von einer Expedition, die Raleigh unter¬
nommen hat, die „adventurers“, das heißt eben die Ausrüster,
sogar 10 für 1 zurück, machen also 1000% Gewinn2.
John Hawkins gibt seine Beute, namentlich an Gold, Silber
und Edelsteinen , selbst auf 1 800 000 £ an. Wir 'hören von
einzelnen Prisen, die 60000 Duk., 200 000 Duk. bringen3 usf.
Im Jahre 1650 klagt die Levante-Gesellschaft, daß sie durch
Seeräuberei innerhalb zweier Jahre verschiedene große Schiffe
verloren habe, die einen Wert von mindestens 1 Mill. £ dar¬
gestellt hätten4.
Wie die Seeräuber selber auch zu Wohlstand und Reichtum
kamen, erzählen uns die Zeitgenossen. Von einem berühmten
Seeräuber, Mr Cavendish, wird berichtet5: „The passing up the
river of Thames by Mr Cavendish is famous, for his mariners
and soldiers were all clothed in silk, his sails of damask, his
top cloth of gold, and the richest prize that ever was brought
at any time into England.“
Gelehrige Schülerinnen des Mutterlandes sind dann die
amerikanischen Kolonien geworden. Die Ausdehnung, die hier
die Seeräuberei gewann, namentlich im Staate New York, würde
1 Gardiner, Commonwealth 1, 330, bei Cunningham 2, 188.
2 Strypes, Annals 4, 129, bei D. Campbell 1, 374.
3 Nach Hakluyt: Fronde 9, 360.
4 S.P.D. (1650) 9, 34, bei Cunningham 2, 189.
5 Capt. Francis Allen to Anthony Bacon, Aug. the 17 th 1589,
Birch 1, 57, bei Campbell 2, 20,
078 Fünfter Abschnitt: Die Entstehung des bürgerlichen Reichtums
unglaublich, erscheinen, wenn sie nicht durch eine Fülle einwand-
freier Zeugnisse erwiesen wäre. Vor allem enthalten die Berichte
des Earl of Bellomont an die Lords of Trade anschauliche
Schilderungen von den schier unglaublichen Zuständen unter
dem Governor Fletcher, der mit den ärgsten Seeräubern spazieren
fährt, nach Belieben Freibriefe für die anzuwerbenden Matrosen
— 100 $ pro Kopf — erteilt, ganze Schiffsladungen geschenkt
bekommt, die er dann für 800 weiter verkauft usw. Wir er¬
fahren von ganz großen Summen, die die Piraten erbeuten, und
daß es von ihnen in New York und Boston wimmelt, wo auch
viele alte Cbucaneers5 in Komfort und Ansehen leben1. Nach
dem Zeugnis des Sekretärs von Pennsylvania, James Logan,
kreuzten im Jahre 1717 1500 Seeräuber an der Küste von Caro¬
lina allein, von denen 800 ihr Standquartier in New Providence
hatten1 2 3. Im 17. Jahrhundert: „nearly every colony in A. was
in one way or another offering encouragement to the pirates.“8
Von einem indischen Piraten des 18. Jahrhunderts, Angria,
der einer alten Seeräuberfamilie entstammte, hören wir, daß er
eine ganze Flotte besaß, daß er mehrere Inseln bei Bombay be¬
festigt und eine Besitzung von 100 Meilen Länge und 60 Meilen
Breite sich zu eigen gemacht hatte4.
* *
*
Ich weiß nicht, wo ich anders als in dem Kapitel, das die
Vermögensbildung durch Raub behandelt, die Entstehung der-
1 Die wichtigsten Aktenstücke , namentlich clie Berichte des Earl *
of Bellomont, sind veröffentlicht in den Doc. relat. to the Colon. Hist,
of the State of New York 4 (1854), 306 ff. 323. 447. 480. 512 ff.
Vgl. auch Macaulay, H. of E. 10, 14. 21, wo die hübsche Geschichte
vom Capt. Kidd erzählt wird, der als ..Privateer5 zur Bekämpfung der
Seeräuberei von der Regierung ausgesandt wurde und mit einer reichen
Beute als tPirate5 wiederkam, da er sich unterwegs besonnen hatte,
daß es viel ersprießlicher sei, friedliche Kaufleute zu fangen, statt
kriegerische Seeräuber zu bekänrpfen.
2 ShirleyCarterHughson, The Carolina Pirates and Colonial
Commerce 1670 — 1740 (1894), 59. Die Studie behandelt den Gegen¬
stand mit großer Liebe und Ausführlichkeit. Nach der Auffassung H.s
soll die Begünstigung der Seeräuberei durch die amerikanischen Kolonien
eine Folge der englischen Schiffahrtspolitik gewesen sein, die die Ko¬
lonien dem Mutterlande opferte : die Seeräuberei bot das beste Mittel,
billige Waren zu kaufen (p. 17).
3 Hughson, 1. c. p. 39.
* John Campbell, The Political Survey 2 (1774), 599,
i
Vierundvierzigstes Kapitel: Der Kaub
679
jenigen bürgerlichen Vermögen erwähnen soll, die der Auf¬
hebung der Klöster und der Einziehung der Kloster-
und Kirchengüter durch den Staat ihr Dasein verdanken.
Diese Erwerbsart hat namentlich für England eine große Be¬
deutung. Um welche Beträge es sich dabei handelte, habe ich
bereits angegeben1. Es bedarf hier nur der Feststellung , daß
der König seine Beute dazu verwandte, seine Günstlinge aus¬
zustatten, und daß diese mit einer durchaus bürgerlichen Wirt-
schaftsgesinnung die Ausbeutung des ihnen geschenkten Landes
in Angriff nahmen2.
Die englischen 'Wirtschaftshistoriker erblicken eine der wich¬
tigsten ökonomischen Wirkungen der Aufhebung der Klöster in
der Tatsache, daß nunmehr der Geldabfluß nach Born aufhörte.
In der Tat scheint dieser alle Jahrhunderte hindurch mindestens
in gleicher Stärke angehalten zu haben, wie wir es für die Zeit
des Mittelalters rechnungsmäßig feststellen können. England
trug den ehrenden Beinamen einer „Milchkuh des Papstes“. Für
die normale Vermögensbildung mußte offenbar diese Änderung
von erheblicher Bedeutung sein.
1 Siehe oben S. 600 f. Zu dem eingezogenen Grundbesitz kamen
übrigens noch andere Vermögensstücke, so daß sich der Betrag des
kirchlichen Einkommens, den Heinrich VIII. konfiszierte, auf 160 000 £
erhöht.
2 Vgl. noch mit der auf Seite 600 f. genannten Literatur:
J. Th. Rogers, Hist, of agriculture 4, 113.
Russell M. Garnier, History of the english landed filterest.
2. ed. 1908, Vol. I, Ch. XXI.
F. A. Gasquet, Henry VIII. and the English Monasteries. 2 Vol.
1889, namentlich Vol. II, p. 387 ff.
680
Fünfundvierzigstes Kapitel
Der Zwangs liandel
Zwangshandel nenne ich dasjenige Verfahren, mittels dessen
einem Urteilsunfähigen oder Willenlosen durch Anwendung von
List oder Gewalt auf dem Wege einer scheinbar freiwilligen
Tauschhandlung möglichst unentgeltlich Wertobjekte abgenommen
werden. Zwangshandel in diesem Sinne ist fast aller Warenaus¬
tausch zwischen den europäischen Völkerschaften und den Natur¬
völkern, wenigstens in seinen Anfängen und in der Art, wie er
bei der Begründung der europäischen Kolonialwirtschaft zur
Anwendung gelangte, aber auch aller Handel mit den indischen
Kulturvölkern in den ersten Jahrhunderten ist Kaub, Betrug
oder Diebstahl.
Wer heute die Quellenwerke liest, staunt über die schamlose
Selbstverständlichkeit, mit der die Menschen jener Zeit, vor allem
natürlich immer die Engländer, die Ausbeutung der unterjochten
Völker als gottgewollte und den Handel als Ausbeutung ansahen.
So schreibt einer der besonnensten Publizisten seiner Zeit über den
Zustand in Ostindien: „Instead of that incertain and precarious
State in which our Commerce remained here for many years , we
enjo}7 now the most certain and ample security from the nature
of our fortifications , and particularly the extensive and highly im-
proved Fortress at Calcutta, the large body of troops that we maintain
and pay ..." usw. John Campbell, Polit. Survey of Britain 2
(1774), 613.
Es ist nur englisch, wenn derselbe Verfasser kurz darauf fest¬
stellt: daß die Kompagnie ihre Keichtümer erwerbe „ohne jeden Be¬
trug und jede Unterdrückung“ (without eitker Fraud or Oppression),
und daß die Engländer in Indien herrschten nach den „Grundsätzen
der Billigkeit und Milde“ (principles of equity and indulgence).
Je größer die Übermacht des europäischen Staates, desto
gewinnbringender gestaltete sich natürlich dies Verfahren. Wäh¬
rend des Mittelalters war dieser Kolonialhandel für die West¬
europäer in verhältnismäßig enge Schranken, gebannt. Wider¬
standslose Völker zu beliebiger Ausbeutung gab es nur im
russischen Keiche, in das von Norden her die Hanseaten, von
Süden her die Gemiesen ihre Fangarme ausgestreckt hatten,
Fünfundvierzigstes Kapitel: Der Zwaugshandel
681
Zwischen die Völker des Orients und Westeuropa schob sich
dagegen das arabische Händlertum, das dem europäischen im
wesentlichen als ebenbürtiger Kontrahent gegenübertrat. Ein
Jahrtausend hindurch haben die Araber die orientalischen Völker
in ihrem Interesse ausgebeutet, haben sie sich des Reichtums
des Orients als eines mächtigen Tragbalkens für ihre glänzende
Kultur bedient1 2.
Die Entdeckungen und Eroberungen um die Wende des
15. Jahrhunderts setzten nun die europäischen Völker in den
Stand, die Araber als Mittler zwischen sich und dem Osten zu
umgehen. Um zu ermessen, was das bedeutete, den Zwischen¬
handelsprofit der Araber in europäische Taschen zu leiten, muß
man den ungeheuren Preisaufschlag kennen, mit dem die arabischen
Händler die Waren weiter verkauft hatten. Eine uns überkommene
Berechnung englischer Kaufleute aus dem 16. Jahrhundert ergibt,
daß die ostindischen Waren in London halb so viel kosteten als
in Aleppo ; daß sich aber die Preise der in Ostindien direkt ge¬
kauften bzw. über Aleppo bezogenen Waren wie folgt stellten:
Preise der Waren in Ostindien
1 Pfd. Pfeffer ... — Sh. 21/« d.
1 Nelken ... — „9 „
1 „ Muskatnüsse . — „4 „
1 „ Muskatblüte . — „8 „
1 „ Indigo ... 1 „ 2 „
1 „ Rohseide . . 2 „ — „
Maynes, Center of the Circle of Commerce. 1623; zit. bei
Anderson, Orig. 2, 304. Nach einem andern Preiskurant, den
wir einem anonymen Begleiter Vasco de Gamas verdanken, kostete
ein Quintal Ingwer in Alexandria 11 Crusaden (Dukaten), in Calicut
der Bachar, der 5 Quintais hielt, nur 20 Crusaden. Ein Quintal Weih¬
rauch kostete in Alexandrien 2 Crusaden, genau so viel wie der Bachar
in Mekka. Roteiro da viagem em descobrimento da India (1838), 115.
Zit. bei 0. Peschei, Geschichte des Zeitalters der Entdeckungen
(1858), 27.
1 Wie sehr ein großer Teil des arabischen Reichtums auf der
kommerziellen Ausbeutung der afrikanischen und namentlich asiatischen
Völkerschaften beruhte, lehrt jede Geschichtsdarstellung. Vgl. noch
insbesondere Stüwe, Die Handelszüge der Araber unter den Abassiden
(1836), und namentlich von Kremer, Kulturgeschichte des Orients
2 (1877), 274 ff. 189 (Reichtum der Kaufleute ; Vermögen von 20 bis
30 Milk Frcs.).
Preise in England,
in Aleppo gekauft
— Sh. 20 d.
d
6
5
20
082 Fünfter Abschnitt: Die Entstehung des bürgerlichen Reichtums
War man im Osten durch Verdrängung der Araber an die wehr¬
losen Völker unmittelbar herangekommen, so hatte schon während
der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts Portugal ein stattliches
Ausbeutungsgebiet an der Westküste von Afrika erschlossen, und
dazu kam nun ein ganzer neuer, noch unberührter Weltteil, den
jetzt das westeuropäische Händlertum in den Kreis seiner Wirk¬
samkeit ziehen konnte.
Daß diese Wirksamkeit aber so gewinnbringend werden konnte,
hatte zur Voraussetzung, daß man den Völkern, mit denen man
„Handel“ trieb, europäische Waren zu Phantasiepreisen anbängte
dagegen die Produkte der Eingeborenen für ein Butterbrot an
sich brachte. Dadurch entstand dann jene ungeheure Spannung
zwischen Einkaufs- und Verkaufspreis, die wir heute kaum noch
für möglich halten.
Preise im Zwangshandel
Den Indiern teilte der Corregidor ohne Rücksicht auf den Bedarf
europäische Waren zu. Nach Bodin kosteten alte Stiefeln 300 Duk.,
ein spanischer Mantel 1000 Duk., 1 Pferd 4 — 5000 Duk., ein Becher
Wein 200 Duk. Die unglücklichen Eingeborenen erhielten oft Sachen,
deren Gebrauch sie nicht entfernt kannten. Sie mochten dagegen Vor¬
stellungen machen soviel sie wollten: die „Verkäufer“ weigerten sich,
irgend etwas zurückzunehmen. Oft verdienten sie kaum genug für den
eigenen und Familienunterhalt, sollten aber sich in Samt und Seide
kleiden, die kahlen Wände ihrer baufälligen Hütten mit Spiegeln
schmücken; man gab ihnen Spitzen, Bänder, Knöpfe, Bücher und
tausend andere unnütze Dinge, und alles für die unsinnigsten Preise.
Dergleichen Austeilungen der europäischen Importen nannte man im
spanischen Amerika ripertimentos. Vgl. die Darstellungen bei Scherer,
225 ff., und Bonn, Spaniens Niedergang, 111, wo auch die Quellen
angegeben sind.
Die Hudson Bay Comp, tauscht (1743) gegen ein Bib e r f eil je :
4 Pfd. Kupferkessel
H/2 „ Schießpulver
5 „ Schrot
6 „ brasil. Tabak
1 Elle bays
2 Kämme
2 Ellen Strumpfband
1 Paar Hosen
1 Pistole
2 Beile
Da im gleichen Jahre 26 750 Biberfelle für 9780 g verkauft sind,
so wertet ein Biberfell 7 — 8 sh. Aus den Streitschriften zwischen
Mr Dobbs und Cap. Middleton, bei Anderson, Orig. 3, 230 ff.
Fünfundvierzigstes Kapitel: Der Zwangsliandel
683
Bei der Entdeckung des Altai gaben die Eingeborenen für die
eisernen Kessel usw. den Russen so viel Zobelfelle, wie sich liinein-
s topfen ließen. Man konnte für 10 Rub. in Eisen leicht 5 — 600 Rub.
in Pelzen bekommen: Stock, Gemälde des russischen Reichs 2, 16;
Ritter, Erdk. 2, 577, zit. bei Roscher 1, 238.
„Tarife", nach denen den Negern ihre kostbaren Erzeugnisse, wie
Elfenbein, Goldstaub usw., abgenommen wurden, bei Labat, Nouvelle
Relation de l’Afrique occidentale, namentlich Tome IV (1728), Ch. XVI ff.
„Les marchands ont la politique de les laisser (die Neger) presque
toujours dans la disette, afin de leur faire acheter plus eher ce qu’ils
leur portent.“ 1. c. p. 44.
Der Bahar Gewürznelken, der auf den Molukken 1 — 2 Duk.
kostete, wurde bereits in Malakka mit 10 — 14 Duk., in Calicut mit
50 — 60 Goldskudi bezahlt. Odoardo Barbosa bei Ramusio,
Delle navigationi 1 (1563), 323 f. Von ähnlichen Einkäufen zu Spott¬
preisen auf der Insel Gigolo erzählt Ant. Pigafetta; man erstand
einen Bahar Nelken für 10 Ellen oder 15 Ellen schlechten Zeuges;
für 35 Wassergläser usw. Viaggio di A. P. atorno il mondo, bei
Ramusio 1, 366 B.
Die holländisch-ostindische Kompagnie kaufte den Pfeffer zu IV2
bis 2 Stüber das Pfund und verkaufte ihn in Holland zu 17 Stüber;
die Portugiesen zahlten in Ostindien 3 — 5 Duk. für den Zentner Pfeffer,
für den sie in Lissabon 40 Duk. erlösten. Saalfeld, Gesch. des
portug. Kolonialwesens 1, 148. 258. 282. 290; dort finden sich noch
zahlreiche andere Preisberechnungen, die übrigens meist für das Ende
des 18. Jahrhunderts gelten. Man darf annehmen, daß die Differenzen
zwischen Einkaufs- und Verkaufspreis in den Anfängen des indischen
Handels noch viel beträchtlicher waren.
Im Jahre 1663 brachten fünf Schiffe eine Ladung nach Holland,
deren Einkaufspreis 600 000 fl., deren Verkaufspreis 2 000 000 fl. be¬
trug; 1697 eine solche für bzw. 5 und 20 Mill. fl. (Luders.)
Bei der französisch-ostindischen Kompagnie betrug 1691:
Einkaufspreis Verkaufspreis
Weiße Baumwollstoffe und Musselin .
327 000
1.
1267
000
1.
Seidenstoffe .
32 000
97
000
Pfeffer (100 000 Pfd.) .
27 000
101
600
Rohseide .
58 000
ll
111
900
Salpeter .
3 000
45
000
T)
Baumwollgarn .
9 000
n
28
500
Einige kleinere Artikel:
Insgesamt .
487 000
1 700
000
P. Kaeppelin, La Comp, des I.O. (1908), 224.
Profite
Der „Handels“profit der Welser Expedition betrug 175%. Rems
Chronik, Chr. d. St. 25, 279.
Die niederl. - ostind. Kompagnie verteilte in den 198 Jahren ihres
Bestehens durchschnittlich 1 8 °/o jährlich.
084 Fünfter Abschnitt: Die Entstehung des bürgerlichen Reichtums
In den ersten Jahren:
1610/11 (erste Auszahlung) 162%% (in Gold und Gewürzen)
1619
37% %
in
Gold
1623
25 %
n
Gewürznelken
1625
20%
5)
Gold
1626
12% %
1628
25%
n
1630
17% %
))
1632
12% %
1633
20%
1634
20 %
D
1635
12% %
Gewürznelkeu
im 17.
Jahrhundert und im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts etwa
25 °l o im Durchschnitt.
Siehe die genauen Ziffern bei G. C. Klerk de Heus, Gesckicktl.
Überblick der niederl.-ostind. Komp. (1894), Beil. VI.
Von 1605 bis 1728 betrug die:
niedrigste Dividende .
* höchste „ .
durchschnittliche Dividende
Gesamtdividende .
» .
(bei einem Grundkapital von 650 000 j£).
= 121/2°/o
= 75%
= 24%
= 2784%%
= 18 000 000 £
Dazu zu rechnen :
1. die dem Staate gezahlten Beträge (für Erneuerung des Privilegs);
2. die von den Beamten erworbenen Vermögen;
3. die bei den Anlagen für die Gesellschaft und die Produktion
erzielten Gewinne.
In Ceylon war der Gewinn der holländisch- ostindischen Kompagnie
an den Handelsartikeln , die dort eingeführt und verkauft wurden :
1764 durchschnittlich 142%, 1783 durchschnittlich 145%%; in
Suratte und Malabar wurden 1764 durchschnittlich 176 7/s gewonnen
und in Malakka 1647 durchschnittlich 52%%, 1784 durchschnittlich
40%%. H. Bokemeyer, Die Molukken (1888), 278.
Selbst bei indirektem Handel rechnet Usselincx (Anfang des
17. Jahrhunderts), daß die Holländer an den Waren, die sie über
Spanien nach W'estindien schicken, durchschnittlich 20 °/o (de een tyd
min en d’ander tyd meerder) gewinnen. Zit. bei L asp eyr es , Gesch.
der volksw. Anschauungen der Niederländer (1863), 66.
Die ersten acht Reisen der englisch- ostindischen Kompagnie sollen
171% reinen Gewinn abgeworfen haben. Rez. des Werkes Miles
Brit. Ind. in Ed. Rev. 31.
In einer Denkschrift aus dem Jahre 1733 stellt die englische Süd¬
seegesellschaft für das Schiff, das sie gemäß dem Assientovertrag nach
dem spanischen Westindien verfrachten durfte, selbst folgende Kosten-
und Gewinnrechnung auf:
Fünfundvierzigstes Kapitel: Der Zwangshandel
685
Kosten für Ankauf der Ladung . • . Sg 200 000
„ „ Löhne und Unterhaltung der Mannschaft „ 25 000
„ n Angestellte und Geschenke . . 10 000
„ „ Kommission für Super Kargos .... „ . 20 000
„ zwei Jahre Zinsen für das in der Ladung
T) )' # O
angelegte Kapital . . 16 000
Unkosten zu Hause, Anteil für dieses Geschäft . . „ 5 000
Insgesamt Kosten . äg 276 000
Erlös der Ladung - . „ 350000
Gewinn . . , . 74 000
Im direkten „Handel“ mit dem spanischen Amerika rechnete man
noch im Anfang des 18. Jahrhunderts mit Gewinnen bis zu 300 %,
während solche von „mindestens“ 100 — 200 °/o die Kegel bildeten.
Savary, Dict. de Comm. 1, 1233.
Die englische Levante Co. machte in den Anfängen des 17. Jahr¬
hunderts 300 % Gewinn. Zeugnis ihres Zeitgenossen, des Autors des
„Trade’s Increase“ (1615): „at first this company’s ordinary returns
were three to one ; and this has generally been the cäse in nearly
discovered trades.“ Anderson, Orig. 2, 225. A° 1605.
Will man die starke vermögenbildende Kraft des Zwangshandels
richtig abmessen, so muß man, wie ich schon des öfteren angedeutet
habe, neben den Dividenden der Handelsgesellschaften die oft recht
ansehnlichen Gewinne in Rücksicht ziehen, die die Beamten und
andere Private nebenbei machten. Gerade diese Gewinne waren
manchesmal der einzige Grund, weshalb nach außen hin eine Gesell¬
schaft scheinbar nicht gedieh und womöglich mit Verlusten abschloß.
Ein Beispiel dafür liefern uns die Rechnungsabschlüsse der französiscli-
ostindischcn Kompagnie.
Seit 1681 war es den französischen Kaufleuten erlaubt, auf den
Schiffen der ostindischen Kompagnie Waren auf eigene Rechnung zu
verfrachten. Während nun die Comp, des I. O. durch ihren großen
Aufwand für Kriege, wegen verlorener Schiffe usw. trotz reichlichen
Gewinns an den gehandelten Waren: von 1675 — 1684 hatte sie nach
Indien gesandt:
14 Schiffe mit . 3 400 000 1. Gold und Gütern
waren zurückgekehrt
8 Schiffe, deren Ladung gekostet hatte .... 1870000 1.
verkauft wurde zu . 4 370 000 „
doch nicht übermäßige Gewinne machte, profitierten die Privaten : sie
verfrachteten z. B. auf zwei Schiffen Waren zum Einkaufspreise von
232 000 1. und erlösten — nach Abzug der Pracht — 400 720 1.,
hatten also fast 74% Gewinn. Nach den Akten Paul Kaeppelin,
La Comp, des I. O., 142. 144.
In einer Denkschrift der englischen Südsee gesellschaft
aus dem Jahre 1733 heißt es mit Bezug auf ihren Assientohandel :
... the Companys factors and agents in America . . . got large
086 fünfter Abschnitt: Die Entstehung des bürgerlichen Reichtums
estates in a very few years, and some of them in little more than
one year, whilst the Company continued to be such great losers.“
Ganz allgemein und von beträchtlichem Umfang war der private
„Handel“ der Angestellten der englisch - ostindischen Kompagnie in
Indien. Siehe z. B. John Campbell, The Political Survey 2
(1774), 104. Über die Erpressungen der Angestellten der großen
Kompagnien, namentlich der britisch-ostindischen enthält nach zeit¬
genössischen Quellen wertvolle Angaben auch Büsch, Über die öffent¬
lichen Handlungskompagnien, in der von ihm und Ebeling heraus¬
gegebenen Handlungsbibliothek 1 (1785), 72 ff.
087
Sechsimdvierzigstes Kapitel
Die Sklavenwirtschaft in den Kolonien
Literatur
Levantekolonien. Über die Sklaverei im Mittelalter unterrichten
im Zusammenhänge Otto Langer, Sklaverei in Europa während
der letzten Jahrhunderte des Mittelalters. 1891; L. Cibrario, Deila
schiavitü e del servaggio. 2 Yol. 1868; idem, Nota sul commercio degli
schiavi a Genova nel secolo XIV, in seinen Operette varie (1860);
V. Lazari, Del traffico e delle condizioni degli schiavi in Venezia
nei tempi di mezzo in Miscellanea di storia italiana 1 (1862), 463 ff. ;
F. Zamboni, Gli Ezzelini , Dante e gli schiavi. Nuova ed. 1897;
Wattenbach, Sklavenhandel im Mittelalter, im Anzeiger für Kunde
der deutschen Vorzeit. N. F. 21 (1874), 37 f. Vgl. auch die auf
Seite 431 f. genannten Schriften.
Auch in Italien wurden während des Mittelalters und der Renaissance
Sklaven aus den Kolonien verwandt. Die Nachweise sind neuerdings
zusammengestellt bei N. Tamassia, La famiglia ital. nei sec. XV
e XVI (1910), Cap. XII. Im 13. und 14. Jahrhundert bringen die
venetianischen und genuesischen Schiffe große Ladungen Sklaven von
der Küste des Schwarzen Meeres, der Krim, aus Afrika, dem mau¬
rischen Spanien. Vgl. Livi, in der Riv. ital. di sociol. Anno XI.
fase. 4/5. Frati zählt im 13. Jahrhundert 5807 Sklaven in 403 Familien
in Bologna. Rass. naz. 1. Nov. 1907, zit. Tamassia, 359. Nach einer
Entscheidung von Bari 1127 sind die Angehörigen der slavischen Rasse
Sklaven „uire sanguinis“. Das florentinische Statut erklärt die Sklaverei
für legitim für alle Ungläubigen.
Transozeanische Kolonien. Über die gelbe Sklaverei : F. Saal-
feld, Gesch. d. holländischen Kolonialwesens in Ostindien. 1813.
H. Bokemeyer, Die Molukken. Gesch. u. quellenmäßige Darstellung
der Eroberung und Verwaltung der ostindischen Gewürzinseln durch die
Niederländer. 1888; namentlich S. 275 ff. Day, The policy and ad-
ministration of the Dutch in Java. 1904. — Über die Ausbeutung
Ostindiens durch die Engländer insbesondere unterrichten: die
Reiseberichte von Francis Buchanan, Journey f'rom Madras. ‘3 Vol.
1807. Montgomery Martin, History of Eastern India. 3 Vol. 1838;
ferner die Parlamentsberichte über Indien aus den letzten Jahrzehnten
des 18. Jahrhunderts, z. B. der neunte aus dem Jahre 1783. Neuer¬
dings ist auch die erste brauchbare , wenn auch skizzenhafte Wirt¬
schaftsgeschichte des britischen Indiens erschienen: Romesh Dutt,
The economic histoiy of India under early british rule. 3. ed. 1908.
68g Fünfter Abschnitt: Die Entstehung des bürgerlichen Reichtums
Über die rote Sklaverei: A. Helps, a. a. 0. K. Häbler,
Amerika und Geschichte Spaniens, Kap. 15. H. Handelmann, Ge¬
schichte der Insel Hayti (1856), 5 ff.; über die rote Sklaverei ins¬
besondere in den nordamer Manischen Kolonien : Bernard G. Steinei,
History of Slavery in Connecticut. 1893; John Spencer Bassett,
Slavery and Servitude in the Colony of North Carolina. 1896; Hemy
Scofield Cooley, A Study of Slavery in New Jersey. 1896.
Für die Geschichte der schwarzen Sklaverei sind wir auch auf
die älteren Werke noch immer angewiesen wie : M. Chr. Sprengel,
Vom Ursprung des Negerhandels. 1799. Alb. Hüne, Vollständige
historisch-philosophische Darstellung aller Veränderungen des Neger¬
sklavenhandels usw. 2 Bde. 1820. An Essay on the Slavery and
Commerce of the human species particulary the african. 1786 (enthält
eine Übersicht über weitere zeitgenössische Schriften). Falconbridge ,
An account of the slave trade. 1788; deutsch 1790. Th. F. Buxton,
The african slave trade. 1840; deutsch 1841. A. Moreau de Jonnes,
Recherches statistiques sur l’esclavage colonial. 1842. J. E.
Cairnes, The Slawe Power. 2. ed. 1863 (das theoretische Haupt¬
werk über Sklavenarbeit). — Unter den neueren Arbeiten ragen hei-
vor: Henry Wilson, Hist, of the rise and fall of the slave power
in America. 4. ed. 3 Vol. 1875 f. G. F. Kn ap p , Der Ursprung der
Sklaverei in den Kolonien, in Brauns Archiv Bd. II. 1889. K. Häbler,
Die Anfänge der Sklaverei in Amerika, in der Zeitsckr. f. Soz.- u.
W.G. Bd. IV. Luc. P e y t r a u d , L’esclavage aux Antilles fran^aises
avant 1789 (1897) (enthält eine erste durchgängig aus den Quellen
des Kolonialarchivs geschöpfte Gesamtdarstellung der Sklavenwirtschaft
eines Gebietes , ist daneben aber auch reich an Ausblicken auf die
Gesamtentwicklung dieser Institution). Gomer William, History
of the Liverpool Privateers with an account of the Liverpool Slave
Trade. 1897. John R. Spears, The American Slave Trade. 1901.
G. Sc eile, Histoire polit. de la traite negriere aux Indes de Castille.
Contrats et Traites d’Assiento. Vol. I. 1905.
Über die Bedeutung der weißen Sklaverei namentlich für einige
der nordamerikanischen Kolonien sind wir erst in den letzten Jahr¬
zehnten durch eine Reihe vorzüglicher Bearbeitungen gründlich unter¬
richtet worden. Die Schriften, denen wir vielen Aufschluß verdanken,
sind außer den oben genannten von Bernard C. Steiner, J. S.
Basset und Henry Scofield Cooley; J. C. Ballagh, White
servitude in the Colonie of Virginia. 1895; Eug. Irv. McCormac,
White servitude in Maryland. 1904.
Über alle drei Arten der Sklaverei in den englischen Kolo¬
nien in Nordamerika unterrichtet das Buch von A. Sartorius Frh.
von Waltershausen, Die Arbeitsverfassung der engl. Kolonien
in Nordamerika. 1894. Allumfassend aber dürftig ist das Werk von
J. K. Ingram, Gesch. der Sklaverei und der Hörigkeit ; deutsch von
L. Kätscher. 1895.
Soweit man mit den Einwohnern der Kolonie „Handel“ trieb,
ist ihre Ausbeutung schon in dem vorhergehenden Abschnitte
beclisund vierzigstes Kapitel: Die Sklaven Wirtschaft in den Kolonien ßg9
geschildert worden. Aber man wollte doch mit dem kriegerischen
Apparate, den man aufwandte, um fremde Völker zu unterwerfen,
tunlichst noch mehr erreichen als nur eine Ausbeutung der Ein¬
wohner auf dem Wege des Zwangshandels, die immer nur soweit
reichte als die freiwillige Gütererzeugung der Eingeborenen. Man
wollte diese zur Arbeit veranlassen, damit ihre Arbeitskraft voll
ausgenutzt werde, in der schon nach dem Ausspruche Colons der
ganze Reichtum der Kolonien lag. Also gelangte man dazu, die Ein¬
geborenen (oder Hinzugezogenen) zur Arbeit zu zwingen,
das heißt man gelangte zur Sklavenwirtschaft in den verschieden¬
sten Formen. Es kann nun gar nicht oft genug betont werden,
daß der bürgerliche Reichtum sowohl in den italienischen Stadt¬
staaten wie in den westeuropäischen Großstaaten vor der vollen
Entfaltung des kapitalistischen Wirtschaftssystems zu einem ganz
beträchtlichen Teile der Sklavenwirtschaft in den Kolonien seine
Entstehung verdankt. Das soll im folgenden nachzuweisen ver¬
sucht werden.
Wir werden uns zu diesem Behufs zunächst einen Überblick
verschaffen müssen über
I. Die Tatsache und die Art der Sklaverei in den
verschiedenen Kolonien
1. Sklaverei und Hörigkeit in den Levantekolonien
Was die Westeuropäer auf dem flachen Lande in den bis
dahin arabischer oder türkischer Herrschaft unterstehenden
Gebieten antrafen, war eine zu Abgaben und Leistungen ver¬
pflichtete halbhörige Bevölkerung, die in diesem Abhängigkeits¬
verhältnis seit Jahrhunderten verharrte. Die Berichte, die wir
über das Verhalten der neuen Herrscher besitzen, machen es
wahrscheinlich , daß die Lage der Bauern sich unter fränkisch¬
italienischer Herrschaft eher verschlechterte. Sie sanken vielfach
auf die Stufe der Sklaverei herab. „Ein Zug unmenschlicher
Härte geht durch die fränkischen Einrichtungen auf diesem Ge¬
biete; es wird sich kaum noch ein Beispiel anführen lassen von
einer so erbarmungslosen Geltendmachung des harten Rechtes
der Eroberung, von dem hier nicht bloß die besiegten Feinde,
sondern die Glaubensgenossen der Sieger betroffen wurden . . .
Danach wird man füglich nichts anderes annehmen können, als
daß fast die ganze ländliche Bevölkerung der von den Franken
eingenommenen Landschaften einfach in Sklaverei geriet.“
SomUart, Der moderne Kapitalismus. I.
44
090 Fünfter Abschnitt: Die Entstehung des bürgerlichen Reichtums
Prutz, Kulturgeschichte, 327. Damit übereinstimmend bemerkt
Beugnot, 1. c.: „Le servage sous les Francs ne parait avoir eu
d’autre regle que la volonte absolue, illimitee des proprietaires.“ In
160 Dörfern, die die Tempelherren in der Gegend von Safed besaßen,
finden wir nicht weniger als 11 000 Sklaven beschäftigt. Prutz, a. a. 0.
Die Formel der Beleihung war: „alle Hechte und Besitzungen an Männern,
Weibern und Kindern“ : — werden übertragen. Vgl. noch H. Prutz,
Die Besitzungen des deutschen Ordens im heiligen Lande (1877), 60.
Was aber für die Lande arabisch-türkischer Herrschaft gilt,
dürfen wir auch für die Gebiete des byzantinischen Reichs
annehmen, in denen sich die Italiener niederließen: daß sie, an
Stelle der alten Herren tretend, eine mit Abgaben und Diensten
stark belastete, meist schollenpflichtige Bauernschaft zu ihrer
Verfügung bekamen und diese sicher nicht weniger, sondern eher
mehr als ihre Vorgänger anzuspannen verstanden1.
Wo uns die Quellen eingehender über die Art der Ansied¬
lung unterrichten, wird diese Auffassung durch sie bestätigt. So
erfahren wir Genaues über die Festsetzung der Venetianer in
Kreta. Hier wurden nach dem ersten Aufstande der Kreter die
Güter der „Rebellen“ zunächst einmal systematisch „konfisziert“
und nun den venetianischen Nobili zugeteilt. Die Casalia gingen
in die Hände der venetianischen Kolonisten mit ihrem gesamten
Bestände „an Vieh und Sklaven“ über. Jeder Kolonist erhielt
als erste Kation 25 „Villani“ (also wohl Hörige) zur Bebauung
seines Landes überwiesen 2. Auf Chios waren die Paroikoi (Villani)
Leibeigene der Maona oder einzelner Maonesen. Ihre Lage -war
so gedrückt, daß viele sich durch die Flucht von der Insel zu
retten suchten3.
Welches das Rechtsverhältnis war, in dem die gewerbe¬
treibende Bevölkerung in den Städten vor Ankunft der
Italiener sich befand bzw. in welches sie später geriet, vermag
ich nicht deutlich zu sehen. Nach dem jedoch, was wir über
ihre Zusammensetzung und Organisation erfahren4, scheint mil¬
der Schluß zulässig, daß ein großer Teil in einem sklavenartigen
Verhältnis zu den herrschenden Klassen stand, mindestens aber
1 Über die mannigfach abgestuften Hörigkeitsverhältnisse im späteren
oströmischen Reiche sind wir gut unterrichtet. Daß auch die Sklaverei
während des ganzen Mittelalters im byzantinischen Reiche fortdauerte,
dürfen wir jetzt als verbürgt annehmen. Otto Langer, 8 — 10.
2 Noiret, 1. c., und dazu A. Haudecour, Introduction.
8 Art. Giustiniani, a. a. O. S. 338 ff.
4 von Kremer, Kulturgeschichte des Orients 2, 152 f.
Seclisundvierzigstes Kapitel : Die Sklavenwirtschaft iu den Kolonien ß91
zu Abgaben und Leistungen in starkem Maße verpflichtet war.
Wäre das nicht der Fall gewesen, d. h. hätte der Beherrscher
einer Stadt keine Vorteile von ihren Bürgern gezogen, so wäre
ja die Zuteilung von ganzen Stadtteilen, wie sie bekanntlich der
Regel nach stattfand, ohne allen Sinn gewesen.
Nun müssen wir aber, um das Ausbeutungsfeld, das sich den
Italienern in der Levante erschloß, in seiner vollen Ausdehnung
zu ermessen, in Betracht ziehen, daß während der ganzen Zeit
ihrer Kolonialherrschaft das Arbeitermaterial durch fortgesetzte
starke Zuführung von Sklaven unaufhörlich vermehrt wurde.
Byzantiner und namentlich Araber hatten bereits einen schwung¬
vollen Sklavenhandel getrieben. In das Kalifenreich wurden
schwarze sowohl als weiße Sklaven jährlich zu vielen Tausenden
eingeführt. Jene bezog man aus Zawyla, der damaligen Haupt¬
stadt der Landschaft Fezzan, wo ein Hauptmarkt hierfür war,
aus Ägypten oder von der afrikanischen Ostküste, „und zwar in
solchen Massen, daß mehrmals gefährliche Sklavenaufstände statt¬
fanden“ ; die weißen kamen aus Zentralasien oder aus den frän¬
kischen und griechischen Ländern1. Was wir über das Vorgehen
der Italiener wissen, läßt nun aber ohne weiteres den Schluß
zu, daß sie diese Sklavenzufuhr nicht verringerten, sondern gewiß
noch steigerten; nur mit dem Unterschiede, daß sie jetzt an Stelle
kriegsgefangener Christen kriegsgefangene Muselmänner in die
Sklaverei verführten.
Auch wenn wir nicht so viele Einzelzeugnisse über die Ver¬
wendung von Sklaven und den Handel mit ihnen aus jener Zeit
besäßen, so müßte uns der Geist der Gesetze und Verordnungen
in den Kolonialgebieten davon überzeugen, daß es sich dort
um eine Wirtschaftsverfassung handelte , die sich mehr und
mehr auf der Verwendung von Sklaven auf baute und sich
in nichts von derjenigen unterschied, die später Portugiesen,
Spanier und Holländer in ihren Kolonien einführten.
Da sind zunächst in großer Menge Kundgebungen der Regierungen
des Mutterlandes, aus denen die Sorge um die Erhaltung und Ver¬
mehrung des Sklavenbestandes hervorgeht. Prämien werden ausgesetzt,
um die Sklavenzufuhr zu heben, die gleichen Summen, die bisher dem¬
jenigen vorgeschossen waren, der sich zur Vermehrung des Pferde¬
bestandes bereit erklärt hatte: „de conducendo ad dictam nostram in-
sulam Crete majorem quantitatem sclavorum masculorum qui sint ab
annis quinquaginta infra“ gewährt die venetianische Regierung Dar-
1 von Krem er 2, 152.
41*
692 Fünfter Abschnitt: Die Entstehung des bürgerlichen Reichtums
lehen von 3000 Hyperpen (etwa 500 — 700 Duk.). Noiret, Doc.
ined. 54. Oder es werden von der Regierung selbst Sklaven und
Kriegsgefangene in die Kolonien versandt. So stieg beispielsweise die
Bevölkerungsziffer von Kreta dank solcher Einfuhr unter venetianischer
Herrschaft von 50000 auf 192725. Haudecour, 1. c. Am 15. Jan.
1447 schenkt die Regierung von Kreta dem Sudan von Babylon ein
Schiff mit 44 Sklaven, aus Erkenntlichkeit für seine Handelserleichte¬
rungen. Noiret, 416.
Da fehlen aber vor allem jene Dekrete nicht, die eine auf Sklaverei
aufgebaute Wirtschaft in so reicher Fülle notwendig macht: Straf¬
bestimmungen für den Fall des Entlaufens von Sklaven, Schutzvor¬
kehrungen gegen Sklavenaufstände usw. : „si aliqui ex hominibus quos
habebit ad suum Stipendium sive salarium pro coquendo seu
laborando dictos zucharos fugerent, possit et liceat sibi hostales
fugitivos ubique in terris et super Insula intromittere et capere et
illos ponere in manibus Rectorum nostrorum qui fugitivi tractentur et
puniantur eodem modo, quo tractantur faliti galearum.“ Noiret, 325.
Man könnte hier an „freie Lohnarbeiter“ denken. Dann wäre aber
deren Arbeit in Wirklichkeit ebenso sehr Zwangsarbeit gewesen wie
die eines gemeinen Sklaven. — Allgemeine Strafandrohung 11. März
1303: wer flüchtige Sklaven bei sich aufnimmt. Item concedatur sibi
et quinque personis apud eum licentia armorum de die et de nocte,
in omnibus terris et locis Insule Crete pro securitate personarum et
rerum suarum“ wird zugunsten eines Industriellen verfügt.
Wer die Sammlungen dieser Dekrete durchgeblättert hat, wird
gründlich von der Meinung geheilt sein, die noch heute vielfach ver¬
nommen wird: es habe sich während des Mittelalters lediglich um
eine mehr oder weniger patriarchalische Haussklaverei gehandelt. Nein;
die Sklavenwirtschaft in der Levante war um nichts „gemütlicher“ als
die spätere in Amerika und Indien.
2. Die Sklaverei in den transozeanischen Kolonien
Bei aller Mannigfaltigkeit der Formen, deren -man bei Besitz¬
ergreifung der neuen Gebiete sich bediente: die Arbeitsver¬
fassung lief auch hier überall auf Sklaverei hinaus, wenn mau
deren Kern und Wesenheit in der Zwangsarbeit erblickt. Inner¬
halb dieses -weiten Begriffes der Zwangsarbeit hat es dann frei¬
lich sehr erhebliche Abstufungen der Unfreiheit gegeben, die für
die ökonomische Wirkung aber von untergeordneter Bedeutung
waren.
a ) Die Beschaffung des Arb eit cm taten als
Das Arbeitermaterial wurde für die verschiedenen Kolonien
und auch für dieselbe Kolonie auf verschiedenem Wege beschafft:
1. die Holländer und Engländer haben in ihren indischen
Besitzungen sich während all der Jahrhunderte der dort an-
Sechsundvierzigstes Kapitel: Die Sklavenwirtschaft in den Kolonien 693
sässigen gelben Bevölkerung bedienen können: Ergebnis: dio
gelbeSklaverei;
2. die amerikanischen Kolonien sind zunächst ebenfalls von
den Eingeborenen, also den Indianern, bearbeitet worden: Er¬
gebnis: die rote Sklaverei. Man weiß aber, daß sich die rote
Rasse als ungeeignet zur Sklaverei erwies: die Indianer starben
aus, sei es weil der Druck der Arbeit, die sie zu leisten hatten,
zu schwer für sie war: >;,se mueren los pobres como animales sin
dueno,“ schreibt ein Augenzeuge, der Bruder Domingo de Santo
Tornas in einem Berichte über die Bergwerke in Potosi; sei es
weil sie aus Verzweiflung in Massen Selbstmord verübten oder
sich vom Geschlechtsverkehr enthielten. Dazu kam, daß sich
frühzeitig Menschenfreunde für sie interessierten, die bei der
spanischen Regierung eine Art „Indianerschutz“ durchzusetzen
wußten. Genug : den Anforderungen der Plantagenbesitzer ge¬
nügte auf die Dauer die einheimische Bevölkerung in den amerika¬
nischen Kolonien nicht: das fehlende Arbeitermaterial mußte
daher von außen her beschafft werden. Das ist auf zwei Wbisen
geschehen: einerseits durch Einfuhr von Negern aus Afrika:
3. die schwarze Sklaverei beginnt ihre welthistorische
Sendung x. Nicht daß sie erst aufgetreten wäre. Aber sie er¬
langt doch nun erst ihre überragende Bedeutung. Zentralamerika,
Brasilien und Westindien gaben zunächst den Schauplatz für sie
ab. Mit bewundernswerter Schnelligkeit dehnt sich die Neger¬
sklaverei in diesen Gebieten aus. 1501 bemerken wir die ersten
Einfuhren von Negern, 1510 beginnt der Handel von Lissabon
aus zur Bergwerksarbeit, zwischen 1513 und 1515 fällt der Anfang
des Zuckerrohrbaus auf den Antillen, 1530 erfolgt das Verbot der
Indianersklaverei, aber schon 1520 waren in S. Domingo die
Negersklaven so zahlreich, daß die europäischen Ansiedler mit
Zagen die Möglichkeit einer Erhebung der Schwarzen erwogen.
Ähnlich lagen zeitweise die Verhältnisse in Puerto Rico. Im
Jahre 1535 bestanden auf S. Domingo bereits 30 Zuckersiedereien.
Im August 1690 landet das erste Sklavenschiff mit 20 Neger¬
sklaven an der Küste von Virginia: seit jenem Tage beginnt die
1 Negersklaverei hat es das ganze Mittelalter hindurch gegeben;
Negerhandel wurde die längste Zeit über Land von den Mauren ge¬
trieben: Sprengel, Vom Ursprung des Negerhandels, 14 ff. ; seit
1445 treten die Portugiesen an ihre Stelle. Peschei, 68 ff. Vgl,
$uch die auf Seite 688 unter Literatur genannten Schriften,
C94 Fünfter Abschnitt: Die Entstehung des bürgerlichen Reichtums
schwarze Sklaverei in den nordamerikanisclien Kolonien sich
auszudehnen.
Zur Entfaltung der Negersklaverei haben Staat und Kirche
wesentlich beigetragen: die Kirche, weil sie durch ihre Diener
verkünden ließ, daß der Neger ein zur Sklaverei eher geeignetes
Geschöpf sei als der Indianer, dessen Seele man noch dazu vor
der Verdammnis rette, wenn man ihm in der Sklaverei die
Möglichkeit zur Bekehrung gewähre ; der Staat, wenn er zunächst
durch seine Juristen die Rechtmäßigkeit der Negersklaverei wie
folgt beweisen ließ: „porque en estos vamos con buena fe de
que ellos se venden por sa voluntad o tienen justas guerras
entre si en que cautivan unos a otros y ä estos cautivos los
venden despues ä los Portugueses, que nos los traen, que ellos
llaman Pombeiros 6 Tangomangos como lo dizen Navarro, Molina,
Rebelo, Mercado i otros Autores . . . U1 Sodann hat aber der
Staat zur Pflege der Negersklaverei auch dadurch beigetragen,
daß er sich die Heranschaffung des nötigen Materials aus Afrika
angelegen sein ließ. Der Sklavenhandel wurde zum Regal er¬
klärt und die Berechtigung, ihn auszuüben, mit der aber gleich¬
zeitig die Verpflichtung zur Lieferung einer bestimmten Menge
Neger verbunden war, gegen Erstattung einer Vergütung einer
Privatperson oder einer Gesellschaft übertragen.
Die Verträge, die solcherart zwischen der spanischen Krone und dem
Sklavenhändler abgeschlossen wurden, trugen den Namen Assiento
(span, asiento). 1517 erteilte Karl V. zum ersten Male flämischen
Schiffern das Privilegium, alljährlich 4000 Neger in Amerika einzu¬
führen, 1580 erhielten es die Genuesen, die es durch eine britische
Gesellschaft ausbeuten ließen. 1702 wird der Assiento mit der franzö¬
sischen Guinea-Kompagnie abgeschlossen, und 1713 im Frieden von
Utrecht wird durch Übereinkommen zwischen Frankreich und England
der Assiento an England abgetreten: England, das heißt die englische
Südsee-Kompagnie, verpflichtete sich, während der nächsten 30 Jahre
mindestens 144 000 Neger nach „Indien“ zu liefern: das ist eine
Verpflichtung, aber, wie gesagt, auch ein Monopol: niemand anderes
darf Neger nach „India“ liefern (art. XVIII des Vertrages, der sich
im Wortlaut z. B. bei P o s tl e th w ay t , Dict. 1, 131 f., findet). Später
wird noch ein besonderer Vertrag zwischen dem König von Spanien
und einer Gesellschaft englischer Kaufleute abgeschlossen zur Liefe¬
rung von Negern nach Buenos-Ayres : Postletliwayt 1, 134. (Der
wirkliche Sklavenhandel war, wie wir noch sehen werden, viel aus¬
gedehnter, als ihn die Assiento-Verträge vorsahen, die uns hier, wo
wir der Staatstätigkeit nachgehen, allein interessieren.)
1 Solorzano, Politica Indiana lib. 2 cap. 1, bei Helps 4, 381.
Sechsund vierzigstes Kapitel: Die Sklavenwirtschaft in den Kolonien (595
4. Der andere Weg, auf dem man zu den nötigen Arbeits¬
kräften gelangte, nachdem die Eingeborenen versagt hatten, und
der besonders von den Plantagenbesitzern in den nordamerika¬
nischen Kolonien begangen worden ist, war die Einfuhr unfreier
Ai'beiter aus Europa , die zu einem Arbeitssystem führte , das
man der Gleichförmigkeit des Ausdrucks zu Liebe als weiße
Sklaverei bezeichnen kann.
Die Zwangsarbeit weißer Arbeiter ist die Grundlage gewesen,
auf der sich die meisten nordamerikanischen Kolonien, vor allem
natürlich die Pflanzerkolonien , während des 17. und teilweise
auch noch während des 18. Jahrhunderts , als die schwarze
Sklaverei schon eine größere Verbreitung erfuhr, entwickelt
haben. Virginia hatte z. B. 1671 etwa 2000 Negersklaven
neben 6000 weißen Zwangsarbeitern; 1683 war deren Zahl auf
12 000 gestiegen, die der Neger betrug immer erst 3000.
Die „weiße Sklaverei“ entstand auf verschiedene Weise:
1. durch freiwillige Hingabe: arme Leute gewannen damit
die Möglichkeit, aus zu w andern, ohne den anfangs sehr hohen
Überfahrtspreis — im Anfang des 19. Jahrhunderts betrug er
noch 80 (£ — im Voraus zu bezahlen;
2. durch Überredung, Überlistung, auf dem Wege des sog.
Kidnapping: durch falsche Versprechungen usw. ;
3. durch Zwang. Zwangsweise wurden in die Kolonien ver¬
schickt seit den Stuarts zahlreiche Verbrecher, namentlich auch
politische Verbrecher; ebenso Kriegsgefangene.
Von den schottischen Gefangenen, die in der Schlacht von Wor-
cester gemacht werden, werden 610 im Jahre 1651 nach Virginia
geschickt; 1653 werden 100 irische Tories deportiert; 1685 eine An¬
zahl Anhänger von Monmouth; 1666 viele der Rebellen; viele der
Gefangenen von Dunbar. J. C. Ballagh, 1. c. p. 35 ; MeCormac,
1. c. p. 92 ff. Als Strafe in den Kolonien wird die Zwangsarbeit ver¬
hängt für Weglaufen, für Verheiratung mit Sklaven usw. Ballagh,
57. Dann aber ergänzten sich die weißen Zwangsarbeiter vielfach
aus Kindern und Vagabunden, die einfach für die Kolonien „bestimmt“
wurden. Me Cormac (p. 9) berichtet darüber nach guten Quellen
wie folgt: „The practice of apprenticing poor children to the Virginia
Comp, began as early as 1620. In that years, Sir Edwin Sandys
petitioned Secretary Naunton for authority to send out one hundred
children who had been ,appointed for transportation1 by the city
of London, but who were unwilling to go. By making use of the
apprenticeship Statute ofElisabeth this difficulty was
removed and both children and vagrants were regularly gath'ered
t
606 Fünfter Abschnitt: Die Entstehung des bürgerlichen Reichtums
up in London and elsewhere and contracts made with merchants for
carying them to America.“
Deutlich tritt auch hier die Unterstützung zutage, die der
Staat mit seinen Machtmitteln den Interessenten zu teil werden
ließ: ihr allein verdankten diese nicht nur die Möglichkeit. Ar¬
beiter zwangsweise beschäftigen zu können , sondern auch die
wirkliche Beschaffung des nötigen Arbeitermaterials.
Uber verwandte Methoden zur Beschaffung des Arbeiter
materials auch in Europa spreche ich im 54. Kapitel.
b) Die verschiedenen Formen der Zwangsarbeit
Ich sagte: alle europäischen Kolonien haben sich entwickelt
auf der Grundlage der Zwangsarbeit; diese aber weist in den
verschiedenen Zeiten und an den verschiedenen Orten sehr ver¬
schiedene Formen auf:
1. volle Sklaverei, mit der also das Eigentum an der
Person des Sklaven verbunden ist, war nur die Neger Sklaverei;
2. die übrigen Zwangsarbeiter haben in einer Art von
Hörigkeit gelebt:
a) die Indianer ließ man meist nur fronden. Sie mußten 8
bis 9 Monate auf dem Felde oder in den Goldwäschereien den
europäischen Gebietern sich zur Verfügung stellen und durften
während des Restes des Jahres in ihrer Heimat ihre eigenen
Felder bebauen1. Oder aber man bedang sich Lieferungen be¬
stimmter Erzeugnisse aus. Dio Encomiendas z. B., die 1499
von Colon verteilt wurden, lauteten über 10 — 20000 Matas Maniok¬
wurzeln. Der Kazike war dann verpflichtet, durch seine Leute
diese Felder bestellen zu lassen. Die Einwohner aber wagten
nicht, diesen Fronden zu entweichen, denn die Spanier spürten
den Entlaufenen nach, die, wenn nichts Schlimmeres geschah,
als Sklaven verkauft werden durften2.
b) Ein ähnliches System führten die Portugiesen in ihren
afrikanischen Kolonien ein, wo sie, wie auf S. Thomas, haupt¬
sächlich das Zuckerrohr anbauten. Schon Anfang des 16. Jahr¬
hunderts finden wir hier Plantagen mit 150 — 300 Arbeitern : „fra
1 In Ovandos Instruktion vom September 1500 beißt es: que los
Indios pagasen tributos y derechos como los demas vasallas ä sus
altezas y que serviesen en coger el oro pagandoles su trabajo,
Schumacher, a. a. O. S. 300,
8 0. Peschei, 303,
Sechsundvierzigstes Kapitel: Die Sklaven Wirtschaft in den Kolonien 997
negri et negre, liquali hanno questa obligatione, di lavorar tutta
la settimana per il patron , eccetto il sabbato che lavorano per
causa di vivere . . . “ 1 *
c) Dieses System des indirekten Arbeitszwanges bzw. der er¬
zwungenen Lieferungen ist dann unter dem Namen des Systems
van den Boschs in den holländischen Kolonien zur Berühmtheit
gelangt. Wir begegnen ihm beim Einsammeln der Gewürznägel
auf den Molukken, bei dem Kaffee- und Zuckeranbau auf Java,
bei der Zimmtgewinmmg auf Ceylon, bei der Muskatbaumzucht
auf den Bandainseln usw.
d) Ganz besonders raffiniert war das System der Ausbeutung
Indiens durch die Engländer, das heißt also im wesentlichen
durch die englisch-ostindische Kompagnie. Raffiniert deshalb,
weil — unter dem Scheine völliger Freiheit und der Anwendung-
gerechter und billiger Verwaltungsgrundsätze — das indische Volk
zweimal ausgepumpt wurde. Das „System“ war folgendes:
1. wurden drückende Abgaben unter allen möglichen Vor¬
wänden erhoben, unter denen die Landtax die wichtigste war:
diese war nicht eigentlich eine Steuer, sondern näherte sich einer
Konfiskation, sofern sie in manchen Fällen die Hälfte und mehr
des Ertrages des Bauern in die Taschen der Eroberer abführte.
Nach einer Kostenaufstellung Buchanans z. B. betrug die
Landrente auf einem Felde schlechter Bodenklasse 14/; die
Produktionskosten beliefen sich auf 19/; dem Bebauer blieben
7/8; auf einem Felde bester Bodenklasse: Landtaxe 17/; Pro¬
duktionskosten 19/; Reinertrag des Bauern | 1 s, 63A;
2. mit den Erträgnissen dieser „Steuern“ wurden nun (nach¬
dem davon alle Kosten der Kompagnie gedeckt waren) gewerb¬
liche Erzeugnisse im Lande „angekauft“ : man „legte“ diese
Beträge in Handelswaren „an“, lautete der Ausdruck: das „In¬
vestment“ hieß die also verwandte Summe. Dieser „Ankauf“
bestand nun abermals in einer Beraubung. Die gewerblichen
Produzenten, namentlich die Weber, wurden nämlich zusammen¬
gerufen, es wurde ihnen mitgeteilt, daß man so und so vie
Produkt von ihnen angefertigt zu sehen wünsche, wofür man
ihnen so und so viel zahlen werde: einen Widerspruch gegen
diese Festsetzungen gab es nicht. Für andere zu produzieren
war ihnen verboten. Daß die „Abmachungen“ von den Webern
1 Navigatione da Lisbona all’ isola di san Thome ec. bei
Ramusio, Delle navigationi ec, (3, ed. 1563), 1 1 7 A,
698 Fünfter Abschnitt: Die Entstehung des bürgerlichen Reichtums
eingehalten wurden, das heißt : daß diese eine bestimmte Menge
Fronarbeit lieferten (für einen Entgelt, wie wir noch sehen
werden, bei dem sie nicht einmal immer vor dem Verhungern
geschützt waren): dafür sorgte der von der Kompagnie bestellte
Aufseher, der mit einem spanischen Kohr (!) ausgerüstet wurde.
Das Gesetz gab dem Besteller- volle Freiheit, seine Sache zu
führen. Die Aussagen, die die Zeugen vor der Untersuchungs¬
kommission im Jahre 1813 über das Verfahren des „Investment“
gemacht haben, lassen es deutlich erkennen, daß es sich um
nackte Zwangsarbeit bei dem Ankauf der gewerblichen Erzeug¬
nisse handelte 1.
Also mit dem Gelde, das man den indischen Bauern ab¬
preßte, unterhielt man den indischen gewerblichen Hörigen.
3. daneben bestanden in Indien auch Indigo- und Teeplantagen
mit nicht verdeckter Zwangsarbeit 2.
e) Das System der Zwangsarbeit Weißer ist unter dem Namen
der „white oder intented Servitude“ bekannt geworden. Die
Zwangsarbeiter selber hießen „intented servants“. Mit diesen
Bezeichnungen ist auch schon der Charakter des Arbeitsverhält¬
nisses angedeutet: es war in der Tat eine Art Hörigkeit, m
der diese Zwangsarbeiter lebten. Sie waren zur Leistung „an¬
gemessener Dienste“ verpflichtet: sei es in den Plantagen (Tabak¬
bau !), sei es im Hause der Farmer, sei es als Handwerker, Lehrer
oder dgl. Ilire Verpflichtung erstreckte sich meist nur auf eine
bestimmte Anzahl von Jahren (sieben). Ihr Entgelt bestand in
Beköstigung und Bekleidung sowie in Lieferung bestimmter
Naturalien (später auch in Auszahlung von Geld am Ende der
Hörigkeitsdienstzeit).
H. Die Ausdehnung der Zwangsarbeit
Für die italienischen Kolonien besitzen wir keine umfassenden
Statistiken weder der Produktion noch der beschäftigten Sklaven.
Wir sind daher auf Schlüsse aus irgendwelchen beweiskräftigen
Umständen oder auf gelegentliche Berichte angewiesen. Einen
Schluß auf die Weite des Exploitationsgebietes dürfen wir aus
den Schilderungen machen, die wir von den reichen Produktions¬
gelegenheiten in der Levante besitzen.
1 Siehe die Auszüge bei Dutt, 264 f. Vgl. John Campbell,
Survey 2, 613 und öfters,
2 Dutt, 267,
Sechsundvierzigstes Kapitel: Die Sklavenwirtschaft in den Kolonien (j99
Palästina und Syrien waren unter den Segnungen der ein
halbes Jahrtausend dort heimischen Kultur der Araber zu einem
wahren Paradiese erblüht. Die Zeitgenossen der Kreuzfahrer
finden gar nicht Worte genug, um den überquellenden Reichtum
des Landes zu schildern. Und dazu ein musterhafter Anbau
ringsum. In den Gärten wuchs eine Fülle von Südfrüchten:
Zitronen, Orangen, Feigen, Mandeln, so besonders in der Um¬
gebung von Tripolis und bei Tyrus. Vielerorts wurden Wein und
Ol gewonnen; ferner baute man das Zuckerrohr und die Baum¬
wollstaude, zog man die Seidenraupe, pflanzte man Indigo und
Färberröte. Auf den Bergen aber rauschten die Zeder- und
Zypressenwälder und weideten die Herden der nomadisierenden
Araber1.
Dieselbe Fülle anf dem kleinasiatischen Festlande und
vor allem auf den Inseln d e s Ä g ä i s c h e n M e e r e s 2 , die alle
noch von Fruchtbarkeit strotzten, als die Italiener ihr Werk be¬
gannen. Perlen unter ihnen waren Zypern, Kreta und Chios,
dieses vor allem durch seine Mastixpflanzungen berühmt, aber
auch reich an Wein, Ölbäumen, Maulbeerbäumen, Feigen usw.
Während Zypern neben Salz, Wein, Baumwolle, Indigo, Laudanum-
liarz, Koloquinten, Karuben vor allem Zucker lieferte: man baute
nicht nur das Zuckerrohr in großem Stile plantagenmäßig auf
den meisten dieser Inseln an, sondern gewann auch gleich den
Zucker an Ort und Stelle. Im Gebiete von Limisso besaß die
venetianische Familie Cornaro eine ausgedehnte und ertragreiche
Zuckerplantage, welche Ghistele den rechten Stapel des Zuckers
von ganz Zypern nannte; zur Zeit, als der Italiener Casola das
Gut besichtigte (1494), waren 400 Personen daselbst mit der Be¬
reitung des Zuckers beschäftigt.
Für diese Zeit haben wir auch ein paar glaubwürdige Ziffern :
im Jahr 1489 ließ der venetianische Senat die Menge des erzeugten
1 Vgl. die Schilderungen bei Heyd, 1, 195 ff.; Prutz, 315 ff.;
Rey, 235 ff. Beugnot, 258 ff-, und A. von Kremer, Kultur¬
geschichte des Orients 2, 320 ff. Eine Zusammenstellung der Urteile
zeitgenössischer Dichter findet sich bei Emil Dreesbach, Der
Orient in der alten französischen Kreuzzugsliteratur. Bresl. Diss.
(1901), S. 24 ff. 49 ff.
2 Vgl. mit Heyd (namentlich im Anhang I) den Artikel „Giusti-
niani“ bei Ersch und Gruber. Aus der späteren Literatur: E. Gerland,
Kreta als venetianische Kolonie, im Histor. Jahrbuch 20 (1899), 1 ff.,
der hauptsächlich aus H. Noiret, Docum. inedits schöpft.
700 Fünfter Abschnitt: Die Entstehung des bürgerlichen Reichtums
Zuckers auf Zypern feststellen. Das waren 2000 Quintal (ä 250 kg)
einmal gekochter Zucker, 250 Quintal Zamburri (Abfälle) und
250 Quintal Melazzi (Melasse); im Jahre 1540 beliefen sich nach
Attar dieselben Ziffern auf 1500, 450, 850.
Was aber den italienischen Besitzungen ihren hohen Wert
verlieh, war vor allem der Umstand, daß allerorts die Bevölke¬
rung bereits einen bedeutenden Grad gewerblicher Kunstfertigkeit
besaß und daher Industrien in großem Stile betrieben
werden konnten. Unter diesen wiederum ragte die Seiden -
manufaktur hervor. Sie blühte in Antiochia, Tripolis, Tyrus.
Eine der Rezensionen, in welchen uns die Burchardsche Be¬
schreibung des heiligen Landes erhalten ist, gibt die Zahl der
Seiden- .und Kamelotweber in Tripolis auf 4000 und darüber an.
Tyrus erzeugte namentlich kostbare weiße Stoffe, die weithin
ausgeführt wurden 1. Aber auch auf fast allen Inseln fanden die
Italiener die Seidenindustrie in. Flor, namentlich auch auf Zypern2,
oder aber sie legten selbst Manufakturen an, wie in Sizilien und
Morea. Neben der Seidenindustrie betrieb man die Baum Woll¬
industrie, z. B. in Armenien3, die Glas- und Töpfer¬
industrie in Syrien4 u. a. Endlich aber lieferten die Berg¬
werke hohe Erträge, insonderheit die Alaunbergwerke, die
namentlich auf der Halbinsel von Phokäa im Gange waren. Hier
beutete mehrere Generationen hindurch das genuesische Haus
Zaccaria das Land aus. Man. Zaccaria (f 1288) hatte durch die
Alaungewinnung Reichtümer erworben, „die sich der Schätzung
entziehen“. Im Jahre 1298 wurden beispielsweise 250 Zentner
Alaun für 1800 000 (?) Lire verkauft5, während die Jahresaus¬
beute auf durchschnittlich 14 000 (?) Zentner angegeben wird 6.
Daß in den Kolonien der Portugiesen, Spanier, Franzosen,
Holländer und Engländer die Sklavenarbeit im wesentlichen in
der Plantagenwirtschaft Verwendung gefunden hat, ist bekannt:
im Osten ist es der Gewürzbau, im Westen der Zuckerrohrbau,
die zuerst die Blüte und den Reichtum der neuen Kolonien be¬
gründen; zu ihnen gesellen sich später Tabak, Kaffee, Kakao, Indigo,
Baumwolle als die wichtigsten Sklaven-Plantagenerzeugnisse.
1 Heyd 1, 197. Vgl. Rey, Col. franques, 211 ff. *
2 F. Michel, Recherches sur les etoffes de soie etc. 1 (1852), 306 ff
3 Ad. Beer 1, 188/89.
4 Heyd 1, 197.
5 Art. Giustiniani, bei Er sch und Grub er S, 310,
6 Pegolotti, 1. c. pag. 370,
Sechsundvierzigstes Kapitel: Die Sklavenwirtschaft in den Kolonien . 701
AVenn wir auch au der Hand der bisher erschlossenen Quellen,
die teilweise schon von einer tüchtigen Spezialliteratur aus¬
gebeutet sind 1 , ziemlich genau das Anwachsen der Produktion
in den Sklavenkolonien verfolgen können (so daß sich eine zu-
sammenfassende Darstellung der Kolonialwirtschaft wohl lohnen
würde), so erscheint es mir doch für die Zwecke dieser Dar¬
stellung ratsam, den Umfang der Sklavenarbeit in den modernen
Kolonien auf direktem Wege durch Ermittelung der Zahl der
Sklaven festzustellen , da hierfür brauchbare Ziffern in großer
Anzahl vorliegen und der Überblick sich leichter geben läßt als
durch eine Zusammenstellung der vielen einzelnen Produktions¬
und Handelsziffern.
Freilich läßt sich die G-esamtzahl der Sklaven in den
europäischen Kolonien erst für den Anfaug des 19. Jahrhunderts
einigermaßen genau ermitteln. Für die früheren Zeiten sind wir
auf gelegentliche Mitteilungen angewiesen. Danach dürfen wir
annehmen, daß der Höhepunkt des Sklavenbetriebes erst kurz
vor der Aufhebung der Sklaverei erreicht wurde, und daß gerade
im letzten halben Jahrhundert vor der Aufhebung die Yer-
mehrung eine besonders rasche war2.
Der Gesamtbestand aller Sklavenländer an Sklaven in den
1830 er Jahren bezifferte sich auf 6822759; davon entfielen auf:
Frankreich .
. . 275808
Großbritannien .
. . 728 805
Spanien .
. . 321182
Holland .
. . 72963
Dänemark und Schweden
. . 46 500
Brasilien .
. . 1930000
Kap d. g. H .
. . 36096
U. S. A. (1830) .
. . 2328642
5 739996
Dazu Freigelassene. . . .
. . 1 082 763
6 822 759
1 Nur darf man niemals m den Werken suchen, die ex professo
die Geschichte der Kolonien zur Darstellung bringen. Aber man ziehe
etwa zu Kate: von älteren Schriften Barläus, D’Avenant, An¬
derson, Postlethwayt, John Campbell, Buchanan, Al.
von Humboldt, Usselincx, Saalfeld; von neueren Handel¬
mann, Lippmann, Bokemeyer, Peytraud, um nur einige der
wichtigeren zu nennen.
2 Siehe die genaue Statistik in „Luxus und Kapitalismus“, 172.
702 Fünfter Abschnitt: Die Entstehung des bürgerlichen Reichtums
In den U. S. A. stieg dann die schwarze Bevölkerung bis
zur Emanzipation der Sklaven noch weiter, fast auf das Doppelte
ihres Bestandes im Jahre 1830; nämlich auf:
1840 . . . 2 873648
1850 . . . 3638808
1860 . . . 4441830
Diese Mengen schwarzer Sklaven mußten, da die Sklaven¬
bevölkerung sich auf natürlichem "Wege nicht vermehrte, durch
Zufuhren aus den Negerländern regelmäßig ergänzt werden. Das
gab Veranlassung zu einem hoch entwickelten Sklavenhandel.
Über den Umfang des Sklavenhandels bestehen eine
Menge zum Teil recht sehr voneinander abweichende Angaben.
Die bekannte Rechnung, die Buxton1 anstellt, ist folgende:
Jährlich wurden aus Afrika weggeholt
durch den christlichen Sklavenhandel rund . 400 000 Neger
durch den mohammedanischen Sklavenhandel
rund . . . 100000 „
500000 Neger
Von den 400000 Objekten des christlichen Sklavenhandels
gehen 280000 beim Fang, auf dem Transport und im ersten Jahre
zugrunde, so daß nur 120000 Sklaven schließlich zur Verfügung
bleiben. Diese Ziffer erscheint angesichts des Gesamtbedarfs an
Sklaven zu Beginn des 19. Jahrhunderts kaum zu hoch und wird
durch die in neuerer Zeit bekannt gewordenen amtlichen Ziffern
in ihrer Richtigkeit bestätigt. So erfahren wir z. B., daß in den
französischen Antillen während der Jahre 1780 — 89 durchschnitt¬
lich im Jahre 30 — 35000 Neger eingeführt worden sind. Setzen
wir die Gesamtzahl der Sklaven, die damals in den französischen
Antillen gehalten wurden, auf 240 — 260000 an, so würde die
Jahreszufuhr Vt— Vs betragen haben. Wenn aber schließlich
6 — 7 Millionen Sklaven im ganzen da waren, so erscheinen als
jährlicher Gesamtersatz 120 — 150000 Sklaven eher zu niedrig als
zu hoch.
Aber es kommt auf eine genaue ziffernmäßige Erfassung der
gehandelten Sklavenware gar nicht so sehr an. Es genügt für
unsern Zweck vollständig die Feststellung, daß es sich dabei
schließlich um viele Zehntausende im Jahre und während der
ganzen Periode, während welcher der Sklavenhandel betrieben
1 The African Slave Trade. 1840.
Sechsundvierzigstes Kapitel: Die Sklavenwirtschaft in den Kolonien 703
worden ist, um Millionen Menschen gehandelt hat, die (das ist
das einzige, was uns hier interessiert) Anlaß zu guten Geschäften
boten.
Die Nationen, die nacheinander die führende Rolle im Sklaven¬
handel gespielt haben, ohne daß darum die andern Nationen aus¬
geschlossen gewesen wären, sind die Juden1, die Venetianer2,
die Genuesen, die Portugiesen, die Franzosen und die Engländer.
Diese letzten vier Nationen sind es, die nacheinander das Monopol
des Negerhandels in ihren Händen haben. Der Anteil der ver¬
schiedenen Händlers chaften am Sklavenhandel in seiner Blütezeit
ist aus folgenden Ziffern zu ersehen.
Im Jahre 17G9 wurden von der Küste Afrikas (vom Kap Blanco
bis zum Kongo-Flusse) Neger fortgeholt von3:
Großbritannien . 53100
Frankreich . 23520
Holland . 11300
Britisch- Amerika . 6 300
Portugal . 1700
Dänemark . 1 200
Zweifellos war Großbritannien während des ganzen 18. Jahr¬
hunderts, also in der wichtigsten Epoche, der Mittelpunkt des
Sklavenhandels, und in Großbritannien selbst war der Mittelpunkt
wiederum Liverpool: von 192 englischen Sklavenschiffen liefen
im Jahre 1771 aus: von Liverpool 107, von London 58, von
Bristol 23, von Lancaster 4.
LH. Die Rentabilität der Sklaven wirts chaft
Daß so viele Menschen als Sklaven Verwendung fanden, ist
nun natürlich noch kein Beweis dafür, daß hier für die Sklaven¬
händler und Sklavenhalter eine Quelle der Bereicherung geflossen
sei. Es ist sogar oft genug von hervorragenden Männern der
Nachweis zu führen versucht worden4, daß die Sklavenarbeit
1 Schipper, Anfänge d. Kapit. bei den Juden (1907), 19 ff.;
Caro, Soz.- u. W.G. d. J. 1, 137 ff. Vgl. noch Heyd 2, 542 ff.
2 Belegstellen bei R. Heynen, Zur Entst. d. Kapit. in Venedig
(1905), 32 ff.
3 Anderson, Orig. 4, 130 (nach einem „französischen Autor“).
4 Zuletzt wieder von A. L oria, Die Sklavenwirtschaft im modernen
Amerika und im europäischen Altertume, in der Zeitschr. f. Soz.- u.
W.G. 4, 67 ff., wo die Ansichten des Verfassers am ausführlichsten
vorgetragen sind. Vgl. damit seine Schrift: II capitalismo e la
704 Fünfter Abschnitt: Die Entstehung des bürgerlichen Reichtums
unproduktiv, somit unrentabel sei, daß die Sklaverei eine „Be¬
grenzung des Profits“ bedeute und. diesen auf eine ganz niedrige
Stufe zu bringen die Tendenz habe. Woraus sich dann mit Not¬
wendigkeit die Folge ergeben müßte, daß die Europäer während
der langen Jahrhunderte so viele Millionen von Menschenleben
im Grunde nutzlos geopfert haben, d. h. ohne den Zweck zu
erreichen, mit hohen Profiten ihr Vermögen anzuschwellen.
Einer solchen Auffassung gegenüber erscheint es nicht über¬
flüssig, die Rentabilität der Sklavenarbeit als Tatsache nachzu¬
weisen.
Zunächst ist selbständig für sich zu würdigen
1. Der Sklavenhandel
Daß dieser min ein sehr einträgliches Geschäft zu allen Zeiten
gewesen ist, daran darf nicht gezweifelt werden. Das wußte
man schon im Mittelalter sehr genau. Daher vor allem das
heiße Bemühen der Venetianer und Genuesen, am Schwarzen
Meer Fuß zu fassen, die Byzantiner zu verdrängen, um die
dort gelegenen Sklavenmärkte völlig zu beherrschen. Und viel
mehr als der Verlust des Levantehandels hat insbesondere Venedig
die Abdrängung von dem einträglichen Sklavenhandel nach
Ägypten geschädigt, wie sie sich als notwendige Folge der Er¬
oberung der kleinasiatischen Gebiete durch die Türken einstellte.
Wie hoch der Betrieb des Negersklavenhandels gewertet wurde,
ist bekannt: England, als ihm im Utrechter Frieden (1713) das
Recht der Sklaveneinfuhr in die spanischen Kolonien zugesprochen
wurde, betrachtete die Errungenschaft als eine der bedeutendsten,
die ihm der Utrechter Vertrag gebracht hatte* 1.
Die Gründe für die Einträglichkeit des Sklavenhandels
sind aber nicht schwer festzustellen. Die menschliche Arbeitskraft,
mit der hier „Handel“ getrieben wird, ist eine „AVare“, bei deren
Einkauf zunächst einmal jede Beziehung zu ihren Produktions¬
kosten aufgehoben ist. Die Preise für Sklaven können beliebig-
niedrig festgesetzt werden, sie sind stets irrationale und hängen
lediglich ab von der größeren oder geringeren Gewalt oder List,
scienza (1901), insbes. pag. 218 seg. Die beiden besten theoretischen
Erörterungen des ökonomischen Problems der Sklavenarbeit finden sich
bei J. E. Cairnes, The Slave Power. 2. ed. 1863, und bei Ad.
AVagner, Grundlegung. 3. Aufl. (1894), 2. Teil, S. 43 ff., insbes.
S. 60 ff.
1 C. Grünberg, Art. „Unfreiheit“ im H.St. 6, 334.
Sechsundvierzigstes Kapitel: Die Sklavenwirtschaft in den Kolonien 705
über die der Händler verfügt. Es bandelt sich meist um reinen
Zwangsbandel : in den Anfängen des modernen Sklavenbandeis
waren Hum, Pulver, Stoffe usw. die Gegengabe. Wo die Sklaven
überhaupt nicht gekauft, sondern geraubt werden, tritt diese
Sachlage am deutlichsten zutage. Der Sklavenraub wird aber
seit etwa 1750 die Hegel1.
Bei der Eigenart der Ware „Menschenkraft“, sich durch eigene
Arbeit bezahlt zu machen, können dann andererseits verhältnis¬
mäßig viel höhere Preise für sie als für irgendeine andere Ware
seitens ihres Erwerbers bezahlt werden. Ziehen wir endlich in
Betracht, daß der Sklavenhandel auch dort, wo er nicht eines
rechtlichen Monopols genoß (was während der längsten Zeit
seines Bestehens der Fall war), doch dank seiner ganzen Eigen¬
art einen gewissen exklusiven Charakter trägt, so werden wir
begreifen, wie es möglich war, daß hier jahrhundertelang mit
ungeheuren Extraprofiten „Handel“ getrieben werden konnte, daß
der Sklavenhandel tatsächlich der am meisten lohnende „ Handels “-
zweig gewesen ist, den es jemals gegeben hat.
Die Höhe der Profite, die jahrhundertelang im Sklavenhandel
gemacht worden sind , können wir nun aber auf Grund zahlen¬
mäßiger Überlieferungen auch empirisch genau feststellen. Dabei
müssen wir ganz absehen von den Gewinnen, die im Anfang der
Negersklaverei, als die Häuptlinge ihren eigenen Nutzen noch
gar nicht zu wahren verstanden, erzielt wurden. Kaufte man
doch anfangs, zumal im Innern von Guinea, einen jungen, wohl¬
gewachsenen und gesunden Mann für ein Stück Leinwand im
Werte von 3Mitkals2, für einen Anker Branntwein ; gaben doch
damals die Negerfürsten für ein Pferd 10—15 Menschen als Gegen¬
wert hin.
1 Die beste Darstellung des Sklavenhandels ist jetzt John H.
Spears, The American Slave Trade. 1901. Die Hauptquelle für
das Ende des 18. Jahrhunderts, die leider fast gar keine ziffern¬
mäßigen Angaben enthält, ist die in den Jahren 1790 und 1791 vom
englischen Unterhause veranstaltete Enquete. Die Ergebnisse sind
zusammengefaßt in An abstract of the evidence delivered before a
select Committee of the house of commons in the years 1790 and 1791
on the part of the petitioners for the abolition of the Slave Trade. 1791.
2 Nach dem Berichte des Valentin Ferdinand über Arguim:
F. Kunstmann, Die Handelsverbindungen der Portugiesen mit
Timbuktu, in den Abh. der III. Klasse der K. bayr. Akad. der Wiss.
Bd. VI 1. Abt. S. 179.
Sombart, Der moderne Kapitalismus. I.
45
70G Fünfter Abschnitt: Die Entstehung des bürgerlichen Reichtums
Reisebericht des Mess. Alvise de la da Mosto (1454), bei
Ramusio Delle navigationi (1563), 99 Rückseite. Freilich standen
damals auch die Preise für fertige Neger noch viel niedriger als im
17. und namentlich 18. Jahrhundert. Bis Ende des 18. Jahrhunderts
hatten sich die Verkaufspreise versieben- bis verachtfacht. Peytraud,
127. Einen Tarif aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts will ich noch
mitteilen. Die Kgl. französische Senegal-Gesellschaft hatte mit dem
Häuptling Damel folgende „Äquivalente“ für einen Sklaven vereinbart :
4 Flinten mit 5 Steinen oder 6 Flinten mit 3 Steinen oder 30 Kupfer¬
becken oder 9 Unzen Korallen oder 2 Trommeln oder 100 Pfd. gelben
Wachs oder 4 Ellen rotes Tuch oder 30 Ellen groben Wollstoff (revecke)
oder 100 Pinten Branntwein oder 4 seidene Schürzen oder 30 Barren
(= 15 Ztr.) Eisen oder 4 Pfd. Gewürznelken oder 15 Rollen Tapete
oder 100 Pfd. Blei oder 1000 Flintensteine oder 20 Pfd. Pfeffer oder
4 Pfd. Spica celtica oder 100 Stück Leinwand (toiles platilles?) oder
4 Stück indische Leinwand. Savary, Dict. 1, 1046.
Aber auch für die spätere Zeit haben wir genug Zeugnisse
dafür, daß der Profit im Negerhandel kaum je weniger als 50%,
meist viel mehr, in der letzten Zeit bis 180 und 200% betrug.
Einige Zahlenbelege für die Einträglichkeit des Sklavenhandels
Ein Bericht des Commandant Directeur et Inspecteur general de
Guinee, Mr. Courbe , vom 26. März 1693 enthält folgende Ziffern:
800 Sklaven werden für 29 200 livres eingekauft und für 240 000 livres
verkauft. Er fügt hinzu: „au Senegal on traite communement
200 captifs qui ne coütent pas plus de 30 livres la piece et sont
vendus aux iles 300 livres au moins.“ Peytraud, 99 — 103.
Die französischen Sklavenhändler sollen (nach Berechnungen, die
auf Grund der spanischen Ausfuhrregister angestellt sind) 204 Mill.
Piaster nach Frankreich gebracht haben (NB. schon bis Mitte des
18. Jahrhunderts!). Postlethwayt 1, 134.
Aus dem Liverpooler Handel: das Schiff .Lottery’ hat 460 Neger
an Bord, verkauft davon 453 für gg 22 726, davon sind abzuziehen
gg 2 307 10 s. für Schiffsausrüstung, gg 8326 14 s. für den Trans¬
port; Reingewinn der Reise: gg 12 091.
.Lottery’ betrug
ein andermal
gg 19021
Enterprise'1
mit
392 Sklaven
„ 24430
.Fortune’
n
343 „
„ 9 487
.Louisa’
n
326
„ 19133
.Bloom’
u
308
„ 8123
Im Jahre 1786 verkaufen die Liverpooler Sklavenhändler 31690
Sklaven für gg 1 282 690 netto. Der Preis der nach Afrika eingeführten
Waren beziffert sich auf gg 864 895, der Unterhalt der Sklaven auf
gg 15 845. Die Ausgaben für „Fracht“, an der aber ebenfalls verdient
wird, betragen gg 103 488. So daß ein Reingewinn in diesem Jahre
von gg 298 462 in die Taschen der Sklavenhändler fließen würde.
Dabei ist aber zu berücksichtigen , daß bei dieser Rechnung Höchst-
Sechsundvierzigstes Kapitel: Die Sklavenwirtschaft in den Kolonien 707
betrage für die Ausgaben , Mindestbeträge für die Einnahmen an¬
genommen sind. Immerhin würde auch bei diesem Reingewinn auf
jeden der 100 — 120 Schiffseigner eine Jahreseinnahme von 2500 bis
3000 SS entfallen. William, Liverpool Slave Trade.
Nach einer andern Aufstellung erfahren wir folgende Zahlenangaben :
im Jahre 1771 wurden insgesamt 47 146 Neger aus Afrika ausgeführt,
davon 29 250 von Liverpooler Händlern. Der Gewinn, der an ihnen
gemacht wurde, bezifferte sich nach vorsichtiger Schätzung, „according
to moderate Computation“ , auf IV2 Mill. SSt der übrige Gewinn bei
diesem Handel auf Vs Mill. £. John Campbell, Political Survey
2, 633.
Mit diesen Ziffern stimmen fast vollständig überein die Angaben,
die Nemnich, Reise nach England (1800), 337, ohne Quellenvermerk
macht: 1783 — 1793 wurden 303 737 Sklaven von den Liverpoolern
verhandelt. Bei diesem Handel wurden verdient 15 186850 ■£.
Jeder Sklavenhändler würde also durchschnittlich in diesem Jahrzehnt
ein Vermögen von etwa 3 Mill. Mk. erworben haben.
Ganz außerordentliche Gewinne wurden aber im Sklavenhandel erst
erzielt, als er für Seeraub erklärt worden und also zum Schmuggel¬
handel geworden war.
Aus der Geschichte des englischen Sklavenhandels sind uns amtlich
für diese Zeit folgende Kostenberechnungen überliefert. Das Schiff
cFirm’ (1838) brachte laut gerichtlicher Feststellung eine Gesamt¬
einnahme von 145 000 Dollar-, die Gesamtausgabe für Einkauf, Pro¬
visionen, Munition, Löhnung usw. betrug 52 000 Dollar, der Gewinn
also 180 °/o. Ein Schiff (Venus5 ladet 850 Sklaven, die ihm 3400 SS
beim Einkauf kosten, die Spesen bis zum Ankunftshafen belaufen sich
auf 2500 der Verkaufserlös erreicht die enorme Höhe von 42 500 SS-
Pari. Pap. Nr. 381 p. 37, bei Buxton, 222 f. Ähnliche Fälle sind
uns zu Dutzenden bekannt. Es ist unnütz, die Beispiele zu häufen,
um einzusehen, welche Bedeutung der Sklavenhandel für die Vermögens¬
bildung in den Seestädten der europäischen Staaten besessen hat.
Ein sehr lehrreicher, vollständiger Rechnungsauszug für ein Sklaven¬
handelsgeschäft findet sich in der Autobiographie des Kapitäns Theo¬
dore Canot, „Twenty Years of an Af'rican Slaver“ (p. 101). Er
erweist, daß man mit einem Schiffe, das $ 3700 kostet, und einem
Gesamtkapital von $ 21 000 in sechs Monaten einen Reingewinn von
$ 41438.54 erzielen konnte.
Auch in dem Handel mit „weißen Sklaven“ (oder Hörigen), der,
wie wir sahen, in den nordamerikanischen Kolonien lange Zeit eine
große Bedeutung gehabt hat, sind reiche Gewinne gemacht worden.
Schiffsführer, Kaufleute, Agenten usw. warben eine Anzahl solcher
Dienstlinge (intended servants) an und verkauften die Kontrakte
meistbietend an die Plantagenbesitzer in den Kolonien. Ein Servant
konnte für 6—8 SS befördert und für 40 — 60 SS drüben verkauft
werden. J. C. Ballagh, White servitude in the Col. of Virginia,
34. 38. 41. Genauere Angaben macht E. Irving Mc Cormac, White
servitude in Maryland, 42, nach Cal. St. Pap. Col. Sept. 28. 1670.
45*
^08 Fünfter Abschnitt: Die Entstehung des bürgerlichen Reichtums
2. Die Sklavenarbeit
Es kann nun aber ebensowenig zweifelhaft sein, daß auch
die Produktion mit Sklaven oder sonstwie zwangsweise heran¬
gezogenen Arbeitern — ich will vorsichtig sein und nicht sagen :
rentabel ist, sondern: Jahrhunderte hindurch rentabel ge¬
wesen ist. Damit soll dem Gedanken Ausdruck gegeben
werden: daß es von bestimmten äußeren Umständen abhängt,
ob die Sklavenarbeit rentabel ist, und daß diese Umstände
während der letzten Jahrhunderte dazu angetan waren, sie
rentabel zu machen.
Die Bedingungen für ihre Rentabilität scheinen aber vor¬
nehmlich folgende zu sein:
1. Plantagenbetrieb, wie er in den europäischen
Kolonien, die hier in Frage kommen, tatsächlich geherrscht hat:
auf die Erfüllung dieser Bedingung legt Cairnes den größten
Nachdruck;
2. eine gewisse Höhe der Pr o duktenpr eise. Erst wenn
diese durch Beschäftigung billigerer freier Arbeiter gedrückt
werden können, liefert die Sklavenarbeit keinen „Mehrwert“ mehr.
Diese Senkung der Produktenpreise tritt aber erst spät ein: that
is, whenever the demand for labourers is abondantly supplied h
3. Raubbau an der Menschenkraft, das heißt ein Auf¬
wand für die Pflege des Körpers, der hinter dem physiologischen
Existenzminimum zurückbleibt. Die Sklaven sind physisch ver¬
braucht, nicht nur g e braucht worden. Es wurde zuletzt üblich,
den Sklaven in seinem besten Mannesalter tot zu arbeiten, um
ihn nicht als älteren Mann ernähren zu müssen. Daß die Sklaven¬
bevölkerung sich physiologisch nicht reproduzierte, ist bekannt.
Daher die ungeheuren Opfer an Menschenleben, das ungeheure
Verschwenden von Menschenkraft, das wir als die Begleit¬
erscheinung der Kolonialwirtschaft kennen.
Bekannt ist vor allem das rascke Verlöschen der roten
Rasse unter dem Drucke der europäischen Herrschaft, ein Ver¬
löschen, wie Pesch el treffend bemerkt, „welches dem Verdrängen
von Tiergeschlechtern in der geologischen Zeit ziemlich nahe kommt“.
Als die Spanier auf die Bahamainseln kamen , fanden sie sie dicht
bevölkert. Als 1629 die Engländer sich auf New-Providence nieder¬
ließen, waren keine Eingeborenen mehr da. 1503 siedelten die ersten
1 Merivale, Lect. on Col. 1, 297/98; wo auch die später so oft
aufgestellte Theorie vom Einfluß des Aufhörens der terra libera auf
die Gestaltung des Arbeitslohns schon voll entwickelt ist.
Secksundvierzigstes Kapitel: Die Sklavenwirtschaft in den Kolonien 709
Spanier sich auf Jamaika an, und schon 1558 waren sämtliche Indianer
verschwunden. K. Andree, Geogr. des Welthandels 2 (1872), 705.
706. Espanola hatte 1508 (bei der Eroberung) 60 000 Ureinwohner,
1548 nur noch 500. Auf Kuba war 1548 die einheimische Bevölkerung
bereits erloschen. Peschei, 546 f. Peru hatte 1575 (also fast
schon ein halbes Jahrhundert nach der Eroberung) immer noch ca.
1500 000 Einwohner; 1793 nur noch 600 000. A. v. Humboldt,
Nouv. Esp. 1 2, 298/99. Über die dichte Besiedelung Perus spricht
auch K. Häbler, Amerika, in Helmolts Weltgeschichte 1 (1899),
310. 312. Ebenso ist in Mexiko die Bevölkerung zusammengeschmolzen.
Die W aisen der in den Bergwerken zugrunde gegangenen Männer und
Frauen sind nach wenigen Jahren so zahlreich „wie die Sterne am
Himmel und der Sand am Meere“: Quiroga an den Rat von Indien
Col. de Munoz. Ms. t. 79, bei Helps 3, 208. Brief Frai Geronimo
de San Miguel aus Santa Fe 20. August 1550: „para poblar 50 casas
de Espanoles se despueblan 500 de Indios“ Col. de Munoz. Ms. t. 85.
„Daremos por cuenta muy eierte y verdadera, que son muertos en los
dichos quarenta anos por las dichas tiranias, e infernales obras de los
Christianos, injusta y tiranicamente, mas de doze cuentos de animas
hombres y mugeres y ninos y en verdad que creo sin pensar en-
ganarme, que son mas de quinze cuentos.“ Las Casas, Destruycion
de las Indias p. 5.
Aber auch die gelbe Rasse hat gewaltige Opfer an Menschen¬
leben erfahren müssen. Banjuwangi, eine Provinz von Java, zählte
1750 noch über 80 000 Einwohner, 1811 nur noch 8000. Th. Stam-
ford Raffles, Java and its dependencies (1817), zit. bei Marx,
Kapital 1 4, 717. Genaue Ziffern über die Verminderung der Bevölke¬
rung sind nicht zu geben; daß sie vorhanden ist, ist eine von niemand
geleugnete Tatsache. Ein so besonnener Schriftsteller und vorzüglicher
Kenner des Gegenstandes wie Bokemeyer faßt sein Urteil dahin zu¬
sammen: „Die Abnahme der Bevölkerung (auf den Gewürzinseln), die
von Geschlecht zu Geschlecht sich ausbreitenden Mißgestaltungen und
Hautkrankheiten unter den Insulanern sind das nicht mißzuverkennende
Merkmal der jahrhundertelangen Bedrängungen und Leiden, welche als
ein Fluch auf diesen schönen Landen ruhten“ (a. a. O. S. 293 f.).
Das alles aber verschwindet gegenüber den Hekatomben von
Negern, die der Kolonialwirtschaft geopfert sind : man darf getrost
sagen, daß ein ganzer dichtbevölkerter Erdteil ausgeraubt worden ist,
um der Plantagenwirtschaft das notwendige (und seiner Überfülle wegen
billige) Arbeitermaterial zu schaffen.
4. Raubbau an der Natur. Auch diese Bedingung ist in
weitem Umfange in den europäischen Kolonien, namentlich den
lange Zeit wichtigsten: in den Zuckerkolonien erfüllt gewesen:
Aussaugung der Bodenkräfte, Ausräubung der natürlichen Schätze
an Tieren und Pflanzen sind die regelmäßigen Begleiterschei-
-nungen der Kolonialwirtschaft seit dem Mittelalter bis in die
letzte Zeit hinein gewesen,
710 Fünfter Abschnitt: Die Entstehung des bürgerlichen Reichtums
Das gilt für die Milteimeerländer nicht minder als für fast alle
Kolonialgebiete der neuen Zeit. Raubbau war das Losungswort
hier wie dort. Wir haben gesehen, welchen Garten die Pranken be¬
traten, als sie in Syrien und Palästina landeten, wo heute die Einöde
ist; wir hörten von der Fruchtbarkeit der Inseln im Mittelmeer, wie
Zypern, wo heute mehr als die Hälfte des Landes als Wüstenei ge¬
schildert wird. Unger und Kotschy, Die Insel Zypern (1865),
426 ff. Als Hans Ulrich Krafft im Jahre 1573 — zwei Jahre
nach dem Ende der venetianischen Herrschaft — die Insel bereiste,
fand er sie schon verödet. Denkwürdigkeiten Kraffts (1862), 81 ff.
Zypressenwälder auf der Insel Kreta, die der Axt der Venetianer
zum Opfer fielen. Haudecour, Introduction.
Dasselbe Bild der Verödung in den transozeanischen Kolonien der
neueren Zeit. In Westindien war die Zuckerkultur so erschöpfend,
daß bald fast alle besseren Ländereien unbrauchbar wurden. Meri-
vale, Lectures on colonization and colonies 1, 41 ff. 75 ff. Dasselbe
wird aus den Provinzen Minas (Uruguay) und Bahia (Brasilien) berichtet.
J. v. Liebig, Chem. Briefe. 6. Aufl. (1878), 423; dasselbe für die
Baumwollkultur von den Sklavenstaaten der U. S.A. : C airnes, Slave
Power, 56 seq.
Überall fielen die herrlichen Wälder den europäischen Unternehmern
zum Opfer. Bereits im Jahre 1548 war in der Nähe von S. Domingo
die Landschaft so sehr von Wald entblößt, daß man Holz aus einer
Entfernung von 12 Meilen zuführen mußte. Peschei, Zeitalter der
Entdeckungen, 559. Über Entwaldungen auf Cura9ao durch die Spanier
siehe Friedemann, Niederländisch-Ostindien (1860), 262. Wald¬
devastation in Mexiko: A. von Humboldt, Essai 1 283. Hierher
gehört auch die systematische Ausrottung mancher Pflanzen, nament¬
lich der Nelkenwälder, wie sie die Holländer, um ihr Handelsmonopol
zu sichern, auf den Molukken Vornahmen. H. Bokemeyer, 117 ff.
179 ff.
Ein Schulbeispiel für die Raubwirtschaft bietet die Tätigkeit der
holländisch-ostindischen Kompagnie. Bokemeyer, 275.
Daß die den ostindischen Bauern von den Engländern ab¬
gepreßte Abgabe so hoch war , daß sie den Landwirtschaftsbetrieb
schädigte, die notwendigen Aufwendungen verhinderte und schließlich
die Bevölkerung dem Hungertode preisgab, wird von allen Bericht¬
erstattern bestätigt. Siehe die Zeugnisse bei Buchanan und vgl.
Dutt, z. B. p. 224. 231. 244 und öfters.
Daß nun aber die Sklavenwirtschaft, wenn diese Bedingungen
erfüllt sind, in der Tat recht gewinnbringend sein kann und also
durch die Jahrhunderte hindurch gewesen ist: dafür besitzen
wir hinreichend beweiskräftige Zeugnisse, von denen ich einige
hier zur Bekräftigung des Gesagten mitteilen will, *
Sechsundvierzigstes Kapitel: Die Sklaven Wirtschaft in den Kolonien 711
Einige Zalilenhelege für die Einträglichkeit der Sklavenarbeit
1. Neger Sklaverei
Gegen 1700 wird auf den französischen Antillen eine Plantage
nach Labat auf 350 — 400000 Frcs. geschätzt, die 90000 Pres. Ertrag
liefert, also etwa 25%. Labat, Nouv. Yoyage aux isles d’Amerique.
1742. Nach einer andern Berechnung ergibt sich folgendes Gewinn-
und Verlustkonto für eine Zuckerplantage (Ende des 18. Jahrhunderts),
deren Wert mit Ländereien, Gebäuden und 220 Sklaven, einbegriffen
Weiber und Kinder, auf 35 000 £ veranschlagt wurde:
Produktionsertrag: 500 Fässer Zucker ä 20 gj . . 10 000 ■£
Rum und Sirup . 800 „
10 800 £
Produktionskosten: Unterhaltungskosten der Gebäude,
Sklaven usw . 1 200 <£
Ankäufe von 12 neuen Negern . . 600 „
1800 £
Gesamtertrag danach . 9-000 „
was auch wieder fast genau einer Profitrate von 25% entspricht.
Hüne, Darstellung aller Veränderungen des Sklavenhandels. 1820.
Eine andere größere Zuckerplantage auf Cuba braucht (Ende des
18. Jahrhunderts):
650 ha Land
300 Neger ä 4 — 500 Piaster
2 000 000 Frcs. Anlagekapital.
Jahresproduktion: 400 000 Arroben Zucker
= 550 000 Frcs. Wert.
Reingewinn = 300 — 350 000 Frcs. = 15 — 17 %,
da der aus der Melasse dargestellte Alkohol zur Deckung der täglichen
Unkosten zu genügen pflegt. Humboldt, Nouv. Esp. 3, 179.
Im allgemeinen rechnete man den Gewinn, den ein Sklave im Jahre
abwarf, in Zucker- und Kaffeeplantagen auf 30, in Baumwollpflanzungen
auf 25, bei Reis auf 20, bei Tabak und Getreide auf 15 jg. Bereits
die ersten zwei Jahre pflegten den Ankaufspreis des Sklaven zurück¬
zuzahlen, dann aber blieb natürlich ein beträchtlicher Überschuß über
die Unterhaltskosten, die sehr niedrige waren. Labat berechnete
sie für eine Plantage mit 120 Negern auf 6610 livres , d. h. also
55 livres pro Kopf und Jahr; Schoelcher rechnet 100 livres p. a.
Zu ähnlichen Ergebnissen kommen von Spix und von Martius,
Reise in Brasilien; zit. bei F. Nebenius, Über die Natur und die
Ursachen des öffentlichen Kredits usw. 2. Aufl. 1829. S. 58 Anm.
Nebenius selbst macht dazu einige gute Bemerkungen.
Für den Anfang des 19. Jahrhunderts veranschlagt ein sachkundiger
Beurteiler die Durchschnittsprofite bei Zuckerplantagen auf 10%, bei
Baumwollplantagen auf 12—15%, bei Kaffeeplantagen auf 15—20%.
712 Fünfter Abschnitt: Die Entstehung des bürgerlichen Reichtums
Alles Vermögen, fügt er hinzu, strebt deshalb in die
Kolonien. G. J. Ouvrard, Memoirs. 4. ed. 1827. 1, 6.
Für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts und für die U. S.A.
urteilt ein früherer Sklavenhalter wie folgt: „Negro slaverjr was pro¬
fitable in producing rice, cotton and turpentine. One good hand could
thus make in rice from $ 300 to $ 400 a year above his expences
and in turpentine he could make, as much as $ 1000 a year,“ bei
John Spencer Basset, Slavery in the State of North Carolina, 86.
2. Produktionserzwingung in den holländischen Kolonien
Das holländisch-indische System bestand, wie wir wissen, darin,
die Eingeborenen zur Lieferung bestimmter Produktionsmengen zu
verpflichten, die ihnen zu einem Taxpreise abgekauft wurden; diese
waren dann so berechnet, daß der Verkaufspreis immer etwa 100 bis
150 °/o höher stand: z..B. im Jahrfe 1762 berechnet der Gouverneur
von Javas Ostküste, Nicolaas Hasting, den
Einkaufspreis der Kontingente auf . 82 223.6 Ktlr.
Verkaufspreis „ „ . . 215 874.8 „
G. C. Klerk de Reus, Geschichtl. Überblick der ... niederl.-ostind.
Komp. (1894), 213.
Um jedoch die Eingeborenen, die z. B. den Kaffee zu 10 Stüber
das Pfund gern abgaben, nicht übermütig werden zu lassen, wurde
1724 bestimmt, daß 1U des Preises in Kleidchen entrichtet würde;
bi. 228. Damals verkaufte sie den Kaffee in Gamron (Persien) zu
1 fl. 14 St., zu Bassalor zu 1 fl. 11 St. das Pfund; ib.
3. Ausbeutung Britisch-Ost Indiens
Es würde genügen, auf die Profite der englisch-ostindischen Kom¬
pagnie zu verweisen, um die Einträglichkeit des englischen Erpressungs¬
systems darzutun. Wir besitzen aber auch Ziffern, aus denen wir die
absolute Höhe des erzielten Gewinnes, der gar nicht vollständig in
den Dividenden der Kompagnie zum Ausdruck kommt, deutlich er¬
sehen können. So betrug der Tribut, den man von den Bewohnern
der Provinz Bengalen in den sechs Jahren von 1765—1771 erhob:
£ 20 133 579 ; davon wurde ein Teil dem Großmogul und dem Nabob
überwiesen, ein anderer Teil blieb in den Taschen der Gesellschafts¬
beamten, die die Eintreibung besorgten, zurück (charges of collection,
salaries, Commission etc.), so daß in die Kassen der Kompagnie rund
£ 13 066 761 flössen. Davon lebten nun zunächst wieder die Zivil¬
verwaltung und die Armee der Kompagnie, die £ 9 027 609 verzehrten.
Verblieb ein Überschuß von £ 4 037152. Fourth Report . . . on the
administration of Justice in India 1773 p, 335, bei Dutt, 46. Diese
4 Mill. £ waren der Betrag, der zum „investment“, das heißt dazu
diente, die gewerblichen Produzenten zur Fronarbeit heranzuziehen.
Die den Zwangsarbeitern bezahlten Summen waren, wie ich schon
sagte, ganz geringfügig und genügten wohl selbst in Indien nicht, um
die Bevölkerung zu erhalten, die vielmehr entweder sich einen Unter¬
halt nebenbei in der Landwirtschaft erwarb oder — wegstarb. Was
Sechsundvierzigstes Kapitel: Die Sklavenwirtschaft in den Kolonien 713
uns Buchanan von „Arbeitslöhnen“ mitteilt, erscheint kaum glaub¬
lich: 40, 50, 60, 70, höchstens 80 Schilling im Jahr. So daß die
Gütermenge, die für die 4 Mill. £ hergestellt wurde, eine ganz be¬
trächtliche war, die natürlich in Europa zum Vielfachen des „Her¬
stellungspreises“ verkauft wurde. Ein Autor meinte: zum anderthalb¬
fachen Betrage, was sehr niedrig erscheint. Immerhin: das wären
10 Mill. 200 Mill. Mk., für die kein Pfennig bezahlt war,
die man vielmehr — „without sending an ounce of Silver from hence",
wie stolz John Campbell, Pol. Survey 2, 613, meint — einfach
den Eingeborenen „wegnahm“. „The whole exported produce of the
countiy, so far as the Company is concerned, is not exchanged
in the course of harter, but it is t a k e n a w a y without any
return or payment whatever.“ Select Committees. Ninth Report
1783, p. 55; ib. p. 69.
4. Weiße Z w a 11 g s a r b e i t in den U. S. A.
Der Servant produzierte nach Aussage eines Zeitgenossen (Ende
17. Jahrhunderts) 2500 — 3000 Pfd. Tabak im Durchschnitt der Jahre:
McCormac, 33, und kostete 12 — 15 (außer der Beköstigung).
Noch Mitte des 18. Jahrhunderts schreibt Governor Sharpe: „the
Plantar’s Fortune here consist in the number of their Servants . . .
much as the Estates of an English Farmer do in the Multitude of
Cattle.“ Mc Cormac, 35. Freie Arbeiter sind nicht zu bezahlen.
Ein Pflanzer muß zwei Ochsen verkaufen, um seinen Arbeiter zu be¬
zahlen, und entläßt ihn, weil er nicht weiß, wie ihn weiter bezahlen.
Der Arbeiter: er möge mehr Vieh verkaufen; der Pflanzer: but how
shall I do when all my cattle are gone? The servant: you shall
than serve me and so you may have your cattle again. McCormac,
1. c. Nach Winthrop, Hist, of New England 2, 219. 220.
Die sachkundigsten Bearbeiter jener Epochen der amerikanischen
Kolonialwirtschaft stimmen darin überein: daß die White servitude
eine äußerst einträgliche Arbeitsform gewesen ist. Cormac, 111 ff.
Ballagh, 89 ff.
Angesichts so vieler Zeugnisse dürfen wir wohl an der ver-
mogenbildenden Kraft der Sklavenwirtschaft nicht zweifeln. Zu
allem Überfluß wissen wir genug von dem sprichwörtlichen
Reichtum der Pflanzer, den ich nur durch zwei beliebig heraus¬
gegriffene Aussagen von Zeitgenossen belegen will.
Ein Zeitgenosse des holländischen Krieges, Bruder Manoel
de Salvador, berichtet von dem Luxus der Pflanzeraristokratie
in Brasilien am Ausgang des 16., Anfang des 17. Jahrhunderts:
„Wer nicht von Silber aß, galt für arm; die Frauen hielten
Kleider von Seide und Atlas für zu gering, wenn nicht die
reichste Stickerei hinzukam, und schmückten sich mit so vielen
Juwelen, als ob es Edelsteine geregnet hätte; die Männer ihrer¬
seits folgten jeder neuen Mode, prunkten mit kostbaren Dolchen
714 Fünfter Abschnitt: Die Entstehung des bürgerlichen Reichtums
und Degen; keiner der köstlichen Leckerbissen Portugals oder
der Inseln durfte auf ihrer Tafel fehlen. Kurz, Pernambuco
glich kaum einem irdischen Lande, soweit Reichtum und Ver¬
schwendung es dazu machen konnten, schien es ein Bild des
Paradieses.“ 1
Und der immer klar blickende und wohlunterrichtete D e f o e
schreibt im Anfang des 18. Jahrhunderts: „We see now the
ordinary planters of Jamaica and Barbados rise to immense
estates, riding in their coaches and six, especially in Jamaica,
with 20 or 30 negroes on foot running before there whenever
they please to appear in publick.“ 2
1 Zit. bei Handel mann, Geschichte von Brasilien (1840), 344.
2 Defoe (1727), 316. Vgl. noch George Louis Beer, The
old colonial System (1660 — 1754). 2 Vol. 1912, wo viel neues und
interessantes Material verarbeitet ist. Über die rasche Zunahme des
Reichtums der Pflanzer in Barbados siehe z. B. 2, 9.
715
Siebenundvierzigstes Kapitel
Die Vermögensbildung im Rahmen der
kapitalistischen Wirtschaft
An verschiedenen Stellen sind wir der Vermögensbildung aus
Unterneh m erpr ofit begegnet. Im allgemeinen jedoch war dieser
Abschnitt dazu, bestimmt, zu zeigen, daß der bürgerliche Reich¬
tum zu einem sehr großen , wenn nicht zum größten Teile
außerhalb des kapitalistischen Rahmens erwächst, neben der
kapitalistischen Wirtschaft entsteht, so daß er für diese
eine „Grundlage“, eine „Vorbedingung“ bildet. Es
versteht sich nun aber wohl von selbst, daß von dem ersten An¬
beginn kapitalistisch betriebenen Handels und kapitalistischer
Produktion der Profit auch als Quelle der Vermögensbildung
dient. Um das grundsätzlich festzustellen, bedarf es weder
großen Scharfsinns noch übermäßig ausgedehnten historischen
Wissens. Ich würde es auch nicht erst ausdrücklich erwähnt
haben, wenn nicht einige Kritiker der ersten Auflage diese
Kategorie der Vermögensbildung (oder wie es damals irrtümlich
hieß : der Kapitalbildung) vermißt und ihr Pehlen getadelt hätten.
Also um ihretwillen wird die Trivialität hier festgestellt.
Wie der Kapitalprofit sich bildet, habe ich an anderer Stelle
bereits schematisch dargestellt (siehe das 19. Kapitel). Wir wissen
danach :
1. daß aller Kapitalprofit entsteht durch das vertragsmäßige
Zusammenwirken zwischen den Kapitalbesitzern und den gegen
bestimmten Entgelt für sie tätigen, freien Nur- Arbeiter ;
2. daß also aller Kapitalprofit in dem Überschuß des Verkaufs¬
preises über die dem Arbeiter gezahlten Beträge oder, wenn
man beide auf den gleichen Nenner des in ihnen verkörperten
Arbeitsaufwandes oder „Arbeitswertes“ bringen will, auf dem
„Mehrwert“ beruht, den der Unternehmer über den im Arbeits¬
lohn verkörperten „Wert“ im Produktenpreise erzielt. Diese
Feststellung, die Marx so viel Kopfzerbrechen gemacht hat, ist,
wie schon Lexis ausgeführt hat, eine Tautologie und schließt
716 Fünfter Abschnitt: Die Entstehung des bürgerlichen Reichtums
natürlich auf der andern Seite nicht aus, daß der im Arbeitslohn
verkörperte Güterbetrag größer ist, als der vom vereinzelten
Arbeiter erzeugte Güterbetrag sein würde. Ob er wirklich größer
oder kleiner ist, ist eine empirisch zu ermittelnde und von Fall
zu Fall sich verschieden gestaltende Tatsache. Der grundsätzliche
Streit um die „Produktivität des Kapitals“ ist ein müßiger;
3. wissen wir, daß die Höhe des Profits von zahlreichen Um¬
ständen bestimmt wird, die ich ebenfalls bereits auf Seite 324 ff.
schematisch zusammengefaßt habe und deren empirisch-historische
Feststellung eine der Hauptaufgaben dieses Werkes ist.
Hinzufügen will ich nur noch, daß die Profite der kapita¬
listischen Unternehmungen in der frühkapitalistischen Epoche
wahrscheinlich sehr hoch gewesen sind , angesichts einerseits
des Monopolcharakters, den Handel und Produktion noch viel¬
fach trugen (siehe den 2. und 6. Abschnitt); andererseits der
niedrigen Löhne, die sich mit Notwendigkeit aus der all¬
gemeinen Wirtschaftslage ergaben, und um deren Niedrighaltung
die öffentlichen Körper außerdem besorgt waren (siehe den
7. Abschnitt).
Welchen Umfang die Vermögensbildung aus Profit
angenommen habe, läßt sich natürlich nicht feststellen, zumal wir
selbst im Falle des einzelnen Unternehmers nicht wissen, ob
er seinen Reichtum in seinem Geschäft oder außerhalb dieses
gewonnen habe: wir lernten verschiedene Fälle kennen, die be¬
wiesen, daß noch im 18. Jahrhundert beispielsweise die Geld¬
leihe eine ganz übliche Nebenbeschäftigung industrieller Unter¬
nehmer war.
Immerhin werden wir die quantitative Bedeutung dieser
Reichtumsquelle einigermaßen in den Geschmack und in das
Gefühl bekommen, wenn wir die Fortschritte verfolgen, die der
Kapitalismus im Güterumsatz und in der Güterproduktion
während der frühkapitalistischen Epoche gemacht hat. Das ge¬
schieht im 2. Bande dieses Werkes, auf den hier verwiesen
werden muß.
717
Sechster Abschnitt
Die Neugestaltung des Güterbedarfs
Übersicht
Wer die Entwicklungsgeschichte des Frühkapitalismus mit
Aufmerksamkeit verfolgt, wird den Einfluß, den die Neugestaltung
des Güterbedarfs auf den Handel und die Produktion ausübt,
natürlich auf allen Seiten wahrnehmen. Er wird aber, wenn er
die Einzelerscheinungen zu ordnen unternimmt und diejenigen
Stellen genauer festzuhalten sich bemüht, an denen dieser Ein¬
fluß sich besonders fühlbar macht, immer wieder dazu kommen,
eine Anzahl Konsumentengruppen vor den andern herauszuheben
und als diejenigen zu bezeichnen, die durch die Neugestaltung
ihres Bedarfs recht eigentlich die Umbildung der wirtschaftlichen
Organisation, soweit der Güterabsatz dabei von Bedeutung ge¬
wordenist, bewirkt haben. Diese revolutionären Gruppen
sind folgende:
1. die Reichen;
2. die Armeen ;
3. die Schiffsbauer ;
4. die Großstädter;
5. die Bewohner der Kolonien.
Von diesen fünf Gruppen habe ich die ersten drei in ihrer
Wirksamkeit als Konsumbildner bereits an anderer Stelle verfolgt.
Meine beiden -„Studien“ : „Luxus und Kapitalismus“ und „Krieg
und Kapitalismus“ haben es sich gerade zur Aufgabe gemacht, den
überragend großen Einfluß aufzudecken, den die Lebensführung
der Reichen und der wachsende Bedarf der Heere (einschließlich
der Flotten) auf die Neugestaltung des Güterbedarfs in einer
der Entstehung des Kapitalismus förderlichen Richtung ausgeübt
haben. Ich könnte den Leser auf diese Untersuchungen ver¬
waisen und hier auf eine Behandlung dieser Probleme ganz ver¬
zichten. Dadurch würde aber in dem Aiifbau dieses Werkes
eine empfindliche Lücke entstehen, weshalb ich es für notwendig
erachte, wenigstens in kurzer Zusammenfassung die Ergebnisse
718 Sechster Abschnitt: Die Neugestaltung des Güterbedarts
hier zu wiederholen, zu denen ich in den genannten Büchern
gelangt hin. Sie bildet den Inhalt der Kapitel 48 bis 5(X.
Diese Wiederholung wird auch dadurch gerechtfertigt, daß
ich an verschiedenen Stellen die früheren Ausführungen be¬
richtigt und namentlich ergänzt habe. Das 50. Kapitel gewinnt
dem Stoffe noch insbesondere dadurch neue Seiten ab, daß ich
den Bedarf des Schiffbaus auf denjenigen der Handelsmarine
ausgedehnt habe.
Die Neugestaltung, die der Güterbedarf durch die Großstädte
und die Kolonien erfahren hat, bringe ich dagegen hier in dem
51. und 52. Kapitel zum ersten Male zur Darstellung.
* *
*
Zum besseren Verständnis der diesem Werke zugrunde
liegenden Systematik bemerke ich noch ausdrücklich, daß
ich in diesem Abschnitt nur das Problem der Bedarfsgestaltung,
noch nicht das der Marktbildung behandele. Diese beiden Problem¬
komplexe sind, wie nicht weiter ausgeführt zu werden braucht,
zwar verwandt, aber keineswegs dieselben : sie stellen nicht sich
deckende, sondern sich schneidende Problemkreise dar. Während
einerseits die Bedarfsgestaltung noch unter anderm Gesichts¬
punkte als dem ihrer Bedeutung für die Marktbildung (z. B. in
ihrem Verhältnis zur Kapitalbildung) gewürdigt werden muß, ist
andererseits die Marktbildung noch von andern Umständen ab¬
hängig als von der Bedarfsgestaltung, die für sie vielmehr nur
als eine von mehreren Vorbedingungen erscheint. Deshalb handele
ich hier, wo ich die allgemeinen Grundlagen des modernen
Kapitalismus bespreche, das Kapitel von der Bedarfsgestaltung
ab, während ich die Marktbildung, die einen notwendigen Be¬
standteil der eigentlichen Wirtschaftsorganisation bildet, dort
erörtere, wo ich das Wirtschaftsleben im Zeitalter des Früh¬
kapitalismus systematisch zur Darstellung bringe, das ist im
2. Bande»
719
Achtundvierzigstes Kapitel
Der Luxusbedarf
I. Begriff und Ursprung des Luxus
Luxus ist jeder Aufwand, der über das Notwendige hinaus-
geht. Der Begriff ist offenbar ein Relationsbegriff, der erst einen
greifbaren Inhalt bekommt, wenn man weiß, was „das Not¬
wendige“ sei. Um dieses festzustellen’, gibt es zwei Möglich¬
keiten: man kann es subjektiv in einem Werturteile (ethischer,
ästhetischer oder welcher Art immer) verankern h Oder man
kann einen irgendwelchen objektiven Maßstab ausfindig zu
machen suchen, an dem man es ausmessen kann. Als solcher
bietet sich entweder die physiologische Notdurft des Menschen
oder das dar, was man die Kulturnotdurft nennen kann. Jene
ist nur je nach den Klimaten, diese je nach der historischen
Epoche verschieden. Man hat es in der Hand, die Grenze der
Kultumotdurft oder des Kulturnotwendigen beliebig zu ziehen
(wird aber gebeten, diesen Willkürakt nicht mit der oben er¬
wähnten Wertung zu verwechseln).
Luxus hat dann aber einen doppelten Sinn: er kann quanti¬
tativ oder qualitativ ausgerichtet sein.
Luxus in quantitativem Sinne ist gleichbedeutend mit „Ver¬
geudung“ von Gütern: wenn man hundert Dienstboten hält, wo
einer „genügt“, oder wenn man drei Schwefelhölzer auf einmal
ansteckt, um sich die Zigarre anzuzünden. Luxus in qualitativem
Sinne heißt Verwendung besserer Güter, heißt Feinbedarf. Luxus
in quantitativem und Luxus in qualitativem Sinne können sich
vereinigen (und sind in Wirklichkeit meist vereinigt).
Verfeinerung ist alle Zurichtung der Güter, die für die
notdürftige Zweckerfüllung überflüssig ist. Die Verfeinerung
kann grundsätzlich in zwei Richtungen sich betätigen: in der
Richtung des Stoffes oder der Form.
Faßt man die Verfeinerung in absolutem Sinne, so gehört
1 Das geschieht meistens. Siehe jetzt wieder die Festrede von
Anton Koch, Wesen und Wertung des Luxus. 1914.
720 Sechster Abschnitt: Die Neugestaltung des Güterbedarfs
die große Mehrzahl aller unserer Gebrauchsgüter zu den ver¬
feinerten Gütern: denn fast alle befriedigen mehr als die (ani¬
malische) Notdurft. Man wird deshalb auch von einem Fein¬
bedarf in einem relativen Sinne sprechen müssen, indem man
die bei einem gegebenen Stande der Güterkultur über das Durch¬
schnittsmaß hinausgehende Verfeinerung erst als Verfeinerung
im engeren Verstände bezeichnet. Den solchermaßen enger um¬
schriebenen Feinbedarf nennen wir dann wohl Luxusbedarf; die
Güter, die zu seiner Deckung dienen, Luxusgüter im engeren
Sinne.
Luxus in dem Sinne von Feinbedarf und seiner Befriedigung
dient sehr verschiedenen Zwecken und kann deshalb auch sehr
verschiedenen Beweggründen sein Dasein verdanken: ob ich
Gott einen goldgeschmückten Altar weihe oder mir ein seidenes
Hemd kaufe: beide Male treibe ich Luxus, aber man empfindet
alsogleich, daß diese beiden Akte weltenverschieden sind. Man
kann vielleicht jene Weihe einen idealistischen oder auch
altruistischen Luxus, diese Anschaffung einen materialistischen
oder auch egoistischen Luxus nennen, indem man damit Be¬
stimmung und Beweggrund gleichermaßen unterscheidet.
Beide Arten des Luxus sehen wir in unserer Epoche sich
entwickeln. Aber weit mächtiger entfaltet sich gerade in dieser
Zeitspanne zwischen Giotto und Tiepolo, die wir als die Zeit
des Frühkapitalismus kennen, der Strom des materialistischen
Luxus. Seine Quellen liegen vor allem in der Entwicklung,
die das Staatsleben nimmt einerseits: sofern eine notwendige
Begleiterscheinung des absoluten Fürstenstaates der Fürstenhof
ist dieser, wie wir alsobald sehen werden, fruchtbarste Nähr¬
boden eines verschwenderischen Luxus; in der Entfaltung des
Deich tu ms und der Anhäufung großer Privatvermögen sowie in
der Großstadtbildung andererseits.
II. Die Fürstenhöfe als Mittelpunkte der Luxus¬
entfaltung
* Eine wichtige Folgeerscheinung und dann auch wieder eine
entscheidende Ursache der Wandlungen, die die Staats Verfassung
und das Heerwesen am Ausgange des Mittelalters durchmachen,
ist die Entstehung größerer Fürstenhöfe in dem Sinne, den wir
dem Worte heute unterlegen.
Vorgänger und Vorbilder der späteren Entwicklung sind auch
hier, wie auf so vielen Gebieten, die Kirchenfürsten gewesen.
Achtundvierzigstes Kapitel: Der Luxusbedarf 721
Vielleicht war Avignon der erste „moderne“ Hof, weil hier zu-
* erst die beiden Gruppen von Personen dauernd sich zusammen¬
fanden und den Ton angaben, die in den folgenden Jahrhunderten
das bildeten, was man die Hofgesellschaft nannte : Edelleute ohne
einen andern Beruf, als den Interessen des Hofes zu dienen, und
schöne Frauen, „souvent distinguees par les manieres et l’esprit“,
die recht eigentlich dem Leben und Treiben ihr Gepräge auf¬
drückten. Die Bedeutung der Avignoneser Episode lag vor allem
darin, daß sich hier zum ersten Male um das Oberhaupt der
Kirche die geistlichen Grand Seigneurs fast ganz Europas ver¬
sammelten und ihren Glanz entfalteten, wie uns das Johann XXII.
in dem Dekret Etsi deceat anschaulich vor Augen geführt hat1.
An die hellbelichtete Avignoner Epoche reiht sich in unserer
Vorstellung unmittelbar an die Glanzzeit des Papsttums in Rom
unter der Herrschaft der großen Renaissancepäpste von Paul II.
bis Leo X., die, je einer den andern überbietend, ein Leben voller
Glut und Glimmer entfalten.
Mit den Höfen der Päpste wetteiferten die der übrigen Fürsten
Italiens. Begreiflicherweise entwickelten sich gerade in Italien
die Grundzüge dieses Lebens am frühesten , weil hier die Be¬
dingungen am frühesten erfüllt waren: Niedergang des Ritter¬
tums, „Verstadtlichung“ des Adels, Ausbildung des absoluten
Staates, "Wiedergeburt der Künste und Wissenschaften, gesell¬
schaftliche Talente, größerer Reichtum usw. 2
Aber für die Geschichte des Hofwesens von entscheidender
Bedeutung wurde doch die Herausbildung eines modernen Hofes
in dem so viel größeren und mächtigeren Frankreich , das ja
dann seit dem Ende des 16. und während der beiden folgenden
Jahrhunderte der unbestrittene Lehrmeister in allen Angelegen¬
heiten wurde, die das höfische Leben betrafen.
Für die Geschichte des höfischen Luxus (ebenso wie für die
Geschichte der Höfe überhaupt) wurde die Tatsache bedeutsam,
daß die französischen Könige die Erbschaft der italienischen
Fürsten auch in allem antraten , was Lebensauffassung und
Lebensführung betraf: Katharine von Medici war die Mittlerin,
1 Das Nähere siehe in meinem „Luxue und Kap.“, S. 177 ff.
2 Über den Luxus, der an diesen Höfen damals getrieben wurde,
unterrichtet das Tagebuch, das Andre de la Yigne, der Sekretär
Annas von Bretagne, auf der Reise mit Karl VIII. durch Italien auf¬
gezeichnet hat: Le Vergier d’Honneur. Einige Auszüge bei Roscoe,
Life of Leo X. (1806) 1, 238 f. und App. XXIX.
Sombart, Der moderne Kapitalismus, I, 4G
722 Sechster Abschnitt: Die Neugestaltung des Güterbedarfs
nachdem schon vor ihr das Haus der Valois in Karl VIII. und
Ludwig XII. seine starke Hinneigung zur italienischen Kultur ^
in seiner ganzen Politik, wie man weiß, betätigt hatte.
Mit dem Eintritt des französischen Hofes in die Geschichte
— das ist das Entscheidende — wuchsen die äußeren Möglich¬
keiten einer Luxusentfaltung in dem Verhältnisse, wie Frankreich
größer war als die italienischen Fürstentümer. Die letzten Valois
verausgabten für ihren Haushalt doch schon erheblich mehr als
selbst die reicheren Staaten Italiens an öffentlichen Gesamt¬
einnahmen hatten h
Im Jahre 1512 belief sich (nach dem Bericht des Matteo Dandolo
bei Alberi 4, 42/43) die Gesamtausgabe des Königs von Frankreich
auf 5 788 000 1. (das Livre turn, hat 1541—1560 den Metallwert von
3,34 Frcs. heut. Währung. Davon sind Luxusausgaben: 2 995 000 L.
Von Heinrich IV. ab steigen die Ausgaben Jahr für Jahr: in
der letzten Regierungszeit Ludwigs XIV. erreicht die Entwick¬
lung ihren Gipfel. Die Etats für die Jahre von 1(580 bis 1715
zeigen annähernd dasselbe Bild. Ich greife beliebig ein Jahr
(1685) heraus1 2. In ihm wurden rund 20 Mill. Frcs. für die
persönlichen, das heißt überwiegend Luxusausgaben des Königs
verwandt, bei einem Gesamtetat (Brutto) von 100 640257 L.
Was für Riesensummen unter solchen Umständen den Luxus¬
gewerben zuflossen, tritt noch deutlicher in die Erscheinung,
wenn man einzelne Ausgaben für sich betrachtet.
Obenan steht natürlich der Bauluxus.
Insgesamt wurden für die königlichen Bauten während der Regie¬
rungszeit Ludwigs XIV. ausgegeben: *
198 957 579 1. 14 s. 11 d.
(Das sind, da in dieser Zeit das Livre turn, zwischen 1,22 und 1,63
stand, rund 300 Mill. Frcs. heutiger Währung.)
J. Guiffrey, Comptes des bätiments du roi sous le regne de
Louis XIV. 5 Vol. 1881 — 1896, in der Collect. deDoc. inedits. IID Serie.
Wie sich die Ausgaben auf die einzelnen Posten verteilen, können
wir aus den Zusammenstellungen entnehmen, die der Herausgeber in
dankenswerter Weise gemacht hat.
Von der Gesamtsumme wurden z. B. verwandt:
für Ankäufe in den Manufakturen und von
Händlern . 1 730 206 1. 10 s. 2 d.
Ankäufe in der Manuf. des Gobelins
(Möbel) . . . f . 4 041068 „ 2 „ 7 „
große Silberschmuckstücke .... 2 245 289 „ 14 „ 10 „
Ankauf von Marmor, Blei und Zinn. 3 790 446 „ 16 „ 2 „
1 Siehe die Ziffern oben Seite 605 f.
2 (Forbonnais) Recherches (1758) 2, 101.
Achtundvierzigst.es Kapitel: Der Luxusbedarf
723
Die eigentlichen Bauarbeiten sind für die erste Epoche (1664 bis
1680) im einzelnen in der Gesamtsumme angegeben und weisen für die
Schlösser Versailles, Louvre und Tuilerien, St. Germain, Fontainebleau,
incennes , Trianon, Clagry und Marly den Betrag atoii insgesamt
43 537 491 1. 16 s. 6 d. auf.
Welcher Reichtum und welche Pracht in den Möbeln
der königlichen Schlösser zur Entfaltung’ kamen , ersehen wir
jetzt aus den Veröffentlichungen der Inventars, die auch mit
Abbildungen reichlich geschmückt sind. Eine Auszählung ergibt
beispielsweise, daß allein an vollständigen großen gewebten Wand-
behängen (tentures completes) 334 in den Schlössern Ludwigs XIV.
vorhanden waren, die aus 2G00 Teppichen und 140 Einzelstücken
bestanden, daß aus den Manufactures des Gobelins 822 Stücke
oder 101 Wandbehänge (tenture) dorthin geliefert waren.
Einige Aufträge aus dem Jahre 1669 zeigen den Luxus, der in
Möbelstoffen getrieben wurde 1 :
An die Herren Duc & Marsollier, Kaufleute, für
64 Ellen Gold- und Silberbrokat, zu 138 1.
10 s. die Elle, und für 44 Ellen Gold- und
Silberbrokat, ponceau und grün, die Elle zu
133 1. 5 s., die sie Sr. Majestät geliefert haben
An dieselben für Brokate aus Lyon . . . .
An dieselben 7070 1., nämlich: 4090 1. für
62 Ellen Gold- und Silberbrokat, violetter
Fond, lyoneser Fabrikat, zu 66 1. die Elle,
und 2979 1. 10 s. für 259 Ellen karmoisin-
roten Damast, touroneser Fabrikat, die Eile
zu 11 1. 10 s.
An Herrn Reynon für Gold- und Silberbrokat .
An Herrn Marcelin Charlier für Samte und
Brokatelle .
16 545 1. 5
22155 „
s.
70 716 1. 18 s. 11 d.
5 572,, 5 „
Den Einrichtungen der Schlösser entsprach der Glanz der
Gewänder, die in diesen zur Schau getragen wurden. Man
lese die Schilderungen der Feste im „Mercure galante“, wo ein
L. P. des 17. Jahrhunderts jede einzelne Toilette der Hofgesell¬
schaft ausführlich beschreibt! Ludwig selbst trug ein Gewand,
das für 14 Mill. Eres. Brillanten enthielt.
Als Ludwig eines Tages die in Paris angelegte Spitzen¬
manufaktur besichtigte, kaufte er für 22 000 1. Spitzen ein2.
1 J. Guiffrey, Comptes des bätiments 1. c. Vgl. noch J. Guiffrey,
Inventaire general du mobilier de la couronne sous Louis XIV (1663
bis 1715). 5 Vol. 1885.
2 Diar. Europ. c. 24. Okt. 1666, bei Ranke, Franz. Gesch. 33, 214.
724 Sechster Abschnitt: Die Neugestaltung des Güterbedarfs
Der Kleiderluxus am französischen Hofe steigerte sich während
des 18. Jahrhunderts unausgesetzt weiter und erreichte einige
Jahre vor der Revolution seinen Höhepunkt. Wir sind genau
unterrichtet über den Kleideretat der Marie Antoinette 1 :
Im Jahre 1773 betrug das Garderobengeld der damaligen Kron¬
prinzessin 120 000 1. Diese Summe blieb wohl auch später gleichsam
das Ordinarium, das aber Jahr für Jahr durch größere Summen über¬
schritten wurde. Die Ausgabe für Toiletten beträgt:
1780 . 194118 1. 17 s.
1781 . 151290 „ 3 „
1782 . 199 509 „ 4 „
1787 . 217 187 „ — „
Von da ab gehen die Ausgaben zurück.
Es ist kein Zufall , sondern , wie ich das in meiner Studie
„Luxus und Kapitalismus“ glaube nachgewiesen zu haben, eine
mit Notwendigkeit aus der Eigenart der gesamten Gestaltung
der frühkapitalistischen Gesellschaftskultur sich ergebende Selbst¬
verständlichkeit, daß die Luxus entfaltung des AncienRegime ihren
Höhepunkt erreicht in dem verschwenderischen Leben der großen
Königsmaitressen. Geradezu eine repräsentative Bedeutung für
ihre Zeit hat Mme de Pompadour besessen. Sie wird mit ihrem Ge¬
schmack zur Beherrscherin der gesamten Lebensgestaltung: „Nous
ne vivons plus que par Mme de P. Carosses ä la P., habits en
drap couleur ä la P., ragoüts ä la P., cheminees, miroirs, tables,
sophas, chaises ä la P. , eventails, etuis, curedents ä la P.“
schreibt ein Zeitgenosse. Ihre Luxusausgaben aber erreichen
Ziffern, wie sie nie vorher bekannt gewesen waren. Sie gibt in
den 19 Jahren ihrer Herrschaft für ihre persönlichen Bedürfnisse
nachweislich 36 327 268 1. aus 2.
Der Marquise de Pompadour steht die Comtesse Du Barry
nicht nach. Nach der gewissenhaften Berechnung Le Rois ver¬
zehrt sie seit dem Augenblicke ihres Emporstiegs im wesentlichen
zur Befriedigung eines exzentrischen Luxusbedarfs 12481804 1.
11 d. Davon entfallen 6 427 803 1. 11 d. auf die Zahlungs¬
anweisungen, die sie während der Jahre ihrer Herrschaft (1769
bis 1774) für den Bankier Baujon ausschreibt.
1 Arck. nat. O 1, 3792 — 94, mitgeteilt in dem sehr lehrreichen
Buche von Emile Langlade, La marchande de modes de Marie
Antoinette Rose Bertin (s. a.), 29. 122.
2 Etat des depenses de Mme la Marquise de Pompadour du 9 sept.
1745 au 15 avr. 1769 jour de sa mort, publ. par M. Luc. Leroy,
zit. bei Baudrillart 4, 327.
Achtundvierzigstes Kapitel: Der Luxusbedarf
725
Die Originalrechnungen finden sich unter den Mss. der National¬
bibliothek Suppl. fraiiQ. 8157, 8158. Sie sind in der Hauptsache ver¬
öffentlicht von den Goncourts im Anhang zu ihrem Buche über
die Du Barry. Siehe die Auszüge, die ich daraus gemacht habe, in
Luxus und Kapitalismus Seite 89 ff.
* *
*
Eine kurze Zeitspanne hindurch hat der Glanz am spanischen
Hofe vielleicht den der französischen Hofhaltung in den Schatten
gestellt : sagen wir von der Erschließung der Silberminen Potosis
und Guanaxuatos an bis in die Regierungszeit Philipps IY. hinein
war Madrid der Schauplatz einer unerhörten Prachtentfaltung,
und der spanische Stil wurde , wie man weiß , seitdem vielfach
zum herrschenden. Die Einnahmen, auf denen diese pompöse
Lebensgestaltung ruhte, waren noch unter Philipp III. bedeutend.
Nach den Schätzungen des venetianischen Gesandten Tomaso
Contarinis betrugen sie 16 Mill. Duk. (also etwa 150 Mill. Pres.).
Die Richtigkeit dieser Schätzung wird bestätigt durch die Er¬
gebnisse einer Untersuchung, die Heinrich IY. anstellen ließ (um
die Hilfsquellen seines Gegners zu erforschen) ; diese ergab eine
(Netto -)Einn ahme von 15 658000 Duk., während etwa noch 5 Milk
bei den Yizekönigen, Steuereinnehmern usw. hängen blieben.
Freilich: ein recht erheblicher Teil dieser Summe diente zur
Verzinsung der Staatsschuld (die aber natürlich auch im wesent¬
lichen der Luxus entfaltung zugute kam, wie wir noch sehen
werden). So daß nach einer Aufstellung des Grafen Lerma vom
Jahre 1610 nur 4487 350 Duk. zur Verfügung des Königs blieben,
von denen nicht ganz eine Million für die Hofhaltung verwandt
wurde k
* *
*
Hinter Frankreich und Spanien folgt (in Westeuropa) un¬
mittelbar England. Hier bildet den Höhepunkt des höfischen
Glanzes die Regierungszeit der Stuarts, die ja in den franzö-
sichen Königen ihr Vorbild sahen. Wir haben einen Abglanz
von der Pracht des Hofes unter diesen Fürsten in den Bildern
Van Dyks, Peter Lelys, Huysmans, die uns die geckenhaften
Männer und die schönen, stolzen Frauen in den herrlichen
Brokat- und Atlasgewändern mit den schweren Barockfalten ge-
1 Coli, de doc. ined. t. IV, p. 545 — 561, zit. von Mme B. Carey,
La Cour et la ville de Madrid etc. (1876), App. Note C. Vgl. Ranke,
Fürsten und Völker 1 1 * 3, 131 ff.
726 Sechster Abschnitt: Die Neugestaltung des Güterbedarfs
malt haben. Die Schilderungen der Zeitgenossen, wie sie etwa
das Journal von Pepys enthält, entsprechen sehr wohl dem Bilde
satter Lebensfreudigkeit, das die Gemälde dieser Künstler in uns
wachrufen. Es gemahnt uns an den großen Ludwig, wenn wir
von Karl I. hören, der 24 Schlösser so vollständig ausstattete,
daß er aus einem in das andere reisen konnte, ohne sich mit
Gepäck zu belasten, oder von Jakob I., der für die Hochzeit
seiner Tochter 93278 £ ausgibt, während wir dann wieder den
Abstand gegen Frankreich gewahr werden, wenn wir von Karl H.
erfahren , wie er weh- und demütig dem Hause der Gemeinen
das Versprechen ablegt-, in Zukunft weniger verschwenderisch
zu sein als bisher, damit er mit seiner Zivilliste endlich einmal
reichen möge. Der respektable Bürger mag in solchen Augen¬
blicken Morgenluft gewittert haben: eine neue Welt, die Welt,
in der der Geist der auskömmlichen Wohlanständigkeit herrschen
sollte, kündigte sich an. Aber auch der Oranier liebte den Glanz
an seinem Hofe 1, und das Haus Hannover hat in seinen beiden
ersten Vertretern ihnen nachgeeifert.
Die Summen, über die die englischen Könige verfügten, reichen
nicht an diejenigen heran, die Ludwig XIV. dem Lande abpreßte .
sie waren immerhin für jene Zeiten ansehnlich genug und stellen
eine recht erhebliche Nachfrage nach Luxusartikeln dar2.
* *
*
Die ganz ähnlichen Verhältnisse an den deutschen Fürsten¬
höfen, unter denen Sachsen, Hannover, Württemberg die luxuriö¬
sesten waren , oder auch in den östlichen Ländern zu schildern,
hat keinen Zweck, da diese Höfe die Höfe der westlichen Staaten
nach Möglichkeit nachzuahmen trachteten.
III. Der Luxus in der Gesellschaft
Der Luxus, den der Hof trieb, verbreitete sich allmählich
über alle die Kreise, die ihr Ideal im Hofe erblickten oder mit
dem Hofe irgendwie in Beziehung standen; das waren aber, wie
wir getrost sagen können, alle reichen Leute, die nun von dem¬
selben Streben nach weltlichem Glanze ergriffen wurden, wie
es die höfischen Kreise beherrschte.
1 Hübsche Beschreibung des luxuriösen Hoflebens Wilhelms von
Oranien, als er noch nicht englischer König war, bei Berg, De ߧ-
fugies 1, 269 f.
2 Siehe die Ziffern oben Seite 606,
Aclitundvierzigstes Kapitel: Der Luxusbedarf
727
Wir können genau verfolgen, wie geradezu ein Zwang zum Luxus
vom Könige ausging, namentlich von Ludwig XIV., von dessen Einfluß
auf die Gesellschaft uns ein in diesen Fragen gewiß einwandfreier
Augenzeuge wie folgt berichtet: „II aima en tout la splendeur, la
magnificence, la profusion, il la tourna en maxime par politique et il
l’inspira ä toute sa cour. C’etait lui plaire que de s’y jeter en tables,
en habits, en equipages, en bätiments, en jeu . . . C’est une plaie qui,
une fois introduite , est devenu le cancer interieur qui ronge tous
les partiouliers , parce que de la cour il s’est prompteinent com-
munique a Paris , dans les provinces et les armees , oü les gens en
place ne sollt contes qu’en proportion de leur fable et de leurs magni-
ficences . . . Par la folie des gens, eile va toujours Croissant; les
suites en sollt infinies, et ne vont ä rien qu’a la ruine et au ren-
versement general.“ Saint Simon, Mein. t. VIII de l’ed. Hachette,
p. 125/26.
Man schaute, zumal in Frankreich, zu dem Könige auf wie zu
einem Gotte: Ludwig wurde zum arbitre du goüt für Paris: — „Paris
— pour l’ordinaire singe de la cour“ meint La Bruyere — ; für
die Provinz; für Europa. Wie Mansart baute, wie Le Notre die
Gärten anlegte, wie Lebrun die Möbel zeichnete, wie Rigaud malte :
so wollte jeder, dem die Mittel es erlaubten, seine Häuser bauen,
seine Gärten anlegen, seine Einrichtung gestalten, sich malen lassen.
Nicht nur in Frankreich! Man weiß es ja.
Aber der Prozeß der Verweltlichung hätte sich gewiß nicht
so schnell vollzögen, die Entfaltung des Luxus wäre nicht in so
kurzer Zeit ins Unermeßliche gewachsen, wenn neben dem Hofe
nicht ein anderer wichtiger Quell aufgesprungen wäre, aus dem
in breitem Strom Genußsucht, Lebensfreudigkeit und eitler Prunk¬
sinn sich über die AVelt ergossen hätten: wenn nicht ein ganz
intensives Luxusbedürfhis bei den Nouveaux riches, deren
Werdegang wir kennen gelernt haben, wie eine verheerende
Krankheit ausgebrochen wäre. Ihren Einfluß auf die Umgestaltung
des Lebensstils, vor allem ihre Mitwirkung bei der quantitativen
Ausweitung des Luxusbedarfs, müssen wir nun verfolgen.
* *
*
In der Geschichte wird der Weg des Reichtums durch eben-
soviele Etappen der Luxusentfaltung bezeichnet: von
dem ersten Auftauchen bürgerlicher Emporkömmlinge an.
Diderot hat .sicher nicht richtig beobachtet, wenn er die Meinung
äußerte, daß die reichgewordenen Knoten früher bescheiden im Ver¬
borgenen gelebt und erst zu seiner Zeit ihre Reichti'imer zur Schau
gestellt hätten; wenn er sogar denjenigen glaubt mit Namen nennen
zu können, der als einer der ersten mit seinem Reichtum durch
Luxusentfaltung geprotzt habe : Bonuier,
728 Sechster Abschnitt: Die Neugestaltung des Güterbedarfs
Zu Dantes Zeit begegnen wir schon den verschwenderischen Knall¬
protzen: wie jenen Giacomo da Sant Andrea, der silberne und goldene
Geräte in den Fluß warf oder Gebäude in Brand setzte, um die fest¬
liche Stimmung zu erhöhen, gab es eine Menge, die ähnlich lebten
und eine ganze Gesellschaft von Verschwendern bildeten: die brigata
godericcia oder spendericcia. Inf. XIII, 118—122, und dazu Kosta-
necki, Dantes Philosophie des Eigentums. (1912), 8 f.
Nicht einmal für Frankreich hatte Diderot recht. Oder sollen
wir den Jacques Coeur im 15. Jahrhundert, den reich gewordenen
Geldgeber, der Palais in Paris, Lyon, Tours und sieben andern Orten
besaß, sollen wir die Semblam^ay, . sollen wir Thomas Bohier, den Er¬
bauer von Chenonceaux, im 16. Jahrhundert nicht zu den Protzen
rechnen? Wollen wir vor allem die. reichgewordene Kanaille des
17. Jahrhunderts, die, wie Ludwig XIV. selbst sagte, einen „frechen
Luxus“ trieb, vergessen? Die Ludwig in den Mund gelegten Worte
sind außerordentlich lehrreich; er spricht von „Gens d’affaires, qui
d’un cote couvraient leurs malversations par toutes sortes d’artifices
et les decouvraient de l’autre par un luxe insolent et audacieux,
comme s’ils eussent craint de me les laisser ignorer (!)“. Louis XIV,
Memoires, zit. bei Baudrillart, II. du L. 4, 68.
Schließlich gehört doch auch Fouquet, der Obergauner, zu dieser
Sorte; er, der 20 — 80 Mill. Frcs. für Luxuszwecke vergeudete (davon
allein 18 Mill. Frcs. für sein Schloß in Vaux), wie uns Colbert (der
übrigens selbst keineswegs den Aufwand großen Stils verschmähte)
mit Entrüstung in seiner Denkschrift über FouqueWvorrechnet.
Und hatte Diderot den wundervollen Typus ganz und gar ver¬
gessen, den hundert Jahre vor ihm sein größerer Vorfahre in dem
1670 zuerst gespielten .Bourgeois gentilhomme’ unsterblich gemacht
hatte ?
Den innigen Zusammenhang, der zwischen dem Emporkommen
der Roture und der Ausweitung des Luxusbedarfs besteht, können
wir ganz genau verfolgen, wenn wir uns die Etappen gegen-,
wärtig halten, in denen die Leute, .quos virtus aut Fortuna e
faece hominum extulit“ \ in größerer. Mengen auftauchen. Diese
Etappen bilden ebensoviele Schichten in dem Aufbau des mo¬
dernen Luxus: in dem wir also ebenso wie in der Geschichte
des Reichtums die italienische Epoche des 14., 15. und 16. Jahr¬
hunderts, die deutsche des 15. und 16. Jahrhunderts, die spanisch¬
holländische des 17. Jahrhunderts und die französisch-englische
des 18. Jahrhunderts unterscheiden können.
Für unsere Betrachtung hat die größte Bedeutimg immer der
ungeheure Ruck, den die europäischen Völker seit dem
Ende des 17. Jahrhunderts in der Richtung des „Wohl-
1 Diese reizende Wendung findet sich bei Camden, Britannia
(1580), 106, ?
Aclitundvierzigstes Kapitel: Der Luxusbedarf 729
Standes“ und vor allem des Wohllebens vorwärts tun. Die ent¬
scheidende Wandlung der europäischen Gesellschaft bestand wohl
eben darin, daß damals der Luxus immer weitere Kreise ergriff.
Wir können das beispielsweise aus den Haushaltungsbüchern er¬
sehen. deren viele aus jener Zeit uns erhalten sind: man empfindet
um die Mitte des 18. Jahrhunderts in den oberen Schichten den
Abstand gegen das 17. Jahrhundert ebenso deutlich in den reichen
Ländern , wie wir Deutsche etwa den der heutigen Zeit gegen
die Jahre vor 1870 : „on a bien de la peine ü s’entretenir aujourd’hu
avec ce qui reste“1: solche Klagen begegnen uns häufig. Und
wir werden uns über die darin zutage tretenden Ansichten nicht
wundern, wenn wir erfahren, daß ein großer Teil der großen
Vermögen, die in jener Zeit erworben wurden2, in Luxusausgaben
vertan wurden. D’Epinay gibt von 1751—1755 1500000 1. aus.
Roussel verschwendet 12 Millionen, Dupin de Chenonceaux 7 — 8,
Savalette 10, Bouret 40. Der Graf von Artois, der Nachbar des
reichen Faventenes, meinte: „Je voudrais bien faire passer chez
moi un bras de ruisseau d’or qui coule de son rocher.“ „On
ne fit plus de capitaux.“ Man trieb vielmehr „Luxus“: in
Möbeln, Bauten, Kleidern. Die Magazine der Eue St. Honore, die
damals mit den schönsten Stoffen Frankreich und das Ausland ver¬
sorgten, waren im Jahre 1720, als der Goldregen über Paris nieder¬
ging, in wenigen Tagen geleert. „On n’y trouve plus de velours,
d’etoffes d’or; mais on fab rique partout.“ Duhautchamp, dem
wir diese Schilderungen verdanken, beschreibt uns den Anblick
der Straßen, die von Toiletten in den verschiedensten Farben,
mit herrlichen Stickereien geschmückt, aus goldenen und silbernen
Geweben hergestellt, angefüllt waren.
Und überall dasselbe Bild. So erzählt uns Defoe von Eng¬
land: „This is an age of gallantry and gaitey and never was the
city transpos’d to the court as it is now: the play-houses and
1 Aus dem Livre de Raison de M. Pierre Cesar de Cadenet de
Charleval, angefangen 1728, fortgesetzt 1763 von Francois de Ck. und
abgeschlossen von dessen Sohne bei Ch. 'de Ribbe, Les familles 2 2
(1874), 144. Eine überaus wertvolle Sammlung von englischen Haus¬
haltungsbudgets aus der Zeit von 1650 — 1750 besitzt das Smithsonian
Institut in Washington. Einige Auszüge daraus teilt der Besitzer
dieser Sammlung mit, der sie zusammengebracht und dem Sm. I ge¬
schenkt hat, J. A. Halliwell, in der Schrift: Some account of a
Collection of a several thousand Bills, Accounts and Inventories etc.
1852.
2 Siehe die Zusammenstellungen im 40. Kapitel,
730 Sechster Abschnitt: Die Neugestaltung des Güterbedarfs
balls are now fill’d witli citizens and young tradesmen instead
of gentlemen and families of distinction“ . . . „’£is an age of
drunkness and extravagances . . . ’tis an age of luxnrious and
expensive living . . . “ 1
* *
*
Ein Punkt, der mir für die Entwicklung der modernen Ge¬
sellschaft von großer und allgemeiner Bedeutung zu sein scheint,
ist nun die Tatsache, daß die reichen Emporkömmlinge, die
nichts besitzen als ihr Geld , die nur Reichtumsmacht und
keine andere Eigenart haben, die sie auszeichnen könnte, als
die Fähigkeit, mit ihren großen Mitteln ein üppiges Leben zu
führen; daß diese Parvenüs ihre materialistische und mammo-
nistische Weltauffassung auch den alten vornehmen Familien
mitteilen, die sie dadurch in den Strudel des Wohllebens mit
hineinreißen. Ich habe in dem Abschnitt dieses Werkes, der
von der Vermögensbildung handelt, die Verarmung des Adels
als eine der Quellen der Bereicherung für die bürgerlichen Geld¬
geber angeführt und habe dort gezeigt, wie dieser Prozeß der
Verwandlung feudaler Vermögen in bürgerliche seit den Kreuz¬
zügen unausgesetzt in allen Ländern Europas sich vollzieht. Hier
muß nun ergänzend hinzugefügt werden, daß einer der häufigsten
Gründe, weshalb die alten Geschlechter verarmen und homines,
quos fortuna e faece extulit an ihre Stelle treten, der Drang ge¬
wesen ist, jenen bürgerlichen Protzen es an Luxusaufwand gleich¬
zutun: diese Verleugnung der alten, vornehmen Traditionen
führte entweder zum wirtschaftlichen Untergang der alten
Familien oder zu den thonteuses alliances’ mit den reich ge¬
wordenen Finahzbaronen , von denen die Zeit erfüllt ist: das
Zwischenglied in dieser Entwicklung, das uns an dieser Stelle
interessiert, war meist die Verweltlichung, die Ver-
materialisierung der adeligen Geschlechter. Daß
die cSubiti guadagni' der Turcarets diese Wirkung hervor¬
gebracht haben — und sie sind vor allem an dieser Wandlung
schuld, die freilich durch den Einfluß des Hofes, wie wir schon
sahen, unterstützt wurde — , das scheint mir, wie gesagt, ein
Ereignis von ganz besonderer Tragweite zu sein.
Dieser verhängnisvollen Neigung des Adels, mit den Pfeffer¬
säcken in der Luxus entfaltung Schritt zu halten, begegnen wir in
1 Defoe, Tradesman (1729), 55 f. Vgl. desselben Verfassers
Compl. Engl. Gentleman, ed. 1890, p. 257-
Achtundvierzigstes Kapitel : Der Luxusbedarf
731
allen Ländern zu allen Zeiten, in denen plötzlich der bürger¬
liche Reichtum an Umfang zunimmt1.
Wie sehr nun aber die ganze obere Schicht der Gesellschaft,
also im wesentlichen der alte und neue Adel und die Haute
Finance, die selbst auf das engste mit dem Adel wie dieser mit
ihr verbunden war, zumal im 18. Jahrhundert von einem förm¬
lichen Genußtaumel, der sich in der unsinnigsten Luxusentfaltung
äußerte, ergriffen wurde, ist ja allgemein bekannt. Die Urteile
der Zeitgenossen bestätigen es zur Genüge2.
Daß und wie sich der Luxus auf alle Gebiete des Güter-
beda*rfs erstreckte, werden ein paar Einzelangaben, die uns Be¬
kanntes in Erinnerung bringen sollen, am ehesten augenfällig
machen.
1. Der Eßluxus
ist in Italien während des 15. und IG. Jahrhunderts ausgebildet
worden, als dort eine „Kochkunst“ neben den andern Künsten
entstand. Vorher hatte es nur Freßluxus gegeben: nun ver¬
feinerte man diesen Genuß und setzte die Qualität an Stelle der
Quantität.
Auch der Eßluxus wandert von Italien nach Frankreich, avo
er seit dem Ende des IG. Jahrhunderts seine eigentliche Pflege
erhält. Ihn in seiner Entwicklung zu verfolgen ist kaum mög¬
lich, ohne eine lange Abhandlung über Speisenzubereitung zu
schreiben, wie sie in den Rahmen dieser Untersuchung doch
nicht passen würde.
Ein Blick in die „Almanache für Feinschmecker“ genügt, um
zu erkennen, daß am Ende des 18. Jahrhunderts die Gourmandise
ihren Höhepunkt bereits erreicht hatte, den sie nicht mehr über¬
schreiten konnte.
Eine große Bedeutung für den Ablauf des Wirtschaftslebens
gewann die zunehmende VerAvendung der tropischen Erzeugnisse
als Reiz- und Genußmittel: also des Kaffees, des Kakaos,
des Tees, und mit diesen und durch diese des Zuckers, sowie
des Tabaks. Anfangs bleiben alle diese Genußmittel, vielleicht
mit Ausnahme des Tabaks, auf die Kreise der Wohlhabenden
beschränkt, die aber rasch eine große Konsumkraft entwickelten,
bis dann gegen das Ende unserer Epoche diese Güter immer
mehr in den Bedarfskreis der großen Masse eintreten.
1 Siehe nähere Angaben: Luxus und Kapitalismus, 100 ff,
ß Siehe die Belege in Luxus und Kapitalismus, 75 ff,
732
Sechster Abschnitt: Die Neugestaltung des Güterbedarfs
Folgende Ziffern geben eine annäherungsweise richtige Vorstellung
von der Ausdehnung des Konsums der wichtigsten Genußmittel in den
vergangenen Jahrhunderten.
Tee wurde in Großbritannien verbraucht:
1668 .
.... 100
1711 .
.... 141992
1730 .
.... 537016
1760' .
.... 2293613
1784 .
.... 8608473
1785 .
. . . . 13165715
1786 .
. . . • 13 985 506
Die Ziffern sind gewonnen durch Abzug der Ausfuhrziffern von den
durch die Ostindische Gesellschaft nach dem Ausweis ihrer Berichte
verkauften Mengen. Die plötzliche Steigerung des Verbrauchs von
1784 bis 1785 hängt mit der Herabsetzung des Zolls von 119 auf
121/2 °/o durch Pitt zusammen. McC ulloch, Dict. s. v. tea.
Der Kaffeekonsum Europas betrug (nach Al. v. Humboldt!)
um das Jahr 1800 etwa 1400 000 Ztr.; die Bevölkerung Europas belief
sich (nach Beloch) um dieselbe Zeit auf etwa 120 000 000, also wäre
damals schon etwa 1 Pfd. Kaffee im Jahre auf jeden lebendigen Europäer
entfallen ; jpan wird sagen können, daß damit dieses Genußmittel an¬
fing, Massengebrauchsgut zu werden. Im Jahre 1910 konsumierte jeder
Reichsdeutsche auch erst etwa 6 Pfd. Kaffee im Jahre.
Der Kaffeeverbrauch in England belief sich:
1790 auf ... . 973111 Pfd.
1795 „ .... 1054588 „
1800 „ .... 826 590 „
McCulloch, Dict. s. v. Coffee. Allerdings ist England niemals ein
Kafifeekonsumland gewesen.
Zucker soll (ebenfalls nach Humboldt) damals 4 500 000 Ztr.
in Europa verbraucht sein, 3 — 4 Pfd. auf den Kopf der Bevölkerung.
Zur Ergänzung der Humboldt sehen Schätzung mögen noch
folgende auf genaueren Feststellungen beruhende Ziffern dienen:
Frankreich verbrauchte im Jahre 1788 bei einer Bevölkerung von
23,6 Milk 21 300 t, das sind 0,906 kg auf den Kopf der Bevölkerung.
Nach guten Quellen Montveran, Essai de statistique sur les Colonies,
96, zit. bei McC ulloch, Dict. s. v. sugar.
In Großbritannien stieg der Zuckerkonsum während des 18. Jahr¬
hunderts wie folgt. Er betrug:
1700 .......
10 000
1710 .
14 000
1734 .
42 000
1754 .
53 270
1770 — 75 im Durchschnitt
72 500
1786—90 „
81000
))
Achtundvierzigstes Kapitel: Der Luxusbedarf 733
McC ulloch, 1. c. Das ergäbe also schon für das Ende des 18. Jahr¬
hunderts einen Verbrauch von etwa 10 kg auf den Kopf der Be¬
völkerung.
Der Tabakverbrauch endlich war in Großbritannien , für das
wir immer die zuverlässigsten Ziffern besitzen, gegen Ende des
18. Jahrhunderts auf 8 — 10 Milk Pfd. gestiegen: 1789 8,2, 1795
10,9, 1800 11,8 Milk Pfd. Park Papers N» 340 Sess. 1829, bei
Meß ulloch, s. v. tobacco.
Mit der Entwicklung des Eßluxus hielt natürlich der Trinkluxus
gleichen Schritt, den wir namentlich an dem Verbrauch von Wein
(in nicht Wein erzeugenden Ländern) ermessen können. Es mag ge-
nügen, die Ziffern für Großbritannien mitzuteilen, wo der Verbrauch
vor allem von heißen Weinen (Portweinen! Kapweinen!) während des
18. Jahrhunderts einen großen Umfang angenommen hat, der im Lauf
des 19. Jahrhunderts erst sehr spät übertroffen wurde. Im Jahre 1789
verblieben daselbst zum heimischen Verbrauch:
französische Weine . . . 234 299 Gallonen
andere Weine . 5 580 366 „
insgesamt ..... . 5814665 Gallonen
McCulloch, Dict. s. v. Wine. Der Zollertrag, den diese Weine
eintrugen, belief sich auf #721518.
Die Verfeinerung des Eßluxus hatte die für die kapitalistische
Entwicklung wichtige Folge, daß nun auch ein immer raffinierterer
Luxus in Eß und Trinkgeschirren sowie in Tafelwäsche
und Bestecken usw. getrieben wurde.
2. Der Kleiderluxus 1
wurde in einer Weise betrieben, von der wir uns heute kaum
noch eine richtige Vorstellung machen können. Es war ja ein
Kennzeichen seigneurialer Lebensführung, die durchaus noch
auch in den Kreisen der bürgerlichen Reichen beliebt war, daß
auch die Männer sich mit prunkvollen Gewändern aus Samt,
Seide , Goldstickerei und Spitzen behängten , und daß auch die
Toiletten der Damen in viel höherem Maße als heute mit Kost¬
barkeiten übersät waren.
Über den Kleiderluxus im 15. und 16. Jahrhundert unterrichten
uns am besten die Garderobeninventare, deren uns eine ganze Reihe
erhalten ist: so von der Valentina und Elisabetta Visconti, der Bianca
Maria Sforza, der Lucrezia Borgia u. a. Lucrezia beispielsweise hatte
in ihrer Aussteuer 50 Kleider in Brokat, Samt mit Stickerei und
Spitzen: 150 Maultiere trugen ihre Kleidung und Wäsche, als sie aus
1 Das neueste Buch über die Geschichte des Kleiderluxus : E m.
Gallo, II valore sociale dell’ abbigliamento (1914), ist feuilletonistisch.
Sein Wert beruht in einer Chronologie der Luxusgesetze im App. und
einer guten Bibliographie,
734 Sechste? Abschnitt: Die Neugestaltung des Güterbedarfs
ßom auszog. Polifilo, La guarderoba di Lucrezia Borgia. Dali’
archivio di Stato di Modena 1903.
Für alle Zeiten bieten uns die Kunstwerke eine gute Quelle dar,
um den Kleiderluxus zu ermessen, ebenso Schilderungen von Festen,
Aufzügen usw. So entwirft z. B. Burcar dus in seinem Tagebuch
von dem Einzug des Prinzen Federigo von Neapel in Rom (1492)
folgendes Bild: „Die einzelnen ritten überaus prächtige Pferde, alle
in Goldbrokat gekleidet, Kleinodien von großem Wert auf der Brust,
auf den Baretten und Hüten. Der Prinz trug ein Gewand von
violettem Samt, die Halskette aus Perlen und Edelsteinen im Wert
von 6000 Dukaten , einen Gürtel nebst Schwert im gleichen Wert,
der ganze Zügel mit Perlen und Edelsteinen besetzt im Werte von
3000 Dukaten, und das ganze Pferdegeschirr vorn und hinten ver¬
goldet. “
Die Renaissancetracht steigert sich in die Barocktracht, diese ver¬
feinert sich zum Rokoko. Wir wissen, wie beispielsweise in England
im 17. Jahrhundert die elegante Kleidung des Kavaliers geradezu als
ein Standesabzeichen angesehen wurde. Damals brachte die herrschende
Mode eine besonders ausgesprochene Eleganz mit sich : die hohen
Reiterstiefeln werden mit kostbarem Stoff gefüttert und mit Spitzen
besetzt. Auch die Kleider des Mannes bestehen zum großen Teil aus
schweren Seiden- und Samtstoffen. Van Dyck!
Und welch ein Aufwand wurde getrieben! Der Herzog von
Buckingham besaß (1625) 27 kostbare Anzüge aus Samt, Seide,
Spitzen, Perlen usw., von denen jeder etwa 35 000 Frcs. gekostet
hatte. Der Festanzug, in dem er auf der Hochzeit Karls I. erschien,
hatte die Summe von 500 000 Frcs. verschlungen. (Weiß.) Ein Edel¬
mann und seine Frau gaben im 17. Jahrhundert in Frankreich ein
ganzes Drittel ihres Einkommens für Kleidung aus ; für Toilette und
Equipage fast die Hälfte : 5000 Livres von 12 000. Brief der M™e
de Maintenon an ihren Bruder vom 25. Sept. 1679; vgl. Ahne Houze
de l’Aulnont, La finance d’un bourgeois de Lille au 17. siede
(1889), 51. 116.
Im 18. Jahrhundert steigerte sich der Kleiderluxus eher noch: er
ging mehr ins Feine, ins Raffinierte. Der Durchschnittspreis des
eleganten Herrenanzugs war 1200 — 1500 1. Wer auf sich hielt, hatte
6 Sommer- , 6 Winteranzüge. Festkleider der Männer kosteten bis
15 000 1. Feines graues Tuch: 70 — 80 J. die Elle. (Barbier.)
Audi der Luxus in feiner Wäsche entfaltete sich rasch.
„L’on doit avoir esgard ä ce qui couvre le corps“, heißt es in den
1644 erschienenen Lois de la galanterie, „et qui n’est pas seulement
estably pour le cacher et le garder du froid, mais encore pour l’orne-
ment. II faut avoir le plus beau linge et le plus fin que l’on pourra
trouver. L’on ne S9auroit estre trop envieux de ce qui approclie de
si pres de la personne.“ Über den außerordentlichen Umfang einer
eleganten Wäscheausstattung im 17. Jahrhundert unterrichtet M.
de Garsault, l’Art de la lingerie. In 4°. 1780. Siehe die Ver¬
zeichnisse in Les createurs de la mode (1910), 83 seg.
Achtundvierzigstos Kapitel : Der Liixusbedarf1 735
Eine ganz besondere Sorgfalt wurde dann, namentlich im 18. Jahr-
lundert, den „Modeartikeln“, also Hüten, Hauben usw. , gewidmet.
„La depense des modes excede aujourdhui celle de la table et oelle
des equipages“ schreibt Mercier im Tableau de Paris 2, 203.
Dei 4 eifasser des Complete English Tradesman entrüstet sich
sehr darüber, daß der gewöhnliche „beau“ seiner Zeit, „our nicer
gentleman“, „the ordinary beau“ Hemden aus Leinen die Elle zu 10
oder 12 sh. trüge und sie zweimal am Tage wechsele! Zu Großvaters
Zeiten habe man sich mit halb so teuerem holländischen Leinen be¬
gnügt und habe das Hemd vielleicht zweimal in der "Woche gewechselt.
Complete English Tradesman 2 (1745), 328.
3. Der lVolniluxus
Die Entfaltung1 des Wohnluxus steht im engsten Zusammen¬
hänge mit der Entwicklung der Großstadt. Diese ist es, die
den Luxus der Wohnungen und Einrichtungen , wie er seit
der Renaissance, namentlich aber seit dem Ende des 17. Jahr¬
hunderts mehr und mehr beliebt wird, wesentlich gefördert
hat. Sie tat es durch die Einschränkung des Lebensspiel¬
raums, die notwendig im Gefolge der Zusammenballung großer
Menschenmassen auf einem Flecke sich einstellen mußte, einer¬
seits ; durch die Einschränkung des personal gefärbten Luxus
andererseits, die ebenfalls eintreten mußte, sobald der Seisneur
seinen Wohnsitz in der Stadt aufschlug. Diese inneren und
äußeren Beschränkungen, die die Lebenshaltung der reichen
Leute in der Stadt erlebte, führten nun aber, wenn ich mich so
ausdrücken darf, zu einer Intensivierung des Luxus, der einer¬
seits versachlicht, andererseits verfeinert wurde. Was der Eß-
luxus erlebte: die Emporhebung durch Vervollkommnung der
Kochtechnik, das erfuhr der Wohnluxus in der Großstadt eben¬
falls : an Stelle riesiger, leerer Burgen traten kleinere, aber mit
einer wachsenden Menge von Kostbarkeiten ausgefüllte Stadt¬
wohnungen: der Palast wurde vom Palais abgelöst.
Diese, sagen wir, städtische Wohnweise wird dann nun aber
auf das Land übertragen: die mit städtischer Eleganz aus¬
gestatteten Landhäuser entstehen: die „Villen“, die also (just
wie im Altertum) die unmittelbare Folge des Stadtlebens sind.
Damit dringt der Luxus bis in die entferntesten Teile des Landes,
das auch in diesem Punkte der Großstadt und ihren Lebens¬
bedingungen unterworfen wird.
Wenn wir die Schilderungen von den Stadt- und Landhäusern
der reichen Leute etwa Frankreichs und Englands lesen, die
736 Sechster Abschnitt: Die Neugestaltung des Güterbedavfs
uns die Zeitgenossen im 17. 1 und im 18. Jahrhundert entwerfen,
so denken wir zunächst, daß es sich um Übertreibungen handelt.
Bis wir gewahr werden, durch die Häufung von zahlreichen,
immer gleichen Urteilen, daß der Wohnluxus in jener Zeit tat¬
sächlich eine Höhe erreicht haben muß, die, selbst von dem
Standpunkt unserer protzigen Zeit aus gesehen, ganz ungeheuer
gewesen ist. Wir erinnern uns dann der Beste des herrlichen
Barock- und Rokokomobiliars, die wir heute bei den Altwaren¬
händlern zum Verkaufe stehen sehen, erinnern uns der Ab¬
bildungen von Einrichtungsgegenständen aus jener Zeit in den
Kunstgeschichten und bedenken, daß all das, was wir jetzt nur
als Einzelstücke vor Augen haben : abgebildet oder in Wirklich¬
keit, daß das alles einst zusammenstand und die Bäume der
Marquis und der Finanzbarone des Ancien regime erfüllt hat.
4. Der Luxus in der Stadt
Die Großstadt steigerte den Hang zum Luxus: die besten
Beobachter jener Tage, wie Montesquieu in Frankreich,
Mandeville in England, bestätigen das für ihre Zeit ausdrück¬
lich, und wir können es aus zahlreichen Symptomen schließen.
Wie die Großstadt mit ihren Luxusansprüchen die Leute in der
Provinz damals anfing in ihrer Lebensgewohnheit ganz entscheidend
zu beeinflussen, sie an Luxusausgaben zu gewöhnen, ihren Lebens¬
standard „hinaufzuschrauben“, weiß uns ein Landedelmann, Pierre
de Cadet, anschaulich vor Augen zu führen durch folgende Erzählung,
die er in seinem Haushaltungsbuche niedergeschrieben hat: „Mon
grand-pere voulut aller ä Paris et dans un an ü depensa 14 000 livres,
ce qui fit dire ä son pere qu’une paire de lunettes, qu’il luy apporta
en present, lui coütait 14 000 livres. II y avoit dejä un equipage
dans la maison et quatre chevaux blancs ; mon grand pere vint de
Paris avec un grand goüt pour les chevaux de main ... II avoit amene
de Paris un valet de chambre, du quel son pere disoit, en badinant,
qu’il n’osoit lui demander ä boire, le voyant mieux vetu que luy.“
Bei Ch. de Ribbe, Une grande dame dans son menage au temps
de Louis XIV d’apres le journal de la comtesse de Rochefort (1689).
1889, p. 167.
Hie Gründe dieser Erscheinung erkennt man leicht, wenn
man sich die soziale Struktur der Großstädte im Zeitalter des
Frühkapitalismus vor Augen führt1 2.
1 Siehe z. B. das Inventaire des merveilles du monde rencontrees
dans le palais du Cardinal Mazarin bei C. Moreau, Choix de Maza-
rinades 1 (1853), 148 ff.
2 Ich habe der Entstehung und inneren Gliederung der Großstädte
Achtundvierzigstes Kapitel: Der Luxusbedarf
737
Fragen wir, was diese Städte groß gemacht hatte, so finden
wir im wesentlichen noch dieselben Städtebildner am
Werke wie während des Mittelalters. Auch (und gerade!) die
Großstädte der frühkapitalistischen Epoche sind Konsumenten¬
städte in hervorragendem Sinne. Die Großkonsumenten sind die
uns bekannten: die Fürsten, die Geistlichkeit, die Granden, zu
denen sich nun eine neue, wichtige Gruppe gesellt: die Haute
finance (die* man füglich als „Konsumenten“ einsetzen darf, ohne
beileibe! ihrer „produktiven“ Funktion im volkswirtschaftlichen
Organismus Abbruch tun zu wollen). Die größten Städte sind
darum so groß, weil sie Sitze der größten (und meisten) Kon¬
sumenten sind; die Ausweitung der Stadtkörper ist also im wesent¬
lichen einer Konzentration des Konsums in den städtischen Mittel¬
punkten des Landes geschuldet.
Die Städtebildner waren aber fast alles Leute, die sich
amüsieren wollten, denen es vor allem darum zu tun war, ihr
Geld in einer die Reize des Lebens steigernden Weise auszu¬
geben. Ihr dichtes Beieinanderwohnen veranlaßte sie , sich in
Luxus und Aufwand zu überbieten, also daß aus jeder ver¬
schwenderischen Handlung ein Anreiz zu weiterer Verschwendung
erwuchs.
Aber bedeutsam für die Entfaltung des Luxus wird die Gro߬
stadt vor allem dadurch, daß sie ganz neue Möglichkeiten heiterer
und üppiger Lebensführung und damit neue Formen des
Luxus schafft. Sie überträgt die Feste, die bis dahin die Höflinge
im Schlosse des Fürsten allein gefeiert hatten, auf breite Schichten
der Bevölkerung, die nun ebenfalls sich ihre Stätten schaffen,
wo sie ihren Vergnügungen regelmäßig nachgehen. Als Ende
des 18. Jahrhunderts der Fürst von Monaco nach dem Tode des
bei ihm verstorbenen Herzogs von York auf die Einladung des
Königs nach London kam und am Abend die vielen Lichter auf
den Straßen und in den Schaufenstern der bis 10 Uhr geöffneten
Läden erblickte, bildete er sich ein, die ganze Beleuchtung sei
ihm zu Ehren veranstaltet worden: in dieser Anekdote spiegelt
sich wunderhübsch die grundsätzliche Umwandlung wider, die
sich lim jene Zeit zu vollziehen freilich erst eben anfing: an die
Stelle streng privater Luxusentfaltung tritt eine Art von kollek-
in frühkapitalistischer Zeit eine besonders ausführliche Darstellung in
meinem „Luxus“ gewidmet, auf die ich den Leser verweise. Vgl.
auch das 9., 10. und 51. Kapitel dieses Bandes.
Sombart, Der moderne Kapitalismus. I,
47
738
Sechster Abschnitt: Die Neugestaltung des Güterbedarfs
tiver Luxusgestaltung. Die Kommunisierung der Lebensführung,
die dann recht eigentümlich erst für die folgende Periode der
Volkswirtschaft ist, beginnt: wir nehmen hier kurz davon
Kenntnis und stellen fest, daß diese bedeutsame Wirkung der
Großstadt — darum gehört ihre Erwähnung an diese Stelle —
einstweilen sich durchaus in den Grenzen des Luxusbedarfs be¬
wegt, daß nur die obersten Spitzen der Gesellschaft von der
Neuerung berührt werden.
Was hier in Betracht kommt, ist namentlich folgendes:
L Die Theater, vor allem die eleganten Opernhäuser, die
zuerst in Italien mit großer Prachtentfaltung gebaut werden und
dann in den übrigen Großstädten Europas ebenfalls eine Stätte
finden.
Epoche in der Geschichte des Theaterbaues macht das 1737 er¬
baute Theater S. Carlo in Neapel. In Paris bestehen seit 1673: die
Oper, unter dem Namen Academie royale de Musique, die seit dem
Tode Molieres im Palais royale ihre Vorstellungen gibt; die Comedie
francaise, die ihr neues Haus in der rue S. Germain des Pres am
18. April 1689 eröffnet; und die Comedie italienne, die im Hotel de
Bourgogne spielt (mit einer Unterbrechung von 1697 1716). De Leiis,
Dictionnaire ... des Theatres (1763), XX ff. Vgl. A. du Gasse,
Histoire aneedotique de l’ancien theatre en France. 2 Vol. 1862 bis
1864 (wesentlich literärgeschichtlicli). -
Zunächst sind es meist nur Hoftheater, zu denen außer dem Hole
selbst nur geladenes Publikum Zutritt hat; allmählich werden die
Häuser jedermann geöffnet, der sein Eintrittsgeld bezahlt. Aber auch
dann sind die besseren Theater lange Zeit noch der Rendezvousplatz
ausschließlich der oberen Schichten der Gesellschaft, denen hier eine
neue Gelegenheit geboten wird, zu flirten und ihren Staat zu entfalten.
Für das London des 17. Jahrhunderts: The character of a town
Gallant. Stellen daraus bei A. Savine, La cour galante de Charles II.,
130 suiv. Vgl. auch Joli. Eberh. Zetzner, Eeißbüchlein ; ed.
Eeuss (1912), 674.
Von Paris urteilt Capon : die Königliche Akademie der Musik und
des Tanzes, respektive die Oper, sei nichts anderes als eine „maison
publique pour gentilhommes “ .
2. Die öffentlichen Musikhallen und Ballhäuser
(würden wir heute sagen), die zuerst (scheint es) in London mit
allem Aufwand errichtet wurden und wegen ihrer Eleganz von
allen Londonern und namentlich von den Fremden bewundert
wurden.
London muß im 1 7 • und 18. Jahrhundert ein wahrer Sündenpfuhl
gewesen sein. Schon im Anfang des 17. Jahrhunderts ist es voll der
üppigsten und laszivsten öffentlichen Vergnügungshäuser großen Stils.
Siehe z. B. die einpräglichen Schilderungen des oben genannten
Achtundvierzigstes Kapitel : Der Luxusbedarf 739
Zetzner im 6. Kapitel seines Reißbüehleins. Und während des
18. Jahrhunderts wurde es noch schlimmer, wie alle Reisenden über¬
einstimmend berichten. Vgl. auch D ef 0 e - Richards 0 n, A Tour
through the island of Great Britain etc. 8th ed. 2 (1778), 92. 93.
Neben den Theatern und Konzertsälen liegen
3. die feinen Restaurants, die Tavernen: im 17. und
18. Jahrhundert ebenfalls noch eine Spezialität Londons, das z. B.
von den Parisern um diese Einrichtungen beneidet wurde.
In den vornehmen Restaurants und in den Salons particuliers, die
damit verbunden waren, war der Aufwand so groß, „daß er das Bon¬
mot des berühmten Beaumarchais gewissermaßen rechtfertigt, der, so
bekannt er auch mit den Schwelgereien von Paris war, dennoch über
die Londoner Wollüste erstaunte und behauptete, daß in einem Winter¬
abende in den Bagnios und Tavernen in London mehr verzehrt würde,
als die sieben vereinigten Provinzen in sechs Monaten zu ihrem Unter¬
halt brauchten“. (Ar chenholtz.)
Übrigens fehlten auch in Paris die feinen Restaurants im 18. Jahr¬
hundert keineswegs : cTie „schicksten“ waren die des Palais Royal, wie
Beauvilliers, Hure oder die Taverne anglaise. Die Lage im Palais royale,
dem Treffpunkt der „Lebewelt“, läßt auf ihren Charakter schließen.
4. Die Luxushotels.
In London war das Savoy-Hotel berühmt, das auf demselben Platze
stand, wo sich heute das bekannte Hotel gleichen Namens erhebt.
Was es für ein Ding war, solch ein Hotel in einer aristokratischen
Welt, zeigt uns heute noch das Hotel des Reservoirs in Versailles.
Das älteste Luxushotel in Europa war wohl der seit Sixtus IV. be¬
stehende „Gasthof zum Bären“ (Locanda dell’ Orso) in Rom.
Es gab nun aber noch einen Ort, wo die wachsende Gro߬
stadt einen öffentlichen, allen zugänglichen Luxus zur Entfaltung
kommen ließ, das war die Stelle, wo die elegante Welt ihre
Luxuswaren einzukaufen pflegte; wir müssen deshalb
5. die Läden erwähnen, denen seit der Mitte des 18. Jahr¬
hunderts mehr und mehr Sorgfalt zugewendet wurde , die man
seit jener Zeit auszuschmücken begann: eine Tatsache, die das
Kopfschütteln so biederer Leute wie Daniel Defoe hervorrief1.
IV. Die allgemeinen Entwicklungstendenzen des
Luxuskonsums
Aus der Beobachtung der tatsächlichen Gestaltung des Luxus
in den verschiedenen Jahrhunderten ergibt sich uns die Einsicht,
daß die Luxuskonsumtion bestimmte Wandlungen durchmacht,
1 Siehe in (Defoe) Complete englisli Tradesman , 2. ed. 1727,
das Kapitel: Of fine shops and fine shows.
740 Sechster Abschnitt: Die Neugestaltung des Güterbedarfs
die wir, weil sie, aus bestimmten, sich gleichbleibenden Ursachen
folo-end, einen Verlauf in gleicher Richtung nehmen, als allgemeine
Entwicklungstendenzen des Luxuskonsums bezeichnen können.
■Wohlgemerkt : des Luxus in dieser ganz bestimmten historischen
Periode, sage von 1200 bis 1800, die es nur ein einziges Mal in
der Weltgeschichte gegeben hat. Alle Bemühungen, allgemeine
Epochen des Luxus zu bilden, wie es etwa Ros eh er versucht
hat, werden erfolglos bleiben müssen.
Die jene Entwicklungstendenzen erzeugenden Ursachen liegen
in der allgemeinen Gesellschaftsstruktur eingeschlossen und sind
uns bekannt. Eine ganz besondere Bedeutung messe ich der
zunehmenden Herrschaft der Frau oder, wie ich die Frau, die
hier wirkt, genannt habe, des Weibchens bei. Daneben hat ge¬
rade auf die Umbildung des Luxuskonsums auch die fortschreitende
Verstadtlichung der Lebensführung einen bestimmenden Einfluß
ausgeübt k
Die Entwicklungstendenzen, die ich im einzelnen unterscheide,
sind aber folgende:
1. Tendenz zur Verhäuslichung. Der meiste mittel¬
alterliche Luxus war öffentlicher, nun wird er privater ; er wurde
aber auch als privater weit mehr außerhalb des Hauses entfaltet
wie in dem Hause: jetzt wird er immer mehr in das Haus, in
die Häuslichkeit verlegt: die Frau holt ihn zu sich herein.
Ehedem (noch zur Zeit der Renaissance) Turniere, Schau¬
gepränge, Aufzüge, öffentliche Gastereien : nun Luxus im Hause.
Damit verliert der Luxus seinen periodischen Charakter, den er
früher hatte, und wird ständig. Unnütz, zu sagen, wie sehr mit
dieser Wandlung eine Steigerung des Luxusbedarfs verbunden ist.
2. Tendenz zur Ver sachljcliung. Wir können wahr¬
nehmen, daß der Luxus unserer Periode noch immer einen stark
personalen und damit quantitativ gerichteten Charakter trägt und
feststellen, daß hierin sich sein seigneurialer Ursprung zu erkennen
gab, da diese starke Bewertung zahlreicher Dienerschaft ein
Überbleibsel der alten Gefolgschaft ist. Zweifellos wird nun aber
seit dem Mittelalter der personale Zug in der Luxus entfaltung-
unausgesetzt schwächer. Ehedem erschöpfte sich der Luxus viel¬
fach im Aufgebot zahlreicher Trabanten, in deren Beköstigung
und Belustigung bei Festen usw. Jetzt ist die zahlreiche Diener¬
schaft nur noch eine Begleiterscheinung der immer mehr wachsen-
1 Das Nähere siehe in „Luxus und Kapitalismus“.
Aclitimdvierzigstes Kapitel: Der Luxusbedarf
741
den Verwendung von Sachgütern zu Luxuszwecken. An dieser
Versachlichung, wie ich den Prozeß nenne, hatte besonders die
Frau ein Interesse. Denn die Aufbietung zahlreicher Gefolgs-
mannen kommt ihr weniger zugute als die prächtigere Kleidung,
die behaglichere Wohnung, der kostbarere Schmuck. Ökono¬
misch. ist diese Wandlung wieder äußerst bedeutsam: Adam
Smith würde sagen: man geht von „unproduktivem“ zu „pro¬
duktivem“ Luxus über, wreil jener personale Luxus „unproduk¬
tive“, der versachlichte Luxus dagegen „produktive“ Hände (im
kapitalistischen Sinne: das heißt Lohnarbeiter in einer kapita¬
listischen Unternehmung) beschäftigt. In der Tat ist die Ver¬
sachlichung des Luxusbedarfs für die Entwicklung des Kapitalis¬
mus von grundlegender Bedeutung.
Hand in Hand mit dieser Versachlichung des Luxus geht
aber die vom Weibchen mit besonderer Energie geförderte
3. Tendenz zur Versinnlichung und Verfeinerung.
Als Tendenz zur Versinnlichung sehe ich jene Entwicklung
an, die dahin führt, daß der Luxus immer weniger irgendwelchen
idealen Lebenswerten (wie namentlich der Kunst) und immer
mehr den niedrigen Instinkten der Animalität dient. Wenn jener
Prozeß sich vollzieht, den die Goncourts einmal so bezeichnen:
„la protection de hart tombe aux ciseleurs de bronzes, aux sculp-
teurs du bois, aux brodeurs, aux couturieres“ usw. Sie wollen
damit den Unterschied der Du -Barry -Epoche gegenüber der
Pompadour-Zeit kennzeichnen. Mir scheint, diese — unnütz zu
sagen: ökonomisch wiederum ganz hervorragend wichtige —
Wandlung charakterisiert mehr den Übergang vom 17. ins
18. Jahrhundert, also den Sieg des Rokoko über das Barock.
Dieser Sieg aber bedeutet nichts anderes als den endgültigen
und vollständigen Triumph der femininen Kultur. Das sieg¬
reiche Weibchen strahlt uns aus allen Schöpfungen der Kunst
und des Kunstgewerbes dieser Zeit entgegen : aus Pfeilerspiegeln
und Lyoner Kissen, himmelblauseidenen Kissen mit weißen Tüll¬
gardinen, aus zartblauen Jupons, grauseidenen Strümpfen und
rosigen Seidenkleidern, aus koketten, mit Schwanendaunen be¬
setzten Peignoirs , aus Straußenfedern mit Brabanter Spitzen,
was dann alles, wie Richard Muther, dieser unvergleichliche
Schilderer des Rokoko, dem auch die vorhergehenden Worte
entnommen sind, es ausdrückt, ein Pater zu einer „Symphonie
des Salons“ zusammengedichtet hat.
Mit der Tendenz zur Versinnlichung des Luxus im engsten
742 Sechster Abschnitt: Die Neugestaltung des Güterbedarfs
Zusammenhänge steht die Tendenz zu seiner Verfeinerung. Ver¬
feinerung heißt Vermehrung des Aufwandes an lebendiger Arbeit
bei der Herstellung eines Sachgutes, heißt Durchdringung, V oll-
sauguug des Stoffes mit mehr Arbeit (soweit nicht die Verfeine¬
rung in der Verwendung nur seltenerer Stoffe besteht).
4. Tendenz zur Zusammendrängung — in der Zeit
nämlich. Sei es, daß viel Luxus innerhalb einer gegebenen Zeit
entfaltet wird : viele Gegenstände genutzt werden, viele Genüsse
durchgekostet werden; sei es, daß früher periodische Luxus¬
veranstaltungen nun zu ständigen Einrichtungen werden: aus
Jahresfesten werden regelmäßig wiederkehrende Feste, aus Auf¬
zügen an Jubeltagen werden tägliche Maskeraden, aus Schmause¬
reien an AVeihetagen und Quartalssaufereien werden Diners und
Soupers des Alltags; sei es (worauf ich besonderen Nachdruck
legen möchte), daß in kürzerer Zeit die „Luxusgüter“ hergestellt
werden, um rascher ihrem Besitzer dienen zu können.
Die Regel im Mittelalter war die lange Produktionszeit:
Jahre und Jahrzehnte wurde an einem Stück, an einemAVerk
gearbeitet: man hatte keine Eile, es vollendet zu sehen. Man
lebte ja auch so lange, weil man in einem Ganzen lebte: die
Kirche, das Kloster, die Stadtgemeinde, das Geschlecht würden
die Vollendung sicher erleben, wenn auch der einzelne Mensch,
der die Arbeit in Auftrag gegeben hatte, längst vermodert war.
AVie viele Geschlechter haben an der Certosa von Pavia gebaut !
Die Mailänder Familie Sacchi hat während dreier Jahrhunderte,
durch acht Generationen hindurch, an den Inkrustierungen und
Intarsien der Altarplatten gearbeitet. Jeder Dom, jedes Kloster,
jedes Rathaus, jede Burg des Mittelalters legt Zeugnis ab von
dieser Überbrückung der Lebensalter des einzelnen Menschen:
ihre Entstehung zieht sich durch Geschlechter hindurch, die
ewig zu leben glaubten.
Seitdem das Individuum sich herausgerissen hatte aus der
es überdauernden Gemeinschaft, wird seine Lebensdauer zum
Maßstab seines Genießens. Der Einzelmensch will als er selbst
möglichst viel von dem AVandel der Dinge erleben. Selbst ein
König ist zu sehr er selbst geworden: er will das Schloß noch
selbst bewohnen, das er zu bauen anfängt. Und als nun gar die
Herrschaft dieser AVelt auf das AVeibchen überging, da wurde
das Tempo, in dem die Mittel zur Befriedigung des Luxusbedarfs
herbeigeschafft wurden, abermals beschleunigt. Die Frau kann
nicht warten. Der verliebte Mann aber erst gar nicht.
Aelituud vierzigstes Kapitel: Der Luxusbedarf
743
Welch ein Wandel in dem Zuschnitt des Lebens: Maria von Medici
ließ den Luxemburg-Palast in der unerhört kurzen Zeit von fünf Jahren
vollenden. W. Liibke, Gesch. d. Renaissance Frankreichs (1868), 227.
Am Versailler Schloß wurde Tag und Nacht gearbeitet: „Pour
Versailles, il y a deux ateliers de charpentiers, dont l’un travaille le
jour et l’autre la nuit,“ hat uns Colbert selbst erzählt. Lettres, in-
structions et memoires de Colbert, publ. par P. Clement in der
Coli, de doc. inedits IIIe serie, t. 8, p. XLV.
Der Graf von Artois läßt Bagatelle von Grund aus neu bauen,
damit er der Königin dort ein Fest gebe, und beschäftigt 900 Arbeiter
bei Tag und bei Nacht: als es ihm nicht schnell genug geht, schickt
er seine Haussiers auf die Landstraße, um Stein- und Kalkwagen ab¬
zufangen.
5. Tendenz zum Wechsel, das bedeutet also fort¬
schreitende Herrschaft der Mode, dieses „Allgemeinbegriffs
für einen Komplex zeitweise gültiger Kulturformen“, wie sie
Fr. V i s c h e r treffend definiert hat.
Die Quellen zur Geschichte der Mode sind sehr zahlreich.
In Betracht kommen zuvörderst die meisten vom Luxuskonsum handeln¬
den Werke, da dieser ja immer der Mode unterworfen gewesen ist.
Eine besondere Quelle sind die seit dem Ende des 17. Jahrhunderts
erscheinenden „Mode “-Zeitschriften: wie der Mercure galant (später
M. de France) seit 1672, der allerdings mehr eine allgemeine Zeit¬
schrift für die elegante Welt ist als eine Modezeitschrift; das Journal
des Luxus und der Moden, herausgegeben von F. J. Bertuch und
G. M. Kraus, seit 1786: das Journal für Fabrik, Manufaktur, Hand¬
lung und Mode, seit 1794; das Leipziger Modemagazin, für das
Neueste in Kunst, Geschmack, Mode, Lebensgenuß usw. , heraus-
«e^eben von Gr über und B er rin, seit 1796, u. a.
° ° Aber auch fast alle Gesellschafts- und Sittenschilderungen, die
reiche Memoiren-Literatur, sind zu Rate zu ziehen. Eine Fundgrube
sind Werke wie The Spectator (1710—1714), Merciers Tableau de
Paris (1787) und ähnliche.
Die Literatur hingegen ist dürftig. Soviel ich zu beurteilen ver¬
mag, sind die besten Schriften diejenigen des 18. Jahrhunderts, die
man’ fast noch als Quellenliteratur bezeichnen kann. Bis heute nicht
übertroffen sind die Abhandlung Chr. Garves im 1. Teil seiner Ver¬
suche über verschiedene Gegenstände aus der Moral, der Literatur
und dem gesellschaftlichen Leben, 1792; sowie der sich daran an¬
lehnende Artikel „Mode“ im 92. Bande der Krünitzschen Enzy¬
klopädie (1803). Ganz vortrefflich ist auch eine Aufsatzreihe über
Mode und Luxus im 38. Bande der Schlesischen Provinzialblätter (1803).
In neuerer Zeit haben die ästhetische Seite der Mode durch Fr.
Theod. Vis eher (Mode und Cynismus. 3. Aufl. 1888), die sozial¬
psychologische durch G. Simmel (Philosophie der Mode, o. J.
119051) eine anregende Behandlung erfahren. Die ökonomische Be-
deutuno- der Mode habe ich in der Schrift „Wirtschaft und Mode“
(1902)°zu beleuchten versucht. Die dadurch angeregte Literatur, wie
744
Sechster Abschnitt: Die Neugestaltung des Güterbedarfs
z. B. die gehaltvolle Bektoratsrede von W. Troeltsch, gehört nicht
hierher, da sie die Bolle schildert, die die Mode in der hochkapita¬
listischen Epoche spielt.
Einige Beiträge zur Geschichte der Mode enthält das Buch von
Otto Neubur'ger, Die Mode. Wesen, Entstehen und Wirken. 1910.
Für das Wirtschaftsleben sind es zwei notwendige Begleit¬
erscheinungen jeder Mode, die vornehmlich in Betracht zu
ziehen sind:
1. die durch sie erzeugte Wechselhaftigkeit, aber ebenso,
was häufig übersehen wird,
2. die von ihr bewirkte Vereinheitlichung der Bedarfsgestal¬
tung. Denken wir uns eine Bedarfsgestaltung, die von der Mode
unabhängig ist, so würde die Nutzungsdauer für den einzelnen
Gebrauchsgegenstand vermutlich länger, die Mannigfaltigkeit der
einzelnen Gebrauchsgüter wahrscheinlich erheblich größer sein.
Jede Mode zwingt immer eine große Anzahl von Personen, ihren
Bedarf zu vereinheitlichen, ebenso wie sie sie nötigt, ihn früher zu
ändern, als es der einzelne Konsument, wäre er unabhängig, für
erforderlich halten würde. Beides: Vereinheitlichung und Wechsel
sind relative Begriffe. Wann insbesondere dieser beispielsweise
die „Tracht“ zur „Mode“ werden läßt, ist schwerlich durch eine
Zeitangabe zu bestimmen. Man wird sagen dürfen, daß jede
Geschmacksänderung, die zu einer Umgestaltung des Bedarfs
während der Lebensdauer einer Generation führt, „Mode“ sei.
Wenn wir also belehrt werden, daß. eine Bevölkerung „die
Sitten der Väter aufgegeben“ und Kleider und Haare anders
getragen habe wie diese , so können wir daraus mit einiger
Sicherheit schließen, daß in jener Zeit eine „Mode“ noch nicht
geherrscht habe. Das war im frühen und hohen Mittelalter
wohl der herrschende Zustand, und die Schlüsse, die Friedr.
Kaum er aus einer Quellenstelle des 11. Jahrhunderts zieht: als
habe damals schon ein Modewechsel bestanden, scheinen mir
nicht statthaft h
Dagegen scheint die Mode mit der Verweltlichung der Lebens¬
führung, mit dem zunehmenden Luxuskonsum aus genießerischer
Absicht als notwendige Begleiterscheinung sich einzustellen.
Wenigstens finden wir sie in dem italienischen Quattrocento und
1 Order Vit. zu 1092: „militares viri mores paternos in vestitu
et capülorum tonsura dereliquerunt , quos paulo post burgenses et
rustici et paene totum vulgus imitati sunt . . , “ Zit. bei Raumer
Hohenst. 6‘ 520,
Achtunclvierzigstes Kapitel: Der Luxusbedarf
745
Cinquecento schon allgemein verbreitet, wenn auch noch im
Kampfe mit der „Tracht“ , soweit die Kleidung in Betracht
kommt. Vor allem wird uns auch schon über einen raschen
Wechsel der Mode berichtet, der innerhalb eines Jahres mehr¬
fach erfolgt sein soll.
Von Italien schreibt Iov. Pontanus, de principe: „. . . quan-
quam mutari vestes sic quotidie videamus, ut quas quarto ante
inense(!) in deliciis habebamus, nunc repudiamus et tanquam vete-
ramenta objicianms.“ Bei Burckhardt 2, 170. Siehe daselbst noch
andere Belege. •
In dem Frankreich der Valois schaute es nicht anders aus, wie
uns der scharf blickende Montaigne wissen läßt:
„ . . . nostre changement est si subit et si prompt en cela
— Kleiderschnitt — , que l’invention de touts les tailleurs du monde
ne S£aurait fournir assez de nouvelletez, il est force que bien souvent
les formes mesprisees reviennent en credit, et celles lä mesmes
tumbent en mespris tantost aprez ; et qu’un mesme jugement prenne
en l’espace de quinze ou vingt ans deux ou trois, non diverses seule-
ment, mais contraires opinions, d’une inconstance et legierete in-
croyable.“ Montaigne, Essais 2 (1820), 174/75.
Ebenso wurde in England um dieselbe Zeit der Modewechsel schon
zu einem „sozialen Übelstande“, den zu bekämpfen sich in den Jahren
von 1511 bis 1570 fünf Statuten zur Aufgabe machten. Unwin,
Industrial organizätion (1904), 71 ff.
Eine sehr drollige Kapuzinade gegen den Modeteufel, der auch in
Deutschland sein Wesen trieb, findet sich in der 1565 in 2. Auflage
erschienenen Schrift: Schulrecht wider den Hoffahrtsteufel. Dort heißt
es: „Wer wollte oder könnte wohl zählen, die mancherley wunder¬
liche und seltsame Muster und Art der Kleidung, die bey Manns- und
Weibspersonen in 30 Jahren herauf und wieder abgekommen ist. Von
Kutten, Schauben, Mänteln, Pelzen, Korsen, Hocken, Kappen, Kollern,
Hüten, Stiffeln, Jacken, Schörzen, Wammsen, Harzkappen, Hemden,
Kragen, Brustlazen, Hosen, Schuen etc. etc. Da hats müssen sein
Polisch, Böhemisch, Ungerisch, Türkisch, Französisch, Welsch, Englisch,
Nürmbergisch, Braunschweigisch, Fränkisch, Sächsisch, kurz, lang,
eng, weit, schlicht, gefaltet, auf ein und zwey recht, verbrehmet, ver-
ködert, verwulstet, verbörtelt, mit Fränzlin, mit Knoten, ganz, zer-
schnieten, gefüttert, ungefüttert, gefüllet, mit Ermeln, ohne Ermeln,
gezupft, geschoben, unternehet, mit Tallaren, ohne Tallaren, mit ver¬
loren Ermeln, bunt, kraus etc. etc.“ Der „Einsender“, der diese Stellen
dem „Journal des Luxus und der Moden“, wo sie im 2. Bande (1787),
S. 169 ff. abgedruckt sind, zur Verfügung stellt, überschreibt seine
Mitteilung: „Es war sonst ebenso“ und schließt mit den Worten:
„C’etait tout comme fchez nous.“ Gleichwohl werden wir Unterschiede
zwischen dem 16. und dem 20., aber auch zwischen dem 16. und
dem 18. Jahrhundert in der Behandlung der Mode deutlich wahr¬
nehmen: wir brauchen nur ein „Trachten“buch aus dem 16. Jahr-
746
Sechster Abschnitt : Die Neugestaltung des Güterbedarfs
hundert aufzu schlagen , um zu sehen, wie damals Mode und Tracht
sich noch um die Herrschaft über die Kleidung streiten.
Das eigentliche Zeitalter der Moden, denke ich, beginnt doch
recht eigentlich mit Ludwig XIV., der auch für zwei Jahrhunderte
Frankreich zum Mittelpunkte des modischen Geschmackes ge¬
macht hat. Es ist wohl nur der Ausdruck einer inneren Ent¬
wicklung, wenn im Jahre 1672 die erste Modezeitschrift (der
Mercure galant, der spätere Mercure de France) gegründet wird,
die in der Literatur die Stelle der früheren Trachtenbücher ein¬
zunehmen berufen ist. „La mode presse“, sagt Labruyere von
dieser Zeit, in der schon eine Mode die andere jagte. „Une
mode a ä peine detruit une autre mode, qu’elle est abolie par
une plus nouvelle, qui cede elle-meme ä celle qui la suit et qui
ne sera pas la derniere ; teile est notre legerete . . . “ 1
Und nun gar erst das 18. Jahrhundert! Sein Lebensstil war
— wohlgemerkt immer erst für die Luxuskonsumenten!2 * 4 5 — in
nichts verschieden von dem unsrigen. „Une femme qui quitte
Paris pour aller passer six mois ä la Campagne en revient aussi
antique que si eile s’y etoit oubliee trente ans. Le fils meconnait
le portrait de sa mere, tant l’habit avec lequel eile est peinte
lui paroit etranger; il s’imagine que c’est quelque Americaine
qui y est representee ou que le peintre a voulu exprimer quel-
qu’unes de ses fantaisies . . . “ so schildert schon im Anfänge des
Jahrhunderts der Verfasser der Lettres persianes die Modetollheit
1 Labruyere, Caracteres. De la mode.
2 In der Encyclopedie (Art. Mode) wird die Mode noch definiert:
„tout ce qui sert ä la parure et au luxe.“ Das „Bürgertum“ (ge¬
schweige denn die unteren Volksklassen) war in den Strudel, in dem
„die Gesellschaft“ lebte, noch nicht hineingezogen und wurde deshalb
auch von dem raschen Modewechsel noch weniger berührt. Ich zweifle
nicht, daß die Erinnerung eines Neunzigjährigen in der ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts: zu seiner Zeit habe die Mode höchstens alle
4, 5, 6 Jahre gewechselt, für seine Kreise zutraf: „Les modes
changeaient bien quelquefois, mais ce n’etait guere qu’au bout de 4,
5, 6 ans et meine apres un plus long intervalle de temps.“ Besnard,
Memoires d’un nonagenaires 1, 187, zit. von Levasseur, Hist. 2,
780. „Gemeiniglich lernt der wohlhabende Bürger die Etiquette und
den Luxus der vornehmen Welt erst nach und nach kennen . . . So¬
bald eine bürgerliche Familie Anspruch darauf macht, genau modisch
zu sein: sobald ist die größere Schwierigkeit, welche sie hat, dazu
zu gelangen, und das öftere Mißlingen der Bemühungen, die sie darauf
wendet, für sie ebensowohl eine Quelle von Sorgen und Mißvergnügen
als eine Veranlassung zu Fehltritten.“ Art. „Mode“ bei Krünitz
92, 465.
Aclitund vierzigstes Kapitel: Der Luxusbedarf
747
seiner Zeit, die auf dem Gipfel angekommen war, als Mercier
ihr den Spiegel vorkielt. Was dieser über die Mode des damaligen
Paris schreibt, könnte heute in jedem Modeblatt als Leitartikel
stehen L
Enp-stens im Zusammenhang mit der Modesucht steht die
6. Tendenz zum Verbrauch ausländischer Luxus¬
güter. Seitdem der Luxuskonsum einsetzt, vernehmen wir die
Klagen der Patrioten (und Ortsinteressenten !) über diese Unsitte
der reichen Kundschaft, fremde Waren den einheimischen vor¬
zuziehen. Vielleicht (oder vielmehr ziemlich sicher) hängt diese
allgemein verbreitete Neigung mit der Tatsache zusammen1 2, daß
in den Anfängen der neu - europäischen Kultur Luxuskonsum
gleichbedeutend mit dem Verbrauch ausländischer
Güter war, weil die heimische Erde überhaupt noch keine Luxus¬
güter erzeugte. Woher hätten die Gecken am Hofe Karls d. Gr.
ihre kostbaren Gewänder und ihre Schmuckgegenstände und ihre
kunstvoll gearbeiteten Waffen andersher beziehen sollen als aus
dem Orient? Und auch die reichen Leute der Kreuzzugszeit
Waren im wesentlichen auf fremde Waren angewiesen, wenn sie
Luxus treiben wollten. So setzte sich die Vorstellung: fein =
fremd in den Köpfen der Luxuskonsumenten fest und blieb darin,
als sie von der Wirklichkeit längst überholt war (wir in unsern
Tagen erleben ja dasselbe). So empfanden es die Italiener des
Quattrocento schon als Widersinn, wenn ihre Landsleute immer
nur französische Moden mitmachen wollten, da doch großenteils
die Moden erst den Franzosen von den Italienern gebracht
wurden, die also ihre eigenen Ideen und Erzeugnisse aus dem
Auslande wieder einführten3.
1 Siehe z. B. das 173., 176-, 177. Kapitel im Tableau de Paris.
Über die ganz andere Kolle , die die Mode im Zeitalter des Hoch¬
kapitalismus spielt, habe ich in einem späteren Bande dieses Werkes
mich zu äußern.
2 Eine andere auch nicht von der Hand zu weisende Erklärung
der Vorliebe für das Fremdländische gibt der Verfasser des Artikels
„Mode“ bei Krünitz (92, 435): die fremden Moden am frühesten
zu kennen, sei ein Zeichen vornehmer Stellung: erst Hof, dann Adel
usw. Außer jenem ist mir kein Versuch bekannt geworden, das
wichtige Phänomen zu deuten.
3 „Quodque tolerari vix potest, nullum fere vestimenti genus pro¬
bat ur,” quod e Gallis non fuerit adductum, in quibus levia pleraque in
pretio sunt tametsi nostri persaepe homines modum illis et quasi for-
mulam quandam praescribant.“ Jovian. Pontan. de principe, zit. bei
Burckhardt 23, 170.
748 Sechster Abschnitt: Die Neugestaltung des Gäterbedarfs
Dagegen entsprach es noch der tatsächlichen Entwicklungs¬
stufe der Luxusgewerbe in den verschiedenen Ländern, wenn
in dem Frankreich des 16. Jahrhunderts die Yalois, wie wir
sahen, ihre Lebensführung italienisierten ; und ebenso hatten
wohl die englischen Beaus noch in der Zeit der Tudors recht,
wenn sie ausländische Waren bevorzugten.
„They must kave their geare from London; and yet many things
there of are not tkeare made but beyond the sea whereby the arti-
ficers of our towns are idle.“ Discourse of the Commonweal, ed.
Lamond, p. 125. Zit. bei Unwin, 71.
In den Milliner shops, die zwischen Ed. VI. und 1580 wie Pilze
aus dem Boden ‘Wachsen, sind feil:
französische oder spanische Handschuh,
flämische Kersies,
französisches Tuch, Spangen (brooches), Halsbänder (ouches),
venetianische oder mailändische Agglets,
spanische Dolche, Schwerter, Messer, Gürtel,
Mailänder Sporen, Mützen, Gläser, Uhren, gemalte Krüge, Tische,
Karten, Bälle, Tintenfässer, Federbehälter (penners), Puggets (?),
Seiden- und Silberbottoms (?), feine Tongefäße, hawks bells (?),
Salzfässer, Löffel und Schüsseln aus Zinn . . .
Brief conceit of English Poesie, zit. J. S. Burn, Foreign protest.
refugees (1846), 252.
In Ben Jonsons Comedy of „The New Inn“, acted 1629, spricht
ein Beau:
„I would put on
The Savoy chain about my neck, the ruff,
The cuffs of Flanders, then the Naples hat
With the Rome hatband, and the Florentine agate
The Milan sword, the cloak of Geneva set
With Brabant buttons; all my given pieces.
My gloves the natives' of Madrid“ etc. etc.
Zit. bei John Luard, A Hist, of the Dress of the British soldier
(1852), ‘ 76.
Seit dem 17. Jabrliundert wird dann, wie wir wissen, Frank¬
reich Meister des Geschmacks, und von da an ist die Vorliebe
für französische Mode geblieben. Die frühkapitalistischen Schrift¬
steller des 17. und 18. Jahrhunderts außerhalb Frankreichs sehen
diese Entwicklung mit besonders scheelen Augen an: verdarb
sie ihnen ja das ganze Konzept ihrer nationalistischen "Wirt¬
schaftspolitik. So macht — um einen statt vieler anzuführen —
Hoernigk seinem Arger über seine Landsleute folgendermaßen
Luft (Österreich über alles, Seite 18):
„Freylick aber seynd unsere Vor-Eltern auch vnd in Oeconomicis
gewiss andere Leute gewesen als wir. Sie jagten nicht alle Jahr nur
Acktundvierzigstes Kapitel : Der Luxusbedarf
749
allein für die Frantzösischen SckandWaaren drey oder vier Millionen
Gulden baares Geldt aus den Erblanden hinaus, gleich wie wir, sondern
beholffen sich mehrentheils mit dem was das eigene Hauss bescherete.
Es bestanden ihre kostbaren Zierrathen in gutem Massiv-Gold, Silber
und Edelgesteinen oder Zobeln und dergleichen Bauch- Waar ; welche,
ob sie zwar zum Theil ausländisch gleichwol auf Kinder und Kindes-
Kinder erben konten; nicht aber in zerreisslichen Frantzösischen
Lumpen, die noch dazu alle halbe Jahre durch Aenderung
der Mode unnütz gemacht werden . . . “
Ebenso finden wir in andern Ländern die Herrschaft der
Pariser Mode h Aber die Franzosen waren nicht zufrieden, den
andern Nationen die Gesetze der Mode zu diktieren: sie schielten
(wie sie es heute zum Teil wieder tun) nach England hinüber,
und das 18. Jahrhundert endigte mit einer Anglomanie der Pariser.
Ein sehr amüsanter Schriftsteller der Zeit äußert sich mit fast
Heine schem Witz darüber wie folgt: „Zum Teil sind wir durch die
Anglo-Manie gerächt. Sie treffen überall auf wandelnde Biding-Coats,
in deren Falten ein gebrechliches, übel ebauchiertes, halb wieder auf¬
gelöstes Wesen zappelt, oder auf englische Fuhrwerke überthront von
einem Kutscher aus der Titanenfamilie , der Streitrosse mit einer
Donnerstimme lenkt-, hintenauf haben sich noch ein Paar Biesen ge¬
lagert, nebenher springt nicht selten ein furchtbarer Hund und in einer
Ecke des Kastens werden Sie das einballierte Bestehen einer alten
Familie gewahr — es jammert Sie des mit Ungeheuern umringten
Pigmäen.
Zu gleicher Zeit wimmelt es von Engländern hier, die durchaus
pariser Stutzern ähnlich sein wollen . . . Ich schweige von meinen
Landsleuten; ihre Mißgestalten belustigen mich nicht. Es geht mir
nahe, manchen mit dem Clinquant aller Nationen ausstaffiert zu sehen,
wie einen von Europäern beschenkten Wilden . . . Viele sind mit einer
allgemeinen Musterkarte drapiert und tragen ihre Beisegeschichte auf
sieji herum, man kann ihnen von ihrem Hut zu den Stiefeln aus Italien
durch Frankreich nach England folgen . . . “ 7. Brief von Helfrich
Peter Sturz aus Paris (12. Nov. 1768). Erste Sammlung] (1786),
200 ff.
Von Holland um die Mitte des 18. Jahrhunderts heißt es: „Les
marchands en detail ont aujourd’hui leurs boutiques remplies d’etoffes
etrangeres. Tout ce qu’on porte, tout ce qui sert ä l’usage et aux
commodites de la vie vient de l’etranger.“ La Bichesse de la Hollande
(1778) 2, 228.
1 Für Portugal bestätigt es z. B. Duc du Chatelet, Voyage
en Portugal. 2 Vol. 1798. 1, 75; während ein anderer Beiseschrift-
steller der Zeit den Einfluß der Londoner Mode auf den Geschmack
der Portugiesen glaubt feststellen zu können. L. Bernard, Neue
Beise durch England und Portugal (1802), 277. Vgl. Lueder, Über
die Industrie und Kultur der Portugiesen (1808), 50.
750
Neunundvierzigstes Kapitel
Der Bedarf der Heere
I. Der Bedarf an Waffen
Der Bedarf an Waffen, das folgt unmittelbar aus dem, was
wir über die Entwicklung des modernen Bewaffnungswesens
(siebe oben Seite 352 ff.) in Erfahrung gebracht haben, weitet sich
aus. Extensiv gleichsam drängt auf seine Vermehrung hin die
Vergrößerung der Heere und Flotten, intensiv wirkt in gleicher
Richtung die immer bessere Ausrüstung der Truppen: tritt ja
doch, wie wir sahen, der Bedarf an Artilleriematerial ganz neu
zu dem schon vorhandenen AVaffenbedarf hinzu.
Gleichzeitig vereinheitlicht sich der Bedarf durch zunehmende
Uniformierung und ballt sich zu immer größeren Massen zu¬
sammen infolge der fortschreitenden Verstaatlichung der Waffen¬
lieferung.
Was wir so aus allgemeinen Betrachtungen einsehen können,
bestätigen uns die ziffernmäßigen Ausweise über die tatsäch¬
liche Höhe des Bedarfs, deren wir freilich gern noch mehrere
und genauere und umfassendere hätten. Aber auch was wir an
statistischen Angaben über den AVaffenbedarf während der Periode,
die wir betrachten, besitzen, gibt uns manchen Fingerzeig und
gestattet uns, ziemlich sichere Schlüsse auf den Gesamtumfang
des Bedarfs an Waffen. Vor allem können wir mit hinreichender
Deutlichkeit verfolgen, wie rasch und wie nachhaltig sich dieser
Bedarf während der verhältnismäßig kurzen Spanne weniger
Jahrhunderte oder gar Jahrzehnte ausdehnt; denn die erste
entscheidende Steigerung fällt erst in das 17. Jahrhundert.
AVas schon im 16. Jahrhundert als Artilleriebedarf eines
kleinen Heeres (von 10000 Fußgängern und 1500 Reitern) an¬
gesehen wurde, ergeben folgende Aufstellungen:
Ein Überschlag, was von Geschütz für ein Heer von 10 000 Fu߬
gängern und 1500 Reitern nötig ist, vom Jahre 1540 im Stadtarchiv
zu Stuttgart, verlangt:
4 Scharfmetzen, 4 Nachtigallen, 4 kurze und 2 lange Sängerinnen,
4 große Schlangen, 8 Falconen, 12 Falconetten, 2 Feuerbüchsen, 2
große und 2 kleine Mörser.
Neunund vierzigstes Kapitel: Der Bedarf der Heere
751
Das gesamte Metall : 1180 Ztr., kostet. . . 9 440 G.
Kader und Gestell . 2 000 „
Die Kugeln . 2 315 „
600 Ztr. Pulver . . . . 8 400 „
Zusammen 22155 G.
„Notaverzeichnis , was in einem kleinen Feldzug an Geschütz
;ehört“ :
3 Scharfmetzen
(70
Pfd.) für jede 200 Kugeln 60
Ztr. Pulver
4 Quarten
(40
» )
7? 7?
250 •„ 50
77 77
4 Notschlangen
(20
„ )
7? 77
300 „ 45
77 77
6 Feldschlangen
(11
„ )
77 77
300 „ 24
77 7?
6 Halbschlangen
( 8
„ )
77 »
350 „ 18
77 77
6 Falconet
( 6
„ )
400 „ 12
77 77
60 Hacken, dazu
• •
. 20
Ztr. Blei und 8
77 77
Alle Kugeln
und
Blei
wiegen
zusammen 1541
Ztr.
Alles Pulver
... 892
77
Zum Transport gehören 66 Wagen und 330 Pterde. Bei Jälins,
Ivriegswiss. 1, 747 ff.
Danach, läßt sich leicht bemessen, was von großen Heeren
bedurft wurde.
Als die Artillerie Wallensteins in Schlesien zugrunde gegangen
war (beim Antritt des zweiten Generalates), schlug er selbst die zur
Wiederbeschaffung nötige Summe auf 300 000 fl. an. Wallenstein an
Questenberg, W. E. 1, 71, bei Loewe, Organisation und Verwaltung
der Wallensteinschen Heere (1895), 93.
Sully gibt während seiner Regierung 12 Mill. Frcs. für Watten
und Munition aus. Sully, Oec. roy. t. III, ch. VIII, bei Boutaric,
360 f. Und die Arsenale enthalten bei seinem Tode noch: 400 Ge¬
schütze, 200 000 Kugeln, 4 Mill. Pfd. Pulver.
Ein ganz besonders gieriger Waffenkonsument wurde die Kriegsflotte.
Die Felicisima Armada führte mit sich:
2431 Kanonen, davon 1497 bronzene, 934 eiserne; 7000 Arke¬
busen, 1000 Musketen (außerdem noch 10 000 Piken, 6000 Halbpiken,
Schwerter, Äxte usw.). Für die Kanonen waren 123 790 Schüsse (50
im Durchschnitt) vorgesehen. Duro, L’Armada inv. doc. 109, bei
Laird Clowes 1, 560.
Der Bestand der französischen Schiffskanonen versiebenfachte sich
unter der Regierung Colberts: er stieg von 1045 im Jahre 1661 auf
7625 im Jahre 1683, und zwar kam die Vermehrung im wesentlichen
den eisernen Kanonen zugute, deren es 1661 erst 475, 1683 da¬
gegen 5619 gab. Nach dem amtlichen Material E. Sue, Hist, de la
marine franp. 4, 170.
Dasselbe mächtige Emporwachsen zeigt uns die englische Schiffs¬
artillerie. Der Bestand auf den Schiffen war (siehe die Quellen bei
Laird Clo wes 1, 409, 421; 2, 267):
752 Sechster Abschnitt: Die Neugestaltung des Güterbedarfs
1548:
2087
Kanonen
1653:
3840
J)
1666:
4460
5?
1700:
8396
An Munition führte ein Schiff wie der Henry Grace ä Dieu (also
schon ein Schiff des 16. Jahrhunderts) mit sich 4800 Pfd. Serpentin-
und 14 400 Pfd. gekörntes Pulver. Ms. de Pepysion Library, bei
Laird Clowes 1, 412.
Die Armierung des Sovereign of the Seas , des Prachtschiffes
Karls I., die aus 102 bronzenen Kanonen bestand, kostete £ 24 753
—8 sh —8 d. State Pap. Dom. CCCLXXIV, 30 und CCCLXXXVII,
87, bei Oppenheim 262.
II. Der Bedarf an Lebensmitteln
Größe und Art des Bedarfs eines Heeres auch an Lebens¬
mitteln wird bestimmt durch die Stärke der Armee und die
Eigenart des Verpflegungssystems.
Die Menge der Truppen, die unter Waffen stehen, bestimmt
immer die absolute Größe des Bedarfs; das heißt bestimmt die
Anzahl von Mündern, die gespeist sein wollen, ohne daß ihre
Träger bei der Erzeugung der Güter mithelfen. Denn das ist
natürlich das ökonomisch Wichtige dabei, daß im Heere ebenso-
viele Nur -Konsumenten geschaffen werden, als Krieger (oder
Kriege rfamilien) da sind. Diese Eigenschaft, Nur-Konsument zu
sein, hat der Soldat immer, gleichgültig, ob er seinen Unterhalt
in natura bezieht oder ihn von einem Produzenten einkauft.
Das Verpflegungssystem entscheidet dann darüber, in welchem
Umfange ein durch größere Heere hervorgerufener größerer Be¬
darf an Lebensmitteln ein Massenbedarf, das will sagen: ein
zusammengeballter, einheitlich, im Ganzen auftretender Bedarf,
wird. Wir erwägen, daß ein großer Bedarf um so eher ein
Massenbedarf wird , je weiter die Zentralisation der Bedarfs¬
deckung fortgeschritten ist. Ferner: wenn die Zentralisation
nur in Kriegszeiten eintritt, je länger die Kriege dauern. Endlich
(bei Schiffen), je weiter sich die Ausreisen dehnen.
Die Notwendigkeit, größere Truppenmassen für eine
längere Seereise zu verproviantieren, hat wohl zuerst einen
Massenbedarf an Lebensmitteln erzeugt. Und hat ihn zu einer
Zeit hervorgerufen, als die Welt noch in Träumen dahinlebte.
Es muß mächtige Erschütterungen in den traumseligen Menschen
jener Tage hervorgerufen haben, wenn eines Tages in Genua
sich die Nachricht verbreitete: Philipp August von Frankreich
Neunundvierzigstes Kapitel: Der Bedarf der Heere 753
will sein Kriegsheer mit Proviant und Pferdefutter für 8 Monate
und mit Wein für 4 Monate versehen1.
Oder wenn der Ausrufer durch die Dörfer Frankreichs ritt
und verkündete, was die Bailliage an Lebensmitteln aufzubringen
und nach Calais zu liefern habe für die Ausrüstung der dort
sich einschiffenden Truppen.
Wir besitzen eine Übersicht über die einzelnen Leistungen, die
den Baillis im Jahre 1304 aufgegeben wurden. Die Ziffern sind
natürlich ebensowenig voll zu nehmen wie die einer mittelalterlichen
Gestellungsliste. Sie drücken wohl immer nur das erhoffte Maximal¬
quantum aus. Immerhin geben sie doch eine annähernde Größenvor¬
stellung von den Mengen, die in so früher Zeit für die Verpflegung
eines Heeres zusammengebracht werden mußten. An ihrer Richtigkeit
ist wohl nicht zu zweifeln. Die Aufstellung findet sich im Reg. XXXV
des Tresors des chartes Nr. 138 und ist abgedruckt bei Boutaric,
278/79.
„Requirierungen, die im Januar 1304 den Baillis aufgegeben wurden
(behufs Lieferung nach Calais) :
Bailliage de Sens: 250 Malter (Muids) Getreide, 500 Tonnen
Wein, 150 Malter Hafer;
B. de Caen: 500 Malter Getreide, 500 Tonnen Wein, 500 Malter
Hafer, 1000 lebende Schweine, 1000 Schinken, 10 Malter Erbsen,
10 Malter Bohnen.
Und so fort für 15 Baillis und Senechaussees.
Dann trat aber ein rechter und ständiger Massenbedarf an
Lebensmitteln natürlich erst auf, als die modernen Heere und
Flotten entstanden. Namentlich die Flottenausrüstune
t o
heischte frühzeitig eine regelmäßig starke Zufuhr von Proviant.
Die entscheidende Wandlung scheint hier in das 16. Jahrhundert
zu fallen. Damals ging man dazu über, die Schiffe im Winter
zu verproviantieren, und ein englisches Reglement stellt eine Ver¬
proviantierung von 2 zu 2 Monaten für 4 Monate als Norm fest.
Diese höheren Ansprüche an das Verpflegungswesen hingen damit
zusammen, daß man seit der Mitte des Jahrhunderts ganz andere
Gepflogenheiten bei der Handhabung der Kriegsschiffahrt walten
ließ. Bis in die Zeit Heinrichs VIH. hatten die Flotten Soldaten
gelandet und waren umgekehrt; oder sie hatten den Feind ge¬
schlagen und waren umgekehrt: nun begann die Ära der langen
Fahrten.
Was aber schon im 16. Jahrhundert an Proviantmengen bei
größeren Unternehmungen in Frage kam, zeigen die Bestände an
1 Ed. Heyck, Genua und seine Marine, 177.
Sombart, Der moderne Kapitalismus. I. 48
754 Sechster Abschnitt: Die Neuregelung des Güterbedarfs
Nahrungsmitteln, die die spanische Armada im Jahre 1588 mit
sich führte. Wir sind auch darüber sehr genau und zuverlässig
unterrichtet und wissen, daß die 195 Schiffe dieser Flotte an
Bord nahmen1:
110 000 Zentner Biskuit,
11117 Mayors (ä 56,2 gal.) Wein,
6 000 Zentner Schweinefleisch,
3 000 „ Käse,
6 000 „ Fisch,
4 000 „ Reis,
6 000 Fanegas (ä 1,5 busli.) Erbsen und Bohnen,
10 000 Arrobas (ä 3,5 gal.) Öl,
21000 „ Essig,
11000 Pipen Wasser.
Im 17. Jahrhundert häuften sich die Gelegenheiten, in denen
so große Massen Proviant in kurzer Zeit — das gab dem Ganzen
erst sein eigentümliches Gepräge — aufgebracht werden mußten.
So erfahren wir beispielsweise von einer plötzlich auftretenden
' Nachfrage bei der englischen Flotte nach 7 500000 lbs. Brot,
7 500000 lbs. Beef und Schwein, 10000 Fässern (butts) Bier, außer
Butter, Käse, Fisch usw., was alles binnen ganz kurzer Zeit (die
Länge ist nicht angegeben) zu beschaffen ist2.
Den Holländern kostet der Unterhalt ihrer Flotte im Jahre
1672 für 7 Monate 6972 768 fl.3
Sehr genaue Aufstellungen für die Proviantierung eines
Schiffes oder einer Flotte -um die Mitte des 18. Jahrhunderts
findet man bei De Chennevieres in seinen Details militaires
I (1750), 238 seg.
Man wird nun vielleicht meinen, das Scliiffsverproviantierungs-
problem sei gar kein spezifisch militärisches, da ja auch jedes
Handelsschiff mit Mundvorrat für die Mannschaft versehen werden
muß. Das ist richtig ; aber die Größe der Proviantierungen waren
doch ganz andere bei den Kriegsschiffen, und erst diese
Ausweitung des Versorgungs Spielraum es enthielt
das Problematische.
Man muß sich stets vor Augen halten, wie geringfügig die
1 Dui’o, L’Armada inv., doc. 109.
2 State Pap. Dom. XXX, 10, bei Oppenheim, 325. Vgl. auch
das vollständige „inventaire d’ armement“ in Savary’s Dict. de
Commerce Suppl.
3 J. C. De Jonge, Geschied. van het nederl. Zeew. 3 1 (1837),
Bil. I.
Neunundvierzigstes Kapitel: Der Bedarf der Heere 755
Besatzungen der Kauffahrteischiffe im Vergleich zu denen der
Kriegsschiffe war. Im Mittelalter schon waren auf den Kriegs¬
schiffen große Menschenmassen zusammengepfercht: die Galeeren
waren die Kriegsschiffe der italienischen Seemächte, und Ga¬
leeren waren Kuder schiffe und schon deswegen sehr viel
stärker bemannt als gleich große Segelschiffe. Schon im 13. Jahr¬
hundert haben die Galeeren der Republik Genua 140 Ruderer1.
Im Jahre 1285 kommen 184 Mann auf ein Fahrzeug. Ein gleich
großes Handelsschiff hatte vielleicht kaum 20 Mann an Bord.
Selbst wenn die Kauffarteisegelschiffe mit Kriegern zu ihrem
Schutze ausgerüstet waren, wiesen sie im 12. und 13. Jahrhundert
nur folgende Besatzungen auf : 25, 50, 32, 85, 60, 55, 50, 45. Die
Sache änderte sich sofort wieder, wenn die Handelsschiffe, mit
oder ohne Ladung fahrend, hauptsächlich auf den Krieg oder
die Kaperei gerüstet waren ; dann wurden sie unverhältnismäßig
viel stärker bemannt; sie hießen dann „armiert“, navis armata,
und hatten dann folgende Besatzungen : zwei Schiffe haben 1234
600 Mann, ein pisanisches Schiff hat 1125 400 Mann, ein anderes
Schiff gleicher Herkunft hat 500, ein venetianischer Kauffahrer
hat 900 Mann an Bord2.
Im 16. Jahrhundert rechnete man bei Kriegsschiffen 3 Mann
auf 5 Tonnen brutto: ein Drittel Soldaten, ein Siebentel des
Restes Feuerwerker (gunners) und der Rest Seeleute ; bei Handels¬
schiffen dagegen nur 1 Mann auf 5 Tonnen netto: ein Zwölftel
Feuerwerker, der Rest Seeleute3.
Es kamen bei diesem Besatzungsverhältnis also ziemlich statt¬
liche Mannschaften auf Kriegsschiffen heraus.
Zieht man die Zahl der Schiffe in Betracht, die zusammen
gegen den Feind zogen, so handelte es sich leicht ryn recht
große Massen von Soldaten und Matrosen, die sich an Bord
befanden.
1511 verspricht Heinrich VIII., mit 3000 Mann den Kanal frei¬
zuhalten. 1513 werden für die englische Flotte (außer der Besatzung
von 28 Lastschiffen) 2880 Seeleute angeworben. 1514 befinden sich
auf 23 Königsschiffen, 21 gemieteten und 15 Lastschiffen 3982 See¬
leute und 447 Artilleristen (gunners), also 4429 Mann ohne die Sol¬
daten. Bei Oppenheim, 74.
1 E. Heyck, Genua und seine Marine, 65 ff.
2 Ann. Jan. 183, 35; 112, 3; 124, 30; zit. bei Heyck, 129.
3 State Paper Dom. CXII, 19, bei Oppenheim, 134.
48*
756 Sechster Abschnitt: Die Neugestaltung des Güterbedarfä
Aber auch beim. Landheere wuchsen die Bedarfsmengen
begreiflicherweise rasch.
Die 12 000 Mann Brandenburger, die 1694 als Hilfstruppen am
Ehein und in den Niederlanden standen, erhielten (außer einem Geld¬
lohn von monatlich 38 180 Talern) 2 Pfund Brot pro Mann und Tag.
Das ergab für 11608 Gemeine und Unteroffiziere täglich 23 216 Pfund,
in 31 Tagen also 719 696 Pfund; 144 Pfund Brot auf 1 Zentner Mehl
Nürnberger Gewicht gerechnet, ergab es 4898 Zentner Mehlbedarf pro
Monat. Bei C. W. Hennert, Beyträge zur brandenb. Kriegsgesch.
unter Friedrich III. (1790), 15. 1727 werden 200 000 Taler aus dem
Tresor angewiesen, um dafür Eoggen zu kaufen für die Kriegsmagazine.
Acta Bor., 1. c. 2, 285. In den 21 preußischen Magazinen lagerten
am Ende der Eegierungszeit Friedrich Wilhelms I. 45 000 Wispel:
eine ausreichende Versorgung von 200 000 Menschen auf ein Jahr.
Acta Bor., 1. c. 2, 278. Man rechnete in Preußen im 18. Jahrhundert
2 Pfund Brot pro Tag und Mann, was 7 Scheffel im Jahre ausmacht.
Die preußische Armee brauchte also schon während der ersten Hälfte
des 17. Jahrhunderts 24—25 000 Wispel Getreide, während die Zivil¬
bevölkerung Berlins 1720 nur 7200 Wispel beanspruchte. Acta Bor.,
1. c. 2, 297.
Ähnliche Ziffern ergeben sich für die Armeen der andern Länder.
Dupre d’ Aulnay stellt Mitte des 18. Jahrhunderts folgende Kech-
nung für Frankreich auf: die Versorgung einer Armee von 150 000
Mann mit Kommißbrot, das sind 54 Millionen Kationen im Jahr, er¬
heischt 300 000 Sack Getreide zu 200 lb. ; also 30 000 t. Dupre
d’Aulnay, Traite general etc. 1, 165.
III. Der Bedarf an Kleidern
Wie groß der Kleiderbedarf eines modernen Heeres war, kann
sich jeder leicht ausrechnen, wenn er die Ziffern, die ich über
die Stärke der Armeen oben mitgeteilt habe, multipliziert mit
den Mengen Stoff, Zutaten usw., die der einzelne Krieger nötig
hatte, und wenn er, was die Kleider, Mäntel, Hüte, Stiefeln usw.
usw. anbetrifft, die Zahl der Personen als die mindeste Zahl der
hiervon bedurften Stücke ansieht.
Was zu der Montur eines Soldaten im 17. und 18. Jahrhundert
gehörte, ersieht man aus folgenden Zusammenstellungen:
Verzeichnis, waz uf 193 Soldaten zur Kleidung vonnöthen,
965 ein lundisch (— Londoner) Thuch zue Hosen Cosiaken undt
sti’ümpfen jedem 5 ein,
965 ein Futtertuch jedem 5 ein,
2316 ein weiße, schwarze, rohe undt steife Leinwanth jedem 12 ein,
1158 duzet Schleufen, jedem 6 duzet uf Hosen und Cosiaken,
193 lot Seide jedem 1 loth,
579 duz. eisen Knopf, jedem 5 duz.,
50 ein schlechten 4. Drath die Cosiaken zustaffiren,
193 Hüte.
Neunundvierzigstes Kapitel: Der Bedarf der Heere
757
Kapitän von Burgsdorff an den Grafen von Schwarzenberg, Berlin,
den 16. Okt. 1620. Staatsarchiv Berlin: abgedr. Gesch. d. Bekl. 2, 40,
Anl. 16.
Bedarf eines Infanteristen am Anfänge des 18. Jahrhunderts:
Thlr. Gr. Pf.
5 Ellen Tuch ä 15 Gr . e 3 3 _
7 „ Boy a 4 Gr . 14 —
1 Elle Kronenroth zu Aufschlägen . . 14 _
20 Stück messingne Knöpfe ä Dutzend 4 Gr. . . — 6 8
1 Loth Karne eihaar . . 3
2 Paar Schleifen a. Kameelhaar . — 6 —
1 Hut mit einer gelben Einfassung . . . . . — 12 —
6—8
C. W. Hennert, Beitr. zur brandenb. Kriegsgesch. unter Churfürst
Friedr. III. (1790), 12, bei Frhr. v. Richthofen, Haushalt, 495.
Die vollständige Bekleidung und Ausrüstung eines Reiters ein¬
schließlich Sattel und Zaumzeug kostete zur Zeit Friedrich Wilhelms I.
73 Tlr. 2 Gr. A. Cronsay, Die Organisation des brandenb urg. und
preuß. Heeres von 1640 bis 1865 1 (1865), 45.
Jeder Soldat der Savoia Cavria und Piemte Rle kostete im Anfang
des 18. Jahrhunderts 131,16 1., jeder Dm Genevois 110,14 1., jeder
Kanonier 68,16 1. Die Ausrüstung des Pferdes eines Cavaliere stellte
sich auf 75,5 1., eines Dragoners auf 67,4 1. G. Prato, II Costo
della guerra (1907), 302. Zur Bekleidung eines Regiments englischer
Soldaten waren (1730) 1570 165 s. 2V2 d. erforderlich. F. Gr ose,
Military Antiquity 2 Vol. 1812, 1, 315.
Stellen wir nur für das Tuch eine Rechnung an: um eine Armee
von 100 000 Mann einzukleiden, sind 500 000 Ellen oder 20 000 Stück
erforderlich. Eine Erneuerung der Montur alle zwei Jahre angenommen,
ergäbe das einen Jahresverbrauch von 10 000 Stück im Jahr. Schmoller
rechnet für den Gesamtkonsum der brandenburgischen Bevölkerung im
Anfang des 18. Jahrhunderts 50 000 Stück Tuch heraus. Umrisse, 514.
Friedrich d. Gr. gibt in den brandenburgischen Memoiren die Ausfuhr
von Tüchern aus der Kur- und Neumark auf rund 44 000 Stück an.
Oeuvres 1, 234; zit. ebenda 522.
Um die Tragweite dieser Ziffern zu ermessen, müssen wir
uns klarmachen, daß dieser große Bedarf ein Massenbedarf
gleichförmiger Gegenstände in dem Maße wurde, als
Verstaatlichung und Uniformierung des Bekleidungs wesens fort¬
schreiten. Man darf getrost sagen, ohne sich einer Übertreibung-
schuldig zu machen, daß solche Zusammenballungen von Bedarf,
wie sie schon im 17. Jahrhundert bei den Lieferuno-en für die
ö
großen Heere Vorkommen, für die damalige Zeit ganz unerhört
waren.
Den Leuten, auch den Kaufleuten, müssen die Augen übergegangen
sein, wenn sie hörten, daß" in einem einzigen Vertrage die sofortige
758 Sechster Abschnitt: Die Neugestaltung des Güterbedavfs
Lieferung von 5000 kompletten Soldatennionturen ausbedungen wuide,
wie es der Fall war in dem Vertrage, den im Jahre 1603 die englische
Regierung mit Ury Babington und Robert Bromley schloß. H. Hall,
Society in the Elizab. Age, 126.
Oder wenn sie Ziffern lasen, wie sie etwa in den Bestellungen
Wallensteins vorkamen. Da heißt es z. B. :
„Laßt auch 10 000 Paar Schuhe machen vor die Knecht auf daß
ich sie nachher auf die Regimenter kann austeilen . . . Laßt derweil
Leder präparieren, denn ich werde baldt lassen auch ein paar tausend
Stiefel fertig machen. Laßt auch Tuch fertig machen, vielleicht wird
man auch Kleider bedürfen.“
Aschersleben, den 13. Juni 1626:
„(Mein Vetter Max) . . . wird auch befohlen haben, daß ihr 4000
Kleider vor die Knecht sollt machen lassen, das ist ein Jupen von
Tuch mit Leinwand gefüttert , ein tuchernes paar Hosen und ein
tuchernes par strimpf.“ Wallenstein an seinen Landeshauptmann von
Taxis, abgedr. in der Handbibliothek für Offiziere 5, 439 fl.
„Der Kriegszahlmeister zieht auf Gitschin, soll um 13 000 Reichs-
thaler Schuh, Strümpf und Kleider (in einem späteren Briefe kommt
noch eine Bestellung von 40 000 Rtlr. hinzu) für die Armee machen
lassen; assistiert ihm fleißig in allem. Die 4000 Kleider, so ihr vorm
Jahr habt machen lassen, daß er euch bezahlt, was sie mich kosten,
dieselbige führt ihr auch ab, sobald ers bezahlt hat“ usw. Wallenstein
an Taxis, abgedr. bei Heil mann, Beil. 4.
Am 26. September 1647 erhielt Conrad von Burgsdorf den Auftrag,
mit dem Kaufmann Eberhard Schief in Hamburg folgenden Kontrakt
über die Lieferung von Tüchern und Boy zu schließen. „Er soll für
die Kurfürstl. Krieges- Officiere 1512 brabant. Ellen blau Tuch wie
die Probe ausweiset, jede Elle, zu 5 Orts Reichsthaler gerechnet
und für die gemeinen Knechte 20 000 brabantische Ellen blau Tuch
nach Ausweis der Probe, jede um 1 Rthlr. . . . ferner an Boy
21512 brab. Ellen, jede zu 6 Sgr. liefern. Termin ist 3 Wochen
nach Martini.“ Gesch. d. Bekl. 2, 211.
IV. Der Gesamt!) edarf
Den Gesamtbedarf der Heeresverwaltungen, den wir natürlich
nur in einer Geldziffer ausdrücken können, ersehen wir aus den
Ausgaben für militärische Zwecke, die wir in den öffentlichen
Haushalten verzeichnet finden. Es ist bekannt, daß diese Aus¬
gaben in früherer Zeit eine sehr viel größere Quote der gesamten
Staatsausgaben als heute bildeten, ja daß sie in den Anfängen
der modernen Staatsfinanzen zuweilen fast die ganzen Einnahmen
verschlangen, daß sie aber trotzdem in raschem Tempo während
des 16. bis 18. Jahrhunderts anwuchsen. Die wichtigsten Ziffern
für die einzelnen Länder sind folgende 1 :
Neunundvierzigstes Kapitel: Der Bedarf der Heere 759
Piemont, der Militärstaat Italiens, verausgabte für Heeres¬
zwecke :
1580 . 334673 L di Piem.
1680 . 1610958 „ „
1708/09 . 8 000 000 „ „
Die Heeresausgaben machten von 1700 bis 1713 77,72 °/o der
Gesamtausgaben des Staates aus.
Spanien: gibt 3356463 duc. im Jahre 1610 für Heereszwecke
aus (== 93°/o aller Staatseinnahmen).
Frankreich: die Heeresausgaben betragen:
1542 2114000 Franchi
1601 — 1609 (durchschnittlich) ca. 6000 000 L.
1639 19 100 000 L. = 60 % der Gesamtausgaben
1680 97 869754 „ = 74% „
1784 404350 000 „ = 66% „
Brandenburg-Preußen verausgabt für Heereszwecke:
unter dem Großen Kurfürsten
2500 000 Tlr. = 66%% der Gesamtausgaben
17-39/40 . . 5 954079 „ = 86%
unter Friedrich M. (Durchschnitt der letzten 3 Jahre)
12419457 Tlr. = 75,7% der Gesamtausgaben
1797/98 . . 14606325 „ = 71% „
England: die Gesamtausgaben für • Heereszwecke (Landheer
und Flotte) betragen in dem Jahrhundert von 1688 bis 1788:
für die Flotte . • • . . 244 380 685 £ ■
„ das Landheer . 240 312967 „
„ die Artillerie . 29959345 „
Die Kriege gegen Napoleon kosteten England (1801 bis 1814)
633634614 jg, das sind 13— 14 Milliarden Mk. oder durchschnitt¬
lich im Jahre 45 259 615 jg\ das sind 900 Mill. Mk. bei einer
Einwohnerzahl von 10 bis 12 Millionen.
1 [Zu Seite 758.] Die Quellen siehe in „Krieg und Kap.“
Für England trage ich noch die folgende bequeme Zusammenstellung
nach: Ch. Whitworth, A collection of the supplies and ways and
means (Steuer usw.) from the reVolution to the present time. London
1765.
760
Fünfzigstes Kapitel
Der Scliiffsbedarf
Die Schiffahrt übt eine doppelte Wirkung auf die Gestaltung
des Güterbedarfs aus:
1. durch die Schiffe, die sie beansprucht;
2. durch die Baumaterialien, die die Schiffe beanspruchen.
Das Schiff ist das erste große, „zusammengesetzte“ Gut, das
neben dem Palast und der Kirche, also dem Groß-Hause, ver¬
langt wird. Ich habe das Groß-Haus unter dem Rubrum Luxus¬
bedarf abgehandelt, weil es sich in der Tat in aller früheren
Zeit fast nur um Luxusbauten handelt, wenn die Häuser einen
größeren Umfang annehmen. Das Schiff dahingegen wird füglich
hierher verwiesen, da es selbst kein Luxusgut ist und aus ordi¬
nären Gütern zusammengefügt wird.
Die Wirkung, die die Schiffahrt auf die Gestaltung des Güter¬
bedarfs ausübt, ist nun um so größer:
1. je mehr Schiffe gebaut werden, was ja keiner Erläuterung
bedarf; aber auch
2. je größere Schiffe gebaut werden. Wiederum selbstverständ¬
lich ist die Wirkung der Größe, sofern die gleiche Anzahl größerer
Schiffe natürlich einen größeren Gesamtbedarf erzeugt an Bau¬
materialien, eine größere Nachfrage nach Arbeitskräften usw. Die
Schiffsgröße ist aber auch an und für sich bedeutsam : sie bewirkt
eine stärkere Zusammenballung der lebendigen Arbeit und des
Bedarfs an Material und Werkvorrichtungen : die Werften müssen
größer sein, um größere Schiffe auf ihnen bauen zu können ; die
Mengen an Holz, an Tauwerk, an Eisen usw., die in einem ver¬
langt werden, sind größer, nur weil das Schiff, ein zusammen¬
gesetztes Gut, eine größere Bedarfseinheit schafft.
Was hier die Schiffsgröße aus sich heraus bewirkt, kann nun
auch bewirkt werden durch organisatorische Zusammenschließung
der Schiffbautätigkeit. Man kann deshalb sagen: die Wirkung
des Schiffbaues auf das Wirtschaftsleben ist um so größer,
Fünfzigstes Kapitel: Der Schiffsbedarf
761
3. je einheitlicher , je zusammengedrängter , je verdichteter
der Schiffbau erfolgt: wenn 100 Schiffe auf einer Werft erbaut
werden, entsteht ein größerer und einheitlicherer Bedarf, als
wenn dieselben 100 Schiffe auf 10 Werften erbaut werden.
Endlich ist noch daran zu erinnern, daß die Einflußsphäre
des Schiffbaues (der hier natürlich nicht anders wie jede beliebige
Industrie wirkt), um so größer ist,
4. je rascher die Schiffe erbaut werden: stelle ich 100 Mann
an eine Baustelle, so wird ein Schiff von bestimmter Größe in
— sage — einem Jahre fertig. Soll es schon nach drei Monaten
vom Stapel laufen, so muß ich die gleichzeitig tätigen Arbeiter
entsprechend vermehren. Das Gleiche gilt für die Beschaffung
der Materiahen.
Es wird im folgenden zu zeigen sein, daß der Bedarf an
Schiffen sich rasch ausweitet, daß gleichzeitig die Schiffe immer
größer, ihre Produktionszeit jedoch (verhältnismäßig) immer
kürzer wird. Daß dadurch aber der Bedarf an Schiffsbau¬
materiahen sich zu einem ansehnlichen Massenbedarf auswächst,
der ebenbürtig neben den Massenbedarf der Großstädte und der
Heeresverwaltungen tritt.
Ich habe in meiner bereits erwähnten Studie: „Krieg und
Kapitalismus“, wie ich glaube, den Nachweis geführt, daß die
starke treibende Kraft bei der Entwicklung der Flotten im Zeit¬
alter des Frühkapitahsmus das kriegerische Interesse der
Staaten gewesen ist, das auf die Vergrößerung der Kriegs¬
marine und vor allem der Schiffstypen hindrängte. Diese wird
Schrittmacherin und Vorbild der Handelsmarine, die eine
— freilich auch nicht unbedeutende — Anregung vor allem durch
die rasche Ausweitung des Kolonialbesitzes und des Kolonial¬
handels erfährt. Neben das Kriegsschiff tritt im 17. und 18. Jahr¬
hundert als der jüngere und kleinere , aber doch auch kräftige
Bruder der Ostindienfahrer.
Im folgenden mache ich einige ziffernmäßige Angaben1, die
sowohl die eben bezeichneten Tendenzen erweisen werden, als
auch eine annähernde Größenvorstellung von dem Massenbedarfs
geben werden, den die Schiffahrt erzeugt.
1 Die Darstellung dieses Gegenstandes , die ich im „Krieg und
Kapitalismus“ gegeben habe, dient der obigen als Unterlage, ist aber
an verschiedenen Punkten durch besseres und reichhaltigeres Material
ergänzt worden.
762
(Sechster Abschnitt: Die Neugestaltung des Güterbedarfs
1. Die Zahl der Schiffe
Für das 16. Jahrhundert besitzen wir folgende Anhaltspunkte,
um den Umfang der englischen Handelsflotte zu bemessen: In
seinem Treatise of Commerce, der 1601 erschien, meint Wheeler,
daß vor ungefähr 60 Jahren nicht 4 Schilfe (außer denen der König-'
liehen Flotte) in den Themsehäfen größer als 120 t gewesen seien.
Die Richtigkeit dieses Urteils wird durch andere Angaben bestätigt.
1544/45 bis 1553 kommen in Abgang Schiffe über 100 t:
London gehörig . 17 mit 2530 t
Bristol gehörig . 13 „ 2380 „
andern Häfen gehörig ... 5.
1577 weist eine Liste auf:
135 Kauffahrer mit 100 t und mehr, davon haben:
56 ... .
... 100
11 ... .
... 110
20 ... .
... 120
7 . . . .
... 130
15 ... .
... 140
5 . . . .
... 150
656 zwischen
40 und 100
1582 finden wir 177 Handelsschiffe mit mehr als 100 t.
Die Flotte Heinrichs VIII. maß aber schon zu Beginn seiner Re¬
gierung, wie wir oben sahen, 8460 t, am Ende 10 550 t; Elisabeth
hinterläßt eine Kriegsflotte von 14 060 t.
Für das England des 17. Jahrhunderts sind mir folgende
Schätzungen bekannt :
1628 ergibt eine Bestandsaufnahme der englischen Kauffahrerflotte in
der Themse :
7 Indienfahrer . mit 4200 t
34 andere Kauffahrer .... , 7850
22 Newcastler Kohlenfahrer.
1629 werden in ganz England 350 Schiffe über 100 t ermittelt, das
sind also 35 — 40 000 t Raumgehalt. Die Quellen bei Oppen¬
heim.
1642 hat die Ostindische Kompagnie einen Schiffsbestand von 15 000 t
Raumgehalt. Nach den Accounts der Ostind. Komp.
1651 haben die Kaufleute von Glasgow 12 Schiffe mit zusammen 957 t
Laderaum.
1692 gehören zum Hafen von Leith 29 Schiffe mit 1702 t Tragfähig¬
keit. Dav. Bremner, The industries of Scotland (1869), 60.
AVährend dieses Zeitraums beträgt der Raumgehalt der Königs¬
schiffe 15—20 000 t mindestens (1618: 15 670 t, 1624: 19 339 t, 1660
aber schon 62 594 t) nach den oben mitgeteilten Quellen.
Die französische Handelsmarine soll nach einer amtlichen Ermittlung
im Jahre 1664 aus 2368 Schiffen bestanden haben, für die ich nach
den in jener Übersicht verzeichneten Größenverhältnissen etwa 180 000 1
Fünfzigstes Kapitel: Der Schiffsbedarf
763
Raumgehalt herausrechne. Kriegsschiffe hatte Frankreich 1661 erst
30, bei Colberts Tode jedoch 244, wie wir sahen, deren Raumgehalt
wir sicher auf 80—100 000 t ansetzen müssen.
Für das 18. Jahrhundert haben wir für die englische Handelsflotte
gleich aus dem Anfang (1701) eine ziemlich zuverlässige Angabe : die
Commissioners of Custom hatten bei den verschiedenen Hafenbehörden
eine Umfrage veranstaltet. Diese ergab für die gesamte englische
Kauffahrteiflotte einen Bestand von 8281 Schiffen mit einem Raum¬
gehalt von 261222 t. und einer Besatzung von 27 196 Mann. Mac-
pherson, Annals s. h. a. Vgl. McCulloch, Dictionary, Art.
Amsterdam.
Für das Jahr 1754 liegt dann eine Schätzung vor, wonach sie
bestand aus :
ca. 2000 Seeschiffen mit ca. 170 000 t Raumgehalt und
„ 2000 Küstenfahrern „ „ 150 000 „ „
zus. aus ca. 4000 Schiffen mit ca. 320 000 t Raumgehalt.
Diese Ziffer nimmt auch ein so vorzüglicher Kenner wie P o s 1 1 e t h -
wayt für seine Zeit als richtig an. Art. Middlesex.
Das wäre eine glaubhafte Zunahme in 50 Jahren. London allein
gehörten (nach den Generalregistern des Zollhauses berechnet) im
Jahre 1732 1417 Schiffe, die zusammen einen Raumgehalt von 178 557 t
hatten.
Im 18. Jahrhundert fängt die S chif fahrt s Statistik an, genauer
zu werden, und sie kann uns auch über die Größe des Schiffsbestandes
einigen Aufschluß geben. Wir müssen für jene Zeit annehmen, daß
beispielsweise die in den englischen Häfen einlaufenden Schiffe die
Fahrt ein- bis zweimal im Jahre machten: auf ca. zwei einmalige
Reisen kam eine wiederholte. Postlethwayt 2, 335. Nun liefen
aber nach dem Generalregister of the Custom House im Durchschnitt
der Jahre 1743, 1747, 1749 in sämtlichen englischen Häfen 603
fremde Schiffe mit einem Tonnengehalt von 86 094 t ein. Während
z. B. aus den südenglischen Häfen (1786/87) nach Westindien abgingen
233 Schiffe mit 47 257 t, gingen ebenso aus London: 218 mit 61695 t,
ebenso aus nordenglischen Häfen: 77 mit 14 629 t. Die Gesamtzahl
der 1786/87 in den Vereinigten Staaten von Amerika angekommenen
Schiffe betrug 509 mit 35 546 t, während in demselben Jahre von
dort absegelten 373 Schiffe mit 36145 t. Anderson 4, 659 f.
Ganz beträchtlich vergrößerte sich dann die englische Handelsflotte
in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts. Nach den gewissen¬
haften Zusammenstellungen Moreaus war der Bestand folgendei .
1788 9 360 Schiffe mit 1 053 610 Tonnen
1791 10 423 „ „ 1168 469
1802 13 446 „ „ 1 642 224
2. Die Größe der Schiffe
Wir haben oben schon eine Vorstellung von der Größe der Handels¬
schiffe während des 16. und 17. Jahrhunderts bekommen. Ich teile
764 Sechster Abschnitt: Die Neugestaltung des Güterbedarfs
noch ein paar Ziffern mit, um das Bild recht deutlich erscheinen zu
lassen.
In der schon erwähnten amtlichen Statistik der französischen
Handelsschiffe im Jahre 1664 verteilen sich die 2368 auf die einzelnen
Größenklassen wie folgt:
10— 30
t
. 1063
30— 40
. 345
40— 60
n
. 320
60— 80
. 178
80—100
»
. 133
100—120
n
. 102
120—150
. 72
150—200
. 70
200—250
})
. 39
250—300
»
. 27
300—400
)5
. 19
2368
Die erste Flotte der französischen Indiengesellschaft bestand aus
3 Schiffen zu je 300 t und 1 Schiff zu 120 t; die zweite setzte sich
wie folgt zusammen: 2 Schiffe zu je 5—600 t, 2 Schiffe je 800 t,
1 Schiff 250 t, 1 Schiff 200 t, 4 Schiffe je 60 — 80 t. 1682 laufen
1 Schiff zu 700 t, 1 Schiff zu 800 t aus. P. Kaeppelin, La Com¬
pagnie des Indes Orientales (1908) 10, 12, 137.
Die Schiffe, die während des 17. Jahrhunderts aus dem Hamburger
Hafen ausliefen, waren durchschnittlich 17 — 18 Lasten zu 2000 kg groß;
1625 z. B. 17,521 Lasten. Das größte Schiff in diesem Jahre segelte
nach Venedig und hatte eine Tragfähigkeit von 200 Lasten (also 400 t),
1616 finden wir eins mit 150, 1615 eins mit 130, 1617 eins mit
120 Lasten usw. E. Baasch, Hamburgs Seeschiffahrt und Waren¬
handel vom Ende des 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts, in der
Zeitschrift des Vereins für Hamburg. Gesch. 9, 295 ff.
In England, meinte Sir William Monson in seinen Naval Tracts
p. 294, waren beim Tode der Elisabeth (also im Anfang des 17. Jahr¬
hunderts) keine 4 Kauffahrer von je 400 t Tragfähigkeit. Zit. bei
Anderson 2, 211. Wird gestimmt haben; denn noch in der Mitte
des Jahrhunderts hatten die Schiffe der ostindischen Kompagnie (also
die größten des Landes) erst 300—600 t Ladefähigkeit.
Die Holländisch - ostindische Kompagnie benutzte am Ende des
17. Jahrhunderts Schiffe von durchschnittlich 300 Lasten. G. C. Klerk
de Ileus, Geschichtlicher Überblick der Niederländisch- ostindischen
Kompagnie (1894), 116 ff.
Besonders stattlich waren die Indienfahrer der spanischen Flotte.
1686 umfaßten Flota und galeones zusammen 50 Schiffe mit 27 500 t.
Alvarez Osorio , Extension politica y econom. punto III, bei Col¬
in eiro, Econ. politica 2, 404.
Diese Größen bleiben auch während des 18. Jahrhunderts
üblich: große Ostindienfahrer haben 300—500 t, die Europafahrer
100 — 300 t ßaumgehalt.
fünfzigstes Kapitel: Der Schiffsbedarf 765
So waren von den schon erwähnten 1417 Schiffen, die London im
Jahre 1732 besaß:
130 zwischen 300 und 500 t
83 „ 200 „ 300 „ groß.
Die übrigen waren kleiner , und das berühmte Schiff der Südsee¬
gesellschaft hatte 750 t Raumgehalt.
Am 1. Mai 1737 hat Liverpool 211 Schiffe über 30 t, davon:
1
mit
400
t
2
mit
340
t
7
mit
160
t
13
mit
120
t
1
55
350
55
2
55
200
55
15
55
150
55
6
55
110
55
1
55
300
55
2
n
190
55
10
55
140
55
16
55
100
55
1
n
250
55
4
55
180
55
5
55
130
55
135
„ 30-
-90
55
Nach einer namentlich geführten Liste Anderson 3, 324.
Die 1749 in den englischen Häfen einlaufenden fremden Schiffe
wiesen folgende Größen auf:
Holländische
Schiffe
62
mit
6 282 t = 100 t
Dänemark .
. . .
292
47 382 „ = 160 „
Schweden .
. . .
71
8 400 „ = 120 „
Hamburg .
• • •
40
55
6 746 „ = 170 „
Frankreich
• • •
24
1 289 „ = 50 „
Preußen
• • •
26
2 420 „ = 130 „
Danzig .
« • •
16
55
2 748 „ = 170 „
Portugal
• • •
26
55
2100 „ = 80 „
Bremen
...
16
55
1 975 „ = 125 „
Rußland
• • •
5
55
440 „ = 90 „
Spanien
•
16
55
940 „ = 60 „
594 mit 81 740 t = ca. 140 t
Das größte Schiff ist ein dänisches mit 510 t; die kleinsten
sind französische Kähne — offenbar von Calais nach Dover
fahrend — mit 4 t Tragfähigkeit. Aber auch von Bremen kommt ein
Schiff mit 35 t, von Danzig mit 44 t usw. Postlethwayt, Art.
Navigation.
Ende des 18. Jahrhunderts hatte das normale holländische Kauf¬
fahrerschiff eine Tragfähigkeit von 180 — 190 Lasten; es maß 115'
auf dem Kiel, 120' vom Vorder- zum Hintersteven, bei einer Breite
von 34'. Joh. Beckmann, Beyträge zur Ökonomie 3, 739 f.
Zum Inventarium der aus der Guinäischen Handelsgesellschaft, der
Ostseeischen Handelsgesellschaft und der Grönländischen Handelsgesell¬
schaft 1781 gebildeten Kgl. Dänischen , Ostseeischen und Guinäischen
Handelsgesellschaft gehörten 37 Schiffe; davon hatten Tragfähig¬
keit in Commercelasten (zu 2000 kg):
50— 60 Lasten . 10 Schiffe
61—100 „ . 2
101—150 „ 21
151— 1621/» „ 4
37 Schiffe.
766 Sechster Abschnitt: Dei Neugestaltung des Güterbedarfs
Siehe § 4 des Octroi der Gesellschaft, abgedruckt in J oh. Beck¬
mann, Beyträgen zur Ökonomie 6, 416 ff.
Stellen wir nun diesen Ziffern die ihnen entsprechenden für die
Kriegsmarine gegenüber, so bemerken wir sehr bald, daß die Kriegs¬
schiffe ganz beträchtlich viel größer sind als die Handelsschiffe, daß
insbesondere auch die großen Typen viel häufiger sich unter jenen
als unter diesen finden.
Schon im 16. Jahrhundert kommen englische Kriegsschiffe (of the
Tower) von 1000 t vor; in der Liste, die Oppenheim für die Zeit
Heinrichs VII. zusammenstellt, erscheinen 9 Schiffe von 500 bis 1000 t.
Im 17. Jahrhundert vergrößern sich die Kriegsschiffe rasch.
Es scheint fast, als ob noch im 17. Jahrhundert der 1000 t-Typ
bei den Kriegsschiffen der normale wird. Im Jahre 1688 finden wir
ihn in der englischen Flotte bereits bei 41 Schiffen, deren größtes
1739 t groß ist. Die Höhe der Besatzungen dieser großen Schiffe
schwankte zwischen 400 und 800, die Zahl der Geschütze zwischen
70 und 100. Nach den Listen in Pepys’ Mem. rel. to the state of
the Royal Navy Laird Clowes 2, 244 seg.
3. Das Tempo des Schiffbaus
Dieses ist es vor allem, das durch die militärischen Interessen
beeinflußt wird. Um zu erkennen, wie hastig und oft sprunghaft der
Schiffbau sich entwickelte, seit die Erbauung von Kriegsschiffen seine
Hauptaufgabe wurde, genügt es, sich die Ziffern vor Augen zu führen,
in denen sich die Vermehrung des Bestandes der Kriegsflotten aus¬
drückt. Ich habe sie bereits mitgeteilt und verweise den Leser darauf.
Zur Belebung des Bildes führe ich noch ein paar besonders markante
Beispiele aus der Schiffbaugeschichte an, an denen sich das für jene
Zeiten unerhörte Tempo der Herstellung erkennen läßt.
In England befinden sich im Jahre 1554 29 Kriegsschiffe im Bau
(„in Commission“), 1555/56 38, 1557 24, zu denen im Dezember des¬
selben Jahres noch 8 andere hinzukommen. Aber das Tempo wird
immer hastiger. Dafür enthält den Beleg die folgende überaus lehr¬
reiche Tabelle :
Es waren Kriegsschiffe in Kommission in den 22 Jahren 1559 bis
1580 und 1581 bis 1602: insgesamt 142 und 362.
Und dann kommt ja erst der große Vorstoß im 17. Jahrhundert,
in dem sich alle militaristischen Interessen ins Gigantische (ins Barock
können wir auch sagen) auswachsen. Unter der Republik werden in
England 207 Schiffe in 11 Jahren, also fast 20 Schiffe in jedem Jahre,
gebaut. In dem einen Jahrfünft von 1690 bis 1695 werden in England
zum Bau von 45 Schiffen 1011576.8.11 bewilligt. Charnock,
Mar. Arch. 2, 462.
An Paroxismus grenzt ebenso das Tempo, in dem zu Colberts
Zeiten die französische Kriegsflotte vergrößert wurde : Colbert fand,
wie wir sahen, bei seinem Eintritt in die Regierung (1661) 30 Kriegs¬
schiffe vor; nach wenig mehr als 20 Jahren hatte er 244 daraus ge-
Fünfzigstes Kapitel: Der Schiffsbedarf
76?
macht, diese aber meist in viel größerem Ausmaße : es wurden also
jährlich im Durchschnitt 10 — 12 Kriegsschiffe vom Stapel gelassen.
4. Der Bedarf an Schiffbaumaterialien
Dieser Bedarf läßt sich zunächst durch die Kosten ausdrücken,
die die Herstellung der Kriegsschiffe verursachte. Jeder solcher Be¬
trag, soweit er nicht für Arbeitslöhne auf den Werften ausgegeben
wurde, bedeutete eine Nachfrage nach Schiffbaumaterialien.
Ein englisches Kriegsschiff mittlerer Größe kostete im 16. Jahr¬
hundert 3 — 4000 j^, unter Jakob I. 7 — 8000 £ , unter Karl I.
10 — 12 000 £, im Anfang des 18. Jahrhunderts 15 — 20 000 £
(Quellen bei Oppenheim).
Eine sehr genaue Aufstellung der Kostenbeträge für die Schiffe der
verschiedenen Klassen besitzen wir für England im 18. Jahrhundert.
Sie schwanken für das Jahr 1706 zwischen 3138 und 78 581 £, für
das Jahr 1741 zwischen 6309 und 41151 £. Siehe die Quelle bei
Charnock 3, 126.
Nun sagen uns die Ziffern immer erst etwas, wenn wir ihre Ver¬
wendung im einzelnen verfolgen , wenn wir feststellen , wofür denn
eigentlich jede der Ausgaben gemacht wurde. Wir wollen versuchen,
ob eine solche Spezifikation möglich ist.
Die Materialien , die hauptsächlich für den Schiffbau in Betracht
kamen, Avaren :
1. Holz, das eine überragend große Bedeutung in allen früheren
Zeiten für den Schiffbau hatte, wie wir gleich sehen werden;
2. Takelwei’k oder der Rohstoff dazu : Hanf, Flachs usw. ;
3. Segehverk oder das Halbfabrikat oder der Rohstoff dazu;
4. Eisenwerk: Anker, Ketten, Nägel, Draht;
5. Teer und Pech;
6. Messing, Kupfer, Weißblech, Zinn.
Im 16. Jahrhundert werden (auf dem „Henry Grace ä Dieu“) schon
56 t Eisen, also 112 000 Pfd., gebraucht, während das Bauholz, das
in diesem Schiff aufging, 3739 t wog. Auffallend gering sind die
Mengen von Werg (oakum) und Flachs, nämlich nur 565 Stones (1 Stone
Hanf = 32 Pfd.) und 1711 lbs., wenn wir nicht annehmen Avollen, daß
die letzte Ziffer „Schiffspfund“ (ä 2*1/2 Ztr.) bedeutet. Oppenheim 53.
Was üblicherweise an Takelwerk auf einem Schiff im 16. Jahr¬
hundert gebraucht wurde , erfahren wir von einer andern gut unter¬
richteten Seite (J. Marperger, Das Neueröffnete Manufakturenhaus
[1704], 142): es waren auf einem 1565 erbauten Schiffe 1140 Ztr.
oder 456 Schiffspfund, also 114 600 Pfd. Das Holz des ebenfalls im
16. Jahrhundert erbauten „Triumph“ kostete 1200 £ (bei einer Gesamt¬
ausgabe von 3788 £).
Ein Kostenanschlag für den Bau von 10 neuen englischen Kriegs¬
schiffen im Jahre 1618 nimmt sich wie folgt aus (von den Schiffen
waren 6 je 650, 3 je 450, 1 350 t groß (Rep. vom Jahre 1618:
Mar. arch. 2, 256):
768 Sechster Abschnitt: Die Neugestaltung des Güterbedarfs
£ s d
Building with all matterialls (Bau des Rumpfes) . 43 425 — —
Bullys (Taljen), topps (Stengen) . 513 6 8
Finishing boates and pinnaces (Boote) .... 320 10 —
Cordage (Takelwerk) . 671616
Sailes (Segelwerk) . . 2 740 15 6
Anchors (Anker). . . 2287 4 —
56 002 17 8
Im 18. Jahrhundert war der Bedarf an allen Materialien wieder
außerordentlich viel größer geworden.
Ein englisches Kriegsschiff, das mit 100 Kanonen ausgerüstet ist,
braucht 3600 Ellen Segeltuch.
Ein französisches Kriegsschiff mit 100 — 120 Kanonen, einer Länge
von 170 — 180', einer Breite von 50', erfordert zum Bau:
4000 Stück ausgewachsene, gesunde Eichen
300 000 Pfd. Eisen
219 000 „ gepichtes Tauwerk. Krünitz 50, 354 ff.
Nach einer amtlichen (englischen) Feststellung betrug der Ver¬
brauch an Pech und Teer im Anfang des 18. Jahrhunderts jährlich:
in Britannien und Irland . 1000 Last (zu 29 hl)
„ Holland (für den eigenen Bedarf sowie
für die Ausfuhr nach Spanien, Portugal
und ins Mittelmeer) . 4000 „
„ Frankreich . 500 „
„ Hamburg, Lübeck und andern deutschen
Häfen . 500 „
Mitgeteilt bei Anderson 3, 17.
Weitere Zahlenangaben siehe in „Krieg und Kap.“ 6. Kapitel.
769
Einundfünfzigstes Kapitel
Der Massenbedarf der Großstädte
Hatten das Heer und der Schiffbau einen Massenbedarf da¬
durch hervorgebracht , daß viele Güter von einer Wirtschaft
bedurft wurden, war also dort die Entstehung des Massenbedarfs
eine Folge organisatorischer Umbildungen gewesen, so entsteht
in den Großstädten ein massenhafter Bedarf an bestimmten
Gütern durch die äußerliche Tatsache , daß viele Menschen
dauernd an einer und derselben Stelle Zusammenleben, Menschen,
die ihren Unterhalt nicht mehr auf dem Wege der Eigenproduktion
sich beschaffen können, die alles, was sie brauchen, also ein¬
kaufen müssen.
I. Das Anwachsen der Großstädte
Vergegenwärtigen wir uns zunächst, welchen Verlauf die
Großstadtbildung während des frühkapitalistischen Zeitalters ge¬
nommen hatte.
Während des 16. Jahrhunderts wächst die Zahl der Städte mit
100 000 Einwohnern und mehr bereits auf 13 — 14. Es sind zunächst
die italienischen Städte: Venedig (1563: 168 627, 1575/77: 195 863),
Neapel (240 000), Mailand (gegen 200 000), Palermo (1600: gegen
100 000), Rom (1600: gegen 100 000), während Florenz 1530 erst
60 000 Einwohner zählte.
Sodann die spanisch -portugiesischen Städte: Lissabon (1620:
110 800), Sevilla (Ende des 16. Jahrhunderts 18 000 Feuerstellen, also
gegen 100 000 Einwohner); und die niederländischen Städte: Antwerpen
(1560: 104 092), Amsterdam (1622: 104 961).
Endlich Paris und London.
Paris , gegen dessen Ausdehnung schon Mitte des Jahrhunderts
königliche Edikte erlassen worden waren (ich komme gleich darauf zu
sprechen), geht infolge der Religionskriege offenbar an Einwohnerzahl
zurück, die im Jahre 1594 etwa 180 000 beträgt.
London wächst rasch an und weist Ende des Jahrhunderts alle
Anzeichen der übervölkerten Großstadt auf, wie wir aus einem Erlaß
der Elisabeth vom Jahre 1602 deutlich zu erkennen vermögen. Seine
Einwohnerzahl müssen wir zur Zeit der Elisabeth auf etwa 250 000
ansetzen.
Im Verlaufe des 17. Jahrhunderts gehen nun einige der früheren
Großstädte an Einwohnerzahl zurück: Lissabon, Antwerpen sinken
unter die 100 000; Mailand, Venedig ebenfalls beträchtlich.
Sombart, Der moderne Kapitalismus. I.
49
770
Sechster Abschnitt: Die Neugestaltung des Güterbedarfs
Dagegen steigen neu zu Großstädten empor : Wien (1720: 130 000)
und Madrid.
Basch wachsen an: Bom, Amsterdam, Paris und London. Born hat
Ende des Jahrhunderts 140 000, Amsterdam 200 000 Einwohner; Paris
erreicht die halbe Million, London überschreitet sie (1700: 674 350).
Während London allmählich an Größe während dieses Jahrhunderts
zunimmt, schnellt Paris offenbar in die Höhe. Es nimmt insbesondere
während der Begierungszeit der beiden ersten Bourbons einen raschen
Aufschwung. Wir begegnen jetzt häufiger jenen seltsamen Edikten,
die das Erbauen neuer Häuser verbieten, um dem Wachstum der Stadt
Einhalt zu tun: „Beconnaissant que l’augmentation de notre bonne
ville de Paris est grandement prejudiciable.“ „Attendu que l’intention
de Sa Majeste a ete que sa ville de Paris füt d’une etendue certaine
et limitee . . (In diesen Verboten äußert sich, könnte man sagen,
ein ähnlicher Wille, wie er in den Zunftordnungen zur Anerkenntnis
kommt: das Widerstreben, ein organisches Gebilde ins Maßlose wachsen
zu lassen; das Widerstreben gegen die rücksichtslose Vergrößerungs¬
und Quantifizierungstendenz des kapitalistischen W esens ; das Wider¬
streben des alten Nahrungsmäßigen, Ständischen gegen die schranken¬
lose Ausdehnungssucht des Erwerbstriebes.)
Die Verbote fruchteten natürlich nichts; trotzdem sie wiederholt
werden (1627, 1637), wächst Paris gerade in diesen Jahrzehnten
mächtig an. Zwischen dem Paris Ludwigs XIII. und dem der Liga,
meint ein urteilsfähiger Geschichtschreiber (Bau drill art), sei ein
größerer Unterschied als zwischen diesem und dem Paris der dritten
Bepublik. Wie stark die Zeitgenossen den Wandel empfinden, spricht
Corneille in seinem 1642 geschriebenen Lustspiel „Le Monteur“
(Acte II, scene V) aus :
„Toute une ville entiere, avec pompe bätie
Sernble d’un vieux fosse par miracle sortie
Et nous fait presumer, ä ses superbes toits,
Que tous ses habitants sont des dieux ou des rois.“
Das 18. Jahrhundert bringt folgende Verschiebungen:
Die Zahl 200 000 überschreiten die Einwohner von Moskau, Peters¬
burg, Wien, *Palermo (1795 : 200 162). Nicht weit davon bleibt Dublin
(1798: 182 370, 1753: 128 870, 1644: 8159).
An die 100 000 kommen heran : Hamburg, Kopenhagen, Warschau.
Berlin steigt auf 141283 (1783), *Lyon auf 135 207 (178 7).
^Neapel nähert sich der halben Million (1796: 435 930), London
der Million (864 845), *Paris hat beim Ausbruch der Bevolution
640 — 670 000 Einwohner.
Die Kiffern sind entnommen der sorgfältigen Arbeit Beiochs,
Die Entwicklung der Großstädte in Europa , in den Comptes rendus
du VIIIe Congres international d’Hyg. et de Dem., 55 ff. Wo ich
ein * vor den Städtenamen angebracht habe , sind die Ziffern dem
Aufsatze Inama-Sterneggs im Handwörterbuch der Staatswiss.,
3. Auf!., entlehnt. Die Einwohnerzahlen von Dublin fand ich bei Al.
Moreau de Jonnes, Statistique de la Grande Bretagne 1, 88.
Einundfünfzigstes Kapitel: Der Massenbedarf der Großstädte 771
Die letzte Zahl für London ist die amtliche Zahl des Zensus von
1801; die Zahl für Berlin nach den Normannschen Zusammen¬
stellungen, die mitgeteilt sind bei Mirabeau, d. J., De la monarchie
prussienne 1 (1788), 395 f.
JX Die Höhe des Verbrauchs der Großstädte
Um eine ziffernmäßige Vorstellung von der Höhe des Bedarfes
dieser Städte zu geben, will ich einige Ziffern mitteilen, die wir
für einige Gegenstände des Verzehrs in den beiden großen Städten:
London und Paris besitzen. Sie sollen lediglich dazu dienen,
eine nicht erst zu erweisende Tatsache in ihrer meßbaren Größe
dem Verständnis näher zu bringen.
1. London: der Auftrieb von Schlachtvieh auf dem Londoner
Schlachtviehmarkte Smithfield betrug :
im Durchschnitt
der Jahre
Schafvieh
Schwarzvieh
1736—1740
599 466
97 548
1741—1745
531134
85 892
1746—1750
655 516
80 878
1751—1755
610 618
80 843
1756—1760
616 750
91699
1761—1765
730 608
93 480
1766—1770
632 812
84 244
Übrigens werden diese von Anderson 4, 156 mitgeteilten Ziffern
beanstandet. Ein Bericht an das Haus der Gemeinen vom Jahre 1795
enthält zum Teil abweichende Angaben. Aber es kommt hier ja nur
auf ganz ungefähre Annäherungswerte an. Daß die Ziffern insofern
richtig sind, als sie keine oder nur eine geringe Zunahme des Auf¬
triebs auf die Londoner Fleischmärkte erkennen lassen , dürfte sich
aus der Tatsache ergeben, daß um jene Zeit (in den 1760 er Jahren),
just wie bei uns 1912, über Eleischteuerung geklagt wurde, die man
(eine Enquete des Jahres 1764 gibt darüber Aufschluß) von bestimmter
Seite auf die mangelnde Viehzufuhr zurückführen zu sollen glaubte.
Von der Branntweinsteuer, die im Jahre 1784 ^ 371 921
— 3 — 9 betrug, bezahlte in diesem Jahre:
London . 106 091 — 15 — 2
Surrey . . 39 644 — 1 — IIV4
Hertfort . „ 184628 — 15 — OV2
London und Umgebung . 330 364 — 12 — laU
Das ganze übrige England „ 41 556 — 8 — 2
Allerdings war die Branntweinproduktion in London und Um¬
gegend zusammengedrängt, wie aus folgenden Ziffern der amtlichen
Statistik hervorgeht:
49*
772 Sechster Abschnitt: Die Neugestaltung des Güterbedarfs
Gallonen wurden gebrannt vom 10. Sept. 1784 bis 5. Juli 1785:
in bei Distillers bei Rectifiers
London . 96 909 102 643%
übrigen England . . . 126 968 57 208%
Der Vergleich der beiden Ziffern läßt aber erkennen, daß es sich
doch gerade auch um den soviel größeren Verzehr von Branntwein
in London handelte.
Die Steinkohle ist als Heizstoff in London schon im Mittelalter
verwandt worden: wir hören schon im 14- Jahrhundert von Blagen
über die Belästigung mit Steinkohlenrauch. M. Dünn, The Coal
Trade (1844) 11; The Coal Trade; App. zu Anderson 4, 701.
Ihr Gebrauch soll allgemein geworden sein seit Karl I. Dünn, 15.
Das bedeutete einen erheblichen Verbrauch in der großen Stadt. Wir
sind genau über die im Hafen von London eingeführten Mengen Stein¬
kohle unterrichtet. Sie bezifferten sich auf 6 — 700 000 Chaldrons in
den Jahren zwischen 1770 und 1790 (1779: 587895; 1787: 764272).
Anderson 4, 321- 692; das sind, da der Chaldron 36 bushel um¬
faßt, also 1272.265 1 mißt, etwa 1 Million Tonnen. Wir dürfen an¬
nehmen, daß diese Mengen im wesentlichen dem Londoner Ver¬
zehr dienten, da in jener Zeit aus ganz England nur wenig mehr als
100 000 Chaldrons ausgeführt wurden, und wir aus späteren Nach¬
weisungen wissen (Pari. Enquete von 1829, bei Dünn, 74), daß da¬
mals, vor Einführung der Gasbeleuchtung, 9 Chaldrons auf 8 P ersonen
Heizverbrauch in London gerechnet wurden. Da wiederum nach andern
Angaben der Versand nach London z. B. im Jahre 1776 über 68%
von der Gesamtausfuhr Newcastles betrug, so kann man ohne weiteres
sagen, daß die gesamte Kohlenförderung Englands am Tyne und Wear
bis fast zum Ende des 18. Jahrhunderts auf dem Massenverbrauch
der Londoner Bevölkerung für Heizzwecke beruhte.
2. Für Paris besitzen wir aus verschiedenen Jahren ziemlich ein¬
gehende Verbrauchsberechnungen, die für die hier verfolgten Zwecke
durchaus verwendbar sind, so sehr die einzelne Ziffer in ihrer ab¬
soluten Höhe mag beanstandet werden können.
Drei amtliche Denkschriften enthalten die Einführungen der wich¬
tigsten Lebensmittel für Menschen und Pferde. Es sind folgende:
a) aus dem Jahre 1634 eine Statistik, die im Aufträge M. le Telliers,
des damaligen Procureur du Roi au Chätelet, späteren Staatsministers
und Staatsrats, angefertigt wurde;
b) aus dem Jahre 1659 eine Aufstellung Savarys des Alteren, der
damals die Ferme du Domaine, Barrage et Entree von Paris inne hatte;
c) aus dem Jahre 1722 eine zweite Aufstellung desselben. Die
Angaben dieser drei Statistiken beziehen sich auf den Verzehr von
Salz, gesalzenem Maquereau, gesalzenem Lachs, Stockfisch, Hering,
Kohle, Rindern, Schweinen, Kälbern, Hammeln, Getreide, Hafer, Heu
und Stroh.
Die letzte Quelle endlich ist
d) die im Jahre 1791 im Aufträge der Assemblee nationale ge¬
druckte Studie Lavoisiers — Resultats extraits d’un ouvrage in-
Einundfünfzigstes Kapitel: Der Massenbedarf der Großstädte 773
titule : De la ricbesse territoriale du royaume de Trance — , in der
er unter Benutzung amtlichen Materials (der Steuererhebungsregister)
für ein „gewöhnliches Jahr vor der Revolution“ („une annee commune,
prise anterieurement ä la revolution“) den Verbrauch der Pariser an
fast allen wichtigen Lebensmitteln und den meisten gewerblichen Er¬
zeugnissen festgestellt hat. Gemäß den Quellen, aus denen Lavoisier
schöpfte , sind nach seinem eigenen Erteil genau und zuverlässig die
Angaben der Mengen von Brot, Getränken, Vieh, Eiern, Fischen,
frischem Käse, Brennstoffen, Zucker, Farin, öl, Wachs, Lichten, Holz,
Baumaterialien; dagegen tragen einen „mehr hypothetischen“ Charakter
die Ziffern für ungesalzene Seefische, Metalle und „einige andere
Warengattungen“ .
Immerhin wird es sich lohnen, sämtliche Ziffern der Lavoisier-
schen Statistik, die ziemlich wenig bekannt sind, hier mitzuteilen, unter
Verzicht auf eine Wiedergabe der viel unvollkommeneren Statistiken
der früheren Jahre.
Lavoisier veranschlagt die Einwohnerzahl des damaligen Paris
auf Grund der Geburten (19 769), die er mit 30 multipliziert, auf rund
600 000. Dann stellt er zunächst an der Hand besonderer Erhebungen,
die Turgot für die Jahre 1764 — 1773 hatte machen lassen, genau die
Menge des nach Paris eingeführten Getreides und Mehles fest. Wir
entnehmen daraus, daß zu jener Zeit bereits der größte Teil des Brot¬
korns in gemahlenem Zustande die Stadtgrenze überschritt (das Bild
mit den vielen Mühlen an der Seine, das Paris im 13. Jahrhundert
bot, hatte sich also geändert!). Während eines Jahres wurden zwischen
1764 und 1773 in Paris eingeführt:
Getreide . 14 351 muids
Mehl . 66 289 „
Auf Brotmengen umgerechnet heißt das, daß
in Gestalt von Getreide . . 14 330 880 Pfd. Brot
„ „ „ Mehl . . . 165 457 344 „ „
nach Paris hineinkommen.
Es folgt dann in der Denkschrift Lavoisier s die Aufstellung
des Vieh- bzw. Fleischverbrauchs der Stadt. Bekannt ist die Stück¬
zahl des aufgetriebenen Viehs, dessen Schlachtgewicht unser Gewährs¬
mann wie folgt anä%tzt: Ochse 700 Pfd., Kuh 360 Pfd., Kalb 72 Pfd.,
Hammel 50 Pfd., Schwein 200 Pfd.
Danach ergibt sich folgender Jahresverbrauch :
Viehgattung
Stückzahl
Schlachtgewicht
Pfund
Ochsen .
70 000
49 000 000
Kühe .
18 000
6 480 000
Kälber . .
120000
8 640 000
Hammel .
350 000
17 500 000
Schweine .
35 000
7 000 000
Fleisch in geschlachtetem Zustande
—
1 380 000
Insgesamt
593 000
90 000 000
774
Sechster Abschnitt: Die Neugestaltung des Güterbedarfs
Die übrigen Verbrauchs- oder Gebrauchsgegenstände, auf die sich
Lavoisiers Feststellungen beziehen, sind dann zunächst nach Ge¬
wicht oder Stückzahl ermittelt; in einer zweiten Tabelle hat er ihren
Wert auf Grund des Tagespreises festzustellen versucht. Ich teile
die wichtigsten Ansätze mit und füge nach dem Vorgehen des Ver¬
fassers denjenigen Waren ein Sternchen (*) bei, deren Mengen nur
schätzungsweise ermittelt werden konnten.
Warengattung
Menge
Wert
Livres
Brot .
206 000 000 Pfd.
20 600 000
Wein .
250 000 muids
32 500 000
Branntwein .
8 000
2 400 000
Cidre .
2 000
120 000
Bier .
20 000 „
1200 000
Früchte und Gemüse .
—
12 500 000
Fleisch .
90 000 000 Pfd.
40 500 000
Eier .
78 000 000 Stück
3 500 000
Frische Butter .
3150 000 Pfd.
3 500 000
Gesalzene und geschmolzene Butter
2 700 000 „
1 800 000
Frische Käse .
424 500 „
900 000
Trockene Käse .
2 600 000 „
1 500 000
*FrischeSeefische (Maree fraiche) .
—
3 000 000
Frische Heringe .
—
400 000
^Gesalzene Fische (Saline) .
—
1 500 000
^Süßwasserfische .
—
1 200 000
Brennholz .
—
20 000 000
*Holz in Balken und zu verarbeiten
1 600 000 Kubikfuß
4 000 000
Holzkohle .
700 000 „Fuhren“
3 500 000
Steinkohle (? charbon de terre)
(Voies ä 1,92 m3)
10 000 „Fuhren“
600 000
Heu .
6 388 000 „Faß“
2100 000
Stroh .
(bottes)
11090 000 „Faß“
1 980 000
Zucker und Farin .
6 500 000 Pfd.
7 800 000
Öle .
6 000 000 „
6 000 000
Wachs und Lichte ......
538 000 „
1345 000
Kaffee .
2 500 000 „
3125 000
*Kakao .
250 000
500 000
*Papier .
6 000 000 „
10 000 000
Pottasche, Natron usw. (Potasse,
soude et cendres gravelees) . .
2 300 000 „
1000 000
Kupfer .
450 000 „
450 000
Eisen .
8 000 000 „
1 600 000
Blei .
3 200 000 „
960 000
Zinn .
350 000 „
350000
Quecksilber . . . .
18 000 „
63 000
Einundfünfzigstes Kapitel: Der Massenbedarf der Großstädte 775
Fortsetzung
Warengattung
Menge
Wert
Livres
*Kolonialwaren (epiceries) .
__
10 000 000
^Drogerien .
—
3 000 000
* Schnittwaren (merceries) . .
—
4 000 000
*Kurzwaren (quincailleries) .
—
4 000 000
*Tuche . .
—
8 000 000
^Wollstoffe .
—
5 000 000
*Seide und Seidenstoffe ....
—
5 000 000
Leinwand .
8 000 000 Ellen
12 000 000
Baumaterialien (Steine, Ziegel, Kalk,
verschieden,
4 000 000
Schiefer, Pflastersteine usw.)
Verschiedene WTaren .
einzeln angegeben
6 857 000
darunter Seife .
1900 000 Pfd.
■ —
Gesamtwert: Livres 260 000 000
3. Für Berlin hat Nicolai in seiner Beschreibung dieser Stadt
(1, 234) eine ebenso eingehende Aufstellung aller Verzehrungsgegen¬
stände gemacht, die abgedruckt und ergänzt ist von Mirabeau, De
la monarchie prussienne 2, 148 ff.
4. Ingleichen für Wien in seiner Reise durch Deutschland Band III.
5. Die Statistik des Verzehrs Dresdens im Jahre 1778 findet man
in Schlözers Briefwechsel 4, 287.
776
Zweiundfünfzigstes Kapitel
Der Bedarf der Kolonien
Quellen und Literatur
Eine Literatur, die insbesondere das Problem der marktbildenden
Kraft der Kolonien in frübkapitalistischer Zeit behandelte , ist mir
nicht bekannt. Gestreift wird es in handelsgeschichtlichen und in¬
dustriegeschichtlichen Werken : siehe z. B. für die Vereinigten Staaten
Bishop, A History of American Manufacturers. 2. ed. 3 Vol. 1868.
Vol.I; Th. Vogelstein, a. a. 0.; Beer, Colonial Policy ; Taussig,
Tariff Hist, of the U.S., zuerst 1889; Eabbeno, The American
Comm. Policy. 2. ed. 1895. Will. B. Weeden, Econ. and social
History of New England (1620 — 1789). 2 Vol. 1890. Auch bei
Bancroft findet man mancherlei.
Für die übrigen Kolonialreiche siehe die oben Seite 431 f. genannten
Schriften.
An Quellen und insbesondere Quellenliteratur kommen von den bereits
erwähnten Werken zur Kolonialgeschichte für das „Bedarfsproblem“
verschiedene in Befracht, wie Raynal, Buchanan u. a.
Außerdem: für das gesamte britische Kolonialreich: John Camp¬
bell, A Political Survey of Britain. 2 Vol. 1774; Vol. 2 p. 586 ff.
Für Indien: die Reports . . . on Administration of Justice in India.
Für die nordamerilcanischen Kolonien: die Berichte der Governors
an die Lords Commissioners of Trade and Plantation (z. B. im Jahre
1732).
Für die spanischen Besitzungen : f^rn. deUlloa, Retablissement
des manufactures et du commerce d’Espagne; trad. de l’Espagne 1753.
Daß die Kolonien und die ihnen verwandten Niederlassungen
der Europäer in den unerschlossenen und unentdeckten fremden
Erdteilen die „Entwicklung von Handel und Industrie“, wie die
saloppe Ausdrucksweise gemeinhin lautet, richtig also: die Aus¬
bildung des kapitalistischen Wirtschaftssysteme, ganz wesentlich
gefördert haben, ist eine Ansicht, die von jeher die besten Sach¬
kenner mit aller Entschiedenheit und mit vollem Hechte ver¬
treten haben. Vor allem waren die Zeitgenossen darüber einig,
daß die Kolonien einen unermeßlichen Wert für das Mutterland
bedeuteten, und daß der Reichtum der seefahrenden europäischen
Länder nicht zuletzt auf den kolonialen Beziehungen sich auf-
Zweiundfünfzigstes Kapitel: Der Bedarf der Kolonien 777
baute. Wir selbst sind dem Einfluß der Kolonien auf die Um¬
gestaltung des europäischen Wirtschaftslebens ebenfalls schon
begegnet dort, wo wir der Entstehung des bürgerlichen Reich¬
tums nachgingen. Und müssen nun hier feststellen, daß nicht
zuletzt die Bedeutung der Kolonien in ihrem Einfluß auf die
Neugestaltung des Bedarfs zu suchen ist, die sie in verschiedenen
Richtungen ausgeübt haben. Gerade auch dort, wo man ihre
Wirkung nicht gleich sucht. So weist z. B. John Campbell,
einer der besten Kenner des Kolonialwesens seiner Zeit, mit
Recht darauf hin, daß die Kolonien für den Absatz der euro¬
päischen Waren schon deshalb so bedeutungsvoll geworden sind,
weil sie die Schiffahrt befördert und dadurch einen starken
Bedarf an Unterhaltsmitteln für die Seeleute und Materialien für
den Schiffbau erzeugt haben:
„All the Trades that are connected with building, rigging and
supplying materials of every Kinds for ships and fitting out seamen
are indebted to the same causes for their subsistance. The freight
also both out and home is a matter of great consequence, amounts
offen to as much and sometimes more than the value of Goods. The
provisions and other necessaries consumed by the Seamen in these
long voyages , with many more articles which would be tedious to
ennumerate, concur to promote and to reward almost every species
of industry exercised amongst us.“ J. Campbell, A political sur-
wey of Britain 2, 566.
Man wird die Berechtigung dieser Ausführungen ohne weiteres
zugeben, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die spanische
Flotte fast ganz, aber auch von den übrigen seefahrenden
Nationen alle großen Schiffstypen, wie wir sie sich seit dem
17. Jahrhundert entwickeln sahen, dem Kolonialhandel dienten,
daß von der englischen Flotte ein volles Fünftel allein den Ver¬
kehr mit Westindien vermittelte, daß England (1769) 1078 Schiffe
mit 28 910 Seeleuten nur für den Verkehr mit seinen nordamerika¬
nischen Kolonien unterhielt usw. Den großen Anteil des Kolonial¬
handels an dem Gesamthandel der europäischen Staaten werden
wir später noch genauer ziffernmäßig festzustellen versuchen.
Hier wollte ich' nur auf eine der Nebenwirkungen aufmerksam
machen, die der Verkehr mit den Kolonien auf den Markt
ausübte, und der über dem Warenabsatz an die Einwohner der
Kolonien selbst nur zu leicht imbeachtet gelassen wird.
Was Campbell für den Bedarf der Schiffahrt und der
Schiffsmannschaften ausführt, hätte er übertragen können auf
eine andere wichtige Bedarfskategorie, die ebenfalls durch die
778 Sechster Abschnitt: Die Neugestaltung des Güterbedarfs
Kolonien eine wichtige Ausweitung erfuhr: ich meine den Be¬
darf der Kolonialheere sowie alle Ausgaben, die für mili¬
tärische Zwecke in der Kolonie gemacht wurden. "Wir wissen,
wie sehr die kolonialen Unternehmungen kriegerische Unter¬
nehmungen waren und um welche mächtigen Besatzungen und
Festungen es sich handelte. Der Bau der Forts, der Unterhalt
der Truppen beanspruchten große Aufwendungen, die in Gestalt
eines wachsenden Massenbedarfs sich auf dem Warenmärkte
niederschlugen. Es ist nützlich, sich vor Augen zu halten, daß
beispielsweise in Britisch-Indien noch in der zweiten Hälfte des
18. Jahrhunderts der Markt, der durch den Heeresbedarf gebildet
wurde, etwa fünfmal so groß war als derjenige, der durch
den Warenabsatz in Indien selbst entstand, wie folgende Ziffern
erweisen: in den Jahren 1766, 1767, 1768 betrug der Gesamtwert
der Wareneinfuhr nach Bengalen 624375 1 ; dagegen kostete die
Zivil- und Militärverwaltung in demselben Zeitraum £ 3971 836 2.
Da sich die militärischen zu den administrativen Ausgaben etwa
wie 5 zu 1 verhielten, so würden von jenem Betrage 6—700 000 £
auf die Ausgaben für die Zivilverwaltung abzurechnen sein, so
daß der Heeresbedarf 3 — 31/* Mill. betragen hätte: eben das
Fünffache des Wertes der Wareneinfuhr.
Aber natürlich kam auch der Warenabsatz an die Bewohner
der Kolonialgebiete in Frage. Über Art und Menge der in die
Kolonien abgesetzten Waren wird der Überblick über die inter¬
nationalen Handelsbeziehungen Aufschluß geben, den der Leser
in dem 6. Hauptabschnitt des 2. Bandes findet. Dort werden wir
sehen, daß es sich sowohl um den Absatz von vielen und kost¬
baren Luxusgütern als auch um einen ansehnlichen Massenabsatz
ordinärer Güter auf dem Kolonialmarkte handelte. Hier möchte
ich nur angeben, worin mir die Besonderheit dieses
Absatzes zu bestehen scheint; weshalb gerade die Kolonien in
so hervorragendem Maße befähigt waren, Waren in großen
Mengen aus Europa aufzunehmen.
Um auf diese Fragen eine befriedigende Antwort zu geben,
müssen wir zweifellos die sehr verschiedenen Kolonialgebiete
einzeln betrachten und je ihre Eigenarten als Abnehmer uns
klar zu machen versuchen.
1 View of the rise etc. of the English Government in Bengal.
App. bei Dutt, 47.
2 4. Indian Report etc. (1773); 1. c. pag. 46.
779
Zweiundfünfzigstes Kapitel: Der Bedarf der Kolonien
So verschieden nun aber auch Indien und Nordamerika, die
Antillen und Mexiko voneinander waren : in einigen Punkten, die
für ihre marktbildende Kraft von besonderer Wichtigkeit sind,
wiesen sie doch viel übereinstimmende Züge auf:
1. alle verfügten sie über eine hervorragend starke Kaufkraft,
wie das im einzelnen noch zu zeigen sein wird, mochten die
Quellen dieser Kraft auch recht verschieden sein: hier Edel¬
metallproduktion, dort reiche Ergiebigkeit an begehrten Natur¬
erzeugnissen, dort wiederum ein allgemeiner Reichtum einei alten
Kulturbevölkerung ;
2. in allen besaßen die Mutterländer ein mehr oder weniger
vollständiges Absatzmonopol, das wiederum sehr verschiedenen
Gründen — natürlichen oder künstlichen — seine Entstehung
verdankte ;
3. der Absatz war durch die Art der Warenzufuhr überallhin
von vornherein zusammengeballt , so daß die Versorgung von
einer Stelle aus: dem Ankunftshafen, der oft zugleich ein Meß -
ort war (Portobello ! Vera Cruz !), notwendig im großen erfolgen
mußte.
Im einzelnen ergibt sich folgendes Bild :
Die asiatischen Kulturreiche, in denen sich nament¬
lich Holländer und Engländer einnisteten, kamen als Absatz¬
gebiete für europäische Waren am wenigsten in Betracht. So¬
wohl ihren Fein- wie ihren Grobbedarf an Gebrauchsgütern
deckten sie seit Jahrhunderten durch eigene Produktion oder
durch Austausch untereinander \ Als die Europäer sich der
asiatischen Gebiete bemächtigten, fanden sie, wie bekannt, einen
blühenden Handel zwischen den einzelnen Reichen, insbesondere
auch mit Japan und China, vor, den muhamedanische und
chinesische Kaufleute betrieben. Wenn sie diesen auch einen
Teil des Handels mit Gewalt Wegnahmen, so bedeutete das
immer noch nicht einen Ersatz der einheimischen Waren durch
europäische. Genuß wurde auch hier ein mehr oder weniger
empfindlicher Druck auf die Bevölkerung ausgeübt, die man von
der Vortrefflichkeit der europäischen Waren zu „überzeugen“
sich angelegen sein ließ. „They (the Dutch) have brought the '
1 Abounding in herseif with all the Necessaries and. Gonveniencies
of Life, she (the country of Bengal) scarce took any thmg m exchange
but Gold and Silver, if we except sometimes for the Supply ofManu-
factures to be again exported, Cotton from Surat. John Camp¬
bell, Pol. Survey 2, 611.
780
Sechster Abschnitt: Die Neugestaltung des Güterbedarla
natives, where they liave any influence, to cloath in tho European
manner, which has wonderfully (!) increased their commerce
from Europe thither“ — sc. to the In dies, ruft Postlethwayt
(Dict. 1 , 248) begeistert aus. Und wir werden sehen , daß es
den europäischen Herren gelang, immerhin schon während
unserer Epoche einige Waren in ihren asiatischen Besitzungen
abzusetzen. Aber die eigentliche Eroberung des indischen Marktes,
insbesondere des britisch - indischen durch die Engländer, fällt
doch erst in das 19. Jahrhundert, nachdem seit den Zeiten der
Kontinentalsperre die systematische Vernichtung des indischen
Gewerbes begonnen wurde. Erst die berühmte Untersuchungs-
kommission des Jahres 1813 hatte die folgenschwere Frage zu
beantworten: wie bringen wir Engländer es fertig, unsere
Schundwaren den Indiern an Stelle ihrer vortrefflichen eigenen
Erzeugnisse aufzudringen?
Die amerikanischen Kulturländer waren weniger
widerstandsfähig als die asiatischen, hatten wohl auch nicht eine
so hochentwickelte gewerbliche Produktion wie diese. Dazu kam,
daß in ihnen mehr wohlhabende Europäer angesiedelt waren als
in den asiatischen Kolonien, so daß sie namentlich als Ab¬
nehmer europäischer Luxuswaren erheblicher in Betracht kommen.
Ein striktes Verbot eigener gewerblicher Tätigkeit bestand nicht.
Die spanische Regierung erklärte mit einer gewissen Pose den
Grundsatz: „Importa menos que cesen algunas fäbricas que el
menos agravios que puedan recibir los indios.“ 1 Ein gewisses
Absatzmonopol schuf eben die berüchtigte Einrichtung der re-
partimientos, von denen wir in anderm Zusammenhang© 2 bereits
Kenntnis erhalten haben.
Jedenfalls wissen wir, daß namentlich im 16. Jahrhundert,
bald nach der Eroberung, eine mächtige Nachfrage nach Luxus¬
gütern von jenen Gebieten ausging, in denen die Spanier Fuß
gefaßt hatten, und daß diese es waren, die zuerst davon Nutzen
zogen. Im Jahre 1545 soll die indische Nachfrage so groß ge¬
wesen sein, daß die ganze Nation zu ihrer Befriedigung zehn
Jahre hätte arbeiten müssen. Auf sechs Jahre waren Vorbestel¬
lungen eingegangen3. Samt in Granada kostete 20—29 Realen,
1 Ley 4 tit. XXVI lib. IV. Recop. de Indias, bei Colmeiro,
Econ. pol. 2, 395 ff.
2 Siehe oben Seite 442.
3 Campomanes, Educacion, 406; zit. bei Bonn, 109. 110.
Zweiundfünfzigstes Kapitel: Dev Bedarf dev Kolonien
781
die indische Nachfrage trieb ihn in 14 Tagen auf 35 — 36 Realen.
Ähnlich lagen die Dinge in Sevilla1 2.
Ganz anders war die Lage der europäischen Besitzungen auf
den Inseln in der Südsee, den sog. Zuckerkolonien. Hier
gab es eine einheimische Gütererzeugung, die den Bedarf der
weißen und schwarzen Bevölkerung an Nahrungsmitteln, Be¬
kleidungsgegenständen, Produktionsmitteln, Luxusgütern zu be¬
friedigen vermocht hätte, überhaupt nicht. Es war aber auch
ganz ausgeschlossen, daß sie sich in nennenswertem Umfange
hätte entwickeln können : die Einwohner hatten besseres zu tun,
als Getreide zu bauen oder Stiefeln und Hüte zu machen. Sie
brachten die stark begehrten Kolonialprodukte hervor, durch
deren Absatz sie auf das beste in die Lage versetzt wurden,
ihren gesamten Güterbedarf, namentlich ihren Bedarf an gewerb¬
lichen Erzeugnissen von auswärts zu beziehen. Hier erwuchs
den Mutterländern ein bedeutendes Absatzgebiet, auf dem sie
sowohl Luxusgüter für die reichen Pflanzer 3 * * * als Massenartikel
für die Neger anbringen konnten. . Die einförmige Bekleidung
der Sklaven hat offenbar einen beträchtlichen Bedarf an ordinärer
Leinwand und Kattun erzeugt.
„Les habitans des Colonies de lAmerique ont les memes besoins
que” ceux d’Europe, si on excepte les vetemens d’hyver, que leur
clima leur rend inutiles. Ils n’ont ni vins, ni eaux de vie de sucre,
ni farines, ni salaisons, ni aucune Sorte de manufactures. 11 faut leur
porter des etoffes legeres, des toiles de toutes sortes, de la quin-
caillerie. des parures, des bas, des chapeaux, des meubles, des usten-
siles de toute espece, des armes et des munitions de guerre. Le
commerce n’offre aucune branche qui embrasse une exportation si
avantageuse et qui donne en meme temps un retour si riebe.“ Le
commerce de la Hollande etc. 1 (1768), 255.
Die auf den Inseln vereinigten Bevölkerungsmengen hatten
gegen Ende des 18. Jahrhunderts bereits eine ansehnliche Höhe
erreicht, wie aus folgenden Ziffern hervorgeht.
Die Bevölkerung der „Zuckerinseln“ (Westindien) betrug 1793
nach Bryan Edwards (zitiert bei Hüne, Sklavenhdl. 1, 348 f.) :
1 Mercado, Tratos y contratos (1591)*, ebenda.
2 In den französischen Kolonien bleiben 9/io der reichen Plantagen¬
besitzer wohnen, während allerdings die Engländer eine andere Praxis
befolgten: aus ihren Kolonien zogen die reich gewordenen Unternehmer
fort, um von London aus durch Agenten ihre Plantagen leiten zu
lassen. Raynal, Histoire 3, 85. 82.
782
Sechster Abschnitt: Die Neugestaltung des Güterbedarfs
Weiße
Schwarze
Jamaica
30 000
250 000
Barbados .
16167
62 115
Granada
1 000
23 926
St. Vincent ...
1450
11 853
Dominico .
1 236
14 967
Antigua .
2 590
37 808
Montferat ...
1300
10 000
Nevis ...
1000
8 420
St. Christoph . . .
1 900
20 435
Virg. Inseln . .
1 200
9 000
Bahamas ...
2 000
2 241
Bermudas .
5 462
4 919
Insgesamt
65 305
455 684
Blieben die nordamerikanischen Kolonien Englands,
die ein besonders wichtiger Markt für die Waren des Mutter¬
landes wurden. Man weiß, daß England hier ein striktes Verbot
der gewerblichen Produktion erließ und auch, soviel wir zu be¬
urteilen vermögen, ziemlich streng durchführte. Bis auf einige
grobe Bedarfsartikel haben die englischen Kolonien in Nord¬
amerika keine gewerblichen Erzeugnisse hergestellt» Ein paar
„Manufakturen“ (z. B. von Hüten), die sich hier und da dem
\ erböte zum Trotz auftaten, bilden eine belanglose Ausnahme.
Die oben erwähnte Denkschrift aus dem Jahre 1732 gibt uns
ein gutes Bild von dem Stande der gewerblichen Produktion in
den nordamerikanischen Kolonien. Ich teile einiges daraus mit :
New Hampshire, „there were no settled manufactures . . . the people
almost wholly cloatked with wollen from Great Britain.“
Massachuset's Bay (New England): „in someparts of this province,
the inhabitants worked up their wool and flax into an ordinary coarse
cloath of their own use . . . the greatest part of both woollen and
linen cloathing worn in this province was imported from Great Britain
there were a few hatters set up in the maritime towns . . . the greater
part of the leather used in that country was manufactured amongst
themselves . . . there had been for many years some iron-w,orks in
that province . . . (but) that province were not able to supply the
twentieth part of what was necessary for the use of the country.“
Aus einem späteren Bericht: „Some othcr manufactures are carried
on there ; as the making of brown Hollands , for womens wear
they also make some small quantities of clotk made of linen and
cotton, for ordinary shirting and sheeting. By a paper-mill, set up
three years ago, they make to the value of 200 j£ yearly.“
„Theie are also several forges for making of bar iron and some
foinaces for casf iron — and one slitting mill : — and a manufacture
of nails. The governor writes, concerning the woollen manufacture,
Zweiundfünfzigstes Kapitel: Der Bedarf der Kolonien 783
that the country people who used formerly to make most of their
cloathing out of their own wool, do not now make a third part of
what they wear, but are mostly cloathed witk British manufactures . . .
there are some few copper mines in this province but so far distant
from water carriage, and the are so poor, that it is not worth the
digging . . . they have in New England 6 furnaces and 19 forges for
making iron ... in this province, many ships are built for the French
and Spaniards . . . Great quantities of hats are made in New England
(das schwerste Delikt !) . . . they also make all sorts of iron-work for
shipping. There are several still-houses and sogar bakers establishe-
ments in New England . . . “
Neu-England war aber auch das Schmerzenskind der Mutter Eng¬
land! Und trotzdem: wie winzig ist der Umfang der gewerblichen
Produktion selbst hier.
New Yorlc: „they had no manufactures in that province that de-
served mentioning“ ; in einem späteren Bericht : „the Company of
Hatters of London have since informed us, that hats are manufactured
in great quantities in this province.“
New Jersy : „no manufactures here that deserve mentioning“;
Pennsylvanien : „having no manufactures established; their cloathing
and Utensils for their houses being all imported from Great Britain“ ;
Rhode Island: „there are iron mines there; but not a fourth part
mon enough to serve their own use.“
Was uns die späteren Sachverständigen über den Stand der
gewerblichen Produktion berichten, läßt erkennen, daß diese in
den nordamerikanischen Kolonien im Laufe des 18. Jahrhunderts
sich nicht wesentlich ausgedehnt hat1.
Um zu ermessen, welch großes Absatzgebiet sich hier für das
Mutterland erschloß, müssen wir uns die Zahlen der Ein¬
wohner in den nordamerikanischen Kolonien um jene Zeit ver¬
gegenwärtigen. Ist auch die Schätzung des „Congress of America“
aus dem Jahre 1774 offenbar zu hoch, nämlich 3 026 678 2, so
dürfen wir doch annehmen, daß zur Zeit ihres Abfalls die Kolo¬
nien von mehr als einer Million Menschen bewohnt waren. Ich
teile hier die ziemlich übereinstimmenden Ziffern mit, die zwei
vertrauenswerte Gewährsmänner offenbar aus guten Quellen in
ihren Werken angeben3:
1 Siehe z. B. die Angaben bei Raynal, Histoire 3, 316. 317.
347. 366, und vergleiche, was Vogels fcein a. a. 0. aus andern
Quellen an Material beibringt.
2 Bei Anderson 4, 178.
3 John Campbell, Pol. Survey 2, 639 ff., und Raynal,
Histoire Vol. 2 passim
784 Sechster Abschnitt: Die Neugestaltung des Güterbedarfs
Kolonie
Nach Campbell
Nach ßaynal
Neu-England .
New York .
Pennsylvanien ....
New Jersey .
Maryland .
Virginia . .
500 000
120 000
2—300 000
600 000
100 000
150 000
1
1
|
K
400 000
150 000
' 150 000 Weiße
[ 30 000 Schwarze
' 50 000 Weiße
20 000 Schwarze
40 000 Weiße
60 000 Schwarze
1 70 000 Weiße
110 000 Schwarze
Insgesamt
1130 000
1080 000
785
Siebenter Abschnitt
Die Beschaffung der Arbeitskräfte
Übersicht
Ohne geeignete Arbeitskräfte in genügender Menge — kein
moderner Kapitalismus. Deshalb bildet die „Entstehung eines Lohn¬
arbeiterstandes“ eine der notwendigen Bedingungen kapitalistischer
Wirtschaft. Bei näherem Hinsehen ergibt sich, daß das Problem
zwieschlächtig ist: es handelt sich einerseits um die Frage, wie und
wann und warum eine genügende Menge besitzloser Menschen
(Lohnarbeiter in potentia) heranwuchs ; andererseits aber um die,
wie wir sehen werden, weit wichtigere Frage : wie der Unternehmer
geeignete und willige Arbeitskräfte (Lohnarbeiter in actu) sich
verschaffte. Der zweite Teil dieses Problems bildet einen Teil der
staatlichen Politik im merkantilistischen Zeitalter. Ich sagte
oben auf Seite 340, weshalb ich die „Arbeiterpolitik“ gesondert
behandeln wollte: weil sie zu ihrem Verständnis ein Eingehen auf
die Gestaltung der Arbeiterverhältnisse selber erheischte und weil
dieses erst an einer späteren Stelle dieses Werkes möglich sei.
Dieser Punkt ist jetzt erreicht. Gemäß der durch diese Sonder¬
behandlung bewirkten eigentümlichen Anordnung des Stoffes
zerfällt dieser Abschnitt in die zwei getrennten Bestandteile, die
durch je ein besonderes Kapitel vertreten werden: Darstellung
der Gegenständlichkeit der Arbeiterverhältnisse (53. Kapitel) und
Darstellung des dadurch hervorgemfenen Verhaltens der staat¬
lichen Gewalten (54. Kapitel).
* *
*
Sombart, Der moderne Kapitalismus. I
50
786
Siebenter Abschnitt: Die Beschaffung der Arbeitskräfte
Literatur
Von der Literatur ist dieser Teil der Wirtschaftsgeschichte und
Politik recht stiefmütterlich behandelt. Außer für England ist mir eine zu¬
sammenfassende Spezialliteratur nicht bekannt. Die zahlreichen Schriften,
die sich mit der „Geschichte der arbeitenden Klassen“ beschäftigen, auch
wenn sie diese als „Proletariat“ bezeichnen, sind doch unter völlig
andern Gesichtspunkten ausgerichtet , auch meist viel zu allgemein
gehalten, als daß sie uns wesentliche Dienste leisten könnten. So
wird das hier herausgestellte Problem kaum berührt in bekannten
Werken, wie etwa H. W. Bensen, Die Proletarier. Eine historische
Denkschrift. 1847; E. Baumstark, Zur Geschichte der arbeitenden
Klassen. 1853 (Rede); Eccardus, Geschichte des niederen Volkes
in Deutschland. 2 Bde. 1907. Robert (du Var), Histoire de la
classe ouvriere depuis l’esclavage jusqu’au proletaire de nos jours.
4 Vol. 1845 — 50 (handelt im wesentlichen von den revolutionären
Bewegungen der arbeitenden Bevölkerung, nicht von dieser selbst).
A. Villard, Histoire du Proletariat ancien et moderne. 1882 (der
Verfasser kennt bis 1789 eigentlich nur Landarbeiter und Handwerker).
Meist werden die Arbeiterverhältnisse und die Arbeiterpolitik von
den Forschern bei der Darstellung der Gewerbepolitik oder
in den allgemeinen Wirtschaftsgeschichten mit erledigt (Levasseur
nennt sogar sein Buch : Geschichte der Industrie und der arbeitenden
Klassen : trotzdem enthält es über diese in der Frühzeit nichts wesent¬
lich Interessantes). Deshalb ist auf diejenigen Werke zu verweisen,
die ich im 24. Kapitel namhaft gemacht habe.
Dazu kommen dann diejenigen Schriften, die die Geschichte
des Armenwesens zum Gegenstände haben, da sich Armenwesen
und Arbeiterwesen (the Poor, the labouring Poor, Le Pauvre =
Lohnarbeiter!) in jenen Jahrhunderten eng berühren. Ich verweise
auf den Artikel „Armenwesen“ (Geschichte der öffentlichen Armen¬
pflege) im H.St. und die dort genannte Literatur. Für unsere
Zwecke kommen von den allgemeinen Darstellungen vornehmlich in
Betracht: De Gerando, De la bienfaisance publique. 4 Vol.
1839, das aber jetzt überholt ist von dem großen Werke: Leon
L allem and, Histoire de la Charite, dessen 4. Band (1910 — 12)
die neuere Zeit vom 16. bis 19. Jahrhundert behandelt. Das 2. Buch
des 1. Teiles enthält einen erschöpfenden Überblick über die gegen
Bettel, Vagabondage usw. in den verschiedenen Staaten getroffenen
Maßregeln. Selbständigen Wert behält daneben wegen seiner Statistiken
das Buch von F. M. L. Naville, De la charite legale ... et speciale-
ment des maisons de travail. 2 Vol. 1836. — Aus der neuen, zu¬
sammenfassenden Literatur der einzelnen Länder verdient besonders
hervorgehoben zu werden das ausgezeichnete Buch von Chr. Paultre,
De la Repression de la mendicite et du vagabondage en France sous
l’ancien regime. 1906. Einzelne Spezialschriften nenne ich noch mehr
im Verlauf der Darstellung.
Die Geschichte der englischen Arbeiterverhältnisse und der eng¬
lischen Arbeiterpolitik während des Zeitalters des Merkantilismus ist
Siebenter Abschnitt: Die Beschaffung der Arbeitskräfte 787
mehrfach Gegenstand besonderer Darstellungen geworden. Es lassen
sich drei Gruppen von Autoren unterscheiden, von denen ich je die
wichtigsten nenne: 1. die Ge werkverein ler: L. Brentano,
Die Arbeitergilden der Gegenwart. Band I. 1871; S. u. B. Webb,
The History of Trade-Unionism. 1894; deutsch 1895; 2. die Geschichts¬
schreiber der Preis- und Lohnverhältnisse: J. S. Thor.
Rogers, Six centuries ofWork and Wages. 2 Yol. 1884; deutsch
u. d. T. Geschichte der englischen Arbeit. 1896; Gust. Steffen,
Geschichte der englischen Arbeiter. 3 Bände; deutsch 1901 f. (Die
beste Darstellung, jedoch vorwiegend Lohngeschichte); 3. die
Marxisten: sie gehen alle auf das 24. Kapitel des „Kapitals“ zurück
und paraphrasieren es, ohne ihm wesentlich Neues hinzuzufügen. Es
kommen vornehmlich in Betracht: H. M. Hyndman, The historical
basis of Socialism in England. 1883; K. Kautsky und Ed. Bern¬
stein, Die Vorläufer des neueren Sozialismus. 1. Band. 2. Teil.
Zuerst 1895. Marxens Kapitel über die „ursprüngliche Akkumulation
des Kapitals“ war zu seiner Zeit eine geniale Leistung. Heute ist
seine Darstellung veraltet. Wir wissen, daß fast kein Wort darin
„richtig“ ist, das heißt sich mit den Tatsachen in Einklang bringen läßt.
Unentbehrlich beim Studium der älteren englischen Arbeiter- und
Armenpolitik ist das Werk von Eden, The State of the Poor. 3 Vol.
1797. Es enthält: 1. die heute noch beste, jedenfalls ausführlichste ge¬
schichtliche Darstellung des Gegenstandes, die vor allem wertvoll ist
durch die langen Auszüge aus den schwer erhältlichen Streitschriften des
17. und 18. Jahrhunderts; 2. (der Hauptinhalt) eine Enquete über die
Lage der Arbeiter und den Stand des englischen Armenwesens in den
1790er Jahren; ferner in den Anhängen: 3. alle wichtigen arbeiter¬
politischen Gesetze und Verordnungen im Wortlaut (App. VIII);
4. Regesten sämtlicher arbeiterpolitischen Gesetze, Verordnungen
usw. von 1 Ed. III c. 7 bis 36 Geo. III c. 51 (App. IX); 5. eine
Bibliographie von ca. 300 Schriften über Arbeiterverhältnisse und
Armenwesen in englischer Sprache von 1524 bis 1797.
Dem Stande unseres heutigen Wissens entsprechende Unter¬
suchungen über den Ursprung der Lohnarbeiterschaft, über die Lage
der Lohnarbeiter während der frühkapitalistischen Epoche sowie über
die merkantilistische Arbeiterpolitik täten dringend not. Einige Spezial¬
schriften, die diese Themata behandeln, nenne ich noch im weitei’en
Verlauf der Darstellung.
50»
788
Dreiundfünfzigstes Kapitel
Die Arbeiternot
I. Massenelend und Masse nbettel
Das Arbeiterproblem während der frühkapitalistischen Epoche
läßt sich nur verstehen , wenn man sich den seltsamen "Wider¬
spruch zum Bewußtsein bringt, der die eigentümliche Gestaltung
des Arbeitsmarktes während dieses ganzen Zeitalters recht
eigentlich ausmacht : den Widerspruch, daß gleichzeitig ein Über¬
angebot an Arbeitskräften herrscht und vielerorts sich ein Mangel
an Arbeitskräften fühlbar macht. Wenn ich sage: es herrschte
ein Überangebot an Arbeitskräften, so ist darunter zu
verstehen: daß es in allen Staaten vom 15. bis zum 18. Jahr¬
hundert eine große Masse besitzloser, armer, arbeitsfähiger Leute
gab, die ihren Unterhalt durch eine Erwerbstätigkeit nicht oder
nicht in ausreichendem Maße fanden, und die infolgedessen ent¬
weder bettelten oder hungerten und schließlich Hungers starben.
Die Tatsache des Massenelends während aller Jahrhunderte
des Frühkapitalismus und in allen europäischen Ländern ist durch
eine hinreichende Menge von Belegen als verbürgt anzusehen.
Frankreich: Schon im 14. und 15. Jahrhundert vernehmen wir von
einem „fast allgemeinen Elend“: Levasseur hat die Quellen im
2- Kapitel des 4. Buches seines Werkes u. d. T. „Appauvrissement
du pays“ zusammengestellt. Ich füge noch hinzu: Anfang des 15. Jahr¬
hunderts schätzt Gruillebort von Metz die Zahl der Bettler in Paris
auf 80 000 (! ?). In Troyes wohnten nach einer Zählung des Jahres
1482 damals 15 309 Menschen „außer etwa 3000 Bettlern“. Chr.
Paultre, 1. c. 2 f . Gegen Ende des 16. Jahrhunderts nimmt die
Zahl der Bettler erschreckend zu. 1578 berichten die Schöffen von
Amiens von 5 — 6000 Arbeitern „estans ä l’aumosne nourris par les
autres habitans aises“. Die reichsten Städte hatten die meisten Annen,
weil alle Vagabunden dort zusammenströmten. In den letzten Jahren
des Jahrhunderts spricht L’Estoile von den „processions de pauvres
qui s’y (in Paris) voyaient par les rues en teile abondance qu’on n’y
pouvait passer“ und erzählt, daß im Hotel Dien „il mouroit pres de
six cents personnes par mois , la plupart de faim et de necessite“.
Le grand Journal de Henry IV p. 269. Im Jahre 1576 errichtet man
in Paris „öffentliche Werkstätten“, „des ateliers publics“, um die
Dreiundfüufzigstes Kapitel: Die Arbeiternot
789
Bettler und Vagabunden zu beschäftigen, die die Straßen anfüllten.
Robiquet, Hist, munic. de Paris 1 (1880), 653 f.
Paris blieb immer der Hauptsitz des Elends und des Bettels : 1634
gab es daselbst nach Omer Talon (Oeuvres 1, 98 f.) 65 000 Bettler,
das wäre ein Viertel der Bevölkerung gewesen. Zit. bei Moreau
de Jonnes, Et. econ. de la France, 217. 218. Nach einer andern
Quelle wird die Zahl der Bettler in Paris im Jahre 1640 auf 40 000
bemessen. Histoire de l’höpital general de Paris. 1676 , zit. bei
Gerando 4, 486.
In einer Denkschrift an den Polizeipräsidenten von Paris im Jahre
1684 wird gesprochen von der „misere affreuse qui afflige la plus
grande partie des habitants de cette grande ville“ (Paris). Bestätigt
durch offizielle Berichte. Levasseur 2, 333.
In einer Petition der Armen von Paris vom Mai 1662 heißt es :
„que les pauvres de Paris sont en tres grand nombre et tres grande
necessite . . . Leur misere est parvenue ä son comble. Les höpitaux
sont si pleins qu’ils ne peuvent plus recevoir . . . “ Corr. adm. sous
Louis XIV. p. 654.
Man erachtete den Bettel großen Stils geradezu als eine unver¬
meidliche Begleiterscheinung der Kultur und des Reichtums. So ver¬
trat Voltaire einem Schriftsteller gegenüber, der behauptet hatte,
je barbarischer ein Land sei, desto mehr Bettler fänden sich dort, die
Auffassung, daß im Gegenteil viel Bettel ein Zeichen höchster Zivili¬
sation sei: denn keine Stadt der Welt sei weniger barbarisch als
Paris, und in keiner Stadt gäbe es mehr Bettler als in Paris: „je
pense qu’il n’y a point de ville moins barbare que Paris et pourtant
oü il y ait plus de mendiants. C’est une vermine qui s’attache ä
la richesse ; les faineants accourent du bout du royaume ä Paris pour
y mettre ä contribution l’opulence et la bonte.“ Voltaire, Lettre
ä Mr T., sur l’ouvrage le M. Melon et sur celui de M. Dutot. 1738;
1. c. p. 675.
Auch M e r c i e r meinte noch : „Les mendians vagabonds se multi-
plient dans les pays riches.“ Im übrigen stellt er eine Abnahme des
Bettels in Paris fest: an seine Stelle sei jene „aktive und arbeitsame
Armut“ (cette pauvrete active et laborieuse) getreten, die allein den
Reichtum der Königreiche ausmache (!). Tableau de Paris 11, 340 f.
Aber nicht nur in Paris, auch im Lande herrschte das Elend und
machten der Bettel und die Vagabundage sich breit. Am liebsten
natürlich in Teuerungsjahren, wie es 1693 und 1694 waren. Am
15. Januar 1693 bittet der Bischof von Noyon den Contröleur general,
einen Befehl gegen die Zusammenrottung der Armen zu ei’lassen : „La
chose presse d’autant plus qu’ils menacent les eures, les religieux
et les principaux habitans des villages de les piller s’ils ne font des
aumosnes au-dessus de leur pouvoir.“
„Les ville s se remplissent de pauvres que les bourgeois ne peuvent
plus soutenir. La calamite est encore plus affreuse dans les villages . .
schreibt dei Intendant des Languedoc 6. Nov. 1693.
Bischof von Montauban (16. April 1694). „nous trouvons presque
tous les jours ä la porte de cette ville 7 4 8 personnes mortes, et
790 Siebenter Abschnitt: Die Beschaffung der Arbeitskräfte
dans mon diocese, qui cornpte 750 pajoisseis, il nieurt bien 450 per-
sonnes tous les jours faute de nourriture.“
Intendant von Bordeaux (19. April 1692): „il nieurt tous les jours
un si grand nombre de pei’sonnes qu’il y aura des paroisses oü il ne
restera pas le tiers des habitants.“ Bei Levasseur 2, 351 f.
„Le menu peuple . . . est beaucoup diminue dans ces derniers ternps
par la guerre , les maladies et par la unsere des cheres annees qui
en ont fait mourir de faim un grand nombre et reduit beaucoup
d’autres ä la mendicite . . Vauban, Dime royale (1707), ed.
Daire p. 86.
Am 4. August 1710 schreibt Fenelon an den Herzog von
Chevreuse: „La culture des terres est presque abandonnees ; les
villes et la Campagne se depeuplent; tous les metiers languissent et
ne nourrissent plus les ouvriers. La France entiere n’est plus qu’un
grand höpital desole et sans provision.“
1740 der Bischof von Clermont an Fleury: „Unser Volk lebt in
furchtbarem Elend, es fehlt an Betten und Möbeln, die meisten ent¬
behren das V 2 Jahr hindurch sogar das Gersten- und Haferbrod, das
ihre einzige Nahrung bildet . . . “ Zit. bei Jäger, Franz. Rev. 1, 167.
Ein Intendant schreibt 1772 an Terray: „La disette et la misere
sont extremes dans divers cantons de la Bretagne . . . “ Bei L e -
vasseur 2, 773.
In vielen Provinzen konnte man wie in Le Berri sprechen: „de
la misere extreme des dernieres classes de la societe.“ Ib. p. 785.
Ein Pfarrer im Pas-de-Calais schreibt im Juni 1786: „Je suis
eure depuis trente trois ans; je n’ai pas encore vu la misere et la
pauvrete montees ä un si haut degre qu’elle est aujourdhui. Puis-je
avec cinq ou six habitants nourrir trente -trois autres menages ne-
cessiteux?“ . . .
Ich trage noch einige Schriften nach, aus denen die Verbreitung
der Elendszustände in den einzelnen Teilen Frankreichs während des
16. bis 18. Jahrhunderts zu ersehen ist:
C. Hippe au, L’industrie etc. en Normandie (1870), 129 ff.
H. See, Les classes rurales en Bretagne etc. (1906), 469 ff.
H. C h o t a r d , La mendicite en Auvergne au XVIII. siecle , in der
Revue d’Auvergne t. XV (1898). G. Vale an, Misere et charite en
Provence au XVIII. siecle (1899), Ch. III.
Alp h. Feillet, La misere au temps de la Fronde. 1862. (Die
Darstellung wird getrübt durch die liberalisierende Tendenz des Ver¬
fassers.)
Eine gute Übersicht über die französische Elendsliteratur gibt
J. Letaconnoux in der Revue d’hist. moderne t. VIII (1906/07), 418.
Im 18. Jahrhundert entstand der Ausdruck: „mendianisme“.
Dasselbe Bild in England-: Nach W. Harrison (1577 — 1587)
gab es seit etwa 60 Jahren „viele unbeschäftigte Bettler“ in England;
erst seit kurzem seien sie eine wirkliche Landplage geworden; als re
schrieb (1580), schätzte er ihre Zahl auf etwa 10 000. Zitiert bei
Steffen 1, 462.
Dreiuudfiinfzigstes Kapitel: Die Arbeiternot
791
Im 17. Jahrhundert nimmt der Bettel in England rasch zu.
Gregory King schätzte die Zahl derjenigen Personen, die auf Unter¬
stützung angewiesen seien, auf ein Viertel der Gesamtbevölkerung, die
er mit 5V2 Millionen .ansetzte. Wir können in England den Stand
der bettelhaften Existenzen wie von einem Barometer aus der Höhe
der Armensteuer ablesen. Diese aber betrug im Jahre 1698 schon
819 000 j£: das war etwa ein Viertel (!) des Wertes des damaligen
Ausfuhrhandels, Als ob wir heute 21h Milliarde Mark an Armensteuer
aufbringen müßten. Daneben bestand aber der Straßenbettel noch
weiter. Auch in England scheint sich der Bettel mit Vorliebe auf
die Hauptstadt ausgedehnt zu haben. Noch Ende des 18. Jahrhunderts
trifft man „eine . . . ungeheure Anzahl Bettler auf den Straßen in London
an“. J. W. von Archenholtz, England und Italien 1 (1787), 151.
Wie in England so in Schottland: Ende des 17. Jahrhunderts
sollen dortselbst 200 000 arbeitsfähige Vagabunden leben. Eletchers
Second Discourse on Public Affairs 1698; zit. bei Mackintosh,
Hist, of the Civ. in Sc. 3, 255. Derselbe Gewährsmann schreibt:
„viele Tausende unseres Volkes sterben heute aus Mangel an Brot.“
Und selbst in Holland sah es nicht anders aus: „das ganze Land
wimmelte von Bettlern“ (im 17. Jahrhundert). Pringsheim, 61.
Wenn die drei reichen westeuropäischen Länder dieses Bild des
Massenelends boten, so läßt sich ohne weiteres annehmen, daß es in
den übrigen Staaten nicht besser stand.
In Deutschland rechnete man im 18. Jahrhundert in den geistlichen
Territorien auf je 1000 Einwohner 50 Geistliche und 260 Bettler. In
Cöln soll es 12 000 Bettler gegeben haben. Perthes, Deutschland
unter der französischen Herrschaft, 116; zit. bei Roscher, Syst.
5 2, Nach andern Berichten soll die Zahl der Bettler in Cöln im
Jahre 1790 sogar 20 000 (von 50 000 Einwohnern) betragen haben.
G. Förster, Ansichten vom Niederrhein. 1791; zit. bei Br. Ivuske,
Handels- und Verkehrsarbeiter in Köln (1914), 74. Für das 16. Jahr¬
hundert vgl. auch Seb. Brant, 63. Narren im Narrenschiff. — Keines¬
wegs beschränkte sich aber der Bettel als soziale Massenei scheinung
auf die geistlichen oder auch nur auf die katholischen Länder (wie
z. B. Fried r. Nicolai behauptete). Auch in den evangelischen
Staaten fehlte es nicht an Bettelei. Überall sind die Bettelmandate
an der Tagesordnung. Die Worte des Gesetzgebers : der Bettel nehme
„je länger, je mehr“ zu, sind ständige Formeln. In den brandenburg-
preufsischen Ediktensammlungen zählen wir während des 17. und
18. Jahrhunderts über 100 Erlasse gegen das Bettler- und Vagabunden¬
unwesen, davon die Hälfte während der Zeit von 1700 bis 1789.
1790 erläßt die hambur gische Gesellschaft zur Beförderung der Künste
und nützlichen Gewerbe ein Preisausschreiben: die zweckmäßige Be¬
schäftigung der faulen und widerspenstigen Armen — dadurch an¬
geregt- Fried r. Wilh. Wilcke, Über Entstehung, Behandlung
und Erwehrung der Armuth. 1792. Vgl. noch Paul Frauenstädt,
Bettel und Vagabundenwesen in Schlesien vom 16. bis 18. Jahrhundert,
in der Zeitschrift f. d. ges. Strafrechtswiss. Bd. 17 (von da über¬
nommen in die Preuß. Jahrb. 89).
792 Siebenter Abschnitt : Die Beschaffung der Arbeitskräfte
Über den Bettel in allen deutschen Landen während des 17. und
18. Jahrhunderts bringt noch andere Quellenbelege bei Hans
Scho rer, Das Bettlertum in Kurbayern in der zweiten Hälfte des
18. sc., in den Forschungen zur Gesch. Bayerns 12 (1904), 177 ff.
Siehe auch die bei der Erörterung des Arbeitshausproblems sowie des
Problems der Entstehung des Bettels genannte Literatur.
Im 17. und 18. Jahrhundert nehmen Müßiggang und Bettel auch
in der Schweis bedrohliche Ausdehnung an: Hans Joneki, Arbeits¬
losenfürsorge im alten Basel. S. -A. aus der Basler Zeitschrift für
Gesch. u. Altertumskunde 6, 184 ff.
Österreich (im 17. und 18. Jahrhundert): in Wien war die Zahl
der Bettler so groß, daß man vor der Türkenbelagerung zu der Ma߬
regel griff, ihrer 7000 aus der Stadt zu schaffen. In Iglau gab es,
wie in andern Städten, zahlreiche Bürger, die, außerstande, sich als
Handwerksmeister fortzubringen, um Tagelohn dienten. Im Jahre 1719
zählte die Stadt unter 6246 Einwohnern 886 Bettler. In den 1720 er
Jahren, als die orientalische Kompagnie in Oberösterreich nach Arbeitern
für die Linzer Schafwoll waren suchte, wurde die Zahl der Bettler in
diesem Lande auf 180 000 geschätzt. Belege bei Max Adler, Die
Anfänge der merkantil. Gewerbepolitik in Österreich (1903), 49.
Italien (Piemont): nach einer Herdfeuerstatistik des Jahres 1743
waren von 8500 Familien eines Bezirks 3162 Almosenempfänger. Eine
Aufnahme im folgenden Jahre ergibt in zahlreichen Gemeinden „Scharen
von Bettlern“. L. Prato, La vita economica in Piemonte a mezzo
il secolo XVIII (1908), 331.
II. „Die Entstehung des Proletariats“
Nach den Ursachen der Entstehung dieses Massen¬
elends, das heißt also dieser elenden Masse, haben vor allem
Marx und seine Schüler gefragt. Da sie ihre Beobachtungen
auf England «eingestellt hatten, so lag es nahe, daß sie zwei
Ereignisse vor allem für die Entstehung besitzloser Volksmassen
verantwortlich machten: die Einhegungen und die Aufhebung
der Klöster. Beide mit Recht. Nur soll man sich davor hüten,
ihre AVirkungen zu überschätzen.
Die erste Periode der
(1) Enclosures fällt in die Zeit von etwa 1450 bis 1550.
Damals wurde in der Tat in weitem Umfange Gemeindeland ein¬
gehegt und wohl auch Ackerland eingezogen zum Zwecke, die
Weidewirtschaft auszudehnen. Nur darf man den Hyperbeln der
Harrison und Morus nicht ohne weiteres Glauben schenken,
sondern muß versuchen, sich ziffernmäßig vorzustellen, wieviel
Bauern etwa durch jene Einhegungen besitzlos geworden sein
können.
Dreiundfünfzigstes Kapitel: Die Arbeiternot
793
In der ersten Auflage dieses Werkes (2, 161 f.) habe ich den Ver¬
such gemacht, die den Einhegungen anheimgefallenen Flächen auf
Grund der Wollausfuhrziffern zu berechnen und bin zu dem Er¬
gebnis gekommen , daß etwa 3 % der Gesamtfläche des Ackerlandes
Englands bis Ende des 16. Jahrhunderts in Weide umgewandelt worden
sei. Erst nachträglich sind mir die Veröffentlichungen der Royal
Historical Society bekannt geworden, in denen die Ergebnisse der im
Jahre 1517 veranstalteten amtlichen Enquete über die Ausdehnung
der Enclosures von 1488 bis 1517 verarbeitet worden sind: The
Domesday of inclosures 1517 — 1518 . . . edited . . . by J. S. Leadam.
2 Vol. 1897.
Wenn ich die Grafschaft Berkshire als Beispiel nehme (für Berk¬
shire und Buckinghamshire liegen genauere Angaben vor), so ergibt
sich folgende Rechnung :
in den Jahren 1488 bis 1517 sind von dem gesamten Areal der
Grafschaft 0,59 °/o durch Einhegungen in Weideland verwandelt (1. c.
p. 515): nehmen wir an, daß dieses Verhältnis sich von 1450 bis
1600 gleich geblieben wäre, so würden bis Ende des 16. Jahrhunderts
von der Gesamtfläche 2,95 °/o in Weideland verwandelt worden sein.
Meine Rechnung würde sich also als ziemlich richtig erweisen. Natür¬
lich ist eine solche fast völlige Übereinstimmung nicht mehr als ein
glücklicher Zufall, der zudem auf einer Reihe willkürlicher Annahmen
mit beruht. Aber was die Ziffern der Enquete mit aller nur wünschens¬
werten Deutlichkeit erweisen, ist die Tatsache: daß die Richtigkeit
meiner Annahme, es handle sich bei den Einhegungen im lo. und
16. Jahrhundert um verschwindend kleine Teile der gesamten Acker¬
fläche, durchaus bestätigt wird. Die Flächen, die in den fünf über¬
haupt untersuchten Grafschaften von 1488 bis 1575 eingehegt wurden,
betragen 1,39 bis 1,98% der Gesamtflächen (1. c. p. 72). Ein großer
Teil des eingehegten Landes ist aber, das ergeben die Ziffern der
Enquete ebenfalls, nicht zu Weidezwecken, sondern zu Ackerzwecken
bestimmt worden. Wir erfahren aber auch für zwei Grafschaften die
Zahl der durch die Einhegungen entsetzten Personen ; es sind in den
30 Jahren, auf die sich die Enquete bezieht, in Berkshire 670, in
Buckinghamshire 1131 (1. c. p. 509. 579). Berkshire hat jetzt etwa
200 000 Einwohner, bei gleich angenommenem Verhältnis vor 400 Jahren
also vielleicht 25 000, davon würden jährlich 22 bis 23 Personen durch
die Einhegungen von ihren Besitzungen entfernt worden sein.
Während des 17. und 18. Jahrhunderts machten die Ein¬
hegungen zum Zwecke einer Ausdehnung der Schafweide nur
geringe Fortschritte, ebenso bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts
auch diejenigen, die dem Zwecke dienen sollten, zu intensiverem
Ackerbau überzugehen. Diese aber , die allerdings die selb¬
ständigen Bauernstellen verringerten, verringerten nicht einmal
die Nachfrage nach landwirtschaftlicher Arbeit.
Enclosed had gave employment to a greater number of hands
than unenclosed.“ Haie, Compleat Book of Husbandry (1758) 1,
208, bei Cunningham 2, 558,
794 Siebenter Abschnitt: Die Beschaffung der Arbeitskräfte
Umgekehrt wurden gerade die Commons verantwortlich gemacht
für die müßiggehende Bevölkerung: die meisten Armen gibt es in
Landesteilen , wo viele Allmende sind, wie in Kent. „Commons
do rather make poor by creasing idlenesse than maintaine them.“
Hartlibs Legacie, 54, zit. ib. 568.
Zu keinen wesentlich andern Ergebnissen kommen auch die Unter¬
suchungen der letzten Jahre, die für das 16. und 17. Jahrhundert
keine neueren Ziffern beibringen, aber gute Überblicke geben : R. H.
Tawnejf, The agrarian problem in the sixteenth Century (1912), 113.
156 ff. 270 ff., und K. C. G. Gönner, Common Land and Inclosure
(1912), 387 ff.
Also die Einhegungen haben gewiß nur einen ganz kleinen
Teil der Besitz- und Arbeitslosen geliefert, denen wir namentlich
während des 17. und 18. Jahrhunderts in England begegnen.
AVoher kamen sie sonst? "Waren es die durch
(2) die Aufhebung der Klöster um ihren Unterhalt
gebrachten Armen, die jetzt bettelnd durch das Land ziehen
mußten ?
Zweifellos hat diese Maßnahme viel dazu beigetragen, die
Zahl der unversorgten Armen in England zu vermehren. Vor
Auflösung der Klöster und als England noch katholisch war,
diente ein Drittel des Zehnten zur Unterstützung der Armen,
der sich außerdem die Klöster und Stiftungen widmeten. Nun
wurden 644 Klöster, 110 Hospitäler und 2374 chantries (Bethäuser,
an denen meist Almosen verteilt wurden) aufgehoben, und alle
die hier versorgten Armen — man hat berechnet, daß es mehr
als 88000 Personen waren1 — sahen sich genötigt, nun auf
andere Weise ihren Lebensunterhalt sich zu beschaffen. Sie
stellten gewiß ein beträchtliches Kontingent zu dem Heere der
Arbeitslosen, Bettler und Vagabunden. Aber selbst wenn wir
annehmen wollten, daß alle 88 000 Klosterarmen, die eigentlich
nur 35 000 waren, zu Bettlern geworden wären: woher kamen
die übrigen Hunderttausende, die es doch allem Anschein nach
im damaligen England gab? Wir können es nur vermuten.
Ich denke, sie entstammten sowohl der Überschußbevölkerung
wie der Zuschußbevölkerung. Eine
Neuere Forscher kommen zu viel niedrigeren Ziffern. So nimmt
Al. Savine in seiner oben Seite 601 zitierten Studie über die eng¬
lischen Klöster an, daß höchstens 35 000 arme Personen (nämlich das
fünffache der 7000 Mönche) von den Klöstern unterhalten worden
seien, deren Wohltätigkeit großenteils in außerordentlichen Material¬
leistungen (Festspeisungen u. dgl.) bestanden habe.
Dreiimdfünfzigstes Kapitel: Die Arbeiternot
795
(3) Ü b e r s c h u ß b e v ö 1 k e r u n g , das heißt eine Bevölkerung,
die über die vorhandenen Nahrungsstellen hinauswuchs, mußte
sich mit Notwendigkeit ergeben, sobald das Land besiedelt, die
Bauern- und Handwerks stellen besetzt waren, die Bevölkerung
sich aber gleichwohl vermehrte. Das war nun, wenn auch in
bescheidenem Umfange, gerade in England der Fall. Die Be¬
völkerung Englands scheint (nach Rogers) bis gegen das Ende
des 16. Jahrhunderts annähernd stationär geblieben zu sein, dann
aber im 17. Jahrhundert ziemlich beträchtlich zugenommen zu
haben. Am Ende des 17. Jahrhunderts schätzte sie, wie wir
sahen, Gregory King auf öVa Millionen; 1740 betrug sie 6,
1750 fast 6Va, 1770 71/«, 1780 8 Milionen.
Aber gewiß werden wir in der frühkapitalistischen Epoche
immer in erster Linie mit der Zuschußbevölkerung
rechnen müssen, also mit solchen Personen, die ihre wirtschaft¬
liche Selbständigkeit einbüßten, wenn wir die große Masse
der Besitzlosen erklären wollen. Nur ist es falsch , wie Marx
es getan hat, in jenen beiden erwähnten Methoden einer gewalt¬
samen Besitz- oder Einkommensentziehung die einzigen Wege
zur Schaffung eines besitzlosen Proletariats zu erblicken. Das
gilt nicht einmal für England. Hier werden wir vielmehr als
mindestens ebenso bedeutsam wie jene plötzliche „Beraubung“
den Prozeß der
(4) allmählichen Verarmung selbständiger bäuerlicher
oder gewerblicher Produzenten ansehen müssen, wenn wir die
Entstehung eines Lohnarbeiterstandes erklären wollen. Es sind
ganz natürliche Differenzierungsvorgänge, die aus Bauerntum
und städtischem Handwerkertum im Laufe der Jahrhunderte
lebensunfähige Existenzen ausscheiden, die entweder zu Bettlern
herabsinken oder doch wenigstens eines Zuschußverdienstes be-
iwAigen.
Diese allmähliche Verarmung der alten handwerksmäßigen Existenzen
iat wohl eine der allerwichtigsten Ursachen für die Entstehung einer zum
Kapitalismus reifen Arbeiterschaft. Wir werden später genauer verfolgen,
wie diese verarmten Bauern und Meister ein sehr großes Kontingent zu
den hausindustriell beschäftigten Arbeitern stellten. Die Tatsache ist
so allgemein bekannt, daß sie nicht erst durch Quellenbelege erwiesen
werden muß. Namentlich in der Textilindustrie ist diese Art
der Entstehung des Proletariats besonders häufig. Siehe z. B. für
Italien (Florenz) : Dören, Studien 1, 266 ff. ; für England: Bonwick,
Wool Trade, 403 ff. ; für Deutschland: Schmoller, Tucherbuch. TJrk.,
77; Stieda, Entst. d. Hausindustrie, 135; Zimmer manu, Schles.
796 Siebenter Abschnitt: Die Beschaffung der Arbeitskräfte
Leinengewerbe, 56 f. ; W. Troeltsch, Calwer Zeughandlungskom¬
pagnie, 22.
Ganze Gewerbe werden in ihrem Bestände erschüttert, ihre
Vertreter werden plötzlich ruiniert durch
(5) große Absatzstockungen, die (wie wir noch sehen
werden) während des frühkapitalistischen Zeitalters sehr häufig
sind, aber auch schon zum eisernen Bestände der handwerks¬
mäßig organisierten Wirtschaft gehören. Wie kann man selbst
in England angesichts der jahrhundertelangen Entwicklung einer
kapitalistischen Hausindustrie, namentlich im Textilgewerbe, alle
besitzlose Lohnarbeiterschaft auf jene beiden Gewaltakte zurück¬
führen wollen?
Wir dürfen auch nicht vergessen, daß
(6) die Aufhebung der Leibeigenschaft, die in Eng¬
land schon im 14. Jahrhundert beginnt, Existenzen, die früher
in den großen Grundherrschaften mit durchgehalten waren, nun
von dem Boden, in dem sie bisher ihre Nahrung gefunden hatten,
loslöst und zur freien Bettelei treibt. In gleichem Sinne wird
(7) die Auflösung der Gefolgschaften sich hier und
da fühlbar gemacht haben.
Wie kann man aber gar behaupten 1 * *, daß die englische Ent¬
wicklung ein allgemeines Gesetz darstelle?
Während jene beiden Ereignisse (Einhegungen und Aufhebung
der Klöster) bei der Bildung des englischen Proletariats zweifel¬
los mit gewirkt haben (neben andern, wahrscheinlich wichtigeren
Ursachen), kommen sie für die übrigen Länder überhaupt nicht
in Betracht. Was hat in diesen, was hat insbesondere in Frank¬
reich, dem klassischen Lande des Frühkapitalismus, die besitz¬
losen oder besitzarmen Massen erzeugt, aus denen sich die
Lohnarbeiterschaft bildete? Vor allem natürlich wiederum die
bereits unter 3 bis 7 gewürdigten Umstände. Zu diesen all¬
gemeinen Ursachen gesellen sich in den Ländern des euro¬
päischen Festlandes :
(8) der Krieg, dessen zerstörende und verheerende Wir-
1 „Die Expropriation des ländlichen Produzenten, des Bauern, von
Grund und Boden bildet die Grundlage des ganzen Prozesse^. Ihre
Geschichte nimmt in verschiedenen Ländern verschiedene Färbung an
und durchläuft die verschiedenen Phasen in verschiedener Reihen¬
folge (?) und in verschiedenen Geschichtsepochen. Nur in England,
das wir daher als Beispiel (!) nehmen, besitzt sie klassische Form.“
K. Marx, Kapital 1 4, 682.
Dreiimclfünfzigstes Kapitel: Die Arbeiternot
707
ktmgen, namentlich in Frankreich und Deutschland, mit Händen
zu greifen sind 1 * * ;
(9) der Steuerdruck, von dem wir mit Sicherheit an¬
nehmen dürfen, daß er wiederum vor allem in Frankreich, dann
aber auch in einem Lande wie Holland, zahlreiche ehemals selb¬
ständige Existenzen vernichtet hat. AVer die ökonomische Lite¬
ratur Frankreichs aus dem Jahrhundert von 1650 bis 1750 kennt,
weiß, daß die ersten Sachverständigen, wie Vauban, Bois-
guillebert, Melon, die Verarmung des französischen Volkes
vor allem aus den hohen und namentlich schlecht veranlagten
und parteiisch erhobenen Steuern erklären.
Hier müssen, wie ich schon sagte, umfassende Studien ein-
setzen, die über den Stand der bloßen Vermutungen, die freilich
in allgemeineren Erwägungen wohlbegründet sind, hinauskommen.
Einen hübschen Anfang macht das mehrfach erwähnte Buch von
B. Kuske, in dem die Herkunft der städtischen Handels- und Ver¬
kehrsarbeiterschaft in Köln anschaulich geschildert wird. „Es waren
Kleinhändler und Schänkwirte, , verdorbene Handwerksmeister4, ferner
Handwerksgesellen, die nicht Meister werden konnten, Ungelernte, die
aus , unehrlichen4 Kreisen stammten usw. Die Handwerksmeister
stellten jedoch den Hauptteil.“ S. 92 f. Es müssen mehr solche
monographische Untersuchungen über die Herkunft 1. der Arbeitenden
aber auch 2. der Armen (Bettler) angestellt werden. Von dieser
andern Seite her wird Licht verbreitet durch die interessante
Studie von E. Detleffen, die ich in der Anmerkung genannt habe.
Sie enthält Auszüge aus einem Rechnungsbuch über die Armenverwaltung
des Kirchspiels Neuenkirchen a. d. Stör. Es wimmelt von Bettlern aus
aller Herren Länder. Almosenempfänger sind: Kriegsbeschädigte, Ver¬
wundete, Verstümmelte, abgedankte Offiziere, gewesene Feldprediger,
Abgebrannte, Schiffbrüchige, durch Wassersnot Verarmte, vertriebene
Prediger, Schulmeister, Organisten, Predigerwitwen, wandernde
Studenten , Blinde , Lahme , Besessene und andere Kranke , über¬
getretene Katholiken und Juden usw. A. a. 0. S. 138. Ähnliche
Untersuchungen für ein beschränktes Gebiet haben schon einige ältere
Arbeiten angestellt wie: G. Brückner, Die Bettler zu Effelder des
Jahres 1667 usw., in der Zeitschr. f. deutsche Kulturgesch. 1 (1856),
31 ff., und Karl Pfaff, Die Landstreicher und Bettler in Schwaben
vom 16. bis in das 18. Jahrhundert, ebenda 2 (1857), 431 ff. Vgl.
auch L. M. Leonard, The Early History of English Poor Relief
(1900), 14 ff.
Eine ergiebige, noch gar nicht ausgeschöpfte Quelle ist die zeit¬
genössische Armenliteratur. Ich verweise z. B. auf Pastor
1 Siehe z. B. R. Detleffen, Ein Beitrag z. Gesch. des Bettels, in
der Zeitschr. d. Ges. f. Schleswig-Holsteinsche Geschichte 31 (1901),
117 ff.
798 Siebenter Abschnitt: Die Beschaffung der Arbeitskräfte
Wagemann, Über einige vorzügliche Ursachen des Verarmens und
Betteins usw., im 1. Bande des von ihm herausgeg. Gotting. Magazins
für Industrie und Armenpflege. 1789; ferner auf die lehrreiche Artikel¬
reihe : Über die Betteley in Niederschlesien, in den Schles. Provinzial¬
blättern Band 31 und 32 (1800), deren Verfasser mit großer Kenner¬
schaft die verschiedenen Gruppen von Bettlern schildert; auf F. W.
Wilke, Über Entstehung usw. der Armut. 1792.
III. Der Mangel an Arbeitskräften und seine Gründe
Wenn man gewisse Quellen zur Industriegeschichte des 16.,
17. und 18. Jahrhunderts durchliest: Eingaben von Unternehmern,
Berichte von Beamten, Verhandlungen von Sachverständigen¬
kollegien oder Behörden, Denkschriften oder Erzählungen ge-
werbskundiger Personen: immer klingt die Klage hindurch: es
fehlt nicht an Arbeit, es fehlt an Arbeitern. Es wird genügen,
wenn ich ein paar Stichproben hier mitteile, die erkennen lassen,
daß dieselbe Erscheinung in den verschiedenen Ländern unter
ganz verschiedenen Bedingungen sich beobachten läßt, die nur
darin übereinstimmen, daß es sich um die Nachfrage nach Ar¬
beitern aufkommender kapitalistischer Industrien während der
letzten drei Jahrhunderte des frühkapitalistischen Zeitalters
handelt:
In Spanien , das bekanntlich im 16. Jahrhundert ein rasches Auf¬
blühen der Industrie erlebte, klagen die Cortes im Jahre 1552 pet. 120
(bei Colmeiro 2,93): „pues antes faltaban jornaleros que jornales.“
Frankreich: Im Jahre 1764 beschweren sich die Wollwarenfabrikanten
von Vienne, daß die Baumwollwarenfabriken von Neuville ihre Baumwolle
auch in dem Gebiete der Dauphine spinnen lassen, wo die Vienneser
Fabrikanten in langjähriger Arbeit mit vielem Aufwand einen Stamm
guter Spinner herangezogen haben. Tableau de la manufacture de
Vienne en Dauphine. 1764 (Ms.), bei M. Kowalewsky, La France
econ. 2, 86. Dieselbe Klage vernehmen wir von den Fabrikanten in
Sedan. Tricou, Tableau de la Situation des manufactures des Trois
Eveches. 1785 (Ms.) 1. c. p. 88.
In Languedoc erklären die Provinzialstände, daß die Arbeiter in
der Landwirtschaft fehlten, dank der Entwicklung der Wollindustrie.
Des Cilleuls, 190.
In den Pariser Cahiers der Generalstaaten von 1614 dieselbe Klage:
Henry Hauser, Les questions industrielles et commerciales dans
les cahiers de la Ville et des communautes de Paris aux Etats generaux
de 1614, in der Vierteljahrsschrift f. Soz. u. WG. 1 (1903), 389.
„Les tireuses et les devideuses deviennent rares“ . . . Brief des
Intendanten Letourneur an den Vorsteher der Kaufleute in Lyon vom
17. Sept. 1745: bei Cilleuls, La grande industrie, 163.
In einem Briefe vom 20. Nov. 1781 erörtert einer der Fabrik-
Dreiundfünfzigstes Kapitel: Die Arbeiternot
799
inspektoreil von Montaurais die Frage : ob und in welchem Umfange
der Aufschwung, den die Baumwollindustrie während der letzten
Monate erfahren hat, die Wollwarenfabrikanten ihrer Arbeiter beraubt
hat. Ms. bei Kowalewski, La France econ. et soc. 2, 91.
Arbeitermangel in der südfranzösischen Eisenindustrie : 1. c. S. 104.
England: Defoe stellt in seiner Schrift Giving Alms no Charity
(1704) als erste These auf: „there is in England more labour than
liand to perform it, and consequently, a want of people, not of em-
ployment.“ Belegstellen für das 18. Jahrhundert bei Cunningham
2, 529.
Als Mr Dale im Jahre 1784 seine Baumwollspinnerei in Lanark
anlegen wollte, erzählt R. Owen (New view of Society, 34): „it
was . . . necessary to collect a new population to supply the infant
establishment witli labourers. This however was no light task.-1
Spinner fehlen in der Hausindustrie im 18. Jahrhundert. J ames,
Worsted Manufacture, 252 tf.
Deutschland : Es fehlt an Arbeitern in der badischen Eisenindustrie
(16. Jahrhundert). Beck, G. d. E. 2, 702; an Berg- und Hütten¬
arbeitern im Oberharz (16. Jahrhundert); ebenda S. 794.
„oft muß der fleißige Landmann diesen Müssiggängern von seinem
sauer erworbenen Vorrath eben zu einer Zeit mittheilen, da er für
theures Geld keinen Tagelöhner zu seiner Feldarbeit aufzutreiben im
Stande ist.“ (Joh. Willi. Klein) Über Armuth, Abstellung des
Betteins und Versorgung der Armen (1792), 131.
Es giebt keinen Mangel an Beschäftigung: Eberh. v. Rochow,
Versuch über Armenanstalten und Abschaffung aller Bettler (1789), 34.
Der Verfasser der oben genannten Aufsätze in den Schlesischen
Provinzialblättern berichtet von bettelnden Knechten, „die bei allem
Mangel an Arbeitern in Schlesien doch nach einem Dienst umher¬
laufen“ (a. a. 0. 32, 203), und an einer andern Stelle von dem „aus
der Betteley erwachsenden Mangel an Arbeitern“ (32, 237).
Leutemangel in Baden (18. Jahrhundert): Otto Konrad Roller,
Die Einwohnerschaft der Stadt Durlach im 18. Jahrhundert (1907), 337.
Es fehlt allerorts an Spinnern (18. Jahrhundert): in Sachsen:
König, 83; in Schlesien: Bergius, Neues Pol. und Cam. Magazin
2 (1776), 372 ff.
Schweiz: in der Baseler Seidenbandindustrie (17. Jahrhundert):
Geering, 602.
Österreich: Eine Taglohnfestsetzung für Handwerker von 1686 stellt
Mangel an Gesellen fest: Cod. austr. 2, 324. Mangel in der mäh¬
rischen Tuchindustrie (18. Jahrhundert): v. Mises, in der Zeitschr.
f. VW. usw. 14 (1905), 235.
Schweden: siehe J. Fr. Krügers Rede (1758) in Schrebers
Sammlung 10, 361 ff»
Fragt man nach den Gründen eines solchen Arbeite r -
mangels, der doch eine höchst auffallende Erscheinung an¬
gesichts der Tatsache eines allgemeinen Massenüberschusses von
Menschen ist, so. kann man äußere und innere Gründe unterscheiden.
800
Siebenter Abschnitt: Die Beschaffung der Arbeitskräfte
Die äußeren Gründe wird man vor allem in der mano-el-
ö
haften Verständigung und Verbindung erblicken dürfen, die in
jener Zeit zwischen den einzelnen Gegenden eines Landes und
zwischen den einzelnen Gewerben bestanden. Dadurch kam es,
daß ein Überangebot an Arbeitskräften an einem Orte nicht ohne
weiteres eine Lücke an einem andern Orte ausfüllen konnte.
Dieser Mangel eines Ausgleichs der Arbeitermengen hat ja bis
in die neueste Zeit hinein bestanden und muß für die Frühzeit
des Kapitalismus selbstverständlich als in erhöhtem Maße wirk¬
sam angenommen werden. Es wird auch zuzugeben sein, daß
dieser Übelstand in einem Lande wie England, dessen Armen¬
gesetzgebung den Erwerbslosen künstlich an einem Orte fest¬
hielt, sich besonders fühlbar machen mußte \ während anderswo
die noch überall bestehende Beschränkung der Freizügigkeit das
ihrige dazu beitrug, eine gleichmäßige Verteilung der Arbeits¬
kräfte über das ganze Land hintanzuhalten.
Mir scheint aber doch die Bedeutung der inneren Gründe,
die den Arbeitermangel trotz Arbeiterüberflusses erzeugten, die
jener äußeren bei weitem zu übertreffen.
Unter inneren Gründen verstehe ich die Beschaffenheit
des Arbeitermaterials selbst. Wir wollen uns zum Bewußt¬
sein bringen, daß das bloße körperliche Dasein von Arbeits¬
kräften noch keineswegs genügt, um einen bestimmten Bedarf
an Arbeitsleistungen zu befriedigen. Es kann nämlich sehr wohl
sein, daß jene Menschen, die körperlich da und auch rein physisch
arbeitsfähig sind (von den im physischen Sinne Arbeitsunfähigen,
wie Säuglingen, Greisen, Kranken, Invaliden usw. , sehen wir
natürlich ab, wenn wir von „Arbeitskräften“ sprechen), doch
entweder nicht arbeiten können oder nicht arbeiten wollen.
Beide Mängel oder einen von ihnen dürfen wir nun aber bei den
Arbeitern jener frühkapitalistischen Zeit voraussetzen, und diese
in den Arbeitern selbst gelegenen Mängel sind es vornehmlich
gewesen, die den Mangel an Arbeitern hervorriefen.
Sie konnten nicht arbeiten, weil sie in den meisten Fällen
nicht die genügende Vorbildung besaßen. Die im wesentlichen
noch empirische Technik jener Zeit brachte es nu"n aber mit
sich, daß das kunstvolle Arbeitenkönnen in viel größerem Um¬
fange als etwa heute an die Person des Arbeiters gebunden
war. Deshalb konnte es nicht oder nicht so rasch, wie man es
1 Diesen Umstand betont Steffen a. a. 0. besonders.
Dreiundfüufzigstes Kapitel: Die Arbeiternot
801
wünschte, auf andere Personen übertragen werden. Industrien,
die einiges Geschieh und einige Ausbildung erheischen, konnten
deshalb fast nur dadurch gepflegt oder erweitert werden, daß
man gelernte Arbeiter aus andern Gegenden oder Ländern herbei¬
zog. Diese vollkommen von der heutigen verschiedene technische
Eigenart der industriellen Arbeit erklärt zum guten Teil die
Tatsache, daß man inmitten arbeitsfähiger Menschen doch Mangel
an Arbeitern empfinden konnte , erklärt aber auch eine ganze,
wichtige Gruppe von Maßregeln der staatlichen Arbeiterpolitik,
wie das in dem folgenden Kapitel gezeigt werden wird.
Wir haben verfolgen können, wie sich im Mittelalter während der
handwerksmäßigen Epoche dieses Gebundensein des Könnens
an die Person des Arbeiters fühlbar machte : im Mangel an
Handwerkern, in Verpflanzung, Abspenstigmachung von Handwerkern
usw. Es muß nun aber festgestellt werden, daß dieses persönliche
Gebundensein des technischen Vermögens während des ganzen
frühkapitalistischen Zeitalters andaue rn mußte, w'eil ja
die Technik grundsätzlich empirisch begründet blieb. Ein Beispiel:
Jahrhundertelang waren die Hüte der römischen Kardinäle in
Caudebec , einer Stadt der Normandie , gemacht worden. Als die
Hutmacher nach der Aufhebung des Edikts von Nantes nach Eng¬
land auswanderten , wanderte ihre Kunst mit : Kardinalhüte konnten
jetzt nur in England gemacht werden. In der Mitte des 18. Jahr¬
hunderts kehrte ein französischer Hutmacher, Mattliieu, nach Frank¬
reich heim und eröffnete in Paris eine große Hutmanufaktur: damit
kehrte das Geheimnis nach Frankreich zurück. W. Cunningham,
Alien Immigrants to England (1897), 243. Diese Abhängigkeit der
Produktion von der Person des Arbeiters dauert das ganze 18. Jahr¬
hundert hindurch an: 1768 werden 40 Französinnen nach Glasgow
gebracht, um feine Garne zu verweben: Cunningham, Growth 3,
331, und reicht bis tief ins 19. Jahrhundert hinein: noch in den
1820er Jahren konnte die Maschinenindustrie in Deutschland
nur eingeführt werden durch den Import englischer Sachverständiger
und Arbeiter. L. Berger (Witten), Der alte Harkort (1895), 153. Dgl.
die Eisenindustrie: die ersten Arbeiter, mittels deren die Kemy
das Puddel verfahren in Deutschland einführten, hatte John Cockerill
zu Seraing bei Lüttich (ib. 165) ihnen vorübergehend überlassen.
Dagegen holt H. (1826) wieder englische Arbeiter zur Anlegung eines
Puddel- und Walzwerks herüber (166).
Ein anschauliches Bild von der Schwierigkeit, die sog. steirische
Sensenfabrikation in Itemscheid einzuführen, entwirft Eversmann,.
Eisen- und Stahlerzeugung zwischen Lippe und Lahn, 392 f.
Nun würde aber auch diese sagen wir technische Unbeholfen-
heit der Arbeiterschaft sich viel rascher — wenigstens im Ablauf
mehrerer Generationen — haben beheben lassen, wenn nicht ein
anderes Hindernis der Heranbildung eines für die kapitalistische
Sombart, Der moderne Kapitalismus. I. 51
802
Siebenter Abschnitt : Die Beschaffung der Arbeitskräfte
Produktion geeigneten Arbeiterstandes im Wege gestanden hätte:
ein Hindernis, das in der Seelenverfassung der Menschen selbst
begründet war. Es läßt sich nämlich ganz deutlich erkennen,
daß die besitzlosen oder besitzarmen Leute jener Jahrhunderte
nicht arbeiten wollten, jedenfalls nicht so arbeiten und
das arbeiten wollten, wie es und was die kapitalistischen Unter¬
nehmer von ihnen verlangten. Diese sagen wir natürliche Faul¬
heit, Trägheit, Indolenz der großen Masse wird von allen Zeit¬
genossen, die sich über Arbeiterverhältnisse jener Jahrhunderte
geäußert haben, mit seltsamer Übereinstimmung in allen Ländern
der frühkapitalistischen Kultur festgestellt. Dieses Urteil ver¬
dichtet sich dann in den ökonomischen Theorien und in den
praktischen Reformvorschlägen zu der Behauptung : daß nur bei
niedrigen Löhnen die Menschen zum Arbeiten zu bewegen seien,
und folgeweise auch natürlich bei allen, denen es um eine Aus¬
dehnung der kapitalistischen Wirtschaft zu tun war , zu der
Forderung einer möglichst niedrigen Bemessung des Arbeits-
entgeltes, d a m i t die Menschen zu regelmäßiger Arbeit sich ge¬
zwungen sähen. Diese Lohn- und Arbeits-, auch Armutstheoiien
sind Ausfluß einer allgemeinen Meinung über die seelische Be¬
schaffenheit der großen Massen und können uns deshalb als
Quelle dienen, aus der wir die Erkenntnis der damaligen An¬
sichten über Arbeiterverhältnisse (nicht ohne weiteres dieser
Arbeiterverhältnisse selbst) schöpfen können.
Ich teile einige besonders kennzeichnende Äußerungen von
Praktikern und Theoretikern des 16., 17. und 18. Jahrhunderts
mit, in denen sich
die Anschauungen über die Psyche des Arbeiters jener Zeit
widerspiegeln :
Italien (16. Jahrhundert): „Voleno inanze stentare e morire di
fame che lavorare per bon mercato e guadagnare la spesa.“ Cronache
modanesi di Jacopino de Bianchi: Hon. di storia patria per le prov.
modenesi. Parma 1861. a. 1528. a. 1584. Zit. Nino Tamassia,
La famiglia ital. nei sc. XV e XVI (1910), 28. Cf. A. Palmieri,
I lavoratori del contado bolognese durante le signorie in Atti e mein,
della R. Dep. di Storia patria per la Romagna. S. III. Vol. 26. 27
(1909).
1 Sie sind zum Gegenstände besonderer Untersuchungen gemacht
worden u. a.' von G. v. Sehulze-Gaevernitz, Der Großbetrieb.
1894, und neuerdings von A. v. Kostanecki in seinem interessanten
Buche: Arbeit und Armut. 1909.
Dreiundfünfzigstes' Kapitel: Die Arbciternot 803
Frankreich: Für Frankreich besitzen wir vor allem in den Äuße¬
rungen Colberts und seiner Beamten ein reiches Material zur Beurteilung
der damaligen Arbeiterverhältnisse. Sie sind verzweifelt über die Träg¬
heit und Schwerfälligkeit der Bevölkerung, die ihnen bei ihren Be¬
strebungen , die Industrie im Lande zu fördern , wie eine schwere,
zähe Masse sich entgegenstemmt.
In seinen Briefen spricht Colbert von Avranchey, in dem „le
peuple est tres faineant“, von Bourges , dessen Einwohner „d’une
faineantise sans pareille“ sind. An Basville schreibt er 1662: er
möge Anstalt treffen, „de retirer les habitants de Poitiers de l’extreme
faineantise dans laquelle ils ont este de tout temps et sont encore
plonges“. Er empfiehlt den Schöffen von Abbeville die Industrie als
das beste Mittel „pour bannir la faineantise et reduire la mendicite
aux malades et aux invalides“. „Comme la ville d’Auxerre veut re-
tourner dans la faineantise et l’aneantissement dans lesquels eile a
este, mes autres affaires et ma sante m’obligent ä l’abandonner ä sa
mauvaise conduite.“
In Chevreuse , der Domäne seines Schwiegersohns , versucht C.
eine Wollstrumpfindustrie einzubürgern: „Ils preferent emplir les
cabarets“, schreibt er.
Auf denselben Ton sind die Berichte der Intendanten an Colbert
abgestimmt. 1669 berichtet der Intendant von Bourges : viele Ge¬
meinden hätten darauf verzichtet, die Spitzenklöppelei bei sich ein¬
zuführen: „pretendant que l’application ä cet ouvrage gastait la vue.“
Der Intendant von Bourges schreibt ein andermal: „La faineantise
est si grande dans la ville et le plat pays, que j’avance que je ne
puis revenir de l’etonnement oü m’a mis leur paresse et ce ne sera
pa3 une petite affaire que de reduire ces gens-ci ä travailler de la
bonne maniere.“
Dieselbe Faulheit berichtet aus St. Flour, Auxerre, Avranches.
Depping, Corr. administrat. sous Louis XIV.* 3, 768. 770. Siehe
den 2. Band der Lettres de Colbert p. 209. 356. 515. 542 Note 1.
589. 680. 714. 731. 760. 792.
Die umfassenden Erziehungsversuche Colberts hatten die Aufgabe
nicht zu lösen vermocht: die ..faineantise5 bleibt (nach den Urteilen
der Zeitgenossen) auch im 18. Jahrhundert der Grundzug der franzö¬
sischen Massen.
In der Dauphine beklagt sich zu Anfang der Regierung Ludwigs XIV.
der Intendant Fontanien über „l’indolence espagnole et du genie des
Valentinois, paresseux par temperament et par education.“
In Auxerre sprach man in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts,
wie zur Zeit Colberts, von der Notwendigkeit, „de tirer le peuple de
son inertie et de son assoupissement“. Aus Lokalarchiven L e -
vasseur, Hist. 2, 774.
Aus diesen Beobachtungen zogen dann die Lohntheoretiker und
Lohnpolitiker den Schluß : also müsse dem Arbeiter so wenig wie
möglich gegeben werden, damit er zur Arbeit komme. Ich verweise
z. B. auf: Bigot de Saint e-Croix, Memoire sur les corporations.
May et, Mein, sur les manufactures de Lyon (bei Godart, L’ouvrier
804 Siebenter Abschnitt: Die Beschaffung der Arbeitskräfte
en soie, 266): „Dans une certaine classe du peuple, trop d’aisance
assouplit l’industrie, engendre l’oisivite et tous les vices qui en de-
pendent ... Si la necessite cesse de contraindre l’ouvrier ä recevoir
de l’occupation, quelque salaire qu’on lui oflre, s’il parvient ä se de-
gager de cette esjrnce de servitude, si ses profits excedent ses besoins
au point qu’il puisse subsister quelque temps sans le secour de ses
mains, il emploira ce temps ä former une ligue . . . “
England: Alle Beobachter der Arbeiterzustände des 17- Jahrhunderts
stimmen dahin überein, daß der Arbeiter nur im äußersten Notfall
sich zur Arbeit bequeme und gerade nur immer soviel arbeite, als er
für den notwendigsten Unterhalt brauche. Daher er um so fauler sei,
je billiger die Lebensmittel (und je höher die Löhne).
„Es ist beobachtet worden von Tuchmachern und andern , die
große Massen Arbeiter beschäftigen, daß wenn Korn reichlich ist, die
Arbeit verhältnismäßig teuer und kaum zu beschaffen ist (scarce to
be had at alle).“ William Petty, der dieses Urteil sich zu eigen
macht, fügt hinzu: „so liederlich sind die, die nur arbeiten, um zu
essen oder vielmehr zu trinken“ („so licentious are tkejr wlio labour
only to eat, or rather to drink“). Several Essays (1699), 205.
Dieselbe Ansicht finden wir bei Manley: „We have thousends
people miserably poor, yet will not work on such moderate terms the
employers can chearfully afford them . . . “ Bei W. Temple; bei
Locke; bei John Houghton u. a. Siehe die Belege bei
Kostanecki und Schulze-Gaevernitz.
Ein sachkundiges Urteil aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts:
Defoe äußert sich in seinem bekannten Aufsatz: „Giving Alms no
Charity“ (1704) folgendermaßen (ich zitiere nach der deutschen Über¬
setzung in Leckys Gesch. Englands 1, 602): „Ich kann aus eigener
Erfahrung versichern, daß mir Burschen, die vor meiner Türe lungerten
und denen ich 9 Schilling wöchentlichen Arbeitslohn bot, häufig ins
Gesicht sagten, sie könnten mit Betteln mehr machen. Wirtschaftlich¬
keit ist keine englische Tugend . . . Wir sind die fleißigste und die
trägste Nation der Welt. Nichts ist bei einem Engländer gewöhnlicher,
als zu arbeiten, bis er seine Taschen voll Geld hat, und dann müßig
zu gehen oder vielleicht sich zu betrinken, bis alles durchgebracht
und er selbst vielleicht in Schulden ist; und fragt man ihn, wenn er
so sitzt und trinkt, was er nun zu tun gedenkt, so wird er ganz offen
sagen, er werde trinken, solange es reicht und dann wieder
arbeiten, um mehr trinken zu können. Ich mache mich ohne Zögern
anheischig, in ganz kurzer Frist über 1000 Familien in England nach¬
zuweisen, die ich persönlich kenne, die in Lumpen gehen, deren Kinder
kein Brot haben, und deren Väter 15 bis 25 (?) Schilling verdienen
könnten, aber nicht arbeiten wollen.“
Ein anderes: „Jedermann weiß, daß es eine große Masse Tage¬
löhner (journey-men) unter den Webern, Schmieden, Tuchmachern
und in zwanzig andern Gewerben gibt, die, wenn sie durch die Arbeit
von 4 Tagen in der Woche ihren Unterhalt gewinnen, kaum zu über¬
reden sind, 5 Tage zu arbeiten . . . Wenn die Leute eine solche außer¬
ordentliche Neigung zu Faulheit und Vergnügen haben, mit welchem
Dreiundfünfzigstes Kapitel: Die Arbeiternot
805
Hecht sollen wir annehmen, daß sie überhaupt arbeiten würden, wenn
sie nicht durch die wirkliche Not dazu gezwungen sind.“ Mande-
ville, Fable of the Bees; Remark Q. (Sein arbeiterpolitisches Pro¬
gramm faßt der große Zyniker dann in die Worte zusammen: „Der
Arbeiter soll so viel bekommen, daß er vor dem Verhungern geschützt
ist, aber nicht einen Pfennig, den er spüren könnte.“ Ib.) An einer
andern Stelle führt dann M. aus , wie notwendig für ein Land, das
reich werden will, eine große Menge armer Menschen sei, die arbeiten
müssen, weil sie Not leiden (deshalb um Gottes willen keine Wohl¬
tätigkeit!): „if no body did Want no body would work.“ An Essay
on Charity and Charity-Schools. Fable 6. ed. p. 326 sq.
Ähnlich ist noch der Eindruck, den Arthur Young Mitte des
18. Jahrhunderts von der Arbeiterbevölkerung in und um Manchester
empfängt : fleißig sind die Leute nur , wenn die Lebensmittel teuer
sind und sie arbeiten müssen, um nicht zu verhungern: ist der
Unterhalt billig, so sterben die Kinder der Arbeiterfamilien, „denn
die halbe Zeit verbringt dann der Vater im Wirtshause“. „Die Unter¬
nehmer von Manchester wünschen, daß die Preise stets hoch genug
seien, um einen allgemeinen Fleiß zu erzwingen, um die Arbeiter
6 Tage in der Woche bei der Arbeit zu halten.“ A. Young, North.
Tour 3, 244. 249.
Holland: Von der Lebensweise eines Leydener Webers Ende des
18. Jahrhunderts wird uns folgendes Bild entworfen: „Den ganzen
Sommer hindurch ist auf den umliegenden Dörfern abwechselnd Kirmeß,
wozu eine Anzahl Wagen vor den Toren bereit steht, um den aus¬
gelassenen Weber mit Frau und Kind nach dem angenehmen Dorf zu
führen. Hier angekommen, ist alles Freude und Lust, und ich brauche
nicht zu sagen, daß der ausgelassene Arbeiter, nachdem er wacker
getrunken und getanzt hat , nach Hause gekommen , gar keine oder
mindestens sehr wenig Lust zur Arbeit hat und lieber alles liegen
läßt, als seine Begierden zügelt.“ Brender a Brandis, Vader-
landsch Kabinet van Koophandel, zeevart etc. 2 (1768), 167; zit. bei
Pringsheim, 53.
Schweiz: ... es ist anzumerken, „daß die meisten hiesigen Unter-
thanen bey ihrem Verdienst auf kein Spahren gedenckhen, sondern
Landkündig sich Wiederholtermassen mit Brodt und Nahrung also über¬
füllen, als wann alles auf einmahl durch die Gurgel müsste“. Gut¬
achten des Direktoriums der Baseler Kaufmannschaft von 1717. Bei
Hans Joneli, Arbeitslosenfürsorge im alten Basel, a. a. 0. S. 191.
„Die geringe Zahl der in diesem Jahre von solchen Leuten ge¬
sponnenen Baumwolle beweist, daß selbige sich lieber dem Bettel und
dem Müssiggang als nützlichen Arbeiten widmen . . . einige haben
sich sogar erfrechet, die ihnen zugestellte Baumwolle und das zum
Spinnen nötige Gerähte zu versetzen und zu verkauffen und das Geld
durchzubringen.“ Bericht der Armenhausdeputation an den Kleinen
Rat (in Basel) 1761, a. a. 0. S. 205. Die Ursache der Arbeitslosig¬
keit und des sich mehrenden Straßenbettels, heißt es in einem andern
Bericht derselben Deputation vom Jahre 1771, liege vielfach in einem
„üblen Wirtschaften und liederlicher Aufführung“, da viele Bürger
80G Siebenter Abschnitt: Die Beschaffung der Arbeitskräfte
„statt ihrem Beruf oder Gewerb fleissig obzuliegen und für die Ver¬
pflegung der ihrigen zu sorgen, vielmehr das erworbene in denen
Würtshäusern verzechen und darbey Weib und Kinder elendiglich
darben lassen“. Ebenda S. 218.
Dieselben Gedanken kehren noch häufiger in den Akten , die
Jon eil i im Auszuge mitteilt, wieder.
Für Deutschland , Österreich und andere Länder wird ein
Gleiches berichtet.
Es fragt sich nun: werden wir diese Ansichten, wie sie die
Zeitgenossen übereinstimmend äußern, teilen? Ich denke, ja.
Dazu veranlaßt uns zunächst das Zeugnis so vieler, zum Teil
völlig uninteressierter Männer, denen wir nicht zumuten dürfen,
daß sie die Dinge falsch sahen oder parteiisch dargestellt hätten.
Dafür waren sie zu gute Sachkenner. Die Urteile werden erst
schief, als sie aus doktrinärem Sinne kommen. Um ein Beispiel
anzuführen : Mirabeau zitiert einen Ausspruch Normanns
.über die Faulheit der Arbeiter in Deutschland, dessen Sinn eben¬
falls darin gipfelt: das Volk arbeitet nur soviel, als es zum Leben
braucht ; ist das Brot billig, wird kein Garn mehr geliefert. Dazu
bemerkt der physiokratische Doktrinär: das könne nicht stimmen:
der freie Mensch und der das Seine frei verwenden könne, habe
solche groben Beweggründe nicht nötig, um zu arbeiten! Aber
die Männer des 17. und des frühen 18. Jahrhunderts sahen ohne
solche Brillen in die Welt, und da werden sie wohl richtig be¬
obachtet haben.
Wir haben aber noch andere Gründe, an die Indolenz und
Faulheit der Massen in der frühkapitalistischen Zeit zu glauben.
Ich denke nicht einmal an die zahlreichen Indizien, die auf
eine bequeme und gemütliche Seelenverfassung schließen lassen,
wie es etwa die Menge von Feiertagen sind, die bis in unsere
strengere Zeit hinein die Arbeit unterbrachen. Von ihrer Aus-
dehnung machen wir uns schwer eine richtige Vorstellung. Noch
im 17. Jahrhundert wurden in der Kärnthner Eisenindustrie
kaum 100 achtstündige Arbeitsschichten verfahren. In Paris, wo
man 1660 die 103 Feiertage auf 80 herabsetzen wollte, brachen
Krawalle aus und es wurden 6 mehr durchgesetzt.
Ich meine vielmehr, wir sollten uns erinnern, daß der Seelen¬
zustand der großen Masse der Arbeiter in den Anfängen der
kapitalistischen Entwicklung gar nicht anders sein konnte,
als ihn uns jene Männer, deren Stimme wir hörten, geschildert
haben. Der Arbeiter befand sich noch in der Verfassung jedes
807
Dreiundfünfzigjates Kapitel: Die Arbeiternot
„natürlichen“ Menschen, und das ist die Faulheit oder mindestens
die Bequemlichkeit-. Vor allem herrschte auch in ihm noch die
Meinung, die wir bei den vorkapitalistischen Wirtschaftssubjekten
verbreitet fanden: daß man wirtschafte, arbeite, um zu leben,
nicht lebe , um zu wirtschaften , zu arbeiten. Also daß man
nicht weiter arbeitet, wenn man „genug“ hat. Auch diese Vor¬
stellung eines „Genug“ ist ja nichts anderes als Geist vom Geiste
der vorkapitalistischen Wirtschaftsgesinnung : es ist dieselbe Vor¬
stellung, die in der Idee der Nahrung und des standesgemäßen
Unterhalts in philosophischer Vertiefung und programmatischer
Zuspitzung wiederkehrt.
Daß diese „natürliche“, vorkapitalistische Wirtschaftsgesinnung
kein leerer Wahn ist, daß sie sich in den wirtschaftlich unselb¬
ständigen Massen auch dann noch erhält, wenn der Wille zum
. Kapitalismus längst eine Oberschicht beseelt, und daß ein Kenn¬
zeichen der frühkapitalistischen Gesellschaftsschichtung dieser
AViderstreit zwischen einzelnen AVirtschaftssubjekten, in denen
der Erwerbssinn, der Rationalismus, die Unternehmungslust be¬
reits wirksam sind, und einer noch im traditionalistischen Hand¬
werkertum dahinlebenden Masse von AVirtschaftsobjekten beruht,
das lehrt uns ein Studium der AVirtschaftszustände in solchen
Ländern, die noch zu unsern Lebzeiten jenen Übergang vom
Handwerk zum Kapitalismus durchmachen. Ich habe einmal ge¬
schildert1, welche Schwierigkeiten noch heute (und vielleiclit-
irnrner?) dem Kapitalismus in Italien in der aller ökonomischen
Disziplin und allem spezifisch kapitalistischen Erwerbssinn ab¬
geneigten Bevölkerung vieler Teile des Landes sich entgegen¬
stellen. Noch bis vor wenigen Jahren konnte man dem Lazzaroni
in Neapel begegnen, der sein Dolce far niente immer nur auf
Stunden oder Tage unterbrach, um durch Arbeit die paar Soldi
zu verdienen, die er zu seinem bescheidenen Lebensunterhalte
brauchte, den aber keine Macht der Erde hätte bewegen können,
auch nur eine Minute länger zu arbeiten, als es die Erlangung
lenes Mindestbetrages erheischte, den er zur Fristung des Lebens
nötio- hatte. Gewiß: Klima und Volkstum tragen das ihrige dazu
bei ,° um den Typus des Lazzaroni zu voller Entwicklung zu
bringen. Aber der Geist des Lazzaronitiuns ist doch der Geist
jedes vorkapitalistischen Menschen, und nichts anderes als
1 Studien zur Entwicklungsgeschichte des italienischen Proletariats,
in Brauns Archiv Band 6 (1893),
808
Siebenter Abschnitt: Die Beschaffung der Arbeitskräfte
Lazzaronitum ist es, was uns in allen Arbeitern der frühkapita-
listisclien Epoche begegnet und was alle Freunde des „industriellen
Fortschritts“ zur Verzweiflung brachte — wie es sie heute noch
zur Verzweiflung bringt, wo es sich erhalten hat.
Sehen wir nun zu, wie der moderne Staat sich zu diesem
Problem stellte, was er tat, um den Zwiespalt zu beseitigen, der
zwischen der Beschaffenheit der Arbeiterschaft und den kapita¬
listischen Interessen klaffte.
809
V i eru ndfünfzi gstes Kapitel
Die Maßnahmen der staatlichen Arbeiterpolitik
I. Die leitenden Ideen
Nirgends so deutlich wie in seinem arbeiterpolitischen Vor¬
gehen läßt sich die Grundauffassung des absoluten Fürstenstaates
erkennen.
Daß er keine Maßnahmen trifft unter einem andern Gesichts¬
punkte als dem des Staatswohles (das sich mit dem Interesse
des Monarchen ganz unwillkürlich verschmolzen hatte), versteht
sich von selbst. Alle Gedanken an das Wohlergehen der einzelnen,
alle „humanitären“ Regungen fehlten. Erst in der zweiten Hälfte
des 18. Jahrhunderts fangen sie an, auf die Entschließungen
der Regierungen Einfluß zu gewinnen. Die Menschen des früh¬
kapitalistischen Zeitalters waren ein hartes Geschlecht, das im
Kampfe für objektive Ideale — mochten sie religiöser, mochten
sie staatlicher Natur sein — sich verzehrte, und das seine
individuellen Neigungen opferte, um dem höheren Zwecke zu
dienen. Aus dieser staatsidealistischen Grundstimmung heraus
muß vor allem auch die Arbeiterpolitik des Merkantilismus ver¬
standen werden. Wir müssen uns hüten, mit der Vorstellung
von Klassengegensätzen, wirtschaftlichen Interessen und andern
individualistischen Kategorien, wie sie unsere Zeit herausgebildet
hat, an die Deutung von Zuständen und Vorgängen in der früh-
kapitalistischen Epoche heranzugehen.
Deshalb sind Untersuchungen, wie sie die Wirtschaftshistoriker
mancher Schulen anstellen (typisch dafür ist z. B. das Buch von
R. Faber, Die Entstehung des Agrarschutzes in England. 1888), die
die Maßregeln der merkantilistischen Politik aus bestimmten Interessen¬
gruppierungen ableiten möchten, grundsätzlich verfehlt. Ist es schon
Tn unserer'Zeit der nackten Interessenkämpfe wenigstens für ein Land
wie Deutschland bedenklich, etwa die Agrarpolitik als reine „Interessen¬
politik“ zu erklären, so ist die Übertragung des bekannten Fragespiels:
wer hat ein „Interesse“ an hohen, wer an niedrigen Getreidepreisen?
(wie es den Inhalt des genannten Fab er sehen Buches bildet, das hier
nur als Vertreter einer ganzen Schule steht) in das England des 17. und
18. Jahrhunderts, auch wenn man in Rücksicht zieht, daß dieses Land
810 Siebenter Abschnitt: Die Beschaffung der Arbeitskräfte
damals schon seine Politik nach Krämergesichtspunkten auszurichten
begann, daß es schon eine „parlamentarische“ Verfassung und meist
minderwertige Könige hatte , ein grober Fehler. Selbst in England
hatte damals das „Gemeininteresse“ noch eine starke Macht bewahrt
und entschied auch über die wirtschafts- und „sozialpolitischen Ma߬
regeln.
Was das Staatswohl aber erheischte, war klar: die Macht des
Staates ruhte in seiner militärischen Kraft; diese also vor allem
war zu erhalten und- zu stärken. Es ist reizvoll, zu verfolgen,
wie selbst in einem Staate wie England noch bis in die Mitte
des 18. Jahrhunderts hinein die militärischen Interessen bei allen
wirtschaftspolitischen Erwägungen im Vordergründe stehen: man
lese daraufhin die Schriften der Temple, Petty, Defoe und
die' zahlreichen Flugschriften des 17. und frühen 18. Jahrhunderts
über das Armenwesen, und man wird erstaunt sein, selbst bei
einem so ‘„fortschrittlich“ (in der .Richtung der Kommerziali¬
sierung) gesinnten Manne wie Defoe immer wieder auf den¬
selben Gedanken zu stoßen: wenn Ihr diesen Vorschlag annehmt,
könnt Ihr Armee und Flotte um so und so viel Mann verstärken.
Aus diesem Grundstreben war ja, wie wir wissen, die gesamte
merkantilistische Politik geboren: viel Kriege erheischen viel
Menschen und viel Geld; viel Menschen wrerden durch die Ver¬
mehrung der „Manufakturen“ erzeugt ; viel Geld wTird durch den
auswärtigen Handel, wenn er „aktiv“ ist, ins Land gebracht.
Manufakturen und auswärtiger Handel werden von den aufstreben¬
den Wirtschaftselementen getragen: also ergab sich eine Inter¬
essengemeinschaft zwischen Kapitalismus und Fürstentum; also
mußten die kapitalistischen Interessen gepflegt werden. Kapita¬
listische Interessen pflegen hieß aber den kapitalistischen Unter¬
nehmern die Wege ebnen. Also — aus wohlverstandenem Staats¬
interesse — bekam die merkantilistische Politik „unternehmer¬
freundliches“ Gepräge, und also wurde auch die Arbeiterpolitik
unter dem Gesichtspunkt betrieben : Maßregeln zu treffen, mittels
deren man dem Unternehmer eine reichliche, fleißige, tüchtige,
billige Arbeiterschaft sichern könne. Wo sich nun Unternehmer-
interesse und Arbeiterinteresse gegenüberstehen, wird unbedingt
das Unternehmerinteresse gewahrt: die Arbeiterpolitik des Mer¬
kantilismus ist deshalb fast durchgängig ein Unternehmerschutz,
kein Arbeiterschutz. Weil es das Wohl des Staates so erheischte,
aus keinem andern Grunde, ganz und gar nicht etwa, weil man
der Klasse des Unternehmertums als solcher mehr Sympathien
entgegengebracht hätte als der der Arbeiterschaft. Noch einmal:
Vierundfünfzigstes Kapitel : Die Maßnahmen der staatlichen Arbeiterpolitik gH
solche individualistische Regungen sind jener Zeit ganz fremd.
Sobald etwa einmal die Unternehmerinteressen in einen Gegensatz
mit den Staatsinteressen gerieten, wandte sich die staatliche Gesetz¬
gebung auch gegen sie. Das beweisen die Bauernschutzgesetze,
die selbst in England (wo man im übrigen die Ausdehnung der
Weidewirtschaft grundsätzlich durchaus als ein Gebot der staat¬
lichen Wohlfahrt ansah) eine Zeitlang nicht fehlen1; das be¬
weisen die Ansätze zu dem, was wir heute „Arbeiterschutz“
nennen: wie die Truckverbote und ähnliche Maßnahmen.
Wollte man aus den Vorgängen in England während des
18. Jahrhunderts, wo man die Arbeiter, die eine strengere
Durchführung gerade der staatlichen Gebote des 16. und 17. Jahr¬
hunderts forderten, abwies und die Unternehmer jene Gesetze
der elisabethanischen Zeit ruhig übertreten ließ, folgern, daß
hier offenbar das „Klasseninteresse“ dem Staatsinteresse voran¬
gestellt worden sei, so wäre das irrig. Ich glaube vielmehr, daß
man jenes Verhalten der englischen Regierung immer noch mit
ihrem Bestreben, das zeitgemäße Interesse des Staates gegen¬
über veralteten Geboten desselben Staates wahrzunehmen, er¬
klären kann.
Aber wie dem auch sei : darüber kann kein Zweifel obwalten,
daß in der überwiegenden Mehrzahl aller Fälle die Arbeiter¬
politik des Merkantilismus die Interessen des Unter¬
nehmertums zu wahren bestimmt war. .
Ihr eigentümliches Gepräge erhält sie nun durch die Art und
Weise, wie der Staat diese seine praktischen Ziele mit den sitt¬
lichen und sozialen Anschauungen, die ihm aus dem Mittelalter
überkommen waren, in Einklang zu bringen verstand.
Der Grundgedanke der mittelalterlichen Soziallehren blieb
auch in diesem Teile der merkantilistischen Politik unberührt:
wie alle wirtschaftliche Tätigkeit, so galt es auch die Verrich-
tuno-en und Obliegenheiten des Arbeiters in den großen Kosmos
der menschlichen Wirtschaft einzuordnen. Ungeheuerlich wäre
jener Zeit die Ansicht erschienen: daß der Abschluß eines
Arbeitsvertrages und die Regelung der Arbeitsbedingungen eine
rein private Angelegenheit sei, die nur den Unternehmer und den
Arbeiter etwas angingen. Nein — auch diese Beziehungen sind
1 4 Hen. VII. c. 19; 6 Hen. VIII. c. 5 ; 7 Hen. VIII. c. 1.
Siehe die Darstellung und Würdigung dieser Gesetzgebung bei J. S,
Leadain, The Domesday of Inclosures, 6 ff,
812
Siebenter Abschnitt: Die Beschattung der Arbeitskräfte
nach objektiven "Regeln zu ordnen, und diese Ordnung geht von
der Obrigkeit aus. Die Beobachtung, daß die individualistischen
Mächte schon während der frühkapitalistischen Epoche diese
objektiv-organischen Grundsätze mehr und mehr außer Geltung
setzten, darf uns nicht abhalten, die Gesamtausrichtung der
merkantilistischen Arbeiterpolitik von jener mittelalterlichen An¬
schauung noch beherrscht zu sehen.
Freilich: die materiellen Forderungen der mittelalterlichen
Sozialpolitik, die, wie wir sahen, von der Idee der „Nahrung“
und des standesgemäßen Unterhalts, vom „gerechten“ Preise
und somit auch „gerechten“ Lohne beherrscht wurde, konnte
der moderne Staat in seiner Arbeiterpolitik nur in beschränktem
Umfange erfüllen. Er geht in seinen Bestimmungen immer noch
von diesen Grundgedanken aus ; aber er biegt sie in einer Rich¬
tung um, in der seinen unternehmerfreundlichen Tendenzen kein
Abbruch zu geschehen brauchte: hatte das Mittelalter den o-e-
“o
rechten“ Arbeitslohn sei es durch die Anforderungen des traditio¬
nellen Unterhalts, sei es durch das Herkommen bestimmt, so
setzt der moderne Staat (wie schon vor ihm modernisierende
Stadtverwaltungen) zwar auch noch einen „gerechten“ Lohn fest,
der nun aber zu einem Maximallohn wird, und (das ist der Fort¬
schritt des Gesetzes 5 Elis. c. 4) der den wechselnden Markt¬
preisen angepaßt ist: die Autonomie des Sittlichgebotenen wird
dadurch erstmalig erschüttert.
II. Alte und neue Formen der Hörigkeit
Das wirksamste Mittel, über das die öffentlichen Gewalten
verfügen, um dem Unternehmer die fehlenden Arbeitskräfte zu
verschaffen, hat zu allen Zeiten, solange es noch keinen Stamm
besitzloser, freier Menschen gibt, darin bestanden, daß die zwangs¬
weise Einstellung des Arbeiters und der äußere Zwang zur Arbeit
gesetzlich gestattet wird. Dieses Mittels hat sich auch der
moderne Fürstenstaat bedient, sofern er einerseits lange Jahr¬
hunderte während seines Bestehens altüberkommene Formen der
Unfreiheit bewahrte, andererseits wo solche nicht mehr erhalten
waren, neue zuließ oder selbst entwickelte.
Die alte Hörigkeit des Landvolks hat bis zum Ende
der frühkapitalistischen Epoche in den mitteleuropäischen Staaten,
in Osteuropa bis tief in das 19. Jahrhundert hinein bestanden.
Sie hat dem emporstrebenden Kapitalismus wesentliche Dienste
geleistet. Nicht nur im Bereiche der Landwirtschaft selbst, wo
\ ierundnjnfzigstes Kapitel: Die Maßnalimen der staatlichen Arbeiterpolitik 81 g
bekanntermaßen die modernen Großgrundwirtschaften sich auf der
Fronpflicht der Bauern und der Dienstpflicht der Bauernkinder
aufbauten, sondern auch in der Sphäre der gewerblichen Pro¬
duktion. Ein großer Teil des Bergbaues und der Industrien
Deutschlands , Österreichs , Polens , Bußlands , zum Teil auch
Skandinaviens während der Frühzeit des Kapitalismus ist mit
alt-hörigen, das heißt fronpflichtigen Arbeiten betrieben worden.
In Deutschland waren in den Anfängen der kapitalistischen Industrie
wohl in weitem Umfange hörige Arbeiter verwandt worden. So erfalireu
wir z. B., daß im 16. Jahrhundert ganze Landstriche , die der Herr¬
schaft der Fugger unterstehen, für diese weben. C. Jäger, Ulms
Verfassung (1831), 648. Aber auch noch im 18. Jahrhundert wurden
die Untertanen der Herrschaften zum Spinnen herangezogen; nament¬
lich in Schlesien. Siehe die Angaben bei C. Grünhagen, Über den
grundherrlichen Charakter des hausiudustriellen Leinengewerbes in
Schlesien, in der Zeitschr. f. Soz.- u. WG. 2, 242.
Ebenso zur Arbeit im Bergbau und der Montanindustrie.
In einer Druckschrift aus den 1780 er Jahren wird uns über Ober-
sclilesien folgendes berichtet: „Die große Menge der neuangelegten
Eisenhütten und Hämmer sind noch neuerlich ein wahrer Verderb für
den Ackerbau dadurch geworden, daß man die dabei nötigen Hand¬
arbeiten und Fuhren nicht vor bar Geld und eigenes Zugvieh, sondern
durch Frondienste verrichten läßt. Dadurch entsteht für jenen der
wesentliche Nachteil, daß ihm die zu seiner Betreibung ursprünglich
bestimmten Hand- und Spanndienste größtenteils entzogen werden.“
Schlesische Provinzialblätter 7 (1788), 234.
Das Privilegium für die Bergleute in Nassau- Saarbrücken vom
25. Jan. 1788 bestimmt: „Ein leibeigener Untertan ist, wenn er in
der Grube arbeitet, gegen Zahlung eines Beichsthalers von Natural-
und Jagdfronden frei.“ Bei Hue, Die Bergarbeiter 1 (1910), 338.
Österreich: In den Geschäftsbüchern vieler industrieller Unter¬
nehmungen, z. B. der Oberleutensdorfer Tuchfabrik, finden sich noch
im 18. Jahrhundert keinerlei Angaben über Arbeitslöhne: die Herr¬
schaftsangehörigen mußten die Arbeit in der Fabrik als botmäßige
Pflicht verrichten. Dieses Verhältnis dauert bis in das 19. Jahrhundert
fort. Ludw. Schlesinger, Zur. Gesch. d. Ind. in österr., in den
Mitt. d. Ver. f. d. Gesch. d. Deutsch, in Böhmen 3, 139 f. Die ge¬
samten Untertanen der Waldsteinschen Herrschaften spinnen lange
Zeit für die benachbarte grfl. Bolzasche Kattunfabrik in Cosmanos.
Mitt. usw. 28, 331 f.
Über die häufige Nutzbarmachung bäuerlicher Frondienste zu in¬
dustriellen Zwecken siehe im übrigen C. Grünberg, Die Bauern¬
befreiung usw. 1 (1893), 86; 2 (1894), 181 ff.
Pulen: Die Beschäftigung Leibeigener in den aufkommenden In¬
dustrien des 17. und 18. Jahrhunderts war allgemein. „Die Tuchfabrik
(in Wengrow) stützt sich auf die Arbeit der Leibeigenen, die fertiges
Garn liefern. Die ausländischen Meister verarbeiten dieses Garn in
814 Siebenter Abschnitt: Die Beschaffung der Arbeitskräfte
Tuch; alle vorhergehenden Stadien des Produktionsprozesses, wie das
Kämmen der Wolle, das Spinnen derselben, werden von den Händen
der Leibeigenen vollzogen. So trug die Manufakturindustrie noch einen
Lehenscharakter : die Arbeitgeber verwendeten die Leibeigenen auch
zur Gewerbstätigkeit. Diese charakteristische Eigentümlichkeit trat
noch deutlicher hervor in den Industrieunternehmungen , die die
polnischen Magnaten auf ihren Besitzungen errichteten, und die fast
ausschließlich auf der Ausbeutung der unentgeltlichen Arbeit der Leib¬
eigenen beruhten.“ K. Wobly, Beitr. z. WG. Polens, in der Zeitschr.
f.VW. 18, 377 ff.
Rufsland: Es ist bekannt, daß die russische Industrie noch während
des ganzen 18. Jahrhunderts, aber auch noch darüber hinaus auf der
Beschäftigung leibeigener Bauern beruhte, die in wechselnden Formen
den Unternehmern zur Verfügung gestellt wurden. Die Staatsbauern,
die in die Staatswerke (Bergbau, Eisen) eingeschrieben waren, wurden
ebenfalls den Privaten überlassen. Die Zahl der männlichen Seelen,
die solcherweise Zwangsarbeit allein in der Montanindustrie verrich¬
teten, betrug :
in den Staatswerken in den Privatwerken Zusammen
1741—43 . . . 63 054 24199 87 253
1794—94 . . . 241253 70965 312 218
J. Mavor, An economic history of Kussia 1 (1912), 434 ff. Außer¬
dem gab es noch Zwangsarbeiten in andern Produktionszweigen, nament¬
lich auch in der Tuchindustrie. 1. c. 489 tf. Siehe im übrigen die
ausführliche Darstellung bei Tugan-Baranowski, Die russische
Fabrik (1900), 24'ff. 51 ff. u. ö.
*
*
Aber die Gesetzgeber schreckten auch davor nicht zurück,
eine Art von staatlicher Hörigkeit, wie es Steffen richtig be¬
zeichnet, dort neu einzuführen, wo die mittelalterliche Hörigkeit
des Landvolks entweder überhaupt nicht mehr bestand oder doch
nicht wirksam war ohne besondere staatliche Verfügung. Diese
neue Hörigkeit beruhte darin, daß in bestimmten Fällen
die zwangsweise Einstellung von Arbeitskräften in landwirtschaft¬
liche oder industrielle Betriebe gestattet wurde, auch wenn die
Personen vorher einem Armenhause nicht angehört hatten, ja
auch wenn sie vielleicht gar nicht als Bettler aufgegriffen waren :
es genügte ihr Status der Besitzlosigkeit, um sie diesem Arbeits¬
zwange zu unterwerfen.
Arbeitszwang (staatliche Hörigkeit): In Spanien wurden
schon im 16. Jahrhundert, in der Zeit des großen Aufschwungs in
Valladolid, Zamora und Salamanca die Bettler und Vagabunden zur
Arbeit in den Fabriken genötigt. K. Häbler, Die Blüte Spaniens, 59.
In Frankreich bestand ein Zwangsdienst für gewisse Wegearbeiter
(Paveurs) im 16. Jahrhundert, der mit der Corvee nicht identisch ist.
\ ierundfünfzigstes Kapitel: Die Maßnahmen der staatlichen Arbeiterpolitik 815
5 ignon (Pieces justif.) 1, 19. Wir sehen aber auch, wie Colbert
zwangsweise Steinhauer zur Arbeit an den kgl. Schlössern heranzieht.
Ordre vom Sept, 1682: „II est ordonne ä Antoine Thevenet, garde
de la prevoste de l’hötel et grande prevoste de France, de se trans-
porter incessamment dans les villages de Herblay ... et autres lieux
et inaisons particulieres, oti il trouvera des carriers en gres et les
amenera aux carrieres de Louveciennes et de Marly pour y faconner
du pave“ etc. etc. Lettres de Colbert 5, 802 Note 2.
Die Holländer lassen die Kinder derjenigen, „die zu arm sind, sie
selbst zu erhalten“ (NB. also nicht nur Waisen) auf öffentliche
Kosten aufziehen, die dann von den Bürgermeistern als Lehrlinge an
den Unternehmer ausgeliefert werden. Davies, The History of
Holland and the Dutch Nation 1, 488, zit. bei Hob. Pashley,
Pauperism and Poor Laws (1852), 207.
Deutschland: vielfach Spinnzwang: „Auf angebrachte Beschwerde
der Tuchfabrikanten, daß es ihnen an Gespinst ermangele . . . wurde
zu Aufang des Jahres 1761 denen sämtl. Dominiis — sc. Schlesiens —
anbefohlen, daß sie die in ihren Dörfern befindlichen Personen beiderlei
Geschlechts, alte und junge, welche sonst kein anderes Gewerbe oder
Verdienst haben und auf der faulen Bank liegen . . . zum Wollspinnen
vor die in ihren Gegenden befindlichen Tuch- und andern Fabrikanten
anhalten . . . “ Circ. vom 9. Jan. 1761. Die Soldaten - Frauen und
-Kinder sollen zwangsweise spinnen. Circ. vom 6. Juni 1763. Das
ländliche Gesinde dgl. Vgl. Regl. vom 7. Juli 1765. Siehe Bergius,
Neues Pol. u. Cam. Magaz. 2 (1776), 872 ff.
Aber auch in andern Gewerben begegnen wir der Arbeitserzwingung,
z. B. im Bergbau. Im Jahre 1616 befahl der Landgraf von Hessen-
Kassel, daß „alle starken Bettler, Biersäufer, so ständig in den Wirts¬
häusern liegen“, auch „herrenloses Gesindel und Gartenknechte, so
sich des Betteins bei unseren Untertanen befleißigen“, angehalten
werden sollten, „auf unseren Bergwerken um gebührlichen Lohn zu
arbeiten“, und wenn sie sich weigerten, seien sie „in die Eisen zu
schlagen und auf die Bergwerke zu liefern“, 0. Hue, Die Berg¬
arbeiter 1, 336 f.
Sdhiceiz: In der Stadt St. Gallen sucht die Obrigkeit besonders
die Armengenössigen, „an Gesicht blöde öder sonst zu anderer Arbeit
untaugliche, alte Personen“, zum Spulen und Bauinwollspinnen anzu¬
halten: siehe z. B. Rathsprotokoll vom 18. Juni 1773, bei AV. Wart-
mann, Handel u. Ind. des Kant. St. G. (1875), 151.
Österreich: Der Bericht der böhmischen Statthalterei vom 5. Aug.
1717 spricht die Erwartung aus, daß die Einführung der feineren
Tuchmanufaktur in Böhmen insbesondere mit Hilfe eines geplanten
„Armen- Waisen- undt Ai’beitshauses“ möglich sein werde. In einer
Denkschrift von 1721 meint die innerösterreichische Kammer, daß dem
herrschenden Elend und Müßiggang durch Errichtung einer Tuchfabrik
abgeholfen werden könne, die zugleich ein Zwangsarbeitshaus sein
müßte. Arme, arbeitsfähige Leute seien „in kundtbahrlichem Über¬
fluß“ vorhanden. Es sei notwendig, die erforderliche Anzahl Arbeiter
816 Siebenter Abschnitt: Die Beschaffung der Arbeitskräfte
unter den Grazer Straßenbettlern „aufzufangen und einzusperren“.
Das Fabriksgebäude müsse gemauert und mit Mauern umfaßt sein,
damit das schlechte Gesindel nicht ausbrechen könne. Max Adler,
Die Anfänge der merkant. Gewerbe-Politik, 89.
Auch befehlen die Regierungen wohl den Dominien, „muntere und
fähige Ivöpfe von beiderlei Geschlecht“ den Fabrikinhabern zur Ver¬
fügung zu stellen. Kreisamtliches Zirkular an die Herrschaften der
Kremser Gegend vom 2. April 1767, betreffend die Beistellung von
Lehrlingen für die Samtfabrik des Andre Tetier in Krems, v. Mises,
Zur Gesch. der öster Fabrikgesetzgebung, in der Ztschr. f. VW. usw.
14, 216.
Zu einem kunstvollen System wurde aber die „staatliche Hörig¬
keit“ in England und Schottland ausgebildet. Die Magna Charta der
Unfreiheit ist das von uns fälschlicherweise , weil viel zu engdeutig,
als „Lehrlingsgesetz“ bezeichnete Gesetz: 5 Elis. c. 4. Sein aus¬
gesprochener Zweck war: „dem Müßiggang zu steuern“ (to bannisk
idleness). Zu diesem Behufes traf es folgende Bestimmungen:
§ 4: alle unverheirateten Personen unter 30 Jahren, die in einem
der genannten Gewerbe (die wichtigsten) geleimt oder es 3 Jahre lang
ausgeübt haben, besitzlos und ohne Beschäftigung sind, können (unter
Mitwirkung der Behörden) von irgendeinem, der eins dieser Gewerbe
betreibt, zwangsweise in Dienst genommen werden;
§ 7 : trifft ähnliche Bestimmungen über die zwangsweise Einstellung
in landwirtschaftliche Betriebe ;
§ 28 : junge Leute können zwangsweise in die Lehre genommen
werden (ausgenommen von einem mercer , draper , goldsmith , iron-
monger, imbroider oder clothier: da müssen die Eltern des jungen
Mannes ein kleines Anwesen haben, das mindestens 40 / trägt).
Ähnliche Bestimmungen enthalten die schottischen Gesetze von 1617,
1649, 1663. Siehe die Darstellung bei John Mackintosh, Hist,
of Civilization of Scottland 3, 249 ff.
Aber auch außerhalb des Geltungsbereichs jener Elisabethischen
Frongesetze herrschten in der englischen und schottischen Industrie
das ganze 18. Jahrhundert hindurch bis in das 19. Jahrhundert hinein
vielfach leibeigenähnliche Zustände. Das gilt namentlich vom Kohlen¬
bergbau hauptsächlich in Schottland. Hier hatten sich Verhältnisse
herausgebildet, „by which tke miners were just as definitely astricted
to particular mines as villains had been to particular estates in the
middle age“. Die Gesetze 15 Geo. III c. 28 (1775), 39 Geo. III
c. 56 (1799) versuchten vergeblich, Abhilfe zu schaffen. Noch im
Jahre 1842 konnten die Commissioners von Staffordshire berichten:
„hier im Mittelpunkte Englands herrscht eine Sklaverei, die so ver-
absekeuenswürdig ist wie je die Sklaverei in Westindien.“
Neben dieser direkten Arbeitserzwingung entwickelte sieb
nun aber während der frübkapitalistischen Epoche ein Verfahren,
das darin bestand: auf Umwegen die lässigen Arbeiter zum
Arbeiten zu bringen, indem man sie „zur Arbeit erzog“. Aus
Vierundfünfzigstes Kapitel: Die Maßnahmen der staatlichen Arbeiterpolitik 817
diesen Bemühungen erwuchs ein kunstvolles System der Zwangs¬
arbeit, das wir im folgenden genauer kennen lernen müssen.
III. Die Erziehung zur Arbeit: das Arbeitshaus¬
system
Aus den Gesetzen und Verordnungen, die seit der Mitte des
14. Jahrhunderts in allen Ländern fast mit gleichen Worten er¬
lassen werden, um dem Bettel und der Vagabondage zu steuern,
entwickeln sich im Laufe der Zeit zwei verschiedene Zweige
innerpolitischer Tätigkeit. Den einen bildet das große, immer
mehr sich ausweitende und vertiefende Verwaltungsgebiet, das
wir heute mit den Worten Armenwesen oder Armenpflege be¬
zeichnen. Es geht uns hier nichts an.
Der andere Zweig stirbt gegen Ende des 18. Jahrhunderts
ab. Er hat aber für die Epoche des Frühkapitalismus die größere
Bedeutung. Es sind alle Bemühungen der Regierung, das Volk
zur Arbeit zu erziehen. Mit diesen Bemühungen müssen wir
uns jetzt vertraut machen.
Schon aus den frühesten Anti-Bettelgesetzen tönt die Klage
heraus: welchen Verlust erleidet doch das Land, wenn so viele
Menschen müßig gehen. Nicht das Bedürfnis, das elende Los
der armen Teufel, die um Brot betteln, zu verbessern ist
es, was die Gesetzgeber zum Einschreiten bestimmt, sondern
— neben dem Bemühen, Ordnung und Sicherheit im Lande her¬
zustellen — der Wunsch, die im Lande vorhandenen Arbeits¬
kräfte auszunutzen.
Dieser Wunsch mußte sich besonders stark fühlbar machen
in den ersten Jahren nach der großen Pest, in die denn auch
die Anfänge der Vagabundengesetzgebung in vielen Ländern
fallen: Spanien 1351; England 1350: Ord. Eduards III.; Frank¬
reich 1350 : Ord. König Johanns. Übereinstimmend verfügen
diese Gesetze : die Bettler sollen arbeiten , andernfalls werden
sie mit schweren Strafen belegt: auch für diese bildet sich in
allen Ländern ein gleiches Maß aus : im ersten Betretungsfalle
Auspeitschung, im zweiten Verstümmelung oder Brandmalung,
im dritten Tod oder Landesverweisung oder Zwangsarbeit auf
den Galeeren. Man glaubte , mit diesen harten Strafen den
Willen zum Müßiggang brechen zu können. Man täuschte sich ;
die Gesetze bleiben meist tdine Erfolg. Ihre häufige Wieder¬
holung beweist es.
Sombart, Der moderne Kapitalismus. I. 52
818 Siebenter Abschnitt: Die Beschaffung der Arbeitskräfte
So verfiel man denn auf ein anderes Mittel, um die müßig-
eehende Bevölkerung zur Arbeit anzulialten: die Behörden
o *—
stellten Arbeitsmittel zur Verfügung, mit denen man die Bettler
beschäftigen konnte.
Dieser Gedanke wuchs sich zu dem Arbeitshaussystem
aus , wonach alle arbeitsfähigen Bettler behördlicherseits zur
Arbeit angehalten wurden , die der Staat selber organisierte.
Meist war die Arbeit im Arbeitshause auf indirektem -Zwange
aufgebaut: der Bettler verlor das Anrecht auf Unterstützung,
wenn er die Arbeit im Arbeitshause nicht verrichtete (so in der
Blütezeit des englischen Work-House), oder es war Zwangsarbeit
im eigentlichen Sinne (so in den französischen depöts de men¬
dicite).
Arbeitshäuser scheint es zuerst in Italien gegeben zu haben:
1539 finden wir im Albergo dei Poveri in Genua schon 500 Männer
und 1800 Weiber mit Weben beschäftigt. 1582 (1618) wird das
Albergo di Caritä in Turin eröffnet, in dem ebenfalls Wolle, Flachs
und Baumwolle verarbeitet werden. Andere Spinn- und Webhäuser
finden sich schon frühzeitig in Cannagnola, Novarra, Vigevano, Venedig,
Bergamo, Florenz, Siena, Born. Gerando, 1. c. 3, 538 ff. Förderung
der Industrie in den Arbeitshäusern in Piemont durch Victor Amadeus II.
Prato, II costo della guerra di succ. span. (1907), 353.
Auch in Spanien wurde die Errichtung von Arbeitshäusern bereits
im Jahre 1545 von P. Juan de Medina angeregt. Gerando 3,
580 f.
In Frankreich eröffnete man im Jahre 1576 in Paris „öffentliche
Werkstätten“, um die Bettler und Vagabunden zu beschäftigen, die
die Straßen füllten. Levasseur 2, 144. Daß Arbeitshäuser im
Anfang des 17. Jahrhunderts bereits vorhanden waren, läßt das kgl.
Mandat vom 27. Aug. 1612 erkennen. Zu rechter Blüte gelangen sie
aber erst unter der Regierung Colberts. Durch zahlreiche Edikte,
die im Jahre 1652 beginnen und deren wichtigstes das vom Juni 1662
ist, werden die „Höpitaux generaux“ geschaffen: Anstalten, in denen
sich allerhand arbeitsfähiges, müßiges Volk zusammenfand und denen
die Prärogativen der kgl. Manufakturen erteilt wurden. „D’autant que
l’abondance procede toujours du travail et la misere de l’oisivete,
vostre principale application doit estre de trouver les moyens d’en-
fermer les pauvres et de leur donner de Foccupation, pour gagner leur
vie“ — schrieb Colbert am 22. Sept. 1667 an Maire und Schöffen
von Auxerre. Die Höpitaux generaux breiteten sich über zahlreiche
Städte aus. Neck er fand ihrer 700 vor, während später von dem
Comite de mendicite während der Revolutionszeit 2185 ermittelt wurden.
Im Jahre 1764 Avurden dann die Depöts de mendicite (maisons de
force, de renfermement, de travail) ins Leben gerufen, deren es zur
Zeit Neckers 33 mit 6 — 7000 Insassen gab. Neck er, De l’administr.
des fin. 3, 159 sq.
Vierundfünfzigstes Kapitel: Die Maßnahmen der staatlichen Ärbciterpolitik 81Ö
In England, das man nicht mit Unrecht als das klassische Land der
Arbeitshäuser bezeichnet, setzt die Entwicklung doch erst später ein.
Im Jahre 1575 (durch 18 Elis. c. 3) wurde zum ersten Male be¬
stimmt: die Friedensrichter sind ermächtigt, in jeder Grafschaft ein
Haus zu kaufen oder zu mieten, in dem ein Vorrat von Wolle, Hanf,
Flachs, Eisen und andern Rohstoffen bereitgestellt sein soll, um
damit arbeitsfähige Bettler zu beschäftigen. Dieser Gedanke, der in
43 Elis. c. 2 wiederholt wird , scheint aber zunächst wenig oder gar
nicht ausgeführt worden zu sein. Jedenfalls beklagt noch Sir Matthew
Haie in seinem 1683 geschriebenen „Discourse“, daß es keine Arbeits¬
häuser in England gebe. Der zunehmende Bettel wurde dann gegen
Ende des Jahrhunderts Anlaß zur Errichtung verschiedener Work-
Houses, dessen erstes das von Bristol (1697) war. Das Gesetz 9
Geo. I c. 7 (1722) sprach dann ausdrücklich aus, daß derjenige Bettler,
der nicht ins Armenhaus gehe, keine Unterstützung zu empfangen habe.
Zu den Arbeitshäusern, die auch in andern Ländern sich aus¬
breiteten , gesellen sich dann als andere Zwangsarbeitsanstalten die
Waisenhäuser und die Findelhäuser. Vielfach wurden diese
mit den Arbeitshäusern zu einheitlichen großen Anstalten vereinigt.
Eine solche Musteranstalt war das 1718 gegründete „Pforzheimer Waisen¬
haus“. Siehe darüber die ausführliche Darstellung bei Gothein,
WG. des Schwarzwaldes 1, 699 ff.
In Österreich begegnen wir dem Arbeits-(Spinn-)Zwang in Waisen-,
Zucht- und Armenhäusern. 1762 erfolgte die Weisung, Arbeitshäuser
in allen Provinzen, wo noch keine bestanden, zu errichten. Archiv
f. österr. Gesch. 81, 61 ff.
Die beste Übersicht über den Stand der Arbeitshäuser in der
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gibt das Buch von John Howard,
dessen französische Ausgabe : Etat des Prisons, des Höpitaux et des
maisons de Forces. 2 Vol. 1788, von mir benutzt wurde.
Die Männer, die die Arbeitshäuser empfahlen und ins Leben
riefen, erblickten in ihnen das Allheilmittel gegen Bettelei und
Müßiggang und sahen in ihnen die Pflanzstätten womöglich ganzer
Industrien, vor allem weil die Arbeitshäuser eine wichtige Ein¬
richtung waren, um das Volk zur Betriebsamkeit zu erziehen
und an Zucht und Ordnung zu gewöhnen; „das Genie zu den
Commereien und Gewerben in den Gemütern der Kinder, die
hernach das Volk ausmachen“ \ hervorzubringen. Wie überein¬
stimmend diese Auffassung in allen europäischen Ländern geteilt
wurde, erweisen folgende Äußerungen:
„This would prevent poverty and in a little tract of time brii g
up hundreds to be able to gain their livelihoods . . . this course,
within one seven years . . . brings people and their children after
1 Justi, Staatswirtschaft § 310. Vgl. auch Rumpfort, Essais.
Prem, essay ch. 5. 6. 7. Auszüge bei Gerando 3, 522.
820 Siebenter Abschnitt: Die Beschaffung der Arbeitskräfte
thern in a regulär, orderly and industrious course of life, whicli
will be as natural to them as now idleness and begging
and thieving i s . . . By this means the wealth of the nation will
be increased, manufactures advanced . . Alb. Haie, A Discourse
touching Provisions for the Poor (1683), zit. bei Hob. Pashley,
Pauper. (1852), 222/23.
„Wenn Land und Stadt mit Bürgern und Bauern versehen seyn,
so ist weiter nothwendig, daß man auch des ledigen Gesindes und der
Handwercks Leute nicht vergesse , welche beyde versorget werden
können durch ein Werck-Haus. Die ersten zwar, nämlich das ledig-
laufende bettelnde Gesind, Jungen und Alten, seynd einem Lande eine
große Beschwerde und Schande , wenn und so lange sie betteln . . .
Solche Leute nun in die Arbeit zu stellen und in ehrliche bürgerliche
Nahrung zu bringen, ist kein näher Mittel als ein allgemeines Werck-
Haus . . . Was ich . . . allhier von Bettlern schreibe, eben dasselbe
kan man auch von Waysen-Haus-Armen, jungen und wandernden Ge¬
sinde und Gesellen verstehen, welche alle in die Arbeit in dem Werck-
Haus gestehet werden können . . . Die Bestellung eben eines Werck-
Hauses bestehet in wenigen Puncten, 1) in Permission der Obrigkeit
2) in Verlegern 3) in guter obrigkeitlicher Inspection und der
Verleger Direction 4) in Consumtion und Verhandlung der darin
verarbeiteten Güter und Waren 5) in guter Bezahlung der Arbeiter . . .
Wie aber und welcher Gestalt dergleichen Werck-Haus seinen Ver¬
legern ansehnlichen Nutzen bringen können, das ist leichtlich zu
erachten. Kan nun ein Gesell den Meister, der gemeiniglich nicht
arbeitet, sondern ein Herr ist, samt Weib, Magd und Kind ernähren,
so werden, so Gott will, ihrer hundert wol einen ernähren können.“
Besoldi, Thesaur. Pract. continuatio (1740) s. v. Werck-Haus.
Ein Land kommt in Aufschwung, „wenn die Seyden- und Woll-
manufacturen wohl eingerichtet seyn und nur ein Zuchthaus dabei ist,
durch dessen Furcht das liederliche Gesindlein zum erforderten Fleiß
und Arbeit angewiesen wird“ . . . Anm. dazu: . . . „das ist . . . gewiß,
daß mit Zucht- und Waysenhäusern neue anzulegende und einzu¬
führende Manufacturen gar unvergleichlich und am besten mit einander
zu verknüpfen sind. Ein Zucht- und Waysenhaus sollte von Rechts¬
wegen ein allgemeines Kunst-Werck und Manufactur Haus, ja eine
öconomische Kunst- und Werckschule seyn . . . Der Zweck ist, daß
solche Häuser gleichsam Pflantz- und Baumschulen von 1000 guten
Sachen und Manufacturen vor das gantze Land und alle andern Städte
seyn sollen.“ Vorstellung an einen Regenten wegen des Zustandes
einer an einem Orte um An. 1676 herum versuchten und nun wieder
längst verschwundenen Seyden Manufactur in den Leipziger Samm¬
lungen Bd. 3 S. 165.
„In Policey-Gesetzen und Anstalten trachtet allein der väterliche
Sinn derer Väter des Vaterlandes das positive Beste der Untertanen
zu befördern und also einen Jeden darzu fähig zu machen, ihn zu
bessern, und durch allerhand veranstelleten Unterricht, liebreiche
Reitzung, ernstliche Erinnerung und Ermahnung, strenges Befehlen
und züchtigende Strafen, gleichsam als die Kinder im Hause jedes
Vierundfünfzigstes Kapitel: Die Maßnahmen der staatlichen Arbeiterpolitik 821
nach seiner Art sehr weislich, klug und behutsam zu ziehen, das ist
eine gewisse Fertigkeit des Gemiiths in ihnen zu erwecken , krafft
welcher er thut, was seine nothdürfftige und bequeme Lebens Unter¬
haltung erfordert und unterläßt was solche stöhrt: diese Fertigkeit ist
alsdenn die Eigenschafft wohlgezogener Leute, die da Zucht haben
und welche durch gute gelinde und strenge Zucht der Unterrichts-
Anstalten zu solchen Leuten gemacht werden.“ Gedanken von der
Einrichtung eines Arbeits- Werck- oder sogenannten Zucht-Hauses in
den Leipziger Sammlungen 3 (1746), 809 f. Vgl. auch 12, 713 f.
Die Fundationsordnung des Hamburger Werk- und Zuchthauses
vom Jahre 1622 hatte den Wahlspruch: „labore nutrior, labore plector.“
Franz R. Bertheau, Chronologie zur Gesch. der geistigen Bildung
und des Unterrichtswesens in H. (1912), 90.
Erzieherisch wirkten aber diese Anstalten zweifellos; nicht
nur unmittelbar dadurch, daß sie eine — vielleicht gar nicht
einmal sehr große — Masse von erwachsenen Menschen an in¬
dustrielle Tätigkeit gewöhnten, sondern mittelbar dadurch, daß
sie als abschreckendes Beispiel dienten und viele, die sonst der
öffentlichen Armenpflege anheimgefallen wären, sich zur „freien“
Arbeit entschlossen, um der Aufnahme im Armenhause zu ent¬
gehen. Die zu Arbeitshäusern umgewandelten Waisen- und
Findelhäuser waren wirkliche Pflanzschulen für ein „industriöses“
Geschlecht. Aber der Nutzen dieser Arbeitshäuser für die auf¬
kommende Industrie äußerte sich auf viel unmittelbarere Weise
dadurch, daß sie (namentlich die Waisenhäuser) vielfach dazu
dienten, um den Unternehmer mit dem fehlenden Arbeitermateriale
zu versehen.
Lieferung von Arbeitskräften durch Arbeits- und Waisenhäuser
Italien: „nelle seconda metädel secolo (sc. XVIII.) e tutto un
succedersi di tentativi per aprire negli ospizii, col concorso di abiti
direttori, manifatture diverse.“
1759 vermietet das Armenhaus von Mandovi an den Tuchfabrikanten
G. B. Tempia eine Manufaktur mit der Abmachung, daß er mindestens
400 Arme der Stadt und Umgebung dort beschäftige.
1761 errichtet die Congregazione von Nizza eine Seidenspinnerei,
die sie einem gewissen Fo Vierne verpachtet, der dort mit Armen
arbeitet. Noch mehrere ähnliche Fälle bei G. Prato, La vita econ.
di Piemonte, 340 seg.
Frankreich : Eine genaue Beschreibung der gewerblichen Arbeit in
den Pariser Arbeits- und Armenhäusern im Jahre 1666 gibt nach einer
zeitgenössischen Darstellung: Paultre, La repress. de la mend..
183 ff. Völlige arbeitsteilige Manufaktur: „il y a dans la maison de
Bicestre des drapiers pour les draps , pour les serges et pour les
tiretaines; il y a des pauvres qui peignent, d’autres qui cardent,
822
Siebenter Abschnitt: Die Beschaffung der Arbeitskräfte
d’autres qui filent, d’autres qui sont sur les mestiers etc. etc.“. Haupt¬
industrie: le tricot. Verträge mit vier marckands bonnetiers : ib.
186 f. 188 f. 1. Produktion für eigene Rechnung; 2. Produktion für
Genossenschaften; 3. Produktion für Verleger: diese verpflichten sich
zur Erteilung von. Aufträgen ; das Höpital zur Lieferung einer be¬
stimmten Anzahl Arbeiter.
Nach einer Aufstellung dieses Jahres arbeiten in den verschiedenen
Häusern des Höpital general für industrielle Zwecke 6000 Personen.
Über Verträge zwischen Unternehmern und Arbeitshäusern im
18. Jahrhundert berichtet Lallemand, Hist, de la Charite 41, 542.
England-. Anfang des 18. Jahrhunderts arbeiteten in 48 Work-
Houses in London 4000 Arbeiter und Arbeiterinnen für Unternehmer
zu Spottpreisen. Siehe die Einzelverträge der Arbeitshäuser mit^ den
Lieferanten und Händlern in der Schrift: An Account of the \Vork-
Houses in Great Britain in the year 1732. 3. ed. repr. 1786, p. 8 f.
25. 60. Über den Stand der Arbeitshäuser in E. im Jahre 1795 und
vorher geben der 2. und 3. Band des Eden sehen Werkes den er¬
wünschten Aufschluß. Danach gab es eine Menge ganz großer Arbeits¬
häuser mit mehreren Hundert Insassen, die insgesamt 11 142 Personen
industriell beschäftigten.
Daneben bestand die Sitte, Arbeiter, namentlich Kinder, aus solchen
Anstalten den Unternehmern in ihre Fabriken zu liefern. Ein sprechendes
Beispiel für diese Übung ist die Anlage der Baumwollspinnerei duich
Mr Dade im Jahre 1784, die Rob. Owen ausführlich beschreibt.
In dem New View of Society (4. ed. 1818, p. 34 f.) erzählt er uns,
wie schwer die Beschaffung der Arbeitskräfte war („was no light
task“). nTwo modes then only remained of obtaining these labourers:
the one, to procure children from the various pub.lic charities
of the country; and the other, to induce families to settle round the
works.
To accomodate the first, a large house was erected, which ulti-
mately contained about 500 children, who were procured chiefly from
workhouses and charities in Edinburgh. These children were
to be fed, clothed and educated . .
Holland-. 1683 wird den Refugies in Amsterdam ein Waisenhaus
eröffnet, um dort Seide spinnen zu lassen. Berg, Refugies, 160.
In Middelburg schloß die Armenverwaltung mit einem Franzosen einen
Vertrag, nach welchem in dessen Tuchweberei eine Anzahl Waisen¬
kinder beschäftigt werden sollten. Coronel, Middelburg voorheen
en thans, 120, bei Pringsheim, Beiträge, 55.
Das „Raspel- und Spinnhaus“ in Amsterdam beschreibt Zetzner
in seinem Reiss- Journal ; lierausgeg. von R. Reuss (1912), 17 f.
Schweiz : 1665/69 errichtet Basel ein Zunft- und Waisenhaus, d. h.
Arbeitshaus. Das Waisenhaus wurde dann, wie es scheint, in Sub¬
mission jeweilen an denjenigen Fabrikanten, gleichviel welcher Branche,
verliehen, der für den Unterhalt der Kinder am ausgiebigsten zu sorgen
sich verpflichtete. 1676 wird es dem Strumpffabrikanten Gernler ein¬
geräumt. G. erhält die Befugnis zur Errichtung einer „ Strumpffabrique “
ipi Waisenhaus, Tr. Geering, Basels Handel und Ind., 608. 619,
Vierundfünfzigstes Kapitel: Die Maßnahmen der staatlichen Arbeiterpolitik 823
Deutschland. Brandenburg -Pr eufsen: 1687 wird «das Zucht- und
Spinnhaus zu Spandau angelegt. Anfänglich wurden die Gefangenen
zum Wollspinnen angehalten. 1688 überließ man den Seidenhändlern
Müller und Kopisch sämtliche Gefangene zum Seidenspinnen, wofür
wöchentlich 8 gr. pro Person bezahlt wurden. Acta bor., Seidenind.
1 , 6. Desgl. liefert das Waisenhaus in Potsdam den Seidenfabriken
Arbeitskräfte: ib. Nr. 94.
Der König Friedrich Wilhelm I. verfügt, daß einem Fabrikanten
von Leonischen Tressen 3 — 400 Waisenkinder zur Anlernung auf
dessen Kosten überwiesen werden ; für die Anlage einer Gewehrfabrik
erhalten die Unternehmer das Recht, aus den Waisenhäusern zu Potsdam
und Berlin brauchbaren Nachwuchs zu entnehmen. Festschrift des
Bankhauses der Gebr. Schickler (1912), 20 f. 34. Im Potsdamer
Waisenhause ließen (1778) die Juden Spitzen klöppeln. Cromes Selbst¬
biographie (1833), 69 ff.
Im Königreich Sachsen wurden Arbeits - Armenhäuser und Straf¬
anstalten der Gespinnsterzeugung dienstbar gemacht. Die Insassen
produzierten vornehmlich die feineren Garne. A. König, Die sächs.
Baumwollindustrie (1899), 82 f.
Hannover-, die Gräzelsche Fabrik in Göttingen liefert die Kamm¬
wolle in die Arbeitsschule zum Verspinnen, ebenso in das Werkhaus.
Pastor Wagemann, Über Industrieschulen im allgemeinen und über
die Göttingische insbesondere , im Gött. Magazin für Industrie und
Armenpflege (!), herausgeg. von L. G. Wagemann, 1 (1789), 20 0’.
Arbeitsschulen in Hessen spinnen Baumwolle für die Fabriken in
Elberfeld; ähnliche Schulen gibt es in Magdeburg, Strafsburg, Böhmen.
Cand. Wagemann, Erste Arbeitsschule in Hessen, im Gött.
Magazin usw. 1, 38.
Baden : Das Zuchthaus in Breisach gab Anlaß, „daran eine Fabrik
zu lehnen. Ein Jude, Götz Uffenheimer, pachtete es und richtete
eine Hanf- und Leinenspinnerei ein“ (18. Jahrh.); ein Italiener,
Fornaro, pachtet das Zuchthaus zu Hüfingen im Schwarzwald, wo erst
Wolle, später Seide gesponnen wird. Gothein, WG. d. Schw. 1, 756.
Österreich: Über ähnliche Verhältnisse berichtet die „Relation“ von
1756, die von A. Fournier im Archiv f. österr. Gesell. Bd. 69 ver.
öffentlicht ist. Vgl. Ad. Demuth, Das Manufacturhaus in Wei߬
wasser (Böhmen), in den Mitt. d. Ver. f. d. Gesch. d. Deutsch, i. B.
28, 293 ff.
* *
*
Das verstand man im 16., 17. und 18. Jahrhundert unter
„Erziehung zur Arbeit“. Sie war ungefähr gleichbedeutend mit
Erzwingung der Arbeit. Sie bezog sich fast ausschließlich auf
die moralische Seite des Arbeitsproblems, fast gar nicht auf die
technische. Eür die technische Ausbildung des Arbeiters tat
man bis ins 19. Jahrhundert hinein gar nichts; bis auf eine Aus¬
nahme: in den meisten Staaten wurden Spinnschulen ein-
824 Siebenter Abschnitt: Die Beschaffung der Arbeitskräfte
gerichtet. Diese völlig andere Orientierung der industriellen
Volkserziehung in frühkapitalistischer Zeit, die auch nicht das
geringste Band mit der unserer Tage verknüpft, war begründet
in der oben von mir hervorgehobenen Eigenart der damaligen
Arbeiter und der damaligen Technik. Hauptproblem war: den
Arbeiter überhaupt erst zur Arbeit zu erziehen. Seine technische
Befähigung aber konnte man ihm auf theoretischem Wege nicht
beibringen. Da galt es eine praktische Übertragung von Mann
zu Mann, da galt es vor allem eine Vermehrung des Bestandes
an technisch leistungsfähigen Arbeitern. Dieses Problem zu lösen
waren ganz andere Maßnahmen der staatlichen Arbeiterpolitik
bestimmt : ich stelle sie im folgenden zusammen.
IV. Der Kampf der Staaten um den gelernten
Arbeiter
Daß die Einbürgerung der kapitalistischen Wirtschaftsweise
zum großen Teil das Werk der „Fremden“ ist, ist eine der für
das Verständnis aller europäischen Geschichte grundlegend wich¬
tigen Feststellungen. Sie ist in doppeltem Sinne wichtig: inso¬
fern die Wirtschaftssubjekte (Unternehmer) und insofern die
Wirtschaftsobjekte (Arbeiter) der neuen Wirtschaftsform in
weitem Umfange eingewanderte Fremde sind. Über jene handele
ich noch in anderem Zusammenhänge ausführlich : siehe das
61. Kapitel; von diesen habe ich hier zu reden: welche politische
Maßnahmen sie auslösen.
Die Eigenart der empirischen Technik bringt es mit sich,
wie wir gesehen haben, daß das technische Können an der
lebendigen Person des Arbeiters haftet : Einführung eines neuen
Verfahrens heischt also Einführung von Menschen, die dieses
Verfahrens kundig sind. Deshalb war schon die Gewerbepolitik
des Mittelalters erfüllt von dem Bestreben, die Handwerker einer
Stadt durch Zuzug zu vermehren, ihren Wegzug zu verhindern.
An diese Politik der mittelalterlichen Städte knüpft die des
Fürstenstaates wiederum an : in den ersten Jahrhunderten seines
Bestehens handelte es sich auch für ihn vor allem darum, tüchtige
Handwerker ins Land zu ziehen. Eine Trennung zwischen
Unternehmer und Arbeiter war noch nicht erfolgt. Später, nach¬
dem diese eingetreten war, galt es, die doppelte Aufgabe zu
lösen: Unternehmer und (gelernte) Arbeiter herbeizuschaffen.
Die zur Lösung dieser Aufgaben getroffenen Maßnahmen sind
gum Teil dieselben; so alle diejenigen, die wir als religions-
Vierundfünfzigstes Kapitel: Die Maßnahmen der staatlichen Arbeiterpolitik §25
oder kirchenpolitische Maßnahmen zusammenfassen können und
von denen im 28. Kapitel bereits die Rede war. Eine andere
Gruppe von Maßnahmen trägt aber den Charakter einer aus¬
gesprochen eigenen Arbeiterpolitik.
Ähnlich wie im Mittelalter die einzelnen Städte um den Besitz
von Handwerkern kämpfen, so sehen wir die modernen Staaten
bis zum Ende des 18. Jahrhunderts in einem erbitterten Kampfe
um den gelernten Arbeiter liegen. Naturgemäß zeitigte dieser
Kampf einerseits das Bestreben, die in einem Lande vorhandenen
Könner und Künste zu erhalten, andererseits das Bestreben, den
Vorrat daran zu vermehren.
In vielen Staaten begegnen wir in der Frühzeit des Kapita¬
lismus den Verboten der Auswanderung gelernter
Arbeiter.
Italien: Venedig konfiszierte die Güter jedes Glasarbeiters, der
sein Vaterland verließ. Noch 1754 ließ es venetianische Arbeiter, die sich
im Auslande niedergelassen hatten, vergiften. Bei Levasseur 2, 258.
Die Tuchmacher in Mailand mußten noch im 16. Jahrhundert den
Verbleibungseid schwören. Bei Ranke, Fürsten und Völker Süd¬
europas 1 3, 472. Auswanderungsverbote für Seidenarbeiter in Piemont :
Edikt vom 28. Aug. 1701. Vgl. G. Prato, La vita economica in
Piemonte, 52 seg.
In Frankreich erließ Colbert mehrfach Auswanderungsverbote. Ein
Edikt vom Monat August 1669 untersagte den Untertanen des Königs
„de s’habituer dans les pays etrangers ä peine de confiscation de
corps et de bien“. Am 31. Mai 1682 werden die Bestimmungen
wiederholt, vornehmlich mit Bezug auf die Protestanten. Es werden
nicht mehr mit den Galeeren, sondern mit dem Tode (!) bestraft die
„ouvriers qui sortiront du royaume“. G. Martin, La grande In¬
dustrie sous . . . Louis XIV, 80 f. Vgl. noch (für das Languedoc)
L. Dutil, L’etat econ. du L. (1911), 294.
England: 5 Geo. I und 23 Geo. II stellen unter Strafe: die An¬
werbung englischer Arbeiter zur Auswanderung und Arbeitsübernahme
im Auslande: „if . . . any person . . . shall contract with, entice,
persuade or endeavour to persuade , sollicit or seduce any manu-
facturer or artificer, of or in wool, mohair, cotton or silk or of or in
any manufactures made of wool etc. . . . or of or in iron steel, brass
or other manufacturer, workman or artificer etc. to go out this king-
dom . . Vgl. Postlethwayt, Dict. 22, 135.
1794 wird noch einmal die Auswanderung aller gelernten Arbeiter
verboten. Nach Walsh’s App. Sees VII und VIII. E. Irv. Mc
Cormac, White Servitude in Maryland (1904), 109.
Ein Zwischenstadium der Entwicklung bedeutet das Verbot von
Geräte- und Maschinenausfuhr, dem wir in der englischen
Gesetzgebung besonders häufig schon im 17- Jahrhundert begegnen.
Procl, vom 15. Jan. 1666 und Stat. 7 und 8 Will. III c. 20 § 8
826 Siebeuter Abschnitt: Die Beschaffung der Arbeitskräfte
verbieten die Ausfuhr der unter der Königin Elisabeth erfundenen
Strickmaschinen (stocking-frame). Die oben angeführten Gesetze unter
dem ersten und zweiten Georg verbieten die Ausfuhr von Geräten der
Wollen- und Seidenindustrie. Andere Maßnahmen gleichen Inhalts sind:
1774. Verbot der Ausfuhr von Utensilien, die in der Baumwoll¬
industrie Verwendung finden: Anderson, Orig. 4, 176;
1775. dsgl. in der Wollindustrie: Anderson 4, 187;
1787. dsgl. in der Eisen- und Stahlindustrie: Anderson 4, 668.
Österreich: Auswanderungsverbote werden erlassen 1752 (Pat. vom
12. Aug.), 1769, 1779 und öfters für die Glasarbeiter Böhmens, für
die Kunstweber Österreichs u. a. J. Kropatschek, österr. Ge¬
setze , welche im Kommerzialgew. usw. vorgeschrieben worden sind
1, 316 ff.
Ähnliche Gesetze finden wir auch in andern Ländern.
Diesem Bemühen, die gelernten Arbeiter im Lande festzu¬
halten, steht nun das eifrige Bestreben aller Begierungen
gegenüber, gelernte Arbeiter aus fremden Ländern
her bei zu ziehen. Zur Belebung des Bildes führe ich aus dem
unerschöpflich reichen Material ein paar Beispiele an:
England: Das Buch von W. Cunningham, Alien immigrants
to England (1897), behandelt den Gegenstand fast erschöpfend. Da
zahlreiche Flüchtlinge namentlich aus den Niederlanden und Frank¬
reich freiwillig England aufsuchten , so bestand die Politik der eng¬
lischen Könige im wesentlichen darin, diese arbeitsamen und technisch
hochgebildeten Elemente aufzunehmen und gegen die zünftigen Hand¬
werker zu beschützen. Wir werden noch sehen, daß fast die gesamte
englische Industrie solchen fremden Einwanderern ihre Entstehung
verdankte. Wo die Franzosen und Niederländer Lücken ließen, da
war die englische Regierung bedacht, von anderswoher die nötigen
Arbeitskräfte herbeizuziehen. Heinrich VI. ließ (1452) sächsische,
österreichische und böhmische Bergleute nach England kommen.
Ehymer, Foedera 11, 317; bei Roscher 3, 817. Heinrich VIII.
führte die Waffenschmiederei in England mit Hilfe fast nur von
deutschen Arbeitern ein. Als 1670 sich eine Gesellschaft zur Her¬
stellung von verzinntem Eisenblech bildete, wurden ebenfalls deutsche
Arbeiter hereingeholt usw.
Frankreich : Schon im Mittelalter beginnen die französischen Könige,
sich um die Herbeischaffung fremder Handwerker und gelernter Arbeiter
zu bemühen. Vor allem ist es die Fürsorge für die Seidenindustrie,
die sie an treibt, und da sind es natürlich vor allem die italienischen
Arbeitskräfte, die sie ins Land zu ziehen beflissen sind. Mitte des
15s Jahrhunderts ruft Ludwig XI. italienische Seidenweber nach
Frankreich, die sich in Tours niederlassen. R. Eberstadt, Franz.
Gew. -Recht, 317 f. Katharina von Medici errichtet in Orleans eine
Seidenweberei mit Hilfe fremder Arbeiter. Aber auch für andere
Gewerbe benötigte man die italienischen Arbeiter. Unter Karl VIII.
wurden sie bereits systematisch und in großem Stile herbeigeholt:
Vierundfünfzigstes Kapitel: Die Maßnahmen der staatlichen Arbeiterpolitik 827
„une armee de parfumeurs, de joailliers, de brodeurs , de tailleurs
pour dames, de menuisiers, de jardiniers, de facteurs d’orgues et de
toumeurs d’albätre, qu’il installera au cliäteau d’Ambroise.“ A. de
Montaiglon, Etats des gages des ouvriers italiens employes par
Charles VIII. Archives de l’art fr an 9. Doc. t. I p. 94 ff. , zit. von
Pigeonneau, Hist, du comm. 2, 24.
Franz I. läßt Arbeiter aus Flandern und Italien kommen , mit
denen er eine Teppichweberei in Fontainebleau errichtet. Heinrich II.
begründet in St. Germain en Laye eine Glashütte, wo der Italiener
Mutio die Technik von Murano anwandte. Levasse ur 2, 34. 35.
Heinrich IV. zieht flandrische Teppichmacher herein, um eine Haute
lice - Teppichweberei ins Leben zu rufen. Fagniez, L’econ. soc.
de la France sous Henry IV, 147. Colbert betreibt den Import
fremder Arbeiter in großem Umfange: er holt Kunsthandwerker und
Künstler für die Manufactures des Gobelins aus Italien, Holland,
England; gelernte Arbeiter für die Teppichweberei, für die Spitzen¬
industrie , für die Seidenindustrie , für die Spiegelindustrie meist aus
Italien ; für die Tuchindustrie aus Holland ; für die Bergwerke , die
Eisengießereien, die Teerfabrikation aus Schweden; für die Weißblech¬
fabrikation aus Deutschland usw. Depping, Introd. ä la corr. adm.
so’us le regime de Louis XIV Tome III: Affaire de Finances Com¬
merce — Industrie; Clement, Lettres de Colbert II, CCLX und
die Table im 8. Bande s. v. couvrier’.
Deutschland: Fast alle deutschen Fürsten sehen wir in gleicher
Richtung bemüht wie die englischen und französischen Könige. Vor
allem ist es Friedrich II. von Preufscn , der es sich eifrig angelegen
sein ließ, seinem Lande die fehlenden Arbeitskräfte zu verschaffen.
Vor allem handelte es sich um Spinner und W eber. Da fehlen den
französischen Wollenmanufakturen die Spinner : Friedrich bezieht, sie
vom Auslande und siedelt sie in zahlreichen Dörfern an. Chr. Weiss,
Hist, des refugies prot. 1, 201. 1750- vernehmen wir eine Klage
der Dresdener Kaufmannschaft , daß ein kgl. preuß. Hofrat namens
Mentzel in der Oberlausitz herumreist, um Damastzieher^ und andere
Fabrikanten „unter allerhand Verheißungen aus Ihrer Kgl. Majestät
in Pohlen hiesigen Landen nach Schlesien zu locken“. Promemoria
vom 24- Jan. 1750, abgedr. bei Gerstmann, Beitr. zur Kult.-Gesch.
Schlesiens (1909), 61/62. Ein reiches Material zur Geschichte des
Kampfes um den gelernten Arbeiter in der Seidenindustrie enthält die
Hintze-Schmoller sehe Publikation in den Acta bor. Siehe z. B.
Bd. I Nr. 48. 52. 53. 93. 115. 128. 131. 139. 166. 233. 245. 248.
260. 283. 317. 363. 461 u. a. Aber auch andere Gewerbe als die
Textilindustrie wurden mit auswärtigen Arbeitern versorgt. So wurden
17G3 Lederarbeiter nach Schlesien gezogen: siehe Avertissement wegen
der Benefizien vor die auswärtige in Schlesien sich etablierende Leder-
fabricanten vom 14. Mai 1763. Abgedr. bei Bergius, Neues Pol.
u. Comm.-Mag. 4, 20. B. stellt dabei, folgende, das Problem in seiner
grundsätzlichen Bedeutung gut beleuchtende Betrachtung an: „Ohne
hinlängliche Kenntnis, Wissenschaft und Erfahrung wird kein Gerber
im Stande sein, solche Leder zu bereiten, welche den Namen eines
828
Siebenter Abschnitt:: Die Beschaffung der Arbeitskräfte
vorzüglich guten und tüchtigen Leders in der Tat verdienen sollte . . .
Finden sich nun im Lande keine Gerber, welche diese Eigenschaft
besitzen, so ist kein anderes Mittel übrig, als ausländische
Gerber in ’s Land zu ziehen.“
Eisenarbeiter werden im Badenschen gesucht: „Gleich den
preußischen Werbern durchzogen Emissäre benachbarter Fabriken das
Land, um einander durch größere Versprechungen die besten Arbeiter
abspenstig zu machen.“ Gothein, WG. d. Schwarzwaldes 1, 779/80.
Auch Österreich bemüht sich unter Maria Theresia um Hereinziehung
fremder Arbeiter. Schon seit mehreren Jahren, so berichtet im Jahre
1766 die Behörde, sei sie bestrebt, alle dienlichen Mittel zur Ver¬
besserung der inländischen Manufakturen anzuwenden und lasse es
nicht an Erteilung von Prämien und andern Unterstützungen an
tüchtige Arbeiter fehlen. Zahlreiche Industriezweige aber könne man
„nicht anderst als durch Verschreibung fremder Künstler
in die Höhe bringen.“ So wäre die Samtfabrikation niemals „zur
Perfektion gediehen, wenn man nicht derley geschickte Meister (be-
nanntlich Fleuriet, Gautier und Tetier) aus Frankreich mittels einer
lebenslangen Pension anher behandlet hätte.“ Zur Verbesserung der
Stahlindustrie beziehe man Arbeiter aus England; Graf Joseph Kinsky
verdanke die Güte der von ihm erzeugten gezogenen Leinwand und
feinen Barchente dem Umstande, daß er anläßlich des letzten Krieges
einige tüchtige Meister aus Sachsen zu überkommen das Glück gehabt
habe. Plibram, a. a. 0. S. 149.
Andererseits äußert sich die Kärntner Repräsentation unter dem
4. Juli 1750: die Eisenarbeiter wanderten aus. Daran seien die
Emissäre von auswärtigen Potentien und Eisengewerkschaften schuld,
„welche Emissäre sich al incognito in diese k. k. Erblande begeben
und mit Verheißung eines großen Lohnes und Verdienstes die besten
Arbeiter heimlich aufreden und per tertium et quartum abcapern lassen,
wie solches leider seit kurzer Zeit geschehen ist. Alf. Müller,
Geschichte der Eis.-Ind. in Inner-Österr. 1 (1909), 468.
Notwendig mußten zwischen den einzelnen Staaten, die jeder
seine Arbeiter zurückhalten und jeder fremde Arbeiter haben
wollten, Konflikte entstehen. In der Tat finden wir während
des 17. und 18. Jahrhunderts unausgesetzt die Regierungen
im Streit untereinander um ihre Arbeiter, finden wir
ganze Systeme ausgebildet, einerseits um neue Arbeiter heimlich
herbeizulocken, andrerseits um ihre Anwerbung und Auswande¬
rung zu überwachen und zu verhindern. Der Kampf um die ge¬
lernten Arbeiter bildet einen regelmäßigen Gegenstand der diplo¬
matischen Verhandlungen jener Zeit.
Nachdem Frankreich das klassische Land der modernen
Industrie geworden war, wurde es auch das Bezugsgebiet für
hochqualifizierte Arbeiter. „Les etrangers sont fort empresses
de nous enlever nos ouvriers“ lesen wir in einem Briefe
Vierundfünfzigstes Kapitel: Die Maßnahmen der staatlichen Arbeiterpolitik 829
Gournays vom 22. Januar 1753. Bigot de St. Croix schätzte,
daß das Ausland jährlich 10 000 gelernte Arbeiter aus Frank¬
reich bezöge1. Und nachdem die Kirchenpolitik Ludwigs XIV.
eine Menge der besten Arbeiter aus dem Lande getrieben
hatte, war die Regierung während des 18. Jahrhunderts
doppelt darauf bedacht, die Entführung französischer Arbeiter
zu verhindern. So können wir die eigentümliche Arbeiterpolitik
jener Jahrhunderte besonders deutlich verfolgen, wenn wir den
Kampf beobachten, den Frankreich mit den fremden Ländern
um seine Arbeiter ausficht. Es trifft sich glücklich, daß schon
durch die Publikationen Deppings u. a., namentlich aber neuer¬
dings durch die beiden Bücher G. Martins, zumal das zweite,
zur Aufhellung dieser Verhältnisse ein so reiches Material zutage
o-efördert ist, wie es für kein anderes Land der Fall ist. Ich
gebe im Folgenden im wesentlichen an der Hand der genannten
Publikationen eine Art von Regesten zu dem Thema:
Frankreichs Kampf mit den fremden Völkern um den gelernten
Arbeiter :
17. Jahrhundert :
1672 steckt Colbert einen schweizerischen Kaufmann ins Gefängnis,
weil er sich unterfing, französische Arbeiter anzuwerben.
Als venetianische Glasarbeiter wieder nach Italien zurückkehren
wollen, läßt er sie an der Grenze verhaften und im Schlosse Pierre-
Seize gefangen setzen; ebenso einen Pariser Seidenweber, der nach
Spanien auswandern will.
1679 versucht der spanische Gesandte, 30 Seidenarbeiter zu ex¬
portieren, wird aber daran verhindert.
In Lyon plant ein Samtweber, sich in Florenz anzusiedeln: der
Erzbischof von Lyon erfährt es und wirft ihn ins Gefängnis.
18. Jahrhundert:
Bufsland: 1717 lockt Rußland 150 Arbeiter an: Uhrmacher, Ver¬
golder, Maler, Kutschenmacher, Schmiede u. a.
Flüchtige Arbeiter der Manufaktur von Sevres halfen die kgl.
Porzellanmanufaktur in St. Petersburg begründen.
Die patriotische Gesellschaft von St. Petersburg setzt einen Preis
von 200 Rub. für die französischen Gerber aus, die ihr Geheimnis
verraten.
Gebr. Rulliere bekommen von der russischen Regierung 2 ecus zu
je 6 1. für jeden Arbeiter, den sie liefern. Es gibt besondere Agenten:
„emolleurs pour la Russie“, denen die französische Regierung nach¬
spürt (wie heute etwa den Mädchenhändlern), und die sie ins Ge¬
fängnis steckt, sobald sie ihrer habhaft wird. Sie wohnen deshalb
meist im Auslande. Berühmt ist ein gewisser Fevrier, Uhrmacher zu
1 E. Martin, La grande^ industrie sous Louis XV, 300.
§30 Siebenter Abschnitt: Die Beschaffung der Arbeitskräfte
Paris, der sich damit befaßt, gute Uhrmacher in Paris und Lyon aus¬
findig zu machen, um sie ins Ausland zu bringen. Als er sich wieder
einmal mit mehreren Arbeitern nach Rouen begibt, um sich auf einem
holländischen Schiffe einzuschiffen, werden alle ergriffen und gefangen
gesetzt.
Ein förmlicher Spionendienst wird organisiert, um die Wege zu
erkunden, die die auswandernden Arbeiter nehmen.
1767 beklagt sich der französische Gesandte in Moskau, daß
mehrere Zeichner aus Lyon nach Rußland durchgekommen sind, wo
man ihnen große Vorteile gewähre. .
Muster schickt man in Weinfässern, um den Nachstellungen zu
entgehen; auch hier sind die französischen Behörden hinter den Misse¬
tätern her.
Dänemark: Schultze, Sekretär der dänischen Gesandtschaft in
Paris, befördert Tuchmacher.
Ein Genfer wird verhaftet, weil er Agent für den Transport von
Färbern aus Lyon nach Kopenhagen ist. Ein anderer wirbt unter
dem Schutze der dänischen Gesandtschaft Peilenschmiede für Uhr¬
macherei und Instrumentenmacherei.
England: Eine Agentin liefert 7 Jahre hindurch regelmäßig junge
Arbeiter und Arbeiterinnen nach E. 1763 wird ein Trupp, bestehend
aus MeBuast, 7 Arbeitern und Arbeiterinnen und 2 Kindern, auf Grund
einer Denunziation angehalten.
Ein Bewohner von Beauvais hat häufig Zusammenkünfte mit dem
englischen Gesandten: er soll in London eine Teppichweberei ein¬
richten, ähnlich der in Beauvais. Er hat sich verpflichtet, die Hälfte
der französischen Arbeiter nach E. zu bringen. Entdeckt und fest¬
genommen.
Die Gebr. Grignon, Arbeiter der Gobelins, lassen sich bestimmen,
nach London überzusiedeln; einem gelingt es, der andere wird ge¬
fangen genommen.
Das gleiche Geschick ereilt Jean Coillat, Arbeiter in der Porzellan¬
manufaktur zuVincennes; das gleiche einen marchand eventailliste.
Österreich-Ungarn : 1750 wird ein Nie. Fran<?ais festgenommen, der
Messerschmiede nach Wien bringen will.
Deutschland: Hannong, ein Fayencearbeiter von Talent, wird für
die sächsische Porzellanmanufaktur gewonnen. Arbeiter aus der M.
des Gob. desgleichen.
Ein geschickter Zeichner ist schon in Deutschland: als Frau und
Kinder nachkommen wollen, verhaftet man sie und zwingt so den
Vater, zurückzukehren.
Abgesandte Friedrichs II. werden in Straßburg und Dünkirchen
aufgespürt, wo sie Tabakarbeiter anwerben wollen. Vgl. auch Acta
borussica. Seidenindustrie.
Ähnliche Beziehungen bestanden zwischen Frankreich und Spanien ,
Portugal , Belgien , Schweden , Italien.
Die Strafen, die über die Missetäter verhängt wurden, waren oft
sehr hart. Am 31. März 1751 werden zwei maitres ouvriers aus Lyon
zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt, weil sie sich schuldig ge-
Vierundfünfzigstes Kapitel: Die Maßnahmen der staatlichen Arbeiterpolitik 831
macht hatten, Arbeiter zur Auswanderung zu verführen. Ihre Opfer,
ouvriers en soie , compagnons , mouliniers , passementiers bekommen
teils Geld-, teils Freiheitsstrafen von 2 bis 5 Jahren.
Um doch das Ziel, außer Landes zu kommen, zu erreichen, griff
man zu den gewagtesten Mitteln : vielfach wurde ein Pilgerzug vor¬
geschützt und ähnliches. Vgl. auch noch Go darf, L’ouvrier en soie
(1899), 202 f.
V. Die Regelung des Arbeitsvertrages
Wie sehr eine systematische Darstellung des Arbeits- oder
Arbeiterrechts in der Zeit des Merkantilismus nottut, empfindet
man besonders lebhaft, wenn man daran geht, diejenigen Be¬
stimmungen zusammenzustellen, die damals den Arbeitsvertrag
regelten: man findet nichts als hier und da zerstreute Notizen
in der Literatur, die sich niemals mit dem Probleme eindring¬
lich und gesondert befaßt hat.
AVas sich aus einem einstweiligen Studium des Gesetzes¬
materials ergibt, ist etwa folgendes:
Ehe der Staat sich um die Arbeiter kümmerte, war ihre Tätig¬
keit eingeschlossen in die Ordnungen der Grundherrschaften oder
der Zünfte. Beide bleiben nun auch während des frühkapita¬
listischen Zeitalters sachlich wie örtlich teilweise in Kraft. Überall,
wo die Hörigkeit noch nicht beseitigt war, also in so gut wie
allen Ländern mit Ausnahme von Italien und England, bestand
auch in unsrer Epoche die Arbeitspflicht der Hintersassen, aus
der, wie wir gesehen haben, ein nicht unbeträchtlicher Teil der
kapitalistischen Industrie (und natürlich auch Landwirtschaft)
erwachsen ist. Das Handwerk andrerseits namentlich in den
Städten regelte seine Arbeit nach wie vor durch die nur hier
und da der staatlichen Oberaufsicht unterworfenen Zunftord¬
nungen.
Daneben und darüber schob sich der Staat mit seinem be¬
sonderen Arbeitsrecht.
Das staatliche Arbeitsrecht dieser Zeit ist nun, wenn wir es
als Ganzes fassen, durchaus noch aus demselben Geiste geboren
•wie die früheren Rechte: es geht wie diese von dem Grundge¬
danken einer Arbeitspflicht aus, die sich, wie wir schon fest¬
stellen konnten, häufig in einen unmittelbaren Arbeitszwang ver¬
dichtete. Aus dieser Grundauffassung ergaben sich nun aber
ohne weiteres die Grundzüge, die das merkantilistische Arbeits¬
recht kennzeichnen. Es sind folgende:
1. Die Dauer des Arbeitsvertrages wird der Lebens-
832 Siebenter Abschnitt: Die Beschaffung der Arbeitskräfte
länglichkeit, wie sie dem Stande der Hörigkeit entspricht, nach
Möglichkeit angenähert : das Arbeitsverhältnis soll sich in langen
Zwischenräumen nur verändern dürfen;
2. demgemäß wird das Wechseln der Arbeitsstelle
nach Möglichkeit erschwert: lange Kündigungsfristen, Verbote,
die unvollendete Arbeit zu verlassen, oder wegzugehen, ehe der
Arbeitgeber einen Ersatz hat; Beschränkung der Freizügigkeit;
Abgangszeugnispflicht u. dgl.
3. Die Dauer der Arbeitszeit wird ebenso wie
4. die Höhe der Löhne von der Obrigkeit bestimmt;
5. die persönliche Freiheit des Arbeiters auch außer¬
halb der Arbeit ist stark beschränkt: häufig darf er den ^
Arbeitsort überhaupt nicht verlassen, und selbstverständlich hat
er kein Recht, sich mit seinesgleichen zu verständigen, um etwa
seine Arbeitsbedingungen zu verbessern.
Alle derartigen Bestrebungen wären gegen den Geist des
ganzen Rechts gewesen: danach wurde ja das Arbeitsverhältnis
von der Obrigkeit geregelt, war es eine Art von Beamtenver¬
hältnis. Wie aber das Koalitions- und Streikrecht dem Sinne
des Beamtenverhältnisses innerlich widerspricht, so galt auch in
der Frühzeit des Kapitalismus alles das, was wir heute unter
der Einrichtung der gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung zu¬
sammenfassen, als verpönt.
Im einzelnen stoßen wir auf folgende Bestimmungen:
Das gebundene Arbeitsrecht finden wir schon in den italienischen
Industrien des 14. und 15. Jahrhunderts, so beispielsweise in den
florentiner Tuch- und Seidenindustrien, die ja überhaupt noch halb
handwerksmäßiges Gepräge tragen : der Arbeiter muß die Woche aus-
halten, er muß sein Stück fertig machen, er hat langfristige Kontrakte
und muß 4 Monate vorher kündigen; den „discipuli und laborantes“
der Seidenzunft wird verboten, „oft den Meister zu wechseln“.
Lohntaxen bestehen für die Spinnerei und Weberei in der floren¬
tiner Tuchindustrie im IG. Jahrhundert, ebenso für die Seidenindustrie.
Siehe die Quellen bei Doren, Studien 1, 232 f. 274.
England und Schottland haben dann die grundsätzliche Gebunden¬
heit des Arbeiterrechts wohl am folgerichtigsten und schärfsten durch¬
geführt.
In England wurde das Arbeiterrecht , wie wir wissen , kodifiziert
durch 5 Elis. c. 4 (1563), das 34 Arbeitergesetze aus der Zeit von
1350 bis 1560 außer Kraft setzte. Daß durch dieses Gesetz der
Arbeitszwang eingeführt wurde, haben wir bereits gesehen. Hatte nun
der Arbeiter freiwillig oder zwangsweise seine Arbeit angetreten, so
banden ihn zahlreiche Bestimmungen an diese eine Stelle fest: als
„Lehrling“ war er auf 7 Jahre gebunden, das heißt also hörig; aber
Vierundtünfzigstes Kapitel: Die Maßnahmen der staatlichen Arbeiterpolitik 883
auch die älteren Arbeiter mußten „ihre Zeit“ abdienen. War diese
abgelaufen, so konnten sie ihre Stelle nur verlassen: ein Vierteljahr
nach vorheriger Kündigung (§§ 5. 6), gegen einen Entlassungsschein
(§ 10), und wenn sie eine angefangene Arbeit vollendet hatten (§ 13).
Die Löhne (Maximallöhne: § 18) wurden vom Friedensrichter
festgesetzt. Lohnmaxima hatten die englischen Könige seit 1350 zahl¬
reiche erlassen. Siehe Eden 1, 30 ff. Die Neuerung 5 Elis. c. 4
bestand darin, daß die Löhne mit den Lebensmittelpreisen in Einklang
gebracht werden sollten (§ 15). Man streitet darüber, wie lange die
Festsetzung der Löhne tatsächlich stattgefunden hat. Cunningham,
Growth 44, nimmt an : bis Karl II. Später wird aber die Lohnregulierung
wieder aufgenommen: 1727 finden wir eine genaue Spezifizierung der
Stücklöhne in Gloucestershire (13 Geo. VI c. 23); 1756 wurde ein
neues Lohnstatut erlassen (29 Geo. II c. 33). Der neueste Bearbeiter
des Themas: R. H. Tawney, The Assessment of Wages in E. by
the Justices of the Peace, in der Vierteljahrsschrift f. Soc.- u. WG.
11, 307 ff. 533 ff., legt den Lohnfestsetzungen wieder höhere Bedeutung
bei als Cunningham u. a. (p. 337).
Staatliche Ko ali t i o n s v e r b o t e bestanden seit dem 16. Jahr¬
hundert. 2 u. 3 Edw. VI c. 4 u. 15 verbietet alle Vereinigungen,
um Löhne und Arbeitszeit zu beeinflussen , bei hohen Strafen : beim
zweitenmal 20 £ und Pranger; beim drittenmal 40 j£, Verlust des
Ohres und des guten Rufs. Verbote aus dem 18. Jahrhundert bei
Steffen 1, 505. Vgl. Held, Zwei Bücher, 432 ff.
Eine Art wirklicher Hörigkeit bestand noch Ende des 18. Jahr¬
hunderts in den englischen Kohlengruben. Wir finden in jener Zeit
die typischen Sklavenannoncen in den Zeitungen: „Ein Arbeiter
entlaufen: wer den Ort angibt, wo er sich aufhält, erhält 1 jjP Be¬
lohnung; wer ihn anwirbt, macht sich strafbar.“ Jars, Voyages
metallurgiques 1 (1774), 190 f.
Ähnlich war das Ärbeitsverhältnis in den schottischen Kohlen¬
bergwerken und Salzwerken geregelt. Ein Gesetz vom Jahre 1606
bestimmte: niemand darf ohne Zustimmung des Arbeitgebers Salz¬
arbeiter, Häuer oder Kohlenträger anwerben; war es doch geschehen,
so konnte sich der frühere Arbeitgeber den Arbeiter zurückholen. Das
Gesetz wurde 1661 bestätigt und auf Wasserträger ausgedehnt, „as
they are as necessary to the owners and masters of the pits as the
Colliers and the bearers“. Beim Verkauf der Berg- und Salzwerke
wurden die Arbeiter mit verkauft. Erst im Jahre 1775 hob ein Gesetz
des britischen Parlaments diese Hörigkeit auf, die aber in Wirklich¬
keit, da die Arbeiter einen Teil der Bedingungen, an die die Frei¬
lassung geknüpft war, nicht erfüllen konnten, bis 1799 bestehen blieb.
John Mackintosh, Hist, of Civilization in Scotland 3 (1895), 291.
Die zwangsweise in Arbeit genommenen Bettler und Vagabunden,
von denen wir oben Kenntnis erhielten, wurden gleichfalls als Hörige
behandelt.
Das Gesetz von 1617 bestimmte, daß die in die Lehre gegebenen
Kinder „should be subject to their master’s discipline in all sorts
of punishments, except torture and death“. Acts Pari. Scot. Vol. IV.
Sombart, Der moderne Kapitalismus. I f>3
834 Siebenter Abschnitt: Die Beschaffung der Arbeitskräfte
Im Gesetz von 1663, wonach Bettler zur Arbeit von jedermann
angenommen werden konnten, heißt es: „The poor thus employed
shall continue in the service of their employers , under their
direction and correction, not only during the time which the
parishes pa}r for them, but also for seven years thereafter,
receiving only their meat and clothing.“ Acts Pari. Scot.
Vol. VII p. 485/86. Bei Mackintosh, 1. c. 3, 249 ff.
Frankreich: Arrets du Conseil von 1699, 1723, 1729, 1749, 1786.
Lettre Pat. 1781. Gesetz von 1791. Nur auf Kündigung konnte der
Arbeiter seine Stelle verlassen: er mußte so zeitig vorher kündigen,
daß der Unternehmer Zeit hatte, neue Arbeiter zu suchen.
Es war verboten , einen Arbeiter ohne Entlassungsschein anzu¬
nehmen, den er nicht erhält, solange er seine Arbeit nicht beendigt,
Vorschüsse usw. nicht zurückbezahlt hat. Das scheint die übliche
Behandlung gewesen zu sein: wo der Arbeiter nicht schlechthin
betriebsgebunden war, wurde er als „Gesinde“ behandelt: das Arbeits¬
recht entsprach dann unsern heutigen Gesindeordnungen. Beispiele
der Ausführung : Während der Regentschaft verlassen Bandweber von
Saint-Lö die Vicomte : es ergeht ein Verbot an die Zurückbleibenden,
sich zu entfernen, die Aufforderung an die „Flüchtigen“, zurückzu¬
kehren. Arr. Cons. 22. Sept. 1722. Einige Jahre später bricht ein
Konflikt zwischen Tuchfabrikanten und Arbeitern in Louviers aus: die
Arbeiter beanspruchen das Recht der Freizügigkeit und gehen nach
Rouen. Arr. Cons. vom 23. Sept. 1729: „ordre aux ,transfuges‘ de
reintegrer les fabriques de Louviers sous menaces d’etre reconduits
par la marechaussee.“
Einer besonders strengen Zucht waren die Arbeiter der kgl. Manu¬
fakturen unterworfen: sie schuldeten ihren Arbeitgebern „Treue“ und
konnten sich nicht entfernen, wenn es ihnen gutdünkte. Die Arbeiter
der Manufacture de St. Gobain konnten sich zwei Jahre lang nicht
weiter als eine Meile entfernen, bei Geld- oder Gefängnisstrafen.
Lohntaxen begegnen wir hier und da. So wurde der Lohn der
Lastträger (gagne-deniers, porte-faix, cocheteurs, hommes de peine etc.)
in Paris vom Prevöt des Marchands et echevins festgesetzt. Art.
Gagne-derniers im Dict. de commerce 2 (1726).
Koalitionen und Streiks sind verboten. Einzelne Gewerbe:
städtische Ordonnanzen von 1712 für Pariser Arbeiter. Allgemein:
Patent von 1749; wiederholt 1781, 1785, 1786; bestätigt durch das
bekannte Revolutionsgesetz vom 14. — 17. Juni 1791, in dem (schon
wesentlich aus Doktrinarismus) jede Arbeitervereinigung und jede
gewerbliche Verbindung verboten werden.
Deutschland : Reichsrechtliche und landesherrliche Lohntaxen:
Schönlank, Soziale Kämpfe vor 300 Jahren (1894), 135 ff. Got-
hein, WG. d. Schwarzwaldes 1, 728 u. ö. 0. von Zwiedeneck-
Südenhorst, Lohnpolitik und Lohntheorie (1900), 54 ff.
Zahlreiche Lohntaxen des 18. Jahrhunderts abgedruckt bei Bergius,
Neues Pol. u. Cam. -Magazin 3 (1777), 176 ff.
Eine besondere Stellung im deutschen Arbeiterrecht nehmen die
Berg- und Hüttenordnungen ein, die von den Landesfürsten
\ ieruudfünfzigstes Kapitel: Die Maßnahmen der staatlichen Arbeiterpolitik 835
oder den „Herrschaften“ erlassen wurden und namentlich seit dem
16. Jahrhundert eine starke Tendenz zur „Bindung“ des Arbeiters
aufweisen. So setzen sie in der Mehrzahl langfristige Vertragszeiten
und lange Kündigungsfristen fest; bestrafen vorzeitiges Aufhören der
Arbeit, verlangen den „Abkehrschein“ usw.
Am Kammeisberg bei Goslar wurde schon 1476 die Dauer des
Arbeitsvertrags „für alles Gesinde“ auf ein Jahr, mindestens aber auf
ein halbes Jahr bemessen. Wer vertragswidrig den Dienst verließ
oder wegen schlechten Verhaltens entlassen wurde, durfte während
der Mietzeit nicht anderswo angelegt werden. Ähnlich die Goslarer
BO. von 1544. Nach der Salzburger BO. von 1532 sollten nur dienst¬
willige Arbeiter angelegt werden, die mit „Possporten und Urkund“
beweisen konnten, daß sie andernorts ordnungsmäßig abgekehrt seien.
Ähnlich die ungarische BO. von 1575.
Die oberpfälzische Eisenhütten- 0. von 1694 gebot den Schmied¬
knechten, die sich auf ein Jahr verdingten, treulich auszuhalten; die
preußische Hütten- und Hammer- 0. von 1769 schrieb für „sämtliche
Hütten- und Hammerleute“ „wenigstens“ einjährige Kontrakte vor.
Ebenso die hessen-darmstädtische BO. von 1718 u. a.
Die Neuanlegung wurde in manchen Fällen von der Zustimmung
des früheren Lohnherrn abhängig gemacht: siehe die Sayn- und Wittgen-
steinsche BO. von 1597 ; die BO. für Nassau von 1559, für Pfalz-
Zweibrücken von 1565, für Hessen-Kassel von 1616. Das Hessen-
Kasseler Patent von 1652 bedrohte Bergleute, die die übernommenen
Arbeiten nicht fertigstellten, mit Lohnverlust und Ablegung.
Ein vom Bergamt Zellerfeld 1692 erlassenes Patent befahl, daß
„hausgesessene Bergleute, die sich auf fremde Bergwerke begeben“,
zurückkehren sollten, andernfalls würden ihre Häuser „mit schwerem
Baugeld belegt“ oder gar öffentlich zum Verkauf gestellt.
Die Koalitionsfreiheit der Knappen war stark beschnitten usw.
Vgl. 0. Hue, Die Bergarbeiter 1 (1900), 260 f.
Österreich: Weitgehende Regelung des Arbeitsverhältnisses; Lohn¬
festsetzungen, insbesondere für Baumwollspinnerei (Normierung des
sog. „Spinnfußes“). Ad. Beer, Studien zur Gesch. der österr. VW.
unter Maria Theresia, im Archiv für österr. Gesch. 81, 87 ff.; Max
Adler, Die Anfänge usw. 9 4 ff. ; in der Manufakturs-(Qualitäts-)0.
für die Seidenzeuge vom 16. Okt. 1751 wird bestimmt: 20. „damit
die hier gemachte Waare durch übermäßigen Arb. Lohn nicht ver-
theuret, noch auch die Gesellen wider Billigkeit gedrücket“ werden,
wird Lohntaxe eingeführt. Abgedr. in Cod. austr. Supp. V. Vgl.
Hel. Deutsch, Die Entw. der Seid.-Ind. in Österreich (1909), 67.
Über hörigkeitsähnliche Arbeiterverhältnisse im Krainer Bergbau :
Alf. Müller, Gesch. d. Eis. in Innerösterreich 1, 318.
53
836
Achter Abschnitt
Die Entstellung der Unternehmerschaft
Fünfundfünfzigstes Kapitel
Die Geburt des kapitalistischen Unternehmers
Der Kapitalismus ist das Werk einzelner hervorragender
Männer, daran kann kein Zweifel sein. Jede Annahme einer
„kollektivistischen“, gleichsam vegetativen Entstehungsweise ist
falsch. Kein Mensch weiß, wer die Dorfgemeinschaft oder die
Zünfte begründet hat. Sie sind wirklich gewachsen, „organisch“
entstanden. Alle und niemand und jeder sind an ihrer Ent¬
stehung beteiligt. Anders der Kapitalismus, der in Gestalt von
„Unternehmungen“ zur Welt gekommen ist: in Gestalt also
rationaler, überlegter, weitausschauender Bildungen des mensch¬
lichen Geistes. Im Anfang war die „schöpferische Tat“ des
einzelnen; eines „wagenden“, „unternehmenden“ Mannes, der
beherzt den Entschluß faßt, aus den Gleisen der herkömmlichen
Wirtschaftsführung herauszutreten und neue Wege einzuschlagen.
Wir kennen daher auch viele einzelne bei Namen, die irgendwo
zuerst sich als kapitalistische Unternehmer betätigt haben. Die
Entstehungsgeschichte des Kapitalismus ist eine Geschichte von
Persönlichkeiten.
Es liegt nahe, zwischen der kapitalistischen Unternehmung
und derjenigen wirtschaftlichen Unternehmung, die ihr historisch
vorangegangen ist: der Grundherrschaft und Fronhofwirtschaft,
Vergleiche anzustellen. Sicherlich haben beide Wirtschaftsformen
sehr viel Gemeinsames, In gewissem Sinne ist die kapitalistische
Unternehmung geradezu die Fortsetzung der grundherrschaft¬
lichen Unternehmung. Sie führt die Bewegung fort, die diese
begonnen hatte. Beide bedeuten eine Heraushebung der Wirt¬
schaft aus den Bahnen volkstümlich-kollektivistischer Wirtschafs¬
führung. Beide sind aristokratische Organisationen, die an Stelle
Fünfundfünfzigstes Kapitel : Die Geburt des kapitalistischen Unternehmers 837
demokratischer treten. Der Grundherr hebt sich ebenso aus der
Schar der bäuerlichen "Wirte heraus wie der kapitalistische
Unternehmer aus der Masse der gewerblichen und kommerziellen
Handwerker.
Was aber den kapitalistischen vom grundherrlichen Unter¬
nehmer unterscheidet, ist dieses : daß er in viel höherem Maße
umstürzlerisch und umbildend wirkt. Der Grundherr hatte zwar
auch neue Gebilde aus schöpferischem Geiste aufgebaut. Aber
sein Sinn war doch noch gebunden geblieben an die alten Grund¬
anschauungen der großen Masse. Der Fronhof war nur ein
großer Bauernhof. Er diente wie dieser der Erzeugung selbst¬
bedurfter Güter, er war wie dieser in seiner ganzen Ausrichtung
vom „Bedarfsdeckungsprinzip“ beherrscht. Der kapitalistische
Unternehmer bricht mit den alten Überlieferungen , indem er
seiner Wirtschaft ganz neue Ziele steckt. Er durchstößt bewußt
die Schranken der alten Wirtschaftsweise , er ist ein Zerstörer
und Aufbauer in Einem. Und während der Grundherr in seinen
stillen Wäldern unberührt von dem Getriebe anderer seine neue
Welt aufgebaut hatte, erfaßt der kapitalistische Unternehmer mit
seiner Tätigkeit ganze Länder, reißt er ganze Bevölkerungen aus
ihrer gewohnten Daseinsweise heraus. Dem Bauer, den der
Grundherr sich zins- oder dienstpflichtig machte , blieb seine
alte Wirtschaftsverfassung erhalten, während der kapitalistische
Unternehmer für Tausende neue Wirtschaftsweisen schafft. Sein
Blick ist in die Weite gerichtet, er will mit seinem Willen die
Willen von vielen Menschen lenken, auch wenn sie entfernt von
ihm wohnen und arbeiten.
Auch wenn es uns die Geschichte nicht bestätigte : unsere
Einsicht in das Wesen der menschlichen Natur würde uns zu
dem Schlüsse führen: solche Andersmacher, solche Neuerer,
solche Umstürzler, solche Schöpfer waren immer nur einzelne,
waren immer nur wenige.
Nun ist es aber die Eigenart soziologischer Betrachtung
der Geschichte, daß sie immer nur für Massenerscheinungen ein
Auge hat. Und deshalb interessiert uns auch diese Äußerung
persönlicher Erinnerung, wie sie in der Schöpfung der kapita¬
listischen Unternehmung zutage tritt, nur deshalb, weil wir be¬
obachten, daß sie tatsächlich eine Massenerscheinung ist. Unsere
Stellung zu dem Problem ist damit gegeben: wir haben nicht
das Schicksal und die Leistung der einzelnen hervorragenden
Persönlichkeiten, die wir als die Schöpfer des kapitalistischen
888
Achter Abschnitt: Die Entstehung der Unternehmerschaft
Wirtschaftslebens erkennen, zu schildern, vielmehr- besteht unsere
Aufgabe darin, daß wir das Lebendigwerden eines bestimmten
(des „neuen“) Geistes in zahlreichen Einzelnen zur Kenntnis
nehmen und diese zahlreichen, gleichstrebenden, gleichhandelnden
Einzelnen als einen besonderen Typus biologisch-psychologischer
Veranlagung erfassen, dessen Ursprung wir verfolgen; will sagen:
den wir zu begreifen versuchen als das Ergebnis einer Auslese
aus der großen Masse verschieden veranlagter Individuen.
Welcher Art dieser Typus ist, vermögen wir leicht festzustellen,
wenn wir uns der Funktionen erinnern, die der kapitalistische
Unternehmer auszuüben hat h
Einer reichen Ausstattung mit den Gaben des „Intellekts“
muß entsprechen eine Fülle von „Lebenskraft“, „Lebensenergien
oder wie wir sonst diese Veranlagung nennen wollen, von der
wir nur soviel wissen, daß sie die notwendige Voraussetzung
allen „unternehmerhaften“ Gebarens ist: daß sie die Lust an
der Unternehmung , die Taten 1 u s t schafft und dann für die
Durchführung des Unternehmens sorgt, indem sie die nötige
Tatenkraft dem Menschen zur Verfügung stellt. Es muß etwas
Forderndes in dem Wesen sein, etwas, das die träge Ruhe auf
der Ofenbank zur Qual werden läßt. Und etwas Starkknochiges
— mit dem Beil Zugehauenes — , etwas Starknerviges. Wir
haben deutlich das Bild eines Menschen vor Augen, den wir
„unternehmend“ nennen. Alle jene Unternehmereigenschaften,
die notwendige Bedingungen eines Erfolges sind : die Entschlossen¬
heit, die Stetigkeit, die Ausdauer, die Rastlosigkeit, die Ziel¬
strebigkeit, die Zähigkeit, der Wagemut, die Kühnheit: alle
wurzeln sie in einer starken Lebenskraft, in einer durchschnitt¬
lichen Lebendigkeit oder „Vitalität“, wde wir zu sagen gewohnt
sind. Eher ein Hemmnis für ihr Wirken ist dagegen eine starke
Entwicklung der gemütlichen Anlagen, die eine starke Betonung
der Gefühlswerte zu erzeugen pflegt.
Unternehmernaturen, können wir zusammenfassend sagen, sind
Menschen mit einer ausgesprochenen intellektuell voluntaristischen
Begabung, die, wenn sie als Begründer kapitalistischer Wirtschaft
auftreten, einen starken Sinn für die materiellen Werte, für die
Bewährung des Menschen in irdischen Werken besitzen : „praktisch¬
tatkräftig“ sind, wie wir ganz landläufig sagen können : allem be¬
schaulichen Wesen sowohl des Homo religiosus, wie des Künstlers
1 Siehe Band I Seite 322 ff. Vgl. Bourgeois, 256 ff.
Fünfundfünfzigstes Kapitel : Die Geburt des kapitalistischen Unternehmers 839
ebenso abhold wie aller handwerklichen Selbstgenügsamkeit und
genießerischen Bequemlichkeit.
Solcherart veranlagte Menschen fanden sich nun in allen
Völkern, die die europäische Geschichte gemacht haben: gewiß»
in verschiedenem Mengenverhältnis, auch in verschiedener Aus¬
prägung, aber sie fanden sich doch m Italien und in Spanien,
in Deutschland und in Frankreich, kurz, in allen europäischen
Völkern sowie in demjenigen fremden Volke, das so starken
Anteile am Aufbau der europäisch - amerikanischen Geschichte
genommen hat : den Juden. Sie fanden sich aber auch in
allen sozialen Schichten : unter den Königen wie unter den
Bettlern, unter den Grundherrn wie unter den Handwerkern;
sie fanden sich in allen Berufen: unter den Bittern wie unter
den Bauern, unter den Kaufleuten wie unter den Schneidern
und Schustern; sie fanden sich in allen Beligionen: unter den
Katholiken wie unter den Protestanten aller Schattierungen.
Was diese Unternehmertypen nur unterscheidet, was sie deut¬
lich in zwei große Gruppen teilt, ist die Verschiedenheit der
Mittel, deren sie sich zur Durchführung ihrer Pläne bedienen:
während die einen sich der Machtmittel bedienen, die ihnen ihre
bevorzugte Stellung im Staate verschafft hatte, müssen die
andern ohne solche Hilfsmittel trachten, ihr Ziel zu erreichen, in¬
dem sie Überredungs- und Verführungskünste an Stelle der äußern
Machtmittel zur Anwendung bringen. Während jene mehr die¬
jenige Seite des Unternehmertums entwickeln, die den Unter¬
nehmer als Eroberer erscheinen läßt, bilden diese die händlerische
Funktion des kapitalistischen Unternehmers zur Vollendung aus.
Jenes sind die Gewaltigen, dieses die Listigen, wenn wir diesen
Gegensatz in ganz allgemeinem Verstände begreifen. Zu jenen
gehören diejenigen kapitalistischen Unternehmer, die aus den
Beihen der Staatsleiter und Staatsbeamten oder aus den Beihen
der Grundherrn hervorgehen, wenn sie ihre Unternehmertätigkeit
auf die ihnen aus diesen Stellungen erwachsenden Machtmittel
stützen; zu diesen gehören alle diejenigen, die aus Bürgerkreisen
stammen, mögen sie Kaufleute oder Handwerker gewesen sein,
wenn sie auf eine direkte Unterstützung durch den Staat ver¬
zichten. Selbstverständlich gehen diese beiden Arten in einander
über, aber begrifflich lassen sie sich völlig rein, geschichtlich
auch im wesentlichen voneinander unterscheiden, wie die folgende
Darstellung erweisen wird.
Ein Problem für sich ist es: ob und in welchem Umfange
840 Achter Abschnitt: Die Entstehung der Unternehmerschaft
sich ebenso wie die kapitalistischen Varianten überhaupt so ent¬
weder die Eroberervarianten oder die Händlervarianten stärker
oder schwächer in einem bestimmten Volke vorfinden, also
daß man kapitalistisch höher oder minder begabte Völker und
Eroberer- oder Händlervölker unterscheiden kann. Ich bin diesem
Probleme in meinem „Bourgeois“ nachgegangen und verweise
den Leser auf die dort (S. 266 ff.) gemachten Ausführungen.
An dieser Stelle brauche ich auf diese Frage der nationalen
Differenzierung nicht näher einzugehen, da es uns hier ja darum
zu tun ist, die Entstehung des kapitalistischen Unternehmertums
in seiner Allgemeinbedeutung zu erkennen. Da können (und
müssen) wir von der nationalen Verschiedenheit der Entwicklung,
der ich in meinem „Bourgeois“ einen breiten Raum gewidmet
habe, absehen, indem wir feststellen, daß allen Verschiedenheiten
zum Trotz sich in allen Völkern gleiche Tendenzen nachweisen
lassen, die also auf das (wenn auch vielleicht verschieden starke)
Vorhandensein aller Varianten in allen Völkern schließen lassen.
Etwas anderes ist es nun aber, wenn wir den Anteil be¬
stimmter. Bevölkern ngs gruppen innerhalb der Völker
an der Herausbildung des kapitalistischen Unternehmertums fest¬
zustellen trachten. Es ergibt sich nämlich mit voller Sicherheit,
daß einzelne Personengruppen zweifellos durch ihre Eigenart
vor andern bevorzugt sind, kapitalistische Unternehmer zu liefern,
daß die Kontingente, die sie zum Heere der modernen Wirt¬
schaftssubjekte gestellt haben, jedenfalls besonders stark gewesen
sind.
Solche Gruppen sind vornehmlich folgende :
1. Die Ketzer, das heißt die nicht zur Staatskirche ge¬
hörenden Bürger, die „Andersgläubigen“ ;
2. die Fremden, das heißt, die in ein Land Eingewanderten,
unter denen die religionsverfolgten Christen seit dem 16. Jahr¬
hundert die wichtigsten sind;
3. die Juden, die eine Sonderstellung einnehmen, sofern
sie ein besonderes Volk sind, aber auch sich in einer sozial be¬
sonders bedingten Lage befanden.
Diese drei Gruppen kapitalistisch disponierter Personen stehen
nun natürlich mit den vorhin unterschiedenen Gruppen der
kapitalistischen Wirtschaftssubjekte nicht im Verhältnis der Neben¬
ordnung, vielmehr überschneiden sich die verschiedenen Kreise
mehrfach. Gleichwohl scheint es zweckmäßig, die Bedeutung,
die jeder dieser Gruppen für die Entstehung des Kapitalismus
Fünfundfünfzigstes Kapitel: Die Geburt des kapitalistischen Unternehmers 841
zukommt, gesondert festzustellen. Deshalb werde ich in den
folgenden Kapiteln der Reihe nach die namhaft gemachten Typen
des kapitalistischen Unternehmertums zu schildern versuchen,
indem ich ihren quantitativen Anteil am Aufbau der kapitalisti¬
schen Volkswirtschaft zu ermitteln und gleichzeitig festzustellen
trachte, welche Gründe sie befähigt haben, ihre besondere Rolle
zu spielen und welche eigentümliche Note sie etwa in die Ge¬
samtheit der kapitalistischen Welt hineingetragen haben.
842
Secbsundfünfzigstes Kapitel
Die Fürsten
Wir haben früher uns davon überzeugt, welches lebhafte
Interesse das moderne Fürstentum an der Entwicklung der
kapitalistischen Wirtschaftsweise nahm, wie es in den Vertretern
dieser neuen Wirtschaft recht eigentlich die staatserhaltenden
und staatsfördernden Kräfte erblickte. Der lebhafte Wunsch,
die Keime des Kapitalismus zu rascher Entfaltung zu bringen,
führte in zahlreichen Fällen die Fürsten und ihre Diener dazu,
mit eigener Hand in das wirtschaftliche Getriebe einzugreifen,
selbst an dem Aufbau der neuen Wirtschaftsform teilzunehmen :
selbst sich als Unternehmer zu betätigen.
Dem eifrigen Wollen entspricht ebenso oft ein starkes Können.
In den Frühzeiten des Kapitalismus begegnen wir unter den
Staatsoberhäuptern und Staatsbeamten auffällig vielen kraftvollen
Persönlichkeiten mit einem ausgeprägten Sinn für die Wirklich- *
keit des Wirtschaftslebens, mit einem ungewöhnlichen Verständnis
für die neuen Anforderungen der wirtschaftlichen Praxis; Per¬
sönlichkeiten voller Unternehmungsgeist und Unternehmertalenten.
An schöpferischen Ideen, an umfassenden Kenntnissen, an
wissenschaftlicher Schulung : wer sollte den genialen Leitern der
modernen Staaten gleichkommen?
Was ein kluger Mann von Gustav Wasa in Schweden sagt1,
gilt von allen bedeutenden Fürsten des Ancien regime : „Er war
der erste Unternehmer seiner Nation; wie er die Metallschätze
des schwedischen Bodens herauszuholen und der Krone dienstbar
zu machen suchte, so wies er nicht nur durch Handelsverträge
und Schutzzölle, sondern auch durch eigenen Seehandel großen
Stils seinen Kaufleuten den Weg. Alles ging von ihm aus.“
Hinter zahlreichen Unternehmungen während des 17. und
18. Jahrhunderts in England steht als umnittelbar treibende
Kraft, weil mit seinem Geldbeutel interessiert, der König (oder
1 Friedr. v. Bezold, Staat und Gesellschaft des Reformations¬
zeitalters (1908), 64. Kultur der Gegenwart II. V. 1.
Seclisundfünfzigstes Kapitel: Die Fürsten
843
di© Königin), In langen Zwiesprachen werden die Drake, die
Raleigli von ihnen zu neuen Fahrten veranlaßt: so geht der
letzte Plan Raleighs , noch einmal nach Guiana zu segeln, von
dem geldbedürftigen Jakob I. aus1 2; so sehen wir Karl I. seine
Agenten im Lande herumschicken, um mit Industriellen gewinn¬
bringende Verträge abzuschließen3.
"Wie sehr der geldbedürfende Staatsleiter recht eigentlich
die kapitalistische Welt zur Entfaltung brachte, hat für die Zeit
Karls V. und Ferdinands I. in Deutschland jetzt wieder Jacob
Strieder an der Hand vielen neu zutage geförderten Materials
nachgewiesen3.
In Österreich war ein wahres Unternehmergenie Franz I., der
Gemahl der Maria Theresia, den Friedrich M. den „größten
Fabrikanten“ seinerzeit genannt hat: ein Urteil, welches Für sts
Aufzeichnungen über die unleugbare Begabung des Kaisers für
die ökonomischen Fächer, seinen praktischen Geschäftsgeist, sein
Glück im Erwerbe bestätigt (Ranke).
Unter seine glücklichen Güterkäufe gehörte die Erwerbung
der Herrschaften Pardubitz, Bresnitz, Podiebrad in Böhmen.
1748 bereiste er selbst mit seinem vertrauten Zahlmeister Toussaint
die Provinz, um sie auf die Einrichtung von Leinenfabriken hin
zu prüfen. Es entstand das Brandeiser Etablissement und die
Herrschaft Pottenstein wurden zu gleichem Zwecke angekauft.
Hier wurden dann unter der Leitung eines aus Preuß. -Schlesien
nach Österreich übergesiedelten Grafen Charme kaiserliche Bleiche¬
reien und eine Warenniederlage errichtet; auch entstanden solche
in Pardubitz, Wamberg und Tetschkewald usw.4.
"Wir erinnern uns der preußischen Könige, wir erinnern uns
Peters d. Gr., und vieler, vieler kleinerer Fürsten, um das Urteil
bestätigt zu finden, daß in keiner sozialen Schicht soviel tüch¬
tiges Unternehmertum vorhanden war, wie unter den meist im
harten Kampfe zur Selbständigkeit und Macht gelangten Staats¬
leitern.
Die nun von einer Schar auserlesener Männer umgeben waren,
die entweder als ausführende Organe oder aber als selbstschöpfe¬
rische Geister ebenfalls stark an der Entstehung eines frühkapi¬
talistischen Unternehmertums beteiligt sind : die Regierungsstuben
1 Selincourt, 1. c. p. 259.
2 Unwin, 1. c. p. 168 f.
3 J. Strieder, Organisationsformen. 1914.
4 Fournier im Archiv f. österr. Gesch. 69, 344.
844 Achter Abschnitt: Die Entstehung der Unternehmerschaft
waren voll von Talenten, die damals sich der Staatsverwaltung
noch nicht fern hielten. Colbert — 'der größte von ihnen — ,
war eine rechte Unternehmernatur : weitblickend , tatkräftig,
nüchtern, rücksichtslos, umsichtig, arbeitsam. Er sagte von
sich selber und gewiß mit Recht, daß er „keine Zeit verliere,
keine Vergnügungen und Zerstreuungen habe, noch irgendeine
andere Erholung und von Natur aus nur zu sehr die Arbeit
liebe.“ Nach seinem eigenen Geständnis besaß er „eine ganz
natürliche Neigung zur Arbeit;“ ja es war ihm geradezu un¬
möglich, „Trägheit oder auch nur gemäßigte Arbeit“ zu ertragen.
„Mein Sohn, sprach er, man soll am Morgen und am »Nachmittag
arbeiten“ b Sein Sinn war aber vor allem auf die Pflege der
"Wirtschaft gerichtet, für deren Aufbau im kapitalistischen Geiste
er mehr als ein Privatunternehmer seiner Zeit getan hat.
Wem boten sich auch vollkommnere Mittel zur Durchführung
weitsichtiger, wirtschaftlicher Pläne dar als dem Staatsoberhaupt
und seinen Dienern? In Zeiten ungenügender Kapitalbildung
besaß oft nur der Staat die genügenden Mittel, um ein großes
Unternehmen überhaupt beginnen zu können.
Ebenso überragend war der Organisationsapparat, über den
der Staat verfügte. Wiederum versetze man sich in Zeiten, in
denen es an geschultem Personal noch fehlte, um zu ermessen,
welchen Vorsprung der Staat in seinem Beamtenapparat hatte
vor privaten Unternehmern, die sich ihren Stab von Leuten und
Aufsehern erst heranbilden mußten.
An keiner Stelle außer beim Fürsten konnte das Interesse so
sehr auf die ferne Zukunft eingestellt sein und konnten deshalb
ganz weit angelegte Pläne entworfen und ausgeführt werden.
Was alles kapitalistische Wesen auszeichnet: die Langsichtigkeit
der Unternehmung, die Dauerhaftigkeit der geistigen Energie:
das mußte bei staatlichen Unternehmungen wie von selbst aus
ihrem Wesen heraus wachsen.
So verstehen wir sehr gut den Ausspruch eines deutschen
Kameralisten, der meinte: zur Verbesserung der Manufakturen
gehörten Klugheit , Nachdenken, Kosten und Belohnungen, und
dann zu dem Schlüsse kommt: „Das sind Staatsbeschäf¬
tigungen; der Kaufmann aber bleibt bei dem, was
er erlernt hat und wie er es gewohnt ist. Er be-
1 Franz Aug. Schweizer, Merkantilismus von Colbert (1908), 6.
Sechsundfünfzigstes Kapitel: Die Fürsten 845
kümmert sicli nicht um die allgemeinen Vorteile seines Vater¬
landes“ x.
Die Art und Weise, wie die Fürsten an der Begründung
kapitalistischer Unternehmungen teilnahmen, war verschieden.
In vielen Fällen handelt es sich nur um „Anregung“ oder besser
„Anstachelung“, um Lenkung und Leitung.
Der Staat ist es, der vielerorts die Privaten an den Ohren
herbeizieht, damit sie sich als kapitalistische Unternehmer be¬
tätigen. Er stößt und treibt sie mit Gewalt und Überredung
in den Kapitalismus hinein. Das Bild der körperlichen Nötigung,
das ich hier gebrauche, ist der Schrift eines kameralistischen
Schriftstellers des 18. Jahrhunderts entlehnt, der da meint: „daß
der Plebs von seiner alten Leyer nicht abgehe, bis man ihn bei
Nase und Arme zu seinem neuen Vorteile hinschleppe“1 2.
Ein paar Beispiele mögen die für unsere heutigen Begriffe recht
intime Art der „Aufmunterung“, wie sie die Staatsleiter in früher Zeit
ihren „Untertanen“ zuteil werden ließen, deutlich machen:
Der König von Frankreich (also Colbert) kündigt den Behörden
von Autun die Sendung von Camuset an: „De par le roy, Chers et
bien amez, envoyant le sieur Camuset pour etablir ä Autun la manu-
facture des bas d’estame au tricot nous avons bien voulu vous dire
en mesme temps que vous lui donniez toutes les assistances
qui dependront de vous pour faire le dit etablissement et pour
cet effet que vous obligiez ceux des dits habitans tant
hommes, femmes que les enfants depuis l’äge de huit ans qui sont
sans occupation ä travailler en la dite manufacture et que vous ayez
ä lui fournir une maison . . Ms. mitget. von Levasseur,
Hist. 2, 256.
Der Intendant von Bourges an Colbert: „J’ay parle aux officiers
de ville pour les inviter ä chercher des bourgeois qui veuillent entre-
prendre ce commerce : ils demeurent tous d’accord de l’avantage qu’ils
en retireroient ; mais il n’y en a pas un qui veuille s’y engager. Cela
m’a oblige, pour commencer ä faire quelque chose, de m’adresser aux
directeurs du grand hospital, ahn de les obliger ä commencer la
manufacture de bas d’estam.“ Corr. adm. sous Louis XIV., ed.
D epping 3, 766.
Eine gute, zusammenfassende Darstellung der Colbertschen Wirk¬
samkeit als Begründer neuer Industrien enthält P. Boissonnade,
Colbert, son Systeme et les entreprises industrielles d’Etat en Languedoc
(1661—1683), in den Annales du Midi XIV. Annee 1902. Interessant,
daß C. die Aktiengesellschaften begünstigte, weil er in ihnen einen
unmittelbaren Einfluß auf die Geschäftsführung ausüben konnte. Die
1 Leipziger Sammlungen (ed. Zinken 1745) 9, 973. Von Schmoller
zitiert; Zit. in der von mir benutzten Ausgabe nicht auffindbar.
2 Leipziger Sammlungen 2, 615. Wie Anm. 1.
846 Achter Abschnitt: Die Entstehung der Unternehmerschaft
Aktionäre waren meist „fonctionnairs“: „surtout des financiers, traitants,
tresoriers, receveurs generaux, fermiers des droits du roi, tous places
plus ou moins directement sous l’autorite du pouvoir central.“
Besonders farbenreich ist folgendes Stimmungsbild aus der Re-
gierungstätigkeit Friedrichs M. von Preufsen.
Als die Hirschberger Kaufmannschaft sich nicht bequemen wollte,
die von Friedrich nach Schlesien gezogenen Damastweber mit ihren
Aufträgen zu unterstützen, sperrte ihnen das Zollamt ihre eigenen
Waren, die zur Ausfuhr gelangen sollten, und der Minister Graf
Schlabrendorf schrieb ihnen folgendes : „ . . . ich mache . . . denen
Kaufmanns-Eltesten bekandt , daß wenn sie sich nicht bald hierunter
bequemen und die Leinen-Damast-Fabriquen nach dem Exempel der
Schmiedeberger und Greifenberger Kaufleuthe soitteniren werden,
denenselben militairische Execution eingelegt werden und solche so
lange bey ihnen verbleiben solle, bis sie sich zur Befolgung der Kgl.
zu ihrem eigenen und dem Commercium Besten abzielenden aller¬
gnädigsten Willensmeynung, wie es ohnedem ihre Schuldigkeit er¬
fordert, bequemet haben. Bishero habe ich alle gradus der Gelindigkeit
mit der Kaufmannschaft vorgenommen, allein, da sie sich renitent be¬
zeiget und sogar bey der Conferentz zu erkennen gegeben, daß es
solange es von ihr dependire, die Damast-Fabrique niemals in Schlesien
in Aufnahme kommen werde , so veroffenbahret sich dadurch ihre
Caprice und es bleibt nichts übrig, als ihr zu zeigen, daß sie Unter-
thanen seyn, welche die Königl. zum Besten des Landes gereichenden
Befehle befolgen müssen . . . Ich mache denen Hrn. Kaufmanns-
Eltesten demnach bekandt, daß Sie angehalten werden sollen, diese
herausgejagten Damast-Weber wieder in’s Land zu schaffen, darin zu
etabliren und mit Arbeit zu versehen . . Und eigenhändig als Nach¬
schrift: „Ich werde diesen Sommer hinkommen und alles recherchiren
und bey fernerer renitence so durchgreiffen , alß es die Umstände
erfordern und die Kaufmannschafft nicht vermuthet . . . “
Sie selber aber , die Hirschberger Kaufleute , sollen sich eines
besseren Verfahrens bei der Bleiche befleißigen: „Mit den Torff-
Bleichen soll der Anfang gemacht werden. Was in Holland und in
vielen Ländern profitable, ist in Schlesien auch.“ Breslau, 11. Juni 1764.
Aus dem Archiv der Hirschberger Kaufmanns-Societät mitgeteilt
von B. E. Hugo Gerstmann, in der Mentzel - Gerstmannschen
Familienchronik (1909), 85 ff.
Andere Regierungen wiederum ließen es sich angelegen sein,
ihre privaten Unternehmer durch eigene Betriebsamkeit zu
fördern. Die Beamten der österreichischen Regierung z. B. be¬
gaben sich förmlich als Handlungsreisende auf die Suche nach
Abnehmern der österreichischen Waren, führten Muster davon
mit sich, studierten Geschmack und Bedarf, empfahlen ihre
Artikel, brachten Aufträge heim oder doch schätzbare Kennt¬
nisse. Diese Reisen gingen von der Mährischen Kompagnie in
Brünn aus. Die bekannteste dieser amtlichen „Handluno'sreisen“
Ti O
Sechsundfünfzigstes Kapitel: Die Pürsten
847
ist die des Grafen Haugwitz und des Inspektors des 'Brunner
Manufaktur amte s L. F. Procop in den Jakren 1755 und 1756 h
Noch andere gründen Unternehmungen auf Regierungskosten
und übergeben sie nachher Privatunternehmern ; oder sie schießen
den Unternehmern beträchtliche Summen zinslos vor oder sie
versehen diejenigen Privatpersonen, die Fabriken gründen, mit
Produktionsmitteln und Arbeitern1 2. Viele der Maßnahmen, die
wir als Bestandteile der merkantilistischen Wirtschaftspolitik
kennen gelernt haben, sind ja einer eigentlichen Unternehmer¬
tätigkeit nahe verwandt und müssen deshalb hier ebenfalls in
Erinnerung gebracht werden3.
Endlich traten, wie genugsam bekannt ist, die Staaten (und
Städte) als selbständige Begründer und Leiter eigener Unter¬
nehmungen auf und erwiesen sich als solche vielfach als
Bahnbrecher kapitalistischer Wirtschaftsformen.
Als öffentliche (staatliche oder städtische) Unternehmungen
erscheinen zunächst vielerorts die seit dem 16. Jahrhundert in
immer größerem Umfange errichteten Banken. Hierher ge¬
hören: die Staatsbanken Venedigs, Genuas, Mailands, Amster¬
dams; die Hamburger Bank ; der Nürnberger banco publico; die
Laws dien Banken; die russische Assignationsbank ; die kgl. Bank
in Berlin u. a. Da ich über die Banken in anderm Zusammen¬
hänge spreche, so genügt hier diese Erinnerung.
Auch einige H a n d e 1 s kompagnien tragen staatliches Ge¬
präge.
Das wichtigste Feld der staatlichen Unternehmertätigkeit
war aber natürlich die Industrie.
Hier begegnen wir zunächst dem Bestreben, durch Errichtung
staatlicher Musteranstalten vorbildlich auf den privaten
Unternehmungsgeist zu wirken. Solche Musteranstalt war die
von Heinrich IV. ins Leben gerufene, von Colbert vervoll-
kommnete Manufacture royale des Gobelins , die wir noch ge-
1 Der interessante Bericht („Die Haugwitz -Procopsche Relation
1756“) ist abgedruckt im Archiv für österreichische Geschichte 69,
373 ff. Über die Veranstaltungen dieser Art A. Fournier, Handel
und Verkehr in Ungarn und Polen a. a. 0. S. 317 ff. Vgl. auch die
Angaben bei A. Beer, Studien zur Gesch. der österr. VW. unter
Maria Theresia, im gleichen Archiv 81, 107 f.
2 Über Maßregeln ähnlicher Art in Rufslantl unter Peter d. Gr.
siehe M. Tugan-Baranowski, Die russische Fabrik (1900), 13 f.
3 Siehe das 24. Kapitel in diesem Bande.
848 Achter Abschnitt: Die Entstehung der Unternehmerschaft
nauer kennen lernen werden; solche Musteranstalt sollte aber
auch das Manufakturhaus auf dem Tabor in Wien sein1.
Die auf Betreiben J. J. Bechers im Jahre 1676 errichtete Anstalt
enthielt :
1 . ein großes chemisches Laboratorium zur Erzeugung :
a) der für die chemischen Hauptprodukte notwendigen Salze und
Spirituosen ;
b) metallischer Farben (Grünspan, Berggrün, Bleiweiß, Zinnober
usw.) ;
c) von Gold und Silber mittels Alchymie (!) ;
2. Werkstatt zur Erzeugung des Majolikgeschirrs;
3. Apotheke, um gute Medizin zu billigem Preise herzustellen;
4. Werkstatt zur Herstellung guter Hausgeräte (aus
einer von B. erfundenen Metallegierung) ;
5. die Seidenmanufaktur, betrieben mit drei „Bandmühlen“;
6. die Wo lim an u fakt u r.
Außer dem Hauptgebäude, in dem diese Manuf. untergebracht
werden, umfaßt das „Kunst- und Werkhaus“ noch:
7. das „Häuslein zur Wohnung des Direktors“;
8. die Sckellenbergische Schmelzhütte;
9. die venetianische Glashütte.
Das Manufakturhaus, das sich Becher auch noch als eine Art
staatlicher Lehrwerkstätte gedacht hatte (siehe Närrische Weisheit,
S. 120 ff.), war im übrigen eine verfehlte Gründung, so daß es 1683
sehr zu Hecht abbrannte, was uns hier aber nicht interessiert, wo wir
es nur als ein Wahrzeichen des staatlichen Unternehmuno-sdranges
jener Zeit zu würdigen haben.
Aber die Staatsbetriebe dehnten sich über den engeren Kreis
der Musteranstalten aus und -wurden für eine Reihe von Industrie¬
zweigen neben den privaten Unternehmungen bedeutungsvoll.
Diejenigen Gebiete, auf denen sie am meisten Boden gewannen,
waren der Bergbau und die eigentlichen Kriegsindustrien. Fast
in allen Ländern, namentlich aber in Österreich, Deutschland
und Rußland, begegnen wir hier zahlreichen staatlichen Be¬
trieben. Eine statistische Erfassung ihres Anteils an der Gesamt¬
heit der Unternehmungen ist nicht möglich, für unsere Zwecke
auch nicht notwendig. Uns genügt es hier, festgestellt zu haben;
daß unter den Schöpfern und Begründern des modernen Kapita¬
lismus die Staatsleiter eine hervorragende Stellung einnehmen.
Freilich: „kapitalistisch“ im strengen Sinne sind ja die von ihnen
ins Leben gerufenen Unternehmungen nicht. Aber sie bilden
doch ein wichtiges Glied in der Entwicklung des Kapitalismus,
1 Hans J. Hatschek, Das Manufakturhaus auf dem Tabor in
Wien. 1886. Siehe insbes. S. 35 ff.
Sechsuüdfüntzigstes Kapitel: Die Dürsten 840
dem sie vielfach als Vorbild, als Schrittmacher dienen, aus dessen
Geiste sie geboren sind, dem sie wesentliche Züge entlehnen.
Auch gehen diese ersten Unternehmungen noch häufig aus der
einen Form in die andere über: Staatsanstalten werden Privat¬
unternehmungen , Privatunternehmungen werden vom Staate
übernommen. Es würde also eine empfindliche Lücke in der
genetischen Darstellung des Kapitalismus bedeutet haben, hätte
ich der Fürsten und ihrer Diener als Typen moderner Unter¬
nehmer an dieser Stelle nicht Erwähnung getan.
Sombart, Der moderne Kapitalismus. I.
54
850
Siebenundftmfzigstes Kapitel
Die adeligen Grundlierren
I. Die Stellung der Grundherren zur Erwerbs¬
wirt s c li a ft
An und für sich enthält das grundherrschaftliohe Verhältnis
keinen irgendwelchen chrematistischen oder gar kapitalistischen
Zuff. Selbst die im Rahmen der Grundherrschaften entstandenen
Wirtschaften, die Fronhofwirtschaften, sind von Hause aus, wie
wir wissen, keine Erwerbs wirtschaften, sondern bleiben lange
Zeit hindurch ßedarfsdeckungswirtschaften , auch nachdem sie
schon (was ziemlich früh eintritt) ihren Überschuß an Erzeug¬
nissen auf den Markt bringen.
Aber im Laufe der Zeit haben sie ihren alten Charakter ab¬
gestreift. Die Eigenwirtschaft des Grundherrn wird mehr und
mehr eingeschränkt, und neben ihr entwickelt sich innerhalb des
Machtbereichs des Grundherrn eine Erwerbswirtschaft, die sich
allmählich zur kapitalistischen Wirtschaft auswächst.
Der Grundherr wird zum kapitalistischen Unternehmer und
trägt nicht unwesentlich zur Entfaltung des Kapitalismus bei.
Also das, was der Kapitalismus durch den Grundherrn an Förderung
erfährt, soll hier gewürdigt werden. Während alles das unserer Be¬
trachtung fernliegt, was sich als eine Belastung etwa des kapitalistischen
Gewerbes durch den Grundherrn darstellt, wie Erhebung von Gebühren
für Erteilung der Gewerbebefugnis , Abgaben (Weberzinse!) u. dgl.,
an das die Tendenzhistoriker ausschließlich denken, wenn sie von
dem Einfluß der Grundherrschaft auf die moderne Wirtschaftsentwick¬
lung sprechen.
Was trieb die Herren, die Mühen und Sorgen auf sich zu
laden, die unausbleiblich waren, wenn sie etwa eine Industrie
auf ihrem Grund und Boden ins Leben riefen?
Gewiß war es oft reine Nächstenliebe, war es der Wunsch,
die Hintersassen leiblich und geistig zu heben, was sie zu in¬
dustriellen Unternehmern machte. Namentlich die Kirchen und
Klöster werden, wenn sie Industrien begründeten, von solchen
Beweggründen sich oft haben leiten lassen.
Siebemmdfiinfzigstes Kapitel: Die adeligen Grundherrn 851
Ein Beispiel , das gewiß für viele Fälle als typisch gelten kann :
Der 1691 zum Abt des Osseger Klostei's gewählte Benedikt Litwehrig
sah , daß die meisten seiner Untertanen in Osseg und den dazu ge¬
hörigen Dörfern, weil sie außer dem geringen Ackerbau keine weitere
Beschäftigung hatten, „die langen Winterabende in arbeitsscheuer
Untätigkeit größtentheils verschnarchten, und dabei sehr kümmerlich
leben mußten“. Er sann auf Mittel zur Abhilfe und verschrieb einen
gewissen Paul Rodig, einen geschickten Strumpfwirker aus Sachsen,-
damit dieser sein Gewerbe in Osseg ausübe und Einheimische darin
unterrichte. Noch vor Ablauf des 17. Jahrhunderts waren auf der
Osseger Herrschaft 50 ausgelernte Strumpfwirker , die dort ihr Ge¬
schäft ausübten und nicht in das Fremde gehen durften. Ludw. Schle¬
singer, Zur Gesch. d. Ind. in Oberleutensdorf, in den Mitt. d. Ver.
f. d. Gesch. d. D. in Böhmen 3 (1865), 88 f.
Aber die Regel werden solche Erwägungen nicht gebildet
haben. Vielmehr bezweckte der Grundherr, der kapitalistischer
Unternehmer wurde, auch nichts anderes als das, was die meisten
wollten, die sich auf diese Bahn begeben: er wollte seine Kräfte
verwenden, um seinen Machtbereich auszuweiten, um seinen
Reichtum zu vergrößern, vielleicht auch, wenn er Abt oder
Bischof war, um den Glanz seines Klosters, seines Bistums zu
mehren. Der Geist, der die Grundherrn in den Kapitalismus
hineintrieb, war derselbe* Unternehmungsgeist mit chre-
matistischer Einstellung, der alle kapitalistischen Unter¬
nehmer beseelte. Wie aber hatte der mittelalterliche Seigneur,
der kriegerische Feudalherr diesen Wandel vollziehen können?
Wir müssen diese Frage zunächst zu beantworten versuchen
mit dem Hinweis auf die allgemein gültige Tatsache, an die
ich oben schon erinnerte: daß in jeder Gruppe von Menschen
einer bestimmten Volkheit verschiedene Varianten vorhanden
sind, und daß wir unter den Rittern und Herrn des Mittelalters
auch kapitalistische Varianten annehmen müssen, die in der mittel¬
alterlichen Umwelt ebensowenig zur Entfaltung kommen konnten,
wie sie nun, als sich die Bedingungen der kapitalistischen Wirt¬
schaft allmählich erfüllten, je mehr und mehr die Vorherrschaft
erlangten. Selbst unter den Kirchenfürsten fehlten solche Unter¬
nehmertypen nicht. Ich denke etwa an manche Äbte von
Klosterrath (Klosterrode) im Wonnthal, auf deren Grund das
erste (?) Steinkohlenbergwerk in Europa betrieben worden ist.
Männer, wie der Abt Haghen und namentlich P. J. Chaineux,
die im 18. Jahrhundert die Abtei leiteten, unterscheiden sich in
nichts von irgendeinem „wagenden Kaufmann“ und industriellen
Unternehmer. Das gilt insbesonders von Chaineux, der unter
852 Achter Abschnitt: Die Entstehung der Unternehmerschaft
Haffhen Provisor, das heißt Verwalter der Abteilichen Güter war.
Er galt als einer der besten Mineralogen und Bergingenieure
seiner Zeit, obwohl er von jung an dem geistlichen Orden an¬
gehörte. Er veranlagte seinen einsichtsvollen Vorgänger Haghen,
in den Bergwerken des Klosters Anlagen im großen Maßstabe zu
machen: es wurden bis 1771 dazu über 669000 Frcs. zu unterirdi¬
schen Vor rrichtungen und eine ähnlich große Summe zu Tagebauten
verwendet. Damals waren in dem Bergwerk 800 Bergleute unter
Tage und wohl ebensoviel über Tage beschäftigt: eine für jene
Zeit ganz ungewöhnlich große Menge h
Inmitten der geistlichen Grundherrschaft werden wir nun
freilich das Auftreten soleher Unternehmertypen eher als „zu¬
fällig“ bezeichnen müssen, da die Auslese der Kirchenfürsten
unter wesentlich anderen Gesichtspunkten als dem ihrer geschäft¬
lichen Tüchtigkeit erfolgte. Bei den weltlichen Grundherrn dürfen
wir schon an eine Art von Neubildungs- oder Anpassungsprozeß
an die sich allmählich verändernde Umwelt (die natürlich unter
dem Einfluß der neuen Menschen selbst sich bildete) denken.
"Wir können uns vorstellen, daß aus dem Feudaladel die Erwerbs¬
menschen mit der Zeit ausgelesen wurden.
Aber dieser Prozeß der organischen Auslese unfeudaler Ele¬
mente wäre doch vermutlich ein langsamer gewesen, und er
allein erklärt nicht die rasche Vermehrung der kapitalistischen
Unternehmer unter den Grundherrn, die wir beobachten. Diese
war vielmehr die ganz natürliche Folge einer anderen Ent¬
wicklung, die wdr in verschiedenen Ländern seit dem 16. Jahr¬
hundert sich abspielen sehen ; ich meine die V erbürger-
lichung des Adels.
Dieser begegnen wir überall, auch in Deutschland und Öster¬
reich: unter dem böhmischen Adel beispielsweise gibt es eine
ganze Menge von bürgerlichen Emporkömmlingen, schon im 17.
und 18. Jahrhundert, wie das berühmte Geschlecht der Grafen
Schlick. Aber zu einer allgemeinen sozialen Erscheinung wird
diese Entfeudalisierung des Adels erst in den westeuropäischen
Ländern: Frankreich und namentlich England, wfle sie es schon
vor dem 15. Jahrhundert in Italien gewesen war. Wenn hier
der Kapitalismus so viel raschere Fortschritte gemacht hat, als
beispielsweise in Deutschland, so ist daran die Verbürgerlichung
1 Siehe Franz Büttgenbach, Der erste Steinkohlenbergbau in
Europa (1898), 167.
Siebemuidfixnfzigstes Kapitel: Die adeligen Grundherren 853
des Adels zweifellos stark beteiligt. Denn daß diese eine Ver-
kommerzialisiemng der Gesinnung im Gefolge batte, versteht sich
von selbst, ebenso also auch, daß damit der kapitalistische Geist
sich leichter verbreitete , leichter die gesamte Gesellschaft und
das ganze Staats wesen zu durchdringen vermochte , als es in
einem Lande, wo sich die un- oder gar an ti - merkantile Macht
des alten feudal und seigneurial gesinnten Adels länger erhielt
wie bei uns.
II. Die Verbürgerlichung des Adels
Die Verbürgerlichung des Adels erfolgt auf zwei Wegen:
entweder dadurch, daß Bürgerliche adlig werden oder dadurch, daß
Adlige Bürgertöchter heiraten. Es wird genügen, wenn ich für Eng¬
land und Frankreich diesen Prozeß der Verbürgerlichung des Adels
etwas genauer schildere. (Ausführlicher habe ich das Thema in meiner
Studie: Luxus und Kapitalismus, S. 10 ff. behandelt).
1. England: In England bildete (und bildet noch heute) den Adel
im engeren Sinne nur die Nobili ty. Diese ist im wesentlichen neu
geboren worden mit dem Regierungsantritt der Tudors, genauer mit
Heinrich VIII. Nach dem Krieg der beiden Rosen waren die alten
Geschlechter bis auf 29 verschwunden; auch die, die übrig geblieben
waren, waren zum Teil noch geächtet, geschwächt, verarmt. Heinrich VIII
erhob zunächst diese alten Geschlechter wieder zu Macht und Reich¬
tum (und unterwarf sie dadurch der Krone, die von jetzt ab ihre
unbestrittene Vorherrschaft bewahrte). Die Mittel zur Ausstattung
boten sich dem Könige in den konfiszierten Kirchengütern dar (die
damit einer „weltlichen“ Verwendung zugeführt wurden). Die Reihen
der alten Geschlechter werden nun aber seit Heinrich VII. und VIII.
immer wieder durch Neuernennungen ergänzt. Und diese neuen Peers,
die dem alten Grundadel durchaus gleichgestellt wurden, wählte sich
der König unter allen Notabein, vor allem auch unter den reichen
Bürgern aus. Jakobi, hat sogar Pairien verkauft. Von Heinrich VII.
bis Jakob II. wurden 839 Pairien geschaffen.
Nachdem unter- den Stuarts 99 Pairien erloschen waren, sind von
1700 — 1800 neu kreiert worden 237.
Natürlich sind diese Erhebungen nicht immer von ganz unten auf,
d. h. aus den Tiefen des Volkes erfolgt wie bei den Russell und
Cavendishes. Oft (vielleicht meist) haben diese Peers erst verschiedene
Vorstufen: die des Esquire, des Ritters, des Baronets durchlaufen.
Aber wir wissen doch, daß in zahlreichen Fällen der Stammbaum auf
einen reich gewordenen Homo novus der City zurückgeht. Zum Be¬
lege führe ich nur folgende Beispiele an:
° Die Herzoge von Leeds stammen ab von Edward Osborne, der als
armer Kaufmannslehrling nach London kam; die Herzoge von North-
umberland führen auf Hugh Smithson zurück, der Kommis in einer
Drogenhandlung war und von Lady Elizabeth Seymour geheiratet
wurde; ebenso haben bürgerliche Stammväter: die Russell; die Marquis
g54 Achter Abschnitt: Die Entstehung der Unternehmerschaft
von Salisbury, die Marquis von Bath, die Grafen Brownlow, die Grafen
von Warwick, die Grafen von Carrington, die Grafen von Dudley, die
Grafen von Spencer, Grafen von Tilney (der erste Earl of Tilney ist
niemand anders als der Sohn von Josiah Child!), die Grafen von Essex,
die Grafen von Covehtry, die Grafen von Dartmouth, die Grafen von
Uxbridge, die Grafen Tankerville, die Grafen von Harborough, die
Grafen von Pontefract, die Grafen Fitzwater, die Viscounts Devereux,
die Viscounts Weymouth, die Grafen Clifton, die Grafen Leigh, die
Grafen Haversham, die Grafen Masham, die Grafen Bathurst, die Grafen
Romney, die Grafen Donner, die Herzoge von Dorset und die von
Bedford; Geschlechter, deren Pairwtirde heute zum Teil längst er¬
loschen ist, die aber (soweit sie nicht jüngeren Datums sind) in der
ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts blühten. Siehe die Quellen in
Luxus und Kap. a. a. 0.
Aber was der sozialen Gliederung Englands vor allem ihr eigen¬
tümliches Gepräge gibt und vor allem in der Zeit gab, die uns inter¬
essiert, ist die Gentry: d. h. eine Gruppe von Personen, die nicht
eigentlich zum Adel gehört und doch Adel ist; eine Art von „niederem
Adel“, die aber nach dem Gesetz nicht adelig ist. Die oberste Schicht
der Gentry bilden die Ritter, unter denen wiederum die Baronets den
höchsten Rang einnehmen : ein Ritter und Baronet erhält das Prädikat
Herr (Sir) vor den Vornamen gesetzt. Zu den Rittern gehören die
Inhaber der Ritterlehen, die ursprünglich die einzigen Ritter waren;
dann die Inhaber bestimmter Orden, des Hosenband- und Bathordens
(seit Eduard III. und Heinrich IV.) und einiger Ämter; endlich die¬
jenigen, die sich die Ritterwürde gekauft haben: die Käuflichkeit der
Ritterwürde (sie wurde gegen Zahlung von 1095 erworben) hat
Jakob I. im Jahre 1611 eingeführt. Diese Ritter von Geldsacksgnaden
hießen Baronets: sie sollten den Vorrang vor den alten haben und
gleich hinter dem Adel rangieren. Solcher Baronets sind während des
17. und 18. Jahrhunderts viele Hunderte entstanden: Mitte des 19.
Jahrhunderts betrug ihre Zahl 700. Es versteht sich, daß schon auf
diesem Wege ein großer Teil der reich gewordenen Roture in den
Adel (was die Ritter gesellschaftlich unzweifelhaft waren) empor¬
gestiegen ist. Das ganz besonders Seltsame an der englischen Gentry
ist nun aber dieses: daß sie überhaupt nicht und jedenfalls nach unten
hin nicht abgrenzbar ist:
Mit dieser eigentümlichen Auffassung war es aber gegeben, daß
die Zugehörigkeit zum Adel in England gleichsam automatisch durch
die Umbildung der wirtschaftlichen Verhältnisse bestimmt wurde, die
emporstrebenden Geldmänner immer in dem Maße Zutritt zum Adel
erhielten, wie ihre Bedeutung im gesellschaftlichen Leben wuchs. Da
es bis tief in’s 18. Jahrhundert zum Begriff des Gentleman gehörte,
daß er Großgrundbesitzer war, so war damit die Durchsetzung des
Landadels mit bürgerlichen Elementen zu einer notwendigen Folge des
wachsenden Reichtums in den Städten geworden.
Noch fester aber wird das Band zwischen Adel und Reichtum ge¬
knüpft, wenn die Söhne und Töchter aus den beiden Gruppen sich
heiraten und Kinder zeugen. Solcher Art Verbindungen zwischen
Sicbenundfünfzigstes Kapitel: Die adeligen Grundherren
85a
Adligen und Emporkömmlingen gehören in England mindestens seit
den Stuarts zu den alltäglichen Erscheinungen. Wenn Sir William
Temple tatsächlich die Feststellung gemacht hat, daß es seiner Er¬
innerung nach etwa 50 Jahre her sei, seit die adligen Familien in die
City hineingeheiratet hätten, „und zwar bloß um des Geldes willen“
(for downright money), so könnten wir angesichts der großen Autorität
dieses ganz hervorragenden Beobachters den Anfang dieser Blutver¬
mischung ziemlich sicher in die Regierungszeit Jakobs I. verlegen.
Jedenfalls ist 100 Jahre später, in der Zeit, als Defoe schreibt, die
Zahl der adlig-bürgerlichen Mischehen offenbar bereits recht beträcht¬
lich , denn Defoe spricht von ihnen wie von selbsverständlichen
Erscheinungen. Natürlich waren es vornehmlich Edelmänner, die reiche
Erbinnen aus dem Kaufmannsstande heirateten, um ihre Wappen neu
zu vergolden. Defoe führt solcher Heix-aten allein hoher Adliger mit
Krämerstöchtern 78 namentlich auf, die hier einzeln zu nennen keinen
Sinn hat; es ist ja im Grunde gleichgültig, ob der Lord Griffin Mary
Weldon, eine Kaufmannstochter aus Well in Lincolnshire, oder Lord
Cobham Anne Halse}', eine Brauerstochter aus Southwark, heiratet;
uns interessieren diese Heiraten lediglich als Massenerscheinungen,
die sie (in Vergleich gesetzt zu der Anzahl der Adligen) sicher im
18. Jahrhundert in England bereits geworden waren.
2. Frankreich: Für Frankreich tritt der Wendepunkt gegen Ende
des 16., zu Anfang des 17. Jahrhunderts etwa ein: damals springen
mit einem Male mächtige Quellen auf, aus denen neuer Adel hervor¬
geht: Das wichtigste ist, daß 1614 der Uebergang auch feudalen Grund¬
besitzes in die Hände der Roture, der seit jeher sich vollzogen hatte,
ausdrücklich als gesetzlich erlaubt anerkannt wurde. Diese Form des
Adelerwerbs hat für Frankreich eine ganz besonders große Bedeutung
gehabt: im 18. Jahrhundert wimmelt es von neugebackenen Seigneurs,
die zu ihrer Würde einfach durch den Ankauf eines adligen Gutes
gelangt waren. Die Reichen schmücken sich mit Seigneurien wie
heute etwa mit exotischen Orden. Paris Montmatre, der Sohn eines
kleinen Schankwirts in Moirans, unterzeichnet sich bei einer Taufe
als Comte de Sampigny, Baron de Dagouville, Seigneur de Brunoy,
Seigneur de Villers, S. de Foucy, S. de Fontaine, S. de Chateauneuf etc.
Zu den verschiedenen Wegen, zum Adel zu gelangen, kam gegen
Ende des 17. Jahrhunderts noch der Kauf: 1696 wurden 500, 1702
200, 1711 100 Adelsbriefe verkauft. Vic. de Broc, La France sous
l’ancien regime 1 (1887), 353.
Kein Wunder, wenn schließlich der französische Adel immer mehr
aus nobilitierten Turcarets bestand. Es ist keine XJebeitieibung, wenn
Cherrin sagt, daß das, was man im 17. und 18. Jahrhundert in
Frankreich „Noblesse“ nannte, im wesentlichen „du tiers etat enrichi,
eleve, decore, possessionne“ sei; wenn der Marquis d’Argenson
um die Mitte des 18. Jahrhunderts schreibt, daß bei der Leichtigkeit,
den Adel für Geld zu erwerben, es keinen Reichtum gebe, der nicht
alsbald adlig würde.
Die ziffermäßigen Angaben, die wir über den Bestand des Adels
beim Ausbruch der Französischen Revolution besitzen, bestätigen die
856
Achter Abschnitt: Die Entstehung der Unternehmerschaft
Richtigkeit dieser Urteile, obwohl sie im einzelnen von einander ab¬
weichen. Nach Cher in gab es 17 000 adlige Familien ; davon hatten
höchstens 3000 einen Adel, der älter war als 400 Jahre; höchstens
1500 waren „Uradel“, d. h. stammten von Ritterlehen ab; 8000 Familien
waren Beamtenadel, 6000 Kaufadel. Nach einer andern Annahme zählte
man damals 26 600 adlige Familien, unter denen 13 — 1400 dem Uradel
(der „noblesse immemoriale ou de race“) angehörten, während von den
übrigen 4000 Beamtenadel gewesen wäre. Siehe die "Zusammenstellungen
bei Boileau, Etat de la France, vgl. V ic. d e B r o c , 35, La France
sous l’ancien regime 1, 350 seg. Der Anteil, den die Haute fiuance
an der Zusammensetzung des französischen Adels hatte, ist nun aber
noch weit größer, als diese Ziffern zum Ausdruck bringen, wenn wir
auch hier wieder die außerordentlich zahlreichen Verheiratungen Adliger
mit reichen Erbinnen der Roture in Betracht ziehen.
Dieser Verschmelzungsprozeß ist im Anfang des 17. Jahrhunderts
offenbar schon in vollem Gange, wenn wir dem echten alten Edelmann,
dem Marquis de Sully, Glauben schenken wollen, der darüber
bittere Klage führt.
Am Ende des 18. Jahrhunderts konnte Mercier (2, 201) schreiben:
„La dot de presque toutes les epouses des seigneurs est sortie de
la caisse des fermes“.
Einige besonders deutlich sprechende Beispiele will ich hersetzen,
an denen man die eigenartigen gesellschaftlichen Zustände des 18.
Jahrhunderts (das in dieser Hinsicht dem neunzehnten und zwanzig¬
sten schon recht ähnlich ist) zu erkennen vermag:
Der eine Sohn des Samuel Bernard, der allgemein „le Juif Bernard“
heißt, ist der Comte de Coubert ; er heiratet M>e Frottier de la Coste
Messeliere, Tochter des Marquis de la Coste; der andere kauft eine
Charge als Präsident beim Parlament in Paris und nennt sich Comte
de Rieur: er heiratet Mme de Boulainvilliers. Durch diese Ehe wird
„der Jude Bernard“ Großvater der Gräfinnen d’Entraygues, de Saint-
Simon, Courtorner, d’Apchon, der künftigen Marquise de Mirepoix.
Antoine Crozat, dessen Großvater noch Dienstbote war, verheiratet
seine Tochter an den Comte d’Evreux aus dem prinzlichen Hause
Boullon. Sein zweiter Sohn, Baron de Thiers, heiratet Mme de Laval-
Montmorency, und die Töchter dieser Ehe heiraten den Marquis de
Bethune und den Marschall de Broglie.
Der Bruder Crozat verheiratet seine Tochter an den Marquis de
Montsampere, Seigneur de Gleves.
Eine Verwandte des Herzogs de la Vrilliere heiratet den Empor¬
kömmling Panier.
Der Marquis d’Oise heiratet die zwei Jahre alte Tochter des
Mississipien Andre (gegen 20 000 1. Rente bis zur Heirat und 4 Mill.
Mitgift).
Die Tochter des BerthMot de Pleneuf heiratet den Marquis de
Prie: es ist die bekannte Geliebte des Regenten;
die des Prondre wird Mme de la Rochefoucauld;
Le Bas de Montargis wird Schwiegervater des Marquis d’Arpajon,
Großvater des Grafen von Noailles und des Herzogs von Duras ;
Siebenundfünfzigstes Kapitel: Die adeligen Grundherren
857
Olivier-Senozan, dessen Vater noch mit alten Hosen gehandelt hatte,
gibt seine Tochter dein Grafen von Luce, späteren Prinzen von Tingry ;
Villemorien die seine dem Marquis von Beranger;
die Grafen von Erreux, von Iviy, die Herzoge von Brissac, von
Pecquigny: alle, alle gehen denselben schweren Gang zu den Geld¬
schränken der Turcarets.
Das (vortreffliche, aber, wie es scheint, auch in Frankreich ziem¬
lich unbekannte) Hauptwerk über die Verbürgerlichung des französischen
Adels, das mir erst nach Abschluß meiner eigenen Studien zu Gesicht
kam, ist Ernest Bert in, Les mariages dans l’ancienne societe
' franqaise. 1<?79.
III. Die Besonderheit des grnndherrlichen
Untern ehmert u m s
Ihr eigentümliches Gepräge erhalten die von adligen Grund¬
herrn ins Leben gerufenen Unternehmungen dadurch, daß sie
alle als Ausgangs- und Stützpunkt den Machtreichtum haben.
AVas den Grundherrn vor allem befähigt, sich als kapitalistischen
Unternehmer- zu betätigen ist die Verfügungsgewalt, die er als
Grundbesitzer über wichtige Produktivkräfte hat. Er verfügt:
1. über den Grund und Boden als Pflanzenerzeuger ; 2. über
die im Boden ruhenden Schätze (Mineralien usw.); 3. über die
Erzeugnisse des Bodens: Holz, Faserstoffe usw.; 4. über die
seiner grundherrlichen Gewalt unterstellten Arbeitskräfte. Indem
er diese produktiven Kräfte zu Erwerbszwecken ausnutzt, ent¬
stehen die verschiedensten Arten kapitalistischer Unternehmungen.
Die Macht im Staate, die der Grundherr zu seinem Vorteil aus¬
nutzen kann, besteht nun aber nicht nur in der unmittelbaren Ver¬
fügungsgewalt über Menschen und Dinge : sie äußert sich auch in
dem Einfluß, den er etwa indirekt zugunsten eines vorteilhaften
Einkaufs oder eines vorteilhaften Absatzes der Produkte in die
AVagschale werfen kann: durch Erlangung von Privilegien, Kon¬
zessionen usw. Dadurch entsteht eine andere, wichtige Abart
der feudal - kapitalistischen Unternehmung. Häufig finden wir
einflußreiche Adlige mit bürgerlichen Geldmännern oder auch
armen Erfindern sich verbinden zu gemeinsamem Vorgehen: der
Höfling sorgt dann für die nötigen Freiheits- oder Schutzrechte,
während der andere Teilnehmer Geld oder Ideen beibringt.
Solchen Bündnissen begegnen wir in Frankreich und England
namentlich während des 17. und 18. Jahrhunderts immer wieder1.
1 Siehe solche Fälle im Dict. de Comm. s. v. Societe ; in der In-
troduction a la Corresp. administr. de Louis XIV T. III p, LIV seg.
858
Achter Abschnitt: Die Entstehung der Unternehmerschaft
Die Unternehmungen der adligen Grundherren spielen nun
aber während der Epoche des Frühkapitalismus eine größere
Rolle, als man gemeinhin anzunehmen geneigt ist. Der Anteil,
den sie am Aufbau der kapitalistischen Unternehmungen haben,
läßt sich natürlich mangels fast jeder Statistik in den meisten
Fällen nicht ziffernmäßig ausdrücken. Wohl aber kann man
sich doch ungefähr eine Vorstellung von der Bedeutung dieses
Unternehmertyps in den früheren Jahrhunderten machen, wenn
man sich eine Reihe von Fällen solcher grundherrlicjien kapita- .
listischen Unternehmungen vor Augen führt.
IV . Der tatsächliche Anteil der adligen Unter¬
nehmer am Aufbau des Kapitalismus
Die Anteilnahme des Adels (sei es des Land- oder
des Stadtadels) am Kapitalismus reicht bis in die früheste
Zeit zurück. In den Anfängen der kapitalistischen Entwicklung
ist es mehr der Handel, der von reichen adligen Geschlechtern
(oft zuerst) in die Bahnen des Kapitalismus gelenkt wird. Das
gilt für alle Länder; vielleicht aber am meisten für Italien, wo
diese allerälteste Epoche des rein kommerziellen Kapitalismus
in klassischer Gestalt erscheint.
Ich habe die Rolle , die der Adel in den Anfängen des
modernen Kapitalismus spielt, ausführlich geschildert in der
ersten Auflage dieses Werkes. Alle Kritiken, so feindselig sie
sein mochten, haben die von mir aufgewiesene Tatsache nicht
aus der Welt zu schaffen vermocht, daß ein außerordentlich
großer Teil des frühen kapitalistischen Großhandels nament¬
lich auch des frühen Geldhandels in den Händen reicher, adliger
zum Teil auch grundherrlicher Geschlechter gelegen hat. Ich
verweise also für diese Frühzeit den Leser auf das 12. Ka¬
pitel der ersten Auflage und die dort mitgeteilten Namensver¬
zeichnisse, deren Inhalt von diesem oder jenem Lokalhistoriker
in einzelnen Punkten richtig gestellt, aber keineswegs als im
wesentlichen falsch erwiesen ist. (Man sehe z. B. die lächerlich
geringen Korrekturen, die Davidsohn (in seinen Forschungen
Band 4) an meiner Liste der florentiner Handels- und Geld-
(par Depping). Ferner bei Cf. Martin, La grande industrie sous
Louis XV (1900), 109 und öfters. A. des C illeul s, La grande
industrie (1898) p. 64 und öfters. Postlethwayt, Dict. of Comm.
2, 778. Anderson, Origin. of Commerce 2, '594. George Unwin,
Industrial Organization in the sixteenth and seventeenth Centimes
(1904), 145 f. 165 f
Siebenundfünfzigstes Kapitel : Die adeligen Grundherren 859
geschäfte treibenden Adelsfamilien vorgenommen hat, und die
in wirklich keinem richtigen Verhältnis zu dem gehässigen,
schnoddrigen Tone stehen, in dem er mein Werk beurteilt).
Hier will ich dagegen mehr den Anteil des grundbesitzenden
Adels am Aufbau der kapitalistischen Industrie aufzeichnen und
deshalb berücksichtige ich mehr die nördlichen Länder im wesent¬
lichen seit dem 16. Jahrhundert.
1 . England: Der Ber gb a u und die Hüttenindustrie sind gern
von den Grundherren betrieben worden. Betrieben worden : nicht nur
als Regale ausgenutzt worden. Diese i'einen Nutzungsrechte scheiden
hier ganz aus, wo wir dem Unternehmer selbst nachspüren. Aber
auch als solche begegnen wir den Grundherren häufig in den beiden
genannten Produktionszweigen. Im 15. Jahrhundert tragen die „forges“
des Bischofs von Durham zu Bedburn in Weardale schon ein durch¬
aus kapitalistisches Gepräge, namentlich was die Größe des Personals
anbetrifft. G. T. Lapsley in der Engl. Hist. Review 14 (1899), 509.
1616 schließt ein Höfling mit der Stecknadlerzunft einen Vertrag über
Lieferung des nötigen Drahts, den er also doch wohl selbst auf seinen
Besitzungen erzeugt hat. Unwin, 1. c. p. 167. 1627 erhält Lord
d’Acre ein Patent zur alleinigen Anfertigung von Stahl nach einem
neuen Patente. Rhymer, Foedera 18, 870. Seit dem 16- Jahr¬
hundert legen die Grundherren Zinnwerke auf ihren Besitzungen an,
„clashmills“, um das Zinn zu verarbeiten, das sie aus ihren Gruben
gewonnen haben. Hugh de Selincourt, Great Ralegh (1908), 89.
1690 halfen zahlreiche Lords und Gentlemen die Zinn- und Kupfer-
minen-Gesellschaft The Mine Adventurers Co. gründen. Anderson,
Origins 2, 594. Auch am Steinkohlenbergbau finden wir in seinen
Anfängen zahlreiche Adlige beteiligt.
Textilindustrie: „Die großen Schafzüchter waren oft Tuch¬
macher und verwandelten selbst in Tuch die Wolle, die sie gezogen
hatten.“ W. J. Ashley, Woollen Industry, 80; vgl. Gibbins,
Industry of England 4. ed. 1906. p. 147.
Desgleichen betrieben die englischen Grundherren die Seidenzucht.
1629: ”a grant to Walter, Lord Aston etc. of the Keeping of the
Garden, Hulberry-trees and silk-worms near St. James in the County
of Middlesex“ : bei Anderson, Orig. 2, 335.
Oder man gründete eine beliebige Industrie zur Ausnutzung
der billigen Brennstoffe, die man auf seinem Besitz hatte, wie
Torf usw. 1637 erhält Thomas Earl of Berkshire ein Patent für eine
neue von ihm erfundene Malz- und Hopfendarre, eben zur Ausnützung
seiner Torflager: bei Anderson 2, 376.
2. Frankreich: Bergbau- und Hüttenindustrie: Die Hütten
in der Provinz Nevers , wo ein Hauptsitz der Hüttenindustrie war,
sind bis in 18. Jahrhundert hinein in den Händen des alten Adels;
2. B. Villemenant im Besitze der Arnault de Lange und Chäteau-
Renaud, die im 16- Jahrhundert größere Werke errichteten; ihr Nach¬
bar ist Seigneur von Bizy, der ebenfalls eine Hütte und einen Hoch¬
ofen auf seinem Grund und Boden betreibt ; die Hütten von Demenrs
860
Achter Abschnitt: Die Entstehung der Unternehmerschaft
gehören den Herren Gascoing usw. (Alle diese Anlagen gehen im
Laufe des 18. Jahrhunderts in die Hände des reichen Pariser Bankiers
Masson über). Claude Corbier, Les forges ä Guerigny im Bull,
de la Soc. nivernaise 1870. Aber auch in der Branche Comte stoßen
wir auf altadlige Hüttenbesitzer. Martin, Louis XV., 115 ff.
Von den 13 Hütten in der Generalite de Tours sind Eigentümer:
Marquis de Sauce
Duc de Villeroy
Duc de la Valliere (zweimal)
Comte de Tesse
Marquis de Bethomas
Creancier du Duc de Gesvres
Abesse d’Etival
Marquis de Sourches
Vidame de Vasse
Duc de la Tremoille
Duchesse de Mazarin
Comte de Rhone
P. Dumas, La generalite de Tours au XVIII. siede (1894), 168.
Auch die Eisenverarbeitung fand z. T. auf den Besitzungen der
Grundherren statt: der Ritter E. E. de Blumenstein errichtet (1715)
in der Nähe seines Schlosses eine Gießerei.; der Herzog von Choiseul
betreibt um dieselbe Zeit ein Stahlwerk; der Herr von Montroger hat
einen Blechhammer usf. Martin, 1. c. 110. 214 ff. 115 ff.
Im hohen Grade waren die Adligen in Frankreich an der Ausbeute
der Steinkohlengruben beteiligt. Heinrich II. hatte das Recht der
Ausbeute an FranQois de la Roque, Seigneur de Roberval erteilt; das
Recht ging über an Claude Grizon de Guillien, Seigneur de St. Julien
und einen anderen Seigneur. Ludwig XIV. beschenkte dann den
Herzog von Montauzier mit dem Rechte, alle Kohlengruben, mit Aus¬
nahme der von Nevers, innerhalb 40 Jahren auszubeuten. Der Regent
erteilt das Recht der Bergwerksausbeute an eine Gesellschaft; unter
dem Namen Jean Gobelin, sieur de Joncquier, die also auch einen
vorwiegend adligen Charakter trug. Aber nicht nur das Recht der
Ausbeute besitzen Adlige : auch der Betrieb ist vielfach in ihren Händen.
Zur Zeit Ludwig XIV. eröffnet ein Bergwerk im Herzogtum von
Bournonville der Herzog von Noailles; eins in Bourbonnais der Duc
d’Aumont; eins der Herzog d’Uzes, Depping, Corr. adm. 3, LX;
während der Duc de la Meilleraye die Lager von Giromagny abbaut.
Martin, Louis XIV. 3, 1. 8.
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts häufen sich die Fälle,
in denen Adlige — sei es auf ihren eigenen Besitzungen , sei es
anderswo — das Recht zum Bergwerksbetriebe (Kohlen!) erlangen,
so die :
Prinzen
von
Croy
Beauffremont
Herzoge
»
Chaulnes
33
Charost
Marquis
33
Mirabeau
r>
Lafayette
3)
Cernay
33
Villepinte
33
Balleroy
) i
Foudras
Marquis
von
Luchet
33
Traisnel
33
Gallet
33
Mondragon
Graf
33
Entraigues
33
Flavigny
Vicomte
3}
Vesins
Baron
jj
Vaux
Chevalier
3?
Solages
Siebeuundfiinfzigstes Kapitel: Die adeligen Grundherrn! gßf
(Die Angaben über die Beteiligung des französischen Adels am
Kohlenbergbau beruhen, soweit ich keine anderen Hinweise gemacht
habe , auf den Auszügen aus den Akten des Nationalarchivs in der
guten Arbeit von A. desCilleuls, La grande industrie (1898), 59 ff.
und Notes 210 ff.).
Textilindustrie: Auch von Frankreich wird uns berichtet, daß
die Grundherren auf ihren Gütern Webereien errichteten, um die Wolle
ihrer Herden oder die Cocons ihrer Seidenraupen zu verwerten. Bei¬
spiele aus dem 18. Jahrhundert: Marquis de Caulaincourt errichtet
eine Man. des musselines et des gazes de soie ; Marquis de Louvencourt:
in Longpre eine Man. de toiles ; Marquis d’Hervilly : bei seinem Chateau
de Lanchelles eine Leinenweberei; Duchesse de Choiseul-Gouffier:
eine Baumwollspinnerei in Heilly; Comtesse de Lameth läßt 100 Räder
in Henencourt verteilen. Sieur Gaulme hat beim Schlosse de Bas eine
Manufaktur für feine Tücher; de Kamel ebenso; Baron de Sumene
Seidenfilande ; Marquis d'Hervilly Tischzeugmanufaktur; Sieur du Sei
des Monts Baumwollmanufaktur ; die Seigneurs Requin und Desbois
Baumwoll- und Flachsspinnerei ; le sieur Marie de Perpignan Teppich¬
weberei; Ch. Pascal de Carcosonne feine Tücher usw. Die Zahl der
adligen Textilindustriellen in Frankreich während des 18. Jahrhunderts
ist in der Tat sehr groß. Martin, Louis NY., 113 ff. 199. 214 ff.
Vgl. A. de Calonne, La vie agricole sous l’ancien regime etc.
(1883), III.
(Die Glasfabrikation der adligen Glasmacher [gentilhomm.es
verriers] wird man nicht hierher rechnen dürfen. Es waren arme
Schlucker, die aus einem noch nicht aufgeklärten Grunde im 15. Jahr¬
hundert den Adel erhalten hatten und eifersüchtig bewahrten, trotz
ihrer Armut, derentwegen sie von Adel und Bourgeosie gleicherweise
über die Achsel angesehen wurden. Siehe die hübsche Studie von
M. Beaupre, Les gentilhommes verriers on recherches sur l’ind. et
les Privileges verriers dans l’ancienne Lorraine. 2. ed. 1846.)
Die Beteiligung am Handel als Unternehmer, also auch offen zu
Tage tretender Gesellschafter (anders stand es um die Beteiligung mit
Geldeinlagen) derogierte im Allgemeinen in Frankreich. Doch gab es
Ausnahmen, namentlich im Süden. So finden wir den Adel massen¬
haft beteiligt (auch als genannte Gesellschafter) in den Korallen-
Kompagnien Südffankreichs im 16. Jahrhundert. Paul Mas so n, Les
compagnies du Corail (1908), 19 ff.
3. Deutschland: Die Eisen- und Kupferindustrie in Deutsch¬
land verdankt an vielen Orten ihre erste Ausbildung in kapitalistischem
Geiste unternehmungslustigen Grundherren. So sehen wir die Grafen
Stolberg im 16. Jahrhundert eifrig bei der Förderung der Hüttenindustrie,
der Gießerei usw. tätig; Graf Wolfgang legt im 16. Jahrhundert die
Hütte zu Königshof an , machte Ilseburg zu einem Mittelpunkte der
Eisenindustrie, errichtet daselbst die erste Messinghütte usw. Mit ihm
wetteifert der benachbarte Graf Julius von Braunschweig-Lüneburg.
Ein besonders lehrreiches Beispiel sind die Gittelder Hütten am Harz,
für die wir die Rechnungen vom Jahre 1573 bis 1849 besitzen. Im
862 Achter Abschnitt: Die Entstehung der Unternehmerschaft
Archiv des Oberbergamts zu Klausthal. Auszüge daraus macht L. Beck,
Geschichte des Eisens 2, 152 ff.
Über die Unternehmertätigkeit der Braunschweiger Grafen und
Herzoge unterrichtet gut E. Wilczek, Beiträge z. Gesell, d. Berg-
und Hüttenbetriebs im Unterharz (Sammlung berg- und hüttenmänni¬
scher Abh. , Heft 10. 1897), S. 8 if. Ygl. jetzt Möllenberg, Die
Eroberung des Weltmarktes durch das Mansfelder Kupfer, 19.
Diese „Grundherren“ waren kleine Fürsten und könnten ebenso¬
gut als Beispiele fürstlicher als grundherrlicher Unternehmertätigkeit
gelten. Nur werden sie besser unter den „Grundherren“ abgehandelt,
weil über ihr Unternehmertum vielmehr die eigene, persönliche Ver¬
anlagung entschied als beim Monarchen größerer Staaten, bei dem der
Staat (vertreten durch seinen Beamtenapparat) eine überindividuelle
Instanz darstellte, die unabhängig von den persönlichen Neigungen des
Herrschers ihre gleichbleibende Richtung einliält. Aber bei den kleineren
Fürsten war es in der Tat rein persönliche Initiative, die sie in die
Bahnen des geschäftlichen Unternehmertums hineinriß.
Ein besonders lehreiches Beispiel hierfür bietet der bekannte Herzog
Julius zu Braunschweig und Lüneburg, der Begründer zahlreicher In¬
dustrien in seinem Ländchen. Von ihm hat eine vortreffliche Charakte¬
ristik Paul Zimmermann in den Hansischen Geschichtsblättern
1904/05, Seite 83 ff. entworfen. Wir erfahren, daß der Herzog von
Natur schwächlich , verkrüppelt , zum Kriegsdienst ungeeignet war,
aber auch seinen Neigungen nach aus dem Rahmen seiner kriegerischen
Familie völlig herausfiel. Als seine Stiefmutter, die Herzogin Sophie
ihn ermahnte, zu seiner Erholung — er arbeitete immer — gelegent¬
lich auch des Waidwerks zu pflegen, antwortete er: „Wie andere
Chur- und Fürsten meistenteils dem Jagdteufel anhängig, also hats
mit uns die Gelegenheit, wie E. G. u. L. zum Theil wissen, daß wir
dem Bergteufel nachhängen.“ A. a. 0. S. 46. Ebenso begabt erwies
er sich als Verwerter seiner Erzeugnisse: „er war ohne Zweifel der
bedeutendste Kaufmann in seinem Gebiet“ (S. 52). Er erwog allen
Ernstes, selbst ein Schiff auszurüsten, das seine Güter bis nach Narva
in Rußland führen und dort andere Ware dafür in Tausch nehmen
sollte (S. 54). Er kanalisierte und korrigierte die Oker und andere
seiner Flüßchen.
Daß die schlesische Montanindustrie bis in unsere Zeit hinein in
den Händen der Grundherren geruht hat, ist bekannt.
Von 243 Werken gehörten (1785) in Schlesien:
20 dem Könige,
14 dem Herzog von Oels, dem Fürsten Anhalt-Cöthen, dem Fürsten
von Lobkowitz,
191 „den anderen Gräfl. Freikerrl. und adligen Gutsbesitzern“
2 der Breslauer Kaufmannschaft,
2 den gräfl. Stiften.
Schles. Prov. -Blätter 3 (1786), 206.
Auch andere Industrien verdanken in Deutschland namentlich den
kleineren Fürsten ihre Entstehung oder Förderung. So die Glas¬
industrie, die Porzellanindustrie u. a. Wilhelm St.ieda
Siebenundfünfzigstes Kapitel: Die adeligen Grundherren gß3
hat uns anschaulich die Begründung der Porzellanindustrie im Kloster
Veilsdorf i. Thür. (1760) durch Prinz Friedrich Wilhelm Eugen von
Hildburghausen geschildert. Der Prinz war ein Gegenstück zu dem
Braunschweiger Julius: als geschickter Feuerwerker und Mechaniker
geschätzt, ein unternehmender Mann, immer in Geldnot ohne ver¬
schwenderisch zu sein, genug „Bürger“, um den Wert kapitalistischer
Anlagen zu würdigen. Siehe W. Stieda, Die Anfänge der Porz.-
Ind. auf dem Thüringer Walde (1902), 176 ff.
Auch, an der Begründung der Textilindustrie war der Adel
beteiligt. Zahlreiche Beispiele bei Gothein, WG. des Schwarzwaldes
1, 751. 762. 791 u. ö.
Aber auch dem überseeischen Handel, der ja immer noch ein
halbabenteuerliches Gepräge trug, wandte sich der deutsche Adel zu.
Einen typischen Vertreter solcher Art merkantil interessierter Grund¬
herren schildert Diet. Kohl, Überseeische Handelsunternehmungen
oldenburgischer Grafen im 16. Jahrhundert in den Hans. Gesell. -Blatt.
16 (1910), 417 ff. Sie organisieren Islandfahrten.
4. Österreich: Die Gewerken am Bergbau sind ursprünglich oft
nur, während der Übergangszeit zum kapitalistischen Betriebe (16.
Jahrhundert) vorwiegend, Adlige. So finden wir unter den „Herren
und Gewerken von der Kais. Geb. zu St. Kathrein“ (Quecksilberberg¬
werk zu Idria) von 1520 — 26: Gabriel Graf zu Ortenburg, Bernard von
Cles, Kardinalbischof von Trient, Hans v. Auersberg, Herrn zu Schön¬
berg, Sigrn. von Dietrichstein, Freiherrn zu Hollenberg und Finkenstein.
Urkunde von 1536: die HH. ;
Hans Jos. v. Egg
Franz von Lamberg zu Stein, ferner:
Niclas Räuber Freiherr zu Plankenstein
Niclas Freiherr von Thurn.
Schrift von 1557 erwähnt:
Anton Freiherr von Thurn
Wolf Freiherr von Auersberg
Leonh. von Siegersdorfer.
Urkunden von 1569 und 1574:
Hans von Gallenberg
Franz Wagen von Wagensberg
Georg Graf von Thurn zu Kreuz
Herward von Hohenburg usw.
Peter Hitzinger, Das Quecksilber-Bergwerk Idria von seinem
Beginn bis zur Gegenwart. Nach Sehr, des Bergwerksarchivs usw.
(1860) S. 13/14.
Ebenso bewahrt die Eisenindustrie in Steiermark lange Jahr¬
hunderte hindurch ihren grundherrlichen Charakter. Beck, Gesell,
des Eis. 2, 620 ff.
Ueber den grundherrlichen Bergbau in Böhmen (Grafen Schlick,
die Begründer Joachimsthals, Wilh. v. Pernstein, die Rosenbergs u. a.) :
A. Salz, Gesell, der böhmischen Industrie (1913), 62 ff. 405 und öfters.
8C4 Achter Abschnitt: Die Entstehung der Unternehmerschaft
Ein reiches Quellenmaterial und eine Reihe tüchtiger Bearbeitungen
gestatten uns in den Werdegang gerade der böhmischen Industrie
wertvolle Einblicke. So sehen wir auch die böhmischen Grundherrn
besonders deutlich an der Arbeit, sehen wie viel Unternehmungsgeist
und Tatkraft in ihnen wirksam geworden ist. Ein ganz hervorragend
tüchtiger Unternehmer war Joh. Jos. Graf von Waldstein, der Be¬
gründer der Oberleutensdorfer Tuchfabrik (1715). Er zieht Holländer
und Engländer auf seine Herrschaft, die in der Gegend noch nie ge¬
sehene Werkzeuge mitbringen und die Fabrik ins Werk seften. Die
Bewohner müssen erst zur Arbeit herangebildet werden. Hinter allem
steht als treibende Kraft der Graf, „der keine Mittel und keine Kosten
scheute11. Seine Anlagen, die auch von den Nachfolgern gepflegt
wurden, gediehen. L. Schlesinger, Zur Geschichte der Industrie
in Böhmen in den Mitteilungen des Ver. f. d. Gesch. d, Deutschen
in Böhmen 3, 134 ff.
Für die Entwicklung der Großindustrie , namentlich der Textil-
industrie in Böhmen während des 17. Jahrhunderts wird es geradezu
entscheidend, daß sich, angeregt durch das Beispiel des Konzefi-
präsidenten Grafen Jos. Kinsky, eine Reihe von Aristokraten zur Ein¬
führung von Manufakturen auf ihren Gütern entschloß. Schon 1762
konnte Kinsky der Kaiserin die „erfreuliche Nachricht“ geben, daß
verschiedene Herrschaften in Böhmen, darunter Graf Waldstein, Fürst
Lobkowitz , Graf Bolza, „auch Neigung bezeigten“, das Manufaktur¬
wesen auf ihren Besitzungen zu fördern. Akten bei Karl Pfibram,
Geschichte der österreichischen Gewerbepolitik 1, 127.
Ein vom Grafen Kinsky eingesendetes Verzeichnis der von dem
Adel gegründeten Fabriken aus dem Anfang der 1760 er Jahre siehe
bei Ad. Beer, Stud. z. Gesch. der VW. unter Maria Theresia, im
Archiv für österr. Gesch. 81, 101.
5. Rußland: Die Anfänge der modernen Industrie in der petrini-
schen Zeit sind nicht adlig; dann aber: seit der zweiten Hälfte des
18. Jahrhunderts geht die Industrie wieder mehr in den Besitz des
Adels über. (Grund: nur der Adel behält das Recht, Leibeigene
als Fabrikarbeiter zu beschäftigen, den Kaufleuten wird ihr Ankauf
verboten.)
1773 produzieren die dem Adel gehörigen Fabriken für 1041 000 Rb.
von 3 548 000 Rb. insgesamt.
Von 40 Tuchfabriken gehören ihm 19;
Anfang des 19. Jahrhunderts (1809) gehören von 98 Tuchfabriken,
die ihre Produkte für die Regierung lieferten:
12 Kaufleuten
19 dem hohen Adel
55 einfachen Adligen
12 Ausländern und Raznocinci.
M. v. Tugan-Baranowski, Die russ. Fabrik, 35.
6. In Schweden waren früher viele Gruben Nebenbetriebe von
Gütern; der Gutsherr beschäftigte die Bergleute wie seine Statare-
Aibeiter (landwirtschaftliche Deputanten). Noch heute, nachdem Gruben
Siebenundfiinfzigstes Kapitel : Die adeligen Grundherren gß5
und Landwirtschaft getrennt sind, lebt das alte Abhängigkeits Verhältnis
in Dannemora fort. Gustaf af Gejerstam, Arbetarnes ställning
vid fyra svenska grufoor. Ich verdanke den Hinweis einem Mitgliede
meines Seminars, Herrn Dr. Bulle.
7. Kolonien: Gerade der Kolonialkapitalismus ist in weitem Um¬
fange als das Werk adliger, häufig noch ganz feudal orientierter Unter¬
nehmer zu betrachten, die hier fast als reine Eroberer erscheinen.
Das gilt schon von den „Franken“, die die Levante ausbeuteten. Das
gilt von den Spaniern und Portugiesen, die sich im 16. Jahrhundert
in Amerika festsetzten und sich hier völlig als Grundherren betrachte¬
ten : die Bezeichnungen encomiendas und repartiementos , Kapitanien
und Sesmarias deuten es schon an. Siehe im übrigen die Darstellung
im 27. Kapitel des 1. Bandes.
Das gilt aber endlich auch von den ersten Unternehmern , denen
die Südstaaten Nordamerikas zur Ausbeutung übertragen wurden.
Wir erinnern uns des Lord Delaware, der der Hauptbeteiligte an der
Virginia Co. of London (gegründet 1606) war, an Lord Baltimore, den
„Begründer“ von Maryland, dessen gewinnsüchtige Absichten heute nicht
mehr bezweifelt werden; wir denken an die acht Eigentümer, denen
1663 das Land zwischen Virginia und Florida („Carolina“) übertragen
wurde und finden unter diesen den Herzog von Albermale, den Earl
von Clarendon, Sir William Berkeley und vor allem Lord Shaftesbury.
J. C. Ballagh, White servitude in Virginia (1895), 17; E. Jrv.
Mc. Cormac, Withe servitude in Maryland (1904), 11 ff. Zur
raschen Orientierung eignet sich: Heg. W. Jeffrey, The History
of the 13 colonies of North America 1908; über die Besiedelung
Carolinas daselbst p. 64.
Sombart, Der moderne Kapitalismus. I.
55
866
Achtundfüiifzigstes Kapitel
Die Bürger
Bürgerliche Unternehmer nenne ich alle diejenigen, die von
unten kommen und sich zu Leitern kapitalistischer Unternehmungen
aufschwingen, kraft ihres guten Bürgertums. Es sind gewerbliche
Kleinproduzenten, Krämer, bäuerliche Wirte, die „sich empor¬
arbeiten.“ Sie stellen also als kapitalistische Unternehmer eine
Auslese aus dem Handwerkertum dar.
Was sie hinauf- und aus der Masse ihrer Genossen hinaus¬
gehoben hat, ist zunächst ihre wirtschaftliche (bürgerliche)
Tugendhaftigkeit: sie sind fleißiger, sparsamer, rechnen besser
als die andern. Ihre Schutzpatrone sind L. B. Alberti und Ben¬
jamin Franklin, die Kanonisatoren der Lehre von der „heiligen
Wirtschaftlichkeit“, der Sancta masserizia1.
Aber mit Fleiß und Sparsamkeit — industry and frugality —
diesen beiden Kardinaltugenden des guten Hausvaters wird man
noch kein Leiter einer kapitalistischen Unternehmung, zumal
nicht in den Frühzeiten des Kapitalismus, wo erst die Ziele auf¬
gesteckt, die Wege gebahnt werden müssen. Wer vom Hand¬
werker zum kapitalistischen Unternehmer aufsteigen will, muß
auch Unternehmereigenschaften besitzen. Aus der Masse gleich¬
gestellter Genossen löst sich nur der weiterblickende, aber
gleichzeitig auch tatkräftige Mann los; „wagende“ Kaufleute,
„wagende“ Handwerker sind es immer, die die Stellen der neuen
Wirtschaftssubjekte einnehmen. Dieser Wagemut ist es, der sie
mit den vorher gekennzeichneten Unternehmertypen verbindet.
Aber was sie nun ebenso sehr von diesen unterscheidet, ist die
starke Betonung der händlerischen Seiten des Unternehmertums.
Sie kommen empor vor allem, weil sie begabte „Händler“ sind.
Ihre Stärke beruht in ihrer Geschicklichkeit beim Abschluß von
Verträgen: mit den Lieferanten, mit den Arbeitern, mit den
Kunden. Für sie tritt damit das Geld erst völlig in den Mittel¬
punkt ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit : vom Gelde kommts, zum
1 Siehe die ausführliche Darstellung in meinem Bourgeois, S. 135 ff.
Achtuudfünfzigstea Kapitel: Die Bürger 8G7
Gelde strömts. Im Geld© erblicken sie erst den eigentlichen, ja
den einzigen Machtfaktor , da sie andere Macht als die Reich -
tmnsmacht nicht kennen. Durch sie wird die völlige Durch¬
dringung des Wirtschaftsprozesses mit dem Geldgedanken erst
vollendet. Sie sind recht eigentlich erst kapitalistische
Unternehmer , weil für sie das (Geld-) Kapital die unerläßliche
Voraussetzung ihrer Wirksamkeit als Unternehmer wird. Ganz
gewiß werden sie nicht deshalb Unternehmer, weil sie Geld haben ;
das wäre eine schlimme mechanistische Annahme. Sondern Unter¬
nehmer werden auch sie, weil sie kraft ihrer persönlichen Eigen¬
schaften dazu befähigt sind. Aber ihr Unternehmertum ist doch
weit enger an den Geldbesitz gebunden , als das der andern
Typen. Durch sie gewinnt der bürgerliche Reichtum , dessen
Entstehung wir verfolgt haben, seine Bedeutung für den Aufbau
der kapitalistischen Volkswirtschaft: sie schlagen das Feuer aus
dem Stein. Bürgerlicher Reichtum, sahen wir, braucht ganz
und garnicht sich in Kapital zu verwandeln. Ein sehr beträcht¬
licher Teil des bürgerlichen Reichtums, der in der Frühzeit des
Kapitalismus entstanden ist, ist für diesen verloren gegangen,
weil er in die Hände verschwenderischer, seigneurial veranlagter
Menschen gelangte. Nur derjenige bürgerliche Reich turn , der
auch wirklich von „Bürgern“ erworben wird, konnte seine Um¬
wandlung in Kapital erleben, und diejenigen, unter deren Füh¬
rung er seine Rolle im Wirtschaftsleben zu spielen berufen war,
das waren eben die bürgerlichen Unternehmer, die uns hier be¬
schäftigen. Nicht daß sie immer selbst Geld genug besaßen,
(obwohl wir das in sehr zahlreichen Fällen annehmen dürfen),
um eine kapitalistische Unternehmung ins Leben zu rufen: es
war doch immer wieder bürgerlicher Reichtum, den sie in Kapital
verwandelten, indem sie sich mit andern Bürgern zu gemeinsamer
Tätigkeit vereinigten, oder fremde Gelder in ihren eigenen Unter¬
nehmungen mitwerben ließen1.
Wir finden den bürgerlichen Unternehmer in allen Zweigen
des Wirtschaftslebens an der Arbeit. Doch sind die Formen,
in denen er sein Werk vollbringt, sehr verschieden, so daß
mannigfache Typen kapitalistischer Unternehmungen gerade durch
ihn ins Leben gerufen werden: wir werden ihren inneren Bau
später noch (im zweiten Bande) zu untersuchen haben, hier ver-
1 Über die verschiedenen Formen der Kapitalbildung unterrichtet
der zweite Band.
868
Achter Abschnitt: Die Entstehung der Unternehmerschaft
folgen wir nur die verschiedene Gestaltung des Unternehmer¬
tums selbst.
Der erste Weg, auf dem der bürgerliche Mensch zum kapita¬
listischen Unternehmer wird, führt durch den von ihm ge¬
leiteten Handwerksbetrieb hindurch: dieser wird
allmählich ausgeweitet, bis er zu einer kapitalistischen Unter¬
nehmung sich umgebildet hat: das kann bei allen Arten von
„Handwerk“ geschehen: beim bäuerlichen, beim gewerblichen,
beim merkantilen, beim Transporthandwerk: es entsteht in der
ersten Generation das, was ich den kleinkapitalistischen Unter¬
nehmer nenne.
Dieser Fall einer allmählichen, schrittweisen Vergrößerung,
bei der unmerklich die eine Wirtschaftsform in die andere übei
geht, bis schließlich die „Quantität in die Qualität umschlägt ,
ist sicher ein sehr häufiger gewesen (wie er ja heute noch täglich
vorkommt). Ein großer Teil der handwerksmäßigen „negiotia-
tores“ ist im Laufe der Zeit zu kapitalistischen Unternehmern
geworden: das sind die florentiner Wollhändler, die englischen
tradesmen, die französischen marchands, die jüdischen Schnitt¬
warenhändler.
Ebenso häufig begegnen wir dem emporgekommenen gewerb¬
lichen Handwerker. Es ist derjenige Unternehmer, den die
Engländer „Manufacturer“, die Franzosen „fabricant“ (im Gegen-
o 77
satz zu „entrepreneur“) nennen.
In wichtigen Industrien, wie der Maschinenindustrie, hat dieser
Typus geradezu die Eegel in den Anfängen der kapitalistischen
Entwicklung gebildet.
Besonders lehrreich ist die Geschichte der Berliner Maschinen¬
industrie. Über sie unterrichtet in anschaulicher Weise die kleine
Studie von Hans Dominik, Die Anfänge der Berliner Maschinen¬
industrie, im Großberliner Kalender 1915. Die Haupttypen der Hand¬
werker-Industriellen sind folgende :
1. Freund, geb. 1798, erlernt das Mechanikerhandwerk, macht
sich, von einem Geldgeber unterstützt, 1812 in der Mauerstraße selb¬
ständig „und beginnt mit gutem Erfolge und unter geschickter Be¬
nutzung eigener Ideen und Erfindungen Dampfmaschinen zu bauen ;
2. F. A. J. Ege 11s, geb. 1788, hat das Schlosserhandwerk erlernt
und gründet, nach längeren Keisen in England, 1821 in Berlin eine
Eisengießerei. E. fängt an, nach eigenen Ideen zu arbeiten, ohne
englische Vorlagen nachzuahmen;
3. Aug. Borsig, geb. 1804 als Sohn eines Zimmerpoliers, erlernt
das Zimmerhandwerk. Er studiert von 1821 — 1825 auf dem von
Beuth begründeten Gewerbeinstitut, tritt 1825 in die Egellsche Fabrik
Achtundfünfzigsteß Kapitel: Die Bürger
869
ein, wird 1827 daselbst als „Factor“ angestellt und giündet 1837 mit
einer in jener Stellung ersparten Summe von 10 000 Talern vor dem
Oranienburger Tor eine Fabrik, in der er in einfachen Bretterbuden
mit den primitivsten Mitteln Gießerei und Maschinenbau betreibt;
4. Joh. Friedr. Ludw. Wo liiert, geb. 1797, erlernt die
Tischlerei, tritt 1818 bei Egells ein, wird 1837 Angestellter in der
Borsigschen Fabrik und macht sich später ebenfalls selbständig.
(Hoppe & Schwartzkopff fangen schon als Ingenieure an.)
Wir finden den Handwerkertypus aber in fast allen Industrien
zerstreut. Etwa in der Zuckersiederei, wo der „Meisterknecht“
der größeren Fabriken, sieb zum selbständigen Unternehmer
aufschwingt1. Oder in der Metallgewinnungsindustrie.
So schreibt von den Aachener Ivupfermeistern, den Inhabern der
Kupferhöfe, der Chronist (vom 17. Jahrhundert): „Diss Handwerk
hab ich anfangs getaufft einen Handel, dieweil die Knecht die Arbeit
allein thun, und die Meister nichts mehr darzu thun können, als auss-
und inwogen und Buch halten, dahero auch so wol Frauen als die
Männer diesen Handel treiben können.“ Noppius, Arch. Chr.
(1623) I, 111, bei R. A. Peltzer, Gesch. d. Messing-Ind., in der
Ztschr. d. Aach. Gesch. Yer. 30, 315.
Auch in der Textilindustrie hat der kleinere und größere
„Tuchfabrikant“ eine Rolle gespielt.
Der Typus ist in allen Ländern gleichmäßig verbreitet ge¬
wesen. In großen Städten fand man ihn besonders häufig. Für
Berlin behauptet ein guter Kenner geradezu: „In der Haupt¬
sache erwuchs die Großindustrie aus dem Handwerk, indem
tüchtige, intelligente Meister, die durch die vorzügliche Schule
des Kgl. Gewerbeinstituts gegangen waren, sich im Ausland und
namentlich in Paris die nötigen technischen Fähigkeiten vollends
angeeignet und nach der Heimat zurückgekehrt, Fabriken grün¬
deten.“ 2 Irgendwelche annäherungsweise Schätzung des nume¬
rischen Anteils ist selbstverständlich bei diesem Typus ebenso'
unmöglich wie bei irgendeinem der andern.
Endlich finden wir in manchen Ländern, wie z. B. England,
unter den landwirtschaftlichen Unternehmern manch
einen, der auf einem Bauernhof groß geworden war, der selbst
oder dessen Yater noch selbst den Pflug geführt hatte. Die
ganze Generation der mittelgroßen kapitalistichen Pächter in
England, die während des 18. Jahrhunderts emporkommt, wird
zum großen Teil aus dem Bauernhandwerk hervorgegangen sein.
1 Anschaulich geschildert von J. G. Büsch, Über die Hamburger
Zukkerfabriken (1790), 9 f.
2 O. Wiedfeldt, Die Berliner Industrie (1899), 79,
870 Achter Abschnitt: Die Entstehung der Unternehmerschaft
Der andere Weg zum bürgerlichen Unternehmertum ist der
„Verlag“, das heißt (wie wir noch genauer sehen werden),
diejenige Organisationsform der Produktion, bei der gewerbliche
Arbeiter durch reiche Leute mit Vorschüssen ausgestattet werden,
bis sie zu reinen Lohnarbeitern in einer kapitalistischen Unter¬
nehmung geworden sind.
Zum Teil waren es reichere „Kollegen“, die zu Brot¬
gebern der verarmten Handwerker sich aufschwangen.
Um nur ein paar frühe Beispiele anzuführen :
Die Arte della Lana in Pisa verbietet im 14. Jahrhundert, dem
„Arbeiter“ mehr als 25 Pfund in der Stadt, 50 Pfund in der Land¬
schaft anzuvertrauen. Kein Lanaiuolo der Stadt Pisa soll eine W erk-
statt errichten, in der er gegen Löhne (ad pregio) weben läßt, außer
seiner eigenen.
In der Zunft der Wollscherer finden wir (1537) in England zwei
Darlehen von 100 und 50 j£, die reichere an ärmere Handwerker dar-
leilien. Eine Keihe von Streitfällen betrifft diese Darlehen, aus denen
wir entnehmen können, daß die ärmeren Meister ihre Schuld abarbeiten
mußten. „Davy Ellys had commandement to worke with Humphrey
Hitchcock or with Thomas Saunders untyll such tyme as they be both
satisfied of their debts which is due to theym by the said Ellys“.
Aus Clothworkers Court Book, July 12, 34 Henry VIII, beiUnwin,57.
1548 verbietet ein englisches Gesetz den reichen Meistern der
Lederzünfte,' die ärmeren mit Leder zu versorgen; 1549/50 wird das
Gesetz aufgehoben mit der Begründung: ohne dem ginge es nicht.
„Most of the artificers are poor men and unable to provide such störe
of materials as would serve their turn“. 3 and 4 Edw. VI c. 6.
Ähnliche Bestimmungen im Baugewerbe. Zitiert bei Unwin, 56.
In Frankreich dasselbe Bild um dieselbe Zeit: arme Hutmacher
.in Abhängigkeit von reichen. „Les maitres qui n’auront moyen de
tenir boutique ouverte et qui travailleront chez les autres nies ne
pourront sortir de la maison du me oü ils travailleront pour aller
‘ travailler ailleurs quilz ne l’en ayent averty quinze jours auparavant
soutz les peines ci-dessus dernieres dictes“. Art. 31 des Statuts
der Hutmacher von Bourges. Bei Levasseur, Hist. 2, 163.
Aber viel häufiger waren es Kaufleute, meist Zwischen¬
händler, die zu Verlegern der Plandwerker wurden. Dieser Vor¬
gang ist so häufig, daß er fast als der normale erscheint: „ce
sont ordinairement (!) les marchands en gros, qui entreprennent
les manufactures“, meint kategorisch Savary h Sein häufiges Vor¬
kommen hat sogar die Blicke vieler Historiker so sehr geblendet,
daß sie das Problem der Entstehung kapitalistischer Produktions¬
unternehmungen in ein allmähliches „Übergreifen des Handels-
1 Savary, Parf. negoc. 1, 14.
Achtundfünfzigstes Kapitel: Die Bürger
871
kapitals“ in die Produktionssphäre simplifizieren (Marx!). Davon
ist nun natürlich keine ßede, wie dieses Buch zu genügend deut¬
licher Erkenntnis bringt. Aber daß, wie gesagt, die Fälle häufig
waren, in denen Warenhändler zu Leitern von Produktions¬
unternehmungen wurden, unterliegt keinem Zweifel. Diejenigen
Gewerbe, in denen dieser Vorgang besonders häufig sich ab¬
spielte, sind:
1. (vor allem!) die Textilindustrie, wo in sämtlichen Ländern
sicher seit dem 14. Jahrhundert, vielleicht schon früher, die Mit¬
glieder der Calamala - Zunft, die Gewandschneider, die Clothiers,
die marchands drapiers, das heißt also : die Tuchhändler (ebenso
wie die Seidenwarenhändler) auf der einen Seite, die Garnhändler
auf der andern Seite, Handwerker verlegen;
2. der Bergbau und das Hüttenwesen, soweit sie nicht grund¬
herrliches Gepräge beibehielten; hier sind die Verleger die „Erz¬
käufer“, die Eisenhändler usw. ;
3. die Galanteriewarenbranche (Paternostermacher!):
4. die Schneiderei: mindestens im 17. Jahrhundert haben
sich in allen größeren Städten aus den Kleiderhändlern „Kon¬
fektionäre“ entwickelt.
Bleibt endlich die Neubegründung großkapitalistischer
Unternehmungen auf dem Gebiete des überseeischen Handels
oder der gewerblichen Produktion oder des Transportgewerbes,
an denen wir ebenfalls bürgerliche Unternehmer beteiligt finden.
Hier bekommen sie häufig ein ganz bestimmtes Gepräge, das
sie von den bisher gekennzeichneten Typen des bürgerlichen
Unternehmertums deutlich unterscheidet und einen ganz neuen,
eigenartigen Typus kapitalistischer Unternehmer entstehen läßt,
dem wir unsere besondere Aufmerksamkeit schenken müssen:
das folgende Kapitel handelt von ihm.
872
Neunundfünfzigstes Kapitel
Die Gründer
Auch derjenige Unternehmertyp, den ich als den der „Gründer“
bezeichne, kann seine Ahnenreihe bis in eine frühe Zeit verfolgen.
Seine Stammväter sitzen in der edlen Zunft der Projektanten
oder Projektenmacher: jener erfindungsreichen Köpfe, deren
Lebenslauf darin bestand, allerhand Reform- und Neugestaltungs-
pläne zu schmieden, und Fürsten, Große, Reiche im Lande für
ihre Pläne zu gewinnen, sie zu ihrer Ausführung zu bewegen.
Überall, wo einflußreiche Personen sind : an den Höfen, bei den
Parlamenten begegnen wir solchen Projektenmachern; aber auch
auf der Straße, auf dem Markte stehen sie und halten ihre Ideen
feil. Da dieses Phänomen der berufsmäßigen Projekten¬
macher ei außerordentlich wichtig ist, so will ich einige Einzel¬
heiten über die Verbreitung und die Eigenart dieser seltsamen
Menschengattung, die man schon zu ihrer Zeit „Projektanten“
nannte, hier mitteilen1.
Schon im 16. Jahrhundert tauchen solche Projektanten
auf: wir begegnen ihnen damals an den Höfen der spanischen
Könige. Von einem von ihnen berichtet uns Ranke wie
folgt 2 :
„Noch gab es eigentlich keine Wissenschaft der Staatswirt¬
schaft; es fehlen selbst die Kenntnisse, die Fertigkeiten, welche
eine umfassende Verwaltung der Finanzen erfordert: es taten
sich mehr einzelne hervor, welche die Ergebnisse ihres Nach¬
denkens als ein Geheimnis betrachteten und nur für besondere
Belohnung mitteilen wollten; gleichsam Abenteurer und Ver¬
lorene, die sich den zahlreichen Scharen kameralistischer Meister
1 Ausführlicher ist der Gegenstand von mir in meinem (Bourgeois5
(Seite 53 ff.) behandelt worden. Auf jene Darstellung , von der ich
hier nur einen Auszug gebe, sei hier verwiesen.
2 Ranke, Fürsten und Völker von Südeuropa l3 * (1857), 410.
Jener Benevento, von dem Ranke erzählt, erschien auch bei Pius V.,
der indes seinen Künsten nicht traute.
Neunundfünfzigstes Kapitel: Die Gründer
873
und Jünger auf gut Glück vorauswagten. Es waren haupt¬
sächlich Florentiner. Ein gewisser Benevento, der sich schon
der Signoria von Venedig angeboten, ,ohne das Volk zu be¬
steuern, ohne eine Neuerung von Bedeutung wolle er ihre Ein¬
künfte beträchtlich in die Höhe bringen; er fordere nichts als
5°/o von den Vorteilen, die er ihr verschaffe1, war nun zugleich
angesehen; Kaiser Ferdinand berief ihn an seinen Hof; er er¬
schien auch bei Philipp. Diesem gab er wirklich einen vorteil¬
haften Anschlag. Auf seinen Rat kaufte Philipp in Seeland
das Privilegium der Salzbereitung von den Inhabern desselben
zurück usw.“
Aber das rechte Zeitalter der Projektenmacherei scheint doch
erst das auch auf allen anderen Gebieten so reiche und gesegnete
17. Jahrhundert gewesen zu sein. Ein glücklicher Zufall hat
uns eine Quelle aufbewahrt, aus der wir für England ziem¬
lich genau die Zeit bestimmen können, in. der die Projekten¬
macherei jedenfalls ihre größte Ausdehnung gewonnen hat1:
diese Quelle ist die Schrift Defoes über Projekte (An Essay
onProjects), die 1697 erschienen und 1890 von Hugo Fischer
unter dem Titel: „Soziale Fragen vor zweihundert Jahren“ ins
Deutsche übertragen worden ist.
Darin bezeichnet der wie bekannt außerordentlich kenntnis¬
reiche Verfasser seine Zeit geradezu als das Zeitalter der
Projektenmacherei und nennt das Jahr 1680 als den Beginn
dieses „Zeitalters“: „um das Jahr 1680 begann die Kunst und
das Geheimnis des Projektenmachens in die Welt zu kriechen“
(übersetzt nicht ganz richtig der Deutsche den englischen Text,
der heißt: „about the year 1680, the art or mystery of projecting
began visibly to creep into the world“, da „mystery“ hier offenbar
die Bedeutung „Handwerk“ hat). Er meint damit, daß jedenfalls
nie zuvor ein so hoher Grad des Projektmachens und Erfindens
erreicht worden sei, „wenigstens was Handelsangelegenheiten
und Staatseinrichtungen anbetrifft“.
Es wimmelte zu seiner Zeit von solchen Leuten, „welche
— abgesehen von den zahllosen Ideen, die während der Geburt
sterben und (gleich Fehlgeburten des Gehirns) nur ans Licht
kommen, um sich aufzulösen — wirklich täglich neue Künsteleien,
1 Daß sie schon im Anfang des Jahrhunderts grassierte, dafür ist
die Komödie: Ben Jonsons „Der dumme Teufel“ ein Beweis, m
der der Projektenmacher Meercraft die Hauptrolle spielt.
874 Achter Abschnitt: Die Entstehung der Unternehmerschaft
Kniffe und Pläne, um Geld zu gewinnen, an die niemand zuvor
gedacht hätte, hervorbringen.“
An einer Stelle seines Werkes macht Defoe die Bemerkung:
die Franzosen seien „nicht so fruchtbar an Erfindungen und
Auskunftsmitteln“ gewesen wie die Engländer. Darin irrt er
aber sehr. Im Gegenteil: man ist versucht, zu sagen: das
klassische Land der Projektenmacher sei Frankreich, wo um
dieselbe Zeit wie in England, sage von Mitte oder Ende des
17. Jahrhunderts bis tief ins 18. hinein, dieselben Vorgänge
sich abspielen wie jenseits des Kanals, und vielleicht noch, der
Volks Veranlagung entsprechend, in etwas temperamentvollerer und
dramatischerer Form. Auch und gerade für Frankreich stellen
gute Kenner jener Zeitläufte sogar für den Anfang des 17. Jahr¬
hunderts „eine Sucht zu erfinden und sich schnell damit zu be¬
reichern“ fest1. Die Projektenmacher hießen in Frankreich:
„donneurs d’avis“, „brasseurs d’affaires“.
Der Typ des Projektenmachers war in Frankreich am Ende
des 18. Jahrhunderts noch immer nicht ausgestorben, wie uns
die Beschreibungen des damaligen Paris erkennen lassen2.
Auch in anderen Ländern blühte die Projektenmacherei: so
in Österreich zur Zeit Leopolds 1. 3 ; am Hofe der Maria Theresia
spielte ein gewisser Caratto eine bedeutende Rolle, von dem
Stu pan bemerkt4: „Der Caratto (der am 25. Januar 1765 über
einige Kommerzialvorschläge eine Schrift eingereicht hatte) treibt
schon durch mehr als vierzig Jahre das Handwerk eines
Projektanten; seine Grundsätze sind gut und unwidersprech-
lich, seine Schlüsse aber übertrieben.“
In Sachsen war (Ende des 17. Jahrhunderts) der „entrepreneur“
Joh. Dan. Krafft eine allbekannte Persönlichkeit5; aus Sachsen
1 „Fievre d’invention et cVenrichissement rapide“ : nach Marbault,
Remarques sur les memoires de Sully, am Ende der Econ. royales
Coli. Michaud p. 35. G. Fagniez, L’economie sociale de la France
sous Henry IV. (1897), 333. Vgl. Ch. Normand, La bourgeoisie
franpaise au XVII siede (1908), 185 ff. 13. Dieses gute Buch enthält
vieles, was die Donneurs d’avis uns bekannt macht.
2 Mercier im Tabl. de Paris 1, 222.
3 Siehe H. Ritter von Sr bik, Abenteurer am Hofe Leopolds I.,
im Archiv f. Kulturgeschichte 8 (1910), 92 ff.
4 Bei Ad. Beer, Die Staatsschulden und die Ordnung des Staats¬
haushalts unter Maria Theresia 1 (1894), 37 f. Vgl. noch J. K. G.
von Justi, Ges. Pol. und Finanzschriften 1 (1761), 256 ff.
5 Leipziger Sammlungen 2 (1745), 366 ff.
Neunundfüufzigstes Kapitel: Die Gründer
875
kam auch dev Leiter der Fayence Fabrik zu Mosbach in 13 (i (Ich .
Tännich, der schon das Zwischenglied zwischen dem Projektanten
und dem Gründer bildet1.
Welche Stellung den Projektenmachern in der Genesis des
kapitalistischen Unternehmers zukommt, liegt ziemlich deutlich
zutage: sie sind die Stammväter der Laws, der Pereire, der Lesseps,
der Strousbergs, der Saccards, aber auch der Tausend und Aber¬
tausend kleinen „Gründer“ Seelen, mit denen unsere Zeit erfüllt
ist. Was ihnen noch fehlte, und was sie zum Teil schon (wie
wir an einzelnen Punkten bemerken konnten) selbst zu schaffen
suchten, das war der Tätigkeitskreis selbst: die Unternehmung.
Sie standen noch draußen, sie waren selbst noch nicht Ge¬
schäftsleute, waren selbst noch keine Unternehmer. Die Ideen, '
die berufen sein sollten, kapitalistisches Wesen zu erzeugen,
schwebten gleichsam noch wie leblose Schatten umher und harrten
der Stunde ihrer Geburt. Diese konnte erst kommen, nachdem
sich die Idee der Unternehmung mit ihnen verbunden hatte.
Dieser Zeitpunkt ist nun aber, soviel wir sehen können, gegen
das Ende des 17. Jahrhunderts erreicht. Wir erfahren, daß
damals schon viele der Projektanten ein williges Gehör bei den
Geldbesitzern finden, und daß es infolgedessen zu „Gründungen“
von allerhand Unternehmungen kommt, die wir als Spekulations¬
unternehmung bezeichnen müssen. D e f o e , dem wir schon
mehr als einmal wertvolle Aufschlüsse verdankt haben, unter¬
richtet uns auch über diesen Punkt.
Damit aber ist ein neuer Unternehmertypus in die Welt ge¬
kommen: eben der „Gründer“. Er hat wie wir sehen eine ganz
erlauchte Reihe geistiger Ahnen: sozial ist er völlig wurzellos.
Er stammt aus allen beliebigen Schichten der Gesellschaft, aber
was ihn ganz besonders kennzeichnet, ist das: daß er von keinei
sozialen Schicht, aus der er hervorgegangen ist, ein bestimmtes
Gepräge empfängt. Er ist gleichsam frei geboren; vom Himmel
.OH»
Er ist aber grundverschieden in seinem Gebahren von allen
bisher betrachteten Unternehmertypen. Man kann ihn höchstens
dem bürgerlichen Händler vergleichen, sofern seine Begabung
in gleicher Richtung liegt. Aber doch trennen ihn Welten
von seinem bürgerlichen Bruder.
1 Siehe seine Charakteristik bei Joh. März, Die Fayencefabrik
zu Mosbach i. B. (1906), 8 f.
876
Achter Abschnitt: Die Entstehung der Unternehmerschaft
Bürger und Gründer sind darin einander gleich, daß sie beide
auf die äußeren Machtmittel verzichten, deren sich Staat und
Grundherr bei ihrer Unternehmertätigkeit bedienen. An die
Stelle des äußeren Zwanges tritt bei ihnen der innere Zwang.
Aber während der Bürger zu überzeugen sucht, trachtet der
Gründer zu überreden. Jener errechnet sich den Erfolg, dieser
erzwingt ihn sich. Der Gründer träumt das Eiesengroße. Er lebt
wie in einem beständigen Fieber. Die Übertreibung seiner eigenen
Ideen reizt ihn immer von neuem und hält ihn in immerwährender
Bewegung. Die Grundstimmung seines Wesens ist ein enthu¬
siastischer Lyrismus. Und aus dieser Grundstimmung heraus
vollbringt er sein größtes Werk: er reißt andere Menschen mit
sich fort, daß sie ihm seinen Plan durchführen helfen. Ist er ein
großer Vertreter seiner Art, so eignet ihm eine dichterische Fähig¬
keit, vor den Augen der anderen Bilder von verführerischem Eeiz
und bunter Pracht erstehen zu machen, die von den Wundern,
die er vollbringen will, eine Vorstellung geben: welchen Segen
das geplante Werk für die Welt bedeutet, welchen Segen für
die, die es ausführen. Er verspricht goldene Berge und weiß
seine Versprechungen glaubhaft zu machen. Er regt die Phan¬
tasie an, er weckt den Glauben. Und er erweckt mächtige
Instinkte, die er zu seinem Vorteil verwendet: er stachelt vor
allem die Spielwut auf und stellt sie in seinen Dienst. Stimmung
machen ist die Losung. Und dazu sind alle Mittel recht, die
die Aufmerksamkeit, die Neugierde, die Kauflust erringen. Lärm
wird Selbstzweck.
Und die Arbeit des Gründers ist vollbracht, seinen Zweck
hat er erreicht, wenn weite Kreise in einen Zustand des Bausches
geraten, in dem sie alle Mittel zu bewilligen bereit sind, die er
zur Durchführung seines Unternehmens braucht.
Je weniger leicht sich der Plan eines Unternehmens über¬
sehen läßt, je mehr die möglichen Wirkungen allgemeiner Natur
sind, desto besser eignet es sich für den Gründer, desto größere
Wunder kann der Spekulationsgeist vollbringen. Daher große
Bankunternehmungen, große Überseeunternehmungen, große Ver¬
kehrsunternehmungen besonders geeignete Objekte für die Be¬
tätigung des Spekulationsgeistes von Anfang an gewesen und
bis heute geblieben sind.
877
Sechzigstes Kapitel
Die Ketzer
Schon mit der Aufzählung des vorigen Unternehmertyps habe
ich das Einteilungsprinzip, das mich die ersten drei Typen untei-
scheiden ließ, verlassen. Noch mehr entferne ich mich jetzt von
der rein sozialgenetischen Anordnung der einzelnen Unternehmer¬
typen, wenn ich nunmehr eine Eeihe von Gruppen als Herkunfts¬
stätten des Unternehmertums hervorhebe, die durch die Gemein¬
samkeit des Glaubens sowie des äußeren Schicksals ihrer Glieder
gebildet werden. Ich wiederhole auch noch einmal, was ich
bereits gesagt habe : daß sich die Kreise, aus denen ich die ver¬
schiedenen Typen der kapitalistischen Unternehmer hervorgehen
lasse, zum Teil überschneiden, daß also die einzelnen Gruppen,
aus denen die Unternehmer stammen, nicht durchgängig im Ver¬
hältnis der Nebenordnung zu einander stehen. Das wird ersicht¬
lich, wenn wir jetzt den Menschenbereich des Ketzertums. als
eine’ der „Geburtsstätten“ des Unternehmerstandes zu würdigen
versuchen. Aber der verständige Leser wird durch diese An¬
ordnung des Stoffes nicht beirrt werden, sondern aus ihm gerade,
wie ich hoffe, starke Anregung empfangen. _
Der Staat hat, wie wir bereits festgestellt haben (siehe das
Kapitel 25 dieses Bandes) — durch die Ausbildung des Staats-
kirchentums vornehmlich — den Begriff und die Erscheinung
des Ketzers oder Heterodoxen als eine politische oder soziale
Kategorie in Europa geschaffen. Womit gesagt sein soll, daß m
den modernen Staaten zwei Kategorien von Bürgern: Vollburger
und Halbbürger je nach ihrem Glaubensbekenntnis unterschieden
wurden, von denen die einen also: die Mitglieder der Landes¬
kirche, im vollen Besitze aller bürgerlichen Kechte waren, während
als „Halbbürger“ die Mitglieder anderer Konfessionen galten,
denen namentlich der Zugang zu den öffentlichen Ämtern un
Würden gesperrt oder erschwert war. Halbbürger m diesem
Sinne waren die Juden fast überall bis ins 18. Jahrhundert
hinein und meist darüber hinaus; in den katholischen Landern
waren es außerdem noch die Protestanten; in den protestan-
878 Achter Abschnitt: Die Entstehung der Unternehmerschaft
tischen Ländern umgekehrt die Katholiken und die nicht zur
Staatskirche gehörigen Richtungen , in Großbritannien also die
Presbyterianer, die Quäker usw. ; in den presbyterianischen Neu-
englandstaaten Amerikas die Anhänger der Hochkirche usw.
Dieses „Ketzertu m“ als solches, ganz unabhängig von
dem Bekenntnis selbst, das als ketzerisch angesehen wurde, ist
nun offenbar eine wichtige Pflanzschule des kapitalistischen
Unternehmertums gewesen, weil es mächtig das Erwerbsinteresse
stärkte und die geschäftliche Tüchtigkeit steigerte. Und zwar
aus naheliegenden Gründen: von der Anteilnahme am öffentlichen
Leben ausgeschlossen, mußten die Häretiker ihre ganze Lebens¬
kraft in der Wirtschaft verausgaben. Diese bot ihnen allein die
Möglichkeit, sich diejenige angesehene Stellung im Gemeinwesen
zu verschaffen, die ihnen der Staat vorenthielt. Es konnte gar
nicht ausbleiben, daß in diesen Kreisen der „Ausgeschlossenen“
die Bedeutung des Geldbesitzes höher bewertet wurde als
unter sonst gleichen Umständen bei den anderen Bevölkerungs-
schichten, weil* für sie das Geld den einzigen Weg zur Macht
bedeutete.
Andererseits brachte es ihre Stellung als Heterodoxe mit
sich, daß sie ihre ökonomischen Fähigkeiten stärker entwickeln
mußten , weil naturgemäß für sie die Erwerbsgelegenheiten sich
schwieriger gestalteten. Nur die peinlichste Gewissenhaftigkeit,
nur die gerissenste Rechenhaftigkeit, nur die weitestgehende An¬
passung an die Bedürfnisse der Kundschaft versprachen ihnen
einen geschäftlichen Erfolg. Verfolgt und verdächtigt, schreibt
Benoit von den Hugenotten: wie hätten sie sich anders be¬
haupten können, als durch „die Weisheit ihres Verhaltens und
du* ch ihie Ehrenhaftigkeit“ (par la sagesse de leurs moeurs et
par leur honnetete“).
Naheliegend war es auch, daß diese Häretiker in der Zeit
des beginnenden Kapitalismus sich gerade den kapitalistischen
Unternehmungen mit besonderem Eifer widmeten, da ja diese
die meisten Erfolge versprachen, die sicherste Handhabe boten,
um zu Reichtum und dadurch zu Ansehen zu gelangen. Deshalb
finden wir sie in jenen kritischen Zeiten, also vornehmlich vom
10. bis 18. Jahrhundert überall an erster Stelle als Bankiers,
als Großkaufleute, als Industrielle. „Handel und Wandel“, „the
Trade“, wurden von ihnen geradezu beherrscht. Diese Zusammen¬
hänge haben die besten Beurteiler schon während jener Jahr¬
hunderte richtig erkannt.
Sechzigstes Kapitel: Die Ketzer 879
Die Spanier sagten schlechthin : die Ketzerei befördert den
Handelsgeist.
Und ein hellsichtiger Mann wie William Petty fällt über
die Bedeutung der „Ketzerei“ für die Entfaltung des kapita¬
listischen Geistes folgendes interessante Urteil 1 : Der Handel
liegt in allen Staaten und unter jeder Regierung in den Händen
der lieterodoxen Partei und solcher, die eine andere als die
öffentlich anerkannte Meinung vertreten; also in Indien, wo
die mohammedanische Religion anerkannt ist, sind die Hindus
(the Banians) die bedeutendsten Kaufleute. Ln türkischen
Reich die Juden und Christen. Li Venedig, Neapel, Livorno,
Genua und Lissabon die Juden und Nichtpäpstlichen. Selbst in
Frankreich sind die Hugenotten verhältnismäßig viel stärker
im Handel vertreten , während in Irland , wo die katholische
Religion nicht vom Staate anerkannt ist, die Anhänger dieser
Religion einen großen Teil des Handels in den Händen haben.
Woraus folgt, daß der Handels g eist nicht mit irgend¬
welcher Religion als solcher verknüpft ist, sondern
wie vorher schon gesagt 'wurde mit der Hetero doxie als
Ganzem, wie auch das Beispiel aller großen englischen Handels¬
städte bestätigt“ (Trade is not fixed to any species of Religion
as such ; but rather . . . to the Heterodox part of the whole).
Än liehen Urteilen, insbesondere auch über die Bedeutung
der Non - Conformists für die Entwicklung von Handel und
Industrie in Großbritannien begegnen wir häufiger.
„Thev (the non - conformist) are not excluded from the nobility,
among the gentiy they are not a few ; but none are of more importance
than tliev in the trading part of the people and those that live by
industry , upon whose hands the business of the nation lies niuch.
Discourse of the Religion of England 1667 , p. 23. Zitiert bei
H. Hall am, Const. Hist. 3 (1827), 451.
Daß diese Beobachtungen , wie sie uns diese Männer mit-
teilen , richtig waren , lehrt uns ein Blick in die Wirtschafts¬
geschichte jener Zeit. Wir sind besonders gut unterrichtet über
die Verhältnisse in Frankreich durch die Intendanturberichte, die
nach der Aufhebung des Edikts von Nantes vom Könige ein¬
gefordert wurden und die Boulainvilliers gesammelt und im
Auszuge mitgeteilt hat2. Daraus ersieht man, daß in der Tat
1 W. Petty, Several Essays in Pol. Arithm. (1699), 185 f.
2 Etat de la France . . . Par le Comte de Boulainvilliers.
6 Vol. 1737.
880 Achter Abschnitt: Die Entstehung der Unternehmerschaft
der vielleicht größte Teil der kapitalistischen Industrie und des
Überseehandels in den Händen der Reformierten lag (oder bis
zu jener für Frankreich so überaus kritischen Zeit gelegen
hatte). Die Eisenarbeiten in Sedan, die Papierfabrikation in
Auvergne, in Angoumois, in der Generalitö von Bordeaux, die
Lohgerbereien in Touraine, die mit den englischen wetteiferten,
waren ausschließlich in ihren Händen ; in der Normandie, Maine
und Bretagne, „hatten sie fast den meisten Anteil an den
blühenden Leinwandwebereien“ ; in Tours und Lyon an der
Fabrikation von Seide, Samt und Taffet; in Languedoc, Provence,
Dauphinee, Champagne an der Wollindustrie; in der Generalite
von Paris an der Spitzenanfertigung usw.
In Guienne liegt der Weinhandel in ihren Händen; in zwei
Gouvernements (de Brouage et d’Oleron) hat ein Dutzend Fa¬
milien das Monopol des Salz- und Weinhandels; in Sancerre
sind sie nach Aussage des Intendanten „den Katholiken an Zahl,
Reichtum und Bedeutung überlegen“. In der Generalite von
Alen9on beherrschen 4000 Protestanten fast den ganzen Handel.
Dasselbe Bild in Rouen, Caen, Nimes, Metz.
Den auswärtigen Handel trieben sie am liebsten nach Holland
und Großbritannien, und die Holländer und Engländer machten
am liebsten mit ihnen Geschäfte, weil sie mehr Vertrauen zu
ihnen hatten, wie zu den Katholiken — meint B e n o i t.
Auch als Bankiers begegnen wir zahlreichen Reformierten
im damaligen Frankreich, und gern unternehmen sie auch Steuer¬
pachten, zu denen sie zugelassen waren. Man weiß, daß Colbert
sich sehr sträubte gegen die Edikte, die ihre Verwendung in der
Steuerverwaltung verboten.
So daß man sich dem Urteil Rankes über die wirtschaftliche
Stellung der protestantischen Ketzer im Frankreich des 17. Jahr¬
hunderts wohl wird anschließen dürfen, wenn er zusammen¬
fassend sagt 1 :
„Von dem Krieg und den eigentlichen Staatsämtern aus¬
geschlossen, nehmen die Reformierten um so größeren Anteil an
der Verwaltung der Finanzen, den Staatspachtungen, dem An¬
leihewesen ; es ist bemerkenswert, mit welchem Eifer und Erfolg
sie sich der auf kommenden Manufaktur widmeten.“
Man wird vielleicht einwenden : die Hugenotten in Frankreich
seien die Träger der kapitalistischen Entwicklung gewesen, nicht
1 Ranke, Französische Geschichte 38, 456.
Sechzigstes Kapitel: Die Ketzei1
881
weil sie Ketzer, sondern weil sie Protestanten waren, wie
ja Max Weber ganz allgemein die Hypothese aufgestellt hat,
daß die Zugehörigkeit zu bestimmten Religionsgemeinschaften
(den Richtungen, des „asketischen Protestantismus“) die Ursache
des „kapitalistischen Geistes“ gewesen sei.
Ich leugne nun keineswegs den Einfluß, den die besondere
Struktur des religiösen Bekenntnisses auf die Wirtschafts¬
gesinnung ausgeübt hat, wie ich mich natürlich auch der Tat¬
sache nicht verschließe, daß die „Ketzer“ in Europa vorwiegend
Protestanten (und Juden) waren. Ich zweifle nicht, daß bestimmte
Dogmen dazu beigetragen haben, den kapitalistischen Geist zu
versteifen (obwohl ich auch viele Hemmungen für seine Ent¬
wicklung gerade im Puritanismus und im Quäkertum finde).
Angesichts jedoch der unzweifelhaften Tatsache, daß auch
„Ketzer“ anderer Observanz ein großes Kontingent zum kapita¬
listischen Unternehmertum gestellt haben, bin ich geneigt, den
Hauptanteil an dem Einflüsse dem Ketzertum als solchem, nicht
einem bestimmten Religionssystem oder einer bestimmten Sekte,
zuzuschreiben. In dieser Auffassung bestärkt mich folgende Er¬
wägung. Die ganze Fragestellung : ob ein bestimmtes Religions¬
bekenntnis eine bestimmte Wirtschaftsgesinnung erzeugt habe
(und nicht vielmehr, wie andere behaupten, diese jene), scheint
mir nicht glücklich. Ich meine vielmehr, daß beide Bekennt¬
nisse (sei es zum Kapitalismus, sei es zum Protestantismus)
Ausflüsse derselben Grundveranlagung sind , daß in beiden
nur der „neue“ Geist seinen Ausdruck findet, den wir überall
am Werke sehen, wo es sich um die Herausbildung des
modernen Europa handelt1. Beides: Protestantismus und Kapi¬
talismus, sind ihrem innersten Wesen nach „Ketzergeist“, Geist
der Auflehnung gegen Schlendrian, Indolenz, Selbstgenügsam¬
keit, Stilleben. Kirchenreform und Wirtschaftsreform entspringen
im Grunde demselben Geiste des „Non-Conformismus“ 2, der
vielleicht sogar (was wir nur vermuten können) an bestimmte
Blutsveranlagung gebunden war. Selbstverständlich beeinflussen
sich dann diese beiden Äußerungen des gleichen Geistes gegen¬
seitig. Und insofern kann man von einem Einfluß bestimmter Reli¬
gionssysteme auf den Kapitalismus (und dieses auf jene) sprechen.
1 Siehe das 20. Kapitel dieses Bandes.
2 Von der Konstruktion eines solchen allgemeinen Geistes des
„Non-Conformismus“ wird getragen das gute Buch von Henry
W. Clark, History of English non conformity. 2 Vol. 1911 — 13.
Sombart, Der moderne Kapitalismus. I 5ö
882
Achter Abschnitt: Die Entstehung der Unternehmerschaft
Indem ich das Ketzertum als solches, nicht die Zugehörigkeit
zu einer bestimmten Religionsgemeinschaft für die Entstehung
des kapitalistischen Unternehmertums verantwortlich mache, ver¬
allgemeinere ich also das Problem, verzichte dagegen gemäß der
Gesamtanlage dieses Werkes darauf, die Ursprünge des neuen
Geistes aufzudecken und hebe nur die sozialen Bedingungen
hervor, unter denen wir diesen zur Entfaltung kommen sehen.
Nun aber steht mit dem religiösen — und man kann hinzu¬
fügen : mit dem politischen — Ketzertum eine andere soziale
Erscheinung im engsten Zusammenhänge, die noch viel größeren
Anteil am Aufbau der kapitalistischen Wirtschaft gehabt hat als
die Ketzerei selber: ich meine die Wanderungen aus einem Lande
in das andere, die wir die aus religiösen oder politischen Gründen
Verfolgten in jenen Jahrhunderten des Frühkapitalismus machen
sehen. Die Ketzer werden zu Emigranten; der Emigrant wird
zum Fremden in der neuen Heimat.
Das Problem der Wanderungen greift aber über das „Emi¬
granten“ - Problem hinaus, sofern solche Wanderungen auch aus
anderen als religiösen oder politischen Gründen erfolgten. Des¬
halb behandle ich sie gesondert und im Zusammenhänge und
widme ihnen das ganze folgende Kapitel, «p.
Einundsechzigstes Kapitel
Die Fremden
Vorbemerkung
Es wäre eine reizvolle Aufgabe, die gesamte Menschheitsgeschichte
unter dem Gesichtspunkt „des Fremden“ und seines Einflusses aut
den Gang der Ereignisse zu schreiben. In der Tat beobachten wir
von den Anfängen der Geschichte an , wie im kleinen und im großen
es den Einwirkungen von außen her zuzuschreiben ist, daß die Volks¬
gemeinschaften sich eigenartig entwickeln. Es mag sich um Beligions-
S}Tsteme oder technische Erfindungen , um Formen des Alltagslebens
oder Moden und Trachten, um Staatsumwälzungen oder Börsenein¬
richtungen handeln : immer oder wenigstens sehr häufig finden wir,
daß die Anregung von „Fremden“ ausgeht. So spielt auch in der Ge¬
schichte des kapitalistischen Unternehmers der Fremde eine über¬
ragend große Bolle. Unausgesetzt während des europäischen Mittel¬
alters und in größerem Umfange noch in den späteren Jahrhunderten
verlassen Familien ihren angestammten Wohnsitz, um in einem anderen
Lande ihren Herd zu errichten. Und das sind gerade diejenigen Wirt¬
schaftssubjekte , die wir in zahlreichen Fällen als die Begründer und
Förderer kapitalistischer Organisation ansprechen müssen. Es lohnt
deshalb wohl, den Zusammenhängen nachzugehen , die etwa zwischen
den Wanderungen und der Geschichte des kapitalistischen Unternehmers
bestehen. Dabei kann man Einzelwanderungen und Massenwanderungen
unterscheiden.
Literatur
Eine systematische und zusammenfassende Darstellung des Ein¬
flusses, den die Fremden auf die Kultur eines Landes ausgeübt haben,
besitzen wir für England in dem Buche von W. Cunningham, Alien
Immigrants to England. 1897. Ferner für Itufsland in mehreren
Schriften, unter denen besonders genannt zu werden verdient Ernst
Frh. v. d. Brüggen, Wie Bußland europäisch wurde. Studien zur
Kulturgeschichte. 1885, sowie das Werk von B. Jschchanian, Die
ausländischen Elemente in der russischen Volkswirtschaft. 1913, in
dem auch die übrige Literatur verarbeitet ist. Dann gibt es aber eine
Fülle von Schriften über die Geschichte und den Einfluß der einzelnen
Wanderbewegungen.
Die L i t e r a tu r ü b e r d i e „Emigranten“ ist besonders umfang¬
reich und zum Teil sehr gut. Sie schildert teilweise das Schicksal
der religionsverfolgten Auswanderer aus einem Lande, teilweise
das der Einwanderer in ein Land. Beide Darstellungsweisen
§84 Achter Abschnitt: Die Entstehung der Unternehmerschaft
ergänzen sich. Aus der fast unübersehbaren Fülle von Schriften nenne
ich folgende als die brauchbarsten: Ch. Weiß, Histoire des refugies
protestants de France depuis la revocation de l’edit de Nantes jusqu’ä
nos jours. 2 Vol. 1853; grundlegend und noch nicht überholt.
W. E. J. Berg, De Refugies in de Nederlanden na de heiroeping
van het edict van Nantes. 2 Vol. 1845. Für unsere Zwecke kommt
wesentlich nur der erste Band in Beti'acht, der ’handel en nijverheid’
behandelt. Gute, ausführliche Darstellung.
J. S. Burn, History of the French, Walloon, Dutch, and other
Foreign Protestant Refugees settled in England, from Hemy VIII. to
the Revocation of the Edict of Nantes , with Notices of their Trade
and Commerce , Copious Extracts from the Registers , Lists of the
Early Settiers, etc. 1846. Die große englische Literatur über das
Emigrantenproblem hat im wesentlichen Cunningham in seiner zu-
, sammenfassenden, oben genannten Darstellung verarbeitet. Seit 1887
erscheint jähi’lich ein Band Publications der Huguenot Society.
Erman und Reel am, Memoires pour servir ä, l’histoire des re¬
fugies. 9 Vol. 1782 — 99. Sehr eingehende Darstellung des Schicksals
der Emigranten in deutschen Landen, vornehmlich in Brandenburg -
Preußen. Vol. V und VI enthalten die uns hier interessierenden An¬
gaben.
Charles W. Baird, History of the Huguenot Emigration to
America. 2 Vol. 1885.
Dann aber kommen fast alle wirtschafts- insonderheit industrie¬
geschichtlichen Schriften in Betracht, da fast in jedem Gebiet, an jedem
Ort, wie wir sehen werden der Einfluß der Fremden auf den Gang
des Wirtschaftslebens sich fühlbar macht und also von der Literatur
vermerkt werden muß. Eine Aufzählung der einzelnen Werke hätte
keinen Sinn. Am passenden Orte werde ich noch einige Quellen nennen.
I. Die Eignung des Fremden zum kapitalistischen
Unterneh m e r
Während wir bei den ersten drei Arten von Unternehmer¬
typen, die wir nach ihrer sozialen Herkunft unterschieden, nur
vermuten konnten, was sie zu kapitalistischen Unternehmern
geeignet gemacht habe, während wir bei ihnen aus der Tatsache,
daß sie kapitalistische Unternehmer geworden waren, auf ihre
Eignung schließen mußten, konnten wir schon bei dem Ketzer,
können wir aber in noch viel eindringlicherer Weise bei dem
Fremden feststellen, weshalb gerade er zum kapitalistischen
Unternehmer berufen war. Mit andern Worten: die (Gründe der
Auslese, auf die wir alle Herausbildung des Unternehmertums
zurückführen wollten, liegen bei dem vorigen und noch mehr
bei diesem Typus offen zutage ; ebenso wie die Gründe, die den
einmal ausgelesenen Typ bei der Entwicklung seiner Unternehmer¬
fähigkeiten fördern mußten.
Einundsechzigstes Kapitel: Die Fremden
885
Machen wir uns klar, daß es sich in den Jahrhunderten, die
wir hier überblicken, bei jeder Ortsveränderung um einen Aus¬
leseprozeß handelt, bei dem die kapitalistischen Varianten zur
Abwanderung kommen. Die kapitalistischen Varianten: das heißt
die entweder schon zu kapitalistischen Wirtschaftssubjekten ent¬
wickelten oder die zu solchen bestdisponierten (veranlagten)
Personen. Diejenigen Individuen, die sich zur Auswanderung
entschließen, sind — zumal oder vielleicht : nur in den früheren
Zeiten, als jeder Ortswechsel und vor allem jede Übersiedlung
in ein Kolonialland noch ein kühnes Unterfangen war — die
tatkräftigsten , willensstärksten , wagemutigsten , kühlsten , am
meisten berechnenden , am wenigsten sentimentalen Naturen ;
ganz gleich, ob sie wegen religiöser oder politischer Unter¬
drückung oder aus Erwerbsgründen sich zu der Wanderung ent¬
schließen. Gerade die Unterdrückung in der Heimat ist, wie
wir schon feststellen konnten, die beste Vorschule für die kapi¬
talistische Ausbildung. Durch .die Auswanderung werden aber
aus diesen Unterdrückten wiederum diejenigen ausgelesen, die
es satt sind, durch Anpassung und Kriecherei sich im eigenen
Lande am Leben zu erhalten. Daß es sich auch bei diesen um
eine „Auslese“ der Tüchtigsten (in dem hier verstandenen Sinne)
handelt, ersehen wir ja schon aus der Tatsache, daß ein großer
Teil der aus religiösen oder politischen Gründen Verfolgten den
Entschluß zum Auswandern nicht faßt, sondern sich lieber da¬
heim anzupassen sucht : die meisten Hugenotten (vier Fünftel)
blieben in Frankreich zurück, ebenso haben viele Juden im Osten
jahrhundertelang verharrt, ehe sie sich in Bewegung setzten.
Vielleicht läßt sich dann auch feststellen, daß, als Ganzes
betrachtet, diejenigen Stämme, in denen die kapitalistischen
Varianten häufig vertreten sind, die eigentlichen Wandervölker
bilden: die Etrusker (Lombarden!), die Juden, die Schotten,
andere germanische Stämme (aus denen in Frankreich z. B. sich
die Hugenotten bildeten), die Alemannen (Schweizer) usw.
Sodann werden wir vor die Frage gestellt: ob und wodurch
der Aufenthalt in der neuen Heimat — ob und wodurch also
„die Fremde“ als solche — zur Entfaltung und Steigerung der
kapitalistischen Fähigkeiten beiträgt.
Will man diesen zweifellos vorhandenen Einfluß auf eine
einzige Ursache zurückführen, so kann man sagen: die Wande¬
rung entwickelt den kapitalistischen Geist durch den Abbruch
alle? alten Lebensgewohnheiten und Lebens-
886 Achter Abschnitt: Die Entstehung der Unternehmerschaft
be Ziehungen, den sie im Gefolge hat. In der Tat ist es nicht
schwer, alle die seelischen Vorgänge, die wir an dem „Fremden“
in der neuen Heimat beobachten, und die ihn zu einem guten
kapitalistischen Unternehmer machen, auf diese eine entscheidende
Tatsache zurückzuführen; auf die Tatsache also, daß für ihn die
Sippe, das Land, das Volk, der Staat, in die er bis dahin mit
seinem ganzen "Wesen eingeschlossen war, aufgehört haben, eine
Wirklichkeit zu sein.
Wenn wir die Erwerbsinteressen bei ihm den Primat er¬
langen sehen,, so müssen wir sofort begreifen, daß dies gar nicht
anders sein kann, da ja eine Betätigung in andern Berufen für den
Fremden nicht möglich ist: in dem alten Kulturstaat ist er von
der Teilnahme am öffentlichen Leben ausgeschlossen, das Kolonial¬
land hat überhaupt noch keine andern Berufe. Auch alles be¬
hagliche Sichausleben verbietet sich in der Fremde: die Fremde
ist öde. Sie hat gleichsam für den Ankömmling keine Seele.
Die Umgebung bedeutet ihm nichts. Höchstens kann er sie als
Mittel zum Zweck — des Erwerbes benutzen. Diese Tatsache
scheint mir von großer Wichtigkeit zu sein für die Herausbildung
eines nur auf das Erwerben gerichteten Sinnes. Das gilt nament¬
lich für die Neusiedlung auf Kolonialland. „Unsere Bäche und
Flüsse drehen Mühlräder und führen Flöße ins Tal wie die
schottischen; aber keine Ballade, kein einfachstes Lied erinnert
uns, daß Männer und Frauen auch an ihren Ufern sich fanden,
liebten, auseinandergingen, daß unter jedem Dach in ihren Tälern
Lust und Leid des Lebens empfunden wurden“ : diese Klage
eines Amerikaners aus den Frühzeiten drückt deutlich aus, was
ich meine. Diese Beobachtung, daß die einzige Beziehung der
Yankees zu ihrer Umgebung die der reinen praktischen Nutz¬
bewertung ist (oder wenigstens früher war), ist oft schon ge¬
macht worden, namentlich von denen, die Amerika im Anfang
des 19. Jahrhunderts bereisten.
Es gibt für den Ausgewanderten — das gilt gleichermaßen
für den Emigranten wie für den Kolonisten — keine Vergangen¬
heit, es gibt für ihn keine Gegenwart. Es gibt für ihn nur
eine Zukunft. Und wenn erst einmal das Geld in den Mittel¬
punkt des Interesses gerückt ist, so erscheint es fast als selbst¬
verständlich, daß für ihn der Gelderwerb den einzigen Sinn
wahrt als dasjenige Mittel, mit Hilfe dessen er sich seine Zu¬
kunft erbauen will. Geld erwerben kann er nur durch Aus¬
dehnung seiner Unternehmertätigkeit. Und da er ein auserlesen
Einundsechzigstes Kapitel : Die Fremden
887
Tüchtiger, Wagemutiger ist, so wird sich sein schrankenloser
Erwerbstrieb alsobald umsetzen in eine rastlose Unternehmer¬
tätigkeit. Auch diese folgt also unmittelbar aus der Wertlosig¬
keit der Gegenwart, der Überwertung der Zukunft.
Und der Fremde ist durch keine Schranke in der Ent¬
faltung seines Unternehmergeistes gehemmt, durch keine persön¬
lichen Rücksichten : in seiner Umgebung, mit der er in geschäft¬
liche Beziehungen tritt, stößt er wieder nur auf Fremde. Und
unter Fremden sind überhaupt zuerst gewinnbringende Geschäfte
gemacht worden, während man dem Genossen half: zinstragende
Darlehen gibt man nur dem Fremden, sagt noch Antonio zu
Shylock, denn nur vom Fremden kann man Zinsen und Stamm¬
summe rücksichtslos zurückfordern, wenn sie nicht bezahlt werden.
Aber auch nicht irgendwelche Schranken sachlicher Natur
sind dem Unternehmungsgeist in der Fremde gesteckt. Feine
Tradition! Kein altes Geschäft! Alles muß neu geschaffen
werden , gleichsam aus dem Nichts : keine Bindung an einen
Ort: in der Fremde ist jeder Ort gleich, oder man vertauscht
den einmal gewählten leicht mit einem andern, wenn dieser mehl
Gewinnchancen bietet.
Aus alledem muß mit Notwendigkeit ein Zug folgen, der
allem Wirken des Fremden wiederum, sei er Kolonist, sei er
Emigrant, anhaftet: die Entschlossenheit zur vollendeten Aus¬
bildung des ökonomisch-technischen Rationalismus.
Er muß diesen durchführen, weil ihn die Not oder weil ihn sein
Zukunftshunger dazu zwingen; er kann ihn leichter zur An¬
wendung bringen, weil ihm keinerlei Tradition hindernd im AVege
steht. So erklärt sich mühelos die Tatsache, die wir beobachten,
daß die Emigranten in Europa die Förderer des kommerziellen
und industriellen Fortschritts wurden, wohin sie kamen. So erklärt
sich nicht minder ungezwungen die bekannte Erscheinung, daß
nirgends so entschieden wie in Amerika die neuen technischen
Erfindungen zur Anwendung gelangt sind.
II. Der Anteil der Fremden am Autbau der kapita¬
listischen Wirtschaft
1. Eiuzelfremde
Einzelwanderungen, denen also die Tatsache zugrunde
hegt, daß aus individueller Veranlassung eine Familie (oder auch
ein paar Familien) ihren Wohnsitz verändern, das heißt m ein
anderes Land oder doch in eine andere Landschaft übersiedeln,
888 Achter Abschnitt: Die Entstehung der Unternehmerschaft
tat es natürlich zu allen Zeiten gegeben. Uns interessieren hier
diejenigen, an die sich eine irgendwelche Förderung des kapita¬
listischen Wesens anknüpft, wie wir sie namentlich dann ver¬
muten dürfen, wenn wir die Einwanderer als Träger einer höheren
Form des Wirtschaftsverkehrs oder als Begründer neuer In¬
dustrien antreffen . . . Ich denke im ersten Falle an die „Lom¬
barden“ und andere italienische Geldhändler, die während des
Hochmittelalters in Frankreich, England und anderswo ihr Ge¬
schäft betreiben ; und ich erinnere daran , wie unter andern
Industrien während des Mittelalters und späterhin von fremden
Einwanderern namentlich die Seidenindustrie gefördert worden
ist. Und zwar im kapitalistischen Sinne gefördert worden ist
(denn die Übertragung von Handwerkern aus einem Orte in den
andern geht uns in diesem Zusammenhänge nichts an).
So erfahren wir z. B. über den Einfluß der Einwanderung von
Lucchesen auf die Entwicklung der venetianischen Seidenindustrie
folgendes :
„Eine neue Phase der Entwicklung trat mit Einwanderung von
Kaufleuten und Seidenarbeitern aus Lucca ein, worauf erst die Industrie
ganz zur Entfaltung gelangte : zugleich trat das kaufmännische Element
mehr in den Vordergrund: die Kaufleute wurden Leiter der Produktion;
sie übergaben ihr eigenes Rohmaterial den Meistern zu Verarbeitung
in den verschiedenen Stadien der Produktion“. Broglio d’Ajano,
Die venetianer Seidenindustrie (1895), 24.
Und über die genuesische Seidenin.dustrie :
„Ähnlich wie in Venedig mit der Einwanderung der Lucchesen
nahm die Seidenindustrie in Genua einen großen Aufschwung erst
durch die Gebrüder Perolerii und andere Kaufleute, welche im Beginn
des 15. Jahrhunderts lucchesische Musterzeichner in ihren Dienst
zogen. Ihnen wurde sogar die Einführung der Seidenindustrie über¬
haupt zugeschrieben. Zugleich wurde damals eine soziale Ordnung
im Genueser Seidengewerbe eingeführt — nämlich die kapitalistische
Hausindustrie - — , welche ihren Ausdruck 1432 in der Gründung der
Seidenzunft fand“. S i e v e k i n g , Gen. Seidenindustrie inSchmollers
Jahrbuch 21, 102 f.
In Bologna wurde die vielleicht erste moderne Fabrik, eine Seiden-
filande, „in der eine einzige Maschine die Arbeit von 4000 Spinne¬
rinnen verrichtete“, von einem gewissen Bolognino di Barghesano aus
Lucca angeblich im Jahr 1341 errichtet. G. N. P. Alidosi, Instruttione
delle cose notabili di Bologna (1621), 27.
Die Lyoneser Seidenindustrie führt ihren Ursprung ebenfalls auf
eingewanderte Italiener zurück, die sie zunächst wohl in rein hand¬
werksmäßiger Form betrieben. Uns interessiert, daß die Ueberfiihrung
in die kapitalistische Organisation im 16. Jahrhundert wiederum auf
die Initiative zweier Fremden zurückzuführen ist. E, Pariset,
Histoire de la Fabricjue Lyonnaise (1901), 19/20.
Einundseclizigstes Kapitel: Die Fremden
889
Dasselbe gilt von der schweizerischen Seidenindustrie: 1575 er¬
öffnen die Pelligari eine Seidenmanufaktur mit 15, später 30 Knechten:
„ein Betrieb von 15 resp. 30 Gesellen war bisher selbst bei Papierern
und Buchdruckern unerhört“ Geering, Basels Industrie, 471; das¬
selbe von der österreichischen Seidenindustrie. Buj atti , Geschickte
der Seidenindustrie Österreichs (1893), 16 ff.
Die Seidenindustrie ist nur das Hauptbeispiel; daneben sind
aber zahlreiche Industrien bald hier, bald dort, bald von Franzosen,
bald von Deutschen, bald von Holländern, bald von Italienern
in fremden Ländern — und zwar meist, wenn sie im Begriff
waren, in die kapitalistische Form überzugehen, begründet worden.
2. Die „Emigranten“
Noch viel fühlbarer wird aber der Einfluß der „Fremden“
auf den Gang des Wirtschaftslebens in den Fällen, in denen es
sich um Massen Wanderungen aus einem in das andere
Land handelt. Solcher Massenwanderungen können wir seit dem
16. Jahrhundert, in dem sie einsetzen, folgende drei unter¬
scheiden :
1. die Wanderungen der Juden;
2. die Kolonisation der überseeischen Länder, namentlich der
Vereinigten Staaten von Amerika;
3. die Wanderungen der religionsverfolgten Christen, ins¬
besondere der Protestanten: die „Emigranten“.
Über die Bedeutung der Juden spreche ich im Zusammen¬
hänge im folgenden Kapitel. Den Anteil der „Fremden“ an der
Kolonisation darzustellen, wäre widersinnig, da alle Kolonisa¬
toren „Fremde“ sind. Bleibt als Aufgabe, die Bedeutung wenigstens
annähernd aufzuzeigen, die den „Emigranten“ für die Heraus¬
bildung eines kapitalistischen Unternehmertums in Europa zu¬
kommt. •
Die Wanderungen der religionsverfolgten Christen, insbeson¬
dere der Protestanten, nahmen seit dem Ausbruch der Reformation
den Charakter von Massenwanderungen an. Wohl alle Länder
haben gegeben und empfangen, aber man weiß, daß die meisten
Verluste Frankreich erlitt, und daß die andern Länder mehr
französische Emigranten aufnahmen, als sie eigene Landeskinder
verloren. Eine genaue ziffernmäßige Feststellung des Umfangs
dieser Wanderungen ist nicht möglich. Doch kann man getrost
sagen, daß es sich um viele Hunderttausend gehandelt hat, die
_ nur innerhalb der Grenzen Europas — ihre Heimat wechselten,
weil sie ihren Glauben nicht wechseln wollten. Die Zahl der-
*
890 Achter Abschott: Die Entstehung der Unternehmerschaft
j eiligen Protestanten, die allein nach der Aufhebung des Edikts
von Nantes (1685) Frankreich verließen, schätzt Weiß1 auf
250 — 300 000 (von 1 000 000 Protestanten überhaupt , die damals
in Frankreich lebten). Aber die Abwanderungen hatten schon
im 16. Jahrhundert begonnen, und Frankreich war nicht das
einzige Land, aus dem eine Abwanderung stattfand. Aber es
kommt auch nicht so sehr darauf an, zu wissen, ob es hundert¬
tausend mehr oder weniger waren, die damals an den Wande¬
rungen teil nab men , als vielmehr die Bedeutung sich klar zu
machen, die diese Wanderungen für die Neugestaltung des Wirt¬
schaftslebens (was uns hier angeht) gehabt haben. Und die läßt
sich leicht ermessen, wenn man sich die Mühe nimmt, die Wirk¬
samkeit der Emigranten in den Ländern ihrer Bestimmung zu
verfolgen. Da ergibt sich, daß sie überall am Aufbau des
Kapitalismus allerregsten Anteil nahmen, und daß im Bankwesen
und namentlich in der Industrie alle Länder den Eingewanderten
eine wesentliche Förderung verdanken, wie folgender Überblick
erweisen wird.
Die deutschen Staaten empfingen, wie man weiß, Flüchtlinge
in größeren Massen aus Österreich, Schottland und Frankreich. Die
Schotten und Franzosen kommen als Vertreter des kapitalistischen
Geistes vornehmlich in Betracht.
1. Schotten kamen während des 16. und 17. Jahrhunderts nach
Ostpreußen und Posen in großen Scharen. Sie waren reformierten
und katholischen Bekenntnisses, aber in beiden Fällen verließen sie
ihre Heimat, weil sie die Bedrückungen um ihres Glaubens willen
nicht ertragen konnten. Die Schotten in Ostpreußen waren in der
Mehrzahl „wohlhabend und intelligent“ und galten als gefährliche Kon¬
kurrenten. Joh. Semberjycki, Die Schotten und Engländer in Ost¬
preußen, Altpreußische Monatsschrift 29 (1892), 228 ff. Aber auch
ins Innere drangen sie vor: am Schlüsse des 16. Jahrhunderts finden
wir ansässige schottische Kolonien 'in Krakau, Bromberg, Posen;
überall waren die Schotten unter den angesehensten Kaufleuten. Im
Anfang des 17. Jahrhunderts waren mehr als die Hälfte der Posener
Großkaufleute Schotten; noch 1713 unter 36 Mitgliedern der Kauf¬
mannsinnung 8. In einer Petition der Posöner Kaufleute an den
Grafen Hoym vom 11. August 1795 heißt es:
„Die Stadt Posen hat ihren ehemaligen Glanz und die Größe seines
Handels demjenigen Teile seiner Einwohner zu verdanken, welche
aus Schottland emigriert waren und unter der Erhaltung vieler Privi¬
legien sich allhier als Kaufleute etabliert hatten“.
G. St. A. Gen. Dir. Südpr. Ortsch. LXXII 978 bei Moritz Jaffe,
Die Stadt Posen unter preuß. Herrschaft (Schriften d, Ver, f. Soz
1 Weiß, Hist, des refugies 1, 104.
Einundsechzigstes Kapitel: Die Fremden
891
Pol. 119. II. S. 14); vgl. (zit. ib.) Th. A. Fischer, The Scots in
Germany; idem, The Scots in Eastern and Western Prussia. Ferner
A. Rode, Rob. Bargraves Reisebeschreibung (Progr. der Oberreal¬
schule in Eimsbüttel zu Hamburg. 1905). Ein größeres Werk über
die Schotten in Polen aus der Feder der Miss Beatrice Baskerville
stellt (1913) die Scott. Hist. Soc. in Aussicht.
Im 16. Jahrhundert begegnen wir (ansässigen?) Schotten als Spitzen-
und Posamentenhändlern im Erzgebirge : Ed. Siegel, Geschichte des
Posamentiergewerbes (1892), 42.
Ebenso waren sie in Schlesien zu Hause. In Breslau werden
Schotten schon 1596 erwähnt. Die Brieger Kramer- Ordnung von
1629/1729 verbietet Schotten, Juden, Italienern usw. das Hausieren.
In Hirschberg wurden Borten und Schleier von Fremden, „Juden,
Schotten und Polacken“ abgeholt. Sie machen sich seßhaft mittels
einer „Schotten Kram-“ oder „Schottenkammergerechtigkeit“. Schles.
Provinzialblätter 24 (1796), 459 ff.
2. Flüchtlinge aus der Pfalz und Holland, Reformierte und Menno-
niten, sind es gewesen, die den Grund zu der (gleich auf kapitalisti¬
scher Basis errichteten) Crefelder Seidenindustrie gelegt haben. Mit¬
glieder der um 1688 eingewanderten Familie von der Leyen sind als
die Begründer der Seidenindustrie in Crefeld anzusehen. Im Jahre
1768 beschäftigte die Firma Friedr. und Heinr. von der Leyen 2800
Menschen in der Seidenindustrie. Paul Schulze, Die Seidenindustrie
im Handbuch der Wirtschaftskunde Deutschlands 3 (1904), 658; vgl.
Berg, De Refugies in de Nederlanden 1, 285.
Holländer waren (neben Juden) die führenden Bankhäuser der
Reichsstadt Frankfurt a. M.
Die Plüsch- und Moquetteindustrie in Gera wurde auf kapitalistischer
Basis begründet durch Nicolas de Smit aus Tournay (Doornik) im
Jahre 1595. Karl Germann, Die Möbelplüsch- und Moquette¬
industrie (1913), 19. _ .
Niederländer (neben Schweden und Hugenotten) sind es, die im
17. Jahrhundert die Stahl- und Eisenwarenindustrie im Bergischen zur
Entwicklung bringen. Ernst Voye, Die Kleineisenindustrie usw. in
der Gesch. d. Ind. im Märk. Sauerlande 4 (1913), 276.
3. Bekannt ist die Rolle, die die französischen Emigranten im
deutschen Wirtschaftsleben des 17. und 18. Jahrhunderts gespielt
haben, daß sie hier allerorts vor allem die kapitalistische Industrie
meist ’erst begründet haben und einzelne große Handelszweige (wie
z. B. den in Seidenwaren) fast ganz (zusammen mit den Juden) in
ihren Händen hatten. . ,
Die wichtigsten Kolonien französischer Refugies waren (Weiss,
1, 245 ff.) im Kurfürstentum Sachsen, in Frankfurt a. M., in Hamburg,
in Braunschweig, in der Landgrafschaft Hessen (Kassel!) und vor
allem — in Brandenburg-Preußen. Die Zahl der unter Friedrich Wilhelm I.
und Friedrich III. aufgenommenen Franzosen wird auf 25 000 ge¬
schätzt, davon in Berlin allein 10 000. Die Refugies führten überall das
System der „Manufactures reunies“ ein; namentlich in der Erzeugung
yon Wollstoffen, so in Magdeburg (1687 beschäftigten Andre Valentin
892 Achter Abschnitt: Die Entstehung der Unternehmerschaft
aus Nimes und Pierre Claparede aus Montpellier 100 Arbeiter an Web¬
stühlen und 400 Spinnerinnen), Halle a. S., Brandenburg, Westfalen,
Berlin, nur in der Seidenfabrikation. Andere Industrien, die den Fran¬
zosen ihre Begründung oder Weiterentwicklung im kapitalistischen
Sinne verdanken, war die Erzeugung von Strümpfen, Hüten (1782
wird die erste Hutfabrik mit 37 Arbeitern von einem Franzosen in
Berlin begründet), Leder, Handschuhen, Papeterien, Spielkarten, Leinöl,
Luxusseifen (1696 wird die erste Luxusseifenfabrik von einem Fran¬
zosen in Berlin errichtet) 0. Wiedfeldt, a. a. 0. S. 386., Lichter,
Glas, Spiegeln u. a.
Die von den Franzosen begründeten Industrien sind vollständig
aufgezählt im 5. und 6. Bande des angeführten Werkes von Er man
und Reel am.
Die Einführung der Zeugmacherei in Deutschland geht im 16. Jahr¬
hundert auf flüchtige Niederländer; im 17. Jahrhundert auf flüchtige
Hugenotten zurück: so sind z. B. die Zeug-Manufaktur in Göttingen,
Kassel, Mühlhausen, Eisenach 1680 — 1720 auf hugenottische Einwohner
zurückzuführen. Journal für Fabriken und Manufakturen XXIII. 268.
277. 283.
Hugenotten sind die Begründer der Industrie in Baden und Kur¬
pfalz. Gothein, WG. des Schvvarzwaldes 1, 674 ff., ebenso in den
fränkischen Herzogtümern. G. Schanz, Colonisation usw. 1884.
Unter den 386 Mitgliedern der Tuch- und Seidenzunft in Berlin
finden sich noch zu Anfang des Jahres 1808 nicht weniger als 81
französische Namen. Verzeichnis der Vorsteher und sämtlicher Mit¬
glieder der deutsch und französisch vereinigten Kaufmannschaft der
Tuch- und Seidenhandlung hiesiger Residenzien nach alphabetischer
Ordnung zum Anfang des Jahres 1808 von den Ältesten aus den
Gildebüchern angefertigt und zu haben bei der Witwe Arendt im
Börsenhause.
4. Auch (katholische) Italiener finden wir unter den Begründern
der kapitalistischen Wirtschaft in Deutschland. So im Breisgau.
Gothein, a. a. 0. S. 739 ff.
Holland ist seit der Lostrennung der sieben Provinzen der Zu¬
fluchtsort aller möglichen Arten von Flüchtlingen gewesen. „La grande
arche des fugitifs“ nannte es schon Bayle. Das religiöse Interesse
war keineswegs immer das entscheidende; die holländischen Staaten
nahmen auf, was ihnen Vorteil für Handel und Industrie zu bringen
versprach: Heiden, Juden, Christen, Katholiken und Protestanten.
„Eigenbelang . . . meer nog dan medelijden voor vervolgde geloofs-
genooten . . , (had) zijn deel in de edelmoedige en liefderijke ont-
vangst der vlugtelingen . . .“ W. E. J. Berg, De Refugiös in de
Nederlanden 1, 167 ff.
So kamen unter Maria Tudor 30 000 protestantische Engländer
nach Holland ; während des Dreißigjährigen Krieges zahlreiche Deutsche,
während der spanischen Gewaltherrschaft (also schon im 16. Jahr¬
hundert) Wallonen, Flamländer, Brabanter aus den spanischen Nieder¬
landen; seit ihrer Vertreibung aus Spanien viele Juden; seit dem
16. und namentlich im 17. Jahrhupdert große Massen französischer
Einundseclizigstes Kapitel: Die Fremden
803
Protestanten, deren Zahl man gegen Ende des 17. Jahrhunderts auf
55 — 75 000 schätzte.
Interessant ist nun die Feststellung: daß auch in diesem Lande
die Fremden einen besonders starken Anteil an dem „Aufschwünge
des Wirtschaftslebens“ , heißt also an Begründung und Ausbreitung
des Kapitalismus genommen haben. Wie sehr namentlich der Börsen¬
handel und die Spekulation durch die Juden befördert worden sind,
die die Amsterdamer Börse im 17. und 18. Jahrhundert fast vollständig
beherrschten, habe ich ausführlich in meinem Judenbuche dargetan.
Aber auch die andern Einwanderer nahmen bald eine hervorragende
Stellung in Handel und Industrie ein. So finden wir beispielsweise
einen Franzosen, den „genialen und rastlosen“ Balthasar de Moucheron,
als Begründer von Handelsgesellschaften neben seinem Bruder Melchior,
der ebenfalls ein berühmter Kaufmann war. J. N. de Stoppelaar,
Balthasar de Moucheron (holl.). 1911, zitiert bei S. van Brakei,
De kollandsche Handelscompagnieen der zeventiende eeuw (1908), 4.
Besonders aber — wie fast überall — erwiesen sich die franzö¬
sischen Emigranten geschickt in der Einbürgerung neuer kapitalistischer
Industrien. Ein zeitgenössischer Schriftsteller des 17. Jahrhunderts
stellt fest, daß mehr als zwanzig verschiedene Manufakturen in Holland
von Refugies eingeführt seien. „Hanno introdotto i Rifuggiati l’uso
nel Paese ... di piu di venti specie differenti di Manufatture . . .“
Leti, Teatro belgico 2, 148, bei Berg 1, 212.
Die Blüte Amsterdams führt ein anderer Schriftsteller der Zeit
auf den Einfluß der Fremden zurück. S c i o n schreibt an den Magistrat
von Amsterdem : „toutes ces industries se sont etablies en deux ans
de temps et sans depense . . . Cela remplit de plus en plus la ville
d’habitants, accroit ses revenus publics, affermit ses murailles et ses
boulevards, y multiplie les arts et les fabriques, y etablit les nouvelles
modes , y fait rouler l’argent , y eleve de nouveaux edifices , y iait
fleurir de plus en plus le commerce, y fortifie la rehgion protestante,
y porte encore plus l’abondance de toutes choses . . . Cela enfin con-
tribue ä rendre Amsterdam l’une des plus fameuses villes du monde . . .
Zitiert bei Chr. Weiß, Hist, des Refugies 2, 135/36.
Neben Amsterdam zogen vor allem Leyden und Harlem Vorteil
von ihnen. Die Industrien, die durch die französischen Refugies ge¬
pflanzt wurden, sind, wie üblich, in erster Linie die Textil-(Seiden-)
Industrie, dann die Hutmacherei, die Papierfabrikation, die Buch¬
druckerei. Wir können auch deutlich wahrnehmen, wie gerade immer
die Wendung zur kapitalistischen Organisation auf den Einfluß der
Einwanderer zurückzuführen ist: bis zum 17. Jahrhundert ist das
Handwerk ziemlich intakt; dann setzen — namentlich m der zweiten
Hälfte des Jahrhunderts — die Kontrakte der Städte mit fremden
Unternehmern ein: 1666 Vertrag des Magistrats von Harlem mit einem
Engländer zwecks Errichtung einer Spiegelfabrik, 1678 mit J. J. lecher
zwecks Begründung einer Seidenzwirnerei usw. Einen Überblick über
die Emigrantenindustrie in Holland gibt Berg, 1. c. 1, 109 11. Vg .
Pringsheim, 32 f.
894 Achter Abschnitt: Die Entstehung der Unternehmerschaft
Daß auch in England die kapitalistische Entwicklung wesentlich
gefördert ist durch fremde Einwanderer, ist weniger bekannt und kann
doch nicht in Zweifel gezogen werden. Dahingestellt bleibe, welche
dauernden Spuren die Italiener, die im 14. Jahrhundert England über¬
schwemmten , im englischen Wirtschaftsleben zurückgelassen haben.
Ein so gründlicher Kenner wie Cunningham will beispielsweise in
den ersten englischen Kapitalistenvereinigungen Nachahmungen italie¬
nischer Vorbilder sehen. Sicher aber haben die Einwanderer des 16.
und 17. Jahrhunderts, die namentlich aus Holland und Frankreich
kamen, tiefe Furchen im englischen Wirtschaftsleben gezogen. Ihre
Zahl ist beträchtlich: 1560 sollen schon 10 000, 1563 gar 30 000
flandrische Flüchtlinge in England Aufnahme gefunden haben (nach
dem Berichte des spanischen Gesandten). Mögen diese Ziffern auch
übertrieben sein , so können wir doch annehmen , daß sie von der
Wirklichkeit nicht weit entfernt waren, wie zuverlässige Statistiken
bestätigen: eine Zählung des Lordmayor von London aus dem Jahre
1568 ergibt 6704 Fremde in London, davon 5225 Niederländer; 1571
sind in Norwich 3925 Holländer und Wallonen, 1587 besteht die
Majorität der Bevölkerung (4679) aus ihnen. Quellen bei Douglas
Campbell, The Puritans 1, 269. Es gibt gute Gewährsmänner, die
behaupten, daß mit diesen Niederländern die Geschichte der englischen
Industrie beginne. Beträchtlicher noch war die Zahl der französischen
Flüchtlinge, die namentlich im 17. Jahrhundert, nach England kamen.
Sie wird übereinstimmend von Baird, Poole, Cunningham auf
etwa 80 000 geschätzt , von denen die Hälfte etwa nach Amerika
weitergewandert sein soll. Und zwar waren es gerade die reicheren
Hugenotten, die sich nach England begaben. Jurieu, Lettres pasto-
rales 2 (1688), 451; bei Weiß 1, 132.
Die fremden Einwanderer betätigten nun ihren Unternehmungsgeist
auf den verschiedensten Gebieten des Handels und der Industrie, für
die sie vielfach bahnbrechend geworden sind. Hauptsächlich von ihnen
eingebürgert wurden: die Seidenindustrie, die Schleier- und Battist-
weberei, die Teppichweberei, die Hutfabrikation: früher wurden Hüte
aus Flandern bezogen, Kefugies begründen eine Manufaktur für Filz-
und thrummed liats unter 5 und 6 Ed. VI. 1 ; die Papierfabrikation :
die Erzeugung von Luxuspapier 1598 durch einen Deutschen, Spill-
rnann,. eingeführt; nach einem Gedicht von Thomas Churchyard be¬
schäftigt er 600 Personen; die Glasindustrie: Privileg an Anthony
Been und John Care (Niederländer) für 21 Jahre zur Errichtung,
von Glashütten , „um Glas nach Art des französischen , burgun-
dischen und holländischen zu machen“, 1670 errichten Venetianer
eme große Spiegelglasfabrik; die Eisendrahtfabrikation: 1662 durch
Holländer eingeführt; die Färberei. 1577 zeigt der Portugiese Pero
Vaz Devora den englischen Färbern die Indigofärberei, im 17. Jahr¬
hundert führt der Fläme Kepler die berühmte Scharlachweberei ein
em anderer Fläme, Bauer, bringt (1667) die Wollfärberei zu hoher
Blüte; die Kalikodruckerei: 1690 durch einen Franzosen eingeführt;
die Cambricfabrikation : im 18. Jahrhundert durch einen französischen
Reformierten in Edinburg eingeführt; die Standard-industry Englands :
Einundsechzigstes Kapitel: Die Fremden
895
die Baumwollindustrie wird durch Fremde in Manchester begründet;
die Uhrenindustrie : Holländer machen zuerst Pendeluhren, die Dutch
clocks heißen; Wasserwerke werden für London von einem Italiener,
Genelli, geplant; eine Kompagnie deutscher Unternehmer betreibt im
16. Jahrhundert den Kupferbergbau und die Kupferindustrie; die
Sheffielder Messerindustrie wird erst durch Flämen berühmt gemacht,
und so weiter in langer Folge. Die angeführten Tatsachen nach
J. S. Bum, 1. c. 254 ff.; Cunningham, Alien Immigrants, 178 ff.
212 ff. 235. 263. Vgl. auch Campbell, The Puritans 1, 489 f.,
und W. H. Lecky, Geschichte des 18. Jahrhunderts (deutsche Über¬
setzung) 1, 205 ff. Ich habe nur einen kleinen Auszug aus der Fülle
des Materials gegeben.
Wie groß der Einfluß der fremden Einwanderer auf den Gesamt¬
verlauf auch der schwelgerischen Volkswirtschaft gewesen ist, hat in
meisterhafter Weise schon Traugott Geering in seinem schönen
Buche über Handel und Industrie der Stadt Basel (1886) gezeigt,
dessen neuntes Kapitel die „Locarner und Hugenotten“ behandelt.
Vgl. noch H. Wart mann, Handel und Industrie des Kantons
St. Gallen (1875), 87 ff. Peter Bion — der Begründer der St. Galler
Baumwollindustrie — ist ein typischer Vertreter des unternehmenden
und erfolgreichen „Fremden“.
Daß Rufslands wirtschaftliche Entwicklung im wesentlichen ein
Werk der Fremden ist, ist bekannt.
896
Zweiimdsechzigstes Kapitel
Die Juden
Wenn ich den Juden in dieser genetischen Darstellung des
kapitalistischen Unternehmertums ein besonderes Kapitel widme,
so geschieht es deshalb, weil ihre Kolle, die sie in der Geschichte
des modernen Kapitalismus spielen, in der Tat eine einzigartige
ist: sowohl ihre Betätigung als kapitalistische Unternehmer wie
auch die Gründe ihrer hervorragenden Bedeutung für den Gang
der wirtschaftlichen Ereignisse weisen soviel Besonderheit auf,
daß keine Wirtschaftsgeschichte, die einigen Anspruch auf Voll¬
ständigkeit erhebt, an ihnen vorübergehen kann.
Nun glaube ich in meinem Judenbuche 1 den Nachweis er¬
bracht zu haben , daß die eigentümliche Bedeutung der Juden
für die neuzeitliche Geschichte in der Beförderung desjenigen
Zuges der kapitalistischen Entwicklung zu suchen ist, den ich
die Kommerzialisierung des Wirtschaftslebens genannt habe.
Deren Verallgemeinerung bezeichnet nun aber den Übergang
zum hochkapitalistischen Zeitalter. Die besondere und ent¬
scheidende Bedeutung der Juden muß also darin gefunden
werden, daß ihr em Ein wirken die beschleunigte Über¬
führung frühkapitalistischer Wirtschaftsformen in
hoch kapitalistische zu zu sch reiben ist.
Von dieser Tätigkeit der Juden ist hier, wo wir erst den
Aufbau der frühkapitalistischen Wirtschaft verfolgen, noch nicht
zu handeln.
Irrtümlich wäre nun aber die Annahme, daß die Juden an
diesem ersten Aufbau des Kapitalismus überhaupt keinen Anteil
hätten. Vielmehr finden wir sie auch in der Frühzeit der modernen
Wirtschaft sehr rege als Unternehmer tätig, wie ich das in meinem
genannten Buche ebenfalls ausführlich dargestellt habe. Und
auch in dieser Zeit lassen sich schon bestimmte , den Juden
eigentümliche Formen der wirtschaftlichen Tätigkeit aufzeichnen,
in denen gleichsam die Keime ihrer späteren welthistorischen
Mission gelegen sind.
1 Di© Juden und das Wirtschaftsleben. 1911.
Zweiundsechzigstes Kapitel: Die Juden
897
Folgendes sind
I. die wichtigsten Leistungen der Juden als Unter¬
nehmer
im frühkapitalistischen Zeitalter:
1. Die Belebung des internationalen Wareuliandels
Bedeutend1 ist der Anteil, den die Juden an der Neugestaltung
des Handels genommen haben, wie sie sich seit der Verschiebung
des Wirtschaftsgebietes vollzieht. Bedeutend zunächst durch die
offenbar rein quantitativ hervorragende Beteiligung
an den bewirkten Warenumsätzen.
So soll sich der Umfang des Handels der Juden, schon vor
ihrer Zulassung, also in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts,
auf ein Zwölftel des gesamten englischen Handels belaufen
haben2. Leider erfahren wir nicht, welcher Quelle diese Ziffer
entnommen ist. Daß sie aber nicht allzuweit von der Wirklich¬
keit sich entfernt, beweist eine Angabe, die wir in einer Denk¬
schrift der Londoner Kaufleute finden. Es handelte sich darum,
ob die Juden den Fremdenzoll auf Einfuhrgüter zahlen sollten
oder nicht. Die Denkschreiber meinen, wenn er aufgehoben
würde, würde die Krone einen Verlust von jährlich mindestens
10000 ü7 erleiden3 * *.
Auffallend gut sind wir unterrichtet über die Beteiligung der
Juden an der Leipziger 3Iesse, die ja lange Zeit hindurch der
Mittelpunkt des deutschen Handels war und für dessen intensive
und extensive Entwicklung einen guten Gradmesser bildet, die
aber auch für einige der angrenzenden Länder, namentlich Polen
und Böhmen, eine wichtige Rolle gespielt hat. Hier auf der Leip¬
ziger Messe finden wir nun seit dem Ende des 17. Jahrhunderts in
wachsendem Umfange Juden als Meßfieranten, und die Bearbeiter
des Ziffernmaterials kommen sämtlich dahin überein, daß die
Juden es seien, die den Glanz der Leipziger Messe begründet
haben. Überblicken wir den ganzen Zeitraum von 1767—1839,
so zeigt sich, daß die Messen durchschnittlich im Jahre von 3185
jüdischer Meßfieranten besucht waren , denen 13005 Christen
1 Für alle Einzelheiten verweise ich auf mein Buch: Die Juden
und das Wirtschaftsleben, Seite 25 ff.
2 Alb. M. Hyamson, A History of the Jews in England
(1908), 178.
8 Blossiers Tovey, Anglia Judaica (1788).
Sombart, Der moderne Kapitalismus. I.
57
898 Achter Abschnitt: Die Entstehung dev Unternehmerschaft
gegenüberstellen: die Zahl betrug demnach 24,49 °/o oder fast
ein Viertel von der der christlichen Kaufleute. In einzelnen
Jahren, wie z. B. zwischen 1810' und 1820 steigt das Verhältnis
der Juden zu den Christen bis auf 4896 Juden, 14366
Christen h
Während des 16. und 17. Jahrhunderts bis tief ins 18. hinein
bildeten der Levantehandel und der Handel mit und über Spanien-
Portugal noch die bei weitem wichtigsten Zweige des Welthandels.
Siehe den 6. Hauptabschnitt des 2. Bandes. Auf diesen Handels¬
wegen spielten aber die Juden die führende Holle. Schon von
Spanien aus hatten sie den größten Teil des Levantehandels in
die Hände bekommen; schon damals hatten sie überall in den
levantinischen Seeplätzen Kontore. Bei der Vertreibung aus
der Pyrenäenhalbinsel ging ein großer Teil der Spaniolen selbst
in den Orient; ein anderer Teil zog nordwärts und somit glitt
ganz unmerklich der Orienthandel zu den nordischen Völkern
hinüber. Ebenso leiteten sie den neuentstehenden Kolonialhandel,
soweit er über Spanien und namentlich Portugal ging , nach
Norden und machten dadurch zunächst Antwerpen zum Welt¬
handelsplatz.
Später wird Holland durch die Knüpfung dieser Beziehungen
erst eine Welthandelsmacht. Das Netz des Welthandels wurde
größer und engmaschiger genau in dem Maße , wie die Juden
ihre Kontore an entferntere und in näher beieinander liegende
Orte verlegten1 2. Zumal dann, als der Westen der Erde in den
Welthandel einbezogen wurde.
Einen interessanten Bericht des Magistrats von Antwerpen an den
Bischof von Utrecht vom 30. Sept. 1546 lesen wir bei J. Nanninga
Uitterdigk, Een Kamper Handelshuis te Lissabon (1904), LXIV f.
Darin wird- ganz unumwunden ausgesprochen, daß die Marranen die
Begründer des großen Überseehandels namentlich in Kolonialwaren
seien, daß das kommerzielle Aufblühen der Niederlande — ihnen ge¬
schuldet sei: „on veoit par experience que la pluspairt des navires
qu’arriverent en Zelande et la dicte ville d’Anvers du costel de Wetst,
1 Rieh. Markgraf, Zur Gesell, der Juden auf den Messen in
Leipzig usw. (1894). Max Freudenthal, Leipziger Meßgäste, in
der Monatsschrift für die Gesch. des Jud. 45 (1901), 460 lf.
2 Über diese Zusammenhänge spricht ausführlich H. J. Koenen,
Geschiedenes der Joden in Nederland (1843), 176 ff. Zu vergleichen
etwa noch H. Sommershausen, Die Geschichte der Niederlassung
der Juden in Holland und den holländischen Kolonien, in der Monats¬
schrift Band 2.
Zweiuudsechzigstes Kapitel. Die Juden
899
est de Portugal et des Isles d’Algarbe et le conduysent et le font
venir icliy les dicts nouveaulx Chrestiens.“ 1. c. p. LXV. Um welche
Umsätze es sich handelte, ersehen wir aus folgenden Zilfern: Diego
Mendes hat an Pfeifer und andern Gewürzen auf Lager :
für seinen Bruder .... für 60 000 duc.
„ Georg Lopez . . 50 000 „
„ Diego Rodriguez Pinto . „ 48 000 „ h c. LXIII.
Durch die Artbeschaffenheit ihres Handels fast noch
mehr als durch dessen Umfang gewinnen sie großen Einfluß auf
die Gesamtgestaltung des Wirtschaftslebens, wirken sie teilweise
revolutionierend auf die alten Lebensformen ein.
Da tritt uns zunächst die bedeutsame Tatsache entgegen, daß
die Juden den Handel mit wichtigen Luxuswaren lange Zeit
hindurch so gut wie monopolisiert haben. Und während des
aristokratischen 17. und 18. Jahrhunderts bedeutete dieser Handel
das meiste. Die Luxusgegenstände, über die die Juden vor allem
verfügten, sind Bijouterien, Edelsteine, Perlen, Seide und Seiden¬
waren: Bijouterien aus Gold und Silber, weil sie von jeher den
Edelmetallmarkt beherrscht hatten; Edelsteine und Perlen, weil
sie die Fundstätten (namentlich Brasilien) als die ersten besetzt
hatten ; Seide und Seidenwaren wegen ihrer uralten Beziehungen
zu den östlichen Handelsgebieten.
Juwelen- und Perlenhandel: in Hamburg: v. Gries¬
heim, Die Stadt Hamburg (1759), 119. Holland (Begründer der
Diamantenschleiferei !) : Jewisch Enc. Art. Netherlands 9, 231.. E. E.
Danekamp, Die Amsterdamer Diamantindustrie. 1895, zitiert bei
N. W. Goldstein, Die J. in der Amsterdamer Diamantenindustrie
(Zeitschrift f. Dem. u. Stat. d. J. 3, 178 ff.); in Italien: Dav. Kauf¬
mann, Die Vertreibung der Marranen aus Venedig usw. (Jew. Quart.
Rev. 13, 520 ff.) _ _ , , ,
Handel mit Seide und Seidenwaren: Die Juden haben
jahrtausendelang den Seidenhandfel (und die Seidenzucht) gepflegt. Sie
bringen die Seidenindustrie aus Griechenland nach Sizilien und später
nach Spanien und Frankreich. Einiges bei Graetz, Gesell, d. J.
5 2 244. Im 16. Jahrhundert finden wir sie als Herren des Seiden¬
handels in Italien: Dav. Kaufmann, a. a. O.; im 18. Jahrhundert
in Frankreich, dem Zentrum der Seidenindustrie sowie des beiden-
und Seidenwarenhandels. Im Jahre 1760 nennt der Vorstand der
Lyoner Seidenzunft die jüdische Nation „Maitresse du commerce de
toutes les provinces“ (für Seide nnd Seidenwaren). Bei J. G o d ar t,
L’ouvrier en soie (1899), 224. 1755 gibt es 14, 1759 22 jüdische
Seidenwarenhändler in Paris. Kahn, Juifs de Paris sous Louis XIV,
63. In Berlin beherrschten sie diesen Handelszweig zusammen mit
den französischen Emigranten fast ausschließlich, wie folgende Ziffern
erweisen. In dem Halbjahr vom 1. August 1753 bis Januar 1 <.54
haben in Berlin:
900 Achter Abschnitt : Die Entstehung der Unternehmerschaft
an ausländischen Seiden- aus den Berliner und Pots¬
waren eingebracht damer Fabriken entnommen
christliche Kaufleute für 8 225 Tlr. 2 522 Tlr.
jüdische „ „ 22135 „ 22473 „
Ber. d. Gen. -Dir. vom 11. März 1754. Acta bor. Seidenindustrie.
Bd. I Nr. 343. Vgl. Nr. 360.
Auf der andern Seite finden wir die Juden überall dort mit,
überragendem Einfluß am Handel beteiligt, wo es den Vertrieb
von Massenprodukten gilt. Einige der großen Stapelartikel
der neuen Zeit, wie Getreide, Wolle, Flachs, später Spiritus,
Tabak und namentlich Zucker haben sie vornehmlich zu Markte
gebracht.
Stark aufreizend und umstürzend wirkte auf den Gang des
Wirtschaftslebens dann aber vor allem der Handel mit neuen, alte
Verfahrungsweisen revolutionierenden Artikeln ein, an
dem wiederum die Juden offenbar einen besonders starken Anteil
hatten. Ich denke an den Handel mit Baumwolle 1, ausländischen
Baumwollwaren (Kattunen)2, Indigo3 usw.. Die Vorliebe für
solche Artikel, die man nach damaliger Denkweise als Stören¬
friede der heimischen „Nahrung“ empfand, trug dem Handel
der Juden wohl gelegentlich den Vorwurf des „unpatriotischen
Handels“ ein, des „Judenkommerz, welches wenige deutsche
Hände nützlich beschäftigt und größtenteils auf der inländischen
V erzehrung beruht 4 “ .
Was das „ Judenkommerz“ sonst noch kennzeichnete und es
vorbildlich für allen Handel machte, der dadurch in neue Bahnen
gelenkt wurde, war die Mannigfaltigkeit und Reich¬
haltigkeit der gehandelten Waren. Als sich die Kauf¬
leute von Montpellier über die Konkurrenz beschweren, die ihnen
die jüdischen Händler bereiteten, ahtwortetete ihnen der Intendant
(1740): wenn sie, die Christen, ebenso wohlassortierte Lager hätten
1 Artikel „America“ TJ.S.A. in der Jew. Encycl. 1, 495 ff.
2 Nachweislich z. B. für Hamburg: A. Feilchenfeld, Anfang
und Blütezeit der Portugiesengemeinde in Hamburg, in der Zeitschr.
d. V. f. Hamb. Gesch. 10, 211.
8 Moses Lindo, Hauptförderer der Indigogewinnung; kommt 1756
nach Süd-Carolina und legt 120 000 £ in Indigo an. Von 1756 bis
1776 verfünffacht sich die Indigoproduktion. L. wird Generalinsjoektor
des Indigo. B. A. Eigas, The Jews of South Carolina. 1903; zit.
im Art. South Carolina der Jew. Encycl.
- 4 Risbeck, Briefe usw. (1780). Auszüge bei H. Scheube, Aus
den Tagen unserer Großväter (1873), 382 ff.
Zweiundsechzigstes Kapitel: Die Juden
901
wie die Juden, würde die Kundschaft schon ebenso gern zu ihnen
kommen wie zu den jüdischen Konkurrenten1. Und von der
Tätigkeit der Juden auf den Leipziger Messen entwirft uns Rieh.
Markgraf in seinem Schlußwort folgende Schilderung2 *: „Fürs
zweite wirkten sie (die jüdischen Fieranten) fördernd auf die Me߬
geschäfte durch die Mannigfaltigkeit ihrer Einkäufe, insofern sie
dadurch den Meßhandel immer vielseitiger gestalteten und die
Industrie, besonders die inländische, zu immer größerer Mannig¬
faltigkeit in der Produktion anspornten. Auf vielen Messen waren
die Juden wegen ihrer verschiedenen und umfangreichen Ein¬
käufe sogar ausschlaggebend.“
Worin ich aber vor allem die Bedeutung sehe, die das „Juden¬
kommerz“ während der frühkapitalistischen Epoche für die meisten
Volkswirtschaften gewann, ist der Umstand, daß die Juden ge¬
rade diejenigen Uandelsgebiete fast ausschließlich beheirschten,
aus denen große Mengen Bargeld zu holen waren : also die
neuerschlossenen Silber- und Goldländer (Mittel- und Südamerika),
sei es im direkten Verkehr, sei es auf dem Umwege über Spanien
und Portugal. Oft genug hören wir denn auch berichten, daß
die Juden bares Geld ins Land hineinbringen8. Begründung der
modernen Volkswirtschaft hieß aber zu einem guten Teile Herbei¬
ziehung von Edelmetallen, und daran war niemand so sehr be¬
teiligt als die jüdischen Kaufleute.
2. Der Anteil an der Kolonisierung Amerikas4 * * *
Es ist nur natürlich, daß die Juden bei allen kolonialen
Gründungen stark beteiligt gewesen sind (da ihnen die neue
Welt, wenn sie auch nur eine alte ummodelte, immer mehr
Lebensglück in Aussicht stellte als das mürrische alte Europa,
zumal seit hier das letzte Dorado sich auch als unwirtliches
1 Text bei Bloch, Les juifs (1899), 36.
2 Rieh. Markgraf, a. a. 0. S. 93. .
8 Siehe z. B. Alb. M. Hyamson, Hist, of the Jews m England,
174 f. 178, oder den Bericht des Magistrats von Antwerpen an den
Bischof von Arras bei Sal. Ullmann, a. a. 0. 8. 35 („große Reich-
tümer haben sie aus ihrer Heimat mitgebracht, insbesondere Silber,
Juwelen und viele Dukaten“). Vgl. hierzu den 6. Hauptabschnitt des
4 Zur Ergänzung meiner Darstellung in meinem Judenbuche dient
ietzt die an jene Darstellung anknüpfende Studie von Herrn. W atj en,
Das Judentum und die Anfänge der Kolonisation, im 11, Bande der
Vierteljahrschrift f, Soz.- u. WG,
902
Achter Abschnitt : Die Entstehung der Unternehmerschaft
Land erwiesen hatte). Das gilt für den Osten ebenso wie für
den Westen und für den Süden der Erde.
Bei weitem das wichtigste Kolonisationsgebiet der Juden aber
sind Mittel- und Südamerika, namentlich die sogenannten
„ Zuckerkolonien “ .
Die ersten Kaufleute in dem neuentdeckten Amerika waren
Juden. Die ersten industriellen Anlagen in den amerikanischen
Kolonien rührten von Juden her. Schon 1492 lassen sich portu¬
giesische Juden in St. Thomas nieder und beginnen hier die
Plantagenwirtschaft im Großen : sie errichten zahlreiche Zucker¬
fabriken und beschäftigen bald 3000 Negersklaven. Der Zu¬
strom der Juden nach Südamerika gleich nach der Entdeckung
war so groß, daß im Jahre 1511 die Königin Johanna es für
notwendig erachtete, dagegen einzuschreiten. Offenbar aber blieb
diese Verordnung ohne Wirkung, denn der Juden drüben wurden
immer mehr. Durch Gesetz vom 21. Mai 1577 wurde dann end¬
lich das Verbot der gesetzlichen AusAvanderung in die spanischen
Kolonien formell aufgehoben.
Um die rege Wirksamkeit, die die Juden als Begründer des
kolonialen Handels und der kolonialen Industrie in dem Bereiche
südamerikanischen Gebietes entfalteten, ganz würdigen zu können,
tut man gut, das Schicksal einiger Kolonien im einzelnen zu
verfolgen.
Die Geschichte der Juden in den amerikanischen Kolonien und
damit deren Geschichte selbst zerfällt in zwei große Abschnitte , die
gebildet werden durch die Vertreibung der Juden aus Brasilien (1654).
Wie die Juden gleich nach der Entdeckung im Jahre 1492 in
S. Thome die Zuckerindustrie begründen, wurde schon erwähnt. Um
1550 finden wir diese Industrie auf der Insel schon in voller Blüte:
60 Plantagen, mit Zuckermühlen und Siedepfannen versehen, erzeugen,
wie der an den König entrichtete Zehnte ausweist, jährlich 150 000
Arroben Zucker (ä 25 Pfd.). Kitter, Über die geographische Ver¬
breitung des Zuckerrohrs in den Berichten der Berl. Akad. 1839, 397 (?),
bei Lippmann, Gesch. d. Zuckers (1890), 249. Von hier aus oder
von Madeira aus (nach Max J. Köhler, Phases of Jewish Life in
New York before 1800 [Am. Jew. Hist. Soc. 2, 94]), wo sie ebenfalls
seit langem die Zuckerindustrie betrieben, verpflanzen die Juden diesen
Industriezweig in die größte der amerikanischen Kolonien : nach Bra¬
silien, das damit in seine erste Blüteperiode — die durch die Vor¬
herrschaft der Zuckerindustrie bestimmt wird — eintritt.
Das Menschenmaterial für die neue Kolonie lieferten in der ersten
Zeit fast ausschließlich Juden und Verbrecher, von denen jährlich
zwei Schiffsladungen von Portugal hinübergehen. Jew. Enc. Art.
„America“. Vgl. G. Al. Kohut, Les Juifs dans les colonies hol-
Zweiundsechzigstes Kapitel: Die Juden
903
landaises in der Rev. des etudes juives dl (1895), 293 f. Die Juden
werden sehr bald die herrschende Kaste: „ein nicht geringer Teil dei
wohlhabendsten brasilianischen Kaufmannschaft bestand aus , neuen
Christen1. H. Handelmann, Gesch. v. Brasilien (1860), 412. Einer ihres
Volksstammes war es auch, der als erster Generalgouverneur die Ver¬
waltung der Kolonie in Ordnung brachte: in der Tat begann die neue
Besitzung erst recht in Blüte zu kommen, als man im Jahre 1549
Thome de Souza, einen Mann von hervorragenden Eigenschaften, hinüber¬
schickte. P. M. Net scher, Les Hollandais au Bresil (1853), 1.
Über die reiche, jüdische Familie der Souza: M. Kayserling, Gesch.
der J. in Portugal (1867), 307; M. Grunwald, Portugiesengräber
(1902), 123. Aber ihren vollen Glanz beginnt die Kolonie erst zu ent¬
falten, als sie (1624) in die Hände der Holländer übergeht und nun
die reichen holländischen Juden anfangen, hinüberzuströmen.. 1624
vereinigen sich zahlreiche amerikanische Juden und gründen in Bia-
silien eine Kolonie, in die 600 angesehene Juden von Holland hei
übersiedeln. Max J. Köhler, Pliases etc. Transactions 2, 94. Noch
in dieser ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts waren alle großen Zucker¬
plantagen in den Händen von Juden (Jew. Enc. Art. „America“), von
deren umfassender Wirksamkeit und von deren Reichtum uns die
Reisenden berichten. So äußert sich Nienhoff, der Brasilien 1640 bis
1649 bereiste, wie folgt: Among the free inhabitants of Brazil that
were not in the (Dutsch West India) Companys Service the Jews
were the most considerable in number, who had transplanted themselves
thither from Holland. They had a vast traffic beyond all the rest,
they purchased sugar-mills and built stately houses in the Receif.
They were all traders , which would have been of great consequence
to the Dutsch Brazil had they kept themselves within the due bounds
of traffic“. Und in F. Pyrards Reisebericht lesen wir: „The profits
they make after being nine or ten years in those lands are marvellous,
for they all come back rieh.“ Transactions 2, 95. Vgl. auch Netscher
1. c. p. 103. . , . ,
Diese Vorherrschaft des jüdischen Elements im Plantagenbetrieb
überdauerte die Episode der holländischen Herrschaft über Brasilien
und dehnte sich — trotz der „Vertreibung“ (Eine eigentliche Ver¬
treibung fand nicht statt. Den Juden wurde in dem Friedensvertrage
von 1654 sogar Amnestie gewährt; dann aber wurde die Bemerkung
hinzugefügt: „Juden und andere Nichtkatholiken sollen wie in Portugal
behandelt werden“. Das genügte ja! Der Friedensvertrag ist im Wort¬
laut abgedruckt bei Aitzema, Historia etc. 1626 ff., zit. bei Netscher
a. a. O. p. 163) der Juden im Jahre 1654 — bis in das 18. Jahr¬
hundert aus. Jedenfalls erfahren wir noch aus der ersten Hälfte des
18. Jahrhunderts (H. Handelmann, Gesch. v. Brasil., 412/13): ein¬
mal als mehrere der angesehensten Kaufleute von Rio de Janeiro
dem Heiligen Amte (der Inquisition !) in die Hände fielen, stockte der
Betrieb auf so vielen Plantagen, daß Produktion und Handel der Pro¬
vinz (sc. Bahia) sich erst nach längerer Zeit von diesem Schlage er¬
holen konnte“. Durch Dekret vom 2. März 1768 werden dann alle
Register über die neuen Christen zur Vernichtung eingeliefert; durch
904 Achter Abschnitt: Die Entstehung der Unternehmerschaft
Gesetz von 25. März 1773 werden die „neuen Christen“ in bürger¬
licher Hinsicht den alten Christen vollkommen gleichgestellt. Es
haben sich also offenbar wieder zahlreiche Kryptojuden auch nach der
Besitzergreifung des Landes durch die Portugiesen im Jahre
1654 in Brasilien an hervorragender Stelle erhalten und haben dem
Lande zu seiner Zuckerblüte dann noch die Edelsteinblüte gebracht,
da sie den Handel mit Edelsteinen sehr bald ebenfalls sich unter¬
warfen.
Aber darum bleibt das Jahr 1654 in der jüdisch-amerikanischen
Geschichte doch von epochaler Bedeutung. Denn ein sehr großer Teil
der brasilianischen Juden wandte sich doch damals anderen Gebieten
Amerikas zu und verlegte dadurch das wirtschaftliche Schwergewicht
dorthin.
Vor allem sind es nun aber einige wichtige Teile des westindischen
Archipels und der angrenzenden Küste, die durch die Erfüllung mit
jüdischem Wesen seit dem 17. Jahrhundert erst recht zur Blüte kommen.
So Barbados , das fast nur von Juden bevölkert wurde. Es war 1627
von den Engländern in Besitz genommen worden; 1641 wurde das
Zuckerrohr eingeführt; 1648 begann der Zuckerexport. Die Zucker¬
industrie konnte sich aber nicht behaupten, da die Zucker wegen ihrer
schlechten Qualität die Transportkosten nach England nicht deckten.
Erst die aus Brasilien vertriebenen „Holländer“ führten daselbst eine
regelmäßige Fabrikation ein und lehrten die Einwohner, trockenen
und haltbaren Zucker zu bereiten, dessen Ausfuhr alsbald in raschem
Maße zunahm. 1661 konnte schon Karl II, 13 Besitzer, die aus
Barbados eine Einnahme von 10 000 £ bezogen, zu Baronen eimennen,
und um 1676 war die Insel bereits imstande, jährlich 400 Schiffe mit
je 180 t Rohzucker zu beladen. John Camden Hatten, The
Original Lists etc. (1874), p. 449; Ligon, History of Barbados,
1657, zit. bei Lippmann, Gesch. d. Zuck. (1890), 301 ff.; Reed,
The History of sugar and sugar yielding plants (1868), 7 dsgl.; Morely ,
Abhandlung über den Zucker, deutsch von Nöldechen (1800) dsgl.;
M.’ Cu 11 och, Dict. of Commerce 2, 1087. Zu vergleichen sind
natürlich auch die allgemeinen kolonialhistorischen Werke also vor
allem etwa C. P. Lucas, A historical Geography of the British
Colonies , z. B. 22 (1905), 121 f. 274. 277.
Von Barbados führte 1664 Thomas Modyford die Zuckerfabrikation
nach Jamaica ein, das damit rasch zu Reichtum gelangte. 1656
hatten es die Engländer den Spaniern endgültig entrissen. Während
es damals nur drei kleinere Siedereien auf Jamaica gab, waren 1670
schon 75 Mühlen im Betriebe, deren manche 2000 Ztr. Zucker er¬
zeugten und im Jahre 1700 war Zucker der Hauptartikel Jamaicas
und die Quelle seines Wohlstandes. Wie stark die Juden an dieser
Entwicklung beteiligt waren, schließen wir aus der Tatsache, daß
schon 1671 von den christlichen Kaufleuten bei der Regierung der
Antrag auf Ausschließung gestellt wird, der aber nur die Wirkung
hat, daß die Ansiedlung der Juden von der Regierung noch mehr be¬
fördert wird. Der Governor verwarf die Petition mit den denkwürdigen
Worten: „he was of opinion that His Majesty could not have more
Zweiundsechzigstes Kapitel: Die Juden
905
profitable subjects than tbe Jews and the Holländers ; they bad great
Stocks and correspondance“. Brief des Gouverneurs vom 17. 12. 1671
an den Staatssekretär Lord Arlington bei M. Kayserling in dem
unten zitierten Aufsatz p. 710. So kam es, daß die Juden aus
Jamaica nicht ausgewiesen wurden, vielmehr „they became the first
traders and merchants of the English colony“. Monumental Inscriptions
of the British West Indies coli, by Capt. J. H. Lawrence Archer.
Introd. p. 4 bei Köhler, Jew. Life a. a. 0. p. 98. Im 18. Jahr¬
hundert tragen sie alle Steuern und haben Industrie und Handel
größtenteils in ihren Händen. M. Kayserling, The Jews in
Jamaica etc., in The Jewish Quarterly Review 12 (1900), 708 ff. ;
Alb. M. Hyamson, A. Hist, of de Jews in England, Ch. XXVI.
Viel Belege aus zeitgenössischen Queilen bei Max J. Köhler,
Jewish activity in American Colon. Commerce in den Publ. 10, 59 ff. ;
derselbe, Jew. Life etc., Am. Jew. Hist. Soc. 2, 98-
Von den übrigen englischen Kolonien bevorzugten sie inbesondere
Surinam. Hier saßen seit 1644 Juden, die bald mit Privilegien
ausgestattet wurden, „whereas we have found that the Hebrew na-
tion . . have . . proved themselves useful and beneficial to the colony“.
Diese bevorzugte Lage dauerte natürlich an, als Surinam (1667) von
England auf Holland überging. Ende des 17. Jahrhunderts ist ihr
numerisches Verhältnis wie 1 zu 3. Sie besitzen 1730 von den 344
Plantagen in Surinam, auf denen meist Zucker gebaut wurde, 115.
Die wichtigste Quelle für die Geschichte der Juden in Surinam
ist der Essai sur la Colonie de Surinam avec l’histoire de la
Nation Juive Portugaise y etablie etc., 2 Vol. Paramaribo 1788.
Koenen, der in seiner Geschiedenes der Joden in Nederland (1843),
313 f. einiges daraus mitteilt, nennt ihn „de hoofdbron . . . voor de
geschiedenes der Joden in die gewesten“. Leider habe ich das Origi¬
nal selbst nicht einsehen können. Die neuere Literatur hat viel neues
Material zutage gefördert: Rieh. Gottheil, Contributions to the
history of the Jews in Surinam (Publ. 9 , 129 ff.) ; enthält Auszüge
aus den Katasterkarten; J. S. Roos, Additional Notes on the History
of de J. of S. (Publ. 13, 127 ff.); P. A. Hilfman, Some further
Notes on the History of the J. in S. (Publ. 16, 7 ff.). Uber die Be¬
ziehungen zwischen S. und Guianar Sam. Oppenheimer, An early
Jewish Colony in Western Guiana 1658 — 1666 and its relation to the
Jews in Surinam, Cayenne and Tobago. (Publ. 16, 95 186). Vgl.
auch Hyamson 1. c. Ch. XXVI und C. P. Lucas 1. c.
Dasselbe Bild wie die englischen und holländischen Kolonien ge¬
währen die wichtigeren französischen: Martinique, Guadeloupe, S. Do¬
mingo. Auch hier ist die Zuckerindustrie die Quelle des „Wohlstan¬
des“ und auch hier sind die Juden die Beherrscher dieser Industrie
und des Zuckerhandels.
In Martinique wurde die erste große Plantage und Siederei 1655
von Benjamin Dacosta angelegt, der dorthin mit 900 Glaubensgenossen
und 1100 Sklaven aus Brasilien geflüchtet war.
In S. Domingo wurde die Zuckerindustrie schon 1587 begonnen, aber
erst die „holländischen“ Flüchtlinge aus Brasilien bringen sie in Blüte.
906 Achter Abschnitt: Die Entstehung der Unternehmerschaft
Über Juden in Martinique , Guadeloupe und S. Domingo: Lippmann,
Gesch. d. Zuckers (1890), 301 ff., wo auf Quellen und frühere Literatur
verwiesen ist. Ab. Cahen, Les juifs de la Martinique au XVII sc.
(Revue des etudes juives Vol. II); idem, Les juifs dans les Colonies
fran^aises au XVIII sc. (Revue Vol. IV. V.). Handelmann,
Geschichte der Insel Hayti. 1856.
Man muß sich nun immer vor Augen halten, daß in jenen kriti¬
schen Jahrhunderten, als die amerikanische Kolonialwirtschaft begründet
wurde , die Zuckergewinnung (außer natürlich der Silberproduktion
und der Gewinnung von Gold und Edelsteinen in Brasilien) das Rück¬
grat der ganzen kolonialen Volkswirtschaft und damit indirekt der
einheimischen Volkswirtschaft bildete, wie ich im 6. Hauptabschnitt des
2. Bandes ziffernmäßig nachzuweisen versuchen werde.
•i. Die Kriegslieferungen
Eine ganz hervorragende Rolle haben jüdische Händler
während der Jahrhunderte, in denen der moderne Staat empor-
kommt, als Lieferanten des Heeresbedarfs gespielt, so daß man
fast sagen kann: dieser Geschäftszweig sei durch sie erst recht
entwickelt, wie er es auf der andern Seite gewesen ist, der sehr
viele Juden in die Höhe gebracht hat.
Wir begegnen ihnen zunächst in England während des 17.
und 18. Jahrhunderts in der gedachten Eigenschaft. Während
des Commonwealth ist der bei weitem bedeutendste Heeres¬
lieferant Ant. Fern. Carvajal , „the great Jew“ , der zwischen
1630 und 1635 in London einwandert und sich bald zu einem
der leitenden Kaufleute des Landes aufschwingt. Ln Jahre 1649
gehört er zu den fünf Londoner Kaufleuten, denen der Staatsrat
die Getreidelieferung für das Heer überträgt1. Er soll jährlich
für 100 000 E Silber nach England gebracht haben. In der darauf¬
folgenden Periode, namentlich in den Kriegen Wilhelms III., tritt
als „the great contractor“ vor allem Sir Solomon Medina, „the
Jew Medina“, hervor, der daraufhin in den Adelstand erhoben
wird: er ist der erste (ungetaufte) adlige Jude in England2.
Und ebenso sind es Juden, die auf der feindlichen Seite im
spanischen Erbfolgekriege die Heere mit dem Nötigen versorgen :
„Und bedient sich Frankreich jederzeit ihrer Hiilffe, bey Krieges-
1 Luc. Wolf, The First English Jew. Repr. from the Transac¬
tions of the Jew. Hist. Soc. of England. Vol. II. Zu vergleichen
Alb. M. Hyamson, A Hist, of the Jews in E., 171—173.
2 Hyamson 1. c. p. 269. J. Picciotto, Sketches of Anglo-
Jewish History (1875), 58 ff.
Zweiundsechzigstes Kapitel: Die Juden
907
Zeiten seine Reuterey beritten zu machen.“ 1 1716 berufen sich
die Straßburger Juden auf die Dienste, die sie der Armee Lud- _
wigs XIV. durch Nachrichten und Proviant geleistet haben2.
Jacob Worms hieß der Hauptkriegslieferant Ludwigs XIV3. Im
18. Jahrhundert treten sie dann in dieser Eigenschaft in Frank¬
reich immer mehr hervor. Im Jahre 1727 lassen die Juden von
Metz innerhalb von sechs Wochen 2000 Pferde zum Verzehr und
mehr als 5000 als Remonte in die Stadt kommen4. Der Marschall
Moritz von Sachsen, der Sieger bei Font-enoy, äußerte: daß seine
Armeen niemals besser verproviantiert gewesen seien, als wenn
er sich an die Juden gewandt hätte5. Eine als Lieferant hervor¬
ragende Persönlichkeit zur Zeit der beiden letzten Ludwige w’ ai
Cerf Beer, von dem es in seinem Naturalisationspatent heißt:
„que la derniere guerre ainsi que la disette, qui s est fait sentir
en Alsace pendant les annees 1770 et 1771 lui ont donne 1 occasion
de donner des preuves de zele dont il est anime pour notre
Service et celui de l’Etat.“ 6 Ein Wblthaus ersten Ranges im
18. Jahrhundert sind die Gradis von Bordeaux: der Abraham
Gradis errichtete in Quebec große Magazine, um die in Amerika
fechtenden französischen Truppen zu versorgen7. Eine hervor¬
ragende Rolle spielen die Juden in Frankreich als Fournisseure
unter der Revolution, während des Direktoriums und auch in
den napoleonischen Kriegen 8. Ein hübscher Beleg für ihre über¬
ragende Bedeutung ist das Plakat, das 1795 in den Straßen von
Paris angeschlagen wurde, als dieses von einer Hungersnot be¬
droht war, und in dem die Juden aufgefordert wurden, sich für
die ihnen von der Revolution verliehenen Rechte dadurch er¬
kenntlich zu erweisen , daß sie Getreide in die Stadt kommen.
1 Th. L. Lau, Einrichtung der Intraden und Einkünfte der Sou¬
veräne usw. (1719), 258.
2 Angeführt bei Liebe, Das Judentum (1903), 75.
3 Artikel Banking in der Jew. Enc.
4 Memoire der Juden von Metz vom 24. 3. 1733, im Auszuge ab¬
gedruckt bei Bloch 1. c. p. 35.
5 Angeführt bei Bloch 1. c. p. 23.
6 Auszüge aus den Lettres patentes bei Bloch 1. c. 24.
^ Über die Gradis: Theoph. Malve zin, Les juifs ä Bordeaux
11875') 241 ff. und H. Grätz, Die Familie Gradis in der Monats¬
schrift ’ 24 (1875), 25 (1876). Beide, auf guten Quellen fußenden,
Darstellungen sind unabhängig voneinander.
8 M. Capefigue, Banquiers, fourmsseurs etc. (1856), 68., «14
und öfters.
908 Achter Abschnitt: Die Entstehung der Unternehmerschaft
ließen. „Eux seuls“, meint der Verfasser des Plakats, „peuvent
mener cette entreprise ä bonne fin, vu leurs nombrenses relations,
dont ils doivent faire profiter leurs concitoyens.“ 1
Ein äh n lieb es Bild: wie im Jahre 1720 der Hofjude Jonas
Meyer durch Herbeischaffung großer Mengen von Getreide (der
Chronist spricht von 40 000 Scheffeln) Dresden vor einer Hungers¬
not bewahrte2.
Auch in Deutschland finden wir die Juden frühzeitig und
oft ausschließlich in den Stellungen der Heereslieferanten. Im
16. Jahrhundert ist da der Isaak Meyer, dem Kardinal Albrecht
bei seiner Aufnahme zu Halberstadt 1537 mit Rücksicht auf die
bedrohlichen Zeitläufte die Bedingung stellt: „unser Stift mit
gutem Geschütz, Harnisch, Rüstung zu versorgen“ ; und der Josef
von Rosheim, der 1548 einen kaiserlichen Schutzbrief empfängt,
weil er dem König in Frankreich Geld und Proviant für das
Kriegsvolk verschafft hatte. Im 17. Jahrhundert (1633) wird
dem böhmischen Juden Lazarus bezeugt, daß er „Kundschaften
und Avisen, daran der Kaiserlichen Armada viel gelegen, ein¬
holte oder auf seine Kosten einholen ließ, und sich stets be¬
mühte, allerlei Kleidung und Munitionsnotdurft der Kaiserlichen
Armada zuzuführen“.3 Im Jahre 1546 begegnen wir böhmischen
Juden, die Decken und Mäntel an das Kriegsheer liefern4. Der
große Kurfürst bediente sich der Leimann Gompertz und Salomon
Elias „bei seinen kriegerischen Operationen mit großem Nutzen,
da sie für die Notwendigkeiten der Armeen mit vielen Lieferungen
an Geschütz, Gewehr, Pulver, Mondierungsstücken etc. zu tun
hatten“.5 Samuel Julius: Kaiserl. Königl. (Remonte-) Pferde¬
lieferant unter Kurfürst Friedrich August von Sachsen ; die
Familie Model: Hof- und Kriegslieferanten im Fürstentum Ans¬
bach (17., 18. Jahrhundert)6. „Dannenhero sind alle Commissarii
1 Mitgeteilt in der Revue de la Revolution fran^aise 16. 1. 1892.
2 Historische Nachlese zu den Nachrichten der Stadt Leipzig, ed.
M. Heinrich Engelbert Schwartze (1744), 122, zit. bei Alphonse
Levy, Geschichte der Juden in Sachsen (1900), 58.
3 Alle 3 Fälle entnahm ich G. Liebe, Das Judentum (1903),
43 f., 70, der sie ohne Quellenangabe mitteilt.
4 Bondy, Zur Geschichte der Juden in Böhmen 1, 388.
5 (König), Annalen der Juden in den preußischen Staaten, be¬
sonders in der Mark Brandenburg (1790), 93/94.
6 Reski’ipt vom 28. Juni 1777; abgedruckt bei Alphonse Levy,
Die J. in Sachsen (1900), 74; S. Haenle, Gesch, d. J. im ehemal.
Fürstentum Ansbach (1867), 70.
Zweiundsechzigstes Kapitel: Die Juden
909
Juden, und alle Juden sind Commissarii“ sagt apodiktisch.
Mosclierosch in den Gesichten Philanders von Sittewald1.
Die ersten reichen Juden, die unter Kaiser Leopold nach der
Austreibung (1670) wieder in Wien wohnen durften: die Oppen¬
heimer, Wertheimer, Mayer Herscliel usw. , waren alle auch
Armeelieferanten2. Zahlreiche Belege für die auch im 18. Jahr¬
hundert fortgesetzte Tätigkeit als Armeelieferanten besitzen wh
für alle österreichischen Lande3.
Endlich sei noch der jüdischen Lieferanten Erwähnung getan,
die während des Revolutionskrieges (ebenso wie später während
des Bürgerkrieges) die amerikanischen Truppen verproviantierten4.
Ich habe hier nur die den Juden eigentümlichen
Leistungen als Unternehmer der frühkapitalistischen Epoche
aufgezählt: deshalb habe ich nicht ihrer hervorragenden Be¬
deutung als Finanzmänner Erwähnung getan, weil hier keine
Unternehmertätigkeit ausgeübt wird, noch habe ich über ihren
Anteil am Aufbau der frühkapitalistischen Industrie berichtet,
weil darin nichts den Juden Eigentümliches zutage tritt. Zur
Vervollständigung des Bildes von dem Anteil der Juden an dei
Entstehung des Kapitalismus mag immerhin auch diese Seite
ihrer Tätigkeit mit in Rücksicht gezogen werden.
II. Die Eignung der Juden zum Kapitalismus
Die Ausnahmestellung der Juden in der Geschichte des euro¬
päischen Kapitalismus wird begründet sowohl durch die eigen¬
tümliche Veranlagung des jüdischen Volks als durch die besondere
Lage, in der die Juden während der Jahrhunderte, in der die
kapitalistische Wirtschaft begründet wurde, sich befanden.
1 Gesichte Philanders von Sittewaldt das ist Straffs-Schriften
Hanss Wilh. Mosclierosch von Wilstätt (1677), 779.
2 F. von Mensi, Die Finanzen Österreichs von 1701 J740
(1890), 132 ff. Samuel Oppenheimer, „Kaiserlicher Kriegsoberfaktor
und Jud“, wie er offiziell bezeichnet wurde und sich auch selbst zu
unterfertigen pflegte, schloß namentlich in den Feldzügen des Prinzen
Eugen „fast alle bedeutenden Proviant- und Munitionslieferungsver¬
träge“ ab (S. 133). ,, •
3 Siehe z. B. die Eingabe der Wiener Hofkanzlei vom 12. Mai
1762 bei Wolf, Gesch. d. Jud. in Wien (1894), 70; Komitatsarchiv
Neutra Iratok XII/3336 (für Mähren), nach einer Mitteilung des Herrn
stud. Jos. Reizmann; Verproviantierung der Festungen Raab, Ofen
und Komorn durch Breslauer Juden (1716): Wolf a. a. O. S. 61.
4 Herb. Friedenwald, Jews mentioned in the Journal of the
Continental’ Congress (Publ. of the Amer. Jew. Hist. Soc. 1, 65-89).
910 Achter Abschnitt: Die Entstehung der Unternehmerschaft
Wie man sich auch zu der Frage stellen möge, deren Er¬
örterung der größte Teil meines Judenbuches gewidmet ist: ob
die geistige Struktur, in der wir das jüdische Volk beim Aus¬
gang des Mittelalters antreffen, auf einer Urveranlagung beruhe
oder durch die mehr als tausendjährige Leidensgeschichte der
Juden in der Verbannung erst herausgebildet worden ist: da¬
rüber kann unter sachlich Urteilenden kein Zweifel herrschen,
daß in dem geschichtlichen Augenblick, als der Kapi¬
talismus sich zu entfalten beginnt, die Juden bereits mit einer
Fülle von Eigenschaften ausgestattet waren , die sie
geeignet machten, bestimmend in den Gang der wirtschaft¬
lichen Entwicklung einzugreifen. Insbesondere sind es händle¬
rische und rechnerische Fähigkeiten sowie die bürgerlichen
Tugenden , die sie vor vielen anderen ihrer Umgebung aus¬
zeichnen. Eigenschaften also, die zum guten kapitalistischen
Unternehmer gehören und die in andern Völkern erst im Laufe
der kapitalistischen Entwicklung herausgezüchtet werden mußten,
besaßen sie schon in beträchthchem Umfange, ehe diese Ent¬
wicklung begann.
Dazu kommt nun der Umstand, daß die äußeren Lebens¬
bedingungen der Juden ebenfalls derart waren, wie sie förder¬
licher für die Herausbildung kapitalistischer Unternehmer nicht
gedacht werden können. Was wir bei Ketzern und Fremden als
solche günstigen Bedingungen kennen lernten, kehrt im Schicksal
der Juden wieder, das außerdem noch einige andere fördernde
Momente zu jenen hinzutut.
Wodurch wird denn die eigentümliche Lage gekennzeichnet,
in der sich die Juden Westeuropas und Amerikas etwa seit dem
Ende des 15. Jahrhunderts befanden?
Ganz allgemein hat das der Gouverneur von Jamaika in
einem Brief an den Staatssekretär vom 17. Dezember 1671
treffend ausgesprochen, als er schrieb 1 : „he was of opinion that
His Majesty could not have more profitable subjects than the
Jews: they had great Stocks and correspondence“.
In der Tat ist mit diesen beiden Besonderheiten ein wesent¬
licher Teil des Vorsprungs bezeichnet, den die Juden vor den
andern voraus hatten. Nur muß zur Vervollständigung hinzu¬
gefügt werden: ihre eigentümliche Stellung innerhalb der Volks¬
gemeinschaften, in denen sie wirkten. Sie läßt sich als Freind-
1 M. Kayserling, The Jews in Jamaica, in Jew. Quart. Rev.
12, 708 ff.
Zweiimdsechzigstes Kapitel: Die Juden
911
heit und als Halbbürgertum kennzeichnen. Ich will also vier Um¬
stände hervorheben, die die Juden besonders geeignet machten
(und machen), so Bedeutsames zu leisten:
1. ihre räumliche 'Verbreitung;
2. ihre Fremdheit;
3. ihr Halbbürgertum ;
4. ihren Reichtum ; dazu kommt
5. ihr Geldleihertum.
1. Die räumliche Verbreitung
Bedeutungsvoll für das Verhalten der Juden ist natürlich zu-
nächst und vor allem ihre Zerstreuung über alle Länder
der bewohnten Erde geworden, wie sie ja seit dem ersten Exil
bestand , wie sie aber von neuem in besonders wirkungs¬
reicher Weise sich seit ihrer Vertreibung aus Spanien und Por¬
tugal und seit ihrer Rückströmung aus Polen wieder vollzogen
hatte. Wir folgen ihnen auf ihrer Wanderung während der
letzten Jahrhunderte und finden sie sich in Deutschland und in
Frankreich, in Italien und in England, im Orient und in Amerika,
in Holland und in Österreich, in Südafrika und in Ostasien frisch
ansiedeln.
Die natürliche Folge dieser abermaligen Verschiebungen inner¬
halb kulturell zum Teil schon hoch entwickelter Länder war die,
daß Teile einer und derselben Familie an den verschiedensten
Zentren des Wirtschaftslebens sich ansiedelten und große AVelt-
häuser mit zahlreichen Filialen bildeten. Um nur ein paar zu
nennen: die Familie Lopez hat ihren Sitz in Bordeaux und Zweig¬
häuser in Spanien, England, Antwerpen, Toulouse; die Familie
Mendes, ein Bankhaus, residiert ebenso in Bordeaux und hat
Filialen in Portugal, Frankreich, Flandern, ein Zweig der Fa¬
milie Mendes sind wieder die Gradis mit zahlreichen Zweig¬
niederlassungen ; die Carceres finden wir in Hamburg, in England,
in Österreich, Westindien, Barbados, Surinam ansässig; andere
bekannte Familien mit einem weltumspannenden Netz von Filialen
sind die Costa (Acosta, D’Acosta), die Conegliano, die Alhadib,
die Sassoon , die Pereire , die Rothschild. Aber es hat keinen
Sinn, die Liste zu verlängern: die jüdischen Geschäftshäuser,
die wenigstens an zwei Handelsplätzen der Erde vertreten sind,
zählten nach Hunderten und Tausenden. Es gibt kaum eines von
Bedeutung, das seinen Fuß nicht mindestens in zwei verschiedenen
Ländern gehabt hätte l.
912
Achter Abschnitt: Die Entstehung der Unternehmerschaft
Und was für eine große Bedeutung diese Zerstreuung für
das Fortkommen der Juden haben mußte, braucht auch kaum
ausführlich begründet zu werden: es liegt auf der Hand. Was
sich christliche Häuser erst mit Mühe schaffen mußten, was sie
aber nur in den seltensten Fällen in gleich vollkommener Weise
erreichten : das nahmen die Juden von Anbeginn ihrer Tätigkeit
mit auf den Weg : die Stützpunkte für alle internationalen Handels¬
und Kreditoperationen : die „great correspondence“, diese Grund¬
bedingung erfolgreicher internationaler Geschäftstätigkeit, zumal,
wie ich später ausführlich dartun werde : im Zeitalter des Früh¬
kapitalismus.
Ich erinnere an das, was ich über die Anteilnahme der Juden
am spanisch - portugiesischen Handel, am Levantehandel, an der
Entwicklung Amerikas gesagt habe : ganz besonders wichtig war
der Umstand, daß sich ein großer Teil von ihnen gerade von
Spanien aus verzweigte: dadurch leiteten sie den Strom des
Kolonialhandels und vor allem den Silberstrom in die Betten
der neu emporkommenden Mächte : Holland, England, Frankreich:
Deutschland.
Bedeutsam, daß sie gerade nach diesen Ländern, die im Be¬
griffe waren, einen großen wirtschaftlichen Aufschwung zu er¬
leben, mit Vorliebe sich wandten und damit gerade diesen Ländern
die Vorteile ihrer internationalen Beziehungen zuteil werden
ließen. Bekannt ist es, daß die flüchtigen Juden mit Vorbedacht
den Strom des Handels von den Ländern, die sie vertrieben
hatten, ablenkten, um ihn denjenigen zuzuführen, die sie gastlich
aufgenommen hatten.
So machten sie eine Zeitlang Antwerpen zum Mittelpunkt
des Welthandels, weil sie die Beziehungen zu Spanien und
Portugal besonders lebhaft unterhielten. Einen Teil der
Handelsbedeutung Antwerpens übertrugen sie dann auf London,
auf Amsterdam, auf Hamburg, auf Frankfurt am Main: Orte,
denen sie sich mit besonderer Vorliebe zuwandten. Aber auch
andere Städte zogen Nutzen von den ausgedehnten Handels¬
beziehungen der einwandernden sephardischen Juden. Ich denke
1 [Zu Seite 911.] Einen Überblick über die jüdischen Welthäuser
seiner Zeit und ihre Verzweigungen gibt Manasseh ben Israel in seiner
Denkschrift an Cromwell. Die Geschichte der einzelnen Familien findet
man ausführlich dargestellt in der Jewish Encyclopedia, die naturgemäß
gerade in ihren biographischen Teilen besonders wertvoll ist. Im übrigen
ist auf die judaistischen Allgemein- und Spezialvverke zu verweisen.
Zweiundsechzigstes Kapitel: Die Juden
913
an das besonders lelirreiclie Beispiel des spanischen Juden Marco
Perez, der, ursprünglich einer der ersten Finanzmänner Wilhelms
von Oranien, aus Antwerpen nach Basel einwandert, wo er den
gesamten Handelsstand durch seine neuen Praktiken in Auf¬
regung versetzt, während es doch anerkannt werden muß, daß
er& „zum Nutzen der Völker Handel treibe mit allen Ländern
und Zonen“ h
Sehr hübsch veranschaulicht diese eigentümliche Bedeutung
des jüdischen Internationalismus für die Entwicklung des modernen
Wirtschaftslebens ein Bild, dessen sich vor zweihundert Jahren
ein geistvoller Beobachter in einer 'Studie über die Juden be¬
diente, und das noch heute seine Frische vollauf bewahrt hat.
In einer Korrespondenz des Spectator vom 27. September 1712
heißt es: „Tliey are ... so disseminated through all the trading
Parts of the World , that they are become the Instruments by
which the most distant Nations converse with one another and
by which mankind are knittogether in a general Correspondance:
they are like the Pegs and Nails in a great Building, which,
though they are but little valued in themselves, are absolutely
necessary to keep the whole Frame togetlier.
~ Die „räumliche Verbreitung der Juden“ ist nun aber nicht
nur dadurch bedeutsam, daß sie die internationale Zerstreuung
der Juden herbeiführte: sie dient zur Erklärung mancher Er¬
scheinungen auch nur insoweit, als sie sich auf die Vertei¬
lung über das Innere der Länder erstreckt. _ Wenn wir
beispielsweise den Juden oft als Lieferanten von Kriegsmaterial
und Lebensmitteln für die Armeen begegnet sind — sie sind
auch das seit alten Zeiten gewesen: bei der Belagerung Neapels
durch Beiisar erklärten die dortigen Juden die Stadt mit Lebens¬
mitteln versorgen zu wollen* 2 — , so hat das seinen Grund gewi
zum o-uten Teil in der Tatsache, daß sie leichter als die Christen
rasch*3 * eine große Masse von Gütern, namentlich Lebensmitteln,
. aus dem Lande zusammenbringen konnten: dank den Verbin¬
dungen, die sie von Stadt zu Stadt unterhielten. „Der jüdische
Entrepreneur darf sich vor allen diesen Schwierigkeiten nie t
scheuen. Er darf nur die Judenschaft am rechten Orte elek¬
trisieren und im Augenblick hat er so viele Helfer und Helfers-
" i Die ^Wirksamkeit des Marco Perez ist anschaulich geschildert
von Tr Geering in seinem Baselbuch Seite 454 ff.
2 Nach Procop B.G.I 8 und 16 Friedländer, Sittengeschichte
Roms 3 5, 577. 5g
Sombart. Der moderne Kapitalismus. I.
914 Achter Abschnitt: Die Entstehung der Unternehmerschaft
Helfer als er immer braucht“ l. Denn in der Tat handelte der
Jude früherer Zeit „niemals als isoliertes Individuum, sondern
als Glied der ausgebreitetsten Handelskompagnie in der Welt“ 2.
„Ce sont des particules de vif argen t qui courent, qui s’egarent
et qui ä la moindre pente se reunissent en un bloc principal“,
wie es in einer Eingabe der Pariser Kaufleute aus der zweiten
Hälfte des 18. Jahrhunderts heißt3.
2. Die Fremdheit
Fremde sind die Juden während der letzten Jahrhunderte in
den meisten Ländern zunächst einmal in dem rein äußerlichen
Sinne der Neu eingewanderten gewesen. Gerade an den
Orten, wo sie ihre wirksamste Tätigkeit entfaltet haben, waren
sie nicht alteingesessen, ja : dorthin waren sie meist nicht einmal
aus der näheren Umgebung, sondern von fernher, aus Ländern
mit andern Sitten und Gebräuchen, zum Teil sogar andern Kli-
maten gelangt. Nach Holland, Frankreich und England kamen
sie aus Spanien und Portugal und dann aus Deutschland; nach
Hamburg und Frankfurt aus anderen deutschen Städten und
dann nach ganz Deutschland aus dem russisch - polnischen Osten.
Fremd aber war Israel unter den Völkern all die Jahrhunderte
hindurch noch in einem andern, man könnte sagen psychologisch¬
sozialen Sinne, im Sinne einerinnerlichen Gegensätzlich¬
keit zu der sie umgebenden Bevölkerung, im Sinne einer fast
kastenmäßigen Abgeschlossenheit gegen die Wirtsvölker. Sie,
die Juden, empfanden sich als etwas Besonderes und wurden
von den Wirtsvölkern als solches wieder empfunden. Und da¬
durch wurden alle die Handlungsweisen und die Gesinnungen bei
den Juden zur Entwicklung gebracht, die notwendig sich im
Verkehr mit „Fremden“ zumal in einer Zeit, die dem Begriff
des Weltbürgertums noch fern stand, ergeben müssen.
Die bloße Tatsache, daß man es mit einem „Fremden“ zu
tun habe , hat zu allen Zeiten, die noch nicht von humanitären
Wertungen durchsetzt waren, genügt, das Gewissen zu erleichtern,
und die Bande der sittlichen Verpflichtungen zu lockern. Der
Verkehr mit Fremden ist stets „rücksichtsloser“ gestaltet worden.
Und die Juden hatten es immerfort, zumal wenn 'sie in das
große wirtschaftliche Getriebe eingriffen, mit „Fremden“, mit
1 (v. Kor tum), Über Judentum und Juden (1795) 165.
2 (v. Kortum), a. a. 0. S. 90.
3 Revue des 4t. juives 23 (1891), 90.
Zweiundsechzigstes Kapitel: Die Juden
915
„Nicht- Genossen“ zu tun, weil sie ja obendrein stets in kleiner
Minderheit waren. Brachte für einen Angehörigen des Wirts¬
volkes jeder zehnte oder jeder hundertste Verkehrsakt eine Be¬
ziehung zu einem „Fremden“ , so erfolgten umgekehrt bei den
Juden neun Akte von zehn oder neunundneunzig vom Hundert
im Verkehr mit Fremden : so daß die „Fremdenmoral“, wenn
ich diesen Ausdruck ohne mißverstanden zu werden gebrauchen
darf, eine immer wieder geübte wurde, auf die sich das ganze
Geschäftsgebaren dann gleichsam einstellen mußte. Der Verkehr
mit Fremden wurde für den Juden das „Normale“, während er
für die anderen die Ausnahme blieb.
Engstens im Zusammenhänge mit ihrer Fremdheit steht die
eigentümliche und absonderliche .Rechtslage, in der sie sich aller
Orten befanden. Doch hat sie als Erklärungsgrund ihre eigene
Bedeutung und soll daher in folgender selbständiger Darstellung
abgehandelt werden.
B. Das Halbbtirgertum
Es scheint auf den ersten Blick, als sei die bürgerliche
Rechtsstellung der Juden insbesondere dadurch für ihr ökono¬
misches Schicksal von Bedeutung gewesen, daß sie ihnen be¬
stimmte Beschränkungen in der Wahl der Berufe, wie über¬
haupt in ihrer Erwerbstätigkeit auferlegte. Aber ich
glaube, daß die Einwirkung, die die Rechtslage in dieser Hin¬
sicht ausgeübt hat, überschätzt worden ist.
An einem Punkte nur läßt sich die entscheidende Einwir¬
kung der alten Gewerbeverfassung auf den Werdegang der Juden
nachweisen : das ist dort , wo das Wirtschaftsleben durch die
Herrschaft korporativer Verbände beeinflußt wurde oder richtiger:
wo die wirtschaftlichen Vorgänge sich im Rahmen genossenschaft¬
licher Organisation abspielten. In die Zünfte und Innungen
fanden die Juden keinen Zutritt: das Kruzifix, das in allen Amts¬
stuben dieser Verbände aufgestellt war und um das sich alle
Mitglieder versammelten, hielt sie zurück. Und darum: wenn
sie ein Gewerbe betreiben wollten, so konnten sie es nur außer¬
halb der Kreise, die von den christlichen Genossenschaften be¬
setzt gehalten wurden; gleichgültig, ob ein Produktionsgebiet
oder ein Handelsgebiet in Frage stand. Und deshalb waren sie
die geborenen „interlopers“, die Bönhasen, die Zunftbrecher, die
„Freihändler“, als die wir sie allerorten antreffen.
Viel einschneidender haben das Schicksal der Juden offenbar
58*
916 Achter Abschnitt: Die Entstehung der Unternehmerschaft
diejenigen Teile der Rechtsordnung. bestimmt, die' ihr Verhältnis
zur Staatsgewalt, also insbesondere ihre Stellung im öffent¬
lichen Leben regelten. Sie weisen zunächst in allen Staaten
eine auffallende Übereinstimmung auf, denn sie laufen letzten
Endes sämtlich darauf hinaus: die Juden von der Anteilnahme
am öffentlichen Leben auszuschließen, also ihnen den Zugang zu
den Staats- und Gemeindeämtern, zur Barre, zum Parlamente,
zum Heere, zu den Universitäten zu versperren. -Das gilt auch
für die Weststaaten — Frankreich, Holland, England — und
Amerika, bis zum Ende unserer Epoche. i
Welche Wirkungen diese Zurücksetzung der Juden im öffent¬
lichen Leben haben mußte, ergibt sich aus dem, was ich über
die Bedeutung des Ketzertums für die Ausbildung der kapita¬
listischen Gesinnungen und Fähigkeiten gesagt habe b
Das treffende Wort eines Zeitgenossen des 17. Jahrhunderts,
in dem die hervorragende merkantile Befähigung der Juden be¬
stätigt und als die Wirkung der hier unter 2. und 3. geschil¬
derten, eigentümlichen Lage der Juden richtig erfaßt wird, will
ich -noch mitteilen. Er schreibt2: ‘„the jews are held the most
Mercuriall people in the world by reasön of their so often trans-
migrätions, persecutions and Necessity, which is the Mother
ofWit“.
4. Der Reichtum
Wir können unbedenklich zu den objektiven Bedingungen,
unter denen die Juden ihre ökonomische Mission während der
letzten drei oder vier Jahrhunderte erfüllt haben und deren
eigenartige Gestaltung ihr Werk selbst zu einem eigenartigen
machte, die Tatsachen rechnen, daß sie immer und überall, wo
sie eine Bolle im Wirtschaftsleben gespielt haben, über einen
großen Geldreichtum verfügten.
Schwerreich muß eine große Anzahl der Flüchtlinge gewesen
sein, die seit dem 16. Jahrhundert die Pyrenäenhalbinsel ver¬
ließen. Wir vernehmen von einem „exodo de capitaes“, einer
Auswanderung des Kapitals, die durch sie herbeigeführt sein
soll. Wir wissen aber auch, daß sie bei ihrer Vertreibung ihre
zahlreichen Besitzungen verkaufen und sich in Wechseln auf
fremde Plätze dafür bezahlen lassen8.
1 Siehe oben Seite 877 ff. ’
2 James Howell, Instructions and directions for forren travell
etc. (1650), 54.
8 Siehe z. B. Bento Carqueja, 0 capitalismo moderno e as
suas origens em Portugal (1908), 73 ff. 82 ff. 91 ff.
Zweiundsechzigstes Kapitel : Die Juden
917
Di© Alierreichsten wandten sich wohl nach Holland. "Wenig¬
stens erfahren wir hier von den ersten Ansiedlern: den Manuel
Lopez Homen, Maria Nunez, Miguel Lopez und andern, daß sie
große Reichtum er besaßen1. Ob dann im 17. Jahrhundert viele
reiche Spagniolen noch einwanderten, oder ob die Alteingesessenen
zu immer größerem Reichtum gelangten, wird kaum für die Ge¬
samtheit festzustellen sein. Es genügt auch, zu wissen: daß
die Juden in Holland während des 17. und 18. Jahrhunderts
durch ihren Reichtum berühmt waren.
Aber auch in den andern Ländern ragten die Juden durch
ihren Reichtum hervor. Der kluge Savary bestätigt uns das
für das Frankreich des 17. und angehenden 18. Jahrhunderts, in¬
dem er ganz summarisch ein allgemeines Urteil folgenden Inhalts
vermittelt: „on dit qu’un marchand est riche comme un
Juif, quand il a la reputation d’avoir amasse de grands biens“ 2.
Und für j England besitzen wir sogar ziffermäßige Angaben
über die Vermögenslage der reichen Spagniolen bald nach ihrer
offiziellen Zulassung. Wir erfahren, daß die Halbjahrsumsätze
der reichen jüdischen Geschäftshäuser schon im Jahre 1663
zwischen 13 000 und 41000 ^ schwanken3.
In Deutschland waren die Zentren jüdischen Lebens während
des 17. und 18. Jahrhunderts Hamburg und Frankfurt a. M.
Für beide Städte können wir ziffermäßig genau den Vermögens¬
stand der Juden feststellen, und was wir erfahren, bestätigt unser
Urteil durchaus4.
Fragen wir nun wieder nach der Bedeutung, die solcherart
hervorragender Geldbesitz für das ökonomische Schicksal der
Juden haben mußte, so ist diese offensichtlich ganz allgemeiner
Natur, wie nicht des näheren dargelegt zu werden braucht.
1 Wagenaar, Beschrijving van Amsterdam Dl VIII bl. 127, bei
H. J. Koenen, Gesckiedenis, 142. Außer den bei Koenen erwähnten
Quellen unterrichtet über den Reichtum der holländischen Juden
(natürlich mit stark übertreibender Blague: siehe z. B. die Ziffern aus
den Testamenten De Pintos auf Seite 292) Joh. Jac. Schudt,
Jüdische Merkwürdigkeiten usw. 1 (1714), 277 ff.; 4 (1717), 208 f. Aus
der neueren Literatur ist noch zu nennen: M. Henriquez Pimentei,
Geschiedkundige Aanteekeningen betreffende de Portugesche Israeliten
in den Haag (1876), 34 ff.
3 Savary, Dict. 2 (1726), 448.
3 L. Wolf, The Jewry of the restauration 1660 — 1664; repr.
from The Jewish Chronicle (1902), p. 11.
4 Siehe die Angaben in meinem Judenbuche S. 214 ff.
918 Achter Abschnitt: Die Entstehung der Unternehmerschaft
Dagegen verdient ein anderer Umstand, der ebenfalls mit
dem Geldbesitz der Juden im Zusammenhänge steht, etwas heller
beleuchtet zu werden. Ich meine den ausgiebigen Gebrauch,
den die Juden von ihrem Gelde zu Leihezwecken machten.
Diese besondere Verwendungsart nämlich (an deren allgemeiner
Verbreitung nicht gezweifelt werden kann) ist offenbar eine
der wichtigsten Vorbereitungen für den Kapitalismus selbst ge¬
worden.
5. Das Geldleihertum
Wenn die Juden in jeder Hinsicht sich als geeignet erweisen,
die kapitalistische Entwicklung zu fördern, so verdanken sie das
ganz gewiß nicht zuletzt ihrer Eigenschaft als Geldleiher (im
Großen wie im Kleinen). Denn die Geldleihe ist eine der
wichtigsten Wurzeln des Kapitalismus. Seine Grund¬
idee ist schon in der Geldleihe im Keime enthalten; wichtigste
Merkmale hat er aus der Geldleihe empfangen:
In der Geldleihe ist alle Qualität ausgelöscht und der wirt¬
schaftliche Vorgang erscheint nur noch quantitativ bestimmt.
In der Geldleihe ist das Vertragsmäßige des Geschäfts das
Wesentliche geworden: die Verhandlung über Leistung und
Gegenleistung , das Versprechen für die Zukunft, die Idee der
Lieferung bilden seinen Inhalt.
In der Geldleihe ist alles Nahrungsmäßige verschwunden.
In der Geldleihe ist alle Körperlichkeit (alles „Technische“)
ausgemerzt: die wirtschaftliche Aktion ist rein geistiger Natur
geworden.
In der Geldleihe hat die wirtschaftliche Tätigkeit als solche
allen Sinn verloren : die Beschäftigung mit Geldausleihen hat
aufgehört eine sinnvolle Betätigung des Körpers wie des Geistes
zu sein. Damit ist ihr Wert aus ihr selbst in ihren Erfolg ver¬
rückt. Der Erfolg allein hat noch Sinn.
In der Geldleihe tritt zum ersten Male ganz deutlich die
Möglichkeit hervor, auch ohne eigenen Schweiß durch eine wirt¬
schaftliche Handlung Geld zu verdienen ; ganz deutlich erscheint
die Möglichkeit: auch ohne Gewaltakte fremde Leute für sich
arbeiten zu lassen.
Man sieht: in der Tat sind alle diese eigentümlichen Merk¬
male der Geldleihe auch eigentümliche Merkmale aller kapita¬
listischen 'Wirtschaftsorganisation.
Dazu kommt nun noch, daß ein recht beträchtlicher Teil des
modernen Kapitalismus historisch aus der Geldleihe (dem
Zweiundsechzigstes Kapitel: Die Juden
919
Vorschuß, dem Darlelm) erwachsen ist. Überall nämlich dort,
wo wir die Form des Verlags als die Urform der kapitalistischen
Unternehmung linden. Aber auch dort, wo diese aus Kommende¬
verhältnissen erwachsen ist. Und schließlich doch auch dort,
wo sie in irgend welcher Aktienform zuerst aufgetreten ist.
Denn in höchstprinzipieller Konstruktion ist doch die Aktien¬
gesellschaft nichts anderes als ein Geldleihegeschäft mit unmittel¬
bar produktivem Inhalt.
So scheint mir in der Ausübung des Geldleihegeschäfts aber¬
mals ein Umstand zu liegen, der die Juden objektiv befähigte,
kapitalistisches Wesen zu schaffen, zu fördern, zu verbreiten.
Das alles wird aber erst Leben gewinnen, wenn wir nun im
nächsten Buche verfolgen, wie auf diesen Grundlagen das Ge¬
bäude der kapitalistischen Wirtschaft sich aufbaut.
f
DATE DUE
TRENT UN
o 11
v
RS TY
64 0230737 9
HB501
. S67 1919 Bd.l
pt . 2
UTLAS
Sombart, Werner, 1863-1941
Der moderne Kapitalismus
historisch-systematische Darstel¬
lung des gesamteuropäischen
Wirtschaftslebens von s r
Anf angen bis zur £ U O y / O
Gegenwart
i r c i i r r-\
203975