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Full text of "Der neue Pitaval. Eine sammlung der interessantesten criminalgeschichten aller länder aus älterer und neuerer zeit"

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Der Meue Pitaval. 


Nene Serie. 
Dreinndzwanzigfter Band. . 























* 
Der 


Menue pitaval. 


Eine Sammlung 


der intereſſanteſten Criminalgeſchichten aller Länder aus 
älterer und neuerer Zeit. 


Begründet 
vom 
Criminaldirector Dr. 3. E. Fitzig 
und 


Dr. W. Baring (W. Alexis). 
Fortgeſetzt von Dr. U. Vollert. 


Hene Serie. 
Dreiundzwanzigftier Band. 





50) 





Leipzig: 
F. A. Brockhaus. 


1889, tt 


[” 


Se. — 14 7903 





Borwort. 


An die Spite bed im vorigen Sabre erjchienenen 
22. Bandes unfers „Pitaval“ haben wir den Proceß wider 
Johann von Wefel in Mainz wegen Keßerei geftellt. 
Den viesjährigen Band eröffnen wir mit dem Procejfe 
gegen Johann Hus, den großen böhmifchen Reformator. 
Johann von Wefel, ein ſchwacher Greis, widerrief feine 
der katholiſchen Kirche anſtößigen Lehrjäge und bat um 
Gnade; er wurde zu lebenslänglicher Einfperrung im 
Klofter zu Mainz verurtheilt. Johann Hus blieb ftand- 
haft, die Biichöfe übergaben jeine Seele dem Teufel, er 
aber „befahl fie in die Hände feines Heilandes Jeſu 
Chriſti“ und ftarb auf dem Scheiterhaufen „freudig, 
muthig, zuverfichtlih, wie nur einer der zahlreichen 
Märtyrer, die in ben erjten Zeiten des Chriftenthums 
ihr chriftliches Bekenntniß mit dem Tode befiegelt haben“. 

Der Proceß gereicht dem Kaifer, der die Verurtheilung 
zuließ, troß des dem Hus zugeficherten freien Geleites, 
und gleichermaßen dem Eoncil von Koftnig zur höchiten 
Unehre. Die verberbte römiſche Kirche Tonnte fromme 


VI Vorwort. 


Männer nicht mehr tragen, welche die Autorität des 
Wortes Gottes predigten und ſich allein auf die Gnade 
und das Verdienſt Jeſu Chriſti ſtützten. Auch dieſer 
Proceß iſt ein weltgeſchichtliches Jeugniß wider die Natur 
und die Praxis des römiſchen Stuhles und der Würden⸗ 
träger der römiſchen Kirche. 

Den Diebſtahl beim Handelsmann Schüller 
haben wir aufgenommen, weil darin die Anwendung der 
Folter genau beſchrieben wird und der Fall ein deutliches, 
freilich ſehr unerfreuliches Bild des deutſchen Criminal⸗ 
proceſſes in der Mitte des vorigen Jahrhunderts gibt. 
Vergleicht man die Zuſtände vor hundert Jahren mit 
dem jetzt im Deutſchen Reiche geltenden Strafverfahren, 
jo wird man nicht in Abrede ftellen können, daß ber 
Fortſchritt auf diefem Gebiete ein ungeheuer großer ift. 

Der Proceß wider den Dr. med. Floden wegen 
Vergiftung aus Fahrläffigkeit gehört der neueften 
Zeit an. Derſelbe bat vor zwei Jahren die Stabt 
Straßburg im Elfaß in hohem Grave bewegt und aufs 
geregt. Er iſt der Repräfentant einer ganzen Gattung, 
injofern e8 fih um einen „Arztlichen Kunftfehler” handelt 
und um bie Frage, in welchen Maße der Arzt ftrafrecht- 
ih für ein Verfehen die Verantwortung zu tragen hat. 

Die VBermögensberaubung des Kaufmanns 
Sſolodownikow und Die Ermordung des Eollegien- 
affeffors Tſchichatſchew find berühmte Criminalfälle 
aus der Gefellichaft in Petersburg. Der Staatsrath 


Borwort. vo 


Anatole Fedorowitſch Koni, Oberprocureur bes Eri- 
minal⸗ Safjations Departements des ruffifchen Senats, 
berjelbe, den der Zar im vorigen Iahre nach Borki ent- 
jendete, um die Unterfuchung wegen bes bortigen Eifen- 
bahnunglücks zu leiten, hat 1888 ein Werk in ruffifcher 
Sprache veröffentlicht: „Gerichtliche Reden von A. F. Koni.“ 
Es enthält 27 Criminalfälle, bei welchen der berühmte 
Juriſt thätig gewejen iſt. Mit Erlaubniß des Verfaffers 
haben wir jenem Werfe zwei biefer Fälle entnommen, 
bie für die ruffischen Verhältniffe und Anfchauungen be- 
zeichnend find und auch bie gerichtliche Beredſamkeit in 
Rußland charakterifiren. 

Der Eindbruh im Pfarrhofe von Edlingham 
ift ein unvergleichliches Stüd aus der engliihen Straf- 
rechtspflege, ein jo bizarrer, man kann fagen toller 
Proceß, wie er nur in England möglich ift. Der Proceß 
wider ben Tagelöhner Morand und Genofien wegen 
Mordes endlich beleuchtet die Mängel und Schwächen 
ber franzöfiichen Rechtspflege, insbejondere die bedenk⸗ 
fihen Strömungen, die fih in ben Sprüchen der Ge⸗ 
ſchworenen in neuerer Zeit geltend machen. 

Die beiden legten Beiträge verdanken wir dem Herrn 
Generalconful Dr. Meyer in Wien, der ein treuer Freund 
unfers Sammelwerkes geblieben ift. 


Gera, im November 1889. 
Dr. 4. Vollert. 


Inhalt. 


Borwort 





Johann Hus. Sein Proceß und fein Tod. 1414 
— 1415 

Ein Diebitahl beim Handelsmann Schülleri in 1 Blanfen- 
heim in der Eifel. Mitte des vorigen Jahrhunderts 

Der Proceß wider den Dr. med. Flocken wegen PVer- 
giftung aus Tahrläffigkeit. Straßburg im Elſaß. 
1887 und 1888. . 

Die DVermögensberaubung des Kaufmanns Sſolo 
downikow. Petersburg. 1870. 1871. 

Die Ermordung des Collegienaſſeſſors Tſchichatſchew. 
Petersburg. 1873. 1874. 


Der Einbruch im Pfarrhofe von Edlingham. Raub- 


und Mordverfuh. — England. 1879—1889. 
Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. Mord. 
— Hoigny in Tranfreih. 1888. 


Seite 


62 


99 


150 


173 


217 


272 


Iohann Hus. 
(Sein Proceß und fein Tod.) 
1414—1415. 


Der Proceß wider Johann Hus darf in der Reihe 
ver firchenhiftorifchen Procefje des „Pitaval“ nicht fehlen, 
denn jo befannt auch der tragiiche Tod des von feiner 
Zeit mit gleicher Glut gehaßten und geliebten Mannes 
auf dem Scheiterhaufen zu Konftanz fein mag, fo 
unbefannt ift das Detail des Verfahrens, das eine fo 
unvermutbete Wendung genommen hat: ein Günftling 
der Krone Böhmens, aber noch mehr der Mann, ber 
wie fein anderer die Seelen ſeines czechifchen Volkes 
in feiner Hand hatte; ein Unterthan, der mit dem Kaiſer⸗ 
wort fommt transire, stare, morari et redire libere, 
ein für das wahre Wohl der Kirche begeifterter Reformator 
— wird von dem großen Neformconcil dem Tode über- 
geben; er ftirbt ihn freudig, muthig, zuverfichtlich, wie 
nur einer der Märtyrer, welche das Chrijtenthum in 
jeinen bejten Zeiten hervorgebracht. Kann aber eine Er- 
örterung ber für das Verſtändniß dieſes Procefjed noth- 
wendigen theologiſchen und Tirchenpolitifchen Vorfragen, 
kann eine Vorführung unmöglich geworbener Gewaltacte 
uf das Intereſſe eines meitern Leſerkreiſes Anſpruch 

XXI. 1 





2 Sobann Hus. 


erheben? Wir wagen ein Ia zur Antwort aus einem 
zwiefachen Gefichtspunfte. 

Einmal möchte der Frühling der Zeit vor der Thür 
jein, da nach einem Ausfpruch des Neſtors unter ben 
Kirchenhiftorifern der Gegenwart die Kirchengefchichte Be⸗ 
itandtheil der allgemeinen Bildung werben wird, ſodann 
fönnte die Darftellung dieſes Procefjes an ihrem be- 
icheidenen Theile einen Sieg erftreiten helfen. 

Der romantifche Katholicismus der erften Hälfte des 
Jahrhunderts, der von der Vieberzeugung erfüllt war, 
daß die römische Kirche und der moderne Staat mit 
jeiner Glaubens- und Gewifjensfreiheit fich nicht auszu—⸗ 
ichliegen brauchen wie Feuer und Waſſer, ver das Gott- 
wohlgefällige auch des pofitiven Proteſtantismus zu wür⸗ 
digen verftand, ift dahin. Jeſuitenorden und römiſche Kirche 
find identisch geworden, ver Sefuitenzögling Leo XIIL, 
ber fih in ber Masfe des rejervirten und gewiegten 
Diplomaten gefällt, kann über bie „fittenwerberblichen und 
gemeinjchäplichen” Einwirkungen ber „abjcheulichen Irr⸗ 
lehren“ des Proteſtantismus poltern, ein über brei Jahr⸗ 
hunderte alter Kampf ift heftig aufs neue entbrannt. 
Rom meint fich ftark genug, die Gefchichte zu überwinden, 
und dennoch fürchtet e8 nichts fo fehr als die Gejchichte. 
Die Geichichte muß den Proteftanten. lehren, daß der 
„Fels der Wahrheit” in allen Geiftesfämpfen bie neuen 
Gedanken nie widerlegt, fondern immer nur vergewaltigt 
hat, die Geſchichte muß den Proteftanten lehren, bie 
Macht und Lift Roms durch Klare Einficht in diefe That⸗ 
Sache geijtig zu überwinden. Es handelt fich bei dieſem 
Unterricht in feiner Weife um plumpe, blinde Agitation, 
ſondern um das Aufzeigen gejchichtlicher Wahrheiten. 

Auch das ungerechte, ſchmachvolle Verfahren des geijt- 
lichen Gerichts wider Hus kann für die Rüftung, welche 





Johann Hus. 3 


gegen römiſche Anlänfe zu wappnen vermag, vielleicht 
ein Heines Waffenftüd liefern. Betreffs einer Darftellung 
ver Stimmungen und Bewegungen des 15. Jahrhunderts 
im allgemeinen aber dürfen wir wol auf unfern Auf- 
ja über „Johann von Wefel und feine Zeit” aus dem 
vorjährigen Bande des „Pitaval“ verweiſen. 





Johann Hus ift im böhmtichen Marktfleden Huſſinetz 
an der Blanig am Fuße des Böhmerwaldes aller Wahr- 
iheinlichfeit nach im Sabre 1369 geboren. Er war 
czechifcher Nationalität und ein Kind des Volkes, doc 
waren feine eltern verbältnigmäßig wohlhabend. Er 
war ein guter Sohn der Kirche. Als er im prager 
Subeljahr von 1393 in die Petersfieche auf vem Wyſchehrad 
zur Beichte "ging, gab er dem DBeichtvater feine lebten 
bier Grofchen und machte dann die vorgefchriebenen Pro- 
ceffionen mit, um des großen Ablaffes theilhaft zu werben. 
Doc ging bis in fein Mannesalter neben folcher Devotion 
eine gewifje Neigung zu leerem Zeitvertreib, z. B. mit 
dem Schachipiel, her und eitle Vorliebe für Luxus in ber 
Kleidung, wie der gewilfenhafte, gegen fein Ich jo hart 
gewordene Mann fich fpäter einmal felbjtanklägerifch 
verlauten läßt. Hus ftubirte in Prag und fchlug die 
akademiſche Laufbahn ein. Auf der Leiter der afademijchen 
Grade gelangte er vom Baccalaureus der freien Künfte 
zum Baccalaurens ber Theologie, dann zum Magifter der 
freien Rünfte. Die vom hellſten Glanze der Wiſſenſchaft 
und höchften äußern Ehren umjtrahlte Würde eines 
theologischen Doctor erwarb er jedoch nicht. Im Jahre 
1398, zwei Jahre nachdem er Magijter geworden, fing 
Hus an, philofophifche Vorlefungen an der Univerfität 

1* 


4 Johann Hus. 


zu halten; fchon brei Jahre fpäter wurde er Dekan ber 
philofophifchen Facultät, im vierten Jahre zum erften mal 
Rector ber Univerfität — ein beutlicher Beweis für bie 
Achtung, die er erworben. Bei feinen Studien war Hus 
befeelt von einer rveblichen Wahrheitsliebe; jagt er doch 
felbft in einem akademiſchen Acte, es ſei ihm nicht um 
hartnädige Behauptung der einmal gefaßten Anficht, 
jondern um die Wahrheit zu thun; er habe von ber 
erjten Zeit feines Studiums an fich zur Regel gemacht, 
fo oft er in irgendeinem Punkte eine richtigere Anficht 
vernehme, von feiner frühern Anficht freudig und 
demüthig abzugehen. „O die betrügen ſich“, heißt es in 
einer Predigt, „die vor dem Papſte niederfallen und alles 
für gut halten, was er thut, wie ich es auch für gut 
hielt, als ich die Heilige Schrift und das Leben des 
theuern Heilandes noch nicht kannte.“ Den ftärkiten Ein- 
fluß auf Hus gewann durch feine philofophifchen und 
theologifchen Schriften der Engländer Wiclf. Dieſer 
Einfluß tft fo beveutend, daß Hus faft nichts Anderes 
ift als der nach Böhmen verpflanzte Wiclif, daß ganze 
Kapitel in Huffens Werken, ja man Tann fagen, ganze 
Werke faum etwas anderes find als Nachbildungen, Ab- 
ichriften aus Wiclif. 

Wiclif ift der hervorragendfte Träger jener Reform 
unternehmungen des Mittelalters, die außerhalb des 
Rahmens derjenigen NReformationen ftehen, welche Hand 
in Hand mit der Großfirche unternommen wurden; man 
ſprach der Univerfalficche die Kraft ab, fich aus fich ſelbſt 
zu regenerviren. Ä 

Im Iahre 1365 forderte die avignonenſiſche Curie 
ben ihr unter Innocenz III. durch Johann Ohneland zu= 
geftandenen Lehnszins von England aufs neue und zu— 
gleich die Nachzahlung der Rückſtände feit 33 Jahren. 





Johann Hus. 5 


Der ritterliche, heldenhafte Eduard III. und das Parla⸗ 
ment von 1366 erklärten, weder König Johann noch 
irgendjemand anders habe das Recht gehabt, das Reich 
oder die Nation ohne Zuſtimmung der letztern einer 
andern Macht zu unterwerfen. Urban V. mußte ſich mit 
der Erkenntniß begnügen, einen politiſchen Fehlzug gethan 
zu haben. In dieſer nationalen Angelegenheit ſtellte 
Johann Wielif, Profeſſor der Theologie zu Oxford, 
ſeine Feder in den Dienſt des Königs und der Nation. 
Im Jahre 1374 wurde er Mitglied einer Geſandtſchaft, 
die zu Brügge mit päpftlichen Delegirten über Leiftungen 
Englands an ven Papft zu verhandeln hatte. Hier machte 
er Duellenftudien zu dem ungeiftlichen Wejen, der Käuf- 
lichfeit, dem Hochmuth und der Heimtüde der Curie, 
immer fchärfer wurde von nun an feine Oppofition, als 
Heilmittel für die verfeuchte Kirche empfahl er Armuth 
derjelben. Als erzwingbar aber rechtfertigt Wiclif die 
Armuth der Kirche mit folgenden Sätzen: Nicht Kaifer, 
nicht Papſt, ſondern Gott allein ift die Duelle alles 
Beſitzes. Er theilt venjelben an feine Gehorfamen aus, 
ſodaß aller menfchliche Befit Fein dominium ift, fondern 
nur ein ministerium. Wer durch Todſünde Gott un- 
gehorſam wird, verliert vor Gott fein Befigrecht. Aber 
8 Tann ihm fein Lehen auch rechtlich abgejprochen werben, 
ben fündigen Priejter durch König, Parlament, Concilien 
und Synoden. Denn über allen weltlichen Dingen, auch 
über den Temporalien der Kirche fteht die Königsgemwalt, 
fie bat zu forgen, daß das ber Kirche gefchenfte Gut ben 
ihm zugedachten Zwed erreiche. So können nicht blos 
weltliche Herren ber Kirche ihre Zemporalien nehmen, 
werm biejelbe beharrlich fehlt, auch dürfen fie e8 nicht 
blos, fondern fie find ſogar fittlich verpflichtet, dies zu 
thun. — Es fchwebt Wiclif, wie jo manchem bedeutenden 


6 Johann Hus. 


Kirchenlehrer vor ihm, das Ideal einer politia evan- 
gelica, eines „evangelifchen Staates“ vor, habens omnia 
in communi, mit Gütergemeinfchaft unter Ausfchluß jedes 
Sondereigene. Er warnt aber ausbrüdlich vor Mis- 
brauch feiner Theorie vom Beſitzrecht. Offenbar arbeitet 
in Wiclif fchon Die moderne Staatsibee, bie damals fich 
zu entwiceln begann und bejonvers in national gefinnten 
Männern zünbete, 

Auf Wiclif's Firchenpolitifche Periode folgt eine refor- 
matorifche Periode. AS die erichredite Chriftenheit 
das Schaufpiel erlebte, daß zwei Stellvertreter Gottes 
bie furchtbarften Bannflüche widereinander fchleuderten, 
und in jede Stabt, jedes ‘Dorf die Ziwietracht geworfen 
war, da warb die Bahn frei für Fühneres Vorwärts⸗ 
ſchreiten. Wiclif geht zu rüdhaltslofer Belämpfung des 
Papſtthums über: der Papft ift der Antichrift. Mit der 
ganzen fittlichen Enträftung des Chriften und Patrioten, 
aber dennoch wilfenfchaftlich nobel ftellt er in ber Streit- 
ichrift: „De Christo et suo adversario Antichristo“, 
bie für die ganze Art feiner Polemik als typiſch gelten 
kann, zwölf Antithefen auf; die elfte ſetzt Chriftum, ven 
prunflojen und bienjtbereiten, dem Papſte mit feinem 
prächtigen Hofftante entgegen, ver felbft vom Kaifer 
Knechtsdienſte fordere. In der zwölften jagt er, Chriftus 
habe Weltruhm und Geldgewinn verachtet, vom Papſte jet 
alles käuflich. Daraus ergibt fih ver Schluß: Niemand 
ſoll dem Papfte folgen, foweit derſelbe nicht ſelbſt Jeſu 
Chrifto nachahmt, noch foll ver Papſt über das hinaus 
Gehorſam fordern, was bie Schrift ihrem hellen Sinne 
nach bezeugt. ‘Denn wenn jemand irgenpwelchem Chrijten 
weiter müßte folgen, könnte er leichtlich von Chriſti Fuß⸗ 
jtapfen abweichen. Dem Kampf gegen den Papft tritt 
ver Kampf gegen feine Vorfechter zur Seite, gegen bie 








Johann Hu. 7 


Bettelmönche. Aufbauende Arbeit aber that Wichf in 
Predigt und Seeljorge, Bibelüberfegung und in ber Er- 
richtung eines Wanderprediger⸗Inſtituts. Seine „armen 
Priefter” jollten in das geiftliche Arbeitsfeld der Bettel- 
mönche eintreten und unter freiern Formen eine Löſung 
ber Aufgaben verfuchen, welche von biejen nicht erfüllt 
worden waren. 

Wir brauchen auf Wiclif’8 Lehre bier nicht des 
Nähern einzugehen, e8 find eine ganze Reihe Punkte des 
firchlichen Lehrſyſtems, die der doctor evangelicus von 
ber Bofition der alleinigen Autorität des göttlichen Wortes 
aus angreift. Das „Erpbebenconcil“ von 1382 verdammte 
jeine LXehren, die Univerfität fchloß ihn aus, aber weder 
ſeines geijtlichen Amtes wagte man ihn zu berauben, noch 
gar zu ercommuniciren. Er ftarb im Trieben feiner 
Landpfarre 1384. Welch ohmmächtige Rache, wenn 
43 Jahre nachher noch feine Gebeine aus dem Grabe 
geriffen und verbrannt wurden und vie Aſche in fließendes 
Waffer geworfen! Mächtiger lobte das Feuer, das ber 
gewaltige Mann, der die Regungen ver englifchen Volks⸗ 
jeele verftanden wie fein Zeitgenoffe, für ein langes Jahr⸗ 
hundert in feinem Vaterlande entfacht Hatte. Längft auch 
waren die Funken hinübergeflogen nach dem waldigen 
Böhmen und hatten ver Wiclifie dort in Huffens Perjon 
die Strahlenfrone des Martyriums eingetragen. 

Bedeutſam wurde für Johann Hus das Jahr 1402. 
Er empfing die Priefterweibe und wurde „NRector und 
Pfarrer” an der Bethlehemsfapelle, fein Amt beſtand 
nicht im Meſſeleſen und fonftigen pfarramtlichen Ge- 
ihäften, ſondern in fonntäglicher czechiicher Predigt für 
das „gemeine Voll”; mit dieſer Beſtimmung war bie 
Raplansftelle an Bethlehem funbirt worden. Mit dem 
Empfang der Priefterweihe ging eine Wandlung in Hus 


8 Johann Hus. 


vor fih, und durch den Prebigtbienft an ber Gemeinde 
wurde er zu immer größerer Vertiefung in Gottes Wort 
veranlaßt; zudem lernte er um jene Zeit nach den philo- 
ſophiſchen Schriften Wiclif's auch die theologifchen Tennen. 
Nunmehr eriheint Hus in all feinem theologifchen und 
kirchlichen Denken als eine geſchloſſene, Flare Perjönlich- 
feit, die fich in allem Wefentlichen gleich bleibt. Er wurde 
der Mann, der die focialen Wünfche, die Firchlichen Reform: 
ideen, die nationalsczechiichen Gedanken feiner Lands⸗ 
leute in gleich beveutender Weiſe zu charakternollem Aus- 
brud zu bringen verjtand. 

Seine reformatorifhen Gedanken bewegen fich 
um die beiden ‘Pole des „Geſetzes Chriſti“, d. b. des 
göttlichen Wortes, als einziger Glaubensnorm und ber 
wahren Kirche Ehrüti, an deren Heritellung zu belfen 
das höchite Ziel feiner Arbeit und Kämpfe war. Aus 
dem eriten Grundſatze folgt ihm ab, daß man Concilien 
und päpftlichen Bullen nur glauben fann, wenn fie etwas 
ausfprechen, was aus der Schrift gejchöpft oder mittelbar 
auf die Schrift gegründet if. Der Papft und jeine 
Curie kann irren und irreleiten. Und die Mitgliedſchaft 
in der Kirche Chriſti ift nicht abhängig von ber äußern 
Anerkennung durch die Hierarchie oder von der Zugehörig- 
feit zu dieſer, ſondern ausfchlieglih von der Erfüllung 
des göttlichen Geſetzes. Es kann jemand in ver Kirche 
fein, äußere Mitgliedfchaft, ja felbjt Aemter und Würden 
in derjelben haben, ohne doch von ber Kirche zu fein; 
wer aber von der Kirche ift, wer gegen Gottes Gefek 
ſich nicht verhärtet, der ift auch in der Kirche. Wer 
nur in der Kirche ift, nicht aber von ihr, ver gleicht 
der Spreu unter dem Korn auf der Tenne, dem Unkraut 
im Weizenader. 

In feinen focialen Anfhauungen geht Hus wie 





Johann Hus. 9 


Wiclif von dem Gedanken, daß die ganze Menſchheit 
einen großen Lehenscompler bildet unter dem oberſten 
Lehnsheren Gott, und von der Todſünde aus. Durch 
fie verliert fein geiftliche® Amt und feinen weltlichen 
Befig, wer e8 auch fei, denn „ſeine weltliche oder geift- 
liche Herrichaft, fein Amt und feine Würde wird von 
Gott nicht gebilligt”. Diejenigen, „welche ihren Beſitz 
gegen göttliches Gebot verwalten und gebrauchen, haben 
fein Recht an dieſem Beſitz“; „ver Beſitz irgendeines 
Gutes von feiten eines Ungerechten und Gottlofen (ijt) 
ein Diebftahl und ein Raub“. 

Sn der praftifhen Verwerthung feiner Ge- 
banfen wurde Hus allmählich erjt ver Mann, ber von 
feinem Gewiſſen geprungen nach Reformationen ftrebt in 
DOppofition zu dem kirchlichen Regiment, das für den 
verwahrloften Zuftand ber Chriftenheit fein Auge haben 
will. Anfänglich glaubte er, für und mit feinen Obern, 
was er für recht erfannt, in die Wirklichkeit einführen 
zu fönnen. Der Wendepunkt in dieſem Verhalten wird 
durch das Jahr 1410 bezeichnet. 

Im Jahre 1403 gelangte Dr. Sbynko von Haſen— 
burg auf den prager erzbiſchöflichen Stuhl, ein Mann 
von geringer theologiſcher Erkenntniß, aber des ernſten 
Vorſatzes, ſeine Geiſtlichkeit in Zucht zu nehmen. Er 
beſtellte Hus zum Synodalprediger, und es waren 
ernſte Strafpredigten, die der Klerus ſeitdem bei Er- 
öffnung der böhmischen Provinzialconcilien zu hören be— 
tom. Hus ließ e8 nicht bei allgemeinen PVorftellungen 
bewenben, jondern nannte bie Mängel beim rechten Namen 
und ftellte fie anfchaulich dar, ſodaß Klerifer, welche fich 
getroffen fühlten, dem muthigen Manne begreiflicherweiſe 
todfeind wurben. Al ferner Wilsnad im Branden- 
burgiſchen Walffahrtsort für Tauſende und aber Tauſende 


10 Johann Hus. 


wurde, die dem heiligen Blute zuliefen — an drei Hoſtien 
ſollte das Blut Chriſti ſinnlich ſichtbar geworden ſein —, 
unterſuchte Hus im Auftrage des Erzbiſchofs mit zwei 
Collegen eine Anzahl der Wunderheilungen, die daſelbſt 
ſollten bewirkt worden ſein, und als ſich dieſelben als 
nichtig herausgeſtellt, wurde für Böhmen das Laufen nach 
Wilsnack verboten. Hus ſchrieb zur Rechtfertigung des 
Verbotes die Abhandlung: „Daß alles Blut Chriſti 
verklärt ſei“ Es ſind noch andere Maßnahmen, die zur 
Beſſerung des kirchlichen Weſens in jenen Jahren im 
Sinne Huſſens vorgenommen wurden. Der Abweſenheit 
der Pfründeninhaber von ihren Gemeinden wurde ge⸗ 
ſteuert, regelmäßige Viſitation eingeführt, dem Schenken⸗ 
beſuch, dem leichtfertigen und unzüchtigen Leben vieler 
Kleriker nachdrücklich gewehrt. Huſſens Wiclifismus 
wurde in keiner Weiſe Gegenſtand der Erörterung; ein 
Verbot der Univerſität an die Docenten, gewiſſe Sätze 
Wiclif's vorzutragen, wurde auf Huſſens Verwendung 
ſpäter ſogar dahin beſchränkt, jene Artikel nicht in einem 
irrigen Sinne vorzutragen oder zu vertheidigen. 

Das Einvernehmen zwiſchen Sbynko und Hus 
wurde geſtört durch eine Beſchwerde der Diöceſangeiſt⸗ 
lichkeit an den Erzbiſchof, Hus habe bei ſeinen Predigten 
in der Bethlehemskapelle die Geiſtlichkeit vor dem Volke 
angeſchwärzt, das Volk zu ihrer Verachtung und zum 
Haſſe aufgeſtachelt. Hus verantwortete ſich zwar, aber 
wurde von Sbynko doch feines Amtes als Synodal⸗ 
prediger enthoben, bald darauf auch öffentlich durch erz⸗ 
biſchöflichen Anſchlag an allen Kirchthüren als ungehor⸗ 
ſamer Sohn der Kirche getadelt und ihm die Ausübung 
ſeines Prieſteramtes unterſagt. Vollſtändig wurde der 
Bruch zwiſchen beiden Männern durch die Verſchiedenheit 
ihrer Stellung gegenüber der Papſtſpaltung. Als 








Johann Hus. 11 


nämlich das päpſtliche Schisma dadurch beſeitigt werden 
ſollte, daß die Kardinäle zu Piſa einen neuen Papſt 
wählen und Gregor XII. von Rom und Benedict XIII. 
bon Avignon zur Abdankung zwingen wollten, wünſchte 
die Krone Böhmen wie andere Staaten bie Neuwahl zu 
fördern durch Erklärung ihrer Neutralität gegenüber ben 
beiden Päpften. ‘Der Erzbifchof mit feinem Klerus, zur 
Aeußerung aufgefordert, meinte von Gregor nicht abgehen 
zu können, an der Univerfität waren bie bairifche, polniſche 
und ſächſiſche „Nation“ verjelben Anficht, die böhmifche 
aber willfahrtete bem König unter tem maßgebenden Ein- 
fiuffe von Hus. Dieje Tirchenpolitiihe Spannung wurbe 
verfchärft durch das mächtig geworbene nationale Sonder⸗ 
gefühl der Böhmen gegenüber ven Deutichen, und obgleich 
ber König anfänglich noch nach jenen Verhandlungen vie 
Deutichen feiner Geneigtheit verfichert, wechjelte feine 
Stimmung doch bald, und er decretirte zu Anfang bes 
Sahres 1409 im Sinne der Gzechen, daß fortan bei 
allen Wahlen und Handlungen ver Univerfität Prag von 
ben abzugebenden vier Stimmen nicht mehr jede Nation 
eine haben folle, fondern die Böhmen deren drei, alfo 
die Baiern, Polen und Sachſen zufammen nur eine. 
Bier Tage darauf folgte das Mandat, wonach niemand 
im Königreich, weder geiftlichen noch weltlichen Standes, 
con jest an Gregor XII. als Bapit anerkennen und ihm 
Gehorſam leiften dürfe. Die befannte Folge jenes Fönig- 
lichen Decrets war die Auswanderung der beutichen 
Doctoren, Magiſter und Stuventen aus Prag, bie ber 
Mehrzahl nach die Univerfität Leipzig gründeten. In 
Prag wurde Hus der erfte Rector der umgeltalteten 
Univerfität und ein öffentlicher Charakter, der Huſſitismus 
erhieit die Oberhand in ganz Böhmen. Er wird charal- 
terifirt durch den Zug nach innerfirchlicher Reform auf 


12 Johann Hu. 


Grund des göttlichen Wortes, das Verlangen nad) 
Befjerung ber focialen Verhältnifie durch Einziehung des 
Kirchenguts, und durch die kraftvolle Geltendmachung 
nationaler Sonderideen. Hus ftand auf ber Höhe feines 
Lebens, er genoß die Gunft des Hofes, die Königin 
hörte ihn gern prebigen, und war vor allem ver Mann 
des Volkes. 

Der erbitterte Erzbifchof Iegte feine Gegenminen. Es 
ging eine öffentliche Rüge wider bie Stellung ber 
Magifter der böhmischen Nation in der Papftfrage aus, 
Hus war darin mit Namen genannt. Hus antwortete mit 
einem Tadel des Erzbifchofs, daß derſelbe Gregor XII. doch 
ſchließlich verlaſſen und dem neugewählten Aleranver V. 
jeine Obebienz erflärt babe. Dann beauftragte Sbynko 
feinen Inquifitor, Hus wegen vorgetragener Irrlehren 
und aufreizender Predigten aufs Korn zu nehmen, und 
Alerander V. wurde, wie Hus behauptete, beftochen, 
in einer Bulle den Erzbiichof anzuweiſen, daß er gegen 
bie Verbreitung von Irrlehren einfchreite, Widerruf ber- 
jelben und Ablieferung Wichf’iher Schriften erzwinge, 
auch das Predigen an Orten, wo e8 nicht altherfömmlich, 
unterjage. 

Die Broclamation der Bulle am 9. März 1410 und 
bie Verbrennung von über 200 Bänden Wiclif'ſcher 
Schriften bei Glodengeläute und Tedeum-Geſang ent- 
feffelte eine VBolfsbewegung, die dem Erzbifchof die Popu- 
farität Huſſens und feine eigene Unbeliebtheit aufs Flarfte 
darthun mußte. Die Studenten und das Volk ergingen 
fih in Gaſſenhauern: 


Shynjef, Biſchof, U B C- Schiller, 
bat Bücher verbrannt, 
weiß nicht, was darin fteht! 

oder: 


Johann Hu. 13 


Sbynjek bat Bücher verbrannt, 
Zdenjek hat fie angezündet, 
zur Schande der Ezechen. 
Wehe allen treulofen Bfaffen! 


Es kam auch zu Thätlichkeiten von beiden Seiten. 
Der Erzbifchof aber ging noch weiter und fprach über 
Hus und alle, die mit ihm wider die Ausführung ber 
Bulle an ben befjer zu unterrichtenden Papſt appellirt 
hatten oder fich der Appellation noch anschließen würden, 
den Bann aus. Hus blieb jedoch getroft, die Stabt- 
bebörden, mehrere Barone des Landes, ja felbft König 
und Königin verwendeten fich für ihn. Er prebigte nad) 
wie vor in feiner Bethlehemskapelle vor vielen Zuhörern. 
Dabei ftreifte er auch die Zeitfragen, und es kam zwifchen 
Prediger und Gemeinde zu beftärfender Rede und Gegen- 
rede. Wir hören ihn ausrufen: „Siehe ver Papft jchreibt, 
ed gebe viele unter uns, deren Herzen der Ketzerei voll 
ſeien. Ich aber fage und danke Gott, daß ich feinen 
ketzeriſchen Böhmen kenne.“ Und das ganze Volk ant- 
wortet mit dem Rufe: „Er lügt, er lügt!“ (nämlich 
der Papſt). Hus Spricht weiter: „Ich habe gegen bie 
Befehle des Erzbiſchofs appellirt und appellire fortan: 
wollt ihr euch mir auch anschließen?” Die Antwort 
lautet: „Das wollen wir, wir fchließen ung an!’ „Fürchtet 
die Ercommunication nicht“, fährt der Prediger fort, „ihr 
babt mit mir nach Brauch und Gewohnheit der Kirche 
appellirt!” Ja, er wirft die Worte in das Volk hinein: 
„Es wäre wahrhaftig nothwendig, daß wir, mie es im 
Alten Bunde durch Moſen befohlen war, uns mit dem 
Schwert umgürteten und Gottes Geſetz vertheidigten!” 
Sbynko fchritt zwar, weil er auch den auf Alerander V. 
gefolgten Sobann XXI. für fich gewonnen, bis zum 


14 Johann Hus. 


Interdict über die Stadt Prag fort, aber die Ohn⸗ 
macht der Hierarchie wurde nur um fo offenfundiger. 
Ein endlicher Einlenfungsverfuch fam, weil Sbynko darüber 
ftarb, nicht zur Perfection, doch legte fih der Sturm 
damit für einige Zeit. Der Angelpunkt des Conflicts 
it Huſſens Wiclifie gewefen. 

Bald genug aber kam e8 zu neuen Reibungen 
zwijchen ben Wiclifiten und ver Hierarchie. Der PBapft 
Johann XXIII. rief 1411 die Chriftenheit zu einem 
Kreuzzuge gegen König Ladislaus von Neapel auf, 
weil er won Gregor XII. nicht lafjen wollte. Die Theil⸗ 
nehmer und örberer bes Krieges follten deſſelben Ab- 
laſſes theilbaft werden, wie er ven Kreuzfahrern ins 
Heilige Land einft geſchenkt worden ſei. Hus und feine 
Partei erklärte fich gegen ben Kreuzzug und Ablaf-Unfug 
in Schrift und Predigt und auf dem Katheder. Bei 
einer großen Disputation an der Univerfität feierte Huſſens 
Freund Hieronymus von Prag einen glänzenden Sieg. 
Er begeifterte die Studenten dermaßen, daß fie vom Rector, 
ber ven Vorſitz führte, kaum beichwichtigt werben konnten; 
nach dem Acte geleiteten fie Hieronymus und Hus feier- 
th nah Haufe. Ein bei Hofe angejehener Edelmann 
aber veranftaltete einen den Papſt beſchimpfenden Auf- 
zug. Man führte öffentliche Dirnen mit ven päpftlichen 
Bullen am Halje auf einem Wagen durch bie Stabt, 
Herolde vorauf und umgeben von Wiclifiten in großer 
Zahl, die mit Schwertern und Knütteln gerüftet waren. 
Sodann wurden die Bullen öffentlich verbrannt. Im 
biefer neuen Phafe des Streited ging eine Scheivung 
innerhalb ver huffitiichen Partei vor fich, eine Anzahl bis⸗ 
heriger Freunde von Hus ftanden ftill und mwurben jogar 
feine Feinde. Hus verhöhnte fie daher als „Krebje”. 
Der Papſt dagegen ließ den über Hus und feine An- 





Sobann Hus. 15 


hänger verhängten Kirchenbann in allen Kirchen Prags 
verfündigen. Wenn Hus nicht Buße thue, folle ihm 
niemand Speife und Trank, Gruß und Berberge ger 
währen. Jeder Ort, wo er weile, folle unter dem Inter- 
diet ftehen. Die Ausführung des Interdicts in Prag 
hatte eine fo große Aufregung im Gefolge, daß König 
Wenzel Hus anfforberte, auf eine Weile freiwillig ins 
Eril zu gehen, er wolle feine Ausfühnung mit der Geift- 
lichfeit vermitteln. 

Hus verließ die Stadt im December 1412, nachdem 
er in einer Denkſchrift vom Papſte an ben oberften 
Richter Jeſum Chriftum appellirt hatte. Es heißt darin: 
Wenn es Anorbnung aller alten Rechte ſei, des göttlichen 
beider Zeftamente und des kanoniſchen, daß bie Richter 
ih an den Thatort zu begeben hätten, um bafelbjt über 
das dem Angeflagten oder Verbächtigten vorgerüdte Ver- 
brechen Leute zu befragen, die ven Angeklagten Tennen 
und nicht feine Nebenbuhler und Feinde find, und wenn 
ber Angellagte fichern Zutritt haben und ber Richter 
mit den Zeugen nicht fein Feind fein bürfe: jo ſei er 
offenbar vor Gott feiner Wiberfpenftigfeitt und Ex—⸗ 
communication entjchulbigt, denn dieſe Bedingungen träfen 
bei ihm nicht zu. Er richte diefe Appellation an ven 
Herrn Jeſum Chriftum, den gerechteften Nichter, der jedes 
Menſchen gerechte Sache kenne, fchüge und richte, an den 
Zag bringe und ohne Möglichkeit einer Entfräftung be- 
ohne. — Hus hielt ſich meift in zwei Burgen der Um- 
gegend auf, predigte vor den Scharen, die ihm zuftrömten, 
trat auch hin und her als Neifeprediger auf, jchrieb feine 
Hauptichrift „Von der Kirche” und ftärkte feine prager 
Freunde durch tröftliche, zuverfichtliche Briefe. „Ich bitte 
euch”, Schreibt er einmal, „daß ihr erftlich die Sache Gottes 
erwägt, der großes Unrecht gejchieht; denn es wollen 


16 Johann Hus. 


gewiſſe Leute Sein heiliges Wort unterdrücken, ein für 
das Wort Gottes nützliches Heiligthum (die Bethlehems⸗ 
kapelle) zerſtören und die Menſchen ſo vom Heile fern⸗ 
halten. Erwäget ſodann die Schmach eures Vaterlandes 
und eures Stammes, erwäget drittens vornehmlich den 
Schimpf und das Unrecht, das man euch ungerechterweiſe 
zufügt. Erwäget viertens und tragt es mit Gleichmuth, 
daß der Teufel gegen euch wüthet und der Antichriſt die 
Zähne fletſcht; doch wird er wie der Hund an der Kette 
euch nichts ſchaden, wenn ihr Liebhaber der göttlichen 
Wahrheit ſeid!“ 

Huſſens Exil hat eine doppelte Bedeutung, einmal 
verbreiteten ſich nun ſeine Anſchauungen nur um ſo weiter, 
und ſodann löſte ſich in Prag ſeine Sache von ſeiner 
Perſon; es wurde klar, daß ſie auch unabhängig von 
ihm lebensfähig geworden ſei. Die unermüdlichen Schritte 
des Königs aber, den großen Conflict zu vergleichen, 
blieben ohne Erfolg, die beiden Parteien waren ſchon viel 
zu weit auseinander. Da kam die Sache Huſſens uner⸗ 
warteterweiſe auf die Tagesordnung des ökumeniſchen 
Concils von Konſtanz. Sigismund, König von Ungarn 
und römiſcher König, mochte der Meinung ſein, daß über 
die angeblichen Ketzereien in Böhmen, auf die nachgerade 
von allen Seiten mit Fingern gewieſen wurde, das Concil, 
das ſein Werk war, ſehr gut mit befinden könne. Und 
Hus ging auf Sigismund's Anerbieten aufs bereitwilligſte 
ein. Wünſchte er doch nichts ſehnlicher, als ſich öffent— 
[ih und volljtändig vertheibigen zu können. Der König 
ficherte ihm freies Geleit zu. 

Hus beftellte für alle Fälle fein Haug und nahm in 
einem bebeutjamen Briefe von feinen böhmischen Freunden 
Abſchied. „Betet eifrig”, heißt e8 darin, „geliebte Brüder, 
geliebte Schweitern, daß Chriftus mir Beftändigfeit geben 





Johann Hus. 17 


und mich vor einem Makel bewahren wolle. Und wenn 
mein Tod zu Seinem Ruhm und eurem Nutzen etwas 
beiträgt, ſo wolle er mich ihn ohne verwerfliche Furcht 
ſterben laſſen. Wenn es uns aber mehr nützt, wolle er 
mich euch zurückgeben und ohne Makel hin- und zurüd- 
führen, bamit wir fernerhin vereint Sein Geſetz lernen 
und des Antichrifts Net einigermaßen zerreißen und ven 
fünftigen Brüdern ein gutes Vorbild Taffen. Vielleicht 
jeht ihr mich zu Prag vor meinem Tode nicht wieder; 
wenn aber ver ftarfe Gott mich euch zurüdgeben will, 
jo wollen wir uns gegenfeitig um jo fröhlicher wieber- 
fehen; auf alle Fälle aber, wenn wir uns in ber bimm- 
liſchen Freude zufammenfinden.” Im Auftrage Sigts- 
mund's geleiteten Hus zwei böhmifche Barone, Wenzel 
bon Duba auf Leftna und Johann von Chlum, genannt 
Repfa. Der britte beftellte, Heinrich von Chlum auf 
Latzenbock, ftieß erft in Konftanz zu ihnen. Bon gelehrten 
Freunden reifte mit ihm befonders Beter von Mlapdeno- 
wig, der über die Reife und den Proceß Tagebuch geführt 
und die einfchlägigen Urkunden gefammelt hat. Er ift 
unſer Hauptgewährsmann für die folgende Darftellung. 


— — — 


Am 11. October nahm die Reiſe ihren Anfang. Sie 
führte über Weiden, Sulzbach zunächſt nach Nürnberg. 
Dort hatten voraufziehende Kaufleute Huſſens Ankunft an⸗ 
geſagt, darum ſtand das Volk auf den Straßen, gaffend 
und fragend, welcher der Hus ſei. In den folgenden 
Städten that die Vorläuferdienſte der Biſchof von Lübeck, 
der in Tagemarſchweite vorausreiſte und ausſprengte, daß 
man Hus auf einem Wagen in Ketten geführt bringe; 
jo lief man ſcharenweiſe wie zu einem Schauſpiel ent- 

XXIII. 2 


18 Sohann Hus. 


gegen, wenn die Böhmen nahten. Ueberall wurde ber 
Mann, veffen Namen in aller Munde war, gut auf- 
genommen, ja geehrt; ſodaß feine vorgefaßte Meinung 
vom Haſſe der Deutjchen gegen ihn ſeit der Kataftrophe 
an der prager Univerfität durch die Thatſachen felbit 
corrigirt wurde. „Wiſſet auch”, fchreibt er an feine 
böhmischen Freunde von Nürnberg aus, „daß ich bisher 
feinen Feind gemerkt habe.” „Alſo befenne ich, daß bie 
Feindſchaft wider mich von feiner Seite größer ift ale 
von den Einwohnern des Reiches Böhmen.” In Nürn- 
berg und andern Städten ließ er beutiche und Tateinifche 
Anfchläge an den Kirchthüren machen, worin er fund- 
that, daß er nach Konftanz reife, um von dem Glauben 
Rechenſchaft zu geben, ven er bisher gehabt, noch habe und 
bis zum Tode mit Chrifti Hülfe behalten werde. Wer 
ihn eines Irrthums oder einer Ketzerei bezichtigen wolle, 
möge dies vor dem Concil thun, dort fei er bereit, Rede 
zu jtehen. Es fanden Unterredungen mit Geiftlichen und 
Gelehrten ftatt, Hus redete auch zu dem Volfe, und es 
war „dankbar, wenn e8 die Wahrheit hörte‘. So war 
neben der Neugier an Huffens Perjon ein Intereffe an 
jeiner Sache unverkennbar. Von Nürnberg reifte Herr 
Wenzel von Duba dem Könige an ven Rhein nach, um 
ben veriprochenen Geleitöbrief für Hus in Empfang zu 
nehmen, während diefer mit Johann von Chlum birect 
nah Konftanz fich wendete. Die Ankunft in Konftanz 
erfolgte am 3. November, Hus nahm Quartier in ver 
Paulsgaffe bei einer guten Frau, der Witwe Fida, in 
ber Nähe der päpftlichen Herberge. Am 5. November 
traf Wenzel von Duba ein mit dem zu Speier am 
18. October ausgefertigten Geleitsbrief. Durch venfelben 
nahm Sigismund den zum Concil reifenden Magijter 
Hus in der bei folchen Urkunden gewöhnlichen Form in 


Johann Hus, 19 


feinen und des Heiligen Römifchen Reiches Schub und 
befahl allen Neichsangehörigen, ihn freundlich aufzu- 
nehmen, gut zu behandeln und ungehinvert hin- und 
zurüdpaffiren zu laffen. 

Huffens Gegner hatten ihre Arbeit wider den DVer- 
haßten längft begonnen. Noch in Böhmen hatte man 
acht Belaftungszeugen eidlih zu Protokoll vernommen, 
bie über ketzeriſche Sätze des Magifters in Gefprächen 
und Predigten Ausfage thaten. Hus befam jedoch nicht 
blo8 Kunde davon, fondern ſelbſt eine Abjchrift des Schrift- 
ftüdes von der Hand des Notare, der die Zeugen ver- 
hört Hatte. Er ftellte die Ausfagen durch Interlinear- 
bemerfungen und Zuſätze zurecht: „Gott hat mir beſchieden, 
baß ich die Feinde kennen lerne und ihre Lügen wiber- 
lege.” Im Konftanz waren befonders Michael von 
Deutſchbrod und Stephan von Paleg gegen ihn 
thätig. Michael war ehemals Pfarrer von St.-Adalbert 
in Prag und kürzlich vom PBapfte zu dem wichtigen Anıte 
eines Sachwalters in Glaubensfachen (procurator de 
causis fidei) ernannt worden. Paletz war ein einftiger 
Sugendfreund und Gefinnungsgenoffe von Hus, erit 1412 
wurde er fein Gegner. Michael de causis, wie man 
ihn zu nennen pflegte, fing gleih am Tage nach Hufjens 
Ankunft an, Plakate an die Kirchthüren anheften zu laffen 
„wider den excommunicirten, hartnädigen, ber Ketzerei 
verbächtigen Johann Hus“. Er that e8 mit Lärm und 
öffentlichem Aufſehen. Später vereinigte er ſich mit 
Paleg; fie nahmen mehrfache Zufammenftellungen gegen 
Hus gerichteter Artikel vor, die theilmeife aus deſſen 
Schrift „Bon der Kirche” gezogen fein follten, und eilten 
von einem Prälaten zum andern, um Hus anzujchwärzen 
und feine Gefangennehmung auszuwirken. Hus felbft 
verhielt fich diefen Umtrieben gegenüber ruhig und würdig. 

9% 


20 Johann Hus. 


Am 4. November begaben fich die beiden Herren von 
Chlum zu Johann XXIII., um ihm Huffens Ankunft zu 
melden und ihn um feine Hülfe zu bitten, daß Hus nicht 
beeinträchtigt werde. Der Papft antivortete, das wolle 
er weber felber, noch wolle er geftatten, daß es gefchehe, 
auch wenn Hus ihm ven leiblichen Bruder getöbtet hätte. 
Segen die öffentlichen Anfchläge aber wollte er nichts 
thun: „Wie könnte ich das? Gehen fie doch von euren 
eigenen Leuten aus!“ Gemäß weiterer Abmachungen that 
auch Hus nichts dagegen, der Bapft aber fuspendirte das 
Snterbict und den über Hus verhängten Bann. Hus 
fonnte die Stadt und ihre Kirchen frei befuchen, nur 
jollte er nicht dem Hochamt beivohnen, um jeden Anftoß 
zu vermeiden. Doch machte Hus von dieſer Erlaubniß 
feinen Gebrauch. Er blieb ftets zu Haufe, mit Ent: 
würfen zu Vorträgen vor dem Concil bejchäftigt. 

Da wurde am 28. November Hus plöglich ver- 
haftet. Man hatte das Gerücht verbreitet, der Kebker 
habe aus der Stadt zu entweichen verjucht; e8 war zwar 
unzweifelhaft falich und bafirte auf einem höchſt harm⸗ 
Iojen Vorkommniß — die auf den Heueinfauf ausziehenden 
Knechte der Böhmen hatten anfänglich die Plane des 
Wagens nicht abgenommen —, aber e8 wurde Veran⸗ 
laſſung für einen großen Gewaltact. In der Mittags- 
jtunde des genannten Tages jchidten der Papft und bie 
Carbinäle die Bifchöfe von Augsburg und Trient, ben 
Bürgermeifter von Konftanz und einen Herrn Hans von 
Baden in Hufjens Herberge, um ven Magifter zu holen. 
Er babe früher gewünjcht, zu ihnen zu reden, fie ſeien 
nunmehr bereit, ihn zu hören. Da ftand zuerft Johann 
von Chlum vom Tijche auf und ſprach mit großer Heftig- 
feit, denn er ahnte vie wahre Abficht der Geſandtſchaft, 
Hus jtehe in des Kaifers Schuß, und er fei vor Sigis- 


$obann Hus. 21 


mund für bie perfönliche Sicherheit Huffens verantwortlich. 
Es ſei des Kaiſers erflärter Wille, daß vor feiner An- 
funft in Konftanz in Huffens Sache nichts vorgenommen 
werde. Er warne bie Gejandten, der Ehre des Königs 
zu nahe zu treten. Der Bilchof von Trient entgegnete, 
man jei einzig in friedlicher Abficht hergefommen und 
münfche alles Aufjeben zu vermeiden. Da ſtand auch 
Hus vom Tiſche auf und erflärte: „Ich bin zwar nicht 
nur zu ben Garbinälen bierber gelommen und habe 
niemals begehrt, zu ihnen allein zu reden, fondern zum 
ganzen Concil bin ich gekommen und will bort reden, 
was Gott mir gibt und worum man mich fragt; aber 
bennoch bin ich auf bie Bitte der Herren Carbinäle bereit, 
jofort zur ihnen zu kommen, und wenn ich über etivas 
befragt werbe, hoffe ich Lieber ven Tod wählen zu wollen, 
ehe ich die mir aus ber Schrift ober ſonſtwie erfannte 
Wahrheit verleugne.“ Darauf erneuerten die Gefanbten 
ihre Bitte freundlich, aber fie hatten doch das Haus und 
die Nachbarfchaft mit ſtädtiſchem Kriegsvolk bejegt. ALS 
Hus die Treppe herabitieg, eilte ihm feine Wirthin weinend 
entgegen, er fegnete fie zum Abſchied, dann ritt er mit 
der Gefandtichaft und Johann von Chlum nach dem 
biihöflichen Palais, wo ber Papft feine Wohnung hatte, 

Es empfingen ihn die vwerjammelten Garbinäle und 
ſprachen: „Magiſter Iohannes, Vieles und Wunder- 
fihes jagt man von Euch, daß Ihr viele Irrihümer hegt 
und im Reiche Böhmen verbreitet habt; deswegen haben 
wir Euch rufen laffen, um mit Euch zu reden, ob dem 
alfo jei.” Hus erwiberte, er wolle lieber fterben, als 
an einem Irrthum feithalten; fobald man ibm einen 
Irrthum nachweife, ſei er in Demuth bereit, ihn abzu- 
legen. Die Verſammlung erklärte dazu ihre Befriedigung 
und verließ dann ven Saal, Hus blieb mit feinem Be- 


22 Sobann Hus. 


Ihüßer unter militärischer Bedeckung allein. Um 4 Uhr 
des Nachmittags verfammelten fi die Carbinäle aber- 
mals in der Wohnung des Papſtes, um über Hus einen 
Beſchluß zu fallen. Es waren auch die Böhmen babei, 
von der einen Seite bejonder8 Michael und Palek, aber 
auch Freunde des Angeklagten. Erftere boten neuerdings 
alles auf, um einen Rückſchritt unmöglich zu machen, und 
gaben fich feine Mühe, die Schabenfreude über ihre Er- 
folge zu verbergen. Hüpfend vor Freude riefen fie aus: 
„Ha, ba! nun haben wir ihn; er wird uns nicht ent- 
gehen, bis er ven legten Heller bezahlt” (Matth. 5, 26). 
Als es fchon ſpät geworben war, erichten ber päpftliche 
Haushofmeifter vor Chlum und Hus mit dem Beichluffe, 
Chlum fönne gehen, Hus aber müffe pableiben. Da eilte 
der Ritter in höchſter Entrüftung, daß man unter bem 
Vorwand einer gütlichen Conferenz den Magifter gefangen 
genommen, aljogleich zum Papſte, den er noch in ber 
Verfammlung antraf. Er warf dem Papfte mit dürren 
Worten Wortbrüchigfeit vor, er wolle feine Stimme laut 
erheben wider alle, welche die Föniglichen Briefe gebrochen. 
Der Bapft jedoch rief die Carbinäle zu Zeugen auf, daß 
er nimmermehr Hus habe gefangen nehmen Laffen, und 
ſprach jpäter zu Chlum unter vier Augen; „Ihr wißt 
ja, wie ich mit den Cardinälen ftehe; die haben mir ven 
Gefangenen aufgedrungen, ich mußte ihn übernehmen.” 
Daran ift richtig, daß in der That fchon des Papftes 
Ziara ind Wanfen gelommen war, je länger je mehr 
gewann bie Anficht Boden, daß zum Beten des Friedens 
und ber Einheit der Kirche alle drei ſchismatiſche Päpfte 
zur Nieverlegung ihrer Würde bewogen werden müßten, 
aljo auch Sohann XXIL., der das Concil zu Teiten 
gefommen war. Db aber in Sachen ber böhmifchen Ketzerei 
Differenzen zwiichen dem Papſte und feinen Carbinälen 





Johann Hus. 23 


beſtanden, bleibt zweifelhaft. Hus wurde noch am ſelben 
Abend in das Haus eines Domherrn von Konſtanz ge⸗ 
bracht und acht Tage lang von Bewaffneten gehütet. 
Am 6. December wurde er in das Dominicanerkloſter 
übergeführt, das auf einer Injel im Bodenſee dicht bei 
ber Stadt lag. Ein finfterer, an eine Kloake ſtoßender 
Kerker nahm ihn auf, fo ungefund, daß er darin nad) 
einigen Wochen erkrankte. 

Sohann von Chlum ftritt ritterlich für die Freiheit 
feines Schützlings. Er beflagte fich öffentlich über ven 
Papit und die Cardinäle und wies ven königlichen Geleits- 
brief Grafen und Herren, Biſchöfen des Concils, auch 
anfehnlichen Bürgern der Stadt vor. Sodann protejtirte 
er fchriftlich durch Anfchläge an den Kirchthüren, vie er 
eigenhändig beforgte. Man gab auch dem heranreifenven 
König Nachricht von dem Schickſal Huffens, und ver flammte 
auf, gab Befehl, Hus in Freiheit zu fegen, und brohte, 
bie Thür ſeines Gefängniffes mit Gewalt erbrechen zu 
laſſen. Doch wir werben fehen, daß Sigismund’s That- 
kraft ſich in folchen Aeußerungen erichöpfte, zu durch⸗ 
greifendem Wollen für feine und des Neiches Ehre 
gegenüber dem lügnerifchen Concil konnte er fich nicht 
aufraffen. 

Enblih in der CEhriftnacht, den 25. December ſpät 
nah Mitternacht, hielt König Sigismund mit feiner 
Gemahlin Barbara von Cilley, vielen fürftlichen Herren 
und Frauen und einem glänzenden Gefolge von etiva 
tauſend Berittenen, bei hellem Fackelſchein und ſchneidender 
Kälte, feinen feitlichen Einzug in Konſtanz. Er günnte 
ver Königin und den vornehmen Damen faum mehr ala 
die Zeit, fich in geheizten Zimmern von ber Reife zu 
erwärmen und ihren Anzug zu wechleln; dann begab er 
ich noch vor Anbruch des Tages in feierlichen Zuge 


24 Sobann Hus. 


unter Fackelſchein in bie hellerleuchtete Kathedrale, wo 
ber Bapft ihn empfing, der das Hochamt mit ungewöhn- 
licher Pracht perfönlich feierte. Nach althergebrachter 
Sitte diente der römische König dabei, als Diakonus 
gekleidet, mit der Krone auf dem Haupte, am Altar und 
fang mit Hangvoller Stimme das Evangelium: „Es ging 
ein Befehl vom Kaifer aus.” Nach ver Mefje übergab 
ihm der Papft ein geweihtes Schwert mit dem Bebeuten, 
e8 zum Schirm der Kirche zu gebrauchen: was Sigis⸗ 
mund mit frendiger Bereitwilligfeit zujagte. 

Die Eoncilsverhbandlungen nach ben Teiertagen 
betrafen Hus und feine Gefangenjchaft. Sigismund ging 
mehreremale erzürnt aus der Sikung weg, ja verließ 
fogar einmal die Stadt. Aber die verfammelten Väter 
jegten jeinem Recht, einem Unterthanen feinen Schuß 
zu gewähren, ihr Recht entgegen, einen ver Ketzerei Ver- 
bächtigen nach den beſtehenden Kirchengefegen zu richten, 
und als er die Stabt verlaffen, Tießen fie burch eine 
Gefandtichaft anfragen, wozu denn das Concil da wäre, 
wenn er nicht geftatten wolle, daß es feine gejeßliche 
Wirkſamkeit entfalte Es bleibe ihm nichts übrig als 
auseinanderzugehen. Der fchwache Mann wagte nicht 
geltend zu machen, daß er nicht die Zuftänpigfeit ber 
Väter, über Hus zu befinden, bezweifle, wohl aber bie 
Ehrlichkeit ihres Verfahrens. Somit ließ er feit dem 
1. Januar 1415 dem Proceß gegen Hus feinen Lauf, 
auch tröftete er fich mit der Autorität der geltend ge- 
machten Meinung, daß da nach göttlichem und menfch- 
lihem Rechte fein zum Nachtheil des Fatholifchen Glaubens 
gegebenes Veriprechen gültig fein könne, er auch nicht ver- 
pflichtet fei, das einem Keter gegebene Wort zu halten. 
Somit war des Magifterd Top im Grunde fehon befiegelt, 
benn bie Väter verjtanden es weder, noch waren fie willeng, 





Johann Hus. 25 


mit ihm wirklich zu verhandeln, ſie ließen ſich genügen, 
ſtark genug zu ſein, ihn zu verdammen. 

Am 4. December 1414 hatte ver Papſt zur Vor⸗ 
unterfuchung über Hus einen Ausjchuß von brei 
Biſchöfen beitellt. Sie follten alle Maßregeln ergreifen, 
bie fie zur Ermittelung und Sicherftellung der Wahrheit 
binfichtlich der gegen Hus erhobenen Beichuldigungen für 
nöthig erachten würden; das Enburtheil wurde ihnen 
ausprücklich nicht anheimgeftellt. Die Commiſſion hielt 
die üblichen Rechtsformen inne. Weil ein Inquiſit die 
Zeugen, die in feiner Sache deponiren follten, mußte 
ihwören jehen, jo führte man fie Hus im Gefängniß 
zu, einmal nicht weniger als 15 an einem Tage, uns 
geachtet eben damals Hus fo Frank war, daß für fein 
Leben zu fürchten war. Der Angellagte bat um einen 
Anwalt zu feiner Vertheivigung und um gegen die Zu- 
laffung von perfönlichen Feinden zur Zeugenjchaft Ein- 
wand zu erheben. Mean wies aber das Verlangen eines 
Rechtsbeiſtandes für einen ber Ketzerei Verdächtigen 
ſchließlich als ungefeglih ab, obgleih man anfänglich 
demselben nachkommen zu wollen erklärt hatte, 

Weiter legte die Commiffion dem Angeklagten fein 
Buh „Don ber Kirche” vor, damit er die Autorjchaft 
anerfenne. Sodann zog Stephan von Palet aus dem⸗ 
jelben 37 irrige Lehrſätze aus und nahm im weitern 
5 Artikeln Bezug auf andere Lehr- und Streitichriften,. 
auf verwerfliche Predigten, Briefe und andere Aeußerungen 
des Inquiſiten. Diefe Anklagefchrift wurde Hus zu- 
geitellt, al8 er fich von feiner Krankheit mit Hülfe der 
päpftlichen Leibärzte und in einem geſündern Gelaß des 
Kloſters einigermaßen erholt hatte. Er gab feine Verant- 
wortung fchriftlich. Er führt die ihm ſchuld gegebenen Punkte 
der Reihe nach buchftäblich auf und knüpft an jeden feine 


26 Johann Hus. 


Beleuchtung. Bon vielen Artifeln beweiſt er, daß fie 
unrichtig aufgefaßt, verftümmelt und aus dem Zufammen- 
hang geriffen feten, aljo einen andern Sinn gäben, als 
er für fie vermeint gewefen. Von ben Artikeln, die er 
anerkennt, beweilt er, daß die angeblichen Irrlehren viel» 
mehr Wahrheiten feien, indem er fie aus ber Schrift, 
auch wol aus den SKirchenvätern begründet. Hus hält 
feine von uns oben entwidelten Gedanken über die wahre 
Kirche Chrifti voll und ganz aufrecht. 

Die erhobene Anflage noch auf einen weitern An- 
klagepunkt zu erftreden, geitattete eine bei Huſſens 
Anhängern in Böhmen inzwilchen eingetretene Cultus— 
veränderung. Magijter Salob von Mies, das Haupt 
ber böhmifchen Reformer nach Huffens Abreife, hatte be⸗ 
gonnen, die Rüdkehr zum Abenpmahlsgenuß unter beiberlei 
Geftalt für die Laien nicht blos theoretifch zu fordern, 
jondern thatfächlich einzuführen. Allein die Huffiten waren 
fi über diefe Art ver Abenpmahlsfeier, die das Sinn- 
bild ihrer Partei werben follte, damals noch nicht Har 
und unter fich uneinig. Hus wies von Konftanz aus 
in einem kurzen Aufjage die dogmatiſche Correctheit ver 
communio sub utraque nach, meinte aber, daß es wenn 
jomit auch erlaubt, doch nicht Pflicht fei, im Abendmahl 
Brot und Wein zu genießen. Man möge dahin wirken, 
daß durch eine Bulle Die Spenbung des Kelches an die 
geftattet werde, welche ihn aus Anpacht begehrten. ALS 
das Eoncil aber unter dem 15. Yuni 1415 den Kelch 
für die Laien geradezu verbot, erfchten ihm dieſe Ueber- 
ordnuug von Herfommen über Gottes Wort als Wahn- 
wig, und er bat feinen Freund Hawlik, Prediger an 
Bethlehem zu Prag, Jakob von Mies nicht Länger zu 
iwiderftreben: „Leiſte dem Kelchſakrament des Herrn feinen 
Wiberftand, das Ehriftus ſelbſt und durch feinen Apoſtel 





Johann Hus. 27 


eingeſetzt hat: denn die Schrift iſt nicht dawider, ſondern 
allein eine nach meiner Anſicht aus Nachläſſigkeit ein⸗ 
geriſſene Gewohnheit. Nicht der Gewohnheit, ſondern 
allein Chriſti Vorbild und der Wahrheit müſſen wir 
folgen. Soeben hat das Concil, unter Berufung auf 
das Herkommen, den Kelchgenuß von ſeiten der Laien 
als Irrihum verdammt, und wer ihn ausübe, ſolle, 
wenn er nicht wieder zu Einſicht komme, als Häretiler 
beſtraft werden. O dieſer Schurkerei! Chriſti Einſetzung 
als Irrthum zu verdammen! Ich bitte um Gottes willen, 
daß du Magiſter Jakobell“ (fo gewöhnlich um feiner 
kleinen Statur willen genannt) „nicht länger bekämpfſt, 
damit keine Spaltung unter den Gläubigen entſtehe, worüber 
ſich der Teufel freut.“ 

Die Unterſuchungscommiſſion zog ihre Arbeit ſehr in 
die Länge, und es trat ein Ereigniß ein, das geeignet 
war, Hus Hülfe zu bringen. Johann XXIII. hatte 
in beſtimmteſter Zuſage verſprochen, dem Wunſche des 
Concils zufolge zu reſigniren; bald aber ſuchte er wieder 
Ausflüchte und entwich ſchließlich am 20. März ver- 
kleidet aus der Stadt, um von einem ſichern Orte aus 
die Auflöfung der unbequemen Verfammlung verkünden 
zu können. Dem flüchtigen Papſte folgten auf feinen 
Befehl alle feine ‘Diener, und fomit legten die Wächter 
Huffens die Schlüffel zu deffen Gefängniß in des Königs 
Hand und verließen die Stadt. Nun wäre es bem 
Könige ein Leichtes geweien, feinem Geleitsbrief nach- 
träglih Beachtung zu verjchaffen, aber welchen Zweck 
hatte es, einem machtlofen Gefangenen gegenüber eine 
Gewiffenspflicht zu erfüllen, wenn es die verfammelten 
Väter ungnädig aufnahmen, die im Intereffe des Königs 
um die Einheit ver Kirche fo Fräftig fich mühten! Der 
König befprach fich im Gegentheil mit ven Vätern bes 


28 Sobann Hus. 


Concils, was mit Hus werben folle, und nach deren 
Rath übergab er den Gefangenen noch an bemjelben 
Zage, da er die Schlüffel empfangen (24. März), dem 
Biſchof von Konſtanz. Hus hatte in feinen nach des 
Bapftes Flucht gefchriebenen Briefen ſomit recht gehabt, 
fih fanguinischen Hoffnungen nicht hinzugeben, ſondern 
nur die Möglichkeit feiner Befreiung ins Auge zu faſſen. 
Bergeblih war die DVorftellung der zu Meſeritz ver- 
jammelten Stände von Böhmen und Mähren gemwejen, 
bie zu Anfang des Jahres mit Appell an des Königs 
fürftliche Ehre, unter Hinweis darauf, daß er Böhmen 
zu erben gevenfe, für Hus VBefreiung aus ber un- 
gefeglichen Haft und öffentliches, freies Verhör ver- 
langt hatten, „damit, wenn jemand ihn eines Irrthums 
halben anflagen wolle, er öffentlich fich vertheibigen könne, 
wie er öffentlich und ohne Furcht das göttliche Geſetz 
gepredigt bat. Und wenn er rechts- und ordnungsgemäß 
bei einem Irrthum betroffen wird, foll gejchehen, was 
bie Gerechtigkeit fordert”. 

Der Biſchof von Konftanz brachte feinen Gefangenen 
in fein fejtes Schloß Gottlieben am Rhein, dreiviertel 
Stunden unterhalb ber Stabt. Dort wurde Hus im oberften 
Geſchoß des weftlichen Thurmes untergebracht. Wenn er 
im Gefängniß bei den Dominicanern noch hatte Briefe 
ihreiben dürfen und Befuche empfangen, fo trug er jebt 
tagsüber Fußfeffeln und wurde in der Nacht außerbem 
auf feinem Bette mit Handfchellen an die Wand gefeffelt. 
Die Nahrung war ganz Färglich, niemand wurde zu ihm 
gelaffen, fein einziger Brief aus dieſer zehnwöchentlichen 
Gefangenſchaft ift vorhanden. 

Der erlofchene Auftrag des Papftes an die Unter 
juhungsrichter wurde vom Concil an eine neue Com- 
mijfion von vier Mitgliedern erneuert. Die Verhöre, 


Johann Hus. 29 


bie dieſelbe mit Hus anſtellte, geſchahen ganz im Ge⸗ 
heimen. 

Aber eben dieſe Heimlichkeit des Verfahrens und die 
ſtrengere Haft ihres Führers trieben die Böhmen und 
Mähren, ja ſelbſt einige Polen zu erneuerten Be— 
ſchwerden. Wer ſehen wollte, konnte jetzt erkennen, 
daß Hus doch kein einſamer Verlaſſener ſei, ſondern daß 
ſein Volk hinter ihm ſtehe. So überſchickten die zu Brünn 
verſammelten Barone dem König unterm 8. Mai eine 
Denkſchrift, die das jetzige noch härtere Gefängniß Huſſens 
und die Heimlichkeit des Proceſſes beklagte. Am 12. Mai 
hingen zu Prag nicht weniger als 250 Edelleute ihre 
Siegel an eine Denkſchrift ähnlichen Inhalts, vie ihre 
Spite in folgenden Sägen bat: Hus, ber nichts ver- 
jhuldet und nunmehr genug erbulvet habe, möge aus 
dem Gefängniß entlaffen, in Freiheit gefett und nicht 
länger mit Gewalt und Unrecht unter Anklage gehalten 
werben zu Schimpf und Schande der ganzen böhmijchen 
Nation. Wenn das nicht gefchehe, werde Sigismund 
und dem ganzen Reiche Böhmen ein großer Schaden er- 
wachen. Schon werbe vielfeitig Mistrauen gegen ben 
König ganz offen laut. Hus müffe frei nach Böhmen 
zurüdfehren. Diefe Eingabe war von einem Schreiben 
an die böhmifchen und mähriſchen Hofbeamten des Königs 
begleitet, worin biefe um Träftige Verwendung für ben- 
jelben Zwed angegangen wurben. Die leßtern aber 
waren ſchon felber vorgegangen. Sie verlangten ein 
ichnelles Ende des Proceſſes, da bei der Erſchöpfung 
feiner Körperfräfte für Huffens Verſtand zu fürchten fei. 
Das diesbezügliche Schriftftücl war von Wenzel von Duba, 
Johann von Chlum, Heinrich Labenbod und andern 
- Böhmen, dazu von ben in Ronjtanz anweſenden Polen 
unterzeichnet und wurde einer im Branciscanerflofter ftatt- 


30 Sobann Hus. 


findenden Conferenz von Deputirten der vier Nationen 
des Concils (deutfche, englifche, franzöſiſche und italieniſche) 
übergeben, zugleich beichwerten fich die Böhmen für thre 
Nation, daß Gegner Böhmens verleumderifche Gerüchte 
beim Eoncil verbreitet hätten, wie 3. B. daß in Böhmen 
das Saframent des Blutes Chriftt in gemeinen Flaſchen 
umbergetragen werde, und daß Schuſter Beichte hörten 
und das Abenpmahl fpenveten. ALS dieſe Beſchwerde 
verlefen wurde, ftand der in der Verſammlung anweſende 
Biſchof Johann von Leitomiſchl auf und fprach, bie 
Klage gehe ihn und die Seinigen an, und er nehme bie 
Berantwortung für feine Reden auf jih. Denn aller- 
dings habe er mehrere Unoronungen, bie in neueſter Zeit 
in Böhmen, infolge der überhandnehmenden Communion 
unter beiderlei Gejtalt, eingeriffen, fo wie fie ihm aus 
Böhmen glaubwürdig berichtet worben, zur Kenntniß bes 
Concils gebracht. Solches ſei jedoch nicht in der Abficht 
gefchehen, die Ehre feines Vaterlandes und feines Volkes 
zu kränken; im Gegentbeil liege ihm dieſe Ehre mehr 
am Herzen als feinen Gegnern, die fie eben durch ans 
jtößige Neuordnungen bloßzuftellen feine Scheu trügen. 
Um jedoch auf die Klage eine begründete Antwort er- 
theilen zu Tönnen, bat er fich die nöthige Frift aus, vie 
ihm auch ertbeilt wurde. 

Am 16. Mai erhielten die böhmischen und polnischen 
Herren fowol vom Concil als vom Bifchof von Leitomifch! 
Antwort. Letzterer bielt jetzt fchriftlich feine neulich ge- 
gebene Erklärung von Anftößigkeiten beim Heiligen Mahle 
infolge der wiclifitiſchen Forderung beider Elemente für 
bie Laien aufrecht. Jüngſt habe eine prager Frau das 
einem Priefter gewaltſam abgedrungene Suframent eigen- 
mächtig genoffen und zur Entſchuldigung dieſes Frevels 
viele Irrthümer behauptet und vertheidigt. Won einer 





Johann Hu. 31 


Spenbung der Saframente durch Schufter jedoch habe er 
niemals etwas vorgebracht, beforge aber, daß ein folcher 
Skandal in die Länge auch noch zum Vorſchein kommen 
könne. Darum bat er wiederholt die Väter des Concils, 
zur Unterbrüdung folcher Unordnungen unverzüglich ge- 
eignete Maßregeln zu ergreifen. Bon feiten des Eoncils 
gab der Biſchof von Garcaffonne den Herren mündlich 
die Antiwort, durch Huffens Gefangennehmung könne ber 
föntgliche Geleitsbrief um jo weniger gebrochen worden 
fein, als man eben erfahre, daß Hus dieſen Brief erit 
15 Tage nach feiner Gefangennehmmng erhalten babe; 
auch ſei es unrichtig, daß er obne vorläufige Unterjuchung 
eingeferfert worben, da e8 befannt jei, daß er nach Rom 
citirt, wegen Nichterſcheinens in contumaciam verurtheilt 
und ercommunicirt, feine Abfolution gejucht und erhalten 
babe, daher er folglich als Erzfeger (haeresiarcha) gelten 
könne, zumal er unter folchen Umftänden auch in Konftanz 
öffentlich zu predigen fich unterjtanden hätte. Zwei Tage 
jpäter (18. Mai) replicirten die Herren, das Concil jei 
binfichtlich des Datums in Huffens Geleitöbrief im Irrthum 
und kränke die Ehre ver föniglichen Reichskanzlei, indem 
es die Möglichkeit vorausfege, daß dieſelbe eine Urkunde 
um volle zwei Monate zurücdbatiren und fomit fäljchen 
könne. Sie beriefen fih auf den König felbft, ver die 
Ausfertigung angeoronet, auf die Fürften und Herren, 
bie dabei gegenwärtig gewejen; es fei nicht der Herren 
Schuld, daß am Tage jener Gefangennehmung niemand 
ben Brief habe Iefen wollen; auch fei es unwahr, daß 
Hus in Konftanz jemals öffentlich gepredigt habe, ba er 
fogar nie über die Schwelle des von ihm bewohnten 
Hanfes gekommen fei u. ſ. w. Solche Reben und Gegen- 
reden wurden dann an bem folgenden Zagen noch fort- 
geſetzt und arteten zulegt in bittere Perjönlichkeiten zwifchen 


32 Sobann Hu. 


dem Biſchof von Leitomischl und den Baronen aus, End⸗ 
ih auf die Bitte der lettern um Freilaffung bes Ge- 
fangenen, damit er fih an Körper und Geift erholen 
könne, indem die Herren jede gewünfchte Bürgfchaft leisten 
wollten, daß er dieſe Freiheit nicht misbrauchen werbe, 
antwortete am 31. Mai der Patriarch von Antiochien im 
Namen des Concils, daß man zwar Hus auch gegen 
tauſend Bürgichaften nicht auf freien Fuß ſetzen könne, 
daß aber das Concil den Bitten der Barone hinfichtlich 
ſeines öffentlichen Verhörs Folge geben und ben Ge⸗ 
fangenen am nächitfünftigen 5. Juni in einer öffentlichen 
Berfammlung bören wolle. 

So batte man der gerechten Forderung ver öffent- 
lihen Meinung endlich nachgegeben; aber für ven Aus- 
gang diefer öffentlichen VBernehmung war es von übeljter 
Vorbedeutung, daß das Eoncil am 4. Mai jene jeit 1403 
oft erwähnten 45 Artikel Wiclif's verdammt, ihn jelbft 
für einen bis an fein Ende unverbefjerlichen Ketzer er- 
Hört und ben obenerwähnten fanatifchen Beichluß gefaßt 
hatte, der 1427 an Wiclif's Gebeinen vollzogen wurbe. 
Am 5. Juni wurde Hus aus Gottlieben nach Konftanz 
in das Franciscanerflofter gebracht, wo er bis zu feinem 
Tode verblieb. Zwei Tage vorher war der abgefeßte und 
eingefangene Papft Sohann XXIII. in Gottlieben ein- 
gebracht worben, ſodaß der eine hohe Gefangene des 
Concils den andern ablöſte. 


— — — 


Am 5. Juni, einer Mittwoch, verſammelten 
ſich im Refectorium der Franciscaner zum erſten Ver— 
hör des Erzketzers faſt alle auf dem Concil anweſenden 
geiſtlichen Notabilitäten, die Cardinäle, Erzbiſchöfe, Biſchöfe 


Johann Hus. 33 


und Prälaten; ſodann viele Theologen und andere Per⸗ 
ſonen. Bevor der Gefangene herbeigebracht wurde, geſchah 
die Verleſung des Ergebniſſes der Vorunterſuchung. Ein 
Böhme, der im des Vorleſers Nähe zu ſtehen gekommen 
wer, erblickte unter ven zum Vortrag bejtimmten Stüden 
auch das bereits fertige Verdammungsurtheil des Hus. 
Er feste dem gleichfalls anwesenden Peter von Mladenowitz, 
und biefer bie Herren von Ehlum und Duba in Kennt⸗ 
niß davon, welche augenbliclich zu Sigismund eilten, 
ihn davon zu benachrichtigen. Der König ſchickte ſofort 
Ludwig, den Pfalzgrafen vom Rheine, und den Burg⸗ 
grafen Yrtedrich non Nürnberg, die verſammelten Väter 
vor einer übereilten Entfcheidung in der Sache zu warnen. 
Hus folle geduldig angehört werben, und bie Artikel, über 
die kein Ausgleich erzielt werde, feien zu des Königs 
Kenntniß zu bringen, bamit er fie einer Anzahl noch zu 
beftimmenver Doctoren zur Durchficht übergeben könne. 
Auch brachten die Barone den genannten Yürften bie 
Autographe der ftrittigen Werte Huffens zur Uebergabe an 
das Concil, damit fie zur Controle der aus ihnen ge- 
ſchöpften Anklagepunkte dienen könnten; doch follten fie 
zurücerjtattet werben. 

Nachdem Hus in die Verfammlung eingeführt 
worden und bie Bürften fie verlafjen hatten, wurden ihm 
bie foeben genannten Hanbfchriften (e8 waren fein Buch 
„Bon der Kirche“, feine Streitfchriften wider Paletz und 
Stanislaus von Znaim) mit der Trage vorgelegt, ob 
er fie als die feinigen anerkenne. Hus jah fich Die Bücher 
genan an, befannte fich zu ihnen, indem er fie dabei in 
bie Höhe Hob, und erflärte zugleich feine Bereitwilligfeit, 
wenn man ihn belehre, daß Irrthümer darin enthalten, 
biefelben zu widerrufen. Hierauf verlad man bie aus 
ſeinen Schriften ausgezogenen Süße und die Zeugen- 

XXIII. 3 


34 Johann Hus. 


ausſagen. Als aber der Magiſter auf einzelne Punkte 
eingehen und ſich vertheidigen wollte, ſchrien viele zu⸗ 
gleich auf ihn ein; ſuchte er nachzuweiſen, daß man in 
den Auszügen gewiſſe Ausdrücke von ihm misdeutet habe, 
ſo hieß es: „Laß deine Sophiſterei und antworte Ja 
oder Nein!“ Berief er ſich auf Ausſprüche von Kirchen⸗ 
vätern, ſo riefen viele: „Das ſteht nicht in ihnen! Das 
gehört nicht hierher!“ Schwieg er, ſo ſagten andere: 
„Run ſchweigeſt du! Das iſt ein Zeichen, daß bu wirk— 
lich dieſe Irrthümer hegeſt!“ Für feine Bücher rief 
man nach dem Teuer. So leichtfertig verfuhr ein bie 
Geſammtkirche barftellenver, „im Heiligen Geifte‘ ver- 
fammelter Körper, der in allen Glaubens- und Kirchen- 
jachen abfoluter Richter und Gefetgeber fein wollte! Der 
von ben aufgeregten Vätern umtobte Angeflagte blieb 
ruhig und Tieß fich nicht einfchüchtern. Sobald er wierer 
zu Worte fam, bemerkte er mit lauter Stimme: „Ich 
bachte, daß auf diefem Concil mehr Anftand, Yrömmig- 
feit und Zucht fein würde!“ Darauf eriwiberte der 
Präfident, Johann von Brogni, Carbinal-Biihof von 
Oſtia: „Was jagt du? Im Schloffe haft du eine 
bemüthigere Sprache geführt! Hus gab ihm zur Ant- 
wort: „Weil dort niemand auf mich einjchrie; hier aber 
Schreit ihr alle!” Man mochte fühlen, daß man fich eine 
Blöße gegeben, und erfennen, daß fo die Angelegenheit 
nicht gefördert werben könne. Die Situng wurde ge— 
Ichloffen und auf Freitag, den 7. Juni, vertagt. 

Der Erzbifchof von Riga führte Hus in fein Gefängniß 
zurüd. Der Magifter begegnete babei feinen Freunden, 
gab ihnen die Hand und ſprach: „Habt feine Furcht 
um mich!” Sie antworteten: „O nein“, und er ſprach: 
„Ich weiß e8 wohl, ich weiß e8 wohl.” ALS er die Stufen 
emporjchritt, jegnete ev das Volk, lachte und war fröhlich. 


Johann Hus. 35 


Freudige Zuverſicht athmen auch ſeine Briefe aus dieſen 
Tagen. So wünjcht er ſich Glück dazu, daß es ihm 
bereits gelungen, zwei Artikel von ber Klageliſte ftreichen 
zu machen, und lebt ber Hoffnung, daß e8 auch bei andern 
noch gelingen were. 

Freitag, ven 7. Juni, fand eine faft totale Sonnen» 
finfterniß ftatt; eine Stunde nach dem Naturfchaufpiel, 
des Vormittags um 10 Uhr, verfammelte fich das Concil 
zum zweiten Verhöre Huffens, wiederum bei ven 
Franciscanern. Die Zugänge wurben (wie auch am 5. und 
8. Juni) von bewaffneten Stabtjolvaten beſetzt gehalten, 
auch König Sigismund wohnte der Verhandlung bei. 
Es ging an dieſem Tage weniger ftürmifch zu als am 
erften, denn e8 war von feiten des Königs und bes 
Concils kundgemacht worben, daß alle Schreier aus der 
Berfammlung binausgewiejen werben follten. ‘Die Grund- 
lage ver Vernehmung bildeten gewiffe Artikel, welche von 
Zeugen beftätigt fein follten und theils Huffens Buch „Von 
ber Kirche”, theild Vorgänge in Prag jeit dem Jahre 1403 
betrafen. Das Verhör drehte fich beſonders um Huffens 
Verhältniß zu Wichf. Der erfte Anklagepunft Tautete 
auf wiclifitiiche Lengnung der Brot-Verwanblungslehre. 
Als Hauptlämpfer gegen Hus trat Peter d'Ailly auf, 
ber Cardinal von Cambrai, welcher als Vorſitzender der 
Glaubenscommiſſion des Concil8 das Verhör leitete. 
Ally ftand zwar unter den Männern obenan, die es 
damals unternahmen, die Einheit der Kirche wieberber- 
zuftellen, indem fie über die ftreitenden Päpſte hinweg 
auf die Autorität der Univerfalfirche und ihre Repräfen- 
tation im Concil zurüdgingen; er wollte auch jene „Re— 
formation an Haupt und Gliedern“, die der herzliche 
Wunſch aller Ernitgefinnten war — aber daß dazu das 


geſammte Firchliche Leben aus dem Worte Gottes ven 
3% 


36 Johaun Hu. 


Grund auf zu erneuern und mit Beſſerung von Einzel- 
heiten bejonders. ohne Antaftung der hierarchiſchen Ber- 
foffung nichts zu, erreichen fei, das blieb. ihm verfchloffen, 
und ſomit Ionnte er gegen Hus, ber bie offenen Schäden 
ber Kirche doch auch wollte heilen Helfen, weil derſelbe 
evangelifch, nicht hierarchisch gefinnt war, mit ber größten 
Animoſität vorgehen. Dazu kam der philofophiiche Gegen- 
fat der beiden Männer. Dem Nominaliften Ailly erfchten 
ber verhaßte Realismus Huffens als eine nothwendige 
Duelle aller denkbaren Kebereien. 

Hug beftritt beharrlich, daß er Wielif's Angriff gegen 
bie Lehre von der Wandlung fich angeeignet Habe. 
Er blieb auch feit, als Ailiy und mehrere englifche Doctoren 
aus feinem Realismus folgern wollten, daß er die Wand⸗ 
lung verneinen und das Bleiben des Brotes auch nach 
ber Confecration behaupten müffe. Seine Bertheibigung 
machte doch folchen Eindrud, daß einer von ben englifchen 
Doctoren im Concil felbjt ausiprach, diefe philoſophiſchen 
Fragen gehörten nicht zur Sache und Hus ſei in Betreff 
des heiligen Abenpmahls. rechtgläubig. 

Als Hus von den Zeugenausfagen mehrere gerabezu 
für falſch und nur aus bitterer Feindſchaft ewbichtet er⸗ 
Härte und fich Dagegen auf Gott und fein Gewiſſen berief, 
bemerkte ihm d'Ailly, das Concil könne nach ber Be— 
ichaffenheit feines Gewiffens. feinen Spruch fällen, fordern 
allein nach den vorhandenen Ausfagen beeiveter Zeugen. 
Hus Scheine in der Ablehnung diefer Zeugen zu weit zu 
gehen, ba er auch ben parifer Kanzler Gerjon für ver- 
bächtig halte, der gewiß ein fo berühmter ‘Doctor fei, 
wie nur einer in ber ganzen Ehrijtenheit gefunden werben 
könne. 

Ferner wurde Hus zur Laſt gelegt, daß er gegen die 
Verurtheilung der 45 Artikel Wiclif’8 in Prag opponirt 





Sobann Hus. 37 


babe. Er geftand, daß er mehrere der Artilel für wahr 
halte, betonte jedoch, daß er für feine Perſon keimen der 
genannten Site hartnädig behauptet, ſondern hur ihrer 
Bersrtheilung in Banſch und Bogen and ohne Beweis 
ſich wiverjett Habe. Als ihm weiter auch ſchuld gegeben 
wurde, daß er tiefe Verehrung für Wiclif's Perſon 
geäußert Habe, ftellte 'er Das keineswegs An Abrede; wenn 
er auch keine Gewißheit habe, daß Wichf ſelig geworden 
ſei, fo könne er doch nur wänfchen, daß feine Seele 
einmal dahin gelangen möge, wo Wiclif’s Seele fei. 
Lautes Gelächter und Kopfſchütteln war die Antivort der 
Verſammlung. 

Daſſelbe Gelächter ertönte, als der Angeklagte auf 
bie Frage, ob es evlaubt ſei, auch an Chriſtum zn 
appelliren, antwortete: „Ich bekenne hier öffentlich, 
daß keine Appellation rechtmäßiger und wirkſamer iſt als 
die an Chriſtum.“ Es war ja nach jener Verſammlung 
Meinung ein echtes Ketzerkriterium, dem Willen der kirch⸗ 
lichen Autorität ſich nicht zu Fügen und dennoch Ehrift 
fein zu wollen. AS römiſch gedacht läßt fich Huffens Wort 
ber Ausſpruch gegenüberftelien, ven einer der Doctören 
bei ven Verhandlungen, ihm zum Widerruf zu beivegen, 
getban bat: „Wenn das Council fagen würde, daß du 
mr ein Auge haft, vbwol du zwei haft, fo mußt bu 
mit dem Concil befemen, daß dem alfo ſei!“ 

Serner maß man Hus bie Schuld am ben Zerwürf⸗ 
nifien innerhalb der prager IUmiwerfität ſowie an ben 
Gewaltthaͤtigbeiten bei, welche in der Hauptſtadt gegen 
Prälaten und Kleriker vorgekommen feten, auch Anderes 
der Art rüdte man ihm vor. Mit Geſchick mund Klar⸗ 
beit lehnte Hus jede perſoͤnliche Verantwortung Für foldhe 
Vorfäͤlle ab. 

Am Ende Torte Ailly es wicht mnterlaffen, Hnffens 


38 Johann Hu. 


Prahlerei zu rügen, baß er ganz freiwillig zum Concil 
gefommen fein wolle, und wenn er nicht hätte Tommen 
wollen, weder König Wenzel, noch König Sigismund ihn 
zu biefer Reife hätten zwingen können. ‘Der Magifter 
antwortete, dem fei in ber That alfo: er habe jo viele 
große Herren in Böhmen für fich, daß dieſe ihn auf 
ihren Burgen volllommen zu ſchützen in der Lage geweſen 
wären. „Welche Vermeffenbeitl” rief der Kardinal mit 
fihtbarer Entrüftung aus. Doch es ſprach nunmehr 
Johann von Chlum, Hus rede die Wahrheit: „Ich 
bin ein armer Edelmann in unſerm Lande, und boch ver- 
möchte ich einziger an ein Jahr lang gegen welche Macht 
immer ihn zu fehirmen. Und es gibt viele große Herren, 
die ihn lieben, mit ſehr feiten Schlöffern, die ihn ſchirmen 
fönnten, folange fie wollten, jelbft gegen beide genannte 
Könige.” 

Geſchloſſen wurde die Sigung burh Ermahnungen 
bes Cardinals und felbft des Königs an den Angellagten, 
er möge fich doch dem Eoncil unterwerfen. Der König 
berichtigte zuerft den Irrthum binfichtlich des Datums 
in dem vielbefprochenen Geleitsbriefe. Diefen Brief und 
feinen Töniglichen Schu babe er Hus allerdings noch 
vor deſſen Abreife aus Böhmen zugefichert und ihm auch 
öffentliches Gehör zu verichaffen verfprochen; darum habe 
er ihn auch dem befondern Schuße der Herren von Chlum 
und Duba empfohlen, obgleich man behaupte, daß er einen 
der Keterei Verdächtigen in feinen Schuß zu nehmen 
nicht befugt gewejen. Nun ſei Hus ein ruhiges öffent- 
liches Gehör zugeftanden und damit das königliche Ver- 
iprechen geldft worden. „Es erübrigt“, fuhr der König 
fort, „nichts mehr, als mich den Ermahnungen des Car- 
dinals anzufchließen, daß du nicht auf deinem Eigenfinn 
befteheft, ſondern dich gänzlich der Gnade des Concils 





Johann Hu. 39 


anvertrauft. Es wirb mir, meinem Bruder und bem 
Königreich Böhmen zu Liebe dich gnädig aufnehmen und 
dir feine ſchwere Buße auferlegen. Willft du aber auf 
beinem Eigenſinn beharren, fo werben die Väter fchon 
willen, wie fie dich zur behandeln haben. Sch habe ihnen 
zugejagt, daß ich feinen Ketzer befchügen werde; ja wollte 
jemand hartnädig auf feiner Ketzerei beftehen, fo wäre 
ih der erfte, ber ihn auf den Scheiterhaufen führte. 
Darum möchte ich dir nochmals rathen, dich ganz in bie 
Gnade des Concils zu ergeben, und zwar je eher, je 
bejfer, damit du nicht in noch tiefere Schuld verfalleft.” 
Hus antwortete kurz mit einem Dante für ven empfangenen 
Eöniglichen Schuß- und GeleitSbrief und mit ber wieder⸗ 
holten Betheuerung, er fei ganz von freien Stüden hierher 
gefommen, und nicht in der Abficht, irgendetwas hart- 
näckig zu vertheibigen, vielmehr in aller Demuth fich eines 
beſſern belehren zu laſſen, falls man ihm nachweife, daß 
er in irgendeinem Stücke geirrt habe. 

Die Situng wurde gejchloffen und einen Tag ver- 
tagt, ver Erzbifchof von Riga führte ven Angeklagten in 
jeinen Kerker zurüd, 

Das dritte umd enticheidende Verhör in Huffens 
Sade fand am 8. Juni, abermals unter dem Präſidium 
des Cardinals Peter d'Ailly und an demſelben Orte ftatt; 
wiederum war außer ben Vätern König Sigismund er- 
Ihienen, von böhmifchen Freunden ftanden Hus Wenzel 
von Duba, Johann von Chlum und Peter von Mladeno⸗ 
wig zur Seite. Der Angeflagte wurde über 39 zum 
Vortrag gebrachte Artikel vernommen, von denen 26 aus 
feiner Schrift „Von der Kirche‘ gezogen waren und 7 
bezw. 6 aus ben Streitjchriften wider Stephan von Palek 
und Stanislaus von Znaim. Um die Nichtigfeit dieſer 
Sätze darzuthun, wenn fie nicht wörtlich ausgezogen waren, 


40 Johann Hus. 


geſchah auch die Verleſung der einſchlägigen Stellen in 
den Handſchriften. Ailly glaubte dabei wiederholt be- 
tonen zu müſſen, daß Huſſens Gedanken in ihrer originalen 
Faſſung noch fchlimmer Tanteten als in ver Faſſung ber 
Auszüge. Die wichtigften dem Concil anftößigen Lehr⸗ 
fäbe des Angellagten aber waren folgende: Die wahre 
Kirche ift die Gemeinfchaft der von Gott Erwählten. Kein 
Kirchenamt, Feine firchliche Würde gibt zugleich Mitglied- 
haft in der wahren Kirche, fondern nur wer fittlich in 
ber Nachfolge Jeſu wandelt, ift ein wahrer Chriſt, Priefter, 
Carbinal und Bapft. Chriftus, nicht Petrus ift das Haupt 
der Kirche. Wenn ber beftellte Stellvertreter Chriſti feinem 
Herrn nicht nachfolgt, ift er des Antichrifts Gefandter und 
Stellvertreter Judas Iſcharioth's. Das Papftthum und 
jeine Macht ift eine Schöpfung ver kaiſerlichen Gewalt. 
Die weltlichen Herren haben bie fittliche Pflicht, die Briefter 
zur Beobachtung des Gefeßes Chrifti anzubalten. Es ift 
durchaus nicht richtig, daß der Beſtand ber Kirche auf 
Erden von dem Vorhanbenfein des Papſtes abhängig jet. 
Es iſt unrecht, einen Keber nicht blos in Kirchenzucht zu 
nehmen, fonbern auch der weltlichen Obrigfeit zur Strafe 
an Leib und Leben zu überlaffen. Die Strafe des Inter- 
dicts widerjpricht dem Vorbilde Chriſti. — Der Vortrag 
biefer Sätze und ihrer Belegftellen, ihre Vertheidigung 
ſodann durch den Angeflagten rief des öftern Bewegung, 
Aufregung, Kopffchütteln und Gelächter hervor. 

Das größte Auffehen jedoch erregte die Thefe: Wenn 
ein Bapft, Bifchof oder Prälat fih in Todſünde 
befindet, jo ift er nicht Papft, Biſchof oder Prälat. Als 
Hus die Thefe durch Die Erflärung zu rechtfertigen fuchte, 
daß ein folcher Papft u. ſ. w. wol dem Amte nach, nicht 
aber dem Begriff und Weſen nach PBapft u. f. w. fein 
könne, und beiſpielsweiſe hinzufügte, daß auch ein König 


Johann Hu. 41 


in Todſünde vor Gott nicht König fei, rief man nad) 
König Sigismund, der foeben Zum Fenſter des Refec⸗ 
toriums fich hinausgelehmt und mit dem Pfalzgrafen vom 
Rheine und dem nürnberger Burggrafen ein Geſpräch 
über die Gefährlichkeit der bisher gehörten Sätze an⸗ 
gefrüpft Hatte. Hus mußte feine Anficht wor dem Könige 
wiederholen, worauf derſelbe nur erwiberte, daß wol 
niemand ohne Sünde fei; der Cardinal Ailly aber brach 
in den Vorwurf aus, daß Hus, micht zufrieven, das An- 
jehen des Klerus zu Tränfen, auch bie weltliche Macht 
zu untergraben gefucht habe. Der letztbeſprochene Sat 
von Hus lautete, bie apoftolifche Kirche ſei vortrefflich 
gewejen ohne Papftthum; möglicherweife könne man auch 
jegt und bis ans Ende der Welt das Papſtthum ent- 
behren. Da bemerkte ein Engländer, Stofes, nicht mit 
Unrecht, Hus detrete Hiermit ganz und gar den Weg 
Wiclif's und habe gar nicht nöthig, fich feiner Schriften 
md Lehren zu rühmen, feine Lehren feien vielmehr Wiclif’s 
Lehren. 

Nach beendigter Durchſprache dieſer Lehrſätze fagte 
Ally zu Hus, daß er nunmehr zwiichen zwei Wegen bie 
Wahl habe: entweber nebe er ſich ganz in die Grabe 
und Hände des Concils und unterwerfe fich deſſen Spruche, 
dann werde man johonend mit ihm verfahren. Ober er 
befchreite noch weiter den Rechtsweg und erhalte noch 
weiteres Gehör, das aber könne gefährlich für ihn werben, 
er Eönne in noch größere Irrthümer fich verwideln. Em⸗ 
pfehlenswertber jet der erſte Weg. In gleichem Sinne 
fießen auch andere Prälaten fich vernehmen. Hus meigte 
das Haupt und antwortete vemüthig: „Ehrwürdigſte 
Väter! Ich bin von freien Stücken hierher gekommen, 
nicht um irgendetwas hartnäckig zu vertheidigen, ſondern 
mich demüthig vom Coneil eines beſſern belehren zu 


42 Johann Hus. 


laſſen, wenn ich etwas nicht wohl ober mangelhaft auf- 
gejtellt haben follte.e Doch bitte ih um Gottes willen, 
daß mir ferneres Gehör gejchenft werde, bamit ich meine 
Abficht mit den mir vorgewworfenen Artikeln und die Be- 
weile aus den Kirchenvätern darlegen kann. Sollten meine 
Gründe aus Vernunft und Schrift nicht ftichhaltig fein, 
jo unterwerfe ich mich der Unterweifung des Concils.“ 
Sofort fchrien viele Stimmen, das ſei mit Vorbehalt 
gefprochen; der Zurechtweifung und Entſcheidung ver 
Berfammlung müffe er fich unterwerfen. Hus nahm 
biefe Ausprüde auf, er habe nicht verfänglich reden 
wollen. 

Dieſe Erflärung nahm Ailly für bebingungslofe Unter- 
werfung und eröffnete dem Magifter nunmehr, daß gegen 
60 Doctoren aus Vollmacht vom Eoncil entſchieden hätten: 
Hus folle 1) feinen Irrthum in Behauptung jener 
Artikel demüthig anerkennen; 2) diefe Sätze für alle 
Zukunft abſchwören; 3) dieſelben auch öffentlich 
widerrufen; 4) das Gegentheil der Artikel inskünftige 
annehmen, behaupten und verkündigen. 

Da erwiderte Hus mit aller Ehrerbietung, er ſei 
bereit dem Concil Gehorſam zu leiſten und ſich weiſen 
zu laſſen; aber er bitte um Gottes willen, man möge 
ihn nicht zwingen zu lügen und Sätze abzuſchwören, von 
denen er — Gott ſei ſein Zeuge und ſein Gewiſſen — 
ſich nichts bewußt ſei, die ihm niemals in den Sinn 
gekommen ſeien; namentlich der Satz, daß im heiligen 
Abendmahl nach der Conſecration das Brot als Stoff 
noch bleibe. Sätze, welche er wirklich aufgeſtellt habe, 
wolle er, wenn man ihn eines beſſern belehre, demüthig 
widerrufen. Aber wenn er ſämmtliche ihm ſchuld gegebene 
Sätze, unter denen viele ihm mit Unrecht zugeſchrieben 
worden, abſchwören müßte, ſo würde er eine Lüge begehen 





Sobann Hus. 43 


und fich bie ewige Verdammniß zuziehen; das gehe wider 
fein Gewiffen ! 

Aber wer Hatte Verſtändniß für dieſen Ernſt, dieſe 
Zartheit des Gewiffens? Sigismund fagte Teichtfertig: 
„Höre Hus, warum willſt du nicht alle irrthümlichen 
Sätze abſchwören, von denen bu behaupteft, daß die Zeugen 
fie wahrheitswidrig bir beigelegt haben? Ich wollte doch 
alle Irrthümer abſchwören; darum muß ich doch nicht 
irgendeinen früher gehegt haben!” Und ver Cardinal 
dranz von Zabarella, Erzbiſchof von Florenz, ver- 
ſprach, Hus eine wohlbemefjene Abjchwörungsformel vor- 
zulegen, dann möge er erwägen, was er thun wolle. 
Bon biefem Punkte an verlief das Verhör wieder als 
ein wildes Hin- und Herreben, wobei der eine Mann 
gegen die ganze Verfammlung ftandzuhalten hatte. Von 
neuem wurden ihm bie prager Ereigniffe vorgeworfen, bie 
Engländer erörterten feine Beziehungen zu Wiclif u. f. w. 
AS einigermaßen wieder Ruhe eingetreten war, ftand 
Paletz auf, um die Erklärung abzugeben, daß er nicht 
ans falſchem Eifer oder perfünlichem Haß die Klagen 
wider Hus erhoben habe, fonvdern um feinem Doctoreibe 
nachzukommen. Michael de causis fchloß fich ihm 
am. Hus antwortete: „Ich ftehe vor Gottes Gericht, 
der mich und euch mit Gerechtigfeit richten wird, wie 
wir's verdienen.“ 

Hierauf nahm der Erzbiſchof von Riga den Gefangenen 
abermals in Empfang und führte ihn im feinen Kerker 
zurück. Im Vorübergehen grüßte ihn Johann von Chlum, 
reichte ihm die Hand und tröftete ihn. Es iſt faft rührend 
zu lefen, wie hoch der bedrohte Mann im Gefühle feiner 
Verlaſſenheit und der ihm entgegengebrachten Verachtung 
diefe8 geringe Breundichaftszeichen gewertbet hat. „O wie 
wohl that es mir’, fchreibt er, „al® mir Herr Johann die 


44 Johann Hus. 


Hand bot; er hat ſich nicht geſcheut, mir Armen die Hand 
zu bieten, mir verworfenen Ketzer, mir Gefefſelten, mir 
auf den faft alles einfchriel” 

Hus hatte in den drei Verhören fih männlich und 
mathig benommen. Es war ihm gelungen, ber Auf- 
bürbung gewiſſer Irrlehren ſich zu erwehren; Die Säge, 
bie er als die feinigen anerkennen konnte, hatte er auf- 
recht erhalten (einzelne angebrachte Limitationen find micht 
von Belang) und aus ber Schrift und den Vätern be- 
gründet. Doc was vermochte ihm das zu nützen? Das 
Concil hatte ven Angeklagten gehört, aber das Nefaltat 
ber Vernehmung ftanb vor allen Verhören feft, die Väter 
benahınen fich phariſäiſch ficher, auch hinterliftig und brutal; 
Unbefangenheit in Glaubens- und Gewifjensfragen war 
jener Verſammlung, ja faft jener Zeit eime unbelantite 
Größe: Widerruf ob mit, ob ohne Ueberzeugung — oder 
Gefängniß und Tod war die grauſame Alternative, denn 
könnte die Kirche, das ökumeniſche Concil irven? 

Nach aufgehobener Sitzung ereignete fich eine Scene, 
unbedeutend ſcheinbar und nicht für Hus geneigte Ohren 
beftimmt, die auf die ganze Frage, ob mit Hus ehrlich 
verfahren worden, ein bedeutſames Licht wirft. Hus war 
abgeführt, die Wachen hatten ven Saal geräumt, ba 
nüpfte dev König beim Aufbrudhe mit den PBrälaten 
ein Geſpräch an. Sigismund mochte glauben, daß die 
Böhmen mit Hus aus dem Saale gegangen ſeien, er 
alfo mit Gefinnungsgenofjen allein ſei; aber die Herren 
Johann von Ehlum, von Duba und Peter Mladenowitz 
‚hatten fih in eim Fenſter zurückgezogen und vernahmen 
folgende Worte des Königs: „Chrwirdige Väter! Ihr 
habt nun gehört, daß von dem Vielen, was in ben 
Büchern jenes Menfchen fteht, wozu er fich befaunt Hat 
und worin er hinreichend widerlegt worben ift, ſchon eine 





Johann Hus. 45 


Einzelheit zu feiner Verdammung genügen würde. Darum 
mag er, wenn er jene Irrthümer nicht widerrufen, ab- 
ſchwören und das Gegentheil annehmen will, verbrannt 
werben, ober mit ihm gefchehen, was euch rechtens dünkt. 
Doch rathe ich, daß wenn er auch Verfprechungen macht, 
widerrufen will und wiberruft, ihr ihm nicht trauet, wie 
auch ich ihm nicht trauen würde, nach Böhmen: und zu 
jetnen Beſchützern zurückgekehrt, würde er jene Irrthümer 
und andere mehr boch wieder verbreiten, und würbe bie 
neue Berirrung ärger werben als die alte. Darum ver- 
bietet ihm alles Predigen und verhindert feine Rückkehr. 
Schickt auch die hier verbammten Artikel meinem Bruder 
in Böhmen und nach Polen und in bie andern Länder, 
wo er ſchon feine geheimen. Anhänger und Gönner hat, 
und traget nicht nur ben Bifchöfen und Prälaten, ſondern 
auch den Königen und Fürften auf, dieſe Anhänger zu 
ftrafen, damit die Nefte zugleich mit dem Stamme aus- 
gerottet werden. Wahrlich, ich war noch jung, als Diele 
Sefte in Böhmen begann: und zu welcher Stärke ift fie 
nicht ſeitdem emporgewachlen! Sch werde nun das Concil 
bald verlaffen, darum ſäumet nicht in biefer Sache, und 
machet auch ſobald als möglich mit feinen Schülern ein 
Ende, namentlich mit dem, der hier gefangen fit, mit 
bem — dem” — „Hieronymus“ kam man ibm zu Hülfe. 
„Ganz recht, mit Hieronymus. Für ihn brauchen wir 
feinen ganzen Tag; es wird dann fehon: leichter geben, 
denn jener Menſch ift der Lehrer, fie benennen ihn den 
Lehrer Hus, und diefer Hieronymus tft fein Schüler! “*) 


*) Hieronymus won Prag, nähft Hus der bebeutenbdfte 
Wichfit in Böhmen, war freiwillig zum Concil gelommen. Als 
er bie Nutlofigfeit feiner Anmwefenheit für den Freund und bie 
Gefahr für fich erfannte, verließ er die Stadt, wurde aber unter» 
wegs gefangen und gefefjelt zurückgebracht (im April 1415), Dur) 


46 Johann Hus, 


Nah diefen Worten gingen fie insgefammt in beiterer 
Stimmung auseinander. 

Die böhmischen Herren binterbrachten ihrem Schüß- 
fing des Königs Worte, und wenn Hus über fein Schid- 
jal noch hätte in Zweifel fein können, fo wußte er von 
nun an ſicher, was ihm bevorſtand. Die Briefe aus 
der Gefangenfchaft bei den Franciscanern find voll ber 
fihern Erwartung des Todes. Und wenn im Angeficht 
dieſes erbarmungslojen Feindes alles Lebendigen in ben 
meiften Fällen all die armfeligen Masken fallen, vie ber 
Menjch dem Menfchen gegenüber vorgenommen, wenn bei 
den roheſten Verbrechern ver oft tief vergrabene Funke 
religiöfet Sinnes, wie ihn jede Meenfchenbruft birgt, 
wieder zur Flamme wird und ver Mörder gefteht und 
bereut, um ohne Lüge dem Tode ind Geficht bliden zu 
fönnen, jo find auch Huffens Abſchiedsbriefe wahrlich 
ehrlich und wahr: die Perfönlichkeit aber, die fih in 
ihnen offenbart, muß man wahrhaft hochachten und lieb— 
gewinnen. 

Der Gefangene dankt feinen Freunden, die ihm 
in Konftanz beigeftanvden, für all den männlichen Bei- 
ftand in Rath und That, den fie ihm eriwiefen, er wünſcht 
ihnen Gottes Lohn, er ermahnt das ganze böhmische Volk 
in einem Sendſchreiben an vaffelbe, nie zu vergeffen, was 
diefe Männer für die Sache der Wahrheit gewagt. Er 
banft feinen Gönnern in Böhmen, und bejonders dem 
König Wenzel und feiner Föniglichen Herrin, daß fie ihn 


balbjähriges hartes Gefängniß und unausgefettes Drängen feiner 
Richter matt geworben, wiberrief ex und erkannte das Urtheil Über 
Hus als gerecht an. Doch er ermannte fich wieder. Nah Zurüd- 
nahme des Widerrufs und Bffentlihem Verhöre vor dem Concil, 
ftarb auch er, am 30. Mai 1416, mannhaft und freudig wie Hus, 
ben Feuertod. 





Johann Hus. 47 


geliebt, gütig behandelt und Fleiß angewenbet für feine 
Befreiung. Selbit im legten kurzen Lebewohl nach Böhmen 
beißt e8 noch einmal: „Der Königin, meiner gütigen 
Herrin, faget in meinem Namen Dank für alle Wohl- 
thaten, bie fie mir erwieſen!“ Ueberall Bin, an bie 
Sreunde in Ronftanz, an die Gönner und Getreuen in 
Böhmen, an die Univerfität Prag, an alle Einzelnen, 
benen er jchreibt, ergeben feine Ermahnungen, ber 
erfannten Wahrheit, nicht um ſeinet-, fondern um Chriftt 
willen, treu zu bleiben und nach ihr, d. h. dem Gebote 
Gottes gemäß zu leben. Was feine Yeinde betrifft, 
jo beflagt er zwar Sigismund's Unbeftänbigfeit, daß 
derſelbe ihn eher verurtheilt als feine Feinde, und nicht 
wenigftens mit Pilatus geiprochen: „Ich finde feine Schuld 
an ihm’, over: „Ich habe ihm freie® Geleit gegeben; 
wenn er aljo des Concils Entſcheidung nicht leiden will, 
ihiefe ich ihm mit eurem Spruche dem Könige von Böhmen 
zurück, damit der mit feinem Klerus ihn richte”: wie 
ihm Sigismund ja mündlich verfprochen habe, daß er 
genügendes Gehör, und wenn er fich nicht unterwerfen 
würde, fichere Nüdfehr bekommen folle. Später aber 
vermag Hus, feinen Freunden zu fehreiben, daß er auch 
Sigismund danfe für alles Gute, das berfelbe ihm er- 
wiefen. Gott möge dem Könige alles verzeihen, was er 
trugvoll gehandelt. Er verzeiht allen feinen perjönlichen 
geinden insgeſammt: „Ich bitte für fie Gott anfrichtigen 
Herzens, daß er ihnen verzeihel” Bon Palet jchreibt 
er einmal, daß derſelbe bei einer Beiprechung im Ge— 
fängnifje angefichts der Commiffion des Concils ihn mit 
ten Worten begrüßt habe: ‚Seit Chrifti Geburt ift, 
Wiclif ausgenommen, Fein gefährlicherer Keger aufgeftanden 
ald du’, er fügt aber Hinzu: „Dies hätte ich vielleicht 
nicht Schreiben dürfen, damit es nicht etiva fcheint, ich 


48 Johann Hus. 


hatle ihn.” Weiterhin vermochte e8 Hus ſogar, ben 
geweſenen Jugendfreund und ſpätern Hauptgegner um 
Verzeihung zu bitten, wenn er ein Wort bes Vorwurfs 
gegen ihn gebraucht habe, und Paleg wurbe wie Hus 
jelber zu Thränen gerührt. Michael de causis zeigte 
weniger Herz, gerade deshalb aber jagt. Hus von ihn: 
„per arme Mann!” 

Ueber da8 Concil freilich lauten Huffens Aeußerungen 
bitter und abfprechend. Er geißelt die Stmonie, den Geiz, 
den Hochmuth, die Heuchelei der Väter, Unfehlbar jet 
die Verfammlung wahrhaftig nicht: Habe fie Doch vor 
allem in Johann XXIII. fich geirrt. Derjelbe jet als 
Mörder, Knabenjchänder, Simonift und Häretifer befannt 
geweſen und doch gewählt worven; erjt habe man ihn 
als „Heiligften Vater” durch Kniebeugung und Fußkuß 
geehrt und dann eben jenen Verbrechen, halber verurtheilt 
und abgejeit. „Wo bleibt nun bie ‘Doctrin, baß der 
Papit das Haupt und Herz ber Kirche ift, Die, unverfieg- 
bare Duelle aller Autorität und geiftlichen Vollmacht? 
Yet ift die gläubige Chriftenheit ohne Papft, Jeſus 
Chriftus ift ihr Haupt und Herz, die Quelle aller Geiltes- 
gaben und Gnaden.“ „O daß ihr: doch dieſes unfehlbare 
Concil ſähet“, fehreibt er feinen Getreiten in Böhmen, „ihr 
würbet wahrhaftig etwas ungeheuer Abfcheuliches erbliden. 
Bei den Schwaben geht vie gemeine Rebe, Konftahz könne in 
breißig. Jahren nicht von den Sünden gereinigt werben, 
die das Concil in der Stabt getban bat, Es ſpuckten 
manche aus, fo abfcheuliche Dinge haben fie hierorts 
gefehen.”*) Hus fieht im all diefer Verfehrtheit des 


*) Zu ben fittlihen Zuftänden in Konftanz bringt ein Hiftorifer 
bei: „Neben den Repräjentanten der Kirche hatten fich beim 
Koftnizer Concil (als Repräjentantinnen?) ftebenhundert öffentliche 





Johann Hus. 49 


Verſtandes und Herzens die Bosheit des Antichriſts, „den 
Greuel der Verwüſtung an heiliger Stätte“. „Aber ich 
bin der Zuverſicht, daß Gott nach mir ſtärkere Männer 
geben wird, welche die Bosheit des Widerchriſts beſſer 
an den Tag bringen und ihr Leben hingeben für die 
Wahrheit des Herrn Jeſu Chriſti.“ 

Für ſeine eigene Perſon erhofft Hus den gnädigen 
Beiſtand Gottes zu einem ſtandhaften Tode und das ewige 
Leben. Er bittet ſeine Freunde, darum für ihn zu beten; 
auch auf die Fürbitte der Heiligen hofft er, in dieſem 
Stücke hat er die Schranken ſeiner Zeit nicht durch⸗ 
brochen. Der Gedanke an einen Widerruf kommt ihm 
nicht, aber es iſt nicht Hochmuth, der ihm das Bewußt⸗ 
jein gibt, dem Concil gegenüber die Wahrheit zu ver- 
treten, feine Freunde nämlich bittet er, feine Lehre zu 
prüfen und alles Nichtftichhaltige aufzugeben und zu 
verbeffern. 

Mit dem 8. Juni war Huſſens Schichkſal befiegelt, Dennoch 
fieß man ihn noch volle vier Wochen am Leben. Es ift 
möglich, daß die Veranlaffung für diefen Aufichub in 
neuen Briefen zu fuchen tft, die zu Huſſens Gunften 
in Konſtanz einliefen. In einer Verfammlung ber vier 
Nationen am 12. Juni fam jener Brief zur Verlejung, 
‚dem 250 Siegel böhmifcher und mährifcher Herren an- 
gehängt waren. Zur Bejchwichtigung ber bei jolchen 
Demonftrationen doch nicht eindruckslos gebliebenen Ge— 
müther hoben der Bifchof von Leitomiſchl und Palet hervor, 
daß wenigftens König Wenzel feinen Schritt zu Huffens 
Gunſten gethan habe. Das war wahr, aber der König 


Kuftdirnen eingefunden, «bie ander heimlich Dirnen und Eurtifanen 
no ungezähltv. Gebhard Dacher nahm auf hurfürftl. ſächſiſchen 
Befehl ein Verzeichnis derſelben auf.‘ 

XXIII. 4 


50 Johann Hus. 


that für Hus, dem er feine Gunſt jo mannichfach zu— 
gewendet hatte, jeit derſelbe nach Konftanz gegangen, 
feinen Schritt mehr, nicht, weil er fih von Huffens Ketzerei 
überzengt hätte, fondern um ber Feindſchaft mit feinem 
Bruder Sigismund willen: das konſtanzer Concil als 
Sigismund's Concil exiſtirte nicht offictell für den böhmischen 
König. Die Väter des Coneils bejchäftigten fi am 18. 
und 23. Juni noch einmal mit der Prüfung von Huffens 
Lehrfäten und verdammten auf Grund verjelben alle feine 
Schriften zum euer, mit ihm felber befaßten fie fich 
nur injofern noch, als ihm eine Wipderrufungsformel 
vorgelegt und durch Deputationen bes öftern wer- 
jucht wurde, ihm dieſelbe annehmbar zu machen. Bon 
biefer Widerrufungsformel kann anerfannt werben, daß 
fie entgegentommenb gehalten war, Hus follte um ein 
„barmherziges“ Verfahren mit ihm bitten und proteftiren 
bürfen, daß man ihm vieles aufgebürbet, woran er nie 
gedacht habe. An den Deputationen betheiligten fich jelbft 
bie vornehmſten Mitgliever ver Verfammlung, wie Ally 
und Zabarella, mit Theilnahme und Beſorgniß erfüllt 
zeigte ſich insbeſondere das unbekannt gebliebene Mit- 
glied, das Hus in feinen Briefen nur den „Vater“ 
nennt. Allein Hus erklärte, auch in dieſer Faffung 
nicht abſchwören zu können, denn er würde doch immerhin 
noch viele Wahrheiten verwerfen, einen Meineid thun, 
dem „Wolfe Gottes’ großen Anftoß geben. ‘Der „Vater“ 
machte zwar geltend, daß Huſſens etwaige Schuld, wenn er 
nämlich doch Wahrheiten abſchwören follte, ja nicht auf 
jein Haupt käme, fondern auf feine Obern, die den 
Widerruf verlangt, aber Hus fürchtete bei einem folchen 
Handel für feine Seligfeit. 

So fam bie innerlichfte Differenz zwiichen dem An- 
geflagten und jeinen Richtern in den vier zwifchen dem 





Johann Hus. 51 


„Vater“ und Hus gewechielten Briefen zu Harem, zu- 
geipigtem Ausbrud: Hus emancipirte fich bewußt als 
Einzelner vom Urtheil der Gefammtheit, hatte alſo bie 
Gewifjensfreiheit begriffen, aber auch die damit gejekte 
eigenfte perjönliche Verantwortung; das Concil bewegte 
ih in den bergebrachten Gebanfen von ber unbebingten 
Autorität des Ganzen über das Glied. Zwei Zeiten 
waren einanber gegenübergetreten, die alte Zeit noch 
Iebensfräftig genug, den neuen Geift zu bämpfen, aber 
die neuen Gedanken ſchon mit willig vergoffenem Herz- 
blut vertreten; und dieſe Leidenswilligkeit weiffagte ben 
Sieg der neuen Zeit. 


Am 1. Yuli gab Hus dem Concil pie fchriftliche 
Erflärung, daß er nicht abſchwören könne noch wolle, 
und am 5. Juli wiederholte er fie mündlich der legten 
Deputation, vier Bilchöfen, zu denen fi im Auftrage 
Sigismund’s bie böhmifchen Herren gefellt hatten. “Der 
6. Juli, ein Sonnabend, wurde der Tag feiner Ver⸗ 
urtbeilung und Verbrennung. Die Brälaten verfammelten 
fih im Dome zu Konftanz zur fünfzehnten General- 
Seffion des Concils unter dem Vorſitze des Cardinal⸗ 
Biſchofs von Oftta, Johann von Brogni; einen bejonbern 
Glanz verlieh der Sitzung der König, indem er auf 
einem Throne fißend, von ben Zeichen der Majejtät um- 
geben, anwejend war. Immitten der Kirche erhob fich 
ein tifchförmiges Gerüft und darauf ein mit dem Mep- 
ornat behängter Holzftod. Der Erzbifchof von Gneſen 
celebrirte die Meſſe, und unterbeffen mußte Hus von 
Bewaffneten umringt an ber Kirchthür ftehen bleiben. 
Dann wurbe er an das Gerüft herangeführt und ver- 

4* 


52 Sobann Hus. 


harrte davor kniend im Gebete, während ter Biſchof 
von Lodi ſich in kurzer Previgt über die Schäplichfeit 
ver Kebereien in der Kirche und die Verpflichtung des 
weltlichen Armes zu ihrer Ausrottung erging. Die Ver⸗ 
handlungen begannen mit Verkündigung der Strafe der 
Ereommunication und zweimonatlidder Einfperrung, wenn 
jemand, weß Standes und Ranges er auch fei, Zwiſchen⸗ 
reden, Wiverfpruch, Zeichen des Beifall oder des Mis- 
fallens fich zu Schulden kommen laſſe. Der erſte Punkt 
der Tagesorbnung betraf irrige Lehrſätze Wiclif's. Die 
Univerfität Oxford hatte deren 260 aus jeinen Schriften 
ausgezogen. Sie wurden verdammt, foweit das noch nicht 
gefchehen war. Dann fam Huffens Sache an die Reihe. 
Es wurde ein Bericht über den Gejammtverlauf bes 
Procefjes zur Verhandlung gebracht; als der Referent das 
Berzeihniß der Hus fchuld gegebenen Irrthümer vorzu- 
tragen begann, ergriff der Angeflagte das Wort, um 
gleich den erften Artikel richtig zu Iimitiren. Man bieß 
ihn fchweigen, und da er dennoch zu den weitern Artikeln 
wieder zu reden anfing, befahl Kardinal Zabarella von 
Slorenz den Wachen, ihn zum Schweigen zu bringen. 
Mit lauter Stimme bat der Angeflagte nun inftändig 
um Gottes 'willen, man möge ihm doch Gehör geben, 
damit nur die Zuhörer nicht meinten, er habe jo Irriges 
gelehrt, aber die Bitte wurde abgefchlagen, Hus konnte 
nur auf bie Knie fallen und mit gefalteten Händen gen 
Simmel blickend ftill beten. Er erhob fich wieber, als 
der Vorwurf erneuert wurbe, er habe die Wandlung ver- 
iworfen, feine Gegenrede jchnitt Zabarella ab, indem er 
auf ihn einfchrie, Hus aber erneuerte feine Bitte um 
Gehör und den Proteft, ihm diefe Irrthümer aufzuhalfen. 
Auch zu andern Punkten weiter das Wort zu nehmen, 
ließ er fich nicht mehr abhalten. Mit fittlicher Entrüftung 





Johann Hus. 53 


wies er die Beſchuldigung zurück, die man jetzt zum erſten 
male vorzubringen wagte, er habe ſich für die vierte Perſon 
in ver Gottheit ausgegeben, eine Beſchuldigung, die uns 
beitritten als aus feindjeliger Eonfequenzmacherei hervors 
gegangen angejehen wird. Als Huſſens Appellation an 
Chriftum unter den verdammungswürbigen Irrthümern 
an die Neihe Fam, antwortete ber gequälte Mann mit 
lauter Stimme: „Herr Gott! fiehe, nun verdammt dies 
Concil gar dein Thun und Gejek als einen Irrthum, 
da bu boch felbft von den Feinden ſchwer beprängt beine 
Sache Gott deinem Vater als dem gerechteften Richter 
anheimgeftellt Haft; uns Armen zum Borbild, wenn wir 
irgendwie bejchwert find, zu dir, dem gerechteften Richter, 
zu fliehen und bein Urtheil demüthig zu verlangen!” 
Auh den Umftand hob er noch einmal laut und dffent- 
lih hervor, daß er zum Concil von freien Stüden mit 
freiem Geleite gekommen ſei. Eine Röthe überflog Sigis- 
mund's Wangen, als Hus bei biefen Worten feine Augen 
auf ihn heftete. Als ein Jahrhundert fpäter Karl V. 
darum angegangen wurde, mit dem nad Worms ges 
fommenen Ketzer Luther ebenfo zu verfahren, wie es in 
Konftanz mit Hus geſchehen fei, da entſchied der Kaifer, 
daß Luther das zugefagte Geleit zur Her- und Rückreiſe 
voll genießen ſolle: Nolo erubescere cum Sigismundo. 

Den folgenden Spruch des Concils verfündete ein 
fahfföpfiger, alter Italiener, ver Biſchof von Concordia: 
Hu8 folle als ein offenbarer, hartnädiger Keger 
des Briefteramts entſetzt, aller empfangenen 
Weihen beraubt und dem weltlichen Arme über- 
geben werden. Seine Bücher feien zu verbrennen. 
Auch hierbei erhob Hus wider einzelne, Punkte feine Ein- 
\prache zum legten mal, gegen das Ende hin fiel er in die Knie 
und betete ftill mit dem Blick nach oben. Als der Biſchof 


54 Johaun Hus. 


ſchwieg, rief er Chriſtum laut um Vergebung für alle 
ſeine Feinde an. Und dabei verſtanden viele Kirchen⸗ 
fürften nichts Beſferes zu thun, als den Verurtheilten 
unwillig anzublicken und auszulachen! 

Sieben Biſchöfe ſchritten nunmehr zur Degradation 
des abtrünnigen Prieſters. Sie ließen ihn in den vollen 
Schmuck der Meßgewänder kleiden; als der Verurtheilte 
die Alba umthat, gedachte er des weißen Spottkleides, 
mit dem ber Heiland von Herodes zu Pilatus zurüd- 
geſchickt worden. Nochmals wurde Hus amfgeforbert zu 
widerrufen und abzufchwören. Er ftand auf, betrat das 
Gerüft und im vollen priefterlihen Schmud, den Abenb- 
mahlskelch in der Hand ſprach er fchmerzlich bewegt unter 
Thränen, er könne fich vor Gott nicht zum Lügner machen, 
nicht wider fein Gewiffen der göttlichen Wahrheit, die er 
vertreten, entjagen, auch nicht allen jeinen Zuhörern und 
den andern treuen Prebigern ded Wortes Gottes ein 
Aergerniß geben. Er ftieg herab, und Die priefterlichen 
Abzeichen wurben ihm eines nach dem andern unter Den 
herkömmlichen Verwünſchungen abgenommen, zulett wurbe 
ihm auch die Tonſur zerftört. Es erfolgte der Spruch: 
„Nun hat die Kirche alle Firchlichen Rechte von ihm ge- 
nommen, fie hat nichts weiter zu thun. Er werbe bem 
weltlichen Arm übergeben!’ Dann fagten die Biſchöfe: 
„Deine Seele geben wir dem Teufel anheim“, Hus aber 
befahl fie Chriſto. Weiter wurde ihm eine Paptermüge 
aufgefeßt, bei einer Elle hoch, die mit drei Teufeln be- 
malt war, welche eine Seele umfrallten, und die Infchrift 
trug: „Hic est haeresiarcha.” Als Hus fie erblidte, 
ſprach er: „Mein Herr Jeſus Chriftus hat für mich 
Armen eine viel härtere und fchwerere Krone aus Dornen 
unſchuldig bei feinem allerfchimpflichiten Tode zu tragen 
geruht, und darum will ih armer Sünder dieſe viel 





Yohann Hu. 55 


leichtere, denn fie ift blasphemifch, demüthig tragen für 
feinen Namen und feine Wahrheit.“ Auf des Königs Befehl 
legte uunmehr Pfalzgraf Ludwig den Reichsapfel weg 
und nahm den Verurtheilten in feine Gewalt. Er über- 
fteferte ihn an den fonftanzer Stadtmagiftrat mit 
ben Worten: „Nehmet hin ben Johann Hus, der nad) 
bes Königs, unfers allergnäbigjten Herrn Urtheil und 
unferm eigenen Befehl als ein Ketzer verbrannt werben 
ſoll!“ 

Das Conecil ſetzte ſeine Sitzung fort, Hus aber wurde 
zur ſofortigen Vollſtreckung des Urtheils abgeführt. 
Auf dem Domkirchhof lohte das Feuer ſchon aus ſeinen 
Büchern, er ſah es im Vorüberſchreiten und lächelte. Zu 
den Umſtehenden ſprach er, ſie möchten nur nicht glauben, 
daß er wirklich Irrlehren halber ſterben müſſe; dieſe 
ſeien ihm mit Unrecht ſchuld gegeben auf das Zeugniß 
perſönlicher Feinde bin, Mit feſten Schritten, betend und 
ſingend ging er dem Tode entgegen, auch ſeine Unſchuld 
noch des öftern betheuernd. Faſt die ganze Bürgerſchaft 
war zur Aufrechterhaltung der Ordnung bewaffnet aus⸗ 
gerückt, ungeheuer war der Zudrang des Volkes. Es 
fehlte nicht an Aeußerungen des Mitleids. Der Richt—⸗ 
plag befand ſich zwiichen Stadtmauer und Graben auf 
dem „Brühl“, einer Wiefe nach dem Schloffe Gottlieben 
zu gelegen. ‘Dort angelommen fniete Hus nieber und 
betete laut mit heiterer Diiene. Als ihm zugerufen wurbe, 
er jolle aufftehen, erhob er fich und fprach laut und ver- 
nehmlich: „Herr Jeſu Chrifte, dieſen graufigen, ſchmach⸗ 
vollen und rohen Tod will ich von wegen deines Evans 
geliumsd und der Prebigt deines Wortes ganz geduldig 
und demüthig ausſtehen.“ Hierauf entfleiveten ihn bie 
Nachrichter und banden feine Hände rückwärts mit Striden 
und feinen Hals mit einer Kette an einen ftarfen in ben 


56 Sobann Hu. 


Boden gerammten Pfahl. Da er aber mit dem Gefichte 
gegen Sonnenaufgang gefehrt war und einige Zujchauer 
das bei einem Keter unfchidlich fanden, jo wendete man 
ihn gegen Sonnenuntergang um. Seine Füße ftanben 
auf Holzbünvdeln und rings um feinen Leib wurden zwei 
Fuder Holz mit Stroh vermifcht bis an das Kinn hinauf 
emporgefchichtet. 

Im Testen Augenblide fam, vom König gefanbt, ber 
Reichsmarſchall Haupt von Pappenheim herbei und 
“ forderte zufammen mit dem Pfalzgrafen Ludwig Hus 
nochmals auf, durch Widerruf fein Leben zu retten. Da 
antwortete er, den Blid zum Himmel gerichtet, mit lauter 
Stimme: „Gott ift mein Zeuge, daß ich dasjenige, was 
mir fäljchlicherweife, weil auf falfches Zeugniß bin, ſchuld 
gegeben wird, niemals gelehrt und geprebigt habe; viel⸗ 
mehr war meine Hauptabficht bei meiner Prebigt und 
allen andern Handlungen und Schriften nur darauf ge- 
richtet, die Menfchen von der Sünde zu befehren. Und 
in der Wahrheit des Evangeliums, welche ich gefchrieben, 
gelehrt und geprebigt habe nach den Worten und Sätzen 
der heiligen Väter, will ich heute mit Freuden ſterben!“ 
Da jchlugen beide Herren die Hände zufammen und ent- 
fernten fih, die Nachrichter aber zündeten den Holzſtoß 
an. Der Magijter fing mit heller Stimme an zu fingen; 
erſt: „Chriſte, du Sohn des lebendigen Gottes, erbarme 
dich unfer!”, dann: „Chrijte, du Sohn des lebendigen 
Gottes, erbarme dich mein!” ALS er aber weiter fang: 
„Der du geboren bift aus Maria, der Jungfrau“, trieb 
ihm der Wind die Flammen ins Geficht, ſodaß man nur 
noch jah, wie er Lippen und Haupt bewegte. Binnen 
der wenigen Augenblide, in denen fich jchnell zwei, 
alfenfall8 drei Vaterunfer jagen laffen, war er lautlos 
erjtidt. 





Johann Hu. 57 


Als der Holzſtoß niedergebrannt war und der Pfahl 
mit dem verfohlten Leibe im Halseifen daran noch auf- 
veht ſtand, ftießen die Henker beides um und fchürten 
mit einem dritten uber den Brand aufs neue. Auch 
Ihritten fie mit mitteln um das Feuer und zerfchlugen 
die Knochen, damit fie um fo fchneller zu Ajche würden; 
ald fie den Kopf gefunden, theilten fie ihn burch Schläge 
in Theile und warfen ihn ins Teer zurüd; das Herz 
ſpießten fie an einem zugefpitten Knittel auf, um es beſonders 
zu braten, zu verbrennen und mit Piken zu burchftoßen: 
wir unterbrüden dieſe graufigen Details nicht, weil fie 
in bedeutſamer Weife den Geift jener Zeit illuftriren 
beifen. ALS der Reichsmarſchall und ver Pfalzgraf Huſſens 
Kleider in den Händen der Nachrichter erblicten (e8 fiel 
nämlich, was ein Delinguent bei feiner Hinrichtung 
Brauchbares an fich trug, dem Henker zu), befahlen fie, 
diefelben gleichfall8 ins Feuer zu werfen, indem fie dafür 
eine Entjchäbigung zu geben veriprachen. Schließlich wurde 
bie ganze auf der Nichtftätte entitandene Aſche aufgerafft 
und in den nahen Rhein ausgefchüttet, damit von dem 
Todten nicht etwas übrigbleibe, was feine Anhänger 
etwa als Reliquie fortnehmen könnten. 

Das Eoneil und König Sigismund follten ihres Sieges 
über ven Erzfeger nicht froh werden. Was half’, daß 
des Gerichteten Leben und Leib aufs gründlichite ver- 
nihtet waren, er wurde vecht erit lebendig mit feinem 
Zoe! Ganz Böhmen jchieb fich über ihm in zwei feind- 
liche Lager, die Huffiten erwieſen fich weit ftärfer als bie 
Ratholifen, und die auf Iahrzehnte entbrannten Kämpfe 
zogen auch Die angrenzenden Gebiete in Mitleivenjchaft. 
Und weit über biefe unmittelbaren Folgen feines Todes 
hinaus geht Huſſens welthiftorifche Wirkung, die er durch 
feine Gewiffenstreue auf Jahrhunderte geübt hat. 


58 Johann Hu. 


Wir haben letztlich noch Die Fragen um ven Bruch des 
Hus gelobten freien Geleits und um das wider ihn 
erfannte Strafmaß zu erörtern, und zwar auf Grund 
bes damals gültigen Rechtes. — Der Umftand, daß dem 
Magiſter der Tönigliche Geleitshrief erit am 5. November 
zu Händen kam, ift nicht von Bedeutung. Hus reifte 
unter dem vollfommenen ausreichenden „lebenpigen Ge- 
leite“ der böhmischen Barone, die für ihn durch aus⸗ 
brüdlichen Auftrag Sigismund's beftellt waren, der fünig- 
lihe Brief fam ale „todtes Geleit” zu dem lebendigen 
noch hinzu, ohne aber eine rechtlich weiter greifende oder 
fonftwie andere Wirkung zu haben. Die Urkunde ſchützte 
Hus nicht gegen eine Unterfuchung und eventuelle Ver⸗ 
urtheilung von feiten bes für feine Sache zuftänbigen 
Concils, d. h. fie Hatte, wie die Vergleichung ihres 
Wortlauts mit den fonft bekannten Geleitshriefen ergibt, 
nicht die Bedeutung eines „gerichtlichen Geleits“, ſondern 
nur eines „politifchen”. So hat Hus felbft, jo haben 
auch bie böhmischen Herren die königliche Zuſage ver- 
ftanden. Gebrochen worden ift das königliche Geleit, 
als am 28. November Hus ohne Verhör auf Befehl 
des Papftes und der Garbinäle eiligft verhaftet wurde. 
Die über ihm ſchon gefällte Entſcheidung mit der Strafe 
ber Excommunication aber konnte nicht als Erſatz der 
Dernehmung gelten, weil Johann XXIIL den Bann 
über Hus und das Interdict über den Ort feines Auf- 
enthalts ſuspendirt hatte. Auch lag weder ein anerfannter 
Fluchtverdacht vor, noch etwa Nichtbeachtung des ihm 
borgejchriebenen Verhaltens. Sigismund’s Schuld 
beſteht in der unritterlichen Nachgiebigfeit, mit der er 
biefer Verachtung feiner Töniglichen Gewalt nur affectvolle 
Worte entgegenzufegen hatte. Ein Karl V. erneuerte 
bem Dr. Luther, als er denſelben auf den Spruch ver 





Sohann Hus. 59 


Kirche Hin, daß er ein verftodter Ketzer fei, mit ber 
Reichsacht belegte, doch vorher ausprüdlich das freie 
Geleit auch für feine Heimkehr nach Wittenberg. 
Nicht das nahmen bie Böhmen Sigismumb fo übel, daß 
er Hus nicht gegen ben Ketzerproceß ſchützte, fondern daß 
er, anftatt Huffens Anwalt zu fein, die Väter zu feiner 
Verdammung angeeifert. 

Was die Todesſtrafe betrifft, jo war fie für einen 
verſtockten Reber rechtens, wer durch Widerruf fein Leben 
rettete, wurde zu lebenslänglicher ober langjähriger Haft 
in einem Kloftergefängniß verurtbeilt. Diefer Maßſtab 
war Hus befanmt und wurbe von ibm anerkannt. Die 
Stage tft nur, ob Hus einer Ketzerei überwiefen worben 
it. Wenn feinerzeit Wichif’8 Angriff auf die Wandlungs- 
lehre den Proceß wider ihn in Fluß gebracht hatte, fo 
mochte auch für Hus der gefährlichite der ihm zur Laft 
gelegten Sätze der fein, daß nach der Confecration ber 
Hoftie auf dem Altare materielles Brot bleibe. Aber 
gerade in dieſem Lehrſtück ift Hus feinem Lehrer nicht 
gefolgt, ſondern rechtgläubig gewefen, wie fchon auf dem 
Concil eine Stimme dffentlih anerkannte und auch 
fatholifche Torjcher der Gegenwart thun. Was Huffens 
Anfihten über die „wahre Kirche” und das „Geſetz 
Chrifti“, das göttliche Wort ala einzige Glaubensnorm 
betrifft, mit der daraus abfolgenden Beichränfung ber 
Autorität der Hierarchie und ber Möglichkeit einer 
Appellation an Jeſum Ehriftum, fo muß daran erinnert 
werden, daß ein Dogma Bon ber Kirche damals noch 
nicht formulirt war, und darum war das öfumenifche 
Concil, wenn auch Wepräfentation der Gefammtlirche, 
dem Magifter gegenüber des begründeten Nachweiſes feiner 
Ferthümer nicht entbunden. Aber war Hus nicht Wiclifit 
und Wiclif's Kegerei am Tage? Nun, Huffens Verehrung 


60 Sobann Hu. 


für die Berfon des Englänvers konnte jchwerlich als Des 
weis ber Härefie gelten, und ver in Prag gejchehenen 
Berurtheilung Wiclificher Säte hatte er aus berechtigten 
formalen Gründen oppontrt. Auch die Verantwortung 
für die in Prag und Böhmen entjtandenen Unruhen 
hatte der Angeklagte deutlich abzulehnen veritanden, dazu 
würden fie ein Erfenntniß auf den Tod kaum aus 
reichend motiviert haben. — Wir brauchen überhaupt 
nicht nach Haren Gründen für Huſſens Verbammung 
zu fuchen, das Coneil felbft hat fein Urtheil ohne Moti—⸗ 
virung gefprochen: ‘Das Concil haßte den Geift, ver in 
Hus fich regte, fein Schriftprincip, feine Gewiſſenstreue 
waren mit römiſch-hierarchiſchen Gebanfengängen uns 
vereinbar. 


Man tit proteftantifcherfetts früher geneigt geweſen, 
in dem Verfahren wider Hus rein einen brutalen Ge— 
waltact zu erbliden, zumal die Gejchichtspichtung im 
Slugblättern und Volksſchriften ſich früh des Talles 
bemächtigte und den wahren Sachverhalt mannichfach 
entjtellte und verbumfelte. Neuerdings haben wir an ber 
Hand der Urfunden -und Concilacten fennen gelernt, 
daß die Formen des Ketzerproceſſes eingehalten worden 
find; aber die Anklage bleibt voll und ganz für bie 
römiſche Kirche beftehen, daß man fi weder gemüht 
hat, jene Formen ernft zu nehmen, noch gar den Ver—⸗ 
juh gemacht hat, mit Hus fich wirklich fachlich, red— 
lich und unbefangen auseinanverzufeßen: daß Hus ein 
Ketzer fei, war eine ausgemachte Sache vor dem erſten 
Act des Verfahrens. Es genügte dem Concil, die Macht 
zu befigen, das „böhmifche Gift“ als folches zu brand- 





Sobann Hus. 61 


marfen, dafür aber hatte man feine Erfenntniß, daß 
nicht eine Firchenpolitiiche Frage, ſondern eine religidfe, 
eine Gewifjensfrage vorlag Nom hat bafür nie ein 
Auge gehabt, und fomit ift Hus allerdings als Märtyrer 
geitorben. 


Ein Diebflahl beim Handelsmann Schüller 
in Blankenheim in der Eifel. 


(Mitte des vorigen Sahrhundert®.) 


Der nachſtehend mitgetheilte Criminalproceß aus 
ber Mitte des vorigen Sahrhunderts dürfte deshalb auch 
für einen weitern Kreis von Leſern von Intereſſe fein, 
weil fich die Acten eines Proceffes jelten in folcher 
Bollitändigfeit erhalten haben und fie uns einen überaus 
Haren Einblid in den Gang des Inquifitionsverfahrens, 
bie angewandte Tortur und die fchließliche Vollftredung 
der Urtheile. gewähren. Sind doch in den Acten fogar 
bie Notizen vorhanden, welche fich) der Vorfigende bes 
Schöffenſtuhls gemacht hat, um bei der vorzunehmenden 
Zortur, wahrfcheinlich der erften, welcher er in feinem 
Leben beigewohnt, bie vorgejchriebenen Formen nicht zu 
verfäumen. Die Acten werben nach dem heutigen Ver⸗ 
fahren bei einem Diebſtahl, in welchen die Befchuldigten 
im Beſitz ber gejtohlenen Gegenftänbe angetroffen und ein 
Betheiligter die That fofort mit allen Einzelheiten einge- 
Itanden hat, nur höchſtens 20—30 Folien füllen. Hier 
find fie zu einem anjehnlichen Bündel von Actenfascikeln 
angeihwollen, und Hunderte von Seiten nehmen einerfeits 
die verſchiedenen Inquiſitionsprotokolle und anbererfeits 
bie dem Oberhof zu Koblenz vorgetragenen und von biefem 
Gericht gebilligten Relationen ein. 





Ein Diebftahl beim Handelsmann Schüller. 63 


Wir haben der Darftellung abfichtlich die unfern dem 
Kanzleiftil immer mehr entiwöhnten Ohren etwas frembs 
fingende Sprache des vorigen Jahrhunderts zu Grunde 
gelegt. Für die barbarifchen Formen des damals geltenden 
Proceſſes paßt auch der barbariihe Stil. Man wird 
fi vielleicht mit Befriedigung davon Überzeugen, wieviel 
menfchlicher wir in unfern Strafen und Rechtsanſchauun⸗ 
gen dem vorigen Sahrhundert gegenüber geworven find, 
wientel deutſcher wir felbft in der Schreibweife unjerer 
Acten und dem Stil unferer Urtheile geworven find. 

Am 24. Juni 1751 wurde der gräflich Manderſcheid⸗ 
Blankenheim'ſchen Kanzlei zu Blankenheim in der Eifel 
gemeldet, daß in der Nacht vom 23. zum 24. Juni in 
bie Wohmmmg des Hanbeldmannes Schüller zu Blanfen- 
beim eingebrochen fei. Das Gericht hat in feiner vollen 
Beſetzung mit dem Oberjchultheig und zwei Gerichtsichöffen 
fofort Generalhausfuchung und Augenfchein eingenommen 
und fejtgejtellt, daß in die aus Lehm und Stüdhölzern 
gefügte Nüdenwand des Kramlabens ein fo großes Loch 
gebrochen war, daß ein Menfch bequem einfteigen konnte. 
Die obern Fächer des Kramladend waren ganz geleert 
und bie werthoollfter Sachen, Damafte, Zit und Kattun 
im Werth von 300 Thlen. wurden vermißt, während bie 
minberiverthigen Stoffe unberührt gelaffen waren. Neben 
dem gebrochenen Loch lag ein Pflugkolben, deſſen fich bie 
Diebe auch damals fchon zum Erbrechen der Wand be- 
dient hatten. Und um den Zugang von der Wohnung 
des Beftohlenen her abzufperren, während fie mit dem 
Einpaden der geftohlenen Sachen bejchäftigt waren, hatten 
die Diebe die Thür des Ladens nach der Wohnung bin 
mit einem Strumpfband fejtgebunden, welches fpäter in 
der Unterfuchung noch eine große Rolle jpielte. 

Auf die Anzeige hin wurden jofort einige Soldaten und 


64 Ein Diebftahl beim Handelsmann Schüller. 


Bürger ausgeſchickt, um die Thäter auszukundſchaften und 
zu verfolgen „und namentlich die Hecken und Büſche zu 
durchſuchen“. 

Daneben lenkte ſich ſofort, ohne daß ein dafür erkenn⸗ 
barer Grund aus den Acten hervortritt, der Verdacht 
gegen die Juden, welche damals nur auf Grund beſonderer 
Schutzbriefe geduldet waren, und es wurde feſtgeſtellt, daß 
der Jude Joſeph aus Engelgau, einem in ber Nachbar- 
ichaft belegenen Dorfe, flüchtig geworben jei. ‚Seine Ehe- 
frau wurde am 26. Juni gefänglich eingezogen, „weil ſie 
fih erfühnt hatte, fich ohne Schu und Geleit in ven 
gräflichen Landen aufzuhalten”. Bei ihrer Vernehmung 
gibt fie an, fie habe gehofft, vaß ihnen neuer Schuß ge— 
währt würde, zur Sache aber behauptet fie anfangs, ihr 
Mann babe fich in der Nacht des Diebſtahls zu Haufe 
aufgehalten, fpäter aber bejinnt fie fich, daß er auswärts 
gewefen jet, er verreife oft drei bis vier Tage, ohne ihr jemals 
feiner Reife Ziel und Zwecke mitzutheilen. Inzwiſchen 
wurbe ermittelt, vaß der Knecht eines Juden Moſer zu 
Bergheim beftändig einen verbächtigen Verfehr mit aus- 
wärtigen und umherziehenden Juden unterhalte. Dieſer 
Knecht hatte am 24. Juni beim Schultheiß in Kuchenheim 
eine neue Schlafhaube und etwas Zig mit dem Bebeuten 
niebergelegt, er habe dieſe Sachen von zwei Juden er- 
halten, die er nach Bonn begleiten müffe, er wolle fie bei 
jeiner Rückkehr wieder abholen. Der Beitohlene wurde 
nah Bergheim geſchickt und bei Mofer wurden für 
10—12 Thlr. Waaren vorgefunden, welche Schüler mit 
Sicherheit als ihm geftohlen wiederkannte. Mofer wurde 
mit jeinem Knecht nach Blankenheim gebracht und ſagte 
aus: Am Morgen des 24. Juni fei der ihm befannte 
Joſeph aus Engelgau in Begleitung von zwei andern ihm 
nicht befannten Juden in feine Wirthichaft gefommen. 


Ein Diebftahl beim Handbelsmann Schällenr 65 


Alle drei feien fchwer mit Säden beladen gewejen, und 
er habe den Joſeph gefragt: „Was haft bu denn? Ich 
glaube du trägft ven Dom zu Köln.” Joſeph antiwortete, 
er jet Kaufmann geworben und trage Waaren, Iofeph babe 
fie offen im Wirthszimmer ausgelegt, und der Zeuge habe 
ohne irgendeinen Verdacht von den Waaren gefauft. 

Auf Verlangen der drei Fremden iſt der Knecht des 
Mofer mit ihnen weiter gegangen und hat ihnen die Waaren 
auf der Straße nad) Bonn eine Strede weit getragen, 
dis fie einem andern Juden begegneten und biefen als 
fernern Packträger annahmen. Als Lohn hatten fie dem 
Knecht die Schlafmüge und 11, Ellen von dem Zik 
übergeben. 

Auf Grund der Ausfagen des Mofer und feines 
Knechts wurde eine genaue Befchreibung aufgenommen, 
wie die brei Diebe nah „Statur, Kleivung und fonften 
beichaffen geweien”, und dann ver Beſtohlene, ober wie 
er in ven Acten heißt, die pars derobata mit dem Re- 
guifitortalfchreiben nach Bonn geichidt. Zugleich wurde 
bemfelben ein Schreiben an ben PVertrauensmann bed 
Grafen von Manderſcheid in Bonn, dem kurkölniſchen 
Hofrath von Uphoff mitgegeben und ber letztere um Bei- 
hülfe erfucht. In Bons vifitirte man fofort die Juben- 
gaſſe. Es wurde feftgeftellt, daß die Diebe in der Stabt 
jelbjt bei einem Bäder Iogirt hatten, und ver Beftohlene 
verfolgte dieſelben weiter nach Siegburg. ‘Dort wurden 
die beiden Diebe Nathan Leviih und Joſeph Salomon 
mit dem größten ‘Theil der geftohlenen Waaren angetroffen. 
Bei der PVifitation des Joſehh Salomon wurde das 
Gegenftücd des Strumpfbandes, mit welchem die Ladenthür 
zugebunden war, in ber Tafche gefunden. Als der Ge- 
richtsdiener es ihm ans der Taſche zieht und Die Veber- 
einſtimmung mit dem vom Beſtohlenen mitgebrachten 

XXIII 5 


66 Ein Diebſtahl beim Handelsmann Schüller. 


Strumpfband feftgeftellt wird, bricht der Schultheiß im 
bie Worte aus: „Jud, das Bändel hat dich verrathen.“ 

Einige Schwierigkeit macht der Transport much 
Blankenheim; denn. der Schultheiß non Siegburg ver- 
langt, daß die Inhaftirten: durch blankenheimer Schüßen 
abgeholt werben follen; durch Uphoff's Vermittelung wird 
indeß ein bonner Huſarencommando ausgewirkt umb 
unter beffen Leitung werben bie beiden Angefchulbigten 
nach Blankenheim gebracht. 

Unterwegs geftand der einundzwanzigjährige Nathan 
Leviſch dem Hufarenwachtmeifter feine Betheiligung au 
dem Diebftahle ein. Jedoch wollte er nur als Knecht 
bei den beiden andern Juden, dem entflohenen Joſeph 
aus Engelgau uud dem Joſeph Salomon gewejen fein. 
Er fei, jagt er, mit feiner Frau in. Holland gewefen, 
von dort nach Neuwied gekammen und habe in Neuwied 
ben Juden Joſeph Salomon. fennen gelernt, der ihm im 
jülicher Land Arbeit verjprochen habe. Sie feien zu- 
jammen ben Rhein herunter bis Bonn gefahren und 
über Poppelsporf nach Engelgau gegangen, wo fie bei 
dem entflobenen Joſeph einfehrten. „Am folgenden Abend 
gingen fie“, wie er weiter befennt, „nach Blankenheim.‘ 
Bor dem Drt wurde ihm gefagt, er folle bie Schuhe 
ausziehen; er weigerte fich anfangs, Joſeph Salomon 
jegte ihm aber ein Meſſer und als er bei feiner Weigerung 
beharrte, eine Piftole auf die Bruft. Infolge veffen ent- 
ſchloß er fich mitzugehen und an einer Straßenecke Schild⸗ 
wache zu ftehen. Kurze Zeit darauf famen bie beiben 
andern Juden mit drei großen Paden, von welden er 
ben einen überwachte. Dann wanderten. fie zufammen 
nad Siegburg. 

Bei feiner Verhaftung in Siegburg vor dem „praetore 
et V scabinis befeßten Gericht” leugnete Leviſch an- 


Sin Diedftabl beim Handelsmann Schüller. 67 


fünglih. Später machte er die bier mitgetheilten An⸗ 
gaben, die er in dem in Blankenheim unter ven gleichen 
Formen erfolgten inquifitortichen Verhör wiederholte. 

Joſeph Salomon aus Frankfurt, ein Schubjube bes 
Herrn von Harff, leugnete dagegen alles; er will bie 
Waaren für 25 Piftolen von einem Handelsmann in 
Neumayen gefauft haben. Als ihm das Strumpfband 
in Siegburg aus der Taſche gezogen wirb, befitt er jogar 
die Unverſchämtheit, ven Gerichtsdiener zu befchuldigen, 
er habe e8 ihm. heimlich hineingeſteckt. 

Der am 3. Juli ftattgehabten Inquiſition folgten die 
eivfihen Vernehmungen der Zeugen gleichfall® vor be- 
ießtem Gericht zu Blankenheim bis zum 15. Juli. Frau 
Joſeph aus Engelgau erkannte die beiden Angefchulpigten 
al® diejenigen Fremen wieder, welche vor dem Diebftahl 
eine Nacht in ihrem Haufe zugebracht und fich mit ihrem 
Manne entfernt hatten. Schülfer verficherte, daß die in 
Beihlag genommenen Waaren ihm geftohlen feien. Er 
legte Vergleichsſtücke vor, die er bereits vor dem Dieb- 
ftahl von dem geftohlenen Ballen abgefchnitten und im 
Blanfenheim verfanft hatte, er fagte aus, daß Joſeph 
Salomon unter dem VBorwanbe, etwas kaufen zu wollen, 
am Tage vor dem ‘Diebftahl in feinen Laben gefommen 
war und dort augenjcheinlich recognofeirt hatte. Auch 
Mofer und fein Knecht beftätigten, daß die ihnen vor- 
geftellten beiden Gefangenen am 24. Juni in Bergheim 
gewefen und die Waaren bei fih gehabt hätten. Es 
wurde durch richterlichen Augenschein der Ort feftgeitellt, 
an welchen Leviſch Wache gehalten haben will, und es 
erwies fich derſelbe als gut gewählt, weil man von bort 
aus die ganze Hauptitraße überjehen, die durch ein Neben- 
gäßchen eingebrochenen Diebe leicht benachrichtigen und 
jofort ind Freie gelangen Tonnte. 

5* 


68 Ein Diebſtahl beim Handelsmann Schüller. 


Es liegt noch ein notarielles Protokoll bei ven Acten, 
durch welches unter Vergleichung mit der Rechnung des 
fölner Lieferanten mit den befchlagnahmten Stüden feft- 
gejtellt wurde, daß für 53 Rthlr. Waaren fehlten. Zu 
biejem Werth mußten alſo vie Diebe bereit Waaren 
verfauft haben. 

Joſeph Salomon wurde wieder vernommen. Er er- 
Härte, die Zeugen hätten einen falfchen Eid gejchworen, 
perwickelte fich aber in Widerfprüche mit feinen frühern 
Angaben. Beim Eintritt in das kurkölniſche Land mußten 
die Waaren in Ruchenheim verzoltt fein, und in ber That 
wurde auch ver kuchenheimer Zollzettel aus Salomon's 
eigener Brieftajche heransgeholt und ihm vorgelegt. Zuerft 
behauptete er, er habe ven Zettel gefunden und die Waaren 
in Brühl verzollt, dann aber fagte er „ganz boshafter- 
weise”, er jet nicht unter feinen Briefen geweſen, jondern 
bon fremder Hand baruntergefhoben. Zum Schluß 
wurden Leviſch und Salomon confeontirt, die In⸗ 
quifitionsprotofolle gefchloffen und dem Grafen von Man- 
derſcheid mit dem Erfuchen zugeihidt, dem leugnenden 
Salomon lauf fein Erjuchen defensorem in Köln zu 
beitellen (als welche biefigen Orts nicht zu gehaben find) 
und einen ober zweien bewährten Eriminaliften als Re— 
ferenten die Protokolle einzujchiden. 

Wenn, man bie umftändlichen Formen des Inquifitions- 
proceſſes vor beſetztem Gericht, die Neguifitionen von 
Blankenheim nach Bonn und Siegburg in ein Nachbar- 
gebiet berücfichtigt, jo muß man über die Schnelligkeit 
des hier ftattgehabten Verfahrens ftaunen. Am 24. Juni 
it der Diebftahl entvedt und am 15. Yuli die Unter- 
ſuchung bereits beendet. 

Als Referent wurde ein Rath bei dem kurtrierſchen 
Oberhof zu Koblenz beftellt. Sein Referat füllt bei dem 


Ein Diebftahl beim Handelsmann Schüller. 69 


weitläufigen Kanzleiftil des vorigen Jahrhunderts nicht 
weniger als 118 Folien, obwol der Referent nach dem 
Vortrag des aus den Inquiſitionsacten geſchöpften That⸗ 
ſächlichen ſelbſt hervorhebt: 

„Betrachtet man nun ganz genau dieſen Verlauf, und 
daß darauf dieſe Juden, wie bejchrieben worben, alſo 
verfundfchaftet, verfolgt und in der That ſogar mit ben 
Waaren ergriffen worben, fo wird wol fein vernünftiger 
Mensch zu finden fein, der den geringiten Zweifel machen 
wird, daß nicht eben dieſe beiden inhaftirten Juden bie 
wahrbaften Thäter feien und fo gut als für überwieſen 
anzufehen find, als ob fie entweder ver That geftänbig 
oder auch in flagranti ertappt worden wären.” 

Darauf führt die Relation mit großen Bedenken aus, 
ob auch ein wirklicher gewaltſamer Einbruch ftattgefunden 
babe; denn e8 fei nur eine Wand von Stüdhälzern mit 
Lehm durchbrochen, fie zerftreut aber viefe Bedenken mit 
ber nicht eiblichen Ausiage ver Frau Schüller, welche 
unter Eid zu wiederholen fei, daß neben ber burchbrochenen 
Band ein Pflugkolben gelegen und dicht dabei eine augen- 
icheinlich von den Dieben benußte Leiter geſtanden habe. 
Dann wird ausgeführt, e8 Tiege ein gewaltjamer und 
gefährlicher Diebſtahl vor, weil deren Theilnehmer fich 
verbunden und Salomon eine in Siegburg bei ihm ge- 
fundene mit vier Stüden groben Schrot® und drei Kleinen 
zerhauenen Bleiſtücken geladene Piftole bei fich geführt 
babe; auch habe er noch fieben Stüde zerhauenen Bleies 
mit Schrot in Mafulaturpapier bei fich getragen. Dem— 
nach liege ein armata manu begangene® furtum vor. 

Der Referent fährt fort, daß auch ein großer und 
iharfer Diebftahl vorliege, und begründet die Größe jelt- 
jamermweife nicht mit dem Werth und Umfang der in 
der Nacht vom 23. auf den 24. Juni geftohlenen Sachen, 


“ 


70 Ein Diebftahl beim Handelsmann Schüller. 


jondern zieht von demſelben ven Werth der dem Schüler 
wieder zugelommenen Waaren ab, ſodaß er einen wirt- 
lichen Schaden von 73 Rthlrn. herausrechnet. Hier hat 
ber Bertheidiger monirt, Daß der Werth durch ein notarielles 
Protokoll unter Heranziehung der Rechnungen aufgeſtellt 
fei, cum notario non credatur absque testibus und 
ichlägt der Referent daher vor, ven Beitohlenen nochmals 
über den Werth zu befragen. 

Er folgert, daß Leviſch auxilum in furto ipso 
commissum präftirt habe, denn ohne feine Hülfe hätten 
bie zwei andern nicht fo viele Waaren fortfehleppen können. 
Dan könne fogar annehmen, Leviſch jei ver Anftifter 
bes ganzen Diebftahls geweſen. Denn er babe früher 
in Gerolitein gewohnt und biefen Drt erft vor fünf Iahren 
verlaffen, weil fein Bater eines Pferdediebſtahls verdächtig 
war, er ſei geftändig, ſchon früher auf einer Hochzeit 
einen Diebftabl begangen zu haben, kenne Die ganze 
Gegend und ſei mit ver Frau des Joſeph in Engelgan 
verwandt. Augenſcheinlich habe er den fremden Salomon 
in die Gegend gebracht, um mit ihm dert zu ftehlen. 
Er habe feine Abficht, ind Nieverland zu reifen, micht 
ausgeführt und alle feine Schußreden, er fei gezwungen, 
habe nichts von dem Diebftahl gewußt, jeien nur für 
unwahre Ausflüchte und Lügen zu halten. Er fei daher 
al8 comfessus reus anziehen und zur poena lagnei 
zu verurtheilen. Gegen ihn wird noch als belaſtend au⸗ 
geführt, daß er in Siegburg anfänglich gelengnet und 
behanptet habe, er fomme mit ben Waaren aus Holland. 

Gegen Joſeph Salomon liege zunächft mur die Aus⸗ 
ſage des Leviſch vor, ber Fein tüchtiger und unver- 
leumdeter Zeuge jet, da er nicht zum jüuramentum ab- 
mittirt werden könne. „Es haben aber bie Eriminal 
Rechten erfunden, daß ein ſolcher socius fich per tor- 





Ein Diebſtahl beim Handbelsmann Schüller 71 


turam habilitrien muß, um dadurch zu beftätigem, daß 
das feinige wahr fei, wobei denn abjonderlich geforbert 
wird, daß dem Leviſch in der Zortur fein Name bes 
socli genannt wird, fonvern Daß er aus fich felbit heraus 
diejenigen benennen muß, bie ihm in und zu ber That 
verholfen ‚haben. Und da dieſes noch nicht gefchehen, 
muß Leviſch noch zur ſcharfen Frage verwieſen werben, 
jedoch vorbebalt feines Geftändnifjes und des— 
halb in Rechten verbienter Zodesftrafe” Die 
wirfliche Tortur ſei ‚bier aber nicht notbiwendig, „sondern 
e8 genüge, daß er dazu veriwielen und ad locum torturae 
cam praeextensione instrumentorum torturakhum et 
aliqua ligatura geführt und angegriffen werbe umb 
dann absque suggestione bei feiner vormaligen Aus⸗ 
jage verbleibe”. Deshalb befürwortet der Meferent, daß 
Leviſch auf gebundenen Stuhl gejegt, und bie Daum- 
ſchrauben biefem complici etwas applicirt und ein wenig 
angedrücdt werden Eönnten, um befto ſicherer und um⸗ 
ſtändlicher die Wahrheit berauszubringen. 

Gegen Salomon ſpreche noch, daß er ben Zollſchein 
über den kurkölniſchen gezahlten Zoll für drei Packe 
Waaren von Kuchenheim bei fich getragen, währen er 
biejelben von Düſſeldorf gebracht und bei Brühl verzolit 
haben will. 

Das Referat führt die Wiberfprüde in Salomon’s 
Auslaffungen weitläufig aus, äußert feine Anficht dahin, 
dag man ihn für überführt halte, aber alle dieſe Um— 
fände genügten nicht, ihn zu verurtheilen, und er müſſe 
„wegen jo vielfältigen Verbachts zur Icharfen Frag durch 
alle Grad hindurch condemmirt werben‘. 

Diejes Referat wurde am .20. Detsber 1751 bei dem 
Oberhof in Koblenz vorgetragen und burch Vermittelung 
des Grofen von Manderſcheid dem Schöffengericht zu 


72 Ein Diedftahl beim Handelsmann Schüller. 


Blankenheim überfandt. Es wurden darauf am 10. Novem- 
ber noch einmal ver Beftohlene Schüller und feine Ehefrau 
unter Eid vernommen. Schüller Shätte den Werth ver ihm 
fpecificirt abhanden gefommenen Waaren auf 53 Gulven 
und nimmt an, daß ihm noch für 20 Gulden Waaren 
geftohlen feien, welche er nicht näher fpecificiren kann. 
Er fowol wie feine Frau beftätigen, daß der Pflugfolben 
neben dem in die Wand feines Hauſes gebrochenen Loch 
gelegen umd vie Leiter angelehnt geftanven habe und beide 
Inftrumente augenfcheinlich zum Durchbruch benutzt feien. 
Ebenjo jagt der nochmals eiblich vernommene Schloffer 
Hermann aus. Demnach war das Bedenken des Ober- 
hof8 gehoben, ob auch ein „wirklicher gewaltjamer Ein- 
bruch“ vorliege, und es fonnte nunmehr das weitere Ver⸗ 
fahren ftattfinden. 

Am 15. November erfolgt die sententia prima des 
Schöffenſtuhls Blankenheim dahin: — „wird auf Ge- 
ftändniß des inquisiti Nathan Leviſch, welch’ Geftänd- 
niß hiermit ausprüdlich vorbehalten und die wohlverbiente 
Zobesitraf refervirt wird, nach eingeholter NRechtsbelehrung 
bei einem auswärtigen Oberhof hiemit zu Recht erkannt 
daß der gejtändige Inquiſit wegen ber bei biefem ‘Dieb- 
ftahl gewejenen Kameraden bahin zur fcharfen Frag zu 
verweilen, um vermittelit berjelben zu befennen und zu 
befräftigen, welcher oder welche dieſen Diebftahl begangen, 
wo, warn und wie mit allen dabei fürgenommenen Um⸗ 
ſtänden.“ 

Da man am Oberhof in Koblenz vorausſetzte, daß 
die bei Anwendung der Folter zu beobachtenden Umſtände 
in Blankenheim nicht genügend bekannt ſeien, ſo wurde 
ber Relation und dem bereits im Entwurf beigefügten 
brei Urtheilen noch eine genaue Folterinftruction hinzu- 
gefügt: Pro notitia necessarie observanda, welche wir 





Ein Diebftabl beim Handelsmann Schüller 73 


unverändert in ihrem alterthümlichen ‘Deutjch- Lateinisch 
folgen laffen. Es Tieft fih aus ven Worten das graufige 
Behagen heraus, welches der Referent beim Appliciren ber 
Daumfchrauben und ber fpaniichen Stiefeln empfindet, 
indem er noch einige beſondere Feinheiten zur Erhöhung 
ber Empfindlichkeit hervorhebt. 


Pro Notitia necessarie observanda. 


Sleich wie die ahnliegende Relation über Beyde in- 
quisitos Juden Nathan und Iojeph Befaget, daß Erfterer 
der Nathan wegen feiner Beläntnuß mit dem ftrang Vom 
leben Zum Todt binzurichten, Der inquisit Joſeph aber 
burch alle gradus Zur ſcharfen Frag zu Condemniren, 
undt wegen des Viellfältigen wieder ‘Denjelben obwaltenden 
Verdachts dardurch zur geſtändnus der wahrheit zu Ver- 
mögen fehe, Vermitz deme gleichwohlen, daß ber inquisit 
Nathan feine außag auf den Juden Joſeph, daß berjelbe 
den Diebftall Begangen, undt ihme ven pad waare zu⸗ 
gebracht habe. Durch die fcharfe Fragbeftättige, Vorhero 
auch pars derobata ver ſchüller auf feinen geleifteten 
aydt, fet feine Specification Erlittenen fchadens sub 
litr. E vergeftalt Beftättige, daß Er dabey geweßen, wie 
der Notarius dieße Specification aus den Rechnungen 
mit Manual Errichtet, dabey Er felbften demnechſt feinen 
ſchaden alffolchergeftalt überlegt, und nach wiſſen tarirt, 
daß nicht allein die Specificirte waaren auf 53 rthr. 
fonderen auch die ihme ohnwiſſende undt manquirende 
waaren auf 20 rihr. jchäße, und Bekräftige, vesgleichen 
muß auch noch des derobati fchüllers Ehefrau furato 
abgehöhrt werden über den Befund nach Befchehenen 
Diebftall, daß ahn und bey ihrem laden morgends frühe 
auf den 24. Juny letzthin Ein leither, dan Ein plug 


74 Ein Diedfiahl beim Handelsmann Schäller, 


Eyßen, ober pflug feig gefehen, undt gefunden, undt war, 
wie nicht zu Zweiffelen, die Nachbahren undt fonften 
Jemand glaubhaftes Cingleiches auch der Zeith gejehen 
haben folte, Ein ober anderer Dieſes Ebenfals zu Be⸗ 
kräftigen hätte; welchen nechft Dan die hiebey Tommenbe 
torturalurthel Deme inquisiten Nathan zu publiciren, 
undt folgender geitalt zu exequiren währe; 

Dan gleich die Endliche urthel fo Entgegen denſelben 
abgefafjet, undt auch hierbeneben gehet, Bejaget, daß 
derſelb wegen feiner geftänpnus mit der Endlicher Todts⸗ 
ſtraf zu Belegen ſeye, fo wirb in dießer torturalitrthel 
befien geftänbnus undt desfals Verwürkte Beftrafung 
austrüdlichen Vorbehalten, womit Derjelb fein anlaf 
Nehmen möge, feine geſtändnus zu revociren, oder zu 
glauben, daß Er wegen dießes Diebſtalls umb zur DBe- 
fäntnus ber wahrheit zu Bringen zu Dießer folter con- 
demnirt werbe, ſondern biefes gejchehet allein, umb bie 
wahrheit undt ficherheit zu haben wegen deren Complicum, 
undt Bey dießem fürgegangenen ‘Diebftall geweßenen ge⸗ 
jellen, im maſſen gleichwie feinem Zeugen ohne Jurament 
glauben Beugemefjen wird, aljo wird Ebenfals Teinem 
Dieb over übelthäter wegen feiner Complicum glauben 
Beygemeſſen, Er habe dan im ver marter inhalts pein⸗ 
licher halsgerichts ordnung art. 31 folche ahngegebene 
gejellen und Cammerathen wieberhohlet undt Beftättiget 
Daß ihm gleichwohlen folcher gejellen nahmen in ber 
marter Vorgebalten werde, ſondern Es muß derſelb jolche 
Bon frepen jtüden ohne suggestion Belennen, welchem⸗ 
nechft Eine folche nominatio sociorum criminis fo Bil 
würket, daß daraus Ein zulängliches inditium ad tor- 
turam wieder folche gefjellen Entftehet, worauf der in- 
quisit Joſeph Salomon ſowohl alsdan torquirt werden 
fan, als wir auch wan über kurtz ober lang ber flüchtige 





Ein Diebftahl beim Handelsmann Shüller. 75 


Joſeph Habhafft gemacht werben folte, undt biefer Bon 
ihme Jüden Nathan in ber marter für den Thäter dießes 
Diebftall8 ahngegeben werden wird, derſelb auf ben laug⸗ 
nungsfall Ebenwohl mit der fcharfen frag ahngegriffen, 
unbt darzu Condemnirt werben fünte, wobeh dan folgendes 
in praxi zu observiren ftehet, daß dan alfo diefe tortural- 
urthel in gegenwarth Hrn. Richter undt Behfigeren wobeh, 
zugleich wenigft ver fchultheiß mit 2 fchöffen mit adhibirt 
werden müſſen, in welcher aller gegenwarth dan nicht 
allein dieße urthel deme Juden Nathan zu publiciren 
ftehet, ſonderen publicata. sententia derfelb über hen 
ganzen Verlauf des die nacht zwijchen ven 23. auf ven 
24. Juny letzthin zu Blankenheim Begangenen Diebftalls 
zu Befragen wehre, ohne daß ihme das geringfte Davon 
in Specie Vorgehalten werde, mithin -außagen, wan, wo, 
wie undt welche biegen Diebſtall Begangen, undt warn 
bießes aljo gethan, und ad prothocollum per secreta- 
tarium et Judicy scribam aufgezeichnet worden it, 
Derfelb zu Befragen ift, ob Dan dießes aljo ficher undt 
wahrhaftig wahr ſeye, daß Er die ihme publicirte urthel 
desfals ausftehen, undt damit Bekräftigen wolle, daß Er, 
ohne denen Benenten Complicibus damit waß ohnwahr 
nachzugeben, dieße folter ausftehen wolle, und müſſe, 
worauf fogar in Etwa doch nicht zum fcharffiten gebunden, 
anf den ftuhl gejeßt auch wohl die Daumfchrauben dießem 
inquisito nathan Etwas zugeſchraubet werden mögen, 
biß dahin davon die Empfindlichkeit in Etwa ſchühret, 
wan derſelb nwun alles wird allſolchergeſtalt Beſtättigen, 
und die Complices ahngeben, ſo wird dieße Benennung 
für Richtig gehalten, wo alß dan dem nathan alſo Bald 
die Daumſchrauben loßmachen, undt auf Binden zu laſſen 
ſeynd, forth auf freyen fuß in der marter Cammer zu 
ſtellen iſt. | 





76 Ein Diedftahl beim Handelsmann Schüller. 


Wobey dan nochmahls wohl in obacht zunehmen Er- 
innernt wirbt, feine questiones suggestivas zu machen, 
weder den Nahmen des inquisiti Joſeph Salomon, als 
wie auch des flüchtigen Joſephs oder fonften Jemand 
Borzuhalten, ſondern Es muß dießer Nathan alles felbften 
ahngeben, undt auffagen, fo Bald num diefes gefchehen, 
jo fan eadem et altera die bie auch hiebey kommende 
tortural urthel deme inquisito Joſeph Ebenfals in ob- 
gemelter aller ambt® und gerichtS personen dan auch in 
gegenwarths des nachrichters, wie ſolches auch bey publica- 
tion Voriger urthel zu Verftehen, in loco consueto 
judicy publicirt werten. 

Welchemnechft ver Hr. Präses deme inquisito Joſeph 
Borzuhalten hatt, wie Er nun mehro fehe, worauf Es 
ahnkomme, undt daß durch peinliche Marter durch alle 
grabt zur geftändnus der wahrheit Vermöget werben jolle, 
welche Er gleichwohlen nicht überftehen wurde, folte ge- 
denken, wie Vielle umbſtändt Vorhanden, woraus nicht 
anderft geglaubt werben fönte, al8 daß Er inquisit dießen 
Diebftall Begangen, undt weſſen auch überzeuget ſeyn, 
burch die außag des inquisiten Nathans, des flüchtigen 
Joſephs, welcher dardurch fich ſchuldig gegeben, burch 
deſſen Eheweib aydliche außag, daß den 22. undt 23. Juny 
in ihrem Hauß geweßen, undt daſelbſt gefchlaffen, ven 
23. aber gegenabendt alle 3 ausgangen, und nicht zurüd 
fommen wahren, Itl. des Juden Von Berchems undt 
feines Knechts ausfag, wohin morgens den 24. Juny 
umb 6 uhren mit 3 ſchwehren padtwaaren kommen, davon 
Dannen auf Cochem (Cuchenheim) forthgangen, wohin 
bes Berchemer Judens Knecht Einen pad Von den Zen 
päden tragen helfen, daß zu Cochem ven Zoll für fich 
und 3 pad bezahlt, undt Bejage auch folches das Beh 
ihme gefundene Zollzettelgen, welches in feinem Kampf⸗ 


Ein Diebftabl beim Handelsmann Schüller. 77 


fuder gefunden, daß Enblich jelbften nach Viellen leugen 
gleihwohlen geftanden, undt gejtehen müſſen, daß ben 
25. Juny zu Boppelsporf mit waaren ahnkommen, woheh 
dan auch der confessirender Nathan mitgeweßen, nach 
gehaltenem Schabes auf Bonn gangen, unbt in Eins 
baßigen DBedershauß aufen warb, wie felbiten Bekennet, 
ſich Einlogirt, diejer fraw auch drey fchnupftücher Ver⸗ 
faufet, Endlich Vom jontag bis Dienftag daſelbſt Ver⸗ 
blieben, Von dar auf fiegburg gengen, altivo dan auch 
mit den waaren Ergriffen, undt gefänglich überbracht 
worden, wo barbeneben Eine fcharfgelabene pistol, oder 
ſackpuffert Bey ihme gefunden worben, wie besgleichen 
das gegentheill Von dem ftrumpff Bendel, womit bie 
Thür, worin geftohlen, zugebunven gehabt, forth auch alle 
waaren Bon dem Beftohlenen mann Bon Blankenheim 
für die feinige ahnErkennet worben ſeynd, über deme 
nicht Erwißen Tan, wo feßhaft, ſonderen Viellmehr geftehen 
mäffe, daß über all herumb vagire, nuhn jolte hierab 
Erſehen, wie aller dieſer umbftänden halber ber DBe- 
gangenen That überführt feye, undt nichts mehr abgehe, 
als feine eigene geftändnus, wo ohne daß allſchon jo Viell 
Belennet, daß man ahn der That nicht mehr zwehfele, 
jolte alfo in ber güthe annoch zu ferneren Befäntnus jich 
anfchiefen, BeVor ihm durch die fcharfe Frag die glieder 
zerriffen, undt alſo zum armen Menſch und Kruppel 
gemacht wurde. 

Wan nuhn auf diejes alles nichts Verfangen wolte, 
weniger derſelb fich zur geſtändnus ahnſchicken folte, fo 
wird dießer inquisit ahnforberift deme nachrichter über. 
antworthet umb zur marter Sammer zu führen, Zu Vor 
aber darzu zu praepariren, nemblich die haar und fonjten 
abfcheren, auch ausKleiden undt genau visitiren zu laffen, 
ob nicht Etwa derſelb was Verdächtiges Beh fich habe, 


78 Ein Diebftahl beim Handelsmann Schäüller. 


wo indeſſen Hrn. Beamdter, undt richterr, wie Vorgemelt, 
zu der Marter Sammer fich zu Verfügen haben, allıvo 
dan Vorherr der nachrichter feine instrumenta Torturalia 
parat liegen, undt aufgehenft haben muß, welchenmechft 
ban auch dießer inquisit durch den Nachrichter mit zurück⸗ 
lafjung der wacht undt übrig darzu nicht gehörigen per- 
sonen herbey gebracht werden muß, allwo dießem in- 
quisit nach mahls all Voriges kürtzlich Vorzuſtellen ift, 
barneben aber auch alle gradus undt beren instrumenta 
nemblich die Daumftod, die ſpanniſche fstefelen, und ber 
flafchenzug Vorzuzeigen ſeynd, jedes ins Beſondere, mit 
ber ahnmerkung undt Verwarnung, daß Er gewiß biefelbe 
nicht überftehen werbe, unbt fein laugenen ihme aljo auch 
nichts helfen werbe; warn dießes alles. aber in ber güthe 
Dey dem inquisito nichts Verfangen will, fo jchreitet 
man zur würflichen tortur, bergeitalt, daß deme in- 
quisiten zu Erſt die Händ zufammen gebunden, dem 
nechft derjelb auf Einen ſtuhl ahn Eine wandt feit- 
gebunden werbe, daß alſo bajelbft aufricht fiten bleiben 
muß, bemnechit werben bemfelben die augen Verbunden, 
Beyde Daumen mit fchmahler Cordel umbwidelt undt 
darauf zu Erit der Daumjtod applicirt, mobey zu Err- 
inneren, daß bießer wie auch die andere Beyde gradus 
jever Eine Completo 4tel ftundt pflege ahnzudauren, 
undt wird aber Ehenber nicht dieſe Atel ſtundt gerechnet 
zum anfang bis die zuträdung undt Empfindung Beh 
bem inquisito Berfpühret wird, welche minute ver ftund 
dan auch aljo ad prothokollum gejeget wird, umb Zu⸗ 
jehen, wan bießer actus ahngefangen, undt aufgehöhrt, 
wobey aber zu Exrinneren ift, daf wan der inquisit 
Etwa Bekennen zu wollen, unbt ihnen loß zu Binden 
begehren würde, man folchem Begehren nicht gleich gehör 
geben fjolle, fonberen Es hatte inquisit als dan Vor 


Ein Diebftabl beim Handelsmann Schüller. 79 


feiner Loß- Bindung Eine Etwaige glaubliche geftänpnuß 
zu Thuen, welchemnechſt Erſt, Loßgebunden werben mag, 
wobey aber wohl zu Bemerken ftehet, daß alſo bald, war 
bie instrumenta los undt aufgeſchraubet werben, daß 
alſo gleich die minut undt Zeith Ebenfalls ad protho- 
eollum Verzeichnet werde, um in dem Fall, wan anwieder 
ſich auf das leugenen Begeben ſolte, over fonft die Rechte 
wahrheit nicht ausſprechen würbe, wie ſolches öfters ge⸗ 
ſchieht, umb nuhrn Die Zeith alfo umb zu Bringen, fo 
fahret man fo lang forth zw rechnen Bon ber minut, 
wo man abgelaffen, dan wo man ahnwieder mit würf- 
licher Empfindung ahnfanget, vie Zeith ad prothocollum 
zu jeten, unbt alſo jo lang zu Continuiren, bis bie 
Völlige Atel ftundt, oder 15 minuten in dem Erften, wie 
auch den anberen Beyden gradibus aljo Vollkommen Voll- 
zogen worden ift, wobey bennoch weithers zu Errinneren 
ftehet, va, warn: ver Inquisit Joſeph Beftanbig in nega- 
tiva Bey allen 3 gradibus continuo Verbleiben unbt 
bie marter balfftärrig, oder hartnädig überftehen: jolte, 
jo hatt man Bey Jedem gradu zu Beobachten, daß 
gleichwie die Zuſchraubung langfamb nach Ein ander ge- 
heben muß, daß wenigft Beh ablauf der halbſcheid der 
Viertelſtund bie ſchraub ſich Vollig zu Befinde, undt dem⸗ 
nechſt, ohne daß auch Etwas der inquisit Bekennet, die 
Daum- oder Beinſchrauben alſo Bald auf⸗ undt Los⸗ 
ſchrauben zu laſſen Befohlen werde, ſolches auch ad 
prothocollum notirt werden müſſe. Demnechſt wird dem 
inquisito das geſicht loßgebunden, bie durch die Daum⸗ 
ſtocke zugeſchraubte glieder gezeiget, umb zuſehen, wie 
dieſelbe zugerichtet, undt zu waß für Einen armſeeligen 
gebrechlichen Menſchen Er ſich ſelbſten mache, forth wan 
alles nichts Verfangen will, demnechſt ahnwieder mit 
Etwaiger halber frifcher anfetung ber instrumenten auf 





80 Ein Diebftahl beim Handelsmann Schäller. 


friſch fleifch Bei der abgelaffener minut fo lang forth 
fahren, bis die Viertelftund allemahl Vorbey, hiebey ift 
weither zu Errinneren, vaß der Nachrichter zu Verrichtung 
feiner function nicht allein nachtrudjamb Berwahrnett 
werbe, ſondern dießer muß atıch feine dexterität darin 
Deweifen, daß Er Bey dem Daumftoden mit Einem 
hammer, nachdeme aufs neu ımbt fo oft als zugefchraubet, 
darauf Flopfe, welches den inquisitum neue Empfindlich- 
feiten Verurſachet, wie beögleichen pfleget, undt muß den 
inquisit das Bein, woran die fchienjchraub ahngejeßet 
wird, mit abnbindung Einer dünnen Corbel ahn bie 
große Zehne folchergeftalt feſt ansgeftredet werben, daß 
das Bein nicht aufliege, noch ruhen könne, unbt wird 
demnechſt mit dem Hammerftill Zeithlich darauf gefchlagen, 
wodurch diefe gefpante Eordel in Bewegung gebracht, undt 
der inquisit folches deſto Empfindlicher fpühret. Bey 
bem letteren gradu des aufzugs ba dem inquisito bie 
Händt auf den rüden gebunden, undt alſo binterwärths 
aufgezogen wird, fo ſtehet hiebey zu consideriren, daß 
Ein gantes Dannen Bort dem inquisito mit bünnen 
boch ftarfen Cordelen ahn die Zehen gebunden werde, 
welches derſelb nicht allein alfo mit in die höhe ziehen 
muß, fonderen Es hatt der nachrichter Jedoch mit folcher 
Beicheivenheit, das wohl Endlich dem inquisito nicht gar 
den leib undt glieder aus Einander ziebe, aljo Befcheibent- 
lich undt Langſamb nach undt nach darauf zu tretten, 
undt zu truden daß nicht allein der inquisit fein Völliges 
gefühl darvon habe, fondern auch durch ſothanes lang⸗ 
fames aufftoßen und Bewegen die Erjchütterung ahn feinem 
feib Verfpühre, imgleichen pflegen auch Bey dießem actu 
Etliche quassaten gegeben zu werden, bergeitalt, daß bie 
Cordel, worahn der inquisit hanget, nicht allein Etliche 
mabl durch Einen hammer oder ftodichlag-Erjchüttert, und 





Ein Diebftahl beim Handelsmann Schüller. 81 


Beweget wird, fonderen ber nachrichter pfleget auch, wann 
dem inquisit in der hohe hanget, Eine ſolche abmaaß 
zunehmen, daß auf Einmahl den inquisitum aljo hange, 
oder ohngefehr Einen fchuh hoch auf Einmahl fallen Laffet, 
Jedoch dergaftalt, daß weder mit dem leib noch den füßen 
auf die Erde fommet, fonderen gleichwohlen aljo fchweben, 
und hangen bleibet, in summa gleichwie Beh gefährlichen 
hartnädigen, undt gleichjamb überwießenen Dieben alle 
Vorſorg undt Behuthſamkeit Vorzufehre alfo auch Viell 
barahıı gelegen in folchen casu ahn Einem Erfahrnen 
Richter, undt daß derjelb den nachrichter zu aller prae- 
caution binweiße, war verjelb ohne daß Vielleicht derley 
actus Entweder gahr nicht over gahr felten practiciret 
hatt, undt Eben darumb man hiebey auch alfo umbjtänd- 
lich dießen tortural actum zur praecaution ahngezeigt 
datt, undt wohl zu wünfchen wehre, daß Einem Judicem 
practicum zu bießem casu hatten, oder allenfals fich 
Etwa aus Erjehen mögten, warn feldften Vielleicht derley 
actus noch nicht gehabt, undt dabey geweßen, wie im⸗ 
gleichen auch Ein geſchickter nachrichter mit tauglichen 
instrumenten Beh folchen gefährlichen delinquenten wohl 
Bormöthen ift, undt ahnzurathen wehre, wo indeſſen alles 
Borgemeldtes zur genauer observation für jeto und Etwa 
fünftig anrecommendiret wird. 

Folgen nun auch die quastiones. 

Torturales, worüber der Inguifit Joſeph Salomon 

in ver Marter zu Befragen: 

1) Wer den die Nacht zwifchen ven 23. undt 24. Juny 
legthin zu Blankenheim Begangenen Diebjtall aus⸗ 
geübt habe. 

2) Wie Viel der ‘Dieb geweßen. 

5) Wan, undt wo dießen Diebftall mit Einanber 


unterredet. 
XXII. 6 


82 


Ein Diebftahl beim HSandelsmann Schüller. 


4) Welcher Eingebrochen, undt Eingeftiegen. 

5) Welcher die geftohlenen waaren herausgebracht oder 
geworfen. 

6) Wem Er dan die waaren herausgelangt. 

T Wo dan mit ven waaren fich hinbegeben. 

8) Ob undt was, auch wo Von bießen geftohlenen 
waaren Verkauft. 

9), Wo die Erfte nacht nach dem Diebitall gejchlafen. 

10) Durch waß örther fie fommen, als mit dem Dieb- 
ſtall fich forthgemacht. 

11) Ob auch als Jud ſeinen Zoll für ſeine person 
undt die waare Bezahlt, undt wo. 

12) Welcher ihm die 3 päck waaren Bon Blanfen- 
heim undt weithers forthtragen helfen. 

13) Wo fie in CammerKathichaft fommen, dieße undt 
vergleichen mehrere general fragftüd müffen dem 
inquisito Beftändig in der marter Vorgehalten 
werden, wobey ban auch weithers zu observiren 
ſtehet, daß war der inquisit in-ber marter ohn⸗ 
fangen wird, zu discutiren Von ſolchen, welche 
nicht zur haubtjach gehören, jo ift bemfelben fein 
gehör gegeben, noch zu antworth, ſonderen Es muß 
derſelb Beſtändig in genere auf dieſen Diebftalf 
Befragt werben, mafjen durch Vielles raisoniren 
der jchmergen Vergeſſen, undt folche reden Vor⸗ 
jetlich führen, umb aljo die Zeith zu passiren; 
warn biefer tortural actus auf ſolche weiß ob- 
servirt werben wird, jo Beſcheiht dem Nechtlich 
praxi Ein genügen, undt ftehet auch zu hoffen, 


daß die Rechte wahrheit an den Tag fomme, - | 


womit die gerechtigfeit auch deſto geficherter aus- 
geiprochen werben möge, undt fommen auch hiebey 
bie urthelen, wie biefelben zu publiciren, wo in- 





Ein Diebftabl beim Handelsmann Schüller. 83 


deſſen ber weithere Erfolg auch das weithere weiß 
wird, 


ALS forgfältiger Vorfigender Hat ſich der Oberamt- 
mann zu Blankenheim einen furzen Auszug aus biejer 
Inftruction gemacht, welcher von feiner eigenen Hand 
geichrieben gleichfall8 ven Acten beiliegt und ben wir 
gleichfall® der Euriofität halber folgen laſſen: 


1) debet publicari sententia, 

2) post publicatam sententiam debet interrogarı 
in genere nach dem Diebitahl am 23ten, 

3) muß ausfagen, warn, wie und wer ben Diebftahl 
begangen, 

4) ob dieſes wahr fet und er die im Urtheil benannte 
Folter ausftehen wolle, ohne Jemand Unrechts 
anzugeben, 

5) demnah muß nicht zum jchärfiten gebunden auf 
den Stuhl gejett auch wohl die Daumfchrauben 
ihm etwas zugefchraubt werden, bis er davon in 
etwa die Empfindlichkeit verfpürt, 

6) wenn alſo Alles beftätigen und bie complices 
nennen wird, jo wird die Benennung für richtig 
gehalten und die Daumſchrauben los zu machen. 


Noch am Tage der Urtheilspublication wurden denn 
auh dem Nathan Leviſch die Daumfchrauben dergeftalt 
zugeichraubt, daß ihm einige Empfindlichkeit verurjacht. 
Er blieb bei feinem Geſtändniß und fügte nur noch hinzu, 
daß der flüchtige Joſeph die Leiter geholt habe, und wurde 
er darauf von der Folter entlaſſen. 

Am Tage darauf, dem 16. November 1751, wurde 
dem Salomon bie sententia tertia dahin publicirt: 

„Daß der Ingquifit Joſeph Salomon bei jo vielfältig 
wider ihn vorwaltenden jchweren Verdachts und In— 

6* 


84 Ein Diebftabl beim Handelsmann Schüller. 


zichten — — zur ſcharfen Frag durch alle gradus zur 
Geſtändniß der Wahrheit zu verweilen.“ 

Nach der in Gegenwart bed Nachrichters erfolgten 
Berlefung wurde er nochmal? zur Ausfage der Wahr- 
heit ermahnt, dann zur Folterkammer gebracht und ihm 
bie Torturalinftrumente mit dem deutlichen Hinweis vor⸗ 
gezeigt: daß er durch fein Leugnen fich zum armen 
Menichen und Krüppel machen würde. Darauf ging man 
zur wirklichen Zortur über mit Applicirung der Daum— 
ihrauben. ‚Dabei war”, fährt nun das Protokoll fort, 
„zu bemerken, daß obwol man dem Inquiſiten die 
questiones torturae in biefem Grab beſtändig vor— 
gehalten, hat man von demfelben Feine Antwort erhalten, 
fondern er ift nach etwas fchärferer Zuprüdung nach 
ausgeſtoßenen wenigen hebräiſchen Worten zum Erftaunen 
und VBerwunderung aller Anmwejenden in einen feiten Schlaf 
gefallen. Bon 10 Uhr 50 Minuten bis LO Uhr 58 Minuten 
wurden die Daumjfchrauben zuerft angelegt; um 11 Uhr 
13 Minuten wieder auf frifches Fleiſch His nach Ablauf 
einer Viertelftunde. Um 11 Uhr 31 Minuten hat er die 
erfte Empfindung der Schienenschrauben befommen, 11 Uhr 
37 Minuten wurde ihm das Geficht Losgebunden, ihm 
die zugefchraubten Glieder gezeigt, wieder ohne Wirkung, 
und 11 Uhr 45 Minuten wurden die Schienenfchrauben 
bis zum Ablauf einer Viertelſtunde auf friſchem Fleiſch 
weiter angelegt. 

Diefes „hartnädige und boshafte Betragen” wurde für 
etwas Ungewöhnliches und beinahe Unnatürliches gehalten; 
man glaubte an diefem Tage auch durch Applicirung des 
britten Grades nichts zu erreichen und verſchob bie 
Procedur. 

Am folgenden Tage wurde um 10 Uhr 19 Minuten 
Vormittags mit der Tortur fortgefahren. „Bei lang— 





Ein Diebftabl beim Handelsmann Schüller 85 


ſamer Aufziehbung ift er fofort in einen Schlaf verfallen 
und obwohl der Nachrichter feine Dexterität bezeigt, ven 
Juden etliche mal SHerabfchnappen laſſen und fonftige 
geift- und natürliche Mittel gebraucht, doch Fein Wort 
bon ihm erzwungen.“ 

Das Berfahren gegen den geftändigen Nathan Levifch 
bot Feine criminaliftiichen Schwierigfeiten mehr. Es lag 
ein unummwunbenes Geſtändniß feiner Betheiligung am 
Diebftahl vor, und nach dem Grundſatz der Carolina: 
„Das Geſtändniß ift die Krone der Beweiſe“, waren bie 
harten und graufamen Strafbeftimmungen des Geſetzes 
nur auf den Geftändigen anzuwenden. Jedenfalls kannte 
Nathan Leviſch das ihm drohende Schickſal. Er fuchte 
ihm dadurch zu entgehen oder es zu mildern, daß er vom 
erften Tage feiner Verhaftung an „ſich anheifchig machte, 
ven römiſch-katholiſchen Glauben anzutreten”. Zwei 
blankenheimer Seminariften haben ihn dann in der Freude 
ihre8 Herzens über die gewonnene Seele tagtäglich im 
Gefängniß in der Lehre der Kirche unterwiefen und zwar 
ohne daß von dieſem Umftande dem Lanbesherrn nad) 
Köln berichtet wurde. Erft als im November die Kälte 
ten Aufenthalt im Kerker unerträglich machte und fo ven 
frommen Bejtrebungen ein Hinderniß bereitete, bittet ber 
äfrige Seminarift in „unbejchreiblicher Freude über die 
große Begierde des Leviſch zur Heiligen Taufe zu 
ſchreiten“, dem Arreftanten ein anderes Gefängniß an- 
juweifen, „wo ein Geiftlicher zu weiterem exercitio fid) 
ver Kälte halber bei demſelben aufhalten könne. Der 
Graf von Manderſcheid geftattet indeffen auf ben ein- 
gebolten Bericht nur, daß der Delinquent ein- und das 
andere mal ohne Gefahr des Echappirens auf das Haus- 
gefindezimmer gebracht und daſelbſt Beiſeins benöthigter 
Mannschaft von der Wache inftruirt werde”. Zugleich 


86 Ein Diedftahl beim Handelsmann Schüller. 


broht er der ganzen Compagnie, voran aber dem wacht- 
habenden Sergeant, Eorporal und Gefreiten, bie fchärfite 
Strafe an, wenn fie nicht forgfältig Wache balten. 
Leviſch erreicht denn auch durch die bezeigte Frömmig- 
feit und Ausdauer in ber Unterweifung, daß alle Semi- 
nariften am 20. November ben Landesherrn um Gnade 
für den Delinguenten bitten, und auch die Kanzlei berichtet 
auf bochgräfliche Anfrage in jener Zeit, baß berjelbe im 
hriftlichen Glauben wohl unterrichtet fei. 

Der Landesherr ſelbſt fcheint indeß von der Stepfis 
bes vorigen Jahrhunderts etwas mehr angefränfelt zu 
jein als feine glaubenseifrigen Blanfenbeimer; denn er 
läßt bie Unterweifung bis Mitte Sanuar 1752 fortvauern 
und jchreibt dann: „Der Jude Nathan Levifch wirb 
hoffentlich bereits im Chriſtenthum zureichend unterwieſen 
und auch noch gefinnt fein, in den Schoos ber römijch- 
katholiſchen Kirche zu treten. Wenn es nun dabei bleiben 
follte, fo habt ihr anbeigehendes am Oberhof zu Koblenz 
ergangene® Zodesurtheil der Ordnung nach zwar zu 
publiciren, gleichwohl anftatt des Strange durch das 
Schwert ihn hinrichten und zwei Tage vor der Publication 
und Erecution taufen zu laffen. Dann mag die Geijt- 
lichkeit defjen Beharrlichkeit aufzumuntern ihn davon wol 
die Nachricht geben mit der Erinnerung jepoch, es müſſe 
feine Seel und Seelenheil und nicht die Strafminderung 
das Hauptziel ver Belehrung fein.‘ 

Das zweite in diefer Sache gegen Leviſch ergangene 
Urtheil des Oberhof zu Koblenz lautet: „— — daß 
— Leviſch wegen geftändiger Anwefenbeit bei diefem großen 
Diebftahl zu Blankenheim getragener Beihülfe und anderer 
in actis borgefommener Umftände zur: wohlverbienten 
Straf und Andern zum abſchreckenden Erempel mit dem 
Strang vom Leben zum Tode hinzurichten und dazu zu 


Ein Diebftahl beim Handelsmann Schüller. 87 


verweilen, als wir benn hiermit für Recht erfennen mit 
dem Strang vom Leben zum Tode hinzurichten befehlen 
und verweilen.” 

Das durch landesväterliche Huld gemilverte Urtheil 
wurde am 20. Januar 1752 an Leviſch vollitredt, und 
‚ bie Kanzlei berichtet darüber, „daß er nach vorher em- 
prangener Tauf und Wegzehrung in Begleitung des ehr- 
würdigen patris guardianı des Kapuciner-Ordens zu 
Münftereifel, deſſen Gefellen und zweier Seminariften 
zum auferbaulichen Exempel aller anweſend gewejenen 
Chriftfatholifchen in Verfolg der ihm in biefem Fall ver- 
liehenen Gnaden am 20. Januar mit dem Schwert bin- 
gerichtet und babei das Amt des Nachrichters wohl ver- 
richtet jet”. 

Größere Schwierigkeiten bot das weitere Berfahren 
gegen Salomon. 

Nach den Regeln der Carolina und der herrichenden 
Auffaffung ihrer Lehren hätte der Inquiſit in Treiheit 
gejegt werben müſſen. Derfelbe war aber, wie fich aus 
ben über ihn eingezogenen Erfundigungen ergab, ein übel» 
berüchtigter Mann und mit in einen Raubmord an einem 
Paſtor in Gravenbroich verwidelt, in welchem Proceß 
jeine Mitſchuldigen gerädert worden waren. Deshalb 
berichtet die Kanzlei am 22. November an ben Grafen 
von Manderſcheid: „Gleichwohl nun der Jude Salomon 
die Folter durch alle Grad ausgeftanden, mithin vor und 
nach boshaftiger und halsftarriger Weile von dem Dieb⸗ 
itahl nichts eingeftand, fo haltet man doch dafür, daß 
biefem ungeachtet in gegenwärtiger jo klarer Sache, da 
nur bie eigene Geftänbniß mangelt, verjelbe keineswegs 
auf freien Fuß gefegt werde, damit dem publico von 
jolch boshaften Menſchen über furz oder ot fein großes 
Unheil verurſacht werde.” 


88 Ein Diebftabl beim Handelsmann Shüller. 


Die Acten werden nun wieder an den Oberhof zu 
Koblenz eingefendet und eine Rechtsbelehrung erfordert. 

Die darauf am 6. December 1751 am Oberhof er- 
ftattete ulterior relatio hebt alle Umftände hervor, welche 
gegen Joſeph Salomon fprechen, tadelt, daß die Tortur 
nicht in continua serie et una die vorgenommen, fonvern 
bie zwei erften Grade am 16. und der dritte am 17. 
applicirt fei, hält aber in diefem Punkte dafür, daß nicht 
contra iura verfahren: „erwogen für's erfte Die Um⸗ 
jtände, wie hernach folgen wird folches vernünftig erforbert 
haben, für’8 andere fo waren die 3 gradus ben erften 
Tag nicht vollzogen und folglich die anbictirte Tortur 
auch noch nicht ihren Effect und finem erreicht hatte, 
für’8 dritte, jo bat man secunda die ab illa tortura 
angefangen, wo man vorigen Tags abgelaffen, für's Ate 
jo hat man secunda die nit a primo gradu ans 
gefangen.” Deshalb Liege feine repetitio torturae vor, 
zumal die Unempfindlichfeit und der hartnädige Schlaf 
des Delinquenten die Anwendung des ten Grades am 
eriten Tage ausgefchloffen habe. 

Der Referent zweifelt nicht an der Schuld, tritt 
aber dann in die Frage ein, was denn bermalen zu 
ſprechen fei. 

Nach der Carolina equ. 61 feien dem Delinquenten 
die Abzugskoften zur Laft zu legen, aber er müſſe ab- 
jolvirt werben. 

Die Folge davon wäre, daß die Sachen als nicht 
geftohlen und die Behauptung des Joſeph Salomon über 
ihren rveblichen Erwerb für richtig angenommen werben 
müffe, dagegen fprechen aber die eiblichen Ausfagen des 
beftohlenen Schüller und der übrigen Zeugen. Demnach 
jet anzunehmen, daß ſich Salomon im Beſitz geftohlener 
Sachen befunden, daß er am Dienstag bei dem Be— 





Ein Diebftahl beim Handelsmann Schäller. 89 


ftohlenen im Laden gewejen, daß er mit in dem Hauſe 
bes flüchtigen Joſeph geichlafen und nachher mit dem 
geftänbigen Leviſch zuſammen mit ben gejtohlenen Sachen 
betroffen ſei. In folchen Fällen fchreibe aber ver be- 
rühmte Leyſer in thesi 640: 

„dum jura reum etenim naturaliter convictum 
si tamen tormenta pertulit nihilque confessus est 
absolvi oportet atque iter judex contra scientiam 
suam judicare cogitur, attamen conscientia sua con- 
sulat, rem ad principem referre et improbus in- 
ficator in opus publicum detur suadere potest.” 


(Wenn ber durch die natürlichen Umftände Lieberführte 
die Folter überftanden bat, ohne ein Geſtändniß abzu- 
legen, ift er nach dem Recht freizuiprechen, und ver Richter 
wird fo gezwungen, gegen fein Gewiſſen zu urtheilen, 
dann foll er dennoch in feinem Gewiſſen berathen, ob 
er die Sachlage nicht dem Fürften vortragen und biejem 
rathen foll, den hartnädigen Leugner in ein Arrefthaus 
bringen zu laffen.) 

Weiter fage Leyſer, der König folle diefe Entſcheidung 
treffen dürfen, wenn er aber bier vom Könige rede, fo 
jet zu bedenken: 

„quod quilibet dominus in supposito quod do- 
minium habeat illimitatum et jurisdictionem superio- 
rem, sit rex et imperator in sua ditione itaque 
habeat potestatem puniendi reos ad mortem usque 
iter etiam desuper leges condere.“ 


(daß jeder Herr in dem Bereich, in welchem er bie 
unbegrenzte Herrichaft und die höhere Jurisdiction aus- 
übe, König und Kaiſer ſei und baher bie Gewalt habe, 
die Schuldigen zum Tode zu verurtheilen und barüber 
Geſetze zu geben.) 


90 Ein Diebftahl beim Handelsmann Schüller. 


Daun fährt der Referent wörtlich fort: 

„Wogegen zwar wieberum ftreitet, quod leges obligant 
in futurum non in praeteritum, aber dahier wird es 
nit proprie pro lege lata angejehen, ſondern weil 
eben dem Landesherrn viel an der Ruhe in feinem Land 
gelegen, daß er foldhe auch auf alle rechtliche Weg zu 
verichaffen fchuldig und gleichwie nach den gemeinen Rechten 
ein folcher Frevler, welcher vermitteljt der Tortur eine 
Miffethat abgeleugnet, darnach, wenn feine andern Um⸗ 
jtänd vorhanden, muß ab observatione judicii abjolvirt 
und praestita urpheda bimittirt werben, jo ergiebt fich 
ex praecedente, daß auch ein Landesherr bei jo viel 
übrigbleibenden Umftänden mit einer ertraorpinarien Be- 
jtrafung zur Erhaltung der Ruhe in feinen Landen und 
diefes um befto ficherer damit fürgehen könne, als jogar 
ber befennende complex Nathan Leviſch wegen dieſes 
Diebitahls rechtlich mit der ordinären Strafe des Strangs 
belegt werben foll, mithin aljo auch Tein Zweifel babei 
obwalten werde, daß deßhalb auf Grund feiner Bekennt⸗ 
niß und die Ausfage feines complicis der Joſeph Sa— 
lomon leben und fterben werde. Und wenn dieſes Alles 
auch nicht wahr, was vorher ex Leysero angeführt und 
ber rechtlichen Vernunft gemäß erjcheinet, jo habe ich doch 
feinen Anftand über das den Inguifiten Salomon nad) 
Inhalt ver jüngeren Kur- und Rheinischen Kreis-Pönal- 
Sanktion, als worunter die Grafichaft Blankenheim ge— 
hörig mit einer Feltungs- Arbeit zu belegen. Inmaßen 
bafelbjt verorbnet ift, daß folche herumvagirende, müßige, 
nirgendwo feßhafte Leut, welche zu 2 und 3 und mehr 
herumvagiren und aljo ergriffen werden endlich und zuletzt 
auf zeitliche und ewige Feftungsarbeit gefegt werben mögen. 

Sic relatum et approbatum am Oberhof in Koblenz 
am 6. December 1751.” 





Ein Diebftabl beim Handelsmann Schüller. 91 


Wie Mufif mag eine derartige Relation dem fleinen 
Eifeldynaſten des vorigen Jahrhunderts geflungen haben, 
in welcher er an Machtuollfommenbeit dem Kaifer und 
König gleichgeftellt und ihm das Necht eingeräumt wird, 
über Leben und Tod Gefege zu geben. Deshalb ver- 
orbnet er auch alsbald, „daß ber Imquifit auf lebens- 
länglich zum Stod- oder Zuchthaus verwiefen und ver- 
dammet werben ſoll und weift das Schöffengericht zu 
Blankenheim an, nach Anzeige der beigefügten Relation 
das Urtheil ohne Anftand zu verfaffen und dem Delin- 
quenten zu publiciren. Aber ver Kaiſer und König befitt 
fein Stod- oder Zuchthaus, und deshalb verfügt er be= 
ſcheidener weiter, copiam des Urtheils an ven kurkölniſchen 
Hofrath von Uphoff zu ſchicken und demfelben wegen des 
faiferswerther Stodhaufes zu empfehlen, ob es nicht 
angehe, denſelben lebenslänglich gegen jährliche Abzugs- 
foften, bie ſich auf 25 Rthlr. belaufen follen, in jenes 
Stodhans hinzujegen. 

Schon vorher war mit der Kanzlei berathichlagt, was 
man mit dem Derbrecher anfangen folle, da ja fein 
geeignetes Gefängniß vorhanden war. Die Kanzlei hatte 
auf das kaiſerswerther Stodhaus hingewiefen, wo für 
die Unterhaltung derartigen Geſindels 13 Rthlr. jährlich 
gezahlt zu werben pflege. Man hatte auch fchon durch 
durabele Anfrage in Kaiferswerth die Unterbringung zu 
erreichen verfucht, allein der Vorſteher des Stockhauſes 
hatte umter untertbäniger Bereitwilligfeitserflärung, ven 
Delinquenten gegen Zahlung von 25 Rthlrn. aufzunehmen, 
fih nur dann dazu im Stande erflärt, wenn bie Yand- 
itände einverftanden feiern. Denn das Stodhaus jet nur 
für das Erzitift Köln gebaut. 

Nach Anmweifung des Landesherrn und ber Toblenzer 
Relation gemäß lautete denn auch das Urtheil des Schöffen- 


92 Ein Diedftahl beim Handelsmann Schüller. 


ſtuhls dahin, daß Salomon zwar wegen überftanvener 
Tortur nach vorläufiger abgejchworener Urphede ab ob- 
servatione judicii mit Abtrag gleichtwohlen feiner Ab- 
zugs- und Defenfionskoften zu abjolviren, wegen fchweren 
in actis enthaltenen Verdachts und Argwohns ja felbiger 
Bekenntniß zur Sicherheit der Landesunterthanen auf 
lebenslänglich zum Zucht- oder Stodhaus zu verweilen 
und zu verdammen (29. Sanuar 1752). 

Die Copie des Urtheils wurde an Uphoff gejchiekt 
und ber Antrag auf Aufnahme des Salomon in bas 
faiferswertber Stockhaus geftellt. Der Hofrath präfentirte 
das Urtheil der kurkölniſchen Regierung, „va aber felbige 
in bemfelben eine offenbar gegen bie Rechte anlaufende 
Eontradiction erfannte‘, fo trug fie Bebenfen, pas Urtheil 
mit dem von dem eifrigen Hofrath bereitd entworfenen 
Schreiben an Se. kurfürſtl. Hoheit abgehen zu laffen, 
„damit man unnöthiger Dinge an fremden Sachen fich 
nicht pflichtig mache“, und erbat fich zunächſt die rationes 
decidendi. 

Diefe rationes werben bereitwillig geſchickt in ber 
Zuverficht, „daß dieſer Jud Salomon angetragenermaßen 
zum Stodhaus auf Kaiferswerth geführt werben möge, 
wobet um fo weniger Bedenken vorhanden, ba felbiger 
nach Inhalt der decisiones dazu verurtheilt und Die 
Sentenz dem Delinquenten bereitS publicirt jet”. 

Aber auch die rationes genügen noch nicht. ‘Der 
Hofrath zweifelt jehr, „daß man felbige für gut und 
in jure funbirt anfehen werde. Ich möchte an folchen 
Urtheil fein Theil haben“, will aber die Sache noch ein- 
mal vortragen. Und zehn Tage fpäter verlangt er ven 
völligen Inquifitionsproceß, „venn die kurkölniſche Regie— 
rung bat unanime nad Einficht des Urtheil® cum ra- 
‘ tionibus decidendi beichloffen, daß fothanes Urtheil in 





Ein Diebftabl beim Hanbelsmann Schüller. 93 


benen Rechten nicht beſtehen könne; deßhalb möge ber 
Reichsgraf den Inguifitionsproceß einem Bonner hoben 
Gerichtsichöffen zur Relation einſchicken, damit die unter» 
laufenen groben Fehler abgeändert und ber Inguifit in 
das Stockhaus gebracht werben könne“. 

Hierauf antwortet der Graf fofort, er werbe bie 
Acten nicht einjchiden, und es erfolgt zugleich ver Befehl 
an die Kanzlei, einem etwa an fie gerichteten birecten 
Erfuhen um Acteneinjendung nicht zu entjprechen. Mit 
dieſem Befehl Freuzt fich ein Schreiben der Kanzlei, von 
welcher direct die Einſendung gefordert war. Sie führt 
aus: „daß die kurkölniſche Hofraths-Regierung die völligen 
acta inquisitionis anzuſehen begehrt, um ein anderes 
Urtheil abfaſſen zu laſſen, iſt wohl ein befremdliches Zu⸗ 
muthen und muß dieſes vermuthlich aus einer politiſchen 
Urſach herrühren, da doch alle Umſtänd und Geſchichts⸗ 
erzählung in dem derſelben überſandten rationibus und 
dabei von dem Coblenziſchen Hofgericht oder deſſen Criminal⸗ 
Referendario weitwendig wiederholt worden.“ 

Die Kanzlei führt aus, daß in dergleichen Fällen die 
Criminaliſten geſpaltener Meinung ſeien, da einige den 
Inquiſiten, welcher die Tortur ausgeſtanden, praestita 
urpheda losſprechen und demittiren, andere aber ihn 
ab instantia, aber nicht definitive abſolviren wollen, 
bezieht fich für die letztere Anficht auf Carpzov und ftelli 
die Entfcheivung dem Grafen anbeim. 

Der Brief, mit welchem der Neichdgraf das an ihn 
und feine Kanzlei geftellte Anfinnen beantwortet, ift jehr 
harakteriftiich und laſſen wir ihn daher mit Hinweg- 
laffung des Eingangs folgen: „und diene barauf in 
Antwort, daß die begehrte Inspektion des Inquifitions- 
Verfolgs, um ein anderweites Urtheil daraus abzufaffen, 
deßwegen überflüffig, weil einestheild die Urtheil dem 


94 Ein Diebftahl beim Handelsmann Schüller. 


Delinguenten Schon publicirt ift, mithin dieſe nicht mehr 
geichärft werben kann. Anprentheild bewegen mich bie 
Umftänvde der Gefchicht, alle Vorfehrung zu thun, damit 
ein ſolcher Böſewicht außer Stande gefegt werbe, meinen 
und den benachbarten Unterthanen hinfüro Schaden zu 
thun; folglich möchte ich nicht gern eben, daß man nun⸗ 
mehro trachten möge, felbigen von allem Verdacht zu ab- 
folviren und er dadurch auf freien Fuß gejtellt wurde. 
Auch ift Das Coblenzer Dberhofgericht mit vergleichen 
wadern Leuten befanntermaßen beftellt, daß man fich ihrer 
Decifion ohne zu bejorgender Verantwortung confirmiren 
darf. Daß anfonften der Hofrath die Urtheil einzufehen 
verlangt, babe ich nicht unbilligen können, daß felbiger 
aber ferner die rationes decidendi auch begehrt, daraus 
blickte fchon eine fichere Geringfchägung meiner heim- 
gelafjenen Negierungsfanzlei. Auch würde die Communi- 
cation nicht erfolgt fein, wenn jelbige fich nicht damit 
übereilt hatte.” Es folgt die Aufforderung „bei folchen 
der Sachen Eigenheit ven Hof-Rath auf andere Gedanken 
zu bringen und den Bericht zu veranlaffen”. 

Uphoff antwortet: „Es ift ganz und gar nicht bie 
Trage, ob das Urtheil gefchärft werben foll, ſondern im 
GSegentheil wird dafür gehalten, daß folches allzu ſcharf 
jei, weil der Inquifit nach ausgeftandener Tortur a poena 
mortis abfolvirt und in eine andere dem Tod gleiche 
Strafe verdammt worden if. Sch laffe e8 bahin ge- 
jtellt, ob der Oberhof zu Coblenz mit wadern Leuten 
bejtellt ift und ob Ew. Hochgräfl. Excellenz fich deren 
Decifion ohne zu gefährender Verantwortung confirmiren 
bürfen. Man darf Niemand beſonders von auswärts 
in das Stodhaus ſetzen, e8 fei denn, daß man bei hiefiger 
Regierung erfennt, daß er durch Urtheil im Recht dazu 
eondemnirt worden fe. E. E. ermefjen demnach, daß 


Ein Diebftabl beim Handelsmann Schüller. 95 


man bei einem jo bunflen Urtheil voppelfältig billige Ur- 
fach gehabt habe, die rationes dec. anzujehen, da e8 möge 
das Urtheil geftaltet fein, wie e8 immer wolle, der In- 
quifit niemals in's Stodhaus aufgenommen werde. 

„Dan hat auch ven Gedanken nicht, daß biefer dem 
publico gefährliche Menſch auf freien Fuß geftellt werde, 
fondern um Hochderſelben eine gefällige Gewierigkeit "zu 
bezeigen, hat man das medium erjonnen, daß E. E. bie 
Alten anhero fchiden mögen, damit man hierburch in 
Stand geſetzt werde, ferner an Hand zu geben, wie bem 
Werk durch einen einzelnen Federzug, ohne eines Menſchen 
Gewiſſen zu Fränfen, abzubelfen jei, welches visis actis 
um jo eber gejchehen kann, als Hochberofelben als Landes⸗ 
berrn Das jus aggratiandi mithin auch die Urtheil certo 
respectu vermuthlich ratione laborum publicorum et 
quidem perpetuorum zu mindern je und allezeit frei 
fteht, wo e8 bei dem ewigen Gefängniß zır belaffen oder 
gleichwohl dieſe paffage fo glimpflih geändert werben 
fönnte, daß es gleichwohl über eins herausfommt, wozu 
ferner Nichts geforvert wird, als daß man fage: ber 
Inquiſit ſolle fo lange als Hochverofelben gefalle in dem 
Stodhaus aufbehalten werben.‘ 

Der Graf ging auf dieſes Anfinnen indeß nicht ein; 
er erfuchte Uphoff nochmals feinen Credit bei dem Kur- 
fürften geltend zu machen, gab aber in der Zwifchenzeit 
der Kanzlei jchon den Befehl, zur überlegen, ob fich zu 
Blankenheim außer dem Schloß auf geringe Koften ein 
Drt ausfindig machen laffe, wo der Delinquent ohne Ge- 
fahr des Entweichens hingeſetzt werde. 

Wie vorausgejehen bebauerte Uphoff, dem Herrn Grafen 
nicht, wie er geiwolit, gevient haben zu fünnen, ba der 
Statthalter bei feiner Anficht verbleibe. Und nun wurde 
nach Langen Schreibereien die Herrichtung eines Gefäng- 


96 Ein Diebftahbl beim Handelsmann Schüller. 


niffes für Salomon auf dem Schloffe zu Gerolftein an- 
geordnet und mit jcharffinniger Unterjchetvung beftimmt, 
daß die Mittel zur Inftandfegung des Gefängnifjes von 
ver Grafichaft Geroljtein, daß aber das Waſſer und Brot 
für den Delinguenten vom Schloßwachtmeifter herzugeben, 
die Bewachung durch deſſen Knecht zu erfolgen, ba ber 
Gerichtsbot fich Hierzu nicht emploiiren lafjfe, die Ab- 
gangskoften aber aus den Mitteln der Grafichaft Blanfen- 
heim bejtritten werben follten. 

Später iſt Salomon noch nach Burg Dettingen trans- 
portirt, „und dort am ten März 1755 als ein bart- 
nädiger Jud abgereift und Hat von feinem Geiftlichen 
und feiner Belehrung etwas wifjen wollen”, 

Einige charakterijtiiche Einzelheiten find aus dem Ver⸗ 
fahren noch hervorzuheben. Wir haben oben fchon bemerkt, 
daß die verhältnigmäßige Schnelligkeit des Verfahrens 
angenehm berührt. Dahin gehört auch die prompte Er- 
ledigung der Requifitionen. Der Diebftahl war in der 
Naht vom 23. auf den 24. Juni vorgenommen, und 
wenn auch neben dem officiellen Requifitionsichreiben an 
bie kurkölniſchen Behörden das Privatfchreiben an ven gräf- 
lichen Bertrauensmann in Bonn, den Hofrath von Uphoff, 
beichleunigend und ebnend eingewirtt haben mag, jo ift 
e8 doch viel, daß am 30. Juni ber fiegburger Stabt- 
ſchultheiß jchon ver Abhebung halber vorläufig befcheinigt, 
daß die Diebe ertappt und bereits mit vorjorglichen Ver- 
hör der Anfang gemacht if. Und am 3. Juli wurde 
bereits in Blankenheim mit der Inquifition begonnen. 

Unter ven Gerichtsfoften find diejenigen des Foblenzer 
Dberhofs bejonvers zu erwähnen. ‘Dort werden für Die 
erite Relation mit den Urtheildentwürfen etwa 48 Rthlr., 
an Porto der Acten von Roblenz nad) Blankenheim über 
3 Rthlr. und für die zweite Relation 12 Rtblr. berechnet. 





Ein Diebftahl beim Handelsmann Schüller. 97 


Dem Vertheidiger find 9 Rthlr. zugebilligt. Der fieg- 
burger Stabtichultheiß berechnet die Durch die dortige vor⸗ 
läufige Inquiſition entitandenen Koften auf 12 Rthlr., 
miteingejchloffen 3 Rthlr. für die von zwölf flegburger 
Schügen beforgte Bewahung der Feftgenommenen. Und 
um unnöthige Botengänge zu ſparen, zieht er diefen Be⸗ 
trag gleich von ber bei Joſeph Salomon vorgefundenen 
und bejchlagnahmten Baarjchaft ab, ein fehr kurzes, aber 
boch etwas eigenmächtiges Verfahren, da biejes Gelb dem 
Salomon gehört und mit dem Verbrechen in feinem Zu- 
ſammenhang ftand. 

Beim Durchlejen der Acten vergeffen wir ganz, daß 
ber Eriminalproceß ſich um bie Mitte des vorigen Jahr⸗ 
hunderts abfpielt, faum vierzig Sabre vor der Franzöftichen 
Revolution, im Jahrhundert der Aufklärung, als Tho- 
maſius in Halle ſchon eine humanere Auffaffung des 
Strafrechts zu verbreiten verſuchte. Daß bier in der 
Eifel noch die Folter herrſcht, kann nicht wundernehmen. 
Hatte Doch ber große König erſt elf Jahre früher bei feiner 
Thronbefteigung für Preußen die Tortur befeitigt. Hier 
ftehen wir noch ganz unter dem finftern Schreden ber 
Carolina. Und die Richter find noch ſchrecklicher als das 
Geſetz ſelbſt. Denn nach dem Geſetz, welches nur ven 
Seftändigen ftrafte und deshalb zur Folter griff, um ein 
Seftänbniß herporzubringen, mußte der Verbrecher, welcher 
alle Grade der Folter erduldet hatte, ohne ein Geftänd- 
niß abzulegen, freigefprochen werben. Hier aber halten 
fie ven Salomon feſt und verurtheilen ihn aus landes⸗ 
herrlicher Machtvollkommenheit zu lebenslänglichem Stod- 
haus, weil er den Unterthanen des Grafen von Mander⸗ 
Iheid gefährlich fei. Der arme Menſch, an Geift und 
Körper durch die Folter gebrochen, ſoll noch gefährlich 
fein. Und die kurkölniſchen Juristen wollen fchließlich 

XXIII. 7 . 


98 Ein Diebſtahl beim Handelsmann Schüller. 


daffelbe nur in anderer Form, wie aus den Briefen des 
Hofraths von Uphoff hervorgeht. Sie halten e8 nur 
für falſch, daß dieſe Strafe im Urtbeil ausgefprochen ei. 
Nach ihrer Anficht mußte das Urtheil die Freifprechung 
ohne Clauſel anordnen. Dann aber follte ver Graf als 
Landesherr wegen der Gemeingefährfichfeit des armfeligen 
Krüppels die Verweilung zum Stodhaus ausfprechen und 
die Thore von Katjerswerth würden fich für Salomon 
geöffnet haben. Im der Praris aljo dafjelbe: ein Hin- 
wegfegen über Necht und Geſetz aus Gründen ber Zwed- 
mäßigfeit und der abjolute Landesherr, der oberjte Richter, 
über dem Geſetz, wenn das leßtere die Verurtheilung bes 
Delinquenten nicht geſtattet. 


Der Proceß wider den Dr. med. Flocken wegen 
Vergiftung ans Sahrläffigkeit. 


(Straßburg im Elſaß.) 
1887 und 1888, 


Die deutſchen Gerichte Haben ſich in den letzten Sahren 
häufiger als bisher mit Fällen auf dem Gebiete ver fo- 
genannten „Arztlichen Kunftfehler” zu befchäftigen gehabt. 
Mag der Grund darin zu fuchen fein, daß ſolche Fehler 
bentzutage mehr an die Deffentlichfeit pringen, oder daß 
man ihnen abfihtlich, zum größern Echuge von Leben 
und Gejunpheit des Publikums, feitens der Behörde ener- 
giiher entgegentritt: bald hier, bald dort hört man von 
einem gegen Aerzte oder Apothefer eingeleiteten Strafver- 
fahren, welches in ven felteften Fällen mit Freifprechung 
endigt. 

Ein in jeder Beziehung hervorragender und in den 
weiteſten Kreiſen Aufſehen erregender Fall dieſer Gattung 
lag in dem verfloſſenen Jahre der Strafkammer des 
kaiſerlichen Landgerichts zu Straßburg im Elſaß zur 
Aburtheilung vor. Sowol die Zahl der Angeklagten, 
als deren verhältnißmäßig angeſehene Stellung in der 
ſtraßburger Geſellſchaft; nicht minder auch die beklagens⸗ 

7 * 


100 Der PBroceß wider den Dr. med. Floden. 


werthen Opfer der ärztlichen Fahrläffigfeit und die un⸗ 
würdige Art, wie man babei anfänglich den Thatbeſtand 
zu verbunfeln und die Behörde zu hintergehen beftrebt 
war; mehr noch die wifjenjchaftliche Bedeutung des Falles 
in mebicinifcher wie in juriftifcher Hinficht — alled ver- 
einigt fih, um eine eingehende Darftellung dieſes Pro⸗ 
ceſſes zu rechtfertigen. 

Die Hauptperfon in dem erjchütternden Drama, in 
welchem es fich um zwei Menfchenleben auf der einen, 
um Schädigung und nahezu Vernichtung von Anſehen 
und Stellung auf der andern Seite handelte, war ein 
junger Arzt, dem e8 weder an Kenntniſſen noch an ein- 
fiußreichen Beziehungen mangelte. Dr. Robert Floden, 
38 Jahre alt, gebürtig aus der Pfalz, aber jchon von 
früher Jugend an in Straßburg erzogen, hatte im Jahre 
1872 an ber bortigen Univerfität promovirt, war dann 
nach abgelegtem Staatseramen raſch in die Stellung 
eines Affiftenzarztes an der geburtshülflichen Klinik und 
jpäter in bie eines Cantonalarztes vorgerüdt und hatte 
es verjtanden, fich in ben weiteiten Kreifen befannt und 
beliebt zu machen. Seine Gattin war eine ziemlich be- 
güterte Elſäſſerin von nicht gewöhnlicher Schönheit und 
anerkannter Herzensgüte. Sie hatte ihren Mann mit 
einem reizenden Zöchterchen beſchenkt. Alles fchien da⸗ 
nah angethan, den renommirten Arzt und glüclichen 
Familienvater denjenigen Menfchen beizugefellen, veren Los 
ein beneidenswerthes genannt werben burfte. 

Am 31. October 1887 wurde Dr. Floden im Laufe 
des Vormittags dur einen Boten nach dem unweit 
Straßburg gelegenen Dorfe Eckbolsheim zu einem Pas 
tienten gerufen. ‘Der Schwanenwirth Mathis pajelbit 
hatte jeit einigen Tagen über Schmerzen in ben Füßen 
und im rechten Arm geflagt und fich kurz vorher zu 


Der Broceß wider ben Dr. med. Floden. 101 


Bett gelegt. Der Arzt, welcher das volle Vertrauen 
ver Familie genoß, erfchien gegen 1 Uhr nachmittags, 
betrachtete den Kranken flüchtig und verjchrieb dann zwei 
Necepte, von welchen das eine zum Äufßerlichen, bas 
andere zum innerlichen Gebrauch beftimmt war. Beim 
Weggehen empfahl er, die Necepte in ver Meifen- 
Apotheke zu Straßburg anfertigen zu laffen, „weil fie 
bort frifcher zu haben ſeien“. 

Das war bie erfte Ungehörigfeit. Es muß auffallen, 
baß der Arzt feinem Battenten eine beftimmte Apotheke 
vorfchlägt und fie vor andern bevorzugt. Es lag des⸗ 
balb nahe, an eine Art Compagniegefchäft zwijchen Arzt 
und Apothefer zu denken, eine vielleicht nicht ganz un⸗ 
gerechtfertigte umb wenigftens in ver ftraßburger Bes 
völferung für richtig erachtete Schlußfolgerung, bie auch 
von der Anflagebehörve Später in ergiebigfter Weiſe ver- 
werthet worden ift. 

Die Meifen- Apotheke in Straßburg wurde von dem 
Apothefer Jakob Greiner, einem wohlhabenden Straß» 
burger in den vierziger Jahren, geleitet und ftand als 
„Dofapothele” bei dem Publikum gleichfalls in bebeuten- 
dem Rufe. Leider huldigte ver Herr Hofapotheker allzu fehr 
dem Sagbfport, ber ihn öfter als nöthig feinen Berufs⸗ 
geichäften entzog. Im feiner Abwejenheit wurde bie Apo- 
tbefe von dem Gebülfen Alfred Wolff, dem Sohne 
eines Notar aus Dberbronn, und dem noch jugendlichen 
Lehrling Jakob Andres aus Weißenburg verwaltet. 
Beide befanden fich in ver Apothefe, als der alte Vater 
bes Wirthes Mathis die Flocken'ſchen Recepte überbrachte 
und zubereiten ließ. Er erhielt von ihnen zwei Blafchen 
Arznei, die er zugleich mit den Recepten feinem Sohne 
nah Eckbolsheim zurückbrachte. 

Nachdem der Vater des Kranken nach Eckbolsheim 


102 Der Proceß wider den Dr. med. Floden. 


zurüdgefehrt war, erhielt ver Wirth Mathis von feiner 
Mutter um 3'/, Uhr den erften Löffel der innerlich zu 
nehmenden Arznei; nach zwei Stunden ber Vorſchrift ge⸗ 
mäß den zweiten und um 74, Uhr den dritten Löffel. 
Sleih nach dem Genuß des zweiten Löffels klagte der 
Kranke, daß ihn bie Arznei zu fehr angreife. Bald dar⸗ 
auf ftellte fich Heftiges Erbrechen und Durchfall ein; 
nach dem dritten Löffel verftärkten fich dieſe Zufälle in 
außerorbentlichem Maße. Das Erbrechen und ber Durch⸗ 
fall wiederholten ſich Häufig die ganze Nacht hindurch. 
Die Ereremente waren wäfferig geronnen und bräunlich 
gefärbt. ‘Der Krane wurde dabei von einem heftigen 
Drennen im Halfe und von ftarlem Durfte geplagt, ven 
er vergebens zu ſtillen ſuchte. Da bie Schmerzen in ber 
Nacht nicht nachlafjen wollten, fo eilte fein Bruder gegen 
Morgen zu Dr. Flocken, dem er von dem Zuftanbe bes 
Kranken Kenntniß gab. Der Arzt verſah fih in ber 
Apotheke Haenle mit Opium-Extract, Aether und Jobs 
falium und fuhr zu dem Kranken, bei dem er gegen 
5 Uhr früh in fichtlicher Beſtürzung eintraf. 

Er ließ fih von deſſen Mutter das Arzneifläfchchen 
geben, Tragte die Etikette jo weit ab, daß das barauf 
Gefchriebene unleſerlich wurde, und leerte den Inhalt aus. 
Mit warmem Waſſer, welches ihm auf jein Verlangen 
geholt wurbe, fpülte er das Glas forgfältig, ſchüttete ein 
Bulver ein (Jodkali), welches er in Waſſer auflöfte, und 
ichrieb vor, daß dem Kranken dreiviertelſtündlich ein 
Eßlöffel davon gereicht werben ſollte. Zugleich verorb- 
nete er Fußbäder, ließ den Patienten Eis fchluden und 
in Eis gefühlte Milch trinken, das Erbrechen hörte ins 
folge deſſen auf, nicht aber der Durchfall. Diejer hielt 
den ganzen folgenden Tag und die Nacht über an. Der 
Arzt wurde nochmals gerufen. Als er am 2. November 


Der Broceß wider ben Dr. med. Floden. 103 


gegen 5 Uhr in der Frühe ankam fand er ven Kranken 
ber Auflöfung nahe. 

Er verordnete Senfbäder und verfchrieb ein neues 
Necept, welches in der Stabt angefertigt werben follte. 
Bor feinem Weggange verlangte er jedoch von ber Frau 
Mathis das erfte Recept zurück; als diefe, feinem Wunſche 
willfahrend, es aus einem Buche nahm und zur Erbe 
fallen Tieß, bob es Dr. Floden auf und ftedte es zu 
ih. Bon der Frau darauf aufmerffam gemacht, daß er 
das neue Necept im Krankenzimmer habe liegen laffen, 
antwortete er: das alte fei gerade fo gut. ‘Der Bruder 
bes Kranken begab fich mit dem Doctor nach der Stadt, 
um bie neue Arznei mitzubringen. Eine halbe Stunde 
jpäter etwa verſchied Michael Mathis. Im dem 
von dem behandelnden Arzte ausgeftellten Todtenſcheine 
wurde al8 Xobesurfache Endicarditis (Herzkrankheit) 
nach acıttem Gelentrheumatismus angegeben. 

Kurz vorher, ehe Dr. Floden am 31. October 1887 
zum erjten male zu Mathis gerufen wurde, erfchien das 
Dienftmäpchen des Wirths Herter aus dem „Luxhofe“ 
zu Straßburg bei ihm und meldete, daß ihr Dienftherr 
über Schmerzen in den Füßen Hage und feinen ärztlichen 
Beiſtand wünſche. Flocken hatte den Wirth Herter im 
Laufe jenes Monats bereitd an einer Teichten Halsentzün- 
dung behandelt und dagegen Brießnitz'ſche Umſchläge ver- 
ordnet. Ein kleines Geſchwür, welches ſich damals bil- 
dete, war von ſelbſt aufgegangen. Am 30. October 
fühlte Herter Gliederweh, blieb aber noch im Geſchäfte 
bis zum folgenden Tage und ſchickte, wie erwähnt, erſt 
am 31. October zum Arzte. Dr. Flocken erklärte dem 
Mädchen, er könne ſich vor Ende der Sprechſtunden nicht 
entfernen, übrigens wiſſe er wohl, was Herter fehle, er 
babe, wie ver „Münchner Kind'l“Wirth, Rheumatismus. 


104 Der Proceß wider ben Dr. med. Floden. 


Er verorbnete deshalb, wie bei Mathis, ein Del zum 
Einreiben und eine Arznei zum innerlichen Gebrauch, vie 
in der Apotheke des Greiner gleichzeitig mit dem für 
Mathis beftimmten. Necepte hergeftellt wurde. Herter 
weigerte fich jedoch, diefe Arznei zu nehmen, ohne ärzt- 
lich unterfucht worven zu fein. Erſt als Floden gegen 
6 Uhr erichienen war, ihm den Fuß verbunden und bie 
Anwendung der Arznei nochmals empfohlen hatte, nahm 
Herter, der kurz vorher noch mit Appetit gegeſſen 
hatte, gegen 8 Uhr ven erften und um 10 Ubr den 
zweiten Eßlöffel. Gleich darauf ftelite ſich Diarrhöe ein. 
Nach dem dritten Löffel, ven Frau Herter ihrem Manne 
reichte, gejellte fich heftiges Erbrechen dazu, welches fich 
und zwar unter ben heftigſten Anftrengungen häufig 
wiederholte. Der Kranfe Hagte über quälenvden Durit, 
Brennen im Halfe und Engbrüftigfeit. Sein Befinven 
wurde fo ſchlimm, daß man fich entfchloß, gegen 1 Uhr 
nachts zum Arzt zu ſchicken. Dr. Flocken erjchten und 
berubigte ven Kranken, welcher geneigt war, die Webel- 
feiten der Arznei zuzufchreiben, indem er ihm ver- 
fiherte, er habe das Mittel fchon ſehr häufig ver- 
ſchrieben. Uebrigens rieth er boch, die Mebicin wegzu- 
laffen, und veroronete eine andere, die er felbft in ber 
Greiner'ſchen Apothefe zubereiten ließ und dem ihn be- 
gleitenden Möpchen übergab. ALS auch nach dem Genuß 
biefer Arznei der Zuftand ſich immer mehr verfchlechterte, 
wurde gegen 4 Uhr morgens nochmals zu Dr. Flocken 
geſchickkt. Er war zu jener Zeit gerade in Eckbolsheim 
und hatte daſelbſt Gelegenheit, fich von der Wirkung ber 
gereichten Arznei zu überzeugen. 

Als er nach feiner Rückkehr von Eckbolsheim um 
51/, Uhr früh Herter befuchte, befand fich biefer in einem 
Zuftande, der das Schlimmſte befürchten Tief. 





Der Proceß wider den Dr. med. Floden. 105 


Dr. Flocken Teerte die Arznei in das Wafchgefchirr, be- 
feitigte bie Etikette, fehwenkte dann das Glas aus und’ 
Ihüttete zwei Pulver hinein, die er in Waffer auflöfte 
und dem Patienten reichte. Um 8 Uhr früh erjchien er 
wieder, verordnete zur Stillung des Durſtes Mineral 
wafler, worauf zwar das Erbrechen, nicht aber ber Durch» 
fall nachließ. Nach einem fernern Beſuche zog Dr. Flocken 
auf Wunjch der Familie Herter ven Brofefjor Wieger 
zu, dem er mittheilte, er babe zwei Gramm Colchicum⸗ 
Zinetur mit fünf Gramm falichlfaurem Natron ver- 
Ihrieben, Herter babe jedoch nur wenig genommen. Ob⸗ 
wol Profeffor Wieger ven Durchfall der Colchicum⸗Tinc⸗ 
tur zufchrieb, glaubte er doch, beim Mangel anderweiter 
Anhaltepunkte und da Flocken ihm erflärte, Eiweiß im Urin 
gefunden zu haben, ven Krankheitszuftand auf eine Nie- 
ren⸗ bezw. Serzbeutelentzündung zurüdführen zu müflen. 

Am andern Tage war ber Kranke jehr theilnahmlos; 
ber Puls ſchlug jehr ſchwach; die Extremitäten waren 
kühl und boten leichte Anzeichen von Cyanoſe (Blaue 
ſucht). Zur Hebung der legtern wurde Sauerſtoff⸗In⸗ 
halation verordnet. Es fanden an diefem und dem nädhft- 
folgenden Zage noch häufige Beſuche der behandelnden 
Aerzte ftatt, ohne daß die angewandten Mittel Hülfe 
braten. Der Zuftand des Kranken wurde immer 
ſchwächer, bis enblih am Donnerstag den 3. Novem- 
ber ver Tod eintrat. 

In Uebereinftimmung mit dem Ausfpruche des Pro- 
felfor Wieger gab Dr. Flocden auf den von ihm ausge⸗ 
telften Todtenſcheine als Todesurſuche an: Herzlähmung 
(Settherz) nach Ennteritis, Darmentzündung mit acuter 
Rierenentzündung, und Herzbeutelentzündung. Auf eine 
Anfrage der Stuttgarter NRentenanftalt, bei ber 
Herter für den Todesfall verfichert war, ob nicht 





106 Der Proceß wider den Dr. med. Flocken. 


Selbftvergiftung vorliege und ob eine Section vor- 
genommen fei, antwortete Dr. Sloden, daß ein folcher 
Verdacht völlig ausgejchlofjen ſei, auch eine Veranlaffung 
zur Vornahme einer Section um fo weniger borgelegen 
habe, als in den legten Wochen in Straßburg außerge- 
wöhnlich häufige Fälle von acuter Gaſtro⸗Enteritis vor- 
gefommen feten und Herter überbies an biphtherifcher 
Halsentzändung mit nachfolgenden heftigen rheumatifchen 
Schmerzen gelitten habe. 

Alle diefe Angaben des Arztes waren, wie fih nach⸗ 
träglich herausitellte, einjchließlich der Information des 
confultirten Profeffor Wieger bezüglich der angeblich 
verorbnieten Colchieum-Zinctur, bewußt unwahr. Es 
kann überhaupt nur Indignation und Befremden erregen, 
wenn man, wie bier und fpäter bei den verantwortlichen 
Dernehmungen, überall das Beftreben durchſchimmern 
fteht, von vornherein ven begangenen und auch zur vollen 
Erfenntniß gelangten Fehler zu bemänteln und zu bejchönt- 
gen. Anjtatt, wie e8 einem wifjenfchaftlich gebildeten und 
harakterfeften Manne geziemt hätte, die Verantwortlichkeit 
für die folgenfchweren Unfälle voll zu übernehmen und, ſo⸗ 
lange e8 noch Zeit war, das Menjchenmögliche zur Ver- 
hütung des Aeußerften zu thun, verfchanzte Dr. Flocken 
fih Hinter dem Deckmantel der Gleichgültigfeit und Lüge, 
welche den, wir wiederholen e8, an fich verzeihlichen Irr- 
thum in den Augen jedes Urtheilsfähigen und felbjt Des 
unpartetifchften Richters nur verſchlimmern Tonnte. 

So weit war die Sache gebiehen, als die ftraßburger 
Staatsanwaltichaft von den Vorfällen Kenntniß erhielt, 
und zwar zumächit von dem eckbolsheimer plötlichen To— 
desfall. Die Leitung der Angelegenheit fand fih in den 
Händen eines energifchen Stantsanwalts, der erſt fürz- 
lich nah Straßburg verjegt worden war und fich bereits 


Der Broceß wiber ben Dr. mod. Flocken. 107 


in den um dieſe Zeit ober kurz vorher abgewidelten el- 
ſäſſiſchen Landesverraths⸗Proceſſen jehr tüchtig und 
bienfteifrig eriviefen hatte. Es kann deshalb nicht wun- 
vernehmen, daß das eljäfftiche Publikum in biefer emfig 
betriebenen Unterfuchung mit ihren zahlreichen Verhören 
und plöglichen Verhaftungen anfangs für bie in ange- 
ſehener Lebensftellung befindlichen Beſchuldigten vielfach 
Partei ergriff. Gab es doch nicht wenige, bie den Zall 
auf das politifche und Iocalpatriotiiche Gebiet hinüber» 
zufpielen und ben Doctor und Apothefer mitfammt ben 
Gehülfen als die Opfer blinder Verfolgungsfucht barzu- 
jtellen verfuchten. 

Später wendete fich allerdings das Blatt, als man 
vernahm, daß die Angeklagten das Mögliche gethan hatten, 
um ihre Schuld zu vertufchen und den Thatbeſtand zu 
verbunfeln, und als es bald darauf dem Staatsanwalt 
im Verein mit dem Unterfuchungsrichter gelang, ven an- 
fänglich bartnädig Leugnenden ein umfaſſendes Geftänd- 
niß abzuringen, hörten bie Sympathien des größern Pu⸗ 
blikums für die Angefchulvigten gänzlich auf. 

Am 3. November kam der Fall Mathis zur Anzeige, 
ver Staatsanwalt ließ den Dr. Floden vor fich fommen 
und unterzog ihn einem eingehenden Verhör, aus welchem 
er erft abends gegen 8 Uhr entlaffen wurde. Vom Juſtiz⸗ 
gebäude in der Blauwolkengaſſe begab er ſich fofert in 
die unfern gelegene Meifen-Apothefe, verabrebete Dort mit 
Greiner ven Plan, wie fie fich der drohenden ftrafgericht- 
lichen Verfolgung entziehen und den Erfolg der Unter- 
ſuchung vereiteln wollten, ein Plan, deſſen Ausführung 
für den fonft wahrfcheinlich unbehelligt gebliebenen Apo- 
thefer verhängnißvoll werben follte. 

Der Apotheker Greiner ſchickte feinen Lehrling Andres 
ſchleunigft in die dem Juſtizgebäude gegenüberbefind- 


108 Der Broceß wider den Dr. med. Floden. 


liche Wallenfels'ſche Papierhandlung mit dem Auftrage, 
bort ein neues Neceptirbuch zu kaufen; daſſelbe wurde 
bem am 29. October im Gebrauch befindlichen Receptir⸗ 
buche, in dem die beiden Floden’schen Recepte eingetragen 
waren, untergefchoben. Am Morgen des 4. November 
brachte Greiner zwei Recepte zum Vorſchein, die von 
Dr. Flocken gefchrieben waren und von denen Das eine 
auf Mathis, das andere auf Herter lautete. Im dem 
erjtern Recepte war Digitalis mit Rhabarber, in dem 
leßtern zwei Gramm Tinctura colchici in einer Löſung 
von 150 Gramm verjchrieben. Greiner beauftragte ven 
Apothefergehülfen Alfred Wolff, die bereit$ ſeit bem 
29. October gemachten Einträge in das neue bei Wallen- 
fels angelaufte Neceptirbuch einzufchreiben, dabei jeboch 
bie zwei Recepte für Mathis und Herter nicht wahr- 
heitsgetreu nach ihrem urjprünglichen Inhalte, fondern 
entfprechend ven beiden von ihm erſt am 4. November 
vorgelegten Necepten einzuzeichnen. Der Eintrag erfolgte 
unter den Nummern 34205 und;34206. Die aus dem al- 
ten Receptirbuche herausgeriffenen Blätter, ſowie die Kladde 
und das DOriginalrecept von Herter, welches in der Apo- 
thefe zurücigeblieben war, wurben vernichtet. Das Ori- 
ginalrecept für Mathis hatte fi Dr. Flocken bei feinem 
legten Beſuch in Edbolsheim, wie oben mitgetheilt, an⸗ 
geeignet und ebenfall® befeitigt. 

Greiner und Floden ermahnten den Gehülfen Wolff 
und den Lehrling Andres, über die Sache das tiefite 
Stillſchweigen zu beobachten. Als die Staatsanwaltichaft 
am Morgen des 4. November das Receptirbuch in der 
Apothefe abholen ließ, händigte Greiner dem Eriminal- 
commiffar das neuangefertigte, bei Wallenfels angelaufte 
Neceptirbuch ein. In dem Verhöre, welchem Wolff und 
Fabres jobann Durch den Griminalcommifjar unterworfen 





Der Proceß wiber ben Dr. med. Floden. 109 


wurden, erklärten beide: das auf Mathis bezügliche Recept 
Nr. 34205 entipreche genau der Vorfchrift des Dr. Flocken; 
bie Digitalis-Infufion habe Andres zubereitet, nachdem 
ihm Wolff die beftimmte Quantität Fingerhutblätter ver- 
abfolgt habe. 

Am 5. November 1887 wurbe der Apothefer Greiner 
von der Staatsamwaltichaft vernommen. Auch er be- 
hauptete, das Neceptirbuch ſei nicht etwa nach Einleitung 
des Strafverfahrens neu hergeitellt, fondern am 29. Dec- 
tober begonnen und feitdem imunterbrochen fortgeführt 
worben. Am 3. November abends 10 Uhr fei Dr. Floden 
in die Apothele gelommen und babe erzählt, daß er foeben 
wegen bes dem Mathis verorpneten Receptes verbört wor⸗ 
ben fei. Da Dr. Flocken fich des Inhaltes feines Neceptes 
nicht mehr genau erinnerte, hätten fie beide gemeinfchaftlich 
das Neceptirbuch aufgefchlagen und unter Nr. 34205 
basjenige Recept vorgefunden, welches heute noch darin 
eingetragen ſei. Als Andres am 5. November nachmittags 
4 Uhr auf dem Bureau der Staatsanwaltichaft erjchien, 
um zwei ältere Receptirbücher Greiner’8 abzuholen, wurbe 
er von dem Staatsanwalt über die vor dem Poltzeicom- 
miffer Spak gemachten Angaben befragt. Er beharrte 
dabei, daß das Neceptirbuch ſchon fett dem 29. October 
in Gebrauch geweſen ſei, daß das Necept 34205 genau 
ver Vorſchrift des Dr. Floden entipreche und daß Wolff 
die Arznei und er die Fingerhutblätterinfufion hergeſtellt 
babe. 

Am 5. November abends ermittelte bie Polizeibe- 
hörde, daß Andres an Abend des 3. November bei dem 
Papierhändler Wallenfeld ein Negifter und Wolff am 
4. November ein zweites Regifter gelauft Habe. Das 
dritte und einzige bei Wallenfel8 noch vorhandene Re— 
gifter ftimmte mit dem Neceptirbuche bis in die Kleinften 


110 Der Proceß wider den Dr. med. Flocken. 


Einzelheiten überein. Dennoch verficherten Wolff und An- 
bres, Die noch an bemjelben Abende einem neuen Ver- 
höre unterzogen wurben, daß ihre früher gemachten An- 
gaben wahr ſeien. Erft nach anderthalbſtündiger Ver⸗ 
handlung bequemten fie fich zu dem Geftänbniffe, daß 
das Receptirbuch am Abend des 3. November bei Wallen- 
fels angefauft und dag Wolff am Morgen des 4. November 
auf Anorbnung des Apothekers Greiner bie Einträge in 
das Buch bewirkt habe. Sie fügten indes hinzu: das 
Necept 34205 habe in dem frühern Neceptirbuche ebenfo 
gelautet und ſei wortgetreu in das neue Buch, übertragen 
worben. Andres befannte: fein Principal Greiner habe 
ihm verboten von dem Anfaufe der Regifter der Polizei- 
behörde oder der Staatsanwaltichaft etwas mitzutheilen. 
Der fofort vernommene Apothefer Greiner jtellte bie 
Ausfagen feines Gehülfen und Lehrlinge in Abrede und 
blieb bei feinen frühern Angaben ftehen. Insbeſondere 
erklärte er; „Ich weiß nichts davon, das am Abend bes 
3. November ein neues Regiſter angefauft und daß am 
Morgen des 4. November pas alte Regifter durch Das neue 
erjegt worden ift. Wenn Wolff und Andres dies ge⸗ 
than haben, jo tft e8 ihrerjeitS aus eigenem Antriebe und 
ohne mein Wiſſen geſchehen.“ 

Das Syſtem der Täufchung, welches Dr. Flocken und 
Apotheker Greiner erfonnen hatten, um die Behörben irre- 
zuführen, half ihnen wenig. &8 brach zujfammen, als 
ber zweite Herter’iche Fall ruchbar wurde und zur Ver⸗ 
baftung der Angejchulpigten führte. 

Die Witwe Herter hatte durch die Tagesblätter von 
ber eingeleiteten Unterſuchung Kenntniß erhalten, fie ver- 
glih den Tod ihres Mannes mit dem bes Gaftwirths 
Mathis in Eckbolsheim und fchöpfte nun Verdacht, daß 
bie faliche Behandlung des Dr. Floden auch das Unglück 


Der Proceß wider ben Dr. med. Floden. 111 


in ihrem Hauſe verurſacht Habe. Sie forberte in der 
Greiner’schen Apothefe das verbängnißvolle Recept. Man 
bänbigte ihr nicht das richtige, wie wir wiffen be- 
reits vernichtete Recept ein, fondern das mit Nr. 34206 
bezeichnete, aber untergefchobene Recept. Sie übergab 
baffelbe zu ven Unterfuchungsacten. Das Gericht orbnete 
die Ausgrabung und die Section ver beiven Leichen an; 
indes’ Tieß fich die Todesurſache nicht beftimmt fejtftellen. 
Der Dr. Floden, der Apotheker Greiner, fein Gehülfe 
und fein Lehrling, die in ftrenger Einzelbaft gehalten 
wurden, weil man GCollufionen befürchtete und auch ber 
Verdacht der Flucht nicht ausgefchloffen war, ließen 
fih auch jetst nicht herbei zu einem offenen Geftänpniß. 
Sie behaupteten nach wie vor, die Necepte Nr. 34205 
und 34206 feien von Dr. Floden fo verjchrieben und in 
ber Greiner’schen Apothefe jo hergeftellt, wie fie in dem 
Receptirbuch eingezeichnet waren. 

Endlich entjchloß ſich der Apothefergehülfe Wolff, 
wahrjcheinlich auf Zureben feiner ihn im Gefängnifje be- 
ſuchenden Anverwandten, der Wahrheit die Ehre zu geben 
und ein offenes Belenntniß abzulegen. Die drei andern An- 
gejchulpigten gingen nach und nach ebenfalls mit der Sprache 
heraus und räumten, freilich nur mit verſchiedenen Modifi⸗ 
cationen, ein, was fie begangen hatten. Am 9. December 
wurden fie aus ber wider fie am 26. November 1887 
verhängten Unterfuhungshaft gegen hohe Kautionen im 
Betrag von 10000, 20000 und 40000 Mark entlafien. 

Das für alle entfcheivende Geſtändniß des Dr. Floden 
gipfelte in der von ihm zugegebenen Thatfache, Daß er 
in beiden Fällen aus Verſehen Extractum colchici 
ftatt Tincetura colchici und zwar zwei Gramm in 
einer Löfung von 150 Gramm verfchrieben habe. Er 
glaubte daſſelbe jedoch dahin abjehwächern zu müſſen, 


112 Der Proceß wider ven Dr. med. Floden. 


daß er nicht einfach Extractum colchici, fondern Extrac- 
tum colchici aethereum verorpnet habe, eine Zufam- 
menjeßung, die nach den jpäter noch genauer zu berich- 
tenden Öutachten der Sachverjtändigen nicht vorkommt. 
In dem Geftänpniß des Apothefers Greiner war noch 
von einem britten Falle die Rede, den Dr. Floden 
jedoch bis zum Schluß auf das entſchiedenſte in Abrebe 
"geftellt hat, und der deshalb auch heute noch nicht auf- 
geklärt ift. 

Greiner hatte in Bezug hierauf Folgendes angegeben: 

„Dr. Sloden fam an dem Tage, an welchem er Ex- 
tractum colchici für Herter und Mathis verjchrieben 
hatte, abends gegen 10 Uhr in meine Apothefe und 
theilte mir mit: Es ſei ihm bei Herter eine Arzneiflafche 
aufgefallen, die eine Etikette mit ſchwarzem Untergrund 
getragen habe, Er erzählte dann weiter, er habe heute 
breimal Extractum colchici verjchrieben für Herter, 
für Wirth Mathis in Edbolsheim und für einen Drit- 
ten.: Daß das Necept Mathis bei Greiner gemacht wor- 
ven fei, wiſſe er. | 

„Ich fragte ihn, wie er dazu komme, Extractum zu 
verſchreiben; er antwortete: «Ich weiß nicht. Sie willen, 
gewöhnlich habe ich Tinctura verfchrieben; wie ich dazu 
kam, Extractum zu verfchreiben, weiß ich ſelbſt nicht.» 
Davon, baß er Extractum colchici aethereum ver- 
ichrieben, hat er nichts gejagt. Wer die dritte Berfon 
war, für die Dr. Floden am jelben Tage Extractum 
colchici verjchrieben hat, weiß ich nicht. 

„As Dr. Tloden davon ſprach, daß er Extractum 
colchici verorbneet hätte, habe ich ihn fofort darauf auf- 
merfjam gemacht, daß eine folche Dofis mir ſehr ftarf 
zu fein jcheine. Darauf erwiberte Floden: «Ab bah!» 
Dr. Flocken bat nach feiner Meinung überhaupt feinen 





Der Proceß wider den Dr. med. Floden. 113 


rechten Begriff davon gehabt, welchen Giftgehalt 2 Gramm 
&rtractum haben. Er ift etwa um 9, Uhr abends 
zu mir gefommen und hätte durch fofortige Benach— 
rihtigung der Patienten ein weiteres Einnehmen 
der Arznei verhüten fönnen.” 

Diefe Ausfage wurde im weſentlichen beſtätigt durch 
den Apothefer Schmidt, der fich folgendermaßen äußerte: 

„Am Montag den 31. October war ich mit dem Apo- 
tbefer Greiner den Mittag über auf der Jagd und 
babe danach mit ihm zu Abend gegeffen. Wir gingen, 
als wir von der Jagd zurücdkehrten, durch die Apothefe 
in den zweiten Stod, der von Greiner bewohnt wird 
Wir hielten uns in der Apothefe nicht auf. Greiner 
bat fich nicht erkundigt, was etwa vorgekommen fein 
möchte; auch hat fich Greiner weder nach den Necepten 
noch nach dem Receptirbuch umgefehen. 

„Etwas vor 10 Uhr etwa fam Dr. Tloden zu uns 
und trank bis gegen 11 Uhr Bier mit un; ge- 
iprächsweife bemerkte er dabei, e8 jet ihm heute etwas 
«Förichtes) (Komiſches) paffirt, er habe nämlich brei- 
mal 2 Gramm Extractum colchici verjchrieben, anftatt 
Tinetura. Er meinte ein Apothefer werbe doch fo gefcheit 
fein und Zinetura ftatt Extract nehmen. Ich erwiderte 
ihm darauf, das dürfe ein Apotheker nicht, er müffe 
vielmehr bei ihm anfragen, wenn er das Necept bean- 
ſtande. Ich fügte noch Hinzu: dieſe Recepte würden wol 
jo von ven Apothefern, wie er fie verjchrieben habe, 
auch gemacht worden jein, weil Colchicumertract außer- 
ordentlich felten verjchrieben werde. Mein Gedanke dabei 
war, daß den Apothefern, gerade weil das Mittel jelten 
oder gar nicht verfchrieben wird, die Schäplichkeit veijel- 
ben wenig befannt iſt; doch habe ich dieſen Gedanken 
nicht ausgefprochen. 

XXIM. | 8 


114 Der Brocef wider den Dr. med. Floden. 


„Greiner fragte nun den Dr. Floden, ob eins ber 
Recepte in feiner Apothefe gemacht worden jei; Dr. Flocken 
antwortete: «Ja, das für Mathis, das für Herter ift 
wahrjcheinlich bei Munde gemacht, denn e8 befand fich eine 
ichwarzgeränderte Etifette auf dem Glafe.» Greiner ent- 
gegnete: «Auch ich führe jolche ſchwarzgeränderte Etifetten», 
und frug weiter, ob das Medicament jchänlich jet? 
Dr. Floden beruhigte ihn mit ven Worten: «Ah bah, ich 
gehe heute Abend noch in den Luxhof.)» Gegen 
11 Uhr entfernte fih Dr. Floden, und ich folgte ihm bald 
darauf. Als Floden. an jenem Abend fam, waren bie 
beiden Brüder von Greiner anweſend, viefelben gingen aber 
ſchnell weg und haben das vorerzählte Geſpräch zwiſchen 
Flocken und Greiner nicht angehört. Davon, wo das dritte 
Recept angefertigt worden und für wen es Flocken ver- 
ſchrieben hat, ift weiter nicht gefprochen worden.“ 

Auf Vorhalt diefer Ausſagen erklärte Dr. Floden: 

„Ich habe am 31. October nur zweimal Colchicum⸗ 
extract verjchrieben, nämlich für Mathis und Herter. 
Wenn Greiner und der Zeuge Schmidt behaupten, ich hätte 
ihnen gejagt, daß ich an jenem Tage brei verſchiedenen Per- 
jonen Colchieumertract verjchrieben habe, fo irren fie fich. 
Ich bin an dem fraglichen Tage um 10 Uhr des Abends, 
e8 kann auch fchon etwas fpäter gewefen fein, in die Apothefe 
bon Greiner gefommen, bie gerade gejchloffen werben ſollte. 
Sch hielt mich eine kurze Zeit unten in ver Apothefe auf, wo 
ich ein Recept und wie ich meine, auch noch einen Brief ge- 
ichrieben habe. Als ich auf mein Befragen erfuhr, daß 
Greiner mit noch einigen andern Herren eben beim Nacht- 
eſſen ſei, ſah ich, wie ich das öfter that, noch in dem 
Neceptirbuch nach; dabei bemerkte ich, daß in ben beiden 
mehrerwähnten Recepten ftatt Colchicintinctur, Col- 
hicinertract verichrieben war. 





Der Proceß wider den Dr. med. Floden. 115 


„Ich fragte die anweſenden Gehülfen Wolff und 
Andres, was fie denn gegeben hätten; fie erwiberten, 
fie hätten Ertract gegeben, und das Mittel im fünften 
Stod geholt. Nunmehr ging ich zu Greiner hinauf, um 
mit ihm deshalb Rüdiprache zu nehmen. ch traf feine 
beiden Brüder und ben Apotheker Schmidt. ALS Die 
erftern weggegangen waren, erzählte ich von ber DVer- 
wechjelung, die mir heute paffirt war, und fragte Greiner, 
was er von Colchicinextract halte und wie ſtark das 
Mittel ſei; Greiner erwiderte darauf, er habe verjchiedene 
alte Ertracte; die Ertracte feien zehnmal ftärfer 
als Zinceturen. Die Patienten fonnten, da die Medicin 
erſt am Nachmittag gemacht worden war, am 31. Octo⸗ 
ber nicht mehr viel genommen haben, wie ich glaubte, 
nicht mehr, als die Marimalvofis beträgt. Ich beruhigte 
mich für den Augenblid und zwar um jo mehr, als mir 
Greiner verficherte, e8 machte nichts, die Leute wür— 
den nur ordentlich abgeführt werden, eine Ver- 
ficherung, die er ſpäter und bis die Leute ftarben wiederholt 
hat. Ich ging nach Haufe und las noch über das bon 
mir veroronete Medicament. Ich fand, daß die Sace 
boch gefährlich werben könnte, und überlegte, was zu 
thun fei; da ging die Schelle und ich wurde zu Herter 
gerufen. Es war in der Nacht 12—1 Uhr. Ich hielt 
mich bet Herter fehr lange auf; e8 kann 1'/, bis 2 Stun 
ben gewefen fein. As ich nach Haufe zurückkam und 
nach Eckbolsheim fahren wollte, fam ein Bote, der mich 
borthin holen ſollte.“ 

Wir haben die vorftehenden Ausfagen, wie fie in der 
öffentlichen Verhandlung wiederholt wurden, ausführlich 
wiebergegeben, weil fie den Standpunkt der beiden Ange— 
ichuldigten zu der Anklage und zueinander Tennzeichnen, 
aber auch beweifen, wie leichtfertig dev Arzt und ver Apothe- 

8% 


116 Der Proceß wider den Dr. med. Flocken. 


fer über die ihnen anvertrauten Menfchenleben gejcherzt 
haben und wie fahrläffig der Dr. Floden namentlich 
gehandelt hat. Die Ausſage des Apothefers Schmibt follte 
für Dr. Floden äußerft verhängnißvoll werben. Als vie 
Acten bereits gefchloffen waren und Dr. Flocken fih auf 
Grund der geleiteten Caution Längft wieder auf freiem Fuße 
befand und feine Praxis wieder aufgenommen hatte, befchloß 
bie Straffammer des Landgerichts unterm 10. April 1888 
auf Antrag der Staatsanwaltichaft die Wiederverhaftung 
des genannten Arztes. Die Vertheidigung wendete hier- 
gegen bei dem Dberlandesgericht zu Colmar das Rechts- 
mittel der Beſchwerde ein, aber auch die zweite Inftanz 
billigte die angeorpnete Maßregel. 
Bald darauf, am 24. April 1888, wurde vom Land- 
gericht der nachſtehende Verweiſungsbeſchluß eröffnet: 
„Auf Antrag der kaiſerl. Staatsanwaltichaft wird gegen 
1) Dr. Robert Floden, Cantonalarzt, 
2) Alfred Wolff, Apothefergehülfe, 
3) Jakob Greiner, Apothefenbefiger, 
4) Jakob Andres, Apotheferlehrling, 
ſämmtlich zu Straßburg, 
welche hinreichend verdächtig erfcheinen: 
adi. Am 31. October 1887 durch zwei felbftändige 
Handlungen 
a. zu Edboldheim den Tod des Wirthes Meichael 
Mathis, | 
b. zu Straßburg ven Tod des Wirthes Ludwig 
Herter durch Fahrläffigfeit verurfacht zu haben, 
indem er die Aufmerkjamfeit, zu welcher er ver- 
möge feines Berufes befonders verpflichtet war, 
aus den Augen fekte. 
ad 2. Am 31. October 1887 zu Straßburg durch ziwei 
jelbftändige Handlungen ben Tod 


Der Proceß wider den Dr. med. $loden. 117 


. des Wirths Michael Mathis in Eckbolsheim, 
. des Wirths Ludwig Herter in Straßburg durch 
Vahrläffigkeit verurfacht zu haben, indem er die Auf- 
merklſamkeit, zu welcher er vermöge feines Berufes 
beſonders verpflichtet war, aus ben Augen fette. 
ad 3. Im November 1887 zu Straßburg durch eine und 
dieſelbe Handlung 

a. dem praktiſchen Arzte Dr. Flocken und dem Apo⸗ 
thekergehülfen Alfred Wolff nach Begehung bes 
Vergehens der fahrläffigen Tödtung des Michael 
Mathis und des Ludwig Herter wiſſentlich Bei⸗ 
ſtand geleiftet zu haben, um fie der Beftrafung 
zu entziehen, und zwar, joweit die Begünftigung 
in Bezug auf die fahrläffige Tödtung des Michael 
Mathis in Frage fteht, gemeinfchaftlich mit dem 
Apotheferlehrling Jakob Andres, 

b. den Apotheferlehrling Jakob Andres durch Mis- 
brauch feines Anſehens, Aufforderung und andere 
Mittel vorfäglich beftimmt zu Haben, dem praf- 
tifchen Arzte Dr. Flocken und dem Apothefergehül- 
fen Alfred Wolff nach Begehung des Vergehens 
der fahrläffigen Tödtung des Michael Mathis Bei⸗ 
Itand zu leiften, um bie Thäter der Beſtrafung 
zu entziehen. 

ad 4. Im November 1887 zu Straßburg gemeinfchaft- 
ih mit Jakob Greiner dem praftifchen Arzte 
Dr. Flocken und dem Apothefergehülfen Alfred 
Wolff nach Begehung ver fahrläffigen Tödtung des 
Michael Mathis wifjentlich Beiſtand geleiftet zu 
haben, um fie der Beftrafung zu entziehen. 
Vergehen gegen 88. 222, 257, 47, 48, 73 und 
14 St. G. B. Das Hauptverfahren vor der Straffam- 
mer des kaiſerlichen Landgerichts hierſelbſt eröffnet. 


u) 


118 Der Broceß wider den Dr. med. Floden. 


„Die Unterfuchungshaft gegen Dr. Flocken Hat fortzu- 
dauern. Hinfichtlih ver Unterſuchungshaft gegen bie 
Angefchulpigten Alfred Wolff, Jakob Greiner und Jakob 
Andres hat e8 bei den getroffenen Maßregeln zu vers 
bleiben.” — — 

Den Vorſitz bei der Hauptverhanblung, welche am 
11. und 12. Mai 1888 in dem Schwurgerichtsfaal des 
Straßburger Landgerichts ftattfand, führte der Landge⸗ 
richt8pirector Krieger. Die Anklage vertrat der 
Staatsanwalt Stapler, als Vertheibiger waren bie 
Rechtsanwälte Schneegans, von Schottenftein, 
Dr. Betri und Dr. Reinhard erfchienen, alle befannt 
al8 angejehene Mitgliever des ftraßburger Barreau. Die 
gewöhnlich den Gefchworenen eingeräumten Pläge wurden 
von einer ftattlichen Anzahl einheimifcher und auswärtiger 
Tachgelehrten und Profefjoren eingenommen, bie fämmt- 
ih als Sachverftändige geladen waren. ALS Vertreter 
ver Allgemeinen Nenten-Anjtalt zu Stuttgart und der 
Witwe Herter wohnte ver Rechtsanwalt Dr. Mumm ven 
Sigungen bei. Außerdem war eine anfehnliche, vornehmlich 
aus Fachkreifen und Juriſten zufammengefeßte, Zuhörer: 
haft in dem verhältnißmäßig Heinen Saale verfammelt. 

Unter ven zahlreichen Zeugen, bie fich in dem Raume 
zwifchen ber Vertheidiger- und Sachverftändigen» Bant 
aufgeftellt hatten, zogen die Witwen und die andern 
nächiten Angehörigen des Wirthes Mathis und des Wir- 
thes Herter fowie die tiefbefümmerte Frau des Dr. Floden 
die Aufmerkſamkeit des Publitums in bejonderm Maße 
auf fih. Ihre und die übrigen Zeugenausfagen find 
damals von ben Tagesblättern mit großer Ausführlichkeit 
wiedergegeben worden. Für eine actenmäßige wiffenfchaft- 
liche Darftellung des Proceſſes haben fie feine Bedeutung. 
Da wir das thatjächliche Material bereits mitgetheilt 





Der Broceß wider den Dr. med. Floden. 119 


haben, können wir das Zeugenverhör übergehen. ‘Dage- 
gen miüffen wir und mit den Gutachten der Sachver⸗ 
ftändigen eingehend bejchäftigen. Dieſe Gutachten haben 
auf das Urtheil nicht den entfcheivenden Einfluß aus⸗ 
geübt, den man urjprünglich ihnen beizumefjen geneigt 
war. Insbeſondere bat die den ftraßburger Gelehrten 
diametral entgegengejegte Meinung des göttinger Pro- 
fejfors Dr. Hufemann ven Gerichtshof nicht einen Augen- 
blick zu Gunſten der Angeklagten zu ftimmen vermocht. 
Aber durch die verfchtedenen Beleuchtungen von fachwifjen- 
ichaftlicher Seite wurden die mediciniſch-pharmaceutiſch 
intereffanten Fragen in ein helles Licht gefekt. Be⸗ 
merkenswerth find zunächit die bereit® in der Vorunter⸗ 
ſuchung durch den Privatbocenten Dr. von Schröber 
veranlaßten Verfuche an Thieren, behufs Feſtſtellung ver 
Einwirkung des Colchicingiftes auf den thieriichen und 
menfchlichen Organismus, Diefer Gelehrte hatte zu dem 
Ende einer Anzahl Katzen die auf ihre Wirkung zu 
prüfenden Gifte unter die Haut gejprigt und babei ges 
funden, daß fehon einige Centigramm Coldhicumertract 
genügten, um ein töbliches Ende herbeizuführen. Im 
allen Fällen wurden die Ertracte behufs Injection in 
etwas Waſſer nach Hinzufügung einiger Tropfen Alkohol 
aufgelöft und nad Abkühlung auf Körpertemperatur 
den Thieren eingejprikt. 

Als Vergleichdertracte benutste er zwei Präparate, von 
benen er das erjte aus der Storchen-Apothefe des Herrn 
Reeb bezogen hatte, währenn das andere Präparat in der 
Apotheke des Bürgerjpitals eigens angefertigt worben war. 
Mas die Art der Wirkung bes Greiner’schen Coldhicin- 
extracts anlangt, jo war tiefelbe genau übereinftimmend 
mit derjenigen, welche nach der Einſpritzung von Colchicin 
oder Colchicumpräparaten an Katzen beobachtet wurde. 


120 Der Broceß wider ben Dr. med. Floden. 


Nach Injection des Giftes zeigten die Thiere in den erften 
3—5 Stunden feinerlei auffallende Symptome. Durch 
größere Dofen Tonnte ein rafcher Eintritt der Vergiftung 
eriheinungen nicht bewirkt werben, d. h. ber Beginn der 
Vergiftungserfcheinungen war unabhängig von der Größe _ 
ber Dofis. Dies ift eine jehr bemerfenswerthe Eigenjchaft 
des Colchicins und der Colchicumpräparate, bie nur jehr 
wenigen Giften zukommt. 

Nach Ablauf der angegebenen Zeit trat Erbrechen und 
Durchfall ein, gleichgültig ob das Gift in den Magen 
oder unter die Haut eingeführt worden war. Gleichzeitig 
mit dieſen Magen- und Darmerſcheinungen wurde eine 
erhebliche Stumpfheit, ein Herabgehen der Senſibilität 
an den Thieren beobachtet. Die Magen- und Darm— 
ſymptome hielten in der Regel nicht bis zum Tode an, 
ſondern ließen nach einigen Stunden nach, ſodaß in vielen 
Fällen eine bemerkbare Beſſerung im Verhalten des Thieres 
eingetreten zu ſein ſchien. Bald aber ſtellten ſich die— 
jenigen Wirkungen des Giftes ein, welche einen tödlichen 
Ausgang herbeiführten. Es waren dies die centralen 
Lähmungserſcheinungen. Die Lähmung ergreift zuerſt 
die hintern Theile des Rückenmarkes und ſchreitet dann 
langſam vorwärts. Ungeſchicklichkeit bei der Direction 
der Extremitäten macht ſich geltend, das Thier muß 
längere Zeit genöthigt werden, bis es ſich zu einem Gang 
entſchließft. Die erſte Abweichung von den normalen 
Bewegungen beiteht darin, daß die Hinterbeine beim 
Stehen fteif und auseinandergefpreizt werden. Bald 
ſchwindet auch die Herrichaft über die Vorverbeine. Dann 
wird die Refpiration langjamer. Auf der Seite Tiegend, 
immer langjamer athmend, geht das Thier meift ohne 
weitere frampfhafte Ericheinungen durch Lähmung der 
Reipiration zu Grunde. 





Der Proceß wider ben Dr. med. Floden. 121 


Wir können die weitern Einzelheiten diefer interefjan- 
ten Verſuche fowie auch das in der Sitzung verlefene Gut- 
achten des abwejenden Sachverftänbigen nicht ausführlicher 
Ihilvern und begnügen und mit der fich unmittelbar dar⸗ 
aus ergebenden Löfung der geftellten Frage: ‚Welche 
Wirkung wird das bei Greiner befchlagnahmte Ertract 
nah den Berfuchen an Thieren auf ben menfchlichen 
Organismus vorausfichtlih ausüben, wenn e8 in ber 
von Dr. Flocken verordneten Verbünnung von 2 Gramm 
zu 150 Gramm angewendet und wenn babei, wie im 
Fall Mathis und Herter nur drei Eßlöffel in Zwiſchen⸗ 
räumen von je zwei Stunden genommen werden?‘ 

Diefe Frage wurbe kurz gefaßt dahin beantwortet: 
„Drei Eßlöffel entiprechen 60 Gramm Tinctura col- 
chic. Es hätte alfo der Kranke innerhalb vier Stunden 
60 Gramm Tinctura colchiei erhalten, während bie 
Marimaldofe pro Tag nach ver Pharmacopoea Ger- 
manica edit. altera 6 Gramm beträgt. Letztere wäre 
alfo um das Zehnfache überfchritten worvden. “Daß hier- 
durch der Kranke unter den Erjcheinungen einer Coldi- 
cumvergiftung zu Grunde gehen mußte, war mit Sicher- 
beit zu erwarten.” Auf verwandtem Gebiete bewegten 
fih die dem Profefjor Dr. D. Schmi edeberg vorgeleg- 
ten ragen, von denen die erjte lautete: 

„In welchem Verhältniß in Bezug auf Giftgehalt 
fteht zur Tinctura colchici das Extractum colchiei und 
wieviel beträgt bei legtern die Marimalvofis: a) als 
Cinzelgabe, b) als Tagesgabe?“ 

In Beantwortung diefer Trage gab der als Autorität 
in biefem Fache allgemein anerfannte Gelehrte Folgendes an: 

„Unter Tinctura colchici ift der alkoholiſche Aus- 
zug ber Zeitlofenfamen (Semen colchici) zu verjtehen, ver 
nach der Deutſchen Pharmafopde aus einem Theil Samen 





122 Der Broceß wider den Dr. med. Floden. 


und zehn Theilen Alkohol bereitet wird, während 3. B. 
bie Sranzöfiiche Pharmafopde (Codex medicamentarius) 
auf einen Theil Samen nur fünf Theile Alkohol vor- 
ſchreibt, ſodaß alfo dieſe Tinctur doppelt fo ſtark ift als 
jene. Ein Extractum colchici fennt die Deutfche 
Pharmakopöe nicht. Verſchiedene derartige Präparate 
finden fi) in den Pharmafopden anderer Länder. Für 
den vorliegenden Zwed ift aber nur das Ertract der 
Tranzöfiichen Pharmakopöe (Extractum colchici seminis 
alcoholicum) zu berüdfichtigen. Daſſelbe bejteht aus 
ven gleichzeitig in Alkohol und Waffer Löslichen Beſtand⸗ 
theilen der Samen, während die Tinctur auch noch bie 
in Waſſer unlöslichen Antheile (3. B. Harz und Fett) 
enthält. Nach den neuern Unterfuchungen muß angenom- 
men werben, daß in dem Zeitlofenfamen mehrere wirt- 
ſame Beſtandtheile (zwei Erhftalifierte Colchicine, Amor» 
phes Colchicin, Colchickin) enthalten find. 

„Von den praktiſchen Aerzten der verſchiedenen Länder 
wird für die Anwendung bei den Kranken, insbeſondere 
bei ſolchen, die an Gicht und Rheumatismus leiden, unter 
allen Colchicinpräparaten der Auszug der Samen mit 
Wein (Vinum Colchici seminis) bevorzugt. Bei der 
Anwendung eines ſolchen Weines, der an Stärke unſerer 
Tinctur entſprach, hat man mit Verſuchen an geſunden 
Menſchen nach 3—7 Gramm, die in verſchiedenen Gaben 
während mehrerer Stunden verabreicht waren, mehr ober 
weniger ſtarkes Erbrechen und Durchfälle, aljo bereits 
ausgeiprochene DVergiftungserfcheinungen eintreten eben. 
Erbrechen und Durchfälle fuchten früher manche Praftifer 
bei Kranken abfichtlich Hervorzurufen, weil fie glaubten, 
daß der heilfame Erfolg nur in dieſem Falle eintritt, ein 
Ölaube, der ſich wol noch bier und da erhalten haben 
mag.” 





Der Proceß wider den Dr. med. Floden. 123 


Bezüglich der von Dr. Floden gebrauchten Ausrede, 
daß er zwar verjehentlich Extractum colchici, aber mit 
dem Zuſatz aethereum verfchrieben habe, ließ fich ber 
Sachverftändige dahin ans: „Ein ſolches Präparat wird 
nirgendwo bergeftellt und tft nicht gebräuchlid. Indes 
bleibt e8 dem Arzte unbenommen, jolche Präparate zu 
verordnen und eigens anfertigen zu laffen. Allein ein 
beſonderer Zwed Täßt fi dabei nicht abjehen. Man 
kann als folchen nicht geltend machen, daß die Atherifche 
Zinetur und das ätherifche Extract geringere Mengen 
giftiger Beftandtheile enthalten und deshalb milder wir- 
fen und weniger ſchädlich find; denn um biefen Zwed 
zu erreichen, genügt e8, von den gebräuchlichen Präparaten 
geringere Mengen zu verordnen. Wenn ein Arzt folche 
ungewöhnliche Aubereitungsformen dennoch anwenden 
will, etwa um fie zu erproben, fo muß er wenigitens 
genau die Bereitungsweife angeben. Es darf nicht als 
felbftverftändlich vorausgefegt werden, daß ber Apotheker 
zur Herftellung der ätherifchen Zinctur die Samen und 
nicht die Zwiebel (Bulbus) ver Zeitlofe und von ben 
erftern wiederum 1 Theil auf 10 Theile Aether an- 
wenden wird. Falls das Necept einfach Tinctura col- 
chici aetherea verlangt, fo kann ver Apothefer ebenfo gut 
bie Zwiebel ftatt der Samen benuten, wenn er fie ge- 
rabe vorräthig hat, oder auf 1 Theil der letztern nicht 
10, fondern nur 5 Theile Aether wählen. Jedenfalls 
ioflte e8 dem Apotheker nicht überlaffen bleiben, ein der⸗ 
artig ftarf wirfendes Mittel nach eigenem Ermeſſen hin- 
fichtlich der Mengenverhältniffe zu bereiten.” 

Cine weitere Trage lautete: 

„Denn im Falle Mathis 2 Gramm Extractum col- 
chici in einer Löſung von 150 Gramm verjchrieben 
waren und Mathis hiervon am 31. October drei Eßlöffel 


124 Der Proceß wider ben Dr. med. Floden. 


voll genoß und zwar nachmittägs 31, Uhr ven erften, 
5, Uhr den zweiten, 7'/, Uhr den dritten, war bieje 
Dofis geeignet, den Tod des Mathis herbeizuführen?“ 

Hierauf gab der Sachverftändige folgende Antwort, 
bie fich zum Theil mit den Ergebniffen ver Dr. Schrö- 
der'ſchen Unterfuchungen kreuzt: 

„Man nimmt bei der Doſirung von flüſſigen Arzneien 
allgemein an, daß ein gewöhnlicher Eßlöffel 15 Gramm 
einer. wäfjerigen Flüffigkeit faßt. Mathis hat demnach 
von der ihm verjichriebenen Mebicin 45 Gramm genom— 
men, in weldem zujammen O, Gramm Extractum 
colchiei und zwar von dem nad der Vorfchrift des 
franzöfifchen Cover aus Samen bereiteten Präparat 
enthälten waren. Ob dieſe Gabe geeignet tft, den Tod 
eines erwachjenen Fräftigen Menfchen herbeizuführen, kann 
nur auf Grund der bisher vorgekommenen Colchicum⸗ 
vergiftungen entſchieden werben, da e8 eine andere, auch 
nur annähernd fichere Grundlage für dieſe Beurtheilung 
nicht gibt. Nah Berfuhen an Thieren kann man 
nur im allgemeinen entjcheiven, ob eine Subſtanz gar 
nicht, wenig, ober ſtark giftig ift. Ueber die Merige, 
welche gerabe geeignet ift, ven Tod eines Menjchen ber- 
beizuführen, geben Thierverſuche feinen fichern Aufſchluß. 
Bon den 50—60 mir befannt gewordenen theils tödlich 
verlaufenen, theils mit Genejung endenden Vergiftungs⸗ 
fällen mit Colchicum find etwa 20, darunter eine Maffen- 
vergiftung, nachweislich durch Colchieumjamen oder Deren 
Präparat bedingt worden. Bei den übrigen handelt es 
fich faft ausschließlich um die Zwiebel (Bulbus colchicıt). 

„ie bereits angegeben, hat Mathis innerhalb vier 
‚Stunden zufammen O,« Gramm Ertract genommen. Wie 
bei Beantwortung der erften Trage bereitd auseinander- 
geſetzt ift, find zur Gewinnung dieſer Ertractmengen nicht 








Der Proceß wider den Dr. med. Floden. 195 


weniger als 5 und nicht mehr als 7,; Gramm Coldi- 
cumjamen erforverlich geweſen, eine Menge, welche ven 
obigen Herftellungen zufolge wenigjtens für einzelne Fälle 
als eine tödliche bezeichnet werden mußte. Auf Grund 
ber vorftehenden Ausführungen muß die gejtellte Frage 
demnach dahin beantwortet werben, daß eine Gabe von 
0,; Gramm des hier in Rede ftehenden Ertract8 ber 
Colchieumſamen, auf einmal oder wie in dem Yall 
Mathis, in drei Gaben binnen vier Stunden innerlich ge- 
nommen, bei einem erwachjenen Menſchen unter allen 
Umftänden eine fchwere Vergiftung herbeiführen wird, 
und daß dieſe Gabe auch geeignet ift, unter den obwal- 
tenden Umſtänden den Tod zu verurfachen, daß e8 aber 
auch Fälle geben Fünnte, in denen eine Vergiftung nach 
biefer Gabe mit Genefung endet.” 

Bezüglich des Falles Herter erklärte der Sachver- 
jtändige, daß, da in diefem Falle der Thatbeftand in Be⸗ 
zug auf das Colhicumpräparat, die Größe der Gabe, 
die Art des Einnehmens der lektern ber gleiche ift wie 
in vem Falle Mathis, und da auch die Individualität 
bes Herter nichts bietet, was auf die Beurtbeilung ver 
Gabe des Giftes von Einfluß fein könnte, die Wirkung 
biefelbe fein mußte wie im Falle Mathis. — 

Es würde über den Rahmen unſerer Darftellung 
hinausgehen, wollten wir die weitern Ausführungen dieſes 
gründlichen Gutachtens auch nur im Auszuge wieber- 
geben. Ebenſo müffen wir uns bezüglich des Gutachtens 
bes Gerichtsarztes Dr. von Mering, welcher die Sec- 
tion der beiden Leichen und die chemifche Unterfuchung 
ber einzelnen Theile berfelben vorgenommen hatte, auf 
die Feſtſtellung bejchränfen, daß weder Gelenfrheumatis- 
mus bei der einen, noch Herzlähmung bei der andern 
fich anatomifch nachweifen ließen. Die bei der Obbuction 


126 Der Proceß wider den Dr. med. Floden. 


feitgeftellte mäßige Tettauflagerung bes Herzens ift auf 
den Tod des Mathis, wie auch des Herter ohne wefent- 
lichen Einfluß gewefen. Die Trage nach der Tobesurfache 
fonnte daher von biejem Gelehrten dem anatomischen 
Befund gemäß nicht erklärt werden. Hervorzuheben 
dürfte noch fein, daß Dr. Floden bei ber Section ber 
Herter’fchen Leiche Darauf beftand, daß die Eingeweide auf 
Gift unterfuht würden, da der kranke Herter ihm ges 
jagt hätte, er babe einen bummen Streich gemacht und 
wiefleicht zu feinem frühzeitigen Tode jelbft beigetragen. 
Bei der chemifchen Unterfuchung nah Colchicum war 
das Rejultat in beiden Fällen ein negatives, da im 
Magen und Darm fi eine Spur bes Giftes nicht 
vorfand. 

Außer dieſen bereits in der Vorunterſuchung beige— 
zogenen Sachverſtändigen wurde in der Hauptverhantd⸗ 
lung noch vernommen der Vorſitzende der pharmaceuti⸗ 
ſchen Prüfungscommiſſion und Director des pharmaceu⸗ 
tiſchen Inſtituts zu Straßburg, Profeſſor Dr. Flückiger, 
welcher beſtätigte, daß die Deutſche Pharmafopde nur die 
Colchicum⸗Tinctur kenne, und darauf hinwies, daß 
der Arzt gehalten ſei, bei außergewöhnlichen, beſonders 
gifthaltigen Recepten ein Ausführungszeichen (!) hinter 
die Verordnung zu ſetzen. Der Apotheker ſoll ſich in 
ſolchen Fällen ſtets mit dem Arzt ins Benehmen ſetzen. 

Dies beſtätigte auch der von der Vertheidigung als 
Sachverſtändiger geladene Apotheker Pfersdorf, welcher 
erklärte, er ſelbſt würde die vorliegenden Recepte nicht 
gemacht haben, ſelbſt ohne Ausrufungszeichen. Da indeß 
eine Maximaldoſis nicht vorgeſchrieben ſei, jo fünne man 
bies dem Apothefer kaum verargen, zumal er felbft ftär- 
fer wirkende Gifte in größern Doſen, 3. B. 1,15 Digitalis, 
verjchreiben durfte. Insbeſondere habe fih der Gehülfe 


Der Proceß wider den Dr. med. Floden. 197 


bei dem zweiten Recept, welches ganz gleichlautend 
mit dem erften in bie Apotheke fam, berubigt finden 
fönnen. 

Bei Erörterung der Frage, inwieweit ber Apothe- 
fergebülfe Wolff mangels hierüber im Reichslande be- 
ſtehender gefetlicher Vorſchriften überhaupt als Bertreter 
des Apothekers anzufeben fei, hatte ſchon Profeſſor 
Dr. Flüdiger über die hierzulanve beftehende „Wirth- 
ſchaft“ geklagt, eine Klage, der ſich auch der Regierungs⸗ 
ratb Dr. Krieger anfchloß, indem er betonte, daß vie 
fragliche Gefetgebung im Uebergangsftabium fich befinde. 
Bezüglich der Pflicht des Arztes in jolchen Fällen, wo 
er die Wirkung der Präparate jelbft nicht kennt, ſchloß 
fih indeß diefer Sachverftändige der Auffafjung des 
Profeſſor Schmiedeberg an. 

Am günftigiten für den Angeklagten Wolff fprach 
fih der Apothefer Dr. Amthor aus, welcher früher als 
Chemiker an der Unterfuchungsitation für Nahrungsmittel 
in Straßburg angeftellt war. Er hob hervor, daß man 
von einem Apothefergehülfen, ver noch feine eigentliche 
wiffenjchaftliche Bildung auf der liniverfität genoffen 
babe, ein ſicheres Urtheil über die Wirkungen ver ver- 
ſchiedenen Gifte, insbefondere des Colchicum, von dem 
ſelbſt Profeffor Schmieveberg zugeitanden habe, daß er 
nur wenig davon wiſſe, faum erwarten fünne Der 
Apotheker babe auch die Verpflichtung, raſch zu arbeiten, 
und könne nicht bei jedem Mecepte zum Arzte Taufen, 
„ſonſt würde die ganze Heilkunde lahm gelegt werben“. 
Es erübrigt noch, kurz auf bie Anficht des göttinger 
Profefford Dr. Hufemann zurüdzufommen. 

Der greife Gelehrte erflärte, nach gewiſſenhafter 
Prüfung der Frage über die Todesurfache in den beiden 
Bergiftungsfällen fei er zur Ueberzeugung gefommen, daß 


128 Der Proceß wiber ben Dr. med. Floden. 


bie von Dr. Floden veroronete Doſis zu gering war, 
um ben Tod durch Colchteinvergiftung herbeizuführen. 

Es könne zwar feinem Zweifel unterliegen, daß fein 
beuticher Pharmafologe over Kliniker diefe Gabe als eine 
nachahmenswerthe empfehlen werde; nichtsbeftoweniger 
fünne man aber nicht jagen, daß biefelbe eine unwifjen- 
ichaftliche fe; noch viel weniger würde fie als eine folche 
zu bezeichnen fein, beren Tödlichkeit bezw. Schäplichkeit 
ein wiffenfchaftlich gebilveter Arzt bei entjprechenper Auf- 
merkſamkeit erkennen müffe. 

Unter einem wiſſenſchaftlich gebildeten Arzt verſtehe 
man einen ſolchen, der nach abſolvirten mediciniſchen 
Studien, nach den im Laufe derſelben beſtandenen Ten⸗ 
tamen und Ablegung der vorſchriftsmäßigen Staats⸗ 
prüfung, ſeine Approbation erhalten habe. Man dürfe 
bei aller Achtung vor der wiſſenſchaftlichen Bildung der 
deutſchen Aerzte doch gerade in Bezug auf ihre Kennt- 
niffe der Arzneimittel und ihrer Verhältniffe nicht über- 
triebene Forderungen ftellen. Es fei notoriih, daß das 
Wiffen des eben approbirten Arztes in biefem Fach durch⸗ 
jchnittlich weit geringer fei als in allen übrigen Zweigen 
ber Heilkunde. 

Eine Urtheilsfähigfeit über pharmakologiſche ragen 
bringe ver approbirte Arzt in feine neue Wirkſamkeit in 
ber Regel nicht mit; vollitändig orientirt jet er höch- 
jtens über Mittel, die ev in der Klinik habe anwenden 
jehen. Dagegen könne er die in der Pharmacopoea, 
Greermanica enthaltene ſog. Marimaldoſentabelle aus- 
wendig, d. h. er wiffe, daß er in bejtimmten Fällen nach 
bem Recepte ein Ausrufungszeichen machen müſſe, und er 
wiſſe die Menge auswendig, welche für jedes in ber 
Tabelle enthaltene Mittel ihn zu dieſen Ausrufungszeichen 
nöthige. Dieſe leßtere Kenntniß bleibe Übrigens nur für 


Der Proceß wider den Dr. med. Floden. 1929 


einige Zeit. Da fich nichts fo Leicht vergeffe, wie 
Zahlen, jo habe der junge Therapeut fchon nach einigen 
Jahren dieſelben vergefien, und der Arzt führe deshalb 
einen ärztlichen Kalender, ver eine ſolche Zabelle ent- 
halte, oder ein Necepttafchenbuch bei ſich, aus dem er 
fih Rathes holen könne. Er fchlage e8 in allen Fällen 
auf, in benen er über die Gabe nicht orientirt fei. 
Handele es fih um einen Stoff, um eine Zubereitung, 
bie in jeinem gewöhnlichen Hülfsmittel nicht ftehe, jo 
jehbe er in einem größern Werke nach, aljo entweder in 
einem Werke über Arzneimittellehre, oder vermuthlich in 
einem folchen über Arzneiverorpnungslehre. Das hätte 
im vorliegenden Falle gejchehen müffen, denn von Extrac- 
tum colchici nähmen die Maximalkalender feine Notiz 
und die Marimalvofentabelle der PBharmalopde laſſe 
höchſtens inpirect eine Beftimmung durch eine 
Schlußfolgerung zu. Ein eraminirter ober wifjen- 
ichaftlich gebilveter Arzt brauche aber noch keineswegs 
durch diefe Schlußfolgerung die Ueberzeugung zu gewinnen, 
daß er bei Verordnung von 2,0 Gramm Colchieumertract 
Geſundheit und Leben feines Patienten gefährbe. 

In feinen weitern Ausführungen gab ſodann ver 
Sachverſtändige eine Ueberficht über die in den verjchie- 
denen Ländern des Continents fowie in Großbritannien 
und den Vereinigten Staaten von Amerila gebräuchlichen 
Arten der Colchicumrecepte und ihre verjchiebenen 
Doſen und kam zu dem Schluffe, daß dem Arzte bie 
Kenntniß der Differenz der Stärke der einzelnen Ertracte, 
bie jelbft der Pharmalologe nicht auswendig wifje, nicht 
zugemuthet werben könne; mit andern Worten, daß ein 
wifjenjchaftlich gebildeter Arzt, beim Verordnen einer 
Tagesgabe von 2 Gramm Extractum colchici nicht im 
voraus erfennen und auch bei entiprechender Aufmerf- 

XXII. I 


130 Der Proceß wider den Dr. med. Floden. 


ſamkeit nicht zu der Anficht gelangen müfje, daß biefe 
Gabe für die Geſundheit und das Leben geführlich ſei. 

Diefe Behauptung des göttinger Profefjord war die 
Zielfcheibe der fchärfften und fchonungslofeiten Angriffe 
des Vertreters der Staatsanwaltichaft. Bevor jedoch 
ber Vorſitzende ihm das Wort ertheilte, redete er dem 
Angeklagten Dr. Floden nochmals eindringlich ins Ge- 
wiffen, um den dritten Vergiftungsfall womöglich noch in 
legter Stunde aufzuflären. Es gab dies Veranlaſſung 
zu folgender bemerfungswerther Unterhaltung zwiſchen 
dem Präfidenten und dem Hauptangeklagten. 

Präfivent. Herr Dr. Floden! Che wir weiter 
geben, möchte ich nochmals eine eindringliche Frage an 
Sie richten. Sie haben gehört von Schmidt und Greiner, 
daß Sie bei ihm an jenem Abend aus eigenem Antrieb 
davon geiprochen hätten, „va fei Ihnen etwas Förichtes 
pajfirt, Ste hätten fich dreimal verjchrieben u. |. w.“. 
Ih frage Sie: wo ift der dritte Fall? Wo ift er? 
Sagen Sie e8! 

Angeflagter. Das ift fo wenig wahr wie das an- 
dere, daß ber Ertract zehnmal ftärfer ift. 

Präfident. Ich frage Sie: wo ift der dritte Fall? 

Angeflagter. Ich habe mich nur zweimal ver- 
ichrieben. 

Präfident. Ermittelt ift der Fall nicht. Ich Habe 
gedacht, Sie könnten vielleicht das Bedürfniß haben, Ihr 
Gewiſſen zu erleichtern, indem Sie uns fagen, wo ber 
dritte Fall tft. 

Angeflagter. Ich verjichere, e8 find nur die beiven 
Tälle. 

Präſident. Dann frage ih Sie nochmals, was ich 
ſchon geftern wifjen wollte: wann find Sie über Ihren 
Irrth um Har geworben? 


Der Broceß wider den Dr. med. Flocken. 131 


Angellagter. Ich Habe mein Recept gefehen in ver 
Kladde um 10 Uhr. Ich war ja um 5 oder 6 Uhr bei 
Herter. Hätte ich’8 gewußt, wär's Doch ganz einfach ge- 
weien, die Mebicin wegzunehmen. 

Präfident. Aber Wolff und Andres, die auch nicht 
das geringjte Intereffe daran haben, viefe Frage fo oder 
jo zu beantworten, beftreiten diefe Möglichkeit. 

Angellagter. Ich fage ja nicht, daß bie beiden zu- 
gejehen haben, als ich ins Buch fchaute. Sie waren be- 
ſchäftigt. 

Präſident. Anftatt dieſes Blickes in die Kladde, 
Herr Dr. Flocken, war's der „dritte Fall“, der Sie zur 
Erkenntniß gebracht hat? — der ruhig blieb? — der 
entweder glücklich verlaufen iſt? — oder ſchon mit Erde zu- 
gedeckt iſt? 

Angeklagter. Wenn ein dritter Fall beſtände und 
er wäre glücklich verlaufen, dann hätte ich ihn doch citirt, 
um zu zeigen, daß die Giftwirkung gering war — und 
wenn anders, dann wäre es doch herausgekommen. 

Präſident. Warum ſind Sie nicht ſpornſtreichs zu 
Herter geeilt, um zu retten? Warum? 

Angeklagter. Ich dachte, er habe höchſtens zwei 
bis drei Löffel voll genommen; das Extract iſt nicht um 
ſo viel ſtärker wie die Tinctur, ich habe Zeit gehabt mich 
zu Hauſe zu informiren. 

Präſident. Nun denn ja — ich babe meine Schul: 
bigfeit gethan. 

Die Beweiserhebung ift gejchlofjen. 

Hierauf nahm zunächſt der öffentliche Ankläger das 
Wort und verbreitete fich nach einer rhetorifch meijter- 
haften Einleitung über die Hauptfragen: „1) Was ift that- 
jächlich erwiefen? 2) Was ergeben die Sachverjtändigen- 
Gutachten? 3) Welche Schlüffe find hieraus zu folgern?“ 

9* 


132 Der Proceß wider den Dr. med. Flocken. 


Bei Prüfung der Frage nach der Todesurſache Fri- 
tifirte Redner einerſeits das Verfahren des Dr. Tloden 
bei Ausftellung der Todtenſcheine, andererjeitS aber auch 
die Widerſprüche in den Gutachten der Sachverftändigen, 
infonderheit befämpfte er die Anfichten des BProfefjor 
Huſemann. „Ich bin weit entfernt”, ruft Redner aus, 
„Profeſſor Hufemann irgendwie anzugreifen und feinen 
wifjenjchaftlichen Ruf oder feine perfönliche Ehrenhaftig- 
feit irgendwie in Frage zu ftellen; aber ich muß doch 
betonen, daß nicht der unparteiifche Richter ihn hierher 
gerufen und inftruirt bat, fondern der Angeklagte, der in 
ber ganzen Welt berumgefchrieben haben mag, bis er end⸗ 
lich einen Sacdhverftändigen fand, der geneigt war, feine 
Sade zu übernehmen. Jedenfalls befteht aljo ein gro- 
Ber Unterfchied in der Objectivität von vornherein, Pro- 
feffor Hufemann wäre nicht genommen worden, wenn er 
fich nicht bereit erklärt hätte, die Sache im Sinne des - 
Angeklagten zu vertreten.‘ 

Die Bertheidiger Schneegand und Freiherr Schott von 
Schottenſtein legen lebhaften Widerſpruch ein gegen dieſe 
Kritik, die überhaupt nicht ſehr beifällig aufgenommen und 
auch ſpäter lebhaft im Kreiſe der Fachgenoſſen commentirt 
wurde. In der That ſollte man juriſtiſch und thatſäch— 
lich keinen ſolchen Unterſchied machen. Es kommt nichts 
darauf an, von wem die Zeugen oder Sachverſtändigen 
zur Hauptverhandlung geladen worden ſind, ob von der 
Vertheidigung oder von der Anklage. Nach geleiſtetem 
Eide ſind ſie an ſich gleichwerthig, wie vor dem Geſetz, 
ſo auch vor den Organen des Geſetzes. Leider wird 
gegen dieſen Fundamentalſatz der Gerechtigkeit noch viel- 
fach bewußt oder unbewußt gejünbigt. 

„Dem fehlichten, klaren Vortrage Schmiebeberg’8 ge- 
genüber”, fährt ver Staatsanwalt fort, „kann ver Sprüh⸗ 





Der Procef wider den Dr. med. Floden. 133 


regen glänzender Citate, welche Huſemann vorgebracht 
bat, nicht in Betracht kommen. Huſemann, ver bie 
Frage der Vorausſehbarkeit nicht zweifellos bejaht, ift 
entgegenzuhalten, daß hierdurch geradezu ein privilegium 
odiosum für bie Profefjoren der Pharmakologie gefchaffen 
wird. Denn fie find dann die einzigen, die noch wegen 
Colchicumvergiftung beftraft werben köͤnnen. — Die Be- 
gründung der Anklage gegen Wolff gibt mir zumächit 
Beranlaffung, über einen Vorfall bei der Beweiserhebung 
zu fprechen. Profeſſor Flückiger ſprach davon, daß in 
unfern pharmaceutifchen Verhältniffen eine «Wirthichaft» 
beftehe. Ich würde darauf nicht zurückkommen, wenn 
biefe Worte aus einem weniger berufenen Munde ge- 
fommen wären. So aber ift Profeffor Flüdiger vie 
erfte Größe der Welt auf dem Gebiet der pharmaceı- 
tiichen Chemie und außerdem elfaß-lothringiicher Landes⸗ 
beamter, Borfigender ber pharmaceutiihen Prüfungs- 
commiffion und Director des pharmacentiichen Inftituts. 
Ih bin völlig überzeugt, daß die Aeußerung in gutem 
Slauben erfolgt ift; er hat feinem Unmuth darüber Aus- 
druck gegeben, daß bie thatjächlichen Verhältniſſe nicht 
alle fo find, wie fie feinen wifjenjchaftlichen Idealen ent- 
iprechen; aber e8 könnte doch dieſes Wort aus folchem 
Munde eine Misveutung erfahren, und ich erachte e8 als 
bie Pflicht des Vertreters der Staatsbehörde, zu jagen, 
daß die hiefige Mebdicinalverwaltung, wenn auch noch 
nicht alles fo ift, wie es fein follte, doch wollauf ihre 
Pflicht getban Hat. Sie hat Feine glüdlichen Zuſtände 
borgefunden, ber größte Theil der Gejege ftammt noch 
and der Zeit der Franzöfiichen Revolution und batirt 
vom Germinal XI. Abhülfe ift bereits gejchaffen auf 
dem Gebiete des Prüfungsweſens und der Reviſion der 
Apothefen; Wegierungsratf Dr. Krieger hat bie 


134 Der Proceß wider den Dr. med. Floden. 


Gründe angegeben, warum bisjeßt nicht weiter gegangen 
werden konnte. Die Apotherferorpnung ift ein fehr 
ichwieriger Punkt. Sollen die Apotheken freigegeben oder 
conceffionirt werden? Das ift eine werwidelte Frage. 
Wie gejagt, die Lanvesverwaltung trifft in feiner Weife 
eine Schuld, und unter Mitwirkung Profefjor Flüdiger’s 
wird, woran ich nicht zweifle, bald eine Beſſerung ge- 
ichaffen werden.” — Redner bejaht hierauf in eingehen 
ber langer Begründung die Tragen nach der jtrafrecht- 
lichen Berantwortlichfeit des Gehülfen Wolff, des Apothe- 
kers Greiner, des Lehrlings Andres. Der Strafantrag 
lautet, unter Annahme von Milverungsgründen für alle 
Angeklagten, für Wolff wegen fahrläffiger Tödtung in bei- 
ven Fällen je 1 Monat oder — da auf eine Gejammt- 
jtrafe zu erkennen ift — auf zufammen 6 Wochen, für 
Greiner 1 Monat Gefängniß, für Andres 100 Marf 
Geldſtrafe eventuell 10 Tage Gefängnif. — „Bet dem An- 
geflagten Dr. Floden find faft nur Erichwerungsgründe 
in Betracht zu ziehen. Daß er einen guten Ruf ge- 
nießt, fann nicht fehr bedeutend ins Gewicht fallen; es 
iſt nicht jchwer, einen guten Auf zu haben, wenn man 
eine jociale Stellung bat wie Dr. Floden. Er bat im 
Laufe des Verfahrens nicht gehandelt, wie ein Mann 
von Anftand und Ehre. Er hat e8 ferner unterlaffen, 
feinen Fehler wieder gut zu machen. Wie gejagt, lauter 
Erjchwerungsgründe.. Mögen Sie aber immerhin, da 
wir feine Beranlaffung haben, gegen ihn die ganze Strenge 
bes Geſetzes in Anwendung zu bringen, auch bei 
ihm Milderungsgründe gelten laffen. Er wird durch eine 
gerichtliche Verurtheilung ohnehin jchwer genug leiden, 
denn einen gebildeten Mann trifft die Gefängnißitrafe 
ichwerer wie andere. Seine Subfiftenz wird baburch 
in hohem Grade gefährbet und feine Familie ind Un⸗ 





Der Proceß wider den Dr. med. Floden. 135 


glüf gejtürzt. Ich beantrage, gegen ben Dr. Flocken 
wegen des Falles Mathis neun Monate, wegen bes Falles 
Herter ein Jahr und als Gefammtftrafe 1'/; Jahre Ge- 
fängniß auszusprechen. 

Präftident. Der Staatsanwalt hat die Sachver- 
ſtändigen in einen gewiffen Gegenja zu bringen gefucht, 
indem er ausführte, Freiherr von Mehring und Schmiebe- 
berg feien durch das Gericht geladen, Huſemann aber 
burch den Angeklagten. Das ift ja dem Gericht nichts 
Neues geweſen. Es ift auch für das Gericht einerlei. 
Die ſämmtlichen Sachverftändigen haben hier unter ben 
Augen des Gerichts den Eid geleiftet, wie ihn das Geſetz 
vorichreibt, daß fie nach beftem Willen und Gewiſſen 
ihr Gutachten abgeben wollen. Das Gericht wird, gleich- 
viel von welcher Seite die Sachverftändigen hierher ge- 
rufen worden find, die Gutachten, feiner Pflicht gemäß, 
mit gleichem Maße prüfen. Im übrigen muß ich es der 
Bertheidigung überlaffen, auf bie weitern Ausführungen 
zu antworten. 

Rechtsanwalt Schneegans beantragte als Vertheidiger 
bes Angeflagten Dr. Sloden für feinen Clienten Frei- 
iprechung. Das Leugnen befjelben ei verjtänplich und 
menschlich und vom menjchlichen Standpunkte aus müffe 
man alles betrachten, was der Menſch unter gewifjen 
Umftänven thue. Deswegen müffe er jagen: „Ich war 
von Anbeginn bewegt, als ich ſah, mit welcher Härte man 
gegen die Bejchuldigten, insbejondere den Dr. Floden 
vorgegangen ift. Handelte e8 fich doch nicht um ein ab» 
fichtliches Vergehen oder Verbrechen, bei welchem man 
ben Thäter fofort zu verhaften pflegt, fondern um einen 
fahrläffigen Irrthum, ver die Ehre nicht antaftet, denn 
jever kann fich irren. Ich gejtehe, es ift das erjte mal, 
daß ich gegen einen Mann in ber foctalen Stellung wie 


136 Der Procef wider den Dr. med. Floden. 


Dr. #loden in der Weife vorgehen ſehe, und wundere 
mich darüber, daß man ihn verhaftet hat, mag er auch 
fein Thun zu verfchleiern gejucht haben. Wenn ich mich 
erinnere, wie im vorigen Sahre in Baris bei einem Fahr⸗ 
Täffigfeitsfalle verfahren worden ift, der eine ganz anbere 
Bedeutung hatte, fo ftaune ich über dieſe Verſchiedenheit 
bes Verfahrens.” 

Präſident. Ich möchte doch bitten, fich in dieſer 
Richtung nicht Länger aufzuhalten. Es ift das geſetzliche 
Rechtsmittel gegen ven Beſchluß, den Angeklagten Dr. Floden 
zu verhaften, ergriffen worben, bie zuftändige Behörde 
hat die Beſchwerde zurücdgemwiefen, und damit war bie 
Sache erledigt. 

Rechtsanwalt Schneegans Bedauern darf ich es 
immerhin nach der Lage meines Clienten. ‘Der Tal in 
Paris, von dem ich gefprochen habe, ver Brand ber Oper 
hat Hunderte von Opfern gefoftet, und Doch ift an eine 
Verhaftung des Directors nicht gebacht worden. 

An der Beweisführung des Staatsanwalts bemängelt 
Redner vor allem, daß feine Ausführungen auf die Unter- 
lage gebaut feien, Dr. Floden habe Extractum verfchrie- 
ben, während die Thatſache, daß er nicht Ertractum, 
ſondern Zinetura habe fchreiben wollen, gänzlich außer 
Acht gelaffen werde. „Errare est humanum! Irren 
iſt menschlich. Es Tiegt ein einfacher, wenn auch folgen- 
ichwerer Irrthum vor. Nach der heutigen Verhandlung 
ift man mol berechtigt, das Wort des Heilands anzu- 
wenden in ber Veränderung: «Wer fich nicht bewußt ift, 
je einen Irrthum begangen zu haben, der hebe ven erjten 
Stein gegen Dr. Floden auf!» Sein Schidfal ſchafft 
fih jelbft der Mann, hat der Präfivent geftern gefagt. 
Gewiß, ein fchönes, erhabenes, ftolzes Wort; aber e8 gilt 
nicht in allen Fällen. Es gibt bekanntlich auch ein Fatum, 





Der Proceß wider ben Dr. med. Floden. 137 


eine Vorſehung, eine höhere Gewalt. Dieſe höhere 
Gewalt leitet die Kugel des einen Mannes, der in das 
Blaue ſchießt, ebenfo wie die des andern, die einen Men- 
ihen in das Herz trifft. Dieſer wirb beitraft, jener 
nicht, obgleich er bafjelbe gethan hat. Der Erfolg allein, 
nicht die That ſelbſt entſcheidet. Im vorliegenden Falle 
würde eine Strafe die jchredlichiten Folgen haben: 
Dr. Floden wird aus der gejellichaftlichen Stellung heraus- 
geriffen, gebranpmarkt mit dem Zeichen fahrläffiger Ver- 
giftung, was foll aus ihm werben als Arzt? Seine 
ganze Stellung, fein häusliches Glück werbe vernichtet. 
Da muß man doch fragen: wenn fol ein fahrläffiger 
Irrthum gefühnt werden muß, ift er dann nicht bereits 
ſchwer gefühnt durch alles, was über ven Dr. Flocken 
gefommen tft, durch feine ſechswöchentliche Haft, dadurch, 
baß er heute auf ver Anklagebanf vor Gericht erjcheint? 
Man legt Gewicht darauf, daß der Irrthbum ein doppelter 
gewejen und in zwei Fällen vorgefommen ift. Aber denkt 
man denn nicht an das befannte Beifpiel, welches jedermann 
an fich erfahren bat, daß man den Fehler in einer fal- 
hen Abpition, ven man fucht, oft von neuem begeht?” 

Der Redner wendet fich zu ter in dem Gutachten 
erdrterten Trage, ob Dr. Floden die Wirkung der Arz- 
nei habe vorausjehen müſſen. Er macht geltend: „Der 
Arzt kann nicht immer in Büchern und Tabellen nad- 
Ihlagen und nachfuchen, das flößt Mistrauen ein, und 
e8 heißt doch — vielleicht auch mit einigem Rechte: bie 
Hauptheilfraft ver Mebicin Tiegt in dem Vertrauen bed 
Kranken. (Heiterkeit) Der Arzt muß das Recept fofort 
Ihreiben, er muß fich der Gefahr des Irrens ausfegen, 
das kommt überall vor, auch beim Nechtsanwalt, 
wenn er in einer fchwierigen Frage jofort Stellung zu 
nehmen bat. Auf den Ruf des Dr. Flocken haftet 


138 Der Proceß wider ven Dr. med. Floden. 


nicht der geringfte Fleck. Alles das find Gründe genug, 
ihn freizufprechen.” 

Präfivdent. Sie haben mich nicht richtig verſtanden, 
als ich das Citat gebrauchte: fein Schidjal Schafft fich 
jelbft ver Mann. Ich meinte damit lediglich das Schid- 
fal, das fih Dr. Slöden im Laufe der Vorunterfuchung 
bereitet bat. 

Aus der Rede des Rechtsanwalts Freiherrn Schott 
von Schottenftein, bes zweiten Vertheidigers des An⸗ 
geffagten Dr. Flocken, theilen wir nur den Eingang mit, 
ber fo lautet: „In Worten, die gefühlvoll klingen und 
gewiffermaßen a priori ein Wohlwollen für ben Ange- 
klagten bekunden follen, hat die Staatsanwaltichaft er- 
Hört: wenn Dr. Sloden — und ich ftelle feit, daß zu 
meinem Staunen und lebhaften Bebauern Dr. Floden 
aus den Angellagten herausgegriffen worden ift, als ob 
er allein alle Unwahrheiten gejagt hätte — ein reuevolles 
Geſtändniß abgelegt hätte, dann wäre e8 ja wol am 
Plage, daß auch die Staatsanwaltichaft in weiten Um⸗ 
fange Nachficht übte und viele Momente zu Gunften bes 
Angeflagten geltend machte. Aber da er e8 nicht gethan, 
gewiſſermaßen fich ſelbſt außerhalb des Geſetzes gejtellt 
hat, ift auch dem Anfläger die Aufgabe erleichtert worden. 
Nun Tann er mit voller Schärfe vorgeben und ihn fo 
belaften, wie er belaftet werben muß. 

„Dieſer Standpunft ift weder juriftifch noch moralifch 
richtig. Entweder ift Dr. Floden vor Gott, vor den 
Menfchen und vor dem Gejete fo ſchuldig, wie behaup- 
tet wird, dann muß ihn die ordentliche Strafe treffen, 
oder er ift nicht fchuldig, dann ift e8 bie geſchworene 
Pflicht des Vertreters der Staatsanwaltichaft, alles zu 
berüdfichtigen, was die Geſetzgeber des Deutfchen Reichs 
mit ehernem Griffel vermerkt haben. In der Strafprozef- 





Der Broceß wider den Dr. med. Floden. 139 


orpnung heißt es im 8. 258, daß die Staatsanwalt- 
Ichaft ebenjo die Pflicht hat wie alle andern Organe ber 
Yuftiz, nicht nur die Momente der Belaftung, ſondern 
auch jene der Entlaftung ans Licht zu ziehen. Ich habe 
das volle Vertrauen zum Gericht, daß dieſe Argumentation 
der Staatsanwaltfchaft nicht gebilligt wird. Es -tft un⸗ 
zuläffig, daß der Vertreter des Staates fich fo ausge- 
iprochen Bat. Ich will angefichts der unbarmherzigen 
Kritik, welche der Angeklagte und die Vertheidigung durch 
bie Staatsanwaltſchaft erfahren haben, nicht in venfelben 
Fehler verfallen. Berfönlichkeiten gehören nicht hierher. 
Die Behauptungen der Staatsanwaltfchaft ſtützen fich 
lediglich auf Vermuthungen.“ 

Wir Lönnen felbjtverftändlich die mehrere Stunden 
in Anfpruch nehmenden Vorträge, Replifen und Dupliken 
der Staatsanwaltichaft und der Vertheidigung, die uns 
in ſtenographiſchem Auszuge vorliegen, Hier nicht wieber- 
geben. Wir begnügen uns daher nur noch kurz barauf 
binzumweifen, baß bie beiden Vertheidiger ver Angeklagten 
Wolff, Greiner und Andres, der Reichstagsabgeordnete 
Dr. Betri und Dr. Reinhard, ver Stellung ihrer Klienten 
zur Anklage entjprechend, hauptfächlich die juriftiich in- 
terejfanten Streitfragen der Verantwortlichleit des Apo- 
thekers und feiner Gehülfen, fowie die rechtlichen Vor— 
ausfegungen ber Begünftigung im Sinne des Dentjchen. 
Strafgefebuches eingehend prüften und zu Gunften ihrer 
Clienten auszulegen verfuchten. Für jämmtliche Ange— 
Hagte wurbe Freifprechung beantragt. 

Der Gerichtshof zog fich zu einer breivierteljtünbigen 
Berathung zurüd und verfündete ſodann das Urtheil, Durch 
welches Dr. Floden zuneun Monaten, der Apothefer- 
gehülfe Wolff zu zwei Monaten und ber Apotheker 
Greiner zu zwei Wochen Gefängniß verurtheilt, ver 


140 Der Broceß wider ben Dr. med. Floden. 


Lehrling Andres dagegen freigefprohen wurde In 
ben Urtheilsgründen ift bezüglich der Schufpfrage und 
ber Strafzumeffung hauptſächlich Folgendes ausgeführt: 
„Für die ftrafrechtlihe Würdigung der Trage, ob ver 
Tod als eine Folge des Verhaltens ver Angeklagten 
Flocken und Wolff, nämlich des Verordnens und DVer- 
abreichens des Kolchicumertractes, ſich darftellt, hat bie 
wiſſenſchaftliche Feftftellung der abfolut tönlichen Doſe 
dieſes Giftes nicht dieſelbe Bedeutung, die biefe Feſt— 
jtelung bei der Frage nach der ftrafbaren Fahrläſſigkeit 
gewinnt. Vielmehr handelt e8 fich hier zunächft darum, 
zu wiſſen, ob in beiden Fällen bie verabreichten Doſen 
Colchicumextract wirklich den Tod verurfacht haben, 
wobei e8 ohne Belang ift, ob dieje Wirfung durch andere 
begleitende Umftände und urjächliche Verhältniffe unter- 
jtüßt und verftärkt worden ift. Dieſe Frage wird von 
ſämmtlichen Sachverftändigen bejaht, und dieſem Gut- 
achten konnte fich das Gericht nur anfchliefen. Danach 
muß als feftftehend betrachtet werden, daß der Tod bes 
Mathis und Herter durch das von ihnen als Arznei 
genommene Colchieumertract herbeigeführt worden tft, 
welches Dr. Flocken verjchrieben und Wolff zubereitet 
und verabreicht hat. 

„Es fragt ſich in zweiter Linie, ob diefe Folgen von 
den beiden Angeklagten in fahrläffiger Weiſe verfchuldet 
worden find. Im diefer Richtung ift, was den Angeflagten 
Dr. Floden betrifft, als erwiefen anzunehmen, daß er 
nur aus DVerjehen das fragliche Recept verfchrieben hat, 
indem er ftatt Colchieumertract Colchicumtinctur ver- 
Ichreiben wollte. In diefem Verſehen liegt aber ein fahr- 
lälfiges Handeln, eine Verlegung feiner Berufsobliegen- 
heit, die es ihm zur Pflicht macht, bei Necepten, die ein 
jo heftiges Gift verorinen, mit einer Aufmerkſamkeit und 


Der Proceß wider den Dr. med. Floden. 141 


Genauigkeit zu verfahren, die das Vorkommen eines Irr- 
thums ausschließt. Die berufswidrige Fahrläffigfeit, die 
in biefem Verhalten liegt, ift jedoch nur dann eine fchulb- 
bafte und ftrafbare, wenn der allerdings nicht gewollte 
Erfolg einzig durch den Mangel der gebotenen Vorficht 
herbeigeführt worben tft. Dies würde aber nicht zu- 
treffen, wenn, wie died das Neichsgericht wiederholt, ins⸗ 
bejondere im Urtheil vom 20. ‘December 1886 näber 
ausgeführt hat, ein an Gewißheit grenzender Grad von 
Wahrjcheinlichkeit vorläge, daß der tödliche Ausgang auch 
dann eingetreten fein würde, wenn das ſchuldhafte Handeln 
nicht vorandgegangen wäre. Allerdings nicht etwa bes- 
halb, weil die Caufalität zwifchen ver Handlung und dem 
Erfolg nunmehr unterbrochen erjcheint, da möglichermweije 
ber leßtere auch ohne dieſes Handeln eingetreten wäre; 
denn die Caufalität wird durch diefe Möglichkeit oder 
Wahrjcheinlichfeit nicht berührt; fondern weil bie An- 
wendung des $. 222 des St.G.⸗B. einen Zufammenhang 
zwilchen der fahrläffigen Handlung und dem Erfolge 
vorausſetzt. «Fahrläffig» iſt jedoch nur eine begriffliche 
Eigenichaft, die als Ergebniß der Erwägungen des Be— 
urtheilenden einer Handlung beigelegt wird, der danach 
eine cauſale Beziehung nicht zukommt, welch Tetstere viel- 
mehr nur dem Handeln felbjt anhaftet. Da es jeboch 
ans andern ftrafrechtlichen Gründen nicht angeht, einen 
Erfolg, der wahrſcheinlicherweiſe auch ohne dieſes Handeln 
oder ohne dieſes fo geartete Handeln eingetreten wäre, 
blos um veswillen unter Strafe zu ftellen, weil dem 
Handeln ein entjchulpbares Motiv zu Grunde liegt, fo 
erübrigt zur Erflärung ver dem $. 222 des ©t.-©.-B. 
mit Recht unterlegten Auffaffung nur das Eine, den 
Begriff ver Fahrläffigfeit enger zu faffen und feine 
Strafbarfeit dann auszufchließen, wenn eine andere Hand- 


142 Der Broceß wider den Dr. med. Floden. 


fung oder diefelbe jedoch mit einem nicht zu beanftanbenden 
Beweggrund wahricheinlicherweife ven gleichen Erfolg er- 
zielt hätte, ohne dafür zur ftrafrechtlichen Verantwortung 
gezogen werben zu können. 

„Das Gericht ift num zu der Ueberzeugung gekommen, 
daß der Angeflagte bei pflicht- und berufsmäßigem Handeln 
die fraglihe Medicin nicht habe verjchreiben können und 
auch nicht würde verjchrieben haben. Der Angeklagte 
erklärte jelbft, daß er über die Wirkung des Coldhicum- 
extractes nur fehr vage Anschauungen gehabt und daß 
er baffelbe für etwa zehnmal ftärker als die entſprechende 
Zinctur gehalten habe. Auf Grund biejer Annahme hätte 
er nie dazu fommen fönnen, den Extract in der an⸗ 
geordneten Menge zu verſchreiben. 

„Außer biejen in der Abfafjung der beiden Recepte 
beruhenden Momenten der Nachläffigfeit fand aber das 
Gericht einen weitern Beleg dafür in vem Umftande, daß 
Dr. Sloden, obwol er um 10 Uhr abends feinen Irr— 
thum bereits bemerft hatte, nichts that, um die Folgen 
deffelben rückgängig zu machen, dies hätte zur Zeit, als 
Herter erft den zweiten Löffel der ververblichen Medicin 
eingenommen hatte, noch geicheben können. Es Tann 
bahingeftellt bleiben, woher ver Angeflagte zu feiner 
Erfenntniß gelangt ift, ob durch Einfichtnahme der Kladde 
in der Greiner’fchen Apothefe, oder, was wahrfcheinlicher 
it, aufmerkſam gemacht durch einen dritten gleichartigen, 
vielleicht noch rechtzeitig verhüteten Fall. 

„Was den Angeklagten Wolff betrifft, jo war verjelbe 
fett etwa 14 Tagen in der Greiner’fchen Apothefe ale 
Gehülfe befchäftigt und hatte am 31. October, an welchem 
Tage fein Principal, der Angeflagte Greiner, auf ber 
Jagd war, in deſſen Vertretung die Apothefergefchäfte wahr- 
zunehmen, zu denen vie Zubereitung und Verabreichung 





Der Proceß wider ven Dr. med. Floden. 143 


ver Mevicamente gehört. ine jolche vorübergehende Ver⸗ 
tretung des Apothefers feitens eines Gehülfen, der blos 
das Lehrlingseramen gemacht hat, alfo wifjenfchaftlich 
noch nicht ausgebildet ift, iſt nach den hier beſtehenden 
Borfehriften und Gebräuchen geftattet. Wolff hat eins 
der beiven Recepte jelbit zubereitet, da® andere aber unter 
feiner Leitung vom Angeklagten Anpres berftellen laſſen. 
Er jelbit gibt an, daß er die ihm vorgelegten beiten 
Recepte überhaupt nicht geprüft habe, ſondern daß es 
Andres geweſen ift, ver das Ertract vom fünften Stocde 
holte und ihm übergab. Da e8 bie Pflicht des Apothekers 
bezüglich feines Vertreters ift, die ihm zur Zubereitung 
übergebenen Recepte näher zu prüfen und an ver Hand 
ber in ber Pharmakopöe angegebenen Marimalpojen zur 
Verhütung verhängnißvoller Irrthümer den Arzt nach 
biefer Richtung Hin zu controliven, fo liegt in dieſem 
Unterlaffen jever Prüfung eine ſchuldhafte Fahrläſſigkeit. 

„Aber auch hier ift es, um bie Strafbarkeit des DBer- 
ſchuldens feftzuftellen, nöthig, zu prüfen, ob die Ber- 
abreichung der beiden Medicamente erfolgt fein würde, 
wenn eine pflichtgemäße Prüfung berjelben vorausgegangen 
wäre. In dieſer Beziehung fällt vor allem ins Gewicht, 
daß Extractum colchici überhaupt in der Deutſchen 
Bharınafopde nicht enthalten if. Wenn nun auch die 
Verhandlung ergeben hat, daß vielfach in der Praris 
noch Mittel verfchrieben werben, vie unjere Pharmafopde 
nicht kennt, und diefem Verfahren auf Grund ber hier- 
zulande beftehenven Verhältniffe Feine Hinberniffe ent- 
gegenfteben, jo muß doch gerade beim Mangel diejer 
orbnungsmäßigen Handhabe für jeine Orientirung vom 
Apothefer eine befonders hohe Aufmerkſamkeit verlangt 
werden, 


„Wenn dem Wolff weiter nichts befannt war über Das 


144 Der Proceß wider den Dr. med. Floden. 


Ertract, als daß es viel ftärfer jei als die Tinctur, fo 
mußte ihm fchon dieſe Erwägung und ber gebotene DVer- 
gleich mit der in der Pharmakopöe enthaltenen Tinctur 
die Gewißheit verichaffen, daß ver für letere gegebene 
Marimalfa in ven Recepten bedeutend überfchritten ſei. 
Solche Ueberjchreitungen follen aber vom Apotheker nur 
angefertigt werben, wenn aus dem Recept hervorgeht, 
daß viefelben vom Arzt gewollt find. 

„Auch die Thatfache, auf welche die als Sachverftändige 
vernommenen Apothefer beſonderes Gewicht legen, baß 
daſſelbe Recept kurz hintereinander zweimal von bem 
nämlichen Arzte verjchrieben worden war, durfte ihn, 
entgegen der Auffafjung der Sachverftändigen Pfersporf 
und Amthor, nicht beruhigen, da daraus Teineswegs ber 
Schluß zu ziehen ift, daß ein Irrthum ausgeichloffen war. 
Die Verpflichtung, fich angefichts des ganz außergewöhn⸗ 
lichen Neceptes über den Willen bed Arztes zu ver- 
gewiljern, durfte Wolff um jo weniger außer Acht Laffen, 
als fich der Ausführung unter den obwaltenden Um— 
ſtänden weber Iocale, noch fonftige Hinderniſſe in ben 
Weg ftellten. 

„Auch bezüglich des Angeklagten Wolff ift demnach 
burch die Verhandlung feitgeftellt worden, daß durch feine 
pflihtwidrige Fahrläffigfeit der Tod des Mathis und 
des Herter verurfacht worden iſt. Da aber die Thätig- 
fett ber beiden Angeklagten Floden und Wolff als zwei 
gleichwerthige urjächlihe Factoren bezüglich des ein- 
getretenen Erfolges zu beachten tft, jo müſſen beide und 
zwar unabhängig voneinander als Thäter im Sinne 
des $. 222 St.G.⸗B. angejehen werben. 

„Was die gegen Greiner und Andres erhobene 
Anklage betrifft, jo bat die Verhandlung feitgeftellt, daß 
Dr. Flocken in der Frühe des 1. November, nachdem 


Der Proceß wider ben Dr. med. Sloden. 145 


bei Mathis und Herter bie Vergiftungserfcheinungen fich 
gezeigt hatten, dem Angeklagten Greiner hiervon Mit- 
theilung machte und daß ber lettere ihm vorfchlug, zwei 
neue Recepte zu verfchreiben, ein Vorſchlag, auf ben 
Flocken einging. 

„Dr. Flocken bat das Mathis’fche Necept an fich ge- 
nommen und vernichtet, Greiner hat das in feiner Apothefe 
verbliebene echte Recept für Herter befeitigt. Da Greiner 
fowol wie Wolff und Andres bei ihren durch die Staats⸗ 
anwaltſchaft erfolgten Vernehmungen die vorgenommenen 
Aenderungen im Receptirbuche hartnädig in Abrebe ftellten, 
jo hätten biefe Manipulationen aller Wahrjcheinlichkeit 
nach eine Aufflärung der Sachlage verhindert, wenn es 
nicht gelungen wäre, ven Ankauf des neuen Receptir- 
buches nachzuweisen, und wern Wolff darauf hin nicht den 
wirklichen Sachverhalt zugeſtanden hätte, 

„Durch diefe Handlungen hat fich ver Angeklagte Öreiner 
bes Vergehens der Begünftigung im Sinne bes $. 257 
St.G.⸗B. ſchuldig gemacht. Derjelbe war nach ber ihm 
durch Flocken gewordenen Mittheilung nicht im Zweifel, 
daß letzterer ſowol wie fein Gehülfe Wolff fich eines 
Bergehens fchuldig gemacht hatten. ‘Die Thätigkeit, bie 
er ſelbſt in dieſer Richtung entwidelte, war von der Ab⸗ 
ficht geleitet, ven Dr. Floden und den Wolff der Be— 
ftrafung zu entziehen. Greiner behauptet nun allerdings, 
daß es für ihn zumächit fich darum gehandelt habe, vie 
Bermögensnachtheile, die eine Unterfuchung gegen Yloden 
und Wolff vorausfichtlih für ihn im Gefolge ‘haben 
mußte, von fich abzumwenden, und daß, wenn feine Thätig- 
feit auch feinem Gehülfen Wolff und dem Dr. Floden 
zugute fommen mußte, biefer Erfolg von ihm keineswegs 
oder wenigftens erſt in zweiter Linie beabfichtigt worden 
ſei; daß er übrigens jehr umfichere Anfchauungen über 

XXIII. 10 


146 Der Proceß wider den Dr. med. Floden. 


feine Haftbarkeit gehabt habe und durchaus im Unklaren 
barüber gewefen fei, ob er nicht auch ftrafrechtlich dafür 
verantwortlich gemacht werben könne, daß er ven Wolff 
während feiner Abweſenheit als Vertreter zurückgelaſſen 
habe. 

„Was letztern Punkt betrifft, jo lag jedoch, da bie 
Dertretung den beſtehenden Vorſchriften entiprach, für ihn 
fein Grund vor, eine ftrafrechtliche Unterfuchung befürchten 
zu müffen. Vielmehr bat er felbft bei feiner richterlichen _ 
Vernehmung, nachdem ver Sachverhalt ſchließlich klar 
gejtellt war, als Grund feines Handelns das Intereſſe 
angegeben, das er daran gehabt habe, die Wahrheit nicht 
laut werben zu laffen, weil feine Apothele dadurch ruimirt 
werben konnte und weil er den mit ihm eng befreundeten 
Dr. $loden, von welchem der Hauptfehler gemacht worben 
war, habe ſchützen wollen. In dieſer Erklärung bürften 
bie Motive feines damaligen Handelns ihren richtigen 
Ausprud gefunden haben. Zum Thatbeſtand des $. 257 
St.⸗G.⸗B. iſt nicht erforderlich, daß der Begünftiger 
einzig und allein von dem Beweggrund geleitet worden 
ift, die Ziwede der Strafverfolgung in Bezug auf den 
Thäter zu vereiteln, vielmehr genügt e8, daß der Wille 
des Degünftigers biejen Erfolg — gleichviel aus welchem 
Beweggrund — bezwedt hat, wie dies fchon daraus er- 
helit, daß der 8.257 cit. felbft eins der möglichen Motive, 
nämlich den eigenen Vortheil, ausprüdlich hervorgehoben 
und zu einem mweitern Thatbeſtandsmerkmal gemacht hat. 

„Das Gericht ift auf Grund der Verhandlung zu ber 
Ueberzeugung gelommen, daß e8 dem Anflagten Greiner 
beit ber Vernichtung der Necepte, ver Kladde und bes 
Neceptirbuches und bei ver Unterfchiebung anderer Recepte 
und NReceptirbücher, indem er dadurch nachträglich ven 
Angeflagten Floden und Wolff dur Rath und That 


Der Proceß wider ben Dr. med. Flocken. 147 


Beiſtand leiftete, zunächit darum zu thun war, bie legtern 
der Beitrafung zu entziehen. Mit der Verwirklichung 
dieſes Zweds fanden die fämmtlichen Beweggründe, bie 
ihn hierzu bejtimmen Tonnten, ihre Befriedigung. Nach 
den Ergebniffen ver Verhandlung ift ferner die Angabe 
bes Angeflagten vollſtändig begründet, daß hierbei fein 
eigener Vortheil mitbezwect war. Er verfuchte die Ver- 
mögend- und fonftigen Nachtheile, die ihm durch die 
Unterfuchung vorausfichtlich treffen mußten, von fich fern 
zu halten. 

„Die Gründe, welche zur Freifprechung des Angeklagten 
Andres führten, waren theils in deſſen Jugend und Un⸗ 
erfahrenheit, theil8 in der Möglichkeit gegeben, daß er 
bei jeiner Thätigkeit lediglich die Abficht verfolgte, ſich 
jelbft gegen eine etwaige Unterjuchung ficherzuftellen. 

„Bezüglich der Strafzumeffung wurde erwogen, daß 
es fih um eine fchwere Berlegung der Berufspflicht 
handelt, der zwei Menjchenleben zum Opfer fielen. Was 
Dr. loden beſonders angeht, fo wurde in Betracht ge- 
zogen, daß er aus freien Stüden durchaus nichts gethan 
hat, um rechtzeitig die Folgen feiner Fahrläſſigkeit wieder 
gut zu machen, und daß dies den Fall Herter in einem 
befonder8 ungiünftigen Licht erjcheinen laſſe. Der Irr⸗ 
thum in Betreff des Neceptes war aufgeflärt und das 
Leben des Herter konnte vielleicht noch gerettet werben. 
Dr. Flocken hat jedoch dieſe feine wichtigfte Pflicht ver- 
ſäumt und fpäter nur das Beſtreben gezeigt, fich ven 
rechtlichen Folgen feines Thuns zu entziehen. Mildernd 
kommt babei allerdings in Betracht, daß er an dem frag- 
lichen Tage ſehr beichäftigt war und daß er fpäter, ins⸗ 
bejondere bei Herter, fich Mühe gab, das früher Verſäumte 
nachzuholen. Unter dieſen Umjtänden erjchien für den 
Fall Mathis eine Gefängnißftrafe von vier Monaten und 

10* 


148 Der Proceß wider ben Dr. med. Floden. 


für den Fall Herter eine folche von ſechs Monaten an- 
gemefjen, an veren Stelle gemäß $. 74 St.⸗G.⸗B. eine 
entfprechende Gefammtjtrafe von neun Monaten zu jegen 
war. Dabei hielt e8 das Gericht zugleich für angezeigt, 
einen Theil der erlittenen Unterfuchungshaft von ber er- 
fannten Strafe in Abzug zu bringen. Bezüglich des An- 
geflagten Wolff wurde berüdfichtigt, daß Jugendlichkeit 
und Unerfahrenheit die Haupturfachen feines fahrläffigen 
Verhaltens waren, daß er durch feine offene Darjtellung 
Licht in ven Sachverhalt gebracht hat. Anvererjeitd mußte 
aber erjchwerend ins Gewicht fallen, daß er ohne im 
geringiten ſich der Schwere feiner damaligen verant- 
wortungsreichen Stellung bewußt zu werben, mit un- 
begreiflicher Sorglofigfeit den Lehrling “Andres bei ber 
Zubereitung der Medicamente gewähren ließ. Für jeden 
ber beiden Fälle erfchten demnach eine Gefängnißitrafe 
von ſechs Wochen geboten, an deren Stelle ebenfalld nach 
8. 74 St.⸗G.⸗B. eine Gefammtitrafe und zwar in ber 
Höhe von zwei Monaten zu treten hatte. 

„Was den Angeklagten Greiner betrifft, fo war bei 
Ausmeſſung der Strafe vor allem zu erwägen, daß er 
es war, der dem Dr. Flocken den Rath ertheilte, jene 
unwürdigen Manipulationen vorzunehmen, welche die Bes 
feitigung der Spuren des Vergehens bezwedten, und daß 
während e8 feine Pflicht als Principal war, feinem Per- 
fonal in einem feinem Berufe und feiner Stellung ent- 
Iprechenden ehrenhaften Benehmen voranzugehen, er ihnen 
Rathſchläge und Anweiſungen ertheilte, in welcher Weife 
die Wachſamkeit der Rechtspflege am beften getäufcht werben 
fönnte. Andererſeits wurde aber auch der bisherige gute 
Ruf des Angeklagten und feine Unbefcholtenheit gebührend 
berüdfichtigt und beshalb eine verhältnifmäßig geringe 
Strafe über ihn verhängt.’ 


Der Proceß wider den Dr. med. Floden. 149 


Die von dem Apothefer Greiner und Wolff gegen dieſes 
Urtheil eingelegte Revifion wurde durch das Neichsgericht 
am 27. September 1888 verworfen. i 

Dr. Flocken unterwarf fich dem Urtheil. Durch einen 
Gnabenact wurde die Gefängnißftrafe in Feſtungsſtrafe 
verwandelt. Er verbüßte dieſelbe in der Feſtung Bitſch. 

Die civilrechtlichen Ansprüche der Hinterbliebenen von 
Mathis und Herter find durch eine angemefjene Ent- 
ſchädigung im Vergleichswege befriedigt worden. 


Die Vermögensberanbung des Kaufmanns 
Sſolodownikow. 


(Petersburg.) 
1870. 1871. 


Am 25. Auguft 1870 erfchien ver Gärtner des neben 
-ber Forſtakademie in Petersburg gelegenen Lanbhaufes, 
welches dem Kaufmann erfter Gilde Nikolai Sſolodownikow 
gehörte, vor dem Landpolizeicommiſſar des Forſtbezirks 
und melbete, ver Beſitzer dieſes Landhauſes ſei in ber 
Nacht zuvor geftorben. Ueber dieſe Meldung wurde ein 
Protofoll aufgenommen. Am 29. Auguft und am 1. Sep- 
tember fand fich das Gericht in der Wohnung des mit 
Tode abgegangenen Kaufmanns Sſolodownikow ein, um 
ben Nachlaß feitzuftellen. Es fanden ſich vor: 28 Rubel 
baar, 50000 Rubel in drei vom Kaufmann Sfawin blanco 
girirten Wechleln, zwei Schulpicheine des Kaufmanns 
Antſchinnikow über ein Darlehn von 20000 Aubel und 
eine Quittung des Wafftli Ljubaͤwin über 700 Rubel. 
Es wurde ermittelt, daß der Verftorbene von feinem 
Bruder Michael Sſolodownikow mehrere Millionen Rubel 
geerbt Hatte, und e8 entitand ver Verbacht, daß ein großer 
Theil feines Vermögens beifeitegejhafft worben jet. Der 





Die Bermögensberaubung bes ıc. Sfolodomnilomw. 151 


Verdacht, dieſes Verbrechen begangen zu haben, fiel auf 
ben frühern Diener und fpätern Hausverwalter Jakob 
Sſuslenikow, welcher in ver Nacht vom 24. zum 25. Auguft 
in dem Landhauſe zugebracht hatte. Die wider ihn ein⸗ 
geleitete Unterjuchung ergab Folgendes: 

Der Diener Koloſſow war am 25. Auguft, früh 6 Uhr, 
in das Schlafzimmer feines Herrn getreten und hatte ihn 
tobt im Bett liegend gefunden. Er theilte dies ohne 
Berzug dem in obern Stod fchlafenden Sfuslenilow mit. 
Der letztere kleidete fich fchnell an und ging in das Sterbe- 
zimmer; er fah vom ERzimmer aus, daß der Hausverwalter 
bie obern Schubladen der recht8 von der Thür ftehenpen 
Kommode mit den daran befinplichen Schlüffeln öffnete, 
ein Buch herausnahm, es unter feinen Rod ſteckte und 
biefen zuknöpfte. Er kehrte in fein Zimmer zurüd und 
äußerte im VBorbeigehen, er wolle ein Pulver einnehmen, 
weil er fiebere. Bald darauf kam er wieber, eignete fich 
eine in jener Kommode ſtehende Chatoulle von Rothholz 
an, öffnete dieſelbe mit einem Schlüffel und unterfitchte 
bie barin befinplichen Papiere. Er nahm ferner die 
Schlüffel zum Kaſſenſchranke im Stapthaufe, eine Papp- 
ſchachtel mit kleinem Silbergeld und eine goldene Schnupf- 
tabacksdoſe an ſich und befahl uns, von dem ZTobesfalle 
Niemand etwas zu fagen, auch bie Polizei davon nicht 
in Kenntniß zu jegen. Dann fuhr er in bie Stabt und 
fehrte erft um 1 Uhr mit dem Bankier Ljubaͤwin in das 
Landhaus zurüd. 

Der Hansarzt des Kaufmanns Sſolodownikow, 
Dr. Heffe, erflärte: Sſuslenikow habe ihm am Morgen 
bes 25. Auguft, und zwar 91, Uhr, den Tod feines Herrn 
gemeldet und dabei bemerkt, daß er in der Stabt von 
biefem Topesfalle Kenntniß erhalten habe. Dr. SHefie 
begab fich in das Landhaus, im Efzimmer ftieß er auf 





152 Die Bermögensberaubung 


Sſuslenikow, der an ihm vworübereilte und babet unter ' 
dem Rode einen Gegenftand verborgen hielt. Dr. Heffe, 
wußte, daß der PVerftorbene, deſſen Hausarzt er feit 
jech8 Sahren war, auf Sſuslenikow fchlecht zu ſprechen war. 
Schon im Jahre 1866, als dieſer feinen Dienft an- 
getreten hatte, fprach fih Sſolodownikow dahin aus: 
„Er ift ein brauchbarer, anftelliger Menſch, man muß 
ihn aber kurz balten, fonft ift er zu allem fähig.” ALS 
Dr. Heffe am 21. Auguft in das Landhaus fam, fand 
er den Hausherren in einem aufregten Zuftande. Er 
Hagte über Sfuslenilow’s Undank, nannte venfelben einen 
verfluchten Räuber und fügte Hinzu: „Er ift ohne Hofen 
zu mir gefommen und foll auch arm wie eine Kirchen- 
maus wieder von mir weggehen.“ 

Bon verſchiedenen Perſonen wurde beftätigt, daß 
Sſolodownikow ein bedeutendes Kapitalvermögen hinter⸗ 
laſſen haben müßte. 

In Sſuslenikow's Wohnung fand man bei einer 
Hausſuchung 40000 Rubel in Wechſeln, die ſämmtlich 
erſt nach dem 25. Auguſt, dem Todestage ſeines Herrn, 
ausgeſtellt waren, Abrechnungen über 35000 Rubel und 
7000 Rubel verfaufte Wertbpaptere und 950 Rubel baar. 

Als man ihn befragte, woher dieſe beträchtlichen Geld⸗ 
mittel rührten, verwidelte er fich in Widerſprüche, geftand 
aber zu, im ‘December und Januar 1871 bei dem Juwelier 
Iwanow in Petersburg einen Ning im Werthe von 
1600 Rubel und 42%, Karat Feine Brillanten für 
2300 Rubel 50 Kopeken theils verkauft, theils umgetaufcht 
zu haben. Der Ring wurde der Gemahlin des Majors 
Liprandi, dem Dr. Hefje und dem Kleinbürger Waffili 
Sſolodownikow vorgezeigt. Sie erfannten ihn als das 
Eigenthbum des Verftorbenen an. Die Brillanten waren 
aus dem Bilde des Heiligen Nikolai ausgebrochen, welches 


des Kaufmanns Sfolobownilom. 153 


Sſuslenikow in Verwahrung hatte. In der großen Krone, 
an dem Rande berjelben und in den Kreuzen waren bie 
echten Brillanten herausgenommen und unechte vafür 
eingejegt, nur im Namenszuge des Heiligen befanden fich 
noch echte Steine. 

Der Angejchuldigte wollte zuerft nur einen Brillant- 
. ring bei feinem Herrn gejeben haben. ALS der Juwelier 
Iwanow aber beftätigte, daß Sſuslenikow jenen Ring an 
ihn verfauft habe, gab er an: er habe den Ring von 
dem Diener Koloffow käuflich für 50 Rubel erworben 
und benjelben dem Neffen Sſolodownikow's übergeben 
wollen, dann aber fich entjchloffen ven Ring zu verkaufen. 
In Betreff der Brillanten behauptete er anfänglich, ber 
am 1. April 1871 verftorbene Kapellmeijter des kaiſer⸗ 
lichen Theaters Ljädow habe fie ihm gegeben. Später 
fagte er aus: Sſolodownikow habe ihn beauftragt, vie 
Brillanten. aus der großen Krone des Heiligenbildes 
herausnehmen zu lafjen. Er habe dieſen Auftrag beforgt. 
Der Juwelier Lindholm befundete: das fehr Foftbare Bild 
im Werthe von etwa 12000 Rubel fei ihm von Sſusle⸗ 
nifow übergeben worven; er habe mehr als 400 Stüd 
Brillanten ausgebrochen und dieſe durch ebenfo viele falſche 
Steine erjekt. 

Auf Grund diefer Ergebniffe der Vorunterfuchung 
wurde der Angellagte verhaftet und wegen eines ‘Dieb- 
ftahls über 300 Rubel an Werth vor das Schwurgericht 
verwieſen. Die Verhandlung fand in Petersburg am 
20. December 1871 jtatt. Den Vorſitz führte ver Vice- 
präfivent bes Gerichts Fürft Kefuatow. Die Anklage 
vertrat ver Staatsanwalt Koni, die Vertheibigung hatte 
der Rechtsanwalt Ankowsky übernommen. 

Der Angellagte gab in der Hauptjache Folgendes an: 
„AUS der Diener mir am Morgen des 25. Auguft 1870 





154 Die VBermögensberaubung 


bie Nachricht brachte, Sſolodownikow ſei geftorben, begab 
ich mich in fein Schlafzimmer, um mich von jeinem Ab- 
leben zır überzeugen. Er lag im Bett auf ver Seite, 
ich wendete ven Körper jo, daß das Geficht nach oben 
gerichtet war, und faltete die Hände über der Bruſt. 
Dann befahl ich der Dienerjchaft, bei der Polizei Anzeige 
zu machen, und fuhr in die Stadt. 

„Sb war mit Sſolodownikow feit dem Jahre 1845 
befannt. Unfer Verhältniß war ein jehr freunbichaft: 
liches und intimes. Im Jahre 1848 ftarb meine Frau. 
Im Jahre 1851 machte mir Sſolodownikow den Vor- 
ichlag, ein ihm nahejtehendes hübfches junges Mädchen zu 
heirathen, und verfprach mir eine Mitgift von 25000 Rubel. 
Sch ging auf diefen mich entehrenden Antrag nicht ein, 
wir entzweiten uns und es fam zu einem völligen Bruche. 
Wir jahen uns 16 Jahre lang nicht wieder. Im Jahre 
1867 begegnete mir der DVerftorbene auf der Newsky— 
Perfpective. Er rebete mich an und bot mir an, zu ihm 
zu ziehen und bei ihm zu wohnen. Ich fagte zu ihm: 
wenn er mir eine Stelle geben wollte, jo ftünbe ich ihm 
zu Dienften, aber als Gefellichafter wollte ich nicht bei 
ihm leben. 

„Einige Zeit nachher forderte mich Sſolodownikow brief- 
ih auf, als Hausverwalter zu ihm zu kommen. Wir 
wurden einig und ich trat nun in feinen Dienft. Er 
erzählte mir, wie er in ben verfloffenen Jahren gelebt 
hatte, und fügte hinzu: Er jet jehr böſe geweien, daß 
ich die Heirath ausgeichlagen, und habe fich gefreut zu 
hören, baß ich in eine. recht fchlechte Lage und in Noth 
gerathen jet. 

„Ich erhielt anfänglich nur freie Station und monat- 
Gh 7 Rubel. Sehr oft mußte ich in Gejchäften zu ihm 
aufs Land, auch die ihm vom Arzte verorbneten Ein- 





bes Kaufmanns Sſolodownikow. 155 


reibungen machen, weil ich, wie er fich ausbrüdte, fo 
weiche Hände hätte. Er behandelte mich nicht gut, oft 
geradezu tyranniſch. Er fagte, er thäte dies, um mid) 
zu prüfen: 

„Sm Jahre 1868 wurde Sſolodownikow von feiner 
Köchin wegen jchwerer Beleidigung durch Schimpfivorte 
verflagt. Man hatte ihm mitgetheilt, es könnte wol fein, 
baß er deshalb ins Gefängniß wandern müßte. Er gerieth 
barüber in bie größte Angft. Er war fo außer fich, daß 
er mich bringend bat, die Sache gütlich beizulegen, und 
mir zu dieſem Behufe 10000 Rubel einhändigte. Ich 
ging zum Friedensrichter und hörte dafelbft, die Köchin 
habe 100 Rubel als Buße gefordert, ſei aber mit ihrer 
Klage, die fie durch Beweiſe nicht habe unterftügen können, 
abgewiejen worden. 

„Rah meiner Rüdtehr fette ich Sſolodownikow bier- 
von in Kenntniß. Er war fehr zufrieden, bedankte fich 
bei mir und frug nicht danach, was aus dem Gelbe 
geworben ſei. Er dachte vielleicht daran, wie ſchwer es 
war, ihm etwas recht zu machen, und daß in brei 
Sahren vierzig Perfonen feiner Dienerjchaft gewechielt 
hatten. 

„Sſolodownikow hatte wenig Umgang und wenig Be- 
kannte: feinen Arzt Dr. Heffe, den Regiffenr Kulikow 
und den Bankier Yubdwin. Zuneigung batte er auch 
zu biefen Perfonen nit. Er glaubte, daß Eigennutz 
und nicht Freundſchaft fie zu ihm führte, und ging nur 
beshalb mit ihnen um, weil er eine Unterhaltung haben 
wollte und an den Arzt einmal gewöhnt war. 

„Er fagte oft zu mir: von meiner Uneigennüßigfeit 
ſei er überzeugt und mir allein vertraue er unbedingt. 
Er weihte mich ein in alle feine Angelegenheiten und 
fpeifte und trank ausſchließlich in meiner Geſellſchaft. 


156 Die Bermögensberaubung 


„Der Berftorbene gehörte zu der Sekte ter Skopzen 
(Eunuchen, vie ſich aus religiöfen Gründen verftinnmeln 
laſſen). Als ver befannte Proceß gegen ven Sfopzen 
Plotisin geführt wurde, jchickte er mich mit einem Padet, 
welches wahrjcheinlich eine bedeutende Geldſumme enthielt, 
nah Moskau. Er nähte das mit zwei Siegeln ver- 
ſchloſſene Padet in meine Hofentafche und trug mir auf, 
es in Moskau einer Perfon zu übergeben, die zu mir 
fommen und mir ihren Namen nennen würbe. Ich voll- 
30g ben mir ertheilten Auftrag, in Moskan fand fich ein 
Kleiner alter Dann bei mir ein, erhielt von mir, nachdem 
er den richtigen Namen angegeben hatte, das Packet und 
entfernte fich ſodann fchleunigft, ohne daß weiter ein Wort 
gewechjelt wurde. 

„An dem Dr. Heffe misfiel dem Berftorbenen, daß er 
ein Lutheraner war und trotzdem ihn zum Pathen feines 
Kindes gebeten hatte. Am Tage vor feinem Tode fprach 
mir Sſolodownikow feinen heißen Dank aus für alle ihm 
erwiefenen Dienjte und für meine Freundſchaft. Er über- 
gab mir zur Belohnung dafür 15000 Rubel und jebte 
hinzu: er bleibe noch mit 10000 Rubeln in meiner Schuld 
wegen Erlebigung der Klage vor dem Friedensrichter. Ich 
erwiderte ihm, dieſe 10000 Rubel hätte ich ja in ber 
zur Nieberichlagung der Sache behändigten Summe fchon 
erhalten. Da fanf er auf die Knie und rief: «Gott fei 
Lob und Dank! Dir Iafcha (Jakob) danke ich jetzt meine 
volffommene Beruhigung!» ” 

Als der Präfident dem Angeflagten fein auffallenves 
Denehmen am Morgen des 25. Auguft vorhielt, ver- 
widelte er fich in Wiberfprüche und konnte feine genügende 
Erflärung geben. 

Auf Vorhalt in Betreff des werthuoflen Ringes und 
ber aus dem SHeiligenbilde heransgebrochenen Brillanten 





des Kaufmanns Sſolodownikow. 157 


fagte er aus: „Ich habe nach Sſolodownikow's Tod für 
den Unterhalt des Stadt- und des Landhauſes wenigſtens 
3000 Rubel von meinem eigenen Vermögen verausgabt. 
Dann kam der Neffe des BVerftorbenen, ver inzwiſchen 
ebenfall8 mit Tode abgegangene Waſſili Sſolodownikow, 
zu mir und bat mich um einen Vorfchuß, den er fofort 
nach dem Antritt der Erbichaft zurüczuzahlen verfprach. 
Ich Tonnte diefe Bitte nicht erfüllen, da forderte mich ber 
Erbe auf, ans dem Heiligenbilve die echten Steine heraus- 
nehmen und durch falfche erfegen zu laffen. Er bemerkte, 
er wolle das Bild dem Wanlamfcher Klofter ſchenken. 
Den Mönchen Tönne e8 gleichgültig fein, ob die Steine 
echt oder faljch wären. Sch habe den Auftrag beforgt, 
ben Erlös aus den verkauften Brillanten aber zum Unter- 
halt ber Häuſer verwendet.“ 

In Bezug auf den Ring wieverholte er feine frühere 
Angabe Er ftellte auf das beftimmtefte in Abreve, nach 
bem Tode feine® Herrn irgendetwas aus dem Nachlaß, 
insbeſondere größere Geldſummen ober Werthpaptere fich 
angeeignet. zu haben. 

Der als Zeuge vernommene Dr. Heffe hat ven Ber- 
jtorbenen wöchentlich zweimal befucht, er litt an Waffer- 
fucht und ift an diefer Krankheit geftorben. Sſolodownikow 
hat ihm wieberholt gefagt: er befite fo viel Geld, daß 
er ſich fast jchäme, die auf feine Obligationen der innern 
Anleihe fo oft fallenven größern und Tleinern Gewinne 
einzufaffiren. 

Dr. Heffe wiederholte, daß der Angellagte, mit dem 
er am 25. Auguft 1870 im Sterbezimmer zujammen- 
getroffen fei, einen Gegenftand unter dem Rode verborgen 
und beifeitegefchafft habe. 

Aus den Ausfagen des Regiſſeurs Kulikow ergibt fich, 
daß der BVerftorbene von feinem Bruder fünf bis feche 


158 Die Bermögensberaubung 


Millionen Papierrubel geerbt, luxuriös gelebt, Künjtler, 
insbefonvere Schaufpieler bei fich gejeben und gaftfrei 
bewirtbet hat, daß er große Geichäftsfpechlationen in 
Talg betrieben, fpäter.aber alles aufgegeben und fich in 
bie Einſamkeit zurücigezogen bat. 

Er zeigte dem Zeugen gelegentlich einmal die Schwie- 
len an feinen Händen und äußerte lächeln: vie habe 
ih mir beim Couponabjchneiven mit der Schere zu⸗ 
gezogen. 

Weiter wurde feitgeftellt, daß der Verftorbene bei dem 
Bankier Ljubaͤwin eine laufende Rechnung hatte, daß der 
legtere mit dem Angeflagten am Todestage im Sterbe- 
haufe und im Sterbezimmer gewejen war: daß beibe fich 
dort längere Zeit zu thun gemacht hatten, ebe ber Arzt 
und bie Polizei fich daſelbſt einfanden. 

Ljubawin gab vor Gericht als Zeuge unbeitimmte, 
ausweichende Antworten. Er erklärte, Sſolodownikow 
tönne unmöglich viel Geld bejeffen haben, benn er habe 
von ben ererbten fünf Millionen gleich eine Million an 
zwei Handlungsdiener feines verftorbenen Bruders ver- 
ihentt, beim Talggeſchäft über eine Million verloren 
und im Concurſe Podſoſſow's eine halbe Million ein- 
gebüßt., Der Bau der Waalamer Kirche ſei ihm theuer 
zu ftehen gekommen, und fein früheres fehr üppiges Leben 
habe ungezählte Summen verfchlungen. Bei ihm babe 
ber Verjtorbene bis zum Mai 1870 in laufender Rech⸗ 
nung bi8 30000 Rubel gut gehabt, dann aber das Geld 
erhoben. 

Sſolodownikow habe feinem Bruder, auf deſſen Ver- 
onlaffung er entmannt worben jet, geflucht und mit ver 
Sekte der Sfopzen niemals Verkehr unterhalten. 

Dr. Heſſe jei eine8 Tages zu ibm gefommen und 
habe fich erfunbigt, ob der Verftorbene ein Teftament 





des Kaufmanns Sſolodownikow. 159 


hinterlegt und etwa feinem Pathen (dem Sohne bes 
Dr. Heſſe) ein Legat ausgefegt habe. 

Auf den Vorbalt, daß der Zeuge mit dem ‚Angeklagten 
im Sterbezimmer allein.gewefen fei und daß er ſich dann 
in ein Zimmer bes obern Stodes ‚begeben habe, ant- 
wortete Ljubawin: Das fei gejchehen um eine Cigarrette 
zu rauchen. Bei der Leiche habe er das Rauchen für 
unpafjend gehalten — um fo mehr, weil man bie Geiſtlich⸗ 
feit zur Todtenmeſſe erwartet habe. 

Dr. Heffe, der mit Ljubaͤwin confrontirt wurde, gab 
an: in Sſolodownikow's Schlafzimmer habe ſtets eine 
Kifte mit Cigarren gejtanden, ber Angeklagte hätte ihm 
am 25. Auguft eine Cigarre daraus angeboten und 
Ljubawin, der damals ſelbſt tauchte, habe noch vie Be⸗ 
merlung gemacht: das ſeien Cigarren für Bauern, und 
ihm aus feiner Cigarrentajche eine Cigarre gereicht. 

Der Diener Kolofjow wiederholte feine frühere Aus- 
füge. Er hat gejehen, daß der Angeklagte Papiere aus 
der Kommode an fich genommen hat und mit venjelben 
in das Zimmer gegangen ift, in welchem fich Liubawin 
befand. Der leßtere hat ihm, wie er behauptet, damals 
eine Stelle in feinem Haufe angeboten, aber ihn, als er 
fih fpäter dazu meldete, abjchlägig bejchieden. 

Der Angejchuldigte richtete die Frage an ben Zeugen: 
ob er nicht eined Zages der Wäſcherin geklagt habe: es 
tei ihm eine Weite abhanden gefommen, in deren Taſchen 
io viel Geld gewejen fei, daß e8 für ſein ganzes Leben 
ausgereicht haben würde. 

Koloſſow antwortete: Ja, es iſt mir eine Weſte weg⸗ 
gekommen, es waren aber nur 70 Rubel darin, die ich 
mir von meinem Lohne erſpart hatte. 

Die Hausknechte und der Gärtner verſicherten, der 
Angeklagte habe ihnen ſtreng unterſagt, der Polizei Anzeige 


160 Die Bermögensberaubung 


von dem Todesfalle zu erjtatten ober mit irgendjemand 
darüber zu jprechen. 

Nachdem noch verjchtevene Rechnungen, Zeugnifje und 
‚etlihe Auszüge aus dem umfangreichen Tagebuche des 
Berftorbenen verlefen worden waren, nahm der Staats⸗ 
anwalt das Wort und begründete die Anklage folgenper- 
maßen: 

„Meine Herren Richter und Gefchworenen! 

„Am 25. Auguft 1870 ftarb in feinem bei der Forſt⸗ 
afademie, ganz nahe bei der Stadt Petersburg gelegenen 
Hanfe der Rentner Nikolai Sfolodownifow. Er war nicht 
verheirathet, gehörte der Selte ver Skopzen an und galt 
nicht ohne Grund für reich. 

‚Nach feinem Tode fanden fich indeß nur Wechjel und 
Schuldfcheine im Betrage von 77000 Rubel und 28 Rubel 
baares Geld vor. Die Papiere waren noch nicht fällig, 
ber reihe Mann hätte alfo fchon in den nächiten Tagen 
nicht mehr das zu den nöthigften Ausgaben erforberliche 
Geld gehabt, wenn er nicht noch gerade zur rechten Zeit 
gejtorben wäre. 

„Die Staatsanwaltichaft glaubt nicht an dieſe unerflär- 
liche plötzliche Verarmung. Sie vermutbet vielmehr, daß 
bie Verarmung erft nach dem Tode bes Verftorbenen zum 
Nachtheil feiner Erben raſch und auf ſchlaue Weile herbei« 
geführt worben tft, daß ein Mann den Raub bewirft bat, 
welcher fich für einen Freund Sſolodownikow's ausgibt 
und niemald® den Pfad der Ehre und Treue verlaffen 
haben will. 

„Um bieje Behauptung zu beweifen, müfjen wir einen 
Blick auf die Berjönlichfeit des Verjtorbenen und auf bie 
Deziehungen zu feiner Umgebung werfen. Die Ausfagen 
ber Perfonen, die ihm nahe ſtanden, und fein umfang- 
reiches, feit 20 Jahren mit ziemlicher Genauigkeit ge- 





des Kaufmanns Sſolodownikow. 161 


führtes Tagebuch machen e8 uns möglich, ein deutliches 
Bild von Sſolodownikow zu zeichnen. 

„Das Schickſal des Wilmanſtand'ſchen Kaufmanns 
Nikolai Nafarowitih Sſolodownikow war ein überaus 
tragifches. AS er die deutſche Petriſchule befuchte, in 
welche er nach ben noch vorhandenen Zeugniffen mit 
guten Kenntnifjen in den fremden Sprachen eingetreten 
war, wurde er eine Waiſe. Sein älterer Bruder, ein 
alter einflußreicher Skopze, nahm ihn aus der Schule. 
Er wollte die Seele des Knaben retten, indem er das 
Fleiſch für immer tödtete. Im einer ber «Radenic» ge- 
nannten ©ebetsverfammlungen feiner Glaubensgenoffen 
wurde ber vierzehmjährige junge Menfch gewaltſam ver- 
ſtümmelt und blutüberftrömt in ein geheimes Nebengemach 
getragen, um bajelbft verbunden zu werben. Während 
dies geſchah, jtimmte die bei feinem Bruder verfammelte 

fopzengemeinde Lobgefänge an und dankte dafür, daß 
bie Schar der «Weißen Lauben» ſich wieder um ein 
Täubchen vermehrt habe. 

„Der Knabe genas und lebte fortan bei feinem Bruder, 
ber ihn völlig beherrſchte. Als er älter wurde und 
begriff, daß er auf unmenſchliche Weife verftünmelt 
worden und infolge befjen unfähig war, fich zu ver- 
heirathen und ein Samtlienleben zu gründen, entbrannte 
in ihm ein großer Zorn. Er fing an feinen Bruder zu 
haffen und wollte mit ihm und der Selte der Skopzen 
feine Gemeinschaft mehr haben. Er entwich heimlich und 
ließ fich weber burch Bitten noch durch Drohungen bes 
wegen wieder zurüdzufehren. Sein Bruder nahm bie 
Hülfe der Polizei in Anfpruch und erklärte, daß er ihn 
enterben würde. Aber noch ehe er dieſen Vorſatz aus- 
geführt hatte, ereilte ihn der Tod. Nun war Nikolai 
Siolopownifow jein eigener Herr und ber Beſitzer eines 

XXIII. 11 





162 Die Bermögensberanbung 


großen Vermögens, welches von dem Bankier Ljubawin 
und dem Börfenmafler auf fünf Millionen Rubel gefchägt 
worden ift. Er befaß nicht blos Werthpapiere, ſondern 
auch ein Haus am Boulevard der reitenden Garbe in 
Petersburg, welches päter fir 200000 Rubel an ben 
Fürſten Kotſchubei verkauft wurde, zwei Seejchiffe und 
mehrere Waarenlager. 

„Nikolai Sſolodownikow war allerbings ein Stopze 
geworden, aber wiber feinen Willen. Er gehörte nach 
feinen Anfichten und Gewohnheiten nicht zu dieſer finftern 
Sefte, ſondern war ein lebensluftiger junger Mann, ein 
Freund ber ſchönen Künſte. 

„Er bezog das Haus ſeines Bruders, entließ die Diener⸗ 
ſchaft deſſelben, nachdem er ſie freigebig belohnt hatte, und 
ſchenkte zwei alten Commis eine Million Rubel. Er be- 
gann ein Leben herrlich und in Freuden. Das ganze 
Haus wurde neu und luxuriös eingerichtet, er ſchaffte 
fih theuere Pferde an, hielt offene Tafel für Künftler 
und Schaufpieler, denen er auch in Geldverlegenheiten 
aushalf, und oftmals hörte man jett in dem alten finjtern 
Stopzenhaufe bis tief in die Nacht den Klang der Becher, 
das Lachen und Singen einer fröhlichen Zechgefellichaft. 

„Bei jeder erſten Theatervorjtellung ſah man den an 
bem weibijchen, bartlojen und aufgedunſenen Geficht, ſowie 
an der plumpen behäbigen Geſtalt Leicht kenntlichen Theater⸗ 
freund Nikolai Sſolodownikow in den erjten Reiben der 
Lehnſtühle fiten. 

„Das Geichäft gab er ganz auf, nachdem er in einer 
Zalgfpeculation eine Million und bei dem Concurs bes 
Handlungshaufes Podſoſſow eine halbe Million verloren 
hatte. Er befaß noch immer Geld genug, um ganz nach 
jeinen Neigungen zu leben und fich alles anzuichaffen, 
was jein Derz begehrte. Es iſt bewiefen, daß er nad 


bes Kaufmanns Sfolobownilom. 163 


jenen Berluften und nach dem Bau der Kirche in Waalam 
die ibm 50000 Rubel Toftete, noch 169000 Rubel in 
fünfprocentigen Papieren, 30000 Rubel in laufender 
Rechnung beim Bankier Ljubawin, eine große Summe 
in Papieren ber tnnern Anleihe und außerdem fein Haus 
in der Stabt, fein Landhaus und viele werthvolle Gegen- 
ftände befaß, 3. B. ein Heiligenbild im Werthe von 
12000 Rubeln. 

„Er Tonnte kaum die Hälfte feiner jährlichen Einkünfte 
verbrauchen, denn in den fechziger Jahren hatte er feine 
Lebensweije gänzlich verändert. Er war nicht mehr ver 
gaftfreie Mäcenat, der eifrige Theatergaft und Freund 
in ver Noth, auch nicht mehr der freigebige Beiſitzer des 
Hofgerichts, der fein Gehalt den ärmern Beamten über- 
fieß und freigebig für die Aufbefferung der Gefängniffe 
und Gefangenen ſorgte. Er war ein einfamer, ab- 
geichloffener Dann geworden, ver mit feinem Menſchen 
mehr vertraulich verkehrte, ein Geizhals, ver jede Aus- 
gabe ſcheute. Sein Tagebuch läßt erkennen, wie fich dieſe 
Umwandlung ‚vollzogen hat. Da fteht gejchrieben, daß 
ihn die Rolle eines Freundes der Kunft und eines Be— 
ſchützers ver Künſtler nicht mehr befriedigte, Das geräufch- 
volle Treiben wurde ihm läftig, er glaubte zu bemerken, 
daß man ihm nur ausbeuten wollte. Seine Gedanken 
wendeten fich ab von dem eiteln weltlichen Wejen, er fehnte 
fich nach dem Glück eines ftillen friedlichen Familienlebens. 
Wir lefen in jenem Tagebuche: «Die Gebete eines einſam 
ſtehenden Menjchen find Wünfche und Forderungen eines 
Tamilienvaters. Ein theilnehmenvder Blick einer theuern 
weiblichen Seele ift tauſendmal mehr werth als feine 
Rolle gut jpielen.» | 

„Das troftloje Bewußtfein feines phyſiſchen Unvermögens 
erfüllte ihn mit Groll und Bitterfeit. In feinem Tage⸗ 

11* 


164 Die Bermögensberaubung 


buche finden fich zwei Frauennamen, benen Kojewörter 
beigejegt find, aufgezeichyet. Es fcheint, Daß Sſolodownikow 
ein Opfer habfüchtiger Kofetterie geworben ift, daß Damen 
fich ihm genähert haben, die e8 auf feine Börfe abgejehen 
hatten. Vom Jahre 1854 an enthalten die Blätter des 
Tagebuch Mehr und mehr bittere Bemerkungen über bie 
Menschen, vie ihn branpfchagen wollen. Er nennt fie 
Heuchler und jagt 3. B.: «Da kam heute jo einer, um 
zu gratuliren und fich nach meiner Gefunbheit zu er- 
fundigen. Ich weiß fchon, du jcheinheilige Frage, worauf 
du binausgehit, was bein Beſuch beventet. Du möchtet 
verfuchen, ob fich wieder etwas herausloden läßt. Ich 
habe dich aber gehörig ablaufen laſſen, ich habe immer 
gethan, al® ob ich dich nicht verftände, und dir nur Thee 
angeboten.» 

„In Verzweiflung barüber, wie er die Oede feines 
Lebens ausfüllen könne, Tauft er wieder Pferde und be- 
theiligt fih am Sport. Aber fchon nach Sahresfrift 
verfauft er alles, was zum Stall gehört. Er legt fidh 
auf die Taubenzucht, baut prachtvolle Kioske, ſchafft fich 
bie jchönften Exemplare an und fcheint fih am Fluge 
der Thiere zu freuen. Allein ſehr bald ift er ihrer eben- 
falls überdrüſſig und wendet fih nun religidfen Be— 
ftrebungen zu. Auf Kulikow's DVeranlafjung erfüllt er 
Streng alle Vorfchriften der Kirche. Er lieſt das Leben 
der Heiligen, erbaut fih an dem von Gott gejegneten 
Wirken des Vorſtehers des - Sſarowskiſchen Klofters 
Sjerafim, macht Auszüge aus der «Nachfolge Ehrifti » 
und wallfahrtet nach verjchievenen Klöftern. Vor allen 
zieht ihn das auf einer Inſel im Lapogafee gelegene 
Klofter Walaam an. Dort beruhigt ihn bie wilde groß. 
artige Natur und nicht minder die Strenge, mit welcher 
die Mönche ihre Pflichten erfüllen. Er entjchließt fich, 


des Kaufmanns Sſolodownikow. 165 


ein Jahr lang in diefem Klofter zu leben und auf dem 
in den See binausragenden Felſen eine Kirche zu bauen. 

„Aus dem Zagebuche aus biefer Zeit erfieht man, 
daß die trüben Einprüde des Stadtlebens verſchwinden. 
Vriebliche, gottergebene Gedanken beherrichen ven Schreiber. 
Aber plöglich tritt wieder eine gänzliche Umwandlung ein. 
Im Begriffe, auf Turze Zeit nach Petersburg zurüdzu- 
kehren, bejucht er feine Kirche noch einmal, wo er «von 
Herzen ‚und aus ganzer Seele, frei von allem irbifchen 
Zreiben beten fonnten. Getröftet und zufrieden ging er 
in feine Wohnung. Dort erwartete ihn Vater Damaskin. 
Er wünſcht ihm zunächſt glücliche Reife, dann zieht er 
ein Papier heraus umd lieft e8 Sſolodownikow vor. Es 
enthielt eine Aufzählung alles deſſen, was man für das 
Klofter noch thun könne, wenn Sſolodownikow fich ent- 
fhhlöffe, eine Million Rubel zu fpenben. 

„Damaskin, der Vorſteher des Klojters, war ein 
asfetifcher, ftrenger, energiicher Mann, dem das Wohl 
feines Klofters über alles ging. Wahrfcheinlich hatte er 
das Kloſterleben Sſolodownikow's für einen volljtändigen 
Bruch mit der Welt gehalten une deshalb gehofft, ihn zu 
einer jo großen Schenfung beftimmen zu können. Un- 
Hugerweife deutete Damaskin in biefem Gefpräche darauf 
hin, daß Sſolodownikow zu ber Sekte der Sfopzen 
gehöre. Das traf den letztern an ber verwunbbariten 
Stelle. Peinlich eingewurzeltes Mistrauen, fein Haß 
gegen die Menjchheit, die ihn ausbeuten wollte, machte 
von neuem auf, Es erfaßte ihn eine furchtbare Wuth. 
Am liebſten hätte er das Papier fortgefchleubert, aber er 
nahm fich gewaltfam zufammen und that jo, als ob er 
den Vorſchlag überlegen und vielleicht annehmen wollte. 

„Er verließ das Klofter auf Nimmerwiederfehen. Auf 
dem Dampfboote, welches ihn fortführte, fchrieb er in 





166 | Die Bermögensberaubung 


fein Tagebuch: «Das war ein Tag, ben ich nie in 
meinem Xeben vergeffen werde! Ihr verabjcheut mich 
alſo. Ich bin ein gottverfluchter Skopze, den ihr nicht 
um jeiner fündigen Seele, fondern nur um feines Geldes 
willen zugelafjen habt. Meine Million war es aljo, die 
ihr beburftetl» Seine Seelenruhe war gänzlich dahin. 
Statt mit Gebeten und frommen Reden füllt er fein 
Zagebuch mit Klagen über die Habjucht der Menjchen, 
mit Ausdrücken der Entrüftung und mit Schimpfworten. 

„Ex zerichnitt das Band mit dem Klofter gänzlich. 
Nah feinem Tode fchrieb der Vorſteher Damaskin an 
ben Unterfuchungsrichter: «Bald nach der Einweihung 
ber Kirche verließ Sſolodownikow das Klofter. Obgleich 
wir uns voll Dank und Anerkennung mehreremal fchrift- 
Ich an ihn wandten, erhielten wir doch nie eine Ant- 
wort. Er ließ feinen ver Klofterbrüder wieder vor fich.» 

„Nach feiner Rückkehr nach Petersburg führte er das 
Leben eines Einſiedlers. Einen großen Theil des Jahres 
brachte er auf feinem, von einer hoben Mauer um- 
ſchloſſenen Landhauſe zu. Er brach alle gefellichaftlichen 
Beziehungen ab, fchimpfte auf feine Dienerfchaft, ſchränkte 
fih auf das äußerſte eim und erjchredte die Kinder des 
Gärtners, die mitunter in den Garten famen, durch fein 
wüſtes Gefchrei. 

„Sein Tagebuch wird von nun an fehr langweilig. 
Man findet darin feinen eblern Zug mehr, feine warme 
Empfindung. Faſt aus jeder Zeile fpricht Geiz, Hab⸗ 
gier, Mistrauen und der ftärkfite Egoismus. Er führt 
ein ödes, tranriges Leben. Mit Ausnahme von Kulikow 
und Dr. Hefje fieht er nur feine Dienerfchaft. Nur mit 
großer Mühe erreicht der Arzt, daß er fich etwas befier 
ernährt. Seinen einzigen Berwandten, einen leiblichen 
Neffen, läßt er darben, er will nicht, daß er jemals zu 





bes Kaufmanns Sſolodownikow. 167 


ihm kommt. Argwöhniſch bewacht er eine Fleine eiſerne 
Chatoulle, die fein Geld und feine Werthpapiere birgt. 
Unerwartet und plößlich rafft ihn der Tod hinweg. Kein 
Menſch fteht ihm bei in ver legten Noth. Er wird, nad)- 
dem er kaum den legten Atbemzug gethan hat, beraubt 
und ausgeplündert, gleichgültig ftehen die Hausgenoſſen 
mit brennenden Cigarren um ben Todten herum, beim 
Wafchen geht man fo unvorfichtig zu Werke, daß der 
Kopf der Leiche auf ven Boden fchlägt. Ein roher Haus- 
knecht fpottet: «Aha, jetzt fiehft bu nichts mehr, im 
Sommer aber bemerften beine Luchsaugen alles und du 
verſtandeſt zu jchimpfen.» 

„Dei der Lebensweiſe des Verftorbenen ift es unmög⸗ 
Gh, daß fein Vermögen in den legten Jahren fich ver- 
mindert hat. Es muß erheblich gewachſen fein. Wie fommt 
e8 num, daß fich nur wenige Rubel baares Gelb vor- 
fanden, als er die Augen gejchloffen hatte? Warum hat 
die Polizei die Verfiegelung fo fpät vorgenommen? Daran 
ift der Angellagte ſchuldig. Er verbot den Hausgenoſſen, 
ben Todesfall anzuzeigen, er legte ihnen Stillichweigen 
auf. Er, der fih den Freund des Todten nennt, fagt 
uns: «Wir kannten einander jchon feit 1845. Ohne mich 
fonnte Sſolodownikow weder. eſſen noch trinken, mic, 
mich allein Tiebte er, der fonft niemand liebte, mich ſah 
er gern bei ſich, mir vertraute er unbegrenzt alles an.» 

„Aber wie ftimmt zu diefer Behauptung das Benehmen 
bes Angeflagten? ALS er ven Tod feines Freundes von 
dem Diener Koloffow erfährt, bleibt er völlig theilnahm⸗ 
los. Den Leichnam überläßt er der Dienerjchaft und 
fein Menſch bemerkt etwas davon, daß der Todte feinem 
Herzen nahe geftanden hat. Durch die Verhandlung tft 
bewiejen, daß das Verhältniß zwifchen Sſolodownikow 
und Sfuslenilow fein freumdichaftliches geweſen ift. 





168 Die Bermögensberaubung 


„Der Verftorbene hat dem Angeklagten Geld angeboten, 
wenn er ein Mädchen, welches dem erjtern nahe ftand, 
heiratben wollte. Im den Geiprächen mit Kulikow und 
Dr. Heffe hat er feinen Hausverwalter Sſuslenikow einen 
Räuber genannt, ihn mit noch andern Schimpfworten 
belegt und gejagt, er fei zu allem fähig, fogar fähig, 
ihn umzubringen. Sſolodownikow bat den Angellagten 
tyrannifirt, ſich über feine zerrüttete Vermögenslage ge- 
freut, ihm nur 7 Rubel monatlichen Lohn gezahlt und 
geäußert: er werbe ihn fo fahl wie eine Rate, ohne 
Hofen, wie er gefommen fei, aus dem Haufe jagen. 
Daraus ergibt fih, daß er nicht der Freund bes An- 
geflagten gewefen tft. 

„Siuslenilow bat ein Märchen erzählt von einer 
geheimnißvollen Reiſe nach Moskau, daß der Verftorbene 
ihm ein Padet mit einer bebeutenden Geldſumme in bie 
Hofentafche genäht und daß er daffelbe in Moskau einem 
geheimnißvollen alten Mann habe überbringen follen. 
Er jucht glauben zu machen, daß Sſolodownikow ge- 
fürchtet habe, man werde ihn in die Unterfuchung 
wider den befannten Sfopzen Plotikin verwideln. Aber 
es ift ja bewiefen, daß Sſolodownikow nicht freiwillig, 
jondern durch einen Act brutaler Gewalt Mitglied der 
Stopzenfelte geworben ift. Kaiſer Nikolaus felbjt bat 
Mitleid gehabt mit dem Schickſal des unglüclichen 
Mannes und ihm veshalb alle Rechte zuerkannt, bie 
ven Sfopzen nach dem Geſetz entzogen werben. Infolge 
deſſen konnte er fogar, wie Ihnen befannt ift, in ben 
funfziger Iahren Ehrenmitgliev und Beifiker des Hof- 
gericht fein. Sſolodownikow hatte von den Strafen, 
bie damals über die Sfopzen verhängt wurben, nichts 
zu fürchten. Er hatte nicht die mindefte Urjache, dieſe 
ihm verhaßte Sekte mit Gelpmitteln zu unterjtüßen. 





des Kaufmanns Sſolodownikow. 169 


Die ganze Erzählung des Angeklagten ift augenscheinlich 
erfinden. 

„Der Angeklagte hat uns mitgetheilt, daß er 10000 Rubel 
von feinem Herrn empfangen babe, um die Klage feiner 
Köchin rüdgängig zu machen. Die Klage, in welcher die 
Köchtn nur 100 Rubel Schadenerſatz gefordert hatte, war 
vom Friedensrichter abgewieſen worden. Dies verichivieg 
Sſuslenikow und begnügte fih mit dem magern Berichte, 
bie Sache fei erledigt. Er behauptet, fein Herr habe ihm 
eine Belohnung geben wollen und fich deshalb nicht er- 
fundigt, was aus ben 10000 Rubeln geworben jet. 
Richtiger wird es fein, wenn wir jagen, daß der An- 
geflagte fich diefe Summe betrügerifch angeeignet hat, 
indem er vorfjpiegelte, fie jet für die Vergleichung des 
Brocefjes verausgabt worden. 

„Ganz unglaubhaft ift die Gefchichte von dem Verkaufe 
ber Brillanten aus dem SHeiligenbilde durch den An- 
geflagten. Er widerſpricht fich Hierbei, denn er jagt 
anfänglich «der Verftorbene» und fpäter «Waſſili Sſolo⸗ 
downilow» habe ihm ben Auftrag dazu ertbeilt. . 

„Mag fich dies verhalten, wie e8 wolle, e8 fteht feft, 
daß der Angeflagte über ven Verkauf der aus dem Bilde 
berausgenommenen Brillanten Teine Rechnung gelegt, 
ſondern das Geld behalten und folglich unterfchlagen bat. 

„Stuslenifow lebte, wie wir wiſſen, bis zum Tode 
feines Herrn in fehr ärmlichen Verhältniffen. Ein Zimmer 
in Petersburg und 7 Rubel Monatögehalt war alles, 
was er hatte. 

„Als nach dem Ableben feines Herrn Hausfuchung bei 
ihm vorgenommen wurde, war er ein reicher Mann. Er 
befaß 40000 Rubel in Wechjeln, 7000 Rubel in fünf: 
procentigen Papieren, Rechnungen über 35000 Rubel in 
Bankactien und 950 Rubel baar. Er gibt an: 10000 Rubel 


170 Die Vermögensberaubung 


habe ihm ver Verftorbene gegeben, um die Injurtenflage 
ver Köchin rücdgängig zu machen, 15000 Rubel habe er 
ibm Turze Zeit vor feinem Ableben gefchenkt, um ihn für 
feine Dienfte und feine Freundſchaft zu befohnen, und 
etwa 3800 Rubel betrage der Erlös aus dem uns be- 
fannten Ringe und ben Brillanten des Heiligenbildes. 
Wir haben dargethan, daß die Angaben in Betreff der 
10000 und ber 15000 Rubel nicht wahr fein Tönnen. 
Aber wenn fie wahr wären, würde baburch doch nur ber 
Befit von 28800 Rubel erklärt. Wie fommt e8, daß 
man rund 83000 Rubel bei ihm gefunden hat? Auf 
welche Weife bat er die ungefähr 54000 Rubel erworben, 
deren Befit er nicht zu erklären vermocht hat? 

„Meberbies will er auch noch 3000 Rubel zur Unter- 
haltung des Stabt- und bed Landhauſes verwendet haben, 
und hat feinerfeits ein Koftjpieliges Leben geführt, nach- 
dem fein Herr die Augen geichlofjen batte. 

„Meine Herren Geſchworenen, Sie kennen den Charafter 
des Verftorbenen und werben die Angaben des Angeklagten 
nicht glauben. Ein Menſch, der jeve Kopeke genau an⸗ 
fieht und fich ſelbſt alles entzieht, wergißt nicht, daß er 
10000 Rubel an feinen Hausverwalter gegeben hat, 
jondern verlangt Rechnungslegung. Ein foldher Mann 
quält fich nicht mit dem Gedanken, daß er feinem Freunde 
nur 15000 Rubel und nicht 25000 Rubel als Belohnung 
geben kann. Es ift völlig unglaublich, daß ein Menſch, 
der nur an fich denft und nur noch 28 Rubel im Haufe 
hatte, wie ber Angellagte behauptet, eine Summe von 
15000 Rubel heimlich weggibt. Er wußte ja nicht, daß 
er plöglich fterben würbe, und wäre jchon in den nächiten 
Zagen in bittere Noth gerathen. 

„Freilich ift e8 nicht richtig, daß Sſolodownikow nur 
noch 28 Rubel beſeſſen habe, als er ftarb, denn im Mat 





bes Kaufmanns Sfolodownilom. 171 


hatte er vom Bankier Liubawin 30000 Rubel zurüd- 
gezahlt befommen. Seit jener Zeit hat er fein Haus 
nicht verlaffen und äußerſt fparfam gelebt. Es ift nicht 
möglich, daß er bis zu feinem Tode, alfo in etwas mehr 
als drei Monaten, 15000 Rubel verausgabt haben foll. 
Er verbrauchte bei feiner Lebensweile überhaupt nur 
5000 Rubel jährlich. 

„Sſuslenikow ift nach feiner Erzählung reichlich belohnt 
worden für feine Verdienſte. Sein Wohlthäter liegt im 
Grabe und ift ſtumm. Was hat er aber gethan, als 
jein Freund ftarb: er bat befohlen, den Todesfall zu 
verjchweigen, er bat bie Schublaben der Kommode ges 
öffnet, in welcher der Verftorbene feine Wertbpapiere und 
fein baares Geld aufbewahrte, er hat heimlich unter feinem 
Node etwas weggeichleppt, al8 er vem Dr. Hefje begegnete, 
und wie der Zeuge Koloffow fah, einen Gegenftand ver- 
ftedt in fein Zimmer im obern Stod getragen. 

„Hat er vielleicht die Einnahme» und Ausgabebücher 
beifeitegefchafft, die Sſolodownikow mit ziemlicher Ge- 
wifjenhaftigfeit führte? Sie find fpurlos verſchwunden, 
und auch das Vermögen des Verjtorbenen ift verſchwunden. 
Ich glaube den Ausfagen der Zeugen, ich glaube auch, 
baß ber Angeklagte dem Diener Koloffow gegenüber ge- 
Hagt bat: ihm fchüttle ein Fieberfroſt. Es war ber 
Sieberfroft des böſen Gewiffens. 

„Er bat felbjt gefühlt, wie mangelhaft feine Erflärungen 
über den Urjprung feines Vermögens find. Deshalb fucht 
er zu beweifen, daß Sſolodownikow bet feinem Tode nichts 
mehr beſeſſen habe, was geraubt werben fonnte. Wir 
haben die Märchen von dem Greife in Moskau, ber eine 
große Summe Geld heimlich empfangen fol, und alles, 
was dahin gehört, bereit8 gewürdigt. Es ift dem An- 
geflagten nicht gelungen, dieſen Beweis zu Tiefern, es ift 


172 Die Bermögensberautuugbesx. Eiolchomwnifow. 


ihm nicht gelungen, tie Berbachtsgrünte, bie gegen ihn 
iprechen, zu entkräften. Meiner Meinung nad muß 
Ihnen, meine Herren Geſchworenen, vie Sache Har jein. 
Ich Hage Siuslenilow an, ven Tor Sſolodownikow's benutt 
zu haben, um jein Bermögen, joweit ed ihm möglic, war, 
zu ranben, und zwar jevenjalld eine ven Betrag von 
300 Rubel, von welchem das Strafgeſetzbuch fpricht, weit 
überjteigende Summe an fich zu bringen. 

„Der Angellagte bat uns gejagt, daß eine der Urſachen 
von ber großen Zuneigung Sſolodownikow's zu ihm bie 
weichen Hänbe gemweien wären, bie ibm bei ben Ein- 
reibungen jo woblgethan hätten. Bielleicht wird Ihr Ber- 
dict beweiſen, daß jeine weichen Hände auch recht lange 
Finger hatten.” 

Der Bertheibigung gelang e3 nicht, ven Staatsanwalt 
zu widerlegen. Ihre Ausficht auf Erfolg war von vorn- 
herein hoffnungslos, weil die Erzählungen des Angellagten 
gar zu unglaublic waren. Die öffentliche Meinung ging 
jogar noch weiter als tie Anklage. Sie legte dem un- 
getrenen Hausverwalter nicht blo8 die Bermögensberaubung, 
fondern fogar ven Tod feines Herru zur Laft, obgleich 
ed dafür an jevem fihern Grunde fehlt. Die Gejchworenen 
ſprachen das Schulvig aus und ber Gerichtöhof verurtheilte 
den Angeflagten zu dem Berlufte aller bürgerlichen Rechte 
und zur Verbammmg in das Gouvernement Tomsk in 
Weftfibirien. 


Die Ermordung des Collegienaſſeſſors Tſchicha⸗ 
tſchew. 


(Petersburg.) 
1873. 1874. 


Am 26. November 1873, 5 Uhr nachmittags, kamen 
der verabſchiedete Stabskapitän N. und ſeine Frau zu 
dem in Petersburg, Sachäsjewskoiſtraße, im Haufe Popow 
wohnenden Collegienaſſeſſor a. D. Tſchichatſchew. Nach 
einem kurzen Wortwechſel erhielt Tſchichatſchew von dem 
Stabskapitän eine kräftige Ohrfeige. 

Es entſtand eine Schlägerei, N. verſetzte ſeinem Gegner 
einige Meſſerſtiche, von denen zwei in die Bruſt tödlich 
waren, Frau N. gab auf Tſchichatſchew aus einem acht- 
läufigen Revolver zwei Schüffe ab, ohne ihn zu treffen. 
Sie wurden von dem herbeigeeilten Hausfnecht Woronin 
und andern Perjonen getrennt. 

Tſchichatſchew ftarb an den erhaltenen Wunden. 

Die VBorunterfuchung ergab Folgendes: Frau N. hatte 
als Mädchen, während fie im Iahre 1867 in ver Familie 
ihres Bruders auf deſſen Landgute lebte, ein intimes 
Verhältnig mit dem das Haus befuchenden verheiratheten, 
aber von feiner Frau getrennt Iebenden Tſchichatſchew 


174 Die Ermordung 


angefnüpft, welches einige Monate vor ihrer Verheirathung 
mit dem Stabsfapitän N. abgebrochen wurde. Vor ber 
Hochzeit Tieß fih Frau N. von Tſchichatſchew das Ver- 
iprechen geben, daß er über feinen Umgang mit ihr das 
tieffte Schweigen beobachten würde. Auf ihren Wunſch 
wohnte er im Mai 1868 ihrer Hochzeit als Zeuge bei. 
Ihrem Manne fagte fie weder vor noch nachher etwas 
von den Beziehungen, die fie als Mädchen zu Tſchichatſchew 
gehabt Hatte, Der Stabsfapitän N. äußerte fpäterhin, 
er habe zwar unbeftimmte Gerüchte über das Vorleben 
feiner Frau gehört, aber nie an die Möglichkeit gedacht, 
daß fie vor der Ehefchliegung fich einem andern Mann 
hingegeben und ihn betrogen habe. Sechs Iahre lang 
lebte das Ehepaar einig und zufrieven. Im Juni 1873 
erfuhr Frau N. von ihrer Schwägerin, daß Frau Tſchicha⸗— 
tſchew von ihr als von einem unmoralifhen, ehr- und 
ſchamloſen Weibe rede. Site glaubte, Tſchichatſchew habe 
fein Wort nicht gehalten, und fürchtete, ihrem Manne 
könne die Sache hinterbracht werben. Sie entjchloß fich 
deshalb alles zu geitehen, und thbeilte ihm eines Tages 
mit: Tſchichatſchew habe fie im Haufe ihres Bruders 
verführt, fie habe feine Anträge und Lockungen abgewieſen, 
aber er ſei immer zubringlicher geworben, habe enblich 
Gewalt gegen fie gebraucht und fie fei ihm — aber nur 
ein einzige8 mal — unterlegen. Ihr Mann war Ääußerft 
aufgebracht. Er forderte von ihr, fie folle dies in feiner 
Gegenwart dem Tſchichatſchew ins Geficht jagen. Beide 
reiften nach Aſchewo, wo fich Tſchichatſchew auf dem Gute 
bes Landedelmannes Nikolai Zerejchlewitich befand. Dort 
angelangt ftiegen fie in einer Zuhrmannsherberge ab, und 
der Stabsfapitän ließ den Collegienaſſeſſor bitten feine 
Frau zu befuchen. Tſchichatſchew erjchien, die Thür wurde 
hinter ihm abgefchloffen und Frau N. erflärte ihm: fie 











des Sollegienaffeffors Tſchichatſchew. 175 


babe ihrem Manne bekannt, was früher zwiſchen ihnen 
vorgegangen jei, fie erimmerte ihn an bie nähern 
Umftände und verlangte, er folle ihre Ausſage be- 
ftätigen. 

Tſchichatſchew war fehr verwundert über dieſe Scene. 
In der Meinung, der Stabsfapitän N. habe von einer 
britten Perfon Kemtniß von dem verbotenen Umgang 
feiner Frau mit ihm erlangt, nahm er alle Schuld auf 
fih. Der Stabslapitän nannte ihn hierauf einen Schurken 
und eröffnete ihm, fein Verbrechen müßte beftraft werben. 
Frau N. mahnte ihn an fein ihr gegebenes DVerfprechen, 
baß er bereit fei, jein Leben für fie zu opfern, und fügte 
Hinzu: _jegt ſei bie Zeit gefommen, das Gelübde zu er- 
füllen, er babe nur noch fünf Minuten zu leben. Dabei 
lagen ein Dolch und ein Revolver auf dem Tiſche. Zu- 
fällig klopfte Zereſchkewitſch in diefem entjcheivenden Augen» 
blide an die Thür. Tſchichatſchew war gerettet, er ent- 
fernte fich mit dem Bemerfen, daß er um 5 Uhr nadı- 
mittags wieberfommen würde. Als er fich nicht einfand, 
juchte der Stabsfapitän den Collegienaſſeſſor in ver 
Wohnung des Herrn Zereichfewitich auf, wurde aber mit 
dem Bemerken abgewieſen, daß Tſchichatſchew erfranft fei. 
Gegen 8 Uhr abends fchidte der Stabsfapitän einen 
Zettel, in welchem gefchrieben war: er glaube nicht an 
die angebliche Krankheit und beftehe auf einer Zuſammen⸗ 
kunft. Zereſchkewitſch befchten ihn abfällig, der Stabs— 
fapitän antwortete: Er begebe fich auf fein Gut Anprju- 
ſchinow und werde bort bi8 zum 8. Auguft auf Tſchichatſchew 
warten. ALS dieſer Termin verjtrichen war, fand fich das 
Ehepaar am 11. Auguft wieder in Afchewo ein. Tſchicha⸗ 
tichem war noch dort, aber gerade an dieſem Tage im 
Begriffe mit feinem Freunde von Witte nach Petersburg 
abzureifen. Vom Fenfter aus ſah er feinen Feind an- 





176 Die Ermordung 


fommen, fofort warf er fich, feine Sachen zurüclaffend, 
in ‚den bereit angejpannten Wagen und fuhr weg. 

Der Stabsfapitän meldete fich bei Zerefchlewitich, ber 
ihn im ganzen Haufe herumführte, um ihn davon zu 
überzeugen, daß Tſchichatſchew nicht mehr anweſend fei. 
In großer Aufregung erklärte er, daß er nicht eher ruhen 
würde, als bis er feinen Gegner getöbtet habe. Er bat 
die Herren Zereſchkewitſch und von Witte, feine Heraus- 
forderung dem Tſchichatſchew zu beftellen, dann beitieg 
er feinen Wagen, um den Flüchtling womöglich einzu- 
holen. Unterwegs überlegte er indeß, daß Tſchichatſchew 
einen zu großen Voriprung habe. Er Tehrte um und 
fuhr rachefchnaubend nach Andrjuſchinow zurüd. 

Tſchichatſchew verbreitete von Petersburg aus das Ge- 
rücht, er ſei ins Ausland gereift, um fich vor der Ver⸗ 
folgung zu retten. Im September kam N. mit Frau 
nach Petersburg; fie hörten Tſchichatſchew ſei dageweſen, 
aber abgereiſt. Sie folgten ihm in das Ausland und 
ſuchten ihn bis Mitte October vergeblich; dann kehrten 
ſie nach Rußland auf ihr Gut zurück. 

Vom November 1873 an behandelte N. ſeine Frau 
oft auf wahrhaft grauſame Weiſe. Er ſchlug ſie, riß 
ihr die Haare aus, beſchimpfte ſie, ſodaß ſie eines Tages 
aus dem Hauſe lief und ſich in den Schnee warf, um 
ſich zu erfälten und womöglich zu ſterben. 

Frau N. jchrieb im November an Tſchichatſchew und 
machte ihm die bitterften Vorwürfe. Diefer faßte eine 
Antwort ab, zögerte dann aber fie abzufenven. 

Am 26. November fam das Ehepaar N. nach Beters- 
burg. Der Stabsfapitän war al8 Zeuge vom Gericht 
vorgeladen worben und benußte die Gelegenheit, um fich 
im Adreßeomptoir nach Tſchichatſchew zu erkundigen. Er 
erfuhr, daß biefer zwar in der Sachäsjewskoiſtraße im 





bes Eollegienafjeffors Tſchichatſchew. 177 


Haufe Bopow eine Wohnung habe, aber am 29. Detober 
nah Moskau gereift je. Er traute biefer Mittheilung 
nicht und ging mit feiner Frau nachmittags 5 Uhr in 
das Haus Popow. Er trug ein Meier bei fich, feine 
Frau war mit dem achtläufigen Revolver ihres Mannes 
bewaffnet. Bon einem Hausfnecht hörten fie, Tſchichatſchew 
jet zu Haufe. Sie traten ein und eröffneten ibm, fie 
fümen, um feine Antwort zu holen. Er übergab ihnen 
einen Brief umd fügte hinzu: er werbe fich erft dann 
rechtfertigen, wenn fie den Brief gelejen hätten. 

Der Stabsfapitän ſteckte den Brief ungelefen ein und 
beftand darauf, Tſchichatſchew ſolle jofort jagen, was er 
zu feiner Rechtfertigung vorzubringen habe, und fich auf 
bie Forderung zum Duell erflären. Es fam zu einem 
Handgemenge, welches mit dem Tode Tichichatjchew’s 
endigte. 

Die Verhandlung in dieſer Sache fand am 2. und 
3. März 1874 vor dem Kreisgerichte in Petersburg ſtatt. 
Den Vorſitz führte der Präſident Baturnin, die Anklage 
wurde vom Oberprocurator Koni vertreten, die Ver⸗ 
theidigung des Stabskapitäns N. hatte der Rechtsanwalt 
Spaſſowitſch, die ſeiner Frau der Rechtsanwalt Gerard 
übernommen. 

Der Angeklagte N. bekannte ſich ſchuldig, dem Tſchicha⸗ 
tſchew Meſſerſtiche beigebracht und ihn dadurch getödtet 
zu haben. Er behauptete aber, er habe das Geſicht ſeines 
Gegners gar nicht geſehen, es ſei nicht ſeine Abſicht ge— 
weſen, ihn zu tödten, er habe ſich gewehrt und nicht an 
einen Mord gedacht. 

Frau N. ſagte aus: ſie habe nicht auf Tſchichatſchew 
geſchoſſen und in dem Augenblicke, wo ſie den Revolver 
abdrückte, nicht gewußt, was ſie that. 

Der Zeuge Oberſt von Raaben gab an: Tſchichatſchew 

XXIII. 12 


178 Die Ermordung 


hat mir erzählt, er habe als Friedensrichter in Nowortichew 
bie Bekanntſchaft der Angeklagten gemacht, pie damals 
ein junges Mädchen war und im Haufe ihrer Verwandten 
lebte. Seine Frau hielt fih in jener Zeit feit einigen 
Monaten im Auslante auf, weil die Ehegatten in Un- 
frieden lebten. Die Frau begegnete ihm ftet8 eifig kalt, 
troß feiner Bitten reifte fie bald dahin, bald dorthin und 
lebte nicht mit ihm zufammen. 

Als er mit ber Angellagten näber befannt wurde, 
fühlte er fich immer mehr zu ihr hingezogen. Es that 
ihm wohl, daß er ihre Theilnahme und Zuneigung be- 
merkte. Er ſah fie nur in Gegenwart ihrer Verwandten 
und fand feine Gelegenheit zu einer ungejtörten Unter- 
haltung mit ihr. Da fagte die Angellagte eines Tages 
zu ibm: „Man geftattet uns Feine vertrauliche Ausfprache; 
fommen Sie heute nach dem Abendeſſen zu mir in mein 
Zimmer, dort wird uns fein Unberufener ſtören.“ 

Tſchichatſchew war überrajcht durch Diejen Vorſchlag, 
fagte aber zu und fand fih am Abend in ihrem Zimmer 
ein. Er ftellte ihr vor, daß fie jehr unvorfichtig handle, 
weil bie Anmwejenheit eines Mannes in ihrem Zimmer 
ihrem Rufe leicht ſchaden könne. Sie entgegnete: „Darin 
jehe ich nichts Böſes“, und nöthigte ihn, fich zu ihr zu 
fegen und mit ihr zu plaudern. Er wieberholte bie 
Warnung, unterhielt fich eine Zeit lang mit ihr und ver- 
ließ fie nach kurzer Zeit. 

Am folgenden Tage forderte fie ihn auf, fich feine 
grauen Haare wachſen zu laffen und feine Abendbeſuche 
bei ihr fortzufegen. Er folgte diefer Aufforderung, und 
ed fam nach und nach zu einem vertrauten Verbältniß 
zwifchen ihm und dem jungen Mädchen. 

Anfänglich befchlich ihn die Furcht, er fönnte zu weit 
geben. Im biefer Stimmung jchrieb er feiner noch immer 








bes Collegienaſſeſſors Tſchichatſchew. 179 


geliebten Frau: „ſie begehe einen großen Fehler, ihn ſo 
allein zu laſſen, weil er dadurch in Verſuchung kommen 
könne, anderwärts Troſt zu ſuchen“. 

Er erhielt ausweichende und unbefriedigende Ant⸗ 
worten, und nun erſt knüpfte er intime Beziehungen mit 
der jetzigen Frau N. an. 

Später kehrte feine Frau zurück, ebenſo unverſöhnlich, 
ebenſo kalt wie vorher. Als er eines Tages mit ſeiner 
Frau in Geſellſchaft mit der Angeklagten zuſammentraf, 
errieth ſeine Frau, wie Tſchichatſchew ſich ausdrückte, 
gewiſſermaßen inſtinctiv, daß ein vertrauter Verkehr 
zwiſchen ihnen beſtand. Zu Hauſe machte ſie ihm eine 
ihn ſehr überraſchende Eiferſuchtsſeene und verlangte, er 
ſolle geſtehen, wie weit dieſes Verhältniß gediehen ſei. 

Er ſuchte fie zu beruhigen, ihr den Verdacht aus- 
zureden; fie war aber eine von ben Frauen, bie fchiver 
Bernunft annehmen und hartnädig bei dem beharren, 
was fie fich in den Kopf gejegt haben. 

Die Eiferfuchtsfcenen wiederholten fi. Um benfelben 
zu entgehen und fich zu zerftresen nahm er die Beſuche 
bei ver Angellagten, die er eine Zeit lang ausgeſetzt hatte, 
wieder auf. Die Angeklagte veifte indeß bald nachher ab. 
Er hörte, daß Herr N. ihre Belanntichaft gemacht habe 
und fie zu beirathen gedenke. Später erhielt er von ihr 
eine jchriftliche Einladung, bei ver Trauung als ihr Braut- 
vater zugegen zu fein. Die Rolle war ihm peinlich, er 
übernahm fie aber, weil fie ihn bringend bat, ihr ben 
Wunsch zu gewähren, und geltend machte, daß dadurch 
jeder etwaige Verdacht über ein Verhältniß zwiſchen ihnen 
entfräftet würbe. 

Nach der Hochzeit jah er Frau N. nur noch breimal 
anf etliche Augenblide. Sie beſchwor ihn, bie ftrengfte 
Verſchwiegenheit über feinen Umgang mit ihr zu bewahren, 

12* 


180 Die Ermorbung 


denn e8 würbe ihr fchlimm geben, wenn ihr Mann etwas 
davon erfahre. Er beruhigte fie, verjicherte, daß er nicht 
bie mindefte Veranlafjung habe, das Geheimnig kundzu⸗ 
machen, und gelobte ihr unverbrüchliches Schweigen. 

Es kam zwifchen Tſchichatſchew und feiner Frau zum 
Bruche. Er lebte bis zum Tode feiner Mutter in 
Petersburg, dann aber bald in Petersburg, bald im 
Auslande. 

Im Jahre 1873 reiſte er nach Nowortſchew, um bei 
der Grundung eines Creditvereins behülflich zu ſein. Er 
‚ftieg daſelbſt bei feinem alten Freunde Zereſchkewitſch ab. 
Am dritten Tage nach feiner Ankunft bejuchte ihn ganz 
unerwartet der Stabsfapitän N. und frug ihn im Laufe 
bes Gefpräches, ob er nicht auch feine Frau zu fprechen 
wünfche, bie ja eine alte Bekannte von ihm ſei. Tſchicha⸗ 
tſchew ermwiberte, er würde fich freuen, fie wieberzufehen, 
und begleitete ven Stabskapitän, ver ihn zu ihr führen 
wollte. Unterwegs unterhielten fie fich über gefchäftliche 
Dinge. Der Stabsfapitän bezeichnete eine jämmerliche 
Fuhrmannsfneipe als den Ort, wo er mit feiner Frau 
abgeftiegen jet. Tſchichatſchew wunderte fich darüber, denn 
er wußte, daß N. font bei feinem Verwandten, dem 
Lanvespofizeichef, oder im Gafthofe wohnte. Trotzdem 
folgte er ihm, ohne Argwohn zu hegen, in ein durch eine 
Scheunenwand getheiltes Gemach, aus welden N. ihn 
in ein Nebenzimmer führte. Dort ftand feine Frau. 
Sie erwiberte den Gruß Tichichatfchew’s fteif und fagte 
fein Wort. Ihr Mann ſchloß die Thür ab, und auf 
dem Tiſche lagen ein Dolch und eine Piltole. Der weich- 
berzige, ſchüchterne Tſchichatſchew erfchraf, er merkte, daß 
etwas Ungewöhnliches im Werfe war. Es fam ihm ber 
Gedanke, ver Stabelapitän könne von dem Verbältniß 
jeiner Frau zu ihm etwas gehört haben und wolle ihn 








bes Collegienaſſeſſors Tihichatichem. 181 


‚deshalb zur Rede ſetzen. Er wußte, daß mit dem Stabe- 
kapitän N. nicht zu fpaßen war. 

Set bob Frau N. an, ihre frühern Beziehungen 
‚zu ihm bis in die geringften Einzelheiten aufzudeden. 
Sie ftellte e8 fo dar, als habe Zichichatiche ihre Un⸗ 
-erfahrenheit benntt und ihr nach Aufwendung aller Ver⸗ 
führungskünſte zulegt Gewalt angethan, um feinen Zwed 
zu erreichen. 

Während diefer Erzählung ftand N. finfter und 
drohend dabei, wie ein, Richter dem Delinquenten gegen⸗ 
überſteht. 

Frau N. ſchloß: „Erinnern Sie ſich, Herr Tſchicha⸗ 
tſchew, daß Sie mir damals Ihr Wort gaben, Ihr Leben 
für mich zu opfern. Jetzt verlange ich die Erfüllung 
Ihres Verſprechens und fordere Ihr Leben.” Es iſt be- 
greiflich, daß dieſe Schlußrede Tſchichatſchew ſtutzig machte 
und daß er ſich, obwol er erſchrocken und ziemlich faſſungs⸗ 
{08 war, eines Lächelns nicht erwehren konnte. Der 
Angeflagte N. gerietb darüber in Zorn. Er fchrie ihn 
brobend an: „Sie wagen noch zu lachen!” und fuhr, 
fih zu feiner Frau wendend, fort: „Sieh, er höhnt 
ung!“ 

Tſchichatſchew entichuldigte fih, N. aber rief: „Sie 
dürfen nicht Länger leben. Wenn Sie nicht ſelbſt frei- 
‚willig ein Ende machen, fo wird e8 von anderer Hand 
gefchehen!” Frau N. fügte hinzu: „Ich habe mein Wort 
verpfändet. Wenn Sie fich nicht ſelbſt dazu entjchließen, 
geichieht e8 durch mich!” Der Angeklagte N. frug jeine 
Frau: „Biſt du bereit?”, fie antwortete: „Sal ich bin 
e8!” Im diefer kritiſchen Lage erklärte Tſchichatſchew, es 
jet ihm unmöglich, diefer Forderung nachzufommen, man 
jolle ihm Zeit laſſen, einen Entichluß zu faſſen. ‘Die 
Angeklagten gaben ihm fünf Minuten Frift. 


182 Die Ermordung 


ALS Zereſchkewitſch ihn fpäter frug, weshalb er nicht 
energifch proteftirt und insbeſondere nicht jofort die An⸗ 
ſchuldigung, daß er dem jungen Mäpchen Gewalt an- 
getban, zurückgewieſen babe, erwiberte er: „Ich fchwieg, 
weil die Frau mich dauerte. Ich kannte den rachfüchtigen 
Charakter ihres Mannes und feine Reizbarkeit.” Er 
fuhr dann fort in feiner Erzählung: „Er habe nach 
einem Auswege aus ber verzweifelten Lage gefucht, und 
zu feinem Glück pochte jemand von außen an bie 
Thür. Der Stabsfapitän rief: «ES darf Niemand 
herein!»” 

Es war Zerefchfewitich, er blieb vor der Thür ftehen 
und antwortete: „Gut, ich werde warten.” Die An- 
geflagten wagten nun doch nicht, ihr Vorhaben auszu⸗ 
führen. Sie bewilligten Aufſchub und gaben Tſchichatſchew 
frei. Als er mit Zereſchkewitſch fortging, frug ihn ber 
feßtere, der nicht wußte, was gefchehen war, ob er ben 
Stabstapitän und feine Frau zu Tiſch bitten follte, 
Zichichatichem antiwortete ganz verjtört: „Wie du willft, 
wie du willſt!“ 

Jetzt erſt bemerkte Zereſchkewitſch, daß fein Freund 
faſt von Sinnen war. Er unterließ die Einladung und 
erkundigte ſich, was denn zwiſchen dem Stabskapitän 
und ihm vorgefallen wäre. Tſchichatſchew theilte ihm 
alles mit. Zereſchkewitſch rieth, die unſinnige Forderung, 
daß er ſich das Leben nehmen ſolle, rundweg abzulehnen. 
Als der Stabskapitän N. abends zu Zereſchkewitſch kam 
und Tſchichatſchew zu ſehen verlangte, erklärte der Haus⸗ 
herr, ſein Gaſt ſei unwohl und könne niemand empfangen. 
Der Stabskapitän ſprach ſeine Verwunderung aus und 
übergab einen Zettel für Tſchichatſchew, in welchem er 
von dieſem eine beſtimmte Antwort auf das an ihn ge⸗ 
ſtellte Verlangen forderte. Tſchichatſchew ließ ihm ſagen: 








bes Collegienaſſeſſors Tſchichatſchew. 183 


„er fühle ſich ſo leidend, daß er den Zettel nicht habe 
leſen können“. 

Nun ſchrieb N. einen Brief, um deſſen Uebergabe 
er Zereſchkewitſch bat. Darin hieß es: „Ich erwarte Sie 
beſtimmt im Laufe der nächſten beiden Wochen auf meinem 
Gute, ohne Zeugen.“ 

Die Angeklagten reiſten ab, weil ſie einſahen, daß 
fie vorläufig ihren Zweck nicht erreichen konnten. 

Tſchichatſchew aber zerbrach ſich vergebens den Kopf, 
was er anfangen ſolle. Er blieb in Nowortſchew, um 
ſeine Geſchäfte zu erledigen. Dieſe zogen ſich länger 
hinaus, als er dachte. Als er den Koffer packte, um 
mit ſeinem Freunde von Witte abzureiſen, ſtürzte der 
letztere plötzlich in ſein Zimmer mit den Worten: „Der 
Stabskapitän N. und ſeine Frau ſind hier, raſch, raſch 
in den Wagen und fort!“ 

Tſchichatſchew war unentſchloſſen, aber ſein Freund 
ließ ihm keine Zeit, er zog ihm den Paletot an, ſtülpte 
ihm die Mütze auf den Kopf, trieb ihn in den Wagen 
und befahl dem Kutſcher, zur nächſten Station zu fahren. 

Zehn Minuten nach der Abfahrt erjchten der Stabs⸗ 
kapitän. Dan fagte ihm, Zichichatfchew ſei abgereiit. 
Er wollte das nicht glauben, dann fagte er: „eltern 
Abend war er noch bier.“ 


Zerejchfewitich wiederholte: „Er ift fort!” 


Der Stabsfapitän ging, kam aber gleich darauf mit 
feiner Frau zurüd und verlangte nach Tſchichatſchew. 
Zerefchkewitich zuckte die Achfeln und ftellte ihm frei, das 
Haus zu durchſuchen. Sie machten von biefer Erlaubniß 
Gebrauch. Als fie ihn nicht fanden, waren fie fehr er- 
bittert, Frau N. fchrie wüthend: „Ich bringe den ſchänd⸗ 
lichen Verführer um, er hat meine Unerfahrenheit auf 


184 Die Ermordung 


das abſcheulichſte misbraucht und mich unglüdlich ge- 
macht!” Endlich zogen fie ab. 

Zereſchkewitſch und von Witte aber fuhren zur nächiten 
Station, auf welcher fie mit Tſchichatſchew zuſammen⸗ 
trafen. Er und von Witte reijten mit der Bahn weiter, 
während SZerejchfewitich zurückkehrte. Unterwegs jtieß er 
auf die Angeflagten, die Tſchichatſchew nacheilten, ihn 
aber nicht mehr einholen konnten. Tſchichatſchew kam 
glücklich nach Petersburg und erzählte bort fein Aben- 
teuer. Nach und nach beruhigte er fich wieder und zwar 
um jo leichter, weil ihm Zerejchlewitich fehrieb, die An- 
geflagten fchienen ihre Rachegedanken aufgegeben zu haben, 
fie wären auf ihr Gut gegangen und würben demnächſt 
ins Ausland reifen. | 

Tſchichatſchew Tieß das Gerücht verbreiten, er begebe 
fih ins Ausland, in Wahrheit aber ging er zu feinem 
Sreunde, dem Oberſt von Raaben, in das Lager von 
Krasnoe⸗Selo und blieb daſelbſt 14 Tage. 

Bis zum November ereignete fich weiter nichts, als 
daß von N. ein Brief fam, den Tſchichatſchew dahin be- 
antworten wollte, man folle ihn in Ruhe laffen. Ehe 
bie Antwort abgegangen war, traf von Zereſchkewitſch die 
Nachricht ein, der Stabsfapitän fei ald Zeuge in Sachen 
bes Friedensrichters Klingenberg nach Petersburg geladen. 

Diefe Mittheilung veranlaßte Tſchichatſchew, mit feinen 
Verwandten Rath zu pflegen, was er thun follte. Sie 
hielten e8 zwar für unmöglich, daß die N.s ein Attentat 
auf fein Leben beabfichtigten, riethen aber doch, die Polizei 
zu benachrichtigen. Dazu Fonnte ſich Tſchichatſchew nicht 
entfchließen, er lebte fih nach und-nach in ben Gebanfen 
ein, es könne am Ende doch jo fchlimm nicht werben. 
Der Oberft von Raaben erbot fich ven nervöſen Tſchicha⸗ 
tihew, ver jchwerlich Taltblütig bleiben würde, bei ber 





bes Collegienaſſeſſors Tſchichatſchew. 185 


Zuſammenkunft mit dem Stabskapitän zu vertreten. 
Tſchichatſchew ging jedoch auf dieſen Vorſchlag nicht ein. 
Er kannte den Stabskapitän als einen aufbrauſenden 
Menſchen, befürchtete, daß er gegen den Offizier grob 
werden und dadurch die Sache verſchlimmern könnte, 
insbeſondere aber ſollte N. auch nicht erfahren, daß der 
Oberſt von dem Verhältniß Tſchichatſchew's zu Frau N. 
unterrichtet ſei. 

So wurde denn endlich beſchloſſen, Tſchichatſchew ſolle 
ſich nur in Gegenwart des Oberſten, als Zeugen, in eine 
Auseinanderſetzung mit dem Stabskapitän einlaſſen, und 
wenn dieſer zum Angriff überginge, ſolle der Oberſt ihn 
ergreifen und Tſchichatſchew Leyte zur Hülfe rufen. Man 
kam überein, daß der Angellagte nur um 6 Uhr empfangen 
werben bürfte, weil ber Oberſt um dieſe Zeit ſtets zu 
Hauſe war. 

Alles ſchien aufs beſte geordnet zu ſein. Es kam 
aber ganz anders. 

Am 26. November kehrte der Oberſt ſchon um 4 Uhr 
nachmittags vom Dienft zurück. Er war ſehr ermüdet, 
er legte ſich, was ſonſt nicht ſeine Gewohnheit war, in 
ſeinem Zimmer, welches an das von Tſchichatſchew ſtieß, 
zur Ruhe und ſchlief ein. Halb im Schlafe hörte er, 
daß ihn jemand weckte, Tſchichatſchew ſtand vor ihm 
und flüſterte ihm zu: „Steben Sie auf, ſie find ge⸗ 
kommen!“ 

Der Zeuge ſprang auf und kleidete ſich haſtig an. 

Tſchichatſchev war dem Angeklagten N. inzwiſchen 
entgegengetreten und hatte die Zwiſchenthür hinter ſich 
zugemacht. Einer nur minutenlangen hitzigen Unterredung 
folgte heftiger Lärm. Frau N. ſagte: „Ich bin gekommen, 
Antwort auf meinen Brief zu holen.“ 

Tſchichatſchew übergab ihr die tags vorher ſchriftlich 


186 Die Ermorbung 


anfgejegte Antwort, mit den Worten: „Da ift fie! Sie 
mögen daraus erfehen, was ich Ihnen mitzutbeilen babe; 
ich Taffe mich auf Unterhandlungen nicht ein und erjuche 
Sie, mih in Ruhe zu laſſen. Sollten Sie indeß noch 
vollftändigere Erklärungen wünfchen, jo läßt fich darüber 
reden.” 

Der Angellagte nahm den Brief und murmelte etwas 
von einem Duell, 

Tſchichatſchew erwiderte: „Nah Ihrem Verfahren 
gegen mich kann ich die Herausforderung nicht annehmen; 
Site haben jedes Recht dazu verwirkt!” 

Hierauf großer Lärm. ALS der Oberft eintrat, fand 
er bie beiden Männer im Fauſtkampf; die Schläge fielen 
hagelbicht. Der Oberft riß den Angellagten weg von 
Tſchichatſchew, fchleppte ihn auf einen Divan und bielt 
ihn dort feſt. Der Stabsfapitän hatte ein. Meffer in 
der Hand. Es krachte ein Schuß. Tichichatichew rief: 
„Jetzt Tann man fie der Polizei übergeben.” Gleich darauf 
jagte er: „Ich bin verwundet!” Frau N., die geichoffen 
hatte, wurde von einem Hausfnecht weggeführt. In 
biefem Augenblide fiel ein zweiter Schuß. Frau N. 
wurde gewaltfam entfernt und die Treppe hinunter- 
befördert. Den Stabsfapitän beförberte ver Oberft in 
ein Vorzimmer und fchloß daſſelbe ab. Die Frau rief 
ihrem Manne zu, „ob ihm etwas zugeftoßen fei”, ver 
Oberſt entgegnete: „Hier ift nicht der Ort Zärtlichkeiten 
auszutauschen. Ihr wahrer Feind ift Ihr Mann. Sie 
find fein blindes Werkzeug.” Plötzlich fagte jemand: 
„Tſchichatſchew ift ſchwer verwundet!“ Darauf ant- 
wortete fie: „Hörft du, Kolinka“ (Koſename für Nikolai), 
„ich habe ihn getötet.” Ihr Mann, ver biefe Aeußerung 
durch die Thür vernommen hatte, eriwiderte: „So ver- 
giß nicht, was ich Dir gejagt habe.“ 








bes Eollegienaffeffors Tſchichatſchew. 187 


Bald darauf erjchtenen die Polizei und der Unter- 
Inchungsrichter. 

Vom BPräfidenten nach der Perfönlichleit des ver- 
ftorbenen Tſchichatſchew befragt, erflärte ter Oberit von 
Raaben: „Er war ein Menſch, deſſen Gutmüthigfeit 
und Weichherzigfeit zur Verzweiflung bringen Tonnten, 
ſchwach, nervös, leicht erregbar, wahr ımb reblich in Wort 
und That, human und menfchenfreundlid. Im Dienite 
bes Staates ftand er lediglich aus Patriotismus, nicht 
ber Bejoldung wegen. Er war fehr wohlhabend. Vor 
einigen Jahren bat er für 70 Kinder eine Dorfjchule 
bauen laſſen, für die er jährlich mit freigebiger Hand 
ſpendete. Auch in feinem Teſtamente hat er der Schule 
noch 10000 Rubel vermacht. Bon feiner Frau, bie ihn 
das Leben verbitterte, lebte er geſchieden. Trotzdem hatte 
er ihr, als fie fih trennten, eine unabhängige Stellung 
gefichert, und mehr als einmal fagte er, daß er fie wieder 
ins Haus nehmen würde, wenn fie durch irgendeinen 
Zufall von dem ihr jegt naheftehenden Manne getrennt 
werden follte. Im Zeftament hat er ibr 5000 Rubel 
ausgejegt. — Er war ein feltjamer, dem weiblichen Ge- 
fchlecht gegenüber zartfühlender Menſch.“ 

Der Zeuge Woronin (Hausknecht) fagte aus: „Ich 
war in der Tſchichatſchew's Wohnung gegenrüberliegenden 
Küche, als ich Lärm und Schreien hörte und darauf 
zueilte. Ich ſah Zichichatihew am Divan ftehen, ein 
Unbefannter batte ihn an der Bruft gepadt. Sch fprang 
hinzu, um ben Fremden von hinten zu faflen, fühlte 
aber fofort einen Schmerz in der Hand. Der Unbelannte 
hatte durch meine Finger hindurch Herrn Tſchichatſchew 
ein Mefjer in die Bruft geftoßen und mich Dabei ge- 
ſchnitten. Im jelben Augenblick fprang Oberft von Raaben 
hinzu, griff ven Fremden an und rief mir zu, ich folle 


188 Die Ermordung 


die Frau fejthalten. Sie gab einen Schuß ab. Als ich 
bie Frau faßte und fortzog, fiel ein zweiter Schuß. Nun 
warf ich fie nieder und fchleppte fie zur Treppe. Sie 
ſchrie und fehimpfte Tſchichatſchew einen Schurken und 
Elenden. Dem Fremden rief fie fragend zu: „Kolja, 
wo haft du das Meffer?” Diefer antwortete: „Zum 
Fenſter hinausgeworfen!” — Als ich fagte, Herr Tſchicha⸗ 
tichem ſei auf den Tod verwundet, rief ber Fremde: 
„Run, Gott mit ihm!“ 

Zenge Popow, der Neffe des Gemorbeten, ſprach fich 
im hohen Grabe günftig aus über ben ſympathiſchen 
Charakter feines Oheims, und beftätigte alles, was von 
Raaben ausgeſagt hatte. 

„Nach der Kataſtrophe war der Angeklagte vollkommen 
gefaßt, rauchte eine Cigarrette und trank Thee. Bei der 
Ankunft der Polizei ſchimpfte er auf Tſchichatſchew und 
nannte ihn einen Schurken, bat dann aber, man möge 
demſelben ſein Bedauern über das Geſchehene aus» 
drücken.“ 

Die Zeugin Frau Popow gab an: ‚Mein Bruder“ 
(der Ermorbete) „hat mir fein Abenteuer in Ajchewo ganz 
fo mitgetheilt, wie es ber Oberft berichtete. Daß er 
einem Mädchen Gewalt angethan haben follte, glaube 
ich nicht; zu einer folchen That war er unfähig; er trat 
bem weiblichen Gefchlecht gegenüber immer ſchüchtern und 
zurückhaltend auf.“ 

Nach den Ausſagen Zereſchkewitſch's iſt der Angeklagte 
ein leicht reizbarer, rachſüchtiger Menſch, der auf alle 
Welt gewohnheitsmäßig ſchimpfte und mit dem ſchwer 
auszukommen war. Tſchichatſchew, ehrlich und gutmüthig, 
war ſicher nicht fähig, ein Mädchen zu vergewaltigen. 
Er weigerte ſich, der Frau N. in Aſchewo eine ſchriftliche 
Beſtätigung über ſein Verhältniß zu ihr zu geben, nament⸗ 


bes Eollegienaffeffors Tſchichatſchew. 189 


lich darüber, daß er fie ohne ihre Einwilligung gebraucht 
habe. Den falichen Beſchuldigungen in Gegenwart ihres 
Mannes gegenüber ſchwieg er, weil er Mitleid mit ihrer 
Lage hatte. 

Die Zeugin N., die Schwägerin der Angeflagten, be= 
fundete: „Beim Austritt aus dem abeligen Fräulein⸗ 
ftift, in welchem das junge Mäbchen feine Erziehung 
genofjen hatte, that fie oft jo naive, unfluge Fragen, wie 
ein Fleines Kind. Ich hielt fie deshalb für unerfahren 
in allem, was Welt und Leben betrifft, und rieth ihr, 
beſonders vorfichtig im Umgang mit Männern zu fein, 
weil fie fonft leicht in Gefahr kommen könnte, ihren guten 
Ruf zu verlieren und fich unglüdlich zu machen. Sonft 
war fie befcheiben, heiter und ruhig.” 

Perjonen aus der vornehmften Gefellichaft, wie bie 
Fürftin Chowansky, General Stenbof Fermor und andere 
Gutsbeſitzer der Gegend, beftätigten bie Charafteriftif, 
bie Oberft von Raaben von dem verftorbenen Tſchichatſchew 
gegeben hatte. Allgemein hielt man dafür, daß er ben 
Damen gern den Hof machte. 

Der Angeflagte wurde von den Zeugen übereinftimmend 
als ein ftreng rechtlicher, aber reizbarer und ftolzer Menſch 
bezeichnet, der oft fcharfe, bittere Kritif übte, ohne fich 
um bie Meinung anderer viel zu kümmern. Ausprüde 
wie: „Idiot, Kretbi und Plethi, Canaillen”, führte er 
beftändig im Munde. Er war deshalb im Gouvernement 
nicht beliebt, wohl aber wegen jeiner energifchen Thätig⸗ 
feit geachtet und vielfach gefürchtet. 

Nach beendigtem Zeugenverhör nahm der Angeklagte 
das Wort und fprach fih, mitunter ftodend und immer 
ſehr erregt, über die Anklage in folgender Weife aus: 

„Meine Frau war mir immer eine liebenbe, ergebene 
Gattin, die meine Anfichten theilte. Wir lebten glücklich, 


190 Die Ermorbuug 


ich hatte Tein Geheimniß vor ihr und glaubte, daß auch 
fie keins vor mir habe. ALS fie mir beichtete, was ſich 
zwiichen ihr und Tſchichatſchew vor unjerer Verheirathung 
zugetragen hatte, traf es mich wie ein Blit aus beiterm 
Himmel. Ich hatte fie mir niemals anders als Teufch 
und unentweiht vorftellen Tönnen. Nach ihrer Natur- 
anlage und ihrem Weſen war ich davon überzeugt, daß 
fie in ihrer Unwiſſenheit und Unerfahrenheit ver Ver⸗ 
führung unterlegen jein müfje, daß fie nicht freiwillig, 
fondern gewaltfam entehrt worben fei. Sie theilte mir 
mit, Tſchichatſchew Habe das Haus ihrer Verwandten, 
bei denen fie wohnte, häufig bejucht, ihr den Hof gemacht 
und das traurige Verhältniß zu feiner Frau erzählt. Als 
das Unglück gejchehen und fie fein Dpfer geivorben, babe 
er fein Verbrechen bereut, fie angefleht, das Geheimniß 
zu hüten, damit Feine fchlimmen Folgen entftünven, und 
gejagt: fie würde ihm dadurch beweiſen, daß fie ihm 
verziehen habe. 

„Ich war innerlich ganz ſchwankend. Einmal glaubte 
ich, daß- alles ſich fo verhielt, wie meine Frau angegeben 
hatte, dann zweifelte ich wieder. Ich wußte mich in 
meine Lage nicht zu finden. Um Gewißheit zu befommen, 
verlangte ich von meiner Fran, fie folle in meiner Gegen- 
wart von ihrem Verführer Tſchichatſchew ein Belenntniß 
feiner Schuld fordern. Wir dachten, er würde dazu 
bereit fein. Ich hatte mir vorgenommen, ihn unter 
irgendeinem Borwande zu einem Duell zu zwingen unb 
die Schande zu rächen. Wir wählten Aichewo und hatten 
dort die bekannte Zufammenkunft mit Tſchichatſchew. Als 
meine Frau ihm vorbielt, was er an ihr verbrochen hatte, 
jagte er Tein Wort. Er ftimmte nicht zu, wiberfprach 
aber auch nicht, nur als das Wort «Gewaltthätigfeit» 
fiel, äußerte er, daß man fein Vergehen fein gewaltthätiges 


bes Collegienaſſeſſors Tſchichatſchew. 191 


nennen könne. Meine Frau erinnerte ihn an fein Ver⸗ 
prechen, ihr fein Leben opfern zu wollen. 

„Ich Tonnte nicht fchweigen und rief ihm beleibigenbe 
Worte zu, weil mich der Zorn übermannte. Ob ein 
Dolh und eine Piftole auf dem Tiſche gelegen haben, 
weiß ich nicht. 

„Zereſchkewitſch unterbrach uns und wir konnten bie 
Unterrebung nicht beendigen. 

„als Zichichatjchew troß feines Verfprechens nicht zu 
uns auf unſer Gut kam, Hatte ich Teine Ruhe mehr. 
Wir fuhren wieder nach Aſchenow. Ich wollte ihn zu 
einer Erflärung zwingen und ihn dann forvern. 

„Dein Plan mislang, er war entfloben. Ich ſchickte 
ihm durch Zerefchlewitich meine Forderung jchriftlich zu. 
Es wurde mir aber erwivert, nad dem Vorgange in 
Alchewo könne die Forderung nicht angenommen werben. 
Ich glaubte, die Ablehnung erfolge wegen ver Be— 
leivigungen, die ich ausgeftoßen hatte, und entgegnete: es 
fei das ein Grund mehr zum Duell. Die Art und Weife, 
wie ber Auftritt in der Dorffneipe von Tſchichatſchew 
weiter erzählt worden war, hatte mich geärgert. Ich reifte, 
um mich zu zerjtreuen, ins Ausland. Aber ich konnte 
mich nicht beruhigen. Ich war aufgeregt und fchlaflos. 
Sch ſchenkte meiner Frau zwar Glauben, ich wußte, daß 
fie mich lieb hatte, aber ich mochte fein, wo ich wollte, 
fogar in der wiener Ausftellung vergaß ich nicht, wie 
unglücklich ich geworden war. Immer wieber tauchten 
Zweifel in meiner Seele auf. Im biefer Verfaſſung fchrieb 
ih den Brief an Tſchichatſchew, deſſen Concept fich bei 
ben Acten befindet. 

„als ich nach ſechs Monaten zurüdfehrte, hörte ich, 
in der Gefellichaft würde über uns gefprochen, bie Sache 
jei mit allen Details befannt. Ich verlor meine Faſſung 


192 Die Ermordung 


gänzlich, ich Tonnte mich nicht mehr mäßigen, und meine 
arme Frau litt unter .meiner Stimmung und meiner 
Behandlung. Ih war mehr denn je entjchloffen, ven 
Räuber der Ehre meiner Fran zu einem Duell zu zwingen, 
vorher aber wollte ich jeine Vertheibigung hören und 
. Gewißheit darüber haben, baß meine Frau völlig un- 
ichuldig gewejen und von ihm mit Gewalt genöthigt worden 
jet, fih ihm hinzugeben. Ich kannte meine Heftigfeit und 
gab meiner Frau deshalb den Revolver, als wir am 
26. November 1873 in Tſchichatſchew's Wohnung ein- 
traten. Sch dachte nicht daran, ihn zu ermorden. Meine 
Frau forderte feine Erflärung. Er gab ihr einen Brief 
und fagte, er fei zı einer weitern Beſprechung bereit, 
wenn wir benjelben gelejen hätten. Ich ermwiberte, ich 
wollte den Brief fofort leſen. Er remonftrirte dagegen 
und verabfchiebete uns. Ich war froh, ihn enblich geitelit 
zu haben, und rief ihm, als er uns in barfchem Zone 
aus feiner Wohnung wies, meine Herausforderung zu. 
Er antwortete, nach den Vorgängen in Ajchewo nehme 
er ein Duell nicht an, und weigerte fich ganz entjchieden, 
obgleich ich ihm bemerklich machte, jene Vorgänge hinderten 
ben Zweikampf nicht. Nun ohrfeigte ich ihn, ſodaß er 
gegen die Thür flog. Raſch erhob er fich, fiel über mich 
her umd fchrie: «Der Hausknecht foll Sie binden» In 
biefem Moment trat ein Offizier aus dem Nebenzimmer, 
der fich mit Tſchichatſchev auf mich warf. Es entjtand - 
eine Schlägerei. Ich vertheidigte mich, fo gut ich Fonnte, 
wurde aber auf einen Divan nievergeworfen. Das Meſſer 
hatte ich bis dahin noch nicht in der Hand, nun aber 
gelang e8 mir, e8 aus ber Zafche zu ziehen. Ich ſtieß 
blind zu auf Tſchichatſchew, der mit beiven Fäuften auf 
mich fchlug. Sch weiß nicht, ob und wohin ich ihn ge» 
ftochen habe. Ich Hörte zwei Schüffe fallen. Meine Frau 








bes Eollegienafjeifors Tſchichatſchew. 193 


wurbe abgeführt und ich befand mich plößlich allein im 
Dorzimmer. Ich wußte gar nicht, was eigentlich ge⸗ 
ſchehen war, und zog ben Brief Tſchichatſchew's hervor, 
um ihn zu lefen. Da börte ich meine Frau mir zu- 
rufen, daß Tſchichatſchew gefährlich verwundet fei. Ich 
erichraf, warf das Meſſer zum Tenfter hinaus und Ließ 
Tſchichatſchew jagen: Ich hätte ihm nicht abfichtlich ge- 
jtochen, e8 thäte mir leid. Ich bäte um Verzeihung. 
Ich bin jchuldig an der Verwundung, aber ich leugne, 
daß ich ihn habe ermorden wollen und daß ich abfichtlich 
gehandelt habe.” 

- Die Angellagte Frau N. erzählte vor Gericht, daß 
fie ihrem Manne ibren Tehltritt befannt habe, weil fie 
fürchtete, die Sache könnte ihm buch Tichichatichew’s 
Frau hinterbracht werden und weil ihr das Geheimnig 
ihrem Manne gegenüber fchwer auf dem Gewiſſen gelegen 
habe. Ob ihr Mann am 26. November ein Meffer bei 
fih gehabt habe, wifle fie nicht, fie habe geglaubt, daß 
Tſchichatſchew durch Die von ihr abgegebenen Schüffe ver- 
wundet worben fei. Geſchoſſen habe fie ganz ohne Ueber. 
legung, weil man ihren Dann gejchlagen habe. 

Nach dem Gutachten von zwei Sachverjtändbigen, bie 
in ver Verhandlung verlefen wurben, hat Tſchichatſchew 
ſechs Stichwunden erhalten, die von einem jcharfen Meſſer 
herrührten. Zwei davon waren zolltief in bie Bruſt 
eingedrungen, die eine links von oben nach unten, bie 
andere rechts gerabenus. Beide Wunden waren unbebingt 
tödlich. 

Weiter wurben folgende Briefe verlejen: 

1) Ein Brief des Angeklagten aus Berlin an Tſchicha⸗ 
ticheiw: 

„Nichts iſt empörender, als eine in jeder Hinficht 
verächtliche und jämmerliche Perſönlichkeit fortwichern zu 

XXI. 13 


194 Die Ermordung 


fehen, bie ihre eigene Erbärmlichkeit nicht anerkennt. In 
Ihnen ift nichts Ganzes, alles Fäglich Hein. Sie find 
ftoddumm, fabe und geldgierig. Nur eine einzige Eigen- 
ſchaft befigen Ste nicht im verfleinerten Maßſtabe, die 
des Feiglings! Je mehr ich alle Phafen Ihres Lebens 
burchdenfe, je effer und widerlicher wird mir Ihre Per- 
fönlichkeit. Auch nicht ein einziger mildernder Umftand! 
— Gie find ein erbärmlicher Menſch! — Nur der Adler 
kann einem leibthun, dem man bie Flügel befchnitten 
hat, nicht aber ein Patron wie Sie! 

„Verſtand befigen Sie nicht, können ihn alſo auch 
nicht verlieren. Ich verfolgte Sie, um Sie zum Zwei- 
fampf zu nöthigen, und mit Ihnen zu verfahren, wie 
man mit einem Teigling verfährt, wenn er fich weigert, 
d. b. ihn mit dem Stod zu züchtigen. Meine Abficht 
haben Sie bei Ihrem Freunde verbreht, als ob ich Sie 
ermorden wollte. Wie haben Sie nur die freche Stirn 
gehabt, jo etwas vorausfegen zu können? 

„Man verlangte von Ihnen eine Auseinanderjegung, 
Sie aber hielten es für ficherer davonzulaufen.“ 

2) Der Brief der Angeklagten an Tſchichatſchew, von 
deſſen Wiedergabe der Länge wegen abgefehen werben 
muß. Er beiteht aus Schmähungen und Schiumpfreben, 
in denen fich die excentriſche Schreiberin ergeht. ‘Der 
Inhalt ergibt fich übrigens aus dem pritten Briefe, 
Tſchichatſchew's Antwort darauf: 

„Die eriten Zeilen Ihres Briefes enthalten ſchon 
eine, burch nichts begründete Forderung. Sie jchreiben: 
Ich Hätte gewagt, Sie aufs fchmählichite zu verleumben 
durch die Behauptung, ich habe Ihrem Freunde gejagt, 
Sie hätten mich entehrt u. |. w. 

‚Ber gibt Ihnen vor allem ein Recht, in fo be- 
fehlendem Zone zu reden? Haben Sie denn vergeffen, 


des Sollegienaffeffors Tſchichatſchew. 195 


daß ich bei den Scenen nach meiner Abreiſe aus Aſchewo 
nicht gegenwärtig ſein konnte? 

„Was ich nicht weiß, kann ich weder beſtätigen noch 
leugnen, kann auch Zereſchkewitſch, einem ſelbſtändigen, 
ehrenhaften Manne, den ich nicht fähig halte Verleum⸗ 
dungen zu verbreiten und Thatſachen zu verdrehen, weder 
etwas verbieten noch befehlen. Ihre Schmähungen und 
Schimpfreden laſſen an Schärfe nichts zu wünſchen. Das 
iſt leicht, beſonders wenn noch Einflüſterungen mithelfen. 
Sie beweiſen indeß gar nichts, beleidigen nicht, beſchmuzen 
nur den, der ſie ausſtößt und zu ſolch niedrigen Mitteln 
greift. Ihr Brief enthält die widerſprechendſten Be⸗ 
hauptungen, die eigentlich unbeantwortet bleiben ſollten. 
Beantworte ich ſie dennoch, ſo geſchieht dies aus dem 
Grunde, weil mein paſſives Verhalten Ihnen gegenüber 
ſtatt begriffen zu werden, falſch gedeutet und zu neuen 
Schimpfreden benutzt wird. Sie ſchreiben: «Sie ſind 
ein ehrloſer Feigling, der ein unglückliches, vor ihrem 
Manne und der Geſellſchaft verleumdetes Weib im Stich 
lift.» — Die Worte: «ehrlofer Feigling» paſſen nicht 
auf mid. Bei Ihrem erjten Bejuh in Alchewo und 
Ihrer rechtfertigenden Erflärung gegenüber habe ich mich 
ſchweigend verhalten, weil ich fo beitürzt war, daß ich 
feine Worte fand, auch lieber fchwieg und alles auf mich 
nahm, um Sie nicht bloßzuftellen. Und die Verhalten 
nennen Sie feig, ehrlos! Wenm ich auch Feine Triegerifchen 
Neigungen verjpüre, fo muß ich e8 doch ausſprechen, daß 
mich Ihr Vorgehen ftugig machte, mehr noch als das 
Uneriwartete der Scene. 

„Ich wollte Ihren Kummer nicht vergrößern und ver- 
mieb lieber jegliche Erflärung, weil fie nur ungünftig 
für Sie lauten konnte. Es war mir peinlich, daß das 
son mir forgfältig gehütete Gcheimniß an ben Tag ger 

13* 


196 Die Ermordung 


fommen war, barum Tieß ich auch die Schimpfreven Ihres 
Herrn Gemahls ruhig über mich ergehen. Sie können 
nicht leugnen, daß ich, nachdem ich alles ohne Erwiderung 
angehört hatte, frug, was man weiter von mir wolle? 
Ich glaubte eine würbige Antwort zu erhalten, ftatt 
Dinge zu hören, bie mir nie in den Sinn gekommen 
waren. 

„Ich follte mir ſelbſt das Leben nehmen! 

„Wie jchwer mir auch ums Herz war, konnte ich 
doch nicht umhin, diefe Forderung lächerlich zu finden. 

„Da drohte mir Ihr Gemahl mit Mord! 

„Leugnen Ste nicht, ich verbrehe dieſe Thatſache nicht, 
Wie joll man den Menfchen nennen, ber, wenn er fich 
beleibigt fühlt, die Gefahr von fich felbft abwenden will 
unb e8 feiner Fran überläßt dem Gegner eine fo eigen» 
thümliche Forderung zu ftellen? 

„Site werben fich erinnern, daß mir zuerft nur fünf 
Minuten, dann aber bis 5 Uhr nachmittags Zeit zur 
Enticheibung gegeben wurde, unter ber Bedingung, daß 
ih die Drohungen gegen mich geheimbielte. 

„So jchlau dies ausgedacht war, fo egoiftifch war 
es auch. 

„Nach dem, was vorgegangen war, konnte da noch von 
einer wiederholten Zuſammenkunft die Rede fein? 

„Ich hätte verrüdt fein müffen, wäre ich barauf ein- 
gegangen. 

„Ich Tab in Ihnen nur noch meine Feinde, nichts. 
beftoweniger bewahrte ich das Geheimnif. Ich be⸗ 
ichleunigte meine Abreife, fonnte fie jedoch erjt auf ben 
11. Auguft feitfegen. 

„Was dann vorging, übertraf das Dienfchenmögliche. 
Ihre Verfolgung meiner Perſon wurde aller Welt be- 
fannt, fie bildete das Gefpräch des ganzen Gouvernements. 





des Eollegienaffeifors Tſchichatſchew. 197 


„Vieles wurde Hinzugefeßt, noch mehr entitellt. So 
blieb mir nichts übrig, als die Wahrheit zu berichten, 
was ich fo biscret als möglich gethan Habe. 

„Die ganze Schwere bes Creigniffes fällt auf Sie, 
in noch höherm Grade auf Ihren Mann, der Sie eine 
fo unwürdige Rolle Tpielen Tieß. 

„Bevor ich fchließe, kann ich die Stelle Ihres Briefes 
nicht mit Stillſchweigen übergehen, in welcher Sie ven 
Wunſch aussprechen, ich möge ven Wahnfinmigen fpielen! 

„Die Rolle käme denen eher zu, welche bie Sache an 
die große Glocke gehängt haben, nicht mir! 

„Auch die Auslaffung Ihres Briefes ſoll nicht über- 
gangen werden: «Sie find ein gemeiner Dieb, ber ſich 
in. ein Haus gefchlihen und das Mitleid eines umer- 
fahrenen jungen Mädchens misbraucht Hat, um fein 
Theuerftes zu ftehlen.» 

„Wie unwahr! Verkehrte ich doch in dem Hauſe, 
bevor ich von dem Dafein des unerfahrenen Mäpchens 
wußte. Warum Ste mich aber Dieb nennen, verftehe 
ih nicht. Sch babe nie etwas genommen, was mir nicht 
gutwillig gegeben wurde. 

„Vor Ihrem Manne wollen Sie nie etwas verheim⸗ 
licht haben, und verſchwiegen ihm doch jahrelang, was 
Ihnen ſchaden konnte. Eine ftreng moralische Frau hätte 
dem Manne die Belenntniffe vor ihrer Verheirathung 
gemacht. Damals wäre das ehrlich gewejen. 

„Ihre Begriffe fcheinen verwirrt zu fein. Was Sie 
unter Verleumbung und Wahrheit verftehen, begreift fein 
Menſch. Klar ift nur, daß Sie in Fünftlich erregter Wuth 
auf Befehl Ihres Herrn nach fo vielen Jahren großes 
Unheil angerichtet haben. Gegen mich aber haben Sie 
gewiſſenlos gehandelt, indem Sie die ganze Schuld auf 
mich fchoben. Dadurch wurden Sie zu meiner Yeinbin. 





198 Die Ermordung 


Trotzdem fchonte ih Sie, um nicht als Ankläger gegen 
Sie aufzutreten, und Sie nennen mich dafür einen Feigling! 

„Sn Ihrer mündlichen Beſchuldigung konnte ich bie 
Beeinfluffung Ihres Mannes vermuthen; die Verant- 
wortung für Ihren Brief fällt auf Sie allein und raubt 
Ihrer Lage jede Theilnahme. Bon diefem Augenblid an 
hört jede Verpflichtung meinerfeits Ihnen gegenüber auf, 
und ih muß auf Sie als meine ſchlimmſte Feindin bliden. 
Ihnen auszuweichen, babe ich Feine Urſache, ebenfo wenig 
bin ich verpflichtet, Ste aufzufuchen. Gegen jedes etwaige 
Attentat Ihrerjeits babe ich meine Maßregeln getroffen!” 

Hierauf wurden Stellen aus Zerefchlewitich’8 Briefen 
an Tſchichatſchew vwerlefen, aus benen hervorgeht, daß 
Zereſchkewitſch ihm die Gerüchte mittheilt, die in ber 
Gegend laut geworben find. Die Klatjcherei erzählt von 
Dolch und Piftole, von einem Glaje mit Gift und einem 
Strid zum Hängen, von den Reifen der Angeflagten als 
Verfolger und daß der Stabsfapitän zum 26. November 
nach Petersburg gelapen fei als Zeuge. 

Weiter wurden Stellen verlefen aus Frau N.'s Tages 
buch. Da heißt ed: „Ach wie oft werfe ich mir vor, 
daß mir das unheilwolle Geftänpniß entjchlüpfte! Warum 
mußte ich e8 ihm geftehen! Es wäre beffer gewejen, ich 
hätte e8 mit ind Grab genommen! Ich hätte ihn und 
mich nicht fo gequält. Was kann ich dafür, wenn ich 
nicht begreife, worüber er fich nur fo grämt? — Alles 
hätte ja im ftillen und beſſer abgemacht werden können. 

„Ich ſchwur ihm, alles zu erfüllen, was er verlangt 
— begriff ich aber, was ich fchwur? 

„Ich muß zu Grunde gehen; das ift unvermeiblich, 
ich bin auch bereit dazu, wenn ich ihn nur wieder glüd- 
lich febe. 

„Daß ihm aber das Glück bringen wirb, bezweifle ich, 





des Eollegienaffelfors Tſchichatſchew. 199 


„zraurig ift, daß er dadurch, wie er mich behandelt, 
es dahin gebracht bat, daß ich ihn fürchte, während ich 
ſechs Fahre glücklich mit ihm Iebte, er zärtlich gegen mic) 
war und mich liebte. 

„Ih fürchte ihn wirklich zuweilen, meide ihn, fuche 
ihm nicht unter die Augen zu kommen. — Was alles 
bat mir mein Leichtfinn zugezogen! 

„Heute bin ich den ganzen Tag allein und athme frei 
auf. — Ich grüble beftänbig darüber, wie ſchwer e8 doch 
fein würde, von ihm getrennt zu leben. 

„Ach, ich habe mein und fein Glück vernichtet! 

„Welch eine edle, tieffühlende Seele er befigt! — Wie 
viel Gutes babe ich von ihm genoffen! — Gott ift mir 
gnäbig gewejen, als er mir einen Mann: wie biejen 
fandte! — Vielleicht erbarmt fich Gott meiner und rettet 
mih! — Er allein kann mich noch retten. 

„Der heutige Tag verging wie ver geftrige. Ich hatte 
ihn nicht erwartet, ſaß mit meinem Mädchen allein, wollte 
mich Schlafen legen, hatte weder Glocke noch Hundegebell 
vernommen, da hörte ich plöglich laut ſchreien. Heftig 
erichroden Tege ich meine Arbeit weg, ftatt die Thür 
Öffnen zu laſſen. Er fchlug ſtark dagegen, als ob er fie 
einbrechen wollte. Man eilte, ohne Licht, zum Deffnen, 
was eine Heine Weile dauerte. Er fjchimpfte laut, ich 
war auch dabei und befam mein Theil ab. Früher be- 
grüßte er mich, namentlich in Gegenwart Fremder, nie 
anders als zärtlih. Set bebe ich vor Angit, ftatt 
mich zu freuen und ihn zu begrüßen. _ 

„In jener Nacht fchloß ich Fein Auge, ging hinans 
auf die Straße und legte mich in den Schnee; drei 
Stunden blieb ich Liegen, ich wollte mich erfälten. Als 
ich wieder bineinfam, fagte er, er jei zum 27. nad) 
Petersburg geladen, redete weiter mit mir und wir ver» 


200 Die Ermordung 


ſöhnten und. Am 14. November verlangte er, ich ſollte 
einen Brief fchreiben; ich that e8, er las ihn durch und 
verbeiferte ihn.” 


Die Beweiserhebung war gefchloffen, ver Thatbeſtand 
flar gejtellt. Der Oberprocurator am Caffationshofe des 
GSenates zu Petersburg, A. 3. Koni, der höchite Beamte 
der Staatsanwaltichaft in Rußland, erhob ſich und be- 
leuchtete daS begangene Verbrechen in einer intereſſanten 
Rede, die im wefentlichen jo Tantete: 


Meine Herren Richter und Geichworenen! 

Durch Geſtändniß und Zeugenausſagen wiffen Ste, 
daß am 26. November 1873 in ver Sachäsjewsfoiftraße ein 
Mord an dem emeritirten Friedensrichter Tſchichatſchew 
verübt worben iſt. Der Fall erregte in Petersburg und 
in der Gegend, in welcher die Angeklagten und ber Er- 
morbete gelebt Hatten, großes Auffehen. 

Die verfchtevenartigften Auslegungen, die abſurdeſten 
und Fühnften Behauptungen und Vermuthungen wırden 
ausgeiprochen. Die Einen fchilderten die Angellagten in 
den ſchwärzeſten Farben, die andern dagegen ſchmähten 
ben verftorbenen Tſchichatſchew als einen Menfchen, ver 
feines Mitleivs würdig fei. 

Diefe Gerüchte, welche nur auf leerem Geſchwätz be= 
ruhten, müſſen heute ein Enbe nehmen, denn bie gericht- 
liche Unterfuchung und die Verhandlung haben die Wahr⸗ 
beit kundgemacht. Wir werben bie Bebeutung und den 
Charakter der That auseinanverzufeken haben, damit 
ein unparteiifches Urtheil gefällt werben fanı. Es wirb 
fi zeigen, ob man ungeftraft über ein frembes Leben 
verfügen darf unter dem Einfluffe des Zornes und des 





bes Collegienaffejfors Tſchich atſchew. 201 


Haffes, ob jedermann Richter in eigener Sache fein und 
den Urtheilsfpruch vollziehen darf, den er in feiner Leiden⸗ 
ſchaft ſelbſt gefunden bat. 

Die Anklage beichulpigt den Stabsfapitän N., im 
Jähzorn und in Gemüthsaufregung ven Collegienaſſeſſor 
Tſchichatſchew getöbtet, und die Frau N., im Jähzorn und 
Gemüthsanfregung auf das Leben des genannten Tſchicha⸗ 
tihew ein Attentat begangen zu haben. 

Das Geſetz unterjcheivet fcharf zwiſchen vielen Ver⸗ 
brechen und dem Morde, ver vorher geplant, vorbereitet 
und dann Faltblütig begangen worden tft. Die Voraus⸗ 
fegungen dieſer Anklage find Jähzorn und Gemüthe- 
aufregung und ber aus ihnen plößlich bervorgegangene 
Entfchluß, den Gegner zu tödten, welcher zur Ausführung 
gelangt ift. 

Betrachten wir zunächſt die Perjönlichkeit des An⸗ 
geflagten N. 

Er war Borfigender der Semſtwa (Provinztal« 
inftitution), ein energiicher, thätiger Mann. Er genoß 
das Vertrauen feiner Mitbürger und wurde deshalb für 
feinen verantwortlichen Boften gewählt. An feiner Ehr- 
lichkeit ift nie gezweifelt worden. Ehrlichleit und Thätig⸗ 
feit allein aber reichen noch nicht aus, um fich die Sym⸗ 
pathie der Menfchen zu erwerben. Ä 

Der Angeklagte ftand allein im Kreiſe. Es bildeten 
fih Parteien gegen ihn, mit benen er zu kämpfen hatte. 
Seine ſcharfe Zunge, fein fchroffes, abſprechendes Wejen 
machten ihn unbeliebt. Er felbft hat fich „ſchneidig“ 
genannt. Er geräth zu oft und zu rajch in Zorn und 
ſpricht feine Meinung zu rückſichtslos aus. 

Die bei den Acten befindlichen Briefe beftätigen bie 
bier gejchilverten Charakterzuge. Fir ihn tft der ganze 
Kreis. voll „Idioten“ oder „Lumpengeſindel“. Er allein 


202 Die Ermorbung 


ift der Fuge Mann, er fteht geiftig höher als alle andern, 
er weiß alles befler. 

Es ift begreiflih, das er feine Zuneigung im Kreiſe 

erwecte. Man duldete ihn eben als ein nothwenbiges 
Uebel. Diefer Dann beirathete ein junges Mädchen, 
welches eben erft aus ber Penfion gekommen war. Die 
Zeugen fchilvern fie als fehr nat. Nach ihrer Ver⸗ 
beirathung ftand fie vollfommen unter dem Einfluß ihres 
Gatten, der fie als die ergebenfte und treuefte Lebens- 
efährtin bezeichnet. Ste war ſtets feiner. Meinung. 
Selbftändige Gedanken, eigene Entichlüffe Hatte fie nicht. 
Ihre Briefe und ihr Tagebuch beweifen, daß fie zu den 
nicht jeltenen Frauen gehört, die zu weinen, zu leiden 
und fich zu grämen verftehen, bie bereuen, was fie gefehlt 
haben, aber nicht die Kraft befigen zu handeln und in 
einer fehwierigen Lage fich zu helfen. Sie bepürfen eines 
Haltes. Wie ftarf ihr Mann auf fie einwirkte, erfennt 
nian daraus, daß fogar ihr Briefftil dem feinigen gleicht, 
baß fie biefelben Ausprüde gebraucht wie er. 

Der Angeklagte hat wiederholt erklärt, er habe fich 
mit Tſchichatſchew „ehrlich und ſtandesgemäß“ auseinander- 
jegen wollen. In den Briefen der Frau kommen viefelben, 
in ihrem Munde jeltfam Flingenden Worte vor. Auch 
in ber Verhandlung bat fie gejagt, fie habe Tſchichatſchew 
beweijen wollen, daß fie fich ſtets „anftänbig” und „ehr⸗ 
lich” benommen babe. Leider hat fie von ihrem Manne 
auh das Schimpfen gelernt. 

Ein Dann wie der Angellagte hätte überhaupt fein 
jelbftändiges Weib neben fich gebulbet, nur eine -weiche, 
paſſive Frau konnte mit ihm eine glücliche Ehe führen. 
In das gute und frieblige Familienleben fchlichen fich 
nach ben erften ſechs Jahren Mistrauen und Zweifel 
ein. Als Frau N. noch ein junges Mäbchen war, hielt 





des Collegienaſſeſſors Tſchichatſchew. 203 


fie ſich bei ihren Verwandten auf, Dort traf fie mit 
Tſchichatſchew zufammen. Er Tebte getrennt von feiner 
dran und trauerte darüber, daß er fo allein ſtand. 

Es ift begreiflich, daß feine Lage die Theilnahme des 
Mädchens erwecte und daß diefe Theilnahme ihm wohl 
that. Er ſuchte Troſt und Ruhe bei ihr, es entiwidelte 
fih erft Freundſchaft, dann Liebe und leider kam es zu 
einem nur zu vertrauten Verhältniß zwifchen ihnen. Wir 
brauchen den Schleier nicht weiter zu lüften, aber hervor- 
heben müfjen wir, daß von Verführung ober gar von 
Gewalt nicht die Rebe fein kann. Die Umftände hatten 
die beiden Menfchen zufammengeführt. Cr jehnte fich 
nach .einer freundlichen, Liebenden, weiblichen Seele, und 
fie hatte den lebhaften Wunfch, ihm jein Leib vergefjen 
zu machen. War eine Täufchung vorhanden, fo beitand 
fie nur darin, daß beide ein dauerndes, tiefes Gefühl 
nicht von einer augenblidlichen teibenfchaftlichen Erregung 
unterjchieben. 

Die ganze Situation und ver Verlauf ber Sace 
tiefen den Beweis, daß Frau N. den Umgang mit 
Tſchichatſchew freiwillig angelnüpft hat. Sie war als 
Saft bei ihren Verwandten. Dieſe hatten fie ermahnt, 
ihren Ruf zu fchonen, und fie gewarnt vor allzu freiem 
Berfehr mit Männern. Hätte Zichichatfchew ihre Un- 
erfahrenheit gemisbraucht, ihr Vertrauen getäujcht, oder 
gar ihr Gewalt angethan, jo würde fie weinenb bei 
ihren Verwandten Schu und Beiſtand gejucht baben. 
Statt deffen hat fie nicht nur nichts gejagt, fondern das 
Berhältnig fortgefett, bis fie das Haus verließ und der 
Stabskapitän N. um ihre Hand bat. 

Tſchichatſchew war ein Verehrer hübjcher Frauen, aber 
ſchwach und ohne Energie. Er trat fchüchtern und zart 
auf und befaß gewiß nicht die Willenskraft, feine Wünfche 


204 Die Ermordung 


mit Gewält durchzuſetzen. Es iſt nicht denkbar, daß er 
in ihr Schlafzimmer eingedrungen fein und fie genöthigt 
haben Sollte, ihm zu Willen zu fein. Beide hatten ben 
moralifhen Halt verloren, beide waren in Leidenſch aft 
zueinander entbrannt und wiberjtanden ihr nicht. Beide 
find gleich ſchuldig geweſen. Um jedem Verbachte vor» 
zubengen, wohnte Zichichatfchew ver Hochzeit der An 
geflagten als Trauzeuge bet. 

Der Angeklagte N. hatte keinen Verdacht gegen feine 
junge Frau, die er liebte, der er vertraute. Wie er uns 
ſagte, beichlich ihn nur felten eine Ahnung, baß nicht 
alles war, wie es fein follte, doch fchlug er fich ſolche 
Gedanken aus dem Sim. Seine Frau aber fonnte bie 
alten böjen Erinnerungen, den Schandfled in ihrem Leben 
nicht vergefien. Lange Zeit fehlte ihr der Muth, ihrem 
Manne ein Geftänpniß abzulegen. Scham und Furcht 
banden ihre Zunge. Gewiß, es war unrecht, aber ver« 
zeiblih. Als fie reifer wurde, als ihre Anbänglichkeit 
und Liebe zu ihrem Manne wuchs, blickte fie reue⸗- und 
fummervoll auf ihre Verirrung zurüd. Sie quälte jich 
mit dem VBorwurfe, ihren Gatten hintergangen zu haben. 
Ihr Gewiffen Tieß ihr feine Ruhe. Ihe Mann hatte 
viele Feinde, fle war fein einziger Troft, und nun mußte 
fie fich immer wieder jagen, daß fie feines Vertrauens 
unwürdig, daß fie nicht aufrichtig gegen ihn gewejen war. 

Ich glaube, was fie uns in dieſer Beziehung gejagt 
hat. E8 wurde ihr immer fchwerer, das Geheimniß in 
fih zu verfchließen, und e8 bepurfte nur noch eines äußern 
Anftoßes, um fie dahin zu bringen, daß fie ihr Herz 
ausſchüttete. Sie hoffte wol auch, ihr Mann würbe ihr 
den jugendlichen Fehltritt verzeihen und feine Liebe nicht 
entziehen. Ihre Lage wurde noch unerträglicher, als fie 
befürchten mußte, daß ihre Schuld von dritten Perſonen 


bes Collegienaſſeſſors Tſchichatſchew. 205 


offenbart werben könnte. Ste haben gehört, daß Frau 
Tſchichatſchew inftinetmäßig das Verhältniß ihres Mannes 
zu dem jungen Mädchen errathen hatte und daß fie Davon 
zu Bekannten ſprach. Die Gefahr der Entvedung wurbe 
drohender. Wie leicht komte dem Stabslapitän N, hinter⸗ 
bracht werben, daß feine Frau vor ihrer Verbeirathung 
fih mit Tſchichatſchew vergangen hatte. 

Der Menjch, meine Herren Gejchworenen, ift aus 
Widerfprücen zufammengejegt. Hochherzige edle Gefühle 
find oft gemiſcht mit Heinlichen Empfindungen. Baliche 
Scham und ber Wunfch, fich vor Gefahr zu ſchützen, ſich 
als rein und unſchuldig darzuftellen, find nicht felten bie 
Urſache, daß man nicht die volle Wahrheit jagt. Schwache 
Menſchen befennen zwar ihre Schuld, aber fie machen 
für ſich Milverungsgründe geltend. So geihah es auch 
bier. Frau N. berichtete ihrem Manne, was gejcheben 
war, aber fie bejaß nicht ven Muth, ihre Beichte gewiſſen⸗ 
haft und ehrlich abzulegen. 

Nach ihrer Erzählung war fie das Opfer von Tſchicha⸗ 
tihew’8 BVerführungsfunft geworden, er hatte Gewalt 
gegen fie angewendet. Unbedacht entfeffelte fie hierdurch 
in der Seele des Angeklagten einen Sturm, ven fie nicht 
wieder zu befänftigen vermohte Man Tann fich vor⸗ 
ftellen, was ber ftolze, ehrgeizige Mann litt, als er dieſes 
Geſtändniß anhören mußte. Sein ganzes Leben erjchien 
ihm vergiftet. Im jede Erinnerung an das Glüd feiner 
Ehe, an die Liebe und Zärtlichkeit feiner Frau, brängte 
fich der bittere Gedanke, daß alles Betrug und Lüge jet, 
daß vor ihm ein anderer die gleiche Gunft genoffen habe. 
E83 entwidelte fih in ihm ein furcchtbarer Haß gegen 
Tichichatichew. Das Vertrauen zu feiner Frau ſchwand, 
denn fie Batte ihm ihre Schande jahrelang verheimlicht. 
Er Hatte die Achtung vor ihre verloren und Tam mol 


206 Die Ermordung 


auch auf ven Gedanken, daß das Geftänpni nicht voll- 
ftändig fein möchte. Ihre Angabe, daß fie gewaltthätig 
entehrt worden fei, war doch recht unglaublich, die An⸗ 
nahme, daß fie eine Zuneigung zu Tſchichatſchew gehabt 
babe, lag nahe, und auch der Zweifel, ob die Beziehungen 
nach der Verheirathung etwa gar fortgefekt worden feien, 
nagte an feiner Seele. Tſchichatſchew und feine. Frau 
waren ja öfter in Gefellichaft zujammengetroffen, und 
weshalb hatte fie jo wiele Jahre gefchwiegen und ihren 
Verführer gefchont? Der Angeklagte Tieß fich immer 
wieder alle Detaild ihres Verkehrs mit Tſchichatſchew er- 
zählen und wühlte in ver offenen Wunde. Bald glaubte, 
bald bezmweifelte er alles, was fie ihm erzählte. Heute 
hielt er feine Frau für das unſchuldige Opfer eines 
Schurken, morgen für eine Betrügerin, und forderte von 
ihr den Beweis, daß fie Tſchichatſchew haffe, daß fie ihn 
verachte und niemals ein wärmeres Gefühl für ihn gehabt 
habe. Er glaubte, er würde wieder ruhig werben, wenn 
Tſchichatſchew felbit geftände, daß er Gewalt habe an- 
wenden mäfjen, um das zu erlangen, was ihm freiwillig 
nicht gewährt worden war. Er meint, wenn feine Frau 
ihren DVerführer aufforderte, fich felbjt das Leben zu 
nehmen, und er biefe Strafe für feine ehrlofe Handlung 
an fich ſelbſt vollzöge, wäre bie Schande getilgt. So 
erklärt fih die Scene in Aſchewo. Wir brauchen fie 
nicht zu wiederholen; Sie wiſſen was fich dort zu⸗ 
getragen hat. 

Die Ausfagen der Zeugen ftimmen darin überein, 
Daß Tſchichatſchew aus der Fuhrmannsherberge, in welcher 
er die Unterrebung mit den Angeklagten gehabt hatte, 
bleih, verftört und faſt Frank herausgefommen if. Es 
unterliegt feinem Zweifel, daß man ihm die Zumuthung 
gemacht hat, er folle Hand an fich Iegen und feinem 





des Eollegienaffeffors Tſchichatſchew. 207 


Leben ein Ende machen. Die Angeklagten ſelbſt leugnen 
es nicht, behaupten aber, es fei nur ein Scherz geweſen. 
Sch glaube nicht, daß die Angeflagten ven Wunfch gehabt 
haben, Tſchichatſchew folle ſich vor ihren Augen töbten, 
denn fie mußten fich fagen, daß dann jevermann geglaubt 
baben würde, fie hätten ihn umgebracht. Ich lege keinen 
Werth darauf, daß ein Dolch und eine Biltole bort 
gelegen haben. Ich bin der Anficht, ver Angeflagte wolite 
hören, wie die Aufforderung feiner Frau von Tſchichatſchew 
aufgenommen werden würde. Ging er darauf ein, fo 
war nach der Anficht des Angellagten N. der Beweis 
erbracht, daß Tſchichatſchew fchuldig und das von ihm 
entehrte Mädchen unfchuldig war. Hatte vie leßtere den 
Muth, dieſen Selbftmorb zu verlangen, fo lag darin ein 
Zeugniß dafür, daß fie vergewaltigt worden war, baß 
fie ihren Verführer niemals geliebt hatte, daß fie ihn 
Haßte um feiner That willen. Diefer Gedankengang be- 
berrichte ven Anflagten und erklärt, was er gethan bat. 
Die Liebe zu feiner Frau mußte ſtark erjchüttert fein, 
fonft hätte er fie nicht Dazu gezwungen, in einem fchmuzigen 
Eintehrhofe ihrem frühern Liebhaber alle Einzelheiten 
ihres Verkehrs vorzuhalten, ihre eigene Schande haar: 
flein zu erzählen, fie dem beichimpfenvden Klatſch ber 
Nachbarn und des ganzen Kreiſes preiszugeben, fie zu 
fchelten, zu quälen, zu fchlagen, nicht weil er fie für 
ſchuldig hielt, fondern weil er an ihrer Unſchuld zweifelte, 
Der Angeklagte ift ein felbftfüchtiger, in feiner Ehre 
gefränkter, herzlofer Menſch. Die Aufforderung an 
Tſchichatſchew, ſich felbit zu tödten, war fein Scherz. 
Nicht umſonſt hatte Frau N. nach dem Dictat ihres 
Mannes an ihn geichrieben: „Die Ehre einer Frau 
Tann nur durch Blut rein gewafchen werben, folgen Sie 
dem Beilpiele Ihres Bruders, der fich erjchoffen hat.” 


208 Die Ermorbung 


Tſchichatſchev war ein Tebensluftiger Menfch, ein 
eifriger Kunftfreund, er hatte ein fühlendes, warmes Herz. 
Die Zumuthung, fich das Leben zu nehmen, war für ihn 
ein Schlag ind Geſicht. Im feiner Angft war es ihm 
unmöglich zu jchweigen, er mußte fich mit feinen Freunden 
beratben, und e8 war ganz natürlich, daß er fich vor 
feinen Feinden zu ſchützen ſuchte. Es entftanden über 
bie Streitigkeiten zwiſchen dem Stabskapitän N. und 
Tſchichatſchew die abentenerlichften Gerüchte, fie ver⸗ 
breiteten fich weiter, als der erftere nach vierzehn Tagen 
zum zweiten mal in Aſchewo erjchien und feinem Gegner 
eine Herausforberung zujchidte. Man Tann fich vorftellen, 
daß die Stimmung bes Angellagten immer verbitterter 
wurde. Die vergebliche Fahrt nach Aſchewo, die Zurück⸗ 
weifung des Duell, der Gedanke, daß er die traurige, 
Tächerlihe Rolle eines betrogenen Ehemannes fpielte, 
brachten den jtolzen Mann faſt um ven Verſtand. Meine 
Herren Geſchworenen, wahrjcheinlich ift das Leben auf 
dem Lande vielen von Ihnen befannt. 8 beichäftigt 
fih nicht mit den gejellichaftlichen Tragen der Gegen- 
wart, welche die Bewohner in den großen Stäbten bes 
wegen. Das lebhafteite Intereſſe erwect ver Heinliche 
Klatſch, der bekannte Perfonen betrifft, beſonders folche, 
die eine hervorragende Rolle im Kreife Spielen. ‘Der 
Stabskapitän N., Vorfigender ber Semſtwa und Friedens- 
richter, war ein im Kreiſe wohlbelannter, vielfach ge⸗ 
haßter Mann. Nun wurbe er der Gegenftand des all- 
gemeinen Geſprächs, und wie wurbe über ihn geredet! 
Die einen freuten fich, daß fein Uebermuth geftraft worben 
wear, bie andern jpotteten über den von der jungen Frau 
hintergangenen Gatten, noch andere zudten mitleidig bie 
Achjeln über feine vergeblichen Bemühungen, burch einen 
Zweilampf feine Ehre wieberberzuitellen. 








bes Eollegienaffeffors Tſchichatſchew. 209 


Das Leben wurde ihm zur Hölle, die Theilnahme, 
die man ihm ausſprach, brachte ihn faft zur Verzweiflung. 
Sein Haß gegen Tſchichatſchew wuchs immer mehr. Er 
reifte in das Ausland. Ich behaupte nicht, daß die Reife 
ben Zwed hatte, feinen Feind dort zu treffen, ein Bes 
weis dafür ift nicht erbracht. Es ift wol möglich, daß 
er ans ber Atnofphäre, die fein Leben vergiftete, heraus⸗ 
fommen wollte und daß er hoffte, durch die Reife das 
verlorene Gleichgewicht wienerzugewinnen und bie über 
ihn und feine Frau umlaufenden Gerüchte zum Schweigen 
zu bringen. Seine Hoffnung fchlug fehl. Sein häus- 
ficher Kummer begleitete ihn, Tag und Nacht wurde er 
von ben quälendften Gedanken verfolgt und troß alles 
Nachdenkens fand er feinen Ausweg. Er fchrieb von - 
Berlin aus ven Ihnen bekannten Brief an Tſchichatſchew, 
ver den vollgültigften Beweis dafür Tiefert, daß Haß 
und Nahe gegen ihn feine Seele ansfüllten. Als er 
heimkehrte, hieß es, daß er eine erfolgloje Hebjagb hinter 
Tſchichatſchew her gemacht habe. Wiederum prebten fich 
die Geſpräche in allen Geſellſchaften um den Stabskapitän 
und feine Frau, wiederum gab es Leute, die den unglück⸗ 
lichen Mann auslachten und verhöhnten. 

Die Angeklagten zogen fich gänzlich zurüd, fie ver- 
zichteten auf jeden Umgang und lebten einfam. ‘Das 
Tagebuch der Frau N. gibt uns Aufichluß über das, was 
in ihrem Haufe vorgegangen if. Wir erfahren daraus, 
daß der Stabsfapitän fich feiner böfen Laune und feinem 
Zorne über fein Geſchick rückſichtslos überlief. Da 
niemand bei ihm war als feine Frau, fo mußte fie 
darunter leiden. Er war in feinem Benehmen gegen fie 
jehr ungleichmäßig. Bald überhäufte er fie mit Lieb⸗ 
fofungen, bald behandelte er fie mit großer Roheit. 
Immer wieber verhörte er fie über ihren Verkehr mit 

XXIL . 14 


210 Die Ermordung 


Tſchichatſchew und Tieß fich erzählen, was er längſt 
wußte. Mitunter ſprach er tagelang fein Wort mit 
feiner Frau, oft belegte er fie mit Schimpfworten. Er 
mishandelte das arme Weib, warf in der Wuth einen 
Stuhl na ihr, ſchlug fie mit der Fauſt und prügelte 
fie mit einem Pfeifenrohre. Sie vergießt viele Thränen 
und füllt ihr Tagebuch mit lagen. Die Tage, an denen 
er verreift ift, find ihre Erbolungszeit. Sie verläßt 
eines Nachts das Haus und wirft fich in den Schnee, 
um zu fterben. 

Der Angellagte denkt in feiner Einſamkeit darüber 
nach, wie er fih an Zichichatfchew rächen kann. Die 
Briefe an ihn, auch die Briefe feiner Frau, die auf 
feinen Befehl gejchrieben worden find, ſprechen deutlich 
ben grimmigften Haß aus. Da heißt ed: „Wir wollen 
unfere Hände nicht mit Ihrem unfaubern Blute befupeln, 
ſondern Ihnen eine Tracht Prügel verabreichen.” „Wir 
fenden Ihnen eine Obrfeige, in ber Hoffnung, biejelbe 
auch thatfächlich ertheilen zu Können.” ‚Wir rathen Ihnen, 
fih auf ver Jagd zu erfchießen, wie Ihr Bruder es ges 
tban bat.” 

Der Stabefapitän lechzt nach dem Blute feines 
Teindes. Er trägt ibm wieberholt ein Duell an. 
Tſchichatſchew fchlägt die Forderung ab, und nun fommt 
e8 zu der entſcheidenden Zuſammenkunft am 26. Novem- 
ber 1873. 

Sch habe verfucht, den Geiftes- und Gemüthszuſtand 
bes Angeflagten zu fchilvern, und dargethan, daß es nur 
einer geringen äußern Veranlafjung beburfte, um eine 
Erplofion herbeizuführen. Sie erfolgte, ald Tſchichatſchew 
ſich nochmals weigerte, im Zweilampfe fi dem An- 
geflagten zu ftellen. Er wurde geohrfeigt, es kam zu 
einer Balgerei, die und von den Zeugen lebendig ge- 








bes Collegienaffefjors Tſchichatſchew. 211 


ſchildert worden ift. ‘Der Angeklagte brachte feinem Feinde 
Tſchichatſchew mit einem Mefjer mehrere Wunden bei, 
an denen er gejtorben ift. Hat er die Abficht gehabt, 
ihn zu ermorden? 

Die Waffe, mit welcher das Verbrechen verübt wurde, 
war ein fcharfgefchliffenes, ziemlich fchweres Meſſer. Es 
Tieß ſich wegen ver elaftifchen Feder nicht Leicht öffnen. 
Der Angeflagte gibt an, er habe erſt, als ihn der Oberft 
von Raaben auf ven Divan geworfen hatte, das Meffer 
gezogen, e8 mit ven Händen geöffnet und um fich geftochen. 
Was weiter gejchehen ſei, wiſſe er nicht. Sie, meine 
Herren Gefchworenen, werben biejer Angabe fo wenig 
Glauben ſchenken wie ih. Sie haben die Ausſage des 
Hausknechts gehört, der zuerit in das Zimmer trat, fich 
auf die beiden miteinander ringenden Männer warf und 
eine Schnittwunde an den Fingern bavontrug. Dies 
geichah, ehe der Dberft von Raaben feinem Freunde zu 
Hülfe kam. AS er den Angeklagten von Tſchichatſchew 
wegriß, hielt ver Hausfnecht die Frau N. am andern 
Ende des Zimmers fe. Der Hausknecht blutete, alfo 
war er bereit8 verwundet, ehe von Raaben eintrat. Wollte 
man annehmen, daß der Angeklagte das Meffer erft gezogen 
hätte, als von Raaben mit ihm handgemein geworben 
war und er auf dem Divan lag, wer hätte dann verleßt 
werben müſſen? Doch gewiß derjenige, der auf ihm lag, 
und nicht die Finger, auch nicht die Bruft des Gegners, 
der auf ihm lag, hätten getroffen werben müſſen, fondern 
der Rüden oder die Seiten. ‘Der Oberft von NRaaben 
war unbejchäpigt bis auf etliche Schrammen an der Hand; 
nicht ihn, ſondern Zichichatichew, ber zur Seite ftand, 
hatten die Mefferftöße in die Bruft getroffen. Alſo nicht 
während ver Oberft von Raaben mit dem Angellagten 
rang, bat dieſer gejtochen. Das Meſſer war offen in 

14* 


212 Die Ermordung 


jeiner Hand, ehe von Raaben eintrat, und Tſchichatſchew 
hatte nicht blos Wunden in der Bruft, fondern auch Heine. 
BVerlegungen, die von einem Mefjer herrührten, an ven 
Händen. Wir wilfen, daß der Angeflagte feinem Gegner, 
der jeine Forberung ablehnte, einen Schlag in das Ge⸗ 
ficht verjeßte, der fo heftig war, daß der Gefchlagene zu 
Boden ftürzte. Der Zorn des Angeklagten war in Wuth 
übergegangen, er bat offenbar gleich nach dem Schlage- 
jeinem Feinde das Meſſer mehreremal in bie Bruſt 
gejtoßen. Die Wunden laufen von oben nach unten, 
dies paßt zu ber Situation, denn der Stabskapitän ſtand 
und Tſchichatſchew Tag am Boden ober erhob fich joeben 
von feinem Sturze. Hätte ver Angellagte auf dem Divan 
liegend geftochen, fo müßten die Wunden von unten nach 
oben gehen. Hätte er fie Tſchichatſchew beigebracht, als 
fie fich gegenüberftanden, jo müßten die Wunden ebenfalls 
von unten nach oben laufen, denn Tſchichatſchew ift von 
höherm Wuchfe als er. Ein Menſch, der in blinder. 
Leidenſchaft um fich fticht, ftößt unficher und überlegt 
nicht, wohin er trifft. Dieje Meſſerſtöße find mit. fejter 
fiherer Hand nach einem beftimmten Ziele geführt und 
haben das Herz getroffen. 

Der Thäter hat gewußt, was er wollte Er war 
bei voller Befinnung, er vertheidigte fich nicht, ſondern 
züdte das fcharfgefchliffene Meejjer gegen den von ihm 
zu Boden gejchlagenen Dann und ſtach es ihm in bie 
Bruft. Das heißt tödten wollen! 

Eine gewöhnliche Schlägerei ift e8 nicht geweſen, eine 
jolhe verläuft bei uns zu Lande anders. Man kommt 
zuſammen, ohne daß man fich haft, man trinkt und 
itreitet fih. Es entfteht eine Balgerei, man zerfchlägt 
fi vielleicht die Köpfe und reißt fich ven Bart heraus. 
Geſchieht dabei ein Unglüd, wird jemand getödtet, fo 


_ 


des Collegienafjejfors Tſchichatſchew. 213 


Hat fein Menſch dieſen Ausgang beabfichtigt. Hier aber 
bat ein lange Zeit genährter Haß ferne Befriedigung 
gefimden. Hier ift Menfchenblut abfichtlich vergoffen 
worden. 

Werfen wir noch einen Blick auf das Benehmen des 
Angeflagten nach vollbrachtem Morde. Der Stabslapitäin, 
. den der Oberft von Raaben in ein Vorzimmer eingeſchloffen 
Hat, raucht dort ruhig eine Cigarrette. Er hat Appetit 
und bittet um ein Glas Thee, ja er erkundigt fich kalt⸗ 
pfütig bei der Dienerichaft, ob Tſchichatſchew tobt fei. 
Als er von feiner Frau Hört, nicht ihr Schuß habe ven 
Tod ihres Feindes herbeigeführt, fonvern er habe ihn 
mit dem Meffer erftochen, fagte er: „Nun Gott fei mit 
ihm!” Sp, meine Herren, beträgt fih kein Menſch, 
“der einen andern zufältig und wider feinen Willen um- 
gebracht hat. 

Der Angeflagte dürſtete nach Tſchichatſchew's Blute, 
er wollte fein Leben haben entweder im Zmweilampf oder 
auf irgendeine andere Weile. Daß Tſchichatſchew auf ven 
Angeklagten mit Fäuften ſchlug, kann man ihm nicht zum 
Borwinf machen. Man darf nicht verlangen, daß ein 
Dam ftillhält, wenn fein Todfeind bet ihm einbringt, 
Tom thätlich angreift, zu Boden wirft und mit dem Meffer 
tractirt. Wir haben nach dem ganzen Verlanfe ver Sache 
das Necht zu Tagen: ver Angeflagte hat die Abficht gehabt, 
Tſchichatſchew zu tödten, er Hat im Jähzorn dieſe That 
verübt. Sein Gedanfengang war: „Du wilfft mir feine 
Semmgthunng geben — nun wohl, fo werde ich über vich 
berfaften wie ein wildes Thier. Du willft nicht im Zwei⸗ 
fampfe in die Mündung der Piftole ſehen, fo ſollſt du 
das Mefler koften. Du haft mein Leben verborben,- fo 
will ich dafür dein Leben haben.” Er hat feinen Vorſatz 
ausgeführt und ben tödlich gehaßten Gegner ermordet. 


214 Die Ermordung 


Wir haben nur noch von der Angeflagten zu reben, 
und behaupten, fie hat verbrecherifchen Antheil an dem 
Morbe. Sie ift der Leitung ihres Mannes unbeningt 
gefolgt und hat fich an feine Rodichöße gehängt. Tſchicha— 
tſchew ift auch ihr verhaßt, demn er ift die Urfache ihres 
Unglüds. Unter den Schlägen ihres Mannes weinend, 
gedemüthigt durch das Geftänpniß ihrer Schande, zitternd 
vor dem Gatten, der fie nicht mehr liebte, immer wieder 
gequält durch peinliche Verhöre über ihren Verkehr mit 
Tſchichatſchew, wollte fie zulegt um jeden Preis ein Ende 
machen. Sie glaubte, wenn ihr Verführer Tſchichatſchew 
ben Tod erlitten hätte, würde ihr Mann volle Verzeihung 
gewähren und ihr feine Liebe und fein Vertrauen zurüd- 
geben. So reifte allmählich auch in ihrer Seele ber 
Entſchluß, fein Leben zu fordern, und als er fich weigerte, 
Hand an fich zu legen, feuerte fie zwei Schüffe auf ihn 
ab. Sie wußte, was fie that. Beachten Sie, meine Herren 
Gefchiworenen, daß um zweimal zu fchießen auch der Hahn 
bes Revolvers zweimal gefpannt werden mußte. Sie 
fönnen fich nachſichtig gegen die Angeklagte beweijen, 
benn nicht fie hat Tſchichatſchew getöbtet und fie ftand 
bei ihrem Handeln unter dem ftarfen Einfluffe ihres 
Mannes. Aber vergeffen dürfen Sie nicht, daß fie ihren 
Mann in zweifacher Weile betrogen hat, indem fie ihm 
ihren Umgang mit Zichichatichew verſchwieg und dann 
zwar ein Bekenntniß ablegte, aber ihm vorfpiegelte, fie 
jet das Opfer einer Gewaltthat geworden. Dadurch find 
in ihrem Manne Zweifel und Mistrauen und Rache⸗ 
gebanfen entftanden, die zum Morde führten. Vergeſſen 
Sie nicht, daß fie den Revolver in mörberiicher Ab» 
fiht zweimal abgebrüdt bat. In Uebereinftimmung mit 
dem Gerichtshofe erhebe ich die Anklage, daß Frau N. 
dem Verſtorbenen nach dem Leben getrachtet, und baß 





bes Collegienaſſeſſors Tſchichatſchew. 215 


der Stabskapitän N. ihm im Jähzorn das Leben ge⸗ 
nommen hat. | 

Meine Herren Gefchworenen, es find nicht heitere 
Betrachtungen, die ich anftellen mußte. Das Drama 
chließt mit dem Tode eines guten Menfchen. Tſchicha⸗ 
tſchew war uneigennügig und wohlthätig, er fuchte bie 
Volksbildung zu heben, richtete eine Volksichule ein und 
war ein Mitbegründer einer Sparlaffe Für feinen 
Leihtfinn, für feinen Wehltritt, den er mit ver An- 
geflagten zufammen begangen, hat er mit dem Leben 
gebüßt. Diejes Leben bat nicht etwa ein Menſch zer- 
ftört, der die Tragweite feine® Verbrechens nicht be⸗ 
urtheilen konnte, fonvern ein gebilveter, Huger Mann, 
der ſelbſt Richter und deshalb berufen war, andern bie 
Achtung vor dem Leben eines Menſchen und dem Geſetz 
zu lehren. Ich Halte dafür, daß Ihr Urtbeil ein 
ftrenge8 gegen ihn fein muß, denn das Gericht und die 
Rechtspflege find dazu da, das Leben zu fchüten und 
jede eigenmächtige Verfügung über bafjelbe zu ftrafen. 
Der Angeklagte Hat eine angejehene Stellung einge- 
nommen, er ift ein thätiges und nütliches Mitglied der 
bürgerlichen Gejellfchaft geweſen und verftand es, ihre 
Imtereffen zu wahren. Es war ihm viel gegeben, aber 
wen viel gegeben iſt, von dem wird man viel forbern. 
Ich glaube, daß Ihr Spruch in biefem Sinne aus- 
fallen wird. 


Das Berbict der Gejchiworenen erklärte ven Angeflagten 
für Schuldig des im Jähzorn begangenen Mordes, da⸗ 
gegen wurde bie Angellagte freigefprochen. 


216 Die Ermordung desCollegienafjeil.Tihihatfchew. 


Das Gericht verurtbeifte den Stabskapitän zur Ver⸗ 
bannung nach Sibirien, als freier Anfiedler, ohne Ver⸗ 
Tuſt ber bürgerlichen Rechte. Dort mag er etwa ein 
Jahrzehnt mit feiner Frau gelebt ‚haben, dann aber 
werben beide Eheleute in ihre Heimat auf ihr Gut zurüd- 
gelehrt fein. 





Der Einbrud im Pfarchofe von Edlingham. 
(Raub- und Morbverfud. — England.) 


Das Stäntehen Alnwick in der Grafſchaft Northumber⸗ 
land ift von eimer ſchwer bisciplinirbaren Bevölkerung 
bewohnt. Man bezeichnet die Wilddiebe ganz laut mit 
Namen, und ihrer find nicht wenige. Die Polizei hat 
- einen harten Stand, und ihre Aufgabe wird überdies noch 
dadurch fehr erſchwert, dag ein nicht geringer ‘Theil ber 
Einwohner des Stäbtchens offen und ungejcheut mit denen 
ſympathifirt, die fortbauernd einen Heinen Krieg führen 
mit den Polizet- und Forftbeamten, und bie verbotene 
Jagd als ihren Erwerb und ihre höchtte Luft ausüben. 

Die geipanmten Beziehungen zwiſchen der Bevölkerung 
und ben Behörben befferten fich, als ein außergewöhnlich 
freches und brutales Verbrechen die Gemüther in DBe- 
wegung fette. 

Sn der Nacht vom 6. anf den 7. Februar bes Jahres 1879 
wurde von zwei Männern in bem Pfarrhofe des Dorfes 
Edlingham nächſt Alnwid eingebrochen und unter jehr er- 
ſchwerenden Umftänden eine Beraubung ausgeführt. Der 
ſchon bejahrte Pfarrberr Namens Buckle, feine hoch⸗ 
betagte Fran, ihre Tochter umd drei Dienftmägde bewohnten 


918 Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlingham. 


das Haus. ‘Der Pfarrer und feine Tochter wurden durch 
ein verbächtiges Geräufch im Schlafe geftört. ‘Der eritere 
bewaffnete fich mit einem alten Schwerte. Beide begaben 
fih von ihren im erften Stodwerfe gelegenen Schlaf- 
zimmern vie Treppe herab in das Erpgefhoß, um zu 
jehen, was denn eigentlich vorginge. Zwei Räuber traten 
ihnen entgegen, der eine war mit einer Flinte bewaffnet, 
fie griffen die Hausbewohner an und es fiel ein Schuß, 
ber den Pfarrer und feine Tochter an der Schulter ver- 
wunbete. Dennoch gelang e8 ihnen bie Räuber zu ver- 
jagen. Fräulein Buckle insbejondere bewies einen ganz 
ungewöhnlichen Muth und große Energie. Trotz ihrer 
Wunde drang fie auf die Räuber ein, faßte einen ber- 
jelben bei den Haaren und ließ fofort, nachdem die Ver⸗ 
brecher fich geflüchtet hatten, das Dorf alarmiren und 
durch einen reitenben Boten die Polizei in Alnwid von dem 
Veberfall in Kenntniß jeßen. Geraubt war ein geringer 
Baarbetrag und eine goldene Uhr nebft Kette und Siegel. 

Der erfte Verdacht fiel auf zwei übelberüchtigte Burſche: 
ven Tagelöhner Charles Richardſon und ven Gärtner- 
gehülfen George Edgell, die eine gerichtsbelannte Ver- 
gangenheit hinter fich hatten und fogar früher beſchuldigt 
waren, einen Polizeibeamten Namens Gray ermorbet zu 
haben. Die Polizei fuchte fie fogleich in ihren Woh⸗ 
nungen auf. Beide lagen im Bett, ihre Fußbekleidungen 
waren troden. Augenjcheinlich waren nicht fie Die Thäter 
geweſen. 

Sodann richtete ſich der Verdacht gegen zwei andere 
nahezu ebenſo berüchtigte, notoriſche Wilddiebe, die Tag⸗ 
löhner Michael Brannagan und Peter Murphy. 
Der letztere ſtand überdies bei der Polizei ſchlecht an⸗ 
geſchrieben, weil gegen ihn ber dringende Verdacht vor⸗ 
lag, er habe durch eine beſchworene falſche Zeugenausſage 


Der Einbruch im Pfarrhofe von Edlingham. 219 


vor Gericht die Freilaffung eines Cumpans herbeigeführt, 
ber des Entendiebſtahls bezichtigt war. 

Diefe beiden Leute wurden in der kritiſchen Nacht 
von den Polizeibeamten zu Haufe nicht angetroffen. Sie 
waren am Abend zuvor weggegangen und noch nicht heim⸗ 
gekehrt. ALS fie endlich um 7 Uhr des Morgens an- 
famen, wurden fie feftgenommen. Ihre Röde und Fuß⸗ 
beffeivungen waren durchnäßt. Von der Polizei zur Rebe 
geftellt, gaben fie nach einigem Zögern zu, auf Wilddieb⸗ 
ftahl ausgeweſen zu fein, leugneten aber entjchieven von 
dem Einbruche etwas zu wiffen. 

Sie wurden in Haft behalten und die Unterfuchung 
warb wiber fie eingeleitet. 

Es kam zunächſt darauf an, die Ipentität der An⸗ 
gefehulbigten mit den Einbrechern feftzuftellen. Um dies 
Ziel zu erreichen, veranftaltete man eine Art Theater⸗ 
coup. Die Unterfuchungsgefangenen wurden des Nachts 
in derjelben Kleidung, in der fie von ben Polizetorganen 
überrafcht und feftgenommen worden waren, nach Edlingham 
übergeführt und in das Zimmer gebracht, in welchem bie 
Räuber von dem Pfarrherrn betroffen worden waren. 
Mr. Budle erichien mit einer Kerze in ver Hand in dem 
von nichts fonft erleuchteten Gemach. Seine Tochter folgte 
ihm. Beide erflärten übereinjtimmend, daß bie ihnen vor⸗ 
gefteliten Individuen in Statur und Kleivung den Ein- 
brechern glichen, daß fie jedoch nicht mit Beſtimmtheit 
ihre Gefichtszüge wiederzuerfennen vermöchten. 

Die Hauptverhandlung, bei der nah dem Brauche 
der engliichen Strafrechtspflege die Angeſchuldigten nicht 
jelbft gehört wurden, fand unter großem Zubrange der 
Bevölkerung ftatt. Richter Manifty leitete die Ver⸗ 
bandlung, der Anwalt Mir. Edward Ridley trat für 
die Anklage, der Lönigliche Rath Mr. Milwain für bie 


"220 Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlingham. 


Bertheivigung in die Schranken. Die Schlußverhandlung 
dauerte mehrere Tage und brachte einen nahezu zwingenden 
Indicienbeweis zu Stande. 

Die Thatzeugen, Pfarrer H. ©. Buckle und feine 
Tochter, hatten die Räuber nur im ungewiſſen Schein 
des Mondlichtes, und in der fladernden Beleuchtung einer 
einzigen Kerze gefehen und konnten fie nicht mit Sicherheit 
agnofeiren. Aber die von ihnen übereinftiimmend ent⸗ 
worfene Befchreibung besjenigen YBurfchen, der das Mord⸗ 
gewehr anf fie angelegt hatte, war ganz präcis und Tautete 
dahin: „Ein vierfchrötiger, breitichufteriger Geſell von 
militäriſch ſtrammer Haltung, bärkig und dunkelhaarig.“ 
Diefe Befchreibung paßte vollitändig auf Brannagan. Auch 
pie Kleidung ftimmte. Auf viefen legtern Umstand konnte 
indeß nicht viel Gewicht gelegt werben, denn fie pflegt 
bei alten Leuten dieſes Schlages jo ziemlich die gleiche 
zu fein. Die Thatzengen fagten unter ihrem Eide aus: 
Ste glaubten mit größter Wahrſcheinlichkeit Brannagan 
als einen der Räuber bezeichnen zu Tonnen, wollten fich 
indeß doch nicht dazu verftehen, ifm auf Eid und Ge- 
wiften für einen ver Thäter zu erklären. 

Diefe Ausſage altein würde zur Verurtheilung ver 
Angeffagten nicht genügt haben, aber die von der Polizei 
mit großer Sorgfalt durchgeführte VBorımterfuchung hatte 
noch außerdem eine Reihe der ſchwerwiegendften be- 
Yafterven Momente feſtgeſtellt. 

Im Garten des Pfarrhofes waren am Morgen nad) 
der That Fußipuren anfgefunden worden. Die fofort 
mit Gips ſixirten Eindrücke paften genau anf die Stiefel 
Branmmagan’s und die Holzichuhe Murphys. Ein am 
Thatorte zurüdgebliebener Meifel, mit vem die Eingangs⸗ 
thür zum Bfarrhofe aufgefprengt worden war, ift von 
John Redpath, dem Geliebten ver Schwefter Murphty’s 





Der Einbruch im Pfarrhofe von Edlingham. 221 


und zugleich deſſen Duartiergeber, als fein Eigenthum 
anerkannt und diefer Umftand von bem Zeugen in öffent- 
licher Gerichtsfigung auch befchworen worben. Ein abs 
gerifjenes Stüd einer Zeitung, welches im Garten des 
Pfarchofes von Edlingham aufgefunden wurbe, paßte 
genau zu einem Blatte, welches im Unterfutter des Rockes 
ftaf, den Murphy getragen hatte. Der beigezogene Arzt, 
Dr. ®ilfon, hatte diefen Rod unterfucht, um feitzu- 
ftellen, ob der Rod etwa Spuren des Schwertes trüge,. 
mit weldem ber Pfarrer Budle auf die Räuber ein- 
gebrungen war. Solche Spuren entbedte Dr. Wilfon 
nicht, aber er fand jene Zeitung, aus ber das im Pfarr 
hofe. liegenve Stüd herausgeriffen war. Einige Tage 
nad der That wurde ferner von einem Dienftmäbchen 
vor dem Yenjter des Pfarrhofes, durch welches die Ein- 
brecher jich geflüchtet hatten, ein Streifen groben Stoffes, 
auf den ein Knopf aufgenäht war, gefunden. Die Farbe 
und bie Dualität des Fetzens war bie gleiche wie bie 
der Hofe des Angejchulpdigten Brannagan, von ber ein 
Stüd abgeriſſen zu fein fchien. 

Beive Angeflagte waren die Nacht hindurch vom. 
Hanfe abweſend geweien. Sie verfuchten tiefen Umftand 
damit aufzuflären, daß fie wildern gegangen wären; allein 
ihre, vor der Polizei abgegebenen Ausfagen ftimmten in 
verſchiedenen Punkten nicht überein. Sie gaben ein Ver⸗ 
fted an, in welchem fie die erbeuteten Kaninchen ver- 
borgen bielten, aber. abgejeben davon, daß die Kaninchen 
recht gut ſchon tags vorher erbeutet und dahin gebracht. 
worden fein Tonnten, fand man bei ihrer Verhaftung, 
die doch unmittelbar nach ihrer Rüdfunft erfolgte, ven 
Spaten nicht, mit dem fie nach Kaninchen in deren 
Bau gegraben haben wollten. Eine Gelegenheit, ven Spaten 
vorher zu befeitigen, hatten fie aber kaum gehabt. 


22323 Der Eindbrud im Pfarrhofe von Edlinghbam. 


Die mit großem Aufwande von Gefchieflichkeit und 
Eifer geführte Vertheidigung bejtritt die Identität ver 
Einbrecher mit ven Angellagten und fuchte den Impicien- 
beweis in allen Punkten zu befämpfen. Es gelang ihr 
jedoch nur einen einzigen dieſer Verbachtsgründe zu 
widerlegen. Das vorgefundene Stüdchen Stoff trug eine 
andere Sorte Knöpfe als die Hofe Brannagan’s. Das 
Stüdchen Stoff erwies ſich als ein abgeſchnittener 
Streif, nicht als ein abgerifjener Feten. 

Die BVerurtheilung der Angeflagten war unvermeib- 
lich. Sie wurden nach gründlicher Berathung der Ge⸗ 
fhworenen, die drei Stunden brauchten, um fich über 
ihren Spruch zu einigen, am 23. April 1879 wegen 
ſchweren Einbruchspiebjtahls und verfuchten Mordes zu 
Lebenslänglicher Zuchthausarbeit rechtöfräftig ver- 
urtheilt. Beide traten ihre Strafe an und vwerbüßten 
diejelbe in den Zuchthäufern von Morpeth, Pentonville, 
Millbant und Portsmouth. 

Nahezu zehn Jahre fpäter meldeten fich der Gärtner- 
gehülfe Edgell und der Tagelöhner Richardſon frei- 
willig bei der Polizeibehörvde in Alnwid und gaben an: 
fie feien die Thäter geweſen. Bon Gewiffensqualen be- 
drüdt und von dem Seelſorger Edgell’8 Hierzu beftimmt, 
hätten fie fich entjchloffen, ein Bekenntniß abzulegen, um 
den unfchuldigen Männern, die feit faft einem Jahrzehnt 
im Zuchthauſe ſchmachteten, die Freiheit zurüdzugeben. 

Ein Sturm der Entrüftung burchbraufte England. 
Kein Ausprud war zu fräftig, der nicht im Hinblid auf 
den gejchehenen Juſtizmord angewendet werben burfte. 

Es hagelte Interpellationen im Parlament: wie fich 
denn bie Regierung zu diefer Frage ftellen wolle? | Welche 
Entihäpdigung fie den unfchuldig Verurtheilten, die ihre 
Rebengzeit in trauriger Kerkernacht verjeufzten, gewähren 


Der Einbruch im Pfarrhofe von Edlinghbam. 223 


würde? Welche Sühne dem beleibigten Rechtsgefühl zu⸗ 
theil werden ſollte? 

Die Regierung, wol etwas unter dem Drucke der 
öffentlichen Meinung ſtehend, beeilte ſich, dem allgemeinen 
Wunſche Rechnung zu tragen. Am 15. November 1888 
wurden Brannagan und Murphy aus der Haft entlaſſen. 
Ihre Heimfahrt glich einem Triumphzuge, man feierte 
ſie, wie man Sieger, die aus dem Felde heimfehren, zu 
feiern pflegt. Ihre nähern Freunde waren ihnen bie 
Bilton-Iunction entgegengefahren, um fie zu begrüßen, 
in Alnwic aber harrte ihrer eine erregte, jubelnde Menge. 
Unter allgemeinem Enthufiasmus wurden die entlafjenen 
Sträflinge auf die Schultern williger Gefinnungsgenoffen 
gehoben und vom Bahnhofe bis in die Stadt ge- 
tragen. Eine Muſikbande begleitete den Zug, luſtige 
Weiſen fpielend, und unter den Klängen bes Volksliedes 
„Home, sweet home!” zogen bie Befreiten in ihre 
Vaterſtadt ein. Die Localblätter brachten Tpaltenlange 
Berichte, und ſogar ernfte Zeitungen wie bie „Times“ 
winmeten dem Vorgange eingehende Darftellungen. 

DBrannagan und Murphy wurden vorbehaltslos be- 
gnadigt. Die Regierung gewährte jedem von ihnen ein 
Ehrengejchent von je 800 Pfr. St. = 16000 Reichs⸗ 
mar. 

Gegen die beiden andern Burfche wurde bie Unter- 
juchung eröffnet. Das Geftänbniß, welches fie ablegten, 
wid in einigen nicht unwelentlichen Punkten von ben 
früher gerichtlich erhobenen Thatfachen ab. Sie bes 
haupteten, fie hätten, um ihre Zritte unbörbar zu machen, 
die Füße mit Quchfegen umwickelt. Die Gipsabgüffe 
der Fußſpuren im Garten mußten, wenn dies wahr war, 
von dritten unbetheiligten PBerjonen herrühren, und ihre 
genaue Vebereinjtimmung mit den Stiefeln des Brannagan 





294 Der Einbrudh im Pfarrhofe von Edlingham. 


und ben Holzfchuhen des Murphy verlor ven Werth 
eines Beweismitteld. Die Ausfagen der neuerdings An- 
geſchuldigten waren auch in Einzelheiten voneinander ziem- 
lich verfchieden. So behauptete jeder von ihmem, ber 
andere habe den Plan zum Cinbruche ausgehedt, ber 
andere habe zuerft Hand angelegt u. ſ. w. In der Haupt⸗ 
ſache aber ftimmten fie überein. Sie befannten fich jelbft 
als die Thäter. Wie es fcheint, hatten fie auf die Zu= 
ficherung ‚gerechnet, die Edgell von dem Bicar zu St.⸗Paul 
in Alnwid, Herrn Jevon I. M. Perry, erhalten haben 
wollte: daß fie nicht um eined Verbrechens willen zu 
einer Strafe verurtheilt werben könnten, um befjentwillen 
zwei andere Männer burch rechtögültigen Sprud ver 
Geichworenen eingeferfert worden waren. Allein dieſe 
Auffaffung erwies fih als unzutreffend. 

Der Bolizeirichter, weniger durch ftarre Formen beengt 
als der Vorfigende einer Schwurgerichtsverhandlung, pflog 
eifrigft Erhebungen. Mr. Bude, ein nunmehr fechsund- 
achtzigjähriger Greis, vermochte noch weniger als ehedem 
bie ihm vorgeführten Individuen zu iventificiren. Fräulein 
Buckle dagegen erklärte mit voller Beftimmtheit, daß Edgell 
feittesfalls der Mann gewefen fei, ven fie damals bei ven 
Haaren erfaßt habe; aber auf Diefe Erklärung bejchräntte ſich 
ihr Zeugniß in Betreff der ihr vorgeftellten Angeſchuldigten. 
Brannagan und Murphy erjchienen num auch als gejetlich 
gänzlich unbedenkliche Zeugen und gaben bejchivorene Aus- 
jagen über ihren Verbleib in ver Nacht vom 6. auf den 
7. Februar 1879 ab, während fie Doch in ver wider fie 
ſelbſt vurchgeführten Hauptverhandlung nicht verhört werden 
burften und auch nicht befragt worben waren. 

Die Anklage wurde erhoben und vor den Affiffen in 
Newcaftle durchgeführt. Die Verhandlung fand am 
24. November 1888 ftatt. Als Vorſitzender fungirte ver 








Der Einbruch im Pfarrhofe von Edlingbam. 295 


Richter Baron Bollod. Für die Anklage erfchienen ber 
fönigliche Rath Der. Sainsford Bruce und die Herren 
Hans Hamilton und D. F. Steavenfon; für bie 
Dertheibigung ver Tönigliche Rath Mer. Digby Seymour 
unn Mr. Straſhan. Namens des Bolizeigerichts in 
Alnwick, welches Das Geſtändniß der Angeflagten entgegens 
genommen hatte, wohnte Mr. Skidmore der Verhand- 
lung bei. 

Zunächſt wird dem Gerichtähofe eine Petitiou der 
Einwohnerfchaft von Alnwick unterbreitet, welche mit 
mehrern tauſend Unterjchriften verjehen, auf Grund des 
Selbitbefenntniffes der Angeklagten um eine milde Be- 
urtbeilung ihrer That bittet, und deren Treifprechung 
von der Einficht und Großmuth des Richters erwartet. 

Hierauf erhebt fihb Wer. Seymour und macht Rechts- 
bebenfen geltend. Er ftellt die Vorfrage, ob überhaupt 
eine Verhandlung in Angelegenheit des Einbruches in 
Edlingham, nachdem zwei andere Perfonen gerade dieſes 
Verbrechens wegen rechtskräftig verurtheilt worden, wider 
die jet angefchuldigten Edgell und Richardſon zuläffig fei. 

Baron Pollod weift die Berechtigung dieſes Be- 
denkens zurück, erfennt jedoch an, daß der Vertheidiger 
durch die Anführung dieſes Umftandes und das Auf- 
werfen dieſer Rechtsfrage nur feine Pflicht erfüllt habe 
und deshalb feine Rüge verdiene. Er bejchließt in bie 
Verhandlung einzugehen. 

Die Angeklagten Charles Richardſon, 53 Jahre 
alt, Tagelöhner, und George Edgell, 47 Jahre alt, 
Gärtnergehülfe, find befchulpigt des Einbruches, des 
Raubes einer goldenen Uhr ſammt Kette und Siegel aus 
gleichem Metall und einer Summe baaren Geldes, ſowie 
des Mordverſuches wider den Reverend Mr. Buckle und 
feine Tochter. 

XXIII. 15 


226 Der Einbruch im Pfarrhofe von Edlingham. 


Die Angeklagten bekennen ſich des Einbruchs und 
Raubes ſchuldig, aber nichtſchuldig des Mordverſuches. 
Sie behaupten, die Flinte, die ſie mit ſich führten, habe 
ſich nur durch einen unglückſeligen, unvorhergeſehenen 
Zufall entladen. 

Mr. Gainsford Bruce erklärt darauf, daß er die 
Anklage wegen des Mordverſuches fallen laſſe und dieſelbe 
auf den eingeräumten Thatbeſtand beſchränken wolle. — 
Der logiſche Widerſpruch, der in dieſem Vergehen liegt, 
wurde weder damals in der Verhandlung begründet, noch 
hat er ſpäterhin Bedenken erregt. 

Da nach der engliſchen Strafproceßordnung ſomit 
nichts zu erweiſen übrigblieb, denn der Einbruch und 
Raub galt durch das Bekenntniß der Angeklagten für 
gerichtsordnungsmäßig nachgewieſen, wurde das Beweis—⸗ 
verfahren geſchloſſen. 

Mr. Seymour plaidirt für ein mildes Urtheil. Er 
hebt hervor, daß im Jahre 1879 für die Bemeſſung der 
Strafe der Mordverſuch ausſchlaggebend geweſen. Dieſes 
gewichtige Moment iſt aber durch die Zurückziehung der 
Anklage hinſichtlich dieſes Punktes gänzlich weggefallen. 
Dagegen iſt die Seelengröße anzuerkennen, mit der die 
Angeklagten ſich zu ihrem freiwilligen Geſtändniß ent- 
ſchloſſen und es angefichtS der ihnen drohenden Strafe 
aufrecht erhielten. Edgell ift verheirathet. Die Sorge 
für fein Weib und für fein Kind verjchloß ihm bisher 
ben Mund. Trotz beftändiger Gewifjensqualen glaubte er 
ichweigen zu müffen. Allein als fein Kind ftarb, da trat 
er mit dem Geſtändniß hervor. Wie jehr das Schickſal 
biefer beiden Menjchen vie öffentliche Meinung erregte, 
gebt aus der mit mehr als 3000 Unterjchriften bebedten 
Petition der Einwohnerichaft Alnwicks hervor, die ins— 
gefammt ein mildes Urtbeil hofft und erwartet. 





Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlingham. 227 


Baron Pollock Fällt das Urtbeil: „Der Wegfall 
der Anklage wegen Mordverſuchs müſſe wol auf die Be- 
meſſung ver Höhe des Straffages von entſcheidender Ein- 
wirkung fein. Dagegen könne der Richter weder das 
freiwillige noch das verſpätete Geftänpniß ale 
mildernd oder erjchwerend berüdfichtigen. ‘Die Petition 
ber Bewohner Alnwids habe ihre Adreſſe verfehlt; fie 
jet nicht an ihn, fondern an diejenigen zu richten, benen 
die Handhabung des Begnabigungsrechtes zuftehe.” Der 
Richter verurtheilte demnach die beiden Angeflagten zu 
fünfjähriger Zuchthausſtrafe. 

Damit gab fih aber — und dies ift ein fchöner Zug 
des öffentlichen Gewiſſens — die aufgeregte Volfsftimme 
nicht zufrieden! Wenn ein Yuftizmorb begangen worben 
war, und dies fehien nach der vermaligen Sachlage außer 
Zweifel zu ftehen, fo galt e8 nicht nur die Schuld ber 
Sejellfchaft an ven Betroffenen zu fühnen, es waren auch 
Perfonen vorhanden, welche den verfehlten Nichteripruch 
herbeigeführt hatten. Die Polizeiorgane, durch deren Be⸗ 
mühungen feinerzeit der Indicienbeweis erbracht worben 
war, erjchienen nunmehr verbächtig, entweber in dem 
guten Glauben, die wirklichen Verbrecher dadurch ihrem 
Richter zuzuführen, ober gar in der böslichen Abficht, 
überhaupt einen Schuldigen herbeizufchaffen, vie einzelnen 
Indicien ohne Rüdficht auf die fubjective Wahrheit fabricirt, 
a gruppirt, vielleicht ſogar fälfchlich hergeftellt zu 
aben. 

Es wurde demgemäß ein Proceß gegen die in ber 
Sache thätigen Bolizeibeamten eingeleitet und in mehr- 
tügiger Verhandlung burchgeführt. 

Am Montag, den 18. Februar 1889, erfchienen in 
Newcaftle vor dem Richter Denman, als Vorfigendem 
des Schwurgerichts, die Angeklagten: Thomas Harrifon, 

15* 


2238 Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlingham. 


70 Sahre alt, penfionirter Bolizeiinfpector, Iſaak Gair, 
42 Jahre alt, BPolizeifergeant, und Robert Sprot, 
36 Jahre alt, Polizeiconftabler, unter der Anſchuldigung, 
‚in den Monaten Februar, März und April des Jahres 
1879, in Öemeinfchaft mit dem feither verftorbenen George 
Harfes, damaligen Polizeileiter des Bezirkes, fih in 
ungejeglicher Weiſe verabrevet zu haben, um ven richtigen 
Gang der Rechtöpflege zu behindern und in falfche Bahnen 
zu leiten burch die Serbeilchaffung, Berfertigung und 
Vorführung gefälichter Beweismittel in der Rechtsſache 
wider Meichael Brannagan und Beter Murphy wegen 
Einbruch, Diebftahls und Morbverjuches im Pfarrhofe 
von Edlingham“. 

Die Anklage, welche namens der Krone erhoben 
wurde, vertraten: ber königliche Rath Mr. Gainsford 
Bruce und die Herren D. 3. Steavenfon und Hans 
Hamilton. Die PVertbeidigung führten Mr. Besley 
und Mr. Boyd. 

Mr. Sainsford Bruce begründete die Anflage jo: 
„Die Anjchuldigung geht dahin, daß die Poltzeiorgane 
zujammengewirft haben, um hemmend und ftörend in 
den orbentlichen Gang ber Rechtspflege einzugreifen. In 
ber Nacht vom 6. auf ben 7. Februar 1879 wurde im 
Pfurrhofe von Edlingham ein frecher Einbruchsbtebftahl 
verübt. Die Bewohner des Haufes, die fich zur Wehre 
fetten, wurden verlegt. Die wirklichen Miſſethäter wußten 
fich gefchickterweife vor den Augen ber Polizeiorgane zu 
verbergen und den Schein der Unſchuld um fich zu ver⸗ 
breiten. Die Polizei jedoch, von dem Ehrgeize getrieben, 
die Verbrecher zu entveden, ging, wahrjcheinlich unter 
dem birecten Befehle ihres Chefs, des jeither verftorbenen 
George Harfes, daran, gefäljchte Beweismittel herbeizu- 
ichaffen, um vie Verurtheilung ber beiden von ihr einmal 





Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlingham. 229 


verhafteten Individuen, Brannagan und Murphy, welche 
fie als der That verdächtig bezeichnet hatte, herbeizu- 
führen. Harkes ift inzwiichen mit Tode abgegangen und 
kann nicht mehr zur Verantwortung gezogen werben, 
allein die Anklage gegen die Anvern, die mit ihm zu- 
ſammenwirkten, iſt berechtigterweife zu erheben, weil fie 
wiffentlich gefälichte Beweismittel hergeftellt haben. “Die 
damals des Einbruches verpächtigen und deshalb proceffirten 
Männer wurden auf Grund der durch die Polizei be— 
ſchafften Indicien verurtbeilt. Es iſt nunmehr feitzu- 
ſtellen: 1) Die Polizei veranlaßte die Gipsabdrücke von 
Fußſpuren, die angeblich im Garten des Pfarrhofes am 
Morgen nach dem Attentate entdeckt worden waren. 
Diefe Formen entipradhen genau den Abbrüden ber 
Stiefel des einen und der Holzichuhe des andern An- 
geffagten. Die Abgüffe waren jedoch wifjentlich von 
biefen Fußbekleidungsſtücken direct und nicht von wirk— 
lichen Fußfpuren im Garten genommen und find troß- 
dem bei der Hauptverhandlung als Beweismittel vor⸗ 
gebracht worden. 2) Ein Mann Namens Iohn Redpath, 
der im Concubinate mit der Schweiter des Peter Murphy 
lebte und diefem Unterjtand gewährte, wurde durch einen 
ibm gefpielten Betrug veranlaßt, einen Meißel als fein 
Eigenthbum anzuerkennen, der am Thatorte aufgefunden 
worden fein ſoll und den die Einbrecher angeblich benutzt 
haben, um vie Thür aufzufprengen. 3) Die Einbrecher 
haben im Garten des Pfarrhofes ein Stüd einer Zeitung 
jurüdgelaffen. Das Blatt, aus welchen e8 herausgeriffen 
war, ift in das Futter des Rockes prafticirt worden, ben 
Murphy in der Nacht des Attentats trug, um durch die 
Zuſammengehörigkeit dieſer Papierfegen den Beweis der 
Anwefenheit Peter Murphy's am Thatorte herzuftellen. 
4) Ein Stück groben, ftarf gerippten Baummolfftoffes von 


230 Der Einbrud im Bfarrhofe von Edlingham. 


der Hofe Brannagan's, die er nach der Behauptung der 
Polizei bei dem Attentate getragen bat, tft abgetrennt 
und an eine Stelle gebracht worden, an ber e8 von 
einer unbefangenen Zeugin, einem ‘Dienftmäbchen des 
Pfarrers, drei Wochen nach der That gefunden werden 
mußte. Die Polizei hat gewußt, wie dieſes Stüdchen 
Stoff an feinen Fundort gekommen ift, und war nicht 
barüber in Zweifel, daß dieſes Stüd Stoff nichts be- 
weijen konnte, dennoch hat fie e8 bei der Hauptverhand- 
lung vorgelegt, um Brannagan’s Anwefenheit im Pfarr- 
hofe darzuthun. Waren diefe Beweismittel echt, fo mußte 
man die Angeflagten Brannagan und Murphy für 
Ihuldig erflären und verurtheilen. In ihrer Geſammt⸗ 
heit lieferten fie einen jo zwingenvden Indicienbeweis, daß 
jede Jury einhellig zu einem Verdammungsurtheil gelangen 
mußte. Wenn diefe Beweismittel aber gefälicht waren, 
wenn demnach Brannagan und Murphy unschuldig an 
bem Verbrechen waren, deſſen fie geziehen wurden, welche 
furchtbare Verantwortung trifft die Polizeibeamten, bie 
jett angeflagt find! Zwei andere Perfonen, George Edgell 
und Charles Richardfon, haben fich feither freiwillig als die 
Thäter befannt und dem Gerichte gejtellt. Sie find wegen 
dieſes Verbrechens mit fünfjähriger Zuchthausitrafe be- 
jtraft worbden. Sie werben bei diefer Verhandlung als 
Zeugen vernommen und gehört werben. Sie erzählen, 
daß fie in der Fritichen Nacht in den Wald von Birsley 
gingen, um Faſanen zu jagen, daß e8 ihnen aber nicht 
gelang, folche zu erbeuten. Erbittert über ihr Mis- 
geſchick faßten fie gemeinjchaftlich ven Plan, in den Pfarr- 
hof von Edlingham einzubrechen, der ganz nahe bei jenem 
Gehölze liegt. In der zweifachen Abficht, das Geräufch 
ihrer Wußtritte zu dämpfen und um ihre Spuren un- 
fenntlih und fomit nicht verfolgbar zu machen, zerriſſen 








Der Einbruch im Pfarrhofe von Edlinghbam. 231 


fie einen zufällig gefundenen alten Sad und wanden bie 
daraus gewonnenen Sutefegen um ihre Stiefel. In einem 
ver Gartenhäufer fanden fie einen Meißel, fprengten mit 
bemjelben eines ber großen Fenfter auf, die wie Thüren 
bis an den Erdboden hinabreichen, und gelangten auf 
biefem Wege in das Innere des Haufe. Sodann brachen 
fie mit dem gleichen Infjtrumente die Thür bes Wohn- 
zimmers auf und drangen in das Eßzimmer. Der Lärm 
wedte Fräulein Buckle, die ihrerfeits ihren Vater rief. 
Beide famen muthig über die Treppe in das Erdgeſchoß 
herab. Der fechsundfiebzigjährige Pfurrer voran, ein 
Nicht in der einen, ein alte& Schwert in der andern 
Hand. Die Einbrecher verlöfchten fofort das Licht, das 
fie ſelbſt mit fich führten. Durch einen unglückſeligen 
Zufall, durch eine der haftigen Bewegungen Richardſon's 
— wie er felber zugejteht — entlud fich die Flinte, bie 
er von ber Jagd her geladen bei fich trug. Sowol der 
Pfarrer als deſſen Tochter wurden durch den Schuß ver- 
wundet. Wahrfcheinlich jedoch trafen die groben Schrot- 
körner fie nur als Prellſchuß, denn beide wurden glüd- 
liherweife nicht ernftlich verlegt. Die Einbrecher fuchten 
jofort zu entfliehen: Miß Buckle erfaßte einen verfelben 
mit großer Energie an den Haaren, war aber begreiflicher- 
weiſe nicht Fräftig genug ihn feitzuhalten. Sie flüchteten 
durch das Fenſter und waren hierbei gendthigt, fich auf 
die Knie nieberzulaffen. Im der That find Eindrücke, 
die von Knien herrühren bürften, vor dem Wohnzimmter- 
fenster feinerzeit im Garten bemerkt und conjtatirt worden. 
Dies beftätigt die Darftellung, welche die Verbrecher felbit 
von der That gegeben haben. Edgell und Richardſon 
eilten auf dem fürzeften Wege nach Haufe, verbargen 
ihre durchnäßten Stiefel und Strümpfe und legten trodene 
Kleider und Stiefel zurecht, in der Vorausficht, daß bie 


232 Der Einbruch im Pfarrhofe von Edlingham. 


Polizeiorgane bald ihre Spur gefunden haben und nicht 
jäumen würden, ihnen einen Beſuch abzuftatten. Sie 
täufchten fich darin auch nicht. Die Polizei fam in ihre 
Behauſung, fand jedoch anfcheinend alles in befter Orb- 
nung und zog leicht befriedigt wieder ab. Von dort begab 
fie jich zu Brannagan — diefer war noch nicht nach Haufe 
gefommen. Die Polizei ging in das Haus Redpath's und 
eonftatirte, daß auch Murphy über Nacht weggeblieben 
und noch nicht heimgefehrt war. ‘Derart von den wirf- 
lichen Einbrechern weg und auf eine faljche Fährte ges 
lenft, jteiften die Polizeibeamten fih nun darauf, in 
Drannagan und Murphy die wahren Verbrecher zu ere 
blicken. Dieſe beiden Leute waren aber thatjächlich die 
Nacht hindurch damit befchäftigt gewejen, nach Kaninchen 
zu graben, und hatten einen Hund und einen Spaten mit 
fih geführt. Sie hatten auch wirklich vier Kaninchen 
erbeutet, die fie im Walde, unweit von Alnwid, verborgen 
zurückießen. Sie wollten eben in Alnwid nicht mit ihrer 
Sagbbeute gefehen werben. _ 

„Die Polizeibeamten hielten denn auch beide bei ihrer 
Heimfehr an. Ste liefen Brannagan und Murphy, nach- 
dem ſie diefelben befragt und durchſucht hatten, jedoch zuerft 
wieder ziehen und verhafteten fie erſt fpäter. Bei Diefer 
Verhaftung nahm die Polizei auch die Kleider ber VBerbäch- 
tigen in Verwahrung. Die Schweiter Murphy’s, welche 
wol befürchten mochte, daß ihr Bruder wegen Wilddieberei 
zur Verantwortung gezogen werben follte, hatte die Innen- 
tafche aus dem von ihm getragenen Rod, die vom Blute 
erbeuteten Wildes beſchmuzt war, herausgeriffen und gab 
deshalb nicht dieſes Kleivungsftüd, fondern einen Rod 
ihres Liebhabers Redpath, den fie zuvor burchnäßt hatte, 
an die Polizeibeamten ab. Dieſer Rod wurde gleich im 
Anfang der Unterfuhung zwar geprüft, allein nichts 





Der Einbruch im Pfarrhofe von Edlinghbam. 233 


Berbächtiges daran gefunden. Neun Tage fpäter jeboch 
ereignete fich ein Wunver. Das famofe Zeitungsblatt 
wurde von einem unbefangenen Zeugen, ben jeither ver- 
ttorbenen, vom Gerichte beigezogenen Arzt Dr. Wilfon, 
in Gegenwart eines ber heute angeklagten Polizeibeamten 
im Unterfutter des Rockes entvedt. Den im Bfarrhofe 
gefundenen Meißel legte die Polizei gefchickter-, jedoch 
nicht Iohalerweife unter die übrigen Geräthe und das 
Handwerkszeug auf das Bret von Redpath's Schrank 
und richtete Sodann an Rebpath die Frage, ob ber Meißel 
ſein Eigenthum fer? Getäufcht von biefem Kniffe, ant- 
wortete Redpath unbedenklich mit Ja. Später hat er 
jedoch eine andere Ausfage abgegeben und betheuert, es 
jei nicht fein Meißel geweien, er babe, weil ver Meißel 
unter feinem Handwerkszeug geweſen jet, angenommen, 
daß er ihm gehöre. Der Feten groben Baumwollſtoffes, 
der von einer gänzlich unbevenklichen Zeugin vor dem 
Ienfter des Pfarrhofes aufgefunden wurde, paßte in 
Größe und Qualität genau zu dem abgeriffenen Stüde von 
Brannagan's Hofe; allein ein jachverftändiger Schneider⸗ 
meilter, der als Zeuge vorgeführt werben wird, hat feit- 
geftelit, vaß der Streifen abgejchnitten und nicht abgerifjen 
worden ift und unmöglich jo lange Zeit, als zwifchen 
dem Einbruche und der Auffindung lag, Wind und Wetter 
ausgeſetzt geweſen ſein Tann. Schon bei dem erften 
Proceß in dieſer Angelegenheit, wider Brannagan und 
Murphy, hat der gelehrte Richter die Gefchworenen er- 
mahnt, gerade auf dieſes Beweisftücd feinen Werth zu legen, 
und babei bemerkt: ‘Der Stoffreft pafje zwar in Größe, 
Farbe, Form und Qualität zu der Hofe Brannagan’s, 
aber der anfgenähte Knopf fei ganz verſchieden won bem 
andern Knöpfen, die fich noch auf dem Beinkleide be- 
fänden. Es ift übrigens für ven Ausgang ver ver- 


234 Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlingham. 


maligen Verhandlung gleichgültig, ob die Angellagten es 
verſtanden haben, dieſen Streifen als ein für die Schuld 
der Angeklagten wichtige® Beweisftüd herbeizujchaffen. 
Berjucht haben fie es. Entſcheidend wird nur fein, ob die 
Geſchworenen eine ungejegliche Verabrebung ver Boliziften 
annehmen. Unter ven beim Einbruche gejtohlenen Gegen- 
ftänden befanden ſich ein an einer goldenen Uhrkette be- 
feitigte8 Siegel, welches dem Fräulein Buckle gehörte. 
Es wird nachgewiefen werden, daß Richardſon an einen 
Sumwelier in Alnwick ein goldenes Siegel verkauft hat. 
Der Juwelier wird dieſen Umftand vor Gericht beftätigen. 
Brannagan und Murphy find vorbehaltlos begnadigt, 
Engel und Richarbfon dagegen, welche das Verbrechen 
eingeftanden haben, find deshalb zu fünf Iahren Zucht- 
hausitrafe verurtheilt worden.” 

Es folgte dad Zeugenverhör. Zunächſt werden Die 
Belaftungszeugen aufgerufen. 

Wir führen nur die wichtigften Ausfagen an. 

Rapitän Terry, der Kommandant der Conjtabler, 
der die Stiefel, Röde und andern Kleidungsſtücke ver 
jeweilig Verurtheilten unter Verſchluß hatte, legt diefelben 
dem Gerichtöhofe vor und berichtet über feine Be— 
obachtungen an benfelben. 

Ihm folgte Charles Richardſon, der in Sträf- 
lingskleidern vorgeführt wird. Er gibt an, baß er und fein 
Kamerad Edgell in der fritifchen Nacht urfprünglich nur 
ausgingen um zu jagen. Site konnten aber nichts erbeuten, 
fein Wild kam ihnen zu Schuß, und fo befchloffen fie 
den Einbruch in den Pfarrhbof zu Edlingham. Es war 
eine plößliche Eingebung. Sie ummwicdelten ihre Füße 
mit Sadleinwand und fanden im Stalle einen Meißel, 
vermittel® deſſen fie fich ven Eingang erzwangen. 

Nach engliicher Strafproceßordnung ift ed Sache der 


Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlingham. 235 


Partei, die von ihr vorgeführten Zeugen zu vernehmen. 
Der Ankläger erklärt fich für befriedigt, nachdem er 
Richardfon Tängere Zeit befragt hat. Der Richter ent- 
jcheidet jedoch: „Die Ausfagen, die der Zeuge abgegeben 
babe, könnten auf Wahrheit beruhen und vie bermalen 
angeflagten Perſonen dennoch völlig unschuldig fein.” Er 
ordnet daher das Kreuzuerhör dieſes Zeugen durch ben 
gegneriſchen Anwalt ar. 

Das SKreuzverhör wird vorgenommen. Der Zeuge 
verfichert im Laufe deſſelben, der Gedanke und der Vor—⸗ 
Ihlag zu dem Einbruche fei von Edgell ausgegangen. 
Richardſon ift mit Edgell fchon oftmals zuvor des Nachts 
auf Wilpdiebftahl ausgewefen, um nach Hafen, Kaninchen 
oder Faſanen zu jagen. 

Sodann wird Edgell vernommen. Auch diefer er- 
jcheint im Sträflingsanzuge vor dem Gerichtöhofe und ift 
von einem Gefängnißwärter begleitet. Er wiederholt im 
wejentlichen die Ausfagen des vorigen Zeugen und be— 
ftätigt die Angaben, die er vor dem WPolizeirichter in 
Alnwid gemacht bat. Edgell muß im Kreuzverhör zu- 
geftehen, daß er mit NRichardfon und Bob (Robert) Vint 
wegen ver Ermordung bes BPolizeifergeanten Gray in 
Unterfuchung geweſen iſt. Er betheuert aber nichts Ge- 
naueres über dieſe Unthat zu wiffen und insbeſondere 
feine Kenntniß davon zu haben, daß Richarbfon ben 
Polizeifergeanten erjichoffen habe. Der geiftliche Herr, 
ſein Seelforger, hat ihm aber allerdings gejagt: ‚Die 
Umftände werben für Nicharbfon doch allmählich Fritiich. 
Ueber kurz over lang wird er fich genöthigt jehen, ben 
Mord einzubelennen.” Edgell gibt ferner an: der Geift- 
fihe und der Rechtsanwalt hätten ihm, auf Grund eines 
von ihm eingeholten Nechtsgutachtens, bevor er das frei- 
willige Geftänpnig vor dem BPolizeirichter abgelegt habe, 





236 Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlingham. 


zugefichert: es drohe ihm und Richardſon feine Strafe, 
wenn fie zugeftänden, daß ver Einbruch in Edlingham 
von ihnen verübt worden fei, denn das Schwurgericht 
habe bereit8 zwei andere Berfonen wegen eben dieſes Ver⸗ 
brechen® verurtheilt. Ein volles Jahr hindurch, oder noch 
länger, hätten bie beiden Herren Edgell zugerebet, ja, 
ihn bejtürmt, das Geſtändniß zu machen, und ihm wieber- 
holt betheuert, e8 werde ihm nichts gefchehen, er könne 
gar nicht bejtraft werben. Endlich habe er fich von feinem 
Seelforger in einem Augenblide hierzu bejtimmen lafjen, 
dba er franf und der Meinung gewefen fei, er mülffe 
ohnedies fterben. 

Richardſon, nochmals in das Kreuzverhör genommen, 
gibt gleichfalls an, der Rechtsanwalt babe ihm verfichert, 
daß das Gutachten eines NRechtsgelehrten eingeholt worben 
jet, und babe ihn darüber beruhigt, daß er, wenn er 
ſich freiwillig als der eigentliche Einbrecher befenne, doch 
nicht beitraft werden könne, weil fchon zwei Männer 
befjelben Verbrechens -wegen im Zuchthaufe ſäßen. Er 
hat diefer Angabe vertraut. Unter der Anfchulpigung, den 
Polizeifergeanten Gray ermordet zu haben, tft Richarbfon 
zwei Monate lang in Unterfuchungshaft gewejen. Allein 
er will unschuldig an biefem Verbrechen fein. Er be— 
hauptet, in der Nacht des Mordes jet er gar nicht im 
Walde bei Glebe-Field, wojelbft die That verübt wurde, 
gewefen. Er fei jchon eine Woche lang zunor gar nicht 
wildern gegangen. 

Mr. Edward Ridley, derzeit Triebensrichter, ber 
im Jahre 1879 in der gegen Brannagan und Murphy 
burchgeführten Verhandlung als Ankläger fungirt, ebenfo 
Mr. Manifty, ver als Richter feinerzeit die Verhand- 
lung geleitet hatte, berichten über die Einzelheiten und 
Borgänge im Jahre 1879. 





Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlingham. 237 


Der königliche Rath Ver. Milwain, der Vertheibiger 
ver Angellagten Brannagan und Murphy im Proceffe 
bon 1879, wird aufgerufen und legt die Information vor, 
auf Grund deren er damals die Vertheidigung übernahm 
und durchführte. 

Der Vorfigende, Richter Denman, entſchied jedoch, 
daß feine Zeugenschaft im gegebenen Stadium ber Ver⸗ 
handlung unzuläffig jet. 

Hierauf werden Brannagan und Murphy ver- 
nommen. Sie eritatten einen übereinjtimmenden Bericht 
über ihr VBerbleiben in der Fritifchen Nacht, geftehen wol 
zu, wildern gegangen zu fein, ftellen aber entſchieden in 
Abrede, in Gejellichaft Edgell's und Richardſon's geweſen 
zu fein. 

In das Kreuzverhör genommen, geben fie zu, in einer 
ganzen Reihe von Fällen gewilvert zu haben und wegen 
Wilddiebſtahls und Uebertretung der Forſtgeſetze mehrfach 
beitraft zu fein. Sie räumten auch ein, bei mehrern 
Gelegenheiten abweichende und ſich widerſprechende un- 
wahre Ausfagen abgegeben zu haben. 

Nunmehr ericheint Fräulein Budle als Zeugin. Sie 
wiederholt die Angabe, welche fie jchon in der Verhandlung 
von vor 10 Jahren gemacht hatte, und bejchreibt ven 
Vorgang während des Einbruchese. Sie vermag jedoch 
weber in Eogell noch in Richarbfon die Einbrecher zu 
erfennen. 

Damit ift die Reihe ber bon der Anklage geführten 
Zeugen erjchöpft. 

Vertheidiger W. Besley richtet hierauf eine An⸗ 
ſprache an die Geſchworenen, um die Behauptungen der 
Anklage zu entkräften, und ſucht ſie Punkt für Punkt 
zu widerlegen. Auch er führt etliche Zeugen vor. 

Se. Ehrwürden H. G. Buckle wiederholt die Ausſage, 


238 Der Einbruch im Pfarrhofe von Edlingham. 


bie er in der Hauptverhanblung vom Jahre 1879 abge- 
geben bat. Nach feiner Anficht, die er unummunden 
ausfpricht, find Edgell und Richarbfon ganz ficher nicht 
die Männer gewejen, welche in ver fritifchen Nacht in 
den Pfarrhof eingebrochen find. 

Der Polizeiconftabler Chambers, der urjprünglich 
mit in die Anklage wegen „ungejeglicher Verabredung ” 
einbezogen werben follte, aber ſchon von dem Polizeirichter 
als gänzlich unbetheiligt entlafjen wurde, gibt, nunmehr 
als Zeuge vernommen, an, baß er perjönlich anweſend 
gewejen ift, al8 die Gipsabgüffe von den Einprüden und 
den Fußſpuren im Garten abgenommmen iworven find. 
Er conftatirt mit aller Beſtimmtheit, daß dieſes fofort 
am Morgen des 7. Februar 1879 gejchehen ift, und be- 
ichreibt ausführlich und in allen Einzelheiten das hierbei 
beobachtete Verfahren. Er verweift darauf, daß Dr. Wilſon 
ebenfall® gegenwärtig war und fich darüber eingehend ge- 
äußert habe. Chambers felbft hat ven Meißel im Wohn- 
zimmer des Pfarrhofes aufgehoben, er gibt die befondern 
Merkmale, die er an dem Inftrument fand, vetaillirt an. 

Der hochwürdige Erzdiakon Hamilton jagt aus, 
daß er gegenwärtig war, als John Redpath den frag- 
lichen Meißel als fein Eigenthbum anerkannte. Er bezeugt, 
Redpath habe ven Meikel genau bejehen, dann erjt den⸗ 
jelben mit voller Beftimmtheit als ihm gehörig bezeichnet 
und gleichzeitig auch die bejondern Merkmale hervorge— 
hoben, an welchen er ihn erkenne. Nebpath habe damals 
ferner angegeben, daß fih das Werkzeug jeit mehr als 
zwei Jahren in feinem Beſitze befinde. 

Verſchiedene Zeugen fprechen jich über ven Leumund 
ber Angeflagten aus. Alle ohne Ausnahme willen nur 
das Günftigfte zu berichten. 

Mr. Besley nimmt wieder das Wort. Er faßt die 





Der Einbruch im Pfarrhofe von Edlingham. 239 


Ergebnifje der damaligen Verhandlung zufammen und 
beflagt lebhaft, daß die Anklage nicht alle Zeugen be- 
rufen bat, bie jeinerzeit bei ber urfprünglichen Ver—⸗ 
handlung wider Michael Brannagan und Peter Murphy 
vernommen worden find. Er jagt: „Die Anflage hat 
e8 wol für zwedmäßig gehalten, Fräulein Buckle zu be- 
rufen, weil fie ihrer beburfte, um bie Einzelheiten bes 
Einbruches zu bezeugen, allein die Ausfage der Dame 
bat weit mehr gegen als für die Anklage bewiefen, denn 
fie bat in Edgell und Richardſon die Einbrecher nicht 
erfannt. Wenn ber geehrte Vertreter der Anflage bei 
ben Gejchworenen die Verurtheilung ver Angefchulbigten 
beantragt, muß er die Jury auffordern, der von ihm ſelbſt 
borgeführten Zeugin zu mistrauen. Und warum bat es 
bie Anklage unterlaffen, ven ehrwürbigen Herrn Budle 
ebenfall8 vor die Schranken des Gerichtshofes zu laden? 
Nur durch Zufall hat die Vertheidigung e8 erfahren, daß 
bies nicht gefcheben folltee Zum Glück war fie in ber 
Lage, ihrerjeitö biefe Vorladung noch rechtzeitig vorzu- 
nehmen. Die Erinnerung des geijtlichen Herrn in Betreff 
ber Perfon der Verbrecher ift weit fchärfer zum Ausorude 
gelangt als in den Ausfagen feiner Tochter. Seine An- 
gaben find für die Anklage geradezu vernichtend. Er er- 
Härt bejtimmt: Edgell und Richardſon find nicht bie 
Thäter gewefen! — Aber auch noch andere Zeugen hätten 
von feiten der Anwälte ber Krone berufen werden müfjen. 
Ihre Vorladung ift unterblieben, weil ihre Ausjagen mit 
ven Behauptungen der Anklage in unlösbarem Wider⸗ 
ipruche ftanvden. Nicht die Vertheidigung hätte die Auf- 
gabe gehabt, den Polizeiconjtabler Chambers, den hoch- 
würdigen Herrn Erzdiakon Hamilton vworzuladen, es 
wäre Sache der Kronanwälte gewefen, wenn fie ihrer 
Aufgabe getreu die Erforfchung der Wahrheit als oberften 


240 Der Einbrud im Pfarrchofe von Edlingham. 


Zwed vor Augen gehabt hätten. Nach allem, mas wir 
nunmehr wiffen, ift die Anfchuldigung gegen Brannagan 
und Murphy vermalen noch feiter begründet als im Jahre 
1879, wo fie von den Gefehworenen einftimmig verurtbeilt 
wurden. Die Jury hat diesmal nicht zit enticheiben, 
welches von den beiden würbigen Paaren, ob die Wild- 
biebe Brannagan und Murphy oder bie Wilddiebe Edgell 
und Richardfon, ven Einbruch im Pfarrhofe zu Edlingham 
verübt haben. Stünde die Entſcheidung hierüber, bei Diefer 
Jury, fie würde faum fchwanfen, fie würde Brannagan 
und Murphy für die Thäter erklären und jo ihre ur⸗ 
Iprüngliche Verurtheilung ratihabiren. ins fteht ale 
Ergebnig dieſer Verhandlung feit: daß Edgell und 
Richardſon nicht die Männer waren, welche jenen 
Einbruch begangen haben. Die Zeugenausfage über pie 
Art der Auffindung der Fußſpuren im Garten und über 
bie Anfertigung der Gipsabgüſſe ift zwingend für jeben, 
ber jeben und hören will. Die Gipsabbrüde find in ber 
Ioyalften Weife hergeftellt worden. Darüber befteht nicht 
ber leijefte Zweifel mehr. Was den Meißel anbelangt, jo 
tft zwar nicht in Abrede zu jtellen, daß Redpath zur An⸗ 
erfennung feines Eigenthums vwermittels einer Lift pro⸗ 
vocirt worben ift, allein fein Zeugniß war far und bleibt 
unanfechtbar. Er erfannte an, daß gerade biejed Werf- 
zeug fich feit vollen zwei Sahren in feinem Befige befand. 
Was das Stückchen Zeitungspapier anlangt, das im 
Unterfutter von Murphy's Rod gefunden wurde, und ben 
Fetzen Stoff, der von der Hofe Brannagan’s abgeriſſen 
zu fein ſchien, jo ift auch nicht ver Schatten eined Nach- 
weiles bafür erbracht worden, daß bie Polizeiorgane ihre 
Hand dabei im Spiele gehabt hätten, als dieſe von britten, 
unbefangenen Berjonen aufgefundenen Beweisſtücke an bie 
Fundſtelle gejchafft oder gethan wurden. Sowol die An⸗ 








Der Einbruch im Pfarrhofe von Edlingham. 241 


geflagten als ihr inzwifchen verftorbener Vorgefegter, 
der Bolizeichef George Harkes, haben fich von jeher als 
Männer von erprobter Ehrenhaftigkeit eriwiefen, denen 
derartige fchamlofe Fälſchungen nicht zugetraut werben 
dürfen. ....” 

Nachdem Mr. Bruce namens der Anklage replicirt 
hatte, richtete am letten Verhanblungstage, Samstag, 
den 23. Februar, ver Richter Denman folgendes Räume 
an bie Gejchworenen: 

„.... In meiner langen Erfahrung tft mir fein Fall 
vorgefommen, in dem bon gewiljer Seite mit mehr Nacd)- 
brud geftrebt wurde, auf Heine und kleinliche Indicien 
bin, zu ganz bejtimmten und concreten Schlußfolgerungen 
zu gelangen. Diefe Inbicien find aber oft jehr fraglicher 
Natur geweſen. Darum muß ich im Intereſſe der ge- 
rechten und finnesgemäßen Anwendung des Gejeßes Sie 
ermahnen, daß Sie, die Sie berufen find, durch Ihr 
Urtheil das Verbalten des Gerichtes zu beftimmen, fich 
darauf befchränfen mögen, Ihre Aufmerkſamkeit, Ihr Ge- 
dächtniß und Ihre Beurtheilung ausjchlieklich auf die 
Ihnen im Gerichtsfaale bewiejenen Thatfachen zu richten, 
und daß Sie fich nicht von dem Wiberftreit der öffent- 
lichen Meinung, ber doch ficherlich auch zu Ihrer Kenntniß 
gefommen jein muß, beeinfluffen laffen mögen. Der in 
Frage ſtehende Fall ift non fehr großer und mweittragender 
Bedeutung. Wenn man die Schuld der drei Angeklagten 
als vorhanden annehmen will, fo find zwei Möglichkeiten 
in das Auge zu faflen, bie in ihrer relativen Wichtigfeit 
weit voneinander abweichen. Wenn nachgewiefeu tft, daß 
bie angeflagten Polizetorgane felbit an die Schuld Bran- 
nagan’s und Murphy's nicht glaubten, dennoch aber 
Beweisſtücke fälſchten, um deren Verurtheilung herbeizu- 
führen, ſo haben ſie ein abſcheuliches Verbrechen „egangen, 

XXIII. 


242 Der Einbrud im Pfarrhofe von Eblingham. 


weitaus verwerflicher, als wenn fie, von der Schuld ber 
beiden Leute überzeugt, beabfichtigten, bei ven herbeigejchafften 
Beweifen nur etwas «nachzubelfen». Doch auch in dieſem 
weniger argen Balle, wenn fie felbft in reblicher Abficht 
durch folche Praftifen die Zwecke geregelter Juſtizpflege zu 
fördern vermeinten, bliebe ihr Vorgehen durch und Durch 
unmoraliich, Schändlich und vervammenswerth. Als «Ver⸗ 
Ihwörung» oder «unerlaubte Verabredung» im Sinne 
bes Geſetzes muß es gelten, wenn bie brei Angeklagten 
oder auch nur einer berfelben im Kinverftänpnifje mit 
ihrem, feither verftorbenen, Vorgeſetzten George Harfes 
confpirirten und fich mit ihm dahin einigten, dem Gerichte 
Beweiſe zu unterbreiten, von denen fie wiffen mußten, 
daß fie gefälicht, unrichtig und geeignet waren, bie Ges 
rechtigfeit auf andere Bahnen zu leiten, auch dann, wenn 
fie jelbft von der Anficht ausgingen, daß die von ihnen 
verhafteten Individnen bie wirklichen Verbrecher wären. 
Anders ftellt fich Die Sachlage, nicht nur nach den Grund- 
fügen der Moral, fondern auch nach ven Geſetzen Englands, 
wenn biefe Männer, bie heute auf ver Anklagebanf fien, 
in ehrlicher Meberzeugung von der Schuld Brannagan’s 
und Murphys und in gutem Glauben Beweisftüde 
bem Gerichte vorführten, von deren Unrichtigfeit fie nicht® 
wußten, die fie nach ihrer eigenen ehrlichen Anfchauung 
für überweijend erachtet haben. Wenn dann auch jene 
Beweisſtücke zu einem vorfchnellen und ungerechten Urtheil 
verleitet hätten, jo find fie dieſerwegen noch nicht ſchuldig. 
Ebenfo wenig können Sie die Angeflagten ſchuldig fprechen, 
wenn bie legtern von der reblichen Abficht befeelt, bie 
Wahrheit aufzuklären und in dem Glauben, auf ber 
richtigen Spur zu fein, einem Zeugen, deſſen Unbefangen- 
heit nicht außer allem Zweifel ftand, mit Anwendung einer 
Lift eins der Beweisftüde, den Meifel, in die Hände 





Der Einbrudh im Pfarrhofe von Edlinghbam. 243 


fpielten, um von ihm eine wahrheitsgetreune Ausfage über 
das Eigenthum an biefem Handwerksgeräth hervorzuloden, 
die fie ſonſt fchwerlich von ihm erlangt hätten. Es ift 
dies ein von feiten der Polizei einem Zeugen bevenf- 
licher Natur gegenüber ganz zuläffiges Vorgehen, wenn 
die Abficht redlich darauf gerichtet war, die Wahrheit 
darzuthun. Die Frage, die zu entfcheiben tft, gebt dahin: 
«ob die Angeklagten im Einverfiändniffe mit dem ver- 
ftorbenen George Harfes, im Bewußtjein, daß fie Beweiſe 
fälfchten, in unebrlicher Weife fich beftrebten, einer auf 
ſchwachen Füßen ftehenvden Anklage nachzuhelfen». ‘Die 
Geſchworenen haben zu erwägen, daß nach unfern ftraf- 
procefjualifchen Vorfchriften die Angeklagten nicht berechtigt 
find, perfönli etwas zu ihren Gunften vorzubringen. 
Es wäre ebenjo ungerecht als graufam, wenn fie verur- 
theilt werben jollten, weil in Ihrer Entjcheivung Grund- 
jäge maßgebend würden, die im Civilprocefje zuläffig und 
nothwendig, im Strafproceffe aber verwerflich find, wenn 
Sie nämlich die größere oder geringere Wahrjcheinlichkeit, 
die für die eine ober die andere Angabe fpricht, mitein- 
ander bilanciren wollten. In Strafjachen muß die Schuld 
des Angeklagten nach der Ueberzeugung des Richters er- 
wiefen fein. Nur wenn bie Anflage nachzumweifen im 
Stande ift, daß feine andere Erflärung gegeben werben 
fann, als das ſchuldbare Einverftändniß der Angeflagten, 
dürfen Sie diejelben verurtheilen, ſonſt muß ihre Frei- 
Iprehung erfolgen. Der Fall ift unzweifelhaft ein ganz 
anßergewöhnlicher. Der nadten Thatſache, daß zwei 
Männer im Jahre 1879 zu Tebenslänglicher Zuchthaus- 
arbeit verurtheilt wurven und daß nad fait einem De- 
cennium zwei andere Leute freiwillig hervortreten und 
befennen, daß fie jenes Verbrechen begangen haben, um 
defjentwillen die andern beiben feit nahezu 10 Jahren im 
ie 16* 


244 Der Einbrud im Bfarrhofe von Edlingham. 


Kerker jchmachten, ift in fünf Jahrhunderten englifcher 
Gerichtspflege nichts Aehnliches an Die Seite zu ftellen. 
In diefer Beziehung ſteht ver Wall ohne feinesgleichen 
da. Ueberdies bejtehen noch jetzt Zweifel und Unflar- 
heiten. Sie laſſen fich nicht befeitigen, ja es ift fogar 
der Verdacht rege geworden, daß jenes verjpätete Be⸗ 
fenntniß nicht reinen Gewifjensjcrupeln, fondern andern, 
vielleicht unlautern Motiven entiprungen fei! 

„Wenn dies aber wirklich der Fall ift, welche unge- 
heuere, welche geradezu frevelhafte Verantwortlichkeit haben 
jene auf fich geladen, die durch ihren unberufenen Eifer 
wieder andere, unjchuldige Perfonen unter dem Verdachte, 
eine ungerechte Verurtheilung durch frivole Machinationen 
verurfacht zu haben, auf die Anklagebanf brachten! 

„Das etwas ftarfe Bild, das der Vertheidiger Der. Besley 
gebraucht hat, als er Ihnen zurief: «Wenn das Gebäude 
der Anklage nur auf Ausfagen ver nunmehr als die wirk- 
lichen Einbrecher geltenden zwei Burſche allein beruhen 
follte, hätten Sie dann den Muth, darauf hin auch nur 
einen Hund hängen zu laffen?» — e8 ift gerechtfertigt. 
Diefes Zeugniß iſt in der That ein ſolches, daß es zu 
ernten Bedenken Anlaß bietet. Die Anklage beruht aber 
thatjächlich darauf, daß ein jtrafwürdiges Einverſtändniß 
zwifchen ben angeflagten Bolizeiorganen bejtanden babe. 
Ehe Edgell und Richardfon ihr überrafchendes Bekenntniß 
ablegten, war man allgemein überzeugt, ein zwingenber 
Indicienbeweis habe die Verurtheilung der Angeklagten 
Brannagan und Murphy herbeigeführt — ein dermaßen 
zwingenber Beweis, daß ein erfahrener, vorfichtiger Richter 
und intelligente Gefchworene nach einer langdauernden, 
jorgfältig geführten Schlußverhandlung, bei welcher ein 
hochbefähigter und gewiffenhafter Vertheidiger und ein 
Iharfjinniger und pflichteifriger Rechtsanwalt ven Ange⸗ 


Der Einbruh im Pfarrhofe von Edlinghbam. 245 


Hagten zur Seite ftand, dieſe zwei Berfonen ebendesjenigen 
Berbrechens für ſchuldig erflärten, deſſen Verübung, wie 
es nunmehr heißt, nicht ihnen, fondern zwei andern ver- 
Iotterten Burſchen zur Laft fallen foll. Die Frage, welche 
Sie zu entſcheiden haben, ift jedoch nicht: ob A, ob B, 
ob C den Einbruch im Pfarrhofe zu Edlingham begingen. 
Diefe Frage tft durch andere Geichiworene und fie ift 
wiberfprechend beantwortet worven. Sie mögen fich ihre 
eigene Anficht darüber bilden, ob e8 ficher tft, daß dieſe 
ober jene Perfonen die Verbrecher waren, ober ob noch 
immer Zweifel darüber möglich find, aber Sie haben 
darüber nicht zu entjcheiden. Ihr Wahrſpruch bat dieſe 
Deveutung nit. Ihre Entſcheidung gilt ausfchließlich 
und allein der Frage: Sind die angeflagten drei Männer, 
oder einzelne von ihnen, ver ihnen zur Laft gelegten 
Handlung, der fträflichen umgefeglichen Verabredung zum 
Zwecke ver Herbeiführung einer Verurtbeilung jener zuerft 
wegen des Einbruches in den Pfarrhof von Edlingham 
vor Gericht geftellten Individuen, fehuldig ? 

„Meberlegen Ste in Rube ven Hergang. Es ift zweifellos 
fichergeftellt umd wird von feiner Seite beftritten, daß 
ein frecher und verwegener Einbruch im Pfarrhofe von 
Edlingham in der Nacht vom 6. auf den 7. Februar 1879 
verübt wurde. Ob Sie nun Brannagan und Murphy 
oder Edgell und Richardſon als die Verbrecher anfehen, 
gewiß ift, daß die That in rückſichtsloſer, brutaler Weife 
und mit großer Gefährbung von Menfchenleben begangen, 
in feiger und tüdifcher Weiſe ins Werk gejett worden tft. 
Das Haus war nur von einem einzigen alten Manne, 
dem hochbejahrten geiftlichen Herrn, und einigen Frauens⸗ 
perjonen bewohnt. Welches der beiven Paare immer ben 
Einbruch verübte, die Thäter waren mit dieſen Verhält- 
niffen wohl vertraut. Brannagan hatte ale Knabe im 


246 Der Einbruch im Pfarrhofe von Edlingham. 


Pfarrhofe Schulunterricht genoffen, Edgell war zeitweilig 
aushülfsweile als Gärtner im Haufe befchäftigt worben. 
Welches der Paare als Einbrecher dort auftrat, e8 war 
ein Paar feiger Schufte, denn fie betraten das von feinem 
wiverjtandsfähigen Manne bewohnte Haus, bewehrt mit 
einer geladenen Flinte. Der alte Herr fowol als feine 
Tochter bewiejen rühmenswerthe Unerfchrodenheit. Beide 
boten der Gefahr kühn die Stirn, indeß wollte in erfter 
Linie der Vater die Tochter und die Tochter den Vater 
hüten. Sie wollten ihr Eigenthum vertheidigen und 
die Räuber fejtnehmen, jelbjt dann noch, als fie durch den 
Schuß, der auf fie abgegeben wurde, verwundet worben 
waren. Der nächte Morgen traf die Verbrecher — mögen 
e8 num Brannagan und Murphy oder Epgell und Richard⸗ 
jon gewefen fein — in Alnwid. Die Anklage meint, es 
babe im Intereſſe der Verbrecher gelegen, fo raſch als 
möglich ihr Heim aufzufuchen, um, falls die Polizei Ver- 
dacht fchöpfen und Nachforichungen anjtellen jollte, ruhig 
im Bette betroffen zu werben; die Vertheibigung dagegen 
macht mit ebenjo großer Wahrfcheinlichkeit geltend: Die 
Verbrecher möchten unter dem Schulpbewußtjein, ein 
Gewehr abgefeuert zu haben, aber ungewiß darüber, ob 
dem Schuſſe ein Menschenleben zum Opfer gefallen ei, 
einen Ummeg eingefchlagen haben, um Alnwid von ber 
entgegengejetten Seite zu betreten. Denn baburch ver- 
hinvderten fie, daß man ihre Spur auffand. Wie ich 
wiederholt betonte, ift es diesmal nicht unſere Aufgabe 
zu entfcheiven, wer die Einbrecher gewejen find. Dieſe 
Trage bleibt für uns ein Incivenzfal. Wer immer e8 
gewejen fein mag, als Lobenswertb foll hervorgehoben 
werben, daß bie Verfolgung mit überrajchender Schnellig- 
feit eingeleitet und zielbewußt purchgeführt worden ift. 
Dies gefchah wieder infolge der Geiftesgegeniwart und des 


Der Einbruh im Pfarrhofe von Edlingham. 247 


energiichen Eingreifen bes Fräulein Budle. Sie fanbte 
nämlich fofort einen berittenen Boten nach Alnwid, ver 
einen Arzt und die Polizei herbeiholen ſollte. Die Organe 
ver lettern Tehrten bereitd um 5 Uhr morgens von Ed⸗ 
lingham nach Alnwid zurüd. ‘Der erjte Verdacht richtete 
fi) gegen Edgell und Richarbfon, zwei berüchtigte Burfchen, 
gegen bie bereit8 früher ein Verdacht der allerfchwerften 
Art, der Verdacht eines Mordes, erhoben worden war. 
Die Polizei fand jedoch beide in ihren Betten, angeblich 
fchlafend, und — was ehr bezeichnend und bemerfens- 
werth ift — dieſelben Polizeibeamte, denen jett übergroßer, 
weit über das Ziel hinausſchießender Scharfjinn, ja fogar 
jene Schlauheit vorgeworfen wird, die Fünftliche Beweis- 
ftüde zu fabriciren im Stande tft, fie fanden nichts, rein 
gar nichts Verbächtiged vor. So gingen fie beruhigt ihres 
Weges. Lag aber irgendein Grund vor, weshalb etwa 
die Polizei Edgell und Richardſon fehonen, fie gegen andere, 
dritte Perfonen bevorzugen follte? Bei deren gerichts- 
befannten Anteceventien? — Gewiß nicht. Edgell und 
Richardſon hatten, wie aus ihren eigenen Ausfagen ber- 
vorgeht, wegen des Mordes eines Polizeifergeanten in 
Unterfuchung geftanden. Sie find gerade Menfchen jenes 
Schlages, gegen bie fich der Verbacht naturgemäß und 
in erfter Linie richtet, gerade von dem Schlage auch, nach 
dem die Polizei gern greift und den fie nur ungern wieder 
losläßt. Es lag ficherlich für die Polizei fein Grund vor, 
gerade dieſe Burſche beſonders rückſichtsvoll zu behandeln, 
gerade fie zu fchonen. Eher könnte man das Gegentheil 
annehmen. Nichtöveftoweniger Tießen die Polizeibeamten 
diefen zuerjt rege geivordenen Verdacht fallen und fahndeten 
nah DBrannagan und Murphy, die ihnen verbältnigmäßig 
doch weit harmloſer erfcheinen mußten. Als fie in deren 
Behaufungen kamen, Tann e8 nur wenig nah 5 Uhr 





248 Der Einbrudh im Pfarrhofe von Edlingham. 


morgens gewefen fein. Beide waren die Nacht über nicht 
heimgefehrt. Die Polizei zog zunächſt ab, fam aber um 
7 Uhr früh wieder dahin zurüd, Nun waren bie Ge- 
fuchten eingetroffen. Ste verantiworteten fich mit derſelben 
Ausflucht, die fie Schon mehrmals in ähnlicher Fällen 
vorgebracht hatten: «Sie feien auf dem Moore von 
Charlton wildern geweien.» Die Polizei fand dieſe DBe- 
veitwilligfeit, ein Vergehen zuzugejtehen, welches fonjt jo 
beharrlich geleugnet zu werben pflegt, jehr verbächtig. 
Sie glaubte den Burſchen aber nicht und feßte ihre Er- 
hebungen fort. Der Anfläger von heute ift hingegen 
dieſem Belenntniffe gegenüber, weit weniger ffeptiih. Ihm 
ericheint die Jagd auf dem Moore von Charlton glaub: 
würdig und der Wahrheit entiprechend. Einen Nachweis 
für die Nichtigkeit ihrer Angaben haben Brannagan und 
Murphy nicht erbracht. Es ift nur bemerkt worben, daß 
fie auf einem Wege Alnwid erreichten, der nicht Direct 
auf Edlingham als Ausgangspunkt weilt; allein Dies 
würde, wenn fie die Einbrecher waren, ganz gut burch 
einen mit Schlauheit gewählten Umweg, der auch ihr 
ſpäteres Eintreffen begreiflich machen würde, leicht zu er- 
Hären jein. Sie behaupteten, bie erbeuteten Kaninchen 
in einer Anpflanzung zurücgelaffen und verſteckt zu haben. 
Thatfächlich find an ber von Brannagan und Murphy 
bezeichneten Stelle Kaninchen verfteckt vorgefunden worden. 
Es ift aber ebenjo möglich, daß fie dieſelben ſchon ein oder 
zwei Nächte zuvor gejagt und gefangen und, um einer 
Entdeckung des Wilddiebſtahls vorzubeugen, port verborgen 
gehalten haben. Dies würde mit den Thatjachen in feiner 
Weiſe im Widerfpruch ftehen. Was hätte fie verhindern 
fönnen dies zu thun? ‘Der Zuftand des aufgefundenen 
Wildes fteht diefer Annahme nicht entgegen. Wenn fie 
in der kritiſchen Nacht fo vorgegangen find, wie e8 Edgell 





Der Einbrud im Pfarrbofe von Edlingham. 249 


und Richardſon von fich behaupten, wenn fie auf ihrer 
Jagd nichts, oder nur etliche Kaninchen erbeutet und biefe 
in ihr Verfted gebracht haben, fo Liegt in dem Umſtande, 
daß wirklich an der von Brannagan und Murphy arıge- 
gebenen Stelle fi) Kaninchen befunden, nichts, was ber 
Annahme, dieſe beiden Individuen feien die Einbrecher, 
wiberjprechen würde. Site haben auch angegeben, einer 
von ihnen hätte einen Spaten, ber zum Ausgraben ber 
Kaninchenbaue bejtimmt war, in feinem Nodärmel ver- 
borgen gehabt, allein jene beiden, nicht in die Anklage 
miteinbezogenen Boltziften, welche Brannagan und Murphy 
anbielten, müßten recht alberne Stümper geweſen fein, 
wenn fie, als fie die Wilderer durchſuchten, dieſen Spaten 
nicht jofort entdeckt und beichlagnahmt hätten. 

„Die Bewetsaufnahme ift äußert umfangreich — ich 
felbft babe über 200 Foliofeiten Notizen vor mir Liegen 
— und es ift fchwer, bie fich wiverfprechenden Angaben 
zu entiwirren. Man muß baher, um fich ein Elares Ur- 
theil bilden zu können, die verichievenen Möglichkeiten 
des Falles einzeln genau erwägen. Zuerft die, daß Bran- 
nagan und Murphy die Einbrecher waren, und dann ivieder 
bie Gründe erwägen, bie biefer Annahme entgegenftehen. 
Hierauf muß man Edgell und Richardſon als bie Ein- 
brecher anfehen, aber auch wieder erwägen, welche Gründe 
gegen dieſe Annahme ftreiten. Diefe Frage aber haben 
Sie, meine Herren von ber Jury, ich mache Sie wieber- 
holt darauf aufmerffam, nicht zu löſen. Es bleibt über- 
haupt dahingeſtellt, ob heute nach dem vorliegenden Ma- 
teriale bieje Frage von irgendeiner Jury bejtimmt und 
in befriedigenber Weife beantwortet werben könnte. Zwei 
wichtige Zengen, ber Polizeileiter George Harkes und ber 
Arzt Dr. Wilfon, find ja feit dem Zeitpunfte ber erften 
Sauptverhandlung in dieſem vielverjchlungenen Proceffe 








2350 Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlinghbam. 


mit Tod abgegangen, und es mag fein, daß niemals mehr 
volles Licht über die Thatumſtände verbreitet werden wird. 

„Die erſte Annahme geht alfo dahin, daß Brannagan 
und Murphy die Einbrecher waren. Wenn Sie nun der 
Anficht find, daß die Polizei die Indicien gegen die Ge- 
nannten in aufrichtigem Beftreben nah Wahrheit, auf 
redliche Weife zufammengeftellt hat, fo Liegt ein fait un⸗ 
umftößlicher Beweis gegen dieje Leute vor. Nachdem ich 
das im Jahre 1379 bei der Verhandlung durchgeführte 
Beweisverfahren genau geprüft habe und nach forgfältiger 
Durchficht der Aufzeichnungen des damaligen DVerhand- 
lungsrichters, jo kann ich als Ergebniß meiner aufmerkſamen 
Studien mit gutem Gewiffen jagen: ich habe felten einen 
Strafproceß erlebt, in dem die Schlußfolgerung Elarer 
und präcijer worgezeichnet erichten. Wenn eine Jury nach 
ben Ergebnifjen der Schlußverhandlung noch Zweifel ge- 
hegt hätte, ob fie verurtheilen jollte, fo würde ich ver 
Veberzeugung fein, daß dieſe Jury nicht aus intelligenten 
Männern zufammengefegt gewefen wäre. Keinerlei Um— 
ftand war damals zu Zage getreten, der das Zeugniß 
ber Bolizet hätte irgendwie zweifelhaft erjcheinen Laffen 
können. Ein Stüd Zeitungspapier war im Pfarrhofe 
aufgefunden worden, welches zu jenem Blatte, welches 
Dr. Wilſon im Unterfutier von Murphy's Rod vorfand, 
genau paßte. Redpath, der Duartiergeber Murphy's, 
hatte Kar und beſtimmt ausgefagt, daß der Meißel, ver 
ihm vorgewiefen wurde und ver gleichfalls im Pfarrhofe 
aufgefunden worden war, jein Eigenthbum jet. Er fagte 
unbefangen aus, weil er nicht ahnte, daß dieſes Werkzeug ale 
ein wichtige Beweisſtück fungiren folle. Redpath wurde 
zu zwei verjchievenen malen befragt, und er gab die Kenn⸗ 
zeichen, bie ihn veranlaßten, gerade dieſen Meißel als 
fein Eigenthum zu agnofeiren, genau und unverhohlen an. 


Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlinghbam. 251 


„Als ein ferneres Indicium war urfprünglich ein Heiner 
Gegen groben Tuches oder Baummwolljtoffes mit einem 
Knopfe vorgelegt worden, der geraume Zeit nach dem 
nächtlichen Einbruche unter dem Fenfter des Wohnzimmers 
be8 Pfarrhofes von einem Dienſtmädchen aufgehoben 
worden war. ‘Der rechtögelehrte Richter, welcher ber 
Hauptverhandlung im Jahre 1879 präſidirte, hat biefen 
Teen vor Augen gehabt und bemerft, daß ver Knopf 
daran den andern Knöpfen an der Hofe Brannagan’s 
nicht glih. Er hat darum biefes Beweisſtück beanftanbet 
und zurüdgewiejen, baffelbe wurde deshalb in vie fchließ- 
liche Anklage nicht miteinbezogen und hat feinen Einfluß 
auf Die Urtheilsfchöpfung ver Gefchworenen ausgeübt. Da- 
gegen wogen um jo jchwerer die Ausfagen des Reverend 
Mr. Budle und feiner Tochter. Diefelben äußerten fich 
allerdingd mit ber anerkennenswertheſten Vorfiht und 
Gewiſſenhaftigkeit. Allein fie ſtimmten doch darin über- 
ein, daß der Mann, welcher die Flinte gegen fie abfeuerte, 
in Geftalt und Ausjehen dem Angeflagten Brannagan 
vollſtändig glich, daß der Betreffende breitichulterig war, 
von militärifch ftrammer Haltung, und dunkles Kopfhaar 
trug. Man fand im Garten Fußfpuren, fie wurden un- 
verzüglich in Gips abgeformt. Die Gipsabgüffe paßten 
genau zu ben Stiefeln Brannagan's und den Holzfchuhen 
Murphy's. Alle diefe Indicien vereint mußten genügen, 
um eine noch fo zweifelfüchtige Jury zur Abgabe eines 
«Schuldig» lautenden Wahrjpruches zu veranlaffen. Nun 
heißt es wol, Brannagan und Murphy waren doch nicht 
die Thäter, denn es iſt nachgewiefen, daß zwei andere 
Individuen den Einbruch verübt haben. Wenn Sie aber 
mit mir der Anficht find, daß Edgell der Bejchreibung, 
welche Fräulein Buckle feinerzeit von dem Einbrecher gab, 
ben fie doch bei den Haaren gefaßt hatte, ebenſo wenig 


953 Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlingham. 


entfpricht wie Richardſon, jo ift ver Beweis, der gegen 
Brannagan und Murphy vor zehn Jahren als erbracht 
galt, unerfchütterter denn je. Noch mehr. Sie haben zu 
erwägen, ob Mer. Buckle over feine Tochter fich geirrt 
haben, als fie angaben, Edgell könne nicht der Mann 
geweſen fein, ver auf fie gefchoffen habe. Bedenken Sie, 
daß Edgell und Richardſon in der wider fie purchgeführten 
Verhandlung fich ſchuldig erflärten des Einbruches, nicht 
ichuldig des Morbverfuches, daß das Urtheil in biejem 
Sinne lautete und daß fie deshalb mit einer verhältniß- 
mäßig geringen, zeitlichen Treiheitsftrafe belegt worben 
find. Von einem der Parteivertreter ift auch hervorge⸗ 
hoben worden, daß Redpath fehwache Augen babe und 
jein Zeugniß aus biefem Grunde mit Mistrauen aufzu- 
nehmen jei. Seine Anerfennung des Eigenthbums an dem 
fraglichen Meißel könne nur mit Vorbehalt als beweijend 
angefehen werden. Dieſe Behauptung ift nicht ftichhaltig. 
Meine Erfahrung lehrt mich, daß felbft völlige Blindheit 
bie Fähigkeit, gewiffe Gegenjtände an befondern Merf- 
malen zu erkennen, nicht ausfchließt. Ich erinnere mich 
aus meiner eigenen Praxis eines bemerfenswerthen Falles, 
in dem ein ftodblinder Mann einen Glasgriff, der ihm 
geftohlen worben war, ficher wiebererfannte. Er fand 
benfelben unter 20 verfchienenen, ihm beim Kreuzverhör 
vom gegneriichen Advocaten vorgelegten Glasgriffen ohne 
Schwierigkeit und mit voller Sicherheit heraus. Der 
Meißel, der bier in Frage fteht, hatte aber beſondere 
Kennzeichen: ein Sprung, ber entlang dem Griffe ver- 
fief, und überdies war ein Stüdchen des leßtern ganz 
abgeiplittert. Dies find Merkmale befonvderer Art, bie 
dem Eigenthümer nicht entgehen können. Redpath wurde 
obendrein in dieſer Angelegenheit zu zwei verſchiedenen 
malen vernommen, und wie wir aus ben Zeugenausfagen 











Der Einbruh im Pfarrhofe von Edlinghbam. 253 


jowol des Schriftführerse am Trievensgerichte, als bes 
bochwürbigen Erzdiakons Hamilton entnehmen, wurde 
er beim zweiten mal von dem Vertheidiger ber Ange⸗ 
Hagten, Mr. Milwain, in ein fcharfes Kreuzverhör ge- 


nommen. Beidemal erkannte er jedoch den Meißel mit 


voller Beftimmtheit als den feinigen und gab feine Gründe 
hierfür an. Warum aber befchiwor er dann in der zweiten 
Hauptverhandlung vor dem Friedensrichter das Gegen. 
theil? — Die Erflärung iſt leicht zu finden. Sie iſt 
in der menjchlichen Natur begründet, wenn fie auch nicht 
jehr ehrenvoll für den Zeugen if. Redpath war kurz 
nach der Verurtheilung Brannagan's und Murphy's ge- 
nöthigt, fich in die freiwillige Arbeitsanftalt zu begeben, 
in biefelbe zu flüchten, wern man will. Es blieb ihm 
fein anderer Ausweg mehr. Er hatte durch feine uns» 
umwundene Ausfage den allgemeinen Unwillen feiner Ge- 
jellichaftsfreife erregt. Seine Geliebte, die Schweiter 
Murphy's, Hatte ihn verlaffen. Er war verfemt, von 
allen gemieven, und als letzte Zufluchtsftätte blieb ihm 
nur das Aſylhaus. Es tft dies nicht überrafchend bei 
einer Bevölkerung, welche vie heimfehrenden Zuchthäusler 
wie lorbeergefrönte Helden, im Triumphe empfing. Er 
war ein armer, wenig willensitarfer Menſch, er fuchte 
wol durch Die abgeänderte Zeugenausfage wieder etwas 
populärer zu werben. Es liegt Ihnen feine neuerliche 
beichtworene Ausfage vor, in ber er nunmehr behauptet, 
alle Angaben, die er in Betreff des Meifels, ver eine 
fo wichtige Rolle im Beweisverfahren fpielte, im Jahre 
1879 beeibet hatte, feten irrig und unwahr geweien. Wenn 
Sie diefer nachträglichen Correctur den Glauben ver- 


weigern und feine urfprüngliche Angabe für wahr erachten, 


fo ift das Herfommen bes Meißels, ver unbeftrittener- 
maßen beim Einbruche als Werkzeug diente, bis auf Mur- 





254 Der Einbruch im Pfarrhofe von Edlingbam. 


phy's Wohnſtätte zurüczuverfolgen und bildet ein äußert 
wichtiges Belaftungsmoment gegen die Compagnie Bran- 
nagan und Murphy. Was die in dieſem Proceffe von 
Murphy in feiner Eigenfchaft als Zeuge abgegebene Aus- 
fage betrifft, jo war die Art und Weife, wie er biefelbe 
vorbrachte, geradezu bedenklich. Zuerſt fprach er fließend. 
Seine Darftellung machte den Einprud des Eingelernten. 
Als er aber in das Kreuzverhör genommen, aufgeforbert 
wurde, biejes oder jenes “Detail zu beichwören, da ſtockte 
er, da antwortete er nur zögernd und nur auf einbring- 
liches Befragen. Selbſt ohne Rüdficht auf die Zeugen- 
haft der Polizeiorgane, nur im Hinblid auf die Ausfagen 
des Neverend Mr. Budle, feiner Tochter und der andern 
unbefangenen Zeugen, benen gewiß voller Glaube beizu⸗ 
mefjen ift, erjcheint der Beweiß gegen Brannagan und 
Murphy jo gut wie erbradt. Wenn num dieſe Zeugen- 
ſchaft der Polizei als eine ehrliche angenommen wird, fo 
ift der Beweis, der vorher ſchon gelungen fchien, dadurch 
vollkommen ergänzt worden. In ber jegigen Verhandlung 
ift ein Zeuge aufgetreten, ver perjönlich gegenwärtig war, 
als die Gipsabgüffe hergeftellt wurben, und der für deren 
Nichtigkeit einfteht. Dr. Wilfon ift tobt. Allfeitig wird 
zugegeben, daß er eine höchſt achtungswerthe und intelli- 
gente Perſönlichkeit gewejen ift. Nichtsbeftoweniger hat 
man angeveutet, er könne vom damaligen Polizeileiter 
George Harkes getäuscht und misbraucht worden fein. 
Dr. ®ilfon war es nämlich, der Murphy's Rod unter- 
ſuchte. Er that Dies vorfichtigerweife, um fich zu ver« 
gewiffern, ob in bemfelben etwa Schnitte von dem Schwerte 
bemerfbar wären, mit dem ber Reverend Mr. Bude fich 
bewaffnet hatte, als er den Einbrechern entgegentrat. Bei 
‚biefer Unterfuchung fand Dr. Wilſon im Unterfutter des 
Rockes jene Zeitung, zu welcher das von den Einbrechern 


Der Einbruch im Pfarrhofe von Edlingham. 255 


im Pfarrhofe verlorene Stüd gehörte. “Der fragliche Rod 
it ein fehr defectes Kleidungsſtück, jehr abgetragen und 
zerriffen, und es ijt in dem Umſtande, daß das Zeitungs- 
papier ftatt in der Innentafche im Unterfutter ſtak, nichts 
Auffälliges zu erbliden. Es ift Zeugenfchaft dafür an- 
geboten worden, daß der Rod, welcher als jener Murphy's 
ber Polizei übergeben wurde, eigentlich dem Redpath ge- 
hörte. Dies ift an fi wol möglich, denn die beiden 
Männer lebten ja thatfächlich in einem gemeinfchaftlichen 
- Hanshalte, und Verwechjelungen wären nicht unmöglich 
geweſen. Es ift auch behauptet worden, gerade biefer 
Rod fei von der Schweiter Murphy's, der Geliebten 
Redpath's, vorjäglich durchnäßt und dann erjt in bie 
Hände der Polizei ausgeliefert worden, um fie zu täuſchen 
und glauben zu machen, daß Murphy ven Rod in jener 
feuchten Februarnacht getragen habe. Es wirb ferner 
geltend gemacht, Brannagan und Murphy hätten einen 
Hund mit fich geführt, und in ber Unterfuchung vom 
Jahre 1879 habe nichts davon verlautet, daß man Hunbe- 
ipuren gefunden habe. Diejer Umftand ift jeboch Feines- 
wegs erheblich, denn zur Zeit des Einbruches befand fich 
ein großer Wachthund in der Hundehütte nächft dem 
Pfarrhofe. Derjelde wurde auch am folgenden Morgen 
von der Kette gelaffen, und es wäre kaum möglich ge- 
weſen, feftzuftellen, ob etwaige Spuren von dieſem Hunde 
oder einem andern herrührten. Ferner ift darauf hin⸗ 
gewiefen worden, die Zeugen hätten beftätigt, baß bie 
beiden Beichuldigten am Morgen nach dem Einbruche auf 
einem Wege in Alnwid eingetroffen wären, ber nicht in bie 
Richtung nach Edlingham führt. Allein dies beweiſt gar 
wenig. Sie konnten abfichtlich den Umweg gewählt haben. 
Dies würde auch mit der Ausfage jenes Polizeibeamten 
übereinftimmen, der angab, daß die Fußſpuren im Garten 


256 Der Einbruch im Bfarrbofe von Edlingham. 


des Pfarrhofes fich in einer nicht nach Alnwick führenden 
Richtung entfernten: Er habe die Fußſpuren noch eine 
furze Strede verfolgen können, dann aber hätten fie fich 
auf dem harten Boden verloren. Es ift übrigens aus 
dem Datum bes Einfchreibebuches dieſes Poliziften con- 
ftatirt worden, daß er dieſe Beobachtungen wirklich ſchon 
am 7. Februar 1879, am Morgen nach dem Einbruche 
und nicht erft nachträglich gemacht Hat. — Was für 
Leute find aber eigentlich Edgell und Richardſon? Weber 
ihr Vorleben find Sie genügend unterrichtet. Weber ben 
Eindrud, den ihr perfönliches Auftreten zurückläßt, ift 
wenig zu jagen. Er fteht noch frifch in Ihrer Erinnerung, 
fie find ja bier auf der Zeugenbanf erichienen. Richard⸗ 
jon präfentirt fich genau jo wie man Einbrecher fich typiſch 
vorzuftellen pflegt. Laſſen Sie fich jedoch dadurch nicht 
zu falſchen Schlüffen verleiten! Meinen Ste wol, baß 
bie Polizet einen folchen Vogel ohne weiteres hätte fliegen 
laſſen, wenn fie nicht fehr triftige Gründe dafür hatte? 
Edgell fieht allerdings weniger ruppig aus, allein darum 
boch nicht vertrauenswürdiger. Er vertritt fo recht ben 
Typus bes Triechenden, immer weinerlichen und demuths⸗ 
voll zuſammenknickenden Bettlers. Sie haben feine Art 
fih zu geben auf der Zeugenbanf beobachten können. 
Lauten aber auch nur die Ausfagen diejer beiden in jenen 
Punkten wejentlich gleich, in denen fie — bie Aufrichtig- 
feit ihres Geftänpniffes vorausgejegt — übereinftimmen 
müßten? Nein... Beide, ſowol Edgell als Richarbfon, 
waren mit ben Verhältniſſen auf dem Pfarrhofe wohl⸗ 
vertraut. Beide hatten vollauf Gelegenheit, fich über bie 
Einzelheiten und Ergebniffe der Verhandlung wider Bran⸗ 
nagan und Murphy genau zu unterrichten. Sie waren 
jomit ganz leicht im Stande, eine ervichtete Erzählung über 
bie Umftände des Verbrechens vorzubringen. Edgell und 


Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlinghbam. 257 


Richardfon waren — und dies ift ein fchwarzer Punkt — 
bes Mordes eines Polizeibeamten wegen in Unterfuchung 
geweſen. Das Dunkel, welches über jenem Mord fchwebt, 
ift noch immer nicht aufgehellt. Sie felber geben übereins 
ſtimmend zu, daß fie von dritten Berfonen zu ihrem Geftänp- 
miß gedrängt und von ihnen dazu bewogen worben find. 
Sie behaupten, ſowol der Seelforger Edgell's als ihr Rechts⸗ 
anwalt hätte ihnen verfichert, daß ein Nechtögutachten 
eingeholt worben fei und daß fie jedenfalls ftraflos aus- 
gehen müßten, wenn fie fich felbft vor Gericht als die- 
jenigen angäben, die ven Einbruch verübt hätten. Ihre 
Beitrafung fet unzuläffig, fo habe man ihnen gejagt, weil 
wegen jenes Verbrechens fchon zwei Männer rechtskräftig 
berurtheilt wären und feit Sahren als Zuchthausfträflinge 
bafür büßten. Sie glaubten feit an die Nichtigkeit dieſer 
Rechtsauffaſſung, bis zu dem Augenblid, wo zu ihrer 
großen Veberrafchung ihre DVerurtheilung erfolgte. Cs 
iſt zwar nicht recht begreiflich, daß ein hervorragender 
Rechtögelehrter wirklich einer folchen Rechtsanficht huldigen 
und ihr in einem Gutachten Ausdruck gegeben hat. ‘Dem 
Gerichtshofe ift dieſes Gutachten nicht vorgelegt worben, 
aber der Thatjache, daß man ein folches eingeholt hat, 
ift von feiner Seite wibderiprochen worben. Ich muß alſo 
amehmen, daß die Leute in diefem Sirme belehrt worden 
find und in der darauf bafirten falichen Zuverficht ihre 
Geftänpniffe machten. In den wichtigften Einzelpunften 
gingen aber die Angaben ver beiden weit auseinander. 
Sie ftehen mit den von dem Neverend Mr. Budle und 
feiner Tochter abgegebenen Ausfagen mehrfach in grellem 
Gegenfat. Wollen Ste ihnen glauben? — Es wird 
auch zu Gunften Brannagan’s und Murphy's angeführt, 
daß fie wiederholt um ihre Begnabigung gebeten [haben. 
Meine Erfahrung aber geht dahin, daß Menfchen, bie 
XXIIL 17 


958 Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlingham. 


von einer ſchweren Verurtheilung betroffen worben find, 
in der Regel Begnabigungsgejuche überreichen, und daß 
fih immer gutherzige Menſchen finden, vie folche Be⸗ 
gnabigungsgefuche befürworten. 

„Die vermaligen Angeklagten find ſammt und ſonders 
Männer von erprobtem guten Ruf and Wohlanftändigfeit. 
Dies darf Sie jedoch nicht hindern, fie alle ober einzelne 
von ihnen zu verurtheilen, wenn Sie die Anklage wohl 
begründet erachten. Wenn Sie aber ntcht die Anſchauung 
gewonnen haben, daß bie beſchuldigten Polizetorgane, fei 
e8 im Uebereifer, ſei e8 aus Böswilligkeit oder aus andern 
Gründen, ſich vergangen haben, fo ift e8 Ihre Pflicht, 
biefelben freizuſprechen.“ 

Die Jury gab nach kurzer Berathung ihr Verdict ab: 
Nicht Ichuldig! 

Der Richter erflärt ſich mit dieſem Urtheil einver- 
ſtanden. Er verfündigt, daß er ven Gefchworenen, Mann 
fir Mann, für ihre Mühewaltung — die Berbandlung 
hatte fünf Tage in Anspruch genommen — eine Gebühr 
von 4 Guineen (gleich 84 ME.) als Entſchädigung an- 
weiſen werde. 

Mr. Boyd erbittet Die Intervention des Richters dahin, 
daß die nicht unerheblichen Koften der Vertheidigung auf 
den Staatsſchatz übernommen werben. Nichter Denman 
erklärt fich in diefer Angelegenheit für incompetent, ſpricht 
aber die Anficht aus, daß ein diesbezügliches an die Re— 
gierung gerichtetes Geſuch wol von Erfolg begleitet fein 
werde. 

Die Angeklagten werden als ſchuldlos entlaffen. 





In England braucht die öffentliche Meinung, wenn 
ein Strafproceß allgemeines Auffehen erregt hat, Längere 





Der Einbrudh im Pfarrhofe von Edlinghbam. 959 


Zeit, um fich zu beruhigen. Auch in dem vorliegenden 
Valle kam es zu. einem Nachipiel in der Preffe und im 
Parlament. 
Der Seelforger Edgell's, ein Mann, ver feit 23 Iahren 
dem geiftlichen Stande angehört und feit 16 Jahren als 
Bicar der St.-Paulskicche in Alnwick angeftelit if, Sevon 
IM. Perry, fühlte fich duch den ihm vom Richter 
Denman gemachten Vorwurf, daß er Edgell und Richard⸗ 
jon durch nicht ftichhaltige Zuficherungen zu einem Ge- 
ftändniffe bewogen habe, in feiner Ehre gefränft und 
wendete fich mit einer vom 26. Februar 1889 datirten 
Einfendung an die „Times“, um feinen Standpunft dar⸗ 
zulegen. Er fagt in feiner Erklärung im wejentlichen: 
„&8 tft und bleibt ein feelifches Geheimniß, was Edgell 
und Richarbfon veranlaßt hat zu geftehen, daß fie, und 
fie beide allein, den Einbruch verübt haben; durch biefes 
Bekenntniß haben fie eine Kerkerftrafe von fünf Jahren 
über fich felbft heraufbefchworen. Edgell hat vor bem 
Richter Denman in Newcaftle angegeben, ich jet 8 ge- 
weien, ver ihn zu dem Geftänpniffe beivogen habe, weil 
ih ihm verfichert hätte, er könne für dieſes Verbrechen 
nicht mehr beftraft werben. Der rechtögelehrte Richter 
bat auf diefe Ausfage Edgell's hin, ohne mich vorher zu 
hören, einige ſehr fcharfe Bemerkungen über mein Ver⸗ 
balten fallen laſſen. Ich war von ver Anklage als Zeuge 
borgeladen, bin aber nicht vorgerufen und vernommen 
worden, und fonnte daher vor Gericht Feine Erklärung 
abgeben. Ich bin nicht verhört worben, obgleich ich, 
nachdem ich Edgell's Ausfage in den Zeitungsblättern gelejen 
datte, ven Ankläger ausdrücklich und fchriftlich exrfuchte, 
er möge mich vorrufen laffen. Ich bin alſo verurtheilt 
worden, ohne gehört zu fein. Edgell hat nur einen Theil 
befien berichtet, was ich mit ihm im dieſer Angelegenheit 
178 


260 Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlingham. 


beiprochen habe. Ich erklärte ihm nachbrüdlich, er würde 
nur dann unbebingt ftraflo8 ausgehen, wenn der Staats- 
jecretär des Innern ihm im vorbinein «freies Geleit » 
zuficherte. Es ift wahr, ich habe um folches «freies Ge- 
feit» für Edgell angefucht, ich habe es aber nicht erwirfen 
fönnen. Sch habe Edgell jedoch hiervon verftändigt und 
ihm auseinandergefegt, daß ein vorbehaltiojes Geftänpniß 
ihn nicht vor einer Verurtbeilung fchügen könne. ‘Dennoch 
habe ich es als Geiftlicher und Seelforger für meine 
Pflicht gehalten, ihm in das Gewiffen zu reden und ihn 
aufzufordern, troß dieſer möglichen Gefahr reuig feine 
Unthat zu befennen, um die wegen feines Verbrechens 
ungerecht verurtheilten Männer dem Kerker zu entreißen. 
Gerade deswegen bleibt das Räthſel ungelöft, was ihn 
und Richarbfon bewogen haben mag, fich als die Thäter 
anzugeben, wenn fie nicht wirklich die Einbrecher waren. 
Der rechtsgelehrte Richter fagte in jeinem Reſumé laut 
den ftenographiichen Aufzeichnungen des «Newcastle 
Evening Chronicle» vom 23. Februar wörtlich: 
„«Sowol Edgell als Richardſon waren des Mordes 
an dem Polizeioffizier Grah in Edlingham im Jahre 1873 
bezichtigt worden. Es ift fehr auffallend, daß dieſe alte 
Geichichte bei diefem Anlafje aufgerührt wurde. Edgell 
jelbft hat bei ver Verhandlung zugegeben, jener Herr, ber 
fih fo eifrig darum bemühte, daß die angeblich unſchuldig 
Berurtheilten ihre Freiheit wiebererlangen möchten, und 
dies durch das Geſtändniß Edgell's und Richardſon's zu 
erreichen ftrebte, babe im Laufe der Beiprechungen, bie 
er mit ihm gehabt, der Befürchtung Ausprud gegeben, 
Richardſon könnte fich als Mörder jenes Polizeioffizieres 
ichuldig befennen. Warum aber zeigte jener Herr biefer- 
wegen Bejorgnig? Was in der Welt Eonnte ihn, ver 
fich fo befliffen zeigte, ein ergangenes ungerechtes Urtheil 








Der Einbrud im Pfarrhofe von Eblingham. 261 


richtig zu ftellen, veranlaffen, eine jolche Unruhe barüber 
an den Tag zu legen, ob Richardſon fich jenes Mordes 
ihuldig befennen würde oder nicht? Iſt es denn nicht 
auch im Interefje der GerechtigfeitSpflege und der öffent- 
lichen Moral gelegen, daß Richardſon jene Unthat ein- 
gefteht, wenn er fie begangen hat? — Ich kann es nicht 
begreifen. Es fcheinen bier geheimnißvolle Motive mit- 
zujpielen. CinerfeitS der Druck, der von jener Perjön- 
lichfeit ausgeübt wird, auf daß die Wahrheit in Sachen 
eines dunkeln Verbrechens zu Tage trete, und gleichzeitig 
die fieberhafte Beſorgniß, daß derſelbe Menſch ven art- 
geblih von ihm an einem wehrlofen Polizeibeamten be- 
gangenen abfchenlichen Meuchelmord befennen möchte. 
Darum follte er gerade in diefem Falle zurückhaltend 
bleiben? Am Ende gar deswegen, weil man auf irgenb- 
eine Weife fich die Anſchauung gebilvet hatte, mit ber 
Verurtheilung Brannagan's und Murphy's fei ein arger 
Fehler begangen worden. Sollte etwa jemand es mit 
feinem Gewiffen vereinbarlich gefunden haben, an ihrer 
Stelle andere Perſonen als die Thäter vorzuführen, un- 
befümmert darum, ob fie auch wirklich ſchuldig wären? 
Welch eigengeartetes Gewiffen müßte dies fein! Zwei 
Perfonen dazu veranlaffen, daß fie fich ftatt Brannagan 
und Murphy als Einbrecher ftellen, und dieſes Geſtändniß 
durch die Ausficht hervorloden, daß dieſes Bekenntniß 
eines nicht begangenen Verbrechens, das obendrein voraus⸗ 
fichtlich ftraflo8 bleiben werde, ſie vor der drohenden, weit 
größern Gefahr zu fchüten vermöge, wegen eines Mordes 
verfolgt und verurtheilt zu werden? — Solite dies ber 
Gedanfengang jener Perfönlichkeit geweſen fein, bie fich 
unbernfen in die Unterjuchung mengte?....» 

„Ich habe dieſe fo energiich aufgeiworfene Trage durch 
meine Zeugenausfage beantworten wollen. Die Berjön- 


262 Der Einbrud im Bfarrhofe von Edlingham. 


lichkeit, auf die fich bie Worte des Richters beziehen, bin 
ih. Ich habe mich bereit gezeigt, in offener Gericht®- 
verhandlung auf meinen Eid die Erklärung abzugeben, 
und ich babe auch jchriftlich dem Ankläger gegenüber er- 
Härt: es fet ganz und gar unrichtig und feinerlei be- 
gründeter Anlaß zur Vermuthung dafür gegeben, daß ich 
zu irgendbeiner Zeit die Beſorgniß gehegt oder gezeigt 
hätte, Edgell over Richardſon könnten die Ermordung des 
Polizeibeamten Gray zugeftehen. Ich babe zu feinem von 
beiden darüber ein einzige8 Wort geſprochen. Ich bin 
ber feiten Weberzeugung geweien, baß Epgell fein Ge— 
ſtänndniß wegen des Einbruches ablegte, nicht etwa um 
baburch ben weit fchwerern Verdacht des Meuchelmorpes 
von fich abzujchütteln, ſondern einzig und allein in ber 
Erfenntnig feiner Pflicht, unſchuldige Menichen von einer 
Buße zu entlaften, die ihnen um eines Verbrechens willen 
aufgelegt worden war, welches er begangen hatte. 
„Damit habe ich wol genug gejagt. Die nadte That- 
ſache ift, daß Edgell und Richardſon, trotzdem fie hinreichend 
über bie Tragweite ihres Entjchluffes unterrichtet waren, 
ſich freiwillig zum Geſtändniſſe gemeldet haben, fie hätten 
den Einbruch begangen. Sie gaben dieſe Erklärung zuerft 
vor dem Yujtizbeamten Herren Elsdon und jpäter vor dem 
Polizei-Oberinfpector Butcher ab. Sie wieberholten ihr 
Geftändnig vor dem Richter Baron Pollod und wurden 
von ihm zu fünfjähriger jchwerer Zuchthausſtrafe ver⸗ 
urtheilt. Ste haben das gleiche Geftänpnig vor dem 
Frievdensrichter in Alnwick beeivet und fie haben es in ver 
fetten Verhandlung unter ihrem Zeugeneive vor dem 
Richter Denman in Newcaftle zu einer Zeit wiederholt, 
als fie fich Feiner Illuſion mehr darüber hingeben konnten, 
welche Folgen ihr Belenntniß nach fich ziehen mußte. Es 
it wahr, in ihren jeweiligen Ausfagen find gewiſſe Wider⸗ 


Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlinghbam. 263 


Iprüche vorgefommen. Ste haben nicht das Gleiche Darüber 
ansgefagt, wer den Plan zu dem Einbruche zuerjt aus- 
geheckt bat und wer von ihnen beiden zuerft in das Haus 
eingedrungen ift. Dieſer Widerſpruch ift aber von bem 
legten Anfläger mit Recht als der ſchlagendſte Beweis dafür 
gedeutet worden, baß feine Verabredung zwifchen ihren« 
ftattgefunden bat. ‘Diefe Widerſprüche entjpringen aus ber 
Ratur des Menjchen, ver, auch wenn er feine Schuld zu- 
gefteht, gern noch Vorbehalte macht, fich als ven Verführten, 
den Genofjen aber als den eigentlichen Anftifter zum Böſen 
binftellen möchte, auch wenn er in ver Hauptſache vie 
Zhatfachen unumwunden zugefteht. — Ich überlaffe es 
getroft der Beurtbeilung der öffentlichen Meinung, ob die 
fung des pfhchologischen Räthjels auf dem Wege möglich 
ift, anf den der rechtsgelehrte Richter zu weiſen für gut 
befunden hat. Die Hffentlihe Meinung mag entjcheiven, 
ob ich wirklich meinen Einfluß auf das Gemüth biejes 
Menschen, Epgell, misbraucht habe — denn ich bemerfe 
bier ausbrüdlich, daß ich feinen Genofjen Richardjon vor 
feiner Berhaftung gar nie gejprochen habe —, ob ich 
Edgell zum Geſtändniß eines Verbrechens, deſſen er nicht 
ſchuldig war, veranlaßt babe, um ihn dadurch vor den 
möglichen Folgen zu bewahren, vie ihm durch die Ent- 
büffung feines Antheild an einer weit fcheußlichern von 
ihm witbegangenen Unthat drohte. Und dies follte die 
einzig mögliche Löſung dieſes pfpchologiichen Problemes 
jein!? 

„Die «Times» hat in ihrem Berichte einen äußerſt 
wichtigen Umſtand erwähnt, ver in ver Verhandlung nahezu 
unbeachtet vorüberging. Es ift das Moment der um- 
widelten Füße der Einbrecher. Was ich von dieſer That⸗ 
iache weiß, beichränft fich auf das Nachſtehende. Am 17. 
November 1887 machte Edgell mir und Herrn Perch 


264 Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlingham. 


zum eriten mal das Geſtändniß. Er fagte, als er uns 
bie Einzelheiten ver That beichrieb, er und fein Genoffe, 
den er damals noch nicht mit Namen nannte, hätten in 
einem der Nebengebäude zufällig einen alten zerrifjenen 
Sad gefunden, denfelben in Streifen gefchnitten und mit 
"diejen die Stiefel umwidelt, um baburch das Geräufch 
ihrer Schritte zu dämpfen. Eine Unterfuchungscommiffion 
tft vom Staatsfecretär des Innern im Auguft 1888 an- 
georpnet worden. Der Vertreter ber Yuftizbehörbe, der 
beauftragt war, dieſe Commiſſion zu leiten, war ber 
Rechtsanwalt Mr. Dransfield von Newecaftle- on-Tyne, 
Sch felbft führte ihn in meinem Wagen zu einem Guts⸗ 
pächter Namens Mordue in Edlingham. Ich hatte nie 
vorher mit Herrn Morbue verkehrt, ihn weder gefehen 
noch gejprochen. Der Pächter war der feften Ueber- 
zeugung, daß Brannagan und Murphy die Einbrecher 
gewejen waren, allein in feiner Herrn Dransfield er- 
ftatteten Darftellung des Ereigniffes, die in meiner Gegen- 
wart, unaufgefordert und ohne jedwede Suggeftivfrage 
erfolgte, und die zweifellos ohne das geringfte Bewußt⸗ 
fein über die Tragweite feiner Ausfage abgegeben war, 
erzählte er: «Ich errinnere mich ganz gut, baß ber 
damalige Polizeichef Herr George Harfe mir noch am 
Abend deſſelben Tages, an dem ber Einbruch erfolgte, 
gejagt hat, daß bie Kerle, die aus dem Speifezimmer- 
fenfter jprangen, die Füße wahrfcheinlich mit alten Fetzen 
ummwidelt gehabt haben werden.» Auch Herr Mordue 
ber Jüngere, der Sohn des Gutspächters, erinnerte fich 
daran, daß fein Vater ihm biefes damals mitgetheilt 
hatte. — Diefe Thatſache ift in der legten Verhandlung 
als Beweismoment nicht zur Geltung gelangt.” - 

So viel aus dem umfangreichen Briefe des geijtlichen 
Herrn. Das Nachipiel im Parlament Hang aus anderm 








Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlinghbam. 265 


Ton. Während nach dem Bekanntwerden des Geftänb- 
nifjfe8 der Compagnie Edgell und Richardſon ein Schrei 
ber Entrüftung über ben erfolgten Juſtizmord durch bie 
Lande ging und dem Staatsjecretär des Innern bie Bes 
willigung einer ausgiebigen materiellen Entichäbigung an 
bie unſchuldig Verurtheilten fürmlih im Sturme ab- 
gezwungen wurde, bat in ber Sitzung bed Unterhaufes 
vom 7. März 1889 der Abgeordnete Sir G. Campbell 
ben Minifter über feine Abfichten interpellirt und von 
Mr. Matthews nachitehende Antwort erhalten: 

„Sch babe ven wirklich vecht ſehr verwidelten und 
ihwierigen Fall ernfthaft und forgfältig erwogen und bin 
zu dem Schluffe gelangt, daß es nicht thunlich ift, noch 
weitere Erhebungen zu pflegen ober noch weiter gehende 
Unterfuchungen einzuleiten, um der Wahrheit auf ben 
Grund zu fommen und neue Thatfachen aufzudeden. ‘Der 
Generalanwalt hat den ftricten Auftrag ertheilt, für bie 
legte Verhandlung alles Material berbeizufchaffen, das 
irgendiwie Licht in das Dunkel bringen könne. Dies ift 
auch geſchehen. Es mußte freilich der Beurtbeilung des 
intervenirenden Anwaltes überlafjfen bleiben, welche von 
ben Zeugen er zur Zeugenfchaft berufen wollte. ‘Die 
Herren Berry und Perch waren wol vorgeladen worden, 
man bat fie jedoch nicht zur Abgabe ihrer Ausfagen auf- 
gefordert, denn die ihnen von Edgell und Richardſon 
gemachten Mittheilungen ſtanden nicht im Zuſammen⸗ 
bange mit der Anklage wider bie Polizeiorgane, boch 
waren fie vorgeladen umd konnten, wenn die Vertheidigung 
ben Wunsch ausgefprochen hätte, fofort berufen werben. 
Herr Berry war auch feinerzeit von dem Polizeirichter, ver 
das Verhör mit Edgell und Richarbfon abbielt, vor- 
geladen gewefen und konnte ſchon damals einem Kreuzverhör 
unterworfen werben. ‘Die Gelbfumme, welche vie Re- 


266 Der Einbruch im Pfarrhofe von Edlingham. 


gierung für Brannagan und Murphy als Entſchädigung 
anwies, iſt zu Handen der hierzu defignirten Curatoren 
ausgezahlt worden. Es wird dem Parlament anläßlich 
der Nachtragscrebite Rechnung darüber gelegt werben. 
Der Bericht des Rechtsanwalts des Schatamtes kann 
dem Haufe nicht mitgetheilt werden. Er enthält ver- 
trauliche Angaben, die zu öffentlicher Erörterung nicht 
geeignet find, auch ift das Plenum bes Haufes nicht im 
Stande als Yuftizhof zu fungiren. Ich fühle mich ſowol 
berechtigt al$ verpflichtet, bier zu erklären, daß ich nicht 
allein auf Grund einfeitiger Berichte vorgegangen bin, und 
erit dann einen Schritt zur Begnabigung Brannagan’s 
und Murphy's gethan habe, als Edgell und Richardſon 
geitanden und ihr Bekenntniß aufrecht erhalten hatten, 
trog der Warnung, daß fie fich hierdurch ftraffällig 
machten, und wirffih zu fünfjähriger Zuchthausftrafe 
verurtbeilt worden waren.“ 

Eir ©. Campbell fragte weiter, ob der Anfläger 
dahin inftruirt gewefen fei, nur diejenigen Beweismomente 
vorzubringen, welche möglicherweife zu einer Berurtheilung 
führen fonnten, oder ob er beauftragt war, überhaupt 
alle Beweiſe erheben zu laſſen, welche Licht über ven 
bunfeln Hergang verbreiten, aljo auch die Glaubwürbig- 
feit Edgell's und Richardſon's erfchüttern konnten? 

Minifter Matthews entgegnet: von jeiten bes 
Minifteriums fei dem Kronanwalte der ftricte Auftrag 
ertheilt worden, die Anklage nicht als Selbftzwed zu be= 
handeln, fondern alles zu thun, was zur Erforihung ver 
Wahrheit dienlich fein könne. 

Sir ©. Campbell erwidert, daß er anläßlich ver 
Berathung der Nachtragserebite auf den Gegenftand 
zurüdfommen werbe, um nachzumweiien, daß nicht dieſer 
Tall als folcher einen unbefriedigenden Abſchluß gefunden 


Der Einbruch im Bfarrhofe von Edlingham. 267 


babe, fondern daß überhaupt das englifche Strafgefeg an 
barbariichen Beitimmungen kranke und die Strafprocek- 
ordnung, wie fie derzeit beſtehe, vollfommen unfähig jet, 
die Wahrheit an den Tag zu bringen. 


Damit fchloß vorläufig die durch biefen ſonderbaren 
Broceß hervorgerufene Bewegung. Ob dieſelbe noch Folgen 
haben wird, muß bahingeftellt bleiben. Der unleugbar 
große Rechtöftnn der Briten wird eben durch ihre Vor⸗ 
liebe für das Althergebrachte. und ihre Scheu, an ein- 
gelebten Cinrichtungen zu rütteln, nur zu ſehr bes 
einträchtigt und gehemmt. Der ganze Verlauf dieſes 
merfwürbigen Proceſſes aber veranlaßt und doch zu 
einigen Betrachtungen. 

Die Anklage und die Verhandlung wider bie Polizei- 
organe, deren Xhätigfeit die Beichaffung des Beweis- 
material8 wiber die in ber erften Verhandlung ver- 
urtheilten Angeklagten zu danfen war, ift das Ergebniß 
ftarrer Conſequenz bes Rechtsverfahrens, eine Conſequenz, 
bie man freilich nicht überall gezogen haben würde. DBe- 
merfenswerth, ja erftaunlich ift aber, daß die Zeugen 
ausfagen in diejer Verhandlung ganz geeignet erfcheinen, 
wieder Zweifel an ber Richtigkeit des zweiten Urtheiles 
zu erweden und bie Frage, ob Brannagan und Murphy 
nicht Doch die Einbrecher geweſen find, eine Frage, die 
vorher gelöſt zu fein fchien, von neuem aufzuwerfen. 

Die Bedeutung des Reſumé des Richters Denman 
liegt darin, daß er das Schuldig über Brannagan und 
Murphy zu rechtfertigen verfucht und die Aufrichtigfeit 
des von Edgell und Richardſon abgelegten Geftänpnifies 
in Zweifel zieht. Die Meinung eines jo gewiegten und 


268 Der Eindbrud im Pfarrhofe von Edlingham. 


erfahrenen Criminaliften, der völlig unbefangen den Er- 
gebniffen dreier, einander ergänzenden Verhandlungen 
fich gegenüber befand und unter dem perfünlichen und 
unmittelbaren Eindruck der Vernehmung aller betheiligten 
Hauptperfonen des Dramas ftand, ift gewiß von jehr 
beachtenswerthem Gewichte. | 

ALS die beiden Burfche, Edgell und Richardfon, im 
Herbft 1887 mit dem überrafchenden Geftändniß hervor⸗ 
traten, daß fie die eigentlichen Einbrecher im Pfarrhofe 
zu Eolingham geweſen feien, und daß fie, wenn auch 
unabfichtlich, ven Pfarrherrn und feine Tochter verwundet 
hätten, daß alfo Brannagan und Murphy unfchuldiger- 
weiſe dieſes Verbrechens wegen zu lebenslänglicher Zucht- 
hausarbeit verurtheilt worden wären — ba mußte ein 
verhängnißvoller Irrthum der NRechtiprechung, ein Juſtiz⸗ 
mord angenommen werben. Die geftändigen Verbrecher 
wurden am 24. November 1888 vor Gericht geftellt und 
ihrerfeit8 verurtheilt. in Zweifel jchten nicht mehr mög- 
ih. Brannagan und Murphy wurden ber veralteten 
und verwerflichen engliichen Rechtsanichauung gemäß nicht 
rehabilitirt, jondern begnabigt; dann aber gefeiert und 
burch eine für ihre fociale Lebensftellung jehr beveutenpe 
Dotation entichädigt. Die Thatfache, daß Edgell und 
Richardſon als Folge ihres Befenntniffes ohne Wider⸗ 
ipruch ihre Verurtheilung zu fünfjähriger jchwerer Kerfer- 
haft hinnahmen und die Strafe antraten, leiftete bie 
ficherfte Gewähr für die Wahrheit ihrer Angaben. Keine 
Erflärung vermag das Gewicht diefes Umſtandes zu be⸗ 
feitigen.. Mochten fie auch urfprünglih der Meinung 
gewefen fein, fie müßten ftraflo8 bleiben, eine Anfchauung, 
bie nach englischer Rechtiprechung nicht als ganz unbegründet 
verioorfen werben darf, jo find fie doch feitvem eines 
Beſſern belehrt worden und dennoch unentwegt bei ihren 








Der Einbruh im Pfarrhofe von Edlinghbam. 269 


Ausfagen verblieben. In dem nunmehr wider die Polizei- 
organe wegen unerlaubter Verabredung zur Ueberführung 
Unſchuldiger eingeleiteten Strafproceß traten fie als 
Hauptzeugen auf und wurden entfprechend einer ver vielen 
Anomalien engliicher Proceßführung als folche beeibet. 
Im Kreuzverhör haben fie wol zugeftanvden, daß Die 
falfche Sicherheit, in ver fie fich wiegten, die Triebfeder 
ihres Vorgehens gewejen fei, und daß fie bis zu ihrer 
wirflich erfolgten Verurtheilung feit paran geglaubt hätten, 
fie müßten ſtraflos ausgehen. Allein fie erkannten doch 
wol Schon während der Verhandlung, wie kritiſch ihre Lage 
ſich geitaltete, und Hielten nichtSbeftoweniger an ihrer Er- 
Härung feit. Aber dies Eingeftänbniß, daß fie auf Grund 
eines Nechtögutuchtens an ihre Straflofigleit geglaubt 
batten, hat bei dem Nichter und den Gefchiworenen tiefen 
Eindrud gemacht und quälende Zweifel hervorgerufen, 
ob denn thatfächlich die wahren Verbrecher berzeit im 
Kerfer büßen. Bei der gegen fie felbft purchgeführten 
Verhandlung hatte man ausschließlich auf ihr Geſtändniß 
gefußt und von der genauen Erwägung und Erörterung 
der feftgeitellten Thatumftände Abftand genommen; num 
aber, da dies doch wieder geſchah, mußten Bedenken laut 
werben, bie man für alle Zeit hätte als ausgefchloffen 
erachten follen. 

Die englifhe Strafproceßorbnung kennt eben feine 
Wiederaufnahme des Verfahrens. 

Jeder der drei, paffelbe Verbrechen betreffenden Broceffe 
mußte ſelbſtändig durchgeführt werben, und darum klaffen 
auch in jeder dieſer Verhandlungen Lücken, deren bloßes 
Vorhandenſein die Mängel der in dem Inſelreiche geltenden 
Strafproceßordnung illuſtrirt. 

Der letzte dieſer drei Proceſſe, den wir hier etwas 
ausführlicher wiedergegeben haben, hatte, wie Richter 


270 Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlingham. 


Denman in feinem Reume betont, keineswegs den Zweck, 
bie Frage zu enticheiven, ob Brannagan und Murphy 
oder Edgell und Richarbfon die Einbrecher gemwefen find. 
Die Gejchworenen mußten fi darauf beichränfen, zu 
erklären, ob die Polizeiorgane ihren Wirkungsfreis über- 
fchritten, ob fie „im Bewußtjein ungejeglichen Vorgehens 
bie Verbachtsgründe gegen Brannagan und Murphy 
fünftlich verſtärkten“ oder nicht. Allein die Beantwortung 
dieſer Trage ſchloß auch die Beantwortung ber nicht 
geftellten Frage ein. Wenn die ebengenannten Individuen 
ſchuldig waren, tft Die ver Jury vorgelegte Frage mindeſtens 
überflüffig. Wenn andererjeits Brannagan und Murphy 
unſchuldig waren, kounte freilich der Zweifel entitehen, 
ob die Polizei die Beweismittel fo, wie fie diefelben eruirt 
hatte, dem Gerichte unterbreitete, oder ob fie etwas „nach⸗ 
geholfen” habe. Es ift immerhin beruhigend, daß weder 
dem Richter noch den Geichworenen von 1879 irgendein 
Unrecht zur Laft fällt. Auch ver Richter von 1889 mußte 
betonen, daß ein gerabezu zwingenber Inpicienbeweis gegen 
die Angeklagten von damals vorlag Auch ihre Ver⸗ 
theidigung hat ihre Pflicht erfült. Merkwürdigerweiſe 
bat aber bie legte Verhandlung wider die Polizeiorgane 
— troß der bazwifchenfallenden Verurtheilung der ge⸗ 
jtändigen Edgell und Richardſon — eine Belräftigung und 
Verſtärkuug der damals beigebrachten Indicien herbei- 
geführt. — Uns iſt allerbings aufgefallen, daß in gar 
feiner der drei Verhandlungen die Flinte erwähnt wurde, 
bie uns ein jehr bebeutjames Beweismittel zu fein fcheint. 
Freilich lehrt die criminaliftifche Erfahrung, daß alle 
Indicien täufchen und irreleiten können. Es bleibt daher 
troß alledem möglich, daß Brannagan und Murphy un 
ſchuldig, daß Edgell und Richardſon die eigentlichen 
Thäter geweſen find, um fo mehr da, wie wir fchon 





Der Einbrudh im Bfarrhofe von Edlinghbam. 271 


vorher gejehen haben, der Umſtand als entſcheidend an- 
gefehen werben Tann, daß die leßtern, nachdem ihnen 
bie Folgen ihres Geftändniffes inzwiichen Har geworben 
waren, bennoch bei ihrer Ausſage geblieben find. Nichts- 
deftoweniger find nicht alle Zweifel beſeitigt. Brannagan 
und Murphy, jowie Edgell und Richardſon — par nobile 
fratrum — find anrüchige Gejellen und verdienen als 
Menschen keinerlei Sympathie. Es Handelt fih nur um 
bie Nechtöfrage, und dieſe ift nicht in befriedigender Weife 
gelöft, weil — wie ber Interpellant im Parlament richtig 
hervorhob — die englifche Strafproceßorbnung nicht bie 
Mittel bietet, die Wahrheit gründlich zu erforichen. 

Befriedigend ift nur, daß bieje unbeholfenen Rechts⸗ 
formen in der Hand fo hervorragend tüchtiger Menschen, 
wie es die englifchen Richter durchweg find, nicht miss 
draucht werben, und als ein wahres Glück für bie britifche 
Rechtspflege darf man es bezeichnen, daß die Polizei- 
organe, been in England eine weit verantwortungs- 
reichere und fehwierigere Aufgabe ald auf dem Continent 
zufällt, vorwurfsfrei und umbejcholten aus dem gegen fie 
angeftrengten Proceß hervorgegangen find. 


Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 
(Mord. — Joigny in Sranfreid.) 
1888, 


Am 9. Februar 1888 zog ein Fifcher aus Joigny, 
ber in ber Monne fiſchte, einen menfchlichen Arm aus 
dem Waſſer, ver offenbar erjt vor kurzem vom Körper 
getrennt und noch einigermaßen befleibet war. 

Faſt gleichzeitig verbreitete fich die Nachricht, ver Uhr⸗ 
macher Veétard aus Joigny ſei verſchwunden und jein 
Laden ausgeraubt. Vetard war ermordet und fein Leich⸗ 
nam zerſtückt worden. Die Mörder hatten einzelne 
Körpertheile ins Waſſer geworfen, die wieder an die 
Oberfläche kamen und in gerichtliche Verwahrung ge⸗ 
nommen wurden. Die ſofort eingeleitete Criminalunter⸗ 
ſuchung ſuchte das Verbrechen aufzuklären und die Mörder 
zu entdecken. 

Eine Familie von Landſtreichern Namens Mouillon 
wurde eingezogen. Man glaubte die Schuldigen bereits 
ermittelt zu haben. Aber das Gericht war auf falſcher 
Fährte. Die Gefangenen wieſen ein unanfechtbares Alibi 
nach und mußten auf freien Fuß geſetzt werden. Der 
Unterſuchungsrichter, deſſen Nachforſchungen erfolglos ver⸗ 
liefen, machte ſich ſchon darauf gefaßt, das Verfahren 


Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 273 


einftellen zu müfjen, da melvete fich ein älteres Fräulein 
und theilte mit, der Uhrmacher Vetard fei von einer 
Dirne in einen Hinterhalt gelockt, ermorbet und beraubt 
worden. Nun hatte man feften Boden, bie Unterfuchung 
fonnte im Mai 1888 abgefchloffen und vie Verhandlung 
ber Sache vor dem Schwurgericht in Auzerre anberaumt 
werben. 

Eine ungeheuere Menge von Menjchen ftrömte in bie 
Heine burgundifche Stadt. Nicht nur ganz Joigny und 
die Nachbarorte fchienen anweſend zu fein, ſelbſt aus 
Paris waren Leute zugereift, bie dem merfwürbigen 
Proceffe beimohnen wollten. Der Heine Verhandlungs⸗ 
jaal war überfüllt, die Gänge und Corridore des Ge- 
rihtshanfes wimmelten von Zuhörern, ſogar vor ben 
Eingangsthoren ftanden Hunderte in fieberhafter Er- 
regung. Es war fat unmöglich, für die Zeugen Raum 
zu jchaffen. 

Bor dem Präfivententifche find in großen Weißblech- 
fiften die corpora delicti aufgeftelit, ferner der Tiſch, 
auf dem der Leichnam zerftücht worden ift, und zwei Trag⸗ 
förbe aus Weidengeflecht, in denen die Leichenthbeile zum 
Sluffe gebracht fein ſollen. 

Um 11 Uhr 15 Minuten wird die Verhandlung von 
dem Vorfigenden Edmund Victor Lefranc eröffnet. 

Das Auditorium ift in ungewöhnlicher Aufregung. 
AS die Angeflagten vorgeführt werden, ertönen wilde 
Aufe und Verwünfchungen: „Nieder mit den Mördern! 
führt fie zum Zobel....” Die Volksſtimme bat fie 
bereit8 gerichtet. 

ALS Angeklagte erjcheinen: 

1) Edme Arthur Alfred Morand, geboren in 
Villiers-Binend am 9. März 1839, Tagelöhner in 
Joigny. 

XXIII. 18 


274 Der Proceß wider den Tageldhner Morand. 


2) Julius Octav Bacher, geboren in Montacher 
am 5. September 1850, Gaftwirth in Joigny. 

3) Joſephine Martin, geboren in Yoignb am 
17. November 1861 und wohnhaft daſelbſt. 

4) Eugenie Martin, verehelichte Clergeot, ge= 
boren in Soigny am 31. Sult 1856 und wohnhaft 
bafelbit. 

5) Amelte Digard, verehelichte Bacher, geboren 
in Paroy-jur-Tholon am 14. Januar 1859, Wirthin in 
Joigny. 

Der Staatsanwalt Le Bourdellès vertritt die An- 
klage. Mr. Lailler, Advocat aus Baris, vertheibigt 
ben Angeklagten Morand. Advocaten aus Auxerre: bie 
Herren Savatier-Laroche, Remacle und Herold, 
haben die Vertheidigung der andern Angeflagten über- 
nommen. | 

Der Schriftführer Lalmand verlieit die Anflage- 
ſchrift, welche die Ergebniffe der Vorunterfuhung zu⸗ 
jammenfaßt und ſodann fchliekt: 

„Morand, Bacher und Joſephine Martin werben 
angeflagt: 

„Am 8. Februar 1888 in Joigny, Departement ber 
Yonne, gemeinfchaftlich einen vorbedachten und verab- 
rebeten Mord an ver Perjon des Herrn Vetard verübt 
zu haben, mit der Erjchwerung, daß dieſer Mord von 
langer Hand vorbereitet und in tüdifcher Weile aus— 
geführt ſich als Meuchelmord darſtellt. Mit dem 
Meuchelmord concurrirt ein Diebftahl, begangen am 
gleichen Orte und zur felben Zeit, indem von ber Perſon 
des genannten Herrn Vetard Schlüffel widerrechtlich ent- 
nommen wurben. Diejer Diebjtahl qualificirt fich durch 
bie Theilnahme mehrerer Perjonen als Gejellichaftspieb- 
jtahl, begangen des Nachts in einem bewohnten Haufe, 





Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 275 


und mit Einbruch, indem zur gleichen Zeit und am 
gleichen Orte mehrere der Angeflagten burch widerrecht- 
liche Mittel in den Laden des vorgenannten Herrn Vetarb 
gedrungen find und fich dort eine, im Betrage nicht genau 
befannte, größere Summe Geldes, Uhren, Suwelen und 
andere Werthiachen zum Nachtheile des Eigenthümers 
in fträflicher Weife angeeignet haben. 

„Sugente Martin, verehelichte Clergeot, wird angeklagt, 
fih des vorgebachten Mordes mitichulpig gemacht zu haben, 
indem fie ben brei Hauptangeflagten behülflich war zur 
Vorbereitung und Ausführung ver That. 

„Eugenie Martin, verebelichte Elergeot, und Amelie 
Digard, verehelichte Vacher, werben angeklagt, ſich zu 
Mitichulpigen des vorgedachten Diebitahles gemacht zu 
haben, indem fie die geftohlenen Gegenftände ganz ober 
theilweife verhehlten, obgleich fie von dem verbrecherifchen 
Ursprung derſelben genügende Kenntniß hatten.” 


Die Angellagten bören die BVerlefung der Anklage⸗ 
Ichrift jchweigend an. Nur Joſephine Martin und Frau 
Bacher fcheinen bewegt und vergießen einige Thrãnen. 
Die andern blicken theilnahmlos um ſich. 


Noch ehe in die Verhandlung eingetreten wird, er⸗ 
hebt ſich Mr. Lailler, Vertheidiger des Morand, zu 
einem Antrage. Er ſagt: 

„Herr Präſident! In einem Zeitungsblatte von 
Joigny ſtand geſtern Morgen, daß ein an Joſephine 
Martin nach deren Verhaftung gerichteter Brief zwar 
beſchlagnahmt worden ſei, jedoch nicht unter den Acten 
erſcheine. Im dem betreffenden Artikel wird ſogar be- 
hauptet, man habe die Preſſe erſucht, nichts darüber zu 
veröffentlichen. Ich erlaube mir daher die ergebene An- 
frage an den Herrn Staatsanwalt: Eriftirt ein folcher 

18* 





276 Der Procef wider ben Tagelöhner Morand. 


Brief? Was ift darin enthalten? Was iſt aus ihm 
geworden?” 

Der Sournalartifel, der in vem „Radical de ’Yonne‘‘ 
erſchien, lautete: 

„Was ift aus dem bei der Bolt in Joigny beichlag- 
nabmten, an die Joſephine Martin gerichteten Briefe 
geworden, in welchem ein Liebhaber der Sofephine ihr 
mittheilte, daß er fich über die Grenze begeben werde? 
Diefer Brief fam aus Paris und trug den Poſtſtempel 
des Inoner Bahnhofes. Es hat darüber nichts verlautet, 
doch wilfen wir um fo ficherer, daß er exiftirt, da man 
uns erſucht hat, nichts darüber zu veröffentlichen.” 

Der Gerichtshof befchließt nach Furzer Berathung die 
Requiſition des betreffenden Actenftücdes aus Joigny. 
Der Präfident bemerft bei Verkündigung des Gerichts- 
beichluffes, daß bei jeder Unterfuchung eine Reihe von 
Schriftftüden, die dem Unterfuchungsrichter unwichtig 
scheinen, zurücbleiben, ohne dem Staatsanwalt oder dem 
Vertheidiger zugejtellt zu werben. 

Es wird zum Verhör gefchritten und zunächſt Jo⸗ 
Sephine Martin vernommen. 

Sie präfentirt fich als ein kleines, zierliches Figürchen, 
ichlanf, von blafjer Gefichtsfarbe, mit großen glänzenden 
Augen. Ste ift brünett, die Züge find ftarf entwidelt. 
Ihr Geſichtsausdruck ift offenherzig. Sie jchlägt Häufig 
die Augen nieder, wenn fie angeredet wird. Die Stimme 
it von jeltenem Wohlklang, einfchmeichelnd und ge⸗ 
winnend. Site antwortet anfänglich leiſe, faſt ſchüchtern 
und unverjtändlich, nach und nach aber wird die Stimme 
lauter und ficherer, und ſchließlich, als von den ent- 
jeglichen Einzelheiten der Miffethat die Rede ift, fpricht 
“fie einförmig, ohne irgendwelche Bewegung zu zeigen, 
faft jo, als ob fie eine eingelernte Xection wieder⸗ 











Der Proceß wider ben Tagelöhner Morand. 977 


holte. Sie trägt ein dunkles Gewand von eleganten 
Schnitt. 

Präfident. Sie willen, Angellagte Martin, daß 
man über Sie bie ungünftigfte Auskunft erhalten hat. 
Seit mehrern Jahren haben Sie das Haus Ihrer 
Mutter verlaffen und fich der Proftitution bingegeben. 

Angeflagte. Seit drei Jahren. 

Präfident. Sie haben aber ein Kind von vier 
Sahren, ein Feines Mädchen, deſſen Vater nicht befannt 
iſt. Das Kind lebt bei Ihnen und kennt Ihre Lieb- 
haber. Der legte war ein Herr Babillot, der Ihnen 
50 France monatlich gab und Sie alle Abende bejuchte. 
Am Vorabende des Verbrechens haben Sie ihm aber 
gefagt, er möge am nächiten Abend, am Mittwoch, nicht 
zu Ihnen kommen, 

Angeflagte. Ja, wegen ber Vorbereitungen zu ber 
bevorjtehbenden Hochzeit meines Bruders. 

Präfident, Sie fannten Herrn Vetard? Ihr Kind 
kannte ihn gleichfalls ? | 

Angellagte. Nein, Herr Präſident. 

Präfident. Aber die Kleine hat, als man in ihrem 
Beifein von dem Manne fprach, der am Abend des Ver⸗ 
brechens bei Ihnen war, ausgerufen: „Es war nicht 
Papa Babillot, e8 war Papa Vetarb!.. .” 

Angellagte. Sch begreife nicht, wie fie das fagen 
konnte. Sie fannte Herrn Vetard nicht. 

Präfident. Das unglüdliche Kind muß Zeuge der 
Zeritüdelung der Leiche geweſen fein, denn fie fagte: 
„Papa Betard iſt im Wein gelegen.” Was das Kind 
aber für rotben Wein bielt, war Blut. (Bewegung.) 
Sie müfjen Vetard gekannt haben, denn die Kleine fagte 
wiederholt: „Papa Vetard.“ 


278 Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 


Angeklagte. Ob, das Kind nannte alle Herren 
Papa. (Heiterfeit.) 

Präfident. Der Staatsanwalt bat das Zeugniß 
bes Kindes nicht gegen Sie anrufen wollen! Wir werben 
bie Wahrheit auf anderm Wege zu erfahren trachten. 
Ihr Geſtändniß bildet wol einen Hauptftüßpunft ber 
Anklage, allein nicht den einzigen. Noch vor Ihrem 
Geftändniffe war die Unterfuhung durch Briefe auf 
Ihre Theilnahme an dem Verbrechen aufmerkjam gemacht 
worden. Es find dies bie Briefe, die Sie mit den An— 
fangsbuchftaben der Roſalie Mary verjehen an Vetard 
gerichtet haben. Die Briefe lauten; 


Erfter Brief: 
Herrn Vetard. 
Uhrmacher und Juwelier. 


Brüdenvorftabt. 
Joigny. 


Mein lieber Freund! Ich bin heute Nacht um 2 Uhr 
mit der Eiſenbahn angekommen. Ich bin bei einer meiner 
Freundinnen abgeſtiegen. Ich will meine Familie nicht 
aufſuchen, bevor ich Dich geſehen habe, denn meine Ab⸗ 
ſicht geht dahin, ganz in Joigny zu bleiben. ‘Die Ent- 
ſcheidung wird von den Rathſchlägen abhängen, die Du 
mir geben wirſt, und ob Du die Beziehungen mit mir 
erneuern willſt, die zwiſchen uns beſtanden haben. Wenn 
Du mir entgegenkommen willſt, ſo werde ich hier bleiben. 

Ich werde Dich in der Nähe der Schlachthäuſer um 
7 Uhr erwarten. Ich rechne auf Deine Güte und Dein 
gutes Herz. Ich weiß ſehr wohl, daß Du mich noch 
lieb haſt und daß es Dir wehe thun würde, wenn ich 
wieder abreiſte. 





Der Proceß wider ben Tagelöhner Morand. 279 


Wie ich Dir fchon gefagt habe, ich erwarte Dich bei 
den Schlachthäufern um 7 Uhr. 

Wenn e8 aber Deine Abdficht fein follte, nicht mehr 
mit mir zu geben, fo komme doch um mir einen legten 
Kup zu geben. 

Ich bin ganz die Deine. 

Deine Heine Freundin, die Dich fo fehr liebt, und 
die Dich immer lieben wird. 

Aber vor allem fei Discret und verbrenne dieſen Brief. 
Sage niemand, daß ich wieder hier bin — 


R. M. 
Der zweite Brief: 


Kleiner Freund! 


Ich bitte Dich taufenpmal um Verzeihung. Denke 
Dir nur, ich hatte meiner Tante in Sens gejchrieben, 
daß ich in Joigny angelommen bin, daß aber davon bei 
meiner Mutter nichts erzählt werben fol. Dann babe 
ich ihr auch die Wohnung mitgetheilt, wo ich bin, und 
da hat fie mir an demfelben Zage gejchrieben, an dem 
ich Dir das Stellvichein gegeben habe. 

Ich war genöthigt, mit dem erjten Zuge wegzufahren, 
und darum habe ich nicht fommen können, denn fie bat 
mir einen Pla in einem Hotel angetragen. Es find 
jet jech® Tage, daß ich in diefem Hotel bin, aber beim 
beiten Willen kann ich nicht bleiben, es ift eben zu ſchwere 
Arbeit für mich. _ 

Ich bin genöthigt, mir es fo einzurichten, wie ich 
Dir ſchon gejchrieben habe. Heute noch fuche ich mir ein 
paffendes Zimmer. Es ift mir möglich gewejen, mir 
nah und nach 200 Franecs zu eriparen, bamit kann ich 


280 Der PBroceß wider ben Tagelöhner Morand. 


mir fchon die nothwendigſten Anjchaffungen machen. Und 
Du wirft fommen können mich bejuchen wenn Du willft, 
und wir werben glüdlicher fein als je zuvor. Aber vor=- 
läufig ſprich nichts darüber, fomme heute Abend an ben- 
felben Ort, ven ich Dir das vorigemal bezeichnet babe, 
damit ich Dir berichten Tann, ob ich alles in Ordnung 
bringen konnte und Dir den Ort angeben kann, wo idy 
allein mit Dir zufammenkfommen kann und wo Du bin 
fommen kannſt. 
Heute Abend alfo ganz gewiß, mein Vielgeliebter. 
R. M. 


Dritter Brief: 


Ich werde Dich von 6 Uhr bis längſtens 6 Uhr 
15 Minuten erwarten. Aber, böre wohl, ſperre Deinen 
Laven zu. Ich kann es nicht begreifen, daß Du Deinen 
Laden offen laſſen kannſt, wenn Du doch fortgehft. 

Endlich wirft Du doch einjehen, daß ich glücklich fein 
werde, Dich wieverzufehen, und daß es mir geglüdt ift, 
ein reizenbes Kleines Zimmerchen zu finden. Es iſt nicht 
tbeuer, ich zahle nur 7 France monatlich dafür. 

Ich habe alle Einrichtungen wegen meines Bettes 
getroffen. Ich Habe vier Stühle Ich habe nur einen 
ganz Kleinen Tiſch, aber es iſt doch das Wichtigjte für 
den Augenblid. 

Weißt Du, weil Du erfroren bift, habe ich daran 
gedacht. Ich habe einen Roft im Kamin und Coaks. 
Es ift ſehr warm bei mir. Aber wenn ich an die erite 
Nacht denke — ich verfichere Dich, es überläuft mich 
ganz eigen. 

Sch Hoffe doch, daß wenn Du kommen wirft, um mir 
Geſellſchaft zu leiften, ich mich nicht langweilen werde. 








Der Procef wider den Zagelöhner Morand. 281 


Ich rechne feft auf Dein Kommen. Ich bitte Dich, 
laffe mich nicht figen wie geftern. Du kannſt noch vor 
dem Effen kommen, und wenn Du willft auch gleich wieder 
gehen. Es ift nur um Deine Abfichten fenmen zu Iernen 
und ob Du wieder mit mir halten willſt. Von meinen 
Leuten weiß noch niemand, daß ich hier bin. Du wirft 
ſehen, es ift fehr bequem zu mir zu kommen. Ich werde 
nicht anfpruchsvoll fein, ganz jo wie Du es wünſcheſt, 
ih will nur Dich haben. 

Morgen werde ich noch alles Nothwendige beforgen. 
Ih werde auch zu meiner Familie gehen und meine 
Nähmaschine zu mir holen. Ich werde mich noch heute 
wegen Arbeit in einem großen Magazin melden, und “Du 
wirft jehen, ich werde glücdlicher fein als je zuvor. Aber 
bevor ich ‘Dich bei mir empfange, will ich doch wilfen, 
ob Du immer noch fo viel Freundſchaft für mich begft, 
ob Du mich recht lieb haben willit, und ob Du nod 
andere Belanntichaften haben willft außer mir. Das 
will ich nicht leiden, ich will Dich ganz allein haben. 
Ih bin Dir noch immer unverändert gut. Sch habe 
Dich jehr Lieb und ich ſchwöre Dir, ich werde Dir treu 
bleiben, wie ih Dir ſchon verfichert habe. Ich wieder- 
hole e8, ich will fehr brav fein. 

Ich rechne beftimmt auf Dich, mein Vielgeliebter! 
Ich Schiele Dir im voraus taufend Küffe. 

Tehle nicht beim Eingange der Straße 6 Uhr 15 Minuten 
ipäteftens. Wenn Du aber willft, daß ich eine fehr große 
Freude haben foll, jo komme zu mir zum Eſſen. Ich 
babe eine gute Suppe und ein Huhn zugeftellt und wir 
werben fo glüclich zufammen fein. 

Wenn Du zuerft fommft, fo warte auf der erften 
Banf. 

Aber Du kannſt Dich darauf verlaffen, ich werde es 


282 Der Procef wider ben Tagelöhner Morand. 


ſchon fein, bie zuerft fommt. Laß mich nicht lange warten, 
ich bitte Dich, mein vielgeliebter Schatz. 
Sch bin ganz die Deine, Deine Heine Frau, die Dich 
jo lieb hat. 
R. M. 


Ich fürchte beinahe, Du haſt meinen geſtrigen 
Brief nicht erhalten. Beige meinen Brief niemand, fei 
Giscret. 


Präfident. Erfennen Sie an, daß dieſe Briefe 
von Ihnen gejchrieben worben find? 

Die Angellagte fehweigt. 

Präfident. Am 10. Februar wurden Sie bereits 
verbächtig. Mean bat Sie verhört und Sie haben be- 
bauptet, Sie wären zur Zeit, va das Verbrechen verübt 
wurde, bei Ihrer Mutter geweſen. Angefichtg Ihrer 
Ruhe und Ihres fichern Auftretens hat ver Unterfuchungs- 
richter feinen Verdacht fallen lafjen, allein eine Haus- 
juhung führte eine für Sie jehr bevenfliche Entvedung 
herbei. Man fand bei Ihnen einen zwar fertig ge- 
ichriebenen, doch noch nicht zur Poſt beförverten Brief. 
Er war an Herrn Ablon, ven Präfivdenten ver Hanbels- 
fammer und Eigenthümer des Haufes, in dem Ste wohnen, 
gerichtet. Dem Unterjuchungsrichter fiel die Aehnlichkeit 
der Schriftzüge mit den Briefen auf, die mit R. M. 
gezeichnet, in der Wohnung des Herrn Betarb vorgefunden 
worden waren. Site wurden einem Sachverjtändigen über» 
geben und biejer erklärte mit aller Beftimmtheit, daß fie 
von derſelben Hand herrührten wie ver bei Ihnen vor⸗ 
gefundene Brief. Das hat Ste bewogen, zum Geftänd- 
niffe zu fchreiten. Geben Sie dies zu? 

Angellagte. Ja, Herr Präfident. 








Der Proceg wider den Tagelöhner Morand. 283 


Präfident. Es Sprachen übrigens noch andere Ver⸗ 
dachtsmomente gegen Sie. Man bat Herrn Vetard ger 
ſehen, wie er in Begleitung einer weiblichen Perjon Ihr 
Haus betrat, und während der ganzen Nacht ift in Ihrer 
Wohnung eine ungewöhnliche Bewegung, ein fortwährendes 
Gehen und Kommen beobachtet worden. Ihr Alibi war 
sicht aufrecht zu erhalten. Ihr Geſtändniß war aber 
fein freiwilliges, Sie haben fi nur erbrüdt von Be⸗ 
weifen hierzu herbeigelaffen. Nun fagen Ste uns auf- 
richtig, warum haben Sie dieje Briefe gefchrieben? 

Angellagte.. Es ift Herr Morand, der mich ge: 
zwungen bat fie zu jchreiben. Zuerſt babe ich nicht 
gewollt. „Aber Fräulein”, fo jagte er zu mir, „Sie find 
doch fonft jo gefällig. Es Handelt fich ja um einen Spaß. 
Herr Vetard liebt einen guten Auffiker, und ich auch. 
Wir werden alle zwei etwas zum Lachen haben. Thun 
Sie mir doch den Gefallen.‘ So habe ich mich ver- 
leiten laſſen. Ich glaubte wirklich, e8 handle ſich um 
einen Spaß. 

Präjident. Und Sie haben Morand nicht gefragt, 
welcher Art diefer Spaß fein werbe? 

Angellagte. O ja! Aber er erwiderte nur: „Sie 
werben es ſchon jehen.“ 

Präfident. Alſo Morand Hat einen ſolchen Ein- 
fluß auf Sie ausgeübt, daß Sie nicht wiberftehen 
fonnten? 

Angeklagte. Ich habe ja nichts Böſes vermuthet. 

Präſident. Diefe Verantwortung wäre vielleicht 
glaubhaft, wenn es ſich nur um einen einzigen Brief 
handeln würde, allein es find deren drei vorhanten. 
Sind fie alle Drei nur des Spaßes wegen gefchrieben ? 

Angeklagte. Ich hätte Morand niemals zugetraut, 
daß er etwas fo Fürchterliches im Schilde führe. 


284 Der Procef wider ven Tagelöhner Morand. 


Präſident. Diefe Vertheidigung ift nicht glücklich 
gewählt. Ihre Ausfage fteht im Widerfpruch mit ben 
Angaben verjchiedener Zeugen, insbeſondere der Roſalie 
Mary. Diefe erklärt, daß alle Einzelheiten der Briefe 
. auf genauer Kenntniß ihrer Lebensverhältnifje beriiben, 
daß die darin enthaltenen pofitiven Angaben richtig find, 
und daß baher bie Briefe nur von einer Perjon her- 
rühren können, die fie jehr gut fennt. Sie und Ihre 
Schweiter, nicht aber Morand waren in ber Lage, dieſe 
Einzelheiten und Yamilienbeziehungen zu willen. Iſt 
dies fo? 

Angeklagte. Nein, Herr Präfivent. 

Präſident. Herr Vetard ift troß der verfchiebenen 
Driefe nicht gelommen. Was haben Sie am Abend des 
Verbrechens gethan? 

Angeflagte. Ich ging um 6 Uhr aus. Sch be= 
gegnete Herrn Morand. Er bat mich gefragt, ob ich 
nicht eine Säge hätte, die ich ihm leihen könnte. Sch 
antiwortete, ich befäße deren zwei. Ich habe ihm meinen 
Wohnungsichlüffel übergeben, um die Säge zu holen. 

Präfident. Alfo nur zu diefem Zwecke haben Sie 
ihm Ihren Schlüffel gegeben? 

Angeklagte. Ja wohl, Herr Präfibent. 

Präfivdent. Wo find Sie hingegangen? 

Angellagte. Zu meiner Mutter. 

Präfident. Um welche Zeit find Sie nach Haufe 
zurücdgelommen? 

Angeklagte. Ich Tann die Zeit nicht ganz genau 
angeben. Es war zwijchen 9%/, und !/,10 Uhr. 

Präfivent Mit Ihrer Heinen Tochter? 

Angeklagte. Ja wohl, Herr Präſident. 

Präfident Was haben Sie zu Haufe wahr- 
genommen? | 











Der Broceß wider den Tagelöhner Morand. 285 


Angeklagte. Meine Thür war verichloffen. Sch 
Hlopfte an, und als Morand, der in Hembärmeln war, 
mir öffnete, fagte ih: „Wie, Sie find noch hier?” Er 
ſah ganz verftört aus und antwortete mir: „Treten Sie 
nur ein und machen Sie feinen Lärm!” — „Was tft 
denn 108? fragte ich und trat in die Stube. Vetard 
lag auf dem Tiſche, tobt, in einer Blutlache, nur halb 
mit einem Tuche zugevedti. Meine Kleine begann zu 
weinen und ich fchrie laut auf. „Unglücklicher Menſch! 
Was haben Sie gethan! Und bei mir! Was foll nun mit 
mir gefchehen?” — Morand jchnauzte mich mürriih an: 
„Schweig gleich ftill, oder ih made Dich auch noch 
kalt!“ Er hatte jein großes Mefjer in der Hand. Bacher 
war um die Leiche beichäftigt. Sie waren gerade daran, 
bie Beine abzufägen. Ich flüchtete in mein Schlaf 
zimmer. Aber Morand rief mich heraus. „Es ift fein 
Waſſer dal” fagte er zu mir, „man Tann fich nicht 
einmal die Hände wachen. Holen Sie uns Waſſer!“ 
Aus Angft habe ich ihm willfahrt und bin zum Brunnen 
binuntergegangen. 

Präſident. Alſo Sie haben fih nur aus Furcht 
den Anordnungen Morand’8 gefügt und haben mir be$- 
halb Waſſer geholt, damit die beiden Mörder fich vom 
Blute reinigen Tonnten? 

Angeklagte. So tit es, Herr Präſident. 

Präfivdent. Ia, warum haben Sie dann, ald Sie 
unten beim Brunnen waren, nicht um Hülfe gerufen? 

Angeklagte. Morand ift mir gefolgt. Wenn ich 
gerufen hätte, hätte er mich gewiß umgebracht. 

Präfident. Angenommen, daß Sie aus Furcht fo 
handelten: warum haben Sie dann am nächiten Tage 
feine Anzeige eritattet ? 

Angeflagte. Ich hoffte, daß die Wahrheit auch 


286 Der Proceh wider ben Tageldöhner Moranb. 


ohne mein Zuthun herausfommen würde. Ich wollte 
thn nicht denunciren, nicht aus Schonung für ihn, aber 
feiner Kinder wegen habe ich gejchwiegen. 

Präſident. Was haben Ste am nächſten Tage 
gethan? 

Angeflagte. Des Morgens ging ich in die Meſſe. 

Präfident. Und fpäter? 

Angeflagte Dann war ich bei der Trauung 
meines Bruders, 

Präfident. Richtig, und dann nahmen Sie theil 
am Hochzeitseffen, und gingen auf den Ball, und tanzten! 
Sie, jollen fogar beſonders luſtig gewejen fein. 

Angellagte. O nein, das nicht, Herr Präfident. 

Präfident. Nur einen Augenblid waren Sie be- 
wegt. Ste Tauften Zuderwerf bet einer Nichte des Er- 
morbeten. As Sie den Namen „Vetard“ auf der 
Tirmatafel oberhalb der Ladenthür erblidten, find Sie 
erichroden zufammengefahren. 

Angellagte O nein, ich babe ven Namen gar 
nicht gefehen. 

Präfident. Sie werden den Zeugen darüber hören. 
Man hat an dieſem Zage fchon von dem Verbrechen 
geiprochen ? | 

Angeklagte. Nach Ziiche war die Nebe davon. 

Präfident. Und Sie haben ruhig zugebört, ob— 
gleich Sie abends zuvor felbjt Augenzeuge der abfcheu- 
lichen That waren! — Aber Sie haben über die Zer— 
ſtückelung ver Leiche noch nichts geſagt. Was haben 
Sie davon gefehen ? 

Angeklagte. Es war fchon falt gejcheben, als ich 
nah Haufe kam. Die Beine waren bereits abgejägt. 
Sie lagen auf einem Stuhl. Morand fügte die Arme 
ab. Er hatte Einfchnitte auf beiden Seiten gemacht, und 





Der Proceß wider ven Tagelöhner Morand. 987 


weil es ihm zu lange dauerte, ftenmte er fein Knie an 
und trat feit auf den Knochen, bis er brach. (Bewegung 
des Entſetzens im Zuhörerraum.) Er bat vie Gelenfe 
mit dem Fleiſchermeſſer ausgelöft, mit bem er mich be» 
drohte. Vacher ftand daneben und war ihm behülflich. 
Nachdem die Zerftücdelung fertig war, find bie Theile 
ber Leiche in Säde gethan und dieſe in zwei Tragkörbe 
gelegt worben, wovon ber eine meiner Schwefter gehörte 
und der andere von Vacher mitgebracht worden war. 
Morand und Vacher haben die Säde in die Nonne 
getragen. | 

Präfivent. Nach dem Morde ift Morand zu Vetard 
gegangen, um ben Laden auszurauben? 

Angellagte Als ih nah Haufe fam, war ber 
Diebftahl ſchon begangen. 

Präſident. Wieviel haben Sie erhalten? 

Angeklagte. Morand hat mir 40 Franes gegeben 
und Bacher auch AO France. 

Präfivdent. Nah den Vermuthungen der Polizei 
baben Ste viel mehr erhalten, denn Sie haben viel Gelb 
ausgegeben. 

Angellagte. Ich habe gewiß nicht mehr empfangen. 

Staatsanwalt. Haben Sie nicht vierzehn Tage 
nach dem Morde, an dem Tage, wo Sie verhört wurden, 
nochmals 20 Trance befommen? 

Angeflagte Ial Morand war jehr aufgeregt, ale 
er erfuhr, daß ich verhört worden ſei. Er hat mich be- 
ſchworen, nichts zu verrathen. 

Präfivdent. Ste haben in ber That zuerft andere 
Perſonen als die Thäter bezeichnet: einen gewiſſen Pietre 
und den Schwiegerfohn Morand's, Eizel. 

Angeflagte. Sa wohl, Ich habe zuerjt Pietre ge- 
nannt. Es ift das fein intimfter Freund. Ich war 


288 Der Proceß wider ven Tagelöhner Moranb. 


überzeugt, daß biefer von der Sache wußte, und bachte 
feine Angaben würden Morand zum Geftänpniß zwingen. 
Cizel habe ich in der Aufregung mit Vacher verwechſelt. 
Der Mitſchuldige ift Bacher. - 

Alle diefe Angaben werden mit ruhiger, weinerlicher 
Stimme gemacht. 

Die Angeklagte ift fo wenig bewegt wie ein ‘Dienft- 
mädchen, welches fich wegen eines zerbrochenen Tellers 
verantiwortet. 

Es wird zur Vernehmung Morand's gefchritten. 

Morand ift ein berceuliich gebauter, ruhig blickender 
Mann. Seine Züge bleiben unbewegt, in feinem büjtern 
Geſicht zuckt Feine Fiber. Sein Haar ift ſchwarzbraun, 
boch bereit leicht ergraut. Sein Schnurrbart iſt ftart, 
ftruppig und noch ganz bunfelbraun. Sein Hände find 
muskulös und wohlgeformt, Er ift mit einer alten Tuch- 
hofe und einer weißen Bluſe bekleidet. 

Präfident. Die Thatfache, daß Herr Vetarb um 
ungefähr 7 Uhr 15 Minuten in Begleitung einer weib- 
lihen Berfon in das Haus der Yofephine Martin ein- 
trat, fteht feft. Sie haben fih um 6 Uhr 45 Minuten 
dahin begeben? Man bat Sie eintreten fehen. 

Angeflagter. Nein! Das ift vollfommen unrichtig. 
Ich kannte das Mädchen faum und war niemals 
bei ihr, 

Präfident. Aber die Zeugenausfage der Frau 
Droin lautet ganz bejtimmt. 

Angellagter. Es ift eine falfche Zeugin. Dieſe 
Frau lebt feit zwei Jahren in Todfeindſchaft mit mir. 
Sie haft mich und hat einen Meineid gefehworen, um 
mich zu verberben. 

Präfident. Wo waren Sie während ber Zeit, ba 
das Verbrechen begangen wurde? 


Der Proceß wider ben Tagelöhner Morand. 289 


Angeflagter. Zu Haufe, Herr Präfident, und im 
Bett. Ich bin an biefem Abend überhaupt nicht aus- 
gegangen. 

Präsident. Um wieviel Uhr haben Ste fich nieber- 
gelegt ? 

Angeflagter. Um halb acht Uhr. 

Präſident. Sie haben gehört, daß Iofephine Martin 
Sie der Thäterfehaft beſchuldigt? 

Angellagter. Die Ausfage berjelben ift ein durch⸗ 
fihtiges Lügengewebe. 

Präſident. Es liegen aber auch noch andere Vers 
dachtsgründe gegen Sie vor. Auf einem Ihrer Holz- 
ſchuhe find Blutjpuren gefunden worden. 

Angellagter. Ich bin fehr vollblätig und leide 
oft an Nafenbiuten. Man kann alle meine Kameraden 
barüber befragen, fie werben es insgeſammt beftätigen. 
Sn der Unterfuchungshaft babe ich auch Najenbluten 
gehabt. Sch bitte nur den Kerfermeifter parüber zu vers 
nehmen. 

Präfivdent. Man hat bei Ihnen einen Tragkorb 
vorgefunden. Die Martin gibt an, berjelbe habe zum 
Wegichaffen der Leichenrefte gebient. 

Angeflagter. Wenn er wirklich bazu verwendet 
worden ift, fo war ich e8 doch nicht, der fich feiner dazu 
bebiente. 

Präfivdent. Es baben fih an dem Korbe Blut— 
ipuren gefunden. 

Angeflagter. Ich habe ihn bei Gartenarbeiten 
benugt. Vielleicht habe ich mich bei der Arbeit einmal 
gerigt, dann hat mein eigenes Blut diefe Spuren hinter- 
laſſen. (Unwilfige Ausrufe im Zuhörerraum.) Ich bes 
haupte es ja nicht, ich fege nur den möglichen Fall. 

Präfident (zum Auditorium). Wenn noch weitere 

XXIII. .19 


290 Der Procek wider den Tagelöhner Moranbd. 


berartige Störungen vorfallen, fo Taffe ich ven Saal 
räumen. — Morand, fahren Sie fort. 

Angeflagter. Mein Tragforb ftand immer vor 
der Hausthür. Es konnte ihn leicht jemand ohne mein 
Vorwiſſen benugen. Es ift daher möglich, daß ber 
Schuldige fich feiner bedient hat. Ich fchwöre, ich weiß 
nichts davon. Ich bin unſchuldig. 

Präfident. Ihre Frau hat einen andern Erflärungs- 
grund für die Blutfpuren angegeben. Sie jagt, es jet 
darin mehreremal gefchlachtetes Schweinefleiih trans- 
portirt worden. 

Angellagter. Diefe Thatfache ift auch richtig. Es 
ift dies fogar gleich nach Lichtmeß (2. Februar) gefchehen. 

Präſident. Ich komme jegt zu den Briefen. Sie 
behaupten, Sie haben an deren Abfaffung nicht mit- 
gewirft? 

Angellagter. Ganz ficher nicht. (Sehr energiich:) 
Sch ſchwöre, daß ich niemals in meinem Leben meinen 
Fuß über die Schwelle der Wohnung der Joſephine 
Martin gejeßt babe. Ich Habe fie kaum gefannt und 
nie zuvor gefprochen. Die Roſalie Mary aber, beren 
Unterjchrift misbraucht worden fein ſoll, kenne ich gar nicht. 

Präjident. Man hat Sie um 9 Uhr 15 Minuten am 
Brunnen mit Joſephine Martin gefehen, gerade zu ber 
Zeit, als dieſe Waffer für Sie geholt haben will. 
| Angellagter. Es ift nicht wahr. Ich war nicht 

bort. Sch lag bereits in meinem Bett. 

Präſident. Sie werben bie Zeugen felbft hören. 

Angellagter. Ich war es nicht. 

Präfident Am Tage nah dem Morde, am 
9. Februar, find Sie wie andere Neugierige zur Nonne 
gegangen, um das Herausfiichen der Gliedmaßen des 
Ermordeten mit anzufehen? 








Der Proceß wider ben Tagelöhner Morand. 291 


Angeflagter. Ja wohl, Herr Präſident. Zuerjt war 
ih mit meinem Freunde Grivet ausgegangen, um den 
Taftnachtsochfen anzuschauen. Als wir bemerkten, daß 
fi die Leute am Ufer der Yonne anjammelten, ver- 
fügten wir uns auch dahin. Dean erzählte uns, es ſei 
ein Männerarm gefunden worben, und wir fahen, wie 
die andern Neugierigen, ven Arbeiten zu. 

Präſident. Am Morgen, als befreundete Arbeiter 
zu Ihnen famen, find dieſe faft betäubt worden von einem 
entfeglichen Geftanf, ver von Ihrem Herde ausging. 

Angellagter. Ich verbrannte altes Lederzeug, alte 
fette Segen, alte Abfälle aller Art. Auch zwei tobte 
Igel aus meinem Garten waren dabei. Es mag übel 
genug gerochen haben. 

Präfident. Am Ufer der Yonne fiel Ihr verftörtes 
Weſen beim Auffinden der Leichentheile mehrern Ihrer 
Belannten auf. 

Angellagter. Ich war nicht verftört. Ich hatte 
feine Urfache dazu. Mein Gewiſſen ift rein. Ich bin 
bei Gott vollfommen unſchuldig an der Mordthat. 

Präfident. Sie behaupten, des Abends am 8. Februar 
gar nicht ausgegangen zu fein? 

Angellagter. Nah 8 Uhr abends gewiß nicht. 
Um balb 9 Uhr war ich ficher im Bett. 

Präfident. Eine Zeugin, Frau Madeleine Salmon, 
hat aber behauptet, daß fie an jenem Abende nicht zu 
Haufe geweſen fin. 

Angellagter. Die Frau irrt fih im Tage. 

Präfident. Ihre Tochter joll Frau Salmon gebeten 
haben, zu bezeugen, daß fie an jenem Abend Ste zu Haufe 
getroffen habe. 

Angellagter. Man bat es mir erzählt. Ich weiß 
nicht, ob e8 wahr ift. 

19* 


292 Der Proceß wider ven Tagelöhbner Morand. 


Präfident. Ste haben während der Unterfuchungs- 
haft verjchiedene Verſuche gemacht, mit Ihrer Frau in 
Correſpondenz zu treten, um ein Alibi zu beweifen. Man 
hat Zettel aufgefangen, die fo lauten. ‘Der erfte: 

„Sage der Tante, der Mabeleine und Louis, daß fie 
um 10 Uhr 15 Minuten fortgegangen find. Sie follen 
fih nur daran erinnern. Ich war ind Bett gegangen. 
Ich umarme Euch alle. Dein unfchuldiger Gatte. Stede 
nichts in die Taſchen.“ 

Der zweite: 

„Wenn Marie Delooze am Abend des Verbrechens 
bei und war, fo rige ein Kreuz unter dem Blechteller 
mit der Mefferipite. Wenn Du im Aermel meiner Jacke 
meinen Brief gefunden haft, mache eine Null daneben. 
Ih umarme Did und die Kinder. Dein unfchulpiger 
Gatte. 4.” 

Der britte: 

„Wenn Du Marie, Deine Tante und Lonis geiprochen 
haft, mache 1, 2, 3 unter dem Zeller.” 

Der vierte: 

„Nähe mir Nachricht in das Hofenfutter ein. Ich 
werde meine Hofe morgen verlangen.” 

Der fünfte: 

„Du mußt Herren Ablon und Herrn Contura aufs 
fuchen. Sie glauben an meine Unfchuld und werben 
Dich unterjtügen. Vergiß nicht, nach dem Zapfenjtreich 
war ich im Bett.” 

Der fechste: 

„Du mußt Herrn Ablon und Herrn Contura auf- 
fuchen. Sie follen etwas für mich thun, denn ich bin 
unſchuldig. Befuche auch Frau Grene. Ich umarme 
Dih und die Kinder. Schide mir einen Bleiftift.” 

Präfident. Wie erklären Sie diefe Briefe? 


Der Proceß wider ben Tagelbhner Morand. 293 


Angeflagter. Ich wollte ven Zeugen Thatumftände, 
die jie als unwichtig vielleicht vergefien hatten, ins Ges 
dächtniß zurückrufen. Ich bin unſchuldig, volllommen 
unfchuldig und will e8 bewetjen. 

Präſident. Wir kehren zu den Angaben ver Jo— 
jephine Martin zurüd. Sie behaupten, ihre Ausfage 
jet falſch? 

Angellagter. Vollkommen erlogen, Herr Prä—⸗ 
fivent. 

Präfident. Iſt fie Ihnen feindlich gefinnt? 

Angellagter. Ich weiß es nicht. 

Präfivdent. Warum aber klagt die Martin Sie an? 

Angeflagter. Offenbar um den wirflich Schulbigen . 
zu beſchützen. Ich erinnere mich, daß, wie ich zum erften 
mal mit der Iojephine Martin vor dem Unterfuchungs- 
richter confrontirt wurbe, der Schriftführer, als der Herr 
Richter einen Augenblid das Zimmer verließ, der Jo⸗ 
jephine Martin einen Zettel zugeftedt hat. (Bewegung.) 
Diejer Schriftführer heißt Labeſſe. Ich bedauere fehr, 
baß er nicht bier if. Er gehört hierher (deutet auf bie 
Anklagebant). Ich habe Leider nicht ven Muth gehabt, 
dem Herrn Unterfuchungsrichter jofort von meiner Wahr- 
nehmung Mittheilung zu machen. Man bat die Dirne 
einfach auf mich gehekt. 

Präfident. Und Sie vermuthen, dieſer Zettel.... 

Angeflagter. Enthielt VBerhaltungsmaßregeln. 

Präfident. Sie bleiben alfo dabei, daß Joſephine 
Martin Unwahres über Sie ausgefagt hat? 

Angellagter. Gewiß. Ste fügt. Ich bin unſchuldig. 

Präſident. Joſephine Martin! Erheben Sie ſich. 
Haben Sie ven Angeklagten Morand gehört? 

Sofephine Martin. Ich bethenere es, Morand und 
Bacher find die Schuldigen. Sie follen e8 nur leugnen, 


294 Der Procef wider den Tagelöhner Morand. 


fie find e8 Doch gewejen. Sch verfichere, fie find es. Aber 
fie werben fortfahren es zu leugnen, fie werben ed noch 
auf dent Schafott Teugnen! 

Morand. Ich fchwöre es, ich bin unfchulbig! 

Präſident. Es genügt nicht zu fchwören. Man 
muß ed beweilen können. 

Bertheidiger Mr. Lailler. Es ift doch nicht Mo- 
rand’8 Sache, zu beweijen, daß er unjchuldig iſt. Im 
Gegentheil, die Anklage muß beweijen, daß er ſchuldig ift. 

Staatsanwalt. Die Anklage wird den geforderten 
Beweis führen. Sie haben e8 gar zu eilig, Herr Ver- 
theidiger! 

Zailler. Die Gefchworenen werben darüber urtheilen. 

Staatsanwalt. Ya mohl, und ich erwarte mit Ruhe 
ihr Verdict. 

Präfident. Ich ſchließe vorläufig Ihre Vernehmung, 
Morand, und conftatire, daß Sie bereits beitraft find 
und daß die Polizeinote fehr ungünftig über Ste lautet. 
Alle Welt fürchtet fih vor Ihnen. 

Angeflagter. Ich babe in meinem Leben feinem 
Menjchen ein Haar gefrümmt. 

Während der ganzen Dauer feiner VBernehmung, auch 
als er Joſephine Martin Auge in Auge gegenüberftand, 
hat Morand feinen Augenblid lang feine Selbſtbeherrſchung 
verloren. Er antwortete ohne zu ftoden, mit großer 
Geiftesgegenwart und Beftimmtheit. 

Der Schankwirth Bacher wird vernommen. 

Er ift ein dumm ausſehender, Kleiner, dicker Mann 
mit ſtark gerötheten, glatt rafirten Wangen, ber richtige 
Typus eined Dorfgaftwirthes. 

Präſident. Bacher, erheben Sie fih. Sie haben 
die Ausjagen der Joſephine Martin gehört. Sie hat be- 
hauptet, daß, als fie nach Haufe kam, Sie und Morand 











Der Procef wider ben Tagelöhner Morand. 295 


mit der Zerftüdelung der Leiche des Herrn Vetard be- 
Ihäftigt waren. 

Angeflagter. Es iſt nicht wahr. Ich war um bieje 
Zeit zu Haufe. 

Präfivdent. Weshalb beſchuldigt Sie die Martin? 

Angeklagter. Wahricheinlich um fich zu entlaften 
und andere nicht zu verrathen. 

Präfident. Angeflagte Martin, was fagen Sie 
dazu ? 

Sofephine Martin. Sie waren e8 und fein anderer! 
Sie hielten die Beine, die Morand ablägtel Niemand 
außer mir kann fagen, was bei mir vorgefallen iſt. Mo⸗ 
rand, Bacher und deſſen Frau find die Schuldigen! Nie- 
mand fonft war dabei. Als Morand mir die Thür 
öffnete, ſuchte Vacher fich zuerft zu verbergen. Ich rief 
ihnen zu: „Aber ihr ſeid ja Mörder! Es ift fürchterlich!“ 
Bacher antwortete darauf: „Aber fo jchweigen Sie doch! 
Seien Sie doch ftill!” Dann hat Morand mich mit 
feinem Meffer bedroht und mir gefagt: „Schreien Sie 
nicht, fonft bin ich im Stande, Ihnen das Gleiche an- 
zuthun!“ Mein Kleines Mäpchen weinte und fragte, was 
die Reiche zu bedeuten habe. Vacher hat mir eine Uhr 
und Kette gezeigt und mir gejagt: „Die gehören Ihnen. 
Sie befommen fie aber jet noch nicht, denn Sie find 
zu leichtfinnig, Sie würben uns verrathen.” Bacher bielt 
einen Soden Vetard’8 in der Hand und zog ihm venfelben 
wieder an. Es war abjcheulich! (Bewegung im Zuhörer- 
raum.) 

Präfident. Iſt denn die Leiche entfleivet geweſen? 

Fofephine Martin. Nein. Einzelne Gliedmaßen 
waren abgetrennt und ſchon in Säde gethan. 

Bräfident. Haben die Mörder die Stube gewafchen? 

Sofephine Martin. Ia wohl, auch ven Fußboden. 


296 Der Procek wider ven Tagelöhner Morand. 


Das Spülwaffer haben fie in den Anftandsort meiner 
Wohnung gegoffen. Ich habe fogar geglaubt, fie hätten 
ben Kopf ber Leiche vahineingeworfen, e8 war dies ein 
Hauptgrund, weshalb ich mich fürchtete etwas zu verratben. 

Präfident. Hat nit Morand etwas Auffälliges 
bazu bemerkt? 

Joſephine Martin. Ja wohl. Morand fagte: ‚Den 
Leichnam werfen wir in den Fluß, die Kleider werben 
wir verbrennen.” 

Präfident. Hören Ste das, Bacher? Es find das 
doch Einzelheiten, die man nicht erfindet? 

Angellagter Bacher. Ich begreife nicht, warum 
fte mich beſchuldigt. Ich war zu Haufe und nicht in ihrer 
Wohnung. 

Präſident. Behaupten Sie etwa auch nach bem 
Beilpiele Moranv’s, man müffe die Mörder anderswo 
juchen ? 

Angeflagter. Ich weiß es nicht. Ich bin unfchubig. 

Präſident. Zu Ihrem Unglüde gibt e8 aber Zeugen, 
bie gegen Sie ausfagen. 

Angeflagter. Ich habe es fchon in der Unterfuchung 
erklärt und wiederhole es, ich bin an jenem Abende nicht 
ausgegangen. | 

Präſident. Ein Zeuge bat Sie am 9. Februar, 
gegen 6 Uhr morgens, an den Ufern der Yonne begegnet, 
unweit der Stelle, wo man wenige Stunden fpäter ben 
Arm Vetard's aufgefunden hat. Sie fahen forgenvoll aus, 

Angeflagter. Es kann fein. Ich erinnere mich nicht, 
ob ich gerade an dieſem Tage und an jener Stelle war. 
Jedenfalls war dies ein bloßer Zufall, Sch gehe häufig 
früh morgens aus und fpaziere meiftens am Ufer bes 
Fluſſes. 

Präſident. Auch an dieſem Morgen? 











- Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 297 


Angellagter. Möglid. Ich erinnere mich daran 
nicht. Am Abend des 8. Februar bin ich aber ficher nicht 
ausgegangen. 

Präſident. Ein Zeuge, Herr Barte, hat dem Ge- 
richt mitgetheilt, daß Site nicht zu Haufe geweſen find. 
Ihre Tran bat ihm gefagt, Sie wären verreift. 

Angellagter. Das ift nicht wahr! 

Präſident. Alfo Hat der Zeuge gelogen? 

Angellagter. Nein, er irrt fih nur im Datum. 

Bräfident. Ihr Dienftmäpchen Vellon wird fich 
aber im Datum nicht irren, und fie jagt aus, daß fie 
beutlich gehört habe, wie Sie ſpät in ver Nacht heimfebrten. 

Angeklagter. Es ift nicht wahr. Sie hat mich 
nicht gehört. Ich bin nicht nach Haufe gekommen, weil 
ih gar nicht fort war. 

Präſident. Alfo alle Zeugen irren ſich, oder be— 
ſchuldigen Sie fälſchlich? 

Angeklagter. Ich kann nur wiederholen, ich bin 
unſchuldig, ich war zu Hauſe. 

Staatsanwalt. Geſtehen Sie zu, größere Zahlungen 
in Gold und Banknoten geleiſtet zu haben, und daß dies 
erſt nach dem Mordattentate geweſen iſt? 

Angeklagter. Ich bin immer allen meinen Ver⸗ 
bindlichfeiten nachgefommen. 

Präſident. Herr Ablon hat bezeugt, daß dies nicht 
immer rechtzeitig gejchehen ft. 

Angellagter. Ich bitte, e8 ift niemals ein Wechſel 
gegen mich proteftirt worden. Ich habe im December 
einen Wechſel von 1000 Frs. eingelöft. - Seither habe ich 
wieder Einnahmen gehabt. 

Präfident. Geben Sie. zu, während Ihrer Haft 
einem Mitgefangenen Namens Barbe gejagt zu haben: 
„Morand wird uns doch nicht verzünbet haben?” 


298 Der Proceß wider den Tagelühner Moranbd. 


Angellagter. Das ift bloße Erfindung eines Men- 
ſchen, ver fich wichtig machen will. 

Bacher tritt weit weniger ficher auf al Morand. Er 
blickt zuweilen ganz bumm um fich, ehe er antwortet, er 
ftottert bie und da bei feinen Antworten, bleibt aber feft 
dabei, daß er vollfommen unfchuldig und zur Fritifchen 
Zeit zu Haufe gewejen ſei. 

Frau Bacher, die nach ihrem Manne verbört wird, 
ift eine große, magere Frau mit ftechenden Augen und 
bünnen Lippen, fie fieht ſtörriſch und unwirſch brein. 

Präfident. Frau Bacher, find Sie am 8. Februar 
abends bei Joſephine Martin gewefen ? 

Angellagte. Nein, Herr Präfibent. 

Präfident. Site haben nichts dorthin gebracht und 
nichts fortgetragen? . 

Angellagte. Nein, Herr Präfibent. 

Präfident. Joſephine Martin, hören Sie das? 

Sojephine Martin. Sie find in meine Wohnung 
gefommen, ich beſchwöre e8! Cie waren gar nicht entjekt 
über die That! Sie haben zwei Säde mitgebracht und 
eine Flaſche Sohannisbeergeiit. Sie haben die Schmuds 
jachen mitgenommen und haben noch gejagt: „Ich fürchte 
nur Eins, daß man euch erwijcht während ihr mit ven 
Tragkörben zum Waller geht.” 

Angeflagte Bacher. Es ift nicht wahr, ich bin 
nicht bei ihr geweſen. 

Sofephine Martin. Niemand weiß beffer, was 
vorgegangen tit, als ich. 

Angeklagte Bacher. Das glaube ich wohl, denn 
Sie waren bei dem Morde zugegen. Aber ich — ich war 
nicht dabei! 

Präfident. Wo waren Sie denn? 

Angellagte Bacher. Zu Haufe. 








— mn — 


— — 


Der Proceßewider den Tagelöhner Morand. 299 


Präſident. Sehen Sie einander ins Geficht! 

Es geichiebt. Allein eins ver beiven Frauenzimmer 
weicht vor dem andern zurüd. 

Präfident. Ja freilich, ihr waret alle zu Hanfe. 
Aber uuglüdlicherweife jür Sie jagt das Dienftmädchen 
Bellon aus, Sie wären im Laufe des Abends weggegangen. 

Angeflagte. Es ift nicht wahr, ich bin nicht aus⸗ 
gegangen. 

Bräfivdent. Und an ven folgenden Tagen, was 
haben Sie da gethan? 

Angellagte. Nichts Beſonderes. 

Präſident. Sie find mit ihrer Magd Bellon und 
einem Herrn Benoit nach Paris gereift? 

Angellagte. Das ift richtig. 

Präfident. Iſt dieſer Benoit ber Liebhaber ber 
Bellon ? 

Angellagte. Ich weiß es nicht. _ 

Präſident. Aber fie ſchliefen doch in demſelben 
Bette? 

Angellagte. Ia, während per Reife. 

Bräfident. Wer zahlte vie Reiſekoften? 

Angeflagte. Herr Benoit. u 

Bräfident. Es wird aber behauptet, Ste hätten 
die Reiiefoften bezahlt. Mas haben Sie in Paris gethan? 

Angeflagte. Wir waren zum Bergnügen dort. 

Praͤſident. Benoit hat gejagt, daß er Sie ın vs 

mit mehren Heinen Packeten in ver Hand — Dir 

Angellagte. Es waren dies feine Geihente, Die 

ih mitbringen wollte. . 

Bräfident. Und es iſt wirflich Benoit geweint, ber 

alles bezahlt hat? — 

Angeflagte. Ja wohl. Die Reiſe hat uns Teinen 

pfemig gefoftet. 


300 Der Brocek wider den Tagelöhner Morand. 


Präfident. Iofephine Deartin, warum haben Sie 
zuerft behauptet, Frau Morand fei e8 gewefen, die Vetard 
zu Ihnen geführt habe? Sie haben poch ſpäter jelbft zu- 
geftehen müffen, daß fie unſchuldig ift. 

Sofephine Martin. Ich wollte Morand durch bie 
Berbächtigung feiner Frau zum Geftänbniß beivegent. 

Frau Elergeot, geborene Martin, deren VBernehmung 
nun folgt, ſieht ihrer Schweiter ähnlich, aber ihre Züge 
find gröber und mehr entivicelt, auch ift fie ftärker und 
voller als Joſephine Martin. Sie ift fchwarz gefleivet 
und trägt ein Kopftuch ftatt des Hutes. 

Präſident. Es wird behauptet, daß Sie längere 
Zeit in intimen Beziehungen zu Vetard geſtanden haben. 

Angeflagte. Es ift nicht wahr. Ich habe nie intim 
mit Vetard verkehrt. 

Bräfident. Sind Sie e8 gewefen, bie Vetard ab- 
geholt und zu Ihrer Schweiter geführt hat? 

Angeflagte. Nein, Herr Präfivent. Ich kann beim 
allerhöchiten Gott fchwören, daß ich das Haus der Ma- 
dame Druge an dieſem Tage nicht verlaffen habe. 

Präfident. Der eine diefer Tragkörbe gehört Ihnen? 

Angeflagte Ia. Meine Schweiter hatte ihn ſchon 
minbeftens acht Tage früher von mir geliehen. Ich weiß 
nicht mehr zu welchem Zweck. Ich bin nicht verantwortlich 
für die Verwendung meiner Sachen durch andere Perjonen. 

Präfivdent. Als Ihnen der Tragkorb zurückgegeben 
wurde, haben Sie da Ylutfpuren daran bemerft? 

Angeflagte. Nein, Herr Präfibent. 

Präfident. Sie felbft haben ihn am Tage nach dem 
Verbrechen abgeholt? 

Angeflagte. Das tft richtig. 

Präfivdent. Noch ein anderer Verbachtsgrund wirb 
gegen Sie geltend gemacht. Sie haben furz nach dem 








Der Brocek wider den Tagelöhner Morand. 301 


Verbrechen weit mehr Geld bejeffen als fonft und große 
Ausgaben gemacht. 

Angellagte. Ich babe mein rückſtändiges Gehalt 
als Koſtfrau für Pfleglinge in der Höhe von 50 France 
und eine Remuneration fowie einen Monatsbetrag von 
37 Franes auf einmal empfangen, und mein Mann hat 
am legten Januar 80 Francs an Lohn ausgezahlt erhalten. 

Präſident. Nach dem Verbrechen haben Sie eine 
verdächtige Aeußerung gethan. Sie haben Ihrer Schweiter 
vor dem Zeugen Robert gejagt: „Vergiß nicht anzugeben, 
daß du bei ver Mutter übernachteit haft.’ 

Angellagte. Das habe ich nicht gejagt. 

Nach einer Unterbrechung von mehrern Stunden wird 
zur Zengenvernehmung gejchritten. 

Paul Lemblay, 22 Iahre alt, Schwertfegergehüffe 
in Ioigny. Am Mittwoch Abend, um halb 11 Uhr, habe 
ich beim Nachhaufegehen bemerkt, daß der Laden des Herrn 
Vetard, der fonft um biefe Zeit immer gefchloffen war, 
offen ftand. VBetarb pflegte fonft um 6 Uhr abends zu 
ſchließen. Ich war darüber erjtaunt. Auch am nächiten 
Morgen, als ich an die Arbeit ging, war der Laden ſchon 
offen. Sch ging hinein, aber e8 war niemand darin. „Ein 
Sicherheitswachtmann ging vorüber und ich machte ihn 
darauf aufmerkſam. 

Etienne Theophile Leblane, 29 Jahre alt, Bar- 
fumeur in Joigny. Er bewohnt das Haus, in bem fich 
Vetard's Laden befand. „Am Abend des 8. Februar ſchloß 
ih mein Geichäft zur gewöhnlichen Stunde. Mehrere 
Perfonen verbrachten ven Abend bei mir. Fünf Minuten 
bor 10 Ubr habe ich zwei Perjonen in meinen Corribor 
eintreten und miteinander fprechen hören. Es war eine 
Männer- und eine Frauenftimme. Was fie fagten, konnte 
ih nicht verftehen. Am nächiten Morgen war ich fehr 


⸗ 


302 Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 


überraſcht, Vetard's Laben fo früh ſchon offen zu ſehen, 
und fagte zu meiner Frau: «Da fchau nur, e8 fcheint, 
daß der dem Faftnachtsochien einen Frühtrunk widmet!» 
Etwas Später bin ich ausgegangen und war fehr erftaunt, 
nicht wie ſonſt die Uhren in der Auslage zu jehen. Offen 
bar waren fie gejtoblen. Eine Nachbarin erzählte mir 
Ipäter, vaß zu der Zeit, wo am Abend zuvor der Dann 
und die Frau in den Hausflur traten, eine andere Frauens⸗ 
perfon im Hofe Wache geſtanden habe,“ 

Staatsanwalt. Haben Sie niemand beargmöhnt? 

Zeuge Nun, wie des Morgens ein Hochzeitszug 
porüberfam, da dachte ich mir, ift wol einer barımter, 
beffen Hochzeitsanzug von Vetard’8 Geld bezahlt worben tft? 

Präfident. Das find leere Phantafien. Ste haben 
nur über Thatfachen auszufagen. Haben Sie noch jonft 
etwas zu bemerken? 

Zeuge Am 13. Februar, um halb 1 Uhr, als man 
die Beine aus dem Waſſer herausfifchte, fagte ich zu 
einem Gensvarmen: „Man fjucht den Mörder in ber 
Verne, und er ijt ganz nahe.” 

Präſident. Wen meinten Sie? 

Zeuge. Den Hauptangeflagten Morand! 

Bertheidiger Lailler. Das ift eine bloße Ver: 
muthung! 

Zeuge. Preilihd. Wenn ich deſſen gewiß geweſen 
wäre, fo hätte ich ihm angezeigt. Ich füge hinzu, daß 
es eine Frau gewejen tft, welche die Uhr aus ver Aus- 
lage weggenommen hat. 

Ein Gejhworener. Woher wifjen Sie das? 

Zeuge. Weil ziemlich dicker Staub in ver Auslage 
war, und bie Fingerfpuren, bie zurüdblieben, die einer 
Weiberhand waren. 








Der Broceß wider ben Tagelühner Morand. 303 


Bertheidiger Nemacle Iſt dies gerichtlich con- 
ftatirt worben? 

Präſident. Nein, aber ver Zeuge hat fehon in der 
Unterfuchung auf diefen Umſtand bingewielen. 

Lucien Gasnter, 28 Jahre alt, Bedienter. Am 
Zage des Verbrechens war ich bei Vetarb wegen eines 
Raufes. Er gab mir auf eine größere Note heraus, und 
als er die Geldlade öffnete, ſah ih, daß er fehr viel 
Baargeld Liegen hatte. 

Louis Dejenclos, 68 Iahre alt, Briefträger, hat 
in der Nacht gegen 2 Uhr Licht im Laden Vetard's ge- 
ſehen. 

Alexis Auguſte Babillot, 29 Jahre alt, Finanz⸗ 
beamter in Joigny. Ich Habe bei dem Unterſuchungs⸗ 
richter alles ausführlich zu Protofoll gegeben. Wichtig 
it an meiner Ausfage nur, daß ich am Abende des Ver- 
brechens am Haufe Joſephinens vorbeiflam. Es mar 
zwifchen halb 8 und 8 Uhr. Die Thür war verfperrt 
und die Fenfterläden waren gefchlofien. 

Präfident. Hatten Ste einen Hausfchlüffel? 

Zeuge. Nein. Iofephine gab ihn mir zuweilen, aber 
in der Regel hatte ich ihn nicht. 

Präſident. Man bat Ihnen einige Briefe vorge- 
wiejen und Sie haben die Schrift Ihrer Geliebten erfannt ? 

Zeuge. Ja wohl, Herr Präfibent. 

Präfident. Wußten Sie, daß Joſephine Martin 
mit dem Uhrmacher Vetard befannt war? 

Zeuge. Nein. 

Präfident. Hat Ihre Geliebte Ste vorher ver- 
ftändigt, daß fie am 8. Februar abends nicht zu Haufe 
fein würde? 

Zeuge. Sie hat mir gejagt, fie würde vorausfichtlich 
ben Abend bei ihrer Familie zubringen, weil ihr Bruder 


304 Der Brocef wider den Tagelöhner Morand. 


am nächiten Tage Hochzeit halte. Site bat hinzugefügt, 
wenn e8 zu langweilig fein follte, würbe fie doch nach 
Haufe zurüdfehren. Darum bin ich für alle Fälle vorüber- 
gegangen. 

Bertheidiger Lailler. Sie famen täglich zu Jo— 
jephine Martin, haben Sie jemal® Morand bei ihr ge- 
jehen ? 

Zeuge Niemals. 

Präſident. Cs ift doch natürlich, daß Joſephine 
ein Zufammentreffen der verfchiedenen Männer zu ver⸗ 
hüten wußte. (Gelächter im Zuhörerraum.) 

Sean Adlon, 63 Jahre alt, Bankier in Joigny. 
Am 9. Februar morgend war ich eben daran, mein Fijch- 
zeug zu orbnien, als mein ilcher zu mir fam und mir 
erzählte, man hätte am Ufer des Fluſſes einen menfch- 
lichen Arm aufgefunden. Ich habe fofort den Staats⸗ 
onwalt hiervon verjtändigt. 

Das Auftreten der nächjten Zeugin ruft eine größere 
Bewegung des Publikums hervor. Es iſt Dies Die ehe- 
malige Geliebte Vétard's, Roſalie Mary, verehelichte 
Deproy, 28 Iahre alt, derzeit Dienſtmagd in Tonnerre. 
Es ift eine Fleine, frifche, vefolute Perſon, von etwas 
rundlicher Leibesbeichaffenheit. Sie bat fich Fofett heraus⸗ 
geputt und ihren fchwarzen Sammthut mit einem Sträuß- 
chen von Maiblumen gefhmüdt. Trotz ihres jelbitbe- 
wußten Auftretens wird fie durch bie neugierigen Blicke 
des Auditoriums einigermaßen verjchüchtert. 

Sie gibt an: 

„Man bat mir bei Gericht Briefe vorgewiefen, die von 
mir berrühren follten. Es war dem jedoch nicht fo. Sie 
find von Joſephine Martin's Hand gejchrieben. Ich ver- 
muthe indeß, daß fie von Madame Glergeot ausgegangen 











Der Proceß wider ben Tagelöhner Morand. 305 


find. Diefe kannte meine Berhältniffe genau und bat 
biejelben vermutblich der Joſephine berichtet.” 

Präſident. Kannten Sie ven Angeklagten Morand? 

Zeugin. Nein, Herr Präfident. 

Präfident. Somit hat er die Briefe nicht dictiren 
innen. Kannten Sie Herrn Betard? 

Zeugin. Ia wohl, Herr Präfident. Ich habe ihn 
zuweilen in feinem Laden gefprochen. 

Präjident. Aber Ihre Geſpräche drehten fich nicht 
um Uhren? 

Zeugin. Ach nein. 

Präfident. Er ift gern mit Ihnen zufammenge- 
troffen ? 

Zeugin. Ich glaube es wohl. 

Bräfident. Er hat Ihnen Anträge gemacht? 

Zeugin. Da, aber ich bin nicht feine Geliebte ges 
worden, 

Präſident. Die Einzelheiten der incriminirten Briefe 
beruhen auf genauer Kenntniß Ihrer Verhältniffe? 

Zeugin. Ja wohl, Herr Präſident. 

Präfident. Sind Sie mit Iofephine Martin auf 
vertrautem Fuße geitanden ? 

Zeugin. Bor dem Verbrechen kannte ich fie faum 
wohl aber Frau Clergeot. 

Präfident. Hat Joſephine Martin Sie nach dem 
Verbrechen aufgejucht? 

Zeugin. Zunächit nicht. Frau Elergeot fam zu mir. 
Sie wollte horchen, welche Vermuthung ich über die Ver- 
fafferin ver Briefe geäußert hatte. Joſephine Martin 
war beforgt. Sie fürchtete, daß ich fie genannt haben 
könnte, und fchicte darum ihre Schweſter zu mir. ALS 
dennoch ver Verdacht gegen fie geäußert wurde, leugnete 
fie mir gegenüber jehr entrüjtet die Thäterfchaft ab, und 

XXIU. 20 


306 Der Proceß wider ben Tagelöhner Moranb. 


Frau Clergeot jpottete über die Albernheit der Nichter. 
Von da an fjuchte mich Joſephine Martin möglichft oft 
auf und war voll Zuporfommenbeit und Liebenswürdigkeit. 

Angelique Godefroy, 47 Iahre alt, Näherin in 
Joigny. Gegen ven 18. oder 20. Ianuar kam Fräulein 
Sojephine Martin, meine Nachbarin, zu mir und bat 
mich, an die „Magafind du Louvre“ zu fchreiben, weil fie 
ein Hochzeitskleid für Die Trauung ihres Bruders bedurfte. 
Sie ift auf dieſe Beftellung nicht zurückgekommen. Sch 
vermuthe als Urſache Gelpmangel. Am 8. Februar theilte 
mir eine Frau Raoin mit, daß dieſe Hochzeit für den 
nächſten Tag anberaumt fei, und fügte hinzu: „Die arme 
Joſephine wird wol fchwerlich dabei fein können, fie hat 
fein Kleid zum Anziehen.” An vdemfelben Tage, abends 
gegen 7 Uhr, hörte ich zwei Perfonen die Treppe zu Jo— 
jephine hinauffteigen und wispern: ‚„Phinel.. Phine!..“ 
Es erfolgte feine Antwort und die beiven Perjonen gingen 
wieder hinunter. Etwas fpäter, etwa um 7'/, Uhr, habe 
ich wieder zwei Perſonen hinauffteigen hören. Nach dem 
Klang der Schritte waren es eine mit ber Oertlichkeit 
vertraute Frauensperſon und ein Mann. Dieſer ftolperte 
auf ver Treppe. Gegen 8 Uhr vernahm ich viel Geräufch, 
fümmerte mich indeß nicht viel darum, denn ich las die 
Zeitung oder plauderte mit einer Freundin. Um 10 Uhr 
war ein fortwährendes Gehen und Kommen. Zwiſchen 
11 und 1 Uhr wurde der Lärm fchwächer. Sch war 
neugierig und legte mir bie Frage vor, was das zu be- 
beuten habe. Die Nacht war abicheulih. Es regnete 
und ſtürmte. Mich fröftelte und e8 wurde mir angit. 
Endlich um 1 Uhr jchlief ich ein. Um 6 Uhr am nächſten 
Morgen ftand ich auf. Ich bemerkte, daß Iofephine Mar- 
tin noch nicht ausgegangen war. Bald darauf fam ein 
junges Mädchen mit einem Kleiverforb zu ihr und brachte 


Der Proceß wider ben Tagelöhner Morand. 307 


ihr den Hochzeitöftant. Gegen 10 Uhr vormittags ſprach 
ih Marie Morand, die Tochter des Angeflagten, bie bei 
mir nähen lernte. Sie erzählte mir, fie habe joeben Jo⸗ 
ſephine Martin begegnet, die in vollem Put zur Trauung 
gegangen fei. Sie fehe ſehr hübſch aus. Kurze Zeit 
darauf vernahmen wir von einer Nachbarin, daß ein 
Männerarm am Flußufer gefunden worden fei. rau 
Morand kam zu mir und erzählte, man habe ven Arm 
an dem Daumennagel al8 ben des Uhrmachers DVetard 
erfannt. Wir plauderten über bie verbrecheriiche That, 
und ein anwefender junger Mann, Herr Salmon, fagte, 
er babe Herrn Vetard abends vorher um 7 Uhr in Des 
gleitung eines Franuenzimmers zu Joſephine gehen jehen. 
Ich erinnerte mich fofort an das merkwürdige Geräujch 
vom Vorabend, allein ich dachte damals durchaus nicht 
Daran, daß Sofephine felber fchuldig fein könnte. Nach» 
mittags 4 Uhr kamen Herren vom Gericht mit Herrn 
Labeſſe zu mir. Herr Labeſſe fragte mich, ob Joſephine 
zur Hochzeit gegangen fei. Ich bejahte eg. Er äußerte 
fofort: „Ob, das arme Ding! Gewiß fie bat mit ber 
Angelegenheit nichts zu fchaffen. Ich wußte e8 ja, fie war 
beit ihrer Mutter!” Etwas fpäter ſagte Frau Elergeot 
zu dem Gensparmenwachtmeifter: „Sie kann nichts 
dafür. Sie hat bei unferer Mutter übernachtet.” ALS 
Sofephine kam, Tief fie ihr entgegen umd rief ihr raſch 
zu: „Daß du es nur weißt, ich habe es fchon gejagt, 
Daß du heute bei der Mutter übernachteft haft.” Am 
Abende kam Sofephine zu mir herüber, ich fragte fie 
haarklein aus. Sie erwiderte mir aber: „Auf jolche 
Sachen fann man gar nichts antworten!” Das hat mich 
zuerft ftugig gemacht und mir Verdacht gegen fie ein- 
geflößt. Am 15. Februar fprach ich den Angeflagten 
Morand. Er fagte zu mir: „Nun, was denken Sie über 
20 * 


308 Der Proceß wider ben Tagelöhner Morand. 


den Mord? Man hat die Thäter erwilcht, e8 find bie 
Mouillons.” Ich drückte ihm meine Zweifel an ber 
Nichtigkeit dieſer Nachricht aus. Morand erwiderte: „Es 
mag jein, daß der Dann unschuldig ift, er tft ein Lump, 
aber ein guter Kerl. Die Frau halte ich aber einer folchen 
That ſchon fähig.“ Ich erinnerte ihn daran, baß Herr 
Betard nah Salmon's Behauptung am 8. Februar abends 
zu Joſephine gekommen fei. Er erwiberte lebhaft: „AB, 
ber Salmon ift eine Eanaille, ein freiwilliger Polizeiſpion!“ 

Staatsanwalt. Haben Sie Morand bei der os 
fephine Martin gejehen ? 

Zeugin. Ihn nicht, wohl aber Frau Morand. Die 
Kinder jpielten zuweilen miteinander, das war bie Ver⸗ 
anlaffung. 

Präfident (zu Morand). Haben Sie gejagt, daß Sal⸗ 
mon eine Canaille. und ein freiwilliger Polizeifpion ift? 

Angeflagter. Nein. Man fpracdh von ben vielen 
Anzeigen, die fälichlich gegen die Mouillons angebracht 
worden waren, und ich fagte im allgemeinen, bieje An- 
zeiger ſeien Canaillen und freiwillige Polizeifpione. Sch 
habe es nicht von Salmon im befondern behauptet. 

Zeugin. Sie haben es von ihm gefagt. 

Leon Salmon, 27 Yahre alt, Ziichlergefelle in 
Joigny. Am 8. Februar, des Abends um 71/, Uhr, war 
ich vor ber Hausthür meiner Mutter und habe deutlich 
Herrn Vetard erfannt, als er mit einem Frauenzimmer 
in das Haus der Joſephine Martin bineinging. Er ift 
an mir vorübergefommen. Herr Vetard ift über eine 
Stufe geftolpert und hat etwas zwifchen ven Zähnen ge» 
murmelt. Das Trauenzimmer habe ich nicht erfannt. 

Präfident. Sehen Sie die Angellagten Martin 
und Clergeot genau an. Scheint Ihnen eine von beiden 
die Begleiterin des Herrn Vetard geweien zu fein? 








Der Proceß wider ven Tagelöhner Morand. 309 


Zeuge. Die Iofephine Martin war es gewiß nicht, 
aber ich bin jett beinahe ficher, daß es die Frau Elergeot 
geweſen iſt. 

Vertheidiger Remacle. War die Stiege zur 
Wohnung der Martin denn nicht beleuchtet? 

Zeuge. Ja, mit einer Lampe. 

Vertheidiger Lailler. Iſt das Frauenzimmer mit 
hinaufgegangen? 

Zeuge. Ja wohl. 

Vertheidiger Remacle. War im Zimmer ſchon 
Licht, als die Frauensperſon hinaufſtieg. 

Zeuge. Ja wohl. 

Eleonore Bognot, verehelichte Vetard, 37 Jahre 
alt, Krämerin in Saint⸗Julien-du⸗Sault. Joſephine 
Martin iſt mit der Hochzeitsgeſellſchaft in unſern Ort 
gekommen. Sie iſt in meinen Laden getreten, um Zucker⸗ 
werk zu kaufen. Als ſie meine Firmatafel las, war ſie 
ganz beſtürzt. 

Eugene Robert, 21 Jahre alt, Gärtnergehülfe. 
Ich Habe gehört, wie Frau Clergeot ihrer Schweiter zu— 
rief: „Vergiß nicht zu fagen, daß du bei der Mutter 
übernachtet haſt.“ 

Eine Reihe von Zeugen fagt über ven Charafter 
Morand's aus. Die Stimmung bverjelben iſt offenbar 
gegen ihn. Morand foll feine Kameraden oftmals hart 
angefahren und wörtlich bebroht haben; feiner von allen 
jevoch vermag zu behaupten, daß er jemals wirklich zu⸗ 
geichlagen hätte. 

Adolfine Suffroy, verehelichte Droin, 55 Jahre 
alt. Am Tage des Verbrechens, abends zwijchen 6 Uhr 
15 Minuten und 7 Uhr, Habe ih Morand bet ver 
Joſephine Martin eintreten ſehen. Ich jtand beim 
Brunnen. 


310 Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 


Bräfident. Ihre Ausfage ift äußerft wichtig. Weber- 
legen Sie wohl, find Sie deffen vollfommen ficher ? 

Zeugin. Bolllommen. 

Präſident. Sie begen feine Feinpfeligfeit gegen den 
Angeflagten? 

Zeugin. Keinerlei. 

Präfident (zu Morand). Sie hören die Zeugin. 

Angeflagter. Es ift faliches Zeugniß. Ich war 
nicht dort. Ich war es nicht. Ich bin in meinem ganzen 
Leben niemals zur Joſephine Martin gegangen. Es ift 
ein Nacheact der Frau, fo gegen mich auszuſagen. 

Zeugin. O, wenn er aus biefem Zone fpricht! 
Ich weiß noch gar mancherlei über ihn zu erzählen! 

Präfident. Darum handelt es fich nicht. Ich frage 
Sie nohmals: hegen Sie feindfelige Gefinnungen gegen 
ven Angeklagten? 

Zeugin. Nein. Ich bin nicht voreingenommen und 
vollfommen gerecht. Ich fage nur die Wahrheit. Am 
nächſten Tage habe ich felbit gehört, daß Morand ven 
Bacher durch einen Pfiff herbeirief. Sie führten ein 
erregtes Geſpräch, aber mit leijer Stimme, ſodaß ich die 
Worte nicht verftehen Eonnte. 

Angellagter. Aber das ift eine neue Erfindung! 
Das ift vollfommen unwahr! 

Zum erften mal ſcheint Morand etwas aufgeregt; 
allein er gewinnt bald feine Selbftbeherrichung und Ruhe 
wieder und lächelt nur, als Frau Droin mit großer 
Zungengeläufigfeit alle die Drohungen aufgezählt, bie er 
angeblich gegen fie ausgejtoßen haben will. 

Präfident. Ste haben bei anderer Gelegenheit be- 
hauptet, Morand fei ein Schmuggler? 

Zeugin. DO, er läuft ganze Nächte lang herum! 
Ich habe e8 ihm fchon früher gejagt, er thäte beſſer 





Der Proceß wider den Tagelöhbner Morand, 311 


baran, zu arbeiten, als folchen lichtſcheuen Beichäftigungen 
nachzugehen. 

Angellagter. Es iſt ein vorbedachter Nacheact. 
Ich habe die Frau einmal gerichtlich angezeigt, und feit 
biefer Zeit haßt fie mich. 

Präfivdent. Sie behaupten alfo, diefe ganze Aus» 
fage beruhe auf Erfindung? 

Angellagter. Mit aller Bejtimmtheit. 

Marte Ligault, verehelichte Duffange, 32 Jahre 
at. Am 8. Februar abends ging ich nach dem Zapfen- 
jteeich nach Haufe und ſah Fräulein Martin, als fie zum 
Drumnen ging, um Waffer zu holen. Ein Mann war 
unweit von ihr. Sch habe ihn nicht erfannt. Herr Vetard 
war es ficher nit. Er war größer, trat ſchwer auf 
und trug eine Mütze. 

Präſident. Glich der Mann dem Angeklagten 
Morand? 

Zeugin. Herr Präſident, das iſt Gewiſſensſache. 
Ich kann eine ſolche Frage nicht leichthin bejahen. 

Präſident. Sie haben recht. Alſo Sie erkennen 
jenen Mann nicht in dem Angeklagten? 

Zeugin. Nein! Es iſt zu ernſt, um leichtfinnig 
zu antworten. Was die Trauensperfon anbelangt, jo 
bin ich dagegen meiner Sache ficher. Es war Fräulein 
Martin, darauf kann ich ruhig ſchwören. 

Präſident. Es ftimmt dies nicht mit der Zeit. 
Die Angeklagte will damals noch bei ihrer Mutter ge- 
wejen jein. Frau Zeugin, können Sie genau jagen, um 
wieviel Uhr Sie die Iofephine Martin gefehen haben? 

Zeugin. 8 Uhr 45 Minuten. Es ſchlug eben vom 
Thurme der Kirche zum heiligen Johannes. 

Marie Mapdalenat, verehelichte Ablon, 40 Iahre 
alt, Weingartenbefigerin, war in Gejellfchaft ver vorigen 


312 Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 


Zeugin. Sie fagt ganz übereinftimmend mit der— 
jelben aus, 

Präfident. Erkennen Site in dem Angeklagten Mo- 
rand den Mann, ven Sie gefehen haben? 

Zeugin. Ich habe ihn nicht genau gejehen und er- 
fenne ihn nicht. 

Bertheidiger Lailler. Was trug jener Mann für 
Schuhe? 

Zeugin. Soviel ich weiß, grobgenagelte Lederſchuhe. 

Staatsanwalt. Diefen Umstand hat Joſephine 
Martin aufgelärt. Sie hat gefagt, daß Morand feine 
Holzſchuhe ausgezogen habe. 

Am nächiten Verhandlungstage wird ber Brief zur 
Berlejung gebracht, den der Vertheidiger Lailler zu Be— 
ginn der Verhandlung reclamirte. ‘Diejer Brief lautet fo: 


„Sojephine! 

„Du bift eine Elende. Du haft mich retten wollen 
und haft mich zu Grunde gerichtet. Im Augenblid, an 
dem Du meinen Brief empfängjt, lebe ich vielleicht nicht 
mehr, denn ich kann dem Schmerze nicht widerftehen, der 
mic) überwältigt, wenn ich bevenfe, in welcher Lage ich 
mich befinde, und erwäge, daß e8 Deine Schuld ift, Du 
Spitzbübin. Glücklicherweiſe für mich find meine Papiere 
in Ordnung, jonjt wäre ich wol fchon verhaftet. ‘Du 
wirft nie wieder von mir hören. Ich nenne Dir das 
Land gar nicht, wohin ich mich begebe. Ich reife morgen 
ab. Sch hoffe, Du haft meine zurüdgelaffenen Papiere 
vernichtet. Wenn ich den Muth habe, ins Ausland zu 
entfliehen, bin ich vielleicht gerettet. Ich fage Dir nicht 
mehr, denn Du bift eine VBerworfene und Niederträchtige, 
die man meiden muß. Ich bitte Dich, verbrenne dieſen 
Brief fofort, damit ihn niemand findet. 








Der Procef wider den Tagelöhner Morand. 313 


„Set verflucht, denn Du haft das Herz dazu einen 
Mann in feinem Bett auszuliefern. Wie viele Unfchuldige 
haft Du nicht denuncirt! Ich habe es in ber Zeitung 
gelefen, wie ich in Aurerre war. Gut, daß ich fort- 
gegangen bin. Wenn ich geblieben wäre und auf Dich 
gehört Hätte, wäre ich wol fchon eingejperrt, denn Du 
bift eine Verrätherin und jo verächtlih, daß Du nie 
wieder von mir hören wirft.“ 


Staatsanwalt. Diefer Brief, meine Herren Ge- 
jhworenen, ift mit Bleiftift gefchrieben. Er befand fich 
nicht in einem Briefumſchlag, fondern war in ein Stüd 
Papier eingeichlagen. ‘Der Poſtſtempel lautet: ‚Paris, 
Lyoner Bahnhof — März 1888.” Außerdem befindet 
fih ein Poftftempel darauf: „Quarre-les- Tombes — 
12. März 1888. Der Boftftempel Joigny fehlt. Er ift 
offenbar deshalb irrigerweife nach Quarre-les-Tombes 
geichielt worden, weil ver Poftbeamte die Straßenbezeich- 
nung „Große Tombe” für den Ortsnamen gelejen hat. 

Präfivent. Angeklagte Iofephine Martin, haben 
Sie diefen Brief erhalten? 

Angeflagte Nein! Aber ver Kerfermeifter, Herr 
Trank, bat mir gegenüber von diefem Briefe gefprochen. 

Präfident. Wifjfen Sie, wer den Brief gejchrieben 
hat? 

Angeflagte. Ich kann es nicht wiffen. 

Bertbeidiger Remacle. Wie ift ver Brief in die 
Hände des Unterfuchungsrichters gekommen? 

Staatsanwalt. Ich weiß es nicht. Vielleicht Tann 
der Kerfermeifter Frank darüber Auffchluß geben. 

Präſident. Derſelbe ift als Zeuge vorgeladen und 
kann darüber vernommen werden. Sie, Angeklagte 
Martin, erlennen die Hanpfchrift nicht? 


314 Der Proceß wider ben Tageldöhner Moranb. 


Angellagte. Nein! Herr Präfident. 

Das Zeugenverhör wird fortgefeßt. 

Madeleine Putris, verehelichte Salmon, 55 Jahre 
alt. Am Tage des Verbrechens bin ich um 5 Uhr nach⸗ 
mittags zu Morand gefommen. Er tft ausgegangen, und 
als ich um 10 Uhr abends wegging, war er noch nicht 
wiebergefonmen. 

Präfident. Morand behauptet, er babe fih zu 
Bett gelegt. 

Zeugin. Nein, Herr Präſident! Ich bin deſſen 
fiher, daß er nicht zu Bett war. Er bat um 5 Uhr 
gegefien, ift eine BViertelftunde darauf weggegangen unb 
war um 10 Uhr noch nicht zurück. 

Angellagter. Ich Habe um 6 Uhr gegeffen und 
habe mich dann niebergelegt. Frau Salmon ift mit 
meiner Frau weggegangen, um den Faſtnachtsochſen an⸗ 
zuſehen. Ich habe e8 gehört, wie fie weggingen. 

Zeugin beharrt bei ihrer Ausfage. 

Ein Gefhworener. Wo liegt die Schlafitube des 
Morand und wo waren Sie? 

Zeugin. Ih war in der Küche und bie Thür 
feines Schlafzimmers führt in die Küche, Er mußte, 
um fich in fein Bett zu begeben, durch die Küche gehen. 

Bertheidiger Lailler. Sie haben nicht darauf ge= 
antwortet, ob Sie ausgingen, um den Faſtnachtsochſen 
anzujehen? 

Zeugin. Ja, aber nur gerade vor die Thür. 

Präfident. Hat nicht Bertha Morand, eine 
Tochter des Angeklagten, verjucht, Ihre Ausfage zu ber 
einfluffen ? 

Zeugin. Sie bat mir gefagt: ‚Nicht wahr, wenn 
Sie gefragt werben, werben Sie fagen, daß Papa um 








Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 315 


8 Uhr zu Haufe war.” Ich antwortete ihr: „Kind, ich 
werde die Wahrheit jagen.” 

Francois Werner, 36 Iahre alt, Weinbauer, 
bezeugt, daß er Blutfleden auf Morand's Holzfchuhen 
gejehen hat. 

Marguerite Fanny Vellon, genannt Gabriele, 
22 Iahre alt, Dienftmäpchen bei Bacher. Diefes 
Mädchen, eine richtige Gaſthofsmagd, frech, gefund, von 
berbem Gliederbau, frifcher Gefichtsfarbe und Tebhaft 
bligenvden Augen, war längere Zeit hindurch ſelbſt ver 
Theilnahme am Morde verbächtig und deshalb verhaftet. 
Jetzt galt ihre Zengenausfage als die wichtigfte Stüße 
ber Anklage wider das Ehepaar Vacher. Ihr Auftreten 
ift ſehr ſelbſtbewußt. Ste gibt an: 

„Ich bin im Dienfte bei den Eheleuten Vacher ge- 
ftanden. Ich behaupte mit Beſtimmtheit, daß Herr Vacher 
am 8. Februar um 8 Uhr 45 Minuten ausgegangen und 
erit in fpäter Nachtjtunde zurückgekommen ift. Frau Vacher 
ging gegen 10 Uhr fort und blieb ungefähr 20 Minuten 
lang weg.” (Bewegung im Zubörerraum.) 

Angellagter Bacher. Es ift nicht wahr. Wir 
ipielten Karten, ich, meine Frau und Gabriele, bis 10 Uhr 
30 Minuten. Sie felbit jagte noch am andern Tage: 
„Es ift ein wahres Glück, daß wir drei hier faßen und 
Karten fpielten. Man hätte fonft auch behaupten fönnen, 
ich fei e8 geiwejen, die den Vetard umgebracht hat, man 
befchuldigt ohnedies bereit8 die Halbe Stadt und alle 
Mädeln.“ 

Zeugin beharrt bei ihrer Ausſage. 

Angeklagte Frau Vacher. Gabriele irrt ſich. Wir 


ſpielten zuſammen Karten bis nach 10 Uhr. Sie hat 
ſogar mit meinem Manne nicht wenig kokettirt. 


316 Der Procef wider den Tagelöhner Morand. 


Angellagter Bacher. Ich Habe die Außenthür 
jelbft um 10 Uhr 45 Minuten zugemadt. 

Zeugin. Nein! Frau Bacher und ich haben zu- 
gejpertt. 

Angellagte Frau Bacher. Das ift gelogen, 
Gabriele! 

Zeugin beharrt bei ihrer Ausfage. 

Angellagter Bacher Wenn ich fpät nachts nach 
Haufe gefommen wäre, fo müßten die Nachbarn davon 
wiffen. Der Hund des Photographen in unferm Hauſe 
macht in folchen Fällen immer einen Höllenlärm, ſodaß 
die Nachbarſchaft fich jchon oft beflagt hat. In dieſer 
Nacht ift es aber nicht geſchehen. 

Bertheidiger Savatier-Larodhe. Waren nicht 
noch andere Perjonen, Gäfte, um dieſe Zeit bei Vacher ? 

Zeugin. Nein, nicht mehr. ‘Die legten, der Trom- 
peter und ver Reſerviſt, waren um 9 Uhr fchon weg- 
gegangen. 

DVertheidiger Savatier-Laroche. Hatten nicht 
Sie felbft abends vor der Thür eine Unterredung mit 
einem Schreiber des Notar wegen eined Beilchen- 
ſtraußes? 

Zeugin. Nein, das war während des Tages. 

Vertheidiger Savatier-Laroche. Der Schreiber, 
Herr Albouy, ſagt aber, dieſe Unterredung habe Abends 
9 Uhr 15 Minuten ſtattgefunden. 

Zeugin. Nein, das iſt nicht richtig. 

Ein Geſchworener. Haben Sie bemerkt, daß Frau 
Vacher etwas mitnahm, als ſie wegging? 

Zeugin. Nein! Ich gab nicht Acht darauf. Ich 
ſpielte ja. 

Vertheidiger Savatier-Laroche. So, Sie fpiel- 
ten? Ei, und mit wem denn eigentlich? 


Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 317 


Zeugin. Mit Herrn Grivet. 

Präſident. Sie find mit Frau Bacher nach Paris 
gereift? 

Zeugin. Ja wohl, Herr Präfipent. 

Präſident. Wer hat denn dieſe Reife in Vorfchlag 
gebracht ? 

Zeugin. Herr Bacher. 

Angeflagter Bacher. Nein! Es war Benoit. 

Zeugin. Herr Bacher hat Benoit dazu ermuntert. 
Er bat ihm gefagt: „Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, 
jo möchte ich gleich zur Unterhaltung nad Paris 
reifen.” 

Bräfident. Iſt die Reife dann fofort angetreten 
worden? 

Zeugin. Nein. Sie wurde mehrmals verjchoben. 
Die Urfache ver Verzögerung war bie, daß Herr Benoit 
damals gerade Tein Gelb hatte. 

Bräfident Wie lange find Sie ausgeblieben? 

Zeugin. Bon Montag bi8 Mittwoch. 

Präfident. Wer hat die Koften getragen? 

Zeugin. Ich weiß nur, daß Herr Benoit für mid 
alles gezahlt bat. Er brachte auch Herrn Vacher ein 
Geſchenk, eine Meerfchaumpfeife, mit. 

Präſident. Herr Benoit ftand mit Ihnen auf ver- 
trautem Fuße? 

Zeugin (lächelnd). Freilich. 

Präfident (zu Bacher). Welche eigenthümliche Idee 
von Ihnen, Ihre Frau mit Ihrem Dienftmäpchen und 
deren Geliebten nach Paris zu fchiden! 

Angellagter Bacher Meine Frau kannte Paris 
nit. Es war eine gute Gelegenheit. (Heiterfeit.) 

Präfident. War Frau Vacher während der Reiſe 
im Befite von Geld? 





318 Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 


Zeugin. Ich habe Geld in ihrem Portemonnaie ge⸗ 
jehen. Vielleicht 100 France. 

Angeflagte Frau Bader. O nein, e8 war nur 
etwas Tleine Münze. 

Präfident. Frau Bacher bat in Paris einige Ein- 
käufe gemacht? Was willen Sie davon? 

Zeugin. Sie hat eine Pfeife, einen Pelzkragen, einen 
Korb und andere Kleinigfeiten gekauft. 

Präſident. Was befand fih im Koffer ver Frau 
Bacher? 

Zeugin. Dinge, die nicht darin hätten fein bürfen. 

Präfident. Was meinen Ste damit? 

Zeugin. Die Goldfachen von Vetard. (Beivegung 
im Zuhörerraum.) 

Präfident. Haben Sie biefelben ſelbſt gejehen? 
Waren Sie anwefend, als fie Die Schmudfachen verkauft 
hat? Wiffen Sie, wo und wann bie® gefchah? 

Zeugin (zögernd). Nein! Das freilich nicht. 

Präfident. Wiffen Sie wenigſtens, wann fie weg— 
ging, um diefelben zu verlaufen? 

Zeugin. Nein! Ich blieb immer bi8 um 11 Uhr 
vormittags im Bett Liegen. 

Staatsanwalt. Die Anklage will ihrerfeitd feine 
Unklarheit befteben laffen. Die Herren Gejchivorenen 
wollen zur Kenntniß nehmen, daß bie nunmehrige Zeugin 
Bellon felbft verdächtig war und in Unterjuchung gewejen 
‚it. Im der Unterfuchung hat fie eingeftanden, daß fie 
Vetard abgeholt und zur Joſephine Martin geführt habe. 
Warum haben Sie das fo angegeben? 

Zeugin. Iofephine Martin hat mich dazu veranlaßt. 

Präfident Wie ift das gelommen? 

Zeugin. Sofephine Martin bat mir erzählt, der 
Polizeicommiffär babe ihr gejagt, daß ihre ganze Familie 





Der Proceß wider ben Tagelöhner Morand. 319 


in die Gejchichte verwidelt werde. Sie bat mich, fo aus- 
zujagen, um fie zu entlaften. Sie weinte den ganzen 
Zag. Ich habe Mitleid mit ihr gehabt, und um ihr 
einen Dienſt zu erweijen, habe ich e8 fo angegeben. 

Präfident. Das war ein für Sie felbjt ſehr ge- 
fährlicher Liebesdienſt, ven Sie ihr da erwieſen haben. 

Zeugin. Ich hatte es nicht jo bedacht. (Sie lächelt 
verſchmitzt.) 

Präſident (zu Joſephine Martin). Weshalb haben 
Sie die Vellon zu dieſer falſchen Ausſage verleitet? 

Angeklagte Joſephine Martin. Es geſchah, um 
Morand zu einem Geſtändniß zu beſtimmen. 

Präſident (zur Vellon). Hat die Angeklagte Martin 
Ihnen dieſen Grund angegeben? 

Zeugin. Ya wohl, Herr Präſident! Sie hat mir 
gejagt: „Wenn Morand hören wird, daß du geftehft, 
bu ſeieſt e8 gewejen, die Vetard abgeholt hat, jo wird 
er vielleicht in fich gehen und die Wahrheit geitehen. 

Präfident. Wann hat fie Ihnen dies gejagt? 

Zeugin. Nachdem fie die Beichuldigung gegen eine 
andere Perjon zurüdgezogen hatte. Aber es gejchah noch, 
bevor fie dem Unterjuchungsrichter geſtand, daß fie mich 
zu ber faljchen Angabe verleitet habe, und daß fie felber 
Betard abbolte. 

Prosper Barre, 24 Iahre alt, Maurer. Am Abend 
bes Verbrechens war ich bei Bacher. Er war nit ans» 
weiend. Ich fragte feine Frau na ihm, und fie ant- 
wortete mir, er ſei verreift. 

Präfident. War vie Vellon bei diefer Unterredung 
anweſend? 

Zeuge. Nein! Sie war nicht da. Frau Vacher 
ſagte mir, ſie ſei ſpazieren gegangen. 

Präſident. Wo ſtanden Sie? 


320 Der Proceß wiber den Tagelöhner Morand. 


Zeuge Beim Zahltifch. 

Präfident. Ste haben Vacher nicht Karten fpielen 
gefehen ? 

Zeuge. Nein! Es war niemand anweſend als ber 
Trompeter Le Bätarb. 

Angeflagte Frau Bacher. Herr Barre berichtet 
eine wahre Thatjache, allein er irrt fih im Tage. Er 
war ein wenig angetrunfen. 

Präfident. Zeuge, Ihre Ausfage iſt jehr wichtig! 
Erinnern Sie fich des Tages genau? 

Zeuge. Es ift fein Irrthum möglih. Am 6. Februar 
war ich in Orleans, am 7. Februar in Laroche. Es muß 
daher am 8. Februar gewefen fein, daß ich zu Vacher kam. 
Ich war freilich ſchon am 7. Februar gleich nach meiner 
Rückkehr auch bei Bacher. Aber damals war er anwefend. 
An diefem Tage war ich vielleicht ein wenig betrunfen. 

Angellagter Bacher. Am 8. Februar abends war 
ih zu Haufe und der Zeuge war an jenem Abend ficher- 
[ich nicht bei mir. 

Cäſar Dumont, Küfer, hat Barre begleitet. Auch 
er war angetrunfen. Er gibt übereinftimmend mit dem 
vorigen Zeugen ven 8. Februar als ven Abenn an, wo 
fie bei Bacher gewefen find. Auch er hat weder Vacher 
noch die Vellon gejeben. 

Eugene Bourbois, 24 Jahre alt, Kutfcher. 
Donnerstag, den 9. Februar, bin ib um 6 Uhr 
30 Minuten früh ausgegangen. Ich fam auf meinem 
Wege langjfam gegen bie Nonne zu, da vernahm ich 
Schritte hinter mir her. Ich blieb ſtehen und ſah mich 
um. Ich erkannte Herrn Bacher. Er war barbaupt 
und trug ein leinene® Aermelleibchen umd eine graue 
Hofe. Ich war erjtaunt, ihn bei folchem Wetter jo früb 
ausgehen zu jehen. Er wenbete fih dem Manöverfelde zu. 


Der Broceß wider ben Tagelöhner Morand. 321 


Präfident. Bacher, irrt ſich diefer Zeuge auch? 

Angeflagter Bacher. Es ift nicht möglih, an 
einem trüben Wintermorgen um 6 Uhr 30 Minuten, 
beit dem Wetter, das damals herrichte, einen Menſchen 
auf einige Entfernung mit Beitimmtheit zu erfennen. 

Zeuge. Doc, ich habe Sie erfannt. Ich habe fogar, 
als ich nach Haufe kam, meinem Herrn gejagt: „Herr 
Bacher ift aber heute fchon fehr früh ausgegangen.” 

Ambroife Louis Barbe Tagelöhner, war mit 
Bacher in einer Zelle im Gefängniß und hat ihn fagen 
hören: „Morand wird uns doch nicht verzündet haben!” 

Bacher leugnet, diefe Aeußerung gethan zu haben. 

Kerfermeifter Frank, gibt Auskunft über die Briefe 
Morand’8 an feine Frau. 

Bertheidiger Lailler (zu vem Zeugen). Sie haben 
eine Unterrebung gehört, welche zwijchen der Unterfuchungs- 
gefangenen Iojephine Martin und Gabriele Vellon ftatt- 
gefunden hat? 

Zeuge. AS ich meine gewöhnliche Runde machte, 
habe ich eines Tages die Sofephine Martin und die 
Bellon durch das Gitterfenjter im Corridor miteinander 
Iprechen hören. Gabriele fagte zu Sofephinen: „Du 
weißt ganz gut, daß hu mich 'zu ber falichen Ausjage 
verleitet haft, daß Morand mich veranlaßt habe, Vétard 
abzuholen. Morand hat es nicht gethan. Du haft mic 
beitimmt, jo auszuſagen. Es war am letten Sonntag. 
Du haft beftig geweint und mich unter Thränen um- 
armt und Haft mich befchworen: Nette mich und meine 
Familie!“ Die Martin bat ihr ganz laut darauf zu- 
gefchrien: „Freilich weiß ich, daß esferlogen war, aber 
deswegen, bu dummes Ding, hättet du Doch dabei 
bleiben fönnen. Dir hätte es nicht viel gefchadet, aber 


mir fehr viel genügt.” Die Vellon erwiberte: „Sa, 
XXIII. 21 





323 Der Proceß wider den Tagelöhner Morand, 


wenn ich deine eiferne Stirn und beine ungzerftörbare 
Frechheit hätte! Dann wäre e8 mir möglich gewefen, 
an der Lüge feitzubalten. Ich kann das eben nicht.” 
Die Martin entgegnete: „Hör auf, bu willft nicht bie 
Stirn haben, du, Haft du denn nicht dem Morand 
ind Geficht behauptet, daß er dich angeftiftet babe? 
Du haſt ihn ja, weil er e8 leugnete, einen elenden Schuft 
und einen veriworfenen Schurken genannt!” 

Bertheidiger Remacle Hat die Martin während 
ihrer Unterjuchungshaft Briefe erhalten? 

Zeuge. Meines Wiffens ift nur ein einziges an 
fie gerichtetes Schreiben angelommen; ich habe es ord⸗ 
nungsgemäß dem Unterfuchungsrichter zugeftellt. 

Bertheidiger Remacle. Hat Iofepbine Martin 
biefen Brief, ehe er abgeliefert wurde, gejehen? 

Zeuge. Bielleiht. Ich erinnere mich deſſen nicht. 

Bertheidiger Remacle. Ich erfuhe Sie, Ihr Er- 
innerungsvermögen zu jfammeln. Haben Ste über biefen 
Brief mit ihr gejprochen oder nicht? 

Zeuge. Ich glaube nicht, aber ich kann es nicht 
beſtimmt verfichern. 

Angeklagte Joſephine Martin. Herr Sranf redete 
mir immer zu: „Aber jagen Sie doch die Wahrheit, 
geftehen Sie...” Eines Tages fagte er mir: „Was 
ift e& denn mit dem Briefe, den Sie erhalten haben, ver 
von dem Liebhaber, ver fchreibt, er wolle ſich um Ihret- 
willen in die Seine ftürzen. Leugnen Sie nicht, ich habe 
ihn ja geleſen.“ 

Zeuge. Ich kann mich daran nicht erinnern. 

Angeflagte Joſephine Martin. Herr Fran bat 
mir gejagt, es handle fich um einen Liebhaber, ver mein 
Zimmer genau fenne und genaue Einzelheiten gefchrieben 
habe. 





Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 323 


Präſident. Herr Kerfermeifter, kannten Sie ben 
Inhalt des Briefes? 

Zeuge Sal Der Unterfuchungsrichter bat ihn mir 
vorgeleſen. 

Vertheidiger Lailler. Ich kann die Bemerkung 
nicht unterdrücken, daß es ſehr ſonderbar iſt, daß die 
Angeklagten fortwährend von allen Vorgängen, die fie be⸗ 
trafen, unterrichtet worden find. 

Präſident. Es ift nicht in Abrede zu ftellen, daß 
im Laufe diefer Unterfuchung mancherlei Ungehörigfeiten 
vorgefallen find. | 

Augufte Benoit, 45 Jahre alt, Grundbeſitzer. 
Bader hat mich zur ber Reiſe nach Paris ermuntert und 
mir zugerebet, bie „Damen“ mitzunehmen. Sch "habe 
alle8 bezahlt und Vacher eine Meerjchaumpfeife mit- 
gebracht. Die Reife hat mich 320 France gefoftet. 

Der Arhiteft Oppenot gibt genaue Ausfunft über 
die Wohnung der Iofephine Martin und über die daſelbſt 
feftgeftellten Blutſpuren. 

Dr. Leriche erftattet das Gutachten über die Leichen⸗ 
refte. Diejelben wurden mit Beftimmtheit al8 von Vetard 
herrührend erkannt an ber bejondern Beſchaffenheit des 
Daumennagel® und an einer Narbe am Bein, die von 
einer Verletzung zurücgeblieben war. Dr. Leriche hatte 
ihn feinerzeit deshalb felbft behandelt. Der Sachver- 
jtändige nimmt an, daß Vetarb auf der Stiege rüdlings 
überfallen und daß ihm mit einem fchweren Hammer ber 
Schädel eingejchlagen worben ift. Sodann hat man ihn 
in das Zimmer gebracht und dort die Zerftüdelung ber 
Leiche vorgenommen. 

Die Leichenrefte werben enthüllt und die Angeklagten: 
Morand, Bacher und Joſephine Martin, vor biejelben 
geführt. Es ift 8 Uhr abends geworden, Dümmer- 

21* 


324 Der Proceß wider den Tagelühner Morand. 


licht erfüllt den Saal. Eine dramatiiche Scene fpielt 
ſich ab. 

Morand erklärt mit größter Kaltblütigfeit, er kenne 
biefe Glieder nicht, er habe keinen Theil an dem Morde. 

Bacher ift ſehr aufgeregt. Er ſeufzt mit erftidter 
Stimme: „Ih bin fehr unglüdlih! Wie fomme ich 
dazu! Ich war nicht dabeil” 

Joſephine Martin freifcht laut: „Es find die Mörder! 
Niemand weiß e8 als ich! Ich ſchwöre es, dieſe beiden 
da find die Mörder!” 

Mit dieſer bewegten Scene endet die Verhandlung 
bes zweiten Tages. 

Am pritten Verhandlungstage richtet der Präfident 
bie Aufforderung an die Iofephine Martin, fie möge 
nochmal® genau fchildern, was fi an dem kritiſchen 
Abend zugetragen habe. 

Angeflagte. Ich Habe um 5 Uhr 30 Minuten, 
meine Feine Iuliette an der Hand, meine Wohnung ver⸗ 
lafien, um zu meiner Mutter zu gehen. Ich habe Morand 
beim Brunnen gegenüber meiner Wohnung getroffen. Ich 
habe ihm erzählt, daß ich zur Hochzeit gehen und nicht 
nad Haufe kommen würde. Er hat mich um meinen 
Wohnungsfchlüffel gebeten, damit er fich eine Säge ab- 
holen könne. Er hat dabei ausprüdlich gefagt: „Da 
Sie heute Abend nicht nach Haufe kommen wollen, brauchen 
Sie Ihren Schlüffel ohnehin nicht, holen Sie ihn bei mir 
ab, wenn Sie zurüdfommen.”“ Ich habe ihm den Schlüffel 
gegeben. Hierauf fagte er: „Sie kommen auf Ihrem 
Wege bei dem Uhrmacher Vetarb vorbei, bitte, geben Sie 
ihm diefen Brief.” Ich nahm den Brief an mich und 
beabfichtigte ihn bei Vetard "abzugeben. Derſelbe war 
jeboch nicht anmwefend. Ich bin num zu meiner Mutter 
gegangen. Um 6 Uhr 45 Minuten ging ich wieder zu 


Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 395 


dent Laden des Uhrmachers. Herr Vetard war zurüd- 
gefommen, nahm den Brief, las ihn und ging mit mir 
fort. Bei der Fiichhalle trafen wir Morand. Wir gingen 
zufammen weiter. Vetard folgte uns, blieb aber etwas 
zurüd. Sch bin mit Morand voraus die Stiege hinauf. 
Betard fam und nad. Er ift auf der erften Stufe ge- 
ftolpert. Morand hat mir ein Gläschen Cognac ein» 
gefchenft und mich dann weggejchicdt. Ich war barüber 
jehr verwundert und habe Morand gefragt: „Ja, wes⸗ 
balb wollen Sie denn noch dableiben? “ 

Angeflagter Morand. Bon Anfang bis zum Ende 
erlogen! Ich war nie bei Ihnen! Weber damals noch 
je zuvor. 

Angeklagte Joſephine Martin. Schweigen Sie! 
Sie find das abjcheulichite Ungeheuer! — Ich bin alſo 
fortgegangen und um 7 Uhr 30 Minuten bei meiner Familie 
gerade noch rechtzeitig zum Abendefjen angefommen. Wir 
haben die Vorbereitungen zur Hochzeit fertig geftellt. Meine 
Mutter verlangte, ich follte bei ihr Übernachten. Ich wollte 
aber nicht und bin nach Haufe zurüd, wo ich eben Bacher 
bei der Arbeit traf. Leugnen Sie nicht! (Mit ſteigender 
Erregung:) Ihr allein ſeid die Mörder! ALS ich Lärm 
ichlagen wollte, drohte mir Morand mit dem Fleifcher- 
meffer. Auf dem Fußboden war eine Blutlache, die mein 
Kind für rothen Wein bielt. 

Präfivdent. Zur Aufflärung der Herren Geſchworenen 
muß ich hier bemerken, daß man das Fleine Mäpchen ver 
Sofepbine Martin befragt. Das Kind fagte: ‚Papa 
Betard ift gefallen. Man hat ein Leintuch über ihn ge= 
tban und ihn gefchnitten.” Es fcheint demnach der Zer- 
jtüdelung des Leichnams beigewohnt zu haben. Zur 
Zeugenfchaft Tonnte jedoch das Kind, weil e8 erit vier 
Sahre zählt, nicht herangezogen werden. 


326 Der Proceß wider ben Tagelöhner Morand. 


Auf Verlangen des Vertheidigers Lailler wird Fräulein 
Godefroy nochmals vorgerufen. 

Bertheidiger Lailler. Haben Sie nicht um halb 
7 Uhr das Kind der Iofephine Martin fchreien hören? 

Zeugin. Ja wohl, genau um dieſe Zeit. 

Bertheidiger Lailler. Sie haben Morand niemals 
bei ver Martin gejehen? 

Zeugin. Niemals. 

Bertheidiger Lailler. Können Sie uns etwas über 
das Benehmen des Schriftführer Labeſſe mittheilen? 
Er foll Sie ja befucht haben ? 

Zeugin. Ja wohl, das hat er. Am 11. Februar 
ift Herr Labeffe ganz athemlos zu mir gekommen und 
erzählte: „Joſephine ift nicht ſchuldig. Sie können Vetarb 
nicht bei ihr haben eintreten fehen. Ich habe es ſchon 
beim Unterfuchungsrichter gefagt. Seien Ste außer Sorge. 
Ich werde fehon dafür forgen, daß Ihnen die Bejuche der 
Gensdarmen eripart bleiben.” Ich erwiverte ihm: „Ich 
habe feinen Grund, mich vor dem Besuch der Gensparmen 
zu fürchten. Im jedem alle werde ich nur die Wahrheit 
jagen. Uebrigens wenn auch ich verichweigen wollte, was 
ich weiß, Salmon hat die Joſephine Doch gefehen.” Herr 
Labeſſe zuckte geringſchätzig bie Achjeln und verfeßte: „Dieſer 
Salmon ift ein einfältiger Burſche. Sch werde ihm ſchon 
jagen, daß er fich geirrt hat. Meine liebe Angelika, das 
Herz blutet mir, wenn ich an die Qualen denke, welche 
biefe arme, unjchulpige Perfon erleiden muß.“ 

Sachverſtändiger Eugene Benoit, Apothefer, gibt 
das Reſultat feiner chemijchen Unterjuchungen befannt. 
Demgemäß find die Blutfpuren in der Wohnung ber 
Joſephine Martin theilweife noch ganz veutlich erfennbar, 
andere find verwaichen. Im Stiegenhaufe find Spuren 
von Gehirnmaſſe vorhanden, Sie betätigen die Anficht 





Der Procek wider den Tagelöhner Morand. 327 


des Arztes, daß dort die Schädelzertrümmerung ftattge- 
funden habe. An den Sägen find gleichfalls unzweifelhafte 
Blutflecke zurücgeblieben. Das bei Morand vorgefundene 
große Mefjer dagegen weift feine Spuren menfchlichen 
Blutes anf. Im feinem Tragkorbe waren fleine, fait 
mifroffopifche Spuren menschlichen Blutes. Der andere 
Tragkorb war frei von Blutfleden. 

Bertheidiger Lailler beftreitet, geſtützt auf pie Unter- 
fuchungen des berühmten Profeffors Brouarbel, die Richtige 
feit der Expertife, infoweit fie die mifroffopifchen Spuren 
im Tragforbe Morand's als Menſchenblut diagnofticirt. 
Das Blut eines andern Säugethieres könne leicht für 
Menichenblut gehalten werben. 

- Das Meffer wird der Iofephine Martin vorgemiejen. 
Diefe erflärt, das Mefjer, mit welchen Morand fie be- 
proht habe, fei weit größer geweſen. 

Der zweite Sachverftändige, Chemifer Dr. Gabriel 
Ponchet, hat in beiden Tragkörben Blutjpuren gefunden 
und behauptet mit Bejtimmtheit, es könne biefes Blut 
nur von Menſchen, Hunden, Eichhörnchen, Meerjchwein- 
chen, Raten oder Kaninchen herrühren, nicht aber won 
Schweinen, Ochjen oder Ejeln. 

Da Bacher behauptet hatte, die Achjelbänber des Zrag- 
forbes der Clergeot könnten ihm nicht pafjen, weil es 
ein Frauenzimmerforb ſei, fo wird der Verſuch im Ge- 
richtsfaal gemacht. Die Achjelbänder pafjen ihm voll- 
fommen. (Bewegung im Zujchauerraum.) 

Präfivdent. Vacher, warum haben Sie dieje faliche 
Behauptung aufgeftellt? 

Angeflagter Bacher. Es war eine bloße Ber: 
muthung meinerfeits. Ich wußte e8 nicht, denn ich hatte 
den Verſuch nie zuvor gemacht. 

Zeuge Alerandre Fournter beichreibt die Wohnung 


328 Der Proceß wider den Tagelöhner Morand, 


bes Morand. Er tbeilt mit, daß man in biefelbe nicht 
nur durch die Küchenthür, ſondern auch von der andern 
Seite her gelangen könne. 

Frau Salmon wird darauf hin nochmals vorgerufen. 
Sie jtellt die Ausfage dieſes Zeugen in Abreve und be— 
hauptet wieder, fie jet von 5 bis 10 Uhr dort gewejen, 
ohne Morand zu jehen. 

Angeflagter Morand. Die Thür wird felten be- 

nut. Sch habe am Mittwoch Abend auch feinen Gebrauch 
von ihr gemadt. Ich bin durch die Küche gegangen, 
ohne mich aufzuhalten. Vielleicht war dies, während bie 
Weiber ausgegangen waren, um ben FaftnachtSochfen zu 
jehen, vielleicht war die Zeugin, wie fchon oft zuvor, beim 
Herdfeuer eingenidt. 

Auguste Pietre gibt Auskunft über die Kleider, welche 
Morand getragen, und beftätigt, daß der Angeklagte häufig 
an Nafenbluten gelitten habe. 

Pietre war von Joſephine Martin zuerjt als der Mit- 
Ihuldige Morand's denuncirt worden, aber ſofort in der 
Lage, ein unzweifelhaftes Alibi nachzuweiſen. Darauf hin 
erjt nannte fie Bacher, Der Vertheidiger Savatier-La- 
roche macht die Gejchworenen auf ven auffallenvden Unter- 
ſchied der Erfcheinung beider Männer aufmerkfam. 

Präfident. Sofephine Martin, warum haben Sie 
Herrn Pietre denuneirt? 

Angeflagte Joſephine Mertin. Ich habe ge- 
glaubt, daß Pietre, weil er ein Freund Morand's ift, 
auch fein Helfershelfer geweſen fei, und hoffte, Durch dieſe 
Anzeige Morand zum Geſtändniß zu bewegen. 

Marie Anne Gaillard, verehelihte Salmon, 
70 Jahre alt (eine Tante des Morand), gibt an: Ich 
bin am 8. Februar bei Morand gewefen und habe ihn 
um 8 Uhr abends gejehben. Ich bin des Tages darım 





Der Brocef wider ben Tagelöhner Morand. 329 


io ficher, weil e8 der Vorabend des Zuges des Faftnachts- 
ochfen war. Er, feine ganze Familie und die Frau Ma⸗ 
beleine Salmon waren dort. Morand fam um 8 Uhr 
nah Haufe und ift faft gleich darauf fchlafen gegangen. 

Präfivdent. In der Vorunterfuchung haben Sie an⸗ 
gegeben, bie fremde Frauensperfon, bie bei Morand ge: 
weſen fei, wäre bie Gabriele Vellon geweſen. 

Zeugin. Das kann nicht fein. 

Präfivdent. Sie haben das Protokoll jo unter- 
ſchrieben. 

Vertheidiger Lailler. Hatten Sie nicht längere 
Zeit den Tragkorb des Morand bei ſich zu Hauſe? 

Zeugin. Ja, einige Zeit nach dem Morde. 

Vertheidiger Remacle. Die Zeugin iſt in den 
abgefaßten Briefen Morand's genannt worden? 

Präſident. Ja wohl. Es heißt in einem derſelben: 
„Sage meiner Tante...“ 

Bertheidiger Lailler. Aber ihre Vernehmung vor 
dem Unterjuchungsrichter war erfolgt, ehe der Brief ge- 
jchrieben wurde. 

Die andere Frau Salmon wird wieder vorgerufen. 

Präfident. Haben Sie die Tante an jenem Abend 
bei Morands geſehen? 

Zeugin. Ja, ſie war dort! 

Präſident. Und Sie bleiben dabei, daß Morand 
nicht zu Hauſe geweſen iſt? 

Zeugin. Gewiß. 

Die Tante. Aber das iſt unrichtig. Er war da. 
Sie wiſſen es, er iſt um 8 Uhr nach Hauſe gekommen. 

Jean Le Bätard, Trompeter bei einem Dragoner⸗ 
regiment, auch ein begünftigter Xiebhaber ver Vellon. Ich 
war am Abende des Verbrechens bis gegen 9 Uhr bei 


330 Der Brocek wider den Tagelöhner Morand. 


Bacher. Er, feine Frau, Gabriele (Vellon), der Reſerviſt 
und der Photograph waren noch dort. Ich bin mit dem 
legtern weggegangen. 

Bräfident. Haben Sie fonft niemand bort gefehen? 

Zeuge. Nein. 

Die Zeugen Barre und Dumond werben wieber vor⸗ 
gerufen. Sie bleiben bei ihren Angaben. 

Gabriele Vellon wird vorgerufen. Sie fagt: „Herr 
Bacher ift erft fortgegangen, nachdem ber Trompeter fich 
entfernt hatte. Nur Grivet und ich blieben noch zurück.“ 

Louis Victor Legraverend, Photograph. Sch war 
an dem Abend des Verbrechens bei Vacher. Ich bin etiwas 
nach halb 9 Uhr weggegangen. Ich habe mit dem Res 
ferviften geplaubert und nicht darauf geachtet, ob Vacher 
anweſend blieb oder wegging. 

Aleris Grivet, Bädergehülfe in Charmont. Ich 
habe am Abend des Verbrechens mit Herrn und Trau 
Bacher bis 10'/, Uhr Karten gefpielt. Die Vellon war 
anmefend und wifchte das Gefchirr ab. Ich wohne im 
Haufe und habe dort gejchlafen. Wer die Hausthür an 
jenem Abend verichloß, weiß ich nicht. Morand ift am 
nächſten Morgen gelommen und hat mich aufgefordert, 
ven Faftnachtsochfen mit ihm anzufchauen. Wir gingen 
miteinander und bemerkten eine Menfchenanfammlung am 
Ufer der Yonne. 

Leon Salmon wird nochmals vorgerufen. 

Vertheidiger Lailler. Sie haben einige Zeit lang 
geſchwankt, ob Sie die Anzeige erjtatten follen, daß Sie 
Betard in die Wohnung der Dirne Joſephine Martin 
haben eintreten ſehen. Da Ste fi entichloffen haben, 
e8 zu thun, haben Sie zugleich dem Unterjuchungsrichter 
mitgetheilt, die Urjache Ihres Zögerns fei geweſen, daß 
eine Perjon Sie beftimmen wollte, dieſe Ausfage nicht 





Der Proceß wider ben Tagelöhner Morand. 331 


abzugeben. Sie ftehen nun vor Gericht. Sagen Sie, 
wer war bieje Perjon ? 

Zeuge. Es war der Schriftführer Labeſſe. Er 
ift zu meiner Mutter gefommen, bat ihr gejagt, ich 
irrte mich, ich müffe mich irren. Ich hätte offenbar Per- 
jonen verwechjelt, e8 fei ein fehr erniter Fall und ich folle 
mich hüten, leichtfinnige Angaben zu machen, venn ich 
werde hierfür ganz entjchteden zur Verantwortung gezogen 
werden. 

Damit ift das Beweisverfahren gefchloffen und es 
folgen die Plaidoyers. 

Staatsanwalt Le Bourdelleèes nimmt das Wort. 
Nach längerer Einleitung gelangt er zur Charafterifirung 
ber Angeflagten. Er jagt hierbei wörtlich: „Joſephine 
Martin? Es ift ein Weib.... Ein Weib! gibt es ein 
Wort, das fanftere Empfindungen weden kann? Allein 
fie verdient nicht diefe Bezeichnung zu führen. Sie be- 
reitet das ſchauerlichſte Verbrechen, ein Liedchen trillernd, 
vor, und Tags darauf, nachdem fie Augenzeuge der ent- 
jeglichen That gewejen, begibt fie fich, al8 ob nichts vor- 
gefallen wäre, zu einer Hochzeit, fie tanzt und bezeigt kaum 
eine flüchtige Erregung, als der Zufall ihr auf einem 
Zabenfchilde den Namen Vetard vor das Auge führt. 
Was kann die Vertheivigung zu Gunjten ver Joſephine 
Martin vorbringen wollen? Sie wird vielleicht jagen: 
Joſephine Martin gibt zu, die erften drei Briefe gejchrieben 
zu haben, fie hat Vetard zu fich geführt, allein damit ift 
auch der Gefammtumfang ihrer activen Theilnahme an 
ber Vorbereitung des von ihr nicht vorbedachten Ver⸗ 
brechens erſchöpft. Sie begibt fich zu ihrer Familie, und 
erſt al8 fie wieder nach Haufe fommt, befindet fie fich 
angefichtS der vollbrachten That, des fürchterlichen Schau 
ipiels! Und fie tritt vor die Gefchworenen und Hagt: 


332 Der Proceß wider ben Tagelöhner Morand. 


Ih foll eine Verbrecherin fein?.... Ich bin es nicht. 
Sch habe einem unwiderftehlichen Zwange folgen müffen, 
ich habe mich nur aus Furcht ven Anordnungen der Ver⸗ 
brecher gefügt. Ich gehorchte freilich ihren Weijungen, 
doch ohne zu ahnen, wohin das alles führen follte, ich 
glaubte an einen Scherz! 

„Die Anklage kann aber eine folche Verantwortung 
nicht gelten laſſen. Sch wende mich zu Joſephine Martin 
und rufe ihr zu: Ihre Verantwortung ift durchaus un⸗ 
glaubwürdig. Sie ift fo gezwungen, daß Sie genöthigt 
find, fihb in das Gewand der verfolgten Unſchuld zu 
brapiren, das Ihnen durchaus nicht paßt. Nur einen 
Schritt weiter und Sie fagen zu Morand: Sie haben 
mein Zimmer verunreinigt, Sie find mir Schadenerſatz 
ſchuldig! 

„Nein. Sie find es, die mit Vorbedacht Das Verbrechen 
vorbereitet hat! ....“ 

Der Staatsanwalt verlieſt hierauf nochmals die drei 
mit R. M. gefertigten und von der Hand der Joſephine 
Martin geſchriebenen Briefe und fährt fort: 

„Sagen Sie nicht: Ja, ich habe dieſe drei Briefe ge— 
ſchrieben, denn ich glaubte an einen Spaß; den vierten 
Brief aber, den habe ich nicht geſchrieben, den hat mir 
Morand nur zur Beſtellung übergeben. Die Geſchworenen 
mögen urtheilen und entſcheiden, ob ſie annehmen wollen, 
daß dieſer vierte, nicht mehr vorhandene Brief von einer 
andern Perſon herrührt. Vetard, der notoriſch mis— 
trauiſcher Natur war, hätte Doch ſchon an der Verſchieden⸗ 
heit der Handſchrift Anftoß nehmen müfjen, und gerabe 
biesmal wäre er zum Stellvichein bereit gewefen? Ge— 
ftehen Sie, Iofephine Martin, jagen Sie die Wahrheit! 
Wenn irgendetwas Ihr Schidjal zu erleichtern im Stande 
ift, kann e8 nur Das unummwundene Befenntniß fein. Was 


Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 333 


aber hat zur Aufklärung und Entvedung geführt? Gewiß 
nicht die Geftänpniffe der Iofephine Martin. Dieje Ge- 
ftänpnifje fpielen zwar eine wichtige Rolle im Gange ber 
Unterfuchung, allein fie erjchöpfen fie nicht. Es bepurfte 
ter Bergleihung der Handfchriften durch Sachverftänpige, 
um auf die richtige Fährte zu gelangen. Dadurch nur 
wurde der Zufammenhang Har und dann exit entichloß 
fih Sofephine Martin zögernd zu dem noch immer un- 
vollftändigen Geſtändniß. 

‚Die Frage, ob Joſephine Martin bei der Ermorbung 
Vétard's gegenwärtig war, kann ich nicht mit voller Be⸗ 
ftimmtheit behaupten. Nach ihrer Angabe wäre fie erit 
um 10 Uhr, als der Mord verübt und der Diebftahl 
begangen war, heimgefehrt. Was ven Diebftahl anbelangt, 
fo ift Dies gewiß unrichtig. Er ift überhaupt erft zu 
einer ſpätern Stunde ausgeführt worden, wie Die Zeugen— 
ausfagen beweijen. Es wäre bejjer gewejen, wenn Jo⸗ 
fepbine Martin ihre Betheiligung daran unverhohlen ein- 
geftanden hätte. Die Finger jener Frauenhand, bie im 
Staube des Auslagekaſtens ihre Einprüde zurückließen, 
waren bie ihren. 

„Joſephine Martin, Sie wagen e8 zu verfichern, Sie 
hätten an einen Spaß geglaubt! Aber als Sie in Ihr 
Zimmer traten und ben entjeglichen Anblic vor fich ſahen, 
warum haben Sie da nicht um Hülfe gerufen? Angenommen, 
der Schreden, die Furcht lähmte Ihre Zunge. Was 
binderte Sie am folgenden Tage zur Polizei zu geben, 
Ihr Herz einer Nachbarin auszufchütten? 

Der Staatsanwalt erörtert num die Widerſprüche in 
den Angaben ver Joſephine Martin. Diefe erichüttern zwar 
nach feiner Auffaffung deren Glaubwürdigkeit nicht. Die 
legten Mittheilungen der Angeklagten über vie Berfon 
der Mörder entiprechen der Wahrheit, ihre frühern un- 


334 Der Proceß wider ben Zagelöhner Moranb. 


wahren Angaben bezwedten wirflih, Morand zu einem 
Geſtändniß zu nöthigen. Er fährt fort: 

„Die Dirne Iofephine Martin hat eine beträchtliche 
Summe von Einzelheiten über die That angegeben. Gerade 
diefe Einzelheiten werben aber durch andere Umftänbe 
als wirklich fo vorgefallen beftätigt. Joſephine Martin 
hat die Schwierigkeiten gefchilvert, die Morand zu über- 
winden batte, um die Knochen der Ertremitäten vom 
Numpfe zu trennen, die Ausführungen bes Dr. Leriche 
haben die Erklärung dazu geliefert. Wenn ich auch Die 
ſchärfften Strafen, die unfer Geſetz verhängt, für bie 
Vebelthäter begehren muß, jo kann ich doch für Joſephine 
Martin mildernde Umftände gelten laffen. Erſtlich weil 
fie ein Weib iſt, dann weil fie unter dem überwältigenden 
Einfluß eines Mannes geſtanden ift, der alle Eigenschaften 
befaß, um auf ſchwache Gemüther einen Drud auszuüben. 
Sie hatte nicht die moralifche Kraft, einem Morand zu 
widerſtehen. Ueberdies verdankt das Gericht ihrem Ge⸗ 
ftänpniß viel zur Enthüllung des Geheimniffes, das über 
der graufen Miffethbat lagert. Ich fordere baber für fie 
nicht die Todesſtrafe. Ich fordere fie pagegen für Morand. 
Er ift ein abgefeimter, entmenjchter Böſewicht. Er leugnet 
alles, Teugnet angefichtd der überzeugendften Beweiſe, 
leugnet entgegen der überwältigendften Gewißheit! — 
Gegen ihn fprechen die Befenntniffe der Joſephine Martin. 
Sie hatte feine Urfache ihn anzuffagen. Bon andern 
Zeugen kann man behaupten, fie feien ihm feinplich ge⸗ 
finnt. Allein die Martin? Barum follte fie ihn anflagen, 
wenn er nicht fchuldig wäre! — Kommen wir zu ben 
Thatfachen. Da find die DHlutflede an den Sägen und 
an den Tragkörben. Es find dies Spuren menfchlichen 
Blutes. Morand bat doch in feinem Korbe nicht das 
Fleiſch von Affen oder Meerichweinchen berumgefchleppt. 





Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 335 


Diejer blutige Tragkorb redet eine überzeugende Sprache. 
Mean wird doch nicht der albernen Erfindung Glauben 
ſchenken wollen, daß der myſteriöſe Thäter den Tragkorb 
des Morand benugt babe! Dann die Holzichube. Auch 
anf diefen find Blutfpuren gefunden worden. Ein Zeuge 
hat fie zwei oder brei Tage nach dem Verbrechen deutlich 
gefehen. Die Sachverftändigen haben fie unterfucht und 


ſtimmen überein, es find ficherlich Flecke gewejen, die von 


menschlichen Blut berrührten.‘ 

Der Staatsanwalt befpricht hierauf ven unheimlichen 
Geruch in der Küche des Morand. Noch wichtiger aber ift, daß 
Morand am Abend des 8. Februar fein Haus verlaffen hat. 

„Die Zeugenfchaft der Frau Madeleine Salmon wider- 
legt jeine Berficherung, er fei daheim geblieben und Schlafen 
gegangen. Können Sie von bdiefer Frau etwa auch be- 
haupten, fie ſei Ihre Feindin, wie Frau Droin? Nein. 
Es ift eine Freundin Ihrey Tamilie, die oftmals die 
Abende bei Ihnen zubrachte. Sie fagte aber klar und 
beutlih, Sie wären fortgegangen und ven Abend über 
nicht wieder nach Haufe gefommen. Wollen Ste fich 
gegenüber biefer Ausſage auf die andere Frau Salmon, 
Ihre Tante, berufen? Als ich die arme alte Frau vor 
dem Gerichtstiiche ftehen fah, empfand ich aufrichtiges 
Mitleid. Gebeugt von Alter, that fie ihr Beftes, um 
Sie, Angeflagter, zu retten. Die Bedauernswerthe! Sie 
erregte nur ein Gefühl des Erbarmens für fich felbft. 
Was ſagte Sie aber eigentlih? Sie berichtete, Morand 
wäre zu Haufe geweien. Das erfte mal, als fie ver- 
nommen wurde, vor dem Unterfuchungsrichter, war fie 
ihrer Sache noch nicht gewiß. An diefer Stelle freilich 
hat fie mit aller Entſchiedenheit ausgeſagt. Sie that aber 
babei des Guten zu viel. Sie erzählte uns, Morand 
habe einen Zeller Suppe gegefjen. Das ftimmt aber 


336 Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 


nicht mit Morand's eigener Angabe, nach welcher dieſer 
bie Küche nur burchquerte, um in feine Schlaffammer zu 
gelangen. Noch mehr. Ste hat angegeben, eine fremde 
Perfon fet dabei gewejen. Wer war dies? In der Vor- 
unterjuchung fagte fie, es fei die Gabriele Vellon geweſen, 
bier dagegen nannte fie Frau Madeleine Salmon. Geht 
nicht Har daraus hervor, daß fie fo ausgelagt hat, um 
ihren Neffen zu retten? 

„Das Verbrechen war von langer Hand durch Morand 
vorbereitet. Es jollte am 6. Februar ausgeführt werben, 
und darum erzählte er feinen Kameraden, er wolle am 5. 
nach Sens oder Villeneuve reifen. Darum jah man ihn 
auch am 6. vor dem Laden bed Vetard herumlungern. 
Auch die Zeugen Frau Duffange und Herr Ablorn haben 
die Ausfagen der Yojephine Martin betätigt. Ausjchlag- 
gebend ift die Ausfage der Frau Droin. Sie hat Mo- 

rand bei Joſephine Martin eintreten fehen. Sie hat e8 

mit aller Energie behauptet und an ihrer Behauptung 
feftgehalten. Man wird ihr Zeugniß anfechten, weil an⸗ 
geblich zwifchen ihr und Morand feit langer Zeit Feind- 
ichaft beftehen fol. Aber iſt dieſe Feindſchaft jo tiefgehend, 
daß fie deshalb eine wifjentlich faljche Zeugenausſage ab- 
gegeben hat? Frau Droin ift Morand nicht grün, ich 
will e8 zugeben. Allein ift fie deshalb bereit, einen Mein⸗ 
eid zu fchwören, einen Menfchen auf das Schafott zu 
bringen? Morand hat ein Alibi worzubereiten gefucht. 
Diefen Zwed verfolgte er mit ven Zetteln, bie er im 
Gefängniß fchrieb und an feine Frau zu fchmuggeln ver- 
juchte. Er wollte, daß die beiden Zeuginnen Salmon 
feine Anwejenheit zu Haufe am Abend des 8. Februar 
betätigen follten. Aber fein ‘Plan iſt mislungen. 

„Run zu Bacher. Morand fpielte die erjte Violine, 
Bacher war die zweite Rolle in dem Drama zugefallen. 








Der Broceß wider den Tagelöhner Morand. 337 


Diefes geht zunächft wieder aus dem Gejtänpniß der Jo⸗ 
jephine Martin hervor. Nach ihren Angaben ift er e8 
nicht gewefen, der Vetard ermordet hat. Er half aber 
die Leiche zerftüdeln. In diefem Punkte jagt die Iofephine 
Martin ganz beftimmt aus. Und nun frage ich wieber, 
welchen Beweggrund hätte das Frauenzimmer, ihn anzır- 
Hagen, wenn er unfchuldig wäre? Sie hat zuerft allerdings 
nicht ihn, fondern Pietre denuncirt, aber als dieſer ein 
unzmweifelbares Alibi nachgewiefen hat, gibt fie ver Wahr- 
heit die Ehre und fagt: Morand ift der Mörder, er hat 
Detard getödtet, er hatte einen Gehülfen, und dieſer Ge- 
hülfe war Bacher. 

„Dieſe Angabe ver Iofephine Martin fteht nicht allein. 
Gabriele Vellon hat in der Vorunterfuchung angegeben, 
daß Vacher einige Tage vor dem Verbrechen fagte, er 
bebürfe eines Betrags von 1000 France, und einige Tage 
ſpäter tft er im Befig einer Baarfumme von 600 France 
betroffen worden.” 

Der Staatsanwalt erörtert nun im Detail die ver- 
Ihiedenen Zahlungen, die Vacher nach dem 8. Februar 
in Gold und Banknoten geleiftet hat. 

„Run gelangen wir zu ber für Vacher äußerſt wich- 
tigen Frage, in welder Stunde das Verbrechen verübt 
worden ift. Die Magd Vellon, ver man feine Feind⸗ 
jeligfeit gegen ihren Dienftberen zutrauen kann, behauptet 
fteif und feft, daß Vacher gegen 9 Uhr ausgegangen und 
erft nach Mitternacht wiedergefommen tft. Auch die Zeugen 
Dumond und Barre find pofitiv in ihren Ausfagen. Sie 
waren am 8. Februar des Abends in feinem Schanklocal 
und Bacher war nicht anweſend. Die Vertheibigung hat 
dagegen Herrn Legraverend als Zeugen vorgeführt. Er 
ſchwankt aber in feinen Angaben, und die Ausfagen des 
Zrompeterd Le Bätard find confus.” 

XXI. 22 


338 Der Broceß wider ben Tagelöhner Moranb. 


Der Staatsanwalt erörtert hierauf, welchen Antheil 
Frau Vacher und Frau Clergeot an dem Verbrechen ge- 
nommen baben. Er gelangt zu dem Schluffe, daß fie 
nur Nebenperfonen gewefen find, aber boch bei ven Morde 
mitgewirkt haben. 

Der anonyme Brief eines angeblichen Liebhabers ber 
Sofephine Martin ift nach feinen Ausführungen ein ge- 
ſchickkes Machwerk der Familie Morand, verfaßt und 
abgeſchickt, um die Gerechtigkeit irrezuleiten. 

Der Staatsanwalt ſchließt mit dem Strafantrag. Er 
fordert die Xodesftrafe für Morand, langjährige Zucht» 
haus für Vacher und die Martin, geringere Treiheits- 
ftrafen für Frau Bacher und Frau Clergeot. 

Der Vertheidiger Mr. Lailler nimmt für Morand 
das Wort: 

„Vor allem muß ich die Gefchiworenen warnen vor 
Vebereifer und Voreiligfeit, die in dieſem Proceß ſchon eine 
traurige Rolle gefpielt haben. Dean fuchte ven Mörber. Man 
fieht venfelben in jedermann. ‘Die Vorunterjuchung wird 
auf der Straße fowol wie in dem Cabinet des Richters 
geführt. Anzeigen werben in den Zeitungen veröffentlicht, 
noch ehe fie an die Staatsanwaltichaft gelangen. Die 
aufgeregte öffentliche Meinung Fritifirt ſchonungslos bie 
mit der Unterjuchung betrauten Beamten, man tavelt und 
ſchmäht, bis Die Sicherheitsorgane, gebrängt und gejchoben, 
in ihrer Verwirrung ein Individuum aus der Menge ver 
Beſchuldigten herausgreifen und ausrufen: Heurefa! Wir 
haben ihn! Und die öffentliche Meinung macht Chorus, 
beutet mitZden Fingern auf ihn und wieberholt jubelnp: 
Wir haben ihn! 

„Wie liederlich ift diefe traurige Unterfuchung doch ge- 
führt worden! Protokolle und Documente fehlen und müffen 
in der Hauptverhandlung erjt befonvers requirirt werben. 





Der Procef wider den Tagelöhner Morand. 339 


Und welche Rolle fpielt jener famoje Schriftführer, dieſer 
Herr Labeſſe, der Zeugen aufftellt und zurückweiſt, ber 
diejenigen, welche die Dirne Joſephine Martin, mit der 
er in Beziehungen fteht, anlagen wollen, beichimpft und 
geradezu bedroht! — Welchen Antheil bie öffentliche 
Meinung nimmt, die bereit vervammt, ehe das Gericht 
gejprochen, beweifen die ſtandalöſen Scenen, die hier ſtatt⸗ 
fanden, ald man vie Angeklagten hereinführte! 

„Wer und was ift diejer fo viel angefeindete Morand? 
Er ift nahezu 50 Jahre alt‘, verheirathet und hat acht 
Kinder. Er gilt für einen tüchtigen Arbeiter. Der Staats- 
anwalt hat feiner Verwunderung Ausdruck gegeben, daß 
Morand nicht öfter beftraft worden if. Er mußte ihn 
als einen verworfenen Menfchen fchildern, weil er ihn 
dieſes grauenhaften Mordes jchuldig findet. Aber bie 
Thatſachen paſſen fchlecht zu dem Bilve, welches von ihm 
entworfen worben iſt. Er foll brutal fein? — ja, womit 
it e8 denn bewiejen worden? Alles fürchtet ihn — ja, 
warum denn, gegen wen bat er je feine fchwere Hand 
erhoben? Wann hat er je jelbft im Zorn, im Streit zu⸗ 
geichlagen ? 

„Aber Sojephine Martin hat ihn als Thäter bezeichnet. 
Wenn fie diefe Denunciation zurücdgezogen hätte, wie fo 
viele andere Ausfagen, die fie gemacht hat, wäre ber 
Staatsanwalt gewiß nicht mit einer Anklage wider ihn 
vorgegangen. Jene Denunciation der Martin ift aber 
nicht8 anderes als ein Gewebe von Lügen. 

„Die Dirne Martin erzählt, Morand habe ihr bie 
Driefe an Vetard in die Feder dictirt. Das ift bie erfte 
Lüge. Die hierfür gewiß claffiiche Zeugin Roſalie Mary 
hat uns gejagt, daß nur Frau Clergeot und Joſephine 
Martin in der Lage waren, dieſe Briefe zu entwerfen. 
Sie enthalten Thatfachen, die ihnen allein befannt gewefen 

22* 


340 Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 


find. Die Dirne Martin und pie ehrenwerthe Frau 
Clergeot kannten ja Herrn Vetard, daß aber Morand ihn 
fannte, bat niemand behauptet. 

„Die Dirne Martin bat Morand des Mordes be- 
ſchuldigt. Wann bat fie Diefes getan? Nicht etwa fofort, 
als fie fich zu einem Geſtändniß entichloß, ſondern jpäter. 
Und wen Magt fie gleichzeitig an? Bietre, den Freund 
Morand's. Bietre beweift, vaß er unschuldig ift an dem 
vergofjenen Blut. Darauf erflärt fie: Nicht Pietre, ſondern 
Bacher ift Morand's Helfershelfer gewejen! Herr Vetarb 
ift von einer Frauensperſon abgeholt worden. Joſephine 
Martin nennt, als fie darüber befragt wird, die Frau 
Morand. Frau Morand aber kann es unmöglich gewefen 
jein. As man der Iofephine Martin dies eröffnet, ftellt 
fie in Abrebe, daß ſie Frau Morand überhaupt genannt 
habe. Man muß e8 ihr aus ven Protofollen beweifen. 
Dann befinnt fie fih. Ste beredet die Vellon zu einer 
falſchen Ausſage. Dieje ift gutmüthig genug anzugeben, 
fte habe Herrn Betard abgeholt, gefteht indeß bald, daß 
fie in Joſephinens Auftrag gelogen bat. Nun erklärt 
Sojephine: «Ich felbft habe Herrn Vetard auf Morand’s 
Veranlaffung in meine Wohnung geführt.» Nach ben 
Ausfagen der Zeugen ift es freilich viel wahrjcheinlicher, 
baß ihre Schweiter, Frau Clergeot, die Freundin ber 
Rojalie Mary, Herrn Vetard beivogen hat ihr zu folgen. 
Und trotzdem foll Iofephine Martin die claffifche Zeugin 
jein, deren Ausſage über Meenfchenleben entjcheivet! Diefen 
verlogenen Angaben ſoll man glauben! Erinnern Sie ſich 
doch an die Unterrebungen zwifchen der Vellon und der 
Sofephine Martin, an die Aeußerung ber lettern, die der 
an dieſer Stelle als Zeuge vernommene Polizeicommiffar 
berichtet hat: «Ich weiß, was ich zu jagen habe, ich werde 
immer baffelbe wiederholen.» Wer ift es, ver ihr bies 


Der Proceß wider den Tagelühner Morand. 341 


eingegeben? Bielleicht jener famofe Schriftführer, deſſen 
Rolle noch zu beleuchten ift, oder einer ihrer zahlreichen 
Liebhaber? Und welche Beweggründe für ihre falfchen 
Denunciationen, des Pietre, des Gizel, der Frau Morand 
und anderer, hat fie angegeben? — Sie wollte baburd) 
ein Geftänpnig des Morand erzwingen!! Diejer Er- 
Härungsgrund ift Tächerlich albern. Aber die Staats- 
anmwaltichaft Läßt fich daran genügen. ‘Darf man fo mit 
Menfchenleben und mit ver Hoheit ver Gerechtigfeitspflege 
ipielen?... 

„Frau Droin jagt aus, fie habe Morand in das Haus 
ber Iofephine Martin eintreten ſehen. Warum hat fie 
das nicht gleich ausgefagt? Sie erklärt: «Ich habe mich 
vor Morand gefürchtet.» Aber Morand war bereit8 14 
Tage lang in Haft, und e8 hieß, er würbe freigegeben 
werben, als ihr Gedächtniß erwachte. Wer hinderte fie 
benn zu fprechen, da fie doch wußte, daß Morand im 
Gefängniß ſaß? Ich will nicht behaupten, daß fie aus 
Feindſchaft wifjentlich falſches Zeugniß abgelegt hat. Ich 
nehme vielmehr an, daß fie einen Mann dort hineingehen 
ſah und fich nach und nach einbilvete, es könne Morand 
fein, er gliche Morand, e8 war Morand! Wie leicht 
fönnte fie fich irren! Es war eine dunkle Nacht und fie 
befand fich ihrer eigenen Angabe zufolge 30 Meter weit 
von ber Perfon, die fie jab. Hätte fie wirklich Morand 
erfannt, fie hätte gewiß nicht gefchwiegen, ſondern fofort 
ihren Nachbarn und Freunden erzählt, daß Morand, ein 
armer Arbeiter, der feinen überflüffigen Heller befitt, 
eine käufliche Dirne beiucht habe. 

„Erinnern Sie fich, meine Herren Gejchworenen, an 
die Brüder Mouillon. Als dieſe des Mordes an dem 
Uhrmacher Vetard befchuldigt und verhaftet wurden, da 
meldeten fich in Joigny drei durchaus vertrauenswürdige, 


342 Der Broceß wider den Tagelöhner Morand. 


ehrenhafte Leute, die vor dem Unterjuchungsrichter er⸗ 
Härten, fie hätten die Monillons am Tage des Verbrechens 
in Joigny herumfchleichen jehen — und doch waren bieje 
eriwiejenermaßen in Dijon, alfo weit von biefer Stadt 
entfernt. Ein Zeuge ftand vor Gericht, der ihnen an 
ebendiefem Tage Wurft verkauft haben wollte, ein anderer 
hatte fie in der Straße Tucri begegnet, ein britter machte 
fih anheifchig, ihnen in das Geficht zu wieterbolen, daß 
er ihnen in Ioigny an dieſem Tage begegnet ſei und fie 
angerevet habe. Alle dieſe Zeugen fagten im beſten 
Glauben aus, und was fie ausfagten, war dennoch ent- 
ſchieden bie Unmwahrbeit. 

„Srwägen Sie nun bie fociale Stellung dieſer An⸗ 
geflagten und die der Lanbftreiher Monillon. Wären 
bie letztern durch einen für fie glüclichen Zufall nicht 
fofort in die Lage gefommen, ihre Anweſenheit in Dijon 
nachzuweiien, wer hätte ihren DVerficherungen angefichts 
der Angaben von ehrenmwerthen und unbefangenen Zeugen 
irgenbwelchen Glauben beigemefien? Sie ſäßen wahr- 
icheinlich an Stelle Morand's und Vacher's auf der An⸗ 
klagebank. Sie erjehen daraus, dag man ein vollflommen 
tadelfreier Zeuge und willen® fein kann, die Wahrheit, 
die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu jagen 
und fih dennoch irrt. Vergleichen Sie tamit die Aus- 
fage der Frau Droin, ganz abgejehen davon, daß dieſer 
Ausfage Ichon nach dem Geſetze nur geminderte Glaub⸗ 
wiürbigfeit zufommt, wegen ihrer Feinpfchaft gegen Morand. 

„Die Ausfagen der Frau Duffange und der Frau 
Ablon find an ſich vollfommen unanfechtbar, allein fie 
beweifen rein gar nichts für die Anklage. Frau Ablon 
ift jogar eine Entlaftungszeugin. Joſephine Martin bat 
erzählt, Morand trug Holzſchuhe, und dieſe Holzichube 
jpielen ja noch eine weitere Rolle in ver Anflage. ‘Der 


Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 343 


Mann aber, ven Frau Ablon gejeben bat, trug Leder⸗ 
ſchuhe, fie ſagte ausdrücklich: agrobgenagelte Lederſchuhey. 
Ein gewiſſer Pernet, der vor dem Unterſuchungsrichter 
als Zeuge vernommen, aber zu der Hauptverhandlung 
nicht vorgeladen worden iſt, behauptete, Morand habe 
bereits am 6. Februar ſeinem Opfer aufgelauert, er habe 
ihn abends zwiſchen 8 Uhr und 8 Uhr 30 Minuten zur 
Dirne Martin fchleichen fehen. Aber Morand wies durch 
unanfechtbare Zeugen nah, daß er am 6. Februar in 
Billeneuve-fur-MDonne gewejen if. Er konnte unmöglich 
zugleich dort und in Joigny fein. Herr Pennet hat fich 
am 6. Februar geirrt, follte nicht auh am 8. Februar 
ein Irrthum vorliegen können? 

„Sp wenig dieſe Zeugenausfagen beweiſen, fo wenig 
beweisfräftig find auch bie Impicien, bie man gegen 
Morand geltend gemacht hat. 

„Zunächſt die Blutfleden des Tragforbee. Die Sadı- 
verjtändigen haben im ganzen zwei Flecke in der Größe 
von 2 Millimeter gefunden. Waren e8 wirklich Spuren 
von Menjchenblut? Sie künnen es nicht mit Bejtimmt- 
beit erhärten. Es ift Säugethierblut, mehr ift nicht feft- 
geftellt worden. Und biefen Tragkorb nennt der Staats- 
anwalt den biutenden Anflagebeweis! Wenn es aber 
wirklich Vetard's Blut geweſen fein joll, wie kam es, daß 
nur fo geringfügige, jo verſchwindend geringe Spuren 
feftzuftellen waren? Die Erflärung, die Morand für 
diefe Flecken gibt, find weit einleuchtender und logifcher 
als jene des Staatsanwalts. Und dann, biefer Zrag- 
forb diente nicht ihm allein. Er verlieh ihn oft. Er 
war acht Tage lang bei Frau Salmon. Dat man fich 
auch nur ver Mühe unterzogen, nachzuforjchen, ob er dort 
nicht zum Transport rohen Fleiſches verwendet wurde? 

„Und die Blutflecke an den Holzſchuhen. Morand er- 





344 Der Proceß wider ven Tagelöhner Moranb. 


Hört, er leide oft an Nafenbluten. Seine Kameraden 
und der SKerfermeifter betätigen feine Angabe. Erflärt 
dies die Tleden nicht vollfommen genügend? Wenn 
Morand im Blute feines Opfers gewatet hätte, e8 wären 
ganz andere Spuren zurüdgeblieben. 

„Endlich die abhanden gefommenen Kleider, die Morand 
früher getragen und vielleicht verbrannt haben fol. Der 
Staatsanwalt hat darauf feinen bejondern Nachdruck ge- 
legt. Ich kann aber dieſe Frage nicht fallen Lafjen, ich 
kann dem Unterfuchungsrichter ven Vorwurf nicht eriparen, 
daß er hinfichtlich diefer Kleider nicht jorgjfam vorgegangen 
it. Warum hat er nicht fofort alle Kleider des Angeklagten 
mit Befchlag belegt? Es ift nicht gefchehen. Es ift auch 
nicht einmal verfucht worben, nachzuweifen, daß Morand 
blutbefleckte Kleider beſeſſen babe und daß dieſe vernichtet 
worben feien. Man hat aber einen folchen Nachweis zu 
erbringen nicht verfucht, weil er eben nicht zu erbringen 
war. Und der unheimliche Geruch der verbrannten Sachen? 
— Nun, Morand hat angegeben, was er verbrannt hat, 
und es liegt nicht der geringjte Anbaltepunft dafür vor, 
daß es etwas anderes geweſen wäre. 

„Das große Mefjer Morand's hat man vorgefunden. 
Man hat es mit Beichlag belegt. Die Anklage aber 
fonnte es nicht brauchen — denn die mikroſkopiſche Unter- 
fuchung entbedte Fein Menfchenblut daran. 

„Und wo iſt Ihr Alibi? fragt die Anklage, wo waren 
Sie denn? — Ich war zu Haufe, lautet die Antwort. Die 
Anflage bezweifelt e8 und beruft fih auf Frau Madeleine 
Salmon. Nun der Ausfage der einen Frau Salmon 
jtebt jene der andern Zeugin gleichen Namens gegenüber, 
und es iſt durchaus nicht erwiefen, daß Morand nicht 
nah Haufe kommen Fonnte, ohne von Frau Madeleine 
Salmon bemerkt zu werben.” 








Der Procek wider den Tagelöhner Morand. 345 


Der Vertheibiger befpricht die beiden einander wider⸗ 
ftreitenden Zeugenausfagen in ber eingehendſten Weife. 
Ebenjo die Zettel, die Morand gefchrieben hat. Es find 
bie begreiflichen Aeußerungen eines Menfchen, ver bie 
Beweiſe feiner Schulplofigfeit fammelt. Die Ausfprüche 
endlich, die ihm zur Laft gelegt werben, find vollfonmen 
nichtöfagend. Man müfje ihnen förmlich Zwang anthun, 
um ihnen einen verfänglichen Sinn unterzulegen. 
„und nun“ — fo fährt er fort — „ba die Anklage 
entfräftet ift, muß ich meinerjeitS einige Tragen an Sie 
richten. Was foll denn das Motiv des Verbrechens ge- 
wejen fein? — Die Abficht, Vetard zu berauben. Aber 
Morand befand fich in feiner bevrängten Lage. Er ſowol 
wie feine Frau verdienten genug um zu leben. Gelbnoth 
war nicht vorhanden. Er befitt ein Häuschen zu eigen, 
das auf 3000 Trance geſchätzt ift, und ſchuldet auf daſſelbe 
nur 1500 Srancd. 8 ijt keineswegs behauptet, gefchweige 
denn erwieſen worben, daß er gelpbebürftig gewefen jet, 
daß ihn etwa Gläubiger gedrängt hätten. Man wird 
wol zum Mörder aus Haß, over im Affect ohne weitere 
Vorbereitung. Jedoch um ein Mörder aus Habjucht zu 
werben, bedarf ed einer längern Verbrecherfchule. Und 
obenbrein ein Mord mit ſolchem Vorbebacht, folcher Ueber⸗ 
legung aller Einzelheiten und Möglichkeiten! Und der⸗ 
jenige, der alles geleitet, alles gethan haben foll, wo ift 
ber Gewinn, den er davon gezogen hätte? Mean bat bei 
Betard mindejtend 2400 bis 3000 Franes geraubt, wo 
it Morand’s Antheil hingefommen? Hat er in der lekten 
Zeit vielleicht Schulden bezahlt oder auffällige Ausgaben 
gemacht? Oder fand ſich außer etwas kleiner Münze 
Baargeld bei ihm? Nichts davon. Man bat gut gejucht 
und doch nichts gefunden. 

„Und die Organifation des Complots. Die Dirne 


346 Der Proceß wider ben Tagelöhner Morand. 


Martin gibt an: Morand hat alles organifirt und vor- 
bereitet. Sa, warum denn? Wo haben die Verabredungen 
ftattgefunden? Morand ift niemals bei ver Martin ge- 
weien, niemand bat ihn je dort gejeben, auch bie fcharf 
auslugenden Augen der Nachbarinmen nit. Die In- 
ftrumente, mit denen die That verübt worden ift, wo find 
fie, in weifen Befig? Mit einem Hammer foll vem Betarb 
der Schädel eingeichlagen worben fein? Wo ift der 
Hammer? Bei wem wurde er gefunden? Die Sägen?... 
Sie find Eigenthum der Iofephine Martin, in ihrer Woh⸗ 
nung wurden fie in Beichlag genommen. 

„Rein, Morand ift nicht der Mörder. Aber wenn er 
es nicht ift, wer ift e8 denn? Die Dirne Joſephine 
Martin weiß es wohl, fie weiß e8 fo gut, daß fie nur Eins 
fürchtet, nämlich daß man ven Mörber entvedt. Um das 
zu verhindern, beinzichtigt fie einen Unfchulbigen eines Ver⸗ 
brechens. Man bat ihr zugeflüftert: «Hat die rächenbe 
Gerechtigfeit ein Opfer erhalten, fo ift fie befrievigt!» 

„Zweifeln Ste noch an der Wahrheit? Ich mag es 
nicht glauben. Laffet pas Recht walten, Ihr Gefchworenen, 
und ſprecht den Uufchulpigen freil” — 

Der Bertheidiger NRemacle erhebt fich und be—⸗ 
gehrt die Vertagung der Verhandlung für die nächite 
Schwurgerichtsperiope. 

Die Angeklagten Joſephine Martin und Morand er- 
flären fih damit einverjtanden. 

Der Vertheidiger Lailler unterjtüßt das Verlangen 
feines Collegen. 

Die Vertheidiger Savatier-Laroche (für Vacher) und 
Herold (für Clergeot) widerſprechen namens ihrer Clienten 
und verlangen die Durchführung des Verfahrens. 

Der Staatsanwalt ſpricht ſich gleichfalls dagegen aus 
und der Gerichtshof lehnt die Vertagung ab. 


Der Procef wider ben Tageläöhner Morand. 347 


Bertheidiger Savatier-Laroche erklärt für bie 
angeflagten Eheleute Vacher: 

„Ich ſchließe mich in der Hauptfache ven Ausführungen 
meines Collegen Lailler an. Die Angaben der Joſephine 
Martin find durch und durch erlogen und unglaubwürbig. 
Wenn aber dieſer Zeugin nicht geglaubt werben barf, 
was fpricht noch gegen Bacher? Niemand bat ihn am 
Thatorte gejehen. Zwei Iuftige Saufbrüver fagen aus, 
fie hätten ibn am 8. Februar nicht zu Haufe angetroffen, 
aber andere gewichtigere Zeugenausfagen erhärten das 
Gegentheil. Das Alibi ift bewiefen. Nur entftellte Ge- 
Iprächsfragmente von zweifelhaften Werthe und vielfacher 
Deutung fähig bleiben noch übrig als Belaftungsmomente. 
Es iſt Fein Beweis gegen Vacher geführt worden, ber 
einen unbejcholtenen Dann um Ehre und Freiheit bringen 
fönnte. Gegen Frau Bacher vollends ſpricht gar nichts. 
Die Reife nach Paris ift vollfommen aufgeflärt, die Aus- 
gaben, bie fie gemacht hat, find in ihren Gewohnheiten 
begründet und nicht auffällig. Die Anfchuldigungen ver 
Bellon find fo in ihr Nichts zufammengebrochen, daß fogar 
ber Staatsanwalt darauf verzichtet: hat, fie in feinem 
Plaidoyer zu erwähnen. Er hat fich nur an Sofephine 
Martin gehalten.‘ 

Für die Angeflagte Iofepbine Martin läßt fich der 
Bertheipiger Remacle fo aus: 

„Heute, im Laufe des Beweisfahrens, hat einer der 
Herren Gefchworenen verlangt, Joſephine Martin möge 
eine zufammenhängende Darftellung der Vorgänge am 
Abend des 8. Februar geben. Das ift gefchehen. Joſephine 
Martin hat gejagt: Ich kenne Morand feit vielen Jahren. 
Ich ging oftmals in fein Haus. Im Monat Ianuar fam 
Morand eines Abends zu mir und fagte mir unter Lachen, 
er und einer feiner Freunde beabfichtigten dem Vetard 


348 Der Procef wider der Tagelöhner Moranb. 


einen Schabernad zu fpielen. Der alte Knabe ſei ein 
Mäpchenjäger. Man müfje ihn daher durch einen Brief 
von weiblicher Hand anloden. Er würbe ficher fommen, 
aber feine Schürze finden. Dieſes Stelldichein wurde ein- 
gefädelt, aber Roſalie Mary fand ſich nicht ein. Es 
wurden zwei andere Rendezvous ausgejchrieben; ob Vetard 
hingegangen ift, weiß man nicht, und wird es auch nie 
mehr erfahren. Der 8. Februar naht heran. Joſephine 
Martin begegnet Morand, der ihr einen Brief für Vetard 
übergibt, fie trägt ihn hin. Joſephine Martin ahnte nichts 
Böſes, fonft würde fie das Opfer nicht durch ganz Joigny 
begleitet haben, jodaß fie von Jedermann geſehen werben 
fonnte. Sie führt ihn zu Morand, biejer ift im Begriff 
in ihrem Haufe eine Säge abzuholen, die fie ihm zu leihen 
verjprochen bat. Morand geht die Treppe hinauf und 
zündet eine Kerzean. Joſephine Martin folgt ihm. Vetard 
bleibt noch einen Augenblid auf der Straße zurüd. Bald 
jedoch kommt er nad. Er ftolpert an den untern fchlecht 
beleuchteten Stufen. Morand empfängt Vetard corbial: 
«Da bift du endlich, alter Kameran!o Mean unterhält 
ſich über allerlei gewöhnliche Dinge. Aber Joſephine wird 
bei ihrer Mutter erwartet, fie entfernt fih. ALS fie um 
10 Uhr heimfehrt, ift das Entjegliche bereits geichehen. 
Und wen findet fie mit ber Zerftücelung der Leiche be- 
ihäftigt? Morand und Bacher. — Hat fie gelogen, als 
fie diefe Einzelheiten angab? Gewiß nicht.“ 
Vertheidiger Remacle erörtert nun eingehend bie innere 
Wahrjcheinlichkeit dieſer Darftellung. Sein weiteres Plai- 
doyer wird zu einer fulminanten Anklage Morand’s, weit 
heftiger im Zone als jene des Staatsanwalts, und mehr 
geeignet auf die Gejchworenen einzuwirfen, obgleich feine 
neuen Beweiſe vorgebracht werden. Die Ausfagen ber 
Frau Droin und der Frau Madeleine Salmon find für 





Der Proceß wider ben Tagelöhner Morand. 349 


ihn die Angelpunkte ver ganzen Verhandlung. Um dieſe 
allein dreht fich nach feiner Auffaffung das Beweisverfahren. 

Zur Bertheibigung ver Joſephine Martin fügt er noch 
bei: „Es iſt wahr, ihre erfte Regung ging bahin, alles 
abzuleugnen, fogar die Briefe, die fie geſchrieben. Jedoch 
von Rene erfaßt, befennt fie nunmehr um jo aufrichtiger 
ihren Antbeil an der That. Man verhaftet alle Mit⸗ 
glieder ihrer Familie und ruft ihr zu: «Geftehe, wer 
Vetard zu dir geführt hat, ober alle deine Verwandten 
ihmachten im Gefängniß.) Was follte fie thun? Sic 
ſelbſt anklagen, und bazu fehlt ibr ver Muth. Da be- 
geht fie die Thorheit, Gabriele VBellon um ein faljches 
Zeugniß zu bitten. Dann bezeichnet fie Pietre als Mit- 
fchuldigen. Ste hält ihn für einen vertrauten Freund 
Morand's und hofft, daß er jagen fol: «Ich war nicht 
babei, aber Morand hat mit mir davon gejprochen! » 
Um auf Morand’s verhärtetes Gewiſſen einzuwirken, be- 
ſchuldigt fie fäljchlich feine Gattin! Ihre Hoffnung, daß 
Morand's Schuld ohne ihr Zeugniß an den Zag kommt, 
‚wird nicht erfüllt, da entjchließt fie fich, die ganze und 
volle Wahrheit zu bekennen. 

„Worin beiteht die Schuld der Joſephine Martin? 

„Sit fie eine Mörderin? — Sie hat nicht gemorbet. 
Niemand hat behauptet, fie jelbjt habe Hand an Vetard 
gelegt. Hat fie gejtohlen? Wer kann fagen, daß fie e8 
war, bie ven Schlüffel aus Vétard's Taſche holte und 
ihn beraubte? Ich frage nochmals, welche Schuld ift 
ihr nachgewiefen ? 

„Hat fie gemordet? — Nein! 

„Hat fie den Hinterhalt vorbereitet? — Nein! 

„Hat fie den Schlüffel entwendet? — Nein! 

„Hat fie die Wertbiachen geftohlen? — Nein! 

„Was bleibt aljo übrig? Sie hat es felbft bekannt. 


350 Der Proceß wider ben Tagelühner Morand. 


Man bat ihr 100 Franes gegeben, damit fie fchweigen 
jolle, und fie hat viefe Summe genommen. Sie bat fich 
baburch ber Hehlerei ſchuldig gemacht.” 

Mit einem pathetifchen Appell an das Mitleid der Ge⸗ 
ſchworenen für das gehette und bebrängte, Teichtfinnige und 
leichtgläubige Weib‘, fchließt der Vertheidiger feine Rebe: 
„Für bie Hehlerei bat fie ganz gebüßt, fprecht fie frei!“ 

Vertheidiger Herold erwartet den Freifpruch für 
feine Elientin, Frau Elergeot, deren Betheiligung an tem 
Verbrechen nicht nachgewiefen jet. 

Die Verhandlung wird unterbrochen. ALS ber Präfident 
biefelbe wieder aufnimmt und die Angeklagten eben ben 
Saal betreten, ruft eine Stimme aus dem Zuhörerraum: 
„Habt ihr noch nicht genug gehört? Auf das Schafott 
mit Morand!“ Diefe unverfchämte rohe Aeußerung wird 
vom Publitum mit lauten Beifall aufgenommen. 

Der Präfivent befragt der Reihe nach die Angeflagten, 
ob fie noch etwas zu fagen haben. 

Morand. Ich bin volllommen unfchuldig! 

Bacher. Ich bin unfchulbig. Ich habe nichts gethan. 

Frau Vacher. Ich bin unfchulbig. 

Joſephine Martin. Ich habe nichts mehr zu jagen. 

Frau Elergeot. Ich habe nichts mehr zu fagen. 

Die Gefchworenen ziehen fich zurüd, kehren jeboch 
nach überrafchend furzer Friſt zurüd. Das Verdict lautet: 

Morand: Schuldig in allen Punkten, ohne 

Zulaſſung mildernder Umftände. 

Zulius und Amalie Bacher: Schulplos der Theil- 
nahme am Morde, jedoch ſchuldig des Geſellſchaftsdieb⸗ 
ſtahls mit dem erjchwerenven Umſtande, daß dieſer bes 
Nachts in einem bewohnten Haufe verübt worden ift. 

Sofephine Martin: Nicht ſchuldig der Theil- 
nahme an vem Morde und an dem Gefellichafts- 


Pi“ 


* 


Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 351 


biebjtahl, ſchuldig des einfachen Diebftahls ohne 
erihwerende Umſtände. 

Eugenie Elergeot: Nicht Shulpig. 

Die Schatten des Abends waren tief gefunfen, einzelne 
Gasflammen erleuchteten ven Schwurgerichtsfaal, als ber 
Gerichtshof fein Urtheil verfündigte. Die Gefchworenen 
hatten Morand die mildernden Umftänvde, die Wohlthat 
bes lebten Zweifel verjägt, fein Los war Far. Er 
wurde zum Tode verdammt. Die übrigen Verurtheilten 
erhielten geringfügige Freiheitsitrafen zuerkannt. 

Als das Urtheil gefprochen war, richtete fih Morand 
zu feiner vollen Größe auf. Gegen bie Gefchworenenbant 
gewendet, ven Arm drohend emporgehoben, ſchrie er mit lauter 
Stimme: ‚Mein Blut über euch! Ich bin unſchuldig!“ 

Diefelben Gejchtworenen, welche die mildernden Um⸗ 
jtände ausgeſchloſſen hatten, traten fofort nach Schluß 
des Gerichtöverfahrens zufammen und verfaßten eine Ein- 
gabe an den Präfidenten der Republif, in welcher fie 
von feiner Gnade das Leben des zum Tode verurtheilten 
Morand erbaten. | 

Der Vertheidiger Lailler brachte aus zwei rein formalen 
Gründen die Nichtigkeitsbeſchwerde ein. 

Der Caffationshof verwarf das Rechtsmittel. Der 
Präfident der Republif, Sadi Carnot, verwandelte die 
gegen Morand verhängte Todesftrafe in zehnjährige 
Zuchthausarbeit. 


Ein krankhafter Zug macht ſich in der Rechtſprechung 
der franzöſiſchen Gerichte mehr und mehr bemerklich. Die 
Urtheile der Geſchworenen ſind allerdings nirgends frei 
von gewiſſen Willkürlichkeiten, die ſich dadurch erklären, 
daß die „Richter aus dem Volke“ nicht verpflichtet ſind, 
ihr Verdict durch Gründe zu rechtfertigen; allein nirgends 


359 Der Procef wider ben Tagelöhner Morand. 


treten die Webelftände der Geichworenengerichte fo grell 
zu Tage als gerade in Frankreich. Jedwedes Verbrechen, 
auch das fcheuglichite, veffen Verübung auf „Liebesleiden⸗ 
haft” zurüdgeführt werben Tann, genießt nahezu Straf: 
freiheit, ſodaß die franzöfiihe Staatsanwaltichaft ſchon 
ſeit einigen Jahren vorzieht, auch ſchwere Fälle als Ver⸗ 
gehen zu behandeln und den Verbrecher vor das Zucht- 
‚polizeigericht zu ftellen, damit er der verbienten Strafe 
nicht entgeht. Die Schwurgerichte Taffen fih gar zu 
häufig dur Sympathien, Schlagworte und fentimentale 
Meodethorheiten bejtimmen. Den übelften Auf in biefer 
Beziehung hat ſich aber die Jury im Departement ver 
Seine, in Paris erworben, fie entwidelt eine viel geringere 
Energie, als man bei einzelnen Affifen der Provinz findet. 
Bon politifchen Parteiproceifen ſehen wir hier natürlich 


Diefe allgemeine Beobachtung hat auch in dem vor- 
ftehend berichteten Proceß eine traurige Illuſtration er- 
fahren. Die Hauptangeflagten tvaren eine leichte Dirne, 
ein: „kleines, zierliche® Figürchen, ſchlank, bleich, mit 
großen, glänzenden Augen. Sie ift brünett, die Züge 
ſtark accentuirt. Ihr Gefichtsausprud ift offenherzig, und 
angeredet fchlägt fie Die Augen niever. Die Stimme ift 
von feltenem Wohlklang, einfchmeichelnd und gewinnend“. 
Im Gegenſatz zu ihr erfcheint auf der Anflagebanf ver 
von ihr denuncirte, rauhe und abftoßende Mann: „ein 
herculiſch gebauter, ruhig blickender Menfch, mit unbe- 
wegten Zügen und büfterm Geſichtsausdruck“. Mit dieſer 
Perjonalbejchreibung ift von vornherein der Ausgang des 
Procefjes, das Urtheil der Gefchworenen beftimmt: bie 
weitgehendfte, das Gerechtigleitägefühl empörende Milde 
für das Frauenzimmer, fchonungslofe Härte und uner- 
bittliche Sraufamfeit gegen ven Mann. 





Der Procef wider den Tagelöhner Morand. 353 


Ganz abgejehen von den mannichfachen Gebrechen in 
ber Borunterfuchung, von ber fonderbaren Einmiſchung 
bes eine zweifelhafte Rolle fpielenden Echriftführers La- 
beffe, deſſen Gebaren der Staatsanwalt in fchonenver 
Weiſe „unüberlegten- Uebereifer” nennt, während er, aller- 
dings ſehr „umüberlegt‘‘, feinen Uebereifer nur bazu die 
Zügel fchießen läßt, um das Los der Hauptangeflagten 
zu erleichtern, um womöglich „das arme Ding”, zu ber 
er wahrjcheinlich auch in zarten Beziehungen ftand, bie 
Unannehmlichkeiten einer Unterfuchungsbaft und einer 
Hauptverbandlung zu erfparen; abgejehen von dem Briefe 
bes anonymen Liebhabers, deſſen Entſtehung unaufgeflärt 
geblieben ijt, bietet das burchgeführte Beweisverfahren 
des Bedenklichen genug. 

Joſephine Martin hat fich als ein purchaus verderbtes, 
verlogenes Gejchöpf erwiefen. Ihr halbes Geſtändniß 
enthält jo viele Widerſprüche und Ungereimtheiten, daß es 
ichwer begreiflich wird, wie eine Gejchworenenbanf, auch 
wenn fie aus Franzojen zufammengejett ift, demſelben 
Slauben ſchenken fonnte. Ihre Mitwirkung an der Vor- 
bereitung zum Morde iſt vollfommen klar nachgewiefen. 
Sie bat die That verbehlt, bat höchſt wahricheinlich an 
ber Plünderung des Ladens activen Antheil genommen 
und, eingejtandenermaßen, Bortheil aus dem Verbrechen 
gezogen. Dennoch ergeht zu ihrem Gunften ein Verbict, 
welches einer Freifprechung gleichlommt! — Morand das 
gegen wird, außer von ihr, nur durch eine Zeugenausfage, 
jene der Frau Adolfine Droin, und burch ein Indicium, 
die Blutipuren im Tragforbe, belaftet. Die Zeugenſchaft 
ber Frau Droin ift im höchften Grabe fragwürdig. Sie | 
ift ihm notoriſch feindſelig gefinnt geweſen und hat ihrem 
Haffe ſelbſt im Gerichtsfanle unmillfürlichen Ausdruck 
gegeben. Die Blutſpuren im Xraglorbe aber find ſo 

XXI. 23 


354 Der Proceß wider ben Tagelöhner Moranb. 


gering und können fo verſchiedenartig erklärt werben, daß 
es Außerft mislich erfcheint, darauf hin ein Mienfchenleben 
der Guillotine zu opfern. Das cui prodest enblich ent- 
fällt auf ihn angewendet gänzlih. Auf das Zeugniß der 
fetlen Dirne bin wird jedoch der Mann ohne weiteres 
ſchuldig geſprochen. Wenn fie gegen diefen und jenen offen- 
bar unbaltbare Denunciationen angebracht, fo hat fie die— 
jelben Doch wieder zurüdgezogen; bei Morand aber blieb fie 
feft, — alfo ift er der Mörder. Das tft die Logik ver 
Geſchworenen gewejen. Der Widerfpruch, ver darin liegt, 
daß Vacher, welchen die Martin gleichfall8 al8 am Morde 
betheiligt angejchulpigt hat, von der Anklage wegen Mordes 
losgeſprochen worden ift, ven weiſen Richtern von Aurerre 
macht dieſer Widerfpruch feine Scrupel. Die Eheleute 
Bacher und Frau Clergeot find die Nebenperfonen ver 
Tragödie, ihr Schidfal kümmert die Gejchworenen nicht. 
Die ungleiche Behandlung der beiten Angeklagten Morand 
und Vacher fordert die jchärffte Kritif Heraus. Wenn bie 
Geſchworenen das Zeugniß der Iofephine Martin für 
glaubwürdig hielten, mußten fie dad Schuldig über Morand 
und Bacher fprechen. Die Losiprechung Vacher's ftempelt 
die Verurtheilung Morand’s, da das Belaftungsmatertal 
das gleiche ift, zu einem Juſtizmorde. Der Präfivent ber 
Republik ift vielleicht Durch diefe Erwägung beftimmt worden, 
bie gegen Morand verhängte Todesſtrafe in eine verhältniß- 
mäßig geringe zeitliche Freiheitsſtrafe umzumanbeln. Ueber 
den leichtfertigen Spruch, welcher zur Folge hatte, daß ber 
Joſephine Martin eine kaum nennenswerthe Buße auferlegt 
wurde, wollen wir nicht® mehr hinzufügen. Der Proceß und 
der Spruch der Geſchworenen beweijt, wie tief die fittliche 
Fäulniß in die franzöſiſche Gefellichaft eingedrungen ift. 


Druck von F. U. Brodhaus in Leipzig. 





Der Neue Pitaval. 


Nene Serie. 


Bierundzwanzigfter Banb. 


Isunidsl sun 15 © 


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% 


Der 


Neue Pitaval. 


Eine Sammlung 


der interefjanteften Criminalgeſchichten aller Länder aus 
älterer und neuerer Zeit. 


Degründet 
vom 
Criminalvirector Dr. 3. €, Bitig 
und 


Dr. W. Häring (W. Alexis). 
Sortgefegt von Dr. 9. Vollert. 


Yene Serie. gl) u 


Biernudzwanzigſter Band. 





Leipzig: 
F. A. Brockhaus. 


1890. 





Aae. — 4,1903 





Borwort. 


Im 22. Bande des „Pitaval“ haben wir den Proceß 
gegen Johann von Weſel veröffentlicht. Er wurde 
wegen Ketzerei, nachdem ihm der Widerruf ſeiner der 
Kirche anſtößigen Lehrſätze abgepreßt worden war, zu 
lebenslänglicher Einſperrung im Kloſter verurtheilt und 
iſt in der Gefangenſchaft geſtorben. 

Im 23. Bande unſers Sammelwerks haben wir 
den Proceß wider Johann Hus folgen laſſen, den 
die römiſche Kirche in majorem dei gloriam auf den 
Scheiterhaufen geſchickt hat. 

Den 24. Band eröffnen wir mit dem von dem 
Herrn Archidiakonus Zuppke in Gera uns zugeſendeten 
Proceß gegen Galileo Galilei vor der Inquiſition in 
Rom. Die Acten diefe® Procefjes find gedrudt, fie 
beweifen, daß die Tatholiihe Kirche zwei Jahrhunderte 
nah Johannes von Weſel und Sohannes Hus, als 
es galt, eine ihr feindliche, wiſſenſchaftliche Lehrmeinung 
zu unterdrüden, ganz diejelben Mittel angewendet hat 


vi Vorwort 


wie in den Keberprocefien des 15. Jahrhunderts. Der 
Ausgang des Proceſſes Galilei ift Fläglich, weil der 
Angeklagte den Muth nicht bejaß, feine Ueberzeugung 
perjönlih zu vertreten, jondern auf jede Bedingung 
feinen Frieden mit der Kirche machte und fi fogar 
vor der Inquiſition erbot, das Gegentbeil von dem, 
was er früher gelehrt hatte, wiſſenſchaftlich zu bemeifen. 

Es iſt lehrreich, die drei Proceſſe miteinander zu ver- 
gleihen, und pſychologiſch jehr interefiant, die drei 
Männer Johann von Wejel, Johann Hus und 
Galileo Galilei zu ftudiren. Wie hoch fteht Hus 
über den beiden andern, wie tief fteht Galilei fogar 
unter dem ſchwachen Johann von Weſel! Und mie 
harakteriftiih ift das Verfahren der Inquiſitoren und 
in Galilei's Falle das Verhalten des zmeideutigen 
Papſtes! 

Den Proceß wegen Magie wider den Herzog 
Johann Friedrich von Weimar, der faſt gleichzeitig 
ſpielt, und den im Jahre 1888 verübten Mord an 
Donna Brigida in Mexico, die im Rufe der Hexerei 
ftand, haben wir angeſchloſſen, weil es fih auch in 
diejen beiden Fällen um ſchwere Verirrungen der Richter 
und der Rechtspflege handelt. 

Der Mordverfuh des Malers Joſeph Johann 
Kirchner in Wien wird ſehr verſchieden beurtbeilt 
werden. Wir ftimmen in allen Stüden dem Schluß- 
wort des Herrn Generalconjuls Dr. Meyer bei, welchem 
wir diefen Beitrag verdanken. Er hat den Charakter 
des Angeklagten gewiß richtig beurtheilt, und auch darin 





Borwort. VII 


wird man ihm beitreten müſſen, daß die Strafe in 
feinem richtigen Verhältniß zu dem Verſchulden Kirch⸗ 
ner’3 Stand. | 

Der Proceß Benthien führt einen Mörder vor, 
der aus den unterften Schichten der menjhlichen Ge- 
ſellſchaft ſtammt und fih allmählih zur blutvürftigen 
Beftie entmwidelt bat. 

Die Straßburger Falldmünzerbande und 
Meineid oder Rechtsirrthum find zwei von einem 
Rechtsanwalt bearbeitete Proceſſe, beide charakterifiren 
die Zuftände im Eljaß. 

Der in der neuejten Zeit verhandelte Proceß wegen 
der Ermordung des Dr. med. Caſſan aus der Feder 
des ſchon einmal genannten Herrn Generalconjuls 
Dr. Meyer in Wien erinnert an die franzöfiichen 
Proceſſe aus frühern Jahrhunderten, die der alte Ad— 
vocat Pitaval in feiner berühmten Sammlung be: 
arbeitet bat. 

Der Banduren-DOberftFreiherrvonderTrend 
ift ohne Zweifel eine merkwürdige Perſönlichkeit. Bon 
feinem Proceß ift nicht viel zu jagen, aber fein Leben 
in der Gefangenihaft, fein Teftament und fein Tod 
verdienen auf Grund zuverläffiger Quellen in Er- 
innerung gebracht zu werden. 

- Auch in dem Procefje wider die Carbonari in 
Stalien, deren Führer der Graf Eonfalonieri war, 
ift das Proceßverfahren nicht die Hauptſache, jondern 
die genaue Schilderung des Spielbergs bei Brünn, 
auf welchem ebenfo wie der Banduren-Oberft von der 


VIII Vorwort. 


Trenck auch der Graf Confalonieri und ſeine Genoſſen 
ihre Strafe verbüßt haben. Der Schriftſteller Deutſch 
in Brünn, der den Spielberg genau kennt, hat beide 
Proceſſe zu liefern die Güte gehabt. 


Gera, im December 1890. 


Dr. A. Vollert. 





Inhalt. 


Vorwort. 


Die Proceſſe gegen Galileo Galilei vor der Inquiſition 
in Rom. 1615/16. — 163233 . . ... 

Herzog Johann Friedrih von Weimar. Proceß wegen 
Magie. 1627 und 1628 . . ... 

Donna Brigida. Mexico. — Todtſchlag. 1888 

Der Proceß wider den Maler Joſeph Johann Kirchner. 
Mordverſuch am Freunde. — Wien. 1888 . 

Der Proceß Benthien. Mord. — Bambus 1889. 
1890 . . en 

Die ftraßburger Falſchmunzerbande. 1889 

Meineid oder Rechtsirrthum? Eine Dorfgeſchichte aus 
dem Elſaß. 1889 . . .. ren 

Die Ermordung des Dr. med. Gaffan. Mord. — 
Frankreich. 1889 

Ein Beitrag zu dem Leben und dem "Broceffe des 
Panduren⸗Oberſten Franz Freiherrn von der Trenck 
und ſeine Haft auf dem Spielberg bei Brünn. 
1741—1749 .. 

Ein Beitrag zu den Broceffen wider bie Carbonari 
in Italien. 1820 1833838.* 


Seite 


106 


173 
216 


226 


237 


272 


301 


Die Procefe gegen 
Galileo Galilei vor der Inguifition in Rom. 


1615/16. — 1632/33. 


Ein großartiges Inftitut mit weifem Organismus und 
von welterrettenver Wirkſamkeit — fo hat unlängjt ber 
bonner Profeffor der Tatholifchen Theologie, Schröes, bie 
Inguifition genannt. Selten hat ein Urtbeil jo aller 
Geſchichte Hohn geſprochen. Das Dogma foll die Ge- 
Ichichte befiegen. Für den Katholiken jtedt ein Kern von 
Wahrheit in dieſem Urtheil, und das ift der, daß in den 
romanijchen Ländern wenigſtens der Katholicismus feinen 
Beftand der Inguifition verdankt. Sie ift mit eiferner 
Strenge wider alle evangelifchen Regungen vorgegangen 
und bat fie in Feuer und Blut erſtickt. Die Kerfer find 
die Gräber der reformatorischen Bewegung in Italien und 
Spanien geworben. Daß Italien noch Fatholifch ift, ver⸗ 
banft e8 der Inguifition, — wird als der Ausspruch eines 
Papſtes überliefert. Alfo eine die Fatholifche Kirche ret⸗ 
tende Wirkſamkeit hat die Inquifition in der That gehabt, 
und daß fie dabei weit ausfchauend verfahren, wird auch 
nicht geleugnet werben können. Ob das aber mit „weiſem 
Organismus“ identiſch ijt, mag billig bezweifelt werben, 
und eine welterrettende Wirkſamkeit fchreiben wir nur 

XIV. 1 


2 Die Procefje gegen Galileo Galilei 


Einem zu, dem Sohne Gottes, der fie als Haupt feiner 
Kirche im Himmel. fort und fort ausübt. Ob der Pro- 
fefjor den Tatholifchen Theologen die Inquifition als Re⸗ 
mebium wider bie focialiftiihe Sturmflut unjerer Tage 
hat empfehlen wollen? Dann gefallen uns ber „weife 
Organismus” und die „welterrettende Wirkſamkeit“, vie 
uns in den arbeiterfreunblichen Staatsgeſetzen entgegen- 
treten, doch beſſer. Es erjcheint aber nothwendig, unfer 
Geſchlecht dann und wann an bie Greuel der Inquifition 
zu erinnern, bamit biejes Inftitut nicht mit romantiſchem 
Schimmer umgeben und etwa von ihr das Heil im ben 
Wirren der Gegenwart erivartet wird. 

Der Proceß, deſſen Bild die folgenden Blätter zeigen 
werden, weiſt zwar feine beiondern Greuel ber Inqui⸗ 
fition auf, trägt aber, wie nicht unrichtig gejagt worden 
it, ven Charakter ver Barbarei, trägt venfelben um fo 
mehr, als es fich in vemfelben nicht blos um die Unter- 
drüdung einer wiffenfchaftlichen Ueberzeugung, fondern auch 
um bie Befriedigung perfönlicher Rachſucht handelt. Es 
tt uns dieſes lestere beim Studiren dieſes Proceffes 
immer mehr zur Gewißheit geworden. Die Inquiſition 
hat anerfanntermaßen folcher Rachfucht gedient, bat auf 
anonyme Denunciationen bin Anklagen erhoben unb Ur- 
theile gefällt. Daß auch die Eimleitung des Verfahrens 
gegen Galilei und der traurige Ausgang vefjelben folcher 
Rachſucht und nicht dem Eifer für die Ehre ver Kirche 
allein entfprungen tft, daß dieſer Eifer vielmehr Vor⸗ 
wand, und daß Galilei felbft von ernfter Liebe zu feiner 
Kirche erfüllt war, wird die nachfolgende Darftellung er- 
geben. 

Salilet war Verfechter ver Kopernifanifchen Lehre; er 
batte neue Stützpunkte für diefelbe gefunden; ihm war e8 
zur unwiberleglichen Gewißheit geworben, daß nicht bie 





vor der Inquiſition in Rom. 3 


Erde, fonvern die Sonne das Centrum der Welt fei. 
Kopernifus hatte dieſe Lehre nur hypothetiſch vorgetragen, 
indeß Doch nur feheinbar. Er hatte nämlich, um jeglichem 
Widerſpruch von Firchlicher Seite zu begegnen, in ber 
Borrede feines Hauptwerfes „De revolutionibus orbium 
coelestium”*) feine Anficht nur als Hypotheſe bezeichnet; 
er hatte darin gejagt, er könne fich gewiſſe Erſcheinungen 
nicht erklären: wenn die Sonne fi um ihn drehe, fo 
wolle er fich einmal um die Sonne drehen und zufehen, ob 
ihm num die Sache Far würde. Es war das ſo geſchickt 
geiprochen, daß Papft Paul III. unbevenflih die Wid⸗ 
‚mung bed Werkes angenommen hatte. Intereſſant aber 
ift, Daß nach neuern Forſchungen diefe Vorrede nicht von 
Kopernilus, dem katholiſchen Domherrn von Frauenburg, 
‚jondern von feinem Freunde Andreas Ofiander, dem be- 
kannten nürnberger Tutherifchen Theologen ftanımt. Diefe 
hypothetifche Form rettete die Kopernifanifche Lehre vor 
der Verurtheilung durch die Inquifition. ‘Der proteftan- 
tifche Theologe aber hat dadurch zugleich Beruhigung im 
eigenen Lager bewirken wollen, denn Melanchthon war ein 
fehr energiicher Gegner diefer Lehre. Auch die Kirche der 
Reformation hat es erſt lernen müffen, daß fie weber 
geocentriſch noch heliocentriſch, fondern theocentriſch, noch 
genauer chriftocentrifch zu Iehren habe. Weber die Erbe 
noch die Sonne, Sondern Chriftus ift dem proteftantischen 
Theologen der Mittelpuntt ver Welt. Auf dieſem Funda⸗ 
mente ſtehend kann er ruhig den Forſchungen der Natur- 
wiſſenſchaft zuſehen. Die Kirche der Reformation ſteht 
unbefangen allen wiffenfchaftlichen Nefultaten gegenüber; 
fie hat den fichern, objectiven Boden, das in Chriftt ge- 
offenbarte Heil unter den Füßen. Die römische Kirche, 


*) „Bon den Umwälzungen ber Himmelskörper.“ 
1* 


4 Die Brocejfe gegen Galileo Galilei 


jo oft als die einzig objective Macht gepriefen, tft in 
Wahrheit viel größerer fubjectiver Willkür verfallen. Das 
infallible Papfttbum fchlägt in fein Gegentheil um. Auch 
Galilei ift Das Opfer fubjectiver Willfür geworben. Gegen- 
wärtig aber ift fein Syſtem, das im Jahre 1633 ver- 
dammt wurbe, gejtattet. Schon 1757, unter dem gelehrten 
Benedict XIV., beichloß die Indercongregation: Nach 
Rückſprache mit Sr. Heiligkeit ſoll das Decret aufge: 
hoben werben, das alle Bücher verbietet, welche die Un⸗ 
beweglichfett der Sonne und die Beweglichleit der Erde 
lehren. 

Nichtsdejtoweniger verweigerte im Sahre 1820 der Ma- 
gister sacri Palatii, P. Philipp Anfoffi, vem Kanonikus 
Joſeph Settele, Profefjor der Optik und Aſtronomie am 
römifchen Archigymnaſium, das Imprimatur für ein Buch, 
in dem er bie Kopernikaniſche Lehre nicht als bloße Hypo⸗ 
thefe behanpelte. Settele appellirte an ven Bapft Pius VIL, 
ber die Sache an die Congregation bes heiligen Officiums 
verwies. Dieje erklärte am 16. Auguft 1820, das Buch 
jei nicht zu beanftanden. Der Papft genehmigte biejen 
Beſchluß. Anfoſſi machte auf Grund noch älterer De- 
crete weitere Bedenken geltend; bie Carbinäle ver Con⸗ 
gregation ber Inquiſition aber erklärten, e8 fei in Rom 
ber Drud von Werfen, welche über bie Bewegung ber 
Erde und das Stillftehen ver Sonne handeln, nach ber 
allgemeinen Annahme der modernen Aftrongmen geftattet. 
Diefes Decret wurde am 25. September 1822 vom Papfte 
bejtätigt. Demnach hat Pins VII, der Wieberheriteller 
bes Jeſuitenordens, feine Vorgänger Paul V., der ben 
Stifter des Ordens kanonifirte und Galilei wegen feiner 
Lehre verwarnen ließ, und Urban VIIL, der ihn den 
Sefuiten zu Liebe verurtbeilte, corrigirt. Immerhin eine 
glüdliche Inconfequen;z. 








vor der Inguifition in Rom. 5 


Das Leben Galilei’8 und fein Proceß find oft ber 
Gegenstand wifjfenfchaftlicher Forſchung geweſen. Die erfte 
Biographie, von Viviani, einem der treueften Schüler und 
Berehrer Galilei’8, fhon im Jahre 1654 geichrieben, tft 
erjt im Jahre 1718 veröffentlicht worden. Aber wie er- 
ſcheint darin Galilei? Er bereut fein Auftreten für 
die verurtheilte Lehre als ein Verbrechen, und er fchreibt 
feine letten großen Werke, um ver Vorjehung für die Be- 
freiung aus ſchwerem Irrthum feinen frommen Dank abzu- 
tragen. Mehr war eben nicht erlaubt. Erit 1775 be- 
richtete Frifi in einer Schrift über Galilei wahrbeitsgemäß 
über feine Stellung zur Kopernifanifchen Lehre, alfo balo 
nach Aufhebung des Jeſuitenordens. Wenige Jahre darauf 
folgten die Biographien von Brenna und Targioni. Sie 
jtellten eine Folterung Galilei's in Abrede und fchloffen 
das aus ven Berichten des toscanifchen Geſandten in Rom, 
Niccolini. ‚Allein diefer Schluß ift nicht berechtigt, da 
der Gefandte nichts berichten durfte, und da auch Galilei 
über die Vorgänge jchweigen mußte. In unferm Jahr⸗ 
hundert hat ein anderer italienifcher Gelehrter, Giulio 
Libri, in feiner „Gejchichte der mathematischen Wiſſen⸗ 
ichaften in Italien“ vie beftimmte Behauptung aufgeftelli, 
daß Galilei gefoltert worden ſei. Er argumentirt nicht 
unwahrfcheinlich aus dem fpätern graufamen Verfahren 
gegen Galilei. Das hatte das Gute, daß man fich in 
Rom entichloß, etwas aus den Proceßacten zu veröffent- 
lichen. Diefe waren im Jahre 1809 von den Sranzofen 
nach Paris gebracht worden. Napoleon foll die Abficht 
gehabt haben, fie befannt zu geben. Entweber haben bie 
ſpätern Kriege ober fein eigenes Autoritätsbebürfniß bie 
Ausführung verhindert. Sein Bibliothekar hatte fich 
einige Auszüge gemacht; aus biefen hat Delambre in 
ſeiner „Geſchichte der neuern Aſtronomie“ einiges mitge- 


6 Die Proceſſe gegen Galileo Galilei 


theilt. Das war im Jahre 1820. Dieſe Mittheilungen 
bewirkten eine vollftändige Enttäufchung über Galilei. 
Nach der Reftauration hat die päpftliche Regierung 
fich lange vergeblich bei dem franzöflichen Kabinet um bie 
Herausgabe bemüht. Den angeftrengteften Bemühungen 
des Grafen Roſſi, des franzöfiichen Gejandten beim Vati- 
can, gelang es erft im Jahre 1846, die Acten für Rom 
zurüdzuerbalten. Pius IX. machte fie der Vatican⸗Biblio⸗ 
thek zum Geſchenk; im Jahre 1850 antwortete der Vor⸗ 
jteber feines Geheimarchivs, Marino Marini, auf Libri's 
Angriffe mit feiner Schrift „Galileo e 1’ inquisizione. 
Memoriae’s torico-critich”. Doch war von ber hifto- 
riſch⸗-kritiſchen Methode nur der Name geborgt; nur einige 
Bruchſtücke wurden aus ben Acten wiedergegeben; das 
Ganze war eine ungeſchickte Apologie des Inquiſitions⸗ 
verfahrene. Dazu wurden bie Acten wieder aus ber 
Bibliothef nach dem Geheimarchiv geſchafft. Erſt P. 
Theiner geftattete einem klerikalen Franzofen, Denri ve 
l'Epinois, Abjchrift von den Acten zu nehmen. Der 
Tranzofe konnte indeß nur flüchtig arbeiten, da er durch 
eine bringende Yamilienangelegenheit abgerufen wurde. 
Er publicirte feine Documente in der „Revue des ques- 
tions historiques’’ (Paris 1867) unter der Veberfchrift 
„Galil6e, son proces, sa condemnation d’apr&s des 
documents inedits‘. Ihm folgte, drei Jahre fpäter, 
wieder ein Italiener, Gherardi, mit einer Schrift „I 
Processo Galilei reveduto sopra documenti di nuova 
fonte” (Florenz 1870). Der Verfaſſer hat wejentlich de 
l'Epinois benutzt. Erſt 1876 bat ſich ein Italiener, 
Bertt, einft italienifcher Unterrichtsminifter, auf dem 
Zimmer des P. Xheiner mit den Driginalacten bes 
ſchäftigt. Aber auch dieſe Ausgabe war unvollftändig; 
fünf Documente fehlen ganz; von funfzig Schriftftücen 








vor ber Inquifition in Rom. 7 


wird nur furz der Inhalt angegeben. Auch bie ganze 
Soliobezeichnung hat Berti weggelaffen. Gleichzeitig mit 
bem Franzojen und dem Italiener haben Deutſche den 
Proceß behandelt, jo ver heidelberger M. Cantor in ber 
„Zeitſchrift für Mathematik und Phyſik“, jo Wohlwill im 
Sahre 1870 in einer Arbeit über die rechtliche Grunb- 
lage bes Proceffes, und im Jahre 1877 in einer umfang- 
reichen, von nicht gewöhnlichem Scharfjinn zeugenden 
Monographie über die Frage, „ob Galilei gefoltert wor- 
ben”. In demſelben Iahre fette es ein öfterreichiicher 
Gelehrter, K. von Gebler, mit Hülfe der Botjchaft beim 
Cardinal Simeoni, demſelben, mit deſſen Hülfe Fürft 
Bismard feinen Rüdzug im Culturkampf begann, burdh, 
daß ihm bie vollftändigen Acten zur Dispofition geftellt 
wurden. K. von Gebler wollte fich nur Gewißheit über 
bie Echtheit ober Unechtheit eines für die. Beurtheilung 
des Procefies überaus wichtigen Documentes (e8 iſt das 
Document vom 26. Februar 1616; wir werben ſehen, 
wie beveutfam es ift) verichaffen. Da gewahrte er bie 
mannichfachen Abweichungen, Auslaffungen und Incorrect- 
heiten ber bisherigen Ausgaben; fo reifte in ihm der Ge- 
danke, einen Abdruck jämmtlicher Schriftftüde mit diplo⸗ 
matijcher Genauigfeit zu veranftalten. Sein Werk er- 
jchien unter dem Titel „Galileo Galilei und die Rö— 
milde Eurie” (Stuttgart 1876). Den Einbrud, wel- 
chen der Proceß im Lichte dieſes Buches machte, hat 
der berliner Philofoph E. Zeller in ber „Deutſchen 
Rundſchau“ (Octoberheft 1876) treffend wiedergegeben; 
wir können es uns nicht verſagen, hieraus einige Sätze 
mitzutheilen. E. Zeller ſchreibt: „Die Geſchichte führt 
uns zahlloſe Fälle vor Augen, in denen die freie For⸗ 
ſchung im Namen der Religion unterdrückt oder beſchränkt 
wurde, einzelne und ganze Schulen wegen ihrer wiſſen⸗ 





8 Die Brocefje gegen Galileo Galilei 


Ichaftlichen Anfichten oft bis aufs äußerſte verfolgt wur⸗ 
den. Nur ein Glied in biefer langen Reihe wiffen- 
Schaftlicher Martergefchichten bildet ver Proceß Galilei's; 
und er Steht zudem an fchauernden Momenten, an plafti- 
ſcher Greifbarkeit der Conflicte, an Kraft und Größe ber 
handelnden Berfonen, an erjchütternder Gewaltjamteit des 
Ausgangs hinter vielen Ähnlichen Vorgängen zurüd. ‘Der 
Held diefer Tragödie ift feiner von jenen groß angelegten 
reformatorifchen Charakteren, die einer weltgefchichtlichen 
Aufgabe in unbebingter Hingebung dienen, die ihren Weg, 
nicht rechts und Links blidend, mit rückſichtsloſer Ent- 
ichloffenheit verfolgen, die Hinbernifje niederwerfen oder 
an ihnen zerichellen. Bei Galilei finden wir nichts von 
allevem; bei aller feiner wiffenfchaftlichen Größe Liegen 
ihm doch von Anfang an gewiffe Rüdfichten gegen bie 
Macht, die fich feiner Forfhung in den Weg ftellt, im 
Blute; und als fich die Unverträglichleit der beiverfeitigen 
Anſprüche immer klarer herausftellt, führt ihn dieſe Er- 
fahrung nicht. zur energifchen Befreiung von jenen Riüd- 
ſichten, ſondern er läßt fich einjchüchtern, fucht ſich Hinter 
zweidentige Wendungen zu verjteden und kann fih am 
Ende einer entwürbigenden Verleugnung feiner Ueber⸗ 
zeugung nicht entziehen. Auf der andern Seite haben 
wir aber auch bei feinen Verfolgern zwar vie volle Bös⸗ 
artigfeit, aber nicht die imponirende Kraft, vie ftürmifche 
Leivenschaftlichleit des religiöjen Fanatismus; gerade bie 
mächtigften unter benjelben machen vielmehr den Ein- 
brud, daß fie ihres eigenen Standpunkte nicht mehr 
ficher feien, daß ihnen ver Glaube an fich jelbft und ihre 
Sache, das Einzige, was uns mit der Unduldſamkeit bes 
Fanatikers einigermaßen verſöhnen Tann, fehle, daß auch 
fie vem Conflicte, deſſen Gefahr und Schande fie ahnen, 


vor der Inquiſition in Rom. 9 


gern aus bem Wege gingen, wenn fie es mit ihrer Stel- 
Img und ihrem Intereffe zu vereinigen wüßten. So 
ftoßen wir auf Halbheit da wie dort. Auf Galilei's 
Seite ift nur ein halbes Martyrium, auf feiten ber 
Kirchengewalt nur ein halber Sieg, eine perjönliche Mis- 
banblung, feine Vernichtung des Gegners.” So weit der 
Philoſoph. Wir fügen dem nur hinzu, daß die Wifjen- 
fhaft überhaupt feinen Ueberfluß an Märtyrern Rom 
gegenüber hat; fie hat je und je ihren Frieden mit Rom 
gefchloffen. Wir erinnern nur an Erasmus. Aber ber 
Glaube, die fides salvifica, hat die Kraft zum Martyrium 
gegeben und hat das Feld behalten. Die Sage hat Ga- 
ltlei mit dem Nimbus eines Märtyrer umgeben; als 
jolcden gedachte ihn Mathilde Raven in einem Roman zu 
feiern. Bet ihren Vorſtudien merkte fie, daß das un⸗ 
möglich war; jo bat fie in ihrem zweibändigen Roman 
„Salileo Galilei” (Leipzig, F. A. Brockhaus, 1860) ein nicht 
ungetreues Bild von jener Zeit und von ben in ihr 
wirlenden Perſonen entworfen. Nur haben wir wenig 
von einem Roman gefpürt; doch ift das unter Umſtänden 
ein Lob; bat fie doch nicht weniger als 1376 Briefe aus 
jener Zeit burchftubirt, um den nöthigen Stoff für ihren 
„Roman zu fammeln. 

Wir gehen nunmehr zur Scilverung des Procefjes 
jelbft über; wir werden bie nöthigen Mittheilungen über 
Form und Inhalt der Acten an geeigneter Stelle ein- 
ſchieben; vorher aber noch einiges jagen über die Perfon 
Galilei's. Er wurde am 18. Februar 1564 zu Piſa ge- 
boren, wo fich feine Aeltern vorübergehend aufhielten. Sein 
Bater war ein florentinifcher Evelmann, in der Mufik 
theoretifch gebildet und ein tüchtiger Mathematiker. Im 
Florenz verlebte er feine Sugend. Der Knabe hatte bie 


12 Die Procefje gegen Galileo Galilei 


Zeit, im Jahre 1624, bedrohte das franzöfifche Parla- 
ment jede Abweichung von Ariftotele8 mit der Todes⸗ 
ftrafe. Die ganze Weltanfchauung ruhte auf Ariftoteles; 
feine ethifchen, pſychologiſchen, phyſikaliſchen Grundſätze 
waren maßgebend. Sie galten als Stützen des kirch⸗ 
lichen Lehrgebäudes. 

Hier intereſſirt uns nur die Phyſik des Ariſtoteles. 
Die Welt iſt ihm der Inbegriff alles Veränderlichen. 
Dieſes Veränderliche iſt theils unvergänglich wie der im 
ewigen Aether ſchwimmende Firſternhimmel, theils ver⸗ 
gänglich, wie alles, was man auf Erden unter dem Namen 
„Natur“ begreift. Der Himmel iſt das Verbindungs⸗ 
glied zwilchen dem vergänglichen Naturwejen und dem un 
veränberlichen Urweſen, aljo dasjenige, wodurch letzteres 
auf die Natur einwirkt. Der Firiternhimmel kommt 
einem Weſen nach dem Abfolut » Göttlihen am nächften, 
Die Region der Planeten, zu welchen Sonne und Mond 
gehören, fteht ihm ferner, ift aber der Wandelbarkeit und 
bem Leiden entrüdt. Jeder der Planeten hat feinen un 
bewegten Beweger; zuweilen fpricht er auch von einer 
Seele der Planeten. Die fugelförmige Erde in ver Mitte 
des Alls fteht ftill; fie bilvet das Centrum, ohne welches 
eine Kreisbewegung nicht denkbar iſt. Ihr Mittelpunkt 
‚it zugleich Mittelpunkt des Alle. Die Erbe mit ihrer 
Atmoſphäre ift die Negion von Werben und Vergehen. 
Diefer ewige Wechfel gefchieht dadurch, daß die Geftirne, 
namentlich die Sonne, der Erde bald näher, bald ferner 
fommen. Der Zwed der ganzen Natur ift der Menſch, 
aus vergänglichem Leib und unfterblicher Seele beſtehend, 
fein Ziel die Glüdfeligkeit, welche in erjter Reihe darin 
beiteht, daß die Seele das Gute benft, wenngleich eine 
gewiffe Ausrüftung mit äußern Gütern auch nothwendig 
dazu ift. 


vor der Inguifition in Rom. 13 


Dieje Artftotelifche Phyſik hatte in der Kirche faft dog⸗ 
matifchen Werth. Als man einem Jeſuitenprovinzial bie 
Sonnenfleden zeigen wollte, eriwiverte er, er habe zwei- 
mal den ganzen Ariftoteles vurchgelefen und feine Silbe 
gefunden, bie auf Sonnenfleden fich auch nur deuten laſſe, 
Si non e vero, e ben trovato. Die eupämoniftijche 
Theorie des Ariftotele8 aber gilt immer noch in der Tatho- 
liſchen Kirde. Das Chriftenthum ift weſentlich Glüd- 
jeligfeitölehre. Nach der Schrift aber ift Zwed ver 
Schöpfung und Erlöfung das Rob der Herrlichkeit Gottes. 
Dan lefe nur das erfte Kapitel im Epheferbriefe. 

Galilei hatte ſich alfo die Feindfchaft ver Ariftotelifer 
zugezogen; das ganze dogmatiſche Lehrgebäude war durch 
ſein Zeleflop ins Wanken gerathen. Nichtsdeſtoweniger 
hätte man nicht gewagt, gegen ihn vorzugehen, wenn man 
nicht die Sache ins Religiöſe hätte hinüberſpielen können. 
Ihn blos der Verletzung der Ariſtoteliſchen Philoſophie 
anzuklagen — damit wäre man bei dem großen Anſehen, 
deſſen er ſich erfreute, nicht durchgekommen. Die Refor⸗ 
mation war doch nicht ſpurlos an der römiſchen Kirche 
vorübergegangen. Luther hatte nicht umſonſt wider den 
„alten Heiden”, den Ariſtoteles, gewettert. So verdäch— 
tigte man Galilei, er griffe die Bibel an, er fee feine 
Weisheit an Stelle der geoffenbarten Wahrheit. Und 
merkwürdig — Galilei felbft lieferte feinen Gegnern biefe 
Waffe in bie Hand; er fuchte nämlich feine Anficht durch 
bie Bibel zu ftärfen, und dies z0g ihm ben Vorwurf 
falicher, trabitionsfeindlicher Schriftanslegung zu. Er 
that dies in einem Briefe an feinen Schüler und Freund 
Caſtelli, ein Mitglied des Benedictinerordens, ben biefer 
in vielfachen Abdfchriften verbreitete. Auf dieſen Brief 
bin wurde Galilei bei der Inguifition denuncirt. Er be- 
findet fih in den Acten als eins der erjten Documente; 


14 Die Brocefje gegen Galileo Galilei 


er umfaßt bei Gebler acht Druckſeiten. Wir theilen eini- 
ge8 aus dieſem Briefe mit. Zunächft fpricht Galilei 
darüber feine Enträftung aus, daß man bie Heilige Schrift 
in eine rein wifjenfchaftliche Auseinanderfegung verflechte 
und ihr dabei gar das Recht der Entjcheivung beimeffen 
wolle. Als guter Katholit erfenne er zwar bereitwillig 
an, daß die Heilige Schrift niemals lügen oder irren könne, 
boch gelte das feiner Meinung nach nicht von jedem ihrer 
Erflärer. Diefe müßten ja doch fonft manchen biblischen 
Ausprud bildlich nehmen — fo wenn von Gottes Glied⸗ 
maßen ober von feinem Zorn, von feinem Haß und feiner 
Rene die Rede ſei — warum wollten fie das denn nicht 
auch bei den Ausjagen ver Schrift über das Verhältniß 
von Sonne und Erde? „Da aljo die Heilige Schrift am 
vielen Stellen eine andere Auslegung, als der Wortlaut 
fcheinbar befagt, nicht blos geftattet, fondern geradezu ver- 
langt, fo fcheint e8 mir, es ſei ihr in mathematischen 
Streitfragen ver legte Plat einzuräumen. ‘Denn die Heilige 
Schrift und die Natur — beide kommen von Gott ber, 
jene als vom Heiligen Geifte eingegeben, dieſe als die Ver- 
wirflihung göttlicher Befehle. In der Heiligen Schrift war 
es num nothwendig, daß fie, um fich dem Verſtändniſſe 
ber großen Menge anzubequemen, vieles jage, was den 
eigentlichen Sinn nur bildlich wiedergiebt; die Natur 
hingegen gibt fich, wie fie ift, nur ihren Gefegen folgen, 
mag man fie begreifen oder nicht. Deshalb muß, fo 
icheint mir, fein Werk der Natur, das uns entweder er- 
fahrungsmäßig vor Augen fteht, ober bie nothwendige 
Folge wiſſenſchaftlicher Beweisführung ift, wegen dieſes 
oder jenes Sabes ber Heiligen Schrift in Zweifel gezogen 
werben.” Weiter heißt es dann in biefem Briefe: „Weil 
zwei Wahrheiten fich offenbar niemals widerſprechen können, 
jo iſt e8 die Aufgabe weifer Ausleger ver Heiligen Schrift, 





vor der Inguifition in Rom. 15 


fih zu bemühen, den wahren Sinn der Ausiprache biefer 
legtern herauszufinden in Webereinitimmung mit jenen 
Sclüffen, die ſich enweder vermöge des Augenſcheins oder 
mittels ficherer Beweiſe ald gewiß ergeben. Da wir nicht 
mit Sicherheit behaupten können, alle Ausleger ſeien von 
Gott infpirirt, jo glaube ich, e8 wäre Klug daran ge- 
than, Teinem die Anwendung von Süßen aus der 
Heiligen Schrift zu geftatten, auf daß man nicht 
gewiffermaßen verpflichtet wird, Behauptungen über na- 
türliche Dinge im Glauben für wahr zu halten, von 
benen ſpäter die finnliche Wahrnehmung und durchſchla⸗ 
gende Beweife das Gegentheil darthun könnten.” Galilei 
meint, bie firchliche Obrigfeit thäte am beiten, die Entnahme 
naturmwifjenfchaftlicher Lehrſätze aus ver Heiligen Schrift 
zu verbieten, damit nicht die Autorität der letztern felbit 
darunter Schaben leide. Und nun fpricht er fich über die 
Heilige Schrift folgendermaßen aus: „Meiner Meinung nach 
hat die Heilige Schrift den Zwed, ven Menſchen diejenigen 
Wahrheiten mitzutbeilen, welche für ihr Seelenheil noth- 
wendig find, und die eben, alle menjchliche Urtheilskraft 
überfteigend, weder durch Wifjenichaft noch ſonſt, ſondern 
eben nur burch den Heiligen Geift mittels Offenbarung zu 
gewinnen und darauf hin gläubig anzunehmen find. Daß 
aber diejer felbe Gott, der uns Sinne, Verftand und Ur- 
theilsnermögen gegeben hat, nun wollen follte, daß wir 
biefe nicht brauchen und die dadurch erreichbaren Kennt- 
niſſe auf anderm Wege erlangen jollen — das zu glauben 
halte ich mich nicht für verpflichtet.” 

Galilei erläutert feine Meinung an Beifpielen. Er 
fommt infonderheit auf Iofua, Rap. 10 zu reden. Im fieg- 
reihen Kampfe mit den Amoritern bittet Joſua den Herrn 
um bie Verlängerung bed Tages, um bie Feinde ganz vers 
nichten zu Fönnen. „Da revete Joſua mit dem Herrn 





16 Die Brocefje gegen Galileo Galilei 


bes Tages, ba der Herr die Amoriter übergab vor ben 
Kindern Israel, und fprach vor gegenwärtigem Israel: 
Sonne, jtebe ftill zu Gibeon, und Mond im Thal Aja- 
Ion! Da ftand die Sonne und Mond ftille, bis daß 
fih das Volk an feinen Feinden rächte. Iſt dies nicht 
gefehrieben im Buche des Frommen? Alto ftand bie 
Sonne mitten am Himmel und verzog unterzugehen, bei- 
nabe einen ganzen Tag, und war fein Tag biejem gleich, 
weder zuvor noch danach.” (Sof. 10, 12—14) Galilei 
zeigt nun, daß, wenn die Sonne am Firmamente fejt- 
gehalten wurde, die Tageslänge abgekürzt wurde, alfo 
gerade das Gegentheil von dem erzielt wurbe, was Joſua 
beabfichtigte. Ein vollftändiges ‘Durcheinander der Natur 
hätte die Folge fein müffen. Er nimmt an, Gott habe 
vielmehr dem ganzen Weltenſyſteme eine zeitweilige Ruhe 
geboten, nach deren Ablauf dann alle Himmelsförper, fo 
in ihrem gegenfeitigen Verhältniß nicht im geringiten ge- 
ftört, in alter Orbnung wieder zu freifen begonnen hätten. 
Das Wunder leugnet demnach Galilei jowenig, daß er 
jogar für eine Steigerung befjelben eintritt. Das DVer- 
hältniß von Bibel und Naturwiffenichaft aber wird in 
biefem Briefe an Caftelli in geradezu muftergültiger Weife 
bejprochen. Seine Frömmigkeit ift eine unanfechtbare. 
Gegen das Ende des Jahres 1613 hatte Galilei diejen 
Brief gejchrieben; die Aufregung war eine ungebeuere. 
Ein Dominicaner, Pater Caccini, polemifirte gegen ben 
Brief von der Kanzel. Am vierten Advent 1614 hielt er 
in der Kirche Santa⸗Maria Novella zu Florenz eine ge= 
harnischte Predigt wider Galilei. Er legte feiner Predigt 
eben die Yofuaftelle zum Grunde; als exordium aber 
wählte er das Wort aus der Himmelfahrtsepiftel (Apoftel- 
geſch. 1, 11): „Ihr Männer von Galiläa, was ftehet ihr 
und fehet gen Himmel?“ Die Anfpielung war mehr als 











vor der Inguifition in Rom. 17 


beutlich; auch draſtiſche Gefchicklichfeit wird man dieſem 
exordium nicht abiprechen können. Nur hatte ver gute 
Bater vergeffen, daß diefe Worte aus dem Munde eines 
Engels ftammen, welcher bie ob ver Auffahrt ihres Herrn 
trauernden Jünger tröftete. Die Rolle eines tröftenden 
Engels aber hat er nicht gefpielt, vielmehr Del ins Feuer 
gegoffen. Die Mathematit war ihm eine Erfindung des 
Zeufeld. Als ob von dieſem nicht alle Verwirrung auf 
Erden herrührt! Als ob die Schrift nicht Gott einen 
Gott der Orbnung nennt! Der Skandal war da; in ben 
gebildeten Kreifen war man empört; felbft der Domini» 
canergeneral Maraffi war e8 in fo hohem Grabe, daß 
er ein Entjchuldigungsichreiben an Galilei ſchickte. Aber 
ber P. Caccini wußte fich zu helfen; er veranlaßte einen 
andern Dominicaner, P. Lorini, Galilei bei der Inqui⸗ 
fition zu denunciren. Auch dieſe Denunctation befindet 
fih in den Acten; am Schluffe verjelben wird P. Caccini 
zum Zeugen vorgeichlagen. Dies hatte eine Prüfung ber 
Schrift Galilei's: „Geſchichte und Erklärung der Sonnen- 
flecken“, zur Folge. Dieſe Schrift, fein Brief an Eaftelli, ſo⸗ 
wie ein zweiter Brief an bie Großherzogin- Mutter, Chriftine 
von Lothringen, auf deren Bitten er fich noch weiter über 
Bibel und Naturwiffenfchaft ausiprach, bildeten pie Grund⸗ 
lagen, auf welchen bie Feinde Galilei's die Anklage wegen 
philofophifcher und theologifcher Irrlehre wider ihn er» 
hoben. Die eigentlichen Macher waren wol die Jeſuiten; 
die Dominicaner waren zunächit nur vorgefchoben. 

In dem Briefe an Chriftine von Lothringen führt 
Galilei Folgendes aus: Die Theologie nennt fich die Kö⸗ 
nigin der Wiffenfchaften. ‘Dies könne in einem boppelten 
Sinne gejchehen, entweber weil alles, was die andern 
Wiſſenſchaften lehren, in der Theologie enthalten fei und 

XXIV. 2 


18 Die Proceffe gegen Öalileo Galilei 


erflärt würde, ober weil der Gegenftand, mit welchem bie 
Theologie fich beichäftigt, alle andern Gegenſtände des pro- 
fanen Wiffens an Würde und Wichtigkeit weit überragen. 
Das erftere würben aber wol ſelbſt ſolche Theologen, vie 
nicht ganz allen weltlichen Wiffens bar ſeien, gewiß nicht 
behaupten, weil doch niemand fagen könne, bie Geometrie, 
Altronomie, Muſik und Medicin würden in der Heiligen 
Schrift genauer und befjer vorgetragen als im ven 
Büchern von Archimedes, Ptolemäus, Boccius und Ga- 
lenus. Es bleibe alfo nur die zweite Annahme übrig, und 
da follte die Theologie, nur ver Betrachtung ber göttlichen 
Probleme obliegend und ihrer hohen Würde eingebent, 
auf dem ihr zukommenden Töniglichen Throne verbleiben 
und die nievern Wiffenfchaften, als die Seligkeit nicht 
betreffend, unbeachtet laſſen. Und dann, fährt er fort, 
ſollten auch nicht bie PBrofefforen der Theologie fich Die 
Autorität anmaßen, ‘Decrete und Verordnungen in ge⸗ 
lehrten Disciplinen zu erlaffen, veren Studium fie nicht 
obgelegen haben. Dies wäre gerade fo, als wenn ein ab- 
foluter Fürft, welcher in dem Bewußtſein, frei befehlen 
und fich Gehorfam verjchaffen zu können, ohne die Arznet- 
funde oder die Baukunſt ſtudirt zu haben, verlangen würde, 
dag man nad) feinen Anordnungen fich curiren oder Ge- 
bäude aufführen folle, der größten Lebensgefahr für die 
betreffenden Kranken und dem offenbaren Ruin für die reſp. 
Banlichkeiten zum Trotz. Noch bemerkt er, daß ber Heilige 
Geiſt uns habe zeigen wollen, wie man zum Dimmel ge- 
lange, nicht aber, wie die Himmel fich bewegten. 

Damit hatte Galilei allerpings in ein Wespenneſt ge⸗ 
ftochen. Seine Gegner rubten nicht: fie ſuchten e8 dahin 
zu bringen, daß er nach Rom citirt wurde. Allerhand 
bebrohliche Gerüchte famen ihm zu Ohren. Da beichloß 
er, feinen Feinden zuvorzulommen, nach Rom zu gehen 





vor der Ingquifition in Rom. 19 


und feine Sache dort zu verfechten. Im December 1615 
reifte er, mit warmen Empfehlungsjchreiben des Groß- 
herzogs verjehen, nach Rom ab. Wiederum fand er bie 
ehrenvollfte Aufnahme. In den erften, einflußreichſten 
Familien durfte er feine Lehren entwideln; allgemein 
ftimmte man ihm zu; das machte ihn ganz ficher. Am 
6. Februar 1616 ſchrieb er an ben erften toscanifchen 
Staatsfecretär Picohena nach Florenz: „Meine Angelegen- 
heit ift, foweit fie meine Perſon betrifft, völlig beenbigt; 
ſämmtliche damit betraut gewejene Prälaten verficherten 
mir, daß man fich von meiner Chrenhaftigfeit und dem 
böjen Willen meiner Verfolger vollkommen überzeugt habe. 
Was das betrifft, könnte ich aljo nach Haufe zurückkehren; 
allein mit meiner Rechtsſache hängt eine Frage zufammen, 
bie nicht blos mich, ſon dern alle jene angeht, welche fett 
achtzig Jahren entweder in Druckwerken, in öffentlichen 
Vorträgen, ober in vertrauten Unterhaltungen einer ge- 
wiflen, Euer Gnaden nicht unbefannten Lehrmeinung bei- 
getreten find, über bie man gegenwärtig ein Urtheil zu 
fällen ſich anfchidt. Ueberzeugt, daß mein Beiſtand in 
biejer jo recht eigentlich mein Forſchungsgebiet betreffenden 
Unterfuchung von Nugen fein dürfte, Tann und darf ich 
nich nicht enthalten, daran theilzunehmen, indem ich da⸗ 
bei der Eingebung meines chriftlichen Gewiſſens und 
meinem Eifer für die Fatholifche Sache folge.” Alſo ver 
hoffnungsfühne Galilei; vierzehn Tage fpäter wurde das 
Urtbeil gefällt. 


Wir geben bier das Gutachten der Eonfultatoren nach 
ben Acten. (Gebler, ©. 47, 48.) 


2* 


20 Die Broceffe gegen Galileo Galilei 


Sätze, welche zu begutachten: 


Gutachten, abgegeben im heiligen Offictum ber Stadt, 
Freitag, den 24. Februar 1616 
in Gegenwart der unterfchriebenen theologiichen Väter. 


1. Die Sonne ift das Centrum der Welt und gänz- 
lich unbeweglich von Ort zu Ort. 


Gutachten: Alle fagten, daß der erwähnte Sat thöricht 
und philofophifch abſurd und formell ketzeriſch fei, weil 
er ausbrücdlich den Meinungen ver Heiligen Schrift an 
vielen Stellen widerspricht, nach der Wortbebeutung, 
wie nach der allgemeinen Auffaffung, wie nach dem 
Sinne der heiligen Väter und Doctoren der Theologie. 

2. Die Erbe ift nicht das Centrum der Welt und 
nicht unbeweglich, ſondern bewegt fich gänzlich 
um fi), auch in täglicher Umdrehung. 

Gutachten: Alle fagten, daß diefer Sat bie gleiche Gel- 
tung empfange in ver Philoſophie, ſowie rüdfichtlich der 
theologifhen Wahrheit; zum mindeften jet er irrig im 
Glauben. 

Petrus Lombardus Archiepus Armacanus 

fr. Hyacinthus Petronius sac.: Apost. Pal. Mag. ıc.; 

es folgen die Unterjchriften, im ganzen elf, barumter 

namentlich ein Jeſuit, an achter Stelle: 
Bened.® Jus.”“ societatis Jesu. 
Zulegt der Commiſſar des heiligen Officiums: 

fr. Jacobus Tintus socius Ri, Pris commissarius L 

s’ti. Offic. 


Dies ift unzweifelhaft ein Originaldocument, da 
fämmtliche Unterfchriften vorhanden find. 





vor der Inquiſition in Rom.. 21 


. Wie ift man nun auf Grund diefer Gutachten gegen 
Galilei perſönlich vorgegangen? Die Acten enthalten 
hierüber nur unterjchriftslofe Annotationen. Sie folgen 
auch nicht unmittelbar auf das Gutachten, fonvern bie 
nächſte Folioſeite ift unbejchrieben, die folgende Seite ent- 
hält bie erſte Annotation und bie erfte Hälfte der zweiten, 
während die im fpätern Procefje entſcheidenden Worte auf 
dem nächſten Folio ftehen. 


Die erfte Annotation lautet: 
Donnerstag, den 25. Februar 1616. 


Der burchlauchtigfte Herr Cardinal Millini hat den 
ehrwürdigen Herren, dem Affeffor und dem Commiffar 
bes heiligen Officiums angezeigt, daß, nachdem die Batres 
Theologen über die Behauptungen Galilei's, des Mathe- 
matifers, daß die Sonne das Centrum der Welt fei 
und ohne Bewegung von Ort zu Ort, bie Erbe ba- 
gegen fich bewege und auch in täglichen Umprehungen 
um fich jelbft, ihr Gutachten abgegeben haben, Se. 
Heiligkeit dem Herrn Cardinal Bellarmin befohlen habe, 
den genannten Herrn Galilei vor fich zu rufen und 
venfelben zu ermahnen, die erwähnte Meinung aufzit- 
geben, und falls er ſich weigern würde zu ge— 
borcen, folle ihm der Pater Commiffar in Gegenwart 
von Notar und Zeugen den Befehl ertheilen, ganz und 
gar von dieſer Lehre abzuftehen und dieſe Meinung zu 
lehren over zu vertheibigen oder zu bejprechen; wenn 
er fich aber dabei nicht beruhige, fo ſei er einzuferfern, 

Dieje Annotation entipricht den wirklichen Vorgängen. 
Galilei ift von Bellarmin, dem großen Belämpfer bes 
Proteftantismus, dem gelehrteften Theologen aus dem 
Jeſuitenorden, aus deſſen Hauptwerk „Dieputationen über 
bie Streitpunkte des chriftlichen Glaubens gegen die Keter 





92 Die Proceſſe gegen Galileo Galilei 


dieſes Zeitalters‘ noch immer die römische Polemik ſchöpft, 
verwarnt worden unb bat ſich dabei beruhigt, ſodaß 
die weitern Drohungen ansgefchlofien waren. Es mag 
bie® auch in ber liebenswürdigſten Weiſe geicheben jein, 
da Bellarmin für feine Perfon und feiner Gemüthsart 
nach nicht verfolgumgsfüchtig war. Ließ er doch einft feinem 
Feinde Sarpi, dem venetianifhen Stantdinanne, der bie 
Republik mit Glüc gegen die päpftlichen Anfprüche ver- 
theibigte, Warnungen vor Nachftellungen gegen jein Le- 
ben zufommen. Zudem war Bellarmin damals bereits 
74 Jahre alt und Iebte, gebeugt von den Schwächen des 
Alters, in frommen Andachhtsübungen nur ber Vorbe⸗ 
reitung auf feinen Tod. Apoſtoliſche Schlichtheit und 
Uneigennügigfeit rühmte man ihm nad. So wird Ga- 
lilei, äußerlich betrachtet, fehr glimpflich weggelommen fein. 
An welchen Tage der Cardinal den Befehl ausgeführt, 
wiffen wir nicht. Welche Bewandtniß es mit ber ben 
folgenden Tag angebenden zweiten Annotation hat, wer- 
den wir unten fehen. Galilei berubigte fih, und bamit 
ſchien die Sache erledigt, foweit jeine Perjon in Frage 
fam. So bat Galilei fpäter die Vorgänge felbft barge- 
ftellt, und fo werben fte zum Weberfluß noch durch eine 
im Sabre 1870 von Gherardi in der florenzer „Rivista 
Europea” veröffentlichtes Geheimprotofoll aus den ‘Des 
creten des römischen Inquifitionsofficiums beftätigt. Das 
Protokoll Tautet: „Am 3. März 1616. Vom burchlaud- 
tigften Herren Cardinal Bellarmin wurbe zuerft berichtet, 
daß der Mathematiker Galileo Galilei ermahnt worden 
fei, die bis dahin von ihm feitgehaltene Meinung, vie 
Sonne fei das Centrum der Himmelsfugel und unbeweg⸗ 
lich, die Erde hingegen beweglich, aufzugeben, und daß er 
fih dabei beruhigt habe; dann wurbe das Decret der 
Eongregation bes Inder mitgetheilt, inwiefern die Schrif⸗ 


voor ber Ingnifition in Rom. 23 


ten des Nikolaus Kopernikus, des Diego de Stunica, des 
Paulus Antonius Foscarini verboten, reip. fnspenbirt 
werben; Se. Heiligkeit ordnete bieranf bie burch ven Ma- 
gister sacri Palatii zu veranftaltende Veröffentlichung 
dieſes Verbots⸗ reſp. Suspenfationsurtheils an.’ 

Aus dem zweiten Theile dieſes Protokolls erſieht man, 
daß die Gegner Galilei's ein ſachliches Verdammungs⸗ 
urtheil erreicht haben. Ehe wir dieſes, mit dem der erſte 
Theil des Proceſſes ſchließt, mittheilen, müſſen wir noch 
die dazwiſchenſtehende Annotation, die im zweiten Pro⸗ 
ceſſe ſo verhängnißvoll werben ſollte, hierherſetzen. Sie 
folgt unmittelbar auf die Annotation vom 25. Februar: 


Freitag, am 26. deſſelben. 


In dem vom durchlauchtigſten Herrn Cardinal be⸗ 
wohnten Palaft, und zwar in deſſen Privatgemächern, 
bat derſelbe Herr Cardinal, nachdem vorgenannter Ga⸗ 
lilei erſchienen war, in Gegenwart des hochwürbigen Bru⸗ 
ders Michel Angelo Segnitius de Lauda vom Prediger- 
orden, des Generalcommiffars des heiligen Offictums, 
den mehrgenannten Galilei ermahnt, daß er von: dem 
Irrthum vorgebachter Meinung ablaffe, und gleich 
darauf und ohne Unterbredhung in meiner und 
ber Zeugen Gegenwart, im Beifein veffelben durchlauch⸗ 
tigften Herrn Carbinals, hat der obengenannte Pater 
Commifjar dem mehrgebachten, noch dort anweſenden 
und vorgeladenen Galilei im Namen Sr. Heiligfeit des 
Papftes und der ganzen Eongregation bes heiligen Offi⸗ 
ciums vorgejchrieben und befohlen, bie obenerwähnte 
Meinung: daß die Sonne das Centrum der Welt und un⸗ 
beweglich jei, die Erde hingegen fich bewege, ganz und gar 
aufzugeben und biefelbe fernerhin in feiner Weije feft- 
zubalten, noch zulehren, noch zu vertheidigen, 


24 Die PBroceffe gegen Galileo Galilei 


in Wort oder Schrift, wibrigenfalld werde gegen ihn 
im heiligen Offictum vorgegangen werben, bei welchem 
Befehle beſagter Galilei fich beruhigt und zu gehorchen 
verjprochen hat. Worüber verhandelt zu Nom wie oben, 
in Gegenwart verfelben Perfonen, Badino, Nores aus 
Nicofia im Königreich Eypern und Auguftin Mongredo 
aus einem Orte der Abtei Roſa im Bisthum Monte- 
Pulciano, Hausgenofjen des genannten burchlauchtigften 
Herrn Carbinals, als Zeugen. 

Dieje Annotation hätte nur einen Sinn, wenn Ga⸗ 
lilei fich geweigert hätte, auf die Ermahnung Bellarmin’s 
einzugehen. Nach dem Zeugniß des Cardinals hat er das 
aber nicht gethan; fo ift der Verbacht fpäterer Fälſchung 
nicht ausgejchloffen. Mit den thatjächlichen Vorgängen 
kann fie fchlechterhings nicht in Einklang gebracht werben. 
Sie wird uns indeß noch weiter bejchäftigen. 

Am 5. März erfchten pas Decret, welches Die Koper⸗ 
nifanische Lehre verdammte; ihm follte überall Geltung 
verfchafft werden. Ubique publicandum — heißt e8 in 
ber Ueberſchrift. Es befindet fich in einem gebrudten 
Eremplar bei ven Acten; e8 wurde alfo an alle Inqui⸗ 
jittonsbehörden gefandt. Im feiner Hauptftelle heißt es: 
„Und weil es auch zur Kenntniß der genannten Congre⸗ 
gation gekommen ift, daß jene faliche, der Heiligen Schrift 
gerabezu wiberiprechende Phthagoräifche Lehre von ber 
Beweglichkeit der Erde und der Unbeweglichleit ver Sonne, 
welche Nikolaus Kopernikus in feinem Werfe «Bon ben 
Umwälzungen der Himmelstörper» und Diego von Stunica 
in der Erflärung zum Buche Hiob vorgetragen haben, 
ſchon fich verbreite und von vielen angenommen werde, 
wie man aus dem geprudten Briefe eines Karmeliterpaters 
jeben kann, welcher ven Titel führt: «Senpjchreiben des 
ehrwürdigen Pater-Magijter Paolo Antonio Foscarini über 











vor ber Inguifition in Rom. 25 


die Meinung ber Phthagoräer und des Kopernilus von 
der Bewegung der Erbe und dem Stillitande der Sonne 
und das Neuppihagoräifche Weltſyſtem, gebrudt zu Neapel 
von Lezzaro Scoriggio 1615», und worin befagter Karme- 
literpater zu zeigen fucht, daß die erwähnte Lehre von ber 
Unbeweglichfeit ver Sonne im Centrum der Welt wahr 
fei und der Heiligen Schrift nicht widerſprechel — jo 
glaubt die Congregation, damit eine derartige Meinung 
nicht zum Schaden der Fatholifchen Wahrheit weiter um 
fich greife, da8 Buch des Nikolaus Kopernikus «Von ber 
Umwälzung der Himmelsförper» und jenes Diego von 
Stunica zum Buch Job, folange fuspendiren zu müfjen, 
bis fie corrigirt werben, die Schrift des Karmeliterpaters 


Paolo Antonio Foscarini aber gänzlich zu verbieten und - 


zu verbammen, und ebenfo alle andern Bücher, vie daſſelbe 
lehren, zu verbieten, wie fie denn durch Gegenwärtiges 
alle verbietet und verdammt, beziehungsweiſe ſuspendirt.“ 

(Bon ben Büchern des Kopernilus und des Diego 
heißt e8 im Original „suspendendos esse, donec corri- 
gantur“. Diego hatte in Hiob 9, 7 eine Beftätigung 
für das Kopernifanifche Syſtem gefehen; die Stelle fchil- 
dert die unbebingte Allmacht Gottes, ſodaß Luther's Ueber» 
ſetzung das Rechte trifft. Er Spricht zur Sonne, fo gehet 
fie nicht auf, und verfiegelt die Sterne. Diego hatte das 
abjolut gefaßt, fie gehet nicht auf, d. h. fie ftehet im Cen⸗ 
trum des Ads ſtill. Von Foscarint heißt es: omnino pro- 
hibendum utque damnandum; dann weiter: aliusque 
omnes libros pariter idem docentes prohibendos. Prout 
praesenti Decreto omnes respective prohibet, damnat, 
utque suspendit.) 

Das war das Ende des erften Proceſſes. Man be- 
achte, daß das Kopernifanifche Hauptwerk nur — Bis zu 
feiner Correctur — fuspendirt wurde. Mit dieſer Eor- 





26 Die Proceffe gegen Galileo Galilei 


rectur wurbe ber Cardinal Gaëẽtani betraut, und das Res 
ſultat derfelben war, daß das Kopernilanifche Shftem nach 
wie vor als Hypotheſe gelehrt werben dürfe. Als mathe⸗ 
matiſche Unterftellung, veren Nützlichkeit evident, jollte es 
ungehindert fortbeftehen dürfen. Das ift nach vier Jahren 
in einem Decret vom 15. Mat 1620 ausbrüdlich ausge⸗ 
ſprochen. Damit find bie Verpflichtungen, die Galilei 
perfönlich übernommen, Klar bezeichnet. 

Bald nach Erlaß des DecretS von 5. März batte 
Galilei eine Audienz bei Paul V., und dieſer überfchüttete 
ihn mit Freundlichkeiten. Wiederum ftiegen faljche Hoff- 
nungen in ibm auf. Er fchmeichelte ſich mit dem Ge⸗ 
banlen, vielleicht eine Zurücknahme des Decrets bewirken 
zu können; er verfocht noch immer eifrig feine Lehre, jo- 
daß der toßcanifche Geſandte an feine Regierung berichtete: 
„Saltlei befindet fih in der Stimmung, mit den Mönchen 
an Halsitarrigleit zu wetteifern und gegen Perjönlichkeiten 
zu kämpfen, die man nicht angreifen kann, ohne fich zu 
verberben; auch wird man in Florenz demnächft bie Kunde 
vernehmen, baß er toller Weiſe in irgenbeinen Abgrund 
geftürzt iſt.“ Da berief ihn ver Großherzog im jehr ener- 
giſcher Weiſe zurüd. Er ließ ihm fchreiben, er ſolle den 
ichlafenden Hund micht weiter reigen und biffigen Hunden 
am liebſten ans dem Wege geben. Es gingen Gerüchte 
um, bie ibm nicht gefielen, und bie Mönche wären all⸗ 
. mächtig. 

Von foldden Gerüchten mag auch Gelilet manches zu 
Ohren gelemummn fein. Darum lieh er fih von Beller- 
min vor feiner Abreife ein Zengniß über den Ausgang 
des Proceffed anftellen. Es war das ſehr norfichtig und 
für vie fpätere Zeit wichtig. Freilich hat es ihm nichts 
genükt. Es hefindet fich in einer boppelizu Geftalt in 
ben Acten, einmal in einer Abſchrift von Galilei, ſodann 





vor ber Inguifition in Rom. - 


u der Driginalhanpfchrift Bellarmin’e. Behufs Tetr 
vertfeipigung im zweiten Broceffe Hat eg Galıflk Bett 
Me der Unterfuchung führenden Commiſſion eingereic 
Es jteht Hei Gehler S. 87 und 89; bie Abſchrift Hat FI 


ige unmejentliche Abkürzungen angewenbet. Das 3er 
niß lautet: 


Wir Robert Cardinal Bellarmin, da wir verrim 
men, daß dem Herrn Galileo Galilei verflumpert 
angedichtet worben fei, in Unfere Hand Abfchwisıcae 
haben Teiften zu müſſen umb mit einer heilfamerr 2 

legt worden zu jein, erflären, um Beftätigung 1 
wahren Sachverhalts erjucht, Hiermit was folgt: >: 
genannter Herr Galilei hat weder in Unfere noch 
eines andern Hand, weber zu Rom, noch Unfers WXSitYe 
AM einem andern Ort, irgenbeine jeiner Meitzrızrag 
Ober Lehren abgeichworen, noch iſt ifm vgerne 

Be auferlegt worden; e8 tft ihm nur die von urye 
Allerheifigften Herrn abgegebene und von der Heiti, 

Ngregation des Inder zur Danachadhtung befanız + 
machte Erftärung’mitgetheilt worben, laut welchex- 
bem Kopernikus zugeichriebene Lehre, daß be Erbe - 
um Die Some bewege, und die Sonne jim Sentr 
der Welt ftehe, ohne von Oft nad) Weft zu rüdfere, 

eiligen Schrift zuwider fei, und beshalb weder are 
feftgehaften noch fie vertheidigt werben bürfe. Zux s 
glaubigung defien haben Wir Gegenwaͤrtiges einer, 
dig geſchrieben und unterfeprieben am 26. Mat 2 & 

oben Robert Earbinal Bellaenezy, 


Man Beachte pas non defendere ne tenuere. < 
Galilei fofite Fi Kopernikaniſche Lehre nit verthern- 


28 Die Procejfe gegen Galileo Galilei 


und nicht feithalten. Der hypothetiſche Vortrag war und 
blieb erlaubt. Anfang Juni endlich Tehrte Gafilet nach 
Florenz zurüd, um mande Erfahrung und Enttäufchung 
reicher. Dies der erfte Act in diefem Drama; ber zweite 
begann fechzehn Jahre fpäter. 


— — — — 


Bittern Gram im Herzen zog ſich Galilei ganz auf 
ſein Studium zurück. Auf ſeiner Villa in Florenz lebte 
er nur ſeinen wiſſenſchaftlichen Beobachtungen und For⸗ 
ſchungen. Dieſe aber nur nach einem der Sache ſelbſt 
fremden Maßſtabe der Welt übermitteln zu dürfen, war 
gerade für ihn, den durch und durch aufrichtigen Mann, 
nichts Leichtes. Solange Paul V. lebte, verhielt ſich Ga⸗ 
lilei indeß ruhig. Unter ſeinem Nachfolger Gregor XV., 
der ganz in der Reſtauration des Katholicismus nach den 
erſten kriegeriſchen Erfolgen im Dreißigjährigen Kriege 
aufging, der in der Stiftung ver Congregatio de pro- 
paganda fide ven außereuropäiſchen Miſſionen einen 
Drennpunft von unberechenbarer Kraft ſchuf und der wenig 
Sinn für gelehrte Streitigkeiten hatte, begann ſchon Das 
Geplänfel. Doch offen trat Galilei erft unter Urban VIII. 
hervor, ber, von der Machtftellung des Hauſes Habsburg 
nicht8 weniger als erbaut, ven großen Weltereignifjen ab- 
gewendet, gelehrten Fragen zugänglicher war. Er war in 
erfter Linie italienifcher Fürft, dabei ein Mann von fehr 
großem Selbftbewußtjein. 8 charakterifirt ihn, daß er, 
ale man ihm einen Einwurf aus den alten päpftlichen 
Conftitutionen machte, erwiderte: „Der Ausſpruch eines 
lebenden Papftes ift mehr werth als die Sagungen von 
hundert verftorbenen.“ Das war ficher nicht im Sinne 
ber päpftlichen Inftitution geſprochen. Was wunder, 








bor ber Inguifition in Rom. 29 


wenn von einem ſolchen Manne Galilei die Aufhebung 
bes Decrets vom 5. März 1616 zu hoffen wagte, zumal 
er nicht ohne wifjenjchaftliche und Tünftlerifche Intereffen 
war? Zunächſt ließ fich noch alles gut an; bie fpätere 
ungünftige Wendung muß darauf zurüdgeführt werben, 
daß fich der Bapft perfönlich von Galilei verlegt fühlte. 

Galilei Tieß fich, geftütt auf des Papftes Wohlwollen, 
gleich nach feinem NRegierungsantritte auf einen Streit 
mit den Jeſuiten ein. Es banbelte fich dabei nicht um 
die frühern Streitpunfte, fondern um die Entjtehung ber 
Kometen, welche Galilei für bloße atmoſphäriſche Erſchei⸗ 
nungen, für vegenbogenartige Materie hielt, währen fein 
jefuitiicher Gegner, P. Graffi, Mathematikprofeffor am 
römiſchen Eolleg, in den Kometen wirkliche Himmels- 
körper ſah. Der Jeſuit warf Galilei vor, daß feine Lehr- 
meinung auf dem jchlimmen Fundamente des Koperni- 
kaniſchen Syſtems, das jeder Gottesfürchtige verabſcheuen 
müffe, berube. - Der Funke hatte gezünbet. Galilei re⸗ 
plicirte mit einer, im ftiliftifcher Hinficht wielbewunberten, 
inhaltlich aber leivenfchaftlichen Streitichrift — er nannte 
darin P. Grafft einen Scorpione astronomico —, welche 
er Urban VII widmete und der er den Titel gab: „Il 
Saggiatore” =. Goldiwage. Sie erfchten im Iahre 1623. 
Gleichſam auf einer Goldwage wollte er die Anſchauungen 
feiner Gegner wiegen und danach beurtbeilen. Er weit 
auf der Goldwage nad, daß die Kopernikaniſche Lehre, 
welche er als frommer Katholik für gänzlich unrichtig er- 
achtet und- vollftändig leugnet, in worzüglicher Ueberein- 
ftimmung mit ben teleffopifchen Entdeckungen ftehe, die 
im Gegentheile mit den andern Weltſyſtemen durchaus 
nicht in Einklang zu bringen feier. Man müffe alfo, 
ba die Kopernikaniſche Theorie verdammt, die Ptolemätfche 
angefichts der neuen Entvedungen unhaltbar fei, nach einer 


30 Die Proceffe gegen Salileo Galile 


andern fuchen. Der Papft hatte die Widmung des Wertes 
angenommen. DBergeblich bemühten fich bie Jeſuiten, ein 
Verbot der Goldwage birrchzufegen. Urban urtheilte von 
Galilei: „fein Ruhm glänzt am Himmel, fein Ruf erhellt 
bie Erbe, mit dem Verbienft der Wifjenfchaft verbindet 
er den Eifer wahrhafter Frömmigkeit“. Mehr kann man 
doch nicht verlangen, und boch hat dieſer jelbe Urban zehn 
Jahre ſpäter Galilei verdammt und aufs graufamfte ver- 
folgt. 

As Galilei von dieſen Gunftbezeigungen Urban’s 
hörte, eilte er wieder hoffnungsfreudig nah Rom, um 
auch für feine Sache etwas zu erreichen, bie ihm fo an 
dad Herz gemachten war. Doch bei aller Auszeichnung, 
bie ihm perjönlich wiverfuhr, erlangte er nichts. Der 
Bapft war ein grundfäglicher Gegner des Kopernikaniſchen 
Syſtems, und in den öftern und längern Aubienzen, bie 
er Galilei gewährte, ſuchte er biefen von feiner Dieinung 
abzubringen. Und merfwürbig, gerade dieſe Auszeich- 
nungen jollten Galilet verberblich werden. ‘Der Bapft 
pflegte ihm folgendes Argument entgegenzubalten: „Gott 
tft allmächtig und deshalb geglich Ding ihm möglich; man 
fol daher nicht behaupten, er habe etwas auf eine be- 
jtimmte Art eingerichtet, weil e8 nur jo und nicht anders 
zu den anberweiten Welteinrichtungen pafje; man barf 
Gott feine Nothwendigkeit auferlegen wollen. Gott kann 
jeine Zwecke auf die verſchiedenſten Arten erreichen, und 
fomit ift e8 ein Zweifel an der Allmacht, aljo Ketzerei, 
werm man behaupten will, nur in eimer bejtimmien 
Weife könne dies oder jenes erreicht werben, weil es fo 
gerabe zu den mathemattichen Berechnungen paßt.” Von 
biefem Argumente hat Galilei in feinem nächſten Werke 
Gebrauch gemacht; bier feßten feine Feinde ein, um ihn 
zu ftürgen. 


vor ber Inquiſition in Rom. 31 


An dieſem Werfe: „Dialog über die beiden Haupt⸗ 
weltſyſteme, das Ptolemäifche und Kopernikaniſche“, ſpäter 
oft unter dem Titel „Systema cosmicum“ aufgelegt, bat 
Galilei fünf Jahre feines Lebens gearbeitet (1624-29). 
Gegen das Ende des Jahres 1629 war es im weient- 
lichen fertig. Der Druck bat fich mehr denn zwei Jahre 
verzögert. Er bat das Manuſcript felbjt nach Rom ges 
bracht, um bie Druderlaubniß zu empfangen. Sie wurde 
ibm vom Magister sacri Palatii, Riccarbi, erthetlt mit 
der Maßgabe, eine Einleitung zu jchreiben, welche als 
Zwed des Buches die Vertheidigung der Ptotemäiſchen 
Lehre angab, und einen der Btolemäifchen Lehre günftigen 
Schluß hinzuzufügen. Galilei that das, und nach mans 
herlei Verhandlungen und Abänderungen wurde das Im⸗ 
primatur gegeben. &8 tft nicht unwahrfcheinlich, daß vielen 
Verhandlungen und Abänderungen der Papſt ſelbſt nicht 
fern ftand, denn Riccardi hat fich jpäter auf ven päpft- 
lichen Privatjecretär berufen, biefer auf den Bapft, und 
beive Männer haben ihre Stellen eingebüßt. Genug, das 
Imprimatur war ertbeilt; formell war auch pie Hypo⸗ 
thefe gewahrt. Der Drud follte in Rom ftattfinden. Da 
brach bier die Peft ans. Galilei erbat und erhielt auch 
vom Inguifitor in Florenz das Imprimatur. Dieſer fol 
es mit ven Worten ertheilt haben: „man müſſe eigentlich 
den Autor um Veröffentlichung bitten, ftatt ihm Hinder⸗ 
nifje in den Weg zu legen”. So erſchien das Buch mit 
boppeltem Imprimatur im Jahre 1632. 

Der Inhalt ift kurz der. Drei Männer beiprechen 
fih über die Haltbarkeit ver beiden Weltanfchauungen. 
Zwei tragen die Namen von verftorbenen Freunden Ga⸗ 
ſilei's; der eine, Salviati, vertheibigt die Kopernikaniſche 
Lehre, der andere, Sagrebo, neigt fich mehr und mehr 
ber Kopernikaniſchen Weltanfchauung zu; der dritte aber, ber 


32 Die Procejje gegen Galileo Galilei 


den Namen Simplicius führt und bei dem Galilei nach 
dem ausdrücklichen Zeugniß des Werkes an ben 
befannten Kommentator des Aristoteles gebacht bat, ver- 
theidigt das Ptolemäiſche Shftem und zieht hierbei be- 
ftändig den kürzern. Das Refultat felbft bleibt unent- 
ſchieden; feiner erklärt fich für befiegt. Die drei Männer 
verabreden vielmehr eine neue Zuſammenkunft zu weiterer 
Beſprechung. 

Zur Orientirung ſetzen wir die Vorrede und den 
Schluß des Dialogs hierher. Die Vorrede lautet: 

„In frühern Jahren wurde in Rom ein heilſames 
Ediet bekannt gemacht, welches, um gefährliche Aergerniſſe 
in der Gegenwart zu vermeiden, der Pythagoräiſchen Mei⸗ 
nung von der Beweglichkeit der Erde ſchickliches Still⸗ 
ſchweigen auferlegte. Es mangelte nicht an verwegenen 
Behauptungen, dies Decret ſei nicht das Product ver⸗ 
nünftiger Prüfung, ſondern ſchlecht unterrichteter Leiden⸗ 
ſchaften, und es erhoben ſich Proteſte, daß in aſtrono⸗ 
miſchen Beobachtungen total unwiſſende Rathgeber nicht 
mit plötzlichen Verboten den ſpeculativen Geiſtern die 
Flügel beſchneiden dürften. Mein Eifer erlaubt mir nicht, 
zu ſolchen verwegenen Klagen ſtillzuſchweigen. Voll⸗ 
kommen unterrichtet von dieſer äußerſt klugen Bejtim- 
mung, entſchied ich mich dafür, als wahrhaftiger, auf⸗ 
richtiger Zeuge öffentlich auf dem Theater der Welt zu 
ericheinen. Ich war damals in Rom gegenwärtig, ich 
fand nicht allein Gehör, fondern auch Beifall bei den 
hervorragendften Prälaten dieſes Hofes, und nicht ohne 
vorhergehende theilweife Erfundigung bei mir erfolgte 
ipäter die Publication dieſes Decrets. Alles dieſes beivog 
mich, in meiner gegenwärtigen Arbeit ben fremden Na⸗ 
tionen zu zeigen, daß man von biejem Gegenſtande in 
Stalien, und beſonders in Rom, fo viel weiß, wie bie 





vor der Inguifition in Rom. 33 


Gelehrſamkeit jenfeit ber :Alpen ſich wol niemals einge- 
bilvet hat. Und indem ich alle das Kopernifanifche Syftem 
betreffenden Speculationen zufammenfaffe, bemerfe ich da⸗ 
bei, daß die römiſche Cenſur vorher von allem Notiz ge- 
nommen bat, und baß von dieſem Himmelsſtriche nicht 
alfein die Dogmen für das Heil der Seelen ausgehen, 
ſondern ebenjo bie finnreichen Erfindungen für das Ver⸗ 
gnügen ber Geifter.‘ 

Das paßt nun freilich zu dem Inhalt der „Dialoge“ 
wie die Fauft auf das Auge. Vielleicht wird man auch 
ben Schalf nicht ganz abweiſen Türmen. Aehnlich ver- 
hält e8 fich mit dem Schluffe. Er lautet: 

„Salviati. Jetzt, da e8 Zeit ift, unfere Unterrebungen 
zu enbigen, bleibt mir nur noch übrig, euch zu bitten, 
daß, wenn ſpäter beim ruhigen Nachdenken über die von 
mir angeregten Fragen ihr Schwierigfeiten over nicht 
gut gelöften Zweifeln begegnen jolltet, ihr dieſen Mangel 
entſchuldigen möget, jet’ wegen der Neuheit des Gedan⸗ 
kens, der Schwäche meines VBerftandes, der Größe bes 
Gegenftandes und endlich deswegen, weil ich von anbern 
weder verlange noch verlangt habe, daß fie, was ich ſelbſt 
richt thue, einer Phantafie zuftimmen, bie man noch beſſer 
eine eitle Chimäre oder ein glänzendes Paradoxon nennen 
fönnte. Und obgleich Ihr, Signor Sagredo, Euch mehrere- 
mal mit großem Applaus von einigen meiner Gedanken 
befriedigt gezeigt habt, fo jchreibe ich Dies doch theils mehr 
der Neuheit als der Wahrheit diefer Gedanken, vorzüglich 
aber Euerer Höflichkeit zu, welche mir mit Euerem Beifall 
Das Vergnügen hat verjchaffen wollen, das wir natür- 
Licherweife empfinden, wenn unfere eigenen Ideen Lob und 
Zuftimmung finden. Und wie Ihr durch Euere Liebens- 
wiürbigfeit mich verpflichtet habt, fo hat mir bie Offenheit 
des Signor Simpficio gefallen. Auch die Standhaftigfeit, 

XXIV. | 3 





34 Die Broceffe gegen Galileo Galilei 


mit welcher verfelbe fo kräftig und unerjchroden vie Lehre 
feines Meeifters vertheibigt, bat ihm meine volle Zuneigung 
erworben. Und wie ich Euch, Signor Sagredo, Dank 
fage für Euere Freundlichkeit, jo bitte ih Signor Sim- 
plicio um Verzeihung, wenn ich zuwetlen burch übergroßen 
Eifer und entſchiedene Sprache ihn gereizt haben follte; 
er ſei überzeugt, daß e8 nicht aus böfer Abficht gefchehen 
tft, fondern nur, um ibm Gelegenheit zu geben, erhabene 
Gedanken vorzutragen, durch welche ich meine Kenntniſſe 
bereichern Fönnte. 

„Simplicio. Es bedarf dieſer Entfchuldigung nicht, fie 
iſt überflüffig, namentlich mir gegenüber, da ich, gewöhnt 
an gefellige und öffentliche Disputationen, hundertmal 
gehört habe, daß die Disputanten nicht allein fich erhikten 
und fich gegenfeitig ärgerten, fondern auch in wirkliche In⸗ 
jurien ausbrachen und zuweilen nahe daran waren, zu 
Thätlichleiten überzugehen. Was nun die ftattgehabten 
Unterhaltungen betrifft, namentlich die Ießte, über bie 
Urfache ver Ebbe und Flut des Meeres, fo habe ich fie 
wirklich nicht ganz aufgefaßt, aber nach der, wenn auch 
ſchwachen Idee, welche ich mir davon gemacht habe, be- 
Terme ich, daß fie mir viel finnreicher erjcheint als fo 
manche andere, bie ich über biejen Gegenftand gehört 
habe. Deshalb Halte ich fie aber noch nicht für wahr 
oder entſcheidend; auch halte ich mir immer eine höchft 
gebiegene Doctrin, welche ich einft von einer fehr ge- 
lehrten und hochgeſtellten Perfönlichfeit*) gelernt 
habe, und bei der man fich beruhigen muß, vor Die Augen 
des Geiftes; und ich weiß, wenn ihr beide gefragt werbet: 
ob Gott in feiner unendlichen Macht und Weisheit dem 
Elemente des Waſſers die abwechjelnde Bewegung, welche 


N 


*) Eben Papft Urban VIIL 





vor der Inguifition in Rom. 35 


wir an bemfelben wahrnehmen, auf andere Weije ver- 
leihen könne als dadurch, daß er das Gefäß bewegt, in 
welchen das Waſſer enthalten ift, fo fage ich, werbet ihr 
antiworten, daß er dies gekonnt und zu machen gewußt 
hätte in vielen, unferm Verſtande ganz undenflichen Weiſen; 
woraus ich unmittelbar fchließe, daß, dies angenommen, 
e8 übermäßige Verwegenheit fein würde, wenn einer feiner 
eigenen phantaftifchen Ipee zu Liebe die göttliche Weisheit 
und Macht beichränfen und begrenzen wollte. 

„Salviati. Wunderbar — wahrhaft englifche Doctrin, 
mit welcher jene göttliche vollfommen übereinstimmt, welche, 
indem fie erlaubt, über die Conftitution der Welt zu dis⸗ 
putiren, hinzufügt (wielleicht, vamit wir im Gebrauche ver 
menfchlichen Geiftesfräfte nicht ermübden noch ftumpf wer- 
den), wir feien nicht da, um das Werk feiner Hänbe zu 
ergründen. Es dient alſo diejer von Gott erlaubte ober 
befohlene Gebrauch dazu, feine Größe zu erkennen und 
fie defto mehr zu bewundern, je weniger wir fähig find, 
die tiefen Abgründe feiner unendlichen Weisheit zu burch- 
forfchen. 

„Sagredo. Und dies ſei der legte Schluß unferer 
viertägigen Unterhaltungen u. |. w.” (Folgt noch der Vor⸗ 
ichlag einer neuen Zuſammenkunft.) 

Als feinfinnig dialektifcher Geift offenbart fih Galilei 
in diefem Schluß. Aber ohne Zweifel, ver Papft Tonnte 
fich verlegt fühlen. Mag Galilei in gutem Glauben ge- 
handelt haben, politifch Klug war er nicht verfahren, troß 
aller fcheinbaren Correctheit. Die Iefuiten hatten mit 
dem ihnen eigenen Scharffinn fofort den ſchwachen Punkt 
berausgewittert; fie faßten ven Papft bei feiner verleiten 
Eitelkeit, fie fuchten ihm zu überzeugen, Galilei habe ihn 
lächerlich machen, Habe ihn in ver Rolle des Simplicius 
verfpotten wollen, viefer Simplicius ftehe im ganzen Dialog 

3 


36 Die Brocefje gegen Salileo Galilei 


als Einfaltspinfel da, der Name ſei abfichtlich gewählt, 
ihm, dem Papft, ſei Die Rolle eines einfältigen Menjchen 
zugetheilt. Die Obrenbläferei verfing; mit hohen Herren 
ift nicht gut Kirfchen efjen. Der Bapft war auf Galilei 
im höchiten Grave aufgebracht; nur dies erflärt uns feine 
Hartherzigkeit gegen den Gelehrten. Man hatte ihm fer- 
ner vorgeſpiegelt, das Imprimatur ſei erjchlichen; wenig⸗ 
ſtens figurirt dieſe angebliche Erſchleichung unter den 
officiellen Anklagepunkten gegen Galilei. Urban beftellte 
zunächit eine eigene Commiſſion zur Vorunterfuchung; fie 
jollte wol einen Anflagegrund ausfindig machen. Nach 
vier Wochen war fie mit ihrem Bericht fertig. Diefer 
Bericht ift das erfte Actenftüd im zweiten Proceſſe; er 
umfaßt fünf Drudfjeiten. Vorforglich waren alle Freunde 
Galilei's von diefer Commiſſion ferngehalten. Ihr DBe- 
richt ftellt nun folgende Belaftungsgründe gegen Galilei 
zufammen. ‘Der Verfaffer des „Dialogs“ habe: 


1) Ohne Befehl dazu erhalten und ohne vorherige 
Mittheilung davon gemacht zu haben, das „Imprimatur” 
auch des römischen Cenſors neben pas des florentiniichen 
auf den Titel gefekt; 

2) im Werke felbft die Ptolemäiſche Lehre in ven 
Mund eines Schwachlopfes gelegt; fie von dem Zuhörer 
ber beiden Disputanten, der ihre Vorzüge arg ignorire 
oder ganz überſehe, nur ſchwach billigen Laffen; 


3) oft fich Ueberfchreitungen der Grenze der Hhpo- 
theje erlaubt, theils indem er in beftimmter Weife vie 
Bewegung der Erbe, und ben Stillſtand ver Sonne be⸗ 
hauptet, theil® indem er die Beweife, auf welche Diefe 
Anficht ſich ſtützt, als überzeugend und nothwendig be- 
zeichnet oder die enigegenftehende Meinung als gänzlich 
unhaltbar erjcheinen läßt; 


vor der Ingquifition in Rom. 37 


4) den Gegenftand als unentſchieden behandelt und 
fihb fo angeftellt wie jemand, ber fragt, ob er der 
Ueberzeugung ift, daß man um bie Antwort verlegen 
fein werbe; 

5) jene Autoren, welche ber von ihm vertretenen 
Meinung entgegen find, verachtet, obgleich es gerade 
diejenigen find, deren fich die heilige Kirche am meiften 
bedient; 

6) ververblicherweife behauptet, daß auch für den 
göttlichen Geiſt die mathematiichen Wahrheiten gewifjer- 
maßen gejegmäßige Wahrheiten feien wie für ven menich- 
lichen; 

7) für feine Meinung auch den Umſtand geltend ge⸗ 
macht, daß fich fortwährend Anhänger der alten Ptole⸗ 
möätichen Lehre der Kopernilaniichen Theorie zumwendeten, 
nicht aber umgekehrt; 

8) die Erfcheinungen der Ebbe und Flut des Meeres 
fälſchlich auf die Stabilität der Sonne und bie Be- 
wegung ber Erbe, was beides fich nicht fo verbalte, 
zurüdgeführt. 

Eine geichicte Zufammenftellung von Gründen hatte 
die Commiſſion bierin allerdings zu Wege gebracht. Sie 
hatte aber felbft eine Ahnung davon, daß biefe acht 
Gründe nicht für ein orbentliches Gerichtsverfahren aus⸗ 
reihen, denn fie fagt in dem Berichte, alles das feien 
Dinge, welche berichtigt werben könnten, wenn man fich 
von dem Buche, dem man biefe Gunjt erweijen wolle, 
Nuten verſpräche, Alfo nach eigenem Geftänpniß. ver 
Commilfion könnten biefe Gründe nur zur Verwerfung 
bes Buches führen, falls fie der Autor nicht ändern 
wolle. Doch man war um den Hauptgrund nicht vers 
legen; man hatte ihn nur bis zulegt aufgefpart. Der 
fette Abſchnitt des Berichtes lautet: 








38 Die Procefje gegen Galileo Galilei 


„Der Autor hat den im Jahre 1616 erhaltenen Be- 
fehl des heiligen Officiums: daß er bie oben bejagte 
Meinung: die Sonne fei das Eentrum ber Welt und un⸗ 
beweglich, die Erbe Hingegen bewege fih, ganz und gar 
aufgegeben babe und an derſelben in feiner Weije 
weder fefthalten, noch fie durch Wort oder Schrift lehren 
oder vertheibigen dürfe, widrigenfalls gegen ihn im hei- 
ligen Officium verfahren werbe, bei welchem Befehle der⸗ 
jelbe Galilei, Gehorjam veriprechend, fich beruhigte, beim 
Nachſuchen der Druderlaubniß betrügerijcherweife ver⸗ 
ſchwiegen.“ 

Hier haben wir alſo die Berufung auf die Annotation 
von Freitag, den 26. Februar 1616. Auf ſie hat ſich 
die Anklage und ſpäter die — Verurtheilung gegründet. 

Es iſt wol unzweifelhaft, daß nicht Galilei die Be— 
hörde, ſondern dieſe ihn auf einen erhaltenen Befehl auf⸗ 
merkſam zu machen hatte. Wäre das omnino relinquere, 
das quovis modo docere aut defendere verbo aut 
scriptis actenmäßig vorhanden geweien, fo bätte man 
ſchon die „Goldwage“ nicht geftatten follen, jo hätte man 
ibm das Imprimatur omnino verweigern müffen, fo 
hätte man einen Drud quovis modo nicht geftatten 
dürfen. 

Wie verhält es fich num mit dieſer Annotation? Wir 
haben ſchon oben gejagt, daß fie im Wiberfpruche mit 
ber vom vorhergehenden Tage, mit dem Geheimprotofoll 
vom 3. März 1616 und mit dem Zeugniffe Bellarmin’s 
fteht. Im Jahre 1621 war dieſer geftorben, ſodaß er ein 
weiteres Zeugniß nicht ablegen Tonnte. Wir werben weiter 
fehen, daß Galilei ſelbſt nur von Befehlen weiß, welche 
Bellarmin ihm ertbeilte, dagegen nicht® von’ einer Ver⸗ 
wendung durch den Pater Commiffarius Segnitius de 
Lauda. Mit unerfchütterlicher Confequenz ftellt ex es in 


vor der Inguifition in Rom. 39 


Abrede, irgendeinen andern Befehl erhalten zu haben als 
den des Cardinals. Sodann ſind in dem Protokolle auf⸗ 
fallend die Worte successive ac in continenti „gleich 
darauf und ohne Unterbrehung”. Was joll das? Erſt 
mußte doch eine Unterbrechung, ein Widerſtand von feiten 
Galilei's ftattgefunden haben, ehe das ftrengere Verbot 
erlaffen werben konnte. So liegt der Gedanke an eine 
ſpätere Fälſchung nahe. 

Wider eine ſolche macht aber Gebler Folgendes geltend. 
Die Aufſchreibung vom 26. Februar beginnt auf derſelben 
Seite, auf welcher ſich die vom 25. befindet, und beide 
zeigen genau dieſelbe Schrift und Tinte. Eine gleichzeitige 
nachträgliche Aufzeichnung iſt dadurch ausgeſchloſſen, daß 
dieſe Seiten zweite Blätter zu ſchon vorhandenen Docu⸗ 
menten ſind. Sodann trägt das Papier ſämmtlicher 
in Rom 1615—16 beim heiligen Officium niedergelegten 
Schriftftüde das gleiche Wafferzeichen, nämlich. eine von 
einem reife umfchloffene Taube, während ſich bafjelbe 
auf feinem Papiere aus jpäterer Zeit wieberfindet. Dieſes 
Zeichen erfcheint aber auf ven Folios, worauf die Anno- 
tationen vom 25. und 26. Februar niedergefchrieben find, 
ganz beutlich fichtbar. Enblich rühren noch andere Anno- 
tationen aus den Acten von 1616 aus berjelben Hand 
her, während biefe Schrift in feinem Schriftitüde bes 
ipätern Proceſſes zu finden ift, ſodaß die Annotationen auch) 
nicht nachträglich auf zwei leere Seiten hinzugefügt fein 
können. 

Man wird ſich dem Gewicht dieſer Gründe nicht ver⸗ 
ſchließen können. Andererſeits waren die Jeſuiten nicht 
fo plumpe Fälſcher, daß fie nicht für daſſelbe Papier, die— 
ſelbe Tinte, dieſelbe Handſchrift geſorgt hätten. Beſtimmt 
von ber Hand weiſen wird man die Fälſchung nicht kön⸗ 
nen. Wohlwill und Cantor nehmen fie an. 





40 Die Proceffe gegen Galileo Galilei 


Der altlatholifche Theologe Reuſch Hat einen Mittel- 
weg eingefchlagen. Er hält das fragliche Actenftüd für 
ben Entwurf eined Protokolls, den der Notar für ven 
dal, daß Galilei von dem Commiffar hätte verwarnt 
werben müfjen, im voraus fertig gemacht habe, der aber 
nicht zur Verwendung fam, weil Galilei fich ver Mah⸗ 
nung bed Garbinals Bellarmin fügte und darum jene 
Verwarnung nicht ftattfand. Diefer Entwurf des Pro- 
tokolls, welcher hätte vernichtet werben jollen, wäre 1632 
unter ben Acten ber Ingquifition gefunden worben und 
bona oder mala fide als ein wirkliches Brotofoll produ⸗ 
cirt worden. Im dieſem Sinne bat fih Reuſch in feinem 
„Theologiſchen Literaturblatt”, Sahrgang 1873, ſowie in 
einem in Sybel's „Hiftorifcher Zeitjchrift”, Jahrgang 1875, 
veröffentlichten Bortrage über den Proceß gegen Galilei 
ausgeſprochen. 

Damit iſt aber das successive ac in continenti nicht 
zu reimen. Es bleibt ber Verdacht ber Fäljchung be- 
fteben. Gebler hat ein Uebriges gethan und bat fih an 
den Cardinal Simeont mit der Bitte gewandt, nachforfchen 
zu laffen, ob etwa im Geheimarchiv ein Originalbocument 
über den Borgang vom 26. Februar 1616 vorhanden fei. 
Unter dem 20. Juli 1877 hat ihm ber Earbinal geant- 
wortet, daß ein folches ganz umb gar nicht eriftire. Das 
aber ift gewiß, daß dieſe unterfchriftliche Annotation in 
feiner Weife als ein rechtlich gültiges Document verwendet 
werben burfte. Galilei leugnete auf das bejtimmtefte, 
etwas davon zu willen; bie Ausbrüde erjcheinen ihm 
gänzlih neu (novissime), nie gehört (inaudite); man 
hätte ihm durch Nachweis feiner Unterjchrift vom Gegen- 
theil überführen können. Man hat es nicht gethan. Ge⸗ 
rade ber mwejentlichfte Theil der Anklage, der auf Unge- 
horfam wider einen geiftlichen Befehl, muß al® nichtig 








vor der Inguifition in Rom. 41 


erjcheinen; er ift auf Grund eines jwriftiich durchaus 
werthlofen Papiers erhoben worden; ebenfo ift die Ver⸗ 
urtheilung allein auf Grund veffelben rechtlich völlig nich⸗ 
tigen Schriftſtückes erfolgt. 

Am 22. September 1632 erhielt Galilei den Befehl, 
nah Rom zu fommen und fich bier vor der Inquifition 
zu rechtfertigen. Er erichrat und bat ven Grofßberzog, 
fih für ihn zu verwenden. Galilei verfaßte das Schrei- 
ben jelbit; e8 hatte feinen Erfolg. Nun wandte er fich 
an einen Neffen Urban’s, den Cardinal Barberini; er 
bat, man möchte ihm wegen feines Alters (er ſtand im 
69. Lebensjahre) dieſe peinliche Reife erlaffen, er gab alle 
feine Anfichten preis, er erbot fich, alle feine Manuſeripte 
zu verbrennen, er betheuerte jeine Ergebenheit gegen bie 
Kirche, er war bereit, fich vor dem Inquiſitor zu Florenz 
zu rechtfertigen. Auch das war vergeblich. Er follte nach 
Rom. Die rafende See wollte ihr Opfer haben. Er 
hätte fich flüchten Tönnen. Die Republik Venedig bätte 
ihn gewiß mit offenen Armen aufgenommen. Über hat 
nicht dieſelbe Republif Giordano Bruno ber römiichen In- 
quifition ausgeliefert? Galilei war deß Zeuge gewejen. 
Das Schidjal dieſes Mannes mag ihm angftvoll vor ber 
Seele geitanden haben. In bie norbiichen proteftantifchen 
Staaten zu fliehen, dazu war er zu fehr Italiener, zu 
fehr auch gläubiger Katholik, und dazu war er auch zu 
krank. Er litt an der Gicht; er ſchickte ein ärztliches 
Zeugniß nach Rom und bat, man möchte ihm die Reife, 
wenigftens im Winter, erlaffen. ‘Die Antwort war ein 
Befehl des Papftes an den Inguifitor von Zlorenz, Ga⸗ 
lilei unterfuchen zu laſſen und ihn eventuell gefangen 
in Eifen nah Nom zu ſchicken. Die Annotation hier- 
über in den Acten trägt das Datum vom 30. ‘December 
1632. Sie lautet in der Hauptftelle alfo: „Sit er in 


42 Die Procefje gegen Galileo Galilei 


dem Zuftande, reifen zu können, foll er ihn gefangen und 
in Eifen gefchloffen überführen; muß aber aus Rüdficht 
auf die Geſundheit und aus Gefahr für das Leben die 
Ueberführung aufgefchoben werben, foll er ihn fogleich 
nach der Wieberherftellung der Gefunpheit und nach Auf- 
hören der Gefahr überführen.” Diejes Edict ift jedenfalls 
bezeichnend für die Stimmung des Papſtes. Ob er darum 
Galilei fpäter vor der Tortur gefchügt haben wird, wie 
e8 M. Cantor ausfpricht, muß mindeftens als fraglich 
erſcheinen. Wenn ein Mann auf flehentliche Bitten jo 
antworten kann, wird er fchwerlich feinen ſchützenden Arm 
über einen mishandelten Gegner gebreitet haben. 

Am 20. Ianuar 1633 trat Galilei feine Reife nach 
Rom an; am 13. Februar traf er in der Ewigen Stabt 
ein. Er hatte zumächft fein Quartier beim toscanischen 
Geſandten, Niccolini. Diefer rieth ihm, alles zu unter- 
ichreiben, wa8 man nur immer von ihm verlangen würde. 
Galilei war entjchloffen, dieſen guten Rath zu befolgen. 
Einen andern Rath des päpftlichen Neffen, fich nicht 
öffentlich fehen zu laffen, hatte er fchon befolgt. Zwei 
Monate ließ man ihn in Ruhe. Erft am 12. April 
batte er fein erftes Verhör, nachdem er in ver eriten 
Aprilwoche feine Wohnung nach dem Inquifitionspalaft 
hatte verlegen müffen. Er wurde bier milde behandelt, 
burfte fogar in den weiten Räumen des Officiums pro> 
meniren. Für feinen Tiſch forgte nach wie vor ber Ge- 
ſandte. 

Galilei hatte ein viermaliges Verhör zu beſtehen. 
Das entſpricht genau der Inſtruction der Inquiſitions⸗ 
behörde. M. Cantor theilt in ſeiner Abhandlung über 
Galilei („Zeitſchrift für Mathematik und Phyſik“, Leipzig 
1864, S. 187) mit, daß er in einem alten Bande der 
heidelberger Univerſitätsbibliothek folgende Proceßordnung 








voor der Inguifition in Rom. 43 


vorgefchrieben gefunden habe. Sie ftammt von Pater 
Ludwig de Ameno, etwa 60 Iahre nach dem Proceß 
gegen Galilei: Dean ſoll damit anfangen, daß man ben 
Angefchulpigten vorlade, aber nicht etiwa als einen An- 
geichulpigten, ſondern in allgemeinen Ausprüden, wie: fein 
Erſcheinen jei in einem gewilfen Nechtshandel an dieſem 
oder jenem Tage erforderlich, er möge fich daher einfinden. 
Sat der Angeichuldigte fich geftellt, jo wird ihm der Eib 
aufgetragen, daß er die Wahrheit fagen wolle, und ihm 
bann bie Frage vorgelegt, ob er nicht wifje, warım er 
vorgelaven jet. Ueberhaupt ſoll ver Richter dem Verlangen 
bes Angeflagten, ver etwa die Klagefchrift zu jehen wünſcht, 
nicht Folge leiften, jondern darauf bringen, daß er ohne 
Kenntniß der Punkte, auf die es anfommt, antworte, denn, 
heißt e8, „wenn ber Delinquent ſchon zum voraus weiß, 
was man wider ihn geklagt oder ausgejagt hat, item 
wie die Beweife lauten, jo kann er ja gar leicht alle Aus- 
fagen und Anzeigen burch feine Antworten vereiteln”. In 
Bezug auf die einzelnen Verhöre oder Eonjtitute, wie ber 
Kunſtausdruck lautet, ſchreibt Ludwig de Ameno vor, „im 
erften jolle man nicht über die allgemeinften Fragen 
hinausgehen. Im zweiten Conjtitute fommt der Richter 
auf die Hauptumftände des Verbrechens; im britten erft 
macht er dem Angefchulbigten beftimmte Vorbalte und 
droht ihm mit der Folter, wenn er nicht geſtehe. Darauf 
findet die peinliche Frage*) in der Folterfammer ftatt. 
Umgeben von den Werkzeugen barbariicher Erfindungsfraft 
wirb der Angeklagte entlleivet und mit zufammengejchloj- 
jenen Händen vernimmt er noch einmal bie Frage, was 
er begangen. Das Formular diefes vierten Verhörs ent- 
hält die Worte: «weil du noch fo hartnädig in Verleug- 


*) Das jog. examen rigorosum. 


44 Die Broceffe gegen Galileo Galilei 


nung ber Wahrheit ah fo ermahne ich dich nochmals, 
lege vie Hartnäckigkeit ab und bekenne die Wahrheit, fonft 
wird man dich mit Zorturen dazu zwingen.»*) Wieberum 
fagte man ihm: «Wiewol du das Berbrechen wegleugneit, 
fo verlange ich von bir die Urfache zu wifjen wegen des 
Berbrechens, wegen welches du proceffirt bift.» Gibt and) 
jest der Augeflagte noch nicht die gewwünfchten Antworten, 
jo fchreitet man wirklich zur Folter. Geißelung, wobei 
der Richter noch befonders beftimmt, ob fie mit einfachen 
Stridlein, ober mit eifernen Kettlein, oder mit Spik- 
gärten, ober Riemen vollzogen werben joll, Zufanmen- 
preſſen ber Fußluöchel, in die Höhe ziehen an ven Händen, 
welches aber nicht über eine Stunde anhalten foll, Ber- 
jengen der mit Fett eingeriebenen Füße an einem Kohlen- 
feuer, das find die freunblichen Mittel, mit denen man 
ven Angellagten zum Geftehen zu bringen ſucht. Und 
wagt das unglüdliche Opfer fpäter, feine vom Schmerz 
erpreßte Ausjage zu widerrufen, dann wird ganz einfach 
die zeitweife unterbrodhene Folter fortgejekt. ” 

Der Proceß gegen Galilei ift ein getrenes Conterfei 
dieſer Vorſchriften, nur daß die allerlegten Stufen au 
ihm nicht vollzogen zu werben brauchten. 

Das erfte Berhör ging am 12. April 1633 vor ſich. 
Es umfaßt bei Gebler acht Druckſeiten. Der Inquifitor, 
ein perjönlicher Feind Galilei's, den er durch Nichtachtung 
feiner ardhitektonifchen Kenntniffe arg gefränft hatte, Bin- 
cenzo Diezzolani, fprach Iateiniich, während Galilei italie- 
nifh antwortete. Das Protokoll ift von Galilei unter- 
ſchrieben. Zunächft alfo ver Schwur, genau die Wahr- 
heit zu fagen. Dann vie Frage, ob er ben Grund feiner 
Vorladung wiffe oder vermuthe. Galilei erwiberte, er 


*) Das fog. examen de intentione. 





vor der Ingnifition in Rom. 45 


werbe vorgelaven fein, um über fein letzterſchienenes Buch 
Rechenfchaft zu geben. Den vorgelegten „Dialog“ aner- 
fannte er als fein Werk. Dann ging der Iuquifitor auf 
den Proceß von 1616 ein; ob und aus welchem Anlafie 
Galilei damals in Rom geweſen fei. Dieſer erwiderte, er 
fei aus eigenem Antriebe nad Rom gegangen, weil er 
gehört, man hege Bedenken gegen die Kopernikaniſche 
Lehre, und weil er habe willen wollen, was ſich gemäß 
dem heiligen katholiſchen Glauben von diefer Materie zu 
halten gebühre. Weiter bringt der Ingquifitor die Unter⸗ 
rebungen zur Spradye, vie Galilei damals mit miehrern 
Carpinälen der Inquiſitions⸗Congregation geführt habe. 
Galilei entgegnete, diefe Unterrebungen feien von ven Car⸗ 
pinälen zu ihrer eigenen Information gewünfcht worben. 
Nun fragte der Ingquifitor nach dem Ausgange des da⸗ 
maligen Procefjed, worauf Galilei erflärte, die Inber- 
Eongregation babe entjchieven, die Kopernifanifche Lehre, 
als thatjächliche Gewißheit behauptet, wiberftreite der Hei- 
ligen Schrift; fie fei aber als Hypotheſe zuläffig. Und 
nun fpist fi) das Verhör allmählich auf bie oben bes 
fchriebene Aunotation von 26. Februar 1616 zu. 

Inguifitor. Ob ihm damals der in Rebe ftehenpe 
Beſchluß mitgetheilt worven fei und von wen? 

Galilei. Es wurde mir dieſe Entſchließung ber hei- 
figen Inder-Eongregation bekannt gegeben und zwar von 
dem Herrn Carbinal Bellarmin. 

Inguifitor. Er möge berichten, was Se. Eminenz 
bezüglich des genannten Beichluffes mitgetheilt habe, und 
ob diefer ihm noch etwas anderes darüber gefagt und was? 

Galilei. Der Herr Earbinal eröffnete mir, daß bie 
befagte Kopernilanifche Meinung als bloße Unterftellung 
ftattbaft fei, fo in der Art, wie Kopernikus an ihr ge- 
halten habe, und Sr. Eminenz war es auch befannt, daß 


46 Die Proceſſe gegen Galileo Galilei 


ich gleich Kopernikus jene Lehrmeinung nur fupponire; 
man erfieht das aus einer Antwort beijelben Herrn Car⸗ 
binal® auf einen Brief des Pater Paolo Antonio Yosca- 
rint, Provinziald der Karmeliter, von welcher ich eine 
Abſchrift befige, und in welcher e& beißt: „Es fcheint 
mir, daß Euer Hochwürben und ber Herr Galilei Flug 
daran thun, fich zu begnügen, unterjtellungsweife 
und nicht wie von unzweifelhaften Dingen zu ſprechen.“ 
Diefer Brief des Herren Cardinals ift vom 12. April 
1615 Datirt. Im anderer Weife aber, d. 5. mit Gewiß- 
heit behauptend, bürfe man jene Meinung weder feithalten 
noch vertheibigen. (Das ne tenere, ne defendere.) 

Inquifitor. Er möge erzählen, was im Monat 
Februar 1616 beichloffen und ihm eröffnet worden fei. 

Galilei. Im Monat Februar 1616 fagte mir der 
Herr Cardinal Bellarmin, daß, da die Meinung bes 
Kopernifus in der Form beitimmter Behauptung ber Hei- 
ligen Schrift entgegen fei, man weber an ihr fefthalten, 
noch fie vertheidigen dürfe; daß man fie aber als Unter- 
ftellung auffafjen und in diefem Sinne darüber fchreiben 
fönne. Uebereinſtimmend befige ich ein Zeugniß von dem⸗ 
jelben Herren Cardinal Bellarmin, ausgeftellt am 26. Mai 
1616, worin er fagt, daß die Kopernifaniiche Anficht 
weber feitgehalten noch vertheidigt werben bürfe, daß fie 
ber Heiligen Schrift wiberjtreite, von welchem Zeugniſſe 
ich hiermit Abfchrift vorlege. 

Inguifitor. Ob, als ihm obgemelvete Mittheilung 
gemacht wurte, noch andere Perſonen zugegen waren 
und wer? 

Galilei. AS der Herr Cardinal mir befannt gab, 
was ich betreſſs der Kopernikaniſchen Anficht berichtet 
babe, waren einige Dominicaner-Patres anwejend; aber 
ich Tannte fie nicht, noch ſah ich fie je wieder. 








vor der Inguifition in Rom. 47 


Snguifitor. Ob ihm in Anweſenheit jener Patres 
von dieſen oder jemand anderm ein Befehl über ebendieſen 
Gegenjtand ertheilt worben ſei und welcher? 

Galilei. Ich erinnere mich, daß die Verhandlung 
in folgender Weiſe verlief: Der Herr Carbinal ließ 
mich eines Morgens zu fich rufen und machte mir bie 
Eröffnung, man dürfe die Kopernikaniſche Meinung als 
der Heiligen Schrift widerſprechend nicht feithalten noch 
vertheibigen. Es ift meinem Gebächtniffe entſchwunden, 
ob jene Dominicaner-Patres früher da waren, ober ob 
fie erft jpäter famen; ebenjo wenig entfinne ich mich, ob 
fie gegenwärtig waren, al8 der Herr Cardinal mir fagte, 
dag man bie bewußte Meinung nicht fefthalten dürfe. 
Es Tann fein, daß mir ein Befehl ertheilt wurde, ich 
jolle die genannte Anficht weder fefthalten noch verthei- 
digen, aber ich erinnere mich nicht daran, denn es ift 
dies eine Sache von mehrern Jahren. 

Inguifitor. Ob, wenn man ihm vorlefe, was ihm 
damals gejagt und befohlen worden, er fich deſſen ent- 
finnen werde? 

Galilei. Ich erinnere mich nicht, daß mir etwas 
anderes gejagt oder auferlegt worden wäre, noch weiß ich, 
ob ich mich an das, was mir damals gejagt wurde, er- 
innern werbe, felbjt wern man mir es vorlieft. Sch be- 
fenne offen alles, deſſen ich mich erinnere, weil ich mir 
nicht beivußt bin, die mir gegebenen Vorſchriften in irgend⸗ 
einer Weiſe übertreten, d. b. die erwähnte Meinung von 
ber Bewegung ber Erde und dem Feſtſtehen der Sonne 
vertheidigt zu haben. 

Der Inguifitor fängt num von dem quovis modo 
docere, tenere aut defendere an und fügt hinzu, daß 
biefer Befehl vor Zeugen ertbeilt fet. 

Galilei entgegnet: Ich enifinne mich nicht, daß 


48 Die Brocefje gegen Galileo Galilei 


biefer Befehl mir von jemanb anderm ald mündlich von 
bem Herrn Cardinal Bellarmin eröffnet worden wäre, 
aber ich erinnere mich wohl, daß der Befehl lautete: ich 
dürfe nicht fejthalten und nicht vertheidigen; es kann fein, 
daß noch dabei gewefen ift „und nicht lehren“. Ich er- 
erinnere mich deſſen nicht, auch nicht, daß die Beſtim⸗ 
mung „in keiner Weije‘ dabei gewejen wäre, aber es 
fann fein, daß fie Dabei war; denn ich habe parüber nicht 
weiter nachgedacht, noch mich bemüht, die Worte meinem 
Gedächtniſſe einzuprägen, da ich wenige Monate ſpäter 
jenes hier vorgelegte Zeugniß des genannten Herrn Care 
dinals Bellarmin vom 26. Mat erhielt, in welchem fich 
bie mir ertheilte Vorjchrift, jene Meinung nicht feſtzu⸗ 
halten noch zu vertbeidigen, ausgedrückt findet. ‘Die bei- 
den andern Beitunmungen, der bejagten VBorfchrift, welche 
mir eben befannt gemacht wurben, „nicht zu lehren” und 
„in keiner Weiſe“ habe ich nicht im Gebächtniffe behalten; 
ich glaube, weil fie in dem bewußten Zeugniffe, auf bas 
ich mich verlaffen und das ich zu meiner Erinnerung auf- 
behalten habe, nicht erwähnt find. 

Inquiſitor. Ob er, nachdem der befagte Be— 
fehl ertheilt worben fet, irgendeine Erlaubniß erhalten 
babe, das von ihm als fein Werk anerfannte Buch, wel- 
ches er auch jpäter habe druden lafjen, fchreiben zu 
bürfen? 

Galilei. Nach Empfang des vorerwähnten Befehls 
habe ich nit um die Erlaubniß nachgejucht, oben ge⸗ 
nanntes Buch, das ich allerdings als mein Werk aner- 
fenne, jchreiben zu dürfen, weil ich nicht glaube, durch 
Abfaffung deſſelben irgendwie dem Befehl, die bewußte 
Meinung weder feitzuhalten, noch zu vertheivigen ober 
zu lehren, entgegengehandelt, fondern biejelbe vielmehr 
widerlegt zu haben. 


vor der Inguifition in Rom, 49 


Zuletzt kommt der Inquiſitor auf die Druckerlaub⸗ 
niß zu ſprechen und fragt, ob Galilei bei dem Anſuchen 
um dieſe Erlaubniß dem P. Magister sacri Palatii 
Mittheilung von dem oben befprochenen, im Auftrage ber 
heiligen Index⸗Congregation ihm ertheilten Befehle ge- 
macht babe. 

Galilei. Bon dem Befehle babe ich dem P. Ma- 
gister sacri Palatii gegenüber nichts erwähnt, weil ich es 
nicht für nöthig erachtete; es ftiegen mir eben keinerlei Be⸗ 
denken auf, ba ich durch jenes Buch die Meinung von ber 
Bewegung der Erde und dem Stillftande der Sonne weber 
feftgehalten noch vertheibigt habe, ich vielmehr in biefer 
Schrift das Gegentheil der Kopernikaniſchen Lehre erweiſe 
und zeige, daß die Gründe des Kopernifus Traftlos und 
nicht entſcheidend find. 

Daß Galilei gegen das Ende des Verhörs wider 
jeine Ueberzeugung rebet, ift Har. Entweder that er das 
dem „guten Rathe“ des Geſandten zu Liebe oder er war 
ihon halb und Halb mürbe. Aber ebenfo Har ift, daß 
der Inguifitor nicht fichern Rechtsboden unter den Füßen 
hatte. Er fängt von Zeugen an; Galilei weiß nur von 
etlichen Dominicaner-Patres, deren Anwefenheit ihm eine 
zufällige zu fein jchten. ‘Der „Befehl“ vom 26. Februar 
führt den Pater-Commilfar des heiligen Offieiums nament- 
fh an, alſo eine eminent officielle Perjönlichkeit. Das 
bat man Galilei verheimlicht. So gewiſſenlos aber dieſer 
in der Berleugnung feiner Kopernikaniſchen Weltanfchauung 
ericheint, jo gewifjenhaft verführt er darin, daß er zugibt, 
es fünne ihm auch ver Befehl des quovis modo docere 
ertheilt fein, nur erinnere er fich beffen nicht. Der ge- 
wiffenhafte Menſch thut aber Lieber ein Mehreres, ehe 
er fich ver Möglichkeit eines Irrtbums ausſetzt. Man 
beachte auch, wie während des Verhörs aus bem monere 

xXIV. 4 


50 Die Procefje gegen Galileo Galilei 


bes Cardinals ein mandare geiworben, aus ber Berwar- 
nung ein Decret. 

Das zweite Berhör, in dem man hätte beutlicher wer- 
ben müſſen, fand am 30. April und zwar auf das eigene 
Verlangen Galilei's ſtatt. Offenbar wollte er feinen 
Feinden durch Fügſamkeit zuvorkommen. Er nahm jogleich 
das Wort und hielt eine Rede, in welcher er das DBe- 
kenntniß feiner Schuld darlegte. Sie ift zu charakteriftiich, 
al8 daß wir uns mit einer kurzen Inhaltsangabe begnügen 
fönnten. Ste lautet: 

„Nachdem ich jüngft mehrere Tage hindurch über die 
im Verhöre an mich gerichteten Fragen unausgejegt und 
angelegentlich nachgedacht babe, namentlich über jene: ob 
mir vor 16 Iahren vom heiligen Officium das Verbot 
ertheilt worven fei, die eben damals verdammte Lehre von 
ber Bewegung der Erde und dem Stillftehen ver Sonne 
in irgendeiner Weiſe weder feitzuhalten, noch zur verthei- 
digen oder zu lehren, kam mir ver Gebanfe, meine ge- 
druckten Dialoge, bie ich feit drei Jahren nicht wieder 
angefehen hatte, wieder einmal zu überlejen, um aufmerf- 
ſam zu unterfuchen, ob mir vielleicht ganz gegen ben 
Willen aus Unbedachtſamkeit etwas in bie Feder gekom⸗ 
men wäre, weshalb ver Leſer oder die Obern mir nicht 
nur Ungehorfam im allgemeinen, fondern auch gewiſſe 
Einzelheiten zum Vorwurfe machen könnten, die zu ber 
Meinung führen müßten, ich hätte die Befehle der hei- 
ligen Kirche misachtet. Da es mir infolge der gnädigen 
Erlaubniß der Obern freigeftellt war, meinen ‘Diener 
umherzuſchicken, juchte ich mir ein Eremplar meines Wer- 
fes zu verfchaffen und begann, als mir dies gelungen, 
dafjelbe mit der größten Aufmerkſamkeit purchzulefen und 
eingehend zu prüfen. Es erjchien mir faft, weil ich es 
jo Lange nicht in Hänven gehabt, als eine neue Schrift 





vor ber Inguifition in Rom. 51 


und wie von einem fremden Autor. Und in ber That 
bat fie mir an mehrern Stellen den Eindrud gemacht, 
als habe infolge der Faſſung dieſer Stellen der mit mei- 
ner Denkungsart nicht vertraute Lefer zu der Meinung 
fommen können, die Beweife für den falfchen Theil, 
den ich zu widerlegen im Sinne gehabt, feien doch faſt 
mit mehr Nachdruck vorgetragen, als der Zwed, fie zu 
widerlegen, geftatte. Namentlich werben zwei Argumente: 
das eine von den Sonmenfleden, das andere von ber 
Ebbe und Flut des Meeres, dem Leſer als fo beweisfräftig 
und überzeugend vorgeführt, daß es fcheint, als habe ver 
Verfaſſer fie für entjcheivend gehalten und nicht für wiber- 
legbar, wie e8 wirklich der Fall war und noch ift. Ich 
war in einen meiner Abjicht völlig fern gelegenen Irr⸗ 
thum verfallen, aber wie war das gefommen? Freilich 
ſoll man die Beweisgründe bes gegnerifchen Theils, bie 
man widerlegen will, auf das genauefte darftellen, be- 
jonders wenn man ſich der Form von Rede und Wiber- 
rede bedient; man ſoll fie gewiß nicht vorjäglich ab- 
ſchwächen behufs leichterer Ueberwindung des Gegners, 
welchem fie in dem Dialog in ven Mund gelegt fin; 
allein mit diefer Erwägung war der Fehler, auf dem ich 
mich ertappte, noch nicht genügend erklärt; der Fehler 
war, wie ich bei gründlicher Selbitprüfung erfannte, 
baraus entiprungen, daß ich bei der Abfaffung des 
Buches mich ſchwach zeigte, wie jeder andere in gleichem 
alle, der Behagen daran empfindet, feinen Scharffinn 
ipielen zu laffen und durch das Auffinden geiftreicher und 
plaufibel klingender, wenngleih im Grunde unhaltbarer 
Behauptungen fich geſchickter zu zeigen als andere Men- 
chen. Obgleich ich nun mit Cicero fagen muß, «baß ich 
ruhmbegieriger bin als gut ift», jo würbe ich Dennoch, 
wenn ich die Beweisgründe für das Kopernikaniſche Syftem 
4* 


52 Die Procefje gegen Galileo Galilei 


noch einmal barzuftellen hätte, fie ohne Zweifel berartig 
entträften, baß fie auch fo ſchwach erjcheinen jollten, 
wie fie in Wirklichkeit find. Ich habe alfo einen Irr- 
thum begangen und zwar, wie ich eingeftehe, aus eitler 
Ehrbegier, aus reiner Thorheit und Unbebachtiamfeit. 
Das tft e8, was ich ausfagen wollte und was mir beim 
Durchlefen meines Buches in ben Sinn kam.“ 

Man erichrict über dieſe Selbfterniebrigung und dieſe 
Unwahrhaftigkeit Galilei's, der fich Hierdurch felbjt ver- 
nichte. Man wirb aber dem Inbivibuum, das fich fo 
vergißt, weniger Vorwürfe machen dürfen als ber Kirche, 
die fih jo etwas bieten läßt und die fo etwas verlangt. 
Galilei glaubte ohne Zweifel, feinen Richtern wohlgefällfig 
zu handeln. Wie traurig ift doch diefe Macht der rö- 
mifchen Kirche! Welch unheilvollen Einfluß übt fie auf 
bie Seelen aus! 

Das Verhör wurde gefchloffen. Galilei wurde abge- 
führt. Da drehte er fich noch einmal um und erklärte 
feine DBereitwilligfeit, nunmehr gegen SKopernifus zu 
jchreiben: 

„Zur größern Bekräftigung, daß ich die als unzu- 
lälfig verdammte Meinung nicht für wahr gehalten habe 
noch fie jeßt für wahr halte, bin ich bereit, noch einen 
weitern unziweifelhaften Beweis zu liefern, wenn mir bie 
erwänfchte Zeit und Gelegenheit hierzu vergönnt werben. 
Ein jehr günftiger Anknüpfungspunkt bietet fich hierzu 
darin, daß in dem von mir herausgegebenen Buche bie 
Perſonen, welche die Dialoge halten, fich verabrebet haben, 
nad ‚einiger Zeit wieder zujammenzutreffen, um ſich über 
andere naturwifjenfchaftliche Fragen zu beiprechen. Wenn 
mir vie Gelegenheit gegeben würbe, ven Gejprächstagen 
noch einen oder zwei weitere «Tage» Hinzuzufügen, fo 
würde ich verfprechen, die zu Gunften ber bewußten fal- 


vor ber Inquifition in Rom. 58 


ſchen und verpönten Meinung angeführten Gründe noch- 
mals aufnehmen und fie anf bie wirkſamſte Weife, welche 
mir der barmberzige Gott fchon eingeben wird, zu wiber- 
legen. Ich bitte deshalb dieſen hohen Gerichtshof, mir 
zur Ausführung dieſes guten Vorſatzes behülflich zu fein. 
Hier hat man das laudabiliter se subjecit in beiter 
Form. Es hat Galtlei nichts genügt, ein Beweis, daß 
man unter allen Umftänden an ihm Rache nehmen wollte. 
Um fo fchlimmer aber ift das, weil aus Briefen, welche 
ber Bibliothekar der Familie Barberint im Iahre 1875 
herausgegeben hat, erhellt, daß gerade ver vie Unterfuchung 
führende Commiffar ihn vor dem Verhöre, am 28. April, 
zu dieſem felbftwernichtenden Belenntuiffe veranlaßt hat 
unter der BVorfptegelung, man mwürbe dann Gnade vor 
Recht ergeben laffen. Nur zu einer Erleichterung verhalf 
biefer 30. April dem Delinquenten: er burfte in das tos⸗ 
caniiche Gefandtichaftshotel zurüdfehren; vorher mußte er 
jedoch beichwören, daſſelbe nicht zu verlaffen, mit Teinem 
andern als mit ben Bewohnern des Palaftes zu ver- 
kehren, ftrengjtes Stillfchweigen zu beobachten und, jo oft 
er vorgefordert werbe, fich vor dem Tribunal zu, ftellen. 
Im dritten Verhör, am 10. Mat, eröffnete ihm P. 
Mezzolani, daß ihm eine Frift von acht Tagen gewährt 
fet zur Einreichung einer Vertheivigungsichrift. Galilei 
batte dieſelbe bereit$ in ver Taſche und überreichte fie dem 
Inquiſitor. Er hatte Folgendes nievergefchrieben: 
„Befragt, ob ih den ehrwürbigen P. Magister sacri 
Palatii von dem mir vor beiläufig jechzehn Jahren per: 
ſönlich ertheilten Befehle unterrichtet hätte, laut Verord⸗ 
nung des heiligen Offictums Die Meinung vor der Beivegung 
ber Erde und dem Stillftehen ver Sonne weder feitzu- 
halten noch zu vertheidigen, noch in irgendeiner Weiſe 
zu lehren, erwibere ich: Nein! Da ich dann nicht weiter 


54 Die Proceffe gegen Galileo Salilei 


um bie Urjache gefragt worben bin, warum ich ihn nicht 
davon in Kenntniß gefett babe, fo fehlte mir bie Ge⸗ 
fegenbeit, mich näher über dieſen Punkt zu erklären. Es 
ericheint mir aber nöthig, dies nachträglich zu thun, um 
meine gute Abficht zu erweiſen, in ber ich bei meinem Thun 
von Trug und Berftellung mich immer fern gehalten habe. 
Ich greife alfo bis zum Jahre 1616 zurüd. Einige mir 
übelwollende Perſonen hatten das Gerücht verbreittet, ich 
jet von Sr. Eminenz dem Carbinal Bellarmin vorgeladen 
worben, um gewiffe, angeblich von mir gebegte Meinungen 
und Lehren abzufchwören, hätte dies auch thun müffen, 
wie mir denn auch noch eine Buße auferlegt worben jet. 
Ich ſah mich infolge deſſen genöthigt, Se. Eminenz um 
ein Zeugniß zu bitten, in welchen ver Cardinal erklären 
möge, behufs welchen Zweckes ich vor ihn berufen geweſen 
jet. Ich erhielt das eigenhänbig von ihm gefchriebene 
Atteft, deſſen Original ich hiermit überreiche. Aus dem⸗ 
felben ift Har zu erjehen, daß mir blos angekündigt wurde: 
man bürfe bie dem Kopernikus zugefchriebene Lehre von 
ber Bewegung der Erbe und dem Stillftehen der Sonne 
weber feitbalten noch vertheibigen, daß mir aber außer 
diefem für alle gültigen Ausspruch irgendetwas anderes 
im befondern anbefohlen worden wäre, darüber befindet 
fih in jenem Zeugniffe nicht die geringfte Spur. Da 
ich zu meiner Erinnerung biejes authentifche Zeugniß von 
ver Hand befjelben Mannes beſaß, ver mir die Vorſchrift 
ertheilt hatte, jo babe ich nicht weiter über die Aus- 
brüde, welche bei der mündlichen Meittheilung des Befehls 
gebraucht wurden, nachgebacht, noch mich bemüht, fie im 
Gedächtniſſe zu behalten, ſodaß bie andern Beftimmungen 
außer dem «fejthalten» und «vertheidigen», nämlich «zu 
lehren» und «in feiner Weije» mir vollftändig wie neu 
Hinzugefommen und als nie gehört erfcheinen.” (Das do- 


vor der Inguifition in Rom. 55 


cere und das quovis modo find im Manuſcript mit 
großen Yuchftaben gejchrieben, das quovis außerdem unter: 
ftrichen.) „Ich denke, man wird meiner Verficherung Glau- 
ben fchenfen, daß mir im Laufe von 14—16 Jahren jebe 
Erinnerung an jene Worte vollftändig entſchwunden ift, 
und dies um fo mehr, da ich, im Befite einer fo voll- 
wichtigen ſchriftlichen Erinnerung, nicht nöthig Hatte, 
fie im Kopfe zu behalten. Wenn man num die genann- 
ten beiden Beſtimmungen wegläßt und nur die beiven in 
dem vorliegenden Zeugniffe angeführten beibehält, fo bleibt 
fein Zweifel, daß bie darin enthaltene Anordnung 
diefelbe jei, wie pie durch das Decret ber heiligen 
Congregation des Inder erlajjene Vorſchrift 
(sc. vom 5. März 1616). Daburch aber fcheint e8 mir 
binlänglich emtjchulpigt zu fein, daß ich ven P. Magister 
sacri Palatii von dem mir perjönlich zugefertigten Befehle 
nicht in Kenntniß geſetzt babe, da ja derfelbe mit dem 
von der SInder- Eongregation verlautbarten 
völlig gleich if. Auch das wird man mir zugeben, 
daß ich, nachdem mein Buch feiner ftrengern Cenfur unter- 
lag, als der von jenem Inber-Decret geforverten, bemüht 
war, e8 von jevem Schatten eines Makels zu reinigen, 
indem ich daſſelbe dem oberjten Inquifitor‘ (eben dem P. 
Magister sacri Palatii) ‚‚vorlegte, und das gerade in einer 
Zeit, wo viele den nämlichen Gegenstand behandelnde 
Bücher einzig Traft jenes ‘DecretS verboten wurben. Aus 
dem Gefagten glaube ich die fefte Hoffnung fchöpfen zu 
bürfen, daß meine hochwürdigen und weilen Richter von 
dem Gedanken: als babe ich wiſſentlich und vorjäglich 
bie mir ertheilten Befehle überjchritten, ablaffen und viel- 
mehr erfernen werben, bie in meinem Buche vorkommen⸗ 
ben Verftöße feien keineswegs verftohlen und mit Hinter- 
lift darin eingeführt worben, ſondern fie jeien mir Lediglich 


56 Die Broceffe gegen Galileo Galilei 


aus der Feder geflofien, weil ich in eitelm Ehrgeiz ſcharf⸗ 
finniger babe erjcheinen wollen als andere Schriftiteller. 
Sch habe das bereits in meiner vorigen Ausſage befannt 
und bin bereit, biefen Fehler wieder gut zu machen, wenn 
mir dies von den hochwürbigen Herren anbefohlen over 
geftattet wird. Schließlich bitte ich um Berüdjichtigung 
bes bemitleivenswürbigen körperlichen Zuftandes, in den 
ih, ein Siebziger, durch den zehnmonatlichen Kummer 
und bie Beichwerven einer langen mühſamen Reiſe in ber 
ſchlimmſten Jahreszeit gerathen bin, ſodaß ich auf ven 
größten Theil der Lebensjahre, welche die frühere Be⸗ 
ſchaffenheit meiner Gefunpheit in Ausficht ftellte, wol 
werde verzichten müſſen. Mein Vertrauen in bie Huld 
und Gnade der hochwürbigjten Herren, meiner Richter, 
gibt mir den Muth zu diefer Bitte. Mögen ſie gütigit, 
angefichtS fo vieler Leiden, bei dem binfälligen Greife, 
der ſich ihrem Schutze unterthänigft empfiehlt, von ber 
ganzen Höhe der verbienten Strafe abſehen.“ 

Dean athmet bei biefer Vertheivigungsfchrift erleich- 
tert auf; endlich hat ſich Galilei ermannt, zwar nicht zu 
einer fühnen, aber doch würbigern Sprache als bisher; 
jeine juridiihen Motive find klar und wahr; rechtlich ftand 
die Sache fo, wie er fie auffaßt und darſtellt. Daß er 
noch eine captatio benevolentiae einfließen läßt, mag 
fih aus dem Gefühl ver Furcht erflären, von der er nun 
einmal nicht 108 konnte. Manches wirb auch auf bie üb- 
lichen höflichen Formen amtlicher Eingaben zu jegen fein. 
Bon einem „Gewimmer“ zu reven (wie es Fridolin Hoff: 
mann in feiner „Gejchichte der Inguifition”, Bonn 1878, 
thut, deſſen Ueberſetzung und Anführung der Actenftüde 
wir zum Theil gefolgt find), liegt wenigſtens bei dieſer 
Dertheidigungsichrift Feine Veranlafjung vor. 








vor der Inguifition in Rom. 57 


Das erjte Actenftüd*) tft ein hiſtoriſches Referat über 
den Verlauf ber beiden Proceſſe bis zu diefem 10. Mat. 
Es wird an ber Zeit fein, hier nach Gebler einiges über 
die Acten jelbft einzufchalten. Site bilden heute einen ziem- 
lich ftarfen Duartband von 22 cm Breite und 30 cm 
Höhe. Das Manufcript bat nicht weniger als 194 un- 
beichriebene Seiten, theils Rückſeiten, theil® zweite Blätter 
von Documenten. Es Täßt fich aber leicht finden, zu 
welchem Actenftüde jedes weiße Blatt gehört. In ber 
Paginirung des Manufcripts herricht die allergrößte Un- 
ordnung. Es gibt eine dreifache Numerirung. ‘Die alte 
Numerirung umfaßt ſämmtliche Actenftüde, die zum Pro- 
ceffe vom Jahre 1616 gehören; fie waren in einem Bande 
des Archivs des heiligen Officiums erhalten, der die Num- 
mer 1181 trug. Die Actenftüde des zweiten Procefjes 
(1632/33) müfjen einem andern Bande jenes Archivs an- 
gehört haben, wie aus ihrer Paginirung hervorgeht, vie 
auf dem erſten Documente, dem großen Bericht der zur 
Borunterfuhung eingefegten Specialcommiffion an ben 
Bapft, die Ziffer 387 aufweift. Als man num die Acten 
ber beiden Galilei'ſchen Proceffe aus den zwei verſchiedenen 
Bänden heraushob und miteinander verband, wurbe zur 
Erzielung einer fortlaufenden PBagination die alte Be- 
zifferung bes erſten Procefjes gejtrichen und biefelbe da— 
durch erjeßt, daß man vom eriten Folio des zweiten Pro> 
ceſſes nach rückwärts zählte und danach paginirte. 

Hierzu kommt aber noch eine dritte Pagintrung, bie 
auf dem untern Rande des Papiers angebracht ift, und 
auf dieſe wirb in der hiftoriichen Einleitung wiederholt 
bingeiwiefen; fie reicht aber nur fo weit als bie Acten, 


*) Das ganze Actenftäd enthält nicht weniger als 131 Rum- 
mern. 


58 Die Proceſſe gegen Galileo Galilei 


welche von den Ereigniffen bis zum 10. Mat handeln. 
Daher mag in diefer Zeit nach dem 10. Mat bis zum 
21. Juni (dem nächſten Verhöre Galilei's) die Vereini- 
gung der Acten entftanden fein, und zwar durch den Ber- 
faffer der biftorifchen Einleitung, ber zugleich diefe neue 
Paginirung beforgt haben mag. (Wir jetgen hinzu: zu 
ichnellerer Drientirung für fih.) Tinte und Charakter 
ber dritten Numerirung ſtehen in genauer Webereinftim- 
mung mit ber zweiten PBagination. Iſt dieſes richtig, 
dann wird man auch Gebler darin zuftimmen müffen, 
daß dieſe Hiftorifche Einleitung für den Papft und bie 
Congregation abgefaßt fein mag behufs Teititellung des 
Schlußverfahrens gegen Galilei. Das erklärt volllommen 
das Tendenziöſe biefer Inhaltsüberficht, in der alles zu 
Ungunften Galilei's zufammengeftellt ift. Hier find bie 
Annotationen vom 25. und 26. Februar 1616 in Eins 
verſchmolzen. Schon die erjtere enthält das verfängliche 
quovis modo. Bellarmin ertheilt dem Galilei ven pre- 
cetto di lasciate e non tractare in modo alcuno di 
d® opinione dell immobiliat& del sole, della stabi- 
. lita della terra. Das zweite hat nur an Stelle des 
relinquere ein deserere. Das vernichtende Selbftbefennt- 
niß Galilei's aber vom 30. April hat der Auszug ganz, 
während feine Vertheidigungsſchrift abgekürzt wiederge⸗ 
geben iſt. Offenbar ſollte Galilei dadurch doppelt belaſtet 
erſcheinen; auf der einen Seite ſein völliges Geſtändniß, 
auf der andern ſeine klare Rechtsverwahrung. In dieſe 
Zeit paßt alſo der Auszug ganz gut hinein. Auffallend 
bleibt aber immerhin, daß er an erſter Stelle in den 
Acten ſteht. Das hat Wohlwill auf den Gedanken ge⸗ 
bracht, die Abfaſſung dieſes Auszuges in die Zeit der 
Wegführung der Acten nach Paris zu verlegen. Er ſollte 
gewiſſermaßen die Inquiſition vor der Welt rechtfertigen. 





vor ber Inguifition in Rom. 59 


Wohlwill fucht eine Beftätigung in dem erften DBlatte, 
welches folgende Form bat: 


Florentin: Vol. 1181. 226 
Ex archivo S. Offij. 


L | Co (= contra) 


Galileum Galilei Mathematicum. 


Dem ex archivo will und ba eine zu große Beben- 
tung beigelegt erjcheinen. Vermuthlich tragen doch alle 
Actenftüde dieſes ex. Ganz unbeachtet wird indeß dieſe 
fühne Combination nicht bleiben können, zumal ein an- 
deres hiſtoriſches Referat über ven Proceß, 100 Jahre 
fpäter abgefaßt, als es fich um bie Errichtung eines Denk⸗ 
mals für Galilei in der Kirche Santa-Eroce zu Florenz 
handelte, das vorlegte des ganzen Actenjtüdes, ih an 
feiner richtigen Stelle befindet. 

Wir neigen uns alfo der Gebler’ichen Anſicht zu. Die 
Sitzung zur Beſtimmung des Schlußverfahrens fand am 
16. Juni ſtatt und zwar in Gegenwart des Papftes als 
geborenen Präfidenten der Congregation ber heiligen römi- 
chen und allgemeinen Ingquifition. In der Zwifchenzeit vom 
10. Mai bis 16. Juni waren noch Gutachten eingeholt 
worben. Auch das war vorichriftsmäßig. Die juriftifchen 
und theologischen Confultatoren fpielten bei der Entjchei- 
bung ber Ingquifitionsproceffe ſogar eine fehr wichtige 
Rolle; Anklage, Beweisaufnahme und Vertheibigung wur- 
ben ihnen zur Begutachtung vorgelegt. Die „Kanoniften‘‘ 
hatten über die Art des Verfahrens und über die DBe- 
ftrafung des Angeflagten ihr Votum abzugeben; auch eine 
Anwendung ber Zortur wurde nicht befchloffen ohne bie 
Confultatoren. Die Anficht der Eonjultatoren kann durch 
ben Befehl des Papftes erfegt werben, Eine befonbere 


60 Die Proceffe gegen Galileo Galilei 


Willensmeinung bes Papftes ſteht nicht in den Galiler’- 
chen Acten. Alſo müßten die Gutachten ver Confultatoren 
in ihnen ftehen. Sie find auch da, aber nur bie ber 
Theologen; bie der Yuriften fehlen. Entweder bat man 
bie Gutachten der Juriſten beifeitegefchoben, weil fie Ga⸗ 
lilei günſtig waren, oder man hat fie fpäter entfernt, weil 
fie, entgegengefegtenfall®, die Anwendung ber Tortur 
empfohlen. Die tbeologifchen Confultatoren, bie über bie 
Ketzerei zu enticheiveu haben, fommen in den Acten voll- 
ſtändig zu Worte. Ihre Namen find: Auguftin Oregius, 
Melchior Inchofer und Zacharias Pasqualigus. Gie 
iprachen fich ziemlich übereinftimmend aus; die Gutachten 
jelbit find kurz. So lautet das von Inchofer: 

„Meine Meinung ift, daß Galilei das Stillſtehen 
oder die Ruhe der Sonne als des gefammten Centrums, 
um welches fich jowol die Planeten als auch Die Erbe 
in ihren eigenen Bewegungen drehen, nicht nur [ehrt 
und vertheibigt, ſondern Daß er auch ber feiten An⸗ 
ſchließung an diefe Meinung ſehr verbächtig jet und 
daß er fie daher feithalte.” 

Um fo ausführlicher find die von allen drei zuſammen⸗ 
gejtellten Gründe für die Gutachten. (Rationes quibus 
ostenditur Galilaeum docere, defendere, ac tenere 
opinionem de motu terrae.) Dieſe rationes füllen bei 
Gebler achtzehn Seiten. Die nächften vier Folioſeiten aber 
find nach Gebler in ven Acten weiße Blätter. Bei den 
vielen weißen Blättern, welche die Acten enthalten, kann 
daraus in Anjehung der juriftifchen Gutachten nichts ge- 
ichloffen werben. Jedenfalls ift ihr Fehlen bedenklich. 

Auf Grund diefer Gutachten hatte die Sigung vom 
16. Juni folgendes Reſultat: 

„Hinſichtlich Galilei's, deſſen Sache oben erwähnt, 
befahl Se. Heiligkeit, ihn ſelbſt ob feiner Intention zu 





vor ber Inguifition in Rom, 61 


befragen, und ihn nach Androhung ber Tortur und 
nach, wenn er ausgehalten haben wirb, vorhergehender 
Abſchwörung (comminata ei tortura, et si susti- 
nuerit previs abjuratione) wirkſam (de vehementi) 
in einer Plenarfigung ver Congregation, des heiligen 
Officiums mit Gefängniß zu beftrafen nach dem Gut⸗ 
pünfen ber heiligen Congregation. Er, dem auferlegt 
wird, fernerhin in gar feiner Weife fohriftfich oder 
münbfich die Bewegung der Erde und das Stillftehen 
ber Sonne und and) das Gegentbeil zu behandeln, 
fälft unter Strafe zurüd.” 

Se. Heiligkeit befahl alſo das examen de intentione, 
befahl die Androhung der Zortur, befahl eine Abſchwörung 
in einer Plenarfikung der Eongregation, befahl die Vers 
urtheilung zu einer Gefängnißftrafe, veren Dauer von dem 
Ermefjen der Eongregation abhängen folle, befahl nun 
das quovis modo tractare, auch bie entgegengejette An⸗ 
ſchauung foll nicht behandelt werben, alles bei weiterer 
Strafe wegen Abtrünnigfeit. 

Wir müfjen jedoch bei dieſem Beſchluß noch etwas 
fteben bleiben. Es ift bier noch Gewicht zu legen auf 
die Worte „et si sustinuerit”. Einige Herausgeber der 
Acten haben hier ac si sustinuerit, als wenn er fie 
(sc. torturam) ausgehalten haben würde. Dann würde 
in dem Beſchluß ausprüdlich die Folter ausgejchloffen fein; 
nur die Androhung follte ausgefprochen werben. Allein 
die Lesart et iſt bie richtige. Gebler hat fie, und fie 
wird beftätigt burch das zweite hiftoriiche Neferat ver 
Acten in dem vorletten Actenftüde. In ibm heißt es 
con comminagli la tortura e sostenendo. Dem 
nach fteht das et si sustinuerit feſt. Wie ift das zu 
überfegen und zu verftiehen? Das Einfachite ift die Er- 
gänzung von eam sc. torturam. „Und wenn er fie aus⸗ 


62 Die Procefſe gegen Galileo Galilei 


gehalten haben wird.” Der Gebankenfortichritt des De⸗ 
cretS wäre: Androhung der Tortur, Aushalten berfelben, 
Abſchwörung. Die Anwendung ver Tortur wäre da ftill- 
ſchweigende Vorausjegung. Ein ausprüdlicher Befehl zur 
Zortur fehlte. Das hat etwas Misliches. Darum muf 
zugegeben werben, daß das sustinere auf pas „Androhen 
ber Tortur“ bezogen werben kann, auf den erften Theil 
der Zortur, die og. territio realis*), während vie ter- 
ritio verbalis**) ver Zortur vorangeht. Es gab eine 
doppelte Art der Bebrohung mit der Tortur; die erfte, 
nur in Worten beftehend, mußte der Richter anwenden, 
ehe er zum examen rigorosum und de intentione ſchritt; 
bie zweite, welche in Gegenwart ver Folterwerkzeuge ftatt- 
fand, wobei der Angeklagte entfleivet, gebunden und in 
die Stellung gebracht wurde, die zur eigentlichen Yolte- 
rung erforberli war, hieß territio realis.. Um bieje 
wirb e8 fich hier handeln, denn nur bei ihr kann im 
Ernft von einem sustinere die Rede fein, nicht aber bei 
ber territio verbalis. So viel alſo fcheint gewiß, daß ber 
erjte Grab der Tortur gegen Galilei bejchloffen worden 
ift; daß man auch mit der Ausführung nicht gezögert, 
wird die weitere Unterjuchung ergeben. 

Am 18. Juni bat der Papft in einer Audienz bem 
toscaniſchen Gefandten, Niccolini, Mittheilungen von dem 
Beichluffe des 16. Juni gemacht und bat dabei hinzuge⸗ 
fügt, er werbe die Strafe in der milveften Weife zur 
Ausführung bringen. Nur müfje verbreitet werben, bie 
Strafverringerung ſei auf Fürſprache des Großherzogs 
von Toscana erfolgt. Niccolini möge in biefem Sinne 
an feine Regterung berichten. Dies ift gejchehen. ‘Daraus 


*) Schredung durch Handlungen. 
**) Schredung durch Worte. 





vor der Inguifition in Rom. 63 


hat M. Cantor den Schluß gezogen, daß des Papftes 
Zorn verflogen war, und daß er, ohne deſſen Einwilligung 
feine Zortur in Rom vollzogen werben burfte, wie denn 
jeder Bifchof zur Anwendung der Tortur innerhalb feines 
Sprengel feine Zuftimmung geben mußte, die Tortur 
jelbft verhindert Hat. Man muß aber bei den Bilchöfen 
von Rom vorfichtig fein und feine voreiligen Schlüffe aus 
ihrer Freundlichkeit ziehen. Dean braucht ihnen dabei nicht 
gleich Heuchelei vorzuwerfen, obſchon man in Rom ftets 
Meifter in der Berftellungstunft gewefen ift, und vieles 
burch die feineren, diplomatifchen Formen zu verdecken ge- 
wußt bat. 

Drei Tage fpäter, am 21. Juni, fchritt man zum 
vierten, dem legten Verhör, in welchem, wie wir oben 
durch M. Cantor gehört haben, das examen rigoro- 
sum abzuhalten war (während bie territio verbalis, von 
ber wir aber in dieſem Procefje nichts hören, dem dritten 
Verhör vorbehalten war) und in welchem nach dem Des 
cret vom 16. Juni Dad examen de intentione, das ges 
jteigerte examen rigorosum, vorgenommen werben follte. 
Dieſes Examen wurde, wie jchon erwähnt, in Gegenwart 
der Folterwerkzeuge abgehalten. Wir ergänzen e8 durch 
eitige Angaben aus einem Werke, welches ein Nepertorium 
ber Inguifitionsgebräuche ift. Dieſes Werk heißt „Sacro 
Arsenale vero Prattica dell’ officio della Santa In- 
quisitione”. Alſo bie Praris der Ingquifition wird darin 
mitgetheilt. Pasqualoni bat e8 herausgegeben; bie erfte 
Ausgabe erſchien im Jahre 1625. Demnach haben wir 
in ihm ganz beftimmt bie, Gebräuche zur Zeit unjers 
Procefjes. Seine Angaben beruhen auf ven Verordnungen 
der Päpfte und der Congregation bes heiligen Offtciums 
zu Rom. Der erfte Abjchnitt handelt „vom Verhör des 
Angellagten auf der Folter” („Del modo d’ interrogare 


64 Die Proceſſe gegen Salileo Galilei 


i Rei nella tortura‘). An ver Spike dieſes Abfchnittes 
ftebt folgender Sat: „Hat der Angellagte bie ihm zur 
Laft gelegten Vergehen geleugnet, und find biefelben nicht 
vollftändig erwiejen, hat er dann in bem ihm für feine 
Vertheidigung bezeichneten Termine nichts vorgebracht, 
was ihn rechtfertigt, oder durch ſeine Vertheidigung ſich 
nicht vollſtändig von den Indicien gereinigt, bie ſich gegen 
ihn ans dem Proceß ergaben, fo ift e8 nothwenbig, zur 
Erlangung der Wahrheit gegen ihn zum examen rigo- 
rosum zu jchreiten, da die Tortur gerade dazu er- 
funden ift, den Mangel an Zeugen zu erfegen, wenn 
fie einen vollftändigen Beweis gegen ven Angeklagten wicht 
erbringen können.“ Was erhellt hieraus? examen rigo- 
rosum und Zortur werden ibentificirt. In biefem ganzen 
Abſchnitt werden, wie Wohlwill bezeugt (and bem wir 
ſelbſtverſtändlich ſchöpfen), esamina rigorosa und esamina 
nella tortura gleichbedeutend gebraudt. Ferner macht 
Wohlwill darauf aufmerkſam, daß in dem ſehr ausführ- 
lichen Regifter am Ende des Buches, das wol für ven 
praftiichen Hanpgebrauch der Inquiſition zuſammengeſtellt, 
das Wort „esamina rigorosa” fehlt, und daß alles, was 
das Buch darüber enthält, unter dem Artikel tortura oder 
examinare in tortura ſteht. Auch nach biefem „Sacro 
Arsenale“ ſoll ver Richter zuvor mit ver Tortur beproben, 
ehe er zum examen rigorosum jchreitet. Die territio 
verbalis ſteht demnach “außerhalb ver Zortur, und es 
kann fich bei Galilet nur um bie territio realis handeln. 
Außerdem war es Nechtöregel paria esse torturam et 
terrorem. ‘Demnach werden wir uns das vierte Verhör 
nella tortura vorzuftellen haben. Wie verlief e8? Das 
Protokoll in den Acten beträgt Taum zwei Seiten. 
Inguifitor. Ob er daran feithalte und daran feſt⸗ 
gehalten habe und feit welcher Zeit, daß die Sonne und 


vor der Inguifition in Rom. 65 


nicht die Erbe das Centrum der Welt fei und bie Erbe 
fih auch in täglicher Umbrehung bewege? 

Galilei. Bor langer Zeit, d.h. vor der Enticheidung 
der heiligen Inber-Congregation, und ehe mir jener Be- 
fehl ertheilt worden war, blieb ich unentſchieden und hielt 
beide Meinungen, jene des Ptolemäus und die Koper- 
nikaniſche für ftrittig, weil bie eine wie bie andere mit 
der Wirklichkeit ftimmen konnte. Nach der oben erwähns- 
ten Entſcheidung aber hielt ich, von ber Weisheit ver 
Dbern überzeugt, und alle Ungewißheit abwerfend, bie 
Dieinung bes Ptolemäus, das iſt: Stillftand ber Erbe 
und Bewegung der Sonne, für vollftändig wahr und un- 
zweifelhaft. 

Der Ingquifitor bemerkt ihm num mit Recht, daß fich 
aus feinen „Dialogen“ die Vermuthung ergebe, er ſei An⸗ 
hänger der Kopernifanifchen Lehre geblieben auch nach 
jener Zeit; er folle offen die Wahrheit geftehen, ob er 
Daran feſthalte over feftgehalten habe. 

Galilei. Was die „Dialoge“ anbelangt, fo habe ich 
fie nicht deshalb gefchrieben, weil ich die Kopernifaniiche 
Meinung für wahr hielt; ich habe vielmehr einzig in dem 
Slauben, für das allgemeine Befte zu handeln, die na⸗ 
türlichen und aſtronomiſchen Beweisgründe bargelegt, die 
fih für die eine wie für die andere Anficht vorbringen 
laffen; dabei war ich bemüht, zu zeigen, daß weder bie 
erftern noch die legtern, weber bie für das Ptolemäiſche 
noch die für das Kopernifaniiche Shftem entjcheidende 
Beweiskraft befigen, und man folglich, wenn man etwas 
Sicheres haben wolle, feine Zuflucht zu der aus höhern 
Lehren gefchöpften Enticheivung nehmen müſſe; ſehr viele 
Stellen der ‚Dialoge‘ Tönnten hierfür zum Beweiſe dienen. 
Ich ſchließe aljo vor dem Nichterftuhle meines Gewifjens, 

XXIV. 5 


66 Die Broceffe gegen Galileo Galilei 


baß ich nach ver Enticheivung der Obern bie verbammte 
Lehre nicht feitgehalten habe, noch fie fefthalte. 

Der Imguifitor bezweifelt bie Nichtigkeit dieſer Vor⸗ 
ſtellung und fügt Hinzu, wemn er fich nicht entjchließe, die 
Wahrheit zu geftehen, werde man mit ben geeigneten 
Nechtsmitteln gegen ihn verfahren. Das ift die Zor- 
tur, denn dieſe war nicht Strafe, ſondern das anerkannte 
Rechtsmittel, um die Wahrheit zu erforjchen. 

Galilei. Ich Halte dieſe Meinung des Kopernifus 
weber feit, noch habe ich an ihr feitgehalten, nachdem mir 
befohlen war, fie aufzugeben. Uebrigens habt ihr mich 
ja in Händen; thut mit mir, was euch gut dünkt. 

Es folgt eine wiederholte Mahnung, die Wahrheit zu 
jagen, und es ſchließt pas Protokoll wie folgt: 

Es wird ihm bebeutet, die Wahrheit zu fagen, fonft 
wird zur Zortur gefchritten werben (alias devenietur 
ad torturam). 

Er antwortete: Ich bin da, um Gehorſam zu leiften, 
und habe, wie gejagt, diefe Meinung nach der erfolgten 
Entſcheidung nicht feftgehalten. 

Und da in Ausführung des ‘Decret$ (in executionem 
decreti sc. vom 16. Juni) nichts anderes erlangt werben 
fonnte, wurde er nach gejchehener Unterfchrift nach feinem 
Plage (ad locum suum) zurüdgejchidt. 

Jo Galileo Galilej ho deposto come di sopra. 

Diefe Unterfchrift Galilei's ift, wie Gebler hervorhebt, 
im Unterfchieve von den andern Unterjchriften, mit auf- 
fallend zitternder Hand gejchrieben. Dies würde ſich aus 
ber territio realis erklären. Iſt aber dieſe in dem alias 
devenietur ad torturam zu finden? Man bat darin nur 
bie territio verbalis jehen zu können gemeint und darum 
biefes Protokoll als tm Widerfpruche mit dem ‘Decret vom 
16. Juni ftehend bezeichnet und das, obwol e8 am Schluffe 





vor ber Inguifition in Rom. 67 


beißt „in executionem decreti”. Wohlwill erklärt baber 
den ganzen Schluß für gefäljcht; er bat nicht weniger als 
30 Seiten hierüber gefchrieben;; feine Darlegungen können 
überzeugend genannt werden. Wir heben nur das eine 
hervor, daß bier in dem Schluffe das impositum silen- 
tium sub iuramento fehlt, was fonft in allen mit Galilei 
angeftellten Verbören fteht. Dieſes Protokoll hat die Aus- 
führung des examen de intentione nicht und doch redet 
nachher auch das Schlufurtheil von ber Ausführung 
des examen rigorosum; Wir halten es indeß nicht für 
unmöglich, in dem devenietur ad torturam die territio 
realis zu finden. Man befand ſich auf der Zortur und 
brohte num, fich unmittelbar zur Anwendung ber Tortur 
zu wenden. Auch das „ich bin in euren Händen, macht 
mit mir, was ihr wollt läßt fchließen, daß man nella 
tortura war. Das devenire wird bei Cicero z. B. in 
ber Verbinpung ad potestatem ejus gebracht, alfo in bie 
Gewalt jemandes gerathen. Man könnte darum devenire 
ad torturam überjegen, in die Zortur geratben, d. b. bie 
jofortige Anwendung der Tortur. Allerdings den Einprud 
wird man nicht 108, daß hier am Schluffe des Protokolls 
nicht alles in Ordnung tft. Dahin gehört auch das „ad 
locum suum”. Pan deutet e8 wol richtig auf das Haft- 
local im Inquifitionsgebäupe. Ob er aber in die frühern 
Gemächer zurüdgebracht oder ob er tn ven Kerfer des 
Dffietums geworfen wurde, weiß man nicht. Das ad 
carcerem condemnandum in dem Ediet vom 16. Juni 
läßt auf das letztere fchließen. Sicher ift, daß er drei 
Tage im Gebäude der Inquiſition blieb. 

Am 22. Juni wurde Galilei in die Dominicanerfirche 
Santa-DMaria fupra Minerva geführt und ihm bier vor 
den Carbinälen der Inquifition und vielen andern Prä- 
laten fein Urtheil verkündet. Der Wortlaut vefjelben iſt: 

5* 


68 Die Procefje gegen Salileo Galilei 


‚Bir (folgen die zehn Namen) durch Gottes Barm⸗ 
herzigfeit Cardinäle ver heiligen Römiſchen Sirche, 
Special-Inquifitoren des heiligen Apoftolifchen Stuhl 
für die Gejammtlicche. 

„Da du Galilei, Sohn des Vincenzo Galilei aus 
Florenz, 70 Jahre alt, im Jahre 1615 bei dieſem 
heiligen Officium angezeigt wurbeft, daß du bie faljche, 
vielverbreitete Lehre: die Sonne bilde das Centrum 
ver Welt und fei unbeweglich, und die Erbe bewege 
fih in täglicher Umdrehung, als eine wahre fefthalteit; 
ferner, daß du einige Schüler habeſt, weldhe du in 
biefer Lehre unterrichteft, daß du mit einigen Mathe⸗ 
matifern in Deutjchland über biefe Lehre eine Corre⸗ 
ſpondeuz unterbalteft; ferner, daß du einige Briefe er- 
jcheinen ließeft mit dem Titel «Ueber die Sonmenfleden», 
in welchen bu dieſe Lehre als wahr erflärteft; und 
weil du auf die Einwürfe, die dir zu wieberholten 
malen aus ver Heiligen Schrift gemacht wurden, burch 
Erflärung der Heiligen Schrift nah Deinem Sinne 
antwortetejt; und ba eine Abjchrift eines in Briefform 
verfaßten Schriftjtüdes vorgelegt ward, welches fich als 
ein von bir an einen frühern Schüler (P. Caſtelli) 
gejchriebenes herausftellte, und du darin der Hypotheſe 
bes Kopernikus anbängend, einige Säte gegen ben 
wahren Sinn und bie Autorität der Heiligen Schrift 
aufnimmt: 

„Aus allen dieſen Gründen wollte das heilige Tri- 
bunal gegen bie Ungehörigfeiten und Nachtheile, vie 
baraus entjpringen und zum Schaden bes heiligen 
Glaubens überhanpnehmen, Fürſorge treffen, und es 
wurden im Auftrage unſers Herrn, bes PBapftes, und 
ihrer Eminenzen ber Herren Cardinäle dieſes oberften 
und allgemeinen Inquifitionsgerichtes von ben theolo- 


bor ber Ingnifition in Rom. 69 


giſchen Sachverftänpigen die Behauptung von dem Still- 
jtehen der Sonne und der Bewegung ber Erbe fol- 
gendermaßen begutachtet: 


„Der Sat: die Somne fei im Centrum ber Welt 
und ohne Bewegung von Ort zu Ort, ift abjurb und 
philoſophiſch falſch und formelt fegerifch, weil er aus⸗ 
brüdlich ver Heiligen Schrift wiberjpricht. 


„Der Sab: die Erbe fei nicht das Centrum ber 
Welt und nicht unbeweglich, fondern bewege fich, und 
zwar auch in täglicher Umbrehung, ift ebenfalls ab⸗ 
ſurd und philofophifch wie theologijch falfch und zum 
mindeften irrig im Glauben. 


„Da es uns indeſſen gefiel, mit Milde gegen bich 
zu verfahren, jo wurbe in der am 25. Februar 1616 
in Gegenwart unfers Herrn, des Papftes, gehaltenen 
Congregation befchlofjen: Se. Eminenz ver Herr Car» 
dinal Bellarmin folle dir auftragen, vie erwähnte faliche 
Lehre ganz aufzugeben und im Weigerungsfalle follte 
dir vom Commiffar des heiligen Officiums ber Be⸗ 
fehl ertheilt werben, dieſe Lehre zu verlaffen, weder 
andere darin zu unterrichten noch biefelbe zu werthet- 
digen ober zu erörtern, und, falls vu dich bei dieſem 
Befehle nicht beruhigen würdeſt, folle man dich ein» 
terfern. Behufs Ausführung dieſes Decret® wurde bir 
tags zuvor im Balafte Sr. Eminenz, bed genannten 
Cardinals Bellarmin, nachdem du von ihm mit Milpe 
ermahnt worben warft, von bem bamaligen Herrn Com- 
miſſar des heiligen Offictums in Gegenwart eines No⸗ 
tars und vor Zeugen ber Befehl ertheilt, daß du von 
ber erwähnten falichen Meinung gänzlich abftehen mö- 
geft, und daß es bir in Zukunft nicht erlaubt jet, fie 
zu vertheidigen oder in irgenbeiner Weiſe zu lehren, 


70 Die Proceſſe gegen Galileo Galilei 


weder münblich noch fohriftlich; und als du Gehorjam 
veriprochen Hatteft, wurbeft bu entlafjeit. 

„And bamit eine jo verberbliche Xehre gänzlich aus⸗ 
gerottet werde und nicht weiter zum großen Schaben 
ber Fatholifchen Wahrheit um fich greife, erfchien von 
ber heiligen Congregation des Inder ein Decret, durch 
welches jene Bücher verboten wurden, die von ber oben 
bezeichneten Lehre handeln, und dieſe lettere wurde für 
falſch und der Heiligen, Gottes Wort enthaltenden 
Schrift als völlig widerjprechend erflärt. Und als enb- 
lich im leßverfloffenen Iahre zu Florenz dieſes Buch 
erſchien, deſſen Titel zeigte, vaß du ber Verfaſſer bes- 
jelben jeieft, da zugleich die heilige Congregation er- 
fahren hatte, daß durch den Drud bes vorgenannten 
Buches die falfche Lehre von der Bewegung ber Erde 
und dem Stillitehen der Sonne täglih mehr Boden 
gewinne: jo wurbe dieſes Buch forgfältig unterjucht 
und in bemfelben offenbar eine Uebertretung bes er⸗ 
wähnten Befehles, welcher dir ertheilt worden war, 
gefunden, weil bu in demſelben Buche bie erwähnte, 
ihon verdammte und, in deiner Gegenwart als ver- 
bammt erflärte Lehre vertheidigt hatteft, wenngleich bu 
in biefem Buche dich bemühteft, durch verichiebene 
Nedeformen die Meinung zu erweden, fie fei von bir 
als unentjchieven und nur wahrfcheinlich gelaffen, was 
gleichfalls ein grober Irrthum tft, da eine Lehre gewiß 
nicht wahrjcheinlich fein Tann, bie bereits als ber Hei- 
ligen Schrift widerfprechend befunden und erklärt wor- 
ben ift. 

„Deshalb wurdeft du auf unfern Befehl vor biejes 
heilige Offictum vorgeladen, wo du im Verhör eidlich 
befannteft, das Buch fei von dir gefchrieben und in 
Drud gegeben worben. Ferner befannteft du, daß bu 





bor ber Inguifition in Rom. 71 


vor beiläufig zehn ober zwölf Jahren, nachdem bir 
ber mehrerwähnte Befehl ertheilt war, das ge- 
nannte Buch zu fchreiben begonnen habeft; ferner, daß 
du um Erlaubniß nachgefucht, daſſelbe zu veröffent- 
lichen, ohne denjenigen, bie bir die Ermächtigung dazu 
gaben, anzuzeigen, daß bir befohlen worben fei, an 
biefer Lehre in Feiner Weife feftzuhalten, zu vertheidigen 
noch zu lehren. 

„Du befannteft gleichfalls, der Inhalt des genannten 
Buches ſei an vielen Stellen fo verfaßt, daß der Lefer 
bie für bie falfche Meinung vorgebracdhten Gründe eher 
für beweisfräftig und überzeugend als für wiverlegbar 
halten könne; zu deiner Entſchuldigung machjt du gel- 
tend, bu ſeieſt dadurch in biefen deiner Abficht ganz 
fern gelegenen ehler geratben, weil du das Buch in 
Form eines Zwiegeſprächs abgefaßt habeft, und auch 
verleitet von dem natürlichen Wohlgefallen, das jeder 
an Icharffinnigen Erfindungen babe und das uns ver- 
führe, finnreiche und probabel Elingende Reben felbft zu 
Sunften von falfchen Behauptungen zu erbenten, um 
geiftreicher zu erjcheinen, als es die andern Leute find. 

„Rachdem bir ein angemefjener Termin zur Ab- 
faffung einer Schrift zu deiner Vertheibigimg bewilligt 
worben war, brachteft pu ein hanpfchriftliches Zeugniß 
vor, das du dir von Sr. Eminenz, dem Herrn Car- 
dinal Bellarmin, verfchafft hatteft, um dich, wie bu 
fagteft, gegen bie Verleumdungen deiner Feinde zu 
vertheidigen, welche behaupteten, du habeft abgefchworen 
und feieft von dem heiligen Officium mit einer Strafe 
belegt worben. In dieſem Zeugniß wird nun gefagt, 
daß du weder abgejchworen habeft noch beitraft worden 
feieft, fondern man habe bir nur Das von unjerm Herrn, 
dem Papfte, gegebene und von ber Eongregation des 





792 Die Proceffe gegen Galileo Galilei 


Inder veröffentlichte Decret zur Kenntniß gebracht, des 
Inhalts: daß die Lehre von der Bewegung ber Erbe 
und dem Stilleftehen der Sorme der Heiligen Schrift 
zuwiverlaufe und deswegen nicht vertheibigt und nicht 
feitgehalten werben dürfe. Well darin ſomit Teine Er- 
wähnung ver zwei Beftimmungen bes Befehle gejchteht, 
nämlich: fie auch nicht azu Ichren» und auf «feine 
irgendwelche Weile» zu vertheipigen und feftzubalten, 
jo müffe man, fagft du, annehmen, daß fie bir im 
Berlaufe von 14—16 Iahren aus dem Gebächtniß ent- 
fallen ſeien; infolge deſſen habeſt du ven Befehl ver- 
ſchwiegen, als du um bie Druderlaubniß für das Buch 
nachjuchteft. Dies werde aber nicht von bir vorgebracht, 
um deinen Irrthum zu entjchuldigen, ſondern damit 
er beinem eiteln Ehrgeiz, nicht deinem böfen Willen 
auf die Rechnung gejchrieben werde, Aber gerade biefes 
Zeugniß, welches du zu deiner Vertheidigung bei- 
brachteit, Hat deine Sache noch verjchlimmert, injofern 
es ausbrüdlich darin heißt: die mehrerwähnte Lehre fei 
der Heiligen Schrift zuwider, und bu troßbem es wag- 
teft, diejelbe zu erörtern, zu vertheibigen und als wahr- 
ſcheinlich varzuftellen. Ueberdies fpricht Die von bir 
mit Liften und Künften berausgelodte Erlaubniß keines⸗ 
wegs zu beinen Gunften, da du dabei ben bir aufer- 
legten Befehl nicht mittbeilteft. 

„Weil e8 uns aber fchien, daß bu in Betreff deiner 
innerften Willensmeinung, bie bu bei der Abfaffung 
bes Buches hegteft, nicht die volle Wahrheit gefagt habeft, 
fo erachteten wir es für nöthig, zum peinlichen Verhör 
gegen dich zu fchreiten, im welchem bu (ohne irgend⸗ 
wie den Dingen, welche bu bereits befannt haft und 
den Folgerungen, die fich hieraus jchon zur Beurthei⸗ 
{ung beiner Gefinnung ergaben, Eintrag zu thum), 











vor ber Ingquifition in Rom. 73 


katholiſch geantwortet haft. Deshalb find wir nach Ein- 
ſichtnahme und reiflicher Erwägung des in deinem Pro- 
cefje Vorliegenden und nachdem wir beine oben ange- 
führten Belenntniffe ſowol wie beine Entichulpigungen, 
kurz alles das, was im Verlaufe des Nechtsganges zu 
unterjuchen war, pflichtmäßig in Betracht gezogen haben, 
zu nachfolgendem Schlußurtheil gelangt: 

„Unter Anrufung des allerheiligften Namens unfers 
Herrn Iefu Ehrifti, fowie ver glorreichiten Mutter und 
unbefledten Jungfrau behaupten, verkünden, urtheilen 
und erklären wir durch diefes unſer Schlußurtheil, das 
wir, Recht fprechend, nach dem Rathe und dem Gut» 
achten ber ehrwürbigen Lehrer der Theologie und ber 
Doctoren beider Rechte als umferer juriſtiſchen Bei⸗ 
ftände, in dieſem Schriftftüd nieverlegen bezüglich der 
von und verbandelten Frage und Fragen zwiſchen Sr. 
Magnificenz Karl Sincerus, Dr. utriusque und Fiscal 
Procurator dieſes heiligen Officiums einerſeits, und 
zwifchen bir Galileo Galilei andererſeits, ber bu 
wegen bes bier vorliegenden, proceſſualiſch verhandelten 
Buches angeklagt, unterfucht, verhört und wie oben ges 
ftändig warft, daß du, vorgenannter Galilei, wegen 
beffen, was ſich im Procefje ergab und bu felbft wie 
oben geſtandeſt, dich bei diefem heiligen Offtctum ber 
Härefie ſehr verbächtig gemacht habeft, d. h., daß du 
eine Lehre geglaubt und feftgehalten haft, welche falich 
und ber Heiligen Schrift, vem Worte Gottes, zumwiber 
ift, nämlich: die Sonne fei das Centrum des Weltalls 
und biejelbe bewege fich nicht von Often nach Weften; 
Dagegen bewege fich die Erbe und fei nicht das Gen- 
trum der Welt, und es könne diefe Meinung fir wahr- 
icheinlich gehalten und vertheidigt werben, nachdem fie 
doch als der Heiligen Schrift zuwiderlaufend befunden 


74 Die Brocefje gegen Galileo Galilei 


und erflärt worten war; daß du infolge deſſen im alle 
ficchlichen Cenſuren und Strafen verfallen feieft, welche 
durch die heiligen Kanones und andere allgemeine oder 
befondere päpftliche Decrete über berartige Schuldige 
ausgeiprochen und verhängt find. Von biejen wollen 
wir bich freifprechen, fobald bu mit aufrichtiger Ge⸗ 
finnung und ungebeucdheltem Glauben die vorgenannten 
Irrthümer und Ketzereien, fowie jeven andern ber Ta- 
tholifchen und apoftolifchen Kirche zuwiderlaufenden Irr⸗ 
thum nach der Formel, wie fie dir von und wirb vor» 
gelegt werben, abſchwöreſt, verwünfcheft und verfluchft. 
„Damit aber dein ſchwerer und verberblicher Irrthum 
und Ungehorjam nicht ganz ungeftraft bleibe und bu 
in Zufunft vorfichtiger verfahreft, auch andern zum Bei⸗ 
ſpiel bieneft und fie von dergleichen Vergeben zurüd- 
jchredeft, fo verordnien wir, daß das Buch «Dialog von 
Galileo Galtleiv durch eine öffentliche Verordnung vers 
boten werde, dich aber verurtheilen wir zu förmlicher 
Kerkerhaft bei diefem Heiligen Officium für eine nach 
unſerm Ermeffen zu beftimmende Zeitdauer und tragen 
bir als heilſame Buße auf, in den brei folgenben 
Jahren wöchentlich einmal die fieben Bußpfalmen zu 
beten, indem wir uns vorbehalten, die aufgeführten 
- Strafen und Bußen zu ermäßigen, umzuänbern, ganz 
ober theilwetje aufzuheben. 


„So fagen, verkünden und erklären wir bie unter- 
zeichneten Carbinäle.” 


Es folgen die Unterfchriften; doch haben nicht die zehn 
in der Ueberſchrift genannten alle unterzeichnet, ſondern 
nur fieben, die drei fehlenden find bie von Francesco 
Barberini, dem Neffen des Papftes, von Gaspar Borgia 
und von Laudovico Zacchia. Ehre diefen Männern! 


vor ber Inguifition in Rom. 75 


Daß dieſe Schlußfentenz der Inguifition nicht zum 
Ruhme gereicht, dafür ift ver befte Beweis, daß fie fich 
nicht in den Originalacten befindet. In dieſen folgt auf 
das Protokoll vom 21. Juni eine Annotation des Papftes 
vom 30. Juni, nach welcher diefe Schlußtendenz und bie 
(unten folgende) Abſchwörung Galilei's allen päpftlichen 
Nuntiaturen und Inguifitoren mitgetheilt werben ſollte. 
(In den Acten finden fi) die Empfangsbefcheinigungen 
von 34 Biſchöfen und Inquiſitoren italtenifceher Städte, 
jowie. von fünf päpftlichen Nuntien in andern euro- 
päifchen Ländern.) Dieje Schlußfentenzen pflegten in ver 
Diutterfprache des Angeflagten abgefaßt zu werden; troß 
ber vielen Eopien ift nur eine in italienischer Sprache 
auf uns gefommen. Ein wiffenfchaftlicher Gegner Gali- 
lei’8, mit Namen Polacco, hat fie uns in feinem „Anti- 
copernicus Catholicus seu de terrae statione et de 
solis motu contra Systema Copernicanum catholicae 
assertiones auctore Giorgio Polacco” (Venedig 1644) 
überliefert. Sie gilt als Abdruck eines Originaldocuments. 
Sieben Jahre fpäter hat Riccioli in feinem „Almagestum 
novum“ den lateinijchen Zert ber Sentenz publicirt, alſo 
der an die nichtitalienifchen Inquiſitoren verfandte. Auf 
den Mittheilungen dieſer beiven Männer beruht unfere 
Kenntniß der Schlußfenten,. Man hat demnach in Nom 
Ipäter ohne Zweifel das Gefühl des Unrechts gehabt. 
Sehen wir uns das Urtheil noch etwas genauer an. 

Die Richter wiederholen zuerft nur bie Anklagen und 
gehen über den Einwurf des Angeklagten, daß ihm nicht noch 
ein fpecielles Verbot gegeben, was er durch das Zeug- 
niß Bellarmin’s erhärtet, mit Stillichweigen hinweg, ja, 
ohne weiteres drehen fie das Zeugniß gegen ihn, ba es 
ja die Kopernilanifche Lehre als fchriftwidrig bezeichne und 
da er an biefer jchriftwinrigen Lehre feftgehalten. Das 








76 Die Proceſſe gegen Salilen Galilei 


Protokoll vom 26. Februar 1616 wird ohne Gewifiens- 
bedenken als juriftifche Waffe gegen Galilei benutzt. “Diefe 
Schlußſentenz entjcheivet aber auch die Zorturfrage. Sie 
hebt ganz bejonders hervor, daß gegen Galilei zum exa- 
men rigorosum gefjchritten jet, wie e8 durch das Decret 
vom 16. Juni angeordnet war, worüber aber das Pro- 
tofoll vom 21. Juli Schnell hinwegeilt. Nach den Bor- 
ichriften des „Sacro Arsenale” muß eine;notarielle Auf- 
zeichnung barüber gemacht werben, in welcher Weije ver 
Angellagte gefoltert, beziehungsweife geſchreckt, worüber er 
gefragt und wie er geantwortet habe. Das Protokoll 
vom 21. Juni hat darüber nichts; wohl aber die Schluß- 
fentenz. Site bat das verrätheriiche catholice respondere. 
Galilei hat katholiſch geantwortet, d. h. er hat jede ketze⸗ 
riſche Gefinnung geleugnet. Werner enthält diefer Paſſus 
ber Schlußjentenz; eine Elaufel, die nur auf die Zortur 
angewandt wurde. Wir fegen den Bafjus hierher: „Cum 
vero nobis videretur non esse a te integram veri- 
tatem pronunciatum circa tuam intentionem, iudi- 
cavimus necesse esse venire ad rigorosum examen 
tui, in quo (absque praeiudicio aliquo eorum quae 
tu confessus es et quae contra te deducta sunt 
supra circa dictam tuam intentionem) respondisti 
catholice.” 

Die Claufel „jedoch ohne irgenpwelches Präjudiz für 
bie von bir über beine befagte Intention befannten oder 
gegen bich bewiefenen Thatjachen‘ wurde nur in bem 
Verhör auf der Tortur angewendet. Das Verhör follte 
nämlich fich nicht auf Dinge erftreden, deren ber Ange- 
klagte ſchon vorher überführt ober deren er geftändig war. 
Der Gegenjtand, über ven das examen rigorosum ges 
halten werben follte, mußte ganz genau bezeichnet werden. 
Jede abjchweifende Befragung mußte daher unterbleiben; 





vor ber Inguifition in Kom. 17 


aber auch jede nicht provocirte Aeußerung bes An- 
geflagten über andere Theile der Anklage als über bie, 
benen das examen rigorosum galt, follte verhindert 
oder in formeller Weiſe unwirffam gemacht wer- 
den. Diefem Zwecke diente dieſe Claufel, und bie 
Richter ordneten fpeciell an, es folle biefe Vernehmung 
bei jeder geeigneten Gelegenheit wiederholt reip. als 
wiederholt betrachtet werben, ganz beſonders aber, wenn 
ber Angeflagte entkleivet nnd angejchirrt umter der Folter⸗ 
winde fteht und unmittelbar, bevor er in Die Höhe ge- 
zogen wird. In der That, ein weiler Organismus! 
Die Anführung biefer Vernehmungsformel in der Schluß- 
fentenz beweift zur Evidenz, daß man gegen Galilei zur 
Folter gefchritten ift. 

Hierzu kommt noch, daß die Schlußfentenz auf die 
Gutachten der juriftifchen Confultoren Bezug nimmt. 
Diefe find aber nicht in den Acten. Man wirb feine 
Gründe gehabt haben, fie zu entfernen. Daraus geht 
hervor, daß es mit ver Behauptung Gebler’3, daß alle 
weißen Folien zweite Blätter zu vorhandenen Schriftftüden 
find, feine abfolute Nichtigkeit nicht haben Tann. Man 
bat aus den Acten einzelne Stüde entfernt, dieſelben alſo 
gefälſcht. Mit den Gutachten der juriftifchen Confultoren 
hat man e8 unzweifelhaft gethan; es wirb bei biefem 
einen male nicht geblieben fein. 

Bemerkenswerth ift endlich noch bie Gleichftellung 
des Herrn Chriftus und der glorreichiten Mutter und 
unbeflediten ISungfrau Marin. Aus biefem letztern Prä- 
Dicate ergibt ſich wol, daß die Verfaffer der Schluß- 
fentenz Sefuiten waren, benn bie Dominicaner waren 
heftige Gegner der Lehre von ber immaculata con- 
ceptio. Erſt Pius IX. Hat fie zum Dogma erhoben 


18 Die Broceffe gegen Galileo Galilei 


und damit den Domintcanern die bitterjte Kränkung zu⸗ 
gefügt. 

So viel über dieſe Schlußſentenz. Kniend hatte fie 
Galilei, der Lörperlih und geiftig niedergebrüdte Greis, 
anhören müfjen, kniend mußte er feine faljchen, unſinni⸗ 
gen, ber Heiligen Schrift zumwiberlaufenpen Meinungen 
abſchwören, Iniend mußte er jchwören, nie wieber über 
biefen Gegenftand zu fchreiben. Die Abjchwörung 
lautet: 

„Ich, Salileo Galilei, Sohn des verftorbenen Vincenzo 
Galilei zu Florenz, 70 Jahre alt, perjönlich vor Gericht 
geftellt und Iniend vor Ew. Eminenzen, ven hochwürdigſten 
Herren Carbinälen, Generalinquifitoren gegen bie Ketzerei 
in der ganzen chriftlichen Welt, vie heiligen Evangelien 
por Augen habend und mit den Händen fie berührenp: 
ih ſchwöre, daß ich immer geglaubt habe, gegenwärtig 
glaube une mit Gottes Hülfe in Zukunft glauben werbe 
alles, was die heilige Tatholifche apoftoliiche Römiſche 
Kirche fefthäft, zu glauben vorftellt und lehrt. Aber weil 
mir das heilige Officium von Rechts wegen durch Befehl 
aufgetragen hatte, daß ich jene faljche Meinung vollſtändig 
aufgeben folle, nach welcher die Sonne das Centrum ber 
Welt und unbeweglih, die Erde aber nicht Eentrum ſei 
und fich bewege, und daß ich die genannte faljche Lehre 
weber feithalten noch vertheidigen ober in irgendeiner 
Weiſe jchriftlih oder mündlich lehren bürfe; und weil 
ih, nachdem mir bebeutet worden war, bie genannte 
Lehre ftehe mit. der Heiligen Schrift im Wiperfpruch, 
ein Werk verfaßte und es druden Tieß, in welchem ich 
biefe fchon verdammte Lehre erörtere und Gründe von 
großem Gewichte zu ihren Gunften vorbringe, ohne 
irgendeine abſchließende Löſung hinzuzufügen, jo bin ich 
demnach als der Härefie ſchwer verbächtig erachtet 


vor ber Ingquifition in Rom. 79 


worben, ber Härefie nämlich, feitgehalten und geglaubt 
zu haben, daß die Sonne das Centrum der Welt und 
unbeweglih, und die Erbe nicht Centrum ſei und fich 
bewege. 

„Da ih nun Ew. Eminenzen und jedem katholiſchen 
Chriften dieſen mit Recht gegen mich gefaßten ftarfen 
Verdacht benehmen möchte, fo ſchwöre ich ab, verwünſche 
und verfluche mit aufrichtigem Herzen und ungebeucheltem 
Glauben die genannten Irrthümer und Ketereien, forte 
überhaupt jeden andern Irrthum und jede Selte, welche 
der genannten heiligen Kirche feindlich tft; auch ſchwöre 
ich fürberhin, weder mündlich noch ſchriftlich ewas zu 
jagen ober zu behaupten, was aufs neue einen ähnlichen 
Verdacht gegen mich weden könnte; im Gegentheil werde 
th, wenn ich einen Steger oder der Ketzerei Verbächtigen 
antreffen follte, ihn biefem heiligen Officium ober dem 
Inquiſitor und dem Bifchofe des Orts, an dem ich mich 
befinde, anzeigen. Außerdem ſchwöre und verjpreche 
ih, alle Bußen zu verrichten, welche mir biefes hei- 
fige Gericht fchon auferlegt hat over noch auferlegen 
wird. Sollte es mir begegnen, baß ich irgendeinem 
biefer meiner Berfprechen, PBrotefte und Eidſchwüre — 
was Gott verhüten mögel — zuwiberhandle, fo unter- 
werfe ich mich allen Bußen und Strafen, welche durch 
bie heiligen Kanones und andere allgemeine und be- 
fondere kirchliche Verordnungen gegen berartige Uebel⸗ 
thäter bejtimmt und verhängt find: fo wahr mir Gott 
helfe und bie heiligen Evangelien, die ich mit meinen 
Händen berühre. 

„Sch, obengenannter Galileo Galilei, babe abgeichworen, 
bas mir im Vorſtehenden zur Pflicht Gemachte zu halten 
gelobt und zur Beglaubigung deſſen die vorliegende Ur⸗ 
kunde meiner Abjchwörung eigenhändig unterfchrieben und 


80 Die Broceffe gegen Galileo Galilei 


fie Wort vor Wort geiprocdhen zu Rom im Minerva- 
Klofter heute am 22. Juni 1633. 
„3%, Galileo Galilei, habe dieſe Abſchwörung 
wie oben mit eigener Hand unterzeichnet.‘ 


Auch dieſe Abſchwörung befindet fich nicht mehr in 
den Acten; fie ift natürlich durch die Gegner Galilei’s 
auf und gefommen und — durch die Inquiſition felbft. 
Hundert Jahre nach dem Tode Galilei's wurde zu Pabua 
eine Gefammtausgabe der Werke Galilei’8 veranftaltet; 
fie erfchien mit firchlicher Druderlaubniß. Den’ ‚Dialogen‘ 
war aber das Urtheil gegen Galilei und feine Abſchwörung 
vorgedrudt. Eine Ausgabe in Bologna vom Jahre 1656 
enthält bie „Dialoge“ überhaupt nicht. 


Schwerlich hat nach diefer Abſchwörung Galilei das 
e pur si muove gemurmelt. Die Sage hat e8 ihm an- 
gebichtet; dieſe läßt ihn auch im Kerfer der Inquifition 
geblenvet werden. Er wurde aber erſt in feinen aller- 
fetten Lebensjahren infolge eines Augenübels blind. Man 
ift ficherlich nicht Über Die territio realis, über den erſten 
Grad der Tortur, hinausgegangen. Dies wird noch bes 
ftätigt durch einen Brief von Galilei, in welchem er 
einem Freunde mittheilt, daß er am 15. Tage nach dem 
21. Juni vier italienische Miglien ohne Beichwer zu Fuß 
zurüdgelegt. Das find nun zwar blos anderthalb Weg- 
jtunden, aber doch immerhin für einen in diefer Weije 
niedergetretenen Greis eine anftänbige Xeiftung. Ueber: 
haupt wurde man unmittelbar nach der Fällung des Ur- 
theil8 etiwas milder, bevrohte aber fpäter den Gelehrten 
dann und wann mit der ganzen Strenge der Ingquifition, 
ſodaß er, völlig eingefchüchtert, faum wagte, Befuche an- 
zunehmen. Im Inquifitionsgebäude blieb er nach ber 
Abſchwörung blos einen Tag. Der Bapft verwandelte 


vor ber Inguifition in Rom. 81. 


die Gefängnißftrafe in eine freiere Haft in der toscani— 
fchen Geſandtſchaft. Wir halten das indeß für einen 
übermütbigen Zug der päpftlichen Diplomatie. Der Ge- 
fandte wurde fo zum Gefangenwärter bes heiligen Offi⸗ 
ciums. Nach dem Willen feines Großherzogs reichte Ga- 
Itei ein Gnadengeſuch ein; es wurde ihm geftattet, ber 
Einladung feines Freundes, des Erzbiſchofs von Siena, 
Ascanio Piccolomini, zu folgen, jedoch nur unter ber Be⸗ 
dingung, daß er das Haus feines Gajtfreundes nicht ver- 
laſſe. Hier blieb er vom Juli bis December. Auf feine 
erneute Bitte erbielt er die Erlaubniß, in einer von ihm 
gemietheten Billa, im Kirchipiele Arcetri bei Florenz ge- 
legen, fich aufzubalten, wenn er dort niemand einlade und 
empfange. Weiter aber erftredte fi) die Milde bes 
Papftes nicht. Die legten neun Jahre feines Lebens war 
Galilei ein Halbgefangener, unter der fteten Aufficht dee 
Inquiſitors von Florenz ftehend. Nur fein Sohn und 
feine beiden Zöchter, die Nonnen im Klofter San-Matteo 
zu Arcetri waren, weshalb er wol hierher wollte, burften 
zu ibm. Leider ftarb die ältefte Tochter, fein Liebling, 
bald darauf. Gern wäre er nun nach Florenz überge- 
fiedelt: er reichte ein Gefuch ein, weil er dort den Arzt 
beffer zur Hand habe. Die Antwort war, er möge der- 
artige Gefuche unterlaffen, fonft werde man ihn nad 
Rom, in den wirklichen Kerker des heiligen Officiums, 
zurücbringen. Jeder, der das Leben und die menfchliche 
Natur kennt, wird Galilei beipflichten, wenn er im Jahre 
1636 an einen Freund jchreibt: „Sch erhoffe mir Teinerlei 
Erleichterung, und zwar, weil ich fein Verbrechen be- 
gangen habe. Ich dürfte erwarten, Verzeihung und Be— 
gnadigung zu erlangen, wenn ich gefehlt hätte; denn 
Fehler find e8, welche ven Fürften zur Ausübung von 
- Milde und Gnade Anlaß geben fünnen, während e8 ſich 
XXIV. 6 


82 Die Procefie gegen Galileo Galilei 


gegenüber einem unſchuldig Verurtheilten geziemt, bie 
ganze Strenge aufrecht zu erhalten, um zu zeigen, daß 
man dem Rechte gemäß vorgegangen ſei.“ 

Nur zeitweilig durfte Galilei während des Jahres 1638 
in Florenz wohnen, nachdem fein Geſundheitszuſtand ein 
berartiger geworben, baß er fteter ärztlicher Hülfe be- 
bürftig war. DBerichtete doch der florentinifche Ingquifitor 
nad) Rom, er wäre fo beruntergefommen, bag er mehr 
einem Leichnam als einem Lebenden Menſchen ähnlich jähe. 
Auch hatte man es in Rom mit Wohlgefallen bemerkt, 
daß er eine Ehrengabe ter Generalftaaten von Holland, 
eine prächtige goldene Halskette, welche ihm pie deutſchen 
Kaufleute zu Florenz überbrachten, zurückgewieſen hatte. 
Seine Furcht vor der Inquifition war begründet; ber 
Inquiſitor meldete hierüber nah Rom: „Galilei hat fich 
ftanphaft geweigert, die Sachen anzunehmen, fowol ben 
Brief wie die Geſchenke, — fei e8 aus Angft, dabei 
irgendwelche Gefahr zu laufen, in Anbetracht der Wars 
nung, bie ich ihm fofort bei der erften Nachricht der an- 
geblich bevorſtehenden Ankunft eines Abgejandten ertheilte 
— ſei e8, weil er wirklich feine Methode der geographi« 
jchen Längenmefjung auf dem Meere nicht vervollſtändigen 
konnte und fich auch nicht mehr in ber Lage befindet, 
dies nachträglich zu thun, da er nun ganz blind und fein 
Kopf bereiter für die Würmer als für mathematische 
Studien iſt.“ Dieſe Nachgiebigkeit verjchaffte ihm einige 
Erleichterung; kaum hatte fich jedoch fein Zuſtand etwas 
gebefjert, jo mußte er wieder nach Arcetri zurüd. Doch 
wurde ihm nun ein erweiterterer Umgang geftattet. Hier, 
in Arcetri, bat er feinen größten Schüler, Tonicelli, ge- 
bildet. Es iſt ſtaunenswerth, wieviel er noch unter dieſen 
unfagbar traurigen Umſtänden gearbeitet hat. Bier hat 
er feine „Geſpräche über Mechanik‘ gefchrieben, indem er 


vor der Inguifition in Rom. 83 


bie Geſetze des Falles entwickelte, Nach feinen Anleitungen 
bat bier fein Sohn das Modell zur erjten Pendeluhr 
ausgeführt. 

Der Tob brachte ihm Befreiung aus der Gefangen 
ſchaft, brachte ihm Erlöfung von feinen entjeßlichen körper⸗ 
lichen Leiden. Galilei jtarb, aufs treuefte von jeiner 
zweiten Tochter gepflegt, am 7. Sanuar 1642. Die In- 
quifition aber führte noch mit dem Todten Krieg. ALS 
ein noch unter ver Zucht des heiligen Officiums ftehenber 
Ketzer durfte er nicht in. geweihter Erde beitattet werben. 
Darum blieb ihm, dem größten Sohne feiner Familie, 
die Familiengruft verſchloſſen; ohne alle Feierlichleit wurde 
er in einem Nebenraume ver Kirche Santa-Eroce zu 
Slorenz begraben. Weber Grabmal noch Inſchrift wur- 
den geduldet. Das folgende Jahrhundert hat auch das 
nachgeholt. Als man im Iahre 1734 Galilei in Florenz 
ein Grabmal errichten wollte, berichtete der Inquifitor 
dies nah Rom. Am 16. Juni beichloß das heilige Of- 
ficium in feierliher Sitzung die Genehmigung, nachdem 
zuvor die theologiichen Beiräthe gehört worden waren. 
Die Acten im Proceſſe Galilei jchließen mit folgenber 
Enticheidung *): 

Die Herren Conjultoren waren der Meinung, es 
jolle dem Bater Inquiſitor gefchrieben werben, er möchte 
der Errichtung eines Galilei-Dentmals fein Hinderniß in 
ven Weg legen, möchte aber auch eifrig Sorge tragen, 
dat ihm die Infchrift mitgetheilt werde, welche auf dem 
genannten Denkmal angebracht werden fol, und möchte 
biefe der Heiligen Congregation berichten, damit dieſe noch 


*) Die Eminenzen billigten das Votum ber Herren Eonjul- 
toren. 


6* 


84 Die Broceffe gegen Salileo Galilei 


vor der Errichtung bie ihr angemefjen erſcheinenden Be⸗ 
fehle ertheilen könne. 

So entbehrt das lange Actenſtück wenigftens nicht 
bes verjöhnenden Abfchluffes. 

Am 12. März 1737 wurben unter Betheifigung aller 
Profefforen der Univerfität und vieler Gelehrten Italiens 
mit großer Feierlichleit und Eirchlicher Pracht Die Ueber- 
refte Galilei's aus ihrer bisherigen Auheftätte in das 
neue Mauſoleum der Kirche Santa-Eroce übertragen. 
Urban VIIL bat wahrfcheinlich fein Denkmal früher er- 
halten; jein Name wird wilfenschaftlichen Forſchern und 
ben römifchen Klerilern ſtets bekannt fein; ber Name 
Galilei's aber erhellt, nach dem Zeugniffe Urban’s, bie 
Erde. Seine Erfindungen und Entvedungen haben ber 
Naturwiſſenſchaft ungeahnte Impulfe gegeben. Auf dieſen 
beruht fein Ruhm, nicht auf feiner Vertheibigung ber 
Kopernikaniſchen Weltanſchauung. Diefe Vertheidigung 
war nichts weniger als muth⸗ und charaktervoll; ebenſo 
gewiß aber iſt, daß Bosheit und Rachſucht die Haupt⸗ 
rolle in dem Proceſſe gegen ihn geſpielt haben, denn Ga⸗ 
lilei hing feiner Kirche in treuer Liebe an. Erbat er ſich 
doch in feiner Gefangenfchaft die Gnade, wenigſtens an 
den hohen Feiertagen in der benachbarten Kirche pie Meſſe 
hören zu dürfen! Und ein folder Mann it bis aufs 
Blut gepeinigt worden! Welch ein Schade baburch der 
Religion überhaupt zugefügt worden ift, das entzieht fich 
alter menschlichen Berechnung. Die „‚welterrettende” 
Wirkſamkeit der Inguifition ift in Wahrheit eine welt- 
vernichtende, venn fie bat das Fundament aller Welt- 
ordnung, den Glauben, im Interefje der Tirchlichen Herr» 
Ihaft zerſtört. Der Atheismus in den romanijchen 
Ländern ift dafür Beweis gemug. 

Die Männer ver Naturwiffenfchaft, ver exacten For⸗ 


vor ber Inguifition in Rom. 85 


hung, aber mögen nie vergefjen, was fie ber Kirche, ber 
Reformation zu verbanfen haben. Sie mögen ihr Werf 
treiben und bie Geheimniffe der erjchaffenen Welt er- 
gründen; fie mögen fich aber hüten, überzugreifen in bie 
Welt der Erlöfung, der Gnabe; fie möchten ſonſt den Aft 
abjägen, auf dem fie fiten. ‘Die theologica regenitorum 
überläßt ihnen willig das Gebiet der Natur, Tann e8 
ihnen um jo mehr überlaffen, je mehr fie wurzelt in ber 
Dffenbarung, die in Chrifto Jeſu geworben. Die wahre 
Wiſſenſchaft führt nie von Gott weg, ſondern ftetd zu 
ihm hin. 


Herzog Iohann Friedrich von Weimar. 
(Proceß wegen Magie.) 
1627 und 1628. 


Die traurigfte Epoche deutſcher Gefchichte ift die Zeit 
des Dreißigjährigen Krieges, jene Zeit, da die Hand bes 
Bruders gegen den Bruder erhoben war und fchonungs- 
108 in immerfort fich fteigernder rauber und wüſter Weife 
bie vorhandene Cultur und ihre fpärlich entwidelten Keime 
zeritört wurden — ad majorem dei gloriam! ... Un- 
ſchätzbare Güter wurden vernichtet, der geijtige, fittliche 
und materielle Fortfchritt wurde auf faft zwei Jahrhun⸗ 
berte hinaus gehindert, die politiihe Ohnmacht berbei- 
geführt, die Bedeutung ber Nation herabgebrüdt, ihre 
Kraft zerfplittert, ihr Ehrgefühl abgeftumpft. Auf dem 
eigenen Boden ſah man gleichgültig den Fremden herr- 
ihen, ja man rief ihn fogar herein, um den Stammtes- 
genofjen niederzumwerfen. Im jener Zeit ber Verrohung 
und der Verirrung der Geifter blühte der thörichtfte Aber- 
glaube. Man nahm an, daß Hexen und Zauberer bie 
ichwere Noth der Zeit über die Menſchen gebracht hätten, 
daß man Neichthum, Ehre und Macht, auf dem Wege 
der Magie, der Aftrologie und Alchemie ficher erreichen 
könne. 





Herzog Johann Friebrid von Weimar. 87 


Nicht nur die gedankenloſe Menge, auch erleſene Geijter 
verfielen diefem Wahne. Man Tennt die Studien, bie 
ver gelehrte Habsburger auf dem Kaiſerthrone, Rudolf IL, 
machte, al8 er in weltvergefjener Stille mit Tycho de Brahe 
am prager Hradſchin den Stein der Weijen ſuchte; man 
weiß, daß der gewaltige Wallenftein das Geſchick aus ben 
Sternen leſen und feine Weiſungen von ihnen empfangen 
wollte. Ein Opfer dieſes finftern Hanges war auch ein 
reichbegabter Sproß des herzoglich fachjens weimarifchen 
Haufes, der einem tragischen Schidjale verfiel, weil er. 
unvorfichtig mit dem Teuer fpielte. 

Herzog Johann von Sadfen (1570— 1605), ber 
Stammvater des neuen weimarifchen Haufe, war in 
jungen Iabren gejtorben und hatte jeiner Gemahlin, ver 
Fürftin Dorothea Maria, der Mutter der Erneſtiner, die 
ichwierige Aufgabe Hinterlaffen, die unmündigen Söhne 
zu erziehen. Der älteſte, Johann Ernft, übernahm, ſelbſt 
noch ein Süngling, 1615 die Verwaltung des Herzogthums 
im eigenen und im Namen feiner unmündigen Brüder. 
Wenige Jahre danach, 1617, ftarb auch die Mutter, die 
vermittelnde, ausgleichende Frau, deren liebevoller Zu- 
ſpruch zwifchen ven ungleich gearteten, jungen, heißblütigen 
Fürftenföhnen die Eintracht nothdürftig erhalten Hatte. 
Unter den Brüdern entftanden Mishelligfeiten, die fich 
fteigerten bi® zu offenem Zerwürfniß. Inſonderheit ver 
fünfte Sohn des Herzogs Johann, der im Sabre 1600 
zu Altenburg geborene Herzog Johann Friedrich, ein 
mistrauifcher reizbarer junger Herr, fühlte ſich zurüd- 
gejegt. Er bielt fich für den geijtig Befähigtiten jeiner 
Brüper, hatte eine ausgefprochene Neigung für die Wifjen- 
ichaft und verbrachte viele Stunden des Tages mit Lel- 
türe. Allein gerade ihm war die claffiiche Bildung, die 
feine ältern Brüder erhalten hatten, nicht zutheil geworben. 


88 Herzog Iohann Friedrid von Weimar. 


Er erfannte nur zu gut bie Lücken feines Wiffens, legte 
aber den Mangel feiner Erziehung einer abjichtlichen Ver- 
nachläffigung von feiten feines älteften Bruders zur Lait. 
Er entwidelte einen wahren Tenereifer, um durch felbit- 
jtändiges Studium das Verfäumte nachzubelen. Da aber 
‚bie leitende Hand fehlte, gerieth er bald in eine unge: 
junde myſtiſche Richtung, bie fich verhängnißvoll für ihn 
geftalten ſollte. Es z0g ihn zur Magie, zur Schwarzen 
Kunft. Ein italienifcher Alchemift, der während einiger 
Zeit am Hofe zu Weimar Iebte, erwedte bei dem jchon 
vorher zu unfruchtbaren Grübeleien neigenden Prinzen 
bie Luft, durch geheimnißvolle Künfte in den Beſitz des 
Steines ber Weifen zu gelangen. Wer ben Stein ber 
Weiſen bejaß, konnte nach dem damaligen Glauben ver 
Menichen die Herzen der fchönften, tugendſamſten rauen 
zu heißer Liebe entzünden. Er warb hieb⸗ umb ftichfeit, 
fonnte ſich unfichtbar machen, alle Gebrechen und Krank—⸗ 
heiten heilen, fein Leben bis in das Unendliche verlängern 
und e8 in ewiger Jugend verbringen. 

Herzog Johann Yriedrich lebte indeß nicht blo8 feinen 
Studien, er verftand auch den Degen zu führen und 
hoffte in der wilden, biutigen Zeit fich Ehre und Ruhm 
zu erwerben. Das Vorbild war der eigene Bruder, Her- 
zog Bernhard von Weimar, der jenen Namen mit dem 
Schwerte in das Buch der Geſchichte in großen, unaus- 
löfchbaren Zügen eingezeichnet bat. Im Iahre 1621 nahm 
Herzog Iohann Friedrich, von einer Reife nach Italien 
heimgefehrt, bei feinem Bruder, dem Herzog Wilhelm, 
Kriegspienfte. Diefer hatte e8 unternommen, für ben 
Markgrafen Georg Friedrich von Baden-Durlach ein 
Heer zu werben. In der Schlacht bei Wimpfen focht 
der junge Prinz mit Auszeichnung. Nach der Verabfchie- 
bung ber Truppen begab er fich nach Frankreich und in 


Herzog Johann Friebrid von Weimar. 89 


die Niederlande, ſodann im Vereine mit dem vor- 
gedachten Herzog Wilhelm zu dem Herzog Chriftian 
pon Braunfchweig ımb nahm an ber Schlacht bei 
Stadtlohn (1623) theil. Dann trat er in bänifche 
Dienfte, zugleih mit feinen Brüdern Johann Ernit, 
bem älteſten, ber Generalsrang befleivete, und Bern⸗ 
barb, dem jüngften, ber gleid ihm vie Stelle eines 
Dberften zugewiejen erhielt. 

Die beiven Brüder, Iohann Ernſt und Johann Fried⸗ 
rich, fanden fich fchon damals feinbfelig gegenüber. “Der 
jüngere klagte den ältern an, daß er ſchuld fei an fei- 
ner lückenhaften Ausbildung; dieſer aber beſchwerte fich 
mit vollem Rechte über ſeines Bruders Mangel an Sub- 
orbination und erklärte befjen Leidenjchaft für die heim- 
fihe Kunſt der Magie für eine eines Fürſten unwürbige 
Verirrung. Johann Friedrich fehte auch im Lager das 
Studium der Magie fort. Er ftand infolge deffen bei 
Offizieren und Soldaten in dem Rufe eines Hexenmeiſters 
und Teufelsbeſchwörers. Am 20. September 1625 ent» 
ipann fich beim Würfelipiele zwiichen dem Herzog Johann 
Friedrich und dem Pfalzgrafen Ehriftian von Birkenfeld 
im Hauptquartier der dänischen Zruppen zu Nienburg 
an der Wefer ein Streit. König EChriftian IV. befahl dem 
Herzog Iohamm Ernſt, als dem vorgefekten General ver 
beiven Prinzen, feinem Bruder ben ‘Degen abzuforbern. 
Diefer verweigerte den Gehorfam. Nicht der König, der 
eigene Bruder wolle ihn demüthigen. Er habe den Degen 
jtet8 mit Ehre geführt, nur derjenige, der ihm bie Schwert- 
hand abhaue, jolle ihm ven Degen nehmen. Vergeblich 
berief ſich Herzog Johann Ernft auf des Königs Befehl. 
Da fein Bruder trogig Widerſtand leiftete, überwältigte er 
mit Beihülfe zweier Offiziere den Wiperfpenftigen, nahm 
ihm perjönlich den Degen ab und brachte ihn in fichern 





90 Herzog Johann Friedrih von Weimar. 


Gewahrfam. Das Sriegsgefe beitraft aber eine folche 
Wiberfeglichfeit als Meuterei. 

Der Dänenkönig verlangte von feinem meuterifchen. 
Dffizier eine Erklärung Diefer gab an: Bei allem 
ſchuldigen Reſpect vor des Könige Majeftät, ver er gewiß 
nie zu nahe treten wolle, habe er doch gegen einen Affront, 
wie man ihm angethan, depreciren müffen. Er ſei nicht 
wie ein Cavalier aus fürftlichenm Geblüt, fondern wie ein 
Hund behandelt worden. Nicht gegen Sr. Majeſtät Be⸗ 
fehl, nur dagegen babe er fich vervefenpirt, fein Edelmann 
bürfe umgeftraft fich Gleiches bieten laſſen. Es fet um jo 
ichimpflicher, weil ein Bruder fich fo weit gegen den an- 
bern vergeffen babe. Dies fei doppelte Schmach und 
Schande. Wolle der König feinen Tod, fo möge er ihm 
ben Kopf vor die Füße legen laffen, ber Kriegsherr ge- 
biete wol über fein Leben, nicht aber über feine fürftliche 
Ehre und Reputation. 

König Chrifttan erfannte aus diefer Antwort bie 
eigentliche Triebfeder des Widerſtandes. Er entſchied, daß 
ber Verhaftete nicht vor das Kriegsgericht geftellt werben 
folle, venn e8 handle fih um einen Familienzwiſt, deſſen 
Beurteilung ausfchließlich ver Gefammtheit der fächfifchen 
Fürſten zuftehe. Den Bericht, den ver König anoronete, 
erjtattete Herzog Johann Ernft in einer für feinen Bru- 
der abfälligen und deſſen Sache abträglichen Art. Er 
forderte zum Einfchreiten wider ven unbotmäßigen Herzog 
Johann Friedrich auf, deſſen Gebaren ver Ehre des 
hochfürftlichen Hauſes zuwiderlaufe. 

Mittlerweile befand ſich Herzog Johann Friedrich 
unter der Obhut ſeines Anklägers im Lager zu Nienburg 
in ſtrenger Haft. Wiederholte Verhöre wurden mit ihm 
abgehalten. Da der eine Hauptpunkt der Anklage: Wider⸗ 
ſetzlichkeit gegen den Befehl des Kriegsherrn, durch die 


Herzog Johann Friedrih von Weimar. 91 


Entſcheidung König Chriftian’s hinfällig geworden war, 
juchte man das Procefverfahren aus zudehnen und fchon 
damals auf die Anfchulbigung zu erftreden: ver Gefangene 
halte es mit dem „böfen Feinde”. Er wurde förmlich 
barüber vernommen: ob es wahr fei, daß er feine Seele 
dem Zeufel verfchrieben habe? — Zuerſt wies Iohann 
Friedrich diefe Zumuthung mit Entrüftung von fi. Ale 
man aber immer wieder darauf zurückkam, und feine Ver- 
bindung mit dem Satan als öffentliches Geheimniß be- 
zeichnete, das im Lager von Mund zu Mund gegangen 
jei, pa lächelte er höhnifch und begann mit feiner Kennt» 
niß der Schwarzen Kunſt zu prablen. Im richtiger Er- 
wägung ber Wirkung brebte er den Spieß um und drohte 
jeinen Brüdern, daß er fich, falls fie ihn nicht Löften, mit 
Hülfe feines hölliſchen Kumpans befreien, dann aker 
fürchterliche Rache an ihnen nehmen werbe. 

Das Mittel half. Nach einigen Verzögerungen wurde 
Herzog Iohann Friedrich aus der Haft entlaffen. Er 
reichte fofort feinen Abſchied ein und ließ feine beiden 
Brüder, die mit ihm gedient hatten, Johann Ernft und 
Bernhard, zum Zweilampf fordern. Beide lehnten e8 ab, 
fih ihm zum Kampfe mit tödlichen Waffen zu. ftellen. 
Db die Ablehnung des Zweilampfes erfolgte, weil fie ihre 
Degen nicht mit dem eigenen Bruder krenzen wollten 
oder weil fie Furcht hatten vor feinen hölliſchen Praftifen, 
wiſſen wir nicht. Herzog Iohann Friedrich ſah fich for 
mit außer Stande, feiner beleidigten Ehre ritterliche Ge- 
nugthuung zu ſchaffen. Grollend zog er fich auf feine 
Befigungen im Thüringerwalde zurüd. Es waren bies 
bie Herrichaften Ichtershaufen, Tambuchshof, Georgenthal 
und Reinhardsbrunn. Nach Weimar Fam er nur zu- 
weilen bes Nachts und verließ die Stadt vor Tagesgrauen, 
um mit feinem feiner Brüder perjönlich zujammenzutreffen. 


92 Herzog Johann Friedrid von Weimar. 


In diefer Adgefchloffenheit reifte tu ihm der Vorſatz, fich 
gänzlih von feiner Sippe loszuſagen. Er ließ feinen 
Brüdern ben fürmlichen Vorichlag machen, daß er allen 
Anfprüchen anf fein väterliches Erbe entfagen wolle, wenn 
man ihm eine noch zu vereinbarende .nicht allzu hoch ge= 
griffene Geldabfindung zufichern wollte. Herzog Johann 
Ernft griff diefen Antrag mit Freuden auf und legte ihn 
bem Familienrathe vor. Allein Herzog Wilhelm opponirte. 
Er wollte Frieden ftiften zwiſchen ven ftreitenden Brüdern. 
Es gelang ihm dies indeß nur infoweit, als die Herzoge 
Johann Friedrich und Bernhard fich verfühnten. Johann 
Ernft dagegen blieb allen Vorftellungen gegenüber unzu- 
gänglich. Er ftarb, ohne daß der YBruberzwift beigelegt 


worden war. 


Johann Friedrich zog fich mit der Zeit immer mehr 
zurüd von allen Menfchen. Er fuchte die Einjamteit, 
verfehrte mit niemand, ſah fogar feine Dienerfchaft nur, 
jomweit e8 unumgänglich nothwendig war, und jchloß fich 
am liebften tagelang ein, mit feinen Büchern, Retorten 
und PBhiolen. Tag und Nacht glühte die Eſſe, Tag und 
Nacht brodelte und fochte in den Schmelztiegeln eine ver- 
dächtige Maſſe. Wenn ver Herzog. nothgebrungen mit 
fremden Berjonen zuſammenkam, blieb er mismuthig und 
zerſtreut, entweder war er äußerft wortfarg over er 
braufte ohne fichtlichen Anlaß auf. Die faum verſtumm⸗ 
ten Gerüchte über die verbammliche Urfache feines ge⸗ 
heimmißvollen Treibens lebten wiever auf. In immer 
weitere Kreije drang fen Ruf als Geifterbejchwörer, ber 
jeine Seele an Satanas bahingegeben habe, um dafür 
Macht und Reichthum einzutauſchen. Schen wichen bie 
Bauern, benen er auf feinen einſamen Ritten begegnete, 
bei feinem Anblid zur Seite, und in Weimar waren über 





Herzog Johann Friedrih von Weimar. 93 


ihn die unbeimlichiten Sagen im Schwange. Man mied 
und fürchtete den jungen Fürſten. 

Seine Brüder glaubten nicht länger jchweigen zu 
dürfen. Der Verruf, ver ihn, einen Prinzen ihres Hau- 
fes, traf, fiel gewiffermaßen auch auf fie zurüd. Sie er- 
wogen, wie fie dem Treiben des verbitterten Sonverlings 
ftenern könnten, und Tamen auf ven Gedanken, ihm bie 
Nachricht von einem fenntnißreichen Adepten in den Nie- 
berlanden zufommen zu laffen. Kaum hatte Johann 
Friedrich dieſe Botjchaft erhalten, fo verließ er fein ftilles 
thüringifches Aſyl, um den berühmten Mann aufzufuchen 
und perjönlich Tennen zu lernen. 

Er zog nidt aus wie ein Fürft, fondern wie 
ein einfacher Edelmann. Sein Gefolge beitand aus 
etlihen ‘Dienern. Er mußte fich einfchränfen, denn 
feine Einkünfte waren gering. Er bezog 7000 Gold⸗ 
gulvden jährlih, und von dieſer befcheivenen Summe 
verichlangen die alchemiftiihen Experimente mehr ale 
bie Hälfte. 

Im Frühling 1626 ritt er durch Weftfalen und wollte 
von dort weiter in bie Nieverlande. Am 27. April fiel 
er bei Lippftabt in die Hände von fpanifchen Solvaten, 
die dort im Hinterbalte lagen. Er weigerte fich zuerft, 
feinen Namen zu nennen. Auf eindringliches Befragen 
gab er an, ein nieberländifcher Nittmeifter zu fein, ver 
ben Dienjt verlaffen babe und in feine Heimat nad) Har- 
lem zurüd wolle. Dieſe unbeftimmten Angaben erregten 
Berdadt. Die Spanier "hielten ihn für einen Spion 
und richteten demzufolge ihre Behandlung feiner Perjon 
ein. Diefe war begreiflicherweife vefpectlo8 genug. Da 
empörte fich fein fürftliches Blut, und als ein ‘Diener des 
Commandanten von Lippſtadt ihm nicht mit gebührender 
Achtung begegnete, ftieß er ihm feinen Dolch in bie 


94 Herzog Johann Friedbrih von Weimar. 


Rippen. Nun drobten die Spanier kurzen Proceß mit ihm 
zu machen. Cr ſah fich genöthigt, Namen und Rang zu 
enthüllen. Seine Brüder beftätigten feine Angaben und 
er ward freigelafien, freilich erſt nach breimonatlicher 
Gefangenschaft. Die Reifeluft war ihm vergangen. Er 
fehrte in die Heimat auf fein Schloß in Ichtershauſen 
zurüd. 

Mit feinen Brüdern in offenfundigem Zwiefpalt, mit 
aller Welt zerfallen, unzufrieden mit fich felbft, weil feine 
Experimente mislangen und weil er ten Stein der Wei- 
jen durchaus nicht zn finden vermochte, lauſchte er um fo 
begieriger den Nachrichten, die ab und zu von glüdlichern 
Adepten zu ihm gelangten. Die befehauliche Ruhe daheim 
wurde ihn Täftig. Zu Anfang des Jahres 1627 verlieh er 
jeine Burg abermal® und wandte fich nach Niederfachien. 
Er erreichte Nordheim, welches von den Truppen des 
Feldmarſchalls Tilly belagert wurde. Dort fiel er den Vor⸗ 
poften in die Hände. Auch diesmal fam es zwifchen ihm 
und den Soldaten der Liga, denen er Auskunft über feine 
Perfon und feinen Reiſezweck verweigerte, zu gereizten 
Auseinanderjegungen. Die Soldaten nahmen ihn troß 
tapferer Gegenwehr gefangen und brachten ihn zunächft 
auf die Feſte Erichsburg. Als fein Rang und Stand 
befannt geworden und ber Kurfürſt von Sacdfen als das 
Haupt des Gefammthaufes von dem Vorfalle verjtändigt 
worben war, wurde ber Herzog nach Oldisleben an der 
Unftrut abgeführt. Dort aber blieb er unter ftrenger 
Bewachung. 

Herzog Wilhelm veranlaßte, daß fein unruhiger Bru- 
ber zu Oldisleben, in den Hallen eines ehemaligen Klojters, 
welches in den Beſitz der herzoglich ſachſen⸗-Eerneſtiniſchen 
Linie gelangt war, feitgehalten werben follte. Es fcheint, 
daß die Brüber nunmehr endgültig von feiner Eigenfchaft 


Herzog Johann Friebrih von Weimar. 95 


al8 Zauberer und Beſeſſener überzeugt waren, denn bon 
da an ift ihr ganzes Bejtreben darauf gerichtet, ihn bes 
Umganges mit dem Böen zu überführen. In jenem 
alten Klofter wurde ein fürmlicher Kerfer eigens für ihn 
eingerichtet. Die ftrenge Bewachung verwandelte fich in 
enge Haft. Man fchien auzunehmen, daß man ihn da⸗ 
burch vor der Zuſammenkunft mit dem Satanas ſchützen 
fönnte. Unter dem Commando eines Hauptmannes ftans 
ten dreißig unerfchrodene, verläßliche und ungewöhnlich 
fräftige Neiterfnechte, die mit berechneter Sorgfalt aus⸗ 
gefucht und für ihren befondern ‘Dienft vereidigt wurden. 
Ihre Aufgabe war, ven Kerfer zu bewachen. Neun wei⸗ 
marifche Bürger wurben zur Aufficht über bie Perjon 
und zur Bedienung ded Gefangenen berufen. Auch 
biefe hatte man eigens in Eid und Pflicht genommen. 
Sie mußten Geheimhaltung alles deſſen geloben, mas 
fie Verbächtiges und Gottloje8 in dem Benehmen des 
unglüdlichen Würften beobachten würden, und waren 
zugleich ermächtigt, im Talle des Wiperftandes mit 
der Anwendung ber jchärfiten Zwangsmittel und durch 
Gewalt den ertheilten Anordnungen Geborfam und Er- 
füllung zu fihern. Im der Wand des an das Zimmer 
bes Herzogs ftoßenden Gemaches war eine Deffnung 
angebracht, durch die er Tag und Nacht beobachtet 
werben fonnte. | 

Dem Gefangenen wurde mitgetheilt, daß ein Beichluß 
des Geſammthauſes Sachjen vorliege, wonach er wegen 
feines unchriftlichen Gebarens und feiner unfürftlichen 
Gefinnung, die ihn vor Gott und der gefammten ehrbaren 
Welt compromittire, in jtrenger Haft gehalten werben 
ſolle, bis er fich gebefjert habe und reuig zur Erfenntniß 
feiner Sünden gefommen jei. 

Herzog Johann Friedrich tobte in ohnmächtiger Wuth. 


96 Herzog Johann Friebrih von Weimar. 


Da er einjab, daß er ver Gewalt nur gewaltfam begegnen 
könne, verfuchte er mit Hülfe einiger getreuer ‘Diener, 
mit denen er Verbindungen angelnüpft hatte, aus feinem 
Kerker zu entlommen. Die eigentlichen Leibwächter wur- 
den überwältigt und gefnebelt, aber bie Reiteröfnechte, 
welche die Äußere Wache bildeten, waren auf ihrer Hut. 
Die Diener des Herzogs wurden nievergemacht, er felbft 
nach verzweifelter Gegenwehr verwundet und feſtgenom⸗ 
men; der Fluchtverjuch war misglüdt. 

Am 30. Mat 1627 wurbe ber Herzog in Ketten ge- 
legt und fein jchönes, wallendes, blondes Lockenhaar ab⸗ 
rafirt, weil er „ven Teufel in den Haaren babe’. Alle 
feine Betbeuerungen und Vorftellungen blieben fruchtlos. 
Er richtete verjchiedene Eingaben an den Kurfürften von 
Sachſen als das Haupt feines Hanfes. Sogar das Io- 
giſche Argument, daß er doch nicht hieb- und ſtichfeſt fein 
fönne, wie die Verwundung beweiſe, die er erſt neuerlich 
Davongetragen, verfing nicht. Die Bitten, zu denen er 
ſich fohließlich berbeiließ, waren vergeblih. Auch fein eid- 
fiches Veriprechen, in die Fremde zieben und künftig nie 
wieder an feine Brüder irgendwelche Anfprüche machen 
zu wollen, half ihm nichts. Die harte Behandlung, 
welcher er ausgeſetzt blieb, regte ben heißblütigen, jugend- 
lichen Fürften auf das äußerſte auf. Er befam fürm- 
liche Wuthanfälle. In einem berjelben zerbrach er mit 
ſchier übermenfchlicher Kraft feine Ketten, Vielleicht war 
biefer Vorfall die Urfache, dag man ihm bie Haare ſchor. 
Wie bei Simſon ſuchte man den Sitz ſeiner Kraft in 
ſeinen Locken. 

Herzog Johann Friedrich war deutſcher Reichsfürſt. 
Seine Haft und das ganze Verfahren wider ihn war ohne 
Vorwiſſen des Kaiſers eingeleitet worden und deshalb 
nach deu Gefegen des Reiches ungültig und unftatthaft. 





Herzog Johann Friedrih von Weimar. 97 


Es erklärt ſich indeß aus ber wilden gejeßlofen Zeit. 
Dem Vorgehen gegen ihn lag nicht etwa Uebelwollen 
oder Feindichaft zu Grunde. Seine Brüder hielten 
ſich für verpflichtet zu ihren graufamen Mafregeln, 
denn fie glaubten feit daran, baß er ein vom böfen 
Geifte bejejfener, verlorener Menjch fei. Mit Zuftimmung 
oder gar auf ansprüdlichen Befehl des Kurfürften von 
Sachſen wurde der Herzog im November 1627 nad 
Weimar geführt und dort in einen eigens für feine Auf- 
nahme erbauten Kerker gebracht. Der fürmliche Procek, 
den man nun gegen ihm einleitete, entjprach ven allge- 
meinen Anjchauungen. 

Ein ärztliches Öutachten holte man nicht ein. Da— 
gegen wurde der Gefangene ohne Rüchkſicht auf feine 
wiederholten Betheuerungen, daß er mit bem Teufel 
nichts zu Schaffen habe, mit fortwährenden Bekehrungs— 
verjuchen gequält. 

Es ift aus den Acten nicht erjichtlich, zu welchen 
Endurtheile feine Richter gelangten. Vielleicht ſchreckte 
man doch im Hinblid auf den fürftlichen Rang des An- 
gefchuldigten wor der äußerſten Conſequenz, der Verdam— 
mung zum euertode, zurüd. 

Am 17. October 1628 fanden die Bedienſteten, welche 
ven Kerker betraten, den Herzog todt. Er lag, mit dem 
Gefiht zur Erde gekehrt, auf dem Fußboden, Ein Dolch 
ftoß in die Bruft hatte feinem Leben ein Ende gemacht. 
Ein Selbftmord war ausgeichlofien. Es fand fich auch 
fein Dolchmefjer bei ihm vor. Es blieb unaufgeflärt, 
wer fich troß ber ftrengen Bewachung zu ihm einzu- 
fchleichen vermocht hatte. Die öffentliche Stimme war 
rafch,jüber den Thäter einig. Der Teufel jelbit Hatte 
ven Teufelsbeſchwörer umgebracht und die ihm ver- 
follene Seele geholt. Die Richter waren unmenfchlich 

XXIV. 7 








98 Herzog Iohann Friedrich von Weimar. 


oder folgerichtig genug, zu begehren, baß ber Leich— 
nam in einem Winkel in ungeweihter Erbe verjcharrt 
werben ſollte. Dagegen fträubte fich aber der Familien⸗ 
ftolz feiner Brüder. Sie ließen die Leiche des Herzogs 
Johann Frievrih in aller Stilfe, jedoch unter Bewah- 
rung des Anftandes begraben. Wo feine Beifegung er- 
folgte, wurbe geheimgehalten und ift aus den Acten 
nicht erfichtlich. 

Die Kerfer, welche ver unglüdliche Prinz in Oldis⸗ 
leben und in Weimar bewohnt hatte, wurben ber Erbe 
gleichgemacht. Tür feine Diener forgte man in würbiger 
Weiſe. 


Wir haben dieſe Tragödie aus der Geſchichte eines 
fürſtlichen Hauſes zur Darſtellung gebracht, weil ſie 
die Mittheilung über Hexenproceſſe im 21. Bande des 
„Neuen Pitaval“ in bezeichnender Weiſe ergänzt. Sie 
beweiſt, wie hoch und niedrig in jener traurigen Epoche 
unter demſelben Irrwahn litt, und daß die bebauerns- 
werthen Opfer des entjeglichiten Aberglaubend in allen 
Ständen, auch den höchſten, anzutreffen waren. Kepler 
mußte den Schmerz erleben, daß gegen feine leibliche 
Mutter die Anklage der Hexerei erhoben wurde, und das 
edle jachjen-erneftiniiche Haus ſah fich genöthigt, eins 
feiner Glieder dem fürchterlichen Wahne zu opfern. In 
jener Zeit geiftigen Nieverganges war eben niemand, 
mochte er noch jo boch ftehen, gegen Angriffe wüſten 
Aberglaubens gefeit. 

Es war im gegebenen Falle unnüß, längere Auszüge 
aus den Protofollen beizubringen. Sie unterfcheiden fich 
in Form und Inhalt nur wenig von allen ähnlichen, ver- 


Herzog Johann Friedrid von Weimar. 99 


artige Proceffe betreffenden Acten. ‘Der gleiche traurige 
Ernſt, mit dem bie wiberfinnigften Dinge umftändlich 
abgehandelt werben, bie gleiche bornirte Verſtocktheit und 
auch die gleiche ehrliche Nechtsanfchauung auf jeiten der 
Richter, die gleiche verzweifelte Unſchuldsbetheuerung bes 
Angeklagten, der damit niemand zu überzeugen und zu 
rühren vermag. Es iſt ein büfteres Blatt aus ber 
Chronik eines deutſchen Fürftenhaufes; allein wir glauben 
es unjerer Pflicht entjprechend, auch dieſes unſerm Werfe 
einzureiben. 


7* 





Donna Krigida. 
(Mexico. — Todtſchlag.) 
1888. 


Sie war von Heiner Geftalt; wenn fie gebücdt und 
verriimmt an ihrem Krüdftabe heranjchlich, erſchien fie 
geradezu zwergenhaft. Wirr hingen bie ergrauten, unter 
dem grellrothen Kopftuche wie Schlangen bervorzüngeln- 
den Haare um das verfchrumpfte, welfe Geficht. Den 
zahnloſen Mund umfpielte fortwährend ein häßliches, höh- 
nifches Lächeln. Am auffallenpften an ihr blieben jedoch 
bie zwar roth umränderten, aber noch iminer feurig auf- 
bligenden Augen, vor deren jtechendem Blid ausnahms- 
108 alle, ver Alcalde nicht minder als ber Pfarrherr Don 
Aguftin ſelbſt, ſcheu zurückwichen. Wenn fie worbeiges 
bumpelt war, feufzte ein jeder erleichtert auf, fchlug fromm 
das Kreuz und lispelte einen Segensipruch zu Ehren ver 
Madonna. 

Sie war fih ihrer Macht vollbewußt. Sie brauchte 
fie fchonungslos. Das ganze Dorf San-Joſé de Tel- 
huateclen war ihr unterthan. 

Einſt ſoll auch fie jung und fchön und begehrenswerth 
gewejen fein. Lange iſt's her. Donna Brigiva war 


Donna Brigiba. 101 


das Kind eines Hidalgo, der, fein edles blaues caftilia- 
nifches Blut hintanſetzend, eine „India“, eine Tochter ber 
verachteten eingeborenen farbigen Raſſe, geliebt und fie 
als Gattin in fein Haus geführt Hatte Brigida war 
aufgewachien wie bie muntern Kolibris, die fich auf ben 
Zweigen ber benachbarten Büſche wiegten. Wie Diele, 
begte ihr Köpfchen feinen andern Gedanken, als ich zu 
pugen und eine Cancioncilla zu trällern. Da war ein- 
mal ein Amerifaner dahergekommen, ein rotbblonder, groß. 
gewachjener jchlanfer Burſche. Er bezeichnete ſich als 
Ingenieur und gab vor, er wolle ven fürzeften Weg von 
Merico nach Puebla aufſuchen. Ob er den gefunden, 
weiß man nicht. Wohl aber fand er ven Weg zu Bri- 
gida's Herzen und in ihr KRämmerlein. Eines Tages 
waren fie beibe verſchwunden. In dem alten Haciendado 
erwachte der fpanijche Stolz. Er beichuldigte mit harter 
Rede feine Frau, daß ihr Blut fein Kind verborben. Er 
joll fie in einem Anfalle blinder Wuth erfchlagen haben. 
Mag fein. Es ift lange ber, und mit ber Gerichts- 
barfeit dürfte e8 dazumal nicht zum bejten beftellt geweſen 
jein. Vielleicht befchuldigte ihn auch nur ein böswilfiges 
Gerücht, das dem alten Manne die letter Lebensjahre, 
die er vereinfamt und vergrämt verbracht hat, verbitterte. 
Sein Anweſen verfiel, feine Wirthichaft ging zurüd. Stüd 
um Stüd, ſowol Feld als Rind mußte verfauft werben, 
nur um feine Bebürfniffe, fo gering fie auch waren, zu 
beden. Als er ftarb, war nicht viel mehr übriggeblieben 
als jein Haus. Diefes, fich ſelbſt überlaffen, zerfiel nach 
und nach ebenfalls. 

Da war eines Tages, man wußte nicht woher, Bri⸗ 
giva wieder aufgetaucht. Sie war alt und abjtoßend häß- 
lich geworben. Lumpen bevedten ihren Leib, und nur ber 
Heine, noch immer wohlgeformte Fuß, der unter ben 


102 Donna Brigida. 


Lappen, bie fie als Kleider trug, hervorlugte, verrieth 
ihren einitigen Reiz. 

Sie blieb im Dorfe und bezog das Häuschen bes 
Baters, welches nothdürftig ausgebeflert wurde, ſodaß es 
Wind und Wetter abhalten möchte. Dort lebte fie allein, 
nur umgeben von Katzen, Eulen und anderm lichtſcheuen 
Sethier. Getrocknete Schlangenhäute hingen von ber 
Dede herab und fchlugen wol, wenn fie ein Winpftoß 
bewegte, den furchtſam zuſammenknickenden Bejuchern ins 
Geſicht. Es Trabbelte in allen Eden. Unter dem großen 
Keſſel erlofch niemals das Teuer. Was eigentlich darin 
brobelte, konnte fein Sterblicher ergründen. Sie war eine 
Here, das war gewiß. 

Sogar Don Aguftin fürchtete fie und ging ihr aus 
bem Wege. Er konnte ihr nichts anhaben, denn fie that 
äußerlich, als ob fie eine gute Ehriftin wäre, ging allſonn⸗ 
täglih zur Meſſe und kam vor Oftern fogar um zu 
beichten. Was fie da dem frommen Manne erzählt haben 
mag! Er war ftet8 ganz verftört, als fie den Beichtftuhl 
verließ, während ein unheimlich farbonijches Lächeln noch 
Ihärfer als fonft um ihre Mundwinkel zudte. 

Sn kurzer Friſt war das Dorf ihr zinspflichtig ge⸗ 
worden. 

Sie fagte wahr, wußte für alle Gebreften Rath und 
fonnte die böfen Geifter beſchwören. In ihrer Küche fan- 
ben fih Mittel für alles Weh. Nicht nur die jungen 
Mädchen fchlichen zu ihr, wenn fie der Treue ihrer Xieb- 
baber mistrauten, nicht nur die jungen Frauen, deren 
Ehe nicht fofort im erften Jahre nach Wunfch gejegnet 
war, nicht nur bange Mütter, die ihre leichtfinnigen Söhne 
auf Abwege gerathen ſahen, auch die Männer des Dorfes 
kamen zu ihr. Für Krankheit, für Dürre und Noth aller 
Art wußte fie Heilung und Hülfe. Sie mußten fommen, 








Donna Brigiba. 103 


alle, alle. Sie beftand darauf, daß eine jede der funfzig 
Familien des Dorfes ihr Zins gebe. Die Summe der 
Pefetas, die jedes Familienhaupt zu erlegen hatte, wech⸗ 
jelte nach der Kopfzahl feiner Angehörigen, feiner Pferde 
und Rinder. Zahlen mußten fie aber alle, fonit — 
wehe ihnen! 

Den Tribut hatte fie fich erzwungen durch die Drohung, 
wer ihr bvenjelben weigere, würde „beiprochen”. Dann 
mwürben feine Kinder von Nafenbluten befallen, das fein 
Mittel Stillen könnte, fie müßten fterben. 

Des Nachts beitieg die Here regelmäßig den Hügel 
weſtlich vom Dorfe. Im ungewiffen Scheine des Mond⸗ 
lichts ſah man wol ihre Haare wie zudenvde Flammen 
um ihr Haupt flattern, ſah fie mit dem Krüdftod ge- 
heimnißoolle Zeichen in die Lüfte jchreiben. Im Angſt⸗ 
gefühl erfchauernd vernahmen jene, die pochenden Herzens 
fich neugierig herangefchlichen, daß fie unverftändliche Laute 
murmelte, oder in gellendem Auffchrei Flüche und Ver—⸗ 
mwünjchungen hervoritieß. 

Am Tage dagegen faß fie oft ftundenlang regungslos, 
ftteren Blickes vor fich hinſtarrend, feine Anrede der Ant- 
wort würbigend, ftumm und verjchloffen vor ihrer Hütte, 
Näherte man fich ihr zu folcher Zeit, dann hob ihr ftän- 
diger Begleiter, der fchwarze Kater, feinen Kopf, blitte 
aus feinen grünen Augen den Störenfried wüthend an 
und fauchte, ſodaß ein jeder beftürzt zurückwich. 

Es war ein hübicher Junge, das Pathenkind des Al- 
calden, ver Bablo Sanchez. Ein wilder Knabe, der, trotz⸗ 
dem er kaum fechzehn Jahre: zählte, mit jebem Gaucho 
um bie Wette reiten und den Laffo jchleudern konnte. Der 
Liebling aller, der Führer und Abgott feiner Spielgenofjen. 
Sogar die Mädchen des Dorfes, die doch fonft der un⸗ 
reifen Jugend gern fpotten, bemerften ihn fchon, und 


104 Donna Brigida. 


gar manch heißer Blid folgte ihm, wenn er ftolz aufge- 
richtet auf feurigem Roſſe durch die Straßen fprengte. 
Er war eines Tages mit einer Schar feiner Iuftigen Ge⸗ 
führten an der Hütte der Donna Brigida vorbeigalopirt 
und hatte fie mit übermüthig keckem Scherzwort aus ihrem 
. bumpfen Brüten aufgefchredt. Sie war aus ihrem Grü- 
bein aufgefahren, hatte die Hanb wie beſchwörend aus⸗ 
gejtredt und etwas gemurmelt, das niemand verftand. 
Da ftrauchelte Bablo’8 Pferd, und er, ber befte Reiter 
des Dorfes, ftürzte kopfüber zur Erde. Blutüberftrömt 
und bewußtlos trugen ihn die Kameraden in feines Vaters 
Hans. 

Ihm Tonnte feiner mehr helfen als die Hexe felbit. 

Der alte Sanchez kam zu ihr geichlichen un hob fle- 
hend die Hände. Er bot ihr — wer weiß wieviel? Gie 
aber blieb unerbittlich, und ber Knabe ftarb. 

Scheuer denn je mieben die Dorfbewohner die Alte. 

Nur der Alcalvde, Don Ramon Mepina, faßte fich ein 
Herz. Der Tod feines Pathenkindes hatte ihn tief er- 
jhüttert. Er begab ſich zu Brigida und ftellte fie zur 
Rede. 

‚Barum bat Pablo fterben müſſen?“ frug er fie. 

„Weil Sanchez feine Pflicht nicht erfüllte. Weil er 
bie Buße nicht entrichtet hat, die ich von ihm geheiſcht.“ 

„And bift bu denn bie Herrin über und, daß bu 
gebieteft und wir bir gehorchen müſſen?“ 

„sh bin e8 Und um es bir zu beweilen, fo for- 
bere ich von nun an, daß du mir täglich eine Peſeta 
bringen und an meinem Namensfeite zehn blanfe Duros 
erlegen ſollſt.“ 

„Du raſeſt wol? Vergiß nicht, daß ich hier Amtmann 
bin, daß ich dich in Haft nehmen und dich nach Merico 


— — 


Donna Brigiba, 105 


vor das ftrenge Gericht führen kann. Und ich werbe es 
thbun zur Buße für deine verruchte That.‘ 

Die Augen der Alten fchoffen Blitze: 

„Verſuche es nur. Und an demjelben Tage, an dem 
du Hand an mich zu legen wagft, wirb bein Erftge- 
borener fih in Krämpfen winvden, und wenn mich beine 
Häfcher vor den Richter fchleppen, magft bu, ein kinder⸗ 
lofer Bater, gegen mich zeugen!” 

Medina pralite entjett zurüd. Er war ein muthiger 
Mann, aber vor dem Kleinen Weibe fürchtete er fich. 

Haperfüllt und heimtückiſch ſah fie ihn an. 

„Sebe nur heim“, zifchelte fie, „blicde deinen Kindern 
ind Auge und wage e8 ferner, mir zu wiberftreben. Sieh, 
ſchon ift der erjte Kreis gezogen!’ Ihr Krüditod fuhr 
durch die Luft. 

Da Ichnürte unendliche Angft des Vaters Herz zu- 
ſammen. Im Geifte ſah er feine blühenden Kinder von 
unnennbarem Weh erfaßt in gefpenftifcher Krankheit ver- 
ihmachten. Dunkelroth quoll es vor feinen Augen. 

„Drag die Madonna mir gnädig fein!” ftöhnte er auf. 
Im nächften Augenblid ftaf fein Meffer in Brigida's 
Kehle. In weiten Bogen ſchoß das Blut aus der Hals⸗ 
aber, und lautlos brach ſie zuſammen.... 

Dann ging er nach Merico und ftellte fih dem 
Gericht. 

In Merico richten keine Gefchworenen über die jchweren 
Verbrechen. Man führte den Mörber vor ein rechtsge- 
lehrtes Richtercollegium. Allein auch die Juriſten fprachen 
ihn frei. 


Der 
Proceß wider den Maler Iofeph Johann Kirchner. 


(Morpverfuh am Freunde — Wien.) 
1888. 


„Schabe um ven Kirchner. Er ift ein Talent, zweifel- 
108, jeboch er zeriplittert feine Arbeitskraft. Siebzehnmal 
für ſiebzehn verſchiedene tlluftrirte Zeitungen daſſelbe Ting 
abzeichnen, das tödtet die Künftlerfchaft.” 

„Du haft recht. Sein eigenes künſtleriſches Gewiffen 
bäumt fich auch oft genug gegen bieje erniebrigenve, dem 
Erwerbsteufel dargebrachte Huldigung.” 

„Sa, aber warum thut er e8 denn? Sind feine Ber- 
hältniffe derart verfahren? Er tft fein Spieler, er ift 
fein Zrinfer, er bat, ſoviel ich weiß, feine große Familie 
zu erhalten. Er follte doch genug verdienen, um fich noch 
böhern Aufgaben winmen zu können.“ 

„Was willſt du nur. Er ift fein Spieler — zuge- 
geben. Er ift fein Trinker — gewiß nicht. Selbft im 
Freundeskreiſe weigert er fich, einen herzhaften Trunk zu 
thun. Er verabichent ven Wein, dieſe berrlichite Gottes- 
gabe! ... Allein die Löſung des Räthſels ift nicht fchwer 
zu finden. Sie ift in der alten Polizeiregel zu fuchen: 








Der Proceh wider 3ofeph Johann Kirdhner. 107 


Cherchez la femme! Das «ewig Weibliche» hat es 
ihm angethan. Er fchmachtet ftets in den Banden irgend⸗ 
einer Schönen. Sein gutes Herz und fein fchwacher Wille 
find feine Feinde. Einer Bitte aus weiblichem Munde, 
den er geküßt, kann er nicht wiberfteben. Sein fünftlert- 
ſcher Verfall und fein phyſiſcher Ruin, die beide ganz un⸗ 
aushleiblich eintreten müffen, fie find die Folgen feines 
nervöſen Temperaments, feines unbezwinglichen finnlichen 
Dranges und bed Mangels an fittlichem Halt.‘ 

„Armer Kerl!“ ... 

Sp urtheilten die Collegen über einen begabten Künſt⸗ 
fer, ven Maler Joſeph Iohann Kirchner. Allein ihr 
Achtelzuden, ihre Rathichläge, ihre Warnungen waren 
ftet8 von Sympathie für den Menſchen, den talentvollen 
Collegen begleitet. An einem Wintermorgen ftand in 
der Rubrik „Locales” der Zagesblätter zu lefen: „An 
‚einem reichen Privatier, Herrn Karl Eurio, iſt ein 
Mordattentat verfucht worden. Der flüchtige Thäter 
wird verfolgt. Da die Polizei weiß, wen fie zu fuchen 
bat, jo ift es nur eine Frage von Stunden, bis fie 
jich feiner verfichern wird. Der Attentäter ift der «in 
weitern reifen befannte» Maler und Zeichner 9. 9. 
Kirchner.” 

Es Hang unglaubhaft. Dennoch war die Nachricht 
richtig. Kirchner wurde aufgegriffen und in Daft ge- 
nommen. Cine erfledliche Anzahl der romanbhafteften 
Geſchichten durchflatterte die Spalten ber Zeitungen. ‘Die 
Unterfuhung ging ihren Gang und bie Anklage wurde 
erhoben. Seine Freunde bemühten fich darum, ihm einen 
tüchtigen Anwalt zu fihern, und fanden biejen in ber 
Berfon des Dr. Edmund Benedikt, eined ber ver: 
traueniswertheften und redegewandteſten ber jüngern ivies 
ner Vertheidiger. 


108 Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 


Die Hauptverhandlung wurbe für den 18. Juni 1888 
anberaumt. 

Borfigender des Gerichtshofs war Landesgerichtsrath 
Guftan Ritter von Scharfen. Die Anflage vertrat 
der Subftitut des Staatsanwalt® Robert Hawlath 
und als Vertreter des Privatbetheiligten erichten Dr. Leo⸗ 
pold Florian Meißner. 

Die Anklage lautet: Joſeph Johann Kirchner, der bie 
Malerſchule für Lanpichaftsmalerei in Wien bejucht Hatte 
und für einen begabten Künftler galt, erwarb fich, 
wenngleich von Haufe aus vermögenslos, als Zeichner 
für illuſtrirte Werfe und Zeitjchriften jährlich —6000 FI. 
Er war in Geldfachen von einer geradezu pedantischen 
Genauigteit, befand fich aber dennoch fortwährend und 
namentlich in leßterer Zeit in Gelpverlegenheiten. ‘Der 
Grund lag nicht fo fehr in fpecifiich Fünftleriichen Paſ⸗ 
fionen, als in feiner Lebensweiſe überhaupt. 

Im Jahre 1870 hatte er geheirathet, im Jahre 1876 
fing er ein Verhältnig mit Marianne Röffel an, im 
Jahre 1878 verließ er feine Frau und zwei Kinder und 
lebte mit der Röffel, die ihm in jüngfter Zeit ebenfalls 
ein Kind gebar, im Concubinat. Da er fih der Ver— 
forgung jeiner rechtmäßigen Familie nicht entichlagen 
wollte, jevoch auch ven Haushalt mit ver Röſſel aus fei- 
nem Verdienſte beftreiten mußte, geriethb er 1886 in 
Wucherhände. Der Schuldenftand war zwar nicht be- 
beutend, allein Kirchner fühlte ihn als eine drückende Lat. 

Seine Lage verfjchlechterte fich ganz beſonders tim 
Yahre 1887, weil er feine Stelle bei der „Neuen Illu—⸗ 
jtrirten Zeitung” verlor und infolge der Unftetigfeit ſei⸗ 
ner perjönlichen Verhältniſſe jowie des Abganges echt 
künſtleriſchen Schaffenspranges nach und nach alle Arbeits- 
luſt einbüßte. 





Der Proceß wider Iofeph Johann Kirchner. 109 


Im März 1887 trat er in intime Beziehungen zu 
Klara Curio, der Frau feines Freundes Karl Curio. 

Der letztere, ein reicher Privatier, hatte Kirchner im 
November 1886 fennen gelernt und ihm gern Eintritt 
in feine Familie geftattet. Als im Sommer 1887 bie 
Familie Curio auf Reifen ging, bezog Kirchner Curio's 
Billa in der Hirfchengafje Nr. 28 in Ober-Döbling (einem 
Bororte von Wien). Curio lud ihn im September nad , 
feiner Rückkehr ein, gänzlich zu ihm zu ziehen; er räumte 
ihm nicht nur zwei Zimmer in einem Nebengebäude ber . 
Billa ein, fonvern gewährte ihm auch freien Tiſch. Kirch 
ner nahm das Anerbieten mit Danf an und bemerfte 
icherzend, ob Eurio denn nicht eiferfüchtig auf ihn werben 
würde, worauf Curio erwibderte: „Er fee voraus, daß 
Kirchner als Ehrenmann die Gaſtfreundſchaft nicht mis- 
brauchen werve.” Das hinderte aber Kirchner feines- 
wegs, mit der Frau feines Gaftfreunded in einem zu 
biefem Behufe gemietheten Abfteigequartier nach wie vor 
heimliche Zufammenfünfte zu pflegen. Außerdem hatte er 
aber auch die Röffel, welche Curio für jeine rechtmäßige 
rau bielt, in nächiter Nähe, nämlich in Währing, Haupt- 
ftraße Nr. 19, einguartiert. Die Röffel wußte von dem 
Berhältniffe zur Curio und hatte ſich nur ausbebungen, 
daß Kirchner ihr zwei Abende in der Woche widme! 

Am Samstag, 14. Januar 1887, ereignete ſich Yol- 
gendes: Kirchner wollte abends mit Curio einen Masken⸗ 
bafl befuchen. Er fagte zu Curio, er werde eine Pelz- 
mütze auffegen und ven Claquehut unter dem Ueberrode 
verwahren. Curio fand dies praktiſch, Holte fich einen 
Jägerhut, ſteckte aber dieſen in die Taſche und ſetzte den 
Claquehut auf. 

Es war 8°/, Uhr abends. Die beiven Männer gin- 
gen nebeneinander in ben Garten binab und wollten 





110 Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 


ben Weg durch die Gartenthüre in die Kreinplgaffe (eine 
öde, meift zwifchen Gärten fich Hinziehende Straße) ein⸗ 
ichlagen. Sie waren etwa hundert Schritte weit gegangen 
und noch ungefähr funfzig Schritte von ver Ausgangsthür 
entfernt, da trat Kirchner an einer Wegenge, wo ber bort 
jtärfer mit Bäumen bepflanzte Theil des Gartens beginnt, 
zurüd und ließ Curio vorausgehben. In demjelben Augen- 
blide, die beiden Männer waren einander noch fo nahe, 
daß fie fich berühren Fonnten, erhielt Curio von rüdwärts 
bligjchnell mehrere Hiebe auf den Kopf, ſodaß ihm das 
Blut über das Geficht ſtrömte. Mit dem Rufe: „Kirch— 
ner ermordet mich, zu Hülfe!“ wendete er fich recht8 und 
lief gegen feine Villa zurüd. Dort angekommen jchrie er 
feiner ihm entgegenfommenden Frau zu: „Rlara, jchau 
mich an, wie mich Kirchner gefchlagen hat!” und nad 
jeinem Revolver greifend fügte er hinzu: „Laßt mir den 
Kirchner nicht herauf, ich fchieße ihn nieder!“ 

Frau Klara Curio brachte Waffer herbei, verließ aber 
dann ihren Mann und eilte in den Garten hinunter, an⸗ 
geblih um Kirchner zu warnen. Zwiſchen beiden fand 
ein Zwiegefpräch ftatt, höchſt wahricheinlich in ver im 
Erdgeſchoß gelegenen Wohnung Kicchner’s. Bald darauf 
jahen die Dienftleute einen Mann zum vordern Thore 
hinausftärzen und unmittelbar darauf begab fih Frau 
Curio über die Freitreppe hinauf in ihre Wohnung. 

Sie bemübte fich lebhaft, ihrem Wanne vorzuftellen, 
daß Kirchner unmöglich der Thäter geweſen fein könne. 
Es wäre ihr fast gelungen, ihn zu überzeugen, denn Gurio 
hatte ven Attentäter nicht gejehen. Er hielt Kirchner für 
jeinen Freund und ahnte nicht, daß dieſer mit feiner Frau 
in vertrautem Umgange lebte. 

Kirchner verbrachte die Nacht in verjchievenen Kaffee⸗ 
häufern, fchrieb Abſchiedsbriefe und verjchaffte fich am 


Der Proceß wider Joſeph Iohann Kirchner. 111 


nächſten Morgen einen Revolver, mit welchem er zuerft 
jeine Geliebte Marianne Röffel, dann deren Kind und 
ſchließlich fich ſelbſt erfchießen wollte. Da ſich die Röſſel 
weigerte, bejchloß er, fie und das Kind im Schlafe zu 
töbten, wurde aber fhon am Nachmittage des 16. Januar 
in der Wohnung der NRöffel, wo er fich die ganze Zeit 
über aufgehalten batte, verhaftet. 

Er trat vor Gericht mit der fabelhaften Behauptung 
auf, daß nicht er, fonvern ein „Unbekannter“, der fich 
zwijchen ihn und Curio ‚‚gefchoben habe”, ver Thäter 
gewejen jei. Freilich erflärte Kirchner gleich darauf felbft, 
er ſei jih wohl bewußt, daß dieſe Angabe keinen Glauben 
finden werde. In der That ift erwiejen, daß e8 damals 
im Garten nicht beſonders finfter war und daß Eurio 
auf zehn Schritte vor fich genau fehen Tonnte, aber nie- 
mand bemerkt bat. Die mäßig dicken Bäume bes Gar- 
tens bieten fein genügendes Verſteck, und der losgebundene, 
wachſame Hund hätte feinen Fremden unbeanftandet im 
Garten belafjen. Ueberdies ift Kirchner’ mit einem Blei⸗ 
fnopfe verfehener Stod am Orte der That gefunden wor- 
den. Frau Eurio brachte denſelben bald nachher in bie 
Küche und zeigte ihn den Dienftleuten mit den Worten: 
„An dem Stode ift Fein Blutfled, es ift alfo ganz un- 
möglich, daß Kirchner meinen Mann gefchlagen hat.“ 

Der erfte Hieb, der gegen Curio geführt wurbe, traf 
die Weder des Claquehutes. Er zerbrach dieſelbe und 
jchlug ein rundes Loch in den Hut, verlette Curio aber 
nicht. Der Hieb war, wie bie Spuren am Hute nach— 
weifen, jcharf gegen das Hinterhaupt gezielt. ‘Der zweite 
Hieb jtreifte die rechte Schläfe und fuhr längs des Auges 
herab. Die Wunde hatte einen ziemlich ſtarken Blutver- 
Injt zur Folge, heilte aber in wenigen Tagen vollfommen, 
da weder ein Knochen verlegt war, noch eine Gehirn- 


112 Der Broceß wider Joſeph Johann Kirchner. 


erjhütterung eintrat. Ein britter Hieb wurde von Curio, 
ber inftinctiv den rechten Arm erhob, aufgefangen. Die 
Anflage behauptet: der Bleiſtock Kirchner's fei ein zur 
That geeignetes Werkzeug. 

Ueber die Motive der That hat die Unterfuchung ge- 
nügenbe Aufklärung gegeben. 

Daß es fich nicht um den Beſitz der Geliebten ban- 
delte, ift Far, weil alle Umftände dafür fprechen, daß 
Kirchner überhaupt feine tiefere Neigung zu Klara Curio 
empfand. Die Eheleute Curio find reich, Frau Curio 
beit ein noch bebeutenvderes Vermögen ald ihr Mann; 
die Einfünfte fließen aber nicht ihr, fonvern kraft der 
Verfügungen ihrer Aeltern ihrem Manne zu, welcher in 
Geldſachen jehr genau iſt und ihre Ausgaben ftreng über- 
wacht. Frau Curio hat dem Angeklagten nicht blos ihre 
Liebe gefchenkt, fondern ihm auch Geld gegeben: im Au- 
guft 1887 1000 Mark und fpäter einmal 150 5. Außer 
dem bezahlte fie regelmäßig den Miethzins für das Abs 
fteigeguartier, in welchem fie fich trafen, und auch Flei- 
nere Beträge hat er von ihr erhalten, um biefelben für 
fih zu verwenden. 

Am 13. Januar 1889, einen Tag vor ver That, gab 
fie ihm einen Schmud zum Verkaufen. 

Kirchner hat jedenfalls den Plan gefaßt, ven Mann 
zu tödten, um fih zum Herrn über das Vermögen ber 
Frau zu machen. 

Daß ihn derartige Gedanken befchäftigt haben, beweilt 
ber Umftand, daß er gerade in ven letzten Wochen vor 
ver That nicht nur mehrfache Arbeitsaufträge ablehnte, 
jondern einmal geradezu äußerte: „Er werbe überhaupt 
nicht mehr zeichnen!” und näheres Eingehen auf viele 
Aeußerung mit den Worten abwies: „Das ift meine 
Privatfachel” 


Der Proceß wider Joſeph Iohann Kirchner. 113 


Endlich wurde bet ihm gelegentlich ber Verhaftung 
ein an Frau Curio gerichteter Abſchiedsbrief vorgefunden, 
in welchem er ihr Gift zur Verfügung ftellte, falls fie 
deſſen bebürfen ſollte. Im diefem Briefe entjchlüpft ihm 
gleich nach der Betheuerung, daß er nicht der Thäter jet, 
die bezeichnende Bemerkung: „Es ift das eben wieber 
einmal einer jener unglüdfeligen Zufälle geweſen, welche 
die klügſten Kombinationen fcheitern machen.” 

Die Anklage gebt dahin: „Joſeph Johann Kirch» 
ner hat am 14. Ianuar 1888 gegen 9 Uhr abends im 
Garten des Haufes Nr. 28 in der Hirfchengafje in Ober- 
Döbling in der Abficht, ven Karl Curio tüdifcherweije zu 
tödten, badurch eine zur wirklichen Ausübung führende 
Handlung unternommen, daß er demſelben mit einem 
Bleiftode mehrere Hiebe verſetzte; die Vollbringung des 
Verbrechens ift nur durch Zufall umterblieben. Joſeph 
Johann Kirchner hat hierdurch das Verbrechen des ver- 
ſuchten Meuchelmordes im Sinne des Strafgefehes 
begangen.‘ 

Der Angeflagte wird vorgerufen. Kirchner ift ein 
mittelgroßer, fchlanfer Dann von 41 Jahren. Sein dich⸗ 
tes, an den Schläfen leicht ergrantes Haupthaar ift braun, 
fein Schnurrbart blond. Die Gefichtsfarbe ift bleich, 
vermuthlich infolge der über ihn verhängten Unterfuchungs- 
haft. Die Augen von unbejtimmter grau=blauer Farbe 
feuchten häufig auf. Seine Sprechweife ift haſtig und 
von lebhaften Geberben begleitet. Er trägt einen brau⸗ 
nen Sammtrod, nach der Art vieler Künftler, und eine 
nachläffigeelegant gebundene Kravatte. 

Präfident. Was haben Sie auf die Anklage zu 
erwidern? 

Angeklagter. Ich glaube, daß es mir ſchwer fallen 
dürfte, eine zuſammenhängende Darſtellung des Sachver⸗ 

XXIV. 8 


114 Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 


baltes zu geben, ich bitte daher Tragen an mich zu rich- 
ten. Im allgemeinen erkläre ich mich nichtſchuldig. 

Präfivdent. Was können Sie uns über Ihre Her⸗ 
kunft und Ihr Vorleben mittbeilen? 

Angellagter. Mein Bater war ein Möbelhändfer 
und Tapezierer. Im Sabre 1861 zog er fich vom Ge- 
ſchäft zurüd, Ich abfolvirte nach burchgemachter Volks⸗ 
jchule zwei Klaſſen ver Unterrealfchule und Hierauf eine 
Privathandelsichule. Die Abficht meines Vaters war, 
daß ich mich dem Kaufmannsſtande widmen follte, aber 
ich hatte feine Neigung für ben gefchäftlichen Beruf. 
Dagegen zeichnete ich mit Leidenschaft, feitvem ich einen 
Stift in die Hand nehmen konnte. Ich wollte Künftler 
werben. Mit Schwerer Mühe erlangte ich die Zuftimmung 
meines Vaters und befuchte dann 1861 und 1862 die 
Hiftorienichule, 1863 die Landſchaftsſchule der Akademie 
ber bildenden Künſte. Mein Talent wies mich auf das 
Landſchaftsfach. Nachdem ich das Haus meiner Aeltern 
verlaffen und eine Privatwohnung bezogen hatte, ſchloß 
ich mich innig an die Familie meiner Wirthsleute. Die 
Tochter derjelben war jehr gut gegen mich. Sch verliebte 
mich in fie, verfprach fie zu heirathen und erfüllte mein 
Verſprechen im Detober 1873. Nun galt e8 aber, für 
eine Familie zu forgen. Dies war mir als Maler noch 

nicht möglich. Ich verließ die Afademie und bewarb mich 
um eine Anftellung bei einem Bankinſtitute. Es gelang 
mir nicht unterzufommen. Ich mußte aber erwerben, um 
leben zu können, und fo warf ich mich auf die Illuſtration. 

Präfivent. Wie haben Ste mit Ihrer Frau gelebt? 

Angeflagter. Wie man es nimmt, gut ober auch 
nicht. 

Präfident. Wie ift das zu verftehen? Gab es 
Scenen zwiſchen Ihnen ? 


Der Proceß wider Joſeph Iohann Kirchner. 115 


Angeflagter. Scenen nit. Meine Fran Tannte 
mein Temperament. Sie tft älter als ih. Ste mochte 
wiſſen, daß ein jüngerer Mann und Künftler nicht nach 
ver Elle eines Handwerkers zu meſſen ift. Sie war auch 
meinen Neigungen gegenüber ftets ſehr nachfichtig. 

Präſident. Das beißt wol, Sie waren Ihrer Frau 
nicht tren? 

Angellagter. Es war eine Teichtfinnige Ehe, wie 
fie eben ein junger Menſch eingeht. Dean follte nicht fo 
jung betratben. 

Präſident. Wie bat fih Ihr Verhältnig mit Ma- 
rianne Röffel entfponnen? 

Angellagter. Ich habe fie auf einer Landpartie in 
Krems kennen gelernt und faßte eine wahre Leidenschaft 
für fie. Meine Frau wollte mir dieſen Verkehr nicht 
erlauben und ftellte mir die Alternative: ich müßte ihr 
ober Marianne entfagen. „Wenn bu fie nicht aufgibit, 
mußt du vom Haufe weg’, fagte fie. 

Präfident. Sie entichloffen fich aber nur ſchwer 
zur Trennung von Ihrer Frau? 

Angeflagter. Unter heißen innern Kämpfen. Da 
meine Frau nicht nachgab, zog ich im Jahre 1878 mit 
ber Röffel zufammen. Ich arbeitete viel und erwarb 
genng, um ben Haushalt meiner Frau und den eigenen 
zu beitreiten. 

Präfident. Sie beichloffen das Jahr 1886 aut 
Ihren eigenen Auffchreibungen mit einem Schuldenſtand 
von 900 Fl. und haben ein Darlehn von 1500 SL. auf- 
genommen. 

Angellagter. Das tft richtig, doch weber etwas Er- 
chrediendes noch Ungewöhnliches. Ich war Zeit meines 
Lebens Geld ſchuldig und habe gezählt, wenn ich gerade 

8 * 


116 Der Broceß wider Joſeph Johann Kirchner. 


bei Kaffe war. Deine Arbeit wurbe ſtets gut honorirt 
und ich durfte immer wieder auf ſolche rechnen. 

Präfivdent. Wie haben Sie mit Marianne Nöffel 
gelebt? 

Angeflagter. Ausgezeichnet. 

Präfident. Wie kommt es denn, daß Sie die Röffel 
verlaffen haben, um zu Ihrer Frau zurüdzufehren? 

Angellagter. Es überlam mich zuweilen ein Heim- 
weh. Auch hat es hier und da Streit zwiſchen Marianne 
und mir gejett. Dergleichen kommt wol überall vor. 
Trotzdem lebten wir im beften Einvernehmen. Ich muß 
geftehen, daß mich mitunter ein unwiberftehlicher Drang 
erfaßte, durchzugehen, ich lief dann bavon, ohne recht zu 
wiffen wie und warum. 

Präfident. Iſt Ihnen die Röffel immer treu ge- 
blieben? 

Angeflagter. Gewiß nicht. 

Präfident. Nun, jo gewiß ift das wol nicht. 

Angellagter. Dod. Ich Habe Kenntniß von ihrer 
Untreue erhalten, war im höchiten Grabe aufgeregt und 
bin bavongelaufen. 

Präfident. Sie find aber zu ihr zurüdgefehrt. 
Ein ſonderbares Verhältniß in der That! 

Angeflagter. Ich babe ihr eben ven Fehltritt ver- 
ziehen. 

Der Angeflagte erzählt nun, daß er einmal bei 
einer folchen Flucht ohne Ziel und Zweck nach Leipzig 
‚gefahren jei. Ein andermal habe es ihn plößlich über- 
fommen, er müfje fort. Er faß gerade mit feiner Ge⸗ 
liebten in einem Kaffeehaufe auf der Landſtraße und ift 
mit Zurüdlaffung feines Hutes und Weberrodes fort- 
gelaufen. Wohin er ˖ſich gewendet, deſſen weiß er fich 
überhaupt nicht zu entfinnen. 


Der Proceß wiber Joſeph Johann Kirchner. 117 


Präfident. Sie waren wol jehr eiferfüchtig auf bie 
Köffel? 

Angeflagter. Ja wohl, Herr Präfident. 

Präfident. Site haben fogar einen Balken vor ber 
Thüre anbringen laffen, damit niemand hinein könne. 

Angellagter. E83 war zwar ohnedies eine gute, 
feite Thür vorhanden, aber befjer ijt befjer. 

Präfident. Sie find einmal vom Weftbahnhofe, 
wohin Sie fih mit der Röffel begeben hatten, um einen 
Ausflug anzutreten, plöglich verichwunden? 

Angellagter. So haben mir die Herren Gerichts⸗ 
ärzte mitgetheilt. Ich weiß nichts davon. Ich kann mic 
beffen nicht erinnern. | 

Präſident. Als Sie aus Heiligenjtabt, wo Sie 
zeitweilig mit der Röſſel wohnten, einmal plötzlich ver- 
ſchwanden und über Nacht ausblieben, haben Sie, als Sie 
wiederfamen, Ihre Geliebte um Verzeihung gebeten, Wes- 
halb thaten Sie das, wenn Sie gar nicht wußten, daß 
Sie weggeblieben waren? 

Angellagter. Ich habe es doch durch Marianne 
erfahren. 

Präfident. Sie baten nicht etwa beöwegen um 
Berzeihbung, weil Sie Ihrer Geliebten untren geworden 
waren? 

Angeflagter. Nein. 

Präfident. Ste haben fie aber doch betrogen? 

Angellagter. Betrogen? Nein. Herr BPräfivent 
können doch das nicht betrügen nennen. 

Präftdent. Aljo nennen wir e8 Untreue. 

Angellagter. Wie kann man nur von Untreue 
Sprechen in ber Capitale ver Genußfucht! 

Präfident. Die Verhältniffe einer Großſtadt fchlie- 
Ben die Treue nicht aus. 


118 Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 


Angellagter. Aber man kann doch in meinem 
alle nicht von Betrug, von Untreue fprechen! 

Präſident. Nun freilich, wenn man bedenkt, daß 
Ihr Verhältniß zur Röffel überhaupt nicht anf morali- 
icher Bafis begründet war. 

Angeflagter. Ich bitte ſehr. Auch folche Verbält- 
nifje entbehren der moralifchen Baſis nicht. Ich faffe es 
in diefem Sinne auf. Nur wird dieſe nicht durch das, 
was Sie „Untreue nennen, erichüttert. 

Präſident. Laffen wir diefe Erörterung. — Seit 
wann war Ihr Fünftleriicher Ruf begründet? 

Angeflagter. Oh, ſchon ſehr frühe. Ich erhielt 
bei einer Concurrenz den erften Preis. 

Präfident.e Das iſt richtig, Das war 1869 in 
Budapeft. — Sie haben Herrn Curio am 14. November 
1886 kennen lernen. Wann find Sie zu Frau Eurio in 
nähere Beziehungen getreten? 

Angellagter. Im März bat die Liebeserklärung 
itattgefunden. 

Präfident. Hat Frau Röſſel darum gewußt? 

Angeflagter. Ich habe es ihr lange abgeleugnet. 

Präfident. Wo hielten Sie Ihre Zufammenkünfte 
mit Frau Curio. 

Angellagter. In einem Abfteigequartier im Bezirk 
Mariahilf. Ich muß bier noch eine Bemerkung machen. 
Sch gebe zu, daß ich immer weibliche Geſellſchaft 
fuchte, aber ich habe vorher niemals einer. verheiratbeten 
Frau nachgeftellt. Frau Curio war die erfte, mit ber ich 
in nähere Beziehungen trat. Ste bezauberte mich zwar 
fofort, ich hätte e8 inveß nie gewagt, mich ihr ernftlich 
zu nähern, wenn fie mir nicht entgegengelommten wäre. 
Ich Hätte nie ven Frevel begangen, ein Eheglück zu zer- 
jtören. ALS ich die Familie Curio kennen lernte, da gab 











Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 119 


es ſchon Lange Fein Eheglüd mehr zwiichen ven Gatten. 
Sie gingen ein jedes feinen eigenen Weg. Sch will mich 
nicht beſſer machen, als ich bin, doch dieſes mußte ich 
eonitatiren. 

Präfident. Im December 1887 haben Sie zu 
Herrn Konody gejagt, daß Sie gar nichts mehr arbeiten 
würden. 

Angellagter. Das ift ein Misverſtändniß der An⸗ 
Hage. Ich habe ihm nur gejagt, ich wolle nicht mehr 
zeichnen, das heißt, pas Illuſtriren genüge meinem künſt⸗ 
leriichen Bebürfniß nicht. Ich bitte nur zu bevenfen, 
welche peinliche Tortur e8 für einen Künftler ift, ſechs⸗ 
undzwanzigmal hintereinander das Rathhaus abzeichnen 
zu müfjfen! Das bringt einen zur Verzweiflung, zur 
Raferei! 

Präfident. Auch Herr Gaufe fagte aus, daß Sie 
nur gearbeitet hätten, wenn es galt einen Auftrag aus⸗ 
zuführen. 

Angeflagter. Gewiß. Denn Arbeiten wie die er- 
wähnten fertigt man nicht aus Luſt zur Sache, fondern 
nur ums Geld. Deshalb eben fagte ih, ich würbe das 
Zeichnen ganz aufgeben. 

Präfident. Geben Sie zu, von Frau Curio Geld 
angenommen zu haben? 


Angellagter. Ja wohl. Ohne daß ich e8 verlangt 
habe, jchidte fie mir 1000 Mark, Site wußte eben, daß 
ih Schulden Hatte. Ich habe das Geld als ein Darlehn 
betrachtet. Außerdem empfing ich von ihr ein Spar 
fafjenbuch mit einer Einlage von 157 Fl. und Beträge 
zur Bezahlung gemeinjchaftlicher Auslagen, wie des Ab- 
jteigequartiers, in dem wir zufammenfamen, auch für 
Wagen, die wir gemeinfam benubten u, dgl. m. 


120 Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 


Präfident. Wir gelangen num zu der unter Anklage 
geftellten That. Wann verabrebeten Sie mit Curio, ben 
Maskenball zu befuchen? 

Angellagter. Samstag früh fagte mir Curio, er 
habe zwei Karten zum Mastenball in den Sophienfälen 
erhalten und begehrte, ich folle ihn dahin begleiten. Wir 
jpeiften darum früher als fonft zu Abend. Es geichah 
dies um 8%, Uhr. 

Präfident. Sie fagten zu Curio, er brauche den 
Revolver nicht, weil Sie ven Stod mitnähmen. Und bie- 
jen Stod haben Sie oft als treffliche Waffe gerühmt! 

Angellagter. Im gewöhnlichen Leben wägt man 
die Worte nicht fo ab, wie fie dann einem Angeflagten 
gegenüber ausgelegt werben können. 

Präſident. Warum haben Sie gerade an jenem 
Abende die Pelzmütze aufgejett und ven Claquehut unter 
ben Rod genommen? 

Angellagter. Ich befürchtete Regen und wollte ven 
Hut fchonen. 

Präfivdent. Sie gingen zufammen in den Garten 
hinab? 

Angeflagter. Curio ging immer fehr raſch, und fo 
fam es, daß er bald vor mir war. 

Präfident. Erzählen Sie, was nun geichah. 

Angeflagter. Bei ber erften Biegung links war 
mir Curio mindeſtens anderthalb Dieter voraus. Ob 
wir miteinander fprachen, weiß ich mich nicht zu erinnern. 
Dagegen weiß ich beftimmt, daß e8 recht bunfel war. 
Plötzlich ſpringt, ſchiebt fich oder wird gejchoben eine 
britte Geftalt zwiſchen uns beide. Diele Geftalt führt 
mit einem Inftrument einen Hieb auf Curio. ch weiß 
nicht, woher dieſe Geftalt kam. Sie war da wie aus 
dem Boden geftiegen, fie mag neben ober Hinter dem 


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Der Proceß wider Joſeph Johann Kirdner. 121 


Baume hervorgefommen fein. Sch fehe fie nur einen 
Hieb führen, ſehe wie Curio taumelt, einen Halbkreis be- 
ſchreibt und von der Geftalt verfolgt wird. Plötzlich finkt 
Curio zu Boden, während bie Geftalt nach der entgegen- 
geſetzten Richtung bin verjchwindet. Ich war wie gelähmt. 
Ich konnte mich nicht bewegen. Mein Hals war wie zu- 
geſchnürt. Sch wollte johreien, und brachte keinen Ton 
hervor. Einmal nur, ein einziges mal hatte ich daſſelbe 
Gefühl empfunden. Es war in Bosnien. Auf dem Heim- 
wege von einem Feſte begriffen hörte ich unvermuthet in 
nächiter Nähe einen Schuß abfeuern. Da gerieth ich in 
einen ähnlichen lethargifchen Zuftand, in welchem ich das 
Bewußtſein verlor und aus dem ich erwedt werden mußte. 
ALS ich nach dem Attentate auf Curio wieder zu mir kam, 
jtürzte ich der Billa zu. Klara Curio fam gerade her- 
unter und mir entgegen. „Was iſt geſchehen?“ rief fie, 
‚mein Dann behauptet, du hätteit ihn geſchlagen?“ Da 
verlor ich den Kopf, ließ fie ftehen und eilte aus dem 
Haufe. 

Präfident. Wie jah denn der geifterhafte Dritte aus? 

Angeflagter. Er war Heiner und fchmächtiger als 
ich, trug eine fpite Belzmüge und fam von links aus ber 
Gegend hinter dem Glashaufe. 

Präfident. Da Sie das Attentat ſozuſagen ver- 
Ichlafen haben, fo ift Ihre nachherige außerordentliche Auf- 
regung jehr auffallend. 

Angeflagter. Nach den Worten, bie Frau Curio 
mir zugerufen hatte, erkannte ich, daß ich des Attentates 
beichulpigt würde. Die fcheinbaren Gründe wirkten er- 
prüdend auf mich, ich jah ein riejiges Beweismaterial 
fih gegen mich aufthürmen und verlor die Geiftesgegen- 
wart. Wie berechtigt aber dieſes plögliche Angftgefühl 
war, geht doch daraus hervor, daß ich mich bier, auf 


122 Der Broceh wider Joſeph Johann Kirchner, 


biefem Plate befinde und mühſam gegen ben DVBerbacht, 
der auf mir laſtet, anfämpfen muß. Mir jchwebte es 
fogleih vor: Unterfuchung, Haft, Gott weiß von wie 
langer Dauer! Dem beichloß ich zunorzulommen. Sch 
wollte mich tödten, mich in bie Donau ftürzen. Inſtinc⸗ 
tiv wendete ich mich zur Augartenbrüde Da fiel mir 
ein, ich hätte Weib und Kind. Die durften doch nicht 
ohne Ernährer zurüchleiben. Auch wußte ich nicht, was 
mit Curio gejchehen, ob er leicht, ob er ſchwer verlett 
war. Ich hoffte dies aus den Zeitungen zu erfahren. 
Die Nacht über irrte ich plan- und ziello8 umber, gegen 
Morgen ging ich in ein Kaffeehaus und nahm bie Früh 
blätter zur Hand. Da ftand noch nichts darin. Wäre 
ein Mord gejchehen, fagte ich mir, jo wäre e8 boch ſchon 
befannt. Aber wieder ſtiegen Beforgniffe in mir auf. 
Ih ging zu einem Freunde und borgte mir feinen Res 
volver. Dann begab ich mich in unfer Abfteigeguartier, 
um bort vorhandene Frau Curio compromittirende Briefe 
zu verbrennen, und fchlieglich nach Haufe zu Mariannen. 
Ih fchlug ihr vor, fie, das Kind und mich zu töbten. 
Sie wollte nicht. Da beichloß ich, e8 gegen ihren Willen 
zu thun. Aber ein fürchterliches Schlafbebürfnig überfiel 
mich. Ich Iegte mich bin und fchlief ein. Sch jchlief 
noch, als die Polizei kam, um mich zu verhaften. 

Präfivent. Bei Ihrer Verhaftung wurden ſechs 
Driefe vorgefunden. Einer berfelben, an eine Verwandte 
gerichtet, lautet: „Liebe Marie! Ich theile Dir mit, 
daß wir alle, Marianne, ich und fogar bie Edith jchwer 
erkrankt find, ich muß fagen hoffnungslos.” 

Angellagter. Dies follte eine Vorbereitung ber 
Todesnachricht fein. 

Präfident. Im zweiten Briefe an Herrn Ludwig 
Finke, Boftverwalter in Preßbaum, heißt es: „Trotzdem 








Der Proceß wiber Joſeph Johann Kirchner. 193 


wir uns jehr Lange nicht ſahen, und fait böfe aufeinander 
find, bitte ich Dich, meine Frau in der ſchonendſten Weife 
baranf vorzubereiten, daß ich frank, jehr krank, daß ich 
geftorben bin. Aus Gründen, die Du in den Zeitungen 
finden wirft, denke ich mich zu erfchießen. Sterben muß 
ber Menſch, e8 tft nur die Frage: wann? Erfülle mir 
bie legte Freundespflicht.” Ein britter Brief war an 
Herrn Curio gerichtet. Im demfelben fchreibt Kirchner: 
„Als ſich die Geftalt zwiſchen Sie und mich brängte, 
wear ich unfähig, auch nur einen Laut von mir zu geben. 
Ich machte einige Schritte gegen Ihr Haus, wo mir Ihre 
Frau entgegenlam und mir zurief: «Mein Mann nennt 
Sie den Thäterlo Da kam mir das Bewußtſein, baf 
ich verloren fei, und deshalb entichloß ich mich zum frei- 
willigen Ende meines Lebens.” “Der vorlegte Brief war 
an den Gärtner Martin Grubitih: „Lieber Martin! 
Ich bitte Sie, beiltegenvden Brief der Frau von Curio zu 
übergeben, jedoch jo, daß Herr von Eurio nichts davon 
erfährt.” Eingeſchloſſen war ein Brief an Frau Klara 
Curio: „Sehr geehrte gnäbige Frau! Ich erbitte es 
mir als eine Schickſalshuld, daß dieſer Brief in Ihre 
Hände gelange. Sie Tennen meinen Handſchar, ben ich 
aus Bosnien mitgebracht habe. Mit dieſem öffnen Sie 
gefälftgft meinen Kaften in Marietta's Wohnung. ‘Dort 
werden Ste in Golbichlagpapier eingewidelt ein Glas⸗ 
flacon finden, welches feit vielen Jahren nicht geöffnet 
wurde. Der Stöpfel wirb fich nicht lodern lafjen; das 
Flacon muß alfo zertrümmert werben. Num bitte ich Sie, 
diefes Flacon jener Dame zu übergeben, die ich Ihnen 
jo oft als bie fchönfte, vie ich Tenne und als mein Glück 
bezeichnet habe. Die Hälfte, ja ein Drittel des Flacons 
wird genügen. Ich fage nicht, fie joll das Flacon bes 
nuten, es foll ihr nur ein Mittel fein, wenn fie deſſen 





124 Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 


bedarf. Ebendieſer Dame, ver ſchönſten und wunber- 
barften Dame, ver ich das Glüd meines Lebens danke, 
gehören auch zwei Verſatzſcheine. Dieſe Liegen neben an- 
dern, die mir gehören, neben dem Flacon in einer Mappe 
mit fehwarzen Gummibändern. Gern möchte ich noch 
haben, daß Sie erführen, daß ich wirklich und wahrhaftig 
nicht der Attentäter war. Es ift Died eben wieber ein- 
mal einer jener Zufälle, welcher die glüdlichiten Combina⸗ 
tionen fcheitern macht! ... Weiter befinvet fich in mei» 
nem Atelier ein auf Pappenvedel aufgellebtes Kleines 
Porträt. Ich bitte dieſes abzureißen, es verbirgt Haare 
jener Dame, die ich über alles liebe. Und nun fage ich 
Ihnen Dank.” — Ein herzlicher Abſchiedsbrief an bie 
Röſſel Ichliekt mit ven Worten: ‚Nochmals einen Gruß 
an Dich, mit der ich fo glüdlich gewejen wie. nie zuvor. 
Gruß und Dank für alles, mein herrliches Weib!‘ 

Der Bertheidiger Dr. Benedikt unterzieht nun- 
mehr ven Angeklagten einem längern Verhör in Betreff 
feines Geifteszuftandes. Kirchner antwortet nur zögernd. 
Es ift als ob er fich der Vorkommniſſe ſchäme. Doch 
muß er zwei Thatjachen zugeben. Erſtens, daß er im 
Jahre 1878 aus Eiferfucht in förmliche Raſerei gerieth, 
an der Wahnvorftellung litt, ein gewiffer Bertolini, ber 
angeblich der Frau Röffel nachftellte, wolle ihn umbringen. 
Diefer Gedanke ängſtigte ihn fo, daß er eines Tags ohn- 
mächtig zufammmenftürzte. Zweitens wurde ber Ange⸗ 
Hagte während eines Aufenthalts in Serajewo von der 
firen Idee ergriffen, er habe einen Militärarzt erſchoſſen. 
Seiner Frau gelang es, wenn auch fehwer, ihn von Dielen 
Wahnvorftellungen zu befreien. Jener Militärarzt lebt 
noch heute. 

Bertheidiger. Ihr Vater bat an Delirium tremens 
gelitten, er war dem Trunke ergeben? 











Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 195 


Angeflagter. Mein Bater hat immer nur mäßig 
getrunfen. ch weiß e8 nicht andere. 

Staatsanwalt. Sie haben ſich diefes unglücfeligen 
Beifpield wegen jahrelang bes Genuffes aller geijtigen 
Getränke enthalten? 

Angellagter. O nein, nicht dieſes Beiſpiels halber. 
Ich konnte nicht anders. Ich empfand einen Wibermwillen 
gegen Alkohol in jeder Form, den ich nicht zu unter- 
prüden vermochte. Ich habe jahrelang an Kopfichmerzen 
gelitten. Zuerſt hatte ich das Gefühl, es fchlinge fich 
ein eijerner Reifen um meinen Schäbel und prefje meine 
Schläfen zufammen, dann war es mir, als müſſe das 
Gehirn die Schäpelvede fprengen und hervorquellen, 
ichließfih, und das war das Aergſte, glaubte ich, eine 
fremde eiferne Hand greife mir in ven Kopf und zer- 
malme das Gehirn. Im Jahre 1878 Titt ich am meiften 
an diefem Kopfweh, jpäter ift e8 nur ſporadiſch wieder 
eingetreten. 

Es wird nunmehr zur Zeugenvernehmung gefchritten. 

ALS erjter Zeuge wird Herr Karl Curio. vorgerufen. 
Er ift das Bild eines Fräftigen deutſchen Mannes: groß 
und breitfchulterig überragt er den Angeklagten, ſodaß 
biefer neben ihm wie ein Knabe ausfieht. Curio erjcheint 
im fchwarzen, bis hinauf zugefnöpften Salonrod und ift 
auch fonft elegant gekleidet. Er ſpricht mit lauter ſonorer 
Stimme, das Geſicht dem Präfiventen zugewenbet, offen» 
bar vermeidet er es, Kirchner anzufehen. 

Präfident Wie find Sie mit Kirchner befannt ge- 
worden? 

Zeuge erzählt, daß ein gemeinfchaftlicher Freund bie 
Belanntfchaft vermittelt habe, und jagt, Kirchner fet ein 
äußerst Tiebenswürbiger Gejellichafter gewejen, ben er 
möglichft viel um fich haben wollte, 


126 Der Broceß wider Joſeph Johann Kirchner. 


Präſident. Der Vorichlag, zu Ihnen zu ziehen, ift 
von Ihnen ausgegangen. Hat Kirchner fofort ange- 
nommen? 

Zeuge. Ich kann mich darauf nicht befinnen. 

Präfident. Hat Ihre Frau den Gedanken angeregt, 
Kirchner als Hausgenoffen aufzunehmen? 

Zeuge. Das weiß ich nicht mehr. 

Präfident. Haben Sie eine Ahnung davon gehabt, 
daß Kirchner zu Ihrer Frau in nähere Beziehungen ge- 
treten war? 

Zeuge. Das habe ich für eine Unmöglichfeit ge⸗ 
halten. 

Bräfident. Hat ſich Kirchner angeboten, Sie bei 
Ihren Vergnügungen zu begleiten? 

Zeuge. Im der Negel ging die Aufforderung dazu 
wol von mir aus. Einmal wollte er mich zu einer 
Gemſenjagd einladen. Diefe Einladung war aber jo 
ſonderbar, daß ich fie ablehnte. Es war im November 
1887. Ich follte Kirchner verjprechen, niemand zu ver- 
rathen, wohin wir fahren würden. “Der Jagdeigenthümer, 
jo fagte er mir, bürfe nichts bavon erfahren, baß wir 
bei ihm jagen würden. Dieſes Geheimthun erſchien mir 
bebenflich, und nach einigem Zögern fagte ich Nein. 

Präfivdent (zum Angeklagten). Was fagen Sie 
dazu? 

Angellagter (leife lächelnd), Es war ein Scherz.. 
Der plögliche Einfall eines Augenblickes guter Laune. 

Präftident Erzählen Sie die Vorgänge bes 
14. Januar. 

Zeuge. Ich wollte wie fonft meinen Revolver mit- 
nehmen. Kirchner hielt mich davon ab und fagte, fein 
Bleiſtock genüge vollſtändig. Arm in Arm und jcherzend 
gingen wir aus dem Haufe. ALS der Pfad enger wurde, 











Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 127 


ging ich voraus. Auf einmal erhielt ich einen fürchter- 
lichen Schlag auf das Hinterbaupt. Zum Glück brach 
fich deffen Wucht an ber Feder des Claquehutes. Diefe 
bat mir, wie ich glaube, das Leben gerettet. Unwillkür⸗ 
Lich wandte ich mich nach rechts und erhielt noch einen 
zweiten furchtbaren Schlag. Das Blut floß über das 
Gefiht. Ich konnte ven Attentäter nicht erkennen. Ich 
flüchtete nach meinem Haufe zu. Zuvor hatte ich einen 
britten Schlag mit dem Arme aufgefangen. Kirchner ift 
nach meiner Meinung der Thäter gewefen. Meine Frau 
bat e& mir zwar ausreben wollen, fie bat mich aber nicht 
trregemacht in meinem Glauben. 

Präſident. Hat Ihre Gattin ſelbſtändig über ihr 
Vermögen zu verfügen? 

Zeuge. Wenn meine Frau Geld von mir verlangte, 
habe ich es ihr immer gegeben. Sie bezog von ihren 
Aeltern eine Rente von 13500 Marl. 

Präfident. Zwiſchen Ihnen und Ihrer Frau beftand 
ein wechjelfeitiges Zeftament. Haben Sie über daſſelbe 
einmal mit Kirchner geiprochen? 

Zeuge. Davon weiß ich nichts. 

Präfident. Hat Ihre Frau jemals die felbftändige 
Berwaltung ihres Einkommens verlangt? 

Zeuge. Sa wohl, furze Zeit vor dem Attentate. Sie 
wollte fih deshalb an ihren Vater wenden. Als Grund 
gab fie an, daß fie in ihren Ausgaben nicht controlirt 
fein wollte. 

Präfident. Was veranlaßte Sie, Kirchner für ben 
Attentäter zu halten? 

Zeuge. Weil es fein anderer Menſch fein konnte. 

Präſident. Was Hat Kirchner nach Ihrer Anficht 
mit dem Attentate beabfichtigt ? 

Zeuge. Das weiß ich nicht. 


128 Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 


Präfident. Wollte er Sie nur verlegen oder töten? 

Zeuge Wer ſolche Schläge führt, hat es auf das 
Leben des Bedrohten abgefehen. 

Präfident. Glauben Sie, daß Ihre Fran von dem 
Attentate vorher wußte, das heißt, daß fie mit Kirchner 
einverftanven war? 

Zeuge (fell. Das halte ich fir ausgeſchloſſen. 
Wenn fie ſich von mir hätte ſcheiden laſſen wollen, fo 
hätte e8 ihr nur ein Wort gekoftet. 

Präſident. Wie deuten Sie aber die Stelle in dem 
Driefe Kirchner’8 an Ihre Frau, daß fie ruhig fein Tönne, 
daß alles, was fie zu compromittiren vermöchte, ver⸗ 
nichtet fei? 

Zeuge. Da wirb er wol Liebesbriefe meiner Frau 
darunter verftanden haben. 

Präfident. Sie halten alfo ein ſolches Einverjtänd- 
niß für vollflommen ausgejchloffen? 

Zeuge Für ganz ausgejchloffen. 

Präfident. Haben Sie an Kirchner Zeichen von 
Geiftesftörungen irgendeiner Art bemerkt? 

Zeuge. Niemals. Im Gegentheil, er war immer 
ſehr gefcheit. 

Präfident. Waren Ihre Verlekungen ſchwerer 
Natur. 

Zeuge. Die Heilung bat 8—10 Zage erfordert. 

Bertheidiger Dr. Benedikt (zum Zeugen). Haben 
Sie mit Ihrer Frau gelebt? 

Zeuge. Ya. 

Vertheidiger Dr. Benedikt. Sch meine ehelich- 
intim verfehrt? 

Zeuge. Ich fühle mich nicht verpflichtet, darüber 
Auskunft zu geben. 





Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 129 


Die Zeugin Gärtnersgattin Katharina Grubitſch 
bat das Stubenmäbchen Anna rufen hören: ‚Der Kirch- 
ner hat unſern Herrn erſchlagen.“ Herr Curio jchrie: 
„Laßt mir den Kirchner nicht herauf, ſonſt erſchieß' ich 
ihn!’ Die gnädige Frau hat es ihm ausreben wollen, 
daß es der Kirchner geweſen iſt. 

Präfident. It Frau Curio nach dem Attentat in 
den Garten binumntergegangen ? 

Zeugin. Freilich. Die Gnädige hat mit dem Herrn 
von Kirchner geiprochen und dann oben den Dienftboten 
gejagt: „Der Kirchner wälzt fich dort beim Baum herum 
wie ein Narr.” 

Staatsanwalt. Hat Frau Curio auch nachher 
über die That gejprochen ? 

Zeugin. Ja. Ste hat gefagt: „ES wär’ befjer 
gewejen, wenn er ihn ganz erjchlagen hätte.” (Be⸗ 
wegung.) 

Die Zeugin Anna Zöllner, Stubenmäbchen bei 
Frau Curio, wußte von dem intimen Verhältnifje zwiſchen 
Kirchner und ihrer Herrichaft. Befragt über die Be⸗ 
jiehungen ‚ver Eheleute Curio zueinander fagt fie aus: 
Na, das Hat ein jever merken müſſen, daß die Gnäbige 
den Herrn nicht mögen hat. Ich habe e8 auch gehört, 
wie fie nach dem XAttentate ausgerufen hat: „Es ift 
ſchad', daß er ihn nicht ganz erfchlagen hat, wenn er ihn 
nur orbentlich getroffen hätte!“ 

Therefia Grubitſch, die achtzehnjährige Tochter 
bes Gärtners, bezeugt: Alle haben gewußt, daß Frau 
Curio eine Liebichaft mit Herrn Kirchner hatte. Nach 
dem Attentat brachte die Gnädige den Stod Kirchner’s 
in die Küche, zeigte ihn den Dienftleuten und fagte: 
„Kicchner Tann meinen Mann nicht gejchlagen haben, 
denn fein Stod ift nicht blutig.” 

XXIV. 9 


130 Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 


Dr. Kari Kohn, Gemeinbearzt in Döbling, ift in 
ver Nacht des 14. Januar zu Herrn Curio gerufen wor- 
den und bat denſelben unterjucht und behanbelt. Die 
Wunde war am fich eine leichte, ver Heilungsproceß ver- 
Itef normal, eine Gehirnerſchütterung war nicht eingetreten 
und Herr Curio nah 6—8 Tagen wieberhergeftellt. 
Er Hat pflichtgemäß vie Anzeige erjtattet. ‘Der auf dem 
Gerichtstifche Tiegende Stod Kirchner’s iſt nach feiner 
Uebergeugung geeignet, die fraglichen Verlegungen hervor- 
zurufen. 

Frau Curio ift nicht erfchienen. An ihrer Statt kam 
ein Brief, München, ven 14. Juni datirt und von einem 
Herrn Ianfen, Sommerzienrath, unterjchrieben. Derſelbe 
befagt, daß Klara Curio jeit ihrem Weggange von Wien 
an hochgradiger Erregung gelitten hat und nun an einer 
Nervenſchwäche erkrankt ift. 

Demgemäß werden die DVernehmungsprotofolle aus 
der Unterjuchung verlefen. 

Klara Eurio hat am 24. Januar ausgefagt: „Es 
ift richtig, daß ich mit Kirchner feit längerer Zeit ein 
intime® Verhältniß gehabt habe und daß wir Häufig in 
Abfteigequartieren Zujfammenkünfte hatten. Jedoch war 
vie legte Zufammenkunft drei Wochen vor dem At» 
tentate. (I!) Kirchner hat von mir Geld zur Bezahlung 
des Abfteigequartierd erhalten. Sonft gab ich ihm leih- 
weife 1000 Marf. Am Preitag, 13. Ianuar, fab ich 
bei Kirchner einen Brief mit der Handſchrift feiner Frau. 
Sch dachte mir, fie fchreibe ihm um Geld, auch war das 
Zimmer in der Watjenhausgaffe am 15. zu bezahlen — 
in diefem Zimmer fanden unfere Zufammenfünfte ftatt. 
Da erinnerte ih mich eine Schmudes, den ich fchon 
längft verkaufen wollte; ich habe venfelben Kirchner mit 
der Bitte, ihn zu verkaufen, übergeben. Sch babe von 


Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 131 


demjenigen, was fich am Abend des 14. Sanıar abgefpielt 
bat, Teine Ahnung gehabt. Mein Mann und Kirchner 
gingen zufammen fort. Bald darauf fam mein Mann 
zurüd, um feinen Filzhut zu holen. Nach einigen Mi- 
nuten börte ich die Slode des Haufe wieder. Mein 
Mann trat ein und fagte: «Klara, ſchau meinen Kopf 
an, wie mich der Kirchner geichlagen hat» Er nahm 
feinen Revolver und ſchrie: «Laß mir den Kirchner nicht 
herauf, fonft fchteße ich ihn nieber!» Ich habe ein Wafch- 
beden genommen und einen Schwamm, um das Blut abzu⸗ 
wafchen. Ich fagte meinem Manne, er folle jo etwas von 
Kirchner nicht behaupten, er könne es nicht geweſen fein. 
Als mein Mann verlangte, daß ich einen Arzt holen follte, 
eilte ich in den Garten und rief: «Gärtner!» « Kirch⸗ 
ner!v Ich fah eine menfchliche Geftalt und erfannte, daß 
e3 Kirchner war. Was er that, weiß ich nicht. Ich war 
zu aufgeregt. Ich erinmere mich nur, gejagt zu haben, 
mein Mann wolle ihn erjchießen, er möge fich ſchleunigſt 
entfernen ober jo etwas dergleichen. ‘Das Dienftmäpchen 
begegnete mir, fie ging zum Gärtner und ich lief wieder 
zu meinem Mann.‘ 

Präfivent. Zwei Zenginnen haben geftern ausge- 
jagt, Tran Curio habe fich nach dem Attentate in einer 
gelinde gefagt recht herzlofen Weile ausgedrüdt. Hieraus 
Könnte man fchließen, daß fie ihren Gatten haßte. 

Angeflagter. Das war auch der Fall. Oft bat 
fie mir gegenüber geklagt: „Ih mag ihn nicht, ich 
fann nicht mit ihm Leben!“ 

Der Präfident fchreitet nun zur Vernehmung ber 
Gerichtsärzte. Ä 

Der Sachverſtändige Dr. Doll gibt an: Der Blei- 
knopf mit der elaftifchen Naht an des Angeklagten Stod 
macht dieſen geeignet, im alle einer gewiflen Gewalt» 

98% 


132 Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 


anwendung fehr gefährliche Verlegungen herbeizuführen. 
Daß im gegebenen Falle eine außergewöhnliche Gewalt- 
anmwenbung ftattgefunden hat, läßt fich aus der Beichaffen- 
heit der Wunde nicht ſchließen. Es ift anzunehmen, daß 
die Wucht der Hiebe durch äußere Umſtände abgeichwächt 
wurde; aus der Unruhe besjenigen, ver die Hiebe ge- 
führt, läßt fich erflären, daß ber zweite Hieb fchief ge= 
fallen ift. 

Bertheiviger Dr. Benedikt. Konnte Kirchner, 
wenn er bei gefunden Sinnen war, glauben, daß biefer 
Stod geeignet fei, einen Menſchen zu töbten over ihn 
mit einem Hiebe bis zur Kampfunfähigfeit oder Bewußt- 
Iofigfeit zu betäuben? 

Sadverftändiger Dr. Doll. Diefer Meinung 
fonnte er fein. 

VBertheibiger Dr. Benepdift. Sind Sie, Herr 
Doctor, der Anficht, daß ein Mann von der mittlern 
Körperkraft Kirchner's mit einem Schlage dieſes Stockes 
einen fräftigen Mann töbten könnte ? 

Sacdverftändiger Dr. Doll, Die Möglichkeit ift 
nicht ausgejchloffen. Auch ift es möglich, einen Dann 
burch einen folchen Hieb zu betäuben. 

Präfident. ft mit dieſem Stode eine ſchwere 
Körperverlegung ohne beſondere Öewaltanwenbung möglich? 

Sadverftändiger Dr. Doll. Es bedarf jedenfalls 
ber Energie und Kaltblütigfeit, um erfolgreich mit einer 
folhen Waffe anzugreifen, erft in zweiter Linie eines 
größern Grades phnfiicher Kraft. 

Der zweite Sachverftändige Dr. Haſchek ſchließt fich 
in feinen Ausführungen dem Gutachten des früher ver- 
nommenen Dr. Doll an, hebt aber beſonders hervor, daß 
bei größerer Kraftanwendung der Hieb auch eine tödliche 
Wirkung hätte bervorbringen fönnen. 


Der Procef wider Iofepb Johann Kirchner. 133 


Bertheibiger Dr. Benedikt. Gegenüber biefen 
Behauptungen, die meinem Clienten eine Kraft beimeffen, 
die derjelbe entſchieden nicht befißt, ftelle ich den formellen 
Antrag, die Muskulatur des Angeklagten von den Ge- 
richtsärzten unterfuchen und prüfen zu laſſen. 

Präfident. Herr Staatsanwalt, find Ste mit die- 
jem Antrage einverftanden? 

Staatsanwalt. Ich muß mich entjchieven dagegen 
ausiprechen. Der Angeflagte tft nunmehr feit fünf Mo- 
naten in Haft und infolge deſſen gewiß weniger fFräftig 
als vorher. | 

Sadverftändiger Dr. Doll. Ich muß wieber- 
holen, daß in erjter Linie bie Energie des Willens zu 
berüdfichtigen ift, weit mehr als die fräftigere Entwide- 
lung der Muskulatur. 

Präfident. Ich werde eimen Gerichtsbeichluß ein- 
holen. 

Der Gerichtshof beichließt, die von der Vertheidigung 
beantragte Beweisaufnahme nicht zuzulafien, weil e8 für 
bie Frage, ob ber Verſuch eines Verbrechens vorliege, 
gleichgültig bleibt, ob der Angeklagte in ver Lage war, 
die That auszuführen; weil die Annahme, daß die Förper- 
liche Kraft des Angeklagten während einer fünfmonat- 
lichen Haft gelitten, berechtigt erfcheint, endlich weil bie 
ſachverſtändigen Gerichtsärzte erflärt haben, daß felbft ein 
minder fräftiger Mann bei entiprechender Handhabung 
des vorliegenden Stodes als Angriffswaffe purch einen 
Hieb einen Menfchen betäuben Tann. Der Gerichtshof 
ftellt e8 jedoch den Gefchworenen anbeim, von ihrem 
Rechte, eine derartige Beweisaufnahme zu begehren, Ge⸗ 
brauch zu machen. 

Die Geſchworenen verzichten auf dieſe Beweisauf⸗ 
nahme, 


134 Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 


Die als Zeugin geladene Frau Marianne Röſſel 
iſt eine Dame von 35 Jahren, klein, ſchmächtig, mit blitzen⸗ 
den ſchwarzen Augen und tiefſchwarzem Haar. Sie ſieht 
angegriffen und bleich aus, ihre Geſichtszüge ſind aber, 
wenn ſie ſich im Geſpräche beleben und eine leichte Röthe 
über ihre Wangen huſcht, einnehmend. Sie muß in 
früherer Zeit ſehr hübſch geweſen ſein. Ihr Anzug ver⸗ 
räth Geſchmack und eine gewiſſe Eleganz. 

Frau Röſſel ſagt aus: Ich habe Kirchner anläßlich 
einer Landpartie am 5. Juli 1876 fermen gelernt. Ich 
war verwitwet, alleinftehend und ſelbſtändig. Wir fanden 
aneinander Gefallen und liebten uns bald Herzlichit. Mit- 
mir zufammengezogen ift Kirchner erjt im Jahre 1880. 
Ich mußte, daß er verheirathet war, und feine Frau 
wußte von feiner Liebe zu mir. Er ift wieberholt zu 
feiner Frau zurüdgelehrt und hat erjt dann befinitiv mit 
ihr gebrochen, als fte darauf beftand, er müſſe fich zwi- 
chen uns beiden entjcheiben. 

Präfident. Haben Sie in dem Benehmen Kirch- 
ner’s früher etwas Auffälliges bemerkt? 

Zeugin. Das erjte mal fchon im Iahre 1877. Er 
behauptete, ein Nagel laufe an ver Zimmerwand Tpazieren. 
Zuerſt hielt ich es für einen fchlechten Spaß, als ich aber 
ſah, daß feine Züge verftört und feine Angen irre waren, 
erkannte ich, daß er Frank fein mußte. Kirchner war jehr 
eiferfüchtig; er bildete fich ein, man wolle gewaltſam in 
unfere Wohnung bringen und ihn ermorven, er bat Leute 
vom Yenfter aus gejehen, während niemand da war. Im 
Sahre 1878 litt er bejonbers an ſolchen Wahnideen. Er 
war auf einen gewiſſen Bertolint eiferfüchtig und wähnte 
fih von biefem fortwährend verfolgt. Diefe Perſon war 
aber ein Wahngebilde, jemand, der gar nicht eriftirt bat. 
So hat er mir am 9. Ianuar jenes Iahres unter ben 


Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 135 


Zeichen heftigſten Entſetzens erzählt, Bertolini ſei ihm 
nachgegangen und lauere ihm an der Hausthür auf. 
Kurze Zeit darauf ſtürzte er in der Küche ohnmächtig 
zuſammen. Als er ſich erholt hatte, verſicherte er, Ber⸗ 
tolini habe in einem Winkel der Küche geſtanden und ein 
Meſſer bereit gehalten, um ihn zu erſtechen. Er habe es 
ihm aber entriſſen und in den Leib geftoßen. Ich glaubte 
mich nicht berechtigt, Länger zu fchweigen, und habe da⸗ 
mals Anzeige an die Polizei eritattet. Die Polizei hat 
auch eine Ärztliche Unterfuchung veranftaltet, aber e8 wurde 
feftgeftellt, paß feine Geiſteskrankheit worliege. 

Präfident. Können Sie noch über ein auffallendes 
Vorkommniß berichten? 

Zeugin. Kirchner ift einmal ohne irgendwelchen 
Grund aus einem Kaffeehaufe auf ber Lanpftraße, wo 
wir beifammenfaßen, weggelaufen und mehrere Tage ver- 
ichollen geblieben. Als er zurückkam, erzählte er mir, er 
babe fich, ohne zu wiffen wie, auf der Galerie des Carl- 
Theaters bei der Vorftellung einer Operette befunden un 
fich gefragt, wie er dorthin fomme. Dann jet er zu feiner 
Familie gegangen, als ob er niemals bort weggegangen 
wäre. Ein andermal tft er vor der Thür meines Schlaf: 
zimmers ohnmächtig umgefallen, weil er bemerkt hatte, 
daß mir Briefe unter die Thürfpalte herein zugejchoben 
worben waren. Eines Tages fchrie er plößlich auf: es 
bane jemand mit einem Hammer auf ihn los. Er machte 
mir in wildeſter Art die umerbörteften Vorwürfe und 
Hagte viel über Kopffchmer;. 

Präsident. Wußten Sie von Kirchner's Verhältniß 
mit Frau Curio? 

Zeugin. Er hat mir felbft davon gefagt. 

Präſident. Kirchner ift nach dem Attentate zu 
Ihnen gelommen? 


136 Der Proceß wider Iofeph Johann Kirchner. 


Zeugin. Am Sonntag, den 15. Januar, alfo am 
Tage danach, nachmittags zwiſchen 2 und 1/,3 Uhr. 

Präſident. In welchem Zuftande war Kirchner, als 
er zu Ihnen kam? 

Zeugin. Er war fehr aufgeregt. Ich fagte: „Du 
fiebft aber verangirt aus!” Er antwortete: „Du wirft 
gleih hören, warum.” Er zog mich und das Kind an, 
fih und brach in heftiges Weinen aus. Dann erzählte 
er mir, er ſei mit Curio fortgegangen, da ſei plötzlich ein 
Menſch gelommen und habe wie ein Wüthender auf Curio 
losgejchlagen. Er habe fich nicht rühren Fönnen, es habe 
ihn wie ein Starrframpf überfommen. 

Präſident. Sagte Kirchner, man werbe ihn für 
den Thäter halten? 

Zeugin. 9a. Er fagte, er fei allein mit Curio ge- 
weien und fürchte, daß man ihn für den Mörder halten 
könne. Er warf fich angefleivet auf das Bett und lag 
eine Stunde wie tobt. Dann erwacdhte er und fagte: 
„Segt bin ich vollkommen beruhigt. Das wüfte Leben, 
das nur dem Vergnügen dient, gebe ih auf. Es 
untergräbt bie Geſundheit. Ich will arbeiten und wir 
beide bleiben beifammen.” Darüber war ih ganz 
glücklich. 

Schriftſteller Balduin Groller, Chefredacteur ber 
„Neuen Illuftrirten Zeitung‘, wird al8 Zeuge vernommen. 
Er jagt aus: Ich kenne Kirchner feit 21 Jahren, feit 
feiner Jünglingszeit. Er bat fih ſtets als redlicher, 
ehrenhafter und im gefchäftlichen Beziehungen ſehr ge- 
wifjenhafter Mann erwieſen. Was feinen Geiſteszuſtand 
betrifft, jo muß ich hervorheben, daß er unter feinen Be- 
fannten für einen „Sonderling“ galt, dem man abnorme 
Streiche zutraute. Ohne einen vernünftigen Grund mie- 
thete er in eimem Jahre mehrere Wohnungen. Was 





Der Proceß wider Iofepb Johann Kirchner. 137 


Eſſen und Trinken anlangt, fo hatte er bie wunderlichſten 
Gewohnheiten. Er trank häufig an einem Tage 15 bis 
17 Taſſen ftarken fchwarzen Kaffee, Fleiſch aß er faft 
gar nicht, und wenn e8 geſchah, nur Fleiſch von großen 
Thieren; Geflügel überhaupt niemals. Er war ein fehr 
warmer Thierfreund. Der Gedanke, daß ein Thier feinet- 
wegen getöbtet werden könnte, quälte ihn fürmlich. Ge- 
legentlich fagte er, wie zur Entjchulbigung! „Beim Ochfen 
trifft dies nicht zu.” Ich babe auf Grund meiner Be- 
obachtungen fchon vor dem Unterjuchungsrichter fein Hehl 
daraus gemacht, daß ich Kirchner nicht für normal und 
nicht für zurechnungsfähig halte. 

Poftverwalter Ludwig Finke in Preßbaum: Kirch⸗ 
ner und ich waren Schullameraben, ich Tenne ihn genau 
und weiß, daß er nicht im Stande ift, ruhigen Blutes 
irgendeiner lebenden Creatur wehezuthun. Aber er Iitt 
immer an Sonderbarfeiten. Ich kann nicht behaupten, baß 
er von Haus aus „ein Narr” gewefen it, aber Schrullen 
hatte er immer. AS junger Menſch von 17 Iahren Hat 
er fih in eine Frau verliebt und jahrelang hat er fie 
mit begeifterten Blicken angeſehen, aber fich ihr niemals 
genähert. Bon Habfucht war er zeitlebens frei. Als Kirch- 
ner's Vater in ziemlich ungeorpneten Verhältniſſen ftarb, 
bat er alles, was vorhanden war, feiner Stiefmutter über- 
laffen und nur einige Andenken an fich genommen, bie 
feine 10 1. Werth beſaßen. Er war ein wechjelnden 
Stimmungen unterworfener Gemüthsmenjch und Fonnte 
icheinbar ohne Vebergang von der ſchwärzeſten Nieber- 
gejchlagenheit plöglich in Die ausgelafjenfte Heiterkeit um⸗ 
ipringen. Kirchner hat ein weiches Herz gehabt, felbit 
Thieren gegenüber. Er bat einen auf der Straße von 
einem Streifwagen überfahrenen Hund, einen ganz gar- 
ftigen Köter, aufgehoben, in feinen Armen nach Haufe 


138 Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 


getragen und fo lange gepflegt, bis das Thier wieber- 
bergeftellt war, 

Scriftiteller Mar Konody: Ich Tenne Kirchner 
jeit dem Jahre 1873. Ich babe in demſelben ſtets einen 
verläßlichen Menſchen und Künftler gefunden, bem ein 
gegebene Wort heilig war. In den legten Jahren kam 
etwas Sprunghaftes, Unftetes, ich möchte faſt Tagen krank⸗ 
haft Erregtes in feinen Weſen zur Geltung, was mir 
früher nicht aufgefallen war. Ein Beweis feines eral- 
tirten Weſens und ber Unruhe, die in ihm gärte, war, 
baß er ohne ernftlichen Anlaß häufig feine Wohnung 
wechjelte, fich wiederholt verhältnißmäßig glänzend ein⸗ 
richtete und bie durch mühſame Arbeit bezahlte Einrich- 
tung bald darauf achtlos verfchleuderte. 

Nunmehr wird Frau Friederike Kirchner als 
Zeugin vorgerufen. Es ift eine blaffe, hagere und ab⸗ 
gehärmte Frau von 44 Jahren, ihre hohe Geftalt ift zwar 
ungebeugt, aber ihre Gefichtözüge tragen feine Spuren 
früherer Schönheit. Sie ift böchft einfach gefleibet und 
macht den Einbrud einer Frau aus dem Kleinen Bürger⸗ 
ſtande. 

Präſident. Wie hat ſich Kirchner gegen Sie be= 
nommen? 

Zeugin (unter hervorbrechenden Thränen). Immer, 
immer gut! Er war ftets ſehr zartfühlenn. Von bem 
Verhältniß zur Röſſel Habe ich anfangs, nichts gewußt. 
Erſt nachdem bafjelbe etwa Drei Monate eſchon gebanert 
hatte, iſt mir durch eine auf dem Schreidtiiche zufällig 
liegen gebliebene Karte Kenntniß davon geworden. Es 
kränkte mich tief. Ich habe meinem Manne Borftellungen 
gemacht. Er ſchien bewegt, erklärte mir aber, er Tünne 
von der Röſſel nicht laſſen. Ich vermochte den Zuftand 
nicht zu ertragen und verlangte von ibm, er müffe fich 


Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner, 139 


zwijchen uns entfcheiven. Da z0g er zur NRöffel. Er 
unterließ es aber nicht, nach Kräften für mich materiell 
zu jorgen. Er gab mir urfprünglich 70 Fl. monatlich 
und bezahlte den Zins der Wohnung, im letzten Sahre 
aber einigemale weniger, nur 50 FI. und einmal fogar nur 
40 Fl. Er hatte gewiß jelbft nicht mehr. Die Monats» 
raten hat er pünktlich gezahlt, bis zum lekten Tage. Mehr- 
mals kam er, von ber Röffel purchgehend, zu mir und ven 
Kindern zurüd. Er fagte mir dann immer, er könne ohne 
mich nicht leben. | 

Präfident. Dann fagte er aber auch, er könne ohne 
bie Röffel nicht leben. 

Zeugin. Ya, das fagte er, und ging wieder zu ihr 
zurück. 

Präſident. Wie iſt Ihnen Kirchner überhaupt vor⸗ 
gekommen? 

Zeugin. O, er iſt ein außergewöhnlicher Menſch. 

Präſident. Meinen Sie damit, ſo geſcheit? 

Zeugin. Auch geſcheit. Aber, er war auch über⸗ 
ſpannt. Einmal hat er mir mitgetheilt, er habe in Bos⸗ 
nien einen Menfchen umgebracht. Ich war ganz unglüd- 
lich darüber, und dann ftellte fich heraus, daß fich alles 
nur in feiner Phantafie ereignet hatte. 

Hierauf wird das Gutachten der Gerichtsärzte Dr. 
Dinterftoißer und Dr. Fritfch verlefen, deſſen Er- 
gebniß dahin geht: 

Herr Joſeph Kirchner ift ein allerdings etwas excen⸗ 
triſch veranlagtes Individuum, welches in ben Jahren 
1873 und 1879 an Zuftänden pſychiſcher Irritation ger 
litten bat, mit Ausnahme jener Zeit und feither, fowie 
auch zur Zeit der Verübung des ihm zur Laft gelegten 
Berbrechens als geifteßgeftört nicht bezeichnet werben 
kann. 





140 Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 


An das Gutachten anfnüpfend erklärt Dr. Hinter- 
ftoißer: Die Aerzte hatten ihre Aufgabe in breifacher 
Richtung zu fuchen und zu unterjuchen; erftens: Haftet 
bem Angeflagten von Haufe aus eine ererbte Geiftes- 
abnormität an? Zweitens: Sind im Laufe feines Lebens 
temporäre Geiftesftörungen conjtatirt worden? und brit- 
tens: Haben fi) aus der Unterfuchung Anhaltspunkte 
ergeben, daß ber Angellagte zur Zeit ber incriminirten 
Thathandlung fih in einem Zuſtande ber Geiſtesver⸗ 
wirrung befand? 

Zur erften Frage konnten bie Sachverjtändigen raſch 
Stellung nehmen. Weber aus den Angaben ver Zeugen, 
noch aus denen des Angellagten ergaben fich beachtens- 
wertbe Momente für die Annahme einer Geiftesfrantheit. 
Die von den Zeugen erbärteten Excentricitäten Kirchner’s 
— feine zahlreichen Liebfchaften, fein unſtetes Wefen, fein 
häufiges Wohnungswechfeln u. |. w. — find noch Teines- 
wegs Zeichen von Geiftesftörung. Niemand Tann be- 
baupten, daß Kirchner fich feiner jeweiligen Lage nicht 
bewußt gewejen ift. Auch in dem Verkehr ver Gerichts- 
ärzte mit dem Angeflagten ift nichts berborgetreten, was 
eine erbliche Geiftesftörung annehmen läßt. Kirchner ift 
eine moralifch veranlagte Natur, er bat im Sturme bes 
Lebens dieſe moralische Empfindungsweife nicht ganz ein- 
gebüßt. In den Sahren 1878 und 1879 rang er mit 
fih felbft, daher rühren die Erjcheinungen hochgradiger 
piuchticher Erregung. Die von Frau Kirchner und Frau 
Röſſel mitgetheilten Ereigniffe, das oftmalige Entweichen 
und das darauf folgende Benehmen Kirchner’8 mußten 
bei den Aerzten zuerft die Annahme hervorrufen, derſelbe 
jet ein Epileptifer. Ich betone, daß dies ber erfte Ein- 
brud war, die Unterfuchung jeboch hat denſelben nicht 
beftätigt. Für Laien muß ich bier hinzufügen, daß bie 





Der Proceß wider Iofeph Johann Kirchner. 141 


Epilepfie in den vieljeitigften Formen auftritt, nicht nur, 
wie wohl vielfach geglaubt werden mag, in Krämpfen 
und Convulfionen, fondern auch im zeitweiligen Ausfalle 
bes Bewußtfeins, beziehungsweife des Gedächtniſſes, mögen 
bei dem erkrankten Individuum dieſe Functionen immers 
hin ſonſt regelmäßig jtattfinden. Ich bin nun durch Die 
Beobachtung des Angellagten zu der Anficht gelangt, daß 
die Angaben, bie Kirchner der Frau Röſſel über feine 
Bewußtlofigfeitszuftände gemacht hat, nicht auf Wahrheit 
beruhten. Er will während biejer Anfälle Skizzen an- 
gefertigt und fich in fremden Gegenden herumgetrieben 
haben, ohne daß fein krankhafter Zuftand aufgefallen 
wäre und ohne daß man ihn angehalten hätte. Ich bin 
überzeugt davon, daß Kirchner wohl wußte, was er that, 
wenn er der NRöffel entwih. Die von ihm vorgejchüßte 
Bewußtjeinsftörung war eine leere Ausflucht, um fein 
Entweichen ver Röffel gegenüber zu beichönigen. Wenn 
aber auch kranke Illuſionen nicht bewielen find, jo kann 
doch fein auffallendes Gebaren aus einer gewifjen Stö- 
rung des pinchologifchen Gleichgewichts entiprungen fein. 
Es ift darum die Möglichkeit nicht auszufchließen, daß 
der Angellagte in den Jahren 1878 und 1879 pfychiſch 
geſtört geweſen ift. Allein ſeitdem ift fein Anzeichen eines 
wieberholten derartigen Gehirnreizes aufgetreten und con- 
ftatirt worden. Auch im Moment ver That, die bem 
Angeklagten zur Laft gelegt wird, kann feine Bewußtſeins⸗ 
ftörung ftattgefunden haben, da er jelbjt die Umſtände 
vor und nach derſelben genau zu berichten weiß, die That 
ſelbſt aber, das heißt die Ausführung bes Attentates burch 
Stodichläge richtig fo angibt, wie biefelbe verlief, und da⸗ 
bei nur die eine Ausflucht vorzubringen im Stande iſt, 
bie fich ſofort als nicht ftichhaltig für jedermann baritellt. 
Bon impulfiven Momenten fann bier nicht die Rebe jein. 


142 Der Proceß wider Joſeph Iohann Kirchner. 


Wenn es auch monftrös klingt, daß ein fo hochbegabter, 
mit fo vielen ſympathiſchen Eigenjchaften ausgeftatteter 
Mensch fich mit Mordgedanken getragen haben foll, fo 
muß dies doch angenommen werben. Es erübrigt nur 
bie Frage nach den treibenden Beweggrünven, und fie löft 
fih, wenn man bie höchft verfängliche Stelle in dem 
Driefe an Frau Curio von dem Mislingen ver Hügften 
Combinationen, die finanzielle Lage Kirchner’s, feine Hoff- 
nung auf Verforgung durch feine Geliebte und die hoch⸗ 
grabige finnliche Leidenfchaft erwägt, unter deren Einfluß 
biefe beiden Menfchen ſtanden. Dieſe Leivenfchaft bewog 
den Angeflagten fogar, der Frau Curio vorzujchlagen, 
daß fie fich vergiften follte! Mein Gutachten, welches 
das Ergebniß längerer und eingehender Unterfirchungen 
und Beobachtungen ift, gipfelt in dem Schluffe: Kirchner 
ijt ein etwas excentriſch veranlagter Menſch, von Lebhafter 
beweglicher Phantaſie. Urſprünglich moraliich, ift er durch 
übermäßige gefchlechtliche Ausichweifungen in feinem Weſen 
gelodert und erfchüttert, unficher und ſchwankend gewor- 
ben, jeboch find bei ihm weder in der Zeit vor 1878 
noch nad 1879 Anzeichen feitgeftellt worden, bie ihn als 
unzurechnungsfähig erjcheinen laſſen. Während ber Zeit 
von 1878 und 1879 war wahrjcheinlih eine blos tem⸗ 
poräre pſychiſche Irritation vorhanden. 

Ueber dieſe Ausfage des Sachverftändigen entſpinnt 
fih zwifchen dem Dr. Hinterftoißer unb dem Dr. Bene- 
dikt eine eingehende Debatte, die auf feiten des Verthei⸗ 
digers mit dem Aufwande bes größten Scharfjinns und 
weitgehendfter Sachlenntniß geführt wird. Wir beichrän- 
fen uns darauf, das Wefentlichite mitzutbeilen: 

Dr. Benedikt. Kommt es vor, daß bei einer tem- 
porär geiftesfranten Perfon die Intelligenz, insbeſondere 





Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 143 


die Dialektik, ſoweit ſie ſich der Außenwelt gegenüber 

äußert, unberührt bleibt? 

Dr. Hinterftoißer. In ganz beſondern Ausnahme- 
fällen iſt dies wohl vorgekommen, aber im allgemeinen 

iſt die impulſive Irrſinnshandlung nur als Symptom 

eines im ganzen abnormen Geiſteszuſtandes zu be» 

trachten. 

Bertheidiger. Krafft-Ebing jagt, daß an berartigen 
Irrſinnigen nicht nur die Intelligenz erhalten bleibe, ſon⸗ 
dern daß folche Irrfinnige fich gar oft der größten gefell- 
ſchaftlichen Beliebtheit erfreuen. Er führt in feinen ein- 
chlägigen berühmten Unterfuchungen Fälle gerade von 
Künftlern an, bei denen dieſes zutraf. 

Sachverſtändiger. Mir ift e8 wohl bekannt, daß 
Krafft-Ebing den Beftand temporären Irrfinns nur bei 
Geiſteskranken anerkennt. Ich bin auch urfprünglich von 
der Anschauung ausgegangen, Kirchner jet ein Irrfinniger, 
und bin erjt allmählich nach Donate dauernden Beobach- 
tungen zu ber Ueberzeugung gelangt, daß biefe Voraus- 
fegung unrichtig war. 

Vertheidiger. Geben Sie zu, daß eine zeitweiltge 
Geiftesftörung bei Kirchner ftattgefunden hat? 

Sachverſtändiger. Wenn ih das vorausfeßen 
fönnte, jo müßte ich fagen, daß er geiftig erfranft war. 

Vertheidiger. Sch bitte das zu protofolliren. — 
Was jagen Sie zu dem Einfchlafen Kirchner’8 während 
einer Lection? zu feinem Ohnmachtsanfalle im Theater? 

Sachverjtändiger. Wenn man einmal im YBurg- 
theater ohnmächtig wird oder während einer Lection ein⸗ 
jchläft, jo tft dies noch fein Zeichen abnormer piuchifcher 
Zuftände. 

Vertheidiger. Sie geben aber zu, daß zeitweilige 
Sinnestrübungen bei ber epileptiichen Neurofe vorfommen? 


144 Der Broceß wider Zofeph Johann Kirchner. 


Halten Sie nun eine derartige Störung bei Kirchner für 
ausgefchloffen ? 

Sacverftändiger. Müßte ich annehmen, daß das 
Attentat von einem Menjchen ausgeführt wurbe, ver an 
epileptifcher Neuroſe leidet, fo würde ich auch den Schluß 
machen, daß eine Sinnestrübung vorgelegen habe. Allein 
das Benehmen des Angellagten nach der That wiber- 
ſpricht der Annahme, daß fich Kirchner bei der Aus- 
führung in einem Zuftande temporärer Sinnesverwirrung 
befunden bat. 

Vertheidiger. Sie ziehen Ihre Schlüffe, wie ich 
ſchon wiederholt bemerkte, aus juriftiichen, nicht aus 
pinchtatrifchen Gründen. — Wie erklären Sie die räthſel⸗ 
hafte Abneigung Kirchner’8 gegen alle geiftigen Ge- 
tränfe? 

Sacdhverjtändiger. ‘Der conftatirte phyſiſche Wider⸗ 
wille gegen Alkohol ift ein zufälliger, nicht auf das Geiftes- 
leben des Angeklagten bezüglicher Umijtand. 

Der zweite Sachverftändige, Dr. Fritſch, befpricht 
ausführlich die Gründe, die ihn veranlaffen, die nolle 
Zurechnungsfähigleit Kirchner’8 anzunehmen. Er fieht 
in dem Angeflagten einen etwas excentrifchen, aber feinen 
geiftesfranfen Menjchen. Das Benehmen Kirchner’8 nach 
dem Attentate liefere dafür den beiten Beweis. 

Auf Befragen des PVertheidigers, welcher auch vie 
Auseinanderjegungen dieſes Sachverftändigen einer ein- 
gehenden Kritif unterwirft, gibt derſelbe zu, daß geijtig 
erkrankte Individuen, welche an vorübergehenden Sinnes- 
trübungen leiden, ihre Gejchäfte jonft in normaler Weife 
zu erledigen im Stande find. MUebrigens können auch 
Epileptiler Handlungen begehen, für welche fie ver- 
antwortlich find. Es gibt feinen Freibrief für folche 
Kranke. 


Der Procef wider Joſeph Johann Kirchner. 145 


Bertheidiger. Die Herren Gerichtsirrenärzte haben 
das Gutachten abgegeben, welches verlefen worden ift. 
Daffelbe zeigt meiner Anſchauung zufolge jo wejentliche 
Gebrechen, daß ich es als dem Geſetze geradezu wider⸗ 
Iprechend bezeichnen muß. Die Herren Sachverftändigen 
haben fich nämlich für berufen erachtet, eine Aufgabe zu 
löſen, bie weit über jene hinausgeht, bie ihnen geftellt 
war und ihnen nach dem Geſetze geitellt werben burfte, 
Sie haben Dinge in den Kreis ihrer Erörterungen ge- 
zogen, über die zu urtbeilen fie nicht berufen find. Die 
Herren Sachverftändigen haben offenbar ihre perjönlichen, 
nicht fachmänniſch begründeten Anfichten über das Handeln 
des Angeflagten vor und nach der That zu einem Bilde 
formulirt und dieſes Hinterbrein fich fachlich zu erflären 
gefucht. Die Sachverftändigen find befugt, auf alle Um⸗ 
ſtände eines ihrer Beurtheilung unterliegenden alles 
Rückſicht zu nehmen, e8 ift jedoch nicht in ihrer Compe⸗ 
tenz gelegen, bie Frage ver Schuld oder Nichtjchuld bes 
Angeklagten zu erörtern und zu enticheiden. Sie follten 
fih darüber erklären, ob ver Angellagte zur Zeit ber 
That geiftesgeftört ober gefund gewefen ift, und ob, ba 
er früber ſchon einmal geiftesfranf war, auch diesmal 
eine Sinnestrübung jtattgefunden bat oder ftattgefunden 
haben kann. Im Widerfpruch mit der Strafproceßorbnung 
haben fie aber ein Gutachten erftattet, welches ber Ab- 
gabe eines Enburtheil® durch vie Aerzte gleichlommt. Ich 
ehe mich daher veranlaßt, zu verlangen, daß den Sach⸗ 
verftändigen der ganze Fall noch einmal, jedoch nur hypo⸗ 
thetiich und mit Ausſcheidung aller zweifelhaften Umſtände 
zur Begutachtung überwiejen werde. Eventuell beantrage 
ich die Einholung eines Gutachtens der mebicinijchen Fa⸗ 
cultät der Univerfität Wien, 

XXIV. 10 


146 Der Proceß wider Joſeph Iohann Kirchner. 


Staatsanwalt. Der Herr PVertheibiger hat zwei 
Anträge geftellt: erftend auf Ergänzung des Gut- 
achtend; zweitens auf Einholung eines Gutachtene ber 
wiener mebicinijchen Facultät. Ich fpreche mich gegen 
beide Anträge aus. Der erfte zielt dahin, daß bie Aerzte 
von ber Anklage ganz abfehen follen. Diejer Antrag it 
pollfommen unbegründet, denn die Sachverftändigen muß- 
ten aus dem Geſammtbilde der Perjönlichleit des Ange- 
klagten und aus den thatfächlichen Momenten ihre Schlüffe 
ziehen. Der zweite Antrag ift nach der Strafproceßorb- 
nung unftatthaft. Das Geſetz beftimmt die Fälle genau, 
in denen ein Obergutachten eingeholt werben foll: wenn 
in den Ausführungen der berufenen zwei Sachverjtändigen 
erhebliche Widerjprüche vorkommen, oder wenn deren 
Schlußfolgerungen offenbar unrichtig find. Keiner von 
biejen beiden Fällen liegt vor. Ich bitte den hohen Ge: 
richtshof, die von ber Vertheidigung geftellten Anträge 
abzulehnen. 

Der Gerichtshof bejchließt, die Anträge, gemäß ben 
Ausführungen der Staatsanwaltichaft, zurückzuweiſen. 

Nach dem Schluffe des Beweisverfahrene beantragt 
ber Vertheidiger die Zufaßfrage: „ob der Angeflagte 
bie That im Zuftande ver Sinnesverwirrung verübt habe”. 
Der Staatsanwalt ſpricht fich dagegen aus, ber Gericht- 
hof jedoch beichließt nach Furzer Berathung, den Geſchwo⸗ 
renen eine Hauptfrage auf verfuchten Mord, eine Zufag- 
frage auf die Tüde bei der Ausführung des Attentates 
und eine zweite Zufaßfrage, ob die That im Zuſtande 
der Sinmesverwirrung verübt worden jei, vorzulegen. 

Es folgt das Plaidoher. Staatsanwalts-Subftitut 
Hawlath recapitulirt nach einigen einleitenden Bemer⸗ 
tungen bie Ereigniffe bi8 zum Abend des 14. Januar und 
jhildert hierauf das Attentat. Nach feiner Meberzeugung 





Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 147 


it Kirchner der Thäter, er hält es für unmöglich, daß 
eine britte Perjon fich zwiichen ihn und Curio gejchoben 
bat. Alle ven Morpverjuch begleitenden Umftände, fein 
Stod mit dem Bleiknopf, den man bort fand, feine un- 
glaubwürbige Fabel von dem Unbefannten, ver plößlich 
erjchienen fein foll, feine wunderliche Erzählung, daß er 
ganz plöglich in einen lethargifchen Zuftand verfallen fei, 
endlich fein Benehmen nach der That beweifen unwiber- 
feglich die Schuld des Angeflagten. 

Der Staatsanwalt fucht ferner barzuthun, daß Kirch- 
ner das Verbrechen vorbereitet habe, und rechtfertigt fo- 
dann, weshalb die Anklage nicht auf Frau Curio erftrect 
worden jet. Er fagt, er babe längere Zeit geſchwankt, 
aber doch endlich die Veberzeugung gewinnen müſſen, daß 
fie zwar Mitwifjerin, aber nicht Mitthäterin geweſen fei. 
Sodann führt der Vertreter ver Staatsbehörde aus; 
„Es ift undenkbar, daß Kirchner die That nur aus Ab- 
neigung gegen Curio verübt hat. Mordgedanken waren 
ihm nicht fremd. Er ſelbſt hat angegeben, in Bosnien 
babe ihn die Luft erfaßt, einen Militärarzt, welcher ber 
Marianne Röffel die Cour machte, umzubringen. Er 
malte fich in. feiner Phantafie die That mit allen Details 
fo lebhaft aus, daß er fich in den Gedanken hineinlebte 
und zeitweilig einbilvete, er habe dieſen Mord wirklich 
begangen. Im Jahre 1878 war Kirchner vielleicht geiftig 
irritirt, aber nicht geiſteskrank. Auch damals trug er fich 
mit Morpplänen gegen jenen Herrn Bertolini, über deſſen 
Berjönlichkeit weiter nichts in Erfahrung gebracht worden 
it. Nach dem Attentate gegen Curio wollte er feine 
Geliebte Marianne Röſſel und fein eigenes Kind im 
Schlafe ermorden. Das Attentat gegen Herrn Curio ift 
ein verjuchter Meuchelmord. Es ift die Frage ber Zus 
rechnungsfähigkeit des Angeklagten aufgeworfen worten. 

10* 


148 Der Broceß wider Joſeph Iohann Kirchner. 


Dabei ift zu erwägen, baß wir e8 mit einer boppelten 
Vertheidigung zu thun haben. Der Angeklagte jelbit jagt: 
Ih bin nicht der Thäter, eine dritte Perſon hat das 
Verbrechen begangen. Sein Vertheidiger dagegen be» 
hauptet: Kirchner hat bie That verübt im Zuftande ber 
Sinnesverwirrung. Hierauf tft zu erwibern: Das Ur⸗ 
theil der Gerichtsärzte muß für uns maßgebend fein. 
Diefes Urtheil lautet: Kirchner hat die That mit vollem 
Bewußtſein begangen. Die Irrenärzte, welche nur zu 
jehr geneigt find, geiftige Störungen anzunehmen, find 
eines Irrthums nach ber andern Richtung Hin nicht ver- 
bächtig. Wenn fie ein Individuum für geiftig gejund er⸗ 
Hören, ift dieſe Diagnoje gewiß richtig. Wir müffen uns 
barüber Far werben, wie e8 möglich war, daß ein geiftig 
jo begabter Menjch wie Kirchner fo tief geſunken ift. Die 
Lebensführung des Angeklagten war bis zum Jahre 1878 
tabelfrei, fie bat fih von da ab in abfteigender Linie be- 
wegt. Den erjten Anftoß zu feinem moralifchen alle 
erhielt er durch Marianne Röſſel. Sie war es, die ihn 
feiner Gattin und feinen Kindern entfrembete, und ihre 
Schuld wirb nicht einmal wefentlich gemildert durch eine 
leidenjchaftliche Liebe, denn fie hat Kirchner, mag e8 bier 
zugeftanben worben fein ober nicht, begründeten Anlaß 
zur Eiferfucht gegeben. Kirchner war ein Mann von 
muftergültiger Sparſamkeit und pebantifcher Ordnungs⸗ 
liebe. Er zeichnete ſich aus durch eine bei Künftlern jel- 
tene Gewifjenhaftigfeitt in Geldſachen und führte genau 
Rechnung über alle Einnahmen und Ausgaben. Al er 
das Verhältniß mit Frau Röffel angelnüpft hatte, befam 
er jene Anfälle von Ermattung und Arbeitsfchen, von 
denen wir gehört haben. Seine finnlichen Exceſſe zer- 
ftörten feine Gefundheit, raubten ihm aber auch den mo- 
raliichen Halt. Am 6. Juli 1878 fchreibt er in fein 


Der Proceß wider Joſeph Johann Kighner. 149 


Tagebuch: «Marianne zieht aufs Land. Ich bin allein.» 
Bon da ab beginnt der dunkle Theil feines Lebens. Die 
materiellen Schwierigfeiten häufen fich, denn es gilt, für 
einen boppelten Haushalt zu forgen. Er fängt eine Lieb- 
{haft an mit Frau Curio, und diefe ift für ihn ein ein- 
trägliches Gefchäft. Er ſpielt nicht blos die Rolle des 
Liebhabers dieſer Dame, fondern empfängt von ihr auch 
ſehr werthvolle praktiſche Beweife der Anhänglichkeit. Er 
wird in Eurio’8 Haufe vorzüglich verpflegt, noch befjer 
als der Hausherr; Frau Curio gibt ihm aber auch hinter 
dem Rüden ihres Mannes Geld. Er läßt: fih von ihr 
eine ganze Menge von Bedürfniſſen bezahlen, jogar das 
Reinigen der Wäfcheftüce und andere Kleinigkeiten. Eine 
Frau, die von einem Manne ausgehalten wird, tft wol 
ſchon etwas Schmähliches, ein Mann aber, der ſich von 
feiner Geliebten ernähren und bezahlen läßt, fteht auf dem 
Gipfelpunfte der Schmach. Und auf diefer Stufe war 
Kirchner angelangt. Er hatte Feine Empfindung mehr für 
Ehre und Treue, für Männlichkeit und Selbitachtung. 
Eurio follte aus dem Wege gejehafft werben, bamit feine 
Frau frei über ihr Geld ſchalten und er jeiner Luft 
ſchrankenlos fröhnen könnte. 

„Wenn Sie dieſen Angeklagten für ſchuldig erkennen, 
meine Herren Geſchworenen, wird man nicht ſagen können, 
daß Sie eine Exiſtenz zerſtört haben. Wenn er die Strafe 
verbüßt hat, welche ihm kraft Ihres Verdicts auferlegt 
werden ſoll, wird er überall ein neues Leben der Arbeit 
beginnen Finnen, denn die Kunſt hat überall ihr Bater- 
land. Borher aber fordere ich von Ihnen, daß Sie der 
Schuld die Sühne folgen laffen, daß Ste die Hauptfrage 
bejahen, die Zufaßfragen jedoch verneinen follen.“ 

Nach einer Furzen Pauſe nimmt ber Vertheibiger das 
Wort. Dr. Benedikt jagt: 


150 Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 


„Nach der aufregenden Beweisaufnahme und dem hef- 
tigen Meinungsftreit der Parteien ftehen Sie vor ber 
ſchwierigſten Aufgabe, welche dem Nichter gejtellt werben 
kann: der Enträthfelung einer geheimnißvollen Menichen- 
jeele, ver Auffindung des tiefverborgenen Urfprungs von 
Wille und Schuld. 

„An bem Tage, an dem bie Verhandlung hier begann, 
hatte nur eine Perfon in biefem Saale fchon zuvor bie 
Möglichleit und die Gelegenheit gehabt, fich biefem Räth⸗ 
jel zu nähern, wieberholt in Langen Gefpräcen ven Mann 
zu ſtudiren, der im zweiundvierzigſten Lebensjahre, nad 
zwanzigjähriger ftrebjfamer und erfolgreicher fünftlerifcher 
Thätigleit, unter der Anklage bed Mordes vor Ihnen 
ſteht. Diefe eine Perfon war ber Vertheibiger. Der 
öffentliche Ankläger fchöpft das Bild der Perfon, veren 
That er zu verfolgen berufen ift, aus bem Stubium 
tobter Acten, er kennt den Mann, den er anflagt, nicht 
von Geficht zu Geſicht. Erft im Verhandlungsſaale tritt 
er ihm gegenüber, zu fpät, um das Bild, welches er fidh 
von ihm ſchon zuvor entworfen hat, zu corrigiren. Der 
Vertheidiger fteht dem Angeflagten wejentlich näher. So 
ihwer e8 auch fein mag, in ein frembes Geelenleben 
einen Einblick zu gewinnen, fchon die erjte Unterredung 
mit Kirchner war für mich entfcheivend. Sch gefellte mich 
von da an zu dem Kreiſe jener Freunde Kirchner’s, bie 
mit feltener Treue und Innigkeit an ihm hängen, bie 
alle ohne Ausnahme den Gedanken, Kirchner könne ein 
Verbrecher fein, entrüftet oder mit ungläubigem Lächeln 
zurüchweifen. Der Mann, der fo gut, fo wohlthätig, fo 
warmberzig in jahrelangem vertrauten Umgange fich ge- 
zeigt Hatte, der Mann, der feinen Wurm zertrat und 
einen kranken Hund auf ben eigenen Armen nach Haufe 
trug, um ihn zu pflegen, der um feinetwillen fein Huhn 


Der Proceß wider Iofeph Johann Kirchner. 151 


abftechen Tieß und fich lieber mit Pflanzenkoft begnügte, 
biefer Mann follte ein Mörder fein! Sie haben eine 
Reihe jener ehrenwertben Zeugen gehört — feiner von 
ihnen bat auch nur ein Wort gegen den Angeklagten au 
jagen gewußt! 

„Auch in mir hat ſich bie Ueberzeugung befeitigt, daß 
nicht Kirchner e8 gewejen tft, ver einen Mordverſuch bes 
gangen hat. Mag feine Hand blinplingd darauf zuge. 
ichlagen haben — ber wirkliche Menſch, ver gefunde Kirch- 
ner wußte nicht® davon. 

„Man fieht oft in illuftrirten Zeitungen fogenannte 
Berirbilder. Ein wüftes Durcheinander von Strichen, in 
benen ber Blick ſich verliert, endlich aber fchließen fich 
bie Linien zufammen, ein Bild tritt aus dem Rahmen 
hervor, zu dem die ganze Zeichnung nur als Einleitung 
und Vorwand gedient hat. Einige Feine gefchidt einge- 
fügte Striche genügen, um aus dem Gewirre der Linien 
beftimmte Formen hervorgehen zu laffen. Nehmen Sie 
biefe weg, fo bleibt nur die Frage übrig. So erjcheint 
mir die Anklage. 

„Wirre Linien laufen durch das Leben aller Menichen. 
ALS man Kirchner’8 Vergangenheit prüfte, da zeigten fich 
bei ihm die krauſen Linien der Sinnlichkeit, der gefchlecht- 
lichen Exceſſe, die zu vorübergehender wirthichaftlicher 
Unordnung. führten, an fich nur Kleine Fehler, die aber 
geſchickt gruppirt, zu einer grauenhaften Anklage fich zu- 
jammenballten. So ift das DVerirbild bed gewollten, 
vorbedachten, vorbereiteten und bewußten Mordes von 
bem öffentlichen Ankläger gezeichnet worden. Dieje 
zeritrenten, kunſtreich gejammelten Indicien fehen fich 
fürdterih an, allein eime genauere Unterjuchung 
zeigt, daß fie nicht zufammenftimmen und fich wiber- 


iprechen. 





15% Der Broceß wider Joſeph Johann Kirchner. 


„Es iſt meine aufrichtige Meberzengung, daß wir einen 
kranken Mann vor uns fehen, daß ein planlofer Act im- 
pulfiven Wahnfinns ba vorliegt, wo ber Dertreter ber 
Staatsbehörbe Abficht, Beweggrund und Vorbedacht ge= 
wittert hat. Zu dem verübten Verbrechen lag fein ver- 
nünftiger Grund vor. Die Momente, die in den Pro⸗ 
ceß verflochten wurden, um Kirchner eines planmäßigen 
Vorgehens zu verbächtigen, find Fünftlich Hineingetragen. 
Die Ausführung des Attentats ift eine fo unverftändige, 
jo jelbjtverrätherifche und gerabezu kindiſche, daß fie einem 
Menſchen von fünf gefunden Sinnen gar nicht zugetraut 
werben Tann, am wenigften einem Manne von jo hervor» 
ragender geiftiger Begabung, wie Kirchner e8 war. 

„Zuerſt drängte fich der Verdacht auf, daß Kirchner, 
um Frau Curio von dem ihr läftig und ımerträglich ge- 
worbenen Gatten zu befreien, alfo aus leidenſchaftlicher 
Liebe und aus Mitgefühl zum Verbrecher geworben fei. 
Eine ſolche Auffaffung würde feinem Charakter eher ent- 
Iprochen haben. Allein die Staatsanwaltichaft ließ dieſe 
Anficht fallen, weil fie fich überzeugte, daß Kirchner für 
Frau Eurio nicht jene überwältigende Leivenfchaft empfand, 
bie eine folche That erklären würde. Die That aber war 
da. Sie mußte mit dem Thäter nicht nur in einen 
äußern, ſondern auch in einen innern urfächlichen Zu- 
fammenhang gebracht werben, bamit fie nicht von vorn⸗ 
herein als eine unzurechnungsfähige Handlung erkannt 
wurde. Die Stodhiebe wurden veshalb zu einem Mord⸗ 
attentate gemacht. Es wurben einige jener wirren Linien, 
deren ich früher gedachte, herangezogen; bie Gelbverlegen- 
beiten, in die Kirchner gerathen war, jollen der Beweg⸗ 
grund zu ber That gewejen fein. Dieſe noch dazu unbes 
beutenden finanziellen Sorgen wurben benugt, um den 
Angeklagten zum Mörder aus Habjucht zu ftempeln. 





. Der Procef wider Joſeph Johann Kirchner. 153 


„Kirchner, eine immer großmüthige und Teichtlebige 
Natur, der jede Verpflichtung pünktlichſt einhielt, follte 
einen Mord aus ben fchmuzigften Motiven vorbereitet 
und verjucht haben. Wenn die Staatsanwaltjchaft der⸗ 
gleichen behauptet, fo ftellt fie eine Hypotheſe auf, bie, 
im Wiverfpruche fteht mit der pinchologischen Entwickelung 
bes Angellagten, feinem ganzen Wefen, feinem Tempera⸗ 
ment und feinen geiftigen Fähigkeiten. 

„Kirchner ftammt aus guter bürgerlicher Familie. 
Seine erite Iugend bat er in behaglichen materiellen 
Berhältniffen verlebt. Sein Vater beftimmte ihn für den 
faufmänntichen Stand. Der fünftlerifche Trieb in ihm 
empörte ſich gegen dieſen aufgezwungenen Beruf. Unter 
freiwilligen Entbehrungen bezog er die Akademie ver bil- 
denden Künfte und errang ben eriten Preis. In ben 
Jahren, im welchen er, mit einem fehr geringen Zuſchuß 
vom Aelternhaufe, faft darbend, doch erfüllt von idealem 
Streben, die Hochſchule befuchte, Iernte er die Familie 
bes Wirthes vom Lobkowitz⸗Keller kennen und trat zu 
biefer in nähere Beziehungen. Dort nahm er feine Mahl- 
zeiten ein und fand Erebit, als diejer ihm am nöthigiten 
war. Er ertheilte den Töchtern Unterricht im Zeichnen, 
und in dem vielfachen ungeftörten Beiſammenſein nüpfte 
er ein intimes Verhältniß an mit ber älteften Tochter 
des Wirthes, einem um mehrere Iahre ältern Mäbchen. 
Dem Vater gab er auf dem Sterbebett das Wort, feine 
Tochter zu heirathen. Er hat fein Verfprechen, welches 
ihm zur Feſſel werden mußte, in männlicher Ehrenhaftig- 
teit eingelöft. Er ehelichte ein Mädchen, welches gänzlich 
unbemittelt und weber mit geiftigen Vorzügen, noch mit 
förperlichen Reizen ausgejtattet war. Seine Frau ftanb 
an Bildung tief unter ihm. Das gegebene Wort war 
ibm aber heilig. Sie haben bie Frau in Perjon vor fich 


154 Der Broceß wider Joſeph Johann Kirchner. 


gejehen, und ich brauche nichts mehr hinzuzufügen. Kirch⸗ 
ner brachte das größte und ſchwerſte Opfer. Er verzich⸗ 
tete darauf, jeinen künſtleriſchen Idealen nachzuftreben 
und, wie er es geträumt, ein großer Dealer zu werben. 
Die fatale Nothwendigkeit, einen Hausſtand zu ernähren, 
zwang ihn, leichterm Erwerbe nachzugehen, und jo warb 
er Sluftrationszeichner. Auch das väterliche Erbe hatte 
er feiner Stiefmutter überlaffen, bie jonft mittello® ver- 
blieben wäre. Und diefen Mann verdächtigt die Staate- 
anwaltichaft, das fürchterlichite Verbrechen aus Hab— 
fucht begangen zu haben! 

„Es gelang ihm, in bem neuen, felbitgewählten Berufe 
in kurzer Zeit einen Namen zur erwerben, ver weit über bie 
Grenzen Defterreich& hinausging. Er war als Landichafts- 
zeichner zu einer Specialität erjten Ranges geworden. 

„Im Sabre 1876 lernte Kirchner eine Frau kennen, 
bie ebenjo ſchön als hochbegabt, geiftreich und gebilvet 
und babei tief unglücdlich war. Keine Perſon ift in dieſem 
ſchrecklichen Drama härter getroffen worden als dieſe 
Frau, welche trotz mancher fchmerzlichen Erfahrung mit 
unzerftörbarer Liebe an Kirchner hängt. Die. Tochter 
eines Mannes, der als Staatsbeamter, als Schriftfteller 
und als Dichter in bervorragendem Maße Erfolg auf 
Erfolg gehäuft und ein dauerndes Andenken fich errungen 
Bat, ftand diefe Frau an Talent und Bildung, an Geift 
und Temperament Kirchner nahe, und jo geichah es, wie mit 
naturgewaltiger Nothwendigkeit, daß dieſe beiden fich fan- 
den und fich fo herzlich aneinanderfchloffen, daß ein Bund 
für das Leben daraus werben mußte. Und diefer Bund 
blieb feſt, troß der unfeligen Verirrung, die ben Ange⸗ 
Hagten in die Arme der Fran Curio trieb, 

„Ehe ſich Kirchner entjchloß, feine Gattin zu verlaffen 
und fich ganz mit feiner geliebten Marianne zu vereinigen, 


Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 155 


batte er jchwere innere Seelenfämpfe purchzumachen. Er» 
Ihöpft von Aufregungen und Seelenqualen, ein Spielball 
wiberftreitender Gefühle und hin- und hergeworfen von 
Zweifeln über die Grenzen von Liebe und Pflicht, verlor 
er die Arbeitsluft und bie Arbeitsfähigfeit. Es ging ihm, 
dem verwöhnten Künftler, fo fchlecht, vaß er und feine Ge- 
liebte zeitweilig auf Stroh fchlafen mußten. Dennoch hat er 
feine pecuntären Verpflichtungen gegen feine Frau und feine 
Kinder pünktlich erfüllt. ‘Die eigenen Entbehrungen achtete 
er nicht, ja er vermochte feine Geliebte zum Aufgeben ver 
gewohnten Behaglichkeit zu veranlaffen; aber die Frau, für 
bie zu forgen ihm bie Ehre gebot, Tieß er nicht varben. Als 
feine Energie wieder erwachte, änderten fich die Verhältniffe 
raſch. Er erwarb reichlich, was er bedurfte. In Kirchner 
lebten zwei Naturen. Er war ein fparfamer, Heinbürgerlicher, 
ängftlicher und pedantifcher Rechenmenſch, der jeven Kreuzer 
feiner Ausgaben aufichrieb, und dann wieder kaufte er per- 
ſiſche Teppiche und feltene Waffen, lud freigebig feine Freunde 
zum Abendeſſen, und dabei war ſolche Ebbe in ſeiner Kaſſe, 
daß Marianne Röſſel kaum zwei und drei Gulden zurück⸗ 
behalten konnte, um die Ausgaben für den nächſten Tag 
zu beſtreiten. Ein ſolcher Mann macht ſich keine Sorgen 
um die Zukunft und wird gewiß nicht zum Raubmörder. 
Marianne Röſſel hatte dem Angeklagten eine Häuslichkeit 
geſchaffen, in welcher er ſich glücklich fühlte. Ste hatte 
ihm den Weg zur Anerfennung und zum künſtleriſchen 
Erfolge dadurch geebnet. Es hat mich fchmerzlich berührt, 
daß der öffentliche Anfläger für dieſe arme Dulderin, 
weil fie in einer außerhalb der fpießbürgerlichen Moral 
gelegenen Bahn Iebte, jo harte Worte gefunden hat. 
Nicht im Jahre 1878, fondern im Jahre 1886 brach in 
ber Gejtalt des Ehepaares Curio das Verhängniß in das 
Leben dieſes Mannes herein. Das Ehepaar Curio — 


156 Der Broceß wiber Joſeph Johann Kirchner. 


Mann und Frau — waren die Dämonen, bie Kirchner's 
Leben zerftörten. Während bie neunundzwanzigjährige, 
heißblütige, begebrliche rau, welche nur neben, nicht mit 
ihrem Manne Tebte, aber dennoch von ihm eiferfüchtig 
überwacht und in Heinlicher Weije gepeinigt wurbe, in 
auflodernder Sinnlichkeit Kirchner ganz für fih in An- 
fpruch nahm, zwang ihn dieſes Verhältniß, ven eigenthüm- 
lichen Liebhabereien des Herrn Eurio zu Dienften zu fein, 
das heit, fein ftändiger Begleiter bei ven fchalften und geift- 
Iofeften Bergnügungen zu werben. Er mußte Maskenbälle 
befuchen, auf denen bie zweifelhaftefte Gefellichaft verkehrte, 
und bis zur Erfchöpfung theilnehmen an dem Leben reicher 
genußjüchtiger Menſchen, pie feinen Beruf haben. 

„Herr Curio hatte feinen Hofmeifter verabſchiedet, er 
Ind den Angellagten ein, zu ihm zu ziehen, um fein Haus 
zu überwachen; er wollte ihn als feinen Genoffen nahe 
bei der Hand haben. Einen Wohlihäter Kirchner’ nannte 
ber Bertreter der Staatsbehörbe den Herrn Euriv. Nichts 
fann unrichtiger fein. Im Banne ber neuen Leidenfchaft 
opferte Kirchner feine Zeit, feine Arbeitstraft, feine Ein- 
nahmequellen und feine Geſundheit. Er geriefh infolge 
befjen in Gelpverlegenheiten, und biefe benutzt der äffent- 
liche Ankläger, um einen tobbringenden Schlag zu führen. 
Er bolt aus der Rüftlammer die fchärffte Waffe heraus 
und brandmarkt ven Angeflagten, indem er ihm die ver- 
ächtlichfte Bezeichnung zumirft, die unfere Sprache fennt, 
er nennt ihn einen «ausgehaltenen Mann»! — Wäre 
dies zutreffend, es wäre vernichtend; allein es iſt bios 
eine im Eifer ver Rede gebrauchte Phraje. 

„Kirchner hat niemals bie Abficht gehabt, ſich aus⸗ 
balten zu laſſen. Er bat Herrn Curio vorgefchlagen, 
einen Theil der Hauszinsftener für die Villa zu tragen. 
Er befand fich in Feiner Nothlage, er Hatte Beftellungen 





Der Proceß wider Joſeph Iohann Kirhner 157 


im Betrage von ungefähr 1000 5. und darüber zur 
Ausführung übernommen. Richtig tft nur, daß er von 
Klara Eurio das ihm angebotene Darlehn von 1000 Mark 
und ein Sparkaffenbuch über eine Einlage von 150 Fl. 
angenommen, und baß fie ihm, am Lage vor dem Un- 
glüd, einen alten Schmud übergeben bat, ber verkauft 
oder verfegt werben follte Werthvoll war biefer Schmud 
nicht. Kirchner bat ihn für 40 Fl. verfekt. 

„Die Anklage geht jo weit, zu behaupten, Kirchner 
babe Herrn Eurio aus dem Wege räumen wollen, bamit 
Frau Curio freies Verfügungsrecht über ihr Vermögen 
erlange und befjen Einkünfte ihm zuwenden könne. Allein 
biefen Punkt, welcher die Habfucht des Angeflagten be- 
weijen fol, hat die jonft jo jorgfältig geführte Unterfuchung 
nicht Mar gelegt. Frau Curio befaß fein eigenes Vermögen, 
fondern nur eine Rente, welche fie von ihren Xeltern für 
bie Bebürfniffe des Hanshaltes empfing. Der Staate- 
anwalt ift der Anficht, dieſe Nente babe nach dem Ab⸗ 
leben des Gatten zu ihrer unbeichränften Verfügung ge- 
ftanvden. Dies ift nicht erweislich. Ihre Aeltern konnten 
bie Zahlung der Rente einftellen oder ihre Tochter zurüd- 
rufen. Das Ehepaar Curio lebte auf großem Fuße. 
Sie waren rei. Aber ihre Einkünfte bezogen fie zum 
größten Theil von dem Vermögen des Mannes, nicht 
von bem der Frau. Es mag fein, daß Klara Curio in 
Zukunft eine größere Erbſchaft zu erwarten bat, bisher 
aber betrug ihre Rente nur — 4500 Mark jährlich! ... 
Das tft feine Summe, die einem Manne wie Kirchner 
hätte verlodenp ericheinen fünnen, das wirb mir ber Herr 
Staatsanwalt wol zugeftehen müffen. Der Angeklagte 
hat in fehlechten Jahren 5000 Fl. verdient, in guten fait 
um bie Hälfte mehr, und ihm traut man zu, er habe fich 
entjchloffen, ein Müßiggänger zu werben und mit Frau 


158 Der Broceß wider Joſeph Johann Kirchner. 


Eurio von ihrer Rente zu leben? Diejfe Rente von 
4500 Mark Hätte ihn und Frau Curio, Frau Röffel und 
ihr Kind, feine Frau und feine Kinder erhalten, Kirchner 
hätte für die halbe Einnahme die doppelte Laſt überneh- 
men follen, nur um nichts arbeiten zu müffen? Wer foll 
das für möglich halten? 

„Der Staatsanwalt folgert dies aus dem Umftanbe, 
daß Kirchner arbeitsunluftig geworben fei, und führt als 
Deweis dafür die flüchtig Hingeworfenen Aeußerungen 
bes Angellagten an, daß er künftig das Zeichnen aufgeben 
und nichts mehr arbeiten werbe. 

„Zugegeben, daß biefe Aeußerungen wirklich gefallen 
find, wann bat je ein Künftler, ein Dichter gelebt, ber 
nicht zeitweilig aus Enttäufchung, aus Unmuth an fid 
jelbit gezweifelt, der nicht an einem Tage bie Palette, 
den Stift weggeworfen und gelobt hat, nie mehr danach 
zu greifen, und dennoch am nächſten Tage mit Feuereifer 
weiter an feinem Werke jchaffte? Das find Stunmungen 
und Seelenzuftände, die jeder Künftler, auch der größte 
und bedeutendſte, purchzumachen verurtheilt iſt. Es liegt 
im Wejen der Kunft, in deren Banne er lebt und athmet, 
baß fie einmal ihren Süngern als höchftes Ideal vorſchwebt 
und dann wieder, mit Grillparzer’s Worten, wie ein 
Büttel raftlos durch das Leben peitjcht. 

„Wenn dies für ven abjeitd vom Getriebe des Alltags- 
lebens jchaffenden Künftler gilt, um wie viel mehr von 
jenem, ber im Dienfte des täglichen Brotes arbeitet. 
Sind folche verzweiflungsnolle Gemüthszuftände bei einem 
Künftler nicht begreiflich, der dazu verdammt ift, das 
Rathhaus fiebenundzwanzigmal nacheinander zu zeichnen? 

„Und nun zur That jelbft. Noch heute liegt ein 
Schleier über den reigniffen jenes Unglücksabends. 
Kirchner erflärt heute wie zuvor mit berjelben ruhigen, 


Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 159 


unerfchütterlichen Beitimmtheit, daß nicht er, baß eine 
britte Perſon zugefchlagen habe.“ 

Der Vertheidiger führt nun aus, die Beſchreibung, 
die Kirchner von dem Vorgange gibt, Iaffe auf eine Hal- 
Incination des Angeklagten jchließen: „Wäre Kirchner bei 
Harem Verftande gewejen und hätte er Herrn Curio aus 
bem Wege räumen wollen, fo würde eine unvernünftigere 
Art der Ausführung eines Mordanfalles nicht denkbar 
jein als die, einen Fräftigen Mann um 9 Uhr abends 
unmittelbar unter ven Benftern feiner Villa mit einem 
einfachen Bleiſtock nieverzufchlagen! 

„Es war überhaupt nicht anzunehmen, daß ein Träf- 
tiger Mann wie Herr Curio auf den erften Schlag tobt 
jein würde. Und trat der Tod nicht fofort ein, jo war 
ber Angreifer verloren. Ein einziger Hülferuf mußte, 
wie es denn auch thatjächlich gefchehen ift, gehört werben 
und die Folge haben, daß Menſchen herbeieilten. Der 
Mörder mußte wiſſen, daß der ihm an Körperfraft über- 
legene Curio fich zur Wehre fegen und daß er fofort er- 
griffen und überführt werden würde. Vor den Augen 
der Hausgenoſſen ging Kirchner mit Herrn Curio fort. 
Tor feinen Fenſtern wollte er ihn — nach der Annahme 
bed Herrn Staatsanwalts — erfchlagen!” 

‚Der Vertheibiger bemüht fich, ven Beweis zu führen, 
baß die That verübt fei infolge eines Anfalls von Irr- 
finn auf epileptifcher Grundlage. Er wendet fich ſcharf 
gegen die Gerichtsärzte, welche objectiv wol zugeben, daß 
jolche vorübergehende Störungen möglich find, daß Kirch- 
ner ein Neurotifer und vor Iahren geiftig geftört geweſen 
jet — aber trotzdem behaupten, feine Zurechnungsfähigfeit 
bei dem Anfalle vom 14. Ianuar fei nicht zu bezweifeln. 
Die Aerzte haben als „Richter genrtheilt, nicht als 
Sachverſtändige. „Sogar die Fabel von ber geplanten 


160 Der Broceß wider Joſeph Johann Kirdner. 


Gemsjagd ift von ihnen herangezogen worden, um ihre 
Anficht zu begründen. Ein Geſpräch, deſſen Wortlaut 
nicht zu controliren ift, das auf einen jener Scherze 
hinausläuft, wie. er unter Freunden leicht vorkommen 
fann, wenn man bem andern fein Fägerlatein auskramen 
hört, ein Wib, der dem tropbäenlüfternen Curio eine ge- 
fahr- und mühenolle Jagd verhieß, eine Nederei ganz 
burchfichtiger Art — fie jollte Stimmung machen, weil 
die Beweiſe nicht ausreichten. Die Strafproceßorpnung 
liebt e8 nicht, daß mit «lleberrafchungen» gearbeitet wirb, 
und fie bat dazu gute Gründe, denn der argloje Gerichte- 
irrenarzt ift bier ſtark überrumpelt worden. 

„Für jedermann, ber Kirchner und feinen Abfcheu vor 
dem Blutvergießen, feine Weichherzigleit kannte, Liegt ber 
Gedanke nahe, daß wir e8 zu thun haben mit einem 
Act plößlicher Geiftesverwirrung. Kirchner’8 Vorleben 
beweift, wie gegründet biefe Vermuthung tft. Es Liegt 
offenbar ein Wall bes periodiſch wieberfehrenden joge- 
nannten cirenlären Wahnfinnd vor. Unfinnig und uns 
logiih in der Ausführung, grundlos und im greifen 
Widerſpruche mit Kirchner’8 Art und Weſen läßt fich bie 
That des 14. Januar nur erklären und verftehen als 
franfhafter Ausbruch eines gejtörten Nervenſyſtems. 

„Ein Moment läßt uns am Schluffe dieſer peinlichen 
Unterfuchung aufathmen. Es fehlt der blutigrothe Hinter- 
grund. Es iſt fein Opfer gefallen. Fürchterlich laftet ver 
Borwurf der Blutichuld auf dem Angeklagten, aber ihn 
verfolgen nicht die Schatten des Erfchlagenen. Nein, wie 
ein Satyrſpiel nach der Tragödie ift es anzuhören, daß 
faum eine Woche nach dem «Morbverfuch» Herr Curio 
auf dem Touriſtenkränzchen tanzt und in einer verſchwie⸗ 
genen Nifche des Sophienfanles als Theilnehmer einer 
partie carrde mit Masfen koſt. 





Der Proceß wider Iofeph Johann Kirchner. 161 


„Dach nichts ift Die kühne Hypotheſe ber Anklage von 
einer langjamen Depravation des Charakters des Ange- 
Hagten begründet. 

„Kirchner war vielmehr von jeher ein ehrenhafter, 
guter Menjch, der leider der Macht finnlicher Reize nicht 
energiich genug widerſtand. Die entjegliche Prüfung, der 
er nunmehr unterworfen worden tft, wirb ihn läutern, 
bie Schladen von ihm nehmen. Ein fchweres, tiefes 
Leid bringt ven Mann zur Erkenntniß feines beflern 
Selbſt. 

„Beben Sie durch Ihr Verdict den Künftler Kirchner 
ſeinem Berufe, den Menſchen Kirchner dem Leben wieder. 
Was er verſchuldet hat, das hat er tauſendfach gebüßt, 
es gehört vor keinen menſchliſchen Richterſtuhl. Mord⸗ 
gedanken ſind ſeiner Seele ſtets fremd geweſen. Sprechen 
Sie ihn, der das einzige Opfer des Vorfalls am 14. Ja⸗ 
nuar iſt, pon ber furchtbaren Anklage frei, bie eine Ver⸗ 
bindung von Kraukheit und Zufall auf fein armes Haupt 
gezogen hat, und Sie werden ber Gerechtigkeit zum Siege 
verholfen haben.“ 

In der Replik Hält ber Vertreter ver Staatsanwalt: 
ſchaft ven Ausführungen des Vertheinigers, ben er als 
einen Dilettanten auf bem Gebiete der Piychiatrie be- 
zeichnet, das Urtheil der fachverftändigen Gerichtsirren- 
ärzte entgegen. Er vertheipigt deren Gutachten als ein 
jachliches, wohlerivogenes und in feinen Schlußfolgerungen 
unmiberlegliches. Der fchranfenloje Egoismus und bie 
Berachtung aller moraliichen Sittengefege, bie der An⸗ 
geflagte zur Schau getragen, würben durch eine Frei⸗ 
fprechung nicht gebeffert werden. Ein Mordverſuch Liege 
vor. Daß die fchredliche That nicht gelang, fei ein Zu⸗ 
fall, ver dem Angeflagten infoweit zugute komme, als 
er nicht wirklich zum Mörder geworben jet, Für ben 

XIV. 11 


162 Der Proceh wider Joſeph Johann Kirchner. 


Verſuch aber müfje er zur Verantiwortung gezogen und 
bejtraft werben. 

Der Bertheidiger Dr. Benedikt entgegnet: „Der 
Staatsanwalt hat Ihnen, meine Herren Gefchiworenen, 
gejagt, ich ſei auf dem Gebiete der Piychiatrie doch nur 
ein Dilettant. Es mag fein, obgleich ich mich feit fünf- 
zehn Jahren eingehend mit den einfchlägigen Studien 
befaffe. Aber unzweifelhaft ift, was das Geſetz vorſchreibt. 
Es verlangt, daß der Richter das Urtbeil fpricht. Mögen 
gelehrte Nichter oder Geſchworene berufen fein, darüber 
zu enticheiven, ob ein Angellagter ver That, der man ihn 
verpächtigt, ſchuldig oder nichtſchuldig ift, ihnen allein 
ſteht die Entſcheidung zu und nicht ben Aerzten. Das 
Gutachten der Sachverftändigen zu prüfen, anzunehmen 
over zu verwerfen ift Ihre Sache. Den Geheimnifjen 
des Gehirns gegenüber bleibt auch ber Arzt ewig ein 
Dilettant. Was in ber verhängnißvollen Secunde in 
dem Gehirn eines Menjchen vorgegangen ift, in einem 
Gehirn, das unzweifelhaft zuvor ſchon erfranft war, 
biefes Geheimniß erforjcht Fein irdiſcher Geift. Die Sache 
verftändigen jagen nur, es fei nicht nachweisbar, daß ber 
Angeklagte damals von einer Seelenftörung überfallen 
worden ſei. Mehr können fie nicht behaupten. Sie be 
gründen aber ihre Vermuthung in einer Weife, bie ihre 
Competenz überfchreitet, und in der die Aerzte immer 
Dilettanten bleiben werben. 

„Es ift Ihre Sache, als Richter Ihr Amt gewiffen- 
haft zu erfüllen. Wenn Sie zweifeln, wenn angefichts 
ber Unfinnigfeit der That Ihnen Bedenken aufiteigen und 
Sie fih an jene Irrfinnsfälle erinnern, von denen Ihnen 
nie Gerichtsärzte erzählt haben, dann begründet Ihr 
Zweifel allein jchon die Verpflichtung zum Freifpruch. 
Laſſen Sie fich nicht verführen durch die Schlußapoftrophe 


Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 163 


des Vertreters der Staatsbehörde, als folle und werbe 
ein Mann wie Kirchner durch die Arbeit im Zuchthaufe 
gebefjert und fein böfer Wille gebrochen werden. Kirch- 
ner ift fein arbeitsfcheuer Vagabund. Er ift ein Künſt⸗ 
ler, deſſen Ruf über bie Grenze unſers Vaterlandes ges 
brungen ift, ein Künftler, ver weit größere Werke von 
bleibendem Werthe gejchaffen hätte, wenn ihm nicht ledig⸗ 
ih die Sorge um die Erhaltung von Weib und Kind 
den Zeichenftift in die Hand geprüdt hätte. Kirchner, ein 
Mann, der bis in die lebte Zeit eine Sahreseinnahme von 
6000 FI. bezogen hat, die er der eigenen Thätigkeit ver- 
banfte, der in dem Augenblide, als er fich bereit machte, 
in ben Tod zu gehen, für die Bezahlung feiner Gläubiger 
bei Heller und Pfennig Sorge trug: diefer Mann foll 
durch die Zwangsarbeit des Zuchthaufes gebeffert und er- 
zogen werben! Wohl hat er geſündigt und fich mannich- 
fach vergangen. ‘Doch hätte er Aergeres verbrochen, als 
er wirklich gethban, das Fegfeuer dieſer breitägigen Ver⸗ 
handlung bat ihm Dualen bereitet, doppelt und breifach 
gräßlich dadurch, daß nicht nur fein vergangenes leben 
vor aller Augen burchgefiebt und burchgehechelt wurde, 
ſondern auch dadurch, daß alles, was ihm Lieb und theuer, 
verzerrt und herabgewürbigt worden if. Es war dies 
ein fchweres, ein übermenfchliches Leid, Damit ift reich« 
lich gebüßt, was er gefehlt haben mag. Darum rufe 
ich Ihnen noch einmal zu: «Geben Sie den Künftler 
der Runft, den Menfchen dem Leben wieverv Kein ent- 
menfchter Böfewicht fteht vor Ihnen, fondern ein Mann, 
der gejtrebt, geftrauchelt und gebüßt Hat. Laſſen Sie 
ihn nicht in der Kerfernacdht verfommen. Im Zuchthaufe 
beffert man folche Leute nicht. Kirchner ift ein ſchwacher, 
er iſt fein fchlechter Menſch. Ueben Sie Gerechtigkeit, 
iprechen Site ihn freil” 
11* 


164 Der Proceß wider Joſeph Iohann Kirchner. 


(Eirchner bricht in Thränen aus. Starte Bewegung 
im Auditorium.) 

Der Bräfident Hält num fein Refume und übergibt 
den Geichworenen die Acten. Diefelben ziehen fich in 
ihr Berathungszimmer zurück. Ihre Berathung währt 
nur dreiviertel Stunde. Sie lehren In den Saal zurüd, 
md der Obmann verkündet das Verdict. Es Tantet: 

Hauptfrage (verfuchter Mord) einſtuumig: Sa. 

Erſte Zuſatzfrage (Tücke) einftinmig: Ia. 

Zweite Zuſatzfrage (Sinnesverwirrung) zehn Stim⸗ 
men: Nein; zwei Stimmen: Ja. 

Zur Strafbemeſſung nimmt der Staatsanwalt 
das Wort und beantragt auf Grund bed Wahripruchs 
ber Geichivorenen die Anwendung bes gejeßlichen Straf- 
ausmaßes von 10—20 Jahren fchweren Kerkers. Als 
mildernd erfennt er nur das unbefcholtene Vorleben Kirch⸗ 
ner's an, als erichwerend dagegen hebt er hervor die bes 
beutende Intelligenz des Angellagten. „Seine Erziehung 
und fein Umgang“, jagt wörtlich der Vertreter der Staats⸗ 
anmwaltichaft, „Hätten ihn einer folchen That unfähig 
machen follen, denn er Hatte ja zumeift mit Berfonen 
ber befjern, aljo auch der moralifhern Stände verkehrt. 
Sehr erjchwerend ift ferner, daß der Angeflagte bie 
Hand gegen ven Gaſtfreund in deſſen eigenem Haufe er- 
hoben hat.“ 

Der Vertheidiger fpricht fein tiefes Befremden 
über den plößlichen Sinneswechjel des Staatsanwalts 
aus. Im feinem Schuldplaidoher hat berjelde den Ge- 
Ihworenen „bie tröftliche Verficherung”‘ gegeben, ver Ge- 
richt&hof werde das Strafausmaß unterhalb des geſetz⸗ 
lihen Strafjages bemeifen, während ber Staatsanwalt, 
nachdem die Verurtheilung wirklich erfolgt fei, nur noch 
erfchwerende Umjtände anerfenne. Die Intelligenz ift 





Der Proceß wider Iofeph Johann Kirchner. 165 


burchaus fein Erfchwerungsgrund, denn gebildete Men⸗ 
ſchen werben burch bie Verbüßung ber TFreibeitsitrafen 
weit härter betroffen als ungebilpete Verbrecher. Zu be- 
achten ift bei der Strafbemeflung, daß bie Handlung des 
Angellagten ganz ohne fchäbliche Folgen verlaufen, daß 
Herr Curio ſchon nad wenig Tagen fogar wieber tanuz⸗ 
fähig geweſen ift. 

Der Gerichtshof Spricht Joſeph Sohann Kirch⸗ 
ner des Verbrechens des verfuchten Meuchelmorves 
ſchuldig und verurtheilt ihn unter Anwendung des 
außerorbentlichen Strafmilderungsrechts zu ſechs Jah⸗ 
ren ſchweren Kerkers. Es wurde kein Erſchwerungs⸗ 
grund angenommen, als mildernd dagegen in Betracht 
gezogen die Unbeſcholtenheit Kirchner's und ſeine excen⸗ 
triſche Anlage, welche durch die ärztlichen Gutachten be- 
ftätigt wird. 


Der Vertheidiger meldet die Nichtigkeitsbeſchwerde 
an. Kine Berufung gegen das Strafmaß iſt nicht zu⸗ 
läſſig, weil der Gerichtshof felbjtändig unter die Straf. 
grenze des Geſetzes herabgegangen ift. 


Die Verhandlung über die Nichtigleitsbejchwerbe, bei 
welcher wieder Dr. Benedift ven Angellagten vertrat, 
endete mit ber Abweifung ber Beſchwerde. ‘Das oberfte 
Gericht als Gaffationshof erklärte: durch die Ber- 
fügungen bes Gerichtähofes erfter Inſtanz jet feine 
Beitimmung der Strafproceforbnung verlegt und ben 
Geichworenen in der Nechtöbelehrung des Präfidenten 
ausdrücklich mitgetheilt worden, es ftehe ihnen die Ent- 
ſcheidung über die Schuld oder die Nichtſchuld des An⸗ 
geflagten zu und fie feien an das Gutachten ber Gerichts- 
ärzte nicht gebunden. Ste hätten demnach ihr Urtheil in 
freier Würbigung der Beweiſe gefällt. 


166 Ber Proceß wider Iofeph Johann Kirchner. 


Der Berurtheilte trat feine Strafe an. Er wurbe 
in die Strafanftalt Stein an der Donau überführt. 
Doc feine Buße follte dort nicht von langer Dauer jein. 
Am 13. April 1889 ift er geftorben. 

Bald darauf meldete fich bei dem Oberftaatsanwalt 
eine Dame. Verſchleiert und im tiefe Trauer gefleivet 
erichien Klara Eurio und brachte die Bitte vor, es möge 
ihr geftattet werben, am Grabe Kirchner’8 eine ftille 
Andacht verrichten und ihm eimen Denkftein fegen zu 
bürfen. Ein menfchlicher, ein faft verſöhnender Zug. 

Für feine Hinterbliebenen haben feine Freunde gejorgt. 


Nicht nur in pſychologiſcher Hinficht ift dieſer Proceß 
merfwürbig, er iſt Iehrreich auch im Hinblid auf die Ge- 
fahren der Yubicatur durch Gefchworene. Es ift ein 
Tall, der in einem jeden Lande, je nach der Nationalität 
ber zur Urtheilsichöpfung berufenen „Volksrichter“, einer 
grundverjchtedenen Auffaffung begegnen würde. Vor 
Sranzojen wäre Madame Curio Eofett verfchleiert erfchie- 
nen, in pathetiichen Worten hätte ber Vertheibiger von 
ber Macht der alles befiegenden Leidenſchaft ber Liebe 
gerebet und der wildernde Duft bes Ehebruchs, ver 
romanhafte Anftrich ver Verhältniffe hätten vermuthlich 
zur Freiſprechung des Angeklagten geführt. In Italien, 
wo die Anfchauung, daß jeder Verbrecher feine That in 
geftörtem Geifteszuftanve vollbringe, übermächtig ift, wäre 
ohne Zweifel der Irrfinn des Angeklagten angenommen 
und ihm bie Unzurechnungsfähigfeit für feine Handlungs- 
weile zugeftanden worden. In England, zufolge der gro⸗ 
Ben Scheu, die man bort vor ber piychologiichen Zer- 


Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 167 


glieverung der Motive hegt, hätte fich der gefunbe praftifch- 
nüchterne Sinn des Volles an die Thatfache gehalten, 
daß eine unbebeutende Törperliche Verlegung vorlag und 
nicht mehr. Wahrfcheinlich wäre der Fall gar nicht vor 
das Schwurgericht gelangt, ver Polizeirichter hätte fich 
für competent erflärt, aber auch die Gefchworenen wür⸗ 
ben nimmermehr einen verfuchten Mord, fchwerlich auch 
nur einen verfuchten Zobtjchlag angenommen haben. ‘Der 
Angeflagte wäre wegen leichter Lörperlicher Beſchädigung 
zu einer mäßigen Geldbuße verurtheilt und vielleicht wäre 
ihm vom Gericht befohlen worben, „ſechs Donate Hins 
durch ben Frieden ber Königin nicht zu ftören”. Nur 
Geſchworene veutjchen Stammes konnten eine Verurthei⸗ 
lung ausfprechen, wie dies in Wien gefchehen ift. ‘Der 
etwas philiftrös angebauchten bürgerlichen Moral war 
ein Menſch von dem Schlage Kirchner’8 von vornherein 
unſympathiſch. Ein Mann, der von feiner Geliebten 
Geld annimmt umd ſich bis zu einem gewiljen Grabe 
von ihr erhalten läßt, ift nach biefer Anfchauung jo tief 
gejunfen und jo verächtlich, daß ihm jede Schanbthat zu- 
zutrauen if. Möge er durch das Zuchthaus gebeijert 
und geläutert werben! 

Wir geftehen offen, daß wir bie Anficht der Ge⸗ 
ſchworenen nicht theilen. Für uns ift Kirchner weit 
mehr ein Unglüdlicher als ein Verbrecher. 

. Der Staatsanwalt fowol als ver Vertheidiger haben 
in ver Abficht, auf die Geſchworenen zu wirken, jeder in 
feiner Art weit über das Ziel hinausgefchoffen. ‘Der 
Staatsanwalt hat ein müßiges Gefpräch, eine launige 
Neckerei, wie e8 die Einlapung zur Gemsjagd war, auf- 
gebaufcht, um ven Angeklagten als einen hinterliftigen 
Gefellen varzuftellen, ver fich ſchon lange vor dem Atten- 
tate mit Mordplänen trug, er bat Einzelheiten, wie dem 





168 Der Proceß wider Joſeph Johanu Lirdner. 


befteliten Telegramm, dem Gefpräche über Revolver und 
Cylinderhut, eine Auslegung gegeben, bie uns gezwungen 
zu ſein ſcheint. Es war ihm darum zu thum, bie Farben 
möglichht did aufzutragen. ‘Der Vertheidiger dagegen hat 
alles auf eine Karte geſetzt. Indem er fich auf ben 
Standpunkt ftellte, der Angellagte habe im einem Aufalle 
non Geiftesftörung gehandelt, verzichtete er auf jede an⸗ 
bere Auslegung der Gefchichte des Attentates. Die Ge 
ſchworenen mußten entweder mit ihm ben Angellagten 
für wahnfinnig erklären over bie Beweisführung bes 
öffentlichen Anklägers gelten laſſen. Seiner mit Bereb- 
jamkeit und Scharffiun verfochtenen Auffaffung ſtand in- 
deſſen das fehr beftimmte Gutachten der ſachverſtändigen 
Gerichtsärzte entgegen. Mögen biefe in ihrer Motivirung 
auch über die Grenzen hinausgegangen fein, welche ihnen 
durch die Regeln ihrer Wiffenfchaft gezogen waren, in 
biefen Punkte waren fie zuſtäudig und ihr Urtheil maß⸗ 
geben. 

Wir können in Kirchner weder mit dem Staatsan⸗ 
walt den grundverberbten, cyniſchen Mörder erbfiden, 
noch mit bem Bertheidiger einen unzwrechnungsfähigen 
Geiftesfranfen. Wir erflären uns feine That rein menſch⸗ 
Gh, auf Grund der Vorgeſchichte und ber Natur des 
Angeflagten. 

Kirchner wer in hervorragendem Sinne, was die 
Sranzojen einen „homme à femmes“ nennen. In der 
beutjchen Sprache fehlt der bezeichnende Ausdruck hierfür. 
Sein ganzes Leben warb durch bie Beziehungen zum 
Weibe beftimmt, jein Einfluß auf alle rauen, mit benen 
er zuſammentraf, ſchien magiſch zu wirken. 

Er bat feine Gattin fo ſchwer gefränkt, als man eine 
Frau im ihren heiligſten Gefühlen verleten kann. Er 
bat fie um einer anbern willen verlaffen, er bat ihre 





Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 169 


Liebe verſchmäht und ihr Jahre hindurch bewieſen, daß 
er für fie zur aus Pflicht und nicht aus Neigung ſorgte. 
Dennoch bat fie in wahrhaft rührender Einfalt ner Ge 
richt erklärt, fie wolle nur ausſagen, wenn ihre Ausjagen 
ihm nüglich fein könnten! | | 

Mariamme Röſſel war ein fchönes, vielumworbenes, 
geiſtvolles und hochgebildetes Weib. Ste ſchloß ſich ihm 
zeit Leidenſchaft an, vergab ihm nicht nur mehrfache flüch⸗ 
tige Untrene, ſondern willigte in die Trennung, als er 
zu ihrer Rivalin Klara Eurio zug, wenn er ihr nur — 
zwei Abende ber Woche widmen wolle! Vor Gericht 
hatte fie blos Worte der Liebe für ibn, felbft als ihre 
vorgehalten wurde, Kirchner babe fie ber Untreue be 
zichtigt. 

Marie Eziezek ift ein ſchlichtes, im kleinbürgerlichen 
Lebenskreiſe aufgewachienes Mädchen. Die Beziehungen 
LKirchner's zu ihr Fönnen, nach allem, was bie Schluß- 
verhandlung zu Tage geförbert Hat, nun flüchtige, vor⸗ 
übergehende geweien fein. Dennoch zögert fie nicht, ba 
fie ihn in Geloverlegenheit weiß, ihr Heines Erbtheil au⸗ 
zubieten. Sie bejtimmt ihre gefchäftsunfundige Mutter 
dazu, das Häuschen, ihre ganze Habe, zu verſchulden, 
um ihm einen Dienft zu erweiſen. Sie hat doch, wenn 
fie e8 früher nicht gewußt, inzwiichen erfahren, wie bie 
Sachen ftehen, mit welchen Frauen Kirchner gelebt bat, 
bennoch gilt im Gerichtsjaale ihr Gruß nur ihm, fie hat 
fein Wort des Bedauerns fir den pecuniären Verluſt, 
ben fie erleidet, fie befteht darauf, daß ihn auch nicht ver 
geriugſte Vorwurf treffe. 

Und Klara Eurie ... Der Vertheidiger hat fie 
ben Dämon genaunt, der Kirchner's Leben zerſtörte. 
Und dieſer Vorwurf, jo hart er Klingt, ift gerechtfertigt. 
Sie ijt im Gerichtsfanle nicht erſchienen, fie hat es nicht 





170 Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 


gewagt, Zeugniß abzulegen, fie floh vor dem Schredniß 
ber öffentlichen Verhandlung. Aber als die Leiche Kirch- 
ner’3 in kühler Erbe gebettet war, ba hat fie fich ver- 
ſtohlen berangefchlichen und hat an feinem Grabe geweint 
und gebetet. 

Kirchner war eine phantafievolle, ercentrifche Perſön⸗ 
lichkeit. Sein Beruf und fein Temperament reizten ihn 
zu Ausjchweifungen, die auf den nicht kräftigen, nicht 
musfuldfen Körper zerjtörend einwirken mußten. Ueber⸗ 
dies ftand er nicht mehr in ber erjten Iugenbfraft, er 
war über 40 Jahre alt, al8 er zu Frau Curio im 
intime Beziehungen trat. Dieſes begehrende, heißblütige 
Weib nahm Beſitz von ihm. Seele und Leib waren 
thr verfchrieben. Wer mag es ergründen, welche er- 
greifenden Scenen in ber verjchiwiegenen Kammer ſich 
ziwifchen ihnen abfpielten. Mit welchen Worten mag 
fie ihm ihr Unglüc geklagt haben, an einen verhaßten 
Mann gebunden zu fein, während er, ber Geliebte 
ihres Herzens, nur heimlich, wie ein Dieb, fich zu 
ihr fchleichen dürfel Und wenn fie, die Zeugenans- 
jagen verfichern e8 übereinftimmenn, nach dem Atten- 
tate wiederholt geklagt hat: „Warum hat er nicht 
befjer zugeichlagen! warum bat er ihn nicht getödtet!“ 
jollte man da nicht annehmen dürfen, baß fie ihren 
Liebhaber, wer vermag es zu fagen wie oft, im über- 
wallenden Liebesraufch zugerufen Hat: „Befreie mic) 
bob von dem Menfchen! Gibt e8 denn gar Fein 
Mittel, diefen Dann zu befeitigen!” — Wir wollen 
damit nicht behaupten, daß Frau Curio mit folchen 
Redensarten Kirchner bewußt zum Morde ihres Gat- 
ten aufgefordert habe, allein derartige Aeußerungen, im 
Affeet getban und im Augenblide von feiner Seite 
ernſt genommen, fie klingen oft nach und das rafche 


Der Proceß wider Iofeph Johann Kirchner. 171 


Wort wird umgefegt in die unbedachte That. Und 
bies, jo glauben wir, ift von feiten Kirchner's ge- 
ſchehen. Es war ihm Iäftig und unerträglich, Herrn 
Eurio auf feinen nächtlichen Gängen zu begleiten, er 
war müde, phyſiſch abgeipannt und heruntergefommen. 
Die Nachtruhe mußte er dem Manne opfern, dem er 
nur zu Willen ftand, weil er in ven Banden ber Frau 
Ihmachtete, feine Tage gehörten ihrem Dienfte. Die 
finnlihe Natur Kirchner's, feine überreizten Nerven 
trieben ihn zu immer neuen Exceffen. Zwei Abende 
ber Woche gehörten der Marianne — wie viele Stun- 
ben des Tages verbrachte er mit Klara Curio? Daß 
ihre biesbezügliche Angabe vor dem Unterfuchungsrichter 
unwahr ift, daran zweifelt wohl niemand, boch wird 
jedermann begreifen, daß fie aus weiblichem Scham- 
gefühl die Wahrheit nicht angeben Tonnte. Kirchner 
hatte gehofft, durch ein Telegramm, das er fich be- 
ftellte, an dem fritifchen Abende fich freizumachen. Es 
mislang. Widerwillig, aufgeregt, erbittert folgte er 
Curio in den Garten. Da überflam es ihn. In 
feinen Ohren Fang der Seufzer der Geliebten: „Be⸗ 
freie mich von dem Menfchen!“ und in blinder Wuth, 
ohne die Tragweite feiner Handlung zu überlegen, ohne 
zu bedenken, daß ein fo, finnlofer, mit fo unzureichenten 
Mitteln unternommener Angriff fcheitern müffe, bieb 
er auf den Ahnungsloſen ein. Unbegreiflih, daß biejer 
fih nit zur Wehre ſetzte und den weit jchwächern 
Gegner niederfchlug! Nach dem Attentat hatte Kirchner 
ben Kopf verloren. Sein ganzes Gebaren zeigt, daß 
er fich anfänglich nicht Har darüber werben konnte, was 
er eigentlich gethban hatte. Als er zur Ruhe kam, als 
er in der Wohnung Mariannens in Schlummer ver- 
junfen war, verhafteten ihn die Organe der öffentlichen 


172 Der Broceß wider Joßſeph Johann Kirduer. 


Sicherheit. Das Schlecht erjonnene Märchen, welches 
es in ber erſten Beitürzung vorbrachte und zu feinem 
Schaden fefthielt, Hat ihm ver den Geſchworenen großes 
Nachtheil gebracht. 

Kirchner war unferer Anficht zufolge für feine That, 
wenn er fie auch im Affect beging, verantwortlich. Die 
Strafe aber, die ihm dafür auferlegt wurde, ſtand außer 
Verhältniß zu feinem Verſchulden. Leiber vermag unfer 
Strafrecht nicht genügend zu inbivibualifiven. ‘Der Leiter 
bes Zuchthaufes, in dem Kirchner fo bald enden folite, 
Gefangenhausdirector Müller, bat den Schreiber biefer 
Zeilen durch vie Räume feiner Auftalt geführt und ihm 
wertboolle Auffchlüffe über die Natur ver Verbrecher, 
bie dort büßen, ertheilt. Er machte unter anderm auf- 
merffam auf einige verurtheilte Zigeuner. „Sehen Sie 
biefe armen Menfchen”, fagte er, „fie find von ihren 
Richtern zu Freiheitsſtrafen verurtheilt, aber in Wahr- 
beit zum Tode verbammt. Kein Zigeuner erträgt bie 
Zuchthausluft länger als einige Monate. Sie fterben 
am Mangel ver Freiheit. Wenn vie Gejeßgebung die als 
unmenfchlich verpänte Prügeljtrafe für folche Leute geftat- 
tete, jo wäre bies für fie einer Begnabigung gleichzuachten.“ 
— Die feinfühlige, zarte Natur des Künftlers war ebenfo 
wenig im Stande, die Kerkerluft lange zu ertragen. Er 
verhungerte bei ber reichlichen, aber allzu derben Koſt. 
Ein Zigeuner der Kunſt, tft er an ber entzogenen Frei⸗ 
beit geftorben. 


Der Proceß Benthien. 


(Mord. — Hamburg.) 
1889, 1890. 


Es war am 8. April 1889, einem Montage, als mit 
Windesſchnelle das Gerücht einer entjeglichen Blutthat 
Hamburg durchflog. Ein Verbredden, um jo gramjiger, 
ba das Dpfer, ein zehnjähriger Knabe, Emil Steinfatt, 
Sohn eines auf dem Bauerberg zu Horn wohnenven 
Zinnwaarenhändlers, von dem Mörder in geradezu beſtia⸗ 
licher Weiſe abgefchlachtet und verjtümmelt worden war. 

Boll kindlichen Frohſinns Hatte der Knabe am Nach» 
mittage des 7. April zwifchen 3 und 4 Uhr das Xeltern- 
haus verlaffen, um bei einem Gajtwirthe der Hammer⸗ 
landſtraße eine Beitellung zu machen, und bereitd um 
54, Uhr fanden die auf einem Spaziergange durch die 
Horner Feldmark begriffenen Gehülfen des Rauhen Haufes, 
Hilsmann, Palm und Hoffmann, ven noch warmen Leich- 
nam. Die bi8 auf den linken Unterarm, welcher noch 
einen Teen des Hembärmels trug, völlig entkleivete Leiche 
lag in einem feichten Graben, welcher fih unmittelbar 
neben einer einen mit Weidengebüſch und Heidekraut 
bewachlenen Anhöhe befindet, zu der von Wandsbeck ber 
ein Feldweg führt. 


174 Der Proceß Benthien. 


Bon Graufen gepadt ftarrten bie breit jungen Leute 
das fi ihnen fo unvermuthet darbietende Bild eines 
vollbrachten Mordes an. Endlich ermannten fie fidh, 
eilten in die ungefähr 1300 Schritt entfernte Rennbahn- 
jtraße und erftatteten dem bort patrouillirenden Eonftabler 
Anders Anzeige von ihrem Funde. Hierauf Tehrten fie 
zurüd in das Rauhe Haus. ‘Der Eonftabler fuchte ven 
Thatort auf, ihm fchloffen fich vier Knaben an: Heit⸗ 
mann, Behn, Rau und Biemann. Sie waren in ber 
Richtung vom Kugelfange des Schießplates des in Wands⸗ 
bed garnifonirenden Hannoveriſchen Hufaren- Regiments 
Nr. 15 bergelommen und einem Manne begegnet, welcher 
in befchleunigter Gangart dem Kugelfange zuftrebte. Dies 
mußte der Weg fein, den der Mörder nach vollendeter 
That eingefchlagen batte, denn vom Schauplake bed Ver⸗ 
brechens führten Fußſpuren — fie beuteten einen zier- 
lichen Stiefel mit bejonvers fpiten Abſätzen an — ges 
raden Wegs nach dem Kugelfange. Die Verfolger nahmen 
die Fährte auf. Sie fahen denn auch bald in einer auf 
etwa 800 Meter geſchätzten Entfernung einen fie augen- 
ſcheinlich gejpannt beobachtenden Menschen ſtehen, ver bei 
ihrer Annäherung ſchnellſten Laufes nach Jenfeld zu ent- 
floh, jpäter in den Barsbütteler Weg einbog und in ber 
hereinbrechenvden Dunkelheit verſchwand. Der Weg, ben 
ber muthmaßliche Mörder nahm, war jumpfig, ſodaß vie 
Berfolger jede Spur verloren. 

Conftabler Anders veranlafte die Benachrichtigung 
des Polizeibezirfsburenus Borgfelde, und noch denfelben 
Abend wurde die Leiche von dem Diftrietsarzte im Beiſein 
bes Bolizeicommiffarius Sengebuſch unterjucht. Die Kllei- 
bungsftüde des Ermordeten lagen unter feinem Körper, 
Beinkleiv und Unterhofe jtafen ineinander. ‘Der Ober: 
theil des erftern zeigte reichlihe Blutſpuren, während 


Der Proceß Bentbien. 175 


Sade und Hemd in Bruft- und Halsgegend blutburch- 
tränkt waren. Als erwielen war anzunehmen, daß ber 
Tod des Knaben auf gewaltjame Weije durch fremde 
Hand herbeigeführt worden und daß es fich um einen in 
tbierifcher Roheit verübten Mord handelte. 

Der Verdacht der Tchäterfchaft lenkte fich auf einen 
Menichen, den mehrere Berfonen kurze Zeit vor Auf- 
findung ver Leiche in Gefellichaft des Knaben Steinfatt 
auf dem Wege nach dem Horner Moor gejeben hatten, 
Der Knabe war nachmittags zwijchen 31), und 4 Uhr 
von feiner Mutter in die Hammerlandftraße Nr. 180 
belegene David'ſche Gaftwirthichaft gejchidt worden, um 
dort Bier zu beitellen. Als Begleiter nahm ver Knabe 
ben jechsjährigen Georg Borries mit. Nach der Ausfage 
des noch fehr Heinen und daher in feinen Angaben un- 
zuverläffigen Kindes ſoll fich ihnen bei ver „Hohlen Rinne‘ 
ein Dann zugefellt haben. Derſelbe war in ihrer ©e- 
jellfchaft, als fie um 4 Uhr vor der David'ſchen Wirth- 
Schaft ankamen. Die Brüder Lehrer Adolf und Kaufmann 
Heinrich Claſen erwarteten um dieſe Zeit ihre Schwägerin 
rejp. Frau, welche im Magdalenenſtift einen Beſuch ab- 
ftattete, und ftanden vor dem Haufe des David, als der 
von ihnen auf das bejtimmtejte wiebererfannte kleine 
Borries mit dem Knaben Steinfatt von der horner Seite 
berüberfam. Während bie beiden Knaben in das Wirth- 
Ihaftslocal traten,” machte fich der in ihrer Begleitung 
befindliche und fie jet erwartende Mann an ben Lehrer 
Claſen heran und ſagte Plattveutich: „De Jungens könnt 
gern mit mie gahn un en Padet dregen für föftein Penn.“ 
Elajen, der von dem fremden Menfchen einen unbeim- 
lihen Einprud empfing und dem es auffiel, daß der Un- 
befannte gar kein Padet bei fich Hatte, lenkte die Auf- 
merfjamfeit feines Bruders auf den fonderbaren Menſchen 


176 Der Proceß Benthien. 


und äußerte ſein Bedenken, daß die Kinder fich in ſolcher 
Geſellſchaft befänden. Unterdeſſen kamen die Knaben aus 
der David'ſchen Wirthſchaft Heraus und entfernten ſich 
mit dem DManne nach ber Horner Landſtraße zu. Der 
Heine Borries trennte fich fpäter von dem Fremden und 
Emil Steinfatt; diefe beiden wurden von der Witwe Koch 
und dem Gaftwirth Triepel nachmittags zwiichen 4 und 
41, Uhr am Ende des Horner Weges gefehen. Etwa an 
derſelben Stelle begegneten dem Mörver und feinem Opfer 
bie Knaben Hillmer und Eftein, welche ihren Schnlgenoffen 
Emil Steinfatt beftimmt erkannten. Die Knaben Wil- 
beim und Emil Schmidt, Behn, Bierfe, Vorwerk und 
beffen Vater fahen Emil Steinfatt um 41, Uhr auf dem 
bei der Rennbahn die Verlängerung des Horner Weges 
bildenden Steindamm mit einem Manne um bie Wette 
laufen umd zwar nach der Richtung des Leichenfundortes. 
Einer der Knaben rief Steinfatt nach: „Wo wullt du 
denn hen?” worauf ber Fremde antwortete: „Wat geiht 
ju dat an?“ Bon da bis zur Stätte des Verbrechens 
beträgt die Entfernung fünf Minuten. Es durfte alſo 
als feititehenp angenommen werben, baß die That von 
bem bis zulegt in Begleitung des ermordeten Kindes 
gefehbenen Manne zwifchen 41, und 51, Uhr verübt 
worden war, denn um 51, Uhr hatten bie bereits 
genannten Gehülfen des Rauhen Hauſes die Leiche ges 
funden. 

Faſt alle Zeugen ftimmten in überrafchender Weite in 
der Beichreibung des Mörders überein. Er war etwa 
22—25 Jahre alt, von mittlerer Statur, feine Haltung 
nicht ganz gerade, ſondern vornübergebeugt, fein Gang 
ſchlotterig. ALS beſondere Kennzeichen wurden angegeben 
fahle Gefichtsfarbe, dünne Lippen, langgebogene Nafe, 
Heiner brauner Schnurrbart, höher jtehenpe rechte Schulter. 





Der Proceß Benthien. 177 


Der Mann trug einen bunfelblauen Rod, Iadet oder 
Veberzieher, fchwarz und weiß geftreifte Beinkleider, einen 
ſchwarzen fteifen Filzhut mit rundem Dedel und Stiefe⸗ 
fetten mit hoben Haden. 

Die von der Staatsanwaltichaft in geigneter Form 
befannt gemachte Perfonalbeichreibung, verbunden mit 
einer ausgefegten Belohnung von 1000 Mark hatte 
ben Erfolg, daß am 21. April, aljo 14 Zage nach ber 
That, durch den Conftabler Heinrich ein Mann auf offe- 
ner Straße verhaftet wurde, deſſen Aeußeres fich mit dem 
veröffentlichten Signalement deckte. 

Der Verhaftete war ver am 21. Februar 1867 zu 
Bliesdorf, Kreis Lauenburg, geborene Schuhmachergefelle 
Johann Adolf Chriftian Benthien, genannt Ahrens, in 
Hamburg und Altona fünfmal wegen Bettelns und ver- 
botswidriger Rückkehr vorbeftraft. 

Die über ſeine Vergangenheit gepflogenen Ermittelun⸗ 
gen entrollten ein Bild größter ſittlicher Verwahrloſung. 
Seine durch ein Krebsleiven im Geficht völlig verunftal« 
tete Mutter hatte einen gewiſſen Benthien ald Vater bes 
von ihr unehelich geborenen Knaben ausgegeben, doch ließ 
fich ein Verkehr vefjelben mit ihr nicht nachweijen, viel⸗ 
mehr berrichte im Heimatsdorfe des Verhafteten die all 
gemeine Meinung, daß er gleich zwei verjtorbenen Ge⸗ 
ichwiftern das Dafein dem Teiblichen Vater feiner Mutter 
verdanke. Diefer, der Anbauer Ahrens, ftand im denk⸗ 
bar fchlechteften Rufe eines arbeitsjchenen Trunfenbolbes, 
Als der Knabe vier Jahre alt war, ftarb feine Meutter, 
Der Anbauer Ahrens nahm nun die Erziehung des Ver⸗ 
waiften in die Hand, erfüllte indeß feine Pflicht in feiner 
Weife. Der Junge fol diebifch, verlogen, graufam und 
verſchloſſen geweſen fein, fich aber Doch jo viel religidfe 
Kenntniffe erworben haben, daß er jehr wohl Böſes vom 

XXIV. 12 


178 Der Proceß Bentbien. 


Guten unterjgeiven konnte. Er war ber richtige Dorf⸗ 
paria; paffirte irgendein fchledhter Streich, flugs wurbe 
er als Urheber bezeichnet. Sein verlommener ſchmuziger 
Zuftend Hatte zur Folge, daß ihn feine Altersgenofjen 
mieven. Er war entweder allein ober er trieb fich bei 
Kuhhirten umber. Als im Haufe feines Großpaters und 
einige Zeit danach in dem eines gewiſſen Dorendorf 
Teuer ausbrach, deutete das ganze Dorf mit Fingern 
auf ihn als den Branbftifter. Auch fogenannte Kuicks 
(lebende, Wieſen und Felder abgrenzend umfchließenpe 
Heden) ſoll er angezündet haben. Mehrmals wurbe er 
bei Diebereien auf der That ertappt und regelmäßig mit 
einer tüchtigen Tracht Diebe beftraft. Auch als gefühl- 
loſer Thierquäler wird Benthien geſchildert. Er fell 
lebende Froͤſche aufgehbangen und zerfchnitten umb ben 
Schweinen einer Frau Wörs die Ohren abzuichneiben 
verfucht haben. Nach ber Eonfirmation trat ber Junge 
isn Dienft, hielt aber nirgends lange aus. Als 17jähri⸗ 
ger Burſche kam er zu dem Schuhmacher Heß in Lübeck 
in bie Lehre. Auch hier beivies er feine Unzuwerläffigfeit 
und Berlogenbeit, zeigte fich ſchwer von Begriff, und fiel 
durch fein fonberbares Wejen auf. Nach beenbeter Lehr⸗ 
zeit wenbete Sich Benthien nad Hamburg, wo er ein un- 
ftetes Leben führte, häufig die Wohnung wwechielte, ben 
Logiswirtben bie Miethe ſchuldig blieb, fait nie arkei- 
tete, ſondern ſich einem echten Vagabundendaſein hingab. 
Nähern Verkehr hat er in dieſer Periode mit niemand 
gepflogen. 

Das war das aus dem Vorleben geſchöpfte Material, 
dem der Unterſuchungsrichter gegenüberftand, als ihm ber 
Berhaftete zum erften Verhör vorgeführt wurde. Daß 
man fich bei der fittlichen Berfommenbeit Benthien’s einer 
That wie ber des Mordes an dem Knaben Steinfatt 





Der Proceß Benthien. 179 


wohl verjehen konnte, war nicht zu bezweifeln, ver Be- 
ſchuldigte leugnete jedoch mit größter Entichievenheit und 
einem nicht unbebeutenden Aufwande von Schlaubeit, jo» 
daß der die Unterfuchung leitende Landrichter Dr. Sudeck 
bor einer recht fchwierigen Aufgabe ſtand. 

Den eriten Erfolg hatte er nach beinahe dreiwöchent⸗ 
licher Arbeit, am 6. Juni, zu verzeichnen. Bis zu die⸗ 
jem Zage batte Bentbien, trogdem ihm faft alle Zeugen 
als den Begleiter des ermordeten Knaben recognofeirten, 
entſchieden in Abrede geftellt, zur Tritiichen Zeit in ber 
Gegend von Horn oder Wandsbeck geweien zu fein. Er 
behauptete, am 7. April feine Wohnung bei dem Schuh⸗ 
macher Wulff am Billhorner Röhrendamm um 34/, Uhr 
nachmittags verlaffen, fich nach dem Thurme der Nothen- 
burgsorter Wafjerwerfe, von da nach dem in ummittel- 
barer Nähe Tiegenden Meyer'ſchen Tanzjalon und bierauf 
nad dem Zollichuppen an der Elbe begeben zu haben, 
um mit feinem Logiswirthe zu fiſchen. Diefen babe er 
nicht getroffen, er fei deshalb nach Haufe gegangen um 
bajelbft in der 10. Abenpftunde angelommen. Als biefe 
Angaben durch Zengen, beſonders bie Gebrüber Claſen, 
wiberlegt wurben, änderte der Angellagte plößlich feine 
Zaktif, räumte ein, daß ber von ihm verjuchte Alibibeweis 
der Wahrheit nicht entipreche, und fagte nunmehr aus: er 
jei allerdings am 8. April nach Horn gegangen, bort 
Arbeit zu juchen. Bereits früher habe er mehrmals bei 
Anftreicherarbeiten aushülfsweife mitgewirkt und deshalb 
auch bei einem Maler Koh in Damm vorgefprochen, 
allein nur deſſen Ehefrau zu Haufe gefunven. Nun jei 
er noch bei einem zweiten Maler auf der Dammerland- 
ftraße gewejen, von welchem er zwar feine Beichäftigung, 
wohl aber eine Taſſe Kaffee und einen Grofchen erhalten 
habe. Dann fei er nach Horn zu gewandert. Unterwegs 

12* 


180 Der Proceß Benthien. 


babe ein ihm unbelannter Mann ihn aufgeforbert, einen 
Koffer vom Hotel Marienthal Hinter Wandsbeck nad 
dem Hamburger Hof am alten Sungfernitieg zu trans- 
portiren und fi einen Knaben als Hülfe mitzubringen. 
Auf der Hammerlandftraße feien ihm zwei Knaben be- 
gegnet, die in einer Wirtbfchaft eine Beſtellung ausrichten 
follten. Er habe fie gefragt, ob fie ihn nach Marienthal 
begleiten und für 50 Pfennige einen Koffer tragen helfen 
wollten. Nachdem fie fich willig gezeigt, ſei er mit ihnen 
weiter gegangen. Nach einiger Zeit habe ber größere Junge 
den Heinen zurüdgefchidt. Aber auch der erjtere fei nur 
eine furze Strede mitgegangen, dann habe fich derjelbe 
von ihm getrennt, weil er feine Mutter um Erlaubniß 
fragen müſſe. Nach etwa einjtündigem vergeblichen War- 
ten auf die Wiederkehr des Knaben .fei er bei Sonnen⸗ 
untergang wieder zu dem Maler Koch gegangen, habe 
jedoch abermals nur die Frau angetroffen, fich auf den 
Weg nah Marienthal gemacht, dort etwa eine halbe Stunde 
umjonft auf ben Unbelannten gewartet und fei enölich 
nach kurzer Einkehr bei einer Frau Zander auf dem Bauer⸗ 
berg in Horn nach Haufe gewanbert. 

Auf Verfügung des Unterfuchungsrichters wurde Ben- 
thien durch den Bolizeifergeanten Hanjen herumgeführt, 
um die betreffenden Leute, bet welchen er gewejen, und 
ven Pla, an dem er fih von dem Knaben Steinfatt 
getrennt haben wollte, feitzuftellen. Hierbei ergab fich, 
daß Benthien allerdings zwifchen 3 und 4 Uhr bei dem 
Maler Biedermann auf der Hammerlandftraße vorge- 
iprochen und Kaffee nebjt Geld empfangen hatte. ‘Der 
Maler Koch Tieß fich nicht ermitteln, jepoch wohnte in 
dem vom Befchuldigten bezeichneten Haufe ein Maler 
Hanfen, bei dem Benthien möglichenfalls . gewejen fein 
kann. Frau Zander, die fich übrigens fchon vorher als 





Der Proceß Bentbien. 181 


Zeugin gemeldet hatte, beftätigte im wefentlichen feine 
Angaben. 

Benthien ftügte fich jet Auf biefe feine theilweiſe 
bewiejenen Ausjagen und leugnete nach wie vor bie 
Thäterjchaft. 

Bald waren jedoch weitere Indicien gefunden, bie 
ihn ſchwer belafteten. Er wollte die dem Unterfuchungs- 
richter vorgebrachten Lügen über feinen Bejuch des Waſſer⸗ 
thurmes und im Meher’ichen Tanzſalon fowie feine an⸗ 
gebliche Unkenntniß des kritiſchen Terrains damit ent- 
fchuldigen, daß er, wenn er fofort die Wahrheit gejagt 
hätte, den ungerechtfertigten Verdacht ver Ermordung bed 
Knaben Steinfatt nur noch mehr beftärft haben würde. 

Das Hang num- ganz glaubhaft. Ein beichränfter, 
überbie8 von dem auf ihm laftenden Verdacht nieverge- 
prüdter und burch bie ſchwebende Unterjuchung einges 
ſchüchterter Menſch Tonnte ſehr wohl auf die Idee Tom- 
men, jeden Umftand, der auch nur entfernt mit der That 
in Verbindung zu bringen wäre, beharrlich abzuwehren 
und jelbjt zwingenden Zeugenausfagen gegemüber zu leug- 
nen; das wäre, wie gejagt, möglich geweſen. Nun 
wurbe dem Benthien aber durch die Unterfuchung nach⸗ 
gewiefen, baß er jene erjte Erzählung ſchon am Abenpe 
des 7. April, als die Kunde von dem Morbe noch gar 
nicht in weitere Kreife gebrungen war und fein Verbacht 
auf ihm Laftete, mit mehrern Zufägen feinem Logiswirth 
Wulff aufgetiicht hatte. Offenbar war ihm aljo bereits 
daran gelegen, fein Zujfammenfein mit dem Snaben in 
Horn zu verjchweigen. — Auch die erwähnten Zufäge find 
harakteriftiich für das Vertheidigungsſyſtem Benthien’s, 
benn fie betreffen ein weiteres Indicium gegen ihn. Er 
erzählte Wulff, er fei vom Meyer'ſchen Tanzſalon nach 
der Elbbrücke gegangen, in deren Nähe habe ein Kater 


182 Der Broceß Beutbien. 


gejeffen, den er aus Erbarmen batte mitnehmen wollen. 
Das Thier habe ihm jedoch die Hand zerfrallt. Hierbei 
wies er Wulff den rechten Hanprüden, ver mehrere breite 
und furze, ganz frifche Kratzwunden zeigte. Wulff wollte 
jofort bemerkt haben, daß diefe nicht von Katzenklanen, 
fondern von Fingernägeln herrührten. Auch eine bei 
Wulff wohnende Fran Hoffmann hatte bie friihen Ver⸗ 
legungen am Tage nach dem Verbrechen geſehen. Beiber 
Ansjagen fuchte Benthien dadurch zu begegnen, daß er 
bie Kratzwunden fchon zwei Wochen vorher erhalten und 
ben Zeugen gezeigt haben wollte. 

Nach dem Sectiondbefund wurde bie Blutthat mittels 
eines fcharfen Inftrumentes vollführt. Der Befig eines 
folhen am kritiſchen Tage wurde Benthien ebenfalls nach⸗ 
gewieſen. Am 6. April hatte er von Wulff. veffen Meffer 
entlieben, um fich eine Glätte, ein Handwerkszeng ber 
Schuhmacher, zu ſchueiden. As Wulff am Tage nach 
ben Morde fein Meſſer zurückverlangte, bat der Beſchul⸗ 
bigte ihn bringlich, es noch behalten zu dürfen. Wulff 
hatte daſſelbe mit Wachs eingejchmiert, um ed vor Roft 
zu ſchützen, und nur eine Feine Stelle mittels eines Gla®- 
fcherben® von dem Weberzuge befreit. Als ihm Benthien 
das Meſſer am 10. April zurüdftellte, war es in voll- 
fommen reinem Zuftande und ber Stahl zeigte verfchiedene 
Schrammen, die nach dem unter Eid abgegebenen Gut⸗ 
achten eines Mefjerichmiedes daher rührten, daß das Meffer 
auf einem rauhen Steine gewetzt worben war. 

Zu ben reim objectiven Beweiſen tft noch die Fußſpur 
zu zählen. Die von dem Mörder hinterlaffenen Fußſpuren 
find am Morgen des 8. April nochmals von dem Com⸗ 
miffarius Sengebufch, den Beamten Hanſen und Buſch, 
und auch bei der gerichtlichen Augenjcheinnahme genau 
gemefien und Abdrücke ſowie Ausschnitte nach denjelben 





Der Broceh Benthien. 183 


angefertigt worben. Uebereinſtimmend zeigten fie einen 
Heinen, etwa 23 Centimeter langen Stiefel, mit runden, 
unten ſpitzem, 3 Centimeter hohem Abfate. Die Stiefel 
des Benthien und namentlich veren Hacken deckten fich 
vollſtändig mit den Spuren. 

Diefen Ergebniffen find nach ber Anllagefchrift noch 
folgende Indicien hinzuzufügen: 

Als Die Nachricht von dem Morde auch Wulff zu 
Ohren gelommen war und in befien Wohnung erörtert 
wurbe, ſprach Benthien fich in auffälliger Weiſe darüber 
aus. Unter anderm foll er bei bviefer Gelegenheit ge⸗ 
äußert haben: „Wer breißig folcher Mordthaten voll» 
bracht bat, wirb unfichtbar; wenn fie den angeblichen 
Mörder auch auf ganz freiem Felde verfolgt hätten, wäre 
er doch plötzlich unfichtbar geworben!“ 

Einer Frau Scherner foll er bet einer zweiten Ges 
legenheit mitgetheilt haben, es ſei doch nicht fo ſchlimm, 
ein Find zu ermorden, Dauth (der, irren wir nicht, im 
November 1888 ven Spebiteur Hälfeberg ums Leben ge» 
bracht und beraubt Hatte) habe eine viel jchlimmere That 
‘ begangen. Der Mörber fet übrigens nicht nach Jenfeld, 
ſondern nach Hinfchenfelde zu entflohen. 

Dem Sohne biefer Frau Scherner ſoll Benthien am 
9. April den Wunfch zu erkennen gegeben Haben, er 
möchte wohl „ad den Aufichliger” einmal fehen. 

Am Nachmittage des 10. April endlich ift ver Be⸗ 
jchulpigte in die Krügeret von Kruckau gekommen und 
hat bajelbft einen Schnaps getrunken, bie anweſende 
Wirthin fragend, ob denn der Mörder fchon entdeckt jei. 
AS vieſelbe dies verneinte, fol er erllärt haben, den 
Thäter ganz genau zu kennen. Er Habe mit ihm zufam- 
men auf Steinwärber gearbeitet, tvo der Mörder zwei 
Heine Mädchen und einen polniſchen Arbeiter unſittlich 


184 Der Proceß Bentbien. 


attalirt Habe. Er wolle mit ber Anzeige aber noch ein 
paar Tage warten. 

Der Termin zur öffentlichen Hauptverbanblung vor 
dem Schwurgerichte wurde auf ben 17., 18. und 19. Dec= 
tober feſtgeſetzt. 

Dank der getroffenen Einrichtung, nur mit Einlaß- 
karten verfehenen Perfonen den Zutritt zu geftatten, waren 
vor dem SYuftizgebäude auf bem Holftenplage nur wenige 
Neugierige zu fehen, und auch einer Veberfüllung des Zu⸗ 
hörerraumes des großen Schwurgerichtsjaanles war vor⸗ 
gebeugt. 

„Da es fih um eine Anklage wegen Mordes und ein 
zu erwartendes Zobesurtheil handelt“, wir reproduciren 
hier wörtlich den Bericht des Referenten ver „Hamburger 
Reform‘, „bildet natürlich das fchöne und fogenannte 
schwache Gefchlecht mit der ihm angeborenen Schüchtern- 
„beit und Sanftmuth die Mehrzahl des Publikums.“ 

Den Vorſitz der Verhandlung führte Landgerichts- 
birector Engel, die Anflagebehörde vertrat Oberſtaats⸗ 
anwalt Dr. Hirſch, pie Vertheidigung lag in den Hän- 
ben be8 Dr. C. Auguft Schröder. 

Der Angeklagte ift ein ſchlanker, mittelgroßer Menſch, 
mit ſchmalem, bleichem Geficht, deſſen niebrige, im ſchar⸗ 
fen Winkel zurüdipringende Stirn fi) umter bichtem 
Ihwarzen Haar verliert, während ein Kleiner hellerer 
Schnurrbart zwiſchen ber ſtark gebogenen, das Antlig ge- 
witjermaßen beherrfchenden Naſe und aufgeworfenen Lip⸗ 
pen fißt. 

Der auffallend hinkende Angellagte blickt ziemlich kühl 
in den Saal. Die Frage des Präſidenten, ob er ſich 
ſchuldig befenne, beantwortet er mit fefter Stimme: „Rein, 
mein geehrter Herr, was ich nicht gethan habe, habe ich 
nicht gethan, jo wahr ein Gott im Himmel tft!“ Bei 


Der Proceß Benthien. 185 


feiner Vernehmung macht er über feine Kindheit die be- 
reit8 früßer erwähnten Angaben. Seinen angeblichen 
unebelihen Vater habe er nie gefannt, feiner Mutter 
fönne er fich nur fchwach erinnern. Die ihm zur Yaft 
gelegten Vergehen feiner Yugendzeit, die ihm zum Vor⸗ 
wurf gemachten Branditiftungen bejtreitet er energiſch. 
Die Heinen ihm vorgehaltenen Unregelmäßigfeiten gibt er 
unumwunden zu, boch will er niemals Thiere gequält 
haben. Bis zum 14. Jahre habe er die Dorfichule be- 
jucht und gelernt, daß man nichts Böſes ausüben dürfe. 
Nach ferner Confirmation habe er auf verjchiedenen Stel» 
len gedient, ohne dem Leben eines Landmanns bejondern 
Geſchmack abgewinnen zu können. Er jet vom Pferde 
geftürzt und hinke ſeitdem, veshalb fet er nach Lübeck 
gewandert, habe dort das Schuhmacherhanpwerf erlernt 
und ſich 1885 nach Hamburg gewendet. Schließlich fei 
er. Trank und fchwachfinnig geworben, ba habe man ihn in 
feinen Heimatsort geichafft. Dort habe es ihm jedoch 
nicht lange behagt, er ſei wieder nach Hamburg zurüd- 
gelehrt. Im März 1889 ſei er zu dem Schuhmacher 
Wulff auf dem Billhorner Röhrendamm, im April zu 
einem gewifjen Richter in ver Neginenftraße gezogen. 
Letzteres Logis Habe er bis zu feiner Verhaftung;bewohnt. 
Ueber jeinen Aufenthalt und fein Thun am 7. April 
wiederholt er die vor dem Unterfuchungsrichter abgegebene 
Ausfage, geiteht aber, während ver Vorunterfuchung viel 
gelogen zu haben. Er fucht Die vorgebrachten Unwahr- 
heiten mit feiner Furcht, daß er noch mehr in Verdacht 
gerathen fünnte, zu entjchulpigen. Auf Vorhalt des Prä⸗ 
fiventen, daß er erft am 21. April verhaftet worben fei, 
jeine eingeftandenermaßen erfundene Gejchichte aber be- 
reits am Abend des 7. April dem Wulff erzählt habe, 
erflärt Benthien: er habe dies „in der Dummheit‘ ge- 








186 Der Broceh Beuthien. 


than. Die Gefchichte von dem Kater und ben Kratzwun⸗ 
ben babe er dem Wulff nicht am bemfelben Tage, fonvern 
ſchon 14 Tage früber erzählt. Diefer müſſe fich irren, 
wenn er etwas anderes behaupte. Daß er immer ge 
leugnet, in des Wirthichaft ver Frau Zander geweien zu 
fein, fucht Benthien damit zu entfräften, daß er ven Ber- 
bacht gegen fich nicht habe beftärlen wollen. 

Die Frage des Präfiventen, warum er ven Aufenthalt 
bei der Frau Zander verſchwieg, ald noch gar Fein Ver⸗ 
bacht gegen ihn vorlag, beantwortete er, wie bereits früher, 
dahin: „das fei in der Dummheit” geichehen. Das Diefier 
bes Wulff habe er fchon drei bis vier Tage vor bem 
7. April geliehen, um eine Schufterglätte zu ſchneiden, 
aber das dazu paffende Holz nicht gefunden. Er habe das 
Meſſer gar nicht gebraucht und unbenugt in ver Hofentafche 
herumgetragen. Ueber die auf ber. Klinge vorgefundenen 
Schrammen vermöge er Feine Exflärung zu geben. Die 
Kragwunden an feiner Hand feien zwei Wochen älter 
als der Mord. Der Angellagte führt ſie wieder auf ben 
Kater an der Elbbrücke zurüd, während wier weitere ganz 
gleiche Kratzwunden an feinem Leibe, beren Narben bei 
ber Törperlichen Viſitation am 29. April entdeckt wurden, 
durch den befchädigten Hafen feines Hofenrientens ver- 
urſacht worden feten. Sein auffälliges Hinfen rühre von 
dem Sturze mit einem Pferde ber. 

Damit ſchloß die Vernehmung des Ungeflagten und 
er Gerichtshof trat in die eigentliche Beweisaufnahme 
ein. Außer ven Sachverftändigen waren 88 Belaftungs- 
und 19 Entlaftungszeugen geladen. 

Der erfte Zeuge, Eonftabler Anders, berichtete zu⸗ 
nächft die bereits befannten Einzelheiten bei Auffinvung 
der Leiche. Er bat mit zwei Knaben und einem Arbeiter 
nebſt deffen Sohn ven flüchtigen Menfchen verfolgt, ber 





Der Broceß Bentbien. 187 


jehr gut zu Fuß war und nicht hinkte. Er ift demſelben 
etwa 150—200 Schritte nahegelommen und bat ihn fehr 
gebett, fobaß er, ver Flüchtling, ganz erfchöpft fein mußte, 
Auf Befragen des Vertheidigers befunbete Anders, daß 
ber von dem Entflohenen eingefchlagene Weg allerdings 
ein fehr ſchmuziger und ſumpfiger geweſen jet. 

Dr. Mingramm, Polizeibiftrictsarzt, ſchilderte ben 
Leichenbefund. Als Zeuge am Thatorte anlangte, war 
e8 bereits dunkel und er mußte bei Laternenlicht operirem 
Der Leihnam war durch Mefjeritiche völlig zerfleifcht. 
Die Verlegungen lieferten dem Zeugen ven klarſten Bes 
weis, daß das Verbrechen aus Luft am Morden volfbracht 
werden it. Eine anatomiſche Kenntniß des menfchlichen 
Körpers ift nicht erforderlich, um die Gelenke fo zu treffen, 
wie fie vurchichnitten waren. Die That muß mit einem 
ſcharfen Inftrumente ausgeführt worden fein. Ein Taſchen⸗ 
meffer hält er nicht für geeignet. Auch das ihm vor- 
gelegte Wulffiche Meſſer feheint dem Zeugen nicht 
groß und fcharf genug zu fein, aber er will bie Mög⸗ 
fichfeit nicht beftreiten, daß dieſes Meſſer verwendet 
werben fit. 

Während der Zeuge die Verftiimmelungen des Stein- 
fattichen Körpers beichrieb, warf Benthien raſche ſcheue 
Blicke in ven Zuſchauerraum. 

Förſter Otte, Polizeiverwalter in Bliesdorf, hat ven 
Angeklagten ftets für einen verfommenen Menſchen ge- 
halten, der einer böfen That wohl fähig fit. 

Lehrer emeritus Döpfe hat früher die Dorfſchule zu 
Bliesdorf geleitet und den Angellagten unterrichtet. Dieſer 
ift Kein Schlechter Schüler geweſen, aber verlogen, gegen 
Zureden abgeftumpft und verftellungsfähig. Zeuge hat 
ihm oft prophezeit: „Junge, Yunge, bu nimmft ein jchlechtes 
Ende und ftirbft noch mal am Galgen!” 


188 Der Proceß Benthien. 


Der neunzehnjährige Landmann Otte hat ſelbſt geſehen, 
daß der Angeklagte lebende Fröſche zerſchnitt. 

Der Hufner Körner hatte Benthien ein halbes Jahr 
als Jungen im Dienft, freute ſich aber, als er ihn wieder 
[08 war. Der Angellagte hat fich bei ihm einmal einen 
ſchlimmen Fuß zugezogen, ſodaß er eine Zeit lang hinkte 
doch bat fich das fpäter wieder gegeben. 

Der Landmann Rethwiſch bat den Angeklagten ein 
Jahr als Kuhhirte beichäftigt und ihn oftmals geprügelt; 
er hatte vom Großvater bejjelben Auftrag, ftrenge Zucht 
zu üben. 

Der Holländer Greßmann ſchilderte ven Angellagten 
als arbeitsichenen, lügenhaften und graufamen Menjchen, 
der eine Freude daran empfand, Thiere zu quälen. Er 
bat Benthien einjt ertappt, als dieſer Die Schweine in 
ihrem Kober mit einer Miftgabel blutig jtach. 

Schuhmacher Heß aus Lübeck, ver einftige Lehrherr 
Benthien's, erzählt, wie biefer ihn freiwillig aufgefucht 
und gebeten habe, ihn das Handwerk zu lehren. Zeuge 
bat von dem Angeklagten den Einprud eines „dumm⸗ 
ſchlauen“ Menſchen gewonnen. Beim Gehen fchleppte er 
das rechte Bein in hinkender Weife nah. Auf Befehl 
bes Vorſitzenden mußte der Angellagte mehrmals im Saale 
auf- und abgehen, was er in jehr flinfer Weife bejorgte. 

Frau Sander, bei ver Benthien furze Zeit gewohnt 
hatte, charakterifirt ihn als „ungeheuern“ Lügner, ben 
fie aber trotzdem für dumm, ja öfters für geiftesfchwach 
gehalten babe. 

Frau Müdenheim, bei der Benthien ebenfalls lo⸗ 
girt bat, war nicht fehr erbaut von ihrem Einwohner, 
ber ihr unflug vorkam und allerlei Unfinn machte, 

Ebenfo Tprechen fich die Frauen Hanſen und Ilſen 
aus. Letztere namentlich betonte, daß Alles, was er ge- 








Der Proceß Benthien. 189 


fagt, unwahr gewejen fei. Auch ihr wurbe Benthien in 
Bewegung gezeigt; fie meint, daß er einen ähnlichen Gang 
immer gehabt habe. 

Schuhmacher Reife, der Benthien drei Monate be- 
bherbergte, fagt aus: er fei ein unzuverläffiger Arbeiter 
geweſen, ver meift durch „Fechten“ feinen Unterhalt beitritt. 

Einer Frau Fride, aus deren Wohnung er ver- 
ſchwunden war, ohne Miethe zu bezahlen, hat ber Ans 
geflagte, als fie ihn auf ver Straße traf und zur Rebe 
ftellte, einfach erklärt, er fenne fie nicht und heiße nicht 
Denthien, ſondern führe den Namen Ahrens. 

Dei der 74 Jahre alten Frau des Schuhmachers 
Martens, in deſſen Gejchäft er thätig war, befchwerte fich 
ber Angeklagte einmal darüber, daß er Hunger leiben 
müffe. Sie erwiverte ihm: wer effen will, muß auch 
arbeiten. Da pacdte er die alte Frau an der Bruft, 
warf fie zu Boden, ſteckte ihr das Halstuch als Knebel 
in ven Mund und würgte fie, dann lief er Davon. Der 
Vorgang ift damals der Polizei angezeigt worben, hat 
aber feine weitern Folgen gehabt. 

Dr. Sthamer gibt einen Bericht über die Section 
ber Leiche des Knaben Steinfatt. Es fanden fich folgende 
Berwunbungen: 

Horizontal über die Vorberfläche des Halſes eine acht 
Gentimeter lange Schnittwunde, durch welche das Unter⸗ 
hautbindegewebe, die Fascie und ver linfe Kopfrückenmuskel 
burchfchnitten war. 

In der Nähe des Linfen Schultergelenfes waren bie 
MWeichtheile auf der VBorberfeite von ber hintern Achfel- 
Linie bis zum Schlüffelbein vollſtändig durchſchnitten, ebenfo 
bie große Schlagader und bie große Blutader des Armes. 
Durch dieſe Verwundung war der Arm faſt ganz vom 
Körper getrennt. 





190 Der Proceß Benthien. 


Eine vom Schwertfortiat bis zwei Finger breit ober- 
halb des Nabels vertikal verlaufende elf Centimeter lange 
und brei Centimeter breite, klaffende Wunde. In ber 
Mitte verfelden war das Bauchfell in drei Centimeter 
Länge aufgeichligt. 

Eine in der Mitte zwiichen dem Nabel ımb ber 
Schambeinfuge von rechts nach links gehende Wunde, Durch 
weiche ebenfalls pas Bauchfell durchſchnitten war. 

Ein jehr tiefer Schnitt über dem rechten Hüftgelenk, 
ber jämmtliche Weichtheile trennte und das Gelenk hinten 
und vorn geöffnet hatte. Durch biefe Verlegung war der 
rechte Dberichentel faft ganz losgetrennt. 

Cine oberflächliche, über die rechte Hälfte des Hoben- 
ſackes verlaufende Wunde. 

Eine acht Centimeter lange Wunde in der rechten Kniehöhle. 

Vier Centimeter unterhalb der letztern eine nach der 
Innenfläche des Unterſchenkels zu verlaufende vier Cen⸗ 
timeter lange, zweieinhalb Centimeter breite, durch Haut⸗ 
und Unterhautbindegewebe gehende Wunde. 

Eine oberflächliche Wunde auf der Junenſeite des 
rechten Oberſchenkels. 

Eine in die Fascie dringende Wunde des rechten Unter⸗ 
ſchenkels. 

Der Schnitt über den Hals iſt im Leben, die übrigen 
Wunden ſind im Tode beigebracht worden, der Tod iſt 
zum größten Theil durch Verblutung, theilweiſe aber auch 
durch Erſtickung eingetreten. Bei der Leichenöffnung 
haben ſich überdies blutunterlaufene Stellen im Halſe 
gefunden, die auf gewaltſame Eingriffe mit der Hand 
hindeuten. Der Mörder muß noch nach der That mit 
unbegreiffihem Behagen in ven Wunden gewühlt haben, 
beshalb Tiegt nach feiner, des Sachverftändigen, Ueber⸗ 
zeugung ein Luſtmord vor. Aus der Mehrzahl der Wunben 





Der Proceß Bentbien. 191 


ift das Blut mehr gequollen wie geiprigt, ſodaß ber Thäter 
bei einiger Vorſicht Blutſpuren an feiner Kleidung ver⸗ 
meiden konnte. Der Sachverftändige hält es nicht für 
unmöglich, daß die aufgezählten Verletzungen von bem 
Wulffiihen Meſſer herrühren. 

Der Gefängnifarzt Dr. Dieyer batte im Iahre 1885 
Gelegenheit, ven Angeklagten zu beobachten, und fam ba- 
mal zu der Veberzeugung, berjelbe fei ſchwachſinnig, 
nicht eigentlich unzurechnungsfähig, aber in ber intellec- 
tuellen Entwidelung zurüdgeblieben, weshalb er ihn aus 
der Correctionshaft in feine Heimat fchidte Das auf 
feine bamaligen Beobachtungen gegründete Gutachten ift 
dahin zufammenzufaffen: Benthien ift criminalrechtlich 
für das verübte Berbrechen nicht verantiwortlich zu machen, 
ba er einem unwiderſtehlichen Zwange aus fi heraus 
gefolgt tft, deſſen Urſache im einen aus feiner organtichen 
Beranlagung, nicht aus ber mangelhaften und vernach⸗ 
Läffigten Erziehung, entipringenpen moralischen Defect zu 
ſuchen iſt. Trotzdem hat er fo viel burch die Erziehung 
gewonnene Erkenntniß, bei Begehung eined Verbrechens, 
wie bes vorliegenden, ſehr wohl zu willen, Daß und was 
er für ein Verbrechen vollführe, aber er war feiner orga- 
nüchen Veranlagung nach nicht ftark genug, feinen Trieben 
zu widerſtehen. 

Es wurde feitgeitellt, Daß Sonnabenb ben 6. April, 
gegen 5 Uhr nachmittags, ein Mann, deſſen Beichreibung 
auf Das Aeußere Benthien’s paßt, ven in ber Rennbahn⸗ 
Straße fptelenden Knaben Steinkamp aufgeforbert hat, ihm 
den Weg nach Jenfeld zur zeigen. Die hinzufommenbe 
Mutter des Knaben unterjagte vemfelben jedoch, ben Fremden 
zu begleiten. Sie meint auch jet, dieſen Mann in 
Benthien zu erkennen, nur babe derſelbe nicht jo fehr ge- 
hinkt. Der kleine Steinfamp erkannte ven Angellagten 


192 Der Proceß Benthien. 


nicht wieder. Auch der zehnjährige Karl Jurs hat den 
Angeklagten bereits in den Nachmittagsſtunden des 5. 
und 6. April in der Gegend des Rauhen Hauſes geſehen. 
Am letztern Tage hat Benthien verſucht, ihn an ſich zu 
locken. 

Am 7. April haben die zwölfjährige Johanna Söhrs, 
die gleichalte Emma Bethmann, der elfjährige Johannes 
Jurs und die beiden in demſelben Alter ſtehenden Knaben 
Heinrich Bethmann und Johannes Weſtermann, als fie 
an der Hohlen Rinne und am Hohlen Wege in Horn 
ſpielten, einen unheimlichen Menſchen erblickt, ver fie be- 
obachtete und ſich an ſie heranmachen wollte. Sie alle 
bezeichneten Benthien als dieſen Mann. 

Der Angeklagte beſtritt ganz entſchieden, jener Mann 
geweſen zu ſein, und behauptete nach wie vor ſeine völlige 
Unkenntniß der in Frage kommenden Gegend. 

Der Polizeiagent Hanſen erhielt die Sache am Morgen 
des 8. Aprils zugewieſen und ſchilderte eingangs ſeiner 
Vernehmung die Augenſcheinnahme, nach der die That 
nicht am Fundorte der Leiche, ſondern auf der von uns 
bei Beſchreibung der Oertlichkeit erwähnten Anhöhe ge⸗ 
ſchehen iſt, von welcher man einen ziemlich freien Anblick 
über die Heide hat. Blutſpuren führen von dort nach 
dem kleinen Graben. Die Perſonalbeſchreibungen des 
vermuthlichen Mörders haben merkwürdig übereingeſtimmt; 
es iſt nach ihnen der officielle Steckbrief entworfen worden. 
Als Benthien verhaftet und nach der Polizeiwache 19 ge⸗ 
bracht wurde, hat der herbeigeholte Gaſtwirth Triepel ven 
Angeklagten ſofort rvecognofeiert. Der Zeuge Hanſen 
beſchrieb die Mühe, die er ſich gegeben hat, das von dem 
Angeklagten behauptete Alibi zu widerlegen, und die An- 
ftrengungen Benthien’s, fich rein zu waschen. Als er ven 
" Angeklagten einmal hinter der Drofchfe, mit der fie nach 


Der Proceß Bentbien. 193 


bem Thatorte fuhren, berlaufen ließ, äußerte Benthien, 
e8 komme auf das Laufen an, und fing plötzlich an zu 
binfen, während er dies vorher nie gethan hatte. Auch 
bie von bem Polizeibeamten genommenen Fußabprüde 
wurden im Laufe der PVernehmung dieſes Zeugen mit 
den von bem Angeklagten getragenen Stiefeletten ver- 
glichen. Nach der Vergleichung deckten ſich namentlich 
beren Abfäte genau mit ven Hadenabprüden. Auf Wunfch 
des Vertheidigers wurde conftatirt, daß allerdings die 
Stiefel eines andern in diefer Affaire Verhafteten ebenfo 
genau in die Fußſpuren gepaßt hatten. Nach der Anficht 
bes Zeugen Hanjen ift ver Mord in der Weife vollbracht 
worden, daß ber Angeklagte den Knaben von rüdwärts 
umfaßt, an fich gepreßt und in dieſer Lage ihm den Hals 
durchfchnitten hat, wobei das Blut nach vorn fprigte und 
ben Thäter nicht bejubeln konnte, während ver Knabe 
im krampfhaften Bemühen, ſich aus ber todbringenden 
Umarmung zu befreien, dem Angeflagten die Kratzwunden 
auf der Hand beibracdhte. Sergeant Hanfen ift ver un- 
erfchütterlichen Meinung, daß die Kragwunden von ben 
Fingernägeln des ermordeten Kindes herrühren, trotzdem 
er dem Vertheidiger beftätigen mußte, daß bei Perjonen, 
welche viel in Herbergen verkehren, fich oft Kratzwunden 
an den Händen finden. Abends 81/, Uhr wurde die Ver⸗ 
handlung abgebrochen und am andern Morgen 10 Uhr 
fortgejegt. 

Benthien hinkte in gleicher Weife auf feinen Plat 
und folgte der Verhandlung mit berjelben Ruhe, wie er 
fie tags zuvor gezeigt, ab und zu feinem Vertheidiger 
eine DBemerfung zuflüfternd, oder an einzelne Zeugen 
Fragen richtend, die auf eine nicht unbedeutende Dofis 
Schlauheit ſchließen Tießen. 

Als erfter Zeuge wurde ber Knabe Ziemann ver- 

XXIV. 13 


194 Der Proceß Benthien. 


nommen, der ſich am 7. April mit anderen Knaben bei 
dem Kugelfange der wandsbecker Huſaren aufgehalten 
hatte. Beim Nachhauſegehen hörten die Knaben durch 
einen Bruder des Rauhen Hauſes von dem verübten 
Verbrechen und eilten darauf der Mordſtelle zu. Unter⸗ 
wegs begegneten ſie einem mittelgroßen, hagern Menſchen, 
der ihnen auffiel, weil er ſehr raſch lief und augenſchein⸗ 
lich abſichtlich das Antlitz abwendete. Derſelbe trug einen 
langen, dunklen Paletot. Als er ſpäter den verdächtigen 
Mann gemeinſchaftlich mit feinen Geſpielen und dem Con⸗ 
ſtabler Anders verfolgte, ſah er unter dem Rocke des 
Fliehenden etwas Weißes, ohne jedoch unterſcheiden zu 
können, ob dies das Futter oder vielleicht das Hemd war 
An ſeine frühere Ausſage erinnert, daß er das helle Futter 
des Rockes erkannt habe, erwiderte der Knabe, er habe 
das Weiße für das Rockfutter gehalten. Den ihm in der 
Vorunterſuchung gezeigten Benthien'ſchen Ueberzieher konnte 
er nicht mit Beſtimmtheit recognoſciren. Nach Haltung 
und Figur des Angeklagten glaubte er in demſelben eine 
Aehnlichkeit mit dem Verfolgten zu finden, dieſer habe 
indeß einen anderen Hut getragen. 

Die Knaben Barg, Heitmann und Behn ſagten in 
ähnlicher Weiſe aus, nur wollte erſterer den vom An⸗ 
geflagten getragenen Hut als den des Verbächtigen erkennen, 
und letterer behauptete, das Rockfutter ſei hell geweſen, 
während der Paletot, mit dem Benthien bet feiner Ver⸗ 
haftung befleivet war, mit dunklem Stoffe gefüttert ift. 
Sie find dem PVerfolgten bis auf etwa hundert Schritte 
nahe gefommen, haben aber nicht bemerkt, daß berfelbe 
hinkte oder eine jchiefe Schulter hatte. 

Steinfatt, der Vater des ermorveten Knaben, bes 
fundete, daß fein Sohn etwa um 4 Uhr nachmittags zu dem 
Sajtwirthe David gefandt worben fei. ‘Der Heine Borries 





Der Proceß Bentbien. 195 


müſſe fich auf dem Wege zu ihm gefunden haben. Bereits 
einige Wochen vor der Blutthat ift fein Sohn mit einem 
Vünfpfennigftücd nach Haufe gefommen, das er von feinem 
Lehrer erhalten haben wollte Damals ift dem Knaben 
eingejchärft worden, von fremden Leuten auf der Straße 
fein Geld zu nehmen und fie nicht zu begleiten; leider 
ohne Erfolg. 

Der ſechs Iahre alte Borries hat fih dem Knaben 
Steinfatt bei der Hohlen Rinne in Horn angefchlofen. 
Später haben fie einen Mann getroffen, ver mit ihnen 
ging, fie vor der David'ſchen Wirthichaft erwartete und 
ihn fchlieglih auf dem Rückwege fortichidtee In dem 
Angellagten erfennt er jenen Mann nicht wieder, 

Der Kaufmann Heinrich Elafen fehilvert die ſchon 
erzählten Vorgänge während des Wartens auf feine Frau 
in der Nähe des David'ſchen Wirthichaftslocale. Das 
Gejammtbild des Fremden war für ihn ein fo eigen- 
artiged, unangenehmes, daß er es nicht vergeffen konnte 
und fih am nächſten Morgen, als er durch ein Extras 
blatt von dem Morde unterrichtet wurde, fofort ber 
Polizeibehörbe zur Verfügung ftellte. Er hat Benthien 
augenblidlich erfannt, als diefer ihm bei dem Unterſuchungs⸗ 
richter unter einer Reihe anderer Häftlinge vorgeführt 
wurde. Allerdings mußte er auf Befragen bes Ber- 
theibiger8 zugeben, daß ein anderer ber Thäterſchaft ver- 
dächtig gewejener Mann ebenfalls große Aehnlichkeit mit 
dem von ihm am 7. April beobachteten Menschen befefjen 
habe, jedoch erfennt er auch heute mit unumſtößlicher 
Gewißheit in Bentbien jenen Fremden. 

Die Zeugin Frau Koch hat einen Mann in Gefell- 
ihaft eines Knaben zur kritiſchen Zeit nach dem Horner 
Moor geben fehen. Ihrer Meinung nach ift jener Mann 
unbebingt Benthien. 

13* 


196. Der Proceß Benthien. 


Der Knabe Eftein hat ven ermordeten Steinfatt kurze 
Zeit vor der That mit einem Manne ſehr ſchnell über 
ben Horner Steindamm wandern ſehen. ‘Der Fremde hat 
eine hohe Schulter gehabt und iſt ganz anders wie Ben- 
thten gefleivet geweſen, dennoch glaube er, dieſer und 
jener ſeien eine Perjon. 

Der neunjährige Franz hat am 4. April mit feiner 
Heinen Schwefter und mehrern andern Rindern in ber 
Rennbahnftraße geipielt und ift von einem hinkenden 
Manne mit einer hohen Schulter aufgefordert worden, 
gegen ein Entgelt von fünf Grofchen mit nah Marien. 
thal zu gehen. Er und die andern Kinder haben fich 
jedoch geweigert. Der fremde Menjch ift eiligft fort- 
gegangen, als ihre Mutter in die Nähe fam. Er wollte 
ben Angellagten wiebererfennen, biejer aber beftritt an 
dem betreffenden Tage in der Rennbahnitraße geweſen zu 
fein. Ueber jeinen Aufenthalt am 4. April wußte Ben- 
thien feine Auskunft zu geben. Im Laufe der Vor—⸗ 
unterfuchung behauptete er, viefen Tag bei dem Schub- 
macher Starf verlebt zu haben, ver, als folgender Zeuge 
vernommen, nur bejtätigen Tonnte, daß Benthien vom 
10. bis 21. April bei ihm in Arbeit geftanven, und daß er 
ihn früher nicht Tennen gelernt hatte. Schuhmacher 
Sunfe, über den gleichen Punkt befragt, fonnte die Ans 
gaben des Angeklagten ebenfalls nicht bezeugen. ‘Der 
Knabe Gierſe Hat am Nachmittage des 7. April in ver 
Rennbahngegend mit mehrern Altersgenofjen gefpielt und 
gleichfalls Steinfatt mit dem fremden Marne gejehen, 
als beide dem Horner Moor zugingen. Er meint Benthien 
jet der Fremde gewefen, trage aber jet andere Kleider. 

Gierſe's Gefpielen machten viefelben Angaben. 

Der zur Zeit der Blutthat am Horner Wege wohnbafte 
Wirth Triepel fagte aus, er habe ven ermordeten Stein- 


Der Proceß Bentbien. 197 


fatt am 7. April auf dem Wege von der Filcherftraße 
nach dem Rauhen Haufe getroffen. Der Knabe fei von 
einem Manne begleitet gewejen, ven er auch heute zweifel- 
[08 als Benthien bezeichnen könne, da er biejem bei jener 
Gelegenheit feſt ins Geficht geblidt habe. ATS ver 
Angeflagte ihm am Tage ber Verhaftung gegenüber- 
geftellt worden, ſei .erjterer vor Beſtürzung faſt ohn⸗ 
mächtig geworden. 

Auch der Zeuge Vorwerk und deſſen Sohn haben 
das Opfer des Verbrechens und den muthmaßlichen 
Mörder am felben Tage etwa fünf Deinuten vom That- 
orte entfernt gefehen, und erkennen den Angeklagten wieder. 

Diejer behauptet dagegen wiederholt feit und entjchieben, 
mit dem gemorbeten Knaben überhaupt nicht an jener 
Stelle gewefen zu fein. Es müſſe eine Verwechſelung 
vorliegen. 

Die in Horn am Bauerberg wohnende Frau Zander 
hat von dem Verbrechen noch am felben Abend um 7 Uhr 
Renntniß erhalten. Gegen 10 Ubr betrat ein Mann 
völlig außer Athem ihre Wirthichaft und bat um etwas 
Elfen. Da er jehr elend und berangirt ausfah, ver- 
abreichte fie ihm eine Taſſe Kaffee und Talte Kartoffeln, 
bie er mit großer Gier verzehrt. Er machte ihr dabei 
die Mittheilung, daß er lange typhuskrank gelegen und 
erſt aus dem Kranfenhaufe entlaffen fe. Der Mann 
erzählte ferner, er ſei Schuhmacher und wohne in ber 
Nähe des Wafferthurmes. Die Zeugin, welche Erbarmen 
mit dem angeblichen Reconvaleſcenten hatte, fchenkte ihm 
noch ein Stüd Sped und gab ihm den Rath, fich nicht 
in der Horner Gegend berumzutreiben; es fei eben ein 
Knabe über den Hals gefchnitten worden, da fünne er 
leicht al8 der That werbächtig arretirt werben, der Fremde 
wurde womöglich noch bläffer, eriwiberte aber nicht® und 


198 Der Proceß Benthien. 


entfernte fih. Als fie jpäter im ‚General-Anzeiger‘ las, 
daß ein Schuhmacher als des Mordes verbächtig inbaftirt 
worben fei, fiel ihr jener Gaft wieder ein. Sie meldete 
fich bei ver Polizeibehörde und erfennt den ihr vorgeführten 
Benthien jofort und beftimmt wieder. Er hat an jenem 
Abende über einem Jacket einen Ueberzieher getragen und 
ſtark gehumpelt. 

Der Angeklagte hatte bis zum 6. Juni lebhaft beftritten, 
jemals bei der Zeugin gewejen zu fein, und bei Gott dem 
Allmächtigen gejchiworen, er babe Frau Zander nie gejehen. 

Befragt, warum er biefen Beſuch jo hartnädig ge- 
leugnet, gab Benthien zur Antwort, das müfje er rein 
vergeffen haben. 

Holzhändler Warnke ift am 21. April auf bem 
Nachhaufewege dem Angeklagten begegnet. Da das Sig- 
nalement des vermuthlichen Thäters auf denfelben genau 
paßte, hat er ihn angerebet und gefragt, ob er ſchon 
von dem Morde in Horm gehört hätte. Benthien 
erblaßte und fing an zu zittern. Diefe Wahrnehmungen 
beftimmten den Zeugen, die Verhaftung des Verdächtigen 
zu veranlaffen. 

Der mit der Unterfuchung betraut gewejene Landrichter 
Dr. Suded jchilderte das Lügengewebe, in das fich der 
Angellagte verjtridt hatte. Faſt bis zum Schluffe ver 
Unterfuchung ift er bei feinen unwahren Behauptungen 
bezüglih des Verweilens am kritischen Tage geblieben. 
Er bat Benthien mit Angeftellten der Rothenburgsorter 
Wafjerwerfe und Leuten aus Meyer's Tanzſalon confrons 
tirt, ohne daß auch nur einer von ihnen fich des An- 
geflagten zu erinnern vermochte, troßbem dieſer einen 
Aufjeber des Thurmes mit voller Beſtimmtheit als den⸗ 
jenigen bezeichnete, mit dem er fpeciell gefprochen babe. 
Weber die Gegenüberftellung mit den Zeugen Claſen nod 





Der Proceß Benthien. 199, 


jene mit der Frau Zander und dem Zeugen Zriepel 
haben einen beſondern Einprud auf den Angeklagten 
gemadt. Er leugnete ſtets ſtarr. Erſt am 6. Juni 
räumte er ein, mit dem Knaben Steinfatt in Berührung 
gekommen zu ſein, fügte aber ſofort hinzu: „Den Mord 
habe ich nicht begangen!“ Dann hat er die Erzählung 
von dem Unbekannten vorgebracht, der ihn mit dem 
Koffertransport beauftragt haben ſoll. Benthien hat auf 
ihn den Eindruck eines nicht völlig normalen, eigenthüm⸗ 
lich veranlagten Menſchen gemacht, deſſen mangelhafte 
Erziehung die geiſtigen Fähigkeiten möglichenfalls nicht 
voll ausgebildet habe; allein unzurechnungsfähig iſt er 
ihm nicht erfchienen. 

Der Schuhmacher Wulff, bei dem ber Angeflagte 
etwa vier Wochen Iogirt hatte, theilte mit, daß biefer im 
Logis ſtets ein ruhiger, ordentlicher Menſch geweſen fei, 
ber allerdings wenig gearbeitet habe, weil ihm eine gründ- 
liche Kenntniß des Handwerkes mangelte. Gelogen habe 
er jehr viel und oft, ſodaß der Zeuge ihn jchlieplich für 
ein verfommenes Subject hielt, das geiftig nicht fo ſei 
wie andere Menſchen. Wulff bezeugte damı bie früher 
erwähnten Thatſachen bezüglich des geliehenen Mefjers 
und der Kratzwunden. 

Als er von dem Morde erfuhr, hegte er Verdacht 
gegen feinen Einwohner, unterfuchte feine Kleider, entdeckte 
aber Feine Blutjpuren, und da Benthien überdies ſtets 
rubig und kalt blieb, beruhigte er fich wieder. Der Ans 
gellagte habe ſtets ben Fuß etwas nachgejchleppt, feine 
jetzige Gangart fei indeſſen eitel Verftellung. 

Benthien antwortete auf die Frage des Präfibenten, 
wann er zuerit von ber Blutthat gehört, am Montag 
Abend durch Frau Hoffmann; als ihm vorgehalten wurbe, 
ſchon am Sonntag Abend durch Frau Zander von dem 


200 Der Proceß Benthten. 


Verbrechen unterrichtet worden zu fein, entichulbigte er 
fih mit Gedächtnißſchwäche. 

Der Sachverftändige, Meſſerſchmied Tauber, con- 
ftatirte als Reſultat feiner Prüfung des von dem An- 
geflagten geliehbenen Wulff'ſchen Mefjers, daſſelbe müfje 
auf einem groben Schleiffteine gewetzt worden fein. 

Diefem Befunde gegenüber blieb Benthien bei feiner 
Ausfage, das Meffer nur zum Zweckenputzen verwendet 
zu baben; über die Schrammen auf ver Klinge Tonnte 
er eine Erklärung nicht geben. 

Frau Hoffmann bekundet, daß der Angeklagte beim 
Berlafjen feines Logis am 7. April einen Winterpaletot, 
graue Hoſen, ſpitze Stiefel und einen runden Hut getragen 
habe. Kratzwunden an der Hand hat fie damals beftimmt 
nicht gefehen, wohl aber am nächften Tage und als frifche 
erfannt. 

Dem Fleinen Sohne der Frau Scherner hat Bentbien 
gelegentlich erzählt, er möchte wol einmal Jack den Auf- 
ichliger fehen. 

Phyſikus Dr. Reinhard bat ven Angellagten körper⸗ 
lich unterfucht und die Narben an Hand und Leib con- 
ftatirt. Daß letztere von einer Riemenſchnalle herrührten, 
hält er für unwahrfcheinlich, weil fie nach verſchiedenen 
Richtungen verlaufen und das Hemd zwifchen Hofe und 
Leib eine Schugwand darſtellt. Ob die Kratzwunden an 
der Hand von Menfchennägeln oder einer Kate beigebracht 
worden find, hat er an den Narben wegen ber inzwijchen 
verftrichenen Zeit nicht genau beftimmen können, doch 
hinterlaffen Katzenkrallen tiefere, fchwerer heilende Wunden 
als Meenfchennägel, und er glaubt — auch dem Alter ber 
Narben nah —, Bentbien müfje die Verlegungen von 
Menichennägeln erhalten haben. — Dr. Reinhard erklärt 
ferner, das Hinken Benthien’s ift durch deſſen Körper- 


Der Proceß Bentbien. 201 


conftitution nicht bebingt, er hat aber die eine Hüftjeite 
höher als die andere gefunden, aus biefem Umſtande ift 
ver fchlottrige Gang des Angeklagten herzuleiten, allein 
nicht das fimmlirte Hinten, da Benthien bei demſelben 
das Gewicht auf den rechten Fußballen legt, während er 
gerade in dieſem ben ibn zum Hinken veranlaffenden 
Schmerz veripüren will. Er Hat jet wieder das mehr- 
fache Hinten Benthien's durch den Gerichtsfanl genau 
beobachtet und bemerkt, daß der rechte Abſatz des Benthien’- 
ſchen Stiefel höher ift wie der linke. 

Der Angellagte meint, dann müfje er wol ben einen 
Abfag mehr als den andern abgelaufen haben. Ber- 
ſchiedene Haden an feinen Stiefeln feien von ihm nicht 
angefertigt worden. 

Frau Jürgens, deren Mann ein Eleines Schneiber- 
geichäft betreibt, gab zu Protokoll, daß der Angeklagte am 
9, April in ihren Laden gelommen und nach dem Preife 
einer Sommerhoſe gefragt hat. Er ift aber vom Kaufe 
derjelben abgeitanden und hat fich mit ihr über ven Morb 
unterhalten, dabei äußernd, Menfchen, die jo etwas ver- 
üben fönnten, feien gar feine Menfchen, fondern mit 
Menschenhaut überzogene Beitien. Er hat auch über bie 
ausgejette Belohnung und davon gefprocdhen, daß jein 
Bruder altonaer Polizift fei, der ſchon mehrfach Mörder 
enttedt habe. Auch über das Zeugniß des Kleinen Borries 
hat er feine Meinung geäußert und vermuthet, berjelbe 
wäre unzuverläffig und man werbe auf feine Ausſage nicht 
viel geben. Schließlich hat Benthien derart mwunderliche 
Reden geführt, daß fie angft und bange geworden und 
ihrem Schöpfer gedankt hat, als fie von ihrem Manne 
abgelöft wurde. Diefem bat Bentbien dann vorgelogen, 
er müffe behufs Anftellung im Zoologiſchen Garten neue 
Garderobe anjchaffen. 


202 Der Broceh Benthien. 


Arbeiter Fink bat den Angellagten einmal bei ber 
horner Kirche getroffen. Derſelbe hat damals nicht gehinkt, 
nad) dem Luiſenwege gefragt und umanfgeforbert erzählt, 
er fei Schuhmacher und am Röhrendamme wohnhaft. 

Benthien war nicht im Stande, bie Trage des Präfi- 
benten, was er am Luiſenwege gewollt habe, zu beantworten. 

Die Wirthin Krudau erkannte im Angellagten mit 
vollfter Beftimmtbeit jenen Mann wieder, der am 9. April 
in ihre Wirthichaft gelommen und gejagt hat, der Mörder 
fei ein ihm bekannter Arbeiter bet Blohm und Voß, trage 
braune Schuhe und fei ein unfittliches Subject. Als bie 
Zeugin darauf erwiberte, davon müſſe er Anzeige erftatten, 
fagte er, das wolle er ſich einige Tage überlegen. Er 
bat erzählt, er habe ben Thatort mit einem wanb&beder 
Poliziften befucht, und fich über die Zeitungsberichte ab- 
fällig ausgeſprochen. 

Der Angellagte beftritt auch jetzt, jemals bei ber 
Zeugin gewejen zu fein. 

Zeuge Maler Biedermann beftätigte die Angaben 
Dentbien’s, am 7. April, nachmittags zwifchen 3 und 4 Uhr, 
bei ihm vorgeiprochen zu haben. 

Die Zeugen Körner, Müller und Frau Witte 
wollen den Angeflagten die Tage vor der Blutthat in ver 
Hammerlandftraße gejeben haben, jedoch hat fich damals 
noch ein anderer Mann mit Schlapphut durch Umher⸗ 
ftreifen in derſelben Gegend verdächtig gemacht. 

Der nach ihnen vernommene Zeuge Lüders erklärt, 
Dentbien habe einmal 24 Stunden bei ihm gearbeitet, 
aber fo miferabel, daß die Arbeit nicht zu verwenden war. 
Er bat ihn darauf bin weggeſchickt und iſt von ihm bei 
dem gewerblichen Schiedsgerichte verklagt worden. Er 
hat Termin gehabt, und zwar zu einer Zeit, in welcher, 
wie der Vertheibiger conftatirte, der Zeige Körner ven 





Der Proceß Bentbien. 203 


Angeklagten auf ber Hammerlanpftraße gejehen haben 
wollte. 

Dennoch hielt Körner feine Ausfage aufrecht, daß er 
ven Angeflagten gerade zu jener Zeit, am 5. April zwifchen 
10 und 2 Uhr, in der Nähe des Rauhen Haufe ge- 
fehen habe. 

Nach Beendigung biefer Zeugenvernehmung ftellte fich 
heraus, daß der vorgeladene Knabe Lundt zur Verhand- 
lung nicht erfchienen, fondern am Tage vorher aus ber 
Wohnung feiner Mutter verſchwunden war. 

Der Vertheidiger beantragte, die Sitzung zu ver- 
tagen, bi8 der Knabe wieder aufgefunden fei. 

Der Präſident bevauerte, fich darauf nicht einlaffen 
zu können. Wenn es verlangt werbe, wolle er bie Sigung 
bis nächften Mittag aufheben und inzwiichen verjuchen, 
ben Knaben polizeilich zu ermitteln. 

Der VBertheidiger ftellte ven Antrag, eine Pauſe von 
zwei Stunden eintreten zu laſſen, während welcher jich 
vielleicht conftatiren Tiefe, ob der Knabe aufzufinden jet 
ober nicht. 

Der Erklärung des Präfidenten zufolge war bies 
unmöglich, weil man fich erft mit ber Polizeibehörbe 
Wandsbeck in Verbindung fegen müffe, wofelbit der Knabe 
wohne. 

Nunmehr beantragte der Vertheibiger, die Lundt'ſche 
Ausfage aus den Acten der Vorunterjuchung zu verlefen. 

Der Oberjtaatsanwalt wiberfprach dieſem Antrage, 
dem ver Gerichtshof indeß ſchließlich beipflichtete. 

Den Acten nach find am 4. April Lundt und ein 
anderer Knabe in ber Brauerjtraße zu Wandsbeck von 
einem fremden Menſchen aufgefordert worden, gegen eine 
Belohnung von fünf Grofchen einen Koffer von Marien- 
thal nach Hamburg zu tragen. Auf die Frage, wo ber 


204 Der Broceß Benthien. 


Koffer fich befinde, hat der Fremde erwidert: „Im Gebüſch!“ 
Die beiden Jungen haben fich dann geweigert, mitzugehen. 
Der mit dem Angeflagten confrontirte Lundt hat ganz 
feft und entſchieden behauptet, diefer ſei der fragliche Mann 
feinesfall® geweſen. 

Der ald Zeuge vernommene Ortsvorſtand von Volks⸗ 
borf, Maack, bemerkte am Tage nach der Blutthat mehr- 
fach einen verbächtigen, etwa vierzigjährigen Mann, ver, 
wie er fpäter hörte, daſelbſt feine Kleider gereinigt Hatte. 

Der Zeuge Möller aus bemfelben Orte befunbete, 
er wiſſe vom Hörenfagen, daß ein verbächtiger Menſch in 
einer bortigen Wirthſchaft genächtigt und feine angeblich 
mit Blut befledten Kleider bei dieſer Gelegenheit ge- 
wafchen babe. 

Dem Gaftwirthe Wendt aus Vollsporf war davon 
nicht8 Pofitives befannt. Der Verdächtige ſei bei ihm 
eingefehrt; mit Benthien fei er beftimmt nicht identiſch. 

Einem vom Vertheidiger gejtellten Antrage gemäß 
wurde nunmehr der Fuß des Angeklagten nochmals einer 
Meffung unterworfen. 

Phyſikus Dr. Reinhard vervollitändigte jett fein 
im Laufe der Verhandlung gegebenes Gutachten. Danach 
ift Bentbien troß feines etwas fchtefen Beines befähigt, 
raſch laufen zu können. Hinfichtlich des geiftigen Zu- 
ftande8 Benthien’s ift er der Anficht, daß eine pathologijche 
Seiftesftörung nicht vorliege. Er hat fich bemüht, eine 
geheime Geiftesihwäche zu entveden, ohne daß ihm dies 
gelungen ift. Symptome, wie das Vorfichhiniprechen, das 
man bei dem Angeklagten wahrgenommen, find vielen 
burchaus normalen Menfchen eigen und involviren feine 
geiftige Schwäche. Auch Anzeichen einer erblichen Ver—⸗ 
anlagung zur Geiftesftörung find bei Benthien wicht zu 
Tage getreten, jedoch ift ihm eine einfeitige Beſchränktheit 


Der Proceß Bentbien. 205 


nicht abzufprechen, die ſich 3. B. darin kundgegeben bat, 
daß er oftmals Inſekten peinigte, was bei einem Menjchen 
in dem Alter Benthien’s nicht vorkommen follte. Er it 
auch fein Trinker gewefen, ſodaß die Annahme, ver An- 
geflagte jei durch den Genuß von Alltoholismen momen- 
tanen Geiftesumnachtungen unterworfen, von felbft weg- 
fällt. Der Schädel und die Gefichtsform Benthien's zeigen 
zwar einigermaßen ven Typus ber Geiftesfchwäche, allein 
bie Difformationen find nicht beveutend genug, um feine 
Unzurechnungsfähigfeit zu conftatiren. Bei dem Angeklagten 
find Spuren von Geiftesftumpfheit‘ vorhanden, aber er 
hat andererfeits, z. B. während der Gerichtsverhandlung, eine 
große Schlauheit und Pfiffigfeit bewiejen. Der Angeflagte 
befigt eine für feinen Stand feineswegs unbeträchtliche Bil⸗ 
bung und fann fehr wohl klar unterfcheiven, was recht oder 
unrecht ift. Er ift im Vollbefige genügender Willenskraft 
und für feine Handlungen criminalrechtlich verantwortlich. 

Gegenüber biefer Anficht erfärt der Gefängnißarzt 
Dr. Meyer, auf feinem bereits geftern vertretenen Stand- 
punkt verharren zu müffen. 

Damit war bie Beweiserhebung beendet; ben Ge- 
jhworenen wurden bie folgenden Fragen vorgelegt: 

I. Hauptfrage: Iſt der Angeklagte ſchuldig, ven Knaben 
Steinfatt am 7. April 1889 vorfäglih und mit Ueber- 
legung getödtet zu haben? 

II. Hülfsfrage: Iſt ver Angeklagte ſchuldig, den Knaben 
Steinfatt am 7. April 1889 vorſätzlich getöntet zu haben? 

Es ergriff nunmehr der Oberftaatsanwalt 
Dr. Hirsch das Wort zur Anflagebegründung und betonte 
zunächt, vaß derjenige, welcher berufen jet, an ber Berhand- 
(ung über ein Verbrechen wie das vorliegende theilzunehmen, 
anders über daſſelbe urtheilen müfje als ein Mann, ber 
bie That aus der Ferne oder gar vielleicht nur aus 


206 Der Broceß Benthien. 


graufig gefärbten Zeitungsreferaten kenne. Es ift faum 
faßbar und das menfchliche Gefühl fträubt fi) dagegen, 
an die Möglichkeit eines Mordes an einem wehrloſen, 
unſchuldigen Finde zu glauben; ift unbegreiflich, wie ein 
bislang ziemlich unbefcholtener Menf zur Verübung 
eines fo abfcheulichen Verbrechens gelangen konnte. Allein 
die Thatjache Liegt nun einmal vor und die Gefchiworenen 
haben fi) daher nur mit der Frage zu befchäftigen: ift 
die bier vorgeführte Perfon der Thäter? — Der Ans 
geflagte Bat ein verwahrloftes Xeben hinter fich, er wurde 
fhon in feiner Jugend verborben und ift jegt ein Strolch. 
Aber damit ift noch nicht ausgefprochen, daß er andy ein 
Mörber werben mußte. Jeder Schritt auf der Bahn des 
Verbrechens kann ver erfte fein. Niemand vermag in 
eine Anvern Seele zu lefen, wie lange ver Keim bes 
Berbrechens in derſelben gelegen hat. Der Angellagte hat 
jeßt den erften Schritt getban, und biefer ift ein recht 
fchwerer und verberblicher gewejen. Was in den letzten 
Tagen vor ber blutigen That vorgegangen ift, bentet 
darauf hin, daß der Angeflagte fich mit dem Plane des 
Verbrechens, wie er e8 am 7. April vollbracht, ſchon 
lange herumgetragen bat. Der Redner will nicht darauf 
eingehen, daß Benthien ſich oft und mit Vorliebe in 
jener Gegend herumgetrieben habe, das ift ven Anweſenden 
befannt und durch Zeugenausfagen genügend erbärtet 
worden, felbft wenn man den Angaben ver verfchiebenen 
Kinder nicht umbebingten Glauben ſchenken mag. Es 
genügt die Feitftellung der Vorgänge am 7. April an ſich, 
um bie Ueberzeugung zu gewinnen, daß der Angeflagte 
und fein anderer der Mörder des Knaben Steinfatt ift. 
Benthien bat am kritiſchen Tage fih von 4 Uhr an in 
Geſellſchaft ver Knaben Borries und Steinfatt befunden, 
er ift von Zeugen um 41, Uhr mit legterm allein in 


Der Proceß Bentbien. 207 


ber Nähe des Horner Moors gefehen worben, er ift ferner 
nach Entvedung des Verbrechens von andern Zeugen 
als Xhäter verfolgt und fpäter von faft allen Zeugen auf 
das umwiberleglichite vecognofeirt worden, und läßt fich 
feinen Spuren folgen bis weit über die That hinaus. 
Allerdings ift niemand bei Ausübung der That zugegen 
gewefen, die Fußfpuren aber, die bei der Leiche gefunden 
und auf dem vom Verfolgten eingejchlagenen Wege .be- 
obachtet worden find, entfprechen genau den Dimenfionen 
ber Stiefel, die der Angeflagte noch heute trägt. Dieſe 
Identität der Fußfpuren iſt mehr als Zufall, fie ift ein 
höchft wichtiges Glied in der Beweiskette. Wenn der 
Angellagte leugnet, thut er dies in derſelben unberechtigten 
Weife, wie er früher fo manche Thatſache beharrlich in 
Abrede gejtellt hat, die er ſpäter doch als richtig zugeben 
mußte. Er hat überhaupt nur in dem einen Punkte ber 
Wahrheit die Ehre gegeben, daß er jet einräumt, er 
habe viel, fehr viel gelogen. Im allerbächiten Grade 
belaftet den Angeflagten aber, daß er bereits zu einer 
Zeit, in der er noch gar feine Veranlaffung dazu hatte, 
feinem Wirthe unmwahre Angaben über fein VBerbleiben 
gemacht, fich aljo gewiſſermaßen ein Alibi zurechtgelegt 
bat. Er, der das Wulfffhe Haus am Nachmittage wohl 
und munter verlaffen hat, ift abends mit zerfrasten 
Händen zurüdgefehrt, zu deren Erklärung er neue Lügen 
erfinden mußte. Diefe Verletzungen erflären fich leicht, 
wenn man fich vor Augen führt, wie der Angeflagte bie 
That begangen haben dürfte Die Schilderung des in 
ſolchen Dingen erfahrenen BPolizeifergeanten Hanjen hat 
hier jedenfalls das Richtige getroffen. Aeußerft verbächtig 
ift auch des Angeflagten Treiben nach dem Belanntwerben 
bes Mordes. Seine verjchievenen Redereien über bie 
That befundeten ein gewifjes Bebürfniß, fich über dieſelbe 


208 Der Proceß Benthien. 


mitzutbeilen. Was die Trage der Zurechnungsfähigfeit 
Benthien's anlangt, in welcher die beiden Sachverftändigen 
verſchiedener Meinung gewejen find, ift e8 nicht Sache 
der Staatsanwaltichaft, die Anficht des einen höher als 
bie des andern zu ftellen; bie Geſchworenen müſſen aber 
darauf aufmerkſam gemacht werben, daß fie in biefer Be- 
ziehung nur auf ihre eigenen Wahrnehmungen angewiejen 
find. Diefe müfjen mit zwingender Gewalt zu dem 
Refultate führen, daß Benthien fich im vollen Beſitze 
feiner Willensfreiheit befand und befindet. „Und“, fuhr 
der Oberftaatsanwalt fort, „das, meine Herren Ges 
ſchworenen, bitte ich zu bedenken: erflären Sie biejen 
Angeklagten für unzurechnungsfähig, jo verläßt er nad 
Schluß ver Verhandlung frei und ungehindert ven Gerichts- 
faal. Dann laffen Sie die Beftie wieder los und bringen 
— wenn Sie felbft Väter find, werben Sie empfinden, 
was das heißt, — Ihre und andere Kinder in Gefahr. 
Sie geben dem Angellagten Gelegenheit, feine Verbrechen 
fortzufegen, denen die Kinder ſchutzlos preisgegeben fein 
werben!” Der Repner kommt zum Schluffe noch auf 
die Frage der Ueberlegung zu fprechen und betont, daß 
fie zu bejahen fein werde. Er richtet die Bitte an die 
Gefhtworenen, die Hauptfrage mit Ia zu beantworten, 
dann falle die Hülfsfrage von ſelbſt, dann werde das 
Verbrechen, welches tagelang die ganze Stadt in Auf- 
regung verjegt habe, dem Geſetze gemäß gejühnt werben. 

„Es ift ein weitverbreiteter Irrthum“, begann Dr. Sch rö- 
ber feine Vertheidigungsrede, „daß der Vertheidiger eine 
Art Mohrenwälche zu Gunften feines Clienten zu voll» 
bringen und alles gutzuheißen habe, was berjelbe ge- 
than. Dies ift nicht Aufgabe der PVertheidigung, fie joll 
nur das Ihre thun, um alle während ver Verhandlung 
befundeten Momente in das richtige Licht zu ftellen; 





Der Proceß Benthien. 209 


alles den Angeklagten Belaſtende zugeben, aber auch in 
geeigneter Weiſe das Entlaſtende zur Geltung bringen. 
Dieſe Pflicht iſt in den Fällen um ſo ernſter zu nehmen, in 
denen der Vertheidiger mit den Richtern und Geſchworenen, 
mit der ganzen Bevölkerung den Abſcheu gegen die That 
und ven Thäter theilt.” Der Sache felbft näher tretend, 
weift Dr. Schröder zunächſt bin auf vie trübe, in jeber 
Hinficht vernachläffigte Vergangenheit des Angeklagten, 
der unter den denkbar traurigften Verhältnifien auf- 
gewachien ift, wie das Thier des Feldes, ohne daß ein 
Menich fih um ihn gefümmert, und ftet8 als Sündenbock 
bes geſammten Dorfes gegolten hat. „Trotz minutiöfeiter 
Nachforſchung hat man indeß dem Angeflagten aus jener 
Zeit beftimmt nur nachweijen können, daß er einmal Fröſche 
gequält hat. Wohin aber würde e8 führen, wollte man 
alle, die als Kind einmal einen Froſch getödtet haben, 
bes Mordes verbächtigen? Der Angeklagte ijt verlogen, 
träge und betrügerijch gewejen, eigentliche Gewaltthaten 
hat er nicht begangen. Den Indicien, die ihn belaften, 
ftehen eine ftattliche Reihe Momente gegenüber, welche 
unbedingt entlaftend wirken. Berjönlich glaube ich ven An⸗ 
gaben der Zeugen Clafen und Triepel abjolut, ich will 
auch noch die Ausfage des Zeugen Vorwerk gelten Lafjen; 
damit bin ich aber auch am Ende mit ven Angaben, welche 
mit Beſtimmtheit gegen Benthien zeugen. Sämmtliche 
Berfonen, welche ben Angellagten nach dem Morde ver- 
folgt haben wollen, find nicht in der Lage geweſen, in 
der Dämmerung und ver ihr folgenven Dunkelheit ven 
Mann genau zu erfennen. Sie haben nicht einmal das 
Geſicht des Fliehenden gejehen. Sie können nicht als 
Necognofeirungszeugen gebraucht werben, um jo weniger, 
weil es fich um einen Menschen handle, ven man nur 
im flüchtigen Vorbeilaufen beobachtet hat. Die Fußſpuren 
XIV. 14 


210 Der Proceß Benthien. 


könnten allerdings gegen den Angeklagten ind Feld ge- 
führt werden, wenn in Wirklichkeit dieſe Spuren genau 
feftgeftellt worden wären und fich mit den Stiefeln des 
Angeflagten dedten. ‘Dies ift nicht ver Fall. Die Länge 
ber Fußfpuren tft 27 Centimeter. Die Fußlänge Benthien’s 
beträgt nach der im Laufe der Sigung vorgenommenen 
Meſſung 24 Centimeter. Sie könne alfo unmöglich über- 
zeugend gegen den Angeklagten angewendet werden. Was 
bie Lügen betrifft, pie mein Client am Abende des 7. April 
Wulff gegenüber vorgebracht hat, fo kann man aus ihnen 
nicht die Eonfequenzen bes Oberftaatsanwaltes ziehen, wenn 
man bevenft, daß fie dem Gehirne eines geiftig fchwachen 
Menſchen entiprungen find. Daß Benthien einen geiftigen 
Defect befitt, läßt fich nach dem Befunde des Sachver- 
ftändigen Dr. Meyer nicht bezweifeln. Der Phyſikus 
Dr, Reinhard hat ven Angeflagten gleichfalls als normal 
bezeichnet. Hatte er aber Wulff gegenüber bie unwahren 
Angaben über den Aufenthalt am Tritifchen Tage gemacht, 
jo mußte er ſie auch vor dem Unterfuchungsrichter auf- 
recht zu erhalten verjuchen, wollte er fich nicht fofort im 
höchften Grabe verbächtig machen. Da ver Angeklagte 
an dem einen Beine leidet, wie auch Dr. Reinhard con- 
ftatirt bat, hätten bie gefundenen Spuren eine ver- 
fchiedene Länge haben, das eine Bein hätte einen kräf⸗ 
tigern Abdruck Hinterlaffen müſſen al® das andere. 
Daß dies bei den aufgenommenen Spuren der Wall ge- 
wejen, tft nirgends dargethan. Viele Zeugen haben an- 
gegeben, daß der Angeklagte nie eigentlich gehinkt habe, alfe 
aber ftimmten darin überein, daß er fchlottrig ging und 
den eimen Fuß nachichleppte. Jemand, dem ein folcher 
Fehler anhaftet, Tonnte nicht jo ausdauernd laufen, wie 
der jeinerzeit verfolgte Mann gelaufen ift. Seine Schritte, 
feine Sprünge hätten nicht von gleichmäßiger Kraft und 





Der Proceß Bentbien. 211 


Länge fein können. Der Schuhmacher Heß aus Lübeck 
bat erklärt, jo wie der Angeklagte heute hinke, fei er 
immer zu Fuß gewefen. Diefer Zeuge hat doch jedenfalls 
Gelegenheit genug gehabt, die Gehweije Benthien’s wäh. 
rend der ganzen Lehrzeit zur beobachten. Iſt es denn aber 
denkbar, daß ein hinkender Menſch mit einer Schnelligfeit 
und Ausdauer laufen ann, die alle Verfolger hinter fich 
läßt? Die Trage, ob e8 möglich gewejen, mit dem vor» 
gelegten Meſſer die Verwundungen des Ermorbeten zu 
verurfachen, ſoll nur aufgeworfen werben, wichtiger ift bie 
Thatjache, daß feiner der Zeugen, welche ven Angellagten 
noch am Abende der That fahen, erhebliche Schmuzfpuren 
an jener Bekleidung bemerkte, obgleich er über moorige®, 
fumpfige® Terrain gerannt fein follte. Werner ift der 
Umftand von großer Bebeutung, daß fich an der Kleidung 
Benthien's nicht der Heinfte Blutfled gefunden hat. Die 
Sachverſtändigen haben erklärt, beit einiger Vorficht fet 
es dem Thäter leicht möglich gewefen, fich von Blutflecken 
rein zu halten. Der mit faltem Blute am Operations 
oder Secirtiiche feined Amtes waltende Arzt mag das 
fönnen, aber nicht derjenige, ber dieſe That beging und 
fich gewiß in ber furchtbarften Förperlichen und feeliichen 
Aufregung befand, In einem folhen Zuſtande foll ein 
Mörder fih in Acht nehmen, ja feine Ader zu durch⸗ 
Schneiden, aus welcher das Blut fprigen könnte? Da der 
Angeklagte fich bei der Ausführung des Verbrechens nicht 
ausgelleivet haben kann und feine Kleider rein find von 
Blut, fo bleibt Feine andere Annahme übrig als vie, es 
muß doch ein anderer Thäter vorhanden fein. Dafür 
ſprechen auch die Differenzen in ver Beſchreibung ver 
Kleider des angeblichen Mörders, und die Ausfagen ber 
Zeugen, welche ven Angeklagten zu gleicher Zeit an ver⸗ 
ſchiedenen Orten gejehben haben wollen. Das verlejene 
14* 


212 Der Proeceß Bentbien. 


Zeugniß des Knaben Lundt, dem am 5. April in Wands⸗ 
bed ein mit der zwei Tage fpäter in berielben Gegend 
gefchehenen That jehr wohl in Verbindung zu bringenber. 
Vorfall paffirt, entlaftet den Angellagten und gibt zu 
benfen, denn ber Mann, der ihn aufforverte, einen 
Koffer nach Hamburg zu tragen, ift Benthien nicht geweſen.“ 
Der Vertheidiger fpricht Die Hoffnung aus, Die Gefchworenen 
würden fich davon überzeugt haben, daß viele Momente 
gegen bie Schuld des Angeklagten ſprächen. Sollten fie 
fih dennoch zu einem Schuldig entjchliegen, jo möchten 
fie die Frage der Ueberlegung in ernftliche Erwägung 
ziehen. Von einer Ueberlegung könne ber ganzen Art 
ber Ausführung des Verbrechens zufolge nicht wohl bie 
Rebe fein. Seiner Anficht nach müfje man jeboch jchlieh- 
(ih zu dem Reſultate gelangen, beive Schulbfragen zu 
verneinen, weil ver Angeklagte, habe er die That begangen, 
fih zur Zeit berjelben in einem Zuftande krankhafter 
Störung der Geiftesthätigleit befunden habe, welche feine 
freie Willensthätigfeit ausſchließe. Das ſei durch bie 
Ausfagen aller Zeugen bewiefen, bie mit dem Angeflagten 
längere Zeit in Verkehr geſtanden hätten, das habe in 
beftimmtejter Weife Dr. Meyer und in bebingter Weile 
auch Dr. Reinhard ausgeiprochen. Der PVertheibiger 
bittet, zu bedenken, fo ſchlimm es auch fein würde, burch 
bie Freifprechung event. eine „Beſtie“ wieder loszu⸗ 
lafien, jo wäre es doch gewiß noch ſchlimmer, einen Uns 
ſchuldigen binzurichten, nur damit bie zur Beurtheilung 
vorliegende Blutthat gefühnt werde. 

Nach einer kurzen Replik des Oberjtantsanwaltes und 
Duplik des Vertheibigers, und nachdem ber Präfident des 
Gerichtshofes die vorgefchriebene Rechtsbelehrung in ein- 
gehendſter Weiſe ertheilt hatte, zogen fich die Gejchiworenen 
in ihr Berathungszimmer zurüd. 


Der Proceß Bentbien. 213 


Nach einftündiger Berathung traten fie wieder in ben 
Saal und gaben durch ihren gewählten Obmann den 
folgenden Spruch ab: 

Sit der Angeklagte fchuldig, ven Knaben Steinfatt 
am 7. April 1889 vorfäglih und mit Weberlegung ge= 
tödtet zu haben? 

„Ja mit mehr als fteben Stimmen.“ 

Der Oberftantsanwalt beantragte, gegen ben Ange⸗ 
klagten die Tobesftrafe und dauernden Ehrverluft zu er⸗ 
iennen. | 

Der Gerichtshof verurtheilte Benthien dieſem Antrage 
gemäß und fchloß damit die Verhandlung bereits am 
zweiten Zage, abends 10!/, Uhr. 

Benthien Hatte fowol den Spruch der Gefchworetten 
als auch das Todesurtheil äußerlich kalt und mit größter 
Ruhe vernommen, ebenfo wenig zeigte er, in feine Zelle 
zurüdgefehrt, befondere Gefühlserregung, er fchlief Die 
ganze Nacht hindurch feit und tief. 

Sein Bertheidiger legte unter dem 25. October Revifion 
ein, auf bie jedoch im December vom Neichsgericht ein 
verwerfender Beſcheid erfolgte. ‘Der Verurtheilte fette 
num bie legte Hoffnung auf ein Gnadengeſuch, das fein 
Bertreter dem hamburger Senat unterbreitet hatte. 
Allein der Senat befchloß, daſſelbe abzulehnen und der 
Gerechtigkeit freien Lauf zu laſſen. 

In der Zwiichenzeit hatte Benthien wiederholt feine 
Unſchuld betheuert und auch am 15. Januar 1890, als 
der Oberſtaatsanwalt Dr. Hirich im Beifein des Ver⸗ 
theidigers Dr. Schröver, des Gefängnißgeiftlichen Paftor 
Ebert und des Oberinfpectors Kaempe dem Verurtheilten 
die Berwerfung bes Gnadengeſuches und ber für ben 
nächften Tag angejegten Hinrichtung eröffnete, brach er 
in ſcheinbar höchfter Verzweiflung in bie Klage aus: 


214 Der Proceß Bentbien. 


„Aber ih bin doch unfchulbig! Sch babe es ja nicht 
gethan!“ 

Durch kein Zureden ſeitens des Oberſtaatsanwalts 
war er zu einem Geſtändniſſe zu bewegen. 

In die ſogenannte Armenſünderzelle überführt, empfing 
er ben Beſuch des Gefängnißgeiſtlichen, ver ihn in ge⸗ 
waltiger Erregung traf. Baftor Ebert fpendete dem 
Delinquenten geiftlichen Troſt und knüpfte ein Gefpräch 
an, in deſſen Verlaufe Benthien um das heilige Abenb- 
mahl bat. Der Paftor Ebert erklärte fich bereit, ihm 
das Saframent zu fpenden, wies ihn aber ernft Darauf 
bin, das Saframent fönne einem Menfchen mit einer 
Lüge auf dem Herzen nicht zum Segen gereihen. Er 
ſprach ihm als Seelforger in das Gewiffen und ermahnte 
ihn zu aufrichtiger Buße. Endlich ging er in fih und 
erflärte: „Ich will e8 gejtehen, ich bin es gewefen!” 

ALS der überrafchte Gefängnißgeiftliche ihn nach dem 
Beweggrund des Mordes fragte, erwiderte Benthien, er 
babe fich ſtets unglüdlich und von ben Menjchen verftoßen 
gefühlt und ſchon lange die Abficht gehegt, feinem ‘Dafein 
ein gewaltfames Ziel zu fteden. Schließlich habe ihn 
jeboch ein Rachegefühl gegen die gefammte Menfchheit 
erfaßt, und diefem Gefühle ſei ver Kleine Steinfatt zum 
Opfer gefallen. Auf die weitere Frage Paftor Ebert’s, 
ob Benthien nicht auch zugeftehen wolle, daß Wolluft 
ebenfall® eine Zriebfeder zur Blutthat gewejen jet, gab 
der Delinquent nach einigem Zaubern eine bejahende Ant- 
wort. Die Ausführung ber That jchilderte er in der von 
dem Sergeanten Hanſen vermutheten Weife, nur habe er 
den Knaben nicht an fich gebrücdt, fondern mit der Hand 
im Genide von fich gehalten und dann feinen Hals mittels 
des Wulff'ſchen Meſſers purchichnitten. ‘Die früher ge- 
machten Angaben bezüglich der an feiner Hand und am 





Der Broceß Benthien. 215 


Leibe gefundenen Kratzwunden hielt Benthien dagegen 
aufrecht und bat fie nie wiberufen. 

Im Laufe des Tages beiwahrte Benthien eine ziem- 
fihe Ruhe, er genoß von den gebotenen Speifen fait 
nicht8 und ſchien tiefe Neue zu empfinden, die fich be- 
ſonders nach dem Empfang des heiligen Abenpmahls Bahn 
brach. Mehrfach Tieß er den Wunjch vernehmen, bie 
Aeltern feines Dpferd um Verzeihung bitten zu können, 
ein Verlangen, auf welches er indeß fchließlich verzichten 
mußte. 

Er beichäftigte fich dann lange — bis gegen 3 Uhr 
nachts — mit Briefefchreiben an mehrere feiner Ver⸗ 
wandten, dann legte er fich nieder und fchlief drei Stunden, 
aber im fichtlicher Unruhe. Die folgenden Stunden bis 
zur Erecution verbrachte er in Gefellichaft des Paftors 
Ebert mit Bibellefen und Gebet. 

Neun Minuten nach 8 Uhr morgens am 16. Januar 
1890 betrat Benthien, ber bei einer frühern Gelegenheit 
die Aeußerung gethan hatte, er habe während ber zwei⸗ 
tägigen Schwurgerichtsfigung nur gezittert, nicht verurtheilt 
zu werben —, geftüßt von Oberinjpector Kaempe und 
Paftor Ebert, völlig gebrochen und halb bewußtlos den 
als Richtplatz benukten Hof des Strafjuftizgebäudes vor 
dem Holftentbor. Genau 10 Minuten nach 8 Uhr fiel 
das Beil der Guillotine, Der irdiſchen Gerechtigfeit 
war genügt. 


Die Araßburger Falſchmünzerbande. 
1889. 


Die Falſchmünzer Haben von jeher in die Kategorie 
der „interefjanten‘ Verbrecher gehört und find als folche 
jowol im Volle wie von ver Gejeßgebung aller Zeiten 
befonderd ausgezeichnet worden. Die Römer hatten in 
ihrer berühmten „Lex Cornelia de falsis” ein Special- 
gefeg entworfen, in welchem feinem Namen nach vor allen 
bie Fälſchung als charakteriftiiches Merkmal bes Ver- 
brechens betont wurde. Das Mittelalter ftempelte das 
unbefugte Schlagen von Münzen zum „Majeſtätsver⸗ 
brechen”, indem es dabei vor allem bie Münzboheit 
bes Kaiſers, des Reiches und der Fürften im Auge batte, 
Die „Carolina”, des Kaiſers Karl V. Peinliche Halsgerichts- 
ordnung, bejtrafte die Falſchmünzer mit dem „Feuertode 
nah Gewohnheit und Satung“, wie fich der Art. 111 
biefes Geſetzbuches ausdrückt, und fügte Hinzu: „die 
ihre Heufer darzu wifjentlich Leihen, vie felben Heufer 
follen fie da mit verwürft haben.” 

So graufam find wir heutzutage nicht mehr. Auch tit 
es nicht mehr fo fehr das Vergeben gegen vie Münzhoheit 
des Staates, welches ver eigentlichen „Münzfälſchung“ 
im Sinne des modernen Strafrechts ihr beſonderes Ge⸗ 
präge gibt, al8 vielmehr das Untergraben ver Grundlagen 





Die raßburger Falſchmünzerbande. 217 


des Geldverkehrs, pas Vergeben gegen ben öffentlichen Ere- 
dit und die bem Gelbe und den öffentlichen Creditpapieren 
wefentlichen Formen. Das tjt die herrſchende Theorie. 
Ein weiteres, mehr für die Prarid des täglichen Lebens 
in Betracht kommendes Moment ift der Umſtand, daß 
dieſe Verbrecher felten als Einzelne operiren, ſondern in 
der Regel in Gemeinschaft, in der criminaliftiich früher 
fo bebeutjamen Form der „Bande“. An ter Spike einer 
folchen Falſchmünzerbande fteht in der Regel ein intelli- 
genter, geiftig mehr oder weniger hervorragender Menich, 
ber feine Helfershelfer in ven verſchiedenſten Klaffen ber 
bürgerlichen Gefellichaft Hat. Wenn er gefchidt und vor- 
fichtig ift, macht er nicht felbft alfe die falichen Münzen, 
Banknoten, Briefmarken, welche plöglich im Verkehr auf- 
tauchen, fonvern bebient ſich dazu wie auch zur Ver⸗ 
breitung im Publikum in der Regel untergeordneter Kräfte, 
welche ihn und den Meifter, jelten im Stich laffen oder 
verratben. Es bedarf der ganzen Energie und eines nicht 
geringen Aufwanbes von Scharffinn feitens der Polizei 
und der unterjuchenden Behörden, um ein ſolches Falfch- 
münzerneft auszuheben. Werben die Thäter und ihre 
Gehüffen nur theilweife entvedt, jo bleibt die Gefahr für 
den Berfehr und den Credit beitehen. 

Ende der achtziger Iahre war in der Umgebung von 
Straßburg i. E. eine Falichmünzerbande in Thätigkeit, 
der auf die Spur zu kommen ver ftäbtifchen Polizei und 
Landgensdarmerie unendlich ſchwer wurde. Bald hier, 
bald dort, bald dieffeit, bald jenfeit des Rheins tauchten 
zahlreiche faliche, in der Kegel ziemlich gut nacdhgemachte 
Fünf- und Zweimarkſtücke ſowie Thalerſtücke auf, ohne 
daß es gelang, ihre Entftehung zu ermitteln. Am 
24. Februar 1889 wurde in Karlsruhe ein Mann feſt⸗ 
genommen, als er eine Wurft mit einem faljchen Thaler 





9218 Die raßburger Falſchmünzerbande. 


bezahlen wollte. Diefer Mann war ein gewifler Fried⸗ 
rih Sutter aus Neudorf bei Straßburg. Nach anfäng- 
lihem Leugnen gab er zu, falfche Thalerftüde in Verkehr 
gebracht zu haben. Er wollte das Geld von einem ihm 
dem Namen nach unbelannten Mann in Straßburg er- 
halten haben. ALS diefer „große Unbekannte” entpuppte 
fih nach und nach ein gewiſſer Miſchke, welcher bereits 
im Jahre 1885 wegen Fälihung von Briefmarken zu 
19, Iahren Gefängniß verurtheilt worden war. Damals 
hatte er ſich als Dffizier verkleidet in ben SKafernen 
berumgetrieben, um vermöge feiner großen Gewanbtheit 
und feiner gefälligen Umgangsformen ohne erhebliche 
Schwierigkeiten die falihen Marken an den Mann zu 
bringen. 

Wie er fpäter angab, kam er im Gefängniß auf bie 
Idee, nach feiner Freilaffung fi auf das einträgliche 
Gewerbe der Falichmünzeret zu legen und faliches Metall⸗ 
geld anzufertigen; biefen Gedanken begann er im Herbft 
1888 zur Ausführung zu bringen. Er Taufte zu dieſem 
Zwede in einem 50-Pfennig-Bazar zu Straßburg Löffel 
aus jogenanntem Britanniametall, das Dugend zu 1 und 
2 Mark, verfchaffte fih Gips, machte davon einen Zeig 
und ftellte durch Abdrücken echter Fünfmark-, Thaler-, und 
Zweimarfftüde Formen ber. In diefe goß er das über 
einer Spirituslampe gejchmolzene Metall der gekauften 
Löffel. Die Inschriften und Verzierungen am Rande ber 
Fünfmarkſtücke und Thaler gravirte er zuerjt mit einer 
Nähnadel ein, fpäter ſchlug er fie mit Meffinglettern 
hinein, die er zu biefem Zwecke angefertigt und bei feiner 
Feſtnahme noch im Beſitz hatte. Auf diefe Weife hat er 
in der Zeit vom Detober 1888 bis zum März 1889 
zahlreiche Fünfmark-, Thaler-, und Zweimarkſtücke nach- 
gemacht im Minimalwerthe von mindeftens 400 Mark, 





Die firaßburger Falfgmünzerbande, 219 


und zwar etwa 50-60 Bünfmarfitüde, 13 Thalerſtücke 
und eine unbejtimmte Zahl von Zweimarkitüden. Hiervon 
gab er verſchiedene Stüde im Betrage von etwa 120 Mark 
an Sutter, diefer übernahm e8 das faliche Geld in Ver⸗ 
fehr zu fegen, und verfprach bie Hälfte des Gewinnes an 
ihn abzuliefern. Ebenſo erhielt die Ehefrau Knebler von 
ihm Stüde im DBetrage von etwa 20 Mark; 39 Fünf- 
markftüde find in feinem Befit gefunden worben, und 
1 Fünfmarkſtück hat er zu Stuttgart in Verkehr gebracht. 
Was aus den übrigen falſchen Stüden geworben ift, 
fonnte nicht ermittelt werden. ‘Die von ihm zur Falſch⸗ 
münzerei gebrauchten Werkzeuge find zum Theil in ver 
Wohnung des Sutter und eines gewiffen Belling gefunden 
worden. Miſchke und feine Leute hatten ihre Thätigkeit 
über das halbe Elſaß und das benachbarte Baden aus- 
gebehnt. Die falichen Stüde trugen das Bildniß des 
Deutichen Kaifers, das Münzzeichen A. und die Jahres⸗ 
zahlen 1874 und 1876. Die lektern Stüde waren im 
Allgemeinen beſſer nachgemacht als die erjtern. ‘Die 
Miſchung beitand aus Kupfer und Wismuth und nur 
wenig Zinn und Dle. Aus 5 der oben befchriebenen 
Löffel find 14 Stüd faliche Fünfmarkftüde hergeftelft 
worden, die den echten ungemein täufchend ähnlich jehen. 
Sie fühlen fih nicht fett an und der Klang unterjcheidet 
fich nicht von den echten Stüden. Das einzige Unters 
ſcheidungsmerkmal zwifchen den echten und unechten Stüden 
beitand darin, daß der Rand bei ven falfchen Münzen 
fihtlich abgedreht oder gefeilt ift, einen bläulichen Schein 
und einige mangelhafte Prägungen zeigt. ‘Der Guß auf 
den platten Seiten, auf ben Oberflächen war vorzüglich 
gelungen. 

Miſchke war ftolz auf feine gefäljchen Kunſtwerke. Er 
hielt e8 nach feiner Verhaftung unter feiner Würde zu 


220 Die fraßburger Falſchmünzerbande. 


leugnen und geftand dem Unterfuchungsrichter fchon tm 
erften VBerhör Folgendes ein: „Ich bin ver Falfchmänzerei 
ſchuldig. Ich Habe falfche Fünfmarkftüde, Thalerſtücke 
und Zweimarkftüde gemacht. Einmarfftüde, Zehnpfennig- 
ftüde und Zwanzigpfennigftücde nicht, auch Goldftücke nicht. 
Nur in Straßburg in meiner Wohnung Ludwigsgaſſe 24 
habe ich falſches Geld gemacht und zwar ſeit Detober vorigen 
Jahres, als ich ohne Stelle war. Als ich bei Schwarz be» 
ſchäftigt wurde, hörte ich auf, fing aber im Januar dieſes 
Jahres, als ich dieſe Stelle verloren hatte, wieder an. Ge⸗ 
bolfen hat mir niemand. Sutter hat auf meine Veranlaffung 
faliches Geld, welches er von mir erbielt, verausgabt und 
die Hälfte des Erlöfes bezogen. Andere Mitglieder ber 
Familie Sutter habe ich nicht direct beauftragt. Sonſt 
ift niemand mitſchuldig. Der Frau Knebler, welche mir 
Geld geliehen hatte, habe ich den Betrag, im ganzen 
etwa 20-30 Mark, in falihen Münzen zurückgegeben, 
ohne ihr dies zu fagen. Wenn fie die Stüde ausgegeben 
hat, wirb fie nicht gewußt haben, daß fie falich waren. 
Sch felbft Habe in Straßburg und Umgegend Fein faljches 
Geld ausgegeben, auch auf ver Reife nicht; erft in Stutt- 
gart habe ich ven Verfuch gemacht, durch Vermittelung 
des Hausburſchen, welcher mich verrathen hat, falfches Geld 
anzubringen. Ich bleibe dabei, daß ich außer Sutter, ven 
Bater, feine Mitfchuldigen habe. Die übrigen Familien⸗ 
mitglieder Sutter, außer der Elife und der breizehnjährigen 
Tochter, wußten um bie Faljchmünzerei. Die Ehefrau 
Sutter bat alles gethan, um ihren Mann abzuhalten. 
Meine Frau ift ganz unschuldig, fie hat mich beftänpig 
gewarnt und gebeten, mich nicht in das Unglüd zu ftürzen. 
Ich will jet auch zugeben, das ich verfucht babe, zwei 
falfche Zehnmarkſtücke zu machen, mehr wie zwei habe ich 
nicht gegoffen, die Färbung gelang nicht.” 





Die ftraßburger Falſchmünzerbande. 221 


Die übrigen Angefchuldigten: Sutter, Vater und 
Sohn, und die Eheleute Knebler, ein gewilfer Robert 
Belling und deſſen Geliebte Amalie Elifabeth Gieler 
leugneten ihre Betheiligung an der Falichmünzerei. ALS 
aber der Unterſuchungsrichter die Sutter'ſche Wohnung, 
einen elenden Kellerverichlag, einer eingehenden Befichtigung 
unterzogen und babei einige jehr verbächtige zum Falſch⸗ 
münzergewerbe dienende Werkzeuge gefunden hatte, bequemte 
auch Sutter ſich zu folgendem Geſtändniß: „Ich geſtehe 
jet ein, daß ich von Miſchke das von mir verausgabte 
falfche Geld erhalten habe. Miſchke hat es gemacht und 
zwar in feiner Wohnung. Nicht lange vor meiner Ver⸗ 
baftung gab er mir ein Packet, welches anjcheinend eiferne 
Gegenftände enthielt, zur Aufbewahrung. Ich babe das⸗ 
jelbe im Keller in meiner Wohnung vergraben. Ich 
fann den Ort nicht genau beichreiben, werde ihn aber 
finden, falls Sie mich hinführen lafjen. Zwei⸗ bis brei- 
mal war ich zugegen, als Miſchke in feiner Wohnung 
Münzen goß. Er gebrauchte damals Gipsformen. 

„Ich bin durch Geißer mit Mifchle befannt geworden. 
Ob dieſe beiden miteinander gearbeitet haben, und ob 
Geier überhaupt davon weiß, vermag ich nicht zu fagen. 
Meine Belanntſchaft mit Miſchke erfolgte in folgender 
Weiſe: 

„Geißer, der früher bei mir logirt hatte, führte mich 
eines Abends in die in dem von Miſchke bewohnten Hauſe 
befindliche Wirthſchaft. Dort erſchien Miſchke. Irgend⸗ 
eine Verabredung zwiſchen Geißer und mir, mich mit 
Miſchke zuſammenzubringen, hat nicht ſtattgefunden. In 
der Folge traf ich noch ungefähr zwei⸗ ober dreimal] mit 
Miſchke in berfelben Wirtbichaft zufammen; erft,bei einer 
fpätern zufälligen Zufammenkunft in der «Kanone» war 
aber von falſchem Gelde die Rede. Wir kamen überein, 


222 Die ſtraßburger Falſchmünzerbande. 


daß ich gegen Betheiligung am Gewinn von ihm Falſch⸗ 
ſtücke zur Verausgabung erhalten ſollte. 

„Miſchke hat das Metall in einem alten eiſernen Eß⸗ 
löffel auf einer Spirituslampe geſchmolzen. Er ſteckte 
den Stiel des Löffels in ein kleines Loch an der 
Wand, das anfcheinend durch eine Stuhllehne hinein- 
gedrüdt war. Die Spirituslampe, von der Größe ber 
innern Handfläche und aus Weißblech angefertigt, ftellte 
er unter ben Löffel auf den Tiſch. Dies vollzog fich in 
ber erften Stube der Mifchke’ichen Wohnung. Die Frau 
habe ich dabei nicht gejehen.“ 

Bezüglich der übrigen Angeflagten wurde Folgendes 
feftgeftellt: 

Als Mifchle in der Kneblerfhen Wohnung faliches 
Geld nachmachte, ſah ihm die Ehefrau Knebler genau zu, 
ſodaß fie bald im Stande war, felbft faljche Gelpftüde 
anzufertigen. Sie that dies im Januar 1889, indem fie 
auf diejelbe Weiſe wie Miſchke mindeſtens 30 Zweimarf- 
ſtücke herſtellte. Da ihr die Herftellung von Fünfmark⸗ 
ftüden nicht gelingen wollte, fertigte Mifchle im Februar 
1889 19 folcher Stüde für fie an. Die fo gewonnenen 
Valfificate gab fie aus, ebenfo wie Zweimarfftüde, welche 
Miſchke ihr Schon vor Weihnachten gegeben hatte und von 
benen fie wußte, daß fie falfch waren. Sie hat ihre 
Schuld eingeftanden, ihr Ehemann dagegen hat alles be- 
ftritten. 

Sutter erhielt, wie oben bemerkt, im legten Viertel⸗ 
jahr 1889 von Miſchke eine Anzahl Fünfmark-, Thaler- 
und Zweimarkſtücke, von denen er wußte, daß fie falfch 
waren, und gab die meilten diefer Stüde in Straßburg 
und Umgegend bei Gejchäftsleuten aus. So ift er bei- 
jpielöweife am 16. December in ben babifchen Dörfern 
Neumühl und Legelshurft in etwa neun Wirthfchaften umber- 





— — 


Die ſtraßburger Falſchmünzerbande. 223 


gezogen, hat jedesmal eine Kleinigkeit verzehrt und einen 
falſchen Thaler in Zahlung gegeben, das herausgegebene 
echte Geld aber an ſich genommen. 

Am 13. Februar 1889 begab ſich Sutter mit ſeinem 
Sohne Karl nach Grafenſtaden, um daſelbſt falſches Geld 
in Verkehr zu bringen. Während erſterer auf der Straße 
wartete, ging letzterer in zwei Geſchäfte, kaufte Kleinig⸗ 
keiten und gab zur Bezahlung je ein ſalſches Fünfmark⸗ 
ſtück hin; das herausgegebene echte Geld nahm er in 
Empfang. Hierdurch hat ſich nach der Anklage Karl Sutter 
der Beihülfe zu der von ſeinem Vater begangenen Ver⸗ 
ausgabung falſchen Geldes ſchuldig gemacht. Er iſt geſtändig. 

Am 8. März kam Miſchke, mit welchem Belling von 
früher befannt war, in deſſen gemeinſchaftlich mit feiner 
Zuhälterin, der Angeklagten Gieler, bewohnte Behaujung 
und theilte demſelben fowie der anweſenden Gieler die von 
ihm betriebene Falſchmünzerei mit, zeigte ihnen auch 
falſche Zweimarkſtücke. Miſchke hatte ſein Werkzeug bei 
ſich und bat den Belling und die Gieler, ihm in ihrer 
Wohnung die Herſtellung falſcher Münzen zu geſtatten. 
Sie waren bamit einverftanden. Hierauf hat Meiichte 
unter Benugung einer von Belling und ver Gieler zur 
Verfügung geftellten Spirituslampe zwei falihe Fünfmarf- 
ſtücke hergeftellt, wobei beide zugegen waren. Dieſelben 
haben fich hiernad einer thätlichen Beihülfe des Miſchke 
bei Ausführung der Falſchmünzerei jchulbig gemacht. 
Sie find im Wefentlichen geftändig. Bei einer in ihrer 
Wohnung vorgenommenen Hausſuchung wurden DET’ 
gefunden: eine Cigarrentifte mit Gips, ein eiſerner zörfel 
mit Keften von Gipsteig, zwei Zinkſtückchen, das eine mit 
Gipsteig beſchmiert, und zwei Feilen. Miſchke jeirrexjeite 
gibt an, in der Belling’ihen Wohnung zwei Tinfmartitüde 
nachgemacht zu haben. 





224 Die firaßburger Falſchmünzerbande. 


Dem Belling fällt außerdem zur Laft, daß er dem 
Mitchle, als derjelbe fi) in Straßburg nicht mehr ficher 
fühlte und zu flüchten beabfichtigte, behufs beſſern Fort⸗ 
kommens einen Rod, eine Hofe und eine Arbeitsfchüärze 
gab, auch denſelben während der Nacht vor dem Tage 
ber Flucht (23. März 1889) in feiner Wohnung beher- 
bergte. Hierdurch hat er fich einer ftrafbaren Begünftigung 
ſchuldig gemacht. Er ift auch in dieſem Punkte geftändig. 

Bei der ſchwurgerichtlichen Verhandlung, bei welcher 
namentlich der Hauptaugellagte Miſchle durch eine form⸗ 
gewanbte Selbftvertheibigung ven Einbrud eines fähigen 
und intelligenten, aber burchaus verfommenen Menſchen 
machte, waren die Richter wicht lange über bie Schuld 
ber einzelnen Angeklagten im Zweifel. Mit Ausnahme 
bes jungen Sutter und des Knebler wurden fie ſämmt⸗ 
lich zu längern Freiheitsſtrafen verurtbeilt. 





Meineid oder Redtsirrthum? 


(Eine Dorfgeſchichte aus dem Elfak.) 
1889, 


Es ift feine Seltenheit, daß fich der Parteihader in 
einem Dorfe jo zufpigt, daß er fchließlich vor dem Straf- 
gericht feinen Austrag erhält. Die alte Gefchichte ber 
Montecchi und Eapuleti wiederholt fich alljährlich in Heinerm 
Rahmen in unfern Dorfgemeinden. Stehen das geiftliche 
und bürgerliche Oberhaupt des Dorfes, Pfarrer und 
Bürgermeifter, an der Spike ſolcher Parteien, fo ift e8 
fein Wunder, wenn fich die fänmtlichen Eingefeffenen in 
zwei ſcharf gefchievene Lager. jpalten. Drohungen und 
Beichimpfungen auf beiden Seiten find an der Tages⸗ 
ordnung, die gejchäftige Zunge gewerbsmäßiger Ehrab- 
fchneiver findet ein reiches Feld ihrer verberblichen Thätig- 
feit und fcheut felbft nicht vor Lügenhaften Berichten an 
vorgejette Behörden und erweislich unwahre Behaup- 
tungen vor Gericht. Diejenigen, welche in den Strudel 
der Parteiwuth hineingeriffen werben, folgen blindlings 
dem „mot d’ordre” ihrer Führer und erfahren meiit, 
wenn es zu fpät ift, durch Schädigung an Ehre, Freiheit 
und Vermögen, daß fie nur Werkzeuge geivefen find. 

XXIV. 15 


226 Meineib oder Rechtsirrthum? 


Aehnliche Zuftände herrichten ſchon feit etwa einem 
Jahrzehnt in dem Dorfe B., einer weder an Zahl ver 
Einwohner noch Reichthum befonders hervorragenden Ge- 
meinde. Um jo üppiger wucherten vie alljährlich fich 
wiederholenden Fehden zwiſchen ver Partei des Bürger⸗ 
meifterd und der des Pfarrers. Ein Anhänger ver erftern 
Partei, ver Gemeinderath R., war im Sabre 1889 durch 
Ihöffengerichtliche8 Urtheil wegen Hausfrievensbruch und 
Beleidigung des Pfarrers zu einer Woche Gefängnik 
verurtbeilt worden. Der Pfarrer hatte den Sohn des 
Gemeinderathes nicht in den Kirchenchor aufnehmen wollen 
und ihn eines Tages während des Gottesdienſtes von ber 
Orgelbühne entfernen laſſen — aus Intereſſe für bie 
Kirchenorbnung meinten die Anhänger des Pfarrer8 —; 
aus politiichem Parteibaß, ver fih vom Vater auf den 
Sohn vererbt, nach Anficht der Leute des Bürgermeifters 
und feiner Anhänger. ‘Der Gemeinderat R. hatte ben 
Pfarrer wegen dieſes Vorgehens in dem Pfarrhaufe felbft 
zur Rebe geftellt, war dabei grob nach Bauernart aus- 
gefallen umd hatte fich auf wiederholte Aufforderung des 
Pfarrers nicht entfernt. Deshalb feine Verurtheilung. 
Dem Beleibigten war die Befugniß zugeiprochen worden, 
das Urtbeil innerhalb 10. Tagen nach Nechtöfraft auf 
Koften des Angeflagten durch Anbeftung an dem Gemeinve- 
haufe in B. zu veröffentlichen. In beiden Lagern in B. 
war davon die Rebe, daß das Urtheil abgeriffen 
werben würde, wenn ed ausgehängt werben follte Am 
Abend des 18. Mai wurde durch ben Gemeindediener 
bie Anheftung an einem unvergitterten Brete des Gemeinde⸗ 
haufes vollzogen. Der Auftrag Hierzu war ihm burch 
ven Bürgermeifter H. in feiner Wohnung gegeben worden. 
Dabei war auch ber verurtheilte Gemeinverath zugegen. 
Ihm gegenüber machte der Gemeindediener, welcher felbft- 


Meineid ober Rechtsirrthum? 227 


verſtändlich Anhänger des VBürgermeifters und Gegner 
des Pfarrers war, die Bemerkung: „Ich würde e8 nicht 
bängen laſſen.“ 

Nach der Anheftung des Urtheil® hatten zwei eifrige 
Anhänger des Pfarrers fpät am Abend bei dem Schein 
einer Laterne den Inhalt gelefen. Von oben foll dabei 
auf fie gefpuct worden fein; man wollte den Bürgermeifter 
als den: Thäter erkannt haben. Um zu fehen, ob fich 
jemand wihrend der Nacht an dem Urtheil vergreifen 
würde, ftellten fich die beiden Männer hinter das Thor 
des Ackerbürgers W. in einer Entfernung von etwa 
12 Meter, dem Gemeindehaufe gegenüber, auf. Eine 
Spalte des Thores hielten fie zur beffern Beobachtung 
offen. 

Gegen 10%, Uhr Ihlih fi ein Mann vorfichtig 
auf Soden an das Plakat und verfchmierte baffelbe 
mit der Hand. ALS fich einer der Aufpaffer durch ein 
Geräusch bemerkbar machte, verſchwand der Thäter eiligft. 
Die beiden Anhänger des Pfarrers verfolgten ihn eine 
furze Strede. Sie wollten troß der bunfeln Nacht den 
Gemeinderath R. erkannt haben, ver anscheinend allein 
Snterefje an ver Ausführung dieſes Streiches haben Fonnte. 
Allein ſchon am andern Morgen theilte der Gemeinde- 
biener dem Bürgermeifter vertraulich mit, das Plakat 
habe er verjchmiert. Er ſei darüber ärgerlich gewefen, 
daß die Parteigenoffen des Pfarrers es noch am Abend 
mit Hülfe einer Laterne gelefen hätten. 

Auf Grund der Erzählungen der beiden Anhänger 
des Pfarrers, welche am folgenden Zage gefliffentlich aus 
der Stube des Dorfbarbiers im ganzen ‘Dorfe verbreitet 
wurden, erftattete ein dem Bürgermeifter und bem Ge- 
meinberatbe R. aufjälfiger Wirth, dem die Wirthichafts- 
conceifion entzogen werben jollte, durch ein vom frühern 

15* 


228 Meineidb oder Rehtsirrtbum? 


Bürgermeifter verfaßtes Schriftſtück Anzeige gegen R. 
bei der Staatsanwaltichaft. Beide, der Wirth und der 
ehemalige Bürgermeijter, waren Anhänger und intime 
Freunde des Pfarrers, jener aber bei der legten Gemeinde- 
ratbswahl durch die Anhänger des jegigen Bürgermeifters 
geftürzt worden. Es ift daher begreiflih, daß fich vie 
befiegte Partei die willflommene Gelegenheit nicht entgehen 
laffen wollte, ven Gegnern etwas am Zeuge zu fliden. 
Um zum Ziele zu gelangen, wurbe fein Mittel gefcheut 
und die ganze Scala ber Verleumbungen bis zum offen- 
kundigen Falſcheid durchlaufen, damit ver Parteileivenfchaft 
Genüge gefchehe. Wir geben dieſe Vorgefchichte des fpätern 
Meineivsproceifes deshalb fo ausführlich, weil fich darin 
das Heinliche Intriguenfpiel wiberjpiegelt, wie es leiber 
oft auf unfern Dörfern an der Tagesordnung iſt. 

Die erfte Verhandlung fand am 2. Juli 1889 vor dem 
Schöffengericht in Br. ftatt. Angellagt war der Gemeinde⸗ 
rath R. auf Grund des 8. 134 des Strafgeſetzbuchs, am 
18. Mai 1889 zu B. eine dffentlich angejchlagene Be⸗ 
fanntmachung (den Auszug aus jenem Urtheile wegen 
Beleidigung des Pfarrers) böswillig verunftaltet zu haben. 
Als Belaftungszeugen erfchienen die beiden oben erwähnten 
Anhänger des Pfarrers, als Entlaftungszeuge der Ge- 
meindebiener M. Auch der Bürgermeifter war in ber 
Situng zugegen und felbftverjtänplich mit ihm bie halbe 
Einwohnerfchaft des Dorfes B. als Zuhörer und Partei 
für und wider in dieſer „cause célèbre“ ihres Heimat- 
ortes. 

Nach voraufgegangener Vereidigung und wiederholter 
Ermahnung, ſich ſtreng an die Wahrheit zu halten, be- 
fundeten jene beiden, daß fie in der fraglichen Nacht ven 
R. ganz genau erkannt hätten und ihn auf ihren Eid 
al8 den Thäter bezeichnen müßten. Der Gemeinbebiener 


Meineib oder Rechtsirrthum? 229 


hingegen bezeugte gleichfalls auf feinen Eid, er habe von 
jenem offenen Fenſter beobachtet, ob etiwa in jener Nacht 
an der Gemeinvetafel etwas Ungehörige® vorgenommen 
würde; er babe aber den Angeklagten nicht gejehen, ob- 
ſchon er ihn von feinem Poften hätte ſehen müffen. Außer- 
dem fagte die unvereibigt vernommene Chefrau des R. 
aus, daß ihr Mann in jener Nacht um 10 Uhr zu Bett 
gegangen und nicht von ihrer Seite gekommen fei. In 
Folge des Widerfpruches diefer Ausfagen erachtete das 
Schöffengericht ven Thatbeftand für nicht hinreichend auf- 
gellärt und fprach den Angeklagten frei. 

Die Staatsanwaltichaft legte gegen dieſes Urtheil 
Berufung ein, und in der Verhandlung vor der Straf: 
fammer des Landgerichts, zu Welcher von beiden Seiten 
zahlreihe Zeugen geladen waren, erflärten bie beiben 
eritgenannten wiederholt und aufs neue vereibigt, daß R. 
der Thäter fei, beftritten auch jede Möglichkeit, daß fie 
ſich in der Perjon deſſelben geirrt haben Fünnten. ‘Der 
Gemeindeviener gab zum Erjtaunen des Gerichts die Er» 
kärung ab: „Nun, meine Herren! um Ihnen die Wahr- 
beit zu jagen: ich bin e8 geweſen.“ Der Vorſitzende rief 
ihm zu: „Dann find Sie ein ganz gewöhnlicher Lump.“ 
Die von der Staatsanwaltichaft eingelegte Berufung wurde 
verivorfen und gegen die beiden Belaftungszeugen ſowol 
als den Gemeindediener Vorunterfuchung wegen Mein- 
eids eingeleitet: ihre Verhaftung erfolgte. 

Der Fall war ein ganz abnormer. Auf ver einen 
Ceite die offenfundige und hartnädige Bekundung einer 
falfhen Thatjache unter Eid, auf der andern bie nicht 
häufig vorkommende Selbftvenunciation eines Zeugen. 
Waren beide Fälle als Meineid over fahrläffiger Falſcheid 
zu behandeln? Bei ver Hauptverhandlung, welche in ber 
Sigung der Straffammer vom 30. October 1889 ftatt- 





230 Meineib oder Rechtsirrthum? 


fand und zu welcher nicht weniger als 29 Zeugen aus dem 
Dorfe B., darunter auch der Pfarrer und der Bürger⸗ 
meifter, erjchienen waren, geriethen bie Parteien heftig 
aneinander. Don Interefje für bie juriftifche Eonftruction 
bes Falles find die Ausführungen ver Vertheibigung be= 
züglich des Angeflagten, Gemeindedieners M. Es wird 
darzuthun verjucht, daß weder ein Meineid noch ein fahr- 
fäffiger Falſcheid in viefem Falle vorliege, und Folgendes 
ausgeführt: Ein falicher Eid könnte nach zwiefacher Rich» 
tung conftruirt werden. Entweder nimmt man an, daß 
der Angellagte in ver zweiten Inftanz al® Zeuge etwas be- 
eibigt hat, was nicht wahr ift, indem er fich fäljchlich des 
dem Schöffengerichte zur Aburtheilung vorgelegenen Ver⸗ 
gebens ſelbſt bezichtigte, oder’ daß der Meineid in ber 
erſten Inſtanz dadurch geleiftet worden ift, daß er eine That⸗ 
fache, welche für bie Beurtheilung jenes Straffalles 
wefentlich war, wiſſentlich verjchwiegen bat. 

Der erjten Annahme fteht der Umstand entgegen, daß 
M. bereits unmittelbar nach der Berunftaltung des Schrift» 
ſtückes, jedenfall8 bevor deswegen eine Unterjuchung gegen 
R. eingeleitet war, felbft erklärt hat, er ſei ver Thäter 
geweſen. Es iſt deshalb nicht anzunehmen, daß er dem 
R. zu Liebe fich felbft dieſer für ihn folgenjchweren Straf- 
that bezichtigt und dieſelbe fäljchlich durch einen Eid be- 
fräftigt bat. 

Der Annahme aber, daß M. fich in der erften Inftanz 
durch Verſchweigung eines wejentlichen Umftandes eines 
Meineides ſchuldig gemacht hat, fteht die Vorfchrift des 
Geſetzes in 8. 54 der Strafproceßorbnung*) entgegen. Der 


- *) 8. 54 ber Strafproceßorbnung lautet: „Jeder Zeuge Tann 
die Auskunft auf foldhe Fragen verweigern, beren Beantwortung 
ihm ſelbſt Die Gefahr ftrafgerichtlicher Verfolgung zuziehen würde.“ 





Meineid ober Rechtsirrthum? 231 


Gejeßgeber hat durch ven Schuß dieſes Paragraphen Zeugen, 
welche fich nicht felbft einer ftrafbaren Handlung bezichtigen, 
vor den Strafen des Meineids fichern wollen. Diejer Para- 
graph würde feinen Sinn haben und der von bem 
Gefeßgeber gewollte Schu würde nicht vorhanden fein, 
wenn lediglich durch die Nichtausübung des Fragerechts 
ſeitens des vorfigenden Richters eine Verfolgung wegen 
Meineids in den feltenen Fällen, wo ein Zeuge fich nach- 
träglich ſelbſt denuncirt, eintreten könnte. Es iſt nach⸗ 
gewieſen, daß bei der erſten Vernehmung des M. in der 
Sitzung des Schöffengerichts zu Br. vom 2. Juli 1889 
die Frage, wer das angeheftete Urtheil verunſtaltet habe 
bezw. ob er ſelbſt der Thäter ſei, nicht an den Zeugen 
gerichtet worden iſt. Es lag auch, wie der vorſitzende 
Richter amtlich berichtete, keine Veranlaſſung zu einer 
ſolchen Frageſtellung vor. Denn durch die Ausſage des 
Zeugen und jetzigen Angeklagten M. war die Thäterſchaft 
des Gemeinderaths R. durchaus in Frage geſtellt, jeden⸗ 
falls in fo hohem Grabe zweifelhaft geworden, daß der⸗ 
jelbe auf Grund dieſes Zeugnifjes freigefprochen wurde. 

Wefentlih anders würde der Sachverhalt fein, wenn 
durch die Ausfage des Zeugen vor dem Schöffengericht 
der Angeklagte belaftet und nun auf Grund diefer Aus- 
ſage verurtheilt worden wäre. Der Umſtand, daß ver 
Zeuge durch Verfchweigung der Thatjache, daß er jelbit 
der Urheber war, aus einem unverbächtigen ein vers» 
bächtiger Zeuge geworben ift, würde nur in diefem Falle 
von Bebeutung fein. Denn wenn die Freifprechung er- 
folgen mußte, weil der Zeuge unverbächtig war, fo hätte 
fie um fo mebr erfolgen müffen, wenn biefer Zeuge auf bie 
Trage, ob er jelbft ver Thäter fei, die Auskunft verweigert 
und ſich dadurch ver That felbit dringend verdachis ge⸗ 
macht hätte. 


932 Meiueidb oder Rechtsirrthum? 


Wenn der Saz richtig ift, daß niemand fich ſelbſt 
einer ftrafbaren Handlung zu bezichtigen braucht, jo muß 
dies insbejondere in dem Falle Anwendung finden, wenn 
jemand wegen einer Strafthat als Zeuge vernommen 
wird, Wenn ber Zeuge auf eine Trage, beren Be- 
antwortung ihm jelbjt die Gefahr ftrafrechtlicher Verfolgung 
zuziehen kann, die Auskunft veriveigern darf, jo muß Dies 
nach befannten logiſchen Grundfägen um jo mehr gelten, 
wenn eine jolche Frage überhaupt nicht geftellt wird. ‘Die 
Folge würde fonft die fein, daß in allen Fällen der ab- 
fichtlich oder zufällig unterlafjenen Frageftellung pas Geſetz 
umgangen werben könnte. Man nehme nur den Fall, 
daß bei einer Anklage wegen Ehebruchs an die Concubine 
bes präfumtiven Ehebrechers al8 Zeugin die Frage nicht 
gejtellt wird, ob fie den Beiſchlaf mit demſelben vollzogen 
habe. Würde in biefem Falle das Verjchweigen und nach⸗ 
trägliche Zugeſtändniß dieſes Umftandes der Zeugin nach- 
träglich eine Anklage wegen Meineids zuziehen Fünnen ? 

Die umgekehrte Schlußfolgerung, daß aus dem Wort- 
laute der Eivesformel: „nichts zu verſchweigen“, in Straf- 
fachen die Pflicht für ven Zeugen hervorgehe, felbft wenn 
er nicht gefragt wird, oder gerade weil er nicht gefragt 
wird, auch ſolche Thatfachen zu bekunden, welche ihm jelbft 
die Gefahr einer ftrafrechtlichen Verfolgung zuziehen 
fönnen, fteht mit den angegebenen Paragraphen im Wiber- 
ſpruch. Es ift auch nicht ohne weiteres anzunehmen, 
daß dem Zeugen die Erheblichkeit des Verfchweigens feiner 
Thäterſchaft für die Benrtheilung des Straffalles un- 
mittelbar bei feiner VBernehmung zum Bewußtjein gefommen 
ift und daß er wiffentlich die Unwahrheit gejagt bezw. 
bie Wahrheit verſchwiegen hat. 

Sollte e8 ſelbſt einem Zweifel nicht unterliegen, daß 
der Zeuge bie Erheblichkeit dieſer Thatſache erkannt habe, 


Meineib ober Rechtsirrthum? 233 


fo konnte er fich bei feiner Vernehmung immerhin fagen, 
daß er, weil er nicht darüber befragt worden war, barüber 
feine Auskunft zu geben brauchte, und wenn er barüber 
befragt worden wäre, die Auskunft hätte verweigern dürfen. 

Da alſo Tebiglich durch die Unterlaffung der Frage- 
ftelung der angebliche Meineid überhaupt zur Exiftenz 
gekommen ift und der Zeuge in der zweiten Inftanz, in ber 
fihern Ueberzeugung, daß er fich dadurch der Strafe des 
Meineids nicht ausfegen würde, bie ihn belaftenne Aus» 
funft zur Aufflärung der Sache gegeben bat, fo ift eine 
nachträgliche Verfolgung beffelben nicht gerechtfertigt. 

Das Urtheil ftellte fich entfprechenn den Ausführungen 
der Staatdanwaltihaft auf ven entgegengefegten recht- 
lichen Standpunkt. Dies hatte die eigenthümliche Folge, 
daß der Gemeindediener faljchen Eides wegen nach 88. 154 
und 163 bes Strafgeſetzbuchs verurtheilt, die beiden andern 
Angeklagten aber freigefprochen wurben. 

Es heißt im Urtheil: „Auf Grund des Geftänpnifjes 
des M. und feines bald nach dem Vorfall andern Perſonen, 
insbejondere auch dem Bürgermeifter gemachten Belennt- 
nifjes fteht objectiv feit, vaß der Gemeindediener M. und 
nicht der zuerjt angeflagte Gemeinverath R. das öffentlich 
angeichlagene amtliche Schriftftüd verunftaltet, d. i. mit 
Ruß verfehmiert hat. Das eibliche Zeugniß ber beiben 
erften Angeklagten ift demnach unter allen Umftänden ein 
faliches. Bei Ablegung dieſes wienerbolten falichen Zeug- 
niſſes Haben dieſe Angeflagten jedoch das Bewußtjein und 
die Ueberzeugung gehabt, daß der von ihnen beobachtete 
Thäter eben jener Gemeinverath gewejen fei. Während 
ihnen bei ihrer erften zeugeneiblichen Vernehmung ver 
Gedanke an die Möglichkeit eines andern Thäters über- 
haupt nicht gefommen ift, bat fie das Bekenntniß bes 
M. bei ver in der Berufungsinftanz wienerholten Ab⸗ 


934 Meineid ober Rechtsirrthum? 


legung ihres Zeugnifjes in ihrer Veberzengung nicht er- 
chüttert, weil fie annabmen, M. fage die Unwahrheit, 
um dem R. zur Freifprechung zu verhelfen. Ihre Ueber⸗ 
zeugung ift, wenn auch eine irrthümliche, doch eine that- 
fächliche geweien. Eine ftrafbare Fahrläffigfeit kann darin 
nicht gefunden werben. Anders dagegen liegt die Sache 
bei dem britten Angellagten. Diejer ift mehr wie jeber 
andere Zeuge über ven Gegenjtand feiner Vernehmung 
unterrichtet gewefen. Die Tragweite jeiner Wifjenfchaft 
zur Sade ift ihm nicht entgangen, fie hat ihn vielmehr 
gerade beftimmt, fich als Zeuge anzubieten. Er ift auch 
nach feiner Beeibigung und inhaltlich ver Eidesformel 
verpflichtet gewefen, die reine Wahrheit zu jagen, nichts 
zu verfchweigen, alfo bier, den ihm bewußten Thäter zu 
nennen. Nur injoweit ift ihm burch ven $. 54 der Straf- 
proceßordnung in ber letztern Richtung eine Vergünjtigung 
gewährt, als er im gegebenen Falle Die Nennung des Thäters 
mit Rüdficht auf pie ihm felbft dadurch erwachſende Gefahr 
ber Strafverfolgung verjchweigen durfte Wie aus ber 
Beitimmung des $. 55 1. c. hervorgeht, konnte die Aus- 
funftsverweigerung auch Direct, d. b. ohne daß beſonderes 
Befragen erfolgte, gefchehen. Allein feine Weigerung 
durfte Feine ftilljchweigende, fonbern mußte eine aus- 
brüdfiche fein. Sein Zeugniß verpflichtete ihn, wenigſtens 
anzugeben, daß er etwas zur Sache Gehöriges 
verfchweige, indem er zugleich die Gründe feiner Weige- 
rung mitzutbeilen und eventuell (nad 8. 55 der Straf- 
proceßordnung) glaubhaft zu machen hatte. Nur ein folches 
Zeugniß hätte die ganze, bie reine Wahrheit enthalten 
und wäre auch allein geeignet geweſen, dem urtheilenden 
Gerichte in dem wahren Lichte zu erjcheinen. 

„Dem Angeklagten kann voller Glaube beigemeffen 
werben, wenn er verfichert, angenommen zu haben, daß 





Meineid oder Rechtsirrthum? 235 


er eine ihn felbft belaftende Thatſache verjchiweigen bürfe. 
wenn er nicht fpeciell danach gefragt werde. Diefer® 
Irrthum ift jedoch ein ftrafbar fahrläffiger., Der An- 
geklagte ift freiwillig als Zeuge erjchienen, um Aufklärung 
zu geben; er hat gefchworen die reine Wahrheit zu jagen 
und nichts zu verichweigen. Bei eingehendem Nachdenken 
und genügenver Umficht hätten ihm doch Zweifel über 
fein Verhalten auffteigen müffen. Es wäre feine Pflicht 
gewejen, bei Ablegung feines beeidigten Zeugnifjes nicht 
nach eigenem Gutdünken zu handeln, ſondern bei dritten, 
insbefondere auch bei dem Vorſitzenden des Gerichts, 
Erfundigungen über das beabfichtigte abweiſende Ver⸗ 
halten als Zeuge einzuziehen. M. ift demnach, ba er 
bei der gebotenen Vor- und Umficht den eingetretenen 
Erfolg wohl hätte vorausfehen Türmen, fchuldig, am 
2. Juli 1889 vor dem Schöffengeriht zu Br., einer 
zur Abnahme von Eiden zuftändigen Behörbe, aus Fahr⸗ 
Läffigfeit den vor feiner Vernehmung geleifteten Eid durch 
ein falſches Zeugniß verlegt zu haben: Vergehen gegen 
8. 163 des Strafgefeßbuche. 

„Bei Ausmeffung der Strafe find die erregten Partei⸗ 
verhältniffe in B., die eigenthümliche Lage des M. bei 
Ablegung feines Zeugniſſes und weiter ver Umſtand 
mildernd in Betracht gefommen, daß er wenigftens in zweiter 
Snftanz den wahren Sachverhalt freimüthig angegeben 
hat; auf der andern Geite müffen die Vorftrafen des 
Angeflagten und die Thatfache berüdfichtigt werben, daß 
er fich als Zeuge geradezu aufgebrängt hat.“ 

In Erwägung diefer Umftände wurbe der Gemeinde- 
biener unter Anrechnung eines Theiles der Unterjuchungs- 
haft zu einer breimonatlichen Gefängnifftrafe und durch 
ein weitere Urtheil vom 1. Februar 1890 wegen ver 
Berunftaltung des öffentlich am Gemeindehaufe angebefteten 





236 Meineid und Rechtsirrthum? 


Urtheild nach 8. 134 des Strafgeſetzbuchs zu einer brei- 
° wöchentlichen Gefängnißftrafe und fämmtlichen Koften ver- 
urtheilt. So gerecht auch die zulegt erwähnte Verurthei- 
fung fein mag, jo muß man doch ganz und gar Juriſt fein, 
um ben fcharffinnigen Debuctionen und logiſchen Unterjchei- 
dungen bes erften Urtheils folgen und biejelben Burchaus 
als triftig erachten zu können. Sollte da nicht Doch ben 
Unſchuldigen die Strafe getroffen und bie des Meineibs 
wahrhaft Schulpigen zu Unvecht freigefprochen worben 
fein? Wir überlaffen vem unparteiifchen Lefer nach Kennt- 
niß des Falles die Entſcheidung. 


Die Ermordung des Dr. med. Caſſan. 
(Mord. — Franfreid.) 
1889. 


Dr. Caſſan zählte 75 Jahre. Seit feiner Jugend in 
Albi (Departement Haute-Garonne) anfälfig, Chefarzt 
des dortigen Hospitals und ber Irrenanftalt, hatte er im 
Laufe langer Iahre für feine Thätigfeit mehr Anerfennung 
als klingenden Lohn geerntet. Der alte Landarzt behielt 
bie Zare einer vergangenen Zeitepoche bei und machte 
Krankenbeſuche für einen Franc. Sein Einfommen, noch 
überdies beeinträchtigt durch bie Unpiünftlichfeit feiner 
Clientel, die, wie e8 auf dem flachen Lande oft üblich 
tft, fih zur Bezahlung Arztlichen Honorare nur wiber- 
willig verſtand, bevuhte daher in ven legten Jahren zu- 
meift auf den feften Gehältern, die er auf Grund feiner 
porgenannten amtlichen Stellungen bezog. Dr. Caſſan 
war wol auch Grunpbefiger; allein feine Grundftüde ges 
währten nur einen geringen Ertrag. Seine Befigungen 
beftanden aus einem Stabthaufe in Albi, welches er felbjt 
bewohnte, und einigen Weingärten „La Grave“, bie jedoch 
feit ver Heimfuchung durch die Phylloxera arg verwüſtet 
und ziemlich werthlo8 geworben waren. Ein Proceß 


238 Die Ermorbung bes Dr. med. Caſſan. 


wegen einer ihm zugebachten Erbichaft im DBetrage von 
ungefähr 20000 Frs. fchien fein Ende nehmen zu wollen. 
Sein Einkommen belief fih daher auf nur 67000 Fre. 
jährlich. 

Seitvem Dr. Caffan verwitwet war, nahın feine Ge- 
müthsftimmung eine mehr und mehr hypochondriſche 
Richtung an. Sein Hausweſen beitand aus ihm felbft, 
einer Haushälterin Philippine Siccard, ein Dienftmäbchen 
vom alten Schlage, welches mit energijcher Hand bie 
Wirthichaft führte, und einem Diener, ber zugleich bie 
Geſchäfte des Kutjchers und Stallknechts zu beforgen hatte. 
In der letten Zeit befleibete Juftin Durand dieſen Poften, 
ein junger, hübfcher Burſche von fünfundzwanzig Jahren. 
Juſtin vertrug fich nicht immer mit der alten Haushälterin, 
weil fie das Haus nach den Regeln ftrengjter Sparſam⸗ 
feit regierte. Der alte Herr prüfte alle Rechnungen per⸗ 
ſönlich auf das genauefte und rüdte mit dem für ben 
Haushalt nöthigen Gelde nur widerwillig heraus. Yuftin 
mochte fich nicht ganz mit Unrecht beflagen, daß ihm die 
Alte gar zu viele Faſttage auferlegte. Uebrigens galt er für 
anbänglich und treu und ſoll feinen Herrn, als diefer an ven 
Dlattern erkrankte, aufopfernd und gefchiet gepflegt haben. 

Dr. Eaffan hatte einen einzigen Sohn: Guftav. ‘Diefer 
war in den Staatspienft Igetreten, zum Unterpräfecten 
von Argelies und Sainte-Affrigue emporgeftiegen, erfrankte 
aber jchwer an der Lungenfchwindfucht und mußte infolge 
befien ben Dienft aufgeben. In das väterliche Haus 
zurüdgelehrt, nahm fein Leiden den vorausgeſehenen töb- 
lihen Verlauf. Im Monat December 1887 fchien er 
aus dieſem Leben. 

Die Berlaffenichaft des Herrn Guſtav Caſſan beſtand 
in einer jungen Witwe, vier Kindern und aus Schulden, 
bie eine anfehnliche Höhe erreichten. 





Die Ermordung bes Dr. med. Caſſan. 239 


Die Witwe, ein geborenes Fräulein Emilie Peyronnet 
de Berre, verlebte harte, traurige Zeiten. Ste und ihre 
Kinder aßen mit an dem fargbejetten Tiſche des Schwieger- 
und Großvaters und waren ſchutzlos der üblen Laune des 
verbitterten Greifes und ber fich überhebenven, Teifenven 
Haushälterin preisgegeben. Die junge Frau empfand es 
täglich, daß man ihr nur widerwillig das Gnabenbrot reichte. 

Es kränkte fie tief, daß fie nicht als Herrin bes 
Haufes anerkannt wurde, fondern fich den Anorbnnungen ber 
alten Wirthichafterin fügen mußte. Es war eine bittere 
Leidensſchule für die lebensluſtige, hübſche Frau von faum 
fiebenundzwanzig Jahren, die fich nach den Freuden der 
Geſelligkeit jehnte, gern putzte und ihre Xoilette in ber 
reizendften Weile zur Geltung zu bringen verftand. Die 
Abhängigkeit von dem vergrämten mistrauiſchen, despotiſch 
auftretenden Schwiegervater, welcher ihr jeden Pfennig 
vorwarf, den er zu ihrem Lebensunterhalte verwenden 
mußte, wurde ihr immer unerträglicher. 

Zuweilen, wenn der Drud gar zu arg wurbe, ſetzte es 
heftige Scenen, bie indeß regelmäßig damit endigten, daß 
die mittellofe junge rau nachgeben mußte. Anfang 
April 1889 kam es endlich doch zum Bruche. Der Doctor 
beichuldigte feine Schwiegertochter in harten Worten eines 
leichtfertigen Lebenswandeld. Er warf ihr vor, fie ver⸗ 
lafje des Abends allein das Haus und unterhalte Be⸗ 
ziehungen zu einem Offizier. Eines Tages war Frau 
Caſſan wieder ausgegangen und erjt nachts nach 12 Uhr heim- 
gefommen. Ihr Schwiegervater war aufgeblieben. Er em- 
pfing die junge Frau ſehr barſch. Seine Frage, wo fie ge- 
wejen jet, beantwortete fie pahin, daß fie den Abend in ver 
ihr befreundeten Familie eines verheiratheten Offiziers ver- 
bracht habe. Der Doctor zieh fie der Lüge. Es entitand 
ein heftiger Wortmwechfel, Frau Caſſan erklärte, fie könne 


240 Die Ermordung bes Dr. med. Caſſan. 


dieſes Leben nicht mehr ertragen, fie wolle lieber das Haus 
verlaffen und zu ihrer Mutter, ver verwitweten und ver- 
mögenslofen Mme. Behronnet, nach Toulouſe zurüdlehren. 

Diefer Vorſatz wurde am nächiten Morgen zur That. 
Gegen den Willen des Großvaters, der feine beiden älteften 
Enteljöhne zu behalten wünfchte, nahm feine Schwieger- 
tochter alle vier Kinder mit fih. Es folgten peinliche 
Auseinanderjegungen. Dr. Caffan konnte fich anfänglich 
nicht dazu entfchließen, feiner Schwiegertochter eine Rente 
auszufegen. Da fie aber ohne alle Mittel war und ihm 
bie Erhaltung feiner Enkel geſetzlich oblag, verſtand er 
ſich endlih dazu, ihr jährlich 1500 Fre. zu gewähren, 
machte aber zur Bebingung, daß ihre beiden älteften 
Söhne bei ihm bleiben müßten. Er drohte, daß er ihr 
bie Vormundſchaft über bie Kinder gerichtlich entziehen 
laffen und eine Forderung von 200C0 Frs., die ihm 
gegen ihre Mutter, Frau Pehronnet, zuftand, ſchonungs⸗ 
los eintreiben würde. 

AS Frau Caſſan dennoch zögerte, erklärte er: wenn 
fie nicht nachgebe, werde er feinen Grundbeſitz verkaufen, 
jein gefammtes Vermögen in eine Leibrente verwandeln 
und fein Teftament fo abfaffen, daß ihr fein Pfennig 
vom Kapital zufalle. 

Die Stimmung des alten Herrn verbäfterte fich immer 
mehr. Er Hagte: „Sch habe meinen einzigen Sohn ver- 
loren; jest fehlt nichts mehr, als daß mar mich felber 
umbringt.” „Dieſe Landſtreicherin“, fette er mit DBe- 
ziehung auf feine Schwiegertochter hinzu, „wäre im Stante 
mich zu vergiften.” 

Der Superiorin der Schweftern, denen im Kranken⸗ 
baufe und ber Srrenheilanftalt vie Pflege oblag, gegenüber 
äußerte er wiederholt: er fürchte von den Händen feiner 
eigenen Schwiegertochter den Todesſtreich zu empfangen. 





Die Ermordung bes Dr. med. Eajfan. 241 


Um fich gegen einen plößlichen Angriff zu jchügen, ließ 
er die Thür feines Schlafzimmer von innen mit jchmiebe- 
eifernen Beſchlägen verjehen und außer dem Riegel auch 
noch eine Sperrfette anbringen. In jeinem Zimmer be- 
fanden fich mehrere jcharfgelavene Flinten. Alle Schlöffer 
feines Haufes ließ er umänbern. Er gab als Grund an, 
daß jeine Schwiegertochter mit einem zurüdbehaltenen 
Hauptichlüffel in das Haus dringen könnte. 

Am Morgen des 1. Mai trat ein Ereigniß ein, welches 
ven alten Dann tief erjchütterte und ihm faft die Be⸗ 
finnung raubte. 

Seine Haushälterin Philippine Siccard ftarb ganz 
plöglich. 

Am Tage zuvor hatte fie fih von Juſtin begleitet 
nach 2a Grave, dem Heinen Weingute in der Nähe von 
Albi, begeben, welches dem Doctor gehörte. Nach dem 
aus einer Knoblauchjuppe, Eiern und Kartoffeljalat be- 
jtehenden Abenvefjen wurde die Alte von Krämpfen und 
Erbrechen befallen. Juſtin verbrachte die Nacht bei ihr 
als Kranfenwärter, er bereitete ihr Thee und leiftete ihr 
bie erforberlichen Dienſte. Aber ihr Zuftand verjchlechterte 
fih immer mehr, und als der Morgen graute, war 
Philippine Siccard eine Leiche. Dr. Caſſan fagte: „Nun 
fommt die Reihe an mich! Ich fehe e8 wohl. Aber fie 
follen e8 nur wagen! Ich werde fie zu empfangen wiffen. 
Ich habe drei geladene Gewehre in meinem Schlafzimmer 
bereit. Sie werben fchon jehen, mit wem fie es zu thun 
haben!” 

Acht Tage Später wurde Dr. Caſſan ermorbet.... 

In der verbängnißvollen Nacht vom 8. auf den 9. Mai 
1889, um 1/2 Uhr nach Mitternacht, erſchien Juſtin 
Durand mit bleichen und verjtörten Zügen, barhaupt, 
bloßfüßig, nur mit Hemd und Hofe befleivet, im Polizei- 

XXIV. 16 


243 Die Ermordung bes Dr. med. Caſſan. 


commiffartate von Aldi und berichtete mit thränenerftidter 
Stimme: „Man bat meimen guten Herrn ermorbet! 
Das Bellen des Hundes hat mich gewedt. Erſchreckt 
fuhr ih in die Unterfleiver, al8 meine Thür unter einem 
fürchterlichen Schlag erbebte. Es war der Mörber, ber 
bei mir einzubringen fuchte, nachdem er meinen guten 
Herrn getöbtet hatte. Ich Habe mich mit aller Wucht 
gegen die Thür gejtemmt; allein fchließlich gab fie doch 
nad, und da bat mir der Webelthäter mit feinem Meffer 
einen argen Stich verſetzt.“ Juſtin Duranb wies feine 
inte Hand vor, und man ſah am Daumen eine ziemlich 
tiefe Schnittwunde. „Ich ſchrie laut nah Hilfe“, fuhr 
er fort, „pa ließ der Mörder von mir ab und ergriff die 
Flucht. Er verlor fih alsbald in der menfchenleeren 
dunklen Straße. Es war Nacht, fein Licht brannte, ich 
kann feine Züge nicht genau ſchildern. Nur fo viel kann 
ich jagen, daß er einen Stoppelbart hatte. Ich habe bie 
kurzen, harten Haare beutlich gefpürt, als ich um ihn 
abzuwehren in fein Geficht griff.” 

Die Polizei fowie die alarmirte Nachbarichaft begab 
fih auf der Stelle in das Wohnhaus bes Dr. Eaffen, 
geleitet von Juſtin Durand, der an allen Gliedern zitterte 
und alle Augenblide zufammenzufinken drohte. 

Man fand ven Greis tobt, fchon erfaltet, er lag auf 
dem Fußboden feines Schlafzimmers ausgeſtreckt, mit 
einem alten loſen Schlafrod befleivet. ‘Die Schäbelpede 
war zertrümmert, die Kehle durch einen fürchterlichen 
Dolchſtoß durchichnitten, der rechte Daumen durch einen 
Schnitt faft ganz von der Hand abgetrennt. 

Die Ermordung mußte nach dem Befunde nahe bei 
dem Bett ftattgefunden haben. An der Thür Tonnte 
man feine Spur eines Einbruchverfuches entveden. Die 
Sicherheitäfette war angehaft, nicht abgeriffen, der Riegel 





Die Ermorbung bes Dr. med. Caſſan. 243 


zurüdgezogen, nicht abgebrochen. Die geladenen Gewehre 
befanden fi auf ihren Plägen. Man nahm an, daß 
eine ihm befannte Stimme Einlaß begehrte, während ver 
Mörder im Vorzimmer wartete, und daß er fich, ſobald 
der alte Mann öffnete, auf ihn geftürzt und ihn mit 
Meſſer und Beil umgebracht habe. 

Der Mörder Tannte offenbar die Hausgelegenheit. Der 
Schreibtiſch und ein Kaften, in welchem Dr. Caſſan Geld 
aufzubewahren pflegte, waren durchwühlt. Man jah ganz 
deutlich die Spuren einer blutigen Hand. Auch die Papiere, 
die auf dem Schreibtifche lagen, waren burcheinanberge- 
worfen. Auf dem Schreibtiiche fand man einen Dietrich, den 
der Mörber aus Verſehen Tiegen gelafien haben mußte. 
Die Läden der Tenfter waren regelmäßig verfperrt. Man 
hatte keinen Verſuch gemacht, fie gewaltfam zu öffnen. 

Hatte man e8 mit Einbrechern zu thun, jo mußten 
es Leute von befonderm Schlage fein, denn bie golvene 
Uhr des Arztes fanımt der fchweren goldenen Kette, und 
die Familienjuwelen, die er verwahrte, waren unberührt 
geblieben. Ja, noch mehr. Im der Schreibtifchlabe lagen 
offen vier Banknoten zu je 100 Irs. und ein geringerer 
Betrag in Münzen. 

Der erfte Eindrud war, bier tft nichts von greif- 
barem Werthe geraubt worden. Was wurbe aber ge- 
fuht? Bapiere? Ein Teftament....? 

Die fpätern Erhebungen ſchwächten indeß biejen Ein⸗ 
drud ab und ließen vermuthen, der ober die Raubmörber 
Hätten mit Vorbedacht, um die Polizei und das Gericht 
irrezufüßren, jene Werthgegenftände abfichtlih zurüd- 
gelaffen. Die Hundert-Francönoten waren unberührt ges 
blieben, fehlten vielleicht Taufend-Francdnoten? Dr. Caſſan 
batte wenige Tage vorher feinen Proceß gewonnen und 
ungefähr 21000 Frs. ausgezahlt erhalten, 

16* 


244 Die Ermorbung bes Dr. med. Caſſan. 


Wohlverftanven: der Attentäter mochte von dieſem Um⸗ 
jtande unterrichtet fein. Aber er täufchte fich, wenn er 
glaubte, daß er diefe Summe ald Preis für den Mord 
erbeuten würde. Dr. Caſſan hatte vem Notar Frenouls 
erflärt: er wolle fein Geld im Daufe behalten, er werde 
8000 Irs. bei dem öffentlichen Steueramte auf Staats⸗ 
rentenobligationen anlegen und 12000 FIrs. zur Dedung 
der legten Schulden ſeines Sohnes verwenden. Aber 
war denn biefer Entjchluß vor der Ermordung auch zur 
Ausführung gelangt? 

Die Unterfuchung führte zunächit nicht zu pofitiven 
Ergebniffen. Unzweifelhaft war nur, daß ein gewaltjamer 
Einbruch nicht vorlag. Die Thüren, die Tenfter, Die feit 
furzem umgeänderten Schlöffer, alled war unverlegt. 
Der Mörder mußte entweder ein Hausbewohner fein over 
ein Hausbewohner mußte ihn eingelaffen haben. 

Wer war der Mörder? 

Die allgemeine Stimme war barüber einig, der Name 
ichwebte auf aller Lippen. Jedermann Hagte Frau Emilie 
Caſſan, die Schwiegertochter des Ermorbeten, an, 
bie That begangen zu haben, und alle Welt war befriedigt, 
als fchon zwei Tage nach der That die junge Frau in 
Toulouſe verbaftet wurde. 

Der Unterfuchungsrichter hatte dem Drängen ber 
öffentlichen Meinung nachgegeben; aber er wußte recht 
gut, daß der Verdacht gegen Frau Caſſan fich auf ſchwache 
Gründe ftüßte. Auf der Schwelle des Fußbodens des 
Schlafzimmers waren Abdrücke einer blutigen Fußſohle 
feftgeftellt worden, aber fie deuteten auf den nadten Fuß 
eined® Mannes, Die Zehen waren deutlich erfennbar. 
Im Stalle unter der Streu verftedt wurbe ein großes, 
mit Menjchenblut befledtes Beil, im Schlauche des An- 
ſtandsorts ein langer antiker Dolch mit elfenbeinernem 








Die Ermordung bes Dr. med. Caſſan. 245 


Griffe gefunden, Der Dolch zeigte ebenfalls Blutflecke. 
Dr. Eaffan war ver Eigenthümer dieſes Dolches. Er 
Hatte fich deſſelben als Papiermeffer bedient. 

Noch ein anderer überzeugender Umftand bewies, daß 
der Thäter im Haufe frei verkehren konnte. Es ift bereits 
erwähnt worben, daß Dr. Caſſan in feinem Schlafzimmer 
drei geladene Flinten bewahrte und daß biefe an Ort 
und Stelle aufgefunden wurden. Die Gewehre waren 
wirklich ſcharf geladen, jedoch der Zündftoff der Zünd⸗ 
hütchen war entfernt, beziehungsweife die richtigen Zünd- 
hütchen durch taube erjegt, Teins biefer Gewehre konnte 
in biefem Zuftande abgefeuert werden. Der Mörder 
hatte jomit dafür gejorgt, daß die Schußwaffen ungefähr- 
lich für ihn waren, und fein Verbrechen mit klugem Vor⸗ 
bedacht vorbereitet. 

Die Polizei hatte ven Diener des Verftorbenen, Juſtin 
Durand, fofort in Haft genommen. Die Wunde an feiner 
linken Hand, die ihm der Mörder beigebracht haben follte, - 
machte ihn verdächtig. Auch Dr. Caſſan war an ber 
Hand verlegt. Hatte der alte Mann vielleicht, um fich 
zu retten, in das Mefjer des Mörders gegriffen, es feit- 
zubalten gejucht und ver Mörder fich im Ningen um bie 
Waffe die Verlegung zugezogen ? 

Dean erinnerte fich des plößlichen Todes der alten 
Haushälterin. War fie auch ermordet worben, jtanden 
die beiden Todesfälle etwa in Zufammenhang? 

Der Leichnam der Philippine Siccard wurde aus- 
gegraben und eine chemische Unterfuchung der Eingeweibe 
angeordnet. Die Sachverftändigen fanden eine große 
Menge Arſenik. Sie war an Gift geftorben. Dr. Caſſan 
bewahrte in La Grave mehrere Padete auf, die eine 
arjenifhaltige Miſchung enthielten. Er gebrauchte fie bei 
feinem Weinbau. Selbftverftändlich hielt er das Gift 


246 Die Ermorbung bes Dr. med. Caſſan. 


beftändig unter Verſchluß, er allein bejaß den Schlüffel 
zu dem Kaften, in welchen bie PBadete lagen. Diejes 
Schloß war anfgeiprengt. Wer hatte es erbrochen? Man 
erinnerte fih daran, dag Juſtin Durand den Abend vor 
dem Tode ber alten Haushälterin ganz allein bei ihr war. 
Er batte fie gepflegt, fie war geftorben, ohne daß er einen 
Arzt berbeigerufen Hatte. ALS das Gericht den Anger 
fchuldigten die fchweren gegen ihn vorliegenden Verdächts⸗ 
gründe vorbielt, entichloß er fich nach längerer Ueber⸗ 
legung zu einem erjten Geſtändniß. Er gab an: 

„Der in meinem erften Verhör bezeichnete Thäter, ber 
unbelannte Diann mit dem Stoppelbart, ift ein Phantafte- 
gebilde. Sch felbft, Yuftin Durand, babe den Mord⸗ 
anfchlag durchgeführt. Jedoch nicht allein, ich hatte einen 
Helfer, einen Mitfchulbigen, ober richtiger eine Mit- 
Ihuldige — Madame Caffan! 

„Seit vielen Monaten ſchon iſt des Doctors Schwieger- 
tochter meine Maitreſſe gewejen. Die gebrüdte und un⸗ 
erträglihe Stellung, die fie im Haufe des alten Herrn 
einnahm, die nimmer endenden Vorwürfe ihres Schwieger- 
vaters, die herrifchen Manieren der Haushälterin brachten 
fie außer ſich. Es mußte ein Ende gemacht, ver alte 
Knauſer, der Duälgeift mußte befeitigt werben. Sie 
brauchte einen verläßlichen, ftarfen Arm, um ihre Rach⸗ 
ſucht zu befriedigen, und mich, ihren Geliebten hatte fie 
dazu auserſehen. Mit allen Künften weiblicher Kofetterie 
wußte fie mich zu umgarnen, burch die Gewalt ihrer 
Reize machte fie mich zu ihrem Sklaven. Sie war eine 
lockende Sirene, ein hübſches junges Weib, eine Dame 
von Welt, und ich ein armer Bedienter! Ich bin in 
ihrer Hand ein willenlofes Werkzeug geworden. Mit ihren 
Liebkoſungen hat fie mich um Verſtand und Ehre gebracht. 

„An dem Tage, da Frau Caſſan das Haus ihres 








Die Ermorbung des Pr. med. Caſſan. 247 


Schwiegeroaters verlaffen mußte, tft der Morbplan ent⸗ 
ftanden. Ich zögerte indeß, denn ich fchredte zurüd vor 
der blutigen That. Brau Caſſan verfprach, fie werbe 
mir bei der Ausführung zur Seite ftehen. Wir ver- 
abrebeten, daß das Verbrechen in der Nacht vom 8. auf 
den 9. Mai vollbracht werben follte. Frau Cafjan traf 
rechtzeitig ein in Albi. As Mann verkleidet hatte fie 
fi in der Mitternachtsftunde durch die ftillen verlaffenen 
Straßen der Stadt zum Haufe gefchlichen. Ich erwartete 
fie jchweigend am halbgeöffneten Thore. 

„Sie trat ein. Geräufchlos ftiegen wir beibe hinauf. 
An der Thür des Schlafgemaches Hopfte ich und rief: 
«Stehen Sie auf, Herr Doctor! Ein fehr dringender Fall! 
Es ift um Sie gefchteft worden!» Der Greis, ber meine 
Stimme hörte, riegelte die Thür auf. Kaum war er 
auf die Schwelle getreten, da ftürzte feine Schwiegertochter 
mit dem gezüdten Dolchmeſſer, welches fie von feinem 
Schreibtifche an fi genommen hatte, auf ihn [os und 
ftieß zu. Der Stoß war fo heftig, daß die Kehle des 
alten Mannes förmlich vurchichnitten war. Ich ſchauderte 
und rief: «lm Gottesbarmherzigfeit willen halte ein, 
balte einI» — Es war zu fpät. Erſchrocken wanbte ich 
mich zur Flucht und ließ die Mörverin mit ihrem Opfer 
allein.‘ 

So unwahrfcheinlich viefes Lügengewebe war, es 
fanden fich doch Leute, welche daran glaubten. Allein 
bald darauf ftellte Die Unterjuchung feſt, daß Frau Eaffan 
am 8. und. 9. Mai in Zonloufe gewefen war. Um 2 Uhr 
nachmittagg am 8. Mai conferirte fie mit dem Pfarrer 
der Kirche Saint⸗Corvin dafelbft, um 31, Uhr verpfändete 
fie im Leihhaufe ihre goldene Uhr, um 5 Uhr war fie bei 
ihrem Rechtsanwalt Mercadier und traf dafelbjt mit dem 
Advocaten PBajol zufammen. Um 6 Ubr verließ fie ge- 


248 Die Ermordung bes Dr. med. Caſſan. 


meinfchaftlich mit Herrn Mercadier deſſen Kanzlei und 
machte einen Spaziergang, fie begegneten dem Kaufmann 
Dubeboul und plauberten mit ibm. Um 7 Uhr fpeifte 
Frau Caſſan in ihrer Wohnung und wurde hierbei von 
ihremt Dienſtmädchen Elodie NRieunier bevient. Nach ver 
Mahlzeit fpielte fie Klavier, einer ihrer Nachbarn hat das 
Spielen noh um 9 Uhr gehört. Hierauf ging fie zur 
Ruhe. Am 9. Mai des Morgens um 6 Uhr ftand fie 
auf. Elodie Rieunier bezeugt, daß fie ihre Herrin ges 
weckt und ihr die Morgenchocolade gebracht babe. Um 
10 Uhr vormittags bat Frau Caſſan eine Nachbarin um 
ven Schlüffel zum gemeinfchaftlichen Keller. Um 11 Uhr 
vormittags wechjelte fie in einer Mufifalienleihanftalt 
Notenhefte um. Am Nachmittage begab fie fich wieder 
zu Herrn Mercabier und am Abend fpielte fie abermals 
zu Haufe Klavier. Erft am 10. Mai vormittags erbielt 
fie, zunächft durch die Mittheilungen der Zeitungsblätter, 
Kenntniß von der Ermordung ihres Schwiegervaters. 

Der Beweis des Alibi war glänzend geliefert. Frau 
Caſſan wurde in Freiheit geſetzt. Nun fchritt Suftin 
Durand zu einer dritten Erzählung: 

Es ift wahr, er hat den Todesſtreich geführt. Er 
allein. Er bat feinen Dienſtherrn mit ver Meldung ge- 
wect, daß um ein NRecept gejchidt worden fei. ALS ver 
Greis öffnete, hat er fich mit dem gezücten Dolchmeffer 
auf ihn geworfen. Aber dies geſchah auf Befehl ver 
Frau Caſſan. Sie hat ihm Tag und Stunde des Ver⸗ 
brechens genau vorgejchrieben, um ihr Alibi ficher nach- 
weiten zu können, er bat ihre, ihm von Toulouſe aus 
zugegangenen Weifungen vollitredt. 

Hätte Durand diefe Angaben zuerſt vorgebracht, fie 
hätten bei der anfgeregten, Frau Caſſan fo feinplichen 
Volksſtimmung für dieſe vielleicht verhängnißvoll werden 








Die Ermordung bes Dr. med. Caſſan. 249 


fönnen. Seine vorhergehenden Lügen aber machten auch 
biefe Ausfagen fehr verdächtig. Er follte Beweife für 
feine Behauptungen bringen und vermochte e8 nicht. 
Niemals ift irgendein vertraulicher Verkehr zwilchen 
Frau Caffan und ihm beobachtet worden. Sie behandelte 
ihn als Diener, war mit ihm nicht mehr. und nicht 
weniger freundlich, als in ſolchen Verhältniffen landes⸗ 
üblih if. Zu jener Zeit, va fie beide nach Durand's 
Darftellung über den Morvanfchlag verhandelt haben 
ſollten, konnte fie, wie die Zeugen beftätigten, mit ihm 
feine geheimen Zufammentünfte abgehalten haben. Site 
war damals in Zouloufe. 

ALS Juſtin Durand merkte, daß feine Behauptungen 
eine nach der andern wiberlegt wurden, entichloß er fich 
zu einem neuen Geftänpniß, einem neuen Märchen. 
Diesmal ift er unfchuldig. rau Caſſan allein hat das 
Berbrechen geplant und ihr Helfershelfer war — Meifter 
Mercadier, der ehemalige Notar in Zouloufe, ihr Ver⸗ 
trauter, ihr Geliebter, der Mann, ver ihr Alibi nach- 
gewiejen hatte. Mercadier bat ſogar verfucht Suftin 
Durand zu verführen. Es ift ihm mislungen. Darum 
hat er einen Dritten, eine Art Bravo gebungen, ber 
Mann mit dem rauhen Turzgeftusgten Bart, der nachts 
eingebrungen ift — fiehe die erjte Verfion. Und diejer 
Meordgejelle war e8 auch, der nach ber Ermordung des 
alten Arztes es verfuchte, fich des Dieners zu entledigen, 
weil dieſer zu viel von der Sache wußte. 

Aber wer hatte diefem Unbefannten das Hausthor 
. geöffnet? Die Thüren waren doch wie gewöhnlich ver- 
fperrt und Spuren von Gewalt an den Schlöffern nicht 
vorhanden. ‘Der Dr. Caffan hatte fich in feinem Schlaf 
zimmer eingeriegelt und würde einem Unbekannten nicht 
geöffnet haben. — Die Erzählung war unbhaltbar. 


250 Die Ermordung bes Dr. med. Eaffen. 


Yuftin begriff es raſch und gab — eine fünfte zum 
beiten: 

„Der Mörder ift nicht mit Gewalt in das Haus ge- 
brungen. Ich wir benachrichtigt. Der Dämon in Weiber- 
geftalt hatte meinen Willen gebeugt. Sch babe ihm ge- 
öffnet. Wir find zufammen hinaufgegangen. An der Schlaf- 
thür babe ich gerufen und mein Herr, ber meine Stimme 
erfannte, hat aufgemadt. Der Mann ftanb hinter mir im 
Dunkeln. Er fchlug zu und hat meinen Herrn gemordet.“ 

Nach dem Schluffe der VBorunterfuhung wurbe gegen 
Suftin Durand Anklage erhoben, daß er den Dr. Caſſan 
und die Haushälterin Siccard ermordet und den erftern 
beftoblen babe. Am 11. November 1889 fand in Albi 
die Schwurgerichtöverhandlung ftatt, den Vorfitz führte 
ber Gerichtsratb Garas. Die Anklage wird von dem 
Staatsanwalt von Toulouſe, Laroche, perfönlich ver- 
treten. Die Vertheibigung bat der Anwalt Ferrand von 
Zoulouje übernommen. 

Frau Caſſan hat fich als Eivilpartei dem Strafper- 
fahren angejchloffen. Sie will Rechenjchaft für die Ver- 
leumbungen fordern, beren Opfer fie geweſen ift. ALS 
ihr Bertreter fungirt Mr. Bosredon. 

Suftin Durand ift ein hübfcher Burfche von 25 Jahren, 
gefchniegelt und pomabifirt. Die Haare trägt er in ber 
Mitte des Kopfes gejcheitelt. Der Schnurbart ift ge- 
pflegt, die blaue, weißgetupfte Kravatte elegant gefaltet, 
ber Hemdfragen umgefchlagen und gleich den Manfchetten 
von tabellofer Weiße. Seine Gefichtsfarbe ift eher bleich 
und fein Blid unftet. Er fieht nicht wie ein Bedienter, 
weit eher wie ein Commis aus. Seine ganze ftugerhafte 
Erjcheinung ift die eines vorortlichen Don Iuan. 

Das Auditorium ift überfüllt. Der Hintergrund des 
Schwurgerichtsfanles, der amphitheatralifch anfteigt und 


Die Ermorbung bes Dr. med. Eaffan. 951 


durch eine Art weitmafchigen Gitters von dem eigentlichen 
Zubörerraume getrennt ift, wird durchwegs don Damen 
eingenommen. 

Unter den 150 vorgeladenen Zeugen erregt bie größte 
Aufmerkſamkeit begreiflicherweije die „Dame in Schwarz‘, 
Frau Caſſan. 

Nach Verleſung der Anklageſchrift eröffnet der Präſi⸗ 
dent die Verhandlung mit der Vernehmung bes Ange⸗ 
klagten. | 

Präfident Juſtin Durand, Sie find befchulpigt 
des Meuchelmordes, begangen an Ihrem Dienftherrn, bem 
Dr. Cafſan, des Giftmorbes an ver Haushälterin Philippine 
Siccard und des Hausdiebſtahls. Sie haben fich in der 
Vorunterſuchung vielfältige Widerfprühe zu Schulden 
fommen laſſen. Was werben Site heute behaupten? 
Haben Sie den Meuchelmord allein verübt? Haben Sie 
der Haushälterin das Gift, an dem fie ftarb, beigebracht? 

Der Angellagte hebt mit theatralifcher Geberde feine 
Hand gegen das oberhalb des Gerichtshofes angebrachte 
Erucifir und Spricht mit pathetifchen Accenten: 

„Ich ſchwöre vor Gott, den Richtern und allen Zu- 
hörern, ich bin unfchulpig! Wenn ich im Laufe ver Unter- 
fuhung allerlei voneinander abweichende Erzählungen 
zum bejten gegeben habe, fo gejchah es, weil man mich 
während der Saft von allen Seiten gequält hat. Dan 
bat mir fortwährend wiederholt, daß man mich, wenn 
ich die That nicht eingeftände, als verftodten Sünder ficher 
auf das Schaffot ſchicken würde; ein Geftänpniß aber 
werde mein Leben retten. ch wurde ängftlich und glaubte 
ed. Alle gegen mich erhobene Anklagen find unbegründet. 
Sch bin nicht der Menſch, der Falten Blutes einen Mord 
begeht, ich bin nicht der Undankbare, der feinen guten 
Herrn hätte töbten fönnen.” 





252 Die Ermordung bes Dr. med, Eajfan. 


Präſident. Alfo Sie haben die That nicht begangen? 

Angellagter. Nein, Herr Präfident. Wohl hat mid) 
Frau Caffan gedrängt und beſchworen, ihren Schwieger- 
vater aus dem Wege zu räumen — aber ich habe es 
ſtandhaft abgelehnt, ihr zu Willen zu fein, und fie bat 
darum einen gebungenen Mörder abgefandt, Dr. Caſſan 
zu töbten. 

Präfident. Sie haben im Laufe der Unterfuchung 
ſogar Herrn Notar Mercadier als den Mitjchulpigen der 
Frau Caffan bezeichnet. Halten Ste dieſe Angabe noch 
aufrecht ? 

Angellagter. Ich habe damit nur die Wahrheit 
gejagt. 

Präfident. Dr. Caſſan hat gegen Ende des Jahres 
1887 feinen einzigen Sohn Guſtav verloren. Seine 
Witwe und vier Kinder blieben nach biefem Todesfalle 
bei Dr. Caſſan wohnen. Wie war das Verhältniß zwifchen 
Schwiegervater und Schwiegertochter? 

Angellagter. Das denkbar fchlechtefte. Es gab 
fortwährend Zerwürfniffe und Streitigkeiten, auch vor 
den Rindern und Dienern, bei Tiſche und überall. Der 
Doctor warf feiner Schwiegertochter ihren liederlichen 
Lebenswanbel vor und daß fie des Nachts heimlich das 
Haus verlaffe. Eines Tages fchimpfte er fie geradezu 
eine feile Dirne. Sie fchleuderte ihm eine Wafferflafche 
an den Kopf. Sie war überhaupt feit jeher eigenfüchtig 
und bartberzig. Ihr Mann tft infolge ihrer nachläffigen 
Pflege gejtorben. 

Präfident. Mit diefen Behauptungen fegen Sie 
fih in Widerfpruh mit allen Zeugenausfagen, welche 
gerade die unermübliche Opferwilligfeit der rau in der 
Pflege ihres Gatten betonten. 

Angellagter. Ich fümmere mich nicht um das, was 








Die Ermordung bes Dr. med. Caſſan. 253 


bie Zeugen angeben. Sch fage, was ich weiß. Dr. Caſſan 
glaubte, als er feinen Sohn mit ihr verheiratbete, fie jei 
reih. Als es fich herausftellte, daß er fich in biejer 
VBorausfegung getäufcht hatte, war er gegen fie fehr auf- 
gebracht und ward es noch mehr, als er fich überzeugte, 
daß fie eine fchlechte Gattin war. Nach dem Tode bes 
Herrn Guſtav Caffan wurden die Beziehungen immer 
Ihlechter. Frau Caſſan wurde im Haufe ärger behandelt 
als ein Dienftbote, der Doctor richtete das Wort an fie 
nur um zu fchmähen. Sie durfte den Salon nicht be= 
treten, und ber alte Herr verweigerte ihr bie wenigen 
Pfennige um Briefmarken zu faufen. In die Haus- 
haltung vollends durfte fie fih gar nicht mifchen. Er 
warf ihr jeden Ausgang vor. Die Beichuldigung, daß 
fie die Nächte außer dem Haufe verbringe, führte den 
Bruch herbei. 

Präfident. Berichten Sie nur, was Sie jelbft mit 
angehört haben. 

Angellagter. Es war Anfang April. Der Doctor 
vertrat feiner Schwiegertochter, als fie ausgehen wollte, 
den Weg. Ein lebhaftes Zwiegefpräch entipann fi. Ich 
Itand unten an der Treppe und hörte jedes Wort. „Sie 
werben mich nicht abhalten, auszugehen, wenn ich e& will“, 
rief die junge Frau erregt, „ich bin feine Gefangene!” — 
„Das mag fein‘, verjeßte der alte Herr, „aber dann 
werden Sie morgen auch fortgehen, um nicht wieberzu- 
fommen.” Dabei verjegte er ihr einen Fauſtſchlag. 

Präfident. Die in ver Unterfuchung vernommenen 
Zeugen jagen über das Verhältniß zwifchen Frau Caſſan 
und ihrem Schwiegervater doch, weſentlich anders aus. 
Nach dem Tode ihres Gatten verblieben die Beziehungen 
zwifchen beiden roch lange recht herzliche. Erft jpäter find 
Zerwürfniffe entjtanden, die fich etwa einen Monat vor 


254 Die Ermorbung bes Dr. med. Caſſan. 


ben Verbrechen fo weit zuſpitzten, daß ein Bruch erfolgte. 
Diefer Bruch erwies fich als unbeifvoll für die junge Frau. 
Der Doctor, grämlich und verbittert, hat Reden über fie 
geführt, welche eine Zeit lang die Beſchuldigungen, welche 
Sie wider bie Dame erhoben, glaubhaft erjcheinen ließen. 
Dr. Caffan erzählte, feine Schwiegertochter habe ihn fälſch⸗ 
ich beſchuldigt, fie gefchlagen zu haben, und fügte Hinzu: 
„Ein Frauenzimmer, das derartige Lügen verbreitet, ift zu 
allem fähig Sie tft im Stande mich umzubringen, mich 
zu vergiften.” 

„Angellagter. Der Doctor hat behauptet, daß Fran 
Caſſan verfucht hat, fich vom Apotheker Gift zu verfchaffen. 

Präfident. Die Haushälterin ift am 30. April 
vergiftet, ver alte Herr am 8. Mat erjchlagen worden. 

Angellagter. Ich bin unfchulpig daran. Ich wäre 
nicht fähig dergleichen zu thun. 

Präfident. Um wie viel Uhr haben Sie fich in der 
fritifchen Nacht niedergelegt? 

Angellagter. Ungefähr um balb 10 Uhr.- 

Präfident. Dr. Eaffan ift gegen Mitternacht er- 
mordet worden. Er hat feine Thür nur infolge ber 
Aufforderung einer ihm vertrauten Stimme geöffnet. Er 
bat es ſelbſt gethan, denn die Thür trug keine Spuren 
von Gewalt. Sie haben in der Unterfuchung, als Sie 
Ihren perfönlichen Antheil am Morde nicht leugneten, 
bie Angabe gemacht: „Ich habe dem Doctor zugerufen, 
daß man ein Necept eingeſchickt habe, welches er prüfen 
ſolle.“ Einem andern, als feinem eigenen Diener, hätte 
er nicht geöffnet, denn er fürchtete ſich vor einem mörderiſchen 
Ueberfalle. 

Angeklagter. Etwa um 11 Uhr weckte mich das 
Bellen des Hundes. Ich ſtand auf, um nachzuſehen, was 
es denn gebe. Ich habe meine Thür aufgemacht und 





Die Ermorbung bes Dr. med. Caſſan. 355 


im Dunkel einen Doldftich in die Hamd befommen. ch 
ſchrie: „Zu Hülfel zu Hülfe! man bringt mich um!“ ‘Der 
Mörder wollte ein zweites mal wider mich ausbolen, aber 
er ftolperte auf ber Stiege und ftürzte. Danu erhob er 
ſich raſch und flüchtete. Ich zog das Nothdürftigſte an, 
verfügte mich zu meinem Herrn und fand ihn tobt. 

. Bräfident. Die Gerichtsärzte haben feftgeftellt, daß 
die Wunde an Ihrer linken Hand von demſelben ſchnuei⸗ 
denden Inſtrumente herrührt, mit dem ver alte Herr er- 
ftocden worden tft. Er hat offenbar abwehrend nach ver 
Waffe gegriffen. Dadurch wurde er an ber Hand ver- 
munbet. Sie haben fich verlekt, als Sie fich wieder in 
den Beſitz des Dolches ſetzen wollten. 

Angellagter. Das it nicht wahr. 

Präſident. Ihre leider waren vol Blut. 

Angellagter. Ia wohl! Es war mein eigenes, aus 
der mir zugefügten Wunde fließendes Blut. Che ich 
wußte, daß mein Herr tobt war, wollte ich ihm aufbelfen, 
und babe mich auch hierbei mit Blut befledkt. 
Präaſident. Das Blut rings um den Leichnam war 
geronnen. Die Leiche ift nicht bewegt worben, das haben 
die Gerichtsärzte feitgeftellt. Das Blut auf Ihren Kleidern 
ftammt aus einer Arterie und erklärt fi) ganz gut durch 
den Blutſtrom, der aus der zerjchnittenen Halspulsader 
des Doctor hervorbrach. Ihr linker Arm wies eine 
Narbe von jungem Datum, ber Eindrud eines krampf⸗ 
haft eingepreßten Daumennageld. Es war als ob Gottes 
Finger die Bezeichnung „Mörder!“ varaufgefchrieben hätte. 
Woher ftammt bieje Narbe? 

Angellagter. Ich babe biefelbe gar nicht einmal 
bemerkt. Es war irgenbeine umbebentende, zufällige 
Beſchädigung. 

Präſident. Sie haben früher behauptet, die Narbe 





256 Die Ermorbung bes Dr. med. Caſſan. 


rühre von einem Biſſe des Pferdes ber. Das Thier ift 
aber äußerft gutmüthig und bat niemals zuvor gebiffen. 
Sie haben es während der Unterfuhung fogar unter- 
nommen, bas Pferd zu einem folchen Biß zu reizen. Es 
ijt Ihnen nicht gelungen. Sie haben das Thier nicht als 
Entlaftungszeugen benugen können. 

Sodann conftatirt der Präfident, daß zwijchen ber 
Ermorbung bes Dr. Caſſan und der Anzeige Durand's 
bei ber Polizei faft zwei Stunden verjtrichen find. 

Angellagter. Ich mußte die Nachbarn alarmiren 
und mich ankleiden, darüber vergeht die Zeit. 

Präfident. Was hatten Sie an, als ver „unbefannte 
Mörder” Sie in Ihrem Schlafzimmer überfiel? 

Angellagter. Nur die Unterbofe. 

Präfident. Aber auf Ihrer Hofe find Blutfleden 
conftatirt worben. 

Angellagter. Dieſe babe ich mir geholt, als ich 
meinen Herrn aufheben wollte. Ich babe die Hofe an⸗ 
gezogen, ebe ich in fein Zimmer binaufging. 

Präfident. Der Doctor hatte in feinem Zimmer 
geladene Flinten. Es waren Vorderlader mit Zünd- 
Ihlöffern. Aus den aufgefegten Zünbhütchen aber war 
der Zündftoff forgfältig entfernt, fopaß man mit dieſen 
tauben Kapſeln nicht Feuer geben konnte. Geſtehen 
Sie zu, daß Sie die Ladung entfernten? 

Angellagter. Ob nein. Der Doctor felbft hatte 
biefe tauben Zündhütchen aufgefegt, damit die Kinder 
nicht zufällig ein Unglück anftellten. 

Der Präfident fordert den Angellagten auf, er möge 
ven Tag bezeichnen, an welchen Frau Caffan ihn auf- 
gefordert habe, ihren Schwiegervater zu ermorben, 

Angellagter. Es war am 28. April. Sie kam. 
um bie Sachen abzuholen, die fie bei ihrer überftürzten 


Die Ermordung des Dr. med. Eaffan. 257 


unfreiwilligen Abreife zurüdgelafjen Hatte. Sie über- 
häufte mich mit Liebfofungen und beſchwor mich, fie von 
dem Alten zu befreien. „Meifter Mercadier hat es mir 
. als die befte Löſung angerathen“, fagte fie wieberholt. 
Präſident. Ursprünglich haben Sie fi) wol ber 
Hoffnung bingegeben, daß Sie dadurch, daß Sie eine 
Unfchuldige hineinzögen, Ihren Kopf retten würben. Jetzt 
wollen Sie glauben machen, daß Frau Caſſan das Ver⸗ 
brechen angeftiftet habe. Sie beharren alſo dabei, daß 
Sie zu verfchiedenen malen von Frau Caſſan aufgefordert 
worden find, ihren Schwiegervater zu befeitigen? 

Angellagter. Ja, denn es ift die Wahrheit. Nur 
weil ich e8 ablehnte, hat fie einen andern mit der Aus- 
führung der That betraut. 

Präfident. Bleiben Sie dabei, daß Frau Caſſan 
Ihre Geliebte geweſen ift? 

Angeflagter. Ia wohl, und das Sahre hindurch. 
Ich weiß wohl, daß ich nur ein Bedienter bin und fie 
eine „Dame“ ift, aber für folche mannstolle Weiber gibt 
es den Unterfchied zwijchen Herrſchaft und Dienerjchaft 
nicht. | 

Präfident. Ob Frau Caſſan andern Perfonen 
gegenüber weibliche Schwäche gezeigt hat, weiß ich nicht, 
es gehört dies nicht vor dieſes Tribunal; daß fie aber 
in vertrauten Beziehungen zu Ihnen gejtanden hat, ift 
ganz unglaubhaft. Alle Zeugen beftreiten es. 

Angellagter. Ach was, fie ift eine ganz lieberliche 
Perſon. Wer fie wollte, Tonnte fie haben. (Bewegung 
im Auditorium.) Die Zeugen waren eben nicht babei, 
wenn jie mit mir allein war. 

Der Präſident geht nun dazu über, den Angeklagten 
wegen der Vergiftung ver Philippine Siccard zu ver- 
hören. 

XXIV. 17 


258 Die Ermorbung bes Dr. med. Caſſan. 


Angeflagter. Ich wußte gar nicht, daß fie an Gift 
geftorben fein fol. Ich glaubte fie fet einem Krampfe 
erlegen. 

Präfident. Die Haushälterin hat den ganzen 
30. April allein mit Ihnen zugebracht und zwar auf 
dem Gute La Grave, welches dem ‘Doctor gehörte. Sie 
ftarb am folgenden Morgen, und die Section ver Leiche 
bat Arjenikvergiftung nachgewiefen. Dr. Augier hat aus⸗ 
gejagt, daß die Doſis eine ganz ungeheuere gewefen it 
und einen faft augenblidlichen Tod nach fich ziehen mußte. 

Angeflagter. Das Fann richtig fein, aber ich bin 
unjchuldig daran. Ich habe niemals Arfenif gefehen und 
weiß kaum, was e8 ift. 

Präfident.e Dr. Eaffan bewahrte Arjenit auf in 
La Grave zur Behandlung feiner Weinftöde. Es waren 
zwei Badete dort. Er hat in Ihrer Gegenwart davon in 
Heine Sügelchen gethan, um Ratten zu vergiften. 

Angeflagter. Das war nicht Arſenik, ſondern 
Strychnin. 

(Eine ſehr ſachliche Bemerkung von ſeiten einer Perſon, 
die Arſenik nie geſehen hat!) 

Präſident. Der Reſt des vorhandenen Giftes be- 
fand fih unter Verfchluß auf dem Dachboden des Haufes 
in La Grave. Nach dem Tode der Siccard fand man 
das Vorhängeſchloß abgeriffen und den Kaften aufgebrochen. 

Vertheidiger Ferrand. Die Section hat ergeben, 
daß die Siccard berzleivend war und jederzeit eines plöß- 
lichen Todes fterben Tonnte. 

Präfident. Warum hat man fie nicht dieſes natür- 
lichen Todes fterben lafjen! 

Damit ift das Verhör des Angeklagten beenbigt. 
Durand bat mit überrafchender Schlagfertigfeit geantwortet: 
Abwechjelnd frech und chnijch, wenn er von Frau Cafſan 





Die Ermorbung des Dr. med. Caffan. 959 


fprach; Höhnifch, wenn ihm die Frage unmwejentlich ſchien; 
fehr entjchieden, wenn er ableugnen wollte; aber vorfichtig 
und zögernd, wenn ihm die Frage verfänglih vorkam. 
Mit fcheinbarer Indignation und dann wieder wetnerlich 
jentimental wehrte er die Anfchuldigungen ab. „Es ift 
entjeglich”, rief er, „daß man fich folde Sache jagen 
laffen muß!“ 

Der zweite Verhandlungstag beginnt mit ber Ver⸗ 
nehmung der Zeugen. 

Emtlie Caſſan, geborene Behronnet de Berre, wird 
aufgerufen. Sie ift 27 Jahre alt, brunett, eher Klein als 
groß, von ſchlankem, elegantem Glieverbau und voller 
Düfte. Ohne gerade diftinguirt auszujehen, hat fie doch 
regelmäßige Züge und eine einnehmende Phyſiognomie. 
Sie ift vielleicht Feine ſchöne, aber jedenfalls eine hübfche 
Frau. Die Zeugin ericheint vor dem Gerichtähofe in 
tiefer Trauer, langem Cropeſchleier und ſchwarzer 
Kaſchmirrobe. Sie gibt ihre Ausjagen mit Elarer Stimme 
und nachdrücklicher Betonung, doch anjcheinend ohne be- 
fondere Erregung ab. 

Präfident. Durand hat behauptet, daß Sie vier 
Jahre lang feine Geliebte gewejen feien und daß Sie ihn 
zum Morde Ihres Schwiegervaters angeftiftet hätten. 

Zeugin. Die Behauptungen dieſes Menjchen find 
niederträchtige Verleumdungen. Ich habe niemals mit 
ihm in vertrauten Beziehungen geftanden. 

Angeflagter. Das Weib Tügt! 

Präfident. "Schweigen Siel Laffen Sie die Zeugin 
ruhig ausreben. 

Zeugin. Es iſt eine abjcheuliche Verleumbung | 
Niemals habe ich mich mit ihm eingelaffen, niemals! Och 
habe ihn immer als Diener betrachtet und behandelt. Er 

17* 


260 Die Ermordung bes Dr. med. Caſſan. 


kann e8 gar nicht wagen, mir ins Geficht zu ſehen. (Sie 
wendet fich gegen den Angellagten.) 

Durand (mit einem Ausprud von Zärtlichkeit). 
Oh doc, mein Schätchen. 

Zeugin (erregt). Sch fchwöre bei dem, was mir das 
Höchfte ift, bei dem Leben meiner Kinder, daß ich niemals 
bie Geliebte dieſes Menjchen geweien bin. Es ijt eine 
abfcheuliche Verleumbung, daß ich ihn veranlaßt hätte, 
meinen Schwiegervater zu ermorven. Welches Intereſſe 
jollte ih an dem Tode des armen alten Mannes gehabt 
haben? 

Präfivent. Durand gibt an, Sie feien am 28. April 
nah Albi gelommen, hätten mit ihm eine lange Unter- 
redung gepflogen und ihm ven Antrag geftellt, Ihren 
Schwiegervater zu befeitigen. Er habe fich geweigert, und 
darum hätten Sie einen Fremden, Unbelannten gedungen. 

Zeugin. Aber ich Iebte doch mit fammt meinen 
Kindern nur von dem Einkommen, das ich von meinem 
Schwiegervater erhielt. Ich jchwöre, daß ich am 28. April 
mit Durand nicht allein gejprochen habe. 

Präfident. Sind nah dem Tode Ihre® Mannes 
Ihre Beziehungen zu Ihrem Schwiegervater getrübt ge- 
weſen? 

Zeugin. Der Tod ſeines einzigen Sohnes hatte 
ihn tief erſchüttert. Er wußte wol auch, daß unſere Ver- 
hältniffe ungeordnet waren, aber die Höhe des Echulpen- 
ftandes überrajchte und befümmerte ihn. Er mochte 
glauben, die Schulden wären um meinetwillen gemacht 
worden. Wir hatten deshalb allerdings Mishelligfeiten, 
fie waren indeß nicht ernftlicher Natur. Ich verbrachte 
in der Regel die Abende mit meinem Schwiegervater, 
fchrieb nach feinem Dictat und copirte feine mebicinifchen 
Berichte. 








Die Ermordung des Dr. med. Eaffan. 961 


Präfident. Anfang April aber hat Ihnen ber 
Doctor eine Scene gemacht, weil Sie ſpät abends allein 
ausgingen? 

Zeugin. Mein Schwiegervater war zu der Anficht 
gelangt, daß e8 ihn zu viel koſte, mich und die Kinder zu 
erhalten, und verlangte, daß meine Mutter hierzu beitragen 
folle. Ich habe Albi deshalb am 13. April verlaffen. 

Präfident. Haben Sie Ihren Schwiegervater be- 
ſchuldigt, daß er Sie gejchlagen habe? 

Zeugin. Niemals. Sch babe ihn jogar gebeten, mich 
wieder aufzunehmen; allein infolge von Zwijchenträgereien 
wollte er e8 nicht thun. 

Angeflagter. Dieſes verfluchte Weib Tügt! Das 
Berbrechen ift von ihr ausgegangen. Sie hat den alten 
Mann getödtet oder tödten lafjen. Jedes Wort, das fie 
fpricht, ift eine Lüge. Der Doctor hat fie fortgejagt, 
weil fie wie eine Tiederliche Dirne lebte. Er hat ihr 
einen Fauftichlag ind Geficht gegeben und fie eine 9... 
gefcholten. Er hat feine Schwiegertochter, ſowie dieſe ihn 
nicht ausftehen können. 

Bertheidiger Ferrand. Sind Sie, Frau Eaffan, 
in der Zwifchenzeit vom 28. April bis zum 8. Mai nie- 
mals in Albi gewejen? 

Zeugin. Doch, mein Her. Am 1. Mai. Ich 
fam ein zweited mal, um allerlei vergeffene Sachen ab» 
zuholen und mit meinem Schwiegervater einige Geldfragen 
zu beſprechen. Es war der Tag nach dem Tode der 
Philippine Siccard. 

Präfident. Haben Sie geäußert. Wenn die Alte 
früher geftorben wäre, jo hätte fich alles anders geftalten 
könnnen? 

Zeugin. Ich erinnere mich nicht, dies geſagt zu 
haben, aber es entſpräche meiner Anſchauung. Ich habe 


262 Die Ermordung bes Dr. med. Caſſan. 


es immer fehr bedauert, dag mein Schwiegervater mich 
nicht wieder zu ſich nehmen wollte. 

Vertheidiger Ferrand. Sind Frau Zeugin nie 
mald ded Nachts Arm in Arm mit Durand fpazieren 
gegangen? 

Zeugin. Niemals. Ganz entjchteven niemals. 

Vertheidiger Ferrand. Aber Frau Zeugin wer- 
den bagegen wol nicht in Abrede ftellen, daß Ste einen 
nächtlichen Befuch bei dem Lieutenant Pradines abgeftattet 
haben? 

Zeugin. Das tft eine müßige Trage. Auf folde 
antworte ich nicht. 

. Bertheidiger Ferrand. Es gibt hier feine müßigen 
Tragen. Ich weiß, was ich ſpreche. Es handelt fi um 
ven Kopf eines Menfchen, ver Ste beichuldigt und ver 
behauptet, um Ihretwillen auf der Anklagebank zu figen. 
St es denn nicht gerade wegen dieſes Beſuches, Daß 
Dr. Caffan Sie aus feinem Haufe gewieſen hat? 

Zeugin. Nein. 

VBertheidiger Ferrand. Alſo Sie haben nicht 
als Ausflucht angegeben, daß Sie den Abend bei dem 
Hauptmann Robert, einem verheiratheten Offizier und 
Freund Ihrer Familie, zugebracht hätten? 

Zeugin. 9a, das habe ich gejagt. 

Vertheidiger Ferrand. Es war aber thatjächlich 
unrichtig. 

Zeugin. Darüber habe ich Ihnen feine Rechenjchaft 
zu geben. 

Bertheidiger Ferrand. Mit wen haben Sie 
alfo den Abend zugebracht? 

Zeugin. Darüber brauche ich nicht Nebe zu ftehen. 
Ich bin nicht als Angeklagte hier. 

Bertheidiger Ferrand. Sie haben al8 Zeugin 





Die Ermordung bes Dr. med. Caſſan. 263 


die Verpflichtung, Hier die ganze Wahrheit auszufagen, 
auch wenn es Ihnen peinlich ift. Reden Sie aljo auf- 
rihtig. Iſt es nicht wegen Ihrer Beziehungen zu dem 
Lientenant Prabines, daß Ste aus dem Haufe gejagt 
worden? 

Zeugin. Nein, mein Herr. Vebrigens ift Lieutenant 
Prapines ein alter Belannter. Wir find aus demfelben 
Orte. Seine Schweiter und ich waren Schulfreunbinnen. 

Staatsanwalt. Iſt es richtig, daß Ihnen Lieutenant 
Prabines 1000 Frs. geliehen hat? 

Zeugin. Ja. Ich beburfte des Geldes zur Zahlung 
einer dringenden Schuld meines verjtorbenen Gatten. 

Vertheidiger Ferrand. Und Ihre Beziehungen 
zu bem Herrn Lieutenant befchräntten fich auf dieſe Geld» 
angelegenheiten? 

Zeugin. Ja wohl, mein Herr. 

Vertheidiger Ferrand. Sie haben ihm alfo 
feine Xiebesbriefe durch das offene Fenfter in fein Schlaf- 
zimmer geworfen? 

Zeugin. Nein, niemals. 

Hierauf wird der Gerichtsarzt Dr. Camil Bouffac 
vernommen. Er erftattet Bericht über die Section ber 
Leiche des Dr. Caſſan und jchilvert ſodann in dramatifcher 
Weife, wie das Attentat nach feiner Weife verlaufen fein 
muß, indem er einen Gensdarmen veranlaßte, die Rolle 
des Opfers zu übernehmen, und felbjt den Mörder fpielt. 

Der zweite Gerichtsarzt, Dr. Guy, bejtätigt Die Schluß- 
folgerungen feines Collegen. In feinem Eifer hat er fi 
jogar zu einem merfwürbigen Experiment herbeigelafjen. 
Es ift bereitS erwähnt worden, daß Durand eine Haut- 
ihürfung am Tinfen Arme hatte. Die Anklage folgert, 
biefelbe ftamme daher, daß der Angegriffene im verzweifel- 
ten Kampfe um fein Leben durch einen heftigen Druck 


264 Die Ermorbung bes Dr. med. Eaffan. 


mit dem Daumennagel fie verurfacht babe. Dr. Gub 
hat nun von einem fräftigen Collegen einen nachhaltigen 
Drud an feinem Arme verfuchen laffen, und bie folcher- 
geftalt von dem Daumennagel berrührende Verlegung 
entfprach jener, welche ver Angeklagte davongetragen hatte. 
Diefe Beweisführung ift wahrhaft vernichten für ben 
Angeflagten. 

Die Verhandlung wird zur Vornahme des Local- 
augenjcheines unterbrochen. “Der Gerichtshof ſammt ven 
Proceßparteien begibt fih, unter Zuziehung von Ders 
trauensmännern aus dem Publikum, an die Stätte des 
Attentats. Diefer in Albi noch unerhörte Vorgang 
erregt das ganze Städtchen. Die gefammte Bevölkerung 
ift auf den Deinen. Es iſt nothwendig, die Suftizwachen 
zu verftärken, um Frau Caffan, welche nach der Anficht 
ber Menge die Schulbige ift und mit Schmähungen be» 
grüßt wird, vor thätlichen Angriffen zu fchügen. 

Der Gerichtshof durchſchreitet mit feterlichem Ernſt 
alle in Trage kommenden Räumlichkeiten, das Bejtibule, 
das Arbeitscabinet und das Schlafzimmer des Dr. Caſſan. 
Durand, der zwifchen zwei Gensbarmen geführt wird, 
erklärt mit fefter Stimme, wo ver „unbefannte Mörder“ 
eingedrungen fein müfje und welchen Weg er genommen habe. 

Es werben ſodann verichtevene Zeugen über das Ver⸗ 
hältniß zwiichen dem Dr. Caſſan und feiner Schwieger- 
tochter vernommen. Die Ausfagen ftimmen nicht überein. 
Etlihe bezeugen, daß beide in feinplichen Beziehungen 
geftanden haben, andere befunden, Dr. Caſſan habe fich 
bitter über bie junge Frau und ihren Lebenswandel aus- 
gefprochen, fich vor ihr gefürchtet und geäußert, daß fie 
ihn noch vergiften werde. Wichtiger ift ald Zeugin 
Elodie Rieunier, das Stubenmäbdchen der Frau Caſſan. 
Sie ift eine hübſche Brünette von 19 Jahren, mit einem 


Die Ermordung bes Dr. med. Caſſan. 265 


allerliebften Stumpfnäschen und bligenden jchwarzen 
Augen. 

Präfident. Sind Sie die Geliebte des Juſtin 
Durand gewejen? 

Zeugin (verfehämt erröthenn). Ja wohl, Herr Präfi- 
dent, ich geitehe es. 

Präfident. Glauben Sie, daß Frau Caffan gleich- 
falls jeine Geliebte gewejen ift. 

Zeugin. Oh nein, das ift nicht wahr. Ich hätte 
ed ficher bemerfen müfjen, wenn etwas zwijchen ven beiden 
vorgegangen wäre. Mein Schlafzimmer ftieß an das ber 
Gnädigen. Ich hörte alles, was daneben gefchah. 

Präfident. Lebte der Doctor in gutem Einvernehmen 
mit Ihrer Herrichaft? 

Zeugin. Nein, e8 gab öfters Streit. 

Präſident. Wo hat Frau Caſſan den 8. Mai, ven 
Vorabend des Attentats, zugebracht? 

Zeugin. In Touloufe. Sch Habe ihr felbft pas 
Abendeſſen fervirt, war ihr um 10 Uhr beim Entfleiven 
behülflich und habe ihr am nächiten Morgen die Choco- 
lade gebracht, die fie im Bette zu fich nahm. 

Präfident. Haben Sie jemals von Ihrer Herrin 
eine Aeußerung gehört, welche Sie darauf fchließen Tieß, 
fie plane die Ermordung ihres Schwiegervaters oder 
billige biejelbe ? 

Zeugin. Niemals, ganz gewiß niemals. 

Präfident. It Durand ohne anzuflopfen in das 
Zimmer Ihrer Herrichaft gekommen? 

Zeugin. Einmal ift er jo eingetreten. Frau Caſſan 
bat ihn darüber fcharf zur Rebe geitellt, und er hat es 
nicht wieder gethan. 

Präſident. Glauben Sie wirklich nicht, daß er zu 
ihr in intimen Beziehungen ftand ? 


266 Die Ermordung des Dr. med. Caſſan. 


Zeugin. Ob! Er Hätte es gar nicht gewagt, bie 
Augen zu ihr zu erheben. 

Präfident. ft er nicht einmal längere Zeit im 
Schlafzimmer Ihrer Herrin geblieben? 

Zeugin. Die Gnädige war an biefem Tage un- 
päßlich und blieb zu Bette. Er brachte ihr das Diner 
hinauf. Das ift überhaupt das einzige mal, daß er mit 
ihr allein in ihrem Zimmer war. 

Prüfident. Er behauptet aber, daß er vier Jahre 
lang ihr Geliebter gewefen ift. 

Zeugin. Das wäre das erfte Wort, das ich davon 
erführe. (Sie wendet fich mit einer zornigen Geberde 
gegen den Angellagten. ‘Diejer lächelt.) 

Auguft Mercadier, ehemaliger Notar, ein behäbiger, 
rundlicher, älterer Herr mit felbftgefälligem, zufrievenem 
Geſicht und einem dünnen, Ted aufgewichiten Schnurr- 
bärtchen, jagt aus: 

„Ich bin der gejchäftliche Nathgeber und Anwalt ver 
Frau Andoque, einer Tante der rau Caſſan. Die 
letztere kam bemzufolge, als fie ihres Schwiegernaters 
Haus verlaffen Hatte, gleichfalls zu mir, um fich meines 
Rathes zu vergewiflern.” 

Präfident. Wiffen Sie, wo Frau Caſſan den Abend 
bes 8. Mai zugebracht hat? 

Zeuge Sie war in Touloufe. Gegen 5 Uhr nach⸗ 
mittags kam te in meine Kanzlei, wofelbft wir eine Be 
ſprechung mit dem Advocaten Pajol hatten. Bon bort 
find wir miteinander weggegangen. Wir haben gemein- 
Ichaftliche Freunde begegnet und begrüßt. Die Anklagen, 
die Durand gegen meine Berjon erhoben hat, find lächer- 
lich, ich brauche fie wol nicht zu beantworten. 

Angellagter. Frau Caſſan hat mir doch felbft ge- 


Die Ermorbung bes Dr. med. Eaffan. 267 


ftanden, daß der Notar Mercabier ihr derzeitiger Xieb- 
haber und ber geiftige Urheber des Verbrechens ift. 

Präfident. Das ift doch eine beifpiellofe Infamie. 
Was in aller Welt berechtigt Sie zu der Annahme, daß. 
der Zeuge der Geliebte der Frau Caſſan gewejen ift? 

Vertheidiger Ferrand Es iſt dies eine DVer- 
muthung, für die gewichtige Gründe ftreiten. Sie find 
wie vertraute Freunde miteinander fpazieren gegangen. 
Wir haben das von Herrn Mercadier felbft gehört. Iſt 
e8 denn ein Verbrechen, der Liebhaber einer hübfchen 
jungen Frau zu fein? (Heiterfeit.) 

Trau Andoque betätigt, daß Durand von Frau 
Caſſan ſtets als Bedienter behandelt worden fei. Die 
Zeugin bat niemals etwas von vertrauten Beziehungen 
zwifchen ihnen bemerkt. „Und ich habe doch Scharfe Augen 
für ſolche Sachen!” fügt fie Hinzu. (Heiterkeit.) 

Angellagter. Ich Lüge nicht. Das lekte Schäfer- 
ftündlein, das ich mit Frau Caſſan verbrachte, war am 
28. April, an dem Tage, an dem fie nach Albi Fam, um 
ibre Effecten abzubolen. 

Präfident.. Sie bleiben aljo dabei, daß Frau Caſſan 
Ste an jenem Tage aufforverte, ihren Schwiegervater zu. 
tödten, und um Sie hierzu zu bewegen, fich in Beweifen 
der Zärtlichkeit überbot? 

Angellagter. Ich Habe e8 geſagt. Es ift die 
Wahrheit. 

Zeugin. Das nenne ich eine eiferne Stirn! 

Zeuge Frenouls, Notar des Dr. Caſſan, beziffert 
den Werth des Vermögens des Arztes auf 70000 Frs. 

Bertheidiger Ferrand. Wieviel Geld dürfte in 
der Nacht des Verbrechens im Haufe geweſen fein? 

Zeuge. Ob, nur wenig. Ganz wenig. 

Präſident. Er hatte aber doch nahezu 21000 Frs. 


268 Die Ermorbung bes Dr. med. Eaffan. 


erhalten, und nach ven Angaben über die Verwendung bes 
Geldes fehlt der Nachweis über etwa 3000 Tre. 

Zeuge. Bon den bebobenen 21000 318. hat er 
12000 Frs. Schulden feines Sohnes bezahlt und 
8000 Frs. bei dem Steueramte für Nententitel hinter⸗ 
legt. Er wollte fein Geld im Haufe haben. Sch glaube 
nicht, daß 1000 Frs. baare Münze vorhanden ge- 
weſen find. 

Vertheidiger Ferrand. Ueber 400 Frs. find vor- 
gefunden worden. 

Staatsanwalt. Durand hat vermutblich nicht ge- 
wußt, daß die 21000 Frs. nicht im Haufe waren, von 
der Behebung der Summe dagegen hatte er Kenntniß. 
Es war Stadtgeſpräch, daß Dr. Caſſan eine große Summe 
Geld empfangen hatte. 

Zeuge. Das lebtere tft ficher. 

Die Sachverftändigen, welche vie chemiſche Unter⸗ 
fuhung der Eingeweide ber Pyilippine Siccarb vorge- 
nommen haben, die Herrn Franz Iulius Augier und 
Dr. Eugen Ceftan de Saillac, erklären, daß dieſe an 
Arjenikvergiftung geftorben ift. 

Melanie NRoumegour, das Hausmädchen des 
Dr. Caſſan, fagt aus: 

„In der Nacht des Attentates ift Suftin Durand in 
Unterhofen und bloßfüßig mich zu weden gefommen. Er 
theilte mir mit, unfer Herr fei ermordet und er felbit 
durch einen Mefferftich verwundet worden. Dann fiel er 
erichöpft, wie ohnmächtig, vor mir zufammen. Ich hatte 
zuvor nichts Verdächtiges gehört, auch der Hund hatte 
nicht gebellt. Ich bin vor das Thor gelaufen und babe 
Hüffe! Mörder! gerufen. Die Nachbarn find an bie 
Fenſter gefommen. Durand wollte wegeilen, um bie 
Polizei zu Holen, und zog an der Hausthür feine Hofe 


Der Ermordung des Dr. med. Eafjan. 269 


an. Ich hatte folche Angſt und fürchtete mich fo fehr, 
allein zu bleiben, daß ich ihn fefthalten wollte, als er 
fortging.” 

Nach dem Schluß des Beweisverfahrens beginnt das. 
Plaidoyer. 

Die bemerkenswertheſte Rede, die ſich zuweilen zu 
wirklich rhetoriſchem Schwung erhebt, iſt die des Ver⸗ 
treters der Civilpartei, Bosredon. Derſelbe ſagt im 
Wejentlichen: | 

Es handelt fich für uns um feinen materiellen Schaben- 
erſatz. Es handelt ſich um die Reinhaltung der Ehre 
einer jonft jchuglojen Frau, um den ehrlichen Namen von 
vier unmündigen Kindern, der befledt werden ſoll. Elende 
Berleumbungen haben Frau Caſſan fehwer an Ehre und 
Freiheit bedroht, und nur der energifchen Führung ber 
Unterſuchung ift e8 zu danken, daß dies dunkle Gewebe 
jo raſch zerriffen warb. 

Der Anwalt erörtert die Gründe, die Juftin Durand 
und ihn allein als Mörder Fennzeichnen. Er befchulpigt 
ihn des Diebjtahl® oder doch des Diebitahlverjuchg, 
„weil er den erhofften Lohn für feine graufe That nicht 
gefunden habe”. Er wendet fich gegen bie ſchnöde Be— 
hauptung, daß Frau Eaffan die Maitreffe ihres Bedienten 
geweſen jei, und daß fie ihn zum Morde verleitet habe. 
Er brandmarkt die Verlogenheit des Angeflagten, feine 
wechjelnden und ſchwankenden Geſtändniſſe. Wie aber 
ift der Angeklagte auf den verruchten Gedanken verfallen, 
die Schwiegertochter feines Opfers anzufchwärzen? Das 
müßige Geſchwätz, ver leere Klatſch, der bis zu ihm in 
die Zelle gebrungen ift, hat ihm ven fchlauen Plan ein- 
gegeben, durch Verleumbung einer britten Perfon das 
eigene koſtbare Leben zu reiten. Einundvierzig Tage hat 
Frau Caſſan in der Unterfuchungshaft zugebracht, man 


270 Die Ermorbung bes Dr. med. Caſſan. 


Hat ihre vertrauteften Angelegenheiten peinlich durchforſcht: 
aber ihre Unschuld ift klar zu Tage getreten. Sie hatte 
feinerlei Intereffe am Tode ihres Schwiegervaterd, ber 
fie und ihre Kinder erbielt. Ste bezog ein Einkommen, 
das zum großen Theile von den Ergebniffen feiner Praxis 
abbing. Nun da er tobt ift, bleibt fie faft mittellos 
zurüd. Die Habſucht allein bat Durand zum Mörber 
gemacht, er hat wahrfcheinlich 2300 Irs., deren Ver⸗ 
bleib nicht anders zu erflären ift, an fich gebracht und 
an einem fichern Ort verborgen. ‘Dazu hat er die zwei 
Stunden verwendet, bie zwifchen ver That und der Ver⸗ 
ftändigung an die Polizet verfloffen find. Es gibt für 
ihn keinerlei mildernde Umſtände, erjchwerend aber find 
jeine abfcheulichen Verleumpungen. Seine chnifche Haltung 
an biejer Stelle beweist feine abjolute Verworfenheit. 

Der Staatsanwalt Yaroche erörtert nüchtern und 
Har alle zwingenden Verdachtsgründe und forbert bie 
Todesftrafe, denn der Angellagte verdiene fein Mitleid. 

Der Vertheidiger Ferrand fucht in gejchidter Weife, 
ohne Frau Caſſan direct zu befchuldigen, darzuthun, daß 
noch neue Zweifel in Bezug auf die Verübung bes Ver⸗ 
brechen® beftänden. Der Beweis, daß Dr. Caſſan be- 
jtohlen worben, fei mislungen, ein Beweggrund zu dem 
Morde fei nicht erbracht, e8 bleibe unficher, ob ein ober 
mehrere Thäter am Morde mitgewirkt hätten, und jeber 
Zweifel müffe dem Befchulpigten zugute fommen, eine 
Berurtbeilung ſei deshalb nicht gerechtfertigt. 

Die Geichworenen haben fich nach einftündiger Be⸗ 
ratbung über ihren Spruch geeinigt. Sie verneinen 
die Schuld des Angeklagten an dem Tode der Philippine 
Siccard, bejahen fie jevoch in Betreff der Ermorbung 
bed Dr. Caſſan und des qualificirten Diebjtahle. Mil⸗ 
dernde Umftände werben bem Verurtheilten nicht zuerkannt. 


Die Ermorbung bes Dr. med. Eafjan. 971 


Durand bricht in Thränen aus und ruft: „Mich 
Unfchuldigen verdammt man und die Schuldige läßt man 
laufen!” 

Der Präfident Garas verfünbigt das Urtheil: Die 
Todesſtrafe. 


Bei dieſem Proceſſe tritt wieder wie in Frankreich 
ſo häufig ein angebliches Liebesverhältniß in den Vorder⸗ 
grund. Hätte der Angeklagte neben ſeinem Cynismus 
und feiner Frechheit eine größere Erfindungskraft be- 
fefjen, vielleicht wäre e8 ihm doch gelungen, fich durch 
die Verleumbung der an ber That unfchuldigen jungen 
Frau zu retten. Aber feine Fabel war zu unglaub- 
würdig, feine Angaben wurden zu gründlich widerlegt. 
Er fing fih in ven Mafchen des Netzes, welches er gar 
zu plump gefponnen hatte ‘Die Stimmung ber Be- 
völferung wendete ſich urjprünglich ganz entjchieven wider 
Frau Caffan, und es ift ein wirkliches Verbienft ver 
Unterfuhung, die Wahrheit an den Tag gebracht zu haben, 
Wir halten das Urtheil für ein gerechtes. 


Ein Beitrag zu dem Leben und dem Procefle des 
Panduren-Oberfien Franz Freiherrn von der Trenck 
and feine Haft auf dem Spielberg bei Brünn. 


1741 — 1749, 


Franz Freiherr von der Trend ift 1714 zu Reggio 
in Calabrien geboren. Sein Vater ftand damals bort 
als kaiſerlich königlicher Oberftlieutenant in Garnifon, 
wurde aber fpäter nach Ungarn verjegt. Der junge Trend 
befuchte die Lateinifche Schule der Jeſuiten in Debenburg, 
und ſchon damals zeigten fich feine glänzenden Talente, 
aber auch feine böſen Anlagen und Eigenjchaften. Im 
17. Lebensjahre trat er als kräftiger, in allen Leibes⸗ 
übungen geübter Jüngling in die öfterreichifche Armee ein. 
Aber nach Furzer Zeit quittirte er und nahm Kriegsdienſte 
in Rußland. Er war ein wilder Gefell, feine zügellojen 
Streiche zogen ihm eine Unterfuchung zu, er wurbe bes 
Landes verwiefen. Nach einer andern Mittbeilung hatte 
er fih an feinem Oberften thätlich vergriffen und wurbe 
beshalb vom Kriegsgericht zum Tode verurtheilt. Es 
gelang ihm aber zu entfliehen und die öfterreichiiche Grenze 
zu erreichen. Er ging nach Slawonien auf die ihm ge- 
hörende Herrichaft Pakracz und vertrieb fich die Zeit mit 
Reiten und Jagen und wüſten Orgien, bie in bem Herren- 
haufe gefeiert wurden. ALS der Defterreichifche Erbfolge- 
frieg ausbrach, ftellte er der Kaijerin feinen Degen zur 








Der Banduren-Oberfi Frhr. v. d. Trend. 273 


Verfügung. Maria Therefia war von Feinden umringt, 
fie nahm Hülfe an, wo fie ihr geboten wurde, denn es 
handelte fih um ven Beitand der alten Habsburgijchen 
Monarchie. Trend erhielt die Erlaubniß, ein Freicorps 
in der Stärke von 1000 Mann zu errichten. Die Leute 
drängten fich zu ihm, ſobald er die Werbetrommel rühren 
fieß. Wählerifch war er nicht bei ver Aufnahme; muthige, 
trogige Männer ließ er ohne weiteres Treue fchwören, 
auch wenn fie mit der Juſtiz die bebenflichiten Conflicte . 
gehabt Hatten. So mancher Grenzräuber, dem es jchon 
an Hals und Kragen gegangen war, fand unter ber von 
ihm enifalteten Fahne einen fichern Zufluchtsort. Es 
währte nicht Tange, bis er bie erforberliche Zahl von 
1000 Mann beifammen hatte. Er marfchirte mit feinen 
Truppen nach Wien und führte biefelben am 27. Mai 
1741 der Kaiferin vor. Sie hatte fich zu dieſem Behufe 
im Wagen vor die Favoriten-Linie begeben und nahm 
eine Art von Parade ab. Das Corps war eingetheilt in 
20 Freicompagnien, jede zu 50 Mann, nach ferbiicher 
Art trugen fie weite Ueberwürfe und rothe Kapuzen, 
fie ftarrten von Waffen aller Gattungen. Die Banburen 
begrüßten die Kaiferin mit den rauſchenden Klängen ihrer 
Muſik, gaben Proben ihrer Gefchidlichfeit und Kampfes⸗ 
weije und zogen dann in guter Ordnung vor dem kaiſer⸗ 
lichen Wagen vorüber. Maria Therefia verfolgte das 
feltene und intereffante Schaufpiel aufmerkſam, befchenfte 
die Panduren reichlich und ließ einige derſelben ihrer 
Mutter, der verwitweten Kaiferin Eliſabeth Chriftine, 
poritellen. Am folgenden Tage z0g die ganze Schar, von 
Tauſenden umwogt und angejtaunt, am Klofter der Sale- 
fianerinnen vorüber, um von der Kaiſerin Amalie Wilhel- 
mine, der Witwe Joſeph's J., ebenfalls befichtigt zu werben. 
Als dies geichehen war, (agerten fih die Panduren einige 
XXIV. 18 


274 Ein Beitrag zu dem Leben und dem Proceffe 


Stunden in der Vorſtadt Landftrafe, nahe dem St. Jo⸗ 
bannis- Hospital. Am Abend fegten fie über die Donau 
und traten den Marſch nach Schlefien an. Dort gaben 
fie glänzende Beweife ihrer Friegerifchen Tüchtigkeit. Viele 
Meilen weit jchwärmten fie im Rüden des Feindes, fie 
verbrannten die Magazine, fingen vie Kuriere auf, be- 
unruhigten alle Transporte und verbreiteten überall Ver- 
wirrung. Nicht felten haben fie Vorpoften überrumpelt, 
preußiiche Offiziere aufgehoben und weggeführt, während 
die Schilowache ruhig vor ber Thür ftand, und ganze 
Hauptquartiere überfallen und zerfprengt. Die Panduren 
pflegten ftetS die Avantgarde zu bilden. Sie ftürmten 
unwiberjtehlich vorwärts und warfen nieder, was fich 
ihnen entgegenftellte. 

Der Oberbefehlshaber der Armee, Graf Neipperg, 
erkannte die vortrefflichen Leiftungen dieſer Truppen an, 
aber der Panduren-Oberft war dem ftrengen, methobifchen 
Manne durchaus unfumpathiih. Trenck bejaß eine hobe, 
imponirende Geftalt und ein einnehmenves Weſen, auch 
eine gewiſſe Bildung konnte man ihm nicht abjprechen; 
aber die vorherrichenden Züge feines Charakters waren 
unbändige Wilpbeit, Graufamfeit und Unbotmäßigfeit, bie 
er auch feinem Corps aufprägte. Trend hatte ſtrengen 
Defehl, auf allen feinen Streifzügen nur gegen bewaffnete 
Feinde vorzugehen und nie an wehrlofen Menſchen Gewalt- 
thätigfeiten zu verüben. Aber der Dberft gehorchte nie- 
mals. Reiſende Kaufleute wurden beraubt, ‘Dörfer und 
Städte angezündet und geplündert. Die Panduren fannten 
weber Schonung noch Mannszucht und ihr Oberft ging 
ihnen mit dem fchlechteften Beiſpiele voran. 

Graf Neipperg überzeugte fih davon, daß Trend 
unverbefferlich, und daß feine Art, den Krieg zu führen, 
mit der Ehre der Kaiferin nicht vereinbar war. Er nahm 





des BPanduren-Oberften Franz Frhru.v. d. Trenck. 275 


ihm das Commando ab und übertrug bafjelbe einen 
ſächſiſchen Major Namens Menzel, welcher früher eben- 
falls in Rußland gedient hatte und der ſlawiſchen Sprachen 
mächtig war. Als Trend fich weigerte, unter Menzel zu 
dienen, wurde er verhaftet und vor ein Kriegsgericht 
geftellt; jevoch bald darauf aus dem Arreft entlaffen und 
in fein Commando wieber eingejekt. 

Im Jahre 1742 focht Trend in der Armee des Feld⸗ 
marihall® Grafen Khevenhüller in Baiern. Durch 
einen fühnen Handftreih nahm er mit feinen Panduren 
das Schloß Diefenftein an der Grenze von Baiern und 
Böhmen. Zufällig entzündete fich ein Sad Pulver. Trend 
ſtand in unmittelbarer Nähe, erlitt jehr jchmerzliche Brand⸗ 
wunden und wurde zur Heilung berfelben nah Paſſau 
gebracht. Der Felomarfchall benutzte dieſe Gelegenheit, 
über die Verdienſte des verwunbeten Offizier Bericht zu 
eritatten und feine Beförderung zum Oberftlieutenant von 
der Kaiferin zu erbitten. Er zählte alle Waffenthaten 
Trenck's auf bis zu der Einnahme von Diejenftein und 
rühmte feine hohe militärifche Begabung und feine außer⸗ 
orbentliche Tapferkeit. Er verjchivieg Dabei nicht, daß 
Trend mit großer Härte verfahren fei, fo oft e8 ſich um 
Beute gehandelt, und daß er mehr als einmal eine über- 
mäßige Habſucht an ven Tag gelegt habe, fügte aber Hinzu, 
Trend habe verfprochen, fich in dieſem Punkte zu befjern, 
und werde dieſes Verfprechen wohl auch halten, denn fein 
Vermögen habe bereits eine beträchtliche Höhe erreicht. 
Er werbe ſich doch enblich mit dem begnügen, was er 
befige, die Kaiferin möge daher bie beantragte Beförde⸗ 
zung bewilligen, um ihn dadurch in feinem Unglüd zu 
tröften und jeine Schmerzen zu lindern. Maria Therefia 
erfannte zwar Trenck's Tapferkeit an, aber fein große 
fprecherijches, rohes Weſen und fein ausfchweifendes Leben 

18* 


266 Die Ermorbung bes Dr. med. Caſſan. 


Zeugin. Ob! Er hätte es gar nicht gewagt, die 
Augen zu ihr zu erheben. 

Präſident. Iſt er nicht einmal längere Zeit im 
Schlafzimmer Ihrer Herrin geblieben? 

Zeugin. Die Gnädige war an biefem Tage un- 
päßlich und blieb zu Bette. Er brachte ihr das Diner 
hinauf. Das ift überhaupt das einzige mal, daß er mit 
ihr allein in ihrem Zimmer war. 

Prüfident. Er behauptet aber, daß er vier Jahre 
lang ihr Geliebter gewefen ift. 

Zeugin. Das wäre das erfte Wort, das ich davon 
erführe. (Sie wendet fich mit einer zornigen Geberde 
gegen den Angeklagten. Dieſer lächelt.) 

Auguft Mercadier, ehemaliger Notar, ein behäbiger, 
rundlicher, älterer Herr mit felbftgefälligem, zufriedenem 
Gefiht und einem dünnen, Ted aufgewichiten Schnurr⸗ 
bärtchen, fagt aus: 

„Ich bin ber gejchäftliche Natbgeber und Anwalt ver 
Frau Andoque, einer Tante der Frau Caſſan. ‘Die 
letztere kam bemzufolge, als fie ihres Schwiegervaters 
Haus verlaffen Hatte, gleichfalls zu mir, um fich meines 
Rathes zu vergewiſſern.“ 

Präſident. Wiſſen Sie, wo Fran Caſſan den Abend 
bes 8. Mat zugebracht hat? 

Zeuge. Sie war in Touloufe. Gegen 5 Uhr nad 
mittags kam fie in meine Kanzlei, wofelbft wir eine Be⸗ 
ſprechung mit dem Advocaten Pajol hatten. Von bort 
find wir miteinander weggegangen. Wir haben gemein- 
Ichaftliche Freunde begegnet und begrüßt. ‘Die Anlagen, 
die Durand gegen meine Perfon erhoben hat, find lächer- 
lich, ich brauche fie wol nicht zu beantworten. 

Angellagter. Frau Caſſan bat mir doch ſelbſt ge- 


Die Ermordung bes Dr. med. Eaffan. 267 


ftanden, daß der Notar Mercabier ihr derzeitiger Xieb- 
baber und ber geiftige Urheber des Verbrechens ift. 

Präſident. Das tft doch eine beifpiellofe Infamie. 
Was in aller Welt berechtigt Sie zu der Annahme, daß. 
ber Zeuge der Geliebte der Frau Caſſan geweſen tft? 

Vertheidiger Ferrand Es iſt dies eine DVer- 
muthung, für bie gewichtige Gründe ftreiten. Sie find 
wie vertraute Freunde miteinander fpazieren gegangen. 
Wir haben das von Herren Mercadier ſelbſt gehört. Iſt 
es denn ein Verbrechen, ver Liebhaber einer hübſchen 
jungen Frau zu fein? (Heiterfeit.) 

Frau Andoque beftätigt, daß Durand von Frau 
Caſſan ſtets als Bedienter behandelt worden fei. Die 
Zeugin hat niemals etwas von vertrauten Beziehungen 
zwifchen ihnen bemerkt. „Und ich habe doch fcharfe Augen 
für ſolche Sachen!” fügt fie Hinzu. (SHeiterfeit.) 

Angeflagter. Ich Lüge nicht. Das lekte Schäfer- 
ftündlein, das ich mit Frau Caſſan verbrachte, war am 
28. April, an dem Tage, an dem fie nach Albt fam, um 
ihre Effecten abzuholen. 

Präfident. Sie bleiben alfo dabei, daß Frau Caſſan 
Sie an jenem Tage anfforberte, ihren Schwiegervater zu. 
tödten, und um Sie hierzu zu bewegen, fich in Beweifen 
der Zärtlichkeit überbot ? 

Angellagter. Ich Habe es gejagt. Es ift die 
Wahrheit. 

Zeugin. Das nenne ich eine eiferne Stirn! 

Zenge Frenouls, Notar des Dr. Caſſan, beziffert 
ben Werth des Vermögens bes Arztes auf 70000 Fre. 

Vertheidiger Ferrand. Wieviel Geld bürfte in 
der Nacht des Verbrechens im Haufe gewejen fein? 

Zeuge. Oh, nur wenig. Ganz wenig. 

Präfident. Er batte aber doch nahezu 21000 Frs. 


278 Ein Beitrag zu bem Teben und dem Proceffe 


und Füßen kreuzweiſe gefchloffen und befam ben zweiten 
Tag darauf einen Lieutenant mit zwei Schilbwachen und 
aufgepflanzten Bajonetten in mein Zimmer.“ 

Er erzählt weiter: „Man bat mich 12 Uhr nachts 
aus meiner in einem Wirthshaufe in der Kärnthner 
Straße befindlichen Wohnung in das Arfenal und von 
da in das Stodhaus gebracht und den linken, von einer 
Kanonenkugel bleifirten Fuß, der damals noch nicht voll- 
ftändig geheilt, fondern gefchwollen war, in Eifen gelegt. 
Dadurch ftieg die Gefchwulft fo, daß der wachthabenbe 
Offizier Mitleid empfand und Anzeige machte. Durch 
meine Freunde wurbe bie Raiferin von diefer Behandlung 
in Kenntniß gefeßt, darauf nahm man mir die Feſſeln 
von dem kranken Fuße und der einen Hand ab. Nach 
18 Tagen wurde ih in das Arjenal zurädtrandportirt 
und mir wegen Verſchlimmerung meines krankhaften Zu- 
Itandes die fämmtlichen Eifen abgenommen. ‘Die Katjerin 
befahl die Reviſion tes Urtheils und ertbeilte mir bie 
Erlaubnif, einen Advocaten anzunehmen.“ 

Am Schluffe Heißt es: „Zu bebauern bin ih, daß 
ich nicht alle exrcunable und nie erhörte Umftände, fo in 
meinem langwierigen Proceſſe mit untergelaufen, aus 
erheblichen Urſachen dem geneigten Leſer fo vorlegen darf, 
wie ich e8 wünschte. Ich fage nur, daß mich dieſer Proceß 
bei 80000 Gulden gefoftet hat; meine Feinde haben ihr 
intentum erreicht. Ste haben mich zum Bettler und bei 
der ehrlichen Welt fufpect gemacht, da doch die ganze ver- 
nünftige Welt und jeder, fo von mir gehört oder in 
Decaffionen gefehen, das unverfälichte Zeugniß werben 
geben müſſen, daß ich meiner allergnäpigften Souveränin 
als ein treuer Vaſall und Soldat jeverzeit gebient, welches 
mir auch der geringfte Musfetier, ja fogar die Feinde 
jelbft, gegen welche ich gefochten, mit befräftigen werben.“ 





des Bandburen-Oberften Franz Frhrn.v.d. Trend, 279 


Eine wefentliche Stüße fand der Pandur während bes 
Procefjes an jeinem Vetter Friedrich von der Trend, 
welcher gerade um viefe Zeit in Wien angelommen war 
und mit Hülfe des Dr. Gerhauer in der Angelegenheit fo 
fräftig intervenirte, daß das ‚ganze Kriegsgericht und ver 
damals allmächtige Hofkriegsrath hätten caffirt werben 
müſſen. Die Gegner Trend’8 geriethen durch diefe Wen- 
dung in bie ärgſte Verlegenheit. Sie hatten von feinem 
Bermögen bereits über 80000 Gulden vertheilt und hielten 
infolge der verfügten Sequeftration feine ganze Habe in 
ihren Händen. Sie hatten ihn tief verlegt und Tannten 
ihn gut genug. Sie fürchteten feine Nache, wenn er bie 
Freiheit wiebererlangen follte. Um dieſer ihnen drohenden 
Gefahr vorzubeugen, mußten alle Hebel in Bewegung 
gefeßt werben, und fie blieben auch fchließlich die Sieger. 

Charakteriftiich für den Proceß ift der Umftand, daß 
Trend feines Verbrechens wider ven Staat angeflagt und 
überwiefen und folglich auch die Confiscation feiner Güter 
im Urtheil nicht ausgeſprochen werben konnte. Es hieß 
vielmehr ausprüdlich darin: „daß feine Güter in ber 
Verwaltung des von ihm gewählten Hofrathes von Kämpf 
und feines Freundes Baron Pejacherich bleiben und ihm 
alle Jahre die Rechnung von feinen Beamten zugejenvet 
werben jollte”. 

Wer unparteitich urtheilt, wirb freilich nicht in Ab⸗ 
rede ftellen fönnen, daß Wolluft und Geiz zwei Grund⸗ 
züge in Trenck's Charakter waren. Dieſe böfen Leiden- 
ſchaften haben ihm zu fehr fchlechten und ſchmutzigen 
Handlungen getrieben. Es fteht feit, daß er mehr als 
2 Millionen Gulden durch feine NRequifitionen, richtiger 
gejagt durch jeine Plünderungen erpreßt hat und unerjätt- 
lich immer größere Summen an fi bringen wollte. 
Dazu war. ihm jedes Mittel recht. Aber auf der andern 


2380 Ein Beitrag zu dem Leben und dem Proceſſe 


Seite barf man nicht vergefien, daß er durch die brutale 
Art feiner Kriegführung ein Schreden der Feinde geworben 
it und große Erfolge für Defterreich errungen bat. Die 
Oberften Trips, Menzel und Bärenklau haben ba- 
mals auch nicht fanfter gewirthichaftet; aber Fein Menſch 
bat fie zur Rechenſchaft gezogen, und Trend war ihnen 
an ruheloſer Thätigfeit bei Tag und bei Nat, an Talent 
und an unglaublicher Kühnbeit und Erfindungsgeift weit 
überlegen. 

AS Trend auf dem Spielberge anfam, war berfelbe 
für die Gefangenen in der That ein furdtbarer Ort. 
Die Sträflinge waren in unterirbifchen Kaſematten unter- 
gebracht, welche in der Tiefe die ganze ſüdweſtliche und 
norböftliche Seite in doppelten Reihen untereinander ein- 
nahmen. In den unterjten Gängen, bie von feinem 
Strahl des Tageslichtes beleuchtet wurden, befanden fich 
bie fogenannten Arrefte, von benen einer noch jett zum 
Andenten erhalten iſt. Es waren dies Zellen von Balken 
und Pfoften, die Höhe betrug acht, die Länge fieben, die 
Breite vier Schuh, die Eingangsthür hatte eine Höhe von 
nur drei Schub. Im diefe Kerker wurden die jchwerften 
Berbrecher geworfen und bort mit Ketten angefchlofjen ; 
ihre Nahrung beſtand aus Brot und Waffer. Erft Kaifer 
Leopold U. milverte im Jahre 1791 diefe ſchaudervolle 
Strafe, indem er einen menfchlichern Kerfergrab für alle 
Gefangenen einführte. 

Der Oberft von der Trend bat mit dieſen Räumen 
des Spielbergs feine Befanntichaft gemacht. Die ihm 
angewiefene Zelle, die noch heute den Fremden gezeigt 
wird, beweilt, daß die Regierung gegen den Panduren 
ſehr rückſichtsvoll und human verfahren if. Die Zelle ift 
für eine Perſon geräumig genug, fie hat einen guten 
Fußboden aus Holzbretern, einen ziemlich großen Kachel- 


des Banduren-Oberften Franz Frhrn. v. d. Trend. 281 


ofen und genügendes Licht, die Wände waren geweißt. 
Ein eigenthümfiches Spiel des Zufalls fügte es, Daß 
ungefähr drei Jahrzehnte zuvor der durch feine jonderbaren 
Schickſale befannte Barteigänger Graf Claude Aleran- 
ber Bonneval dieſelbe Zelle bewohnt hatte. Das Leben 
der beiden Soldaten war in vielen Stüden das gleiche; 
das eine wie das andere zeichnete fich aus Durch verwegene 
Abenteuer und granfame Streiche, aber ihr Lebensenpe 
war auffallend verſchieden. Bonneval ftarb ale Paſcha 
in einem Paſchalik am Schwarzen Meere und Trend als 
Kapıziner. Wer Trend gefannt hatte und ihn dann auf 
bem Spielberge wiederſah, wo er feine Leidenſchaften, ins- 
bejonbere jeinen furchtbaren Zorn beherrjchen gelernt hatte, 
geitand voll Verwunderung, er habe geglaubt, einen ent- 
jeglichen Wütherich anzutreffen, und ftatt deſſen einen 
Mann von heiterm Anftande, vielfeitiger Bildung, ftolzer 
Würde und fchlagendem Wit gefunden. Trend fprach 
fieben Sprachen mit volllommener Fertigkeit, er bejaß 
eine unglaubliche Leibesftärke, war abgehärtet gegen alle 
Strapazen und Tannte feine Müdigkeit im Dienjte, bie 
Kraft verjagte ihm niemals. Dazu zeichnete er fich aus 
durch einen hohen Wuchs und regelmäßige, fchöne Züge. 
Für alle militärischen Dinge Hatte er eine natürliche 
Anlage, man konnte ihn einen geborenen KReiteroberjten 
nennen, aber er hatte ſich auch umfafjende Kenntniſſe 
erworben und war in allen Kriegswiffenichaften zu Haufe. 
Seine löwenartige Tapferkeit wurde anerfannt non Freund 
und Feind. Er wäre ein Held gewejen, hätte er fich nicht 
von feinen niedern Leivenfchaften beherrichen Laffen. 

In der Gefangenichaft bejchäftigte er fich mit Lektüre 
und fchrieb die Gefchichte feines Lebens nieder, die im 
Sabre 1788 in Frankfurt und Leipzig im Drud erfchienen 
ift, aber das Ende feines Proceſſes und das Urtheil nicht 


282 Ein Beitrag zu dem Leben unb dem Proceffe 


enthält, Die Gejellichaft, die er auf dem Spielberg hatte, 
beſtand hauptſächlich aus Kapuzinern, fie nannten ihn 
einen Mann „in vivis nobis perquam addictus” und 
in ihrer Hauschronif rühmen fie ihn als einen „vir valde 
versatus ac singulari dexteritate”. Trenck, ben das 
monotone Xeben und die Beraubung ber Freiheit ſchwer 
prüdte, war ſehr dankbar für jeden Zuſpruch und fchloß 
fih gern an die Mönche an. Der noch immer junge 
Dann, der vormals die Religion ‚verachtet und veripottet 
und in den bairifchen Feldzügen fo manches Klofter an- 
gezündet und geplünvert hatte, bejchäftigte fich jeßt mit 
religiöjen Studien, er ging in fich, bereute feine Sünden 
und fuchte den Troſt der Kirche und PVerföhnung mit 
Gott. Man bat gemeint, ver Pandur habe fich verftellt 
and durch feine angebliche Umwandlung zeitliche Vortheile 
erringen wollen. Wir glauben dies nicht. Es ift pſycho⸗ 
logisch erflärlih, daß von der Trend in der Stille und 
Einfamtleit erfchroden tft vor feinem eigenen befleckten Xeben, 
und daß fein Gewiffen ihm feine Ruhe gelaffen bat. Auf 
jeden Tall war er weicher, milder und zugänglicher ge- 
worden. Er erbaute an der Kirche, die am Spielberge 
lag, eine Kapelle. Sie ift zwar fpäter wieder zu iwelt- 
lichen Zwecken benutt und die Wohnung des Mauthners 
geworben; aber im Volksmunde heißt fie noch jeßt bie 
Trend - Kapelle. Kurze Zett vor feinem Tode ließ er 
alle Offiziere der Feftungsgarnifon zu fich bitten und be- 
fannte in ihrer Gegenwart feine Fehler und die Verbrechen, 
für welche er gerechte Strafe leide und in feine jeßige 
traurige Lage gekommen jei. Er warnte die Kameraden 
unter Thränen vor ähnlichen Fehltritten und bat fie, feiner 
auch nach dem Tode zu gedenken und für ihn zu beten. 
Es war ihm Ernſt mit feiner Buße, er ftand am Rande 
des Grabes und hatte von der Welt nicht$ mehr zu hoffen 








bes Pandnren⸗Oberſten Franz Frhrn.v.d. Trend. 283 


und nichts mehr zu fürchten, zu welchem Zwecke hätte er 
ein leeres Gaukelſpiel, wie man e8 genannt hat, aufführen 
follen? 

Das Teftament des Panduren-Oberften darf wol auch 
als ein urkundlicher Beweis feiner Umkehr und. Sin- 
nesänberung angefehen werben. Der Gefchichtichreiber 
Dr. Dudik fagt hierüber: „Man kann annehmen, daß fich 
das menfchliche Gemüth wahr und offen zeigt, wenn ber 
Menſch dem letzten Pulsichlage entgegenhorcht, daß er, 
durchbrungen von der Ewigkeit, mit der Welt abjchließend 
Worte Spricht, die den Stempel der Wahrheit tragen. 
Dies ift um fo gewiffer, wenn Schickſalsſchläge dem 
Menſchen Zeit gelaffen haben zu dem Bekenntniß, daß 
broben ein höheres Wefen waltet, deſſen Auge über Welten 
und Völker, aber auch über den Pfaden jedes einzelnen 
geöffnet ift. Dies alles gilt von dem unglüdfichen Ban- 
buren- Häuptling, baber Tiegt feine Urſache vor, in bie 
Worte, bie wir in feinem Zeftamente lefen, Zweifel zu ſetzen.“ 

Die entgegengefete Auffaffung fpricht fein durch das 
Zeftament freilich getäufchter und benachtheiligter Vetter 
Friedrich von der Trend jo aus: „Sein Proceß batte 
ſchon viel gefoftet, fein Geiz, die verlorene Hoffnung, ven 
Berluft zu erſetzen ober noch reicher zu werben, brachten 
feine habfüchtige Seele bis zur Verzweiflung. Seine 
Ruhmſucht kannte Feine Grenzen und fonnte nicht beffer 
befriedigt werben als dadurch, daß er als Heiliger ftarb 
und nad feinem Tode noch Wunder wirkte. Dabin ging 
fein Plan, denn er war einer ber gefährlichiten Atbeiften, 
er glaubte an Tein Jenſeits und geftattete fich alles, weil 
er ein verborbenes Herz im Buſen nährte.“ 

Trend würde wahrjcheinlich feine Freiheit erhalten 
haben, wenn er um Gnade gebeten hätte. Zu einem 
folchen Schritte war er jeboch zu ftolz und zu unbeugſam. 


284 Ein Beitrag zu bem Leben und dem Proceſſe 


Er behauptete feine Unſchuld und forberte nichts weiter 
als fein Recht. Dieje Hartnädigfeit fam feinen mächtigen 
Feinden ſehr gelegen, denn fie fürchteten fich vor feiner 
Rache. 

Uebrigens follte feine Haft auf dem Spielberge nicht 
lange dauern. Nach den Aufzeichnungen eines alten Kapu⸗ 
ziners, welcher während feines ganzen Lebens von feinem 
Soldaten jo erbaut worben ift und feinen einen jo glück⸗ 
lihen Tod fterben ſah, wie ven von ver Trend, hörte 
ber Pandur am 21. Februar 1749 in ber Nacht eine 
wohlbefannte Stimme feinen Namen rufen. Gleich darauf 
wurde Trend vom Fieber befallen. Er erjuchte ven Pater- 
Guardian der Kapuziner, zu geftatten, daß nach feinem 
Tode fein Leichnam mit einem alten Habit befleivet und 
mit einem Steine unter dem Kopfe, ohne alle8 Ceremoniell 
in ber Kloftergruft beigefegt würde. 

Hierauf ſchickte er zwei Stafetten nah Wien zu 
jeinem Advocaten Dr. Berger und erjuchte ihn, er möchte 
an allerhöchſter Stelle die Erlaubniß zur Errichtung 
eines ZTeftaments auswirken. Die Bewilligung hierzu 
wurde vor Ablauf von 24 Stunden ertheilt mit dem 
Bemerken, „daß Trend über fein Vermögen nach Belieben 
bisponiren Tönne, weil Ihre Moajeftät fich nicht das 
Geringſte vorbehalte”. Auch wurde ihm eröffnet, er könne 
fih eine Wohnung auf dem Spielberge ausfuchen. Erft 
am 24. September machte Trend fein Teſtament in 
Gegenwart von fieben Zeugen. Es wurde an ben Hof 
gefendet. Die Kaiferin Maria Therefia nahm Kenntniß 
von dem Inhalte und wurde namentlich durch die Beftim- 
mung überrafcht, daß einem von Trenck's Feinden ein 
Erbtheil zufallen ſollte. Das ZTeftament erhielt die kaiſer⸗ 
liche Bejtätigung und Trend die Vergünftigung, fih in 
der Stadt Brünn eine Wohnung nehmen zu dürfen. Er 


bes Banduren-Oberften Franz Frhru. 0.0. Trend. 285 


wollte hiervon Gebrauch machen und in das Kapuziner⸗ 
kloſter ziehen, aber am 4. October, dem Namenstage des 
heiligen Franciscus, ſchied er aus dieſem Leben. 

Während ber lebten vier Tage und Nächte waren bie 
Rapuzinerpatres Adjutus und Turibins bei ihm geblieben. 
„A. nostris dispositus pie moritur“ fteht in der Haus⸗ 
chronik. Seinem Wunfche gemäß wurbe fein Leichnam 
mit der Kutte des Kapuzinerordens befleivet, am 7. Detober 
1749 abends halb acht Uhr von etlichen Gefangenen an 
das Brünner Thor getragen, bier auf einen Wagen gelegt 
und in Begleitung von vielen Offizieren und Soldaten 
zu bem Kapuzinerflofter geführt. ‘Der Convent ber Mönche 
erwartete den Sarg vor der Pforte, die Laienbrüder trugen 
venfelben in die Gruft, und dort wurbe er mitten unter 
den bafelbft ruhenden Mönchen beigefekt. 

Eine ganz andere Schilderung von dem Enbe bes 
Bandurenführers gibt jein Neffe Friedrich von der Trend. 
Er berichtet: „Drei Tage vor feinem Tode, da er voll- 
fommen gefund war, fieß er dem Commandanten des 
Spielbergs melden, er wolle feinen Beichtvater nach Wien 
ſchicken, denn der heilige Franciscus habe ihm geoffenbart, 
daß er ihn an feinem Namenstage um zwölf Uhr in bie 
Ewigkeit abholen würde. Man lachte und fehickte ihm ven 
Rapuziner, welchen er nach Wien abfertigte. 

„Am Tage nach der Abreife des Beichtvaters fagte der 
Pandur: Nun ift meine Reife auch gewiß; mein Beicht- 
vater ift tobt und mir bereits erjchtenen. Der Todesfall 
beftätigte fich am nächften Tage. Der Pater war wirklich 
geftorben. Nun ließ er die Offiziere der Feſtungsgarniſon 
zuſammenkommen und fich al8 Kapuziner tonfuriren, in 
die Kutte einfleiven, legte feine Sffentliche Beichte ab und 
hielt eine ftundenlange Rebe, in welcher er alle aufforberte, 
heilig zu werben. Er fpielte den größten, aufrichtigften 


286 Ein Beitrag zu dem Leben und dem Proceſſe 


Büßer. Dann umarmte er jeden einzeln, ſprach lächelnd 
von ber Nichtigfeit der Erbengüter, nahm feierlich Abſchied 
und kniete nieber zum Gebet. Eine Zeit lang fchlief er 
rubig, nachher ftand er auf und betete wiederum kniend. 
Um 11 Uhr mittags am 4. October nahm er bie Uhr 
in die Hand und fagte: Gott Lob! die letzte Stunde 
naht. Jedermann lachte darüber, denn man bielt e8 für 
eine Komödie. Plötlich bemerkte man, daß fein Geficht 
auf der linken Seite ganz weiß wurbe. Er feßte fi an 
den Tiſch, ftüßte die Arme auf, betete und fchloß bie 
Augen. Es fchlug 12 Uhr, er blieb unbeweglich fiten. 
Dan rebete ihn an, aber er antwortete nicht, er war tobt. 

„Im ganzen Rande verbreitete fich die Kunde von bem 
Wunder, daß der heilige Franciscus den Panduren in ben 
Himmel geholt habe. 

„Die Auflöfung des Näthjels ift aber folgende und nur 
mir allein gründlich befannt: 

„rend war eingeweiht in das Geheimniß ber foges 
nannten Aqua Toffana und batte befchloffen, feinem Leben 
ein Ende zu machen. Seinen Beichtoater ſchickte er nach 
Wien und gab ihm viele Koftbarfeiten und Wechſel mit, 
bie er beijeitejchaffen follte.e Damit ihn ber Kapuziner 
nicht verrathen könnte, mußte er in feinem Leibe eine Dofis 
Gift mitnehmen, und Trend, der die Wirkung befjelben 
genau Tannte, wußte, warn fein Tod eintreten mußte. 
Er nahm hierauf felbit Aqua Toffana und fpielte bie 
Rolle des Heiligen, um bereinit dem St.-Crispin ober 
St.-Florian den Rang ftreitig zu machen. Da er auf 
Erden nicht mehr NeichtHum und Macht erlangen konnte, 
wollte er im Grabe angebetet werden. Er war gewiß, 
daß an feiner Gruft noch Wunder gefchehen würden, denn 
er hatte eine Kapelle erbaut, eine Meſſe geftiftet und ven 
Kapuzinern 4000 Gulden vermadht. 


des Banduren-Oberfien Franz Frhrn. v. d. Trend. 287 


„So ſtarb dieſer ganz beſondere Mann im 35. Lebens- 
jahre, welchem die Natur feine Gabe, fein Talent verjagt 
hatte. Er war die Geißel der Baiern, ber Schreden ber 
Franzoſen und hatte mit feinen verachteten Panduren 
6000 preußifche Gefangene gemacht. Er lebte als Tyraun 
und Menfchenfeind und ftarb als ein heiliger Schurke.“ 

Das Teftament des Banduren-Oberften, eine in vielen 
Richtungen intereffante Urkunde, wollen wir mittheilen. 
Es lautet wörtlich fo: 


„Spielberg zu Brünn, 24. September 1749. 
Teitament. 

Im Namen der allerheiligjten und ungetheilten ‘Drei- 
faltigleit, Gottes, Vaters, Sohnes und des Heiligen Geiftes. 
Amen. 

Demnach ich nunmehro gar wohl ertenne, daß das 
Ende meines mühfamen Lebens nahe, die Stunde meines 
Todes aber ungewiß fei, alfo habe ich, nachdem ich meine 
arme ſündige Seele mit ihrem Schöpfer vereinigt und 
zur Abreife aus dieſer Zeitlichfeit auf das möglichfte zıt- 
bereitet, auch von Alferhöchftibrer Majeſtät meiner Aller- 
gnädigften Landesfürftin und Frau zur Verfaffung eines 
Zeftaments die Allerhöchſte Erlaubnig erhalten habe, 
anmit über das von meinen Eltern und auch von mir 
jelbft mit biutiger Arbeit und fteter Lebensgefahr erworbene 
Vermögen nachfolgend letztwillige Dispofitionen verfaffen 
und errichten laffen und zwar: 

8. 1. Da Gott der Allmächtige meine arme Seele 
von meinem fterblichen Leibe abforbern wird, befehle ich 
biefelbe in bie gnadenreichen Hände Jeſu Chriftt, ihres 
Erlöfers, in die Fürbitte der allerheiligften Jungfrau und 
Mutter Gottes Maria und des allerheiligften Geiftes. 
Mein todter Körper aber fol, wenn Ihro Majeſtät die 


288 Ein Beitrag zu dem Leben und dem Procejfe 


Erlaubniß, um welche ich Allerhöchſtdieſelbe fußfällig bitte, 
allermildeſt eribeilen wird, zu den W. W. F. %. Kapuzinern 
allbier in Brünm in ihrer eigenen Gruft, wo fie, die ver- 
ftorbenen Kapuziner, ruhen, ohne allem Gepränge, ganz 
ichlecht, wie eines andern armen Arreftanten Körper, bei- 
gefegt und zur Erbe beftattet, meine Leiche nur von ben 
allbier im Spielberg befindlichen armen Arreitanten be- 
gleitet und jedem derfelben gleich nach dem Leichenbegängniß 
ein Siebenzehner gereicht werben. Sngleichen 

8. 2. Sollen unter die übrigen Armen vorderhand 
200 Gulden vertheilt werben. 

8. 3. Sollen zum Trofte meiner armen Seele gleich 
nach meinem Hinſcheiden und weiters, jobald e8 möglich 
ift, 600 Heilige Meffen gelefen werben, wozu ich 300 Gul⸗ 
ben vermache. 

8. 4. Verordne ich allwöchentlich eine ewige Stift- 
mefje, welche bei ven W. W. F. 3. Kapırzinern zu Brünn, 
wofelbft ich begraben fein werde, alle Freitag von einem 
Priefter bemeldten Kapuzinerordens ewig gelejen und ges 
halten werben foll, und follen von meinem Vermögen 
4000 Gulden ficher und unaufheblich auf Verzinfung an⸗ 
gelegt werben, wovon ich die abfallenden Intereffen jedes⸗ 
mal den Kapuzinern zu Brünn als ein Almofen für ihre 
QZuchmacherei, bejonders aber ein Almojen von 150 Gul- 
den gleich nach meinem Tode abzureichen wermache. 

8. 5. Vermache ich in die Feftungsfapelle allhier auf 
dem Spielberg zur Erbauung eines neuen Altar und 
fonften zur Ehre Gottes 3000 Gulden zu wenden. 

8. 6. Legire ich 4000 Gulden und verordne, daß 
hiermit in einem anftändigen, von meinem unten ernanns 
ten Teſtamentsexecutor auszufuchenvden Keinen Stäbtlein 
oder Marktflecken in dem Erzherzogthume Defterreich ein 
Spitalhaus fir 30 Perfonen erbauet oder erfaufet und 


bes BPanduren-Oberfien Franz Srhrn.v.d. Trend, 289 


mit den Erforberniffen eingerichtet werben fol. In dieſem 
Spital und Haufe follen beftändig verarmte und bes 
Almoſens würdige und bebürftige Perfonen beiverlei Ge- 
ihlechts, nach von meinem Herrn Zeftamentserecutor 
künftig weiters zu machender Einrichtung und von mir 
mündlich erhaltenen Information verpflegt und unterhalten 
werben. Bor allem aber vorzüglich follen diejenigen armen 
und bebürftigen Perjonen in dieſe meine Stiftung und 
Spital aufgenommen werben, welche fich legitimiren werben 
und können, daß fie in der Stadt Cham oder im Iſer⸗ 
winkel oder an dem Fluß Iſer in Batern, von dem legten 
Kriege ber, verunglüct oder verarmt feien. Die An⸗ und 
Einnehmung diefer Perſonen in das Spital foll jederzeit 
nach Gutbefinden meines verorbneten Teſtamentsexecutors 
und wen er bierzu nach feiner benennen wird, gejcheben. 
Zu ewiger Unterhaltung dieſer meiner Stiftung aber ver- 
mache ich 30000 Gulden und bis dieſes Fundations⸗ 
quantum unaufheblich ficher angelegt werben kann, joll 
der Betrag der hiervon abfallenden Intereſſen jährlich 
1500 Gulden von den Einkünften meiner Güter hiezu 
angeivendet und gereichet werben. 

8. 7. Vermache der Catharina Rotherin, einem armen 
Mägplein, ungefähr ein Jahr alt, um veswillen, weil ihr 
Bater in meinem jegigen Arreft getreu und fleißig gebient 
und die Ungemacd meines Arrefted mit mir übertragen 
bat, vergeftalten 4000 Gulden, daf die hievon abfallenden 
Interefjen ihrer Mutter infolange, als dieſes Mägdlein 
von ihr chriftlich und gut erzogen wird, und fie ihr das 
Nothwendige erlernen läßt, abgereicht werben follen. Sollte 
aber mein Teftamentserecutor bei ihrer Mutter eine Ver⸗ 
nachläffigung biejes Kindes vermerfen, fo mag berjelbe 
biefe8 auch anderwärts zur Verforgung geben und bie 
abfallenden Intereffen dahin verabreichen. Wenn aber 

XXIV. 19 


290 Ein Beitrag zu dem Leben und dem Proceffe 


biefes Kind erwachfen wird und dann eine anftändige 
Heirath over getftliche Standesveränderung mit Eonjens 
meines Teftamentserecutord ober deſſen, welchen dieſer an⸗ 
ftatt feiner hiezu verordnen wird, überkömmt, follen ihm, 
diefem Mägplein, auch das Kapital der 4000 Gulden 
verabfolget werben. 

$. 8. Vermache ich des Herrn Baron Kotulinsky, 
k. k. Oberftlteutenant und PVicecommandanten am Spiel- 
berg, feinen tigt lebenven ſechs Kinvern, wie auch dem⸗ 
jenigen, welches feine Frau Gemalin noch unter ihrem 
Herzen trägt, zu einem Angebenten jedem 200 Dufaten, 
zufanmen 1400 Dukaten. 

8. 9. Vermache ich meinem beftellten Herrn Doctor 
Berger für die mir getreulich und eifrig geleifteten Dienfte 
6000 Gulden zu einer befondern Erfenntlichkeit und jollen 
auch dieſe gleich nach meinem Tode ihm abgeführt werben. 
Seinen zween Schreibern, weil fie in meinen Angelegen- 
beiten viele Mühewaltungen gehabt haben, vermache jedem 
300 Gulden, zufammen 600 Gulden, ebenfalls gleich zu 
bezahlen. 

8. 10. Vermache ich dem Herrn Anton Beyer, welt- 
lichen Priefter und Beneficianten auf dem Spielberge, 
daß er meiner in feinem heiligen Meßopfer und Gebete 
eingebenf jei, 100 Dukaten. 

$. 11. Vermache ich dem Herrn Prodetzky, Plab- 
lieutnant am Spielberg, zu einem Andenken 100 Dufaten. 

$. 12. Vermache ich dem Jakob Nodinger, Wacht- 
meijter-Lieutnant am Spielberg, 200 Gulden. 

$. 13. Vermache ich dem Duirin Bonnes, Marque⸗ 
ender am Spielberg, 600 Gulden, damit er mit den 
‚Seinigen meiner im Gebete eingedenk fei. 

8. 14. Bermache ich dem gewefenen Hautboiften auf 
dem Spielberge, Beter Proller, und feinem Eheweibe zu- 








des Banduren-Oberften Fran; Frhrn. v. d. Trend. 291 


jammen 600 Gulden. Item vem gewejenen Gefreiten auf 
dem Spielberge, Peter Grufchfa, 100 Gulden. 

8. 15. Vermache ich meinem jeßigen Bedienten Franz 
Ignitz 1000 Gulden und 

8. 16. Dem ehemalig bei mir in Dienften geftandenen 
ungen, Franzel genannt, ver ist in Wien das Weißgerber- 
bandwerf lernt, 500 Gulven. 

$. 17. Vermache ich dem Franz Schmid, Profofen 
‚am Spielberge, 200 Gulden, und dem Franz Wejely, 
auch Profofen allda, 100 Gulden. 

8. 18. Erfläre und verorone ich, daß ich ober meine 
‚Erben von dem Herrn Oberjten Niklas von Lopreti nichts 
zu forbern haben, ſondern e8 follen demſelben, nach Ins 
halt der von mir in Händen habenven Obligation, die 
annoch rüditändigen 6000 Gulden balomöglichft ausmeinen 
Mitteln bezahlt werden, wie denn auch dem Herrn Doctor 
Gerhauer bie ihm rechtmäßig annoch fchuldigen 1300 Gul- 
ben bezahlt werben follen. 

8. 19. Vermache ich dem Herrn Hoflammerrath 
von Kämpf zu einem Andenken mein ſpaniſches Rohr mit 
dem goldenen Knopfe, der ein Meerfräulein vorftellt. 
Item dem Herrn Frauenberger, der k. k. Hoflriegsbuch- 
Halterei Reitofficier, vermache ich gleichfalls zu einem 
Andenken von meinem Gejchmude fo viel, als beiläufig 
600 Gulden an Wert ift. Und weil 

8. 20. Die Grundfefte eines jeden Teftamentes bie 
Einjegung der Univerfalerben ift, aljo benenne und jeße 
ich zu meinem Univerfalerben meines Vaters Bruder erjt- 
- geborenen Sohn, welcher vor zwei Jahren bei mir in 
Wien gewejen, jedoch dergeftalten und unter ben aus⸗ 
brüdlichen Bebingniffen, wenn dieſer mein Vetter ven 
fatholifchen Glauben annehmen, fich in den dfterreichtiichen 
Randen jeßhaft machen und von einer fremden Potenz 

19* 


292 Ein Beitrag zu bem Leben und dem Brocefie 


nicht Dienft nehmen oder behalten wird. In dieſem Falle 
jollen alfe meine rechtmäßigen Paſſivſchulden, wie auch 
bie in biefem meinen Zeftamente verorpneten Stiftungen 
und Vermächtniſſe ohne die Falcidia oder andern Abzug 
richtig abgeführt werben. Und was über die Abführung 
berjelben annoch übrig bleibt, foll ver wierte Theil ihm, 
meinem vorbenannten Univerjalerben, zur freien Dispofition 
jein, bie übrigen drei Viertheile der verbleibenden Ver⸗ 
laſſenſchaft follen ihm, meinem Erben, nur quoad usum- 
fructum zufommen, und ein ewige® Fidei commissum 
fein, folglich jedesmal auf des Erben und Befiters erft- 
geborenen Defcenventen allein zum Genuß anheimfallen; 
doch daß jeber, fo ver katholiſchen Weligion nicht bei- 
gethan, oder in einer fremden Potenz Eivil- oder Militär- 
bienften ſteht, dieſes Fidei commissums ganz unfähig 
fein folle. Im Falle aber diefer mein Vetter unter vor⸗ 
. gefetsten Bebingungen mein Erbe nicht fein wollte, ober 
nicht fein könnte, fo folle fein Bruder, der zweitgeborene 
Sohn meines Vatersbruders, mit feiner männlichen De- 
jcendenz, jedoch unter allen obigen Bebingniffen und 
Claufeln, mein Erbe und Fidei commissarius fein. Und 
wenn auch biefer mein Wetter obige Bedingniſſe nicht 
erfüllen, und auf obbeichriebene Art mein Erbe nicht fein 
wollte, jo jubftituire ich in folchem Falle zu meinem wahren 
Univerfalerben die oben gemachte Stiftung und Spital. 
Und follen ihnen beiven meinen Bettern und eingeſetzten 
erjten Erben von der ihnen gemachten Intimation meines 
und Dispofitivo zu Deliberirung nur ein Iahr ertheilet 
fein, nach deſſen Exrfpirirung diefelben pro repudiantibus, 
meine gemachte Fundation aber als mein Erbe unabänder- 
lich gehalten werben follen. 

8. 21. Setze und habe ich in meinen beftellten Herrn 
‚Doctor Berger allenthalben mein vollfommenes und feſtes 











bes Banduren-Oberften Franz Frhrn.0.d. Trend. 293 


Vertrauen, und dahero verorbne ich benfelben zu meinem 

Zeftamentserecutor, mit dem Erjuchen, daß er, Herr Doctor 

Perger, nach feiner mir befannten Redlichkeit, Eifer und 

Fleiß diefen meinen letzten Willen in allen Punkten auf 

das genauejte auszurichten bejorgt fein jolle. 

822. Schließlich bitte ich Ihre k. k. Majeftät aller— 

unterthänigſt, gehorſamſt, fußfällig um Allerhöchſt Dero 

Schutz, Protection und Manutenirung dieſes meines letzten 

Willens, und daß zur Habhaftwerdung der hierzu erforder⸗ 

lichen Geldmittel meine Güter in Slawonien nah Thun- 

lichkeit zu verfaufen, bis dahin aber die Nußungen einzu- 
nehmen Allergnäbigft geftattet werden möge. Wie ich denn 
auch beiden k. k. Majeftäten für die mir in meinem 

Reben grogmüthig erwiefenen, überhäufigen Gnaden aller- 

unterthänigen, fußfälligen Dank erftatte, und in jener 

Welt meinen gnädigften Gott, zu welchem ich zu gelangen 

hoffe, um ftete Aufnahme und Erhaltung der allerhöchiten 

fatferlichen Familie und des allerpurchlauchtigiten Haufes 
von Defterreich unabläffig anruffen und bitten werde. 
Mit diefem will ich gegenwärtig mein Teſtament im 

Namen Gottes, gleichwie ich ſolches angefangen, auch be- 
schloffen haben. Zu wahrer Urkunde habe ich dieſe bei 
meiner vollfommen gefunden Vernunft nach meinem ganzen 
freien Willen gemachte legtliche Dispofition mir von den 
hierunter Gezeugten, jedoch venjelben und ihren Erben 
ohne Nachtheil, zur Mitfertigung alles Fleißes erbeten, 

- Franz Iofeph Kotulinsky, Freiherr von Kollium, 
Oberitlieutnant; Johann von Amadi, Oberſtwacht—⸗ 
meifter und Plagmajor; H. von Wappenhofen, 

- Hauptmann von Wolfenbuttel; Johann Konrad von 
Hagerer, Oberlleutnant von WVolfenbuttel; Mathias 
Kaſchi, Oberlieutnant von Wolfenbuttel; Karl Ema- 
nuel de Soldi, Oberlieutnant von Wolfenbuttel.” 





294 Ein Beitrag zu bem Leben und dem Procefie 


Nach einer vidimirten und dem Teftamente angehängten 
Abfchrift ertheilte Trend feinem Freunde, dem Doctor 
Perger, folgenden Auftrag: „Mein lieber Herr Doctor 
Perger! Ich bitte und beſchwöre Sie, daß, wenn ich ge⸗ 
jtorben fein werde, Sie bei Ihro Majeftät Aubienz nehmen 
und vorftellen follen, daß ich mit demjenigen, was Gott 
und meine allergnäbigfte Landesfürſtin über mich ver- 
hängt haben, gar wohl zufrieven fei, ja, ich erjtatte ber- 
jelben für diefes gnädige Urtheil, gleichwie für alle übrigen, 
während meiner Dienjtleiftung häufig erwiejenen k. k. 
Gnaden unterthäntgften Dank; denn hierdurch bin ich zur 
Erfenntniß Gottes und Wirkung meines ewigen Heils 
wunderlich gezogen worben. Und ich habe burch meine 
vielen und ſchweren wider Gott begangenen Sünben all 
biefes und noch ein mehres verdient. Jedoch zur lebten 
Gnabe bitte ich von Ihro Majeftät, meiner großmüthigen 
Monarchin, daß, wenn bei Hochberofelben angebracht 
worben fein follte, als ob ich gegen Hochderoſelbe eine 
Treuloſigkeit begangen, oder zu begeben im Sinne gehabt 
hätte, Hochdieſelben folches als eine pure, unwahrbafte 
Erfindung halten möchten. Denn ich rufe den gefrenzigten 
Gott, der in die Herzen der Menſchheit fieht und vor 
deſſen Nichterftuhle ich gar bald auch von meinen Gedanken 
werde Nechenfchaft geben müffen, zum Zeugen an, daß 
mir weder in meinem Glücke zur Zeit meiner Dienft- 
leiſtung, noch auch in meinem Elende während dem Arrefte 
ein treulofer Gedanke gekommen fei; fondern ich habe mir 
vorgeſetzt, wenn ich meines Arreftes annoch erledigt werben, 
und von allem meinen Vermögen nichts als einen Degen 
übrig behalten follte, ich folchen niemals anders als zu 
Dieniten des Erzhauſes Defterreich gebrauchen würde. 
Deswegen will ich auch, daß jeder aus meiner Familie 


des Bandburen-Oberfien Franz Frhrn. v. d. Trend. 995 


und fünftigen Erben dieſes Willens, oder meiner Erb- 
ſchaft unwürdig fein ſollte.“ 


Die Publicirung des Teſtaments fand am 13. October 
1749 in Gegenwart des Doctor Perger ſtatt; allein die 
Durchführung der Beſtimmungen deſſelben ſtieß auf große 
Schwierigkeiten. Der Haupterbe Friedrich von der Trenck 
war ſehr unwillig und erklärte: „Mein Vetter hat ſeinen 
letzten Willen in hinterliſtiger Weiſe errichten laſſen. Er 
wußte, daß ich nach ſeinem Tode die Verlaſſenſchaft ſeines 
Vaters fordern und auch ſicher erhalten würde. Dieſer 
hatte bereits im Jahre 1723 die Herrſchaften Preſtowacz 
und Pleternitz in Slawonien aus ſeinem Vermögen erkauft, 
und noch bei ſeinen Lebzeiten brachte ſein Sohn die Herr⸗ 
ſchaft Pakracz mit des Vaters Gelde an ſich. Dieſe drei 
Herrſchaften hatten daher direct überzugehen und der 
Pandur konnte hierüber ebenſo wenig verfügen, wie über 
die übrigen von ſeinem Vater ererbten Güter, Häuſer 
und Mobilien. 

„Alles Vermögen, welches er ſelbſt erworben hatte, 
wurde adminiſtrirt; über 100000 Gulden waren ſchon 
im Proceſſe verloren gegangen, und weitere 63 Proceſſe 
und Forderungen waren gegen ihn bei Gericht anhängig. 

„Nun wollte er aber auch Legate in der Höhe von 
80000 Gulden machen. Wenn ich daher nach Wien 
gekommen wäre, meine avitiſchen Güter von ſeinem Ver⸗ 
mögen weggenommen und mich um die gegen ſeine Maſſe 
eingeleiteten Proceſſe nicht gekümmert hätte, ſo wäre für 
die Legatare nichts übriggeblieben. 

„Um dies zu vereiteln und mich noch nach ſeinem Ab⸗ 
leben unglücklich zu machen, errichtete er ein doloſes Teſta⸗ 
ment, ernannte mich zu ſeinem Univerſalerben, that von 
dem Teſtamente ſeines Vaters, welches ihm die Hände 


296 Ein Beitrag zu dem Leben unb dem Broceffe 


gebunden hätte, gar keine Erwähnung, machte Legate und 
Stiftungen, welche beinahe die Summe von 80000 Gulden 
erreichten, und fuchte fowol durch feinen bußfertigen Tod 
wie auch bie Aufnahme folgender Beftimmungen: 

1) daß ich die Fatholiiche Religion annehmen; 

2) feinem andern Herrn als dem Haufe Defter- 

reich dienen follte; 3) daß bie ganze Verlaffenjchaft, 

ohne das väterliche Vermögen auszunehmen, zu 

einem Fideicommiß gemacht wurde, 
den Schuß der Monarchin für das Teftament zu erlangen. 

„Hieraus erwuch® mein ganzes Unglüd, und mich in 
baffelbe zu ftürzen, war feine eigentliche Abficht; denn 
furz vor feinem Tode fagte er dem Baron Kotulinsty, 
Vicecommandanten bes Spielbergd: «Seht fterbe ich mit 
dem Vergnügen, daß ich meinen Vetter noch nach meinem 
Tode chicaniren und unglüdlich machen kann.»“ 
Zur Ordnung der BVerlaffenichaft des Panduren Hatte 
die Kaijerin Maria Thereſia ein eigenes Handbillet er- 
laffen, welches Tautete: „Man foll des Trends legten 
Willen auf das allergenauefte vollziehen, die Abhandlung 
bejchleunigen, und den Erben in allen feinen Rechten 
ihügen.” Die Angelegenheit wurde einer eigenen Come 
miſſion übertragen, beftehend aus dem Fürften Trautfon 
als Präfiventen; dem Grafen Hardegg und ven Hofräthen 
von Hüttner und Schwandtner von der Landes⸗ 
regierung ; den Hofräthen von Koller und Nagy von 
der ungarifchen Kammer; ven Hofräthen von ver Mard 
und Stadler vom Hoffriegsrath und Kriegscommiſſariat; 
dem Hofratb von Kämpf von der Rechnungsfammer; 
leterer hatte mit dem Actuar Frauenberg die Apmini- 
Itrationsrechnung zu führen. 
Im Jahre 1750 kam Friedrich von der Trend wegen 

der Erbichaft nah Wien. Nah Prüfung der Sachlage 


bes Banduren-Oberften Franz Frhrn.v.d. Trend. 297 


beichloß er, die Erbichaft abzulehnen und auf das fpiel- 
berger Zejtament zu verzichten. Er verjchaffte fich eine 
bibimirte Kopie des Teſtaments, welches ber Vater bes 
Panduren, ver ihm Jahre 1743 als Commandant und 
Oberſt zu Leutſchau in Ungarn gejtorben war, in feiner 
Eigenihaft als ungarischer Cavalier und Gutöbefiger 
errichtet hatte und worin er den Sohn feines Bruders 
feinem eigenen Sohne jubjtituirte, falls Diefer ohne männ⸗ 
liche Erben mit Tode abgeben follte. Diejes Teſtament 
war von dem ‘Domkapitel der Zips verfaßt, von fieben 
Domherren unterjchrieben und von dem Palatin Grafen 
Palffy ratifieirt. Mit piefem Documente erſchien Friedrich 
von der Trend perjönlich vor dem Judicium Delegatumt, 
welchem vie Negulirung der Berlaffenichaft übertragen 
worden war, und erllärte, daß er den Nachlaß des Pan- 
buren nicht verlange, die Proceſſe und Legate nicht über- 
nehme, und nur das Vermögen jeined Oheims, bejtehend 
aus den drei Herrichaften Pakracz, Breftowacz und Pleter- 
nig, Rapitalien und Mobilien auf Grund des vorgelegten 
Teftamentes fordere. Vor allem wurde verlangt, daß er 
den Bebingungen des legten Willens zufolge zum Katholi- 
cismus übertrete. Dieſer Schritt machte ihm nicht viel 
Scrupel, er fagte in feiner chnifchen Weife: „Es war ein« 
mal befchloffen, ich ſollte römijch-fatholifch werden. Was 
war zu thun? Ich war jchuß- und hülflos. Durch ein 
Geſchenk erhielt ich von einem Pfaffen ein Atteftatum, daß 
ich mich befehrt und dem verfluchten Lutherthum abge- 
jchworen habe. Ich blieb aber, was ich war, und konnte 
mich auch für Millionen nicht entfchließen, zu glauben, was 
ber Papft will, daß ich glauben foll. Für Geld und Fürften- 
gunft mache ich auch fein Heuchler- noch Gaukelſpiel.“ 
Friedrich von der Trend kam troßdem nicht weiter. 
Das Judicium Delegatum erkannte zwar feine Anfprüche 


298 Ein Beitrag zu bem Leben und bem Broceffe 


auf die drei flawonifchen Herrichaften als vollkommen 
gerechtfertigt an, und referirte auch in biefem Sinne an 
die Kaiſerin Maria Therefia; aber die Monarchin fchrieb 
eigenhändig zurüd: ‚Der Kammerpräfident Graf Graffal- 
fovich nimmt e8 auf fein Gewiffen, daß dem Trend bie 
Güter in Slawonien nicht in natura gebühren Man 
folle ihm alſo die Summam emtitiam und inscriptitiam 
baar herauszahlen, auch alle erweisliche Meltorationes gut 
machen, und die Güter bleiben ber Kammer.” 

Mit diefer kaiſerlichen Entſcheidung war die Angelegen- 
beit beendet und alle Hoffnung Frieprich’8 von der Trend 
zu Grabe getragen. Die ihm zugewiejene Erbichaft belief 
fih auf 76000 Gulden, womit er bie Herrichaft Zwern⸗ 
bach in Oeſterreich Taufte. 

Um Friedrich von der Trend einigermaßen zu ent» 
ſchädigen, ernannte ihn die Kaiferin um die Mitte des 
Jahres 1752 zum überzähligen Nittmeifter im Negimente. 
Nachdem er auf einer Reife in preußtiche Gefangenfchaft 
gerathen war und auf Befehl Friedrich's IL. in Magpeburg 
eine vieljährige harte Gefangenfchaft auszuftehen Hatte, 
verichaffte ihm im Jahre 1763 die öſterreichiſche Regierung 
nicht nur die Freiheit, fondern überhäufte ihn auch mit 
Wohlthaten. Der unrubige Kopf endete fein Dafein im 
Sahre 1794 in Paris, wo ihn NRobespierre als einen 
angeblichen Gefchäftsträger fremder Mächte guillotintren 
ließ. | 

Aber nicht blos dem Univerfalerben wurden die an⸗ 
geführten Schwierigkeiten in den Weg gelegt, auch die 
Auszahlung der Heinen Legate erfolgte nicht ſogleich. Wie 
erwähnt, hatte der Panduren-Oberft ven brünner Kapu⸗ 
zinern ein Kapital von 4000 Gulden zur Anfchaffung 
von Wolle für Ordenskleider und zur Anfertigung ber 
Kleider geſchenkt; allein dieſe Schenkung wurde vom Fiscus 





des Panduren⸗Oberſten Franz Frhrn. v. d. Trend, 999: 


angefochten, und erft durch eine Entfchließung der Kaiferin 
Maria Therefia vom 8. Februar 1753 der Bezug ber 
jährlichen Interefien von 200 Gulden erlaubt. Auch die 
Widmung eines Kapitals von 3000 Gulden zum Bau 
eines Altars in ber fpielberger Kapelle wurde angefochten, 
und erft im Jahre 1753 befahl die Kaiferin Maria The- 
refta, daß von dieſem Kapitale 500 Gulden nebft brei- 
jährigen Intereſſen auf den Altar, ver Reit aber auf 
eine Mepftiftung für ven Verftorbenen verwendet werben 
follten. 


Unter den binterlaffenen Aufzeichnungen des Panduren⸗ 
Oberjten fand man die Grabjchrift, welche er wenige Tage 
vor feinem Ende für fich jelbft gemacht hatte. Sie lautet: 


Hier unter Diefem Stein 

Liegt Trendens Ajche und Bein 
Begraben und bevedt 

Seynd einige, die dies lefen, 
Der euer Freund gewefen 

Hat feinen Fall erwegt. 

Die Kunft, recht treu zu fterben 
Rumb und Ehr zu erwerben 
So fage nur, der da will, 
Daß Trendens Aſche und Bein 
Ruht unter diefem Stein 

Ganz milde fanft und fill. 


Stehet fill, ihr Sterbliche, hier ruhet euersgleichen, 

Der mit euch allen ift aus einem Zeug gemadt; 

Euch geht es ebenfo, den Armen wie den Neichen, 

Diemweil ihr felbft die Straf mit auf die Welt gebracht. 

Liſt, Neid, Berleumdung, Haß und Begierd zu meinen Sachen 
Hat diefes Grabmahl mich in Elend ftiften machen, 

Doch könnt der Aſchen mein dies Recht noch widerfahren, 
Daß es wie Sofrates feine Unſchuld derfft verwahren; 

Ah, derfft nach meinem Tod nur meine Unfchuld jagen: 
„Hier liegt der treue Trend, wie Sofrates, begraben.” 


300 Der Panduren-Oberfi Franz Frhr. v. d. Trend, 


So würb’ mein’ Kaiferin aus meinem Tod einjeben, 

. Daß Unrecht, fo mir ift von meinen Feinden g’fchehen. 
Da liegt, der reben muß, was er zubor geweſen; 
Du aber, Wanderer, ſäumb' nicht an biefer Stell, 
Hüt' Dich vor Menſchen Lift und bet’ fiir meine Seel. 


Der Kapuziner⸗Convent machte zu dieſer Grabjchrift 
folgenden Zufag: 


Hoc sibi in fine relicto monumento obiit 
in suis tristissimis miseriis Fran. Seraph. 
L. B. de la Trenk 
Deus det illi suam sanctam pacem 

Et lux perpetua luceat ei. 


Ein Beitrag zu den Proreflen wider die 
Carbonari in Italien. 


1820 — 1838. 


Nach dem Sturze des Kaifers Napoleon I. wurde auch 
in Italien die Reftauration durchgeführt. Der greife Papſt 
Pius VII. kehrte nach Rom zurüd und ftellte das geiſt⸗ 
liche Regiment wieder her. König Ferdinand IV. zog 
unter dem Schuge Öfterreichiicher Truppen in Neapel ein, 
und der alte König von Sardinien, Victor Emanuel, ein 
geiftig bejchränfter Mann, verließ die Inſel Sarbinien, 
auf welche er fich zurückgezogen hatte, und fette in Pie- 
mont und Savoyen, Ähnlich wie ber Kurfürft von Heffen, 
alles wieder auf den alten Fuß, als wenn feine Regierung 
niemals unterbrochen worben wäre. 

Schon früher hatten ſich namentlich im Königreich 
beider Sicilien geheime Geſellſchaften gebildet, die fich 
Carbonari, Köhler, nannten und das Land vom Joche 
der Franzofen unter dem König Murat befreien wollten. 
Sie waren ftraff organifirt, befaßen Statuten, verjchiedene 
Grade und einflußreiche Leute, namentlich aber niebere 
Geiftliche und Soldaten drängten fih zur Mitgliedſchaft. 

Nach ver Reftauration wurde das Programm geändert. 
Die Carbonari waren Gegner ber reactionären Regierung. 





302 Ein Beitrag zu ben Brocejfen 


Die Einführung freier conftitutioneller Formen, die Auf- 
Hebung der Privilegien des Adels und ver hohen Geijtlich- 
feit und in fpäterer Zeit bie Herftellung eines einigen 
Italiens waren bie Ziele, die fie erreichen wollten. 

Im Sahre 1820 erhob fih in Spanien das Voll und 
zwang den abjoluten König, die Conftitution vom Jahre 
1812 zu proclamiren und damit in die Reihe der confti- 
tutionellen Staaten wieder einzutreten. Auch dort war 
ein geheimer politiicher Bund, der fich die Freimaurer 
nannte, bie treibende Kraft gewejen. Ihr Erfolg fpornte 
die Carbonari in Italien zur Nachfolge. Ein Lieutenant 
rief am 1. Juni 1820 an ber Spike einer Schwahron 
die „Eonftitutton” aus. ‘Der Brand verbreitete fich purch 
Das ganze Land; der geängftigte König, ver nicht einmal 
feinen Generalen trauen konnte, gab den Miniftern den 
Abſchied, erfegte fie durch freifinnige Männer und ver- 
fündigte die ſpaniſche Conftitution von 1812 als das 
Grundgefe des Landes. Dieje Verfaffung paßte freilich 
nicht für Die Zuftände und das Bolt Neapels, aber fie 
war damals das Panier, um welches fich die Carbonari 
jammelten. Die Armee und das Bolf und auch ver Hof 
nahmen die Farben bes bis dahin ftreng verbotenen 
Geheimbundes: ſchwarz, roja und himmelblau, an, und am 
1. October wurde vom Könige das Carbonari-Parlament 
in Neapel feierlich eröffnet. 

Es ift bekannt, daß auf Metternich’8 Betrieb die Groß- 
mächte Defterreich, Preußen und Rußland auf ven Eon- 
grefjen in Troppau und Laibach beichloffen, die Revolution 
in Neapel mit Gewalt zu unterbrüden. General Frimont 
marjchirte mit 60000 Mann Dejterreicher über die Grenze 
bes Königreichs. Die Neapolitaner leifteten kaum Wider⸗ 
ftand, die Truppen liefen faft regelmäßig auseinander, 
ehe es zum Kampfe fam, die Häupter der Carbonari 








wider die Carbonari in Italien. 303 


ergriffen die Flucht; am 24. März 1821 z0g der General 
in Neapel ein, und num begann eine maßloſe Reaction. 
„Das Volk wurde entwaffnet, jever Verpächtige verhaftet. 
Htnrichtungen und Güterconfiscationen richteten grauſame 
Berheerungen in den wohlhabenden und gebildeten Klaffen 
an. Jetzt holte König Ferdinand die Rache nach, die er 
bei feiner erjten Wiedereinjegung in Neapel geipast hatte‘, 
berichtet ein -zuverläffiger conjervativer Gejchichtichreiber. 
ALS Defterreich feine Streitkräfte aus der Lombardei 
nach Neapel geſchickt hatte, brach in Piemont eine mili⸗ 
tärifche Revolution aus. Auch hier waren bie Carbonart 
thätig gewejen. Ein Oberft brachte am 9. März 1821 
in der Feitung Aleffanpria auf die ſpaniſche Conftitution 
von 1812 ein Hoch aus, und Soldaten und Volk fielen 
ihm zu. Der König trat die Regierung an feinen Bruder 
Karl Felix ab, der in Modena lebte, und die Negentfchaft 
an einen entfernten Verwandten, Karl Albert, Prinz von 
Carignan. Dieſer erjchien mit ber breifarbigen Fahne 
auf dem Balkon des Schloffes in Turin, war aber vor- 
fichtig genug, fich nicht weiter mit der Revolution zu 
engagiren, ertbeilte vielmehr einer Deputation, die zu dem 
neuen König Karl Felix geſchickt wurbe, den Auftrag, 
bort zu melden, daß er die Bewegung entſchieden mis- 
bilfige. Als der Pöbel den öſterreichiſchen Geſandten aus 
der Stadt jagte, verließ der Prinz von Carignan das 
Land. Die Armee fpaltete fih, ein Theil derſelben trat 
auf die Seite der Defterreicher, und fo hatte General Bubna 
leichte Spiel. AS er mit einem anfehnlichen Truppen⸗ 
corps heranzog, hatten die Rebellen nicht ven Muth, eine 
Schlacht anzunehmen. Sie Löten fih auf und Zurin 
wurde von bem General ohne Widerſtand beſetzt. “Der 
König wollte nichts mehr wiffen von ber Regierung, fein 
Bruder Karl Felix, ebenfalls ein ſchwacher, Tinverlofer 


304 Ein Beitrag zu den Procefien . 


Greis, ergriff pie Zügel des Negiments und behielt bis 
zum Jahre 1823 eine öfterreichifche Beſatzung im Lande. 

In der Lombardei hatten fich die Carbonari trog Der 
wachſamen öfterreichifchen Polizei ebenfalls ausgebreitet, 
und auch ein zweiter Geheimbund, die Adelfia, der aus 
Tranfreih ftammte und den Königsmord prebigte, ſuchte 
Anhänger und Boden zu gewinnen. Schon im Jahre 1819 
waren verichievene Perſonen wegen hochverrätberifcher 
Umtriebe verhaftet, proceffirt und zum Tode verurtheilt 
worden. Aber der Kaifer von Defterreich Tief Gnade 
walten und verwandelte die Todesſtrafe in mehr oder 
minder lange Kerferftrafen. 

Am 29. Auguft 1820 erjchten auf Taiferlichen Befehl 
eine Belanntmachung, in welcher auf die Zwede ver ge= 
heimen Gefellichaften bingeiwiefen und vor der Mitgliep- 
Ichaft ernftlich gewarnt wurde, Es war umfonft, noch in 
bemfelben Jahre wurde eine Verſchwörung in Mailand 
entdeckt, an deren Spite ver Graf Luigi Borro Lamber- 
tengbi ftand. Es gelang ihm, fich der Verhaftung durch 
rechtzeitige Flucht zu entziehen, aber er wurde in contu- 
maciam jchuldig geiprocdden und mit der Zobesftrafe 
belegt. Seine Genoffen, etwa dreißig an der Zahl, wur- 
ben theil® zum Tode, theils zu Arreftftrafen verurtheilt. 
Der Raifer feste auch in biefem Falle an bie Stelle ber 
Tobesftrafe fchweren Kerfer in ver Dauer von ſechs bis 
zu zwanzig Jahren. 

Trotz dieſer abſchreckenden Exempel beſtanden bie 
Geheimbünde in der Lombardei weiter, die Zahl ihrer 
Mitglieder vermehrte ſich ſogar, namentlich die amt 
organiſirte ſich feſter und beſſer als vorher. ©. zenze 
ben Namen „Geſellſchaft der erhabenen, volllommenen 
Meifter” (Societa de sublimi maestri perfetti) ar. 
Die oberfte Leitung des Bundes hatte ihren Sig in Genf 








wider die Carbonari in Stalien. 305 


und nannte fich das „Große Firmament“; unter ihr ſtanden 
die „Synoden“ und die ‚Kirchen‘, bie Vereinigungen be& 
Bundes in einzelnen Städten und Provinzen Italiens. 

Das anerkannte Haupt der Carbonart in der Lom⸗ 
barbei, die nicht identisch waren mit den Angehörigen ver 
Avelfia, aber doch in gleicher Weife wie dieſe eine Revo— 
lution herbeiführen wollten, war im Jahre 1821 der Graf 
Confalonieri. 

Schon etliche Jahre zuvor hatte die Umfturzpartei in 
Mailand einen revolutionären Straßentumult angeftiftet, 
deſſen Opfer der damalige Finanzminifter Prina wurde, 
Der Graf batte feine Hand dabei im Spiele, man maß 
ihm die Schuld an dem vergoffenen Blute bei. Er fand 
fich deshalb veranlaßt, eine längere Reife anzutreten. Er 
begab fich nach England und Frankreich, befreundete fich 
dort mit den Führern der Oppofition und kehrte erft 
nah einem Iahre nah Mailand zurüd. Die Erinnerung 
an die Ermordung des Minifters Prina war indeß noch 
immer lebendig, man machte ihn von neuem bafür ver- 
antwortlih. Er veröffentlichte nun eine im Ausland 
gedrudte Schrift, in welcher er die Theilnahme an jenem 
Verbrechen entſchieden zurücdwies, aber feine politiichen 
Grundfäge ziemlich offen ausfprah. Er befannte, daß 
bie Unabhängigleit Italiens das höchfte Ziel feiner Wünfche, 
und rühmte fih, daß er niemals ein ergebener Diener 
ber Regierung gewejen fei und auch in Zukunft feine 
Unabhängigkeit fich bewahren werde. Sein Haus wurde 
ber Mittelpunkt der unzufriebenen Elemente, und er felbjt 

corp8 . wbinbungen an mit ben gleichgefinnten Männern 
Schlai-ı Cheilen Italiens. Im November 1820 kam er 
„in ernem piemontefifchen Freunde in Vigerano zujammen, 
um zu beiprechen, wie man bie Herrichaft Defterreichs 
brechen könne, im December vefjelben Jahres reifte er 
XXIV. 20 


306 Ein Beitrag zu ben Proceſſen 


nach Florenz zu gleichem Zwede. Es wurde ausgemacht, 
daß der Marfch des Bfterreichiichen Heeres gegen bie 
Rebellen in Neapel das Signal fein follte zu der allge- 
meinen Revolution in Italien. 

Im Ianuar 1821 erhielt er eine Einladung nach Turin, 
fonnte verjelben jedoch Feine Folge geben, weil er krank 
wurde. Er ſchickte als Stellvertreter feinen vertrauten 
Freund Joſeph Pecchio dorthin und dieſer berichtete ihm 
nach feiner Rückkehr: Alle Parteigenofjen in Piemont 
hätten fich für die fpanifche Conftitution ausgefprochen. 
Die geheimen Gefellfchaften breiteten fich immer weiter 
aus und ftänden untereinander in der engjten Verbindung. 
Die Truppen in Piemont würden zur feitgefeßten Zeit 
fich empören und ven alten König zwingen, bie jpanijche 
Conftitutton anzunehmen. Für ven Fall feiner Weigerung 
jeten bereit Vorkehrungen getroffen. Gleich nach dem 
Ausbruch der Revolution folle ein bedeutendes Truppen 
corps in die Lombardei geworfen werben. Im Norbitalien 
müffe aus Piemont und ben öfterreichiichen Provinzen 
ein neuer, nach dem Mufter Spaniens conjtitutioneller 
Staat gebildet werden. Pecchio überbrachte die Statuten 
des Bundes und den in lateinifcher Sprache abgefakten 
Aufruf, durch welchen die in der Lombardei ftehenden 
ungariſchen Zruppen für die Verfchworenen gewonnen 
werben jollten. 

Der Graf Eonfalonieri berieth nun eifrig mit jeinen 
Genoſſen in Mailand. Er händigte einem gewifjen Phi- 
lipp Ugoni 4000 Liore ein, um mit biefem Gelbe an 
einem noch zu beftimmenden Termine einen Volksaufſtand 
in Mailand in Scene zu feßen. Einem thätigen piemon- 
tefifchen Emiffar, welcher zu ihm kam, gab er gemauen 
Aufihluß Darüber, was in der Lombardei zu Gunften ver 
gemeinschaftlichen Sache gefchehen ſei und noch geſchehen 





wider die Carbonari in Italien. 307 


werde. Einem Abgefandten aus Parma ertheilte er In⸗ 
‚fiructionen, wie man fich dort verhalten ſolle. Er be- 
theiligte fih an einem Complot gegen den commanbiren- 
den djterreichiichen General in der Lombardei, den man 
ermorden wollte, weil man feine Zapferfeit und Energie 
fürchtete. 

Mit ſeinem Freunde Pecchio, der mit Geld verſehen 
im März 1821 wieder nach Piemont geſchickt wurde, und 
mit dem Marcheſe Beningno Boſſi aus Turin unter⸗ 
hielt Confalonieri eine regelmäßige Correſpondenz, um in 
allen Stücken Hand in Hand zu arbeiten. 

Der ſchon genannte Philipp Ugoni ging nach Brescia, 
um daſelbſt einen Aufſtand vorzubereiten, und kehrte im 
März 1821 mit ſeinem Freunde Tonelli nach Mailand 
zurück. Beide referirten über den Stand der Dinge und 
empfingen mündlich von Confalonieri Anweiſungen wegen 
des Vorgehens in Brescia. Er entwickelte ihnen den 
Plan und die Organiſation der Italieniſchen Conföderation, 
las ihnen eine Schrift darüber vor und forderte ſie auf, 
ſich hiernach zu richten. 

Confalonieri war es, der neue Mitglieder in das 
Complot aufnahm. Er traf Vorbereitungen zur Organi⸗ 
ſirung einer Nationalgarde und ſorgte für genügende 
Waffen. Ja es wurde ſogar die Einführung einer pro⸗ 
viſoriſchen Regierung berathen und feſtgeſetzt: Die Junta 
in Mailand ſollte eine Hülfsjunta für diejenige ſein, welche 
mit dem Ausbruch der Revolution in Turin in das Leben 
treten würde, und Pecchio ſollte beiden Junten angehören, 
damit ihre Wirkſamkeit eine einheitliche bleibe. Die oberfte 
Behörde wurde in fieben Sectionen eingetheilt: für bie 
auswärtigen Angelegenheiten, das Innere, ven Krieg, die 
Zuftiz und Gefeßgebung, die Finanzen, die öffentliche 
Sicherheit und den Eultus. Man wählte die zur Leitung 

90* 


308 Ein Beitrag zu ben Procejffen 


dieſer Sectionen beftimmten Perfonen und die Secretäre. 
Der Vorfig in diefer Junta wurde ohne Widerfpruch dem 
Grafen Confalonieri eingeräumt. Im Augenblide des 
Einrückens piemontefifher Truppen jollte fich die Junta 
ber höchiten Gewalt bemächtigen und ganz Italien revo⸗ 
Iutioniren. 

Die Ereignifje gingen zu langfam für Confaloniert’s 
Wünfche. Er verabrevete deshalb mit dem Marcheſe 
Ballavicini, einem Mitverfchiworenen, daß biefer fich 
nach Piemont begeben und bafelbft den Ausbruch der 
Bewegung beichleunigen folle. Bei näherer Weberlegung 
wechfelte jedoch Confalonieri feine Meinung. Er über- 
zeugte fich davon, daß eine mit Schwachen Kräften unter- 
nommene Expedition die Pläne gänzlich vereiteln mußte. 
Er warnte daher bald nach der Abreiſe Pallavicini's 
Iriftlich vor Uebereilung und rieth, da die öſterreichiſchen 
Truppen joeben zufammengezogen würden, mit einer ftarfen 
Armee in der Lombardei aufzutreten. Er werbe für gute 
Aufnahme und Verpflegung Sorge tragen. 

Auch mit den italienifchen Flüchtlingen in Genf und 
in Frankreich Tnüpfte Confalonieri Beziehungen an, — 
furz er war unermüblich thätig, um den Boden zu unter- 
wühlen, und als er von dem Ausbruch der Revolution 
in Piemont Kunde erhielt, traf er mit dem werabfchiebeten 
General de Meefter, der ſchon früher einmal in eine 
Verſchwörung verwidelt gewejen, aber vom Kaifer be⸗ 
gnadigt worden war, alle Veranftaltungen zu einem Auf- 
ftande in Mailand. 

Allein die Polizei hatte fchon feit geraumer Zeit ein 
wachſames Auge auf ihn und feine Partei gerichtet. Seht 
IHritt fie ein. Der Graf Confalonieri, der Marcheſe 
Pallavieini und viele Genoffen wurben gefänglich ein- 








wider bie Carbonari in Italien. 309 


gezogen. Der Ergeneral ve Meefter, Pecchio und andere 
hatten fich durch eilige Flucht gerettet. 

Einige Zeit nachher machte bie Polizei noch einen 
wichtigen Bang. Alerander Philipp Andryane von 
Baris diente in den Hundert Tagen als Adjutant bes 
Generals Merlin, welcher ein Schwager feines Bruders 
war, Nachdem bie Bourbonen ven Thron beftiegen hatten, 
fehrte er in das Privatleben zurüd. Cr gerieth in 
Schulden, follte deshalb in Arreft gefettt werben, verließ 
Paris und begab ſich nach Genf. Hier lernte er ben 
toscanifchen Flüchtling Buonarotti kennen. Sie fchloffen 
Freundſchaft. Buonarotti unterrichtete den Franzojen in 
Mufit und italienischer Sprache und warb ihn an für 
bie revolutionäre Partei. 

Andryane bielt fich drei Jahre in Genf und der Um⸗ 
gegend auf, machte mitunter geheimnißvolle Reifen nach 
Paris, die politifche Zwecke verfolgten, und ging dann nach 
Italien, um auch hier den Boden zu unterwühlen. Er 
hatte Inftructionen, welche ihm vorfchrieben, welche Orte 
er befuchen follte, und Briefe an beftimmte Perfonen, mit 
denen er fi in Verbindung zu ſetzen hatte. In Bellin- 
zona und in Lugano hatte er DBeiprechungen mit dort 
lebenden ptemontefichen Flüchtlingen, und auch in Mai- 
land verhandelte er mit etlichen gleichgefinnten Männern. 
Die dortige Polizei fand fich veranlaßt, feine Papiere zu 
unterfuchen, und ftellte dadurch feit, daß er ein Emiſſar 
des unter dem Namen „Erhabene, vollkommene Meiſter“ 
befannten Geheimbundes war. Das Große Firmament in 
Genf hatte ihn beauftragt, den Bund in Stalten auszu⸗ 
breiten, bafelbjt neue „Kirchen und neue „Synoden“ zu 
ftiften und dieſe an das Centrum in Genf anzufchließen. 
Bon dort follten fie dann weitere Befehle erhalten, um 
neue Umwälzungen in Italien und den Sturz der Re⸗ 





310 Ein Beitrag zu ben Proceſſen 


gierungen zu erreichen. Man hatte ibn ben Gran eines 
„außerorventlichen Diakons“ beigelegt, um ihn mit einer 
größern Autorität auszurüften. Aus den in Beſchlag 
genommenen Papieren ergab fih, daß die Mitgliever des 
Bundes die Religion abſchwören und fich eidlich ver- 
pflichten mußten, alle phyſiſchen, intellectuellen und pecu⸗ 
niären Kräfte der Verbreitung des Bundes zu wibmen, 
und den Dbern pünltlichen und blinden Gehorfam zu 
leiften. Ä 

In den höhern Graden feierte man vier Weite, die fich 
an Gedenktage der franzöfiichen Revolution anjchloffen, 
und in dem Programm hieß e8: Dem Volle ſei Unwillen 
und Haß gegen die Fürften und bie Geiftlichkeit einzu⸗ 
flößen, es müffe zur beftigften Erbitterung gegen die 
Geiftlichfeit gereizt werben. Beim Ausbruch einer Nevo- 
Iution folle man das Volk plündern und feine Hände in 
das Blut der Adeligen und der Priefter tauchen laſſen, 
bamit e8 dadurch feit an die revolutionäre Partei gebunden 
werde. Die Errichtung der conjtitutionellen Monarchie 
fei nicht der wahre, fondern nur der nächite Zwed, bie 
gänzliche Zerftörung aller Monarchien und bie Einführung 
der Republik ſei das eigentliche Ziel. 

Die Unterjuchung gegen den Grafen Confalonieri aus 
Mailand und Genofien und gegen Alexander Philipp 
Andryane aus Paris wurden getrennt geführt. Eine 
Specialcommiffion in Mailand war damit betraut. 

Am 27. Auguft und am 9. October 1827 fällte ber 
Iombarpijch-venetianifche Senat des oberjten Gerichtshofs 
in Berona das Urtheil: Friedrich Graf Confalonieri, 
Peter Borfieri, Georg Marcheſe Pallapicini, 
Cajetan Eaftillia, Franz Freiherr von Arefe, 
ſämmtlich aus Mailand, Andreas Tonelli aus Coccaglio 
in der Provinz Brescia und Alerander Philipp An» 














wider die Carbonari in Stalien. 911 


drhane aus Paris wurden bes Hochverraths für ſchuldig 
erflärt und zum Tode durch den Strang verurtheilt, gegen 
neun Angeklagte, unter ihnen Joſeph Pecchio und Jakob 
Philipp de Meefter aus Mailand, die flüchtig geworben 
waren, erfannte das Gericht in contumaciam ebenfalls 
auf Topesftrafe, acht Angeklagte wurden von der Inftanz 
entbunden, aber ſolidariſch als Haftpflichtig für ven Erſatz 
der Proceßkoſten erflärt, ein Angeflagter wurde frei= 
geiprochen. 

Der Kaiſer befahl kraft höchſter Entjchliegungen vom 
19. December 1823 und 8. Januar 1824, e8 jollten bie 
Todesſtrafen wider die in Haft befindlichen Inculpaten 
nicht vollftredt, jondern in fchwere, auf dem Spielberge 
bei Brünn zu verbüßende Kerferjtrafen verwandelt werben. 
Die Kerkerftrafe ward für Confalonieri und Andryane auf 
Lebenszeit, für Borfteri, Pallavicini und Caftillia auf 20, 
für Zonelli auf 10, für Arefe auf 6 Jahre feſtgeſetzt. 

Der Gnabenact wurde fo motivirt: „Wenn Seine 
Kaiſerlich Königlihe Apoftoliiche Majeſtät fich bewogen 
gefunden haben, die gegen überwiejene Verbrecher aus⸗ 
geiprochene, nur allzu gerechten Urtheile jelbft binfichtlich 
jener Berurtheilten, welche die Strafe am meiften ver- 
dient hatten, zu mildern, jo war dieſer Entjchluß des 
Monarchen auf das Gefühl feiner eigenen Kraft und 
ber Teltigfeit des Staatsgebäudes gegründet. Bei ber 
Treue der Völker, welche fie gerade an den Orten, wo 
die Verſchwörung wirken follte, in der entjchiebenften 
Weije an den Tag gelegt hatten, konnte das Unternehmen 
nur mit dem Verderben ber Schuldigen enden; unerfchütter- 
lich find aber die Regierungen, welche auf folcher Gewähr: 
leiftung ruben.” 

Der Graf Eonfalonieri und feine ſechs Leidensgefährten 
wurden auf ven Spielberg gebracht und bajelbit eingeferfert. 


312 Ein Beitrag zu den Proceſſen 


Wir kennen bereits die Gefängniffe aus dem Procefje wider 
den Freiherrn von ber Trend, aber es tft Doch von Inter- 
effe, das Urtheil eines Franzofens Namens Remacle zu 
hören, welcher im Auftrage feiner Regierung im Jahre 
1838 den Spielberg bejuchte. Er berichtet: „Wir betraten 
nicht ohne Erſchütterung die Zellen ver Gefangenen. Die 
Heinfte bat nur 4 Fuß 50 Zoll in der Breite und 6 Fuß 
50 Zoll in der Tiefe. Ein Felpbett mit einem dünnen 
Strohſack und einer wollenen Dede für jeden Gefangenen 
nimmt einen großen Theil des Raumes ein. Das Tenfter 
beginnt 6 Fuß über dem Boden und hat eine Deffnung 
von 2 Fuß. Alle Kerker werben fteben Monate im Jahre 
mit Defen geheizt. ‘Die Kerker im Erdgeſchoß haben bie 
beſondere Eigenfchaft, daß eine eiferne Stange mit einer 
daran hängenden 3 Fuß langen Kette an der Mauer 
befeſtigt iſt. Vor dem Erlaß der Tatferlichen Verord⸗ 
nung, welche ven fchwerften Kerfergrad abfchaffte, wurden 
bie zu dieſer Strafe verurtheilten Unglücklichen am Abend 
mittel® ihres eifernen Gürtels an dieſe Kette gejchloffen, 
fodaß fie fih kaum auf ihrem harten Lager ausftreden 
fonnten. Wenn die Marter ihnen ein jtarfes Gefchrei 
auspreßte, ftopfte man ihnen eine fogenannte Mund- 
birne, db. h. eine burchlöcherte, mit Pfeffer angefüllte 
eiferne Hohlfugel in den Mund, welche ihre Bein auf 
das äußerſte fteigerte. Es befanden fich im Jahre 1838 
auf dem Spielberge noch zwei Gefangene, welche ben 
ichwerften Kerfer ausgeftanden hatten: einer 18, der andere 
20 Jahre lang. Der erftere war ſtark und gejund, ber 
zweite dagegen an allen Gliedern lahm. Sekt ift die Strafe 
dieſelbe für alle Gefangenen, nämlich der fchwere werte, 
bie Dauer aber iſt verſchieden. 

„Die Sträflinge müſſen im Sommer um Y,5 uhr, im 
Winter um 6 Uhr aufſtehen. Nach dem Gebet wird zur 








wider bie Carbonari in Italien. 313 


Unterfuchung ihrer Feſſeln gefchritten, hernach werben fie 
in die Werfftätten geführt, dort wird jeder einzelne vor 
Beginn der Arbeit noch einmal unterfucht. ‘Der Gefangene 
erhält jeden Tag 1'/, Pfund Brot. Um halb 11 Uhr wird 
bie Mittagsmahlzeit gehalten, fie beftehbt aus 2 Seibeln 
Suppe und 2 Seibeln Gemüfe für den Mann. Nach 
ber Mahlzeit ruben fich die Leute in den Höfen eine Stunde 
lang aus, Die Arbeit wirb jedem nach feinen Kräften 
zugemeffen. Wer diefelbe nicht vollbringt, wird beftraft. 
Am Sonntag ruht die Arbeit, aber auch die Erholung in 
ben Höfen fällt weg. Nach dem Gotteöbienfte, an welchem 
alle theilzunehmen haben, bleiben die Gefangenen müßig 
in ihren Zellen. 

„Die Aufficht ift ſehr ftreng. Diejenigen, welche fich 
gut führen und das Vertrauen der Beamten erivorben, 
werben Zimmerväter und Zimmermütter. Obgleich mehr 
als zwanzig jugendliche Gefangene, die das 20. Lebens⸗ 
jahr noch nicht erreicht haben, vorhanden find, fehlt es 
an einer Schule. 

„Der Spielberg ift jegt Tein ftrengeres Gefängniß für 
jchwere Verbrecher al8 andere gleichartige Anftalten. Für 
Leute von Bildung, für politifche Verbrecher, für einen 
Silvio Pellico und einen Maroncelli freilich ift biefer 
Aufenthalt fchredlich. Unterhalb der Kerker, die jebt 
benugt werben, gibt es noch eine zweite und unter biefer 
noch eine britte Reihe, an welche man nicht ohne Grauen 
benfen kann. Ein unterirdifcher Gang führt zu der zweiten 
Reihe, je vier Zellen, von denen jede Raum hat für 
15 bi8 20 Mann. Bor etwa fünf Jahren ſchloß man 
bier noch Räuber und Mörder ein, jegt werben fie nur 
noch jelten auf kurze Zeit belegt, als außerordentliche 
Strafe für Vergehen gegen die Hausordnung. “rüber 
haben mehreremale Sträflinge ſich in bie Tiefe Kinein- 


314 Ein Beitrag zu den Proceſſen 


zuwühlen unb zu entkommen verfucht. Von breißig bis 
vierzig Verjuchen find indes nur drei geglüdt, und ein 
Sträfling wurde wieder ergriffen, ebe er unten am Berge 
angelangt war. 

„sm Jahre 1794 ſaß ein Franzofe Namens Drouet 
aus Varennes, Mitglien des Nationalconvents, auf dem 
Spielberg. Er machte aus den Beſtandtheilen feines 
Bettes ein Seil und ließ fich durch das Fenſter in bie 
Tiefe, fiel aber und brach ein Bein. Man ergriff ihn 
und brachte ihn zuräd in die kaum verlaffene Zelle. 
Zwei Jahre jpäter erhielt er die Freiheit, er wurbe gegen 
die Tochter Ludwig's XVL, die Herzogin von Angouleme, 
ausgewechjelt. 

„Beſagte Kerker tragen ven Namen «Franz». Der 
Gang unter der Erde fällt jäh ab und führt dann zu 
dem fchredlichiten heile des Spielbergs, der unterften 
Stufe ver Kerker, 34 an der Zahl, welche fih 60 Fuß 
tief in der Erbe befinden und «Maria Therefia» genannt 
werben. Nur ein einziger iſt übriggeblieben, gleichlam 
als Andenken an die Unmenfchlichleit früherer Zeiten. 
Es iſt ein aus Ballen beftehendes enges Behältnig mit 
einer Heinen verjchloffenen Deffnung zum Einjchieben ver 
Nahrung. Unten befindet fich eine größere verjchloffene 
Deffnung, Durch welche der Verurtbeilte Hineingebracht 
wurde. Kein Tageslicht, keine friſche Luft kann einbringen, 
Der bedauernswürbige Bewohner aß ober ftand in feinem 
Käfig und war mit einer fchweren Kette angefchloffen. 
Das fürcterliche Loch war dunkel und feucht. Dreimal 
in der Woche erjchien ein Gefangenwärter und brachte 
das zur Friſtung des Lebens nothwendige Brot und 
Waſſer. Die Gefangenen wurden in ber Regel jchnell 
erlöft von ihrer Bein, denn länger als ſechs Monate hielt 
e3 felten ein Menſch aus.” 


wider Die Carbonari in Italien. 315. 


Remacle Inüpft an feine Schilderung folgende Bemer- 
tungen: „Frankreich hat Schon im 16. Jahrhundert biefe 
hölliſchen Gefängniffe, welche man den Italtenern und 
Englänvern nachgemacht hatte, abgeſchafft. Deutſchland 
bat fie bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts beibehalten. 
Seit funfzig Iahren tft die Strafgejeßgebung in Frank⸗ 
veich fo gemildert worben, daß fie faft einen Theil ihrer 
Wirkſamkeit verloren hat. Defterreich hatte noch vor fünf 
Jahren feine unterirdiſchen Kerker. Ein ebler, gefühlvoller 
Staliener, Silvio Pellico, welcher das Opfer feines 
heißen Patriotismus geworben ift, hat die fchredlichen 
Leiden des Spielbergs felbft erbulden müſſen. Er hat 
dieſelben mit einer geiwandten ever und im Tone eines 
gemäßigten Unwillens in chriftlicder Ergebenheit wor ber 
Welt aufgedeckt, um die Regierung zu größerer Milde zu 
bewegen, beſonders gegen diejenigen Gefangenen, benen 
man nur politiiche Vergeben, Ueberſpanntheit, voreilige 
Aeußerungen ihrer Gedanken vorzumwerfen bat. Man be- 
geht eine tyranniſche Graufamteit, wenn man dieſe Dienfchen 
den gemeinen Verbrechern gleichjtellt und fie wie bieje 
behandelt. 

„Wahrſcheinlich hat man die Verbeſſerung der Lage der 
Gefangenen auf dem Spielberg den edeln und doch ſo 
energiſchen Klagen des berühmten Italieners zu danken. 
Nun wird ihnen ein wenig Stroh nicht verſagt, ſie er⸗ 
halten täglich ein halbes Pfund Brot mehr. Am Sonn⸗ 
tage können fie ein wenig Fleiſch und in der Woche mit- 
unter eine Meblipeife genießen. Der Spielberg ift jet 
ben Sträflingen nicht Tebensgefährlicher als andere öfter- 
reichifche Gefängniſſe. Ja er ift fogar, wie es fcheint, 
ein vecht gefunder Aufenthalt. Das beweijen die mir 
vorgelegten Sterblichleitsliften, welche ich als richtig und 
wahrheitsgemäß vorausfegen muß.‘ 


316 Die Brocefje ver Carbonari in Italien. 


Wir fügen hinzu: Die Hausorbnungen der Strafe 
anftalten in Defterreich machten allerdings in jener Zeit, 
da Silvio PBellico und der Graf Eonfalonieri ihre Strafe 
verbüßten, keinen Unterſchied zwiſchen politiichen und ge- 
meinen DVerbrechern. Die Behandlung war vielmehr nad 
dem Gefeß die gleiche. Aber die verimtheilten Carbonari 
haben ſich über ihre Haft auf dem Spielberge nicht zu 
beflagen gehabt. Unter dem bamaligen Gouverneur von 
Mähren und Schlefien, dem Grafen Anton Friedrich 
Mittrowsty, der ein großmüthiger Förderer der Lite: 
ratur und Kunft war, wurbe die größte Humanität ges 
übt. Den Gefangenen, von denen wir jetzt reden, wurbe 
zum Beifpiel Lektüre geftattet, ja man beftellte ihnen 
jogar der italienischen Sprache mächtige Priefter für 
Gottesdienst und Seelſorge. Erft als fie die ihnen ge- 
währten VBergünftigungen misbrauchten, um nad außen 
Verbindungen anzufnüpfen, wurde wieder ftrenge Zucht 
und Aufficht eingeführt. | 

Ein einziger von den. gefangenen Carbonari ftarb auf 
dent Spielberge, die übrigen wurben nach längerer oder 
fürzerer Strafpauer begnabigt. Im Jahre 1836 wurden 
bie leßten der in die Verſchwörung von 1821 verwidelten 
alten Verbrecher auf Befehl des Kaifers in Freiheit gejekt. 


Drud von F. 9. Brochaus in Leipzig.