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Der Meue Pitaval.
Nene Serie.
Dreinndzwanzigfter Band. .
*
Der
Menue pitaval.
Eine Sammlung
der intereſſanteſten Criminalgeſchichten aller Länder aus
älterer und neuerer Zeit.
Begründet
vom
Criminaldirector Dr. 3. E. Fitzig
und
Dr. W. Baring (W. Alexis).
Fortgeſetzt von Dr. U. Vollert.
Hene Serie.
Dreiundzwanzigftier Band.
50)
Leipzig:
F. A. Brockhaus.
1889, tt
[”
Se. — 14 7903
Borwort.
An die Spite bed im vorigen Sabre erjchienenen
22. Bandes unfers „Pitaval“ haben wir den Proceß wider
Johann von Wefel in Mainz wegen Keßerei geftellt.
Den viesjährigen Band eröffnen wir mit dem Procejfe
gegen Johann Hus, den großen böhmifchen Reformator.
Johann von Wefel, ein ſchwacher Greis, widerrief feine
der katholiſchen Kirche anſtößigen Lehrjäge und bat um
Gnade; er wurde zu lebenslänglicher Einfperrung im
Klofter zu Mainz verurtheilt. Johann Hus blieb ftand-
haft, die Biichöfe übergaben jeine Seele dem Teufel, er
aber „befahl fie in die Hände feines Heilandes Jeſu
Chriſti“ und ftarb auf dem Scheiterhaufen „freudig,
muthig, zuverfichtlih, wie nur einer der zahlreichen
Märtyrer, die in ben erjten Zeiten des Chriftenthums
ihr chriftliches Bekenntniß mit dem Tode befiegelt haben“.
Der Proceß gereicht dem Kaifer, der die Verurtheilung
zuließ, troß des dem Hus zugeficherten freien Geleites,
und gleichermaßen dem Eoncil von Koftnig zur höchiten
Unehre. Die verberbte römiſche Kirche Tonnte fromme
VI Vorwort.
Männer nicht mehr tragen, welche die Autorität des
Wortes Gottes predigten und ſich allein auf die Gnade
und das Verdienſt Jeſu Chriſti ſtützten. Auch dieſer
Proceß iſt ein weltgeſchichtliches Jeugniß wider die Natur
und die Praxis des römiſchen Stuhles und der Würden⸗
träger der römiſchen Kirche.
Den Diebſtahl beim Handelsmann Schüller
haben wir aufgenommen, weil darin die Anwendung der
Folter genau beſchrieben wird und der Fall ein deutliches,
freilich ſehr unerfreuliches Bild des deutſchen Criminal⸗
proceſſes in der Mitte des vorigen Jahrhunderts gibt.
Vergleicht man die Zuſtände vor hundert Jahren mit
dem jetzt im Deutſchen Reiche geltenden Strafverfahren,
jo wird man nicht in Abrede ftellen können, daß ber
Fortſchritt auf diefem Gebiete ein ungeheuer großer ift.
Der Proceß wider den Dr. med. Floden wegen
Vergiftung aus Fahrläffigkeit gehört der neueften
Zeit an. Derſelbe bat vor zwei Jahren die Stabt
Straßburg im Elfaß in hohem Grave bewegt und aufs
geregt. Er iſt der Repräfentant einer ganzen Gattung,
injofern e8 fih um einen „Arztlichen Kunftfehler” handelt
und um bie Frage, in welchen Maße der Arzt ftrafrecht-
ih für ein Verfehen die Verantwortung zu tragen hat.
Die VBermögensberaubung des Kaufmanns
Sſolodownikow und Die Ermordung des Eollegien-
affeffors Tſchichatſchew find berühmte Criminalfälle
aus der Gefellichaft in Petersburg. Der Staatsrath
Borwort. vo
Anatole Fedorowitſch Koni, Oberprocureur bes Eri-
minal⸗ Safjations Departements des ruffifchen Senats,
berjelbe, den der Zar im vorigen Iahre nach Borki ent-
jendete, um die Unterfuchung wegen bes bortigen Eifen-
bahnunglücks zu leiten, hat 1888 ein Werk in ruffifcher
Sprache veröffentlicht: „Gerichtliche Reden von A. F. Koni.“
Es enthält 27 Criminalfälle, bei welchen der berühmte
Juriſt thätig gewejen iſt. Mit Erlaubniß des Verfaffers
haben wir jenem Werfe zwei biefer Fälle entnommen,
bie für die ruffischen Verhältniffe und Anfchauungen be-
zeichnend find und auch bie gerichtliche Beredſamkeit in
Rußland charakterifiren.
Der Eindbruh im Pfarrhofe von Edlingham
ift ein unvergleichliches Stüd aus der engliihen Straf-
rechtspflege, ein jo bizarrer, man kann fagen toller
Proceß, wie er nur in England möglich ift. Der Proceß
wider ben Tagelöhner Morand und Genofien wegen
Mordes endlich beleuchtet die Mängel und Schwächen
ber franzöfiichen Rechtspflege, insbejondere die bedenk⸗
fihen Strömungen, die fih in ben Sprüchen der Ge⸗
ſchworenen in neuerer Zeit geltend machen.
Die beiden legten Beiträge verdanken wir dem Herrn
Generalconful Dr. Meyer in Wien, der ein treuer Freund
unfers Sammelwerkes geblieben ift.
Gera, im November 1889.
Dr. 4. Vollert.
Inhalt.
Borwort
Johann Hus. Sein Proceß und fein Tod. 1414
— 1415
Ein Diebitahl beim Handelsmann Schülleri in 1 Blanfen-
heim in der Eifel. Mitte des vorigen Jahrhunderts
Der Proceß wider den Dr. med. Flocken wegen PVer-
giftung aus Tahrläffigkeit. Straßburg im Elſaß.
1887 und 1888. .
Die DVermögensberaubung des Kaufmanns Sſolo
downikow. Petersburg. 1870. 1871.
Die Ermordung des Collegienaſſeſſors Tſchichatſchew.
Petersburg. 1873. 1874.
Der Einbruch im Pfarrhofe von Edlingham. Raub-
und Mordverfuh. — England. 1879—1889.
Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. Mord.
— Hoigny in Tranfreih. 1888.
Seite
62
99
150
173
217
272
Iohann Hus.
(Sein Proceß und fein Tod.)
1414—1415.
Der Proceß wider Johann Hus darf in der Reihe
ver firchenhiftorifchen Procefje des „Pitaval“ nicht fehlen,
denn jo befannt auch der tragiiche Tod des von feiner
Zeit mit gleicher Glut gehaßten und geliebten Mannes
auf dem Scheiterhaufen zu Konftanz fein mag, fo
unbefannt ift das Detail des Verfahrens, das eine fo
unvermutbete Wendung genommen hat: ein Günftling
der Krone Böhmens, aber noch mehr der Mann, ber
wie fein anderer die Seelen ſeines czechifchen Volkes
in feiner Hand hatte; ein Unterthan, der mit dem Kaiſer⸗
wort fommt transire, stare, morari et redire libere,
ein für das wahre Wohl der Kirche begeifterter Reformator
— wird von dem großen Neformconcil dem Tode über-
geben; er ftirbt ihn freudig, muthig, zuverfichtlich, wie
nur einer der Märtyrer, welche das Chrijtenthum in
jeinen bejten Zeiten hervorgebracht. Kann aber eine Er-
örterung ber für das Verſtändniß dieſes Procefjed noth-
wendigen theologiſchen und Tirchenpolitifchen Vorfragen,
kann eine Vorführung unmöglich geworbener Gewaltacte
uf das Intereſſe eines meitern Leſerkreiſes Anſpruch
XXI. 1
2 Sobann Hus.
erheben? Wir wagen ein Ia zur Antwort aus einem
zwiefachen Gefichtspunfte.
Einmal möchte der Frühling der Zeit vor der Thür
jein, da nach einem Ausfpruch des Neſtors unter ben
Kirchenhiftorifern der Gegenwart die Kirchengefchichte Be⸗
itandtheil der allgemeinen Bildung werben wird, ſodann
fönnte die Darftellung dieſes Procefjes an ihrem be-
icheidenen Theile einen Sieg erftreiten helfen.
Der romantifche Katholicismus der erften Hälfte des
Jahrhunderts, der von der Vieberzeugung erfüllt war,
daß die römische Kirche und der moderne Staat mit
jeiner Glaubens- und Gewifjensfreiheit fich nicht auszu—⸗
ichliegen brauchen wie Feuer und Waſſer, ver das Gott-
wohlgefällige auch des pofitiven Proteſtantismus zu wür⸗
digen verftand, ift dahin. Jeſuitenorden und römiſche Kirche
find identisch geworden, ver Sefuitenzögling Leo XIIL,
ber fih in ber Masfe des rejervirten und gewiegten
Diplomaten gefällt, kann über bie „fittenwerberblichen und
gemeinjchäplichen” Einwirkungen ber „abjcheulichen Irr⸗
lehren“ des Proteſtantismus poltern, ein über brei Jahr⸗
hunderte alter Kampf ift heftig aufs neue entbrannt.
Rom meint fich ftark genug, die Gefchichte zu überwinden,
und dennoch fürchtet e8 nichts fo fehr als die Gejchichte.
Die Geichichte muß den Proteftanten. lehren, daß der
„Fels der Wahrheit” in allen Geiftesfämpfen bie neuen
Gedanken nie widerlegt, fondern immer nur vergewaltigt
hat, die Geſchichte muß den Proteftanten lehren, bie
Macht und Lift Roms durch Klare Einficht in diefe That⸗
Sache geijtig zu überwinden. Es handelt fich bei dieſem
Unterricht in feiner Weife um plumpe, blinde Agitation,
ſondern um das Aufzeigen gejchichtlicher Wahrheiten.
Auch das ungerechte, ſchmachvolle Verfahren des geijt-
lichen Gerichts wider Hus kann für die Rüftung, welche
Johann Hus. 3
gegen römiſche Anlänfe zu wappnen vermag, vielleicht
ein Heines Waffenftüd liefern. Betreffs einer Darftellung
ver Stimmungen und Bewegungen des 15. Jahrhunderts
im allgemeinen aber dürfen wir wol auf unfern Auf-
ja über „Johann von Wefel und feine Zeit” aus dem
vorjährigen Bande des „Pitaval“ verweiſen.
Johann Hus ift im böhmtichen Marktfleden Huſſinetz
an der Blanig am Fuße des Böhmerwaldes aller Wahr-
iheinlichfeit nach im Sabre 1369 geboren. Er war
czechifcher Nationalität und ein Kind des Volkes, doc
waren feine eltern verbältnigmäßig wohlhabend. Er
war ein guter Sohn der Kirche. Als er im prager
Subeljahr von 1393 in die Petersfieche auf vem Wyſchehrad
zur Beichte "ging, gab er dem DBeichtvater feine lebten
bier Grofchen und machte dann die vorgefchriebenen Pro-
ceffionen mit, um des großen Ablaffes theilhaft zu werben.
Doc ging bis in fein Mannesalter neben folcher Devotion
eine gewifje Neigung zu leerem Zeitvertreib, z. B. mit
dem Schachipiel, her und eitle Vorliebe für Luxus in ber
Kleidung, wie der gewilfenhafte, gegen fein Ich jo hart
gewordene Mann fich fpäter einmal felbjtanklägerifch
verlauten läßt. Hus ftubirte in Prag und fchlug die
akademiſche Laufbahn ein. Auf der Leiter der afademijchen
Grade gelangte er vom Baccalaureus der freien Künfte
zum Baccalaurens ber Theologie, dann zum Magifter der
freien Rünfte. Die vom hellſten Glanze der Wiſſenſchaft
und höchften äußern Ehren umjtrahlte Würde eines
theologischen Doctor erwarb er jedoch nicht. Im Jahre
1398, zwei Jahre nachdem er Magijter geworden, fing
Hus an, philofophifche Vorlefungen an der Univerfität
1*
4 Johann Hus.
zu halten; fchon brei Jahre fpäter wurde er Dekan ber
philofophifchen Facultät, im vierten Jahre zum erften mal
Rector ber Univerfität — ein beutlicher Beweis für bie
Achtung, die er erworben. Bei feinen Studien war Hus
befeelt von einer rveblichen Wahrheitsliebe; jagt er doch
felbft in einem akademiſchen Acte, es ſei ihm nicht um
hartnädige Behauptung der einmal gefaßten Anficht,
jondern um die Wahrheit zu thun; er habe von ber
erjten Zeit feines Studiums an fich zur Regel gemacht,
fo oft er in irgendeinem Punkte eine richtigere Anficht
vernehme, von feiner frühern Anficht freudig und
demüthig abzugehen. „O die betrügen ſich“, heißt es in
einer Predigt, „die vor dem Papſte niederfallen und alles
für gut halten, was er thut, wie ich es auch für gut
hielt, als ich die Heilige Schrift und das Leben des
theuern Heilandes noch nicht kannte.“ Den ftärkiten Ein-
fluß auf Hus gewann durch feine philofophifchen und
theologifchen Schriften der Engländer Wiclf. Dieſer
Einfluß tft fo beveutend, daß Hus faft nichts Anderes
ift als der nach Böhmen verpflanzte Wiclif, daß ganze
Kapitel in Huffens Werken, ja man Tann fagen, ganze
Werke faum etwas anderes find als Nachbildungen, Ab-
ichriften aus Wiclif.
Wiclif ift der hervorragendfte Träger jener Reform
unternehmungen des Mittelalters, die außerhalb des
Rahmens derjenigen NReformationen ftehen, welche Hand
in Hand mit der Großfirche unternommen wurden; man
ſprach der Univerfalficche die Kraft ab, fich aus fich ſelbſt
zu regenerviren. Ä
Im Iahre 1365 forderte die avignonenſiſche Curie
ben ihr unter Innocenz III. durch Johann Ohneland zu=
geftandenen Lehnszins von England aufs neue und zu—
gleich die Nachzahlung der Rückſtände feit 33 Jahren.
Johann Hus. 5
Der ritterliche, heldenhafte Eduard III. und das Parla⸗
ment von 1366 erklärten, weder König Johann noch
irgendjemand anders habe das Recht gehabt, das Reich
oder die Nation ohne Zuſtimmung der letztern einer
andern Macht zu unterwerfen. Urban V. mußte ſich mit
der Erkenntniß begnügen, einen politiſchen Fehlzug gethan
zu haben. In dieſer nationalen Angelegenheit ſtellte
Johann Wielif, Profeſſor der Theologie zu Oxford,
ſeine Feder in den Dienſt des Königs und der Nation.
Im Jahre 1374 wurde er Mitglied einer Geſandtſchaft,
die zu Brügge mit päpftlichen Delegirten über Leiftungen
Englands an ven Papft zu verhandeln hatte. Hier machte
er Duellenftudien zu dem ungeiftlichen Wejen, der Käuf-
lichfeit, dem Hochmuth und der Heimtüde der Curie,
immer fchärfer wurde von nun an feine Oppofition, als
Heilmittel für die verfeuchte Kirche empfahl er Armuth
derjelben. Als erzwingbar aber rechtfertigt Wiclif die
Armuth der Kirche mit folgenden Sätzen: Nicht Kaifer,
nicht Papſt, ſondern Gott allein ift die Duelle alles
Beſitzes. Er theilt venjelben an feine Gehorfamen aus,
ſodaß aller menfchliche Befit Fein dominium ift, fondern
nur ein ministerium. Wer durch Todſünde Gott un-
gehorſam wird, verliert vor Gott fein Befigrecht. Aber
8 Tann ihm fein Lehen auch rechtlich abgejprochen werben,
ben fündigen Priejter durch König, Parlament, Concilien
und Synoden. Denn über allen weltlichen Dingen, auch
über den Temporalien der Kirche fteht die Königsgemwalt,
fie bat zu forgen, daß das ber Kirche gefchenfte Gut ben
ihm zugedachten Zwed erreiche. So können nicht blos
weltliche Herren ber Kirche ihre Zemporalien nehmen,
werm biejelbe beharrlich fehlt, auch dürfen fie e8 nicht
blos, fondern fie find ſogar fittlich verpflichtet, dies zu
thun. — Es fchwebt Wiclif, wie jo manchem bedeutenden
6 Johann Hus.
Kirchenlehrer vor ihm, das Ideal einer politia evan-
gelica, eines „evangelifchen Staates“ vor, habens omnia
in communi, mit Gütergemeinfchaft unter Ausfchluß jedes
Sondereigene. Er warnt aber ausbrüdlich vor Mis-
brauch feiner Theorie vom Beſitzrecht. Offenbar arbeitet
in Wiclif fchon Die moderne Staatsibee, bie damals fich
zu entwiceln begann und bejonvers in national gefinnten
Männern zünbete,
Auf Wiclif's Firchenpolitifche Periode folgt eine refor-
matorifche Periode. AS die erichredite Chriftenheit
das Schaufpiel erlebte, daß zwei Stellvertreter Gottes
bie furchtbarften Bannflüche widereinander fchleuderten,
und in jede Stabt, jedes ‘Dorf die Ziwietracht geworfen
war, da warb die Bahn frei für Fühneres Vorwärts⸗
ſchreiten. Wiclif geht zu rüdhaltslofer Belämpfung des
Papſtthums über: der Papft ift der Antichrift. Mit der
ganzen fittlichen Enträftung des Chriften und Patrioten,
aber dennoch wilfenfchaftlich nobel ftellt er in ber Streit-
ichrift: „De Christo et suo adversario Antichristo“,
bie für die ganze Art feiner Polemik als typiſch gelten
kann, zwölf Antithefen auf; die elfte ſetzt Chriftum, ven
prunflojen und bienjtbereiten, dem Papſte mit feinem
prächtigen Hofftante entgegen, ver felbft vom Kaifer
Knechtsdienſte fordere. In der zwölften jagt er, Chriftus
habe Weltruhm und Geldgewinn verachtet, vom Papſte jet
alles käuflich. Daraus ergibt fih ver Schluß: Niemand
ſoll dem Papfte folgen, foweit derſelbe nicht ſelbſt Jeſu
Chrifto nachahmt, noch foll ver Papſt über das hinaus
Gehorſam fordern, was bie Schrift ihrem hellen Sinne
nach bezeugt. ‘Denn wenn jemand irgenpwelchem Chrijten
weiter müßte folgen, könnte er leichtlich von Chriſti Fuß⸗
jtapfen abweichen. Dem Kampf gegen den Papft tritt
ver Kampf gegen feine Vorfechter zur Seite, gegen bie
Johann Hu. 7
Bettelmönche. Aufbauende Arbeit aber that Wichf in
Predigt und Seeljorge, Bibelüberfegung und in ber Er-
richtung eines Wanderprediger⸗Inſtituts. Seine „armen
Priefter” jollten in das geiftliche Arbeitsfeld der Bettel-
mönche eintreten und unter freiern Formen eine Löſung
ber Aufgaben verfuchen, welche von biejen nicht erfüllt
worden waren.
Wir brauchen auf Wiclif’8 Lehre bier nicht des
Nähern einzugehen, e8 find eine ganze Reihe Punkte des
firchlichen Lehrſyſtems, die der doctor evangelicus von
ber Bofition der alleinigen Autorität des göttlichen Wortes
aus angreift. Das „Erpbebenconcil“ von 1382 verdammte
jeine LXehren, die Univerfität fchloß ihn aus, aber weder
ſeines geijtlichen Amtes wagte man ihn zu berauben, noch
gar zu ercommuniciren. Er ftarb im Trieben feiner
Landpfarre 1384. Welch ohmmächtige Rache, wenn
43 Jahre nachher noch feine Gebeine aus dem Grabe
geriffen und verbrannt wurden und vie Aſche in fließendes
Waffer geworfen! Mächtiger lobte das Feuer, das ber
gewaltige Mann, der die Regungen ver englifchen Volks⸗
jeele verftanden wie fein Zeitgenoffe, für ein langes Jahr⸗
hundert in feinem Vaterlande entfacht Hatte. Längft auch
waren die Funken hinübergeflogen nach dem waldigen
Böhmen und hatten ver Wiclifie dort in Huffens Perjon
die Strahlenfrone des Martyriums eingetragen.
Bedeutſam wurde für Johann Hus das Jahr 1402.
Er empfing die Priefterweibe und wurde „NRector und
Pfarrer” an der Bethlehemsfapelle, fein Amt beſtand
nicht im Meſſeleſen und fonftigen pfarramtlichen Ge-
ihäften, ſondern in fonntäglicher czechiicher Predigt für
das „gemeine Voll”; mit dieſer Beſtimmung war bie
Raplansftelle an Bethlehem funbirt worden. Mit dem
Empfang der Priefterweihe ging eine Wandlung in Hus
8 Johann Hus.
vor fih, und durch den Prebigtbienft an ber Gemeinde
wurde er zu immer größerer Vertiefung in Gottes Wort
veranlaßt; zudem lernte er um jene Zeit nach den philo-
ſophiſchen Schriften Wiclif's auch die theologifchen Tennen.
Nunmehr eriheint Hus in all feinem theologifchen und
kirchlichen Denken als eine geſchloſſene, Flare Perjönlich-
feit, die fich in allem Wefentlichen gleich bleibt. Er wurde
der Mann, der die focialen Wünfche, die Firchlichen Reform:
ideen, die nationalsczechiichen Gedanken feiner Lands⸗
leute in gleich beveutender Weiſe zu charakternollem Aus-
brud zu bringen verjtand.
Seine reformatorifhen Gedanken bewegen fich
um die beiden ‘Pole des „Geſetzes Chriſti“, d. b. des
göttlichen Wortes, als einziger Glaubensnorm und ber
wahren Kirche Ehrüti, an deren Heritellung zu belfen
das höchite Ziel feiner Arbeit und Kämpfe war. Aus
dem eriten Grundſatze folgt ihm ab, daß man Concilien
und päpftlichen Bullen nur glauben fann, wenn fie etwas
ausfprechen, was aus der Schrift gejchöpft oder mittelbar
auf die Schrift gegründet if. Der Papft und jeine
Curie kann irren und irreleiten. Und die Mitgliedſchaft
in der Kirche Chriſti ift nicht abhängig von ber äußern
Anerkennung durch die Hierarchie oder von der Zugehörig-
feit zu dieſer, ſondern ausfchlieglih von der Erfüllung
des göttlichen Geſetzes. Es kann jemand in ver Kirche
fein, äußere Mitgliedfchaft, ja felbjt Aemter und Würden
in derjelben haben, ohne doch von ber Kirche zu fein;
wer aber von der Kirche ift, wer gegen Gottes Gefek
ſich nicht verhärtet, der ift auch in der Kirche. Wer
nur in der Kirche ift, nicht aber von ihr, ver gleicht
der Spreu unter dem Korn auf der Tenne, dem Unkraut
im Weizenader.
In feinen focialen Anfhauungen geht Hus wie
Johann Hus. 9
Wiclif von dem Gedanken, daß die ganze Menſchheit
einen großen Lehenscompler bildet unter dem oberſten
Lehnsheren Gott, und von der Todſünde aus. Durch
fie verliert fein geiftliche® Amt und feinen weltlichen
Befig, wer e8 auch fei, denn „ſeine weltliche oder geift-
liche Herrichaft, fein Amt und feine Würde wird von
Gott nicht gebilligt”. Diejenigen, „welche ihren Beſitz
gegen göttliches Gebot verwalten und gebrauchen, haben
fein Recht an dieſem Beſitz“; „ver Beſitz irgendeines
Gutes von feiten eines Ungerechten und Gottlofen (ijt)
ein Diebftahl und ein Raub“.
Sn der praftifhen Verwerthung feiner Ge-
banfen wurde Hus allmählich erjt ver Mann, ber von
feinem Gewiſſen geprungen nach Reformationen ftrebt in
DOppofition zu dem kirchlichen Regiment, das für den
verwahrloften Zuftand ber Chriftenheit fein Auge haben
will. Anfänglich glaubte er, für und mit feinen Obern,
was er für recht erfannt, in die Wirklichkeit einführen
zu fönnen. Der Wendepunkt in dieſem Verhalten wird
durch das Jahr 1410 bezeichnet.
Im Jahre 1403 gelangte Dr. Sbynko von Haſen—
burg auf den prager erzbiſchöflichen Stuhl, ein Mann
von geringer theologiſcher Erkenntniß, aber des ernſten
Vorſatzes, ſeine Geiſtlichkeit in Zucht zu nehmen. Er
beſtellte Hus zum Synodalprediger, und es waren
ernſte Strafpredigten, die der Klerus ſeitdem bei Er-
öffnung der böhmischen Provinzialconcilien zu hören be—
tom. Hus ließ e8 nicht bei allgemeinen PVorftellungen
bewenben, jondern nannte bie Mängel beim rechten Namen
und ftellte fie anfchaulich dar, ſodaß Klerifer, welche fich
getroffen fühlten, dem muthigen Manne begreiflicherweiſe
todfeind wurben. Al ferner Wilsnad im Branden-
burgiſchen Walffahrtsort für Tauſende und aber Tauſende
10 Johann Hus.
wurde, die dem heiligen Blute zuliefen — an drei Hoſtien
ſollte das Blut Chriſti ſinnlich ſichtbar geworden ſein —,
unterſuchte Hus im Auftrage des Erzbiſchofs mit zwei
Collegen eine Anzahl der Wunderheilungen, die daſelbſt
ſollten bewirkt worden ſein, und als ſich dieſelben als
nichtig herausgeſtellt, wurde für Böhmen das Laufen nach
Wilsnack verboten. Hus ſchrieb zur Rechtfertigung des
Verbotes die Abhandlung: „Daß alles Blut Chriſti
verklärt ſei“ Es ſind noch andere Maßnahmen, die zur
Beſſerung des kirchlichen Weſens in jenen Jahren im
Sinne Huſſens vorgenommen wurden. Der Abweſenheit
der Pfründeninhaber von ihren Gemeinden wurde ge⸗
ſteuert, regelmäßige Viſitation eingeführt, dem Schenken⸗
beſuch, dem leichtfertigen und unzüchtigen Leben vieler
Kleriker nachdrücklich gewehrt. Huſſens Wiclifismus
wurde in keiner Weiſe Gegenſtand der Erörterung; ein
Verbot der Univerſität an die Docenten, gewiſſe Sätze
Wiclif's vorzutragen, wurde auf Huſſens Verwendung
ſpäter ſogar dahin beſchränkt, jene Artikel nicht in einem
irrigen Sinne vorzutragen oder zu vertheidigen.
Das Einvernehmen zwiſchen Sbynko und Hus
wurde geſtört durch eine Beſchwerde der Diöceſangeiſt⸗
lichkeit an den Erzbiſchof, Hus habe bei ſeinen Predigten
in der Bethlehemskapelle die Geiſtlichkeit vor dem Volke
angeſchwärzt, das Volk zu ihrer Verachtung und zum
Haſſe aufgeſtachelt. Hus verantwortete ſich zwar, aber
wurde von Sbynko doch feines Amtes als Synodal⸗
prediger enthoben, bald darauf auch öffentlich durch erz⸗
biſchöflichen Anſchlag an allen Kirchthüren als ungehor⸗
ſamer Sohn der Kirche getadelt und ihm die Ausübung
ſeines Prieſteramtes unterſagt. Vollſtändig wurde der
Bruch zwiſchen beiden Männern durch die Verſchiedenheit
ihrer Stellung gegenüber der Papſtſpaltung. Als
Johann Hus. 11
nämlich das päpſtliche Schisma dadurch beſeitigt werden
ſollte, daß die Kardinäle zu Piſa einen neuen Papſt
wählen und Gregor XII. von Rom und Benedict XIII.
bon Avignon zur Abdankung zwingen wollten, wünſchte
die Krone Böhmen wie andere Staaten bie Neuwahl zu
fördern durch Erklärung ihrer Neutralität gegenüber ben
beiden Päpften. ‘Der Erzbifchof mit feinem Klerus, zur
Aeußerung aufgefordert, meinte von Gregor nicht abgehen
zu können, an der Univerfität waren bie bairifche, polniſche
und ſächſiſche „Nation“ verjelben Anficht, die böhmifche
aber willfahrtete bem König unter tem maßgebenden Ein-
fiuffe von Hus. Dieje Tirchenpolitiihe Spannung wurbe
verfchärft durch das mächtig geworbene nationale Sonder⸗
gefühl der Böhmen gegenüber ven Deutichen, und obgleich
ber König anfänglich noch nach jenen Verhandlungen vie
Deutichen feiner Geneigtheit verfichert, wechjelte feine
Stimmung doch bald, und er decretirte zu Anfang bes
Sahres 1409 im Sinne der Gzechen, daß fortan bei
allen Wahlen und Handlungen ver Univerfität Prag von
ben abzugebenden vier Stimmen nicht mehr jede Nation
eine haben folle, fondern die Böhmen deren drei, alfo
die Baiern, Polen und Sachſen zufammen nur eine.
Bier Tage darauf folgte das Mandat, wonach niemand
im Königreich, weder geiftlichen noch weltlichen Standes,
con jest an Gregor XII. als Bapit anerkennen und ihm
Gehorſam leiften dürfe. Die befannte Folge jenes Fönig-
lichen Decrets war die Auswanderung der beutichen
Doctoren, Magiſter und Stuventen aus Prag, bie ber
Mehrzahl nach die Univerfität Leipzig gründeten. In
Prag wurde Hus der erfte Rector der umgeltalteten
Univerfität und ein öffentlicher Charakter, der Huſſitismus
erhieit die Oberhand in ganz Böhmen. Er wird charal-
terifirt durch den Zug nach innerfirchlicher Reform auf
12 Johann Hu.
Grund des göttlichen Wortes, das Verlangen nad)
Befjerung ber focialen Verhältnifie durch Einziehung des
Kirchenguts, und durch die kraftvolle Geltendmachung
nationaler Sonderideen. Hus ftand auf ber Höhe feines
Lebens, er genoß die Gunft des Hofes, die Königin
hörte ihn gern prebigen, und war vor allem ver Mann
des Volkes.
Der erbitterte Erzbifchof Iegte feine Gegenminen. Es
ging eine öffentliche Rüge wider bie Stellung ber
Magifter der böhmischen Nation in der Papftfrage aus,
Hus war darin mit Namen genannt. Hus antwortete mit
einem Tadel des Erzbifchofs, daß derſelbe Gregor XII. doch
ſchließlich verlaſſen und dem neugewählten Aleranver V.
jeine Obebienz erflärt babe. Dann beauftragte Sbynko
feinen Inquifitor, Hus wegen vorgetragener Irrlehren
und aufreizender Predigten aufs Korn zu nehmen, und
Alerander V. wurde, wie Hus behauptete, beftochen,
in einer Bulle den Erzbiichof anzuweiſen, daß er gegen
bie Verbreitung von Irrlehren einfchreite, Widerruf ber-
jelben und Ablieferung Wichf’iher Schriften erzwinge,
auch das Predigen an Orten, wo e8 nicht altherfömmlich,
unterjage.
Die Broclamation der Bulle am 9. März 1410 und
bie Verbrennung von über 200 Bänden Wiclif'ſcher
Schriften bei Glodengeläute und Tedeum-Geſang ent-
feffelte eine VBolfsbewegung, die dem Erzbifchof die Popu-
farität Huſſens und feine eigene Unbeliebtheit aufs Flarfte
darthun mußte. Die Studenten und das Volk ergingen
fih in Gaſſenhauern:
Shynjef, Biſchof, U B C- Schiller,
bat Bücher verbrannt,
weiß nicht, was darin fteht!
oder:
Johann Hu. 13
Sbynjek bat Bücher verbrannt,
Zdenjek hat fie angezündet,
zur Schande der Ezechen.
Wehe allen treulofen Bfaffen!
Es kam auch zu Thätlichkeiten von beiden Seiten.
Der Erzbifchof aber ging noch weiter und fprach über
Hus und alle, die mit ihm wider die Ausführung ber
Bulle an ben befjer zu unterrichtenden Papſt appellirt
hatten oder fich der Appellation noch anschließen würden,
den Bann aus. Hus blieb jedoch getroft, die Stabt-
bebörden, mehrere Barone des Landes, ja felbft König
und Königin verwendeten fich für ihn. Er prebigte nad)
wie vor in feiner Bethlehemskapelle vor vielen Zuhörern.
Dabei ftreifte er auch die Zeitfragen, und es kam zwifchen
Prediger und Gemeinde zu beftärfender Rede und Gegen-
rede. Wir hören ihn ausrufen: „Siehe ver Papft jchreibt,
ed gebe viele unter uns, deren Herzen der Ketzerei voll
ſeien. Ich aber fage und danke Gott, daß ich feinen
ketzeriſchen Böhmen kenne.“ Und das ganze Volk ant-
wortet mit dem Rufe: „Er lügt, er lügt!“ (nämlich
der Papſt). Hus Spricht weiter: „Ich habe gegen bie
Befehle des Erzbiſchofs appellirt und appellire fortan:
wollt ihr euch mir auch anschließen?” Die Antwort
lautet: „Das wollen wir, wir fchließen ung an!’ „Fürchtet
die Ercommunication nicht“, fährt der Prediger fort, „ihr
babt mit mir nach Brauch und Gewohnheit der Kirche
appellirt!” Ja, er wirft die Worte in das Volk hinein:
„Es wäre wahrhaftig nothwendig, daß wir, mie es im
Alten Bunde durch Moſen befohlen war, uns mit dem
Schwert umgürteten und Gottes Geſetz vertheidigten!”
Sbynko fchritt zwar, weil er auch den auf Alerander V.
gefolgten Sobann XXI. für fich gewonnen, bis zum
14 Johann Hus.
Interdict über die Stadt Prag fort, aber die Ohn⸗
macht der Hierarchie wurde nur um fo offenfundiger.
Ein endlicher Einlenfungsverfuch fam, weil Sbynko darüber
ftarb, nicht zur Perfection, doch legte fih der Sturm
damit für einige Zeit. Der Angelpunkt des Conflicts
it Huſſens Wiclifie gewefen.
Bald genug aber kam e8 zu neuen Reibungen
zwijchen ben Wiclifiten und ver Hierarchie. Der PBapft
Johann XXIII. rief 1411 die Chriftenheit zu einem
Kreuzzuge gegen König Ladislaus von Neapel auf,
weil er won Gregor XII. nicht lafjen wollte. Die Theil⸗
nehmer und örberer bes Krieges follten deſſelben Ab-
laſſes theilbaft werden, wie er ven Kreuzfahrern ins
Heilige Land einft geſchenkt worden ſei. Hus und feine
Partei erklärte fich gegen ben Kreuzzug und Ablaf-Unfug
in Schrift und Predigt und auf dem Katheder. Bei
einer großen Disputation an der Univerfität feierte Huſſens
Freund Hieronymus von Prag einen glänzenden Sieg.
Er begeifterte die Studenten dermaßen, daß fie vom Rector,
ber ven Vorſitz führte, kaum beichwichtigt werben konnten;
nach dem Acte geleiteten fie Hieronymus und Hus feier-
th nah Haufe. Ein bei Hofe angejehener Edelmann
aber veranftaltete einen den Papſt beſchimpfenden Auf-
zug. Man führte öffentliche Dirnen mit ven päpftlichen
Bullen am Halje auf einem Wagen durch bie Stabt,
Herolde vorauf und umgeben von Wiclifiten in großer
Zahl, die mit Schwertern und Knütteln gerüftet waren.
Sodann wurden die Bullen öffentlich verbrannt. Im
biefer neuen Phafe des Streited ging eine Scheivung
innerhalb ver huffitiichen Partei vor fich, eine Anzahl bis⸗
heriger Freunde von Hus ftanden ftill und mwurben jogar
feine Feinde. Hus verhöhnte fie daher als „Krebje”.
Der Papſt dagegen ließ den über Hus und feine An-
Sobann Hus. 15
hänger verhängten Kirchenbann in allen Kirchen Prags
verfündigen. Wenn Hus nicht Buße thue, folle ihm
niemand Speife und Trank, Gruß und Berberge ger
währen. Jeder Ort, wo er weile, folle unter dem Inter-
diet ftehen. Die Ausführung des Interdicts in Prag
hatte eine fo große Aufregung im Gefolge, daß König
Wenzel Hus anfforberte, auf eine Weile freiwillig ins
Eril zu gehen, er wolle feine Ausfühnung mit der Geift-
lichfeit vermitteln.
Hus verließ die Stadt im December 1412, nachdem
er in einer Denkſchrift vom Papſte an ben oberften
Richter Jeſum Chriftum appellirt hatte. Es heißt darin:
Wenn es Anorbnung aller alten Rechte ſei, des göttlichen
beider Zeftamente und des kanoniſchen, daß bie Richter
ih an den Thatort zu begeben hätten, um bafelbjt über
das dem Angeflagten oder Verbächtigten vorgerüdte Ver-
brechen Leute zu befragen, die ven Angeklagten Tennen
und nicht feine Nebenbuhler und Feinde find, und wenn
ber Angellagte fichern Zutritt haben und ber Richter
mit den Zeugen nicht fein Feind fein bürfe: jo ſei er
offenbar vor Gott feiner Wiberfpenftigfeitt und Ex—⸗
communication entjchulbigt, denn dieſe Bedingungen träfen
bei ihm nicht zu. Er richte diefe Appellation an ven
Herrn Jeſum Chriftum, den gerechteften Nichter, der jedes
Menſchen gerechte Sache kenne, fchüge und richte, an den
Zag bringe und ohne Möglichkeit einer Entfräftung be-
ohne. — Hus hielt ſich meift in zwei Burgen der Um-
gegend auf, predigte vor den Scharen, die ihm zuftrömten,
trat auch hin und her als Neifeprediger auf, jchrieb feine
Hauptichrift „Von der Kirche” und ftärkte feine prager
Freunde durch tröftliche, zuverfichtliche Briefe. „Ich bitte
euch”, Schreibt er einmal, „daß ihr erftlich die Sache Gottes
erwägt, der großes Unrecht gejchieht; denn es wollen
16 Johann Hus.
gewiſſe Leute Sein heiliges Wort unterdrücken, ein für
das Wort Gottes nützliches Heiligthum (die Bethlehems⸗
kapelle) zerſtören und die Menſchen ſo vom Heile fern⸗
halten. Erwäget ſodann die Schmach eures Vaterlandes
und eures Stammes, erwäget drittens vornehmlich den
Schimpf und das Unrecht, das man euch ungerechterweiſe
zufügt. Erwäget viertens und tragt es mit Gleichmuth,
daß der Teufel gegen euch wüthet und der Antichriſt die
Zähne fletſcht; doch wird er wie der Hund an der Kette
euch nichts ſchaden, wenn ihr Liebhaber der göttlichen
Wahrheit ſeid!“
Huſſens Exil hat eine doppelte Bedeutung, einmal
verbreiteten ſich nun ſeine Anſchauungen nur um ſo weiter,
und ſodann löſte ſich in Prag ſeine Sache von ſeiner
Perſon; es wurde klar, daß ſie auch unabhängig von
ihm lebensfähig geworden ſei. Die unermüdlichen Schritte
des Königs aber, den großen Conflict zu vergleichen,
blieben ohne Erfolg, die beiden Parteien waren ſchon viel
zu weit auseinander. Da kam die Sache Huſſens uner⸗
warteterweiſe auf die Tagesordnung des ökumeniſchen
Concils von Konſtanz. Sigismund, König von Ungarn
und römiſcher König, mochte der Meinung ſein, daß über
die angeblichen Ketzereien in Böhmen, auf die nachgerade
von allen Seiten mit Fingern gewieſen wurde, das Concil,
das ſein Werk war, ſehr gut mit befinden könne. Und
Hus ging auf Sigismund's Anerbieten aufs bereitwilligſte
ein. Wünſchte er doch nichts ſehnlicher, als ſich öffent—
[ih und volljtändig vertheibigen zu können. Der König
ficherte ihm freies Geleit zu.
Hus beftellte für alle Fälle fein Haug und nahm in
einem bebeutjamen Briefe von feinen böhmischen Freunden
Abſchied. „Betet eifrig”, heißt e8 darin, „geliebte Brüder,
geliebte Schweitern, daß Chriftus mir Beftändigfeit geben
Johann Hus. 17
und mich vor einem Makel bewahren wolle. Und wenn
mein Tod zu Seinem Ruhm und eurem Nutzen etwas
beiträgt, ſo wolle er mich ihn ohne verwerfliche Furcht
ſterben laſſen. Wenn es uns aber mehr nützt, wolle er
mich euch zurückgeben und ohne Makel hin- und zurüd-
führen, bamit wir fernerhin vereint Sein Geſetz lernen
und des Antichrifts Net einigermaßen zerreißen und ven
fünftigen Brüdern ein gutes Vorbild Taffen. Vielleicht
jeht ihr mich zu Prag vor meinem Tode nicht wieder;
wenn aber ver ftarfe Gott mich euch zurüdgeben will,
jo wollen wir uns gegenfeitig um jo fröhlicher wieber-
fehen; auf alle Fälle aber, wenn wir uns in ber bimm-
liſchen Freude zufammenfinden.” Im Auftrage Sigts-
mund's geleiteten Hus zwei böhmifche Barone, Wenzel
bon Duba auf Leftna und Johann von Chlum, genannt
Repfa. Der britte beftellte, Heinrich von Chlum auf
Latzenbock, ftieß erft in Konftanz zu ihnen. Bon gelehrten
Freunden reifte mit ihm befonders Beter von Mlapdeno-
wig, der über die Reife und den Proceß Tagebuch geführt
und die einfchlägigen Urkunden gefammelt hat. Er ift
unſer Hauptgewährsmann für die folgende Darftellung.
— — —
Am 11. October nahm die Reiſe ihren Anfang. Sie
führte über Weiden, Sulzbach zunächſt nach Nürnberg.
Dort hatten voraufziehende Kaufleute Huſſens Ankunft an⸗
geſagt, darum ſtand das Volk auf den Straßen, gaffend
und fragend, welcher der Hus ſei. In den folgenden
Städten that die Vorläuferdienſte der Biſchof von Lübeck,
der in Tagemarſchweite vorausreiſte und ausſprengte, daß
man Hus auf einem Wagen in Ketten geführt bringe;
jo lief man ſcharenweiſe wie zu einem Schauſpiel ent-
XXIII. 2
18 Sohann Hus.
gegen, wenn die Böhmen nahten. Ueberall wurde ber
Mann, veffen Namen in aller Munde war, gut auf-
genommen, ja geehrt; ſodaß feine vorgefaßte Meinung
vom Haſſe der Deutjchen gegen ihn ſeit der Kataftrophe
an der prager Univerfität durch die Thatſachen felbit
corrigirt wurde. „Wiſſet auch”, fchreibt er an feine
böhmischen Freunde von Nürnberg aus, „daß ich bisher
feinen Feind gemerkt habe.” „Alſo befenne ich, daß bie
Feindſchaft wider mich von feiner Seite größer ift ale
von den Einwohnern des Reiches Böhmen.” In Nürn-
berg und andern Städten ließ er beutiche und Tateinifche
Anfchläge an den Kirchthüren machen, worin er fund-
that, daß er nach Konftanz reife, um von dem Glauben
Rechenſchaft zu geben, ven er bisher gehabt, noch habe und
bis zum Tode mit Chrifti Hülfe behalten werde. Wer
ihn eines Irrthums oder einer Ketzerei bezichtigen wolle,
möge dies vor dem Concil thun, dort fei er bereit, Rede
zu jtehen. Es fanden Unterredungen mit Geiftlichen und
Gelehrten ftatt, Hus redete auch zu dem Volfe, und es
war „dankbar, wenn e8 die Wahrheit hörte‘. So war
neben der Neugier an Huffens Perjon ein Intereffe an
jeiner Sache unverkennbar. Von Nürnberg reifte Herr
Wenzel von Duba dem Könige an ven Rhein nach, um
ben veriprochenen Geleitöbrief für Hus in Empfang zu
nehmen, während diefer mit Johann von Chlum birect
nah Konftanz fich wendete. Die Ankunft in Konftanz
erfolgte am 3. November, Hus nahm Quartier in ver
Paulsgaffe bei einer guten Frau, der Witwe Fida, in
ber Nähe der päpftlichen Herberge. Am 5. November
traf Wenzel von Duba ein mit dem zu Speier am
18. October ausgefertigten Geleitsbrief. Durch venfelben
nahm Sigismund den zum Concil reifenden Magijter
Hus in der bei folchen Urkunden gewöhnlichen Form in
Johann Hus, 19
feinen und des Heiligen Römifchen Reiches Schub und
befahl allen Neichsangehörigen, ihn freundlich aufzu-
nehmen, gut zu behandeln und ungehinvert hin- und
zurüdpaffiren zu laffen.
Huffens Gegner hatten ihre Arbeit wider den DVer-
haßten längft begonnen. Noch in Böhmen hatte man
acht Belaftungszeugen eidlih zu Protokoll vernommen,
bie über ketzeriſche Sätze des Magifters in Gefprächen
und Predigten Ausfage thaten. Hus befam jedoch nicht
blo8 Kunde davon, fondern ſelbſt eine Abjchrift des Schrift-
ftüdes von der Hand des Notare, der die Zeugen ver-
hört Hatte. Er ftellte die Ausfagen durch Interlinear-
bemerfungen und Zuſätze zurecht: „Gott hat mir beſchieden,
baß ich die Feinde kennen lerne und ihre Lügen wiber-
lege.” Im Konftanz waren befonders Michael von
Deutſchbrod und Stephan von Paleg gegen ihn
thätig. Michael war ehemals Pfarrer von St.-Adalbert
in Prag und kürzlich vom PBapfte zu dem wichtigen Anıte
eines Sachwalters in Glaubensfachen (procurator de
causis fidei) ernannt worden. Paletz war ein einftiger
Sugendfreund und Gefinnungsgenoffe von Hus, erit 1412
wurde er fein Gegner. Michael de causis, wie man
ihn zu nennen pflegte, fing gleih am Tage nach Hufjens
Ankunft an, Plakate an die Kirchthüren anheften zu laffen
„wider den excommunicirten, hartnädigen, ber Ketzerei
verbächtigen Johann Hus“. Er that e8 mit Lärm und
öffentlichem Aufſehen. Später vereinigte er ſich mit
Paleg; fie nahmen mehrfache Zufammenftellungen gegen
Hus gerichteter Artikel vor, die theilmeife aus deſſen
Schrift „Bon der Kirche” gezogen fein follten, und eilten
von einem Prälaten zum andern, um Hus anzujchwärzen
und feine Gefangennehmung auszuwirken. Hus felbft
verhielt fich diefen Umtrieben gegenüber ruhig und würdig.
9%
20 Johann Hus.
Am 4. November begaben fich die beiden Herren von
Chlum zu Johann XXIII., um ihm Huffens Ankunft zu
melden und ihn um feine Hülfe zu bitten, daß Hus nicht
beeinträchtigt werde. Der Papft antivortete, das wolle
er weber felber, noch wolle er geftatten, daß es gefchehe,
auch wenn Hus ihm ven leiblichen Bruder getöbtet hätte.
Segen die öffentlichen Anfchläge aber wollte er nichts
thun: „Wie könnte ich das? Gehen fie doch von euren
eigenen Leuten aus!“ Gemäß weiterer Abmachungen that
auch Hus nichts dagegen, der Bapft aber fuspendirte das
Snterbict und den über Hus verhängten Bann. Hus
fonnte die Stadt und ihre Kirchen frei befuchen, nur
jollte er nicht dem Hochamt beivohnen, um jeden Anftoß
zu vermeiden. Doch machte Hus von dieſer Erlaubniß
feinen Gebrauch. Er blieb ftets zu Haufe, mit Ent:
würfen zu Vorträgen vor dem Concil bejchäftigt.
Da wurde am 28. November Hus plöglich ver-
haftet. Man hatte das Gerücht verbreitet, der Kebker
habe aus der Stadt zu entweichen verjucht; e8 war zwar
unzweifelhaft falich und bafirte auf einem höchſt harm⸗
Iojen Vorkommniß — die auf den Heueinfauf ausziehenden
Knechte der Böhmen hatten anfänglich die Plane des
Wagens nicht abgenommen —, aber e8 wurde Veran⸗
laſſung für einen großen Gewaltact. In der Mittags-
jtunde des genannten Tages jchidten der Papft und bie
Carbinäle die Bifchöfe von Augsburg und Trient, ben
Bürgermeifter von Konftanz und einen Herrn Hans von
Baden in Hufjens Herberge, um ven Magifter zu holen.
Er babe früher gewünjcht, zu ihnen zu reden, fie ſeien
nunmehr bereit, ihn zu hören. Da ftand zuerft Johann
von Chlum vom Tijche auf und ſprach mit großer Heftig-
feit, denn er ahnte vie wahre Abficht der Geſandtſchaft,
Hus jtehe in des Kaifers Schuß, und er fei vor Sigis-
$obann Hus. 21
mund für bie perfönliche Sicherheit Huffens verantwortlich.
Es ſei des Kaiſers erflärter Wille, daß vor feiner An-
funft in Konftanz in Huffens Sache nichts vorgenommen
werde. Er warne bie Gejandten, der Ehre des Königs
zu nahe zu treten. Der Bilchof von Trient entgegnete,
man jei einzig in friedlicher Abficht hergefommen und
münfche alles Aufjeben zu vermeiden. Da ſtand auch
Hus vom Tiſche auf und erflärte: „Ich bin zwar nicht
nur zu ben Garbinälen bierber gelommen und habe
niemals begehrt, zu ihnen allein zu reden, fondern zum
ganzen Concil bin ich gekommen und will bort reden,
was Gott mir gibt und worum man mich fragt; aber
bennoch bin ich auf bie Bitte der Herren Carbinäle bereit,
jofort zur ihnen zu kommen, und wenn ich über etivas
befragt werbe, hoffe ich Lieber ven Tod wählen zu wollen,
ehe ich die mir aus ber Schrift ober ſonſtwie erfannte
Wahrheit verleugne.“ Darauf erneuerten die Gefanbten
ihre Bitte freundlich, aber fie hatten doch das Haus und
die Nachbarfchaft mit ſtädtiſchem Kriegsvolk bejegt. ALS
Hus die Treppe herabitieg, eilte ihm feine Wirthin weinend
entgegen, er fegnete fie zum Abſchied, dann ritt er mit
der Gefandtichaft und Johann von Chlum nach dem
biihöflichen Palais, wo ber Papft feine Wohnung hatte,
Es empfingen ihn die vwerjammelten Garbinäle und
ſprachen: „Magiſter Iohannes, Vieles und Wunder-
fihes jagt man von Euch, daß Ihr viele Irrihümer hegt
und im Reiche Böhmen verbreitet habt; deswegen haben
wir Euch rufen laffen, um mit Euch zu reden, ob dem
alfo jei.” Hus erwiberte, er wolle lieber fterben, als
an einem Irrthum feithalten; fobald man ibm einen
Irrthum nachweife, ſei er in Demuth bereit, ihn abzu-
legen. Die Verſammlung erklärte dazu ihre Befriedigung
und verließ dann ven Saal, Hus blieb mit feinem Be-
22 Sobann Hus.
Ihüßer unter militärischer Bedeckung allein. Um 4 Uhr
des Nachmittags verfammelten fi die Carbinäle aber-
mals in der Wohnung des Papſtes, um über Hus einen
Beſchluß zu fallen. Es waren auch die Böhmen babei,
von der einen Seite bejonder8 Michael und Palek, aber
auch Freunde des Angeklagten. Erftere boten neuerdings
alles auf, um einen Rückſchritt unmöglich zu machen, und
gaben fich feine Mühe, die Schabenfreude über ihre Er-
folge zu verbergen. Hüpfend vor Freude riefen fie aus:
„Ha, ba! nun haben wir ihn; er wird uns nicht ent-
gehen, bis er ven legten Heller bezahlt” (Matth. 5, 26).
Als es fchon ſpät geworben war, erichten ber päpftliche
Haushofmeifter vor Chlum und Hus mit dem Beichluffe,
Chlum fönne gehen, Hus aber müffe pableiben. Da eilte
der Ritter in höchſter Entrüftung, daß man unter bem
Vorwand einer gütlichen Conferenz den Magifter gefangen
genommen, aljogleich zum Papſte, den er noch in ber
Verfammlung antraf. Er warf dem Papfte mit dürren
Worten Wortbrüchigfeit vor, er wolle feine Stimme laut
erheben wider alle, welche die Föniglichen Briefe gebrochen.
Der Bapft jedoch rief die Carbinäle zu Zeugen auf, daß
er nimmermehr Hus habe gefangen nehmen Laffen, und
ſprach jpäter zu Chlum unter vier Augen; „Ihr wißt
ja, wie ich mit den Cardinälen ftehe; die haben mir ven
Gefangenen aufgedrungen, ich mußte ihn übernehmen.”
Daran ift richtig, daß in der That fchon des Papftes
Ziara ind Wanfen gelommen war, je länger je mehr
gewann bie Anficht Boden, daß zum Beten des Friedens
und ber Einheit der Kirche alle drei ſchismatiſche Päpfte
zur Nieverlegung ihrer Würde bewogen werden müßten,
aljo auch Sohann XXIL., der das Concil zu Teiten
gefommen war. Db aber in Sachen ber böhmifchen Ketzerei
Differenzen zwiichen dem Papſte und feinen Carbinälen
Johann Hus. 23
beſtanden, bleibt zweifelhaft. Hus wurde noch am ſelben
Abend in das Haus eines Domherrn von Konſtanz ge⸗
bracht und acht Tage lang von Bewaffneten gehütet.
Am 6. December wurde er in das Dominicanerkloſter
übergeführt, das auf einer Injel im Bodenſee dicht bei
ber Stadt lag. Ein finfterer, an eine Kloake ſtoßender
Kerker nahm ihn auf, fo ungefund, daß er darin nad)
einigen Wochen erkrankte.
Sohann von Chlum ftritt ritterlich für die Freiheit
feines Schützlings. Er beflagte fich öffentlich über ven
Papit und die Cardinäle und wies ven königlichen Geleits-
brief Grafen und Herren, Biſchöfen des Concils, auch
anfehnlichen Bürgern der Stadt vor. Sodann protejtirte
er fchriftlich durch Anfchläge an den Kirchthüren, vie er
eigenhändig beforgte. Man gab auch dem heranreifenven
König Nachricht von dem Schickſal Huffens, und ver flammte
auf, gab Befehl, Hus in Freiheit zu fegen, und brohte,
bie Thür ſeines Gefängniffes mit Gewalt erbrechen zu
laſſen. Doch wir werben fehen, daß Sigismund’s That-
kraft ſich in folchen Aeußerungen erichöpfte, zu durch⸗
greifendem Wollen für feine und des Neiches Ehre
gegenüber dem lügnerifchen Concil konnte er fich nicht
aufraffen.
Enblih in der CEhriftnacht, den 25. December ſpät
nah Mitternacht, hielt König Sigismund mit feiner
Gemahlin Barbara von Cilley, vielen fürftlichen Herren
und Frauen und einem glänzenden Gefolge von etiva
tauſend Berittenen, bei hellem Fackelſchein und ſchneidender
Kälte, feinen feitlichen Einzug in Konſtanz. Er günnte
ver Königin und den vornehmen Damen faum mehr ala
die Zeit, fich in geheizten Zimmern von ber Reife zu
erwärmen und ihren Anzug zu wechleln; dann begab er
ich noch vor Anbruch des Tages in feierlichen Zuge
24 Sobann Hus.
unter Fackelſchein in bie hellerleuchtete Kathedrale, wo
ber Bapft ihn empfing, der das Hochamt mit ungewöhn-
licher Pracht perfönlich feierte. Nach althergebrachter
Sitte diente der römische König dabei, als Diakonus
gekleidet, mit der Krone auf dem Haupte, am Altar und
fang mit Hangvoller Stimme das Evangelium: „Es ging
ein Befehl vom Kaifer aus.” Nach ver Mefje übergab
ihm der Papft ein geweihtes Schwert mit dem Bebeuten,
e8 zum Schirm der Kirche zu gebrauchen: was Sigis⸗
mund mit frendiger Bereitwilligfeit zujagte.
Die Eoncilsverhbandlungen nach ben Teiertagen
betrafen Hus und feine Gefangenjchaft. Sigismund ging
mehreremale erzürnt aus der Sikung weg, ja verließ
fogar einmal die Stadt. Aber die verfammelten Väter
jegten jeinem Recht, einem Unterthanen feinen Schuß
zu gewähren, ihr Recht entgegen, einen ver Ketzerei Ver-
bächtigen nach den beſtehenden Kirchengefegen zu richten,
und als er die Stabt verlaffen, Tießen fie burch eine
Gefandtichaft anfragen, wozu denn das Concil da wäre,
wenn er nicht geftatten wolle, daß es feine gejeßliche
Wirkſamkeit entfalte Es bleibe ihm nichts übrig als
auseinanderzugehen. Der fchwache Mann wagte nicht
geltend zu machen, daß er nicht die Zuftänpigfeit ber
Väter, über Hus zu befinden, bezweifle, wohl aber bie
Ehrlichkeit ihres Verfahrens. Somit ließ er feit dem
1. Januar 1415 dem Proceß gegen Hus feinen Lauf,
auch tröftete er fich mit der Autorität der geltend ge-
machten Meinung, daß da nach göttlichem und menfch-
lihem Rechte fein zum Nachtheil des Fatholifchen Glaubens
gegebenes Veriprechen gültig fein könne, er auch nicht ver-
pflichtet fei, das einem Keter gegebene Wort zu halten.
Somit war des Magifterd Top im Grunde fehon befiegelt,
benn bie Väter verjtanden es weder, noch waren fie willeng,
Johann Hus. 25
mit ihm wirklich zu verhandeln, ſie ließen ſich genügen,
ſtark genug zu ſein, ihn zu verdammen.
Am 4. December 1414 hatte ver Papſt zur Vor⸗
unterfuchung über Hus einen Ausjchuß von brei
Biſchöfen beitellt. Sie follten alle Maßregeln ergreifen,
bie fie zur Ermittelung und Sicherftellung der Wahrheit
binfichtlich der gegen Hus erhobenen Beichuldigungen für
nöthig erachten würden; das Enburtheil wurde ihnen
ausprücklich nicht anheimgeftellt. Die Commiſſion hielt
die üblichen Rechtsformen inne. Weil ein Inquiſit die
Zeugen, die in feiner Sache deponiren follten, mußte
ihwören jehen, jo führte man fie Hus im Gefängniß
zu, einmal nicht weniger als 15 an einem Tage, uns
geachtet eben damals Hus fo Frank war, daß für fein
Leben zu fürchten war. Der Angellagte bat um einen
Anwalt zu feiner Vertheivigung und um gegen die Zu-
laffung von perfönlichen Feinden zur Zeugenjchaft Ein-
wand zu erheben. Mean wies aber das Verlangen eines
Rechtsbeiſtandes für einen ber Ketzerei Verdächtigen
ſchließlich als ungefeglih ab, obgleih man anfänglich
demselben nachkommen zu wollen erklärt hatte,
Weiter legte die Commiffion dem Angeklagten fein
Buh „Don ber Kirche” vor, damit er die Autorjchaft
anerfenne. Sodann zog Stephan von Palet aus dem⸗
jelben 37 irrige Lehrſätze aus und nahm im weitern
5 Artikeln Bezug auf andere Lehr- und Streitichriften,.
auf verwerfliche Predigten, Briefe und andere Aeußerungen
des Inquiſiten. Diefe Anklagefchrift wurde Hus zu-
geitellt, al8 er fich von feiner Krankheit mit Hülfe der
päpftlichen Leibärzte und in einem geſündern Gelaß des
Kloſters einigermaßen erholt hatte. Er gab feine Verant-
wortung fchriftlich. Er führt die ihm ſchuld gegebenen Punkte
der Reihe nach buchftäblich auf und knüpft an jeden feine
26 Johann Hus.
Beleuchtung. Bon vielen Artifeln beweiſt er, daß fie
unrichtig aufgefaßt, verftümmelt und aus dem Zufammen-
hang geriffen feten, aljo einen andern Sinn gäben, als
er für fie vermeint gewefen. Von ben Artikeln, die er
anerkennt, beweilt er, daß die angeblichen Irrlehren viel»
mehr Wahrheiten feien, indem er fie aus ber Schrift,
auch wol aus den SKirchenvätern begründet. Hus hält
feine von uns oben entwidelten Gedanken über die wahre
Kirche Chrifti voll und ganz aufrecht.
Die erhobene Anflage noch auf einen weitern An-
klagepunkt zu erftreden, geitattete eine bei Huſſens
Anhängern in Böhmen inzwilchen eingetretene Cultus—
veränderung. Magijter Salob von Mies, das Haupt
ber böhmifchen Reformer nach Huffens Abreife, hatte be⸗
gonnen, die Rüdkehr zum Abenpmahlsgenuß unter beiberlei
Geftalt für die Laien nicht blos theoretifch zu fordern,
jondern thatfächlich einzuführen. Allein die Huffiten waren
fi über diefe Art ver Abenpmahlsfeier, die das Sinn-
bild ihrer Partei werben follte, damals noch nicht Har
und unter fich uneinig. Hus wies von Konftanz aus
in einem kurzen Aufjage die dogmatiſche Correctheit ver
communio sub utraque nach, meinte aber, daß es wenn
jomit auch erlaubt, doch nicht Pflicht fei, im Abendmahl
Brot und Wein zu genießen. Man möge dahin wirken,
daß durch eine Bulle Die Spenbung des Kelches an die
geftattet werde, welche ihn aus Anpacht begehrten. ALS
das Eoncil aber unter dem 15. Yuni 1415 den Kelch
für die Laien geradezu verbot, erfchten ihm dieſe Ueber-
ordnuug von Herfommen über Gottes Wort als Wahn-
wig, und er bat feinen Freund Hawlik, Prediger an
Bethlehem zu Prag, Jakob von Mies nicht Länger zu
iwiderftreben: „Leiſte dem Kelchſakrament des Herrn feinen
Wiberftand, das Ehriftus ſelbſt und durch feinen Apoſtel
Johann Hus. 27
eingeſetzt hat: denn die Schrift iſt nicht dawider, ſondern
allein eine nach meiner Anſicht aus Nachläſſigkeit ein⸗
geriſſene Gewohnheit. Nicht der Gewohnheit, ſondern
allein Chriſti Vorbild und der Wahrheit müſſen wir
folgen. Soeben hat das Concil, unter Berufung auf
das Herkommen, den Kelchgenuß von ſeiten der Laien
als Irrihum verdammt, und wer ihn ausübe, ſolle,
wenn er nicht wieder zu Einſicht komme, als Häretiler
beſtraft werden. O dieſer Schurkerei! Chriſti Einſetzung
als Irrthum zu verdammen! Ich bitte um Gottes willen,
daß du Magiſter Jakobell“ (fo gewöhnlich um feiner
kleinen Statur willen genannt) „nicht länger bekämpfſt,
damit keine Spaltung unter den Gläubigen entſtehe, worüber
ſich der Teufel freut.“
Die Unterſuchungscommiſſion zog ihre Arbeit ſehr in
die Länge, und es trat ein Ereigniß ein, das geeignet
war, Hus Hülfe zu bringen. Johann XXIII. hatte
in beſtimmteſter Zuſage verſprochen, dem Wunſche des
Concils zufolge zu reſigniren; bald aber ſuchte er wieder
Ausflüchte und entwich ſchließlich am 20. März ver-
kleidet aus der Stadt, um von einem ſichern Orte aus
die Auflöfung der unbequemen Verfammlung verkünden
zu können. Dem flüchtigen Papſte folgten auf feinen
Befehl alle feine ‘Diener, und fomit legten die Wächter
Huffens die Schlüffel zu deffen Gefängniß in des Königs
Hand und verließen die Stadt. Nun wäre es bem
Könige ein Leichtes geweien, feinem Geleitsbrief nach-
träglih Beachtung zu verjchaffen, aber welchen Zweck
hatte es, einem machtlofen Gefangenen gegenüber eine
Gewiffenspflicht zu erfüllen, wenn es die verfammelten
Väter ungnädig aufnahmen, die im Intereffe des Königs
um die Einheit ver Kirche fo Fräftig fich mühten! Der
König befprach fich im Gegentheil mit ven Vätern bes
28 Sobann Hus.
Concils, was mit Hus werben folle, und nach deren
Rath übergab er den Gefangenen noch an bemjelben
Zage, da er die Schlüffel empfangen (24. März), dem
Biſchof von Konſtanz. Hus hatte in feinen nach des
Bapftes Flucht gefchriebenen Briefen ſomit recht gehabt,
fih fanguinischen Hoffnungen nicht hinzugeben, ſondern
nur die Möglichkeit feiner Befreiung ins Auge zu faſſen.
Bergeblih war die DVorftellung der zu Meſeritz ver-
jammelten Stände von Böhmen und Mähren gemwejen,
bie zu Anfang des Jahres mit Appell an des Königs
fürftliche Ehre, unter Hinweis darauf, daß er Böhmen
zu erben gevenfe, für Hus VBefreiung aus ber un-
gefeglichen Haft und öffentliches, freies Verhör ver-
langt hatten, „damit, wenn jemand ihn eines Irrthums
halben anflagen wolle, er öffentlich fich vertheibigen könne,
wie er öffentlich und ohne Furcht das göttliche Geſetz
gepredigt bat. Und wenn er rechts- und ordnungsgemäß
bei einem Irrthum betroffen wird, foll gejchehen, was
bie Gerechtigkeit fordert”.
Der Biſchof von Konftanz brachte feinen Gefangenen
in fein fejtes Schloß Gottlieben am Rhein, dreiviertel
Stunden unterhalb ber Stabt. Dort wurde Hus im oberften
Geſchoß des weftlichen Thurmes untergebracht. Wenn er
im Gefängniß bei den Dominicanern noch hatte Briefe
ihreiben dürfen und Befuche empfangen, fo trug er jebt
tagsüber Fußfeffeln und wurde in der Nacht außerbem
auf feinem Bette mit Handfchellen an die Wand gefeffelt.
Die Nahrung war ganz Färglich, niemand wurde zu ihm
gelaffen, fein einziger Brief aus dieſer zehnwöchentlichen
Gefangenſchaft ift vorhanden.
Der erlofchene Auftrag des Papftes an die Unter
juhungsrichter wurde vom Concil an eine neue Com-
mijfion von vier Mitgliedern erneuert. Die Verhöre,
Johann Hus. 29
bie dieſelbe mit Hus anſtellte, geſchahen ganz im Ge⸗
heimen.
Aber eben dieſe Heimlichkeit des Verfahrens und die
ſtrengere Haft ihres Führers trieben die Böhmen und
Mähren, ja ſelbſt einige Polen zu erneuerten Be—
ſchwerden. Wer ſehen wollte, konnte jetzt erkennen,
daß Hus doch kein einſamer Verlaſſener ſei, ſondern daß
ſein Volk hinter ihm ſtehe. So überſchickten die zu Brünn
verſammelten Barone dem König unterm 8. Mai eine
Denkſchrift, die das jetzige noch härtere Gefängniß Huſſens
und die Heimlichkeit des Proceſſes beklagte. Am 12. Mai
hingen zu Prag nicht weniger als 250 Edelleute ihre
Siegel an eine Denkſchrift ähnlichen Inhalts, vie ihre
Spite in folgenden Sägen bat: Hus, ber nichts ver-
jhuldet und nunmehr genug erbulvet habe, möge aus
dem Gefängniß entlaffen, in Freiheit gefett und nicht
länger mit Gewalt und Unrecht unter Anklage gehalten
werben zu Schimpf und Schande der ganzen böhmijchen
Nation. Wenn das nicht gefchehe, werde Sigismund
und dem ganzen Reiche Böhmen ein großer Schaden er-
wachen. Schon werbe vielfeitig Mistrauen gegen ben
König ganz offen laut. Hus müffe frei nach Böhmen
zurüdfehren. Diefe Eingabe war von einem Schreiben
an die böhmifchen und mähriſchen Hofbeamten des Königs
begleitet, worin biefe um Träftige Verwendung für ben-
jelben Zwed angegangen wurben. Die leßtern aber
waren ſchon felber vorgegangen. Sie verlangten ein
ichnelles Ende des Proceſſes, da bei der Erſchöpfung
feiner Körperfräfte für Huffens Verſtand zu fürchten fei.
Das diesbezügliche Schriftftücl war von Wenzel von Duba,
Johann von Chlum, Heinrich Labenbod und andern
- Böhmen, dazu von ben in Ronjtanz anweſenden Polen
unterzeichnet und wurde einer im Branciscanerflofter ftatt-
30 Sobann Hus.
findenden Conferenz von Deputirten der vier Nationen
des Concils (deutfche, englifche, franzöſiſche und italieniſche)
übergeben, zugleich beichwerten fich die Böhmen für thre
Nation, daß Gegner Böhmens verleumderifche Gerüchte
beim Eoncil verbreitet hätten, wie 3. B. daß in Böhmen
das Saframent des Blutes Chriftt in gemeinen Flaſchen
umbergetragen werde, und daß Schuſter Beichte hörten
und das Abenpmahl fpenveten. ALS dieſe Beſchwerde
verlefen wurde, ftand der in der Verſammlung anweſende
Biſchof Johann von Leitomiſchl auf und fprach, bie
Klage gehe ihn und die Seinigen an, und er nehme bie
Berantwortung für feine Reden auf jih. Denn aller-
dings habe er mehrere Unoronungen, bie in neueſter Zeit
in Böhmen, infolge der überhandnehmenden Communion
unter beiderlei Gejtalt, eingeriffen, fo wie fie ihm aus
Böhmen glaubwürdig berichtet worben, zur Kenntniß bes
Concils gebracht. Solches ſei jedoch nicht in der Abficht
gefchehen, die Ehre feines Vaterlandes und feines Volkes
zu kränken; im Gegentbeil liege ihm dieſe Ehre mehr
am Herzen als feinen Gegnern, die fie eben durch ans
jtößige Neuordnungen bloßzuftellen feine Scheu trügen.
Um jedoch auf die Klage eine begründete Antwort er-
theilen zu Tönnen, bat er fich die nöthige Frift aus, vie
ihm auch ertbeilt wurde.
Am 16. Mai erhielten die böhmischen und polnischen
Herren fowol vom Concil als vom Bifchof von Leitomifch!
Antwort. Letzterer bielt jetzt fchriftlich feine neulich ge-
gebene Erklärung von Anftößigkeiten beim Heiligen Mahle
infolge der wiclifitiſchen Forderung beider Elemente für
bie Laien aufrecht. Jüngſt habe eine prager Frau das
einem Priefter gewaltſam abgedrungene Suframent eigen-
mächtig genoffen und zur Entſchuldigung dieſes Frevels
viele Irrthümer behauptet und vertheidigt. Won einer
Johann Hu. 31
Spenbung der Saframente durch Schufter jedoch habe er
niemals etwas vorgebracht, beforge aber, daß ein folcher
Skandal in die Länge auch noch zum Vorſchein kommen
könne. Darum bat er wiederholt die Väter des Concils,
zur Unterbrüdung folcher Unordnungen unverzüglich ge-
eignete Maßregeln zu ergreifen. Bon feiten des Eoncils
gab der Biſchof von Garcaffonne den Herren mündlich
die Antiwort, durch Huffens Gefangennehmung könne ber
föntgliche Geleitsbrief um jo weniger gebrochen worden
fein, als man eben erfahre, daß Hus dieſen Brief erit
15 Tage nach feiner Gefangennehmmng erhalten babe;
auch ſei es unrichtig, daß er obne vorläufige Unterjuchung
eingeferfert worben, da e8 befannt jei, daß er nach Rom
citirt, wegen Nichterſcheinens in contumaciam verurtheilt
und ercommunicirt, feine Abfolution gejucht und erhalten
babe, daher er folglich als Erzfeger (haeresiarcha) gelten
könne, zumal er unter folchen Umftänden auch in Konftanz
öffentlich zu predigen fich unterjtanden hätte. Zwei Tage
jpäter (18. Mai) replicirten die Herren, das Concil jei
binfichtlich des Datums in Huffens Geleitöbrief im Irrthum
und kränke die Ehre ver föniglichen Reichskanzlei, indem
es die Möglichkeit vorausfege, daß dieſelbe eine Urkunde
um volle zwei Monate zurücdbatiren und fomit fäljchen
könne. Sie beriefen fih auf den König felbft, ver die
Ausfertigung angeoronet, auf die Fürften und Herren,
bie dabei gegenwärtig gewejen; es fei nicht der Herren
Schuld, daß am Tage jener Gefangennehmung niemand
ben Brief habe Iefen wollen; auch fei es unwahr, daß
Hus in Konftanz jemals öffentlich gepredigt habe, ba er
fogar nie über die Schwelle des von ihm bewohnten
Hanfes gekommen fei u. ſ. w. Solche Reben und Gegen-
reden wurden dann an bem folgenden Zagen noch fort-
geſetzt und arteten zulegt in bittere Perjönlichkeiten zwifchen
32 Sobann Hu.
dem Biſchof von Leitomischl und den Baronen aus, End⸗
ih auf die Bitte der lettern um Freilaffung bes Ge-
fangenen, damit er fih an Körper und Geift erholen
könne, indem die Herren jede gewünfchte Bürgfchaft leisten
wollten, daß er dieſe Freiheit nicht misbrauchen werbe,
antwortete am 31. Mai der Patriarch von Antiochien im
Namen des Concils, daß man zwar Hus auch gegen
tauſend Bürgichaften nicht auf freien Fuß ſetzen könne,
daß aber das Concil den Bitten der Barone hinfichtlich
ſeines öffentlichen Verhörs Folge geben und ben Ge⸗
fangenen am nächitfünftigen 5. Juni in einer öffentlichen
Berfammlung bören wolle.
So batte man der gerechten Forderung ver öffent-
lihen Meinung endlich nachgegeben; aber für ven Aus-
gang diefer öffentlichen VBernehmung war es von übeljter
Vorbedeutung, daß das Eoncil am 4. Mai jene jeit 1403
oft erwähnten 45 Artikel Wiclif's verdammt, ihn jelbft
für einen bis an fein Ende unverbefjerlichen Ketzer er-
Hört und ben obenerwähnten fanatifchen Beichluß gefaßt
hatte, der 1427 an Wiclif's Gebeinen vollzogen wurbe.
Am 5. Juni wurde Hus aus Gottlieben nach Konftanz
in das Franciscanerflofter gebracht, wo er bis zu feinem
Tode verblieb. Zwei Tage vorher war der abgefeßte und
eingefangene Papft Sohann XXIII. in Gottlieben ein-
gebracht worben, ſodaß der eine hohe Gefangene des
Concils den andern ablöſte.
— — —
Am 5. Juni, einer Mittwoch, verſammelten
ſich im Refectorium der Franciscaner zum erſten Ver—
hör des Erzketzers faſt alle auf dem Concil anweſenden
geiſtlichen Notabilitäten, die Cardinäle, Erzbiſchöfe, Biſchöfe
Johann Hus. 33
und Prälaten; ſodann viele Theologen und andere Per⸗
ſonen. Bevor der Gefangene herbeigebracht wurde, geſchah
die Verleſung des Ergebniſſes der Vorunterſuchung. Ein
Böhme, der im des Vorleſers Nähe zu ſtehen gekommen
wer, erblickte unter ven zum Vortrag bejtimmten Stüden
auch das bereits fertige Verdammungsurtheil des Hus.
Er feste dem gleichfalls anwesenden Peter von Mladenowitz,
und biefer bie Herren von Ehlum und Duba in Kennt⸗
niß davon, welche augenbliclich zu Sigismund eilten,
ihn davon zu benachrichtigen. Der König ſchickte ſofort
Ludwig, den Pfalzgrafen vom Rheine, und den Burg⸗
grafen Yrtedrich non Nürnberg, die verſammelten Väter
vor einer übereilten Entfcheidung in der Sache zu warnen.
Hus folle geduldig angehört werben, und bie Artikel, über
die kein Ausgleich erzielt werde, feien zu des Königs
Kenntniß zu bringen, bamit er fie einer Anzahl noch zu
beftimmenver Doctoren zur Durchficht übergeben könne.
Auch brachten die Barone den genannten Yürften bie
Autographe der ftrittigen Werte Huffens zur Uebergabe an
das Concil, damit fie zur Controle der aus ihnen ge-
ſchöpften Anklagepunkte dienen könnten; doch follten fie
zurücerjtattet werben.
Nachdem Hus in die Verfammlung eingeführt
worden und bie Bürften fie verlafjen hatten, wurden ihm
bie foeben genannten Hanbfchriften (e8 waren fein Buch
„Bon der Kirche“, feine Streitfchriften wider Paletz und
Stanislaus von Znaim) mit der Trage vorgelegt, ob
er fie als die feinigen anerkenne. Hus jah fich Die Bücher
genan an, befannte fich zu ihnen, indem er fie dabei in
bie Höhe Hob, und erflärte zugleich feine Bereitwilligfeit,
wenn man ihn belehre, daß Irrthümer darin enthalten,
biefelben zu widerrufen. Hierauf verlad man bie aus
ſeinen Schriften ausgezogenen Süße und die Zeugen-
XXIII. 3
34 Johann Hus.
ausſagen. Als aber der Magiſter auf einzelne Punkte
eingehen und ſich vertheidigen wollte, ſchrien viele zu⸗
gleich auf ihn ein; ſuchte er nachzuweiſen, daß man in
den Auszügen gewiſſe Ausdrücke von ihm misdeutet habe,
ſo hieß es: „Laß deine Sophiſterei und antworte Ja
oder Nein!“ Berief er ſich auf Ausſprüche von Kirchen⸗
vätern, ſo riefen viele: „Das ſteht nicht in ihnen! Das
gehört nicht hierher!“ Schwieg er, ſo ſagten andere:
„Run ſchweigeſt du! Das iſt ein Zeichen, daß bu wirk—
lich dieſe Irrthümer hegeſt!“ Für feine Bücher rief
man nach dem Teuer. So leichtfertig verfuhr ein bie
Geſammtkirche barftellenver, „im Heiligen Geifte‘ ver-
fammelter Körper, der in allen Glaubens- und Kirchen-
jachen abfoluter Richter und Gefetgeber fein wollte! Der
von ben aufgeregten Vätern umtobte Angeflagte blieb
ruhig und Tieß fich nicht einfchüchtern. Sobald er wierer
zu Worte fam, bemerkte er mit lauter Stimme: „Ich
bachte, daß auf diefem Concil mehr Anftand, Yrömmig-
feit und Zucht fein würde!“ Darauf eriwiberte der
Präfident, Johann von Brogni, Carbinal-Biihof von
Oſtia: „Was jagt du? Im Schloffe haft du eine
bemüthigere Sprache geführt! Hus gab ihm zur Ant-
wort: „Weil dort niemand auf mich einjchrie; hier aber
Schreit ihr alle!” Man mochte fühlen, daß man fich eine
Blöße gegeben, und erfennen, daß fo die Angelegenheit
nicht gefördert werben könne. Die Situng wurde ge—
Ichloffen und auf Freitag, den 7. Juni, vertagt.
Der Erzbifchof von Riga führte Hus in fein Gefängniß
zurüd. Der Magifter begegnete babei feinen Freunden,
gab ihnen die Hand und ſprach: „Habt feine Furcht
um mich!” Sie antworteten: „O nein“, und er ſprach:
„Ich weiß e8 wohl, ich weiß e8 wohl.” ALS er die Stufen
emporjchritt, jegnete ev das Volk, lachte und war fröhlich.
Johann Hus. 35
Freudige Zuverſicht athmen auch ſeine Briefe aus dieſen
Tagen. So wünjcht er ſich Glück dazu, daß es ihm
bereits gelungen, zwei Artikel von ber Klageliſte ftreichen
zu machen, und lebt ber Hoffnung, daß e8 auch bei andern
noch gelingen were.
Freitag, ven 7. Juni, fand eine faft totale Sonnen»
finfterniß ftatt; eine Stunde nach dem Naturfchaufpiel,
des Vormittags um 10 Uhr, verfammelte fich das Concil
zum zweiten Verhöre Huffens, wiederum bei ven
Franciscanern. Die Zugänge wurben (wie auch am 5. und
8. Juni) von bewaffneten Stabtjolvaten beſetzt gehalten,
auch König Sigismund wohnte der Verhandlung bei.
Es ging an dieſem Tage weniger ftürmifch zu als am
erften, denn e8 war von feiten des Königs und bes
Concils kundgemacht worben, daß alle Schreier aus der
Berfammlung binausgewiejen werben follten. ‘Die Grund-
lage ver Vernehmung bildeten gewiffe Artikel, welche von
Zeugen beftätigt fein follten und theils Huffens Buch „Von
ber Kirche”, theild Vorgänge in Prag jeit dem Jahre 1403
betrafen. Das Verhör drehte fich beſonders um Huffens
Verhältniß zu Wichf. Der erfte Anklagepunft Tautete
auf wiclifitiiche Lengnung der Brot-Verwanblungslehre.
Als Hauptlämpfer gegen Hus trat Peter d'Ailly auf,
ber Cardinal von Cambrai, welcher als Vorſitzender der
Glaubenscommiſſion des Concil8 das Verhör leitete.
Ally ftand zwar unter den Männern obenan, die es
damals unternahmen, die Einheit der Kirche wieberber-
zuftellen, indem fie über die ftreitenden Päpſte hinweg
auf die Autorität der Univerfalfirche und ihre Repräfen-
tation im Concil zurüdgingen; er wollte auch jene „Re—
formation an Haupt und Gliedern“, die der herzliche
Wunſch aller Ernitgefinnten war — aber daß dazu das
geſammte Firchliche Leben aus dem Worte Gottes ven
3%
36 Johaun Hu.
Grund auf zu erneuern und mit Beſſerung von Einzel-
heiten bejonders. ohne Antaftung der hierarchiſchen Ber-
foffung nichts zu, erreichen fei, das blieb. ihm verfchloffen,
und ſomit Ionnte er gegen Hus, ber bie offenen Schäden
ber Kirche doch auch wollte heilen Helfen, weil derſelbe
evangelifch, nicht hierarchisch gefinnt war, mit ber größten
Animoſität vorgehen. Dazu kam der philofophiiche Gegen-
fat der beiden Männer. Dem Nominaliften Ailly erfchten
ber verhaßte Realismus Huffens als eine nothwendige
Duelle aller denkbaren Kebereien.
Hug beftritt beharrlich, daß er Wielif's Angriff gegen
bie Lehre von der Wandlung fich angeeignet Habe.
Er blieb auch feit, als Ailiy und mehrere englifche Doctoren
aus feinem Realismus folgern wollten, daß er die Wand⸗
lung verneinen und das Bleiben des Brotes auch nach
ber Confecration behaupten müffe. Seine Bertheibigung
machte doch folchen Eindrud, daß einer von ben englifchen
Doctoren im Concil felbjt ausiprach, diefe philoſophiſchen
Fragen gehörten nicht zur Sache und Hus ſei in Betreff
des heiligen Abenpmahls. rechtgläubig.
Als Hus von den Zeugenausfagen mehrere gerabezu
für falſch und nur aus bitterer Feindſchaft ewbichtet er⸗
Härte und fich Dagegen auf Gott und fein Gewiſſen berief,
bemerkte ihm d'Ailly, das Concil könne nach ber Be—
ichaffenheit feines Gewiffens. feinen Spruch fällen, fordern
allein nach den vorhandenen Ausfagen beeiveter Zeugen.
Hus Scheine in der Ablehnung diefer Zeugen zu weit zu
gehen, ba er auch ben parifer Kanzler Gerjon für ver-
bächtig halte, der gewiß ein fo berühmter ‘Doctor fei,
wie nur einer in ber ganzen Ehrijtenheit gefunden werben
könne.
Ferner wurde Hus zur Laſt gelegt, daß er gegen die
Verurtheilung der 45 Artikel Wiclif’8 in Prag opponirt
Sobann Hus. 37
babe. Er geftand, daß er mehrere der Artilel für wahr
halte, betonte jedoch, daß er für feine Perſon keimen der
genannten Site hartnädig behauptet, ſondern hur ihrer
Bersrtheilung in Banſch und Bogen and ohne Beweis
ſich wiverjett Habe. Als ihm weiter auch ſchuld gegeben
wurde, daß er tiefe Verehrung für Wiclif's Perſon
geäußert Habe, ftellte 'er Das keineswegs An Abrede; wenn
er auch keine Gewißheit habe, daß Wichf ſelig geworden
ſei, fo könne er doch nur wänfchen, daß feine Seele
einmal dahin gelangen möge, wo Wiclif’s Seele fei.
Lautes Gelächter und Kopfſchütteln war die Antivort der
Verſammlung.
Daſſelbe Gelächter ertönte, als der Angeklagte auf
bie Frage, ob es evlaubt ſei, auch an Chriſtum zn
appelliren, antwortete: „Ich bekenne hier öffentlich,
daß keine Appellation rechtmäßiger und wirkſamer iſt als
die an Chriſtum.“ Es war ja nach jener Verſammlung
Meinung ein echtes Ketzerkriterium, dem Willen der kirch⸗
lichen Autorität ſich nicht zu Fügen und dennoch Ehrift
fein zu wollen. AS römiſch gedacht läßt fich Huffens Wort
ber Ausſpruch gegenüberftelien, ven einer der Doctören
bei ven Verhandlungen, ihm zum Widerruf zu beivegen,
getban bat: „Wenn das Council fagen würde, daß du
mr ein Auge haft, vbwol du zwei haft, fo mußt bu
mit dem Concil befemen, daß dem alfo ſei!“
Serner maß man Hus bie Schuld am ben Zerwürf⸗
nifien innerhalb der prager IUmiwerfität ſowie an ben
Gewaltthaͤtigbeiten bei, welche in der Hauptſtadt gegen
Prälaten und Kleriker vorgekommen feten, auch Anderes
der Art rüdte man ihm vor. Mit Geſchick mund Klar⸗
beit lehnte Hus jede perſoͤnliche Verantwortung Für foldhe
Vorfäͤlle ab.
Am Ende Torte Ailly es wicht mnterlaffen, Hnffens
38 Johann Hu.
Prahlerei zu rügen, baß er ganz freiwillig zum Concil
gefommen fein wolle, und wenn er nicht hätte Tommen
wollen, weder König Wenzel, noch König Sigismund ihn
zu biefer Reife hätten zwingen können. ‘Der Magifter
antwortete, dem fei in ber That alfo: er habe jo viele
große Herren in Böhmen für fich, daß dieſe ihn auf
ihren Burgen volllommen zu ſchützen in der Lage geweſen
wären. „Welche Vermeffenbeitl” rief der Kardinal mit
fihtbarer Entrüftung aus. Doch es ſprach nunmehr
Johann von Chlum, Hus rede die Wahrheit: „Ich
bin ein armer Edelmann in unſerm Lande, und boch ver-
möchte ich einziger an ein Jahr lang gegen welche Macht
immer ihn zu fehirmen. Und es gibt viele große Herren,
die ihn lieben, mit ſehr feiten Schlöffern, die ihn ſchirmen
fönnten, folange fie wollten, jelbft gegen beide genannte
Könige.”
Geſchloſſen wurde die Sigung burh Ermahnungen
bes Cardinals und felbft des Königs an den Angellagten,
er möge fich doch dem Eoncil unterwerfen. Der König
berichtigte zuerft den Irrthum binfichtlich des Datums
in dem vielbefprochenen Geleitsbriefe. Diefen Brief und
feinen Töniglichen Schu babe er Hus allerdings noch
vor deſſen Abreife aus Böhmen zugefichert und ihm auch
öffentliches Gehör zu verichaffen verfprochen; darum habe
er ihn auch dem befondern Schuße der Herren von Chlum
und Duba empfohlen, obgleich man behaupte, daß er einen
der Keterei Verdächtigen in feinen Schuß zu nehmen
nicht befugt gewejen. Nun ſei Hus ein ruhiges öffent-
liches Gehör zugeftanden und damit das königliche Ver-
iprechen geldft worden. „Es erübrigt“, fuhr der König
fort, „nichts mehr, als mich den Ermahnungen des Car-
dinals anzufchließen, daß du nicht auf deinem Eigenfinn
befteheft, ſondern dich gänzlich der Gnade des Concils
Johann Hu. 39
anvertrauft. Es wirb mir, meinem Bruder und bem
Königreich Böhmen zu Liebe dich gnädig aufnehmen und
dir feine ſchwere Buße auferlegen. Willft du aber auf
beinem Eigenſinn beharren, fo werben die Väter fchon
willen, wie fie dich zur behandeln haben. Sch habe ihnen
zugejagt, daß ich feinen Ketzer befchügen werde; ja wollte
jemand hartnädig auf feiner Ketzerei beftehen, fo wäre
ih der erfte, ber ihn auf den Scheiterhaufen führte.
Darum möchte ich dir nochmals rathen, dich ganz in bie
Gnade des Concils zu ergeben, und zwar je eher, je
bejfer, damit du nicht in noch tiefere Schuld verfalleft.”
Hus antwortete kurz mit einem Dante für ven empfangenen
Eöniglichen Schuß- und GeleitSbrief und mit ber wieder⸗
holten Betheuerung, er fei ganz von freien Stüden hierher
gefommen, und nicht in der Abficht, irgendetwas hart-
näckig zu vertheibigen, vielmehr in aller Demuth fich eines
beſſern belehren zu laſſen, falls man ihm nachweife, daß
er in irgendeinem Stücke geirrt habe.
Die Situng wurde gejchloffen und einen Tag ver-
tagt, ver Erzbifchof von Riga führte ven Angeklagten in
jeinen Kerker zurüd,
Das dritte umd enticheidende Verhör in Huffens
Sade fand am 8. Juni, abermals unter dem Präſidium
des Cardinals Peter d'Ailly und an demſelben Orte ftatt;
wiederum war außer ben Vätern König Sigismund er-
Ihienen, von böhmifchen Freunden ftanden Hus Wenzel
von Duba, Johann von Chlum und Peter von Mladeno⸗
wig zur Seite. Der Angeflagte wurde über 39 zum
Vortrag gebrachte Artikel vernommen, von denen 26 aus
feiner Schrift „Von der Kirche‘ gezogen waren und 7
bezw. 6 aus ben Streitjchriften wider Stephan von Palek
und Stanislaus von Znaim. Um die Nichtigfeit dieſer
Sätze darzuthun, wenn fie nicht wörtlich ausgezogen waren,
40 Johann Hus.
geſchah auch die Verleſung der einſchlägigen Stellen in
den Handſchriften. Ailly glaubte dabei wiederholt be-
tonen zu müſſen, daß Huſſens Gedanken in ihrer originalen
Faſſung noch fchlimmer Tanteten als in ver Faſſung ber
Auszüge. Die wichtigften dem Concil anftößigen Lehr⸗
fäbe des Angellagten aber waren folgende: Die wahre
Kirche ift die Gemeinfchaft der von Gott Erwählten. Kein
Kirchenamt, Feine firchliche Würde gibt zugleich Mitglied-
haft in der wahren Kirche, fondern nur wer fittlich in
ber Nachfolge Jeſu wandelt, ift ein wahrer Chriſt, Priefter,
Carbinal und Bapft. Chriftus, nicht Petrus ift das Haupt
der Kirche. Wenn ber beftellte Stellvertreter Chriſti feinem
Herrn nicht nachfolgt, ift er des Antichrifts Gefandter und
Stellvertreter Judas Iſcharioth's. Das Papftthum und
jeine Macht ift eine Schöpfung ver kaiſerlichen Gewalt.
Die weltlichen Herren haben bie fittliche Pflicht, die Briefter
zur Beobachtung des Gefeßes Chrifti anzubalten. Es ift
durchaus nicht richtig, daß der Beſtand ber Kirche auf
Erden von dem Vorhanbenfein des Papſtes abhängig jet.
Es iſt unrecht, einen Keber nicht blos in Kirchenzucht zu
nehmen, fonbern auch der weltlichen Obrigfeit zur Strafe
an Leib und Leben zu überlaffen. Die Strafe des Inter-
dicts widerjpricht dem Vorbilde Chriſti. — Der Vortrag
biefer Sätze und ihrer Belegftellen, ihre Vertheidigung
ſodann durch den Angeflagten rief des öftern Bewegung,
Aufregung, Kopffchütteln und Gelächter hervor.
Das größte Auffehen jedoch erregte die Thefe: Wenn
ein Bapft, Bifchof oder Prälat fih in Todſünde
befindet, jo ift er nicht Papft, Biſchof oder Prälat. Als
Hus die Thefe durch Die Erflärung zu rechtfertigen fuchte,
daß ein folcher Papft u. ſ. w. wol dem Amte nach, nicht
aber dem Begriff und Weſen nach PBapft u. f. w. fein
könne, und beiſpielsweiſe hinzufügte, daß auch ein König
Johann Hu. 41
in Todſünde vor Gott nicht König fei, rief man nad)
König Sigismund, der foeben Zum Fenſter des Refec⸗
toriums fich hinausgelehmt und mit dem Pfalzgrafen vom
Rheine und dem nürnberger Burggrafen ein Geſpräch
über die Gefährlichkeit der bisher gehörten Sätze an⸗
gefrüpft Hatte. Hus mußte feine Anficht wor dem Könige
wiederholen, worauf derſelbe nur erwiberte, daß wol
niemand ohne Sünde fei; der Cardinal Ailly aber brach
in den Vorwurf aus, daß Hus, micht zufrieven, das An-
jehen des Klerus zu Tränfen, auch bie weltliche Macht
zu untergraben gefucht habe. Der letztbeſprochene Sat
von Hus lautete, bie apoftolifche Kirche ſei vortrefflich
gewejen ohne Papftthum; möglicherweife könne man auch
jegt und bis ans Ende der Welt das Papſtthum ent-
behren. Da bemerkte ein Engländer, Stofes, nicht mit
Unrecht, Hus detrete Hiermit ganz und gar den Weg
Wiclif's und habe gar nicht nöthig, fich feiner Schriften
md Lehren zu rühmen, feine Lehren feien vielmehr Wiclif’s
Lehren.
Nach beendigter Durchſprache dieſer Lehrſätze fagte
Ally zu Hus, daß er nunmehr zwiichen zwei Wegen bie
Wahl habe: entweber nebe er ſich ganz in die Grabe
und Hände des Concils und unterwerfe fich deſſen Spruche,
dann werde man johonend mit ihm verfahren. Ober er
befchreite noch weiter den Rechtsweg und erhalte noch
weiteres Gehör, das aber könne gefährlich für ihn werben,
er Eönne in noch größere Irrthümer fich verwideln. Em⸗
pfehlenswertber jet der erſte Weg. In gleichem Sinne
fießen auch andere Prälaten fich vernehmen. Hus meigte
das Haupt und antwortete vemüthig: „Ehrwürdigſte
Väter! Ich bin von freien Stücken hierher gekommen,
nicht um irgendetwas hartnäckig zu vertheidigen, ſondern
mich demüthig vom Coneil eines beſſern belehren zu
42 Johann Hus.
laſſen, wenn ich etwas nicht wohl ober mangelhaft auf-
gejtellt haben follte.e Doch bitte ih um Gottes willen,
daß mir ferneres Gehör gejchenft werde, bamit ich meine
Abficht mit den mir vorgewworfenen Artikeln und die Be-
weile aus den Kirchenvätern darlegen kann. Sollten meine
Gründe aus Vernunft und Schrift nicht ftichhaltig fein,
jo unterwerfe ich mich der Unterweifung des Concils.“
Sofort fchrien viele Stimmen, das ſei mit Vorbehalt
gefprochen; der Zurechtweifung und Entſcheidung ver
Berfammlung müffe er fich unterwerfen. Hus nahm
biefe Ausprüde auf, er habe nicht verfänglich reden
wollen.
Dieſe Erflärung nahm Ailly für bebingungslofe Unter-
werfung und eröffnete dem Magifter nunmehr, daß gegen
60 Doctoren aus Vollmacht vom Eoncil entſchieden hätten:
Hus folle 1) feinen Irrthum in Behauptung jener
Artikel demüthig anerkennen; 2) diefe Sätze für alle
Zukunft abſchwören; 3) dieſelben auch öffentlich
widerrufen; 4) das Gegentheil der Artikel inskünftige
annehmen, behaupten und verkündigen.
Da erwiderte Hus mit aller Ehrerbietung, er ſei
bereit dem Concil Gehorſam zu leiſten und ſich weiſen
zu laſſen; aber er bitte um Gottes willen, man möge
ihn nicht zwingen zu lügen und Sätze abzuſchwören, von
denen er — Gott ſei ſein Zeuge und ſein Gewiſſen —
ſich nichts bewußt ſei, die ihm niemals in den Sinn
gekommen ſeien; namentlich der Satz, daß im heiligen
Abendmahl nach der Conſecration das Brot als Stoff
noch bleibe. Sätze, welche er wirklich aufgeſtellt habe,
wolle er, wenn man ihn eines beſſern belehre, demüthig
widerrufen. Aber wenn er ſämmtliche ihm ſchuld gegebene
Sätze, unter denen viele ihm mit Unrecht zugeſchrieben
worden, abſchwören müßte, ſo würde er eine Lüge begehen
Sobann Hus. 43
und fich bie ewige Verdammniß zuziehen; das gehe wider
fein Gewiffen !
Aber wer Hatte Verſtändniß für dieſen Ernſt, dieſe
Zartheit des Gewiffens? Sigismund fagte Teichtfertig:
„Höre Hus, warum willſt du nicht alle irrthümlichen
Sätze abſchwören, von denen bu behaupteft, daß die Zeugen
fie wahrheitswidrig bir beigelegt haben? Ich wollte doch
alle Irrthümer abſchwören; darum muß ich doch nicht
irgendeinen früher gehegt haben!” Und ver Cardinal
dranz von Zabarella, Erzbiſchof von Florenz, ver-
ſprach, Hus eine wohlbemefjene Abjchwörungsformel vor-
zulegen, dann möge er erwägen, was er thun wolle.
Bon biefem Punkte an verlief das Verhör wieder als
ein wildes Hin- und Herreben, wobei der eine Mann
gegen die ganze Verfammlung ftandzuhalten hatte. Von
neuem wurden ihm bie prager Ereigniffe vorgeworfen, bie
Engländer erörterten feine Beziehungen zu Wiclif u. f. w.
AS einigermaßen wieder Ruhe eingetreten war, ftand
Paletz auf, um die Erklärung abzugeben, daß er nicht
ans falſchem Eifer oder perfünlichem Haß die Klagen
wider Hus erhoben habe, fonvdern um feinem Doctoreibe
nachzukommen. Michael de causis fchloß fich ihm
am. Hus antwortete: „Ich ftehe vor Gottes Gericht,
der mich und euch mit Gerechtigfeit richten wird, wie
wir's verdienen.“
Hierauf nahm der Erzbiſchof von Riga den Gefangenen
abermals in Empfang und führte ihn im feinen Kerker
zurück. Im Vorübergehen grüßte ihn Johann von Chlum,
reichte ihm die Hand und tröftete ihn. Es iſt faft rührend
zu lefen, wie hoch der bedrohte Mann im Gefühle feiner
Verlaſſenheit und der ihm entgegengebrachten Verachtung
diefe8 geringe Breundichaftszeichen gewertbet hat. „O wie
wohl that es mir’, fchreibt er, „al® mir Herr Johann die
44 Johann Hus.
Hand bot; er hat ſich nicht geſcheut, mir Armen die Hand
zu bieten, mir verworfenen Ketzer, mir Gefefſelten, mir
auf den faft alles einfchriel”
Hus hatte in den drei Verhören fih männlich und
mathig benommen. Es war ihm gelungen, ber Auf-
bürbung gewiſſer Irrlehren ſich zu erwehren; Die Säge,
bie er als die feinigen anerkennen konnte, hatte er auf-
recht erhalten (einzelne angebrachte Limitationen find micht
von Belang) und aus ber Schrift und den Vätern be-
gründet. Doc was vermochte ihm das zu nützen? Das
Concil hatte ven Angeklagten gehört, aber das Nefaltat
ber Vernehmung ftanb vor allen Verhören feft, die Väter
benahınen fich phariſäiſch ficher, auch hinterliftig und brutal;
Unbefangenheit in Glaubens- und Gewifjensfragen war
jener Verſammlung, ja faft jener Zeit eime unbelantite
Größe: Widerruf ob mit, ob ohne Ueberzeugung — oder
Gefängniß und Tod war die grauſame Alternative, denn
könnte die Kirche, das ökumeniſche Concil irven?
Nach aufgehobener Sitzung ereignete fich eine Scene,
unbedeutend ſcheinbar und nicht für Hus geneigte Ohren
beftimmt, die auf die ganze Frage, ob mit Hus ehrlich
verfahren worden, ein bedeutſames Licht wirft. Hus war
abgeführt, die Wachen hatten ven Saal geräumt, ba
nüpfte dev König beim Aufbrudhe mit den PBrälaten
ein Geſpräch an. Sigismund mochte glauben, daß die
Böhmen mit Hus aus dem Saale gegangen ſeien, er
alfo mit Gefinnungsgenofjen allein ſei; aber die Herren
Johann von Ehlum, von Duba und Peter Mladenowitz
‚hatten fih in eim Fenſter zurückgezogen und vernahmen
folgende Worte des Königs: „Chrwirdige Väter! Ihr
habt nun gehört, daß von dem Vielen, was in ben
Büchern jenes Menfchen fteht, wozu er fich befaunt Hat
und worin er hinreichend widerlegt worben ift, ſchon eine
Johann Hus. 45
Einzelheit zu feiner Verdammung genügen würde. Darum
mag er, wenn er jene Irrthümer nicht widerrufen, ab-
ſchwören und das Gegentheil annehmen will, verbrannt
werben, ober mit ihm gefchehen, was euch rechtens dünkt.
Doch rathe ich, daß wenn er auch Verfprechungen macht,
widerrufen will und wiberruft, ihr ihm nicht trauet, wie
auch ich ihm nicht trauen würde, nach Böhmen: und zu
jetnen Beſchützern zurückgekehrt, würde er jene Irrthümer
und andere mehr boch wieder verbreiten, und würbe bie
neue Berirrung ärger werben als die alte. Darum ver-
bietet ihm alles Predigen und verhindert feine Rückkehr.
Schickt auch die hier verbammten Artikel meinem Bruder
in Böhmen und nach Polen und in bie andern Länder,
wo er ſchon feine geheimen. Anhänger und Gönner hat,
und traget nicht nur ben Bifchöfen und Prälaten, ſondern
auch den Königen und Fürften auf, dieſe Anhänger zu
ftrafen, damit die Nefte zugleich mit dem Stamme aus-
gerottet werden. Wahrlich, ich war noch jung, als Diele
Sefte in Böhmen begann: und zu welcher Stärke ift fie
nicht ſeitdem emporgewachlen! Sch werde nun das Concil
bald verlaffen, darum ſäumet nicht in biefer Sache, und
machet auch ſobald als möglich mit feinen Schülern ein
Ende, namentlich mit dem, der hier gefangen fit, mit
bem — dem” — „Hieronymus“ kam man ibm zu Hülfe.
„Ganz recht, mit Hieronymus. Für ihn brauchen wir
feinen ganzen Tag; es wird dann fehon: leichter geben,
denn jener Menſch ift der Lehrer, fie benennen ihn den
Lehrer Hus, und diefer Hieronymus tft fein Schüler! “*)
*) Hieronymus won Prag, nähft Hus der bebeutenbdfte
Wichfit in Böhmen, war freiwillig zum Concil gelommen. Als
er bie Nutlofigfeit feiner Anmwefenheit für den Freund und bie
Gefahr für fich erfannte, verließ er die Stadt, wurde aber unter»
wegs gefangen und gefefjelt zurückgebracht (im April 1415), Dur)
46 Johann Hus,
Nah diefen Worten gingen fie insgefammt in beiterer
Stimmung auseinander.
Die böhmischen Herren binterbrachten ihrem Schüß-
fing des Königs Worte, und wenn Hus über fein Schid-
jal noch hätte in Zweifel fein können, fo wußte er von
nun an ſicher, was ihm bevorſtand. Die Briefe aus
der Gefangenfchaft bei den Franciscanern find voll ber
fihern Erwartung des Todes. Und wenn im Angeficht
dieſes erbarmungslojen Feindes alles Lebendigen in ben
meiften Fällen all die armfeligen Masken fallen, vie ber
Menjch dem Menfchen gegenüber vorgenommen, wenn bei
den roheſten Verbrechern ver oft tief vergrabene Funke
religiöfet Sinnes, wie ihn jede Meenfchenbruft birgt,
wieder zur Flamme wird und ver Mörder gefteht und
bereut, um ohne Lüge dem Tode ind Geficht bliden zu
fönnen, jo find auch Huffens Abſchiedsbriefe wahrlich
ehrlich und wahr: die Perfönlichkeit aber, die fih in
ihnen offenbart, muß man wahrhaft hochachten und lieb—
gewinnen.
Der Gefangene dankt feinen Freunden, die ihm
in Konftanz beigeftanvden, für all den männlichen Bei-
ftand in Rath und That, den fie ihm eriwiefen, er wünſcht
ihnen Gottes Lohn, er ermahnt das ganze böhmische Volk
in einem Sendſchreiben an vaffelbe, nie zu vergeffen, was
diefe Männer für die Sache der Wahrheit gewagt. Er
banft feinen Gönnern in Böhmen, und bejonders dem
König Wenzel und feiner Föniglichen Herrin, daß fie ihn
balbjähriges hartes Gefängniß und unausgefettes Drängen feiner
Richter matt geworben, wiberrief ex und erkannte das Urtheil Über
Hus als gerecht an. Doch er ermannte fich wieder. Nah Zurüd-
nahme des Widerrufs und Bffentlihem Verhöre vor dem Concil,
ftarb auch er, am 30. Mai 1416, mannhaft und freudig wie Hus,
ben Feuertod.
Johann Hus. 47
geliebt, gütig behandelt und Fleiß angewenbet für feine
Befreiung. Selbit im legten kurzen Lebewohl nach Böhmen
beißt e8 noch einmal: „Der Königin, meiner gütigen
Herrin, faget in meinem Namen Dank für alle Wohl-
thaten, bie fie mir erwieſen!“ Ueberall Bin, an bie
Sreunde in Ronftanz, an die Gönner und Getreuen in
Böhmen, an die Univerfität Prag, an alle Einzelnen,
benen er jchreibt, ergeben feine Ermahnungen, ber
erfannten Wahrheit, nicht um ſeinet-, fondern um Chriftt
willen, treu zu bleiben und nach ihr, d. h. dem Gebote
Gottes gemäß zu leben. Was feine Yeinde betrifft,
jo beflagt er zwar Sigismund's Unbeftänbigfeit, daß
derſelbe ihn eher verurtheilt als feine Feinde, und nicht
wenigftens mit Pilatus geiprochen: „Ich finde feine Schuld
an ihm’, over: „Ich habe ihm freie® Geleit gegeben;
wenn er aljo des Concils Entſcheidung nicht leiden will,
ihiefe ich ihm mit eurem Spruche dem Könige von Böhmen
zurück, damit der mit feinem Klerus ihn richte”: wie
ihm Sigismund ja mündlich verfprochen habe, daß er
genügendes Gehör, und wenn er fich nicht unterwerfen
würde, fichere Nüdfehr bekommen folle. Später aber
vermag Hus, feinen Freunden zu fehreiben, daß er auch
Sigismund danfe für alles Gute, das berfelbe ihm er-
wiefen. Gott möge dem Könige alles verzeihen, was er
trugvoll gehandelt. Er verzeiht allen feinen perjönlichen
geinden insgeſammt: „Ich bitte für fie Gott anfrichtigen
Herzens, daß er ihnen verzeihel” Bon Palet jchreibt
er einmal, daß derſelbe bei einer Beiprechung im Ge—
fängnifje angefichts der Commiffion des Concils ihn mit
ten Worten begrüßt habe: ‚Seit Chrifti Geburt ift,
Wiclif ausgenommen, Fein gefährlicherer Keger aufgeftanden
ald du’, er fügt aber Hinzu: „Dies hätte ich vielleicht
nicht Schreiben dürfen, damit es nicht etiva fcheint, ich
48 Johann Hus.
hatle ihn.” Weiterhin vermochte e8 Hus ſogar, ben
geweſenen Jugendfreund und ſpätern Hauptgegner um
Verzeihung zu bitten, wenn er ein Wort bes Vorwurfs
gegen ihn gebraucht habe, und Paleg wurbe wie Hus
jelber zu Thränen gerührt. Michael de causis zeigte
weniger Herz, gerade deshalb aber jagt. Hus von ihn:
„per arme Mann!”
Ueber da8 Concil freilich lauten Huffens Aeußerungen
bitter und abfprechend. Er geißelt die Stmonie, den Geiz,
den Hochmuth, die Heuchelei der Väter, Unfehlbar jet
die Verfammlung wahrhaftig nicht: Habe fie Doch vor
allem in Johann XXIII. fich geirrt. Derjelbe jet als
Mörder, Knabenjchänder, Simonift und Häretifer befannt
geweſen und doch gewählt worven; erjt habe man ihn
als „Heiligften Vater” durch Kniebeugung und Fußkuß
geehrt und dann eben jenen Verbrechen, halber verurtheilt
und abgejeit. „Wo bleibt nun bie ‘Doctrin, baß der
Papit das Haupt und Herz ber Kirche ift, Die, unverfieg-
bare Duelle aller Autorität und geiftlichen Vollmacht?
Yet ift die gläubige Chriftenheit ohne Papft, Jeſus
Chriftus ift ihr Haupt und Herz, die Quelle aller Geiltes-
gaben und Gnaden.“ „O daß ihr: doch dieſes unfehlbare
Concil ſähet“, fehreibt er feinen Getreiten in Böhmen, „ihr
würbet wahrhaftig etwas ungeheuer Abfcheuliches erbliden.
Bei den Schwaben geht vie gemeine Rebe, Konftahz könne in
breißig. Jahren nicht von den Sünden gereinigt werben,
die das Concil in der Stabt getban bat, Es ſpuckten
manche aus, fo abfcheuliche Dinge haben fie hierorts
gefehen.”*) Hus fieht im all diefer Verfehrtheit des
*) Zu ben fittlihen Zuftänden in Konftanz bringt ein Hiftorifer
bei: „Neben den Repräjentanten der Kirche hatten fich beim
Koftnizer Concil (als Repräjentantinnen?) ftebenhundert öffentliche
Johann Hus. 49
Verſtandes und Herzens die Bosheit des Antichriſts, „den
Greuel der Verwüſtung an heiliger Stätte“. „Aber ich
bin der Zuverſicht, daß Gott nach mir ſtärkere Männer
geben wird, welche die Bosheit des Widerchriſts beſſer
an den Tag bringen und ihr Leben hingeben für die
Wahrheit des Herrn Jeſu Chriſti.“
Für ſeine eigene Perſon erhofft Hus den gnädigen
Beiſtand Gottes zu einem ſtandhaften Tode und das ewige
Leben. Er bittet ſeine Freunde, darum für ihn zu beten;
auch auf die Fürbitte der Heiligen hofft er, in dieſem
Stücke hat er die Schranken ſeiner Zeit nicht durch⸗
brochen. Der Gedanke an einen Widerruf kommt ihm
nicht, aber es iſt nicht Hochmuth, der ihm das Bewußt⸗
jein gibt, dem Concil gegenüber die Wahrheit zu ver-
treten, feine Freunde nämlich bittet er, feine Lehre zu
prüfen und alles Nichtftichhaltige aufzugeben und zu
verbeffern.
Mit dem 8. Juni war Huſſens Schichkſal befiegelt, Dennoch
fieß man ihn noch volle vier Wochen am Leben. Es ift
möglich, daß die Veranlaffung für diefen Aufichub in
neuen Briefen zu fuchen tft, die zu Huſſens Gunften
in Konſtanz einliefen. In einer Verfammlung ber vier
Nationen am 12. Juni fam jener Brief zur Verlejung,
‚dem 250 Siegel böhmifcher und mährifcher Herren an-
gehängt waren. Zur Bejchwichtigung ber bei jolchen
Demonftrationen doch nicht eindruckslos gebliebenen Ge—
müther hoben der Bifchof von Leitomiſchl und Palet hervor,
daß wenigftens König Wenzel feinen Schritt zu Huffens
Gunſten gethan habe. Das war wahr, aber der König
Kuftdirnen eingefunden, «bie ander heimlich Dirnen und Eurtifanen
no ungezähltv. Gebhard Dacher nahm auf hurfürftl. ſächſiſchen
Befehl ein Verzeichnis derſelben auf.‘
XXIII. 4
50 Johann Hus.
that für Hus, dem er feine Gunſt jo mannichfach zu—
gewendet hatte, jeit derſelbe nach Konftanz gegangen,
feinen Schritt mehr, nicht, weil er fih von Huffens Ketzerei
überzengt hätte, fondern um ber Feindſchaft mit feinem
Bruder Sigismund willen: das konſtanzer Concil als
Sigismund's Concil exiſtirte nicht offictell für den böhmischen
König. Die Väter des Coneils bejchäftigten fi am 18.
und 23. Juni noch einmal mit der Prüfung von Huffens
Lehrfäten und verdammten auf Grund verjelben alle feine
Schriften zum euer, mit ihm felber befaßten fie fich
nur injofern noch, als ihm eine Wipderrufungsformel
vorgelegt und durch Deputationen bes öftern wer-
jucht wurde, ihm dieſelbe annehmbar zu machen. Bon
biefer Widerrufungsformel kann anerfannt werben, daß
fie entgegentommenb gehalten war, Hus follte um ein
„barmherziges“ Verfahren mit ihm bitten und proteftiren
bürfen, daß man ihm vieles aufgebürbet, woran er nie
gedacht habe. An den Deputationen betheiligten fich jelbft
bie vornehmſten Mitgliever ver Verfammlung, wie Ally
und Zabarella, mit Theilnahme und Beſorgniß erfüllt
zeigte ſich insbeſondere das unbekannt gebliebene Mit-
glied, das Hus in feinen Briefen nur den „Vater“
nennt. Allein Hus erklärte, auch in dieſer Faffung
nicht abſchwören zu können, denn er würde doch immerhin
noch viele Wahrheiten verwerfen, einen Meineid thun,
dem „Wolfe Gottes’ großen Anftoß geben. ‘Der „Vater“
machte zwar geltend, daß Huſſens etwaige Schuld, wenn er
nämlich doch Wahrheiten abſchwören follte, ja nicht auf
jein Haupt käme, fondern auf feine Obern, die den
Widerruf verlangt, aber Hus fürchtete bei einem folchen
Handel für feine Seligfeit.
So fam bie innerlichfte Differenz zwiichen dem An-
geflagten und jeinen Richtern in den vier zwifchen dem
Johann Hus. 51
„Vater“ und Hus gewechielten Briefen zu Harem, zu-
geipigtem Ausbrud: Hus emancipirte fich bewußt als
Einzelner vom Urtheil der Gefammtheit, hatte alſo bie
Gewifjensfreiheit begriffen, aber auch die damit gejekte
eigenfte perjönliche Verantwortung; das Concil bewegte
ih in den bergebrachten Gebanfen von ber unbebingten
Autorität des Ganzen über das Glied. Zwei Zeiten
waren einanber gegenübergetreten, die alte Zeit noch
Iebensfräftig genug, den neuen Geift zu bämpfen, aber
die neuen Gedanken ſchon mit willig vergoffenem Herz-
blut vertreten; und dieſe Leidenswilligkeit weiffagte ben
Sieg der neuen Zeit.
Am 1. Yuli gab Hus dem Concil pie fchriftliche
Erflärung, daß er nicht abſchwören könne noch wolle,
und am 5. Juli wiederholte er fie mündlich der legten
Deputation, vier Bilchöfen, zu denen fi im Auftrage
Sigismund’s bie böhmifchen Herren gefellt hatten. “Der
6. Juli, ein Sonnabend, wurde der Tag feiner Ver⸗
urtbeilung und Verbrennung. Die Brälaten verfammelten
fih im Dome zu Konftanz zur fünfzehnten General-
Seffion des Concils unter dem Vorſitze des Cardinal⸗
Biſchofs von Oftta, Johann von Brogni; einen bejonbern
Glanz verlieh der Sitzung der König, indem er auf
einem Throne fißend, von ben Zeichen der Majejtät um-
geben, anwejend war. Immitten der Kirche erhob fich
ein tifchförmiges Gerüft und darauf ein mit dem Mep-
ornat behängter Holzftod. Der Erzbifchof von Gneſen
celebrirte die Meſſe, und unterbeffen mußte Hus von
Bewaffneten umringt an ber Kirchthür ftehen bleiben.
Dann wurbe er an das Gerüft herangeführt und ver-
4*
52 Sobann Hus.
harrte davor kniend im Gebete, während ter Biſchof
von Lodi ſich in kurzer Previgt über die Schäplichfeit
ver Kebereien in der Kirche und die Verpflichtung des
weltlichen Armes zu ihrer Ausrottung erging. Die Ver⸗
handlungen begannen mit Verkündigung der Strafe der
Ereommunication und zweimonatlidder Einfperrung, wenn
jemand, weß Standes und Ranges er auch fei, Zwiſchen⸗
reden, Wiverfpruch, Zeichen des Beifall oder des Mis-
fallens fich zu Schulden kommen laſſe. Der erſte Punkt
der Tagesorbnung betraf irrige Lehrſätze Wiclif's. Die
Univerfität Oxford hatte deren 260 aus jeinen Schriften
ausgezogen. Sie wurden verdammt, foweit das noch nicht
gefchehen war. Dann fam Huffens Sache an die Reihe.
Es wurde ein Bericht über den Gejammtverlauf bes
Procefjes zur Verhandlung gebracht; als der Referent das
Berzeihniß der Hus fchuld gegebenen Irrthümer vorzu-
tragen begann, ergriff der Angeflagte das Wort, um
gleich den erften Artikel richtig zu Iimitiren. Man bieß
ihn fchweigen, und da er dennoch zu den weitern Artikeln
wieder zu reden anfing, befahl Kardinal Zabarella von
Slorenz den Wachen, ihn zum Schweigen zu bringen.
Mit lauter Stimme bat der Angeflagte nun inftändig
um Gottes 'willen, man möge ihm doch Gehör geben,
damit nur die Zuhörer nicht meinten, er habe jo Irriges
gelehrt, aber die Bitte wurde abgefchlagen, Hus konnte
nur auf bie Knie fallen und mit gefalteten Händen gen
Simmel blickend ftill beten. Er erhob fich wieber, als
der Vorwurf erneuert wurbe, er habe die Wandlung ver-
iworfen, feine Gegenrede jchnitt Zabarella ab, indem er
auf ihn einfchrie, Hus aber erneuerte feine Bitte um
Gehör und den Proteft, ihm diefe Irrthümer aufzuhalfen.
Auch zu andern Punkten weiter das Wort zu nehmen,
ließ er fich nicht mehr abhalten. Mit fittlicher Entrüftung
Johann Hus. 53
wies er die Beſchuldigung zurück, die man jetzt zum erſten
male vorzubringen wagte, er habe ſich für die vierte Perſon
in ver Gottheit ausgegeben, eine Beſchuldigung, die uns
beitritten als aus feindjeliger Eonfequenzmacherei hervors
gegangen angejehen wird. Als Huſſens Appellation an
Chriftum unter den verdammungswürbigen Irrthümern
an die Neihe Fam, antwortete ber gequälte Mann mit
lauter Stimme: „Herr Gott! fiehe, nun verdammt dies
Concil gar dein Thun und Gejek als einen Irrthum,
da bu boch felbft von den Feinden ſchwer beprängt beine
Sache Gott deinem Vater als dem gerechteften Richter
anheimgeftellt Haft; uns Armen zum Borbild, wenn wir
irgendwie bejchwert find, zu dir, dem gerechteften Richter,
zu fliehen und bein Urtheil demüthig zu verlangen!”
Auh den Umftand hob er noch einmal laut und dffent-
lih hervor, daß er zum Concil von freien Stüden mit
freiem Geleite gekommen ſei. Eine Röthe überflog Sigis-
mund's Wangen, als Hus bei biefen Worten feine Augen
auf ihn heftete. Als ein Jahrhundert fpäter Karl V.
darum angegangen wurde, mit dem nad Worms ges
fommenen Ketzer Luther ebenfo zu verfahren, wie es in
Konftanz mit Hus geſchehen fei, da entſchied der Kaifer,
daß Luther das zugefagte Geleit zur Her- und Rückreiſe
voll genießen ſolle: Nolo erubescere cum Sigismundo.
Den folgenden Spruch des Concils verfündete ein
fahfföpfiger, alter Italiener, ver Biſchof von Concordia:
Hu8 folle als ein offenbarer, hartnädiger Keger
des Briefteramts entſetzt, aller empfangenen
Weihen beraubt und dem weltlichen Arme über-
geben werden. Seine Bücher feien zu verbrennen.
Auch hierbei erhob Hus wider einzelne, Punkte feine Ein-
\prache zum legten mal, gegen das Ende hin fiel er in die Knie
und betete ftill mit dem Blick nach oben. Als der Biſchof
54 Johaun Hus.
ſchwieg, rief er Chriſtum laut um Vergebung für alle
ſeine Feinde an. Und dabei verſtanden viele Kirchen⸗
fürften nichts Beſferes zu thun, als den Verurtheilten
unwillig anzublicken und auszulachen!
Sieben Biſchöfe ſchritten nunmehr zur Degradation
des abtrünnigen Prieſters. Sie ließen ihn in den vollen
Schmuck der Meßgewänder kleiden; als der Verurtheilte
die Alba umthat, gedachte er des weißen Spottkleides,
mit dem ber Heiland von Herodes zu Pilatus zurüd-
geſchickt worden. Nochmals wurde Hus amfgeforbert zu
widerrufen und abzufchwören. Er ftand auf, betrat das
Gerüft und im vollen priefterlihen Schmud, den Abenb-
mahlskelch in der Hand ſprach er fchmerzlich bewegt unter
Thränen, er könne fich vor Gott nicht zum Lügner machen,
nicht wider fein Gewiffen der göttlichen Wahrheit, die er
vertreten, entjagen, auch nicht allen jeinen Zuhörern und
den andern treuen Prebigern ded Wortes Gottes ein
Aergerniß geben. Er ftieg herab, und Die priefterlichen
Abzeichen wurben ihm eines nach dem andern unter Den
herkömmlichen Verwünſchungen abgenommen, zulett wurbe
ihm auch die Tonſur zerftört. Es erfolgte der Spruch:
„Nun hat die Kirche alle Firchlichen Rechte von ihm ge-
nommen, fie hat nichts weiter zu thun. Er werbe bem
weltlichen Arm übergeben!’ Dann fagten die Biſchöfe:
„Deine Seele geben wir dem Teufel anheim“, Hus aber
befahl fie Chriſto. Weiter wurde ihm eine Paptermüge
aufgefeßt, bei einer Elle hoch, die mit drei Teufeln be-
malt war, welche eine Seele umfrallten, und die Infchrift
trug: „Hic est haeresiarcha.” Als Hus fie erblidte,
ſprach er: „Mein Herr Jeſus Chriftus hat für mich
Armen eine viel härtere und fchwerere Krone aus Dornen
unſchuldig bei feinem allerfchimpflichiten Tode zu tragen
geruht, und darum will ih armer Sünder dieſe viel
Yohann Hu. 55
leichtere, denn fie ift blasphemifch, demüthig tragen für
feinen Namen und feine Wahrheit.“ Auf des Königs Befehl
legte uunmehr Pfalzgraf Ludwig den Reichsapfel weg
und nahm den Verurtheilten in feine Gewalt. Er über-
fteferte ihn an den fonftanzer Stadtmagiftrat mit
ben Worten: „Nehmet hin ben Johann Hus, der nad)
bes Königs, unfers allergnäbigjten Herrn Urtheil und
unferm eigenen Befehl als ein Ketzer verbrannt werben
ſoll!“
Das Conecil ſetzte ſeine Sitzung fort, Hus aber wurde
zur ſofortigen Vollſtreckung des Urtheils abgeführt.
Auf dem Domkirchhof lohte das Feuer ſchon aus ſeinen
Büchern, er ſah es im Vorüberſchreiten und lächelte. Zu
den Umſtehenden ſprach er, ſie möchten nur nicht glauben,
daß er wirklich Irrlehren halber ſterben müſſe; dieſe
ſeien ihm mit Unrecht ſchuld gegeben auf das Zeugniß
perſönlicher Feinde bin, Mit feſten Schritten, betend und
ſingend ging er dem Tode entgegen, auch ſeine Unſchuld
noch des öftern betheuernd. Faſt die ganze Bürgerſchaft
war zur Aufrechterhaltung der Ordnung bewaffnet aus⸗
gerückt, ungeheuer war der Zudrang des Volkes. Es
fehlte nicht an Aeußerungen des Mitleids. Der Richt—⸗
plag befand ſich zwiichen Stadtmauer und Graben auf
dem „Brühl“, einer Wiefe nach dem Schloffe Gottlieben
zu gelegen. ‘Dort angelommen fniete Hus nieber und
betete laut mit heiterer Diiene. Als ihm zugerufen wurbe,
er jolle aufftehen, erhob er fich und fprach laut und ver-
nehmlich: „Herr Jeſu Chrifte, dieſen graufigen, ſchmach⸗
vollen und rohen Tod will ich von wegen deines Evans
geliumsd und der Prebigt deines Wortes ganz geduldig
und demüthig ausſtehen.“ Hierauf entfleiveten ihn bie
Nachrichter und banden feine Hände rückwärts mit Striden
und feinen Hals mit einer Kette an einen ftarfen in ben
56 Sobann Hu.
Boden gerammten Pfahl. Da er aber mit dem Gefichte
gegen Sonnenaufgang gefehrt war und einige Zujchauer
das bei einem Keter unfchidlich fanden, jo wendete man
ihn gegen Sonnenuntergang um. Seine Füße ftanben
auf Holzbünvdeln und rings um feinen Leib wurden zwei
Fuder Holz mit Stroh vermifcht bis an das Kinn hinauf
emporgefchichtet.
Im Testen Augenblide fam, vom König gefanbt, ber
Reichsmarſchall Haupt von Pappenheim herbei und
“ forderte zufammen mit dem Pfalzgrafen Ludwig Hus
nochmals auf, durch Widerruf fein Leben zu retten. Da
antwortete er, den Blid zum Himmel gerichtet, mit lauter
Stimme: „Gott ift mein Zeuge, daß ich dasjenige, was
mir fäljchlicherweife, weil auf falfches Zeugniß bin, ſchuld
gegeben wird, niemals gelehrt und geprebigt habe; viel⸗
mehr war meine Hauptabficht bei meiner Prebigt und
allen andern Handlungen und Schriften nur darauf ge-
richtet, die Menfchen von der Sünde zu befehren. Und
in der Wahrheit des Evangeliums, welche ich gefchrieben,
gelehrt und geprebigt habe nach den Worten und Sätzen
der heiligen Väter, will ich heute mit Freuden ſterben!“
Da jchlugen beide Herren die Hände zufammen und ent-
fernten fih, die Nachrichter aber zündeten den Holzſtoß
an. Der Magijter fing mit heller Stimme an zu fingen;
erſt: „Chriſte, du Sohn des lebendigen Gottes, erbarme
dich unfer!”, dann: „Chrijte, du Sohn des lebendigen
Gottes, erbarme dich mein!” ALS er aber weiter fang:
„Der du geboren bift aus Maria, der Jungfrau“, trieb
ihm der Wind die Flammen ins Geficht, ſodaß man nur
noch jah, wie er Lippen und Haupt bewegte. Binnen
der wenigen Augenblide, in denen fich jchnell zwei,
alfenfall8 drei Vaterunfer jagen laffen, war er lautlos
erjtidt.
Johann Hu. 57
Als der Holzſtoß niedergebrannt war und der Pfahl
mit dem verfohlten Leibe im Halseifen daran noch auf-
veht ſtand, ftießen die Henker beides um und fchürten
mit einem dritten uber den Brand aufs neue. Auch
Ihritten fie mit mitteln um das Feuer und zerfchlugen
die Knochen, damit fie um fo fchneller zu Ajche würden;
ald fie den Kopf gefunden, theilten fie ihn burch Schläge
in Theile und warfen ihn ins Teer zurüd; das Herz
ſpießten fie an einem zugefpitten Knittel auf, um es beſonders
zu braten, zu verbrennen und mit Piken zu burchftoßen:
wir unterbrüden dieſe graufigen Details nicht, weil fie
in bedeutſamer Weife den Geift jener Zeit illuftriren
beifen. ALS der Reichsmarſchall und ver Pfalzgraf Huſſens
Kleider in den Händen der Nachrichter erblicten (e8 fiel
nämlich, was ein Delinguent bei feiner Hinrichtung
Brauchbares an fich trug, dem Henker zu), befahlen fie,
diefelben gleichfall8 ins Feuer zu werfen, indem fie dafür
eine Entjchäbigung zu geben veriprachen. Schließlich wurde
bie ganze auf der Nichtftätte entitandene Aſche aufgerafft
und in den nahen Rhein ausgefchüttet, damit von dem
Todten nicht etwas übrigbleibe, was feine Anhänger
etwa als Reliquie fortnehmen könnten.
Das Eoneil und König Sigismund follten ihres Sieges
über ven Erzfeger nicht froh werden. Was half’, daß
des Gerichteten Leben und Leib aufs gründlichite ver-
nihtet waren, er wurde vecht erit lebendig mit feinem
Zoe! Ganz Böhmen jchieb fich über ihm in zwei feind-
liche Lager, die Huffiten erwieſen fich weit ftärfer als bie
Ratholifen, und die auf Iahrzehnte entbrannten Kämpfe
zogen auch Die angrenzenden Gebiete in Mitleivenjchaft.
Und weit über biefe unmittelbaren Folgen feines Todes
hinaus geht Huſſens welthiftorifche Wirkung, die er durch
feine Gewiffenstreue auf Jahrhunderte geübt hat.
58 Johann Hu.
Wir haben letztlich noch Die Fragen um ven Bruch des
Hus gelobten freien Geleits und um das wider ihn
erfannte Strafmaß zu erörtern, und zwar auf Grund
bes damals gültigen Rechtes. — Der Umftand, daß dem
Magiſter der Tönigliche Geleitshrief erit am 5. November
zu Händen kam, ift nicht von Bedeutung. Hus reifte
unter dem vollfommenen ausreichenden „lebenpigen Ge-
leite“ der böhmischen Barone, die für ihn durch aus⸗
brüdlichen Auftrag Sigismund's beftellt waren, der fünig-
lihe Brief fam ale „todtes Geleit” zu dem lebendigen
noch hinzu, ohne aber eine rechtlich weiter greifende oder
fonftwie andere Wirkung zu haben. Die Urkunde ſchützte
Hus nicht gegen eine Unterfuchung und eventuelle Ver⸗
urtheilung von feiten bes für feine Sache zuftänbigen
Concils, d. h. fie Hatte, wie die Vergleichung ihres
Wortlauts mit den fonft bekannten Geleitshriefen ergibt,
nicht die Bedeutung eines „gerichtlichen Geleits“, ſondern
nur eines „politifchen”. So hat Hus felbft, jo haben
auch bie böhmischen Herren die königliche Zuſage ver-
ftanden. Gebrochen worden ift das königliche Geleit,
als am 28. November Hus ohne Verhör auf Befehl
des Papftes und der Garbinäle eiligft verhaftet wurde.
Die über ihm ſchon gefällte Entſcheidung mit der Strafe
ber Excommunication aber konnte nicht als Erſatz der
Dernehmung gelten, weil Johann XXIIL den Bann
über Hus und das Interdict über den Ort feines Auf-
enthalts ſuspendirt hatte. Auch lag weder ein anerfannter
Fluchtverdacht vor, noch etwa Nichtbeachtung des ihm
borgejchriebenen Verhaltens. Sigismund’s Schuld
beſteht in der unritterlichen Nachgiebigfeit, mit der er
biefer Verachtung feiner Töniglichen Gewalt nur affectvolle
Worte entgegenzufegen hatte. Ein Karl V. erneuerte
bem Dr. Luther, als er denſelben auf den Spruch ver
Sohann Hus. 59
Kirche Hin, daß er ein verftodter Ketzer fei, mit ber
Reichsacht belegte, doch vorher ausprüdlich das freie
Geleit auch für feine Heimkehr nach Wittenberg.
Nicht das nahmen bie Böhmen Sigismumb fo übel, daß
er Hus nicht gegen ben Ketzerproceß ſchützte, fondern daß
er, anftatt Huffens Anwalt zu fein, die Väter zu feiner
Verdammung angeeifert.
Was die Todesſtrafe betrifft, jo war fie für einen
verſtockten Reber rechtens, wer durch Widerruf fein Leben
rettete, wurde zu lebenslänglicher ober langjähriger Haft
in einem Kloftergefängniß verurtbeilt. Diefer Maßſtab
war Hus befanmt und wurbe von ibm anerkannt. Die
Stage tft nur, ob Hus einer Ketzerei überwiefen worben
it. Wenn feinerzeit Wichif’8 Angriff auf die Wandlungs-
lehre den Proceß wider ihn in Fluß gebracht hatte, fo
mochte auch für Hus der gefährlichite der ihm zur Laft
gelegten Sätze der fein, daß nach der Confecration ber
Hoftie auf dem Altare materielles Brot bleibe. Aber
gerade in dieſem Lehrſtück ift Hus feinem Lehrer nicht
gefolgt, ſondern rechtgläubig gewefen, wie fchon auf dem
Concil eine Stimme dffentlih anerkannte und auch
fatholifche Torjcher der Gegenwart thun. Was Huffens
Anfihten über die „wahre Kirche” und das „Geſetz
Chrifti“, das göttliche Wort ala einzige Glaubensnorm
betrifft, mit der daraus abfolgenden Beichränfung ber
Autorität der Hierarchie und ber Möglichkeit einer
Appellation an Jeſum Ehriftum, fo muß daran erinnert
werden, daß ein Dogma Bon ber Kirche damals noch
nicht formulirt war, und darum war das öfumenifche
Concil, wenn auch Wepräfentation der Gefammtlirche,
dem Magifter gegenüber des begründeten Nachweiſes feiner
Ferthümer nicht entbunden. Aber war Hus nicht Wiclifit
und Wiclif's Kegerei am Tage? Nun, Huffens Verehrung
60 Sobann Hu.
für die Berfon des Englänvers konnte jchwerlich als Des
weis ber Härefie gelten, und ver in Prag gejchehenen
Berurtheilung Wiclificher Säte hatte er aus berechtigten
formalen Gründen oppontrt. Auch die Verantwortung
für die in Prag und Böhmen entjtandenen Unruhen
hatte der Angeklagte deutlich abzulehnen veritanden, dazu
würden fie ein Erfenntniß auf den Tod kaum aus
reichend motiviert haben. — Wir brauchen überhaupt
nicht nach Haren Gründen für Huſſens Verbammung
zu fuchen, das Coneil felbft hat fein Urtheil ohne Moti—⸗
virung gefprochen: ‘Das Concil haßte den Geift, ver in
Hus fich regte, fein Schriftprincip, feine Gewiſſenstreue
waren mit römiſch-hierarchiſchen Gebanfengängen uns
vereinbar.
Man tit proteftantifcherfetts früher geneigt geweſen,
in dem Verfahren wider Hus rein einen brutalen Ge—
waltact zu erbliden, zumal die Gejchichtspichtung im
Slugblättern und Volksſchriften ſich früh des Talles
bemächtigte und den wahren Sachverhalt mannichfach
entjtellte und verbumfelte. Neuerdings haben wir an ber
Hand der Urfunden -und Concilacten fennen gelernt,
daß die Formen des Ketzerproceſſes eingehalten worden
find; aber die Anklage bleibt voll und ganz für bie
römiſche Kirche beftehen, daß man fi weder gemüht
hat, jene Formen ernft zu nehmen, noch gar den Ver—⸗
juh gemacht hat, mit Hus fich wirklich fachlich, red—
lich und unbefangen auseinanverzufeßen: daß Hus ein
Ketzer fei, war eine ausgemachte Sache vor dem erſten
Act des Verfahrens. Es genügte dem Concil, die Macht
zu befigen, das „böhmifche Gift“ als folches zu brand-
Sobann Hus. 61
marfen, dafür aber hatte man feine Erfenntniß, daß
nicht eine Firchenpolitiiche Frage, ſondern eine religidfe,
eine Gewifjensfrage vorlag Nom hat bafür nie ein
Auge gehabt, und fomit ift Hus allerdings als Märtyrer
geitorben.
Ein Diebflahl beim Handelsmann Schüller
in Blankenheim in der Eifel.
(Mitte des vorigen Sahrhundert®.)
Der nachſtehend mitgetheilte Criminalproceß aus
ber Mitte des vorigen Sahrhunderts dürfte deshalb auch
für einen weitern Kreis von Leſern von Intereſſe fein,
weil fich die Acten eines Proceffes jelten in folcher
Bollitändigfeit erhalten haben und fie uns einen überaus
Haren Einblid in den Gang des Inquifitionsverfahrens,
bie angewandte Tortur und die fchließliche Vollftredung
der Urtheile. gewähren. Sind doch in den Acten fogar
bie Notizen vorhanden, welche fich) der Vorfigende bes
Schöffenſtuhls gemacht hat, um bei der vorzunehmenden
Zortur, wahrfcheinlich der erften, welcher er in feinem
Leben beigewohnt, bie vorgejchriebenen Formen nicht zu
verfäumen. Die Acten werben nach dem heutigen Ver⸗
fahren bei einem Diebſtahl, in welchen die Befchuldigten
im Beſitz ber gejtohlenen Gegenftänbe angetroffen und ein
Betheiligter die That fofort mit allen Einzelheiten einge-
Itanden hat, nur höchſtens 20—30 Folien füllen. Hier
find fie zu einem anjehnlichen Bündel von Actenfascikeln
angeihwollen, und Hunderte von Seiten nehmen einerfeits
die verſchiedenen Inquiſitionsprotokolle und anbererfeits
bie dem Oberhof zu Koblenz vorgetragenen und von biefem
Gericht gebilligten Relationen ein.
Ein Diebftahl beim Handelsmann Schüller. 63
Wir haben der Darftellung abfichtlich die unfern dem
Kanzleiftil immer mehr entiwöhnten Ohren etwas frembs
fingende Sprache des vorigen Jahrhunderts zu Grunde
gelegt. Für die barbarifchen Formen des damals geltenden
Proceſſes paßt auch der barbariihe Stil. Man wird
fi vielleicht mit Befriedigung davon Überzeugen, wieviel
menfchlicher wir in unfern Strafen und Rechtsanſchauun⸗
gen dem vorigen Sahrhundert gegenüber geworven find,
wientel deutſcher wir felbft in der Schreibweife unjerer
Acten und dem Stil unferer Urtheile geworven find.
Am 24. Juni 1751 wurde der gräflich Manderſcheid⸗
Blankenheim'ſchen Kanzlei zu Blankenheim in der Eifel
gemeldet, daß in der Nacht vom 23. zum 24. Juni in
bie Wohmmmg des Hanbeldmannes Schüller zu Blanfen-
beim eingebrochen fei. Das Gericht hat in feiner vollen
Beſetzung mit dem Oberjchultheig und zwei Gerichtsichöffen
fofort Generalhausfuchung und Augenfchein eingenommen
und fejtgejtellt, daß in die aus Lehm und Stüdhölzern
gefügte Nüdenwand des Kramlabens ein fo großes Loch
gebrochen war, daß ein Menfch bequem einfteigen konnte.
Die obern Fächer des Kramladend waren ganz geleert
und bie werthoollfter Sachen, Damafte, Zit und Kattun
im Werth von 300 Thlen. wurden vermißt, während bie
minberiverthigen Stoffe unberührt gelaffen waren. Neben
dem gebrochenen Loch lag ein Pflugkolben, deſſen fich bie
Diebe auch damals fchon zum Erbrechen der Wand be-
dient hatten. Und um den Zugang von der Wohnung
des Beftohlenen her abzufperren, während fie mit dem
Einpaden der geftohlenen Sachen bejchäftigt waren, hatten
die Diebe die Thür des Ladens nach der Wohnung bin
mit einem Strumpfband fejtgebunden, welches fpäter in
der Unterfuchung noch eine große Rolle jpielte.
Auf die Anzeige hin wurden jofort einige Soldaten und
64 Ein Diebftahl beim Handelsmann Schüller.
Bürger ausgeſchickt, um die Thäter auszukundſchaften und
zu verfolgen „und namentlich die Hecken und Büſche zu
durchſuchen“.
Daneben lenkte ſich ſofort, ohne daß ein dafür erkenn⸗
barer Grund aus den Acten hervortritt, der Verdacht
gegen die Juden, welche damals nur auf Grund beſonderer
Schutzbriefe geduldet waren, und es wurde feſtgeſtellt, daß
der Jude Joſeph aus Engelgau, einem in ber Nachbar-
ichaft belegenen Dorfe, flüchtig geworben jei. ‚Seine Ehe-
frau wurde am 26. Juni gefänglich eingezogen, „weil ſie
fih erfühnt hatte, fich ohne Schu und Geleit in ven
gräflichen Landen aufzuhalten”. Bei ihrer Vernehmung
gibt fie an, fie habe gehofft, vaß ihnen neuer Schuß ge—
währt würde, zur Sache aber behauptet fie anfangs, ihr
Mann babe fich in der Nacht des Diebſtahls zu Haufe
aufgehalten, fpäter aber bejinnt fie fich, daß er auswärts
gewefen jet, er verreife oft drei bis vier Tage, ohne ihr jemals
feiner Reife Ziel und Zwecke mitzutheilen. Inzwiſchen
wurbe ermittelt, vaß der Knecht eines Juden Moſer zu
Bergheim beftändig einen verbächtigen Verfehr mit aus-
wärtigen und umherziehenden Juden unterhalte. Dieſer
Knecht hatte am 24. Juni beim Schultheiß in Kuchenheim
eine neue Schlafhaube und etwas Zig mit dem Bebeuten
niebergelegt, er habe dieſe Sachen von zwei Juden er-
halten, die er nach Bonn begleiten müffe, er wolle fie bei
jeiner Rückkehr wieder abholen. Der Beitohlene wurde
nah Bergheim geſchickt und bei Mofer wurden für
10—12 Thlr. Waaren vorgefunden, welche Schüler mit
Sicherheit als ihm geftohlen wiederkannte. Mofer wurde
mit jeinem Knecht nach Blankenheim gebracht und ſagte
aus: Am Morgen des 24. Juni fei der ihm befannte
Joſeph aus Engelgau in Begleitung von zwei andern ihm
nicht befannten Juden in feine Wirthichaft gefommen.
Ein Diebftahl beim Handbelsmann Schällenr 65
Alle drei feien fchwer mit Säden beladen gewejen, und
er habe den Joſeph gefragt: „Was haft bu denn? Ich
glaube du trägft ven Dom zu Köln.” Joſeph antiwortete,
er jet Kaufmann geworben und trage Waaren, Iofeph babe
fie offen im Wirthszimmer ausgelegt, und der Zeuge habe
ohne irgendeinen Verdacht von den Waaren gefauft.
Auf Verlangen der drei Fremden iſt der Knecht des
Mofer mit ihnen weiter gegangen und hat ihnen die Waaren
auf der Straße nad) Bonn eine Strede weit getragen,
dis fie einem andern Juden begegneten und biefen als
fernern Packträger annahmen. Als Lohn hatten fie dem
Knecht die Schlafmüge und 11, Ellen von dem Zik
übergeben.
Auf Grund der Ausfagen des Mofer und feines
Knechts wurde eine genaue Befchreibung aufgenommen,
wie die brei Diebe nah „Statur, Kleivung und fonften
beichaffen geweien”, und dann ver Beſtohlene, ober wie
er in ven Acten heißt, die pars derobata mit dem Re-
guifitortalfchreiben nach Bonn geichidt. Zugleich wurde
bemfelben ein Schreiben an ben PVertrauensmann bed
Grafen von Manderſcheid in Bonn, dem kurkölniſchen
Hofrath von Uphoff mitgegeben und ber letztere um Bei-
hülfe erfucht. In Bons vifitirte man fofort die Juben-
gaſſe. Es wurde feftgeftellt, daß die Diebe in der Stabt
jelbjt bei einem Bäder Iogirt hatten, und ver Beftohlene
verfolgte dieſelben weiter nach Siegburg. ‘Dort wurden
die beiden Diebe Nathan Leviih und Joſeph Salomon
mit dem größten ‘Theil der geftohlenen Waaren angetroffen.
Bei der PVifitation des Joſehh Salomon wurde das
Gegenftücd des Strumpfbandes, mit welchem die Ladenthür
zugebunden war, in ber Tafche gefunden. Als der Ge-
richtsdiener es ihm ans der Taſche zieht und Die Veber-
einſtimmung mit dem vom Beſtohlenen mitgebrachten
XXIII 5
66 Ein Diebſtahl beim Handelsmann Schüller.
Strumpfband feftgeftellt wird, bricht der Schultheiß im
bie Worte aus: „Jud, das Bändel hat dich verrathen.“
Einige Schwierigkeit macht der Transport much
Blankenheim; denn. der Schultheiß non Siegburg ver-
langt, daß die Inhaftirten: durch blankenheimer Schüßen
abgeholt werben follen; durch Uphoff's Vermittelung wird
indeß ein bonner Huſarencommando ausgewirkt umb
unter beffen Leitung werben bie beiden Angefchulbigten
nach Blankenheim gebracht.
Unterwegs geftand der einundzwanzigjährige Nathan
Leviſch dem Hufarenwachtmeifter feine Betheiligung au
dem Diebftahle ein. Jedoch wollte er nur als Knecht
bei den beiden andern Juden, dem entflohenen Joſeph
aus Engelgau uud dem Joſeph Salomon gewejen fein.
Er fei, jagt er, mit feiner Frau in. Holland gewefen,
von dort nach Neuwied gekammen und habe in Neuwied
ben Juden Joſeph Salomon. fennen gelernt, der ihm im
jülicher Land Arbeit verjprochen habe. Sie feien zu-
jammen ben Rhein herunter bis Bonn gefahren und
über Poppelsporf nach Engelgau gegangen, wo fie bei
dem entflobenen Joſeph einfehrten. „Am folgenden Abend
gingen fie“, wie er weiter befennt, „nach Blankenheim.‘
Bor dem Drt wurde ihm gefagt, er folle bie Schuhe
ausziehen; er weigerte fich anfangs, Joſeph Salomon
jegte ihm aber ein Meſſer und als er bei feiner Weigerung
beharrte, eine Piftole auf die Bruft. Infolge veffen ent-
ſchloß er fich mitzugehen und an einer Straßenecke Schild⸗
wache zu ftehen. Kurze Zeit darauf famen bie beiben
andern Juden mit drei großen Paden, von welden er
ben einen überwachte. Dann wanderten. fie zufammen
nad Siegburg.
Bei feiner Verhaftung in Siegburg vor dem „praetore
et V scabinis befeßten Gericht” leugnete Leviſch an-
Sin Diedftabl beim Handelsmann Schüller. 67
fünglih. Später machte er die bier mitgetheilten An⸗
gaben, die er in dem in Blankenheim unter ven gleichen
Formen erfolgten inquifitortichen Verhör wiederholte.
Joſeph Salomon aus Frankfurt, ein Schubjube bes
Herrn von Harff, leugnete dagegen alles; er will bie
Waaren für 25 Piftolen von einem Handelsmann in
Neumayen gefauft haben. Als ihm das Strumpfband
in Siegburg aus der Taſche gezogen wirb, befitt er jogar
die Unverſchämtheit, ven Gerichtsdiener zu befchuldigen,
er habe e8 ihm. heimlich hineingeſteckt.
Der am 3. Juli ftattgehabten Inquiſition folgten die
eivfihen Vernehmungen der Zeugen gleichfall® vor be-
ießtem Gericht zu Blankenheim bis zum 15. Juli. Frau
Joſeph aus Engelgau erkannte die beiden Angefchulpigten
al® diejenigen Fremen wieder, welche vor dem Diebftahl
eine Nacht in ihrem Haufe zugebracht und fich mit ihrem
Manne entfernt hatten. Schülfer verficherte, daß die in
Beihlag genommenen Waaren ihm geftohlen feien. Er
legte Vergleichsſtücke vor, die er bereits vor dem Dieb-
ftahl von dem geftohlenen Ballen abgefchnitten und im
Blanfenheim verfanft hatte, er fagte aus, daß Joſeph
Salomon unter dem VBorwanbe, etwas kaufen zu wollen,
am Tage vor dem ‘Diebftahl in feinen Laben gefommen
war und dort augenjcheinlich recognofeirt hatte. Auch
Mofer und fein Knecht beftätigten, daß die ihnen vor-
geftellten beiden Gefangenen am 24. Juni in Bergheim
gewefen und die Waaren bei fih gehabt hätten. Es
wurde durch richterlichen Augenschein der Ort feftgeitellt,
an welchen Leviſch Wache gehalten haben will, und es
erwies fich derſelbe als gut gewählt, weil man von bort
aus die ganze Hauptitraße überjehen, die durch ein Neben-
gäßchen eingebrochenen Diebe leicht benachrichtigen und
jofort ind Freie gelangen Tonnte.
5*
68 Ein Diebſtahl beim Handelsmann Schüller.
Es liegt noch ein notarielles Protokoll bei ven Acten,
durch welches unter Vergleichung mit der Rechnung des
fölner Lieferanten mit den befchlagnahmten Stüden feft-
gejtellt wurde, daß für 53 Rthlr. Waaren fehlten. Zu
biejem Werth mußten alſo vie Diebe bereit Waaren
verfauft haben.
Joſeph Salomon wurde wieder vernommen. Er er-
Härte, die Zeugen hätten einen falfchen Eid gejchworen,
perwickelte fich aber in Widerfprüche mit feinen frühern
Angaben. Beim Eintritt in das kurkölniſche Land mußten
die Waaren in Ruchenheim verzoltt fein, und in ber That
wurde auch ver kuchenheimer Zollzettel aus Salomon's
eigener Brieftajche heransgeholt und ihm vorgelegt. Zuerft
behauptete er, er habe ven Zettel gefunden und die Waaren
in Brühl verzollt, dann aber fagte er „ganz boshafter-
weise”, er jet nicht unter feinen Briefen geweſen, jondern
bon fremder Hand baruntergefhoben. Zum Schluß
wurden Leviſch und Salomon confeontirt, die In⸗
quifitionsprotofolle gefchloffen und dem Grafen von Man-
derſcheid mit dem Erfuchen zugeihidt, dem leugnenden
Salomon lauf fein Erjuchen defensorem in Köln zu
beitellen (als welche biefigen Orts nicht zu gehaben find)
und einen ober zweien bewährten Eriminaliften als Re—
ferenten die Protokolle einzujchiden.
Wenn, man bie umftändlichen Formen des Inquifitions-
proceſſes vor beſetztem Gericht, die Neguifitionen von
Blankenheim nach Bonn und Siegburg in ein Nachbar-
gebiet berücfichtigt, jo muß man über die Schnelligkeit
des hier ftattgehabten Verfahrens ftaunen. Am 24. Juni
it der Diebftahl entvedt und am 15. Yuli die Unter-
ſuchung bereits beendet.
Als Referent wurde ein Rath bei dem kurtrierſchen
Oberhof zu Koblenz beftellt. Sein Referat füllt bei dem
Ein Diebftahl beim Handelsmann Schüller. 69
weitläufigen Kanzleiftil des vorigen Jahrhunderts nicht
weniger als 118 Folien, obwol der Referent nach dem
Vortrag des aus den Inquiſitionsacten geſchöpften That⸗
ſächlichen ſelbſt hervorhebt:
„Betrachtet man nun ganz genau dieſen Verlauf, und
daß darauf dieſe Juden, wie bejchrieben worben, alſo
verfundfchaftet, verfolgt und in der That ſogar mit ben
Waaren ergriffen worben, fo wird wol fein vernünftiger
Mensch zu finden fein, der den geringiten Zweifel machen
wird, daß nicht eben dieſe beiden inhaftirten Juden bie
wahrbaften Thäter feien und fo gut als für überwieſen
anzufehen find, als ob fie entweder ver That geftänbig
oder auch in flagranti ertappt worden wären.”
Darauf führt die Relation mit großen Bedenken aus,
ob auch ein wirklicher gewaltſamer Einbruch ftattgefunden
babe; denn e8 fei nur eine Wand von Stüdhälzern mit
Lehm durchbrochen, fie zerftreut aber viefe Bedenken mit
ber nicht eiblichen Ausiage ver Frau Schüller, welche
unter Eid zu wiederholen fei, daß neben ber burchbrochenen
Band ein Pflugkolben gelegen und dicht dabei eine augen-
icheinlich von den Dieben benußte Leiter geſtanden habe.
Dann wird ausgeführt, e8 Tiege ein gewaltjamer und
gefährlicher Diebſtahl vor, weil deren Theilnehmer fich
verbunden und Salomon eine in Siegburg bei ihm ge-
fundene mit vier Stüden groben Schrot® und drei Kleinen
zerhauenen Bleiſtücken geladene Piftole bei fich geführt
babe; auch habe er noch fieben Stüde zerhauenen Bleies
mit Schrot in Mafulaturpapier bei fich getragen. Dem—
nach liege ein armata manu begangene® furtum vor.
Der Referent fährt fort, daß auch ein großer und
iharfer Diebftahl vorliege, und begründet die Größe jelt-
jamermweife nicht mit dem Werth und Umfang der in
der Nacht vom 23. auf den 24. Juni geftohlenen Sachen,
“
70 Ein Diebftahl beim Handelsmann Schüller.
jondern zieht von demſelben ven Werth der dem Schüler
wieder zugelommenen Waaren ab, ſodaß er einen wirt-
lichen Schaden von 73 Rthlrn. herausrechnet. Hier hat
ber Bertheidiger monirt, Daß der Werth durch ein notarielles
Protokoll unter Heranziehung der Rechnungen aufgeſtellt
fei, cum notario non credatur absque testibus und
ichlägt der Referent daher vor, ven Beitohlenen nochmals
über den Werth zu befragen.
Er folgert, daß Leviſch auxilum in furto ipso
commissum präftirt habe, denn ohne feine Hülfe hätten
bie zwei andern nicht fo viele Waaren fortfehleppen können.
Dan könne fogar annehmen, Leviſch jei ver Anftifter
bes ganzen Diebftahls geweſen. Denn er babe früher
in Gerolitein gewohnt und biefen Drt erft vor fünf Iahren
verlaffen, weil fein Bater eines Pferdediebſtahls verdächtig
war, er ſei geftändig, ſchon früher auf einer Hochzeit
einen Diebftabl begangen zu haben, kenne Die ganze
Gegend und ſei mit ver Frau des Joſeph in Engelgan
verwandt. Augenſcheinlich habe er den fremden Salomon
in die Gegend gebracht, um mit ihm dert zu ftehlen.
Er habe feine Abficht, ind Nieverland zu reifen, micht
ausgeführt und alle feine Schußreden, er fei gezwungen,
habe nichts von dem Diebftahl gewußt, jeien nur für
unwahre Ausflüchte und Lügen zu halten. Er fei daher
al8 comfessus reus anziehen und zur poena lagnei
zu verurtheilen. Gegen ihn wird noch als belaſtend au⸗
geführt, daß er in Siegburg anfänglich gelengnet und
behanptet habe, er fomme mit ben Waaren aus Holland.
Gegen Joſeph Salomon liege zunächft mur die Aus⸗
ſage des Leviſch vor, ber Fein tüchtiger und unver-
leumdeter Zeuge jet, da er nicht zum jüuramentum ab-
mittirt werden könne. „Es haben aber bie Eriminal
Rechten erfunden, daß ein ſolcher socius fich per tor-
Ein Diebſtahl beim Handbelsmann Schüller 71
turam habilitrien muß, um dadurch zu beftätigem, daß
das feinige wahr fei, wobei denn abjonderlich geforbert
wird, daß dem Leviſch in der Zortur fein Name bes
socli genannt wird, fonvern Daß er aus fich felbit heraus
diejenigen benennen muß, bie ihm in und zu ber That
verholfen ‚haben. Und da dieſes noch nicht gefchehen,
muß Leviſch noch zur ſcharfen Frage verwieſen werben,
jedoch vorbebalt feines Geftändnifjes und des—
halb in Rechten verbienter Zodesftrafe” Die
wirfliche Tortur ſei ‚bier aber nicht notbiwendig, „sondern
e8 genüge, daß er dazu veriwielen und ad locum torturae
cam praeextensione instrumentorum torturakhum et
aliqua ligatura geführt und angegriffen werbe umb
dann absque suggestione bei feiner vormaligen Aus⸗
jage verbleibe”. Deshalb befürwortet der Meferent, daß
Leviſch auf gebundenen Stuhl gejegt, und bie Daum-
ſchrauben biefem complici etwas applicirt und ein wenig
angedrücdt werden Eönnten, um befto ſicherer und um⸗
ſtändlicher die Wahrheit berauszubringen.
Gegen Salomon ſpreche noch, daß er ben Zollſchein
über den kurkölniſchen gezahlten Zoll für drei Packe
Waaren von Kuchenheim bei fich getragen, währen er
biejelben von Düſſeldorf gebracht und bei Brühl verzolit
haben will.
Das Referat führt die Wiberfprüde in Salomon’s
Auslaffungen weitläufig aus, äußert feine Anficht dahin,
dag man ihn für überführt halte, aber alle dieſe Um—
fände genügten nicht, ihn zu verurtheilen, und er müſſe
„wegen jo vielfältigen Verbachts zur Icharfen Frag durch
alle Grad hindurch condemmirt werben‘.
Diejes Referat wurde am .20. Detsber 1751 bei dem
Oberhof in Koblenz vorgetragen und burch Vermittelung
des Grofen von Manderſcheid dem Schöffengericht zu
72 Ein Diedftahl beim Handelsmann Schüller.
Blankenheim überfandt. Es wurden darauf am 10. Novem-
ber noch einmal ver Beftohlene Schüller und feine Ehefrau
unter Eid vernommen. Schüller Shätte den Werth ver ihm
fpecificirt abhanden gefommenen Waaren auf 53 Gulven
und nimmt an, daß ihm noch für 20 Gulden Waaren
geftohlen feien, welche er nicht näher fpecificiren kann.
Er fowol wie feine Frau beftätigen, daß der Pflugfolben
neben dem in die Wand feines Hauſes gebrochenen Loch
gelegen umd vie Leiter angelehnt geftanven habe und beide
Inftrumente augenfcheinlich zum Durchbruch benutzt feien.
Ebenjo jagt der nochmals eiblich vernommene Schloffer
Hermann aus. Demnach war das Bedenken des Ober-
hof8 gehoben, ob auch ein „wirklicher gewaltjamer Ein-
bruch“ vorliege, und es fonnte nunmehr das weitere Ver⸗
fahren ftattfinden.
Am 15. November erfolgt die sententia prima des
Schöffenſtuhls Blankenheim dahin: — „wird auf Ge-
ftändniß des inquisiti Nathan Leviſch, welch’ Geftänd-
niß hiermit ausprüdlich vorbehalten und die wohlverbiente
Zobesitraf refervirt wird, nach eingeholter NRechtsbelehrung
bei einem auswärtigen Oberhof hiemit zu Recht erkannt
daß der gejtändige Inquiſit wegen ber bei biefem ‘Dieb-
ftahl gewejenen Kameraden bahin zur fcharfen Frag zu
verweilen, um vermittelit berjelben zu befennen und zu
befräftigen, welcher oder welche dieſen Diebftahl begangen,
wo, warn und wie mit allen dabei fürgenommenen Um⸗
ſtänden.“
Da man am Oberhof in Koblenz vorausſetzte, daß
die bei Anwendung der Folter zu beobachtenden Umſtände
in Blankenheim nicht genügend bekannt ſeien, ſo wurde
ber Relation und dem bereits im Entwurf beigefügten
brei Urtheilen noch eine genaue Folterinftruction hinzu-
gefügt: Pro notitia necessarie observanda, welche wir
Ein Diebftabl beim Handelsmann Schüller 73
unverändert in ihrem alterthümlichen ‘Deutjch- Lateinisch
folgen laffen. Es Tieft fih aus ven Worten das graufige
Behagen heraus, welches der Referent beim Appliciren ber
Daumfchrauben und ber fpaniichen Stiefeln empfindet,
indem er noch einige beſondere Feinheiten zur Erhöhung
ber Empfindlichkeit hervorhebt.
Pro Notitia necessarie observanda.
Sleich wie die ahnliegende Relation über Beyde in-
quisitos Juden Nathan und Iojeph Befaget, daß Erfterer
der Nathan wegen feiner Beläntnuß mit dem ftrang Vom
leben Zum Todt binzurichten, Der inquisit Joſeph aber
burch alle gradus Zur ſcharfen Frag zu Condemniren,
undt wegen des Viellfältigen wieder ‘Denjelben obwaltenden
Verdachts dardurch zur geſtändnus der wahrheit zu Ver-
mögen fehe, Vermitz deme gleichwohlen, daß ber inquisit
Nathan feine außag auf den Juden Joſeph, daß berjelbe
den Diebftall Begangen, undt ihme ven pad waare zu⸗
gebracht habe. Durch die fcharfe Fragbeftättige, Vorhero
auch pars derobata ver ſchüller auf feinen geleifteten
aydt, fet feine Specification Erlittenen fchadens sub
litr. E vergeftalt Beftättige, daß Er dabey geweßen, wie
der Notarius dieße Specification aus den Rechnungen
mit Manual Errichtet, dabey Er felbften demnechſt feinen
ſchaden alffolchergeftalt überlegt, und nach wiſſen tarirt,
daß nicht allein die Specificirte waaren auf 53 rthr.
fonderen auch die ihme ohnwiſſende undt manquirende
waaren auf 20 rihr. jchäße, und Bekräftige, vesgleichen
muß auch noch des derobati fchüllers Ehefrau furato
abgehöhrt werden über den Befund nach Befchehenen
Diebftall, daß ahn und bey ihrem laden morgends frühe
auf den 24. Juny letzthin Ein leither, dan Ein plug
74 Ein Diedfiahl beim Handelsmann Schäller,
Eyßen, ober pflug feig gefehen, undt gefunden, undt war,
wie nicht zu Zweiffelen, die Nachbahren undt fonften
Jemand glaubhaftes Cingleiches auch der Zeith gejehen
haben folte, Ein ober anderer Dieſes Ebenfals zu Be⸗
kräftigen hätte; welchen nechft Dan die hiebey Tommenbe
torturalurthel Deme inquisiten Nathan zu publiciren,
undt folgender geitalt zu exequiren währe;
Dan gleich die Endliche urthel fo Entgegen denſelben
abgefafjet, undt auch hierbeneben gehet, Bejaget, daß
derſelb wegen feiner geftänpnus mit der Endlicher Todts⸗
ſtraf zu Belegen ſeye, fo wirb in dießer torturalitrthel
befien geftänbnus undt desfals Verwürkte Beftrafung
austrüdlichen Vorbehalten, womit Derjelb fein anlaf
Nehmen möge, feine geſtändnus zu revociren, oder zu
glauben, daß Er wegen dießes Diebſtalls umb zur DBe-
fäntnus ber wahrheit zu Bringen zu Dießer folter con-
demnirt werbe, ſondern biefes gejchehet allein, umb bie
wahrheit undt ficherheit zu haben wegen deren Complicum,
undt Bey dießem fürgegangenen ‘Diebftall geweßenen ge⸗
jellen, im maſſen gleichwie feinem Zeugen ohne Jurament
glauben Beugemefjen wird, aljo wird Ebenfals Teinem
Dieb over übelthäter wegen feiner Complicum glauben
Beygemeſſen, Er habe dan im ver marter inhalts pein⸗
licher halsgerichts ordnung art. 31 folche ahngegebene
gejellen und Cammerathen wieberhohlet undt Beftättiget
Daß ihm gleichwohlen folcher gejellen nahmen in ber
marter Vorgebalten werde, ſondern Es muß derſelb jolche
Bon frepen jtüden ohne suggestion Belennen, welchem⸗
nechft Eine folche nominatio sociorum criminis fo Bil
würket, daß daraus Ein zulängliches inditium ad tor-
turam wieder folche gefjellen Entftehet, worauf der in-
quisit Joſeph Salomon ſowohl alsdan torquirt werden
fan, als wir auch wan über kurtz ober lang ber flüchtige
Ein Diebftahl beim Handelsmann Shüller. 75
Joſeph Habhafft gemacht werben folte, undt biefer Bon
ihme Jüden Nathan in ber marter für den Thäter dießes
Diebftall8 ahngegeben werden wird, derſelb auf ben laug⸗
nungsfall Ebenwohl mit der fcharfen frag ahngegriffen,
unbt darzu Condemnirt werben fünte, wobeh dan folgendes
in praxi zu observiren ftehet, daß dan alfo diefe tortural-
urthel in gegenwarth Hrn. Richter undt Behfigeren wobeh,
zugleich wenigft ver fchultheiß mit 2 fchöffen mit adhibirt
werden müſſen, in welcher aller gegenwarth dan nicht
allein dieße urthel deme Juden Nathan zu publiciren
ftehet, ſonderen publicata. sententia derfelb über hen
ganzen Verlauf des die nacht zwijchen ven 23. auf ven
24. Juny letzthin zu Blankenheim Begangenen Diebftalls
zu Befragen wehre, ohne daß ihme das geringfte Davon
in Specie Vorgehalten werde, mithin -außagen, wan, wo,
wie undt welche biegen Diebſtall Begangen, undt warn
bießes aljo gethan, und ad prothocollum per secreta-
tarium et Judicy scribam aufgezeichnet worden it,
Derfelb zu Befragen ift, ob Dan dießes aljo ficher undt
wahrhaftig wahr ſeye, daß Er die ihme publicirte urthel
desfals ausftehen, undt damit Bekräftigen wolle, daß Er,
ohne denen Benenten Complicibus damit waß ohnwahr
nachzugeben, dieße folter ausftehen wolle, und müſſe,
worauf fogar in Etwa doch nicht zum fcharffiten gebunden,
anf den ftuhl gejeßt auch wohl die Daumfchrauben dießem
inquisito nathan Etwas zugeſchraubet werden mögen,
biß dahin davon die Empfindlichkeit in Etwa ſchühret,
wan derſelb nwun alles wird allſolchergeſtalt Beſtättigen,
und die Complices ahngeben, ſo wird dieße Benennung
für Richtig gehalten, wo alß dan dem nathan alſo Bald
die Daumſchrauben loßmachen, undt auf Binden zu laſſen
ſeynd, forth auf freyen fuß in der marter Cammer zu
ſtellen iſt. |
76 Ein Diedftahl beim Handelsmann Schüller.
Wobey dan nochmahls wohl in obacht zunehmen Er-
innernt wirbt, feine questiones suggestivas zu machen,
weder den Nahmen des inquisiti Joſeph Salomon, als
wie auch des flüchtigen Joſephs oder fonften Jemand
Borzuhalten, ſondern Es muß dießer Nathan alles felbften
ahngeben, undt auffagen, fo Bald num diefes gefchehen,
jo fan eadem et altera die bie auch hiebey kommende
tortural urthel deme inquisito Joſeph Ebenfals in ob-
gemelter aller ambt® und gerichtS personen dan auch in
gegenwarths des nachrichters, wie ſolches auch bey publica-
tion Voriger urthel zu Verftehen, in loco consueto
judicy publicirt werten.
Welchemnechft ver Hr. Präses deme inquisito Joſeph
Borzuhalten hatt, wie Er nun mehro fehe, worauf Es
ahnkomme, undt daß durch peinliche Marter durch alle
grabt zur geftändnus der wahrheit Vermöget werben jolle,
welche Er gleichwohlen nicht überftehen wurde, folte ge-
denken, wie Vielle umbſtändt Vorhanden, woraus nicht
anderft geglaubt werben fönte, al8 daß Er inquisit dießen
Diebftall Begangen, undt weſſen auch überzeuget ſeyn,
burch die außag des inquisiten Nathans, des flüchtigen
Joſephs, welcher dardurch fich ſchuldig gegeben, burch
deſſen Eheweib aydliche außag, daß den 22. undt 23. Juny
in ihrem Hauß geweßen, undt daſelbſt gefchlaffen, ven
23. aber gegenabendt alle 3 ausgangen, und nicht zurüd
fommen wahren, Itl. des Juden Von Berchems undt
feines Knechts ausfag, wohin morgens den 24. Juny
umb 6 uhren mit 3 ſchwehren padtwaaren kommen, davon
Dannen auf Cochem (Cuchenheim) forthgangen, wohin
bes Berchemer Judens Knecht Einen pad Von den Zen
päden tragen helfen, daß zu Cochem ven Zoll für fich
und 3 pad bezahlt, undt Bejage auch folches das Beh
ihme gefundene Zollzettelgen, welches in feinem Kampf⸗
Ein Diebftabl beim Handelsmann Schüller. 77
fuder gefunden, daß Enblich jelbften nach Viellen leugen
gleihwohlen geftanden, undt gejtehen müſſen, daß ben
25. Juny zu Boppelsporf mit waaren ahnkommen, woheh
dan auch der confessirender Nathan mitgeweßen, nach
gehaltenem Schabes auf Bonn gangen, unbt in Eins
baßigen DBedershauß aufen warb, wie felbiten Bekennet,
ſich Einlogirt, diejer fraw auch drey fchnupftücher Ver⸗
faufet, Endlich Vom jontag bis Dienftag daſelbſt Ver⸗
blieben, Von dar auf fiegburg gengen, altivo dan auch
mit den waaren Ergriffen, undt gefänglich überbracht
worden, wo barbeneben Eine fcharfgelabene pistol, oder
ſackpuffert Bey ihme gefunden worben, wie besgleichen
das gegentheill Von dem ftrumpff Bendel, womit bie
Thür, worin geftohlen, zugebunven gehabt, forth auch alle
waaren Bon dem Beftohlenen mann Bon Blankenheim
für die feinige ahnErkennet worben ſeynd, über deme
nicht Erwißen Tan, wo feßhaft, ſonderen Viellmehr geftehen
mäffe, daß über all herumb vagire, nuhn jolte hierab
Erſehen, wie aller dieſer umbftänden halber ber DBe-
gangenen That überführt feye, undt nichts mehr abgehe,
als feine eigene geftändnus, wo ohne daß allſchon jo Viell
Belennet, daß man ahn der That nicht mehr zwehfele,
jolte alfo in ber güthe annoch zu ferneren Befäntnus jich
anfchiefen, BeVor ihm durch die fcharfe Frag die glieder
zerriffen, undt alſo zum armen Menſch und Kruppel
gemacht wurde.
Wan nuhn auf diejes alles nichts Verfangen wolte,
weniger derſelb fich zur geſtändnus ahnſchicken folte, fo
wird dießer inquisit ahnforberift deme nachrichter über.
antworthet umb zur marter Sammer zu führen, Zu Vor
aber darzu zu praepariren, nemblich die haar und fonjten
abfcheren, auch ausKleiden undt genau visitiren zu laffen,
ob nicht Etwa derſelb was Verdächtiges Beh fich habe,
78 Ein Diebftahl beim Handelsmann Schäüller.
wo indeſſen Hrn. Beamdter, undt richterr, wie Vorgemelt,
zu der Marter Sammer fich zu Verfügen haben, allıvo
dan Vorherr der nachrichter feine instrumenta Torturalia
parat liegen, undt aufgehenft haben muß, welchenmechft
ban auch dießer inquisit durch den Nachrichter mit zurück⸗
lafjung der wacht undt übrig darzu nicht gehörigen per-
sonen herbey gebracht werden muß, allwo dießem in-
quisit nach mahls all Voriges kürtzlich Vorzuſtellen ift,
barneben aber auch alle gradus undt beren instrumenta
nemblich die Daumftod, die ſpanniſche fstefelen, und ber
flafchenzug Vorzuzeigen ſeynd, jedes ins Beſondere, mit
ber ahnmerkung undt Verwarnung, daß Er gewiß biefelbe
nicht überftehen werbe, unbt fein laugenen ihme aljo auch
nichts helfen werbe; warn dießes alles. aber in ber güthe
Dey dem inquisito nichts Verfangen will, fo jchreitet
man zur würflichen tortur, bergeitalt, daß deme in-
quisiten zu Erſt die Händ zufammen gebunden, dem
nechft derjelb auf Einen ſtuhl ahn Eine wandt feit-
gebunden werbe, daß alſo bajelbft aufricht fiten bleiben
muß, bemnechit werben bemfelben die augen Verbunden,
Beyde Daumen mit fchmahler Cordel umbwidelt undt
darauf zu Erit der Daumjtod applicirt, mobey zu Err-
inneren, daß bießer wie auch die andere Beyde gradus
jever Eine Completo 4tel ftundt pflege ahnzudauren,
undt wird aber Ehenber nicht dieſe Atel ſtundt gerechnet
zum anfang bis die zuträdung undt Empfindung Beh
bem inquisito Berfpühret wird, welche minute ver ftund
dan auch aljo ad prothokollum gejeget wird, umb Zu⸗
jehen, wan bießer actus ahngefangen, undt aufgehöhrt,
wobey aber zu Exrinneren ift, daf wan der inquisit
Etwa Bekennen zu wollen, unbt ihnen loß zu Binden
begehren würde, man folchem Begehren nicht gleich gehör
geben fjolle, fonberen Es hatte inquisit als dan Vor
Ein Diebftabl beim Handelsmann Schüller. 79
feiner Loß- Bindung Eine Etwaige glaubliche geftänpnuß
zu Thuen, welchemnechſt Erſt, Loßgebunden werben mag,
wobey aber wohl zu Bemerken ftehet, daß alſo bald, war
bie instrumenta los undt aufgeſchraubet werben, daß
alſo gleich die minut undt Zeith Ebenfalls ad protho-
eollum Verzeichnet werde, um in dem Fall, wan anwieder
ſich auf das leugenen Begeben ſolte, over fonft die Rechte
wahrheit nicht ausſprechen würbe, wie ſolches öfters ge⸗
ſchieht, umb nuhrn Die Zeith alfo umb zu Bringen, fo
fahret man fo lang forth zw rechnen Bon ber minut,
wo man abgelaffen, dan wo man ahnwieder mit würf-
licher Empfindung ahnfanget, vie Zeith ad prothocollum
zu jeten, unbt alſo jo lang zu Continuiren, bis bie
Völlige Atel ftundt, oder 15 minuten in dem Erften, wie
auch den anberen Beyden gradibus aljo Vollkommen Voll-
zogen worden ift, wobey bennoch weithers zu Errinneren
ftehet, va, warn: ver Inquisit Joſeph Beftanbig in nega-
tiva Bey allen 3 gradibus continuo Verbleiben unbt
bie marter balfftärrig, oder hartnädig überftehen: jolte,
jo hatt man Bey Jedem gradu zu Beobachten, daß
gleichwie die Zuſchraubung langfamb nach Ein ander ge-
heben muß, daß wenigft Beh ablauf der halbſcheid der
Viertelſtund bie ſchraub ſich Vollig zu Befinde, undt dem⸗
nechſt, ohne daß auch Etwas der inquisit Bekennet, die
Daum- oder Beinſchrauben alſo Bald auf⸗ undt Los⸗
ſchrauben zu laſſen Befohlen werde, ſolches auch ad
prothocollum notirt werden müſſe. Demnechſt wird dem
inquisito das geſicht loßgebunden, bie durch die Daum⸗
ſtocke zugeſchraubte glieder gezeiget, umb zuſehen, wie
dieſelbe zugerichtet, undt zu waß für Einen armſeeligen
gebrechlichen Menſchen Er ſich ſelbſten mache, forth wan
alles nichts Verfangen will, demnechſt ahnwieder mit
Etwaiger halber frifcher anfetung ber instrumenten auf
80 Ein Diebftahl beim Handelsmann Schäller.
friſch fleifch Bei der abgelaffener minut fo lang forth
fahren, bis die Viertelftund allemahl Vorbey, hiebey ift
weither zu Errinneren, vaß der Nachrichter zu Verrichtung
feiner function nicht allein nachtrudjamb Berwahrnett
werbe, ſondern dießer muß atıch feine dexterität darin
Deweifen, daß Er Bey dem Daumftoden mit Einem
hammer, nachdeme aufs neu ımbt fo oft als zugefchraubet,
darauf Flopfe, welches den inquisitum neue Empfindlich-
feiten Verurſachet, wie beögleichen pfleget, undt muß den
inquisit das Bein, woran die fchienjchraub ahngejeßet
wird, mit abnbindung Einer dünnen Corbel ahn bie
große Zehne folchergeftalt feſt ansgeftredet werben, daß
das Bein nicht aufliege, noch ruhen könne, unbt wird
demnechſt mit dem Hammerftill Zeithlich darauf gefchlagen,
wodurch diefe gefpante Eordel in Bewegung gebracht, undt
der inquisit folches deſto Empfindlicher fpühret. Bey
bem letteren gradu des aufzugs ba dem inquisito bie
Händt auf den rüden gebunden, undt alſo binterwärths
aufgezogen wird, fo ſtehet hiebey zu consideriren, daß
Ein gantes Dannen Bort dem inquisito mit bünnen
boch ftarfen Cordelen ahn die Zehen gebunden werde,
welches derſelb nicht allein alfo mit in die höhe ziehen
muß, fonderen Es hatt der nachrichter Jedoch mit folcher
Beicheivenheit, das wohl Endlich dem inquisito nicht gar
den leib undt glieder aus Einander ziebe, aljo Befcheibent-
lich undt Langſamb nach undt nach darauf zu tretten,
undt zu truden daß nicht allein der inquisit fein Völliges
gefühl darvon habe, fondern auch durch ſothanes lang⸗
fames aufftoßen und Bewegen die Erjchütterung ahn feinem
feib Verfpühre, imgleichen pflegen auch Bey dießem actu
Etliche quassaten gegeben zu werden, bergeitalt, daß bie
Cordel, worahn der inquisit hanget, nicht allein Etliche
mabl durch Einen hammer oder ftodichlag-Erjchüttert, und
Ein Diebftahl beim Handelsmann Schüller. 81
Beweget wird, fonderen ber nachrichter pfleget auch, wann
dem inquisit in der hohe hanget, Eine ſolche abmaaß
zunehmen, daß auf Einmahl den inquisitum aljo hange,
oder ohngefehr Einen fchuh hoch auf Einmahl fallen Laffet,
Jedoch dergaftalt, daß weder mit dem leib noch den füßen
auf die Erde fommet, fonderen gleichwohlen aljo fchweben,
und hangen bleibet, in summa gleichwie Beh gefährlichen
hartnädigen, undt gleichjamb überwießenen Dieben alle
Vorſorg undt Behuthſamkeit Vorzufehre alfo auch Viell
barahıı gelegen in folchen casu ahn Einem Erfahrnen
Richter, undt daß derjelb den nachrichter zu aller prae-
caution binweiße, war verjelb ohne daß Vielleicht derley
actus Entweder gahr nicht over gahr felten practiciret
hatt, undt Eben darumb man hiebey auch alfo umbjtänd-
lich dießen tortural actum zur praecaution ahngezeigt
datt, undt wohl zu wünfchen wehre, daß Einem Judicem
practicum zu bießem casu hatten, oder allenfals fich
Etwa aus Erjehen mögten, warn feldften Vielleicht derley
actus noch nicht gehabt, undt dabey geweßen, wie im⸗
gleichen auch Ein geſchickter nachrichter mit tauglichen
instrumenten Beh folchen gefährlichen delinquenten wohl
Bormöthen ift, undt ahnzurathen wehre, wo indeſſen alles
Borgemeldtes zur genauer observation für jeto und Etwa
fünftig anrecommendiret wird.
Folgen nun auch die quastiones.
Torturales, worüber der Inguifit Joſeph Salomon
in ver Marter zu Befragen:
1) Wer den die Nacht zwifchen ven 23. undt 24. Juny
legthin zu Blankenheim Begangenen Diebjtall aus⸗
geübt habe.
2) Wie Viel der ‘Dieb geweßen.
5) Wan, undt wo dießen Diebftall mit Einanber
unterredet.
XXII. 6
82
Ein Diebftahl beim HSandelsmann Schüller.
4) Welcher Eingebrochen, undt Eingeftiegen.
5) Welcher die geftohlenen waaren herausgebracht oder
geworfen.
6) Wem Er dan die waaren herausgelangt.
T Wo dan mit ven waaren fich hinbegeben.
8) Ob undt was, auch wo Von bießen geftohlenen
waaren Verkauft.
9), Wo die Erfte nacht nach dem Diebitall gejchlafen.
10) Durch waß örther fie fommen, als mit dem Dieb-
ſtall fich forthgemacht.
11) Ob auch als Jud ſeinen Zoll für ſeine person
undt die waare Bezahlt, undt wo.
12) Welcher ihm die 3 päck waaren Bon Blanfen-
heim undt weithers forthtragen helfen.
13) Wo fie in CammerKathichaft fommen, dieße undt
vergleichen mehrere general fragftüd müffen dem
inquisito Beftändig in der marter Vorgehalten
werden, wobey ban auch weithers zu observiren
ſtehet, daß war der inquisit in-ber marter ohn⸗
fangen wird, zu discutiren Von ſolchen, welche
nicht zur haubtjach gehören, jo ift bemfelben fein
gehör gegeben, noch zu antworth, ſonderen Es muß
derſelb Beſtändig in genere auf dieſen Diebftalf
Befragt werben, mafjen durch Vielles raisoniren
der jchmergen Vergeſſen, undt folche reden Vor⸗
jetlich führen, umb aljo die Zeith zu passiren;
warn biefer tortural actus auf ſolche weiß ob-
servirt werben wird, jo Beſcheiht dem Nechtlich
praxi Ein genügen, undt ftehet auch zu hoffen,
daß die Rechte wahrheit an den Tag fomme, - |
womit die gerechtigfeit auch deſto geficherter aus-
geiprochen werben möge, undt fommen auch hiebey
bie urthelen, wie biefelben zu publiciren, wo in-
Ein Diebftabl beim Handelsmann Schüller. 83
deſſen ber weithere Erfolg auch das weithere weiß
wird,
ALS forgfältiger Vorfigender Hat ſich der Oberamt-
mann zu Blankenheim einen furzen Auszug aus biejer
Inftruction gemacht, welcher von feiner eigenen Hand
geichrieben gleichfall8 ven Acten beiliegt und ben wir
gleichfall® der Euriofität halber folgen laſſen:
1) debet publicari sententia,
2) post publicatam sententiam debet interrogarı
in genere nach dem Diebitahl am 23ten,
3) muß ausfagen, warn, wie und wer ben Diebftahl
begangen,
4) ob dieſes wahr fet und er die im Urtheil benannte
Folter ausftehen wolle, ohne Jemand Unrechts
anzugeben,
5) demnah muß nicht zum jchärfiten gebunden auf
den Stuhl gejett auch wohl die Daumfchrauben
ihm etwas zugefchraubt werden, bis er davon in
etwa die Empfindlichkeit verfpürt,
6) wenn alſo Alles beftätigen und bie complices
nennen wird, jo wird die Benennung für richtig
gehalten und die Daumſchrauben los zu machen.
Noch am Tage der Urtheilspublication wurden denn
auh dem Nathan Leviſch die Daumfchrauben dergeftalt
zugeichraubt, daß ihm einige Empfindlichkeit verurjacht.
Er blieb bei feinem Geſtändniß und fügte nur noch hinzu,
daß der flüchtige Joſeph die Leiter geholt habe, und wurde
er darauf von der Folter entlaſſen.
Am Tage darauf, dem 16. November 1751, wurde
dem Salomon bie sententia tertia dahin publicirt:
„Daß der Ingquifit Joſeph Salomon bei jo vielfältig
wider ihn vorwaltenden jchweren Verdachts und In—
6*
84 Ein Diebftabl beim Handelsmann Schüller.
zichten — — zur ſcharfen Frag durch alle gradus zur
Geſtändniß der Wahrheit zu verweilen.“
Nach der in Gegenwart bed Nachrichters erfolgten
Berlefung wurde er nochmal? zur Ausfage der Wahr-
heit ermahnt, dann zur Folterkammer gebracht und ihm
bie Torturalinftrumente mit dem deutlichen Hinweis vor⸗
gezeigt: daß er durch fein Leugnen fich zum armen
Menichen und Krüppel machen würde. Darauf ging man
zur wirklichen Zortur über mit Applicirung der Daum—
ihrauben. ‚Dabei war”, fährt nun das Protokoll fort,
„zu bemerken, daß obwol man dem Inquiſiten die
questiones torturae in biefem Grab beſtändig vor—
gehalten, hat man von demfelben Feine Antwort erhalten,
fondern er ift nach etwas fchärferer Zuprüdung nach
ausgeſtoßenen wenigen hebräiſchen Worten zum Erftaunen
und VBerwunderung aller Anmwejenden in einen feiten Schlaf
gefallen. Bon 10 Uhr 50 Minuten bis LO Uhr 58 Minuten
wurden die Daumjfchrauben zuerft angelegt; um 11 Uhr
13 Minuten wieder auf frifches Fleiſch His nach Ablauf
einer Viertelftunde. Um 11 Uhr 31 Minuten hat er die
erfte Empfindung der Schienenschrauben befommen, 11 Uhr
37 Minuten wurde ihm das Geficht Losgebunden, ihm
die zugefchraubten Glieder gezeigt, wieder ohne Wirkung,
und 11 Uhr 45 Minuten wurden die Schienenfchrauben
bis zum Ablauf einer Viertelſtunde auf friſchem Fleiſch
weiter angelegt.
Diefes „hartnädige und boshafte Betragen” wurde für
etwas Ungewöhnliches und beinahe Unnatürliches gehalten;
man glaubte an diefem Tage auch durch Applicirung des
britten Grades nichts zu erreichen und verſchob bie
Procedur.
Am folgenden Tage wurde um 10 Uhr 19 Minuten
Vormittags mit der Tortur fortgefahren. „Bei lang—
Ein Diebftabl beim Handelsmann Schüller 85
ſamer Aufziehbung ift er fofort in einen Schlaf verfallen
und obwohl der Nachrichter feine Dexterität bezeigt, ven
Juden etliche mal SHerabfchnappen laſſen und fonftige
geift- und natürliche Mittel gebraucht, doch Fein Wort
bon ihm erzwungen.“
Das Berfahren gegen den geftändigen Nathan Levifch
bot Feine criminaliftiichen Schwierigfeiten mehr. Es lag
ein unummwunbenes Geſtändniß feiner Betheiligung am
Diebftahl vor, und nach dem Grundſatz der Carolina:
„Das Geſtändniß ift die Krone der Beweiſe“, waren bie
harten und graufamen Strafbeftimmungen des Geſetzes
nur auf den Geftändigen anzuwenden. Jedenfalls kannte
Nathan Leviſch das ihm drohende Schickſal. Er fuchte
ihm dadurch zu entgehen oder es zu mildern, daß er vom
erften Tage feiner Verhaftung an „ſich anheifchig machte,
ven römiſch-katholiſchen Glauben anzutreten”. Zwei
blankenheimer Seminariften haben ihn dann in der Freude
ihre8 Herzens über die gewonnene Seele tagtäglich im
Gefängniß in der Lehre der Kirche unterwiefen und zwar
ohne daß von dieſem Umftande dem Lanbesherrn nad)
Köln berichtet wurde. Erft als im November die Kälte
ten Aufenthalt im Kerker unerträglich machte und fo ven
frommen Bejtrebungen ein Hinderniß bereitete, bittet ber
äfrige Seminarift in „unbejchreiblicher Freude über die
große Begierde des Leviſch zur Heiligen Taufe zu
ſchreiten“, dem Arreftanten ein anderes Gefängniß an-
juweifen, „wo ein Geiftlicher zu weiterem exercitio fid)
ver Kälte halber bei demſelben aufhalten könne. Der
Graf von Manderſcheid geftattet indeffen auf ben ein-
gebolten Bericht nur, daß der Delinquent ein- und das
andere mal ohne Gefahr des Echappirens auf das Haus-
gefindezimmer gebracht und daſelbſt Beiſeins benöthigter
Mannschaft von der Wache inftruirt werde”. Zugleich
86 Ein Diedftahl beim Handelsmann Schüller.
broht er der ganzen Compagnie, voran aber dem wacht-
habenden Sergeant, Eorporal und Gefreiten, bie fchärfite
Strafe an, wenn fie nicht forgfältig Wache balten.
Leviſch erreicht denn auch durch die bezeigte Frömmig-
feit und Ausdauer in ber Unterweifung, daß alle Semi-
nariften am 20. November ben Landesherrn um Gnade
für den Delinguenten bitten, und auch die Kanzlei berichtet
auf bochgräfliche Anfrage in jener Zeit, baß berjelbe im
hriftlichen Glauben wohl unterrichtet fei.
Der Landesherr ſelbſt fcheint indeß von der Stepfis
bes vorigen Jahrhunderts etwas mehr angefränfelt zu
jein als feine glaubenseifrigen Blanfenbeimer; denn er
läßt bie Unterweifung bis Mitte Sanuar 1752 fortvauern
und jchreibt dann: „Der Jude Nathan Levifch wirb
hoffentlich bereits im Chriſtenthum zureichend unterwieſen
und auch noch gefinnt fein, in den Schoos ber römijch-
katholiſchen Kirche zu treten. Wenn es nun dabei bleiben
follte, fo habt ihr anbeigehendes am Oberhof zu Koblenz
ergangene® Zodesurtheil der Ordnung nach zwar zu
publiciren, gleichwohl anftatt des Strange durch das
Schwert ihn hinrichten und zwei Tage vor der Publication
und Erecution taufen zu laffen. Dann mag die Geijt-
lichkeit defjen Beharrlichkeit aufzumuntern ihn davon wol
die Nachricht geben mit der Erinnerung jepoch, es müſſe
feine Seel und Seelenheil und nicht die Strafminderung
das Hauptziel ver Belehrung fein.‘
Das zweite in diefer Sache gegen Leviſch ergangene
Urtheil des Oberhof zu Koblenz lautet: „— — daß
— Leviſch wegen geftändiger Anwefenbeit bei diefem großen
Diebftahl zu Blankenheim getragener Beihülfe und anderer
in actis borgefommener Umftände zur: wohlverbienten
Straf und Andern zum abſchreckenden Erempel mit dem
Strang vom Leben zum Tode hinzurichten und dazu zu
Ein Diebftahl beim Handelsmann Schüller. 87
verweilen, als wir benn hiermit für Recht erfennen mit
dem Strang vom Leben zum Tode hinzurichten befehlen
und verweilen.”
Das durch landesväterliche Huld gemilverte Urtheil
wurde am 20. Januar 1752 an Leviſch vollitredt, und
‚ bie Kanzlei berichtet darüber, „daß er nach vorher em-
prangener Tauf und Wegzehrung in Begleitung des ehr-
würdigen patris guardianı des Kapuciner-Ordens zu
Münftereifel, deſſen Gefellen und zweier Seminariften
zum auferbaulichen Exempel aller anweſend gewejenen
Chriftfatholifchen in Verfolg der ihm in biefem Fall ver-
liehenen Gnaden am 20. Januar mit dem Schwert bin-
gerichtet und babei das Amt des Nachrichters wohl ver-
richtet jet”.
Größere Schwierigkeiten bot das weitere Berfahren
gegen Salomon.
Nach den Regeln der Carolina und der herrichenden
Auffaffung ihrer Lehren hätte der Inquiſit in Treiheit
gejegt werben müſſen. Derfelbe war aber, wie fich aus
ben über ihn eingezogenen Erfundigungen ergab, ein übel»
berüchtigter Mann und mit in einen Raubmord an einem
Paſtor in Gravenbroich verwidelt, in welchem Proceß
jeine Mitſchuldigen gerädert worden waren. Deshalb
berichtet die Kanzlei am 22. November an ben Grafen
von Manderſcheid: „Gleichwohl nun der Jude Salomon
die Folter durch alle Grad ausgeftanden, mithin vor und
nach boshaftiger und halsftarriger Weile von dem Dieb⸗
itahl nichts eingeftand, fo haltet man doch dafür, daß
biefem ungeachtet in gegenwärtiger jo klarer Sache, da
nur bie eigene Geftänbniß mangelt, verjelbe keineswegs
auf freien Fuß gefegt werde, damit dem publico von
jolch boshaften Menſchen über furz oder ot fein großes
Unheil verurſacht werde.”
88 Ein Diebftabl beim Handelsmann Shüller.
Die Acten werden nun wieder an den Oberhof zu
Koblenz eingefendet und eine Rechtsbelehrung erfordert.
Die darauf am 6. December 1751 am Oberhof er-
ftattete ulterior relatio hebt alle Umftände hervor, welche
gegen Joſeph Salomon fprechen, tadelt, daß die Tortur
nicht in continua serie et una die vorgenommen, fonvern
bie zwei erften Grade am 16. und der dritte am 17.
applicirt fei, hält aber in diefem Punkte dafür, daß nicht
contra iura verfahren: „erwogen für's erfte Die Um⸗
jtände, wie hernach folgen wird folches vernünftig erforbert
haben, für’8 andere fo waren die 3 gradus ben erften
Tag nicht vollzogen und folglich die anbictirte Tortur
auch noch nicht ihren Effect und finem erreicht hatte,
für’8 dritte, jo bat man secunda die ab illa tortura
angefangen, wo man vorigen Tags abgelaffen, für's Ate
jo hat man secunda die nit a primo gradu ans
gefangen.” Deshalb Liege feine repetitio torturae vor,
zumal die Unempfindlichfeit und der hartnädige Schlaf
des Delinquenten die Anwendung des ten Grades am
eriten Tage ausgefchloffen habe.
Der Referent zweifelt nicht an der Schuld, tritt
aber dann in die Frage ein, was denn bermalen zu
ſprechen fei.
Nach der Carolina equ. 61 feien dem Delinquenten
die Abzugskoften zur Laft zu legen, aber er müſſe ab-
jolvirt werben.
Die Folge davon wäre, daß die Sachen als nicht
geftohlen und die Behauptung des Joſeph Salomon über
ihren rveblichen Erwerb für richtig angenommen werben
müffe, dagegen fprechen aber die eiblichen Ausfagen des
beftohlenen Schüller und der übrigen Zeugen. Demnach
jet anzunehmen, daß ſich Salomon im Beſitz geftohlener
Sachen befunden, daß er am Dienstag bei dem Be—
Ein Diebftahl beim Handelsmann Schäller. 89
ftohlenen im Laden gewejen, daß er mit in dem Hauſe
bes flüchtigen Joſeph geichlafen und nachher mit dem
geftänbigen Leviſch zuſammen mit ben gejtohlenen Sachen
betroffen ſei. In folchen Fällen fchreibe aber ver be-
rühmte Leyſer in thesi 640:
„dum jura reum etenim naturaliter convictum
si tamen tormenta pertulit nihilque confessus est
absolvi oportet atque iter judex contra scientiam
suam judicare cogitur, attamen conscientia sua con-
sulat, rem ad principem referre et improbus in-
ficator in opus publicum detur suadere potest.”
(Wenn ber durch die natürlichen Umftände Lieberführte
die Folter überftanden bat, ohne ein Geſtändniß abzu-
legen, ift er nach dem Recht freizuiprechen, und ver Richter
wird fo gezwungen, gegen fein Gewiſſen zu urtheilen,
dann foll er dennoch in feinem Gewiſſen berathen, ob
er die Sachlage nicht dem Fürften vortragen und biejem
rathen foll, den hartnädigen Leugner in ein Arrefthaus
bringen zu laffen.)
Weiter fage Leyſer, der König folle diefe Entſcheidung
treffen dürfen, wenn er aber bier vom Könige rede, fo
jet zu bedenken:
„quod quilibet dominus in supposito quod do-
minium habeat illimitatum et jurisdictionem superio-
rem, sit rex et imperator in sua ditione itaque
habeat potestatem puniendi reos ad mortem usque
iter etiam desuper leges condere.“
(daß jeder Herr in dem Bereich, in welchem er bie
unbegrenzte Herrichaft und die höhere Jurisdiction aus-
übe, König und Kaiſer ſei und baher bie Gewalt habe,
die Schuldigen zum Tode zu verurtheilen und barüber
Geſetze zu geben.)
90 Ein Diebftahl beim Handelsmann Schüller.
Daun fährt der Referent wörtlich fort:
„Wogegen zwar wieberum ftreitet, quod leges obligant
in futurum non in praeteritum, aber dahier wird es
nit proprie pro lege lata angejehen, ſondern weil
eben dem Landesherrn viel an der Ruhe in feinem Land
gelegen, daß er foldhe auch auf alle rechtliche Weg zu
verichaffen fchuldig und gleichwie nach den gemeinen Rechten
ein folcher Frevler, welcher vermitteljt der Tortur eine
Miffethat abgeleugnet, darnach, wenn feine andern Um⸗
jtänd vorhanden, muß ab observatione judicii abjolvirt
und praestita urpheda bimittirt werben, jo ergiebt fich
ex praecedente, daß auch ein Landesherr bei jo viel
übrigbleibenden Umftänden mit einer ertraorpinarien Be-
jtrafung zur Erhaltung der Ruhe in feinen Landen und
diefes um befto ficherer damit fürgehen könne, als jogar
ber befennende complex Nathan Leviſch wegen dieſes
Diebitahls rechtlich mit der ordinären Strafe des Strangs
belegt werben foll, mithin aljo auch Tein Zweifel babei
obwalten werde, daß deßhalb auf Grund feiner Bekennt⸗
niß und die Ausfage feines complicis der Joſeph Sa—
lomon leben und fterben werde. Und wenn dieſes Alles
auch nicht wahr, was vorher ex Leysero angeführt und
ber rechtlichen Vernunft gemäß erjcheinet, jo habe ich doch
feinen Anftand über das den Inguifiten Salomon nad)
Inhalt ver jüngeren Kur- und Rheinischen Kreis-Pönal-
Sanktion, als worunter die Grafichaft Blankenheim ge—
hörig mit einer Feltungs- Arbeit zu belegen. Inmaßen
bafelbjt verorbnet ift, daß folche herumvagirende, müßige,
nirgendwo feßhafte Leut, welche zu 2 und 3 und mehr
herumvagiren und aljo ergriffen werden endlich und zuletzt
auf zeitliche und ewige Feftungsarbeit gefegt werben mögen.
Sic relatum et approbatum am Oberhof in Koblenz
am 6. December 1751.”
Ein Diebftabl beim Handelsmann Schüller. 91
Wie Mufif mag eine derartige Relation dem fleinen
Eifeldynaſten des vorigen Jahrhunderts geflungen haben,
in welcher er an Machtuollfommenbeit dem Kaifer und
König gleichgeftellt und ihm das Necht eingeräumt wird,
über Leben und Tod Gefege zu geben. Deshalb ver-
orbnet er auch alsbald, „daß ber Imquifit auf lebens-
länglich zum Stod- oder Zuchthaus verwiefen und ver-
dammet werben ſoll und weift das Schöffengericht zu
Blankenheim an, nach Anzeige der beigefügten Relation
das Urtheil ohne Anftand zu verfaffen und dem Delin-
quenten zu publiciren. Aber ver Kaiſer und König befitt
fein Stod- oder Zuchthaus, und deshalb verfügt er be=
ſcheidener weiter, copiam des Urtheils an ven kurkölniſchen
Hofrath von Uphoff zu ſchicken und demfelben wegen des
faiferswerther Stodhaufes zu empfehlen, ob es nicht
angehe, denſelben lebenslänglich gegen jährliche Abzugs-
foften, bie ſich auf 25 Rthlr. belaufen follen, in jenes
Stodhans hinzujegen.
Schon vorher war mit der Kanzlei berathichlagt, was
man mit dem Derbrecher anfangen folle, da ja fein
geeignetes Gefängniß vorhanden war. Die Kanzlei hatte
auf das kaiſerswerther Stodhaus hingewiefen, wo für
die Unterhaltung derartigen Geſindels 13 Rthlr. jährlich
gezahlt zu werben pflege. Man hatte auch fchon durch
durabele Anfrage in Kaiferswerth die Unterbringung zu
erreichen verfucht, allein der Vorſteher des Stockhauſes
hatte umter untertbäniger Bereitwilligfeitserflärung, ven
Delinquenten gegen Zahlung von 25 Rthlrn. aufzunehmen,
fih nur dann dazu im Stande erflärt, wenn bie Yand-
itände einverftanden feiern. Denn das Stodhaus jet nur
für das Erzitift Köln gebaut.
Nach Anmweifung des Landesherrn und ber Toblenzer
Relation gemäß lautete denn auch das Urtheil des Schöffen-
92 Ein Diedftahl beim Handelsmann Schüller.
ſtuhls dahin, daß Salomon zwar wegen überftanvener
Tortur nach vorläufiger abgejchworener Urphede ab ob-
servatione judicii mit Abtrag gleichtwohlen feiner Ab-
zugs- und Defenfionskoften zu abjolviren, wegen fchweren
in actis enthaltenen Verdachts und Argwohns ja felbiger
Bekenntniß zur Sicherheit der Landesunterthanen auf
lebenslänglich zum Zucht- oder Stodhaus zu verweilen
und zu verdammen (29. Sanuar 1752).
Die Copie des Urtheils wurde an Uphoff gejchiekt
und ber Antrag auf Aufnahme des Salomon in bas
faiferswertber Stockhaus geftellt. Der Hofrath präfentirte
das Urtheil der kurkölniſchen Regierung, „va aber felbige
in bemfelben eine offenbar gegen bie Rechte anlaufende
Eontradiction erfannte‘, fo trug fie Bebenfen, pas Urtheil
mit dem von dem eifrigen Hofrath bereitd entworfenen
Schreiben an Se. kurfürſtl. Hoheit abgehen zu laffen,
„damit man unnöthiger Dinge an fremden Sachen fich
nicht pflichtig mache“, und erbat fich zunächſt die rationes
decidendi.
Diefe rationes werben bereitwillig geſchickt in ber
Zuverficht, „daß dieſer Jud Salomon angetragenermaßen
zum Stodhaus auf Kaiferswerth geführt werben möge,
wobet um fo weniger Bedenken vorhanden, ba felbiger
nach Inhalt der decisiones dazu verurtheilt und Die
Sentenz dem Delinquenten bereitS publicirt jet”.
Aber auch die rationes genügen noch nicht. ‘Der
Hofrath zweifelt jehr, „daß man felbige für gut und
in jure funbirt anfehen werde. Ich möchte an folchen
Urtheil fein Theil haben“, will aber die Sache noch ein-
mal vortragen. Und zehn Tage fpäter verlangt er ven
völligen Inquifitionsproceß, „venn die kurkölniſche Regie—
rung bat unanime nad Einficht des Urtheil® cum ra-
‘ tionibus decidendi beichloffen, daß fothanes Urtheil in
Ein Diebftabl beim Hanbelsmann Schüller. 93
benen Rechten nicht beſtehen könne; deßhalb möge ber
Reichsgraf den Inguifitionsproceß einem Bonner hoben
Gerichtsichöffen zur Relation einſchicken, damit die unter»
laufenen groben Fehler abgeändert und ber Inguifit in
das Stockhaus gebracht werben könne“.
Hierauf antwortet der Graf fofort, er werbe bie
Acten nicht einjchiden, und es erfolgt zugleich ver Befehl
an die Kanzlei, einem etwa an fie gerichteten birecten
Erfuhen um Acteneinjendung nicht zu entjprechen. Mit
dieſem Befehl Freuzt fich ein Schreiben der Kanzlei, von
welcher direct die Einſendung gefordert war. Sie führt
aus: „daß die kurkölniſche Hofraths-Regierung die völligen
acta inquisitionis anzuſehen begehrt, um ein anderes
Urtheil abfaſſen zu laſſen, iſt wohl ein befremdliches Zu⸗
muthen und muß dieſes vermuthlich aus einer politiſchen
Urſach herrühren, da doch alle Umſtänd und Geſchichts⸗
erzählung in dem derſelben überſandten rationibus und
dabei von dem Coblenziſchen Hofgericht oder deſſen Criminal⸗
Referendario weitwendig wiederholt worden.“
Die Kanzlei führt aus, daß in dergleichen Fällen die
Criminaliſten geſpaltener Meinung ſeien, da einige den
Inquiſiten, welcher die Tortur ausgeſtanden, praestita
urpheda losſprechen und demittiren, andere aber ihn
ab instantia, aber nicht definitive abſolviren wollen,
bezieht fich für die letztere Anficht auf Carpzov und ftelli
die Entfcheivung dem Grafen anbeim.
Der Brief, mit welchem der Neichdgraf das an ihn
und feine Kanzlei geftellte Anfinnen beantwortet, ift jehr
harakteriftiich und laſſen wir ihn daher mit Hinweg-
laffung des Eingangs folgen: „und diene barauf in
Antwort, daß die begehrte Inspektion des Inquifitions-
Verfolgs, um ein anderweites Urtheil daraus abzufaffen,
deßwegen überflüffig, weil einestheild die Urtheil dem
94 Ein Diebftahl beim Handelsmann Schüller.
Delinguenten Schon publicirt ift, mithin dieſe nicht mehr
geichärft werben kann. Anprentheild bewegen mich bie
Umftänvde der Gefchicht, alle Vorfehrung zu thun, damit
ein ſolcher Böſewicht außer Stande gefegt werbe, meinen
und den benachbarten Unterthanen hinfüro Schaden zu
thun; folglich möchte ich nicht gern eben, daß man nun⸗
mehro trachten möge, felbigen von allem Verdacht zu ab-
folviren und er dadurch auf freien Fuß gejtellt wurde.
Auch ift Das Coblenzer Dberhofgericht mit vergleichen
wadern Leuten befanntermaßen beftellt, daß man fich ihrer
Decifion ohne zu bejorgender Verantwortung confirmiren
darf. Daß anfonften der Hofrath die Urtheil einzufehen
verlangt, babe ich nicht unbilligen können, daß felbiger
aber ferner die rationes decidendi auch begehrt, daraus
blickte fchon eine fichere Geringfchägung meiner heim-
gelafjenen Negierungsfanzlei. Auch würde die Communi-
cation nicht erfolgt fein, wenn jelbige fich nicht damit
übereilt hatte.” Es folgt die Aufforderung „bei folchen
der Sachen Eigenheit ven Hof-Rath auf andere Gedanken
zu bringen und den Bericht zu veranlaffen”.
Uphoff antwortet: „Es ift ganz und gar nicht bie
Trage, ob das Urtheil gefchärft werben foll, ſondern im
GSegentheil wird dafür gehalten, daß folches allzu ſcharf
jei, weil der Inquifit nach ausgeftandener Tortur a poena
mortis abfolvirt und in eine andere dem Tod gleiche
Strafe verdammt worden if. Sch laffe e8 bahin ge-
jtellt, ob der Oberhof zu Coblenz mit wadern Leuten
bejtellt ift und ob Ew. Hochgräfl. Excellenz fich deren
Decifion ohne zu gefährender Verantwortung confirmiren
bürfen. Man darf Niemand beſonders von auswärts
in das Stodhaus ſetzen, e8 fei denn, daß man bei hiefiger
Regierung erfennt, daß er durch Urtheil im Recht dazu
eondemnirt worden fe. E. E. ermefjen demnach, daß
Ein Diebftabl beim Handelsmann Schüller. 95
man bei einem jo bunflen Urtheil voppelfältig billige Ur-
fach gehabt habe, die rationes dec. anzujehen, da e8 möge
das Urtheil geftaltet fein, wie e8 immer wolle, der In-
quifit niemals in's Stodhaus aufgenommen werde.
„Dan hat auch ven Gedanken nicht, daß biefer dem
publico gefährliche Menſch auf freien Fuß geftellt werde,
fondern um Hochderſelben eine gefällige Gewierigkeit "zu
bezeigen, hat man das medium erjonnen, daß E. E. bie
Alten anhero fchiden mögen, damit man hierburch in
Stand geſetzt werde, ferner an Hand zu geben, wie bem
Werk durch einen einzelnen Federzug, ohne eines Menſchen
Gewiſſen zu Fränfen, abzubelfen jei, welches visis actis
um jo eber gejchehen kann, als Hochberofelben als Landes⸗
berrn Das jus aggratiandi mithin auch die Urtheil certo
respectu vermuthlich ratione laborum publicorum et
quidem perpetuorum zu mindern je und allezeit frei
fteht, wo e8 bei dem ewigen Gefängniß zır belaffen oder
gleichwohl dieſe paffage fo glimpflih geändert werben
fönnte, daß es gleichwohl über eins herausfommt, wozu
ferner Nichts geforvert wird, als daß man fage: ber
Inquiſit ſolle fo lange als Hochverofelben gefalle in dem
Stodhaus aufbehalten werben.‘
Der Graf ging auf dieſes Anfinnen indeß nicht ein;
er erfuchte Uphoff nochmals feinen Credit bei dem Kur-
fürften geltend zu machen, gab aber in der Zwifchenzeit
der Kanzlei jchon den Befehl, zur überlegen, ob fich zu
Blankenheim außer dem Schloß auf geringe Koften ein
Drt ausfindig machen laffe, wo der Delinquent ohne Ge-
fahr des Entweichens hingeſetzt werde.
Wie vorausgejehen bebauerte Uphoff, dem Herrn Grafen
nicht, wie er geiwolit, gevient haben zu fünnen, ba der
Statthalter bei feiner Anficht verbleibe. Und nun wurde
nach Langen Schreibereien die Herrichtung eines Gefäng-
96 Ein Diebftahbl beim Handelsmann Schüller.
niffes für Salomon auf dem Schloffe zu Gerolftein an-
geordnet und mit jcharffinniger Unterjchetvung beftimmt,
daß die Mittel zur Inftandfegung des Gefängnifjes von
ver Grafichaft Geroljtein, daß aber das Waſſer und Brot
für den Delinguenten vom Schloßwachtmeifter herzugeben,
die Bewachung durch deſſen Knecht zu erfolgen, ba ber
Gerichtsbot fich Hierzu nicht emploiiren lafjfe, die Ab-
gangskoften aber aus den Mitteln der Grafichaft Blanfen-
heim bejtritten werben follten.
Später iſt Salomon noch nach Burg Dettingen trans-
portirt, „und dort am ten März 1755 als ein bart-
nädiger Jud abgereift und Hat von feinem Geiftlichen
und feiner Belehrung etwas wifjen wollen”,
Einige charakterijtiiche Einzelheiten find aus dem Ver⸗
fahren noch hervorzuheben. Wir haben oben fchon bemerkt,
daß die verhältnigmäßige Schnelligkeit des Verfahrens
angenehm berührt. Dahin gehört auch die prompte Er-
ledigung der Requifitionen. Der Diebftahl war in der
Naht vom 23. auf den 24. Juni vorgenommen, und
wenn auch neben dem officiellen Requifitionsichreiben an
bie kurkölniſchen Behörden das Privatfchreiben an ven gräf-
lichen Bertrauensmann in Bonn, den Hofrath von Uphoff,
beichleunigend und ebnend eingewirtt haben mag, jo ift
e8 doch viel, daß am 30. Juni ber fiegburger Stabt-
ſchultheiß jchon ver Abhebung halber vorläufig befcheinigt,
daß die Diebe ertappt und bereits mit vorjorglichen Ver-
hör der Anfang gemacht if. Und am 3. Juli wurde
bereits in Blankenheim mit der Inquifition begonnen.
Unter ven Gerichtsfoften find diejenigen des Foblenzer
Dberhofs bejonvers zu erwähnen. ‘Dort werden für Die
erite Relation mit den Urtheildentwürfen etwa 48 Rthlr.,
an Porto der Acten von Roblenz nad) Blankenheim über
3 Rthlr. und für die zweite Relation 12 Rtblr. berechnet.
Ein Diebftahl beim Handelsmann Schüller. 97
Dem Vertheidiger find 9 Rthlr. zugebilligt. Der fieg-
burger Stabtichultheiß berechnet die Durch die dortige vor⸗
läufige Inquiſition entitandenen Koften auf 12 Rthlr.,
miteingejchloffen 3 Rthlr. für die von zwölf flegburger
Schügen beforgte Bewahung der Feftgenommenen. Und
um unnöthige Botengänge zu ſparen, zieht er diefen Be⸗
trag gleich von ber bei Joſeph Salomon vorgefundenen
und bejchlagnahmten Baarjchaft ab, ein fehr kurzes, aber
boch etwas eigenmächtiges Verfahren, da biejes Gelb dem
Salomon gehört und mit dem Verbrechen in feinem Zu-
ſammenhang ftand.
Beim Durchlejen der Acten vergeffen wir ganz, daß
ber Eriminalproceß ſich um bie Mitte des vorigen Jahr⸗
hunderts abfpielt, faum vierzig Sabre vor der Franzöftichen
Revolution, im Jahrhundert der Aufklärung, als Tho-
maſius in Halle ſchon eine humanere Auffaffung des
Strafrechts zu verbreiten verſuchte. Daß bier in der
Eifel noch die Folter herrſcht, kann nicht wundernehmen.
Hatte Doch ber große König erſt elf Jahre früher bei feiner
Thronbefteigung für Preußen die Tortur befeitigt. Hier
ftehen wir noch ganz unter dem finftern Schreden ber
Carolina. Und die Richter find noch ſchrecklicher als das
Geſetz ſelbſt. Denn nach dem Geſetz, welches nur ven
Seftändigen ftrafte und deshalb zur Folter griff, um ein
Seftänbniß herporzubringen, mußte der Verbrecher, welcher
alle Grade der Folter erduldet hatte, ohne ein Geftänd-
niß abzulegen, freigefprochen werben. Hier aber halten
fie ven Salomon feſt und verurtheilen ihn aus landes⸗
herrlicher Machtvollkommenheit zu lebenslänglichem Stod-
haus, weil er den Unterthanen des Grafen von Mander⸗
Iheid gefährlich fei. Der arme Menſch, an Geift und
Körper durch die Folter gebrochen, ſoll noch gefährlich
fein. Und die kurkölniſchen Juristen wollen fchließlich
XXIII. 7 .
98 Ein Diebſtahl beim Handelsmann Schüller.
daffelbe nur in anderer Form, wie aus den Briefen des
Hofraths von Uphoff hervorgeht. Sie halten e8 nur
für falſch, daß dieſe Strafe im Urtbeil ausgefprochen ei.
Nach ihrer Anficht mußte das Urtheil die Freifprechung
ohne Clauſel anordnen. Dann aber follte ver Graf als
Landesherr wegen der Gemeingefährfichfeit des armfeligen
Krüppels die Verweilung zum Stodhaus ausfprechen und
die Thore von Katjerswerth würden fich für Salomon
geöffnet haben. Im der Praris aljo dafjelbe: ein Hin-
wegfegen über Necht und Geſetz aus Gründen ber Zwed-
mäßigfeit und der abjolute Landesherr, der oberjte Richter,
über dem Geſetz, wenn das leßtere die Verurtheilung bes
Delinquenten nicht geſtattet.
Der Proceß wider den Dr. med. Flocken wegen
Vergiftung ans Sahrläffigkeit.
(Straßburg im Elſaß.)
1887 und 1888,
Die deutſchen Gerichte Haben ſich in den letzten Sahren
häufiger als bisher mit Fällen auf dem Gebiete ver fo-
genannten „Arztlichen Kunftfehler” zu befchäftigen gehabt.
Mag der Grund darin zu fuchen fein, daß ſolche Fehler
bentzutage mehr an die Deffentlichfeit pringen, oder daß
man ihnen abfihtlich, zum größern Echuge von Leben
und Gejunpheit des Publikums, feitens der Behörde ener-
giiher entgegentritt: bald hier, bald dort hört man von
einem gegen Aerzte oder Apothefer eingeleiteten Strafver-
fahren, welches in ven felteften Fällen mit Freifprechung
endigt.
Ein in jeder Beziehung hervorragender und in den
weiteſten Kreiſen Aufſehen erregender Fall dieſer Gattung
lag in dem verfloſſenen Jahre der Strafkammer des
kaiſerlichen Landgerichts zu Straßburg im Elſaß zur
Aburtheilung vor. Sowol die Zahl der Angeklagten,
als deren verhältnißmäßig angeſehene Stellung in der
ſtraßburger Geſellſchaft; nicht minder auch die beklagens⸗
7 *
100 Der PBroceß wider den Dr. med. Floden.
werthen Opfer der ärztlichen Fahrläffigfeit und die un⸗
würdige Art, wie man babei anfänglich den Thatbeſtand
zu verbunfeln und die Behörde zu hintergehen beftrebt
war; mehr noch die wifjenjchaftliche Bedeutung des Falles
in mebicinifcher wie in juriftifcher Hinficht — alled ver-
einigt fih, um eine eingehende Darftellung dieſes Pro⸗
ceſſes zu rechtfertigen.
Die Hauptperfon in dem erjchütternden Drama, in
welchem es fich um zwei Menfchenleben auf der einen,
um Schädigung und nahezu Vernichtung von Anſehen
und Stellung auf der andern Seite handelte, war ein
junger Arzt, dem e8 weder an Kenntniſſen noch an ein-
fiußreichen Beziehungen mangelte. Dr. Robert Floden,
38 Jahre alt, gebürtig aus der Pfalz, aber jchon von
früher Jugend an in Straßburg erzogen, hatte im Jahre
1872 an ber bortigen Univerfität promovirt, war dann
nach abgelegtem Staatseramen raſch in die Stellung
eines Affiftenzarztes an der geburtshülflichen Klinik und
jpäter in bie eines Cantonalarztes vorgerüdt und hatte
es verjtanden, fich in ben weiteiten Kreifen befannt und
beliebt zu machen. Seine Gattin war eine ziemlich be-
güterte Elſäſſerin von nicht gewöhnlicher Schönheit und
anerkannter Herzensgüte. Sie hatte ihren Mann mit
einem reizenden Zöchterchen beſchenkt. Alles fchien da⸗
nah angethan, den renommirten Arzt und glüclichen
Familienvater denjenigen Menfchen beizugefellen, veren Los
ein beneidenswerthes genannt werben burfte.
Am 31. October 1887 wurde Dr. Floden im Laufe
des Vormittags dur einen Boten nach dem unweit
Straßburg gelegenen Dorfe Eckbolsheim zu einem Pas
tienten gerufen. ‘Der Schwanenwirth Mathis pajelbit
hatte jeit einigen Tagen über Schmerzen in ben Füßen
und im rechten Arm geflagt und fich kurz vorher zu
Der Broceß wider ben Dr. med. Floden. 101
Bett gelegt. Der Arzt, welcher das volle Vertrauen
ver Familie genoß, erfchien gegen 1 Uhr nachmittags,
betrachtete den Kranken flüchtig und verjchrieb dann zwei
Necepte, von welchen das eine zum Äufßerlichen, bas
andere zum innerlichen Gebrauch beftimmt war. Beim
Weggehen empfahl er, die Necepte in ver Meifen-
Apotheke zu Straßburg anfertigen zu laffen, „weil fie
bort frifcher zu haben ſeien“.
Das war bie erfte Ungehörigfeit. Es muß auffallen,
baß der Arzt feinem Battenten eine beftimmte Apotheke
vorfchlägt und fie vor andern bevorzugt. Es lag des⸗
balb nahe, an eine Art Compagniegefchäft zwijchen Arzt
und Apothefer zu denken, eine vielleicht nicht ganz un⸗
gerechtfertigte umb wenigftens in ver ftraßburger Bes
völferung für richtig erachtete Schlußfolgerung, bie auch
von der Anflagebehörve Später in ergiebigfter Weiſe ver-
werthet worden ift.
Die Meifen- Apotheke in Straßburg wurde von dem
Apothefer Jakob Greiner, einem wohlhabenden Straß»
burger in den vierziger Jahren, geleitet und ftand als
„Dofapothele” bei dem Publikum gleichfalls in bebeuten-
dem Rufe. Leider huldigte ver Herr Hofapotheker allzu fehr
dem Sagbfport, ber ihn öfter als nöthig feinen Berufs⸗
geichäften entzog. Im feiner Abwejenheit wurde bie Apo-
tbefe von dem Gebülfen Alfred Wolff, dem Sohne
eines Notar aus Dberbronn, und dem noch jugendlichen
Lehrling Jakob Andres aus Weißenburg verwaltet.
Beide befanden fich in ver Apothefe, als der alte Vater
bes Wirthes Mathis die Flocken'ſchen Recepte überbrachte
und zubereiten ließ. Er erhielt von ihnen zwei Blafchen
Arznei, die er zugleich mit den Recepten feinem Sohne
nah Eckbolsheim zurückbrachte.
Nachdem der Vater des Kranken nach Eckbolsheim
102 Der Proceß wider den Dr. med. Floden.
zurüdgefehrt war, erhielt ver Wirth Mathis von feiner
Mutter um 3'/, Uhr den erften Löffel der innerlich zu
nehmenden Arznei; nach zwei Stunden ber Vorſchrift ge⸗
mäß den zweiten und um 74, Uhr den dritten Löffel.
Sleih nach dem Genuß des zweiten Löffels klagte der
Kranke, daß ihn bie Arznei zu fehr angreife. Bald dar⸗
auf ftellte fich Heftiges Erbrechen und Durchfall ein;
nach dem dritten Löffel verftärkten fich dieſe Zufälle in
außerorbentlichem Maße. Das Erbrechen und ber Durch⸗
fall wiederholten ſich Häufig die ganze Nacht hindurch.
Die Ereremente waren wäfferig geronnen und bräunlich
gefärbt. ‘Der Krane wurde dabei von einem heftigen
Drennen im Halfe und von ftarlem Durfte geplagt, ven
er vergebens zu ſtillen ſuchte. Da bie Schmerzen in ber
Nacht nicht nachlafjen wollten, fo eilte fein Bruder gegen
Morgen zu Dr. Flocken, dem er von dem Zuftanbe bes
Kranken Kenntniß gab. Der Arzt verſah fih in ber
Apotheke Haenle mit Opium-Extract, Aether und Jobs
falium und fuhr zu dem Kranken, bei dem er gegen
5 Uhr früh in fichtlicher Beſtürzung eintraf.
Er ließ fih von deſſen Mutter das Arzneifläfchchen
geben, Tragte die Etikette jo weit ab, daß das barauf
Gefchriebene unleſerlich wurde, und leerte den Inhalt aus.
Mit warmem Waſſer, welches ihm auf jein Verlangen
geholt wurbe, fpülte er das Glas forgfältig, ſchüttete ein
Bulver ein (Jodkali), welches er in Waſſer auflöfte, und
ichrieb vor, daß dem Kranken dreiviertelſtündlich ein
Eßlöffel davon gereicht werben ſollte. Zugleich verorb-
nete er Fußbäder, ließ den Patienten Eis fchluden und
in Eis gefühlte Milch trinken, das Erbrechen hörte ins
folge deſſen auf, nicht aber der Durchfall. Diejer hielt
den ganzen folgenden Tag und die Nacht über an. Der
Arzt wurde nochmals gerufen. Als er am 2. November
Der Broceß wider ben Dr. med. Floden. 103
gegen 5 Uhr in der Frühe ankam fand er ven Kranken
ber Auflöfung nahe.
Er verordnete Senfbäder und verfchrieb ein neues
Necept, welches in der Stabt angefertigt werben follte.
Bor feinem Weggange verlangte er jedoch von ber Frau
Mathis das erfte Recept zurück; als diefe, feinem Wunſche
willfahrend, es aus einem Buche nahm und zur Erbe
fallen Tieß, bob es Dr. Floden auf und ftedte es zu
ih. Bon der Frau darauf aufmerffam gemacht, daß er
das neue Necept im Krankenzimmer habe liegen laffen,
antwortete er: das alte fei gerade fo gut. ‘Der Bruder
bes Kranken begab fich mit dem Doctor nach der Stadt,
um bie neue Arznei mitzubringen. Eine halbe Stunde
jpäter etwa verſchied Michael Mathis. Im dem
von dem behandelnden Arzte ausgeftellten Todtenſcheine
wurde al8 Xobesurfache Endicarditis (Herzkrankheit)
nach acıttem Gelentrheumatismus angegeben.
Kurz vorher, ehe Dr. Floden am 31. October 1887
zum erjten male zu Mathis gerufen wurde, erfchien das
Dienftmäpchen des Wirths Herter aus dem „Luxhofe“
zu Straßburg bei ihm und meldete, daß ihr Dienftherr
über Schmerzen in den Füßen Hage und feinen ärztlichen
Beiſtand wünſche. Flocken hatte den Wirth Herter im
Laufe jenes Monats bereitd an einer Teichten Halsentzün-
dung behandelt und dagegen Brießnitz'ſche Umſchläge ver-
ordnet. Ein kleines Geſchwür, welches ſich damals bil-
dete, war von ſelbſt aufgegangen. Am 30. October
fühlte Herter Gliederweh, blieb aber noch im Geſchäfte
bis zum folgenden Tage und ſchickte, wie erwähnt, erſt
am 31. October zum Arzte. Dr. Flocken erklärte dem
Mädchen, er könne ſich vor Ende der Sprechſtunden nicht
entfernen, übrigens wiſſe er wohl, was Herter fehle, er
babe, wie ver „Münchner Kind'l“Wirth, Rheumatismus.
104 Der Proceß wider ben Dr. med. Floden.
Er verorbnete deshalb, wie bei Mathis, ein Del zum
Einreiben und eine Arznei zum innerlichen Gebrauch, vie
in der Apotheke des Greiner gleichzeitig mit dem für
Mathis beftimmten. Necepte hergeftellt wurde. Herter
weigerte fich jedoch, diefe Arznei zu nehmen, ohne ärzt-
lich unterfucht worven zu fein. Erſt als Floden gegen
6 Uhr erichienen war, ihm den Fuß verbunden und bie
Anwendung der Arznei nochmals empfohlen hatte, nahm
Herter, der kurz vorher noch mit Appetit gegeſſen
hatte, gegen 8 Uhr ven erften und um 10 Ubr den
zweiten Eßlöffel. Gleich darauf ftelite ſich Diarrhöe ein.
Nach dem dritten Löffel, ven Frau Herter ihrem Manne
reichte, gejellte fich heftiges Erbrechen dazu, welches fich
und zwar unter ben heftigſten Anftrengungen häufig
wiederholte. Der Kranfe Hagte über quälenvden Durit,
Brennen im Halfe und Engbrüftigfeit. Sein Befinven
wurde fo ſchlimm, daß man fich entfchloß, gegen 1 Uhr
nachts zum Arzt zu ſchicken. Dr. Flocken erjchten und
berubigte ven Kranken, welcher geneigt war, die Webel-
feiten der Arznei zuzufchreiben, indem er ihm ver-
fiherte, er habe das Mittel fchon ſehr häufig ver-
ſchrieben. Uebrigens rieth er boch, die Mebicin wegzu-
laffen, und veroronete eine andere, die er felbft in ber
Greiner'ſchen Apothefe zubereiten ließ und dem ihn be-
gleitenden Möpchen übergab. ALS auch nach dem Genuß
biefer Arznei der Zuftand ſich immer mehr verfchlechterte,
wurde gegen 4 Uhr morgens nochmals zu Dr. Flocken
geſchickkt. Er war zu jener Zeit gerade in Eckbolsheim
und hatte daſelbſt Gelegenheit, fich von der Wirkung ber
gereichten Arznei zu überzeugen.
Als er nach feiner Rückkehr von Eckbolsheim um
51/, Uhr früh Herter befuchte, befand fich biefer in einem
Zuftande, der das Schlimmſte befürchten Tief.
Der Proceß wider den Dr. med. Floden. 105
Dr. Flocken Teerte die Arznei in das Wafchgefchirr, be-
feitigte bie Etikette, fehwenkte dann das Glas aus und’
Ihüttete zwei Pulver hinein, die er in Waffer auflöfte
und dem Patienten reichte. Um 8 Uhr früh erjchien er
wieder, verordnete zur Stillung des Durſtes Mineral
wafler, worauf zwar das Erbrechen, nicht aber ber Durch»
fall nachließ. Nach einem fernern Beſuche zog Dr. Flocken
auf Wunjch der Familie Herter ven Brofefjor Wieger
zu, dem er mittheilte, er babe zwei Gramm Colchicum⸗
Zinetur mit fünf Gramm falichlfaurem Natron ver-
Ihrieben, Herter babe jedoch nur wenig genommen. Ob⸗
wol Profeffor Wieger ven Durchfall der Colchicum⸗Tinc⸗
tur zufchrieb, glaubte er doch, beim Mangel anderweiter
Anhaltepunkte und da Flocken ihm erflärte, Eiweiß im Urin
gefunden zu haben, ven Krankheitszuftand auf eine Nie-
ren⸗ bezw. Serzbeutelentzündung zurüdführen zu müflen.
Am andern Tage war ber Kranke jehr theilnahmlos;
ber Puls ſchlug jehr ſchwach; die Extremitäten waren
kühl und boten leichte Anzeichen von Cyanoſe (Blaue
ſucht). Zur Hebung der legtern wurde Sauerſtoff⸗In⸗
halation verordnet. Es fanden an diefem und dem nädhft-
folgenden Zage noch häufige Beſuche der behandelnden
Aerzte ftatt, ohne daß die angewandten Mittel Hülfe
braten. Der Zuftand des Kranken wurde immer
ſchwächer, bis enblih am Donnerstag den 3. Novem-
ber ver Tod eintrat.
In Uebereinftimmung mit dem Ausfpruche des Pro-
felfor Wieger gab Dr. Flocden auf den von ihm ausge⸗
telften Todtenſcheine als Todesurſuche an: Herzlähmung
(Settherz) nach Ennteritis, Darmentzündung mit acuter
Rierenentzündung, und Herzbeutelentzündung. Auf eine
Anfrage der Stuttgarter NRentenanftalt, bei ber
Herter für den Todesfall verfichert war, ob nicht
106 Der Proceß wider den Dr. med. Flocken.
Selbftvergiftung vorliege und ob eine Section vor-
genommen fei, antwortete Dr. Sloden, daß ein folcher
Verdacht völlig ausgejchlofjen ſei, auch eine Veranlaffung
zur Vornahme einer Section um fo weniger borgelegen
habe, als in den legten Wochen in Straßburg außerge-
wöhnlich häufige Fälle von acuter Gaſtro⸗Enteritis vor-
gefommen feten und Herter überbies an biphtherifcher
Halsentzändung mit nachfolgenden heftigen rheumatifchen
Schmerzen gelitten habe.
Alle diefe Angaben des Arztes waren, wie fih nach⸗
träglich herausitellte, einjchließlich der Information des
confultirten Profeffor Wieger bezüglich der angeblich
verorbnieten Colchieum-Zinctur, bewußt unwahr. Es
kann überhaupt nur Indignation und Befremden erregen,
wenn man, wie bier und fpäter bei den verantwortlichen
Dernehmungen, überall das Beftreben durchſchimmern
fteht, von vornherein ven begangenen und auch zur vollen
Erfenntniß gelangten Fehler zu bemänteln und zu bejchönt-
gen. Anjtatt, wie e8 einem wifjenfchaftlich gebildeten und
harakterfeften Manne geziemt hätte, die Verantwortlichkeit
für die folgenfchweren Unfälle voll zu übernehmen und, ſo⸗
lange e8 noch Zeit war, das Menjchenmögliche zur Ver-
hütung des Aeußerften zu thun, verfchanzte Dr. Flocken
fih Hinter dem Deckmantel der Gleichgültigfeit und Lüge,
welche den, wir wiederholen e8, an fich verzeihlichen Irr-
thum in den Augen jedes Urtheilsfähigen und felbjt Des
unpartetifchften Richters nur verſchlimmern Tonnte.
So weit war die Sache gebiehen, als die ftraßburger
Staatsanwaltichaft von den Vorfällen Kenntniß erhielt,
und zwar zumächit von dem eckbolsheimer plötlichen To—
desfall. Die Leitung der Angelegenheit fand fih in den
Händen eines energifchen Stantsanwalts, der erſt fürz-
lich nah Straßburg verjegt worden war und fich bereits
Der Broceß wiber ben Dr. mod. Flocken. 107
in den um dieſe Zeit ober kurz vorher abgewidelten el-
ſäſſiſchen Landesverraths⸗Proceſſen jehr tüchtig und
bienfteifrig eriviefen hatte. Es kann deshalb nicht wun-
vernehmen, daß das eljäfftiche Publikum in biefer emfig
betriebenen Unterfuchung mit ihren zahlreichen Verhören
und plöglichen Verhaftungen anfangs für bie in ange-
ſehener Lebensftellung befindlichen Beſchuldigten vielfach
Partei ergriff. Gab es doch nicht wenige, bie den Zall
auf das politifche und Iocalpatriotiiche Gebiet hinüber»
zufpielen und ben Doctor und Apothefer mitfammt ben
Gehülfen als die Opfer blinder Verfolgungsfucht barzu-
jtellen verfuchten.
Später wendete fich allerdings das Blatt, als man
vernahm, daß die Angeklagten das Mögliche gethan hatten,
um ihre Schuld zu vertufchen und den Thatbeſtand zu
verbunfeln, und als es bald darauf dem Staatsanwalt
im Verein mit dem Unterfuchungsrichter gelang, ven an-
fänglich bartnädig Leugnenden ein umfaſſendes Geftänd-
niß abzuringen, hörten bie Sympathien des größern Pu⸗
blikums für die Angefchulvigten gänzlich auf.
Am 3. November kam der Fall Mathis zur Anzeige,
ver Staatsanwalt ließ den Dr. Floden vor fich fommen
und unterzog ihn einem eingehenden Verhör, aus welchem
er erft abends gegen 8 Uhr entlaffen wurde. Vom Juſtiz⸗
gebäude in der Blauwolkengaſſe begab er ſich fofert in
die unfern gelegene Meifen-Apothefe, verabrebete Dort mit
Greiner ven Plan, wie fie fich der drohenden ftrafgericht-
lichen Verfolgung entziehen und den Erfolg der Unter-
ſuchung vereiteln wollten, ein Plan, deſſen Ausführung
für den fonft wahrfcheinlich unbehelligt gebliebenen Apo-
thefer verhängnißvoll werben follte.
Der Apotheker Greiner ſchickte feinen Lehrling Andres
ſchleunigft in die dem Juſtizgebäude gegenüberbefind-
108 Der Broceß wider den Dr. med. Floden.
liche Wallenfels'ſche Papierhandlung mit dem Auftrage,
bort ein neues Neceptirbuch zu kaufen; daſſelbe wurde
bem am 29. October im Gebrauch befindlichen Receptir⸗
buche, in dem die beiden Floden’schen Recepte eingetragen
waren, untergefchoben. Am Morgen des 4. November
brachte Greiner zwei Recepte zum Vorſchein, die von
Dr. Flocken gefchrieben waren und von denen Das eine
auf Mathis, das andere auf Herter lautete. Im dem
erjtern Recepte war Digitalis mit Rhabarber, in dem
leßtern zwei Gramm Tinctura colchici in einer Löſung
von 150 Gramm verjchrieben. Greiner beauftragte ven
Apothefergehülfen Alfred Wolff, die bereit$ ſeit bem
29. October gemachten Einträge in das neue bei Wallen-
fels angelaufte Neceptirbuch einzufchreiben, dabei jeboch
bie zwei Recepte für Mathis und Herter nicht wahr-
heitsgetreu nach ihrem urjprünglichen Inhalte, fondern
entfprechend ven beiden von ihm erſt am 4. November
vorgelegten Necepten einzuzeichnen. Der Eintrag erfolgte
unter den Nummern 34205 und;34206. Die aus dem al-
ten Receptirbuche herausgeriffenen Blätter, ſowie die Kladde
und das DOriginalrecept von Herter, welches in der Apo-
thefe zurücigeblieben war, wurben vernichtet. Das Ori-
ginalrecept für Mathis hatte fi Dr. Flocken bei feinem
legten Beſuch in Edbolsheim, wie oben mitgetheilt, an⸗
geeignet und ebenfall® befeitigt.
Greiner und Floden ermahnten den Gehülfen Wolff
und den Lehrling Andres, über die Sache das tiefite
Stillſchweigen zu beobachten. Als die Staatsanwaltichaft
am Morgen des 4. November das Receptirbuch in der
Apothefe abholen ließ, händigte Greiner dem Eriminal-
commiffar das neuangefertigte, bei Wallenfels angelaufte
Neceptirbuch ein. In dem Verhöre, welchem Wolff und
Fabres jobann Durch den Griminalcommifjar unterworfen
Der Proceß wiber ben Dr. med. Floden. 109
wurden, erklärten beide: das auf Mathis bezügliche Recept
Nr. 34205 entipreche genau der Vorfchrift des Dr. Flocken;
bie Digitalis-Infufion habe Andres zubereitet, nachdem
ihm Wolff die beftimmte Quantität Fingerhutblätter ver-
abfolgt habe.
Am 5. November 1887 wurbe der Apothefer Greiner
von der Staatsamwaltichaft vernommen. Auch er be-
hauptete, das Neceptirbuch ſei nicht etwa nach Einleitung
des Strafverfahrens neu hergeitellt, fondern am 29. Dec-
tober begonnen und feitdem imunterbrochen fortgeführt
worben. Am 3. November abends 10 Uhr fei Dr. Floden
in die Apothele gelommen und babe erzählt, daß er foeben
wegen bes dem Mathis verorpneten Receptes verbört wor⸗
ben fei. Da Dr. Flocken fich des Inhaltes feines Neceptes
nicht mehr genau erinnerte, hätten fie beide gemeinfchaftlich
das Neceptirbuch aufgefchlagen und unter Nr. 34205
basjenige Recept vorgefunden, welches heute noch darin
eingetragen ſei. Als Andres am 5. November nachmittags
4 Uhr auf dem Bureau der Staatsanwaltichaft erjchien,
um zwei ältere Receptirbücher Greiner’8 abzuholen, wurbe
er von dem Staatsanwalt über die vor dem Poltzeicom-
miffer Spak gemachten Angaben befragt. Er beharrte
dabei, daß das Neceptirbuch ſchon fett dem 29. October
in Gebrauch geweſen ſei, daß das Necept 34205 genau
ver Vorſchrift des Dr. Floden entipreche und daß Wolff
die Arznei und er die Fingerhutblätterinfufion hergeſtellt
babe.
Am 5. November abends ermittelte bie Polizeibe-
hörde, daß Andres an Abend des 3. November bei dem
Papierhändler Wallenfeld ein Negifter und Wolff am
4. November ein zweites Regifter gelauft Habe. Das
dritte und einzige bei Wallenfel8 noch vorhandene Re—
gifter ftimmte mit dem Neceptirbuche bis in die Kleinften
110 Der Proceß wider den Dr. med. Flocken.
Einzelheiten überein. Dennoch verficherten Wolff und An-
bres, Die noch an bemjelben Abende einem neuen Ver-
höre unterzogen wurben, daß ihre früher gemachten An-
gaben wahr ſeien. Erft nach anderthalbſtündiger Ver⸗
handlung bequemten fie fich zu dem Geftänbniffe, daß
das Receptirbuch am Abend des 3. November bei Wallen-
fels angefauft und dag Wolff am Morgen des 4. November
auf Anorbnung des Apothekers Greiner bie Einträge in
das Buch bewirkt habe. Sie fügten indes hinzu: das
Necept 34205 habe in dem frühern Neceptirbuche ebenfo
gelautet und ſei wortgetreu in das neue Buch, übertragen
worben. Andres befannte: fein Principal Greiner habe
ihm verboten von dem Anfaufe der Regifter der Polizei-
behörde oder der Staatsanwaltichaft etwas mitzutheilen.
Der fofort vernommene Apothefer Greiner jtellte bie
Ausfagen feines Gehülfen und Lehrlinge in Abrede und
blieb bei feinen frühern Angaben ftehen. Insbeſondere
erklärte er; „Ich weiß nichts davon, das am Abend bes
3. November ein neues Regiſter angefauft und daß am
Morgen des 4. November pas alte Regifter durch Das neue
erjegt worden ift. Wenn Wolff und Andres dies ge⸗
than haben, jo tft e8 ihrerjeitS aus eigenem Antriebe und
ohne mein Wiſſen geſchehen.“
Das Syſtem der Täufchung, welches Dr. Flocken und
Apotheker Greiner erfonnen hatten, um die Behörben irre-
zuführen, half ihnen wenig. &8 brach zujfammen, als
ber zweite Herter’iche Fall ruchbar wurde und zur Ver⸗
baftung der Angejchulpigten führte.
Die Witwe Herter hatte durch die Tagesblätter von
ber eingeleiteten Unterſuchung Kenntniß erhalten, fie ver-
glih den Tod ihres Mannes mit dem bes Gaftwirths
Mathis in Eckbolsheim und fchöpfte nun Verdacht, daß
bie faliche Behandlung des Dr. Floden auch das Unglück
Der Proceß wider ben Dr. med. Floden. 111
in ihrem Hauſe verurſacht Habe. Sie forberte in der
Greiner’schen Apothefe das verbängnißvolle Recept. Man
bänbigte ihr nicht das richtige, wie wir wiffen be-
reits vernichtete Recept ein, fondern das mit Nr. 34206
bezeichnete, aber untergefchobene Recept. Sie übergab
baffelbe zu ven Unterfuchungsacten. Das Gericht orbnete
die Ausgrabung und die Section ver beiven Leichen an;
indes’ Tieß fich die Todesurſache nicht beftimmt fejtftellen.
Der Dr. Floden, der Apotheker Greiner, fein Gehülfe
und fein Lehrling, die in ftrenger Einzelbaft gehalten
wurden, weil man GCollufionen befürchtete und auch ber
Verdacht der Flucht nicht ausgefchloffen war, ließen
fih auch jetst nicht herbei zu einem offenen Geftänpniß.
Sie behaupteten nach wie vor, die Necepte Nr. 34205
und 34206 feien von Dr. Floden fo verjchrieben und in
ber Greiner’schen Apothefe jo hergeftellt, wie fie in dem
Receptirbuch eingezeichnet waren.
Endlich entjchloß ſich der Apothefergehülfe Wolff,
wahrjcheinlich auf Zureben feiner ihn im Gefängnifje be-
ſuchenden Anverwandten, der Wahrheit die Ehre zu geben
und ein offenes Belenntniß abzulegen. Die drei andern An-
gejchulpigten gingen nach und nach ebenfalls mit der Sprache
heraus und räumten, freilich nur mit verſchiedenen Modifi⸗
cationen, ein, was fie begangen hatten. Am 9. December
wurden fie aus ber wider fie am 26. November 1887
verhängten Unterfuhungshaft gegen hohe Kautionen im
Betrag von 10000, 20000 und 40000 Mark entlafien.
Das für alle entfcheivende Geſtändniß des Dr. Floden
gipfelte in der von ihm zugegebenen Thatfache, Daß er
in beiden Fällen aus Verſehen Extractum colchici
ftatt Tincetura colchici und zwar zwei Gramm in
einer Löfung von 150 Gramm verfchrieben habe. Er
glaubte daſſelbe jedoch dahin abjehwächern zu müſſen,
112 Der Proceß wider ven Dr. med. Floden.
daß er nicht einfach Extractum colchici, fondern Extrac-
tum colchici aethereum verorpnet habe, eine Zufam-
menjeßung, die nach den jpäter noch genauer zu berich-
tenden Öutachten der Sachverjtändigen nicht vorkommt.
In dem Geftänpniß des Apothefers Greiner war noch
von einem britten Falle die Rede, den Dr. Floden
jedoch bis zum Schluß auf das entſchiedenſte in Abrebe
"geftellt hat, und der deshalb auch heute noch nicht auf-
geklärt ift.
Greiner hatte in Bezug hierauf Folgendes angegeben:
„Dr. Sloden fam an dem Tage, an welchem er Ex-
tractum colchici für Herter und Mathis verjchrieben
hatte, abends gegen 10 Uhr in meine Apothefe und
theilte mir mit: Es ſei ihm bei Herter eine Arzneiflafche
aufgefallen, die eine Etikette mit ſchwarzem Untergrund
getragen habe, Er erzählte dann weiter, er habe heute
breimal Extractum colchici verjchrieben für Herter,
für Wirth Mathis in Edbolsheim und für einen Drit-
ten.: Daß das Necept Mathis bei Greiner gemacht wor-
ven fei, wiſſe er. |
„Ich fragte ihn, wie er dazu komme, Extractum zu
verſchreiben; er antwortete: «Ich weiß nicht. Sie willen,
gewöhnlich habe ich Tinctura verfchrieben; wie ich dazu
kam, Extractum zu verfchreiben, weiß ich ſelbſt nicht.»
Davon, baß er Extractum colchici aethereum ver-
ichrieben, hat er nichts gejagt. Wer die dritte Berfon
war, für die Dr. Floden am jelben Tage Extractum
colchici verjchrieben hat, weiß ich nicht.
„As Dr. Tloden davon ſprach, daß er Extractum
colchici verorbneet hätte, habe ich ihn fofort darauf auf-
merfjam gemacht, daß eine folche Dofis mir ſehr ftarf
zu fein jcheine. Darauf erwiberte Floden: «Ab bah!»
Dr. Flocken bat nach feiner Meinung überhaupt feinen
Der Proceß wider den Dr. med. Floden. 113
rechten Begriff davon gehabt, welchen Giftgehalt 2 Gramm
&rtractum haben. Er ift etwa um 9, Uhr abends
zu mir gefommen und hätte durch fofortige Benach—
rihtigung der Patienten ein weiteres Einnehmen
der Arznei verhüten fönnen.”
Diefe Ausfage wurde im weſentlichen beſtätigt durch
den Apothefer Schmidt, der fich folgendermaßen äußerte:
„Am Montag den 31. October war ich mit dem Apo-
tbefer Greiner den Mittag über auf der Jagd und
babe danach mit ihm zu Abend gegeffen. Wir gingen,
als wir von der Jagd zurücdkehrten, durch die Apothefe
in den zweiten Stod, der von Greiner bewohnt wird
Wir hielten uns in der Apothefe nicht auf. Greiner
bat fich nicht erkundigt, was etwa vorgekommen fein
möchte; auch hat fich Greiner weder nach den Necepten
noch nach dem Receptirbuch umgefehen.
„Etwas vor 10 Uhr etwa fam Dr. Tloden zu uns
und trank bis gegen 11 Uhr Bier mit un; ge-
iprächsweife bemerkte er dabei, e8 jet ihm heute etwas
«Förichtes) (Komiſches) paffirt, er habe nämlich brei-
mal 2 Gramm Extractum colchici verjchrieben, anftatt
Tinetura. Er meinte ein Apothefer werbe doch fo gefcheit
fein und Zinetura ftatt Extract nehmen. Ich erwiderte
ihm darauf, das dürfe ein Apotheker nicht, er müffe
vielmehr bei ihm anfragen, wenn er das Necept bean-
ſtande. Ich fügte noch Hinzu: dieſe Recepte würden wol
jo von ven Apothefern, wie er fie verjchrieben habe,
auch gemacht worden jein, weil Colchicumertract außer-
ordentlich felten verjchrieben werde. Mein Gedanke dabei
war, daß den Apothefern, gerade weil das Mittel jelten
oder gar nicht verfchrieben wird, die Schäplichkeit veijel-
ben wenig befannt iſt; doch habe ich dieſen Gedanken
nicht ausgefprochen.
XXIM. | 8
114 Der Brocef wider den Dr. med. Floden.
„Greiner fragte nun den Dr. Floden, ob eins ber
Recepte in feiner Apothefe gemacht worden jei; Dr. Flocken
antwortete: «Ja, das für Mathis, das für Herter ift
wahrjcheinlich bei Munde gemacht, denn e8 befand fich eine
ichwarzgeränderte Etifette auf dem Glafe.» Greiner ent-
gegnete: «Auch ich führe jolche ſchwarzgeränderte Etifetten»,
und frug weiter, ob das Medicament jchänlich jet?
Dr. Floden beruhigte ihn mit ven Worten: «Ah bah, ich
gehe heute Abend noch in den Luxhof.)» Gegen
11 Uhr entfernte fih Dr. Floden, und ich folgte ihm bald
darauf. Als Floden. an jenem Abend fam, waren bie
beiden Brüder von Greiner anweſend, viefelben gingen aber
ſchnell weg und haben das vorerzählte Geſpräch zwiſchen
Flocken und Greiner nicht angehört. Davon, wo das dritte
Recept angefertigt worden und für wen es Flocken ver-
ſchrieben hat, ift weiter nicht gefprochen worden.“
Auf Vorhalt diefer Ausſagen erklärte Dr. Floden:
„Ich habe am 31. October nur zweimal Colchicum⸗
extract verjchrieben, nämlich für Mathis und Herter.
Wenn Greiner und der Zeuge Schmidt behaupten, ich hätte
ihnen gejagt, daß ich an jenem Tage brei verſchiedenen Per-
jonen Colchieumertract verjchrieben habe, fo irren fie fich.
Ich bin an dem fraglichen Tage um 10 Uhr des Abends,
e8 kann auch fchon etwas fpäter gewefen fein, in die Apothefe
bon Greiner gefommen, bie gerade gejchloffen werben ſollte.
Sch hielt mich eine kurze Zeit unten in ver Apothefe auf, wo
ich ein Recept und wie ich meine, auch noch einen Brief ge-
ichrieben habe. Als ich auf mein Befragen erfuhr, daß
Greiner mit noch einigen andern Herren eben beim Nacht-
eſſen ſei, ſah ich, wie ich das öfter that, noch in dem
Neceptirbuch nach; dabei bemerkte ich, daß in ben beiden
mehrerwähnten Recepten ftatt Colchicintinctur, Col-
hicinertract verichrieben war.
Der Proceß wider den Dr. med. Floden. 115
„Ich fragte die anweſenden Gehülfen Wolff und
Andres, was fie denn gegeben hätten; fie erwiberten,
fie hätten Ertract gegeben, und das Mittel im fünften
Stod geholt. Nunmehr ging ich zu Greiner hinauf, um
mit ihm deshalb Rüdiprache zu nehmen. ch traf feine
beiden Brüder und ben Apotheker Schmidt. ALS Die
erftern weggegangen waren, erzählte ich von ber DVer-
wechjelung, die mir heute paffirt war, und fragte Greiner,
was er von Colchicinextract halte und wie ſtark das
Mittel ſei; Greiner erwiderte darauf, er habe verjchiedene
alte Ertracte; die Ertracte feien zehnmal ftärfer
als Zinceturen. Die Patienten fonnten, da die Medicin
erſt am Nachmittag gemacht worden war, am 31. Octo⸗
ber nicht mehr viel genommen haben, wie ich glaubte,
nicht mehr, als die Marimalvofis beträgt. Ich beruhigte
mich für den Augenblid und zwar um jo mehr, als mir
Greiner verficherte, e8 machte nichts, die Leute wür—
den nur ordentlich abgeführt werden, eine Ver-
ficherung, die er ſpäter und bis die Leute ftarben wiederholt
hat. Ich ging nach Haufe und las noch über das bon
mir veroronete Medicament. Ich fand, daß die Sace
boch gefährlich werben könnte, und überlegte, was zu
thun fei; da ging die Schelle und ich wurde zu Herter
gerufen. Es war in der Nacht 12—1 Uhr. Ich hielt
mich bet Herter fehr lange auf; e8 kann 1'/, bis 2 Stun
ben gewefen fein. As ich nach Haufe zurückkam und
nach Eckbolsheim fahren wollte, fam ein Bote, der mich
borthin holen ſollte.“
Wir haben die vorftehenden Ausfagen, wie fie in der
öffentlichen Verhandlung wiederholt wurden, ausführlich
wiebergegeben, weil fie den Standpunkt der beiden Ange—
ichuldigten zu der Anklage und zueinander Tennzeichnen,
aber auch beweifen, wie leichtfertig dev Arzt und ver Apothe-
8%
116 Der Proceß wider den Dr. med. Flocken.
fer über die ihnen anvertrauten Menfchenleben gejcherzt
haben und wie fahrläffig der Dr. Floden namentlich
gehandelt hat. Die Ausſage des Apothefers Schmibt follte
für Dr. Floden äußerft verhängnißvoll werben. Als vie
Acten bereits gefchloffen waren und Dr. Flocken fih auf
Grund der geleiteten Caution Längft wieder auf freiem Fuße
befand und feine Praxis wieder aufgenommen hatte, befchloß
bie Straffammer des Landgerichts unterm 10. April 1888
auf Antrag der Staatsanwaltichaft die Wiederverhaftung
des genannten Arztes. Die Vertheidigung wendete hier-
gegen bei dem Dberlandesgericht zu Colmar das Rechts-
mittel der Beſchwerde ein, aber auch die zweite Inftanz
billigte die angeorpnete Maßregel.
Bald darauf, am 24. April 1888, wurde vom Land-
gericht der nachſtehende Verweiſungsbeſchluß eröffnet:
„Auf Antrag der kaiſerl. Staatsanwaltichaft wird gegen
1) Dr. Robert Floden, Cantonalarzt,
2) Alfred Wolff, Apothefergehülfe,
3) Jakob Greiner, Apothefenbefiger,
4) Jakob Andres, Apotheferlehrling,
ſämmtlich zu Straßburg,
welche hinreichend verdächtig erfcheinen:
adi. Am 31. October 1887 durch zwei felbftändige
Handlungen
a. zu Edboldheim den Tod des Wirthes Meichael
Mathis, |
b. zu Straßburg ven Tod des Wirthes Ludwig
Herter durch Fahrläffigfeit verurfacht zu haben,
indem er die Aufmerkjamfeit, zu welcher er ver-
möge feines Berufes befonders verpflichtet war,
aus den Augen fekte.
ad 2. Am 31. October 1887 zu Straßburg durch ziwei
jelbftändige Handlungen ben Tod
Der Proceß wider den Dr. med. $loden. 117
. des Wirths Michael Mathis in Eckbolsheim,
. des Wirths Ludwig Herter in Straßburg durch
Vahrläffigkeit verurfacht zu haben, indem er die Auf-
merklſamkeit, zu welcher er vermöge feines Berufes
beſonders verpflichtet war, aus ben Augen fette.
ad 3. Im November 1887 zu Straßburg durch eine und
dieſelbe Handlung
a. dem praktiſchen Arzte Dr. Flocken und dem Apo⸗
thekergehülfen Alfred Wolff nach Begehung bes
Vergehens der fahrläffigen Tödtung des Michael
Mathis und des Ludwig Herter wiſſentlich Bei⸗
ſtand geleiftet zu haben, um fie der Beftrafung
zu entziehen, und zwar, joweit die Begünftigung
in Bezug auf die fahrläffige Tödtung des Michael
Mathis in Frage fteht, gemeinfchaftlich mit dem
Apotheferlehrling Jakob Andres,
b. den Apotheferlehrling Jakob Andres durch Mis-
brauch feines Anſehens, Aufforderung und andere
Mittel vorfäglich beftimmt zu Haben, dem praf-
tifchen Arzte Dr. Flocken und dem Apothefergehül-
fen Alfred Wolff nach Begehung des Vergehens
der fahrläffigen Tödtung des Michael Mathis Bei⸗
Itand zu leiften, um bie Thäter der Beſtrafung
zu entziehen.
ad 4. Im November 1887 zu Straßburg gemeinfchaft-
ih mit Jakob Greiner dem praftifchen Arzte
Dr. Flocken und dem Apothefergehülfen Alfred
Wolff nach Begehung ver fahrläffigen Tödtung des
Michael Mathis wifjentlich Beiſtand geleiftet zu
haben, um fie der Beftrafung zu entziehen.
Vergehen gegen 88. 222, 257, 47, 48, 73 und
14 St. G. B. Das Hauptverfahren vor der Straffam-
mer des kaiſerlichen Landgerichts hierſelbſt eröffnet.
u)
118 Der Broceß wider den Dr. med. Floden.
„Die Unterfuchungshaft gegen Dr. Flocken Hat fortzu-
dauern. Hinfichtlih ver Unterſuchungshaft gegen bie
Angefchulpigten Alfred Wolff, Jakob Greiner und Jakob
Andres hat e8 bei den getroffenen Maßregeln zu vers
bleiben.” — —
Den Vorſitz bei der Hauptverhanblung, welche am
11. und 12. Mai 1888 in dem Schwurgerichtsfaal des
Straßburger Landgerichts ftattfand, führte der Landge⸗
richt8pirector Krieger. Die Anklage vertrat der
Staatsanwalt Stapler, als Vertheibiger waren bie
Rechtsanwälte Schneegans, von Schottenftein,
Dr. Betri und Dr. Reinhard erfchienen, alle befannt
al8 angejehene Mitgliever des ftraßburger Barreau. Die
gewöhnlich den Gefchworenen eingeräumten Pläge wurden
von einer ftattlichen Anzahl einheimifcher und auswärtiger
Tachgelehrten und Profefjoren eingenommen, bie fämmt-
ih als Sachverftändige geladen waren. ALS Vertreter
ver Allgemeinen Nenten-Anjtalt zu Stuttgart und der
Witwe Herter wohnte ver Rechtsanwalt Dr. Mumm ven
Sigungen bei. Außerdem war eine anfehnliche, vornehmlich
aus Fachkreifen und Juriſten zufammengefeßte, Zuhörer:
haft in dem verhältnißmäßig Heinen Saale verfammelt.
Unter ven zahlreichen Zeugen, bie fich in dem Raume
zwifchen ber Vertheidiger- und Sachverftändigen» Bant
aufgeftellt hatten, zogen die Witwen und die andern
nächiten Angehörigen des Wirthes Mathis und des Wir-
thes Herter fowie die tiefbefümmerte Frau des Dr. Floden
die Aufmerkſamkeit des Publitums in bejonderm Maße
auf fih. Ihre und die übrigen Zeugenausfagen find
damals von ben Tagesblättern mit großer Ausführlichkeit
wiedergegeben worden. Für eine actenmäßige wiffenfchaft-
liche Darftellung des Proceſſes haben fie feine Bedeutung.
Da wir das thatjächliche Material bereits mitgetheilt
Der Broceß wider den Dr. med. Floden. 119
haben, können wir das Zeugenverhör übergehen. ‘Dage-
gen miüffen wir und mit den Gutachten der Sachver⸗
ftändigen eingehend bejchäftigen. Dieſe Gutachten haben
auf das Urtheil nicht den entfcheivenden Einfluß aus⸗
geübt, den man urjprünglich ihnen beizumefjen geneigt
war. Insbeſondere bat die den ftraßburger Gelehrten
diametral entgegengejegte Meinung des göttinger Pro-
fejfors Dr. Hufemann ven Gerichtshof nicht einen Augen-
blick zu Gunſten der Angeklagten zu ftimmen vermocht.
Aber durch die verfchtedenen Beleuchtungen von fachwifjen-
ichaftlicher Seite wurden die mediciniſch-pharmaceutiſch
intereffanten Fragen in ein helles Licht gefekt. Be⸗
merkenswerth find zunächit die bereit® in der Vorunter⸗
ſuchung durch den Privatbocenten Dr. von Schröber
veranlaßten Verfuche an Thieren, behufs Feſtſtellung ver
Einwirkung des Colchicingiftes auf den thieriichen und
menfchlichen Organismus, Diefer Gelehrte hatte zu dem
Ende einer Anzahl Katzen die auf ihre Wirkung zu
prüfenden Gifte unter die Haut gejprigt und babei ges
funden, daß fehon einige Centigramm Coldhicumertract
genügten, um ein töbliches Ende herbeizuführen. Im
allen Fällen wurden die Ertracte behufs Injection in
etwas Waſſer nach Hinzufügung einiger Tropfen Alkohol
aufgelöft und nad Abkühlung auf Körpertemperatur
den Thieren eingejprikt.
Als Vergleichdertracte benutste er zwei Präparate, von
benen er das erjte aus der Storchen-Apothefe des Herrn
Reeb bezogen hatte, währenn das andere Präparat in der
Apotheke des Bürgerjpitals eigens angefertigt worben war.
Mas die Art der Wirkung bes Greiner’schen Coldhicin-
extracts anlangt, jo war tiefelbe genau übereinftimmend
mit derjenigen, welche nach der Einſpritzung von Colchicin
oder Colchicumpräparaten an Katzen beobachtet wurde.
120 Der Broceß wider ben Dr. med. Floden.
Nach Injection des Giftes zeigten die Thiere in den erften
3—5 Stunden feinerlei auffallende Symptome. Durch
größere Dofen Tonnte ein rafcher Eintritt der Vergiftung
eriheinungen nicht bewirkt werben, d. h. ber Beginn der
Vergiftungserfcheinungen war unabhängig von der Größe _
ber Dofis. Dies ift eine jehr bemerfenswerthe Eigenjchaft
des Colchicins und der Colchicumpräparate, bie nur jehr
wenigen Giften zukommt.
Nach Ablauf der angegebenen Zeit trat Erbrechen und
Durchfall ein, gleichgültig ob das Gift in den Magen
oder unter die Haut eingeführt worden war. Gleichzeitig
mit dieſen Magen- und Darmerſcheinungen wurde eine
erhebliche Stumpfheit, ein Herabgehen der Senſibilität
an den Thieren beobachtet. Die Magen- und Darm—
ſymptome hielten in der Regel nicht bis zum Tode an,
ſondern ließen nach einigen Stunden nach, ſodaß in vielen
Fällen eine bemerkbare Beſſerung im Verhalten des Thieres
eingetreten zu ſein ſchien. Bald aber ſtellten ſich die—
jenigen Wirkungen des Giftes ein, welche einen tödlichen
Ausgang herbeiführten. Es waren dies die centralen
Lähmungserſcheinungen. Die Lähmung ergreift zuerſt
die hintern Theile des Rückenmarkes und ſchreitet dann
langſam vorwärts. Ungeſchicklichkeit bei der Direction
der Extremitäten macht ſich geltend, das Thier muß
längere Zeit genöthigt werden, bis es ſich zu einem Gang
entſchließft. Die erſte Abweichung von den normalen
Bewegungen beiteht darin, daß die Hinterbeine beim
Stehen fteif und auseinandergefpreizt werden. Bald
ſchwindet auch die Herrichaft über die Vorverbeine. Dann
wird die Refpiration langjamer. Auf der Seite Tiegend,
immer langjamer athmend, geht das Thier meift ohne
weitere frampfhafte Ericheinungen durch Lähmung der
Reipiration zu Grunde.
Der Proceß wider ben Dr. med. Floden. 121
Wir können die weitern Einzelheiten diefer interefjan-
ten Verſuche fowie auch das in der Sitzung verlefene Gut-
achten des abwejenden Sachverftänbigen nicht ausführlicher
Ihilvern und begnügen und mit der fich unmittelbar dar⸗
aus ergebenden Löfung der geftellten Frage: ‚Welche
Wirkung wird das bei Greiner befchlagnahmte Ertract
nah den Berfuchen an Thieren auf ben menfchlichen
Organismus vorausfichtlih ausüben, wenn e8 in ber
von Dr. Flocken verordneten Verbünnung von 2 Gramm
zu 150 Gramm angewendet und wenn babei, wie im
Fall Mathis und Herter nur drei Eßlöffel in Zwiſchen⸗
räumen von je zwei Stunden genommen werden?‘
Diefe Frage wurbe kurz gefaßt dahin beantwortet:
„Drei Eßlöffel entiprechen 60 Gramm Tinctura col-
chic. Es hätte alfo der Kranke innerhalb vier Stunden
60 Gramm Tinctura colchiei erhalten, während bie
Marimaldofe pro Tag nach ver Pharmacopoea Ger-
manica edit. altera 6 Gramm beträgt. Letztere wäre
alfo um das Zehnfache überfchritten worvden. “Daß hier-
durch der Kranke unter den Erjcheinungen einer Coldi-
cumvergiftung zu Grunde gehen mußte, war mit Sicher-
beit zu erwarten.” Auf verwandtem Gebiete bewegten
fih die dem Profefjor Dr. D. Schmi edeberg vorgeleg-
ten ragen, von denen die erjte lautete:
„In welchem Verhältniß in Bezug auf Giftgehalt
fteht zur Tinctura colchici das Extractum colchiei und
wieviel beträgt bei legtern die Marimalvofis: a) als
Cinzelgabe, b) als Tagesgabe?“
In Beantwortung diefer Trage gab der als Autorität
in biefem Fache allgemein anerfannte Gelehrte Folgendes an:
„Unter Tinctura colchici ift der alkoholiſche Aus-
zug ber Zeitlofenfamen (Semen colchici) zu verjtehen, ver
nach der Deutſchen Pharmafopde aus einem Theil Samen
122 Der Broceß wider den Dr. med. Floden.
und zehn Theilen Alkohol bereitet wird, während 3. B.
bie Sranzöfiiche Pharmafopde (Codex medicamentarius)
auf einen Theil Samen nur fünf Theile Alkohol vor-
ſchreibt, ſodaß alfo dieſe Tinctur doppelt fo ſtark ift als
jene. Ein Extractum colchici fennt die Deutfche
Pharmakopöe nicht. Verſchiedene derartige Präparate
finden fi) in den Pharmafopden anderer Länder. Für
den vorliegenden Zwed ift aber nur das Ertract der
Tranzöfiichen Pharmakopöe (Extractum colchici seminis
alcoholicum) zu berüdfichtigen. Daſſelbe bejteht aus
ven gleichzeitig in Alkohol und Waffer Löslichen Beſtand⸗
theilen der Samen, während die Tinctur auch noch bie
in Waſſer unlöslichen Antheile (3. B. Harz und Fett)
enthält. Nach den neuern Unterfuchungen muß angenom-
men werben, daß in dem Zeitlofenfamen mehrere wirt-
ſame Beſtandtheile (zwei Erhftalifierte Colchicine, Amor»
phes Colchicin, Colchickin) enthalten find.
„Von den praktiſchen Aerzten der verſchiedenen Länder
wird für die Anwendung bei den Kranken, insbeſondere
bei ſolchen, die an Gicht und Rheumatismus leiden, unter
allen Colchicinpräparaten der Auszug der Samen mit
Wein (Vinum Colchici seminis) bevorzugt. Bei der
Anwendung eines ſolchen Weines, der an Stärke unſerer
Tinctur entſprach, hat man mit Verſuchen an geſunden
Menſchen nach 3—7 Gramm, die in verſchiedenen Gaben
während mehrerer Stunden verabreicht waren, mehr ober
weniger ſtarkes Erbrechen und Durchfälle, aljo bereits
ausgeiprochene DVergiftungserfcheinungen eintreten eben.
Erbrechen und Durchfälle fuchten früher manche Praftifer
bei Kranken abfichtlich Hervorzurufen, weil fie glaubten,
daß der heilfame Erfolg nur in dieſem Falle eintritt, ein
Ölaube, der ſich wol noch bier und da erhalten haben
mag.”
Der Proceß wider den Dr. med. Floden. 123
Bezüglich der von Dr. Floden gebrauchten Ausrede,
daß er zwar verjehentlich Extractum colchici, aber mit
dem Zuſatz aethereum verfchrieben habe, ließ fich ber
Sachverftändige dahin ans: „Ein ſolches Präparat wird
nirgendwo bergeftellt und tft nicht gebräuchlid. Indes
bleibt e8 dem Arzte unbenommen, jolche Präparate zu
verordnen und eigens anfertigen zu laffen. Allein ein
beſonderer Zwed Täßt fi dabei nicht abjehen. Man
kann als folchen nicht geltend machen, daß die Atherifche
Zinetur und das ätherifche Extract geringere Mengen
giftiger Beftandtheile enthalten und deshalb milder wir-
fen und weniger ſchädlich find; denn um biefen Zwed
zu erreichen, genügt e8, von den gebräuchlichen Präparaten
geringere Mengen zu verordnen. Wenn ein Arzt folche
ungewöhnliche Aubereitungsformen dennoch anwenden
will, etwa um fie zu erproben, fo muß er wenigitens
genau die Bereitungsweife angeben. Es darf nicht als
felbftverftändlich vorausgefegt werden, daß ber Apotheker
zur Herftellung der ätherifchen Zinctur die Samen und
nicht die Zwiebel (Bulbus) ver Zeitlofe und von ben
erftern wiederum 1 Theil auf 10 Theile Aether an-
wenden wird. Falls das Necept einfach Tinctura col-
chici aetherea verlangt, fo kann ver Apothefer ebenfo gut
bie Zwiebel ftatt der Samen benuten, wenn er fie ge-
rabe vorräthig hat, oder auf 1 Theil der letztern nicht
10, fondern nur 5 Theile Aether wählen. Jedenfalls
ioflte e8 dem Apotheker nicht überlaffen bleiben, ein der⸗
artig ftarf wirfendes Mittel nach eigenem Ermeſſen hin-
fichtlich der Mengenverhältniffe zu bereiten.”
Cine weitere Trage lautete:
„Denn im Falle Mathis 2 Gramm Extractum col-
chici in einer Löſung von 150 Gramm verjchrieben
waren und Mathis hiervon am 31. October drei Eßlöffel
124 Der Proceß wider ben Dr. med. Floden.
voll genoß und zwar nachmittägs 31, Uhr ven erften,
5, Uhr den zweiten, 7'/, Uhr den dritten, war bieje
Dofis geeignet, den Tod des Mathis herbeizuführen?“
Hierauf gab der Sachverftändige folgende Antwort,
bie fich zum Theil mit den Ergebniffen ver Dr. Schrö-
der'ſchen Unterfuchungen kreuzt:
„Man nimmt bei der Doſirung von flüſſigen Arzneien
allgemein an, daß ein gewöhnlicher Eßlöffel 15 Gramm
einer. wäfjerigen Flüffigkeit faßt. Mathis hat demnach
von der ihm verjichriebenen Mebicin 45 Gramm genom—
men, in weldem zujammen O, Gramm Extractum
colchiei und zwar von dem nad der Vorfchrift des
franzöfifchen Cover aus Samen bereiteten Präparat
enthälten waren. Ob dieſe Gabe geeignet tft, den Tod
eines erwachjenen Fräftigen Menfchen herbeizuführen, kann
nur auf Grund der bisher vorgekommenen Colchicum⸗
vergiftungen entſchieden werben, da e8 eine andere, auch
nur annähernd fichere Grundlage für dieſe Beurtheilung
nicht gibt. Nah Berfuhen an Thieren kann man
nur im allgemeinen entjcheiven, ob eine Subſtanz gar
nicht, wenig, ober ſtark giftig ift. Ueber die Merige,
welche gerabe geeignet ift, ven Tod eines Menjchen ber-
beizuführen, geben Thierverſuche feinen fichern Aufſchluß.
Bon den 50—60 mir befannt gewordenen theils tödlich
verlaufenen, theils mit Genejung endenden Vergiftungs⸗
fällen mit Colchicum find etwa 20, darunter eine Maffen-
vergiftung, nachweislich durch Colchieumjamen oder Deren
Präparat bedingt worden. Bei den übrigen handelt es
fich faft ausschließlich um die Zwiebel (Bulbus colchicıt).
„ie bereits angegeben, hat Mathis innerhalb vier
‚Stunden zufammen O,« Gramm Ertract genommen. Wie
bei Beantwortung der erften Trage bereitd auseinander-
geſetzt ift, find zur Gewinnung dieſer Ertractmengen nicht
Der Proceß wider den Dr. med. Floden. 195
weniger als 5 und nicht mehr als 7,; Gramm Coldi-
cumjamen erforverlich geweſen, eine Menge, welche ven
obigen Herftellungen zufolge wenigjtens für einzelne Fälle
als eine tödliche bezeichnet werden mußte. Auf Grund
ber vorftehenden Ausführungen muß die gejtellte Frage
demnach dahin beantwortet werben, daß eine Gabe von
0,; Gramm des hier in Rede ftehenden Ertract8 ber
Colchieumſamen, auf einmal oder wie in dem Yall
Mathis, in drei Gaben binnen vier Stunden innerlich ge-
nommen, bei einem erwachjenen Menſchen unter allen
Umftänden eine fchwere Vergiftung herbeiführen wird,
und daß dieſe Gabe auch geeignet ift, unter den obwal-
tenden Umſtänden den Tod zu verurfachen, daß e8 aber
auch Fälle geben Fünnte, in denen eine Vergiftung nach
biefer Gabe mit Genefung endet.”
Bezüglich des Falles Herter erklärte der Sachver-
jtändige, daß, da in diefem Falle der Thatbeftand in Be⸗
zug auf das Colhicumpräparat, die Größe der Gabe,
die Art des Einnehmens der lektern ber gleiche ift wie
in vem Falle Mathis, und da auch die Individualität
bes Herter nichts bietet, was auf die Beurtbeilung ver
Gabe des Giftes von Einfluß fein könnte, die Wirkung
biefelbe fein mußte wie im Falle Mathis. —
Es würde über den Rahmen unſerer Darftellung
hinausgehen, wollten wir die weitern Ausführungen dieſes
gründlichen Gutachtens auch nur im Auszuge wieber-
geben. Ebenſo müffen wir uns bezüglich des Gutachtens
bes Gerichtsarztes Dr. von Mering, welcher die Sec-
tion der beiden Leichen und die chemifche Unterfuchung
ber einzelnen Theile berfelben vorgenommen hatte, auf
die Feſtſtellung bejchränfen, daß weder Gelenfrheumatis-
mus bei der einen, noch Herzlähmung bei der andern
fich anatomifch nachweifen ließen. Die bei der Obbuction
126 Der Proceß wider den Dr. med. Floden.
feitgeftellte mäßige Tettauflagerung bes Herzens ift auf
den Tod des Mathis, wie auch des Herter ohne wefent-
lichen Einfluß gewefen. Die Trage nach der Tobesurfache
fonnte daher von biejem Gelehrten dem anatomischen
Befund gemäß nicht erklärt werden. Hervorzuheben
dürfte noch fein, daß Dr. Floden bei ber Section ber
Herter’fchen Leiche Darauf beftand, daß die Eingeweide auf
Gift unterfuht würden, da der kranke Herter ihm ges
jagt hätte, er babe einen bummen Streich gemacht und
wiefleicht zu feinem frühzeitigen Tode jelbft beigetragen.
Bei der chemifchen Unterfuchung nah Colchicum war
das Rejultat in beiden Fällen ein negatives, da im
Magen und Darm fi eine Spur bes Giftes nicht
vorfand.
Außer dieſen bereits in der Vorunterſuchung beige—
zogenen Sachverſtändigen wurde in der Hauptverhantd⸗
lung noch vernommen der Vorſitzende der pharmaceuti⸗
ſchen Prüfungscommiſſion und Director des pharmaceu⸗
tiſchen Inſtituts zu Straßburg, Profeſſor Dr. Flückiger,
welcher beſtätigte, daß die Deutſche Pharmafopde nur die
Colchicum⸗Tinctur kenne, und darauf hinwies, daß
der Arzt gehalten ſei, bei außergewöhnlichen, beſonders
gifthaltigen Recepten ein Ausführungszeichen (!) hinter
die Verordnung zu ſetzen. Der Apotheker ſoll ſich in
ſolchen Fällen ſtets mit dem Arzt ins Benehmen ſetzen.
Dies beſtätigte auch der von der Vertheidigung als
Sachverſtändiger geladene Apotheker Pfersdorf, welcher
erklärte, er ſelbſt würde die vorliegenden Recepte nicht
gemacht haben, ſelbſt ohne Ausrufungszeichen. Da indeß
eine Maximaldoſis nicht vorgeſchrieben ſei, jo fünne man
bies dem Apothefer kaum verargen, zumal er felbft ftär-
fer wirkende Gifte in größern Doſen, 3. B. 1,15 Digitalis,
verjchreiben durfte. Insbeſondere habe fih der Gehülfe
Der Proceß wider den Dr. med. Floden. 197
bei dem zweiten Recept, welches ganz gleichlautend
mit dem erften in bie Apotheke fam, berubigt finden
fönnen.
Bei Erörterung der Frage, inwieweit ber Apothe-
fergebülfe Wolff mangels hierüber im Reichslande be-
ſtehender gefetlicher Vorſchriften überhaupt als Bertreter
des Apothekers anzufeben fei, hatte ſchon Profeſſor
Dr. Flüdiger über die hierzulanve beftehende „Wirth-
ſchaft“ geklagt, eine Klage, der ſich auch der Regierungs⸗
ratb Dr. Krieger anfchloß, indem er betonte, daß vie
fragliche Gefetgebung im Uebergangsftabium fich befinde.
Bezüglich der Pflicht des Arztes in jolchen Fällen, wo
er die Wirkung der Präparate jelbft nicht kennt, ſchloß
fih indeß diefer Sachverftändige der Auffafjung des
Profeſſor Schmiedeberg an.
Am günftigiten für den Angeklagten Wolff fprach
fih der Apothefer Dr. Amthor aus, welcher früher als
Chemiker an der Unterfuchungsitation für Nahrungsmittel
in Straßburg angeftellt war. Er hob hervor, daß man
von einem Apothefergehülfen, ver noch feine eigentliche
wiffenjchaftliche Bildung auf der liniverfität genoffen
babe, ein ſicheres Urtheil über die Wirkungen ver ver-
ſchiedenen Gifte, insbefondere des Colchicum, von dem
ſelbſt Profeffor Schmieveberg zugeitanden habe, daß er
nur wenig davon wiſſe, faum erwarten fünne Der
Apotheker babe auch die Verpflichtung, raſch zu arbeiten,
und könne nicht bei jedem Mecepte zum Arzte Taufen,
„ſonſt würde die ganze Heilkunde lahm gelegt werben“.
Es erübrigt noch, kurz auf bie Anficht des göttinger
Profefford Dr. Hufemann zurüdzufommen.
Der greife Gelehrte erflärte, nach gewiſſenhafter
Prüfung der Frage über die Todesurfache in den beiden
Bergiftungsfällen fei er zur Ueberzeugung gefommen, daß
128 Der Proceß wiber ben Dr. med. Floden.
bie von Dr. Floden veroronete Doſis zu gering war,
um ben Tod durch Colchteinvergiftung herbeizuführen.
Es könne zwar feinem Zweifel unterliegen, daß fein
beuticher Pharmafologe over Kliniker diefe Gabe als eine
nachahmenswerthe empfehlen werde; nichtsbeftoweniger
fünne man aber nicht jagen, daß biefelbe eine unwifjen-
ichaftliche fe; noch viel weniger würde fie als eine folche
zu bezeichnen fein, beren Tödlichkeit bezw. Schäplichkeit
ein wiffenfchaftlich gebilveter Arzt bei entjprechenper Auf-
merkſamkeit erkennen müffe.
Unter einem wiſſenſchaftlich gebildeten Arzt verſtehe
man einen ſolchen, der nach abſolvirten mediciniſchen
Studien, nach den im Laufe derſelben beſtandenen Ten⸗
tamen und Ablegung der vorſchriftsmäßigen Staats⸗
prüfung, ſeine Approbation erhalten habe. Man dürfe
bei aller Achtung vor der wiſſenſchaftlichen Bildung der
deutſchen Aerzte doch gerade in Bezug auf ihre Kennt-
niffe der Arzneimittel und ihrer Verhältniffe nicht über-
triebene Forderungen ftellen. Es fei notoriih, daß das
Wiffen des eben approbirten Arztes in biefem Fach durch⸗
jchnittlich weit geringer fei als in allen übrigen Zweigen
ber Heilkunde.
Eine Urtheilsfähigfeit über pharmakologiſche ragen
bringe ver approbirte Arzt in feine neue Wirkſamkeit in
ber Regel nicht mit; vollitändig orientirt jet er höch-
jtens über Mittel, die ev in der Klinik habe anwenden
jehen. Dagegen könne er die in der Pharmacopoea,
Greermanica enthaltene ſog. Marimaldoſentabelle aus-
wendig, d. h. er wiffe, daß er in bejtimmten Fällen nach
bem Recepte ein Ausrufungszeichen machen müſſe, und er
wiſſe die Menge auswendig, welche für jedes in ber
Tabelle enthaltene Mittel ihn zu dieſen Ausrufungszeichen
nöthige. Dieſe leßtere Kenntniß bleibe Übrigens nur für
Der Proceß wider den Dr. med. Floden. 1929
einige Zeit. Da fich nichts fo Leicht vergeffe, wie
Zahlen, jo habe der junge Therapeut fchon nach einigen
Jahren dieſelben vergefien, und der Arzt führe deshalb
einen ärztlichen Kalender, ver eine ſolche Zabelle ent-
halte, oder ein Necepttafchenbuch bei ſich, aus dem er
fih Rathes holen könne. Er fchlage e8 in allen Fällen
auf, in benen er über die Gabe nicht orientirt fei.
Handele es fih um einen Stoff, um eine Zubereitung,
bie in jeinem gewöhnlichen Hülfsmittel nicht ftehe, jo
jehbe er in einem größern Werke nach, aljo entweder in
einem Werke über Arzneimittellehre, oder vermuthlich in
einem folchen über Arzneiverorpnungslehre. Das hätte
im vorliegenden Falle gejchehen müffen, denn von Extrac-
tum colchici nähmen die Maximalkalender feine Notiz
und die Marimalvofentabelle der PBharmalopde laſſe
höchſtens inpirect eine Beftimmung durch eine
Schlußfolgerung zu. Ein eraminirter ober wifjen-
ichaftlich gebilveter Arzt brauche aber noch keineswegs
durch diefe Schlußfolgerung die Ueberzeugung zu gewinnen,
daß er bei Verordnung von 2,0 Gramm Colchieumertract
Geſundheit und Leben feines Patienten gefährbe.
In feinen weitern Ausführungen gab ſodann ver
Sachverſtändige eine Ueberficht über die in den verjchie-
denen Ländern des Continents fowie in Großbritannien
und den Vereinigten Staaten von Amerila gebräuchlichen
Arten der Colchicumrecepte und ihre verjchiebenen
Doſen und kam zu dem Schluffe, daß dem Arzte bie
Kenntniß der Differenz der Stärke der einzelnen Ertracte,
bie jelbft der Pharmalologe nicht auswendig wifje, nicht
zugemuthet werben könne; mit andern Worten, daß ein
wifjenjchaftlich gebildeter Arzt, beim Verordnen einer
Tagesgabe von 2 Gramm Extractum colchici nicht im
voraus erfennen und auch bei entiprechender Aufmerf-
XXII. I
130 Der Proceß wider den Dr. med. Floden.
ſamkeit nicht zu der Anficht gelangen müfje, daß biefe
Gabe für die Geſundheit und das Leben geführlich ſei.
Diefe Behauptung des göttinger Profefjord war die
Zielfcheibe der fchärfften und fchonungslofeiten Angriffe
des Vertreters der Staatsanwaltichaft. Bevor jedoch
ber Vorſitzende ihm das Wort ertheilte, redete er dem
Angeklagten Dr. Floden nochmals eindringlich ins Ge-
wiffen, um den dritten Vergiftungsfall womöglich noch in
legter Stunde aufzuflären. Es gab dies Veranlaſſung
zu folgender bemerfungswerther Unterhaltung zwiſchen
dem Präfidenten und dem Hauptangeklagten.
Präfivent. Herr Dr. Floden! Che wir weiter
geben, möchte ich nochmals eine eindringliche Frage an
Sie richten. Sie haben gehört von Schmidt und Greiner,
daß Sie bei ihm an jenem Abend aus eigenem Antrieb
davon geiprochen hätten, „va fei Ihnen etwas Förichtes
pajfirt, Ste hätten fich dreimal verjchrieben u. |. w.“.
Ih frage Sie: wo ift der dritte Fall? Wo ift er?
Sagen Sie e8!
Angeflagter. Das ift fo wenig wahr wie das an-
dere, daß ber Ertract zehnmal ftärfer ift.
Präfident. Ich frage Sie: wo ift der dritte Fall?
Angeflagter. Ich habe mich nur zweimal ver-
ichrieben.
Präfident. Ermittelt ift der Fall nicht. Ich Habe
gedacht, Sie könnten vielleicht das Bedürfniß haben, Ihr
Gewiſſen zu erleichtern, indem Sie uns fagen, wo ber
dritte Fall tft.
Angeflagter. Ich verjichere, e8 find nur die beiven
Tälle.
Präſident. Dann frage ih Sie nochmals, was ich
ſchon geftern wifjen wollte: wann find Sie über Ihren
Irrth um Har geworben?
Der Broceß wider den Dr. med. Flocken. 131
Angellagter. Ich Habe mein Recept gefehen in ver
Kladde um 10 Uhr. Ich war ja um 5 oder 6 Uhr bei
Herter. Hätte ich’8 gewußt, wär's Doch ganz einfach ge-
weien, die Mebicin wegzunehmen.
Präfident. Aber Wolff und Andres, die auch nicht
das geringjte Intereffe daran haben, viefe Frage fo oder
jo zu beantworten, beftreiten diefe Möglichkeit.
Angellagter. Ich fage ja nicht, daß bie beiden zu-
gejehen haben, als ich ins Buch fchaute. Sie waren be-
ſchäftigt.
Präſident. Anftatt dieſes Blickes in die Kladde,
Herr Dr. Flocken, war's der „dritte Fall“, der Sie zur
Erkenntniß gebracht hat? — der ruhig blieb? — der
entweder glücklich verlaufen iſt? — oder ſchon mit Erde zu-
gedeckt iſt?
Angeklagter. Wenn ein dritter Fall beſtände und
er wäre glücklich verlaufen, dann hätte ich ihn doch citirt,
um zu zeigen, daß die Giftwirkung gering war — und
wenn anders, dann wäre es doch herausgekommen.
Präſident. Warum ſind Sie nicht ſpornſtreichs zu
Herter geeilt, um zu retten? Warum?
Angeklagter. Ich dachte, er habe höchſtens zwei
bis drei Löffel voll genommen; das Extract iſt nicht um
ſo viel ſtärker wie die Tinctur, ich habe Zeit gehabt mich
zu Hauſe zu informiren.
Präſident. Nun denn ja — ich babe meine Schul:
bigfeit gethan.
Die Beweiserhebung ift gejchlofjen.
Hierauf nahm zunächſt der öffentliche Ankläger das
Wort und verbreitete fich nach einer rhetorifch meijter-
haften Einleitung über die Hauptfragen: „1) Was ift that-
jächlich erwiefen? 2) Was ergeben die Sachverjtändigen-
Gutachten? 3) Welche Schlüffe find hieraus zu folgern?“
9*
132 Der Proceß wider den Dr. med. Flocken.
Bei Prüfung der Frage nach der Todesurſache Fri-
tifirte Redner einerſeits das Verfahren des Dr. Tloden
bei Ausftellung der Todtenſcheine, andererjeitS aber auch
die Widerſprüche in den Gutachten der Sachverftändigen,
infonderheit befämpfte er die Anfichten des BProfefjor
Huſemann. „Ich bin weit entfernt”, ruft Redner aus,
„Profeſſor Hufemann irgendwie anzugreifen und feinen
wifjenjchaftlichen Ruf oder feine perfönliche Ehrenhaftig-
feit irgendwie in Frage zu ftellen; aber ich muß doch
betonen, daß nicht der unparteiifche Richter ihn hierher
gerufen und inftruirt bat, fondern der Angeklagte, der in
ber ganzen Welt berumgefchrieben haben mag, bis er end⸗
lich einen Sacdhverftändigen fand, der geneigt war, feine
Sade zu übernehmen. Jedenfalls befteht aljo ein gro-
Ber Unterfchied in der Objectivität von vornherein, Pro-
feffor Hufemann wäre nicht genommen worden, wenn er
fich nicht bereit erklärt hätte, die Sache im Sinne des -
Angeklagten zu vertreten.‘
Die Bertheidiger Schneegand und Freiherr Schott von
Schottenſtein legen lebhaften Widerſpruch ein gegen dieſe
Kritik, die überhaupt nicht ſehr beifällig aufgenommen und
auch ſpäter lebhaft im Kreiſe der Fachgenoſſen commentirt
wurde. In der That ſollte man juriſtiſch und thatſäch—
lich keinen ſolchen Unterſchied machen. Es kommt nichts
darauf an, von wem die Zeugen oder Sachverſtändigen
zur Hauptverhandlung geladen worden ſind, ob von der
Vertheidigung oder von der Anklage. Nach geleiſtetem
Eide ſind ſie an ſich gleichwerthig, wie vor dem Geſetz,
ſo auch vor den Organen des Geſetzes. Leider wird
gegen dieſen Fundamentalſatz der Gerechtigkeit noch viel-
fach bewußt oder unbewußt gejünbigt.
„Dem fehlichten, klaren Vortrage Schmiebeberg’8 ge-
genüber”, fährt ver Staatsanwalt fort, „kann ver Sprüh⸗
Der Procef wider den Dr. med. Floden. 133
regen glänzender Citate, welche Huſemann vorgebracht
bat, nicht in Betracht kommen. Huſemann, ver bie
Frage der Vorausſehbarkeit nicht zweifellos bejaht, ift
entgegenzuhalten, daß hierdurch geradezu ein privilegium
odiosum für bie Profefjoren der Pharmakologie gefchaffen
wird. Denn fie find dann die einzigen, die noch wegen
Colchicumvergiftung beftraft werben köͤnnen. — Die Be-
gründung der Anklage gegen Wolff gibt mir zumächit
Beranlaffung, über einen Vorfall bei der Beweiserhebung
zu fprechen. Profeſſor Flückiger ſprach davon, daß in
unfern pharmaceutifchen Verhältniffen eine «Wirthichaft»
beftehe. Ich würde darauf nicht zurückkommen, wenn
biefe Worte aus einem weniger berufenen Munde ge-
fommen wären. So aber ift Profeffor Flüdiger vie
erfte Größe der Welt auf dem Gebiet der pharmaceı-
tiichen Chemie und außerdem elfaß-lothringiicher Landes⸗
beamter, Borfigender ber pharmaceutiihen Prüfungs-
commiffion und Director des pharmacentiichen Inftituts.
Ih bin völlig überzeugt, daß die Aeußerung in gutem
Slauben erfolgt ift; er hat feinem Unmuth darüber Aus-
druck gegeben, daß bie thatjächlichen Verhältniſſe nicht
alle fo find, wie fie feinen wifjenjchaftlichen Idealen ent-
iprechen; aber e8 könnte doch dieſes Wort aus folchem
Munde eine Misveutung erfahren, und ich erachte e8 als
bie Pflicht des Vertreters der Staatsbehörde, zu jagen,
daß die hiefige Mebdicinalverwaltung, wenn auch noch
nicht alles fo ift, wie es fein follte, doch wollauf ihre
Pflicht getban Hat. Sie hat Feine glüdlichen Zuſtände
borgefunden, ber größte Theil der Gejege ftammt noch
and der Zeit der Franzöfiichen Revolution und batirt
vom Germinal XI. Abhülfe ift bereits gejchaffen auf
dem Gebiete des Prüfungsweſens und der Reviſion der
Apothefen; Wegierungsratf Dr. Krieger hat bie
134 Der Proceß wider den Dr. med. Floden.
Gründe angegeben, warum bisjeßt nicht weiter gegangen
werden konnte. Die Apotherferorpnung ift ein fehr
ichwieriger Punkt. Sollen die Apotheken freigegeben oder
conceffionirt werden? Das ift eine werwidelte Frage.
Wie gejagt, die Lanvesverwaltung trifft in feiner Weife
eine Schuld, und unter Mitwirkung Profefjor Flüdiger’s
wird, woran ich nicht zweifle, bald eine Beſſerung ge-
ichaffen werden.” — Redner bejaht hierauf in eingehen
ber langer Begründung die Tragen nach der jtrafrecht-
lichen Berantwortlichfeit des Gehülfen Wolff, des Apothe-
kers Greiner, des Lehrlings Andres. Der Strafantrag
lautet, unter Annahme von Milverungsgründen für alle
Angeklagten, für Wolff wegen fahrläffiger Tödtung in bei-
ven Fällen je 1 Monat oder — da auf eine Gejammt-
jtrafe zu erkennen ift — auf zufammen 6 Wochen, für
Greiner 1 Monat Gefängniß, für Andres 100 Marf
Geldſtrafe eventuell 10 Tage Gefängnif. — „Bet dem An-
geflagten Dr. Floden find faft nur Erichwerungsgründe
in Betracht zu ziehen. Daß er einen guten Ruf ge-
nießt, fann nicht fehr bedeutend ins Gewicht fallen; es
iſt nicht jchwer, einen guten Auf zu haben, wenn man
eine jociale Stellung bat wie Dr. Floden. Er bat im
Laufe des Verfahrens nicht gehandelt, wie ein Mann
von Anftand und Ehre. Er hat e8 ferner unterlaffen,
feinen Fehler wieder gut zu machen. Wie gejagt, lauter
Erjchwerungsgründe.. Mögen Sie aber immerhin, da
wir feine Beranlaffung haben, gegen ihn die ganze Strenge
bes Geſetzes in Anwendung zu bringen, auch bei
ihm Milderungsgründe gelten laffen. Er wird durch eine
gerichtliche Verurtheilung ohnehin jchwer genug leiden,
denn einen gebildeten Mann trifft die Gefängnißitrafe
ichwerer wie andere. Seine Subfiftenz wird baburch
in hohem Grade gefährbet und feine Familie ind Un⸗
Der Proceß wider den Dr. med. Floden. 135
glüf gejtürzt. Ich beantrage, gegen ben Dr. Flocken
wegen des Falles Mathis neun Monate, wegen bes Falles
Herter ein Jahr und als Gefammtftrafe 1'/; Jahre Ge-
fängniß auszusprechen.
Präftident. Der Staatsanwalt hat die Sachver-
ſtändigen in einen gewiffen Gegenja zu bringen gefucht,
indem er ausführte, Freiherr von Mehring und Schmiebe-
berg feien durch das Gericht geladen, Huſemann aber
burch den Angeklagten. Das ift ja dem Gericht nichts
Neues geweſen. Es ift auch für das Gericht einerlei.
Die ſämmtlichen Sachverftändigen haben hier unter ben
Augen des Gerichts den Eid geleiftet, wie ihn das Geſetz
vorichreibt, daß fie nach beftem Willen und Gewiſſen
ihr Gutachten abgeben wollen. Das Gericht wird, gleich-
viel von welcher Seite die Sachverftändigen hierher ge-
rufen worden find, die Gutachten, feiner Pflicht gemäß,
mit gleichem Maße prüfen. Im übrigen muß ich es der
Bertheidigung überlaffen, auf bie weitern Ausführungen
zu antworten.
Rechtsanwalt Schneegans beantragte als Vertheidiger
bes Angeflagten Dr. Sloden für feinen Clienten Frei-
iprechung. Das Leugnen befjelben ei verjtänplich und
menschlich und vom menjchlichen Standpunkte aus müffe
man alles betrachten, was der Menſch unter gewifjen
Umftänven thue. Deswegen müffe er jagen: „Ich war
von Anbeginn bewegt, als ich ſah, mit welcher Härte man
gegen die Bejchuldigten, insbejondere den Dr. Floden
vorgegangen ift. Handelte e8 fich doch nicht um ein ab»
fichtliches Vergehen oder Verbrechen, bei welchem man
ben Thäter fofort zu verhaften pflegt, fondern um einen
fahrläffigen Irrthum, ver die Ehre nicht antaftet, denn
jever kann fich irren. Ich gejtehe, es ift das erjte mal,
daß ich gegen einen Mann in ber foctalen Stellung wie
136 Der Procef wider den Dr. med. Floden.
Dr. #loden in der Weife vorgehen ſehe, und wundere
mich darüber, daß man ihn verhaftet hat, mag er auch
fein Thun zu verfchleiern gejucht haben. Wenn ich mich
erinnere, wie im vorigen Sahre in Baris bei einem Fahr⸗
Täffigfeitsfalle verfahren worden ift, der eine ganz anbere
Bedeutung hatte, fo ftaune ich über dieſe Verſchiedenheit
bes Verfahrens.”
Präſident. Ich möchte doch bitten, fich in dieſer
Richtung nicht Länger aufzuhalten. Es ift das geſetzliche
Rechtsmittel gegen ven Beſchluß, den Angeklagten Dr. Floden
zu verhaften, ergriffen worben, bie zuftändige Behörde
hat die Beſchwerde zurücdgemwiefen, und damit war bie
Sache erledigt.
Rechtsanwalt Schneegans Bedauern darf ich es
immerhin nach der Lage meines Clienten. ‘Der Tal in
Paris, von dem ich gefprochen habe, ver Brand ber Oper
hat Hunderte von Opfern gefoftet, und Doch ift an eine
Verhaftung des Directors nicht gebacht worden.
An der Beweisführung des Staatsanwalts bemängelt
Redner vor allem, daß feine Ausführungen auf die Unter-
lage gebaut feien, Dr. Floden habe Extractum verfchrie-
ben, während die Thatſache, daß er nicht Ertractum,
ſondern Zinetura habe fchreiben wollen, gänzlich außer
Acht gelaffen werde. „Errare est humanum! Irren
iſt menschlich. Es Tiegt ein einfacher, wenn auch folgen-
ichwerer Irrthum vor. Nach der heutigen Verhandlung
ift man mol berechtigt, das Wort des Heilands anzu-
wenden in ber Veränderung: «Wer fich nicht bewußt ift,
je einen Irrthum begangen zu haben, der hebe ven erjten
Stein gegen Dr. Floden auf!» Sein Schidfal ſchafft
fih jelbft der Mann, hat der Präfivent geftern gefagt.
Gewiß, ein fchönes, erhabenes, ftolzes Wort; aber e8 gilt
nicht in allen Fällen. Es gibt bekanntlich auch ein Fatum,
Der Proceß wider ben Dr. med. Floden. 137
eine Vorſehung, eine höhere Gewalt. Dieſe höhere
Gewalt leitet die Kugel des einen Mannes, der in das
Blaue ſchießt, ebenfo wie die des andern, die einen Men-
ihen in das Herz trifft. Dieſer wirb beitraft, jener
nicht, obgleich er bafjelbe gethan hat. Der Erfolg allein,
nicht die That ſelbſt entſcheidet. Im vorliegenden Falle
würde eine Strafe die jchredlichiten Folgen haben:
Dr. Floden wird aus der gejellichaftlichen Stellung heraus-
geriffen, gebranpmarkt mit dem Zeichen fahrläffiger Ver-
giftung, was foll aus ihm werben als Arzt? Seine
ganze Stellung, fein häusliches Glück werbe vernichtet.
Da muß man doch fragen: wenn fol ein fahrläffiger
Irrthum gefühnt werden muß, ift er dann nicht bereits
ſchwer gefühnt durch alles, was über ven Dr. Flocken
gefommen tft, durch feine ſechswöchentliche Haft, dadurch,
baß er heute auf ver Anklagebanf vor Gericht erjcheint?
Man legt Gewicht darauf, daß der Irrthbum ein doppelter
gewejen und in zwei Fällen vorgefommen ift. Aber denkt
man denn nicht an das befannte Beifpiel, welches jedermann
an fich erfahren bat, daß man den Fehler in einer fal-
hen Abpition, ven man fucht, oft von neuem begeht?”
Der Redner wendet fich zu ter in dem Gutachten
erdrterten Trage, ob Dr. Floden die Wirkung der Arz-
nei habe vorausjehen müſſen. Er macht geltend: „Der
Arzt kann nicht immer in Büchern und Tabellen nad-
Ihlagen und nachfuchen, das flößt Mistrauen ein, und
e8 heißt doch — vielleicht auch mit einigem Rechte: bie
Hauptheilfraft ver Mebicin Tiegt in dem Vertrauen bed
Kranken. (Heiterkeit) Der Arzt muß das Recept fofort
Ihreiben, er muß fich der Gefahr des Irrens ausfegen,
das kommt überall vor, auch beim Nechtsanwalt,
wenn er in einer fchwierigen Frage jofort Stellung zu
nehmen bat. Auf den Ruf des Dr. Flocken haftet
138 Der Proceß wider ven Dr. med. Floden.
nicht der geringfte Fleck. Alles das find Gründe genug,
ihn freizufprechen.”
Präfivdent. Sie haben mich nicht richtig verſtanden,
als ich das Citat gebrauchte: fein Schidjal Schafft fich
jelbft ver Mann. Ich meinte damit lediglich das Schid-
fal, das fih Dr. Slöden im Laufe der Vorunterfuchung
bereitet bat.
Aus der Rede des Rechtsanwalts Freiherrn Schott
von Schottenftein, bes zweiten Vertheidigers des An⸗
geffagten Dr. Flocken, theilen wir nur den Eingang mit,
ber fo lautet: „In Worten, die gefühlvoll klingen und
gewiffermaßen a priori ein Wohlwollen für ben Ange-
klagten bekunden follen, hat die Staatsanwaltichaft er-
Hört: wenn Dr. Sloden — und ich ftelle feit, daß zu
meinem Staunen und lebhaften Bebauern Dr. Floden
aus den Angellagten herausgegriffen worden ift, als ob
er allein alle Unwahrheiten gejagt hätte — ein reuevolles
Geſtändniß abgelegt hätte, dann wäre e8 ja wol am
Plage, daß auch die Staatsanwaltichaft in weiten Um⸗
fange Nachficht übte und viele Momente zu Gunften bes
Angeflagten geltend machte. Aber da er e8 nicht gethan,
gewiſſermaßen fich ſelbſt außerhalb des Geſetzes gejtellt
hat, ift auch dem Anfläger die Aufgabe erleichtert worden.
Nun Tann er mit voller Schärfe vorgeben und ihn fo
belaften, wie er belaftet werben muß.
„Dieſer Standpunft ift weder juriftifch noch moralifch
richtig. Entweder ift Dr. Floden vor Gott, vor den
Menfchen und vor dem Gejete fo ſchuldig, wie behaup-
tet wird, dann muß ihn die ordentliche Strafe treffen,
oder er ift nicht fchuldig, dann ift e8 bie geſchworene
Pflicht des Vertreters der Staatsanwaltichaft, alles zu
berüdfichtigen, was die Geſetzgeber des Deutfchen Reichs
mit ehernem Griffel vermerkt haben. In der Strafprozef-
Der Broceß wider den Dr. med. Floden. 139
orpnung heißt es im 8. 258, daß die Staatsanwalt-
Ichaft ebenjo die Pflicht hat wie alle andern Organe ber
Yuftiz, nicht nur die Momente der Belaftung, ſondern
auch jene der Entlaftung ans Licht zu ziehen. Ich habe
das volle Vertrauen zum Gericht, daß dieſe Argumentation
der Staatsanwaltfchaft nicht gebilligt wird. Es -tft un⸗
zuläffig, daß der Vertreter des Staates fich fo ausge-
iprochen Bat. Ich will angefichts der unbarmherzigen
Kritik, welche der Angeklagte und die Vertheidigung durch
bie Staatsanwaltſchaft erfahren haben, nicht in venfelben
Fehler verfallen. Berfönlichkeiten gehören nicht hierher.
Die Behauptungen der Staatsanwaltfchaft ſtützen fich
lediglich auf Vermuthungen.“
Wir Lönnen felbjtverftändlich die mehrere Stunden
in Anfpruch nehmenden Vorträge, Replifen und Dupliken
der Staatsanwaltichaft und der Vertheidigung, die uns
in ſtenographiſchem Auszuge vorliegen, Hier nicht wieber-
geben. Wir begnügen uns daher nur noch kurz barauf
binzumweifen, baß bie beiden Vertheidiger ver Angeklagten
Wolff, Greiner und Andres, der Reichstagsabgeordnete
Dr. Betri und Dr. Reinhard, ver Stellung ihrer Klienten
zur Anklage entjprechend, hauptfächlich die juriftiich in-
terejfanten Streitfragen der Verantwortlichleit des Apo-
thekers und feiner Gehülfen, fowie die rechtlichen Vor—
ausfegungen ber Begünftigung im Sinne des Dentjchen.
Strafgefebuches eingehend prüften und zu Gunften ihrer
Clienten auszulegen verfuchten. Für jämmtliche Ange—
Hagte wurbe Freifprechung beantragt.
Der Gerichtshof zog fich zu einer breivierteljtünbigen
Berathung zurüd und verfündete ſodann das Urtheil, Durch
welches Dr. Floden zuneun Monaten, der Apothefer-
gehülfe Wolff zu zwei Monaten und ber Apotheker
Greiner zu zwei Wochen Gefängniß verurtheilt, ver
140 Der Broceß wider ben Dr. med. Floden.
Lehrling Andres dagegen freigefprohen wurde In
ben Urtheilsgründen ift bezüglich der Schufpfrage und
ber Strafzumeffung hauptſächlich Folgendes ausgeführt:
„Für die ftrafrechtlihe Würdigung der Trage, ob ver
Tod als eine Folge des Verhaltens ver Angeklagten
Flocken und Wolff, nämlich des Verordnens und DVer-
abreichens des Kolchicumertractes, ſich darftellt, hat bie
wiſſenſchaftliche Feftftellung der abfolut tönlichen Doſe
dieſes Giftes nicht dieſelbe Bedeutung, die biefe Feſt—
jtelung bei der Frage nach der ftrafbaren Fahrläſſigkeit
gewinnt. Vielmehr handelt e8 fich hier zunächft darum,
zu wiſſen, ob in beiden Fällen bie verabreichten Doſen
Colchicumextract wirklich den Tod verurfacht haben,
wobei e8 ohne Belang ift, ob dieje Wirfung durch andere
begleitende Umftände und urjächliche Verhältniffe unter-
jtüßt und verftärkt worden ift. Dieſe Frage wird von
ſämmtlichen Sachverftändigen bejaht, und dieſem Gut-
achten konnte fich das Gericht nur anfchliefen. Danach
muß als feftftehend betrachtet werden, daß der Tod bes
Mathis und Herter durch das von ihnen als Arznei
genommene Colchieumertract herbeigeführt worden tft,
welches Dr. Flocken verjchrieben und Wolff zubereitet
und verabreicht hat.
„Es fragt ſich in zweiter Linie, ob diefe Folgen von
den beiden Angeklagten in fahrläffiger Weiſe verfchuldet
worden find. Im diefer Richtung ift, was den Angeflagten
Dr. Floden betrifft, als erwiefen anzunehmen, daß er
nur aus DVerjehen das fragliche Recept verfchrieben hat,
indem er ftatt Colchieumertract Colchicumtinctur ver-
Ichreiben wollte. In diefem Verſehen liegt aber ein fahr-
lälfiges Handeln, eine Verlegung feiner Berufsobliegen-
heit, die es ihm zur Pflicht macht, bei Necepten, die ein
jo heftiges Gift verorinen, mit einer Aufmerkſamkeit und
Der Proceß wider den Dr. med. Floden. 141
Genauigkeit zu verfahren, die das Vorkommen eines Irr-
thums ausschließt. Die berufswidrige Fahrläffigfeit, die
in biefem Verhalten liegt, ift jedoch nur dann eine fchulb-
bafte und ftrafbare, wenn der allerdings nicht gewollte
Erfolg einzig durch den Mangel der gebotenen Vorficht
herbeigeführt worben tft. Dies würde aber nicht zu-
treffen, wenn, wie died das Neichsgericht wiederholt, ins⸗
bejondere im Urtheil vom 20. ‘December 1886 näber
ausgeführt hat, ein an Gewißheit grenzender Grad von
Wahrjcheinlichkeit vorläge, daß der tödliche Ausgang auch
dann eingetreten fein würde, wenn das ſchuldhafte Handeln
nicht vorandgegangen wäre. Allerdings nicht etwa bes-
halb, weil die Caufalität zwifchen ver Handlung und dem
Erfolg nunmehr unterbrochen erjcheint, da möglichermweije
ber leßtere auch ohne dieſes Handeln eingetreten wäre;
denn die Caufalität wird durch diefe Möglichkeit oder
Wahrjcheinlichfeit nicht berührt; fondern weil bie An-
wendung des $. 222 des St.G.⸗B. einen Zufammenhang
zwilchen der fahrläffigen Handlung und dem Erfolge
vorausſetzt. «Fahrläffig» iſt jedoch nur eine begriffliche
Eigenichaft, die als Ergebniß der Erwägungen des Be—
urtheilenden einer Handlung beigelegt wird, der danach
eine cauſale Beziehung nicht zukommt, welch Tetstere viel-
mehr nur dem Handeln felbjt anhaftet. Da es jeboch
ans andern ftrafrechtlichen Gründen nicht angeht, einen
Erfolg, der wahrſcheinlicherweiſe auch ohne dieſes Handeln
oder ohne dieſes fo geartete Handeln eingetreten wäre,
blos um veswillen unter Strafe zu ftellen, weil dem
Handeln ein entjchulpbares Motiv zu Grunde liegt, fo
erübrigt zur Erflärung ver dem $. 222 des ©t.-©.-B.
mit Recht unterlegten Auffaffung nur das Eine, den
Begriff ver Fahrläffigfeit enger zu faffen und feine
Strafbarfeit dann auszufchließen, wenn eine andere Hand-
142 Der Broceß wider den Dr. med. Floden.
fung oder diefelbe jedoch mit einem nicht zu beanftanbenden
Beweggrund wahricheinlicherweife ven gleichen Erfolg er-
zielt hätte, ohne dafür zur ftrafrechtlichen Verantwortung
gezogen werben zu können.
„Das Gericht ift num zu der Ueberzeugung gekommen,
daß der Angeflagte bei pflicht- und berufsmäßigem Handeln
die fraglihe Medicin nicht habe verjchreiben können und
auch nicht würde verjchrieben haben. Der Angeklagte
erklärte jelbft, daß er über die Wirkung des Coldhicum-
extractes nur fehr vage Anschauungen gehabt und daß
er baffelbe für etwa zehnmal ftärker als die entſprechende
Zinctur gehalten habe. Auf Grund biejer Annahme hätte
er nie dazu fommen fönnen, den Extract in der an⸗
geordneten Menge zu verſchreiben.
„Außer biejen in der Abfafjung der beiden Recepte
beruhenden Momenten der Nachläffigfeit fand aber das
Gericht einen weitern Beleg dafür in vem Umftande, daß
Dr. Sloden, obwol er um 10 Uhr abends feinen Irr—
thum bereits bemerft hatte, nichts that, um die Folgen
deffelben rückgängig zu machen, dies hätte zur Zeit, als
Herter erft den zweiten Löffel der ververblichen Medicin
eingenommen hatte, noch geicheben können. Es Tann
bahingeftellt bleiben, woher ver Angeflagte zu feiner
Erfenntniß gelangt ift, ob durch Einfichtnahme der Kladde
in der Greiner’fchen Apothefe, oder, was wahrfcheinlicher
it, aufmerkſam gemacht durch einen dritten gleichartigen,
vielleicht noch rechtzeitig verhüteten Fall.
„Was den Angeklagten Wolff betrifft, jo war verjelbe
fett etwa 14 Tagen in der Greiner’fchen Apothefe ale
Gehülfe befchäftigt und hatte am 31. October, an welchem
Tage fein Principal, der Angeflagte Greiner, auf ber
Jagd war, in deſſen Vertretung die Apothefergefchäfte wahr-
zunehmen, zu denen vie Zubereitung und Verabreichung
Der Proceß wider ven Dr. med. Floden. 143
ver Mevicamente gehört. ine jolche vorübergehende Ver⸗
tretung des Apothefers feitens eines Gehülfen, der blos
das Lehrlingseramen gemacht hat, alfo wifjenfchaftlich
noch nicht ausgebildet ift, iſt nach den hier beſtehenden
Borfehriften und Gebräuchen geftattet. Wolff hat eins
der beiven Recepte jelbit zubereitet, da® andere aber unter
feiner Leitung vom Angeklagten Anpres berftellen laſſen.
Er jelbit gibt an, daß er die ihm vorgelegten beiten
Recepte überhaupt nicht geprüft habe, ſondern daß es
Andres geweſen ift, ver das Ertract vom fünften Stocde
holte und ihm übergab. Da e8 bie Pflicht des Apothekers
bezüglich feines Vertreters ift, die ihm zur Zubereitung
übergebenen Recepte näher zu prüfen und an ver Hand
ber in ber Pharmakopöe angegebenen Marimalpojen zur
Verhütung verhängnißvoller Irrthümer den Arzt nach
biefer Richtung Hin zu controliven, fo liegt in dieſem
Unterlaffen jever Prüfung eine ſchuldhafte Fahrläſſigkeit.
„Aber auch hier ift es, um bie Strafbarkeit des DBer-
ſchuldens feftzuftellen, nöthig, zu prüfen, ob die Ber-
abreichung der beiden Medicamente erfolgt fein würde,
wenn eine pflichtgemäße Prüfung berjelben vorausgegangen
wäre. In dieſer Beziehung fällt vor allem ins Gewicht,
daß Extractum colchici überhaupt in der Deutſchen
Bharınafopde nicht enthalten if. Wenn nun auch die
Verhandlung ergeben hat, daß vielfach in der Praris
noch Mittel verfchrieben werben, vie unjere Pharmafopde
nicht kennt, und diefem Verfahren auf Grund ber hier-
zulande beftehenven Verhältniffe Feine Hinberniffe ent-
gegenfteben, jo muß doch gerade beim Mangel diejer
orbnungsmäßigen Handhabe für jeine Orientirung vom
Apothefer eine befonders hohe Aufmerkſamkeit verlangt
werden,
„Wenn dem Wolff weiter nichts befannt war über Das
144 Der Proceß wider den Dr. med. Floden.
Ertract, als daß es viel ftärfer jei als die Tinctur, fo
mußte ihm fchon dieſe Erwägung und ber gebotene DVer-
gleich mit der in der Pharmakopöe enthaltenen Tinctur
die Gewißheit verichaffen, daß ver für letere gegebene
Marimalfa in ven Recepten bedeutend überfchritten ſei.
Solche Ueberjchreitungen follen aber vom Apotheker nur
angefertigt werben, wenn aus dem Recept hervorgeht,
daß viefelben vom Arzt gewollt find.
„Auch die Thatfache, auf welche die als Sachverftändige
vernommenen Apothefer beſonderes Gewicht legen, baß
daſſelbe Recept kurz hintereinander zweimal von bem
nämlichen Arzte verjchrieben worden war, durfte ihn,
entgegen der Auffafjung der Sachverftändigen Pfersporf
und Amthor, nicht beruhigen, da daraus Teineswegs ber
Schluß zu ziehen ift, daß ein Irrthum ausgeichloffen war.
Die Verpflichtung, fich angefichts des ganz außergewöhn⸗
lichen Neceptes über den Willen bed Arztes zu ver-
gewiljern, durfte Wolff um jo weniger außer Acht Laffen,
als fich der Ausführung unter den obwaltenden Um—
ſtänden weber Iocale, noch fonftige Hinderniſſe in ben
Weg ftellten.
„Auch bezüglich des Angeklagten Wolff ift demnach
burch die Verhandlung feitgeftellt worden, daß durch feine
pflihtwidrige Fahrläffigfeit der Tod des Mathis und
des Herter verurfacht worden iſt. Da aber die Thätig-
fett ber beiden Angeklagten Floden und Wolff als zwei
gleichwerthige urjächlihe Factoren bezüglich des ein-
getretenen Erfolges zu beachten tft, jo müſſen beide und
zwar unabhängig voneinander als Thäter im Sinne
des $. 222 St.G.⸗B. angejehen werben.
„Was die gegen Greiner und Andres erhobene
Anklage betrifft, jo bat die Verhandlung feitgeftellt, daß
Dr. Flocken in der Frühe des 1. November, nachdem
Der Proceß wider ben Dr. med. Sloden. 145
bei Mathis und Herter bie Vergiftungserfcheinungen fich
gezeigt hatten, dem Angeklagten Greiner hiervon Mit-
theilung machte und daß ber lettere ihm vorfchlug, zwei
neue Recepte zu verfchreiben, ein Vorſchlag, auf ben
Flocken einging.
„Dr. Flocken bat das Mathis’fche Necept an fich ge-
nommen und vernichtet, Greiner hat das in feiner Apothefe
verbliebene echte Recept für Herter befeitigt. Da Greiner
fowol wie Wolff und Andres bei ihren durch die Staats⸗
anwaltſchaft erfolgten Vernehmungen die vorgenommenen
Aenderungen im Receptirbuche hartnädig in Abrebe ftellten,
jo hätten biefe Manipulationen aller Wahrjcheinlichkeit
nach eine Aufflärung der Sachlage verhindert, wenn es
nicht gelungen wäre, ven Ankauf des neuen Receptir-
buches nachzuweisen, und wern Wolff darauf hin nicht den
wirklichen Sachverhalt zugeſtanden hätte,
„Durch diefe Handlungen hat fich ver Angeklagte Öreiner
bes Vergehens der Begünftigung im Sinne bes $. 257
St.G.⸗B. ſchuldig gemacht. Derjelbe war nach ber ihm
durch Flocken gewordenen Mittheilung nicht im Zweifel,
daß letzterer ſowol wie fein Gehülfe Wolff fich eines
Bergehens fchuldig gemacht hatten. ‘Die Thätigkeit, bie
er ſelbſt in dieſer Richtung entwidelte, war von der Ab⸗
ficht geleitet, ven Dr. Floden und den Wolff der Be—
ftrafung zu entziehen. Greiner behauptet nun allerdings,
daß es für ihn zumächit fich darum gehandelt habe, vie
Bermögensnachtheile, die eine Unterfuchung gegen Yloden
und Wolff vorausfichtlih für ihn im Gefolge ‘haben
mußte, von fich abzumwenden, und daß, wenn feine Thätig-
feit auch feinem Gehülfen Wolff und dem Dr. Floden
zugute fommen mußte, biefer Erfolg von ihm keineswegs
oder wenigftens erſt in zweiter Linie beabfichtigt worden
ſei; daß er übrigens jehr umfichere Anfchauungen über
XXIII. 10
146 Der Proceß wider den Dr. med. Floden.
feine Haftbarkeit gehabt habe und durchaus im Unklaren
barüber gewefen fei, ob er nicht auch ftrafrechtlich dafür
verantwortlich gemacht werben könne, daß er ven Wolff
während feiner Abweſenheit als Vertreter zurückgelaſſen
habe.
„Was letztern Punkt betrifft, jo lag jedoch, da bie
Dertretung den beſtehenden Vorſchriften entiprach, für ihn
fein Grund vor, eine ftrafrechtliche Unterfuchung befürchten
zu müffen. Vielmehr bat er felbft bei feiner richterlichen _
Vernehmung, nachdem ver Sachverhalt ſchließlich klar
gejtellt war, als Grund feines Handelns das Intereſſe
angegeben, das er daran gehabt habe, die Wahrheit nicht
laut werben zu laffen, weil feine Apothele dadurch ruimirt
werben konnte und weil er den mit ihm eng befreundeten
Dr. $loden, von welchem der Hauptfehler gemacht worben
war, habe ſchützen wollen. In dieſer Erklärung bürften
bie Motive feines damaligen Handelns ihren richtigen
Ausprud gefunden haben. Zum Thatbeſtand des $. 257
St.⸗G.⸗B. iſt nicht erforderlich, daß der Begünftiger
einzig und allein von dem Beweggrund geleitet worden
ift, die Ziwede der Strafverfolgung in Bezug auf den
Thäter zu vereiteln, vielmehr genügt e8, daß der Wille
des Degünftigers biejen Erfolg — gleichviel aus welchem
Beweggrund — bezwedt hat, wie dies fchon daraus er-
helit, daß der 8.257 cit. felbft eins der möglichen Motive,
nämlich den eigenen Vortheil, ausprüdlich hervorgehoben
und zu einem mweitern Thatbeſtandsmerkmal gemacht hat.
„Das Gericht ift auf Grund der Verhandlung zu ber
Ueberzeugung gelommen, daß e8 dem Anflagten Greiner
beit ber Vernichtung der Necepte, ver Kladde und bes
Neceptirbuches und bei ver Unterfchiebung anderer Recepte
und NReceptirbücher, indem er dadurch nachträglich ven
Angeflagten Floden und Wolff dur Rath und That
Der Proceß wider ben Dr. med. Flocken. 147
Beiſtand leiftete, zunächit darum zu thun war, bie legtern
der Beitrafung zu entziehen. Mit der Verwirklichung
dieſes Zweds fanden die fämmtlichen Beweggründe, bie
ihn hierzu bejtimmen Tonnten, ihre Befriedigung. Nach
den Ergebniffen ver Verhandlung ift ferner die Angabe
bes Angeflagten vollſtändig begründet, daß hierbei fein
eigener Vortheil mitbezwect war. Er verfuchte die Ver-
mögend- und fonftigen Nachtheile, die ihm durch die
Unterfuchung vorausfichtlich treffen mußten, von fich fern
zu halten.
„Die Gründe, welche zur Freifprechung des Angeklagten
Andres führten, waren theils in deſſen Jugend und Un⸗
erfahrenheit, theil8 in der Möglichkeit gegeben, daß er
bei jeiner Thätigkeit lediglich die Abficht verfolgte, ſich
jelbft gegen eine etwaige Unterjuchung ficherzuftellen.
„Bezüglich der Strafzumeffung wurde erwogen, daß
es fih um eine fchwere Berlegung der Berufspflicht
handelt, der zwei Menjchenleben zum Opfer fielen. Was
Dr. loden beſonders angeht, fo wurde in Betracht ge-
zogen, daß er aus freien Stüden durchaus nichts gethan
hat, um rechtzeitig die Folgen feiner Fahrläſſigkeit wieder
gut zu machen, und daß dies den Fall Herter in einem
befonder8 ungiünftigen Licht erjcheinen laſſe. Der Irr⸗
thum in Betreff des Neceptes war aufgeflärt und das
Leben des Herter konnte vielleicht noch gerettet werben.
Dr. Flocken hat jedoch dieſe feine wichtigfte Pflicht ver-
ſäumt und fpäter nur das Beſtreben gezeigt, fich ven
rechtlichen Folgen feines Thuns zu entziehen. Mildernd
kommt babei allerdings in Betracht, daß er an dem frag-
lichen Tage ſehr beichäftigt war und daß er fpäter, ins⸗
bejondere bei Herter, fich Mühe gab, das früher Verſäumte
nachzuholen. Unter dieſen Umjtänden erjchien für den
Fall Mathis eine Gefängnißftrafe von vier Monaten und
10*
148 Der Proceß wider ben Dr. med. Floden.
für den Fall Herter eine folche von ſechs Monaten an-
gemefjen, an veren Stelle gemäß $. 74 St.⸗G.⸗B. eine
entfprechende Gefammtjtrafe von neun Monaten zu jegen
war. Dabei hielt e8 das Gericht zugleich für angezeigt,
einen Theil der erlittenen Unterfuchungshaft von ber er-
fannten Strafe in Abzug zu bringen. Bezüglich des An-
geflagten Wolff wurde berüdfichtigt, daß Jugendlichkeit
und Unerfahrenheit die Haupturfachen feines fahrläffigen
Verhaltens waren, daß er durch feine offene Darjtellung
Licht in ven Sachverhalt gebracht hat. Anvererjeitd mußte
aber erjchwerend ins Gewicht fallen, daß er ohne im
geringiten ſich der Schwere feiner damaligen verant-
wortungsreichen Stellung bewußt zu werben, mit un-
begreiflicher Sorglofigfeit den Lehrling “Andres bei ber
Zubereitung der Medicamente gewähren ließ. Für jeden
ber beiden Fälle erfchten demnach eine Gefängnißitrafe
von ſechs Wochen geboten, an deren Stelle ebenfalld nach
8. 74 St.⸗G.⸗B. eine Gefammtitrafe und zwar in ber
Höhe von zwei Monaten zu treten hatte.
„Was den Angeklagten Greiner betrifft, fo war bei
Ausmeſſung der Strafe vor allem zu erwägen, daß er
es war, der dem Dr. Flocken den Rath ertheilte, jene
unwürdigen Manipulationen vorzunehmen, welche die Bes
feitigung der Spuren des Vergehens bezwedten, und daß
während e8 feine Pflicht als Principal war, feinem Per-
fonal in einem feinem Berufe und feiner Stellung ent-
Iprechenden ehrenhaften Benehmen voranzugehen, er ihnen
Rathſchläge und Anweiſungen ertheilte, in welcher Weife
die Wachſamkeit der Rechtspflege am beften getäufcht werben
fönnte. Andererſeits wurde aber auch der bisherige gute
Ruf des Angeklagten und feine Unbefcholtenheit gebührend
berüdfichtigt und beshalb eine verhältnifmäßig geringe
Strafe über ihn verhängt.’
Der Proceß wider den Dr. med. Floden. 149
Die von dem Apothefer Greiner und Wolff gegen dieſes
Urtheil eingelegte Revifion wurde durch das Neichsgericht
am 27. September 1888 verworfen. i
Dr. Flocken unterwarf fich dem Urtheil. Durch einen
Gnabenact wurde die Gefängnißftrafe in Feſtungsſtrafe
verwandelt. Er verbüßte dieſelbe in der Feſtung Bitſch.
Die civilrechtlichen Ansprüche der Hinterbliebenen von
Mathis und Herter find durch eine angemefjene Ent-
ſchädigung im Vergleichswege befriedigt worden.
Die Vermögensberanbung des Kaufmanns
Sſolodownikow.
(Petersburg.)
1870. 1871.
Am 25. Auguft 1870 erfchien ver Gärtner des neben
-ber Forſtakademie in Petersburg gelegenen Lanbhaufes,
welches dem Kaufmann erfter Gilde Nikolai Sſolodownikow
gehörte, vor dem Landpolizeicommiſſar des Forſtbezirks
und melbete, ver Beſitzer dieſes Landhauſes ſei in ber
Nacht zuvor geftorben. Ueber dieſe Meldung wurde ein
Protofoll aufgenommen. Am 29. Auguft und am 1. Sep-
tember fand fich das Gericht in der Wohnung des mit
Tode abgegangenen Kaufmanns Sſolodownikow ein, um
ben Nachlaß feitzuftellen. Es fanden ſich vor: 28 Rubel
baar, 50000 Rubel in drei vom Kaufmann Sfawin blanco
girirten Wechleln, zwei Schulpicheine des Kaufmanns
Antſchinnikow über ein Darlehn von 20000 Aubel und
eine Quittung des Wafftli Ljubaͤwin über 700 Rubel.
Es wurde ermittelt, daß der Verftorbene von feinem
Bruder Michael Sſolodownikow mehrere Millionen Rubel
geerbt Hatte, und e8 entitand ver Verbacht, daß ein großer
Theil feines Vermögens beifeitegejhafft worben jet. Der
Die Bermögensberaubung bes ıc. Sfolodomnilomw. 151
Verdacht, dieſes Verbrechen begangen zu haben, fiel auf
ben frühern Diener und fpätern Hausverwalter Jakob
Sſuslenikow, welcher in ver Nacht vom 24. zum 25. Auguft
in dem Landhauſe zugebracht hatte. Die wider ihn ein⸗
geleitete Unterjuchung ergab Folgendes:
Der Diener Koloſſow war am 25. Auguft, früh 6 Uhr,
in das Schlafzimmer feines Herrn getreten und hatte ihn
tobt im Bett liegend gefunden. Er theilte dies ohne
Berzug dem in obern Stod fchlafenden Sfuslenilow mit.
Der letztere kleidete fich fchnell an und ging in das Sterbe-
zimmer; er fah vom ERzimmer aus, daß der Hausverwalter
bie obern Schubladen der recht8 von der Thür ftehenpen
Kommode mit den daran befinplichen Schlüffeln öffnete,
ein Buch herausnahm, es unter feinen Rod ſteckte und
biefen zuknöpfte. Er kehrte in fein Zimmer zurüd und
äußerte im VBorbeigehen, er wolle ein Pulver einnehmen,
weil er fiebere. Bald darauf kam er wieber, eignete fich
eine in jener Kommode ſtehende Chatoulle von Rothholz
an, öffnete dieſelbe mit einem Schlüffel und unterfitchte
bie barin befinplichen Papiere. Er nahm ferner die
Schlüffel zum Kaſſenſchranke im Stapthaufe, eine Papp-
ſchachtel mit kleinem Silbergeld und eine goldene Schnupf-
tabacksdoſe an ſich und befahl uns, von dem ZTobesfalle
Niemand etwas zu fagen, auch bie Polizei davon nicht
in Kenntniß zu jegen. Dann fuhr er in bie Stabt und
fehrte erft um 1 Uhr mit dem Bankier Ljubaͤwin in das
Landhaus zurüd.
Der Hansarzt des Kaufmanns Sſolodownikow,
Dr. Heffe, erflärte: Sſuslenikow habe ihm am Morgen
bes 25. Auguft, und zwar 91, Uhr, den Tod feines Herrn
gemeldet und dabei bemerkt, daß er in der Stabt von
biefem Topesfalle Kenntniß erhalten habe. Dr. SHefie
begab fich in das Landhaus, im Efzimmer ftieß er auf
152 Die Bermögensberaubung
Sſuslenikow, der an ihm vworübereilte und babet unter '
dem Rode einen Gegenftand verborgen hielt. Dr. Heffe,
wußte, daß der PVerftorbene, deſſen Hausarzt er feit
jech8 Sahren war, auf Sſuslenikow fchlecht zu ſprechen war.
Schon im Jahre 1866, als dieſer feinen Dienft an-
getreten hatte, fprach fih Sſolodownikow dahin aus:
„Er ift ein brauchbarer, anftelliger Menſch, man muß
ihn aber kurz balten, fonft ift er zu allem fähig.” ALS
Dr. Heffe am 21. Auguft in das Landhaus fam, fand
er den Hausherren in einem aufregten Zuftande. Er
Hagte über Sfuslenilow’s Undank, nannte venfelben einen
verfluchten Räuber und fügte Hinzu: „Er ift ohne Hofen
zu mir gefommen und foll auch arm wie eine Kirchen-
maus wieder von mir weggehen.“
Bon verſchiedenen Perſonen wurde beftätigt, daß
Sſolodownikow ein bedeutendes Kapitalvermögen hinter⸗
laſſen haben müßte.
In Sſuslenikow's Wohnung fand man bei einer
Hausſuchung 40000 Rubel in Wechſeln, die ſämmtlich
erſt nach dem 25. Auguſt, dem Todestage ſeines Herrn,
ausgeſtellt waren, Abrechnungen über 35000 Rubel und
7000 Rubel verfaufte Wertbpaptere und 950 Rubel baar.
Als man ihn befragte, woher dieſe beträchtlichen Geld⸗
mittel rührten, verwidelte er fich in Widerſprüche, geftand
aber zu, im ‘December und Januar 1871 bei dem Juwelier
Iwanow in Petersburg einen Ning im Werthe von
1600 Rubel und 42%, Karat Feine Brillanten für
2300 Rubel 50 Kopeken theils verkauft, theils umgetaufcht
zu haben. Der Ring wurde der Gemahlin des Majors
Liprandi, dem Dr. Hefje und dem Kleinbürger Waffili
Sſolodownikow vorgezeigt. Sie erfannten ihn als das
Eigenthbum des Verftorbenen an. Die Brillanten waren
aus dem Bilde des Heiligen Nikolai ausgebrochen, welches
des Kaufmanns Sfolobownilom. 153
Sſuslenikow in Verwahrung hatte. In der großen Krone,
an dem Rande berjelben und in den Kreuzen waren bie
echten Brillanten herausgenommen und unechte vafür
eingejegt, nur im Namenszuge des Heiligen befanden fich
noch echte Steine.
Der Angejchuldigte wollte zuerft nur einen Brillant-
. ring bei feinem Herrn gejeben haben. ALS der Juwelier
Iwanow aber beftätigte, daß Sſuslenikow jenen Ring an
ihn verfauft habe, gab er an: er habe den Ring von
dem Diener Koloffow käuflich für 50 Rubel erworben
und benjelben dem Neffen Sſolodownikow's übergeben
wollen, dann aber fich entjchloffen ven Ring zu verkaufen.
In Betreff der Brillanten behauptete er anfänglich, ber
am 1. April 1871 verftorbene Kapellmeijter des kaiſer⸗
lichen Theaters Ljädow habe fie ihm gegeben. Später
fagte er aus: Sſolodownikow habe ihn beauftragt, vie
Brillanten. aus der großen Krone des Heiligenbildes
herausnehmen zu lafjen. Er habe dieſen Auftrag beforgt.
Der Juwelier Lindholm befundete: das fehr Foftbare Bild
im Werthe von etwa 12000 Rubel fei ihm von Sſusle⸗
nifow übergeben worven; er habe mehr als 400 Stüd
Brillanten ausgebrochen und dieſe durch ebenfo viele falſche
Steine erjekt.
Auf Grund diefer Ergebniffe der Vorunterfuchung
wurde der Angellagte verhaftet und wegen eines ‘Dieb-
ftahls über 300 Rubel an Werth vor das Schwurgericht
verwieſen. Die Verhandlung fand in Petersburg am
20. December 1871 jtatt. Den Vorſitz führte ver Vice-
präfivent bes Gerichts Fürft Kefuatow. Die Anklage
vertrat ver Staatsanwalt Koni, die Vertheibigung hatte
der Rechtsanwalt Ankowsky übernommen.
Der Angellagte gab in der Hauptjache Folgendes an:
„AUS der Diener mir am Morgen des 25. Auguft 1870
154 Die VBermögensberaubung
bie Nachricht brachte, Sſolodownikow ſei geftorben, begab
ich mich in fein Schlafzimmer, um mich von jeinem Ab-
leben zır überzeugen. Er lag im Bett auf ver Seite,
ich wendete ven Körper jo, daß das Geficht nach oben
gerichtet war, und faltete die Hände über der Bruſt.
Dann befahl ich der Dienerjchaft, bei der Polizei Anzeige
zu machen, und fuhr in die Stadt.
„Sb war mit Sſolodownikow feit dem Jahre 1845
befannt. Unfer Verhältniß war ein jehr freunbichaft:
liches und intimes. Im Jahre 1848 ftarb meine Frau.
Im Jahre 1851 machte mir Sſolodownikow den Vor-
ichlag, ein ihm nahejtehendes hübfches junges Mädchen zu
heirathen, und verfprach mir eine Mitgift von 25000 Rubel.
Sch ging auf diefen mich entehrenden Antrag nicht ein,
wir entzweiten uns und es fam zu einem völligen Bruche.
Wir jahen uns 16 Jahre lang nicht wieder. Im Jahre
1867 begegnete mir der DVerftorbene auf der Newsky—
Perfpective. Er rebete mich an und bot mir an, zu ihm
zu ziehen und bei ihm zu wohnen. Ich fagte zu ihm:
wenn er mir eine Stelle geben wollte, jo ftünbe ich ihm
zu Dienften, aber als Gefellichafter wollte ich nicht bei
ihm leben.
„Einige Zeit nachher forderte mich Sſolodownikow brief-
ih auf, als Hausverwalter zu ihm zu kommen. Wir
wurden einig und ich trat nun in feinen Dienft. Er
erzählte mir, wie er in ben verfloffenen Jahren gelebt
hatte, und fügte hinzu: Er jet jehr böſe geweien, daß
ich die Heirath ausgeichlagen, und habe fich gefreut zu
hören, baß ich in eine. recht fchlechte Lage und in Noth
gerathen jet.
„Ich erhielt anfänglich nur freie Station und monat-
Gh 7 Rubel. Sehr oft mußte ich in Gejchäften zu ihm
aufs Land, auch die ihm vom Arzte verorbneten Ein-
bes Kaufmanns Sſolodownikow. 155
reibungen machen, weil ich, wie er fich ausbrüdte, fo
weiche Hände hätte. Er behandelte mich nicht gut, oft
geradezu tyranniſch. Er fagte, er thäte dies, um mid)
zu prüfen:
„Sm Jahre 1868 wurde Sſolodownikow von feiner
Köchin wegen jchwerer Beleidigung durch Schimpfivorte
verflagt. Man hatte ihm mitgetheilt, es könnte wol fein,
baß er deshalb ins Gefängniß wandern müßte. Er gerieth
barüber in bie größte Angft. Er war fo außer fich, daß
er mich bringend bat, die Sache gütlich beizulegen, und
mir zu dieſem Behufe 10000 Rubel einhändigte. Ich
ging zum Friedensrichter und hörte dafelbft, die Köchin
habe 100 Rubel als Buße gefordert, ſei aber mit ihrer
Klage, die fie durch Beweiſe nicht habe unterftügen können,
abgewiejen worden.
„Rah meiner Rüdtehr fette ich Sſolodownikow bier-
von in Kenntniß. Er war fehr zufrieden, bedankte fich
bei mir und frug nicht danach, was aus dem Gelbe
geworben ſei. Er dachte vielleicht daran, wie ſchwer es
war, ihm etwas recht zu machen, und daß in brei
Sahren vierzig Perfonen feiner Dienerjchaft gewechielt
hatten.
„Sſolodownikow hatte wenig Umgang und wenig Be-
kannte: feinen Arzt Dr. Heffe, den Regiffenr Kulikow
und den Bankier Yubdwin. Zuneigung batte er auch
zu biefen Perfonen nit. Er glaubte, daß Eigennutz
und nicht Freundſchaft fie zu ihm führte, und ging nur
beshalb mit ihnen um, weil er eine Unterhaltung haben
wollte und an den Arzt einmal gewöhnt war.
„Er fagte oft zu mir: von meiner Uneigennüßigfeit
ſei er überzeugt und mir allein vertraue er unbedingt.
Er weihte mich ein in alle feine Angelegenheiten und
fpeifte und trank ausſchließlich in meiner Geſellſchaft.
156 Die Bermögensberaubung
„Der Berftorbene gehörte zu der Sekte ter Skopzen
(Eunuchen, vie ſich aus religiöfen Gründen verftinnmeln
laſſen). Als ver befannte Proceß gegen ven Sfopzen
Plotisin geführt wurde, jchickte er mich mit einem Padet,
welches wahrjcheinlich eine bedeutende Geldſumme enthielt,
nah Moskau. Er nähte das mit zwei Siegeln ver-
ſchloſſene Padet in meine Hofentafche und trug mir auf,
es in Moskau einer Perfon zu übergeben, die zu mir
fommen und mir ihren Namen nennen würbe. Ich voll-
30g ben mir ertheilten Auftrag, in Moskan fand fich ein
Kleiner alter Dann bei mir ein, erhielt von mir, nachdem
er den richtigen Namen angegeben hatte, das Packet und
entfernte fich ſodann fchleunigft, ohne daß weiter ein Wort
gewechjelt wurde.
„An dem Dr. Heffe misfiel dem Berftorbenen, daß er
ein Lutheraner war und trotzdem ihn zum Pathen feines
Kindes gebeten hatte. Am Tage vor feinem Tode fprach
mir Sſolodownikow feinen heißen Dank aus für alle ihm
erwiefenen Dienjte und für meine Freundſchaft. Er über-
gab mir zur Belohnung dafür 15000 Rubel und jebte
hinzu: er bleibe noch mit 10000 Rubeln in meiner Schuld
wegen Erlebigung der Klage vor dem Friedensrichter. Ich
erwiderte ihm, dieſe 10000 Rubel hätte ich ja in ber
zur Nieberichlagung der Sache behändigten Summe fchon
erhalten. Da fanf er auf die Knie und rief: «Gott fei
Lob und Dank! Dir Iafcha (Jakob) danke ich jetzt meine
volffommene Beruhigung!» ”
Als der Präfident dem Angeflagten fein auffallenves
Denehmen am Morgen des 25. Auguft vorhielt, ver-
widelte er fich in Wiberfprüche und konnte feine genügende
Erflärung geben.
Auf Vorhalt in Betreff des werthuoflen Ringes und
ber aus dem SHeiligenbilde heransgebrochenen Brillanten
des Kaufmanns Sſolodownikow. 157
fagte er aus: „Ich habe nach Sſolodownikow's Tod für
den Unterhalt des Stadt- und des Landhauſes wenigſtens
3000 Rubel von meinem eigenen Vermögen verausgabt.
Dann kam der Neffe des BVerftorbenen, ver inzwiſchen
ebenfall8 mit Tode abgegangene Waſſili Sſolodownikow,
zu mir und bat mich um einen Vorfchuß, den er fofort
nach dem Antritt der Erbichaft zurüczuzahlen verfprach.
Ich Tonnte diefe Bitte nicht erfüllen, da forderte mich ber
Erbe auf, ans dem Heiligenbilve die echten Steine heraus-
nehmen und durch falfche erfegen zu laffen. Er bemerkte,
er wolle das Bild dem Wanlamfcher Klofter ſchenken.
Den Mönchen Tönne e8 gleichgültig fein, ob die Steine
echt oder faljch wären. Sch habe den Auftrag beforgt,
ben Erlös aus den verkauften Brillanten aber zum Unter-
halt ber Häuſer verwendet.“
In Bezug auf den Ring wieverholte er feine frühere
Angabe Er ftellte auf das beftimmtefte in Abreve, nach
bem Tode feine® Herrn irgendetwas aus dem Nachlaß,
insbeſondere größere Geldſummen ober Werthpaptere fich
angeeignet. zu haben.
Der als Zeuge vernommene Dr. Heffe hat ven Ber-
jtorbenen wöchentlich zweimal befucht, er litt an Waffer-
fucht und ift an diefer Krankheit geftorben. Sſolodownikow
hat ihm wieberholt gefagt: er befite fo viel Geld, daß
er ſich fast jchäme, die auf feine Obligationen der innern
Anleihe fo oft fallenven größern und Tleinern Gewinne
einzufaffiren.
Dr. Heffe wiederholte, daß der Angellagte, mit dem
er am 25. Auguft 1870 im Sterbezimmer zujammen-
getroffen fei, einen Gegenftand unter dem Rode verborgen
und beifeitegefchafft habe.
Aus den Ausfagen des Regiſſeurs Kulikow ergibt fich,
daß der BVerftorbene von feinem Bruder fünf bis feche
158 Die Bermögensberaubung
Millionen Papierrubel geerbt, luxuriös gelebt, Künjtler,
insbefonvere Schaufpieler bei fich gejeben und gaftfrei
bewirtbet hat, daß er große Geichäftsfpechlationen in
Talg betrieben, fpäter.aber alles aufgegeben und fich in
bie Einſamkeit zurücigezogen bat.
Er zeigte dem Zeugen gelegentlich einmal die Schwie-
len an feinen Händen und äußerte lächeln: vie habe
ih mir beim Couponabjchneiven mit der Schere zu⸗
gezogen.
Weiter wurde feitgeftellt, daß der Verftorbene bei dem
Bankier Ljubaͤwin eine laufende Rechnung hatte, daß der
legtere mit dem Angeflagten am Todestage im Sterbe-
haufe und im Sterbezimmer gewejen war: daß beibe fich
dort längere Zeit zu thun gemacht hatten, ebe ber Arzt
und bie Polizei fich daſelbſt einfanden.
Ljubawin gab vor Gericht als Zeuge unbeitimmte,
ausweichende Antworten. Er erklärte, Sſolodownikow
tönne unmöglich viel Geld bejeffen haben, benn er habe
von ben ererbten fünf Millionen gleich eine Million an
zwei Handlungsdiener feines verftorbenen Bruders ver-
ihentt, beim Talggeſchäft über eine Million verloren
und im Concurſe Podſoſſow's eine halbe Million ein-
gebüßt., Der Bau der Waalamer Kirche ſei ihm theuer
zu ftehen gekommen, und fein früheres fehr üppiges Leben
habe ungezählte Summen verfchlungen. Bei ihm babe
ber Verjtorbene bis zum Mai 1870 in laufender Rech⸗
nung bi8 30000 Rubel gut gehabt, dann aber das Geld
erhoben.
Sſolodownikow habe feinem Bruder, auf deſſen Ver-
onlaffung er entmannt worben jet, geflucht und mit ver
Sekte der Sfopzen niemals Verkehr unterhalten.
Dr. Heſſe jei eine8 Tages zu ibm gefommen und
habe fich erfunbigt, ob der Verftorbene ein Teftament
des Kaufmanns Sſolodownikow. 159
hinterlegt und etwa feinem Pathen (dem Sohne bes
Dr. Heſſe) ein Legat ausgefegt habe.
Auf den Vorbalt, daß der Zeuge mit dem ‚Angeklagten
im Sterbezimmer allein.gewefen fei und daß er ſich dann
in ein Zimmer bes obern Stodes ‚begeben habe, ant-
wortete Ljubawin: Das fei gejchehen um eine Cigarrette
zu rauchen. Bei der Leiche habe er das Rauchen für
unpafjend gehalten — um fo mehr, weil man bie Geiſtlich⸗
feit zur Todtenmeſſe erwartet habe.
Dr. Heffe, der mit Ljubaͤwin confrontirt wurde, gab
an: in Sſolodownikow's Schlafzimmer habe ſtets eine
Kifte mit Cigarren gejtanden, ber Angeklagte hätte ihm
am 25. Auguft eine Cigarre daraus angeboten und
Ljubawin, der damals ſelbſt tauchte, habe noch vie Be⸗
merlung gemacht: das ſeien Cigarren für Bauern, und
ihm aus feiner Cigarrentajche eine Cigarre gereicht.
Der Diener Kolofjow wiederholte feine frühere Aus-
füge. Er hat gejehen, daß der Angeklagte Papiere aus
der Kommode an fich genommen hat und mit venjelben
in das Zimmer gegangen ift, in welchem fich Liubawin
befand. Der leßtere hat ihm, wie er behauptet, damals
eine Stelle in feinem Haufe angeboten, aber ihn, als er
fih fpäter dazu meldete, abjchlägig bejchieden.
Der Angejchuldigte richtete die Frage an ben Zeugen:
ob er nicht eined Zages der Wäſcherin geklagt habe: es
tei ihm eine Weite abhanden gefommen, in deren Taſchen
io viel Geld gewejen fei, daß e8 für ſein ganzes Leben
ausgereicht haben würde.
Koloſſow antwortete: Ja, es iſt mir eine Weſte weg⸗
gekommen, es waren aber nur 70 Rubel darin, die ich
mir von meinem Lohne erſpart hatte.
Die Hausknechte und der Gärtner verſicherten, der
Angeklagte habe ihnen ſtreng unterſagt, der Polizei Anzeige
160 Die Bermögensberaubung
von dem Todesfalle zu erjtatten ober mit irgendjemand
darüber zu jprechen.
Nachdem noch verjchtevene Rechnungen, Zeugnifje und
‚etlihe Auszüge aus dem umfangreichen Tagebuche des
Berftorbenen verlefen worden waren, nahm der Staats⸗
anwalt das Wort und begründete die Anklage folgenper-
maßen:
„Meine Herren Richter und Gefchworenen!
„Am 25. Auguft 1870 ftarb in feinem bei der Forſt⸗
afademie, ganz nahe bei der Stadt Petersburg gelegenen
Hanfe der Rentner Nikolai Sfolodownifow. Er war nicht
verheirathet, gehörte der Selte ver Skopzen an und galt
nicht ohne Grund für reich.
‚Nach feinem Tode fanden fich indeß nur Wechjel und
Schuldfcheine im Betrage von 77000 Rubel und 28 Rubel
baares Geld vor. Die Papiere waren noch nicht fällig,
ber reihe Mann hätte alfo fchon in den nächiten Tagen
nicht mehr das zu den nöthigften Ausgaben erforberliche
Geld gehabt, wenn er nicht noch gerade zur rechten Zeit
gejtorben wäre.
„Die Staatsanwaltichaft glaubt nicht an dieſe unerflär-
liche plötzliche Verarmung. Sie vermutbet vielmehr, daß
bie Verarmung erft nach dem Tode bes Verftorbenen zum
Nachtheil feiner Erben raſch und auf ſchlaue Weile herbei«
geführt worben tft, daß ein Mann den Raub bewirft bat,
welcher fich für einen Freund Sſolodownikow's ausgibt
und niemald® den Pfad der Ehre und Treue verlaffen
haben will.
„Um bieje Behauptung zu beweifen, müfjen wir einen
Blick auf die Berjönlichfeit des Verjtorbenen und auf bie
Deziehungen zu feiner Umgebung werfen. Die Ausfagen
ber Perfonen, die ihm nahe ſtanden, und fein umfang-
reiches, feit 20 Jahren mit ziemlicher Genauigkeit ge-
des Kaufmanns Sſolodownikow. 161
führtes Tagebuch machen e8 uns möglich, ein deutliches
Bild von Sſolodownikow zu zeichnen.
„Das Schickſal des Wilmanſtand'ſchen Kaufmanns
Nikolai Nafarowitih Sſolodownikow war ein überaus
tragifches. AS er die deutſche Petriſchule befuchte, in
welche er nach ben noch vorhandenen Zeugniffen mit
guten Kenntnifjen in den fremden Sprachen eingetreten
war, wurde er eine Waiſe. Sein älterer Bruder, ein
alter einflußreicher Skopze, nahm ihn aus der Schule.
Er wollte die Seele des Knaben retten, indem er das
Fleiſch für immer tödtete. Im einer ber «Radenic» ge-
nannten ©ebetsverfammlungen feiner Glaubensgenoffen
wurde ber vierzehmjährige junge Menfch gewaltſam ver-
ſtümmelt und blutüberftrömt in ein geheimes Nebengemach
getragen, um bajelbft verbunden zu werben. Während
dies geſchah, jtimmte die bei feinem Bruder verfammelte
fopzengemeinde Lobgefänge an und dankte dafür, daß
bie Schar der «Weißen Lauben» ſich wieder um ein
Täubchen vermehrt habe.
„Der Knabe genas und lebte fortan bei feinem Bruder,
ber ihn völlig beherrſchte. Als er älter wurde und
begriff, daß er auf unmenſchliche Weife verftünmelt
worden und infolge befjen unfähig war, fich zu ver-
heirathen und ein Samtlienleben zu gründen, entbrannte
in ihm ein großer Zorn. Er fing an feinen Bruder zu
haffen und wollte mit ihm und der Selte der Skopzen
feine Gemeinschaft mehr haben. Er entwich heimlich und
ließ fich weber burch Bitten noch durch Drohungen bes
wegen wieder zurüdzufehren. Sein Bruder nahm bie
Hülfe der Polizei in Anfpruch und erklärte, daß er ihn
enterben würde. Aber noch ehe er dieſen Vorſatz aus-
geführt hatte, ereilte ihn der Tod. Nun war Nikolai
Siolopownifow jein eigener Herr und ber Beſitzer eines
XXIII. 11
162 Die Bermögensberanbung
großen Vermögens, welches von dem Bankier Ljubawin
und dem Börfenmafler auf fünf Millionen Rubel gefchägt
worden ift. Er befaß nicht blos Werthpapiere, ſondern
auch ein Haus am Boulevard der reitenden Garbe in
Petersburg, welches päter fir 200000 Rubel an ben
Fürſten Kotſchubei verkauft wurde, zwei Seejchiffe und
mehrere Waarenlager.
„Nikolai Sſolodownikow war allerbings ein Stopze
geworden, aber wiber feinen Willen. Er gehörte nach
feinen Anfichten und Gewohnheiten nicht zu dieſer finftern
Sefte, ſondern war ein lebensluftiger junger Mann, ein
Freund ber ſchönen Künſte.
„Er bezog das Haus ſeines Bruders, entließ die Diener⸗
ſchaft deſſelben, nachdem er ſie freigebig belohnt hatte, und
ſchenkte zwei alten Commis eine Million Rubel. Er be-
gann ein Leben herrlich und in Freuden. Das ganze
Haus wurde neu und luxuriös eingerichtet, er ſchaffte
fih theuere Pferde an, hielt offene Tafel für Künftler
und Schaufpieler, denen er auch in Geldverlegenheiten
aushalf, und oftmals hörte man jett in dem alten finjtern
Stopzenhaufe bis tief in die Nacht den Klang der Becher,
das Lachen und Singen einer fröhlichen Zechgefellichaft.
„Bei jeder erſten Theatervorjtellung ſah man den an
bem weibijchen, bartlojen und aufgedunſenen Geficht, ſowie
an der plumpen behäbigen Geſtalt Leicht kenntlichen Theater⸗
freund Nikolai Sſolodownikow in den erjten Reiben der
Lehnſtühle fiten.
„Das Geichäft gab er ganz auf, nachdem er in einer
Zalgfpeculation eine Million und bei dem Concurs bes
Handlungshaufes Podſoſſow eine halbe Million verloren
hatte. Er befaß noch immer Geld genug, um ganz nach
jeinen Neigungen zu leben und fich alles anzuichaffen,
was jein Derz begehrte. Es iſt bewiefen, daß er nad
bes Kaufmanns Sfolobownilom. 163
jenen Berluften und nach dem Bau der Kirche in Waalam
die ibm 50000 Rubel Toftete, noch 169000 Rubel in
fünfprocentigen Papieren, 30000 Rubel in laufender
Rechnung beim Bankier Ljubawin, eine große Summe
in Papieren ber tnnern Anleihe und außerdem fein Haus
in der Stabt, fein Landhaus und viele werthvolle Gegen-
ftände befaß, 3. B. ein Heiligenbild im Werthe von
12000 Rubeln.
„Er Tonnte kaum die Hälfte feiner jährlichen Einkünfte
verbrauchen, denn in den fechziger Jahren hatte er feine
Lebensweije gänzlich verändert. Er war nicht mehr ver
gaftfreie Mäcenat, der eifrige Theatergaft und Freund
in ver Noth, auch nicht mehr der freigebige Beiſitzer des
Hofgerichts, der fein Gehalt den ärmern Beamten über-
fieß und freigebig für die Aufbefferung der Gefängniffe
und Gefangenen ſorgte. Er war ein einfamer, ab-
geichloffener Dann geworden, ver mit feinem Menſchen
mehr vertraulich verkehrte, ein Geizhals, ver jede Aus-
gabe ſcheute. Sein Tagebuch läßt erkennen, wie fich dieſe
Umwandlung ‚vollzogen hat. Da fteht gejchrieben, daß
ihn die Rolle eines Freundes der Kunft und eines Be—
ſchützers ver Künſtler nicht mehr befriedigte, Das geräufch-
volle Treiben wurde ihm läftig, er glaubte zu bemerken,
daß man ihm nur ausbeuten wollte. Seine Gedanken
wendeten fich ab von dem eiteln weltlichen Wejen, er fehnte
fich nach dem Glück eines ftillen friedlichen Familienlebens.
Wir lefen in jenem Tagebuche: «Die Gebete eines einſam
ſtehenden Menjchen find Wünfche und Forderungen eines
Tamilienvaters. Ein theilnehmenvder Blick einer theuern
weiblichen Seele ift tauſendmal mehr werth als feine
Rolle gut jpielen.» |
„Das troftloje Bewußtfein feines phyſiſchen Unvermögens
erfüllte ihn mit Groll und Bitterfeit. In feinem Tage⸗
11*
164 Die Bermögensberaubung
buche finden fich zwei Frauennamen, benen Kojewörter
beigejegt find, aufgezeichyet. Es fcheint, Daß Sſolodownikow
ein Opfer habfüchtiger Kofetterie geworben ift, daß Damen
fich ihm genähert haben, die e8 auf feine Börfe abgejehen
hatten. Vom Jahre 1854 an enthalten die Blätter des
Tagebuch Mehr und mehr bittere Bemerkungen über bie
Menschen, vie ihn branpfchagen wollen. Er nennt fie
Heuchler und jagt 3. B.: «Da kam heute jo einer, um
zu gratuliren und fich nach meiner Gefunbheit zu er-
fundigen. Ich weiß fchon, du jcheinheilige Frage, worauf
du binausgehit, was bein Beſuch beventet. Du möchtet
verfuchen, ob fich wieder etwas herausloden läßt. Ich
habe dich aber gehörig ablaufen laſſen, ich habe immer
gethan, al® ob ich dich nicht verftände, und dir nur Thee
angeboten.»
„In Verzweiflung barüber, wie er die Oede feines
Lebens ausfüllen könne, Tauft er wieder Pferde und be-
theiligt fih am Sport. Aber fchon nach Sahresfrift
verfauft er alles, was zum Stall gehört. Er legt fidh
auf die Taubenzucht, baut prachtvolle Kioske, ſchafft fich
bie jchönften Exemplare an und fcheint fih am Fluge
der Thiere zu freuen. Allein ſehr bald ift er ihrer eben-
falls überdrüſſig und wendet fih nun religidfen Be—
ftrebungen zu. Auf Kulikow's DVeranlafjung erfüllt er
Streng alle Vorfchriften der Kirche. Er lieſt das Leben
der Heiligen, erbaut fih an dem von Gott gejegneten
Wirken des Vorſtehers des - Sſarowskiſchen Klofters
Sjerafim, macht Auszüge aus der «Nachfolge Ehrifti »
und wallfahrtet nach verjchievenen Klöftern. Vor allen
zieht ihn das auf einer Inſel im Lapogafee gelegene
Klofter Walaam an. Dort beruhigt ihn bie wilde groß.
artige Natur und nicht minder die Strenge, mit welcher
die Mönche ihre Pflichten erfüllen. Er entjchließt fich,
des Kaufmanns Sſolodownikow. 165
ein Jahr lang in diefem Klofter zu leben und auf dem
in den See binausragenden Felſen eine Kirche zu bauen.
„Aus dem Zagebuche aus biefer Zeit erfieht man,
daß die trüben Einprüde des Stadtlebens verſchwinden.
Vriebliche, gottergebene Gedanken beherrichen ven Schreiber.
Aber plöglich tritt wieder eine gänzliche Umwandlung ein.
Im Begriffe, auf Turze Zeit nach Petersburg zurüdzu-
kehren, bejucht er feine Kirche noch einmal, wo er «von
Herzen ‚und aus ganzer Seele, frei von allem irbifchen
Zreiben beten fonnten. Getröftet und zufrieden ging er
in feine Wohnung. Dort erwartete ihn Vater Damaskin.
Er wünſcht ihm zunächſt glücliche Reife, dann zieht er
ein Papier heraus umd lieft e8 Sſolodownikow vor. Es
enthielt eine Aufzählung alles deſſen, was man für das
Klofter noch thun könne, wenn Sſolodownikow fich ent-
fhhlöffe, eine Million Rubel zu fpenben.
„Damaskin, der Vorſteher des Klojters, war ein
asfetifcher, ftrenger, energiicher Mann, dem das Wohl
feines Klofters über alles ging. Wahrfcheinlich hatte er
das Kloſterleben Sſolodownikow's für einen volljtändigen
Bruch mit der Welt gehalten une deshalb gehofft, ihn zu
einer jo großen Schenfung beftimmen zu können. Un-
Hugerweife deutete Damaskin in biefem Gefpräche darauf
hin, daß Sſolodownikow zu ber Sekte der Sfopzen
gehöre. Das traf den letztern an ber verwunbbariten
Stelle. Peinlich eingewurzeltes Mistrauen, fein Haß
gegen die Menjchheit, die ihn ausbeuten wollte, machte
von neuem auf, Es erfaßte ihn eine furchtbare Wuth.
Am liebſten hätte er das Papier fortgefchleubert, aber er
nahm fich gewaltfam zufammen und that jo, als ob er
den Vorſchlag überlegen und vielleicht annehmen wollte.
„Er verließ das Klofter auf Nimmerwiederfehen. Auf
dem Dampfboote, welches ihn fortführte, fchrieb er in
166 | Die Bermögensberaubung
fein Tagebuch: «Das war ein Tag, ben ich nie in
meinem Xeben vergeffen werde! Ihr verabjcheut mich
alſo. Ich bin ein gottverfluchter Skopze, den ihr nicht
um jeiner fündigen Seele, fondern nur um feines Geldes
willen zugelafjen habt. Meine Million war es aljo, die
ihr beburftetl» Seine Seelenruhe war gänzlich dahin.
Statt mit Gebeten und frommen Reden füllt er fein
Zagebuch mit Klagen über die Habjucht der Menjchen,
mit Ausdrücken der Entrüftung und mit Schimpfworten.
„Ex zerichnitt das Band mit dem Klofter gänzlich.
Nah feinem Tode fchrieb der Vorſteher Damaskin an
ben Unterfuchungsrichter: «Bald nach der Einweihung
ber Kirche verließ Sſolodownikow das Klofter. Obgleich
wir uns voll Dank und Anerkennung mehreremal fchrift-
Ich an ihn wandten, erhielten wir doch nie eine Ant-
wort. Er ließ feinen ver Klofterbrüder wieder vor fich.»
„Nach feiner Rückkehr nach Petersburg führte er das
Leben eines Einſiedlers. Einen großen Theil des Jahres
brachte er auf feinem, von einer hoben Mauer um-
ſchloſſenen Landhauſe zu. Er brach alle gefellichaftlichen
Beziehungen ab, fchimpfte auf feine Dienerfchaft, ſchränkte
fih auf das äußerſte eim und erjchredte die Kinder des
Gärtners, die mitunter in den Garten famen, durch fein
wüſtes Gefchrei.
„Sein Tagebuch wird von nun an fehr langweilig.
Man findet darin feinen eblern Zug mehr, feine warme
Empfindung. Faſt aus jeder Zeile fpricht Geiz, Hab⸗
gier, Mistrauen und der ftärkfite Egoismus. Er führt
ein ödes, tranriges Leben. Mit Ausnahme von Kulikow
und Dr. Hefje fieht er nur feine Dienerfchaft. Nur mit
großer Mühe erreicht der Arzt, daß er fich etwas befier
ernährt. Seinen einzigen Berwandten, einen leiblichen
Neffen, läßt er darben, er will nicht, daß er jemals zu
bes Kaufmanns Sſolodownikow. 167
ihm kommt. Argwöhniſch bewacht er eine Fleine eiſerne
Chatoulle, die fein Geld und feine Werthpapiere birgt.
Unerwartet und plößlich rafft ihn der Tod hinweg. Kein
Menſch fteht ihm bei in ver legten Noth. Er wird, nad)-
dem er kaum den legten Atbemzug gethan hat, beraubt
und ausgeplündert, gleichgültig ftehen die Hausgenoſſen
mit brennenden Cigarren um ben Todten herum, beim
Wafchen geht man fo unvorfichtig zu Werke, daß der
Kopf der Leiche auf ven Boden fchlägt. Ein roher Haus-
knecht fpottet: «Aha, jetzt fiehft bu nichts mehr, im
Sommer aber bemerften beine Luchsaugen alles und du
verſtandeſt zu jchimpfen.»
„Dei der Lebensweiſe des Verftorbenen ift es unmög⸗
Gh, daß fein Vermögen in den legten Jahren fich ver-
mindert hat. Es muß erheblich gewachſen fein. Wie fommt
e8 num, daß fich nur wenige Rubel baares Gelb vor-
fanden, als er die Augen gejchloffen hatte? Warum hat
die Polizei die Verfiegelung fo fpät vorgenommen? Daran
ift der Angellagte ſchuldig. Er verbot den Hausgenoſſen,
ben Todesfall anzuzeigen, er legte ihnen Stillichweigen
auf. Er, der fih den Freund des Todten nennt, fagt
uns: «Wir kannten einander jchon feit 1845. Ohne mich
fonnte Sſolodownikow weder. eſſen noch trinken, mic,
mich allein Tiebte er, der fonft niemand liebte, mich ſah
er gern bei ſich, mir vertraute er unbegrenzt alles an.»
„Aber wie ftimmt zu diefer Behauptung das Benehmen
bes Angeflagten? ALS er ven Tod feines Freundes von
dem Diener Koloffow erfährt, bleibt er völlig theilnahm⸗
los. Den Leichnam überläßt er der Dienerjchaft und
fein Menſch bemerkt etwas davon, daß der Todte feinem
Herzen nahe geftanden hat. Durch die Verhandlung tft
bewiejen, daß das Verhältniß zwifchen Sſolodownikow
und Sfuslenilow fein freumdichaftliches geweſen ift.
168 Die Bermögensberaubung
„Der Verftorbene hat dem Angeklagten Geld angeboten,
wenn er ein Mädchen, welches dem erjtern nahe ftand,
heiratben wollte. Im den Geiprächen mit Kulikow und
Dr. Heffe hat er feinen Hausverwalter Sſuslenikow einen
Räuber genannt, ihn mit noch andern Schimpfworten
belegt und gejagt, er fei zu allem fähig, fogar fähig,
ihn umzubringen. Sſolodownikow bat den Angellagten
tyrannifirt, ſich über feine zerrüttete Vermögenslage ge-
freut, ihm nur 7 Rubel monatlichen Lohn gezahlt und
geäußert: er werbe ihn fo fahl wie eine Rate, ohne
Hofen, wie er gefommen fei, aus dem Haufe jagen.
Daraus ergibt fih, daß er nicht der Freund bes An-
geflagten gewefen tft.
„Siuslenilow bat ein Märchen erzählt von einer
geheimnißvollen Reiſe nach Moskau, daß der Verftorbene
ihm ein Padet mit einer bebeutenden Geldſumme in bie
Hofentafche genäht und daß er daffelbe in Moskau einem
geheimnißvollen alten Mann habe überbringen follen.
Er jucht glauben zu machen, daß Sſolodownikow ge-
fürchtet habe, man werde ihn in die Unterfuchung
wider den befannten Sfopzen Plotikin verwideln. Aber
es ift ja bewiefen, daß Sſolodownikow nicht freiwillig,
jondern durch einen Act brutaler Gewalt Mitglied der
Stopzenfelte geworben ift. Kaiſer Nikolaus felbjt bat
Mitleid gehabt mit dem Schickſal des unglüclichen
Mannes und ihm veshalb alle Rechte zuerkannt, bie
ven Sfopzen nach dem Geſetz entzogen werben. Infolge
deſſen konnte er fogar, wie Ihnen befannt ift, in ben
funfziger Iahren Ehrenmitgliev und Beifiker des Hof-
gericht fein. Sſolodownikow hatte von den Strafen,
bie damals über die Sfopzen verhängt wurben, nichts
zu fürchten. Er hatte nicht die mindefte Urjache, dieſe
ihm verhaßte Sekte mit Gelpmitteln zu unterjtüßen.
des Kaufmanns Sſolodownikow. 169
Die ganze Erzählung des Angeklagten ift augenscheinlich
erfinden.
„Der Angeklagte hat uns mitgetheilt, daß er 10000 Rubel
von feinem Herrn empfangen babe, um die Klage feiner
Köchin rüdgängig zu machen. Die Klage, in welcher die
Köchtn nur 100 Rubel Schadenerſatz gefordert hatte, war
vom Friedensrichter abgewieſen worden. Dies verichivieg
Sſuslenikow und begnügte fih mit dem magern Berichte,
bie Sache fei erledigt. Er behauptet, fein Herr habe ihm
eine Belohnung geben wollen und fich deshalb nicht er-
fundigt, was aus ben 10000 Rubeln geworben jet.
Richtiger wird es fein, wenn wir jagen, daß der An-
geflagte fich diefe Summe betrügerifch angeeignet hat,
indem er vorfjpiegelte, fie jet für die Vergleichung des
Brocefjes verausgabt worden.
„Ganz unglaubhaft ift die Gefchichte von dem Verkaufe
ber Brillanten aus dem SHeiligenbilde durch den An-
geflagten. Er widerſpricht fich Hierbei, denn er jagt
anfänglich «der Verftorbene» und fpäter «Waſſili Sſolo⸗
downilow» habe ihm ben Auftrag dazu ertbeilt. .
„Mag fich dies verhalten, wie e8 wolle, e8 fteht feft,
daß der Angeflagte über ven Verkauf der aus dem Bilde
berausgenommenen Brillanten Teine Rechnung gelegt,
ſondern das Geld behalten und folglich unterfchlagen bat.
„Stuslenifow lebte, wie wir wiſſen, bis zum Tode
feines Herrn in fehr ärmlichen Verhältniffen. Ein Zimmer
in Petersburg und 7 Rubel Monatögehalt war alles,
was er hatte.
„Als nach dem Ableben feines Herrn Hausfuchung bei
ihm vorgenommen wurde, war er ein reicher Mann. Er
befaß 40000 Rubel in Wechjeln, 7000 Rubel in fünf:
procentigen Papieren, Rechnungen über 35000 Rubel in
Bankactien und 950 Rubel baar. Er gibt an: 10000 Rubel
170 Die Vermögensberaubung
habe ihm ver Verftorbene gegeben, um die Injurtenflage
ver Köchin rücdgängig zu machen, 15000 Rubel habe er
ibm Turze Zeit vor feinem Ableben gefchenkt, um ihn für
feine Dienfte und feine Freundſchaft zu befohnen, und
etwa 3800 Rubel betrage der Erlös aus dem uns be-
fannten Ringe und ben Brillanten des Heiligenbildes.
Wir haben dargethan, daß die Angaben in Betreff der
10000 und ber 15000 Rubel nicht wahr fein Tönnen.
Aber wenn fie wahr wären, würde baburch doch nur ber
Befit von 28800 Rubel erklärt. Wie fommt e8, daß
man rund 83000 Rubel bei ihm gefunden hat? Auf
welche Weife bat er die ungefähr 54000 Rubel erworben,
deren Befit er nicht zu erklären vermocht hat?
„Meberbies will er auch noch 3000 Rubel zur Unter-
haltung des Stabt- und bed Landhauſes verwendet haben,
und hat feinerfeits ein Koftjpieliges Leben geführt, nach-
dem fein Herr die Augen geichlofjen batte.
„Meine Herren Geſchworenen, Sie kennen den Charafter
des Verftorbenen und werben die Angaben des Angeklagten
nicht glauben. Ein Menſch, der jeve Kopeke genau an⸗
fieht und fich ſelbſt alles entzieht, wergißt nicht, daß er
10000 Rubel an feinen Hausverwalter gegeben hat,
jondern verlangt Rechnungslegung. Ein foldher Mann
quält fich nicht mit dem Gedanken, daß er feinem Freunde
nur 15000 Rubel und nicht 25000 Rubel als Belohnung
geben kann. Es ift völlig unglaublich, daß ein Menſch,
der nur an fich denft und nur noch 28 Rubel im Haufe
hatte, wie ber Angellagte behauptet, eine Summe von
15000 Rubel heimlich weggibt. Er wußte ja nicht, daß
er plöglich fterben würbe, und wäre jchon in den nächiten
Zagen in bittere Noth gerathen.
„Freilich ift e8 nicht richtig, daß Sſolodownikow nur
noch 28 Rubel beſeſſen habe, als er ftarb, denn im Mat
bes Kaufmanns Sfolodownilom. 171
hatte er vom Bankier Liubawin 30000 Rubel zurüd-
gezahlt befommen. Seit jener Zeit hat er fein Haus
nicht verlaffen und äußerſt fparfam gelebt. Es ift nicht
möglich, daß er bis zu feinem Tode, alfo in etwas mehr
als drei Monaten, 15000 Rubel verausgabt haben foll.
Er verbrauchte bei feiner Lebensweile überhaupt nur
5000 Rubel jährlich.
„Sſuslenikow ift nach feiner Erzählung reichlich belohnt
worden für feine Verdienſte. Sein Wohlthäter liegt im
Grabe und ift ſtumm. Was hat er aber gethan, als
jein Freund ftarb: er bat befohlen, den Todesfall zu
verjchweigen, er bat bie Schublaben der Kommode ges
öffnet, in welcher der Verftorbene feine Wertbpapiere und
fein baares Geld aufbewahrte, er hat heimlich unter feinem
Node etwas weggeichleppt, al8 er vem Dr. Hefje begegnete,
und wie der Zeuge Koloffow fah, einen Gegenftand ver-
ftedt in fein Zimmer im obern Stod getragen.
„Hat er vielleicht die Einnahme» und Ausgabebücher
beifeitegefchafft, die Sſolodownikow mit ziemlicher Ge-
wifjenhaftigfeit führte? Sie find fpurlos verſchwunden,
und auch das Vermögen des Verjtorbenen ift verſchwunden.
Ich glaube den Ausfagen der Zeugen, ich glaube auch,
baß ber Angeklagte dem Diener Koloffow gegenüber ge-
Hagt bat: ihm fchüttle ein Fieberfroſt. Es war ber
Sieberfroft des böſen Gewiffens.
„Er bat felbjt gefühlt, wie mangelhaft feine Erflärungen
über den Urjprung feines Vermögens find. Deshalb fucht
er zu beweifen, daß Sſolodownikow bet feinem Tode nichts
mehr beſeſſen habe, was geraubt werben fonnte. Wir
haben die Märchen von dem Greife in Moskau, ber eine
große Summe Geld heimlich empfangen fol, und alles,
was dahin gehört, bereit8 gewürdigt. Es ift dem An-
geflagten nicht gelungen, dieſen Beweis zu Tiefern, es ift
172 Die Bermögensberautuugbesx. Eiolchomwnifow.
ihm nicht gelungen, tie Berbachtsgrünte, bie gegen ihn
iprechen, zu entkräften. Meiner Meinung nad muß
Ihnen, meine Herren Geſchworenen, vie Sache Har jein.
Ich Hage Siuslenilow an, ven Tor Sſolodownikow's benutt
zu haben, um jein Bermögen, joweit ed ihm möglic, war,
zu ranben, und zwar jevenjalld eine ven Betrag von
300 Rubel, von welchem das Strafgeſetzbuch fpricht, weit
überjteigende Summe an fich zu bringen.
„Der Angellagte bat uns gejagt, daß eine der Urſachen
von ber großen Zuneigung Sſolodownikow's zu ihm bie
weichen Hänbe gemweien wären, bie ibm bei ben Ein-
reibungen jo woblgethan hätten. Bielleicht wird Ihr Ber-
dict beweiſen, daß jeine weichen Hände auch recht lange
Finger hatten.”
Der Bertheibigung gelang e3 nicht, ven Staatsanwalt
zu widerlegen. Ihre Ausficht auf Erfolg war von vorn-
herein hoffnungslos, weil die Erzählungen des Angellagten
gar zu unglaublic waren. Die öffentliche Meinung ging
jogar noch weiter als tie Anklage. Sie legte dem un-
getrenen Hausverwalter nicht blo8 die Bermögensberaubung,
fondern fogar ven Tod feines Herru zur Laft, obgleich
ed dafür an jevem fihern Grunde fehlt. Die Gejchworenen
ſprachen das Schulvig aus und ber Gerichtöhof verurtheilte
den Angeflagten zu dem Berlufte aller bürgerlichen Rechte
und zur Verbammmg in das Gouvernement Tomsk in
Weftfibirien.
Die Ermordung des Collegienaſſeſſors Tſchicha⸗
tſchew.
(Petersburg.)
1873. 1874.
Am 26. November 1873, 5 Uhr nachmittags, kamen
der verabſchiedete Stabskapitän N. und ſeine Frau zu
dem in Petersburg, Sachäsjewskoiſtraße, im Haufe Popow
wohnenden Collegienaſſeſſor a. D. Tſchichatſchew. Nach
einem kurzen Wortwechſel erhielt Tſchichatſchew von dem
Stabskapitän eine kräftige Ohrfeige.
Es entſtand eine Schlägerei, N. verſetzte ſeinem Gegner
einige Meſſerſtiche, von denen zwei in die Bruſt tödlich
waren, Frau N. gab auf Tſchichatſchew aus einem acht-
läufigen Revolver zwei Schüffe ab, ohne ihn zu treffen.
Sie wurden von dem herbeigeeilten Hausfnecht Woronin
und andern Perjonen getrennt.
Tſchichatſchew ftarb an den erhaltenen Wunden.
Die VBorunterfuchung ergab Folgendes: Frau N. hatte
als Mädchen, während fie im Iahre 1867 in ver Familie
ihres Bruders auf deſſen Landgute lebte, ein intimes
Verhältnig mit dem das Haus befuchenden verheiratheten,
aber von feiner Frau getrennt Iebenden Tſchichatſchew
174 Die Ermordung
angefnüpft, welches einige Monate vor ihrer Verheirathung
mit dem Stabsfapitän N. abgebrochen wurde. Vor ber
Hochzeit Tieß fih Frau N. von Tſchichatſchew das Ver-
iprechen geben, daß er über feinen Umgang mit ihr das
tieffte Schweigen beobachten würde. Auf ihren Wunſch
wohnte er im Mai 1868 ihrer Hochzeit als Zeuge bei.
Ihrem Manne fagte fie weder vor noch nachher etwas
von den Beziehungen, die fie als Mädchen zu Tſchichatſchew
gehabt Hatte, Der Stabsfapitän N. äußerte fpäterhin,
er habe zwar unbeftimmte Gerüchte über das Vorleben
feiner Frau gehört, aber nie an die Möglichkeit gedacht,
daß fie vor der Ehefchliegung fich einem andern Mann
hingegeben und ihn betrogen habe. Sechs Iahre lang
lebte das Ehepaar einig und zufrieven. Im Juni 1873
erfuhr Frau N. von ihrer Schwägerin, daß Frau Tſchicha⸗—
tſchew von ihr als von einem unmoralifhen, ehr- und
ſchamloſen Weibe rede. Site glaubte, Tſchichatſchew habe
fein Wort nicht gehalten, und fürchtete, ihrem Manne
könne die Sache hinterbracht werben. Sie entjchloß fich
deshalb alles zu geitehen, und thbeilte ihm eines Tages
mit: Tſchichatſchew habe fie im Haufe ihres Bruders
verführt, fie habe feine Anträge und Lockungen abgewieſen,
aber er ſei immer zubringlicher geworben, habe enblich
Gewalt gegen fie gebraucht und fie fei ihm — aber nur
ein einzige8 mal — unterlegen. Ihr Mann war Ääußerft
aufgebracht. Er forderte von ihr, fie folle dies in feiner
Gegenwart dem Tſchichatſchew ins Geficht jagen. Beide
reiften nach Aſchewo, wo fich Tſchichatſchew auf dem Gute
bes Landedelmannes Nikolai Zerejchlewitich befand. Dort
angelangt ftiegen fie in einer Zuhrmannsherberge ab, und
der Stabsfapitän ließ den Collegienaſſeſſor bitten feine
Frau zu befuchen. Tſchichatſchew erjchien, die Thür wurde
hinter ihm abgefchloffen und Frau N. erflärte ihm: fie
des Sollegienaffeffors Tſchichatſchew. 175
babe ihrem Manne bekannt, was früher zwiſchen ihnen
vorgegangen jei, fie erimmerte ihn an bie nähern
Umftände und verlangte, er folle ihre Ausſage be-
ftätigen.
Tſchichatſchew war fehr verwundert über dieſe Scene.
In der Meinung, der Stabsfapitän N. habe von einer
britten Perfon Kemtniß von dem verbotenen Umgang
feiner Frau mit ihm erlangt, nahm er alle Schuld auf
fih. Der Stabslapitän nannte ihn hierauf einen Schurken
und eröffnete ihm, fein Verbrechen müßte beftraft werben.
Frau N. mahnte ihn an fein ihr gegebenes DVerfprechen,
baß er bereit fei, jein Leben für fie zu opfern, und fügte
Hinzu: _jegt ſei bie Zeit gefommen, das Gelübde zu er-
füllen, er babe nur noch fünf Minuten zu leben. Dabei
lagen ein Dolch und ein Revolver auf dem Tiſche. Zu-
fällig klopfte Zereſchkewitſch in diefem entjcheivenden Augen»
blide an die Thür. Tſchichatſchew war gerettet, er ent-
fernte fich mit dem Bemerfen, daß er um 5 Uhr nadı-
mittags wieberfommen würde. Als er fich nicht einfand,
juchte der Stabsfapitän den Collegienaſſeſſor in ver
Wohnung des Herrn Zereichfewitich auf, wurde aber mit
dem Bemerken abgewieſen, daß Tſchichatſchew erfranft fei.
Gegen 8 Uhr abends fchidte der Stabsfapitän einen
Zettel, in welchem gefchrieben war: er glaube nicht an
die angebliche Krankheit und beftehe auf einer Zuſammen⸗
kunft. Zereſchkewitſch befchten ihn abfällig, der Stabs—
fapitän antwortete: Er begebe fich auf fein Gut Anprju-
ſchinow und werde bort bi8 zum 8. Auguft auf Tſchichatſchew
warten. ALS dieſer Termin verjtrichen war, fand fich das
Ehepaar am 11. Auguft wieder in Afchewo ein. Tſchicha⸗
tichem war noch dort, aber gerade an dieſem Tage im
Begriffe mit feinem Freunde von Witte nach Petersburg
abzureifen. Vom Fenfter aus ſah er feinen Feind an-
176 Die Ermordung
fommen, fofort warf er fich, feine Sachen zurüclaffend,
in ‚den bereit angejpannten Wagen und fuhr weg.
Der Stabsfapitän meldete fich bei Zerefchlewitich, ber
ihn im ganzen Haufe herumführte, um ihn davon zu
überzeugen, daß Tſchichatſchew nicht mehr anweſend fei.
In großer Aufregung erklärte er, daß er nicht eher ruhen
würde, als bis er feinen Gegner getöbtet habe. Er bat
die Herren Zereſchkewitſch und von Witte, feine Heraus-
forderung dem Tſchichatſchew zu beftellen, dann beitieg
er feinen Wagen, um den Flüchtling womöglich einzu-
holen. Unterwegs überlegte er indeß, daß Tſchichatſchew
einen zu großen Voriprung habe. Er Tehrte um und
fuhr rachefchnaubend nach Andrjuſchinow zurüd.
Tſchichatſchew verbreitete von Petersburg aus das Ge-
rücht, er ſei ins Ausland gereift, um fich vor der Ver⸗
folgung zu retten. Im September kam N. mit Frau
nach Petersburg; fie hörten Tſchichatſchew ſei dageweſen,
aber abgereiſt. Sie folgten ihm in das Ausland und
ſuchten ihn bis Mitte October vergeblich; dann kehrten
ſie nach Rußland auf ihr Gut zurück.
Vom November 1873 an behandelte N. ſeine Frau
oft auf wahrhaft grauſame Weiſe. Er ſchlug ſie, riß
ihr die Haare aus, beſchimpfte ſie, ſodaß ſie eines Tages
aus dem Hauſe lief und ſich in den Schnee warf, um
ſich zu erfälten und womöglich zu ſterben.
Frau N. jchrieb im November an Tſchichatſchew und
machte ihm die bitterften Vorwürfe. Diefer faßte eine
Antwort ab, zögerte dann aber fie abzufenven.
Am 26. November fam das Ehepaar N. nach Beters-
burg. Der Stabsfapitän war al8 Zeuge vom Gericht
vorgeladen worben und benußte die Gelegenheit, um fich
im Adreßeomptoir nach Tſchichatſchew zu erkundigen. Er
erfuhr, daß biefer zwar in der Sachäsjewskoiſtraße im
bes Eollegienafjeffors Tſchichatſchew. 177
Haufe Bopow eine Wohnung habe, aber am 29. Detober
nah Moskau gereift je. Er traute biefer Mittheilung
nicht und ging mit feiner Frau nachmittags 5 Uhr in
das Haus Popow. Er trug ein Meier bei fich, feine
Frau war mit dem achtläufigen Revolver ihres Mannes
bewaffnet. Bon einem Hausfnecht hörten fie, Tſchichatſchew
jet zu Haufe. Sie traten ein und eröffneten ibm, fie
fümen, um feine Antwort zu holen. Er übergab ihnen
einen Brief umd fügte hinzu: er werbe fich erft dann
rechtfertigen, wenn fie den Brief gelejen hätten.
Der Stabsfapitän ſteckte den Brief ungelefen ein und
beftand darauf, Tſchichatſchew ſolle jofort jagen, was er
zu feiner Rechtfertigung vorzubringen habe, und fich auf
bie Forderung zum Duell erflären. Es fam zu einem
Handgemenge, welches mit dem Tode Tichichatjchew’s
endigte.
Die Verhandlung in dieſer Sache fand am 2. und
3. März 1874 vor dem Kreisgerichte in Petersburg ſtatt.
Den Vorſitz führte der Präſident Baturnin, die Anklage
wurde vom Oberprocurator Koni vertreten, die Ver⸗
theidigung des Stabskapitäns N. hatte der Rechtsanwalt
Spaſſowitſch, die ſeiner Frau der Rechtsanwalt Gerard
übernommen.
Der Angeklagte N. bekannte ſich ſchuldig, dem Tſchicha⸗
tſchew Meſſerſtiche beigebracht und ihn dadurch getödtet
zu haben. Er behauptete aber, er habe das Geſicht ſeines
Gegners gar nicht geſehen, es ſei nicht ſeine Abſicht ge—
weſen, ihn zu tödten, er habe ſich gewehrt und nicht an
einen Mord gedacht.
Frau N. ſagte aus: ſie habe nicht auf Tſchichatſchew
geſchoſſen und in dem Augenblicke, wo ſie den Revolver
abdrückte, nicht gewußt, was ſie that.
Der Zeuge Oberſt von Raaben gab an: Tſchichatſchew
XXIII. 12
178 Die Ermordung
hat mir erzählt, er habe als Friedensrichter in Nowortichew
bie Bekanntſchaft der Angeklagten gemacht, pie damals
ein junges Mädchen war und im Haufe ihrer Verwandten
lebte. Seine Frau hielt fih in jener Zeit feit einigen
Monaten im Auslante auf, weil die Ehegatten in Un-
frieden lebten. Die Frau begegnete ihm ftet8 eifig kalt,
troß feiner Bitten reifte fie bald dahin, bald dorthin und
lebte nicht mit ihm zufammen.
Als er mit ber Angellagten näber befannt wurde,
fühlte er fich immer mehr zu ihr hingezogen. Es that
ihm wohl, daß er ihre Theilnahme und Zuneigung be-
merkte. Er ſah fie nur in Gegenwart ihrer Verwandten
und fand feine Gelegenheit zu einer ungejtörten Unter-
haltung mit ihr. Da fagte die Angellagte eines Tages
zu ibm: „Man geftattet uns Feine vertrauliche Ausfprache;
fommen Sie heute nach dem Abendeſſen zu mir in mein
Zimmer, dort wird uns fein Unberufener ſtören.“
Tſchichatſchew war überrajcht durch Diejen Vorſchlag,
fagte aber zu und fand fih am Abend in ihrem Zimmer
ein. Er ftellte ihr vor, daß fie jehr unvorfichtig handle,
weil bie Anmwejenheit eines Mannes in ihrem Zimmer
ihrem Rufe leicht ſchaden könne. Sie entgegnete: „Darin
jehe ich nichts Böſes“, und nöthigte ihn, fich zu ihr zu
fegen und mit ihr zu plaudern. Er wieberholte bie
Warnung, unterhielt fich eine Zeit lang mit ihr und ver-
ließ fie nach kurzer Zeit.
Am folgenden Tage forderte fie ihn auf, fich feine
grauen Haare wachſen zu laffen und feine Abendbeſuche
bei ihr fortzufegen. Er folgte diefer Aufforderung, und
ed fam nach und nach zu einem vertrauten Verbältniß
zwifchen ihm und dem jungen Mädchen.
Anfänglich befchlich ihn die Furcht, er fönnte zu weit
geben. Im biefer Stimmung jchrieb er feiner noch immer
bes Collegienaſſeſſors Tſchichatſchew. 179
geliebten Frau: „ſie begehe einen großen Fehler, ihn ſo
allein zu laſſen, weil er dadurch in Verſuchung kommen
könne, anderwärts Troſt zu ſuchen“.
Er erhielt ausweichende und unbefriedigende Ant⸗
worten, und nun erſt knüpfte er intime Beziehungen mit
der jetzigen Frau N. an.
Später kehrte feine Frau zurück, ebenſo unverſöhnlich,
ebenſo kalt wie vorher. Als er eines Tages mit ſeiner
Frau in Geſellſchaft mit der Angeklagten zuſammentraf,
errieth ſeine Frau, wie Tſchichatſchew ſich ausdrückte,
gewiſſermaßen inſtinctiv, daß ein vertrauter Verkehr
zwiſchen ihnen beſtand. Zu Hauſe machte ſie ihm eine
ihn ſehr überraſchende Eiferſuchtsſeene und verlangte, er
ſolle geſtehen, wie weit dieſes Verhältniß gediehen ſei.
Er ſuchte fie zu beruhigen, ihr den Verdacht aus-
zureden; fie war aber eine von ben Frauen, bie fchiver
Bernunft annehmen und hartnädig bei dem beharren,
was fie fich in den Kopf gejegt haben.
Die Eiferfuchtsfcenen wiederholten fi. Um benfelben
zu entgehen und fich zu zerftresen nahm er die Beſuche
bei ver Angellagten, die er eine Zeit lang ausgeſetzt hatte,
wieder auf. Die Angeklagte veifte indeß bald nachher ab.
Er hörte, daß Herr N. ihre Belanntichaft gemacht habe
und fie zu beirathen gedenke. Später erhielt er von ihr
eine jchriftliche Einladung, bei ver Trauung als ihr Braut-
vater zugegen zu fein. Die Rolle war ihm peinlich, er
übernahm fie aber, weil fie ihn bringend bat, ihr ben
Wunsch zu gewähren, und geltend machte, daß dadurch
jeder etwaige Verdacht über ein Verhältniß zwiſchen ihnen
entfräftet würbe.
Nach der Hochzeit jah er Frau N. nur noch breimal
anf etliche Augenblide. Sie beſchwor ihn, bie ftrengfte
Verſchwiegenheit über feinen Umgang mit ihr zu bewahren,
12*
180 Die Ermorbung
denn e8 würbe ihr fchlimm geben, wenn ihr Mann etwas
davon erfahre. Er beruhigte fie, verjicherte, daß er nicht
bie mindefte Veranlafjung habe, das Geheimnig kundzu⸗
machen, und gelobte ihr unverbrüchliches Schweigen.
Es kam zwifchen Tſchichatſchew und feiner Frau zum
Bruche. Er lebte bis zum Tode feiner Mutter in
Petersburg, dann aber bald in Petersburg, bald im
Auslande.
Im Jahre 1873 reiſte er nach Nowortſchew, um bei
der Grundung eines Creditvereins behülflich zu ſein. Er
‚ftieg daſelbſt bei feinem alten Freunde Zereſchkewitſch ab.
Am dritten Tage nach feiner Ankunft bejuchte ihn ganz
unerwartet der Stabsfapitän N. und frug ihn im Laufe
bes Gefpräches, ob er nicht auch feine Frau zu fprechen
wünfche, bie ja eine alte Bekannte von ihm ſei. Tſchicha⸗
tſchew ermwiberte, er würde fich freuen, fie wieberzufehen,
und begleitete ven Stabskapitän, ver ihn zu ihr führen
wollte. Unterwegs unterhielten fie fich über gefchäftliche
Dinge. Der Stabsfapitän bezeichnete eine jämmerliche
Fuhrmannsfneipe als den Ort, wo er mit feiner Frau
abgeftiegen jet. Tſchichatſchew wunderte fich darüber, denn
er wußte, daß N. font bei feinem Verwandten, dem
Lanvespofizeichef, oder im Gafthofe wohnte. Trotzdem
folgte er ihm, ohne Argwohn zu hegen, in ein durch eine
Scheunenwand getheiltes Gemach, aus welden N. ihn
in ein Nebenzimmer führte. Dort ftand feine Frau.
Sie erwiberte den Gruß Tichichatfchew’s fteif und fagte
fein Wort. Ihr Mann ſchloß die Thür ab, und auf
dem Tiſche lagen ein Dolch und eine Piltole. Der weich-
berzige, ſchüchterne Tſchichatſchew erfchraf, er merkte, daß
etwas Ungewöhnliches im Werfe war. Es fam ihm ber
Gedanke, ver Stabelapitän könne von dem Verbältniß
jeiner Frau zu ihm etwas gehört haben und wolle ihn
bes Collegienaſſeſſors Tihichatichem. 181
‚deshalb zur Rede ſetzen. Er wußte, daß mit dem Stabe-
kapitän N. nicht zu fpaßen war.
Set bob Frau N. an, ihre frühern Beziehungen
‚zu ihm bis in die geringften Einzelheiten aufzudeden.
Sie ftellte e8 fo dar, als habe Zichichatiche ihre Un⸗
-erfahrenheit benntt und ihr nach Aufwendung aller Ver⸗
führungskünſte zulegt Gewalt angethan, um feinen Zwed
zu erreichen.
Während diefer Erzählung ftand N. finfter und
drohend dabei, wie ein, Richter dem Delinquenten gegen⸗
überſteht.
Frau N. ſchloß: „Erinnern Sie ſich, Herr Tſchicha⸗
tſchew, daß Sie mir damals Ihr Wort gaben, Ihr Leben
für mich zu opfern. Jetzt verlange ich die Erfüllung
Ihres Verſprechens und fordere Ihr Leben.” Es iſt be-
greiflich, daß dieſe Schlußrede Tſchichatſchew ſtutzig machte
und daß er ſich, obwol er erſchrocken und ziemlich faſſungs⸗
{08 war, eines Lächelns nicht erwehren konnte. Der
Angeflagte N. gerietb darüber in Zorn. Er fchrie ihn
brobend an: „Sie wagen noch zu lachen!” und fuhr,
fih zu feiner Frau wendend, fort: „Sieh, er höhnt
ung!“
Tſchichatſchew entichuldigte fih, N. aber rief: „Sie
dürfen nicht Länger leben. Wenn Sie nicht ſelbſt frei-
‚willig ein Ende machen, fo wird e8 von anderer Hand
gefchehen!” Frau N. fügte hinzu: „Ich habe mein Wort
verpfändet. Wenn Sie fich nicht ſelbſt dazu entjchließen,
geichieht e8 durch mich!” Der Angeklagte N. frug jeine
Frau: „Biſt du bereit?”, fie antwortete: „Sal ich bin
e8!” Im diefer kritiſchen Lage erklärte Tſchichatſchew, es
jet ihm unmöglich, diefer Forderung nachzufommen, man
jolle ihm Zeit laſſen, einen Entichluß zu faſſen. ‘Die
Angeklagten gaben ihm fünf Minuten Frift.
182 Die Ermordung
ALS Zereſchkewitſch ihn fpäter frug, weshalb er nicht
energifch proteftirt und insbeſondere nicht jofort die An⸗
ſchuldigung, daß er dem jungen Mäpchen Gewalt an-
getban, zurückgewieſen babe, erwiberte er: „Ich fchwieg,
weil die Frau mich dauerte. Ich kannte den rachfüchtigen
Charakter ihres Mannes und feine Reizbarkeit.” Er
fuhr dann fort in feiner Erzählung: „Er habe nach
einem Auswege aus ber verzweifelten Lage gefucht, und
zu feinem Glück pochte jemand von außen an bie
Thür. Der Stabsfapitän rief: «ES darf Niemand
herein!»”
Es war Zerefchfewitich, er blieb vor der Thür ftehen
und antwortete: „Gut, ich werde warten.” Die An-
geflagten wagten nun doch nicht, ihr Vorhaben auszu⸗
führen. Sie bewilligten Aufſchub und gaben Tſchichatſchew
frei. Als er mit Zereſchkewitſch fortging, frug ihn ber
feßtere, der nicht wußte, was gefchehen war, ob er ben
Stabstapitän und feine Frau zu Tiſch bitten follte,
Zichichatichem antiwortete ganz verjtört: „Wie du willft,
wie du willſt!“
Jetzt erſt bemerkte Zereſchkewitſch, daß fein Freund
faſt von Sinnen war. Er unterließ die Einladung und
erkundigte ſich, was denn zwiſchen dem Stabskapitän
und ihm vorgefallen wäre. Tſchichatſchew theilte ihm
alles mit. Zereſchkewitſch rieth, die unſinnige Forderung,
daß er ſich das Leben nehmen ſolle, rundweg abzulehnen.
Als der Stabskapitän N. abends zu Zereſchkewitſch kam
und Tſchichatſchew zu ſehen verlangte, erklärte der Haus⸗
herr, ſein Gaſt ſei unwohl und könne niemand empfangen.
Der Stabskapitän ſprach ſeine Verwunderung aus und
übergab einen Zettel für Tſchichatſchew, in welchem er
von dieſem eine beſtimmte Antwort auf das an ihn ge⸗
ſtellte Verlangen forderte. Tſchichatſchew ließ ihm ſagen:
bes Collegienaſſeſſors Tſchichatſchew. 183
„er fühle ſich ſo leidend, daß er den Zettel nicht habe
leſen können“.
Nun ſchrieb N. einen Brief, um deſſen Uebergabe
er Zereſchkewitſch bat. Darin hieß es: „Ich erwarte Sie
beſtimmt im Laufe der nächſten beiden Wochen auf meinem
Gute, ohne Zeugen.“
Die Angeklagten reiſten ab, weil ſie einſahen, daß
fie vorläufig ihren Zweck nicht erreichen konnten.
Tſchichatſchew aber zerbrach ſich vergebens den Kopf,
was er anfangen ſolle. Er blieb in Nowortſchew, um
ſeine Geſchäfte zu erledigen. Dieſe zogen ſich länger
hinaus, als er dachte. Als er den Koffer packte, um
mit ſeinem Freunde von Witte abzureiſen, ſtürzte der
letztere plötzlich in ſein Zimmer mit den Worten: „Der
Stabskapitän N. und ſeine Frau ſind hier, raſch, raſch
in den Wagen und fort!“
Tſchichatſchew war unentſchloſſen, aber ſein Freund
ließ ihm keine Zeit, er zog ihm den Paletot an, ſtülpte
ihm die Mütze auf den Kopf, trieb ihn in den Wagen
und befahl dem Kutſcher, zur nächſten Station zu fahren.
Zehn Minuten nach der Abfahrt erjchten der Stabs⸗
kapitän. Dan fagte ihm, Zichichatfchew ſei abgereiit.
Er wollte das nicht glauben, dann fagte er: „eltern
Abend war er noch bier.“
Zerejchfewitich wiederholte: „Er ift fort!”
Der Stabsfapitän ging, kam aber gleich darauf mit
feiner Frau zurüd und verlangte nach Tſchichatſchew.
Zerefchkewitich zuckte die Achfeln und ftellte ihm frei, das
Haus zu durchſuchen. Sie machten von biefer Erlaubniß
Gebrauch. Als fie ihn nicht fanden, waren fie fehr er-
bittert, Frau N. fchrie wüthend: „Ich bringe den ſchänd⸗
lichen Verführer um, er hat meine Unerfahrenheit auf
184 Die Ermordung
das abſcheulichſte misbraucht und mich unglüdlich ge-
macht!” Endlich zogen fie ab.
Zereſchkewitſch und von Witte aber fuhren zur nächiten
Station, auf welcher fie mit Tſchichatſchew zuſammen⸗
trafen. Er und von Witte reijten mit der Bahn weiter,
während SZerejchfewitich zurückkehrte. Unterwegs jtieß er
auf die Angeflagten, die Tſchichatſchew nacheilten, ihn
aber nicht mehr einholen konnten. Tſchichatſchew kam
glücklich nach Petersburg und erzählte bort fein Aben-
teuer. Nach und nach beruhigte er fich wieder und zwar
um jo leichter, weil ihm Zerejchlewitich fehrieb, die An-
geflagten fchienen ihre Rachegedanken aufgegeben zu haben,
fie wären auf ihr Gut gegangen und würben demnächſt
ins Ausland reifen. |
Tſchichatſchew Tieß das Gerücht verbreiten, er begebe
fih ins Ausland, in Wahrheit aber ging er zu feinem
Sreunde, dem Oberſt von Raaben, in das Lager von
Krasnoe⸗Selo und blieb daſelbſt 14 Tage.
Bis zum November ereignete fich weiter nichts, als
daß von N. ein Brief fam, den Tſchichatſchew dahin be-
antworten wollte, man folle ihn in Ruhe laffen. Ehe
bie Antwort abgegangen war, traf von Zereſchkewitſch die
Nachricht ein, der Stabsfapitän fei ald Zeuge in Sachen
bes Friedensrichters Klingenberg nach Petersburg geladen.
Diefe Mittheilung veranlaßte Tſchichatſchew, mit feinen
Verwandten Rath zu pflegen, was er thun follte. Sie
hielten e8 zwar für unmöglich, daß die N.s ein Attentat
auf fein Leben beabfichtigten, riethen aber doch, die Polizei
zu benachrichtigen. Dazu Fonnte ſich Tſchichatſchew nicht
entfchließen, er lebte fih nach und-nach in ben Gebanfen
ein, es könne am Ende doch jo fchlimm nicht werben.
Der Oberft von Raaben erbot fich ven nervöſen Tſchicha⸗
tihew, ver jchwerlich Taltblütig bleiben würde, bei ber
bes Collegienaſſeſſors Tſchichatſchew. 185
Zuſammenkunft mit dem Stabskapitän zu vertreten.
Tſchichatſchew ging jedoch auf dieſen Vorſchlag nicht ein.
Er kannte den Stabskapitän als einen aufbrauſenden
Menſchen, befürchtete, daß er gegen den Offizier grob
werden und dadurch die Sache verſchlimmern könnte,
insbeſondere aber ſollte N. auch nicht erfahren, daß der
Oberſt von dem Verhältniß Tſchichatſchew's zu Frau N.
unterrichtet ſei.
So wurde denn endlich beſchloſſen, Tſchichatſchew ſolle
ſich nur in Gegenwart des Oberſten, als Zeugen, in eine
Auseinanderſetzung mit dem Stabskapitän einlaſſen, und
wenn dieſer zum Angriff überginge, ſolle der Oberſt ihn
ergreifen und Tſchichatſchew Leyte zur Hülfe rufen. Man
kam überein, daß der Angellagte nur um 6 Uhr empfangen
werben bürfte, weil ber Oberſt um dieſe Zeit ſtets zu
Hauſe war.
Alles ſchien aufs beſte geordnet zu ſein. Es kam
aber ganz anders.
Am 26. November kehrte der Oberſt ſchon um 4 Uhr
nachmittags vom Dienft zurück. Er war ſehr ermüdet,
er legte ſich, was ſonſt nicht ſeine Gewohnheit war, in
ſeinem Zimmer, welches an das von Tſchichatſchew ſtieß,
zur Ruhe und ſchlief ein. Halb im Schlafe hörte er,
daß ihn jemand weckte, Tſchichatſchew ſtand vor ihm
und flüſterte ihm zu: „Steben Sie auf, ſie find ge⸗
kommen!“
Der Zeuge ſprang auf und kleidete ſich haſtig an.
Tſchichatſchev war dem Angeklagten N. inzwiſchen
entgegengetreten und hatte die Zwiſchenthür hinter ſich
zugemacht. Einer nur minutenlangen hitzigen Unterredung
folgte heftiger Lärm. Frau N. ſagte: „Ich bin gekommen,
Antwort auf meinen Brief zu holen.“
Tſchichatſchew übergab ihr die tags vorher ſchriftlich
186 Die Ermorbung
anfgejegte Antwort, mit den Worten: „Da ift fie! Sie
mögen daraus erfehen, was ich Ihnen mitzutbeilen babe;
ich Taffe mich auf Unterhandlungen nicht ein und erjuche
Sie, mih in Ruhe zu laſſen. Sollten Sie indeß noch
vollftändigere Erklärungen wünfchen, jo läßt fich darüber
reden.”
Der Angellagte nahm den Brief und murmelte etwas
von einem Duell,
Tſchichatſchew erwiderte: „Nah Ihrem Verfahren
gegen mich kann ich die Herausforderung nicht annehmen;
Site haben jedes Recht dazu verwirkt!”
Hierauf großer Lärm. ALS der Oberft eintrat, fand
er bie beiden Männer im Fauſtkampf; die Schläge fielen
hagelbicht. Der Oberft riß den Angellagten weg von
Tſchichatſchew, fchleppte ihn auf einen Divan und bielt
ihn dort feſt. Der Stabsfapitän hatte ein. Meffer in
der Hand. Es krachte ein Schuß. Tichichatichew rief:
„Jetzt Tann man fie der Polizei übergeben.” Gleich darauf
jagte er: „Ich bin verwundet!” Frau N., die geichoffen
hatte, wurde von einem Hausfnecht weggeführt. In
biefem Augenblide fiel ein zweiter Schuß. Frau N.
wurde gewaltfam entfernt und die Treppe hinunter-
befördert. Den Stabsfapitän beförberte ver Oberft in
ein Vorzimmer und fchloß daſſelbe ab. Die Frau rief
ihrem Manne zu, „ob ihm etwas zugeftoßen fei”, ver
Oberſt entgegnete: „Hier ift nicht der Ort Zärtlichkeiten
auszutauschen. Ihr wahrer Feind ift Ihr Mann. Sie
find fein blindes Werkzeug.” Plötzlich fagte jemand:
„Tſchichatſchew ift ſchwer verwundet!“ Darauf ant-
wortete fie: „Hörft du, Kolinka“ (Koſename für Nikolai),
„ich habe ihn getötet.” Ihr Mann, ver biefe Aeußerung
durch die Thür vernommen hatte, eriwiderte: „So ver-
giß nicht, was ich Dir gejagt habe.“
bes Eollegienaffeffors Tſchichatſchew. 187
Bald darauf erjchtenen die Polizei und der Unter-
Inchungsrichter.
Vom BPräfidenten nach der Perfönlichleit des ver-
ftorbenen Tſchichatſchew befragt, erflärte ter Oberit von
Raaben: „Er war ein Menſch, deſſen Gutmüthigfeit
und Weichherzigfeit zur Verzweiflung bringen Tonnten,
ſchwach, nervös, leicht erregbar, wahr ımb reblich in Wort
und That, human und menfchenfreundlid. Im Dienite
bes Staates ftand er lediglich aus Patriotismus, nicht
ber Bejoldung wegen. Er war fehr wohlhabend. Vor
einigen Jahren bat er für 70 Kinder eine Dorfjchule
bauen laſſen, für die er jährlich mit freigebiger Hand
ſpendete. Auch in feinem Teſtamente hat er der Schule
noch 10000 Rubel vermacht. Bon feiner Frau, bie ihn
das Leben verbitterte, lebte er geſchieden. Trotzdem hatte
er ihr, als fie fih trennten, eine unabhängige Stellung
gefichert, und mehr als einmal fagte er, daß er fie wieder
ins Haus nehmen würde, wenn fie durch irgendeinen
Zufall von dem ihr jegt naheftehenden Manne getrennt
werden follte. Im Zeftament hat er ibr 5000 Rubel
ausgejegt. — Er war ein feltjamer, dem weiblichen Ge-
fchlecht gegenüber zartfühlender Menſch.“
Der Zeuge Woronin (Hausknecht) fagte aus: „Ich
war in der Tſchichatſchew's Wohnung gegenrüberliegenden
Küche, als ich Lärm und Schreien hörte und darauf
zueilte. Ich ſah Zichichatihew am Divan ftehen, ein
Unbefannter batte ihn an der Bruft gepadt. Sch fprang
hinzu, um ben Fremden von hinten zu faflen, fühlte
aber fofort einen Schmerz in der Hand. Der Unbelannte
hatte durch meine Finger hindurch Herrn Tſchichatſchew
ein Mefjer in die Bruft geftoßen und mich Dabei ge-
ſchnitten. Im jelben Augenblick fprang Oberft von Raaben
hinzu, griff ven Fremden an und rief mir zu, ich folle
188 Die Ermordung
die Frau fejthalten. Sie gab einen Schuß ab. Als ich
bie Frau faßte und fortzog, fiel ein zweiter Schuß. Nun
warf ich fie nieder und fchleppte fie zur Treppe. Sie
ſchrie und fehimpfte Tſchichatſchew einen Schurken und
Elenden. Dem Fremden rief fie fragend zu: „Kolja,
wo haft du das Meffer?” Diefer antwortete: „Zum
Fenſter hinausgeworfen!” — Als ich fagte, Herr Tſchicha⸗
tichem ſei auf den Tod verwundet, rief ber Fremde:
„Run, Gott mit ihm!“
Zenge Popow, der Neffe des Gemorbeten, ſprach fich
im hohen Grabe günftig aus über ben ſympathiſchen
Charakter feines Oheims, und beftätigte alles, was von
Raaben ausgeſagt hatte.
„Nach der Kataſtrophe war der Angeklagte vollkommen
gefaßt, rauchte eine Cigarrette und trank Thee. Bei der
Ankunft der Polizei ſchimpfte er auf Tſchichatſchew und
nannte ihn einen Schurken, bat dann aber, man möge
demſelben ſein Bedauern über das Geſchehene aus»
drücken.“
Die Zeugin Frau Popow gab an: ‚Mein Bruder“
(der Ermorbete) „hat mir fein Abenteuer in Ajchewo ganz
fo mitgetheilt, wie es ber Oberft berichtete. Daß er
einem Mädchen Gewalt angethan haben follte, glaube
ich nicht; zu einer folchen That war er unfähig; er trat
bem weiblichen Gefchlecht gegenüber immer ſchüchtern und
zurückhaltend auf.“
Nach den Ausſagen Zereſchkewitſch's iſt der Angeklagte
ein leicht reizbarer, rachſüchtiger Menſch, der auf alle
Welt gewohnheitsmäßig ſchimpfte und mit dem ſchwer
auszukommen war. Tſchichatſchew, ehrlich und gutmüthig,
war ſicher nicht fähig, ein Mädchen zu vergewaltigen.
Er weigerte ſich, der Frau N. in Aſchewo eine ſchriftliche
Beſtätigung über ſein Verhältniß zu ihr zu geben, nament⸗
bes Eollegienaffeffors Tſchichatſchew. 189
lich darüber, daß er fie ohne ihre Einwilligung gebraucht
habe. Den falichen Beſchuldigungen in Gegenwart ihres
Mannes gegenüber ſchwieg er, weil er Mitleid mit ihrer
Lage hatte.
Die Zeugin N., die Schwägerin der Angeflagten, be=
fundete: „Beim Austritt aus dem abeligen Fräulein⸗
ftift, in welchem das junge Mäbchen feine Erziehung
genofjen hatte, that fie oft jo naive, unfluge Fragen, wie
ein Fleines Kind. Ich hielt fie deshalb für unerfahren
in allem, was Welt und Leben betrifft, und rieth ihr,
beſonders vorfichtig im Umgang mit Männern zu fein,
weil fie fonft leicht in Gefahr kommen könnte, ihren guten
Ruf zu verlieren und fich unglüdlich zu machen. Sonft
war fie befcheiben, heiter und ruhig.”
Perjonen aus der vornehmften Gefellichaft, wie bie
Fürftin Chowansky, General Stenbof Fermor und andere
Gutsbeſitzer der Gegend, beftätigten bie Charafteriftif,
bie Oberft von Raaben von dem verftorbenen Tſchichatſchew
gegeben hatte. Allgemein hielt man dafür, daß er ben
Damen gern den Hof machte.
Der Angeflagte wurde von den Zeugen übereinftimmend
als ein ftreng rechtlicher, aber reizbarer und ftolzer Menſch
bezeichnet, der oft fcharfe, bittere Kritif übte, ohne fich
um bie Meinung anderer viel zu kümmern. Ausprüde
wie: „Idiot, Kretbi und Plethi, Canaillen”, führte er
beftändig im Munde. Er war deshalb im Gouvernement
nicht beliebt, wohl aber wegen jeiner energifchen Thätig⸗
feit geachtet und vielfach gefürchtet.
Nach beendigtem Zeugenverhör nahm der Angeklagte
das Wort und fprach fih, mitunter ftodend und immer
ſehr erregt, über die Anklage in folgender Weife aus:
„Meine Frau war mir immer eine liebenbe, ergebene
Gattin, die meine Anfichten theilte. Wir lebten glücklich,
190 Die Ermorbuug
ich hatte Tein Geheimniß vor ihr und glaubte, daß auch
fie keins vor mir habe. ALS fie mir beichtete, was ſich
zwiichen ihr und Tſchichatſchew vor unjerer Verheirathung
zugetragen hatte, traf es mich wie ein Blit aus beiterm
Himmel. Ich hatte fie mir niemals anders als Teufch
und unentweiht vorftellen Tönnen. Nach ihrer Natur-
anlage und ihrem Weſen war ich davon überzeugt, daß
fie in ihrer Unwiſſenheit und Unerfahrenheit ver Ver⸗
führung unterlegen jein müfje, daß fie nicht freiwillig,
fondern gewaltfam entehrt worben fei. Sie theilte mir
mit, Tſchichatſchew Habe das Haus ihrer Verwandten,
bei denen fie wohnte, häufig bejucht, ihr den Hof gemacht
und das traurige Verhältniß zu feiner Frau erzählt. Als
das Unglück gejchehen und fie fein Dpfer geivorben, babe
er fein Verbrechen bereut, fie angefleht, das Geheimniß
zu hüten, damit Feine fchlimmen Folgen entftünven, und
gejagt: fie würde ihm dadurch beweiſen, daß fie ihm
verziehen habe.
„Ich war innerlich ganz ſchwankend. Einmal glaubte
ich, daß- alles ſich fo verhielt, wie meine Frau angegeben
hatte, dann zweifelte ich wieder. Ich wußte mich in
meine Lage nicht zu finden. Um Gewißheit zu befommen,
verlangte ich von meiner Fran, fie folle in meiner Gegen-
wart von ihrem Verführer Tſchichatſchew ein Belenntniß
feiner Schuld fordern. Wir dachten, er würde dazu
bereit fein. Ich hatte mir vorgenommen, ihn unter
irgendeinem Borwande zu einem Duell zu zwingen unb
die Schande zu rächen. Wir wählten Aichewo und hatten
dort die bekannte Zufammenkunft mit Tſchichatſchew. Als
meine Frau ihm vorbielt, was er an ihr verbrochen hatte,
jagte er Tein Wort. Er ftimmte nicht zu, wiberfprach
aber auch nicht, nur als das Wort «Gewaltthätigfeit»
fiel, äußerte er, daß man fein Vergehen fein gewaltthätiges
bes Collegienaſſeſſors Tſchichatſchew. 191
nennen könne. Meine Frau erinnerte ihn an fein Ver⸗
prechen, ihr fein Leben opfern zu wollen.
„Ich Tonnte nicht fchweigen und rief ihm beleibigenbe
Worte zu, weil mich der Zorn übermannte. Ob ein
Dolh und eine Piftole auf dem Tiſche gelegen haben,
weiß ich nicht.
„Zereſchkewitſch unterbrach uns und wir konnten bie
Unterrebung nicht beendigen.
„als Zichichatjchew troß feines Verfprechens nicht zu
uns auf unſer Gut kam, Hatte ich Teine Ruhe mehr.
Wir fuhren wieder nach Aſchenow. Ich wollte ihn zu
einer Erflärung zwingen und ihn dann forvern.
„Dein Plan mislang, er war entfloben. Ich ſchickte
ihm durch Zerefchlewitich meine Forderung jchriftlich zu.
Es wurde mir aber erwivert, nad dem Vorgange in
Alchewo könne die Forderung nicht angenommen werben.
Ich glaubte, die Ablehnung erfolge wegen ver Be—
leivigungen, die ich ausgeftoßen hatte, und entgegnete: es
fei das ein Grund mehr zum Duell. Die Art und Weife,
wie ber Auftritt in der Dorffneipe von Tſchichatſchew
weiter erzählt worden war, hatte mich geärgert. Ich reifte,
um mich zu zerjtreuen, ins Ausland. Aber ich konnte
mich nicht beruhigen. Ich war aufgeregt und fchlaflos.
Sch ſchenkte meiner Frau zwar Glauben, ich wußte, daß
fie mich lieb hatte, aber ich mochte fein, wo ich wollte,
fogar in der wiener Ausftellung vergaß ich nicht, wie
unglücklich ich geworden war. Immer wieber tauchten
Zweifel in meiner Seele auf. Im biefer Verfaſſung fchrieb
ih den Brief an Tſchichatſchew, deſſen Concept fich bei
ben Acten befindet.
„als ich nach ſechs Monaten zurüdfehrte, hörte ich,
in der Gefellichaft würde über uns gefprochen, bie Sache
jei mit allen Details befannt. Ich verlor meine Faſſung
192 Die Ermordung
gänzlich, ich Tonnte mich nicht mehr mäßigen, und meine
arme Frau litt unter .meiner Stimmung und meiner
Behandlung. Ih war mehr denn je entjchloffen, ven
Räuber der Ehre meiner Fran zu einem Duell zu zwingen,
vorher aber wollte ich jeine Vertheibigung hören und
. Gewißheit darüber haben, baß meine Frau völlig un-
ichuldig gewejen und von ihm mit Gewalt genöthigt worden
jet, fih ihm hinzugeben. Ich kannte meine Heftigfeit und
gab meiner Frau deshalb den Revolver, als wir am
26. November 1873 in Tſchichatſchew's Wohnung ein-
traten. Sch dachte nicht daran, ihn zu ermorden. Meine
Frau forderte feine Erflärung. Er gab ihr einen Brief
und fagte, er fei zı einer weitern Beſprechung bereit,
wenn wir benjelben gelejen hätten. Ich ermwiberte, ich
wollte den Brief fofort leſen. Er remonftrirte dagegen
und verabfchiebete uns. Ich war froh, ihn enblich geitelit
zu haben, und rief ihm, als er uns in barfchem Zone
aus feiner Wohnung wies, meine Herausforderung zu.
Er antwortete, nach den Vorgängen in Ajchewo nehme
er ein Duell nicht an, und weigerte fich ganz entjchieden,
obgleich ich ihm bemerklich machte, jene Vorgänge hinderten
ben Zweikampf nicht. Nun ohrfeigte ich ihn, ſodaß er
gegen die Thür flog. Raſch erhob er fich, fiel über mich
her umd fchrie: «Der Hausknecht foll Sie binden» In
biefem Moment trat ein Offizier aus dem Nebenzimmer,
der fich mit Tſchichatſchev auf mich warf. Es entjtand -
eine Schlägerei. Ich vertheidigte mich, fo gut ich Fonnte,
wurde aber auf einen Divan nievergeworfen. Das Meſſer
hatte ich bis dahin noch nicht in der Hand, nun aber
gelang e8 mir, e8 aus ber Zafche zu ziehen. Ich ſtieß
blind zu auf Tſchichatſchew, der mit beiven Fäuften auf
mich fchlug. Sch weiß nicht, ob und wohin ich ihn ge»
ftochen habe. Ich Hörte zwei Schüffe fallen. Meine Frau
bes Eollegienafjeifors Tſchichatſchew. 193
wurbe abgeführt und ich befand mich plößlich allein im
Dorzimmer. Ich wußte gar nicht, was eigentlich ge⸗
ſchehen war, und zog ben Brief Tſchichatſchew's hervor,
um ihn zu lefen. Da börte ich meine Frau mir zu-
rufen, daß Tſchichatſchew gefährlich verwundet fei. Ich
erichraf, warf das Meſſer zum Tenfter hinaus und Ließ
Tſchichatſchew jagen: Ich hätte ihm nicht abfichtlich ge-
jtochen, e8 thäte mir leid. Ich bäte um Verzeihung.
Ich bin jchuldig an der Verwundung, aber ich leugne,
daß ich ihn habe ermorden wollen und daß ich abfichtlich
gehandelt habe.”
- Die Angellagte Frau N. erzählte vor Gericht, daß
fie ihrem Manne ibren Tehltritt befannt habe, weil fie
fürchtete, die Sache könnte ihm buch Tichichatichew’s
Frau hinterbracht werden und weil ihr das Geheimnig
ihrem Manne gegenüber fchwer auf dem Gewiſſen gelegen
habe. Ob ihr Mann am 26. November ein Meffer bei
fih gehabt habe, wifle fie nicht, fie habe geglaubt, daß
Tſchichatſchew durch Die von ihr abgegebenen Schüffe ver-
wundet worben fei. Geſchoſſen habe fie ganz ohne Ueber.
legung, weil man ihren Dann gejchlagen habe.
Nach dem Gutachten von zwei Sachverjtändbigen, bie
in ver Verhandlung verlefen wurben, hat Tſchichatſchew
ſechs Stichwunden erhalten, die von einem jcharfen Meſſer
herrührten. Zwei davon waren zolltief in bie Bruſt
eingedrungen, die eine links von oben nach unten, bie
andere rechts gerabenus. Beide Wunden waren unbebingt
tödlich.
Weiter wurben folgende Briefe verlejen:
1) Ein Brief des Angeklagten aus Berlin an Tſchicha⸗
ticheiw:
„Nichts iſt empörender, als eine in jeder Hinficht
verächtliche und jämmerliche Perſönlichkeit fortwichern zu
XXI. 13
194 Die Ermordung
fehen, bie ihre eigene Erbärmlichkeit nicht anerkennt. In
Ihnen ift nichts Ganzes, alles Fäglich Hein. Sie find
ftoddumm, fabe und geldgierig. Nur eine einzige Eigen-
ſchaft befigen Ste nicht im verfleinerten Maßſtabe, die
des Feiglings! Je mehr ich alle Phafen Ihres Lebens
burchdenfe, je effer und widerlicher wird mir Ihre Per-
fönlichkeit. Auch nicht ein einziger mildernder Umftand!
— Gie find ein erbärmlicher Menſch! — Nur der Adler
kann einem leibthun, dem man bie Flügel befchnitten
hat, nicht aber ein Patron wie Sie!
„Verſtand befigen Sie nicht, können ihn alſo auch
nicht verlieren. Ich verfolgte Sie, um Sie zum Zwei-
fampf zu nöthigen, und mit Ihnen zu verfahren, wie
man mit einem Teigling verfährt, wenn er fich weigert,
d. b. ihn mit dem Stod zu züchtigen. Meine Abficht
haben Sie bei Ihrem Freunde verbreht, als ob ich Sie
ermorden wollte. Wie haben Sie nur die freche Stirn
gehabt, jo etwas vorausfegen zu können?
„Man verlangte von Ihnen eine Auseinanderjegung,
Sie aber hielten es für ficherer davonzulaufen.“
2) Der Brief der Angeklagten an Tſchichatſchew, von
deſſen Wiedergabe der Länge wegen abgefehen werben
muß. Er beiteht aus Schmähungen und Schiumpfreben,
in denen fich die excentriſche Schreiberin ergeht. ‘Der
Inhalt ergibt fich übrigens aus dem pritten Briefe,
Tſchichatſchew's Antwort darauf:
„Die eriten Zeilen Ihres Briefes enthalten ſchon
eine, burch nichts begründete Forderung. Sie jchreiben:
Ich Hätte gewagt, Sie aufs fchmählichite zu verleumben
durch die Behauptung, ich habe Ihrem Freunde gejagt,
Sie hätten mich entehrt u. |. w.
‚Ber gibt Ihnen vor allem ein Recht, in fo be-
fehlendem Zone zu reden? Haben Sie denn vergeffen,
des Sollegienaffeffors Tſchichatſchew. 195
daß ich bei den Scenen nach meiner Abreiſe aus Aſchewo
nicht gegenwärtig ſein konnte?
„Was ich nicht weiß, kann ich weder beſtätigen noch
leugnen, kann auch Zereſchkewitſch, einem ſelbſtändigen,
ehrenhaften Manne, den ich nicht fähig halte Verleum⸗
dungen zu verbreiten und Thatſachen zu verdrehen, weder
etwas verbieten noch befehlen. Ihre Schmähungen und
Schimpfreden laſſen an Schärfe nichts zu wünſchen. Das
iſt leicht, beſonders wenn noch Einflüſterungen mithelfen.
Sie beweiſen indeß gar nichts, beleidigen nicht, beſchmuzen
nur den, der ſie ausſtößt und zu ſolch niedrigen Mitteln
greift. Ihr Brief enthält die widerſprechendſten Be⸗
hauptungen, die eigentlich unbeantwortet bleiben ſollten.
Beantworte ich ſie dennoch, ſo geſchieht dies aus dem
Grunde, weil mein paſſives Verhalten Ihnen gegenüber
ſtatt begriffen zu werden, falſch gedeutet und zu neuen
Schimpfreden benutzt wird. Sie ſchreiben: «Sie ſind
ein ehrloſer Feigling, der ein unglückliches, vor ihrem
Manne und der Geſellſchaft verleumdetes Weib im Stich
lift.» — Die Worte: «ehrlofer Feigling» paſſen nicht
auf mid. Bei Ihrem erjten Bejuh in Alchewo und
Ihrer rechtfertigenden Erflärung gegenüber habe ich mich
ſchweigend verhalten, weil ich fo beitürzt war, daß ich
feine Worte fand, auch lieber fchwieg und alles auf mich
nahm, um Sie nicht bloßzuftellen. Und die Verhalten
nennen Sie feig, ehrlos! Wenm ich auch Feine Triegerifchen
Neigungen verjpüre, fo muß ich e8 doch ausſprechen, daß
mich Ihr Vorgehen ftugig machte, mehr noch als das
Uneriwartete der Scene.
„Ich wollte Ihren Kummer nicht vergrößern und ver-
mieb lieber jegliche Erflärung, weil fie nur ungünftig
für Sie lauten konnte. Es war mir peinlich, daß das
son mir forgfältig gehütete Gcheimniß an ben Tag ger
13*
196 Die Ermordung
fommen war, barum Tieß ich auch die Schimpfreven Ihres
Herrn Gemahls ruhig über mich ergehen. Sie können
nicht leugnen, daß ich, nachdem ich alles ohne Erwiderung
angehört hatte, frug, was man weiter von mir wolle?
Ich glaubte eine würbige Antwort zu erhalten, ftatt
Dinge zu hören, bie mir nie in den Sinn gekommen
waren.
„Ich follte mir ſelbſt das Leben nehmen!
„Wie jchwer mir auch ums Herz war, konnte ich
doch nicht umhin, diefe Forderung lächerlich zu finden.
„Da drohte mir Ihr Gemahl mit Mord!
„Leugnen Ste nicht, ich verbrehe dieſe Thatſache nicht,
Wie joll man den Menfchen nennen, ber, wenn er fich
beleibigt fühlt, die Gefahr von fich felbft abwenden will
unb e8 feiner Fran überläßt dem Gegner eine fo eigen»
thümliche Forderung zu ftellen?
„Site werben fich erinnern, daß mir zuerft nur fünf
Minuten, dann aber bis 5 Uhr nachmittags Zeit zur
Enticheibung gegeben wurde, unter ber Bedingung, daß
ih die Drohungen gegen mich geheimbielte.
„So jchlau dies ausgedacht war, fo egoiftifch war
es auch.
„Nach dem, was vorgegangen war, konnte da noch von
einer wiederholten Zuſammenkunft die Rede fein?
„Ich hätte verrüdt fein müffen, wäre ich barauf ein-
gegangen.
„Ich Tab in Ihnen nur noch meine Feinde, nichts.
beftoweniger bewahrte ich das Geheimnif. Ich be⸗
ichleunigte meine Abreife, fonnte fie jedoch erjt auf ben
11. Auguft feitfegen.
„Was dann vorging, übertraf das Dienfchenmögliche.
Ihre Verfolgung meiner Perſon wurde aller Welt be-
fannt, fie bildete das Gefpräch des ganzen Gouvernements.
des Eollegienaffeifors Tſchichatſchew. 197
„Vieles wurde Hinzugefeßt, noch mehr entitellt. So
blieb mir nichts übrig, als die Wahrheit zu berichten,
was ich fo biscret als möglich gethan Habe.
„Die ganze Schwere bes Creigniffes fällt auf Sie,
in noch höherm Grade auf Ihren Mann, der Sie eine
fo unwürdige Rolle Tpielen Tieß.
„Bevor ich fchließe, kann ich die Stelle Ihres Briefes
nicht mit Stillſchweigen übergehen, in welcher Sie ven
Wunſch aussprechen, ich möge ven Wahnfinmigen fpielen!
„Die Rolle käme denen eher zu, welche bie Sache an
die große Glocke gehängt haben, nicht mir!
„Auch die Auslaffung Ihres Briefes ſoll nicht über-
gangen werden: «Sie find ein gemeiner Dieb, ber ſich
in. ein Haus gefchlihen und das Mitleid eines umer-
fahrenen jungen Mädchens misbraucht Hat, um fein
Theuerftes zu ftehlen.»
„Wie unwahr! Verkehrte ich doch in dem Hauſe,
bevor ich von dem Dafein des unerfahrenen Mäpchens
wußte. Warum Ste mich aber Dieb nennen, verftehe
ih nicht. Sch babe nie etwas genommen, was mir nicht
gutwillig gegeben wurde.
„Vor Ihrem Manne wollen Sie nie etwas verheim⸗
licht haben, und verſchwiegen ihm doch jahrelang, was
Ihnen ſchaden konnte. Eine ftreng moralische Frau hätte
dem Manne die Belenntniffe vor ihrer Verheirathung
gemacht. Damals wäre das ehrlich gewejen.
„Ihre Begriffe fcheinen verwirrt zu fein. Was Sie
unter Verleumbung und Wahrheit verftehen, begreift fein
Menſch. Klar ift nur, daß Sie in Fünftlich erregter Wuth
auf Befehl Ihres Herrn nach fo vielen Jahren großes
Unheil angerichtet haben. Gegen mich aber haben Sie
gewiſſenlos gehandelt, indem Sie die ganze Schuld auf
mich fchoben. Dadurch wurden Sie zu meiner Yeinbin.
198 Die Ermordung
Trotzdem fchonte ih Sie, um nicht als Ankläger gegen
Sie aufzutreten, und Sie nennen mich dafür einen Feigling!
„Sn Ihrer mündlichen Beſchuldigung konnte ich bie
Beeinfluffung Ihres Mannes vermuthen; die Verant-
wortung für Ihren Brief fällt auf Sie allein und raubt
Ihrer Lage jede Theilnahme. Bon diefem Augenblid an
hört jede Verpflichtung meinerfeits Ihnen gegenüber auf,
und ih muß auf Sie als meine ſchlimmſte Feindin bliden.
Ihnen auszuweichen, babe ich Feine Urſache, ebenfo wenig
bin ich verpflichtet, Ste aufzufuchen. Gegen jedes etwaige
Attentat Ihrerjeits babe ich meine Maßregeln getroffen!”
Hierauf wurden Stellen aus Zerefchlewitich’8 Briefen
an Tſchichatſchew vwerlefen, aus benen hervorgeht, daß
Zereſchkewitſch ihm die Gerüchte mittheilt, die in ber
Gegend laut geworben find. Die Klatjcherei erzählt von
Dolch und Piftole, von einem Glaje mit Gift und einem
Strid zum Hängen, von den Reifen der Angeflagten als
Verfolger und daß der Stabsfapitän zum 26. November
nach Petersburg gelapen fei als Zeuge.
Weiter wurden Stellen verlefen aus Frau N.'s Tages
buch. Da heißt ed: „Ach wie oft werfe ich mir vor,
daß mir das unheilwolle Geftänpniß entjchlüpfte! Warum
mußte ich e8 ihm geftehen! Es wäre beffer gewejen, ich
hätte e8 mit ind Grab genommen! Ich hätte ihn und
mich nicht fo gequält. Was kann ich dafür, wenn ich
nicht begreife, worüber er fich nur fo grämt? — Alles
hätte ja im ftillen und beſſer abgemacht werden können.
„Ich ſchwur ihm, alles zu erfüllen, was er verlangt
— begriff ich aber, was ich fchwur?
„Ich muß zu Grunde gehen; das ift unvermeiblich,
ich bin auch bereit dazu, wenn ich ihn nur wieder glüd-
lich febe.
„Daß ihm aber das Glück bringen wirb, bezweifle ich,
des Eollegienaffelfors Tſchichatſchew. 199
„zraurig ift, daß er dadurch, wie er mich behandelt,
es dahin gebracht bat, daß ich ihn fürchte, während ich
ſechs Fahre glücklich mit ihm Iebte, er zärtlich gegen mic)
war und mich liebte.
„Ih fürchte ihn wirklich zuweilen, meide ihn, fuche
ihm nicht unter die Augen zu kommen. — Was alles
bat mir mein Leichtfinn zugezogen!
„Heute bin ich den ganzen Tag allein und athme frei
auf. — Ich grüble beftänbig darüber, wie ſchwer e8 doch
fein würde, von ihm getrennt zu leben.
„Ach, ich habe mein und fein Glück vernichtet!
„Welch eine edle, tieffühlende Seele er befigt! — Wie
viel Gutes babe ich von ihm genoffen! — Gott ift mir
gnäbig gewejen, als er mir einen Mann: wie biejen
fandte! — Vielleicht erbarmt fich Gott meiner und rettet
mih! — Er allein kann mich noch retten.
„Der heutige Tag verging wie ver geftrige. Ich hatte
ihn nicht erwartet, ſaß mit meinem Mädchen allein, wollte
mich Schlafen legen, hatte weder Glocke noch Hundegebell
vernommen, da hörte ich plöglich laut ſchreien. Heftig
erichroden Tege ich meine Arbeit weg, ftatt die Thür
Öffnen zu laſſen. Er fchlug ſtark dagegen, als ob er fie
einbrechen wollte. Man eilte, ohne Licht, zum Deffnen,
was eine Heine Weile dauerte. Er fjchimpfte laut, ich
war auch dabei und befam mein Theil ab. Früher be-
grüßte er mich, namentlich in Gegenwart Fremder, nie
anders als zärtlih. Set bebe ich vor Angit, ftatt
mich zu freuen und ihn zu begrüßen. _
„In jener Nacht fchloß ich Fein Auge, ging hinans
auf die Straße und legte mich in den Schnee; drei
Stunden blieb ich Liegen, ich wollte mich erfälten. Als
ich wieder bineinfam, fagte er, er jei zum 27. nad)
Petersburg geladen, redete weiter mit mir und wir ver»
200 Die Ermordung
ſöhnten und. Am 14. November verlangte er, ich ſollte
einen Brief fchreiben; ich that e8, er las ihn durch und
verbeiferte ihn.”
Die Beweiserhebung war gefchloffen, ver Thatbeſtand
flar gejtellt. Der Oberprocurator am Caffationshofe des
GSenates zu Petersburg, A. 3. Koni, der höchite Beamte
der Staatsanwaltichaft in Rußland, erhob ſich und be-
leuchtete daS begangene Verbrechen in einer intereſſanten
Rede, die im wefentlichen jo Tantete:
Meine Herren Richter und Geichworenen!
Durch Geſtändniß und Zeugenausſagen wiffen Ste,
daß am 26. November 1873 in ver Sachäsjewsfoiftraße ein
Mord an dem emeritirten Friedensrichter Tſchichatſchew
verübt worben iſt. Der Fall erregte in Petersburg und
in der Gegend, in welcher die Angeklagten und ber Er-
morbete gelebt Hatten, großes Auffehen.
Die verfchtevenartigften Auslegungen, die abſurdeſten
und Fühnften Behauptungen und Vermuthungen wırden
ausgeiprochen. Die Einen fchilderten die Angellagten in
den ſchwärzeſten Farben, die andern dagegen ſchmähten
ben verftorbenen Tſchichatſchew als einen Menfchen, ver
feines Mitleivs würdig fei.
Diefe Gerüchte, welche nur auf leerem Geſchwätz be=
ruhten, müſſen heute ein Enbe nehmen, denn bie gericht-
liche Unterfuchung und die Verhandlung haben die Wahr⸗
beit kundgemacht. Wir werben bie Bebeutung und den
Charakter der That auseinanverzufeken haben, damit
ein unparteiifches Urtheil gefällt werben fanı. Es wirb
fi zeigen, ob man ungeftraft über ein frembes Leben
verfügen darf unter dem Einfluffe des Zornes und des
bes Collegienaffejfors Tſchich atſchew. 201
Haffes, ob jedermann Richter in eigener Sache fein und
den Urtheilsfpruch vollziehen darf, den er in feiner Leiden⸗
ſchaft ſelbſt gefunden bat.
Die Anklage beichulpigt den Stabsfapitän N., im
Jähzorn und in Gemüthsaufregung ven Collegienaſſeſſor
Tſchichatſchew getöbtet, und die Frau N., im Jähzorn und
Gemüthsanfregung auf das Leben des genannten Tſchicha⸗
tihew ein Attentat begangen zu haben.
Das Geſetz unterjcheivet fcharf zwiſchen vielen Ver⸗
brechen und dem Morde, ver vorher geplant, vorbereitet
und dann Faltblütig begangen worden tft. Die Voraus⸗
fegungen dieſer Anklage find Jähzorn und Gemüthe-
aufregung und ber aus ihnen plößlich bervorgegangene
Entfchluß, den Gegner zu tödten, welcher zur Ausführung
gelangt ift.
Betrachten wir zunächſt die Perjönlichkeit des An⸗
geflagten N.
Er war Borfigender der Semſtwa (Provinztal«
inftitution), ein energiicher, thätiger Mann. Er genoß
das Vertrauen feiner Mitbürger und wurde deshalb für
feinen verantwortlichen Boften gewählt. An feiner Ehr-
lichkeit ift nie gezweifelt worden. Ehrlichleit und Thätig⸗
feit allein aber reichen noch nicht aus, um fich die Sym⸗
pathie der Menfchen zu erwerben. Ä
Der Angeklagte ftand allein im Kreiſe. Es bildeten
fih Parteien gegen ihn, mit benen er zu kämpfen hatte.
Seine ſcharfe Zunge, fein fchroffes, abſprechendes Wejen
machten ihn unbeliebt. Er felbft hat fich „ſchneidig“
genannt. Er geräth zu oft und zu rajch in Zorn und
ſpricht feine Meinung zu rückſichtslos aus.
Die bei den Acten befindlichen Briefe beftätigen bie
bier gejchilverten Charakterzuge. Fir ihn tft der ganze
Kreis. voll „Idioten“ oder „Lumpengeſindel“. Er allein
202 Die Ermorbung
ift der Fuge Mann, er fteht geiftig höher als alle andern,
er weiß alles befler.
Es ift begreiflih, das er feine Zuneigung im Kreiſe
erwecte. Man duldete ihn eben als ein nothwenbiges
Uebel. Diefer Dann beirathete ein junges Mädchen,
welches eben erft aus ber Penfion gekommen war. Die
Zeugen fchilvern fie als fehr nat. Nach ihrer Ver⸗
beirathung ftand fie vollfommen unter dem Einfluß ihres
Gatten, der fie als die ergebenfte und treuefte Lebens-
efährtin bezeichnet. Ste war ſtets feiner. Meinung.
Selbftändige Gedanken, eigene Entichlüffe Hatte fie nicht.
Ihre Briefe und ihr Tagebuch beweifen, daß fie zu den
nicht jeltenen Frauen gehört, die zu weinen, zu leiden
und fich zu grämen verftehen, bie bereuen, was fie gefehlt
haben, aber nicht die Kraft befigen zu handeln und in
einer fehwierigen Lage fich zu helfen. Sie bepürfen eines
Haltes. Wie ftarf ihr Mann auf fie einwirkte, erfennt
nian daraus, daß fogar ihr Briefftil dem feinigen gleicht,
baß fie biefelben Ausprüde gebraucht wie er.
Der Angeklagte hat wiederholt erklärt, er habe fich
mit Tſchichatſchew „ehrlich und ſtandesgemäß“ auseinander-
jegen wollen. In den Briefen der Frau kommen viefelben,
in ihrem Munde jeltfam Flingenden Worte vor. Auch
in ber Verhandlung bat fie gejagt, fie habe Tſchichatſchew
beweijen wollen, daß fie fich ſtets „anftänbig” und „ehr⸗
lich” benommen babe. Leider hat fie von ihrem Manne
auh das Schimpfen gelernt.
Ein Dann wie der Angellagte hätte überhaupt fein
jelbftändiges Weib neben fich gebulbet, nur eine -weiche,
paſſive Frau konnte mit ihm eine glücliche Ehe führen.
In das gute und frieblige Familienleben fchlichen fich
nach ben erften ſechs Jahren Mistrauen und Zweifel
ein. Als Frau N. noch ein junges Mäbchen war, hielt
des Collegienaſſeſſors Tſchichatſchew. 203
fie ſich bei ihren Verwandten auf, Dort traf fie mit
Tſchichatſchew zufammen. Er Tebte getrennt von feiner
dran und trauerte darüber, daß er fo allein ſtand.
Es ift begreiflich, daß feine Lage die Theilnahme des
Mädchens erwecte und daß diefe Theilnahme ihm wohl
that. Er ſuchte Troſt und Ruhe bei ihr, es entiwidelte
fih erft Freundſchaft, dann Liebe und leider kam es zu
einem nur zu vertrauten Verhältniß zwifchen ihnen. Wir
brauchen den Schleier nicht weiter zu lüften, aber hervor-
heben müfjen wir, daß von Verführung ober gar von
Gewalt nicht die Rebe fein kann. Die Umftände hatten
die beiden Menfchen zufammengeführt. Cr jehnte fich
nach .einer freundlichen, Liebenden, weiblichen Seele, und
fie hatte den lebhaften Wunfch, ihm jein Leib vergefjen
zu machen. War eine Täufchung vorhanden, fo beitand
fie nur darin, daß beide ein dauerndes, tiefes Gefühl
nicht von einer augenblidlichen teibenfchaftlichen Erregung
unterjchieben.
Die ganze Situation und ver Verlauf ber Sace
tiefen den Beweis, daß Frau N. den Umgang mit
Tſchichatſchew freiwillig angelnüpft hat. Sie war als
Saft bei ihren Verwandten. Dieſe hatten fie ermahnt,
ihren Ruf zu fchonen, und fie gewarnt vor allzu freiem
Berfehr mit Männern. Hätte Zichichatfchew ihre Un-
erfahrenheit gemisbraucht, ihr Vertrauen getäujcht, oder
gar ihr Gewalt angethan, jo würde fie weinenb bei
ihren Verwandten Schu und Beiſtand gejucht baben.
Statt deffen hat fie nicht nur nichts gejagt, fondern das
Berhältnig fortgefett, bis fie das Haus verließ und der
Stabskapitän N. um ihre Hand bat.
Tſchichatſchew war ein Verehrer hübjcher Frauen, aber
ſchwach und ohne Energie. Er trat fchüchtern und zart
auf und befaß gewiß nicht die Willenskraft, feine Wünfche
204 Die Ermordung
mit Gewält durchzuſetzen. Es iſt nicht denkbar, daß er
in ihr Schlafzimmer eingedrungen fein und fie genöthigt
haben Sollte, ihm zu Willen zu fein. Beide hatten ben
moralifhen Halt verloren, beide waren in Leidenſch aft
zueinander entbrannt und wiberjtanden ihr nicht. Beide
find gleich ſchuldig geweſen. Um jedem Verbachte vor»
zubengen, wohnte Zichichatfchew ver Hochzeit der An
geflagten als Trauzeuge bet.
Der Angeklagte N. hatte keinen Verdacht gegen feine
junge Frau, die er liebte, der er vertraute. Wie er uns
ſagte, beichlich ihn nur felten eine Ahnung, baß nicht
alles war, wie es fein follte, doch fchlug er fich ſolche
Gedanken aus dem Sim. Seine Frau aber fonnte bie
alten böjen Erinnerungen, den Schandfled in ihrem Leben
nicht vergefien. Lange Zeit fehlte ihr der Muth, ihrem
Manne ein Geftänpniß abzulegen. Scham und Furcht
banden ihre Zunge. Gewiß, es war unrecht, aber ver«
zeiblih. Als fie reifer wurde, als ihre Anbänglichkeit
und Liebe zu ihrem Manne wuchs, blickte fie reue⸗- und
fummervoll auf ihre Verirrung zurüd. Sie quälte jich
mit dem VBorwurfe, ihren Gatten hintergangen zu haben.
Ihr Gewiffen Tieß ihr feine Ruhe. Ihe Mann hatte
viele Feinde, fle war fein einziger Troft, und nun mußte
fie fich immer wieder jagen, daß fie feines Vertrauens
unwürdig, daß fie nicht aufrichtig gegen ihn gewejen war.
Ich glaube, was fie uns in dieſer Beziehung gejagt
hat. E8 wurde ihr immer fchwerer, das Geheimniß in
fih zu verfchließen, und e8 bepurfte nur noch eines äußern
Anftoßes, um fie dahin zu bringen, daß fie ihr Herz
ausſchüttete. Sie hoffte wol auch, ihr Mann würbe ihr
den jugendlichen Fehltritt verzeihen und feine Liebe nicht
entziehen. Ihre Lage wurde noch unerträglicher, als fie
befürchten mußte, daß ihre Schuld von dritten Perſonen
bes Collegienaſſeſſors Tſchichatſchew. 205
offenbart werben könnte. Ste haben gehört, daß Frau
Tſchichatſchew inftinetmäßig das Verhältniß ihres Mannes
zu dem jungen Mädchen errathen hatte und daß fie Davon
zu Bekannten ſprach. Die Gefahr der Entvedung wurbe
drohender. Wie leicht komte dem Stabslapitän N, hinter⸗
bracht werben, daß feine Frau vor ihrer Verbeirathung
fih mit Tſchichatſchew vergangen hatte.
Der Menjch, meine Herren Gejchworenen, ift aus
Widerfprücen zufammengejegt. Hochherzige edle Gefühle
find oft gemiſcht mit Heinlichen Empfindungen. Baliche
Scham und ber Wunfch, fich vor Gefahr zu ſchützen, ſich
als rein und unſchuldig darzuftellen, find nicht felten bie
Urſache, daß man nicht die volle Wahrheit jagt. Schwache
Menſchen befennen zwar ihre Schuld, aber fie machen
für ſich Milverungsgründe geltend. So geihah es auch
bier. Frau N. berichtete ihrem Manne, was gejcheben
war, aber fie bejaß nicht ven Muth, ihre Beichte gewiſſen⸗
haft und ehrlich abzulegen.
Nach ihrer Erzählung war fie das Opfer von Tſchicha⸗
tihew’8 BVerführungsfunft geworden, er hatte Gewalt
gegen fie angewendet. Unbedacht entfeffelte fie hierdurch
in der Seele des Angeklagten einen Sturm, ven fie nicht
wieder zu befänftigen vermohte Man Tann fich vor⸗
ftellen, was ber ftolze, ehrgeizige Mann litt, als er dieſes
Geſtändniß anhören mußte. Sein ganzes Leben erjchien
ihm vergiftet. Im jede Erinnerung an das Glüd feiner
Ehe, an die Liebe und Zärtlichkeit feiner Frau, brängte
fich der bittere Gedanke, daß alles Betrug und Lüge jet,
daß vor ihm ein anderer die gleiche Gunft genoffen habe.
E83 entwidelte fih in ihm ein furcchtbarer Haß gegen
Tichichatichew. Das Vertrauen zu feiner Frau ſchwand,
denn fie Batte ihm ihre Schande jahrelang verheimlicht.
Er Hatte die Achtung vor ihre verloren und Tam mol
206 Die Ermordung
auch auf ven Gedanken, daß das Geftänpni nicht voll-
ftändig fein möchte. Ihre Angabe, daß fie gewaltthätig
entehrt worden fei, war doch recht unglaublich, die An⸗
nahme, daß fie eine Zuneigung zu Tſchichatſchew gehabt
babe, lag nahe, und auch der Zweifel, ob die Beziehungen
nach der Verheirathung etwa gar fortgefekt worden feien,
nagte an feiner Seele. Tſchichatſchew und feine. Frau
waren ja öfter in Gefellichaft zujammengetroffen, und
weshalb hatte fie jo wiele Jahre gefchwiegen und ihren
Verführer gefchont? Der Angeklagte Tieß fich immer
wieder alle Detaild ihres Verkehrs mit Tſchichatſchew er-
zählen und wühlte in ver offenen Wunde. Bald glaubte,
bald bezmweifelte er alles, was fie ihm erzählte. Heute
hielt er feine Frau für das unſchuldige Opfer eines
Schurken, morgen für eine Betrügerin, und forderte von
ihr den Beweis, daß fie Tſchichatſchew haffe, daß fie ihn
verachte und niemals ein wärmeres Gefühl für ihn gehabt
habe. Er glaubte, er würde wieder ruhig werben, wenn
Tſchichatſchew felbit geftände, daß er Gewalt habe an-
wenden mäfjen, um das zu erlangen, was ihm freiwillig
nicht gewährt worden war. Er meint, wenn feine Frau
ihren DVerführer aufforderte, fich felbjt das Leben zu
nehmen, und er biefe Strafe für feine ehrlofe Handlung
an fich ſelbſt vollzöge, wäre bie Schande getilgt. So
erklärt fih die Scene in Aſchewo. Wir brauchen fie
nicht zu wiederholen; Sie wiſſen was fich dort zu⸗
getragen hat.
Die Ausfagen der Zeugen ftimmen darin überein,
Daß Tſchichatſchew aus der Fuhrmannsherberge, in welcher
er die Unterrebung mit den Angeklagten gehabt hatte,
bleih, verftört und faſt Frank herausgefommen if. Es
unterliegt feinem Zweifel, daß man ihm die Zumuthung
gemacht hat, er folle Hand an fich Iegen und feinem
des Eollegienaffeffors Tſchichatſchew. 207
Leben ein Ende machen. Die Angeklagten ſelbſt leugnen
es nicht, behaupten aber, es fei nur ein Scherz geweſen.
Sch glaube nicht, daß die Angeflagten ven Wunfch gehabt
haben, Tſchichatſchew folle ſich vor ihren Augen töbten,
denn fie mußten fich fagen, daß dann jevermann geglaubt
baben würde, fie hätten ihn umgebracht. Ich lege keinen
Werth darauf, daß ein Dolch und eine Biltole bort
gelegen haben. Ich bin der Anficht, ver Angeflagte wolite
hören, wie die Aufforderung feiner Frau von Tſchichatſchew
aufgenommen werden würde. Ging er darauf ein, fo
war nach der Anficht des Angellagten N. der Beweis
erbracht, daß Tſchichatſchew fchuldig und das von ihm
entehrte Mädchen unfchuldig war. Hatte vie leßtere den
Muth, dieſen Selbftmorb zu verlangen, fo lag darin ein
Zeugniß dafür, daß fie vergewaltigt worden war, baß
fie ihren Verführer niemals geliebt hatte, daß fie ihn
Haßte um feiner That willen. Diefer Gedankengang be-
berrichte ven Anflagten und erklärt, was er gethan bat.
Die Liebe zu feiner Frau mußte ſtark erjchüttert fein,
fonft hätte er fie nicht Dazu gezwungen, in einem fchmuzigen
Eintehrhofe ihrem frühern Liebhaber alle Einzelheiten
ihres Verkehrs vorzuhalten, ihre eigene Schande haar:
flein zu erzählen, fie dem beichimpfenvden Klatſch ber
Nachbarn und des ganzen Kreiſes preiszugeben, fie zu
fchelten, zu quälen, zu fchlagen, nicht weil er fie für
ſchuldig hielt, fondern weil er an ihrer Unſchuld zweifelte,
Der Angeklagte ift ein felbftfüchtiger, in feiner Ehre
gefränkter, herzlofer Menſch. Die Aufforderung an
Tſchichatſchew, ſich felbit zu tödten, war fein Scherz.
Nicht umſonſt hatte Frau N. nach dem Dictat ihres
Mannes an ihn geichrieben: „Die Ehre einer Frau
Tann nur durch Blut rein gewafchen werben, folgen Sie
dem Beilpiele Ihres Bruders, der fich erjchoffen hat.”
208 Die Ermorbung
Tſchichatſchev war ein Tebensluftiger Menfch, ein
eifriger Kunftfreund, er hatte ein fühlendes, warmes Herz.
Die Zumuthung, fich das Leben zu nehmen, war für ihn
ein Schlag ind Geſicht. Im feiner Angft war es ihm
unmöglich zu jchweigen, er mußte fich mit feinen Freunden
beratben, und e8 war ganz natürlich, daß er fich vor
feinen Feinden zu ſchützen ſuchte. Es entftanden über
bie Streitigkeiten zwiſchen dem Stabskapitän N. und
Tſchichatſchew die abentenerlichften Gerüchte, fie ver⸗
breiteten fich weiter, als der erftere nach vierzehn Tagen
zum zweiten mal in Aſchewo erjchien und feinem Gegner
eine Herausforberung zujchidte. Man Tann fich vorftellen,
daß die Stimmung bes Angellagten immer verbitterter
wurde. Die vergebliche Fahrt nach Aſchewo, die Zurück⸗
weifung des Duell, der Gedanke, daß er die traurige,
Tächerlihe Rolle eines betrogenen Ehemannes fpielte,
brachten den jtolzen Mann faſt um ven Verſtand. Meine
Herren Geſchworenen, wahrjcheinlich ift das Leben auf
dem Lande vielen von Ihnen befannt. 8 beichäftigt
fih nicht mit den gejellichaftlichen Tragen der Gegen-
wart, welche die Bewohner in den großen Stäbten bes
wegen. Das lebhafteite Intereſſe erwect ver Heinliche
Klatſch, der bekannte Perfonen betrifft, beſonders folche,
die eine hervorragende Rolle im Kreife Spielen. ‘Der
Stabskapitän N., Vorfigender ber Semſtwa und Friedens-
richter, war ein im Kreiſe wohlbelannter, vielfach ge⸗
haßter Mann. Nun wurbe er der Gegenftand des all-
gemeinen Geſprächs, und wie wurbe über ihn geredet!
Die einen freuten fich, daß fein Uebermuth geftraft worben
wear, bie andern jpotteten über den von der jungen Frau
hintergangenen Gatten, noch andere zudten mitleidig bie
Achjeln über feine vergeblichen Bemühungen, burch einen
Zweilampf feine Ehre wieberberzuitellen.
bes Eollegienaffeffors Tſchichatſchew. 209
Das Leben wurde ihm zur Hölle, die Theilnahme,
die man ihm ausſprach, brachte ihn faft zur Verzweiflung.
Sein Haß gegen Tſchichatſchew wuchs immer mehr. Er
reifte in das Ausland. Ich behaupte nicht, daß die Reife
ben Zwed hatte, feinen Feind dort zu treffen, ein Bes
weis dafür ift nicht erbracht. Es ift wol möglich, daß
er ans ber Atnofphäre, die fein Leben vergiftete, heraus⸗
fommen wollte und daß er hoffte, durch die Reife das
verlorene Gleichgewicht wienerzugewinnen und bie über
ihn und feine Frau umlaufenden Gerüchte zum Schweigen
zu bringen. Seine Hoffnung fchlug fehl. Sein häus-
ficher Kummer begleitete ihn, Tag und Nacht wurde er
von ben quälendften Gedanken verfolgt und troß alles
Nachdenkens fand er feinen Ausweg. Er fchrieb von -
Berlin aus ven Ihnen bekannten Brief an Tſchichatſchew,
ver den vollgültigften Beweis dafür Tiefert, daß Haß
und Nahe gegen ihn feine Seele ansfüllten. Als er
heimkehrte, hieß es, daß er eine erfolgloje Hebjagb hinter
Tſchichatſchew her gemacht habe. Wiederum prebten fich
die Geſpräche in allen Geſellſchaften um den Stabskapitän
und feine Frau, wiederum gab es Leute, die den unglück⸗
lichen Mann auslachten und verhöhnten.
Die Angeklagten zogen fich gänzlich zurüd, fie ver-
zichteten auf jeden Umgang und lebten einfam. ‘Das
Tagebuch der Frau N. gibt uns Aufichluß über das, was
in ihrem Haufe vorgegangen if. Wir erfahren daraus,
daß der Stabsfapitän fich feiner böfen Laune und feinem
Zorne über fein Geſchick rückſichtslos überlief. Da
niemand bei ihm war als feine Frau, fo mußte fie
darunter leiden. Er war in feinem Benehmen gegen fie
jehr ungleichmäßig. Bald überhäufte er fie mit Lieb⸗
fofungen, bald behandelte er fie mit großer Roheit.
Immer wieber verhörte er fie über ihren Verkehr mit
XXIL . 14
210 Die Ermordung
Tſchichatſchew und Tieß fich erzählen, was er längſt
wußte. Mitunter ſprach er tagelang fein Wort mit
feiner Frau, oft belegte er fie mit Schimpfworten. Er
mishandelte das arme Weib, warf in der Wuth einen
Stuhl na ihr, ſchlug fie mit der Fauſt und prügelte
fie mit einem Pfeifenrohre. Sie vergießt viele Thränen
und füllt ihr Tagebuch mit lagen. Die Tage, an denen
er verreift ift, find ihre Erbolungszeit. Sie verläßt
eines Nachts das Haus und wirft fich in den Schnee,
um zu fterben.
Der Angellagte denkt in feiner Einſamkeit darüber
nach, wie er fih an Zichichatfchew rächen kann. Die
Briefe an ihn, auch die Briefe feiner Frau, die auf
feinen Befehl gejchrieben worden find, ſprechen deutlich
ben grimmigften Haß aus. Da heißt ed: „Wir wollen
unfere Hände nicht mit Ihrem unfaubern Blute befupeln,
ſondern Ihnen eine Tracht Prügel verabreichen.” „Wir
fenden Ihnen eine Obrfeige, in ber Hoffnung, biejelbe
auch thatfächlich ertheilen zu Können.” ‚Wir rathen Ihnen,
fih auf ver Jagd zu erfchießen, wie Ihr Bruder es ges
tban bat.”
Der Stabefapitän lechzt nach dem Blute feines
Teindes. Er trägt ibm wieberholt ein Duell an.
Tſchichatſchew fchlägt die Forderung ab, und nun fommt
e8 zu der entſcheidenden Zuſammenkunft am 26. Novem-
ber 1873.
Sch habe verfucht, den Geiftes- und Gemüthszuſtand
bes Angeflagten zu fchilvern, und dargethan, daß es nur
einer geringen äußern Veranlafjung beburfte, um eine
Erplofion herbeizuführen. Sie erfolgte, ald Tſchichatſchew
ſich nochmals weigerte, im Zweilampfe fi dem An-
geflagten zu ftellen. Er wurde geohrfeigt, es kam zu
einer Balgerei, die und von den Zeugen lebendig ge-
bes Collegienaffefjors Tſchichatſchew. 211
ſchildert worden ift. ‘Der Angeklagte brachte feinem Feinde
Tſchichatſchew mit einem Mefjer mehrere Wunden bei,
an denen er gejtorben ift. Hat er die Abficht gehabt,
ihn zu ermorden?
Die Waffe, mit welcher das Verbrechen verübt wurde,
war ein fcharfgefchliffenes, ziemlich fchweres Meſſer. Es
Tieß ſich wegen ver elaftifchen Feder nicht Leicht öffnen.
Der Angeflagte gibt an, er habe erſt, als ihn der Oberft
von Raaben auf ven Divan geworfen hatte, das Meffer
gezogen, e8 mit ven Händen geöffnet und um fich geftochen.
Was weiter gejchehen ſei, wiſſe er nicht. Sie, meine
Herren Gefchworenen, werben biejer Angabe fo wenig
Glauben ſchenken wie ih. Sie haben die Ausſage des
Hausknechts gehört, der zuerit in das Zimmer trat, fich
auf die beiden miteinander ringenden Männer warf und
eine Schnittwunde an den Fingern bavontrug. Dies
geichah, ehe der Dberft von Raaben feinem Freunde zu
Hülfe kam. AS er den Angeklagten von Tſchichatſchew
wegriß, hielt ver Hausfnecht die Frau N. am andern
Ende des Zimmers fe. Der Hausknecht blutete, alfo
war er bereit8 verwundet, ehe von Raaben eintrat. Wollte
man annehmen, daß der Angeklagte das Meffer erft gezogen
hätte, als von Raaben mit ihm handgemein geworben
war und er auf dem Divan lag, wer hätte dann verleßt
werben müſſen? Doch gewiß derjenige, der auf ihm lag,
und nicht die Finger, auch nicht die Bruft des Gegners,
der auf ihm lag, hätten getroffen werben müſſen, fondern
der Rüden oder die Seiten. ‘Der Oberft von NRaaben
war unbejchäpigt bis auf etliche Schrammen an der Hand;
nicht ihn, ſondern Zichichatichew, ber zur Seite ftand,
hatten die Mefferftöße in die Bruft getroffen. Alſo nicht
während ver Oberft von Raaben mit dem Angellagten
rang, bat dieſer gejtochen. Das Meſſer war offen in
14*
212 Die Ermordung
jeiner Hand, ehe von Raaben eintrat, und Tſchichatſchew
hatte nicht blos Wunden in der Bruft, fondern auch Heine.
BVerlegungen, die von einem Mefjer herrührten, an ven
Händen. Wir wilfen, daß der Angeflagte feinem Gegner,
der jeine Forberung ablehnte, einen Schlag in das Ge⸗
ficht verjeßte, der fo heftig war, daß der Gefchlagene zu
Boden ftürzte. Der Zorn des Angeklagten war in Wuth
übergegangen, er bat offenbar gleich nach dem Schlage-
jeinem Feinde das Meſſer mehreremal in bie Bruſt
gejtoßen. Die Wunden laufen von oben nach unten,
dies paßt zu ber Situation, denn der Stabskapitän ſtand
und Tſchichatſchew Tag am Boden ober erhob fich joeben
von feinem Sturze. Hätte ver Angellagte auf dem Divan
liegend geftochen, fo müßten die Wunden von unten nach
oben gehen. Hätte er fie Tſchichatſchew beigebracht, als
fie fich gegenüberftanden, jo müßten die Wunden ebenfalls
von unten nach oben laufen, denn Tſchichatſchew ift von
höherm Wuchfe als er. Ein Menſch, der in blinder.
Leidenſchaft um fich fticht, ftößt unficher und überlegt
nicht, wohin er trifft. Dieje Meſſerſtöße find mit. fejter
fiherer Hand nach einem beftimmten Ziele geführt und
haben das Herz getroffen.
Der Thäter hat gewußt, was er wollte Er war
bei voller Befinnung, er vertheidigte fich nicht, ſondern
züdte das fcharfgefchliffene Meejjer gegen den von ihm
zu Boden gejchlagenen Dann und ſtach es ihm in bie
Bruft. Das heißt tödten wollen!
Eine gewöhnliche Schlägerei ift e8 nicht geweſen, eine
jolhe verläuft bei uns zu Lande anders. Man kommt
zuſammen, ohne daß man fich haft, man trinkt und
itreitet fih. Es entfteht eine Balgerei, man zerfchlägt
fi vielleicht die Köpfe und reißt fich ven Bart heraus.
Geſchieht dabei ein Unglüd, wird jemand getödtet, fo
_
des Collegienafjejfors Tſchichatſchew. 213
Hat fein Menſch dieſen Ausgang beabfichtigt. Hier aber
bat ein lange Zeit genährter Haß ferne Befriedigung
gefimden. Hier ift Menfchenblut abfichtlich vergoffen
worden.
Werfen wir noch einen Blick auf das Benehmen des
Angeflagten nach vollbrachtem Morde. Der Stabslapitäin,
. den der Oberft von Raaben in ein Vorzimmer eingeſchloffen
Hat, raucht dort ruhig eine Cigarrette. Er hat Appetit
und bittet um ein Glas Thee, ja er erkundigt fich kalt⸗
pfütig bei der Dienerichaft, ob Tſchichatſchew tobt fei.
Als er von feiner Frau Hört, nicht ihr Schuß habe ven
Tod ihres Feindes herbeigeführt, fonvern er habe ihn
mit dem Meffer erftochen, fagte er: „Nun Gott fei mit
ihm!” Sp, meine Herren, beträgt fih kein Menſch,
“der einen andern zufältig und wider feinen Willen um-
gebracht hat.
Der Angeflagte dürſtete nach Tſchichatſchew's Blute,
er wollte fein Leben haben entweder im Zmweilampf oder
auf irgendeine andere Weile. Daß Tſchichatſchew auf ven
Angeklagten mit Fäuften ſchlug, kann man ihm nicht zum
Borwinf machen. Man darf nicht verlangen, daß ein
Dam ftillhält, wenn fein Todfeind bet ihm einbringt,
Tom thätlich angreift, zu Boden wirft und mit dem Meffer
tractirt. Wir haben nach dem ganzen Verlanfe ver Sache
das Necht zu Tagen: ver Angeflagte hat die Abficht gehabt,
Tſchichatſchew zu tödten, er Hat im Jähzorn dieſe That
verübt. Sein Gedanfengang war: „Du wilfft mir feine
Semmgthunng geben — nun wohl, fo werde ich über vich
berfaften wie ein wildes Thier. Du willft nicht im Zwei⸗
fampfe in die Mündung der Piftole ſehen, fo ſollſt du
das Mefler koften. Du haft mein Leben verborben,- fo
will ich dafür dein Leben haben.” Er hat feinen Vorſatz
ausgeführt und ben tödlich gehaßten Gegner ermordet.
214 Die Ermordung
Wir haben nur noch von der Angeflagten zu reben,
und behaupten, fie hat verbrecherifchen Antheil an dem
Morbe. Sie ift der Leitung ihres Mannes unbeningt
gefolgt und hat fich an feine Rodichöße gehängt. Tſchicha—
tſchew ift auch ihr verhaßt, demn er ift die Urfache ihres
Unglüds. Unter den Schlägen ihres Mannes weinend,
gedemüthigt durch das Geftänpniß ihrer Schande, zitternd
vor dem Gatten, der fie nicht mehr liebte, immer wieder
gequält durch peinliche Verhöre über ihren Verkehr mit
Tſchichatſchew, wollte fie zulegt um jeden Preis ein Ende
machen. Sie glaubte, wenn ihr Verführer Tſchichatſchew
ben Tod erlitten hätte, würde ihr Mann volle Verzeihung
gewähren und ihr feine Liebe und fein Vertrauen zurüd-
geben. So reifte allmählich auch in ihrer Seele ber
Entſchluß, fein Leben zu fordern, und als er fich weigerte,
Hand an fich zu legen, feuerte fie zwei Schüffe auf ihn
ab. Sie wußte, was fie that. Beachten Sie, meine Herren
Gefchiworenen, daß um zweimal zu fchießen auch der Hahn
bes Revolvers zweimal gefpannt werden mußte. Sie
fönnen fich nachſichtig gegen die Angeklagte beweijen,
benn nicht fie hat Tſchichatſchew getöbtet und fie ftand
bei ihrem Handeln unter dem ftarfen Einfluffe ihres
Mannes. Aber vergeffen dürfen Sie nicht, daß fie ihren
Mann in zweifacher Weile betrogen hat, indem fie ihm
ihren Umgang mit Zichichatichew verſchwieg und dann
zwar ein Bekenntniß ablegte, aber ihm vorfpiegelte, fie
jet das Opfer einer Gewaltthat geworden. Dadurch find
in ihrem Manne Zweifel und Mistrauen und Rache⸗
gebanfen entftanden, die zum Morde führten. Vergeſſen
Sie nicht, daß fie den Revolver in mörberiicher Ab»
fiht zweimal abgebrüdt bat. In Uebereinftimmung mit
dem Gerichtshofe erhebe ich die Anklage, daß Frau N.
dem Verſtorbenen nach dem Leben getrachtet, und baß
bes Collegienaſſeſſors Tſchichatſchew. 215
der Stabskapitän N. ihm im Jähzorn das Leben ge⸗
nommen hat. |
Meine Herren Gefchworenen, es find nicht heitere
Betrachtungen, die ich anftellen mußte. Das Drama
chließt mit dem Tode eines guten Menfchen. Tſchicha⸗
tſchew war uneigennügig und wohlthätig, er fuchte bie
Volksbildung zu heben, richtete eine Volksichule ein und
war ein Mitbegründer einer Sparlaffe Für feinen
Leihtfinn, für feinen Wehltritt, den er mit ver An-
geflagten zufammen begangen, hat er mit dem Leben
gebüßt. Diejes Leben bat nicht etwa ein Menſch zer-
ftört, der die Tragweite feine® Verbrechens nicht be⸗
urtheilen konnte, fonvern ein gebilveter, Huger Mann,
der ſelbſt Richter und deshalb berufen war, andern bie
Achtung vor dem Leben eines Menſchen und dem Geſetz
zu lehren. Ich Halte dafür, daß Ihr Urtbeil ein
ftrenge8 gegen ihn fein muß, denn das Gericht und die
Rechtspflege find dazu da, das Leben zu fchüten und
jede eigenmächtige Verfügung über bafjelbe zu ftrafen.
Der Angeklagte Hat eine angejehene Stellung einge-
nommen, er ift ein thätiges und nütliches Mitglied der
bürgerlichen Gejellfchaft geweſen und verftand es, ihre
Imtereffen zu wahren. Es war ihm viel gegeben, aber
wen viel gegeben iſt, von dem wird man viel forbern.
Ich glaube, daß Ihr Spruch in biefem Sinne aus-
fallen wird.
Das Berbict der Gejchiworenen erklärte ven Angeflagten
für Schuldig des im Jähzorn begangenen Mordes, da⸗
gegen wurde bie Angellagte freigefprochen.
216 Die Ermordung desCollegienafjeil.Tihihatfchew.
Das Gericht verurtbeifte den Stabskapitän zur Ver⸗
bannung nach Sibirien, als freier Anfiedler, ohne Ver⸗
Tuſt ber bürgerlichen Rechte. Dort mag er etwa ein
Jahrzehnt mit feiner Frau gelebt ‚haben, dann aber
werben beide Eheleute in ihre Heimat auf ihr Gut zurüd-
gelehrt fein.
Der Einbrud im Pfarchofe von Edlingham.
(Raub- und Morbverfud. — England.)
Das Stäntehen Alnwick in der Grafſchaft Northumber⸗
land ift von eimer ſchwer bisciplinirbaren Bevölkerung
bewohnt. Man bezeichnet die Wilddiebe ganz laut mit
Namen, und ihrer find nicht wenige. Die Polizei hat
- einen harten Stand, und ihre Aufgabe wird überdies noch
dadurch fehr erſchwert, dag ein nicht geringer ‘Theil ber
Einwohner des Stäbtchens offen und ungejcheut mit denen
ſympathifirt, die fortbauernd einen Heinen Krieg führen
mit den Polizet- und Forftbeamten, und bie verbotene
Jagd als ihren Erwerb und ihre höchtte Luft ausüben.
Die geipanmten Beziehungen zwiſchen der Bevölkerung
und ben Behörben befferten fich, als ein außergewöhnlich
freches und brutales Verbrechen die Gemüther in DBe-
wegung fette.
Sn der Nacht vom 6. anf den 7. Februar bes Jahres 1879
wurde von zwei Männern in bem Pfarrhofe des Dorfes
Edlingham nächſt Alnwid eingebrochen und unter jehr er-
ſchwerenden Umftänden eine Beraubung ausgeführt. Der
ſchon bejahrte Pfarrberr Namens Buckle, feine hoch⸗
betagte Fran, ihre Tochter umd drei Dienftmägde bewohnten
918 Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlingham.
das Haus. ‘Der Pfarrer und feine Tochter wurden durch
ein verbächtiges Geräufch im Schlafe geftört. ‘Der eritere
bewaffnete fich mit einem alten Schwerte. Beide begaben
fih von ihren im erften Stodwerfe gelegenen Schlaf-
zimmern vie Treppe herab in das Erpgefhoß, um zu
jehen, was denn eigentlich vorginge. Zwei Räuber traten
ihnen entgegen, der eine war mit einer Flinte bewaffnet,
fie griffen die Hausbewohner an und es fiel ein Schuß,
ber den Pfarrer und feine Tochter an der Schulter ver-
wunbete. Dennoch gelang e8 ihnen bie Räuber zu ver-
jagen. Fräulein Buckle insbejondere bewies einen ganz
ungewöhnlichen Muth und große Energie. Trotz ihrer
Wunde drang fie auf die Räuber ein, faßte einen ber-
jelben bei den Haaren und ließ fofort, nachdem die Ver⸗
brecher fich geflüchtet hatten, das Dorf alarmiren und
durch einen reitenben Boten die Polizei in Alnwid von dem
Veberfall in Kenntniß jeßen. Geraubt war ein geringer
Baarbetrag und eine goldene Uhr nebft Kette und Siegel.
Der erfte Verdacht fiel auf zwei übelberüchtigte Burſche:
ven Tagelöhner Charles Richardſon und ven Gärtner-
gehülfen George Edgell, die eine gerichtsbelannte Ver-
gangenheit hinter fich hatten und fogar früher beſchuldigt
waren, einen Polizeibeamten Namens Gray ermorbet zu
haben. Die Polizei fuchte fie fogleich in ihren Woh⸗
nungen auf. Beide lagen im Bett, ihre Fußbekleidungen
waren troden. Augenjcheinlich waren nicht fie Die Thäter
geweſen.
Sodann richtete ſich der Verdacht gegen zwei andere
nahezu ebenſo berüchtigte, notoriſche Wilddiebe, die Tag⸗
löhner Michael Brannagan und Peter Murphy.
Der letztere ſtand überdies bei der Polizei ſchlecht an⸗
geſchrieben, weil gegen ihn ber dringende Verdacht vor⸗
lag, er habe durch eine beſchworene falſche Zeugenausſage
Der Einbruch im Pfarrhofe von Edlingham. 219
vor Gericht die Freilaffung eines Cumpans herbeigeführt,
ber des Entendiebſtahls bezichtigt war.
Diefe beiden Leute wurden in der kritiſchen Nacht
von den Polizeibeamten zu Haufe nicht angetroffen. Sie
waren am Abend zuvor weggegangen und noch nicht heim⸗
gekehrt. ALS fie endlich um 7 Uhr des Morgens an-
famen, wurden fie feftgenommen. Ihre Röde und Fuß⸗
beffeivungen waren durchnäßt. Von der Polizei zur Rebe
geftellt, gaben fie nach einigem Zögern zu, auf Wilddieb⸗
ftahl ausgeweſen zu fein, leugneten aber entjchieven von
dem Einbruche etwas zu wiffen.
Sie wurden in Haft behalten und die Unterfuchung
warb wiber fie eingeleitet.
Es kam zunächſt darauf an, die Ipentität der An⸗
gefehulbigten mit den Einbrechern feftzuftellen. Um dies
Ziel zu erreichen, veranftaltete man eine Art Theater⸗
coup. Die Unterfuchungsgefangenen wurden des Nachts
in derjelben Kleidung, in der fie von ben Polizetorganen
überrafcht und feftgenommen worden waren, nach Edlingham
übergeführt und in das Zimmer gebracht, in welchem bie
Räuber von dem Pfarrherrn betroffen worden waren.
Mr. Budle erichien mit einer Kerze in ver Hand in dem
von nichts fonft erleuchteten Gemach. Seine Tochter folgte
ihm. Beide erflärten übereinjtimmend, daß bie ihnen vor⸗
gefteliten Individuen in Statur und Kleivung den Ein-
brechern glichen, daß fie jedoch nicht mit Beſtimmtheit
ihre Gefichtszüge wiederzuerfennen vermöchten.
Die Hauptverhandlung, bei der nah dem Brauche
der engliichen Strafrechtspflege die Angeſchuldigten nicht
jelbft gehört wurden, fand unter großem Zubrange der
Bevölkerung ftatt. Richter Manifty leitete die Ver⸗
bandlung, der Anwalt Mir. Edward Ridley trat für
die Anklage, der Lönigliche Rath Mr. Milwain für bie
"220 Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlingham.
Bertheivigung in die Schranken. Die Schlußverhandlung
dauerte mehrere Tage und brachte einen nahezu zwingenden
Indicienbeweis zu Stande.
Die Thatzeugen, Pfarrer H. ©. Buckle und feine
Tochter, hatten die Räuber nur im ungewiſſen Schein
des Mondlichtes, und in der fladernden Beleuchtung einer
einzigen Kerze gefehen und konnten fie nicht mit Sicherheit
agnofeiren. Aber die von ihnen übereinftiimmend ent⸗
worfene Befchreibung besjenigen YBurfchen, der das Mord⸗
gewehr anf fie angelegt hatte, war ganz präcis und Tautete
dahin: „Ein vierfchrötiger, breitichufteriger Geſell von
militäriſch ſtrammer Haltung, bärkig und dunkelhaarig.“
Diefe Befchreibung paßte vollitändig auf Brannagan. Auch
pie Kleidung ftimmte. Auf viefen legtern Umstand konnte
indeß nicht viel Gewicht gelegt werben, denn fie pflegt
bei alten Leuten dieſes Schlages jo ziemlich die gleiche
zu fein. Die Thatzengen fagten unter ihrem Eide aus:
Ste glaubten mit größter Wahrſcheinlichkeit Brannagan
als einen der Räuber bezeichnen zu Tonnen, wollten fich
indeß doch nicht dazu verftehen, ifm auf Eid und Ge-
wiften für einen ver Thäter zu erklären.
Diefe Ausſage altein würde zur Verurtheilung ver
Angeffagten nicht genügt haben, aber die von der Polizei
mit großer Sorgfalt durchgeführte VBorımterfuchung hatte
noch außerdem eine Reihe der ſchwerwiegendften be-
Yafterven Momente feſtgeſtellt.
Im Garten des Pfarrhofes waren am Morgen nad)
der That Fußipuren anfgefunden worden. Die fofort
mit Gips ſixirten Eindrücke paften genau anf die Stiefel
Branmmagan’s und die Holzichuhe Murphys. Ein am
Thatorte zurüdgebliebener Meifel, mit vem die Eingangs⸗
thür zum Bfarrhofe aufgefprengt worden war, ift von
John Redpath, dem Geliebten ver Schwefter Murphty’s
Der Einbruch im Pfarrhofe von Edlingham. 221
und zugleich deſſen Duartiergeber, als fein Eigenthum
anerkannt und diefer Umftand von bem Zeugen in öffent-
licher Gerichtsfigung auch befchworen worben. Ein abs
gerifjenes Stüd einer Zeitung, welches im Garten des
Pfarchofes von Edlingham aufgefunden wurbe, paßte
genau zu einem Blatte, welches im Unterfutter des Rockes
ftaf, den Murphy getragen hatte. Der beigezogene Arzt,
Dr. ®ilfon, hatte diefen Rod unterfucht, um feitzu-
ftellen, ob der Rod etwa Spuren des Schwertes trüge,.
mit weldem ber Pfarrer Budle auf die Räuber ein-
gebrungen war. Solche Spuren entbedte Dr. Wilfon
nicht, aber er fand jene Zeitung, aus ber das im Pfarr
hofe. liegenve Stüd herausgeriffen war. Einige Tage
nad der That wurde ferner von einem Dienftmäbchen
vor dem Yenjter des Pfarrhofes, durch welches die Ein-
brecher jich geflüchtet hatten, ein Streifen groben Stoffes,
auf den ein Knopf aufgenäht war, gefunden. Die Farbe
und bie Dualität des Fetzens war bie gleiche wie bie
der Hofe des Angejchulpdigten Brannagan, von ber ein
Stüd abgeriſſen zu fein fchien.
Beive Angeflagte waren die Nacht hindurch vom.
Hanfe abweſend geweien. Sie verfuchten tiefen Umftand
damit aufzuflären, daß fie wildern gegangen wären; allein
ihre, vor der Polizei abgegebenen Ausfagen ftimmten in
verſchiedenen Punkten nicht überein. Sie gaben ein Ver⸗
fted an, in welchem fie die erbeuteten Kaninchen ver-
borgen bielten, aber. abgejeben davon, daß die Kaninchen
recht gut ſchon tags vorher erbeutet und dahin gebracht.
worden fein Tonnten, fand man bei ihrer Verhaftung,
die doch unmittelbar nach ihrer Rüdfunft erfolgte, ven
Spaten nicht, mit dem fie nach Kaninchen in deren
Bau gegraben haben wollten. Eine Gelegenheit, ven Spaten
vorher zu befeitigen, hatten fie aber kaum gehabt.
22323 Der Eindbrud im Pfarrhofe von Edlinghbam.
Die mit großem Aufwande von Gefchieflichkeit und
Eifer geführte Vertheidigung bejtritt die Identität ver
Einbrecher mit ven Angellagten und fuchte den Impicien-
beweis in allen Punkten zu befämpfen. Es gelang ihr
jedoch nur einen einzigen dieſer Verbachtsgründe zu
widerlegen. Das vorgefundene Stüdchen Stoff trug eine
andere Sorte Knöpfe als die Hofe Brannagan’s. Das
Stüdchen Stoff erwies ſich als ein abgeſchnittener
Streif, nicht als ein abgerifjener Feten.
Die BVerurtheilung der Angeflagten war unvermeib-
lich. Sie wurden nach gründlicher Berathung der Ge⸗
fhworenen, die drei Stunden brauchten, um fich über
ihren Spruch zu einigen, am 23. April 1879 wegen
ſchweren Einbruchspiebjtahls und verfuchten Mordes zu
Lebenslänglicher Zuchthausarbeit rechtöfräftig ver-
urtheilt. Beide traten ihre Strafe an und vwerbüßten
diejelbe in den Zuchthäufern von Morpeth, Pentonville,
Millbant und Portsmouth.
Nahezu zehn Jahre fpäter meldeten fich der Gärtner-
gehülfe Edgell und der Tagelöhner Richardſon frei-
willig bei der Polizeibehörvde in Alnwid und gaben an:
fie feien die Thäter geweſen. Bon Gewiffensqualen be-
drüdt und von dem Seelſorger Edgell’8 Hierzu beftimmt,
hätten fie fich entjchloffen, ein Bekenntniß abzulegen, um
den unfchuldigen Männern, die feit faft einem Jahrzehnt
im Zuchthauſe ſchmachteten, die Freiheit zurüdzugeben.
Ein Sturm der Entrüftung burchbraufte England.
Kein Ausprud war zu fräftig, der nicht im Hinblid auf
den gejchehenen Juſtizmord angewendet werben burfte.
Es hagelte Interpellationen im Parlament: wie fich
denn bie Regierung zu diefer Frage ftellen wolle? | Welche
Entihäpdigung fie den unfchuldig Verurtheilten, die ihre
Rebengzeit in trauriger Kerkernacht verjeufzten, gewähren
Der Einbruch im Pfarrhofe von Edlinghbam. 223
würde? Welche Sühne dem beleibigten Rechtsgefühl zu⸗
theil werden ſollte?
Die Regierung, wol etwas unter dem Drucke der
öffentlichen Meinung ſtehend, beeilte ſich, dem allgemeinen
Wunſche Rechnung zu tragen. Am 15. November 1888
wurden Brannagan und Murphy aus der Haft entlaſſen.
Ihre Heimfahrt glich einem Triumphzuge, man feierte
ſie, wie man Sieger, die aus dem Felde heimfehren, zu
feiern pflegt. Ihre nähern Freunde waren ihnen bie
Bilton-Iunction entgegengefahren, um fie zu begrüßen,
in Alnwic aber harrte ihrer eine erregte, jubelnde Menge.
Unter allgemeinem Enthufiasmus wurden die entlafjenen
Sträflinge auf die Schultern williger Gefinnungsgenoffen
gehoben und vom Bahnhofe bis in die Stadt ge-
tragen. Eine Muſikbande begleitete den Zug, luſtige
Weiſen fpielend, und unter den Klängen bes Volksliedes
„Home, sweet home!” zogen bie Befreiten in ihre
Vaterſtadt ein. Die Localblätter brachten Tpaltenlange
Berichte, und ſogar ernfte Zeitungen wie bie „Times“
winmeten dem Vorgange eingehende Darftellungen.
DBrannagan und Murphy wurden vorbehaltslos be-
gnadigt. Die Regierung gewährte jedem von ihnen ein
Ehrengejchent von je 800 Pfr. St. = 16000 Reichs⸗
mar.
Gegen die beiden andern Burfche wurde bie Unter-
juchung eröffnet. Das Geftänbniß, welches fie ablegten,
wid in einigen nicht unwelentlichen Punkten von ben
früher gerichtlich erhobenen Thatfachen ab. Sie bes
haupteten, fie hätten, um ihre Zritte unbörbar zu machen,
die Füße mit Quchfegen umwickelt. Die Gipsabgüffe
der Fußſpuren im Garten mußten, wenn dies wahr war,
von dritten unbetheiligten PBerjonen herrühren, und ihre
genaue Vebereinjtimmung mit den Stiefeln des Brannagan
294 Der Einbrudh im Pfarrhofe von Edlingham.
und ben Holzfchuhen des Murphy verlor ven Werth
eines Beweismitteld. Die Ausfagen der neuerdings An-
geſchuldigten waren auch in Einzelheiten voneinander ziem-
lich verfchieden. So behauptete jeder von ihmem, ber
andere habe den Plan zum Cinbruche ausgehedt, ber
andere habe zuerft Hand angelegt u. ſ. w. In der Haupt⸗
ſache aber ftimmten fie überein. Sie befannten fich jelbft
als die Thäter. Wie es fcheint, hatten fie auf die Zu=
ficherung ‚gerechnet, die Edgell von dem Bicar zu St.⸗Paul
in Alnwid, Herrn Jevon I. M. Perry, erhalten haben
wollte: daß fie nicht um eined Verbrechens willen zu
einer Strafe verurtheilt werben könnten, um befjentwillen
zwei andere Männer burch rechtögültigen Sprud ver
Geichworenen eingeferfert worden waren. Allein dieſe
Auffaffung erwies fih als unzutreffend.
Der Bolizeirichter, weniger durch ftarre Formen beengt
als der Vorfigende einer Schwurgerichtsverhandlung, pflog
eifrigft Erhebungen. Mr. Bude, ein nunmehr fechsund-
achtzigjähriger Greis, vermochte noch weniger als ehedem
bie ihm vorgeführten Individuen zu iventificiren. Fräulein
Buckle dagegen erklärte mit voller Beftimmtheit, daß Edgell
feittesfalls der Mann gewefen fei, ven fie damals bei ven
Haaren erfaßt habe; aber auf Diefe Erklärung bejchräntte ſich
ihr Zeugniß in Betreff der ihr vorgeftellten Angeſchuldigten.
Brannagan und Murphy erjchienen num auch als gejetlich
gänzlich unbedenkliche Zeugen und gaben bejchivorene Aus-
jagen über ihren Verbleib in ver Nacht vom 6. auf den
7. Februar 1879 ab, während fie Doch in ver wider fie
ſelbſt vurchgeführten Hauptverhandlung nicht verhört werden
burften und auch nicht befragt worben waren.
Die Anklage wurde erhoben und vor den Affiffen in
Newcaftle durchgeführt. Die Verhandlung fand am
24. November 1888 ftatt. Als Vorſitzender fungirte ver
Der Einbruch im Pfarrhofe von Edlingbam. 295
Richter Baron Bollod. Für die Anklage erfchienen ber
fönigliche Rath Der. Sainsford Bruce und die Herren
Hans Hamilton und D. F. Steavenfon; für bie
Dertheibigung ver Tönigliche Rath Mer. Digby Seymour
unn Mr. Straſhan. Namens des Bolizeigerichts in
Alnwick, welches Das Geſtändniß der Angeflagten entgegens
genommen hatte, wohnte Mr. Skidmore der Verhand-
lung bei.
Zunächſt wird dem Gerichtähofe eine Petitiou der
Einwohnerfchaft von Alnwick unterbreitet, welche mit
mehrern tauſend Unterjchriften verjehen, auf Grund des
Selbitbefenntniffes der Angeklagten um eine milde Be-
urtbeilung ihrer That bittet, und deren Treifprechung
von der Einficht und Großmuth des Richters erwartet.
Hierauf erhebt fihb Wer. Seymour und macht Rechts-
bebenfen geltend. Er ftellt die Vorfrage, ob überhaupt
eine Verhandlung in Angelegenheit des Einbruches in
Edlingham, nachdem zwei andere Perfonen gerade dieſes
Verbrechens wegen rechtskräftig verurtheilt worden, wider
die jet angefchuldigten Edgell und Richardſon zuläffig fei.
Baron Pollod weift die Berechtigung dieſes Be-
denkens zurück, erfennt jedoch an, daß der Vertheidiger
durch die Anführung dieſes Umftandes und das Auf-
werfen dieſer Rechtsfrage nur feine Pflicht erfüllt habe
und deshalb feine Rüge verdiene. Er bejchließt in bie
Verhandlung einzugehen.
Die Angeklagten Charles Richardſon, 53 Jahre
alt, Tagelöhner, und George Edgell, 47 Jahre alt,
Gärtnergehülfe, find befchulpigt des Einbruches, des
Raubes einer goldenen Uhr ſammt Kette und Siegel aus
gleichem Metall und einer Summe baaren Geldes, ſowie
des Mordverſuches wider den Reverend Mr. Buckle und
feine Tochter.
XXIII. 15
226 Der Einbruch im Pfarrhofe von Edlingham.
Die Angeklagten bekennen ſich des Einbruchs und
Raubes ſchuldig, aber nichtſchuldig des Mordverſuches.
Sie behaupten, die Flinte, die ſie mit ſich führten, habe
ſich nur durch einen unglückſeligen, unvorhergeſehenen
Zufall entladen.
Mr. Gainsford Bruce erklärt darauf, daß er die
Anklage wegen des Mordverſuches fallen laſſe und dieſelbe
auf den eingeräumten Thatbeſtand beſchränken wolle. —
Der logiſche Widerſpruch, der in dieſem Vergehen liegt,
wurde weder damals in der Verhandlung begründet, noch
hat er ſpäterhin Bedenken erregt.
Da nach der engliſchen Strafproceßordnung ſomit
nichts zu erweiſen übrigblieb, denn der Einbruch und
Raub galt durch das Bekenntniß der Angeklagten für
gerichtsordnungsmäßig nachgewieſen, wurde das Beweis—⸗
verfahren geſchloſſen.
Mr. Seymour plaidirt für ein mildes Urtheil. Er
hebt hervor, daß im Jahre 1879 für die Bemeſſung der
Strafe der Mordverſuch ausſchlaggebend geweſen. Dieſes
gewichtige Moment iſt aber durch die Zurückziehung der
Anklage hinſichtlich dieſes Punktes gänzlich weggefallen.
Dagegen iſt die Seelengröße anzuerkennen, mit der die
Angeklagten ſich zu ihrem freiwilligen Geſtändniß ent-
ſchloſſen und es angefichtS der ihnen drohenden Strafe
aufrecht erhielten. Edgell ift verheirathet. Die Sorge
für fein Weib und für fein Kind verjchloß ihm bisher
ben Mund. Trotz beftändiger Gewifjensqualen glaubte er
ichweigen zu müffen. Allein als fein Kind ftarb, da trat
er mit dem Geſtändniß hervor. Wie jehr das Schickſal
biefer beiden Menjchen vie öffentliche Meinung erregte,
gebt aus der mit mehr als 3000 Unterjchriften bebedten
Petition der Einwohnerichaft Alnwicks hervor, die ins—
gefammt ein mildes Urtbeil hofft und erwartet.
Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlingham. 227
Baron Pollock Fällt das Urtbeil: „Der Wegfall
der Anklage wegen Mordverſuchs müſſe wol auf die Be-
meſſung ver Höhe des Straffages von entſcheidender Ein-
wirkung fein. Dagegen könne der Richter weder das
freiwillige noch das verſpätete Geftänpniß ale
mildernd oder erjchwerend berüdfichtigen. ‘Die Petition
ber Bewohner Alnwids habe ihre Adreſſe verfehlt; fie
jet nicht an ihn, fondern an diejenigen zu richten, benen
die Handhabung des Begnabigungsrechtes zuftehe.” Der
Richter verurtheilte demnach die beiden Angeflagten zu
fünfjähriger Zuchthausſtrafe.
Damit gab fih aber — und dies ift ein fchöner Zug
des öffentlichen Gewiſſens — die aufgeregte Volfsftimme
nicht zufrieden! Wenn ein Yuftizmorb begangen worben
war, und dies fehien nach der vermaligen Sachlage außer
Zweifel zu ftehen, fo galt e8 nicht nur die Schuld ber
Sejellfchaft an ven Betroffenen zu fühnen, es waren auch
Perfonen vorhanden, welche den verfehlten Nichteripruch
herbeigeführt hatten. Die Polizeiorgane, durch deren Be⸗
mühungen feinerzeit der Indicienbeweis erbracht worben
war, erjchienen nunmehr verbächtig, entweber in dem
guten Glauben, die wirklichen Verbrecher dadurch ihrem
Richter zuzuführen, ober gar in der böslichen Abficht,
überhaupt einen Schuldigen herbeizufchaffen, vie einzelnen
Indicien ohne Rüdficht auf die fubjective Wahrheit fabricirt,
a gruppirt, vielleicht ſogar fälfchlich hergeftellt zu
aben.
Es wurde demgemäß ein Proceß gegen die in ber
Sache thätigen Bolizeibeamten eingeleitet und in mehr-
tügiger Verhandlung burchgeführt.
Am Montag, den 18. Februar 1889, erfchienen in
Newcaftle vor dem Richter Denman, als Vorfigendem
des Schwurgerichts, die Angeklagten: Thomas Harrifon,
15*
2238 Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlingham.
70 Sahre alt, penfionirter Bolizeiinfpector, Iſaak Gair,
42 Jahre alt, BPolizeifergeant, und Robert Sprot,
36 Jahre alt, Polizeiconftabler, unter der Anſchuldigung,
‚in den Monaten Februar, März und April des Jahres
1879, in Öemeinfchaft mit dem feither verftorbenen George
Harfes, damaligen Polizeileiter des Bezirkes, fih in
ungejeglicher Weiſe verabrevet zu haben, um ven richtigen
Gang der Rechtöpflege zu behindern und in falfche Bahnen
zu leiten burch die Serbeilchaffung, Berfertigung und
Vorführung gefälichter Beweismittel in der Rechtsſache
wider Meichael Brannagan und Beter Murphy wegen
Einbruch, Diebftahls und Morbverjuches im Pfarrhofe
von Edlingham“.
Die Anklage, welche namens der Krone erhoben
wurde, vertraten: ber königliche Rath Mr. Gainsford
Bruce und die Herren D. 3. Steavenfon und Hans
Hamilton. Die PVertbeidigung führten Mr. Besley
und Mr. Boyd.
Mr. Sainsford Bruce begründete die Anflage jo:
„Die Anjchuldigung geht dahin, daß die Poltzeiorgane
zujammengewirft haben, um hemmend und ftörend in
den orbentlichen Gang ber Rechtspflege einzugreifen. In
ber Nacht vom 6. auf ben 7. Februar 1879 wurde im
Pfurrhofe von Edlingham ein frecher Einbruchsbtebftahl
verübt. Die Bewohner des Haufes, die fich zur Wehre
fetten, wurden verlegt. Die wirklichen Miſſethäter wußten
fich gefchickterweife vor den Augen ber Polizeiorgane zu
verbergen und den Schein der Unſchuld um fich zu ver⸗
breiten. Die Polizei jedoch, von dem Ehrgeize getrieben,
die Verbrecher zu entveden, ging, wahrjcheinlich unter
dem birecten Befehle ihres Chefs, des jeither verftorbenen
George Harfes, daran, gefäljchte Beweismittel herbeizu-
ichaffen, um vie Verurtheilung ber beiden von ihr einmal
Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlingham. 229
verhafteten Individuen, Brannagan und Murphy, welche
fie als der That verdächtig bezeichnet hatte, herbeizu-
führen. Harkes ift inzwiichen mit Tode abgegangen und
kann nicht mehr zur Verantwortung gezogen werben,
allein die Anklage gegen die Anvern, die mit ihm zu-
ſammenwirkten, iſt berechtigterweife zu erheben, weil fie
wiffentlich gefälichte Beweismittel hergeftellt haben. “Die
damals des Einbruches verpächtigen und deshalb proceffirten
Männer wurden auf Grund der durch die Polizei be—
ſchafften Indicien verurtbeilt. Es iſt nunmehr feitzu-
ſtellen: 1) Die Polizei veranlaßte die Gipsabdrücke von
Fußſpuren, die angeblich im Garten des Pfarrhofes am
Morgen nach dem Attentate entdeckt worden waren.
Diefe Formen entipradhen genau den Abbrüden ber
Stiefel des einen und der Holzichuhe des andern An-
geffagten. Die Abgüffe waren jedoch wifjentlich von
biefen Fußbekleidungsſtücken direct und nicht von wirk—
lichen Fußfpuren im Garten genommen und find troß-
dem bei der Hauptverhandlung als Beweismittel vor⸗
gebracht worden. 2) Ein Mann Namens Iohn Redpath,
der im Concubinate mit der Schweiter des Peter Murphy
lebte und diefem Unterjtand gewährte, wurde durch einen
ibm gefpielten Betrug veranlaßt, einen Meißel als fein
Eigenthbum anzuerkennen, der am Thatorte aufgefunden
worden fein ſoll und den die Einbrecher angeblich benutzt
haben, um vie Thür aufzufprengen. 3) Die Einbrecher
haben im Garten des Pfarrhofes ein Stüd einer Zeitung
jurüdgelaffen. Das Blatt, aus welchen e8 herausgeriffen
war, ift in das Futter des Rockes prafticirt worden, ben
Murphy in der Nacht des Attentats trug, um durch die
Zuſammengehörigkeit dieſer Papierfegen den Beweis der
Anwefenheit Peter Murphy's am Thatorte herzuftellen.
4) Ein Stück groben, ftarf gerippten Baummolfftoffes von
230 Der Einbrud im Bfarrhofe von Edlingham.
der Hofe Brannagan's, die er nach der Behauptung der
Polizei bei dem Attentate getragen bat, tft abgetrennt
und an eine Stelle gebracht worden, an ber e8 von
einer unbefangenen Zeugin, einem ‘Dienftmäbchen des
Pfarrers, drei Wochen nach der That gefunden werden
mußte. Die Polizei hat gewußt, wie dieſes Stüdchen
Stoff an feinen Fundort gekommen ift, und war nicht
barüber in Zweifel, daß dieſes Stüd Stoff nichts be-
weijen konnte, dennoch hat fie e8 bei der Hauptverhand-
lung vorgelegt, um Brannagan’s Anwefenheit im Pfarr-
hofe darzuthun. Waren diefe Beweismittel echt, fo mußte
man die Angeflagten Brannagan und Murphy für
Ihuldig erflären und verurtheilen. In ihrer Geſammt⸗
heit lieferten fie einen jo zwingenvden Indicienbeweis, daß
jede Jury einhellig zu einem Verdammungsurtheil gelangen
mußte. Wenn diefe Beweismittel aber gefälicht waren,
wenn demnach Brannagan und Murphy unschuldig an
bem Verbrechen waren, deſſen fie geziehen wurden, welche
furchtbare Verantwortung trifft die Polizeibeamten, bie
jett angeflagt find! Zwei andere Perfonen, George Edgell
und Charles Richardfon, haben fich feither freiwillig als die
Thäter befannt und dem Gerichte gejtellt. Sie find wegen
dieſes Verbrechens mit fünfjähriger Zuchthausitrafe be-
jtraft worbden. Sie werben bei diefer Verhandlung als
Zeugen vernommen und gehört werben. Sie erzählen,
daß fie in der Fritichen Nacht in den Wald von Birsley
gingen, um Faſanen zu jagen, daß e8 ihnen aber nicht
gelang, folche zu erbeuten. Erbittert über ihr Mis-
geſchick faßten fie gemeinjchaftlich ven Plan, in den Pfarr-
hof von Edlingham einzubrechen, der ganz nahe bei jenem
Gehölze liegt. In der zweifachen Abficht, das Geräufch
ihrer Wußtritte zu dämpfen und um ihre Spuren un-
fenntlih und fomit nicht verfolgbar zu machen, zerriſſen
Der Einbruch im Pfarrhofe von Edlinghbam. 231
fie einen zufällig gefundenen alten Sad und wanden bie
daraus gewonnenen Sutefegen um ihre Stiefel. In einem
ver Gartenhäufer fanden fie einen Meißel, fprengten mit
bemjelben eines ber großen Fenfter auf, die wie Thüren
bis an den Erdboden hinabreichen, und gelangten auf
biefem Wege in das Innere des Haufe. Sodann brachen
fie mit dem gleichen Infjtrumente die Thür bes Wohn-
zimmers auf und drangen in das Eßzimmer. Der Lärm
wedte Fräulein Buckle, die ihrerfeits ihren Vater rief.
Beide famen muthig über die Treppe in das Erdgeſchoß
herab. Der fechsundfiebzigjährige Pfurrer voran, ein
Nicht in der einen, ein alte& Schwert in der andern
Hand. Die Einbrecher verlöfchten fofort das Licht, das
fie ſelbſt mit fich führten. Durch einen unglückſeligen
Zufall, durch eine der haftigen Bewegungen Richardſon's
— wie er felber zugejteht — entlud fich die Flinte, bie
er von ber Jagd her geladen bei fich trug. Sowol der
Pfarrer als deſſen Tochter wurden durch den Schuß ver-
wundet. Wahrfcheinlich jedoch trafen die groben Schrot-
körner fie nur als Prellſchuß, denn beide wurden glüd-
liherweife nicht ernftlich verlegt. Die Einbrecher fuchten
jofort zu entfliehen: Miß Buckle erfaßte einen verfelben
mit großer Energie an den Haaren, war aber begreiflicher-
weiſe nicht Fräftig genug ihn feitzuhalten. Sie flüchteten
durch das Fenſter und waren hierbei gendthigt, fich auf
die Knie nieberzulaffen. Im der That find Eindrücke,
die von Knien herrühren bürften, vor dem Wohnzimmter-
fenster feinerzeit im Garten bemerkt und conjtatirt worden.
Dies beftätigt die Darftellung, welche die Verbrecher felbit
von der That gegeben haben. Edgell und Richardſon
eilten auf dem fürzeften Wege nach Haufe, verbargen
ihre durchnäßten Stiefel und Strümpfe und legten trodene
Kleider und Stiefel zurecht, in der Vorausficht, daß bie
232 Der Einbruch im Pfarrhofe von Edlingham.
Polizeiorgane bald ihre Spur gefunden haben und nicht
jäumen würden, ihnen einen Beſuch abzuftatten. Sie
täufchten fich darin auch nicht. Die Polizei fam in ihre
Behauſung, fand jedoch anfcheinend alles in befter Orb-
nung und zog leicht befriedigt wieder ab. Von dort begab
fie jich zu Brannagan — diefer war noch nicht nach Haufe
gefommen. Die Polizei ging in das Haus Redpath's und
eonftatirte, daß auch Murphy über Nacht weggeblieben
und noch nicht heimgefehrt war. ‘Derart von den wirf-
lichen Einbrechern weg und auf eine faljche Fährte ges
lenft, jteiften die Polizeibeamten fih nun darauf, in
Drannagan und Murphy die wahren Verbrecher zu ere
blicken. Dieſe beiden Leute waren aber thatjächlich die
Nacht hindurch damit befchäftigt gewejen, nach Kaninchen
zu graben, und hatten einen Hund und einen Spaten mit
fih geführt. Sie hatten auch wirklich vier Kaninchen
erbeutet, die fie im Walde, unweit von Alnwid, verborgen
zurückießen. Sie wollten eben in Alnwid nicht mit ihrer
Sagbbeute gefehen werben. _
„Die Polizeibeamten hielten denn auch beide bei ihrer
Heimfehr an. Ste liefen Brannagan und Murphy, nach-
dem ſie diefelben befragt und durchſucht hatten, jedoch zuerft
wieder ziehen und verhafteten fie erſt fpäter. Bei Diefer
Verhaftung nahm die Polizei auch die Kleider ber VBerbäch-
tigen in Verwahrung. Die Schweiter Murphy’s, welche
wol befürchten mochte, daß ihr Bruder wegen Wilddieberei
zur Verantwortung gezogen werben follte, hatte die Innen-
tafche aus dem von ihm getragenen Rod, die vom Blute
erbeuteten Wildes beſchmuzt war, herausgeriffen und gab
deshalb nicht dieſes Kleivungsftüd, fondern einen Rod
ihres Liebhabers Redpath, den fie zuvor burchnäßt hatte,
an die Polizeibeamten ab. Dieſer Rod wurde gleich im
Anfang der Unterfuhung zwar geprüft, allein nichts
Der Einbruch im Pfarrhofe von Edlinghbam. 233
Berbächtiges daran gefunden. Neun Tage fpäter jeboch
ereignete fich ein Wunver. Das famofe Zeitungsblatt
wurde von einem unbefangenen Zeugen, ben jeither ver-
ttorbenen, vom Gerichte beigezogenen Arzt Dr. Wilfon,
in Gegenwart eines ber heute angeklagten Polizeibeamten
im Unterfutter des Rockes entvedt. Den im Bfarrhofe
gefundenen Meißel legte die Polizei gefchickter-, jedoch
nicht Iohalerweife unter die übrigen Geräthe und das
Handwerkszeug auf das Bret von Redpath's Schrank
und richtete Sodann an Rebpath die Frage, ob ber Meißel
ſein Eigenthum fer? Getäufcht von biefem Kniffe, ant-
wortete Redpath unbedenklich mit Ja. Später hat er
jedoch eine andere Ausfage abgegeben und betheuert, es
jei nicht fein Meißel geweien, er babe, weil ver Meißel
unter feinem Handwerkszeug geweſen jet, angenommen,
daß er ihm gehöre. Der Feten groben Baumwollſtoffes,
der von einer gänzlich unbevenklichen Zeugin vor dem
Ienfter des Pfarrhofes aufgefunden wurde, paßte in
Größe und Qualität genau zu dem abgeriffenen Stüde von
Brannagan's Hofe; allein ein jachverftändiger Schneider⸗
meilter, der als Zeuge vorgeführt werben wird, hat feit-
geftelit, vaß der Streifen abgejchnitten und nicht abgerifjen
worden ift und unmöglich jo lange Zeit, als zwifchen
dem Einbruche und der Auffindung lag, Wind und Wetter
ausgeſetzt geweſen ſein Tann. Schon bei dem erften
Proceß in dieſer Angelegenheit, wider Brannagan und
Murphy, hat der gelehrte Richter die Gefchworenen er-
mahnt, gerade auf dieſes Beweisftücd feinen Werth zu legen,
und babei bemerkt: ‘Der Stoffreft pafje zwar in Größe,
Farbe, Form und Qualität zu der Hofe Brannagan’s,
aber der anfgenähte Knopf fei ganz verſchieden won bem
andern Knöpfen, die fich noch auf dem Beinkleide be-
fänden. Es ift übrigens für ven Ausgang ver ver-
234 Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlingham.
maligen Verhandlung gleichgültig, ob die Angellagten es
verſtanden haben, dieſen Streifen als ein für die Schuld
der Angeklagten wichtige® Beweisftüd herbeizujchaffen.
Berjucht haben fie es. Entſcheidend wird nur fein, ob die
Geſchworenen eine ungejegliche Verabrebung ver Boliziften
annehmen. Unter ven beim Einbruche gejtohlenen Gegen-
ftänden befanden ſich ein an einer goldenen Uhrkette be-
feitigte8 Siegel, welches dem Fräulein Buckle gehörte.
Es wird nachgewiefen werden, daß Richardſon an einen
Sumwelier in Alnwick ein goldenes Siegel verkauft hat.
Der Juwelier wird dieſen Umftand vor Gericht beftätigen.
Brannagan und Murphy find vorbehaltlos begnadigt,
Engel und Richarbfon dagegen, welche das Verbrechen
eingeftanden haben, find deshalb zu fünf Iahren Zucht-
hausitrafe verurtheilt worden.”
Es folgte dad Zeugenverhör. Zunächſt werden Die
Belaftungszeugen aufgerufen.
Wir führen nur die wichtigften Ausfagen an.
Rapitän Terry, der Kommandant der Conjtabler,
der die Stiefel, Röde und andern Kleidungsſtücke ver
jeweilig Verurtheilten unter Verſchluß hatte, legt diefelben
dem Gerichtöhofe vor und berichtet über feine Be—
obachtungen an benfelben.
Ihm folgte Charles Richardſon, der in Sträf-
lingskleidern vorgeführt wird. Er gibt an, baß er und fein
Kamerad Edgell in der fritifchen Nacht urfprünglich nur
ausgingen um zu jagen. Site konnten aber nichts erbeuten,
fein Wild kam ihnen zu Schuß, und fo befchloffen fie
den Einbruch in den Pfarrhbof zu Edlingham. Es war
eine plößliche Eingebung. Sie ummwicdelten ihre Füße
mit Sadleinwand und fanden im Stalle einen Meißel,
vermittel® deſſen fie fich ven Eingang erzwangen.
Nach engliicher Strafproceßordnung ift ed Sache der
Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlingham. 235
Partei, die von ihr vorgeführten Zeugen zu vernehmen.
Der Ankläger erklärt fich für befriedigt, nachdem er
Richardfon Tängere Zeit befragt hat. Der Richter ent-
jcheidet jedoch: „Die Ausfagen, die der Zeuge abgegeben
babe, könnten auf Wahrheit beruhen und vie bermalen
angeflagten Perſonen dennoch völlig unschuldig fein.” Er
ordnet daher das Kreuzuerhör dieſes Zeugen durch ben
gegneriſchen Anwalt ar.
Das SKreuzverhör wird vorgenommen. Der Zeuge
verfichert im Laufe deſſelben, der Gedanke und der Vor—⸗
Ihlag zu dem Einbruche fei von Edgell ausgegangen.
Richardſon ift mit Edgell fchon oftmals zuvor des Nachts
auf Wilpdiebftahl ausgewefen, um nach Hafen, Kaninchen
oder Faſanen zu jagen.
Sodann wird Edgell vernommen. Auch diefer er-
jcheint im Sträflingsanzuge vor dem Gerichtöhofe und ift
von einem Gefängnißwärter begleitet. Er wiederholt im
wejentlichen die Ausfagen des vorigen Zeugen und be—
ftätigt die Angaben, die er vor dem WPolizeirichter in
Alnwid gemacht bat. Edgell muß im Kreuzverhör zu-
geftehen, daß er mit NRichardfon und Bob (Robert) Vint
wegen ver Ermordung bes BPolizeifergeanten Gray in
Unterfuchung geweſen iſt. Er betheuert aber nichts Ge-
naueres über dieſe Unthat zu wiffen und insbeſondere
feine Kenntniß davon zu haben, daß Richarbfon ben
Polizeifergeanten erjichoffen habe. Der geiftliche Herr,
ſein Seelforger, hat ihm aber allerdings gejagt: ‚Die
Umftände werben für Nicharbfon doch allmählich Fritiich.
Ueber kurz over lang wird er fich genöthigt jehen, ben
Mord einzubelennen.” Edgell gibt ferner an: der Geift-
fihe und der Rechtsanwalt hätten ihm, auf Grund eines
von ihm eingeholten Nechtsgutachtens, bevor er das frei-
willige Geftänpnig vor dem BPolizeirichter abgelegt habe,
236 Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlingham.
zugefichert: es drohe ihm und Richardſon feine Strafe,
wenn fie zugeftänden, daß ver Einbruch in Edlingham
von ihnen verübt worden fei, denn das Schwurgericht
habe bereit8 zwei andere Berfonen wegen eben dieſes Ver⸗
brechen® verurtheilt. Ein volles Jahr hindurch, oder noch
länger, hätten bie beiden Herren Edgell zugerebet, ja,
ihn bejtürmt, das Geſtändniß zu machen, und ihm wieber-
holt betheuert, e8 werde ihm nichts gefchehen, er könne
gar nicht bejtraft werben. Endlich habe er fich von feinem
Seelforger in einem Augenblide hierzu bejtimmen lafjen,
dba er franf und der Meinung gewefen fei, er mülffe
ohnedies fterben.
Richardſon, nochmals in das Kreuzverhör genommen,
gibt gleichfalls an, der Rechtsanwalt babe ihm verfichert,
daß das Gutachten eines NRechtsgelehrten eingeholt worben
jet, und babe ihn darüber beruhigt, daß er, wenn er
ſich freiwillig als der eigentliche Einbrecher befenne, doch
nicht beitraft werden könne, weil fchon zwei Männer
befjelben Verbrechens -wegen im Zuchthaufe ſäßen. Er
hat diefer Angabe vertraut. Unter der Anfchulpigung, den
Polizeifergeanten Gray ermordet zu haben, tft Richarbfon
zwei Monate lang in Unterfuchungshaft gewejen. Allein
er will unschuldig an biefem Verbrechen fein. Er be—
hauptet, in der Nacht des Mordes jet er gar nicht im
Walde bei Glebe-Field, wojelbft die That verübt wurde,
gewefen. Er fei jchon eine Woche lang zunor gar nicht
wildern gegangen.
Mr. Edward Ridley, derzeit Triebensrichter, ber
im Jahre 1879 in der gegen Brannagan und Murphy
burchgeführten Verhandlung als Ankläger fungirt, ebenfo
Mr. Manifty, ver als Richter feinerzeit die Verhand-
lung geleitet hatte, berichten über die Einzelheiten und
Borgänge im Jahre 1879.
Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlingham. 237
Der königliche Rath Ver. Milwain, der Vertheibiger
ver Angellagten Brannagan und Murphy im Proceffe
bon 1879, wird aufgerufen und legt die Information vor,
auf Grund deren er damals die Vertheidigung übernahm
und durchführte.
Der Vorfigende, Richter Denman, entſchied jedoch,
daß feine Zeugenschaft im gegebenen Stadium ber Ver⸗
handlung unzuläffig jet.
Hierauf werden Brannagan und Murphy ver-
nommen. Sie eritatten einen übereinjtimmenden Bericht
über ihr VBerbleiben in der Fritifchen Nacht, geftehen wol
zu, wildern gegangen zu fein, ftellen aber entſchieden in
Abrede, in Gejellichaft Edgell's und Richardſon's geweſen
zu fein.
In das Kreuzverhör genommen, geben fie zu, in einer
ganzen Reihe von Fällen gewilvert zu haben und wegen
Wilddiebſtahls und Uebertretung der Forſtgeſetze mehrfach
beitraft zu fein. Sie räumten auch ein, bei mehrern
Gelegenheiten abweichende und ſich widerſprechende un-
wahre Ausfagen abgegeben zu haben.
Nunmehr ericheint Fräulein Budle als Zeugin. Sie
wiederholt die Angabe, welche fie jchon in der Verhandlung
von vor 10 Jahren gemacht hatte, und bejchreibt ven
Vorgang während des Einbruchese. Sie vermag jedoch
weber in Eogell noch in Richarbfon die Einbrecher zu
erfennen.
Damit ift die Reihe ber bon der Anklage geführten
Zeugen erjchöpft.
Vertheidiger W. Besley richtet hierauf eine An⸗
ſprache an die Geſchworenen, um die Behauptungen der
Anklage zu entkräften, und ſucht ſie Punkt für Punkt
zu widerlegen. Auch er führt etliche Zeugen vor.
Se. Ehrwürden H. G. Buckle wiederholt die Ausſage,
238 Der Einbruch im Pfarrhofe von Edlingham.
bie er in der Hauptverhanblung vom Jahre 1879 abge-
geben bat. Nach feiner Anficht, die er unummunden
ausfpricht, find Edgell und Richarbfon ganz ficher nicht
die Männer gewejen, welche in ver fritifchen Nacht in
den Pfarrhof eingebrochen find.
Der Polizeiconftabler Chambers, der urjprünglich
mit in die Anklage wegen „ungejeglicher Verabredung ”
einbezogen werben follte, aber ſchon von dem Polizeirichter
als gänzlich unbetheiligt entlafjen wurde, gibt, nunmehr
als Zeuge vernommen, an, baß er perjönlich anweſend
gewejen ift, al8 die Gipsabgüffe von den Einprüden und
den Fußſpuren im Garten abgenommmen iworven find.
Er conftatirt mit aller Beſtimmtheit, daß dieſes fofort
am Morgen des 7. Februar 1879 gejchehen ift, und be-
ichreibt ausführlich und in allen Einzelheiten das hierbei
beobachtete Verfahren. Er verweift darauf, daß Dr. Wilſon
ebenfall® gegenwärtig war und fich darüber eingehend ge-
äußert habe. Chambers felbft hat ven Meißel im Wohn-
zimmer des Pfarrhofes aufgehoben, er gibt die befondern
Merkmale, die er an dem Inftrument fand, vetaillirt an.
Der hochwürdige Erzdiakon Hamilton jagt aus,
daß er gegenwärtig war, als John Redpath den frag-
lichen Meißel als fein Eigenthbum anerkannte. Er bezeugt,
Redpath habe ven Meikel genau bejehen, dann erjt den⸗
jelben mit voller Beftimmtheit als ihm gehörig bezeichnet
und gleichzeitig auch die bejondern Merkmale hervorge—
hoben, an welchen er ihn erkenne. Nebpath habe damals
ferner angegeben, daß fih das Werkzeug jeit mehr als
zwei Jahren in feinem Beſitze befinde.
Verſchiedene Zeugen fprechen jich über ven Leumund
ber Angeflagten aus. Alle ohne Ausnahme willen nur
das Günftigfte zu berichten.
Mr. Besley nimmt wieder das Wort. Er faßt die
Der Einbruch im Pfarrhofe von Edlingham. 239
Ergebnifje der damaligen Verhandlung zufammen und
beflagt lebhaft, daß die Anklage nicht alle Zeugen be-
rufen bat, bie jeinerzeit bei ber urfprünglichen Ver—⸗
handlung wider Michael Brannagan und Peter Murphy
vernommen worden find. Er jagt: „Die Anflage hat
e8 wol für zwedmäßig gehalten, Fräulein Buckle zu be-
rufen, weil fie ihrer beburfte, um bie Einzelheiten bes
Einbruches zu bezeugen, allein die Ausfage der Dame
bat weit mehr gegen als für die Anklage bewiefen, denn
fie bat in Edgell und Richardſon die Einbrecher nicht
erfannt. Wenn ber geehrte Vertreter der Anflage bei
ben Gejchworenen die Verurtheilung ver Angefchulbigten
beantragt, muß er die Jury auffordern, der von ihm ſelbſt
borgeführten Zeugin zu mistrauen. Und warum bat es
bie Anklage unterlaffen, ven ehrwürbigen Herrn Budle
ebenfall8 vor die Schranken des Gerichtshofes zu laden?
Nur durch Zufall hat die Vertheidigung e8 erfahren, daß
bies nicht gefcheben folltee Zum Glück war fie in ber
Lage, ihrerjeitö biefe Vorladung noch rechtzeitig vorzu-
nehmen. Die Erinnerung des geijtlichen Herrn in Betreff
ber Perfon der Verbrecher ift weit fchärfer zum Ausorude
gelangt als in den Ausfagen feiner Tochter. Seine An-
gaben find für die Anklage geradezu vernichtend. Er er-
Härt bejtimmt: Edgell und Richardſon find nicht bie
Thäter gewefen! — Aber auch noch andere Zeugen hätten
von feiten der Anwälte ber Krone berufen werden müfjen.
Ihre Vorladung ift unterblieben, weil ihre Ausjagen mit
ven Behauptungen der Anklage in unlösbarem Wider⸗
ipruche ftanvden. Nicht die Vertheidigung hätte die Auf-
gabe gehabt, den Polizeiconjtabler Chambers, den hoch-
würdigen Herrn Erzdiakon Hamilton vworzuladen, es
wäre Sache der Kronanwälte gewefen, wenn fie ihrer
Aufgabe getreu die Erforfchung der Wahrheit als oberften
240 Der Einbrud im Pfarrchofe von Edlingham.
Zwed vor Augen gehabt hätten. Nach allem, mas wir
nunmehr wiffen, ift die Anfchuldigung gegen Brannagan
und Murphy vermalen noch feiter begründet als im Jahre
1879, wo fie von den Gefehworenen einftimmig verurtbeilt
wurden. Die Jury hat diesmal nicht zit enticheiben,
welches von den beiden würbigen Paaren, ob die Wild-
biebe Brannagan und Murphy oder bie Wilddiebe Edgell
und Richardfon, ven Einbruch im Pfarrhofe zu Edlingham
verübt haben. Stünde die Entſcheidung hierüber, bei Diefer
Jury, fie würde faum fchwanfen, fie würde Brannagan
und Murphy für die Thäter erklären und jo ihre ur⸗
Iprüngliche Verurtheilung ratihabiren. ins fteht ale
Ergebnig dieſer Verhandlung feit: daß Edgell und
Richardſon nicht die Männer waren, welche jenen
Einbruch begangen haben. Die Zeugenausfage über pie
Art der Auffindung der Fußſpuren im Garten und über
bie Anfertigung der Gipsabgüſſe ift zwingend für jeben,
ber jeben und hören will. Die Gipsabbrüde find in ber
Ioyalften Weife hergeftellt worden. Darüber befteht nicht
ber leijefte Zweifel mehr. Was den Meißel anbelangt, jo
tft zwar nicht in Abrede zu jtellen, daß Redpath zur An⸗
erfennung feines Eigenthums vwermittels einer Lift pro⸗
vocirt worben ift, allein fein Zeugniß war far und bleibt
unanfechtbar. Er erfannte an, daß gerade biejed Werf-
zeug fich feit vollen zwei Sahren in feinem Befige befand.
Was das Stückchen Zeitungspapier anlangt, das im
Unterfutter von Murphy's Rod gefunden wurde, und ben
Fetzen Stoff, der von der Hofe Brannagan’s abgeriſſen
zu fein ſchien, jo ift auch nicht ver Schatten eined Nach-
weiles bafür erbracht worden, daß bie Polizeiorgane ihre
Hand dabei im Spiele gehabt hätten, als dieſe von britten,
unbefangenen Berjonen aufgefundenen Beweisſtücke an bie
Fundſtelle gejchafft oder gethan wurden. Sowol die An⸗
Der Einbruch im Pfarrhofe von Edlingham. 241
geflagten als ihr inzwifchen verftorbener Vorgefegter,
der Bolizeichef George Harkes, haben fich von jeher als
Männer von erprobter Ehrenhaftigkeit eriwiefen, denen
derartige fchamlofe Fälſchungen nicht zugetraut werben
dürfen. ....”
Nachdem Mr. Bruce namens der Anklage replicirt
hatte, richtete am letten Verhanblungstage, Samstag,
den 23. Februar, ver Richter Denman folgendes Räume
an bie Gejchworenen:
„.... In meiner langen Erfahrung tft mir fein Fall
vorgefommen, in dem bon gewiljer Seite mit mehr Nacd)-
brud geftrebt wurde, auf Heine und kleinliche Indicien
bin, zu ganz bejtimmten und concreten Schlußfolgerungen
zu gelangen. Diefe Inbicien find aber oft jehr fraglicher
Natur geweſen. Darum muß ich im Intereſſe der ge-
rechten und finnesgemäßen Anwendung des Gejeßes Sie
ermahnen, daß Sie, die Sie berufen find, durch Ihr
Urtheil das Verbalten des Gerichtes zu beftimmen, fich
darauf befchränfen mögen, Ihre Aufmerkſamkeit, Ihr Ge-
dächtniß und Ihre Beurtheilung ausjchlieklich auf die
Ihnen im Gerichtsfaale bewiejenen Thatfachen zu richten,
und daß Sie fich nicht von dem Wiberftreit der öffent-
lichen Meinung, ber doch ficherlich auch zu Ihrer Kenntniß
gefommen jein muß, beeinfluffen laffen mögen. Der in
Frage ſtehende Fall ift non fehr großer und mweittragender
Bedeutung. Wenn man die Schuld der drei Angeklagten
als vorhanden annehmen will, fo find zwei Möglichkeiten
in das Auge zu faflen, bie in ihrer relativen Wichtigfeit
weit voneinander abweichen. Wenn nachgewiefeu tft, daß
bie angeflagten Polizetorgane felbit an die Schuld Bran-
nagan’s und Murphy's nicht glaubten, dennoch aber
Beweisſtücke fälſchten, um deren Verurtheilung herbeizu-
führen, ſo haben ſie ein abſcheuliches Verbrechen „egangen,
XXIII.
242 Der Einbrud im Pfarrhofe von Eblingham.
weitaus verwerflicher, als wenn fie, von der Schuld ber
beiden Leute überzeugt, beabfichtigten, bei ven herbeigejchafften
Beweifen nur etwas «nachzubelfen». Doch auch in dieſem
weniger argen Balle, wenn fie felbft in reblicher Abficht
durch folche Praftifen die Zwecke geregelter Juſtizpflege zu
fördern vermeinten, bliebe ihr Vorgehen durch und Durch
unmoraliich, Schändlich und vervammenswerth. Als «Ver⸗
Ihwörung» oder «unerlaubte Verabredung» im Sinne
bes Geſetzes muß es gelten, wenn bie brei Angeklagten
oder auch nur einer berfelben im Kinverftänpnifje mit
ihrem, feither verftorbenen, Vorgeſetzten George Harfes
confpirirten und fich mit ihm dahin einigten, dem Gerichte
Beweiſe zu unterbreiten, von denen fie wiffen mußten,
daß fie gefälicht, unrichtig und geeignet waren, bie Ges
rechtigfeit auf andere Bahnen zu leiten, auch dann, wenn
fie jelbft von der Anficht ausgingen, daß die von ihnen
verhafteten Individnen bie wirklichen Verbrecher wären.
Anders ftellt fich Die Sachlage, nicht nur nach den Grund-
fügen der Moral, fondern auch nach ven Geſetzen Englands,
wenn biefe Männer, bie heute auf ver Anklagebanf fien,
in ehrlicher Meberzeugung von der Schuld Brannagan’s
und Murphys und in gutem Glauben Beweisftüde
bem Gerichte vorführten, von deren Unrichtigfeit fie nicht®
wußten, die fie nach ihrer eigenen ehrlichen Anfchauung
für überweijend erachtet haben. Wenn dann auch jene
Beweisſtücke zu einem vorfchnellen und ungerechten Urtheil
verleitet hätten, jo find fie dieſerwegen noch nicht ſchuldig.
Ebenfo wenig können Sie die Angeflagten ſchuldig fprechen,
wenn bie legtern von der reblichen Abficht befeelt, bie
Wahrheit aufzuklären und in dem Glauben, auf ber
richtigen Spur zu fein, einem Zeugen, deſſen Unbefangen-
heit nicht außer allem Zweifel ftand, mit Anwendung einer
Lift eins der Beweisftüde, den Meifel, in die Hände
Der Einbrudh im Pfarrhofe von Edlinghbam. 243
fpielten, um von ihm eine wahrheitsgetreune Ausfage über
das Eigenthum an biefem Handwerksgeräth hervorzuloden,
die fie ſonſt fchwerlich von ihm erlangt hätten. Es ift
dies ein von feiten der Polizei einem Zeugen bevenf-
licher Natur gegenüber ganz zuläffiges Vorgehen, wenn
die Abficht redlich darauf gerichtet war, die Wahrheit
darzuthun. Die Frage, die zu entfcheiben tft, gebt dahin:
«ob die Angeklagten im Einverfiändniffe mit dem ver-
ftorbenen George Harfes, im Bewußtjein, daß fie Beweiſe
fälfchten, in unebrlicher Weife fich beftrebten, einer auf
ſchwachen Füßen ftehenvden Anklage nachzuhelfen». ‘Die
Geſchworenen haben zu erwägen, daß nach unfern ftraf-
procefjualifchen Vorfchriften die Angeklagten nicht berechtigt
find, perfönli etwas zu ihren Gunften vorzubringen.
Es wäre ebenjo ungerecht als graufam, wenn fie verur-
theilt werben jollten, weil in Ihrer Entjcheivung Grund-
jäge maßgebend würden, die im Civilprocefje zuläffig und
nothwendig, im Strafproceffe aber verwerflich find, wenn
Sie nämlich die größere oder geringere Wahrjcheinlichkeit,
die für die eine ober die andere Angabe fpricht, mitein-
ander bilanciren wollten. In Strafjachen muß die Schuld
des Angeklagten nach der Ueberzeugung des Richters er-
wiefen fein. Nur wenn bie Anflage nachzumweifen im
Stande ift, daß feine andere Erflärung gegeben werben
fann, als das ſchuldbare Einverftändniß der Angeflagten,
dürfen Sie diejelben verurtheilen, ſonſt muß ihre Frei-
Iprehung erfolgen. Der Fall ift unzweifelhaft ein ganz
anßergewöhnlicher. Der nadten Thatſache, daß zwei
Männer im Jahre 1879 zu Tebenslänglicher Zuchthaus-
arbeit verurtheilt wurven und daß nad fait einem De-
cennium zwei andere Leute freiwillig hervortreten und
befennen, daß fie jenes Verbrechen begangen haben, um
defjentwillen die andern beiben feit nahezu 10 Jahren im
ie 16*
244 Der Einbrud im Bfarrhofe von Edlingham.
Kerker jchmachten, ift in fünf Jahrhunderten englifcher
Gerichtspflege nichts Aehnliches an Die Seite zu ftellen.
In diefer Beziehung ſteht ver Wall ohne feinesgleichen
da. Ueberdies bejtehen noch jetzt Zweifel und Unflar-
heiten. Sie laſſen fich nicht befeitigen, ja es ift fogar
der Verdacht rege geworden, daß jenes verjpätete Be⸗
fenntniß nicht reinen Gewifjensjcrupeln, fondern andern,
vielleicht unlautern Motiven entiprungen fei!
„Wenn dies aber wirklich der Fall ift, welche unge-
heuere, welche geradezu frevelhafte Verantwortlichkeit haben
jene auf fich geladen, die durch ihren unberufenen Eifer
wieder andere, unjchuldige Perfonen unter dem Verdachte,
eine ungerechte Verurtheilung durch frivole Machinationen
verurfacht zu haben, auf die Anklagebanf brachten!
„Das etwas ftarfe Bild, das der Vertheidiger Der. Besley
gebraucht hat, als er Ihnen zurief: «Wenn das Gebäude
der Anklage nur auf Ausfagen ver nunmehr als die wirk-
lichen Einbrecher geltenden zwei Burſche allein beruhen
follte, hätten Sie dann den Muth, darauf hin auch nur
einen Hund hängen zu laffen?» — e8 ift gerechtfertigt.
Diefes Zeugniß iſt in der That ein ſolches, daß es zu
ernten Bedenken Anlaß bietet. Die Anklage beruht aber
thatjächlich darauf, daß ein jtrafwürdiges Einverſtändniß
zwifchen ben angeflagten Bolizeiorganen bejtanden babe.
Ehe Edgell und Richardfon ihr überrafchendes Bekenntniß
ablegten, war man allgemein überzeugt, ein zwingenber
Indicienbeweis habe die Verurtheilung der Angeklagten
Brannagan und Murphy herbeigeführt — ein dermaßen
zwingenber Beweis, daß ein erfahrener, vorfichtiger Richter
und intelligente Gefchworene nach einer langdauernden,
jorgfältig geführten Schlußverhandlung, bei welcher ein
hochbefähigter und gewiffenhafter Vertheidiger und ein
Iharfjinniger und pflichteifriger Rechtsanwalt ven Ange⸗
Der Einbruh im Pfarrhofe von Edlinghbam. 245
Hagten zur Seite ftand, dieſe zwei Berfonen ebendesjenigen
Berbrechens für ſchuldig erflärten, deſſen Verübung, wie
es nunmehr heißt, nicht ihnen, fondern zwei andern ver-
Iotterten Burſchen zur Laft fallen foll. Die Frage, welche
Sie zu entſcheiden haben, ift jedoch nicht: ob A, ob B,
ob C den Einbruch im Pfarrhofe zu Edlingham begingen.
Diefe Frage tft durch andere Geichiworene und fie ift
wiberfprechend beantwortet worven. Sie mögen fich ihre
eigene Anficht darüber bilden, ob e8 ficher tft, daß dieſe
ober jene Perfonen die Verbrecher waren, ober ob noch
immer Zweifel darüber möglich find, aber Sie haben
darüber nicht zu entjcheiden. Ihr Wahrſpruch bat dieſe
Deveutung nit. Ihre Entſcheidung gilt ausfchließlich
und allein der Frage: Sind die angeflagten drei Männer,
oder einzelne von ihnen, ver ihnen zur Laft gelegten
Handlung, der fträflichen umgefeglichen Verabredung zum
Zwecke ver Herbeiführung einer Verurtbeilung jener zuerft
wegen des Einbruches in den Pfarrhof von Edlingham
vor Gericht geftellten Individuen, fehuldig ?
„Meberlegen Ste in Rube ven Hergang. Es ift zweifellos
fichergeftellt umd wird von feiner Seite beftritten, daß
ein frecher und verwegener Einbruch im Pfarrhofe von
Edlingham in der Nacht vom 6. auf den 7. Februar 1879
verübt wurde. Ob Sie nun Brannagan und Murphy
oder Edgell und Richardſon als die Verbrecher anfehen,
gewiß ift, daß die That in rückſichtsloſer, brutaler Weife
und mit großer Gefährbung von Menfchenleben begangen,
in feiger und tüdifcher Weiſe ins Werk gejett worden tft.
Das Haus war nur von einem einzigen alten Manne,
dem hochbejahrten geiftlichen Herrn, und einigen Frauens⸗
perjonen bewohnt. Welches der beiven Paare immer ben
Einbruch verübte, die Thäter waren mit dieſen Verhält-
niffen wohl vertraut. Brannagan hatte ale Knabe im
246 Der Einbruch im Pfarrhofe von Edlingham.
Pfarrhofe Schulunterricht genoffen, Edgell war zeitweilig
aushülfsweile als Gärtner im Haufe befchäftigt worben.
Welches der Paare als Einbrecher dort auftrat, e8 war
ein Paar feiger Schufte, denn fie betraten das von feinem
wiverjtandsfähigen Manne bewohnte Haus, bewehrt mit
einer geladenen Flinte. Der alte Herr fowol als feine
Tochter bewiejen rühmenswerthe Unerfchrodenheit. Beide
boten der Gefahr kühn die Stirn, indeß wollte in erfter
Linie der Vater die Tochter und die Tochter den Vater
hüten. Sie wollten ihr Eigenthum vertheidigen und
die Räuber fejtnehmen, jelbjt dann noch, als fie durch den
Schuß, der auf fie abgegeben wurde, verwundet worben
waren. Der nächte Morgen traf die Verbrecher — mögen
e8 num Brannagan und Murphy oder Epgell und Richard⸗
jon gewefen fein — in Alnwid. Die Anklage meint, es
babe im Intereſſe der Verbrecher gelegen, fo raſch als
möglich ihr Heim aufzufuchen, um, falls die Polizei Ver-
dacht fchöpfen und Nachforichungen anjtellen jollte, ruhig
im Bette betroffen zu werben; die Vertheibigung dagegen
macht mit ebenjo großer Wahrfcheinlichkeit geltend: Die
Verbrecher möchten unter dem Schulpbewußtjein, ein
Gewehr abgefeuert zu haben, aber ungewiß darüber, ob
dem Schuſſe ein Menschenleben zum Opfer gefallen ei,
einen Ummeg eingefchlagen haben, um Alnwid von ber
entgegengejetten Seite zu betreten. Denn baburch ver-
hinvderten fie, daß man ihre Spur auffand. Wie ich
wiederholt betonte, ift es diesmal nicht unſere Aufgabe
zu entfcheiven, wer die Einbrecher gewejen find. Dieſe
Trage bleibt für uns ein Incivenzfal. Wer immer e8
gewejen fein mag, als Lobenswertb foll hervorgehoben
werben, daß bie Verfolgung mit überrajchender Schnellig-
feit eingeleitet und zielbewußt purchgeführt worden ift.
Dies gefchah wieder infolge der Geiftesgegeniwart und des
Der Einbruh im Pfarrhofe von Edlingham. 247
energiichen Eingreifen bes Fräulein Budle. Sie fanbte
nämlich fofort einen berittenen Boten nach Alnwid, ver
einen Arzt und die Polizei herbeiholen ſollte. Die Organe
ver lettern Tehrten bereitd um 5 Uhr morgens von Ed⸗
lingham nach Alnwid zurüd. ‘Der erjte Verdacht richtete
fi) gegen Edgell und Richarbfon, zwei berüchtigte Burfchen,
gegen bie bereit8 früher ein Verdacht der allerfchwerften
Art, der Verdacht eines Mordes, erhoben worden war.
Die Polizei fand jedoch beide in ihren Betten, angeblich
fchlafend, und — was ehr bezeichnend und bemerfens-
werth ift — dieſelben Polizeibeamte, denen jett übergroßer,
weit über das Ziel hinausſchießender Scharfjinn, ja fogar
jene Schlauheit vorgeworfen wird, die Fünftliche Beweis-
ftüde zu fabriciren im Stande tft, fie fanden nichts, rein
gar nichts Verbächtiged vor. So gingen fie beruhigt ihres
Weges. Lag aber irgendein Grund vor, weshalb etwa
die Polizei Edgell und Richardſon fehonen, fie gegen andere,
dritte Perfonen bevorzugen follte? Bei deren gerichts-
befannten Anteceventien? — Gewiß nicht. Edgell und
Richardſon hatten, wie aus ihren eigenen Ausfagen ber-
vorgeht, wegen des Mordes eines Polizeifergeanten in
Unterfuchung geftanden. Sie find gerade Menfchen jenes
Schlages, gegen bie fich der Verbacht naturgemäß und
in erfter Linie richtet, gerade von dem Schlage auch, nach
dem die Polizei gern greift und den fie nur ungern wieder
losläßt. Es lag ficherlich für die Polizei fein Grund vor,
gerade dieſe Burſche beſonders rückſichtsvoll zu behandeln,
gerade fie zu fchonen. Eher könnte man das Gegentheil
annehmen. Nichtöveftoweniger Tießen die Polizeibeamten
diefen zuerjt rege geivordenen Verdacht fallen und fahndeten
nah DBrannagan und Murphy, die ihnen verbältnigmäßig
doch weit harmloſer erfcheinen mußten. Als fie in deren
Behaufungen kamen, Tann e8 nur wenig nah 5 Uhr
248 Der Einbrudh im Pfarrhofe von Edlingham.
morgens gewefen fein. Beide waren die Nacht über nicht
heimgefehrt. Die Polizei zog zunächſt ab, fam aber um
7 Uhr früh wieder dahin zurüd, Nun waren bie Ge-
fuchten eingetroffen. Ste verantiworteten fich mit derſelben
Ausflucht, die fie Schon mehrmals in ähnlicher Fällen
vorgebracht hatten: «Sie feien auf dem Moore von
Charlton wildern geweien.» Die Polizei fand dieſe DBe-
veitwilligfeit, ein Vergehen zuzugejtehen, welches fonjt jo
beharrlich geleugnet zu werben pflegt, jehr verbächtig.
Sie glaubte den Burſchen aber nicht und feßte ihre Er-
hebungen fort. Der Anfläger von heute ift hingegen
dieſem Belenntniffe gegenüber, weit weniger ffeptiih. Ihm
ericheint die Jagd auf dem Moore von Charlton glaub:
würdig und der Wahrheit entiprechend. Einen Nachweis
für die Nichtigkeit ihrer Angaben haben Brannagan und
Murphy nicht erbracht. Es ift nur bemerkt worben, daß
fie auf einem Wege Alnwid erreichten, der nicht Direct
auf Edlingham als Ausgangspunkt weilt; allein Dies
würde, wenn fie die Einbrecher waren, ganz gut burch
einen mit Schlauheit gewählten Umweg, der auch ihr
ſpäteres Eintreffen begreiflich machen würde, leicht zu er-
Hären jein. Sie behaupteten, bie erbeuteten Kaninchen
in einer Anpflanzung zurücgelaffen und verſteckt zu haben.
Thatfächlich find an ber von Brannagan und Murphy
bezeichneten Stelle Kaninchen verfteckt vorgefunden worden.
Es ift aber ebenjo möglich, daß fie dieſelben ſchon ein oder
zwei Nächte zuvor gejagt und gefangen und, um einer
Entdeckung des Wilddiebſtahls vorzubeugen, port verborgen
gehalten haben. Dies würde mit den Thatjachen in feiner
Weiſe im Widerfpruch ftehen. Was hätte fie verhindern
fönnen dies zu thun? ‘Der Zuftand des aufgefundenen
Wildes fteht diefer Annahme nicht entgegen. Wenn fie
in der kritiſchen Nacht fo vorgegangen find, wie e8 Edgell
Der Einbrud im Pfarrbofe von Edlingham. 249
und Richardſon von fich behaupten, wenn fie auf ihrer
Jagd nichts, oder nur etliche Kaninchen erbeutet und biefe
in ihr Verfted gebracht haben, fo Liegt in dem Umſtande,
daß wirklich an der von Brannagan und Murphy arıge-
gebenen Stelle fi) Kaninchen befunden, nichts, was ber
Annahme, dieſe beiden Individuen feien die Einbrecher,
wiberjprechen würde. Site haben auch angegeben, einer
von ihnen hätte einen Spaten, ber zum Ausgraben ber
Kaninchenbaue bejtimmt war, in feinem Nodärmel ver-
borgen gehabt, allein jene beiden, nicht in die Anklage
miteinbezogenen Boltziften, welche Brannagan und Murphy
anbielten, müßten recht alberne Stümper geweſen fein,
wenn fie, als fie die Wilderer durchſuchten, dieſen Spaten
nicht jofort entdeckt und beichlagnahmt hätten.
„Die Bewetsaufnahme ift äußert umfangreich — ich
felbft babe über 200 Foliofeiten Notizen vor mir Liegen
— und es ift fchwer, bie fich wiverfprechenden Angaben
zu entiwirren. Man muß baher, um fich ein Elares Ur-
theil bilden zu können, die verichievenen Möglichkeiten
des Falles einzeln genau erwägen. Zuerft die, daß Bran-
nagan und Murphy die Einbrecher waren, und dann ivieder
bie Gründe erwägen, bie biefer Annahme entgegenftehen.
Hierauf muß man Edgell und Richardſon als bie Ein-
brecher anfehen, aber auch wieder erwägen, welche Gründe
gegen dieſe Annahme ftreiten. Diefe Frage aber haben
Sie, meine Herren von ber Jury, ich mache Sie wieber-
holt darauf aufmerffam, nicht zu löſen. Es bleibt über-
haupt dahingeſtellt, ob heute nach dem vorliegenden Ma-
teriale bieje Frage von irgendeiner Jury bejtimmt und
in befriedigenber Weife beantwortet werben könnte. Zwei
wichtige Zengen, ber Polizeileiter George Harkes und ber
Arzt Dr. Wilfon, find ja feit dem Zeitpunfte ber erften
Sauptverhandlung in dieſem vielverjchlungenen Proceffe
2350 Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlinghbam.
mit Tod abgegangen, und es mag fein, daß niemals mehr
volles Licht über die Thatumſtände verbreitet werden wird.
„Die erſte Annahme geht alfo dahin, daß Brannagan
und Murphy die Einbrecher waren. Wenn Sie nun der
Anficht find, daß die Polizei die Indicien gegen die Ge-
nannten in aufrichtigem Beftreben nah Wahrheit, auf
redliche Weife zufammengeftellt hat, fo Liegt ein fait un⸗
umftößlicher Beweis gegen dieje Leute vor. Nachdem ich
das im Jahre 1379 bei der Verhandlung durchgeführte
Beweisverfahren genau geprüft habe und nach forgfältiger
Durchficht der Aufzeichnungen des damaligen DVerhand-
lungsrichters, jo kann ich als Ergebniß meiner aufmerkſamen
Studien mit gutem Gewiffen jagen: ich habe felten einen
Strafproceß erlebt, in dem die Schlußfolgerung Elarer
und präcijer worgezeichnet erichten. Wenn eine Jury nach
ben Ergebnifjen der Schlußverhandlung noch Zweifel ge-
hegt hätte, ob fie verurtheilen jollte, fo würde ich ver
Veberzeugung fein, daß dieſe Jury nicht aus intelligenten
Männern zufammengefegt gewefen wäre. Keinerlei Um—
ftand war damals zu Zage getreten, der das Zeugniß
ber Bolizet hätte irgendwie zweifelhaft erjcheinen Laffen
können. Ein Stüd Zeitungspapier war im Pfarrhofe
aufgefunden worden, welches zu jenem Blatte, welches
Dr. Wilſon im Unterfutier von Murphy's Rod vorfand,
genau paßte. Redpath, der Duartiergeber Murphy's,
hatte Kar und beſtimmt ausgefagt, daß der Meißel, ver
ihm vorgewiefen wurde und ver gleichfalls im Pfarrhofe
aufgefunden worden war, jein Eigenthbum jet. Er fagte
unbefangen aus, weil er nicht ahnte, daß dieſes Werkzeug ale
ein wichtige Beweisſtück fungiren folle. Redpath wurde
zu zwei verjchievenen malen befragt, und er gab die Kenn⸗
zeichen, bie ihn veranlaßten, gerade dieſen Meißel als
fein Eigenthum zu agnofeiren, genau und unverhohlen an.
Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlinghbam. 251
„Als ein ferneres Indicium war urfprünglich ein Heiner
Gegen groben Tuches oder Baummwolljtoffes mit einem
Knopfe vorgelegt worden, der geraume Zeit nach dem
nächtlichen Einbruche unter dem Fenfter des Wohnzimmers
be8 Pfarrhofes von einem Dienſtmädchen aufgehoben
worden war. ‘Der rechtögelehrte Richter, welcher ber
Hauptverhandlung im Jahre 1879 präſidirte, hat biefen
Teen vor Augen gehabt und bemerft, daß ver Knopf
daran den andern Knöpfen an der Hofe Brannagan’s
nicht glih. Er hat darum biefes Beweisſtück beanftanbet
und zurüdgewiejen, baffelbe wurde deshalb in vie fchließ-
liche Anklage nicht miteinbezogen und hat feinen Einfluß
auf Die Urtheilsfchöpfung ver Gefchworenen ausgeübt. Da-
gegen wogen um jo jchwerer die Ausfagen des Reverend
Mr. Budle und feiner Tochter. Diefelben äußerten fich
allerdingd mit ber anerkennenswertheſten Vorfiht und
Gewiſſenhaftigkeit. Allein fie ſtimmten doch darin über-
ein, daß der Mann, welcher die Flinte gegen fie abfeuerte,
in Geftalt und Ausjehen dem Angeflagten Brannagan
vollſtändig glich, daß der Betreffende breitichulterig war,
von militärifch ftrammer Haltung, und dunkles Kopfhaar
trug. Man fand im Garten Fußfpuren, fie wurden un-
verzüglich in Gips abgeformt. Die Gipsabgüffe paßten
genau zu ben Stiefeln Brannagan's und den Holzfchuhen
Murphy's. Alle diefe Indicien vereint mußten genügen,
um eine noch fo zweifelfüchtige Jury zur Abgabe eines
«Schuldig» lautenden Wahrjpruches zu veranlaffen. Nun
heißt es wol, Brannagan und Murphy waren doch nicht
die Thäter, denn es iſt nachgewiefen, daß zwei andere
Individuen den Einbruch verübt haben. Wenn Sie aber
mit mir der Anficht find, daß Edgell der Bejchreibung,
welche Fräulein Buckle feinerzeit von dem Einbrecher gab,
ben fie doch bei den Haaren gefaßt hatte, ebenſo wenig
953 Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlingham.
entfpricht wie Richardſon, jo ift ver Beweis, der gegen
Brannagan und Murphy vor zehn Jahren als erbracht
galt, unerfchütterter denn je. Noch mehr. Sie haben zu
erwägen, ob Mer. Buckle over feine Tochter fich geirrt
haben, als fie angaben, Edgell könne nicht der Mann
geweſen fein, ver auf fie gefchoffen habe. Bedenken Sie,
daß Edgell und Richardſon in der wider fie purchgeführten
Verhandlung fich ſchuldig erflärten des Einbruches, nicht
ichuldig des Morbverfuches, daß das Urtheil in biejem
Sinne lautete und daß fie deshalb mit einer verhältniß-
mäßig geringen, zeitlichen Treiheitsftrafe belegt worben
find. Von einem der Parteivertreter ift auch hervorge⸗
hoben worden, daß Redpath fehwache Augen babe und
jein Zeugniß aus biefem Grunde mit Mistrauen aufzu-
nehmen jei. Seine Anerfennung des Eigenthbums an dem
fraglichen Meißel könne nur mit Vorbehalt als beweijend
angefehen werden. Dieſe Behauptung ift nicht ftichhaltig.
Meine Erfahrung lehrt mich, daß felbft völlige Blindheit
bie Fähigkeit, gewiffe Gegenjtände an befondern Merf-
malen zu erkennen, nicht ausfchließt. Ich erinnere mich
aus meiner eigenen Praxis eines bemerfenswerthen Falles,
in dem ein ftodblinder Mann einen Glasgriff, der ihm
geftohlen worben war, ficher wiebererfannte. Er fand
benfelben unter 20 verfchienenen, ihm beim Kreuzverhör
vom gegneriichen Advocaten vorgelegten Glasgriffen ohne
Schwierigkeit und mit voller Sicherheit heraus. Der
Meißel, der bier in Frage fteht, hatte aber beſondere
Kennzeichen: ein Sprung, ber entlang dem Griffe ver-
fief, und überdies war ein Stüdchen des leßtern ganz
abgeiplittert. Dies find Merkmale befonvderer Art, bie
dem Eigenthümer nicht entgehen können. Redpath wurde
obendrein in dieſer Angelegenheit zu zwei verſchiedenen
malen vernommen, und wie wir aus ben Zeugenausfagen
Der Einbruh im Pfarrhofe von Edlinghbam. 253
jowol des Schriftführerse am Trievensgerichte, als bes
bochwürbigen Erzdiakons Hamilton entnehmen, wurde
er beim zweiten mal von dem Vertheidiger ber Ange⸗
Hagten, Mr. Milwain, in ein fcharfes Kreuzverhör ge-
nommen. Beidemal erkannte er jedoch den Meißel mit
voller Beftimmtheit als den feinigen und gab feine Gründe
hierfür an. Warum aber befchiwor er dann in der zweiten
Hauptverhandlung vor dem Friedensrichter das Gegen.
theil? — Die Erflärung iſt leicht zu finden. Sie iſt
in der menjchlichen Natur begründet, wenn fie auch nicht
jehr ehrenvoll für den Zeugen if. Redpath war kurz
nach der Verurtheilung Brannagan's und Murphy's ge-
nöthigt, fich in die freiwillige Arbeitsanftalt zu begeben,
in biefelbe zu flüchten, wern man will. Es blieb ihm
fein anderer Ausweg mehr. Er hatte durch feine uns»
umwundene Ausfage den allgemeinen Unwillen feiner Ge-
jellichaftsfreife erregt. Seine Geliebte, die Schweiter
Murphy's, Hatte ihn verlaffen. Er war verfemt, von
allen gemieven, und als letzte Zufluchtsftätte blieb ihm
nur das Aſylhaus. Es tft dies nicht überrafchend bei
einer Bevölkerung, welche vie heimfehrenden Zuchthäusler
wie lorbeergefrönte Helden, im Triumphe empfing. Er
war ein armer, wenig willensitarfer Menſch, er fuchte
wol durch Die abgeänderte Zeugenausfage wieder etwas
populärer zu werben. Es liegt Ihnen feine neuerliche
beichtworene Ausfage vor, in ber er nunmehr behauptet,
alle Angaben, die er in Betreff des Meifels, ver eine
fo wichtige Rolle im Beweisverfahren fpielte, im Jahre
1879 beeibet hatte, feten irrig und unwahr geweien. Wenn
Sie diefer nachträglichen Correctur den Glauben ver-
weigern und feine urfprüngliche Angabe für wahr erachten,
fo ift das Herfommen bes Meißels, ver unbeftrittener-
maßen beim Einbruche als Werkzeug diente, bis auf Mur-
254 Der Einbruch im Pfarrhofe von Edlingbam.
phy's Wohnſtätte zurüczuverfolgen und bildet ein äußert
wichtiges Belaftungsmoment gegen die Compagnie Bran-
nagan und Murphy. Was die in dieſem Proceffe von
Murphy in feiner Eigenfchaft als Zeuge abgegebene Aus-
fage betrifft, jo war die Art und Weife, wie er biefelbe
vorbrachte, geradezu bedenklich. Zuerſt fprach er fließend.
Seine Darftellung machte den Einprud des Eingelernten.
Als er aber in das Kreuzverhör genommen, aufgeforbert
wurde, biejes oder jenes “Detail zu beichwören, da ſtockte
er, da antwortete er nur zögernd und nur auf einbring-
liches Befragen. Selbſt ohne Rüdficht auf die Zeugen-
haft der Polizeiorgane, nur im Hinblid auf die Ausfagen
des Neverend Mr. Budle, feiner Tochter und der andern
unbefangenen Zeugen, benen gewiß voller Glaube beizu⸗
mefjen ift, erjcheint der Beweiß gegen Brannagan und
Murphy jo gut wie erbradt. Wenn num dieſe Zeugen-
ſchaft der Polizei als eine ehrliche angenommen wird, fo
ift der Beweis, der vorher ſchon gelungen fchien, dadurch
vollkommen ergänzt worden. In ber jegigen Verhandlung
ift ein Zeuge aufgetreten, ver perjönlich gegenwärtig war,
als die Gipsabgüffe hergeftellt wurben, und der für deren
Nichtigkeit einfteht. Dr. Wilfon ift tobt. Allfeitig wird
zugegeben, daß er eine höchſt achtungswerthe und intelli-
gente Perſönlichkeit gewejen ift. Nichtsbeftoweniger hat
man angeveutet, er könne vom damaligen Polizeileiter
George Harkes getäuscht und misbraucht worden fein.
Dr. ®ilfon war es nämlich, der Murphy's Rod unter-
ſuchte. Er that Dies vorfichtigerweife, um fich zu ver«
gewiffern, ob in bemfelben etwa Schnitte von dem Schwerte
bemerfbar wären, mit dem ber Reverend Mr. Bude fich
bewaffnet hatte, als er den Einbrechern entgegentrat. Bei
‚biefer Unterfuchung fand Dr. Wilſon im Unterfutter des
Rockes jene Zeitung, zu welcher das von den Einbrechern
Der Einbruch im Pfarrhofe von Edlingham. 255
im Pfarrhofe verlorene Stüd gehörte. “Der fragliche Rod
it ein fehr defectes Kleidungsſtück, jehr abgetragen und
zerriffen, und es ijt in dem Umſtande, daß das Zeitungs-
papier ftatt in der Innentafche im Unterfutter ſtak, nichts
Auffälliges zu erbliden. Es ift Zeugenfchaft dafür an-
geboten worden, daß der Rod, welcher als jener Murphy's
ber Polizei übergeben wurde, eigentlich dem Redpath ge-
hörte. Dies ift an fi wol möglich, denn die beiden
Männer lebten ja thatfächlich in einem gemeinfchaftlichen
- Hanshalte, und Verwechjelungen wären nicht unmöglich
geweſen. Es ift auch behauptet worden, gerade biefer
Rod fei von der Schweiter Murphy's, der Geliebten
Redpath's, vorjäglich durchnäßt und dann erjt in bie
Hände der Polizei ausgeliefert worden, um fie zu täuſchen
und glauben zu machen, daß Murphy ven Rod in jener
feuchten Februarnacht getragen habe. Es wirb ferner
geltend gemacht, Brannagan und Murphy hätten einen
Hund mit fich geführt, und in ber Unterfuchung vom
Jahre 1879 habe nichts davon verlautet, daß man Hunbe-
ipuren gefunden habe. Diejer Umftand ift jeboch Feines-
wegs erheblich, denn zur Zeit des Einbruches befand fich
ein großer Wachthund in der Hundehütte nächft dem
Pfarrhofe. Derjelde wurde auch am folgenden Morgen
von der Kette gelaffen, und es wäre kaum möglich ge-
weſen, feftzuftellen, ob etwaige Spuren von dieſem Hunde
oder einem andern herrührten. Ferner ift darauf hin⸗
gewiefen worden, die Zeugen hätten beftätigt, baß bie
beiden Beichuldigten am Morgen nach dem Einbruche auf
einem Wege in Alnwid eingetroffen wären, ber nicht in bie
Richtung nach Edlingham führt. Allein dies beweiſt gar
wenig. Sie konnten abfichtlich den Umweg gewählt haben.
Dies würde auch mit der Ausfage jenes Polizeibeamten
übereinftimmen, der angab, daß die Fußſpuren im Garten
256 Der Einbruch im Bfarrbofe von Edlingham.
des Pfarrhofes fich in einer nicht nach Alnwick führenden
Richtung entfernten: Er habe die Fußſpuren noch eine
furze Strede verfolgen können, dann aber hätten fie fich
auf dem harten Boden verloren. Es ift übrigens aus
dem Datum bes Einfchreibebuches dieſes Poliziften con-
ftatirt worden, daß er dieſe Beobachtungen wirklich ſchon
am 7. Februar 1879, am Morgen nach dem Einbruche
und nicht erft nachträglich gemacht Hat. — Was für
Leute find aber eigentlich Edgell und Richardſon? Weber
ihr Vorleben find Sie genügend unterrichtet. Weber ben
Eindrud, den ihr perfönliches Auftreten zurückläßt, ift
wenig zu jagen. Er fteht noch frifch in Ihrer Erinnerung,
fie find ja bier auf der Zeugenbanf erichienen. Richard⸗
jon präfentirt fich genau jo wie man Einbrecher fich typiſch
vorzuftellen pflegt. Laſſen Sie fich jedoch dadurch nicht
zu falſchen Schlüffen verleiten! Meinen Ste wol, baß
bie Polizet einen folchen Vogel ohne weiteres hätte fliegen
laſſen, wenn fie nicht fehr triftige Gründe dafür hatte?
Edgell fieht allerdings weniger ruppig aus, allein darum
boch nicht vertrauenswürdiger. Er vertritt fo recht ben
Typus bes Triechenden, immer weinerlichen und demuths⸗
voll zuſammenknickenden Bettlers. Sie haben feine Art
fih zu geben auf der Zeugenbanf beobachten können.
Lauten aber auch nur die Ausfagen diejer beiden in jenen
Punkten wejentlich gleich, in denen fie — bie Aufrichtig-
feit ihres Geftänpniffes vorausgejegt — übereinftimmen
müßten? Nein... Beide, ſowol Edgell als Richarbfon,
waren mit ben Verhältniſſen auf dem Pfarrhofe wohl⸗
vertraut. Beide hatten vollauf Gelegenheit, fich über bie
Einzelheiten und Ergebniffe der Verhandlung wider Bran⸗
nagan und Murphy genau zu unterrichten. Sie waren
jomit ganz leicht im Stande, eine ervichtete Erzählung über
bie Umftände des Verbrechens vorzubringen. Edgell und
Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlinghbam. 257
Richardfon waren — und dies ift ein fchwarzer Punkt —
bes Mordes eines Polizeibeamten wegen in Unterfuchung
geweſen. Das Dunkel, welches über jenem Mord fchwebt,
ift noch immer nicht aufgehellt. Sie felber geben übereins
ſtimmend zu, daß fie von dritten Berfonen zu ihrem Geftänp-
miß gedrängt und von ihnen dazu bewogen worben find.
Sie behaupten, ſowol der Seelforger Edgell's als ihr Rechts⸗
anwalt hätte ihnen verfichert, daß ein Nechtögutachten
eingeholt worben fei und daß fie jedenfalls ftraflos aus-
gehen müßten, wenn fie fich felbft vor Gericht als die-
jenigen angäben, die ven Einbruch verübt hätten. Ihre
Beitrafung fet unzuläffig, fo habe man ihnen gejagt, weil
wegen jenes Verbrechens fchon zwei Männer rechtskräftig
berurtheilt wären und feit Sahren als Zuchthausfträflinge
bafür büßten. Sie glaubten feit an die Nichtigkeit dieſer
Rechtsauffaſſung, bis zu dem Augenblid, wo zu ihrer
großen Veberrafchung ihre DVerurtheilung erfolgte. Cs
iſt zwar nicht recht begreiflich, daß ein hervorragender
Rechtögelehrter wirklich einer folchen Rechtsanficht huldigen
und ihr in einem Gutachten Ausdruck gegeben hat. ‘Dem
Gerichtshofe ift dieſes Gutachten nicht vorgelegt worben,
aber der Thatjache, daß man ein folches eingeholt hat,
ift von feiner Seite wibderiprochen worben. Ich muß alſo
amehmen, daß die Leute in diefem Sirme belehrt worden
find und in der darauf bafirten falichen Zuverficht ihre
Geftänpniffe machten. In den wichtigften Einzelpunften
gingen aber die Angaben ver beiden weit auseinander.
Sie ftehen mit den von dem Neverend Mr. Budle und
feiner Tochter abgegebenen Ausfagen mehrfach in grellem
Gegenfat. Wollen Ste ihnen glauben? — Es wird
auch zu Gunften Brannagan’s und Murphy's angeführt,
daß fie wiederholt um ihre Begnabigung gebeten [haben.
Meine Erfahrung aber geht dahin, daß Menfchen, bie
XXIIL 17
958 Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlingham.
von einer ſchweren Verurtheilung betroffen worben find,
in der Regel Begnabigungsgejuche überreichen, und daß
fih immer gutherzige Menſchen finden, vie folche Be⸗
gnabigungsgefuche befürworten.
„Die vermaligen Angeklagten find ſammt und ſonders
Männer von erprobtem guten Ruf and Wohlanftändigfeit.
Dies darf Sie jedoch nicht hindern, fie alle ober einzelne
von ihnen zu verurtheilen, wenn Sie die Anklage wohl
begründet erachten. Wenn Sie aber ntcht die Anſchauung
gewonnen haben, daß bie beſchuldigten Polizetorgane, fei
e8 im Uebereifer, ſei e8 aus Böswilligkeit oder aus andern
Gründen, ſich vergangen haben, fo ift e8 Ihre Pflicht,
biefelben freizuſprechen.“
Die Jury gab nach kurzer Berathung ihr Verdict ab:
Nicht Ichuldig!
Der Richter erflärt ſich mit dieſem Urtheil einver-
ſtanden. Er verfündigt, daß er ven Gefchworenen, Mann
fir Mann, für ihre Mühewaltung — die Berbandlung
hatte fünf Tage in Anspruch genommen — eine Gebühr
von 4 Guineen (gleich 84 ME.) als Entſchädigung an-
weiſen werde.
Mr. Boyd erbittet Die Intervention des Richters dahin,
daß die nicht unerheblichen Koften der Vertheidigung auf
den Staatsſchatz übernommen werben. Nichter Denman
erklärt fich in diefer Angelegenheit für incompetent, ſpricht
aber die Anficht aus, daß ein diesbezügliches an die Re—
gierung gerichtetes Geſuch wol von Erfolg begleitet fein
werde.
Die Angeklagten werden als ſchuldlos entlaffen.
In England braucht die öffentliche Meinung, wenn
ein Strafproceß allgemeines Auffehen erregt hat, Längere
Der Einbrudh im Pfarrhofe von Edlinghbam. 959
Zeit, um fich zu beruhigen. Auch in dem vorliegenden
Valle kam es zu. einem Nachipiel in der Preffe und im
Parlament.
Der Seelforger Edgell's, ein Mann, ver feit 23 Iahren
dem geiftlichen Stande angehört und feit 16 Jahren als
Bicar der St.-Paulskicche in Alnwick angeftelit if, Sevon
IM. Perry, fühlte fich duch den ihm vom Richter
Denman gemachten Vorwurf, daß er Edgell und Richard⸗
jon durch nicht ftichhaltige Zuficherungen zu einem Ge-
ftändniffe bewogen habe, in feiner Ehre gefränft und
wendete fich mit einer vom 26. Februar 1889 datirten
Einfendung an die „Times“, um feinen Standpunft dar⸗
zulegen. Er fagt in feiner Erklärung im wejentlichen:
„&8 tft und bleibt ein feelifches Geheimniß, was Edgell
und Richarbfon veranlaßt hat zu geftehen, daß fie, und
fie beide allein, den Einbruch verübt haben; durch biefes
Bekenntniß haben fie eine Kerkerftrafe von fünf Jahren
über fich felbft heraufbefchworen. Edgell hat vor bem
Richter Denman in Newcaftle angegeben, ich jet 8 ge-
weien, ver ihn zu dem Geftänpniffe beivogen habe, weil
ih ihm verfichert hätte, er könne für dieſes Verbrechen
nicht mehr beftraft werben. Der rechtögelehrte Richter
bat auf diefe Ausfage Edgell's hin, ohne mich vorher zu
hören, einige ſehr fcharfe Bemerkungen über mein Ver⸗
balten fallen laſſen. Ich war von ver Anklage als Zeuge
borgeladen, bin aber nicht vorgerufen und vernommen
worden, und fonnte daher vor Gericht Feine Erklärung
abgeben. Ich bin nicht verhört worben, obgleich ich,
nachdem ich Edgell's Ausfage in den Zeitungsblättern gelejen
datte, ven Ankläger ausdrücklich und fchriftlich exrfuchte,
er möge mich vorrufen laffen. Ich bin alſo verurtheilt
worden, ohne gehört zu fein. Edgell hat nur einen Theil
befien berichtet, was ich mit ihm im dieſer Angelegenheit
178
260 Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlingham.
beiprochen habe. Ich erklärte ihm nachbrüdlich, er würde
nur dann unbebingt ftraflo8 ausgehen, wenn der Staats-
jecretär des Innern ihm im vorbinein «freies Geleit »
zuficherte. Es ift wahr, ich habe um folches «freies Ge-
feit» für Edgell angefucht, ich habe es aber nicht erwirfen
fönnen. Sch habe Edgell jedoch hiervon verftändigt und
ihm auseinandergefegt, daß ein vorbehaltiojes Geftänpniß
ihn nicht vor einer Verurtbeilung fchügen könne. ‘Dennoch
habe ich es als Geiftlicher und Seelforger für meine
Pflicht gehalten, ihm in das Gewiffen zu reden und ihn
aufzufordern, troß dieſer möglichen Gefahr reuig feine
Unthat zu befennen, um die wegen feines Verbrechens
ungerecht verurtheilten Männer dem Kerker zu entreißen.
Gerade deswegen bleibt das Räthſel ungelöft, was ihn
und Richarbfon bewogen haben mag, fich als die Thäter
anzugeben, wenn fie nicht wirklich die Einbrecher waren.
Der rechtsgelehrte Richter fagte in jeinem Reſumé laut
den ftenographiichen Aufzeichnungen des «Newcastle
Evening Chronicle» vom 23. Februar wörtlich:
„«Sowol Edgell als Richardſon waren des Mordes
an dem Polizeioffizier Grah in Edlingham im Jahre 1873
bezichtigt worden. Es ift fehr auffallend, daß dieſe alte
Geichichte bei diefem Anlafje aufgerührt wurde. Edgell
jelbft hat bei ver Verhandlung zugegeben, jener Herr, ber
fih fo eifrig darum bemühte, daß die angeblich unſchuldig
Berurtheilten ihre Freiheit wiebererlangen möchten, und
dies durch das Geſtändniß Edgell's und Richardſon's zu
erreichen ftrebte, babe im Laufe der Beiprechungen, bie
er mit ihm gehabt, der Befürchtung Ausprud gegeben,
Richardſon könnte fich als Mörder jenes Polizeioffizieres
ichuldig befennen. Warum aber zeigte jener Herr biefer-
wegen Bejorgnig? Was in der Welt Eonnte ihn, ver
fich fo befliffen zeigte, ein ergangenes ungerechtes Urtheil
Der Einbrud im Pfarrhofe von Eblingham. 261
richtig zu ftellen, veranlaffen, eine jolche Unruhe barüber
an den Tag zu legen, ob Richardſon fich jenes Mordes
ihuldig befennen würde oder nicht? Iſt es denn nicht
auch im Interefje der GerechtigfeitSpflege und der öffent-
lichen Moral gelegen, daß Richardſon jene Unthat ein-
gefteht, wenn er fie begangen hat? — Ich kann es nicht
begreifen. Es fcheinen bier geheimnißvolle Motive mit-
zujpielen. CinerfeitS der Druck, der von jener Perjön-
lichfeit ausgeübt wird, auf daß die Wahrheit in Sachen
eines dunkeln Verbrechens zu Tage trete, und gleichzeitig
die fieberhafte Beſorgniß, daß derſelbe Menſch ven art-
geblih von ihm an einem wehrlofen Polizeibeamten be-
gangenen abfchenlichen Meuchelmord befennen möchte.
Darum follte er gerade in diefem Falle zurückhaltend
bleiben? Am Ende gar deswegen, weil man auf irgenb-
eine Weife fich die Anſchauung gebilvet hatte, mit ber
Verurtheilung Brannagan's und Murphy's fei ein arger
Fehler begangen worden. Sollte etwa jemand es mit
feinem Gewiffen vereinbarlich gefunden haben, an ihrer
Stelle andere Perſonen als die Thäter vorzuführen, un-
befümmert darum, ob fie auch wirklich ſchuldig wären?
Welch eigengeartetes Gewiffen müßte dies fein! Zwei
Perfonen dazu veranlaffen, daß fie fich ftatt Brannagan
und Murphy als Einbrecher ftellen, und dieſes Geſtändniß
durch die Ausficht hervorloden, daß dieſes Bekenntniß
eines nicht begangenen Verbrechens, das obendrein voraus⸗
fichtlich ftraflo8 bleiben werde, ſie vor der drohenden, weit
größern Gefahr zu fchüten vermöge, wegen eines Mordes
verfolgt und verurtheilt zu werden? — Solite dies ber
Gedanfengang jener Perfönlichkeit geweſen fein, bie fich
unbernfen in die Unterjuchung mengte?....»
„Ich habe dieſe fo energiich aufgeiworfene Trage durch
meine Zeugenausfage beantworten wollen. Die Berjön-
262 Der Einbrud im Bfarrhofe von Edlingham.
lichkeit, auf die fich bie Worte des Richters beziehen, bin
ih. Ich habe mich bereit gezeigt, in offener Gericht®-
verhandlung auf meinen Eid die Erklärung abzugeben,
und ich babe auch jchriftlich dem Ankläger gegenüber er-
Härt: es fet ganz und gar unrichtig und feinerlei be-
gründeter Anlaß zur Vermuthung dafür gegeben, daß ich
zu irgendbeiner Zeit die Beſorgniß gehegt oder gezeigt
hätte, Edgell over Richardſon könnten die Ermordung des
Polizeibeamten Gray zugeftehen. Ich babe zu feinem von
beiden darüber ein einzige8 Wort geſprochen. Ich bin
ber feiten Weberzeugung geweien, baß Epgell fein Ge—
ſtänndniß wegen des Einbruches ablegte, nicht etwa um
baburch ben weit fchwerern Verdacht des Meuchelmorpes
von fich abzujchütteln, ſondern einzig und allein in ber
Erfenntnig feiner Pflicht, unſchuldige Menichen von einer
Buße zu entlaften, die ihnen um eines Verbrechens willen
aufgelegt worden war, welches er begangen hatte.
„Damit habe ich wol genug gejagt. Die nadte That-
ſache ift, daß Edgell und Richardſon, trotzdem fie hinreichend
über bie Tragweite ihres Entjchluffes unterrichtet waren,
ſich freiwillig zum Geſtändniſſe gemeldet haben, fie hätten
den Einbruch begangen. Sie gaben dieſe Erklärung zuerft
vor dem Yujtizbeamten Herren Elsdon und jpäter vor dem
Polizei-Oberinfpector Butcher ab. Sie wieberholten ihr
Geftändnig vor dem Richter Baron Pollod und wurden
von ihm zu fünfjähriger jchwerer Zuchthausſtrafe ver⸗
urtheilt. Ste haben das gleiche Geftänpnig vor dem
Frievdensrichter in Alnwick beeivet und fie haben es in ver
fetten Verhandlung unter ihrem Zeugeneive vor dem
Richter Denman in Newcaftle zu einer Zeit wiederholt,
als fie fich Feiner Illuſion mehr darüber hingeben konnten,
welche Folgen ihr Belenntniß nach fich ziehen mußte. Es
it wahr, in ihren jeweiligen Ausfagen find gewiſſe Wider⸗
Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlinghbam. 263
Iprüche vorgefommen. Ste haben nicht das Gleiche Darüber
ansgefagt, wer den Plan zu dem Einbruche zuerjt aus-
geheckt bat und wer von ihnen beiden zuerft in das Haus
eingedrungen ift. Dieſer Widerſpruch ift aber von bem
legten Anfläger mit Recht als der ſchlagendſte Beweis dafür
gedeutet worden, baß feine Verabredung zwifchen ihren«
ftattgefunden bat. ‘Diefe Widerſprüche entjpringen aus ber
Ratur des Menjchen, ver, auch wenn er feine Schuld zu-
gefteht, gern noch Vorbehalte macht, fich als ven Verführten,
den Genofjen aber als den eigentlichen Anftifter zum Böſen
binftellen möchte, auch wenn er in ver Hauptſache vie
Zhatfachen unumwunden zugefteht. — Ich überlaffe es
getroft der Beurtbeilung der öffentlichen Meinung, ob die
fung des pfhchologischen Räthjels auf dem Wege möglich
ift, anf den der rechtsgelehrte Richter zu weiſen für gut
befunden hat. Die Hffentlihe Meinung mag entjcheiven,
ob ich wirklich meinen Einfluß auf das Gemüth biejes
Menschen, Epgell, misbraucht habe — denn ich bemerfe
bier ausbrüdlich, daß ich feinen Genofjen Richardjon vor
feiner Berhaftung gar nie gejprochen habe —, ob ich
Edgell zum Geſtändniß eines Verbrechens, deſſen er nicht
ſchuldig war, veranlaßt babe, um ihn dadurch vor den
möglichen Folgen zu bewahren, vie ihm durch die Ent-
büffung feines Antheild an einer weit fcheußlichern von
ihm witbegangenen Unthat drohte. Und dies follte die
einzig mögliche Löſung dieſes pfpchologiichen Problemes
jein!?
„Die «Times» hat in ihrem Berichte einen äußerſt
wichtigen Umſtand erwähnt, ver in ver Verhandlung nahezu
unbeachtet vorüberging. Es ift das Moment der um-
widelten Füße der Einbrecher. Was ich von dieſer That⸗
iache weiß, beichränft fich auf das Nachſtehende. Am 17.
November 1887 machte Edgell mir und Herrn Perch
264 Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlingham.
zum eriten mal das Geſtändniß. Er fagte, als er uns
bie Einzelheiten ver That beichrieb, er und fein Genoffe,
den er damals noch nicht mit Namen nannte, hätten in
einem der Nebengebäude zufällig einen alten zerrifjenen
Sad gefunden, denfelben in Streifen gefchnitten und mit
"diejen die Stiefel umwidelt, um baburch das Geräufch
ihrer Schritte zu dämpfen. Eine Unterfuchungscommiffion
tft vom Staatsfecretär des Innern im Auguft 1888 an-
georpnet worden. Der Vertreter ber Yuftizbehörbe, der
beauftragt war, dieſe Commiſſion zu leiten, war ber
Rechtsanwalt Mr. Dransfield von Newecaftle- on-Tyne,
Sch felbft führte ihn in meinem Wagen zu einem Guts⸗
pächter Namens Mordue in Edlingham. Ich hatte nie
vorher mit Herrn Morbue verkehrt, ihn weder gefehen
noch gejprochen. Der Pächter war der feften Ueber-
zeugung, daß Brannagan und Murphy die Einbrecher
gewejen waren, allein in feiner Herrn Dransfield er-
ftatteten Darftellung des Ereigniffes, die in meiner Gegen-
wart, unaufgefordert und ohne jedwede Suggeftivfrage
erfolgte, und die zweifellos ohne das geringfte Bewußt⸗
fein über die Tragweite feiner Ausfage abgegeben war,
erzählte er: «Ich errinnere mich ganz gut, baß ber
damalige Polizeichef Herr George Harfe mir noch am
Abend deſſelben Tages, an dem ber Einbruch erfolgte,
gejagt hat, daß bie Kerle, die aus dem Speifezimmer-
fenfter jprangen, die Füße wahrfcheinlich mit alten Fetzen
ummwidelt gehabt haben werden.» Auch Herr Mordue
ber Jüngere, der Sohn des Gutspächters, erinnerte fich
daran, daß fein Vater ihm biefes damals mitgetheilt
hatte. — Diefe Thatſache ift in der legten Verhandlung
als Beweismoment nicht zur Geltung gelangt.” -
So viel aus dem umfangreichen Briefe des geijtlichen
Herrn. Das Nachipiel im Parlament Hang aus anderm
Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlinghbam. 265
Ton. Während nach dem Bekanntwerden des Geftänb-
nifjfe8 der Compagnie Edgell und Richardſon ein Schrei
ber Entrüftung über ben erfolgten Juſtizmord durch bie
Lande ging und dem Staatsjecretär des Innern bie Bes
willigung einer ausgiebigen materiellen Entichäbigung an
bie unſchuldig Verurtheilten fürmlih im Sturme ab-
gezwungen wurde, bat in ber Sitzung bed Unterhaufes
vom 7. März 1889 der Abgeordnete Sir G. Campbell
ben Minifter über feine Abfichten interpellirt und von
Mr. Matthews nachitehende Antwort erhalten:
„Sch babe ven wirklich vecht ſehr verwidelten und
ihwierigen Fall ernfthaft und forgfältig erwogen und bin
zu dem Schluffe gelangt, daß es nicht thunlich ift, noch
weitere Erhebungen zu pflegen ober noch weiter gehende
Unterfuchungen einzuleiten, um der Wahrheit auf ben
Grund zu fommen und neue Thatfachen aufzudeden. ‘Der
Generalanwalt hat den ftricten Auftrag ertheilt, für bie
legte Verhandlung alles Material berbeizufchaffen, das
irgendiwie Licht in das Dunkel bringen könne. Dies ift
auch geſchehen. Es mußte freilich der Beurtbeilung des
intervenirenden Anwaltes überlafjfen bleiben, welche von
ben Zeugen er zur Zeugenfchaft berufen wollte. ‘Die
Herren Berry und Perch waren wol vorgeladen worden,
man bat fie jedoch nicht zur Abgabe ihrer Ausfagen auf-
gefordert, denn die ihnen von Edgell und Richardſon
gemachten Mittheilungen ſtanden nicht im Zuſammen⸗
bange mit der Anklage wider bie Polizeiorgane, boch
waren fie vorgeladen umd konnten, wenn die Vertheidigung
ben Wunsch ausgefprochen hätte, fofort berufen werben.
Herr Berry war auch feinerzeit von dem Polizeirichter, ver
das Verhör mit Edgell und Richarbfon abbielt, vor-
geladen gewefen und konnte ſchon damals einem Kreuzverhör
unterworfen werben. ‘Die Gelbfumme, welche vie Re-
266 Der Einbruch im Pfarrhofe von Edlingham.
gierung für Brannagan und Murphy als Entſchädigung
anwies, iſt zu Handen der hierzu defignirten Curatoren
ausgezahlt worden. Es wird dem Parlament anläßlich
der Nachtragscrebite Rechnung darüber gelegt werben.
Der Bericht des Rechtsanwalts des Schatamtes kann
dem Haufe nicht mitgetheilt werden. Er enthält ver-
trauliche Angaben, die zu öffentlicher Erörterung nicht
geeignet find, auch ift das Plenum bes Haufes nicht im
Stande als Yuftizhof zu fungiren. Ich fühle mich ſowol
berechtigt al$ verpflichtet, bier zu erklären, daß ich nicht
allein auf Grund einfeitiger Berichte vorgegangen bin, und
erit dann einen Schritt zur Begnabigung Brannagan’s
und Murphy's gethan habe, als Edgell und Richardſon
geitanden und ihr Bekenntniß aufrecht erhalten hatten,
trog der Warnung, daß fie fich hierdurch ftraffällig
machten, und wirffih zu fünfjähriger Zuchthausftrafe
verurtbeilt worden waren.“
Eir ©. Campbell fragte weiter, ob der Anfläger
dahin inftruirt gewefen fei, nur diejenigen Beweismomente
vorzubringen, welche möglicherweife zu einer Berurtheilung
führen fonnten, oder ob er beauftragt war, überhaupt
alle Beweiſe erheben zu laſſen, welche Licht über ven
bunfeln Hergang verbreiten, aljo auch die Glaubwürbig-
feit Edgell's und Richardſon's erfchüttern konnten?
Minifter Matthews entgegnet: von jeiten bes
Minifteriums fei dem Kronanwalte der ftricte Auftrag
ertheilt worden, die Anklage nicht als Selbftzwed zu be=
handeln, fondern alles zu thun, was zur Erforihung ver
Wahrheit dienlich fein könne.
Sir ©. Campbell erwidert, daß er anläßlich ver
Berathung der Nachtragserebite auf den Gegenftand
zurüdfommen werbe, um nachzumweiien, daß nicht dieſer
Tall als folcher einen unbefriedigenden Abſchluß gefunden
Der Einbruch im Bfarrhofe von Edlingham. 267
babe, fondern daß überhaupt das englifche Strafgefeg an
barbariichen Beitimmungen kranke und die Strafprocek-
ordnung, wie fie derzeit beſtehe, vollfommen unfähig jet,
die Wahrheit an den Tag zu bringen.
Damit fchloß vorläufig die durch biefen ſonderbaren
Broceß hervorgerufene Bewegung. Ob dieſelbe noch Folgen
haben wird, muß bahingeftellt bleiben. Der unleugbar
große Rechtöftnn der Briten wird eben durch ihre Vor⸗
liebe für das Althergebrachte. und ihre Scheu, an ein-
gelebten Cinrichtungen zu rütteln, nur zu ſehr bes
einträchtigt und gehemmt. Der ganze Verlauf dieſes
merfwürbigen Proceſſes aber veranlaßt und doch zu
einigen Betrachtungen.
Die Anklage und die Verhandlung wider bie Polizei-
organe, deren Xhätigfeit die Beichaffung des Beweis-
material8 wiber die in ber erften Verhandlung ver-
urtheilten Angeklagten zu danfen war, ift das Ergebniß
ftarrer Conſequenz bes Rechtsverfahrens, eine Conſequenz,
bie man freilich nicht überall gezogen haben würde. DBe-
merfenswerth, ja erftaunlich ift aber, daß die Zeugen
ausfagen in diejer Verhandlung ganz geeignet erfcheinen,
wieder Zweifel an ber Richtigkeit des zweiten Urtheiles
zu erweden und bie Frage, ob Brannagan und Murphy
nicht Doch die Einbrecher geweſen find, eine Frage, die
vorher gelöſt zu fein fchien, von neuem aufzuwerfen.
Die Bedeutung des Reſumé des Richters Denman
liegt darin, daß er das Schuldig über Brannagan und
Murphy zu rechtfertigen verfucht und die Aufrichtigfeit
des von Edgell und Richardſon abgelegten Geftänpnifies
in Zweifel zieht. Die Meinung eines jo gewiegten und
268 Der Eindbrud im Pfarrhofe von Edlingham.
erfahrenen Criminaliften, der völlig unbefangen den Er-
gebniffen dreier, einander ergänzenden Verhandlungen
fich gegenüber befand und unter dem perfünlichen und
unmittelbaren Eindruck der Vernehmung aller betheiligten
Hauptperfonen des Dramas ftand, ift gewiß von jehr
beachtenswerthem Gewichte. |
ALS die beiden Burfche, Edgell und Richardfon, im
Herbft 1887 mit dem überrafchenden Geftändniß hervor⸗
traten, daß fie die eigentlichen Einbrecher im Pfarrhofe
zu Eolingham geweſen feien, und daß fie, wenn auch
unabfichtlich, ven Pfarrherrn und feine Tochter verwundet
hätten, daß alfo Brannagan und Murphy unfchuldiger-
weiſe dieſes Verbrechens wegen zu lebenslänglicher Zucht-
hausarbeit verurtheilt worden wären — ba mußte ein
verhängnißvoller Irrthum der NRechtiprechung, ein Juſtiz⸗
mord angenommen werben. Die geftändigen Verbrecher
wurden am 24. November 1888 vor Gericht geftellt und
ihrerfeit8 verurtheilt. in Zweifel jchten nicht mehr mög-
ih. Brannagan und Murphy wurden ber veralteten
und verwerflichen engliichen Rechtsanichauung gemäß nicht
rehabilitirt, jondern begnabigt; dann aber gefeiert und
burch eine für ihre fociale Lebensftellung jehr beveutenpe
Dotation entichädigt. Die Thatfache, daß Edgell und
Richardſon als Folge ihres Befenntniffes ohne Wider⸗
ipruch ihre Verurtheilung zu fünfjähriger jchwerer Kerfer-
haft hinnahmen und die Strafe antraten, leiftete bie
ficherfte Gewähr für die Wahrheit ihrer Angaben. Keine
Erflärung vermag das Gewicht diefes Umſtandes zu be⸗
feitigen.. Mochten fie auch urfprünglih der Meinung
gewefen fein, fie müßten ftraflo8 bleiben, eine Anfchauung,
bie nach englischer Rechtiprechung nicht als ganz unbegründet
verioorfen werben darf, jo find fie doch feitvem eines
Beſſern belehrt worden und dennoch unentwegt bei ihren
Der Einbruh im Pfarrhofe von Edlinghbam. 269
Ausfagen verblieben. In dem nunmehr wider die Polizei-
organe wegen unerlaubter Verabredung zur Ueberführung
Unſchuldiger eingeleiteten Strafproceß traten fie als
Hauptzeugen auf und wurden entfprechend einer ver vielen
Anomalien engliicher Proceßführung als folche beeibet.
Im Kreuzverhör haben fie wol zugeftanvden, daß Die
falfche Sicherheit, in ver fie fich wiegten, die Triebfeder
ihres Vorgehens gewejen fei, und daß fie bis zu ihrer
wirflich erfolgten Verurtheilung feit paran geglaubt hätten,
fie müßten ſtraflos ausgehen. Allein fie erkannten doch
wol Schon während der Verhandlung, wie kritiſch ihre Lage
ſich geitaltete, und Hielten nichtSbeftoweniger an ihrer Er-
Härung feit. Aber dies Eingeftänbniß, daß fie auf Grund
eines Nechtögutuchtens an ihre Straflofigleit geglaubt
batten, hat bei dem Nichter und den Gefchiworenen tiefen
Eindrud gemacht und quälende Zweifel hervorgerufen,
ob denn thatfächlich die wahren Verbrecher berzeit im
Kerfer büßen. Bei der gegen fie felbft purchgeführten
Verhandlung hatte man ausschließlich auf ihr Geſtändniß
gefußt und von der genauen Erwägung und Erörterung
der feftgeitellten Thatumftände Abftand genommen; num
aber, da dies doch wieder geſchah, mußten Bedenken laut
werben, bie man für alle Zeit hätte als ausgefchloffen
erachten follen.
Die englifhe Strafproceßorbnung kennt eben feine
Wiederaufnahme des Verfahrens.
Jeder der drei, paffelbe Verbrechen betreffenden Broceffe
mußte ſelbſtändig durchgeführt werben, und darum klaffen
auch in jeder dieſer Verhandlungen Lücken, deren bloßes
Vorhandenſein die Mängel der in dem Inſelreiche geltenden
Strafproceßordnung illuſtrirt.
Der letzte dieſer drei Proceſſe, den wir hier etwas
ausführlicher wiedergegeben haben, hatte, wie Richter
270 Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlingham.
Denman in feinem Reume betont, keineswegs den Zweck,
bie Frage zu enticheiven, ob Brannagan und Murphy
oder Edgell und Richarbfon die Einbrecher gemwefen find.
Die Gejchworenen mußten fi darauf beichränfen, zu
erklären, ob die Polizeiorgane ihren Wirkungsfreis über-
fchritten, ob fie „im Bewußtjein ungejeglichen Vorgehens
bie Verbachtsgründe gegen Brannagan und Murphy
fünftlich verſtärkten“ oder nicht. Allein die Beantwortung
dieſer Trage ſchloß auch die Beantwortung ber nicht
geftellten Frage ein. Wenn die ebengenannten Individuen
ſchuldig waren, tft Die ver Jury vorgelegte Frage mindeſtens
überflüffig. Wenn andererjeits Brannagan und Murphy
unſchuldig waren, kounte freilich der Zweifel entitehen,
ob die Polizei die Beweismittel fo, wie fie diefelben eruirt
hatte, dem Gerichte unterbreitete, oder ob fie etwas „nach⸗
geholfen” habe. Es ift immerhin beruhigend, daß weder
dem Richter noch den Geichworenen von 1879 irgendein
Unrecht zur Laft fällt. Auch ver Richter von 1889 mußte
betonen, daß ein gerabezu zwingenber Inpicienbeweis gegen
die Angeklagten von damals vorlag Auch ihre Ver⸗
theidigung hat ihre Pflicht erfült. Merkwürdigerweiſe
bat aber bie legte Verhandlung wider die Polizeiorgane
— troß der bazwifchenfallenden Verurtheilung der ge⸗
jtändigen Edgell und Richardſon — eine Belräftigung und
Verſtärkuug der damals beigebrachten Indicien herbei-
geführt. — Uns iſt allerbings aufgefallen, daß in gar
feiner der drei Verhandlungen die Flinte erwähnt wurde,
bie uns ein jehr bebeutjames Beweismittel zu fein fcheint.
Freilich lehrt die criminaliftifche Erfahrung, daß alle
Indicien täufchen und irreleiten können. Es bleibt daher
troß alledem möglich, daß Brannagan und Murphy un
ſchuldig, daß Edgell und Richardſon die eigentlichen
Thäter geweſen find, um fo mehr da, wie wir fchon
Der Einbrudh im Bfarrhofe von Edlinghbam. 271
vorher gejehen haben, der Umſtand als entſcheidend an-
gefehen werben Tann, daß die leßtern, nachdem ihnen
bie Folgen ihres Geftändniffes inzwiichen Har geworben
waren, bennoch bei ihrer Ausſage geblieben find. Nichts-
deftoweniger find nicht alle Zweifel beſeitigt. Brannagan
und Murphy, jowie Edgell und Richardſon — par nobile
fratrum — find anrüchige Gejellen und verdienen als
Menschen keinerlei Sympathie. Es Handelt fih nur um
bie Nechtöfrage, und dieſe ift nicht in befriedigender Weife
gelöft, weil — wie ber Interpellant im Parlament richtig
hervorhob — die englifche Strafproceßorbnung nicht bie
Mittel bietet, die Wahrheit gründlich zu erforichen.
Befriedigend ift nur, daß bieje unbeholfenen Rechts⸗
formen in der Hand fo hervorragend tüchtiger Menschen,
wie es die englifchen Richter durchweg find, nicht miss
draucht werben, und als ein wahres Glück für bie britifche
Rechtspflege darf man es bezeichnen, daß die Polizei-
organe, been in England eine weit verantwortungs-
reichere und fehwierigere Aufgabe ald auf dem Continent
zufällt, vorwurfsfrei und umbejcholten aus dem gegen fie
angeftrengten Proceß hervorgegangen find.
Der Proceß wider den Tagelöhner Morand.
(Mord. — Joigny in Sranfreid.)
1888,
Am 9. Februar 1888 zog ein Fifcher aus Joigny,
ber in ber Monne fiſchte, einen menfchlichen Arm aus
dem Waſſer, ver offenbar erjt vor kurzem vom Körper
getrennt und noch einigermaßen befleibet war.
Faſt gleichzeitig verbreitete fich die Nachricht, ver Uhr⸗
macher Veétard aus Joigny ſei verſchwunden und jein
Laden ausgeraubt. Vetard war ermordet und fein Leich⸗
nam zerſtückt worden. Die Mörder hatten einzelne
Körpertheile ins Waſſer geworfen, die wieder an die
Oberfläche kamen und in gerichtliche Verwahrung ge⸗
nommen wurden. Die ſofort eingeleitete Criminalunter⸗
ſuchung ſuchte das Verbrechen aufzuklären und die Mörder
zu entdecken.
Eine Familie von Landſtreichern Namens Mouillon
wurde eingezogen. Man glaubte die Schuldigen bereits
ermittelt zu haben. Aber das Gericht war auf falſcher
Fährte. Die Gefangenen wieſen ein unanfechtbares Alibi
nach und mußten auf freien Fuß geſetzt werden. Der
Unterſuchungsrichter, deſſen Nachforſchungen erfolglos ver⸗
liefen, machte ſich ſchon darauf gefaßt, das Verfahren
Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 273
einftellen zu müfjen, da melvete fich ein älteres Fräulein
und theilte mit, der Uhrmacher Vetard fei von einer
Dirne in einen Hinterhalt gelockt, ermorbet und beraubt
worden. Nun hatte man feften Boden, bie Unterfuchung
fonnte im Mai 1888 abgefchloffen und vie Verhandlung
ber Sache vor dem Schwurgericht in Auzerre anberaumt
werben.
Eine ungeheuere Menge von Menjchen ftrömte in bie
Heine burgundifche Stadt. Nicht nur ganz Joigny und
die Nachbarorte fchienen anweſend zu fein, ſelbſt aus
Paris waren Leute zugereift, bie dem merfwürbigen
Proceffe beimohnen wollten. Der Heine Verhandlungs⸗
jaal war überfüllt, die Gänge und Corridore des Ge-
rihtshanfes wimmelten von Zuhörern, ſogar vor ben
Eingangsthoren ftanden Hunderte in fieberhafter Er-
regung. Es war fat unmöglich, für die Zeugen Raum
zu jchaffen.
Bor dem Präfivententifche find in großen Weißblech-
fiften die corpora delicti aufgeftelit, ferner der Tiſch,
auf dem der Leichnam zerftücht worden ift, und zwei Trag⸗
förbe aus Weidengeflecht, in denen die Leichenthbeile zum
Sluffe gebracht fein ſollen.
Um 11 Uhr 15 Minuten wird die Verhandlung von
dem Vorfigenden Edmund Victor Lefranc eröffnet.
Das Auditorium ift in ungewöhnlicher Aufregung.
AS die Angeflagten vorgeführt werden, ertönen wilde
Aufe und Verwünfchungen: „Nieder mit den Mördern!
führt fie zum Zobel....” Die Volksſtimme bat fie
bereit8 gerichtet.
ALS Angeklagte erjcheinen:
1) Edme Arthur Alfred Morand, geboren in
Villiers-Binend am 9. März 1839, Tagelöhner in
Joigny.
XXIII. 18
274 Der Proceß wider den Tageldhner Morand.
2) Julius Octav Bacher, geboren in Montacher
am 5. September 1850, Gaftwirth in Joigny.
3) Joſephine Martin, geboren in Yoignb am
17. November 1861 und wohnhaft daſelbſt.
4) Eugenie Martin, verehelichte Clergeot, ge=
boren in Soigny am 31. Sult 1856 und wohnhaft
bafelbit.
5) Amelte Digard, verehelichte Bacher, geboren
in Paroy-jur-Tholon am 14. Januar 1859, Wirthin in
Joigny.
Der Staatsanwalt Le Bourdellès vertritt die An-
klage. Mr. Lailler, Advocat aus Baris, vertheibigt
ben Angeklagten Morand. Advocaten aus Auxerre: bie
Herren Savatier-Laroche, Remacle und Herold,
haben die Vertheidigung der andern Angeflagten über-
nommen. |
Der Schriftführer Lalmand verlieit die Anflage-
ſchrift, welche die Ergebniffe der Vorunterfuhung zu⸗
jammenfaßt und ſodann fchliekt:
„Morand, Bacher und Joſephine Martin werben
angeflagt:
„Am 8. Februar 1888 in Joigny, Departement ber
Yonne, gemeinfchaftlich einen vorbedachten und verab-
rebeten Mord an ver Perjon des Herrn Vetard verübt
zu haben, mit der Erjchwerung, daß dieſer Mord von
langer Hand vorbereitet und in tüdifcher Weile aus—
geführt ſich als Meuchelmord darſtellt. Mit dem
Meuchelmord concurrirt ein Diebftahl, begangen am
gleichen Orte und zur felben Zeit, indem von ber Perſon
des genannten Herrn Vetard Schlüffel widerrechtlich ent-
nommen wurben. Diejer Diebjtahl qualificirt fich durch
bie Theilnahme mehrerer Perjonen als Gejellichaftspieb-
jtahl, begangen des Nachts in einem bewohnten Haufe,
Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 275
und mit Einbruch, indem zur gleichen Zeit und am
gleichen Orte mehrere der Angeflagten burch widerrecht-
liche Mittel in den Laden des vorgenannten Herrn Vetarb
gedrungen find und fich dort eine, im Betrage nicht genau
befannte, größere Summe Geldes, Uhren, Suwelen und
andere Werthiachen zum Nachtheile des Eigenthümers
in fträflicher Weife angeeignet haben.
„Sugente Martin, verehelichte Clergeot, wird angeklagt,
fih des vorgebachten Mordes mitichulpig gemacht zu haben,
indem fie ben brei Hauptangeflagten behülflich war zur
Vorbereitung und Ausführung ver That.
„Eugenie Martin, verebelichte Elergeot, und Amelie
Digard, verehelichte Vacher, werben angeklagt, ſich zu
Mitichulpigen des vorgedachten Diebitahles gemacht zu
haben, indem fie die geftohlenen Gegenftände ganz ober
theilweife verhehlten, obgleich fie von dem verbrecherifchen
Ursprung derſelben genügende Kenntniß hatten.”
Die Angellagten bören die BVerlefung der Anklage⸗
Ichrift jchweigend an. Nur Joſephine Martin und Frau
Bacher fcheinen bewegt und vergießen einige Thrãnen.
Die andern blicken theilnahmlos um ſich.
Noch ehe in die Verhandlung eingetreten wird, er⸗
hebt ſich Mr. Lailler, Vertheidiger des Morand, zu
einem Antrage. Er ſagt:
„Herr Präſident! In einem Zeitungsblatte von
Joigny ſtand geſtern Morgen, daß ein an Joſephine
Martin nach deren Verhaftung gerichteter Brief zwar
beſchlagnahmt worden ſei, jedoch nicht unter den Acten
erſcheine. Im dem betreffenden Artikel wird ſogar be-
hauptet, man habe die Preſſe erſucht, nichts darüber zu
veröffentlichen. Ich erlaube mir daher die ergebene An-
frage an den Herrn Staatsanwalt: Eriftirt ein folcher
18*
276 Der Procef wider ben Tagelöhner Morand.
Brief? Was ift darin enthalten? Was iſt aus ihm
geworden?”
Der Sournalartifel, der in vem „Radical de ’Yonne‘‘
erſchien, lautete:
„Was ift aus dem bei der Bolt in Joigny beichlag-
nabmten, an die Joſephine Martin gerichteten Briefe
geworden, in welchem ein Liebhaber der Sofephine ihr
mittheilte, daß er fich über die Grenze begeben werde?
Diefer Brief fam aus Paris und trug den Poſtſtempel
des Inoner Bahnhofes. Es hat darüber nichts verlautet,
doch wilfen wir um fo ficherer, daß er exiftirt, da man
uns erſucht hat, nichts darüber zu veröffentlichen.”
Der Gerichtshof befchließt nach Furzer Berathung die
Requiſition des betreffenden Actenftücdes aus Joigny.
Der Präfident bemerft bei Verkündigung des Gerichts-
beichluffes, daß bei jeder Unterfuchung eine Reihe von
Schriftftüden, die dem Unterfuchungsrichter unwichtig
scheinen, zurücbleiben, ohne dem Staatsanwalt oder dem
Vertheidiger zugejtellt zu werben.
Es wird zum Verhör gefchritten und zunächſt Jo⸗
Sephine Martin vernommen.
Sie präfentirt fich als ein kleines, zierliches Figürchen,
ichlanf, von blafjer Gefichtsfarbe, mit großen glänzenden
Augen. Ste ift brünett, die Züge find ftarf entwidelt.
Ihr Geſichtsausdruck ift offenherzig. Sie jchlägt Häufig
die Augen nieder, wenn fie angeredet wird. Die Stimme
it von jeltenem Wohlklang, einfchmeichelnd und ge⸗
winnend. Site antwortet anfänglich leiſe, faſt ſchüchtern
und unverjtändlich, nach und nach aber wird die Stimme
lauter und ficherer, und ſchließlich, als von den ent-
jeglichen Einzelheiten der Miffethat die Rede ift, fpricht
“fie einförmig, ohne irgendwelche Bewegung zu zeigen,
faft jo, als ob fie eine eingelernte Xection wieder⸗
Der Proceß wider ben Tagelöhner Morand. 977
holte. Sie trägt ein dunkles Gewand von eleganten
Schnitt.
Präfident. Sie willen, Angellagte Martin, daß
man über Sie bie ungünftigfte Auskunft erhalten hat.
Seit mehrern Jahren haben Sie das Haus Ihrer
Mutter verlaffen und fich der Proftitution bingegeben.
Angeflagte. Seit drei Jahren.
Präfident. Sie haben aber ein Kind von vier
Sahren, ein Feines Mädchen, deſſen Vater nicht befannt
iſt. Das Kind lebt bei Ihnen und kennt Ihre Lieb-
haber. Der legte war ein Herr Babillot, der Ihnen
50 France monatlich gab und Sie alle Abende bejuchte.
Am Vorabende des Verbrechens haben Sie ihm aber
gefagt, er möge am nächiten Abend, am Mittwoch, nicht
zu Ihnen kommen,
Angeflagte. Ja, wegen ber Vorbereitungen zu ber
bevorjtehbenden Hochzeit meines Bruders.
Präfident, Sie fannten Herrn Vetard? Ihr Kind
kannte ihn gleichfalls ? |
Angellagte. Nein, Herr Präſident.
Präfident. Aber die Kleine hat, als man in ihrem
Beifein von dem Manne fprach, der am Abend des Ver⸗
brechens bei Ihnen war, ausgerufen: „Es war nicht
Papa Babillot, e8 war Papa Vetarb!.. .”
Angellagte. Sch begreife nicht, wie fie das fagen
konnte. Sie fannte Herrn Vetard nicht.
Präfident. Das unglüdliche Kind muß Zeuge der
Zeritüdelung der Leiche geweſen fein, denn fie fagte:
„Papa Betard iſt im Wein gelegen.” Was das Kind
aber für rotben Wein bielt, war Blut. (Bewegung.)
Sie müfjen Vetard gekannt haben, denn die Kleine fagte
wiederholt: „Papa Vetard.“
278 Der Proceß wider den Tagelöhner Morand.
Angeklagte. Ob, das Kind nannte alle Herren
Papa. (Heiterfeit.)
Präfident. Der Staatsanwalt bat das Zeugniß
bes Kindes nicht gegen Sie anrufen wollen! Wir werben
bie Wahrheit auf anderm Wege zu erfahren trachten.
Ihr Geſtändniß bildet wol einen Hauptftüßpunft ber
Anklage, allein nicht den einzigen. Noch vor Ihrem
Geftändniffe war die Unterfuhung durch Briefe auf
Ihre Theilnahme an dem Verbrechen aufmerkjam gemacht
worden. Es find dies bie Briefe, die Sie mit den An—
fangsbuchftaben der Roſalie Mary verjehen an Vetard
gerichtet haben. Die Briefe lauten;
Erfter Brief:
Herrn Vetard.
Uhrmacher und Juwelier.
Brüdenvorftabt.
Joigny.
Mein lieber Freund! Ich bin heute Nacht um 2 Uhr
mit der Eiſenbahn angekommen. Ich bin bei einer meiner
Freundinnen abgeſtiegen. Ich will meine Familie nicht
aufſuchen, bevor ich Dich geſehen habe, denn meine Ab⸗
ſicht geht dahin, ganz in Joigny zu bleiben. ‘Die Ent-
ſcheidung wird von den Rathſchlägen abhängen, die Du
mir geben wirſt, und ob Du die Beziehungen mit mir
erneuern willſt, die zwiſchen uns beſtanden haben. Wenn
Du mir entgegenkommen willſt, ſo werde ich hier bleiben.
Ich werde Dich in der Nähe der Schlachthäuſer um
7 Uhr erwarten. Ich rechne auf Deine Güte und Dein
gutes Herz. Ich weiß ſehr wohl, daß Du mich noch
lieb haſt und daß es Dir wehe thun würde, wenn ich
wieder abreiſte.
Der Proceß wider ben Tagelöhner Morand. 279
Wie ich Dir fchon gefagt habe, ich erwarte Dich bei
den Schlachthäufern um 7 Uhr.
Wenn e8 aber Deine Abdficht fein follte, nicht mehr
mit mir zu geben, fo komme doch um mir einen legten
Kup zu geben.
Ich bin ganz die Deine.
Deine Heine Freundin, die Dich fo fehr liebt, und
die Dich immer lieben wird.
Aber vor allem fei Discret und verbrenne dieſen Brief.
Sage niemand, daß ich wieder hier bin —
R. M.
Der zweite Brief:
Kleiner Freund!
Ich bitte Dich taufenpmal um Verzeihung. Denke
Dir nur, ich hatte meiner Tante in Sens gejchrieben,
daß ich in Joigny angelommen bin, daß aber davon bei
meiner Mutter nichts erzählt werben fol. Dann babe
ich ihr auch die Wohnung mitgetheilt, wo ich bin, und
da hat fie mir an demfelben Zage gejchrieben, an dem
ich Dir das Stellvichein gegeben habe.
Ich war genöthigt, mit dem erjten Zuge wegzufahren,
und darum habe ich nicht fommen können, denn fie bat
mir einen Pla in einem Hotel angetragen. Es find
jet jech® Tage, daß ich in diefem Hotel bin, aber beim
beiten Willen kann ich nicht bleiben, es ift eben zu ſchwere
Arbeit für mich. _
Ich bin genöthigt, mir es fo einzurichten, wie ich
Dir ſchon gejchrieben habe. Heute noch fuche ich mir ein
paffendes Zimmer. Es ift mir möglich gewejen, mir
nah und nach 200 Franecs zu eriparen, bamit kann ich
280 Der PBroceß wider ben Tagelöhner Morand.
mir fchon die nothwendigſten Anjchaffungen machen. Und
Du wirft fommen können mich bejuchen wenn Du willft,
und wir werben glüdlicher fein als je zuvor. Aber vor=-
läufig ſprich nichts darüber, fomme heute Abend an ben-
felben Ort, ven ich Dir das vorigemal bezeichnet babe,
damit ich Dir berichten Tann, ob ich alles in Ordnung
bringen konnte und Dir den Ort angeben kann, wo idy
allein mit Dir zufammenkfommen kann und wo Du bin
fommen kannſt.
Heute Abend alfo ganz gewiß, mein Vielgeliebter.
R. M.
Dritter Brief:
Ich werde Dich von 6 Uhr bis längſtens 6 Uhr
15 Minuten erwarten. Aber, böre wohl, ſperre Deinen
Laven zu. Ich kann es nicht begreifen, daß Du Deinen
Laden offen laſſen kannſt, wenn Du doch fortgehft.
Endlich wirft Du doch einjehen, daß ich glücklich fein
werde, Dich wieverzufehen, und daß es mir geglüdt ift,
ein reizenbes Kleines Zimmerchen zu finden. Es iſt nicht
tbeuer, ich zahle nur 7 France monatlich dafür.
Ich habe alle Einrichtungen wegen meines Bettes
getroffen. Ich Habe vier Stühle Ich habe nur einen
ganz Kleinen Tiſch, aber es iſt doch das Wichtigjte für
den Augenblid.
Weißt Du, weil Du erfroren bift, habe ich daran
gedacht. Ich habe einen Roft im Kamin und Coaks.
Es ift ſehr warm bei mir. Aber wenn ich an die erite
Nacht denke — ich verfichere Dich, es überläuft mich
ganz eigen.
Sch Hoffe doch, daß wenn Du kommen wirft, um mir
Geſellſchaft zu leiften, ich mich nicht langweilen werde.
Der Procef wider den Zagelöhner Morand. 281
Ich rechne feft auf Dein Kommen. Ich bitte Dich,
laffe mich nicht figen wie geftern. Du kannſt noch vor
dem Effen kommen, und wenn Du willft auch gleich wieder
gehen. Es ift nur um Deine Abfichten fenmen zu Iernen
und ob Du wieder mit mir halten willſt. Von meinen
Leuten weiß noch niemand, daß ich hier bin. Du wirft
ſehen, es ift fehr bequem zu mir zu kommen. Ich werde
nicht anfpruchsvoll fein, ganz jo wie Du es wünſcheſt,
ih will nur Dich haben.
Morgen werde ich noch alles Nothwendige beforgen.
Ih werde auch zu meiner Familie gehen und meine
Nähmaschine zu mir holen. Ich werde mich noch heute
wegen Arbeit in einem großen Magazin melden, und “Du
wirft jehen, ich werde glücdlicher fein als je zuvor. Aber
bevor ich ‘Dich bei mir empfange, will ich doch wilfen,
ob Du immer noch fo viel Freundſchaft für mich begft,
ob Du mich recht lieb haben willit, und ob Du nod
andere Belanntichaften haben willft außer mir. Das
will ich nicht leiden, ich will Dich ganz allein haben.
Ih bin Dir noch immer unverändert gut. Sch habe
Dich jehr Lieb und ich ſchwöre Dir, ich werde Dir treu
bleiben, wie ih Dir ſchon verfichert habe. Ich wieder-
hole e8, ich will fehr brav fein.
Ich rechne beftimmt auf Dich, mein Vielgeliebter!
Ich Schiele Dir im voraus taufend Küffe.
Tehle nicht beim Eingange der Straße 6 Uhr 15 Minuten
ipäteftens. Wenn Du aber willft, daß ich eine fehr große
Freude haben foll, jo komme zu mir zum Eſſen. Ich
babe eine gute Suppe und ein Huhn zugeftellt und wir
werben fo glüclich zufammen fein.
Wenn Du zuerft fommft, fo warte auf der erften
Banf.
Aber Du kannſt Dich darauf verlaffen, ich werde es
282 Der Procef wider ben Tagelöhner Morand.
ſchon fein, bie zuerft fommt. Laß mich nicht lange warten,
ich bitte Dich, mein vielgeliebter Schatz.
Sch bin ganz die Deine, Deine Heine Frau, die Dich
jo lieb hat.
R. M.
Ich fürchte beinahe, Du haſt meinen geſtrigen
Brief nicht erhalten. Beige meinen Brief niemand, fei
Giscret.
Präfident. Erfennen Sie an, daß dieſe Briefe
von Ihnen gejchrieben worben find?
Die Angellagte fehweigt.
Präfident. Am 10. Februar wurden Sie bereits
verbächtig. Mean bat Sie verhört und Sie haben be-
bauptet, Sie wären zur Zeit, va das Verbrechen verübt
wurde, bei Ihrer Mutter geweſen. Angefichtg Ihrer
Ruhe und Ihres fichern Auftretens hat ver Unterfuchungs-
richter feinen Verdacht fallen lafjen, allein eine Haus-
juhung führte eine für Sie jehr bevenfliche Entvedung
herbei. Man fand bei Ihnen einen zwar fertig ge-
ichriebenen, doch noch nicht zur Poſt beförverten Brief.
Er war an Herrn Ablon, ven Präfivdenten ver Hanbels-
fammer und Eigenthümer des Haufes, in dem Ste wohnen,
gerichtet. Dem Unterjuchungsrichter fiel die Aehnlichkeit
der Schriftzüge mit den Briefen auf, die mit R. M.
gezeichnet, in der Wohnung des Herrn Betarb vorgefunden
worden waren. Site wurden einem Sachverjtändigen über»
geben und biejer erklärte mit aller Beftimmtheit, daß fie
von derſelben Hand herrührten wie ver bei Ihnen vor⸗
gefundene Brief. Das hat Ste bewogen, zum Geftänd-
niffe zu fchreiten. Geben Sie dies zu?
Angellagte. Ja, Herr Präfident.
Der Proceg wider den Tagelöhner Morand. 283
Präfident. Es Sprachen übrigens noch andere Ver⸗
dachtsmomente gegen Sie. Man bat Herrn Vetard ger
ſehen, wie er in Begleitung einer weiblichen Perjon Ihr
Haus betrat, und während der ganzen Nacht ift in Ihrer
Wohnung eine ungewöhnliche Bewegung, ein fortwährendes
Gehen und Kommen beobachtet worden. Ihr Alibi war
sicht aufrecht zu erhalten. Ihr Geſtändniß war aber
fein freiwilliges, Sie haben fi nur erbrüdt von Be⸗
weifen hierzu herbeigelaffen. Nun fagen Ste uns auf-
richtig, warum haben Sie dieje Briefe gefchrieben?
Angellagte.. Es ift Herr Morand, der mich ge:
zwungen bat fie zu jchreiben. Zuerſt babe ich nicht
gewollt. „Aber Fräulein”, fo jagte er zu mir, „Sie find
doch fonft jo gefällig. Es Handelt fich ja um einen Spaß.
Herr Vetard liebt einen guten Auffiker, und ich auch.
Wir werden alle zwei etwas zum Lachen haben. Thun
Sie mir doch den Gefallen.‘ So habe ich mich ver-
leiten laſſen. Ich glaubte wirklich, e8 handle ſich um
einen Spaß.
Präjident. Und Sie haben Morand nicht gefragt,
welcher Art diefer Spaß fein werbe?
Angellagte. O ja! Aber er erwiderte nur: „Sie
werben es ſchon jehen.“
Präfident. Alſo Morand Hat einen ſolchen Ein-
fluß auf Sie ausgeübt, daß Sie nicht wiberftehen
fonnten?
Angeklagte. Ich habe ja nichts Böſes vermuthet.
Präſident. Diefe Verantwortung wäre vielleicht
glaubhaft, wenn es ſich nur um einen einzigen Brief
handeln würde, allein es find deren drei vorhanten.
Sind fie alle Drei nur des Spaßes wegen gefchrieben ?
Angeklagte. Ich hätte Morand niemals zugetraut,
daß er etwas fo Fürchterliches im Schilde führe.
284 Der Procef wider ven Tagelöhner Morand.
Präſident. Diefe Vertheidigung ift nicht glücklich
gewählt. Ihre Ausfage fteht im Widerfpruch mit ben
Angaben verjchiedener Zeugen, insbeſondere der Roſalie
Mary. Diefe erklärt, daß alle Einzelheiten der Briefe
. auf genauer Kenntniß ihrer Lebensverhältnifje beriiben,
daß die darin enthaltenen pofitiven Angaben richtig find,
und daß baher bie Briefe nur von einer Perjon her-
rühren können, die fie jehr gut fennt. Sie und Ihre
Schweiter, nicht aber Morand waren in ber Lage, dieſe
Einzelheiten und Yamilienbeziehungen zu willen. Iſt
dies fo?
Angeklagte. Nein, Herr Präfivent.
Präſident. Herr Vetard ift troß der verfchiebenen
Driefe nicht gelommen. Was haben Sie am Abend des
Verbrechens gethan?
Angeflagte. Ich ging um 6 Uhr aus. Sch be=
gegnete Herrn Morand. Er bat mich gefragt, ob ich
nicht eine Säge hätte, die ich ihm leihen könnte. Sch
antiwortete, ich befäße deren zwei. Ich habe ihm meinen
Wohnungsichlüffel übergeben, um die Säge zu holen.
Präfident. Alfo nur zu diefem Zwecke haben Sie
ihm Ihren Schlüffel gegeben?
Angeklagte. Ja wohl, Herr Präfibent.
Präfivdent. Wo find Sie hingegangen?
Angellagte. Zu meiner Mutter.
Präfident. Um welche Zeit find Sie nach Haufe
zurücdgelommen?
Angeklagte. Ich Tann die Zeit nicht ganz genau
angeben. Es war zwijchen 9%/, und !/,10 Uhr.
Präfivent Mit Ihrer Heinen Tochter?
Angeklagte. Ja wohl, Herr Präſident.
Präfident Was haben Sie zu Haufe wahr-
genommen? |
Der Broceß wider den Tagelöhner Morand. 285
Angeklagte. Meine Thür war verichloffen. Sch
Hlopfte an, und als Morand, der in Hembärmeln war,
mir öffnete, fagte ih: „Wie, Sie find noch hier?” Er
ſah ganz verftört aus und antwortete mir: „Treten Sie
nur ein und machen Sie feinen Lärm!” — „Was tft
denn 108? fragte ich und trat in die Stube. Vetard
lag auf dem Tiſche, tobt, in einer Blutlache, nur halb
mit einem Tuche zugevedti. Meine Kleine begann zu
weinen und ich fchrie laut auf. „Unglücklicher Menſch!
Was haben Sie gethan! Und bei mir! Was foll nun mit
mir gefchehen?” — Morand jchnauzte mich mürriih an:
„Schweig gleich ftill, oder ih made Dich auch noch
kalt!“ Er hatte jein großes Mefjer in der Hand. Bacher
war um die Leiche beichäftigt. Sie waren gerade daran,
bie Beine abzufägen. Ich flüchtete in mein Schlaf
zimmer. Aber Morand rief mich heraus. „Es ift fein
Waſſer dal” fagte er zu mir, „man Tann fich nicht
einmal die Hände wachen. Holen Sie uns Waſſer!“
Aus Angft habe ich ihm willfahrt und bin zum Brunnen
binuntergegangen.
Präſident. Alſo Sie haben fih nur aus Furcht
den Anordnungen Morand’8 gefügt und haben mir be$-
halb Waſſer geholt, damit die beiden Mörder fich vom
Blute reinigen Tonnten?
Angeklagte. So tit es, Herr Präſident.
Präfivdent. Ia, warum haben Sie dann, ald Sie
unten beim Brunnen waren, nicht um Hülfe gerufen?
Angeklagte. Morand ift mir gefolgt. Wenn ich
gerufen hätte, hätte er mich gewiß umgebracht.
Präfident. Angenommen, daß Sie aus Furcht fo
handelten: warum haben Sie dann am nächiten Tage
feine Anzeige eritattet ?
Angeflagte. Ich hoffte, daß die Wahrheit auch
286 Der Proceh wider ben Tageldöhner Moranb.
ohne mein Zuthun herausfommen würde. Ich wollte
thn nicht denunciren, nicht aus Schonung für ihn, aber
feiner Kinder wegen habe ich gejchwiegen.
Präſident. Was haben Ste am nächſten Tage
gethan?
Angeflagte. Des Morgens ging ich in die Meſſe.
Präfident. Und fpäter?
Angeflagte Dann war ich bei der Trauung
meines Bruders,
Präfident. Richtig, und dann nahmen Sie theil
am Hochzeitseffen, und gingen auf den Ball, und tanzten!
Sie, jollen fogar beſonders luſtig gewejen fein.
Angellagte. O nein, das nicht, Herr Präfident.
Präfident. Nur einen Augenblid waren Sie be-
wegt. Ste Tauften Zuderwerf bet einer Nichte des Er-
morbeten. As Sie den Namen „Vetard“ auf der
Tirmatafel oberhalb der Ladenthür erblidten, find Sie
erichroden zufammengefahren.
Angellagte O nein, ich babe ven Namen gar
nicht gefehen.
Präfident. Sie werden den Zeugen darüber hören.
Man hat an dieſem Zage fchon von dem Verbrechen
geiprochen ? |
Angeklagte. Nach Ziiche war die Nebe davon.
Präfident. Und Sie haben ruhig zugebört, ob—
gleich Sie abends zuvor felbjt Augenzeuge der abfcheu-
lichen That waren! — Aber Sie haben über die Zer—
ſtückelung ver Leiche noch nichts geſagt. Was haben
Sie davon gefehen ?
Angeklagte. Es war fchon falt gejcheben, als ich
nah Haufe kam. Die Beine waren bereits abgejägt.
Sie lagen auf einem Stuhl. Morand fügte die Arme
ab. Er hatte Einfchnitte auf beiden Seiten gemacht, und
Der Proceß wider ven Tagelöhner Morand. 987
weil es ihm zu lange dauerte, ftenmte er fein Knie an
und trat feit auf den Knochen, bis er brach. (Bewegung
des Entſetzens im Zuhörerraum.) Er bat vie Gelenfe
mit dem Fleiſchermeſſer ausgelöft, mit bem er mich be»
drohte. Vacher ftand daneben und war ihm behülflich.
Nachdem die Zerftücdelung fertig war, find bie Theile
ber Leiche in Säde gethan und dieſe in zwei Tragkörbe
gelegt worben, wovon ber eine meiner Schwefter gehörte
und der andere von Vacher mitgebracht worden war.
Morand und Vacher haben die Säde in die Nonne
getragen. |
Präfivent. Nach dem Morde ift Morand zu Vetard
gegangen, um ben Laden auszurauben?
Angellagte Als ih nah Haufe fam, war ber
Diebftahl ſchon begangen.
Präſident. Wieviel haben Sie erhalten?
Angeklagte. Morand hat mir 40 Franes gegeben
und Bacher auch AO France.
Präfivdent. Nah den Vermuthungen der Polizei
baben Ste viel mehr erhalten, denn Sie haben viel Gelb
ausgegeben.
Angellagte. Ich habe gewiß nicht mehr empfangen.
Staatsanwalt. Haben Sie nicht vierzehn Tage
nach dem Morde, an dem Tage, wo Sie verhört wurden,
nochmals 20 Trance befommen?
Angeflagte Ial Morand war jehr aufgeregt, ale
er erfuhr, daß ich verhört worden ſei. Er hat mich be-
ſchworen, nichts zu verrathen.
Präfivdent. Ste haben in ber That zuerft andere
Perſonen als die Thäter bezeichnet: einen gewiſſen Pietre
und den Schwiegerfohn Morand's, Eizel.
Angeflagte. Sa wohl, Ich habe zuerjt Pietre ge-
nannt. Es ift das fein intimfter Freund. Ich war
288 Der Proceß wider ven Tagelöhner Moranb.
überzeugt, daß biefer von der Sache wußte, und bachte
feine Angaben würden Morand zum Geftänpniß zwingen.
Cizel habe ich in der Aufregung mit Vacher verwechſelt.
Der Mitſchuldige ift Bacher. -
Alle diefe Angaben werden mit ruhiger, weinerlicher
Stimme gemacht.
Die Angeklagte ift fo wenig bewegt wie ein ‘Dienft-
mädchen, welches fich wegen eines zerbrochenen Tellers
verantiwortet.
Es wird zur Vernehmung Morand's gefchritten.
Morand ift ein berceuliich gebauter, ruhig blickender
Mann. Seine Züge bleiben unbewegt, in feinem büjtern
Geſicht zuckt Feine Fiber. Sein Haar ift ſchwarzbraun,
boch bereit leicht ergraut. Sein Schnurrbart iſt ftart,
ftruppig und noch ganz bunfelbraun. Sein Hände find
muskulös und wohlgeformt, Er ift mit einer alten Tuch-
hofe und einer weißen Bluſe bekleidet.
Präfident. Die Thatfache, daß Herr Vetarb um
ungefähr 7 Uhr 15 Minuten in Begleitung einer weib-
lihen Berfon in das Haus der Yofephine Martin ein-
trat, fteht feft. Sie haben fih um 6 Uhr 45 Minuten
dahin begeben? Man bat Sie eintreten fehen.
Angeflagter. Nein! Das ift vollfommen unrichtig.
Ich kannte das Mädchen faum und war niemals
bei ihr,
Präfident. Aber die Zeugenausfage der Frau
Droin lautet ganz bejtimmt.
Angellagter. Es ift eine falfche Zeugin. Dieſe
Frau lebt feit zwei Jahren in Todfeindſchaft mit mir.
Sie haft mich und hat einen Meineid gefehworen, um
mich zu verberben.
Präfident. Wo waren Sie während ber Zeit, ba
das Verbrechen begangen wurde?
Der Proceß wider ben Tagelöhner Morand. 289
Angeflagter. Zu Haufe, Herr Präfident, und im
Bett. Ich bin an biefem Abend überhaupt nicht aus-
gegangen.
Präsident. Um wieviel Uhr haben Ste fich nieber-
gelegt ?
Angeflagter. Um halb acht Uhr.
Präſident. Sie haben gehört, daß Iofephine Martin
Sie der Thäterfehaft beſchuldigt?
Angellagter. Die Ausfage berjelben ift ein durch⸗
fihtiges Lügengewebe.
Präſident. Es liegen aber auch noch andere Vers
dachtsgründe gegen Sie vor. Auf einem Ihrer Holz-
ſchuhe find Blutjpuren gefunden worden.
Angellagter. Ich bin fehr vollblätig und leide
oft an Nafenbiuten. Man kann alle meine Kameraden
barüber befragen, fie werben es insgeſammt beftätigen.
Sn der Unterfuchungshaft babe ich auch Najenbluten
gehabt. Sch bitte nur den Kerfermeifter parüber zu vers
nehmen.
Präfivdent. Man hat bei Ihnen einen Tragkorb
vorgefunden. Die Martin gibt an, berjelbe habe zum
Wegichaffen der Leichenrefte gebient.
Angeflagter. Wenn er wirklich bazu verwendet
worden ift, fo war ich e8 doch nicht, der fich feiner dazu
bebiente.
Präfivdent. Es baben fih an dem Korbe Blut—
ipuren gefunden.
Angeflagter. Ich habe ihn bei Gartenarbeiten
benugt. Vielleicht habe ich mich bei der Arbeit einmal
gerigt, dann hat mein eigenes Blut diefe Spuren hinter-
laſſen. (Unwilfige Ausrufe im Zuhörerraum.) Ich bes
haupte es ja nicht, ich fege nur den möglichen Fall.
Präfident (zum Auditorium). Wenn noch weitere
XXIII. .19
290 Der Procek wider den Tagelöhner Moranbd.
berartige Störungen vorfallen, fo Taffe ich ven Saal
räumen. — Morand, fahren Sie fort.
Angeflagter. Mein Tragforb ftand immer vor
der Hausthür. Es konnte ihn leicht jemand ohne mein
Vorwiſſen benugen. Es ift daher möglich, daß ber
Schuldige fich feiner bedient hat. Ich fchwöre, ich weiß
nichts davon. Ich bin unſchuldig.
Präfident. Ihre Frau hat einen andern Erflärungs-
grund für die Blutfpuren angegeben. Sie jagt, es jet
darin mehreremal gefchlachtetes Schweinefleiih trans-
portirt worden.
Angellagter. Diefe Thatfache ift auch richtig. Es
ift dies fogar gleich nach Lichtmeß (2. Februar) gefchehen.
Präſident. Ich komme jegt zu den Briefen. Sie
behaupten, Sie haben an deren Abfaffung nicht mit-
gewirft?
Angellagter. Ganz ficher nicht. (Sehr energiich:)
Sch ſchwöre, daß ich niemals in meinem Leben meinen
Fuß über die Schwelle der Wohnung der Joſephine
Martin gejeßt babe. Ich Habe fie kaum gefannt und
nie zuvor gefprochen. Die Roſalie Mary aber, beren
Unterjchrift misbraucht worden fein ſoll, kenne ich gar nicht.
Präjident. Man hat Sie um 9 Uhr 15 Minuten am
Brunnen mit Joſephine Martin gefehen, gerade zu ber
Zeit, als dieſe Waffer für Sie geholt haben will.
| Angellagter. Es ift nicht wahr. Ich war nicht
bort. Sch lag bereits in meinem Bett.
Präſident. Sie werben bie Zeugen felbft hören.
Angellagter. Ich war es nicht.
Präfident Am Tage nah dem Morde, am
9. Februar, find Sie wie andere Neugierige zur Nonne
gegangen, um das Herausfiichen der Gliedmaßen des
Ermordeten mit anzufehen?
Der Proceß wider ben Tagelöhner Morand. 291
Angeflagter. Ja wohl, Herr Präſident. Zuerjt war
ih mit meinem Freunde Grivet ausgegangen, um den
Taftnachtsochfen anzuschauen. Als wir bemerkten, daß
fi die Leute am Ufer der Yonne anjammelten, ver-
fügten wir uns auch dahin. Dean erzählte uns, es ſei
ein Männerarm gefunden worben, und wir fahen, wie
die andern Neugierigen, ven Arbeiten zu.
Präſident. Am Morgen, als befreundete Arbeiter
zu Ihnen famen, find dieſe faft betäubt worden von einem
entfeglichen Geftanf, ver von Ihrem Herde ausging.
Angellagter. Ich verbrannte altes Lederzeug, alte
fette Segen, alte Abfälle aller Art. Auch zwei tobte
Igel aus meinem Garten waren dabei. Es mag übel
genug gerochen haben.
Präfident. Am Ufer der Yonne fiel Ihr verftörtes
Weſen beim Auffinden der Leichentheile mehrern Ihrer
Belannten auf.
Angellagter. Ich war nicht verftört. Ich hatte
feine Urfache dazu. Mein Gewiſſen ift rein. Ich bin
bei Gott vollfommen unſchuldig an der Mordthat.
Präfident. Sie behaupten, des Abends am 8. Februar
gar nicht ausgegangen zu fein?
Angellagter. Nah 8 Uhr abends gewiß nicht.
Um balb 9 Uhr war ich ficher im Bett.
Präfident. Eine Zeugin, Frau Madeleine Salmon,
hat aber behauptet, daß fie an jenem Abende nicht zu
Haufe geweſen fin.
Angellagter. Die Frau irrt fih im Tage.
Präfident. Ihre Tochter joll Frau Salmon gebeten
haben, zu bezeugen, daß fie an jenem Abend Ste zu Haufe
getroffen habe.
Angellagter. Man bat es mir erzählt. Ich weiß
nicht, ob e8 wahr ift.
19*
292 Der Proceß wider ven Tagelöhbner Morand.
Präfident. Ste haben während der Unterfuchungs-
haft verjchiedene Verſuche gemacht, mit Ihrer Frau in
Correſpondenz zu treten, um ein Alibi zu beweifen. Man
hat Zettel aufgefangen, die fo lauten. ‘Der erfte:
„Sage der Tante, der Mabeleine und Louis, daß fie
um 10 Uhr 15 Minuten fortgegangen find. Sie follen
fih nur daran erinnern. Ich war ind Bett gegangen.
Ich umarme Euch alle. Dein unfchuldiger Gatte. Stede
nichts in die Taſchen.“
Der zweite:
„Wenn Marie Delooze am Abend des Verbrechens
bei und war, fo rige ein Kreuz unter dem Blechteller
mit der Mefferipite. Wenn Du im Aermel meiner Jacke
meinen Brief gefunden haft, mache eine Null daneben.
Ih umarme Did und die Kinder. Dein unfchulpiger
Gatte. 4.”
Der britte:
„Wenn Du Marie, Deine Tante und Lonis geiprochen
haft, mache 1, 2, 3 unter dem Zeller.”
Der vierte:
„Nähe mir Nachricht in das Hofenfutter ein. Ich
werde meine Hofe morgen verlangen.”
Der fünfte:
„Du mußt Herren Ablon und Herrn Contura aufs
fuchen. Sie glauben an meine Unfchuld und werben
Dich unterjtügen. Vergiß nicht, nach dem Zapfenjtreich
war ich im Bett.”
Der fechste:
„Du mußt Herrn Ablon und Herrn Contura auf-
fuchen. Sie follen etwas für mich thun, denn ich bin
unſchuldig. Befuche auch Frau Grene. Ich umarme
Dih und die Kinder. Schide mir einen Bleiftift.”
Präfident. Wie erklären Sie diefe Briefe?
Der Proceß wider ben Tagelbhner Morand. 293
Angeflagter. Ich wollte ven Zeugen Thatumftände,
die jie als unwichtig vielleicht vergefien hatten, ins Ges
dächtniß zurückrufen. Ich bin unſchuldig, volllommen
unfchuldig und will e8 bewetjen.
Präſident. Wir kehren zu den Angaben ver Jo—
jephine Martin zurüd. Sie behaupten, ihre Ausfage
jet falſch?
Angellagter. Vollkommen erlogen, Herr Prä—⸗
fivent.
Präfident. Iſt fie Ihnen feindlich gefinnt?
Angellagter. Ich weiß es nicht.
Präfivdent. Warum aber klagt die Martin Sie an?
Angeflagter. Offenbar um den wirflich Schulbigen .
zu beſchützen. Ich erinnere mich, daß, wie ich zum erften
mal mit der Iojephine Martin vor dem Unterfuchungs-
richter confrontirt wurbe, der Schriftführer, als der Herr
Richter einen Augenblid das Zimmer verließ, der Jo⸗
jephine Martin einen Zettel zugeftedt hat. (Bewegung.)
Diejer Schriftführer heißt Labeſſe. Ich bedauere fehr,
baß er nicht bier if. Er gehört hierher (deutet auf bie
Anklagebant). Ich habe Leider nicht ven Muth gehabt,
dem Herrn Unterfuchungsrichter jofort von meiner Wahr-
nehmung Mittheilung zu machen. Man bat die Dirne
einfach auf mich gehekt.
Präfident. Und Sie vermuthen, dieſer Zettel....
Angeflagter. Enthielt VBerhaltungsmaßregeln.
Präfident. Sie bleiben alfo dabei, daß Joſephine
Martin Unwahres über Sie ausgefagt hat?
Angellagter. Gewiß. Ste fügt. Ich bin unſchuldig.
Präſident. Joſephine Martin! Erheben Sie ſich.
Haben Sie ven Angeklagten Morand gehört?
Sofephine Martin. Ich bethenere es, Morand und
Bacher find die Schuldigen. Sie follen e8 nur leugnen,
294 Der Procef wider den Tagelöhner Morand.
fie find e8 Doch gewejen. Sch verfichere, fie find es. Aber
fie werben fortfahren es zu leugnen, fie werben ed noch
auf dent Schafott Teugnen!
Morand. Ich fchwöre es, ich bin unfchulbig!
Präſident. Es genügt nicht zu fchwören. Man
muß ed beweilen können.
Bertheidiger Mr. Lailler. Es ift doch nicht Mo-
rand’8 Sache, zu beweijen, daß er unjchuldig iſt. Im
Gegentheil, die Anklage muß beweijen, daß er ſchuldig ift.
Staatsanwalt. Die Anklage wird den geforderten
Beweis führen. Sie haben e8 gar zu eilig, Herr Ver-
theidiger!
Zailler. Die Gefchworenen werben darüber urtheilen.
Staatsanwalt. Ya mohl, und ich erwarte mit Ruhe
ihr Verdict.
Präfident. Ich ſchließe vorläufig Ihre Vernehmung,
Morand, und conftatire, daß Sie bereits beitraft find
und daß die Polizeinote fehr ungünftig über Ste lautet.
Alle Welt fürchtet fih vor Ihnen.
Angeflagter. Ich babe in meinem Leben feinem
Menjchen ein Haar gefrümmt.
Während der ganzen Dauer feiner VBernehmung, auch
als er Joſephine Martin Auge in Auge gegenüberftand,
hat Morand feinen Augenblid lang feine Selbſtbeherrſchung
verloren. Er antwortete ohne zu ftoden, mit großer
Geiftesgegenwart und Beftimmtheit.
Der Schankwirth Bacher wird vernommen.
Er ift ein dumm ausſehender, Kleiner, dicker Mann
mit ſtark gerötheten, glatt rafirten Wangen, ber richtige
Typus eined Dorfgaftwirthes.
Präſident. Bacher, erheben Sie fih. Sie haben
die Ausjagen der Joſephine Martin gehört. Sie hat be-
hauptet, daß, als fie nach Haufe kam, Sie und Morand
Der Procef wider ben Tagelöhner Morand. 295
mit der Zerftüdelung der Leiche des Herrn Vetard be-
Ihäftigt waren.
Angeflagter. Es iſt nicht wahr. Ich war um bieje
Zeit zu Haufe.
Präfivdent. Weshalb beſchuldigt Sie die Martin?
Angeklagter. Wahricheinlich um fich zu entlaften
und andere nicht zu verrathen.
Präfident. Angeflagte Martin, was fagen Sie
dazu ?
Sofephine Martin. Sie waren e8 und fein anderer!
Sie hielten die Beine, die Morand ablägtel Niemand
außer mir kann fagen, was bei mir vorgefallen iſt. Mo⸗
rand, Bacher und deſſen Frau find die Schuldigen! Nie-
mand fonft war dabei. Als Morand mir die Thür
öffnete, ſuchte Vacher fich zuerft zu verbergen. Ich rief
ihnen zu: „Aber ihr ſeid ja Mörder! Es ift fürchterlich!“
Bacher antwortete darauf: „Aber fo jchweigen Sie doch!
Seien Sie doch ftill!” Dann hat Morand mich mit
feinem Meffer bedroht und mir gefagt: „Schreien Sie
nicht, fonft bin ich im Stande, Ihnen das Gleiche an-
zuthun!“ Mein Kleines Mäpchen weinte und fragte, was
die Reiche zu bedeuten habe. Vacher hat mir eine Uhr
und Kette gezeigt und mir gejagt: „Die gehören Ihnen.
Sie befommen fie aber jet noch nicht, denn Sie find
zu leichtfinnig, Sie würben uns verrathen.” Bacher bielt
einen Soden Vetard’8 in der Hand und zog ihm venfelben
wieder an. Es war abjcheulich! (Bewegung im Zuhörer-
raum.)
Präfident. Iſt denn die Leiche entfleivet geweſen?
Fofephine Martin. Nein. Einzelne Gliedmaßen
waren abgetrennt und ſchon in Säde gethan.
Bräfident. Haben die Mörder die Stube gewafchen?
Sofephine Martin. Ia wohl, auch ven Fußboden.
296 Der Procek wider ven Tagelöhner Morand.
Das Spülwaffer haben fie in den Anftandsort meiner
Wohnung gegoffen. Ich habe fogar geglaubt, fie hätten
ben Kopf ber Leiche vahineingeworfen, e8 war dies ein
Hauptgrund, weshalb ich mich fürchtete etwas zu verratben.
Präfident. Hat nit Morand etwas Auffälliges
bazu bemerkt?
Joſephine Martin. Ja wohl. Morand fagte: ‚Den
Leichnam werfen wir in den Fluß, die Kleider werben
wir verbrennen.”
Präfident. Hören Ste das, Bacher? Es find das
doch Einzelheiten, die man nicht erfindet?
Angellagter Bacher. Ich begreife nicht, warum
fte mich beſchuldigt. Ich war zu Haufe und nicht in ihrer
Wohnung.
Präſident. Behaupten Sie etwa auch nach bem
Beilpiele Moranv’s, man müffe die Mörder anderswo
juchen ?
Angeflagter. Ich weiß es nicht. Ich bin unfchubig.
Präſident. Zu Ihrem Unglüde gibt e8 aber Zeugen,
bie gegen Sie ausfagen.
Angeflagter. Ich habe es fchon in der Unterfuchung
erklärt und wiederhole es, ich bin an jenem Abende nicht
ausgegangen. |
Präſident. Ein Zeuge bat Sie am 9. Februar,
gegen 6 Uhr morgens, an den Ufern der Yonne begegnet,
unweit der Stelle, wo man wenige Stunden fpäter ben
Arm Vetard's aufgefunden hat. Sie fahen forgenvoll aus,
Angeflagter. Es kann fein. Ich erinnere mich nicht,
ob ich gerade an dieſem Tage und an jener Stelle war.
Jedenfalls war dies ein bloßer Zufall, Sch gehe häufig
früh morgens aus und fpaziere meiftens am Ufer bes
Fluſſes.
Präſident. Auch an dieſem Morgen?
- Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 297
Angellagter. Möglid. Ich erinnere mich daran
nicht. Am Abend des 8. Februar bin ich aber ficher nicht
ausgegangen.
Präſident. Ein Zeuge, Herr Barte, hat dem Ge-
richt mitgetheilt, daß Site nicht zu Haufe geweſen find.
Ihre Tran bat ihm gefagt, Sie wären verreift.
Angellagter. Das ift nicht wahr!
Präſident. Alfo Hat der Zeuge gelogen?
Angellagter. Nein, er irrt fih nur im Datum.
Bräfident. Ihr Dienftmäpchen Vellon wird fich
aber im Datum nicht irren, und fie jagt aus, daß fie
beutlich gehört habe, wie Sie ſpät in ver Nacht heimfebrten.
Angeklagter. Es ift nicht wahr. Sie hat mich
nicht gehört. Ich bin nicht nach Haufe gekommen, weil
ih gar nicht fort war.
Präſident. Alfo alle Zeugen irren ſich, oder be—
ſchuldigen Sie fälſchlich?
Angeklagter. Ich kann nur wiederholen, ich bin
unſchuldig, ich war zu Hauſe.
Staatsanwalt. Geſtehen Sie zu, größere Zahlungen
in Gold und Banknoten geleiſtet zu haben, und daß dies
erſt nach dem Mordattentate geweſen iſt?
Angeklagter. Ich bin immer allen meinen Ver⸗
bindlichfeiten nachgefommen.
Präſident. Herr Ablon hat bezeugt, daß dies nicht
immer rechtzeitig gejchehen ft.
Angellagter. Ich bitte, e8 ift niemals ein Wechſel
gegen mich proteftirt worden. Ich habe im December
einen Wechſel von 1000 Frs. eingelöft. - Seither habe ich
wieder Einnahmen gehabt.
Präfident. Geben Sie. zu, während Ihrer Haft
einem Mitgefangenen Namens Barbe gejagt zu haben:
„Morand wird uns doch nicht verzünbet haben?”
298 Der Proceß wider den Tagelühner Moranbd.
Angellagter. Das ift bloße Erfindung eines Men-
ſchen, ver fich wichtig machen will.
Bacher tritt weit weniger ficher auf al Morand. Er
blickt zuweilen ganz bumm um fich, ehe er antwortet, er
ftottert bie und da bei feinen Antworten, bleibt aber feft
dabei, daß er vollfommen unfchuldig und zur Fritifchen
Zeit zu Haufe gewejen ſei.
Frau Bacher, die nach ihrem Manne verbört wird,
ift eine große, magere Frau mit ftechenden Augen und
bünnen Lippen, fie fieht ſtörriſch und unwirſch brein.
Präfident. Frau Bacher, find Sie am 8. Februar
abends bei Joſephine Martin gewefen ?
Angellagte. Nein, Herr Präfibent.
Präfident. Site haben nichts dorthin gebracht und
nichts fortgetragen? .
Angellagte. Nein, Herr Präfibent.
Präfident. Joſephine Martin, hören Sie das?
Sojephine Martin. Sie find in meine Wohnung
gefommen, ich beſchwöre e8! Cie waren gar nicht entjekt
über die That! Sie haben zwei Säde mitgebracht und
eine Flaſche Sohannisbeergeiit. Sie haben die Schmuds
jachen mitgenommen und haben noch gejagt: „Ich fürchte
nur Eins, daß man euch erwijcht während ihr mit ven
Tragkörben zum Waller geht.”
Angeflagte Bacher. Es ift nicht wahr, ich bin
nicht bei ihr geweſen.
Sofephine Martin. Niemand weiß beffer, was
vorgegangen tit, als ich.
Angeklagte Bacher. Das glaube ich wohl, denn
Sie waren bei dem Morde zugegen. Aber ich — ich war
nicht dabei!
Präfident. Wo waren Sie denn?
Angellagte Bacher. Zu Haufe.
— mn —
— —
Der Proceßewider den Tagelöhner Morand. 299
Präſident. Sehen Sie einander ins Geficht!
Es geichiebt. Allein eins ver beiven Frauenzimmer
weicht vor dem andern zurüd.
Präfident. Ja freilich, ihr waret alle zu Hanfe.
Aber uuglüdlicherweife jür Sie jagt das Dienftmädchen
Bellon aus, Sie wären im Laufe des Abends weggegangen.
Angeflagte. Es ift nicht wahr, ich bin nicht aus⸗
gegangen.
Bräfivdent. Und an ven folgenden Tagen, was
haben Sie da gethan?
Angellagte. Nichts Beſonderes.
Präſident. Sie find mit ihrer Magd Bellon und
einem Herrn Benoit nach Paris gereift?
Angellagte. Das ift richtig.
Präfident. Iſt dieſer Benoit ber Liebhaber ber
Bellon ?
Angellagte. Ich weiß es nicht. _
Präſident. Aber fie ſchliefen doch in demſelben
Bette?
Angellagte. Ia, während per Reife.
Bräfident. Wer zahlte vie Reiſekoften?
Angeflagte. Herr Benoit. u
Bräfident. Es wird aber behauptet, Ste hätten
die Reiiefoften bezahlt. Mas haben Sie in Paris gethan?
Angeflagte. Wir waren zum Bergnügen dort.
Praͤſident. Benoit hat gejagt, daß er Sie ın vs
mit mehren Heinen Packeten in ver Hand — Dir
Angellagte. Es waren dies feine Geihente, Die
ih mitbringen wollte. .
Bräfident. Und es iſt wirflich Benoit geweint, ber
alles bezahlt hat? —
Angeflagte. Ja wohl. Die Reiſe hat uns Teinen
pfemig gefoftet.
300 Der Brocek wider den Tagelöhner Morand.
Präfident. Iofephine Deartin, warum haben Sie
zuerft behauptet, Frau Morand fei e8 gewefen, die Vetard
zu Ihnen geführt habe? Sie haben poch ſpäter jelbft zu-
geftehen müffen, daß fie unſchuldig ift.
Sofephine Martin. Ich wollte Morand durch bie
Berbächtigung feiner Frau zum Geftänbniß beivegent.
Frau Elergeot, geborene Martin, deren VBernehmung
nun folgt, ſieht ihrer Schweiter ähnlich, aber ihre Züge
find gröber und mehr entivicelt, auch ift fie ftärker und
voller als Joſephine Martin. Sie ift fchwarz gefleivet
und trägt ein Kopftuch ftatt des Hutes.
Präſident. Es wird behauptet, daß Sie längere
Zeit in intimen Beziehungen zu Vetard geſtanden haben.
Angeflagte. Es ift nicht wahr. Ich habe nie intim
mit Vetard verkehrt.
Bräfident. Sind Sie e8 gewefen, bie Vetard ab-
geholt und zu Ihrer Schweiter geführt hat?
Angeflagte. Nein, Herr Präfivent. Ich kann beim
allerhöchiten Gott fchwören, daß ich das Haus der Ma-
dame Druge an dieſem Tage nicht verlaffen habe.
Präfident. Der eine diefer Tragkörbe gehört Ihnen?
Angeflagte Ia. Meine Schweiter hatte ihn ſchon
minbeftens acht Tage früher von mir geliehen. Ich weiß
nicht mehr zu welchem Zweck. Ich bin nicht verantwortlich
für die Verwendung meiner Sachen durch andere Perjonen.
Präfivdent. Als Ihnen der Tragkorb zurückgegeben
wurde, haben Sie da Ylutfpuren daran bemerft?
Angeflagte. Nein, Herr Präfibent.
Präfident. Sie felbft haben ihn am Tage nach dem
Verbrechen abgeholt?
Angeflagte. Das tft richtig.
Präfivdent. Noch ein anderer Verbachtsgrund wirb
gegen Sie geltend gemacht. Sie haben furz nach dem
Der Brocek wider den Tagelöhner Morand. 301
Verbrechen weit mehr Geld bejeffen als fonft und große
Ausgaben gemacht.
Angellagte. Ich babe mein rückſtändiges Gehalt
als Koſtfrau für Pfleglinge in der Höhe von 50 France
und eine Remuneration fowie einen Monatsbetrag von
37 Franes auf einmal empfangen, und mein Mann hat
am legten Januar 80 Francs an Lohn ausgezahlt erhalten.
Präſident. Nach dem Verbrechen haben Sie eine
verdächtige Aeußerung gethan. Sie haben Ihrer Schweiter
vor dem Zeugen Robert gejagt: „Vergiß nicht anzugeben,
daß du bei ver Mutter übernachteit haft.’
Angellagte. Das habe ich nicht gejagt.
Nach einer Unterbrechung von mehrern Stunden wird
zur Zengenvernehmung gejchritten.
Paul Lemblay, 22 Iahre alt, Schwertfegergehüffe
in Ioigny. Am Mittwoch Abend, um halb 11 Uhr, habe
ich beim Nachhaufegehen bemerkt, daß der Laden des Herrn
Vetard, der fonft um biefe Zeit immer gefchloffen war,
offen ftand. VBetarb pflegte fonft um 6 Uhr abends zu
ſchließen. Ich war darüber erjtaunt. Auch am nächiten
Morgen, als ich an die Arbeit ging, war der Laden ſchon
offen. Sch ging hinein, aber e8 war niemand darin. „Ein
Sicherheitswachtmann ging vorüber und ich machte ihn
darauf aufmerkſam.
Etienne Theophile Leblane, 29 Jahre alt, Bar-
fumeur in Joigny. Er bewohnt das Haus, in bem fich
Vetard's Laden befand. „Am Abend des 8. Februar ſchloß
ih mein Geichäft zur gewöhnlichen Stunde. Mehrere
Perfonen verbrachten ven Abend bei mir. Fünf Minuten
bor 10 Ubr habe ich zwei Perjonen in meinen Corribor
eintreten und miteinander fprechen hören. Es war eine
Männer- und eine Frauenftimme. Was fie fagten, konnte
ih nicht verftehen. Am nächiten Morgen war ich fehr
⸗
302 Der Proceß wider den Tagelöhner Morand.
überraſcht, Vetard's Laben fo früh ſchon offen zu ſehen,
und fagte zu meiner Frau: «Da fchau nur, e8 fcheint,
daß der dem Faftnachtsochien einen Frühtrunk widmet!»
Etwas Später bin ich ausgegangen und war fehr erftaunt,
nicht wie ſonſt die Uhren in der Auslage zu jehen. Offen
bar waren fie gejtoblen. Eine Nachbarin erzählte mir
Ipäter, vaß zu der Zeit, wo am Abend zuvor der Dann
und die Frau in den Hausflur traten, eine andere Frauens⸗
perfon im Hofe Wache geſtanden habe,“
Staatsanwalt. Haben Sie niemand beargmöhnt?
Zeuge Nun, wie des Morgens ein Hochzeitszug
porüberfam, da dachte ich mir, ift wol einer barımter,
beffen Hochzeitsanzug von Vetard’8 Geld bezahlt worben tft?
Präfident. Das find leere Phantafien. Ste haben
nur über Thatfachen auszufagen. Haben Sie noch jonft
etwas zu bemerken?
Zeuge Am 13. Februar, um halb 1 Uhr, als man
die Beine aus dem Waſſer herausfifchte, fagte ich zu
einem Gensvarmen: „Man fjucht den Mörder in ber
Verne, und er ijt ganz nahe.”
Präſident. Wen meinten Sie?
Zeuge. Den Hauptangeflagten Morand!
Bertheidiger Lailler. Das ift eine bloße Ver:
muthung!
Zeuge. Preilihd. Wenn ich deſſen gewiß geweſen
wäre, fo hätte ich ihm angezeigt. Ich füge hinzu, daß
es eine Frau gewejen tft, welche die Uhr aus ver Aus-
lage weggenommen hat.
Ein Gejhworener. Woher wifjen Sie das?
Zeuge. Weil ziemlich dicker Staub in ver Auslage
war, und bie Fingerfpuren, bie zurüdblieben, die einer
Weiberhand waren.
Der Broceß wider ben Tagelühner Morand. 303
Bertheidiger Nemacle Iſt dies gerichtlich con-
ftatirt worben?
Präſident. Nein, aber ver Zeuge hat fehon in der
Unterfuchung auf diefen Umſtand bingewielen.
Lucien Gasnter, 28 Jahre alt, Bedienter. Am
Zage des Verbrechens war ich bei Vetarb wegen eines
Raufes. Er gab mir auf eine größere Note heraus, und
als er die Geldlade öffnete, ſah ih, daß er fehr viel
Baargeld Liegen hatte.
Louis Dejenclos, 68 Iahre alt, Briefträger, hat
in der Nacht gegen 2 Uhr Licht im Laden Vetard's ge-
ſehen.
Alexis Auguſte Babillot, 29 Jahre alt, Finanz⸗
beamter in Joigny. Ich Habe bei dem Unterſuchungs⸗
richter alles ausführlich zu Protofoll gegeben. Wichtig
it an meiner Ausfage nur, daß ich am Abende des Ver-
brechens am Haufe Joſephinens vorbeiflam. Es mar
zwifchen halb 8 und 8 Uhr. Die Thür war verfperrt
und die Fenfterläden waren gefchlofien.
Präfident. Hatten Ste einen Hausfchlüffel?
Zeuge. Nein. Iofephine gab ihn mir zuweilen, aber
in der Regel hatte ich ihn nicht.
Präſident. Man bat Ihnen einige Briefe vorge-
wiejen und Sie haben die Schrift Ihrer Geliebten erfannt ?
Zeuge. Ja wohl, Herr Präfibent.
Präfident. Wußten Sie, daß Joſephine Martin
mit dem Uhrmacher Vetard befannt war?
Zeuge. Nein.
Präfident. Hat Ihre Geliebte Ste vorher ver-
ftändigt, daß fie am 8. Februar abends nicht zu Haufe
fein würde?
Zeuge. Sie hat mir gejagt, fie würde vorausfichtlich
ben Abend bei ihrer Familie zubringen, weil ihr Bruder
304 Der Brocef wider den Tagelöhner Morand.
am nächiten Tage Hochzeit halte. Site bat hinzugefügt,
wenn e8 zu langweilig fein follte, würbe fie doch nach
Haufe zurüdfehren. Darum bin ich für alle Fälle vorüber-
gegangen.
Bertheidiger Lailler. Sie famen täglich zu Jo—
jephine Martin, haben Sie jemal® Morand bei ihr ge-
jehen ?
Zeuge Niemals.
Präſident. Cs ift doch natürlich, daß Joſephine
ein Zufammentreffen der verfchiedenen Männer zu ver⸗
hüten wußte. (Gelächter im Zuhörerraum.)
Sean Adlon, 63 Jahre alt, Bankier in Joigny.
Am 9. Februar morgend war ich eben daran, mein Fijch-
zeug zu orbnien, als mein ilcher zu mir fam und mir
erzählte, man hätte am Ufer des Fluſſes einen menfch-
lichen Arm aufgefunden. Ich habe fofort den Staats⸗
onwalt hiervon verjtändigt.
Das Auftreten der nächjten Zeugin ruft eine größere
Bewegung des Publikums hervor. Es iſt Dies Die ehe-
malige Geliebte Vétard's, Roſalie Mary, verehelichte
Deproy, 28 Iahre alt, derzeit Dienſtmagd in Tonnerre.
Es ift eine Fleine, frifche, vefolute Perſon, von etwas
rundlicher Leibesbeichaffenheit. Sie bat fich Fofett heraus⸗
geputt und ihren fchwarzen Sammthut mit einem Sträuß-
chen von Maiblumen gefhmüdt. Trotz ihres jelbitbe-
wußten Auftretens wird fie durch bie neugierigen Blicke
des Auditoriums einigermaßen verjchüchtert.
Sie gibt an:
„Man bat mir bei Gericht Briefe vorgewiefen, die von
mir berrühren follten. Es war dem jedoch nicht fo. Sie
find von Joſephine Martin's Hand gejchrieben. Ich ver-
muthe indeß, daß fie von Madame Glergeot ausgegangen
Der Proceß wider ben Tagelöhner Morand. 305
find. Diefe kannte meine Berhältniffe genau und bat
biejelben vermutblich der Joſephine berichtet.”
Präſident. Kannten Sie ven Angeklagten Morand?
Zeugin. Nein, Herr Präfident.
Präfident. Somit hat er die Briefe nicht dictiren
innen. Kannten Sie Herrn Betard?
Zeugin. Ia wohl, Herr Präfident. Ich habe ihn
zuweilen in feinem Laden gefprochen.
Präjident. Aber Ihre Geſpräche drehten fich nicht
um Uhren?
Zeugin. Ach nein.
Präfident. Er ift gern mit Ihnen zufammenge-
troffen ?
Zeugin. Ich glaube es wohl.
Bräfident. Er hat Ihnen Anträge gemacht?
Zeugin. Da, aber ich bin nicht feine Geliebte ges
worden,
Präſident. Die Einzelheiten der incriminirten Briefe
beruhen auf genauer Kenntniß Ihrer Verhältniffe?
Zeugin. Ja wohl, Herr Präſident.
Präfident. Sind Sie mit Iofephine Martin auf
vertrautem Fuße geitanden ?
Zeugin. Bor dem Verbrechen kannte ich fie faum
wohl aber Frau Clergeot.
Präfident. Hat Joſephine Martin Sie nach dem
Verbrechen aufgejucht?
Zeugin. Zunächit nicht. Frau Elergeot fam zu mir.
Sie wollte horchen, welche Vermuthung ich über die Ver-
fafferin ver Briefe geäußert hatte. Joſephine Martin
war beforgt. Sie fürchtete, daß ich fie genannt haben
könnte, und fchicte darum ihre Schweſter zu mir. ALS
dennoch ver Verdacht gegen fie geäußert wurde, leugnete
fie mir gegenüber jehr entrüjtet die Thäterfchaft ab, und
XXIU. 20
306 Der Proceß wider ben Tagelöhner Moranb.
Frau Clergeot jpottete über die Albernheit der Nichter.
Von da an fjuchte mich Joſephine Martin möglichft oft
auf und war voll Zuporfommenbeit und Liebenswürdigkeit.
Angelique Godefroy, 47 Iahre alt, Näherin in
Joigny. Gegen ven 18. oder 20. Ianuar kam Fräulein
Sojephine Martin, meine Nachbarin, zu mir und bat
mich, an die „Magafind du Louvre“ zu fchreiben, weil fie
ein Hochzeitskleid für Die Trauung ihres Bruders bedurfte.
Sie ift auf dieſe Beftellung nicht zurückgekommen. Sch
vermuthe als Urſache Gelpmangel. Am 8. Februar theilte
mir eine Frau Raoin mit, daß dieſe Hochzeit für den
nächſten Tag anberaumt fei, und fügte hinzu: „Die arme
Joſephine wird wol fchwerlich dabei fein können, fie hat
fein Kleid zum Anziehen.” An vdemfelben Tage, abends
gegen 7 Uhr, hörte ich zwei Perfonen die Treppe zu Jo—
jephine hinauffteigen und wispern: ‚„Phinel.. Phine!..“
Es erfolgte feine Antwort und die beiven Perjonen gingen
wieder hinunter. Etwas fpäter, etwa um 7'/, Uhr, habe
ich wieder zwei Perſonen hinauffteigen hören. Nach dem
Klang der Schritte waren es eine mit ber Oertlichkeit
vertraute Frauensperſon und ein Mann. Dieſer ftolperte
auf ver Treppe. Gegen 8 Uhr vernahm ich viel Geräufch,
fümmerte mich indeß nicht viel darum, denn ich las die
Zeitung oder plauderte mit einer Freundin. Um 10 Uhr
war ein fortwährendes Gehen und Kommen. Zwiſchen
11 und 1 Uhr wurde der Lärm fchwächer. Sch war
neugierig und legte mir bie Frage vor, was das zu be-
beuten habe. Die Nacht war abicheulih. Es regnete
und ſtürmte. Mich fröftelte und e8 wurde mir angit.
Endlich um 1 Uhr jchlief ich ein. Um 6 Uhr am nächſten
Morgen ftand ich auf. Ich bemerkte, daß Iofephine Mar-
tin noch nicht ausgegangen war. Bald darauf fam ein
junges Mädchen mit einem Kleiverforb zu ihr und brachte
Der Proceß wider ben Tagelöhner Morand. 307
ihr den Hochzeitöftant. Gegen 10 Uhr vormittags ſprach
ih Marie Morand, die Tochter des Angeflagten, bie bei
mir nähen lernte. Sie erzählte mir, fie habe joeben Jo⸗
ſephine Martin begegnet, die in vollem Put zur Trauung
gegangen fei. Sie fehe ſehr hübſch aus. Kurze Zeit
darauf vernahmen wir von einer Nachbarin, daß ein
Männerarm am Flußufer gefunden worden fei. rau
Morand kam zu mir und erzählte, man habe ven Arm
an dem Daumennagel al8 ben des Uhrmachers DVetard
erfannt. Wir plauderten über bie verbrecheriiche That,
und ein anwefender junger Mann, Herr Salmon, fagte,
er babe Herrn Vetard abends vorher um 7 Uhr in Des
gleitung eines Franuenzimmers zu Joſephine gehen jehen.
Ich erinnerte mich fofort an das merkwürdige Geräujch
vom Vorabend, allein ich dachte damals durchaus nicht
Daran, daß Sofephine felber fchuldig fein könnte. Nach»
mittags 4 Uhr kamen Herren vom Gericht mit Herrn
Labeſſe zu mir. Herr Labeſſe fragte mich, ob Joſephine
zur Hochzeit gegangen fei. Ich bejahte eg. Er äußerte
fofort: „Ob, das arme Ding! Gewiß fie bat mit ber
Angelegenheit nichts zu fchaffen. Ich wußte e8 ja, fie war
beit ihrer Mutter!” Etwas fpäter ſagte Frau Elergeot
zu dem Gensparmenwachtmeifter: „Sie kann nichts
dafür. Sie hat bei unferer Mutter übernachtet.” ALS
Sofephine kam, Tief fie ihr entgegen umd rief ihr raſch
zu: „Daß du es nur weißt, ich habe es fchon gejagt,
Daß du heute bei der Mutter übernachteft haft.” Am
Abende kam Sofephine zu mir herüber, ich fragte fie
haarklein aus. Sie erwiderte mir aber: „Auf jolche
Sachen fann man gar nichts antworten!” Das hat mich
zuerft ftugig gemacht und mir Verdacht gegen fie ein-
geflößt. Am 15. Februar fprach ich den Angeflagten
Morand. Er fagte zu mir: „Nun, was denken Sie über
20 *
308 Der Proceß wider ben Tagelöhner Morand.
den Mord? Man hat die Thäter erwilcht, e8 find bie
Mouillons.” Ich drückte ihm meine Zweifel an ber
Nichtigkeit dieſer Nachricht aus. Morand erwiderte: „Es
mag jein, daß der Dann unschuldig ift, er tft ein Lump,
aber ein guter Kerl. Die Frau halte ich aber einer folchen
That ſchon fähig.“ Ich erinnerte ihn daran, baß Herr
Betard nah Salmon's Behauptung am 8. Februar abends
zu Joſephine gekommen fei. Er erwiberte lebhaft: „AB,
ber Salmon ift eine Eanaille, ein freiwilliger Polizeiſpion!“
Staatsanwalt. Haben Sie Morand bei der os
fephine Martin gejehen ?
Zeugin. Ihn nicht, wohl aber Frau Morand. Die
Kinder jpielten zuweilen miteinander, das war bie Ver⸗
anlaffung.
Präfident (zu Morand). Haben Sie gejagt, daß Sal⸗
mon eine Canaille. und ein freiwilliger Polizeifpion ift?
Angeflagter. Nein. Man fpracdh von ben vielen
Anzeigen, die fälichlich gegen die Mouillons angebracht
worden waren, und ich fagte im allgemeinen, bieje An-
zeiger ſeien Canaillen und freiwillige Polizeifpione. Sch
habe es nicht von Salmon im befondern behauptet.
Zeugin. Sie haben es von ihm gefagt.
Leon Salmon, 27 Yahre alt, Ziichlergefelle in
Joigny. Am 8. Februar, des Abends um 71/, Uhr, war
ich vor ber Hausthür meiner Mutter und habe deutlich
Herrn Vetard erfannt, als er mit einem Frauenzimmer
in das Haus der Joſephine Martin bineinging. Er ift
an mir vorübergefommen. Herr Vetard ift über eine
Stufe geftolpert und hat etwas zwifchen ven Zähnen ge»
murmelt. Das Trauenzimmer habe ich nicht erfannt.
Präfident. Sehen Sie die Angellagten Martin
und Clergeot genau an. Scheint Ihnen eine von beiden
die Begleiterin des Herrn Vetard geweien zu fein?
Der Proceß wider ven Tagelöhner Morand. 309
Zeuge. Die Iofephine Martin war es gewiß nicht,
aber ich bin jett beinahe ficher, daß es die Frau Elergeot
geweſen iſt.
Vertheidiger Remacle. War die Stiege zur
Wohnung der Martin denn nicht beleuchtet?
Zeuge. Ja, mit einer Lampe.
Vertheidiger Lailler. Iſt das Frauenzimmer mit
hinaufgegangen?
Zeuge. Ja wohl.
Vertheidiger Remacle. War im Zimmer ſchon
Licht, als die Frauensperſon hinaufſtieg.
Zeuge. Ja wohl.
Eleonore Bognot, verehelichte Vetard, 37 Jahre
alt, Krämerin in Saint⸗Julien-du⸗Sault. Joſephine
Martin iſt mit der Hochzeitsgeſellſchaft in unſern Ort
gekommen. Sie iſt in meinen Laden getreten, um Zucker⸗
werk zu kaufen. Als ſie meine Firmatafel las, war ſie
ganz beſtürzt.
Eugene Robert, 21 Jahre alt, Gärtnergehülfe.
Ich Habe gehört, wie Frau Clergeot ihrer Schweiter zu—
rief: „Vergiß nicht zu fagen, daß du bei der Mutter
übernachtet haſt.“
Eine Reihe von Zeugen fagt über ven Charafter
Morand's aus. Die Stimmung bverjelben iſt offenbar
gegen ihn. Morand foll feine Kameraden oftmals hart
angefahren und wörtlich bebroht haben; feiner von allen
jevoch vermag zu behaupten, daß er jemals wirklich zu⸗
geichlagen hätte.
Adolfine Suffroy, verehelichte Droin, 55 Jahre
alt. Am Tage des Verbrechens, abends zwijchen 6 Uhr
15 Minuten und 7 Uhr, Habe ih Morand bet ver
Joſephine Martin eintreten ſehen. Ich jtand beim
Brunnen.
310 Der Proceß wider den Tagelöhner Morand.
Bräfident. Ihre Ausfage ift äußerft wichtig. Weber-
legen Sie wohl, find Sie deffen vollfommen ficher ?
Zeugin. Bolllommen.
Präſident. Sie begen feine Feinpfeligfeit gegen den
Angeflagten?
Zeugin. Keinerlei.
Präfident (zu Morand). Sie hören die Zeugin.
Angeflagter. Es ift faliches Zeugniß. Ich war
nicht dort. Ich war es nicht. Ich bin in meinem ganzen
Leben niemals zur Joſephine Martin gegangen. Es ift
ein Nacheact der Frau, fo gegen mich auszuſagen.
Zeugin. O, wenn er aus biefem Zone fpricht!
Ich weiß noch gar mancherlei über ihn zu erzählen!
Präfident. Darum handelt es fich nicht. Ich frage
Sie nohmals: hegen Sie feindfelige Gefinnungen gegen
ven Angeklagten?
Zeugin. Nein. Ich bin nicht voreingenommen und
vollfommen gerecht. Ich fage nur die Wahrheit. Am
nächſten Tage habe ich felbit gehört, daß Morand ven
Bacher durch einen Pfiff herbeirief. Sie führten ein
erregtes Geſpräch, aber mit leijer Stimme, ſodaß ich die
Worte nicht verftehen Eonnte.
Angellagter. Aber das ift eine neue Erfindung!
Das ift vollfommen unwahr!
Zum erften mal ſcheint Morand etwas aufgeregt;
allein er gewinnt bald feine Selbftbeherrichung und Ruhe
wieder und lächelt nur, als Frau Droin mit großer
Zungengeläufigfeit alle die Drohungen aufgezählt, bie er
angeblich gegen fie ausgejtoßen haben will.
Präfident. Ste haben bei anderer Gelegenheit be-
hauptet, Morand fei ein Schmuggler?
Zeugin. DO, er läuft ganze Nächte lang herum!
Ich habe e8 ihm fchon früher gejagt, er thäte beſſer
Der Proceß wider den Tagelöhbner Morand, 311
baran, zu arbeiten, als folchen lichtſcheuen Beichäftigungen
nachzugehen.
Angellagter. Es iſt ein vorbedachter Nacheact.
Ich habe die Frau einmal gerichtlich angezeigt, und feit
biefer Zeit haßt fie mich.
Präfivdent. Sie behaupten alfo, diefe ganze Aus»
fage beruhe auf Erfindung?
Angellagter. Mit aller Bejtimmtheit.
Marte Ligault, verehelichte Duffange, 32 Jahre
at. Am 8. Februar abends ging ich nach dem Zapfen-
jteeich nach Haufe und ſah Fräulein Martin, als fie zum
Drumnen ging, um Waffer zu holen. Ein Mann war
unweit von ihr. Sch habe ihn nicht erfannt. Herr Vetard
war es ficher nit. Er war größer, trat ſchwer auf
und trug eine Mütze.
Präſident. Glich der Mann dem Angeklagten
Morand?
Zeugin. Herr Präſident, das iſt Gewiſſensſache.
Ich kann eine ſolche Frage nicht leichthin bejahen.
Präſident. Sie haben recht. Alſo Sie erkennen
jenen Mann nicht in dem Angeklagten?
Zeugin. Nein! Es iſt zu ernſt, um leichtfinnig
zu antworten. Was die Trauensperfon anbelangt, jo
bin ich dagegen meiner Sache ficher. Es war Fräulein
Martin, darauf kann ich ruhig ſchwören.
Präſident. Es ftimmt dies nicht mit der Zeit.
Die Angeklagte will damals noch bei ihrer Mutter ge-
wejen jein. Frau Zeugin, können Sie genau jagen, um
wieviel Uhr Sie die Iofephine Martin gefehen haben?
Zeugin. 8 Uhr 45 Minuten. Es ſchlug eben vom
Thurme der Kirche zum heiligen Johannes.
Marie Mapdalenat, verehelichte Ablon, 40 Iahre
alt, Weingartenbefigerin, war in Gejellfchaft ver vorigen
312 Der Proceß wider den Tagelöhner Morand.
Zeugin. Sie fagt ganz übereinftimmend mit der—
jelben aus,
Präfident. Erkennen Site in dem Angeklagten Mo-
rand den Mann, ven Sie gefehen haben?
Zeugin. Ich habe ihn nicht genau gejehen und er-
fenne ihn nicht.
Bertheidiger Lailler. Was trug jener Mann für
Schuhe?
Zeugin. Soviel ich weiß, grobgenagelte Lederſchuhe.
Staatsanwalt. Diefen Umstand hat Joſephine
Martin aufgelärt. Sie hat gefagt, daß Morand feine
Holzſchuhe ausgezogen habe.
Am nächiten Verhandlungstage wird ber Brief zur
Berlejung gebracht, den der Vertheidiger Lailler zu Be—
ginn der Verhandlung reclamirte. ‘Diejer Brief lautet fo:
„Sojephine!
„Du bift eine Elende. Du haft mich retten wollen
und haft mich zu Grunde gerichtet. Im Augenblid, an
dem Du meinen Brief empfängjt, lebe ich vielleicht nicht
mehr, denn ich kann dem Schmerze nicht widerftehen, der
mic) überwältigt, wenn ich bevenfe, in welcher Lage ich
mich befinde, und erwäge, daß e8 Deine Schuld ift, Du
Spitzbübin. Glücklicherweiſe für mich find meine Papiere
in Ordnung, jonjt wäre ich wol fchon verhaftet. ‘Du
wirft nie wieder von mir hören. Ich nenne Dir das
Land gar nicht, wohin ich mich begebe. Ich reife morgen
ab. Sch hoffe, Du haft meine zurüdgelaffenen Papiere
vernichtet. Wenn ich den Muth habe, ins Ausland zu
entfliehen, bin ich vielleicht gerettet. Ich fage Dir nicht
mehr, denn Du bift eine VBerworfene und Niederträchtige,
die man meiden muß. Ich bitte Dich, verbrenne dieſen
Brief fofort, damit ihn niemand findet.
Der Procef wider den Tagelöhner Morand. 313
„Set verflucht, denn Du haft das Herz dazu einen
Mann in feinem Bett auszuliefern. Wie viele Unfchuldige
haft Du nicht denuncirt! Ich habe es in ber Zeitung
gelefen, wie ich in Aurerre war. Gut, daß ich fort-
gegangen bin. Wenn ich geblieben wäre und auf Dich
gehört Hätte, wäre ich wol fchon eingejperrt, denn Du
bift eine Verrätherin und jo verächtlih, daß Du nie
wieder von mir hören wirft.“
Staatsanwalt. Diefer Brief, meine Herren Ge-
jhworenen, ift mit Bleiftift gefchrieben. Er befand fich
nicht in einem Briefumſchlag, fondern war in ein Stüd
Papier eingeichlagen. ‘Der Poſtſtempel lautet: ‚Paris,
Lyoner Bahnhof — März 1888.” Außerdem befindet
fih ein Poftftempel darauf: „Quarre-les- Tombes —
12. März 1888. Der Boftftempel Joigny fehlt. Er ift
offenbar deshalb irrigerweife nach Quarre-les-Tombes
geichielt worden, weil ver Poftbeamte die Straßenbezeich-
nung „Große Tombe” für den Ortsnamen gelejen hat.
Präfivent. Angeklagte Iofephine Martin, haben
Sie diefen Brief erhalten?
Angeflagte Nein! Aber ver Kerfermeifter, Herr
Trank, bat mir gegenüber von diefem Briefe gefprochen.
Präfident. Wifjfen Sie, wer den Brief gejchrieben
hat?
Angeflagte. Ich kann es nicht wiffen.
Bertbeidiger Remacle. Wie ift ver Brief in die
Hände des Unterfuchungsrichters gekommen?
Staatsanwalt. Ich weiß es nicht. Vielleicht Tann
der Kerfermeifter Frank darüber Auffchluß geben.
Präſident. Derſelbe ift als Zeuge vorgeladen und
kann darüber vernommen werden. Sie, Angeklagte
Martin, erlennen die Hanpfchrift nicht?
314 Der Proceß wider ben Tageldöhner Moranb.
Angellagte. Nein! Herr Präfident.
Das Zeugenverhör wird fortgefeßt.
Madeleine Putris, verehelichte Salmon, 55 Jahre
alt. Am Tage des Verbrechens bin ich um 5 Uhr nach⸗
mittags zu Morand gefommen. Er tft ausgegangen, und
als ich um 10 Uhr abends wegging, war er noch nicht
wiebergefonmen.
Präfident. Morand behauptet, er babe fih zu
Bett gelegt.
Zeugin. Nein, Herr Präſident! Ich bin deſſen
fiher, daß er nicht zu Bett war. Er bat um 5 Uhr
gegefien, ift eine BViertelftunde darauf weggegangen unb
war um 10 Uhr noch nicht zurück.
Angellagter. Ich Habe um 6 Uhr gegeffen und
habe mich dann niebergelegt. Frau Salmon ift mit
meiner Frau weggegangen, um den Faſtnachtsochſen an⸗
zuſehen. Ich habe e8 gehört, wie fie weggingen.
Zeugin beharrt bei ihrer Ausfage.
Ein Gefhworener. Wo liegt die Schlafitube des
Morand und wo waren Sie?
Zeugin. Ih war in der Küche und bie Thür
feines Schlafzimmers führt in die Küche, Er mußte,
um fich in fein Bett zu begeben, durch die Küche gehen.
Bertheidiger Lailler. Sie haben nicht darauf ge=
antwortet, ob Sie ausgingen, um den Faſtnachtsochſen
anzujehen?
Zeugin. Ja, aber nur gerade vor die Thür.
Präfident. Hat nicht Bertha Morand, eine
Tochter des Angeklagten, verjucht, Ihre Ausfage zu ber
einfluffen ?
Zeugin. Sie bat mir gefagt: ‚Nicht wahr, wenn
Sie gefragt werben, werben Sie fagen, daß Papa um
Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 315
8 Uhr zu Haufe war.” Ich antwortete ihr: „Kind, ich
werde die Wahrheit jagen.”
Francois Werner, 36 Iahre alt, Weinbauer,
bezeugt, daß er Blutfleden auf Morand's Holzfchuhen
gejehen hat.
Marguerite Fanny Vellon, genannt Gabriele,
22 Iahre alt, Dienftmäpchen bei Bacher. Diefes
Mädchen, eine richtige Gaſthofsmagd, frech, gefund, von
berbem Gliederbau, frifcher Gefichtsfarbe und Tebhaft
bligenvden Augen, war längere Zeit hindurch ſelbſt ver
Theilnahme am Morde verbächtig und deshalb verhaftet.
Jetzt galt ihre Zengenausfage als die wichtigfte Stüße
ber Anklage wider das Ehepaar Vacher. Ihr Auftreten
ift ſehr ſelbſtbewußt. Ste gibt an:
„Ich bin im Dienfte bei den Eheleuten Vacher ge-
ftanden. Ich behaupte mit Beſtimmtheit, daß Herr Vacher
am 8. Februar um 8 Uhr 45 Minuten ausgegangen und
erit in fpäter Nachtjtunde zurückgekommen ift. Frau Vacher
ging gegen 10 Uhr fort und blieb ungefähr 20 Minuten
lang weg.” (Bewegung im Zubörerraum.)
Angellagter Bacher. Es ift nicht wahr. Wir
ipielten Karten, ich, meine Frau und Gabriele, bis 10 Uhr
30 Minuten. Sie felbit jagte noch am andern Tage:
„Es ift ein wahres Glück, daß wir drei hier faßen und
Karten fpielten. Man hätte fonft auch behaupten fönnen,
ich fei e8 geiwejen, die den Vetard umgebracht hat, man
befchuldigt ohnedies bereit8 die Halbe Stadt und alle
Mädeln.“
Zeugin beharrt bei ihrer Ausſage.
Angeklagte Frau Vacher. Gabriele irrt ſich. Wir
ſpielten zuſammen Karten bis nach 10 Uhr. Sie hat
ſogar mit meinem Manne nicht wenig kokettirt.
316 Der Procef wider den Tagelöhner Morand.
Angellagter Bacher. Ich Habe die Außenthür
jelbft um 10 Uhr 45 Minuten zugemadt.
Zeugin. Nein! Frau Bacher und ich haben zu-
gejpertt.
Angellagte Frau Bacher. Das ift gelogen,
Gabriele!
Zeugin beharrt bei ihrer Ausfage.
Angellagter Bacher Wenn ich fpät nachts nach
Haufe gefommen wäre, fo müßten die Nachbarn davon
wiffen. Der Hund des Photographen in unferm Hauſe
macht in folchen Fällen immer einen Höllenlärm, ſodaß
die Nachbarſchaft fich jchon oft beflagt hat. In dieſer
Nacht ift es aber nicht geſchehen.
Bertheidiger Savatier-Larodhe. Waren nicht
noch andere Perjonen, Gäfte, um dieſe Zeit bei Vacher ?
Zeugin. Nein, nicht mehr. ‘Die legten, der Trom-
peter und ver Reſerviſt, waren um 9 Uhr fchon weg-
gegangen.
DVertheidiger Savatier-Laroche. Hatten nicht
Sie felbft abends vor der Thür eine Unterredung mit
einem Schreiber des Notar wegen eined Beilchen-
ſtraußes?
Zeugin. Nein, das war während des Tages.
Vertheidiger Savatier-Laroche. Der Schreiber,
Herr Albouy, ſagt aber, dieſe Unterredung habe Abends
9 Uhr 15 Minuten ſtattgefunden.
Zeugin. Nein, das iſt nicht richtig.
Ein Geſchworener. Haben Sie bemerkt, daß Frau
Vacher etwas mitnahm, als ſie wegging?
Zeugin. Nein! Ich gab nicht Acht darauf. Ich
ſpielte ja.
Vertheidiger Savatier-Laroche. So, Sie fpiel-
ten? Ei, und mit wem denn eigentlich?
Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 317
Zeugin. Mit Herrn Grivet.
Präſident. Sie find mit Frau Bacher nach Paris
gereift?
Zeugin. Ja wohl, Herr Präfipent.
Präſident. Wer hat denn dieſe Reife in Vorfchlag
gebracht ?
Zeugin. Herr Bacher.
Angeflagter Bacher. Nein! Es war Benoit.
Zeugin. Herr Bacher hat Benoit dazu ermuntert.
Er bat ihm gefagt: „Wenn ich an Ihrer Stelle wäre,
jo möchte ich gleich zur Unterhaltung nad Paris
reifen.”
Bräfident. Iſt die Reife dann fofort angetreten
worden?
Zeugin. Nein. Sie wurde mehrmals verjchoben.
Die Urfache ver Verzögerung war bie, daß Herr Benoit
damals gerade Tein Gelb hatte.
Bräfident Wie lange find Sie ausgeblieben?
Zeugin. Bon Montag bi8 Mittwoch.
Präfident. Wer hat die Koften getragen?
Zeugin. Ich weiß nur, daß Herr Benoit für mid
alles gezahlt bat. Er brachte auch Herrn Vacher ein
Geſchenk, eine Meerfchaumpfeife, mit.
Präſident. Herr Benoit ftand mit Ihnen auf ver-
trautem Fuße?
Zeugin (lächelnd). Freilich.
Präfident (zu Bacher). Welche eigenthümliche Idee
von Ihnen, Ihre Frau mit Ihrem Dienftmäpchen und
deren Geliebten nach Paris zu fchiden!
Angellagter Bacher Meine Frau kannte Paris
nit. Es war eine gute Gelegenheit. (Heiterfeit.)
Präfident. War Frau Vacher während der Reiſe
im Befite von Geld?
318 Der Proceß wider den Tagelöhner Morand.
Zeugin. Ich habe Geld in ihrem Portemonnaie ge⸗
jehen. Vielleicht 100 France.
Angeflagte Frau Bader. O nein, e8 war nur
etwas Tleine Münze.
Präfident. Frau Bacher bat in Paris einige Ein-
käufe gemacht? Was willen Sie davon?
Zeugin. Sie hat eine Pfeife, einen Pelzkragen, einen
Korb und andere Kleinigfeiten gekauft.
Präſident. Was befand fih im Koffer ver Frau
Bacher?
Zeugin. Dinge, die nicht darin hätten fein bürfen.
Präfident. Was meinen Ste damit?
Zeugin. Die Goldfachen von Vetard. (Beivegung
im Zuhörerraum.)
Präfident. Haben Sie biefelben ſelbſt gejehen?
Waren Sie anwefend, als fie Die Schmudfachen verkauft
hat? Wiffen Sie, wo und wann bie® gefchah?
Zeugin (zögernd). Nein! Das freilich nicht.
Präfident. Wiffen Sie wenigſtens, wann fie weg—
ging, um diefelben zu verlaufen?
Zeugin. Nein! Ich blieb immer bi8 um 11 Uhr
vormittags im Bett Liegen.
Staatsanwalt. Die Anklage will ihrerfeitd feine
Unklarheit befteben laffen. Die Herren Gejchivorenen
wollen zur Kenntniß nehmen, daß bie nunmehrige Zeugin
Bellon felbft verdächtig war und in Unterjuchung gewejen
‚it. Im der Unterfuchung hat fie eingeftanden, daß fie
Vetard abgeholt und zur Joſephine Martin geführt habe.
Warum haben Sie das fo angegeben?
Zeugin. Iofephine Martin hat mich dazu veranlaßt.
Präfident Wie ift das gelommen?
Zeugin. Sofephine Martin bat mir erzählt, der
Polizeicommiffär babe ihr gejagt, daß ihre ganze Familie
Der Proceß wider ben Tagelöhner Morand. 319
in die Gejchichte verwidelt werde. Sie bat mich, fo aus-
zujagen, um fie zu entlaften. Sie weinte den ganzen
Zag. Ich habe Mitleid mit ihr gehabt, und um ihr
einen Dienſt zu erweijen, habe ich e8 fo angegeben.
Präfident. Das war ein für Sie felbjt ſehr ge-
fährlicher Liebesdienſt, ven Sie ihr da erwieſen haben.
Zeugin. Ich hatte es nicht jo bedacht. (Sie lächelt
verſchmitzt.)
Präſident (zu Joſephine Martin). Weshalb haben
Sie die Vellon zu dieſer falſchen Ausſage verleitet?
Angeklagte Joſephine Martin. Es geſchah, um
Morand zu einem Geſtändniß zu beſtimmen.
Präſident (zur Vellon). Hat die Angeklagte Martin
Ihnen dieſen Grund angegeben?
Zeugin. Ya wohl, Herr Präſident! Sie hat mir
gejagt: „Wenn Morand hören wird, daß du geftehft,
bu ſeieſt e8 gewejen, die Vetard abgeholt hat, jo wird
er vielleicht in fich gehen und die Wahrheit geitehen.
Präfident. Wann hat fie Ihnen dies gejagt?
Zeugin. Nachdem fie die Beichuldigung gegen eine
andere Perjon zurüdgezogen hatte. Aber es gejchah noch,
bevor fie dem Unterjuchungsrichter geſtand, daß fie mich
zu ber faljchen Angabe verleitet habe, und daß fie felber
Betard abbolte.
Prosper Barre, 24 Iahre alt, Maurer. Am Abend
bes Verbrechens war ich bei Bacher. Er war nit ans»
weiend. Ich fragte feine Frau na ihm, und fie ant-
wortete mir, er ſei verreift.
Präfident. War vie Vellon bei diefer Unterredung
anweſend?
Zeuge. Nein! Sie war nicht da. Frau Vacher
ſagte mir, ſie ſei ſpazieren gegangen.
Präſident. Wo ſtanden Sie?
320 Der Proceß wiber den Tagelöhner Morand.
Zeuge Beim Zahltifch.
Präfident. Ste haben Vacher nicht Karten fpielen
gefehen ?
Zeuge. Nein! Es war niemand anweſend als ber
Trompeter Le Bätarb.
Angeflagte Frau Bacher. Herr Barre berichtet
eine wahre Thatjache, allein er irrt fih im Tage. Er
war ein wenig angetrunfen.
Präfident. Zeuge, Ihre Ausfage iſt jehr wichtig!
Erinnern Sie fich des Tages genau?
Zeuge. Es ift fein Irrthum möglih. Am 6. Februar
war ich in Orleans, am 7. Februar in Laroche. Es muß
daher am 8. Februar gewefen fein, daß ich zu Vacher kam.
Ich war freilich ſchon am 7. Februar gleich nach meiner
Rückkehr auch bei Bacher. Aber damals war er anwefend.
An diefem Tage war ich vielleicht ein wenig betrunfen.
Angellagter Bacher. Am 8. Februar abends war
ih zu Haufe und der Zeuge war an jenem Abend ficher-
[ich nicht bei mir.
Cäſar Dumont, Küfer, hat Barre begleitet. Auch
er war angetrunfen. Er gibt übereinftimmend mit dem
vorigen Zeugen ven 8. Februar als ven Abenn an, wo
fie bei Bacher gewefen find. Auch er hat weder Vacher
noch die Vellon gejeben.
Eugene Bourbois, 24 Jahre alt, Kutfcher.
Donnerstag, den 9. Februar, bin ib um 6 Uhr
30 Minuten früh ausgegangen. Ich fam auf meinem
Wege langjfam gegen bie Nonne zu, da vernahm ich
Schritte hinter mir her. Ich blieb ſtehen und ſah mich
um. Ich erkannte Herrn Bacher. Er war barbaupt
und trug ein leinene® Aermelleibchen umd eine graue
Hofe. Ich war erjtaunt, ihn bei folchem Wetter jo früb
ausgehen zu jehen. Er wenbete fih dem Manöverfelde zu.
Der Broceß wider ben Tagelöhner Morand. 321
Präfident. Bacher, irrt ſich diefer Zeuge auch?
Angeflagter Bacher. Es ift nicht möglih, an
einem trüben Wintermorgen um 6 Uhr 30 Minuten,
beit dem Wetter, das damals herrichte, einen Menſchen
auf einige Entfernung mit Beitimmtheit zu erfennen.
Zeuge. Doc, ich habe Sie erfannt. Ich habe fogar,
als ich nach Haufe kam, meinem Herrn gejagt: „Herr
Bacher ift aber heute fchon fehr früh ausgegangen.”
Ambroife Louis Barbe Tagelöhner, war mit
Bacher in einer Zelle im Gefängniß und hat ihn fagen
hören: „Morand wird uns doch nicht verzündet haben!”
Bacher leugnet, diefe Aeußerung gethan zu haben.
Kerfermeifter Frank, gibt Auskunft über die Briefe
Morand’8 an feine Frau.
Bertheidiger Lailler (zu vem Zeugen). Sie haben
eine Unterrebung gehört, welche zwijchen der Unterfuchungs-
gefangenen Iojephine Martin und Gabriele Vellon ftatt-
gefunden hat?
Zeuge. AS ich meine gewöhnliche Runde machte,
habe ich eines Tages die Sofephine Martin und die
Bellon durch das Gitterfenjter im Corridor miteinander
Iprechen hören. Gabriele fagte zu Sofephinen: „Du
weißt ganz gut, daß hu mich 'zu ber falichen Ausjage
verleitet haft, daß Morand mich veranlaßt habe, Vétard
abzuholen. Morand hat es nicht gethan. Du haft mic
beitimmt, jo auszuſagen. Es war am letten Sonntag.
Du haft beftig geweint und mich unter Thränen um-
armt und Haft mich befchworen: Nette mich und meine
Familie!“ Die Martin bat ihr ganz laut darauf zu-
gefchrien: „Freilich weiß ich, daß esferlogen war, aber
deswegen, bu dummes Ding, hättet du Doch dabei
bleiben fönnen. Dir hätte es nicht viel gefchadet, aber
mir fehr viel genügt.” Die Vellon erwiberte: „Sa,
XXIII. 21
323 Der Proceß wider den Tagelöhner Morand,
wenn ich deine eiferne Stirn und beine ungzerftörbare
Frechheit hätte! Dann wäre e8 mir möglich gewefen,
an der Lüge feitzubalten. Ich kann das eben nicht.”
Die Martin entgegnete: „Hör auf, bu willft nicht bie
Stirn haben, du, Haft du denn nicht dem Morand
ind Geficht behauptet, daß er dich angeftiftet babe?
Du haſt ihn ja, weil er e8 leugnete, einen elenden Schuft
und einen veriworfenen Schurken genannt!”
Bertheidiger Remacle Hat die Martin während
ihrer Unterjuchungshaft Briefe erhalten?
Zeuge. Meines Wiffens ift nur ein einziges an
fie gerichtetes Schreiben angelommen; ich habe es ord⸗
nungsgemäß dem Unterfuchungsrichter zugeftellt.
Bertheidiger Remacle. Hat Iofepbine Martin
biefen Brief, ehe er abgeliefert wurde, gejehen?
Zeuge. Bielleiht. Ich erinnere mich deſſen nicht.
Bertheidiger Remacle. Ich erfuhe Sie, Ihr Er-
innerungsvermögen zu jfammeln. Haben Ste über biefen
Brief mit ihr gejprochen oder nicht?
Zeuge. Ich glaube nicht, aber ich kann es nicht
beſtimmt verfichern.
Angeklagte Joſephine Martin. Herr Sranf redete
mir immer zu: „Aber jagen Sie doch die Wahrheit,
geftehen Sie...” Eines Tages fagte er mir: „Was
ift e& denn mit dem Briefe, den Sie erhalten haben, ver
von dem Liebhaber, ver fchreibt, er wolle ſich um Ihret-
willen in die Seine ftürzen. Leugnen Sie nicht, ich habe
ihn ja geleſen.“
Zeuge. Ich kann mich daran nicht erinnern.
Angeflagte Joſephine Martin. Herr Fran bat
mir gejagt, es handle fich um einen Liebhaber, ver mein
Zimmer genau fenne und genaue Einzelheiten gefchrieben
habe.
Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 323
Präſident. Herr Kerfermeifter, kannten Sie ben
Inhalt des Briefes?
Zeuge Sal Der Unterfuchungsrichter bat ihn mir
vorgeleſen.
Vertheidiger Lailler. Ich kann die Bemerkung
nicht unterdrücken, daß es ſehr ſonderbar iſt, daß die
Angeklagten fortwährend von allen Vorgängen, die fie be⸗
trafen, unterrichtet worden find.
Präſident. Es ift nicht in Abrede zu ftellen, daß
im Laufe diefer Unterfuchung mancherlei Ungehörigfeiten
vorgefallen find. |
Augufte Benoit, 45 Jahre alt, Grundbeſitzer.
Bader hat mich zur ber Reiſe nach Paris ermuntert und
mir zugerebet, bie „Damen“ mitzunehmen. Sch "habe
alle8 bezahlt und Vacher eine Meerjchaumpfeife mit-
gebracht. Die Reife hat mich 320 France gefoftet.
Der Arhiteft Oppenot gibt genaue Ausfunft über
die Wohnung der Iofephine Martin und über die daſelbſt
feftgeftellten Blutſpuren.
Dr. Leriche erftattet das Gutachten über die Leichen⸗
refte. Diejelben wurden mit Beftimmtheit al8 von Vetard
herrührend erkannt an ber bejondern Beſchaffenheit des
Daumennagel® und an einer Narbe am Bein, die von
einer Verletzung zurücgeblieben war. Dr. Leriche hatte
ihn feinerzeit deshalb felbft behandelt. Der Sachver-
jtändige nimmt an, daß Vetarb auf der Stiege rüdlings
überfallen und daß ihm mit einem fchweren Hammer ber
Schädel eingejchlagen worben ift. Sodann hat man ihn
in das Zimmer gebracht und dort die Zerftüdelung ber
Leiche vorgenommen.
Die Leichenrefte werben enthüllt und die Angeklagten:
Morand, Bacher und Joſephine Martin, vor biejelben
geführt. Es ift 8 Uhr abends geworden, Dümmer-
21*
324 Der Proceß wider den Tagelühner Morand.
licht erfüllt den Saal. Eine dramatiiche Scene fpielt
ſich ab.
Morand erklärt mit größter Kaltblütigfeit, er kenne
biefe Glieder nicht, er habe keinen Theil an dem Morde.
Bacher ift ſehr aufgeregt. Er ſeufzt mit erftidter
Stimme: „Ih bin fehr unglüdlih! Wie fomme ich
dazu! Ich war nicht dabeil”
Joſephine Martin freifcht laut: „Es find die Mörder!
Niemand weiß e8 als ich! Ich ſchwöre es, dieſe beiden
da find die Mörder!”
Mit dieſer bewegten Scene endet die Verhandlung
bes zweiten Tages.
Am pritten Verhandlungstage richtet der Präfident
bie Aufforderung an die Iofephine Martin, fie möge
nochmal® genau fchildern, was fi an dem kritiſchen
Abend zugetragen habe.
Angeflagte. Ich Habe um 5 Uhr 30 Minuten,
meine Feine Iuliette an der Hand, meine Wohnung ver⸗
lafien, um zu meiner Mutter zu gehen. Ich habe Morand
beim Brunnen gegenüber meiner Wohnung getroffen. Ich
habe ihm erzählt, daß ich zur Hochzeit gehen und nicht
nad Haufe kommen würde. Er hat mich um meinen
Wohnungsfchlüffel gebeten, damit er fich eine Säge ab-
holen könne. Er hat dabei ausprüdlich gefagt: „Da
Sie heute Abend nicht nach Haufe kommen wollen, brauchen
Sie Ihren Schlüffel ohnehin nicht, holen Sie ihn bei mir
ab, wenn Sie zurüdfommen.”“ Ich habe ihm den Schlüffel
gegeben. Hierauf fagte er: „Sie kommen auf Ihrem
Wege bei dem Uhrmacher Vetarb vorbei, bitte, geben Sie
ihm diefen Brief.” Ich nahm den Brief an mich und
beabfichtigte ihn bei Vetard "abzugeben. Derſelbe war
jeboch nicht anmwefend. Ich bin num zu meiner Mutter
gegangen. Um 6 Uhr 45 Minuten ging ich wieder zu
Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 395
dent Laden des Uhrmachers. Herr Vetard war zurüd-
gefommen, nahm den Brief, las ihn und ging mit mir
fort. Bei der Fiichhalle trafen wir Morand. Wir gingen
zufammen weiter. Vetard folgte uns, blieb aber etwas
zurüd. Sch bin mit Morand voraus die Stiege hinauf.
Betard fam und nad. Er ift auf der erften Stufe ge-
ftolpert. Morand hat mir ein Gläschen Cognac ein»
gefchenft und mich dann weggejchicdt. Ich war barüber
jehr verwundert und habe Morand gefragt: „Ja, wes⸗
balb wollen Sie denn noch dableiben? “
Angeflagter Morand. Bon Anfang bis zum Ende
erlogen! Ich war nie bei Ihnen! Weber damals noch
je zuvor.
Angeklagte Joſephine Martin. Schweigen Sie!
Sie find das abjcheulichite Ungeheuer! — Ich bin alſo
fortgegangen und um 7 Uhr 30 Minuten bei meiner Familie
gerade noch rechtzeitig zum Abendefjen angefommen. Wir
haben die Vorbereitungen zur Hochzeit fertig geftellt. Meine
Mutter verlangte, ich follte bei ihr Übernachten. Ich wollte
aber nicht und bin nach Haufe zurüd, wo ich eben Bacher
bei der Arbeit traf. Leugnen Sie nicht! (Mit ſteigender
Erregung:) Ihr allein ſeid die Mörder! ALS ich Lärm
ichlagen wollte, drohte mir Morand mit dem Fleifcher-
meffer. Auf dem Fußboden war eine Blutlache, die mein
Kind für rothen Wein bielt.
Präfivdent. Zur Aufflärung der Herren Geſchworenen
muß ich hier bemerken, daß man das Fleine Mäpchen ver
Sofepbine Martin befragt. Das Kind fagte: ‚Papa
Betard ift gefallen. Man hat ein Leintuch über ihn ge=
tban und ihn gefchnitten.” Es fcheint demnach der Zer-
jtüdelung des Leichnams beigewohnt zu haben. Zur
Zeugenfchaft Tonnte jedoch das Kind, weil e8 erit vier
Sahre zählt, nicht herangezogen werden.
326 Der Proceß wider ben Tagelöhner Morand.
Auf Verlangen des Vertheidigers Lailler wird Fräulein
Godefroy nochmals vorgerufen.
Bertheidiger Lailler. Haben Sie nicht um halb
7 Uhr das Kind der Iofephine Martin fchreien hören?
Zeugin. Ja wohl, genau um dieſe Zeit.
Bertheidiger Lailler. Sie haben Morand niemals
bei ver Martin gejehen?
Zeugin. Niemals.
Bertheidiger Lailler. Können Sie uns etwas über
das Benehmen des Schriftführer Labeſſe mittheilen?
Er foll Sie ja befucht haben ?
Zeugin. Ja wohl, das hat er. Am 11. Februar
ift Herr Labeffe ganz athemlos zu mir gekommen und
erzählte: „Joſephine ift nicht ſchuldig. Sie können Vetarb
nicht bei ihr haben eintreten fehen. Ich habe es ſchon
beim Unterfuchungsrichter gefagt. Seien Ste außer Sorge.
Ich werde fehon dafür forgen, daß Ihnen die Bejuche der
Gensdarmen eripart bleiben.” Ich erwiverte ihm: „Ich
habe feinen Grund, mich vor dem Besuch der Gensparmen
zu fürchten. Im jedem alle werde ich nur die Wahrheit
jagen. Uebrigens wenn auch ich verichweigen wollte, was
ich weiß, Salmon hat die Joſephine Doch gefehen.” Herr
Labeſſe zuckte geringſchätzig bie Achjeln und verfeßte: „Dieſer
Salmon ift ein einfältiger Burſche. Sch werde ihm ſchon
jagen, daß er fich geirrt hat. Meine liebe Angelika, das
Herz blutet mir, wenn ich an die Qualen denke, welche
biefe arme, unjchulpige Perfon erleiden muß.“
Sachverſtändiger Eugene Benoit, Apothefer, gibt
das Reſultat feiner chemijchen Unterjuchungen befannt.
Demgemäß find die Blutfpuren in der Wohnung ber
Joſephine Martin theilweife noch ganz veutlich erfennbar,
andere find verwaichen. Im Stiegenhaufe find Spuren
von Gehirnmaſſe vorhanden, Sie betätigen die Anficht
Der Procek wider den Tagelöhner Morand. 327
des Arztes, daß dort die Schädelzertrümmerung ftattge-
funden habe. An den Sägen find gleichfalls unzweifelhafte
Blutflecke zurücgeblieben. Das bei Morand vorgefundene
große Mefjer dagegen weift feine Spuren menfchlichen
Blutes anf. Im feinem Tragkorbe waren fleine, fait
mifroffopifche Spuren menschlichen Blutes. Der andere
Tragkorb war frei von Blutfleden.
Bertheidiger Lailler beftreitet, geſtützt auf pie Unter-
fuchungen des berühmten Profeffors Brouarbel, die Richtige
feit der Expertife, infoweit fie die mifroffopifchen Spuren
im Tragforbe Morand's als Menſchenblut diagnofticirt.
Das Blut eines andern Säugethieres könne leicht für
Menichenblut gehalten werben.
- Das Meffer wird der Iofephine Martin vorgemiejen.
Diefe erflärt, das Mefjer, mit welchen Morand fie be-
proht habe, fei weit größer geweſen.
Der zweite Sachverftändige, Chemifer Dr. Gabriel
Ponchet, hat in beiden Tragkörben Blutjpuren gefunden
und behauptet mit Bejtimmtheit, es könne biefes Blut
nur von Menſchen, Hunden, Eichhörnchen, Meerjchwein-
chen, Raten oder Kaninchen herrühren, nicht aber won
Schweinen, Ochjen oder Ejeln.
Da Bacher behauptet hatte, die Achjelbänber des Zrag-
forbes der Clergeot könnten ihm nicht pafjen, weil es
ein Frauenzimmerforb ſei, fo wird der Verſuch im Ge-
richtsfaal gemacht. Die Achjelbänder pafjen ihm voll-
fommen. (Bewegung im Zujchauerraum.)
Präfivdent. Vacher, warum haben Sie dieje faliche
Behauptung aufgeftellt?
Angeflagter Bacher. Es war eine bloße Ber:
muthung meinerfeits. Ich wußte e8 nicht, denn ich hatte
den Verſuch nie zuvor gemacht.
Zeuge Alerandre Fournter beichreibt die Wohnung
328 Der Proceß wider den Tagelöhner Morand,
bes Morand. Er tbeilt mit, daß man in biefelbe nicht
nur durch die Küchenthür, ſondern auch von der andern
Seite her gelangen könne.
Frau Salmon wird darauf hin nochmals vorgerufen.
Sie jtellt die Ausfage dieſes Zeugen in Abreve und be—
hauptet wieder, fie jet von 5 bis 10 Uhr dort gewejen,
ohne Morand zu jehen.
Angeflagter Morand. Die Thür wird felten be-
nut. Sch habe am Mittwoch Abend auch feinen Gebrauch
von ihr gemadt. Ich bin durch die Küche gegangen,
ohne mich aufzuhalten. Vielleicht war dies, während bie
Weiber ausgegangen waren, um ben FaftnachtSochfen zu
jehen, vielleicht war die Zeugin, wie fchon oft zuvor, beim
Herdfeuer eingenidt.
Auguste Pietre gibt Auskunft über die Kleider, welche
Morand getragen, und beftätigt, daß der Angeklagte häufig
an Nafenbluten gelitten habe.
Pietre war von Joſephine Martin zuerjt als der Mit-
Ihuldige Morand's denuncirt worden, aber ſofort in der
Lage, ein unzweifelhaftes Alibi nachzuweiſen. Darauf hin
erjt nannte fie Bacher, Der Vertheidiger Savatier-La-
roche macht die Gejchworenen auf ven auffallenvden Unter-
ſchied der Erfcheinung beider Männer aufmerkfam.
Präfident. Sofephine Martin, warum haben Sie
Herrn Pietre denuneirt?
Angeflagte Joſephine Mertin. Ich habe ge-
glaubt, daß Pietre, weil er ein Freund Morand's ift,
auch fein Helfershelfer geweſen fei, und hoffte, Durch dieſe
Anzeige Morand zum Geſtändniß zu bewegen.
Marie Anne Gaillard, verehelihte Salmon,
70 Jahre alt (eine Tante des Morand), gibt an: Ich
bin am 8. Februar bei Morand gewefen und habe ihn
um 8 Uhr abends gejehben. Ich bin des Tages darım
Der Brocef wider ben Tagelöhner Morand. 329
io ficher, weil e8 der Vorabend des Zuges des Faftnachts-
ochfen war. Er, feine ganze Familie und die Frau Ma⸗
beleine Salmon waren dort. Morand fam um 8 Uhr
nah Haufe und ift faft gleich darauf fchlafen gegangen.
Präfivdent. In der Vorunterfuchung haben Sie an⸗
gegeben, bie fremde Frauensperfon, bie bei Morand ge:
weſen fei, wäre bie Gabriele Vellon geweſen.
Zeugin. Das kann nicht fein.
Präfivdent. Sie haben das Protokoll jo unter-
ſchrieben.
Vertheidiger Lailler. Hatten Sie nicht längere
Zeit den Tragkorb des Morand bei ſich zu Hauſe?
Zeugin. Ja, einige Zeit nach dem Morde.
Vertheidiger Remacle. Die Zeugin iſt in den
abgefaßten Briefen Morand's genannt worden?
Präſident. Ja wohl. Es heißt in einem derſelben:
„Sage meiner Tante...“
Bertheidiger Lailler. Aber ihre Vernehmung vor
dem Unterjuchungsrichter war erfolgt, ehe der Brief ge-
jchrieben wurde.
Die andere Frau Salmon wird wieder vorgerufen.
Präfident. Haben Sie die Tante an jenem Abend
bei Morands geſehen?
Zeugin. Ja, ſie war dort!
Präſident. Und Sie bleiben dabei, daß Morand
nicht zu Hauſe geweſen iſt?
Zeugin. Gewiß.
Die Tante. Aber das iſt unrichtig. Er war da.
Sie wiſſen es, er iſt um 8 Uhr nach Hauſe gekommen.
Jean Le Bätard, Trompeter bei einem Dragoner⸗
regiment, auch ein begünftigter Xiebhaber ver Vellon. Ich
war am Abende des Verbrechens bis gegen 9 Uhr bei
330 Der Brocek wider den Tagelöhner Morand.
Bacher. Er, feine Frau, Gabriele (Vellon), der Reſerviſt
und der Photograph waren noch dort. Ich bin mit dem
legtern weggegangen.
Bräfident. Haben Sie fonft niemand bort gefehen?
Zeuge. Nein.
Die Zeugen Barre und Dumond werben wieber vor⸗
gerufen. Sie bleiben bei ihren Angaben.
Gabriele Vellon wird vorgerufen. Sie fagt: „Herr
Bacher ift erft fortgegangen, nachdem ber Trompeter fich
entfernt hatte. Nur Grivet und ich blieben noch zurück.“
Louis Victor Legraverend, Photograph. Sch war
an dem Abend des Verbrechens bei Vacher. Ich bin etiwas
nach halb 9 Uhr weggegangen. Ich habe mit dem Res
ferviften geplaubert und nicht darauf geachtet, ob Vacher
anweſend blieb oder wegging.
Aleris Grivet, Bädergehülfe in Charmont. Ich
habe am Abend des Verbrechens mit Herrn und Trau
Bacher bis 10'/, Uhr Karten gefpielt. Die Vellon war
anmefend und wifchte das Gefchirr ab. Ich wohne im
Haufe und habe dort gejchlafen. Wer die Hausthür an
jenem Abend verichloß, weiß ich nicht. Morand ift am
nächſten Morgen gelommen und hat mich aufgefordert,
ven Faftnachtsochfen mit ihm anzufchauen. Wir gingen
miteinander und bemerkten eine Menfchenanfammlung am
Ufer der Yonne.
Leon Salmon wird nochmals vorgerufen.
Vertheidiger Lailler. Sie haben einige Zeit lang
geſchwankt, ob Sie die Anzeige erjtatten follen, daß Sie
Betard in die Wohnung der Dirne Joſephine Martin
haben eintreten ſehen. Da Ste fi entichloffen haben,
e8 zu thun, haben Sie zugleich dem Unterjuchungsrichter
mitgetheilt, die Urjache Ihres Zögerns fei geweſen, daß
eine Perjon Sie beftimmen wollte, dieſe Ausfage nicht
Der Proceß wider ben Tagelöhner Morand. 331
abzugeben. Sie ftehen nun vor Gericht. Sagen Sie,
wer war bieje Perjon ?
Zeuge. Es war der Schriftführer Labeſſe. Er
ift zu meiner Mutter gefommen, bat ihr gejagt, ich
irrte mich, ich müffe mich irren. Ich hätte offenbar Per-
jonen verwechjelt, e8 fei ein fehr erniter Fall und ich folle
mich hüten, leichtfinnige Angaben zu machen, venn ich
werde hierfür ganz entjchteden zur Verantwortung gezogen
werden.
Damit ift das Beweisverfahren gefchloffen und es
folgen die Plaidoyers.
Staatsanwalt Le Bourdelleèes nimmt das Wort.
Nach längerer Einleitung gelangt er zur Charafterifirung
ber Angeflagten. Er jagt hierbei wörtlich: „Joſephine
Martin? Es ift ein Weib.... Ein Weib! gibt es ein
Wort, das fanftere Empfindungen weden kann? Allein
fie verdient nicht diefe Bezeichnung zu führen. Sie be-
reitet das ſchauerlichſte Verbrechen, ein Liedchen trillernd,
vor, und Tags darauf, nachdem fie Augenzeuge der ent-
jeglichen That gewejen, begibt fie fich, al8 ob nichts vor-
gefallen wäre, zu einer Hochzeit, fie tanzt und bezeigt kaum
eine flüchtige Erregung, als der Zufall ihr auf einem
Zabenfchilde den Namen Vetard vor das Auge führt.
Was kann die Vertheivigung zu Gunjten ver Joſephine
Martin vorbringen wollen? Sie wird vielleicht jagen:
Joſephine Martin gibt zu, die erften drei Briefe gejchrieben
zu haben, fie hat Vetard zu fich geführt, allein damit ift
auch der Gefammtumfang ihrer activen Theilnahme an
ber Vorbereitung des von ihr nicht vorbedachten Ver⸗
brechens erſchöpft. Sie begibt fich zu ihrer Familie, und
erſt al8 fie wieder nach Haufe fommt, befindet fie fich
angefichtS der vollbrachten That, des fürchterlichen Schau
ipiels! Und fie tritt vor die Gefchworenen und Hagt:
332 Der Proceß wider ben Tagelöhner Morand.
Ih foll eine Verbrecherin fein?.... Ich bin es nicht.
Sch habe einem unwiderftehlichen Zwange folgen müffen,
ich habe mich nur aus Furcht ven Anordnungen der Ver⸗
brecher gefügt. Ich gehorchte freilich ihren Weijungen,
doch ohne zu ahnen, wohin das alles führen follte, ich
glaubte an einen Scherz!
„Die Anklage kann aber eine folche Verantwortung
nicht gelten laſſen. Sch wende mich zu Joſephine Martin
und rufe ihr zu: Ihre Verantwortung ift durchaus un⸗
glaubwürdig. Sie ift fo gezwungen, daß Sie genöthigt
find, fihb in das Gewand der verfolgten Unſchuld zu
brapiren, das Ihnen durchaus nicht paßt. Nur einen
Schritt weiter und Sie fagen zu Morand: Sie haben
mein Zimmer verunreinigt, Sie find mir Schadenerſatz
ſchuldig!
„Nein. Sie find es, die mit Vorbedacht Das Verbrechen
vorbereitet hat! ....“
Der Staatsanwalt verlieſt hierauf nochmals die drei
mit R. M. gefertigten und von der Hand der Joſephine
Martin geſchriebenen Briefe und fährt fort:
„Sagen Sie nicht: Ja, ich habe dieſe drei Briefe ge—
ſchrieben, denn ich glaubte an einen Spaß; den vierten
Brief aber, den habe ich nicht geſchrieben, den hat mir
Morand nur zur Beſtellung übergeben. Die Geſchworenen
mögen urtheilen und entſcheiden, ob ſie annehmen wollen,
daß dieſer vierte, nicht mehr vorhandene Brief von einer
andern Perſon herrührt. Vetard, der notoriſch mis—
trauiſcher Natur war, hätte Doch ſchon an der Verſchieden⸗
heit der Handſchrift Anftoß nehmen müfjen, und gerabe
biesmal wäre er zum Stellvichein bereit gewefen? Ge—
ftehen Sie, Iofephine Martin, jagen Sie die Wahrheit!
Wenn irgendetwas Ihr Schidjal zu erleichtern im Stande
ift, kann e8 nur Das unummwundene Befenntniß fein. Was
Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 333
aber hat zur Aufklärung und Entvedung geführt? Gewiß
nicht die Geftänpniffe der Iofephine Martin. Dieje Ge-
ftänpnifje fpielen zwar eine wichtige Rolle im Gange ber
Unterfuchung, allein fie erjchöpfen fie nicht. Es bepurfte
ter Bergleihung der Handfchriften durch Sachverftänpige,
um auf die richtige Fährte zu gelangen. Dadurch nur
wurde der Zufammenhang Har und dann exit entichloß
fih Sofephine Martin zögernd zu dem noch immer un-
vollftändigen Geſtändniß.
‚Die Frage, ob Joſephine Martin bei der Ermorbung
Vétard's gegenwärtig war, kann ich nicht mit voller Be⸗
ftimmtheit behaupten. Nach ihrer Angabe wäre fie erit
um 10 Uhr, als der Mord verübt und der Diebftahl
begangen war, heimgefehrt. Was ven Diebftahl anbelangt,
fo ift Dies gewiß unrichtig. Er ift überhaupt erft zu
einer ſpätern Stunde ausgeführt worden, wie Die Zeugen—
ausfagen beweijen. Es wäre bejjer gewejen, wenn Jo⸗
fepbine Martin ihre Betheiligung daran unverhohlen ein-
geftanden hätte. Die Finger jener Frauenhand, bie im
Staube des Auslagekaſtens ihre Einprüde zurückließen,
waren bie ihren.
„Joſephine Martin, Sie wagen e8 zu verfichern, Sie
hätten an einen Spaß geglaubt! Aber als Sie in Ihr
Zimmer traten und ben entjeglichen Anblic vor fich ſahen,
warum haben Sie da nicht um Hülfe gerufen? Angenommen,
der Schreden, die Furcht lähmte Ihre Zunge. Was
binderte Sie am folgenden Tage zur Polizei zu geben,
Ihr Herz einer Nachbarin auszufchütten?
Der Staatsanwalt erörtert num die Widerſprüche in
den Angaben ver Joſephine Martin. Diefe erichüttern zwar
nach feiner Auffaffung deren Glaubwürdigkeit nicht. Die
legten Mittheilungen der Angeklagten über vie Berfon
der Mörder entiprechen der Wahrheit, ihre frühern un-
334 Der Proceß wider ben Zagelöhner Moranb.
wahren Angaben bezwedten wirflih, Morand zu einem
Geſtändniß zu nöthigen. Er fährt fort:
„Die Dirne Iofephine Martin hat eine beträchtliche
Summe von Einzelheiten über die That angegeben. Gerade
diefe Einzelheiten werben aber durch andere Umftänbe
als wirklich fo vorgefallen beftätigt. Joſephine Martin
hat die Schwierigkeiten gefchilvert, die Morand zu über-
winden batte, um die Knochen der Ertremitäten vom
Numpfe zu trennen, die Ausführungen bes Dr. Leriche
haben die Erklärung dazu geliefert. Wenn ich auch Die
ſchärfften Strafen, die unfer Geſetz verhängt, für bie
Vebelthäter begehren muß, jo kann ich doch für Joſephine
Martin mildernde Umftände gelten laffen. Erſtlich weil
fie ein Weib iſt, dann weil fie unter dem überwältigenden
Einfluß eines Mannes geſtanden ift, der alle Eigenschaften
befaß, um auf ſchwache Gemüther einen Drud auszuüben.
Sie hatte nicht die moralifche Kraft, einem Morand zu
widerſtehen. Ueberdies verdankt das Gericht ihrem Ge⸗
ftänpniß viel zur Enthüllung des Geheimniffes, das über
der graufen Miffethbat lagert. Ich fordere baber für fie
nicht die Todesſtrafe. Ich fordere fie pagegen für Morand.
Er ift ein abgefeimter, entmenjchter Böſewicht. Er leugnet
alles, Teugnet angefichtd der überzeugendften Beweiſe,
leugnet entgegen der überwältigendften Gewißheit! —
Gegen ihn fprechen die Befenntniffe der Joſephine Martin.
Sie hatte feine Urfache ihn anzuffagen. Bon andern
Zeugen kann man behaupten, fie feien ihm feinplich ge⸗
finnt. Allein die Martin? Barum follte fie ihn anflagen,
wenn er nicht fchuldig wäre! — Kommen wir zu ben
Thatfachen. Da find die DHlutflede an den Sägen und
an den Tragkörben. Es find dies Spuren menfchlichen
Blutes. Morand bat doch in feinem Korbe nicht das
Fleiſch von Affen oder Meerichweinchen berumgefchleppt.
Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 335
Diejer blutige Tragkorb redet eine überzeugende Sprache.
Mean wird doch nicht der albernen Erfindung Glauben
ſchenken wollen, daß der myſteriöſe Thäter den Tragkorb
des Morand benugt babe! Dann die Holzichube. Auch
anf diefen find Blutfpuren gefunden worden. Ein Zeuge
hat fie zwei oder brei Tage nach dem Verbrechen deutlich
gefehen. Die Sachverftändigen haben fie unterfucht und
ſtimmen überein, es find ficherlich Flecke gewejen, die von
menschlichen Blut berrührten.‘
Der Staatsanwalt befpricht hierauf ven unheimlichen
Geruch in der Küche des Morand. Noch wichtiger aber ift, daß
Morand am Abend des 8. Februar fein Haus verlaffen hat.
„Die Zeugenfchaft der Frau Madeleine Salmon wider-
legt jeine Berficherung, er fei daheim geblieben und Schlafen
gegangen. Können Sie von bdiefer Frau etwa auch be-
haupten, fie ſei Ihre Feindin, wie Frau Droin? Nein.
Es ift eine Freundin Ihrey Tamilie, die oftmals die
Abende bei Ihnen zubrachte. Sie fagte aber klar und
beutlih, Sie wären fortgegangen und ven Abend über
nicht wieder nach Haufe gefommen. Wollen Ste fich
gegenüber biefer Ausſage auf die andere Frau Salmon,
Ihre Tante, berufen? Als ich die arme alte Frau vor
dem Gerichtstiiche ftehen fah, empfand ich aufrichtiges
Mitleid. Gebeugt von Alter, that fie ihr Beftes, um
Sie, Angeflagter, zu retten. Die Bedauernswerthe! Sie
erregte nur ein Gefühl des Erbarmens für fich felbft.
Was ſagte Sie aber eigentlih? Sie berichtete, Morand
wäre zu Haufe geweien. Das erfte mal, als fie ver-
nommen wurde, vor dem Unterfuchungsrichter, war fie
ihrer Sache noch nicht gewiß. An diefer Stelle freilich
hat fie mit aller Entſchiedenheit ausgeſagt. Sie that aber
babei des Guten zu viel. Sie erzählte uns, Morand
habe einen Zeller Suppe gegefjen. Das ftimmt aber
336 Der Proceß wider den Tagelöhner Morand.
nicht mit Morand's eigener Angabe, nach welcher dieſer
bie Küche nur burchquerte, um in feine Schlaffammer zu
gelangen. Noch mehr. Ste hat angegeben, eine fremde
Perfon fet dabei gewejen. Wer war dies? In der Vor-
unterjuchung fagte fie, es fei die Gabriele Vellon geweſen,
bier dagegen nannte fie Frau Madeleine Salmon. Geht
nicht Har daraus hervor, daß fie fo ausgelagt hat, um
ihren Neffen zu retten?
„Das Verbrechen war von langer Hand durch Morand
vorbereitet. Es jollte am 6. Februar ausgeführt werben,
und darum erzählte er feinen Kameraden, er wolle am 5.
nach Sens oder Villeneuve reifen. Darum jah man ihn
auch am 6. vor dem Laden bed Vetard herumlungern.
Auch die Zeugen Frau Duffange und Herr Ablorn haben
die Ausfagen der Yojephine Martin betätigt. Ausjchlag-
gebend ift die Ausfage der Frau Droin. Sie hat Mo-
rand bei Joſephine Martin eintreten fehen. Sie hat e8
mit aller Energie behauptet und an ihrer Behauptung
feftgehalten. Man wird ihr Zeugniß anfechten, weil an⸗
geblich zwifchen ihr und Morand feit langer Zeit Feind-
ichaft beftehen fol. Aber iſt dieſe Feindſchaft jo tiefgehend,
daß fie deshalb eine wifjentlich faljche Zeugenausſage ab-
gegeben hat? Frau Droin ift Morand nicht grün, ich
will e8 zugeben. Allein ift fie deshalb bereit, einen Mein⸗
eid zu fchwören, einen Menfchen auf das Schafott zu
bringen? Morand hat ein Alibi worzubereiten gefucht.
Diefen Zwed verfolgte er mit ven Zetteln, bie er im
Gefängniß fchrieb und an feine Frau zu fchmuggeln ver-
juchte. Er wollte, daß die beiden Zeuginnen Salmon
feine Anwejenheit zu Haufe am Abend des 8. Februar
betätigen follten. Aber fein ‘Plan iſt mislungen.
„Run zu Bacher. Morand fpielte die erjte Violine,
Bacher war die zweite Rolle in dem Drama zugefallen.
Der Broceß wider den Tagelöhner Morand. 337
Diefes geht zunächft wieder aus dem Gejtänpniß der Jo⸗
jephine Martin hervor. Nach ihren Angaben ift er e8
nicht gewefen, der Vetard ermordet hat. Er half aber
die Leiche zerftüdeln. In diefem Punkte jagt die Iofephine
Martin ganz beftimmt aus. Und nun frage ich wieber,
welchen Beweggrund hätte das Frauenzimmer, ihn anzır-
Hagen, wenn er unfchuldig wäre? Sie hat zuerft allerdings
nicht ihn, fondern Pietre denuncirt, aber als dieſer ein
unzmweifelbares Alibi nachgewiefen hat, gibt fie ver Wahr-
heit die Ehre und fagt: Morand ift der Mörder, er hat
Detard getödtet, er hatte einen Gehülfen, und dieſer Ge-
hülfe war Bacher.
„Dieſe Angabe ver Iofephine Martin fteht nicht allein.
Gabriele Vellon hat in der Vorunterfuchung angegeben,
daß Vacher einige Tage vor dem Verbrechen fagte, er
bebürfe eines Betrags von 1000 France, und einige Tage
ſpäter tft er im Befig einer Baarfumme von 600 France
betroffen worden.”
Der Staatsanwalt erörtert nun im Detail die ver-
Ihiedenen Zahlungen, die Vacher nach dem 8. Februar
in Gold und Banknoten geleiftet hat.
„Run gelangen wir zu ber für Vacher äußerſt wich-
tigen Frage, in welder Stunde das Verbrechen verübt
worden ift. Die Magd Vellon, ver man feine Feind⸗
jeligfeit gegen ihren Dienftberen zutrauen kann, behauptet
fteif und feft, daß Vacher gegen 9 Uhr ausgegangen und
erft nach Mitternacht wiedergefommen tft. Auch die Zeugen
Dumond und Barre find pofitiv in ihren Ausfagen. Sie
waren am 8. Februar des Abends in feinem Schanklocal
und Bacher war nicht anweſend. Die Vertheibigung hat
dagegen Herrn Legraverend als Zeugen vorgeführt. Er
ſchwankt aber in feinen Angaben, und die Ausfagen des
Zrompeterd Le Bätard find confus.”
XXI. 22
338 Der Broceß wider ben Tagelöhner Moranb.
Der Staatsanwalt erörtert hierauf, welchen Antheil
Frau Vacher und Frau Clergeot an dem Verbrechen ge-
nommen baben. Er gelangt zu dem Schluffe, daß fie
nur Nebenperfonen gewefen find, aber boch bei ven Morde
mitgewirkt haben.
Der anonyme Brief eines angeblichen Liebhabers ber
Sofephine Martin ift nach feinen Ausführungen ein ge-
ſchickkes Machwerk der Familie Morand, verfaßt und
abgeſchickt, um die Gerechtigkeit irrezuleiten.
Der Staatsanwalt ſchließt mit dem Strafantrag. Er
fordert die Xodesftrafe für Morand, langjährige Zucht»
haus für Vacher und die Martin, geringere Treiheits-
ftrafen für Frau Bacher und Frau Clergeot.
Der Vertheidiger Mr. Lailler nimmt für Morand
das Wort:
„Vor allem muß ich die Gefchiworenen warnen vor
Vebereifer und Voreiligfeit, die in dieſem Proceß ſchon eine
traurige Rolle gefpielt haben. Dean fuchte ven Mörber. Man
fieht venfelben in jedermann. ‘Die Vorunterjuchung wird
auf der Straße fowol wie in dem Cabinet des Richters
geführt. Anzeigen werben in den Zeitungen veröffentlicht,
noch ehe fie an die Staatsanwaltichaft gelangen. Die
aufgeregte öffentliche Meinung Fritifirt ſchonungslos bie
mit der Unterjuchung betrauten Beamten, man tavelt und
ſchmäht, bis Die Sicherheitsorgane, gebrängt und gejchoben,
in ihrer Verwirrung ein Individuum aus der Menge ver
Beſchuldigten herausgreifen und ausrufen: Heurefa! Wir
haben ihn! Und die öffentliche Meinung macht Chorus,
beutet mitZden Fingern auf ihn und wieberholt jubelnp:
Wir haben ihn!
„Wie liederlich ift diefe traurige Unterfuchung doch ge-
führt worden! Protokolle und Documente fehlen und müffen
in der Hauptverhandlung erjt befonvers requirirt werben.
Der Procef wider den Tagelöhner Morand. 339
Und welche Rolle fpielt jener famoje Schriftführer, dieſer
Herr Labeſſe, der Zeugen aufftellt und zurückweiſt, ber
diejenigen, welche die Dirne Joſephine Martin, mit der
er in Beziehungen fteht, anlagen wollen, beichimpft und
geradezu bedroht! — Welchen Antheil bie öffentliche
Meinung nimmt, die bereit vervammt, ehe das Gericht
gejprochen, beweifen die ſtandalöſen Scenen, die hier ſtatt⸗
fanden, ald man vie Angeklagten hereinführte!
„Wer und was ift diejer fo viel angefeindete Morand?
Er ift nahezu 50 Jahre alt‘, verheirathet und hat acht
Kinder. Er gilt für einen tüchtigen Arbeiter. Der Staats-
anwalt hat feiner Verwunderung Ausdruck gegeben, daß
Morand nicht öfter beftraft worden if. Er mußte ihn
als einen verworfenen Menfchen fchildern, weil er ihn
dieſes grauenhaften Mordes jchuldig findet. Aber bie
Thatſachen paſſen fchlecht zu dem Bilve, welches von ihm
entworfen worben iſt. Er foll brutal fein? — ja, womit
it e8 denn bewiejen worden? Alles fürchtet ihn — ja,
warum denn, gegen wen bat er je feine fchwere Hand
erhoben? Wann hat er je jelbft im Zorn, im Streit zu⸗
geichlagen ?
„Aber Sojephine Martin hat ihn als Thäter bezeichnet.
Wenn fie diefe Denunciation zurücdgezogen hätte, wie fo
viele andere Ausfagen, die fie gemacht hat, wäre ber
Staatsanwalt gewiß nicht mit einer Anklage wider ihn
vorgegangen. Jene Denunciation der Martin ift aber
nicht8 anderes als ein Gewebe von Lügen.
„Die Dirne Martin erzählt, Morand habe ihr bie
Driefe an Vetard in die Feder dictirt. Das ift bie erfte
Lüge. Die hierfür gewiß claffiiche Zeugin Roſalie Mary
hat uns gejagt, daß nur Frau Clergeot und Joſephine
Martin in der Lage waren, dieſe Briefe zu entwerfen.
Sie enthalten Thatfachen, die ihnen allein befannt gewefen
22*
340 Der Proceß wider den Tagelöhner Morand.
find. Die Dirne Martin und pie ehrenwerthe Frau
Clergeot kannten ja Herrn Vetard, daß aber Morand ihn
fannte, bat niemand behauptet.
„Die Dirne Martin bat Morand des Mordes be-
ſchuldigt. Wann bat fie Diefes getan? Nicht etwa fofort,
als fie fich zu einem Geſtändniß entichloß, ſondern jpäter.
Und wen Magt fie gleichzeitig an? Bietre, den Freund
Morand's. Bietre beweift, vaß er unschuldig ift an dem
vergofjenen Blut. Darauf erflärt fie: Nicht Pietre, ſondern
Bacher ift Morand's Helfershelfer gewejen! Herr Vetarb
ift von einer Frauensperſon abgeholt worden. Joſephine
Martin nennt, als fie darüber befragt wird, die Frau
Morand. Frau Morand aber kann es unmöglich gewefen
jein. As man der Iofephine Martin dies eröffnet, ftellt
fie in Abrebe, daß ſie Frau Morand überhaupt genannt
habe. Man muß e8 ihr aus ven Protofollen beweifen.
Dann befinnt fie fih. Ste beredet die Vellon zu einer
falſchen Ausſage. Dieje ift gutmüthig genug anzugeben,
fte habe Herrn Betard abgeholt, gefteht indeß bald, daß
fie in Joſephinens Auftrag gelogen bat. Nun erklärt
Sojephine: «Ich felbft habe Herrn Vetard auf Morand’s
Veranlaffung in meine Wohnung geführt.» Nach ben
Ausfagen der Zeugen ift es freilich viel wahrjcheinlicher,
baß ihre Schweiter, Frau Clergeot, die Freundin ber
Rojalie Mary, Herrn Vetard beivogen hat ihr zu folgen.
Und trotzdem foll Iofephine Martin die claffifche Zeugin
jein, deren Ausſage über Meenfchenleben entjcheivet! Diefen
verlogenen Angaben ſoll man glauben! Erinnern Sie ſich
doch an die Unterrebungen zwifchen der Vellon und der
Sofephine Martin, an die Aeußerung ber lettern, die der
an dieſer Stelle als Zeuge vernommene Polizeicommiffar
berichtet hat: «Ich weiß, was ich zu jagen habe, ich werde
immer baffelbe wiederholen.» Wer ift es, ver ihr bies
Der Proceß wider den Tagelühner Morand. 341
eingegeben? Bielleicht jener famofe Schriftführer, deſſen
Rolle noch zu beleuchten ift, oder einer ihrer zahlreichen
Liebhaber? Und welche Beweggründe für ihre falfchen
Denunciationen, des Pietre, des Gizel, der Frau Morand
und anderer, hat fie angegeben? — Sie wollte baburd)
ein Geftänpnig des Morand erzwingen!! Diejer Er-
Härungsgrund ift Tächerlich albern. Aber die Staats-
anmwaltichaft Läßt fich daran genügen. ‘Darf man fo mit
Menfchenleben und mit ver Hoheit ver Gerechtigfeitspflege
ipielen?...
„Frau Droin jagt aus, fie habe Morand in das Haus
ber Iofephine Martin eintreten ſehen. Warum hat fie
das nicht gleich ausgefagt? Sie erklärt: «Ich habe mich
vor Morand gefürchtet.» Aber Morand war bereit8 14
Tage lang in Haft, und e8 hieß, er würbe freigegeben
werben, als ihr Gedächtniß erwachte. Wer hinderte fie
benn zu fprechen, da fie doch wußte, daß Morand im
Gefängniß ſaß? Ich will nicht behaupten, daß fie aus
Feindſchaft wifjentlich falſches Zeugniß abgelegt hat. Ich
nehme vielmehr an, daß fie einen Mann dort hineingehen
ſah und fich nach und nach einbilvete, es könne Morand
fein, er gliche Morand, e8 war Morand! Wie leicht
fönnte fie fich irren! Es war eine dunkle Nacht und fie
befand fich ihrer eigenen Angabe zufolge 30 Meter weit
von ber Perfon, die fie jab. Hätte fie wirklich Morand
erfannt, fie hätte gewiß nicht gefchwiegen, ſondern fofort
ihren Nachbarn und Freunden erzählt, daß Morand, ein
armer Arbeiter, der feinen überflüffigen Heller befitt,
eine käufliche Dirne beiucht habe.
„Erinnern Sie fich, meine Herren Gejchworenen, an
die Brüder Mouillon. Als dieſe des Mordes an dem
Uhrmacher Vetard befchuldigt und verhaftet wurden, da
meldeten fich in Joigny drei durchaus vertrauenswürdige,
342 Der Broceß wider den Tagelöhner Morand.
ehrenhafte Leute, die vor dem Unterjuchungsrichter er⸗
Härten, fie hätten die Monillons am Tage des Verbrechens
in Joigny herumfchleichen jehen — und doch waren bieje
eriwiejenermaßen in Dijon, alfo weit von biefer Stadt
entfernt. Ein Zeuge ftand vor Gericht, der ihnen an
ebendiefem Tage Wurft verkauft haben wollte, ein anderer
hatte fie in der Straße Tucri begegnet, ein britter machte
fih anheifchig, ihnen in das Geficht zu wieterbolen, daß
er ihnen in Ioigny an dieſem Tage begegnet ſei und fie
angerevet habe. Alle dieſe Zeugen fagten im beſten
Glauben aus, und was fie ausfagten, war dennoch ent-
ſchieden bie Unmwahrbeit.
„Srwägen Sie nun bie fociale Stellung dieſer An⸗
geflagten und die der Lanbftreiher Monillon. Wären
bie letztern durch einen für fie glüclichen Zufall nicht
fofort in die Lage gefommen, ihre Anweſenheit in Dijon
nachzuweiien, wer hätte ihren DVerficherungen angefichts
der Angaben von ehrenmwerthen und unbefangenen Zeugen
irgenbwelchen Glauben beigemefien? Sie ſäßen wahr-
icheinlich an Stelle Morand's und Vacher's auf der An⸗
klagebank. Sie erjehen daraus, dag man ein vollflommen
tadelfreier Zeuge und willen® fein kann, die Wahrheit,
die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu jagen
und fih dennoch irrt. Vergleichen Sie tamit die Aus-
fage der Frau Droin, ganz abgejehen davon, daß dieſer
Ausfage Ichon nach dem Geſetze nur geminderte Glaub⸗
wiürbigfeit zufommt, wegen ihrer Feinpfchaft gegen Morand.
„Die Ausfagen der Frau Duffange und der Frau
Ablon find an ſich vollfommen unanfechtbar, allein fie
beweifen rein gar nichts für die Anklage. Frau Ablon
ift jogar eine Entlaftungszeugin. Joſephine Martin bat
erzählt, Morand trug Holzſchuhe, und dieſe Holzichube
jpielen ja noch eine weitere Rolle in ver Anflage. ‘Der
Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 343
Mann aber, ven Frau Ablon gejeben bat, trug Leder⸗
ſchuhe, fie ſagte ausdrücklich: agrobgenagelte Lederſchuhey.
Ein gewiſſer Pernet, der vor dem Unterſuchungsrichter
als Zeuge vernommen, aber zu der Hauptverhandlung
nicht vorgeladen worden iſt, behauptete, Morand habe
bereits am 6. Februar ſeinem Opfer aufgelauert, er habe
ihn abends zwiſchen 8 Uhr und 8 Uhr 30 Minuten zur
Dirne Martin fchleichen fehen. Aber Morand wies durch
unanfechtbare Zeugen nah, daß er am 6. Februar in
Billeneuve-fur-MDonne gewejen if. Er konnte unmöglich
zugleich dort und in Joigny fein. Herr Pennet hat fich
am 6. Februar geirrt, follte nicht auh am 8. Februar
ein Irrthum vorliegen können?
„Sp wenig dieſe Zeugenausfagen beweiſen, fo wenig
beweisfräftig find auch bie Impicien, bie man gegen
Morand geltend gemacht hat.
„Zunächſt die Blutfleden des Tragforbee. Die Sadı-
verjtändigen haben im ganzen zwei Flecke in der Größe
von 2 Millimeter gefunden. Waren e8 wirklich Spuren
von Menjchenblut? Sie künnen es nicht mit Bejtimmt-
beit erhärten. Es ift Säugethierblut, mehr ift nicht feft-
geftellt worden. Und biefen Tragkorb nennt der Staats-
anwalt den biutenden Anflagebeweis! Wenn es aber
wirklich Vetard's Blut geweſen fein joll, wie kam es, daß
nur fo geringfügige, jo verſchwindend geringe Spuren
feftzuftellen waren? Die Erflärung, die Morand für
diefe Flecken gibt, find weit einleuchtender und logifcher
als jene des Staatsanwalts. Und dann, biefer Zrag-
forb diente nicht ihm allein. Er verlieh ihn oft. Er
war acht Tage lang bei Frau Salmon. Dat man fich
auch nur ver Mühe unterzogen, nachzuforjchen, ob er dort
nicht zum Transport rohen Fleiſches verwendet wurde?
„Und die Blutflecke an den Holzſchuhen. Morand er-
344 Der Proceß wider ven Tagelöhner Moranb.
Hört, er leide oft an Nafenbluten. Seine Kameraden
und der SKerfermeifter betätigen feine Angabe. Erflärt
dies die Tleden nicht vollfommen genügend? Wenn
Morand im Blute feines Opfers gewatet hätte, e8 wären
ganz andere Spuren zurüdgeblieben.
„Endlich die abhanden gefommenen Kleider, die Morand
früher getragen und vielleicht verbrannt haben fol. Der
Staatsanwalt hat darauf feinen bejondern Nachdruck ge-
legt. Ich kann aber dieſe Frage nicht fallen Lafjen, ich
kann dem Unterfuchungsrichter ven Vorwurf nicht eriparen,
daß er hinfichtlich diefer Kleider nicht jorgjfam vorgegangen
it. Warum hat er nicht fofort alle Kleider des Angeklagten
mit Befchlag belegt? Es ift nicht gefchehen. Es ift auch
nicht einmal verfucht worben, nachzuweifen, daß Morand
blutbefleckte Kleider beſeſſen babe und daß dieſe vernichtet
worben feien. Man hat aber einen folchen Nachweis zu
erbringen nicht verfucht, weil er eben nicht zu erbringen
war. Und der unheimliche Geruch der verbrannten Sachen?
— Nun, Morand hat angegeben, was er verbrannt hat,
und es liegt nicht der geringjte Anbaltepunft dafür vor,
daß es etwas anderes geweſen wäre.
„Das große Mefjer Morand's hat man vorgefunden.
Man hat es mit Beichlag belegt. Die Anklage aber
fonnte es nicht brauchen — denn die mikroſkopiſche Unter-
fuchung entbedte Fein Menfchenblut daran.
„Und wo iſt Ihr Alibi? fragt die Anklage, wo waren
Sie denn? — Ich war zu Haufe, lautet die Antwort. Die
Anflage bezweifelt e8 und beruft fih auf Frau Madeleine
Salmon. Nun der Ausfage der einen Frau Salmon
jtebt jene der andern Zeugin gleichen Namens gegenüber,
und es iſt durchaus nicht erwiefen, daß Morand nicht
nah Haufe kommen Fonnte, ohne von Frau Madeleine
Salmon bemerkt zu werben.”
Der Procek wider den Tagelöhner Morand. 345
Der Vertheibiger befpricht die beiden einander wider⸗
ftreitenden Zeugenausfagen in ber eingehendſten Weife.
Ebenjo die Zettel, die Morand gefchrieben hat. Es find
bie begreiflichen Aeußerungen eines Menfchen, ver bie
Beweiſe feiner Schulplofigfeit fammelt. Die Ausfprüche
endlich, die ihm zur Laft gelegt werben, find vollfonmen
nichtöfagend. Man müfje ihnen förmlich Zwang anthun,
um ihnen einen verfänglichen Sinn unterzulegen.
„und nun“ — fo fährt er fort — „ba die Anklage
entfräftet ift, muß ich meinerjeitS einige Tragen an Sie
richten. Was foll denn das Motiv des Verbrechens ge-
wejen fein? — Die Abficht, Vetard zu berauben. Aber
Morand befand fich in feiner bevrängten Lage. Er ſowol
wie feine Frau verdienten genug um zu leben. Gelbnoth
war nicht vorhanden. Er befitt ein Häuschen zu eigen,
das auf 3000 Trance geſchätzt ift, und ſchuldet auf daſſelbe
nur 1500 Srancd. 8 ijt keineswegs behauptet, gefchweige
denn erwieſen worben, daß er gelpbebürftig gewefen jet,
daß ihn etwa Gläubiger gedrängt hätten. Man wird
wol zum Mörder aus Haß, over im Affect ohne weitere
Vorbereitung. Jedoch um ein Mörder aus Habjucht zu
werben, bedarf ed einer längern Verbrecherfchule. Und
obenbrein ein Mord mit ſolchem Vorbebacht, folcher Ueber⸗
legung aller Einzelheiten und Möglichkeiten! Und der⸗
jenige, der alles geleitet, alles gethan haben foll, wo ift
ber Gewinn, den er davon gezogen hätte? Mean bat bei
Betard mindejtend 2400 bis 3000 Franes geraubt, wo
it Morand’s Antheil hingefommen? Hat er in der lekten
Zeit vielleicht Schulden bezahlt oder auffällige Ausgaben
gemacht? Oder fand ſich außer etwas kleiner Münze
Baargeld bei ihm? Nichts davon. Man bat gut gejucht
und doch nichts gefunden.
„Und die Organifation des Complots. Die Dirne
346 Der Proceß wider ben Tagelöhner Morand.
Martin gibt an: Morand hat alles organifirt und vor-
bereitet. Sa, warum denn? Wo haben die Verabredungen
ftattgefunden? Morand ift niemals bei ver Martin ge-
weien, niemand bat ihn je dort gejeben, auch bie fcharf
auslugenden Augen der Nachbarinmen nit. Die In-
ftrumente, mit denen die That verübt worden ift, wo find
fie, in weifen Befig? Mit einem Hammer foll vem Betarb
der Schädel eingeichlagen worben fein? Wo ift der
Hammer? Bei wem wurde er gefunden? Die Sägen?...
Sie find Eigenthum der Iofephine Martin, in ihrer Woh⸗
nung wurden fie in Beichlag genommen.
„Rein, Morand ift nicht der Mörder. Aber wenn er
es nicht ift, wer ift e8 denn? Die Dirne Joſephine
Martin weiß es wohl, fie weiß e8 fo gut, daß fie nur Eins
fürchtet, nämlich daß man ven Mörber entvedt. Um das
zu verhindern, beinzichtigt fie einen Unfchulbigen eines Ver⸗
brechens. Man bat ihr zugeflüftert: «Hat die rächenbe
Gerechtigfeit ein Opfer erhalten, fo ift fie befrievigt!»
„Zweifeln Ste noch an der Wahrheit? Ich mag es
nicht glauben. Laffet pas Recht walten, Ihr Gefchworenen,
und ſprecht den Uufchulpigen freil” —
Der Bertheidiger NRemacle erhebt fich und be—⸗
gehrt die Vertagung der Verhandlung für die nächite
Schwurgerichtsperiope.
Die Angeklagten Joſephine Martin und Morand er-
flären fih damit einverjtanden.
Der Vertheidiger Lailler unterjtüßt das Verlangen
feines Collegen.
Die Vertheidiger Savatier-Laroche (für Vacher) und
Herold (für Clergeot) widerſprechen namens ihrer Clienten
und verlangen die Durchführung des Verfahrens.
Der Staatsanwalt ſpricht ſich gleichfalls dagegen aus
und der Gerichtshof lehnt die Vertagung ab.
Der Procef wider ben Tageläöhner Morand. 347
Bertheidiger Savatier-Laroche erklärt für bie
angeflagten Eheleute Vacher:
„Ich ſchließe mich in der Hauptfache ven Ausführungen
meines Collegen Lailler an. Die Angaben der Joſephine
Martin find durch und durch erlogen und unglaubwürbig.
Wenn aber dieſer Zeugin nicht geglaubt werben barf,
was fpricht noch gegen Bacher? Niemand bat ihn am
Thatorte gejehen. Zwei Iuftige Saufbrüver fagen aus,
fie hätten ibn am 8. Februar nicht zu Haufe angetroffen,
aber andere gewichtigere Zeugenausfagen erhärten das
Gegentheil. Das Alibi ift bewiefen. Nur entftellte Ge-
Iprächsfragmente von zweifelhaften Werthe und vielfacher
Deutung fähig bleiben noch übrig als Belaftungsmomente.
Es iſt Fein Beweis gegen Vacher geführt worden, ber
einen unbejcholtenen Dann um Ehre und Freiheit bringen
fönnte. Gegen Frau Bacher vollends ſpricht gar nichts.
Die Reife nach Paris ift vollfommen aufgeflärt, die Aus-
gaben, bie fie gemacht hat, find in ihren Gewohnheiten
begründet und nicht auffällig. Die Anfchuldigungen ver
Bellon find fo in ihr Nichts zufammengebrochen, daß fogar
ber Staatsanwalt darauf verzichtet: hat, fie in feinem
Plaidoyer zu erwähnen. Er hat fich nur an Sofephine
Martin gehalten.‘
Für die Angeflagte Iofepbine Martin läßt fich der
Bertheipiger Remacle fo aus:
„Heute, im Laufe des Beweisfahrens, hat einer der
Herren Gefchworenen verlangt, Joſephine Martin möge
eine zufammenhängende Darftellung der Vorgänge am
Abend des 8. Februar geben. Das ift gefchehen. Joſephine
Martin hat gejagt: Ich kenne Morand feit vielen Jahren.
Ich ging oftmals in fein Haus. Im Monat Ianuar fam
Morand eines Abends zu mir und fagte mir unter Lachen,
er und einer feiner Freunde beabfichtigten dem Vetard
348 Der Procef wider der Tagelöhner Moranb.
einen Schabernad zu fpielen. Der alte Knabe ſei ein
Mäpchenjäger. Man müfje ihn daher durch einen Brief
von weiblicher Hand anloden. Er würbe ficher fommen,
aber feine Schürze finden. Dieſes Stelldichein wurde ein-
gefädelt, aber Roſalie Mary fand ſich nicht ein. Es
wurden zwei andere Rendezvous ausgejchrieben; ob Vetard
hingegangen ift, weiß man nicht, und wird es auch nie
mehr erfahren. Der 8. Februar naht heran. Joſephine
Martin begegnet Morand, der ihr einen Brief für Vetard
übergibt, fie trägt ihn hin. Joſephine Martin ahnte nichts
Böſes, fonft würde fie das Opfer nicht durch ganz Joigny
begleitet haben, jodaß fie von Jedermann geſehen werben
fonnte. Sie führt ihn zu Morand, biejer ift im Begriff
in ihrem Haufe eine Säge abzuholen, die fie ihm zu leihen
verjprochen bat. Morand geht die Treppe hinauf und
zündet eine Kerzean. Joſephine Martin folgt ihm. Vetard
bleibt noch einen Augenblid auf der Straße zurüd. Bald
jedoch kommt er nad. Er ftolpert an den untern fchlecht
beleuchteten Stufen. Morand empfängt Vetard corbial:
«Da bift du endlich, alter Kameran!o Mean unterhält
ſich über allerlei gewöhnliche Dinge. Aber Joſephine wird
bei ihrer Mutter erwartet, fie entfernt fih. ALS fie um
10 Uhr heimfehrt, ift das Entjegliche bereits geichehen.
Und wen findet fie mit ber Zerftücelung der Leiche be-
ihäftigt? Morand und Bacher. — Hat fie gelogen, als
fie diefe Einzelheiten angab? Gewiß nicht.“
Vertheidiger Remacle erörtert nun eingehend bie innere
Wahrjcheinlichkeit dieſer Darftellung. Sein weiteres Plai-
doyer wird zu einer fulminanten Anklage Morand’s, weit
heftiger im Zone als jene des Staatsanwalts, und mehr
geeignet auf die Gejchworenen einzuwirfen, obgleich feine
neuen Beweiſe vorgebracht werden. Die Ausfagen ber
Frau Droin und der Frau Madeleine Salmon find für
Der Proceß wider ben Tagelöhner Morand. 349
ihn die Angelpunkte ver ganzen Verhandlung. Um dieſe
allein dreht fich nach feiner Auffaffung das Beweisverfahren.
Zur Bertheibigung ver Joſephine Martin fügt er noch
bei: „Es iſt wahr, ihre erfte Regung ging bahin, alles
abzuleugnen, fogar die Briefe, die fie geſchrieben. Jedoch
von Rene erfaßt, befennt fie nunmehr um jo aufrichtiger
ihren Antbeil an der That. Man verhaftet alle Mit⸗
glieder ihrer Familie und ruft ihr zu: «Geftehe, wer
Vetard zu dir geführt hat, ober alle deine Verwandten
ihmachten im Gefängniß.) Was follte fie thun? Sic
ſelbſt anklagen, und bazu fehlt ibr ver Muth. Da be-
geht fie die Thorheit, Gabriele VBellon um ein faljches
Zeugniß zu bitten. Dann bezeichnet fie Pietre als Mit-
fchuldigen. Ste hält ihn für einen vertrauten Freund
Morand's und hofft, daß er jagen fol: «Ich war nicht
babei, aber Morand hat mit mir davon gejprochen! »
Um auf Morand’s verhärtetes Gewiſſen einzuwirken, be-
ſchuldigt fie fäljchlich feine Gattin! Ihre Hoffnung, daß
Morand's Schuld ohne ihr Zeugniß an den Zag kommt,
‚wird nicht erfüllt, da entjchließt fie fich, die ganze und
volle Wahrheit zu bekennen.
„Worin beiteht die Schuld der Joſephine Martin?
„Sit fie eine Mörderin? — Sie hat nicht gemorbet.
Niemand hat behauptet, fie jelbjt habe Hand an Vetard
gelegt. Hat fie gejtohlen? Wer kann fagen, daß fie e8
war, bie ven Schlüffel aus Vétard's Taſche holte und
ihn beraubte? Ich frage nochmals, welche Schuld ift
ihr nachgewiefen ?
„Hat fie gemordet? — Nein!
„Hat fie den Hinterhalt vorbereitet? — Nein!
„Hat fie den Schlüffel entwendet? — Nein!
„Hat fie die Wertbiachen geftohlen? — Nein!
„Was bleibt aljo übrig? Sie hat es felbft bekannt.
350 Der Proceß wider ben Tagelühner Morand.
Man bat ihr 100 Franes gegeben, damit fie fchweigen
jolle, und fie hat viefe Summe genommen. Sie bat fich
baburch ber Hehlerei ſchuldig gemacht.”
Mit einem pathetifchen Appell an das Mitleid der Ge⸗
ſchworenen für das gehette und bebrängte, Teichtfinnige und
leichtgläubige Weib‘, fchließt der Vertheidiger feine Rebe:
„Für bie Hehlerei bat fie ganz gebüßt, fprecht fie frei!“
Vertheidiger Herold erwartet den Freifpruch für
feine Elientin, Frau Elergeot, deren Betheiligung an tem
Verbrechen nicht nachgewiefen jet.
Die Verhandlung wird unterbrochen. ALS ber Präfident
biefelbe wieder aufnimmt und die Angeklagten eben ben
Saal betreten, ruft eine Stimme aus dem Zuhörerraum:
„Habt ihr noch nicht genug gehört? Auf das Schafott
mit Morand!“ Diefe unverfchämte rohe Aeußerung wird
vom Publitum mit lauten Beifall aufgenommen.
Der Präfivent befragt der Reihe nach die Angeflagten,
ob fie noch etwas zu fagen haben.
Morand. Ich bin volllommen unfchuldig!
Bacher. Ich bin unfchulbig. Ich habe nichts gethan.
Frau Vacher. Ich bin unfchulbig.
Joſephine Martin. Ich habe nichts mehr zu jagen.
Frau Elergeot. Ich habe nichts mehr zu fagen.
Die Gefchworenen ziehen fich zurüd, kehren jeboch
nach überrafchend furzer Friſt zurüd. Das Verdict lautet:
Morand: Schuldig in allen Punkten, ohne
Zulaſſung mildernder Umftände.
Zulius und Amalie Bacher: Schulplos der Theil-
nahme am Morde, jedoch ſchuldig des Geſellſchaftsdieb⸗
ſtahls mit dem erjchwerenven Umſtande, daß dieſer bes
Nachts in einem bewohnten Haufe verübt worden ift.
Sofephine Martin: Nicht ſchuldig der Theil-
nahme an vem Morde und an dem Gefellichafts-
Pi“
*
Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 351
biebjtahl, ſchuldig des einfachen Diebftahls ohne
erihwerende Umſtände.
Eugenie Elergeot: Nicht Shulpig.
Die Schatten des Abends waren tief gefunfen, einzelne
Gasflammen erleuchteten ven Schwurgerichtsfaal, als ber
Gerichtshof fein Urtheil verfündigte. Die Gefchworenen
hatten Morand die mildernden Umftänvde, die Wohlthat
bes lebten Zweifel verjägt, fein Los war Far. Er
wurde zum Tode verdammt. Die übrigen Verurtheilten
erhielten geringfügige Freiheitsitrafen zuerkannt.
Als das Urtheil gefprochen war, richtete fih Morand
zu feiner vollen Größe auf. Gegen bie Gefchworenenbant
gewendet, ven Arm drohend emporgehoben, ſchrie er mit lauter
Stimme: ‚Mein Blut über euch! Ich bin unſchuldig!“
Diefelben Gejchtworenen, welche die mildernden Um⸗
jtände ausgeſchloſſen hatten, traten fofort nach Schluß
des Gerichtöverfahrens zufammen und verfaßten eine Ein-
gabe an den Präfidenten der Republif, in welcher fie
von feiner Gnade das Leben des zum Tode verurtheilten
Morand erbaten. |
Der Vertheidiger Lailler brachte aus zwei rein formalen
Gründen die Nichtigkeitsbeſchwerde ein.
Der Caffationshof verwarf das Rechtsmittel. Der
Präfident der Republif, Sadi Carnot, verwandelte die
gegen Morand verhängte Todesftrafe in zehnjährige
Zuchthausarbeit.
Ein krankhafter Zug macht ſich in der Rechtſprechung
der franzöſiſchen Gerichte mehr und mehr bemerklich. Die
Urtheile der Geſchworenen ſind allerdings nirgends frei
von gewiſſen Willkürlichkeiten, die ſich dadurch erklären,
daß die „Richter aus dem Volke“ nicht verpflichtet ſind,
ihr Verdict durch Gründe zu rechtfertigen; allein nirgends
359 Der Procef wider ben Tagelöhner Morand.
treten die Webelftände der Geichworenengerichte fo grell
zu Tage als gerade in Frankreich. Jedwedes Verbrechen,
auch das fcheuglichite, veffen Verübung auf „Liebesleiden⸗
haft” zurüdgeführt werben Tann, genießt nahezu Straf:
freiheit, ſodaß die franzöfiihe Staatsanwaltichaft ſchon
ſeit einigen Jahren vorzieht, auch ſchwere Fälle als Ver⸗
gehen zu behandeln und den Verbrecher vor das Zucht-
‚polizeigericht zu ftellen, damit er der verbienten Strafe
nicht entgeht. Die Schwurgerichte Taffen fih gar zu
häufig dur Sympathien, Schlagworte und fentimentale
Meodethorheiten bejtimmen. Den übelften Auf in biefer
Beziehung hat ſich aber die Jury im Departement ver
Seine, in Paris erworben, fie entwidelt eine viel geringere
Energie, als man bei einzelnen Affifen der Provinz findet.
Bon politifchen Parteiproceifen ſehen wir hier natürlich
Diefe allgemeine Beobachtung hat auch in dem vor-
ftehend berichteten Proceß eine traurige Illuſtration er-
fahren. Die Hauptangeflagten tvaren eine leichte Dirne,
ein: „kleines, zierliche® Figürchen, ſchlank, bleich, mit
großen, glänzenden Augen. Sie ift brünett, die Züge
ſtark accentuirt. Ihr Gefichtsausprud ift offenherzig, und
angeredet fchlägt fie Die Augen niever. Die Stimme ift
von feltenem Wohlklang, einfchmeichelnd und gewinnend“.
Im Gegenſatz zu ihr erfcheint auf der Anflagebanf ver
von ihr denuncirte, rauhe und abftoßende Mann: „ein
herculiſch gebauter, ruhig blickender Menfch, mit unbe-
wegten Zügen und büfterm Geſichtsausdruck“. Mit dieſer
Perjonalbejchreibung ift von vornherein der Ausgang des
Procefjes, das Urtheil der Gefchworenen beftimmt: bie
weitgehendfte, das Gerechtigleitägefühl empörende Milde
für das Frauenzimmer, fchonungslofe Härte und uner-
bittliche Sraufamfeit gegen ven Mann.
Der Procef wider den Tagelöhner Morand. 353
Ganz abgejehen von den mannichfachen Gebrechen in
ber Borunterfuchung, von ber fonderbaren Einmiſchung
bes eine zweifelhafte Rolle fpielenden Echriftführers La-
beffe, deſſen Gebaren der Staatsanwalt in fchonenver
Weiſe „unüberlegten- Uebereifer” nennt, während er, aller-
dings ſehr „umüberlegt‘‘, feinen Uebereifer nur bazu die
Zügel fchießen läßt, um das Los der Hauptangeflagten
zu erleichtern, um womöglich „das arme Ding”, zu ber
er wahrjcheinlich auch in zarten Beziehungen ftand, bie
Unannehmlichkeiten einer Unterfuchungsbaft und einer
Hauptverbandlung zu erfparen; abgejehen von dem Briefe
bes anonymen Liebhabers, deſſen Entſtehung unaufgeflärt
geblieben ijt, bietet das burchgeführte Beweisverfahren
des Bedenklichen genug.
Joſephine Martin hat fich als ein purchaus verderbtes,
verlogenes Gejchöpf erwiefen. Ihr halbes Geſtändniß
enthält jo viele Widerſprüche und Ungereimtheiten, daß es
ichwer begreiflich wird, wie eine Gejchworenenbanf, auch
wenn fie aus Franzojen zufammengejett ift, demſelben
Slauben ſchenken fonnte. Ihre Mitwirkung an der Vor-
bereitung zum Morde iſt vollfommen klar nachgewiefen.
Sie bat die That verbehlt, bat höchſt wahricheinlich an
ber Plünderung des Ladens activen Antheil genommen
und, eingejtandenermaßen, Bortheil aus dem Verbrechen
gezogen. Dennoch ergeht zu ihrem Gunften ein Verbict,
welches einer Freifprechung gleichlommt! — Morand das
gegen wird, außer von ihr, nur durch eine Zeugenausfage,
jene der Frau Adolfine Droin, und burch ein Indicium,
die Blutipuren im Tragforbe, belaftet. Die Zeugenſchaft
ber Frau Droin ift im höchften Grabe fragwürdig. Sie |
ift ihm notoriſch feindſelig gefinnt geweſen und hat ihrem
Haffe ſelbſt im Gerichtsfanle unmillfürlichen Ausdruck
gegeben. Die Blutſpuren im Xraglorbe aber find ſo
XXI. 23
354 Der Proceß wider ben Tagelöhner Moranb.
gering und können fo verſchiedenartig erklärt werben, daß
es Außerft mislich erfcheint, darauf hin ein Mienfchenleben
der Guillotine zu opfern. Das cui prodest enblich ent-
fällt auf ihn angewendet gänzlih. Auf das Zeugniß der
fetlen Dirne bin wird jedoch der Mann ohne weiteres
ſchuldig geſprochen. Wenn fie gegen diefen und jenen offen-
bar unbaltbare Denunciationen angebracht, fo hat fie die—
jelben Doch wieder zurüdgezogen; bei Morand aber blieb fie
feft, — alfo ift er der Mörder. Das tft die Logik ver
Geſchworenen gewejen. Der Widerfpruch, ver darin liegt,
daß Vacher, welchen die Martin gleichfall8 al8 am Morde
betheiligt angejchulpigt hat, von der Anklage wegen Mordes
losgeſprochen worden ift, ven weiſen Richtern von Aurerre
macht dieſer Widerfpruch feine Scrupel. Die Eheleute
Bacher und Frau Clergeot find die Nebenperfonen ver
Tragödie, ihr Schidfal kümmert die Gejchworenen nicht.
Die ungleiche Behandlung der beiten Angeklagten Morand
und Vacher fordert die jchärffte Kritif Heraus. Wenn bie
Geſchworenen das Zeugniß der Iofephine Martin für
glaubwürdig hielten, mußten fie dad Schuldig über Morand
und Bacher fprechen. Die Losiprechung Vacher's ftempelt
die Verurtheilung Morand’s, da das Belaftungsmatertal
das gleiche ift, zu einem Juſtizmorde. Der Präfivent ber
Republik ift vielleicht Durch diefe Erwägung beftimmt worden,
bie gegen Morand verhängte Todesſtrafe in eine verhältniß-
mäßig geringe zeitliche Freiheitsſtrafe umzumanbeln. Ueber
den leichtfertigen Spruch, welcher zur Folge hatte, daß ber
Joſephine Martin eine kaum nennenswerthe Buße auferlegt
wurde, wollen wir nicht® mehr hinzufügen. Der Proceß und
der Spruch der Geſchworenen beweijt, wie tief die fittliche
Fäulniß in die franzöſiſche Gefellichaft eingedrungen ift.
Druck von F. U. Brodhaus in Leipzig.
Der Neue Pitaval.
Nene Serie.
Bierundzwanzigfter Banb.
Isunidsl sun 15 ©
Test lee TI SRETETEE TL4
“ ’ “
%
Der
Neue Pitaval.
Eine Sammlung
der interefjanteften Criminalgeſchichten aller Länder aus
älterer und neuerer Zeit.
Degründet
vom
Criminalvirector Dr. 3. €, Bitig
und
Dr. W. Häring (W. Alexis).
Sortgefegt von Dr. 9. Vollert.
Yene Serie. gl) u
Biernudzwanzigſter Band.
Leipzig:
F. A. Brockhaus.
1890.
Aae. — 4,1903
Borwort.
Im 22. Bande des „Pitaval“ haben wir den Proceß
gegen Johann von Weſel veröffentlicht. Er wurde
wegen Ketzerei, nachdem ihm der Widerruf ſeiner der
Kirche anſtößigen Lehrſätze abgepreßt worden war, zu
lebenslänglicher Einſperrung im Kloſter verurtheilt und
iſt in der Gefangenſchaft geſtorben.
Im 23. Bande unſers Sammelwerks haben wir
den Proceß wider Johann Hus folgen laſſen, den
die römiſche Kirche in majorem dei gloriam auf den
Scheiterhaufen geſchickt hat.
Den 24. Band eröffnen wir mit dem von dem
Herrn Archidiakonus Zuppke in Gera uns zugeſendeten
Proceß gegen Galileo Galilei vor der Inquiſition in
Rom. Die Acten diefe® Procefjes find gedrudt, fie
beweifen, daß die Tatholiihe Kirche zwei Jahrhunderte
nah Johannes von Weſel und Sohannes Hus, als
es galt, eine ihr feindliche, wiſſenſchaftliche Lehrmeinung
zu unterdrüden, ganz diejelben Mittel angewendet hat
vi Vorwort
wie in den Keberprocefien des 15. Jahrhunderts. Der
Ausgang des Proceſſes Galilei ift Fläglich, weil der
Angeklagte den Muth nicht bejaß, feine Ueberzeugung
perjönlih zu vertreten, jondern auf jede Bedingung
feinen Frieden mit der Kirche machte und fi fogar
vor der Inquiſition erbot, das Gegentbeil von dem,
was er früher gelehrt hatte, wiſſenſchaftlich zu bemeifen.
Es iſt lehrreich, die drei Proceſſe miteinander zu ver-
gleihen, und pſychologiſch jehr interefiant, die drei
Männer Johann von Wejel, Johann Hus und
Galileo Galilei zu ftudiren. Wie hoch fteht Hus
über den beiden andern, wie tief fteht Galilei fogar
unter dem ſchwachen Johann von Weſel! Und mie
harakteriftiih ift das Verfahren der Inquiſitoren und
in Galilei's Falle das Verhalten des zmeideutigen
Papſtes!
Den Proceß wegen Magie wider den Herzog
Johann Friedrich von Weimar, der faſt gleichzeitig
ſpielt, und den im Jahre 1888 verübten Mord an
Donna Brigida in Mexico, die im Rufe der Hexerei
ftand, haben wir angeſchloſſen, weil es fih auch in
diejen beiden Fällen um ſchwere Verirrungen der Richter
und der Rechtspflege handelt.
Der Mordverfuh des Malers Joſeph Johann
Kirchner in Wien wird ſehr verſchieden beurtbeilt
werden. Wir ftimmen in allen Stüden dem Schluß-
wort des Herrn Generalconjuls Dr. Meyer bei, welchem
wir diefen Beitrag verdanken. Er hat den Charakter
des Angeklagten gewiß richtig beurtheilt, und auch darin
Borwort. VII
wird man ihm beitreten müſſen, daß die Strafe in
feinem richtigen Verhältniß zu dem Verſchulden Kirch⸗
ner’3 Stand. |
Der Proceß Benthien führt einen Mörder vor,
der aus den unterften Schichten der menjhlichen Ge-
ſellſchaft ſtammt und fih allmählih zur blutvürftigen
Beftie entmwidelt bat.
Die Straßburger Falldmünzerbande und
Meineid oder Rechtsirrthum find zwei von einem
Rechtsanwalt bearbeitete Proceſſe, beide charakterifiren
die Zuftände im Eljaß.
Der in der neuejten Zeit verhandelte Proceß wegen
der Ermordung des Dr. med. Caſſan aus der Feder
des ſchon einmal genannten Herrn Generalconjuls
Dr. Meyer in Wien erinnert an die franzöfiichen
Proceſſe aus frühern Jahrhunderten, die der alte Ad—
vocat Pitaval in feiner berühmten Sammlung be:
arbeitet bat.
Der Banduren-DOberftFreiherrvonderTrend
ift ohne Zweifel eine merkwürdige Perſönlichkeit. Bon
feinem Proceß ift nicht viel zu jagen, aber fein Leben
in der Gefangenihaft, fein Teftament und fein Tod
verdienen auf Grund zuverläffiger Quellen in Er-
innerung gebracht zu werden.
- Auch in dem Procefje wider die Carbonari in
Stalien, deren Führer der Graf Eonfalonieri war,
ift das Proceßverfahren nicht die Hauptſache, jondern
die genaue Schilderung des Spielbergs bei Brünn,
auf welchem ebenfo wie der Banduren-Oberft von der
VIII Vorwort.
Trenck auch der Graf Confalonieri und ſeine Genoſſen
ihre Strafe verbüßt haben. Der Schriftſteller Deutſch
in Brünn, der den Spielberg genau kennt, hat beide
Proceſſe zu liefern die Güte gehabt.
Gera, im December 1890.
Dr. A. Vollert.
Inhalt.
Vorwort.
Die Proceſſe gegen Galileo Galilei vor der Inquiſition
in Rom. 1615/16. — 163233 . . ...
Herzog Johann Friedrih von Weimar. Proceß wegen
Magie. 1627 und 1628 . . ...
Donna Brigida. Mexico. — Todtſchlag. 1888
Der Proceß wider den Maler Joſeph Johann Kirchner.
Mordverſuch am Freunde. — Wien. 1888 .
Der Proceß Benthien. Mord. — Bambus 1889.
1890 . . en
Die ftraßburger Falſchmunzerbande. 1889
Meineid oder Rechtsirrthum? Eine Dorfgeſchichte aus
dem Elſaß. 1889 . . .. ren
Die Ermordung des Dr. med. Gaffan. Mord. —
Frankreich. 1889
Ein Beitrag zu dem Leben und dem "Broceffe des
Panduren⸗Oberſten Franz Freiherrn von der Trenck
und ſeine Haft auf dem Spielberg bei Brünn.
1741—1749 ..
Ein Beitrag zu den Broceffen wider bie Carbonari
in Italien. 1820 1833838.*
Seite
106
173
216
226
237
272
301
Die Procefe gegen
Galileo Galilei vor der Inguifition in Rom.
1615/16. — 1632/33.
Ein großartiges Inftitut mit weifem Organismus und
von welterrettenver Wirkſamkeit — fo hat unlängjt ber
bonner Profeffor der Tatholifchen Theologie, Schröes, bie
Inguifition genannt. Selten hat ein Urtbeil jo aller
Geſchichte Hohn geſprochen. Das Dogma foll die Ge-
Ichichte befiegen. Für den Katholiken jtedt ein Kern von
Wahrheit in dieſem Urtheil, und das ift der, daß in den
romanijchen Ländern wenigſtens der Katholicismus feinen
Beftand der Inguifition verdankt. Sie ift mit eiferner
Strenge wider alle evangelifchen Regungen vorgegangen
und bat fie in Feuer und Blut erſtickt. Die Kerfer find
die Gräber der reformatorischen Bewegung in Italien und
Spanien geworben. Daß Italien noch Fatholifch ift, ver⸗
banft e8 der Inguifition, — wird als der Ausspruch eines
Papſtes überliefert. Alfo eine die Fatholifche Kirche ret⸗
tende Wirkſamkeit hat die Inquifition in der That gehabt,
und daß fie dabei weit ausfchauend verfahren, wird auch
nicht geleugnet werben können. Ob das aber mit „weiſem
Organismus“ identiſch ijt, mag billig bezweifelt werben,
und eine welterrettende Wirkſamkeit fchreiben wir nur
XIV. 1
2 Die Procefje gegen Galileo Galilei
Einem zu, dem Sohne Gottes, der fie als Haupt feiner
Kirche im Himmel. fort und fort ausübt. Ob der Pro-
fefjor den Tatholifchen Theologen die Inquifition als Re⸗
mebium wider bie focialiftiihe Sturmflut unjerer Tage
hat empfehlen wollen? Dann gefallen uns ber „weife
Organismus” und die „welterrettende Wirkſamkeit“, vie
uns in den arbeiterfreunblichen Staatsgeſetzen entgegen-
treten, doch beſſer. Es erjcheint aber nothwendig, unfer
Geſchlecht dann und wann an bie Greuel der Inquifition
zu erinnern, bamit biejes Inftitut nicht mit romantiſchem
Schimmer umgeben und etwa von ihr das Heil im ben
Wirren der Gegenwart erivartet wird.
Der Proceß, deſſen Bild die folgenden Blätter zeigen
werden, weiſt zwar feine beiondern Greuel ber Inqui⸗
fition auf, trägt aber, wie nicht unrichtig gejagt worden
it, ven Charakter ver Barbarei, trägt venfelben um fo
mehr, als es fich in vemfelben nicht blos um die Unter-
drüdung einer wiffenfchaftlichen Ueberzeugung, fondern auch
um bie Befriedigung perfönlicher Rachſucht handelt. Es
tt uns dieſes lestere beim Studiren dieſes Proceffes
immer mehr zur Gewißheit geworden. Die Inquiſition
hat anerfanntermaßen folcher Rachfucht gedient, bat auf
anonyme Denunciationen bin Anklagen erhoben unb Ur-
theile gefällt. Daß auch die Eimleitung des Verfahrens
gegen Galilei und der traurige Ausgang vefjelben folcher
Rachſucht und nicht dem Eifer für die Ehre ver Kirche
allein entfprungen tft, daß dieſer Eifer vielmehr Vor⸗
wand, und daß Galilei felbft von ernfter Liebe zu feiner
Kirche erfüllt war, wird die nachfolgende Darftellung er-
geben.
Salilet war Verfechter ver Kopernifanifchen Lehre; er
batte neue Stützpunkte für diefelbe gefunden; ihm war e8
zur unwiberleglichen Gewißheit geworben, daß nicht bie
vor der Inquiſition in Rom. 3
Erde, fonvern die Sonne das Centrum der Welt fei.
Kopernifus hatte dieſe Lehre nur hypothetiſch vorgetragen,
indeß Doch nur feheinbar. Er hatte nämlich, um jeglichem
Widerſpruch von Firchlicher Seite zu begegnen, in ber
Borrede feines Hauptwerfes „De revolutionibus orbium
coelestium”*) feine Anficht nur als Hypotheſe bezeichnet;
er hatte darin gejagt, er könne fich gewiſſe Erſcheinungen
nicht erklären: wenn die Sonne fi um ihn drehe, fo
wolle er fich einmal um die Sonne drehen und zufehen, ob
ihm num die Sache Far würde. Es war das ſo geſchickt
geiprochen, daß Papft Paul III. unbevenflih die Wid⸗
‚mung bed Werkes angenommen hatte. Intereſſant aber
ift, Daß nach neuern Forſchungen diefe Vorrede nicht von
Kopernilus, dem katholiſchen Domherrn von Frauenburg,
‚jondern von feinem Freunde Andreas Ofiander, dem be-
kannten nürnberger Tutherifchen Theologen ftanımt. Diefe
hypothetifche Form rettete die Kopernifanifche Lehre vor
der Verurtheilung durch die Inquifition. ‘Der proteftan-
tifche Theologe aber hat dadurch zugleich Beruhigung im
eigenen Lager bewirken wollen, denn Melanchthon war ein
fehr energiicher Gegner diefer Lehre. Auch die Kirche der
Reformation hat es erſt lernen müffen, daß fie weber
geocentriſch noch heliocentriſch, fondern theocentriſch, noch
genauer chriftocentrifch zu Iehren habe. Weber die Erbe
noch die Sonne, Sondern Chriftus ift dem proteftantischen
Theologen der Mittelpuntt ver Welt. Auf dieſem Funda⸗
mente ſtehend kann er ruhig den Forſchungen der Natur-
wiſſenſchaft zuſehen. Die Kirche der Reformation ſteht
unbefangen allen wiffenfchaftlichen Nefultaten gegenüber;
fie hat den fichern, objectiven Boden, das in Chriftt ge-
offenbarte Heil unter den Füßen. Die römische Kirche,
*) „Bon den Umwälzungen ber Himmelskörper.“
1*
4 Die Brocejfe gegen Galileo Galilei
jo oft als die einzig objective Macht gepriefen, tft in
Wahrheit viel größerer fubjectiver Willkür verfallen. Das
infallible Papfttbum fchlägt in fein Gegentheil um. Auch
Galilei ift Das Opfer fubjectiver Willfür geworben. Gegen-
wärtig aber ift fein Syſtem, das im Jahre 1633 ver-
dammt wurbe, gejtattet. Schon 1757, unter dem gelehrten
Benedict XIV., beichloß die Indercongregation: Nach
Rückſprache mit Sr. Heiligkeit ſoll das Decret aufge:
hoben werben, das alle Bücher verbietet, welche die Un⸗
beweglichfett der Sonne und die Beweglichleit der Erde
lehren.
Nichtsdejtoweniger verweigerte im Sahre 1820 der Ma-
gister sacri Palatii, P. Philipp Anfoffi, vem Kanonikus
Joſeph Settele, Profefjor der Optik und Aſtronomie am
römifchen Archigymnaſium, das Imprimatur für ein Buch,
in dem er bie Kopernikaniſche Lehre nicht als bloße Hypo⸗
thefe behanpelte. Settele appellirte an ven Bapft Pius VIL,
ber die Sache an die Congregation bes heiligen Officiums
verwies. Dieje erklärte am 16. Auguft 1820, das Buch
jei nicht zu beanftanden. Der Papft genehmigte biejen
Beſchluß. Anfoſſi machte auf Grund noch älterer De-
crete weitere Bedenken geltend; bie Carbinäle ver Con⸗
gregation ber Inquiſition aber erklärten, e8 fei in Rom
ber Drud von Werfen, welche über bie Bewegung ber
Erde und das Stillftehen ver Sonne handeln, nach ber
allgemeinen Annahme der modernen Aftrongmen geftattet.
Diefes Decret wurde am 25. September 1822 vom Papfte
bejtätigt. Demnach hat Pins VII, der Wieberheriteller
bes Jeſuitenordens, feine Vorgänger Paul V., der ben
Stifter des Ordens kanonifirte und Galilei wegen feiner
Lehre verwarnen ließ, und Urban VIIL, der ihn den
Sefuiten zu Liebe verurtbeilte, corrigirt. Immerhin eine
glüdliche Inconfequen;z.
vor der Inguifition in Rom. 5
Das Leben Galilei’8 und fein Proceß find oft ber
Gegenstand wifjfenfchaftlicher Forſchung geweſen. Die erfte
Biographie, von Viviani, einem der treueften Schüler und
Berehrer Galilei’8, fhon im Jahre 1654 geichrieben, tft
erjt im Jahre 1718 veröffentlicht worden. Aber wie er-
ſcheint darin Galilei? Er bereut fein Auftreten für
die verurtheilte Lehre als ein Verbrechen, und er fchreibt
feine letten großen Werke, um ver Vorjehung für die Be-
freiung aus ſchwerem Irrthum feinen frommen Dank abzu-
tragen. Mehr war eben nicht erlaubt. Erit 1775 be-
richtete Frifi in einer Schrift über Galilei wahrbeitsgemäß
über feine Stellung zur Kopernifanifchen Lehre, alfo balo
nach Aufhebung des Jeſuitenordens. Wenige Jahre darauf
folgten die Biographien von Brenna und Targioni. Sie
jtellten eine Folterung Galilei's in Abrede und fchloffen
das aus ven Berichten des toscanifchen Geſandten in Rom,
Niccolini. ‚Allein diefer Schluß ift nicht berechtigt, da
der Gefandte nichts berichten durfte, und da auch Galilei
über die Vorgänge jchweigen mußte. In unferm Jahr⸗
hundert hat ein anderer italienifcher Gelehrter, Giulio
Libri, in feiner „Gejchichte der mathematischen Wiſſen⸗
ichaften in Italien“ vie beftimmte Behauptung aufgeftelli,
daß Galilei gefoltert worden ſei. Er argumentirt nicht
unwahrfcheinlich aus dem fpätern graufamen Verfahren
gegen Galilei. Das hatte das Gute, daß man fich in
Rom entichloß, etwas aus den Proceßacten zu veröffent-
lichen. Diefe waren im Jahre 1809 von den Sranzofen
nach Paris gebracht worden. Napoleon foll die Abficht
gehabt haben, fie befannt zu geben. Entweber haben bie
ſpätern Kriege ober fein eigenes Autoritätsbebürfniß bie
Ausführung verhindert. Sein Bibliothekar hatte fich
einige Auszüge gemacht; aus biefen hat Delambre in
ſeiner „Geſchichte der neuern Aſtronomie“ einiges mitge-
6 Die Proceſſe gegen Galileo Galilei
theilt. Das war im Jahre 1820. Dieſe Mittheilungen
bewirkten eine vollftändige Enttäufchung über Galilei.
Nach der Reftauration hat die päpftliche Regierung
fich lange vergeblich bei dem franzöflichen Kabinet um bie
Herausgabe bemüht. Den angeftrengteften Bemühungen
des Grafen Roſſi, des franzöfiichen Gejandten beim Vati-
can, gelang es erft im Jahre 1846, die Acten für Rom
zurüdzuerbalten. Pius IX. machte fie der Vatican⸗Biblio⸗
thek zum Geſchenk; im Jahre 1850 antwortete der Vor⸗
jteber feines Geheimarchivs, Marino Marini, auf Libri's
Angriffe mit feiner Schrift „Galileo e 1’ inquisizione.
Memoriae’s torico-critich”. Doch war von ber hifto-
riſch⸗-kritiſchen Methode nur der Name geborgt; nur einige
Bruchſtücke wurden aus ben Acten wiedergegeben; das
Ganze war eine ungeſchickte Apologie des Inquiſitions⸗
verfahrene. Dazu wurden bie Acten wieder aus ber
Bibliothef nach dem Geheimarchiv geſchafft. Erſt P.
Theiner geftattete einem klerikalen Franzofen, Denri ve
l'Epinois, Abjchrift von den Acten zu nehmen. Der
Tranzofe konnte indeß nur flüchtig arbeiten, da er durch
eine bringende Yamilienangelegenheit abgerufen wurde.
Er publicirte feine Documente in der „Revue des ques-
tions historiques’’ (Paris 1867) unter der Veberfchrift
„Galil6e, son proces, sa condemnation d’apr&s des
documents inedits‘. Ihm folgte, drei Jahre fpäter,
wieder ein Italiener, Gherardi, mit einer Schrift „I
Processo Galilei reveduto sopra documenti di nuova
fonte” (Florenz 1870). Der Verfaſſer hat wejentlich de
l'Epinois benutzt. Erſt 1876 bat ſich ein Italiener,
Bertt, einft italienifcher Unterrichtsminifter, auf dem
Zimmer des P. Xheiner mit den Driginalacten bes
ſchäftigt. Aber auch dieſe Ausgabe war unvollftändig;
fünf Documente fehlen ganz; von funfzig Schriftftücen
vor ber Inquifition in Rom. 7
wird nur furz der Inhalt angegeben. Auch bie ganze
Soliobezeichnung hat Berti weggelaffen. Gleichzeitig mit
bem Franzojen und dem Italiener haben Deutſche den
Proceß behandelt, jo ver heidelberger M. Cantor in ber
„Zeitſchrift für Mathematik und Phyſik“, jo Wohlwill im
Sahre 1870 in einer Arbeit über die rechtliche Grunb-
lage bes Proceffes, und im Jahre 1877 in einer umfang-
reichen, von nicht gewöhnlichem Scharfjinn zeugenden
Monographie über die Frage, „ob Galilei gefoltert wor-
ben”. In demſelben Iahre fette es ein öfterreichiicher
Gelehrter, K. von Gebler, mit Hülfe der Botjchaft beim
Cardinal Simeoni, demſelben, mit deſſen Hülfe Fürft
Bismard feinen Rüdzug im Culturkampf begann, burdh,
daß ihm bie vollftändigen Acten zur Dispofition geftellt
wurden. K. von Gebler wollte fich nur Gewißheit über
bie Echtheit ober Unechtheit eines für die. Beurtheilung
des Procefies überaus wichtigen Documentes (e8 iſt das
Document vom 26. Februar 1616; wir werben ſehen,
wie beveutfam es ift) verichaffen. Da gewahrte er bie
mannichfachen Abweichungen, Auslaffungen und Incorrect-
heiten ber bisherigen Ausgaben; fo reifte in ihm der Ge-
danke, einen Abdruck jämmtlicher Schriftftüde mit diplo⸗
matijcher Genauigfeit zu veranftalten. Sein Werk er-
jchien unter dem Titel „Galileo Galilei und die Rö—
milde Eurie” (Stuttgart 1876). Den Einbrud, wel-
chen der Proceß im Lichte dieſes Buches machte, hat
der berliner Philofoph E. Zeller in ber „Deutſchen
Rundſchau“ (Octoberheft 1876) treffend wiedergegeben;
wir können es uns nicht verſagen, hieraus einige Sätze
mitzutheilen. E. Zeller ſchreibt: „Die Geſchichte führt
uns zahlloſe Fälle vor Augen, in denen die freie For⸗
ſchung im Namen der Religion unterdrückt oder beſchränkt
wurde, einzelne und ganze Schulen wegen ihrer wiſſen⸗
8 Die Brocefje gegen Galileo Galilei
Ichaftlichen Anfichten oft bis aufs äußerſte verfolgt wur⸗
den. Nur ein Glied in biefer langen Reihe wiffen-
Schaftlicher Martergefchichten bildet ver Proceß Galilei's;
und er Steht zudem an fchauernden Momenten, an plafti-
ſcher Greifbarkeit der Conflicte, an Kraft und Größe ber
handelnden Berfonen, an erjchütternder Gewaltjamteit des
Ausgangs hinter vielen Ähnlichen Vorgängen zurüd. ‘Der
Held diefer Tragödie ift feiner von jenen groß angelegten
reformatorifchen Charakteren, die einer weltgefchichtlichen
Aufgabe in unbebingter Hingebung dienen, die ihren Weg,
nicht rechts und Links blidend, mit rückſichtsloſer Ent-
ichloffenheit verfolgen, die Hinbernifje niederwerfen oder
an ihnen zerichellen. Bei Galilei finden wir nichts von
allevem; bei aller feiner wiffenfchaftlichen Größe Liegen
ihm doch von Anfang an gewiffe Rüdfichten gegen bie
Macht, die fich feiner Forfhung in den Weg ftellt, im
Blute; und als fich die Unverträglichleit der beiverfeitigen
Anſprüche immer klarer herausftellt, führt ihn dieſe Er-
fahrung nicht. zur energifchen Befreiung von jenen Riüd-
ſichten, ſondern er läßt fich einjchüchtern, fucht ſich Hinter
zweidentige Wendungen zu verjteden und kann fih am
Ende einer entwürbigenden Verleugnung feiner Ueber⸗
zeugung nicht entziehen. Auf der andern Seite haben
wir aber auch bei feinen Verfolgern zwar vie volle Bös⸗
artigfeit, aber nicht die imponirende Kraft, vie ftürmifche
Leivenschaftlichleit des religiöjen Fanatismus; gerade bie
mächtigften unter benjelben machen vielmehr den Ein-
brud, daß fie ihres eigenen Standpunkte nicht mehr
ficher feien, daß ihnen ver Glaube an fich jelbft und ihre
Sache, das Einzige, was uns mit der Unduldſamkeit bes
Fanatikers einigermaßen verſöhnen Tann, fehle, daß auch
fie vem Conflicte, deſſen Gefahr und Schande fie ahnen,
vor der Inquiſition in Rom. 9
gern aus bem Wege gingen, wenn fie es mit ihrer Stel-
Img und ihrem Intereffe zu vereinigen wüßten. So
ftoßen wir auf Halbheit da wie dort. Auf Galilei's
Seite ift nur ein halbes Martyrium, auf feiten ber
Kirchengewalt nur ein halber Sieg, eine perjönliche Mis-
banblung, feine Vernichtung des Gegners.” So weit der
Philoſoph. Wir fügen dem nur hinzu, daß die Wifjen-
fhaft überhaupt feinen Ueberfluß an Märtyrern Rom
gegenüber hat; fie hat je und je ihren Frieden mit Rom
gefchloffen. Wir erinnern nur an Erasmus. Aber ber
Glaube, die fides salvifica, hat die Kraft zum Martyrium
gegeben und hat das Feld behalten. Die Sage hat Ga-
ltlei mit dem Nimbus eines Märtyrer umgeben; als
jolcden gedachte ihn Mathilde Raven in einem Roman zu
feiern. Bet ihren Vorſtudien merkte fie, daß das un⸗
möglich war; jo bat fie in ihrem zweibändigen Roman
„Salileo Galilei” (Leipzig, F. A. Brockhaus, 1860) ein nicht
ungetreues Bild von jener Zeit und von ben in ihr
wirlenden Perſonen entworfen. Nur haben wir wenig
von einem Roman gefpürt; doch ift das unter Umſtänden
ein Lob; bat fie doch nicht weniger als 1376 Briefe aus
jener Zeit burchftubirt, um den nöthigen Stoff für ihren
„Roman zu fammeln.
Wir gehen nunmehr zur Scilverung des Procefjes
jelbft über; wir werden bie nöthigen Mittheilungen über
Form und Inhalt der Acten an geeigneter Stelle ein-
ſchieben; vorher aber noch einiges jagen über die Perfon
Galilei's. Er wurde am 18. Februar 1564 zu Piſa ge-
boren, wo fich feine Aeltern vorübergehend aufhielten. Sein
Bater war ein florentinifcher Evelmann, in der Mufik
theoretifch gebildet und ein tüchtiger Mathematiker. Im
Florenz verlebte er feine Sugend. Der Knabe hatte bie
12 Die Procefje gegen Galileo Galilei
Zeit, im Jahre 1624, bedrohte das franzöfifche Parla-
ment jede Abweichung von Ariftotele8 mit der Todes⸗
ftrafe. Die ganze Weltanfchauung ruhte auf Ariftoteles;
feine ethifchen, pſychologiſchen, phyſikaliſchen Grundſätze
waren maßgebend. Sie galten als Stützen des kirch⸗
lichen Lehrgebäudes.
Hier intereſſirt uns nur die Phyſik des Ariſtoteles.
Die Welt iſt ihm der Inbegriff alles Veränderlichen.
Dieſes Veränderliche iſt theils unvergänglich wie der im
ewigen Aether ſchwimmende Firſternhimmel, theils ver⸗
gänglich, wie alles, was man auf Erden unter dem Namen
„Natur“ begreift. Der Himmel iſt das Verbindungs⸗
glied zwilchen dem vergänglichen Naturwejen und dem un
veränberlichen Urweſen, aljo dasjenige, wodurch letzteres
auf die Natur einwirkt. Der Firiternhimmel kommt
einem Weſen nach dem Abfolut » Göttlihen am nächften,
Die Region der Planeten, zu welchen Sonne und Mond
gehören, fteht ihm ferner, ift aber der Wandelbarkeit und
bem Leiden entrüdt. Jeder der Planeten hat feinen un
bewegten Beweger; zuweilen fpricht er auch von einer
Seele der Planeten. Die fugelförmige Erde in ver Mitte
des Alls fteht ftill; fie bilvet das Centrum, ohne welches
eine Kreisbewegung nicht denkbar iſt. Ihr Mittelpunkt
‚it zugleich Mittelpunkt des Alle. Die Erbe mit ihrer
Atmoſphäre ift die Negion von Werben und Vergehen.
Diefer ewige Wechfel gefchieht dadurch, daß die Geftirne,
namentlich die Sonne, der Erde bald näher, bald ferner
fommen. Der Zwed der ganzen Natur ift der Menſch,
aus vergänglichem Leib und unfterblicher Seele beſtehend,
fein Ziel die Glüdfeligkeit, welche in erjter Reihe darin
beiteht, daß die Seele das Gute benft, wenngleich eine
gewiffe Ausrüftung mit äußern Gütern auch nothwendig
dazu ift.
vor der Inguifition in Rom. 13
Dieje Artftotelifche Phyſik hatte in der Kirche faft dog⸗
matifchen Werth. Als man einem Jeſuitenprovinzial bie
Sonnenfleden zeigen wollte, eriwiverte er, er habe zwei-
mal den ganzen Ariftoteles vurchgelefen und feine Silbe
gefunden, bie auf Sonnenfleden fich auch nur deuten laſſe,
Si non e vero, e ben trovato. Die eupämoniftijche
Theorie des Ariftotele8 aber gilt immer noch in der Tatho-
liſchen Kirde. Das Chriftenthum ift weſentlich Glüd-
jeligfeitölehre. Nach der Schrift aber ift Zwed ver
Schöpfung und Erlöfung das Rob der Herrlichkeit Gottes.
Dan lefe nur das erfte Kapitel im Epheferbriefe.
Galilei hatte ſich alfo die Feindfchaft ver Ariftotelifer
zugezogen; das ganze dogmatiſche Lehrgebäude war durch
ſein Zeleflop ins Wanken gerathen. Nichtsdeſtoweniger
hätte man nicht gewagt, gegen ihn vorzugehen, wenn man
nicht die Sache ins Religiöſe hätte hinüberſpielen können.
Ihn blos der Verletzung der Ariſtoteliſchen Philoſophie
anzuklagen — damit wäre man bei dem großen Anſehen,
deſſen er ſich erfreute, nicht durchgekommen. Die Refor⸗
mation war doch nicht ſpurlos an der römiſchen Kirche
vorübergegangen. Luther hatte nicht umſonſt wider den
„alten Heiden”, den Ariſtoteles, gewettert. So verdäch—
tigte man Galilei, er griffe die Bibel an, er fee feine
Weisheit an Stelle der geoffenbarten Wahrheit. Und
merkwürdig — Galilei felbft lieferte feinen Gegnern biefe
Waffe in bie Hand; er fuchte nämlich feine Anficht durch
bie Bibel zu ftärfen, und dies z0g ihm ben Vorwurf
falicher, trabitionsfeindlicher Schriftanslegung zu. Er
that dies in einem Briefe an feinen Schüler und Freund
Caſtelli, ein Mitglied des Benedictinerordens, ben biefer
in vielfachen Abdfchriften verbreitete. Auf dieſen Brief
bin wurde Galilei bei der Inguifition denuncirt. Er be-
findet fih in den Acten als eins der erjten Documente;
14 Die Brocefje gegen Galileo Galilei
er umfaßt bei Gebler acht Druckſeiten. Wir theilen eini-
ge8 aus dieſem Briefe mit. Zunächft fpricht Galilei
darüber feine Enträftung aus, daß man bie Heilige Schrift
in eine rein wifjenfchaftliche Auseinanderfegung verflechte
und ihr dabei gar das Recht der Entjcheivung beimeffen
wolle. Als guter Katholit erfenne er zwar bereitwillig
an, daß die Heilige Schrift niemals lügen oder irren könne,
boch gelte das feiner Meinung nach nicht von jedem ihrer
Erflärer. Diefe müßten ja doch fonft manchen biblischen
Ausprud bildlich nehmen — fo wenn von Gottes Glied⸗
maßen ober von feinem Zorn, von feinem Haß und feiner
Rene die Rede ſei — warum wollten fie das denn nicht
auch bei den Ausjagen ver Schrift über das Verhältniß
von Sonne und Erde? „Da aljo die Heilige Schrift am
vielen Stellen eine andere Auslegung, als der Wortlaut
fcheinbar befagt, nicht blos geftattet, fondern geradezu ver-
langt, fo fcheint e8 mir, es ſei ihr in mathematischen
Streitfragen ver legte Plat einzuräumen. ‘Denn die Heilige
Schrift und die Natur — beide kommen von Gott ber,
jene als vom Heiligen Geifte eingegeben, dieſe als die Ver-
wirflihung göttlicher Befehle. In der Heiligen Schrift war
es num nothwendig, daß fie, um fich dem Verſtändniſſe
ber großen Menge anzubequemen, vieles jage, was den
eigentlichen Sinn nur bildlich wiedergiebt; die Natur
hingegen gibt fich, wie fie ift, nur ihren Gefegen folgen,
mag man fie begreifen oder nicht. Deshalb muß, fo
icheint mir, fein Werk der Natur, das uns entweder er-
fahrungsmäßig vor Augen fteht, ober bie nothwendige
Folge wiſſenſchaftlicher Beweisführung ift, wegen dieſes
oder jenes Sabes ber Heiligen Schrift in Zweifel gezogen
werben.” Weiter heißt es dann in biefem Briefe: „Weil
zwei Wahrheiten fich offenbar niemals widerſprechen können,
jo iſt e8 die Aufgabe weifer Ausleger ver Heiligen Schrift,
vor der Inguifition in Rom. 15
fih zu bemühen, den wahren Sinn der Ausiprache biefer
legtern herauszufinden in Webereinitimmung mit jenen
Sclüffen, die ſich enweder vermöge des Augenſcheins oder
mittels ficherer Beweiſe ald gewiß ergeben. Da wir nicht
mit Sicherheit behaupten können, alle Ausleger ſeien von
Gott infpirirt, jo glaube ich, e8 wäre Klug daran ge-
than, Teinem die Anwendung von Süßen aus der
Heiligen Schrift zu geftatten, auf daß man nicht
gewiffermaßen verpflichtet wird, Behauptungen über na-
türliche Dinge im Glauben für wahr zu halten, von
benen ſpäter die finnliche Wahrnehmung und durchſchla⸗
gende Beweife das Gegentheil darthun könnten.” Galilei
meint, bie firchliche Obrigfeit thäte am beiten, die Entnahme
naturmwifjenfchaftlicher Lehrſätze aus ver Heiligen Schrift
zu verbieten, damit nicht die Autorität der letztern felbit
darunter Schaben leide. Und nun fpricht er fich über die
Heilige Schrift folgendermaßen aus: „Meiner Meinung nach
hat die Heilige Schrift den Zwed, ven Menſchen diejenigen
Wahrheiten mitzutbeilen, welche für ihr Seelenheil noth-
wendig find, und die eben, alle menjchliche Urtheilskraft
überfteigend, weder durch Wifjenichaft noch ſonſt, ſondern
eben nur burch den Heiligen Geift mittels Offenbarung zu
gewinnen und darauf hin gläubig anzunehmen find. Daß
aber diejer felbe Gott, der uns Sinne, Verftand und Ur-
theilsnermögen gegeben hat, nun wollen follte, daß wir
biefe nicht brauchen und die dadurch erreichbaren Kennt-
niſſe auf anderm Wege erlangen jollen — das zu glauben
halte ich mich nicht für verpflichtet.”
Galilei erläutert feine Meinung an Beifpielen. Er
fommt infonderheit auf Iofua, Rap. 10 zu reden. Im fieg-
reihen Kampfe mit den Amoritern bittet Joſua den Herrn
um bie Verlängerung bed Tages, um bie Feinde ganz vers
nichten zu Fönnen. „Da revete Joſua mit dem Herrn
16 Die Brocefje gegen Galileo Galilei
bes Tages, ba der Herr die Amoriter übergab vor ben
Kindern Israel, und fprach vor gegenwärtigem Israel:
Sonne, jtebe ftill zu Gibeon, und Mond im Thal Aja-
Ion! Da ftand die Sonne und Mond ftille, bis daß
fih das Volk an feinen Feinden rächte. Iſt dies nicht
gefehrieben im Buche des Frommen? Alto ftand bie
Sonne mitten am Himmel und verzog unterzugehen, bei-
nabe einen ganzen Tag, und war fein Tag biejem gleich,
weder zuvor noch danach.” (Sof. 10, 12—14) Galilei
zeigt nun, daß, wenn die Sonne am Firmamente fejt-
gehalten wurde, die Tageslänge abgekürzt wurde, alfo
gerade das Gegentheil von dem erzielt wurbe, was Joſua
beabfichtigte. Ein vollftändiges ‘Durcheinander der Natur
hätte die Folge fein müffen. Er nimmt an, Gott habe
vielmehr dem ganzen Weltenſyſteme eine zeitweilige Ruhe
geboten, nach deren Ablauf dann alle Himmelsförper, fo
in ihrem gegenfeitigen Verhältniß nicht im geringiten ge-
ftört, in alter Orbnung wieder zu freifen begonnen hätten.
Das Wunder leugnet demnach Galilei jowenig, daß er
jogar für eine Steigerung befjelben eintritt. Das DVer-
hältniß von Bibel und Naturwiffenichaft aber wird in
biefem Briefe an Caftelli in geradezu muftergültiger Weife
bejprochen. Seine Frömmigkeit ift eine unanfechtbare.
Gegen das Ende des Jahres 1613 hatte Galilei diejen
Brief gejchrieben; die Aufregung war eine ungebeuere.
Ein Dominicaner, Pater Caccini, polemifirte gegen ben
Brief von der Kanzel. Am vierten Advent 1614 hielt er
in der Kirche Santa⸗Maria Novella zu Florenz eine ge=
harnischte Predigt wider Galilei. Er legte feiner Predigt
eben die Yofuaftelle zum Grunde; als exordium aber
wählte er das Wort aus der Himmelfahrtsepiftel (Apoftel-
geſch. 1, 11): „Ihr Männer von Galiläa, was ftehet ihr
und fehet gen Himmel?“ Die Anfpielung war mehr als
vor der Inguifition in Rom. 17
beutlich; auch draſtiſche Gefchicklichfeit wird man dieſem
exordium nicht abiprechen können. Nur hatte ver gute
Bater vergeffen, daß diefe Worte aus dem Munde eines
Engels ftammen, welcher bie ob ver Auffahrt ihres Herrn
trauernden Jünger tröftete. Die Rolle eines tröftenden
Engels aber hat er nicht gefpielt, vielmehr Del ins Feuer
gegoffen. Die Mathematit war ihm eine Erfindung des
Zeufeld. Als ob von dieſem nicht alle Verwirrung auf
Erden herrührt! Als ob die Schrift nicht Gott einen
Gott der Orbnung nennt! Der Skandal war da; in ben
gebildeten Kreifen war man empört; felbft der Domini»
canergeneral Maraffi war e8 in fo hohem Grabe, daß
er ein Entjchuldigungsichreiben an Galilei ſchickte. Aber
ber P. Caccini wußte fich zu helfen; er veranlaßte einen
andern Dominicaner, P. Lorini, Galilei bei der Inqui⸗
fition zu denunciren. Auch dieſe Denunctation befindet
fih in den Acten; am Schluffe verjelben wird P. Caccini
zum Zeugen vorgeichlagen. Dies hatte eine Prüfung ber
Schrift Galilei's: „Geſchichte und Erklärung der Sonnen-
flecken“, zur Folge. Dieſe Schrift, fein Brief an Eaftelli, ſo⸗
wie ein zweiter Brief an bie Großherzogin- Mutter, Chriftine
von Lothringen, auf deren Bitten er fich noch weiter über
Bibel und Naturwiffenfchaft ausiprach, bildeten pie Grund⸗
lagen, auf welchen bie Feinde Galilei's die Anklage wegen
philofophifcher und theologifcher Irrlehre wider ihn er»
hoben. Die eigentlichen Macher waren wol die Jeſuiten;
die Dominicaner waren zunächit nur vorgefchoben.
In dem Briefe an Chriftine von Lothringen führt
Galilei Folgendes aus: Die Theologie nennt fich die Kö⸗
nigin der Wiffenfchaften. ‘Dies könne in einem boppelten
Sinne gejchehen, entweber weil alles, was die andern
Wiſſenſchaften lehren, in der Theologie enthalten fei und
XXIV. 2
18 Die Proceffe gegen Öalileo Galilei
erflärt würde, ober weil der Gegenftand, mit welchem bie
Theologie fich beichäftigt, alle andern Gegenſtände des pro-
fanen Wiffens an Würde und Wichtigkeit weit überragen.
Das erftere würben aber wol ſelbſt ſolche Theologen, vie
nicht ganz allen weltlichen Wiffens bar ſeien, gewiß nicht
behaupten, weil doch niemand fagen könne, bie Geometrie,
Altronomie, Muſik und Medicin würden in der Heiligen
Schrift genauer und befjer vorgetragen als im ven
Büchern von Archimedes, Ptolemäus, Boccius und Ga-
lenus. Es bleibe alfo nur die zweite Annahme übrig, und
da follte die Theologie, nur ver Betrachtung ber göttlichen
Probleme obliegend und ihrer hohen Würde eingebent,
auf dem ihr zukommenden Töniglichen Throne verbleiben
und die nievern Wiffenfchaften, als die Seligkeit nicht
betreffend, unbeachtet laſſen. Und dann, fährt er fort,
ſollten auch nicht bie PBrofefforen der Theologie fich Die
Autorität anmaßen, ‘Decrete und Verordnungen in ge⸗
lehrten Disciplinen zu erlaffen, veren Studium fie nicht
obgelegen haben. Dies wäre gerade fo, als wenn ein ab-
foluter Fürft, welcher in dem Bewußtſein, frei befehlen
und fich Gehorfam verjchaffen zu können, ohne die Arznet-
funde oder die Baukunſt ſtudirt zu haben, verlangen würde,
dag man nad) feinen Anordnungen fich curiren oder Ge-
bäude aufführen folle, der größten Lebensgefahr für die
betreffenden Kranken und dem offenbaren Ruin für die reſp.
Banlichkeiten zum Trotz. Noch bemerkt er, daß ber Heilige
Geiſt uns habe zeigen wollen, wie man zum Dimmel ge-
lange, nicht aber, wie die Himmel fich bewegten.
Damit hatte Galilei allerpings in ein Wespenneſt ge⸗
ftochen. Seine Gegner rubten nicht: fie ſuchten e8 dahin
zu bringen, daß er nach Rom citirt wurde. Allerhand
bebrohliche Gerüchte famen ihm zu Ohren. Da beichloß
er, feinen Feinden zuvorzulommen, nach Rom zu gehen
vor der Ingquifition in Rom. 19
und feine Sache dort zu verfechten. Im December 1615
reifte er, mit warmen Empfehlungsjchreiben des Groß-
herzogs verjehen, nach Rom ab. Wiederum fand er bie
ehrenvollfte Aufnahme. In den erften, einflußreichſten
Familien durfte er feine Lehren entwideln; allgemein
ftimmte man ihm zu; das machte ihn ganz ficher. Am
6. Februar 1616 ſchrieb er an ben erften toscanifchen
Staatsfecretär Picohena nach Florenz: „Meine Angelegen-
heit ift, foweit fie meine Perſon betrifft, völlig beenbigt;
ſämmtliche damit betraut gewejene Prälaten verficherten
mir, daß man fich von meiner Chrenhaftigfeit und dem
böjen Willen meiner Verfolger vollkommen überzeugt habe.
Was das betrifft, könnte ich aljo nach Haufe zurückkehren;
allein mit meiner Rechtsſache hängt eine Frage zufammen,
bie nicht blos mich, ſon dern alle jene angeht, welche fett
achtzig Jahren entweder in Druckwerken, in öffentlichen
Vorträgen, ober in vertrauten Unterhaltungen einer ge-
wiflen, Euer Gnaden nicht unbefannten Lehrmeinung bei-
getreten find, über bie man gegenwärtig ein Urtheil zu
fällen ſich anfchidt. Ueberzeugt, daß mein Beiſtand in
biejer jo recht eigentlich mein Forſchungsgebiet betreffenden
Unterfuchung von Nugen fein dürfte, Tann und darf ich
nich nicht enthalten, daran theilzunehmen, indem ich da⸗
bei der Eingebung meines chriftlichen Gewiſſens und
meinem Eifer für die Fatholifche Sache folge.” Alſo ver
hoffnungsfühne Galilei; vierzehn Tage fpäter wurde das
Urtbeil gefällt.
Wir geben bier das Gutachten der Eonfultatoren nach
ben Acten. (Gebler, ©. 47, 48.)
2*
20 Die Broceffe gegen Galileo Galilei
Sätze, welche zu begutachten:
Gutachten, abgegeben im heiligen Offictum ber Stadt,
Freitag, den 24. Februar 1616
in Gegenwart der unterfchriebenen theologiichen Väter.
1. Die Sonne ift das Centrum der Welt und gänz-
lich unbeweglich von Ort zu Ort.
Gutachten: Alle fagten, daß der erwähnte Sat thöricht
und philofophifch abſurd und formell ketzeriſch fei, weil
er ausbrücdlich den Meinungen ver Heiligen Schrift an
vielen Stellen widerspricht, nach der Wortbebeutung,
wie nach der allgemeinen Auffaffung, wie nach dem
Sinne der heiligen Väter und Doctoren der Theologie.
2. Die Erbe ift nicht das Centrum der Welt und
nicht unbeweglich, ſondern bewegt fich gänzlich
um fi), auch in täglicher Umdrehung.
Gutachten: Alle fagten, daß diefer Sat bie gleiche Gel-
tung empfange in ver Philoſophie, ſowie rüdfichtlich der
theologifhen Wahrheit; zum mindeften jet er irrig im
Glauben.
Petrus Lombardus Archiepus Armacanus
fr. Hyacinthus Petronius sac.: Apost. Pal. Mag. ıc.;
es folgen die Unterjchriften, im ganzen elf, barumter
namentlich ein Jeſuit, an achter Stelle:
Bened.® Jus.”“ societatis Jesu.
Zulegt der Commiſſar des heiligen Officiums:
fr. Jacobus Tintus socius Ri, Pris commissarius L
s’ti. Offic.
Dies ift unzweifelhaft ein Originaldocument, da
fämmtliche Unterfchriften vorhanden find.
vor der Inquiſition in Rom.. 21
. Wie ift man nun auf Grund diefer Gutachten gegen
Galilei perſönlich vorgegangen? Die Acten enthalten
hierüber nur unterjchriftslofe Annotationen. Sie folgen
auch nicht unmittelbar auf das Gutachten, fonvern bie
nächſte Folioſeite ift unbejchrieben, die folgende Seite ent-
hält bie erſte Annotation und bie erfte Hälfte der zweiten,
während die im fpätern Procefje entſcheidenden Worte auf
dem nächſten Folio ftehen.
Die erfte Annotation lautet:
Donnerstag, den 25. Februar 1616.
Der burchlauchtigfte Herr Cardinal Millini hat den
ehrwürdigen Herren, dem Affeffor und dem Commiffar
bes heiligen Officiums angezeigt, daß, nachdem die Batres
Theologen über die Behauptungen Galilei's, des Mathe-
matifers, daß die Sonne das Centrum der Welt fei
und ohne Bewegung von Ort zu Ort, bie Erbe ba-
gegen fich bewege und auch in täglichen Umprehungen
um fich jelbft, ihr Gutachten abgegeben haben, Se.
Heiligkeit dem Herrn Cardinal Bellarmin befohlen habe,
den genannten Herrn Galilei vor fich zu rufen und
venfelben zu ermahnen, die erwähnte Meinung aufzit-
geben, und falls er ſich weigern würde zu ge—
borcen, folle ihm der Pater Commiffar in Gegenwart
von Notar und Zeugen den Befehl ertheilen, ganz und
gar von dieſer Lehre abzuftehen und dieſe Meinung zu
lehren over zu vertheibigen oder zu bejprechen; wenn
er fich aber dabei nicht beruhige, fo ſei er einzuferfern,
Dieje Annotation entipricht den wirklichen Vorgängen.
Galilei ift von Bellarmin, dem großen Belämpfer bes
Proteftantismus, dem gelehrteften Theologen aus dem
Jeſuitenorden, aus deſſen Hauptwerk „Dieputationen über
bie Streitpunkte des chriftlichen Glaubens gegen die Keter
92 Die Proceſſe gegen Galileo Galilei
dieſes Zeitalters‘ noch immer die römische Polemik ſchöpft,
verwarnt worden unb bat ſich dabei beruhigt, ſodaß
die weitern Drohungen ansgefchlofien waren. Es mag
bie® auch in ber liebenswürdigſten Weiſe geicheben jein,
da Bellarmin für feine Perfon und feiner Gemüthsart
nach nicht verfolgumgsfüchtig war. Ließ er doch einft feinem
Feinde Sarpi, dem venetianifhen Stantdinanne, der bie
Republik mit Glüc gegen die päpftlichen Anfprüche ver-
theibigte, Warnungen vor Nachftellungen gegen jein Le-
ben zufommen. Zudem war Bellarmin damals bereits
74 Jahre alt und Iebte, gebeugt von den Schwächen des
Alters, in frommen Andachhtsübungen nur ber Vorbe⸗
reitung auf feinen Tod. Apoſtoliſche Schlichtheit und
Uneigennügigfeit rühmte man ihm nad. So wird Ga-
lilei, äußerlich betrachtet, fehr glimpflich weggelommen fein.
An welchen Tage der Cardinal den Befehl ausgeführt,
wiffen wir nicht. Welche Bewandtniß es mit ber ben
folgenden Tag angebenden zweiten Annotation hat, wer-
den wir unten fehen. Galilei berubigte fih, und bamit
ſchien die Sache erledigt, foweit jeine Perjon in Frage
fam. So bat Galilei fpäter die Vorgänge felbft barge-
ftellt, und fo werben fte zum Weberfluß noch durch eine
im Sabre 1870 von Gherardi in der florenzer „Rivista
Europea” veröffentlichtes Geheimprotofoll aus den ‘Des
creten des römischen Inquifitionsofficiums beftätigt. Das
Protokoll Tautet: „Am 3. März 1616. Vom burchlaud-
tigften Herren Cardinal Bellarmin wurbe zuerft berichtet,
daß der Mathematiker Galileo Galilei ermahnt worden
fei, die bis dahin von ihm feitgehaltene Meinung, vie
Sonne fei das Centrum der Himmelsfugel und unbeweg⸗
lich, die Erde hingegen beweglich, aufzugeben, und daß er
fih dabei beruhigt habe; dann wurbe das Decret der
Eongregation bes Inder mitgetheilt, inwiefern die Schrif⸗
voor ber Ingnifition in Rom. 23
ten des Nikolaus Kopernikus, des Diego de Stunica, des
Paulus Antonius Foscarini verboten, reip. fnspenbirt
werben; Se. Heiligkeit ordnete bieranf bie burch ven Ma-
gister sacri Palatii zu veranftaltende Veröffentlichung
dieſes Verbots⸗ reſp. Suspenfationsurtheils an.’
Aus dem zweiten Theile dieſes Protokolls erſieht man,
daß die Gegner Galilei's ein ſachliches Verdammungs⸗
urtheil erreicht haben. Ehe wir dieſes, mit dem der erſte
Theil des Proceſſes ſchließt, mittheilen, müſſen wir noch
die dazwiſchenſtehende Annotation, die im zweiten Pro⸗
ceſſe ſo verhängnißvoll werben ſollte, hierherſetzen. Sie
folgt unmittelbar auf die Annotation vom 25. Februar:
Freitag, am 26. deſſelben.
In dem vom durchlauchtigſten Herrn Cardinal be⸗
wohnten Palaft, und zwar in deſſen Privatgemächern,
bat derſelbe Herr Cardinal, nachdem vorgenannter Ga⸗
lilei erſchienen war, in Gegenwart des hochwürbigen Bru⸗
ders Michel Angelo Segnitius de Lauda vom Prediger-
orden, des Generalcommiffars des heiligen Offictums,
den mehrgenannten Galilei ermahnt, daß er von: dem
Irrthum vorgebachter Meinung ablaffe, und gleich
darauf und ohne Unterbredhung in meiner und
ber Zeugen Gegenwart, im Beifein veffelben durchlauch⸗
tigften Herrn Carbinals, hat der obengenannte Pater
Commifjar dem mehrgebachten, noch dort anweſenden
und vorgeladenen Galilei im Namen Sr. Heiligfeit des
Papftes und der ganzen Eongregation bes heiligen Offi⸗
ciums vorgejchrieben und befohlen, bie obenerwähnte
Meinung: daß die Sonne das Centrum der Welt und un⸗
beweglich jei, die Erde hingegen fich bewege, ganz und gar
aufzugeben und biefelbe fernerhin in feiner Weije feft-
zubalten, noch zulehren, noch zu vertheidigen,
24 Die PBroceffe gegen Galileo Galilei
in Wort oder Schrift, wibrigenfalld werde gegen ihn
im heiligen Offictum vorgegangen werben, bei welchem
Befehle beſagter Galilei fich beruhigt und zu gehorchen
verjprochen hat. Worüber verhandelt zu Nom wie oben,
in Gegenwart verfelben Perfonen, Badino, Nores aus
Nicofia im Königreich Eypern und Auguftin Mongredo
aus einem Orte der Abtei Roſa im Bisthum Monte-
Pulciano, Hausgenofjen des genannten burchlauchtigften
Herrn Carbinals, als Zeugen.
Dieje Annotation hätte nur einen Sinn, wenn Ga⸗
lilei fich geweigert hätte, auf die Ermahnung Bellarmin’s
einzugehen. Nach dem Zeugniß des Cardinals hat er das
aber nicht gethan; fo ift der Verbacht fpäterer Fälſchung
nicht ausgejchloffen. Mit den thatjächlichen Vorgängen
kann fie fchlechterhings nicht in Einklang gebracht werben.
Sie wird uns indeß noch weiter bejchäftigen.
Am 5. März erfchten pas Decret, welches Die Koper⸗
nifanische Lehre verdammte; ihm follte überall Geltung
verfchafft werden. Ubique publicandum — heißt e8 in
ber Ueberſchrift. Es befindet fich in einem gebrudten
Eremplar bei ven Acten; e8 wurde alfo an alle Inqui⸗
jittonsbehörden gefandt. Im feiner Hauptftelle heißt es:
„Und weil es auch zur Kenntniß der genannten Congre⸗
gation gekommen ift, daß jene faliche, der Heiligen Schrift
gerabezu wiberiprechende Phthagoräifche Lehre von ber
Beweglichkeit der Erde und der Unbeweglichleit ver Sonne,
welche Nikolaus Kopernikus in feinem Werfe «Bon ben
Umwälzungen der Himmelstörper» und Diego von Stunica
in der Erflärung zum Buche Hiob vorgetragen haben,
ſchon fich verbreite und von vielen angenommen werde,
wie man aus dem geprudten Briefe eines Karmeliterpaters
jeben kann, welcher ven Titel führt: «Senpjchreiben des
ehrwürdigen Pater-Magijter Paolo Antonio Foscarini über
vor ber Inguifition in Rom. 25
die Meinung ber Phthagoräer und des Kopernilus von
der Bewegung der Erbe und dem Stillitande der Sonne
und das Neuppihagoräifche Weltſyſtem, gebrudt zu Neapel
von Lezzaro Scoriggio 1615», und worin befagter Karme-
literpater zu zeigen fucht, daß die erwähnte Lehre von ber
Unbeweglichfeit ver Sonne im Centrum der Welt wahr
fei und der Heiligen Schrift nicht widerſprechel — jo
glaubt die Congregation, damit eine derartige Meinung
nicht zum Schaden der Fatholifchen Wahrheit weiter um
fich greife, da8 Buch des Nikolaus Kopernikus «Von ber
Umwälzung der Himmelsförper» und jenes Diego von
Stunica zum Buch Job, folange fuspendiren zu müfjen,
bis fie corrigirt werben, die Schrift des Karmeliterpaters
Paolo Antonio Foscarini aber gänzlich zu verbieten und -
zu verbammen, und ebenfo alle andern Bücher, vie daſſelbe
lehren, zu verbieten, wie fie denn durch Gegenwärtiges
alle verbietet und verdammt, beziehungsweiſe ſuspendirt.“
(Bon ben Büchern des Kopernilus und des Diego
heißt e8 im Original „suspendendos esse, donec corri-
gantur“. Diego hatte in Hiob 9, 7 eine Beftätigung
für das Kopernifanifche Syſtem gefehen; die Stelle fchil-
dert die unbebingte Allmacht Gottes, ſodaß Luther's Ueber»
ſetzung das Rechte trifft. Er Spricht zur Sonne, fo gehet
fie nicht auf, und verfiegelt die Sterne. Diego hatte das
abjolut gefaßt, fie gehet nicht auf, d. h. fie ftehet im Cen⸗
trum des Ads ſtill. Von Foscarint heißt es: omnino pro-
hibendum utque damnandum; dann weiter: aliusque
omnes libros pariter idem docentes prohibendos. Prout
praesenti Decreto omnes respective prohibet, damnat,
utque suspendit.)
Das war das Ende des erften Proceſſes. Man be-
achte, daß das Kopernifanifche Hauptwerk nur — Bis zu
feiner Correctur — fuspendirt wurde. Mit dieſer Eor-
26 Die Proceffe gegen Galileo Galilei
rectur wurbe ber Cardinal Gaëẽtani betraut, und das Res
ſultat derfelben war, daß das Kopernilanifche Shftem nach
wie vor als Hypotheſe gelehrt werben dürfe. Als mathe⸗
matiſche Unterftellung, veren Nützlichkeit evident, jollte es
ungehindert fortbeftehen dürfen. Das ift nach vier Jahren
in einem Decret vom 15. Mat 1620 ausbrüdlich ausge⸗
ſprochen. Damit find bie Verpflichtungen, die Galilei
perfönlich übernommen, Klar bezeichnet.
Bald nach Erlaß des DecretS von 5. März batte
Galilei eine Audienz bei Paul V., und dieſer überfchüttete
ihn mit Freundlichkeiten. Wiederum ftiegen faljche Hoff-
nungen in ibm auf. Er fchmeichelte ſich mit dem Ge⸗
banlen, vielleicht eine Zurücknahme des Decrets bewirken
zu können; er verfocht noch immer eifrig feine Lehre, jo-
daß der toßcanifche Geſandte an feine Regierung berichtete:
„Saltlei befindet fih in der Stimmung, mit den Mönchen
an Halsitarrigleit zu wetteifern und gegen Perjönlichkeiten
zu kämpfen, die man nicht angreifen kann, ohne fich zu
verberben; auch wird man in Florenz demnächft bie Kunde
vernehmen, baß er toller Weiſe in irgenbeinen Abgrund
geftürzt iſt.“ Da berief ihn ver Großherzog im jehr ener-
giſcher Weiſe zurüd. Er ließ ihm fchreiben, er ſolle den
ichlafenden Hund micht weiter reigen und biffigen Hunden
am liebſten ans dem Wege geben. Es gingen Gerüchte
um, bie ibm nicht gefielen, und bie Mönche wären all⸗
. mächtig.
Von foldden Gerüchten mag auch Gelilet manches zu
Ohren gelemummn fein. Darum lieh er fih von Beller-
min vor feiner Abreife ein Zengniß über den Ausgang
des Proceffed anftellen. Es war das ſehr norfichtig und
für vie fpätere Zeit wichtig. Freilich hat es ihm nichts
genükt. Es hefindet fich in einer boppelizu Geftalt in
ben Acten, einmal in einer Abſchrift von Galilei, ſodann
vor ber Inguifition in Rom. -
u der Driginalhanpfchrift Bellarmin’e. Behufs Tetr
vertfeipigung im zweiten Broceffe Hat eg Galıflk Bett
Me der Unterfuchung führenden Commiſſion eingereic
Es jteht Hei Gehler S. 87 und 89; bie Abſchrift Hat FI
ige unmejentliche Abkürzungen angewenbet. Das 3er
niß lautet:
Wir Robert Cardinal Bellarmin, da wir verrim
men, daß dem Herrn Galileo Galilei verflumpert
angedichtet worben fei, in Unfere Hand Abfchwisıcae
haben Teiften zu müſſen umb mit einer heilfamerr 2
legt worden zu jein, erflären, um Beftätigung 1
wahren Sachverhalts erjucht, Hiermit was folgt: >:
genannter Herr Galilei hat weder in Unfere noch
eines andern Hand, weber zu Rom, noch Unfers WXSitYe
AM einem andern Ort, irgenbeine jeiner Meitzrızrag
Ober Lehren abgeichworen, noch iſt ifm vgerne
Be auferlegt worden; e8 tft ihm nur die von urye
Allerheifigften Herrn abgegebene und von der Heiti,
Ngregation des Inder zur Danachadhtung befanız +
machte Erftärung’mitgetheilt worben, laut welchex-
bem Kopernikus zugeichriebene Lehre, daß be Erbe -
um Die Some bewege, und die Sonne jim Sentr
der Welt ftehe, ohne von Oft nad) Weft zu rüdfere,
eiligen Schrift zuwider fei, und beshalb weder are
feftgehaften noch fie vertheidigt werben bürfe. Zux s
glaubigung defien haben Wir Gegenwaͤrtiges einer,
dig geſchrieben und unterfeprieben am 26. Mat 2 &
oben Robert Earbinal Bellaenezy,
Man Beachte pas non defendere ne tenuere. <
Galilei fofite Fi Kopernikaniſche Lehre nit verthern-
28 Die Procejfe gegen Galileo Galilei
und nicht feithalten. Der hypothetiſche Vortrag war und
blieb erlaubt. Anfang Juni endlich Tehrte Gafilet nach
Florenz zurüd, um mande Erfahrung und Enttäufchung
reicher. Dies der erfte Act in diefem Drama; ber zweite
begann fechzehn Jahre fpäter.
— — — —
Bittern Gram im Herzen zog ſich Galilei ganz auf
ſein Studium zurück. Auf ſeiner Villa in Florenz lebte
er nur ſeinen wiſſenſchaftlichen Beobachtungen und For⸗
ſchungen. Dieſe aber nur nach einem der Sache ſelbſt
fremden Maßſtabe der Welt übermitteln zu dürfen, war
gerade für ihn, den durch und durch aufrichtigen Mann,
nichts Leichtes. Solange Paul V. lebte, verhielt ſich Ga⸗
lilei indeß ruhig. Unter ſeinem Nachfolger Gregor XV.,
der ganz in der Reſtauration des Katholicismus nach den
erſten kriegeriſchen Erfolgen im Dreißigjährigen Kriege
aufging, der in der Stiftung ver Congregatio de pro-
paganda fide ven außereuropäiſchen Miſſionen einen
Drennpunft von unberechenbarer Kraft ſchuf und der wenig
Sinn für gelehrte Streitigkeiten hatte, begann ſchon Das
Geplänfel. Doch offen trat Galilei erft unter Urban VIII.
hervor, ber, von der Machtftellung des Hauſes Habsburg
nicht8 weniger als erbaut, ven großen Weltereignifjen ab-
gewendet, gelehrten Fragen zugänglicher war. Er war in
erfter Linie italienifcher Fürft, dabei ein Mann von fehr
großem Selbftbewußtjein. 8 charakterifirt ihn, daß er,
ale man ihm einen Einwurf aus den alten päpftlichen
Conftitutionen machte, erwiderte: „Der Ausſpruch eines
lebenden Papftes ift mehr werth als die Sagungen von
hundert verftorbenen.“ Das war ficher nicht im Sinne
ber päpftlichen Inftitution geſprochen. Was wunder,
bor ber Inguifition in Rom. 29
wenn von einem ſolchen Manne Galilei die Aufhebung
bes Decrets vom 5. März 1616 zu hoffen wagte, zumal
er nicht ohne wifjenjchaftliche und Tünftlerifche Intereffen
war? Zunächſt ließ fich noch alles gut an; bie fpätere
ungünftige Wendung muß darauf zurüdgeführt werben,
daß fich der Bapft perfönlich von Galilei verlegt fühlte.
Galilei Tieß fich, geftütt auf des Papftes Wohlwollen,
gleich nach feinem NRegierungsantritte auf einen Streit
mit den Jeſuiten ein. Es banbelte fich dabei nicht um
die frühern Streitpunfte, fondern um die Entjtehung ber
Kometen, welche Galilei für bloße atmoſphäriſche Erſchei⸗
nungen, für vegenbogenartige Materie hielt, währen fein
jefuitiicher Gegner, P. Graffi, Mathematikprofeffor am
römiſchen Eolleg, in den Kometen wirkliche Himmels-
körper ſah. Der Jeſuit warf Galilei vor, daß feine Lehr-
meinung auf dem jchlimmen Fundamente des Koperni-
kaniſchen Syſtems, das jeder Gottesfürchtige verabſcheuen
müffe, berube. - Der Funke hatte gezünbet. Galilei re⸗
plicirte mit einer, im ftiliftifcher Hinficht wielbewunberten,
inhaltlich aber leivenfchaftlichen Streitichrift — er nannte
darin P. Grafft einen Scorpione astronomico —, welche
er Urban VII widmete und der er den Titel gab: „Il
Saggiatore” =. Goldiwage. Sie erfchten im Iahre 1623.
Gleichſam auf einer Goldwage wollte er die Anſchauungen
feiner Gegner wiegen und danach beurtbeilen. Er weit
auf der Goldwage nad, daß die Kopernikaniſche Lehre,
welche er als frommer Katholik für gänzlich unrichtig er-
achtet und- vollftändig leugnet, in worzüglicher Ueberein-
ftimmung mit ben teleffopifchen Entdeckungen ftehe, die
im Gegentheile mit den andern Weltſyſtemen durchaus
nicht in Einklang zu bringen feier. Man müffe alfo,
ba die Kopernikaniſche Theorie verdammt, die Ptolemätfche
angefichts der neuen Entvedungen unhaltbar fei, nach einer
30 Die Proceffe gegen Salileo Galile
andern fuchen. Der Papft hatte die Widmung des Wertes
angenommen. DBergeblich bemühten fich bie Jeſuiten, ein
Verbot der Goldwage birrchzufegen. Urban urtheilte von
Galilei: „fein Ruhm glänzt am Himmel, fein Ruf erhellt
bie Erbe, mit dem Verbienft der Wifjenfchaft verbindet
er den Eifer wahrhafter Frömmigkeit“. Mehr kann man
doch nicht verlangen, und boch hat dieſer jelbe Urban zehn
Jahre ſpäter Galilei verdammt und aufs graufamfte ver-
folgt.
As Galilei von dieſen Gunftbezeigungen Urban’s
hörte, eilte er wieder hoffnungsfreudig nah Rom, um
auch für feine Sache etwas zu erreichen, bie ihm fo an
dad Herz gemachten war. Doch bei aller Auszeichnung,
bie ihm perjönlich wiverfuhr, erlangte er nichts. Der
Bapft war ein grundfäglicher Gegner des Kopernikaniſchen
Syſtems, und in den öftern und längern Aubienzen, bie
er Galilei gewährte, ſuchte er biefen von feiner Dieinung
abzubringen. Und merfwürbig, gerade dieſe Auszeich-
nungen jollten Galilet verberblich werden. ‘Der Bapft
pflegte ihm folgendes Argument entgegenzubalten: „Gott
tft allmächtig und deshalb geglich Ding ihm möglich; man
fol daher nicht behaupten, er habe etwas auf eine be-
jtimmte Art eingerichtet, weil e8 nur jo und nicht anders
zu den anberweiten Welteinrichtungen pafje; man barf
Gott feine Nothwendigkeit auferlegen wollen. Gott kann
jeine Zwecke auf die verſchiedenſten Arten erreichen, und
fomit ift e8 ein Zweifel an der Allmacht, aljo Ketzerei,
werm man behaupten will, nur in eimer bejtimmien
Weife könne dies oder jenes erreicht werben, weil es fo
gerabe zu den mathemattichen Berechnungen paßt.” Von
biefem Argumente hat Galilei in feinem nächſten Werke
Gebrauch gemacht; bier feßten feine Feinde ein, um ihn
zu ftürgen.
vor ber Inquiſition in Rom. 31
An dieſem Werfe: „Dialog über die beiden Haupt⸗
weltſyſteme, das Ptolemäifche und Kopernikaniſche“, ſpäter
oft unter dem Titel „Systema cosmicum“ aufgelegt, bat
Galilei fünf Jahre feines Lebens gearbeitet (1624-29).
Gegen das Ende des Jahres 1629 war es im weient-
lichen fertig. Der Druck bat fich mehr denn zwei Jahre
verzögert. Er bat das Manuſcript felbjt nach Rom ges
bracht, um bie Druderlaubniß zu empfangen. Sie wurde
ibm vom Magister sacri Palatii, Riccarbi, erthetlt mit
der Maßgabe, eine Einleitung zu jchreiben, welche als
Zwed des Buches die Vertheidigung der Ptotemäiſchen
Lehre angab, und einen der Btolemäifchen Lehre günftigen
Schluß hinzuzufügen. Galilei that das, und nach mans
herlei Verhandlungen und Abänderungen wurde das Im⸗
primatur gegeben. &8 tft nicht unwahrfcheinlich, daß vielen
Verhandlungen und Abänderungen der Papſt ſelbſt nicht
fern ftand, denn Riccardi hat fich jpäter auf ven päpft-
lichen Privatjecretär berufen, biefer auf den Bapft, und
beive Männer haben ihre Stellen eingebüßt. Genug, das
Imprimatur war ertbeilt; formell war auch pie Hypo⸗
thefe gewahrt. Der Drud follte in Rom ftattfinden. Da
brach bier die Peft ans. Galilei erbat und erhielt auch
vom Inguifitor in Florenz das Imprimatur. Dieſer fol
es mit ven Worten ertheilt haben: „man müſſe eigentlich
den Autor um Veröffentlichung bitten, ftatt ihm Hinder⸗
nifje in den Weg zu legen”. So erſchien das Buch mit
boppeltem Imprimatur im Jahre 1632.
Der Inhalt ift kurz der. Drei Männer beiprechen
fih über die Haltbarkeit ver beiden Weltanfchauungen.
Zwei tragen die Namen von verftorbenen Freunden Ga⸗
ſilei's; der eine, Salviati, vertheibigt die Kopernikaniſche
Lehre, der andere, Sagrebo, neigt fich mehr und mehr
ber Kopernikaniſchen Weltanfchauung zu; der dritte aber, ber
32 Die Procejje gegen Galileo Galilei
den Namen Simplicius führt und bei dem Galilei nach
dem ausdrücklichen Zeugniß des Werkes an ben
befannten Kommentator des Aristoteles gebacht bat, ver-
theidigt das Ptolemäiſche Shftem und zieht hierbei be-
ftändig den kürzern. Das Refultat felbft bleibt unent-
ſchieden; feiner erklärt fich für befiegt. Die drei Männer
verabreden vielmehr eine neue Zuſammenkunft zu weiterer
Beſprechung.
Zur Orientirung ſetzen wir die Vorrede und den
Schluß des Dialogs hierher. Die Vorrede lautet:
„In frühern Jahren wurde in Rom ein heilſames
Ediet bekannt gemacht, welches, um gefährliche Aergerniſſe
in der Gegenwart zu vermeiden, der Pythagoräiſchen Mei⸗
nung von der Beweglichkeit der Erde ſchickliches Still⸗
ſchweigen auferlegte. Es mangelte nicht an verwegenen
Behauptungen, dies Decret ſei nicht das Product ver⸗
nünftiger Prüfung, ſondern ſchlecht unterrichteter Leiden⸗
ſchaften, und es erhoben ſich Proteſte, daß in aſtrono⸗
miſchen Beobachtungen total unwiſſende Rathgeber nicht
mit plötzlichen Verboten den ſpeculativen Geiſtern die
Flügel beſchneiden dürften. Mein Eifer erlaubt mir nicht,
zu ſolchen verwegenen Klagen ſtillzuſchweigen. Voll⸗
kommen unterrichtet von dieſer äußerſt klugen Bejtim-
mung, entſchied ich mich dafür, als wahrhaftiger, auf⸗
richtiger Zeuge öffentlich auf dem Theater der Welt zu
ericheinen. Ich war damals in Rom gegenwärtig, ich
fand nicht allein Gehör, fondern auch Beifall bei den
hervorragendften Prälaten dieſes Hofes, und nicht ohne
vorhergehende theilweife Erfundigung bei mir erfolgte
ipäter die Publication dieſes Decrets. Alles dieſes beivog
mich, in meiner gegenwärtigen Arbeit ben fremden Na⸗
tionen zu zeigen, daß man von biejem Gegenſtande in
Stalien, und beſonders in Rom, fo viel weiß, wie bie
vor der Inguifition in Rom. 33
Gelehrſamkeit jenfeit ber :Alpen ſich wol niemals einge-
bilvet hat. Und indem ich alle das Kopernifanifche Syftem
betreffenden Speculationen zufammenfaffe, bemerfe ich da⸗
bei, daß die römiſche Cenſur vorher von allem Notiz ge-
nommen bat, und baß von dieſem Himmelsſtriche nicht
alfein die Dogmen für das Heil der Seelen ausgehen,
ſondern ebenjo bie finnreichen Erfindungen für das Ver⸗
gnügen ber Geifter.‘
Das paßt nun freilich zu dem Inhalt der „Dialoge“
wie die Fauft auf das Auge. Vielleicht wird man auch
ben Schalf nicht ganz abweiſen Türmen. Aehnlich ver-
hält e8 fich mit dem Schluffe. Er lautet:
„Salviati. Jetzt, da e8 Zeit ift, unfere Unterrebungen
zu enbigen, bleibt mir nur noch übrig, euch zu bitten,
daß, wenn ſpäter beim ruhigen Nachdenken über die von
mir angeregten Fragen ihr Schwierigfeiten over nicht
gut gelöften Zweifeln begegnen jolltet, ihr dieſen Mangel
entſchuldigen möget, jet’ wegen der Neuheit des Gedan⸗
kens, der Schwäche meines VBerftandes, der Größe bes
Gegenftandes und endlich deswegen, weil ich von anbern
weder verlange noch verlangt habe, daß fie, was ich ſelbſt
richt thue, einer Phantafie zuftimmen, bie man noch beſſer
eine eitle Chimäre oder ein glänzendes Paradoxon nennen
fönnte. Und obgleich Ihr, Signor Sagredo, Euch mehrere-
mal mit großem Applaus von einigen meiner Gedanken
befriedigt gezeigt habt, fo jchreibe ich Dies doch theils mehr
der Neuheit als der Wahrheit diefer Gedanken, vorzüglich
aber Euerer Höflichkeit zu, welche mir mit Euerem Beifall
Das Vergnügen hat verjchaffen wollen, das wir natür-
Licherweife empfinden, wenn unfere eigenen Ideen Lob und
Zuftimmung finden. Und wie Ihr durch Euere Liebens-
wiürbigfeit mich verpflichtet habt, fo hat mir bie Offenheit
des Signor Simpficio gefallen. Auch die Standhaftigfeit,
XXIV. | 3
34 Die Broceffe gegen Galileo Galilei
mit welcher verfelbe fo kräftig und unerjchroden vie Lehre
feines Meeifters vertheibigt, bat ihm meine volle Zuneigung
erworben. Und wie ich Euch, Signor Sagredo, Dank
fage für Euere Freundlichkeit, jo bitte ih Signor Sim-
plicio um Verzeihung, wenn ich zuwetlen burch übergroßen
Eifer und entſchiedene Sprache ihn gereizt haben follte;
er ſei überzeugt, daß e8 nicht aus böfer Abficht gefchehen
tft, fondern nur, um ibm Gelegenheit zu geben, erhabene
Gedanken vorzutragen, durch welche ich meine Kenntniſſe
bereichern Fönnte.
„Simplicio. Es bedarf dieſer Entfchuldigung nicht, fie
iſt überflüffig, namentlich mir gegenüber, da ich, gewöhnt
an gefellige und öffentliche Disputationen, hundertmal
gehört habe, daß die Disputanten nicht allein fich erhikten
und fich gegenfeitig ärgerten, fondern auch in wirkliche In⸗
jurien ausbrachen und zuweilen nahe daran waren, zu
Thätlichleiten überzugehen. Was nun die ftattgehabten
Unterhaltungen betrifft, namentlich die Ießte, über bie
Urfache ver Ebbe und Flut des Meeres, fo habe ich fie
wirklich nicht ganz aufgefaßt, aber nach der, wenn auch
ſchwachen Idee, welche ich mir davon gemacht habe, be-
Terme ich, daß fie mir viel finnreicher erjcheint als fo
manche andere, bie ich über biejen Gegenftand gehört
habe. Deshalb Halte ich fie aber noch nicht für wahr
oder entſcheidend; auch halte ich mir immer eine höchft
gebiegene Doctrin, welche ich einft von einer fehr ge-
lehrten und hochgeſtellten Perfönlichfeit*) gelernt
habe, und bei der man fich beruhigen muß, vor Die Augen
des Geiftes; und ich weiß, wenn ihr beide gefragt werbet:
ob Gott in feiner unendlichen Macht und Weisheit dem
Elemente des Waſſers die abwechjelnde Bewegung, welche
N
*) Eben Papft Urban VIIL
vor der Inguifition in Rom. 35
wir an bemfelben wahrnehmen, auf andere Weije ver-
leihen könne als dadurch, daß er das Gefäß bewegt, in
welchen das Waſſer enthalten ift, fo fage ich, werbet ihr
antiworten, daß er dies gekonnt und zu machen gewußt
hätte in vielen, unferm Verſtande ganz undenflichen Weiſen;
woraus ich unmittelbar fchließe, daß, dies angenommen,
e8 übermäßige Verwegenheit fein würde, wenn einer feiner
eigenen phantaftifchen Ipee zu Liebe die göttliche Weisheit
und Macht beichränfen und begrenzen wollte.
„Salviati. Wunderbar — wahrhaft englifche Doctrin,
mit welcher jene göttliche vollfommen übereinstimmt, welche,
indem fie erlaubt, über die Conftitution der Welt zu dis⸗
putiren, hinzufügt (wielleicht, vamit wir im Gebrauche ver
menfchlichen Geiftesfräfte nicht ermübden noch ftumpf wer-
den), wir feien nicht da, um das Werk feiner Hänbe zu
ergründen. Es dient alſo diejer von Gott erlaubte ober
befohlene Gebrauch dazu, feine Größe zu erkennen und
fie defto mehr zu bewundern, je weniger wir fähig find,
die tiefen Abgründe feiner unendlichen Weisheit zu burch-
forfchen.
„Sagredo. Und dies ſei der legte Schluß unferer
viertägigen Unterhaltungen u. |. w.” (Folgt noch der Vor⸗
ichlag einer neuen Zuſammenkunft.)
Als feinfinnig dialektifcher Geift offenbart fih Galilei
in diefem Schluß. Aber ohne Zweifel, ver Papft Tonnte
fich verlegt fühlen. Mag Galilei in gutem Glauben ge-
handelt haben, politifch Klug war er nicht verfahren, troß
aller fcheinbaren Correctheit. Die Iefuiten hatten mit
dem ihnen eigenen Scharffinn fofort den ſchwachen Punkt
berausgewittert; fie faßten ven Papft bei feiner verleiten
Eitelkeit, fie fuchten ihm zu überzeugen, Galilei habe ihn
lächerlich machen, Habe ihn in ver Rolle des Simplicius
verfpotten wollen, viefer Simplicius ftehe im ganzen Dialog
3
36 Die Brocefje gegen Salileo Galilei
als Einfaltspinfel da, der Name ſei abfichtlich gewählt,
ihm, dem Papft, ſei Die Rolle eines einfältigen Menjchen
zugetheilt. Die Obrenbläferei verfing; mit hohen Herren
ift nicht gut Kirfchen efjen. Der Bapft war auf Galilei
im höchiten Grave aufgebracht; nur dies erflärt uns feine
Hartherzigkeit gegen den Gelehrten. Man hatte ihm fer-
ner vorgeſpiegelt, das Imprimatur ſei erjchlichen; wenig⸗
ſtens figurirt dieſe angebliche Erſchleichung unter den
officiellen Anklagepunkten gegen Galilei. Urban beftellte
zunächit eine eigene Commiſſion zur Vorunterfuchung; fie
jollte wol einen Anflagegrund ausfindig machen. Nach
vier Wochen war fie mit ihrem Bericht fertig. Diefer
Bericht ift das erfte Actenftüd im zweiten Proceſſe; er
umfaßt fünf Drudfjeiten. Vorforglich waren alle Freunde
Galilei's von diefer Commiſſion ferngehalten. Ihr DBe-
richt ftellt nun folgende Belaftungsgründe gegen Galilei
zufammen. ‘Der Verfaffer des „Dialogs“ habe:
1) Ohne Befehl dazu erhalten und ohne vorherige
Mittheilung davon gemacht zu haben, das „Imprimatur”
auch des römischen Cenſors neben pas des florentiniichen
auf den Titel gefekt;
2) im Werke felbft die Ptolemäiſche Lehre in ven
Mund eines Schwachlopfes gelegt; fie von dem Zuhörer
ber beiden Disputanten, der ihre Vorzüge arg ignorire
oder ganz überſehe, nur ſchwach billigen Laffen;
3) oft fich Ueberfchreitungen der Grenze der Hhpo-
theje erlaubt, theils indem er in beftimmter Weife vie
Bewegung der Erbe, und ben Stillſtand ver Sonne be⸗
hauptet, theil® indem er die Beweife, auf welche Diefe
Anficht ſich ſtützt, als überzeugend und nothwendig be-
zeichnet oder die enigegenftehende Meinung als gänzlich
unhaltbar erjcheinen läßt;
vor der Ingquifition in Rom. 37
4) den Gegenftand als unentſchieden behandelt und
fihb fo angeftellt wie jemand, ber fragt, ob er der
Ueberzeugung ift, daß man um bie Antwort verlegen
fein werbe;
5) jene Autoren, welche ber von ihm vertretenen
Meinung entgegen find, verachtet, obgleich es gerade
diejenigen find, deren fich die heilige Kirche am meiften
bedient;
6) ververblicherweife behauptet, daß auch für den
göttlichen Geiſt die mathematiichen Wahrheiten gewifjer-
maßen gejegmäßige Wahrheiten feien wie für ven menich-
lichen;
7) für feine Meinung auch den Umſtand geltend ge⸗
macht, daß fich fortwährend Anhänger der alten Ptole⸗
möätichen Lehre der Kopernilaniichen Theorie zumwendeten,
nicht aber umgekehrt;
8) die Erfcheinungen der Ebbe und Flut des Meeres
fälſchlich auf die Stabilität der Sonne und bie Be-
wegung ber Erbe, was beides fich nicht fo verbalte,
zurüdgeführt.
Eine geichicte Zufammenftellung von Gründen hatte
die Commiſſion bierin allerdings zu Wege gebracht. Sie
hatte aber felbft eine Ahnung davon, daß biefe acht
Gründe nicht für ein orbentliches Gerichtsverfahren aus⸗
reihen, denn fie fagt in dem Berichte, alles das feien
Dinge, welche berichtigt werben könnten, wenn man fich
von dem Buche, dem man biefe Gunjt erweijen wolle,
Nuten verſpräche, Alfo nach eigenem Geftänpniß. ver
Commilfion könnten biefe Gründe nur zur Verwerfung
bes Buches führen, falls fie der Autor nicht ändern
wolle. Doch man war um den Hauptgrund nicht vers
legen; man hatte ihn nur bis zulegt aufgefpart. Der
fette Abſchnitt des Berichtes lautet:
38 Die Procefje gegen Galileo Galilei
„Der Autor hat den im Jahre 1616 erhaltenen Be-
fehl des heiligen Officiums: daß er bie oben bejagte
Meinung: die Sonne fei das Eentrum ber Welt und un⸗
beweglich, die Erbe Hingegen bewege fih, ganz und gar
aufgegeben babe und an derſelben in feiner Weije
weder fefthalten, noch fie durch Wort oder Schrift lehren
oder vertheibigen dürfe, widrigenfalls gegen ihn im hei-
ligen Officium verfahren werbe, bei welchem Befehle der⸗
jelbe Galilei, Gehorjam veriprechend, fich beruhigte, beim
Nachſuchen der Druderlaubniß betrügerijcherweife ver⸗
ſchwiegen.“
Hier haben wir alſo die Berufung auf die Annotation
von Freitag, den 26. Februar 1616. Auf ſie hat ſich
die Anklage und ſpäter die — Verurtheilung gegründet.
Es iſt wol unzweifelhaft, daß nicht Galilei die Be—
hörde, ſondern dieſe ihn auf einen erhaltenen Befehl auf⸗
merkſam zu machen hatte. Wäre das omnino relinquere,
das quovis modo docere aut defendere verbo aut
scriptis actenmäßig vorhanden geweien, fo bätte man
ſchon die „Goldwage“ nicht geftatten follen, jo hätte man
ibm das Imprimatur omnino verweigern müffen, fo
hätte man einen Drud quovis modo nicht geftatten
dürfen.
Wie verhält es fich num mit dieſer Annotation? Wir
haben ſchon oben gejagt, daß fie im Wiberfpruche mit
ber vom vorhergehenden Tage, mit dem Geheimprotofoll
vom 3. März 1616 und mit dem Zeugniffe Bellarmin’s
fteht. Im Jahre 1621 war dieſer geftorben, ſodaß er ein
weiteres Zeugniß nicht ablegen Tonnte. Wir werben weiter
fehen, daß Galilei ſelbſt nur von Befehlen weiß, welche
Bellarmin ihm ertbeilte, dagegen nicht® von’ einer Ver⸗
wendung durch den Pater Commiffarius Segnitius de
Lauda. Mit unerfchütterlicher Confequenz ftellt ex es in
vor der Inguifition in Rom. 39
Abrede, irgendeinen andern Befehl erhalten zu haben als
den des Cardinals. Sodann ſind in dem Protokolle auf⸗
fallend die Worte successive ac in continenti „gleich
darauf und ohne Unterbrehung”. Was joll das? Erſt
mußte doch eine Unterbrechung, ein Widerſtand von feiten
Galilei's ftattgefunden haben, ehe das ftrengere Verbot
erlaffen werben konnte. So liegt der Gedanke an eine
ſpätere Fälſchung nahe.
Wider eine ſolche macht aber Gebler Folgendes geltend.
Die Aufſchreibung vom 26. Februar beginnt auf derſelben
Seite, auf welcher ſich die vom 25. befindet, und beide
zeigen genau dieſelbe Schrift und Tinte. Eine gleichzeitige
nachträgliche Aufzeichnung iſt dadurch ausgeſchloſſen, daß
dieſe Seiten zweite Blätter zu ſchon vorhandenen Docu⸗
menten ſind. Sodann trägt das Papier ſämmtlicher
in Rom 1615—16 beim heiligen Officium niedergelegten
Schriftftüde das gleiche Wafferzeichen, nämlich. eine von
einem reife umfchloffene Taube, während ſich bafjelbe
auf feinem Papiere aus jpäterer Zeit wieberfindet. Dieſes
Zeichen erfcheint aber auf ven Folios, worauf die Anno-
tationen vom 25. und 26. Februar niedergefchrieben find,
ganz beutlich fichtbar. Enblich rühren noch andere Anno-
tationen aus den Acten von 1616 aus berjelben Hand
her, während biefe Schrift in feinem Schriftitüde bes
ipätern Proceſſes zu finden ift, ſodaß die Annotationen auch)
nicht nachträglich auf zwei leere Seiten hinzugefügt fein
können.
Man wird ſich dem Gewicht dieſer Gründe nicht ver⸗
ſchließen können. Andererſeits waren die Jeſuiten nicht
fo plumpe Fälſcher, daß fie nicht für daſſelbe Papier, die—
ſelbe Tinte, dieſelbe Handſchrift geſorgt hätten. Beſtimmt
von ber Hand weiſen wird man die Fälſchung nicht kön⸗
nen. Wohlwill und Cantor nehmen fie an.
40 Die Proceffe gegen Galileo Galilei
Der altlatholifche Theologe Reuſch Hat einen Mittel-
weg eingefchlagen. Er hält das fragliche Actenftüd für
ben Entwurf eined Protokolls, den der Notar für ven
dal, daß Galilei von dem Commiffar hätte verwarnt
werben müfjen, im voraus fertig gemacht habe, der aber
nicht zur Verwendung fam, weil Galilei fich ver Mah⸗
nung bed Garbinals Bellarmin fügte und darum jene
Verwarnung nicht ftattfand. Diefer Entwurf des Pro-
tokolls, welcher hätte vernichtet werben jollen, wäre 1632
unter ben Acten ber Ingquifition gefunden worben und
bona oder mala fide als ein wirkliches Brotofoll produ⸗
cirt worden. Im dieſem Sinne bat fih Reuſch in feinem
„Theologiſchen Literaturblatt”, Sahrgang 1873, ſowie in
einem in Sybel's „Hiftorifcher Zeitjchrift”, Jahrgang 1875,
veröffentlichten Bortrage über den Proceß gegen Galilei
ausgeſprochen.
Damit iſt aber das successive ac in continenti nicht
zu reimen. Es bleibt ber Verdacht ber Fäljchung be-
fteben. Gebler hat ein Uebriges gethan und bat fih an
den Cardinal Simeont mit der Bitte gewandt, nachforfchen
zu laffen, ob etwa im Geheimarchiv ein Originalbocument
über den Borgang vom 26. Februar 1616 vorhanden fei.
Unter dem 20. Juli 1877 hat ihm ber Earbinal geant-
wortet, daß ein folches ganz umb gar nicht eriftire. Das
aber ift gewiß, daß dieſe unterfchriftliche Annotation in
feiner Weife als ein rechtlich gültiges Document verwendet
werben burfte. Galilei leugnete auf das bejtimmtefte,
etwas davon zu willen; bie Ausbrüde erjcheinen ihm
gänzlih neu (novissime), nie gehört (inaudite); man
hätte ihm durch Nachweis feiner Unterjchrift vom Gegen-
theil überführen können. Man hat es nicht gethan. Ge⸗
rade ber mwejentlichfte Theil der Anklage, der auf Unge-
horfam wider einen geiftlichen Befehl, muß al® nichtig
vor der Inguifition in Rom. 41
erjcheinen; er ift auf Grund eines jwriftiich durchaus
werthlofen Papiers erhoben worden; ebenfo ift die Ver⸗
urtheilung allein auf Grund veffelben rechtlich völlig nich⸗
tigen Schriftſtückes erfolgt.
Am 22. September 1632 erhielt Galilei den Befehl,
nah Rom zu fommen und fich bier vor der Inquifition
zu rechtfertigen. Er erichrat und bat ven Grofßberzog,
fih für ihn zu verwenden. Galilei verfaßte das Schrei-
ben jelbit; e8 hatte feinen Erfolg. Nun wandte er fich
an einen Neffen Urban’s, den Cardinal Barberini; er
bat, man möchte ihm wegen feines Alters (er ſtand im
69. Lebensjahre) dieſe peinliche Reife erlaffen, er gab alle
feine Anfichten preis, er erbot fich, alle feine Manuſeripte
zu verbrennen, er betheuerte jeine Ergebenheit gegen bie
Kirche, er war bereit, fich vor dem Inquiſitor zu Florenz
zu rechtfertigen. Auch das war vergeblich. Er follte nach
Rom. Die rafende See wollte ihr Opfer haben. Er
hätte fich flüchten Tönnen. Die Republik Venedig bätte
ihn gewiß mit offenen Armen aufgenommen. Über hat
nicht dieſelbe Republif Giordano Bruno ber römiichen In-
quifition ausgeliefert? Galilei war deß Zeuge gewejen.
Das Schidjal dieſes Mannes mag ihm angftvoll vor ber
Seele geitanden haben. In bie norbiichen proteftantifchen
Staaten zu fliehen, dazu war er zu fehr Italiener, zu
fehr auch gläubiger Katholik, und dazu war er auch zu
krank. Er litt an der Gicht; er ſchickte ein ärztliches
Zeugniß nach Rom und bat, man möchte ihm die Reife,
wenigftens im Winter, erlaffen. ‘Die Antwort war ein
Befehl des Papftes an den Inguifitor von Zlorenz, Ga⸗
lilei unterfuchen zu laſſen und ihn eventuell gefangen
in Eifen nah Nom zu ſchicken. Die Annotation hier-
über in den Acten trägt das Datum vom 30. ‘December
1632. Sie lautet in der Hauptftelle alfo: „Sit er in
42 Die Procefje gegen Galileo Galilei
dem Zuftande, reifen zu können, foll er ihn gefangen und
in Eifen gefchloffen überführen; muß aber aus Rüdficht
auf die Geſundheit und aus Gefahr für das Leben die
Ueberführung aufgefchoben werben, foll er ihn fogleich
nach der Wieberherftellung der Gefunpheit und nach Auf-
hören der Gefahr überführen.” Diejes Edict ift jedenfalls
bezeichnend für die Stimmung des Papſtes. Ob er darum
Galilei fpäter vor der Tortur gefchügt haben wird, wie
e8 M. Cantor ausfpricht, muß mindeftens als fraglich
erſcheinen. Wenn ein Mann auf flehentliche Bitten jo
antworten kann, wird er fchwerlich feinen ſchützenden Arm
über einen mishandelten Gegner gebreitet haben.
Am 20. Ianuar 1633 trat Galilei feine Reife nach
Rom an; am 13. Februar traf er in der Ewigen Stabt
ein. Er hatte zumächft fein Quartier beim toscanischen
Geſandten, Niccolini. Diefer rieth ihm, alles zu unter-
ichreiben, wa8 man nur immer von ihm verlangen würde.
Galilei war entjchloffen, dieſen guten Rath zu befolgen.
Einen andern Rath des päpftlichen Neffen, fich nicht
öffentlich fehen zu laffen, hatte er fchon befolgt. Zwei
Monate ließ man ihn in Ruhe. Erft am 12. April
batte er fein erftes Verhör, nachdem er in ver eriten
Aprilwoche feine Wohnung nach dem Inquifitionspalaft
hatte verlegen müffen. Er wurde bier milde behandelt,
burfte fogar in den weiten Räumen des Officiums pro>
meniren. Für feinen Tiſch forgte nach wie vor ber Ge-
ſandte.
Galilei hatte ein viermaliges Verhör zu beſtehen.
Das entſpricht genau der Inſtruction der Inquiſitions⸗
behörde. M. Cantor theilt in ſeiner Abhandlung über
Galilei („Zeitſchrift für Mathematik und Phyſik“, Leipzig
1864, S. 187) mit, daß er in einem alten Bande der
heidelberger Univerſitätsbibliothek folgende Proceßordnung
voor der Inguifition in Rom. 43
vorgefchrieben gefunden habe. Sie ftammt von Pater
Ludwig de Ameno, etwa 60 Iahre nach dem Proceß
gegen Galilei: Dean ſoll damit anfangen, daß man ben
Angefchulpigten vorlade, aber nicht etiwa als einen An-
geichulpigten, ſondern in allgemeinen Ausprüden, wie: fein
Erſcheinen jei in einem gewilfen Nechtshandel an dieſem
oder jenem Tage erforderlich, er möge fich daher einfinden.
Sat der Angeichuldigte fich geftellt, jo wird ihm der Eib
aufgetragen, daß er die Wahrheit fagen wolle, und ihm
bann bie Frage vorgelegt, ob er nicht wifje, warım er
vorgelaven jet. Ueberhaupt ſoll ver Richter dem Verlangen
bes Angeflagten, ver etwa die Klagefchrift zu jehen wünſcht,
nicht Folge leiften, jondern darauf bringen, daß er ohne
Kenntniß der Punkte, auf die es anfommt, antworte, denn,
heißt e8, „wenn ber Delinquent ſchon zum voraus weiß,
was man wider ihn geklagt oder ausgejagt hat, item
wie die Beweife lauten, jo kann er ja gar leicht alle Aus-
fagen und Anzeigen burch feine Antworten vereiteln”. In
Bezug auf die einzelnen Verhöre oder Eonjtitute, wie ber
Kunſtausdruck lautet, ſchreibt Ludwig de Ameno vor, „im
erften jolle man nicht über die allgemeinften Fragen
hinausgehen. Im zweiten Conjtitute fommt der Richter
auf die Hauptumftände des Verbrechens; im britten erft
macht er dem Angefchulbigten beftimmte Vorbalte und
droht ihm mit der Folter, wenn er nicht geſtehe. Darauf
findet die peinliche Frage*) in der Folterfammer ftatt.
Umgeben von den Werkzeugen barbariicher Erfindungsfraft
wirb der Angeklagte entlleivet und mit zufammengejchloj-
jenen Händen vernimmt er noch einmal bie Frage, was
er begangen. Das Formular diefes vierten Verhörs ent-
hält die Worte: «weil du noch fo hartnädig in Verleug-
*) Das jog. examen rigorosum.
44 Die Broceffe gegen Galileo Galilei
nung ber Wahrheit ah fo ermahne ich dich nochmals,
lege vie Hartnäckigkeit ab und bekenne die Wahrheit, fonft
wird man dich mit Zorturen dazu zwingen.»*) Wieberum
fagte man ihm: «Wiewol du das Berbrechen wegleugneit,
fo verlange ich von bir die Urfache zu wifjen wegen des
Berbrechens, wegen welches du proceffirt bift.» Gibt and)
jest der Augeflagte noch nicht die gewwünfchten Antworten,
jo fchreitet man wirklich zur Folter. Geißelung, wobei
der Richter noch befonders beftimmt, ob fie mit einfachen
Stridlein, ober mit eifernen Kettlein, oder mit Spik-
gärten, ober Riemen vollzogen werben joll, Zufanmen-
preſſen ber Fußluöchel, in die Höhe ziehen an ven Händen,
welches aber nicht über eine Stunde anhalten foll, Ber-
jengen der mit Fett eingeriebenen Füße an einem Kohlen-
feuer, das find die freunblichen Mittel, mit denen man
ven Angellagten zum Geftehen zu bringen ſucht. Und
wagt das unglüdliche Opfer fpäter, feine vom Schmerz
erpreßte Ausjage zu widerrufen, dann wird ganz einfach
die zeitweife unterbrodhene Folter fortgejekt. ”
Der Proceß gegen Galilei ift ein getrenes Conterfei
dieſer Vorſchriften, nur daß die allerlegten Stufen au
ihm nicht vollzogen zu werben brauchten.
Das erfte Berhör ging am 12. April 1633 vor ſich.
Es umfaßt bei Gebler acht Druckſeiten. Der Inquifitor,
ein perjönlicher Feind Galilei's, den er durch Nichtachtung
feiner ardhitektonifchen Kenntniffe arg gefränft hatte, Bin-
cenzo Diezzolani, fprach Iateiniich, während Galilei italie-
nifh antwortete. Das Protokoll ift von Galilei unter-
ſchrieben. Zunächft alfo ver Schwur, genau die Wahr-
heit zu fagen. Dann vie Frage, ob er ben Grund feiner
Vorladung wiffe oder vermuthe. Galilei erwiberte, er
*) Das fog. examen de intentione.
vor der Ingnifition in Rom. 45
werbe vorgelaven fein, um über fein letzterſchienenes Buch
Rechenfchaft zu geben. Den vorgelegten „Dialog“ aner-
fannte er als fein Werk. Dann ging der Iuquifitor auf
den Proceß von 1616 ein; ob und aus welchem Anlafie
Galilei damals in Rom geweſen fei. Dieſer erwiderte, er
fei aus eigenem Antriebe nad Rom gegangen, weil er
gehört, man hege Bedenken gegen die Kopernikaniſche
Lehre, und weil er habe willen wollen, was ſich gemäß
dem heiligen katholiſchen Glauben von diefer Materie zu
halten gebühre. Weiter bringt der Ingquifitor die Unter⸗
rebungen zur Spradye, vie Galilei damals mit miehrern
Carpinälen der Inquiſitions⸗Congregation geführt habe.
Galilei entgegnete, diefe Unterrebungen feien von ven Car⸗
pinälen zu ihrer eigenen Information gewünfcht worben.
Nun fragte der Ingquifitor nach dem Ausgange des da⸗
maligen Procefjed, worauf Galilei erflärte, die Inber-
Eongregation babe entjchieven, die Kopernifanifche Lehre,
als thatjächliche Gewißheit behauptet, wiberftreite der Hei-
ligen Schrift; fie fei aber als Hypotheſe zuläffig. Und
nun fpist fi) das Verhör allmählich auf bie oben bes
fchriebene Aunotation von 26. Februar 1616 zu.
Inguifitor. Ob ihm damals der in Rebe ftehenpe
Beſchluß mitgetheilt worven fei und von wen?
Galilei. Es wurde mir dieſe Entſchließung ber hei-
figen Inder-Eongregation bekannt gegeben und zwar von
dem Herrn Carbinal Bellarmin.
Inguifitor. Er möge berichten, was Se. Eminenz
bezüglich des genannten Beichluffes mitgetheilt habe, und
ob diefer ihm noch etwas anderes darüber gefagt und was?
Galilei. Der Herr Earbinal eröffnete mir, daß bie
befagte Kopernilanifche Meinung als bloße Unterftellung
ftattbaft fei, fo in der Art, wie Kopernikus an ihr ge-
halten habe, und Sr. Eminenz war es auch befannt, daß
46 Die Proceſſe gegen Galileo Galilei
ich gleich Kopernikus jene Lehrmeinung nur fupponire;
man erfieht das aus einer Antwort beijelben Herrn Car⸗
binal® auf einen Brief des Pater Paolo Antonio Yosca-
rint, Provinziald der Karmeliter, von welcher ich eine
Abſchrift befige, und in welcher e& beißt: „Es fcheint
mir, daß Euer Hochwürben und ber Herr Galilei Flug
daran thun, fich zu begnügen, unterjtellungsweife
und nicht wie von unzweifelhaften Dingen zu ſprechen.“
Diefer Brief des Herren Cardinals ift vom 12. April
1615 Datirt. Im anderer Weife aber, d. 5. mit Gewiß-
heit behauptend, bürfe man jene Meinung weder feithalten
noch vertheibigen. (Das ne tenere, ne defendere.)
Inquifitor. Er möge erzählen, was im Monat
Februar 1616 beichloffen und ihm eröffnet worden fei.
Galilei. Im Monat Februar 1616 fagte mir der
Herr Cardinal Bellarmin, daß, da die Meinung bes
Kopernifus in der Form beitimmter Behauptung ber Hei-
ligen Schrift entgegen fei, man weber an ihr fefthalten,
noch fie vertheidigen dürfe; daß man fie aber als Unter-
ftellung auffafjen und in diefem Sinne darüber fchreiben
fönne. Uebereinſtimmend befige ich ein Zeugniß von dem⸗
jelben Herren Cardinal Bellarmin, ausgeftellt am 26. Mai
1616, worin er fagt, daß die Kopernifaniiche Anficht
weber feitgehalten noch vertheidigt werben bürfe, daß fie
ber Heiligen Schrift wiberjtreite, von welchem Zeugniſſe
ich hiermit Abfchrift vorlege.
Inguifitor. Ob, als ihm obgemelvete Mittheilung
gemacht wurte, noch andere Perſonen zugegen waren
und wer?
Galilei. AS der Herr Cardinal mir befannt gab,
was ich betreſſs der Kopernikaniſchen Anficht berichtet
babe, waren einige Dominicaner-Patres anwejend; aber
ich Tannte fie nicht, noch ſah ich fie je wieder.
vor der Inguifition in Rom. 47
Snguifitor. Ob ihm in Anweſenheit jener Patres
von dieſen oder jemand anderm ein Befehl über ebendieſen
Gegenjtand ertheilt worben ſei und welcher?
Galilei. Ich erinnere mich, daß die Verhandlung
in folgender Weiſe verlief: Der Herr Carbinal ließ
mich eines Morgens zu fich rufen und machte mir bie
Eröffnung, man dürfe die Kopernikaniſche Meinung als
der Heiligen Schrift widerſprechend nicht feithalten noch
vertheibigen. Es ift meinem Gebächtniffe entſchwunden,
ob jene Dominicaner-Patres früher da waren, ober ob
fie erft jpäter famen; ebenjo wenig entfinne ich mich, ob
fie gegenwärtig waren, al8 der Herr Cardinal mir fagte,
dag man bie bewußte Meinung nicht fefthalten dürfe.
Es Tann fein, daß mir ein Befehl ertheilt wurde, ich
jolle die genannte Anficht weder fefthalten noch verthei-
digen, aber ich erinnere mich nicht daran, denn es ift
dies eine Sache von mehrern Jahren.
Inguifitor. Ob, wenn man ihm vorlefe, was ihm
damals gejagt und befohlen worden, er fich deſſen ent-
finnen werde?
Galilei. Ich erinnere mich nicht, daß mir etwas
anderes gejagt oder auferlegt worden wäre, noch weiß ich,
ob ich mich an das, was mir damals gejagt wurde, er-
innern werbe, felbjt wern man mir es vorlieft. Sch be-
fenne offen alles, deſſen ich mich erinnere, weil ich mir
nicht beivußt bin, die mir gegebenen Vorſchriften in irgend⸗
einer Weiſe übertreten, d. b. die erwähnte Meinung von
ber Bewegung ber Erde und dem Feſtſtehen der Sonne
vertheidigt zu haben.
Der Inguifitor fängt num von dem quovis modo
docere, tenere aut defendere an und fügt hinzu, daß
biefer Befehl vor Zeugen ertbeilt fet.
Galilei entgegnet: Ich enifinne mich nicht, daß
48 Die Brocefje gegen Galileo Galilei
biefer Befehl mir von jemanb anderm ald mündlich von
bem Herrn Cardinal Bellarmin eröffnet worden wäre,
aber ich erinnere mich wohl, daß der Befehl lautete: ich
dürfe nicht fejthalten und nicht vertheidigen; es kann fein,
daß noch dabei gewefen ift „und nicht lehren“. Ich er-
erinnere mich deſſen nicht, auch nicht, daß die Beſtim⸗
mung „in keiner Weije‘ dabei gewejen wäre, aber es
fann fein, daß fie Dabei war; denn ich habe parüber nicht
weiter nachgedacht, noch mich bemüht, die Worte meinem
Gedächtniſſe einzuprägen, da ich wenige Monate ſpäter
jenes hier vorgelegte Zeugniß des genannten Herrn Care
dinals Bellarmin vom 26. Mat erhielt, in welchem fich
bie mir ertheilte Vorjchrift, jene Meinung nicht feſtzu⸗
halten noch zu vertbeidigen, ausgedrückt findet. ‘Die bei-
den andern Beitunmungen, der bejagten VBorfchrift, welche
mir eben befannt gemacht wurben, „nicht zu lehren” und
„in keiner Weiſe“ habe ich nicht im Gebächtniffe behalten;
ich glaube, weil fie in dem bewußten Zeugniffe, auf bas
ich mich verlaffen und das ich zu meiner Erinnerung auf-
behalten habe, nicht erwähnt find.
Inquiſitor. Ob er, nachdem der befagte Be—
fehl ertheilt worben fet, irgendeine Erlaubniß erhalten
babe, das von ihm als fein Werk anerfannte Buch, wel-
ches er auch jpäter habe druden lafjen, fchreiben zu
bürfen?
Galilei. Nach Empfang des vorerwähnten Befehls
habe ich nit um die Erlaubniß nachgejucht, oben ge⸗
nanntes Buch, das ich allerdings als mein Werk aner-
fenne, jchreiben zu dürfen, weil ich nicht glaube, durch
Abfaffung deſſelben irgendwie dem Befehl, die bewußte
Meinung weder feitzuhalten, noch zu vertheivigen ober
zu lehren, entgegengehandelt, fondern biejelbe vielmehr
widerlegt zu haben.
vor der Inguifition in Rom, 49
Zuletzt kommt der Inquiſitor auf die Druckerlaub⸗
niß zu ſprechen und fragt, ob Galilei bei dem Anſuchen
um dieſe Erlaubniß dem P. Magister sacri Palatii
Mittheilung von dem oben befprochenen, im Auftrage ber
heiligen Index⸗Congregation ihm ertheilten Befehle ge-
macht babe.
Galilei. Bon dem Befehle babe ich dem P. Ma-
gister sacri Palatii gegenüber nichts erwähnt, weil ich es
nicht für nöthig erachtete; es ftiegen mir eben keinerlei Be⸗
denken auf, ba ich durch jenes Buch die Meinung von ber
Bewegung der Erde und dem Stillftande der Sonne weber
feftgehalten noch vertheibigt habe, ich vielmehr in biefer
Schrift das Gegentheil der Kopernikaniſchen Lehre erweiſe
und zeige, daß die Gründe des Kopernifus Traftlos und
nicht entſcheidend find.
Daß Galilei gegen das Ende des Verhörs wider
jeine Ueberzeugung rebet, ift Har. Entweder that er das
dem „guten Rathe“ des Geſandten zu Liebe oder er war
ihon halb und Halb mürbe. Aber ebenfo Har ift, daß
der Inguifitor nicht fichern Rechtsboden unter den Füßen
hatte. Er fängt von Zeugen an; Galilei weiß nur von
etlichen Dominicaner-Patres, deren Anwefenheit ihm eine
zufällige zu fein jchten. ‘Der „Befehl“ vom 26. Februar
führt den Pater-Commilfar des heiligen Offieiums nament-
fh an, alſo eine eminent officielle Perjönlichkeit. Das
bat man Galilei verheimlicht. So gewiſſenlos aber dieſer
in der Berleugnung feiner Kopernikaniſchen Weltanfchauung
ericheint, jo gewifjenhaft verführt er darin, daß er zugibt,
es fünne ihm auch ver Befehl des quovis modo docere
ertheilt fein, nur erinnere er fich beffen nicht. Der ge-
wiffenhafte Menſch thut aber Lieber ein Mehreres, ehe
er fich ver Möglichkeit eines Irrtbums ausſetzt. Man
beachte auch, wie während des Verhörs aus bem monere
xXIV. 4
50 Die Procefje gegen Galileo Galilei
bes Cardinals ein mandare geiworben, aus ber Berwar-
nung ein Decret.
Das zweite Berhör, in dem man hätte beutlicher wer-
ben müſſen, fand am 30. April und zwar auf das eigene
Verlangen Galilei's ſtatt. Offenbar wollte er feinen
Feinden durch Fügſamkeit zuvorkommen. Er nahm jogleich
das Wort und hielt eine Rede, in welcher er das DBe-
kenntniß feiner Schuld darlegte. Sie ift zu charakteriftiich,
al8 daß wir uns mit einer kurzen Inhaltsangabe begnügen
fönnten. Ste lautet:
„Nachdem ich jüngft mehrere Tage hindurch über die
im Verhöre an mich gerichteten Fragen unausgejegt und
angelegentlich nachgedacht babe, namentlich über jene: ob
mir vor 16 Iahren vom heiligen Officium das Verbot
ertheilt worven fei, die eben damals verdammte Lehre von
ber Bewegung der Erde und dem Stillftehen ver Sonne
in irgendeiner Weiſe weder feitzuhalten, noch zur verthei-
digen oder zu lehren, kam mir ver Gebanfe, meine ge-
druckten Dialoge, bie ich feit drei Jahren nicht wieder
angefehen hatte, wieder einmal zu überlejen, um aufmerf-
ſam zu unterfuchen, ob mir vielleicht ganz gegen ben
Willen aus Unbedachtſamkeit etwas in bie Feder gekom⸗
men wäre, weshalb ver Leſer oder die Obern mir nicht
nur Ungehorfam im allgemeinen, fondern auch gewiſſe
Einzelheiten zum Vorwurfe machen könnten, die zu ber
Meinung führen müßten, ich hätte die Befehle der hei-
ligen Kirche misachtet. Da es mir infolge der gnädigen
Erlaubniß der Obern freigeftellt war, meinen ‘Diener
umherzuſchicken, juchte ich mir ein Eremplar meines Wer-
fes zu verfchaffen und begann, als mir dies gelungen,
dafjelbe mit der größten Aufmerkſamkeit purchzulefen und
eingehend zu prüfen. Es erjchien mir faft, weil ich es
jo Lange nicht in Hänven gehabt, als eine neue Schrift
vor ber Inguifition in Rom. 51
und wie von einem fremden Autor. Und in ber That
bat fie mir an mehrern Stellen den Eindrud gemacht,
als habe infolge der Faſſung dieſer Stellen der mit mei-
ner Denkungsart nicht vertraute Lefer zu der Meinung
fommen können, die Beweife für den falfchen Theil,
den ich zu widerlegen im Sinne gehabt, feien doch faſt
mit mehr Nachdruck vorgetragen, als der Zwed, fie zu
widerlegen, geftatte. Namentlich werben zwei Argumente:
das eine von den Sonmenfleden, das andere von ber
Ebbe und Flut des Meeres, dem Leſer als fo beweisfräftig
und überzeugend vorgeführt, daß es fcheint, als habe ver
Verfaſſer fie für entjcheivend gehalten und nicht für wiber-
legbar, wie e8 wirklich der Fall war und noch ift. Ich
war in einen meiner Abjicht völlig fern gelegenen Irr⸗
thum verfallen, aber wie war das gefommen? Freilich
ſoll man die Beweisgründe bes gegnerifchen Theils, bie
man widerlegen will, auf das genauefte darftellen, be-
jonders wenn man ſich der Form von Rede und Wiber-
rede bedient; man ſoll fie gewiß nicht vorjäglich ab-
ſchwächen behufs leichterer Ueberwindung des Gegners,
welchem fie in dem Dialog in ven Mund gelegt fin;
allein mit diefer Erwägung war der Fehler, auf dem ich
mich ertappte, noch nicht genügend erklärt; der Fehler
war, wie ich bei gründlicher Selbitprüfung erfannte,
baraus entiprungen, daß ich bei der Abfaffung des
Buches mich ſchwach zeigte, wie jeder andere in gleichem
alle, der Behagen daran empfindet, feinen Scharffinn
ipielen zu laffen und durch das Auffinden geiftreicher und
plaufibel klingender, wenngleih im Grunde unhaltbarer
Behauptungen fich geſchickter zu zeigen als andere Men-
chen. Obgleich ich nun mit Cicero fagen muß, «baß ich
ruhmbegieriger bin als gut ift», jo würbe ich Dennoch,
wenn ich die Beweisgründe für das Kopernikaniſche Syftem
4*
52 Die Procefje gegen Galileo Galilei
noch einmal barzuftellen hätte, fie ohne Zweifel berartig
entträften, baß fie auch fo ſchwach erjcheinen jollten,
wie fie in Wirklichkeit find. Ich habe alfo einen Irr-
thum begangen und zwar, wie ich eingeftehe, aus eitler
Ehrbegier, aus reiner Thorheit und Unbebachtiamfeit.
Das tft e8, was ich ausfagen wollte und was mir beim
Durchlefen meines Buches in ben Sinn kam.“
Man erichrict über dieſe Selbfterniebrigung und dieſe
Unwahrhaftigkeit Galilei's, der fich Hierdurch felbjt ver-
nichte. Man wirb aber dem Inbivibuum, das fich fo
vergißt, weniger Vorwürfe machen dürfen als ber Kirche,
die fih jo etwas bieten läßt und die fo etwas verlangt.
Galilei glaubte ohne Zweifel, feinen Richtern wohlgefällfig
zu handeln. Wie traurig ift doch diefe Macht der rö-
mifchen Kirche! Welch unheilvollen Einfluß übt fie auf
bie Seelen aus!
Das Verhör wurde gefchloffen. Galilei wurde abge-
führt. Da drehte er fich noch einmal um und erklärte
feine DBereitwilligfeit, nunmehr gegen SKopernifus zu
jchreiben:
„Zur größern Bekräftigung, daß ich die als unzu-
lälfig verdammte Meinung nicht für wahr gehalten habe
noch fie jeßt für wahr halte, bin ich bereit, noch einen
weitern unziweifelhaften Beweis zu liefern, wenn mir bie
erwänfchte Zeit und Gelegenheit hierzu vergönnt werben.
Ein jehr günftiger Anknüpfungspunkt bietet fich hierzu
darin, daß in dem von mir herausgegebenen Buche bie
Perſonen, welche die Dialoge halten, fich verabrebet haben,
nad ‚einiger Zeit wieder zujammenzutreffen, um ſich über
andere naturwifjenfchaftliche Fragen zu beiprechen. Wenn
mir vie Gelegenheit gegeben würbe, ven Gejprächstagen
noch einen oder zwei weitere «Tage» Hinzuzufügen, fo
würde ich verfprechen, die zu Gunften ber bewußten fal-
vor ber Inquifition in Rom. 58
ſchen und verpönten Meinung angeführten Gründe noch-
mals aufnehmen und fie anf bie wirkſamſte Weife, welche
mir der barmberzige Gott fchon eingeben wird, zu wiber-
legen. Ich bitte deshalb dieſen hohen Gerichtshof, mir
zur Ausführung dieſes guten Vorſatzes behülflich zu fein.
Hier hat man das laudabiliter se subjecit in beiter
Form. Es hat Galtlei nichts genügt, ein Beweis, daß
man unter allen Umftänden an ihm Rache nehmen wollte.
Um fo fchlimmer aber ift das, weil aus Briefen, welche
ber Bibliothekar der Familie Barberint im Iahre 1875
herausgegeben hat, erhellt, daß gerade ver vie Unterfuchung
führende Commiffar ihn vor dem Verhöre, am 28. April,
zu dieſem felbftwernichtenden Belenntuiffe veranlaßt hat
unter der BVorfptegelung, man mwürbe dann Gnade vor
Recht ergeben laffen. Nur zu einer Erleichterung verhalf
biefer 30. April dem Delinquenten: er burfte in das tos⸗
caniiche Gefandtichaftshotel zurüdfehren; vorher mußte er
jedoch beichwören, daſſelbe nicht zu verlaffen, mit Teinem
andern als mit ben Bewohnern des Palaftes zu ver-
kehren, ftrengjtes Stillfchweigen zu beobachten und, jo oft
er vorgefordert werbe, fich vor dem Tribunal zu, ftellen.
Im dritten Verhör, am 10. Mat, eröffnete ihm P.
Mezzolani, daß ihm eine Frift von acht Tagen gewährt
fet zur Einreichung einer Vertheivigungsichrift. Galilei
batte dieſelbe bereit$ in ver Taſche und überreichte fie dem
Inquiſitor. Er hatte Folgendes nievergefchrieben:
„Befragt, ob ih den ehrwürbigen P. Magister sacri
Palatii von dem mir vor beiläufig jechzehn Jahren per:
ſönlich ertheilten Befehle unterrichtet hätte, laut Verord⸗
nung des heiligen Offictums Die Meinung vor der Beivegung
ber Erde und dem Stillftehen ver Sonne weder feitzu-
halten noch zu vertheidigen, noch in irgendeiner Weiſe
zu lehren, erwibere ich: Nein! Da ich dann nicht weiter
54 Die Proceffe gegen Galileo Salilei
um bie Urjache gefragt worben bin, warum ich ihn nicht
davon in Kenntniß gefett babe, fo fehlte mir bie Ge⸗
fegenbeit, mich näher über dieſen Punkt zu erklären. Es
ericheint mir aber nöthig, dies nachträglich zu thun, um
meine gute Abficht zu erweiſen, in ber ich bei meinem Thun
von Trug und Berftellung mich immer fern gehalten habe.
Ich greife alfo bis zum Jahre 1616 zurüd. Einige mir
übelwollende Perſonen hatten das Gerücht verbreittet, ich
jet von Sr. Eminenz dem Carbinal Bellarmin vorgeladen
worben, um gewiffe, angeblich von mir gebegte Meinungen
und Lehren abzufchwören, hätte dies auch thun müffen,
wie mir denn auch noch eine Buße auferlegt worben jet.
Ich ſah mich infolge deſſen genöthigt, Se. Eminenz um
ein Zeugniß zu bitten, in welchen ver Cardinal erklären
möge, behufs welchen Zweckes ich vor ihn berufen geweſen
jet. Ich erhielt das eigenhänbig von ihm gefchriebene
Atteft, deſſen Original ich hiermit überreiche. Aus dem⸗
felben ift Har zu erjehen, daß mir blos angekündigt wurde:
man bürfe bie dem Kopernikus zugefchriebene Lehre von
ber Bewegung der Erbe und dem Stillftehen der Sonne
weber feitbalten noch vertheibigen, daß mir aber außer
diefem für alle gültigen Ausspruch irgendetwas anderes
im befondern anbefohlen worden wäre, darüber befindet
fih in jenem Zeugniffe nicht die geringfte Spur. Da
ich zu meiner Erinnerung biejes authentifche Zeugniß von
ver Hand befjelben Mannes beſaß, ver mir die Vorſchrift
ertheilt hatte, jo babe ich nicht weiter über die Aus-
brüde, welche bei der mündlichen Meittheilung des Befehls
gebraucht wurden, nachgebacht, noch mich bemüht, fie im
Gedächtniſſe zu behalten, ſodaß bie andern Beftimmungen
außer dem «fejthalten» und «vertheidigen», nämlich «zu
lehren» und «in feiner Weije» mir vollftändig wie neu
Hinzugefommen und als nie gehört erfcheinen.” (Das do-
vor der Inguifition in Rom. 55
cere und das quovis modo find im Manuſcript mit
großen Yuchftaben gejchrieben, das quovis außerdem unter:
ftrichen.) „Ich denke, man wird meiner Verficherung Glau-
ben fchenfen, daß mir im Laufe von 14—16 Jahren jebe
Erinnerung an jene Worte vollftändig entſchwunden ift,
und dies um fo mehr, da ich, im Befite einer fo voll-
wichtigen ſchriftlichen Erinnerung, nicht nöthig Hatte,
fie im Kopfe zu behalten. Wenn man num die genann-
ten beiden Beſtimmungen wegläßt und nur die beiven in
dem vorliegenden Zeugniffe angeführten beibehält, fo bleibt
fein Zweifel, daß bie darin enthaltene Anordnung
diefelbe jei, wie pie durch das Decret ber heiligen
Congregation des Inder erlajjene Vorſchrift
(sc. vom 5. März 1616). Daburch aber fcheint e8 mir
binlänglich emtjchulpigt zu fein, daß ich ven P. Magister
sacri Palatii von dem mir perjönlich zugefertigten Befehle
nicht in Kenntniß geſetzt babe, da ja derfelbe mit dem
von der SInder- Eongregation verlautbarten
völlig gleich if. Auch das wird man mir zugeben,
daß ich, nachdem mein Buch feiner ftrengern Cenfur unter-
lag, als der von jenem Inber-Decret geforverten, bemüht
war, e8 von jevem Schatten eines Makels zu reinigen,
indem ich daſſelbe dem oberjten Inquifitor‘ (eben dem P.
Magister sacri Palatii) ‚‚vorlegte, und das gerade in einer
Zeit, wo viele den nämlichen Gegenstand behandelnde
Bücher einzig Traft jenes ‘DecretS verboten wurben. Aus
dem Gefagten glaube ich die fefte Hoffnung fchöpfen zu
bürfen, daß meine hochwürdigen und weilen Richter von
dem Gedanken: als babe ich wiſſentlich und vorjäglich
bie mir ertheilten Befehle überjchritten, ablaffen und viel-
mehr erfernen werben, bie in meinem Buche vorkommen⸗
ben Verftöße feien keineswegs verftohlen und mit Hinter-
lift darin eingeführt worben, ſondern fie jeien mir Lediglich
56 Die Broceffe gegen Galileo Galilei
aus der Feder geflofien, weil ich in eitelm Ehrgeiz ſcharf⸗
finniger babe erjcheinen wollen als andere Schriftiteller.
Sch habe das bereits in meiner vorigen Ausſage befannt
und bin bereit, biefen Fehler wieder gut zu machen, wenn
mir dies von den hochwürbigen Herren anbefohlen over
geftattet wird. Schließlich bitte ich um Berüdjichtigung
bes bemitleivenswürbigen körperlichen Zuftandes, in den
ih, ein Siebziger, durch den zehnmonatlichen Kummer
und bie Beichwerven einer langen mühſamen Reiſe in ber
ſchlimmſten Jahreszeit gerathen bin, ſodaß ich auf ven
größten Theil der Lebensjahre, welche die frühere Be⸗
ſchaffenheit meiner Gefunpheit in Ausficht ftellte, wol
werde verzichten müſſen. Mein Vertrauen in bie Huld
und Gnade der hochwürbigjten Herren, meiner Richter,
gibt mir den Muth zu diefer Bitte. Mögen ſie gütigit,
angefichtS fo vieler Leiden, bei dem binfälligen Greife,
der ſich ihrem Schutze unterthänigft empfiehlt, von ber
ganzen Höhe der verbienten Strafe abſehen.“
Dean athmet bei biefer Vertheivigungsfchrift erleich-
tert auf; endlich hat ſich Galilei ermannt, zwar nicht zu
einer fühnen, aber doch würbigern Sprache als bisher;
jeine juridiihen Motive find klar und wahr; rechtlich ftand
die Sache fo, wie er fie auffaßt und darſtellt. Daß er
noch eine captatio benevolentiae einfließen läßt, mag
fih aus dem Gefühl ver Furcht erflären, von der er nun
einmal nicht 108 konnte. Manches wirb auch auf bie üb-
lichen höflichen Formen amtlicher Eingaben zu jegen fein.
Bon einem „Gewimmer“ zu reven (wie es Fridolin Hoff:
mann in feiner „Gejchichte der Inguifition”, Bonn 1878,
thut, deſſen Ueberſetzung und Anführung der Actenftüde
wir zum Theil gefolgt find), liegt wenigſtens bei dieſer
Dertheidigungsichrift Feine Veranlafjung vor.
vor der Inguifition in Rom. 57
Das erjte Actenftüd*) tft ein hiſtoriſches Referat über
den Verlauf ber beiden Proceſſe bis zu diefem 10. Mat.
Es wird an ber Zeit fein, hier nach Gebler einiges über
die Acten jelbft einzufchalten. Site bilden heute einen ziem-
lich ftarfen Duartband von 22 cm Breite und 30 cm
Höhe. Das Manufcript bat nicht weniger als 194 un-
beichriebene Seiten, theils Rückſeiten, theil® zweite Blätter
von Documenten. Es Täßt fich aber leicht finden, zu
welchem Actenftüde jedes weiße Blatt gehört. In ber
Paginirung des Manufcripts herricht die allergrößte Un-
ordnung. Es gibt eine dreifache Numerirung. ‘Die alte
Numerirung umfaßt ſämmtliche Actenftüde, die zum Pro-
ceffe vom Jahre 1616 gehören; fie waren in einem Bande
des Archivs des heiligen Officiums erhalten, der die Num-
mer 1181 trug. Die Actenftüde des zweiten Procefjes
(1632/33) müfjen einem andern Bande jenes Archivs an-
gehört haben, wie aus ihrer Paginirung hervorgeht, vie
auf dem erſten Documente, dem großen Bericht der zur
Borunterfuhung eingefegten Specialcommiffion an ben
Bapft, die Ziffer 387 aufweift. Als man num die Acten
ber beiden Galilei'ſchen Proceffe aus den zwei verſchiedenen
Bänden heraushob und miteinander verband, wurbe zur
Erzielung einer fortlaufenden PBagination die alte Be-
zifferung bes erſten Procefjes gejtrichen und biefelbe da—
durch erjeßt, daß man vom eriten Folio des zweiten Pro>
ceſſes nach rückwärts zählte und danach paginirte.
Hierzu kommt aber noch eine dritte Pagintrung, bie
auf dem untern Rande des Papiers angebracht ift, und
auf dieſe wirb in der hiftoriichen Einleitung wiederholt
bingeiwiefen; fie reicht aber nur fo weit als bie Acten,
*) Das ganze Actenftäd enthält nicht weniger als 131 Rum-
mern.
58 Die Proceſſe gegen Galileo Galilei
welche von den Ereigniffen bis zum 10. Mat handeln.
Daher mag in diefer Zeit nach dem 10. Mat bis zum
21. Juni (dem nächſten Verhöre Galilei's) die Vereini-
gung der Acten entftanden fein, und zwar durch den Ber-
faffer der biftorifchen Einleitung, ber zugleich diefe neue
Paginirung beforgt haben mag. (Wir jetgen hinzu: zu
ichnellerer Drientirung für fih.) Tinte und Charakter
ber dritten Numerirung ſtehen in genauer Webereinftim-
mung mit ber zweiten PBagination. Iſt dieſes richtig,
dann wird man auch Gebler darin zuftimmen müffen,
daß dieſe Hiftorifche Einleitung für den Papft und bie
Congregation abgefaßt fein mag behufs Teititellung des
Schlußverfahrens gegen Galilei. Das erklärt volllommen
das Tendenziöſe biefer Inhaltsüberficht, in der alles zu
Ungunften Galilei's zufammengeftellt ift. Hier find bie
Annotationen vom 25. und 26. Februar 1616 in Eins
verſchmolzen. Schon die erjtere enthält das verfängliche
quovis modo. Bellarmin ertheilt dem Galilei ven pre-
cetto di lasciate e non tractare in modo alcuno di
d® opinione dell immobiliat& del sole, della stabi-
. lita della terra. Das zweite hat nur an Stelle des
relinquere ein deserere. Das vernichtende Selbftbefennt-
niß Galilei's aber vom 30. April hat der Auszug ganz,
während feine Vertheidigungsſchrift abgekürzt wiederge⸗
geben iſt. Offenbar ſollte Galilei dadurch doppelt belaſtet
erſcheinen; auf der einen Seite ſein völliges Geſtändniß,
auf der andern ſeine klare Rechtsverwahrung. In dieſe
Zeit paßt alſo der Auszug ganz gut hinein. Auffallend
bleibt aber immerhin, daß er an erſter Stelle in den
Acten ſteht. Das hat Wohlwill auf den Gedanken ge⸗
bracht, die Abfaſſung dieſes Auszuges in die Zeit der
Wegführung der Acten nach Paris zu verlegen. Er ſollte
gewiſſermaßen die Inquiſition vor der Welt rechtfertigen.
vor ber Inguifition in Rom. 59
Wohlwill fucht eine Beftätigung in dem erften DBlatte,
welches folgende Form bat:
Florentin: Vol. 1181. 226
Ex archivo S. Offij.
L | Co (= contra)
Galileum Galilei Mathematicum.
Dem ex archivo will und ba eine zu große Beben-
tung beigelegt erjcheinen. Vermuthlich tragen doch alle
Actenftüde dieſes ex. Ganz unbeachtet wird indeß dieſe
fühne Combination nicht bleiben können, zumal ein an-
deres hiſtoriſches Referat über ven Proceß, 100 Jahre
fpäter abgefaßt, als es fich um bie Errichtung eines Denk⸗
mals für Galilei in der Kirche Santa-Eroce zu Florenz
handelte, das vorlegte des ganzen Actenjtüdes, ih an
feiner richtigen Stelle befindet.
Wir neigen uns alfo der Gebler’ichen Anſicht zu. Die
Sitzung zur Beſtimmung des Schlußverfahrens fand am
16. Juni ſtatt und zwar in Gegenwart des Papftes als
geborenen Präfidenten der Congregation ber heiligen römi-
chen und allgemeinen Ingquifition. In der Zwifchenzeit vom
10. Mai bis 16. Juni waren noch Gutachten eingeholt
worben. Auch das war vorichriftsmäßig. Die juriftifchen
und theologischen Confultatoren fpielten bei der Entjchei-
bung ber Ingquifitionsproceffe ſogar eine fehr wichtige
Rolle; Anklage, Beweisaufnahme und Vertheibigung wur-
ben ihnen zur Begutachtung vorgelegt. Die „Kanoniften‘‘
hatten über die Art des Verfahrens und über die DBe-
ftrafung des Angeflagten ihr Votum abzugeben; auch eine
Anwendung ber Zortur wurde nicht befchloffen ohne bie
Confultatoren. Die Anficht der Eonjultatoren kann durch
ben Befehl des Papftes erfegt werben, Eine befonbere
60 Die Proceffe gegen Galileo Galilei
Willensmeinung bes Papftes ſteht nicht in den Galiler’-
chen Acten. Alſo müßten die Gutachten ver Confultatoren
in ihnen ftehen. Sie find auch da, aber nur bie ber
Theologen; bie der Yuriften fehlen. Entweder bat man
bie Gutachten der Juriſten beifeitegefchoben, weil fie Ga⸗
lilei günſtig waren, oder man hat fie fpäter entfernt, weil
fie, entgegengefegtenfall®, die Anwendung ber Tortur
empfohlen. Die tbeologifchen Confultatoren, bie über bie
Ketzerei zu enticheiveu haben, fommen in den Acten voll-
ſtändig zu Worte. Ihre Namen find: Auguftin Oregius,
Melchior Inchofer und Zacharias Pasqualigus. Gie
iprachen fich ziemlich übereinftimmend aus; die Gutachten
jelbit find kurz. So lautet das von Inchofer:
„Meine Meinung ift, daß Galilei das Stillſtehen
oder die Ruhe der Sonne als des gefammten Centrums,
um welches fich jowol die Planeten als auch Die Erbe
in ihren eigenen Bewegungen drehen, nicht nur [ehrt
und vertheibigt, ſondern Daß er auch ber feiten An⸗
ſchließung an diefe Meinung ſehr verbächtig jet und
daß er fie daher feithalte.”
Um fo ausführlicher find die von allen drei zuſammen⸗
gejtellten Gründe für die Gutachten. (Rationes quibus
ostenditur Galilaeum docere, defendere, ac tenere
opinionem de motu terrae.) Dieſe rationes füllen bei
Gebler achtzehn Seiten. Die nächften vier Folioſeiten aber
find nach Gebler in ven Acten weiße Blätter. Bei den
vielen weißen Blättern, welche die Acten enthalten, kann
daraus in Anjehung der juriftifchen Gutachten nichts ge-
ichloffen werben. Jedenfalls ift ihr Fehlen bedenklich.
Auf Grund diefer Gutachten hatte die Sigung vom
16. Juni folgendes Reſultat:
„Hinſichtlich Galilei's, deſſen Sache oben erwähnt,
befahl Se. Heiligkeit, ihn ſelbſt ob feiner Intention zu
vor ber Inguifition in Rom, 61
befragen, und ihn nach Androhung ber Tortur und
nach, wenn er ausgehalten haben wirb, vorhergehender
Abſchwörung (comminata ei tortura, et si susti-
nuerit previs abjuratione) wirkſam (de vehementi)
in einer Plenarfigung ver Congregation, des heiligen
Officiums mit Gefängniß zu beftrafen nach dem Gut⸗
pünfen ber heiligen Congregation. Er, dem auferlegt
wird, fernerhin in gar feiner Weife fohriftfich oder
münbfich die Bewegung der Erde und das Stillftehen
ber Sonne und and) das Gegentbeil zu behandeln,
fälft unter Strafe zurüd.”
Se. Heiligkeit befahl alſo das examen de intentione,
befahl die Androhung der Zortur, befahl eine Abſchwörung
in einer Plenarfikung der Eongregation, befahl die Vers
urtheilung zu einer Gefängnißftrafe, veren Dauer von dem
Ermefjen der Eongregation abhängen folle, befahl nun
das quovis modo tractare, auch bie entgegengejette An⸗
ſchauung foll nicht behandelt werben, alles bei weiterer
Strafe wegen Abtrünnigfeit.
Wir müfjen jedoch bei dieſem Beſchluß noch etwas
fteben bleiben. Es ift bier noch Gewicht zu legen auf
die Worte „et si sustinuerit”. Einige Herausgeber der
Acten haben hier ac si sustinuerit, als wenn er fie
(sc. torturam) ausgehalten haben würde. Dann würde
in dem Beſchluß ausprüdlich die Folter ausgejchloffen fein;
nur die Androhung follte ausgefprochen werben. Allein
die Lesart et iſt bie richtige. Gebler hat fie, und fie
wird beftätigt burch das zweite hiftoriiche Neferat ver
Acten in dem vorletten Actenftüde. In ibm heißt es
con comminagli la tortura e sostenendo. Dem
nach fteht das et si sustinuerit feſt. Wie ift das zu
überfegen und zu verftiehen? Das Einfachite ift die Er-
gänzung von eam sc. torturam. „Und wenn er fie aus⸗
62 Die Procefſe gegen Galileo Galilei
gehalten haben wird.” Der Gebankenfortichritt des De⸗
cretS wäre: Androhung der Tortur, Aushalten berfelben,
Abſchwörung. Die Anwendung ver Tortur wäre da ftill-
ſchweigende Vorausjegung. Ein ausprüdlicher Befehl zur
Zortur fehlte. Das hat etwas Misliches. Darum muf
zugegeben werben, daß das sustinere auf pas „Androhen
ber Tortur“ bezogen werben kann, auf den erften Theil
der Zortur, die og. territio realis*), während vie ter-
ritio verbalis**) ver Zortur vorangeht. Es gab eine
doppelte Art der Bebrohung mit der Tortur; die erfte,
nur in Worten beftehend, mußte der Richter anwenden,
ehe er zum examen rigorosum und de intentione ſchritt;
bie zweite, welche in Gegenwart ver Folterwerkzeuge ftatt-
fand, wobei der Angeklagte entfleivet, gebunden und in
die Stellung gebracht wurde, die zur eigentlichen Yolte-
rung erforberli war, hieß territio realis.. Um bieje
wirb e8 fich hier handeln, denn nur bei ihr kann im
Ernft von einem sustinere die Rede fein, nicht aber bei
ber territio verbalis. So viel alſo fcheint gewiß, daß ber
erjte Grab der Tortur gegen Galilei bejchloffen worden
ift; daß man auch mit der Ausführung nicht gezögert,
wird die weitere Unterjuchung ergeben.
Am 18. Juni bat der Papft in einer Audienz bem
toscaniſchen Gefandten, Niccolini, Mittheilungen von dem
Beichluffe des 16. Juni gemacht und bat dabei hinzuge⸗
fügt, er werbe die Strafe in der milveften Weife zur
Ausführung bringen. Nur müfje verbreitet werben, bie
Strafverringerung ſei auf Fürſprache des Großherzogs
von Toscana erfolgt. Niccolini möge in biefem Sinne
an feine Regterung berichten. Dies ift gejchehen. ‘Daraus
*) Schredung durch Handlungen.
**) Schredung durch Worte.
vor der Inguifition in Rom. 63
hat M. Cantor den Schluß gezogen, daß des Papftes
Zorn verflogen war, und daß er, ohne deſſen Einwilligung
feine Zortur in Rom vollzogen werben burfte, wie denn
jeder Bifchof zur Anwendung der Tortur innerhalb feines
Sprengel feine Zuftimmung geben mußte, die Tortur
jelbft verhindert Hat. Man muß aber bei den Bilchöfen
von Rom vorfichtig fein und feine voreiligen Schlüffe aus
ihrer Freundlichkeit ziehen. Dean braucht ihnen dabei nicht
gleich Heuchelei vorzuwerfen, obſchon man in Rom ftets
Meifter in der Berftellungstunft gewefen ift, und vieles
burch die feineren, diplomatifchen Formen zu verdecken ge-
wußt bat.
Drei Tage fpäter, am 21. Juni, fchritt man zum
vierten, dem legten Verhör, in welchem, wie wir oben
durch M. Cantor gehört haben, das examen rigoro-
sum abzuhalten war (während bie territio verbalis, von
ber wir aber in dieſem Procefje nichts hören, dem dritten
Verhör vorbehalten war) und in welchem nach dem Des
cret vom 16. Juni Dad examen de intentione, das ges
jteigerte examen rigorosum, vorgenommen werben follte.
Dieſes Examen wurde, wie jchon erwähnt, in Gegenwart
der Folterwerkzeuge abgehalten. Wir ergänzen e8 durch
eitige Angaben aus einem Werke, welches ein Nepertorium
ber Inguifitionsgebräuche ift. Dieſes Werk heißt „Sacro
Arsenale vero Prattica dell’ officio della Santa In-
quisitione”. Alſo bie Praris der Ingquifition wird darin
mitgetheilt. Pasqualoni bat e8 herausgegeben; bie erfte
Ausgabe erſchien im Jahre 1625. Demnach haben wir
in ihm ganz beftimmt bie, Gebräuche zur Zeit unjers
Procefjes. Seine Angaben beruhen auf ven Verordnungen
der Päpfte und der Congregation bes heiligen Offtciums
zu Rom. Der erfte Abjchnitt handelt „vom Verhör des
Angellagten auf der Folter” („Del modo d’ interrogare
64 Die Proceſſe gegen Salileo Galilei
i Rei nella tortura‘). An ver Spike dieſes Abfchnittes
ftebt folgender Sat: „Hat der Angellagte bie ihm zur
Laft gelegten Vergehen geleugnet, und find biefelben nicht
vollftändig erwiejen, hat er dann in bem ihm für feine
Vertheidigung bezeichneten Termine nichts vorgebracht,
was ihn rechtfertigt, oder durch ſeine Vertheidigung ſich
nicht vollſtändig von den Indicien gereinigt, bie ſich gegen
ihn ans dem Proceß ergaben, fo ift e8 nothwenbig, zur
Erlangung der Wahrheit gegen ihn zum examen rigo-
rosum zu jchreiten, da die Tortur gerade dazu er-
funden ift, den Mangel an Zeugen zu erfegen, wenn
fie einen vollftändigen Beweis gegen ven Angeklagten wicht
erbringen können.“ Was erhellt hieraus? examen rigo-
rosum und Zortur werden ibentificirt. In biefem ganzen
Abſchnitt werden, wie Wohlwill bezeugt (and bem wir
ſelbſtverſtändlich ſchöpfen), esamina rigorosa und esamina
nella tortura gleichbedeutend gebraudt. Ferner macht
Wohlwill darauf aufmerkſam, daß in dem ſehr ausführ-
lichen Regifter am Ende des Buches, das wol für ven
praftiichen Hanpgebrauch der Inquiſition zuſammengeſtellt,
das Wort „esamina rigorosa” fehlt, und daß alles, was
das Buch darüber enthält, unter dem Artikel tortura oder
examinare in tortura ſteht. Auch nach biefem „Sacro
Arsenale“ ſoll ver Richter zuvor mit ver Tortur beproben,
ehe er zum examen rigorosum jchreitet. Die territio
verbalis ſteht demnach “außerhalb ver Zortur, und es
kann fich bei Galilet nur um bie territio realis handeln.
Außerdem war es Nechtöregel paria esse torturam et
terrorem. ‘Demnach werden wir uns das vierte Verhör
nella tortura vorzuftellen haben. Wie verlief e8? Das
Protokoll in den Acten beträgt Taum zwei Seiten.
Inguifitor. Ob er daran feithalte und daran feſt⸗
gehalten habe und feit welcher Zeit, daß die Sonne und
vor der Inguifition in Rom. 65
nicht die Erbe das Centrum der Welt fei und bie Erbe
fih auch in täglicher Umbrehung bewege?
Galilei. Bor langer Zeit, d.h. vor der Enticheidung
der heiligen Inber-Congregation, und ehe mir jener Be-
fehl ertheilt worden war, blieb ich unentſchieden und hielt
beide Meinungen, jene des Ptolemäus und die Koper-
nikaniſche für ftrittig, weil bie eine wie bie andere mit
der Wirklichkeit ftimmen konnte. Nach der oben erwähns-
ten Entſcheidung aber hielt ich, von ber Weisheit ver
Dbern überzeugt, und alle Ungewißheit abwerfend, bie
Dieinung bes Ptolemäus, das iſt: Stillftand ber Erbe
und Bewegung der Sonne, für vollftändig wahr und un-
zweifelhaft.
Der Ingquifitor bemerkt ihm num mit Recht, daß fich
aus feinen „Dialogen“ die Vermuthung ergebe, er ſei An⸗
hänger der Kopernifanifchen Lehre geblieben auch nach
jener Zeit; er folle offen die Wahrheit geftehen, ob er
Daran feſthalte over feftgehalten habe.
Galilei. Was die „Dialoge“ anbelangt, fo habe ich
fie nicht deshalb gefchrieben, weil ich die Kopernifaniiche
Meinung für wahr hielt; ich habe vielmehr einzig in dem
Slauben, für das allgemeine Befte zu handeln, die na⸗
türlichen und aſtronomiſchen Beweisgründe bargelegt, die
fih für die eine wie für die andere Anficht vorbringen
laffen; dabei war ich bemüht, zu zeigen, daß weder bie
erftern noch die legtern, weber bie für das Ptolemäiſche
noch die für das Kopernifaniiche Shftem entjcheidende
Beweiskraft befigen, und man folglich, wenn man etwas
Sicheres haben wolle, feine Zuflucht zu der aus höhern
Lehren gefchöpften Enticheivung nehmen müſſe; ſehr viele
Stellen der ‚Dialoge‘ Tönnten hierfür zum Beweiſe dienen.
Ich ſchließe aljo vor dem Nichterftuhle meines Gewifjens,
XXIV. 5
66 Die Broceffe gegen Galileo Galilei
baß ich nach ver Enticheivung der Obern bie verbammte
Lehre nicht feitgehalten habe, noch fie fefthalte.
Der Imguifitor bezweifelt bie Nichtigkeit dieſer Vor⸗
ſtellung und fügt Hinzu, wemn er fich nicht entjchließe, die
Wahrheit zu geftehen, werde man mit ben geeigneten
Nechtsmitteln gegen ihn verfahren. Das ift die Zor-
tur, denn dieſe war nicht Strafe, ſondern das anerkannte
Rechtsmittel, um die Wahrheit zu erforjchen.
Galilei. Ich Halte dieſe Meinung des Kopernifus
weber feit, noch habe ich an ihr feitgehalten, nachdem mir
befohlen war, fie aufzugeben. Uebrigens habt ihr mich
ja in Händen; thut mit mir, was euch gut dünkt.
Es folgt eine wiederholte Mahnung, die Wahrheit zu
jagen, und es ſchließt pas Protokoll wie folgt:
Es wird ihm bebeutet, die Wahrheit zu fagen, fonft
wird zur Zortur gefchritten werben (alias devenietur
ad torturam).
Er antwortete: Ich bin da, um Gehorſam zu leiften,
und habe, wie gejagt, diefe Meinung nach der erfolgten
Entſcheidung nicht feftgehalten.
Und da in Ausführung des ‘Decret$ (in executionem
decreti sc. vom 16. Juni) nichts anderes erlangt werben
fonnte, wurde er nach gejchehener Unterfchrift nach feinem
Plage (ad locum suum) zurüdgejchidt.
Jo Galileo Galilej ho deposto come di sopra.
Diefe Unterfchrift Galilei's ift, wie Gebler hervorhebt,
im Unterfchieve von den andern Unterjchriften, mit auf-
fallend zitternder Hand gejchrieben. Dies würde ſich aus
ber territio realis erklären. Iſt aber dieſe in dem alias
devenietur ad torturam zu finden? Man bat darin nur
bie territio verbalis jehen zu können gemeint und darum
biefes Protokoll als tm Widerfpruche mit dem ‘Decret vom
16. Juni ftehend bezeichnet und das, obwol e8 am Schluffe
vor ber Inguifition in Rom. 67
beißt „in executionem decreti”. Wohlwill erklärt baber
den ganzen Schluß für gefäljcht; er bat nicht weniger als
30 Seiten hierüber gefchrieben;; feine Darlegungen können
überzeugend genannt werden. Wir heben nur das eine
hervor, daß bier in dem Schluffe das impositum silen-
tium sub iuramento fehlt, was fonft in allen mit Galilei
angeftellten Verbören fteht. Dieſes Protokoll hat die Aus-
führung des examen de intentione nicht und doch redet
nachher auch das Schlufurtheil von ber Ausführung
des examen rigorosum; Wir halten es indeß nicht für
unmöglich, in dem devenietur ad torturam die territio
realis zu finden. Man befand ſich auf der Zortur und
brohte num, fich unmittelbar zur Anwendung ber Tortur
zu wenden. Auch das „ich bin in euren Händen, macht
mit mir, was ihr wollt läßt fchließen, daß man nella
tortura war. Das devenire wird bei Cicero z. B. in
ber Verbinpung ad potestatem ejus gebracht, alfo in bie
Gewalt jemandes gerathen. Man könnte darum devenire
ad torturam überjegen, in die Zortur geratben, d. b. bie
jofortige Anwendung der Tortur. Allerdings den Einprud
wird man nicht 108, daß hier am Schluffe des Protokolls
nicht alles in Ordnung tft. Dahin gehört auch das „ad
locum suum”. Pan deutet e8 wol richtig auf das Haft-
local im Inquifitionsgebäupe. Ob er aber in die frühern
Gemächer zurüdgebracht oder ob er tn ven Kerfer des
Dffietums geworfen wurde, weiß man nicht. Das ad
carcerem condemnandum in dem Ediet vom 16. Juni
läßt auf das letztere fchließen. Sicher ift, daß er drei
Tage im Gebäude der Inquiſition blieb.
Am 22. Juni wurde Galilei in die Dominicanerfirche
Santa-DMaria fupra Minerva geführt und ihm bier vor
den Carbinälen der Inquifition und vielen andern Prä-
laten fein Urtheil verkündet. Der Wortlaut vefjelben iſt:
5*
68 Die Procefje gegen Salileo Galilei
‚Bir (folgen die zehn Namen) durch Gottes Barm⸗
herzigfeit Cardinäle ver heiligen Römiſchen Sirche,
Special-Inquifitoren des heiligen Apoftolifchen Stuhl
für die Gejammtlicche.
„Da du Galilei, Sohn des Vincenzo Galilei aus
Florenz, 70 Jahre alt, im Jahre 1615 bei dieſem
heiligen Officium angezeigt wurbeft, daß du bie faljche,
vielverbreitete Lehre: die Sonne bilde das Centrum
ver Welt und fei unbeweglich, und die Erbe bewege
fih in täglicher Umdrehung, als eine wahre fefthalteit;
ferner, daß du einige Schüler habeſt, weldhe du in
biefer Lehre unterrichteft, daß du mit einigen Mathe⸗
matifern in Deutjchland über biefe Lehre eine Corre⸗
ſpondeuz unterbalteft; ferner, daß du einige Briefe er-
jcheinen ließeft mit dem Titel «Ueber die Sonmenfleden»,
in welchen bu dieſe Lehre als wahr erflärteft; und
weil du auf die Einwürfe, die dir zu wieberholten
malen aus ver Heiligen Schrift gemacht wurden, burch
Erflärung der Heiligen Schrift nah Deinem Sinne
antwortetejt; und ba eine Abjchrift eines in Briefform
verfaßten Schriftjtüdes vorgelegt ward, welches fich als
ein von bir an einen frühern Schüler (P. Caſtelli)
gejchriebenes herausftellte, und du darin der Hypotheſe
bes Kopernikus anbängend, einige Säte gegen ben
wahren Sinn und bie Autorität der Heiligen Schrift
aufnimmt:
„Aus allen dieſen Gründen wollte das heilige Tri-
bunal gegen bie Ungehörigfeiten und Nachtheile, vie
baraus entjpringen und zum Schaden bes heiligen
Glaubens überhanpnehmen, Fürſorge treffen, und es
wurden im Auftrage unſers Herrn, bes PBapftes, und
ihrer Eminenzen ber Herren Cardinäle dieſes oberften
und allgemeinen Inquifitionsgerichtes von ben theolo-
bor ber Ingnifition in Rom. 69
giſchen Sachverftänpigen die Behauptung von dem Still-
jtehen der Sonne und der Bewegung ber Erbe fol-
gendermaßen begutachtet:
„Der Sat: die Somne fei im Centrum ber Welt
und ohne Bewegung von Ort zu Ort, ift abjurb und
philoſophiſch falſch und formelt fegerifch, weil er aus⸗
brüdlich ver Heiligen Schrift wiberjpricht.
„Der Sab: die Erbe fei nicht das Centrum ber
Welt und nicht unbeweglich, fondern bewege fich, und
zwar auch in täglicher Umbrehung, ift ebenfalls ab⸗
ſurd und philofophifch wie theologijch falfch und zum
mindeften irrig im Glauben.
„Da es uns indeſſen gefiel, mit Milde gegen bich
zu verfahren, jo wurbe in der am 25. Februar 1616
in Gegenwart unfers Herrn, des Papftes, gehaltenen
Congregation befchlofjen: Se. Eminenz ver Herr Car»
dinal Bellarmin folle dir auftragen, vie erwähnte faliche
Lehre ganz aufzugeben und im Weigerungsfalle follte
dir vom Commiffar des heiligen Officiums ber Be⸗
fehl ertheilt werben, dieſe Lehre zu verlaffen, weder
andere darin zu unterrichten noch biefelbe zu werthet-
digen ober zu erörtern, und, falls vu dich bei dieſem
Befehle nicht beruhigen würdeſt, folle man dich ein»
terfern. Behufs Ausführung dieſes Decret® wurde bir
tags zuvor im Balafte Sr. Eminenz, bed genannten
Cardinals Bellarmin, nachdem du von ihm mit Milpe
ermahnt worben warft, von bem bamaligen Herrn Com-
miſſar des heiligen Offictums in Gegenwart eines No⸗
tars und vor Zeugen ber Befehl ertheilt, daß du von
ber erwähnten falichen Meinung gänzlich abftehen mö-
geft, und daß es bir in Zukunft nicht erlaubt jet, fie
zu vertheidigen oder in irgenbeiner Weiſe zu lehren,
70 Die Proceſſe gegen Galileo Galilei
weder münblich noch fohriftlich; und als du Gehorjam
veriprochen Hatteft, wurbeft bu entlafjeit.
„And bamit eine jo verberbliche Xehre gänzlich aus⸗
gerottet werde und nicht weiter zum großen Schaben
ber Fatholifchen Wahrheit um fich greife, erfchien von
ber heiligen Congregation des Inder ein Decret, durch
welches jene Bücher verboten wurden, die von ber oben
bezeichneten Lehre handeln, und dieſe lettere wurde für
falſch und der Heiligen, Gottes Wort enthaltenden
Schrift als völlig widerjprechend erflärt. Und als enb-
lich im leßverfloffenen Iahre zu Florenz dieſes Buch
erſchien, deſſen Titel zeigte, vaß du ber Verfaſſer bes-
jelben jeieft, da zugleich die heilige Congregation er-
fahren hatte, daß durch den Drud bes vorgenannten
Buches die falfche Lehre von der Bewegung ber Erde
und dem Stillitehen der Sonne täglih mehr Boden
gewinne: jo wurbe dieſes Buch forgfältig unterjucht
und in bemfelben offenbar eine Uebertretung bes er⸗
wähnten Befehles, welcher dir ertheilt worden war,
gefunden, weil bu in demſelben Buche bie erwähnte,
ihon verdammte und, in deiner Gegenwart als ver-
bammt erflärte Lehre vertheidigt hatteft, wenngleich bu
in biefem Buche dich bemühteft, durch verichiebene
Nedeformen die Meinung zu erweden, fie fei von bir
als unentjchieven und nur wahrfcheinlich gelaffen, was
gleichfalls ein grober Irrthum tft, da eine Lehre gewiß
nicht wahrjcheinlich fein Tann, bie bereits als ber Hei-
ligen Schrift widerfprechend befunden und erklärt wor-
ben ift.
„Deshalb wurdeft du auf unfern Befehl vor biejes
heilige Offictum vorgeladen, wo du im Verhör eidlich
befannteft, das Buch fei von dir gefchrieben und in
Drud gegeben worben. Ferner befannteft du, daß bu
bor ber Inguifition in Rom. 71
vor beiläufig zehn ober zwölf Jahren, nachdem bir
ber mehrerwähnte Befehl ertheilt war, das ge-
nannte Buch zu fchreiben begonnen habeft; ferner, daß
du um Erlaubniß nachgefucht, daſſelbe zu veröffent-
lichen, ohne denjenigen, bie bir die Ermächtigung dazu
gaben, anzuzeigen, daß bir befohlen worben fei, an
biefer Lehre in Feiner Weife feftzuhalten, zu vertheidigen
noch zu lehren.
„Du befannteft gleichfalls, der Inhalt des genannten
Buches ſei an vielen Stellen fo verfaßt, daß der Lefer
bie für bie falfche Meinung vorgebracdhten Gründe eher
für beweisfräftig und überzeugend als für wiverlegbar
halten könne; zu deiner Entſchuldigung machjt du gel-
tend, bu ſeieſt dadurch in biefen deiner Abficht ganz
fern gelegenen ehler geratben, weil du das Buch in
Form eines Zwiegeſprächs abgefaßt habeft, und auch
verleitet von dem natürlichen Wohlgefallen, das jeder
an Icharffinnigen Erfindungen babe und das uns ver-
führe, finnreiche und probabel Elingende Reben felbft zu
Sunften von falfchen Behauptungen zu erbenten, um
geiftreicher zu erjcheinen, als es die andern Leute find.
„Rachdem bir ein angemefjener Termin zur Ab-
faffung einer Schrift zu deiner Vertheibigimg bewilligt
worben war, brachteft pu ein hanpfchriftliches Zeugniß
vor, das du dir von Sr. Eminenz, dem Herrn Car-
dinal Bellarmin, verfchafft hatteft, um dich, wie bu
fagteft, gegen bie Verleumdungen deiner Feinde zu
vertheidigen, welche behaupteten, du habeft abgefchworen
und feieft von dem heiligen Officium mit einer Strafe
belegt worben. In dieſem Zeugniß wird nun gefagt,
daß du weder abgejchworen habeft noch beitraft worden
feieft, fondern man habe bir nur Das von unjerm Herrn,
dem Papfte, gegebene und von ber Eongregation des
792 Die Proceffe gegen Galileo Galilei
Inder veröffentlichte Decret zur Kenntniß gebracht, des
Inhalts: daß die Lehre von der Bewegung ber Erbe
und dem Stilleftehen der Sorme der Heiligen Schrift
zuwiverlaufe und deswegen nicht vertheibigt und nicht
feitgehalten werben dürfe. Well darin ſomit Teine Er-
wähnung ver zwei Beftimmungen bes Befehle gejchteht,
nämlich: fie auch nicht azu Ichren» und auf «feine
irgendwelche Weile» zu vertheipigen und feftzubalten,
jo müffe man, fagft du, annehmen, daß fie bir im
Berlaufe von 14—16 Iahren aus dem Gebächtniß ent-
fallen ſeien; infolge deſſen habeſt du ven Befehl ver-
ſchwiegen, als du um bie Druderlaubniß für das Buch
nachjuchteft. Dies werde aber nicht von bir vorgebracht,
um deinen Irrthum zu entjchuldigen, ſondern damit
er beinem eiteln Ehrgeiz, nicht deinem böfen Willen
auf die Rechnung gejchrieben werde, Aber gerade biefes
Zeugniß, welches du zu deiner Vertheidigung bei-
brachteit, Hat deine Sache noch verjchlimmert, injofern
es ausbrüdlich darin heißt: die mehrerwähnte Lehre fei
der Heiligen Schrift zuwider, und bu troßbem es wag-
teft, diejelbe zu erörtern, zu vertheibigen und als wahr-
ſcheinlich varzuftellen. Ueberdies fpricht Die von bir
mit Liften und Künften berausgelodte Erlaubniß keines⸗
wegs zu beinen Gunften, da du dabei ben bir aufer-
legten Befehl nicht mittbeilteft.
„Weil e8 uns aber fchien, daß bu in Betreff deiner
innerften Willensmeinung, bie bu bei der Abfaffung
bes Buches hegteft, nicht die volle Wahrheit gefagt habeft,
fo erachteten wir es für nöthig, zum peinlichen Verhör
gegen dich zu fchreiten, im welchem bu (ohne irgend⸗
wie den Dingen, welche bu bereits befannt haft und
den Folgerungen, die fich hieraus jchon zur Beurthei⸗
{ung beiner Gefinnung ergaben, Eintrag zu thum),
vor ber Ingquifition in Rom. 73
katholiſch geantwortet haft. Deshalb find wir nach Ein-
ſichtnahme und reiflicher Erwägung des in deinem Pro-
cefje Vorliegenden und nachdem wir beine oben ange-
führten Belenntniffe ſowol wie beine Entichulpigungen,
kurz alles das, was im Verlaufe des Nechtsganges zu
unterjuchen war, pflichtmäßig in Betracht gezogen haben,
zu nachfolgendem Schlußurtheil gelangt:
„Unter Anrufung des allerheiligften Namens unfers
Herrn Iefu Ehrifti, fowie ver glorreichiten Mutter und
unbefledten Jungfrau behaupten, verkünden, urtheilen
und erklären wir durch diefes unſer Schlußurtheil, das
wir, Recht fprechend, nach dem Rathe und dem Gut»
achten ber ehrwürbigen Lehrer der Theologie und ber
Doctoren beider Rechte als umferer juriſtiſchen Bei⸗
ftände, in dieſem Schriftftüd nieverlegen bezüglich der
von und verbandelten Frage und Fragen zwiſchen Sr.
Magnificenz Karl Sincerus, Dr. utriusque und Fiscal
Procurator dieſes heiligen Officiums einerſeits, und
zwifchen bir Galileo Galilei andererſeits, ber bu
wegen bes bier vorliegenden, proceſſualiſch verhandelten
Buches angeklagt, unterfucht, verhört und wie oben ges
ftändig warft, daß du, vorgenannter Galilei, wegen
beffen, was ſich im Procefje ergab und bu felbft wie
oben geſtandeſt, dich bei diefem heiligen Offtctum ber
Härefie ſehr verbächtig gemacht habeft, d. h., daß du
eine Lehre geglaubt und feftgehalten haft, welche falich
und ber Heiligen Schrift, vem Worte Gottes, zumwiber
ift, nämlich: die Sonne fei das Centrum des Weltalls
und biejelbe bewege fich nicht von Often nach Weften;
Dagegen bewege fich die Erbe und fei nicht das Gen-
trum der Welt, und es könne diefe Meinung fir wahr-
icheinlich gehalten und vertheidigt werben, nachdem fie
doch als der Heiligen Schrift zuwiderlaufend befunden
74 Die Brocefje gegen Galileo Galilei
und erflärt worten war; daß du infolge deſſen im alle
ficchlichen Cenſuren und Strafen verfallen feieft, welche
durch die heiligen Kanones und andere allgemeine oder
befondere päpftliche Decrete über berartige Schuldige
ausgeiprochen und verhängt find. Von biejen wollen
wir bich freifprechen, fobald bu mit aufrichtiger Ge⸗
finnung und ungebeucdheltem Glauben die vorgenannten
Irrthümer und Ketzereien, fowie jeven andern ber Ta-
tholifchen und apoftolifchen Kirche zuwiderlaufenden Irr⸗
thum nach der Formel, wie fie dir von und wirb vor»
gelegt werben, abſchwöreſt, verwünfcheft und verfluchft.
„Damit aber dein ſchwerer und verberblicher Irrthum
und Ungehorjam nicht ganz ungeftraft bleibe und bu
in Zufunft vorfichtiger verfahreft, auch andern zum Bei⸗
ſpiel bieneft und fie von dergleichen Vergeben zurüd-
jchredeft, fo verordnien wir, daß das Buch «Dialog von
Galileo Galtleiv durch eine öffentliche Verordnung vers
boten werde, dich aber verurtheilen wir zu förmlicher
Kerkerhaft bei diefem Heiligen Officium für eine nach
unſerm Ermeffen zu beftimmende Zeitdauer und tragen
bir als heilſame Buße auf, in den brei folgenben
Jahren wöchentlich einmal die fieben Bußpfalmen zu
beten, indem wir uns vorbehalten, die aufgeführten
- Strafen und Bußen zu ermäßigen, umzuänbern, ganz
ober theilwetje aufzuheben.
„So fagen, verkünden und erklären wir bie unter-
zeichneten Carbinäle.”
Es folgen die Unterfchriften; doch haben nicht die zehn
in der Ueberſchrift genannten alle unterzeichnet, ſondern
nur fieben, die drei fehlenden find bie von Francesco
Barberini, dem Neffen des Papftes, von Gaspar Borgia
und von Laudovico Zacchia. Ehre diefen Männern!
vor ber Inguifition in Rom. 75
Daß dieſe Schlußfentenz der Inguifition nicht zum
Ruhme gereicht, dafür ift ver befte Beweis, daß fie fich
nicht in den Originalacten befindet. In dieſen folgt auf
das Protokoll vom 21. Juni eine Annotation des Papftes
vom 30. Juni, nach welcher diefe Schlußtendenz und bie
(unten folgende) Abſchwörung Galilei's allen päpftlichen
Nuntiaturen und Inguifitoren mitgetheilt werben ſollte.
(In den Acten finden fi) die Empfangsbefcheinigungen
von 34 Biſchöfen und Inquiſitoren italtenifceher Städte,
jowie. von fünf päpftlichen Nuntien in andern euro-
päifchen Ländern.) Dieje Schlußfentenzen pflegten in ver
Diutterfprache des Angeflagten abgefaßt zu werden; troß
ber vielen Eopien ift nur eine in italienischer Sprache
auf uns gefommen. Ein wiffenfchaftlicher Gegner Gali-
lei’8, mit Namen Polacco, hat fie uns in feinem „Anti-
copernicus Catholicus seu de terrae statione et de
solis motu contra Systema Copernicanum catholicae
assertiones auctore Giorgio Polacco” (Venedig 1644)
überliefert. Sie gilt als Abdruck eines Originaldocuments.
Sieben Jahre fpäter hat Riccioli in feinem „Almagestum
novum“ den lateinijchen Zert ber Sentenz publicirt, alſo
der an die nichtitalienifchen Inquiſitoren verfandte. Auf
den Mittheilungen dieſer beiven Männer beruht unfere
Kenntniß der Schlußfenten,. Man hat demnach in Nom
Ipäter ohne Zweifel das Gefühl des Unrechts gehabt.
Sehen wir uns das Urtheil noch etwas genauer an.
Die Richter wiederholen zuerft nur bie Anklagen und
gehen über den Einwurf des Angeklagten, daß ihm nicht noch
ein fpecielles Verbot gegeben, was er durch das Zeug-
niß Bellarmin’s erhärtet, mit Stillichweigen hinweg, ja,
ohne weiteres drehen fie das Zeugniß gegen ihn, ba es
ja die Kopernilanifche Lehre als fchriftwidrig bezeichne und
da er an biefer jchriftwinrigen Lehre feftgehalten. Das
76 Die Proceſſe gegen Salilen Galilei
Protokoll vom 26. Februar 1616 wird ohne Gewifiens-
bedenken als juriftifche Waffe gegen Galilei benutzt. “Diefe
Schlußſentenz entjcheivet aber auch die Zorturfrage. Sie
hebt ganz bejonders hervor, daß gegen Galilei zum exa-
men rigorosum gefjchritten jet, wie e8 durch das Decret
vom 16. Juni angeordnet war, worüber aber das Pro-
tofoll vom 21. Juli Schnell hinwegeilt. Nach den Bor-
ichriften des „Sacro Arsenale” muß eine;notarielle Auf-
zeichnung barüber gemacht werben, in welcher Weije ver
Angellagte gefoltert, beziehungsweife geſchreckt, worüber er
gefragt und wie er geantwortet habe. Das Protokoll
vom 21. Juni hat darüber nichts; wohl aber die Schluß-
fentenz. Site bat das verrätheriiche catholice respondere.
Galilei hat katholiſch geantwortet, d. h. er hat jede ketze⸗
riſche Gefinnung geleugnet. Werner enthält diefer Paſſus
ber Schlußjentenz; eine Elaufel, die nur auf die Zortur
angewandt wurde. Wir fegen den Bafjus hierher: „Cum
vero nobis videretur non esse a te integram veri-
tatem pronunciatum circa tuam intentionem, iudi-
cavimus necesse esse venire ad rigorosum examen
tui, in quo (absque praeiudicio aliquo eorum quae
tu confessus es et quae contra te deducta sunt
supra circa dictam tuam intentionem) respondisti
catholice.”
Die Claufel „jedoch ohne irgenpwelches Präjudiz für
bie von bir über beine befagte Intention befannten oder
gegen bich bewiefenen Thatjachen‘ wurde nur in bem
Verhör auf der Tortur angewendet. Das Verhör follte
nämlich fich nicht auf Dinge erftreden, deren ber Ange-
klagte ſchon vorher überführt ober deren er geftändig war.
Der Gegenjtand, über ven das examen rigorosum ges
halten werben follte, mußte ganz genau bezeichnet werden.
Jede abjchweifende Befragung mußte daher unterbleiben;
vor ber Inguifition in Kom. 17
aber auch jede nicht provocirte Aeußerung bes An-
geflagten über andere Theile der Anklage als über bie,
benen das examen rigorosum galt, follte verhindert
oder in formeller Weiſe unwirffam gemacht wer-
den. Diefem Zwecke diente dieſe Claufel, und bie
Richter ordneten fpeciell an, es folle biefe Vernehmung
bei jeder geeigneten Gelegenheit wiederholt reip. als
wiederholt betrachtet werben, ganz beſonders aber, wenn
ber Angeflagte entkleivet nnd angejchirrt umter der Folter⸗
winde fteht und unmittelbar, bevor er in Die Höhe ge-
zogen wird. In der That, ein weiler Organismus!
Die Anführung biefer Vernehmungsformel in der Schluß-
fentenz beweift zur Evidenz, daß man gegen Galilei zur
Folter gefchritten ift.
Hierzu kommt noch, daß die Schlußfentenz auf die
Gutachten der juriftifchen Confultoren Bezug nimmt.
Diefe find aber nicht in den Acten. Man wirb feine
Gründe gehabt haben, fie zu entfernen. Daraus geht
hervor, daß es mit ver Behauptung Gebler’3, daß alle
weißen Folien zweite Blätter zu vorhandenen Schriftftüden
find, feine abfolute Nichtigkeit nicht haben Tann. Man
bat aus den Acten einzelne Stüde entfernt, dieſelben alſo
gefälſcht. Mit den Gutachten der juriftifchen Confultoren
hat man e8 unzweifelhaft gethan; es wirb bei biefem
einen male nicht geblieben fein.
Bemerkenswerth ift endlich noch bie Gleichftellung
des Herrn Chriftus und der glorreichiten Mutter und
unbeflediten ISungfrau Marin. Aus biefem letztern Prä-
Dicate ergibt ſich wol, daß die Verfaffer der Schluß-
fentenz Sefuiten waren, benn bie Dominicaner waren
heftige Gegner der Lehre von ber immaculata con-
ceptio. Erſt Pius IX. Hat fie zum Dogma erhoben
18 Die Broceffe gegen Galileo Galilei
und damit den Domintcanern die bitterjte Kränkung zu⸗
gefügt.
So viel über dieſe Schlußſentenz. Kniend hatte fie
Galilei, der Lörperlih und geiftig niedergebrüdte Greis,
anhören müfjen, kniend mußte er feine faljchen, unſinni⸗
gen, ber Heiligen Schrift zumwiberlaufenpen Meinungen
abſchwören, Iniend mußte er jchwören, nie wieber über
biefen Gegenftand zu fchreiben. Die Abjchwörung
lautet:
„Ich, Salileo Galilei, Sohn des verftorbenen Vincenzo
Galilei zu Florenz, 70 Jahre alt, perjönlich vor Gericht
geftellt und Iniend vor Ew. Eminenzen, ven hochwürdigſten
Herren Carbinälen, Generalinquifitoren gegen bie Ketzerei
in der ganzen chriftlichen Welt, vie heiligen Evangelien
por Augen habend und mit den Händen fie berührenp:
ih ſchwöre, daß ich immer geglaubt habe, gegenwärtig
glaube une mit Gottes Hülfe in Zukunft glauben werbe
alles, was die heilige Tatholifche apoftoliiche Römiſche
Kirche fefthäft, zu glauben vorftellt und lehrt. Aber weil
mir das heilige Officium von Rechts wegen durch Befehl
aufgetragen hatte, daß ich jene faljche Meinung vollſtändig
aufgeben folle, nach welcher die Sonne das Centrum ber
Welt und unbeweglih, die Erde aber nicht Eentrum ſei
und fich bewege, und daß ich die genannte faljche Lehre
weber feithalten noch vertheidigen ober in irgendeiner
Weiſe jchriftlih oder mündlich lehren bürfe; und weil
ih, nachdem mir bebeutet worden war, bie genannte
Lehre ftehe mit. der Heiligen Schrift im Wiperfpruch,
ein Werk verfaßte und es druden Tieß, in welchem ich
biefe fchon verdammte Lehre erörtere und Gründe von
großem Gewichte zu ihren Gunften vorbringe, ohne
irgendeine abſchließende Löſung hinzuzufügen, jo bin ich
demnach als der Härefie ſchwer verbächtig erachtet
vor ber Ingquifition in Rom. 79
worben, ber Härefie nämlich, feitgehalten und geglaubt
zu haben, daß die Sonne das Centrum der Welt und
unbeweglih, und die Erbe nicht Centrum ſei und fich
bewege.
„Da ih nun Ew. Eminenzen und jedem katholiſchen
Chriften dieſen mit Recht gegen mich gefaßten ftarfen
Verdacht benehmen möchte, fo ſchwöre ich ab, verwünſche
und verfluche mit aufrichtigem Herzen und ungebeucheltem
Glauben die genannten Irrthümer und Ketereien, forte
überhaupt jeden andern Irrthum und jede Selte, welche
der genannten heiligen Kirche feindlich tft; auch ſchwöre
ich fürberhin, weder mündlich noch ſchriftlich ewas zu
jagen ober zu behaupten, was aufs neue einen ähnlichen
Verdacht gegen mich weden könnte; im Gegentheil werde
th, wenn ich einen Steger oder der Ketzerei Verbächtigen
antreffen follte, ihn biefem heiligen Officium ober dem
Inquiſitor und dem Bifchofe des Orts, an dem ich mich
befinde, anzeigen. Außerdem ſchwöre und verjpreche
ih, alle Bußen zu verrichten, welche mir biefes hei-
fige Gericht fchon auferlegt hat over noch auferlegen
wird. Sollte es mir begegnen, baß ich irgendeinem
biefer meiner Berfprechen, PBrotefte und Eidſchwüre —
was Gott verhüten mögel — zuwiberhandle, fo unter-
werfe ich mich allen Bußen und Strafen, welche durch
bie heiligen Kanones und andere allgemeine und be-
fondere kirchliche Verordnungen gegen berartige Uebel⸗
thäter bejtimmt und verhängt find: fo wahr mir Gott
helfe und bie heiligen Evangelien, die ich mit meinen
Händen berühre.
„Sch, obengenannter Galileo Galilei, babe abgeichworen,
bas mir im Vorſtehenden zur Pflicht Gemachte zu halten
gelobt und zur Beglaubigung deſſen die vorliegende Ur⸗
kunde meiner Abjchwörung eigenhändig unterfchrieben und
80 Die Broceffe gegen Galileo Galilei
fie Wort vor Wort geiprocdhen zu Rom im Minerva-
Klofter heute am 22. Juni 1633.
„3%, Galileo Galilei, habe dieſe Abſchwörung
wie oben mit eigener Hand unterzeichnet.‘
Auch dieſe Abſchwörung befindet fich nicht mehr in
den Acten; fie ift natürlich durch die Gegner Galilei’s
auf und gefommen und — durch die Inquiſition felbft.
Hundert Jahre nach dem Tode Galilei's wurde zu Pabua
eine Gefammtausgabe der Werke Galilei’8 veranftaltet;
fie erfchien mit firchlicher Druderlaubniß. Den’ ‚Dialogen‘
war aber das Urtheil gegen Galilei und feine Abſchwörung
vorgedrudt. Eine Ausgabe in Bologna vom Jahre 1656
enthält bie „Dialoge“ überhaupt nicht.
Schwerlich hat nach diefer Abſchwörung Galilei das
e pur si muove gemurmelt. Die Sage hat e8 ihm an-
gebichtet; dieſe läßt ihn auch im Kerfer der Inquifition
geblenvet werden. Er wurde aber erſt in feinen aller-
fetten Lebensjahren infolge eines Augenübels blind. Man
ift ficherlich nicht Über Die territio realis, über den erſten
Grad der Tortur, hinausgegangen. Dies wird noch bes
ftätigt durch einen Brief von Galilei, in welchem er
einem Freunde mittheilt, daß er am 15. Tage nach dem
21. Juni vier italienische Miglien ohne Beichwer zu Fuß
zurüdgelegt. Das find nun zwar blos anderthalb Weg-
jtunden, aber doch immerhin für einen in diefer Weije
niedergetretenen Greis eine anftänbige Xeiftung. Ueber:
haupt wurde man unmittelbar nach der Fällung des Ur-
theil8 etiwas milder, bevrohte aber fpäter den Gelehrten
dann und wann mit der ganzen Strenge der Ingquifition,
ſodaß er, völlig eingefchüchtert, faum wagte, Befuche an-
zunehmen. Im Inquifitionsgebäude blieb er nach ber
Abſchwörung blos einen Tag. Der Bapft verwandelte
vor ber Inguifition in Rom. 81.
die Gefängnißftrafe in eine freiere Haft in der toscani—
fchen Geſandtſchaft. Wir halten das indeß für einen
übermütbigen Zug der päpftlichen Diplomatie. Der Ge-
fandte wurde fo zum Gefangenwärter bes heiligen Offi⸗
ciums. Nach dem Willen feines Großherzogs reichte Ga-
Itei ein Gnadengeſuch ein; es wurde ihm geftattet, ber
Einladung feines Freundes, des Erzbiſchofs von Siena,
Ascanio Piccolomini, zu folgen, jedoch nur unter ber Be⸗
dingung, daß er das Haus feines Gajtfreundes nicht ver-
laſſe. Hier blieb er vom Juli bis December. Auf feine
erneute Bitte erbielt er die Erlaubniß, in einer von ihm
gemietheten Billa, im Kirchipiele Arcetri bei Florenz ge-
legen, fich aufzubalten, wenn er dort niemand einlade und
empfange. Weiter aber erftredte fi) die Milde bes
Papftes nicht. Die legten neun Jahre feines Lebens war
Galilei ein Halbgefangener, unter der fteten Aufficht dee
Inquiſitors von Florenz ftehend. Nur fein Sohn und
feine beiden Zöchter, die Nonnen im Klofter San-Matteo
zu Arcetri waren, weshalb er wol hierher wollte, burften
zu ibm. Leider ftarb die ältefte Tochter, fein Liebling,
bald darauf. Gern wäre er nun nach Florenz überge-
fiedelt: er reichte ein Gefuch ein, weil er dort den Arzt
beffer zur Hand habe. Die Antwort war, er möge der-
artige Gefuche unterlaffen, fonft werde man ihn nad
Rom, in den wirklichen Kerker des heiligen Officiums,
zurücbringen. Jeder, der das Leben und die menfchliche
Natur kennt, wird Galilei beipflichten, wenn er im Jahre
1636 an einen Freund jchreibt: „Sch erhoffe mir Teinerlei
Erleichterung, und zwar, weil ich fein Verbrechen be-
gangen habe. Ich dürfte erwarten, Verzeihung und Be—
gnadigung zu erlangen, wenn ich gefehlt hätte; denn
Fehler find e8, welche ven Fürften zur Ausübung von
- Milde und Gnade Anlaß geben fünnen, während e8 ſich
XXIV. 6
82 Die Procefie gegen Galileo Galilei
gegenüber einem unſchuldig Verurtheilten geziemt, bie
ganze Strenge aufrecht zu erhalten, um zu zeigen, daß
man dem Rechte gemäß vorgegangen ſei.“
Nur zeitweilig durfte Galilei während des Jahres 1638
in Florenz wohnen, nachdem fein Geſundheitszuſtand ein
berartiger geworben, baß er fteter ärztlicher Hülfe be-
bürftig war. DBerichtete doch der florentinifche Ingquifitor
nad) Rom, er wäre fo beruntergefommen, bag er mehr
einem Leichnam als einem Lebenden Menſchen ähnlich jähe.
Auch hatte man es in Rom mit Wohlgefallen bemerkt,
daß er eine Ehrengabe ter Generalftaaten von Holland,
eine prächtige goldene Halskette, welche ihm pie deutſchen
Kaufleute zu Florenz überbrachten, zurückgewieſen hatte.
Seine Furcht vor der Inquifition war begründet; ber
Inquiſitor meldete hierüber nah Rom: „Galilei hat fich
ftanphaft geweigert, die Sachen anzunehmen, fowol ben
Brief wie die Geſchenke, — fei e8 aus Angft, dabei
irgendwelche Gefahr zu laufen, in Anbetracht der Wars
nung, bie ich ihm fofort bei der erften Nachricht der an-
geblich bevorſtehenden Ankunft eines Abgejandten ertheilte
— ſei e8, weil er wirklich feine Methode der geographi«
jchen Längenmefjung auf dem Meere nicht vervollſtändigen
konnte und fich auch nicht mehr in ber Lage befindet,
dies nachträglich zu thun, da er nun ganz blind und fein
Kopf bereiter für die Würmer als für mathematische
Studien iſt.“ Dieſe Nachgiebigkeit verjchaffte ihm einige
Erleichterung; kaum hatte fich jedoch fein Zuſtand etwas
gebefjert, jo mußte er wieder nach Arcetri zurüd. Doch
wurde ihm nun ein erweiterterer Umgang geftattet. Hier,
in Arcetri, bat er feinen größten Schüler, Tonicelli, ge-
bildet. Es iſt ſtaunenswerth, wieviel er noch unter dieſen
unfagbar traurigen Umſtänden gearbeitet hat. Bier hat
er feine „Geſpräche über Mechanik‘ gefchrieben, indem er
vor der Inguifition in Rom. 83
bie Geſetze des Falles entwickelte, Nach feinen Anleitungen
bat bier fein Sohn das Modell zur erjten Pendeluhr
ausgeführt.
Der Tob brachte ihm Befreiung aus der Gefangen
ſchaft, brachte ihm Erlöfung von feinen entjeßlichen körper⸗
lichen Leiden. Galilei jtarb, aufs treuefte von jeiner
zweiten Tochter gepflegt, am 7. Sanuar 1642. Die In-
quifition aber führte noch mit dem Todten Krieg. ALS
ein noch unter ver Zucht des heiligen Officiums ftehenber
Ketzer durfte er nicht in. geweihter Erde beitattet werben.
Darum blieb ihm, dem größten Sohne feiner Familie,
die Familiengruft verſchloſſen; ohne alle Feierlichleit wurde
er in einem Nebenraume ver Kirche Santa-Eroce zu
Slorenz begraben. Weber Grabmal noch Inſchrift wur-
den geduldet. Das folgende Jahrhundert hat auch das
nachgeholt. Als man im Iahre 1734 Galilei in Florenz
ein Grabmal errichten wollte, berichtete der Inquifitor
dies nah Rom. Am 16. Juni beichloß das heilige Of-
ficium in feierliher Sitzung die Genehmigung, nachdem
zuvor die theologiichen Beiräthe gehört worden waren.
Die Acten im Proceſſe Galilei jchließen mit folgenber
Enticheidung *):
Die Herren Conjultoren waren der Meinung, es
jolle dem Bater Inquiſitor gefchrieben werben, er möchte
der Errichtung eines Galilei-Dentmals fein Hinderniß in
ven Weg legen, möchte aber auch eifrig Sorge tragen,
dat ihm die Infchrift mitgetheilt werde, welche auf dem
genannten Denkmal angebracht werden fol, und möchte
biefe der Heiligen Congregation berichten, damit dieſe noch
*) Die Eminenzen billigten das Votum ber Herren Eonjul-
toren.
6*
84 Die Broceffe gegen Salileo Galilei
vor der Errichtung bie ihr angemefjen erſcheinenden Be⸗
fehle ertheilen könne.
So entbehrt das lange Actenſtück wenigftens nicht
bes verjöhnenden Abfchluffes.
Am 12. März 1737 wurben unter Betheifigung aller
Profefforen der Univerfität und vieler Gelehrten Italiens
mit großer Feierlichleit und Eirchlicher Pracht Die Ueber-
refte Galilei's aus ihrer bisherigen Auheftätte in das
neue Mauſoleum der Kirche Santa-Eroce übertragen.
Urban VIIL bat wahrfcheinlich fein Denkmal früher er-
halten; jein Name wird wilfenschaftlichen Forſchern und
ben römifchen Klerilern ſtets bekannt fein; ber Name
Galilei's aber erhellt, nach dem Zeugniffe Urban’s, bie
Erde. Seine Erfindungen und Entvedungen haben ber
Naturwiſſenſchaft ungeahnte Impulfe gegeben. Auf dieſen
beruht fein Ruhm, nicht auf feiner Vertheibigung ber
Kopernikaniſchen Weltanſchauung. Diefe Vertheidigung
war nichts weniger als muth⸗ und charaktervoll; ebenſo
gewiß aber iſt, daß Bosheit und Rachſucht die Haupt⸗
rolle in dem Proceſſe gegen ihn geſpielt haben, denn Ga⸗
lilei hing feiner Kirche in treuer Liebe an. Erbat er ſich
doch in feiner Gefangenfchaft die Gnade, wenigſtens an
den hohen Feiertagen in der benachbarten Kirche pie Meſſe
hören zu dürfen! Und ein folder Mann it bis aufs
Blut gepeinigt worden! Welch ein Schade baburch der
Religion überhaupt zugefügt worden ift, das entzieht fich
alter menschlichen Berechnung. Die „‚welterrettende”
Wirkſamkeit der Inguifition ift in Wahrheit eine welt-
vernichtende, venn fie bat das Fundament aller Welt-
ordnung, den Glauben, im Interefje der Tirchlichen Herr»
Ihaft zerſtört. Der Atheismus in den romanijchen
Ländern ift dafür Beweis gemug.
Die Männer ver Naturwiffenfchaft, ver exacten For⸗
vor ber Inguifition in Rom. 85
hung, aber mögen nie vergefjen, was fie ber Kirche, ber
Reformation zu verbanfen haben. Sie mögen ihr Werf
treiben und bie Geheimniffe der erjchaffenen Welt er-
gründen; fie mögen fich aber hüten, überzugreifen in bie
Welt der Erlöfung, der Gnabe; fie möchten ſonſt den Aft
abjägen, auf dem fie fiten. ‘Die theologica regenitorum
überläßt ihnen willig das Gebiet der Natur, Tann e8
ihnen um jo mehr überlaffen, je mehr fie wurzelt in ber
Dffenbarung, die in Chrifto Jeſu geworben. Die wahre
Wiſſenſchaft führt nie von Gott weg, ſondern ftetd zu
ihm hin.
Herzog Iohann Friedrich von Weimar.
(Proceß wegen Magie.)
1627 und 1628.
Die traurigfte Epoche deutſcher Gefchichte ift die Zeit
des Dreißigjährigen Krieges, jene Zeit, da die Hand bes
Bruders gegen den Bruder erhoben war und fchonungs-
108 in immerfort fich fteigernder rauber und wüſter Weife
bie vorhandene Cultur und ihre fpärlich entwidelten Keime
zeritört wurden — ad majorem dei gloriam! ... Un-
ſchätzbare Güter wurden vernichtet, der geijtige, fittliche
und materielle Fortfchritt wurde auf faft zwei Jahrhun⸗
berte hinaus gehindert, die politiihe Ohnmacht berbei-
geführt, die Bedeutung ber Nation herabgebrüdt, ihre
Kraft zerfplittert, ihr Ehrgefühl abgeftumpft. Auf dem
eigenen Boden ſah man gleichgültig den Fremden herr-
ihen, ja man rief ihn fogar herein, um den Stammtes-
genofjen niederzumwerfen. Im jener Zeit ber Verrohung
und der Verirrung der Geifter blühte der thörichtfte Aber-
glaube. Man nahm an, daß Hexen und Zauberer bie
ichwere Noth der Zeit über die Menſchen gebracht hätten,
daß man Neichthum, Ehre und Macht, auf dem Wege
der Magie, der Aftrologie und Alchemie ficher erreichen
könne.
Herzog Johann Friebrid von Weimar. 87
Nicht nur die gedankenloſe Menge, auch erleſene Geijter
verfielen diefem Wahne. Man Tennt die Studien, bie
ver gelehrte Habsburger auf dem Kaiſerthrone, Rudolf IL,
machte, al8 er in weltvergefjener Stille mit Tycho de Brahe
am prager Hradſchin den Stein der Weijen ſuchte; man
weiß, daß der gewaltige Wallenftein das Geſchick aus ben
Sternen leſen und feine Weiſungen von ihnen empfangen
wollte. Ein Opfer dieſes finftern Hanges war auch ein
reichbegabter Sproß des herzoglich fachjens weimarifchen
Haufes, der einem tragischen Schidjale verfiel, weil er.
unvorfichtig mit dem Teuer fpielte.
Herzog Johann von Sadfen (1570— 1605), ber
Stammvater des neuen weimarifchen Haufe, war in
jungen Iabren gejtorben und hatte jeiner Gemahlin, ver
Fürftin Dorothea Maria, der Mutter der Erneſtiner, die
ichwierige Aufgabe Hinterlaffen, die unmündigen Söhne
zu erziehen. Der älteſte, Johann Ernft, übernahm, ſelbſt
noch ein Süngling, 1615 die Verwaltung des Herzogthums
im eigenen und im Namen feiner unmündigen Brüder.
Wenige Jahre danach, 1617, ftarb auch die Mutter, die
vermittelnde, ausgleichende Frau, deren liebevoller Zu-
ſpruch zwifchen ven ungleich gearteten, jungen, heißblütigen
Fürftenföhnen die Eintracht nothdürftig erhalten Hatte.
Unter den Brüdern entftanden Mishelligfeiten, die fich
fteigerten bi® zu offenem Zerwürfniß. Inſonderheit ver
fünfte Sohn des Herzogs Johann, der im Sabre 1600
zu Altenburg geborene Herzog Johann Friedrich, ein
mistrauifcher reizbarer junger Herr, fühlte ſich zurüd-
gejegt. Er bielt fich für den geijtig Befähigtiten jeiner
Brüper, hatte eine ausgefprochene Neigung für die Wifjen-
ichaft und verbrachte viele Stunden des Tages mit Lel-
türe. Allein gerade ihm war die claffiiche Bildung, die
feine ältern Brüder erhalten hatten, nicht zutheil geworben.
88 Herzog Iohann Friedrid von Weimar.
Er erfannte nur zu gut bie Lücken feines Wiffens, legte
aber den Mangel feiner Erziehung einer abjichtlichen Ver-
nachläffigung von feiten feines älteften Bruders zur Lait.
Er entwidelte einen wahren Tenereifer, um durch felbit-
jtändiges Studium das Verfäumte nachzubelen. Da aber
‚bie leitende Hand fehlte, gerieth er bald in eine unge:
junde myſtiſche Richtung, bie fich verhängnißvoll für ihn
geftalten ſollte. Es z0g ihn zur Magie, zur Schwarzen
Kunft. Ein italienifcher Alchemift, der während einiger
Zeit am Hofe zu Weimar Iebte, erwedte bei dem jchon
vorher zu unfruchtbaren Grübeleien neigenden Prinzen
bie Luft, durch geheimnißvolle Künfte in den Beſitz des
Steines ber Weifen zu gelangen. Wer ben Stein ber
Weiſen bejaß, konnte nach dem damaligen Glauben ver
Menichen die Herzen der fchönften, tugendſamſten rauen
zu heißer Liebe entzünden. Er warb hieb⸗ umb ftichfeit,
fonnte ſich unfichtbar machen, alle Gebrechen und Krank—⸗
heiten heilen, fein Leben bis in das Unendliche verlängern
und e8 in ewiger Jugend verbringen.
Herzog Johann Yriedrich lebte indeß nicht blo8 feinen
Studien, er verftand auch den Degen zu führen und
hoffte in der wilden, biutigen Zeit fich Ehre und Ruhm
zu erwerben. Das Vorbild war der eigene Bruder, Her-
zog Bernhard von Weimar, der jenen Namen mit dem
Schwerte in das Buch der Geſchichte in großen, unaus-
löfchbaren Zügen eingezeichnet bat. Im Iahre 1621 nahm
Herzog Iohann Friedrich, von einer Reife nach Italien
heimgefehrt, bei feinem Bruder, dem Herzog Wilhelm,
Kriegspienfte. Diefer hatte e8 unternommen, für ben
Markgrafen Georg Friedrich von Baden-Durlach ein
Heer zu werben. In der Schlacht bei Wimpfen focht
der junge Prinz mit Auszeichnung. Nach der Verabfchie-
bung ber Truppen begab er fich nach Frankreich und in
Herzog Johann Friebrid von Weimar. 89
die Niederlande, ſodann im Vereine mit dem vor-
gedachten Herzog Wilhelm zu dem Herzog Chriftian
pon Braunfchweig ımb nahm an ber Schlacht bei
Stadtlohn (1623) theil. Dann trat er in bänifche
Dienfte, zugleih mit feinen Brüdern Johann Ernit,
bem älteſten, ber Generalsrang befleivete, und Bern⸗
barb, dem jüngften, ber gleid ihm vie Stelle eines
Dberften zugewiejen erhielt.
Die beiven Brüder, Iohann Ernſt und Johann Fried⸗
rich, fanden fich fchon damals feinbfelig gegenüber. “Der
jüngere klagte den ältern an, daß er ſchuld fei an fei-
ner lückenhaften Ausbildung; dieſer aber beſchwerte fich
mit vollem Rechte über ſeines Bruders Mangel an Sub-
orbination und erklärte befjen Leidenjchaft für die heim-
fihe Kunſt der Magie für eine eines Fürſten unwürbige
Verirrung. Johann Friedrich fehte auch im Lager das
Studium der Magie fort. Er ftand infolge deffen bei
Offizieren und Soldaten in dem Rufe eines Hexenmeiſters
und Teufelsbeſchwörers. Am 20. September 1625 ent»
ipann fich beim Würfelipiele zwiichen dem Herzog Johann
Friedrich und dem Pfalzgrafen Ehriftian von Birkenfeld
im Hauptquartier der dänischen Zruppen zu Nienburg
an der Wefer ein Streit. König EChriftian IV. befahl dem
Herzog Iohamm Ernſt, als dem vorgefekten General ver
beiven Prinzen, feinem Bruder ben ‘Degen abzuforbern.
Diefer verweigerte den Gehorfam. Nicht der König, der
eigene Bruder wolle ihn demüthigen. Er habe den Degen
jtet8 mit Ehre geführt, nur derjenige, der ihm bie Schwert-
hand abhaue, jolle ihm ven Degen nehmen. Vergeblich
berief ſich Herzog Johann Ernft auf des Königs Befehl.
Da fein Bruder trogig Widerſtand leiftete, überwältigte er
mit Beihülfe zweier Offiziere den Wiperfpenftigen, nahm
ihm perjönlich den Degen ab und brachte ihn in fichern
90 Herzog Johann Friedrih von Weimar.
Gewahrfam. Das Sriegsgefe beitraft aber eine folche
Wiberfeglichfeit als Meuterei.
Der Dänenkönig verlangte von feinem meuterifchen.
Dffizier eine Erklärung Diefer gab an: Bei allem
ſchuldigen Reſpect vor des Könige Majeftät, ver er gewiß
nie zu nahe treten wolle, habe er doch gegen einen Affront,
wie man ihm angethan, depreciren müffen. Er ſei nicht
wie ein Cavalier aus fürftlichenm Geblüt, fondern wie ein
Hund behandelt worden. Nicht gegen Sr. Majeſtät Be⸗
fehl, nur dagegen babe er fich vervefenpirt, fein Edelmann
bürfe umgeftraft fich Gleiches bieten laſſen. Es fet um jo
ichimpflicher, weil ein Bruder fich fo weit gegen den an-
bern vergeffen babe. Dies fei doppelte Schmach und
Schande. Wolle der König feinen Tod, fo möge er ihm
ben Kopf vor die Füße legen laffen, ber Kriegsherr ge-
biete wol über fein Leben, nicht aber über feine fürftliche
Ehre und Reputation.
König Chrifttan erfannte aus diefer Antwort bie
eigentliche Triebfeder des Widerſtandes. Er entſchied, daß
ber Verhaftete nicht vor das Kriegsgericht geftellt werben
folle, venn e8 handle fih um einen Familienzwiſt, deſſen
Beurteilung ausfchließlich ver Gefammtheit der fächfifchen
Fürſten zuftehe. Den Bericht, den ver König anoronete,
erjtattete Herzog Johann Ernft in einer für feinen Bru-
der abfälligen und deſſen Sache abträglichen Art. Er
forderte zum Einfchreiten wider ven unbotmäßigen Herzog
Johann Friedrich auf, deſſen Gebaren ver Ehre des
hochfürftlichen Hauſes zuwiderlaufe.
Mittlerweile befand ſich Herzog Johann Friedrich
unter der Obhut ſeines Anklägers im Lager zu Nienburg
in ſtrenger Haft. Wiederholte Verhöre wurden mit ihm
abgehalten. Da der eine Hauptpunkt der Anklage: Wider⸗
ſetzlichkeit gegen den Befehl des Kriegsherrn, durch die
Herzog Johann Friedrih von Weimar. 91
Entſcheidung König Chriftian’s hinfällig geworden war,
juchte man das Procefverfahren aus zudehnen und fchon
damals auf die Anfchulbigung zu erftreden: ver Gefangene
halte es mit dem „böfen Feinde”. Er wurde förmlich
barüber vernommen: ob es wahr fei, daß er feine Seele
dem Zeufel verfchrieben habe? — Zuerſt wies Iohann
Friedrich diefe Zumuthung mit Entrüftung von fi. Ale
man aber immer wieder darauf zurückkam, und feine Ver-
bindung mit dem Satan als öffentliches Geheimniß be-
zeichnete, das im Lager von Mund zu Mund gegangen
jei, pa lächelte er höhnifch und begann mit feiner Kennt»
niß der Schwarzen Kunſt zu prablen. Im richtiger Er-
wägung ber Wirkung brebte er den Spieß um und drohte
jeinen Brüdern, daß er fich, falls fie ihn nicht Löften, mit
Hülfe feines hölliſchen Kumpans befreien, dann aker
fürchterliche Rache an ihnen nehmen werbe.
Das Mittel half. Nach einigen Verzögerungen wurde
Herzog Iohann Friedrich aus der Haft entlaffen. Er
reichte fofort feinen Abſchied ein und ließ feine beiden
Brüder, die mit ihm gedient hatten, Johann Ernft und
Bernhard, zum Zweilampf fordern. Beide lehnten e8 ab,
fih ihm zum Kampfe mit tödlichen Waffen zu. ftellen.
Db die Ablehnung des Zweilampfes erfolgte, weil fie ihre
Degen nicht mit dem eigenen Bruder krenzen wollten
oder weil fie Furcht hatten vor feinen hölliſchen Praftifen,
wiſſen wir nicht. Herzog Iohann Friedrich ſah fich for
mit außer Stande, feiner beleidigten Ehre ritterliche Ge-
nugthuung zu ſchaffen. Grollend zog er fich auf feine
Befigungen im Thüringerwalde zurüd. Es waren bies
bie Herrichaften Ichtershaufen, Tambuchshof, Georgenthal
und Reinhardsbrunn. Nach Weimar Fam er nur zu-
weilen bes Nachts und verließ die Stadt vor Tagesgrauen,
um mit feinem feiner Brüder perjönlich zujammenzutreffen.
92 Herzog Johann Friedrid von Weimar.
In diefer Adgefchloffenheit reifte tu ihm der Vorſatz, fich
gänzlih von feiner Sippe loszuſagen. Er ließ feinen
Brüdern ben fürmlichen Vorichlag machen, daß er allen
Anfprüchen anf fein väterliches Erbe entfagen wolle, wenn
man ihm eine noch zu vereinbarende .nicht allzu hoch ge=
griffene Geldabfindung zufichern wollte. Herzog Johann
Ernft griff diefen Antrag mit Freuden auf und legte ihn
bem Familienrathe vor. Allein Herzog Wilhelm opponirte.
Er wollte Frieden ftiften zwiſchen ven ftreitenden Brüdern.
Es gelang ihm dies indeß nur infoweit, als die Herzoge
Johann Friedrich und Bernhard fich verfühnten. Johann
Ernft dagegen blieb allen Vorftellungen gegenüber unzu-
gänglich. Er ftarb, ohne daß der YBruberzwift beigelegt
worden war.
Johann Friedrich zog fich mit der Zeit immer mehr
zurüd von allen Menfchen. Er fuchte die Einjamteit,
verfehrte mit niemand, ſah fogar feine Dienerfchaft nur,
jomweit e8 unumgänglich nothwendig war, und jchloß fich
am liebften tagelang ein, mit feinen Büchern, Retorten
und PBhiolen. Tag und Nacht glühte die Eſſe, Tag und
Nacht brodelte und fochte in den Schmelztiegeln eine ver-
dächtige Maſſe. Wenn ver Herzog. nothgebrungen mit
fremden Berjonen zuſammenkam, blieb er mismuthig und
zerſtreut, entweder war er äußerft wortfarg over er
braufte ohne fichtlichen Anlaß auf. Die faum verſtumm⸗
ten Gerüchte über die verbammliche Urfache feines ge⸗
heimmißvollen Treibens lebten wiever auf. In immer
weitere Kreije drang fen Ruf als Geifterbejchwörer, ber
jeine Seele an Satanas bahingegeben habe, um dafür
Macht und Reichthum einzutauſchen. Schen wichen bie
Bauern, benen er auf feinen einſamen Ritten begegnete,
bei feinem Anblid zur Seite, und in Weimar waren über
Herzog Johann Friedrih von Weimar. 93
ihn die unbeimlichiten Sagen im Schwange. Man mied
und fürchtete den jungen Fürſten.
Seine Brüder glaubten nicht länger jchweigen zu
dürfen. Der Verruf, ver ihn, einen Prinzen ihres Hau-
fes, traf, fiel gewiffermaßen auch auf fie zurüd. Sie er-
wogen, wie fie dem Treiben des verbitterten Sonverlings
ftenern könnten, und Tamen auf ven Gedanken, ihm bie
Nachricht von einem fenntnißreichen Adepten in den Nie-
berlanden zufommen zu laffen. Kaum hatte Johann
Friedrich dieſe Botjchaft erhalten, fo verließ er fein ftilles
thüringifches Aſyl, um den berühmten Mann aufzufuchen
und perjönlich Tennen zu lernen.
Er zog nidt aus wie ein Fürft, fondern wie
ein einfacher Edelmann. Sein Gefolge beitand aus
etlihen ‘Dienern. Er mußte fich einfchränfen, denn
feine Einkünfte waren gering. Er bezog 7000 Gold⸗
gulvden jährlih, und von dieſer befcheivenen Summe
verichlangen die alchemiftiihen Experimente mehr ale
bie Hälfte.
Im Frühling 1626 ritt er durch Weftfalen und wollte
von dort weiter in bie Nieverlande. Am 27. April fiel
er bei Lippftabt in die Hände von fpanifchen Solvaten,
die dort im Hinterbalte lagen. Er weigerte fich zuerft,
feinen Namen zu nennen. Auf eindringliches Befragen
gab er an, ein nieberländifcher Nittmeifter zu fein, ver
ben Dienjt verlaffen babe und in feine Heimat nad) Har-
lem zurüd wolle. Dieſe unbeftimmten Angaben erregten
Berdadt. Die Spanier "hielten ihn für einen Spion
und richteten demzufolge ihre Behandlung feiner Perjon
ein. Diefe war begreiflicherweife vefpectlo8 genug. Da
empörte fich fein fürftliches Blut, und als ein ‘Diener des
Commandanten von Lippſtadt ihm nicht mit gebührender
Achtung begegnete, ftieß er ihm feinen Dolch in bie
94 Herzog Johann Friedbrih von Weimar.
Rippen. Nun drobten die Spanier kurzen Proceß mit ihm
zu machen. Cr ſah fich genöthigt, Namen und Rang zu
enthüllen. Seine Brüder beftätigten feine Angaben und
er ward freigelafien, freilich erſt nach breimonatlicher
Gefangenschaft. Die Reifeluft war ihm vergangen. Er
fehrte in die Heimat auf fein Schloß in Ichtershauſen
zurüd.
Mit feinen Brüdern in offenfundigem Zwiefpalt, mit
aller Welt zerfallen, unzufrieden mit fich felbft, weil feine
Experimente mislangen und weil er ten Stein der Wei-
jen durchaus nicht zn finden vermochte, lauſchte er um fo
begieriger den Nachrichten, die ab und zu von glüdlichern
Adepten zu ihm gelangten. Die befehauliche Ruhe daheim
wurde ihn Täftig. Zu Anfang des Jahres 1627 verlieh er
jeine Burg abermal® und wandte fich nach Niederfachien.
Er erreichte Nordheim, welches von den Truppen des
Feldmarſchalls Tilly belagert wurde. Dort fiel er den Vor⸗
poften in die Hände. Auch diesmal fam es zwifchen ihm
und den Soldaten der Liga, denen er Auskunft über feine
Perfon und feinen Reiſezweck verweigerte, zu gereizten
Auseinanderjegungen. Die Soldaten nahmen ihn troß
tapferer Gegenwehr gefangen und brachten ihn zunächft
auf die Feſte Erichsburg. Als fein Rang und Stand
befannt geworden und ber Kurfürſt von Sacdfen als das
Haupt des Gefammthaufes von dem Vorfalle verjtändigt
worben war, wurde ber Herzog nach Oldisleben an der
Unftrut abgeführt. Dort aber blieb er unter ftrenger
Bewachung.
Herzog Wilhelm veranlaßte, daß fein unruhiger Bru-
ber zu Oldisleben, in den Hallen eines ehemaligen Klojters,
welches in den Beſitz der herzoglich ſachſen⸗-Eerneſtiniſchen
Linie gelangt war, feitgehalten werben follte. Es fcheint,
daß die Brüber nunmehr endgültig von feiner Eigenfchaft
Herzog Johann Friebrih von Weimar. 95
al8 Zauberer und Beſeſſener überzeugt waren, denn bon
da an ift ihr ganzes Bejtreben darauf gerichtet, ihn bes
Umganges mit dem Böen zu überführen. In jenem
alten Klofter wurde ein fürmlicher Kerfer eigens für ihn
eingerichtet. Die ftrenge Bewachung verwandelte fich in
enge Haft. Man fchien auzunehmen, daß man ihn da⸗
burch vor der Zuſammenkunft mit dem Satanas ſchützen
fönnte. Unter dem Commando eines Hauptmannes ftans
ten dreißig unerfchrodene, verläßliche und ungewöhnlich
fräftige Neiterfnechte, die mit berechneter Sorgfalt aus⸗
gefucht und für ihren befondern ‘Dienft vereidigt wurden.
Ihre Aufgabe war, ven Kerfer zu bewachen. Neun wei⸗
marifche Bürger wurben zur Aufficht über bie Perjon
und zur Bedienung ded Gefangenen berufen. Auch
biefe hatte man eigens in Eid und Pflicht genommen.
Sie mußten Geheimhaltung alles deſſen geloben, mas
fie Verbächtiges und Gottloje8 in dem Benehmen des
unglüdlichen Würften beobachten würden, und waren
zugleich ermächtigt, im Talle des Wiperftandes mit
der Anwendung ber jchärfiten Zwangsmittel und durch
Gewalt den ertheilten Anordnungen Geborfam und Er-
füllung zu fihern. Im der Wand des an das Zimmer
bes Herzogs ftoßenden Gemaches war eine Deffnung
angebracht, durch die er Tag und Nacht beobachtet
werben fonnte. |
Dem Gefangenen wurde mitgetheilt, daß ein Beichluß
des Geſammthauſes Sachjen vorliege, wonach er wegen
feines unchriftlichen Gebarens und feiner unfürftlichen
Gefinnung, die ihn vor Gott und der gefammten ehrbaren
Welt compromittire, in jtrenger Haft gehalten werben
ſolle, bis er fich gebefjert habe und reuig zur Erfenntniß
feiner Sünden gefommen jei.
Herzog Johann Friedrich tobte in ohnmächtiger Wuth.
96 Herzog Johann Friebrih von Weimar.
Da er einjab, daß er ver Gewalt nur gewaltfam begegnen
könne, verfuchte er mit Hülfe einiger getreuer ‘Diener,
mit denen er Verbindungen angelnüpft hatte, aus feinem
Kerker zu entlommen. Die eigentlichen Leibwächter wur-
den überwältigt und gefnebelt, aber bie Reiteröfnechte,
welche die Äußere Wache bildeten, waren auf ihrer Hut.
Die Diener des Herzogs wurden nievergemacht, er felbft
nach verzweifelter Gegenwehr verwundet und feſtgenom⸗
men; der Fluchtverjuch war misglüdt.
Am 30. Mat 1627 wurbe ber Herzog in Ketten ge-
legt und fein jchönes, wallendes, blondes Lockenhaar ab⸗
rafirt, weil er „ven Teufel in den Haaren babe’. Alle
feine Betbeuerungen und Vorftellungen blieben fruchtlos.
Er richtete verjchiedene Eingaben an den Kurfürften von
Sachſen als das Haupt feines Hanfes. Sogar das Io-
giſche Argument, daß er doch nicht hieb- und ſtichfeſt fein
fönne, wie die Verwundung beweiſe, die er erſt neuerlich
Davongetragen, verfing nicht. Die Bitten, zu denen er
ſich fohließlich berbeiließ, waren vergeblih. Auch fein eid-
fiches Veriprechen, in die Fremde zieben und künftig nie
wieder an feine Brüder irgendwelche Anfprüche machen
zu wollen, half ihm nichts. Die harte Behandlung,
welcher er ausgeſetzt blieb, regte ben heißblütigen, jugend-
lichen Fürften auf das äußerſte auf. Er befam fürm-
liche Wuthanfälle. In einem berjelben zerbrach er mit
ſchier übermenfchlicher Kraft feine Ketten, Vielleicht war
biefer Vorfall die Urfache, dag man ihm bie Haare ſchor.
Wie bei Simſon ſuchte man den Sitz ſeiner Kraft in
ſeinen Locken.
Herzog Johann Friedrich war deutſcher Reichsfürſt.
Seine Haft und das ganze Verfahren wider ihn war ohne
Vorwiſſen des Kaiſers eingeleitet worden und deshalb
nach deu Gefegen des Reiches ungültig und unftatthaft.
Herzog Johann Friedrih von Weimar. 97
Es erklärt ſich indeß aus ber wilden gejeßlofen Zeit.
Dem Vorgehen gegen ihn lag nicht etwa Uebelwollen
oder Feindichaft zu Grunde. Seine Brüder hielten
ſich für verpflichtet zu ihren graufamen Mafregeln,
denn fie glaubten feit daran, baß er ein vom böfen
Geifte bejejfener, verlorener Menjch fei. Mit Zuftimmung
oder gar auf ansprüdlichen Befehl des Kurfürften von
Sachſen wurde der Herzog im November 1627 nad
Weimar geführt und dort in einen eigens für feine Auf-
nahme erbauten Kerker gebracht. Der fürmliche Procek,
den man nun gegen ihm einleitete, entjprach ven allge-
meinen Anjchauungen.
Ein ärztliches Öutachten holte man nicht ein. Da—
gegen wurde der Gefangene ohne Rüchkſicht auf feine
wiederholten Betheuerungen, daß er mit bem Teufel
nichts zu Schaffen habe, mit fortwährenden Bekehrungs—
verjuchen gequält.
Es ift aus den Acten nicht erjichtlich, zu welchen
Endurtheile feine Richter gelangten. Vielleicht ſchreckte
man doch im Hinblid auf den fürftlichen Rang des An-
gefchuldigten wor der äußerſten Conſequenz, der Verdam—
mung zum euertode, zurüd.
Am 17. October 1628 fanden die Bedienſteten, welche
ven Kerker betraten, den Herzog todt. Er lag, mit dem
Gefiht zur Erde gekehrt, auf dem Fußboden, Ein Dolch
ftoß in die Bruft hatte feinem Leben ein Ende gemacht.
Ein Selbftmord war ausgeichlofien. Es fand fich auch
fein Dolchmefjer bei ihm vor. Es blieb unaufgeflärt,
wer fich troß ber ftrengen Bewachung zu ihm einzu-
fchleichen vermocht hatte. Die öffentliche Stimme war
rafch,jüber den Thäter einig. Der Teufel jelbit Hatte
ven Teufelsbeſchwörer umgebracht und die ihm ver-
follene Seele geholt. Die Richter waren unmenfchlich
XXIV. 7
98 Herzog Iohann Friedrich von Weimar.
oder folgerichtig genug, zu begehren, baß ber Leich—
nam in einem Winkel in ungeweihter Erbe verjcharrt
werben ſollte. Dagegen fträubte fich aber der Familien⸗
ftolz feiner Brüder. Sie ließen die Leiche des Herzogs
Johann Frievrih in aller Stilfe, jedoch unter Bewah-
rung des Anftandes begraben. Wo feine Beifegung er-
folgte, wurbe geheimgehalten und ift aus den Acten
nicht erfichtlich.
Die Kerfer, welche ver unglüdliche Prinz in Oldis⸗
leben und in Weimar bewohnt hatte, wurben ber Erbe
gleichgemacht. Tür feine Diener forgte man in würbiger
Weiſe.
Wir haben dieſe Tragödie aus der Geſchichte eines
fürſtlichen Hauſes zur Darſtellung gebracht, weil ſie
die Mittheilung über Hexenproceſſe im 21. Bande des
„Neuen Pitaval“ in bezeichnender Weiſe ergänzt. Sie
beweiſt, wie hoch und niedrig in jener traurigen Epoche
unter demſelben Irrwahn litt, und daß die bebauerns-
werthen Opfer des entjeglichiten Aberglaubend in allen
Ständen, auch den höchſten, anzutreffen waren. Kepler
mußte den Schmerz erleben, daß gegen feine leibliche
Mutter die Anklage der Hexerei erhoben wurde, und das
edle jachjen-erneftiniiche Haus ſah fich genöthigt, eins
feiner Glieder dem fürchterlichen Wahne zu opfern. In
jener Zeit geiftigen Nieverganges war eben niemand,
mochte er noch jo boch ftehen, gegen Angriffe wüſten
Aberglaubens gefeit.
Es war im gegebenen Falle unnüß, längere Auszüge
aus den Protofollen beizubringen. Sie unterfcheiden fich
in Form und Inhalt nur wenig von allen ähnlichen, ver-
Herzog Johann Friedrid von Weimar. 99
artige Proceffe betreffenden Acten. ‘Der gleiche traurige
Ernſt, mit dem bie wiberfinnigften Dinge umftändlich
abgehandelt werben, bie gleiche bornirte Verſtocktheit und
auch die gleiche ehrliche Nechtsanfchauung auf jeiten der
Richter, die gleiche verzweifelte Unſchuldsbetheuerung bes
Angeklagten, der damit niemand zu überzeugen und zu
rühren vermag. Es iſt ein büfteres Blatt aus ber
Chronik eines deutſchen Fürftenhaufes; allein wir glauben
es unjerer Pflicht entjprechend, auch dieſes unſerm Werfe
einzureiben.
7*
Donna Krigida.
(Mexico. — Todtſchlag.)
1888.
Sie war von Heiner Geftalt; wenn fie gebücdt und
verriimmt an ihrem Krüdftabe heranjchlich, erſchien fie
geradezu zwergenhaft. Wirr hingen bie ergrauten, unter
dem grellrothen Kopftuche wie Schlangen bervorzüngeln-
den Haare um das verfchrumpfte, welfe Geficht. Den
zahnloſen Mund umfpielte fortwährend ein häßliches, höh-
nifches Lächeln. Am auffallenpften an ihr blieben jedoch
bie zwar roth umränderten, aber noch iminer feurig auf-
bligenden Augen, vor deren jtechendem Blid ausnahms-
108 alle, ver Alcalde nicht minder als ber Pfarrherr Don
Aguftin ſelbſt, ſcheu zurückwichen. Wenn fie worbeiges
bumpelt war, feufzte ein jeder erleichtert auf, fchlug fromm
das Kreuz und lispelte einen Segensipruch zu Ehren ver
Madonna.
Sie war fih ihrer Macht vollbewußt. Sie brauchte
fie fchonungslos. Das ganze Dorf San-Joſé de Tel-
huateclen war ihr unterthan.
Einſt ſoll auch fie jung und fchön und begehrenswerth
gewejen fein. Lange iſt's her. Donna Brigiva war
Donna Brigiba. 101
das Kind eines Hidalgo, der, fein edles blaues caftilia-
nifches Blut hintanſetzend, eine „India“, eine Tochter ber
verachteten eingeborenen farbigen Raſſe, geliebt und fie
als Gattin in fein Haus geführt Hatte Brigida war
aufgewachien wie bie muntern Kolibris, die fich auf ben
Zweigen ber benachbarten Büſche wiegten. Wie Diele,
begte ihr Köpfchen feinen andern Gedanken, als ich zu
pugen und eine Cancioncilla zu trällern. Da war ein-
mal ein Amerifaner dahergekommen, ein rotbblonder, groß.
gewachjener jchlanfer Burſche. Er bezeichnete ſich als
Ingenieur und gab vor, er wolle ven fürzeften Weg von
Merico nach Puebla aufſuchen. Ob er den gefunden,
weiß man nicht. Wohl aber fand er ven Weg zu Bri-
gida's Herzen und in ihr KRämmerlein. Eines Tages
waren fie beibe verſchwunden. In dem alten Haciendado
erwachte der fpanijche Stolz. Er beichuldigte mit harter
Rede feine Frau, daß ihr Blut fein Kind verborben. Er
joll fie in einem Anfalle blinder Wuth erfchlagen haben.
Mag fein. Es ift lange ber, und mit ber Gerichts-
barfeit dürfte e8 dazumal nicht zum bejten beftellt geweſen
jein. Vielleicht befchuldigte ihn auch nur ein böswilfiges
Gerücht, das dem alten Manne die letter Lebensjahre,
die er vereinfamt und vergrämt verbracht hat, verbitterte.
Sein Anweſen verfiel, feine Wirthichaft ging zurüd. Stüd
um Stüd, ſowol Feld als Rind mußte verfauft werben,
nur um feine Bebürfniffe, fo gering fie auch waren, zu
beden. Als er ftarb, war nicht viel mehr übriggeblieben
als jein Haus. Diefes, fich ſelbſt überlaffen, zerfiel nach
und nach ebenfalls.
Da war eines Tages, man wußte nicht woher, Bri⸗
giva wieder aufgetaucht. Sie war alt und abjtoßend häß-
lich geworben. Lumpen bevedten ihren Leib, und nur ber
Heine, noch immer wohlgeformte Fuß, der unter ben
102 Donna Brigida.
Lappen, bie fie als Kleider trug, hervorlugte, verrieth
ihren einitigen Reiz.
Sie blieb im Dorfe und bezog das Häuschen bes
Baters, welches nothdürftig ausgebeflert wurde, ſodaß es
Wind und Wetter abhalten möchte. Dort lebte fie allein,
nur umgeben von Katzen, Eulen und anderm lichtſcheuen
Sethier. Getrocknete Schlangenhäute hingen von ber
Dede herab und fchlugen wol, wenn fie ein Winpftoß
bewegte, den furchtſam zuſammenknickenden Bejuchern ins
Geſicht. Es Trabbelte in allen Eden. Unter dem großen
Keſſel erlofch niemals das Teuer. Was eigentlich darin
brobelte, konnte fein Sterblicher ergründen. Sie war eine
Here, das war gewiß.
Sogar Don Aguftin fürchtete fie und ging ihr aus
bem Wege. Er konnte ihr nichts anhaben, denn fie that
äußerlich, als ob fie eine gute Ehriftin wäre, ging allſonn⸗
täglih zur Meſſe und kam vor Oftern fogar um zu
beichten. Was fie da dem frommen Manne erzählt haben
mag! Er war ftet8 ganz verftört, als fie den Beichtftuhl
verließ, während ein unheimlich farbonijches Lächeln noch
Ihärfer als fonft um ihre Mundwinkel zudte.
Sn kurzer Friſt war das Dorf ihr zinspflichtig ge⸗
worden.
Sie fagte wahr, wußte für alle Gebreften Rath und
fonnte die böfen Geifter beſchwören. In ihrer Küche fan-
ben fih Mittel für alles Weh. Nicht nur die jungen
Mädchen fchlichen zu ihr, wenn fie der Treue ihrer Xieb-
baber mistrauten, nicht nur die jungen Frauen, deren
Ehe nicht fofort im erften Jahre nach Wunfch gejegnet
war, nicht nur bange Mütter, die ihre leichtfinnigen Söhne
auf Abwege gerathen ſahen, auch die Männer des Dorfes
kamen zu ihr. Für Krankheit, für Dürre und Noth aller
Art wußte fie Heilung und Hülfe. Sie mußten fommen,
Donna Brigiba. 103
alle, alle. Sie beftand darauf, daß eine jede der funfzig
Familien des Dorfes ihr Zins gebe. Die Summe der
Pefetas, die jedes Familienhaupt zu erlegen hatte, wech⸗
jelte nach der Kopfzahl feiner Angehörigen, feiner Pferde
und Rinder. Zahlen mußten fie aber alle, fonit —
wehe ihnen!
Den Tribut hatte fie fich erzwungen durch die Drohung,
wer ihr bvenjelben weigere, würde „beiprochen”. Dann
mwürben feine Kinder von Nafenbluten befallen, das fein
Mittel Stillen könnte, fie müßten fterben.
Des Nachts beitieg die Here regelmäßig den Hügel
weſtlich vom Dorfe. Im ungewiffen Scheine des Mond⸗
lichts ſah man wol ihre Haare wie zudenvde Flammen
um ihr Haupt flattern, ſah fie mit dem Krüdftod ge-
heimnißoolle Zeichen in die Lüfte jchreiben. Im Angſt⸗
gefühl erfchauernd vernahmen jene, die pochenden Herzens
fich neugierig herangefchlichen, daß fie unverftändliche Laute
murmelte, oder in gellendem Auffchrei Flüche und Ver—⸗
mwünjchungen hervoritieß.
Am Tage dagegen faß fie oft ftundenlang regungslos,
ftteren Blickes vor fich hinſtarrend, feine Anrede der Ant-
wort würbigend, ftumm und verjchloffen vor ihrer Hütte,
Näherte man fich ihr zu folcher Zeit, dann hob ihr ftän-
diger Begleiter, der fchwarze Kater, feinen Kopf, blitte
aus feinen grünen Augen den Störenfried wüthend an
und fauchte, ſodaß ein jeder beftürzt zurückwich.
Es war ein hübicher Junge, das Pathenkind des Al-
calden, ver Bablo Sanchez. Ein wilder Knabe, der, trotz⸗
dem er kaum fechzehn Jahre: zählte, mit jebem Gaucho
um bie Wette reiten und den Laffo jchleudern konnte. Der
Liebling aller, der Führer und Abgott feiner Spielgenofjen.
Sogar die Mädchen des Dorfes, die doch fonft der un⸗
reifen Jugend gern fpotten, bemerften ihn fchon, und
104 Donna Brigida.
gar manch heißer Blid folgte ihm, wenn er ftolz aufge-
richtet auf feurigem Roſſe durch die Straßen fprengte.
Er war eines Tages mit einer Schar feiner Iuftigen Ge⸗
führten an der Hütte der Donna Brigida vorbeigalopirt
und hatte fie mit übermüthig keckem Scherzwort aus ihrem
. bumpfen Brüten aufgefchredt. Sie war aus ihrem Grü-
bein aufgefahren, hatte die Hanb wie beſchwörend aus⸗
gejtredt und etwas gemurmelt, das niemand verftand.
Da ftrauchelte Bablo’8 Pferd, und er, ber befte Reiter
des Dorfes, ftürzte kopfüber zur Erde. Blutüberftrömt
und bewußtlos trugen ihn die Kameraden in feines Vaters
Hans.
Ihm Tonnte feiner mehr helfen als die Hexe felbit.
Der alte Sanchez kam zu ihr geichlichen un hob fle-
hend die Hände. Er bot ihr — wer weiß wieviel? Gie
aber blieb unerbittlich, und ber Knabe ftarb.
Scheuer denn je mieben die Dorfbewohner die Alte.
Nur der Alcalvde, Don Ramon Mepina, faßte fich ein
Herz. Der Tod feines Pathenkindes hatte ihn tief er-
jhüttert. Er begab ſich zu Brigida und ftellte fie zur
Rede.
‚Barum bat Pablo fterben müſſen?“ frug er fie.
„Weil Sanchez feine Pflicht nicht erfüllte. Weil er
bie Buße nicht entrichtet hat, die ich von ihm geheiſcht.“
„And bift bu denn bie Herrin über und, daß bu
gebieteft und wir bir gehorchen müſſen?“
„sh bin e8 Und um es bir zu beweilen, fo for-
bere ich von nun an, daß du mir täglich eine Peſeta
bringen und an meinem Namensfeite zehn blanfe Duros
erlegen ſollſt.“
„Du raſeſt wol? Vergiß nicht, daß ich hier Amtmann
bin, daß ich dich in Haft nehmen und dich nach Merico
— —
Donna Brigiba, 105
vor das ftrenge Gericht führen kann. Und ich werbe es
thbun zur Buße für deine verruchte That.‘
Die Augen der Alten fchoffen Blitze:
„Verſuche es nur. Und an demjelben Tage, an dem
du Hand an mich zu legen wagft, wirb bein Erftge-
borener fih in Krämpfen winvden, und wenn mich beine
Häfcher vor den Richter fchleppen, magft bu, ein kinder⸗
lofer Bater, gegen mich zeugen!”
Medina pralite entjett zurüd. Er war ein muthiger
Mann, aber vor dem Kleinen Weibe fürchtete er fich.
Haperfüllt und heimtückiſch ſah fie ihn an.
„Sebe nur heim“, zifchelte fie, „blicde deinen Kindern
ind Auge und wage e8 ferner, mir zu wiberftreben. Sieh,
ſchon ift der erjte Kreis gezogen!’ Ihr Krüditod fuhr
durch die Luft.
Da Ichnürte unendliche Angft des Vaters Herz zu-
ſammen. Im Geifte ſah er feine blühenden Kinder von
unnennbarem Weh erfaßt in gefpenftifcher Krankheit ver-
ihmachten. Dunkelroth quoll es vor feinen Augen.
„Drag die Madonna mir gnädig fein!” ftöhnte er auf.
Im nächften Augenblid ftaf fein Meffer in Brigida's
Kehle. In weiten Bogen ſchoß das Blut aus der Hals⸗
aber, und lautlos brach ſie zuſammen....
Dann ging er nach Merico und ftellte fih dem
Gericht.
In Merico richten keine Gefchworenen über die jchweren
Verbrechen. Man führte den Mörber vor ein rechtsge-
lehrtes Richtercollegium. Allein auch die Juriſten fprachen
ihn frei.
Der
Proceß wider den Maler Iofeph Johann Kirchner.
(Morpverfuh am Freunde — Wien.)
1888.
„Schabe um ven Kirchner. Er ift ein Talent, zweifel-
108, jeboch er zeriplittert feine Arbeitskraft. Siebzehnmal
für ſiebzehn verſchiedene tlluftrirte Zeitungen daſſelbe Ting
abzeichnen, das tödtet die Künftlerfchaft.”
„Du haft recht. Sein eigenes künſtleriſches Gewiffen
bäumt fich auch oft genug gegen bieje erniebrigenve, dem
Erwerbsteufel dargebrachte Huldigung.”
„Sa, aber warum thut er e8 denn? Sind feine Ber-
hältniffe derart verfahren? Er tft fein Spieler, er ift
fein Zrinfer, er bat, ſoviel ich weiß, feine große Familie
zu erhalten. Er follte doch genug verdienen, um fich noch
böhern Aufgaben winmen zu können.“
„Was willſt du nur. Er ift fein Spieler — zuge-
geben. Er ift fein Trinker — gewiß nicht. Selbft im
Freundeskreiſe weigert er fich, einen herzhaften Trunk zu
thun. Er verabichent ven Wein, dieſe berrlichite Gottes-
gabe! ... Allein die Löſung des Räthſels ift nicht fchwer
zu finden. Sie ift in der alten Polizeiregel zu fuchen:
Der Proceh wider 3ofeph Johann Kirdhner. 107
Cherchez la femme! Das «ewig Weibliche» hat es
ihm angethan. Er fchmachtet ftets in den Banden irgend⸗
einer Schönen. Sein gutes Herz und fein fchwacher Wille
find feine Feinde. Einer Bitte aus weiblichem Munde,
den er geküßt, kann er nicht wiberfteben. Sein fünftlert-
ſcher Verfall und fein phyſiſcher Ruin, die beide ganz un⸗
aushleiblich eintreten müffen, fie find die Folgen feines
nervöſen Temperaments, feines unbezwinglichen finnlichen
Dranges und bed Mangels an fittlichem Halt.‘
„Armer Kerl!“ ...
Sp urtheilten die Collegen über einen begabten Künſt⸗
fer, ven Maler Joſeph Iohann Kirchner. Allein ihr
Achtelzuden, ihre Rathichläge, ihre Warnungen waren
ftet8 von Sympathie für den Menſchen, den talentvollen
Collegen begleitet. An einem Wintermorgen ftand in
der Rubrik „Locales” der Zagesblätter zu lefen: „An
‚einem reichen Privatier, Herrn Karl Eurio, iſt ein
Mordattentat verfucht worden. Der flüchtige Thäter
wird verfolgt. Da die Polizei weiß, wen fie zu fuchen
bat, jo ift es nur eine Frage von Stunden, bis fie
jich feiner verfichern wird. Der Attentäter ift der «in
weitern reifen befannte» Maler und Zeichner 9. 9.
Kirchner.”
Es Hang unglaubhaft. Dennoch war die Nachricht
richtig. Kirchner wurde aufgegriffen und in Daft ge-
nommen. Cine erfledliche Anzahl der romanbhafteften
Geſchichten durchflatterte die Spalten ber Zeitungen. ‘Die
Unterfuhung ging ihren Gang und bie Anklage wurde
erhoben. Seine Freunde bemühten fich darum, ihm einen
tüchtigen Anwalt zu fihern, und fanden biejen in ber
Berfon des Dr. Edmund Benedikt, eined ber ver:
traueniswertheften und redegewandteſten ber jüngern ivies
ner Vertheidiger.
108 Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner.
Die Hauptverhandlung wurbe für den 18. Juni 1888
anberaumt.
Borfigender des Gerichtshofs war Landesgerichtsrath
Guftan Ritter von Scharfen. Die Anflage vertrat
der Subftitut des Staatsanwalt® Robert Hawlath
und als Vertreter des Privatbetheiligten erichten Dr. Leo⸗
pold Florian Meißner.
Die Anklage lautet: Joſeph Johann Kirchner, der bie
Malerſchule für Lanpichaftsmalerei in Wien bejucht Hatte
und für einen begabten Künftler galt, erwarb fich,
wenngleich von Haufe aus vermögenslos, als Zeichner
für illuſtrirte Werfe und Zeitjchriften jährlich —6000 FI.
Er war in Geldfachen von einer geradezu pedantischen
Genauigteit, befand fich aber dennoch fortwährend und
namentlich in leßterer Zeit in Gelpverlegenheiten. ‘Der
Grund lag nicht fo fehr in fpecifiich Fünftleriichen Paſ⸗
fionen, als in feiner Lebensweiſe überhaupt.
Im Jahre 1870 hatte er geheirathet, im Jahre 1876
fing er ein Verhältnig mit Marianne Röffel an, im
Jahre 1878 verließ er feine Frau und zwei Kinder und
lebte mit der Röffel, die ihm in jüngfter Zeit ebenfalls
ein Kind gebar, im Concubinat. Da er fih der Ver—
forgung jeiner rechtmäßigen Familie nicht entichlagen
wollte, jevoch auch ven Haushalt mit ver Röſſel aus fei-
nem Verdienſte beftreiten mußte, geriethb er 1886 in
Wucherhände. Der Schuldenftand war zwar nicht be-
beutend, allein Kirchner fühlte ihn als eine drückende Lat.
Seine Lage verfjchlechterte fich ganz beſonders tim
Yahre 1887, weil er feine Stelle bei der „Neuen Illu—⸗
jtrirten Zeitung” verlor und infolge der Unftetigfeit ſei⸗
ner perjönlichen Verhältniſſe jowie des Abganges echt
künſtleriſchen Schaffenspranges nach und nach alle Arbeits-
luſt einbüßte.
Der Proceß wider Iofeph Johann Kirchner. 109
Im März 1887 trat er in intime Beziehungen zu
Klara Curio, der Frau feines Freundes Karl Curio.
Der letztere, ein reicher Privatier, hatte Kirchner im
November 1886 fennen gelernt und ihm gern Eintritt
in feine Familie geftattet. Als im Sommer 1887 bie
Familie Curio auf Reifen ging, bezog Kirchner Curio's
Billa in der Hirfchengafje Nr. 28 in Ober-Döbling (einem
Bororte von Wien). Curio lud ihn im September nad ,
feiner Rückkehr ein, gänzlich zu ihm zu ziehen; er räumte
ihm nicht nur zwei Zimmer in einem Nebengebäude ber .
Billa ein, fonvern gewährte ihm auch freien Tiſch. Kirch
ner nahm das Anerbieten mit Danf an und bemerfte
icherzend, ob Eurio denn nicht eiferfüchtig auf ihn werben
würde, worauf Curio erwibderte: „Er fee voraus, daß
Kirchner als Ehrenmann die Gaſtfreundſchaft nicht mis-
brauchen werve.” Das hinderte aber Kirchner feines-
wegs, mit der Frau feines Gaftfreunded in einem zu
biefem Behufe gemietheten Abfteigequartier nach wie vor
heimliche Zufammenfünfte zu pflegen. Außerdem hatte er
aber auch die Röffel, welche Curio für jeine rechtmäßige
rau bielt, in nächiter Nähe, nämlich in Währing, Haupt-
ftraße Nr. 19, einguartiert. Die Röffel wußte von dem
Berhältniffe zur Curio und hatte ſich nur ausbebungen,
daß Kirchner ihr zwei Abende in der Woche widme!
Am Samstag, 14. Januar 1887, ereignete ſich Yol-
gendes: Kirchner wollte abends mit Curio einen Masken⸗
bafl befuchen. Er fagte zu Curio, er werde eine Pelz-
mütze auffegen und ven Claquehut unter dem Ueberrode
verwahren. Curio fand dies praktiſch, Holte fich einen
Jägerhut, ſteckte aber dieſen in die Taſche und ſetzte den
Claquehut auf.
Es war 8°/, Uhr abends. Die beiven Männer gin-
gen nebeneinander in ben Garten binab und wollten
110 Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner.
ben Weg durch die Gartenthüre in die Kreinplgaffe (eine
öde, meift zwifchen Gärten fich Hinziehende Straße) ein⸗
ichlagen. Sie waren etwa hundert Schritte weit gegangen
und noch ungefähr funfzig Schritte von ver Ausgangsthür
entfernt, da trat Kirchner an einer Wegenge, wo ber bort
jtärfer mit Bäumen bepflanzte Theil des Gartens beginnt,
zurüd und ließ Curio vorausgehben. In demjelben Augen-
blide, die beiden Männer waren einander noch fo nahe,
daß fie fich berühren Fonnten, erhielt Curio von rüdwärts
bligjchnell mehrere Hiebe auf den Kopf, ſodaß ihm das
Blut über das Geficht ſtrömte. Mit dem Rufe: „Kirch—
ner ermordet mich, zu Hülfe!“ wendete er fich recht8 und
lief gegen feine Villa zurüd. Dort angekommen jchrie er
feiner ihm entgegenfommenden Frau zu: „Rlara, jchau
mich an, wie mich Kirchner gefchlagen hat!” und nad
jeinem Revolver greifend fügte er hinzu: „Laßt mir den
Kirchner nicht herauf, ich fchieße ihn nieder!“
Frau Klara Curio brachte Waffer herbei, verließ aber
dann ihren Mann und eilte in den Garten hinunter, an⸗
geblih um Kirchner zu warnen. Zwiſchen beiden fand
ein Zwiegefpräch ftatt, höchſt wahricheinlich in ver im
Erdgeſchoß gelegenen Wohnung Kicchner’s. Bald darauf
jahen die Dienftleute einen Mann zum vordern Thore
hinausftärzen und unmittelbar darauf begab fih Frau
Curio über die Freitreppe hinauf in ihre Wohnung.
Sie bemübte fich lebhaft, ihrem Wanne vorzuftellen,
daß Kirchner unmöglich der Thäter geweſen fein könne.
Es wäre ihr fast gelungen, ihn zu überzeugen, denn Gurio
hatte ven Attentäter nicht gejehen. Er hielt Kirchner für
jeinen Freund und ahnte nicht, daß dieſer mit feiner Frau
in vertrautem Umgange lebte.
Kirchner verbrachte die Nacht in verjchievenen Kaffee⸗
häufern, fchrieb Abſchiedsbriefe und verjchaffte fich am
Der Proceß wider Joſeph Iohann Kirchner. 111
nächſten Morgen einen Revolver, mit welchem er zuerft
jeine Geliebte Marianne Röffel, dann deren Kind und
ſchließlich fich ſelbſt erfchießen wollte. Da ſich die Röſſel
weigerte, bejchloß er, fie und das Kind im Schlafe zu
töbten, wurde aber fhon am Nachmittage des 16. Januar
in der Wohnung der NRöffel, wo er fich die ganze Zeit
über aufgehalten batte, verhaftet.
Er trat vor Gericht mit der fabelhaften Behauptung
auf, daß nicht er, fonvern ein „Unbekannter“, der fich
zwijchen ihn und Curio ‚‚gefchoben habe”, ver Thäter
gewejen jei. Freilich erflärte Kirchner gleich darauf felbft,
er ſei jih wohl bewußt, daß dieſe Angabe keinen Glauben
finden werde. In der That ift erwiejen, daß e8 damals
im Garten nicht beſonders finfter war und daß Eurio
auf zehn Schritte vor fich genau fehen Tonnte, aber nie-
mand bemerkt bat. Die mäßig dicken Bäume bes Gar-
tens bieten fein genügendes Verſteck, und der losgebundene,
wachſame Hund hätte feinen Fremden unbeanftandet im
Garten belafjen. Ueberdies ift Kirchner’ mit einem Blei⸗
fnopfe verfehener Stod am Orte der That gefunden wor-
den. Frau Eurio brachte denſelben bald nachher in bie
Küche und zeigte ihn den Dienftleuten mit den Worten:
„An dem Stode ift Fein Blutfled, es ift alfo ganz un-
möglich, daß Kirchner meinen Mann gefchlagen hat.“
Der erfte Hieb, der gegen Curio geführt wurbe, traf
die Weder des Claquehutes. Er zerbrach dieſelbe und
jchlug ein rundes Loch in den Hut, verlette Curio aber
nicht. Der Hieb war, wie bie Spuren am Hute nach—
weifen, jcharf gegen das Hinterhaupt gezielt. ‘Der zweite
Hieb jtreifte die rechte Schläfe und fuhr längs des Auges
herab. Die Wunde hatte einen ziemlich ſtarken Blutver-
Injt zur Folge, heilte aber in wenigen Tagen vollfommen,
da weder ein Knochen verlegt war, noch eine Gehirn-
112 Der Broceß wider Joſeph Johann Kirchner.
erjhütterung eintrat. Ein britter Hieb wurde von Curio,
ber inftinctiv den rechten Arm erhob, aufgefangen. Die
Anflage behauptet: der Bleiſtock Kirchner's fei ein zur
That geeignetes Werkzeug.
Ueber die Motive der That hat die Unterfuchung ge-
nügenbe Aufklärung gegeben.
Daß es fich nicht um den Beſitz der Geliebten ban-
delte, ift Far, weil alle Umftände dafür fprechen, daß
Kirchner überhaupt feine tiefere Neigung zu Klara Curio
empfand. Die Eheleute Curio find reich, Frau Curio
beit ein noch bebeutenvderes Vermögen ald ihr Mann;
die Einfünfte fließen aber nicht ihr, fonvern kraft der
Verfügungen ihrer Aeltern ihrem Manne zu, welcher in
Geldſachen jehr genau iſt und ihre Ausgaben ftreng über-
wacht. Frau Curio hat dem Angeklagten nicht blos ihre
Liebe gefchenkt, fondern ihm auch Geld gegeben: im Au-
guft 1887 1000 Mark und fpäter einmal 150 5. Außer
dem bezahlte fie regelmäßig den Miethzins für das Abs
fteigeguartier, in welchem fie fich trafen, und auch Flei-
nere Beträge hat er von ihr erhalten, um biefelben für
fih zu verwenden.
Am 13. Januar 1889, einen Tag vor ver That, gab
fie ihm einen Schmud zum Verkaufen.
Kirchner hat jedenfalls den Plan gefaßt, ven Mann
zu tödten, um fih zum Herrn über das Vermögen ber
Frau zu machen.
Daß ihn derartige Gedanken befchäftigt haben, beweilt
ber Umftand, daß er gerade in ven letzten Wochen vor
ver That nicht nur mehrfache Arbeitsaufträge ablehnte,
jondern einmal geradezu äußerte: „Er werbe überhaupt
nicht mehr zeichnen!” und näheres Eingehen auf viele
Aeußerung mit den Worten abwies: „Das ift meine
Privatfachel”
Der Proceß wider Joſeph Iohann Kirchner. 113
Endlich wurde bet ihm gelegentlich ber Verhaftung
ein an Frau Curio gerichteter Abſchiedsbrief vorgefunden,
in welchem er ihr Gift zur Verfügung ftellte, falls fie
deſſen bebürfen ſollte. Im diefem Briefe entjchlüpft ihm
gleich nach der Betheuerung, daß er nicht der Thäter jet,
die bezeichnende Bemerkung: „Es ift das eben wieber
einmal einer jener unglüdfeligen Zufälle geweſen, welche
die klügſten Kombinationen fcheitern machen.”
Die Anklage gebt dahin: „Joſeph Johann Kirch»
ner hat am 14. Ianuar 1888 gegen 9 Uhr abends im
Garten des Haufes Nr. 28 in der Hirfchengafje in Ober-
Döbling in der Abficht, ven Karl Curio tüdifcherweije zu
tödten, badurch eine zur wirklichen Ausübung führende
Handlung unternommen, daß er demſelben mit einem
Bleiftode mehrere Hiebe verſetzte; die Vollbringung des
Verbrechens ift nur durch Zufall umterblieben. Joſeph
Johann Kirchner hat hierdurch das Verbrechen des ver-
ſuchten Meuchelmordes im Sinne des Strafgefehes
begangen.‘
Der Angeflagte wird vorgerufen. Kirchner ift ein
mittelgroßer, fchlanfer Dann von 41 Jahren. Sein dich⸗
tes, an den Schläfen leicht ergrantes Haupthaar ift braun,
fein Schnurrbart blond. Die Gefichtsfarbe ift bleich,
vermuthlich infolge der über ihn verhängten Unterfuchungs-
haft. Die Augen von unbejtimmter grau=blauer Farbe
feuchten häufig auf. Seine Sprechweife ift haſtig und
von lebhaften Geberben begleitet. Er trägt einen brau⸗
nen Sammtrod, nach der Art vieler Künftler, und eine
nachläffigeelegant gebundene Kravatte.
Präfident. Was haben Sie auf die Anklage zu
erwidern?
Angeklagter. Ich glaube, daß es mir ſchwer fallen
dürfte, eine zuſammenhängende Darſtellung des Sachver⸗
XXIV. 8
114 Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner.
baltes zu geben, ich bitte daher Tragen an mich zu rich-
ten. Im allgemeinen erkläre ich mich nichtſchuldig.
Präfivdent. Was können Sie uns über Ihre Her⸗
kunft und Ihr Vorleben mittbeilen?
Angellagter. Mein Bater war ein Möbelhändfer
und Tapezierer. Im Sabre 1861 zog er fich vom Ge-
ſchäft zurüd, Ich abfolvirte nach burchgemachter Volks⸗
jchule zwei Klaſſen ver Unterrealfchule und Hierauf eine
Privathandelsichule. Die Abficht meines Vaters war,
daß ich mich dem Kaufmannsſtande widmen follte, aber
ich hatte feine Neigung für ben gefchäftlichen Beruf.
Dagegen zeichnete ich mit Leidenschaft, feitvem ich einen
Stift in die Hand nehmen konnte. Ich wollte Künftler
werben. Mit Schwerer Mühe erlangte ich die Zuftimmung
meines Vaters und befuchte dann 1861 und 1862 die
Hiftorienichule, 1863 die Landſchaftsſchule der Akademie
ber bildenden Künſte. Mein Talent wies mich auf das
Landſchaftsfach. Nachdem ich das Haus meiner Aeltern
verlaffen und eine Privatwohnung bezogen hatte, ſchloß
ich mich innig an die Familie meiner Wirthsleute. Die
Tochter derjelben war jehr gut gegen mich. Sch verliebte
mich in fie, verfprach fie zu heirathen und erfüllte mein
Verſprechen im Detober 1873. Nun galt e8 aber, für
eine Familie zu forgen. Dies war mir als Maler noch
nicht möglich. Ich verließ die Afademie und bewarb mich
um eine Anftellung bei einem Bankinſtitute. Es gelang
mir nicht unterzufommen. Ich mußte aber erwerben, um
leben zu können, und fo warf ich mich auf die Illuſtration.
Präfivent. Wie haben Ste mit Ihrer Frau gelebt?
Angeflagter. Wie man es nimmt, gut ober auch
nicht.
Präfident. Wie ift das zu verftehen? Gab es
Scenen zwiſchen Ihnen ?
Der Proceß wider Joſeph Iohann Kirchner. 115
Angeflagter. Scenen nit. Meine Fran Tannte
mein Temperament. Sie tft älter als ih. Ste mochte
wiſſen, daß ein jüngerer Mann und Künftler nicht nach
ver Elle eines Handwerkers zu meſſen ift. Sie war auch
meinen Neigungen gegenüber ftets ſehr nachfichtig.
Präſident. Das beißt wol, Sie waren Ihrer Frau
nicht tren?
Angellagter. Es war eine Teichtfinnige Ehe, wie
fie eben ein junger Menſch eingeht. Dean follte nicht fo
jung betratben.
Präſident. Wie bat fih Ihr Verhältnig mit Ma-
rianne Röffel entfponnen?
Angellagter. Ich habe fie auf einer Landpartie in
Krems kennen gelernt und faßte eine wahre Leidenschaft
für fie. Meine Frau wollte mir dieſen Verkehr nicht
erlauben und ftellte mir die Alternative: ich müßte ihr
ober Marianne entfagen. „Wenn bu fie nicht aufgibit,
mußt du vom Haufe weg’, fagte fie.
Präfident. Sie entichloffen fich aber nur ſchwer
zur Trennung von Ihrer Frau?
Angeflagter. Unter heißen innern Kämpfen. Da
meine Frau nicht nachgab, zog ich im Jahre 1878 mit
ber Röffel zufammen. Ich arbeitete viel und erwarb
genng, um ben Haushalt meiner Frau und den eigenen
zu beitreiten.
Präfident. Sie beichloffen das Jahr 1886 aut
Ihren eigenen Auffchreibungen mit einem Schuldenſtand
von 900 Fl. und haben ein Darlehn von 1500 SL. auf-
genommen.
Angellagter. Das tft richtig, doch weber etwas Er-
chrediendes noch Ungewöhnliches. Ich war Zeit meines
Lebens Geld ſchuldig und habe gezählt, wenn ich gerade
8 *
116 Der Broceß wider Joſeph Johann Kirchner.
bei Kaffe war. Deine Arbeit wurbe ſtets gut honorirt
und ich durfte immer wieder auf ſolche rechnen.
Präfivdent. Wie haben Sie mit Marianne Nöffel
gelebt?
Angeflagter. Ausgezeichnet.
Präfident. Wie kommt es denn, daß Sie die Röffel
verlaffen haben, um zu Ihrer Frau zurüdzufehren?
Angellagter. Es überlam mich zuweilen ein Heim-
weh. Auch hat es hier und da Streit zwiſchen Marianne
und mir gejett. Dergleichen kommt wol überall vor.
Trotzdem lebten wir im beften Einvernehmen. Ich muß
geftehen, daß mich mitunter ein unwiberftehlicher Drang
erfaßte, durchzugehen, ich lief dann bavon, ohne recht zu
wiffen wie und warum.
Präfident. Iſt Ihnen die Röffel immer treu ge-
blieben?
Angeflagter. Gewiß nicht.
Präfident. Nun, jo gewiß ift das wol nicht.
Angellagter. Dod. Ich Habe Kenntniß von ihrer
Untreue erhalten, war im höchiten Grabe aufgeregt und
bin bavongelaufen.
Präfident. Sie find aber zu ihr zurüdgefehrt.
Ein ſonderbares Verhältniß in der That!
Angeflagter. Ich babe ihr eben ven Fehltritt ver-
ziehen.
Der Angeflagte erzählt nun, daß er einmal bei
einer folchen Flucht ohne Ziel und Zweck nach Leipzig
‚gefahren jei. Ein andermal habe es ihn plößlich über-
fommen, er müfje fort. Er faß gerade mit feiner Ge⸗
liebten in einem Kaffeehaufe auf der Landſtraße und ift
mit Zurüdlaffung feines Hutes und Weberrodes fort-
gelaufen. Wohin er ˖ſich gewendet, deſſen weiß er fich
überhaupt nicht zu entfinnen.
Der Proceß wiber Joſeph Johann Kirchner. 117
Präfident. Sie waren wol jehr eiferfüchtig auf bie
Köffel?
Angeflagter. Ja wohl, Herr Präfident.
Präfident. Site haben fogar einen Balken vor ber
Thüre anbringen laffen, damit niemand hinein könne.
Angellagter. E83 war zwar ohnedies eine gute,
feite Thür vorhanden, aber befjer ijt befjer.
Präfident. Sie find einmal vom Weftbahnhofe,
wohin Sie fih mit der Röffel begeben hatten, um einen
Ausflug anzutreten, plöglich verichwunden?
Angellagter. So haben mir die Herren Gerichts⸗
ärzte mitgetheilt. Ich weiß nichts davon. Ich kann mic
beffen nicht erinnern. |
Präſident. Als Sie aus Heiligenjtabt, wo Sie
zeitweilig mit der Röſſel wohnten, einmal plötzlich ver-
ſchwanden und über Nacht ausblieben, haben Sie, als Sie
wiederfamen, Ihre Geliebte um Verzeihung gebeten, Wes-
halb thaten Sie das, wenn Sie gar nicht wußten, daß
Sie weggeblieben waren?
Angellagter. Ich habe es doch durch Marianne
erfahren.
Präfident. Sie baten nicht etwa beöwegen um
Berzeihbung, weil Sie Ihrer Geliebten untren geworden
waren?
Angeflagter. Nein.
Präfident. Ste haben fie aber doch betrogen?
Angellagter. Betrogen? Nein. Herr BPräfivent
können doch das nicht betrügen nennen.
Präftdent. Aljo nennen wir e8 Untreue.
Angellagter. Wie kann man nur von Untreue
Sprechen in ber Capitale ver Genußfucht!
Präfident. Die Verhältniffe einer Großſtadt fchlie-
Ben die Treue nicht aus.
118 Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner.
Angellagter. Aber man kann doch in meinem
alle nicht von Betrug, von Untreue fprechen!
Präſident. Nun freilich, wenn man bedenkt, daß
Ihr Verhältniß zur Röffel überhaupt nicht anf morali-
icher Bafis begründet war.
Angeflagter. Ich bitte ſehr. Auch folche Verbält-
nifje entbehren der moralifchen Baſis nicht. Ich faffe es
in diefem Sinne auf. Nur wird dieſe nicht durch das,
was Sie „Untreue nennen, erichüttert.
Präſident. Laffen wir diefe Erörterung. — Seit
wann war Ihr Fünftleriicher Ruf begründet?
Angeflagter. Oh, ſchon ſehr frühe. Ich erhielt
bei einer Concurrenz den erften Preis.
Präfident.e Das iſt richtig, Das war 1869 in
Budapeft. — Sie haben Herrn Curio am 14. November
1886 kennen lernen. Wann find Sie zu Frau Eurio in
nähere Beziehungen getreten?
Angellagter. Im März bat die Liebeserklärung
itattgefunden.
Präfident. Hat Frau Röſſel darum gewußt?
Angeflagter. Ich habe es ihr lange abgeleugnet.
Präfident. Wo hielten Sie Ihre Zufammenkünfte
mit Frau Curio.
Angellagter. In einem Abfteigequartier im Bezirk
Mariahilf. Ich muß bier noch eine Bemerkung machen.
Sch gebe zu, daß ich immer weibliche Geſellſchaft
fuchte, aber ich habe vorher niemals einer. verheiratbeten
Frau nachgeftellt. Frau Curio war die erfte, mit ber ich
in nähere Beziehungen trat. Ste bezauberte mich zwar
fofort, ich hätte e8 inveß nie gewagt, mich ihr ernftlich
zu nähern, wenn fie mir nicht entgegengelommten wäre.
Ich Hätte nie ven Frevel begangen, ein Eheglück zu zer-
jtören. ALS ich die Familie Curio kennen lernte, da gab
Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 119
es ſchon Lange Fein Eheglüd mehr zwiichen ven Gatten.
Sie gingen ein jedes feinen eigenen Weg. Sch will mich
nicht beſſer machen, als ich bin, doch dieſes mußte ich
eonitatiren.
Präfident. Im December 1887 haben Sie zu
Herrn Konody gejagt, daß Sie gar nichts mehr arbeiten
würden.
Angellagter. Das ift ein Misverſtändniß der An⸗
Hage. Ich habe ihm nur gejagt, ich wolle nicht mehr
zeichnen, das heißt, pas Illuſtriren genüge meinem künſt⸗
leriichen Bebürfniß nicht. Ich bitte nur zu bevenfen,
welche peinliche Tortur e8 für einen Künftler ift, ſechs⸗
undzwanzigmal hintereinander das Rathhaus abzeichnen
zu müfjfen! Das bringt einen zur Verzweiflung, zur
Raferei!
Präfident. Auch Herr Gaufe fagte aus, daß Sie
nur gearbeitet hätten, wenn es galt einen Auftrag aus⸗
zuführen.
Angeflagter. Gewiß. Denn Arbeiten wie die er-
wähnten fertigt man nicht aus Luſt zur Sache, fondern
nur ums Geld. Deshalb eben fagte ih, ich würbe das
Zeichnen ganz aufgeben.
Präfident. Geben Sie zu, von Frau Curio Geld
angenommen zu haben?
Angellagter. Ja wohl. Ohne daß ich e8 verlangt
habe, jchidte fie mir 1000 Mark, Site wußte eben, daß
ih Schulden Hatte. Ich habe das Geld als ein Darlehn
betrachtet. Außerdem empfing ich von ihr ein Spar
fafjenbuch mit einer Einlage von 157 Fl. und Beträge
zur Bezahlung gemeinjchaftlicher Auslagen, wie des Ab-
jteigequartiers, in dem wir zufammenfamen, auch für
Wagen, die wir gemeinfam benubten u, dgl. m.
120 Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner.
Präfident. Wir gelangen num zu der unter Anklage
geftellten That. Wann verabrebeten Sie mit Curio, ben
Maskenball zu befuchen?
Angellagter. Samstag früh fagte mir Curio, er
habe zwei Karten zum Mastenball in den Sophienfälen
erhalten und begehrte, ich folle ihn dahin begleiten. Wir
jpeiften darum früher als fonft zu Abend. Es geichah
dies um 8%, Uhr.
Präfident. Sie fagten zu Curio, er brauche den
Revolver nicht, weil Sie ven Stod mitnähmen. Und bie-
jen Stod haben Sie oft als treffliche Waffe gerühmt!
Angellagter. Im gewöhnlichen Leben wägt man
die Worte nicht fo ab, wie fie dann einem Angeflagten
gegenüber ausgelegt werben können.
Präſident. Warum haben Sie gerade an jenem
Abende die Pelzmütze aufgejett und ven Claquehut unter
ben Rod genommen?
Angellagter. Ich befürchtete Regen und wollte ven
Hut fchonen.
Präfivdent. Sie gingen zufammen in den Garten
hinab?
Angeflagter. Curio ging immer fehr raſch, und fo
fam es, daß er bald vor mir war.
Präfident. Erzählen Sie, was nun geichah.
Angeflagter. Bei ber erften Biegung links war
mir Curio mindeſtens anderthalb Dieter voraus. Ob
wir miteinander fprachen, weiß ich mich nicht zu erinnern.
Dagegen weiß ich beftimmt, daß e8 recht bunfel war.
Plötzlich ſpringt, ſchiebt fich oder wird gejchoben eine
britte Geftalt zwiſchen uns beide. Diele Geftalt führt
mit einem Inftrument einen Hieb auf Curio. ch weiß
nicht, woher dieſe Geftalt kam. Sie war da wie aus
dem Boden geftiegen, fie mag neben ober Hinter dem
-_utr
Der Proceß wider Joſeph Johann Kirdner. 121
Baume hervorgefommen fein. Sch fehe fie nur einen
Hieb führen, ſehe wie Curio taumelt, einen Halbkreis be-
ſchreibt und von der Geftalt verfolgt wird. Plötzlich finkt
Curio zu Boden, während bie Geftalt nach der entgegen-
geſetzten Richtung bin verjchwindet. Ich war wie gelähmt.
Ich konnte mich nicht bewegen. Mein Hals war wie zu-
geſchnürt. Sch wollte johreien, und brachte keinen Ton
hervor. Einmal nur, ein einziges mal hatte ich daſſelbe
Gefühl empfunden. Es war in Bosnien. Auf dem Heim-
wege von einem Feſte begriffen hörte ich unvermuthet in
nächiter Nähe einen Schuß abfeuern. Da gerieth ich in
einen ähnlichen lethargifchen Zuftand, in welchem ich das
Bewußtſein verlor und aus dem ich erwedt werden mußte.
ALS ich nach dem Attentate auf Curio wieder zu mir kam,
jtürzte ich der Billa zu. Klara Curio fam gerade her-
unter und mir entgegen. „Was iſt geſchehen?“ rief fie,
‚mein Dann behauptet, du hätteit ihn geſchlagen?“ Da
verlor ich den Kopf, ließ fie ftehen und eilte aus dem
Haufe.
Präfident. Wie jah denn der geifterhafte Dritte aus?
Angeflagter. Er war Heiner und fchmächtiger als
ich, trug eine fpite Belzmüge und fam von links aus ber
Gegend hinter dem Glashaufe.
Präfident. Da Sie das Attentat ſozuſagen ver-
Ichlafen haben, fo ift Ihre nachherige außerordentliche Auf-
regung jehr auffallend.
Angeflagter. Nach den Worten, bie Frau Curio
mir zugerufen hatte, erkannte ich, daß ich des Attentates
beichulpigt würde. Die fcheinbaren Gründe wirkten er-
prüdend auf mich, ich jah ein riejiges Beweismaterial
fih gegen mich aufthürmen und verlor die Geiftesgegen-
wart. Wie berechtigt aber dieſes plögliche Angftgefühl
war, geht doch daraus hervor, daß ich mich bier, auf
122 Der Broceh wider Joſeph Johann Kirchner,
biefem Plate befinde und mühſam gegen ben DVBerbacht,
der auf mir laſtet, anfämpfen muß. Mir jchwebte es
fogleih vor: Unterfuchung, Haft, Gott weiß von wie
langer Dauer! Dem beichloß ich zunorzulommen. Sch
wollte mich tödten, mich in bie Donau ftürzen. Inſtinc⸗
tiv wendete ich mich zur Augartenbrüde Da fiel mir
ein, ich hätte Weib und Kind. Die durften doch nicht
ohne Ernährer zurüchleiben. Auch wußte ich nicht, was
mit Curio gejchehen, ob er leicht, ob er ſchwer verlett
war. Ich hoffte dies aus den Zeitungen zu erfahren.
Die Nacht über irrte ich plan- und ziello8 umber, gegen
Morgen ging ich in ein Kaffeehaus und nahm bie Früh
blätter zur Hand. Da ftand noch nichts darin. Wäre
ein Mord gejchehen, fagte ich mir, jo wäre e8 boch ſchon
befannt. Aber wieder ſtiegen Beforgniffe in mir auf.
Ih ging zu einem Freunde und borgte mir feinen Res
volver. Dann begab ich mich in unfer Abfteigeguartier,
um bort vorhandene Frau Curio compromittirende Briefe
zu verbrennen, und fchlieglich nach Haufe zu Mariannen.
Ih fchlug ihr vor, fie, das Kind und mich zu töbten.
Sie wollte nicht. Da beichloß ich, e8 gegen ihren Willen
zu thun. Aber ein fürchterliches Schlafbebürfnig überfiel
mich. Ich Iegte mich bin und fchlief ein. Sch jchlief
noch, als die Polizei kam, um mich zu verhaften.
Präfivent. Bei Ihrer Verhaftung wurden ſechs
Driefe vorgefunden. Einer berfelben, an eine Verwandte
gerichtet, lautet: „Liebe Marie! Ich theile Dir mit,
daß wir alle, Marianne, ich und fogar bie Edith jchwer
erkrankt find, ich muß fagen hoffnungslos.”
Angellagter. Dies follte eine Vorbereitung ber
Todesnachricht fein.
Präfident. Im zweiten Briefe an Herrn Ludwig
Finke, Boftverwalter in Preßbaum, heißt es: „Trotzdem
Der Proceß wiber Joſeph Johann Kirchner. 193
wir uns jehr Lange nicht ſahen, und fait böfe aufeinander
find, bitte ich Dich, meine Frau in der ſchonendſten Weife
baranf vorzubereiten, daß ich frank, jehr krank, daß ich
geftorben bin. Aus Gründen, die Du in den Zeitungen
finden wirft, denke ich mich zu erfchießen. Sterben muß
ber Menſch, e8 tft nur die Frage: wann? Erfülle mir
bie legte Freundespflicht.” Ein britter Brief war an
Herrn Curio gerichtet. Im demfelben fchreibt Kirchner:
„Als ſich die Geftalt zwiſchen Sie und mich brängte,
wear ich unfähig, auch nur einen Laut von mir zu geben.
Ich machte einige Schritte gegen Ihr Haus, wo mir Ihre
Frau entgegenlam und mir zurief: «Mein Mann nennt
Sie den Thäterlo Da kam mir das Bewußtſein, baf
ich verloren fei, und deshalb entichloß ich mich zum frei-
willigen Ende meines Lebens.” “Der vorlegte Brief war
an den Gärtner Martin Grubitih: „Lieber Martin!
Ich bitte Sie, beiltegenvden Brief der Frau von Curio zu
übergeben, jedoch jo, daß Herr von Eurio nichts davon
erfährt.” Eingeſchloſſen war ein Brief an Frau Klara
Curio: „Sehr geehrte gnäbige Frau! Ich erbitte es
mir als eine Schickſalshuld, daß dieſer Brief in Ihre
Hände gelange. Sie Tennen meinen Handſchar, ben ich
aus Bosnien mitgebracht habe. Mit dieſem öffnen Sie
gefälftgft meinen Kaften in Marietta's Wohnung. ‘Dort
werden Ste in Golbichlagpapier eingewidelt ein Glas⸗
flacon finden, welches feit vielen Jahren nicht geöffnet
wurde. Der Stöpfel wirb fich nicht lodern lafjen; das
Flacon muß alfo zertrümmert werben. Num bitte ich Sie,
diefes Flacon jener Dame zu übergeben, die ich Ihnen
jo oft als bie fchönfte, vie ich Tenne und als mein Glück
bezeichnet habe. Die Hälfte, ja ein Drittel des Flacons
wird genügen. Ich fage nicht, fie joll das Flacon bes
nuten, es foll ihr nur ein Mittel fein, wenn fie deſſen
124 Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner.
bedarf. Ebendieſer Dame, ver ſchönſten und wunber-
barften Dame, ver ich das Glüd meines Lebens danke,
gehören auch zwei Verſatzſcheine. Dieſe Liegen neben an-
dern, die mir gehören, neben dem Flacon in einer Mappe
mit fehwarzen Gummibändern. Gern möchte ich noch
haben, daß Sie erführen, daß ich wirklich und wahrhaftig
nicht der Attentäter war. Es ift Died eben wieber ein-
mal einer jener Zufälle, welcher die glüdlichiten Combina⸗
tionen fcheitern macht! ... Weiter befinvet fich in mei»
nem Atelier ein auf Pappenvedel aufgellebtes Kleines
Porträt. Ich bitte dieſes abzureißen, es verbirgt Haare
jener Dame, die ich über alles liebe. Und nun fage ich
Ihnen Dank.” — Ein herzlicher Abſchiedsbrief an bie
Röſſel Ichliekt mit ven Worten: ‚Nochmals einen Gruß
an Dich, mit der ich fo glüdlich gewejen wie. nie zuvor.
Gruß und Dank für alles, mein herrliches Weib!‘
Der Bertheidiger Dr. Benedikt unterzieht nun-
mehr ven Angeklagten einem längern Verhör in Betreff
feines Geifteszuftandes. Kirchner antwortet nur zögernd.
Es ift als ob er fich der Vorkommniſſe ſchäme. Doch
muß er zwei Thatjachen zugeben. Erſtens, daß er im
Jahre 1878 aus Eiferfucht in förmliche Raſerei gerieth,
an der Wahnvorftellung litt, ein gewiffer Bertolini, ber
angeblich der Frau Röffel nachftellte, wolle ihn umbringen.
Diefer Gedanke ängſtigte ihn fo, daß er eines Tags ohn-
mächtig zufammmenftürzte. Zweitens wurde ber Ange⸗
Hagte während eines Aufenthalts in Serajewo von der
firen Idee ergriffen, er habe einen Militärarzt erſchoſſen.
Seiner Frau gelang es, wenn auch fehwer, ihn von Dielen
Wahnvorftellungen zu befreien. Jener Militärarzt lebt
noch heute.
Bertheidiger. Ihr Vater bat an Delirium tremens
gelitten, er war dem Trunke ergeben?
Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 195
Angeflagter. Mein Bater hat immer nur mäßig
getrunfen. ch weiß e8 nicht andere.
Staatsanwalt. Sie haben ſich diefes unglücfeligen
Beifpield wegen jahrelang bes Genuffes aller geijtigen
Getränke enthalten?
Angellagter. O nein, nicht dieſes Beiſpiels halber.
Ich konnte nicht anders. Ich empfand einen Wibermwillen
gegen Alkohol in jeder Form, den ich nicht zu unter-
prüden vermochte. Ich habe jahrelang an Kopfichmerzen
gelitten. Zuerſt hatte ich das Gefühl, es fchlinge fich
ein eijerner Reifen um meinen Schäbel und prefje meine
Schläfen zufammen, dann war es mir, als müſſe das
Gehirn die Schäpelvede fprengen und hervorquellen,
ichließfih, und das war das Aergſte, glaubte ich, eine
fremde eiferne Hand greife mir in ven Kopf und zer-
malme das Gehirn. Im Jahre 1878 Titt ich am meiften
an diefem Kopfweh, jpäter ift e8 nur ſporadiſch wieder
eingetreten.
Es wird nunmehr zur Zeugenvernehmung gefchritten.
ALS erjter Zeuge wird Herr Karl Curio. vorgerufen.
Er ift das Bild eines Fräftigen deutſchen Mannes: groß
und breitfchulterig überragt er den Angeklagten, ſodaß
biefer neben ihm wie ein Knabe ausfieht. Curio erjcheint
im fchwarzen, bis hinauf zugefnöpften Salonrod und ift
auch fonft elegant gekleidet. Er ſpricht mit lauter ſonorer
Stimme, das Geſicht dem Präfiventen zugewenbet, offen»
bar vermeidet er es, Kirchner anzufehen.
Präfident Wie find Sie mit Kirchner befannt ge-
worden?
Zeuge erzählt, daß ein gemeinfchaftlicher Freund bie
Belanntfchaft vermittelt habe, und jagt, Kirchner fet ein
äußerst Tiebenswürbiger Gejellichafter gewejen, ben er
möglichft viel um fich haben wollte,
126 Der Broceß wider Joſeph Johann Kirchner.
Präſident. Der Vorichlag, zu Ihnen zu ziehen, ift
von Ihnen ausgegangen. Hat Kirchner fofort ange-
nommen?
Zeuge. Ich kann mich darauf nicht befinnen.
Präfident. Hat Ihre Frau den Gedanken angeregt,
Kirchner als Hausgenoffen aufzunehmen?
Zeuge. Das weiß ich nicht mehr.
Präfident. Haben Sie eine Ahnung davon gehabt,
daß Kirchner zu Ihrer Frau in nähere Beziehungen ge-
treten war?
Zeuge. Das habe ich für eine Unmöglichfeit ge⸗
halten.
Bräfident. Hat ſich Kirchner angeboten, Sie bei
Ihren Vergnügungen zu begleiten?
Zeuge. Im der Negel ging die Aufforderung dazu
wol von mir aus. Einmal wollte er mich zu einer
Gemſenjagd einladen. Diefe Einladung war aber jo
ſonderbar, daß ich fie ablehnte. Es war im November
1887. Ich follte Kirchner verjprechen, niemand zu ver-
rathen, wohin wir fahren würden. “Der Jagdeigenthümer,
jo fagte er mir, bürfe nichts bavon erfahren, baß wir
bei ihm jagen würden. Dieſes Geheimthun erſchien mir
bebenflich, und nach einigem Zögern fagte ich Nein.
Präfivdent (zum Angeklagten). Was fagen Sie
dazu?
Angellagter (leife lächelnd), Es war ein Scherz..
Der plögliche Einfall eines Augenblickes guter Laune.
Präftident Erzählen Sie die Vorgänge bes
14. Januar.
Zeuge. Ich wollte wie fonft meinen Revolver mit-
nehmen. Kirchner hielt mich davon ab und fagte, fein
Bleiſtock genüge vollſtändig. Arm in Arm und jcherzend
gingen wir aus dem Haufe. ALS der Pfad enger wurde,
Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 127
ging ich voraus. Auf einmal erhielt ich einen fürchter-
lichen Schlag auf das Hinterbaupt. Zum Glück brach
fich deffen Wucht an ber Feder des Claquehutes. Diefe
bat mir, wie ich glaube, das Leben gerettet. Unwillkür⸗
Lich wandte ich mich nach rechts und erhielt noch einen
zweiten furchtbaren Schlag. Das Blut floß über das
Gefiht. Ich konnte ven Attentäter nicht erkennen. Ich
flüchtete nach meinem Haufe zu. Zuvor hatte ich einen
britten Schlag mit dem Arme aufgefangen. Kirchner ift
nach meiner Meinung der Thäter gewefen. Meine Frau
bat e& mir zwar ausreben wollen, fie bat mich aber nicht
trregemacht in meinem Glauben.
Präſident. Hat Ihre Gattin ſelbſtändig über ihr
Vermögen zu verfügen?
Zeuge. Wenn meine Frau Geld von mir verlangte,
habe ich es ihr immer gegeben. Sie bezog von ihren
Aeltern eine Rente von 13500 Marl.
Präfident. Zwiſchen Ihnen und Ihrer Frau beftand
ein wechjelfeitiges Zeftament. Haben Sie über daſſelbe
einmal mit Kirchner geiprochen?
Zeuge. Davon weiß ich nichts.
Präfident. Hat Ihre Frau jemals die felbftändige
Berwaltung ihres Einkommens verlangt?
Zeuge. Sa wohl, furze Zeit vor dem Attentate. Sie
wollte fih deshalb an ihren Vater wenden. Als Grund
gab fie an, daß fie in ihren Ausgaben nicht controlirt
fein wollte.
Präfident. Was veranlaßte Sie, Kirchner für ben
Attentäter zu halten?
Zeuge. Weil es fein anderer Menſch fein konnte.
Präſident. Was Hat Kirchner nach Ihrer Anficht
mit dem Attentate beabfichtigt ?
Zeuge. Das weiß ich nicht.
128 Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner.
Präfident. Wollte er Sie nur verlegen oder töten?
Zeuge Wer ſolche Schläge führt, hat es auf das
Leben des Bedrohten abgefehen.
Präfident. Glauben Sie, daß Ihre Fran von dem
Attentate vorher wußte, das heißt, daß fie mit Kirchner
einverftanven war?
Zeuge (fell. Das halte ich fir ausgeſchloſſen.
Wenn fie ſich von mir hätte ſcheiden laſſen wollen, fo
hätte e8 ihr nur ein Wort gekoftet.
Präſident. Wie deuten Sie aber die Stelle in dem
Driefe Kirchner’8 an Ihre Frau, daß fie ruhig fein Tönne,
daß alles, was fie zu compromittiren vermöchte, ver⸗
nichtet fei?
Zeuge. Da wirb er wol Liebesbriefe meiner Frau
darunter verftanden haben.
Präfident. Sie halten alfo ein ſolches Einverjtänd-
niß für vollflommen ausgejchloffen?
Zeuge Für ganz ausgejchloffen.
Präfident. Haben Sie an Kirchner Zeichen von
Geiftesftörungen irgendeiner Art bemerkt?
Zeuge. Niemals. Im Gegentheil, er war immer
ſehr gefcheit.
Präfident. Waren Ihre Verlekungen ſchwerer
Natur.
Zeuge. Die Heilung bat 8—10 Zage erfordert.
Bertheidiger Dr. Benedikt (zum Zeugen). Haben
Sie mit Ihrer Frau gelebt?
Zeuge. Ya.
Vertheidiger Dr. Benedikt. Sch meine ehelich-
intim verfehrt?
Zeuge. Ich fühle mich nicht verpflichtet, darüber
Auskunft zu geben.
Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 129
Die Zeugin Gärtnersgattin Katharina Grubitſch
bat das Stubenmäbchen Anna rufen hören: ‚Der Kirch-
ner hat unſern Herrn erſchlagen.“ Herr Curio jchrie:
„Laßt mir den Kirchner nicht herauf, ſonſt erſchieß' ich
ihn!’ Die gnädige Frau hat es ihm ausreben wollen,
daß es der Kirchner geweſen iſt.
Präfident. It Frau Curio nach dem Attentat in
den Garten binumntergegangen ?
Zeugin. Freilich. Die Gnädige hat mit dem Herrn
von Kirchner geiprochen und dann oben den Dienftboten
gejagt: „Der Kirchner wälzt fich dort beim Baum herum
wie ein Narr.”
Staatsanwalt. Hat Frau Curio auch nachher
über die That gejprochen ?
Zeugin. Ja. Ste hat gefagt: „ES wär’ befjer
gewejen, wenn er ihn ganz erjchlagen hätte.” (Be⸗
wegung.)
Die Zeugin Anna Zöllner, Stubenmäbchen bei
Frau Curio, wußte von dem intimen Verhältnifje zwiſchen
Kirchner und ihrer Herrichaft. Befragt über die Be⸗
jiehungen ‚ver Eheleute Curio zueinander fagt fie aus:
Na, das Hat ein jever merken müſſen, daß die Gnäbige
den Herrn nicht mögen hat. Ich habe e8 auch gehört,
wie fie nach dem XAttentate ausgerufen hat: „Es ift
ſchad', daß er ihn nicht ganz erfchlagen hat, wenn er ihn
nur orbentlich getroffen hätte!“
Therefia Grubitſch, die achtzehnjährige Tochter
bes Gärtners, bezeugt: Alle haben gewußt, daß Frau
Curio eine Liebichaft mit Herrn Kirchner hatte. Nach
dem Attentat brachte die Gnädige den Stod Kirchner’s
in die Küche, zeigte ihn den Dienftleuten und fagte:
„Kicchner Tann meinen Mann nicht gejchlagen haben,
denn fein Stod ift nicht blutig.”
XXIV. 9
130 Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner.
Dr. Kari Kohn, Gemeinbearzt in Döbling, ift in
ver Nacht des 14. Januar zu Herrn Curio gerufen wor-
den und bat denſelben unterjucht und behanbelt. Die
Wunde war am fich eine leichte, ver Heilungsproceß ver-
Itef normal, eine Gehirnerſchütterung war nicht eingetreten
und Herr Curio nah 6—8 Tagen wieberhergeftellt.
Er Hat pflichtgemäß vie Anzeige erjtattet. ‘Der auf dem
Gerichtstifche Tiegende Stod Kirchner’s iſt nach feiner
Uebergeugung geeignet, die fraglichen Verlegungen hervor-
zurufen.
Frau Curio ift nicht erfchienen. An ihrer Statt kam
ein Brief, München, ven 14. Juni datirt und von einem
Herrn Ianfen, Sommerzienrath, unterjchrieben. Derſelbe
befagt, daß Klara Curio jeit ihrem Weggange von Wien
an hochgradiger Erregung gelitten hat und nun an einer
Nervenſchwäche erkrankt ift.
Demgemäß werden die DVernehmungsprotofolle aus
der Unterjuchung verlefen.
Klara Eurio hat am 24. Januar ausgefagt: „Es
ift richtig, daß ich mit Kirchner feit längerer Zeit ein
intime® Verhältniß gehabt habe und daß wir Häufig in
Abfteigequartieren Zujfammenkünfte hatten. Jedoch war
vie legte Zufammenkunft drei Wochen vor dem At»
tentate. (I!) Kirchner hat von mir Geld zur Bezahlung
des Abfteigequartierd erhalten. Sonft gab ich ihm leih-
weife 1000 Marf. Am Preitag, 13. Ianuar, fab ich
bei Kirchner einen Brief mit der Handſchrift feiner Frau.
Sch dachte mir, fie fchreibe ihm um Geld, auch war das
Zimmer in der Watjenhausgaffe am 15. zu bezahlen —
in diefem Zimmer fanden unfere Zufammenfünfte ftatt.
Da erinnerte ih mich eine Schmudes, den ich fchon
längft verkaufen wollte; ich habe venfelben Kirchner mit
der Bitte, ihn zu verkaufen, übergeben. Sch babe von
Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 131
demjenigen, was fich am Abend des 14. Sanıar abgefpielt
bat, Teine Ahnung gehabt. Mein Mann und Kirchner
gingen zufammen fort. Bald darauf fam mein Mann
zurüd, um feinen Filzhut zu holen. Nach einigen Mi-
nuten börte ich die Slode des Haufe wieder. Mein
Mann trat ein und fagte: «Klara, ſchau meinen Kopf
an, wie mich der Kirchner geichlagen hat» Er nahm
feinen Revolver und ſchrie: «Laß mir den Kirchner nicht
herauf, fonft fchteße ich ihn nieber!» Ich habe ein Wafch-
beden genommen und einen Schwamm, um das Blut abzu⸗
wafchen. Ich fagte meinem Manne, er folle jo etwas von
Kirchner nicht behaupten, er könne es nicht geweſen fein.
Als mein Mann verlangte, daß ich einen Arzt holen follte,
eilte ich in den Garten und rief: «Gärtner!» « Kirch⸗
ner!v Ich fah eine menfchliche Geftalt und erfannte, daß
e3 Kirchner war. Was er that, weiß ich nicht. Ich war
zu aufgeregt. Ich erinmere mich nur, gejagt zu haben,
mein Mann wolle ihn erjchießen, er möge fich ſchleunigſt
entfernen ober jo etwas dergleichen. ‘Das Dienftmäpchen
begegnete mir, fie ging zum Gärtner und ich lief wieder
zu meinem Mann.‘
Präfivent. Zwei Zenginnen haben geftern ausge-
jagt, Tran Curio habe fich nach dem Attentate in einer
gelinde gefagt recht herzlofen Weile ausgedrüdt. Hieraus
Könnte man fchließen, daß fie ihren Gatten haßte.
Angeflagter. Das war auch der Fall. Oft bat
fie mir gegenüber geklagt: „Ih mag ihn nicht, ich
fann nicht mit ihm Leben!“
Der Präfident fchreitet nun zur Vernehmung ber
Gerichtsärzte. Ä
Der Sachverſtändige Dr. Doll gibt an: Der Blei-
knopf mit der elaftifchen Naht an des Angeklagten Stod
macht dieſen geeignet, im alle einer gewiflen Gewalt»
98%
132 Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner.
anwendung fehr gefährliche Verlegungen herbeizuführen.
Daß im gegebenen Falle eine außergewöhnliche Gewalt-
anmwenbung ftattgefunden hat, läßt fich aus der Beichaffen-
heit der Wunde nicht ſchließen. Es ift anzunehmen, daß
die Wucht der Hiebe durch äußere Umſtände abgeichwächt
wurde; aus der Unruhe besjenigen, ver die Hiebe ge-
führt, läßt fich erflären, daß ber zweite Hieb fchief ge=
fallen ift.
Bertheiviger Dr. Benedikt. Konnte Kirchner,
wenn er bei gefunden Sinnen war, glauben, daß biefer
Stod geeignet fei, einen Menſchen zu töbten over ihn
mit einem Hiebe bis zur Kampfunfähigfeit oder Bewußt-
Iofigfeit zu betäuben?
Sadverftändiger Dr. Doll. Diefer Meinung
fonnte er fein.
VBertheibiger Dr. Benepdift. Sind Sie, Herr
Doctor, der Anficht, daß ein Mann von der mittlern
Körperkraft Kirchner's mit einem Schlage dieſes Stockes
einen fräftigen Mann töbten könnte ?
Sacdverftändiger Dr. Doll, Die Möglichkeit ift
nicht ausgejchloffen. Auch ift es möglich, einen Dann
burch einen folchen Hieb zu betäuben.
Präfident. ft mit dieſem Stode eine ſchwere
Körperverlegung ohne beſondere Öewaltanwenbung möglich?
Sadverftändiger Dr. Doll. Es bedarf jedenfalls
ber Energie und Kaltblütigfeit, um erfolgreich mit einer
folhen Waffe anzugreifen, erft in zweiter Linie eines
größern Grades phnfiicher Kraft.
Der zweite Sachverftändige Dr. Haſchek ſchließt fich
in feinen Ausführungen dem Gutachten des früher ver-
nommenen Dr. Doll an, hebt aber beſonders hervor, daß
bei größerer Kraftanwendung der Hieb auch eine tödliche
Wirkung hätte bervorbringen fönnen.
Der Procef wider Iofepb Johann Kirchner. 133
Bertheibiger Dr. Benedikt. Gegenüber biefen
Behauptungen, die meinem Clienten eine Kraft beimeffen,
die derjelbe entſchieden nicht befißt, ftelle ich den formellen
Antrag, die Muskulatur des Angeklagten von den Ge-
richtsärzten unterfuchen und prüfen zu laſſen.
Präfident. Herr Staatsanwalt, find Ste mit die-
jem Antrage einverftanden?
Staatsanwalt. Ich muß mich entjchieven dagegen
ausiprechen. Der Angeflagte tft nunmehr feit fünf Mo-
naten in Haft und infolge deſſen gewiß weniger fFräftig
als vorher. |
Sadverftändiger Dr. Doll. Ich muß wieber-
holen, daß in erjter Linie bie Energie des Willens zu
berüdfichtigen ift, weit mehr als die fräftigere Entwide-
lung der Muskulatur.
Präfident. Ich werde eimen Gerichtsbeichluß ein-
holen.
Der Gerichtshof beichließt, die von der Vertheidigung
beantragte Beweisaufnahme nicht zuzulafien, weil e8 für
bie Frage, ob ber Verſuch eines Verbrechens vorliege,
gleichgültig bleibt, ob der Angeklagte in ver Lage war,
die That auszuführen; weil die Annahme, daß die Förper-
liche Kraft des Angeklagten während einer fünfmonat-
lichen Haft gelitten, berechtigt erfcheint, endlich weil bie
ſachverſtändigen Gerichtsärzte erflärt haben, daß felbft ein
minder fräftiger Mann bei entiprechender Handhabung
des vorliegenden Stodes als Angriffswaffe purch einen
Hieb einen Menfchen betäuben Tann. Der Gerichtshof
ftellt e8 jedoch den Gefchworenen anbeim, von ihrem
Rechte, eine derartige Beweisaufnahme zu begehren, Ge⸗
brauch zu machen.
Die Geſchworenen verzichten auf dieſe Beweisauf⸗
nahme,
134 Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner.
Die als Zeugin geladene Frau Marianne Röſſel
iſt eine Dame von 35 Jahren, klein, ſchmächtig, mit blitzen⸗
den ſchwarzen Augen und tiefſchwarzem Haar. Sie ſieht
angegriffen und bleich aus, ihre Geſichtszüge ſind aber,
wenn ſie ſich im Geſpräche beleben und eine leichte Röthe
über ihre Wangen huſcht, einnehmend. Sie muß in
früherer Zeit ſehr hübſch geweſen ſein. Ihr Anzug ver⸗
räth Geſchmack und eine gewiſſe Eleganz.
Frau Röſſel ſagt aus: Ich habe Kirchner anläßlich
einer Landpartie am 5. Juli 1876 fermen gelernt. Ich
war verwitwet, alleinftehend und ſelbſtändig. Wir fanden
aneinander Gefallen und liebten uns bald Herzlichit. Mit-
mir zufammengezogen ift Kirchner erjt im Jahre 1880.
Ich mußte, daß er verheirathet war, und feine Frau
wußte von feiner Liebe zu mir. Er ift wieberholt zu
feiner Frau zurüdgelehrt und hat erjt dann befinitiv mit
ihr gebrochen, als fte darauf beftand, er müſſe fich zwi-
chen uns beiden entjcheiben.
Präfident. Haben Sie in dem Benehmen Kirch-
ner’s früher etwas Auffälliges bemerkt?
Zeugin. Das erjte mal fchon im Iahre 1877. Er
behauptete, ein Nagel laufe an ver Zimmerwand Tpazieren.
Zuerſt hielt ich es für einen fchlechten Spaß, als ich aber
ſah, daß feine Züge verftört und feine Angen irre waren,
erkannte ich, daß er Frank fein mußte. Kirchner war jehr
eiferfüchtig; er bildete fich ein, man wolle gewaltſam in
unfere Wohnung bringen und ihn ermorven, er bat Leute
vom Yenfter aus gejehen, während niemand da war. Im
Sahre 1878 litt er bejonbers an ſolchen Wahnideen. Er
war auf einen gewiſſen Bertolint eiferfüchtig und wähnte
fih von biefem fortwährend verfolgt. Diefe Perſon war
aber ein Wahngebilde, jemand, der gar nicht eriftirt bat.
So hat er mir am 9. Ianuar jenes Iahres unter ben
Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 135
Zeichen heftigſten Entſetzens erzählt, Bertolini ſei ihm
nachgegangen und lauere ihm an der Hausthür auf.
Kurze Zeit darauf ſtürzte er in der Küche ohnmächtig
zuſammen. Als er ſich erholt hatte, verſicherte er, Ber⸗
tolini habe in einem Winkel der Küche geſtanden und ein
Meſſer bereit gehalten, um ihn zu erſtechen. Er habe es
ihm aber entriſſen und in den Leib geftoßen. Ich glaubte
mich nicht berechtigt, Länger zu fchweigen, und habe da⸗
mals Anzeige an die Polizei eritattet. Die Polizei hat
auch eine Ärztliche Unterfuchung veranftaltet, aber e8 wurde
feftgeftellt, paß feine Geiſteskrankheit worliege.
Präfident. Können Sie noch über ein auffallendes
Vorkommniß berichten?
Zeugin. Kirchner ift einmal ohne irgendwelchen
Grund aus einem Kaffeehaufe auf ber Lanpftraße, wo
wir beifammenfaßen, weggelaufen und mehrere Tage ver-
ichollen geblieben. Als er zurückkam, erzählte er mir, er
babe fich, ohne zu wiffen wie, auf der Galerie des Carl-
Theaters bei der Vorftellung einer Operette befunden un
fich gefragt, wie er dorthin fomme. Dann jet er zu feiner
Familie gegangen, als ob er niemals bort weggegangen
wäre. Ein andermal tft er vor der Thür meines Schlaf:
zimmers ohnmächtig umgefallen, weil er bemerkt hatte,
daß mir Briefe unter die Thürfpalte herein zugejchoben
worben waren. Eines Tages fchrie er plößlich auf: es
bane jemand mit einem Hammer auf ihn los. Er machte
mir in wildeſter Art die umerbörteften Vorwürfe und
Hagte viel über Kopffchmer;.
Präsident. Wußten Sie von Kirchner's Verhältniß
mit Frau Curio?
Zeugin. Er hat mir felbft davon gefagt.
Präſident. Kirchner ift nach dem Attentate zu
Ihnen gelommen?
136 Der Proceß wider Iofeph Johann Kirchner.
Zeugin. Am Sonntag, den 15. Januar, alfo am
Tage danach, nachmittags zwiſchen 2 und 1/,3 Uhr.
Präſident. In welchem Zuftande war Kirchner, als
er zu Ihnen kam?
Zeugin. Er war fehr aufgeregt. Ich fagte: „Du
fiebft aber verangirt aus!” Er antwortete: „Du wirft
gleih hören, warum.” Er zog mich und das Kind an,
fih und brach in heftiges Weinen aus. Dann erzählte
er mir, er ſei mit Curio fortgegangen, da ſei plötzlich ein
Menſch gelommen und habe wie ein Wüthender auf Curio
losgejchlagen. Er habe fich nicht rühren Fönnen, es habe
ihn wie ein Starrframpf überfommen.
Präſident. Sagte Kirchner, man werbe ihn für
den Thäter halten?
Zeugin. 9a. Er fagte, er fei allein mit Curio ge-
weien und fürchte, daß man ihn für den Mörder halten
könne. Er warf fich angefleivet auf das Bett und lag
eine Stunde wie tobt. Dann erwacdhte er und fagte:
„Segt bin ich vollkommen beruhigt. Das wüfte Leben,
das nur dem Vergnügen dient, gebe ih auf. Es
untergräbt bie Geſundheit. Ich will arbeiten und wir
beide bleiben beifammen.” Darüber war ih ganz
glücklich.
Schriftſteller Balduin Groller, Chefredacteur ber
„Neuen Illuftrirten Zeitung‘, wird al8 Zeuge vernommen.
Er jagt aus: Ich kenne Kirchner feit 21 Jahren, feit
feiner Jünglingszeit. Er bat fih ſtets als redlicher,
ehrenhafter und im gefchäftlichen Beziehungen ſehr ge-
wifjenhafter Mann erwieſen. Was feinen Geiſteszuſtand
betrifft, jo muß ich hervorheben, daß er unter feinen Be-
fannten für einen „Sonderling“ galt, dem man abnorme
Streiche zutraute. Ohne einen vernünftigen Grund mie-
thete er in eimem Jahre mehrere Wohnungen. Was
Der Proceß wider Iofepb Johann Kirchner. 137
Eſſen und Trinken anlangt, fo hatte er bie wunderlichſten
Gewohnheiten. Er trank häufig an einem Tage 15 bis
17 Taſſen ftarken fchwarzen Kaffee, Fleiſch aß er faft
gar nicht, und wenn e8 geſchah, nur Fleiſch von großen
Thieren; Geflügel überhaupt niemals. Er war ein fehr
warmer Thierfreund. Der Gedanke, daß ein Thier feinet-
wegen getöbtet werden könnte, quälte ihn fürmlich. Ge-
legentlich fagte er, wie zur Entjchulbigung! „Beim Ochfen
trifft dies nicht zu.” Ich babe auf Grund meiner Be-
obachtungen fchon vor dem Unterjuchungsrichter fein Hehl
daraus gemacht, daß ich Kirchner nicht für normal und
nicht für zurechnungsfähig halte.
Poftverwalter Ludwig Finke in Preßbaum: Kirch⸗
ner und ich waren Schullameraben, ich Tenne ihn genau
und weiß, daß er nicht im Stande ift, ruhigen Blutes
irgendeiner lebenden Creatur wehezuthun. Aber er Iitt
immer an Sonderbarfeiten. Ich kann nicht behaupten, baß
er von Haus aus „ein Narr” gewefen it, aber Schrullen
hatte er immer. AS junger Menſch von 17 Iahren Hat
er fih in eine Frau verliebt und jahrelang hat er fie
mit begeifterten Blicken angeſehen, aber fich ihr niemals
genähert. Bon Habfucht war er zeitlebens frei. Als Kirch-
ner's Vater in ziemlich ungeorpneten Verhältniſſen ftarb,
bat er alles, was vorhanden war, feiner Stiefmutter über-
laffen und nur einige Andenken an fich genommen, bie
feine 10 1. Werth beſaßen. Er war ein wechjelnden
Stimmungen unterworfener Gemüthsmenjch und Fonnte
icheinbar ohne Vebergang von der ſchwärzeſten Nieber-
gejchlagenheit plöglich in Die ausgelafjenfte Heiterkeit um⸗
ipringen. Kirchner hat ein weiches Herz gehabt, felbit
Thieren gegenüber. Er bat einen auf der Straße von
einem Streifwagen überfahrenen Hund, einen ganz gar-
ftigen Köter, aufgehoben, in feinen Armen nach Haufe
138 Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner.
getragen und fo lange gepflegt, bis das Thier wieber-
bergeftellt war,
Scriftiteller Mar Konody: Ich Tenne Kirchner
jeit dem Jahre 1873. Ich babe in demſelben ſtets einen
verläßlichen Menſchen und Künftler gefunden, bem ein
gegebene Wort heilig war. In den legten Jahren kam
etwas Sprunghaftes, Unftetes, ich möchte faſt Tagen krank⸗
haft Erregtes in feinen Weſen zur Geltung, was mir
früher nicht aufgefallen war. Ein Beweis feines eral-
tirten Weſens und ber Unruhe, die in ihm gärte, war,
baß er ohne ernftlichen Anlaß häufig feine Wohnung
wechjelte, fich wiederholt verhältnißmäßig glänzend ein⸗
richtete und bie durch mühſame Arbeit bezahlte Einrich-
tung bald darauf achtlos verfchleuderte.
Nunmehr wird Frau Friederike Kirchner als
Zeugin vorgerufen. Es ift eine blaffe, hagere und ab⸗
gehärmte Frau von 44 Jahren, ihre hohe Geftalt ift zwar
ungebeugt, aber ihre Gefichtözüge tragen feine Spuren
früherer Schönheit. Sie ift böchft einfach gefleibet und
macht den Einbrud einer Frau aus dem Kleinen Bürger⸗
ſtande.
Präſident. Wie hat ſich Kirchner gegen Sie be=
nommen?
Zeugin (unter hervorbrechenden Thränen). Immer,
immer gut! Er war ftets ſehr zartfühlenn. Von bem
Verhältniß zur Röſſel Habe ich anfangs, nichts gewußt.
Erſt nachdem bafjelbe etwa Drei Monate eſchon gebanert
hatte, iſt mir durch eine auf dem Schreidtiiche zufällig
liegen gebliebene Karte Kenntniß davon geworden. Es
kränkte mich tief. Ich habe meinem Manne Borftellungen
gemacht. Er ſchien bewegt, erklärte mir aber, er Tünne
von der Röſſel nicht laſſen. Ich vermochte den Zuftand
nicht zu ertragen und verlangte von ibm, er müffe fich
Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner, 139
zwijchen uns entfcheiven. Da z0g er zur NRöffel. Er
unterließ es aber nicht, nach Kräften für mich materiell
zu jorgen. Er gab mir urfprünglich 70 Fl. monatlich
und bezahlte den Zins der Wohnung, im letzten Sahre
aber einigemale weniger, nur 50 FI. und einmal fogar nur
40 Fl. Er hatte gewiß jelbft nicht mehr. Die Monats»
raten hat er pünktlich gezahlt, bis zum lekten Tage. Mehr-
mals kam er, von ber Röffel purchgehend, zu mir und ven
Kindern zurüd. Er fagte mir dann immer, er könne ohne
mich nicht leben. |
Präfident. Dann fagte er aber auch, er könne ohne
bie Röffel nicht leben.
Zeugin. Ya, das fagte er, und ging wieder zu ihr
zurück.
Präſident. Wie iſt Ihnen Kirchner überhaupt vor⸗
gekommen?
Zeugin. O, er iſt ein außergewöhnlicher Menſch.
Präſident. Meinen Sie damit, ſo geſcheit?
Zeugin. Auch geſcheit. Aber, er war auch über⸗
ſpannt. Einmal hat er mir mitgetheilt, er habe in Bos⸗
nien einen Menfchen umgebracht. Ich war ganz unglüd-
lich darüber, und dann ftellte fich heraus, daß fich alles
nur in feiner Phantafie ereignet hatte.
Hierauf wird das Gutachten der Gerichtsärzte Dr.
Dinterftoißer und Dr. Fritfch verlefen, deſſen Er-
gebniß dahin geht:
Herr Joſeph Kirchner ift ein allerdings etwas excen⸗
triſch veranlagtes Individuum, welches in ben Jahren
1873 und 1879 an Zuftänden pſychiſcher Irritation ger
litten bat, mit Ausnahme jener Zeit und feither, fowie
auch zur Zeit der Verübung des ihm zur Laft gelegten
Berbrechens als geifteßgeftört nicht bezeichnet werben
kann.
140 Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner.
An das Gutachten anfnüpfend erklärt Dr. Hinter-
ftoißer: Die Aerzte hatten ihre Aufgabe in breifacher
Richtung zu fuchen und zu unterjuchen; erftens: Haftet
bem Angeflagten von Haufe aus eine ererbte Geiftes-
abnormität an? Zweitens: Sind im Laufe feines Lebens
temporäre Geiftesftörungen conjtatirt worden? und brit-
tens: Haben fi) aus der Unterfuchung Anhaltspunkte
ergeben, daß ber Angellagte zur Zeit ber incriminirten
Thathandlung fih in einem Zuſtande ber Geiſtesver⸗
wirrung befand?
Zur erften Frage konnten bie Sachverjtändigen raſch
Stellung nehmen. Weber aus den Angaben ver Zeugen,
noch aus denen des Angellagten ergaben fich beachtens-
wertbe Momente für die Annahme einer Geiftesfrantheit.
Die von den Zeugen erbärteten Excentricitäten Kirchner’s
— feine zahlreichen Liebfchaften, fein unſtetes Wefen, fein
häufiges Wohnungswechfeln u. |. w. — find noch Teines-
wegs Zeichen von Geiftesftörung. Niemand Tann be-
baupten, daß Kirchner fich feiner jeweiligen Lage nicht
bewußt gewejen ift. Auch in dem Verkehr ver Gerichts-
ärzte mit dem Angeflagten ift nichts berborgetreten, was
eine erbliche Geiftesftörung annehmen läßt. Kirchner ift
eine moralifch veranlagte Natur, er bat im Sturme bes
Lebens dieſe moralische Empfindungsweife nicht ganz ein-
gebüßt. In den Sahren 1878 und 1879 rang er mit
fih felbft, daher rühren die Erjcheinungen hochgradiger
piuchticher Erregung. Die von Frau Kirchner und Frau
Röſſel mitgetheilten Ereigniffe, das oftmalige Entweichen
und das darauf folgende Benehmen Kirchner’8 mußten
bei den Aerzten zuerft die Annahme hervorrufen, derſelbe
jet ein Epileptifer. Ich betone, daß dies ber erfte Ein-
brud war, die Unterfuchung jeboch hat denſelben nicht
beftätigt. Für Laien muß ich bier hinzufügen, daß bie
Der Proceß wider Iofeph Johann Kirchner. 141
Epilepfie in den vieljeitigften Formen auftritt, nicht nur,
wie wohl vielfach geglaubt werden mag, in Krämpfen
und Convulfionen, fondern auch im zeitweiligen Ausfalle
bes Bewußtfeins, beziehungsweife des Gedächtniſſes, mögen
bei dem erkrankten Individuum dieſe Functionen immers
hin ſonſt regelmäßig jtattfinden. Ich bin nun durch Die
Beobachtung des Angellagten zu der Anficht gelangt, daß
die Angaben, bie Kirchner der Frau Röſſel über feine
Bewußtlofigfeitszuftände gemacht hat, nicht auf Wahrheit
beruhten. Er will während biejer Anfälle Skizzen an-
gefertigt und fich in fremden Gegenden herumgetrieben
haben, ohne daß fein krankhafter Zuftand aufgefallen
wäre und ohne daß man ihn angehalten hätte. Ich bin
überzeugt davon, daß Kirchner wohl wußte, was er that,
wenn er der NRöffel entwih. Die von ihm vorgejchüßte
Bewußtjeinsftörung war eine leere Ausflucht, um fein
Entweichen ver Röffel gegenüber zu beichönigen. Wenn
aber auch kranke Illuſionen nicht bewielen find, jo kann
doch fein auffallendes Gebaren aus einer gewifjen Stö-
rung des pinchologifchen Gleichgewichts entiprungen fein.
Es ift darum die Möglichkeit nicht auszufchließen, daß
der Angellagte in den Jahren 1878 und 1879 pfychiſch
geſtört geweſen ift. Allein ſeitdem ift fein Anzeichen eines
wieberholten derartigen Gehirnreizes aufgetreten und con-
ftatirt worden. Auch im Moment ver That, die bem
Angeklagten zur Laft gelegt wird, kann feine Bewußtſeins⸗
ftörung ftattgefunden haben, da er jelbjt die Umſtände
vor und nach derſelben genau zu berichten weiß, die That
ſelbſt aber, das heißt die Ausführung bes Attentates burch
Stodichläge richtig fo angibt, wie biefelbe verlief, und da⸗
bei nur die eine Ausflucht vorzubringen im Stande iſt,
bie fich ſofort als nicht ftichhaltig für jedermann baritellt.
Bon impulfiven Momenten fann bier nicht die Rebe jein.
142 Der Proceß wider Joſeph Iohann Kirchner.
Wenn es auch monftrös klingt, daß ein fo hochbegabter,
mit fo vielen ſympathiſchen Eigenjchaften ausgeftatteter
Mensch fich mit Mordgedanken getragen haben foll, fo
muß dies doch angenommen werben. Es erübrigt nur
bie Frage nach den treibenden Beweggrünven, und fie löft
fih, wenn man bie höchft verfängliche Stelle in dem
Driefe an Frau Curio von dem Mislingen ver Hügften
Combinationen, die finanzielle Lage Kirchner’s, feine Hoff-
nung auf Verforgung durch feine Geliebte und die hoch⸗
grabige finnliche Leidenfchaft erwägt, unter deren Einfluß
biefe beiden Menfchen ſtanden. Dieſe Leivenfchaft bewog
den Angeflagten fogar, der Frau Curio vorzujchlagen,
daß fie fich vergiften follte! Mein Gutachten, welches
das Ergebniß längerer und eingehender Unterfirchungen
und Beobachtungen ift, gipfelt in dem Schluffe: Kirchner
ijt ein etwas excentriſch veranlagter Menſch, von Lebhafter
beweglicher Phantaſie. Urſprünglich moraliich, ift er durch
übermäßige gefchlechtliche Ausichweifungen in feinem Weſen
gelodert und erfchüttert, unficher und ſchwankend gewor-
ben, jeboch find bei ihm weder in der Zeit vor 1878
noch nad 1879 Anzeichen feitgeftellt worden, bie ihn als
unzurechnungsfähig erjcheinen laſſen. Während ber Zeit
von 1878 und 1879 war wahrjcheinlih eine blos tem⸗
poräre pſychiſche Irritation vorhanden.
Ueber dieſe Ausfage des Sachverftändigen entſpinnt
fih zwifchen dem Dr. Hinterftoißer unb dem Dr. Bene-
dikt eine eingehende Debatte, die auf feiten des Verthei⸗
digers mit dem Aufwande bes größten Scharfjinns und
weitgehendfter Sachlenntniß geführt wird. Wir beichrän-
fen uns darauf, das Wefentlichite mitzutbeilen:
Dr. Benedikt. Kommt es vor, daß bei einer tem-
porär geiftesfranten Perfon die Intelligenz, insbeſondere
Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 143
die Dialektik, ſoweit ſie ſich der Außenwelt gegenüber
äußert, unberührt bleibt?
Dr. Hinterftoißer. In ganz beſondern Ausnahme-
fällen iſt dies wohl vorgekommen, aber im allgemeinen
iſt die impulſive Irrſinnshandlung nur als Symptom
eines im ganzen abnormen Geiſteszuſtandes zu be»
trachten.
Bertheidiger. Krafft-Ebing jagt, daß an berartigen
Irrſinnigen nicht nur die Intelligenz erhalten bleibe, ſon⸗
dern daß folche Irrfinnige fich gar oft der größten gefell-
ſchaftlichen Beliebtheit erfreuen. Er führt in feinen ein-
chlägigen berühmten Unterfuchungen Fälle gerade von
Künftlern an, bei denen dieſes zutraf.
Sachverſtändiger. Mir ift e8 wohl bekannt, daß
Krafft-Ebing den Beftand temporären Irrfinns nur bei
Geiſteskranken anerkennt. Ich bin auch urfprünglich von
der Anschauung ausgegangen, Kirchner jet ein Irrfinniger,
und bin erjt allmählich nach Donate dauernden Beobach-
tungen zu ber Ueberzeugung gelangt, daß biefe Voraus-
fegung unrichtig war.
Vertheidiger. Geben Sie zu, daß eine zeitweiltge
Geiftesftörung bei Kirchner ftattgefunden hat?
Sachverſtändiger. Wenn ih das vorausfeßen
fönnte, jo müßte ich fagen, daß er geiftig erfranft war.
Vertheidiger. Sch bitte das zu protofolliren. —
Was jagen Sie zu dem Einfchlafen Kirchner’8 während
einer Lection? zu feinem Ohnmachtsanfalle im Theater?
Sachverjtändiger. Wenn man einmal im YBurg-
theater ohnmächtig wird oder während einer Lection ein⸗
jchläft, jo tft dies noch fein Zeichen abnormer piuchifcher
Zuftände.
Vertheidiger. Sie geben aber zu, daß zeitweilige
Sinnestrübungen bei ber epileptiichen Neurofe vorfommen?
144 Der Broceß wider Zofeph Johann Kirchner.
Halten Sie nun eine derartige Störung bei Kirchner für
ausgefchloffen ?
Sacverftändiger. Müßte ich annehmen, daß das
Attentat von einem Menjchen ausgeführt wurbe, ver an
epileptifcher Neuroſe leidet, fo würde ich auch den Schluß
machen, daß eine Sinnestrübung vorgelegen habe. Allein
das Benehmen des Angellagten nach der That wiber-
ſpricht der Annahme, daß fich Kirchner bei der Aus-
führung in einem Zuftande temporärer Sinnesverwirrung
befunden bat.
Vertheidiger. Sie ziehen Ihre Schlüffe, wie ich
ſchon wiederholt bemerkte, aus juriftiichen, nicht aus
pinchtatrifchen Gründen. — Wie erklären Sie die räthſel⸗
hafte Abneigung Kirchner’8 gegen alle geiftigen Ge-
tränfe?
Sacdhverjtändiger. ‘Der conftatirte phyſiſche Wider⸗
wille gegen Alkohol ift ein zufälliger, nicht auf das Geiftes-
leben des Angeklagten bezüglicher Umijtand.
Der zweite Sachverftändige, Dr. Fritſch, befpricht
ausführlich die Gründe, die ihn veranlaffen, die nolle
Zurechnungsfähigleit Kirchner’8 anzunehmen. Er fieht
in dem Angeflagten einen etwas excentrifchen, aber feinen
geiftesfranfen Menjchen. Das Benehmen Kirchner’8 nach
dem Attentate liefere dafür den beiten Beweis.
Auf Befragen des PVertheidigers, welcher auch vie
Auseinanderjegungen dieſes Sachverftändigen einer ein-
gehenden Kritif unterwirft, gibt derſelbe zu, daß geijtig
erkrankte Individuen, welche an vorübergehenden Sinnes-
trübungen leiden, ihre Gejchäfte jonft in normaler Weife
zu erledigen im Stande find. MUebrigens können auch
Epileptiler Handlungen begehen, für welche fie ver-
antwortlich find. Es gibt feinen Freibrief für folche
Kranke.
Der Procef wider Joſeph Johann Kirchner. 145
Bertheidiger. Die Herren Gerichtsirrenärzte haben
das Gutachten abgegeben, welches verlefen worden ift.
Daffelbe zeigt meiner Anſchauung zufolge jo wejentliche
Gebrechen, daß ich es als dem Geſetze geradezu wider⸗
Iprechend bezeichnen muß. Die Herren Sachverftändigen
haben fich nämlich für berufen erachtet, eine Aufgabe zu
löſen, bie weit über jene hinausgeht, bie ihnen geftellt
war und ihnen nach dem Geſetze geitellt werben burfte,
Sie haben Dinge in den Kreis ihrer Erörterungen ge-
zogen, über die zu urtbeilen fie nicht berufen find. Die
Herren Sachverftändigen haben offenbar ihre perjönlichen,
nicht fachmänniſch begründeten Anfichten über das Handeln
des Angeflagten vor und nach der That zu einem Bilde
formulirt und dieſes Hinterbrein fich fachlich zu erflären
gefucht. Die Sachverftändigen find befugt, auf alle Um⸗
ſtände eines ihrer Beurtheilung unterliegenden alles
Rückſicht zu nehmen, e8 ift jedoch nicht in ihrer Compe⸗
tenz gelegen, bie Frage ver Schuld oder Nichtjchuld bes
Angeklagten zu erörtern und zu enticheiden. Sie follten
fih darüber erklären, ob ver Angellagte zur Zeit ber
That geiftesgeftört ober gefund gewefen ift, und ob, ba
er früber ſchon einmal geiftesfranf war, auch diesmal
eine Sinnestrübung jtattgefunden bat oder ftattgefunden
haben kann. Im Widerfpruch mit der Strafproceßorbnung
haben fie aber ein Gutachten erftattet, welches ber Ab-
gabe eines Enburtheil® durch vie Aerzte gleichlommt. Ich
ehe mich daher veranlaßt, zu verlangen, daß den Sach⸗
verftändigen der ganze Fall noch einmal, jedoch nur hypo⸗
thetiich und mit Ausſcheidung aller zweifelhaften Umſtände
zur Begutachtung überwiejen werde. Eventuell beantrage
ich die Einholung eines Gutachtens der mebicinijchen Fa⸗
cultät der Univerfität Wien,
XXIV. 10
146 Der Proceß wider Joſeph Iohann Kirchner.
Staatsanwalt. Der Herr PVertheibiger hat zwei
Anträge geftellt: erftend auf Ergänzung des Gut-
achtend; zweitens auf Einholung eines Gutachtene ber
wiener mebicinijchen Facultät. Ich fpreche mich gegen
beide Anträge aus. Der erfte zielt dahin, daß bie Aerzte
von ber Anklage ganz abfehen follen. Diejer Antrag it
pollfommen unbegründet, denn die Sachverftändigen muß-
ten aus dem Geſammtbilde der Perjönlichleit des Ange-
klagten und aus den thatfächlichen Momenten ihre Schlüffe
ziehen. Der zweite Antrag ift nach der Strafproceßorb-
nung unftatthaft. Das Geſetz beftimmt die Fälle genau,
in denen ein Obergutachten eingeholt werben foll: wenn
in den Ausführungen der berufenen zwei Sachverjtändigen
erhebliche Widerjprüche vorkommen, oder wenn deren
Schlußfolgerungen offenbar unrichtig find. Keiner von
biejen beiden Fällen liegt vor. Ich bitte den hohen Ge:
richtshof, die von ber Vertheidigung geftellten Anträge
abzulehnen.
Der Gerichtshof bejchließt, die Anträge, gemäß ben
Ausführungen der Staatsanwaltichaft, zurückzuweiſen.
Nach dem Schluffe des Beweisverfahrene beantragt
ber Vertheidiger die Zufaßfrage: „ob der Angeflagte
bie That im Zuftande ver Sinnesverwirrung verübt habe”.
Der Staatsanwalt ſpricht fich dagegen aus, ber Gericht-
hof jedoch beichließt nach Furzer Berathung, den Geſchwo⸗
renen eine Hauptfrage auf verfuchten Mord, eine Zufag-
frage auf die Tüde bei der Ausführung des Attentates
und eine zweite Zufaßfrage, ob die That im Zuſtande
der Sinmesverwirrung verübt worden jei, vorzulegen.
Es folgt das Plaidoher. Staatsanwalts-Subftitut
Hawlath recapitulirt nach einigen einleitenden Bemer⸗
tungen bie Ereigniffe bi8 zum Abend des 14. Januar und
jhildert hierauf das Attentat. Nach feiner Meberzeugung
Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 147
it Kirchner der Thäter, er hält es für unmöglich, daß
eine britte Perjon fich zwiichen ihn und Curio gejchoben
bat. Alle ven Morpverjuch begleitenden Umftände, fein
Stod mit dem Bleiknopf, den man bort fand, feine un-
glaubwürbige Fabel von dem Unbefannten, ver plößlich
erjchienen fein foll, feine wunderliche Erzählung, daß er
ganz plöglich in einen lethargifchen Zuftand verfallen fei,
endlich fein Benehmen nach der That beweifen unwiber-
feglich die Schuld des Angeflagten.
Der Staatsanwalt fucht ferner barzuthun, daß Kirch-
ner das Verbrechen vorbereitet habe, und rechtfertigt fo-
dann, weshalb die Anklage nicht auf Frau Curio erftrect
worden jet. Er fagt, er babe längere Zeit geſchwankt,
aber doch endlich die Veberzeugung gewinnen müſſen, daß
fie zwar Mitwifjerin, aber nicht Mitthäterin geweſen fei.
Sodann führt der Vertreter ver Staatsbehörde aus;
„Es ift undenkbar, daß Kirchner die That nur aus Ab-
neigung gegen Curio verübt hat. Mordgedanken waren
ihm nicht fremd. Er ſelbſt hat angegeben, in Bosnien
babe ihn die Luft erfaßt, einen Militärarzt, welcher ber
Marianne Röffel die Cour machte, umzubringen. Er
malte fich in. feiner Phantafie die That mit allen Details
fo lebhaft aus, daß er fich in den Gedanken hineinlebte
und zeitweilig einbilvete, er habe dieſen Mord wirklich
begangen. Im Jahre 1878 war Kirchner vielleicht geiftig
irritirt, aber nicht geiſteskrank. Auch damals trug er fich
mit Morpplänen gegen jenen Herrn Bertolini, über deſſen
Berjönlichkeit weiter nichts in Erfahrung gebracht worden
it. Nach dem Attentate gegen Curio wollte er feine
Geliebte Marianne Röſſel und fein eigenes Kind im
Schlafe ermorden. Das Attentat gegen Herrn Curio ift
ein verjuchter Meuchelmord. Es ift die Frage ber Zus
rechnungsfähigkeit des Angeklagten aufgeworfen worten.
10*
148 Der Broceß wider Joſeph Iohann Kirchner.
Dabei ift zu erwägen, baß wir e8 mit einer boppelten
Vertheidigung zu thun haben. Der Angeklagte jelbit jagt:
Ih bin nicht der Thäter, eine dritte Perſon hat das
Verbrechen begangen. Sein Vertheidiger dagegen be»
hauptet: Kirchner hat bie That verübt im Zuftande ber
Sinnesverwirrung. Hierauf tft zu erwibern: Das Ur⸗
theil der Gerichtsärzte muß für uns maßgebend fein.
Diefes Urtheil lautet: Kirchner hat die That mit vollem
Bewußtſein begangen. Die Irrenärzte, welche nur zu
jehr geneigt find, geiftige Störungen anzunehmen, find
eines Irrthums nach ber andern Richtung Hin nicht ver-
bächtig. Wenn fie ein Individuum für geiftig gejund er⸗
Hören, ift dieſe Diagnoje gewiß richtig. Wir müffen uns
barüber Far werben, wie e8 möglich war, daß ein geiftig
jo begabter Menjch wie Kirchner fo tief geſunken ift. Die
Lebensführung des Angeklagten war bis zum Jahre 1878
tabelfrei, fie bat fih von da ab in abfteigender Linie be-
wegt. Den erjten Anftoß zu feinem moralifchen alle
erhielt er durch Marianne Röſſel. Sie war es, die ihn
feiner Gattin und feinen Kindern entfrembete, und ihre
Schuld wirb nicht einmal wefentlich gemildert durch eine
leidenjchaftliche Liebe, denn fie hat Kirchner, mag e8 bier
zugeftanben worben fein ober nicht, begründeten Anlaß
zur Eiferfucht gegeben. Kirchner war ein Mann von
muftergültiger Sparſamkeit und pebantifcher Ordnungs⸗
liebe. Er zeichnete ſich aus durch eine bei Künftlern jel-
tene Gewifjenhaftigfeitt in Geldſachen und führte genau
Rechnung über alle Einnahmen und Ausgaben. Al er
das Verhältniß mit Frau Röffel angelnüpft hatte, befam
er jene Anfälle von Ermattung und Arbeitsfchen, von
denen wir gehört haben. Seine finnlichen Exceſſe zer-
ftörten feine Gefundheit, raubten ihm aber auch den mo-
raliichen Halt. Am 6. Juli 1878 fchreibt er in fein
Der Proceß wider Joſeph Johann Kighner. 149
Tagebuch: «Marianne zieht aufs Land. Ich bin allein.»
Bon da ab beginnt der dunkle Theil feines Lebens. Die
materiellen Schwierigfeiten häufen fich, denn es gilt, für
einen boppelten Haushalt zu forgen. Er fängt eine Lieb-
{haft an mit Frau Curio, und diefe ift für ihn ein ein-
trägliches Gefchäft. Er ſpielt nicht blos die Rolle des
Liebhabers dieſer Dame, fondern empfängt von ihr auch
ſehr werthvolle praktiſche Beweife der Anhänglichkeit. Er
wird in Eurio’8 Haufe vorzüglich verpflegt, noch befjer
als der Hausherr; Frau Curio gibt ihm aber auch hinter
dem Rüden ihres Mannes Geld. Er läßt: fih von ihr
eine ganze Menge von Bedürfniſſen bezahlen, jogar das
Reinigen der Wäfcheftüce und andere Kleinigkeiten. Eine
Frau, die von einem Manne ausgehalten wird, tft wol
ſchon etwas Schmähliches, ein Mann aber, der ſich von
feiner Geliebten ernähren und bezahlen läßt, fteht auf dem
Gipfelpunfte der Schmach. Und auf diefer Stufe war
Kirchner angelangt. Er hatte Feine Empfindung mehr für
Ehre und Treue, für Männlichkeit und Selbitachtung.
Eurio follte aus dem Wege gejehafft werben, bamit feine
Frau frei über ihr Geld ſchalten und er jeiner Luft
ſchrankenlos fröhnen könnte.
„Wenn Sie dieſen Angeklagten für ſchuldig erkennen,
meine Herren Geſchworenen, wird man nicht ſagen können,
daß Sie eine Exiſtenz zerſtört haben. Wenn er die Strafe
verbüßt hat, welche ihm kraft Ihres Verdicts auferlegt
werden ſoll, wird er überall ein neues Leben der Arbeit
beginnen Finnen, denn die Kunſt hat überall ihr Bater-
land. Borher aber fordere ich von Ihnen, daß Sie der
Schuld die Sühne folgen laffen, daß Ste die Hauptfrage
bejahen, die Zufaßfragen jedoch verneinen follen.“
Nach einer Furzen Pauſe nimmt ber Vertheibiger das
Wort. Dr. Benedikt jagt:
150 Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner.
„Nach der aufregenden Beweisaufnahme und dem hef-
tigen Meinungsftreit der Parteien ftehen Sie vor ber
ſchwierigſten Aufgabe, welche dem Nichter gejtellt werben
kann: der Enträthfelung einer geheimnißvollen Menichen-
jeele, ver Auffindung des tiefverborgenen Urfprungs von
Wille und Schuld.
„An bem Tage, an dem bie Verhandlung hier begann,
hatte nur eine Perfon in biefem Saale fchon zuvor bie
Möglichleit und die Gelegenheit gehabt, fich biefem Räth⸗
jel zu nähern, wieberholt in Langen Gefpräcen ven Mann
zu ſtudiren, der im zweiundvierzigſten Lebensjahre, nad
zwanzigjähriger ftrebjfamer und erfolgreicher fünftlerifcher
Thätigleit, unter der Anklage bed Mordes vor Ihnen
ſteht. Diefe eine Perfon war ber Vertheibiger. Der
öffentliche Ankläger fchöpft das Bild der Perfon, veren
That er zu verfolgen berufen ift, aus bem Stubium
tobter Acten, er kennt den Mann, den er anflagt, nicht
von Geficht zu Geſicht. Erft im Verhandlungsſaale tritt
er ihm gegenüber, zu fpät, um das Bild, welches er fidh
von ihm ſchon zuvor entworfen hat, zu corrigiren. Der
Vertheidiger fteht dem Angeflagten wejentlich näher. So
ihwer e8 auch fein mag, in ein frembes Geelenleben
einen Einblick zu gewinnen, fchon die erjte Unterredung
mit Kirchner war für mich entfcheivend. Sch gefellte mich
von da an zu dem Kreiſe jener Freunde Kirchner’s, bie
mit feltener Treue und Innigkeit an ihm hängen, bie
alle ohne Ausnahme den Gedanken, Kirchner könne ein
Verbrecher fein, entrüftet oder mit ungläubigem Lächeln
zurüchweifen. Der Mann, der fo gut, fo wohlthätig, fo
warmberzig in jahrelangem vertrauten Umgange fich ge-
zeigt Hatte, der Mann, der feinen Wurm zertrat und
einen kranken Hund auf ben eigenen Armen nach Haufe
trug, um ihn zu pflegen, der um feinetwillen fein Huhn
Der Proceß wider Iofeph Johann Kirchner. 151
abftechen Tieß und fich lieber mit Pflanzenkoft begnügte,
biefer Mann follte ein Mörder fein! Sie haben eine
Reihe jener ehrenwertben Zeugen gehört — feiner von
ihnen bat auch nur ein Wort gegen den Angeklagten au
jagen gewußt!
„Auch in mir hat ſich bie Ueberzeugung befeitigt, daß
nicht Kirchner e8 gewejen tft, ver einen Mordverſuch bes
gangen hat. Mag feine Hand blinplingd darauf zuge.
ichlagen haben — ber wirkliche Menſch, ver gefunde Kirch-
ner wußte nicht® davon.
„Man fieht oft in illuftrirten Zeitungen fogenannte
Berirbilder. Ein wüftes Durcheinander von Strichen, in
benen ber Blick ſich verliert, endlich aber fchließen fich
bie Linien zufammen, ein Bild tritt aus dem Rahmen
hervor, zu dem die ganze Zeichnung nur als Einleitung
und Vorwand gedient hat. Einige Feine gefchidt einge-
fügte Striche genügen, um aus dem Gewirre der Linien
beftimmte Formen hervorgehen zu laffen. Nehmen Sie
biefe weg, fo bleibt nur die Frage übrig. So erjcheint
mir die Anklage.
„Wirre Linien laufen durch das Leben aller Menichen.
ALS man Kirchner’8 Vergangenheit prüfte, da zeigten fich
bei ihm die krauſen Linien der Sinnlichkeit, der gefchlecht-
lichen Exceſſe, die zu vorübergehender wirthichaftlicher
Unordnung. führten, an fich nur Kleine Fehler, die aber
geſchickt gruppirt, zu einer grauenhaften Anklage fich zu-
jammenballten. So ift das DVerirbild bed gewollten,
vorbedachten, vorbereiteten und bewußten Mordes von
bem öffentlichen Ankläger gezeichnet worden. Dieje
zeritrenten, kunſtreich gejammelten Indicien fehen fich
fürdterih an, allein eime genauere Unterjuchung
zeigt, daß fie nicht zufammenftimmen und fich wiber-
iprechen.
15% Der Broceß wider Joſeph Johann Kirchner.
„Es iſt meine aufrichtige Meberzengung, daß wir einen
kranken Mann vor uns fehen, daß ein planlofer Act im-
pulfiven Wahnfinns ba vorliegt, wo ber Dertreter ber
Staatsbehörbe Abficht, Beweggrund und Vorbedacht ge=
wittert hat. Zu dem verübten Verbrechen lag fein ver-
nünftiger Grund vor. Die Momente, die in den Pro⸗
ceß verflochten wurden, um Kirchner eines planmäßigen
Vorgehens zu verbächtigen, find Fünftlich Hineingetragen.
Die Ausführung des Attentats ift eine fo unverftändige,
jo jelbjtverrätherifche und gerabezu kindiſche, daß fie einem
Menſchen von fünf gefunden Sinnen gar nicht zugetraut
werben Tann, am wenigften einem Manne von jo hervor»
ragender geiftiger Begabung, wie Kirchner e8 war.
„Zuerſt drängte fich der Verdacht auf, daß Kirchner,
um Frau Curio von dem ihr läftig und ımerträglich ge-
worbenen Gatten zu befreien, alfo aus leidenſchaftlicher
Liebe und aus Mitgefühl zum Verbrecher geworben fei.
Eine ſolche Auffaffung würde feinem Charakter eher ent-
Iprochen haben. Allein die Staatsanwaltichaft ließ dieſe
Anficht fallen, weil fie fich überzeugte, daß Kirchner für
Frau Eurio nicht jene überwältigende Leivenfchaft empfand,
bie eine folche That erklären würde. Die That aber war
da. Sie mußte mit dem Thäter nicht nur in einen
äußern, ſondern auch in einen innern urfächlichen Zu-
fammenhang gebracht werben, bamit fie nicht von vorn⸗
herein als eine unzurechnungsfähige Handlung erkannt
wurde. Die Stodhiebe wurden veshalb zu einem Mord⸗
attentate gemacht. Es wurben einige jener wirren Linien,
deren ich früher gedachte, herangezogen; bie Gelbverlegen-
beiten, in die Kirchner gerathen war, jollen der Beweg⸗
grund zu ber That gewejen fein. Dieſe noch dazu unbes
beutenden finanziellen Sorgen wurben benugt, um den
Angeklagten zum Mörder aus Habjucht zu ftempeln.
. Der Procef wider Joſeph Johann Kirchner. 153
„Kirchner, eine immer großmüthige und Teichtlebige
Natur, der jede Verpflichtung pünktlichſt einhielt, follte
einen Mord aus ben fchmuzigften Motiven vorbereitet
und verjucht haben. Wenn die Staatsanwaltjchaft der⸗
gleichen behauptet, fo ftellt fie eine Hypotheſe auf, bie,
im Wiverfpruche fteht mit der pinchologischen Entwickelung
bes Angellagten, feinem ganzen Wefen, feinem Tempera⸗
ment und feinen geiftigen Fähigkeiten.
„Kirchner ftammt aus guter bürgerlicher Familie.
Seine erite Iugend bat er in behaglichen materiellen
Berhältniffen verlebt. Sein Vater beftimmte ihn für den
faufmänntichen Stand. Der fünftlerifche Trieb in ihm
empörte ſich gegen dieſen aufgezwungenen Beruf. Unter
freiwilligen Entbehrungen bezog er die Akademie ver bil-
denden Künfte und errang ben eriten Preis. In ben
Jahren, im welchen er, mit einem fehr geringen Zuſchuß
vom Aelternhaufe, faft darbend, doch erfüllt von idealem
Streben, die Hochſchule befuchte, Iernte er die Familie
bes Wirthes vom Lobkowitz⸗Keller kennen und trat zu
biefer in nähere Beziehungen. Dort nahm er feine Mahl-
zeiten ein und fand Erebit, als diejer ihm am nöthigiten
war. Er ertheilte den Töchtern Unterricht im Zeichnen,
und in dem vielfachen ungeftörten Beiſammenſein nüpfte
er ein intimes Verhältniß an mit ber älteften Tochter
des Wirthes, einem um mehrere Iahre ältern Mäbchen.
Dem Vater gab er auf dem Sterbebett das Wort, feine
Tochter zu heirathen. Er hat fein Verfprechen, welches
ihm zur Feſſel werden mußte, in männlicher Ehrenhaftig-
teit eingelöft. Er ehelichte ein Mädchen, welches gänzlich
unbemittelt und weber mit geiftigen Vorzügen, noch mit
förperlichen Reizen ausgejtattet war. Seine Frau ftanb
an Bildung tief unter ihm. Das gegebene Wort war
ibm aber heilig. Sie haben bie Frau in Perjon vor fich
154 Der Broceß wider Joſeph Johann Kirchner.
gejehen, und ich brauche nichts mehr hinzuzufügen. Kirch⸗
ner brachte das größte und ſchwerſte Opfer. Er verzich⸗
tete darauf, jeinen künſtleriſchen Idealen nachzuftreben
und, wie er es geträumt, ein großer Dealer zu werben.
Die fatale Nothwendigkeit, einen Hausſtand zu ernähren,
zwang ihn, leichterm Erwerbe nachzugehen, und jo warb
er Sluftrationszeichner. Auch das väterliche Erbe hatte
er feiner Stiefmutter überlaffen, bie jonft mittello® ver-
blieben wäre. Und diefen Mann verdächtigt die Staate-
anwaltichaft, das fürchterlichite Verbrechen aus Hab—
fucht begangen zu haben!
„Es gelang ihm, in bem neuen, felbitgewählten Berufe
in kurzer Zeit einen Namen zur erwerben, ver weit über bie
Grenzen Defterreich& hinausging. Er war als Landichafts-
zeichner zu einer Specialität erjten Ranges geworden.
„Im Sabre 1876 lernte Kirchner eine Frau kennen,
bie ebenjo ſchön als hochbegabt, geiftreich und gebilvet
und babei tief unglücdlich war. Keine Perſon ift in dieſem
ſchrecklichen Drama härter getroffen worden als dieſe
Frau, welche trotz mancher fchmerzlichen Erfahrung mit
unzerftörbarer Liebe an Kirchner hängt. Die. Tochter
eines Mannes, der als Staatsbeamter, als Schriftfteller
und als Dichter in bervorragendem Maße Erfolg auf
Erfolg gehäuft und ein dauerndes Andenken fich errungen
Bat, ftand diefe Frau an Talent und Bildung, an Geift
und Temperament Kirchner nahe, und jo geichah es, wie mit
naturgewaltiger Nothwendigkeit, daß dieſe beiden fich fan-
den und fich fo herzlich aneinanderfchloffen, daß ein Bund
für das Leben daraus werben mußte. Und diefer Bund
blieb feſt, troß der unfeligen Verirrung, die ben Ange⸗
Hagten in die Arme der Fran Curio trieb,
„Ehe ſich Kirchner entjchloß, feine Gattin zu verlaffen
und fich ganz mit feiner geliebten Marianne zu vereinigen,
Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 155
batte er jchwere innere Seelenfämpfe purchzumachen. Er»
Ihöpft von Aufregungen und Seelenqualen, ein Spielball
wiberftreitender Gefühle und hin- und hergeworfen von
Zweifeln über die Grenzen von Liebe und Pflicht, verlor
er die Arbeitsluft und bie Arbeitsfähigfeit. Es ging ihm,
dem verwöhnten Künftler, fo fchlecht, vaß er und feine Ge-
liebte zeitweilig auf Stroh fchlafen mußten. Dennoch hat er
feine pecuntären Verpflichtungen gegen feine Frau und feine
Kinder pünktlich erfüllt. ‘Die eigenen Entbehrungen achtete
er nicht, ja er vermochte feine Geliebte zum Aufgeben ver
gewohnten Behaglichkeit zu veranlaffen; aber die Frau, für
bie zu forgen ihm bie Ehre gebot, Tieß er nicht varben. Als
feine Energie wieder erwachte, änderten fich die Verhältniffe
raſch. Er erwarb reichlich, was er bedurfte. In Kirchner
lebten zwei Naturen. Er war ein fparfamer, Heinbürgerlicher,
ängftlicher und pedantifcher Rechenmenſch, der jeven Kreuzer
feiner Ausgaben aufichrieb, und dann wieder kaufte er per-
ſiſche Teppiche und feltene Waffen, lud freigebig feine Freunde
zum Abendeſſen, und dabei war ſolche Ebbe in ſeiner Kaſſe,
daß Marianne Röſſel kaum zwei und drei Gulden zurück⸗
behalten konnte, um die Ausgaben für den nächſten Tag
zu beſtreiten. Ein ſolcher Mann macht ſich keine Sorgen
um die Zukunft und wird gewiß nicht zum Raubmörder.
Marianne Röſſel hatte dem Angeklagten eine Häuslichkeit
geſchaffen, in welcher er ſich glücklich fühlte. Ste hatte
ihm den Weg zur Anerfennung und zum künſtleriſchen
Erfolge dadurch geebnet. Es hat mich fchmerzlich berührt,
daß der öffentliche Anfläger für dieſe arme Dulderin,
weil fie in einer außerhalb der fpießbürgerlichen Moral
gelegenen Bahn Iebte, jo harte Worte gefunden hat.
Nicht im Jahre 1878, fondern im Jahre 1886 brach in
ber Gejtalt des Ehepaares Curio das Verhängniß in das
Leben dieſes Mannes herein. Das Ehepaar Curio —
156 Der Broceß wiber Joſeph Johann Kirchner.
Mann und Frau — waren die Dämonen, bie Kirchner's
Leben zerftörten. Während bie neunundzwanzigjährige,
heißblütige, begebrliche rau, welche nur neben, nicht mit
ihrem Manne Tebte, aber dennoch von ihm eiferfüchtig
überwacht und in Heinlicher Weije gepeinigt wurbe, in
auflodernder Sinnlichkeit Kirchner ganz für fih in An-
fpruch nahm, zwang ihn dieſes Verhältniß, ven eigenthüm-
lichen Liebhabereien des Herrn Eurio zu Dienften zu fein,
das heit, fein ftändiger Begleiter bei ven fchalften und geift-
Iofeften Bergnügungen zu werben. Er mußte Maskenbälle
befuchen, auf denen bie zweifelhaftefte Gefellichaft verkehrte,
und bis zur Erfchöpfung theilnehmen an dem Leben reicher
genußjüchtiger Menſchen, pie feinen Beruf haben.
„Herr Curio hatte feinen Hofmeifter verabſchiedet, er
Ind den Angellagten ein, zu ihm zu ziehen, um fein Haus
zu überwachen; er wollte ihn als feinen Genoffen nahe
bei der Hand haben. Einen Wohlihäter Kirchner’ nannte
ber Bertreter der Staatsbehörbe den Herrn Euriv. Nichts
fann unrichtiger fein. Im Banne ber neuen Leidenfchaft
opferte Kirchner feine Zeit, feine Arbeitstraft, feine Ein-
nahmequellen und feine Geſundheit. Er geriefh infolge
befjen in Gelpverlegenheiten, und biefe benutzt der äffent-
liche Ankläger, um einen tobbringenden Schlag zu führen.
Er bolt aus der Rüftlammer die fchärffte Waffe heraus
und brandmarkt ven Angeflagten, indem er ihm die ver-
ächtlichfte Bezeichnung zumirft, die unfere Sprache fennt,
er nennt ihn einen «ausgehaltenen Mann»! — Wäre
dies zutreffend, es wäre vernichtend; allein es iſt bios
eine im Eifer ver Rede gebrauchte Phraje.
„Kirchner hat niemals bie Abficht gehabt, ſich aus⸗
balten zu laſſen. Er bat Herrn Curio vorgefchlagen,
einen Theil der Hauszinsftener für die Villa zu tragen.
Er befand fich in Feiner Nothlage, er Hatte Beftellungen
Der Proceß wider Joſeph Iohann Kirhner 157
im Betrage von ungefähr 1000 5. und darüber zur
Ausführung übernommen. Richtig tft nur, daß er von
Klara Eurio das ihm angebotene Darlehn von 1000 Mark
und ein Sparkaffenbuch über eine Einlage von 150 Fl.
angenommen, und baß fie ihm, am Lage vor dem Un-
glüd, einen alten Schmud übergeben bat, ber verkauft
oder verfegt werben follte Werthvoll war biefer Schmud
nicht. Kirchner bat ihn für 40 Fl. verfekt.
„Die Anklage geht jo weit, zu behaupten, Kirchner
babe Herrn Eurio aus dem Wege räumen wollen, bamit
Frau Curio freies Verfügungsrecht über ihr Vermögen
erlange und befjen Einkünfte ihm zuwenden könne. Allein
biefen Punkt, welcher die Habfucht des Angeflagten be-
weijen fol, hat die jonft jo jorgfältig geführte Unterfuchung
nicht Mar gelegt. Frau Curio befaß fein eigenes Vermögen,
fondern nur eine Rente, welche fie von ihren Xeltern für
bie Bebürfniffe des Hanshaltes empfing. Der Staate-
anwalt ift der Anficht, dieſe Nente babe nach dem Ab⸗
leben des Gatten zu ihrer unbeichränften Verfügung ge-
ftanvden. Dies ift nicht erweislich. Ihre Aeltern konnten
bie Zahlung der Rente einftellen oder ihre Tochter zurüd-
rufen. Das Ehepaar Curio lebte auf großem Fuße.
Sie waren rei. Aber ihre Einkünfte bezogen fie zum
größten Theil von dem Vermögen des Mannes, nicht
von bem der Frau. Es mag fein, daß Klara Curio in
Zukunft eine größere Erbſchaft zu erwarten bat, bisher
aber betrug ihre Rente nur — 4500 Mark jährlich! ...
Das tft feine Summe, die einem Manne wie Kirchner
hätte verlodenp ericheinen fünnen, das wirb mir ber Herr
Staatsanwalt wol zugeftehen müffen. Der Angeklagte
hat in fehlechten Jahren 5000 Fl. verdient, in guten fait
um bie Hälfte mehr, und ihm traut man zu, er habe fich
entjchloffen, ein Müßiggänger zu werben und mit Frau
158 Der Broceß wider Joſeph Johann Kirchner.
Eurio von ihrer Rente zu leben? Diejfe Rente von
4500 Mark Hätte ihn und Frau Curio, Frau Röffel und
ihr Kind, feine Frau und feine Kinder erhalten, Kirchner
hätte für die halbe Einnahme die doppelte Laſt überneh-
men follen, nur um nichts arbeiten zu müffen? Wer foll
das für möglich halten?
„Der Staatsanwalt folgert dies aus dem Umftanbe,
daß Kirchner arbeitsunluftig geworben fei, und führt als
Deweis dafür die flüchtig Hingeworfenen Aeußerungen
bes Angellagten an, daß er künftig das Zeichnen aufgeben
und nichts mehr arbeiten werbe.
„Zugegeben, daß biefe Aeußerungen wirklich gefallen
find, wann bat je ein Künftler, ein Dichter gelebt, ber
nicht zeitweilig aus Enttäufchung, aus Unmuth an fid
jelbit gezweifelt, der nicht an einem Tage bie Palette,
den Stift weggeworfen und gelobt hat, nie mehr danach
zu greifen, und dennoch am nächſten Tage mit Feuereifer
weiter an feinem Werke jchaffte? Das find Stunmungen
und Seelenzuftände, die jeder Künftler, auch der größte
und bedeutendſte, purchzumachen verurtheilt iſt. Es liegt
im Wejen der Kunft, in deren Banne er lebt und athmet,
baß fie einmal ihren Süngern als höchftes Ideal vorſchwebt
und dann wieder, mit Grillparzer’s Worten, wie ein
Büttel raftlos durch das Leben peitjcht.
„Wenn dies für ven abjeitd vom Getriebe des Alltags-
lebens jchaffenden Künftler gilt, um wie viel mehr von
jenem, ber im Dienfte des täglichen Brotes arbeitet.
Sind folche verzweiflungsnolle Gemüthszuftände bei einem
Künftler nicht begreiflich, der dazu verdammt ift, das
Rathhaus fiebenundzwanzigmal nacheinander zu zeichnen?
„Und nun zur That jelbft. Noch heute liegt ein
Schleier über den reigniffen jenes Unglücksabends.
Kirchner erflärt heute wie zuvor mit berjelben ruhigen,
Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 159
unerfchütterlichen Beitimmtheit, daß nicht er, baß eine
britte Perſon zugefchlagen habe.“
Der Vertheidiger führt nun aus, die Beſchreibung,
die Kirchner von dem Vorgange gibt, Iaffe auf eine Hal-
Incination des Angeklagten jchließen: „Wäre Kirchner bei
Harem Verftande gewejen und hätte er Herrn Curio aus
bem Wege räumen wollen, fo würde eine unvernünftigere
Art der Ausführung eines Mordanfalles nicht denkbar
jein als die, einen Fräftigen Mann um 9 Uhr abends
unmittelbar unter ven Benftern feiner Villa mit einem
einfachen Bleiſtock nieverzufchlagen!
„Es war überhaupt nicht anzunehmen, daß ein Träf-
tiger Mann wie Herr Curio auf den erften Schlag tobt
jein würde. Und trat der Tod nicht fofort ein, jo war
ber Angreifer verloren. Ein einziger Hülferuf mußte,
wie es denn auch thatjächlich gefchehen ift, gehört werben
und die Folge haben, daß Menſchen herbeieilten. Der
Mörder mußte wiſſen, daß der ihm an Körperfraft über-
legene Curio fich zur Wehre fegen und daß er fofort er-
griffen und überführt werden würde. Vor den Augen
der Hausgenoſſen ging Kirchner mit Herrn Curio fort.
Tor feinen Fenſtern wollte er ihn — nach der Annahme
bed Herrn Staatsanwalts — erfchlagen!”
‚Der Vertheibiger bemüht fich, ven Beweis zu führen,
baß die That verübt fei infolge eines Anfalls von Irr-
finn auf epileptifcher Grundlage. Er wendet fich ſcharf
gegen die Gerichtsärzte, welche objectiv wol zugeben, daß
jolche vorübergehende Störungen möglich find, daß Kirch-
ner ein Neurotifer und vor Iahren geiftig geftört geweſen
jet — aber trotzdem behaupten, feine Zurechnungsfähigfeit
bei dem Anfalle vom 14. Ianuar fei nicht zu bezweifeln.
Die Aerzte haben als „Richter genrtheilt, nicht als
Sachverſtändige. „Sogar die Fabel von ber geplanten
160 Der Broceß wider Joſeph Johann Kirdner.
Gemsjagd ift von ihnen herangezogen worden, um ihre
Anficht zu begründen. Ein Geſpräch, deſſen Wortlaut
nicht zu controliren ift, das auf einen jener Scherze
hinausläuft, wie. er unter Freunden leicht vorkommen
fann, wenn man bem andern fein Fägerlatein auskramen
hört, ein Wib, der dem tropbäenlüfternen Curio eine ge-
fahr- und mühenolle Jagd verhieß, eine Nederei ganz
burchfichtiger Art — fie jollte Stimmung machen, weil
die Beweiſe nicht ausreichten. Die Strafproceßorpnung
liebt e8 nicht, daß mit «lleberrafchungen» gearbeitet wirb,
und fie bat dazu gute Gründe, denn der argloje Gerichte-
irrenarzt ift bier ſtark überrumpelt worden.
„Für jedermann, ber Kirchner und feinen Abfcheu vor
dem Blutvergießen, feine Weichherzigleit kannte, Liegt ber
Gedanke nahe, daß wir e8 zu thun haben mit einem
Act plößlicher Geiftesverwirrung. Kirchner’8 Vorleben
beweift, wie gegründet biefe Vermuthung tft. Es Liegt
offenbar ein Wall bes periodiſch wieberfehrenden joge-
nannten cirenlären Wahnfinnd vor. Unfinnig und uns
logiih in der Ausführung, grundlos und im greifen
Widerſpruche mit Kirchner’8 Art und Weſen läßt fich bie
That des 14. Januar nur erklären und verftehen als
franfhafter Ausbruch eines gejtörten Nervenſyſtems.
„Ein Moment läßt uns am Schluffe dieſer peinlichen
Unterfuchung aufathmen. Es fehlt der blutigrothe Hinter-
grund. Es iſt fein Opfer gefallen. Fürchterlich laftet ver
Borwurf der Blutichuld auf dem Angeklagten, aber ihn
verfolgen nicht die Schatten des Erfchlagenen. Nein, wie
ein Satyrſpiel nach der Tragödie ift es anzuhören, daß
faum eine Woche nach dem «Morbverfuch» Herr Curio
auf dem Touriſtenkränzchen tanzt und in einer verſchwie⸗
genen Nifche des Sophienfanles als Theilnehmer einer
partie carrde mit Masfen koſt.
Der Proceß wider Iofeph Johann Kirchner. 161
„Dach nichts ift Die kühne Hypotheſe ber Anklage von
einer langjamen Depravation des Charakters des Ange-
Hagten begründet.
„Kirchner war vielmehr von jeher ein ehrenhafter,
guter Menjch, der leider der Macht finnlicher Reize nicht
energiich genug widerſtand. Die entjegliche Prüfung, der
er nunmehr unterworfen worden tft, wirb ihn läutern,
bie Schladen von ihm nehmen. Ein fchweres, tiefes
Leid bringt ven Mann zur Erkenntniß feines beflern
Selbſt.
„Beben Sie durch Ihr Verdict den Künftler Kirchner
ſeinem Berufe, den Menſchen Kirchner dem Leben wieder.
Was er verſchuldet hat, das hat er tauſendfach gebüßt,
es gehört vor keinen menſchliſchen Richterſtuhl. Mord⸗
gedanken ſind ſeiner Seele ſtets fremd geweſen. Sprechen
Sie ihn, der das einzige Opfer des Vorfalls am 14. Ja⸗
nuar iſt, pon ber furchtbaren Anklage frei, bie eine Ver⸗
bindung von Kraukheit und Zufall auf fein armes Haupt
gezogen hat, und Sie werden ber Gerechtigkeit zum Siege
verholfen haben.“
In der Replik Hält ber Vertreter ver Staatsanwalt:
ſchaft ven Ausführungen des Vertheinigers, ben er als
einen Dilettanten auf bem Gebiete der Piychiatrie be-
zeichnet, das Urtheil der fachverftändigen Gerichtsirren-
ärzte entgegen. Er vertheipigt deren Gutachten als ein
jachliches, wohlerivogenes und in feinen Schlußfolgerungen
unmiberlegliches. Der fchranfenloje Egoismus und bie
Berachtung aller moraliichen Sittengefege, bie der An⸗
geflagte zur Schau getragen, würben durch eine Frei⸗
fprechung nicht gebeffert werden. Ein Mordverſuch Liege
vor. Daß die fchredliche That nicht gelang, fei ein Zu⸗
fall, ver dem Angeflagten infoweit zugute komme, als
er nicht wirklich zum Mörder geworben jet, Für ben
XIV. 11
162 Der Proceh wider Joſeph Johann Kirchner.
Verſuch aber müfje er zur Verantiwortung gezogen und
bejtraft werben.
Der Bertheidiger Dr. Benedikt entgegnet: „Der
Staatsanwalt hat Ihnen, meine Herren Gefchiworenen,
gejagt, ich ſei auf dem Gebiete der Piychiatrie doch nur
ein Dilettant. Es mag fein, obgleich ich mich feit fünf-
zehn Jahren eingehend mit den einfchlägigen Studien
befaffe. Aber unzweifelhaft ift, was das Geſetz vorſchreibt.
Es verlangt, daß der Richter das Urtbeil fpricht. Mögen
gelehrte Nichter oder Geſchworene berufen fein, darüber
zu enticheiven, ob ein Angellagter ver That, der man ihn
verpächtigt, ſchuldig oder nichtſchuldig ift, ihnen allein
ſteht die Entſcheidung zu und nicht ben Aerzten. Das
Gutachten der Sachverftändigen zu prüfen, anzunehmen
over zu verwerfen ift Ihre Sache. Den Geheimnifjen
des Gehirns gegenüber bleibt auch ber Arzt ewig ein
Dilettant. Was in ber verhängnißvollen Secunde in
dem Gehirn eines Menjchen vorgegangen ift, in einem
Gehirn, das unzweifelhaft zuvor ſchon erfranft war,
biefes Geheimniß erforjcht Fein irdiſcher Geift. Die Sache
verftändigen jagen nur, es fei nicht nachweisbar, daß ber
Angeklagte damals von einer Seelenftörung überfallen
worden ſei. Mehr können fie nicht behaupten. Sie be
gründen aber ihre Vermuthung in einer Weife, bie ihre
Competenz überfchreitet, und in der die Aerzte immer
Dilettanten bleiben werben.
„Es ift Ihre Sache, als Richter Ihr Amt gewiffen-
haft zu erfüllen. Wenn Sie zweifeln, wenn angefichts
ber Unfinnigfeit der That Ihnen Bedenken aufiteigen und
Sie fih an jene Irrfinnsfälle erinnern, von denen Ihnen
nie Gerichtsärzte erzählt haben, dann begründet Ihr
Zweifel allein jchon die Verpflichtung zum Freifpruch.
Laſſen Sie fich nicht verführen durch die Schlußapoftrophe
Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 163
des Vertreters der Staatsbehörde, als folle und werbe
ein Mann wie Kirchner durch die Arbeit im Zuchthaufe
gebefjert und fein böfer Wille gebrochen werden. Kirch-
ner ift fein arbeitsfcheuer Vagabund. Er ift ein Künſt⸗
ler, deſſen Ruf über bie Grenze unſers Vaterlandes ges
brungen ift, ein Künftler, ver weit größere Werke von
bleibendem Werthe gejchaffen hätte, wenn ihm nicht ledig⸗
ih die Sorge um die Erhaltung von Weib und Kind
den Zeichenftift in die Hand geprüdt hätte. Kirchner, ein
Mann, der bis in die lebte Zeit eine Sahreseinnahme von
6000 FI. bezogen hat, die er der eigenen Thätigkeit ver-
banfte, der in dem Augenblide, als er fich bereit machte,
in ben Tod zu gehen, für die Bezahlung feiner Gläubiger
bei Heller und Pfennig Sorge trug: diefer Mann foll
durch die Zwangsarbeit des Zuchthaufes gebeffert und er-
zogen werben! Wohl hat er geſündigt und fich mannich-
fach vergangen. ‘Doch hätte er Aergeres verbrochen, als
er wirklich gethban, das Fegfeuer dieſer breitägigen Ver⸗
handlung bat ihm Dualen bereitet, doppelt und breifach
gräßlich dadurch, daß nicht nur fein vergangenes leben
vor aller Augen burchgefiebt und burchgehechelt wurde,
ſondern auch dadurch, daß alles, was ihm Lieb und theuer,
verzerrt und herabgewürbigt worden if. Es war dies
ein fchweres, ein übermenfchliches Leid, Damit ift reich«
lich gebüßt, was er gefehlt haben mag. Darum rufe
ich Ihnen noch einmal zu: «Geben Sie den Künftler
der Runft, den Menfchen dem Leben wieverv Kein ent-
menfchter Böfewicht fteht vor Ihnen, fondern ein Mann,
der gejtrebt, geftrauchelt und gebüßt Hat. Laſſen Sie
ihn nicht in der Kerfernacdht verfommen. Im Zuchthaufe
beffert man folche Leute nicht. Kirchner ift ein ſchwacher,
er iſt fein fchlechter Menſch. Ueben Sie Gerechtigkeit,
iprechen Site ihn freil”
11*
164 Der Proceß wider Joſeph Iohann Kirchner.
(Eirchner bricht in Thränen aus. Starte Bewegung
im Auditorium.)
Der Bräfident Hält num fein Refume und übergibt
den Geichworenen die Acten. Diefelben ziehen fich in
ihr Berathungszimmer zurück. Ihre Berathung währt
nur dreiviertel Stunde. Sie lehren In den Saal zurüd,
md der Obmann verkündet das Verdict. Es Tantet:
Hauptfrage (verfuchter Mord) einſtuumig: Sa.
Erſte Zuſatzfrage (Tücke) einftinmig: Ia.
Zweite Zuſatzfrage (Sinnesverwirrung) zehn Stim⸗
men: Nein; zwei Stimmen: Ja.
Zur Strafbemeſſung nimmt der Staatsanwalt
das Wort und beantragt auf Grund bed Wahripruchs
ber Geichivorenen die Anwendung bes gejeßlichen Straf-
ausmaßes von 10—20 Jahren fchweren Kerkers. Als
mildernd erfennt er nur das unbefcholtene Vorleben Kirch⸗
ner's an, als erichwerend dagegen hebt er hervor die bes
beutende Intelligenz des Angellagten. „Seine Erziehung
und fein Umgang“, jagt wörtlich der Vertreter der Staats⸗
anmwaltichaft, „Hätten ihn einer folchen That unfähig
machen follen, denn er Hatte ja zumeift mit Berfonen
ber befjern, aljo auch der moralifhern Stände verkehrt.
Sehr erjchwerend ift ferner, daß der Angeflagte bie
Hand gegen ven Gaſtfreund in deſſen eigenem Haufe er-
hoben hat.“
Der Vertheidiger fpricht fein tiefes Befremden
über den plößlichen Sinneswechjel des Staatsanwalts
aus. Im feinem Schuldplaidoher hat berjelde den Ge-
Ihworenen „bie tröftliche Verficherung”‘ gegeben, ver Ge-
richt&hof werde das Strafausmaß unterhalb des geſetz⸗
lihen Strafjages bemeifen, während ber Staatsanwalt,
nachdem die Verurtheilung wirklich erfolgt fei, nur noch
erfchwerende Umjtände anerfenne. Die Intelligenz ift
Der Proceß wider Iofeph Johann Kirchner. 165
burchaus fein Erfchwerungsgrund, denn gebildete Men⸗
ſchen werben burch bie Verbüßung ber TFreibeitsitrafen
weit härter betroffen als ungebilpete Verbrecher. Zu be-
achten ift bei der Strafbemeflung, daß bie Handlung des
Angellagten ganz ohne fchäbliche Folgen verlaufen, daß
Herr Curio ſchon nad wenig Tagen fogar wieber tanuz⸗
fähig geweſen ift.
Der Gerichtshof Spricht Joſeph Sohann Kirch⸗
ner des Verbrechens des verfuchten Meuchelmorves
ſchuldig und verurtheilt ihn unter Anwendung des
außerorbentlichen Strafmilderungsrechts zu ſechs Jah⸗
ren ſchweren Kerkers. Es wurde kein Erſchwerungs⸗
grund angenommen, als mildernd dagegen in Betracht
gezogen die Unbeſcholtenheit Kirchner's und ſeine excen⸗
triſche Anlage, welche durch die ärztlichen Gutachten be-
ftätigt wird.
Der Vertheidiger meldet die Nichtigkeitsbeſchwerde
an. Kine Berufung gegen das Strafmaß iſt nicht zu⸗
läſſig, weil der Gerichtshof felbjtändig unter die Straf.
grenze des Geſetzes herabgegangen ift.
Die Verhandlung über die Nichtigleitsbejchwerbe, bei
welcher wieder Dr. Benedift ven Angellagten vertrat,
endete mit ber Abweifung ber Beſchwerde. ‘Das oberfte
Gericht als Gaffationshof erklärte: durch die Ber-
fügungen bes Gerichtähofes erfter Inſtanz jet feine
Beitimmung der Strafproceforbnung verlegt und ben
Geichworenen in der Nechtöbelehrung des Präfidenten
ausdrücklich mitgetheilt worden, es ftehe ihnen die Ent-
ſcheidung über die Schuld oder die Nichtſchuld des An⸗
geflagten zu und fie feien an das Gutachten ber Gerichts-
ärzte nicht gebunden. Ste hätten demnach ihr Urtheil in
freier Würbigung der Beweiſe gefällt.
166 Ber Proceß wider Iofeph Johann Kirchner.
Der Berurtheilte trat feine Strafe an. Er wurbe
in die Strafanftalt Stein an der Donau überführt.
Doc feine Buße follte dort nicht von langer Dauer jein.
Am 13. April 1889 ift er geftorben.
Bald darauf meldete fich bei dem Oberftaatsanwalt
eine Dame. Verſchleiert und im tiefe Trauer gefleivet
erichien Klara Eurio und brachte die Bitte vor, es möge
ihr geftattet werben, am Grabe Kirchner’8 eine ftille
Andacht verrichten und ihm eimen Denkftein fegen zu
bürfen. Ein menfchlicher, ein faft verſöhnender Zug.
Für feine Hinterbliebenen haben feine Freunde gejorgt.
Nicht nur in pſychologiſcher Hinficht ift dieſer Proceß
merfwürbig, er iſt Iehrreich auch im Hinblid auf die Ge-
fahren der Yubicatur durch Gefchworene. Es ift ein
Tall, der in einem jeden Lande, je nach der Nationalität
ber zur Urtheilsichöpfung berufenen „Volksrichter“, einer
grundverjchtedenen Auffaffung begegnen würde. Vor
Sranzojen wäre Madame Curio Eofett verfchleiert erfchie-
nen, in pathetiichen Worten hätte ber Vertheibiger von
ber Macht der alles befiegenden Leidenſchaft ber Liebe
gerebet und der wildernde Duft bes Ehebruchs, ver
romanhafte Anftrich ver Verhältniffe hätten vermuthlich
zur Freiſprechung des Angeklagten geführt. In Italien,
wo die Anfchauung, daß jeder Verbrecher feine That in
geftörtem Geifteszuftanve vollbringe, übermächtig ift, wäre
ohne Zweifel der Irrfinn des Angeklagten angenommen
und ihm bie Unzurechnungsfähigfeit für feine Handlungs-
weile zugeftanden worden. In England, zufolge der gro⸗
Ben Scheu, die man bort vor ber piychologiichen Zer-
Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 167
glieverung der Motive hegt, hätte fich der gefunbe praftifch-
nüchterne Sinn des Volles an die Thatfache gehalten,
daß eine unbebeutende Törperliche Verlegung vorlag und
nicht mehr. Wahrfcheinlich wäre der Fall gar nicht vor
das Schwurgericht gelangt, ver Polizeirichter hätte fich
für competent erflärt, aber auch die Gefchworenen wür⸗
ben nimmermehr einen verfuchten Mord, fchwerlich auch
nur einen verfuchten Zobtjchlag angenommen haben. ‘Der
Angeflagte wäre wegen leichter Lörperlicher Beſchädigung
zu einer mäßigen Geldbuße verurtheilt und vielleicht wäre
ihm vom Gericht befohlen worben, „ſechs Donate Hins
durch ben Frieden ber Königin nicht zu ftören”. Nur
Geſchworene veutjchen Stammes konnten eine Verurthei⸗
lung ausfprechen, wie dies in Wien gefchehen ift. ‘Der
etwas philiftrös angebauchten bürgerlichen Moral war
ein Menſch von dem Schlage Kirchner’8 von vornherein
unſympathiſch. Ein Mann, der von feiner Geliebten
Geld annimmt umd ſich bis zu einem gewiljen Grabe
von ihr erhalten läßt, ift nach biefer Anfchauung jo tief
gejunfen und jo verächtlich, daß ihm jede Schanbthat zu-
zutrauen if. Möge er durch das Zuchthaus gebeijert
und geläutert werben!
Wir geftehen offen, daß wir bie Anficht der Ge⸗
ſchworenen nicht theilen. Für uns ift Kirchner weit
mehr ein Unglüdlicher als ein Verbrecher.
. Der Staatsanwalt fowol als ver Vertheidiger haben
in ver Abficht, auf die Geſchworenen zu wirken, jeder in
feiner Art weit über das Ziel hinausgefchoffen. ‘Der
Staatsanwalt hat ein müßiges Gefpräch, eine launige
Neckerei, wie e8 die Einlapung zur Gemsjagd war, auf-
gebaufcht, um ven Angeklagten als einen hinterliftigen
Gefellen varzuftellen, ver fich ſchon lange vor dem Atten-
tate mit Mordplänen trug, er bat Einzelheiten, wie dem
168 Der Proceß wider Joſeph Johanu Lirdner.
befteliten Telegramm, dem Gefpräche über Revolver und
Cylinderhut, eine Auslegung gegeben, bie uns gezwungen
zu ſein ſcheint. Es war ihm darum zu thum, bie Farben
möglichht did aufzutragen. ‘Der Vertheidiger dagegen hat
alles auf eine Karte geſetzt. Indem er fich auf ben
Standpunkt ftellte, der Angellagte habe im einem Aufalle
non Geiftesftörung gehandelt, verzichtete er auf jede an⸗
bere Auslegung der Gefchichte des Attentates. Die Ge
ſchworenen mußten entweder mit ihm ben Angellagten
für wahnfinnig erklären over bie Beweisführung bes
öffentlichen Anklägers gelten laſſen. Seiner mit Bereb-
jamkeit und Scharffiun verfochtenen Auffaffung ſtand in-
deſſen das fehr beftimmte Gutachten der ſachverſtändigen
Gerichtsärzte entgegen. Mögen biefe in ihrer Motivirung
auch über die Grenzen hinausgegangen fein, welche ihnen
durch die Regeln ihrer Wiffenfchaft gezogen waren, in
biefen Punkte waren fie zuſtäudig und ihr Urtheil maß⸗
geben.
Wir können in Kirchner weder mit dem Staatsan⸗
walt den grundverberbten, cyniſchen Mörder erbfiden,
noch mit bem Bertheidiger einen unzwrechnungsfähigen
Geiftesfranfen. Wir erflären uns feine That rein menſch⸗
Gh, auf Grund der Vorgeſchichte und ber Natur des
Angeflagten.
Kirchner wer in hervorragendem Sinne, was die
Sranzojen einen „homme à femmes“ nennen. In der
beutjchen Sprache fehlt der bezeichnende Ausdruck hierfür.
Sein ganzes Leben warb durch bie Beziehungen zum
Weibe beftimmt, jein Einfluß auf alle rauen, mit benen
er zuſammentraf, ſchien magiſch zu wirken.
Er bat feine Gattin fo ſchwer gefränkt, als man eine
Frau im ihren heiligſten Gefühlen verleten kann. Er
bat fie um einer anbern willen verlaffen, er bat ihre
Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 169
Liebe verſchmäht und ihr Jahre hindurch bewieſen, daß
er für fie zur aus Pflicht und nicht aus Neigung ſorgte.
Dennoch bat fie in wahrhaft rührender Einfalt ner Ge
richt erklärt, fie wolle nur ausſagen, wenn ihre Ausjagen
ihm nüglich fein könnten! | |
Mariamme Röſſel war ein fchönes, vielumworbenes,
geiſtvolles und hochgebildetes Weib. Ste ſchloß ſich ihm
zeit Leidenſchaft an, vergab ihm nicht nur mehrfache flüch⸗
tige Untrene, ſondern willigte in die Trennung, als er
zu ihrer Rivalin Klara Eurio zug, wenn er ihr nur —
zwei Abende ber Woche widmen wolle! Vor Gericht
hatte fie blos Worte der Liebe für ibn, felbft als ihre
vorgehalten wurde, Kirchner babe fie ber Untreue be
zichtigt.
Marie Eziezek ift ein ſchlichtes, im kleinbürgerlichen
Lebenskreiſe aufgewachienes Mädchen. Die Beziehungen
LKirchner's zu ihr Fönnen, nach allem, was bie Schluß-
verhandlung zu Tage geförbert Hat, nun flüchtige, vor⸗
übergehende geweien fein. Dennoch zögert fie nicht, ba
fie ihn in Geloverlegenheit weiß, ihr Heines Erbtheil au⸗
zubieten. Sie bejtimmt ihre gefchäftsunfundige Mutter
dazu, das Häuschen, ihre ganze Habe, zu verſchulden,
um ihm einen Dienft zu erweiſen. Sie hat doch, wenn
fie e8 früher nicht gewußt, inzwiichen erfahren, wie bie
Sachen ftehen, mit welchen Frauen Kirchner gelebt bat,
bennoch gilt im Gerichtsjaale ihr Gruß nur ihm, fie hat
fein Wort des Bedauerns fir den pecuniären Verluſt,
ben fie erleidet, fie befteht darauf, daß ihn auch nicht ver
geriugſte Vorwurf treffe.
Und Klara Eurie ... Der Vertheidiger hat fie
ben Dämon genaunt, der Kirchner's Leben zerſtörte.
Und dieſer Vorwurf, jo hart er Klingt, ift gerechtfertigt.
Sie ijt im Gerichtsfanle nicht erſchienen, fie hat es nicht
170 Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner.
gewagt, Zeugniß abzulegen, fie floh vor dem Schredniß
ber öffentlichen Verhandlung. Aber als die Leiche Kirch-
ner’3 in kühler Erbe gebettet war, ba hat fie fich ver-
ſtohlen berangefchlichen und hat an feinem Grabe geweint
und gebetet.
Kirchner war eine phantafievolle, ercentrifche Perſön⸗
lichkeit. Sein Beruf und fein Temperament reizten ihn
zu Ausjchweifungen, die auf den nicht kräftigen, nicht
musfuldfen Körper zerjtörend einwirken mußten. Ueber⸗
dies ftand er nicht mehr in ber erjten Iugenbfraft, er
war über 40 Jahre alt, al8 er zu Frau Curio im
intime Beziehungen trat. Dieſes begehrende, heißblütige
Weib nahm Beſitz von ihm. Seele und Leib waren
thr verfchrieben. Wer mag es ergründen, welche er-
greifenden Scenen in ber verjchiwiegenen Kammer ſich
ziwifchen ihnen abfpielten. Mit welchen Worten mag
fie ihm ihr Unglüc geklagt haben, an einen verhaßten
Mann gebunden zu fein, während er, ber Geliebte
ihres Herzens, nur heimlich, wie ein Dieb, fich zu
ihr fchleichen dürfel Und wenn fie, die Zeugenans-
jagen verfichern e8 übereinftimmenn, nach dem Atten-
tate wiederholt geklagt hat: „Warum hat er nicht
befjer zugeichlagen! warum bat er ihn nicht getödtet!“
jollte man da nicht annehmen dürfen, baß fie ihren
Liebhaber, wer vermag es zu fagen wie oft, im über-
wallenden Liebesraufch zugerufen Hat: „Befreie mic)
bob von dem Menfchen! Gibt e8 denn gar Fein
Mittel, diefen Dann zu befeitigen!” — Wir wollen
damit nicht behaupten, daß Frau Curio mit folchen
Redensarten Kirchner bewußt zum Morde ihres Gat-
ten aufgefordert habe, allein derartige Aeußerungen, im
Affeet getban und im Augenblide von feiner Seite
ernſt genommen, fie klingen oft nach und das rafche
Der Proceß wider Iofeph Johann Kirchner. 171
Wort wird umgefegt in die unbedachte That. Und
bies, jo glauben wir, ift von feiten Kirchner's ge-
ſchehen. Es war ihm Iäftig und unerträglich, Herrn
Eurio auf feinen nächtlichen Gängen zu begleiten, er
war müde, phyſiſch abgeipannt und heruntergefommen.
Die Nachtruhe mußte er dem Manne opfern, dem er
nur zu Willen ftand, weil er in ven Banden ber Frau
Ihmachtete, feine Tage gehörten ihrem Dienfte. Die
finnlihe Natur Kirchner's, feine überreizten Nerven
trieben ihn zu immer neuen Exceffen. Zwei Abende
ber Woche gehörten der Marianne — wie viele Stun-
ben des Tages verbrachte er mit Klara Curio? Daß
ihre biesbezügliche Angabe vor dem Unterfuchungsrichter
unwahr ift, daran zweifelt wohl niemand, boch wird
jedermann begreifen, daß fie aus weiblichem Scham-
gefühl die Wahrheit nicht angeben Tonnte. Kirchner
hatte gehofft, durch ein Telegramm, das er fich be-
ftellte, an dem fritifchen Abende fich freizumachen. Es
mislang. Widerwillig, aufgeregt, erbittert folgte er
Curio in den Garten. Da überflam es ihn. In
feinen Ohren Fang der Seufzer der Geliebten: „Be⸗
freie mich von dem Menfchen!“ und in blinder Wuth,
ohne die Tragweite feiner Handlung zu überlegen, ohne
zu bedenken, daß ein fo, finnlofer, mit fo unzureichenten
Mitteln unternommener Angriff fcheitern müffe, bieb
er auf den Ahnungsloſen ein. Unbegreiflih, daß biejer
fih nit zur Wehre ſetzte und den weit jchwächern
Gegner niederfchlug! Nach dem Attentat hatte Kirchner
ben Kopf verloren. Sein ganzes Gebaren zeigt, daß
er fich anfänglich nicht Har darüber werben konnte, was
er eigentlich gethban hatte. Als er zur Ruhe kam, als
er in der Wohnung Mariannens in Schlummer ver-
junfen war, verhafteten ihn die Organe der öffentlichen
172 Der Broceß wider Joßſeph Johann Kirduer.
Sicherheit. Das Schlecht erjonnene Märchen, welches
es in ber erſten Beitürzung vorbrachte und zu feinem
Schaden fefthielt, Hat ihm ver den Geſchworenen großes
Nachtheil gebracht.
Kirchner war unferer Anficht zufolge für feine That,
wenn er fie auch im Affect beging, verantwortlich. Die
Strafe aber, die ihm dafür auferlegt wurde, ſtand außer
Verhältniß zu feinem Verſchulden. Leiber vermag unfer
Strafrecht nicht genügend zu inbivibualifiven. ‘Der Leiter
bes Zuchthaufes, in dem Kirchner fo bald enden folite,
Gefangenhausdirector Müller, bat den Schreiber biefer
Zeilen durch vie Räume feiner Auftalt geführt und ihm
wertboolle Auffchlüffe über die Natur ver Verbrecher,
bie dort büßen, ertheilt. Er machte unter anderm auf-
merffam auf einige verurtheilte Zigeuner. „Sehen Sie
biefe armen Menfchen”, fagte er, „fie find von ihren
Richtern zu Freiheitsſtrafen verurtheilt, aber in Wahr-
beit zum Tode verbammt. Kein Zigeuner erträgt bie
Zuchthausluft länger als einige Monate. Sie fterben
am Mangel ver Freiheit. Wenn vie Gejeßgebung die als
unmenfchlich verpänte Prügeljtrafe für folche Leute geftat-
tete, jo wäre bies für fie einer Begnabigung gleichzuachten.“
— Die feinfühlige, zarte Natur des Künftlers war ebenfo
wenig im Stande, die Kerkerluft lange zu ertragen. Er
verhungerte bei ber reichlichen, aber allzu derben Koſt.
Ein Zigeuner der Kunſt, tft er an ber entzogenen Frei⸗
beit geftorben.
Der Proceß Benthien.
(Mord. — Hamburg.)
1889, 1890.
Es war am 8. April 1889, einem Montage, als mit
Windesſchnelle das Gerücht einer entjeglichen Blutthat
Hamburg durchflog. Ein Verbredden, um jo gramjiger,
ba das Dpfer, ein zehnjähriger Knabe, Emil Steinfatt,
Sohn eines auf dem Bauerberg zu Horn wohnenven
Zinnwaarenhändlers, von dem Mörder in geradezu beſtia⸗
licher Weiſe abgefchlachtet und verjtümmelt worden war.
Boll kindlichen Frohſinns Hatte der Knabe am Nach»
mittage des 7. April zwifchen 3 und 4 Uhr das Xeltern-
haus verlaffen, um bei einem Gajtwirthe der Hammer⸗
landſtraße eine Beitellung zu machen, und bereitd um
54, Uhr fanden die auf einem Spaziergange durch die
Horner Feldmark begriffenen Gehülfen des Rauhen Haufes,
Hilsmann, Palm und Hoffmann, ven noch warmen Leich-
nam. Die bi8 auf den linken Unterarm, welcher noch
einen Teen des Hembärmels trug, völlig entkleivete Leiche
lag in einem feichten Graben, welcher fih unmittelbar
neben einer einen mit Weidengebüſch und Heidekraut
bewachlenen Anhöhe befindet, zu der von Wandsbeck ber
ein Feldweg führt.
174 Der Proceß Benthien.
Bon Graufen gepadt ftarrten bie breit jungen Leute
das fi ihnen fo unvermuthet darbietende Bild eines
vollbrachten Mordes an. Endlich ermannten fie fidh,
eilten in die ungefähr 1300 Schritt entfernte Rennbahn-
jtraße und erftatteten dem bort patrouillirenden Eonftabler
Anders Anzeige von ihrem Funde. Hierauf Tehrten fie
zurüd in das Rauhe Haus. ‘Der Eonftabler fuchte ven
Thatort auf, ihm fchloffen fich vier Knaben an: Heit⸗
mann, Behn, Rau und Biemann. Sie waren in ber
Richtung vom Kugelfange des Schießplates des in Wands⸗
bed garnifonirenden Hannoveriſchen Hufaren- Regiments
Nr. 15 bergelommen und einem Manne begegnet, welcher
in befchleunigter Gangart dem Kugelfange zuftrebte. Dies
mußte der Weg fein, den der Mörder nach vollendeter
That eingefchlagen batte, denn vom Schauplake bed Ver⸗
brechens führten Fußſpuren — fie beuteten einen zier-
lichen Stiefel mit bejonvers fpiten Abſätzen an — ges
raden Wegs nach dem Kugelfange. Die Verfolger nahmen
die Fährte auf. Sie fahen denn auch bald in einer auf
etwa 800 Meter geſchätzten Entfernung einen fie augen-
ſcheinlich gejpannt beobachtenden Menschen ſtehen, ver bei
ihrer Annäherung ſchnellſten Laufes nach Jenfeld zu ent-
floh, jpäter in den Barsbütteler Weg einbog und in ber
hereinbrechenvden Dunkelheit verſchwand. Der Weg, ben
ber muthmaßliche Mörder nahm, war jumpfig, ſodaß vie
Berfolger jede Spur verloren.
Conftabler Anders veranlafte die Benachrichtigung
des Polizeibezirfsburenus Borgfelde, und noch denfelben
Abend wurde die Leiche von dem Diftrietsarzte im Beiſein
bes Bolizeicommiffarius Sengebuſch unterjucht. Die Kllei-
bungsftüde des Ermordeten lagen unter feinem Körper,
Beinkleiv und Unterhofe jtafen ineinander. ‘Der Ober:
theil des erftern zeigte reichlihe Blutſpuren, während
Der Proceß Bentbien. 175
Sade und Hemd in Bruft- und Halsgegend blutburch-
tränkt waren. Als erwielen war anzunehmen, daß ber
Tod des Knaben auf gewaltjame Weije durch fremde
Hand herbeigeführt worden und daß es fich um einen in
tbierifcher Roheit verübten Mord handelte.
Der Verdacht der Tchäterfchaft lenkte fich auf einen
Menichen, den mehrere Berfonen kurze Zeit vor Auf-
findung ver Leiche in Gefellichaft des Knaben Steinfatt
auf dem Wege nach dem Horner Moor gejeben hatten,
Der Knabe war nachmittags zwijchen 31), und 4 Uhr
von feiner Mutter in die Hammerlandftraße Nr. 180
belegene David'ſche Gaftwirthichaft gejchidt worden, um
dort Bier zu beitellen. Als Begleiter nahm ver Knabe
ben jechsjährigen Georg Borries mit. Nach der Ausfage
des noch fehr Heinen und daher in feinen Angaben un-
zuverläffigen Kindes ſoll fich ihnen bei ver „Hohlen Rinne‘
ein Dann zugefellt haben. Derſelbe war in ihrer ©e-
jellfchaft, als fie um 4 Uhr vor der David'ſchen Wirth-
Schaft ankamen. Die Brüder Lehrer Adolf und Kaufmann
Heinrich Claſen erwarteten um dieſe Zeit ihre Schwägerin
rejp. Frau, welche im Magdalenenſtift einen Beſuch ab-
ftattete, und ftanden vor dem Haufe des David, als der
von ihnen auf das bejtimmtejte wiebererfannte kleine
Borries mit dem Knaben Steinfatt von der horner Seite
berüberfam. Während bie beiden Knaben in das Wirth-
Ihaftslocal traten,” machte fich der in ihrer Begleitung
befindliche und fie jet erwartende Mann an ben Lehrer
Claſen heran und ſagte Plattveutich: „De Jungens könnt
gern mit mie gahn un en Padet dregen für föftein Penn.“
Elajen, der von dem fremden Menfchen einen unbeim-
lihen Einprud empfing und dem es auffiel, daß der Un-
befannte gar kein Padet bei fich Hatte, lenkte die Auf-
merfjamfeit feines Bruders auf den fonderbaren Menſchen
176 Der Proceß Benthien.
und äußerte ſein Bedenken, daß die Kinder fich in ſolcher
Geſellſchaft befänden. Unterdeſſen kamen die Knaben aus
der David'ſchen Wirthſchaft Heraus und entfernten ſich
mit dem DManne nach ber Horner Landſtraße zu. Der
Heine Borries trennte fich fpäter von dem Fremden und
Emil Steinfatt; diefe beiden wurden von der Witwe Koch
und dem Gaftwirth Triepel nachmittags zwiichen 4 und
41, Uhr am Ende des Horner Weges gefehen. Etwa an
derſelben Stelle begegneten dem Mörver und feinem Opfer
bie Knaben Hillmer und Eftein, welche ihren Schnlgenoffen
Emil Steinfatt beftimmt erkannten. Die Knaben Wil-
beim und Emil Schmidt, Behn, Bierfe, Vorwerk und
beffen Vater fahen Emil Steinfatt um 41, Uhr auf dem
bei der Rennbahn die Verlängerung des Horner Weges
bildenden Steindamm mit einem Manne um bie Wette
laufen umd zwar nach der Richtung des Leichenfundortes.
Einer der Knaben rief Steinfatt nach: „Wo wullt du
denn hen?” worauf ber Fremde antwortete: „Wat geiht
ju dat an?“ Bon da bis zur Stätte des Verbrechens
beträgt die Entfernung fünf Minuten. Es durfte alſo
als feititehenp angenommen werben, baß die That von
bem bis zulegt in Begleitung des ermordeten Kindes
gefehbenen Manne zwifchen 41, und 51, Uhr verübt
worden war, denn um 51, Uhr hatten bie bereits
genannten Gehülfen des Rauhen Hauſes die Leiche ges
funden.
Faſt alle Zeugen ftimmten in überrafchender Weite in
der Beichreibung des Mörders überein. Er war etwa
22—25 Jahre alt, von mittlerer Statur, feine Haltung
nicht ganz gerade, ſondern vornübergebeugt, fein Gang
ſchlotterig. ALS beſondere Kennzeichen wurden angegeben
fahle Gefichtsfarbe, dünne Lippen, langgebogene Nafe,
Heiner brauner Schnurrbart, höher jtehenpe rechte Schulter.
Der Proceß Benthien. 177
Der Mann trug einen bunfelblauen Rod, Iadet oder
Veberzieher, fchwarz und weiß geftreifte Beinkleider, einen
ſchwarzen fteifen Filzhut mit rundem Dedel und Stiefe⸗
fetten mit hoben Haden.
Die von der Staatsanwaltichaft in geigneter Form
befannt gemachte Perfonalbeichreibung, verbunden mit
einer ausgefegten Belohnung von 1000 Mark hatte
ben Erfolg, daß am 21. April, aljo 14 Zage nach ber
That, durch den Conftabler Heinrich ein Mann auf offe-
ner Straße verhaftet wurde, deſſen Aeußeres fich mit dem
veröffentlichten Signalement deckte.
Der Verhaftete war ver am 21. Februar 1867 zu
Bliesdorf, Kreis Lauenburg, geborene Schuhmachergefelle
Johann Adolf Chriftian Benthien, genannt Ahrens, in
Hamburg und Altona fünfmal wegen Bettelns und ver-
botswidriger Rückkehr vorbeftraft.
Die über ſeine Vergangenheit gepflogenen Ermittelun⸗
gen entrollten ein Bild größter ſittlicher Verwahrloſung.
Seine durch ein Krebsleiven im Geficht völlig verunftal«
tete Mutter hatte einen gewiſſen Benthien ald Vater bes
von ihr unehelich geborenen Knaben ausgegeben, doch ließ
fich ein Verkehr vefjelben mit ihr nicht nachweijen, viel⸗
mehr berrichte im Heimatsdorfe des Verhafteten die all
gemeine Meinung, daß er gleich zwei verjtorbenen Ge⸗
ichwiftern das Dafein dem Teiblichen Vater feiner Mutter
verdanke. Diefer, der Anbauer Ahrens, ftand im denk⸗
bar fchlechteften Rufe eines arbeitsjchenen Trunfenbolbes,
Als der Knabe vier Jahre alt war, ftarb feine Meutter,
Der Anbauer Ahrens nahm nun die Erziehung des Ver⸗
waiften in die Hand, erfüllte indeß feine Pflicht in feiner
Weife. Der Junge fol diebifch, verlogen, graufam und
verſchloſſen geweſen fein, fich aber Doch jo viel religidfe
Kenntniffe erworben haben, daß er jehr wohl Böſes vom
XXIV. 12
178 Der Proceß Bentbien.
Guten unterjgeiven konnte. Er war ber richtige Dorf⸗
paria; paffirte irgendein fchledhter Streich, flugs wurbe
er als Urheber bezeichnet. Sein verlommener ſchmuziger
Zuftend Hatte zur Folge, daß ihn feine Altersgenofjen
mieven. Er war entweder allein ober er trieb fich bei
Kuhhirten umber. Als im Haufe feines Großpaters und
einige Zeit danach in dem eines gewiſſen Dorendorf
Teuer ausbrach, deutete das ganze Dorf mit Fingern
auf ihn als den Branbftifter. Auch fogenannte Kuicks
(lebende, Wieſen und Felder abgrenzend umfchließenpe
Heden) ſoll er angezündet haben. Mehrmals wurbe er
bei Diebereien auf der That ertappt und regelmäßig mit
einer tüchtigen Tracht Diebe beftraft. Auch als gefühl-
loſer Thierquäler wird Benthien geſchildert. Er fell
lebende Froͤſche aufgehbangen und zerfchnitten umb ben
Schweinen einer Frau Wörs die Ohren abzuichneiben
verfucht haben. Nach ber Eonfirmation trat ber Junge
isn Dienft, hielt aber nirgends lange aus. Als 17jähri⸗
ger Burſche kam er zu dem Schuhmacher Heß in Lübeck
in bie Lehre. Auch hier beivies er feine Unzuwerläffigfeit
und Berlogenbeit, zeigte fich ſchwer von Begriff, und fiel
durch fein fonberbares Wejen auf. Nach beenbeter Lehr⸗
zeit wenbete Sich Benthien nad Hamburg, wo er ein un-
ftetes Leben führte, häufig die Wohnung wwechielte, ben
Logiswirtben bie Miethe ſchuldig blieb, fait nie arkei-
tete, ſondern ſich einem echten Vagabundendaſein hingab.
Nähern Verkehr hat er in dieſer Periode mit niemand
gepflogen.
Das war das aus dem Vorleben geſchöpfte Material,
dem der Unterſuchungsrichter gegenüberftand, als ihm ber
Berhaftete zum erften Verhör vorgeführt wurde. Daß
man fich bei der fittlichen Berfommenbeit Benthien’s einer
That wie ber des Mordes an dem Knaben Steinfatt
Der Proceß Benthien. 179
wohl verjehen konnte, war nicht zu bezweifeln, ver Be-
ſchuldigte leugnete jedoch mit größter Entichievenheit und
einem nicht unbebeutenden Aufwande von Schlaubeit, jo»
daß der die Unterfuchung leitende Landrichter Dr. Sudeck
bor einer recht fchwierigen Aufgabe ſtand.
Den eriten Erfolg hatte er nach beinahe dreiwöchent⸗
licher Arbeit, am 6. Juni, zu verzeichnen. Bis zu die⸗
jem Zage batte Bentbien, trogdem ihm faft alle Zeugen
als den Begleiter des ermordeten Knaben recognofeirten,
entſchieden in Abrede geftellt, zur Tritiichen Zeit in ber
Gegend von Horn oder Wandsbeck geweien zu fein. Er
behauptete, am 7. April feine Wohnung bei dem Schuh⸗
macher Wulff am Billhorner Röhrendamm um 34/, Uhr
nachmittags verlaffen, fich nach dem Thurme der Nothen-
burgsorter Wafjerwerfe, von da nach dem in ummittel-
barer Nähe Tiegenden Meyer'ſchen Tanzjalon und bierauf
nad dem Zollichuppen an der Elbe begeben zu haben,
um mit feinem Logiswirthe zu fiſchen. Diefen babe er
nicht getroffen, er fei deshalb nach Haufe gegangen um
bajelbft in der 10. Abenpftunde angelommen. Als biefe
Angaben durch Zengen, beſonders bie Gebrüber Claſen,
wiberlegt wurben, änderte der Angellagte plößlich feine
Zaktif, räumte ein, daß ber von ihm verjuchte Alibibeweis
der Wahrheit nicht entipreche, und fagte nunmehr aus: er
jei allerdings am 8. April nach Horn gegangen, bort
Arbeit zu juchen. Bereits früher habe er mehrmals bei
Anftreicherarbeiten aushülfsweife mitgewirkt und deshalb
auch bei einem Maler Koh in Damm vorgefprochen,
allein nur deſſen Ehefrau zu Haufe gefunven. Nun jei
er noch bei einem zweiten Maler auf der Dammerland-
ftraße gewejen, von welchem er zwar feine Beichäftigung,
wohl aber eine Taſſe Kaffee und einen Grofchen erhalten
habe. Dann fei er nach Horn zu gewandert. Unterwegs
12*
180 Der Proceß Benthien.
babe ein ihm unbelannter Mann ihn aufgeforbert, einen
Koffer vom Hotel Marienthal Hinter Wandsbeck nad
dem Hamburger Hof am alten Sungfernitieg zu trans-
portiren und fi einen Knaben als Hülfe mitzubringen.
Auf der Hammerlandftraße feien ihm zwei Knaben be-
gegnet, die in einer Wirtbfchaft eine Beſtellung ausrichten
follten. Er habe fie gefragt, ob fie ihn nach Marienthal
begleiten und für 50 Pfennige einen Koffer tragen helfen
wollten. Nachdem fie fich willig gezeigt, ſei er mit ihnen
weiter gegangen. Nach einiger Zeit habe ber größere Junge
den Heinen zurüdgefchidt. Aber auch der erjtere fei nur
eine furze Strede mitgegangen, dann habe fich derjelbe
von ihm getrennt, weil er feine Mutter um Erlaubniß
fragen müſſe. Nach etwa einjtündigem vergeblichen War-
ten auf die Wiederkehr des Knaben .fei er bei Sonnen⸗
untergang wieder zu dem Maler Koch gegangen, habe
jedoch abermals nur die Frau angetroffen, fich auf den
Weg nah Marienthal gemacht, dort etwa eine halbe Stunde
umjonft auf ben Unbelannten gewartet und fei enölich
nach kurzer Einkehr bei einer Frau Zander auf dem Bauer⸗
berg in Horn nach Haufe gewanbert.
Auf Verfügung des Unterfuchungsrichters wurde Ben-
thien durch den Bolizeifergeanten Hanjen herumgeführt,
um die betreffenden Leute, bet welchen er gewejen, und
ven Pla, an dem er fih von dem Knaben Steinfatt
getrennt haben wollte, feitzuftellen. Hierbei ergab fich,
daß Benthien allerdings zwifchen 3 und 4 Uhr bei dem
Maler Biedermann auf der Hammerlandftraße vorge-
iprochen und Kaffee nebjt Geld empfangen hatte. ‘Der
Maler Koch Tieß fich nicht ermitteln, jepoch wohnte in
dem vom Befchuldigten bezeichneten Haufe ein Maler
Hanfen, bei dem Benthien möglichenfalls . gewejen fein
kann. Frau Zander, die fich übrigens fchon vorher als
Der Proceß Bentbien. 181
Zeugin gemeldet hatte, beftätigte im wefentlichen feine
Angaben.
Benthien ftügte fich jet Auf biefe feine theilweiſe
bewiejenen Ausjagen und leugnete nach wie vor bie
Thäterjchaft.
Bald waren jedoch weitere Indicien gefunden, bie
ihn ſchwer belafteten. Er wollte die dem Unterfuchungs-
richter vorgebrachten Lügen über feinen Bejuch des Waſſer⸗
thurmes und im Meher’ichen Tanzſalon fowie feine an⸗
gebliche Unkenntniß des kritiſchen Terrains damit ent-
fchuldigen, daß er, wenn er fofort die Wahrheit gejagt
hätte, den ungerechtfertigten Verdacht ver Ermordung bed
Knaben Steinfatt nur noch mehr beftärft haben würde.
Das Hang num- ganz glaubhaft. Ein beichränfter,
überbie8 von dem auf ihm laftenden Verdacht nieverge-
prüdter und burch bie ſchwebende Unterjuchung einges
ſchüchterter Menſch Tonnte ſehr wohl auf die Idee Tom-
men, jeden Umftand, der auch nur entfernt mit der That
in Verbindung zu bringen wäre, beharrlich abzuwehren
und jelbjt zwingenden Zeugenausfagen gegemüber zu leug-
nen; das wäre, wie gejagt, möglich geweſen. Nun
wurbe dem Benthien aber durch die Unterfuchung nach⸗
gewiefen, baß er jene erjte Erzählung ſchon am Abenpe
des 7. April, als die Kunde von dem Morbe noch gar
nicht in weitere Kreife gebrungen war und fein Verbacht
auf ihm Laftete, mit mehrern Zufägen feinem Logiswirth
Wulff aufgetiicht hatte. Offenbar war ihm aljo bereits
daran gelegen, fein Zujfammenfein mit dem Snaben in
Horn zu verjchweigen. — Auch die erwähnten Zufäge find
harakteriftiich für das Vertheidigungsſyſtem Benthien’s,
benn fie betreffen ein weiteres Indicium gegen ihn. Er
erzählte Wulff, er fei vom Meyer'ſchen Tanzſalon nach
der Elbbrücke gegangen, in deren Nähe habe ein Kater
182 Der Broceß Beutbien.
gejeffen, den er aus Erbarmen batte mitnehmen wollen.
Das Thier habe ihm jedoch die Hand zerfrallt. Hierbei
wies er Wulff den rechten Hanprüden, ver mehrere breite
und furze, ganz frifche Kratzwunden zeigte. Wulff wollte
jofort bemerkt haben, daß diefe nicht von Katzenklanen,
fondern von Fingernägeln herrührten. Auch eine bei
Wulff wohnende Fran Hoffmann hatte bie friihen Ver⸗
legungen am Tage nach dem Verbrechen geſehen. Beiber
Ansjagen fuchte Benthien dadurch zu begegnen, daß er
bie Kratzwunden fchon zwei Wochen vorher erhalten und
ben Zeugen gezeigt haben wollte.
Nach dem Sectiondbefund wurde bie Blutthat mittels
eines fcharfen Inftrumentes vollführt. Der Befig eines
folhen am kritiſchen Tage wurde Benthien ebenfalls nach⸗
gewieſen. Am 6. April hatte er von Wulff. veffen Meffer
entlieben, um fich eine Glätte, ein Handwerkszeng ber
Schuhmacher, zu ſchueiden. As Wulff am Tage nach
ben Morde fein Meſſer zurückverlangte, bat der Beſchul⸗
bigte ihn bringlich, es noch behalten zu dürfen. Wulff
hatte daſſelbe mit Wachs eingejchmiert, um ed vor Roft
zu ſchützen, und nur eine Feine Stelle mittels eines Gla®-
fcherben® von dem Weberzuge befreit. Als ihm Benthien
das Meſſer am 10. April zurüdftellte, war es in voll-
fommen reinem Zuftande und ber Stahl zeigte verfchiedene
Schrammen, die nach dem unter Eid abgegebenen Gut⸗
achten eines Mefjerichmiedes daher rührten, daß das Meffer
auf einem rauhen Steine gewetzt worben war.
Zu ben reim objectiven Beweiſen tft noch die Fußſpur
zu zählen. Die von dem Mörder hinterlaffenen Fußſpuren
find am Morgen des 8. April nochmals von dem Com⸗
miffarius Sengebufch, den Beamten Hanſen und Buſch,
und auch bei der gerichtlichen Augenjcheinnahme genau
gemefien und Abdrücke ſowie Ausschnitte nach denjelben
Der Broceh Benthien. 183
angefertigt worben. Uebereinſtimmend zeigten fie einen
Heinen, etwa 23 Centimeter langen Stiefel, mit runden,
unten ſpitzem, 3 Centimeter hohem Abfate. Die Stiefel
des Benthien und namentlich veren Hacken deckten fich
vollſtändig mit den Spuren.
Diefen Ergebniffen find nach ber Anllagefchrift noch
folgende Indicien hinzuzufügen:
Als Die Nachricht von dem Morde auch Wulff zu
Ohren gelommen war und in befien Wohnung erörtert
wurbe, ſprach Benthien fich in auffälliger Weiſe darüber
aus. Unter anderm foll er bei bviefer Gelegenheit ge⸗
äußert haben: „Wer breißig folcher Mordthaten voll»
bracht bat, wirb unfichtbar; wenn fie den angeblichen
Mörder auch auf ganz freiem Felde verfolgt hätten, wäre
er doch plötzlich unfichtbar geworben!“
Einer Frau Scherner foll er bet einer zweiten Ges
legenheit mitgetheilt haben, es ſei doch nicht fo ſchlimm,
ein Find zu ermorden, Dauth (der, irren wir nicht, im
November 1888 ven Spebiteur Hälfeberg ums Leben ge»
bracht und beraubt Hatte) habe eine viel jchlimmere That
‘ begangen. Der Mörber fet übrigens nicht nach Jenfeld,
ſondern nach Hinfchenfelde zu entflohen.
Dem Sohne biefer Frau Scherner ſoll Benthien am
9. April den Wunfch zu erkennen gegeben Haben, er
möchte wohl „ad den Aufichliger” einmal fehen.
Am Nachmittage des 10. April endlich ift ver Be⸗
jchulpigte in die Krügeret von Kruckau gekommen und
hat bajelbft einen Schnaps getrunken, bie anweſende
Wirthin fragend, ob denn der Mörder fchon entdeckt jei.
AS vieſelbe dies verneinte, fol er erllärt haben, den
Thäter ganz genau zu kennen. Er Habe mit ihm zufam-
men auf Steinwärber gearbeitet, tvo der Mörder zwei
Heine Mädchen und einen polniſchen Arbeiter unſittlich
184 Der Proceß Bentbien.
attalirt Habe. Er wolle mit ber Anzeige aber noch ein
paar Tage warten.
Der Termin zur öffentlichen Hauptverbanblung vor
dem Schwurgerichte wurde auf ben 17., 18. und 19. Dec=
tober feſtgeſetzt.
Dank der getroffenen Einrichtung, nur mit Einlaß-
karten verfehenen Perfonen den Zutritt zu geftatten, waren
vor dem SYuftizgebäude auf bem Holftenplage nur wenige
Neugierige zu fehen, und auch einer Veberfüllung des Zu⸗
hörerraumes des großen Schwurgerichtsjaanles war vor⸗
gebeugt.
„Da es fih um eine Anklage wegen Mordes und ein
zu erwartendes Zobesurtheil handelt“, wir reproduciren
hier wörtlich den Bericht des Referenten ver „Hamburger
Reform‘, „bildet natürlich das fchöne und fogenannte
schwache Gefchlecht mit der ihm angeborenen Schüchtern-
„beit und Sanftmuth die Mehrzahl des Publikums.“
Den Vorſitz der Verhandlung führte Landgerichts-
birector Engel, die Anflagebehörde vertrat Oberſtaats⸗
anwalt Dr. Hirſch, pie Vertheidigung lag in den Hän-
ben be8 Dr. C. Auguft Schröder.
Der Angeklagte ift ein ſchlanker, mittelgroßer Menſch,
mit ſchmalem, bleichem Geficht, deſſen niebrige, im ſchar⸗
fen Winkel zurüdipringende Stirn fi) umter bichtem
Ihwarzen Haar verliert, während ein Kleiner hellerer
Schnurrbart zwiſchen ber ſtark gebogenen, das Antlig ge-
witjermaßen beherrfchenden Naſe und aufgeworfenen Lip⸗
pen fißt.
Der auffallend hinkende Angellagte blickt ziemlich kühl
in den Saal. Die Frage des Präſidenten, ob er ſich
ſchuldig befenne, beantwortet er mit fefter Stimme: „Rein,
mein geehrter Herr, was ich nicht gethan habe, habe ich
nicht gethan, jo wahr ein Gott im Himmel tft!“ Bei
Der Proceß Benthien. 185
feiner Vernehmung macht er über feine Kindheit die be-
reit8 früßer erwähnten Angaben. Seinen angeblichen
unebelihen Vater habe er nie gefannt, feiner Mutter
fönne er fich nur fchwach erinnern. Die ihm zur Yaft
gelegten Vergehen feiner Yugendzeit, die ihm zum Vor⸗
wurf gemachten Branditiftungen bejtreitet er energiſch.
Die Heinen ihm vorgehaltenen Unregelmäßigfeiten gibt er
unumwunden zu, boch will er niemals Thiere gequält
haben. Bis zum 14. Jahre habe er die Dorfichule be-
jucht und gelernt, daß man nichts Böſes ausüben dürfe.
Nach ferner Confirmation habe er auf verjchiedenen Stel»
len gedient, ohne dem Leben eines Landmanns bejondern
Geſchmack abgewinnen zu können. Er jet vom Pferde
geftürzt und hinke ſeitdem, veshalb fet er nach Lübeck
gewandert, habe dort das Schuhmacherhanpwerf erlernt
und ſich 1885 nach Hamburg gewendet. Schließlich fei
er. Trank und fchwachfinnig geworben, ba habe man ihn in
feinen Heimatsort geichafft. Dort habe es ihm jedoch
nicht lange behagt, er ſei wieder nach Hamburg zurüd-
gelehrt. Im März 1889 ſei er zu dem Schuhmacher
Wulff auf dem Billhorner Röhrendamm, im April zu
einem gewifjen Richter in ver Neginenftraße gezogen.
Letzteres Logis Habe er bis zu feiner Verhaftung;bewohnt.
Ueber jeinen Aufenthalt und fein Thun am 7. April
wiederholt er die vor dem Unterfuchungsrichter abgegebene
Ausfage, geiteht aber, während ver Vorunterfuchung viel
gelogen zu haben. Er fucht Die vorgebrachten Unwahr-
heiten mit feiner Furcht, daß er noch mehr in Verdacht
gerathen fünnte, zu entjchulpigen. Auf Vorhalt des Prä⸗
fiventen, daß er erft am 21. April verhaftet worben fei,
jeine eingeftandenermaßen erfundene Gejchichte aber be-
reits am Abend des 7. April dem Wulff erzählt habe,
erflärt Benthien: er habe dies „in der Dummheit‘ ge-
186 Der Broceh Beuthien.
than. Die Gefchichte von dem Kater und ben Kratzwun⸗
ben babe er dem Wulff nicht am bemfelben Tage, fonvern
ſchon 14 Tage früber erzählt. Diefer müſſe fich irren,
wenn er etwas anderes behaupte. Daß er immer ge
leugnet, in des Wirthichaft ver Frau Zander geweien zu
fein, fucht Benthien damit zu entfräften, daß er ven Ber-
bacht gegen fich nicht habe beftärlen wollen.
Die Frage des Präfiventen, warum er ven Aufenthalt
bei der Frau Zander verſchwieg, ald noch gar Fein Ver⸗
bacht gegen ihn vorlag, beantwortete er, wie bereits früher,
dahin: „das fei in der Dummheit” geichehen. Das Diefier
bes Wulff habe er fchon drei bis vier Tage vor bem
7. April geliehen, um eine Schufterglätte zu ſchneiden,
aber das dazu paffende Holz nicht gefunden. Er habe das
Meſſer gar nicht gebraucht und unbenugt in ver Hofentafche
herumgetragen. Ueber die auf ber. Klinge vorgefundenen
Schrammen vermöge er Feine Exflärung zu geben. Die
Kragwunden an feiner Hand feien zwei Wochen älter
als der Mord. Der Angellagte führt ſie wieder auf ben
Kater an der Elbbrücke zurüd, während wier weitere ganz
gleiche Kratzwunden an feinem Leibe, beren Narben bei
ber Törperlichen Viſitation am 29. April entdeckt wurden,
durch den befchädigten Hafen feines Hofenrientens ver-
urſacht worden feten. Sein auffälliges Hinfen rühre von
dem Sturze mit einem Pferde ber.
Damit ſchloß die Vernehmung des Ungeflagten und
er Gerichtshof trat in die eigentliche Beweisaufnahme
ein. Außer ven Sachverftändigen waren 88 Belaftungs-
und 19 Entlaftungszeugen geladen.
Der erfte Zeuge, Eonftabler Anders, berichtete zu⸗
nächft die bereits befannten Einzelheiten bei Auffinvung
der Leiche. Er bat mit zwei Knaben und einem Arbeiter
nebſt deffen Sohn ven flüchtigen Menfchen verfolgt, ber
Der Broceß Bentbien. 187
jehr gut zu Fuß war und nicht hinkte. Er ift demſelben
etwa 150—200 Schritte nahegelommen und bat ihn fehr
gebett, fobaß er, ver Flüchtling, ganz erfchöpft fein mußte,
Auf Befragen des Vertheidigers befunbete Anders, daß
ber von dem Entflohenen eingefchlagene Weg allerdings
ein fehr ſchmuziger und ſumpfiger geweſen jet.
Dr. Mingramm, Polizeibiftrictsarzt, ſchilderte ben
Leichenbefund. Als Zeuge am Thatorte anlangte, war
e8 bereits dunkel und er mußte bei Laternenlicht operirem
Der Leihnam war durch Mefjeritiche völlig zerfleifcht.
Die Verlegungen lieferten dem Zeugen ven klarſten Bes
weis, daß das Verbrechen aus Luft am Morden volfbracht
werden it. Eine anatomiſche Kenntniß des menfchlichen
Körpers ift nicht erforderlich, um die Gelenke fo zu treffen,
wie fie vurchichnitten waren. Die That muß mit einem
ſcharfen Inftrumente ausgeführt worden fein. Ein Taſchen⸗
meffer hält er nicht für geeignet. Auch das ihm vor-
gelegte Wulffiche Meſſer feheint dem Zeugen nicht
groß und fcharf genug zu fein, aber er will bie Mög⸗
fichfeit nicht beftreiten, daß dieſes Meſſer verwendet
werben fit.
Während der Zeuge die Verftiimmelungen des Stein-
fattichen Körpers beichrieb, warf Benthien raſche ſcheue
Blicke in ven Zuſchauerraum.
Förſter Otte, Polizeiverwalter in Bliesdorf, hat ven
Angeklagten ftets für einen verfommenen Menſchen ge-
halten, der einer böfen That wohl fähig fit.
Lehrer emeritus Döpfe hat früher die Dorfſchule zu
Bliesdorf geleitet und den Angellagten unterrichtet. Dieſer
ift Kein Schlechter Schüler geweſen, aber verlogen, gegen
Zureden abgeftumpft und verftellungsfähig. Zeuge hat
ihm oft prophezeit: „Junge, Yunge, bu nimmft ein jchlechtes
Ende und ftirbft noch mal am Galgen!”
188 Der Proceß Benthien.
Der neunzehnjährige Landmann Otte hat ſelbſt geſehen,
daß der Angeklagte lebende Fröſche zerſchnitt.
Der Hufner Körner hatte Benthien ein halbes Jahr
als Jungen im Dienft, freute ſich aber, als er ihn wieder
[08 war. Der Angellagte hat fich bei ihm einmal einen
ſchlimmen Fuß zugezogen, ſodaß er eine Zeit lang hinkte
doch bat fich das fpäter wieder gegeben.
Der Landmann Rethwiſch bat den Angeklagten ein
Jahr als Kuhhirte beichäftigt und ihn oftmals geprügelt;
er hatte vom Großvater bejjelben Auftrag, ftrenge Zucht
zu üben.
Der Holländer Greßmann ſchilderte ven Angellagten
als arbeitsichenen, lügenhaften und graufamen Menjchen,
der eine Freude daran empfand, Thiere zu quälen. Er
bat Benthien einjt ertappt, als dieſer Die Schweine in
ihrem Kober mit einer Miftgabel blutig jtach.
Schuhmacher Heß aus Lübeck, ver einftige Lehrherr
Benthien's, erzählt, wie biefer ihn freiwillig aufgefucht
und gebeten habe, ihn das Handwerk zu lehren. Zeuge
bat von dem Angeklagten den Einprud eines „dumm⸗
ſchlauen“ Menſchen gewonnen. Beim Gehen fchleppte er
das rechte Bein in hinkender Weife nah. Auf Befehl
bes Vorſitzenden mußte der Angellagte mehrmals im Saale
auf- und abgehen, was er in jehr flinfer Weife bejorgte.
Frau Sander, bei ver Benthien furze Zeit gewohnt
hatte, charakterifirt ihn als „ungeheuern“ Lügner, ben
fie aber trotzdem für dumm, ja öfters für geiftesfchwach
gehalten babe.
Frau Müdenheim, bei der Benthien ebenfalls lo⸗
girt bat, war nicht fehr erbaut von ihrem Einwohner,
ber ihr unflug vorkam und allerlei Unfinn machte,
Ebenfo Tprechen fich die Frauen Hanſen und Ilſen
aus. Letztere namentlich betonte, daß Alles, was er ge-
Der Proceß Benthien. 189
fagt, unwahr gewejen fei. Auch ihr wurbe Benthien in
Bewegung gezeigt; fie meint, daß er einen ähnlichen Gang
immer gehabt habe.
Schuhmacher Reife, der Benthien drei Monate be-
bherbergte, fagt aus: er fei ein unzuverläffiger Arbeiter
geweſen, ver meift durch „Fechten“ feinen Unterhalt beitritt.
Einer Frau Fride, aus deren Wohnung er ver-
ſchwunden war, ohne Miethe zu bezahlen, hat ber Ans
geflagte, als fie ihn auf ver Straße traf und zur Rebe
ftellte, einfach erklärt, er fenne fie nicht und heiße nicht
Denthien, ſondern führe den Namen Ahrens.
Dei der 74 Jahre alten Frau des Schuhmachers
Martens, in deſſen Gejchäft er thätig war, befchwerte fich
ber Angeklagte einmal darüber, daß er Hunger leiben
müffe. Sie erwiverte ihm: wer effen will, muß auch
arbeiten. Da pacdte er die alte Frau an der Bruft,
warf fie zu Boden, ſteckte ihr das Halstuch als Knebel
in ven Mund und würgte fie, dann lief er Davon. Der
Vorgang ift damals der Polizei angezeigt worben, hat
aber feine weitern Folgen gehabt.
Dr. Sthamer gibt einen Bericht über die Section
ber Leiche des Knaben Steinfatt. Es fanden fich folgende
Berwunbungen:
Horizontal über die Vorberfläche des Halſes eine acht
Gentimeter lange Schnittwunde, durch welche das Unter⸗
hautbindegewebe, die Fascie und ver linfe Kopfrückenmuskel
burchfchnitten war.
In der Nähe des Linfen Schultergelenfes waren bie
MWeichtheile auf der VBorberfeite von ber hintern Achfel-
Linie bis zum Schlüffelbein vollſtändig durchſchnitten, ebenfo
bie große Schlagader und bie große Blutader des Armes.
Durch dieſe Verwundung war der Arm faſt ganz vom
Körper getrennt.
190 Der Proceß Benthien.
Eine vom Schwertfortiat bis zwei Finger breit ober-
halb des Nabels vertikal verlaufende elf Centimeter lange
und brei Centimeter breite, klaffende Wunde. In ber
Mitte verfelden war das Bauchfell in drei Centimeter
Länge aufgeichligt.
Eine in der Mitte zwiichen dem Nabel ımb ber
Schambeinfuge von rechts nach links gehende Wunde, Durch
weiche ebenfalls pas Bauchfell durchſchnitten war.
Ein jehr tiefer Schnitt über dem rechten Hüftgelenk,
ber jämmtliche Weichtheile trennte und das Gelenk hinten
und vorn geöffnet hatte. Durch biefe Verlegung war der
rechte Dberichentel faft ganz losgetrennt.
Cine oberflächliche, über die rechte Hälfte des Hoben-
ſackes verlaufende Wunde.
Eine acht Centimeter lange Wunde in der rechten Kniehöhle.
Vier Centimeter unterhalb der letztern eine nach der
Innenfläche des Unterſchenkels zu verlaufende vier Cen⸗
timeter lange, zweieinhalb Centimeter breite, durch Haut⸗
und Unterhautbindegewebe gehende Wunde.
Eine oberflächliche Wunde auf der Junenſeite des
rechten Oberſchenkels.
Eine in die Fascie dringende Wunde des rechten Unter⸗
ſchenkels.
Der Schnitt über den Hals iſt im Leben, die übrigen
Wunden ſind im Tode beigebracht worden, der Tod iſt
zum größten Theil durch Verblutung, theilweiſe aber auch
durch Erſtickung eingetreten. Bei der Leichenöffnung
haben ſich überdies blutunterlaufene Stellen im Halſe
gefunden, die auf gewaltſame Eingriffe mit der Hand
hindeuten. Der Mörder muß noch nach der That mit
unbegreiffihem Behagen in ven Wunden gewühlt haben,
beshalb Tiegt nach feiner, des Sachverftändigen, Ueber⸗
zeugung ein Luſtmord vor. Aus der Mehrzahl der Wunben
Der Proceß Bentbien. 191
ift das Blut mehr gequollen wie geiprigt, ſodaß ber Thäter
bei einiger Vorſicht Blutſpuren an feiner Kleidung ver⸗
meiden konnte. Der Sachverftändige hält es nicht für
unmöglich, daß die aufgezählten Verletzungen von bem
Wulffiihen Meſſer herrühren.
Der Gefängnifarzt Dr. Dieyer batte im Iahre 1885
Gelegenheit, ven Angeklagten zu beobachten, und fam ba-
mal zu der Veberzeugung, berjelbe fei ſchwachſinnig,
nicht eigentlich unzurechnungsfähig, aber in ber intellec-
tuellen Entwidelung zurüdgeblieben, weshalb er ihn aus
der Correctionshaft in feine Heimat fchidte Das auf
feine bamaligen Beobachtungen gegründete Gutachten ift
dahin zufammenzufaffen: Benthien ift criminalrechtlich
für das verübte Berbrechen nicht verantiwortlich zu machen,
ba er einem unwiderſtehlichen Zwange aus fi heraus
gefolgt tft, deſſen Urſache im einen aus feiner organtichen
Beranlagung, nicht aus ber mangelhaften und vernach⸗
Läffigten Erziehung, entipringenpen moralischen Defect zu
ſuchen iſt. Trotzdem hat er fo viel burch die Erziehung
gewonnene Erkenntniß, bei Begehung eined Verbrechens,
wie bes vorliegenden, ſehr wohl zu willen, Daß und was
er für ein Verbrechen vollführe, aber er war feiner orga-
nüchen Veranlagung nach nicht ftark genug, feinen Trieben
zu widerſtehen.
Es wurde feitgeitellt, Daß Sonnabenb ben 6. April,
gegen 5 Uhr nachmittags, ein Mann, deſſen Beichreibung
auf Das Aeußere Benthien’s paßt, ven in ber Rennbahn⸗
Straße fptelenden Knaben Steinkamp aufgeforbert hat, ihm
den Weg nach Jenfeld zur zeigen. Die hinzufommenbe
Mutter des Knaben unterjagte vemfelben jedoch, ben Fremden
zu begleiten. Sie meint auch jet, dieſen Mann in
Benthien zu erkennen, nur babe derſelbe nicht jo fehr ge-
hinkt. Der kleine Steinfamp erkannte ven Angellagten
192 Der Proceß Benthien.
nicht wieder. Auch der zehnjährige Karl Jurs hat den
Angeklagten bereits in den Nachmittagsſtunden des 5.
und 6. April in der Gegend des Rauhen Hauſes geſehen.
Am letztern Tage hat Benthien verſucht, ihn an ſich zu
locken.
Am 7. April haben die zwölfjährige Johanna Söhrs,
die gleichalte Emma Bethmann, der elfjährige Johannes
Jurs und die beiden in demſelben Alter ſtehenden Knaben
Heinrich Bethmann und Johannes Weſtermann, als fie
an der Hohlen Rinne und am Hohlen Wege in Horn
ſpielten, einen unheimlichen Menſchen erblickt, ver fie be-
obachtete und ſich an ſie heranmachen wollte. Sie alle
bezeichneten Benthien als dieſen Mann.
Der Angeklagte beſtritt ganz entſchieden, jener Mann
geweſen zu ſein, und behauptete nach wie vor ſeine völlige
Unkenntniß der in Frage kommenden Gegend.
Der Polizeiagent Hanſen erhielt die Sache am Morgen
des 8. Aprils zugewieſen und ſchilderte eingangs ſeiner
Vernehmung die Augenſcheinnahme, nach der die That
nicht am Fundorte der Leiche, ſondern auf der von uns
bei Beſchreibung der Oertlichkeit erwähnten Anhöhe ge⸗
ſchehen iſt, von welcher man einen ziemlich freien Anblick
über die Heide hat. Blutſpuren führen von dort nach
dem kleinen Graben. Die Perſonalbeſchreibungen des
vermuthlichen Mörders haben merkwürdig übereingeſtimmt;
es iſt nach ihnen der officielle Steckbrief entworfen worden.
Als Benthien verhaftet und nach der Polizeiwache 19 ge⸗
bracht wurde, hat der herbeigeholte Gaſtwirth Triepel ven
Angeklagten ſofort rvecognofeiert. Der Zeuge Hanſen
beſchrieb die Mühe, die er ſich gegeben hat, das von dem
Angeklagten behauptete Alibi zu widerlegen, und die An-
ftrengungen Benthien’s, fich rein zu waschen. Als er ven
" Angeklagten einmal hinter der Drofchfe, mit der fie nach
Der Proceß Bentbien. 193
bem Thatorte fuhren, berlaufen ließ, äußerte Benthien,
e8 komme auf das Laufen an, und fing plötzlich an zu
binfen, während er dies vorher nie gethan hatte. Auch
bie von bem Polizeibeamten genommenen Fußabprüde
wurden im Laufe der PVernehmung dieſes Zeugen mit
den von bem Angeklagten getragenen Stiefeletten ver-
glichen. Nach der Vergleichung deckten ſich namentlich
beren Abfäte genau mit ven Hadenabprüden. Auf Wunfch
des Vertheidigers wurde conftatirt, daß allerdings die
Stiefel eines andern in diefer Affaire Verhafteten ebenfo
genau in die Fußſpuren gepaßt hatten. Nach der Anficht
bes Zeugen Hanjen ift ver Mord in der Weife vollbracht
worden, daß ber Angeklagte den Knaben von rüdwärts
umfaßt, an fich gepreßt und in dieſer Lage ihm den Hals
durchfchnitten hat, wobei das Blut nach vorn fprigte und
ben Thäter nicht bejubeln konnte, während ver Knabe
im krampfhaften Bemühen, ſich aus ber todbringenden
Umarmung zu befreien, dem Angeflagten die Kratzwunden
auf der Hand beibracdhte. Sergeant Hanfen ift ver un-
erfchütterlichen Meinung, daß die Kragwunden von ben
Fingernägeln des ermordeten Kindes herrühren, trotzdem
er dem Vertheidiger beftätigen mußte, daß bei Perjonen,
welche viel in Herbergen verkehren, fich oft Kratzwunden
an den Händen finden. Abends 81/, Uhr wurde die Ver⸗
handlung abgebrochen und am andern Morgen 10 Uhr
fortgejegt.
Benthien hinkte in gleicher Weife auf feinen Plat
und folgte der Verhandlung mit berjelben Ruhe, wie er
fie tags zuvor gezeigt, ab und zu feinem Vertheidiger
eine DBemerfung zuflüfternd, oder an einzelne Zeugen
Fragen richtend, die auf eine nicht unbedeutende Dofis
Schlauheit ſchließen Tießen.
Als erfter Zeuge wurde ber Knabe Ziemann ver-
XXIV. 13
194 Der Proceß Benthien.
nommen, der ſich am 7. April mit anderen Knaben bei
dem Kugelfange der wandsbecker Huſaren aufgehalten
hatte. Beim Nachhauſegehen hörten die Knaben durch
einen Bruder des Rauhen Hauſes von dem verübten
Verbrechen und eilten darauf der Mordſtelle zu. Unter⸗
wegs begegneten ſie einem mittelgroßen, hagern Menſchen,
der ihnen auffiel, weil er ſehr raſch lief und augenſchein⸗
lich abſichtlich das Antlitz abwendete. Derſelbe trug einen
langen, dunklen Paletot. Als er ſpäter den verdächtigen
Mann gemeinſchaftlich mit feinen Geſpielen und dem Con⸗
ſtabler Anders verfolgte, ſah er unter dem Rocke des
Fliehenden etwas Weißes, ohne jedoch unterſcheiden zu
können, ob dies das Futter oder vielleicht das Hemd war
An ſeine frühere Ausſage erinnert, daß er das helle Futter
des Rockes erkannt habe, erwiderte der Knabe, er habe
das Weiße für das Rockfutter gehalten. Den ihm in der
Vorunterſuchung gezeigten Benthien'ſchen Ueberzieher konnte
er nicht mit Beſtimmtheit recognoſciren. Nach Haltung
und Figur des Angeklagten glaubte er in demſelben eine
Aehnlichkeit mit dem Verfolgten zu finden, dieſer habe
indeß einen anderen Hut getragen.
Die Knaben Barg, Heitmann und Behn ſagten in
ähnlicher Weiſe aus, nur wollte erſterer den vom An⸗
geflagten getragenen Hut als den des Verbächtigen erkennen,
und letterer behauptete, das Rockfutter ſei hell geweſen,
während der Paletot, mit dem Benthien bet feiner Ver⸗
haftung befleivet war, mit dunklem Stoffe gefüttert ift.
Sie find dem PVerfolgten bis auf etwa hundert Schritte
nahe gefommen, haben aber nicht bemerkt, daß berfelbe
hinkte oder eine jchiefe Schulter hatte.
Steinfatt, der Vater des ermorveten Knaben, bes
fundete, daß fein Sohn etwa um 4 Uhr nachmittags zu dem
Sajtwirthe David gefandt worben fei. ‘Der Heine Borries
Der Proceß Bentbien. 195
müſſe fich auf dem Wege zu ihm gefunden haben. Bereits
einige Wochen vor der Blutthat ift fein Sohn mit einem
Vünfpfennigftücd nach Haufe gefommen, das er von feinem
Lehrer erhalten haben wollte Damals ift dem Knaben
eingejchärft worden, von fremden Leuten auf der Straße
fein Geld zu nehmen und fie nicht zu begleiten; leider
ohne Erfolg.
Der ſechs Iahre alte Borries hat fih dem Knaben
Steinfatt bei der Hohlen Rinne in Horn angefchlofen.
Später haben fie einen Mann getroffen, ver mit ihnen
ging, fie vor der David'ſchen Wirthichaft erwartete und
ihn fchlieglih auf dem Rückwege fortichidtee In dem
Angellagten erfennt er jenen Mann nicht wieder,
Der Kaufmann Heinrich Elafen fehilvert die ſchon
erzählten Vorgänge während des Wartens auf feine Frau
in der Nähe des David'ſchen Wirthichaftslocale. Das
Gejammtbild des Fremden war für ihn ein fo eigen-
artiged, unangenehmes, daß er es nicht vergeffen konnte
und fih am nächſten Morgen, als er durch ein Extras
blatt von dem Morde unterrichtet wurde, fofort ber
Polizeibehörbe zur Verfügung ftellte. Er hat Benthien
augenblidlich erfannt, als diefer ihm bei dem Unterſuchungs⸗
richter unter einer Reihe anderer Häftlinge vorgeführt
wurde. Allerdings mußte er auf Befragen bes Ber-
theibiger8 zugeben, daß ein anderer ber Thäterſchaft ver-
dächtig gewejener Mann ebenfalls große Aehnlichkeit mit
dem von ihm am 7. April beobachteten Menschen befefjen
habe, jedoch erfennt er auch heute mit unumſtößlicher
Gewißheit in Bentbien jenen Fremden.
Die Zeugin Frau Koch hat einen Mann in Gefell-
ihaft eines Knaben zur kritiſchen Zeit nach dem Horner
Moor geben fehen. Ihrer Meinung nach ift jener Mann
unbebingt Benthien.
13*
196. Der Proceß Benthien.
Der Knabe Eftein hat ven ermordeten Steinfatt kurze
Zeit vor der That mit einem Manne ſehr ſchnell über
ben Horner Steindamm wandern ſehen. ‘Der Fremde hat
eine hohe Schulter gehabt und iſt ganz anders wie Ben-
thten gefleivet geweſen, dennoch glaube er, dieſer und
jener ſeien eine Perjon.
Der neunjährige Franz hat am 4. April mit feiner
Heinen Schwefter und mehrern andern Rindern in ber
Rennbahnftraße geipielt und ift von einem hinkenden
Manne mit einer hohen Schulter aufgefordert worden,
gegen ein Entgelt von fünf Grofchen mit nah Marien.
thal zu gehen. Er und die andern Kinder haben fich
jedoch geweigert. Der fremde Menjch ift eiligft fort-
gegangen, als ihre Mutter in die Nähe fam. Er wollte
ben Angellagten wiebererfennen, biejer aber beftritt an
dem betreffenden Tage in der Rennbahnitraße geweſen zu
fein. Ueber jeinen Aufenthalt am 4. April wußte Ben-
thien feine Auskunft zu geben. Im Laufe der Vor—⸗
unterfuchung behauptete er, viefen Tag bei dem Schub-
macher Starf verlebt zu haben, ver, als folgender Zeuge
vernommen, nur bejtätigen Tonnte, daß Benthien vom
10. bis 21. April bei ihm in Arbeit geftanven, und daß er
ihn früher nicht Tennen gelernt hatte. Schuhmacher
Sunfe, über den gleichen Punkt befragt, fonnte die Ans
gaben des Angeklagten ebenfalls nicht bezeugen. ‘Der
Knabe Gierſe Hat am Nachmittage des 7. April in ver
Rennbahngegend mit mehrern Altersgenofjen gefpielt und
gleichfalls Steinfatt mit dem fremden Marne gejehen,
als beide dem Horner Moor zugingen. Er meint Benthien
jet der Fremde gewefen, trage aber jet andere Kleider.
Gierſe's Gefpielen machten viefelben Angaben.
Der zur Zeit der Blutthat am Horner Wege wohnbafte
Wirth Triepel fagte aus, er habe ven ermordeten Stein-
Der Proceß Bentbien. 197
fatt am 7. April auf dem Wege von der Filcherftraße
nach dem Rauhen Haufe getroffen. Der Knabe fei von
einem Manne begleitet gewejen, ven er auch heute zweifel-
[08 als Benthien bezeichnen könne, da er biejem bei jener
Gelegenheit feſt ins Geficht geblidt habe. ATS ver
Angeflagte ihm am Tage ber Verhaftung gegenüber-
geftellt worden, ſei .erjterer vor Beſtürzung faſt ohn⸗
mächtig geworden.
Auch der Zeuge Vorwerk und deſſen Sohn haben
das Opfer des Verbrechens und den muthmaßlichen
Mörder am felben Tage etwa fünf Deinuten vom That-
orte entfernt gefehen, und erkennen den Angeklagten wieder.
Diejer behauptet dagegen wiederholt feit und entjchieben,
mit dem gemorbeten Knaben überhaupt nicht an jener
Stelle gewefen zu fein. Es müſſe eine Verwechſelung
vorliegen.
Die in Horn am Bauerberg wohnende Frau Zander
hat von dem Verbrechen noch am felben Abend um 7 Uhr
Renntniß erhalten. Gegen 10 Ubr betrat ein Mann
völlig außer Athem ihre Wirthichaft und bat um etwas
Elfen. Da er jehr elend und berangirt ausfah, ver-
abreichte fie ihm eine Taſſe Kaffee und Talte Kartoffeln,
bie er mit großer Gier verzehrt. Er machte ihr dabei
die Mittheilung, daß er lange typhuskrank gelegen und
erſt aus dem Kranfenhaufe entlaffen fe. Der Mann
erzählte ferner, er ſei Schuhmacher und wohne in ber
Nähe des Wafferthurmes. Die Zeugin, welche Erbarmen
mit dem angeblichen Reconvaleſcenten hatte, fchenkte ihm
noch ein Stüd Sped und gab ihm den Rath, fich nicht
in der Horner Gegend berumzutreiben; es fei eben ein
Knabe über den Hals gefchnitten worden, da fünne er
leicht al8 der That werbächtig arretirt werben, der Fremde
wurde womöglich noch bläffer, eriwiberte aber nicht® und
198 Der Proceß Benthien.
entfernte fih. Als fie jpäter im ‚General-Anzeiger‘ las,
daß ein Schuhmacher als des Mordes verbächtig inbaftirt
worben fei, fiel ihr jener Gaft wieder ein. Sie meldete
fich bei ver Polizeibehörde und erfennt den ihr vorgeführten
Benthien jofort und beftimmt wieder. Er hat an jenem
Abende über einem Jacket einen Ueberzieher getragen und
ſtark gehumpelt.
Der Angeklagte hatte bis zum 6. Juni lebhaft beftritten,
jemals bei der Zeugin gewejen zu fein, und bei Gott dem
Allmächtigen gejchiworen, er babe Frau Zander nie gejehen.
Befragt, warum er biefen Beſuch jo hartnädig ge-
leugnet, gab Benthien zur Antwort, das müfje er rein
vergeffen haben.
Holzhändler Warnke ift am 21. April auf bem
Nachhaufewege dem Angeklagten begegnet. Da das Sig-
nalement des vermuthlichen Thäters auf denfelben genau
paßte, hat er ihn angerebet und gefragt, ob er ſchon
von dem Morde in Horm gehört hätte. Benthien
erblaßte und fing an zu zittern. Diefe Wahrnehmungen
beftimmten den Zeugen, die Verhaftung des Verdächtigen
zu veranlaffen.
Der mit der Unterfuchung betraut gewejene Landrichter
Dr. Suded jchilderte das Lügengewebe, in das fich der
Angellagte verjtridt hatte. Faſt bis zum Schluffe ver
Unterfuchung ift er bei feinen unwahren Behauptungen
bezüglih des Verweilens am kritischen Tage geblieben.
Er bat Benthien mit Angeftellten der Rothenburgsorter
Wafjerwerfe und Leuten aus Meyer's Tanzſalon confrons
tirt, ohne daß auch nur einer von ihnen fich des An-
geflagten zu erinnern vermochte, troßbem dieſer einen
Aufjeber des Thurmes mit voller Beſtimmtheit als den⸗
jenigen bezeichnete, mit dem er fpeciell gefprochen babe.
Weber die Gegenüberftellung mit den Zeugen Claſen nod
Der Proceß Benthien. 199,
jene mit der Frau Zander und dem Zeugen Zriepel
haben einen beſondern Einprud auf den Angeklagten
gemadt. Er leugnete ſtets ſtarr. Erſt am 6. Juni
räumte er ein, mit dem Knaben Steinfatt in Berührung
gekommen zu ſein, fügte aber ſofort hinzu: „Den Mord
habe ich nicht begangen!“ Dann hat er die Erzählung
von dem Unbekannten vorgebracht, der ihn mit dem
Koffertransport beauftragt haben ſoll. Benthien hat auf
ihn den Eindruck eines nicht völlig normalen, eigenthüm⸗
lich veranlagten Menſchen gemacht, deſſen mangelhafte
Erziehung die geiſtigen Fähigkeiten möglichenfalls nicht
voll ausgebildet habe; allein unzurechnungsfähig iſt er
ihm nicht erfchienen.
Der Schuhmacher Wulff, bei dem ber Angeflagte
etwa vier Wochen Iogirt hatte, theilte mit, daß biefer im
Logis ſtets ein ruhiger, ordentlicher Menſch geweſen fei,
ber allerdings wenig gearbeitet habe, weil ihm eine gründ-
liche Kenntniß des Handwerkes mangelte. Gelogen habe
er jehr viel und oft, ſodaß der Zeuge ihn jchlieplich für
ein verfommenes Subject hielt, das geiftig nicht fo ſei
wie andere Menſchen. Wulff bezeugte damı bie früher
erwähnten Thatſachen bezüglich des geliehenen Mefjers
und der Kratzwunden.
Als er von dem Morde erfuhr, hegte er Verdacht
gegen feinen Einwohner, unterfuchte feine Kleider, entdeckte
aber Feine Blutjpuren, und da Benthien überdies ſtets
rubig und kalt blieb, beruhigte er fich wieder. Der Ans
gellagte habe ſtets ben Fuß etwas nachgejchleppt, feine
jetzige Gangart fei indeſſen eitel Verftellung.
Benthien antwortete auf die Frage des Präfibenten,
wann er zuerit von ber Blutthat gehört, am Montag
Abend durch Frau Hoffmann; als ihm vorgehalten wurbe,
ſchon am Sonntag Abend durch Frau Zander von dem
200 Der Proceß Benthten.
Verbrechen unterrichtet worden zu fein, entichulbigte er
fih mit Gedächtnißſchwäche.
Der Sachverftändige, Meſſerſchmied Tauber, con-
ftatirte als Reſultat feiner Prüfung des von dem An-
geflagten geliehbenen Wulff'ſchen Mefjers, daſſelbe müfje
auf einem groben Schleiffteine gewetzt worden fein.
Diefem Befunde gegenüber blieb Benthien bei feiner
Ausfage, das Meffer nur zum Zweckenputzen verwendet
zu baben; über die Schrammen auf ver Klinge Tonnte
er eine Erklärung nicht geben.
Frau Hoffmann bekundet, daß der Angeklagte beim
Berlafjen feines Logis am 7. April einen Winterpaletot,
graue Hoſen, ſpitze Stiefel und einen runden Hut getragen
habe. Kratzwunden an der Hand hat fie damals beftimmt
nicht gefehen, wohl aber am nächften Tage und als frifche
erfannt.
Dem Fleinen Sohne der Frau Scherner hat Bentbien
gelegentlich erzählt, er möchte wol einmal Jack den Auf-
ichliger fehen.
Phyſikus Dr. Reinhard bat ven Angellagten körper⸗
lich unterfucht und die Narben an Hand und Leib con-
ftatirt. Daß letztere von einer Riemenſchnalle herrührten,
hält er für unwahrfcheinlich, weil fie nach verſchiedenen
Richtungen verlaufen und das Hemd zwifchen Hofe und
Leib eine Schugwand darſtellt. Ob die Kratzwunden an
der Hand von Menfchennägeln oder einer Kate beigebracht
worden find, hat er an den Narben wegen ber inzwijchen
verftrichenen Zeit nicht genau beftimmen können, doch
hinterlaffen Katzenkrallen tiefere, fchwerer heilende Wunden
als Meenfchennägel, und er glaubt — auch dem Alter ber
Narben nah —, Bentbien müfje die Verlegungen von
Menichennägeln erhalten haben. — Dr. Reinhard erklärt
ferner, das Hinken Benthien’s ift durch deſſen Körper-
Der Proceß Bentbien. 201
conftitution nicht bebingt, er hat aber die eine Hüftjeite
höher als die andere gefunden, aus biefem Umſtande ift
ver fchlottrige Gang des Angeklagten herzuleiten, allein
nicht das fimmlirte Hinten, da Benthien bei demſelben
das Gewicht auf den rechten Fußballen legt, während er
gerade in dieſem ben ibn zum Hinken veranlaffenden
Schmerz veripüren will. Er Hat jet wieder das mehr-
fache Hinten Benthien's durch den Gerichtsfanl genau
beobachtet und bemerkt, daß der rechte Abſatz des Benthien’-
ſchen Stiefel höher ift wie der linke.
Der Angellagte meint, dann müfje er wol ben einen
Abfag mehr als den andern abgelaufen haben. Ber-
ſchiedene Haden an feinen Stiefeln feien von ihm nicht
angefertigt worden.
Frau Jürgens, deren Mann ein Eleines Schneiber-
geichäft betreibt, gab zu Protokoll, daß der Angeklagte am
9, April in ihren Laden gelommen und nach dem Preife
einer Sommerhoſe gefragt hat. Er ift aber vom Kaufe
derjelben abgeitanden und hat fich mit ihr über ven Morb
unterhalten, dabei äußernd, Menfchen, die jo etwas ver-
üben fönnten, feien gar feine Menfchen, fondern mit
Menschenhaut überzogene Beitien. Er hat auch über bie
ausgejette Belohnung und davon gefprocdhen, daß jein
Bruder altonaer Polizift fei, der ſchon mehrfach Mörder
enttedt habe. Auch über das Zeugniß des Kleinen Borries
hat er feine Meinung geäußert und vermuthet, berjelbe
wäre unzuverläffig und man werbe auf feine Ausſage nicht
viel geben. Schließlich hat Benthien derart mwunderliche
Reden geführt, daß fie angft und bange geworden und
ihrem Schöpfer gedankt hat, als fie von ihrem Manne
abgelöft wurde. Diefem bat Bentbien dann vorgelogen,
er müffe behufs Anftellung im Zoologiſchen Garten neue
Garderobe anjchaffen.
202 Der Broceh Benthien.
Arbeiter Fink bat den Angellagten einmal bei ber
horner Kirche getroffen. Derſelbe hat damals nicht gehinkt,
nad) dem Luiſenwege gefragt und umanfgeforbert erzählt,
er fei Schuhmacher und am Röhrendamme wohnhaft.
Benthien war nicht im Stande, bie Trage des Präfi-
benten, was er am Luiſenwege gewollt habe, zu beantworten.
Die Wirthin Krudau erkannte im Angellagten mit
vollfter Beftimmtbeit jenen Mann wieder, der am 9. April
in ihre Wirthichaft gelommen und gejagt hat, der Mörder
fei ein ihm bekannter Arbeiter bet Blohm und Voß, trage
braune Schuhe und fei ein unfittliches Subject. Als bie
Zeugin darauf erwiberte, davon müſſe er Anzeige erftatten,
fagte er, das wolle er ſich einige Tage überlegen. Er
bat erzählt, er habe ben Thatort mit einem wanb&beder
Poliziften befucht, und fich über die Zeitungsberichte ab-
fällig ausgeſprochen.
Der Angellagte beftritt auch jetzt, jemals bei ber
Zeugin gewejen zu fein.
Zeuge Maler Biedermann beftätigte die Angaben
Dentbien’s, am 7. April, nachmittags zwifchen 3 und 4 Uhr,
bei ihm vorgeiprochen zu haben.
Die Zeugen Körner, Müller und Frau Witte
wollen den Angeflagten die Tage vor der Blutthat in ver
Hammerlandftraße gejeben haben, jedoch hat fich damals
noch ein anderer Mann mit Schlapphut durch Umher⸗
ftreifen in derſelben Gegend verdächtig gemacht.
Der nach ihnen vernommene Zeuge Lüders erklärt,
Dentbien habe einmal 24 Stunden bei ihm gearbeitet,
aber fo miferabel, daß die Arbeit nicht zu verwenden war.
Er bat ihn darauf bin weggeſchickt und iſt von ihm bei
dem gewerblichen Schiedsgerichte verklagt worden. Er
hat Termin gehabt, und zwar zu einer Zeit, in welcher,
wie der Vertheibiger conftatirte, der Zeige Körner ven
Der Proceß Bentbien. 203
Angeklagten auf ber Hammerlanpftraße gejehen haben
wollte.
Dennoch hielt Körner feine Ausfage aufrecht, daß er
ven Angeflagten gerade zu jener Zeit, am 5. April zwifchen
10 und 2 Uhr, in der Nähe des Rauhen Haufe ge-
fehen habe.
Nach Beendigung biefer Zeugenvernehmung ftellte fich
heraus, daß der vorgeladene Knabe Lundt zur Verhand-
lung nicht erfchienen, fondern am Tage vorher aus ber
Wohnung feiner Mutter verſchwunden war.
Der Vertheidiger beantragte, die Sitzung zu ver-
tagen, bi8 der Knabe wieder aufgefunden fei.
Der Präſident bevauerte, fich darauf nicht einlaffen
zu können. Wenn es verlangt werbe, wolle er bie Sigung
bis nächften Mittag aufheben und inzwiichen verjuchen,
ben Knaben polizeilich zu ermitteln.
Der VBertheidiger ftellte ven Antrag, eine Pauſe von
zwei Stunden eintreten zu laſſen, während welcher jich
vielleicht conftatiren Tiefe, ob der Knabe aufzufinden jet
ober nicht.
Der Erklärung des Präfidenten zufolge war bies
unmöglich, weil man fich erft mit ber Polizeibehörbe
Wandsbeck in Verbindung fegen müffe, wofelbit der Knabe
wohne.
Nunmehr beantragte der Vertheibiger, die Lundt'ſche
Ausfage aus den Acten der Vorunterjuchung zu verlefen.
Der Oberjtaatsanwalt wiberfprach dieſem Antrage,
dem ver Gerichtshof indeß ſchließlich beipflichtete.
Den Acten nach find am 4. April Lundt und ein
anderer Knabe in ber Brauerjtraße zu Wandsbeck von
einem fremden Menſchen aufgefordert worden, gegen eine
Belohnung von fünf Grofchen einen Koffer von Marien-
thal nach Hamburg zu tragen. Auf die Frage, wo ber
204 Der Broceß Benthien.
Koffer fich befinde, hat der Fremde erwidert: „Im Gebüſch!“
Die beiden Jungen haben fich dann geweigert, mitzugehen.
Der mit dem Angeflagten confrontirte Lundt hat ganz
feft und entſchieden behauptet, diefer ſei der fragliche Mann
feinesfall® geweſen.
Der ald Zeuge vernommene Ortsvorſtand von Volks⸗
borf, Maack, bemerkte am Tage nach der Blutthat mehr-
fach einen verbächtigen, etwa vierzigjährigen Mann, ver,
wie er fpäter hörte, daſelbſt feine Kleider gereinigt Hatte.
Der Zeuge Möller aus bemfelben Orte befunbete,
er wiſſe vom Hörenfagen, daß ein verbächtiger Menſch in
einer bortigen Wirthſchaft genächtigt und feine angeblich
mit Blut befledten Kleider bei dieſer Gelegenheit ge-
wafchen babe.
Dem Gaftwirthe Wendt aus Vollsporf war davon
nicht8 Pofitives befannt. Der Verdächtige ſei bei ihm
eingefehrt; mit Benthien fei er beftimmt nicht identiſch.
Einem vom Vertheidiger gejtellten Antrage gemäß
wurde nunmehr der Fuß des Angeklagten nochmals einer
Meffung unterworfen.
Phyſikus Dr. Reinhard vervollitändigte jett fein
im Laufe der Verhandlung gegebenes Gutachten. Danach
ift Bentbien troß feines etwas fchtefen Beines befähigt,
raſch laufen zu können. Hinfichtlich des geiftigen Zu-
ftande8 Benthien’s ift er der Anficht, daß eine pathologijche
Seiftesftörung nicht vorliege. Er hat fich bemüht, eine
geheime Geiftesihwäche zu entveden, ohne daß ihm dies
gelungen ift. Symptome, wie das Vorfichhiniprechen, das
man bei dem Angeklagten wahrgenommen, find vielen
burchaus normalen Menfchen eigen und involviren feine
geiftige Schwäche. Auch Anzeichen einer erblichen Ver—⸗
anlagung zur Geiftesftörung find bei Benthien wicht zu
Tage getreten, jedoch ift ihm eine einfeitige Beſchränktheit
Der Proceß Bentbien. 205
nicht abzufprechen, die ſich 3. B. darin kundgegeben bat,
daß er oftmals Inſekten peinigte, was bei einem Menjchen
in dem Alter Benthien’s nicht vorkommen follte. Er it
auch fein Trinker gewefen, ſodaß die Annahme, ver An-
geflagte jei durch den Genuß von Alltoholismen momen-
tanen Geiftesumnachtungen unterworfen, von felbft weg-
fällt. Der Schädel und die Gefichtsform Benthien's zeigen
zwar einigermaßen ven Typus ber Geiftesfchwäche, allein
bie Difformationen find nicht beveutend genug, um feine
Unzurechnungsfähigfeit zu conftatiren. Bei dem Angeklagten
find Spuren von Geiftesftumpfheit‘ vorhanden, aber er
hat andererfeits, z. B. während der Gerichtsverhandlung, eine
große Schlauheit und Pfiffigfeit bewiejen. Der Angeflagte
befigt eine für feinen Stand feineswegs unbeträchtliche Bil⸗
bung und fann fehr wohl klar unterfcheiven, was recht oder
unrecht ift. Er ift im Vollbefige genügender Willenskraft
und für feine Handlungen criminalrechtlich verantwortlich.
Gegenüber biefer Anficht erfärt der Gefängnißarzt
Dr. Meyer, auf feinem bereits geftern vertretenen Stand-
punkt verharren zu müffen.
Damit war bie Beweiserhebung beendet; ben Ge-
jhworenen wurden bie folgenden Fragen vorgelegt:
I. Hauptfrage: Iſt der Angeklagte ſchuldig, ven Knaben
Steinfatt am 7. April 1889 vorfäglih und mit Ueber-
legung getödtet zu haben?
II. Hülfsfrage: Iſt ver Angeklagte ſchuldig, den Knaben
Steinfatt am 7. April 1889 vorſätzlich getöntet zu haben?
Es ergriff nunmehr der Oberftaatsanwalt
Dr. Hirsch das Wort zur Anflagebegründung und betonte
zunächt, vaß derjenige, welcher berufen jet, an ber Berhand-
(ung über ein Verbrechen wie das vorliegende theilzunehmen,
anders über daſſelbe urtheilen müfje als ein Mann, ber
bie That aus der Ferne oder gar vielleicht nur aus
206 Der Broceß Benthien.
graufig gefärbten Zeitungsreferaten kenne. Es ift faum
faßbar und das menfchliche Gefühl fträubt fi) dagegen,
an die Möglichkeit eines Mordes an einem wehrloſen,
unſchuldigen Finde zu glauben; ift unbegreiflich, wie ein
bislang ziemlich unbefcholtener Menf zur Verübung
eines fo abfcheulichen Verbrechens gelangen konnte. Allein
die Thatjache Liegt nun einmal vor und die Gefchiworenen
haben fi) daher nur mit der Frage zu befchäftigen: ift
die bier vorgeführte Perfon der Thäter? — Der Ans
geflagte Bat ein verwahrloftes Xeben hinter fich, er wurde
fhon in feiner Jugend verborben und ift jegt ein Strolch.
Aber damit ift noch nicht ausgefprochen, daß er andy ein
Mörber werben mußte. Jeder Schritt auf der Bahn des
Verbrechens kann ver erfte fein. Niemand vermag in
eine Anvern Seele zu lefen, wie lange ver Keim bes
Berbrechens in derſelben gelegen hat. Der Angellagte hat
jeßt den erften Schritt getban, und biefer ift ein recht
fchwerer und verberblicher gewejen. Was in den letzten
Tagen vor ber blutigen That vorgegangen ift, bentet
darauf hin, daß der Angeflagte fich mit dem Plane des
Verbrechens, wie er e8 am 7. April vollbracht, ſchon
lange herumgetragen bat. Der Redner will nicht darauf
eingehen, daß Benthien ſich oft und mit Vorliebe in
jener Gegend herumgetrieben habe, das ift ven Anweſenden
befannt und durch Zeugenausfagen genügend erbärtet
worden, felbft wenn man den Angaben ver verfchiebenen
Kinder nicht umbebingten Glauben ſchenken mag. Es
genügt die Feitftellung der Vorgänge am 7. April an ſich,
um bie Ueberzeugung zu gewinnen, daß der Angeflagte
und fein anderer der Mörder des Knaben Steinfatt ift.
Benthien bat am kritiſchen Tage fih von 4 Uhr an in
Geſellſchaft ver Knaben Borries und Steinfatt befunden,
er ift von Zeugen um 41, Uhr mit legterm allein in
Der Proceß Bentbien. 207
ber Nähe des Horner Moors gefehen worben, er ift ferner
nach Entvedung des Verbrechens von andern Zeugen
als Xhäter verfolgt und fpäter von faft allen Zeugen auf
das umwiberleglichite vecognofeirt worden, und läßt fich
feinen Spuren folgen bis weit über die That hinaus.
Allerdings ift niemand bei Ausübung der That zugegen
gewefen, die Fußfpuren aber, die bei der Leiche gefunden
und auf dem vom Verfolgten eingejchlagenen Wege .be-
obachtet worden find, entfprechen genau den Dimenfionen
ber Stiefel, die der Angeflagte noch heute trägt. Dieſe
Identität der Fußfpuren iſt mehr als Zufall, fie ift ein
höchft wichtiges Glied in der Beweiskette. Wenn der
Angellagte leugnet, thut er dies in derſelben unberechtigten
Weife, wie er früher fo manche Thatſache beharrlich in
Abrede gejtellt hat, die er ſpäter doch als richtig zugeben
mußte. Er hat überhaupt nur in dem einen Punkte ber
Wahrheit die Ehre gegeben, daß er jet einräumt, er
habe viel, fehr viel gelogen. Im allerbächiten Grade
belaftet den Angeflagten aber, daß er bereits zu einer
Zeit, in der er noch gar feine Veranlaffung dazu hatte,
feinem Wirthe unmwahre Angaben über fein VBerbleiben
gemacht, fich aljo gewiſſermaßen ein Alibi zurechtgelegt
bat. Er, der das Wulfffhe Haus am Nachmittage wohl
und munter verlaffen hat, ift abends mit zerfrasten
Händen zurüdgefehrt, zu deren Erklärung er neue Lügen
erfinden mußte. Diefe Verletzungen erflären fich leicht,
wenn man fich vor Augen führt, wie der Angeflagte bie
That begangen haben dürfte Die Schilderung des in
ſolchen Dingen erfahrenen BPolizeifergeanten Hanjen hat
hier jedenfalls das Richtige getroffen. Aeußerft verbächtig
ift auch des Angeflagten Treiben nach dem Belanntwerben
bes Mordes. Seine verjchievenen Redereien über bie
That befundeten ein gewifjes Bebürfniß, fich über dieſelbe
208 Der Proceß Benthien.
mitzutbeilen. Was die Trage der Zurechnungsfähigfeit
Benthien's anlangt, in welcher die beiden Sachverftändigen
verſchiedener Meinung gewejen find, ift e8 nicht Sache
der Staatsanwaltichaft, die Anficht des einen höher als
bie des andern zu ftellen; bie Geſchworenen müſſen aber
darauf aufmerkſam gemacht werben, daß fie in biefer Be-
ziehung nur auf ihre eigenen Wahrnehmungen angewiejen
find. Diefe müfjen mit zwingender Gewalt zu dem
Refultate führen, daß Benthien fich im vollen Beſitze
feiner Willensfreiheit befand und befindet. „Und“, fuhr
der Oberftaatsanwalt fort, „das, meine Herren Ges
ſchworenen, bitte ich zu bedenken: erflären Sie biejen
Angeklagten für unzurechnungsfähig, jo verläßt er nad
Schluß ver Verhandlung frei und ungehindert ven Gerichts-
faal. Dann laffen Sie die Beftie wieder los und bringen
— wenn Sie felbft Väter find, werben Sie empfinden,
was das heißt, — Ihre und andere Kinder in Gefahr.
Sie geben dem Angellagten Gelegenheit, feine Verbrechen
fortzufegen, denen die Kinder ſchutzlos preisgegeben fein
werben!” Der Repner kommt zum Schluffe noch auf
die Frage der Ueberlegung zu fprechen und betont, daß
fie zu bejahen fein werde. Er richtet die Bitte an die
Gefhtworenen, die Hauptfrage mit Ia zu beantworten,
dann falle die Hülfsfrage von ſelbſt, dann werde das
Verbrechen, welches tagelang die ganze Stadt in Auf-
regung verjegt habe, dem Geſetze gemäß gejühnt werben.
„Es ift ein weitverbreiteter Irrthum“, begann Dr. Sch rö-
ber feine Vertheidigungsrede, „daß der Vertheidiger eine
Art Mohrenwälche zu Gunften feines Clienten zu voll»
bringen und alles gutzuheißen habe, was berjelbe ge-
than. Dies ift nicht Aufgabe der PVertheidigung, fie joll
nur das Ihre thun, um alle während ver Verhandlung
befundeten Momente in das richtige Licht zu ftellen;
Der Proceß Benthien. 209
alles den Angeklagten Belaſtende zugeben, aber auch in
geeigneter Weiſe das Entlaſtende zur Geltung bringen.
Dieſe Pflicht iſt in den Fällen um ſo ernſter zu nehmen, in
denen der Vertheidiger mit den Richtern und Geſchworenen,
mit der ganzen Bevölkerung den Abſcheu gegen die That
und ven Thäter theilt.” Der Sache felbft näher tretend,
weift Dr. Schröder zunächſt bin auf vie trübe, in jeber
Hinficht vernachläffigte Vergangenheit des Angeklagten,
der unter den denkbar traurigften Verhältnifien auf-
gewachien ift, wie das Thier des Feldes, ohne daß ein
Menich fih um ihn gefümmert, und ftet8 als Sündenbock
bes geſammten Dorfes gegolten hat. „Trotz minutiöfeiter
Nachforſchung hat man indeß dem Angeflagten aus jener
Zeit beftimmt nur nachweijen können, daß er einmal Fröſche
gequält hat. Wohin aber würde e8 führen, wollte man
alle, die als Kind einmal einen Froſch getödtet haben,
bes Mordes verbächtigen? Der Angeklagte ijt verlogen,
träge und betrügerijch gewejen, eigentliche Gewaltthaten
hat er nicht begangen. Den Indicien, die ihn belaften,
ftehen eine ftattliche Reihe Momente gegenüber, welche
unbedingt entlaftend wirken. Berjönlich glaube ich ven An⸗
gaben der Zeugen Clafen und Triepel abjolut, ich will
auch noch die Ausfage des Zeugen Vorwerk gelten Lafjen;
damit bin ich aber auch am Ende mit ven Angaben, welche
mit Beſtimmtheit gegen Benthien zeugen. Sämmtliche
Berfonen, welche ben Angellagten nach dem Morde ver-
folgt haben wollen, find nicht in der Lage geweſen, in
der Dämmerung und ver ihr folgenven Dunkelheit ven
Mann genau zu erfennen. Sie haben nicht einmal das
Geſicht des Fliehenden gejehen. Sie können nicht als
Necognofeirungszeugen gebraucht werben, um jo weniger,
weil es fich um einen Menschen handle, ven man nur
im flüchtigen Vorbeilaufen beobachtet hat. Die Fußſpuren
XIV. 14
210 Der Proceß Benthien.
könnten allerdings gegen den Angeklagten ind Feld ge-
führt werden, wenn in Wirklichkeit dieſe Spuren genau
feftgeftellt worden wären und fich mit den Stiefeln des
Angeflagten dedten. ‘Dies ift nicht ver Fall. Die Länge
ber Fußfpuren tft 27 Centimeter. Die Fußlänge Benthien’s
beträgt nach der im Laufe der Sigung vorgenommenen
Meſſung 24 Centimeter. Sie könne alfo unmöglich über-
zeugend gegen den Angeklagten angewendet werden. Was
bie Lügen betrifft, pie mein Client am Abende des 7. April
Wulff gegenüber vorgebracht hat, fo kann man aus ihnen
nicht die Eonfequenzen bes Oberftaatsanwaltes ziehen, wenn
man bevenft, daß fie dem Gehirne eines geiftig fchwachen
Menſchen entiprungen find. Daß Benthien einen geiftigen
Defect befitt, läßt fich nach dem Befunde des Sachver-
ftändigen Dr. Meyer nicht bezweifeln. Der Phyſikus
Dr, Reinhard hat ven Angeflagten gleichfalls als normal
bezeichnet. Hatte er aber Wulff gegenüber bie unwahren
Angaben über den Aufenthalt am Tritifchen Tage gemacht,
jo mußte er ſie auch vor dem Unterfuchungsrichter auf-
recht zu erhalten verjuchen, wollte er fich nicht fofort im
höchften Grabe verbächtig machen. Da ver Angeklagte
an dem einen Beine leidet, wie auch Dr. Reinhard con-
ftatirt bat, hätten bie gefundenen Spuren eine ver-
fchiedene Länge haben, das eine Bein hätte einen kräf⸗
tigern Abdruck Hinterlaffen müſſen al® das andere.
Daß dies bei den aufgenommenen Spuren der Wall ge-
wejen, tft nirgends dargethan. Viele Zeugen haben an-
gegeben, daß der Angeklagte nie eigentlich gehinkt habe, alfe
aber ftimmten darin überein, daß er fchlottrig ging und
den eimen Fuß nachichleppte. Jemand, dem ein folcher
Fehler anhaftet, Tonnte nicht jo ausdauernd laufen, wie
der jeinerzeit verfolgte Mann gelaufen ift. Seine Schritte,
feine Sprünge hätten nicht von gleichmäßiger Kraft und
Der Proceß Bentbien. 211
Länge fein können. Der Schuhmacher Heß aus Lübeck
bat erklärt, jo wie der Angeklagte heute hinke, fei er
immer zu Fuß gewefen. Diefer Zeuge hat doch jedenfalls
Gelegenheit genug gehabt, die Gehweije Benthien’s wäh.
rend der ganzen Lehrzeit zur beobachten. Iſt es denn aber
denkbar, daß ein hinkender Menſch mit einer Schnelligfeit
und Ausdauer laufen ann, die alle Verfolger hinter fich
läßt? Die Trage, ob e8 möglich gewejen, mit dem vor»
gelegten Meſſer die Verwundungen des Ermorbeten zu
verurfachen, ſoll nur aufgeworfen werben, wichtiger ift bie
Thatjache, daß feiner der Zeugen, welche ven Angellagten
noch am Abende der That fahen, erhebliche Schmuzfpuren
an jener Bekleidung bemerkte, obgleich er über moorige®,
fumpfige® Terrain gerannt fein follte. Werner ift der
Umftand von großer Bebeutung, daß fich an der Kleidung
Benthien's nicht der Heinfte Blutfled gefunden hat. Die
Sachverſtändigen haben erklärt, beit einiger Vorficht fet
es dem Thäter leicht möglich gewefen, fich von Blutflecken
rein zu halten. Der mit faltem Blute am Operations
oder Secirtiiche feined Amtes waltende Arzt mag das
fönnen, aber nicht derjenige, ber dieſe That beging und
fich gewiß in ber furchtbarften Förperlichen und feeliichen
Aufregung befand, In einem folhen Zuſtande foll ein
Mörder fih in Acht nehmen, ja feine Ader zu durch⸗
Schneiden, aus welcher das Blut fprigen könnte? Da der
Angeklagte fich bei der Ausführung des Verbrechens nicht
ausgelleivet haben kann und feine Kleider rein find von
Blut, fo bleibt Feine andere Annahme übrig als vie, es
muß doch ein anderer Thäter vorhanden fein. Dafür
ſprechen auch die Differenzen in ver Beſchreibung ver
Kleider des angeblichen Mörders, und die Ausfagen ber
Zeugen, welche ven Angeklagten zu gleicher Zeit an ver⸗
ſchiedenen Orten gejehben haben wollen. Das verlejene
14*
212 Der Proeceß Bentbien.
Zeugniß des Knaben Lundt, dem am 5. April in Wands⸗
bed ein mit der zwei Tage fpäter in berielben Gegend
gefchehenen That jehr wohl in Verbindung zu bringenber.
Vorfall paffirt, entlaftet den Angellagten und gibt zu
benfen, denn ber Mann, der ihn aufforverte, einen
Koffer nach Hamburg zu tragen, ift Benthien nicht geweſen.“
Der Vertheidiger fpricht Die Hoffnung aus, Die Gefchworenen
würden fich davon überzeugt haben, daß viele Momente
gegen bie Schuld des Angeklagten ſprächen. Sollten fie
fih dennoch zu einem Schuldig entjchliegen, jo möchten
fie die Frage der Ueberlegung in ernftliche Erwägung
ziehen. Von einer Ueberlegung könne ber ganzen Art
ber Ausführung des Verbrechens zufolge nicht wohl bie
Rebe fein. Seiner Anficht nach müfje man jeboch jchlieh-
(ih zu dem Reſultate gelangen, beive Schulbfragen zu
verneinen, weil ver Angeklagte, habe er die That begangen,
fih zur Zeit berjelben in einem Zuftande krankhafter
Störung der Geiftesthätigleit befunden habe, welche feine
freie Willensthätigfeit ausſchließe. Das ſei durch bie
Ausfagen aller Zeugen bewiefen, bie mit dem Angeflagten
längere Zeit in Verkehr geſtanden hätten, das habe in
beftimmtejter Weife Dr. Meyer und in bebingter Weile
auch Dr. Reinhard ausgeiprochen. Der PVertheibiger
bittet, zu bedenken, fo ſchlimm es auch fein würde, burch
bie Freifprechung event. eine „Beſtie“ wieder loszu⸗
lafien, jo wäre es doch gewiß noch ſchlimmer, einen Uns
ſchuldigen binzurichten, nur damit bie zur Beurtheilung
vorliegende Blutthat gefühnt werde.
Nach einer kurzen Replik des Oberjtantsanwaltes und
Duplik des Vertheibigers, und nachdem ber Präfident des
Gerichtshofes die vorgefchriebene Rechtsbelehrung in ein-
gehendſter Weiſe ertheilt hatte, zogen fich die Gejchiworenen
in ihr Berathungszimmer zurüd.
Der Proceß Bentbien. 213
Nach einftündiger Berathung traten fie wieder in ben
Saal und gaben durch ihren gewählten Obmann den
folgenden Spruch ab:
Sit der Angeklagte fchuldig, ven Knaben Steinfatt
am 7. April 1889 vorfäglih und mit Weberlegung ge=
tödtet zu haben?
„Ja mit mehr als fteben Stimmen.“
Der Oberftantsanwalt beantragte, gegen ben Ange⸗
klagten die Tobesftrafe und dauernden Ehrverluft zu er⸗
iennen. |
Der Gerichtshof verurtheilte Benthien dieſem Antrage
gemäß und fchloß damit die Verhandlung bereits am
zweiten Zage, abends 10!/, Uhr.
Benthien Hatte fowol den Spruch der Gefchworetten
als auch das Todesurtheil äußerlich kalt und mit größter
Ruhe vernommen, ebenfo wenig zeigte er, in feine Zelle
zurüdgefehrt, befondere Gefühlserregung, er fchlief Die
ganze Nacht hindurch feit und tief.
Sein Bertheidiger legte unter dem 25. October Revifion
ein, auf bie jedoch im December vom Neichsgericht ein
verwerfender Beſcheid erfolgte. ‘Der Verurtheilte fette
num bie legte Hoffnung auf ein Gnadengeſuch, das fein
Bertreter dem hamburger Senat unterbreitet hatte.
Allein der Senat befchloß, daſſelbe abzulehnen und der
Gerechtigkeit freien Lauf zu laſſen.
In der Zwiichenzeit hatte Benthien wiederholt feine
Unſchuld betheuert und auch am 15. Januar 1890, als
der Oberſtaatsanwalt Dr. Hirich im Beifein des Ver⸗
theidigers Dr. Schröver, des Gefängnißgeiftlichen Paftor
Ebert und des Oberinfpectors Kaempe dem Verurtheilten
die Berwerfung bes Gnadengeſuches und ber für ben
nächften Tag angejegten Hinrichtung eröffnete, brach er
in ſcheinbar höchfter Verzweiflung in bie Klage aus:
214 Der Proceß Bentbien.
„Aber ih bin doch unfchulbig! Sch babe es ja nicht
gethan!“
Durch kein Zureden ſeitens des Oberſtaatsanwalts
war er zu einem Geſtändniſſe zu bewegen.
In die ſogenannte Armenſünderzelle überführt, empfing
er ben Beſuch des Gefängnißgeiſtlichen, ver ihn in ge⸗
waltiger Erregung traf. Baftor Ebert fpendete dem
Delinquenten geiftlichen Troſt und knüpfte ein Gefpräch
an, in deſſen Verlaufe Benthien um das heilige Abenb-
mahl bat. Der Paftor Ebert erklärte fich bereit, ihm
das Saframent zu fpenden, wies ihn aber ernft Darauf
bin, das Saframent fönne einem Menfchen mit einer
Lüge auf dem Herzen nicht zum Segen gereihen. Er
ſprach ihm als Seelforger in das Gewiffen und ermahnte
ihn zu aufrichtiger Buße. Endlich ging er in fih und
erflärte: „Ich will e8 gejtehen, ich bin es gewefen!”
ALS der überrafchte Gefängnißgeiftliche ihn nach dem
Beweggrund des Mordes fragte, erwiderte Benthien, er
babe fich ſtets unglüdlich und von ben Menjchen verftoßen
gefühlt und ſchon lange die Abficht gehegt, feinem ‘Dafein
ein gewaltfames Ziel zu fteden. Schließlich habe ihn
jeboch ein Rachegefühl gegen die gefammte Menfchheit
erfaßt, und diefem Gefühle ſei ver Kleine Steinfatt zum
Opfer gefallen. Auf die weitere Frage Paftor Ebert’s,
ob Benthien nicht auch zugeftehen wolle, daß Wolluft
ebenfall® eine Zriebfeder zur Blutthat gewejen jet, gab
der Delinquent nach einigem Zaubern eine bejahende Ant-
wort. Die Ausführung ber That jchilderte er in der von
dem Sergeanten Hanſen vermutheten Weife, nur habe er
den Knaben nicht an fich gebrücdt, fondern mit der Hand
im Genide von fich gehalten und dann feinen Hals mittels
des Wulff'ſchen Meſſers purchichnitten. ‘Die früher ge-
machten Angaben bezüglich der an feiner Hand und am
Der Broceß Benthien. 215
Leibe gefundenen Kratzwunden hielt Benthien dagegen
aufrecht und bat fie nie wiberufen.
Im Laufe des Tages beiwahrte Benthien eine ziem-
fihe Ruhe, er genoß von den gebotenen Speifen fait
nicht8 und ſchien tiefe Neue zu empfinden, die fich be-
ſonders nach dem Empfang des heiligen Abenpmahls Bahn
brach. Mehrfach Tieß er den Wunjch vernehmen, bie
Aeltern feines Dpferd um Verzeihung bitten zu können,
ein Verlangen, auf welches er indeß fchließlich verzichten
mußte.
Er beichäftigte fich dann lange — bis gegen 3 Uhr
nachts — mit Briefefchreiben an mehrere feiner Ver⸗
wandten, dann legte er fich nieder und fchlief drei Stunden,
aber im fichtlicher Unruhe. Die folgenden Stunden bis
zur Erecution verbrachte er in Gefellichaft des Paftors
Ebert mit Bibellefen und Gebet.
Neun Minuten nach 8 Uhr morgens am 16. Januar
1890 betrat Benthien, ber bei einer frühern Gelegenheit
die Aeußerung gethan hatte, er habe während ber zwei⸗
tägigen Schwurgerichtsfigung nur gezittert, nicht verurtheilt
zu werben —, geftüßt von Oberinjpector Kaempe und
Paftor Ebert, völlig gebrochen und halb bewußtlos den
als Richtplatz benukten Hof des Strafjuftizgebäudes vor
dem Holftentbor. Genau 10 Minuten nach 8 Uhr fiel
das Beil der Guillotine, Der irdiſchen Gerechtigfeit
war genügt.
Die Araßburger Falſchmünzerbande.
1889.
Die Falſchmünzer Haben von jeher in die Kategorie
der „interefjanten‘ Verbrecher gehört und find als folche
jowol im Volle wie von ver Gejeßgebung aller Zeiten
befonderd ausgezeichnet worden. Die Römer hatten in
ihrer berühmten „Lex Cornelia de falsis” ein Special-
gefeg entworfen, in welchem feinem Namen nach vor allen
bie Fälſchung als charakteriftiiches Merkmal bes Ver-
brechens betont wurde. Das Mittelalter ftempelte das
unbefugte Schlagen von Münzen zum „Majeſtätsver⸗
brechen”, indem es dabei vor allem bie Münzboheit
bes Kaiſers, des Reiches und der Fürften im Auge batte,
Die „Carolina”, des Kaiſers Karl V. Peinliche Halsgerichts-
ordnung, bejtrafte die Falſchmünzer mit dem „Feuertode
nah Gewohnheit und Satung“, wie fich der Art. 111
biefes Geſetzbuches ausdrückt, und fügte Hinzu: „die
ihre Heufer darzu wifjentlich Leihen, vie felben Heufer
follen fie da mit verwürft haben.”
So graufam find wir heutzutage nicht mehr. Auch tit
es nicht mehr fo fehr das Vergeben gegen vie Münzhoheit
des Staates, welches ver eigentlichen „Münzfälſchung“
im Sinne des modernen Strafrechts ihr beſonderes Ge⸗
präge gibt, al8 vielmehr das Untergraben ver Grundlagen
Die raßburger Falſchmünzerbande. 217
des Geldverkehrs, pas Vergeben gegen ben öffentlichen Ere-
dit und die bem Gelbe und den öffentlichen Creditpapieren
wefentlichen Formen. Das tjt die herrſchende Theorie.
Ein weiteres, mehr für die Prarid des täglichen Lebens
in Betracht kommendes Moment ift der Umſtand, daß
dieſe Verbrecher felten als Einzelne operiren, ſondern in
der Regel in Gemeinschaft, in der criminaliftiich früher
fo bebeutjamen Form der „Bande“. An ter Spike einer
folchen Falſchmünzerbande fteht in der Regel ein intelli-
genter, geiftig mehr oder weniger hervorragender Menich,
ber feine Helfershelfer in ven verſchiedenſten Klaffen ber
bürgerlichen Gefellichaft Hat. Wenn er gefchidt und vor-
fichtig ift, macht er nicht felbft alfe die falichen Münzen,
Banknoten, Briefmarken, welche plöglich im Verkehr auf-
tauchen, fonvern bebient ſich dazu wie auch zur Ver⸗
breitung im Publikum in der Regel untergeordneter Kräfte,
welche ihn und den Meifter, jelten im Stich laffen oder
verratben. Es bedarf der ganzen Energie und eines nicht
geringen Aufwanbes von Scharffinn feitens der Polizei
und der unterjuchenden Behörden, um ein ſolches Falfch-
münzerneft auszuheben. Werben die Thäter und ihre
Gehüffen nur theilweife entvedt, jo bleibt die Gefahr für
den Berfehr und den Credit beitehen.
Ende der achtziger Iahre war in der Umgebung von
Straßburg i. E. eine Falichmünzerbande in Thätigkeit,
der auf die Spur zu kommen ver ftäbtifchen Polizei und
Landgensdarmerie unendlich ſchwer wurde. Bald hier,
bald dort, bald dieffeit, bald jenfeit des Rheins tauchten
zahlreiche faliche, in der Kegel ziemlich gut nacdhgemachte
Fünf- und Zweimarkſtücke ſowie Thalerſtücke auf, ohne
daß es gelang, ihre Entftehung zu ermitteln. Am
24. Februar 1889 wurde in Karlsruhe ein Mann feſt⸗
genommen, als er eine Wurft mit einem faljchen Thaler
9218 Die raßburger Falſchmünzerbande.
bezahlen wollte. Diefer Mann war ein gewifler Fried⸗
rih Sutter aus Neudorf bei Straßburg. Nach anfäng-
lihem Leugnen gab er zu, falfche Thalerftüde in Verkehr
gebracht zu haben. Er wollte das Geld von einem ihm
dem Namen nach unbelannten Mann in Straßburg er-
halten haben. ALS diefer „große Unbekannte” entpuppte
fih nach und nach ein gewiſſer Miſchke, welcher bereits
im Jahre 1885 wegen Fälihung von Briefmarken zu
19, Iahren Gefängniß verurtheilt worden war. Damals
hatte er ſich als Dffizier verkleidet in ben SKafernen
berumgetrieben, um vermöge feiner großen Gewanbtheit
und feiner gefälligen Umgangsformen ohne erhebliche
Schwierigkeiten die falihen Marken an den Mann zu
bringen.
Wie er fpäter angab, kam er im Gefängniß auf bie
Idee, nach feiner Freilaffung fi auf das einträgliche
Gewerbe der Falichmünzeret zu legen und faliches Metall⸗
geld anzufertigen; biefen Gedanken begann er im Herbft
1888 zur Ausführung zu bringen. Er Taufte zu dieſem
Zwede in einem 50-Pfennig-Bazar zu Straßburg Löffel
aus jogenanntem Britanniametall, das Dugend zu 1 und
2 Mark, verfchaffte fih Gips, machte davon einen Zeig
und ftellte durch Abdrücken echter Fünfmark-, Thaler-, und
Zweimarfftüde Formen ber. In diefe goß er das über
einer Spirituslampe gejchmolzene Metall der gekauften
Löffel. Die Inschriften und Verzierungen am Rande ber
Fünfmarkſtücke und Thaler gravirte er zuerjt mit einer
Nähnadel ein, fpäter ſchlug er fie mit Meffinglettern
hinein, die er zu biefem Zwecke angefertigt und bei feiner
Feſtnahme noch im Beſitz hatte. Auf diefe Weife hat er
in der Zeit vom Detober 1888 bis zum März 1889
zahlreiche Fünfmark-, Thaler-, und Zweimarkſtücke nach-
gemacht im Minimalwerthe von mindeftens 400 Mark,
Die firaßburger Falfgmünzerbande, 219
und zwar etwa 50-60 Bünfmarfitüde, 13 Thalerſtücke
und eine unbejtimmte Zahl von Zweimarkitüden. Hiervon
gab er verſchiedene Stüde im Betrage von etwa 120 Mark
an Sutter, diefer übernahm e8 das faliche Geld in Ver⸗
fehr zu fegen, und verfprach bie Hälfte des Gewinnes an
ihn abzuliefern. Ebenſo erhielt die Ehefrau Knebler von
ihm Stüde im DBetrage von etwa 20 Mark; 39 Fünf-
markftüde find in feinem Befit gefunden worben, und
1 Fünfmarkſtück hat er zu Stuttgart in Verkehr gebracht.
Was aus den übrigen falſchen Stüden geworben ift,
fonnte nicht ermittelt werden. ‘Die von ihm zur Falſch⸗
münzerei gebrauchten Werkzeuge find zum Theil in ver
Wohnung des Sutter und eines gewiffen Belling gefunden
worden. Miſchke und feine Leute hatten ihre Thätigkeit
über das halbe Elſaß und das benachbarte Baden aus-
gebehnt. Die falichen Stüde trugen das Bildniß des
Deutichen Kaifers, das Münzzeichen A. und die Jahres⸗
zahlen 1874 und 1876. Die lektern Stüde waren im
Allgemeinen beſſer nachgemacht als die erjtern. ‘Die
Miſchung beitand aus Kupfer und Wismuth und nur
wenig Zinn und Dle. Aus 5 der oben befchriebenen
Löffel find 14 Stüd faliche Fünfmarkftüde hergeftelft
worden, die den echten ungemein täufchend ähnlich jehen.
Sie fühlen fih nicht fett an und der Klang unterjcheidet
fich nicht von den echten Stüden. Das einzige Unters
ſcheidungsmerkmal zwifchen den echten und unechten Stüden
beitand darin, daß der Rand bei ven falfchen Münzen
fihtlich abgedreht oder gefeilt ift, einen bläulichen Schein
und einige mangelhafte Prägungen zeigt. ‘Der Guß auf
den platten Seiten, auf ben Oberflächen war vorzüglich
gelungen.
Miſchke war ftolz auf feine gefäljchen Kunſtwerke. Er
hielt e8 nach feiner Verhaftung unter feiner Würde zu
220 Die fraßburger Falſchmünzerbande.
leugnen und geftand dem Unterfuchungsrichter fchon tm
erften VBerhör Folgendes ein: „Ich bin ver Falfchmänzerei
ſchuldig. Ich Habe falfche Fünfmarkftüde, Thalerſtücke
und Zweimarkftüde gemacht. Einmarfftüde, Zehnpfennig-
ftüde und Zwanzigpfennigftücde nicht, auch Goldftücke nicht.
Nur in Straßburg in meiner Wohnung Ludwigsgaſſe 24
habe ich falſches Geld gemacht und zwar ſeit Detober vorigen
Jahres, als ich ohne Stelle war. Als ich bei Schwarz be»
ſchäftigt wurde, hörte ich auf, fing aber im Januar dieſes
Jahres, als ich dieſe Stelle verloren hatte, wieder an. Ge⸗
bolfen hat mir niemand. Sutter hat auf meine Veranlaffung
faliches Geld, welches er von mir erbielt, verausgabt und
die Hälfte des Erlöfes bezogen. Andere Mitglieder ber
Familie Sutter habe ich nicht direct beauftragt. Sonſt
ift niemand mitſchuldig. Der Frau Knebler, welche mir
Geld geliehen hatte, habe ich den Betrag, im ganzen
etwa 20-30 Mark, in falihen Münzen zurückgegeben,
ohne ihr dies zu fagen. Wenn fie die Stüde ausgegeben
hat, wirb fie nicht gewußt haben, daß fie falich waren.
Sch felbft Habe in Straßburg und Umgegend Fein faljches
Geld ausgegeben, auch auf ver Reife nicht; erft in Stutt-
gart habe ich ven Verfuch gemacht, durch Vermittelung
des Hausburſchen, welcher mich verrathen hat, falfches Geld
anzubringen. Ich bleibe dabei, daß ich außer Sutter, ven
Bater, feine Mitfchuldigen habe. Die übrigen Familien⸗
mitglieder Sutter, außer der Elife und der breizehnjährigen
Tochter, wußten um bie Faljchmünzerei. Die Ehefrau
Sutter bat alles gethan, um ihren Mann abzuhalten.
Meine Frau ift ganz unschuldig, fie hat mich beftänpig
gewarnt und gebeten, mich nicht in das Unglüd zu ftürzen.
Ich will jet auch zugeben, das ich verfucht babe, zwei
falfche Zehnmarkſtücke zu machen, mehr wie zwei habe ich
nicht gegoffen, die Färbung gelang nicht.”
Die ftraßburger Falſchmünzerbande. 221
Die übrigen Angefchuldigten: Sutter, Vater und
Sohn, und die Eheleute Knebler, ein gewilfer Robert
Belling und deſſen Geliebte Amalie Elifabeth Gieler
leugneten ihre Betheiligung an der Falichmünzerei. ALS
aber der Unterſuchungsrichter die Sutter'ſche Wohnung,
einen elenden Kellerverichlag, einer eingehenden Befichtigung
unterzogen und babei einige jehr verbächtige zum Falſch⸗
münzergewerbe dienende Werkzeuge gefunden hatte, bequemte
auch Sutter ſich zu folgendem Geſtändniß: „Ich geſtehe
jet ein, daß ich von Miſchke das von mir verausgabte
falfche Geld erhalten habe. Miſchke hat es gemacht und
zwar in feiner Wohnung. Nicht lange vor meiner Ver⸗
baftung gab er mir ein Packet, welches anjcheinend eiferne
Gegenftände enthielt, zur Aufbewahrung. Ich babe das⸗
jelbe im Keller in meiner Wohnung vergraben. Ich
fann den Ort nicht genau beichreiben, werde ihn aber
finden, falls Sie mich hinführen lafjen. Zwei⸗ bis brei-
mal war ich zugegen, als Miſchke in feiner Wohnung
Münzen goß. Er gebrauchte damals Gipsformen.
„Ich bin durch Geißer mit Mifchle befannt geworden.
Ob dieſe beiden miteinander gearbeitet haben, und ob
Geier überhaupt davon weiß, vermag ich nicht zu fagen.
Meine Belanntſchaft mit Miſchke erfolgte in folgender
Weiſe:
„Geißer, der früher bei mir logirt hatte, führte mich
eines Abends in die in dem von Miſchke bewohnten Hauſe
befindliche Wirthſchaft. Dort erſchien Miſchke. Irgend⸗
eine Verabredung zwiſchen Geißer und mir, mich mit
Miſchke zuſammenzubringen, hat nicht ſtattgefunden. In
der Folge traf ich noch ungefähr zwei⸗ ober dreimal] mit
Miſchke in berfelben Wirtbichaft zufammen; erft,bei einer
fpätern zufälligen Zufammenkunft in der «Kanone» war
aber von falſchem Gelde die Rede. Wir kamen überein,
222 Die ſtraßburger Falſchmünzerbande.
daß ich gegen Betheiligung am Gewinn von ihm Falſch⸗
ſtücke zur Verausgabung erhalten ſollte.
„Miſchke hat das Metall in einem alten eiſernen Eß⸗
löffel auf einer Spirituslampe geſchmolzen. Er ſteckte
den Stiel des Löffels in ein kleines Loch an der
Wand, das anfcheinend durch eine Stuhllehne hinein-
gedrüdt war. Die Spirituslampe, von der Größe ber
innern Handfläche und aus Weißblech angefertigt, ftellte
er unter ben Löffel auf den Tiſch. Dies vollzog fich in
ber erften Stube der Mifchke’ichen Wohnung. Die Frau
habe ich dabei nicht gejehen.“
Bezüglich der übrigen Angeflagten wurde Folgendes
feftgeftellt:
Als Mifchle in der Kneblerfhen Wohnung faliches
Geld nachmachte, ſah ihm die Ehefrau Knebler genau zu,
ſodaß fie bald im Stande war, felbft faljche Gelpftüde
anzufertigen. Sie that dies im Januar 1889, indem fie
auf diejelbe Weiſe wie Miſchke mindeſtens 30 Zweimarf-
ſtücke herſtellte. Da ihr die Herftellung von Fünfmark⸗
ftüden nicht gelingen wollte, fertigte Mifchle im Februar
1889 19 folcher Stüde für fie an. Die fo gewonnenen
Valfificate gab fie aus, ebenfo wie Zweimarfftüde, welche
Miſchke ihr Schon vor Weihnachten gegeben hatte und von
benen fie wußte, daß fie falfch waren. Sie hat ihre
Schuld eingeftanden, ihr Ehemann dagegen hat alles be-
ftritten.
Sutter erhielt, wie oben bemerkt, im legten Viertel⸗
jahr 1889 von Miſchke eine Anzahl Fünfmark-, Thaler-
und Zweimarkſtücke, von denen er wußte, daß fie falfch
waren, und gab die meilten diefer Stüde in Straßburg
und Umgegend bei Gejchäftsleuten aus. So ift er bei-
jpielöweife am 16. December in ben babifchen Dörfern
Neumühl und Legelshurft in etwa neun Wirthfchaften umber-
— —
Die ſtraßburger Falſchmünzerbande. 223
gezogen, hat jedesmal eine Kleinigkeit verzehrt und einen
falſchen Thaler in Zahlung gegeben, das herausgegebene
echte Geld aber an ſich genommen.
Am 13. Februar 1889 begab ſich Sutter mit ſeinem
Sohne Karl nach Grafenſtaden, um daſelbſt falſches Geld
in Verkehr zu bringen. Während erſterer auf der Straße
wartete, ging letzterer in zwei Geſchäfte, kaufte Kleinig⸗
keiten und gab zur Bezahlung je ein ſalſches Fünfmark⸗
ſtück hin; das herausgegebene echte Geld nahm er in
Empfang. Hierdurch hat ſich nach der Anklage Karl Sutter
der Beihülfe zu der von ſeinem Vater begangenen Ver⸗
ausgabung falſchen Geldes ſchuldig gemacht. Er iſt geſtändig.
Am 8. März kam Miſchke, mit welchem Belling von
früher befannt war, in deſſen gemeinſchaftlich mit feiner
Zuhälterin, der Angeklagten Gieler, bewohnte Behaujung
und theilte demſelben fowie der anweſenden Gieler die von
ihm betriebene Falſchmünzerei mit, zeigte ihnen auch
falſche Zweimarkſtücke. Miſchke hatte ſein Werkzeug bei
ſich und bat den Belling und die Gieler, ihm in ihrer
Wohnung die Herſtellung falſcher Münzen zu geſtatten.
Sie waren bamit einverftanden. Hierauf hat Meiichte
unter Benugung einer von Belling und ver Gieler zur
Verfügung geftellten Spirituslampe zwei falihe Fünfmarf-
ſtücke hergeftellt, wobei beide zugegen waren. Dieſelben
haben fich hiernad einer thätlichen Beihülfe des Miſchke
bei Ausführung der Falſchmünzerei jchulbig gemacht.
Sie find im Wefentlichen geftändig. Bei einer in ihrer
Wohnung vorgenommenen Hausſuchung wurden DET’
gefunden: eine Cigarrentifte mit Gips, ein eiſerner zörfel
mit Keften von Gipsteig, zwei Zinkſtückchen, das eine mit
Gipsteig beſchmiert, und zwei Feilen. Miſchke jeirrexjeite
gibt an, in der Belling’ihen Wohnung zwei Tinfmartitüde
nachgemacht zu haben.
224 Die firaßburger Falſchmünzerbande.
Dem Belling fällt außerdem zur Laft, daß er dem
Mitchle, als derjelbe fi) in Straßburg nicht mehr ficher
fühlte und zu flüchten beabfichtigte, behufs beſſern Fort⸗
kommens einen Rod, eine Hofe und eine Arbeitsfchüärze
gab, auch denſelben während der Nacht vor dem Tage
ber Flucht (23. März 1889) in feiner Wohnung beher-
bergte. Hierdurch hat er fich einer ftrafbaren Begünftigung
ſchuldig gemacht. Er ift auch in dieſem Punkte geftändig.
Bei der ſchwurgerichtlichen Verhandlung, bei welcher
namentlich der Hauptaugellagte Miſchle durch eine form⸗
gewanbte Selbftvertheibigung ven Einbrud eines fähigen
und intelligenten, aber burchaus verfommenen Menſchen
machte, waren die Richter wicht lange über bie Schuld
ber einzelnen Angeklagten im Zweifel. Mit Ausnahme
bes jungen Sutter und des Knebler wurden fie ſämmt⸗
lich zu längern Freiheitsſtrafen verurtbeilt.
Meineid oder Redtsirrthum?
(Eine Dorfgeſchichte aus dem Elfak.)
1889,
Es ift feine Seltenheit, daß fich der Parteihader in
einem Dorfe jo zufpigt, daß er fchließlich vor dem Straf-
gericht feinen Austrag erhält. Die alte Gefchichte ber
Montecchi und Eapuleti wiederholt fich alljährlich in Heinerm
Rahmen in unfern Dorfgemeinden. Stehen das geiftliche
und bürgerliche Oberhaupt des Dorfes, Pfarrer und
Bürgermeifter, an der Spike ſolcher Parteien, fo ift e8
fein Wunder, wenn fich die fänmtlichen Eingefeffenen in
zwei ſcharf gefchievene Lager. jpalten. Drohungen und
Beichimpfungen auf beiden Seiten find an der Tages⸗
ordnung, die gejchäftige Zunge gewerbsmäßiger Ehrab-
fchneiver findet ein reiches Feld ihrer verberblichen Thätig-
feit und fcheut felbft nicht vor Lügenhaften Berichten an
vorgejette Behörden und erweislich unwahre Behaup-
tungen vor Gericht. Diejenigen, welche in den Strudel
der Parteiwuth hineingeriffen werben, folgen blindlings
dem „mot d’ordre” ihrer Führer und erfahren meiit,
wenn es zu fpät ift, durch Schädigung an Ehre, Freiheit
und Vermögen, daß fie nur Werkzeuge geivefen find.
XXIV. 15
226 Meineib oder Rechtsirrthum?
Aehnliche Zuftände herrichten ſchon feit etwa einem
Jahrzehnt in dem Dorfe B., einer weder an Zahl ver
Einwohner noch Reichthum befonders hervorragenden Ge-
meinde. Um jo üppiger wucherten vie alljährlich fich
wiederholenden Fehden zwiſchen ver Partei des Bürger⸗
meifterd und der des Pfarrers. Ein Anhänger ver erftern
Partei, ver Gemeinderath R., war im Sabre 1889 durch
Ihöffengerichtliche8 Urtheil wegen Hausfrievensbruch und
Beleidigung des Pfarrers zu einer Woche Gefängnik
verurtbeilt worden. Der Pfarrer hatte den Sohn des
Gemeinderathes nicht in den Kirchenchor aufnehmen wollen
und ihn eines Tages während des Gottesdienſtes von ber
Orgelbühne entfernen laſſen — aus Intereſſe für bie
Kirchenorbnung meinten die Anhänger des Pfarrer8 —;
aus politiichem Parteibaß, ver fih vom Vater auf den
Sohn vererbt, nach Anficht der Leute des Bürgermeifters
und feiner Anhänger. ‘Der Gemeinderat R. hatte ben
Pfarrer wegen dieſes Vorgehens in dem Pfarrhaufe felbft
zur Rebe geftellt, war dabei grob nach Bauernart aus-
gefallen umd hatte fich auf wiederholte Aufforderung des
Pfarrers nicht entfernt. Deshalb feine Verurtheilung.
Dem Beleibigten war die Befugniß zugeiprochen worden,
das Urtbeil innerhalb 10. Tagen nach Nechtöfraft auf
Koften des Angeflagten durch Anbeftung an dem Gemeinve-
haufe in B. zu veröffentlichen. In beiden Lagern in B.
war davon die Rebe, daß das Urtheil abgeriffen
werben würde, wenn ed ausgehängt werben follte Am
Abend des 18. Mai wurde durch ben Gemeindediener
bie Anheftung an einem unvergitterten Brete des Gemeinde⸗
haufes vollzogen. Der Auftrag Hierzu war ihm burch
ven Bürgermeifter H. in feiner Wohnung gegeben worden.
Dabei war auch ber verurtheilte Gemeinverath zugegen.
Ihm gegenüber machte der Gemeindediener, welcher felbft-
Meineid ober Rechtsirrthum? 227
verſtändlich Anhänger des VBürgermeifters und Gegner
des Pfarrers war, die Bemerkung: „Ich würde e8 nicht
bängen laſſen.“
Nach der Anheftung des Urtheil® hatten zwei eifrige
Anhänger des Pfarrers fpät am Abend bei dem Schein
einer Laterne den Inhalt gelefen. Von oben foll dabei
auf fie gefpuct worden fein; man wollte den Bürgermeifter
als den: Thäter erkannt haben. Um zu fehen, ob fich
jemand wihrend der Nacht an dem Urtheil vergreifen
würde, ftellten fich die beiden Männer hinter das Thor
des Ackerbürgers W. in einer Entfernung von etwa
12 Meter, dem Gemeindehaufe gegenüber, auf. Eine
Spalte des Thores hielten fie zur beffern Beobachtung
offen.
Gegen 10%, Uhr Ihlih fi ein Mann vorfichtig
auf Soden an das Plakat und verfchmierte baffelbe
mit der Hand. ALS fich einer der Aufpaffer durch ein
Geräusch bemerkbar machte, verſchwand der Thäter eiligft.
Die beiden Anhänger des Pfarrers verfolgten ihn eine
furze Strede. Sie wollten troß der bunfeln Nacht den
Gemeinderath R. erkannt haben, ver anscheinend allein
Snterefje an ver Ausführung dieſes Streiches haben Fonnte.
Allein ſchon am andern Morgen theilte der Gemeinde-
biener dem Bürgermeifter vertraulich mit, das Plakat
habe er verjchmiert. Er ſei darüber ärgerlich gewefen,
daß die Parteigenoffen des Pfarrers es noch am Abend
mit Hülfe einer Laterne gelefen hätten.
Auf Grund der Erzählungen der beiden Anhänger
des Pfarrers, welche am folgenden Zage gefliffentlich aus
der Stube des Dorfbarbiers im ganzen ‘Dorfe verbreitet
wurden, erftattete ein dem Bürgermeifter und bem Ge-
meinberatbe R. aufjälfiger Wirth, dem die Wirthichafts-
conceifion entzogen werben jollte, durch ein vom frühern
15*
228 Meineidb oder Rehtsirrtbum?
Bürgermeifter verfaßtes Schriftſtück Anzeige gegen R.
bei der Staatsanwaltichaft. Beide, der Wirth und der
ehemalige Bürgermeijter, waren Anhänger und intime
Freunde des Pfarrers, jener aber bei der legten Gemeinde-
ratbswahl durch die Anhänger des jegigen Bürgermeifters
geftürzt worden. Es ift daher begreiflih, daß fich vie
befiegte Partei die willflommene Gelegenheit nicht entgehen
laffen wollte, ven Gegnern etwas am Zeuge zu fliden.
Um zum Ziele zu gelangen, wurbe fein Mittel gefcheut
und die ganze Scala ber Verleumbungen bis zum offen-
kundigen Falſcheid durchlaufen, damit ver Parteileivenfchaft
Genüge gefchehe. Wir geben dieſe Vorgefchichte des fpätern
Meineivsproceifes deshalb fo ausführlich, weil fich darin
das Heinliche Intriguenfpiel wiberjpiegelt, wie es leiber
oft auf unfern Dörfern an der Tagesordnung iſt.
Die erfte Verhandlung fand am 2. Juli 1889 vor dem
Schöffengericht in Br. ftatt. Angellagt war der Gemeinde⸗
rath R. auf Grund des 8. 134 des Strafgeſetzbuchs, am
18. Mai 1889 zu B. eine dffentlich angejchlagene Be⸗
fanntmachung (den Auszug aus jenem Urtheile wegen
Beleidigung des Pfarrers) böswillig verunftaltet zu haben.
Als Belaftungszeugen erfchienen die beiden oben erwähnten
Anhänger des Pfarrers, als Entlaftungszeuge der Ge-
meindebiener M. Auch der Bürgermeifter war in ber
Situng zugegen und felbftverjtänplich mit ihm bie halbe
Einwohnerfchaft des Dorfes B. als Zuhörer und Partei
für und wider in dieſer „cause célèbre“ ihres Heimat-
ortes.
Nach voraufgegangener Vereidigung und wiederholter
Ermahnung, ſich ſtreng an die Wahrheit zu halten, be-
fundeten jene beiden, daß fie in der fraglichen Nacht ven
R. ganz genau erkannt hätten und ihn auf ihren Eid
al8 den Thäter bezeichnen müßten. Der Gemeinbebiener
Meineib oder Rechtsirrthum? 229
hingegen bezeugte gleichfalls auf feinen Eid, er habe von
jenem offenen Fenſter beobachtet, ob etiwa in jener Nacht
an der Gemeinvetafel etwas Ungehörige® vorgenommen
würde; er babe aber den Angeklagten nicht gejehen, ob-
ſchon er ihn von feinem Poften hätte ſehen müffen. Außer-
dem fagte die unvereibigt vernommene Chefrau des R.
aus, daß ihr Mann in jener Nacht um 10 Uhr zu Bett
gegangen und nicht von ihrer Seite gekommen fei. In
Folge des Widerfpruches diefer Ausfagen erachtete das
Schöffengericht ven Thatbeftand für nicht hinreichend auf-
gellärt und fprach den Angeklagten frei.
Die Staatsanwaltichaft legte gegen dieſes Urtheil
Berufung ein, und in der Verhandlung vor der Straf:
fammer des Landgerichts, zu Welcher von beiden Seiten
zahlreihe Zeugen geladen waren, erflärten bie beiben
eritgenannten wiederholt und aufs neue vereibigt, daß R.
der Thäter fei, beftritten auch jede Möglichkeit, daß fie
ſich in der Perjon deſſelben geirrt haben Fünnten. ‘Der
Gemeindeviener gab zum Erjtaunen des Gerichts die Er»
kärung ab: „Nun, meine Herren! um Ihnen die Wahr-
beit zu jagen: ich bin e8 geweſen.“ Der Vorſitzende rief
ihm zu: „Dann find Sie ein ganz gewöhnlicher Lump.“
Die von der Staatsanwaltichaft eingelegte Berufung wurde
verivorfen und gegen die beiden Belaftungszeugen ſowol
als den Gemeindediener Vorunterfuchung wegen Mein-
eids eingeleitet: ihre Verhaftung erfolgte.
Der Fall war ein ganz abnormer. Auf ver einen
Ceite die offenfundige und hartnädige Bekundung einer
falfhen Thatjache unter Eid, auf der andern bie nicht
häufig vorkommende Selbftvenunciation eines Zeugen.
Waren beide Fälle als Meineid over fahrläffiger Falſcheid
zu behandeln? Bei ver Hauptverhandlung, welche in ber
Sigung der Straffammer vom 30. October 1889 ftatt-
230 Meineib oder Rechtsirrthum?
fand und zu welcher nicht weniger als 29 Zeugen aus dem
Dorfe B., darunter auch der Pfarrer und der Bürger⸗
meifter, erjchienen waren, geriethen bie Parteien heftig
aneinander. Don Interefje für bie juriftifche Eonftruction
bes Falles find die Ausführungen ver Vertheibigung be=
züglich des Angeflagten, Gemeindedieners M. Es wird
darzuthun verjucht, daß weder ein Meineid noch ein fahr-
fäffiger Falſcheid in viefem Falle vorliege, und Folgendes
ausgeführt: Ein falicher Eid könnte nach zwiefacher Rich»
tung conftruirt werden. Entweder nimmt man an, daß
der Angellagte in ver zweiten Inftanz al® Zeuge etwas be-
eibigt hat, was nicht wahr ift, indem er fich fäljchlich des
dem Schöffengerichte zur Aburtheilung vorgelegenen Ver⸗
gebens ſelbſt bezichtigte, oder’ daß der Meineid in ber
erſten Inſtanz dadurch geleiftet worden ift, daß er eine That⸗
fache, welche für bie Beurtheilung jenes Straffalles
wefentlich war, wiſſentlich verjchwiegen bat.
Der erjten Annahme fteht der Umstand entgegen, daß
M. bereits unmittelbar nach der Berunftaltung des Schrift»
ſtückes, jedenfall8 bevor deswegen eine Unterjuchung gegen
R. eingeleitet war, felbft erklärt hat, er ſei ver Thäter
geweſen. Es iſt deshalb nicht anzunehmen, daß er dem
R. zu Liebe fich felbft dieſer für ihn folgenjchweren Straf-
that bezichtigt und dieſelbe fäljchlich durch einen Eid be-
fräftigt bat.
Der Annahme aber, daß M. fich in der erften Inftanz
durch Verſchweigung eines wejentlichen Umftandes eines
Meineides ſchuldig gemacht hat, fteht die Vorfchrift des
Geſetzes in 8. 54 der Strafproceßorbnung*) entgegen. Der
- *) 8. 54 ber Strafproceßorbnung lautet: „Jeder Zeuge Tann
die Auskunft auf foldhe Fragen verweigern, beren Beantwortung
ihm ſelbſt Die Gefahr ftrafgerichtlicher Verfolgung zuziehen würde.“
Meineid ober Rechtsirrthum? 231
Gejeßgeber hat durch ven Schuß dieſes Paragraphen Zeugen,
welche fich nicht felbft einer ftrafbaren Handlung bezichtigen,
vor den Strafen des Meineids fichern wollen. Diejer Para-
graph würde feinen Sinn haben und der von bem
Gefeßgeber gewollte Schu würde nicht vorhanden fein,
wenn lediglich durch die Nichtausübung des Fragerechts
ſeitens des vorfigenden Richters eine Verfolgung wegen
Meineids in den feltenen Fällen, wo ein Zeuge fich nach-
träglich ſelbſt denuncirt, eintreten könnte. Es iſt nach⸗
gewieſen, daß bei der erſten Vernehmung des M. in der
Sitzung des Schöffengerichts zu Br. vom 2. Juli 1889
die Frage, wer das angeheftete Urtheil verunſtaltet habe
bezw. ob er ſelbſt der Thäter ſei, nicht an den Zeugen
gerichtet worden iſt. Es lag auch, wie der vorſitzende
Richter amtlich berichtete, keine Veranlaſſung zu einer
ſolchen Frageſtellung vor. Denn durch die Ausſage des
Zeugen und jetzigen Angeklagten M. war die Thäterſchaft
des Gemeinderaths R. durchaus in Frage geſtellt, jeden⸗
falls in fo hohem Grabe zweifelhaft geworden, daß der⸗
jelbe auf Grund dieſes Zeugnifjes freigefprochen wurde.
Wefentlih anders würde der Sachverhalt fein, wenn
durch die Ausfage des Zeugen vor dem Schöffengericht
der Angeklagte belaftet und nun auf Grund diefer Aus-
ſage verurtheilt worden wäre. Der Umſtand, daß ver
Zeuge durch Verfchweigung der Thatjache, daß er jelbit
der Urheber war, aus einem unverbächtigen ein vers»
bächtiger Zeuge geworben ift, würde nur in diefem Falle
von Bebeutung fein. Denn wenn die Freifprechung er-
folgen mußte, weil der Zeuge unverbächtig war, fo hätte
fie um fo mebr erfolgen müffen, wenn biefer Zeuge auf bie
Trage, ob er jelbft ver Thäter fei, die Auskunft verweigert
und ſich dadurch ver That felbit dringend verdachis ge⸗
macht hätte.
932 Meiueidb oder Rechtsirrthum?
Wenn der Saz richtig ift, daß niemand fich ſelbſt
einer ftrafbaren Handlung zu bezichtigen braucht, jo muß
dies insbejondere in dem Falle Anwendung finden, wenn
jemand wegen einer Strafthat als Zeuge vernommen
wird, Wenn ber Zeuge auf eine Trage, beren Be-
antwortung ihm jelbjt die Gefahr ftrafrechtlicher Verfolgung
zuziehen kann, die Auskunft veriveigern darf, jo muß Dies
nach befannten logiſchen Grundfägen um jo mehr gelten,
wenn eine jolche Frage überhaupt nicht geftellt wird. ‘Die
Folge würde fonft die fein, daß in allen Fällen der ab-
fichtlich oder zufällig unterlafjenen Frageftellung pas Geſetz
umgangen werben könnte. Man nehme nur den Fall,
daß bei einer Anklage wegen Ehebruchs an die Concubine
bes präfumtiven Ehebrechers al8 Zeugin die Frage nicht
gejtellt wird, ob fie den Beiſchlaf mit demſelben vollzogen
habe. Würde in biefem Falle das Verjchweigen und nach⸗
trägliche Zugeſtändniß dieſes Umftandes der Zeugin nach-
träglich eine Anklage wegen Meineids zuziehen Fünnen ?
Die umgekehrte Schlußfolgerung, daß aus dem Wort-
laute der Eivesformel: „nichts zu verſchweigen“, in Straf-
fachen die Pflicht für ven Zeugen hervorgehe, felbft wenn
er nicht gefragt wird, oder gerade weil er nicht gefragt
wird, auch ſolche Thatfachen zu bekunden, welche ihm jelbft
die Gefahr einer ftrafrechtlichen Verfolgung zuziehen
fönnen, fteht mit den angegebenen Paragraphen im Wiber-
ſpruch. Es ift auch nicht ohne weiteres anzunehmen,
daß dem Zeugen die Erheblichkeit des Verfchweigens feiner
Thäterſchaft für die Benrtheilung des Straffalles un-
mittelbar bei feiner VBernehmung zum Bewußtjein gefommen
ift und daß er wiffentlich die Unwahrheit gejagt bezw.
bie Wahrheit verſchwiegen hat.
Sollte e8 ſelbſt einem Zweifel nicht unterliegen, daß
der Zeuge bie Erheblichkeit dieſer Thatſache erkannt habe,
Meineib ober Rechtsirrthum? 233
fo konnte er fich bei feiner Vernehmung immerhin fagen,
daß er, weil er nicht darüber befragt worden war, barüber
feine Auskunft zu geben brauchte, und wenn er barüber
befragt worden wäre, die Auskunft hätte verweigern dürfen.
Da alſo Tebiglich durch die Unterlaffung der Frage-
ftelung der angebliche Meineid überhaupt zur Exiftenz
gekommen ift und der Zeuge in der zweiten Inftanz, in ber
fihern Ueberzeugung, daß er fich dadurch der Strafe des
Meineids nicht ausfegen würde, bie ihn belaftenne Aus»
funft zur Aufflärung der Sache gegeben bat, fo ift eine
nachträgliche Verfolgung beffelben nicht gerechtfertigt.
Das Urtheil ftellte fich entfprechenn den Ausführungen
der Staatdanwaltihaft auf ven entgegengefegten recht-
lichen Standpunkt. Dies hatte die eigenthümliche Folge,
daß der Gemeindediener faljchen Eides wegen nach 88. 154
und 163 bes Strafgeſetzbuchs verurtheilt, die beiden andern
Angeklagten aber freigefprochen wurben.
Es heißt im Urtheil: „Auf Grund des Geftänpnifjes
des M. und feines bald nach dem Vorfall andern Perſonen,
insbejondere auch dem Bürgermeifter gemachten Belennt-
nifjes fteht objectiv feit, vaß der Gemeindediener M. und
nicht der zuerjt angeflagte Gemeinverath R. das öffentlich
angeichlagene amtliche Schriftftüd verunftaltet, d. i. mit
Ruß verfehmiert hat. Das eibliche Zeugniß ber beiben
erften Angeklagten ift demnach unter allen Umftänden ein
faliches. Bei Ablegung dieſes wienerbolten falichen Zeug-
niſſes Haben dieſe Angeflagten jedoch das Bewußtjein und
die Ueberzeugung gehabt, daß der von ihnen beobachtete
Thäter eben jener Gemeinverath gewejen fei. Während
ihnen bei ihrer erften zeugeneiblichen Vernehmung ver
Gedanke an die Möglichkeit eines andern Thäters über-
haupt nicht gefommen ift, bat fie das Bekenntniß bes
M. bei ver in der Berufungsinftanz wienerholten Ab⸗
934 Meineid ober Rechtsirrthum?
legung ihres Zeugnifjes in ihrer Veberzengung nicht er-
chüttert, weil fie annabmen, M. fage die Unwahrheit,
um dem R. zur Freifprechung zu verhelfen. Ihre Ueber⸗
zeugung ift, wenn auch eine irrthümliche, doch eine that-
fächliche geweien. Eine ftrafbare Fahrläffigfeit kann darin
nicht gefunden werben. Anders dagegen liegt die Sache
bei dem britten Angellagten. Diejer ift mehr wie jeber
andere Zeuge über ven Gegenjtand feiner Vernehmung
unterrichtet gewefen. Die Tragweite jeiner Wifjenfchaft
zur Sade ift ihm nicht entgangen, fie hat ihn vielmehr
gerade beftimmt, fich als Zeuge anzubieten. Er ift auch
nach feiner Beeibigung und inhaltlich ver Eidesformel
verpflichtet gewefen, die reine Wahrheit zu jagen, nichts
zu verfchweigen, alfo bier, den ihm bewußten Thäter zu
nennen. Nur injoweit ift ihm burch ven $. 54 der Straf-
proceßordnung in ber letztern Richtung eine Vergünjtigung
gewährt, als er im gegebenen Falle Die Nennung des Thäters
mit Rüdficht auf pie ihm felbft dadurch erwachſende Gefahr
ber Strafverfolgung verjchweigen durfte Wie aus ber
Beitimmung des $. 55 1. c. hervorgeht, konnte die Aus-
funftsverweigerung auch Direct, d. b. ohne daß beſonderes
Befragen erfolgte, gefchehen. Allein feine Weigerung
durfte Feine ftilljchweigende, fonbern mußte eine aus-
brüdfiche fein. Sein Zeugniß verpflichtete ihn, wenigſtens
anzugeben, daß er etwas zur Sache Gehöriges
verfchweige, indem er zugleich die Gründe feiner Weige-
rung mitzutbeilen und eventuell (nad 8. 55 der Straf-
proceßordnung) glaubhaft zu machen hatte. Nur ein folches
Zeugniß hätte die ganze, bie reine Wahrheit enthalten
und wäre auch allein geeignet geweſen, dem urtheilenden
Gerichte in dem wahren Lichte zu erjcheinen.
„Dem Angeklagten kann voller Glaube beigemeffen
werben, wenn er verfichert, angenommen zu haben, daß
Meineid oder Rechtsirrthum? 235
er eine ihn felbft belaftende Thatſache verjchiweigen bürfe.
wenn er nicht fpeciell danach gefragt werde. Diefer®
Irrthum ift jedoch ein ftrafbar fahrläffiger., Der An-
geklagte ift freiwillig als Zeuge erjchienen, um Aufklärung
zu geben; er hat gefchworen die reine Wahrheit zu jagen
und nichts zu verichweigen. Bei eingehendem Nachdenken
und genügenver Umficht hätten ihm doch Zweifel über
fein Verhalten auffteigen müffen. Es wäre feine Pflicht
gewejen, bei Ablegung feines beeidigten Zeugnifjes nicht
nach eigenem Gutdünken zu handeln, ſondern bei dritten,
insbefondere auch bei dem Vorſitzenden des Gerichts,
Erfundigungen über das beabfichtigte abweiſende Ver⸗
halten als Zeuge einzuziehen. M. ift demnach, ba er
bei der gebotenen Vor- und Umficht den eingetretenen
Erfolg wohl hätte vorausfehen Türmen, fchuldig, am
2. Juli 1889 vor dem Schöffengeriht zu Br., einer
zur Abnahme von Eiden zuftändigen Behörbe, aus Fahr⸗
Läffigfeit den vor feiner Vernehmung geleifteten Eid durch
ein falſches Zeugniß verlegt zu haben: Vergehen gegen
8. 163 des Strafgefeßbuche.
„Bei Ausmeffung der Strafe find die erregten Partei⸗
verhältniffe in B., die eigenthümliche Lage des M. bei
Ablegung feines Zeugniſſes und weiter ver Umſtand
mildernd in Betracht gefommen, daß er wenigftens in zweiter
Snftanz den wahren Sachverhalt freimüthig angegeben
hat; auf der andern Geite müffen die Vorftrafen des
Angeflagten und die Thatfache berüdfichtigt werben, daß
er fich als Zeuge geradezu aufgebrängt hat.“
In Erwägung diefer Umftände wurbe der Gemeinde-
biener unter Anrechnung eines Theiles der Unterjuchungs-
haft zu einer breimonatlichen Gefängnifftrafe und durch
ein weitere Urtheil vom 1. Februar 1890 wegen ver
Berunftaltung des öffentlich am Gemeindehaufe angebefteten
236 Meineid und Rechtsirrthum?
Urtheild nach 8. 134 des Strafgeſetzbuchs zu einer brei-
° wöchentlichen Gefängnißftrafe und fämmtlichen Koften ver-
urtheilt. So gerecht auch die zulegt erwähnte Verurthei-
fung fein mag, jo muß man doch ganz und gar Juriſt fein,
um ben fcharffinnigen Debuctionen und logiſchen Unterjchei-
dungen bes erften Urtheils folgen und biejelben Burchaus
als triftig erachten zu können. Sollte da nicht Doch ben
Unſchuldigen die Strafe getroffen und bie des Meineibs
wahrhaft Schulpigen zu Unvecht freigefprochen worben
fein? Wir überlaffen vem unparteiifchen Lefer nach Kennt-
niß des Falles die Entſcheidung.
Die Ermordung des Dr. med. Caſſan.
(Mord. — Franfreid.)
1889.
Dr. Caſſan zählte 75 Jahre. Seit feiner Jugend in
Albi (Departement Haute-Garonne) anfälfig, Chefarzt
des dortigen Hospitals und ber Irrenanftalt, hatte er im
Laufe langer Iahre für feine Thätigfeit mehr Anerfennung
als klingenden Lohn geerntet. Der alte Landarzt behielt
bie Zare einer vergangenen Zeitepoche bei und machte
Krankenbeſuche für einen Franc. Sein Einfommen, noch
überdies beeinträchtigt durch bie Unpiünftlichfeit feiner
Clientel, die, wie e8 auf dem flachen Lande oft üblich
tft, fih zur Bezahlung Arztlichen Honorare nur wiber-
willig verſtand, bevuhte daher in ven legten Jahren zu-
meift auf den feften Gehältern, die er auf Grund feiner
porgenannten amtlichen Stellungen bezog. Dr. Caſſan
war wol auch Grunpbefiger; allein feine Grundftüde ges
währten nur einen geringen Ertrag. Seine Befigungen
beftanden aus einem Stabthaufe in Albi, welches er felbjt
bewohnte, und einigen Weingärten „La Grave“, bie jedoch
feit ver Heimfuchung durch die Phylloxera arg verwüſtet
und ziemlich werthlo8 geworben waren. Ein Proceß
238 Die Ermorbung bes Dr. med. Caſſan.
wegen einer ihm zugebachten Erbichaft im DBetrage von
ungefähr 20000 Frs. fchien fein Ende nehmen zu wollen.
Sein Einkommen belief fih daher auf nur 67000 Fre.
jährlich.
Seitvem Dr. Caffan verwitwet war, nahın feine Ge-
müthsftimmung eine mehr und mehr hypochondriſche
Richtung an. Sein Hausweſen beitand aus ihm felbft,
einer Haushälterin Philippine Siccard, ein Dienftmäbchen
vom alten Schlage, welches mit energijcher Hand bie
Wirthichaft führte, und einem Diener, ber zugleich bie
Geſchäfte des Kutjchers und Stallknechts zu beforgen hatte.
In der letten Zeit befleibete Juftin Durand dieſen Poften,
ein junger, hübfcher Burſche von fünfundzwanzig Jahren.
Juſtin vertrug fich nicht immer mit der alten Haushälterin,
weil fie das Haus nach den Regeln ftrengjter Sparſam⸗
feit regierte. Der alte Herr prüfte alle Rechnungen per⸗
ſönlich auf das genauefte und rüdte mit dem für ben
Haushalt nöthigen Gelde nur widerwillig heraus. Yuftin
mochte fich nicht ganz mit Unrecht beflagen, daß ihm die
Alte gar zu viele Faſttage auferlegte. Uebrigens galt er für
anbänglich und treu und ſoll feinen Herrn, als diefer an ven
Dlattern erkrankte, aufopfernd und gefchiet gepflegt haben.
Dr. Eaffan hatte einen einzigen Sohn: Guftav. ‘Diefer
war in den Staatspienft Igetreten, zum Unterpräfecten
von Argelies und Sainte-Affrigue emporgeftiegen, erfrankte
aber jchwer an der Lungenfchwindfucht und mußte infolge
befien ben Dienft aufgeben. In das väterliche Haus
zurüdgelehrt, nahm fein Leiden den vorausgeſehenen töb-
lihen Verlauf. Im Monat December 1887 fchien er
aus dieſem Leben.
Die Berlaffenichaft des Herrn Guſtav Caſſan beſtand
in einer jungen Witwe, vier Kindern und aus Schulden,
bie eine anfehnliche Höhe erreichten.
Die Ermordung bes Dr. med. Caſſan. 239
Die Witwe, ein geborenes Fräulein Emilie Peyronnet
de Berre, verlebte harte, traurige Zeiten. Ste und ihre
Kinder aßen mit an dem fargbejetten Tiſche des Schwieger-
und Großvaters und waren ſchutzlos der üblen Laune des
verbitterten Greifes und ber fich überhebenven, Teifenven
Haushälterin preisgegeben. Die junge Frau empfand es
täglich, daß man ihr nur widerwillig das Gnabenbrot reichte.
Es kränkte fie tief, daß fie nicht als Herrin bes
Haufes anerkannt wurde, fondern fich den Anorbnnungen ber
alten Wirthichafterin fügen mußte. Es war eine bittere
Leidensſchule für die lebensluſtige, hübſche Frau von faum
fiebenundzwanzig Jahren, die fich nach den Freuden der
Geſelligkeit jehnte, gern putzte und ihre Xoilette in ber
reizendften Weile zur Geltung zu bringen verftand. Die
Abhängigkeit von dem vergrämten mistrauiſchen, despotiſch
auftretenden Schwiegervater, welcher ihr jeden Pfennig
vorwarf, den er zu ihrem Lebensunterhalte verwenden
mußte, wurde ihr immer unerträglicher.
Zuweilen, wenn der Drud gar zu arg wurbe, ſetzte es
heftige Scenen, bie indeß regelmäßig damit endigten, daß
die mittellofe junge rau nachgeben mußte. Anfang
April 1889 kam es endlich doch zum Bruche. Der Doctor
beichuldigte feine Schwiegertochter in harten Worten eines
leichtfertigen Lebenswandeld. Er warf ihr vor, fie ver⸗
lafje des Abends allein das Haus und unterhalte Be⸗
ziehungen zu einem Offizier. Eines Tages war Frau
Caſſan wieder ausgegangen und erjt nachts nach 12 Uhr heim-
gefommen. Ihr Schwiegervater war aufgeblieben. Er em-
pfing die junge Frau ſehr barſch. Seine Frage, wo fie ge-
wejen jet, beantwortete fie pahin, daß fie den Abend in ver
ihr befreundeten Familie eines verheiratheten Offiziers ver-
bracht habe. Der Doctor zieh fie der Lüge. Es entitand
ein heftiger Wortmwechfel, Frau Caſſan erklärte, fie könne
240 Die Ermordung bes Dr. med. Caſſan.
dieſes Leben nicht mehr ertragen, fie wolle lieber das Haus
verlaffen und zu ihrer Mutter, ver verwitweten und ver-
mögenslofen Mme. Behronnet, nach Toulouſe zurüdlehren.
Diefer Vorſatz wurde am nächiten Morgen zur That.
Gegen den Willen des Großvaters, der feine beiden älteften
Enteljöhne zu behalten wünfchte, nahm feine Schwieger-
tochter alle vier Kinder mit fih. Es folgten peinliche
Auseinanderjegungen. Dr. Caffan konnte fich anfänglich
nicht dazu entfchließen, feiner Schwiegertochter eine Rente
auszufegen. Da fie aber ohne alle Mittel war und ihm
bie Erhaltung feiner Enkel geſetzlich oblag, verſtand er
ſich endlih dazu, ihr jährlich 1500 Fre. zu gewähren,
machte aber zur Bebingung, daß ihre beiden älteften
Söhne bei ihm bleiben müßten. Er drohte, daß er ihr
bie Vormundſchaft über bie Kinder gerichtlich entziehen
laffen und eine Forderung von 200C0 Frs., die ihm
gegen ihre Mutter, Frau Pehronnet, zuftand, ſchonungs⸗
los eintreiben würde.
AS Frau Caſſan dennoch zögerte, erklärte er: wenn
fie nicht nachgebe, werde er feinen Grundbeſitz verkaufen,
jein gefammtes Vermögen in eine Leibrente verwandeln
und fein Teftament fo abfaffen, daß ihr fein Pfennig
vom Kapital zufalle.
Die Stimmung des alten Herrn verbäfterte fich immer
mehr. Er Hagte: „Sch habe meinen einzigen Sohn ver-
loren; jest fehlt nichts mehr, als daß mar mich felber
umbringt.” „Dieſe Landſtreicherin“, fette er mit DBe-
ziehung auf feine Schwiegertochter hinzu, „wäre im Stante
mich zu vergiften.”
Der Superiorin der Schweftern, denen im Kranken⸗
baufe und ber Srrenheilanftalt vie Pflege oblag, gegenüber
äußerte er wiederholt: er fürchte von den Händen feiner
eigenen Schwiegertochter den Todesſtreich zu empfangen.
Die Ermordung bes Dr. med. Eajfan. 241
Um fich gegen einen plößlichen Angriff zu jchügen, ließ
er die Thür feines Schlafzimmer von innen mit jchmiebe-
eifernen Beſchlägen verjehen und außer dem Riegel auch
noch eine Sperrfette anbringen. In jeinem Zimmer be-
fanden fich mehrere jcharfgelavene Flinten. Alle Schlöffer
feines Haufes ließ er umänbern. Er gab als Grund an,
daß jeine Schwiegertochter mit einem zurüdbehaltenen
Hauptichlüffel in das Haus dringen könnte.
Am Morgen des 1. Mai trat ein Ereigniß ein, welches
ven alten Dann tief erjchütterte und ihm faft die Be⸗
finnung raubte.
Seine Haushälterin Philippine Siccard ftarb ganz
plöglich.
Am Tage zuvor hatte fie fih von Juſtin begleitet
nach 2a Grave, dem Heinen Weingute in der Nähe von
Albi, begeben, welches dem Doctor gehörte. Nach dem
aus einer Knoblauchjuppe, Eiern und Kartoffeljalat be-
jtehenden Abenvefjen wurde die Alte von Krämpfen und
Erbrechen befallen. Juſtin verbrachte die Nacht bei ihr
als Kranfenwärter, er bereitete ihr Thee und leiftete ihr
bie erforberlichen Dienſte. Aber ihr Zuftand verjchlechterte
fih immer mehr, und als der Morgen graute, war
Philippine Siccard eine Leiche. Dr. Caſſan fagte: „Nun
fommt die Reihe an mich! Ich fehe e8 wohl. Aber fie
follen e8 nur wagen! Ich werde fie zu empfangen wiffen.
Ich habe drei geladene Gewehre in meinem Schlafzimmer
bereit. Sie werben fchon jehen, mit wem fie es zu thun
haben!”
Acht Tage Später wurde Dr. Caſſan ermorbet....
In der verbängnißvollen Nacht vom 8. auf den 9. Mai
1889, um 1/2 Uhr nach Mitternacht, erſchien Juſtin
Durand mit bleichen und verjtörten Zügen, barhaupt,
bloßfüßig, nur mit Hemd und Hofe befleivet, im Polizei-
XXIV. 16
243 Die Ermordung bes Dr. med. Caſſan.
commiffartate von Aldi und berichtete mit thränenerftidter
Stimme: „Man bat meimen guten Herrn ermorbet!
Das Bellen des Hundes hat mich gewedt. Erſchreckt
fuhr ih in die Unterfleiver, al8 meine Thür unter einem
fürchterlichen Schlag erbebte. Es war der Mörber, ber
bei mir einzubringen fuchte, nachdem er meinen guten
Herrn getöbtet hatte. Ich Habe mich mit aller Wucht
gegen die Thür gejtemmt; allein fchließlich gab fie doch
nad, und da bat mir der Webelthäter mit feinem Meffer
einen argen Stich verſetzt.“ Juſtin Duranb wies feine
inte Hand vor, und man ſah am Daumen eine ziemlich
tiefe Schnittwunde. „Ich ſchrie laut nah Hilfe“, fuhr
er fort, „pa ließ der Mörder von mir ab und ergriff die
Flucht. Er verlor fih alsbald in der menfchenleeren
dunklen Straße. Es war Nacht, fein Licht brannte, ich
kann feine Züge nicht genau ſchildern. Nur fo viel kann
ich jagen, daß er einen Stoppelbart hatte. Ich habe bie
kurzen, harten Haare beutlich gefpürt, als ich um ihn
abzuwehren in fein Geficht griff.”
Die Polizei fowie die alarmirte Nachbarichaft begab
fih auf der Stelle in das Wohnhaus bes Dr. Eaffen,
geleitet von Juſtin Durand, der an allen Gliedern zitterte
und alle Augenblide zufammenzufinken drohte.
Man fand ven Greis tobt, fchon erfaltet, er lag auf
dem Fußboden feines Schlafzimmers ausgeſtreckt, mit
einem alten loſen Schlafrod befleivet. ‘Die Schäbelpede
war zertrümmert, die Kehle durch einen fürchterlichen
Dolchſtoß durchichnitten, der rechte Daumen durch einen
Schnitt faft ganz von der Hand abgetrennt.
Die Ermordung mußte nach dem Befunde nahe bei
dem Bett ftattgefunden haben. An der Thür Tonnte
man feine Spur eines Einbruchverfuches entveden. Die
Sicherheitäfette war angehaft, nicht abgeriffen, der Riegel
Die Ermorbung bes Dr. med. Caſſan. 243
zurüdgezogen, nicht abgebrochen. Die geladenen Gewehre
befanden fi auf ihren Plägen. Man nahm an, daß
eine ihm befannte Stimme Einlaß begehrte, während ver
Mörder im Vorzimmer wartete, und daß er fich, ſobald
der alte Mann öffnete, auf ihn geftürzt und ihn mit
Meſſer und Beil umgebracht habe.
Der Mörder Tannte offenbar die Hausgelegenheit. Der
Schreibtiſch und ein Kaften, in welchem Dr. Caſſan Geld
aufzubewahren pflegte, waren durchwühlt. Man jah ganz
deutlich die Spuren einer blutigen Hand. Auch die Papiere,
die auf dem Schreibtifche lagen, waren burcheinanberge-
worfen. Auf dem Schreibtiiche fand man einen Dietrich, den
der Mörber aus Verſehen Tiegen gelafien haben mußte.
Die Läden der Tenfter waren regelmäßig verfperrt. Man
hatte keinen Verſuch gemacht, fie gewaltfam zu öffnen.
Hatte man e8 mit Einbrechern zu thun, jo mußten
es Leute von befonderm Schlage fein, denn bie golvene
Uhr des Arztes fanımt der fchweren goldenen Kette, und
die Familienjuwelen, die er verwahrte, waren unberührt
geblieben. Ja, noch mehr. Im der Schreibtifchlabe lagen
offen vier Banknoten zu je 100 Irs. und ein geringerer
Betrag in Münzen.
Der erfte Eindrud war, bier tft nichts von greif-
barem Werthe geraubt worden. Was wurbe aber ge-
fuht? Bapiere? Ein Teftament....?
Die fpätern Erhebungen ſchwächten indeß biejen Ein⸗
drud ab und ließen vermuthen, der ober die Raubmörber
Hätten mit Vorbedacht, um die Polizei und das Gericht
irrezufüßren, jene Werthgegenftände abfichtlih zurüd-
gelaffen. Die Hundert-Francönoten waren unberührt ges
blieben, fehlten vielleicht Taufend-Francdnoten? Dr. Caſſan
batte wenige Tage vorher feinen Proceß gewonnen und
ungefähr 21000 Frs. ausgezahlt erhalten,
16*
244 Die Ermorbung bes Dr. med. Caſſan.
Wohlverftanven: der Attentäter mochte von dieſem Um⸗
jtande unterrichtet fein. Aber er täufchte fich, wenn er
glaubte, daß er diefe Summe ald Preis für den Mord
erbeuten würde. Dr. Caſſan hatte vem Notar Frenouls
erflärt: er wolle fein Geld im Daufe behalten, er werde
8000 Irs. bei dem öffentlichen Steueramte auf Staats⸗
rentenobligationen anlegen und 12000 FIrs. zur Dedung
der legten Schulden ſeines Sohnes verwenden. Aber
war denn biefer Entjchluß vor der Ermordung auch zur
Ausführung gelangt?
Die Unterfuchung führte zunächit nicht zu pofitiven
Ergebniffen. Unzweifelhaft war nur, daß ein gewaltjamer
Einbruch nicht vorlag. Die Thüren, die Tenfter, Die feit
furzem umgeänderten Schlöffer, alled war unverlegt.
Der Mörder mußte entweder ein Hausbewohner fein over
ein Hausbewohner mußte ihn eingelaffen haben.
Wer war der Mörder?
Die allgemeine Stimme war barüber einig, der Name
ichwebte auf aller Lippen. Jedermann Hagte Frau Emilie
Caſſan, die Schwiegertochter des Ermorbeten, an,
bie That begangen zu haben, und alle Welt war befriedigt,
als fchon zwei Tage nach der That die junge Frau in
Toulouſe verbaftet wurde.
Der Unterfuchungsrichter hatte dem Drängen ber
öffentlichen Meinung nachgegeben; aber er wußte recht
gut, daß der Verdacht gegen Frau Caſſan fich auf ſchwache
Gründe ftüßte. Auf der Schwelle des Fußbodens des
Schlafzimmers waren Abdrücke einer blutigen Fußſohle
feftgeftellt worden, aber fie deuteten auf den nadten Fuß
eined® Mannes, Die Zehen waren deutlich erfennbar.
Im Stalle unter der Streu verftedt wurbe ein großes,
mit Menjchenblut befledtes Beil, im Schlauche des An-
ſtandsorts ein langer antiker Dolch mit elfenbeinernem
Die Ermordung bes Dr. med. Caſſan. 245
Griffe gefunden, Der Dolch zeigte ebenfalls Blutflecke.
Dr. Eaffan war ver Eigenthümer dieſes Dolches. Er
Hatte fich deſſelben als Papiermeffer bedient.
Noch ein anderer überzeugender Umftand bewies, daß
der Thäter im Haufe frei verkehren konnte. Es ift bereits
erwähnt worben, daß Dr. Caſſan in feinem Schlafzimmer
drei geladene Flinten bewahrte und daß biefe an Ort
und Stelle aufgefunden wurden. Die Gewehre waren
wirklich ſcharf geladen, jedoch der Zündftoff der Zünd⸗
hütchen war entfernt, beziehungsweife die richtigen Zünd-
hütchen durch taube erjegt, Teins biefer Gewehre konnte
in biefem Zuftande abgefeuert werden. Der Mörder
hatte jomit dafür gejorgt, daß die Schußwaffen ungefähr-
lich für ihn waren, und fein Verbrechen mit klugem Vor⸗
bedacht vorbereitet.
Die Polizei hatte ven Diener des Verftorbenen, Juſtin
Durand, fofort in Haft genommen. Die Wunde an feiner
linken Hand, die ihm der Mörder beigebracht haben follte, -
machte ihn verdächtig. Auch Dr. Caſſan war an ber
Hand verlegt. Hatte der alte Mann vielleicht, um fich
zu retten, in das Mefjer des Mörders gegriffen, es feit-
zubalten gejucht und ver Mörder fich im Ningen um bie
Waffe die Verlegung zugezogen ?
Dean erinnerte fich des plößlichen Todes der alten
Haushälterin. War fie auch ermordet worben, jtanden
die beiden Todesfälle etwa in Zufammenhang?
Der Leichnam der Philippine Siccard wurde aus-
gegraben und eine chemische Unterfuchung der Eingeweibe
angeordnet. Die Sachverftändigen fanden eine große
Menge Arſenik. Sie war an Gift geftorben. Dr. Caſſan
bewahrte in La Grave mehrere Padete auf, die eine
arjenifhaltige Miſchung enthielten. Er gebrauchte fie bei
feinem Weinbau. Selbftverftändlich hielt er das Gift
246 Die Ermorbung bes Dr. med. Caſſan.
beftändig unter Verſchluß, er allein bejaß den Schlüffel
zu dem Kaften, in welchen bie PBadete lagen. Diejes
Schloß war anfgeiprengt. Wer hatte es erbrochen? Man
erinnerte fih daran, dag Juſtin Durand den Abend vor
dem Tode ber alten Haushälterin ganz allein bei ihr war.
Er batte fie gepflegt, fie war geftorben, ohne daß er einen
Arzt berbeigerufen Hatte. ALS das Gericht den Anger
fchuldigten die fchweren gegen ihn vorliegenden Verdächts⸗
gründe vorbielt, entichloß er fich nach längerer Ueber⸗
legung zu einem erjten Geſtändniß. Er gab an:
„Der in meinem erften Verhör bezeichnete Thäter, ber
unbelannte Diann mit dem Stoppelbart, ift ein Phantafte-
gebilde. Sch felbft, Yuftin Durand, babe den Mord⸗
anfchlag durchgeführt. Jedoch nicht allein, ich hatte einen
Helfer, einen Mitfchulbigen, ober richtiger eine Mit-
Ihuldige — Madame Caffan!
„Seit vielen Monaten ſchon iſt des Doctors Schwieger-
tochter meine Maitreſſe gewejen. Die gebrüdte und un⸗
erträglihe Stellung, die fie im Haufe des alten Herrn
einnahm, die nimmer endenden Vorwürfe ihres Schwieger-
vaters, die herrifchen Manieren der Haushälterin brachten
fie außer ſich. Es mußte ein Ende gemacht, ver alte
Knauſer, der Duälgeift mußte befeitigt werben. Sie
brauchte einen verläßlichen, ftarfen Arm, um ihre Rach⸗
ſucht zu befriedigen, und mich, ihren Geliebten hatte fie
dazu auserſehen. Mit allen Künften weiblicher Kofetterie
wußte fie mich zu umgarnen, burch die Gewalt ihrer
Reize machte fie mich zu ihrem Sklaven. Sie war eine
lockende Sirene, ein hübſches junges Weib, eine Dame
von Welt, und ich ein armer Bedienter! Ich bin in
ihrer Hand ein willenlofes Werkzeug geworden. Mit ihren
Liebkoſungen hat fie mich um Verſtand und Ehre gebracht.
„An dem Tage, da Frau Caſſan das Haus ihres
Die Ermorbung des Pr. med. Caſſan. 247
Schwiegeroaters verlaffen mußte, tft der Morbplan ent⸗
ftanden. Ich zögerte indeß, denn ich fchredte zurüd vor
der blutigen That. Brau Caſſan verfprach, fie werbe
mir bei der Ausführung zur Seite ftehen. Wir ver-
abrebeten, daß das Verbrechen in der Nacht vom 8. auf
den 9. Mai vollbracht werben follte. Frau Cafjan traf
rechtzeitig ein in Albi. As Mann verkleidet hatte fie
fi in der Mitternachtsftunde durch die ftillen verlaffenen
Straßen der Stadt zum Haufe gefchlichen. Ich erwartete
fie jchweigend am halbgeöffneten Thore.
„Sie trat ein. Geräufchlos ftiegen wir beibe hinauf.
An der Thür des Schlafgemaches Hopfte ich und rief:
«Stehen Sie auf, Herr Doctor! Ein fehr dringender Fall!
Es ift um Sie gefchteft worden!» Der Greis, ber meine
Stimme hörte, riegelte die Thür auf. Kaum war er
auf die Schwelle getreten, da ftürzte feine Schwiegertochter
mit dem gezüdten Dolchmeſſer, welches fie von feinem
Schreibtifche an fi genommen hatte, auf ihn [os und
ftieß zu. Der Stoß war fo heftig, daß die Kehle des
alten Mannes förmlich vurchichnitten war. Ich ſchauderte
und rief: «lm Gottesbarmherzigfeit willen halte ein,
balte einI» — Es war zu fpät. Erſchrocken wanbte ich
mich zur Flucht und ließ die Mörverin mit ihrem Opfer
allein.‘
So unwahrfcheinlich viefes Lügengewebe war, es
fanden fich doch Leute, welche daran glaubten. Allein
bald darauf ftellte Die Unterjuchung feſt, daß Frau Eaffan
am 8. und. 9. Mai in Zonloufe gewefen war. Um 2 Uhr
nachmittagg am 8. Mai conferirte fie mit dem Pfarrer
der Kirche Saint⸗Corvin dafelbft, um 31, Uhr verpfändete
fie im Leihhaufe ihre goldene Uhr, um 5 Uhr war fie bei
ihrem Rechtsanwalt Mercadier und traf dafelbjt mit dem
Advocaten PBajol zufammen. Um 6 Ubr verließ fie ge-
248 Die Ermordung bes Dr. med. Caſſan.
meinfchaftlich mit Herrn Mercadier deſſen Kanzlei und
machte einen Spaziergang, fie begegneten dem Kaufmann
Dubeboul und plauberten mit ibm. Um 7 Uhr fpeifte
Frau Caſſan in ihrer Wohnung und wurde hierbei von
ihremt Dienſtmädchen Elodie NRieunier bevient. Nach ver
Mahlzeit fpielte fie Klavier, einer ihrer Nachbarn hat das
Spielen noh um 9 Uhr gehört. Hierauf ging fie zur
Ruhe. Am 9. Mai des Morgens um 6 Uhr ftand fie
auf. Elodie Rieunier bezeugt, daß fie ihre Herrin ges
weckt und ihr die Morgenchocolade gebracht babe. Um
10 Uhr vormittags bat Frau Caſſan eine Nachbarin um
ven Schlüffel zum gemeinfchaftlichen Keller. Um 11 Uhr
vormittags wechjelte fie in einer Mufifalienleihanftalt
Notenhefte um. Am Nachmittage begab fie fich wieder
zu Herrn Mercabier und am Abend fpielte fie abermals
zu Haufe Klavier. Erft am 10. Mai vormittags erbielt
fie, zunächft durch die Mittheilungen der Zeitungsblätter,
Kenntniß von der Ermordung ihres Schwiegervaters.
Der Beweis des Alibi war glänzend geliefert. Frau
Caſſan wurde in Freiheit geſetzt. Nun fchritt Suftin
Durand zu einer dritten Erzählung:
Es ift wahr, er hat den Todesſtreich geführt. Er
allein. Er bat feinen Dienſtherrn mit ver Meldung ge-
wect, daß um ein NRecept gejchidt worden fei. ALS ver
Greis öffnete, hat er fich mit dem gezücten Dolchmeffer
auf ihn geworfen. Aber dies geſchah auf Befehl ver
Frau Caſſan. Sie hat ihm Tag und Stunde des Ver⸗
brechens genau vorgejchrieben, um ihr Alibi ficher nach-
weiten zu können, er bat ihre, ihm von Toulouſe aus
zugegangenen Weifungen vollitredt.
Hätte Durand diefe Angaben zuerſt vorgebracht, fie
hätten bei der anfgeregten, Frau Caſſan fo feinplichen
Volksſtimmung für dieſe vielleicht verhängnißvoll werden
Die Ermordung bes Dr. med. Caſſan. 249
fönnen. Seine vorhergehenden Lügen aber machten auch
biefe Ausfagen fehr verdächtig. Er follte Beweife für
feine Behauptungen bringen und vermochte e8 nicht.
Niemals ift irgendein vertraulicher Verkehr zwilchen
Frau Caffan und ihm beobachtet worden. Sie behandelte
ihn als Diener, war mit ihm nicht mehr. und nicht
weniger freundlich, als in ſolchen Verhältniffen landes⸗
üblih if. Zu jener Zeit, va fie beide nach Durand's
Darftellung über den Morvanfchlag verhandelt haben
ſollten, konnte fie, wie die Zeugen beftätigten, mit ihm
feine geheimen Zufammentünfte abgehalten haben. Site
war damals in Zouloufe.
ALS Juſtin Durand merkte, daß feine Behauptungen
eine nach der andern wiberlegt wurden, entichloß er fich
zu einem neuen Geftänpniß, einem neuen Märchen.
Diesmal ift er unfchuldig. rau Caſſan allein hat das
Berbrechen geplant und ihr Helfershelfer war — Meifter
Mercadier, der ehemalige Notar in Zouloufe, ihr Ver⸗
trauter, ihr Geliebter, der Mann, ver ihr Alibi nach-
gewiejen hatte. Mercadier bat ſogar verfucht Suftin
Durand zu verführen. Es ift ihm mislungen. Darum
hat er einen Dritten, eine Art Bravo gebungen, ber
Mann mit dem rauhen Turzgeftusgten Bart, der nachts
eingebrungen ift — fiehe die erjte Verfion. Und diejer
Meordgejelle war e8 auch, der nach ber Ermordung des
alten Arztes es verfuchte, fich des Dieners zu entledigen,
weil dieſer zu viel von der Sache wußte.
Aber wer hatte diefem Unbefannten das Hausthor
. geöffnet? Die Thüren waren doch wie gewöhnlich ver-
fperrt und Spuren von Gewalt an den Schlöffern nicht
vorhanden. ‘Der Dr. Caffan hatte fich in feinem Schlaf
zimmer eingeriegelt und würde einem Unbekannten nicht
geöffnet haben. — Die Erzählung war unbhaltbar.
250 Die Ermordung bes Dr. med. Eaffen.
Yuftin begriff es raſch und gab — eine fünfte zum
beiten:
„Der Mörder ift nicht mit Gewalt in das Haus ge-
brungen. Ich wir benachrichtigt. Der Dämon in Weiber-
geftalt hatte meinen Willen gebeugt. Sch babe ihm ge-
öffnet. Wir find zufammen hinaufgegangen. An der Schlaf-
thür babe ich gerufen und mein Herr, ber meine Stimme
erfannte, hat aufgemadt. Der Mann ftanb hinter mir im
Dunkeln. Er fchlug zu und hat meinen Herrn gemordet.“
Nach dem Schluffe der VBorunterfuhung wurbe gegen
Suftin Durand Anklage erhoben, daß er den Dr. Caſſan
und die Haushälterin Siccard ermordet und den erftern
beftoblen babe. Am 11. November 1889 fand in Albi
die Schwurgerichtöverhandlung ftatt, den Vorfitz führte
ber Gerichtsratb Garas. Die Anklage wird von dem
Staatsanwalt von Toulouſe, Laroche, perfönlich ver-
treten. Die Vertheibigung bat der Anwalt Ferrand von
Zoulouje übernommen.
Frau Caſſan hat fich als Eivilpartei dem Strafper-
fahren angejchloffen. Sie will Rechenjchaft für die Ver-
leumbungen fordern, beren Opfer fie geweſen ift. ALS
ihr Bertreter fungirt Mr. Bosredon.
Suftin Durand ift ein hübfcher Burfche von 25 Jahren,
gefchniegelt und pomabifirt. Die Haare trägt er in ber
Mitte des Kopfes gejcheitelt. Der Schnurbart ift ge-
pflegt, die blaue, weißgetupfte Kravatte elegant gefaltet,
ber Hemdfragen umgefchlagen und gleich den Manfchetten
von tabellofer Weiße. Seine Gefichtsfarbe ift eher bleich
und fein Blid unftet. Er fieht nicht wie ein Bedienter,
weit eher wie ein Commis aus. Seine ganze ftugerhafte
Erjcheinung ift die eines vorortlichen Don Iuan.
Das Auditorium ift überfüllt. Der Hintergrund des
Schwurgerichtsfanles, der amphitheatralifch anfteigt und
Die Ermorbung bes Dr. med. Eaffan. 951
durch eine Art weitmafchigen Gitters von dem eigentlichen
Zubörerraume getrennt ift, wird durchwegs don Damen
eingenommen.
Unter den 150 vorgeladenen Zeugen erregt bie größte
Aufmerkſamkeit begreiflicherweije die „Dame in Schwarz‘,
Frau Caſſan.
Nach Verleſung der Anklageſchrift eröffnet der Präſi⸗
dent die Verhandlung mit der Vernehmung bes Ange⸗
klagten. |
Präfident Juſtin Durand, Sie find befchulpigt
des Meuchelmordes, begangen an Ihrem Dienftherrn, bem
Dr. Cafſan, des Giftmorbes an ver Haushälterin Philippine
Siccard und des Hausdiebſtahls. Sie haben fich in der
Vorunterſuchung vielfältige Widerfprühe zu Schulden
fommen laſſen. Was werben Site heute behaupten?
Haben Sie den Meuchelmord allein verübt? Haben Sie
der Haushälterin das Gift, an dem fie ftarb, beigebracht?
Der Angellagte hebt mit theatralifcher Geberde feine
Hand gegen das oberhalb des Gerichtshofes angebrachte
Erucifir und Spricht mit pathetifchen Accenten:
„Ich ſchwöre vor Gott, den Richtern und allen Zu-
hörern, ich bin unfchulpig! Wenn ich im Laufe ver Unter-
fuhung allerlei voneinander abweichende Erzählungen
zum bejten gegeben habe, fo gejchah es, weil man mich
während der Saft von allen Seiten gequält hat. Dan
bat mir fortwährend wiederholt, daß man mich, wenn
ich die That nicht eingeftände, als verftodten Sünder ficher
auf das Schaffot ſchicken würde; ein Geftänpniß aber
werde mein Leben retten. ch wurde ängftlich und glaubte
ed. Alle gegen mich erhobene Anklagen find unbegründet.
Sch bin nicht der Menſch, der Falten Blutes einen Mord
begeht, ich bin nicht der Undankbare, der feinen guten
Herrn hätte töbten fönnen.”
252 Die Ermordung bes Dr. med, Eajfan.
Präſident. Alfo Sie haben die That nicht begangen?
Angellagter. Nein, Herr Präfident. Wohl hat mid)
Frau Caffan gedrängt und beſchworen, ihren Schwieger-
vater aus dem Wege zu räumen — aber ich habe es
ſtandhaft abgelehnt, ihr zu Willen zu fein, und fie bat
darum einen gebungenen Mörder abgefandt, Dr. Caſſan
zu töbten.
Präfident. Sie haben im Laufe der Unterfuchung
ſogar Herrn Notar Mercadier als den Mitjchulpigen der
Frau Caffan bezeichnet. Halten Ste dieſe Angabe noch
aufrecht ?
Angellagter. Ich habe damit nur die Wahrheit
gejagt.
Präfident. Dr. Caſſan hat gegen Ende des Jahres
1887 feinen einzigen Sohn Guſtav verloren. Seine
Witwe und vier Kinder blieben nach biefem Todesfalle
bei Dr. Caſſan wohnen. Wie war das Verhältniß zwifchen
Schwiegervater und Schwiegertochter?
Angellagter. Das denkbar fchlechtefte. Es gab
fortwährend Zerwürfniffe und Streitigkeiten, auch vor
den Rindern und Dienern, bei Tiſche und überall. Der
Doctor warf feiner Schwiegertochter ihren liederlichen
Lebenswanbel vor und daß fie des Nachts heimlich das
Haus verlaffe. Eines Tages fchimpfte er fie geradezu
eine feile Dirne. Sie fchleuderte ihm eine Wafferflafche
an den Kopf. Sie war überhaupt feit jeher eigenfüchtig
und bartberzig. Ihr Mann tft infolge ihrer nachläffigen
Pflege gejtorben.
Präfident. Mit diefen Behauptungen fegen Sie
fih in Widerfpruh mit allen Zeugenausfagen, welche
gerade die unermübliche Opferwilligfeit der rau in der
Pflege ihres Gatten betonten.
Angellagter. Ich fümmere mich nicht um das, was
Die Ermordung bes Dr. med. Caſſan. 253
bie Zeugen angeben. Sch fage, was ich weiß. Dr. Caſſan
glaubte, als er feinen Sohn mit ihr verheiratbete, fie jei
reih. Als es fich herausftellte, daß er fich in biejer
VBorausfegung getäufcht hatte, war er gegen fie fehr auf-
gebracht und ward es noch mehr, als er fich überzeugte,
daß fie eine fchlechte Gattin war. Nach dem Tode bes
Herrn Guſtav Caffan wurden die Beziehungen immer
Ihlechter. Frau Caſſan wurde im Haufe ärger behandelt
als ein Dienftbote, der Doctor richtete das Wort an fie
nur um zu fchmähen. Sie durfte den Salon nicht be=
treten, und ber alte Herr verweigerte ihr bie wenigen
Pfennige um Briefmarken zu faufen. In die Haus-
haltung vollends durfte fie fih gar nicht mifchen. Er
warf ihr jeden Ausgang vor. Die Beichuldigung, daß
fie die Nächte außer dem Haufe verbringe, führte den
Bruch herbei.
Präfident. Berichten Sie nur, was Sie jelbft mit
angehört haben.
Angellagter. Es war Anfang April. Der Doctor
vertrat feiner Schwiegertochter, als fie ausgehen wollte,
den Weg. Ein lebhaftes Zwiegefpräch entipann fi. Ich
Itand unten an der Treppe und hörte jedes Wort. „Sie
werben mich nicht abhalten, auszugehen, wenn ich e& will“,
rief die junge Frau erregt, „ich bin feine Gefangene!” —
„Das mag fein‘, verjeßte der alte Herr, „aber dann
werden Sie morgen auch fortgehen, um nicht wieberzu-
fommen.” Dabei verjegte er ihr einen Fauſtſchlag.
Präfident. Die in ver Unterfuchung vernommenen
Zeugen jagen über das Verhältniß zwifchen Frau Caſſan
und ihrem Schwiegervater doch, weſentlich anders aus.
Nach dem Tode ihres Gatten verblieben die Beziehungen
zwifchen beiden roch lange recht herzliche. Erft jpäter find
Zerwürfniffe entjtanden, die fich etwa einen Monat vor
254 Die Ermorbung bes Dr. med. Caſſan.
ben Verbrechen fo weit zuſpitzten, daß ein Bruch erfolgte.
Diefer Bruch erwies fich als unbeifvoll für die junge Frau.
Der Doctor, grämlich und verbittert, hat Reden über fie
geführt, welche eine Zeit lang die Beſchuldigungen, welche
Sie wider bie Dame erhoben, glaubhaft erjcheinen ließen.
Dr. Caffan erzählte, feine Schwiegertochter habe ihn fälſch⸗
ich beſchuldigt, fie gefchlagen zu haben, und fügte Hinzu:
„Ein Frauenzimmer, das derartige Lügen verbreitet, ift zu
allem fähig Sie tft im Stande mich umzubringen, mich
zu vergiften.”
„Angellagter. Der Doctor hat behauptet, daß Fran
Caſſan verfucht hat, fich vom Apotheker Gift zu verfchaffen.
Präfident. Die Haushälterin ift am 30. April
vergiftet, ver alte Herr am 8. Mat erjchlagen worden.
Angellagter. Ich bin unfchulpig daran. Ich wäre
nicht fähig dergleichen zu thun.
Präfident. Um wie viel Uhr haben Sie fich in der
fritifchen Nacht niedergelegt?
Angellagter. Ungefähr um balb 10 Uhr.-
Präfident. Dr. Eaffan ift gegen Mitternacht er-
mordet worden. Er hat feine Thür nur infolge ber
Aufforderung einer ihm vertrauten Stimme geöffnet. Er
bat es ſelbſt gethan, denn die Thür trug keine Spuren
von Gewalt. Sie haben in der Unterfuchung, als Sie
Ihren perfönlichen Antheil am Morde nicht leugneten,
bie Angabe gemacht: „Ich habe dem Doctor zugerufen,
daß man ein Necept eingeſchickt habe, welches er prüfen
ſolle.“ Einem andern, als feinem eigenen Diener, hätte
er nicht geöffnet, denn er fürchtete ſich vor einem mörderiſchen
Ueberfalle.
Angeklagter. Etwa um 11 Uhr weckte mich das
Bellen des Hundes. Ich ſtand auf, um nachzuſehen, was
es denn gebe. Ich habe meine Thür aufgemacht und
Die Ermorbung bes Dr. med. Caſſan. 355
im Dunkel einen Doldftich in die Hamd befommen. ch
ſchrie: „Zu Hülfel zu Hülfe! man bringt mich um!“ ‘Der
Mörder wollte ein zweites mal wider mich ausbolen, aber
er ftolperte auf ber Stiege und ftürzte. Danu erhob er
ſich raſch und flüchtete. Ich zog das Nothdürftigſte an,
verfügte mich zu meinem Herrn und fand ihn tobt.
. Bräfident. Die Gerichtsärzte haben feftgeftellt, daß
die Wunde an Ihrer linken Hand von demſelben ſchnuei⸗
denden Inſtrumente herrührt, mit dem ver alte Herr er-
ftocden worden tft. Er hat offenbar abwehrend nach ver
Waffe gegriffen. Dadurch wurde er an ber Hand ver-
munbet. Sie haben fich verlekt, als Sie fich wieder in
den Beſitz des Dolches ſetzen wollten.
Angellagter. Das it nicht wahr.
Präſident. Ihre leider waren vol Blut.
Angellagter. Ia wohl! Es war mein eigenes, aus
der mir zugefügten Wunde fließendes Blut. Che ich
wußte, daß mein Herr tobt war, wollte ich ihm aufbelfen,
und babe mich auch hierbei mit Blut befledkt.
Präaſident. Das Blut rings um den Leichnam war
geronnen. Die Leiche ift nicht bewegt worben, das haben
die Gerichtsärzte feitgeftellt. Das Blut auf Ihren Kleidern
ftammt aus einer Arterie und erklärt fi) ganz gut durch
den Blutſtrom, der aus der zerjchnittenen Halspulsader
des Doctor hervorbrach. Ihr linker Arm wies eine
Narbe von jungem Datum, ber Eindrud eines krampf⸗
haft eingepreßten Daumennageld. Es war als ob Gottes
Finger die Bezeichnung „Mörder!“ varaufgefchrieben hätte.
Woher ftammt bieje Narbe?
Angellagter. Ich babe biefelbe gar nicht einmal
bemerkt. Es war irgenbeine umbebentende, zufällige
Beſchädigung.
Präſident. Sie haben früher behauptet, die Narbe
256 Die Ermorbung bes Dr. med. Caſſan.
rühre von einem Biſſe des Pferdes ber. Das Thier ift
aber äußerft gutmüthig und bat niemals zuvor gebiffen.
Sie haben es während der Unterfuhung fogar unter-
nommen, bas Pferd zu einem folchen Biß zu reizen. Es
ijt Ihnen nicht gelungen. Sie haben das Thier nicht als
Entlaftungszeugen benugen können.
Sodann conftatirt der Präfident, daß zwijchen ber
Ermorbung bes Dr. Caſſan und der Anzeige Durand's
bei ber Polizei faft zwei Stunden verjtrichen find.
Angellagter. Ich mußte die Nachbarn alarmiren
und mich ankleiden, darüber vergeht die Zeit.
Präfident. Was hatten Sie an, als ver „unbefannte
Mörder” Sie in Ihrem Schlafzimmer überfiel?
Angellagter. Nur die Unterbofe.
Präfident. Aber auf Ihrer Hofe find Blutfleden
conftatirt worben.
Angellagter. Dieſe babe ich mir geholt, als ich
meinen Herrn aufheben wollte. Ich babe die Hofe an⸗
gezogen, ebe ich in fein Zimmer binaufging.
Präfident. Der Doctor hatte in feinem Zimmer
geladene Flinten. Es waren Vorderlader mit Zünd-
Ihlöffern. Aus den aufgefegten Zünbhütchen aber war
der Zündftoff forgfältig entfernt, fopaß man mit dieſen
tauben Kapſeln nicht Feuer geben konnte. Geſtehen
Sie zu, daß Sie die Ladung entfernten?
Angellagter. Ob nein. Der Doctor felbft hatte
biefe tauben Zündhütchen aufgefegt, damit die Kinder
nicht zufällig ein Unglück anftellten.
Der Präfident fordert den Angellagten auf, er möge
ven Tag bezeichnen, an welchen Frau Caffan ihn auf-
gefordert habe, ihren Schwiegervater zu ermorben,
Angellagter. Es war am 28. April. Sie kam.
um bie Sachen abzuholen, die fie bei ihrer überftürzten
Die Ermordung des Dr. med. Eaffan. 257
unfreiwilligen Abreife zurüdgelafjen Hatte. Sie über-
häufte mich mit Liebfofungen und beſchwor mich, fie von
dem Alten zu befreien. „Meifter Mercadier hat es mir
. als die befte Löſung angerathen“, fagte fie wieberholt.
Präſident. Ursprünglich haben Sie fi) wol ber
Hoffnung bingegeben, daß Sie dadurch, daß Sie eine
Unfchuldige hineinzögen, Ihren Kopf retten würben. Jetzt
wollen Sie glauben machen, daß Frau Caſſan das Ver⸗
brechen angeftiftet habe. Sie beharren alſo dabei, daß
Sie zu verfchiedenen malen von Frau Caſſan aufgefordert
worden find, ihren Schwiegervater zu befeitigen?
Angellagter. Ja, denn es ift die Wahrheit. Nur
weil ich e8 ablehnte, hat fie einen andern mit der Aus-
führung der That betraut.
Präfident. Bleiben Sie dabei, daß Frau Caſſan
Ihre Geliebte geweſen ift?
Angeflagter. Ia wohl, und das Sahre hindurch.
Ich weiß wohl, daß ich nur ein Bedienter bin und fie
eine „Dame“ ift, aber für folche mannstolle Weiber gibt
es den Unterfchied zwijchen Herrſchaft und Dienerjchaft
nicht. |
Präfident. Ob Frau Caſſan andern Perfonen
gegenüber weibliche Schwäche gezeigt hat, weiß ich nicht,
es gehört dies nicht vor dieſes Tribunal; daß fie aber
in vertrauten Beziehungen zu Ihnen gejtanden hat, ift
ganz unglaubhaft. Alle Zeugen beftreiten es.
Angellagter. Ach was, fie ift eine ganz lieberliche
Perſon. Wer fie wollte, Tonnte fie haben. (Bewegung
im Auditorium.) Die Zeugen waren eben nicht babei,
wenn jie mit mir allein war.
Der Präſident geht nun dazu über, den Angeklagten
wegen der Vergiftung ver Philippine Siccard zu ver-
hören.
XXIV. 17
258 Die Ermorbung bes Dr. med. Caſſan.
Angeflagter. Ich wußte gar nicht, daß fie an Gift
geftorben fein fol. Ich glaubte fie fet einem Krampfe
erlegen.
Präfident. Die Haushälterin hat den ganzen
30. April allein mit Ihnen zugebracht und zwar auf
dem Gute La Grave, welches dem ‘Doctor gehörte. Sie
ftarb am folgenden Morgen, und die Section ver Leiche
bat Arjenikvergiftung nachgewiefen. Dr. Augier hat aus⸗
gejagt, daß die Doſis eine ganz ungeheuere gewefen it
und einen faft augenblidlichen Tod nach fich ziehen mußte.
Angeflagter. Das Fann richtig fein, aber ich bin
unjchuldig daran. Ich habe niemals Arfenif gefehen und
weiß kaum, was e8 ift.
Präfident.e Dr. Eaffan bewahrte Arjenit auf in
La Grave zur Behandlung feiner Weinftöde. Es waren
zwei Badete dort. Er hat in Ihrer Gegenwart davon in
Heine Sügelchen gethan, um Ratten zu vergiften.
Angeflagter. Das war nicht Arſenik, ſondern
Strychnin.
(Eine ſehr ſachliche Bemerkung von ſeiten einer Perſon,
die Arſenik nie geſehen hat!)
Präſident. Der Reſt des vorhandenen Giftes be-
fand fih unter Verfchluß auf dem Dachboden des Haufes
in La Grave. Nach dem Tode der Siccard fand man
das Vorhängeſchloß abgeriffen und den Kaften aufgebrochen.
Vertheidiger Ferrand. Die Section hat ergeben,
daß die Siccard berzleivend war und jederzeit eines plöß-
lichen Todes fterben Tonnte.
Präfident. Warum hat man fie nicht dieſes natür-
lichen Todes fterben lafjen!
Damit ift das Verhör des Angeklagten beenbigt.
Durand bat mit überrafchender Schlagfertigfeit geantwortet:
Abwechjelnd frech und chnijch, wenn er von Frau Cafſan
Die Ermorbung des Dr. med. Caffan. 959
fprach; Höhnifch, wenn ihm die Frage unmwejentlich ſchien;
fehr entjchieden, wenn er ableugnen wollte; aber vorfichtig
und zögernd, wenn ihm die Frage verfänglih vorkam.
Mit fcheinbarer Indignation und dann wieder wetnerlich
jentimental wehrte er die Anfchuldigungen ab. „Es ift
entjeglich”, rief er, „daß man fich folde Sache jagen
laffen muß!“
Der zweite Verhandlungstag beginnt mit ber Ver⸗
nehmung der Zeugen.
Emtlie Caſſan, geborene Behronnet de Berre, wird
aufgerufen. Sie ift 27 Jahre alt, brunett, eher Klein als
groß, von ſchlankem, elegantem Glieverbau und voller
Düfte. Ohne gerade diftinguirt auszujehen, hat fie doch
regelmäßige Züge und eine einnehmende Phyſiognomie.
Sie ift vielleicht Feine ſchöne, aber jedenfalls eine hübfche
Frau. Die Zeugin ericheint vor dem Gerichtähofe in
tiefer Trauer, langem Cropeſchleier und ſchwarzer
Kaſchmirrobe. Sie gibt ihre Ausjagen mit Elarer Stimme
und nachdrücklicher Betonung, doch anjcheinend ohne be-
fondere Erregung ab.
Präfident. Durand hat behauptet, daß Sie vier
Jahre lang feine Geliebte gewejen feien und daß Sie ihn
zum Morde Ihres Schwiegervaters angeftiftet hätten.
Zeugin. Die Behauptungen dieſes Menjchen find
niederträchtige Verleumdungen. Ich habe niemals mit
ihm in vertrauten Beziehungen geftanden.
Angeflagter. Das Weib Tügt!
Präfident. "Schweigen Siel Laffen Sie die Zeugin
ruhig ausreben.
Zeugin. Es iſt eine abjcheuliche Verleumbung |
Niemals habe ich mich mit ihm eingelaffen, niemals! Och
habe ihn immer als Diener betrachtet und behandelt. Er
17*
260 Die Ermordung bes Dr. med. Caſſan.
kann e8 gar nicht wagen, mir ins Geficht zu ſehen. (Sie
wendet fich gegen den Angellagten.)
Durand (mit einem Ausprud von Zärtlichkeit).
Oh doc, mein Schätchen.
Zeugin (erregt). Sch fchwöre bei dem, was mir das
Höchfte ift, bei dem Leben meiner Kinder, daß ich niemals
bie Geliebte dieſes Menjchen geweien bin. Es ijt eine
abfcheuliche Verleumbung, daß ich ihn veranlaßt hätte,
meinen Schwiegervater zu ermorven. Welches Intereſſe
jollte ih an dem Tode des armen alten Mannes gehabt
haben?
Präfivent. Durand gibt an, Sie feien am 28. April
nah Albi gelommen, hätten mit ihm eine lange Unter-
redung gepflogen und ihm ven Antrag geftellt, Ihren
Schwiegervater zu befeitigen. Er habe fich geweigert, und
darum hätten Sie einen Fremden, Unbelannten gedungen.
Zeugin. Aber ich Iebte doch mit fammt meinen
Kindern nur von dem Einkommen, das ich von meinem
Schwiegervater erhielt. Ich jchwöre, daß ich am 28. April
mit Durand nicht allein gejprochen habe.
Präfident. Sind nah dem Tode Ihre® Mannes
Ihre Beziehungen zu Ihrem Schwiegervater getrübt ge-
weſen?
Zeugin. Der Tod ſeines einzigen Sohnes hatte
ihn tief erſchüttert. Er wußte wol auch, daß unſere Ver-
hältniffe ungeordnet waren, aber die Höhe des Echulpen-
ftandes überrajchte und befümmerte ihn. Er mochte
glauben, die Schulden wären um meinetwillen gemacht
worden. Wir hatten deshalb allerdings Mishelligfeiten,
fie waren indeß nicht ernftlicher Natur. Ich verbrachte
in der Regel die Abende mit meinem Schwiegervater,
fchrieb nach feinem Dictat und copirte feine mebicinifchen
Berichte.
Die Ermordung des Dr. med. Eaffan. 961
Präfident. Anfang April aber hat Ihnen ber
Doctor eine Scene gemacht, weil Sie ſpät abends allein
ausgingen?
Zeugin. Mein Schwiegervater war zu der Anficht
gelangt, daß e8 ihn zu viel koſte, mich und die Kinder zu
erhalten, und verlangte, daß meine Mutter hierzu beitragen
folle. Ich habe Albi deshalb am 13. April verlaffen.
Präfident. Haben Sie Ihren Schwiegervater be-
ſchuldigt, daß er Sie gejchlagen habe?
Zeugin. Niemals. Sch babe ihn jogar gebeten, mich
wieder aufzunehmen; allein infolge von Zwijchenträgereien
wollte er e8 nicht thun.
Angeflagter. Dieſes verfluchte Weib Tügt! Das
Berbrechen ift von ihr ausgegangen. Sie hat den alten
Mann getödtet oder tödten lafjen. Jedes Wort, das fie
fpricht, ift eine Lüge. Der Doctor hat fie fortgejagt,
weil fie wie eine Tiederliche Dirne lebte. Er hat ihr
einen Fauftichlag ind Geficht gegeben und fie eine 9...
gefcholten. Er hat feine Schwiegertochter, ſowie dieſe ihn
nicht ausftehen können.
Bertheidiger Ferrand. Sind Sie, Frau Eaffan,
in der Zwifchenzeit vom 28. April bis zum 8. Mai nie-
mals in Albi gewejen?
Zeugin. Doch, mein Her. Am 1. Mai. Ich
fam ein zweited mal, um allerlei vergeffene Sachen ab»
zuholen und mit meinem Schwiegervater einige Geldfragen
zu beſprechen. Es war der Tag nach dem Tode der
Philippine Siccard.
Präfident. Haben Sie geäußert. Wenn die Alte
früher geftorben wäre, jo hätte fich alles anders geftalten
könnnen?
Zeugin. Ich erinnere mich nicht, dies geſagt zu
haben, aber es entſpräche meiner Anſchauung. Ich habe
262 Die Ermordung bes Dr. med. Caſſan.
es immer fehr bedauert, dag mein Schwiegervater mich
nicht wieder zu ſich nehmen wollte.
Vertheidiger Ferrand. Sind Frau Zeugin nie
mald ded Nachts Arm in Arm mit Durand fpazieren
gegangen?
Zeugin. Niemals. Ganz entjchteven niemals.
Vertheidiger Ferrand. Aber Frau Zeugin wer-
den bagegen wol nicht in Abrede ftellen, daß Ste einen
nächtlichen Befuch bei dem Lieutenant Pradines abgeftattet
haben?
Zeugin. Das tft eine müßige Trage. Auf folde
antworte ich nicht.
. Bertheidiger Ferrand. Es gibt hier feine müßigen
Tragen. Ich weiß, was ich ſpreche. Es handelt fi um
ven Kopf eines Menfchen, ver Ste beichuldigt und ver
behauptet, um Ihretwillen auf der Anklagebank zu figen.
St es denn nicht gerade wegen dieſes Beſuches, Daß
Dr. Caffan Sie aus feinem Haufe gewieſen hat?
Zeugin. Nein.
VBertheidiger Ferrand. Alſo Sie haben nicht
als Ausflucht angegeben, daß Sie den Abend bei dem
Hauptmann Robert, einem verheiratheten Offizier und
Freund Ihrer Familie, zugebracht hätten?
Zeugin. 9a, das habe ich gejagt.
Vertheidiger Ferrand. Es war aber thatjächlich
unrichtig.
Zeugin. Darüber habe ich Ihnen feine Rechenjchaft
zu geben.
Bertheidiger Ferrand. Mit wen haben Sie
alfo den Abend zugebracht?
Zeugin. Darüber brauche ich nicht Nebe zu ftehen.
Ich bin nicht als Angeklagte hier.
Bertheidiger Ferrand. Sie haben al8 Zeugin
Die Ermordung bes Dr. med. Caſſan. 263
die Verpflichtung, Hier die ganze Wahrheit auszufagen,
auch wenn es Ihnen peinlich ift. Reden Sie aljo auf-
rihtig. Iſt es nicht wegen Ihrer Beziehungen zu dem
Lientenant Prabines, daß Ste aus dem Haufe gejagt
worden?
Zeugin. Nein, mein Herr. Vebrigens ift Lieutenant
Prapines ein alter Belannter. Wir find aus demfelben
Orte. Seine Schweiter und ich waren Schulfreunbinnen.
Staatsanwalt. Iſt es richtig, daß Ihnen Lieutenant
Prabines 1000 Frs. geliehen hat?
Zeugin. Ja. Ich beburfte des Geldes zur Zahlung
einer dringenden Schuld meines verjtorbenen Gatten.
Vertheidiger Ferrand. Und Ihre Beziehungen
zu bem Herrn Lieutenant befchräntten fich auf dieſe Geld»
angelegenheiten?
Zeugin. Ja wohl, mein Herr.
Vertheidiger Ferrand. Sie haben ihm alfo
feine Xiebesbriefe durch das offene Fenfter in fein Schlaf-
zimmer geworfen?
Zeugin. Nein, niemals.
Hierauf wird der Gerichtsarzt Dr. Camil Bouffac
vernommen. Er erftattet Bericht über die Section ber
Leiche des Dr. Caſſan und jchilvert ſodann in dramatifcher
Weife, wie das Attentat nach feiner Weife verlaufen fein
muß, indem er einen Gensdarmen veranlaßte, die Rolle
des Opfers zu übernehmen, und felbjt den Mörder fpielt.
Der zweite Gerichtsarzt, Dr. Guy, bejtätigt Die Schluß-
folgerungen feines Collegen. In feinem Eifer hat er fi
jogar zu einem merfwürbigen Experiment herbeigelafjen.
Es ift bereitS erwähnt worden, daß Durand eine Haut-
ihürfung am Tinfen Arme hatte. Die Anklage folgert,
biefelbe ftamme daher, daß der Angegriffene im verzweifel-
ten Kampfe um fein Leben durch einen heftigen Druck
264 Die Ermorbung bes Dr. med. Eaffan.
mit dem Daumennagel fie verurfacht babe. Dr. Gub
hat nun von einem fräftigen Collegen einen nachhaltigen
Drud an feinem Arme verfuchen laffen, und bie folcher-
geftalt von dem Daumennagel berrührende Verlegung
entfprach jener, welche ver Angeklagte davongetragen hatte.
Diefe Beweisführung ift wahrhaft vernichten für ben
Angeflagten.
Die Verhandlung wird zur Vornahme des Local-
augenjcheines unterbrochen. “Der Gerichtshof ſammt ven
Proceßparteien begibt fih, unter Zuziehung von Ders
trauensmännern aus dem Publikum, an die Stätte des
Attentats. Diefer in Albi noch unerhörte Vorgang
erregt das ganze Städtchen. Die gefammte Bevölkerung
ift auf den Deinen. Es iſt nothwendig, die Suftizwachen
zu verftärken, um Frau Caffan, welche nach der Anficht
ber Menge die Schulbige ift und mit Schmähungen be»
grüßt wird, vor thätlichen Angriffen zu fchügen.
Der Gerichtshof durchſchreitet mit feterlichem Ernſt
alle in Trage kommenden Räumlichkeiten, das Bejtibule,
das Arbeitscabinet und das Schlafzimmer des Dr. Caſſan.
Durand, der zwifchen zwei Gensbarmen geführt wird,
erklärt mit fefter Stimme, wo ver „unbefannte Mörder“
eingedrungen fein müfje und welchen Weg er genommen habe.
Es werben ſodann verichtevene Zeugen über das Ver⸗
hältniß zwiichen dem Dr. Caſſan und feiner Schwieger-
tochter vernommen. Die Ausfagen ftimmen nicht überein.
Etlihe bezeugen, daß beide in feinplichen Beziehungen
geftanden haben, andere befunden, Dr. Caſſan habe fich
bitter über bie junge Frau und ihren Lebenswandel aus-
gefprochen, fich vor ihr gefürchtet und geäußert, daß fie
ihn noch vergiften werde. Wichtiger ift ald Zeugin
Elodie Rieunier, das Stubenmäbdchen der Frau Caſſan.
Sie ift eine hübſche Brünette von 19 Jahren, mit einem
Die Ermordung bes Dr. med. Caſſan. 265
allerliebften Stumpfnäschen und bligenden jchwarzen
Augen.
Präfident. Sind Sie die Geliebte des Juſtin
Durand gewejen?
Zeugin (verfehämt erröthenn). Ja wohl, Herr Präfi-
dent, ich geitehe es.
Präfident. Glauben Sie, daß Frau Caffan gleich-
falls jeine Geliebte gewejen ift.
Zeugin. Oh nein, das ift nicht wahr. Ich hätte
ed ficher bemerfen müfjen, wenn etwas zwijchen ven beiden
vorgegangen wäre. Mein Schlafzimmer ftieß an das ber
Gnädigen. Ich hörte alles, was daneben gefchah.
Präfident. Lebte der Doctor in gutem Einvernehmen
mit Ihrer Herrichaft?
Zeugin. Nein, e8 gab öfters Streit.
Präſident. Wo hat Frau Caſſan den 8. Mai, ven
Vorabend des Attentats, zugebracht?
Zeugin. In Touloufe. Sch Habe ihr felbft pas
Abendeſſen fervirt, war ihr um 10 Uhr beim Entfleiven
behülflich und habe ihr am nächiten Morgen die Choco-
lade gebracht, die fie im Bette zu fich nahm.
Präfident. Haben Sie jemals von Ihrer Herrin
eine Aeußerung gehört, welche Sie darauf fchließen Tieß,
fie plane die Ermordung ihres Schwiegervaters oder
billige biejelbe ?
Zeugin. Niemals, ganz gewiß niemals.
Präfident. It Durand ohne anzuflopfen in das
Zimmer Ihrer Herrichaft gekommen?
Zeugin. Einmal ift er jo eingetreten. Frau Caſſan
bat ihn darüber fcharf zur Rebe geitellt, und er hat es
nicht wieder gethan.
Präſident. Glauben Sie wirklich nicht, daß er zu
ihr in intimen Beziehungen ftand ?
266 Die Ermordung des Dr. med. Caſſan.
Zeugin. Ob! Er Hätte es gar nicht gewagt, bie
Augen zu ihr zu erheben.
Präfident. ft er nicht einmal längere Zeit im
Schlafzimmer Ihrer Herrin geblieben?
Zeugin. Die Gnädige war an biefem Tage un-
päßlich und blieb zu Bette. Er brachte ihr das Diner
hinauf. Das ift überhaupt das einzige mal, daß er mit
ihr allein in ihrem Zimmer war.
Prüfident. Er behauptet aber, daß er vier Jahre
lang ihr Geliebter gewefen ift.
Zeugin. Das wäre das erfte Wort, das ich davon
erführe. (Sie wendet fich mit einer zornigen Geberde
gegen den Angellagten. ‘Diejer lächelt.)
Auguft Mercadier, ehemaliger Notar, ein behäbiger,
rundlicher, älterer Herr mit felbftgefälligem, zufrievenem
Geſicht und einem dünnen, Ted aufgewichiten Schnurr-
bärtchen, jagt aus:
„Ich bin der gejchäftliche Nathgeber und Anwalt ver
Frau Andoque, einer Tante der rau Caſſan. Die
letztere kam bemzufolge, als fie ihres Schwiegernaters
Haus verlaffen Hatte, gleichfalls zu mir, um fich meines
Rathes zu vergewiflern.”
Präfident. Wiffen Sie, wo Frau Caſſan den Abend
bes 8. Mai zugebracht hat?
Zeuge Sie war in Touloufe. Gegen 5 Uhr nach⸗
mittags kam te in meine Kanzlei, wofelbft wir eine Be
ſprechung mit dem Advocaten Pajol hatten. Bon bort
find wir miteinander weggegangen. Wir haben gemein-
Ichaftliche Freunde begegnet und begrüßt. Die Anklagen,
die Durand gegen meine Berjon erhoben hat, find lächer-
lich, ich brauche fie wol nicht zu beantworten.
Angellagter. Frau Caſſan hat mir doch felbft ge-
Die Ermorbung bes Dr. med. Eaffan. 267
ftanden, daß der Notar Mercabier ihr derzeitiger Xieb-
haber und ber geiftige Urheber des Verbrechens ift.
Präfident. Das ift doch eine beifpiellofe Infamie.
Was in aller Welt berechtigt Sie zu der Annahme, daß.
der Zeuge der Geliebte der Frau Caſſan gewejen ift?
Vertheidiger Ferrand Es iſt dies eine DVer-
muthung, für die gewichtige Gründe ftreiten. Sie find
wie vertraute Freunde miteinander fpazieren gegangen.
Wir haben das von Herrn Mercadier felbft gehört. Iſt
e8 denn ein Verbrechen, der Liebhaber einer hübfchen
jungen Frau zu fein? (Heiterfeit.)
Trau Andoque betätigt, daß Durand von Frau
Caſſan ſtets als Bedienter behandelt worden fei. Die
Zeugin bat niemals etwas von vertrauten Beziehungen
zwifchen ihnen bemerkt. „Und ich habe doch Scharfe Augen
für ſolche Sachen!” fügt fie Hinzu. (Heiterkeit.)
Angellagter. Ich Lüge nicht. Das lekte Schäfer-
ftündlein, das ich mit Frau Caſſan verbrachte, war am
28. April, an dem Tage, an dem fie nach Albi Fam, um
ibre Effecten abzubolen.
Präfident.. Sie bleiben aljo dabei, daß Frau Caſſan
Ste an jenem Tage aufforverte, ihren Schwiegervater zu.
tödten, und um Sie hierzu zu bewegen, fich in Beweifen
der Zärtlichkeit überbot?
Angellagter. Ich Habe e8 geſagt. Es ift die
Wahrheit.
Zeugin. Das nenne ich eine eiferne Stirn!
Zeuge Frenouls, Notar des Dr. Caſſan, beziffert
den Werth des Vermögens des Arztes auf 70000 Frs.
Bertheidiger Ferrand. Wieviel Geld dürfte in
der Nacht des Verbrechens im Haufe geweſen fein?
Zeuge. Ob, nur wenig. Ganz wenig.
Präſident. Er hatte aber doch nahezu 21000 Frs.
268 Die Ermorbung bes Dr. med. Eaffan.
erhalten, und nach ven Angaben über die Verwendung bes
Geldes fehlt der Nachweis über etwa 3000 Tre.
Zeuge. Bon den bebobenen 21000 318. hat er
12000 Frs. Schulden feines Sohnes bezahlt und
8000 Frs. bei dem Steueramte für Nententitel hinter⸗
legt. Er wollte fein Geld im Haufe haben. Sch glaube
nicht, daß 1000 Frs. baare Münze vorhanden ge-
weſen find.
Vertheidiger Ferrand. Ueber 400 Frs. find vor-
gefunden worden.
Staatsanwalt. Durand hat vermutblich nicht ge-
wußt, daß die 21000 Frs. nicht im Haufe waren, von
der Behebung der Summe dagegen hatte er Kenntniß.
Es war Stadtgeſpräch, daß Dr. Caſſan eine große Summe
Geld empfangen hatte.
Zeuge. Das lebtere tft ficher.
Die Sachverftändigen, welche vie chemiſche Unter⸗
fuhung der Eingeweide ber Pyilippine Siccarb vorge-
nommen haben, die Herrn Franz Iulius Augier und
Dr. Eugen Ceftan de Saillac, erklären, daß dieſe an
Arjenikvergiftung geftorben ift.
Melanie NRoumegour, das Hausmädchen des
Dr. Caſſan, fagt aus:
„In der Nacht des Attentates ift Suftin Durand in
Unterhofen und bloßfüßig mich zu weden gefommen. Er
theilte mir mit, unfer Herr fei ermordet und er felbit
durch einen Mefferftich verwundet worden. Dann fiel er
erichöpft, wie ohnmächtig, vor mir zufammen. Ich hatte
zuvor nichts Verdächtiges gehört, auch der Hund hatte
nicht gebellt. Ich bin vor das Thor gelaufen und babe
Hüffe! Mörder! gerufen. Die Nachbarn find an bie
Fenſter gefommen. Durand wollte wegeilen, um bie
Polizei zu Holen, und zog an der Hausthür feine Hofe
Der Ermordung des Dr. med. Eafjan. 269
an. Ich hatte folche Angſt und fürchtete mich fo fehr,
allein zu bleiben, daß ich ihn fefthalten wollte, als er
fortging.”
Nach dem Schluß des Beweisverfahrens beginnt das.
Plaidoyer.
Die bemerkenswertheſte Rede, die ſich zuweilen zu
wirklich rhetoriſchem Schwung erhebt, iſt die des Ver⸗
treters der Civilpartei, Bosredon. Derſelbe ſagt im
Wejentlichen: |
Es handelt fich für uns um feinen materiellen Schaben-
erſatz. Es handelt ſich um die Reinhaltung der Ehre
einer jonft jchuglojen Frau, um den ehrlichen Namen von
vier unmündigen Kindern, der befledt werden ſoll. Elende
Berleumbungen haben Frau Caſſan fehwer an Ehre und
Freiheit bedroht, und nur der energifchen Führung ber
Unterſuchung ift e8 zu danken, daß dies dunkle Gewebe
jo raſch zerriffen warb.
Der Anwalt erörtert die Gründe, die Juftin Durand
und ihn allein als Mörder Fennzeichnen. Er befchulpigt
ihn des Diebjtahl® oder doch des Diebitahlverjuchg,
„weil er den erhofften Lohn für feine graufe That nicht
gefunden habe”. Er wendet fich gegen bie ſchnöde Be—
hauptung, daß Frau Eaffan die Maitreffe ihres Bedienten
geweſen jei, und daß fie ihn zum Morde verleitet habe.
Er brandmarkt die Verlogenheit des Angeflagten, feine
wechjelnden und ſchwankenden Geſtändniſſe. Wie aber
ift der Angeklagte auf den verruchten Gedanken verfallen,
die Schwiegertochter feines Opfers anzufchwärzen? Das
müßige Geſchwätz, ver leere Klatſch, der bis zu ihm in
die Zelle gebrungen ift, hat ihm ven fchlauen Plan ein-
gegeben, durch Verleumbung einer britten Perfon das
eigene koſtbare Leben zu reiten. Einundvierzig Tage hat
Frau Caſſan in der Unterfuchungshaft zugebracht, man
270 Die Ermorbung bes Dr. med. Caſſan.
Hat ihre vertrauteften Angelegenheiten peinlich durchforſcht:
aber ihre Unschuld ift klar zu Tage getreten. Sie hatte
feinerlei Intereffe am Tode ihres Schwiegervaterd, ber
fie und ihre Kinder erbielt. Ste bezog ein Einkommen,
das zum großen Theile von den Ergebniffen feiner Praxis
abbing. Nun da er tobt ift, bleibt fie faft mittellos
zurüd. Die Habſucht allein bat Durand zum Mörber
gemacht, er hat wahrfcheinlich 2300 Irs., deren Ver⸗
bleib nicht anders zu erflären ift, an fich gebracht und
an einem fichern Ort verborgen. ‘Dazu hat er die zwei
Stunden verwendet, bie zwifchen ver That und der Ver⸗
ftändigung an die Polizet verfloffen find. Es gibt für
ihn keinerlei mildernde Umſtände, erjchwerend aber find
jeine abfcheulichen Verleumpungen. Seine chnifche Haltung
an biejer Stelle beweist feine abjolute Verworfenheit.
Der Staatsanwalt Yaroche erörtert nüchtern und
Har alle zwingenden Verdachtsgründe und forbert bie
Todesftrafe, denn der Angellagte verdiene fein Mitleid.
Der Vertheidiger Ferrand fucht in gejchidter Weife,
ohne Frau Caſſan direct zu befchuldigen, darzuthun, daß
noch neue Zweifel in Bezug auf die Verübung bes Ver⸗
brechen® beftänden. Der Beweis, daß Dr. Caſſan be-
jtohlen worben, fei mislungen, ein Beweggrund zu dem
Morde fei nicht erbracht, e8 bleibe unficher, ob ein ober
mehrere Thäter am Morde mitgewirkt hätten, und jeber
Zweifel müffe dem Befchulpigten zugute fommen, eine
Berurtbeilung ſei deshalb nicht gerechtfertigt.
Die Geichworenen haben fich nach einftündiger Be⸗
ratbung über ihren Spruch geeinigt. Sie verneinen
die Schuld des Angeklagten an dem Tode der Philippine
Siccard, bejahen fie jevoch in Betreff der Ermorbung
bed Dr. Caſſan und des qualificirten Diebjtahle. Mil⸗
dernde Umftände werben bem Verurtheilten nicht zuerkannt.
Die Ermorbung bes Dr. med. Eafjan. 971
Durand bricht in Thränen aus und ruft: „Mich
Unfchuldigen verdammt man und die Schuldige läßt man
laufen!”
Der Präfident Garas verfünbigt das Urtheil: Die
Todesſtrafe.
Bei dieſem Proceſſe tritt wieder wie in Frankreich
ſo häufig ein angebliches Liebesverhältniß in den Vorder⸗
grund. Hätte der Angeklagte neben ſeinem Cynismus
und feiner Frechheit eine größere Erfindungskraft be-
fefjen, vielleicht wäre e8 ihm doch gelungen, fich durch
die Verleumbung der an ber That unfchuldigen jungen
Frau zu retten. Aber feine Fabel war zu unglaub-
würdig, feine Angaben wurden zu gründlich widerlegt.
Er fing fih in ven Mafchen des Netzes, welches er gar
zu plump gefponnen hatte ‘Die Stimmung ber Be-
völferung wendete ſich urjprünglich ganz entjchieven wider
Frau Caffan, und es ift ein wirkliches Verbienft ver
Unterfuhung, die Wahrheit an den Tag gebracht zu haben,
Wir halten das Urtheil für ein gerechtes.
Ein Beitrag zu dem Leben und dem Procefle des
Panduren-Oberfien Franz Freiherrn von der Trenck
and feine Haft auf dem Spielberg bei Brünn.
1741 — 1749,
Franz Freiherr von der Trend ift 1714 zu Reggio
in Calabrien geboren. Sein Vater ftand damals bort
als kaiſerlich königlicher Oberftlieutenant in Garnifon,
wurde aber fpäter nach Ungarn verjegt. Der junge Trend
befuchte die Lateinifche Schule der Jeſuiten in Debenburg,
und ſchon damals zeigten fich feine glänzenden Talente,
aber auch feine böſen Anlagen und Eigenjchaften. Im
17. Lebensjahre trat er als kräftiger, in allen Leibes⸗
übungen geübter Jüngling in die öfterreichifche Armee ein.
Aber nach Furzer Zeit quittirte er und nahm Kriegsdienſte
in Rußland. Er war ein wilder Gefell, feine zügellojen
Streiche zogen ihm eine Unterfuchung zu, er wurbe bes
Landes verwiefen. Nach einer andern Mittbeilung hatte
er fih an feinem Oberften thätlich vergriffen und wurbe
beshalb vom Kriegsgericht zum Tode verurtheilt. Es
gelang ihm aber zu entfliehen und die öfterreichiiche Grenze
zu erreichen. Er ging nach Slawonien auf die ihm ge-
hörende Herrichaft Pakracz und vertrieb fich die Zeit mit
Reiten und Jagen und wüſten Orgien, bie in bem Herren-
haufe gefeiert wurden. ALS der Defterreichifche Erbfolge-
frieg ausbrach, ftellte er der Kaijerin feinen Degen zur
Der Banduren-Oberfi Frhr. v. d. Trend. 273
Verfügung. Maria Therefia war von Feinden umringt,
fie nahm Hülfe an, wo fie ihr geboten wurde, denn es
handelte fih um ven Beitand der alten Habsburgijchen
Monarchie. Trend erhielt die Erlaubniß, ein Freicorps
in der Stärke von 1000 Mann zu errichten. Die Leute
drängten fich zu ihm, ſobald er die Werbetrommel rühren
fieß. Wählerifch war er nicht bei ver Aufnahme; muthige,
trogige Männer ließ er ohne weiteres Treue fchwören,
auch wenn fie mit der Juſtiz die bebenflichiten Conflicte .
gehabt Hatten. So mancher Grenzräuber, dem es jchon
an Hals und Kragen gegangen war, fand unter ber von
ihm enifalteten Fahne einen fichern Zufluchtsort. Es
währte nicht Tange, bis er bie erforberliche Zahl von
1000 Mann beifammen hatte. Er marfchirte mit feinen
Truppen nach Wien und führte biefelben am 27. Mai
1741 der Kaiferin vor. Sie hatte fich zu dieſem Behufe
im Wagen vor die Favoriten-Linie begeben und nahm
eine Art von Parade ab. Das Corps war eingetheilt in
20 Freicompagnien, jede zu 50 Mann, nach ferbiicher
Art trugen fie weite Ueberwürfe und rothe Kapuzen,
fie ftarrten von Waffen aller Gattungen. Die Banburen
begrüßten die Kaiferin mit den rauſchenden Klängen ihrer
Muſik, gaben Proben ihrer Gefchidlichfeit und Kampfes⸗
weije und zogen dann in guter Ordnung vor dem kaiſer⸗
lichen Wagen vorüber. Maria Therefia verfolgte das
feltene und intereffante Schaufpiel aufmerkſam, befchenfte
die Panduren reichlich und ließ einige derſelben ihrer
Mutter, der verwitweten Kaiferin Eliſabeth Chriftine,
poritellen. Am folgenden Tage z0g die ganze Schar, von
Tauſenden umwogt und angejtaunt, am Klofter der Sale-
fianerinnen vorüber, um von der Kaiſerin Amalie Wilhel-
mine, der Witwe Joſeph's J., ebenfalls befichtigt zu werben.
Als dies geichehen war, (agerten fih die Panduren einige
XXIV. 18
274 Ein Beitrag zu dem Leben und dem Proceffe
Stunden in der Vorſtadt Landftrafe, nahe dem St. Jo⸗
bannis- Hospital. Am Abend fegten fie über die Donau
und traten den Marſch nach Schlefien an. Dort gaben
fie glänzende Beweife ihrer Friegerifchen Tüchtigkeit. Viele
Meilen weit jchwärmten fie im Rüden des Feindes, fie
verbrannten die Magazine, fingen vie Kuriere auf, be-
unruhigten alle Transporte und verbreiteten überall Ver-
wirrung. Nicht felten haben fie Vorpoften überrumpelt,
preußiiche Offiziere aufgehoben und weggeführt, während
die Schilowache ruhig vor ber Thür ftand, und ganze
Hauptquartiere überfallen und zerfprengt. Die Panduren
pflegten ftetS die Avantgarde zu bilden. Sie ftürmten
unwiberjtehlich vorwärts und warfen nieder, was fich
ihnen entgegenftellte.
Der Oberbefehlshaber der Armee, Graf Neipperg,
erkannte die vortrefflichen Leiftungen dieſer Truppen an,
aber der Panduren-Oberft war dem ftrengen, methobifchen
Manne durchaus unfumpathiih. Trenck bejaß eine hobe,
imponirende Geftalt und ein einnehmenves Weſen, auch
eine gewiſſe Bildung konnte man ihm nicht abjprechen;
aber die vorherrichenden Züge feines Charakters waren
unbändige Wilpbeit, Graufamfeit und Unbotmäßigfeit, bie
er auch feinem Corps aufprägte. Trend hatte ſtrengen
Defehl, auf allen feinen Streifzügen nur gegen bewaffnete
Feinde vorzugehen und nie an wehrlofen Menſchen Gewalt-
thätigfeiten zu verüben. Aber der Dberft gehorchte nie-
mals. Reiſende Kaufleute wurden beraubt, ‘Dörfer und
Städte angezündet und geplündert. Die Panduren fannten
weber Schonung noch Mannszucht und ihr Oberft ging
ihnen mit dem fchlechteften Beiſpiele voran.
Graf Neipperg überzeugte fih davon, daß Trend
unverbefferlich, und daß feine Art, den Krieg zu führen,
mit der Ehre der Kaiferin nicht vereinbar war. Er nahm
des BPanduren-Oberften Franz Frhru.v. d. Trenck. 275
ihm das Commando ab und übertrug bafjelbe einen
ſächſiſchen Major Namens Menzel, welcher früher eben-
falls in Rußland gedient hatte und der ſlawiſchen Sprachen
mächtig war. Als Trend fich weigerte, unter Menzel zu
dienen, wurde er verhaftet und vor ein Kriegsgericht
geftellt; jevoch bald darauf aus dem Arreft entlaffen und
in fein Commando wieber eingejekt.
Im Jahre 1742 focht Trend in der Armee des Feld⸗
marihall® Grafen Khevenhüller in Baiern. Durch
einen fühnen Handftreih nahm er mit feinen Panduren
das Schloß Diefenftein an der Grenze von Baiern und
Böhmen. Zufällig entzündete fich ein Sad Pulver. Trend
ſtand in unmittelbarer Nähe, erlitt jehr jchmerzliche Brand⸗
wunden und wurde zur Heilung berfelben nah Paſſau
gebracht. Der Felomarfchall benutzte dieſe Gelegenheit,
über die Verdienſte des verwunbeten Offizier Bericht zu
eritatten und feine Beförderung zum Oberftlieutenant von
der Kaiferin zu erbitten. Er zählte alle Waffenthaten
Trenck's auf bis zu der Einnahme von Diejenftein und
rühmte feine hohe militärifche Begabung und feine außer⸗
orbentliche Tapferkeit. Er verjchivieg Dabei nicht, daß
Trend mit großer Härte verfahren fei, fo oft e8 ſich um
Beute gehandelt, und daß er mehr als einmal eine über-
mäßige Habſucht an ven Tag gelegt habe, fügte aber Hinzu,
Trend habe verfprochen, fich in dieſem Punkte zu befjern,
und werde dieſes Verfprechen wohl auch halten, denn fein
Vermögen habe bereits eine beträchtliche Höhe erreicht.
Er werbe ſich doch enblich mit dem begnügen, was er
befige, die Kaiferin möge daher bie beantragte Beförde⸗
zung bewilligen, um ihn dadurch in feinem Unglüd zu
tröften und jeine Schmerzen zu lindern. Maria Therefia
erfannte zwar Trenck's Tapferkeit an, aber fein große
fprecherijches, rohes Weſen und fein ausfchweifendes Leben
18*
266 Die Ermorbung bes Dr. med. Caſſan.
Zeugin. Ob! Er hätte es gar nicht gewagt, die
Augen zu ihr zu erheben.
Präſident. Iſt er nicht einmal längere Zeit im
Schlafzimmer Ihrer Herrin geblieben?
Zeugin. Die Gnädige war an biefem Tage un-
päßlich und blieb zu Bette. Er brachte ihr das Diner
hinauf. Das ift überhaupt das einzige mal, daß er mit
ihr allein in ihrem Zimmer war.
Prüfident. Er behauptet aber, daß er vier Jahre
lang ihr Geliebter gewefen ift.
Zeugin. Das wäre das erfte Wort, das ich davon
erführe. (Sie wendet fich mit einer zornigen Geberde
gegen den Angeklagten. Dieſer lächelt.)
Auguft Mercadier, ehemaliger Notar, ein behäbiger,
rundlicher, älterer Herr mit felbftgefälligem, zufriedenem
Gefiht und einem dünnen, Ted aufgewichiten Schnurr⸗
bärtchen, fagt aus:
„Ich bin ber gejchäftliche Natbgeber und Anwalt ver
Frau Andoque, einer Tante der Frau Caſſan. ‘Die
letztere kam bemzufolge, als fie ihres Schwiegervaters
Haus verlaffen Hatte, gleichfalls zu mir, um fich meines
Rathes zu vergewiſſern.“
Präſident. Wiſſen Sie, wo Fran Caſſan den Abend
bes 8. Mat zugebracht hat?
Zeuge. Sie war in Touloufe. Gegen 5 Uhr nad
mittags kam fie in meine Kanzlei, wofelbft wir eine Be⸗
ſprechung mit dem Advocaten Pajol hatten. Von bort
find wir miteinander weggegangen. Wir haben gemein-
Ichaftliche Freunde begegnet und begrüßt. ‘Die Anlagen,
die Durand gegen meine Perfon erhoben hat, find lächer-
lich, ich brauche fie wol nicht zu beantworten.
Angellagter. Frau Caſſan bat mir doch ſelbſt ge-
Die Ermordung bes Dr. med. Eaffan. 267
ftanden, daß der Notar Mercabier ihr derzeitiger Xieb-
baber und ber geiftige Urheber des Verbrechens ift.
Präſident. Das tft doch eine beifpiellofe Infamie.
Was in aller Welt berechtigt Sie zu der Annahme, daß.
ber Zeuge der Geliebte der Frau Caſſan geweſen tft?
Vertheidiger Ferrand Es iſt dies eine DVer-
muthung, für bie gewichtige Gründe ftreiten. Sie find
wie vertraute Freunde miteinander fpazieren gegangen.
Wir haben das von Herren Mercadier ſelbſt gehört. Iſt
es denn ein Verbrechen, ver Liebhaber einer hübſchen
jungen Frau zu fein? (Heiterfeit.)
Frau Andoque beftätigt, daß Durand von Frau
Caſſan ſtets als Bedienter behandelt worden fei. Die
Zeugin hat niemals etwas von vertrauten Beziehungen
zwifchen ihnen bemerkt. „Und ich habe doch fcharfe Augen
für ſolche Sachen!” fügt fie Hinzu. (SHeiterfeit.)
Angeflagter. Ich Lüge nicht. Das lekte Schäfer-
ftündlein, das ich mit Frau Caſſan verbrachte, war am
28. April, an dem Tage, an dem fie nach Albt fam, um
ihre Effecten abzuholen.
Präfident. Sie bleiben alfo dabei, daß Frau Caſſan
Sie an jenem Tage anfforberte, ihren Schwiegervater zu.
tödten, und um Sie hierzu zu bewegen, fich in Beweifen
der Zärtlichkeit überbot ?
Angellagter. Ich Habe es gejagt. Es ift die
Wahrheit.
Zeugin. Das nenne ich eine eiferne Stirn!
Zenge Frenouls, Notar des Dr. Caſſan, beziffert
ben Werth des Vermögens bes Arztes auf 70000 Fre.
Vertheidiger Ferrand. Wieviel Geld bürfte in
der Nacht des Verbrechens im Haufe gewejen fein?
Zeuge. Oh, nur wenig. Ganz wenig.
Präfident. Er batte aber doch nahezu 21000 Frs.
278 Ein Beitrag zu bem Teben und dem Proceffe
und Füßen kreuzweiſe gefchloffen und befam ben zweiten
Tag darauf einen Lieutenant mit zwei Schilbwachen und
aufgepflanzten Bajonetten in mein Zimmer.“
Er erzählt weiter: „Man bat mich 12 Uhr nachts
aus meiner in einem Wirthshaufe in der Kärnthner
Straße befindlichen Wohnung in das Arfenal und von
da in das Stodhaus gebracht und den linken, von einer
Kanonenkugel bleifirten Fuß, der damals noch nicht voll-
ftändig geheilt, fondern gefchwollen war, in Eifen gelegt.
Dadurch ftieg die Gefchwulft fo, daß der wachthabenbe
Offizier Mitleid empfand und Anzeige machte. Durch
meine Freunde wurbe bie Raiferin von diefer Behandlung
in Kenntniß gefeßt, darauf nahm man mir die Feſſeln
von dem kranken Fuße und der einen Hand ab. Nach
18 Tagen wurde ih in das Arjenal zurädtrandportirt
und mir wegen Verſchlimmerung meines krankhaften Zu-
Itandes die fämmtlichen Eifen abgenommen. ‘Die Katjerin
befahl die Reviſion tes Urtheils und ertbeilte mir bie
Erlaubnif, einen Advocaten anzunehmen.“
Am Schluffe Heißt es: „Zu bebauern bin ih, daß
ich nicht alle exrcunable und nie erhörte Umftände, fo in
meinem langwierigen Proceſſe mit untergelaufen, aus
erheblichen Urſachen dem geneigten Leſer fo vorlegen darf,
wie ich e8 wünschte. Ich fage nur, daß mich dieſer Proceß
bei 80000 Gulden gefoftet hat; meine Feinde haben ihr
intentum erreicht. Ste haben mich zum Bettler und bei
der ehrlichen Welt fufpect gemacht, da doch die ganze ver-
nünftige Welt und jeder, fo von mir gehört oder in
Decaffionen gefehen, das unverfälichte Zeugniß werben
geben müſſen, daß ich meiner allergnäpigften Souveränin
als ein treuer Vaſall und Soldat jeverzeit gebient, welches
mir auch der geringfte Musfetier, ja fogar die Feinde
jelbft, gegen welche ich gefochten, mit befräftigen werben.“
des Bandburen-Oberften Franz Frhrn.v.d. Trend, 279
Eine wefentliche Stüße fand der Pandur während bes
Procefjes an jeinem Vetter Friedrich von der Trend,
welcher gerade um viefe Zeit in Wien angelommen war
und mit Hülfe des Dr. Gerhauer in der Angelegenheit fo
fräftig intervenirte, daß das ‚ganze Kriegsgericht und ver
damals allmächtige Hofkriegsrath hätten caffirt werben
müſſen. Die Gegner Trend’8 geriethen durch diefe Wen-
dung in bie ärgſte Verlegenheit. Sie hatten von feinem
Bermögen bereits über 80000 Gulden vertheilt und hielten
infolge der verfügten Sequeftration feine ganze Habe in
ihren Händen. Sie hatten ihn tief verlegt und Tannten
ihn gut genug. Sie fürchteten feine Nache, wenn er bie
Freiheit wiebererlangen follte. Um dieſer ihnen drohenden
Gefahr vorzubeugen, mußten alle Hebel in Bewegung
gefeßt werben, und fie blieben auch fchließlich die Sieger.
Charakteriftiich für den Proceß ift der Umftand, daß
Trend feines Verbrechens wider ven Staat angeflagt und
überwiefen und folglich auch die Confiscation feiner Güter
im Urtheil nicht ausgeſprochen werben konnte. Es hieß
vielmehr ausprüdlich darin: „daß feine Güter in ber
Verwaltung des von ihm gewählten Hofrathes von Kämpf
und feines Freundes Baron Pejacherich bleiben und ihm
alle Jahre die Rechnung von feinen Beamten zugejenvet
werben jollte”.
Wer unparteitich urtheilt, wirb freilich nicht in Ab⸗
rede ftellen fönnen, daß Wolluft und Geiz zwei Grund⸗
züge in Trenck's Charakter waren. Dieſe böfen Leiden-
ſchaften haben ihm zu fehr fchlechten und ſchmutzigen
Handlungen getrieben. Es fteht feit, daß er mehr als
2 Millionen Gulden durch feine NRequifitionen, richtiger
gejagt durch jeine Plünderungen erpreßt hat und unerjätt-
lich immer größere Summen an fi bringen wollte.
Dazu war. ihm jedes Mittel recht. Aber auf der andern
2380 Ein Beitrag zu dem Leben und dem Proceſſe
Seite barf man nicht vergefien, daß er durch die brutale
Art feiner Kriegführung ein Schreden der Feinde geworben
it und große Erfolge für Defterreich errungen bat. Die
Oberften Trips, Menzel und Bärenklau haben ba-
mals auch nicht fanfter gewirthichaftet; aber Fein Menſch
bat fie zur Rechenſchaft gezogen, und Trend war ihnen
an ruheloſer Thätigfeit bei Tag und bei Nat, an Talent
und an unglaublicher Kühnbeit und Erfindungsgeift weit
überlegen.
AS Trend auf dem Spielberge anfam, war berfelbe
für die Gefangenen in der That ein furdtbarer Ort.
Die Sträflinge waren in unterirbifchen Kaſematten unter-
gebracht, welche in der Tiefe die ganze ſüdweſtliche und
norböftliche Seite in doppelten Reihen untereinander ein-
nahmen. In den unterjten Gängen, bie von feinem
Strahl des Tageslichtes beleuchtet wurden, befanden fich
bie fogenannten Arrefte, von benen einer noch jett zum
Andenten erhalten iſt. Es waren dies Zellen von Balken
und Pfoften, die Höhe betrug acht, die Länge fieben, die
Breite vier Schuh, die Eingangsthür hatte eine Höhe von
nur drei Schub. Im diefe Kerker wurden die jchwerften
Berbrecher geworfen und bort mit Ketten angefchlofjen ;
ihre Nahrung beſtand aus Brot und Waffer. Erft Kaifer
Leopold U. milverte im Jahre 1791 diefe ſchaudervolle
Strafe, indem er einen menfchlichern Kerfergrab für alle
Gefangenen einführte.
Der Oberft von der Trend bat mit dieſen Räumen
des Spielbergs feine Befanntichaft gemacht. Die ihm
angewiefene Zelle, die noch heute den Fremden gezeigt
wird, beweilt, daß die Regierung gegen den Panduren
ſehr rückſichtsvoll und human verfahren if. Die Zelle ift
für eine Perſon geräumig genug, fie hat einen guten
Fußboden aus Holzbretern, einen ziemlich großen Kachel-
des Banduren-Oberften Franz Frhrn. v. d. Trend. 281
ofen und genügendes Licht, die Wände waren geweißt.
Ein eigenthümfiches Spiel des Zufalls fügte es, Daß
ungefähr drei Jahrzehnte zuvor der durch feine jonderbaren
Schickſale befannte Barteigänger Graf Claude Aleran-
ber Bonneval dieſelbe Zelle bewohnt hatte. Das Leben
der beiden Soldaten war in vielen Stüden das gleiche;
das eine wie das andere zeichnete fich aus Durch verwegene
Abenteuer und granfame Streiche, aber ihr Lebensenpe
war auffallend verſchieden. Bonneval ftarb ale Paſcha
in einem Paſchalik am Schwarzen Meere und Trend als
Kapıziner. Wer Trend gefannt hatte und ihn dann auf
bem Spielberge wiederſah, wo er feine Leidenſchaften, ins-
bejonbere jeinen furchtbaren Zorn beherrjchen gelernt hatte,
geitand voll Verwunderung, er habe geglaubt, einen ent-
jeglichen Wütherich anzutreffen, und ftatt deſſen einen
Mann von heiterm Anftande, vielfeitiger Bildung, ftolzer
Würde und fchlagendem Wit gefunden. Trend fprach
fieben Sprachen mit volllommener Fertigkeit, er bejaß
eine unglaubliche Leibesftärke, war abgehärtet gegen alle
Strapazen und Tannte feine Müdigkeit im Dienjte, bie
Kraft verjagte ihm niemals. Dazu zeichnete er fich aus
durch einen hohen Wuchs und regelmäßige, fchöne Züge.
Für alle militärischen Dinge Hatte er eine natürliche
Anlage, man konnte ihn einen geborenen KReiteroberjten
nennen, aber er hatte ſich auch umfafjende Kenntniſſe
erworben und war in allen Kriegswiffenichaften zu Haufe.
Seine löwenartige Tapferkeit wurde anerfannt non Freund
und Feind. Er wäre ein Held gewejen, hätte er fich nicht
von feinen niedern Leivenfchaften beherrichen Laffen.
In der Gefangenichaft bejchäftigte er fich mit Lektüre
und fchrieb die Gefchichte feines Lebens nieder, die im
Sabre 1788 in Frankfurt und Leipzig im Drud erfchienen
ift, aber das Ende feines Proceſſes und das Urtheil nicht
282 Ein Beitrag zu dem Leben unb dem Proceffe
enthält, Die Gejellichaft, die er auf dem Spielberg hatte,
beſtand hauptſächlich aus Kapuzinern, fie nannten ihn
einen Mann „in vivis nobis perquam addictus” und
in ihrer Hauschronif rühmen fie ihn als einen „vir valde
versatus ac singulari dexteritate”. Trenck, ben das
monotone Xeben und die Beraubung ber Freiheit ſchwer
prüdte, war ſehr dankbar für jeden Zuſpruch und fchloß
fih gern an die Mönche an. Der noch immer junge
Dann, der vormals die Religion ‚verachtet und veripottet
und in den bairifchen Feldzügen fo manches Klofter an-
gezündet und geplünvert hatte, bejchäftigte fich jeßt mit
religiöjen Studien, er ging in fich, bereute feine Sünden
und fuchte den Troſt der Kirche und PVerföhnung mit
Gott. Man bat gemeint, ver Pandur habe fich verftellt
and durch feine angebliche Umwandlung zeitliche Vortheile
erringen wollen. Wir glauben dies nicht. Es ift pſycho⸗
logisch erflärlih, daß von der Trend in der Stille und
Einfamtleit erfchroden tft vor feinem eigenen befleckten Xeben,
und daß fein Gewiffen ihm feine Ruhe gelaffen bat. Auf
jeden Tall war er weicher, milder und zugänglicher ge-
worden. Er erbaute an der Kirche, die am Spielberge
lag, eine Kapelle. Sie ift zwar fpäter wieder zu iwelt-
lichen Zwecken benutt und die Wohnung des Mauthners
geworben; aber im Volksmunde heißt fie noch jeßt bie
Trend - Kapelle. Kurze Zett vor feinem Tode ließ er
alle Offiziere der Feftungsgarnifon zu fich bitten und be-
fannte in ihrer Gegenwart feine Fehler und die Verbrechen,
für welche er gerechte Strafe leide und in feine jeßige
traurige Lage gekommen jei. Er warnte die Kameraden
unter Thränen vor ähnlichen Fehltritten und bat fie, feiner
auch nach dem Tode zu gedenken und für ihn zu beten.
Es war ihm Ernſt mit feiner Buße, er ftand am Rande
des Grabes und hatte von der Welt nicht$ mehr zu hoffen
bes Pandnren⸗Oberſten Franz Frhrn.v.d. Trend. 283
und nichts mehr zu fürchten, zu welchem Zwecke hätte er
ein leeres Gaukelſpiel, wie man e8 genannt hat, aufführen
follen?
Das Teftament des Panduren-Oberften darf wol auch
als ein urkundlicher Beweis feiner Umkehr und. Sin-
nesänberung angefehen werben. Der Gefchichtichreiber
Dr. Dudik fagt hierüber: „Man kann annehmen, daß fich
das menfchliche Gemüth wahr und offen zeigt, wenn ber
Menſch dem letzten Pulsichlage entgegenhorcht, daß er,
durchbrungen von der Ewigkeit, mit der Welt abjchließend
Worte Spricht, die den Stempel der Wahrheit tragen.
Dies ift um fo gewiffer, wenn Schickſalsſchläge dem
Menſchen Zeit gelaffen haben zu dem Bekenntniß, daß
broben ein höheres Wefen waltet, deſſen Auge über Welten
und Völker, aber auch über den Pfaden jedes einzelnen
geöffnet ift. Dies alles gilt von dem unglüdfichen Ban-
buren- Häuptling, baber Tiegt feine Urſache vor, in bie
Worte, bie wir in feinem Zeftamente lefen, Zweifel zu ſetzen.“
Die entgegengefete Auffaffung fpricht fein durch das
Zeftament freilich getäufchter und benachtheiligter Vetter
Friedrich von der Trend jo aus: „Sein Proceß batte
ſchon viel gefoftet, fein Geiz, die verlorene Hoffnung, ven
Berluft zu erſetzen ober noch reicher zu werben, brachten
feine habfüchtige Seele bis zur Verzweiflung. Seine
Ruhmſucht kannte Feine Grenzen und fonnte nicht beffer
befriedigt werben als dadurch, daß er als Heiliger ftarb
und nad feinem Tode noch Wunder wirkte. Dabin ging
fein Plan, denn er war einer ber gefährlichiten Atbeiften,
er glaubte an Tein Jenſeits und geftattete fich alles, weil
er ein verborbenes Herz im Buſen nährte.“
Trend würde wahrjcheinlich feine Freiheit erhalten
haben, wenn er um Gnade gebeten hätte. Zu einem
folchen Schritte war er jeboch zu ftolz und zu unbeugſam.
284 Ein Beitrag zu bem Leben und dem Proceſſe
Er behauptete feine Unſchuld und forberte nichts weiter
als fein Recht. Dieje Hartnädigfeit fam feinen mächtigen
Feinden ſehr gelegen, denn fie fürchteten fich vor feiner
Rache.
Uebrigens follte feine Haft auf dem Spielberge nicht
lange dauern. Nach den Aufzeichnungen eines alten Kapu⸗
ziners, welcher während feines ganzen Lebens von feinem
Soldaten jo erbaut worben ift und feinen einen jo glück⸗
lihen Tod fterben ſah, wie ven von ver Trend, hörte
ber Pandur am 21. Februar 1749 in ber Nacht eine
wohlbefannte Stimme feinen Namen rufen. Gleich darauf
wurde Trend vom Fieber befallen. Er erjuchte ven Pater-
Guardian der Kapuziner, zu geftatten, daß nach feinem
Tode fein Leichnam mit einem alten Habit befleivet und
mit einem Steine unter dem Kopfe, ohne alle8 Ceremoniell
in ber Kloftergruft beigefegt würde.
Hierauf ſchickte er zwei Stafetten nah Wien zu
jeinem Advocaten Dr. Berger und erjuchte ihn, er möchte
an allerhöchſter Stelle die Erlaubniß zur Errichtung
eines ZTeftaments auswirken. Die Bewilligung hierzu
wurde vor Ablauf von 24 Stunden ertheilt mit dem
Bemerken, „daß Trend über fein Vermögen nach Belieben
bisponiren Tönne, weil Ihre Moajeftät fich nicht das
Geringſte vorbehalte”. Auch wurde ihm eröffnet, er könne
fih eine Wohnung auf dem Spielberge ausfuchen. Erft
am 24. September machte Trend fein Teſtament in
Gegenwart von fieben Zeugen. Es wurde an ben Hof
gefendet. Die Kaiferin Maria Therefia nahm Kenntniß
von dem Inhalte und wurde namentlich durch die Beftim-
mung überrafcht, daß einem von Trenck's Feinden ein
Erbtheil zufallen ſollte. Das ZTeftament erhielt die kaiſer⸗
liche Bejtätigung und Trend die Vergünftigung, fih in
der Stadt Brünn eine Wohnung nehmen zu dürfen. Er
bes Banduren-Oberften Franz Frhru. 0.0. Trend. 285
wollte hiervon Gebrauch machen und in das Kapuziner⸗
kloſter ziehen, aber am 4. October, dem Namenstage des
heiligen Franciscus, ſchied er aus dieſem Leben.
Während ber lebten vier Tage und Nächte waren bie
Rapuzinerpatres Adjutus und Turibins bei ihm geblieben.
„A. nostris dispositus pie moritur“ fteht in der Haus⸗
chronik. Seinem Wunfche gemäß wurbe fein Leichnam
mit der Kutte des Kapuzinerordens befleivet, am 7. Detober
1749 abends halb acht Uhr von etlichen Gefangenen an
das Brünner Thor getragen, bier auf einen Wagen gelegt
und in Begleitung von vielen Offizieren und Soldaten
zu bem Kapuzinerflofter geführt. ‘Der Convent ber Mönche
erwartete den Sarg vor der Pforte, die Laienbrüder trugen
venfelben in die Gruft, und dort wurbe er mitten unter
den bafelbft ruhenden Mönchen beigefekt.
Eine ganz andere Schilderung von dem Enbe bes
Bandurenführers gibt jein Neffe Friedrich von der Trend.
Er berichtet: „Drei Tage vor feinem Tode, da er voll-
fommen gefund war, fieß er dem Commandanten des
Spielbergs melden, er wolle feinen Beichtvater nach Wien
ſchicken, denn der heilige Franciscus habe ihm geoffenbart,
daß er ihn an feinem Namenstage um zwölf Uhr in bie
Ewigkeit abholen würde. Man lachte und fehickte ihm ven
Rapuziner, welchen er nach Wien abfertigte.
„Am Tage nach der Abreife des Beichtvaters fagte der
Pandur: Nun ift meine Reife auch gewiß; mein Beicht-
vater ift tobt und mir bereits erjchtenen. Der Todesfall
beftätigte fich am nächften Tage. Der Pater war wirklich
geftorben. Nun ließ er die Offiziere der Feſtungsgarniſon
zuſammenkommen und fich al8 Kapuziner tonfuriren, in
die Kutte einfleiven, legte feine Sffentliche Beichte ab und
hielt eine ftundenlange Rebe, in welcher er alle aufforberte,
heilig zu werben. Er fpielte den größten, aufrichtigften
286 Ein Beitrag zu dem Leben und dem Proceſſe
Büßer. Dann umarmte er jeden einzeln, ſprach lächelnd
von ber Nichtigfeit der Erbengüter, nahm feierlich Abſchied
und kniete nieber zum Gebet. Eine Zeit lang fchlief er
rubig, nachher ftand er auf und betete wiederum kniend.
Um 11 Uhr mittags am 4. October nahm er bie Uhr
in die Hand und fagte: Gott Lob! die letzte Stunde
naht. Jedermann lachte darüber, denn man bielt e8 für
eine Komödie. Plötlich bemerkte man, daß fein Geficht
auf der linken Seite ganz weiß wurbe. Er feßte fi an
den Tiſch, ftüßte die Arme auf, betete und fchloß bie
Augen. Es fchlug 12 Uhr, er blieb unbeweglich fiten.
Dan rebete ihn an, aber er antwortete nicht, er war tobt.
„Im ganzen Rande verbreitete fich die Kunde von bem
Wunder, daß der heilige Franciscus den Panduren in ben
Himmel geholt habe.
„Die Auflöfung des Näthjels ift aber folgende und nur
mir allein gründlich befannt:
„rend war eingeweiht in das Geheimniß ber foges
nannten Aqua Toffana und batte befchloffen, feinem Leben
ein Ende zu machen. Seinen Beichtoater ſchickte er nach
Wien und gab ihm viele Koftbarfeiten und Wechſel mit,
bie er beijeitejchaffen follte.e Damit ihn ber Kapuziner
nicht verrathen könnte, mußte er in feinem Leibe eine Dofis
Gift mitnehmen, und Trend, der die Wirkung befjelben
genau Tannte, wußte, warn fein Tod eintreten mußte.
Er nahm hierauf felbit Aqua Toffana und fpielte bie
Rolle des Heiligen, um bereinit dem St.-Crispin ober
St.-Florian den Rang ftreitig zu machen. Da er auf
Erden nicht mehr NeichtHum und Macht erlangen konnte,
wollte er im Grabe angebetet werden. Er war gewiß,
daß an feiner Gruft noch Wunder gefchehen würden, denn
er hatte eine Kapelle erbaut, eine Meſſe geftiftet und ven
Kapuzinern 4000 Gulden vermadht.
des Banduren-Oberfien Franz Frhrn. v. d. Trend. 287
„So ſtarb dieſer ganz beſondere Mann im 35. Lebens-
jahre, welchem die Natur feine Gabe, fein Talent verjagt
hatte. Er war die Geißel der Baiern, ber Schreden ber
Franzoſen und hatte mit feinen verachteten Panduren
6000 preußifche Gefangene gemacht. Er lebte als Tyraun
und Menfchenfeind und ftarb als ein heiliger Schurke.“
Das Teftament des Banduren-Oberften, eine in vielen
Richtungen intereffante Urkunde, wollen wir mittheilen.
Es lautet wörtlich fo:
„Spielberg zu Brünn, 24. September 1749.
Teitament.
Im Namen der allerheiligjten und ungetheilten ‘Drei-
faltigleit, Gottes, Vaters, Sohnes und des Heiligen Geiftes.
Amen.
Demnach ich nunmehro gar wohl ertenne, daß das
Ende meines mühfamen Lebens nahe, die Stunde meines
Todes aber ungewiß fei, alfo habe ich, nachdem ich meine
arme ſündige Seele mit ihrem Schöpfer vereinigt und
zur Abreife aus dieſer Zeitlichfeit auf das möglichfte zıt-
bereitet, auch von Alferhöchftibrer Majeſtät meiner Aller-
gnädigften Landesfürftin und Frau zur Verfaffung eines
Zeftaments die Allerhöchſte Erlaubnig erhalten habe,
anmit über das von meinen Eltern und auch von mir
jelbft mit biutiger Arbeit und fteter Lebensgefahr erworbene
Vermögen nachfolgend letztwillige Dispofitionen verfaffen
und errichten laffen und zwar:
8. 1. Da Gott der Allmächtige meine arme Seele
von meinem fterblichen Leibe abforbern wird, befehle ich
biefelbe in bie gnadenreichen Hände Jeſu Chriftt, ihres
Erlöfers, in die Fürbitte der allerheiligften Jungfrau und
Mutter Gottes Maria und des allerheiligften Geiftes.
Mein todter Körper aber fol, wenn Ihro Majeſtät die
288 Ein Beitrag zu dem Leben und dem Procejfe
Erlaubniß, um welche ich Allerhöchſtdieſelbe fußfällig bitte,
allermildeſt eribeilen wird, zu den W. W. F. %. Kapuzinern
allbier in Brünm in ihrer eigenen Gruft, wo fie, die ver-
ftorbenen Kapuziner, ruhen, ohne allem Gepränge, ganz
ichlecht, wie eines andern armen Arreftanten Körper, bei-
gefegt und zur Erbe beftattet, meine Leiche nur von ben
allbier im Spielberg befindlichen armen Arreitanten be-
gleitet und jedem derfelben gleich nach dem Leichenbegängniß
ein Siebenzehner gereicht werben. Sngleichen
8. 2. Sollen unter die übrigen Armen vorderhand
200 Gulden vertheilt werben.
8. 3. Sollen zum Trofte meiner armen Seele gleich
nach meinem Hinſcheiden und weiters, jobald e8 möglich
ift, 600 Heilige Meffen gelefen werben, wozu ich 300 Gul⸗
ben vermache.
8. 4. Verordne ich allwöchentlich eine ewige Stift-
mefje, welche bei ven W. W. F. 3. Kapırzinern zu Brünn,
wofelbft ich begraben fein werde, alle Freitag von einem
Priefter bemeldten Kapuzinerordens ewig gelejen und ges
halten werben foll, und follen von meinem Vermögen
4000 Gulden ficher und unaufheblich auf Verzinfung an⸗
gelegt werben, wovon ich die abfallenden Intereffen jedes⸗
mal den Kapuzinern zu Brünn als ein Almofen für ihre
QZuchmacherei, bejonders aber ein Almojen von 150 Gul-
den gleich nach meinem Tode abzureichen wermache.
8. 5. Vermache ich in die Feftungsfapelle allhier auf
dem Spielberg zur Erbauung eines neuen Altar und
fonften zur Ehre Gottes 3000 Gulden zu wenden.
8. 6. Legire ich 4000 Gulden und verordne, daß
hiermit in einem anftändigen, von meinem unten ernanns
ten Teſtamentsexecutor auszufuchenvden Keinen Stäbtlein
oder Marktflecken in dem Erzherzogthume Defterreich ein
Spitalhaus fir 30 Perfonen erbauet oder erfaufet und
bes BPanduren-Oberfien Franz Srhrn.v.d. Trend, 289
mit den Erforberniffen eingerichtet werben fol. In dieſem
Spital und Haufe follen beftändig verarmte und bes
Almoſens würdige und bebürftige Perfonen beiverlei Ge-
ihlechts, nach von meinem Herrn Zeftamentserecutor
künftig weiters zu machender Einrichtung und von mir
mündlich erhaltenen Information verpflegt und unterhalten
werben. Bor allem aber vorzüglich follen diejenigen armen
und bebürftigen Perjonen in dieſe meine Stiftung und
Spital aufgenommen werben, welche fich legitimiren werben
und können, daß fie in der Stadt Cham oder im Iſer⸗
winkel oder an dem Fluß Iſer in Batern, von dem legten
Kriege ber, verunglüct oder verarmt feien. Die An⸗ und
Einnehmung diefer Perſonen in das Spital foll jederzeit
nach Gutbefinden meines verorbneten Teſtamentsexecutors
und wen er bierzu nach feiner benennen wird, gejcheben.
Zu ewiger Unterhaltung dieſer meiner Stiftung aber ver-
mache ich 30000 Gulden und bis dieſes Fundations⸗
quantum unaufheblich ficher angelegt werben kann, joll
der Betrag der hiervon abfallenden Intereſſen jährlich
1500 Gulden von den Einkünften meiner Güter hiezu
angeivendet und gereichet werben.
8. 7. Vermache der Catharina Rotherin, einem armen
Mägplein, ungefähr ein Jahr alt, um veswillen, weil ihr
Bater in meinem jegigen Arreft getreu und fleißig gebient
und die Ungemacd meines Arrefted mit mir übertragen
bat, vergeftalten 4000 Gulden, daf die hievon abfallenden
Interefjen ihrer Mutter infolange, als dieſes Mägdlein
von ihr chriftlich und gut erzogen wird, und fie ihr das
Nothwendige erlernen läßt, abgereicht werben follen. Sollte
aber mein Teftamentserecutor bei ihrer Mutter eine Ver⸗
nachläffigung biejes Kindes vermerfen, fo mag berjelbe
biefe8 auch anderwärts zur Verforgung geben und bie
abfallenden Intereffen dahin verabreichen. Wenn aber
XXIV. 19
290 Ein Beitrag zu dem Leben und dem Proceffe
biefes Kind erwachfen wird und dann eine anftändige
Heirath over getftliche Standesveränderung mit Eonjens
meines Teftamentserecutord ober deſſen, welchen dieſer an⸗
ftatt feiner hiezu verordnen wird, überkömmt, follen ihm,
diefem Mägplein, auch das Kapital der 4000 Gulden
verabfolget werben.
$. 8. Vermache ich des Herrn Baron Kotulinsky,
k. k. Oberftlteutenant und PVicecommandanten am Spiel-
berg, feinen tigt lebenven ſechs Kinvern, wie auch dem⸗
jenigen, welches feine Frau Gemalin noch unter ihrem
Herzen trägt, zu einem Angebenten jedem 200 Dufaten,
zufanmen 1400 Dukaten.
8. 9. Vermache ich meinem beftellten Herrn Doctor
Berger für die mir getreulich und eifrig geleifteten Dienfte
6000 Gulden zu einer befondern Erfenntlichkeit und jollen
auch dieſe gleich nach meinem Tode ihm abgeführt werben.
Seinen zween Schreibern, weil fie in meinen Angelegen-
beiten viele Mühewaltungen gehabt haben, vermache jedem
300 Gulden, zufammen 600 Gulden, ebenfalls gleich zu
bezahlen.
8. 10. Vermache ich dem Herrn Anton Beyer, welt-
lichen Priefter und Beneficianten auf dem Spielberge,
daß er meiner in feinem heiligen Meßopfer und Gebete
eingebenf jei, 100 Dukaten.
$. 11. Vermache ich dem Herrn Prodetzky, Plab-
lieutnant am Spielberg, zu einem Andenken 100 Dufaten.
$. 12. Vermache ich dem Jakob Nodinger, Wacht-
meijter-Lieutnant am Spielberg, 200 Gulden.
$. 13. Vermache ich dem Duirin Bonnes, Marque⸗
ender am Spielberg, 600 Gulden, damit er mit den
‚Seinigen meiner im Gebete eingedenk fei.
8. 14. Bermache ich dem gewefenen Hautboiften auf
dem Spielberge, Beter Proller, und feinem Eheweibe zu-
des Banduren-Oberften Fran; Frhrn. v. d. Trend. 291
jammen 600 Gulden. Item vem gewejenen Gefreiten auf
dem Spielberge, Peter Grufchfa, 100 Gulden.
8. 15. Vermache ich meinem jeßigen Bedienten Franz
Ignitz 1000 Gulden und
8. 16. Dem ehemalig bei mir in Dienften geftandenen
ungen, Franzel genannt, ver ist in Wien das Weißgerber-
bandwerf lernt, 500 Gulven.
$. 17. Vermache ich dem Franz Schmid, Profofen
‚am Spielberge, 200 Gulden, und dem Franz Wejely,
auch Profofen allda, 100 Gulden.
8. 18. Erfläre und verorone ich, daß ich ober meine
‚Erben von dem Herrn Oberjten Niklas von Lopreti nichts
zu forbern haben, ſondern e8 follen demſelben, nach Ins
halt der von mir in Händen habenven Obligation, die
annoch rüditändigen 6000 Gulden balomöglichft ausmeinen
Mitteln bezahlt werden, wie denn auch dem Herrn Doctor
Gerhauer bie ihm rechtmäßig annoch fchuldigen 1300 Gul-
ben bezahlt werben follen.
8. 19. Vermache ich dem Herrn Hoflammerrath
von Kämpf zu einem Andenken mein ſpaniſches Rohr mit
dem goldenen Knopfe, der ein Meerfräulein vorftellt.
Item dem Herrn Frauenberger, der k. k. Hoflriegsbuch-
Halterei Reitofficier, vermache ich gleichfalls zu einem
Andenken von meinem Gejchmude fo viel, als beiläufig
600 Gulden an Wert ift. Und weil
8. 20. Die Grundfefte eines jeden Teftamentes bie
Einjegung der Univerfalerben ift, aljo benenne und jeße
ich zu meinem Univerfalerben meines Vaters Bruder erjt-
- geborenen Sohn, welcher vor zwei Jahren bei mir in
Wien gewejen, jedoch dergeftalten und unter ben aus⸗
brüdlichen Bebingniffen, wenn dieſer mein Vetter ven
fatholifchen Glauben annehmen, fich in den dfterreichtiichen
Randen jeßhaft machen und von einer fremden Potenz
19*
292 Ein Beitrag zu bem Leben und dem Brocefie
nicht Dienft nehmen oder behalten wird. In dieſem Falle
jollen alfe meine rechtmäßigen Paſſivſchulden, wie auch
bie in biefem meinen Zeftamente verorpneten Stiftungen
und Vermächtniſſe ohne die Falcidia oder andern Abzug
richtig abgeführt werben. Und was über die Abführung
berjelben annoch übrig bleibt, foll ver wierte Theil ihm,
meinem vorbenannten Univerjalerben, zur freien Dispofition
jein, bie übrigen drei Viertheile der verbleibenden Ver⸗
laſſenſchaft follen ihm, meinem Erben, nur quoad usum-
fructum zufommen, und ein ewige® Fidei commissum
fein, folglich jedesmal auf des Erben und Befiters erft-
geborenen Defcenventen allein zum Genuß anheimfallen;
doch daß jeber, fo ver katholiſchen Weligion nicht bei-
gethan, oder in einer fremden Potenz Eivil- oder Militär-
bienften ſteht, dieſes Fidei commissums ganz unfähig
fein folle. Im Falle aber diefer mein Vetter unter vor⸗
. gefetsten Bebingungen mein Erbe nicht fein wollte, ober
nicht fein könnte, fo folle fein Bruder, der zweitgeborene
Sohn meines Vatersbruders, mit feiner männlichen De-
jcendenz, jedoch unter allen obigen Bebingniffen und
Claufeln, mein Erbe und Fidei commissarius fein. Und
wenn auch biefer mein Wetter obige Bedingniſſe nicht
erfüllen, und auf obbeichriebene Art mein Erbe nicht fein
wollte, jo jubftituire ich in folchem Falle zu meinem wahren
Univerfalerben die oben gemachte Stiftung und Spital.
Und follen ihnen beiven meinen Bettern und eingeſetzten
erjten Erben von der ihnen gemachten Intimation meines
und Dispofitivo zu Deliberirung nur ein Iahr ertheilet
fein, nach deſſen Exrfpirirung diefelben pro repudiantibus,
meine gemachte Fundation aber als mein Erbe unabänder-
lich gehalten werben follen.
8. 21. Setze und habe ich in meinen beftellten Herrn
‚Doctor Berger allenthalben mein vollfommenes und feſtes
bes Banduren-Oberften Franz Frhrn.0.d. Trend. 293
Vertrauen, und dahero verorbne ich benfelben zu meinem
Zeftamentserecutor, mit dem Erjuchen, daß er, Herr Doctor
Perger, nach feiner mir befannten Redlichkeit, Eifer und
Fleiß diefen meinen letzten Willen in allen Punkten auf
das genauejte auszurichten bejorgt fein jolle.
822. Schließlich bitte ich Ihre k. k. Majeftät aller—
unterthänigſt, gehorſamſt, fußfällig um Allerhöchſt Dero
Schutz, Protection und Manutenirung dieſes meines letzten
Willens, und daß zur Habhaftwerdung der hierzu erforder⸗
lichen Geldmittel meine Güter in Slawonien nah Thun-
lichkeit zu verfaufen, bis dahin aber die Nußungen einzu-
nehmen Allergnäbigft geftattet werden möge. Wie ich denn
auch beiden k. k. Majeftäten für die mir in meinem
Reben grogmüthig erwiefenen, überhäufigen Gnaden aller-
unterthänigen, fußfälligen Dank erftatte, und in jener
Welt meinen gnädigften Gott, zu welchem ich zu gelangen
hoffe, um ftete Aufnahme und Erhaltung der allerhöchiten
fatferlichen Familie und des allerpurchlauchtigiten Haufes
von Defterreich unabläffig anruffen und bitten werde.
Mit diefem will ich gegenwärtig mein Teſtament im
Namen Gottes, gleichwie ich ſolches angefangen, auch be-
schloffen haben. Zu wahrer Urkunde habe ich dieſe bei
meiner vollfommen gefunden Vernunft nach meinem ganzen
freien Willen gemachte legtliche Dispofition mir von den
hierunter Gezeugten, jedoch venjelben und ihren Erben
ohne Nachtheil, zur Mitfertigung alles Fleißes erbeten,
- Franz Iofeph Kotulinsky, Freiherr von Kollium,
Oberitlieutnant; Johann von Amadi, Oberſtwacht—⸗
meifter und Plagmajor; H. von Wappenhofen,
- Hauptmann von Wolfenbuttel; Johann Konrad von
Hagerer, Oberlleutnant von WVolfenbuttel; Mathias
Kaſchi, Oberlieutnant von Wolfenbuttel; Karl Ema-
nuel de Soldi, Oberlieutnant von Wolfenbuttel.”
294 Ein Beitrag zu bem Leben und dem Procefie
Nach einer vidimirten und dem Teftamente angehängten
Abfchrift ertheilte Trend feinem Freunde, dem Doctor
Perger, folgenden Auftrag: „Mein lieber Herr Doctor
Perger! Ich bitte und beſchwöre Sie, daß, wenn ich ge⸗
jtorben fein werde, Sie bei Ihro Majeftät Aubienz nehmen
und vorftellen follen, daß ich mit demjenigen, was Gott
und meine allergnäbigfte Landesfürſtin über mich ver-
hängt haben, gar wohl zufrieven fei, ja, ich erjtatte ber-
jelben für diefes gnädige Urtheil, gleichwie für alle übrigen,
während meiner Dienjtleiftung häufig erwiejenen k. k.
Gnaden unterthäntgften Dank; denn hierdurch bin ich zur
Erfenntniß Gottes und Wirkung meines ewigen Heils
wunderlich gezogen worben. Und ich habe burch meine
vielen und ſchweren wider Gott begangenen Sünben all
biefes und noch ein mehres verdient. Jedoch zur lebten
Gnabe bitte ich von Ihro Majeftät, meiner großmüthigen
Monarchin, daß, wenn bei Hochberofelben angebracht
worben fein follte, als ob ich gegen Hochderoſelbe eine
Treuloſigkeit begangen, oder zu begeben im Sinne gehabt
hätte, Hochdieſelben folches als eine pure, unwahrbafte
Erfindung halten möchten. Denn ich rufe den gefrenzigten
Gott, der in die Herzen der Menſchheit fieht und vor
deſſen Nichterftuhle ich gar bald auch von meinen Gedanken
werde Nechenfchaft geben müffen, zum Zeugen an, daß
mir weder in meinem Glücke zur Zeit meiner Dienft-
leiſtung, noch auch in meinem Elende während dem Arrefte
ein treulofer Gedanke gekommen fei; fondern ich habe mir
vorgeſetzt, wenn ich meines Arreftes annoch erledigt werben,
und von allem meinen Vermögen nichts als einen Degen
übrig behalten follte, ich folchen niemals anders als zu
Dieniten des Erzhauſes Defterreich gebrauchen würde.
Deswegen will ich auch, daß jeder aus meiner Familie
des Bandburen-Oberfien Franz Frhrn. v. d. Trend. 995
und fünftigen Erben dieſes Willens, oder meiner Erb-
ſchaft unwürdig fein ſollte.“
Die Publicirung des Teſtaments fand am 13. October
1749 in Gegenwart des Doctor Perger ſtatt; allein die
Durchführung der Beſtimmungen deſſelben ſtieß auf große
Schwierigkeiten. Der Haupterbe Friedrich von der Trenck
war ſehr unwillig und erklärte: „Mein Vetter hat ſeinen
letzten Willen in hinterliſtiger Weiſe errichten laſſen. Er
wußte, daß ich nach ſeinem Tode die Verlaſſenſchaft ſeines
Vaters fordern und auch ſicher erhalten würde. Dieſer
hatte bereits im Jahre 1723 die Herrſchaften Preſtowacz
und Pleternitz in Slawonien aus ſeinem Vermögen erkauft,
und noch bei ſeinen Lebzeiten brachte ſein Sohn die Herr⸗
ſchaft Pakracz mit des Vaters Gelde an ſich. Dieſe drei
Herrſchaften hatten daher direct überzugehen und der
Pandur konnte hierüber ebenſo wenig verfügen, wie über
die übrigen von ſeinem Vater ererbten Güter, Häuſer
und Mobilien.
„Alles Vermögen, welches er ſelbſt erworben hatte,
wurde adminiſtrirt; über 100000 Gulden waren ſchon
im Proceſſe verloren gegangen, und weitere 63 Proceſſe
und Forderungen waren gegen ihn bei Gericht anhängig.
„Nun wollte er aber auch Legate in der Höhe von
80000 Gulden machen. Wenn ich daher nach Wien
gekommen wäre, meine avitiſchen Güter von ſeinem Ver⸗
mögen weggenommen und mich um die gegen ſeine Maſſe
eingeleiteten Proceſſe nicht gekümmert hätte, ſo wäre für
die Legatare nichts übriggeblieben.
„Um dies zu vereiteln und mich noch nach ſeinem Ab⸗
leben unglücklich zu machen, errichtete er ein doloſes Teſta⸗
ment, ernannte mich zu ſeinem Univerſalerben, that von
dem Teſtamente ſeines Vaters, welches ihm die Hände
296 Ein Beitrag zu dem Leben unb dem Broceffe
gebunden hätte, gar keine Erwähnung, machte Legate und
Stiftungen, welche beinahe die Summe von 80000 Gulden
erreichten, und fuchte fowol durch feinen bußfertigen Tod
wie auch bie Aufnahme folgender Beftimmungen:
1) daß ich die Fatholiiche Religion annehmen;
2) feinem andern Herrn als dem Haufe Defter-
reich dienen follte; 3) daß bie ganze Verlaffenjchaft,
ohne das väterliche Vermögen auszunehmen, zu
einem Fideicommiß gemacht wurde,
den Schuß der Monarchin für das Teftament zu erlangen.
„Hieraus erwuch® mein ganzes Unglüd, und mich in
baffelbe zu ftürzen, war feine eigentliche Abficht; denn
furz vor feinem Tode fagte er dem Baron Kotulinsty,
Vicecommandanten bes Spielbergd: «Seht fterbe ich mit
dem Vergnügen, daß ich meinen Vetter noch nach meinem
Tode chicaniren und unglüdlich machen kann.»“
Zur Ordnung der BVerlaffenichaft des Panduren Hatte
die Kaijerin Maria Thereſia ein eigenes Handbillet er-
laffen, welches Tautete: „Man foll des Trends legten
Willen auf das allergenauefte vollziehen, die Abhandlung
bejchleunigen, und den Erben in allen feinen Rechten
ihügen.” Die Angelegenheit wurde einer eigenen Come
miſſion übertragen, beftehend aus dem Fürften Trautfon
als Präfiventen; dem Grafen Hardegg und ven Hofräthen
von Hüttner und Schwandtner von der Landes⸗
regierung ; den Hofräthen von Koller und Nagy von
der ungarifchen Kammer; ven Hofräthen von ver Mard
und Stadler vom Hoffriegsrath und Kriegscommiſſariat;
dem Hofratb von Kämpf von der Rechnungsfammer;
leterer hatte mit dem Actuar Frauenberg die Apmini-
Itrationsrechnung zu führen.
Im Jahre 1750 kam Friedrich von der Trend wegen
der Erbichaft nah Wien. Nah Prüfung der Sachlage
bes Banduren-Oberften Franz Frhrn.v.d. Trend. 297
beichloß er, die Erbichaft abzulehnen und auf das fpiel-
berger Zejtament zu verzichten. Er verjchaffte fich eine
bibimirte Kopie des Teſtaments, welches ber Vater bes
Panduren, ver ihm Jahre 1743 als Commandant und
Oberſt zu Leutſchau in Ungarn gejtorben war, in feiner
Eigenihaft als ungarischer Cavalier und Gutöbefiger
errichtet hatte und worin er den Sohn feines Bruders
feinem eigenen Sohne jubjtituirte, falls Diefer ohne männ⸗
liche Erben mit Tode abgeben follte. Diejes Teſtament
war von dem ‘Domkapitel der Zips verfaßt, von fieben
Domherren unterjchrieben und von dem Palatin Grafen
Palffy ratifieirt. Mit piefem Documente erſchien Friedrich
von der Trend perjönlich vor dem Judicium Delegatumt,
welchem vie Negulirung der Berlaffenichaft übertragen
worden war, und erllärte, daß er den Nachlaß des Pan-
buren nicht verlange, die Proceſſe und Legate nicht über-
nehme, und nur das Vermögen jeined Oheims, bejtehend
aus den drei Herrichaften Pakracz, Breftowacz und Pleter-
nig, Rapitalien und Mobilien auf Grund des vorgelegten
Teftamentes fordere. Vor allem wurde verlangt, daß er
den Bebingungen des legten Willens zufolge zum Katholi-
cismus übertrete. Dieſer Schritt machte ihm nicht viel
Scrupel, er fagte in feiner chnifchen Weife: „Es war ein«
mal befchloffen, ich ſollte römijch-fatholifch werden. Was
war zu thun? Ich war jchuß- und hülflos. Durch ein
Geſchenk erhielt ich von einem Pfaffen ein Atteftatum, daß
ich mich befehrt und dem verfluchten Lutherthum abge-
jchworen habe. Ich blieb aber, was ich war, und konnte
mich auch für Millionen nicht entfchließen, zu glauben, was
ber Papft will, daß ich glauben foll. Für Geld und Fürften-
gunft mache ich auch fein Heuchler- noch Gaukelſpiel.“
Friedrich von der Trend kam troßdem nicht weiter.
Das Judicium Delegatum erkannte zwar feine Anfprüche
298 Ein Beitrag zu bem Leben und bem Broceffe
auf die drei flawonifchen Herrichaften als vollkommen
gerechtfertigt an, und referirte auch in biefem Sinne an
die Kaiſerin Maria Therefia; aber die Monarchin fchrieb
eigenhändig zurüd: ‚Der Kammerpräfident Graf Graffal-
fovich nimmt e8 auf fein Gewiffen, daß dem Trend bie
Güter in Slawonien nicht in natura gebühren Man
folle ihm alſo die Summam emtitiam und inscriptitiam
baar herauszahlen, auch alle erweisliche Meltorationes gut
machen, und die Güter bleiben ber Kammer.”
Mit diefer kaiſerlichen Entſcheidung war die Angelegen-
beit beendet und alle Hoffnung Frieprich’8 von der Trend
zu Grabe getragen. Die ihm zugewiejene Erbichaft belief
fih auf 76000 Gulden, womit er bie Herrichaft Zwern⸗
bach in Oeſterreich Taufte.
Um Friedrich von der Trend einigermaßen zu ent»
ſchädigen, ernannte ihn die Kaiferin um die Mitte des
Jahres 1752 zum überzähligen Nittmeifter im Negimente.
Nachdem er auf einer Reife in preußtiche Gefangenfchaft
gerathen war und auf Befehl Friedrich's IL. in Magpeburg
eine vieljährige harte Gefangenfchaft auszuftehen Hatte,
verichaffte ihm im Jahre 1763 die öſterreichiſche Regierung
nicht nur die Freiheit, fondern überhäufte ihn auch mit
Wohlthaten. Der unrubige Kopf endete fein Dafein im
Sahre 1794 in Paris, wo ihn NRobespierre als einen
angeblichen Gefchäftsträger fremder Mächte guillotintren
ließ. |
Aber nicht blos dem Univerfalerben wurden die an⸗
geführten Schwierigkeiten in den Weg gelegt, auch die
Auszahlung der Heinen Legate erfolgte nicht ſogleich. Wie
erwähnt, hatte der Panduren-Oberft ven brünner Kapu⸗
zinern ein Kapital von 4000 Gulden zur Anfchaffung
von Wolle für Ordenskleider und zur Anfertigung ber
Kleider geſchenkt; allein dieſe Schenkung wurde vom Fiscus
des Panduren⸗Oberſten Franz Frhrn. v. d. Trend, 999:
angefochten, und erft durch eine Entfchließung der Kaiferin
Maria Therefia vom 8. Februar 1753 der Bezug ber
jährlichen Interefien von 200 Gulden erlaubt. Auch die
Widmung eines Kapitals von 3000 Gulden zum Bau
eines Altars in ber fpielberger Kapelle wurde angefochten,
und erft im Jahre 1753 befahl die Kaiferin Maria The-
refta, daß von dieſem Kapitale 500 Gulden nebft brei-
jährigen Intereſſen auf den Altar, ver Reit aber auf
eine Mepftiftung für ven Verftorbenen verwendet werben
follten.
Unter den binterlaffenen Aufzeichnungen des Panduren⸗
Oberjten fand man die Grabjchrift, welche er wenige Tage
vor feinem Ende für fich jelbft gemacht hatte. Sie lautet:
Hier unter Diefem Stein
Liegt Trendens Ajche und Bein
Begraben und bevedt
Seynd einige, die dies lefen,
Der euer Freund gewefen
Hat feinen Fall erwegt.
Die Kunft, recht treu zu fterben
Rumb und Ehr zu erwerben
So fage nur, der da will,
Daß Trendens Aſche und Bein
Ruht unter diefem Stein
Ganz milde fanft und fill.
Stehet fill, ihr Sterbliche, hier ruhet euersgleichen,
Der mit euch allen ift aus einem Zeug gemadt;
Euch geht es ebenfo, den Armen wie den Neichen,
Diemweil ihr felbft die Straf mit auf die Welt gebracht.
Liſt, Neid, Berleumdung, Haß und Begierd zu meinen Sachen
Hat diefes Grabmahl mich in Elend ftiften machen,
Doch könnt der Aſchen mein dies Recht noch widerfahren,
Daß es wie Sofrates feine Unſchuld derfft verwahren;
Ah, derfft nach meinem Tod nur meine Unfchuld jagen:
„Hier liegt der treue Trend, wie Sofrates, begraben.”
300 Der Panduren-Oberfi Franz Frhr. v. d. Trend,
So würb’ mein’ Kaiferin aus meinem Tod einjeben,
. Daß Unrecht, fo mir ift von meinen Feinden g’fchehen.
Da liegt, der reben muß, was er zubor geweſen;
Du aber, Wanderer, ſäumb' nicht an biefer Stell,
Hüt' Dich vor Menſchen Lift und bet’ fiir meine Seel.
Der Kapuziner⸗Convent machte zu dieſer Grabjchrift
folgenden Zufag:
Hoc sibi in fine relicto monumento obiit
in suis tristissimis miseriis Fran. Seraph.
L. B. de la Trenk
Deus det illi suam sanctam pacem
Et lux perpetua luceat ei.
Ein Beitrag zu den Proreflen wider die
Carbonari in Italien.
1820 — 1838.
Nach dem Sturze des Kaifers Napoleon I. wurde auch
in Italien die Reftauration durchgeführt. Der greife Papſt
Pius VII. kehrte nach Rom zurüd und ftellte das geiſt⸗
liche Regiment wieder her. König Ferdinand IV. zog
unter dem Schuge Öfterreichiicher Truppen in Neapel ein,
und der alte König von Sardinien, Victor Emanuel, ein
geiftig bejchränfter Mann, verließ die Inſel Sarbinien,
auf welche er fich zurückgezogen hatte, und fette in Pie-
mont und Savoyen, Ähnlich wie ber Kurfürft von Heffen,
alles wieder auf den alten Fuß, als wenn feine Regierung
niemals unterbrochen worben wäre.
Schon früher hatten ſich namentlich im Königreich
beider Sicilien geheime Geſellſchaften gebildet, die fich
Carbonari, Köhler, nannten und das Land vom Joche
der Franzofen unter dem König Murat befreien wollten.
Sie waren ftraff organifirt, befaßen Statuten, verjchiedene
Grade und einflußreiche Leute, namentlich aber niebere
Geiftliche und Soldaten drängten fih zur Mitgliedſchaft.
Nach ver Reftauration wurde das Programm geändert.
Die Carbonari waren Gegner ber reactionären Regierung.
302 Ein Beitrag zu ben Brocejfen
Die Einführung freier conftitutioneller Formen, die Auf-
Hebung der Privilegien des Adels und ver hohen Geijtlich-
feit und in fpäterer Zeit bie Herftellung eines einigen
Italiens waren bie Ziele, die fie erreichen wollten.
Im Sahre 1820 erhob fih in Spanien das Voll und
zwang den abjoluten König, die Conftitution vom Jahre
1812 zu proclamiren und damit in die Reihe der confti-
tutionellen Staaten wieder einzutreten. Auch dort war
ein geheimer politiicher Bund, der fich die Freimaurer
nannte, bie treibende Kraft gewejen. Ihr Erfolg fpornte
die Carbonari in Italien zur Nachfolge. Ein Lieutenant
rief am 1. Juni 1820 an ber Spike einer Schwahron
die „Eonftitutton” aus. ‘Der Brand verbreitete fich purch
Das ganze Land; der geängftigte König, ver nicht einmal
feinen Generalen trauen konnte, gab den Miniftern den
Abſchied, erfegte fie durch freifinnige Männer und ver-
fündigte die ſpaniſche Conftitution von 1812 als das
Grundgefe des Landes. Dieje Verfaffung paßte freilich
nicht für Die Zuftände und das Bolt Neapels, aber fie
war damals das Panier, um welches fich die Carbonari
jammelten. Die Armee und das Bolf und auch ver Hof
nahmen die Farben bes bis dahin ftreng verbotenen
Geheimbundes: ſchwarz, roja und himmelblau, an, und am
1. October wurde vom Könige das Carbonari-Parlament
in Neapel feierlich eröffnet.
Es ift bekannt, daß auf Metternich’8 Betrieb die Groß-
mächte Defterreich, Preußen und Rußland auf ven Eon-
grefjen in Troppau und Laibach beichloffen, die Revolution
in Neapel mit Gewalt zu unterbrüden. General Frimont
marjchirte mit 60000 Mann Dejterreicher über die Grenze
bes Königreichs. Die Neapolitaner leifteten kaum Wider⸗
ftand, die Truppen liefen faft regelmäßig auseinander,
ehe es zum Kampfe fam, die Häupter der Carbonari
wider die Carbonari in Italien. 303
ergriffen die Flucht; am 24. März 1821 z0g der General
in Neapel ein, und num begann eine maßloſe Reaction.
„Das Volk wurde entwaffnet, jever Verpächtige verhaftet.
Htnrichtungen und Güterconfiscationen richteten grauſame
Berheerungen in den wohlhabenden und gebildeten Klaffen
an. Jetzt holte König Ferdinand die Rache nach, die er
bei feiner erjten Wiedereinjegung in Neapel geipast hatte‘,
berichtet ein -zuverläffiger conjervativer Gejchichtichreiber.
ALS Defterreich feine Streitkräfte aus der Lombardei
nach Neapel geſchickt hatte, brach in Piemont eine mili⸗
tärifche Revolution aus. Auch hier waren bie Carbonart
thätig gewejen. Ein Oberft brachte am 9. März 1821
in der Feitung Aleffanpria auf die ſpaniſche Conftitution
von 1812 ein Hoch aus, und Soldaten und Volk fielen
ihm zu. Der König trat die Regierung an feinen Bruder
Karl Felix ab, der in Modena lebte, und die Negentfchaft
an einen entfernten Verwandten, Karl Albert, Prinz von
Carignan. Dieſer erjchien mit ber breifarbigen Fahne
auf dem Balkon des Schloffes in Turin, war aber vor-
fichtig genug, fich nicht weiter mit der Revolution zu
engagiren, ertbeilte vielmehr einer Deputation, die zu dem
neuen König Karl Felix geſchickt wurbe, den Auftrag,
bort zu melden, daß er die Bewegung entſchieden mis-
bilfige. Als der Pöbel den öſterreichiſchen Geſandten aus
der Stadt jagte, verließ der Prinz von Carignan das
Land. Die Armee fpaltete fih, ein Theil derſelben trat
auf die Seite der Defterreicher, und fo hatte General Bubna
leichte Spiel. AS er mit einem anfehnlichen Truppen⸗
corps heranzog, hatten die Rebellen nicht ven Muth, eine
Schlacht anzunehmen. Sie Löten fih auf und Zurin
wurde von bem General ohne Widerſtand beſetzt. “Der
König wollte nichts mehr wiffen von ber Regierung, fein
Bruder Karl Felix, ebenfalls ein ſchwacher, Tinverlofer
304 Ein Beitrag zu den Procefien .
Greis, ergriff pie Zügel des Negiments und behielt bis
zum Jahre 1823 eine öfterreichifche Beſatzung im Lande.
In der Lombardei hatten fich die Carbonari trog Der
wachſamen öfterreichifchen Polizei ebenfalls ausgebreitet,
und auch ein zweiter Geheimbund, die Adelfia, der aus
Tranfreih ftammte und den Königsmord prebigte, ſuchte
Anhänger und Boden zu gewinnen. Schon im Jahre 1819
waren verichievene Perſonen wegen hochverrätberifcher
Umtriebe verhaftet, proceffirt und zum Tode verurtheilt
worden. Aber der Kaifer von Defterreich Tief Gnade
walten und verwandelte die Todesſtrafe in mehr oder
minder lange Kerferftrafen.
Am 29. Auguft 1820 erjchten auf Taiferlichen Befehl
eine Belanntmachung, in welcher auf die Zwede ver ge=
heimen Gefellichaften bingeiwiefen und vor der Mitgliep-
Ichaft ernftlich gewarnt wurde, Es war umfonft, noch in
bemfelben Jahre wurde eine Verſchwörung in Mailand
entdeckt, an deren Spite ver Graf Luigi Borro Lamber-
tengbi ftand. Es gelang ihm, fich der Verhaftung durch
rechtzeitige Flucht zu entziehen, aber er wurde in contu-
maciam jchuldig geiprocdden und mit der Zobesftrafe
belegt. Seine Genoffen, etwa dreißig an der Zahl, wur-
ben theil® zum Tode, theils zu Arreftftrafen verurtheilt.
Der Raifer feste auch in biefem Falle an bie Stelle ber
Tobesftrafe fchweren Kerfer in ver Dauer von ſechs bis
zu zwanzig Jahren.
Trotz dieſer abſchreckenden Exempel beſtanden bie
Geheimbünde in der Lombardei weiter, die Zahl ihrer
Mitglieder vermehrte ſich ſogar, namentlich die amt
organiſirte ſich feſter und beſſer als vorher. ©. zenze
ben Namen „Geſellſchaft der erhabenen, volllommenen
Meifter” (Societa de sublimi maestri perfetti) ar.
Die oberfte Leitung des Bundes hatte ihren Sig in Genf
wider die Carbonari in Stalien. 305
und nannte fich das „Große Firmament“; unter ihr ſtanden
die „Synoden“ und die ‚Kirchen‘, bie Vereinigungen be&
Bundes in einzelnen Städten und Provinzen Italiens.
Das anerkannte Haupt der Carbonart in der Lom⸗
barbei, die nicht identisch waren mit den Angehörigen ver
Avelfia, aber doch in gleicher Weife wie dieſe eine Revo—
lution herbeiführen wollten, war im Jahre 1821 der Graf
Confalonieri.
Schon etliche Jahre zuvor hatte die Umfturzpartei in
Mailand einen revolutionären Straßentumult angeftiftet,
deſſen Opfer der damalige Finanzminifter Prina wurde,
Der Graf batte feine Hand dabei im Spiele, man maß
ihm die Schuld an dem vergoffenen Blute bei. Er fand
fich deshalb veranlaßt, eine längere Reife anzutreten. Er
begab fich nach England und Frankreich, befreundete fich
dort mit den Führern der Oppofition und kehrte erft
nah einem Iahre nah Mailand zurüd. Die Erinnerung
an die Ermordung des Minifters Prina war indeß noch
immer lebendig, man machte ihn von neuem bafür ver-
antwortlih. Er veröffentlichte nun eine im Ausland
gedrudte Schrift, in welcher er die Theilnahme an jenem
Verbrechen entſchieden zurücdwies, aber feine politiichen
Grundfäge ziemlich offen ausfprah. Er befannte, daß
bie Unabhängigleit Italiens das höchfte Ziel feiner Wünfche,
und rühmte fih, daß er niemals ein ergebener Diener
ber Regierung gewejen fei und auch in Zukunft feine
Unabhängigkeit fich bewahren werde. Sein Haus wurde
ber Mittelpunkt der unzufriebenen Elemente, und er felbjt
corp8 . wbinbungen an mit ben gleichgefinnten Männern
Schlai-ı Cheilen Italiens. Im November 1820 kam er
„in ernem piemontefifchen Freunde in Vigerano zujammen,
um zu beiprechen, wie man bie Herrichaft Defterreichs
brechen könne, im December vefjelben Jahres reifte er
XXIV. 20
306 Ein Beitrag zu ben Proceſſen
nach Florenz zu gleichem Zwede. Es wurde ausgemacht,
daß der Marfch des Bfterreichiichen Heeres gegen bie
Rebellen in Neapel das Signal fein follte zu der allge-
meinen Revolution in Italien.
Im Ianuar 1821 erhielt er eine Einladung nach Turin,
fonnte verjelben jedoch Feine Folge geben, weil er krank
wurde. Er ſchickte als Stellvertreter feinen vertrauten
Freund Joſeph Pecchio dorthin und dieſer berichtete ihm
nach feiner Rückkehr: Alle Parteigenofjen in Piemont
hätten fich für die fpanifche Conftitution ausgefprochen.
Die geheimen Gefellfchaften breiteten fich immer weiter
aus und ftänden untereinander in der engjten Verbindung.
Die Truppen in Piemont würden zur feitgefeßten Zeit
fich empören und ven alten König zwingen, bie jpanijche
Conftitutton anzunehmen. Für ven Fall feiner Weigerung
jeten bereit Vorkehrungen getroffen. Gleich nach dem
Ausbruch der Revolution folle ein bedeutendes Truppen
corps in die Lombardei geworfen werben. Im Norbitalien
müffe aus Piemont und ben öfterreichiichen Provinzen
ein neuer, nach dem Mufter Spaniens conjtitutioneller
Staat gebildet werden. Pecchio überbrachte die Statuten
des Bundes und den in lateinifcher Sprache abgefakten
Aufruf, durch welchen die in der Lombardei ftehenden
ungariſchen Zruppen für die Verfchworenen gewonnen
werben jollten.
Der Graf Eonfalonieri berieth nun eifrig mit jeinen
Genoſſen in Mailand. Er händigte einem gewifjen Phi-
lipp Ugoni 4000 Liore ein, um mit biefem Gelbe an
einem noch zu beftimmenden Termine einen Volksaufſtand
in Mailand in Scene zu feßen. Einem thätigen piemon-
tefifchen Emiffar, welcher zu ihm kam, gab er gemauen
Aufihluß Darüber, was in der Lombardei zu Gunften ver
gemeinschaftlichen Sache gefchehen ſei und noch geſchehen
wider die Carbonari in Italien. 307
werde. Einem Abgefandten aus Parma ertheilte er In⸗
‚fiructionen, wie man fich dort verhalten ſolle. Er be-
theiligte fih an einem Complot gegen den commanbiren-
den djterreichiichen General in der Lombardei, den man
ermorden wollte, weil man feine Zapferfeit und Energie
fürchtete.
Mit ſeinem Freunde Pecchio, der mit Geld verſehen
im März 1821 wieder nach Piemont geſchickt wurde, und
mit dem Marcheſe Beningno Boſſi aus Turin unter⸗
hielt Confalonieri eine regelmäßige Correſpondenz, um in
allen Stücken Hand in Hand zu arbeiten.
Der ſchon genannte Philipp Ugoni ging nach Brescia,
um daſelbſt einen Aufſtand vorzubereiten, und kehrte im
März 1821 mit ſeinem Freunde Tonelli nach Mailand
zurück. Beide referirten über den Stand der Dinge und
empfingen mündlich von Confalonieri Anweiſungen wegen
des Vorgehens in Brescia. Er entwickelte ihnen den
Plan und die Organiſation der Italieniſchen Conföderation,
las ihnen eine Schrift darüber vor und forderte ſie auf,
ſich hiernach zu richten.
Confalonieri war es, der neue Mitglieder in das
Complot aufnahm. Er traf Vorbereitungen zur Organi⸗
ſirung einer Nationalgarde und ſorgte für genügende
Waffen. Ja es wurde ſogar die Einführung einer pro⸗
viſoriſchen Regierung berathen und feſtgeſetzt: Die Junta
in Mailand ſollte eine Hülfsjunta für diejenige ſein, welche
mit dem Ausbruch der Revolution in Turin in das Leben
treten würde, und Pecchio ſollte beiden Junten angehören,
damit ihre Wirkſamkeit eine einheitliche bleibe. Die oberfte
Behörde wurde in fieben Sectionen eingetheilt: für bie
auswärtigen Angelegenheiten, das Innere, ven Krieg, die
Zuftiz und Gefeßgebung, die Finanzen, die öffentliche
Sicherheit und den Eultus. Man wählte die zur Leitung
90*
308 Ein Beitrag zu ben Procejffen
dieſer Sectionen beftimmten Perfonen und die Secretäre.
Der Vorfig in diefer Junta wurde ohne Widerfpruch dem
Grafen Confalonieri eingeräumt. Im Augenblide des
Einrückens piemontefifher Truppen jollte fich die Junta
ber höchiten Gewalt bemächtigen und ganz Italien revo⸗
Iutioniren.
Die Ereignifje gingen zu langfam für Confaloniert’s
Wünfche. Er verabrevete deshalb mit dem Marcheſe
Ballavicini, einem Mitverfchiworenen, daß biefer fich
nach Piemont begeben und bafelbft den Ausbruch der
Bewegung beichleunigen folle. Bei näherer Weberlegung
wechfelte jedoch Confalonieri feine Meinung. Er über-
zeugte fich davon, daß eine mit Schwachen Kräften unter-
nommene Expedition die Pläne gänzlich vereiteln mußte.
Er warnte daher bald nach der Abreiſe Pallavicini's
Iriftlich vor Uebereilung und rieth, da die öſterreichiſchen
Truppen joeben zufammengezogen würden, mit einer ftarfen
Armee in der Lombardei aufzutreten. Er werbe für gute
Aufnahme und Verpflegung Sorge tragen.
Auch mit den italienifchen Flüchtlingen in Genf und
in Frankreich Tnüpfte Confalonieri Beziehungen an, —
furz er war unermüblich thätig, um den Boden zu unter-
wühlen, und als er von dem Ausbruch der Revolution
in Piemont Kunde erhielt, traf er mit dem werabfchiebeten
General de Meefter, der ſchon früher einmal in eine
Verſchwörung verwidelt gewejen, aber vom Kaifer be⸗
gnadigt worden war, alle Veranftaltungen zu einem Auf-
ftande in Mailand.
Allein die Polizei hatte fchon feit geraumer Zeit ein
wachſames Auge auf ihn und feine Partei gerichtet. Seht
IHritt fie ein. Der Graf Confalonieri, der Marcheſe
Pallavieini und viele Genoffen wurben gefänglich ein-
wider bie Carbonari in Italien. 309
gezogen. Der Ergeneral ve Meefter, Pecchio und andere
hatten fich durch eilige Flucht gerettet.
Einige Zeit nachher machte bie Polizei noch einen
wichtigen Bang. Alerander Philipp Andryane von
Baris diente in den Hundert Tagen als Adjutant bes
Generals Merlin, welcher ein Schwager feines Bruders
war, Nachdem bie Bourbonen ven Thron beftiegen hatten,
fehrte er in das Privatleben zurüd. Cr gerieth in
Schulden, follte deshalb in Arreft gefettt werben, verließ
Paris und begab ſich nach Genf. Hier lernte er ben
toscanifchen Flüchtling Buonarotti kennen. Sie fchloffen
Freundſchaft. Buonarotti unterrichtete den Franzojen in
Mufit und italienischer Sprache und warb ihn an für
bie revolutionäre Partei.
Andryane bielt fich drei Jahre in Genf und der Um⸗
gegend auf, machte mitunter geheimnißvolle Reifen nach
Paris, die politifche Zwecke verfolgten, und ging dann nach
Italien, um auch hier den Boden zu unterwühlen. Er
hatte Inftructionen, welche ihm vorfchrieben, welche Orte
er befuchen follte, und Briefe an beftimmte Perfonen, mit
denen er fi in Verbindung zu ſetzen hatte. In Bellin-
zona und in Lugano hatte er DBeiprechungen mit dort
lebenden ptemontefichen Flüchtlingen, und auch in Mai-
land verhandelte er mit etlichen gleichgefinnten Männern.
Die dortige Polizei fand fich veranlaßt, feine Papiere zu
unterfuchen, und ftellte dadurch feit, daß er ein Emiſſar
des unter dem Namen „Erhabene, vollkommene Meiſter“
befannten Geheimbundes war. Das Große Firmament in
Genf hatte ihn beauftragt, den Bund in Stalten auszu⸗
breiten, bafelbjt neue „Kirchen und neue „Synoden“ zu
ftiften und dieſe an das Centrum in Genf anzufchließen.
Bon dort follten fie dann weitere Befehle erhalten, um
neue Umwälzungen in Italien und den Sturz der Re⸗
310 Ein Beitrag zu ben Proceſſen
gierungen zu erreichen. Man hatte ibn ben Gran eines
„außerorventlichen Diakons“ beigelegt, um ihn mit einer
größern Autorität auszurüften. Aus den in Beſchlag
genommenen Papieren ergab fih, daß die Mitgliever des
Bundes die Religion abſchwören und fich eidlich ver-
pflichten mußten, alle phyſiſchen, intellectuellen und pecu⸗
niären Kräfte der Verbreitung des Bundes zu wibmen,
und den Dbern pünltlichen und blinden Gehorfam zu
leiften. Ä
In den höhern Graden feierte man vier Weite, die fich
an Gedenktage der franzöfiichen Revolution anjchloffen,
und in dem Programm hieß e8: Dem Volle ſei Unwillen
und Haß gegen die Fürften und bie Geiftlichkeit einzu⸗
flößen, es müffe zur beftigften Erbitterung gegen die
Geiftlichfeit gereizt werben. Beim Ausbruch einer Nevo-
Iution folle man das Volk plündern und feine Hände in
das Blut der Adeligen und der Priefter tauchen laſſen,
bamit e8 dadurch feit an die revolutionäre Partei gebunden
werde. Die Errichtung der conjtitutionellen Monarchie
fei nicht der wahre, fondern nur der nächite Zwed, bie
gänzliche Zerftörung aller Monarchien und bie Einführung
der Republik ſei das eigentliche Ziel.
Die Unterjuchung gegen den Grafen Confalonieri aus
Mailand und Genofien und gegen Alexander Philipp
Andryane aus Paris wurden getrennt geführt. Eine
Specialcommiffion in Mailand war damit betraut.
Am 27. Auguft und am 9. October 1827 fällte ber
Iombarpijch-venetianifche Senat des oberjten Gerichtshofs
in Berona das Urtheil: Friedrich Graf Confalonieri,
Peter Borfieri, Georg Marcheſe Pallapicini,
Cajetan Eaftillia, Franz Freiherr von Arefe,
ſämmtlich aus Mailand, Andreas Tonelli aus Coccaglio
in der Provinz Brescia und Alerander Philipp An»
wider die Carbonari in Stalien. 911
drhane aus Paris wurden bes Hochverraths für ſchuldig
erflärt und zum Tode durch den Strang verurtheilt, gegen
neun Angeklagte, unter ihnen Joſeph Pecchio und Jakob
Philipp de Meefter aus Mailand, die flüchtig geworben
waren, erfannte das Gericht in contumaciam ebenfalls
auf Topesftrafe, acht Angeklagte wurden von der Inftanz
entbunden, aber ſolidariſch als Haftpflichtig für ven Erſatz
der Proceßkoſten erflärt, ein Angeflagter wurde frei=
geiprochen.
Der Kaiſer befahl kraft höchſter Entjchliegungen vom
19. December 1823 und 8. Januar 1824, e8 jollten bie
Todesſtrafen wider die in Haft befindlichen Inculpaten
nicht vollftredt, jondern in fchwere, auf dem Spielberge
bei Brünn zu verbüßende Kerferjtrafen verwandelt werben.
Die Kerkerftrafe ward für Confalonieri und Andryane auf
Lebenszeit, für Borfteri, Pallavicini und Caftillia auf 20,
für Zonelli auf 10, für Arefe auf 6 Jahre feſtgeſetzt.
Der Gnabenact wurde fo motivirt: „Wenn Seine
Kaiſerlich Königlihe Apoftoliiche Majeſtät fich bewogen
gefunden haben, die gegen überwiejene Verbrecher aus⸗
geiprochene, nur allzu gerechten Urtheile jelbft binfichtlich
jener Berurtheilten, welche die Strafe am meiften ver-
dient hatten, zu mildern, jo war dieſer Entjchluß des
Monarchen auf das Gefühl feiner eigenen Kraft und
ber Teltigfeit des Staatsgebäudes gegründet. Bei ber
Treue der Völker, welche fie gerade an den Orten, wo
die Verſchwörung wirken follte, in der entjchiebenften
Weije an den Tag gelegt hatten, konnte das Unternehmen
nur mit dem Verderben ber Schuldigen enden; unerfchütter-
lich find aber die Regierungen, welche auf folcher Gewähr:
leiftung ruben.”
Der Graf Eonfalonieri und feine ſechs Leidensgefährten
wurden auf ven Spielberg gebracht und bajelbit eingeferfert.
312 Ein Beitrag zu den Proceſſen
Wir kennen bereits die Gefängniffe aus dem Procefje wider
den Freiherrn von ber Trend, aber es tft Doch von Inter-
effe, das Urtheil eines Franzofens Namens Remacle zu
hören, welcher im Auftrage feiner Regierung im Jahre
1838 den Spielberg bejuchte. Er berichtet: „Wir betraten
nicht ohne Erſchütterung die Zellen ver Gefangenen. Die
Heinfte bat nur 4 Fuß 50 Zoll in der Breite und 6 Fuß
50 Zoll in der Tiefe. Ein Felpbett mit einem dünnen
Strohſack und einer wollenen Dede für jeden Gefangenen
nimmt einen großen Theil des Raumes ein. Das Tenfter
beginnt 6 Fuß über dem Boden und hat eine Deffnung
von 2 Fuß. Alle Kerker werben fteben Monate im Jahre
mit Defen geheizt. ‘Die Kerker im Erdgeſchoß haben bie
beſondere Eigenfchaft, daß eine eiferne Stange mit einer
daran hängenden 3 Fuß langen Kette an der Mauer
befeſtigt iſt. Vor dem Erlaß der Tatferlichen Verord⸗
nung, welche ven fchwerften Kerfergrad abfchaffte, wurden
bie zu dieſer Strafe verurtheilten Unglücklichen am Abend
mittel® ihres eifernen Gürtels an dieſe Kette gejchloffen,
fodaß fie fih kaum auf ihrem harten Lager ausftreden
fonnten. Wenn die Marter ihnen ein jtarfes Gefchrei
auspreßte, ftopfte man ihnen eine fogenannte Mund-
birne, db. h. eine burchlöcherte, mit Pfeffer angefüllte
eiferne Hohlfugel in den Mund, welche ihre Bein auf
das äußerſte fteigerte. Es befanden fich im Jahre 1838
auf dem Spielberge noch zwei Gefangene, welche ben
ichwerften Kerfer ausgeftanden hatten: einer 18, der andere
20 Jahre lang. Der erftere war ſtark und gejund, ber
zweite dagegen an allen Gliedern lahm. Sekt ift die Strafe
dieſelbe für alle Gefangenen, nämlich der fchwere werte,
bie Dauer aber iſt verſchieden.
„Die Sträflinge müſſen im Sommer um Y,5 uhr, im
Winter um 6 Uhr aufſtehen. Nach dem Gebet wird zur
wider bie Carbonari in Italien. 313
Unterfuchung ihrer Feſſeln gefchritten, hernach werben fie
in die Werfftätten geführt, dort wird jeder einzelne vor
Beginn der Arbeit noch einmal unterfucht. ‘Der Gefangene
erhält jeden Tag 1'/, Pfund Brot. Um halb 11 Uhr wird
bie Mittagsmahlzeit gehalten, fie beftehbt aus 2 Seibeln
Suppe und 2 Seibeln Gemüfe für den Mann. Nach
ber Mahlzeit ruben fich die Leute in den Höfen eine Stunde
lang aus, Die Arbeit wirb jedem nach feinen Kräften
zugemeffen. Wer diefelbe nicht vollbringt, wird beftraft.
Am Sonntag ruht die Arbeit, aber auch die Erholung in
ben Höfen fällt weg. Nach dem Gotteöbienfte, an welchem
alle theilzunehmen haben, bleiben die Gefangenen müßig
in ihren Zellen.
„Die Aufficht ift ſehr ftreng. Diejenigen, welche fich
gut führen und das Vertrauen der Beamten erivorben,
werben Zimmerväter und Zimmermütter. Obgleich mehr
als zwanzig jugendliche Gefangene, die das 20. Lebens⸗
jahr noch nicht erreicht haben, vorhanden find, fehlt es
an einer Schule.
„Der Spielberg ift jegt Tein ftrengeres Gefängniß für
jchwere Verbrecher al8 andere gleichartige Anftalten. Für
Leute von Bildung, für politifche Verbrecher, für einen
Silvio Pellico und einen Maroncelli freilich ift biefer
Aufenthalt fchredlich. Unterhalb der Kerker, die jebt
benugt werben, gibt es noch eine zweite und unter biefer
noch eine britte Reihe, an welche man nicht ohne Grauen
benfen kann. Ein unterirdifcher Gang führt zu der zweiten
Reihe, je vier Zellen, von denen jede Raum hat für
15 bi8 20 Mann. Bor etwa fünf Jahren ſchloß man
bier noch Räuber und Mörder ein, jegt werben fie nur
noch jelten auf kurze Zeit belegt, als außerordentliche
Strafe für Vergehen gegen die Hausordnung. “rüber
haben mehreremale Sträflinge ſich in bie Tiefe Kinein-
314 Ein Beitrag zu den Proceſſen
zuwühlen unb zu entkommen verfucht. Von breißig bis
vierzig Verjuchen find indes nur drei geglüdt, und ein
Sträfling wurde wieder ergriffen, ebe er unten am Berge
angelangt war.
„sm Jahre 1794 ſaß ein Franzofe Namens Drouet
aus Varennes, Mitglien des Nationalconvents, auf dem
Spielberg. Er machte aus den Beſtandtheilen feines
Bettes ein Seil und ließ fich durch das Fenſter in bie
Tiefe, fiel aber und brach ein Bein. Man ergriff ihn
und brachte ihn zuräd in die kaum verlaffene Zelle.
Zwei Jahre jpäter erhielt er die Freiheit, er wurbe gegen
die Tochter Ludwig's XVL, die Herzogin von Angouleme,
ausgewechjelt.
„Beſagte Kerker tragen ven Namen «Franz». Der
Gang unter der Erde fällt jäh ab und führt dann zu
dem fchredlichiten heile des Spielbergs, der unterften
Stufe ver Kerker, 34 an der Zahl, welche fih 60 Fuß
tief in der Erbe befinden und «Maria Therefia» genannt
werben. Nur ein einziger iſt übriggeblieben, gleichlam
als Andenken an die Unmenfchlichleit früherer Zeiten.
Es iſt ein aus Ballen beftehendes enges Behältnig mit
einer Heinen verjchloffenen Deffnung zum Einjchieben ver
Nahrung. Unten befindet fich eine größere verjchloffene
Deffnung, Durch welche der Verurtbeilte Hineingebracht
wurde. Kein Tageslicht, keine friſche Luft kann einbringen,
Der bedauernswürbige Bewohner aß ober ftand in feinem
Käfig und war mit einer fchweren Kette angefchloffen.
Das fürcterliche Loch war dunkel und feucht. Dreimal
in der Woche erjchien ein Gefangenwärter und brachte
das zur Friſtung des Lebens nothwendige Brot und
Waſſer. Die Gefangenen wurden in ber Regel jchnell
erlöft von ihrer Bein, denn länger als ſechs Monate hielt
e3 felten ein Menſch aus.”
wider Die Carbonari in Italien. 315.
Remacle Inüpft an feine Schilderung folgende Bemer-
tungen: „Frankreich hat Schon im 16. Jahrhundert biefe
hölliſchen Gefängniffe, welche man den Italtenern und
Englänvern nachgemacht hatte, abgeſchafft. Deutſchland
bat fie bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts beibehalten.
Seit funfzig Iahren tft die Strafgejeßgebung in Frank⸗
veich fo gemildert worben, daß fie faft einen Theil ihrer
Wirkſamkeit verloren hat. Defterreich hatte noch vor fünf
Jahren feine unterirdiſchen Kerker. Ein ebler, gefühlvoller
Staliener, Silvio Pellico, welcher das Opfer feines
heißen Patriotismus geworben ift, hat die fchredlichen
Leiden des Spielbergs felbft erbulden müſſen. Er hat
dieſelben mit einer geiwandten ever und im Tone eines
gemäßigten Unwillens in chriftlicder Ergebenheit wor ber
Welt aufgedeckt, um die Regierung zu größerer Milde zu
bewegen, beſonders gegen diejenigen Gefangenen, benen
man nur politiiche Vergeben, Ueberſpanntheit, voreilige
Aeußerungen ihrer Gedanken vorzumwerfen bat. Man be-
geht eine tyranniſche Graufamteit, wenn man dieſe Dienfchen
den gemeinen Verbrechern gleichjtellt und fie wie bieje
behandelt.
„Wahrſcheinlich hat man die Verbeſſerung der Lage der
Gefangenen auf dem Spielberg den edeln und doch ſo
energiſchen Klagen des berühmten Italieners zu danken.
Nun wird ihnen ein wenig Stroh nicht verſagt, ſie er⸗
halten täglich ein halbes Pfund Brot mehr. Am Sonn⸗
tage können fie ein wenig Fleiſch und in der Woche mit-
unter eine Meblipeife genießen. Der Spielberg ift jet
ben Sträflingen nicht Tebensgefährlicher als andere öfter-
reichifche Gefängniſſe. Ja er ift fogar, wie es fcheint,
ein vecht gefunder Aufenthalt. Das beweijen die mir
vorgelegten Sterblichleitsliften, welche ich als richtig und
wahrheitsgemäß vorausfegen muß.‘
316 Die Brocefje ver Carbonari in Italien.
Wir fügen hinzu: Die Hausorbnungen der Strafe
anftalten in Defterreich machten allerdings in jener Zeit,
da Silvio PBellico und der Graf Eonfalonieri ihre Strafe
verbüßten, keinen Unterſchied zwiſchen politiichen und ge-
meinen DVerbrechern. Die Behandlung war vielmehr nad
dem Gefeß die gleiche. Aber die verimtheilten Carbonari
haben ſich über ihre Haft auf dem Spielberge nicht zu
beflagen gehabt. Unter dem bamaligen Gouverneur von
Mähren und Schlefien, dem Grafen Anton Friedrich
Mittrowsty, der ein großmüthiger Förderer der Lite:
ratur und Kunft war, wurbe die größte Humanität ges
übt. Den Gefangenen, von denen wir jetzt reden, wurbe
zum Beifpiel Lektüre geftattet, ja man beftellte ihnen
jogar der italienischen Sprache mächtige Priefter für
Gottesdienst und Seelſorge. Erft als fie die ihnen ge-
währten VBergünftigungen misbrauchten, um nad außen
Verbindungen anzufnüpfen, wurde wieder ftrenge Zucht
und Aufficht eingeführt. |
Ein einziger von den. gefangenen Carbonari ftarb auf
dent Spielberge, die übrigen wurben nach längerer oder
fürzerer Strafpauer begnabigt. Im Jahre 1836 wurden
bie leßten der in die Verſchwörung von 1821 verwidelten
alten Verbrecher auf Befehl des Kaifers in Freiheit gejekt.
Drud von F. 9. Brochaus in Leipzig.