Google
This ıs a digital copy of a book that was preserved for generations on library shelves before ıt was carefully scanned by Google as part of a project
to make the world’s books discoverable online.
It has survived long enough for the copyright to expire and the book to enter the public domain. A public domain book is one that was never subject
to copyright or whose legal copyright term has expired. Whether a book is in the public domain may vary country to country. Public domain books
are our gateways to the past, representing a wealth of history, culture and knowledge that’s often difficult to discover.
Marks, notations and other marginalia present in the original volume will appear ın this file - a reminder of this book’s long journey from the
publisher to a library and finally to you.
Usage guidelines
Google ıs proud to partner with lıbraries to digitize public domain materials and make them widely accessible. Public domain books belong to the
public and we are merely their custodians. Nevertheless, this work is expensive, so in order to keep providing this resource, we have taken steps to
prevent abuse by commercial parties, including placing technical restrictions on automated querying.
We also ask that you:
+ Make non-commercial use of the files We designed Google Book Search for use by individuals, and we request that you use these files for
personal, non-commercial purposes.
+ Refrain from automated querying Do not send automated queries of any sort to Google’s system: If you are conducting research on machine
translation, optical character recognition or other areas where access to a large amount of text ıs helpful, please contact us. We encourage the
use of public domain materials for these purposes and may be able to help.
+ Maintain attribution The Google “watermark” you see on each file is essential for informing people about this project and helping them find
additional materials through Google Book Search. Please do not remove it.
+ Keep it legal Whatever your use, remember that you are responsible for ensuring that what you are doing is legal. Do not assume that just
because we believe a book is in the public domain for users in the United States, that the work is also in the public domain for users ın other
countries. Whether a book is still in copyright varies from country to country, and we can’t offer guidance on whether any specific use of
any specific book is allowed. Please do not assume that a book’s appearance ın Google Book Search means it can be used in any manner
anywhere in the world. Copyright infringement liability can be quite severe.
About Google Book Search
Google’s mission is to organıze the world’s information and to make it universally accessible and useful. Google Book Search helps readers
discover the world’s books while helping authors and publishers reach new audiences. You can search through the full text of this book on the web
atihttp: //books.gooqle.com/
Google
Über dieses Buch
Dies ist ein digitales Exemplar eines Buches, das seit Generationen ın den Regalen der Bibliotheken aufbewahrt wurde, bevor es von Google ım
Rahmen eines Projekts, mit dem die Bücher dieser Welt online verfügbar gemacht werden sollen, sorgfältig gescannt wurde.
Das Buch hat das Urheberrecht überdauert und kann nun Öffentlich zugänglich gemacht werden. Ein öffentlich zugängliches Buch ist ein Buch,
das niemals Urheberrechten unterlag oder bei dem die Schutzfrist des Urheberrechts abgelaufen ıst. Ob ein Buch öffentlich zugänglich ist, kann
von Land zu Land unterschiedlich sein. Öffentlich zugängliche Bücher sind unser Tor zur Vergangenheit und stellen ein geschichtliches, kulturelles
und wissenschaftliches Vermögen dar, das häufig nur schwierig zu entdecken ist.
Gebrauchsspuren, Anmerkungen und andere Randbemerkungen, die ım Originalband enthalten sind, finden sich auch ın dieser Datei — eine Erin-
nerung an die lange Reise, die das Buch vom Verleger zu einer Bibliothek und weiter zu Ihnen hinter sich gebracht hat.
Nutzungsrichtlinien
Google ist stolz, mit Bibliotheken in partnerschaftlicher Zusammenarbeit öffentlich zugängliches Material zu digitalisieren und einer breiten Masse
zugänglich zu machen. Öffentlich zugängliche Bücher gehören der Öffentlichkeit, und wir sind nur ihre Hüter. Nichtsdestotrotz ist diese
Arbeit kostspielig. Um diese Ressource weiterhin zur Verfügung stellen zu können, haben wir Schritte unternommen, um den Missbrauch durch
kommerzielle Parteien zu verhindern. Dazu gehören technische Einschränkungen für automatisierte Abfragen.
Wir bitten Sie um Einhaltung folgender Richtlinien:
+ Nutzung der Dateien zu nichtkommerziellen Zwecken Wir haben Google Buchsuche für Endanwender konzipiert und möchten, dass Sie diese
Dateien nur für persönliche, nichtkommerzielle Zwecke verwenden.
+ Keine automatisierten Abfragen Senden Sie keine automatisierten Abfragen irgendwelcher Art an das Google-System. Wenn Sie Recherchen
über maschinelle Übersetzung, optische Zeichenerkennung oder andere Bereiche durchführen, in denen der Zugang zu Text in großen Mengen
nützlich ıst, wenden Sie sich bitte an uns. Wir fördern die Nutzung des öffentlich zugänglichen Materials für diese Zwecke und können Ihnen
unter Umständen helfen.
+ Beibehaltung von Google-Markenelementen Das "Wasserzeichen" von Google, das Sie in jeder Datei finden, ist wichtig zur Information über
dieses Projekt und hilft den Anwendern weiteres Material über Google Buchsuche zu finden. Bitte entfernen Sıe das Wasserzeichen nicht.
+ Bewegen Sie sich innerhalb der Legalität Unabhängig von Ihrem Verwendungszweck müssen Sie sich Ihrer Verantwortung bewusst sein,
sicherzustellen, dass Ihre Nutzung legal ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass ein Buch, das nach unserem Dafürhalten für Nutzer in den USA
öffentlich zugänglich ist, auch für Nutzer ın anderen Ländern Öffentlich zugänglich ist. Ob ein Buch noch dem Urheberrecht unterliegt, ist
von Land zu Land verschieden. Wir können keine Beratung leisten, ob eine bestimmte Nutzung eines bestimmten Buches gesetzlich zulässig
ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass das Erscheinen eines Buchs in Google Buchsuche bedeutet, dass es ın jeder Form und überall auf der
Welt verwendet werden kann. Eine Urheberrechtsverletzung kann schwerwiegende Folgen haben.
Über Google Buchsuche
Das Ziel von Google besteht darin, die weltweiten Informationen zu organisieren und allgemein nutzbar und zugänglich zu machen. Google
Buchsuche hilft Lesern dabei, die Bücher dieser Welt zu entdecken, und unterstützt Autoren und Verleger dabei, neue Zielgruppen zu erreichen.
Den gesamten Buchtext können Sie ım Internet unter|lhttp: //books.google.comldurchsuchen.
2 .
Received — GL, Jg
Der Neue Pitaval.
Neue Serie.
Sinundzwanzigfter Band.
' Der
Neue Pitaval.
Eine Sammlung
der intereflanteiten Criminalgeſchichten aller Länder aus
älterer und neuerer Seit.
Begründet
vom
Sriminaldirector Dr. 3. E. Hitzig
und
Dr. 8. Zäring (W. Alexis).
Fortgeſetzt von Dr. 4. Bollert.
4
Aene Serie. 14
Einnudzwanzigſter Band.
Reipzig:
F. A. Brodhaus,.
1887.
Are. Sept: 7%. 1903
Borwort.
Die „Mertwürdigen Proceſſe ausEngland“,
mit welden wir diefen Band des „Neuen Pitaval“
eröffnen, find charakteriſtiſch für die engliiche Rechts—
pflege und die engliihe Rechtsanſchauung. Das eng:
liſche Volk macht eiferfühtig darüber, daß die Staats:
gewalt ſich nicht einmifcht in die häuslichen Angelegen-
beiten der Bürger. Deshalb wird in Eheſachen,
wenn es fih um Ehebruch und Bigamie handelt, der
Strafrichter nur auf Antrag des betheiligten Ehegatten
thätig. Auch ein Betrüger, der ein Mädchen zur Ein-
gehbung der Ehe verleitet bat, um Geld zu erprefien,
wird nicht beitraft, weil man die Angelegenheit als
einen Sivilproceß zwiſchen beiden Parteien verhandelt,
und um eine Doppelehe fümmert fih die Strafjuftiz
nicht, folange der beleidigte Gatte fie nicht anruft.
Andererjeit3 hält man in England feit an den alten
und veralteten Formen des Verfahrens, deshalb Tann
ein Sprud der Jury nicht umgeftoßen werden, und
der unfchuldig megen Mordes zum Qode verurtbeilte
VI Vorwort.
Matroſe vermag im Rechtswege ſeine Freiſprechung
nicht zu erlangen, ja nicht einmal der geſtändige Mör-
der darf unter Anklage geftellt werden, denn die un-
fehlbaren 12 Männer haben bereit3 einen andern
ſchuldig geſprochen. Dagegen hält man daran feit, daß
der Selbftmörber ein Mörder ifl, und daß derjenige,
der bei einem Selbjtmord als Anftifter oder Mitthäter
fich betheiligt, wegen Mordes mit dem Tode zu be:
jtrafen ift, wie dies der Proceß Sohn Jeſſop vor dem
Schmwurgeriht in Nottingham beweiſt.
Dieje intereffanten Fälle und ebenfo den Criminal:
proceß wider Alois Szemeredy wegen Mordes bat
und Herr Generalconful Dr. Gotthelf Meyer
in Wien eingejendet. Er bat felbit lange in Süd—
amerila gelebt, die dortige Rechtöpflege Tennen lernen
und nicht blos die Acten dieſes merkwürdigen Falles
eingejeben, fondern auch mit dem Helden des Dramas
nad defien Freiſprechung in Budapeft eine perjönliche
Zuſammenkunft gehabt. Es ift das erfte mal, daß der
„Neue Pitaval“ einen Proceß aus der Argentinifchen
Republik veröffentlicht, und wir ſprechen dem Herrn
Verfaſſer für diefen Beitrag, der ein deutliches Bild
der Ihmwerfälligen, auf den ſpaniſchen, von Alfons dem
Meifen 1348 publicirten ‚‚Leyos de las partidas’
rubenden Procedur liefert, auch an diejer Stelle un-
fern verbindlichiten Dank aus.
Kaum minder dankbar find mir ihm für das
„Meifterftüd amerikaniſcher Detectivs“, welches
wiederum die Pinkerton Detectiv-Agentur in Chicago
Borwort. vu
geliefert bat, und für den faft liebengmwürdigen und auf
jeden Sal barmlofen Procuriften Karl Schiste
aus Wien, defien Unſchuld vermuthlich Feiner unferer
Leſer bezweifeln wird.
Die aus derfelben Feder ftammenden „Merkwür—
digen Criminalproceſſe aus Frankreich“ find
bezeichnend für den Cultur⸗ und Sittenzuftand unferer
Nachbarn im Meften. Die Ehe des Grafen Roger
de Molen de la Bernede und der Proceß wider das
Heirathsbureau der Frau Baronin de Mortier
und Genoffen in Paris liefern den Beweis, daß in
der fogenannten guten Gejellihaft und auch in bürger-
lihen Kreifen die Ehe vielfah nur als eine Specula:
tion, als ein Geſchäft angejehen wird und ihres chrift-
lien, ethiſchen Charakters völlig entfleidet ift. Die
frivole und gemeine Gefinnung, die fih in diefen Ver:
handlungen vor Gericht fundgibt, ift eine ſehr ernite
Gefahr für Franfreih, denn ſolche Vorgänge Laffen
darauf jchließen, dab das Familienleben nicht mehr
auf einer gefunden Grundlage ruht, und das Familien:.
leben ift die Bafis der Volkswohlfahrt.
Ein grauenbafter Muttermord, der in der So—
logne von den eigenen Kindern in der neueften Zeit
verübt wurde, charakteriſirt die tiefe Stufe der Cultur,
auf welcher in mandyen abgelegenen Theilen von Sranf:
rei) die Landbevölkerung fteht. Eine gleich rohe, un-
menſchliche That ift felten in den Annalen der Redhts-
pflege, und e3 lag unjerd Erachtens fein Grund vor,
einen diefer Kannibalen zu begnadigen.
VIII Vorwort.
Den Proceſſen aus der neuern und neueſten Zeit
ſchließen wir den berühmten unter Benutzung der
beſten Quellen bearbeiteten Proceß der Jungfrau
von Orléans an, der in unſerm Werke nicht fehlen
darf.
Das letzte Stüd diefes Bandes handelt von Heren,
Herenproceffen und Herenpredigten. Der „Neue
Pitaval” hat niemals einen „Herenproceß” mitgetheilt,
deshalb fchien e8 uns angemefjen zu fein, dieſe ganze
Materie in einem für gebildete Laien geichriebenen
Auflage darzuitellen.
Gera, im October 1837.
Dr. A. Bollert.
Anhalt.
Borwort.
Merkwürdige Proceſſe aus England.
1. Ein Eheſcheidungsproceß, der nach deutſchem
Recht als ein Criminalproceß wegen Betrugs
und Erpreſſung verhandelt worden wäre.
London 1886.
2. Eine unfehlbare Jury in England und. ein
unfchuldig wegen Mordes zum Tode ver-
urtheilter Matroſe, dem man fein Recht auf
Wieberherftellung feines guten Namens ver:
weigert. 1885. . .
3. John Jeſſop vor den Schwurgericht ir in Not:
tingham unter der Anklage des verfuchten
Selbftmordes und der Berleitung eines
Kameraden zum Selbftmorde. 1887. .
4. Einige Fälle von Bigamie. 1887. . . .
Ein Eriminalproceß aus Südamierika nad) altfpanifchen
Berfahren.
Alois Szemeredy. Buenos-Ayres. — Mord.
1876 bi6 1881. . . 0.
Gifenbahn- und Pofträuber in Norbamerite,
Ein Meifterflitd ameritaniſcher Detectivs. 1886
bis 1887. ..
Seite
IS
DD
26
32
35
111
X Inhalt.
Ein Eriminalprocek aus Defterreid).
Die Selbftanflage des Brocuriften Karl Schiske
in. Wien wegen einer argeblichen Beruntteuung.
1886. . .
Merkwürdige Criminalproceſſe aus Frankreich
1. Die Ehe des Grafen Roger de Molen de la
Vernede. Mordverſuch. — Dijon. 1886
bis 1887.
2. Der Proceß wider das Heirathsbureau der
Frau Baronin de Mortier und Genoſſen
in Paris. Betrug. 1887.
3. Ein grauenhafter Muttermord in der Soon.
1886. 1887.
Johanna d’Arc, die Yungfrau von Orleans, 1429
bi8 1431. . . oo.
Die Heren, Herenproceſſe und. Derenpeigten.
1. Die Heren.
2. Die Herenprocefie.
3. Heren= und Unfolbenprebigten.
Seite
128
Merkwürdige Procefe ans England.
1. Ein Ehefeidungsproceh, der nad deutſchem Recht
als ein Sriminalproceh wegen Beirugs und Erprefiung
verhandelt worden wäre.
London 1886.
Am 16. November 1886 war der Gerichtöfanl des
Gerichtshofes Tür Teftamentsprüfung und Eheſcheidungen
(Court of Probate and Divorce) zu London überfüllt von
einer großen Menge von Zuhörern. Die regelmäßigen
Gäſte hatten fich faft vollzählig eingefunden. Es find das
diejenigen Leute, welche den Beſuch öffentlicher Gerichts-
verbandlungen zu ihrem Lebenszwed gemacht haben und
immer babei find, mag es fich um einen blutigen Mord,
einen raffinirten Betrug, eine pikante Eheſcheidung oder
irgenbeinen andern Senfationsproceß handeln. Aber auch)
die Juriſten waren ſtark vertreten, weil diesmal feltene
Rechtsfragen beantwortet werben follten, die in juriftischen
Kreiſen vielfach beiprochen wurden.
Die Geduld des Publikums wurbe auf eine harte
Probe geftellt, denn e8 dauerte fehr lange, ehe ver Richter,
Mr. Iuftice Butt, feinen Pla einnahm und ver Procef
Sebwright alias Scott gegen Sebwright aufgerufen
mwurbe. Für die Parteien erjchienen, dem engliſchen Brauche
XXL | 1
2 Merkwürdige Proceffe aus England.
gemäß, eine ganze Reihe von Anwälten: für bie Klä-
gerin der Attorneygeneral fköniglicher Rath Richard
Webſter, Eönigliher Rath Dr. Triftram, Mr. Pol-
lard und Mr. Stathbam; für den Beklagten: ber So—
licitorgeneral königlicher Rath Sir Edward Clarke,
königlicher Rath Mr. Inderwid, Mr. Searle und
Mr. Roſe Innes. Die eigentliche Thätigfeit aller
biefer Herren ift bereits worüber, fie hat in directen Ver⸗
handlungen zwijchen ven Parteien beſtanden, deren Inhalt
und Tragweite dem Gerichtähofe nicht befannt wurben.
Die erfreuliche Folge dieſes Verkehrs unter den Bethei⸗
ligten war die, daß fein öffentlicher Skandal entftand,
ber fonft in derartigen Procejjen nicht auszubleiben pflegt.
Der Hagenden Partei war e8 durchaus nicht darum zu
thun, daß der Verflagte zu einer Strafe verurtheilt
würde, fie verlangte nur, daß das Gericht die von Lina
Mary Scott mit Arthur Edward Sebwright vor
ben Standesamte in South-Aublenitreet in London am
30. Ian. 1886 abgejchloffene Ehe für ungültig und nichtig
erklären folle. Zur Begründung ihres Verlangens wurbe
geltend gemacht, e8 habe niemals bie Abficht bejtanden,
bie Ehe zu vollziehen, fie fei auch in ber That nicht con=
jumirt worden, nur durch Betrug und Zwang babe ver
Beklagte die Miß Scott wiber ihren Willen zur formalen
Eingehung der Ehe verleitet.
Mr. Sebwright hatte die in der Klagichrift enthal-
teren Thatſachen geleugnet und feinerjeitS gefordert, daß
der Familie der Klägerin aufgegeben werbe, der Aus⸗—
übung feiner ehelichen Rechte Fein Hinderniß in ven Weg
zu legen.
Der Richter Mr. Juftice Butt refumirte, ehe er Das Ur⸗
theil verfünbigte, in überaus klarer, fachlicher Weile ven in
ben vorbergehenven Tagen von den Parteien verbandelten
Mertwürdige Procefje aus England. 3
Proceß, indem er Folgendes ausführte: Die Klägerin be-
hanptet, ber Beflagte habe fie durch den Betrug, durch
welchen er fie getäufcht, und durch die Furcht, in welche er
jie mittel8 gefährlicher Drohungen verjett, zu einem willen-
(ojen Werkzeuge feiner Pläne gemacht. Bei dem Abjchluffe
ter Ehe vor dem Stanbesbeamten habe fie nicht mit
freiem Willen, fondern einem unwiberftehlichen Zwange
gehorchend ihre Erflärung abgegeben, ihre Einwilligung
zur Ehe fei deshalb gar nicht vorhanden geweſen und
beshalb die Ehe ungültig.
Es iſt nun allerdings geltender Rechtsgrundſatz, daß
ein Dertrag, zu welchem bie Zuftimmung einer Partei
durch Betrug erfchlichen oder durch Zwang herbeigeführt
wurde, für die Bartei nicht als bindend betrachtet werden
kann. Die Eheſchließung muß ebenfalls als Vertrag auf-
gefaßt und nach derſelben Rechtsanſchauung beurtheilt
werten. Es iſt indeß richtig, daß der Eheſchließung eine
allgemeinere, für die menfchliche Geſellſchaft wichtigere
Bedeutung innewohnt, als einem im Handel und Ber-
kehr des täglichen Lebens vorkommenden gewöhnlichen
Bertrage. Es liegt deshalb im Intereffe der Gefellfchaft,
daß die Ehe, welche die Grundlage der Familie, alſo
auch aller unferer focialen Cinrichtungen bilvet, nicht
leicht finnig gejchloffen, und wenn fie einmal gejchloffen ift,
nicht leichtfinnig wieder gelöft werben darf. Diefe Er-
wägungen müffen Einfluß haben auf die Entſcheidung Des
Gerichtshofs, er ift verpflichtet, mit befonderer Borficht
ımb Sorgfalt bie inpivibuellen Umftände zu prüfen. Aber
ber allgemeine Rechtsfag, daß zur Eingehung eines Ehe-
vertrages der Wille der den Vertrag abjchließenden Par⸗
teien vorhanden fein muß, wird dadurch nicht aufgehoben.
Es ift eine beftrittene Trage, ob der Vertrag für un-
gültig zu erklären ift wegen jedes Zwanges, unter bem
1*
4 Merkwürdige Proceſſe aus England.
eine Partei bei dem Abfchluffe geftanden hat. Man Hat
gemeint, e8 müfje der Grad und die Natur des Zwanges
näher beftimmt werben, man bürfe zwar nicht ein außer⸗
gewöhnliches Maß von Muth und Energie fordern, aber
boch auch nicht fchon dann den Vertrag vernichten, wenn
jemand fich vor einer eingebildeten Gefahr gefürchtet und
aus übergroßer Reizbarfeit in Unfreibeit "gehandelt hat.
Nur diejenige Bedrohung mit einem Uebel und nur
derjenige Zwang verbiene rechtliche Beachtung, ber einen
Menſchen von regelmäßiger Beſchaffenheit in den Zuftand
ber Furcht und Unfreiheit verſetzt haben würbe.
Dieje Anficht iſt jeboch unrichtig:
Wenn eine Perfon vermöge ihrer befondern Anlage,
ihrer natürlichen Schwäche, ihrer Jugend, ihrer Uner⸗
fahrenheit u. |. w. eine Gefahr, bie man ihr vorjpiegelt,
als vorhanden anfieht und infolge deſſen einen Vertrag
abjchließt, fo tft der vom Recht verbotene Zwang auf fie
ausgeübt. Denn man hat ihr die Willensfreiheit ent-
zogen, bie zur Eingehung eines bindenden Vertrages noth>
wendig ift. Sie ift in berjelben Lage wie ein Menjch
von größerer Einfiht und Willenskraft, welcher fich von
einer wirklichen ernjten Gefahr beftimmen läßt, gegen
feinen wahren Willen zu handeln.
Nicht die Beitimmungen des Geſetzes find unflar, es
it nur ſchwierig, in jedem einzelnen Falle feftzuftellen,
ob nah den Umftänden eine durch den ausgeübten Zwang
verurfachte Willensunfreibeit als bewiejen anzunehmen tft
ober nicht.
Die Klägerin, bie einzige Tochter des im Jahre 1880
verftorbenen Bankiers Sir Claude Scott, ift eine junge
Dame, die das Alter ver Großjährigfeit, 21 Iahre, im
Februar 1885 erreicht hat. Sie ift nicht etwa ſchwach⸗
finnig, aber die gegen Ende des Jahres 1885 und zu
Merkwürdige Proceſſe aus Englanb. 5
Anfang des Jahres 1886 auf fie einwirkenden Vorgänge
waren geeignet, einen Zuftand der Eraltation und Nerven-
überreizung herbeizuführen, ver als nicht normal bezeichnet
werten darf, ihre Gejunpheit erfchütterte und ihr geiftiges
Bermögen fchwächte.
Bor fünf oder ſechs Jahren machte fie die Bekanntſchaft
tes Beklagten. Der Ießtere war ein junger, hübſcher,
eleganter Mann von einnehmenvden Manieren, aus guter
Familie. Mr. Arthur Sebwright bewarb ſich um ihre
Liebe, er fuchte den Verkehr mit ihr, erwies ihr viele
Aufmerkſamkeiten und machte ihr, obgleich fie noch fehr
jung war, einen Heirathsantrag. Die Familie wies ihn
zurüd. Die junge Dame fchien indeß mit der Zurüd-
weiſung nicht einverftanden zu fein. Sie fahen fih nad
wie vor und zulett verlobten fie fich heimlich, ohne die
Einwilligung der Mutter der Braut und ihrer fonftigen
Berwandten nachzufuchen.
Lina Mary Scott war noch minderjährig und Mr.
Arthur Sebwright nur etliche Jahre älter, fie konnten
nicht daran denken, die Ehe abzufchließen, und mußten
folglich warten. Monate hindurch ſahen fie fich nicht
ein einziges mal, aber dann führten fie wenigſtens einen
lebhaften Briefwechiel. Sie betrachteten fich als Braut-
leute, jedenfalls ift das Verlöbniß niemals rüdgängig ge-
macht worden.
Fräulein Scott gelangte am Tage ihrer Grofjährig-
feit in ben Befit einer Summe von 26000 Pfr. Et.
(520000 Marf) und hatte kraft ber tejtamentariichen Be⸗
jtimmungen ihres Vaters außerdem die Antwartichaft
auf ein noch größeres Erbe nach dem Tode ihrer Mutter.
Auf den Rath der lettern ließ fie bald tarauf, tm Juni
1885, ihr Vermögen, wie dies in England üblich tft, feſt
anlegen, db. h. fie verzichtete auf das Recht, über bas
6 Merkwürdige Proceſſe aus England.
Kapital zu verfügen, ihre Euratoren, Sir Philipp Roſe
und Oberſt Hood, durften nur bie Zinfen erheben und für
fie verwenden. Allein ſchon vor diefer im Juni getroffenen
finanziellen Maßregel, nämlih im März 1885, veran-
laßte Mer. Arthur Sebwright, der fih in Gelpverlegen-
heit befand, feine Braut, einen von ihm ausgeftellten
Wechjel über 500 Pfd. St. zu acceptiren. Natürlich ge-
ſchah dies ohne Vorwiflen ihrer Mutter.
Im Laufe des Sommers und Herbites überrebete fie
ihr Verlobter, dieſe Gefälligfeiten zu wiederholen. Sie
ihlug ihm feine Bitte niemals ab und Fonnte auch bie
Tragweite ihrer Unterfchrift nicht beurtheilen. Im De-
cember 1885 betrug die Gejammtjumme, zu deren wech⸗
jelmäßiger Bezahlung fie fich verpflichtet hatte, ſchon
3350 Pfd. St. oder 67000 Mark,
Mr. Sebwright verfilberte die Wechjel, die Durch Die
Unterfchrift feiner Braut Werth erhalten hatten, er ließ
die Papiere von zwei in folchen Gejchäften erfahrenen
Geldleuten Namens Williams und ee eöcomptiren.
Dem jungen Mädchen hatte er vorgefpiegelt, es handle
ſich nur um eine leere Form, und ihr verjichert, fie würde
burchaus feine Ungelegenheiten von der Sache haben.
Allein zur Verfallzeit fonnte er die Wechſel nicht einlöfen.
Die Escompteure wendeten ſich natürlich an Fräulein
Scott. Die Wechfel wurden proteftirt, e8 folgten Zah—
lungsauflagen und die Androhung, daß der Eoncurs er-
Öffnet werden würde, wenn die Gläubiger nicht balo
Zahlung erhielten.
Die mit gerichtlichen Proceduren gänzlich unbefannte
Dame erfchraf und ihre Lage erichien ihr fürchterlich.
Sie wollte um feinen Preis ihrer Mutter fich offenbaren,
denn dann wäre ihre heimliche Verlobung an den Tag
gefommen. Ihr Bräutigam aber, ver das Geld burch-
Merkwürdige Brocejfe aus England. 7
gebracht hatte und nichts beſaß, und die Inhaber ber
Wechjel beprängten fie unaufhörlich. Die gerichtlichen
Berfügungen mit den ihr unverftändlichen juriftiichen
Sormeln, die Drohung mit dem Concurs, die ihr als
etwas ganz bejonders Fürchterliches ericheinen mochte, er-
füllten fie mit Entfegen. Die fortvauernden Duälereien
und die dadurch hervorgerufene Gemüthsaufregung be=
wirkten, daß fie gänzlich unfähig wurde, irgendeiner ener-
giſchen, an fie gerichteten Forderung Widerſtand zır leiften.
Sie war nicht geiftesfranf, fie konnte noch für fih han
dein, aber ihre Willenskraft war gelähmt. Die Diener-
Schaft, die Aerzte, die Freunde der Yamilie ftimmen in
ihren Ausfagen über diefen Punkt überein. ‘Die junge
Dame war in ihrem Ausjehen und in ihrem Wejen derart
verändert, daß Dr. Izod, der langjährige Hausarzt der
Familie, welcher ihretwegen conjultirt wurde, ernftliche
Beſorgniſſe hegte und ihrer Mutter erklärte, daß man
fih auf eine Gemüthskrankheit gefaßt machen müffe.
Am deutlichften ergibt fich der Zuftand des Fräulein
Scott aus drei Briefen, die fie gegen Ende des Monats
Januar 1886 an einen befreundeten Rechtsanwalt, Herrn
Sojeph Guedalla, kurz nacheinander jchrieb. Die Briefe
find zu lang und zu unzuſammenhängend, um vollftändig
mitgetheilt zu werben, aber einige Auszüge wollen wir
geben. Sie werben genügen, um ven Thatbeitand klar⸗
zuftellen. Ste fchreibt:
„Srosvenor Hotel, Southjen, Samstag.
Lieber Herr Guedalla!
Ich fchreibe Ihnen auf das kummervollſte erregt,
aber ich weiß, ich kann mich auf Sie als einen Ehren-
mann und Gentleman verlaffen. Sie werben mid
mit feiner Silbe verrathen und niemand, niemand
Kenntniß von dem Inhalte dieſes Briefed geben. Sch
8 Merkwürdige Proceffe aus England.
weiß ed, daß ich mich auf Sie verlaffen kann. Helfen
Sie mir um Gottes willen, retten Sie mich von dem
Untergange, ber mir droht. Ich bin in eine entjeßliche
Lage verwidelt worben, um Gottes willen, retten Sie
mich! Bei der Freundichaft, Tiebfter Herr Gueballa, vie
Sie immer für mich gehegt, bitte und beſchwöre ich Sie,
hören Sie mih an. Wollen Sie mir 2000 Pfd. St.
leihen? Ich bin ganz wahnfinnig. Ich will Ihnen alles
erzählen, wenn ich nach London zurüdtomme, nur um
Gottes willen retten Sie mich von ber Schanbe, die mir
droht. Sie find der einzige Menfch, dem ich mich an⸗
vertrauen farm. Um des Himmels willen thun Sie es
für mid und rechnen Sie mir fo viele Procente an, als
Sie wollen. Doch ich flehe Sie an, retten Sie mich!
In wenigen Tagen bin ich zu Grunde gerichtet, denn ich
kann mich an feinen andern Menfchen um Hülfe wenden.
Sie find der einzige Mann, dem ich mich anvertrauen
kann. Um des Himmels willen, Herr Guedalla, thun Sie
e8! Ich werde Ihnen zeitlebens dafür dankbar bleiben....
Ich habe feit 14 Tagen nicht mehr gefchlafen; ich
bin völlig von Sinnen. Bitte, bitte, feien Sie gut mit
mir und leihen Sie mir die 2000 Pf. St. auf ein
Jahr und reshnen Sie weldhe Procente Sie wollen. Aber
in des Himmels Namen beichwöre ich Sie, leihen Sie
mir die Summe.... Es find drei Monate ber, oder etwas
länger, da unterzeichnete ich zwei Wechjel für Mir. Seb⸗
wright — ich verlaffe mich auf Sie, Sie werben e8 ihn
nie verrathen, daß ich e8 Ihnen gejtanden habe. Sch
erkläre Ihnen alles näher, wenn ich Eie ſprechen kann,
vielleicht Schon nächfte Woche. Ich unterzeichnete, weil
er mich darum bat und ich dumm genug war, e8 zu thun.
Er verfprach mir feierlich, die Wechjel einzulöfen, ſobald
fie fälltg werben würben. Aber zu meinem Entjegen hat
Mertmwürbige Proceſſe aus England. 9
er es nicht gethan. Ein Wechiel über 1000 Pfr. St.
it ſchon lange fällig. Ein Herr Williams in George
Yard, Lombarbftreet, ift ver Inhaber, aber er ift fehr
anftändig und bat mir zugeftanden, daß er bis zum
30. d. M. warten will. Ich habe aber eine Zahlungs⸗
auflage erhalten und Gott weiß was noch. Sch bin beis
nahe verrüdt geworben darüber. ‘Dann wurde am Mitt-
woch der andere Wechſel fällig und der Menſch, ein Herr
Lee, bat mir einen fo fchredlichen Brief gefchrieben, fo
grob — aber ich wundere mich gar nicht darüber —
und das Nächfte wird jein, ich bekomme wieder jo eine
Zahlungsauflage. Ich bin förmlich von Sinnen. Ich
gebe ja zu, ich hätte e8 nie thun follen, aber ich flehe
Sie an im Namen des allmächtigen Gottes! — Um
feinen Preis darf Mama etwas davon erfahren, es ft
zu traurig, denn ich habe Herrn Sebwrigbht fo lieb.
Nur helfen Sie mir, und ich werde Ihnen dankbar bleiben
mein ganzes Leben lang. Um Gottes willen, laſſen Sie
e8 nicht zu, daß fie mir wieder eine Zahlungsauflage
Ihiden, denn am Ente füme es heraus und dann wäre
ich zu Grunde gerichtet. Ich brauche die 2000 Pfr. St.,
um zwei Wechiel zu bezahlen, denn der von Herrn
Lee lautet wirfiih auf 1000 Pf. St., und der von
Williams ift 2000 Pfr. St., aber ber wartet mit
einem Theil, und ich werde wahnfinnig, wenn ich noch
eine Woche lang mit biejer entjetlichen Laſt, die mich jo
rückt, herumgeben ſoll. Sie fehen, ich bin in ber bitterften
Noth. Ich beſchwöre Sie, Sie haben ein jo gutes Herz,
o, retten Sie mich, Tiebfter Herr Guedalla, — in bes
Himmels Namen, retten Ste mih, Sie fehen, wie ich
gebrängt-werbe.” ...
„Der Wechfel ift vorigen Mittwoch präfentirt worden.
Er wird mir eine Zahlungsauflage ſchickken. O, was
10 Merkwürdige Proceffe aus England.
ſoll ich thun? Gott allein weiß es. Bitte, belfen Sie
mir und leihen Sie es mir. Ich flehe Sie an, mir zu
helfen und mir das Geld zu verfchaffen. Ich bin ſchon
faft wahnfinnig vor Angft und von der Quälerei. Um
Gottes Chrifti willen ſeien Sie gut mit mir und helfen
Sie mir.... Ich bin fo außer mir, daß man benfen
fönnte, daß ich e8 bin, bie ein fo fchmuziges Ding thut.
Sch möchte um nichts in der Welt abfichtlich ein ſchmuziges
Mandver vollbringen, darum und um Gottes willen,
liebfter Herr Guedalla, wenn Sie noch etwas Freunde
haft für mich fühlen, retten Sie mich, jet wo Sie
jehen, wie meine Lage wirklich beichaffen ift. Um Gottes
willen ſchicken Sie nur gleich zu dem entjeglichen Dir. Lee
und jagen Sie ihm, er foll mir feine Zahlungsauflage
mehr ſchicken, fagen Sie ihm, er foll fie zu Ihnen für
mich ſchicken. O Gott! Wenn fie in die Hände meiner
Mutter fiele! Ich bin ganz toll vor Kummer und
Sorge!” ...
„Gott weiß, was ich anfangen foll! Ste werben fich
wundern, wenn Sie mich wiebderjeben, wie krank und
hinfällig ich bin, und fo gebrüdt und beinahe wahnfinnig
vor Verzweiflung!” ...
„Es iſt mir fo leid, daß Sie glauben, ich hätte Ihnen
etwas Unſauberes zugemuthet, als ich Ihnen fchrieb, Sie
jollten joviel Zinfen berechnen als Sie wollten. O nein,
nein! Auf meine Ehre, ich wollte Sie nicht beleidigen.
Ich möchte um alles in ver Welt Sie nicht böſe auf mich
maden, niemand war ja gütiger gegen mich als gerade
Sie, ih bitte Sie, glauben Sie mir nur, ich werde
Ihnen immer dankbar bleiben, bitte, glauben Sie mir
nur, ih wollte Ihnen gewiß nichts Unangenehmes jagen.
Aber ich bin wirklich ganz verrüdt vor Sorgen unb Ihr
Drief hat meine lette Hoffnung zerftört — Sie fcheinen
Mertwürbige Procejje aus England. 11
meine gräßfiche Lage noch immer nicht ganz zu erfaffen.
Ich ſehe nur gänzlichen Ruin mir von allen Seiten ent-
gegenftarren. Aber ich weiß, auf Sie kann ich mich ver-
laffen, und ih will Ihnen alles fagen.... Ich weiß,
Sie werben ed niemals Herrn Sebwright verrathen,
daß ih es Ihnen mitgetheilt. Jetzt, wo dieſe fürchter-
lichen Wechjel fällig geworden find, jetzt fagt er zu mir
— o Himmel! was ich anfangen foll! doch ich will mit
tem Anfang beginnen. Bor jech8 Monaten wollte er,
daß ich ihn heirathen möge, :.. Wir waren einig, aber
wir follten ſechs Monate warten, das wäre bis ‘December.
Während ber Zeit verlangte er von mir, baß ich bie
Wechſel unterfchreibe. Ich that es, weil ich ihm glaubte —
jeßt ſehe ich erit ein, was ich Schredliches gethan! Aber
es ging jo weiter und jeßt vor vierzehn Tagen jagte er mir,
er Eönne fie nicht bezahlen, nachdem fie an der Zahlitelle
protejtirt worten find. Was heißt das? Es ift zu arg....
Er drohte mir au, und fagte, daß ich ihn auf der Stelle
heirathen müffe, er erklärte geradezu, er würde es font
gar nicht einmal verfuchen, das Geld aufzutreiben, außer
ich heirathe ihn. Und dann müfje ich die Eonjequenzen
tragen! Ich- zermartere meinen Kopf und finde feinen
Ausweg. Er droht, wenn ich ihn nicht beirathe, fo läßt
er fie los über mich und fie werben mich klagen und
pfänden, und banfrott machen und ich muß vor Gericht.
Ziebfter Herr Guedalla, ſehen Sie nun ein, in welche
jürchterliche Zage ich gefonımen bin? Wird Herr Roſe,
mein Curater, mir das Geld geben? Er wird e8 nicht.
Und was fann ich dann thun? Ich muß ihn heirathen
und wie fann ich das jetzt, wo ich ihn nicht mehr lieb
haben kann nach der Behandlung, die er mir in legter
Zeit zugefügt hat! Wie könnte ich e8! Cr behauptet,
wenn ich ihn heirathe, dann findet er das Geld, um bie
12 Merkwürdige Proceſſe aus England.
Wechſel zu bezahlen. Wenn Herr Roſe e8 mir aber
nicht gibt, ift meine Zufunft vernichtet nach jeder Nich-
tung hin. Ich muß es haben, ich muß es befommen.
Gott weiß wie, aber es muß ja fein! Wiffen Sie nie-
mand, der mir e8 leihen möchte? Wenn Herr Roſe es
nicht berausgibt, um mich zu retten, dann muß ich ihn
ia heirathen! Ich bin ganz krank vor Verzweiflung. Er
jagt, er will gar nichts thun, um das Geld zu beihaffen,
wenn ich ihn nicht heirathe — begreifen Sie nun, was
ih leide? Ich bin Schon fo unglüdlich, feien Sie nur
nicht auch noch böfe mit mir. Ich kann meinen Kummer
niemandem Hagen außer Ihnen — ich möchte um bes
Himmels willen nicht, daß ſonſt noch jemand erfährt wie
berzlos er gegen mich gehandelt bat. Nehmen Sie mir,
ih bitte Sie, nichts übel. Ich bin ja fo unglüdlich! fo
verzweifelt! fo zu Grunde gerichtet!” ...
Es find dies nur kurze Bruchftüde aus ben Briefen
des gepeinigten Mädchens, aber fie beweifen, welche Qualen
Mit Scott gelitten hat, und geben ein veutliches Bild
von ihrem Geelenzujtande. Aus den Briefen ergibt fich,
daß außer ber finanziellen Sorge und der Furcht vor
dem Einjchreiten des Gerichts und der Schande noch ein
anderer, fchwerer Kummer auf der jungen Dame laftete.
Die Angft, die fih in den Worten Luft macht: „ich bin
verzweifelt, ich bin zu Grunde gerichtet”‘, bezieht fich zu—
gleich darauf, daß ihr Bräutigam ihr drohte: Wenn fie
das Geld nicht fofort fchaffen könne, müffe fie ihn hei—
rathen, und wenn fie fich weigere, die Ehe einzugehen,
werbe er ihrer Mutter jagen und in allen ihren geſell⸗
ſchaftlichen Kreifen erzählen, daß fie fih von ihm habe
verführen laffen!
Sn den Briefen ift diefe jchändliche Drohung nur an⸗
gedeutet und in dem Procefje ift Beweis darüber nicht
Merkwürdige Proceffe aus England. 13
angetreten worven. Die Parteien find, um bie junge Dame
zu ſchonen, übereingelommen, über biefen Punkt und auch
über ihren Umgang mit Mr. Sebwright feine Fragen zu
ftellen. Aber der letztere ift auf fein eigenes Verlangen
als Zeuge vernommen worben und hat eidlich werfichert:
es fei zwijchen ihm und Miß Scott niemals etwas Un-
gebührliches vorgekommen.
Das ift die einzige Zeugenausfage über dieſen veli-
caten Bunt.
Angenommen, dag Wir. Sebwright hierin pie Wahrheit
gefagt bat, fo ift dies in der langen Kette von abfcheu-
lichen Zäufchungen, Betrügereien und Erprefjungen, deren
Opfer das arme bethörte Mädchen wurbe, bie einzige
Bethätigung von Ehrgefühl ihres Bräutigams.
Ob er aber feiner Braut gebroht hat, er wolle wider
tie Wahrheit ihrer Mutter mittheilen, daß fie von ihm
entehrt worden fei, tft im Proceßverfahren, wie fchon er-
wähnt wurde, nicht feitgeftellt worben.
Der Inhaber des einen Wechſels hatte, wie wir aus
den Briefen erfahren haben, Frift His zum 30. Sanuar
gegeben, zugleich aber erklärt, dies fei der äußerſte Ter-
min, länger warte er nicht, wenn auch bis dahin Zahlung
nicht geleiftet werde, müſſe er die Eröffnung des Con«
curſes über fie beantragen. Miß Scott wußte feinen
Rath und Feine Rettung. Herr Guedalla hatte ihr Das
Geld nicht gefchidt, ſondern fie aufgeforvert, fich ver-
trauensvoll an ihre Mutter zu wenden. Dazu konnte
fih Miß Scott nicht entichliefen. Sie war der Ber-
zweiflung nahe. Da jpiegelte ihr Sebwright vor, es gebe
einen fehr einfachen Weg: ihre Eheſchließung.
Wenn fie bereit jet, ihn zu beiratben, werde e8 ihm
leicht fein, die Gläubiger zu befriedigen. Williams und Lee
würben ihre Klagen zurüdnehmen und fie nicht mehr be«
14 Mertwürdige Procejje aus England.
läftigen. Er fügte hinzu, die Ehe könne vorläufig ge-
heimgebalten werden, auch ihre Mutter brauche nichts
davon zu erfahren, er würde alles ordnen und ebnen,
bie Quälereien hörten mit Einem Schlage auf und die
Gefahr fei gehoben. Weigere fie fih aber, ihn zum
Gatten zu nehmen, dann werde er den Dingen ihren
Lauf laffen, ja noch mehr, er werde fie zu Grunde richten.
Miß Scott war mistrauifch geworben und fchenkte
feinen Berficherungen feinen Glauben mehr, fie fürchtete,
daß auch die Heirath Feine fichere Hülfe gewähren würde.
Um fie zu überzeugen, daß feine Verſprechungen jich er-
füllen würben, führte er fie eines Tags, Ende Januar,
in die Kanzlei eines gewiffen Arthur Burr, den er ihr
als einen VBerficherungsagenten bezeichnete. Mr. Burr
erklärte, wenn Miß Scott den Mr. Sebwright heirathe,
wolle er die Wechjel übernehmen und einlöfen, aber nur
unter diefer Bedingung wolle er überhaupt mit der An—
gelegenbeit etwas zu thun haben.
Diefe Unterredung machte Eindrud auf Miß Scott.
Am 29. Januar begab fie fih in die Wohnung, richtiger
gefagt in das Gefchäftslocal von Mr. Sebwright, ber fie
um ihren Beſuch gebeten hatte, um über die Wechjel mit
ihr zu ſprechen. Während ihrer Unterrebung fam Williams
hinzu und fagte in hartem Zon, länger warte er nicht,
wenn nicht endlich Ernſt mit ber Heirath gemacht würde,
lafje er jchon im Laufe der nächjten Woche ven Concurs
eröffnen. Die junge Dame trennte fich von ihrem Ver—
lobten in großer Aufregung.
Noch an demfelben Abend jchrieb ihr Der. Sebwright
einen Brief. Er bat fie, mit ihm wegen der Wechjel am
folgenden Tage, ven 30. Jannar, an der Ede von Mount-
ftreet zufammenzutreffen. Sie folgte der Einladung und ging
in Begleitung von Mrs. Butler, einer Frau, die fie währen
Merkwürdige Proceffe aus England. 15
ihrer Krankheit gepflegt hatte, zu dem Rendezvous. Cie
ſelbſt hat über die nun folgenden Ereignifje fo ausgefagt:
„Es war am Vormittag. Emma Butler hatte mich
begleitet. Ich ließ fie in einem Laden in Bonbftreet zurüd,
mit ber Weifung, daſelbſt auf mich zu warten. Ich nahın
einen Cab unb fuhr an die Ede von Mountftreet. ‘Dort
erwartete mih Mr. Sebwright. Er Tieß ven Wagen
halten und ftieg zu mir hinein. Er verlangte, ich follte
ihm meine Hand geben, ich verweigerte fie ihm jedoch.
Er Hatte dem Kutjcher gejagt, wohin der Wagen fahren
ſollte. In der South-Aublenftreet, am Standesamte,
jtiegen wir aus. Ich wußte aber nichts davon, daß in
dem Haufe ein Standesamt war. Dir. Sebwright be-
mächtigte jich mit Gewalt meines Armes und führte mich
die Treppe hinauf. Ich war wie von Sinnen, denn ich
Dachte, wir gingen wegen ver Wechjel vor irgendein Ge-
richt. Im Haufe fanden wir den Grafen Valhermey,
einen Freund des Herrn Sebwright, den ich ſchon von
früher ber Tannte, aber nicht leiden mochte. Wir traten
in einen Saal ein, und nun erft fagte mir Arthur Seb-
iwrigbt, er habe mich hierher geführt, um die Che mit
ihm zw fchließen. Ich weigerte mich und wollte mid)
entfernen, aber Graf Valhermey ftellte jich vor bie
Thür, wehrte mir den Ausgang und erklärte: das gehe
jet nicht mehr, zuvor müfje der Ehevertrag unterjchrieben
fein. Dr. Sebwright fülgte hinzu, wenn ich noch Umftände
machte, würde er mich auf der Stelle erfchießen. Dabei
zeigte er mir einen Revolver, den er bet fich trug. Schon
früher einmal, im Mai 1885, hatte er mich mit Erſchießen
bedroht. Ich fürchtete mich und ſchwieg. Es famen etliche
Leute herein. Dean fprach zu mir, ich meiß aber nicht
was. Ich wußte vor Angſt nicht, was vorging. Ich
ftand fo, daß ich Arthur Sebwright nicht fah, plöglich
16 Merkwürdige Procefje aus England.
jtedte er mir einen Ring an den Finger. Ich z0g ihn
ab und warf ihn weg. Wlan verlangte von mir, ich
jollte ven Handſchuh ausziehen und als ich mich weigerte,
wurde ed mir barſch befohlen. Sch fürchtete mich und
gehorchte. Ich wollte fortgehen, aber Arthur Sebwright
rief mir zu, ich müßte meinen Namen unter ein Schrift:
jtüd jegen. Er raunte mir zu, wenn ich es nicht augenblid'-
lich thue, werde er mich zu Grunde richten. Dabei nahm
er mih am Arme und ging mit mir vor den Tiih. Mit
Graf Valhermey mochte ich fein Wort reden und vor
Sebwright hatte ich Angft, weil er mich fo wild anjah
und jo entjeglich bebrohte. Sch habe ihn durchaus nicht
mehr heirathen wollen und habe es auch nicht aus freiem
Willen, jondern nur gethan, weil ich mich fo fürchtete.
Sch fchrieb meinen Namen in ein Buch. Er bielt meinen
Iinfen Arm feft und drückte ihn, bis ich unterfchrieben
hatte. Dann verließ ich den Saal und ging bie Treppe
hinunter. Arthur Sebwright begleitete mich. Unten an-
gelangt, fagte er zu mir, ich hätte alles geiban, was er
bon mir geforbert hätte, und gab mich frei. Ich beftieg
ven Cab und fuhr zurüd zu Frau Butler. In welchem
Zuftande ich gewejen bin, weiß ich jelbft nicht. Arthur
Sebwright habe ich feit jenem Tage nur noch zweimal
gejehen. Wir haben nicht als Eheleute zuſammen gelebt.‘
Die Mutter der jungen Dame beftand, als fie von
ber heimlichen Eheſchließung Kenntniß erhielt, trotz des
Widerſtrebens ihrer Tochter, auf einer Unterfuchung durch
ihren Hausarzt. Diefer erklärte, daß die Ehe nicht voll-
zogen worben fei. Mr. Sebwright hatte aljo wenigitens
in biefem Punkte nicht ehrlos gehandelt.
Der Superintendent Mr. T. Worlod, Standes:
beamter für Chefchliegungen, wurde als Zeuge vernommen.
Er gab an, Mr. Sebwright babe die Anzeige in Betreff
Merkwürdige Proceſſe aus England. 17
der von ihm beabjichtigten Ehe mit Miß Scott ordnungs⸗
mäßig erjtattet und das Brautpaar zuerft auf ben
17. December angemelbet, dann aber angezeigt, feine
Braut fer erfranft. Der Termin wurde deshalb auf ven
30. Januar verlegt. Als der Superintennent Worlod
in den Saal des Stanvdesamtes trat, waren die Parteien
und die Trauungszeugen bereits verfammelt. Er hat von
irgenbeiner Drohung oder Einfhüchterung der Miß Scott
nicht8 vernommen. Er erinnert fich nicht, ob fie mit
Worten oder mit einem Neigen des Kopfes die vorjchrifts-
mäßigen ragen nach ihrem Alter u. ſ. w. beantwortet
bat. Als er die Aufforderung an fie und Dir. Sebwright
richtete, fich zu erheben, ftand fie auf. Die entſcheidende
Frage, ob fie vor ihm und den Zeugen einwillige, den
anwejenden Mr. Sebwright als Gatten anzunehmen, be-
antiwortete fie mit Ja.
Ueber ihr Benehmen und ihre ganze Haltung fagte
ter Zeuge: „ES jchien mir, als ob fie mit ihrem Bräus
tigam eine lebhafte Auseinanderfegung gehabt hätte. Sie
war etwas aufgeregt. Ich hatte den Eindruck, als wenn
fie ärgerlich und verftimmt wäre. Sie ftampfte mit dem
Fuße auf, wie verjtimmte Frauen mitunter zu thun
pflegen. Sie hatte ihr Geficht halb abgewendet, als wenn
fie mit ihrem Bräutigam ſchmollte. Den Ring zog fie
vom Finger ab und jchleuberte ihn zornig weg. ‘Die
Seremonie des Ringwechſels ift nicht geſetzlich vorge-
jchrieben. Sie wird nur vorgenommen, wenn bie Braut-
leute e8 ausbrüdlich wünſchen.“
Die nächfte Zeugin, Frau Butler, erzählte, was
fie von den Vorgängen am Lage ver Eheſchließung wußte:
„Am 30. Januar forderte mich Miß Scott auf, mit
ihr auszugehen. In Bonpftreet fagte fie zu mir, fie
müffe in einer Geldangelegenheit mit einem Herrn ver»
XXI. 2
18 Merkwürdige Proceffe aus England.
hanbeln, ver in der nächiten Nähe jet, ich folle auf fie
warten, fie werbe nur etwa fünf Minuten ausbleiben.
Wir trennten uns, ihre Abwejenheit dauerte aber etiva
eine halbe Stunte. Al fie zurüdtem, war fie ganz
außer fih und weinte unaufhörlich. Ich fragte fie nach
ver Beranlaffung, fie jchluchzte heftig und antwortete:
«Wenn Sie hören, daß ich etwas Fürchterliches gethan
habe, fo werden Sie willen, daß ich nicht bei Sinnen
gewefen bin.”
Das Zeugenverhör war gejchloffen und der Solicitor⸗
general Sir Edward Clarke gab für den Bellagten
bie Erflärung ab: „Mr. Sebwright bat ſich ehrenhalber
für verpflichtet gehalten, als Zeuge fih in biefem Pro=
ceffe vernehmen zu laſſen, findet fich aber nicht veranlaßt,
auf alle Vorwürfe zu entgegnen, bie wider ihn erhoben
worden find. So lebhaft er in einem frühern Stabium
bed Proceſſes gewünfcht hatte, die junge Dame als feine
Gattin zu reclamiren und die Gültigkeit ber Ehe mit ihr
anerfannt zu fehen, fo bat er fich dennoch entichloffen,
biefen Wunfch aufzugeben, denn die Ausſage ter Miß
Scott vor dem Gerichtshofe bewies zur Genüge, daß fie
gegen ihn eine unbezwingliche Abneigung und fogar ent-
ſchiedenen Widerwillen empfindet.”
In der Klage war Mr. Sebwright befchuldigt worden,
burch gefährliche Drohungen Miß Scott zur Eingehung
der Ehe genöthigt und eine Erpreffung verübt zu haben.
Es wurde behauptet, er habe fich mit Williams und Lee
verabredet und verbündet, bie junge Dame zum Abſchluſſe
einer ihren Gefühlen durchaus widerftrebenden Heirath
zu bewegen, lebiglih zu dem Zwede, um eine große
Summe Geld von ihr zu erprefien. Zu biefem Behufe
habe er das unerfahrene Mädchen liſtig beftimmt, Wechfel
zu unterzeichnen, fie dann burch jeine Genoffen durch
Merkwürdige Proceffe aus England. 19
Zahlungsauflagen und auf fonftige Weife quälen und ver-
folgen laſſen, endlich feine Braut durch faliche Voripie-
gelungen in das Standesamt gelodt und fie daſelbſt durch
Drohung mit einer Waffe vergeftalt in Angft und
Schrecken verfett, daß fie widerſtandslos, unter dem
Drude eines unwiberftehlichen Zwanges, mechanisch ſprach
und that, was er von ihr forderte.
Der Beklagte hat diefe fchweren Vorwürfe nicht wider-
legt. Aber das Gericht nahm davon weiter feine Notiz,
tenn es handelte fi nicht um einen Criminalprocek,
fondern um ein Chejcheivungsverfahren. ‘Der Richter
führte aus: „Es fcheinen allerdings manche Umftände
verjchiwiegen und andere abfichtlich nicht Margelegt worden
zu fein, es wäre wol auch wünfchenswerth, noch genauer
inftrnirt zu fein, ehe der Spruch gefällt würbe; aber es
ift boch bewiefen, daß lange Zeit vor ber formellen Ehe-
jchließung bie Gefühle der jungen Dame ftch gänzlich ver-
ändert haben und daß von einer freiwilligen Eingehung
der Che ihrerſeits feine Rede gewejen fein kann. Sie ijt
inftematifch in einen Zuſtand körperlicher und geijtiger
Abjpannung und Ermattung verfegt worden, der fie un-
fähig machte, einem feften, ihr aufgebrungenen Willen
Widerſtand zu leiften. Sie erichraf vor den Drohungen
ihres Verlobten, die in gefunden und normalen Zeiten
wol nur Verachtung, in ihrem damaligen Zuftande aber
Furcht und Willensunfreiheit hervorriefen. Es ift daher
niemals bei ihr der Wille, der zum Abfchluffe eines Ver⸗
trages im Sinne des Geſetzes nothwendig ift, vorhanden
geivefen. Da dies bewiefen ift, wird die Che zwiſchen
Der. Sebwright und Miß Scott deshalb von Rechte
wegen für nicht vollzogen und für ungültig erflärt.
die ftandesamtlichen Eintragungen find zu vernichten und
ber Kläger wird in die Koften des Proceſſes verurtheilt.“
2*
20 Mertwürdige Procefje aus England.
Die Zuhörer hatten den Verhandlungen mit dem
größten Intereffe und fichtliher Spannung beigewohnt,
fie nahmen entſchieden Partei für die unfchulbige Klägerin
und gegen ven Beklagten, ver fich fo ſchmählicher, ehrlofer
Handlungen wider das junge Mädchen ſchuldig gemacht
und ein frevelhaftes Spiel mit ihrem Herzen und ihrer
Neigung getrieben hatte. Als das Urtheil verfünbigt
wurbe, brängten fich alle heran, um beutlich zu hören;
al8 das Gericht die Che für nichtig erflärte, brach ein
ungeheuterer Beifallsſturm aus.
Zu derſelben Stunde fand vor dem Gerichtöhofe für
Bankrottverfahren (Court of Bankruptey) eine Verhand⸗
fung wider Arthur Sebwright jtatt. Abgefehen won den
3350 Pfd. St., für welche Miß Scott wechjelmäßig haf⸗
tete, hatte Sebwright 12544 Pfd. Et. oder 250880 Marl
Schulden contrahirt! Der vorgeladene Eridar war nicht
erſchienen, weil er bei dem Eheſcheidungsproceſſe zugegen
fein mußte. Der Termin wurde deshalb vertagt und
Dir. Sebwright anderweit citirt. Der Concursproceß
endigte damit, daß Mr. Sebwright’8 Gläubiger leer aus-
gingen. Mr. Sebwright hatte fein väterliches, nicht un⸗
beträchtliches Erbe durchgebracht und befaß nichts mehr.
Der Proceß, den wir mitgetheilt haben, ift charafte-
riſtiſch für die Rechtsauffaffung und die Rechtspflege in
England. Das Gericht hat die Veberzeugung gewonnen,
daß Dir. Sebwright durch Betrug und Drohung, durch
Lift und Zwang ein unbefcholtenes Mädchen zur Ein-
gehung einer Ehe genöthigt bat, um ihr Geld abzupreffen.
Er war ein finanziell ruinirter Menſch, ein Banfrotteur,
und wollte fih noch eine Zeit lang über Waſſer halten,
deshalb entwarf er ben verbrecheriichen Plan und führte
Merkwürdige Brocefje aus England. 21
ihn mit Hülfe feiner Complicen durch. In allen civi-
firten Ländern wäre er von dem Strafrichter zur Ber-
antwortung gezogen und zu einer ſchweren Freiheitsſtrafe
perurtheilt worden. In England wirb die ganze Sache
nur vom privatrechtlichen Standpunkte aus beurtheilt.
Die Klägerin hat ein Intereffe daran, daß bie Ehe-
ſchließung vernichtet wird, darauf hin Hagt fie vor dem
Ehegerichte und dieſes befchränft fich darauf, ihren Klag—
anfpruch zu prüfen und ven Bellagten nach Mafgabe des
Klagpetitums zu verurtheilen. In den Entſcheidungs⸗
gründen wird die Handlungsweiſe des Mr. Sebwright als
unmoraliich fcharf gegeifelt, aber ver Strafrichter hat
mit dem Manne nichts zu fchaffen, denn wo fein Kläger
ist, ift auch Fein Richter. Nach unferm NRechtsgefühle ift
Mr. Sebwright fchlimmer als ein Dieb und Einbrecher,
und gehört in das Zuchthaus, nach engliicher Anſchauung
ift die öffentliche Moral und ver Staat gar nicht bethei=
figt, jondern nur ein Rechtshandel zwijchen ihm und feiner
thörichten Braut zu entſcheiden.
Mr. Sebwright ift ein gewandter junger Mann, ele-
gant und liebenswürbig, dabei niemals wählerifch in ben
Mitteln, wir halten für recht gut möglich, daß er troß
jeines jchimpflichen Bankrotts nach einiger Zeit wieder in
die Höhe fommt und nochmals eine Rolle fpielt. Ob er
durch eine reiche Heirath jein Glück machen ober als
Hochſtapler im Zuchthaufe, welches er diesmal nur ge-
fteeift hat, endigen wird, kann niemand vorausjagen.
29 Mertwürdige Procejie aus England.
2. Eine unfehlbare Jury in England nnd ein un⸗
fchuldig wegen Mordes zum Tode vernrtheilter Matrofe,
dem man fein Recht auf Wiederberitellung feines guten
Namens verweigert.
1835.
In einer lonboner Schenke, welche vorwiegend von
Matroſen befucht wurde, entbrannte eined Abends im
Jahre 1885 unter den Gäften, die zum größten Theile
aus italienischen Seeleuten beftanden, ein heftiger Streit,
ber ſchließlich zu einer erbitterten Rauferei führte. Die
Lichter wurden, wie dies in folchen Fällen gewöhnlich zu
geſchehen pflegt, ausgelöſcht. ALS die Schlägerei immer
größere Dimenfionen annahm, erfchien endlich bie Polizei.
Man fand einen Mann biutüberftrömt auf dem Fuß⸗
boden liegen, ein Meffer ſtak tief in der Bruft, er ath⸗
mete zwar noch, konnte aber nicht mehr fprechen und folg-
lih auch nicht darüber vernommen werben, wer ihm. bie
Todeswunde beigebracht habe. Cr verſchied nach wenigen
Minuten. Die Polizei nahm das Meffer an fih und
jtellte durch unverbächtige Zeugen den Eigenthümer feſt.
Es gehörte einem ber italienischen Matrofen, ver fich bei
dem Danpgemenge betheiligt hatte.
Der Mann wurde verhaftet und unter der Anklage
des Mordes vor eine Jury geftellt. Der Criminalfall
erregte fein fonverliches Auffehen, denn e8 kommen ber»
artige biutige Auftritte in London öfters vor, und bier
hatte, wie e8 fchien, ein ausländifcher Matroſe einen
Ausländer niedergeftoßen, was kümmerte dies das Bubli-
fum in England! Der Angeklagte war ber englifchen
Sprache nicht mächtig, e8 mußte deshalb ein Dolmetfcher
Merkwürdige Broceffe aus Englant. 23
zugezogen werben. Die Zeugen beftätigten, was fich in
der Schenke zugetragen hatte: ven Wortwechſel, die Schlä-
gerei, ven Tod bes einen Matrojen durch das Meſſer des
Angejchuldigten und die Theilnahme des letztern an dem
Raufhandel. Er felbft hatte fich für nichtſchuldig erklärt,
wurde aber nicht weiter verhört und verftand von allem,
was vorging, nichts, weil in einer ihm fremden Zunge
gefprochen wurde. Die Jury einigte fich fchnell, ihr Ver-
dict Tantete: Schuldig des Mordes. Der vorfiende
Richter gab feinen Beifall zu erfennen, er beglüdwünfchte
bie Gejchivorenen zu ihrem Sprude und fagte, dieſes
Verdict werbe hoffentlich dazu beitragen, baß bie abjchen-
liche Unfitte, bei Raufhändeln zum Mefjer zu greifen, fich
in England nicht einbürgere. Solche Streitigkeiten mit
ter Fauſt auszufechten fei vielleicht roh, aber Doch männ-
lich, dagegen fei e8 feige und nieberträchtig, einem Gegner
ten blanfen Stahl zwifchen die Rippen zu ftoßen.
Der Angeklagte wurde zum Tode verurtheilt. Er ver:
ficherte feine gänzliche Schufplofigfeit und proteftirte gegen
das Urtheil, welches ihm an den Hals ging; aber ber
Richter hörte nicht auf diefe in italieniſcher Sprache ab-
gegebenen Berficherungen und Protefte. Der Fall war
abgethan.
Unter den Zuhörern der Verhandlung hatte fich zum
Glück ein feit Jahren in London anfäfjiger Italiener, ein
angejehener Kaufberr, befunden. Er vernahmTund ver-
ftand die Bethenerungen des Angeklagten. Sie machten
ihn den Einprud der vollen Wahrhaftigkeit, er gewann
die Weberzeugung, daß ein unfchulpiger Landsmann von
ihm zum Tode verurtheilt worden fei, und befchloß, ihn
womöglich zu retten. Er wandte ſich an ven Lord⸗Kanz⸗
fer mit der Bitte, die Hinrichtung aufzufchieben. Die
Bitte wurde gewährt. Nun ließ er fih von dem Ver⸗
24 Merkwürdige Broceffe aus England.
urtheilten den Hergang des Streites genau erzählen.
Derfelbe blieb dabei, daß nicht er, fondern ein anderer
italienischer Matroſe, den er namentlich nannte, den töd⸗
lichen Mefferftoß geführt habe. Der Kaufherr fette alles
daran, dieſen Matrofen ausfindig zu machen. Es gelang
feinen unabläffigen Bemühungen, zu ermitteln, daß fich
ver Mann in Liverpool aufhielt. Der Kaufber reifte
ſelbſt dorthin, fuchte ihn auf und redete ihm in bad Ge⸗
wifjen, er ftellte ihm vor, welche fchwere Sünde er be-
ginge, wenn er einen unſchuldigen Kameraben binrichten
liege für eim nicht von tiefem, ſondern von ihm jelbft
begangenes Verbrechen, und vermochte ihn dazu, vor Ge—
richt zu geftehen, daß er fich in den Beſitz des Meſſers
des Angeklagten gefett, und daß er ben Mord verübt
habe.
Der Kaufherr begab fich mit dieſen neuen Beweis—
mitteln nach London zurüd. Das Zobesurtheil wurde
nun natürlich nicht vollzogen, aber was war fchlieklich
das Endergebnig? Nach den verfteinerten Formen des
engliihen Strafproceſſes kann eine engliſche Jury nicht
irren. Das einjtimmige Verdict der zwölf Gefchworenen
ift unfehlbar und nicht anfechtbar. Die Wiederaufnahme
bes Proceſſes war nicht möglich, der Angellagte blieb
alfo troß des Geftänpniffes feines Kameraden in Liver-
pool von Rechts wegen des Mordes fchuldig und zum
Tode verurtbeilt. Der wirkliche Mörder purfte nicht zur
Rechenjchaft gezogen werben, denn ber „Ihäter” war ja
bereit8 wegen dieſes Mordes verurtheilt, folglich Tonnte
nach der Fiction des englifchen Rechtes ein anderer dieſes
Verbrechen nicht begangen haben. Es blieb nur der fehr
unvollfommene Ausweg übrig, den Angeklagten und uns
Ihuldig Verurtheilten zu begnadigen. Dies gefchab, aber
jeine Ehre iſt dadurch nicht wieberhergeftellt. Solange
Mertwürdige Brocejje aus England. 25
ex lebt, haftet der Makel auf ihm, daß er einen Men-
hen ermordet und deshalb vechtöfräftig zum Tode ver-
urtheilt worden ift.
Wir fehen an dieſem Criminalfalle von neuem, wie
dringend nothwendig eine gründliche Reform des eng-
liſchen Strafprocefjes if. Wenn es dazu käme, würbe
man auch bie wunberliche Beftimmung befeitigen müffen,
daß ber Angeklagte vor Gericht nicht vernommen zu wer⸗
ben pflegt, jondern der Verhandlung wie ein unbetheilig-
ter Zuhörer ftumm beimohnt. Weber einen Umftand, der
einen Dritten betrifft, kann er zwar befragt werben, aber
dann tritt er als Zeuge auf und wird als folcher be-
eiigt. Ueber die Anklage und die ihn belaftenden Be⸗
weile wird er nicht verhört, weil man ihn nicht veran-
(affen will, wider fich felbft auszufagen. Im Widerſpruche
damit jteht e8 wieberum, daß feine Geftänbnifje in dem
polizeilichen Vorverfahren gegen ihn benußt werben
firmen, und ferner hat man überfehen, daß man ihm,
indem man ihn eine ftumme Rolle Spielen läßt, auch den
Leg abichneibet, die Beweife für feine Echuld zu wiber-
legen. Hätte in unferm Falle der Angeklagte vor Ge-
riht den Namen des Mörders angeben und den Qor-
gang wahrheitögemäß erzählen dürfen, fo wäre vermuth-
ih vom Gerichte der Schulpige ermittelt und mit ber
verdienten Strafe belegt worden. So aber hat ber ita-
lieniſche Kaufherr die Pflicht des Gerichtes erfüllt, nach—
dem der Spruch bereit ergangen war, und es iſt jeben-
falls nicht das Verbienft des englifchen Gerichts und
bes englischen Rechts, daß der unſchuldige Mann nicht
Bingerichtet worden ift.
26 Merkwürdige Proceffe aus England.
3. John Jeſſop vor dem Schwurgericht in Nottingham
unter der Auflage des verſuchten Selbſtmordes uud
der Berleitung eines Kameraden zum Selbftmorde.
1887.
Am 4. Februar 1887 präfibirte der Richter Field den
Affifen, die in Nottingham, einer zu feinem Gerichtöbezirf
gehörigen Stadt, abgehalten wurden, in einer nach deut⸗
ſchen NRechtsbegriffen fehr merkwürdigen Anflagejache.
Sohn Jeſſop war befchuldigt, einen Selbjtmorbver-
ſuch gemacht und einem gewiffen Sohn Allod, ber fich
vergiftete, Beihülfe geleiftet und deshalb auch den John
Allod ermordet zu haben. Erjchienen waren als An-
Häger für bie Krone die Aonocaten Horace Smith und
Bruce Ruffel, als Vertheidiger der Advocat Apple
ton. Die Anklage ftügte fich auf folgende Thatjachen:
Sohn Jeſſop und Sohn Allod waren befreundet ge⸗
weſen. Sie hatten fich von verjchievenen Drogniften und
Chemifern Heine Dofen Laudanum zu verjchaffen gewußt
und nach und nach eine anfehnliche Menge von biejem
Gifte zuſammengebracht. ALS die Quantität nach ihrer
Schätzung genügte, um zwei Menfchen zu töbten, begaben
fie fih in eine Scheune und verabrebeten daſelbſt, mit-
einander zu Sterben. Sie theilten die tobbringenden
Tropfen ganz genau, jeder nahın feine Hälfte und ver-
Ichludte das Laudanım. Die Wirkung davon trat fehr
bald ein, fie verloren beide das Bewußtſein und wurben
von britten Perfonen bewußtlos in der Scheune liegend
aufgefunden. Man machte VBerfuche, fie in das Leben
zurüdzurufen. Sohn Jeſſop kam infolge bavon wieder
zu fih und wurde allmählich wieberhergeftellt. Bei
Merkwürdige Procefje aus England. 97
John Allock dagegen fchlugen die angewenbeten Mittel
nicht an, er war tobt und wurde begraben.
Jeſſop Hatte lange vor der Schwurgerichtsverhandlung
mebrern Perfonen erzählt: „Es ging mir unb meinem
Freunde John Allock fchlecht; wir hatten beide unſere
Stellungen verloren, bejaßen feine Geldmittel und wuf-
ten nicht, was wir nun anfangen follten. Allock fchlug
vor, wir wollten dieſem elenden Leben durch Selbftmord
ein Ende machen. Er richtete an mich die Frage: willft
bu zufammen mit mir fterben? Ich batte auch feine
Luft, mich noch länger herumzuguälen, und eriwiberte:
«3a, ich bin einverftanben, mir ift alles einerlei, ich folge
dir in ben Tod.» Allod zog hierauf ein Fläſchchen voll
Laudanum aus der innern Tafche feines Rockes, zeigte es
mir und fagte: «Das ift Gift, das verfchafft uns einen
leichten und fchnellen Tod, aber es ift noch zu wenig.»
Wir kauften an verjchiedenen Stellen noch mehr Lauda⸗
num und dann haben wir e8 veblich getheilt und einge-
nommen. Es war unfer ernftlicher, wohlüberlegter Wille,
und zu vergiften.”
Nach engliihem Rechte ift ver Selbſtmord ein wirf-
licher, an der eigenen Perſon verübter Mord. Der
Selbſtmörder kann natürlich nicht beftraft werben, weil
er ſich der irbifchen Gerechtigkeit entzogen hat, aber wenn
ber Selbſtmord nicht gelingt, fo wird ver Thäter wegen
verfuchten Mordes beftraft wie ein Verbrecher, ver ven
Berfuch gemacht Hat, eine britte Perfon zu ermorden.
Wenn nun zwei Menfchen fich verabreden, gemeinichaft-
ih zu fterben, indem jeber fich vergiftet, oder die Kehle
abfchneivet, oder auf andere Weife umbringt, und dieſe
Verabredung ausgeführt wird, jo bat nach engliſcher
Rechtsauffaffung jeder ein doppeltes Verbrechen begangen,
jever iſt des Mordes an der eigenen Perſon ſchuldig
98 Merkwürdige Procejfe aus England,
und jeder ift Mitthäter am Selbftmorde des andern.
Wenn nur das Vorhaben des einen gelingt und ber
andere wieder in das Leben zurücgerufen wird, fo it
ber letztere ftrafbar wegen des Verfuches eines Selbft-
mordes und wegen Mitthäterichaft an dem Morde feines
Genofjen.
Auch in dem vorliegenden Falle ging die Anklage von
biefer Rechtsanjchauung aus und bie Ankläger beantrag-
ten, das Schuldig über John Jeſſop auszufprechen. Der
Vertheidiger wies darauf Hin, daß der Präcevenzfall, an
welchen fich der englifche Nichter regelmäßig zu binden
pflegt, wejentlich anders gejtaltet fei und einen ganz ans
dern Thatbeftand enthalten habe. In dem Präcebenzfalle:
„Regina versus Alison‘ (die Königin wider Alifon), auf-
genommen in die „Sammlung der Gerichtsenticheibungen‘“
Br. 8, ©. 418, habe der Angeflagte das Gift ſelbſt ber-
beigefchafft und feinen Gefährten überrevet, e8 zu genie=
Ben und fo fich felbit zu töbten. ‘Der Richter Batterjon
habe ihn deshalb mit Necht als einen Mörder bezeich-
nen können, aber in biefem Falle fei ver Gedanke des
gemeinfchaftlichen Selbſtmordes zuerft von Sohn Allock
ausgegangen. Dieſer habe fih in Befig von Laudanum
gejet und felbjtändig ven Entſchluß gefaßt, fich zu ver—
giften. Der Angellagte Jeſſop habe bei dieſem Entſchluſſe
nicht mitgewirkt, überhaupt könne von einem gemeinfchaft-
fichen verbrecherifchen Entjchluffe feine Rede fein, weil
Allock's Abficht, ſich das Leben zu nehmen, bereits feft-
geitanden habe. Er habe feinen bereits unwiderruffichen
Entſchluß auch ausgefprochen und feinen Freund Jeſſop
gefragt, ob er mit ihm zufammen fterben wolle. Jeſſop
ſei dem Entſchluſſe feines Freundes nur beigetreten und
mithin nicht verantwortlich für den Tod des letztern, ben
er nicht mit befchloffen habe.
Merfwürdige Procefje aus England. 29
Der die Verhandlung leitende Richter Field wies
biefe Ausführungen bes Vertheidigers in einer eingehen«
ven Belehrung an die Gefchiworenen zurüd. Er fagte
ber Jury: wenn fie Die Ueberzeugung gewännen, daß
Jeſſop und Allod einen gemeinjchaftlich auszuführenden
Selbftmord planten und verabredeten — und ber Beweis
hierfür jet vollkommen erbracht — fo feien fie verpflich-
tet, ihr Verdict auf Schuldig abzugeben.
Die Jury verurtheilte den Angeklagten bemgemäß
wegen Mordes, fügte aber die Bitte hinzu, daß dem
Mörber die Gnade der Königin zutheil werben möge.
Der Richter Field fällte das Todesurtheil. Er
fonnte auch gar nicht8 anderes thun. Bis zum Jahre 1861
war ben Richtern in England bie Befugniß zuerfamt:
„das Zobesurtheil ven Acten einzuverleiben‘. Das hatte
die Bedeutung, daß das Todesurtheil zwar ben Rechten
gemäß habe ausgefprochen werden müffen, aber nicht voll⸗
zogen werben jolle, bis ber Wille ver Königin tie Voll-
ziehung anordne, das hieß, daß e8 überhaupt niemals voll-
zogen werben folle. Die Consolidation Statutes von
1886 haben dieſe Berechtigung des Richters aufgehoben
und Dies damit motivirt, daß der Nichter nicht feiner per-
jönlichen Anſchauung über die TIhatfrage, deren Entjchei-
bung einzig und allein den Gejchivorenen zufomme, Aus-
drud geben und fie fogar wider ben Willen der Jury zur
Geltung bringen dürfe. Seit jener Zeit muß ber vor-
fitende Richter, wenn der Spruch der Gefchworenen auf
„Schuldig des Mordes” lautet, ohne weitern Zufa den
Angellagten zum Tode verurteilen.
Auch der von uns berichtete, doch in ber That fehr
prägnante Tall veranlaßte das von andern Sorgen in
Anſpruch genommene Parlament nicht, ſich mit ver Frage
zu beichäftigen, ob dem offenbar unbaltbaren Zuſtande
30 Mertwürdige Brocefie aus England.
nicht endlich ein Ende gemacht werben folle, daß nad
englifcher Gefetgebung ein Menſch zum Zope verurtheilt
werten muß, ber auf eines Freundes Zureden eingewilligt
bat, mit ihm zufammen Gift zu nehmen. In England
ift man in diefem Punkte harthörig, das öffentliche Ge-
wiſſen jcheint ziemlich abgeftumpft zu fein, und nicht ein—
mal die Preife nimmt viel Notiz von ſolchen gar nicht
jeltenen vichterlichen Urtheilen, die unfer Nechtsgefühl em⸗
pören. Das leitende Blatt Englands, die „Times“, brachte
am nächiten Morgen kaum einige Zeilen über biejen
faltblütigen Juſtizmord.
Die Reform und die Eodification des Strafrechtes wirb
längit in allen competenten Kreifen von England als ein
bringende8 Bedürfniß empfunden, aber fie bleibt ein
frommer Wunſch und ein dauernder Vorwurf für das
zum großen Theile aus gelebrten Juriſten beſtehende Par-
lament. Freilich ift dieſe gejeßgeberifche Aufgabe feine
Parteifrage. Sie kann nicht in Angriff genommen wer-
ben, um baraus politifche® Kapital zu fchlagen, um Ein-
fluß und Macht zu gewinnen oder gar an bie Negierung
zu gelangen. Daber fommt es, daß man fih mit allen
möglichen populären unwichtigen Vorlagen bejchäftigt,
aber e8 ohne Murren erträgt, das feitherige unvoll⸗
fommene englifche Strafgejeg und Strafverfahren beizu-
behalten, obgleich jedermann weiß, daß e8 überreih ift an
Anomalten und Abfurbitäten, und mit Nothwendigkeit da⸗
hin führt, daß ungerechte und unerhörte Urtheile in Straf-
ſachen gefällt werben.
Unfer Tall ift nach dem in England gültigen Gefeke
unzweifelhaft ein Mord, es widerjtrebt aber nicht blos
dem gebildeten juriftiichen Gefühle, fondern auch dem ge=
junden Menfchenveritande und dem Gewiſſen des Volkes,
hier einen Mord anzunehmen. Das Todesurtheil ift
Merkwürdige Procejje aus England. 31
rechtlich unanfechtbar, aber jedermann empfindet, daß
ber Angeflagte den Tod nicht verbient bat. Wäre es
zur Bollftredung gelangt, jo hätte die Obrigkeit von
Rechts wegen ausgeführt, was Jeſſop wider das gött-
lihe Geſetz und die fittliche Weltordnung fich ſelbſt zu-
fügen wollte. Eine in der That curiofe Anwendung des
Geſetzes!
Jeſſop wollte ſich ſelbſt tödten, und weil er dies nur
verſucht und nicht vollendet hat, verurtheilt ihn der eng⸗
liſche Richter „am Galgen aufgehängt zu werden am
Halſe bis er todt iſt“!
Selbſt für den britiſchen Starrſinn, den man in Eng⸗
land öfter als Conſequenz und energiſche Folgerichtigkeit
preiſt, war es doch ein zu ſtarkes Stück, den Angeklagten
zu hängen als den Mörder Allock's, der ſich aus
eigenem freien Entſchluſſe vergiftet hatte. Er wurde von
ter Königin begnadigt, das heißt, es wurde bie Todes⸗
ſtrafe in Freiheitsſtrafe umgewandelt.
An und für ſich iſt das Begnadigungsrecht der Krone
nicht dazu beſtimmt, das Geſetz zu ergänzen und zu
corrigiren. Die Gnade ſoll eintreten, wenn nach dem
concreten Falle die Anwendung des Geſetzes zu hart iſt
und dem Rechtsbewußtſein widerſtreitet; aber ein Mann,
der einen andern nicht mit Vorſatz und Ueberlegung ge-
töbtet, fondern nur zugejehen hat, wie er fich jelbft
tödtete, muß von der Anklage wegen Morbed freige-
ſprochen werben, und kommt nicht zu feinem Rechte,
wenn man ihn als Mörder branpmarkt, aber bie wegen
Mordes ihm auferlegte Todesftrafe in Freiheitsftrafe
verwandelt. Solche Begnabigungen ſchaffen einen
Gegenfag zwifchen dem Gejege und ber Gnade, ober
richtiger, e8 wird dadurch das Begnadigungsrecht ber
32 Merkwürdige Proceſſe aus England.
Krone als eine Inftanz über die durch Die mangelhafte
und verfehrte Gefeßgebung bedingten falſchen richterlichen
Sprüche geftellt.
4. Einige Fälle von Bigamie.
1887.
Der Seite 1 fg. mitgetheilte Fall bat gezeigt, daß
man in England den Betrug bei Eingehung einer Che
für criminalvechtlich nicht ftrafbar Hält. Aber auch bie
Digamie gehört nach ben dortigen Nechtsbegriffen zu den
Privatvelicten. Dem englifchen Volfe und ben englijchen
Juriſten leuchtet e8 nicht ein, daß ein öffentliches In⸗
tereffe verlegt würbe, wenn ein Mann zwei rauen ober
eine Frau zwei Männer heirathet. Man geht vielmehr
davon aus, daß eine Unterfuhung und Beitrafung nur
erfolgen kann auf Antrag des gefchäbigten Ehegatten.
Zum Beweiſe bierfür theilen wir eine Verhandlung vor
dem Polizeigericht in Lonpon vom 11. Januar 1887 mit.
Lilian Lees, 34 Jahre alt, war beſchuldigt, in ftraf-
barer Weife im Jahre 1883 eine zweite Ehe mit Robert
Sramford Lees gefchloffen zu haben, während ihr erjter
GSatte, Sohn Tuckker, noch am Leben war. Der Richter
Biron befragte den Polizeibeamten, welcher die Doppel»
ehe angezeigt hatte, über die nähern Umſtände des Falles.
Es wurden bie beiden Traufcheine vorgelegt und ſodann
die beiden Ehemänner der Dame gerufen. Sie ftanven
miteinander auf einem ganz freunbichaftlichen Fuße, ber
erfte Ehemann, Dir. Tucker, erklärte fich zufrieden ba-
mit, daß feine Frau von ibm fortgegangen fei und ben
Mr. Lees geheirathet habe. Diefer fand fein Bedenken
Merkwürdige Proceſſe aus England. 33
darin, daß die jetzt in ſeinem Hauſe lebende Frau früher
einem andern Manne zugehört hatte und von ihm nicht
geſchieden war. Er dachte nicht daran, ſie deshalb zu
verſtoßen, ſondern ſprach es als etwas Selbſtverſtändliches
aus, daß er die eheliche Gemeinſchaft mit ihr fortſetzen
würde.
Darauf hin entſchied der Richter, es liege kein Grund
vor, die Frage, ob dieſe Ehe rechtmäßig geſchloſſen ſei,
einer Prüfung zu unterziehen, und ſprach die Angeklagte frei.
In einem andern Falle, der im Februar 1887 vor
einem Polizeigericht in London verhandelt wurde, hatte
eine Ehefrau ſich von ihrem Manne, der ein roher
Menſch und ein Taugenichts war, getrennt, weil er ſie
ohne alle Veranlaſſung fortwährend prügelte, und bald
darauf zum zweiten mal geheirathet, ohne ſich zuvor von
ihrem erſten Manne ſcheiden zu laſſen. Es kam auf
Antrag des rechtmäßigen Ehegatten zur Klage. Der Richter
fand die Schuld der Frau, die durch ihres Mannes wüſtes
Benehmen gezwungen worden war, fein Haus zu ver-
laſſen, jehr gering, und verurtheilte fie wegen Bigamie
zu einem Penny Geldbuße.
Am 9. Mat 1887 fand vor dem Schwurgericht in
Derby unter dem PVorfike des Richters Hawkins bie
Hauptverhandlung wider Marie Anna Hiley wegen
res Verbrechens der Bigamie ftatt. Die Angeflagte be>
kannte ſich ſchuldig. Ihr erjter Ehegatte Hatte fie mit
ausgefuchter Grauſamkeit behandelt und fie ſpäter bös—
fich verlaffen. Ohne von ihm geſchieden zu fein, ging
fie mit einem zweiten Manne eine Ehe ein; allein auch
biefer trat in bie Fußſtapfen feined Vorgängers. Er
mishandelte fie und Tieß fie dann ebenfall® im Stiche.
Die beiden fchönen Seelen fanden fih und fetten ihrem
toben Benehmen dadurch die Krone auf, daß fie gegen
XXI. 3
34 Mertwürdige Broceffe aus England.
bie Frau Anklage wegen Bigamie erhoben. Der Friedens⸗
richter hatte Die Sache vor das Schwurgericht verwie⸗
jen. Der Richter Hawkins erflärte: „Dieſe Verweifung
jet nicht nothiwendig gewefen, denn wenn je ein Tall
ber Bigamie entſchuldigt werben könne, fo fei es biejer.
Eine Berurtheilung ſei allerdings nothwendig, weil bie
beiven Ehemänner fie verlangt hätten, er könne e8 aber
mit feinem Gewiſſen nicht vereinbaren, bie gejtänbige
Angeklagte zu einer höhern Strafe als fünf Minuten
Gefängnißhaft zu verurtheilen!”
Ein Eriminalproceß ans Südamerika nad alt-
ſpaniſchem Verfahren.
Alois Szemeredy.
Buenos-Ayres. — Mord. 1876 bis 1881.
Die Calle ve Eorrientes in Buenos-Ahres, der Haupt-
ftabt der Argentinifchen Republik, fteht in einem übeln
Rufe. Im diefer Straße befinden ſich Bordelle in ziem-
ih großer Zahl und außerdem wohnen bajelbft einzelne
‚„Damen”, bie auf eigerre Rechnung von ihren Reizen leben.
Am 25. Iuli 1876, einem fühlen, aber nicht un-
freundlichen Wintertage, wurbe dort ein Mord verübt, ber
zu einer langwierigen Unterfuchung und einem jehr merf-
würbigen Procefje führte, ven wir getreu nach den Acten
barftellen wollen.
Am offenen Tenfter des einftödigen kleinen Hauſes
Nr. 36 fteht ein hübſches blondes Mädchen, etwa zwanzig
Jahre alt, fie muftert die vorübergehenden Leute, nicht dem
einen oder andern Vorübergehenden freundlich zu und ladet
wol auch durch Winfen und Lächeln ein, fie zu befuchen.
Ein hochgewachjener breitichulteriger Mann, mit ge-
waltigem Schnurrbarte, in militärifcher Haltung, bekleidet
mit einem grauen Node, der bis obenhinauf zugeknöpft
3*
36 Ein Eriminalproceß aus Sübamerifa
ift, fommt in Gefellihaft eines Heinern unanjehnlichen
Menſchen in die Nähe des Haufes, er bleibt ftehen, als
er das Mädchen erblidt, und es beginnt eine längere
Unterhaltung, die allmählich immer lebhafter und cor—
dialer wird.
Der Bolizeidiener Francisco Wright, den feine Amts⸗
pflicht dort vorbeiführt, verjteht zwar nicht, was bie bei-
den miteinander reden, denn fie Sprechen nicht fpaniich,
Sondern deutſch, aber er vermuthet, was fich entipinnt,
und murmelt fluchend: „Das verdammte Pad refrutirt
fih doch aus aller Herren Ländern.” Cr befümmert fich
indeß nicht um das Liebespaar, ſondern geht weiter. Nach
einiger Zeit begibt ſih ver Mann im grauen Rode in
das Heine Haus und das Fenſter wird geſchloſſen.
Am fpäten Abend nah 10 Uhr ftürzt ein gewiffer
Baptijte Caſtagnet, ber Zuhälter der Dirne, der mit
ihr zufammen lebt, auf bie Straße und fchreit laut:
„Mörder! Mörder! Zu Hülfe!“ Die Nachbarn eilen
herbei und fragen, was gefchehen jet.
Er Sagt: „Meine Geliebte ift von einem fremden
Manne erftochen worben.” Die Polizei und ein Arzt,
bie fchleunigft herbeigerufen worden waren, begeben fich
in das Haus und jtellen Folgendes feit: Das Schlafzimmer
bes Mäpchens jteht offen. Das Bett ift in Unordnung,
es iſt augenfcheinlich kurz vorher benutzt worden. Auf
dem Bett liegt ein blutiges Dolchmeffer mit ſchwarzem
Griff, auf dem Fußboden ein fehwarzer Filzhut. Auf
einem Stuble in ver Nähe des Bettes findet man bie
Kleider der Dirne, barübergelegt einen grauen Männer-
rod und eine Weite von gleicher Farbe, in der Weſte
eine goldene Uhr, an einer golvenen Kette befeftigt. Im
einer Ede fteht ein Regenſchirm mit ftählernem Hand⸗
griff. Vor dem Bett, auf der Erde, liegt, nur mit einem
nach altijpaniijhem Verfahren. 37
Hemd befleibet, die unglückliche Bewohnerin des Zimmers,
fie ift offenbar ermorbdet. Die rechte Seite des Haljes
zeigt eine grauenhafte Wunde. Mit einem fcharfen,
ſchneidenden Inftrument find unter Anwendung großer
Gewalt die Halsſchlagader (arteria carotida), die Droffel-
abern (venae jugulares) und das ganze Gewebe durch⸗
jchnitten worden. Infolge bes ungebeuern Blutver⸗
luſtes muß ber Tod faft augenblicklich eingetreten fein.
Das Mädchen hieß Karoline Meb; der einzige
Zeuge der That, veffen Alarmrufe das Verbrechen fund»
gemacht hatten, war ihr Zuhälter Baptifte Caftagnet.
Er fagte in dem fofort mit ihm abgehaltenen Verhör
aus: „Ich lebte mit Karoline Met im Concubinat, ich
wußte darum und war einverjtanden bamit, daß fie fich
Männern preisgab und auf dieſe Weife ihren Lebens-
unterhalt verdiente. Am 25. Juli gegen 9 Uhr abends
fam ein bochgewachfener Herr, um fie zu bejuchen. Er
ging in ihre Stube, die dann von innen verjchlofien
wurbe, ich hielt mich in einem Kleinen dunkeln Gemache
daneben auf; dort pflegte ich mich immer bei folchen Zu⸗
fammenfünften des Mädchens zu verjtedlen. Sch hörte,
daß bie Unterhaltung in deutſcher Sprache gepflogen
wurbe, die ich nicht verftehe. Etwa eine Stunde fpäter
ftieß Karoline einen ftarfen Schrei aus, ich vernahm das
Geräufh von Schlägen over Fußtritten, zündete ein
Streichholz an und begab mich auf den Hof, um von
bort aus zu jehen, was im Zimmer vorging. Ich ftieß
bie Zimmerthür, die in die Vorhalle müntet, mit einem
Fußtritt auf, und in demſelben Augenblide eilte ein Mann
in Hembärmeln, ohne Kopfbevedung an mir worüber, er
rannte mich faft um und entfernte fich ſehr ſchnell. Ich
war nun noch mehr erfchroden. Als ich eintrat in bie
Etube, fand ih die Karoline aus einer fürchterlichen
38 Ein Criminalproceß aus Sübamerifa
Halswunde blutend an ber Erde liegend; fie that eben
ihre legten Athemzüge. Ich war außer mir und wußte
nicht, was ich beginnen follte, da lief ich in meiner Angft
auf die Straße und fchrie «Mörder! Hülfe!»
Der Feuerburſche Jules Fiot, ein Franzofe, der von
Karoline Metz eine Keine Kammer gemiethet hatte, konnte
über die Sache feine Auskunft geben. Er war wie ge-
wöhnlich aus dem Cafe, in welchen er bebienitet war,
erſt nah Mitternacht heimgelehrt und dann erjt von dem
Morde in Kenntniß gefegt worden. Auch die nächite
Nachbarin, die Näherin Maria Gerona, wußte nichts
anzugeben, was zur Aufklärung bienen konnte. Sie
hatte vor dem Gefchrei des Baptifte Caftagnet über-
haupt nichts Auffälliges in dem Nebenhaufe bei Karoline
Met bemerkt.
Die Bolizei traute dem Zeugen Caftagnet nicht und
orbnete feine einftweilige Verhaftung an.
Am 22. Juli 1376 ftedelte ein Saft aus dem Hötel-
be- Provence in Buenos-Ayres in das Hötel-de-Rome
über. Gr motivirte biefen Wechjel der Wohnung bei
jeinem Einzuge in das letere Hotel damit, daß ihm im
Hötel-de-Provence baares Geld, Ringe und andere Werth-
jachen geftohlen worden feien. Der Fremde ſagte dem
Geichäftsführer des neuen Hotels, Herren Louis Roget,
er heiße Alois Szemeredy, ftamme aus Ungarn,
babe Medicin ftubirt und als Milttärarzt in frühern
Jahren in Europa, fpäter aber in ver Armee ber
Argentinifchen Republik gedient. Es wurde ihm das
Zimmer Nr. 72 angewiejen.
nah altipaniihem Berfahren. 39
Ter Gaft führte ein ſehr regelmäßiges Leben, er
nahm das Frühſtück und das Mittagseffen im Hotel,
war viel zu Haufe und beichäftigte fich bafelbft mit
ihriftlichen Arbeiten. Er erhielt feine Briefe und empfing
feine Beſuche. Wenn er ausging, pflegte er ebenfo wie
andere Reiſende ven Zimmerfchlüffel einzufteclen und mit-
zunehmen. Er machte ven Eindruck eines ruhigen und
jeliven Mannes, ſchien aber für weibliche Neize nicht ganz
unempfänglich zu fein. In demſelben Hotel wohnte eine
Familie Gianotti, in deren Begleitung fich ein fehr hüb-
ſches Stubenmädchen, Catalina Gonzalez, befand. Herr
Szemeredy verliebte fich in fie, ſuchte fich ihr zu nähern,
gab ſich für einen Gutsbefiger aus und warb um ihre
Gunſt in ziemlich unverblümter Weiſe. Catalina Gon-
zalez rühmte fi) der Eroberung, die fie gemacht hatte,
wies aber die Anträge des Liebhabers, wie fie behauptete,
ſpröde zurüd.
Ezemeredy trug eine einfache, anſtändige Kleidung,
den Rod ftets zugefnöpft bis obenbinauf, was fich leicht
und natürlich aus feiner Gewohnheit, fih in Uniform
zu bewegen, erflärte. Keiner von den Bedienſteten bat je
eine Weite zu ſehen befommen, feiner konnte angeben, ob
er überhaupt ein folches Kleidungsſtück beſeſſen habe.
Am 25. Juli 1876 frühſtückte Szemeredy und ging
ſodann in die Stabt. Abends 6 Uhr zur Speifeftunde faß er
an feinem gewöhnlichen Plage, aß mit gutem Appetit,
und abends gegen 8 Uhr verließ er, wie faſt jeden Tag,
das Hotel, um feine Gefchäfte zu beforgen oder jeinem
Vergnügen nachzugehen. Zwiſchen 10!/, und 11 Uhr nachts
febrte er zurüd, barhaupt, in Hemdärmeln, fichtlich in
großer Aufregung. Das Hotelperfonal umringte ihn ver-
wundert und neugierig. Szemeredy rief: „Ich bin an⸗
gefallen und beraubt worden, jehen Sie nur, wie fie mich
40 Ein Eriminalproceh aus Sübamerila
zugerichtet haben.” Er tbeilte in abgerijjenen Sägen mit,
mehrere Männer hätten ihn auf ter Straße gepadt, zu
Boden geworfen und feine Ueberfleiver weggenommen. Er
wolle fofort auf vie Polizei gehen und Anzeige machen.
Er bat, man möge fein Zimmer öffnen, denn ver Schlüfjel
dazu fei mit feinem Node verloren gegangen. “Der Ge⸗
ihäftsführer des Hotels geleitete ihn perjönlich in feine
Stube. Szemeredy nahm aus feinem Koffer einen Poncho
(ein in Merico und Südamerika ſehr gebräuchliches Klei-
bungsftüd, ein plaibartiger ſchwerer Mantel mit einem Loche,
un den Kopf hinpurchzufteden) und einen weichen, run⸗
ben Hut. Er zog den Poncho an, fette ven Hut auf und
griff nach einem Gegenftande, den er unter dem Mantel
verbarg, die Hotelbebienfteten behaupten, es ſei ein Album
mit Photographien gewefen. Dann verließ er das Hotel
in größter Eile, um, wie fchon erwähnt, auf der Polizei
zu melden, was ibm wiberfahren war. Er hatte fich
faum fünf Minuten im Gafthofe aufgehalten.
Herrn Roget fiel das aufgeregte Benehmen feines Gaftes
auf. Er traute ihm nicht recht und hatte das Gefühl, als
wenn etwas nicht in Ordnung wäre. Deshalb beauftragte er
feinen Neffen Francisco Roget, der als Kellner im Hötel-
de⸗Rome bejchäftigt wurde, ihn zu verfolgen. Francisco
machte fich auf ven Weg; aber Szemeredy, der die Ridh-
tung nach ber nächſten Polizeiftation eingefchlagen hatte,
war ihm ein Stüd voraus und im Gewühle ver Men-
ſchen auf ber Straße feinen Augen bald entfchwunden.
Er verfuchte vergeblich, ihn einzuholen, und lief nım direct
zur Polizei. Als er athemlos und chweißtriefend bort
anlangte, war Szemerety noch nicht da. Francisco war-
tete, aber Szemeredy fam nicht und fehrte auch nicht in
das Hotel zurüd.
Am andern Morgen verbreitete jich die Nachricht von
nad altipanifhem Verfahren. 41
dem an Karoline Met verübten Morde in Buenos⸗Ayres.
Die ganze Stadt gerieth darüber in Aufregung. Als
bald darauf befannt wurde, der ungarische Arzt Szeme-
redy habe fich unter fehr verbächtigen Umjtänden aus
dem Hötel-be-Rome entfernt und fei ſeitdem ſpurlos ver-
ſchwunden, bezeichnete ihn die Stimme bed Volles als
ben Mörder, und auch das Gericht, welche® die Unter-
juhung einzuleiten hatte, ſtand unter dem Einfluffe der
öffentlichen Meinung. Alle Schritte, die gethan wurden,
gingen von dem Gefichtspunfte aus, daß über bie Perjon
desjenigen, der die blutige That begangen habe, fein Zwei—
fel beitehen könne. Diefe vorgefaßte Meinung wurde bie
Urjache verfchiedener Formfehler, die fich ſpäter gerächt
haben, insbefonvere gehört dahin, daß man fich mit ven
doch nur flüchtigen polizeilichen Erhebungen an Ort und
Stelle begnügte und es von feiten bes Gerichts ver-
ſäumte, eine genaue Localbefichtigung vorzunehmen. Die
Perfonen, die irgendwie Auskunft über den Verbächtigen
geben konnten, wurben bagegen vollzählig vernommen und
baburch verſchiedene Thatfachen feftgeftellt, vie Szemeredy
ſchwer belafteten.
Der, im Zimmer der Ermorbeten zurüdgelaffene Rod,
der Hut und der Regenſchirm wurden von dem Perfonal
des Hötelsde-Rome als Eigentum des ungarischen Arztes
Szemeredy mit voller Bejtimmtheit anerkannt; über bie
ebendafelbft vorgefundene Wefte vermochten fie jedoch
nichts auszufagen. Nur der Wirth des Hötel-be- Pro-
vence erklärte, Szemeredy habe auch dieſes Kleidungsſtück
getragen. Seine Behauptung erſchien jedoch nicht glaub-
würdig, weil er von vornherein gegen ven Angejchuldigten
eingenommen und ihm feinpjelig gefinnt war. Er tft der
Anficht, daß Szemeredy den ihm in feinem Hotel angeblich
zugefügten! Diebftahl nur vorgefpiegelt und dies als Vor-
42 Ein Criminalproceß aus Sübdamerifa
wand benußt habe, um, ohme feine Nechnung zu be-
gleichen, aus dem Hotel fortzufommen.
In der Wefte befand fich, wie wir wiffen, eine gol-
bene Uhr und Kette. Beide waren in ber dem Morde
porausgehenden Nacht dem im Hötel-be-Rome logiren-
den Major Jerez entwendet worden. Niemand wußte,
wer der Dieb war und wie er fich in den Beſitz biefer
Werthſtücke gefett hatte. Gehörte vie mit dem Nod im
Wohnzimmer der Karoline Met zufammen liegende Weite
dem Arzte Szemeredy, jo war dringender Verdacht vor-
handen zu der Annahme, daß Szemeredy Uhr und Fette
auch gejtohlen habe, man durfte dann allerdings auch den
Schluß ziehen, daß feine Erzählung von einem ihm im
Hötel=-de- Provence zugefügten Diebjtahl eine Lüge war.
Der Wirth des Hötel-de- Provence hatte deshalb ein
Intereffe daran, daß die Weite als ein Kleidungsſtück des
Arztes Szemeredy anerkannt wurde. Aber fein Zeugniß
ftand allein, niemand von dem Perfonal des Hötel-De-
Rome hatte eine Weite bei Szemeredy gejehen, weil er
den Rod immer zugefnöpft trug. Weber feine Rückkehr
ins Hotel in der Fritifchen Nacht wichen die Ausfagen in
einzelnen Punften voneinander ab.
Der Gefchäftsführer Louis Roget fagte: Szemereby
habe das Licht der in ver Vorhalle brennenden Gaslaterne
gemieben, bie Arme auf dem Rüden gefreuzt gebalten,
jein Hemb fei dunkel geftreift geweſen.
Der Speifeträger Francisco Roget, der Neffe des
Geichäftsführers, gab an, Szemerevy habe ein weißes
Hemd mit lichtfarbigen Streifen getragen.
Der Zimmerfeliner Juan Morel wollte gefeben haben,
daß Szemeredy beim Weggehen ein Album mitnahm,
weiches auf dem Tiſche Tag; der Gefchäftsführer Roget
hingegen blieb dabei, das Album fet aus dem Koffer hervor⸗
nah altfpanifhem Berfahren. 43
geholt werden. Darin, daß Szemeredy in großer Auf-
regung war, ohne Rod und ohne Kopfbevedung anlangte,
einen räuberischen Ueberfali erlitten Haben wollte, fich
eiligft entfernte, um auf der Polizei Anzeige zu machen,
und ſeitdem verjchwunden ijt, ftimmten alle überein.
Ueber ven Lebendgang ver ermordeten Karoline Met
wurde durch die Unterjuchung Folgendes ermittelt: Sie
it das Kind anftändiger YBürgersleute in Straßburg im
Elſaß. In noch ſehr jugendlichem Alter knüpfte fie ein
Liebesverhältnig mit einem Studenten an. Die Aeltern
unterfagten ihr biefen Verkehr und bejchlofjen, weil Karo-
line ihrem Befehle nicht gehorchte, fie an einen ältern
Mann zu verheiratben. Um dem ihr verhaßten Ehebunde
zu entgehen, verlieh fie Straßburg heimlich, begab ſich
nach Genf und fand daſelbſt in einem verrufenen Haufe
Aufnahme. Sie fürchtete indeß, daß ihre Aeltern fie zu⸗
rüdbholen würden, und ließ fich deshalb von einem gewiſſen
Augufto Jamet, der mit dem hübfchen Mädchen Geſchäfte
zu machen hoffte, auslöſen. Sie fchifften fich beibe in
Marjeille nach Buenos⸗Ayres ein, landeten am 13. Dc-
tober 1874 und Karoline wurde von Augufto Jamet in
das von ihm geleitete, in der Calle ve Corrientes gelegene
„Inſtitut“ gebracht, wo fie mit andern Mädchen zu«
fammen wohnte und das gleiche Gewerbe trieb wie biefe.
Auf dem ter Compagnie Transatlantique gehörigen
Dampfer La France, mit welchem fie gefahren war,
hatte fie Beziehungen zu dem Schiffskellner Baptifte Ca⸗
ftagnet angefnüpft. Caftagnet ließ fich ebenfalls in Buenos⸗
Ayres nieder, fette dafelbft den Umgang mit Raroline
Metz fort und überrebete fie, das Injtitut zu verlaffen
und ſich für eigene Rechnung zu etabfiven. Gr lebte
mit ihr zufammen als ihr Zuhälter, Befchüger und Kupp-
fer. Was das Vorleben Caſtagnet's anlangt, jo hat man
44 Ein Eriminalproceh aus Sübamerifa
nur in Erfahrung gebracht, daß er als Kellner von
Marfeille nah Buenos-Ayres gefahren ift und dort ber
Liebhaber und Zubälter ver Karoline Met wurde. Man
hatte ihn verhaftet, weil man ihn für bes Mordes ver-
bächtig hielt; aber man entließ ihn nach fiebzehn Tagen, weil
man in Szemeredy den Mörder entdeckt zu haben glaubte.
Der letztere wurde ftedbrieflich verfolgt, der Telegraph
arbeitete, um feiner habhaft zu werben, fein Signalement
wurde nach allen Richtungen der Windroſe an bie ins
und ausländischen Polizeibehörden verſendet, aber zunächft
war alles umfonft, man hatte jede Spur des Angeklagten
verloren. Als man die blutige That ſchon ziemlich ver⸗
gefjen und bie Zeitungen ihre ſehr vetaillirten und theil-
weile romanhaft ausgeſchmückten Berichte über den Mord
längſt eingeftelit Hatten, erfuhr das Gericht zufällig, daß
Alois Szemeredy ruhig und unangefochten in Rio be
Janeiro lebe. Im diplomatischen Wege wurbe unter
Mittheilung der ergangenen Proceßacten der Antrag auf
Auslieferung bei der Faiferlichen Regierung von Braſi⸗
lien geftellt und demſelben von der legtern ftattgegeben.
Szemeredy wohnte gerade einem öffentlichen Feſte bei,
ba traten zwei Polizeibeamte an ihn heran und eröffne-
ten ihm, daß er auf Verlangen des Gerichts in Buenos-
Ayres und einem Antrage der Regierung der Argentini«
ihen Republik entſprechend verhaftet werde. Er ließ ſich
ohne Widerftand zu leiften ins Gefängniß abführen und
wurbe jobann unter der Escorte eines Polizeifeldwebels
auf dem engliichen Barkichiff Newa nah Buenos⸗Ayres
transportirt, wojelbft er am 8. August 1877 ankam und
in einer Zelle des Strafhaufes eingefchloffen wurbe.
Für das Verfahren in Criminalfachen find in ver
Argentinifchen Republik noch jest die Vorſchriften ver
alten fpanijchen „Leyes de las Partidas” maßgebend,
nad altſpaniſchem Berfabren. 45
ein Gejeßbuch, welches vom König Ferdinand dem Hei-
figen von Eaftilien entworfen, von feinem Sohne Alfons
dem Weiſen weiter ausgearbeitet worden ift, aber erſt im
Jahre 1348 unter Alfons XI. Gejegesfraft erhalten bat.
Diele einzelne Beſtimmungen find allerdings im Laufe
der Zeit geändert worben, aber bie Grundſätze und bie
Grundgedanken find dieſelben geblieben. Die Vorunter-
juhung wird von dem Unterfuchungsrichter nach bem
Princip des alten Inquifitionsverfahrens fchriftlich geführt.
Der Angejchuldigte ift das Dbject der Borunterjuchung,
nicht eine procekführende Partei, ein Vertheidiger ftebt
ihm nicht zur Seite. Iſt die Vorunterfuchung gefchloffen
und ausreichendes Belaftungsmaterial vorhanden, fo
erhebt ter Staatsanwalt fchriftlich die Anklage. Diejelbe
wird dem Angellagten zugeftellt und fein Vertheidiger
bringt fchriftlich vor, was er gegen die Anklage und für
feinen Clienten geltend zu machen hat. Nach dem Schluffe
des Berfahrens erkennt in erjter Inftanz ein Einzelrich-
ter. Er ift an den Inhalt der Acten gebunden, denn es
gift die alte Rechtsregel: quod non in actis non est in
mundo. Wenn das Urtheil auf Schuldig lautet und
eine Strafe ausfpricht, kann e8 von dem Angeflagten
burch das Rechtsmittel ver Appellation angefochten wer-
den. Es findet dann wieder ein fchriftliches Verfahren
jtatt zwiichen dem Staatsanwalt und dem Vertheidiger,
ſodann wird von einem collegialiih zujammengefeßten
Gerichtshofe mit Stimmenmehrheit das Urtheil in zweiter
Inftanz gefällt:
Die fpanifchen Eolonien in Südamerifa haben fich in
blutigen Aufftänden und erbitterten Bürgerkriegen von
dem Mutterlande losgeriſſen, in ber Argentinifchen Re⸗
publif hat man nach befannten Muſtern eine fehr liberale
Berfaffung eingeführt und die Bürger find ftolz auf ihre
46 Ein Eriminalproceß aus Südamerika
Freiheit. Die alten Iuftizgefete bat man inteß nicht
burchgreifend umgeftaltet und ver Criminalproceß ins⸗
befondere ift noch ebenjo jchwerfällig und fchleppend mie
zur Zeit der jpantichen Herrichaft.
Das Unterſuchungsgericht vernahm alle Perſonen nod)-
mals, die ſchon unmittelbar nach der Morbthat verhört
worben waren, nur ben wichtigften Zeugen Baptifte Car
ftagnet nicht. Er hatte fich kurz nach der Aufhebung der
über ihn verbängten Haft nach Amerika eingejchifft und
war für immer verfchollen. ‘Der brafilianiiche Feldwebel
Antonio Auguſto d'Almeida Navarro, ver Matroſe John
Lane und der Steuermann der Newa William O'Conor,
denen Szemeredy auf ber Ueberfahrt von Rio be Janeiro
nach Buenos-Ayres ein Geſtändniß abgelegt haben follte,
wurben als Zeugen vorgelaben, anonyme Briefe an den
Polizeidirector von Buenos-⸗Ayros Don Manuel Rocha
beigezogen und mit Briefen Szemeredy's verglichen.
Zu diefer Vervollftändigung der Vorunterſuchung
brauchte man ſehr lange Zeit. Erſt am 5. April 1879,
alfo faft 1°/, Jahre nad der Verhaftung Szemeredy's,
überreichte der Staatsanwalt V. Pondal die Anklage.
Das Schriftſtück ſuchte darzuthun, daß Szemerebh bie
ledige Karoline Met meuchlings erftochen und im Hötel-
de⸗Rome eine dem Major Ierez gehörige Uhr nebſt Kette
entwendet habe.
Der erjte Richter trat der rechtlichen Auffaffung des
Staatsanwaltes in allen Stüden bei und verurtbeilte den
Angejchulpigten Furzweg wegen Mordes zum Tode. In-
folge der eingewendeten Appellation begann wieder ein
jehr weitläufiges Verfahren, welches enplih am 12. Sep⸗
tember 1881 feinen Abjchluß erhielt durch ein Erkennt⸗
niß tes zweitinitanzlichen Gerichtshofes. In der erften
nah altfpanifhem Berfahren. 47
und zweiten Inſtanz war vom Staatsanwalt Folgendes
ſchriftlich vorgetragen worden:
„In ber Nacht vom 25. zum 26. Juli 1876 iſt bie
proftitwirte Dirne Karoline Meg im ihrer Wohnung
Nr. 36 der Galle de Corrientes ermordet worben. Der
Hals war mit einem Dolchmeſſer durchſchnitten. Diefe
Thatſache iſt durch die polizeilichen Erhebungen feſtgeſtellt,
und durch gerichtliches Gutachten iſt bewieſen, daß die un-
bebingt töbliche Wunde ihr nicht von ihrer eigenen, ſon⸗
dern von ber Hand eines Dritten zugefügt worden ift.
Es liegt ein Mord vor. Im Haufe Nr. 36 wohnte ein
etwas anrüchiger, aber dieſes Verbrechens nicht verbäch-
figer Menſch Namens Baptifte Caftagnet. Er lebte in
wilber Ehe mit Karoline Met, die mit jeiner Zujtimmung
das Gewerbe einer nichteingefchriebenen Luſtidirne trieb.
Caſtagnet's Erzählung, nach welcher der Angeflagte das
Verbrechen begangen hat und fodann ohne Rod und Hut
aus dem Hauſe herausgeftürzt ift, verdient vollen Glau-
ben. Szemeredy ift mit Karoline Met am Abend bes
25. Juli 1876 zuſammen gewejen. Das Bett des Mäd—
Gens ift in großer Unordnung gefunden worden, und man
muß daraus jchließen, daß e8 unmittelbar vor dem Morde
bon dem Mörder ver Karoline Met benugt worden ift,
Es ſtand fo, daß die Thür zu dem Kämmerchen, in wel:
chem ſich Eaftagnet verborgen hielt, nicht geöffnet werden
fonnte.
„Unmittelbar nad) ver That hat Szemeredy die Flucht
ergriffen. Er iſt nach ungefähr einem Jahre in Braſilien
entdeckt und ausgeliefert worden, um in Buenos⸗Ayres
sur Rechenſchaft gezogen zu werben, Vor dem Unter—
ſuchungsrichter hat er ausgefagt:
„«&ines Abends im Sommer 1876, an dag Datum
lann ic mich nicht erinnern, bin ich um vie neunte
48 Ein Eriminalproceß aus Sübamerilfa
Stunde zu Karoline Met gegangen, babe mich mit ihr
unterhalten und ihr einige Zärtlichkeiten erwiefen. Sie
wollte mir etwas zeigen, ich weiß nicht mehr, ob es ein
Brief oder eine Photographie war. Zu dieſem Behufe
zog fie ven Kaften einer Schublade heraus, ich erblidte
darin ganz zufällig einen von ben beiden Ringen, bie mir
geftohlen worden waren, als ich noch im Hötel-de-Rome
wohnte. Ich fragte, woher fie diefen Ring habe? Sie
antwortete, ihr Geliebter Robert Rughier habe ihr den
Ring gefchenft. Ich kannte diefen Dann, er hatte mich
Schon etliche Tage zuvor zu Karoline Me geführt und
meine Bekanntſchaft mit ihr vermittelt. Ich reclamirte
den Ring als mein Eigentbum und wollte ihn an mich
nehmen. Das Mädchen widerſetzte jich meinem Vor—⸗
haben. Während wir barüber ftritten, trat Robert Rughier
in das Zimmer. Ich ftellte ihn zur Rede, er aber leug-
nete, feiner Geliebten den Ring gegeben zu haben. Sie
hielt troßdem an ihrer Behauptung feit, und nun ent-
ipann fich ein heftiger Wortwechjel zwifchen beiden, zulegt
beprohte Rughier fie mit Schlägen. Um das Mädchen
zu ſchützen, jchritt ich ein. Sch hielt den aufgebrachten
Mann feit und warf ihn, als er ſich losmachen wollte,
auf das Bett. Karoline Met juchte uns zu trennen, ich
weiß indeß nicht, welchem von uns beiben fie helfen wollte.
‚Da börte ich, daß fie ganz plößlich einen gellenden Schrei
ausftieß, gleih darauf brach fie blutüberjtrömt zufammen.
Ich war furchtbar erfchroden und eilte ohne Aufenthalt von
bannen. Sch hatte nur ben einen Wunfch, fortzufommen,
und ließ in der Beitürzung Rod, Hut und Negenfchirm
zurüd.»
„sn einem jpätern Verhör wiederholte Szemereby
biefe Angaben und fügte erläuternd hinzu: «ALS ich den
Rughier auf das Bett nieverbrüdte, beſchwor ung Karoline
nach altipanifhem Berfahren. 49
Met mit Thränen, feinen ſolchen Lärm zu machen, ber
bie Polizei herbeirufen und ihr große Unannehmlichkeiten
zuziehen würde. Infolge deſſen erhob ich mich und trat einen
Schritt zurüd. Ich wendete den beiden andern ven Rüden
zw. Plöglich vernahm ich einen lauten Schrei, ich brebte
mih um und fah, daß Karoline Met zu Boden fant.»“
Unter den Sachen, die Szemeredy im Hötel-de-Nome
zurückgelaſſen hat, befinden fich Nieverjchriften und Briefe
von feiner Hand. Sie find zwar ihrem Inhalte nach
gleichgültig für den Criminalproceß, aber fie beweiſen,
daß zwei anonyme Briefe, bie der Polizeipirector von
Buenod-Ayres, Don Manuel Rocha, erhalten hat, von
tem Angeklagten gefchrieben find. Szemeredy räumt ein,
daß die Handjchrift der feinigen ähnlich ift, leugnet aber,
daß die Briefe von ihm herrühren. Bon den Briefen, bie ein
außergerichtliche® Geſtändniß enthalten und dadurch den
Indicienbeweis ergänzen, ift der erſte in auffallend ſchlechtem
Spanifch gejchrieben, voll von Fehlern gegen bie Regeln
ver Satzbildung und der Orthographie. Sie lauten in
möglichſt wortgetreuer Ueberfegung folgendermaßen:
„Buenos-Ayres, 27. Juli 1876.
Hochgeehrter Herr Polizeichef!
Ich fühle mich äußerſt ſchuldig, weil ich meine wei—
land Freundin Karoline Metz am 25. des laufenden
Monats vor 10 Uhr und einige Minuten erftochen babe.
Aber mein hochgeehrter Herr Bolizeichef, ich werde
nie im Stande fein, meinte unverzeibliche That abzuleugnen,
denn fie ift unnatürlich, weber vor Euer Gnaden, noch
vor der ganzen Welt, aber ebenjo wenig wäre ich im Stande,
igretwegen den Sohn einer andern Nation zu befchufpigen,
der ich nicht entjproffen bin. Im den Zeitungen wird
nämlich erzählt, daß ich ein Ungar fei, aber fie verftoßen
XXI. 4
50 Ein Eriminalproceß aus Sübamerila
damit wider die Wahrheit, venn es ift nur wahr, daß
ih ungarifch fprechen fann und das Land Tenne, ebenjo
wie ich Italien, Franfreih, England und anbere Länder
fenne, denn ich bin ſchon viel herumgereift, mein hoch⸗
geehrter Herr.
Meine Herkunft, meinen wirklichen Namen, ich werte
alles das Euer Gnaben enthülfen, wenn ich in Ihrem
Sewahrfam fein werde. Aber ich halte darauf, ebenjo
Euer Gnaden wie der ganzen Welt einzugeftehen, daß bei
meiner Seligfeit ich die That wider die Unglüdliche nur
verübt babe, weil fie fich gegen mich in den legten Tagen
mit andern vergangen hat, fie hat mir viel Leid zugefügt,
aber ich will feinen Stein mehr auf fie werfen, ich bereue
jet die That, wo e8 zu fpät ift.
Verzeihen Euer Gnaden vie fchlechte Schrift, aber ich
Schreibe unter Zittern und Zagen, und weinen um mein
verlorenes Seelenheil, denn niemand kann eine That, wie
ich fie begangen habe, verzeihen.
Ohne mehr, bitte ich Euer Gnaden und bie ganze
Welt, für diefe unnatürliche und graufame That um Ver⸗
zeihung und verbleibe für immer Ihr großer Schuldner.“
Der Brief war nur mit einem nichtsſagenden Schnör-
fel unterfertigt.
In dem zweiten Schreiben, welches Rio, 26. Decem-
ber 1876 batirt ift, fagt der Anonymus:
„Ausgezeichneter und bochanfehnlicher Herr Chef der
politiichen Verwaltung und der Polizei für die Provinz
Buenos⸗Ayres
Don N. N.
Hochgeehrter Herr!
Verzeihen Sie, Euer Gnaden, wenn ich mich mit
einer ſchmerzlichen, aber gerechtfertigten Erklärung an
nach altipanifhem Berfabren. 51
Sie wende, anlaflich des traurigen Ereigniſſes in der
Galle de Corrientes, welches ich in einem Haufe, das in
dieſer Straße gelegen ift, vie Nummer weiß ich nicht, es
befinvet fich zwifchen ver Straße vom 25. Mai und der
Straße der Wiebereroberung, am 25. Juli des laufenden
Jahres hervorgerufen habe.
In diefem Angenblicde, da ich mich bei vollen Sinnen
befinde, erfläre ich, daß ich, nachdem ich während zwölf
Jahren von meinem väterlichen Heim fern geblieben war,
einen Beſuch bei meinen theuern eltern, meinen lieben
Geſchwiftern und fonftigen Verwandten abftatten wollte,
daß ich dort jedoch kaum ſechs ober fieben Monate ver-
weilte und dann von neuem an bie herrlichen Geftabe
des Rio de la Plata mich zurückſehnte. Mit meinem ganzen
Herzen. Ich beablichtigte, mich in einem Lanpftäbtchen
der Republif Uruguay nieverzulafien, und hatte dort nach
furzer Zeit intime Liebesbeziehungen mit einer der boch-
angefebenften jungen Damen bes Städtchens angefnüpft.
Wir waren einig miteinander und nichts fehlte mehr,
um eine glüdfiche Ehe mit genannten Fräulein einzu-
geben, als der gejetlich geforderte Nachweis meines Per-
ſonalſtandes, ven ich mir von meinen hochverehrten Xeltern
erbat. Ich hatte bereit3 das Haus gemiethet, wo wir in
Zukunft wohnen wollten, alles war auf das befte vor-
gerichtet. Es traf mich aber ein entjeglicher Schlag. Als
ich die erbetenen Papiere von meinen theuern Aeltern zu-
gefandt befam, die von den competenten Behörden meines
Baterlandes ordnungsgemäß ausgefertigt waren, und ben
Brief, ver fie begleitete, in Gegenwart meiner Braut
öffnete und fie ihr freubeftrahleno überreichen wollte, er-
Härte fie mir, daß die Papiere nicht mehr nöthig wären.
Sie Hatte mit unglaublicher Schnelligkeit ihren Sinn ge-
ändert und beichloffen, fich nicht mit mir zur vermählen.
4%
52 Ein Eriminalprocef aus Südamerifa
Diefer mich tief betriibende Entſchluß meiner fo heiß⸗
geliebten Braut war unwiderruflich. Ich fuhr mit ter
nächften Poft nach Montevideo und von ba nach Buenos⸗
Ayres. Dafelbft beging ich das elende md graufame
Berbrechen, um vefjentwillen ich nicht mehr würbig bin,
bie Erde ver Gerechten zu betreten. Ich babe verbient,
dafür einen fchimpflichen Tod durch die göttliche Gerech-
tigkeit zu erleiden, wie ihn eine fo nieberträchtige und
abfcheuliche Mordthat als gerechte Sühne erbeifcht.
Ih muß bei diefem Anlaffe Euer Gnaden die Mit-
thetlung machen, daß ich dieſe abfcheuliche That in einem
Augenblide der gräßlichiten Verzweiflung verübte, in
einem Augenblide, va mich der Gedanke an die unerivar-
tete Treulofigfeit meiner gemwefenen zukünftigen Gattin
übermannt hatte, und daß ich es berzeit nicht begreife,
wie ich ein fo haarſträubendes Verbrechen gegen eine uns
ſchuldige Creatur begehen Tonnte, wie ich e8 that mit
dem ſchneidenden Dolce, der elende Henker, wie ich
es bin.
Seit meiner früheften Kinderzeit neige ich zu Ge⸗
birnfranfheiten. Sogar im vorigen Jahre, da ich in ver
trauten Heimat war, um meine innigftgeliebten eltern,
Geſchwiſter und Verwandten zu befuchen, litt ich an gei⸗
jtigen Störungen, wie durch die Aerzte, die mich wäh-
rend der Dauer meiner Krankheit behandelt haben, nö⸗
thigenfall® bewiejen werben kann. Ferner kann dargethan
werben, daß ich eine ähnliche Geiftesfranfheit im Alter
von funfzehn Jahren vurchgemacht habe, und ebenfo fann
ih nachweifen, daß ich als Irrfinniger in dem Hoſpital
San-Buena-Bentura in ver Stadt Buenos-Ayres in Ver⸗
pflegung geweſen bin.
Schr geehrter Herr, ich fchwöre vor dem heifigen
Crucifix, daß ich nicht weiß, von welchem Umſtande ich
nah altfpanifhen Berfahren. 53
bazu getrieben wurde, das Leben des unglüdjeligen Ge-
ihöpfes in ver Calle de Eorrientes zu nehmen, ich weiß
allein, daß fie eine Photographie meines innigjtgeliebten
Schweſterleins zerriß, welche mir von jener als Zeichen
ewiger Anbänglichfeit bei unjerm ach! fo fehmerzlichen
Abſchiede voneinander gegeben mwurbe.
Sch ſchwöre vor dem breimal heiligen F Erucifir T,
baß e8 eine abjcheuliche Lüge und Verleumdung tft, bie
ih in ber löblichen « Demokratifchen Zeitung » geleſen
babe, welche fagt, daß ich fchon mehrere Menschenleben
geraubt hätte jowol in Italien, Frankreich, Brafilien
ald an andern Orten.
Ja, wenn das öffentliche Gericht über mich erkennen
und es ausjprechen wird, was ich gethan, daß ich das
Leben jenes unglücfeligen Gefchöpfes in der Calle ve
Corrientes genommen habe, fo ift das etwas ambereß,
das ift wahr, ich kann und will e8 nicht leugnen, wenn
ich auch gar nicht weiß, wie es zugegangen ift und wie
es geſchah. Ich ſchwöre e8 vor Gott, ich weiß es nicht.
Glauben Sie nur nicht Euer Gnaden, daß ich alles
biefes fage, um mich wegen der graufen Mordthat zu
vertheidigen, welche ich begangen habe. Nein, hochgeehr-
ter Herr, ganz im Gegentheile, ich mar feit jenem uns
glüdlichen Ereigniffe ſchon in Europa, ich bin aber feit-
ber doch wieder über das Meer zurüdgefehrt und befinde
mich derzeit in Rio de Janeiro, angefichts aller Welt,
ohne mich irgendwie zu verbergen, und beabfichtige, mic)
in einiger Zeit, quer durch das Innere bes Landes nad)
Rio Grande do Sul: zu begeben, um mich bort mieber
meinem Berufe, ver Krankenpflege zu widmen.
Wenn mich heute oder morgen, zu meinem Seile, bie
Behörden ergreifen werben, um mich vor das Gericht zu
ftellen, werde ich jelbft von ben hochehrenwerthen Richtern
54 Ein Eriminalproceß aus Südamerika
mir die Gnade erbitten, fie möchten geruhen, unverweilt
und mit böchfter Beichleunigung die Kapitalitrafe aus-
zuſprechen. T Auf das Haupt eines jo elenden Henkers
wie ich einer bin! — Aber, daß ich mich freiwillig dem
Gerichte ftelle, oder daß ih mir freiwillig das Leben
nehme — das kann nicht gefchehen. Von allen Söhnen
Arpad's hat feiner jemals freiwillig den Tod auf fich ge⸗
nommen, jeboch werbe ich mich den Behörben auch nicht
entziehen, welche immer e8 fei, die mich zu fallen gebenft,
nur follen fie nicht verjuchen, mir bei der Inhaftnahme
bie Hände ober Füße zu knebeln, denn in biefem Yalle
müßte ich mich auf Leben ober Tod mit den Beamten
ſchlagen, die mich feftzunehmen gewillt find. Ein folder
Vorgang, dafür verbürge ich mich, geehrter Herr, wäre
auch gar nicht geeignet, um mich zu halten, und Blut
würde fließen, während fonft, um mich zu bewachen, ein
Kind von drei Jahren vollfommen genügen würde.
Sch werbe ficherlich Feinerlei Widerſtand leiften, mein
hochgeehrter Herr, und wenn Euer Önaben es für pafjend
findet, mich vor die Richter zu laden, jo belieben Euer
Gnaben nur bie Agenten abzufenben und mich feitzuneh-
men, ihnen aber ja aufzutragen, feine Eifen oder Feſſeln
anderer Art anlegen zu wollen, benn lieber ftürbe ich
gleih. Warum auch nicht? Dean ftirbt nur einmal.
Ich flehe Sie zugleih an, Euer Graben, im Namen
. ber göttlichen Gerechtigkeit, daß Sie, falld irgendein Uns
glüdlicher unter dem Verdachte der Theilnahme an mei-
ner Mifjethat fih im Kerker befinden follte, dieſen in
Freiheit zu fegen, denn ich habe wahrhaftig feinen Mit-
wiffer oder Theilnehmer gehabt.
Ih Tann nicht weiter und beende dieſe traurige Er-
Härung, wenn ich auch noch viel auf dem Herzen hätte,
das ich jagen möchte,
nad altfpanifhem Berfahren. 55
Ich flehe Euer Gnaden an, zu verzeihen, daß das
Gegenwärtige jo ſchlecht gefchrieben ift, aber ich bin jelbjt
fchon über den Umftand erftaunt, daß es mir gelungen
ift, auch nur fo weit zu gelangen.
Ohne mehr verbleibe id; Euer Gnaden Schuloner, ver
aber in möglichfter Bälde zu bezahlen hofft, um leichten
Herzens zur ewigen Ruhe einzugeben +
Mit Gott „*„“
Der Staatsanwalt fährt in feiner Anklagefchrift fort:
„Dieje beiden Schriftftücte find den beeideten Schreib-
verftändigen Clodomiro Gallardo und Manuel ©. Langen-
beim vorgelegt und mit unbeftritten echten Briefen Sze-
meredy's von ihnen verglichen worven. Sie haben über-
einjtimmend ihr Gutachten dahin abgegeben, daß bie
Schriftzüge biefelben find und von Einer Hand her-
rühren.
„Aber auch innere Gründe fprechen für bie Autorjchaft
Szemeredy's, denn die Angaben über feine perjönlichen
Berbältniffe und andere den Mord nicht direct betreffen⸗
ven Mittheilungen in dem zweiten Briefe find jo privater
Natur, daß ein Dritter davon Feine Kenntniß baben
fonnte, und doch bat fie der Angeklagte als richtig und
zutreffend anerkennen müffen.
„Aus den Ausſagen des Perfonals vom Hötel⸗de⸗Rome
geht hervor, daß ber Angeflagte bort am 22. Juli 1876
Wohnung genommen und fich für einen Arzt, der aus
Mercedes kam, ausgegeben bat. Er trieb feine Berufs⸗
geichäfte, ift gewöhnlich jeden Abend ausgegangen und in
der Regel nicht vor Mitternacht wieder nach dem Hötel-be-
Rome gefommen. Am 25. Juli verließ er das Hotel gegen
8 Uhr abends, er trug einen lichtgrauen Rod, graue
Beinfleiver, darüber gezogen Nöhrenftiefeln und einen
56 Ein Criminalproceß aus Sübamerila
ſchwarzen runden Filzhut. Gegen 104, Uhr fam er
zurüd, in Hembärmeln und ohne Kopfbevedung. Er er⸗
zählte, man babe ihn unterwegs angefallen und beraubt.
Er zog einen Poncho an, fette einen Hut auf und ent»
fernte fich nach faum fünf Minuten wieder, um fich auf
bie Polizei zu begeben. Aufgefallen ift, daß er bie Arme
und die Hände, folange das Licht der Gaslaterne auf ihn
fiel, zur verbergen bemüht war. Vor dem Unterſuchungs⸗
richter hat er zugegeben, daß jeine Hembärmel mit Blut
befleckt geweſen fein könnten, und zur Erflärung angeführt,
er babe ſich in der unmittelbaren Nähe ver Karoline Metz
befunden, als fie die Todeswunde empfing, das Blut fei
hoch in die Höhe gejpritt und babe vielleicht auch feine
Kleider beſudelt. Es ift hiernach wahrfcheinlich, daß er
die Arme auf den Rücken gefreuzt hat, damit die Leute
int Hotel die Blutſpuren auf feiner Hand nicht jehen
ſollten.
„Das Bett des Mädchens war in großer Unordnung,
auf den Polſtern und unter dem Bett ſah man eine be-
beutende Menge von Blut, der Leichnam war nur mit
einem Hemd befleivet und lag am Fußboden. Rod und
Weite Szemeredy’s fand man auf dem Stuhle neben dem
Bett. Diefe Umftände beweifen, daß beide zufammen im
Bett gelegen haben und daß der Angeflagte vie Karoline
Meg im Bett erbolht bat. Sie mag im Todeskampfe
aufgeftanden und dann zu Boden gefunfen fein.
„Szemeredy hat feine Anweſenheit zur Zeit des Mor-
des zugejtanden unb eingeräumt, baß er mit dem Mäd⸗
hen allein gewejen tft und mit ihr gefchlechtlich ver-
fehrt bat.
„Robert Rughier, der das Verbrechen ausgeführt haben
ſoll, ijt eine von ihm erfundene mythifche Perfon. Sie
kann auch nicht identisch fein mit Baptifte Caftagnet, denn
| 5 \
nad altfpanifhdem Berfahren. 57
das Signalement, welches ver Angeklagte von biefem
Rughier entworfen hat, paßt nicht auf Caftagnet, befjen
genaue Perjonalbefchreibung dem Gerichte von einem glaub»
würdigen Zeugen, dem Polizeibeamten Francisco Wright,
geliefert worben ift.
„Das Zeugniß von Baptifte Eaftagnet befchuldigt den
Alois Szemeredy direct. Er hat ausgefagt, daß ver An-
gellagte ganz allein mit Karoline Meg geweſen ift, und
daß er unmittelbar nach dem Morde, als feine Hände
noch vom Blute rauchten, die Stube verlaffen habe und
wie von Furien gejagt, weggelaufen fei. Die Annahme,
Baptifte Caftagnet felbft fei ver Mörder, iſt ausgeſchloſſen.
Er war einverftanden damit, daß feine Geliebte andern
Männern ſich preisgab, er führte fie ihr fogar zu, ihn
plagte die Eiferfucht nicht, und es ift fehr glaubhaft, daß
er fich entfernte und in die Kammer nebenan zurüdzu-
ziehen pflegte, wenn Karoline fremden Beſuch empfing.
„Während der Seefahrt von Rio de Janeiro nach
Duenos-Ayres hat Szemeredy dem Feldwebel Navarro
und einem aus Schottland ſtammenden Matrofen John
Lane befannt, daß er die Karoline Met getöbtet habe,
Aus allen viefen Umſtänden folgt, daß der Angeflagte
bes Morbes ſchuldig ift und folglich ven Tod durch den
Strang nach dem Gejege verbient hat.
„Szemeredy iſt aber auch überführt, die dem Oberft-
lieutenant Jerez gehörige goldene Uhr und Kette ent⸗
wenbet zu haben, denn er wohnte mit dem Beftohlenen
zugleich im Hötel⸗de⸗-Rome. Die Wefte, in welcher Uhr
und Kette fich befanden, war fein Eigenthum, und es ift
nicht denkbar, daß ein anderer als ber Dieb das geftohlene
Gut in die Weite Szemeredy's gejtedt hat. Das con⸗
currirende Verbrechen bes Diebjtahls erhöht die Strafbar-
feit des Angeklagten.”
58 Ein Eriminalproceß aus Sübamerifa
Am Schluffe feiner Ausführungen betont der Staats⸗
anwalt, ohne jedoch diefe Behauptungen aus ven Acten
zu begründen, daß Alois Szemeredy lange Jahre hin⸗
burch das Leben eines Abenteurer und Hochſtaplers ge-
führt, daß er fich als Arzt gerirt habe, ohne feine mebi-
ciniſchen Studien und die Berechtigung zur Ausübung
ber Praxis nachzuweiſen, daß er zeitweilig auch als
Barbier und Perüdenmacher feinen Lebensunterhalt juchte
und fand, daß er, als der Aufftand wider bie beftehende
Staatöverfaffung unter der Führung des Lopez Jordan
ausbrach, fich bemfelben als Freiwilliger anjchloß, und
daß er im Jahre 1868 eines Diebſtahls überwielen und
beshalb vom Handelsgericht in Buenos» Ayres zu ſechs
Monaten Gefängniß verurtheilt worden, alfo nicht mafel-
los jet und dieſe Strafe auch verbüßt habe.
Der Advocat Szemeredy's, Dr. Damafo Centeno, hatte
bie Acten einem gründlichen Studium unterworfen und
wußte mit großem Scharfjinn bie Mängel und bie Lücken
in ber Beweisführung des Staatsanwaltes aufzubeden.
In feiner Nechtfertigungsfchrift der von ihm gegen das
Zobesurtheil des erjten Richters eingewendeten Appellation
führt er ſich redend ein und apoftrophirt ven Gerichtshof,
als ab er vor ihm ftände und voce viva zu ihm fpräche.
Seine Bertheibigung ift glänzend, er glaubt an die Un
ſchuld feines Clienten und verftcht e8, mit Feuer und
Geift feine Ueberzeugung geltend zu machen. Nachdem
er auf bie fchweren Nachtbeile hingewieſen hat, die für
ben Angeflagten daraus entjtanden find, daß die Strafs
proceßorbnung ihn zu einer paffiven Rolle in der Vor⸗
unterjuchung verurtheilt, und fein Recht als proceßführende
Partei nicht anerkennt, während feinem Gegner alle Mittel
ber Berfolgung, über welche die Nechtspflege gebietet, zur
Verfügung ftehen, fucht er die Belaftungsbeweife einen
nah altfpanifhem Berfahren. 59
nach dem andern zu widerlegen. Die Ausſage jedes ein-
zelnen Zeugen und jede Schlußfolgerung des Staats»
anwaltes unterwirft er feiner unerbittlichen Kritif. Die
ganze Anklage zerpflüdt er mit einer beftechenben Dia⸗
lektik. Was er vorbringt, ift oft geradezu überrafchen.
Die That und bie fie begleitenden Umſtände ſowie die
Indicien gegen den Angeklagten erfcheinen nach feinen
icharffinnigen Debuctionen in einem ganz andern Lichte.
Er verfteht die Kunft, durch Ironie und Sarkasmus bie
Belaftungsmomente abzuſchwächen. Seine Leiftung ift ein
Meifterftüc gerichtlicher Beredſamkeit, nur ſchade, daß
wir eime fchriftliche Ausarbeitung vor und haben und
nicht eine mündliche Rede, die doch einen ganz andern
Eindruck hervorgebracht haben würde. Das Thema feiner
Beweisführung ift: „Ein Mord tft begangen, aber bie
Unterjuchung bat einen faljchen Weg eingefchlagen, fie hat
ven Zeugen ber That mit dem Mörder verwechjelt.
Der Mörder ift Baptifte Caftagnet, das Gericht hat
ihn verhaftet, aber thörichterweife in Freiheit gefegt und
an feiner Stelle den ſchuldloſen Alois Szemeredy ber-
folgt und ihm ven Proceß gemacht.” \
Wir können des Raumes wegen nicht wörtlich wieber-
geben, wie Dr. Genteno dieſe feine Theſis begründet bat,
aber umfere Auszüge werden das Wejentliche mittheilen.
„Als die Bolizei am 25. Juli 1876 in das Haus
Nr. 36 der Calle ve Corrientes gerufen wurbe, was fand
fie vor?
„Die Leiche der tückiſch ermordeten Karoline Metz in
ihrem Blute ſchwimmend, auf den Boden hingeftredt und
neben berfelben ven Baptifte Caftagnet, feinem Berufe
nach Zuhälter und Kuppler. Die Aufnahme des That⸗
beftandes erfolgte, Caſtagnet's Mittheilung über den Top
des Weibes, mit deren Weizen er zu feinem eigenen
60 Ein Erininalproceß aus Südamerika
Nutzen Handel getrieben hatte, wurde ohne weitere Prü-
fung als ein glaubhaftes Zeugniß angejehen. Man fand
bie blutgetränkten, burcheinandergeworfenen Kiffen bes
Lotterbettes, welches kurz zuvor der Tummelplatz fleifch-
licher Luft gewejen war, bie Kleider des Opfers und bie
eines Mannes, der fie aus räthielbafter Urſache zurüd-
gelaffen bat.
„Die angeftellten Nachforihungen ergaben, daß Alois
Szemeredy, ein ungarischer Arzt, der damals im Hötel-
be-Rome logirte, der Eigenthümer jener Kleider war.
Szemereby war verſchwunden. “Der Gerichtsarzt gab fein
Gutachten über die Todesurfache ab, die Leiche wurde
begraben, das Actenmaterial nebjt den Kleivungsjtüden
an das Unterjuchungsgericht abgegeben, und ber Chef ber
Polizei fchrieb in dem Begleitbriefe mit großer Sicherheit
und beneivenswerther Gewiffensruhe: «Als Thäter ift ein
gewiffer Alois Szemeredy ermittelt, deſſen Verhaftung
bisjet noch nicht gelungen tft.»
„Der Unterfuchungsrichter acceptirte dieſe Anficht. Im
ber UWeberzeugung, daß über die Perjon des Mlörbers
fein Zweifel beftehe, gab er fich mit der fehr oberfläch-
lichen Rocalbefichtigung der Polizeibehörde zufrieden. Statt
‚bie Angaben des proviforiich verhafteten Baptifte Caſtagnet
auf ihre Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit zu prüfen,
begnügte er ſich mit etlichen fummarifchen Vernehmungen
dieſes Zeugen und entließ ihn ſodann aus dem Gefäng-
niß. Caſtagnet gehört der niedrigften Stufe ber menich-
lichen Geſellſchaft an, er treibt das verächtlichſte Gewerbe,
man iſt deshalb berechtigt, feine Ausfagen von vornherein
etwas mistrauifch anzufehen. Er hat drei Verhöre be-
jtanden und jedesmal verfchiedene Angaben gemacht.
„Zuerſt erzählte er vor dem Polizeicommiflar: «Etwa
um 9 Uhr abends befuchte ein hochgewachjener Mann die
nah altſpaniſchem Berfahren. 61
Karoline Mes, fie ſchloſſen fich ein und unterhielten fich in
beutfcher Sprache. Ich habe fie vom Nebenzimmer aus,
in welchem ich mich verbarg, Sprechen hören. Etwa eine
Stunte ſpäter vernahm ich einen erftidten Schrei bes
Mädchens, und gleich darauf ein dumpfes Geräufch, wie
von Schlägen over Fußtritten. Ich Tief in die Vorhalle,
zünbete ein Schwefelhölzchen an und ſah bei deſſen Schein
einen Mann in Hembärmeln und barbaupt, der mir
entgegenfam und davoneilte. Ich jchöpfte Verbacht, ging
in das Zimmer und fand die Karoline mit einer furdht-
baren Wunde am Halje auf dem Fußboden liegend. Ich
kann ben unbelfannten Dann nicht befchreiben, ich habe
faum Gelegenheit gehabt ihn zu jehen, weder als er kam
noch als er ging.»
‚Bor dem Unterfuchungsrichter, ver bereit in Szeme⸗
redy und nur in biefem ben Mörder erblidte, fagte Bap⸗
tifte Caſtagnet, fein früheres Zeugniß ergänzend, abändernd
und bemfelben widerſprechend, Folgendes aus:
„aDer Beſuch, den Szemeredy ver Karoline Met am
25. JZuli machte, war der erfte, ven er ihr überhaupt
abftattete. Ehe er in die Stube ging, haben beide mit-
einander in Spanischer Sprache gerebet, als fie ihm bie
Thür öffnete, fragte er, ob er die ganze Nacht bei ihr
zubringen könne. Sie verneinte biefe Frage. Ich muß
glauben, daß Szemerevy und Saroline Me einander
früher nicht gefannt haben, denn ich vernahm, daß das
Mädchen fich erfunbigte, ob er jchon früher in biejer
Gegend gewefen fei. Er erwiberte, er fomme zum erjten
mal nach Buenos-Ayres. Ich konnte in meinem Verfted
alles hören, was im Nebenzimmer vorging. Sch ver-
nahm deutlich, daß der Beifchlaf vollzogen wurde, dann
ftand Karoline auf und mufch fich, gleich darauf ftieß fie
einen lauten Schrei aus.»
62 . Ein Eriminalproceh aus Südbamerifa
„Befragt, ob er fich der Phyſiognomie des fremden
Mannes genau erinnere, ob er biefen vorher fchon gejehen
oder gekannt habe:
„Ich erinnere mich genau an feine Phyſiognomie, denn
ih babe ihn, als er eintrat, durch die Glasthür,
welche das Zimmer Karolinend mit der Kammer, in ber
ich mich aufhielt, verband, genau beobachtet. Vor dem
25. Juli habe ich den Menſchen nicht gefehen und nicht
gefannt.»
„Auf die Frage, woher die Ylutfleden rührten, die fich
an feinen Hembärmeln und an ven Aermeln feines Rockes
gefunden hatten, ermwiberte er:
„Ste find vermuthlich Dadurch entjtanden, daß ich der
Karoline, die am Boden lag, ein Kiffen unter den Kopf
gefchoben und mich dabei mit Blut beſchmuzt haben».
„In einem dritten Verhöre, dem zweiten vor dem Unter-
juchungsrichter, wurde ihm die Photographie von Szeme⸗
redy vorgezeigt und bie Frage vorgelegt, ob ihn der Mann
befannt fei, den dieſes Bild darjtelle? Er mtmwortete:
«sch habe dieſen Mann nur ein einziges mal am Abend
des 25. Juli 1875 geſehen. Es ift der Mörder ver Ka⸗
roline Meß, er war damals in ihrem Haufe. Als ich
ihn am Abend des 25. Juli fah, war der Bart dichter
al® zu der Zeit, wo bie Photographie aufgenommen
worben tft.»
„Es tft jehr bezeichnend, wie nach biefen drei Ausfagen
das Erinnerungsvermögen des Zeugen ſich allmählich
fräftigt. Vor dem Polizeicommiffar, unmittelbar nach
dem Morde, gibt er an, er habe den Mörber nur flüchtig
gejeben und könne feine Perjonalbejchreibfung von ihm
entwerfen. Fünf Tage fpäter vor dem Unterfuchungs-
richter erinnert er fich fchon genau an die Gefichtszüge
bes Sremben, den er durch bie beide Zimmer verbindende
——
nah altfpanifhem Berfahren. 63
Glasthür beobachtet haben will. Nach zehn Tagen er-
fennt er nicht nur in der ihm vorgelegten Photographie
den Angeichuldigten mit großer Beſtimmtheit wieber, er
weiß fogar anzugeben, daß fein Bart voller geweſen ift,
als die Photographie ihn darſtellte.
„Dieſer letzte Umſtand beweist, daß Baptiſte Caſtagnet
ſchon vor dem Morde mit Szemeredy bekannt geweſen iſt
und gelogen bat, als er behauptete, er habe ihn am Abend
ber verbrecherifchen That zum erjten mal gejehen. Denn
eine fo unbedeutende Kleinigkeit wie bie größere ober ge-
ringere Dichtigleit des Bartes bemerft man nur an Per⸗
jonen, beren Gefichtszüge und Phyfiognomien fich durch
öftere8 Beifammenjein jo eingeprägt haben, daß jede Ver-
änderung auffällt. Bei Menjchen, die man nur einmal
gefehen Hat, pflegt man folche Beobachtungen nicht zu
machen. Wir müffen alfo hieraus ven Schluß ziehen, daß
Baptiſte Caftagnet den Szemereby bereits gefannt, aber
ein Intereſſe daran gehabt habt, dies zu verjchweigen.
‚Der Zeuge Caftagnet hat ferner gelogen, als er, um
die Blutfleden an feinem Node und feinen Hembärmeln
zu erklären, angab, fie rührten baber, daß er dem tödlich
verwunbeten, ausgeftrecdt auf vem Boden liegenden Mäpchen
ein Kiffen unter den Kopf gefchoben habe. Die Polizei-
beamten und ver Gerichtsarzt haben bei der Vornahme
bes Augenjcheind von einem folchen Kiffen nichts gejehen
und in ihrem Befunde nichts davon erwähnt. Die Kiffen
lagen im Bett und nicht auf bem Boden. Woher
ftammen die Blutflecken, wenn die Eflärung des Zeugen
fih als unwahr herausgeftellt hat?
„Baptifte Eaftagnet hat im zweiten Verhör auögejagt,
er babe den Szemereby durch die Glastafeln ber
Verbindungsthür beobachtet. Dies ift eine grobe
Lüge. Jene Thür bat feine Glastafeln! “Die erfte
64 Ein Criminalproceß aus Sübamerifa
Localbefihtigung war allerdings fo oberflächlich und un-
vollſtändig vorgenommen, daß vie Beichaffenheit der frag-
fihen Thür daraus nicht hervorging. Aber auf meinen
Antrag ift eine nochmalige Nocalinfpection angeordnet wer-
ben. Das Haus Nr. 36 der Calle de Corrientes wird
jet von achtbaren Hanbwerfsleuten bewohnt. Die Räume
darin dienen andern Zwecken, es ftehen andere Möbel
bort und die Eintheilung der Zimmer ift eine anbere.
Aber die Thüren find noch dieſelben und es ift actlich
feitgeftellt, vaß jene Verbindungsthür zwifchen der Stube,
in welcher Szemeredy und die Karoline beifammen waren,
und ber anftoßenden Kammer, dem Aufenthaltsorte des
Baptijte Caftagnet, eine alte, einflügelige Holzthür
ohne Glasſcheiben tft, verjehen mit einer einfachen
Klinke an der dem Zimmer Karolinens zugewandten Seite,
ſodaß fie nur von diefem Zimmer aus geöffnet werben
fonnte. Durch dieſe Thür hat alfo Caftagnıet den Mann,
ber bie Karoline bejuchte, nicht ſehen können. Er hat
ihn auch bei feiner Ankunft nicht gejehen, denn er bat
ausgeſagt: «Der Fremde wurbe von ber Karoline in das
Zimmer geführt, fie verfchloffen die Thür und unter-
hielten fich in beutjcher Sprache. Ich habe dies in dem
Nebengemache, in bem ich mich verborgen hatte, beutlich
gehört.» Er war alfo bereits in ver Kammer, als Ra-
roline diefen Bejuch erhielt, und Hat folglich ven Mann
nur in dem flüchtigen Augenblicke beim Scheine eines
Streichhölzchens gejehen, als er aus dem Haufe ftürzte
und davoneilte. Und in biejem Turzen Augenblide follte
id das Geficht des Unbekannten dem Zeugen fo fejt
eingeprägt haben, daß er bei Vorzeigen ber Photo-
graphie angeben konnte, der Bart fei voller und bichter
geweſen als auf dem Bilde? Wer kann dies für möglich
halten?
nah altipanifhem Berfahren. 65
„Der Zeuge Caftagnet hat berichtet, Szemeredy habe
fih mit Karoline Met auf ver Straße vor dem Fenſter
im ſpaniſcher Spracde unterhalten. Das ift wieder eine
Züge. Der völlig glaubwürbige Polizeibeamte Francisco
Wright hat gehört, daß der hochgewachiene Mann mit dem
zugeknöpften Ueberrod und die Dirne deutſch miteinander
ſprachen.
„Hoher Gerichtshof! Wir nähern uns dem Lichte, die
dunkeln Schatten, welche das Geheimniß dieſes Ver⸗
brechens decken, werden weichen, es wird tagen. Weshalb
log Baptiſte Caſtagnet? Weshalb ſtellte er in Abrede,
den Angeklagten ſchon vor dem 25. Juli 1876 gekannt
zu haben? Weshalb brachte er eine erlogene Erklärung
über die Entſtehung der Blutflecken vor?
„Die Kenntniß von der Lebensgeſchichte, dem Thun
und Treiben der Ermordeten verdanken wir zum größten
Theile den Mittheilungen des Zeugen Caſtagnet. Sie hat
ſich ein Jahr und zwei Monate in verrufenen Häuſern
von Buenos⸗Ayres der Proſtitution ergeben. Caſtagnet
überrebete fie, mit ihm zuſammenzuleben und ihn zu ſich
zu nehmen. Seit fieben Monaten wohnte er in ihrem
Haute, er führte ihr Männer zu und fie ernährte ihn von
dem Ertrage ihres fchmählichen Gewerbes. Baptifte Ca⸗
jtagnet bat vor dem Unterfuchungsrichter ausgefagt, daß
vor etwa vier Monaten ein umbelannter Dieb ver Karo⸗
fine Met eine Schachtel entwendet habe, welche die Briefe
ihrer Schweſter in Straßburg enthielt. Was in ben
Briefen geftanden habe, wiſſe er jedoch nicht, denn fie
feten in der ihm unverſtändlichen deutſchen Sprache ge-
fchrieben geweſen. Er bat dieſen Diebjtahl erfunden und
dem Richter ein Märchen erzählt. Denn Karoline’s
Schwefter fchrieb nicht in deutſcher, fondern in franzöfi-
ſcher Sprache, und aus einem erjt nach dem Tode ber
XXL 5.
66 Ein Eriminalproceß aus Sübamerila
Karoline Met eingetroffenen Briefe ihrer Schweiter, den
bie Polizei mit Beſchlag belegt hat, geht hervor, daß bie
feßtere ihr vorher überhaupt nur ein einziges mal ge-
fchrieben hat. Es heißt in dem Briefe: «Ich weiß nicht,
ob dieſer Brief Dich erreichen ober vielleicht wieder wie
ber vorige aus dem Jahre 1874 verloren gehen wirb und
ich deshalb wieber feine Antwort erhalten werde.» Die-
fer Brief ift franzöfifch abgefaßt.
„Saftagnet hat fomit in Betreff diejes ‘Diebjtahl® min⸗
deſtens zweimal gelogen. Es kann der Karoline Met
nicht eine Schachtel voll Briefe ihrer Schwefter geftohlen
worben fein, denn fie hat, folange fie im Auslande
lebte, überhaupt feine Briefe ihrer Schweiter erhalten,
und bie zwei Briefe, welche die lettere abgejchidt Hat,
waren nicht deutſch, ſondern franzöfiich geichrieben, weil
das Franzöfifche die Mutterfprache ihrer Schweiter war.
Was hat den Zeugen bewogen zu dieſen zweckloſen Lügen?
Wir wiflen es nicht. Aber dieſes fein Verhalten wirft
ein Streiflicht auf den Charakter des elenden Menſchen,
ber ein Gemifch ift von chnilcher Gemeinbeit, Gewinn⸗
ſucht, Scheinheiligfeitt und Lüge. Dennoch troß feiner
rhachitiſchen Erfcheinung, troß feines verächtlichen Gewerbes
als Zubälter und Kuppler, trog der Verlogenheit und
Hinterhaltigfeit feiner Ausfagen, troß des Dunkels, in
welches fein Leben und feine Anteceventien gehüllt find,
bat diefer Zeuge dem Unterfuchungsrichter volles Vertrauen
eingeflößt. Am 17. Auguft 1876 decretirte der Richter
Dr. Hudfon: «Da die gepflogenen Erhebungen feine genügen-
ven Anhaltspunkte für die Verlängerung der Unterſuchungs⸗
haft des Baptifte Caſtagnet gewähren, wirb berfelbe unter
Bekanntgabe dieſes Beſcheides an die Polizeibehörde in
Freiheit gejegt.»
„Saftagnet hat fofort den für ihn gefährlichen Schau-
nad altfpaniihem Verfahren, 67
plag feiner verbrecherifchen Wirkſamkeit verlaffen und ift
ſeitdem verfchollen.
„3b wende mich nun zu dem Angeklagten und zu ber
Behandlung, die er von ber Preffe erfahren bat. Der
Schein ſprach gegen ihn, bie öffentliche Meinung verur-
teilte ihn ohne Gehör. Die Preffe mit ihren abertaufenb
Zungen erfüllte die Luft mit fchaurigen und roman
tiihen Märchen über das Vorleben «des Meuchelmör-
ders). Die überhigte Phantafie jah in ihm den Helden
granenbafter Abenteuer, einen Mann, ver mit dem Leben
jeiner Mitmenjchen ein frevelhaftes Spiel getrieben hatte.
Wenn nur ein Zehntheil dieſer Schauergefchichten ver
Wahrheit entiprach, jo mußte fein Name ein Schredbilb
für Kinder und alte Weiber werben.
‚Denn ich mich erinnere, welchen Antbeil die Zeitungs-
preſſe daran hat, daß das Publikum tirregeführt worben
it, jo erfüllt mich große Bitterkeit. Wir leiden unter
einem fchweren Uebel, hoher Gerichtshof, einem Uebel,
welches nicht oft und nicht ernſt genug gerügt werben
kann. Diefes Uebel wirft feinen Schatten auf die öffent-
fihe Moral gerade derjenigen Staaten und Völker, vie
fih vorzugsweife gern aufgeflärt und civilifirt nennen.
Es iſt ein Uebel, welches fich nicht ableugnen läßt, beffen
Heilung aber jett noch nicht gelungen iſt. Diejes Uebel,
eine öffentliche Calamität, ift die Leichtfertigfeit, mit
welcher die Tagespreſſe über die Ehre der Bürger ab-
urtbeilt.
„Eine Senfationsnachricht vermag den Abſatz einer
Zeitung für einen ober einige Tage zu heben und bie
Aufmerkſamkeit des Publitums auf fih zu lenken. Es
it fo verlodend, früher als andere Blätter und befjer
als diefe unterrichtet zır fein. Und wenn die Mittheilung
auch nicht ganz richtig ift, wenn fie auch Wahrheit und
5%*
68 Ein Criminalproceß aus Sübamerifa
Dichtung oder nur Dichtung enthält, man hat doch den
Eoncurrenten den Rang abgelaufen und den Kreis ber
Leſer einftweilen befriedigt. Lieber ein falicher als gar
fein Bericht über eine Thatſache von allgemeinem Inter-
eſſe. Das ift die Parole der Tagespreſſe vieffeit und
jenfeit des Oceans. Reporter, die in ihrem privaten
Leben ebrenhafte, wahrheitsftebende Männer find, tragen
nicht das mindefte Bedenken, durch Correfpondenzen in
den Zeitungen ben Ruf eines Menſchen zu vernichten,
indem fie Gerüchte verbreiten, die Schwingen ihrer Phan-
tafie entfalten und dieſe ihren Flug nehmen laſſen durch
bie büftern Nebelwolfen der Verleumdung und der Lüge.
Irgendwo ift eine blutige That verübt, welche die Ges
müther erregt, e8 wirb unüberlegt irgenpjemand bamit
in Verbindung gebradt, ein Name genannt, fofort be-
mächtigt fich die Preffe des Falles und brandmarkt vielleicht
einen Ehrenmann, ber ohne alle Schuld durch vie un-
glücliche Verfettung von Umftänden oder den Fehlgriff
der Polizei in Verbacht geratben if. Es ift ein gar zu
großer Reiz, dem in größter Spannung aufbordhenden
Publikum die Einzelheiten des furchtbaren Dramas zuerft
zu jchilvdern, womöglich auch jofort ven Verbrecher zu be-
zeichnen und feine Beweggründe mitzutheilen. Der Zeitungs
berichterftatter ift berufsmäßig nicht verpflichtet, die Schuld
und bie Unſchuld zu ermitteln, das ift die Sache bes
Gerichte und der Staatsanwaltichaft. Cr dient dem
Publikum und meint vielleicht, es ſchade ja nichts, wenn
er auch ohne genaue Kenntniß und ohne fichere Gewährs-
männer über den all referire, die Wahrheit werde doch
an ben Zag fommen. Er läßt feiner Einbildungsfraft
bie Zügel fchießen und fie reißt ihn fort, ſodaß er nicht
ſchildert, was fich wirklich zugetragen, ſondern was er fich
jelbft ausgedacht und ausgemalt hat. Die Hauptperjon,
nah altfpanifhem Berfahren. 69
den Verbrecher, zeichnet er nicht nach der Natur, fondern
wie feine Phantafie den Mann ihm vorfpiegelt, wie er
gerade paßt in den Rahmen, ven er ſich erfonnen hat. Er
malt in bunfeln Farben, und je beffer er es verfteht, bie
Farben zu miſchen und durch geiftreiche Combinationen
zu fejjeln und pilant zu jchreiben, deſto geneigter ift bie
Menge, die noch glaubt, was gebrudt wird, feine Fabel
für Wahrheit zu halten. Aber nicht blos bie urtheils⸗
loſe Maſſe, auch denkende Menfchen werben gefangen oder
boch befangen und fchöpfen Verdacht. Die Folgen eines
jolchen Gebarens find fchon oft verderblich gewejen und
mancher unſchuldige Mann ift das Opfer dieſer Tages⸗
prefle geworden. Das Strafgejet ahndet freilich dieſen
Frevel nicht, aber die öffentliche Moral wird dadurch be:
leidigt, hoher Gerichtöhof. Wer in biefer Weife bie Gei-
ſel jchwingt, misbraucht die Freiheit der Preffe. Er trifft
mit feinen leichtfertigen Schlägen fehr häufig einen ihm
wehrlos gegenüberftehennen unfchuldigen Mann, eine
ebrenwerthe Familie und nicht ven Miffethäter.
„Und wenn der Mann, ven die Zeitungen fo breijt
anklagen, doch nicht der Verbrecher ift?
„Und wenn vie That in einem Augenblide ver Geiſtes⸗
ftörung verübt worden tft?
„And wenn jemand, um ba8 eigene Leben zu retten,
um fich gegen einen ungerechten Angriff zu vertheibigen,
getöbtet hat?
„Was dann?
„Das Publitum erfährt nur, was ihm von den Zei-
tungen mitgetheilt wird. Es weiß nicht, wie fich vie
Sache zugetragen, was bie That und den Thäter ent-
jhuldigt oder rechtfertigt. Aber auch die Zeitungefchreiber
willen es nicht, denn bie Vorunterfuchungen werben ge-
beim geführt, und dennoch berichten fie oft genug, nicht
68 Ein Eriminalproceß aus Südamerifa
Dichtung oder nur Dichtung enthält, man hat doch ten
Concurrenten ben Rang abgelaufen und ben Kreis ber
Lejer einjtweilen befriedigt. Lieber ein faljcher als gar
fein Bericht über eine Thatſache von allgemeinem Inter:
eſſe. Das ift die Parole der Tagespreſſe dieſſeit und
jenfeitt des Dceand. Reporter, die in ihrem privaten
Leben ehrenhafte, wahrheitsliebende Männer find, tragen
nicht das mindeſte Bedenken, durch Correfponbenzen in
den Zeitungen den Ruf eines Menſchen zu vernichten,
indem fie Gerüchte verbreiten, die Schwingen ihrer Bhan-
tafie entfalten und dieſe ihren Flug nehmen lafjen durch
die büftern Nebeliwolfen ver Verleumdung und ber Lüge.
Irgendwo ift eine blutige That verübt, welche die Ges
müther erregt, e8 wirb umiüberlegt irgenbjemand damit
in Berbindung gebracht, ein Name genannt, jofort be-
mächtigt fich die Preffe des Falles und brandmarkt vielleicht
einen Ehrenmann, ver ohne alle Schuld durch die un-
glückliche Verfettung von Umſtänden oder den Yehlgriff
ber Polizei in Verdacht gerathen tft. Es ift ein gar zu
großer Reiz, dem in größter Spannung aufhorchenden
Publikum vie Einzelheiten des furchtbaren Dramas zuerft
zu fchilvern, wowöglich auch ſofort den Verbrecher zu be-
zeichrien und feine Beweggründe mitzutheilen. Der Zeitungs
berichterftatter ift berufsmäßig nicht verpflichtet, Die Schuld
und bie Unſchuld zu ermitteln, das tft die Sache bes
Gerichte8 und der Staatsanwaltichafl. Er dient dem
Publikum und meint vielleicht, es fchabe ja nichte, wenn
er auch ohne genaue Kenntniß und ohne fichere Gewährs-
männer über den Tall referire, die Wahrheit werbe doch
an den Zag kommen. Er läßt feiner Einbildungstraft
die Zügel ſchießen und fie reißt ihn fort, ſodaß er nicht
fhilvdert, was fich wirklich zugetragen, fondern was er fich
jelbjt ausgedacht und ausgemalt hat. Die Hauptperjon,
nad altfpanifhem Berfahren. 69
ben Berbrecher, zeichnet er nicht nach ver Natur, ſondern
wie feine Phantafie ven Mann ihm vorfpiegelt, wie er
gerabe paßt in den Rahmen, ben er fich erfonnen hat. Er
malt in bunfeln Farben, und je beffer er es verfteht, die
Farben zu miſchen und durch geiftreiche Combinationen
zu fejfeln und pilant zu fchreiben, deſto geneigter ift bie
Menge, die noch glaubt, was gedruckt wird, feine Zabel
für Wahrheit zu halten. Aber nicht blos Die urtheils-
loſe Maffe, auch denkende Menſchen werben gefangen oder
boch befangen und jchöpfen Verdacht. Die Tolgen eines
tolchen Gebarens find fchon oft verberblich geweſen und
mancher unfchuldige Mann ift das Opfer biejer Tages⸗
preffe geworden. Das Strafgefet ahndet freilich dieſen
Frevel nicht, aber die öffentliche Moral wirb dadurch be>
leidigt, hoher Gerichtshof. Wer in dieſer Weiſe die Geis»
jel ſchwingt, misbraucht die Freiheit der Preffe. Er trifft
mit feinen leichtfertigen Schlägen jehr Häufig einen ihm
wehrlos gegenüberftehenten unfchuldigen Mann, eine
ehrenwerthe Familie und nicht den Mifjethäter.
„Und wenn ver Mann, den die Zeitungen jo breift
anflagen, boch nicht der Verbrecher ift?
„Und wenn bie That in einem Augenblide ver Geiftes«
ftörumg verübt worben iſt?
„Und wenn jemand, um ba& eigene Neben zu retten,
um fich gegen einen ungerechten Angriff zu vertheidigen,
getödtet hat?
„Was dann?
„Das Publitum erfährt nur, was ihm von ben Zei—⸗
tungen mitgetbeilt wird. Es weiß nicht, wie fich Die
Cache zugetragen, was bie That und ben Thäter ent-
fehuldigt oder rechtfertigt. Aber auch die Zeitungsfchreiber
willen e8 nicht, denn die Vorunterfuchungen werden ge-
beim geführt, und dennoch berichten fie oft genug, nicht
710 Ein Eriminalproceß aus Sübamerila
was fie auf glaubwürbige Weile erfahren, fondern was
fie erfunden haben.
„Wie jchwer ift es, das Schild der Ehre wieder blanf
zu pußen, wenn ber Roft der Verleumbung es angefrejjen
hat! Wie felten kann man den guten Namen eines ein-
mal als Mörvder over Räuber ftigmatifirten Menfchen
wieberherjtellen, auch wenn bie Unfchuld fpäter bewies
jen wird! Es ift für die Tagespreſſe leicht, 'einen Ver⸗
dacht auszusprechen und fein fonderliches Kunftjtüd, ven
guten Ruf eines Mannes zu zerjtören, aber meift ım-
möglich, vollfommen wieder zu fühnen, wenn man ge=
ſündigt hat.
„Hoher Gerichtshof, ich habe ſcharfe Worte gebraucht,
aber echte und gerechte Entrüftung bat fie mir auf bie
Zunge gelegt, und ich denke, daß e8 der erjte Schritt zur
Heilung tft, wenn man ein fociale8 Uebel aufdedt vor
aller Welt.
„Mein unglüdlicher Client ift ein trauriger Beleg für
alles, was ich gejagt habe. Er ift das Opfer diefer un⸗
jerer leichtfertigen Tagespreffe geworben, bie unmittelbar
nad dem in der Calle de Corrientes begangenen Morde
einen wahren Veitstanz um ihn gewirbelt und ihm bie
abſcheulichſten Unthaten zur Laft gelegt hat.
„Es liegt mir eine Zeitung vor, in welcher erzählt
wird, Alois Szemeredy habe von Kindheit auf Neronifchen
Neigungen gehuldigt und ſchon ale Knabe feine größere
Luft gekannt, als die Thiere zu Tode zu martern; er
habe feine Gejchwifter und feine Iugendfreunde denuncirt
und verrathen, feine Aeltern beftohlen, feinen Vater thät-
lich angegriffen und fei endlich aus dem väterlichen Haufe
geflohen.
„Der phantafiereiche Verfaffer dieſes Artikels weiß
gar nichtd von der Lebensgefchichte des Angeklagten, er
N
nah altfpanifhem Verfahren. 71
bat ihn niemals gefehen und vor dem Morde von Karo-
line Meg niemals von ihm gehört. Dennoch hat er fein
Leben nach feiner eigenen Erfindung genau beichrieben.
Er folgt ihm nach Frankreich, England, Italien, in bie
Argentiniſche Republik und nach Braſilien. Er veröffent⸗
lichte eine ganze Serie von Enthüllungen, von denen die
eine immer gräßlicher und ſchauerlicher iſt als die andere.
Es iſt nicht eine einzige von ven Thatſachen wahr, die er
erdichtet hat!
„Dies geſchah vor zwei Jahren, und was gejchieht noch
heute? Kaum wurde e8 befannt, daß der öffentliche An-
Häger den Antrag auf Schulbig zu ftellen beabfichtigte,
jo ftürzte fich die Meute wieder auf das gehekte Wild.
Das gleiche Spiel wieverholt ſich, Erfindungen auf Er-
findungen werben dem Publifum vorgerevet. Der Ge-
ſchäftsſinn der Herausgeber der Journale beflügelt bie
Federn ihrer Berichterftatter. Die Mitgliever des Gerichts-
bofes ſelbſt werben fich davon überzengt haben, daß an
allen Mauerecken Plakate angefchlagen find, welche dieſen
Proceß betreffen. Bon allen Seiten prängen ſich Zeitung®-
jungen heran unb bieten Flugjchriften aus und fchreien:
«Kaufen Sie die Lebensgefchichte des Mörders Szeme⸗
redy! Kaufen Sie das Topesurtheil des Angeflagten!»
„Dieſe mit ſchönen Bildern geſchmückten Schriften were
ven dem Publifum überall auf den Straßen angepriejen
und mit ellenhohen Buchitaben in öffentlichen Anſchlägen
angezeigt. Sie enthalten fo vetailfivte Mittheilungen über
die Ausführung des Mordes durch Szemeredy und find
fo dreiſt und fo unverfchämt in ihren Behauptungen, daß
der Spießbürger gar nicht mehr zweifeln fann an feiner
Schuld. Ja jo weit ift man gegangen in der Täuſchung
des Publikums, daß infolge der Berichte unjerer Tages-
blätter nor einigen Tagen eine fhaufuftige Menge ih nach
2 Ein Eriminalproceß aus Sübamerila
der Recoleta begeben hat, um ber angeblih auf ben
Donnerstag angeorbneten Hinrichtung des Meuchelmörbere
beizuwohnen!
„Der Unfug iſt ſo groß, daß er gerade von der Stelle
aus, die berufen iſt, das Recht zu ſchützen, öffentlich ge⸗
misbilligt werben ſollte. Das Rechtsgefühl iſt tief ge⸗
kränkt. Der Staatsanwalt, der nicht blos den Verbrecher
der verdienten Strafe zuzuführen, ſondern vor allen Dingen
die Wahrheit, die ganze und volle Wahrheit zu ermitteln
verpflichtet iſt, ſollte nicht in vornehmer, kühler Ruhe
ſchweigen, ſondern mir zur Seite treten und dafür ſorgen,
daß man einen Menſchen, über deſſen Schuld das Gericht
noch nicht entſchieden hat, nicht zu Tode hetzen darf.
„Ich, hoher Gerichtshof, ich der Vertheidiger des An⸗
geklagten Alois Szemeredy, ich fühle die ſchwere Laſt, die
der Druck der irregeleiteten öffentlichen Meinung ausübt,
ich fühle, wie niederſchmetternd das Geſchrei der Zeitungen:
anathema sit! auf uns wirkt. Der elende Schacher mit
dem Unglück empört mich im tiefſten Innern. Ich pro-
tejtire vor dem hoben Gericht&hofe feierlich gegen dieſen
abjcheulihen Misbrauch der Preffreibeit. Die Preſſe
verbammt, ohne zu prüfen, fie verurtheilt, ohne dazu be=
rechtigt und befähigt zu fein. Sie treibt Handel mit ben
Leiden ihres Mitmenschen, fie beutet fein Zittern und
Sagen, das Leben eines angfterfüllten, um Ehre und
Leben Fämpfenden Angeklagten, die Thränen und bie
Seufzer eined Unglüdlichen aus, um ein Gefchäft zu
machen, um Geld zu verdienen! Nein, hoher Gerichtshof,
bas ift nicht mehr die Freiheit der Preffe, die wir hoch⸗
halten, e8 ift ein Schanpfled der modernen Cultur!
„Diefe Schanpliteratur, hoher Gerichtshof, hat ihren
Weg fogar in die Zelle des Angeklagten gefunden. Sze⸗
meredy ift im Beſitze des gebrudten Topesurtheils, welches
nah altfpanifhem Berfahren. 73
über ihn gefällt worden fein ſoll! Bedenken Sie, meine
Herren Richter, welchen Eindruck dies auf einen Menſchen
machen muß, ber länger als anderthalb Jahre in Unter-
ſuchungshaft ſchmachtet und Tag für Tag auf ein gerech-
te8 Urtheil hofft, welches ihn losſpricht von aller Schub.
Er ift einem folden Schlage weder phyſiſch noch mora-
liſch gewachſen.
‚Bas kümmert dieſe Seelenpein aber jene Leute, bie
mit ihrer Feder Handel treiben? Der Berichterftatter
ſtreicht ſchmunzelnd fein Honorar ein, ber Herausgeber
der Zeitung berechnet befriedigt ven Gewinn, ben ihm ber
Verlauf von etlichen taufend extra abgefeßten Nummern
bringt. Das Gejchäft geht glänzend und fie denken nicht
an bie Qualen, bie fie dem Gefangenen bereitet haben.
Niemand zieht dieſe Leute zur Mechenfchaft, es ift fein
ftrafender Arm da für folh ein Bubenſtück. Morgen
ſchon wiederholen fie in einem andern Falle, was ihnen
beute fo reiche Frucht eingetragen hat.
„Was thut’8 denn, wenn ein Unſchuldiger verleumbet,
wenn ein Menſch moraliich vernichtet und das Publikum
ſchnöde belogen worden tft? Szemereby kann ſich nicht
vertheidigen, alſo Huffa! Packt ihn, ihr Bluthunde. Jeder
Zropfen Angftichweiß, den ihr ihm auspreft, wirb euch
mit baarem Gelbe bezahlt! Gewiffen? Pah — was foll
das. ES iſt ein umbeguemer Bettgenoß. Weg damit!
Thut nur Geld in unfern Beutel!
„Sch Tege dem hoben Gerichtähofe einen an mich ge-
richteten Brief Szemeredy's vor, aus welchem fich ergibt:
Cr Hat die Flugblätter gelefen, die fein Leben ſchildern,
ben angeblich von ihm verübten Mord haarklein erzählen
und fein Todesurtheil abpruden. Er bat daran geglaubt,
daß er zum Tode verdammt fei. Er verzweifelt troß
jeiner Unschuld. Aus feiner tiefften Noth fchreit er zu
74 Ein Eriminalproceß aus Südamerifa
mir, er ſieht in mir, feinem PVertheidiger, ben letzten
Halt, ven Netter feiner Ehre und feines Lebens!
„Sr bat ſich in mir nicht getäuscht, ich ſchwöre es bei
dem allgewaltigen Gott! Ich habe e8 mir zur Aufgabe
gemacht, das Dunkel aufzubellen, pas dieſe That bevedt;
es wird, ed muß mir gelingen, tie Wahrheit ſoll Heli
und ftrahlend an das Licht des Tages treten und das
lichtſcheue Geſindel ſoll heulend und beſchämt in bie
Winkel der Hölle zurüdkriechen, aus welcher e8 burch Die
Gier nah Gewinn um jeden Preis, auch um den Preis
ber Mannesehre, gelodt worben ift.
„Ich wende mich nun zu den Ausfagen des Angellag-
ten Szemeredy. Er ift nur zweimal vernommen wor—⸗
ben umb erzählt die Vorgänge der Nacht vom 25. zum
26. Suli 1879 in folgender Weife:
„Am Abend des 25. Yult verließ ich das Hötel-de-
Rome, um die Karoline Me in der Calle de Corrientes
zu beſuchen. Sie war mir durch ihren Geliebten, einen
gewiffen Robert Rugbier, vorgeftellt worden, ben ih von
Montevideo ber kannte. Ich war fchon in den Tagen
zuvor zwei⸗ bis dreimal bei ihr gewejen und batte ihr
jebesmal einige Zärtlichleiten eriwiefen.
„Ih war auch diesmal im freundlichiten Verkehre mit
ihr, fie gewährte bereitwillig, was ich von ihr wünſchte.
Im Laufe des Gejpräches fagte fie zu mir, fie wollte mir
etwas zeigen, ich weiß nicht mehr, ob es ein Brief war
oder eine Photographie. Sie öffnete das Fach einer
Schublade, und zufällig erblicte ich darin einen von ben
Ringen, die mir im Hötelede-Provence gejtohlen worden
waren. Auf das höchite überrafcht, fragte ich ſie, woher
fie den Ring babe. Sie erwiberte ganz unbefangen, daß
ihr Geliebter, Robert Rughier, ihr den Schönen Schmud-
gegenftand gejchenft habe. Nun erklärte ich ihr, der Ring
nad altfpanifhem Verfahren. 75
fei mein Eigenthum, ich würbe venfelben wieder an mich
nehmen. Sie erhob Tebhaften Widerſpruch und ver-
weigerte die Herausgabe. Während wir noch pisputirten,
trat Robert Rughier in das Zimmer. Ich richtete bie
Stage an ihn, ob er der Karoline Met ben Ring ge-
geben babe. Er antwortete: „Das ift nicht wahr, ich bin
es nicht geweſen, von bem das Frauenzimmer den Ring
empfangen hat.‘ Saroline hielt trotzdem ihre Behauptung
aufrecht, e8 entſpann fich infolge deſſen ein heftiger Wort-
mechfel zwiichen ihr und ihrem Geliebten. ‘Der lektere
gerieth in Wuth und bebrohte fie mit thätlichen Mis⸗
banblungen. Ich hielt e8 für meine Pflicht, dies zu ver-
bintern, und padte den Rughier, der viel ſchwächer war
ale ich, und warf ihn auf das Bett. Karoline fing an
zu weinen und bat uns unter Thränen, keinen Skandal
zu machen, benn wir wüßten doch, welche Folgen unge-
wöhnlicher Lärm in einem Haufe wie das ihrige haben
würde. Ich ließ deshalb meinen Gegner los, trat zur
Seite und wollte meine Kleider anziehen. In biefem
Moment hörte ich einen halberſtickten Schrei, ich kehrte
mi um und ſah, daß Karoline mit Blut übergoffen
zuſammenbrach. Rughier Hatte fie erftochen. Ich erſchrak
furchtbar, und ergriff, ohne zu überlegen, einem unwill⸗
fürlichen Antriebe folgend, die Flucht. Ich ließ fogar
meine Kleider im Stiche, weil ich feinen andern Gedanken
und feinen andern Wunſch bafte als ben, von biefer
Stätte des Morbes fo fchnell als möglich fortzulommen.»
„Vergleichen wir die Ausfagen des Zeugen Caſtagnet
mit der des Angefchulbigten Szemeredy, jo ergibt ſich:
vie leßtere ift Har, beftimmt, in allen Stüden möglich,
glaubwürdig durch ihre innere Wahrhaftigkeit, fie macht
den Eindruck, daß fich die Thatfachen wirklich jo zus
getragen haben. Die Erzählung Caſtagnet's dagegen ift
76 Ein Sriminalproceß aus Südamerila
unklar, unbeftimmt, ſchwankend, voller Widerſprüche, un⸗
glaubwürdig, fie macht ven Eindruck, daß ber Zeuge bie
Thatfachen verdreht Hat. Caftagnet erklärte nicht, was
den Angeklagten bewogen haben fann, ven Mord zu voll⸗
bringen, Szemeredy hat angegeben, weshalb Caftagnet und
feine Geliebte in einen Streit gerathen find, der pamit endigte,
daß der wüthende Caſtagnet das Mädchen töbtete, weil fie
ihn in den Verdacht brachte, ven Ring entwendet zu haben.
„Die beiden Ausfagen ftehen fich direct entgegen. Die
einzige Zeugin ift das unglüdliche Opfer. Sie kanm
feine Auskunft geben. Welcher ſoll man Glauben jchenfen:
ber wahrhaften oder ver erlogenen, ber bejtimmten ober
ver ſchwankenden, ver folgerichtigen ober ver ſich wider⸗
ſprechenden, berjenigen, bie ben Namen des Mörbers
nennt, oder derjenigen, bie einen Unbelannten als ben
Thäter bezeichnet, verjenigen, bie für das Verbrechen ein
Motiv angibt, oder der, vie fein Motiv anzugeben weiß,
der Ausfage des Ehrenmannes Szemeredy oder der Aus
lage des Kupplers Caſtagnet?
„Die Beantwortung diefer Fragen fanın nicht zweifel⸗
haft fein.
„Die Anklage hat aus der Flucht Szemeredy's in Hemb-
ärmeln und aus bem Umftande, daß feine Kleider in ber
Stube der Karoline Met und in der Innentaſche feines
Nodes die Echeive eines Dolchmefjers gefunden worben
find, die Schuld des Angeklagten gefolgert.
„Beichäftigen wir uns zunächſt mit der Flucht meines
Elienten.
„Wir müffen, um jein auffallendes Benehmen nad) dem
Morde richtig zu würdigen, daran erinnern, wie er ben
fritiichen Tag, den 25. Juli, verlebt hat. Die Bebien-
fteten im Hötel-de-Rome haben übereinftimmenp bezeugt:
Szemeredy habe feine gewöhnliche, vollkommen regelmäßige
nach altſpaniſchem Berfahren. 17
Tagesordnung innegebalten, zu ven üblichen Stunden bie
Mahlzeiten eingenommen, mit gutem Appetit gegefjen
und weber Unruhe noch Aufregung an ven Tag gelegt.
Abends gegen 8 Uhr fei er, wie er auch fonft zu thun
pflegte, ausgegangen, und abends gegen !/,11 Uhr heim-
gelehrt.
„Hätte Szemeredy die Abficht gehabt, die Karoline
Meg umzubringen, und fich mit diefem Entjchluffe aus
rem Hotel entfernt, fo würbe er feine Flucht vorbereitet
haben. Er wußte, daß das Mädchen mit ihrem Zuhälter
zuſammenwohnte und daß ihr Tod fofort oder doch jehr
bald entdedt werben müßte. Wäre er ausgegangen, um fie
zu morben, jo bätte er fich einen Wagen ober ein Pferd,
over doch ein Verſteck gefichert, um fich der Verfolgung zu
entziehen. Er hat nichts von allem gethan, in feiner Weiſe
jeine Flucht vorbereitet, mar muß deshalb annehmen, daß
er beim Verlajjen des Hotel® nichts Böſes im Schilde
geführt und feine Räckkehr dorthin als felbftverftänblich
angejeben bat. Es Tag aber auch fein Grund für ihn
vor, dem Mäpchen ein Leid zuzufügen. Cr hatte erft
kürzlich ihre Bekanntſchaft gemacht und es hatte Fein
Streit zwiſchen ihnen ftattgefunden, denn der Wortwechjel
über den Ring, ven er bei ihr fand, ift fein Streit ge-
weien, ber zu einem blutigen Ausgange hätte führen
tönnen. Szemeredy muß jedoch in einem Zuftande höchiter
Berwirrumg gewefen fein, fonft wäre er nicht in Kalter
Binternacht mit Zurüdlaffung von Rod und Hut in Hemb-
ärmeln fortgeeilt. Er würde fich bei einiger Ueberlegtheit ge-
jagt Haben, daß er in einem fo auffallenden Anzuge leicht
von einem ber zahlreichen Polizeibeamten, welche nachts bie
Straßen von Buenos-Ayres durchftreifen, angehalten und
feftgenommen werden konnte. Er erreichte unangefochten
jein Hotel, und was that er dort? Er erzählte dem Hotel-
718 Ein Eriminalprocehß aus Südamerifa
perfonal einen an ihm verübten väuberifchen Ueberfalt,
zog einen andern Rod an, fette einen Hut auf und ent-
fernte fih, ohne wiederzufommen. Er verließ die Stabt
und begab fih nach Brafilien. Seine Papiere, Briefe,
Photographien, Kleider, kurz alles, was feine Identität
bewies und ben Behörben die ficherfte Handhabe gab, um
ihn zu verfolgen, ließ er in fchönfter Ordnung zurüd.
So kopflos handelt Fein Menjch, welcher mit VBorbebacht
und Weberlegung ausgeht, um einen Mord zu vollbringen.
Hätte Szemeredy, als er das Hotel verließ, die Abficht
gehabt, die Karoline Metz abzufchlachten, fo hätte er vor-
ber bie ftummen Zeugen, vie ihn verrathen mußten, be=
feitigt und feine Flucht vorbereitet. Der Mörber des
Mädchens würde doch wenigftens erft den Rod angezogen
und den Hut aufgejeßt haben, ehe er fich auf die Straße
wagte, wo er durch feine mangelhafte Bekleidung Auf-
jeben erregen mußte. Wenn man bem Zeugen Caftagnet
Glauben fchenkt, brauchte Szemeredy fich in feiner Weije
zu beeilen, er war ja allein mit dem ermorbeten Mäb-
hen und Konnte fich Zeit nehmen. Weshalb ift er trotz⸗
dem in jener Winternacht in Hembärmeln durch bie be=
lebteiten Straßen von Buenos⸗Ayres gerannt, in fteter
Gefahr, verhaftet zu werden? Wir ftoßen überall auf un-
lösbare Näthfel, wenn wir bie Ausfagen bes Zeugen
Caſtagnet für wahr halten. Dagegen erklärt jich alles
einfah und natürlich durch die Erzählung des Angeflag-
ten. Hiernach bat die Dirne wie ſchon früher fo auch
am Abend des 25. Juli das Lager mit ihm getheilt. Er
fand feinen Ring bei ihr, ven fie gejchenft erhalten hatte
und nicht herausgeben wollte Als fie noch beifanmen
waren, trat ihr Zuhälter herein. Zwijchen ihm und dem
Mädchen entipann fich ein Streit, das ift nichts Seltenes,
befanntlich entftehen zwifchen ſolchen Perjonen oft jehr
nah altſpaniſchem Berfahren. 79
heftige, in Thätlichfeiten übergehenve Zwiftigfeiten. Ka⸗
rofine bezichtigte den Kuppler Caſtagnet des Diebftahls,
intem fie behauptete, er habe ihr den dem Angefchuldig-
ten entwenbeten Ring gejchenft. ‘Darüber gerieth Caftag-
net in Wuth, er vergriff fih an ihr und ſtieß ihr das
Dolchmeſſer in die Bruſt. Iſt es etwa das erjte mal,
daß fich im folch einem Haufe fo etwas zugetragen hat?
It dieſer Hergang nicht viel wahrjcheinlicher als die An-
nahme, daß ein Dann, der die Karoline bejuchte und was
er begehrte, von ihr bereitwillig gewährt befam, plößlich
obne irgendwelchen Grund ihr Ylut vergoffen haben joll?
Wir fönnen uns recht gut denken, daß Szemeredh von
einem paniihen Schreden ergriffen wurde, als das von
ihrem Zuhälter tödlich getroffene Mädchen blutend zu
Boden ftürzte, und daß ihn nur der eine Gedanke
beberrichte: ort von dieſem fürchterlichen Anblid, fort
ans biejem Haufe, wo ber Mord feine Stätte hat! Unter:
wege, in ber frifchen Falten Luft mag bie Weberlegung
zurüdgefehrt fein. Er wirb fich gejagt haben, daß er
tböricht gehandelt und fchweren Verdacht auf ſich gezogen
babe, daß man feine Kleider bei Karoline Mes finden
und ihn für den Mörber halten werde. Zurüd konnte
er nicht mehr, denn man würde ihn fofort ergriffen haben,
Zeugen für feine Unſchuld hat er nicht, da nur Eaftagnet
mit ihm in ber Stube gewefen war. Jetzt erſt faßte er
ven Entjchluß, fich durch die Flucht vor der ihm drohen⸗
den Verhaftung und Unterfuchung zu retten. Im Hotel
erzählt er bie ungeſchickt erfundene Gefchichte von dem
Raubanfalle, zieht einen Rod an, jet einen Hut auf und
verläßt eilenden Laufes die Stadt. Er wußte, daß Caftag-
net, alias Rughier ihn denunciren würde, um nicht felbft
dem rächenden Schwerte der Gerechtigkeit zu verfallen,
und daß bie zurüdgelafienen Kleiver gegen ihn zeugten.
80 Ein Eriminalproceß aus Südamerifa
Seine Lage war eine gefährliche, er floh, weil er feine
andere Rettung ſah. Wreilic hat er hierdurch ven Ver⸗
dacht noch vergrößert. Die gebanfenlofe Menge glaubte
ohne weitere® daran, daß der flüchtige Szemeredy ber
Mörder fei, die Zeitungen hetzten, die öffentliche Mei⸗
nung war gegen ihn, und leider ließen ſich auch bie
Männer beeinfluffen, welche unpartetiich die NRechtöpflege
handhaben follen. Auch fie nahmen an, daß Szemerebi)
das Verbrechen verübt habe, und Baptifte Caftagnet, der
Mörder des unglücklichen Mäpchens, wurde leichtgläubig
und leichtfertig freigelaffen!
„Sn der Inmentafche des Szemeredy gehörigen, im
Zimmer von Karoline Met zurücgebliebenen Rockes Hat
man bie Scheide des Dolchmeffers gefunden, mit welchem
ber Mord ausgeführt worben tft. ‘Der Staatsanwalt hat
biefen Umftand nur nebenbei erwähnt, er bat feine
Volgerungen daran gefnüpft. Er hat vermuthlich nicht
gewußt, wie er biefe merfwürbige Thatſache, hinter welcher
eine teuflifche Bosheit ſteckt, erklären fol. Wir wollen
ihm auf die Spur helfen und barthun, daß ſich daraus
ein überzeugender Beweis für bie Unfchuld des Angeflag-
ten ergibt.
„Dat Szemeredy den Mord verübt, jo liegen zwei
Möglichkeiten vor. Er bat die That entweber vorher
überlegt und planmäßig ausgeführt, oder der mörberifche
Gedanke ift plöglich in ihm entftanden, und er bat den
Entichluß, die Karoline Met zu tödten, erit gefaßt, als
er bei ihr in ver Stube verweilte. Wann hat er das
Dolchmeffer aus der innern Taſche feines Rockes heraus-
genommen? Als er in die Stube eintrat? Oder als er
feinen Rod auszog? Oder als er fich zu dem Mäpchen
auf das Bett legte? Oder als er den tödlichen Streich
ausführte?
nah altfpanifhem Berfahren. 81
„Hätte er den Mord Schon vorher befchloffen gehabt,
jo würbe er mit dem Dolchmefjer in der Hand zu bem
Mädchen gegangen fein. Das ift jenoch nicht gefchehen.
Denn er ift ja eine ganze Stunde mit ber Karoline zu-
jammengewefen, er bat bei ihr gelegen und fie umarmt.
Wo foll er dann in dieſer Situation bie fcharfe, ſchnei⸗
dende Waffe, das blanke Dolchmefjer ohne die Scheibe,
gehabt haben.
„Wer in ein berartiges Haus geht, um eine Dirne
zu bejuchen, nimmt vielleicht eine Waffe mit, aber er legt
fih doch nicht mit dem offenen Dolche zu ihr ind Bett.
Szemeredy hatte ven Rod ausgezogen, er war in Hemb-
ärmeln, wo bielt er dann den Dolch verjtedt? Und mußte
nicht Karoline bie glänzende Klinge des Meſſers fofort
jehen, wenn er es offen, ohne Scheide in der Hand hielt?
Würde fie nicht fofort um Hülfe gerufen haben? Aber
Saftagnet hat in der Kammer nebenan davon nicht8 ver-
nommen; wir müfjen deshalb behaupten, daß Szemeredy,
wenn er ber Mörber ift, das Dolchmeffer mit der Scheibe
und nicht ohne die Scheide aus der Immentafche des
Rodes herausgenommen hat. Iſt aber diefe Behauptung
richtig, fo müffen wir fragen, wie ift denn bie Scheite
nach dem Verbrechen in die Nocdtafche gekommen? Sie
mereby wird doch wahrhaftig die Scheide nach dem Morde
nicht wieder in den Rod geftedtt haben? Er hat ben
Rod, die Wefte und ben Hut zurücgelaffen, feine Be—
ftürzung muß alfo fehr groß gewejen fein. Ein Mann,
der fo thöricht und unüberlegt hanvelt, hat ſchwerlich
nah der That die Scheibe des Meſſers forgfältig
wieder in ber Innentaſche tes Rockes verborgen, was
doch gar feinen Zwed Hatte, er würde, wenn er Men
haupt nachgebacht hätte, doch viel eher ben Ai an⸗
XXI.
82 Ein Eriminalproceß aus Südamerila
gezogen und dann das Mefjer mit ver Scheibe ein⸗
geftectt haben, dadurch hätte er wenigſtens ber Entvedung
vorgebeugt.
„Es iſt nun noch die andere Möglichkeit zu unterſuchen,
daß Szemeredy den mörderiſchen Entſchluß erſt während
ſeines Zuſammenſeins mit der Koroline gefaßt und aus⸗
geführt habe. Aber was ſollte ihn dazu bewogen haben?
Ein Streit hat nicht ſtattgefunden, der nebenan befindliche
Kuppler hat ja ſogar bezeugt, daß der Beiſchlaf voll⸗
zogen worden und daß Karoline aufgeſtanden ſei und ſich
gewaſchen habe. Es iſt auch kaum denkbar, daß das
Mädchen aus Scham oder Laune dem Manne, der ſie
beſuchte, Widerſtand entgegenſetzte, und daß dieſer darüber
wüthend geworden, aus dem Bett geſprungen ſein, den
Dolch aus der Rocktaſche genommen und ſie erſtochen
haben ſollte. Und hätte ſich der Vorfall ſo zugetragen,
ſo würde er nicht die Scheide erſt noch fein ſäuberlich und
vorſichtig in die Innentaſche wieder hineingeſteckt, er würde
ſie weggeſchleudert und zugeſtoßen haben.
„Szemeredy hat alſo die Scheide nicht wieder in den
Rock geſteckt. Aber wer hat es ſonſt gethan? Wir ant-
worten: der Mann, der auf dem Schauplatze allein zurück⸗
geblieben iſt, Baptiſte Caſtagnet. Er war ber Eigen«-
thümer jenes Dolchmeſſers und der Scheibe, in welchem
e8 fich befand. Der Staatsanwalt bat fchlankweg an⸗
genommen, das Mefjer gehöre dem Angeklagten, aber
irgendein Beweis tft für biefe Thatſache nicht erbracht
worden. Wir behaupten, Baptifte Caftagnet hat in teuf-
liſcher Bosheit die Scheibe in den Rod Szemeredy's ge=
ftect, um dieſen dadurch al& den Eigenthümer des Dolches
zu legitimiren. Der Umſtand, daß der Angeſchuldigte,
wie wir dargelegt haben, bie Scheide nach dem Morde
nicht in den Rod gethan haben kann, liefert ven Beweis
nah altfpanifhem VBerfahren. 83
dafür, daß die Waffe nicht ihm, fondern dem Kuppler
Gaftagnet gehörte.
„Ein heller Lichtſtrahl ift auf die dunkle That gefallen!
Aber noch ein gewichtiges Moment.
„Das von der Polizeibehörbe aufgenonnnene Verzeich⸗
niß der am Orte der That vorgefundenen Gegenftände
führt unter anderm auf: «Im einer Außentafche des Rodes
ein Taſchentuch mit großen Blutfleden.» Wir fragen, wie
find diefe Blutfleden entjtanden?
„Szemereby hat das blutige Tuch gewiß nicht in bie
Taſche des Rockes gejtedt.
„Er entflob, als er das Mädchen zufammenftürzen ſah,
ober, wern wir dem Gedankengange des Staatsanwaltes
folgen, al® er fie erftochen Hatte,
„Hätte er fich die Zeit genommen, bie Hände an ſei⸗
nem Taſchentuche abzumifchen, das Tuch ſodann forg-
fältig zufammenzulegen und in bie Rocktaſche zu thun,
fo hätte er gewiß auch bie Zeit gehabt, ven Rod anzu-
ziehen. Das war viel bequemer und er brauchte dann
auch nicht in dem auffallenden Anzuge hinaus auf bie
Straße zu ftürmen.
„Aus der Wunde, die Karoline Meb empfing, ſchoß
das Blut in einem Strahle hervor. Sind vielleicht da⸗
durch die Blutfleden entſtanden? Nein, denn der Stuhl,
anf welchem bie Kleiver lagen, ſtand über zwei Meter
weit von ber Leiche entfernt, überbies ſtak das Tuch in
der Rocktaſche und an dem Rode felbit Hat man Feine
Dlutfpuren bemerkt. Das Tuch muß aljo die Blutflecken
bereit8 gehabt haben, als e8 in den Rock geſteckt worden
ift. Nicht Szemereby, fondern Baptifte Caftagnet hat
das biutgetränfte Tuch in die Rocktaſche gethan, um zu
beweifen, daß ver Befiger des Node den Mord voll
bracht habe. Szemerevy war, von Entfegen ergriffen,
6*
84 Ein Eriminalproceß aus Südamerika
entfloben. Caſtagnet war Herr des Terraind. Auf dem
Stuhle Tagen die Kleiver des Flüchtlings, er nahm bie
Scheibe des Dolches und verbarg fie in der Innentafche
bed Szemeredy gehörigen Rockes, er nahm ferner das
biutbefledte, auf dem Bett liegende Taſchentuch Szeme-
redy's, tauchte ed in das von ihm vergoffene Blut und
ftedte e8 in bie Außentafche des Rockes, um bie eigene
Unjchuld zu beweifen und ven fremben Mann fchwer zu
belaften. Und als er fertig war und gewiß wußte, daß
Szemereby einen ftarfen Vorſprung hatte, alarmirte er
bie Nachbarichaft durch fein Gefchrei: Mörder! Mörber!
„Baptifte Caftagnet bat ſich vorgefehen und Hug ge-
handelt. Er vergaß nur Eins: die eigenen vom Blute
bes Mäpchens gerötheten Aermel! Aber was jchabet Das!
Der gläubige Unterjuchungsrichter beruhigt ſich bei ber
Erklärung, er habe fich befledt, al8 er der Karoline ein
Kiffen unter ben Kopf gejchoben habe. Ein Kiffen, wel⸗
ches weder bie Polizei noch der Gerichtsarzt geſehen haben!
„Hoher Gerichtshof! Nehmen wir einmal an, Caftagnet
jei nicht in vielen Punkten des faljchen Zeugniffes und
ber Lüge überwieſen;
„Nehmen wir an, Caftagnet hätte feine Aermel wirk⸗
ih mit Blut dadurch beiubelt, daß er ein Kiffen unter
ven Kopf des Mädchens jchob;
„Nehmen wir an, die hölzerne Verbindungsthür zwi⸗
ichen dem Zimmer ber Karoline Met und der anftopen-
den Kammer habe Glastafeln gehabt, over der Zeuge
Caftagnet babe nach Art ver Hellſeher im magnetiſchen
Schlafe durch fefte Körper hindurchſehen können;
„Nehmen wir an, Caftagnet habe vermöge biefer my⸗
jtiichen Glastafeln oder bes nicht weniger myſtiſchen
Schlafes Szemeredy beobachtet, und ſehen wir davon ab,
baß er dem Bolizeicommiffar Wright erffärt hatte, ein
nad altfpanifhem Verfahren. 85
Signalement des Mörders Türme er nicht Tiefern, da er
ihn kaum einen Moment flüchtig gefehen habe;
„Rehmen wir an, daß Szemeredy am Fenfter mit Ka⸗
roline Metz ſpaniſch, wie Eaftagnet berichtet, und nicht
deutſch, wie ver Polizeicommiffar Wright behauptet, ge-
fprochen babe;
„Rehmen wir an, e8 fei in der Tafche des Szemeredy
zugehörigen Rockes Tein blutiges Xafchentuch gefunden
worden, ober Szemerevy habe es nach dem Morde
herausgenommen, um fich die Nafe zu pußen, und bann
wieder hineingeftedt und jo mit feiner eigenen Hand bie
Blutflecken darangebracht, dann aber doch ven Rod Liegen
laſſen und in Hembärmeln feinen‘ Dauerlauf nach bem
Hotel⸗de⸗Rome angetreten;
„Nehmen wir an, Szemeredy habe, ftatt den Rock an⸗
zuztehen, die Dolchfcheive nach dem Morde in die Innen-
tafche gethan, tamit fie ihn als Befiter der mörberifchen
Waffe kenntlich machte;
„Nehmen wir an, Eaftagnet hätte nicht gelogen, als er
pie Photographie des Mannes, den er nur einen Moment
bei dem unfichern Scheine eines Zünpholzes. gejehen haben
will, erfannt, und daß es in gutem Glauben gejcheben,
da er fogar behauptet, der Bart fei etwas dichter geivejen;
„Rehmen wir an, Gaftagnet ſei ein Ehrenmann ge-
weien, er babe nicht das verächtliche Gewerbe eines Zu⸗
hälters und Kupplers getrieben und nicht von bem Gelbe
gelebt, welches die Dirne von den Männern bekam, benen
fie fich preisgab, er habe vielmehr feine Geliebte burch
jeine eigene fleifige Arbeit ernährt; ur
„Nehmen wir an, das frühere Leben Caftagnet ® wre
nicht in ein unburchbringliches Dunkel gehüllt, jondern es
ſei ber Beweis geliefert, daß er in Europa und Amerika
. be;
einen tabellofen und ehrbaren Wandel gerührt habe;
86 Ein Eriminalproceß aus Sübamerila
„Nehmen wir an, daß Caftagnet, der doch von diejem
Proceß und der Anklage wider Szemereby, über welche
alle Zeitungen diefes Continents ausführlich referirt haben,
Kenntniß haben mußte, feine Pflicht gethan und fich ale
der Öauptzeuge vor Gericht geftellt und ven Angellagten
frant und frei des Mordes bejchulpigt hätte;
„Nehmen wir an, Caftagnet fer nicht blos kurze Zeit
in Haft gehalten und nicht jo oberflächlich verhört, ſon⸗
dern als Angeſchuldigter behandelt und auf Grund volls
gültiger Beweiſe feiner Unjchuld vom Gerichtöhofe freie
gefprochen worden;
„Nehmen wir an, die Perſonen, welche die ermorbete
Karoline Meb und ihren Zuhälter Caftagnet kannten,
Maria Gerona, Augufto Iamet und Julius Fiot, wären
vom Unterfuchungsrichter ordnungsmäßig vernommen, ins⸗
befonbere gefragt worben, ob Caſtagnet auf ehrenhafte
Weile Geld verdient oder nur von dem gelebt habe, was
Karoline erwarb, ob er jähzornig und roh war, ob er
fih mit dem Mädchen vertragen ober ſich mit ihr ges
zanft, fie vielleicht fogar gefchlagen bat, und daß dieſe
Zeugnifje durchweg günftig für Caftagnet gelantet hätten;
„Nehmen wir an, der Tod des Mäbchens fei infolge
bes ungeheuern Blutverluſtes nicht ſofort eingetreten,
jondern fie habe troß der ihr nach der Debuction bes
Staatsanwaltes im Bett beigebrachten Wunde, troß bes
durchſchnittenen Halfes fich erheben und einige Schritte
weit gehen Tünnen, bis fie zu Boden ſank;
„Nehmen wir an, daß fich die Aerzte geirrt haben,
als fie behaupteten, das Durchſchneiden ver Halsſchlag⸗
adern müffe den augenblidlichen Tod zur Folge haben;
„Nehmen wir das alles an, jo genügt e8 dennoch nicht
zur Veberführung des Angeklagten, denn Szemeredy hatte
feinen irgendwie benfbaren Grumd, biefes Verbrechen zu
nad altfpanifhem Berfahren. 87
begeben. Fragen wir doch um Gottes willen, welches
Motiv hat er gehabt, das Blut diefer Dirne zu vergießen ?
„Das menjchliche Herz und bie menjchlichen Leiden⸗
haften find fchon feit Sahrhunderten der Gegenftund
eifriger umd eingehender Studien. Die Philofophen, bie
Theologen und Juriſten aller Länder und aller Völker
baben fich bemüht, pie verſchiedenen Urfachen, welche einen
Menſchen anreizen und bejtimmen, ein Verbrechen, ins-
befondere einen Mord zu verüben, zu erforjchen und zu
Haffificiren. Der befannte fpanifhe Strafrechtslehrer
Dr. Tejedor unterfcheibet in Betreff des Mordes und ber
Zöbtung in feinem Buche: «Causa y origen de los
delitos» («Urfadhe und Urfprung des Verbrechens»): bie
Rache, die Habſucht, ven Mord auf Befehl eines
andern, den gedungenen Meuchelmord, ven ange-
ftifteten Mord, nie vorfägliche Tödtung im Affect,
bte Tödtung im Wahnfinn.
„Prüfen wir, ob bier irgendeiner von biefen Fällen
vorliegt.
„Ein Racheact kann die Tödtung dieſes Mädchens
nicht fein. Szemeredy und Karoline Metz haben nie-
mals in einem feinpfeligen Gegenfate geftanden, fie hat
ihn nicht beleibigt, auch ihre Intereffen collinirten nicht.
Er bat fie, wie er felbft jagt, etliche male, wie ber
famofe Kronzeuge Baptiſte Caſtagnet verfichert, ſogar nur
einmal, nämlich am Abend des 25. Juli, befucht, und fie
bat ihn angenommen, wie fie e8 immer zu thun pflegte,
wenn Männer zu ihr famen. Alte Bekannte waren fie
nicht, Karoline landete erſt im October 1874 in Buenos⸗
Ayres, Szemeredy verließ Europa ſchon 1866 nad Auf
(fung ber ungarifchen Legion in Italien, er wurde alsbald
für die Armee ver Argentinifchen Republif angetvorben,
diente ihr vier Jahre und weilte fortab auf dem ameri-
88 Ein Eriminalproceh aus Südamerika
kaniſchen Eontinent. In Europa find fie alfo nicht zu⸗
jammengetroffen. Das Mädchen war, als fie ftarb, erit
20 Sahre alt, fie hatte auf keinen Fall den Angeſchuldigten
fo gefräntt, daß er fie tödtete, um fih an ihr zu rächen.
„Habſucht Tann ebenjo wenig fein Beweggrund geweſen
fein. Karoline befaß keine Schäße, nach denen ein Räuber
trachtete, fie lebte von der Hand in den Mund von dem
Ertrage ihres elenden Gewerbes und befaß nichts weiter
als etliche Kleivungsftüce, ein Bett, einige wenige Möbel
unb Geräthe.
„Bon einem Morde auf Befehl eines dritten
ann feine Rede fein. Niemand hatte ein Intereffe daran,
ob jenes arme Geſchöpf lebte oder ftarb, und Szemeredy
war fein eigener Herr, ber feinem andern Gehorfam ſchuldete.
„An gedungenen Meuchelmord oder angeftifte-
ten Mord ift nicht zu denken. Wer in aller Welt hätte
barauf kommen follen, einen Mörber zu kaufen, um bieje
Dirne zu befeitigen! Sie lebte mit Baptifte Caſtagnet
zufammen, aber fie war ihm feine Treue fchulpig, ihre
Gunftbezeigungen hatten einen Prei® und waren bafür
zu baben von jedermann. Eiferfüchtig konnte Feiner fein
auf ihre Liebe, denn wer mit ihr verfehrte mußte wilfen,
baß fie eine öffentliche Dirne fei.
„Eine vorſätzliche Tödtung im Affect müßte
doch durch irgendein Indicium angeveutet fein, aber in
ben Acten findet fih davon feine Spur. Beleibigenbe
Worte find bei ver Zufammenfunft am 25. Juli nicht
gefallen, und bie Annahme, das Mädchen Tönnte fich ge-
weigert haben, dem Manne zu Willen zu fein, und biefer
jet vielleicht dadurch in Wuth gerathen und habe fie des⸗
bald erdolcht, ift zu abfurd, als daß man fie erft wiber-
legen müßte. Saroline wußte, was Szemeredy von ihr
begehrte, fie geftattete ihm dem Zutritt in ihre Stube
nah altfpanifhem Berfahren. 89
und fchloß ſich mit ihm ein. Sie gewährte ihm, was
im Bereiche ihres gewöhnlichen Gewerbes lag, und über
dies hat ja der Kronzenge Caftagnet in feinem Verſtecke
gehört, daß fie feinen Widerſtand geleiftet und daß Sze⸗
merebh feinen Zwed vollftändig erreicht hat.
‚3m Wahnfinn ift die Töptung auch nicht begangen
worden. Denn Szemerevy hat ſich im Hötel⸗de⸗Rome
ganz vernünftig benommen. Aber wir müfjen zugeben,
hätte er das Mäpchen umgebracht, fo könnte es nur in
einem plößlichen Anfalle von Wahnfinn gefchehen fein,
bo dafür dürfte ver Angeflagte dann micht verantwortlich
gemacht werben.
„Was bleibt nun noch übrig von dem Belaftungs-
material bed Staatsanwalte? Die beiden Briefe an
ben BPolizeipräfiventen, die von Szemeredy gejchrieben
fein follen, vie indeß nach ber in der Argentinifchen Re⸗
publik geltenben StrafgerichtSorunung immer nur einen
halben Beweis liefern würben, und bie angeblichen außer-
gerichtlichen Geftänbniffe Szemereby’3 auf der Ueberfahrt
von Rio de Ianeiro nach Buenos⸗Ayres.
„Wir befhäftigen ung zunächft mit ven Briefen. Der
erfte iſt batirt Buenos⸗Ayres, 27. Juli 1876, alfo am
zweiten Tage nach dem Morde gejchrieben. Szemerebh
ſtand damals bereits im Verdachte, ver Mörber zu fein,
er war wie ein gehetztes Wild auf ver Flucht, um feinen
Kopf zu retten. Und dabei foll er fih in aller Gemüths⸗
rube hingeſetzt und biefen Brief verfaßt haben, der augen-
fcheinlich die Polizei täufchen follte und deshalb abficht-
fich von orthographifchen Fehlern ftrogtel Als der Mord
befannt geworben war, wurbe bie ganze Polizeimacht
aufgebsten, um ben ungarifchen Arzt Szemeredy, ben
man für ben Verbrecher hielt, feftzunehmen. Szemeredy
wußte, wie ſchwer ihn die zurüdgebliebenen Kleider ver-
90 Ein Eriminalproceh aus Sübamerila
bächtigen müßten, er hatte in höchfter Aufregung fein Hotel
verlaffen und verbarg fich vor feinen Verfolgern. Dennod)
will der Staatsanwalt uns glauben machen, daß er ber
Schreiber dieſes Briefes ift! Und wie hat er benn ben
Drief befördert? Es gab drei Wege: er konnte ihn durch
bie Poſt ſchicken, oder durch einen Boten beftellen Laffen,
oder felbft abgeben. Wir haben ben Brief, aber nicht
den Briefumfchlag. Wo ift denn der Briefumschlag mit
dem Poſtſtempel der Aufgabeftation und dem Datum?
Ich finde ihn nicht. Bei einem Criminalproceß muß
man doch mit aller Vorficht verfahren. Ich muß ans
nehmen, daß man ben Briefumfchlag, wenn er vorhanden
gewejen wäre, zu ben Acten gebracht hätte und daß ber
Brief nicht mit der Poft gekommen fein kann, weil ver
Nachweis des Poftftempels fehlt. Hat aber ein Bote ben
Drief abgegeben, weshalb hat man ihn nicht verhört und
jofort zehn Detective auf die Spur bes Schreibers ge⸗
best? Es tft doch ſehr überrafchend, daß vie Polizei nach
bem Empfange des Briefes fo gut wie nichts gethan hat.
„Oder muthet der Staatsanwalt uns vielleicht zu, zu
glauben, daß Szemeredy fich das Vergnügen gemacht hätte,
jelbjt in die Polizeivirection zu geben, um bem an ber
Thür des Polizeipräfidenten mit dem Dienfte betrauten
Feldwebel den Brief perſönlich zu überreichen?
„Szemereby hat fich an dem Tage, deſſen Datum jener
Drief trägt, nach Montevideo eingefchifft. Er berichtet
über feine Flucht nach den Acten Folgendes:
„a Als ich das Hötel⸗de-Rome verlaffen hatte, irrte ich
planlo8 durch die Stadt. Ich hatte Fein beftimmtes Ziel,
ich wollte nur fort, weit fort! So gelangte ich in Das unweit
ton Buenos⸗Ayres gelegene Dorf Belgrano. Daſelbſt ver-
brachte ich ven Reft der Nacht in einem Wirthshauſe in ber
Calle-Real, welches von einem Basken gehalten wird, an
nah altfpanifhem Berfahren. 91
befjen Namen ich mich nicht mehr erinnere. Am folgenden
Tage, dem 26. Juli, fehrte ich gegen Abend in bie Stabt
zurüd und berbergte in der Nähe des Hafens in einem
Wirthshauſe in der Calle de Libertad, gegenüber ber Poft-
fliafe. Am 27. Juli fuhr ich unter einem angenommes
nen Namen auf einem Dampfer, ver Paffagiere und Güter
befördert, nach Montevibeo.»
„Wir ſehen, wie borfichtig und geſchickt Szemereby feine
Abreife in das Werk gefeht Hat. Damit veimt fich nicht
zuſammen, baß er gleichzeitig einen Brief geſchrieben und
an den Polizeipräfidenten abgejenvet haben folle, ver für
ihn höchſt gefährlich werden konnte.
„Aber auch innere Gründe fprechen bafür, daß Sze-
meredy nicht der Autor dieſes Briefes ift. Ich lege bem
Gerichtshofe Hiermit eine Zufchrift vor, die der Angeflagte
aus der Haft an mich gerichtet Hat; fie ift unzweifelhaft
echt. Vergleicht man die beiden Schriftftüde, jo prängt
fh die Weberzeugung auf: der Brief an den Bolizei-
päfidenten ift ein unortbograpbifches, ftümperhaftes
Machwerk, welches von einem ungebilveten, mit ven Regeln
ver Grammatik unbelannten Menſchen berrührt, Szeme-
redh's Brief dagegen ift fließend, grammatifch und ortho-
graphifch correct, in gewählten Ausprüden gejchrieben.
Ran erkennt fofort, daß der Verfaſſer ein gebifveter und
interrichteter Mann ift.
„Die Erfahrung lehrt, daß in Criminalfällen, die das
allgemeine Intereffe erregen und das große Publikum
beihäftigen, bie Polizei nicht felten myſtificirt wird, daß
underufene Leute zu der Entdeckung des Verbrechers bei-
fragen wollen und zu biefem Behufe anonyme Briefe
(reiben. Vielleicht erklärt ſich der Brief an den Polizei-
häfidenten auf dieſe Weife, vielleicht aber haben wir es
auch mit einem Schurfenftreiche zu thun, ausgejonnen,
92 Ein Eriminalprocei aus Sübamerifa
. um die Polizei irrezuführen und ben Verdacht auf
einen Unfchulbigen. zu lenken.
„Der zweite Brief, aus welchem der Staatsanwalt ein
außergerichtliches Geſtändniß abgeleitet bat, ift von Rio
de Janeiro den 25. December 1876 batirt. Diefer Brief
war verichloffen in einem Couvert, bie darauf befindlichen
Pojtftempel weifen nah, wann und wo ber Brief auf-
gegeben worben tft. Dagegen wiffen wir nicht, wann
der Polizeipräfident venfelben erhalten bat. An das Ge-
richt ift das Schhriftftüd erft am 22. November 1877
abgeliefert worden. Da wir nun nicht annehmen bürfen,
baß bei ber Polizei ein Verfehen vorgelommen tft, daß
fie den für die Unterfuhung wichtigen Brief viele Monate
behalten babe, fo müflen wir fchließen, daß ber Brief
erft furz vor dem 22. November 1877 in Buenos⸗Ayres
angefommen ift. Dann aber hat der Angeflagte mit die⸗
ſem Briefe nichts zu Schaffen, denn er war feit bem
8. Auguft 1877 verhaftet.
„Die Sachverftändigen haben ihr Gutachten für bie
Autorfchaft Szemerepy’8 abgegeben, aber ich muß ihre
Eompetenz überhaupt bejtreiten und darauf hinweiſen,
daß unfere Geſetzgebung vorfchreibt: «Wie auch immer
dad Ergebniß der Vergleichung der Handſchriften aus-
fallen möge: wenn nur das auf folche Vergleichung ge-
jtüßte Gutachten vorliegt, ohne durch das Geſtändniß
vervolfftänpigt zu fein, fo erlangt biefes Feine Beweis⸗
fraft.»
„Die ſpaniſchen Commentatoren haben fich mit dieſem
fo ftark angefochtenen Beweismittel ebenfalls beichäftigt
und meffen demſelben eine ſehr geringe Beweiskraft bei.
Auch in Europa pflegt man ſolche Gutachten mistrautich
aufzunehmen. Trotz ber bona fides ber beeibigten
Schreibverftändigen haben fich ihre Gutachten ſehr oft
nah altfpauifhen Berfahren. 93
als trügerifch erwieſen, es kann deshalb auch in unferm
Valle eine Berurtheilung des Angeſchuldigten darauf nicht
geftügt werben.
„Ich wende mich nun zu ven Belenntniffen, vie Sze-
meredh angeblich auf ver Ueberfahrt von Rio de Saneiro
nach Buenos⸗Ahres abgelegt haben Soll. Der Polizeifeldwebel
Antonio Augufto d'Almeida Navarro hat ausgefagt: Sze-
meredy jei jehr aufgeregt gewejen, er habe den Verrück⸗
ten gejpielt und ihm und andern Berfonen eingeltanden,
daß er die Karoline Metz getöbtet habe. Die andern
Perjonen follen der Steuermann der Newa, Willtem
O'Connor, und ein Matrofe aus Schottland, John Lane,
gewejen fein. Der Steuermann D’Eonnor bat inbeffen mit
voller Beſtimmtheit verfichert, in feiner Gegenwart habe
ber Angeflagte davon fein Wort gefagt. Der Matrojfe John
Lane bat fi) mit Szemeredy, der nur gebrochen englisch
Iprechen konnte, unterhalten und leterer hat allerbings über
den Tod eines Frauenzimmers gefprochen. Ob er aber er-
zählt hat, daß er das Mädchen vom Leben zum Tode ge-
bracht, oder nur daß er beſchuldigt werbe, fie ermorbet zu
haben, weiß der Zeuge nicht anzugeben. Es Liegt bie
Vermuthung fehr nahe, daß der Feldwebel mit den vielen
Namen den Angejchuldigten misverftanden bat. Szemes
redy wirb ihm gejagt haben, er folle fich gegen die An⸗
Hage, vie Karoline Met in YBuenos-Ayres ermorbet zu
Baben, vertheibigen, und ber eifrige Polizeimann hat dies
als ein Geftändniß feiner Schuld aufgefaßt.
„Es find in dieſem Proceffe zwei Angeflagte vorhan-
ben: Szemerevy, ven der Staatsanwalt, und Baptifte
Caftagnet, ven ich des Mordes befchulpige. Sch bitte
deshalb um die Erlaubniß, noch einmal auf ben legtern
zurückkommen zu dürfen. Er ijt ein fittlich tiefſtehender,
verfommener Menſch, ein Lügner, von deſſen früherm
94 Ein Eriminalproceß aus Sübamerita
Leben wir wenig wifjen. Er tritt in Buenos-Ayres auf
als der Geichäftsführer eines unferer verrufenen Häuſer
und als Zuhalter der Karoline Metz. Wenn ein ſolches
Subject in den Schlamm der Verbrecherwelt hinab⸗
gleitet, jo Tann man faum fagen, daß es gejunfen ift,
benn es ftand bereitö auf ber tiefften Stufe der Moral.
Auffallend iſt, daß Caſtagnet einen gewiffen Grab von
Dildung befist. Wir finden bei den Acten eine große
Zahl von Liebesbriefen an Karoline Met, die zwar voll
von Phrafen, aber nicht ungewandt gejchrieben find. Er
liebt es, Empfindungen zu ſchildern, die er nicht gehabt
baben Tann. So heißt es bort:
„«Merke e8 wohl, Karoline, diefe Verehrung, bie meine
Seele nor wahrer Weiblichkeit ſtets gehegt hat, ich glaubte, fie
bir allein wipmen zu können. O verhängnißvoller Irrthum!⸗
„Wie oft trauere ich um zerjchellte Illuſionen.»
„3a wohl, Karoline, e8 ift fo. Sch babe ven Muth
und bie Kraft nicht mehr, Dir zu zeigen, was in mir
tobt, Die taufend Qualen zu ſchildern, die ich leive. Ach,
was bleibt mir Armem, als zu verjuchen, meine Reue mit
meinen Thränen wegzuwiſchen.»
„Denn alle meine Träume durchzieht Dein liebes
Bild. Wenn ich erwache, ftredle ich noch meine Arme
nach Dir aus, und Ruhe finde ich nur an Deiner Bruft.»
‚Bir haben pas Gefühl des Ekels, wenn wir diefe un⸗
wahren, füßlichen Redensarten leſen und einen Menfchen
von Verehrung und Liebe, von Treue und XThränen
iprechen hören, der davon lebte, daß feine Gelichte Tag
für Zag ihre Lieblofungen verkaufte an jevermann, und
in der Kammer nebenan genau überwacte, wie fie ihr
ichimpfliche8 Gewerbe trieb. Diefem gemeinen Kuppler
tft e8 mohl zuzutrauen, daß er das Mädchen erbolchte,
als fie ihn des Diebſtahls beſchuldigte und in Gefahr
nad altfpanifhem Berfahren. 95
brachte, in einen Criminalproceß verwidelt und verur-
theilt zu werben, und daß er dann, um fich zu retten,
ben flüchtigen Szemereby als den Mörder bezeichnet.
„Szemereby dagegen ift Soldat gewefen und bat treu ges
dient. Seine Vergangenheit ift fleckenlos, er bat fich niemals
ehrlicher Arbeit geihämt. In den Acten befindet fich
ein Brief von ihm, in welchem er fchreibt: «Zur Zeit
geht es mir freilich herzlich ſchlecht. Hätte ich nicht zum
Glück als Barbier und Perücdenmacher mein Brot ver-
dienen können, ich wäre genöthigt geweſen, als einfacher
Zagelöhner Erbarbeiten zu verrichten, um mein Leben zu
friften und mich in ehrenhafter Weiſe purchzubringen.»
Ich wieberhole, Szemeredy hatte nicht den minbeften
Grumd, dem Mädchen das Leben zu nehmen. Die Be⸗
weile find nicht vollitändig und nicht zwingend genug,
um ein Zobesurtheil zu rechtfertigen. Nach den Be⸗
ftimmungen ber Leyes de las Partidas Alfons’ des
Weifen müfjen vie Zeugen übereinftimmen, ihre Aus-
jagen müſſen Har, präcts und unbefangen, und bie jchrift-
lihen Beweisftüde vorwurfsfrei fein. Nichts von alles
bem trifft in dem gegebenen Falle zu. Bewieſen ift nur,
daß Karoline Met umgebracht worven, aber nicht, wer
die That verübt bat. Auf vie Gefahr, mich einer Wieder⸗
holung jchulpig zu machen, muß ich nochmals darauf hin⸗
weiten: die Briefe an den Polizeipräfidenten find nicht
von Szemereby gejchrieben, die Sachverftänbigen haben
ſich durch eine gewiſſe Aehnlichkeit der Schriftzüge täufchen
faffen. Die Schlußfäge der von Caſtagnet an Karoline
Metz gefchriebenen Briefe, die fich bei ven Acten befinden,
ftimmen genau überein mit dem Schluffe des aus Rio
de Janeiro am 26. December 1876 batirten Briefe an
ven Polizeipräfidenten. Dieſelbe läppiſche Bitte um Ver⸗
zeihung für pie fchlechte Schrift, derſelbe charakteriftifche
96 Ein Criminalproceß aus Sübamerifa
Ausdrud «ohne mehr», diefelbe Verficherung, «ein Schuld⸗
ner zu fein, der bald zu bezahlen hoffe, um leichten Her⸗
zens in bie ewige Nuhe einzugehene. Das ift ein felt-
james Zufammentreffen, welches vie Vermuthung nahe
legt, Caſtagnet habe fi von Buenos⸗Ayres nad Rio be
Janeiro begeben, bort ausgekundſchaftet, daß Szemeredy
in Rio lebte, und, um ihm befto ficherer zu verderben, ben
Drief gefchrieben. Vermuthung gegen Vermuthung! Die
Bertheivigung kann nicht beweiſen, daß Caſtagnet ber
Autor iſt, aber auch die Staatsanwaltſchaft hat nicht be⸗
wieſen, daß die Briefe von Szemeredy herrühren.
„Ebenſo verhält es ſich mit allen übrigen Punkten der
Anklage.
„Der Staatsanwalt hat ſich darauf berufen, daß der
Angeklagte blutbefleckte Aermel gehabt, und dies eingeſtan⸗
den habe. Das iſt ganz falſch, ein ſolches Geſtändniß
enthalten bie Acten nicht. Es iſt dem Staatsanwalte
dabei wol etwas Menſchliches paſſirt. Caſtagnet, der
brave Baptiſte Caſtagnet, ſein ehrenwerther Kronzeuge,
hat blutige Aermel gehabt, und der Herr Staatsanwalt
hätte nur recht genau nachforſchen ſollen, woher dieſes
Blut rübrte.
„Der Staatsanwalt glaubt dem Angellagten die Be-
bauptung nicht, daß Robert Rughier während feines
Wortwechſels mit Karoline Met über den Ring in das
Zimmer getreten jet. Er meint, ver Kuppler habe fich
aus Echamgefühl ftets fern gehalten, wenn Karoline an-
bere Männer empfing, und fo gethan, als fei er un-
befannt mit dem Gewerbe, welches feine Geliebte treibe.
Wie naiv ift doch der Staatsanwalt! Er erweilt einem
Menfchen, veffen Ehrgefühl völlig abgeftumpft tft, eine
unverbiente Huldigung. Leute wie Caſtagnet machen ein
Geſchäft daraus, Gimpel für ihre Dirne einzufangen,
nad altfpanifhem Berfahren. 97
es genirt fie in feiner Weile, daß fie das Mädchen nicht
allein befigen. Kaftagnet war, wie er uns ſelbſt gefagt
bat, baran gewöhnt und pflegte im Nebenzimmer alles
mit anzuhören, was in Karolinens Stube vorging. Er
hätte das Paar auch am 25. Juli nicht geftört, wenn
nicht ber Diebitahl des Ringes zwiſchen Szemereby und
Karoline zur Sprache gelommen wäre. Als er dies ver-
nahm, gejellte er fich zu ihnen, denn er hatte ein fehr
dringendes Intereſſe daran, den Verdacht des Diebſtahls
ven ſich abzulenken. Szemeredy hat mehrere Tage vor-
ber dem Polizeicommifjfar des erften Bezirks die Anzeige
gemacht, daß ihm aus dem Hötelsde-Brovence zwei Ringe
entwendet worben feien. Der Wirth bes Hotels, der ihm
feindfich geſinnt ift, Hat dieſe Thatjache beftätigen müffen.
Diefer Diebftahl ift eine feftftehende Thatſache und es ift
piychologifch fehr erflärlih, daß Caftagnet, erziient über
bie Unvorfichtigfeit des Mädchens, bei welchem Szeme-
redy feine Ringe fand, fofort dazwifchentrat, keck ableug-
nete, ihr den Ring geſchenkt zu haben, und fie in voller
Wuth erjtach, als fie ihre Behauptung dennoch aufrecht
erhielt. Daß Baptifte Eaftagnet fich dem Angeflagten
gegenüber einen faljchen Namen gab und Robert Rughier
nannte, wird nicht auffallen. Man weiß ja, welche Wolfe
in ver Gaunerwelt die «alias» fpielt.
„Der Staatsanwalt behauptete, Karoline ſei ermorbet
worden, währen ber Mörber bei ihr am Bett lag. Dieſe
Behauptung ift unrichtig. Sie beweift nur, daß ber An-
Mäger die Acten etwas gar zu flüchtig ftubirt bat und
die Grundfäge ber forenfifchen Medicin nicht Fennt.
„Es iſt allgemein befannt und wird auch von tem
berühmten franzöfiihen Arzt Dr. Nelaton in feiner
chirurgiſchen Pathologie bezenät, daß das Durchſchneiden
der Halsſchlagader (arteria carotida) einen plöglichen,
XXI. 7
98 Ein Eriminalproce aus Südamerifa
fehr großen Blutverluft und den faft augenblicklich ein-
tretenden Tod zur Folge Bat. Hätte Karoline dieſe
Wunde im Bett empfangen, jo wäre fie auch im Bett
geftorben. Sie hätte mit den burchichnittenen Adern um
Halſe nicht mehr aufſtehen und noch einige Schritte machen
fönnen. Die Blutjpuren im Bett beweifen nicht, daß ihr
bie Todeswunde im Bett beigebracht worben if. Das
Blut ift hoch emporgefchoffen, als der Dolch die Adern
öffnete, und hat das Bett beſudelt. Die Blutmenge müßte
aber viel größer fein, wenn fie dort abgefchlachtet worben
wäre. Ueberdies hat ja ver famoſe Kronzenge ausgefagt,
er babe in der Kammer nebenan gehört, daß Karoline,
nachdem fie dem Manne zu Willen gewefen, aufgeftanven
jet und fich gewafchen habe. Weshalb glaubt denn ber Staats⸗
anwalt diesmal nicht, was Baptifte Caftagnet bezeugt?
„Ich begehre nicht Gnade für den Angellagten, ſondern
Gerechtigkeit. Ich weiß, daß das Urtheil in den Händen
von unabhängigen Richtern ruht. Sie werben fich nicht
von vorgefaßten Meinungen, nicht von der Anficht des
leichtgläubigen Publikums beftimmen laffen, und auch ber
leichtfertigen Breffe keinen Einfluß auf ihre Ueberzeugung
geftatten, ſondern lebigli prüfen, welche Beweiſe bie
Unterfuchung geliefert hat. Ich glaube feft an bie Un-
ſchuld meines Klienten, aber ich weiß nicht, ob es mir
gelungen ift, bie gleiche Ueberzeugung auch bei den Mit-
gliedern des Gerichtshofs hervorzurufen. Ich tröfte mich
damit, daß jeder Zweifel dem Angeſchuldigten zugute
fommen muß nach dem alten criminalrechtlichen Satze:
in dubio pro reo. Ich erinnere zuleßt noch an zwei
Punkte: Der Angellagte ift länger als zwei Jahre Unter-
ſuchungsgefangener gewejen, während der Mörder nach
17 Zagen aus dem Gewahrfam entlaffen wurbe und frei
hinaus in die Welt ziehen durfte. Ja noch mehr! Sze-
nah altipanifhdem Berfahren. 99
meredy hätte gar nicht ausgeliefert werben follen, denn
nah tem im Sabre 1872 abgeänberten Staatsvertrage
zwilchen der Argentinifchen Republik und Brafilien joll
die Auslieferung nur ftattfinden anf Grund eines rechts⸗
kräftigen Urtheils und bei ver Verfolgung eines in flagranti
ergriffenen und dann flüchtig geworbenen Verbrechers.
„Die Präventivhaft ift in jevem Falle zu veriwerfen
und fehr hart für ven Mann, über welchen fie verhängt
wird, denn fie ift ihrem Weſen nach eine Strafe, die er
leidet, ehe das Urtheil ergangen ift.
‚Ich hoffe, ver Gerichtshof wird dem Angeflagten Alois
Szemeredy die Ehre und die Freiheit zurüdigeben. Fiat
justicia !
Nachträglich übergibt der Vertheibiger noch eine zweite
Schrift, in welcher die Anklage wegen des Diebftahls ver
golpenen Uhr und Kette beleuchtet wird. Er entſchuldigt
es mit einem Derjehen feines Schreibers, daß biefes
Schriftſtück verfpätet eingereicht wird. Es Tag nahe,
baranf hinzuweiſen, daß Baptifte Caſtagnet, der ja nach
ven Deductionen des Dr. Genteno ven geftohlenen Ring
feiner Geliebten gejchenft, die Scheide des Dolchmeſſers
in die innere und das biutige Taſchentuch in bie äußere
Taſche des Szemeredy gehörigen Rocks pralticirt hat,
auch die Uhr und die Kette geſtohlen und beide an der
zurückgelaſſenen Weſte befeſtigt habe, um ſich ſelbſt von
der Blutſchuld rein zu waſchen und ſeinen Gegner ſicher zu
verderben. Aber davon enthält das Schriftſtück nichts.
Der Diebſtahl wird einfach in Abrede geſtellt und geltend
gemacht, der Beweis, daß die Weſte dem Angeklagten
gehöre, ſei nicht erbracht. Szemeredy habe den Rock ſtets
bis oben hinauf zugeknöpft getragen, niemand wiſſe, ob
er überhaupt eine Weſte beſeſſen, und ber einzige Zeuge
ber dies behauptet und die Wefte als das Kleivungsftüd
7
100 Ein Eriminalproceß ans Sübamerila
des Angeklagten recognofeirt habe, ver Wirth bes Hötel-
besBrovence, fei ein Feind Szemeredy's und verbiene des⸗
halb Teinen Glauben. Er habe ein ftarkes Interefje paran,
feinen frühern Saft als einen gewöhnlichen Gauner und
Hochſtapler darzuftellen.
Es wird Freiſprechung auch von biefer Anklage be-
antragt.
Am 12. September 1881 verfündigt der Gerichtshof
das folgende Erfenntniß:
„Gemäß des in der Situng des Gerichtshofs mit
Stimmenmehrheit gefaßten Beſchluſſes wird entgegen dem
Antrag des Staatsanwalts und in Abänderung bes von
bem Criminalrichter erjter Inſtanz gefällten Urtbeile,
gegen welches bie Berufung orbnungsmäßig angemeldet
worden iſt, entjchieben:
„Alois Szemeredy wird von der Anklage, die Karoline
Metz ermordet zu haben, ſchuldlos geſprochen und wegen
des Diebſtahls einer Uhr und Kette, begangen an dem
Commandanten Joſe Domingo Jerez, für ſchuldig er-
klärt. Wegen letztern Verbrechens wird er zur Buße von
zwei und einem halben Jahre Gefängniß, Erſatz
der Koſten, welche ſeine Einbringung und Erhaltung ver⸗
urſachten, und zur Zahlung der Gerichtskoſten verurtheilt,
indem zugleich beſtimmt wird, daß feine Gefängnißſtrafe
durch die erlittene Unterſuchungshaft als getilgt und auf⸗
gehoben erſcheint und ſeine Verantwortlichkeit ſich nur
auf jenen Theil der Koſten zu erſtrecken hat, welche das
Verbrechen betreffen, um deſſentwillen er verurtheilt wor⸗
den iſt, worüber eine genaue Berechnung auszufertigen
und deren Richtigkeit orbnungsmäßig nachzuweiſen fein wird.
Juan E. Barra, Präſident.
Octavio Bunge, Neſtor French, Beiſitzer.
Rafael Jorge Corvalan, Schriftführer.“
nah altfpanifhem Berfahren. 101
Der Mord war verübt am 25. Yuli 1876, am
8. Auguft 1877 wurde ber Angefchulbigte als Gefangener
nach Buenos⸗Ayres gebracht, am 12. September 1881
erfolgte jeine Freifprechung von der Anklage des Mordes
und feine Verurtheilung wegen Diebftaple. Dan erfieht
hieraus, wie langfam vie Juſtiz in ber Argentinifchen
Republif arbeitet. Der alte fchriftliche Inquifitionsproceß
hat auch in Deutſchland bis tief in das 19. Jahrhundert
die Herrfchaft behalten, aber jegt ift er aus dem Nechts-
bewußtſein des Volks fchon faft vollſtändig verſchwunden.
Man ftreitet wol noch über die Structur bes Verfah-
tens, über bie Form der Vorunterfuchung und die Be-
theiligung ber Vertheidigung baran, darüber, ob nicht
das englifche Recht, welches die Einleitung und den Des
trieb des Strafprocefjes wie einen civtlrechtlichen Streit
in die Hände ver betheiligten Parteien Tegt, vorzuziehen
fei; man behandelt e8 als eine offene Frage, ob das Ur-
teil von Gefchworenen oder gelehrten Richtern oder von
einem aus Juriſten und Laien gemifchten Collegium ge-
fällt werden folle, aber e8 ift ein unbeftrittener Sag, daß
der Strafproceß fih ftügen muß auf das Anklage—
princip, auf das mündliche Verfahren in ver Schluß-
verhandlung und auf die freie Beweistheorie. Die
Argentinifche Republik hat den großen Fortſchritt vom
Inquiſitions⸗ zum Anflageproceß noch nicht vollzogen, und
ber bier bargeftellte Fall ift ein recht deutliches nnd lehr-
reiches Beispiel für die Schwächen und bie Mängel jener
veralteten Procedur. Das Urtheil des Gerichtshofs
wird nicht einmal burch Entſcheidungsgründe erläutert und
gerechtfertigt, die man boch billig verlangen muß, wenn
rechtsgelehrte Richter, die an eine gefeliche Beweistheorie
gebunden find, Necht ſprechen. Es tft unter folchen Um⸗
ftänden recht fchwierig, zu prüfen, ob ber Spruch des
102 Ein Eriminalproceß aus Sübamerita
Gerichtshofs richtig ober falfh ift. Nicht ſchuldig des
Mordes und fchuldig des Diebſtahls — das Hingt über-
rafchend. Nicht blos das Publikum und die Preffe, auch
der Staatsanwalt und der DVertheibiger hatten angenom⸗
men, baß ber Angeflagte entweder den Mord begangen
und dann auch die Uhr und Kette, bie in ber doch un⸗
zweifelhaft ihm gehörigen Wefte gefunden wurden, geftoh-
len habe, oder von ber Anfchulpigung bes Mordes und
des Diebftahls zugleich entbunden werben müſſe. War
Baptifte Caftagnet, alias Robert Rughier, zufammen mit
Szemereby in der Stube bei Karoline Meg und bat er
und nicht der Angeklagte das Mädchen erjtochen, daum
kann man ihm auch zutrauen, daß er ber Dieb gewejen
tft und nicht blos die Scheide des Dolchmeffers und das
blutige ZTafchentuch in den Rod, fondern auch bie ge⸗
ftohlene Uhr und Kette in die Wefte Szemereby’8 gefteckt,
um biejen als Mörder und Dieb zu verbächtigen und fich
zu entlaften. Wir felbft find zweifelhaft darüber, ob ſich
ein Schulbig des Mordes nach den Acten begründen läßt.
Szemeredy ift allein mit dem Mädchen gewejen. Als fie
fterbend oder fchon tobt auf dem Boden lag, hat er bie
Stube und das Haus eilends verlaffen und fich nicht
einmal die Zeit genommen, Rod und Weite anzuziehen
und ben Hut aufzufegen. Er muß in ber größten Be-
ſtürzung gehandelt und ven Kopf völlig verloren gehabt
haben, fonft hätte er daran denken müflen, daß er ba-
durch den jchwerften Verdacht auf fich zog und ben Be⸗
hörten bie wichtigften Beweiſe feiner Schuld, die Kleider,
jeldft auslieferte. Wenn feine Hände rein waren vom
Blute des unglücklichen Mädchens, wenn Caftagnet ben
Dolchſtoß geführt Hatte, fo ift Szemeredy's Verhalten
nicht zu erflären, benn er war bann nur Zeuge bes
Mordes. Er mochte erfchroden fein über bie raſche und
nah altfpanifhdem Berfahren. 103
abſcheuliche That, aber einen vernünftigen Grunb, ohne
Rod und Wefte davonzulaufen, hatte er nicht. Das
Benehmen Szemeredy's läßt viel eher darauf ſchließen,
daß ihn die Angft und das Schuldbewußtſein fortgetrieben
haben von ber Leiche. Wir begreifen, baß ber Mörber
wie von Furien gejagt die Flucht ergreift, ohne erft Rod
und Wefte anzuziehen, weil ihm graut vor dem, was er
gethan Hat.
Nehmen wir hinzu, daß Szemerevy im Hotel bie
Tadel von dem an ihm verübten Raubanfalle erzählt und
unter Zurücklaſſung feiner Cffecten noch in berjelben
Stimde Buenos-Ayres verläßt, fo beftärkt uns bies in
dem Glauben, daß er den Tod bed Mädchens auf dem
Gewiſſen Hat. Wir wiederholen, fo wie er gehanbelt hat,
handelt der Mörder, aber nicht der unfchulvige Zeuge
eines Mordes. Die Scheide des Dolchmeſſers und fein
bintbeflecktes Taſchentuch Hat man in feinem Rode gefun-
ven. Der Bertheibiger hat fich große Mühe gegeben,
barzuthun, daß Caftagnet in feiner teuflifchen Bosheit
biefe ftummen Anfläger in die Rocktaſchen Szemeredy's
prafticirt habe. Aber feine Conſtruction ift zu künstlich,
um glaubhaft zu fein. Die nächftliegende Annahme ift
boch, daß die Scheide bes Dolchmeflere dem Eigenthümer
bes Rockes gehört und daß das Zafchentuch nicht erft
hinterbrein von Caftagnet in das Blut getaucht, ſondern
von Szemeredy bei ver Verübung des Mordes mit Blut
befleckkt worden iſt. Wir laffen vorerft das Zeugniß
Caftagnet's ganz beifeite und gewinnen auch ohne feine
Angaben tie Ueberzeugung, daß Szemeredy das Blut bes
Mädchens vergoffen hat. Hätten wir ja noch einen Zwei-
fel, fo ſchwindet verfelbe durch eine fehr wichtige That⸗
ſache, die vom Staatsanwalt und vielleicht auch vom
Gerichtshof überjehen worben ift. Baptiſte Caſtagnet ift
104 Ein Eriminalproceß aus Südamerila
nad den Acten niemals zugegen geweien, wenn Karoline
Met den Beſuch eines Mannes empfing. Sie pflegte
nach dem Kintritt ihres Gaftes die Thür ber Stube zu-
zufchließen, weil fie nicht überrafcht werben wollte. Das
ift jeher natürlich, fie wußte ja, was die Männer von ihr
begehrten, unb fie wußte auch, daß britte Perſonen babei
nicht zugegen fein Tonnten. Als Szemeredy fie befuchte,
bat fie gewiß ihre Thür abgeichloffen, dann hat er, wie
wir wiffen, ven Rock und die Wefte, fie aber hat alle
Kleider bis auf das Hemd ausgezogen, und fie haben jich
beibe ind Bett gelegt. Caſtagnet hielt fich inzwijchen in
ber Kammer nebenan auf, deren Thür jeboch nicht von
ber Kammer, fondern nur von der Stube Karolinend aus
geöffnet werten konnte. Wir fragen nun, auf weldhe
Weife ift Eaftagnet in das Zimmer gefommen? Die Bei-
ven Thüren waren veriperrt, und aufgefchloffen hat man
ihm von innen nit. Es ift deshalb die Behauptung
Szemeredy's, daß Eaftagnet, al8 er mit der Karoline über
ben ihm entwendeten und in ihrem Beſitze gefundenen
Ringe ſprach, plöglic im Zimmer erjchienen jet, völlig
unglaubwürdig. Szemereby ift vielmehr ganz allein mit
ber Dirne gewefen, bis fie die Todeswunde empfing umb
im Sterben auf der Erde lag. Dann erſt bat er bie
Thür aufgefhloffen und iſt an Caftagnet vorüber aus
bem Haufe geftürzt.
Wir räumen dem Vertheibiger ein, daß der Angeflagte
ben Entſchluß, das Mäpchen zu töbten, nicht fchon damals
gefaßt Hat, als er das Hötelsbe-Rome verließ, um ihr
einen Beſuch zu machen. Wir halten nicht blos für
möglich, fonbern für wahrfcheinlich, daß er den Dolchftof
infolge eines Wortwechſels in leidenfchaftlicher Aufwallung
und nicht mit Vorbevacht und Weberlegung geführt hat,
aber er und nicht Caftagnet ift nach unferer Ueberzeugumg
nach altfpanifhem Berfahren. 105
ver Mann, von beffen Hand das Mädchen umgebracht
worden tft.
Der Vertheidiger macht geltend, Szemeredy habe nicht
ben minbeften Grund gehabt, der Dirne das Leben zu
nehmen, und weil e8 an jedem Motiv für das Ver⸗
brechen fehle, müſſe er freigefprochen werben. Es ift zu-
zugeben, daß ein Beweggrund und ein Intereſſe nicht
nachgewiefen ift, deshalb wird man aber ben Klaren Be⸗
weilen gegenüber bie Thäterichaft nicht leugnen Dürfen,
jonden nur zu Gunften des Angellagten annehmen
müflen, daß er im Affect gehanbelt habe.
Der Vertheidiger bat auszuführen verfucht, Baptifte
Caſtagnet fei der Mörder, denn er fei von Karoline Metz
bes Diebftahl® an dem Ringe beichulpigt und dadurch fo
gereizt worben, daß er fie in ber Wuth erboldht habe.
Diefe Schlußfolgerung Halten wir für jehr gewagt, denn
ed ift eine recht wenig glaubwürbige Gejchichte, daß Sze-
mereby feinen Ring bei dem Mädchen im Kaſten ber
Schublade gefunden Haben will. Der Angellagte ift ein
Lügner. AS er am Abend des 25. Yuli 1876 in das
Hotel⸗de⸗Rome zurückkehrte, fpiegelte er ven Leuten vor,
er jet angefallen und des Nodes beraubt worden. Wer
einmal Lügt, dem glaubt man nicht, es ift daher fehr gut
möglich, daß er auch den Diebftahl des Geldes und der
Ringe im Hötel-de-Provence erfunden hat. Da feftfteht,
daß man die goldene Uhr und Kette des Majors Jerez,
die aus dem Hötelede-Rome gejtohlen wurden, in feiner
Weite entdeckt hat, find wir fehr geneigt, anzunehmen,
daß er fabelte, als er angab, es feien ihm Ringe im
Hötel-desProvence weggelommen und einen davon habe er
bei Karoline Metz entvedt. Aber felbft wenn die Tegtere
ihren Zuhälter dadurch erzürnt haben follte, daß fie ber
hanptete, ven fraglichen Ring von ihm geſchenkt befommen
106 Ein Eriminalproceh aus Sübamerila
zu haben, fo war dies doch für Eaftagnet noch Fein zu⸗
reichender Grund, das Mädchen abzufchladhten. Sie theilte
den Ertrag ihres Gewerbes mit ihm und trug die Koften
bes gemeinfchaftlichen Hausſtandes, Caftagnet hätte fich
felbft den größten Schaben zugefügt, wenn er ihr bas
Leben nahm.
Was aus jenem Ninge geworben ift, wiffen wir leider
nit. Es wäre Die Pflicht des Unterſuchungsrichters ge⸗
weien, diefen Ring beizuziehen unb feftzuitellen, ob er
wirklich dem Angeklagten gehörte oder nicht. Das würbe
zur Aufflärung der Sache nicht unweſentlich beigetragen
baben.
Auf die beiden Briefe an den Polizeipräfidenten legen
wir feinen fonderlichen Werth. Wir haben ſelbſt vielfach
bie Erfahrung gemacht, wie trügerifch die Schriftenner-
gleichung als Beweismittel im Criminalproceß ift, und
es ſcheinen und überwiegende innere Gründe dagegen zu
Iprechen, daß Szemeredy diefe Briefe verfaßt hat.
Auch das angebliche außergerichtliche Geſtändniß, wel⸗
bed Szemeredy dem Feldwebel Navarro auf der Ueber:
fahrt nah Buenos⸗Ayres abgelegt haben fol, hat unfers
Erachtens nur geringen Werth, weil es wol möglich ift,
daß Szemeredy vom Tode des Mädchens und ber gegen
ihn deshalb anhängigen Unterfuchung gefprochen hat und
von dem Polizeibeamten misverftanden worden ift. Die
Aussagen des Steuermanns O'Connor und des Matrofen
Lane machen dies fogar wahrfcheinlich. Allein wir können,
wie wir fchon fagten, das außergerichtliche Geftäntniß,
bie beiden Briefe und fogar die Ausfage Caſtagnet's ent-
behren und kommen doch auf Grund deſſen, was ber An-
geflagte felbft vor Gericht ausgejagt hat, in Verbindung
mit allem, was über den Befund an Ort und Stelle
und bie Ereigniffe vor, bei und nach dem Beſuche Sze-
nah altfpanifhem Verfahren. 107
mereby’S im Haufe der Karoline Met feftgeftellt worden
if, bazu, ben Angeklagten für überführt und fchultig zu
halten, nicht des vorbedachten Mordes, fondern bes
im Affect begangenen Todtſchlags. Und weil wir
biefer Meinung find, erachten wir ihn auch fchuldig, bie
Uhr und die Kette geftohlen zu haben.
Der Gerichtshof in Buenos» Ayres hat anders ent-
ſchieden. Es fcheint uns, als hätten die Nichter etwa
folgende Erwägungen angeftellt: Alois Szemeredy iſt ein
anrüchiger Patron. Es ift höchſt wahrfcheinlich, daß er
die Karoline Met ermorbet hat, aber voller Beweis
iſt nach der einmal gefeglich geltenden Beweistheorie am
Ende doch nicht erbracht, weil der Hauptzeuge YBaptifte
Caſtagnet ein Schlechtes Subject ift, Wahres und Falfches
andgefagt hat und dem Angeklagten nicht gegenübergeftelit
werben kann. Es iſt deshalb ein Mittelweg einzufchlagen,
man fpricht ihn frei von dem Morde und verurtheilt ihn
wegen Diebftahle. Der Mann hat bereit8 vier Sabre
als Unterfuchungsgefangener im Kerker gejeffen und wol
auch Todesangft ausgeftanden, weil er in erfter Inftanz
zum Tode verurtheilt worben tft. Das kann als eine
ausreichende Buße für den Diebftahl an Uhr und Kette
angefehen werben, und jo ſoll ihm bie Unterfuchungshaft
als Strafe angerechnet werben.
Diefer Ideengang wiirde dem Ideal ber Rechtspflege
Allerdings nicht entfprechen, aber doch entſchuldbar fein
in einem Lande, wo die veralteten Formen bes fchrift-
Üihen Inquifitionsproceffes ven Nichter in eine Zwangs-
Inge verſetzen und ihm hindern, nach feiner freien Ueber⸗
zeugung das Recht zu finden.
108 Ein Eriminalproceß aus Südamerika
Das Urtheil des Gerichts rief in Buenos-Ayres große
Aufregung hervor. Es bildeten fi) Parteien nicht ges
rade für und wider den Angeklagten, aber für und wider
jeinen Vertheibiger. Während bie einen bem Dr. Do-
maſo Centeno einen Fadelzug Bringen wollten, hatten bie
andern nicht übel Luft, ihm die Fenſter einzumwerfen.
Dr. Centeno war dankbar dafür, daß der Proceß Sze-
meredy ihm eine große Popularität und Kundſchaft ver-
ſchaffte. Er ftellte deshalb feinen Clienten als Schreiber
in feiner Kanzlei an.
Aber der Angeflagte gefiel fich nicht mehr in Buenos⸗
Ayres, er zog e8 vor, die alte Heimat aufzufuchen, und
jhiffte fich bald darauf nach Europa ein. Im Jahre 1882
finden wir ihn in feiner Vaterftabt Budapeft. Dort kam
er fofort in unliebfame Berührung mit ben Militärbehör-
ben. Er hatte im k. k. Infanterieregiment Feldmarſchall⸗
lieutenant von Stubenrauch, Nr. 86, als Gefreiter gebient
und war befertirt. Man forfchte nach, was er getrieben habe,
und es tauchten fehr böſe Gerüchte auf. Er follte ſich ohne
jedes Recht dort für einen ungarischen Arzt ausgegeben
und in Amerika im Dienfte von ungebuldigen Erben mehr-
fach reihe Erbonkel zu Tode curirt haben. Es hieß fogar,
er jet von Hacienda zu Hacienda gezogen und eine lange
Reihe von Grabfteinen bezeichne feinen Weg freuz und
quer durch Südamerika.
Am 30. März 1882 wurde er als Deferteur verhaf⸗
tet und der Oberftlieutenant-Aubitor, Yuftizreferent bes
4. Armeecorps, leitete eine Criminalunterfuchung wiber
ihn ein.
Szemeredy mochte fühlen, daß europäifchen Gerichten
gegenüber eine andere Taktik räthlich fei — er wurde
irrfinnig. Er gab an, daß er ſchon in jungen Sahren
an Gehirnkrankheiten gelitten hätte, und bekam plößlich
nad altfpanifhem Berfahren. 109
Anfälle von Wahnfinn. Der militärifche Unterfuchungs-
rihter ſchenkte ihm feinen Glauben, hielt fich aber für
verpflichtet, ihn auf das Beobachtungszimmer bes Garni-
ſonlazareths Bringen zu laffen. Die Aerzte behandelten
ihn und erklärten ihn für verrüdt. Nun wurbe bie Unter.
ſuchung eingeftellt, Szemerevy aus dem Milttärverbande
entlaffen und an die Lanbes-Irrenanftalt in Budapeſt
abgegeben.
AS Dies gefchehen war, fchritten Szemeredy's Ver⸗
wandte ein, fie erboten fich, ven Kranken auf ihre Koften
in Privatpflege zu übernehmen. Die Direction ber
Landes⸗Irrenanſtalt gewährte ihr Gefuh. Szemeredy
war noch nicht lange in der Dbhut und dem Gewahrjam
jeiner Familie, da trat er mit der Behauptung auf, daß
er wieber genefen und feiner Sinne mächtig fei. Mean
bezweifelte e8, aber er drohte, einen Proceß anzufangen,
und e8 fanden fich Aerzte, die ihm das Zeugniß völliger
geiftiger Geſundheit ausftellten. Infolge beffen hörte bie
Ueberwachung durch feine Verwandten auf, er war wieber
jein eigener Herr und ein freier Mann.
Zu Anfang des Jahres 1886 kam ber Schreiber
dieſer Zeilen nach Bubapeft. Er hatte die Acten des in
Buenos⸗Ayres geführten Procefjes gründlich ftupirt und
ſuchte nun den Helden des Dramas auf, um feine per
ſönliche Belanntichaft zu machen. Die Herren von ber
Rebaction des „Egyetertes”, einer großen ungarifchen Zei⸗
fung, waren fo gütig, eine Zufammenfunft zu vermitteln.
Alois Szemeredy fand fich zu einer Beſprechung mit ven
Redactenren im Bureau ein. Er brachte eine Rolle be-
drudten Papiers mit. Es waren Zeitungsausfchnitte
I
110 Ein Eriminalproceß aus Südamerifa n. f. w.
aus Buenos⸗Ayres, bie er aneinanbergereibt und in ber
Art „unendlichen Papiers“ zuſammengeklebt hatte. Es
war ber Bericht über feinen Proceß, fein Kapital. Er
wollte feine Lebensgefchichte, feine „Memoiren“ an das
Feuilleton einer vielgelefenen Zeitung verlaufen und hatte
bazu ben „Igyetertes” auserlefen. Das Gejchäft kam
jedoch nicht zu Stande, es fcheint, daß Szemereby feine
Vorberung überfpannte oder daß die Uebertragung aus
ber caftilianifchen in die maghariiche Mundart zu großen
Schwierigkeiten begegnete. Ich war zu biscret, um mich
danach zu erkundigen.
Szemereby wurbe mir vorgeftellt: ein hagerer, hoch»
gewachſener, ſchlanker Mann, dem Ausfehen nad etiva
45 Jahre alt. Gebräunte, gefunde Gefichtefarbe. Brau⸗
nes, fchlichtes Haar, ein ftarfer Schnurrbart von jeltener
Schönheit, der den Mund völlig bedeckte. Sinmliche
Lippen, Heine, unftete Augen. Große, fehnige, wohlgebil-
bete Hände. Beſondere Kennzeichen: ein nach Art ber
Uniform bis an den Hals zugefnöpfter anliegender Rod.
Er erzählte mir, die Unthätigfeit und der Mangel
eines Berufs feien ihm unerträglich, er könne es nicht
mehr aushalten und denke ernftlich daran, wieder hinüber-
zufchiffen nach Amerika. Vielleicht eröffne ſich ihm aber
auch eine andere Ausficht, es vege fich gewaltig in ben
Pyrenäen, er babe große Luft, fich zu den Karliften zu
begeben und ihnen feine Dienfte anzubieten.
Diefe meine Begegnung mit dem Manne, mit beffen
Proceß ich mich jo eingehend beichäftigt hatte, war mir
von großem Intereſſe.
Eifenbahn- und Pofränber in Nordamerika.
Ein Meifterftüd ameritanifdher Detectivs,
1886 bis 1887.
Am 25. October 1886 dampfte in fpäter Abend⸗
ftunde der fahrplanmäßige Eilzug der Saint-Louis und
San-Francisco verbindenden Eijenbahn von Saint⸗Louis
nah dem Weften ab. Zum erften mal wurbe an ber
Station Pacific Kreuzung, 36 engliſche Meilen, alfo etwa
58 Kilometer von Saint⸗Louis, gehalten. ‘Die Stations-
beamten bemerften, daß die Thür des ver Adams-Erpreß-
Company) gehörigen Poftwwagens offen ftand. Sie be-
gaben fich hinein in den Wagen und fanden bafelbft vie
eiſernen Kaffenfchränke geöffnet und ihres Foftbaren In⸗
halte beraubt. Die Werthpapiere, eine Anzahl von Dia-
manten und 82000 Dollars in baarem Gelde waren ver-
ſchwunden.
Der dienſtthuende Poſtbeamte David S. Fothering⸗
ham lag in einer Ede des Wogens am Boden, an Hän-
ben und Füßen gebunden und einen Knebel im Munde,
jodaß er fich nicht rühren und feinen Laut von fich geben
tonnte. Als man die Stride zerjchnitten und ihn befreit
112 Eifenbahns und Pofträuber in Norbamerila.
hatte, gab er zu vernehmen: Unmittelbar vor ver Abfahrt
bes Zuges von Saint-Louis habe fih ein ihm völlig
unbefannter Menſch eingefunden und ihm eine fchriftliche
Weifung feines unmittelbaren Vorgefetten, des Streden-
auffehers Mir. Barnett, übergeben, die dahin lautete, der
Ueberbringer fet ein neuer Beamter der Adams⸗Expreß⸗
Company, welcher den Manipulationspienft lernen folle.
Mr. Fotheringbam habe ihm ben Zutritt in den Poſt⸗
wagen zu geftatten und ihn mit ven bienftlichen Einrich-
tungen und dem Geichäftsgange befannt zu machen.
Dieſe plötzliche Einführung eines Collegen jet ihm
allerdings auffallend geweſen, aber er habe fi) für ver-
pflichtet gehalten, der ganz bejtimmten fchriftlichen Ordre
nachzukommen, und dem Unbekannten fogar noch beim
Einfteigen geholfen. Der letztere habe, kurz nachbem der Zug
bie Bahnhofshalle in Saint-Louis verlaffen hatte, einen
Nevolver gezogen und ihn mit dem Tode bebroht. Er
jet in höchftem Grade erjchroden gewejen, von dem jehr
fräftigen Manne zu Boben geworfen, gebunden und ge-
nebelt worden. Der. Räuber habe ſodann feine Taſchen
durchſucht, die Schlüffel herausgenommen, die Kaffen-
ſchränke geöffnet und beraubt, vor dem Einfahren in das
Stationsgebäude aber, als ber Locomotivführer bremſte
und der Zug langfam fuhr, fet ver Menſch abgejprungen
und vermuthlich ſehr raſch in der Dunkelheit verſchwunden.
Der mit fo großer Unverfchämtheit und Verwegenheit
verübte Raubanfall erregte felbft unter der an berartige
Verbrechen ziemlich gewöhnten Bevölkerung von Saint⸗
Louis allgemeines Aufſehen.
Der nächſte Verdacht richtete ſich wider den Poſt⸗
beamten Fotheringham, deſſen Bericht über den Vorgang
mit begreiflichem Mistrauen aufgenommen wurde. Man
bezichtigte ihn des Einverjtändniffes mit dem Räuber, er
Eiſenbahn- unb Bofräuber in Nordamerika. 113
wurbe verhaftet. Die Adams⸗Expreß⸗Companh, welche
in den Bereinigten Staaten von Nordamerika ben pofta-
liſchen Verkehr von Werthſendungen vermittelt, war ben
Abſendern verantwortlich für den entitandenen Schaden
und leiftete vollen Erſatz. Die Gefellichaft Hatte wegen
des großen Verluftes, den fie erlitt, ein ftarfes Intereffe
daran, ben Verbrecher zu entdecken und ihm womöglich
vie Beute wieder abzunehmen. Sie beichloß deshalb,
anf ihre Koften eine Unterſuchung einleiten zu laffen.
Verſchiedene Detectiv-Eompagnien beiwarben fi um
die Ehre, mit der Entvedung und Verhaftung ber Räuber
beauftragt zu werben. Die Wahl fiel auf die Pinferton-
National Detectiv- Agentur in Chicago. Diefe den Lejern
ded „Neuen Pitaval“ bereit befannte, vorzüglich organi—
firte Agentur hat das in fie geſetzte Vertrauen gerecht:
jertigt. In ber Zeit von ungefähr zwei Monaten bat fie
bie fünf Theilnehmer an dem Eifenbahnraub ermittelt, bie
zu ihrer Ueberführung erforderlichen Beweife gefammelt,
fie ſämmtlich feftgenommen und fogar ven größten Theil des
Raubes wieder berbeigeichafft.
Die Detectivs begannen ihre Thätigkeit damit, alle
Eiſenbahnlinien, die in die Pacific-Kreuzung einmünden,
zu begehen und Nachfrage zu halten, ob ein Individuum
geſehen worden wäre, welches nach der übrigens ſehr un⸗
beſtimmten Perſonalbeſchreibung, die Fotheringham gegeben
hatte, mit dem Räuber identiſch ſein könnte. Dieſe Nach—
forſchungen führten zu keinem Reſultat, es mußte ein an⸗
derer Weg eingeſchlagen werden, um zum Ziel zu ge
angen.
Nach der Art und Weife, wie der Raub ausgeführt
worden war, mußte man annehmen, daß der oder die Räuber
genaue Kenntniß von dem Manipulationsdienſt auf dieſer
Eiſenbahnſtrecke hatte. Die Detectivs fragten daher zunächſt
XI. 8
114 Eifenbahn- uud Bofräuber in Norbamerika.
bei ber Erpreß-Eompany an, ob und wer etwa vou ben
Boftbeamten in ver legten Zeit aus dem Dienft entinffen
worden fei. Sie erfuhren, daß die Company den Bor-
gänger Fotheringham's auf der betreffenden Strede, einen
gewiſſen William Haight, neun Monate vor bem
ränberifchen Ueberfall wegen des Berdachts einer Ber-
Antreuung Knall und Ball weggeſchickt habe.
Fotheringham und Haight waren perföuluh miteinander
befannt gewejen, hatten aber nicht in einem näheres oder
gar freundichaftlichen Verhältniß geftanden. Man fchloß
daraus, Willtam Haight möchte vielleicht den Raub ges
plant, aber nicht ſelbſt ausgeführt haben, weil Fothering⸗
ham ihn fofort erfennen mußte.
Niemand wußte, was ans William Haight geworben
war, wohin er fich gewendet hatte. Aber die Detectins
fanden feine Spur und brachten heraus, daß er m Chi⸗
cago wohnte. Haight biente bafeldft als Kutſcher bei
einem Landsmann, Friedrich Witrod, ver gleich ihm
aus Lenvenworth in Kauſas ftammte und in Chicago
einen Kohlenhandel betrieb.
Es wurbe feftgeftellt, daß William Haight zur Zeit
des Raubanfalls im Chicago geweſen war. Er felbft
hatte alfo das Verbrechen nicht verübt.
Während diefes Beweismaterial mit großer Mübe
zuſammengebracht wurbe, trat ein Zwiſchenfall ein, ber
Zeugniß ablegte von der höhnifchen Dreiftigleit des
Räubers, ein echtes Yankee⸗Stückchen.
Die Zeitungen brachten täglich Berichte Aber den
NRaubanfall und die muthmaflichen Räuber, für beven
Entdeckung ſich jedermann intereffirte. Auch einer von
ben Verbrechern felbft, ver literariſche Neigungen beſaß,
fand ſich veranlaßt, in ben Tagesblättern als Mitarbeiter
aufzutreten. An mehrere bervorragende Sournale von
Gifenbahn- und Pofträuber in Norbamerifa. 115
Saint-Louis gelangten in kurzen Zwiſchenräumen mehr
ober münber ausführliche mit Jim⸗Cummings“ ynter-
zeichnete Briefe, in benen verfichert wurde: der Poſt⸗
beamte Fotheriugham fei ganz unſchuldig und ber wirf-
liche Dieb an einem fichern Ort geborgen und im un⸗
geftörten Genuſſe des geraubten Geldes. Wir bemerken,
daß „Jim⸗Cummings“ der typiſch geworbene Name eines
Freibeuters ift, ber durch jeine Verbrechen vor etlichen
Jahren eine belaunte volksthümliche Perjönlichkeit war,
ih aber Später gebeſſert und zur Ruhe gejegt bat. Zum
Deweile dafür, daB ber Briefichreiber ſehr gut unterrichtet
jei, wurben bie Verjtede angegeben, in benen man etliche
von ben geftohlenen Documenten, bie für den Eigenthümer,
aber nicht für den Dieb Werth hatten, finben werbe.
Dieſe literariſche Thätigkeit wurde für ven Ränber
verhängnißvoll. Es gelang ben Detectivs, den Schrift
fteller zu entlarven.
Am 31. October, jechs Zage nach dem Naube, ge-
langte der erfte „Sim-Eummings-Brief‘ au den „Globe
Democrat” in Saint⸗Louis. Derjelbe trug den Poſtſtempel
Saint⸗Joſeph, einer Heinen Stabt an ber weftlichen Grenze
des Staats Miſſouri, unweit Kanſas⸗Cith. Der Brief
verſicherte, Fotheringham ſei nicht betheiligt bei dem Ver⸗
brechen, der Briefſchreiber ſei der Dieb und rühme ſich
der That nicht etwa blos aus Großmannsſucht. Zu ſei⸗
ner Legitimation führte er an, er babe im Wartefanl
ber Station ber Union⸗Eiſenbahngeſellſchaft in Saint⸗Louis
ein Packet mit Effecten zurüdgelafien, welches man in
einem genau angegebenen Verſtecke finden werde. Das
Padet Iag an bem bezeichneten Drte, es enthielt Hemben
und andere Wäfcheftüce, einige Liever im Manufcript,
aber von anderer Hand gefchrieben als ver Brief, und eine
gedruckte Ballade. Auf der Rüchkſeite ver letztern in ber
8*
116 Eifenbabn- und Pofträuber in Norbamerila,
Ede waren mit Bleiſtift Schriftzüge bemerkbar, bie jeboch
mit freiem Auge nicht entziffert werden fonnten. Mit
Hülfe eines ſtarken DVergrößerungsglafes ergab fich bie
Adreſſe des Haufes Nr. 2108 in der Kaftanienallee zu
Saint⸗Louis. Die Schrift fchien von ber Hand bes
Schreibers des „Jim⸗Cummings-Briefs“ berzurühren.
Detectivs begaben fich in das betreffende Haus. Kine
ältere Frau mit fcharfgefchnittenen Zügen und Mugen
Augen öffnete die Thür und rebete bie Polizeibeamten,
ohne ihre etwaigen Fragen abzuwarten, mit den Worten
an: „Ach, ich kann es mir fchon denken, was Ste wollen.
Sie fommen, um fi nach zwei Männern zu erkundigen,
bie hier gewohnt haben. Mir waren fie gleich verdächtig.“
Die Detective erwiberten, ihre Vermuthung fei richtig,
und baten um eine genaue Perfonalbefchreibun. Mrs.
Berry, die Hauswirthin, entiprach dieſem Anjuchen fofort
und erzählte: „Am 18. October mietheten fich zwei Männer
ein, am 22. October reifte der eine ab mit der von Saint-
Louis nad San-Francisco gehenden Eifenbahn, angeblich
nah Kanſas⸗City. Der andere, ber ſich Williams nannte,
blieb noch da. Er fagte, er erwarte noch wichtige Briefe.
In ber That kam auch ein Brief, Williams las denſelben
und theilte mir mit, er müſſe fofort nach Kanfas-City
abfahren. Am 25. October — bem fritiihen Tage —
verließ er abendE das Haus. Er führte einen Reifefad
bei ſich.“
Das Zimmer, in welchem bie beiven Männer gewohnt
batten, wurbe durchſucht. Es war leer, indeß fand man
darin eine leere Medicinflafche mit der Firma eines be-
nachbarten Apothekers und bie Viſitenkarte eines befann-
ten Arztes in Saint-Lounis. Der Apotheker und ver
Arzt erinnerten fich des Mannes, dem die Arznei ver-
ichrieben worben war, ihre Angaben über bie Größe, bie
Eiſenbahn- und Poſträuber in Norbamerifa. 117
Kleidung und das Ausfehen bes Fremden ftimmten über-
ein mit benen ber Frau Berry.
Ein Locomotivführer der Saint⸗Louis⸗ und San⸗Fran⸗
cisco⸗Eiſenbahngeſellſchaft, Sohnfon, deffen Locomotive am
Abend des 25. October vor der Abfahrt des Eilzugs in
der Halle des Stationsgebäudes von Saint⸗Louis auf
einem Nebengleife, gegenüber dem unter der Obhut Fothe⸗
ringham's ſtehenden Boftwagen, gehalten Hatte, melbete
fih freiwillig zu einer Ausfage. Er gab an: „Unmittel-
bar vor der Abfahrt des Eilzugs fam von ber zur Auf-
nahme des Publikums entgegengefetten Seite her ein
Mann in größter Eile herbeigelaufen, warf einen Reife:
jad in den Poftiwagen ver Erpreß-Company und fchwang
N mit Hülfe des Poftbeamten noch hinein, als der Zug
fih in Bewegung fette. Ich Hatte ver Sache anfänglich
feine weitere Bedeutung beigelegt und erinnerte mich erſt
wieder daran, weil.ich ben Iim-Cummings-Brief in ber
Zeitung las. Ich hielt mich für verpflichtet, meine Wahr-
nehbmung mitzutbeilen, weil daraus hervorgeht, daß ber
Poftbeamte bei der Abfahrt des Zugs nicht allein in
feinem Wagen gewejen tft.”
Johnſon befchrieb den Reiſeſack des Fremden, und es
ergab fich daraus, daß e8 ber Reiſeſack geweſen war, ben
der Bewohner des Haufes Nr. 2108 bei fich getragen
hatte, als er ſich zur Eifenbahn begab.
Die Detectivs nahmen nochmals eine gründliche Unter-
uhımg des Zimmers vor, in welchem „Williams und
jein Genoffe gewohnt Hatten.
Als der Stubenteppich aufgenommen wurbe, fanben
Ne unter demſelben das abgeriffene Stüd einer Begleit⸗
adreſſe für ein Eilfrachtſtück. Ein Heine Stegel auf
grünem Lad war aufgebrüdt und das Siegel glich auf
ein Haar dem Siegel, welches ven „Sim-Cummings-Brief”
118 Eiſenbahn- und Pofträuber in Nordamerika,
atı ven „Globe Democrat” verſchloſſen hatte. Eine furgfäl=
tige Befichtigung bes Adreſſenfragments bewies, daß es
von einer Eilftachtſendung herrührte, die wenige Tage
vorher vott Samt-Charles am Mifſouri Aber die Pacific⸗
Krenziing nad Saint⸗Louis abgegangen war.
Die Bücher und Regifter der Erpreß-Company wur-
ben aufmerkſam durchgeſehen, fie bewieſen, daß bie Be-
gleitabdreſſe an zwei Reiſeſäcken befeftigt geweſen war.
Dieſe Reiſeſäcke gehörten offenbar den in dem Hauſe der
Kaſtanienallee zu Saint⸗Louis wohnenden beiden Männern.
Dieſe verſchiedenen, allerdings noch ſchwachen Spuren
wurden die Ausgangspunkte für weitere Combinationen
und Entdeckungen.
Die Detectivs zogen daraus den Schluß: Der eine
von ben beiden verdächtigen unbekannten Männern, wel⸗
her am 22. October das Hans verlieh, habe ven Eilzug
nach San-Frandsco nur ein Stück begleiten wollen, nın
das Terrain zu ſondiren. Er habe feinen Genoſſen brief-
ih von fetten Beobachtungen und der Lage ber Dinge
in Kenntniß geſetzt, dieſer ſei am 25. Detober abgereift
und habe ven Raub ausgeführt.
Andere Detectivs auf ber Fährte des entlaſſenen
Boftbeamten Haight Hatten fein Thun und Treiber am»
ablaͤſſig überwacht und ausgekundſchaftet, daß es ihm
recht ſchlecht gegangen war, daß er in den dürftigſten
Verhältniffen gelebt hatte. Erſt einen over zwei Tage
nach dem Haube änderte ſich plöglich feine Lage. Er be⸗
zahlte einige dringende, Heine Schulven, reifte am 27. Oc
tober von Chicago ab, nach dem Süben, wie er fagte
nach Florida, und auch ſeine Frau verließ bald darauf die
Stadt.
Friebrich Witrock, ver Kohlenhandler, war zu der
Zeit, da dieſe Nachforſchungen im Gange waren, nicht tt
Eijenbabn- nnd PBofträuber in Norbamerila. 119
ber Stabt anweiend. Er war am 12. October von Chi⸗
cago abgereift, zugleich mit ihm fein ihm befreundeter
Nachbar, der Wäſcher Thomas Weaver,
Jever von beiben hatte einen Reifefüd und eine Jagd⸗
flinte mitgenommen, um, wie fie fagten, in Arkanſas zu
jagen.
Weaver kehrte am 28. October nach Chicago allein
zurück. Man erfımbigte fi nun nach Witrod. Sein
Signalement machte es wahrfcheinlich, daß er mit dem
Miethbewohner Williams in Saint⸗Louis identiſch fein
möchte.
Die Detectivs verfchafften ſich Proben von Witrock's
Handfchrift, die Redaction des „Globe Democrat” ftellte
ihnen bie ihr zugegangen „Jim⸗Cummings⸗Briefe“ zur
Berfügung, um durch vereibigte Sachverftänbige eine Ver⸗
gleichung der Handichriften vornehmen zu lafien.
In dem letzten jener Briefe, deffen Zwed wieberum
war, Fotheringham's Unſchuld nachzumeiien, prahlte ber
Schreiber damit, daß er alle ven Raub und feine Aus-
führung betreffenben Umſtände enthüllen könne.
Es hieß dann weiter: „In dem im Warteſaal des
Stationsgebäudes von Saint-Lonis verftedt geweſenen
Packet befinvet ſich ein unbefchriebener Briefbogen mit ber
vergebrudten Firma der Adams-Erpreß-Company. Dies
fer Briefbogen müffe doch der Polizei die Augen öffnen,
denn auf einem gleichen Bogen fei bie gefälichte Ordre
geichrieben geivejen,”welche ver Räuber dem Poſtbeamten
porgezeigt babe, um Zutritt zu dem Poftwagen zu erhal-
ten. Der Räuber babe ſich nach wollbrachter That von
der Pacific-Krenzung an bie Ufer des Miffouri begeben
und fei in der Nähe von Saint-Eharles in einem daſelbſt
bereit gehaltenen Kahn ftromaufwärts gernbert.”
Um die Richtigkeit diefer Angaben zu prüfen, verfüg-
120 Eifenbahn- und Bofträuber in Nordamerika.
ten fich die Detective nad Saint-Charles, und es gelang
ihnen, folgende Thatfachen feftzuftellen:
Am 14. October trafen in ber genannten Stabt zwei
unbelunnte Männer, deren Signalement auf Witrod und
Weaver paßte, ein, fie kauften einen Nachen und Vorrath
bon Lebensmitteln für mehrere Tage und fuhren ſodann
ftromaufwärts wieber weg. Bei der Ankunft in Saint-
Charles führten fie zwei Reiſeſäcke mit ſich, die fle nicht
mit in den Kahn nahmen, fondern mittel Bahn über
bie Pacific- Kreuzung nach Saint-Routs endeten. ‘Der
Nahen wurde etliche Wochen nach dem Raube, halb ver-
graben im Sande, in einem Abflußloch des Deiffouri
aufgefunden.
Um dieſe verfchtebenen Fäden zu verinüpfen und
Klarheit zu gewinnen, wurben Thomas Weaver und bie
Kohlenniederlage Witrock's, die während feiner Abwefen-
beit fein Schwager Eduard Kinney verwaltete, von
Detectivs genau beobachtet.
Andere Detectivs begaben ſich nach Leavenworth, um
in der Heimat von William Haight und Friedrich Witrod
Nachforſchungen anzuftellen. Die Mutter und die Schwe-
fter Witrock's lebten fchon feit langer Zeit dort und er-
freuten fi des beiten Rufs. Vor kurzem hatte fich bie
Frau des Haight mit ihrem Kinde ebenfalls bort nieber-
gelaffen. Ste ftand mit ihrem Manne in Briefwechfel.
Man erfuhr dadurch feinen Aufenthalt und feine Adreſſe.
Er lebte in Naſhville im Staate Tenneffee und betrieb
bort das Gewerbe eines Dachdeckers. Auch Haight wurbe
nun unter bie Aufficht von Detectivs geftellt.
Frau Berry in der Kaftanienallee von Saint⸗Louis,
bei welcher zwei Männer, vermuthlich Witrod und Weaver,
vom 18. bis 25. October zur Miethe wohnten, hatte
einen Sohn und eine Tochter.
Eifenbahn- und Bofträuber in Nordamerika. 121
Diefe reiften in Begleitung von Detective nach Chicago
und erhielten Gelegenheit, ven Wäſcher Thomas Weaver
zu ſehen. Sie erklärten beide mit völliger Beſtimmtheit,
er fei der eine von jenen beiden Männern und zwar
derjenige, welcher zuerft, nämlich am 22. October, mit ber
nah San⸗Francisco gehenden Bahn abgereift jei.
Das war ein entjcheivendes Zeugniß. Das Einver-
ftänpniß zwifchen Haight, Witrod, Weaver und vielleicht
auch Kinmey und ihre Betheiligung an dem Verbrechen
ſchien jo ziemlich bewieſen zu fein.
Dagegen waren bie ‘Detectivs zweifelhaft barüber, ob
Fotheringham Mitſchuldiger fei oder nicht. Er war noch
immer in Unterfuchungshaft, Haight, Weaver und Kinneh
fanden unter ber polizeilichen Aufficht der Detectivs,
und der Proceß vor Gericht hätte jeden Augenblick be-
gumen können, aber der Hauptſchuldige Witrod war
noch immer von Chicago abweſend und man kannte feinen
Aufenthaltsort nicht, auch von dem geftohlenen Gut hatte
man noch nichts entdeckt, deshalb wurde beichloffen, bie
Rückkehr Witrock's abzuwarten. Er follte von ſelbſt ins
Garn laufen, dann erſt wollte man die Falle jchließen
und gerichtlich einfchreiten.
Inzwiſchen arbeiteten die Polizeibeamten weiter, um
Witrockss Spur aufzufinden. Er hatte, wie man erfuhr,
einen vertrauten Iugenbfreund Namens Oskar Cook.
Derielbe ftammte ebenfalls aus Leavenworth, wohnte in
Lanſas⸗City und betrieb dort das Gewerbe eines Küfers.
Cook lebte in ziemlich befcheivenen Verhältniſſen, fchien
aber plößlich zu Gelde gefommen zu fein. Es verbrei-
tete fich das Gerücht, daß er einen Treffer in ber Lotterie
gewonnen babe. Die Detectivs fchöpften Verdacht und
beobachteten fein Thun und Treiben. Dabei fiel ihnen
auf, daß er oft Heine Keifen unternahm und daß, fo oft
U
123 Eiſenbahn- und Pofträuber in Nordamerika.
er fih von Kanſas entfernte, ein Jim⸗Cumming⸗Brief“
bei einer Zeitung in Saint-Lomis einging, Bon ihm
ſelbſt rührten die Briefe, wie eine Bergleichung ber Hand⸗
ſchrift ergab, nicht her. Aber vielleicht ftanb er in per-
ſoͤnlicher Verbindung mit Witrod und beforgte dieſe von
bem letztern gefchriebenen Briefe.
Ein Detectiv fuchte und machte feine Bekanutſchaft,
er ſchloß fogar Freundſchaft mit Cook und brachte auch
gelegentlich Das Geſpräch auf Witrod. Aber Cook ver-
rieth nichts, der Verfuch, durch ihn von Witrod Näheres
zu erfahren, mislang.
Eine Unvorfichtigleit kam den ‘Detective zu Hülfe.
Eduard Kinneh, der Schwager und gefchäftliche Repräfen-
tant Witrod’8, machte eine kurze Gefchäftsreife von Chicago
nach Ouinch in Illinois. Ein Detectiv folgte ihm bahin.
In Quinch erhielt er ein Telegramm, welches ihn in eine
gewiſſe Anfregung verfegte. Der Detectiv verfügte fi)
jofort in das Telegraphenamt und verlangte, nachbem er
fih als Polizeibeamter Tegitimirt hatte, die Mittheilung
bes Telegramms. Es war in Chicago aufgegeben unb
Inutete:
„Komme gleich. Friedrich zurück.
Rofa.”
Kinney’s Schwefter, Rofa Witrod, rief ihn nach Chi⸗
cago, weil ihr Mann nach Chicago zurückgekehrt ſei.
Witrock's Haus war unabläffig überwacht worden und
man hatte gefehen, daß eines Abends im Halbounkel ein
hochgewachſener Mann hineingegangen und von dba ab
auch im Haufe geblieben war.
Kinney fuhr eifig beim. Detective bemerkten, daß
ex und Weaver vorfichtig in Witrod’8 Haus ſchlichen.
Dichte Vorhänge, die fortwährend zugezogen waren, mach⸗
ten es unmöglich, von außen bie Perfonen und bie Vor⸗
Eifenbahn- und Pofträuber in Rorbamerifa. 123
gänge inmerbalb der bewohnten Räume zu beobachten.
Aber abends, wenn Licht angebrannt war, beivegten fich
Schatten von Menfchen Hinter den Vorhängen.
Endlich am Weihnachtsabend, als die Straße völlig
menfchertleer war, traten drei Männer: Witrod, Weaver
und Kirneh, mistrauiſch um fich ſpähend, aus dem Haufe
und begaben fidh in eine nahe gelegene Weinftube.
Jet war bie Frucht reif. Die Polizei wurde ver-
ſtaͤnbdigt. Ste befete die Ausgänge, ein Commiffionär trat
in Begleitung mehrerer Eonftabler ein und kündigte ben
brei Männern an, daß fie verhaftet würben. Sie fetten ſich
zur Wehr. Revolver wurben gezogen, Schüffe Trachten,
aber es ging ohne fchwere Verlekungen ab. Die Bande
wurde überwältigt nnd feftgenommen. Man ımterwarf alle
drei einer genauen lörperlihen Viſttation. Witrod trug
me 110 Dollars, Weaver eine ganz geringe Baarichaft bei
fh. Kinney Hatte in feiner Bruſttaſche 1000 Dollars
und in einer Gelbtafche um ben Leib gefdmalit 4000
Dollars in Gold.
Das Hans Witrock's wurde burchfucht, aber von Gelb
ober Geldeswerth wer nichts zu entveden. Auch Frau
Witrock mußte ſich trotz ihres Widerſpruchs vifitiren laſſen.
Man fand in ihrem Unterrocke eingenäht 2000 Dollars,
in Ihrem Eorfet 450 Dollars umb in dem Kiffen, wel⸗
ches fie als Tomrnüre trug, die ans dem Boftiwagen ges
raubten Loftbaren Diamanten.
In Weaver's Haufe in der Waſchküche waren in aus-
geleerten Marmeladentöpfchen 3000 Dollars in Gold
derfteckt.
Auf telegraphiſche Ordre wurde Haight in Naſhville
mb Cook in Kanſas⸗City verhaftet. Die Räuber waren
bifgfeft gemacht. Die Bernehmung ber Angeſchuldigten
beftätiyte die Gombinatton ver Detectivs in allen Stüden.
124 Eiſenbahn- und Bofträuber in Nordamerika.
William Haight, der frühere Poftbeamte auf jener
Strede, mit dem Dienfte genau befannt, hat ben ver-
brecheriichen Plan entworfen.
Es lag ihm daran, die Unterſchrift des Mr. John D.
Barnett, des Oberbeaumten der Adams-Erpreß-Compand,
zu erhalten. Er fchrieb deshalb an ihn und trug ihm den
Ankauf einer Erfindung an, die er gemacht haben wollte.
Mr. Barnett Tehnte höflich ab und unterzeichnete bie
Antwort, die auf einem Briefbogen mit ver vorgebrudten
Firma ber Adams-Expreß⸗Company gejchrieben war.
Haight benutzte diefen Bogen als Mufter und Tieß gleich-
artige8 Briefpapter mit dem Vorbrud per Firma in
Chicago anfertigen. Der Lithograph, welcher diefen Auf-
trag ausführte, erfannte in William Haight den Dann,
ber bie Beftellung gemacht hatte, wieder. Auf einen ſolchen
Driefbegen ſchrieb Haight Die angebliche Ordre, mittelö deren
ber Räuber fich den Zutritt zum Poftwagen verichaffen
jolfte, und fälfchte die Unterjchrift des Mr. Barnett.
Da er das Verbrechen nicht ſelbſt vollbringen konnte,
weil er dem Boftbeamtenperfonal befannt war, zog er
ven Kohlenhändler Witrod in das Vertrauen, und dieſer
war ber eigentliche Thäter. Witrod reifte mit feinem
Nachbar und Freunde Weaver nach Saint-Rouis, beide
mietheten fich dort bei Frau Berry ein, Weaver befuhr
von dort aus die Strede von Saint⸗Louis bis Pacific-
Kreuzung allein, um zu controliren, ob die Angaben
Haight’8 zuverläffig feien und ob ber Raub wirklich aus»
geführt werben könne. Er benachrichtigte feinen Com⸗
plicen Witrod brieflih, daß Haight's Mittheilungen fich
in allen Stüden beftätigt hätten, und nun ging Witrod
ang Werl. Mit Hülfe ver falichen Ordre ſchmuggelte
er fih in den Poſtwagen ein und verübte bort den Raub,
nachdem er den Boftbeamten überfallen und geknebelt
Eifenbahn- und Pofträuber in Norbamerifa. 125
hatte. Bei der Station Pacific-Kreuzung ſprang Witrod
ab und eilte nach Kanfas-Eity zu feinem Freunde Coof,
ber ihn eine Zeit lang in feinem Haufe verbarg. Spä-
ter wandte er fi nach dem Süden. Nach Berlauf von
jwei Monaten bielt er fich für ficher und lehrte nad
Chicago zurüd. Witrod hat von Kanſas⸗City aus bie
„Sims Cummungs»Briefe” gefchrieben. Ob ihn dazu
lebiglich die Langeweile oder ber Uebermuth getrieben hat,
wiſſen wir nicht. Er hat diefe Briefe durch feinen Jugend⸗
freund Cook zur Poft befördern Taffen. Sein Schwager
Kinney bat ebenjo wie Cook an dem Verbrechen nicht
birecten Antbeil genommen, fondern nur den Verkehr
zwiſchen Haigbt, Witrod und Weaver vermittelt.
Wie die Beute getheilt wurde ift nicht genau ermittelt,
aber Doch Folgendes feftgeftellt worden:
Haight, der geiftige Urheber des Verbrechens, bat eine
jehr anjehnlihe Summe von dem geraubten Gelde em-
pfangen, fich indeß Hartnädig geweigert, barüber irgenb-
etwas auszufagen. Es ift auch nicht gelungen, das Geld
wieder berbeizufchaffen.
Bei Witrod und feiner Frau wurden, wie wir wiſſen,
2560 Dollars und die entwenbeten Diamanten gefunden.
Später geftand er ein, im Haufe feiner Mutter in Leaven⸗
worth 20000 Dollars in Gold verftedt zu haben. Sie
waren in einem Kiftchen im Gewächshauſe des Gartens
an einem beftimmten Orte, den er genau bezeichnete, ver-
graben. Seine Mutter, eine freuzbrave Frau, war außer
fih, als fie von der Verhaftung ihres Sohnes Kenntniß
erhielt, und theilte der Adams⸗Expreß⸗Company brieflich
Folgendes mit: „Ende October 1886 kam Oskar Cook zu
mir und erzählte, mein Sohn Habe fi in Chicago in
eine Getreibefpeculation eingelaffen und dabei eine Menge
Geld verdient, fei aber leider mit einem betrügerifchen
126 Eijenbahn- und Bofträuber in Nordamerika.
Agenten in Streit gelommen und babe diejen babei durch
einen Schuß getöbtet. Er fei flüchtig geworben und laſſe mich
bitten, ihm eine größere Summe Geld einftweilen aufs
zuheben. Cook übergab mir das Geld, und einige Zeit
darauf erſchien mein Sohn felbft eiumal bei Nacht und
Nebel in meinem Haufe, beftätigte, was mir Cook mit-
getheilt Hatte, und händigte mir wiederum Gelb ein, um
bafjelbe in Verwahrung zu nehmen. Da ich nun weiß,
woher das Geld rührt, beeile ich mich, bie gefammte
Summe von 19000 Dollars, die mir von Cool und von
meinem Sohne zugeftellt worben tft, der Adams⸗Expreß⸗
Company zurüdzufenden.”
Ob Fotheringham wirklich durch dieſe gefäljchte Ordre
Witrock's getäufcht und von biefem überfallen, oder ob
ber Raub mit feiner Zuftimmung verübt und er nachher
nur zum Schein niebergeivorfen und gebunben morben
ift, blieb zweifelhaft. Die Detectivs, welche unter ber per-
jönlichen Leitung des Herrn Robert X. Pinkerton arbeiteten,
haben ein Meiſterſtück geliefert. Es ift ihnen gelungen,
die einzelnen zeritreuten Fäden zu verbinden und daraus
einen Strid zu drehen, mit welchem fie ſchließlich pie
ganze Bande fingen. Bon den geraubten 57000 Dollars
find 51000 Dollars und die Diamanten wieder in ben
Befig der Adams⸗Expreß⸗Companh gelommen. Die
Detectivg — 12—15 Mann ſtark — haben raftlos, mit
jeltenem Fleiß und erftaunlichem Geſchick gearbeitet. Es
ift nur fraglich, was größere Anerkennung verbient: ihr
Scharffinn oder ihre Geduld. Die Koften ver Unter-
ſuchung durch bie Detectivs betrugen 6451 ‘Dollars.
Als Die Berurtheilten in das Gefängniß zurüdgeführt
iwurben, ereignete fich ein Zwiſchenfall, ver für ameri-
kaniſchen Verbrecherhumor charakteriftiich tft. Im Gange,
ben fie pajjiren mußten, kamen fie an einem ſchlanken
Eifenbahn- und Bofträuber in Rorbamerila. 127
jungen Mann vorbei, ber in eifriger Converfation mit
zwei jungen Damen begriffen war. Haight ftieß Witrod
an und flüfterte ihm zu: „Hier fteht Fotheringham.“
MWitrod firirte einige Augenblide den Genannten, ſchritt
Damm auf ihn zu, reichte ihm die Hand und fagte: „Fothe⸗
ringham, alter Junge, ich bin froh, Ste zu treffen. Ich
babe Ihnen vor über zwei Monaten einen böſen Streich
geipielt, aber ich will hoffen, daß Sie mir es nicht nach»
tragen werben.” „Gewiß nicht”, lautete bie Erwiderung
Fotheringham's, „obzwar Sie mich gehörig überrumpelt
haben, als wir und das erſte mal trafen.” Die beiben
Lente hielten ein eingehendes Geipräch über die Unter-
juchung, während vie Gefängnigwärter ruhig babeiftanven
und wur geipannten Ohres lauſchten, ob fie etwas erfahren
twärben, was zu einer weitern Verhandlung führen Fünzte.
„Se ſchieden als gute Freunde“, fohließt der ameri-
laniſche Reporter, dem wir biefe Mittheilung verbanten,
feinen Bericht.
Der gerichtliche Broceß verlief ſehr einfach, denn
Witrock namentlich hatte ein ſehr umfafjeudes Geftänpnif
abgelegt. Am 4. Jannar 1887 wurden bie Angeklagten
bor das Gericht in Saint Louis geitellt. Der Staats»
anwalt Slover begründete bie Anklage, FriedrichWitrock,
Billtam Haight und Thomas Weaner erklärten fich
für ſchuldig, die beiben erften wurden zu fieben Jahren
Zuchthaus, das höchfte gejegliche Strafmaß, Weaver aber
zu fünf Jahren harter Arbeit verurtheilt. Cook und
Kinney, ebenſo Frau Witrod und Frau Haight leugneten,
beu dem Raubanfalle Kenntniß gehabt und gewußt zu
haben, daß Geld und Diamanten geftohlenes Gut geweſen
feien. Eine Anklage tft bisjetzt weder wiber fie noch
wider den Poftbeamten Fotheringham erhoben worben.
Ein Eriminalproceß ans Oeſterreich.
Die Selbſtanklage des Prochriften Karl Schiske in
Wien wegen einer angeblichen Beruntrenung.
1886.
Am 12. September 1886 verbreitete fih am Franz
Joſephs⸗Quai, dem Manufacturviertel von Wien, bas
Gerücht, Karl Schiske, der Procurift ver Firma Gebrüder
Klinger, habe fich ſelbſt dem Strafgericht geftellt und be
fannt, bedeutende Veruntreuungen begangen und fo das
von ihm vertretene Haus empfindlich geſchädigt zu haben.
Die Nachricht ſchien unglaublich zu fein. Schiske war
bekannt als ein durchaus foliver Menſch, als ein ruhiger,
befonnener Geſchäftsmann. Er war fchon vor 20 Jahren
mit der Procura betraut worden, genoß das volle Ber:
trauen feiner Chefs und leitete die kaufmänniſchen Gefchäfte
der Firma in Wien ganz felbftändig, während bie Eigen-
thümer in Zeibler in Böhmen wohnten und bafelbft bie
Fabrikation der Wirkwaaren bejorgten und kaum ab und
zu einmal in bie öfterreichiiche Hauptſtadt kamen.
Eine Unreblichkeit traute biefem Ehrenmanne niemand
zu, bie öffentliche Meinung fprach durchgängig zu feinen
Gunften, e8 mußte ja ein Irrthum obwalten und fi
bald herausstellen, daß ein Unſchuldiger verbächtigt wor-
den war.
Ein Eriminalprocek aus Defterreid. 129
Allein ſchon am folgenden Morgen beftätigten bie
Zeitungen die Selbftanflage des Procuriften und fügten
hinzu: das Deficit belaufe fich auf mindeftens 60—70000
Gulden, das Gericht habe den Verbrecher in Unter-
ſuchungshaft genommen. Die Sama hatte diesmal nicht
gelogen; aber wie war es möglich, was batte den Mann
beivogen, ſeine Hand nach fremdem Gut auszuftreden und
jenen ehrlichen Namen fo zu befleden? Es curfirten in
den Taufmärmifchen Kreiſen die verichtedenften Commentare.
„Der Dämon Lotto, der ſchon fo viele Eriftenzen vernichtet
hat, ift Die Urſache geweſen“, fagten bie einen. „Nein“, er»
wiberten bie andern, „bie Börſe bat ven Mann in das Un-
glüd geftürzt. Wer einmal von den verberblichen Früchten
vieles Giftbaums gekoftet hat, der ift dem Börſenſpiel ver-
fallen und verloren. Da find alle Warnungen vergeblich.‘
Rob andere raifonnirten über die Foftfpieligen Aus-
gaben mancher Ehemänner: „Sa zu Haufe ift man hyper⸗
jolid und die Einfachheit ſelbſt. Wenn die Frau fich einen
Winterhut kaufen will, wird über die unnüge Ausgabe
gebrummt und der Hut vom vorigen Jahre für noch
gut genug erklärt. Aber ver füßen Kleinen, ver Ratte vom
Ballet, kann man nichts abichlagen. Diamantenboutong,
groß wie bie Hafelnüffe für vie zarten, roſenrothen
Ohren, blitende Bracelets um die rımden vollen Arme,
vielleicht gar Perlencolliers für den blendendweißen Hals
müſſen gefauft werden. Aber Perlen bedeuten Thränen.”
In dieſer albernen Weiſe wurde geflatjcht und ver-
(enmbet. Es Iag nicht etwa Bosheit oder Schabenfreude
zu Grunde, der Procurift Schiske Hatte feinen Feind und
war allgemein geachtet und beliebt. Dean wollte nur
ſchwatzen und fuchte zu erklären, was jevermann für un-
möglich gehalten hatte. Die Unterfuchung' war kurz und
böchft einfach. Sie hatte nur den Thatbeftand des Bes
XXL 9
130 Ein Eriminalproceß aus Defterreid.
fenntnifjes feftzuftellen. Aus den Angaben des Procu⸗
riften Schiöfe und des Herrn Anton Klinger jun., eines
Sohnes des Chefs der Firma, welcher von Zeibler nach
Wien geeilt war, um bie Leitung des dortigen Geichäfts
zu übernehmen, ergab fich, daß ein Deficit vorhanden
war, e8 betrug nach den Büchern 78248 Gulden.
Schon am 10. November 1886 fand die Hauptver-
handlung vor einem Erfenntnißfenat des Landesgericht in
Wien ftatt. Landesgerichtsrathb Dr. Ferdinand von Hol-
zinger führte den Vorfi in dem Vierrichtercollegium, bie
Staatsanwaltichaft war vertreten burch ven Staatsanwalt:
fubftituten Dr. Albert Zeisberger, bie Vertheibigung
hatte der Hof- und Gerichtsadvocat Dr. Adolf Ernft,
bie Vertretung ber betheiligten Firma Gebrüber Klinger
ber Reichsrathsabgeordnete, Hof⸗ und Gerichtsadvocat
Dr. Moriz Weitlof übernommen. Die Zuhörer refru-
tirten fich Diesmal nicht aus ber Zahl derjenigen, die vegel-
mäßig in den Gerichtsfälen fich einzufinden pflegen, es
waren meift Kaufleute, bie dem Gange des Procefies
mit großem Interefje folgten.
Der Angeklagte ift ein ftattliher Mann mit einem
intelligenten, aber forgenvollen durchfurchten Geficht,
bunfelm, aber gelichtetem Haupthaar und ſchönem üppigen
Vollbart. Erift 56 Jahre alt, feit kurzer Zeit zum zweiten
mal verbeirathet und Vater eines einzigen Kindes. Ehe
er fih dem Handelsfache winmete, war er Schüler eines
Gymnaſiums, beftand daſelbſt die Reifeprüfung und ftubirte
hierauf in Wien zwei Jahre lang Philofophie. Seit 22
Sahren ift er im Gefchäft der Firma Gebrüder Klinger
thätig, feit 20 Jahren, wie fchon mitgetheilt wurbe, deren
Procurift und mit der jelbftändigen Leitung bed Zweig
geihäfts in Wien beauftragt.
Sein Gehalt betrug anfänglich nur 1200 Gulden jähr-
Ein Erimiualproceß aus Defterreid. 131
fth, wurde aber fpäter auf 1800 Gulden erhöht. Dazu
kam vom Sabre 1869 an die Tantieme vom Rein⸗
ertrage der von ihm geleiteten Niederlage in Wien, die fich im
guten Gefchäftsjahren auf mehr als 2000 Gulden be-
zifferte, in der Regel aber nur ungefähr 1600 Gulden betrug.
Er bejaß eine auf Annuitäten gefaufte Billa im Cottage-
viertel in Währing, lebte auf einem fehr befcheivenen
einfachen Fuß in durchaus georbneten DVerhältniffen.
Gefellichaften gab er nicht und bejuchte folche auch nicht.
Man jah ihn weder im Theater noch an fonftigen Ver-
gnügungsorten. Er hatte feine befonvere Liebhaberei und
war noch weniger von Eoftipieligen Leidenschaften beberricht.
Nur einmal in der Woche traf er ſich mit einem lang-
jährigen Freunde in einem Cafe und einmal wöchentlich
abends ging er in ein nahes Gafthaus. Sein Haushalt
foftete ihm nie mehr als 1800 Gulden im Sabre, die
Annuitäten zur Bezahlung des Kaufpreifes für feine
Billa beliefen fih fürs Jahr auf 700 Gulden, der Reſt
feines Einkommens genügte überreichli zur Dedung
feiner‘ perjönlichen Bebürfniffe.
Auf die Frage des Präſidenten: aus welchem Grunde
umd zu welchem Zwede er die große Geldſumme verun-
treut habe, gibt er zur Antwort:
„Das Deficit ift blos die Folge mangelhafter Buch-
führung und leichtfinmiger Gebarung. Einer Veruntreuung
im eigentlichen Sinne des Wortes, alſo einer Unter-
Schlagung des Geldes und Verwendung beffelben zu meinem
Nutzen bin ich nicht ſchuldig. Von dem faljchen Chrgeize
befeelt, die Reſultate meiner Gefchäftsführung möglichft
glänzend erjcheinen zu laffen, babe ich feit 20 Jahren
zahlreiche Ausgaben, bie ich für das Gefchäft beftreiten
mußte, nicht in bie Bücher eintragen laffen. Sch habe
dieſe Ausgaben lediglich im Intereffe des Geſchäfts be-
9*
132 Ein Eriminalproceß ans Defterreid.
ftritten, nicht für mid. Da ich aber biefe Ausgaben nicht
mehr nachweifen und belegen Tann, jo bin ich für ben
ganzen fehlenden Betrag, injoweit ich nicht aus privaten
Mitteln Erſatz zu leiften vermag, der Firma Gebrüber
Klinger Haftpflichtig. Ein Verbrecher aber bin ich nicht.”
Diefe Erflärung erregte große Senfation. Das
Richtereollegium war augenscheinlich frappirt und ſchien
ihr keinen Glauben zu ſchenken. &iner von den Richtern
bemerkte: „Ihre angebliche Liebhaberei, Ausgaben nicht
zu buchen, ift ein Unicum in der Geichäftewelt. Es ift
auffällig, daß Ste fich freiwillig dem Strafgericht ftellten,
wenn Sie fi) bewußt waren, nur civilrechtlich für einen
Schaden verantwortlich zu fein. Wunderbar erfcheint es,
baß ein fo confujes Gebaren umentvedt blieb.“
Zögern und ftodenb gibt der Angefchulpigte auf Be⸗
fragen des Präfiventen näher an, welche Ausgaben für
bie Firma er beftritten, aber nicht gebucht und alſo zu
feinen eigenen Laften übernommen habe: bie Abzüge, welche
bie Kunden an den Facturen machten, notirte er nicht,
ſondern ließ die Beträge als voll eingegangen einffellen;
Erpensnoten von Rechtsanwälten, die in feinem Auftrage
Außenftände eingezogen, verrechnete er nicht auf das Spefen-
conto, ebenfo wenig eine von ihm als Geichäftsführer ver-
wirkte Conventionaljtrafe; die Einfommenfteuer von feinem
eigenen Gehalt und von bem Gehalt der andern Bes
bienfteten im Geſchäft bezahlte er bie ganze lange Zeit
aus eigenen Mitteln, obgleich es in Wien bei allen beben-
tendern Firmen Gebrauch tft, diefe Steuer von Gefchäfts
wegen für das geſammte Perjonal zu entrichten; Vorſchüſſe,
bie er als Vertreter bed Chefs einzelnen Comptoiriften
beiwilligte, berechnete er nicht, auch wenn deren Rückzahlung
nicht erfolgte, Spejen aller Art, fogar die Auslagen für
Briefmarken, ließ er nicht buchen.
Ein Eriminalproceß aus Defterreid. 133
Auf diefe Weife entftand natürlich ein fih von Jahr
zu Jahr vergrößerndes Deficit. Um baffelbe zu ver-
fchleiern, machte er verichtevene Anleihen. Daher rühren
nach feiner Ausfage die ungebedten laufenden Bone, bie
er im Namen der Firma ausſtellte und acceptirte.
Bräfident. Wenn es fich wirklich fo verhält, fo
Liegt nur der Fall einer Untreue vor, die unfer Straf-
geſetz nicht ahndet. Es wären ftarfe Verftöße gegen reelle
Geſchäftsprincipien, aber nicht Veruntreuungen, nicht ein
Berbrechen begangen.
Angeklagter. Es verhält fich gewiß jo, wie ich an-
gegeben babe.
Bräfident. Warum haben Ste ſich dann felbft dem
Strafgericht geftellt?
Angellagter. Weil ich unrecht gehandelt habe.
Präfident. Im Ihrer Selbftanzeige erklären Sie,
daß Sie für die Veruntreuung aus Ihren eigenen Mitteln
auflommen wollen.
Angellagter. Für Ausgaben, bie ich nicht belegen
Ianıı, bin und bleibe ich haftbar.
Präsident. Sie haben von der veruntrenten Summe
nichts für ſich behalten?
Angellagter. Gar nichts. Für meine Bedürfniſſe
reichte mein Einkommen vollftändig aus. Ich habe im
Gegentheil alles bergegeben.
Präfident. Was meinen Sie damit?
Angellagter. Ich habe im Jahre 1877 nad dem
Tode meiner feligen Deutter eine Erjchaft gemacht. Mein
Erbtheil betrug gegen 20000 Gulden. Diefe Summe
habe ich verwendet, um das Deficit zu verringern, ebenfo
6000 Gulden, die ich nach dem Tode meiner erften Frau
von der Lebensverficherungsgefellichaft Reunione Adria-
tica andgezahlt erhielt. Späterhin habe ich alles abge-
134 Ein Eriminalprocef aus Oeſterreich.
treten, was ich befige: meine Villa in Währing, die auf
20000 Gulden zu veranjchlagen ift, meine Mobilien,
meine Bücher, fogar meine Belzkleiver und meine für 1885
noch nicht erhobene Tantieme, endlich meine außenſtehenden
Forderungen im Betrage von mehr ale 4000 Gulden.
Präſident. Sie haben alles abgetreten und befitgen
alfo nichts mehr?
Angellagter. Ich habe gar nichts mehr als daß,
was ich auf dem Leibe trage, biefes ſchwarze Gewand.
Auch meine Frau befigt nur noch die geringe Ausſteuer,
bie fie eingebracht hat. (Bewegung im Zuhörerraum.)
Beifiter Oberlandesgerichtärath Franz Gernerth.
Wozu aber dann biefe zwanzigjährige Sifyphusarbeit?
Angellagter. Es war übel angebrachter Ehrgeiz.
Oberlandesgerichteratb Gernerth. So etwas ift mir
in meinem Leben noch nicht vorgefommen. Ich glaube auch
nicht, daß fich ein ähnlicher Fall überhaupt je ereignet hat.
Präfident. Ste hätten fich Ihrer Firma fchon vor
Jahren entdeden follen. Sie befunden durch Ihr Ber:
ſchweigen und Ihr ganzes Verhalten eine merkwirbige
Willensſchwäche. Wie hoch beziffern Sie das Deficit?
Angeflagter. Ich kann es nicht jagen. Es bat
fih Tangfam auffjummirt. Die größten Beträge haben bie
Zinſen verfchlungen.
Präſident. Wie ift denn das zuigegangen ?
Angellagter. Ich mußte Gelder aufnehmen, um das
Gebarungs-Deficit zu verhülfen. Zu dieſem Zwecke gab
ich Uccepte der Firma und bezahlte die Escomptezinſen.
Für dieſe PVerzinfung wird der größte Theil der noch
fehlenden Summe verwendet worden fein.
Vertheidiger Dr. Ernft. Iſt es richtig, daß Sie
als alleiniger Chef der hieſigen Gefchäftsniederlage Ge-
jchäftsbebienfteten Vorfchüffe gegeben und viefelben nicht
Ein Criminalproceß aus Defterreid. 135
wiebererbaften haben, weil bie DBebienfteten ausgetreten
oder geftorben find?
Angellagter. Ia wohl! Bei einem Buchhalter habe
ih anf folche Weife 800 Gulven verloren. Aus biejem
Zitel habe ich noch über 2000 Gulden Forderungen.
Dr. Ernft. Iſt e8 richtig, daß Sie einzelnen Mit-
gliedern des Gefchäftsperfonale, welche von Krankheiten
beimgefucht wurden, die Arzneien in ber Apotheke und
bie Honorare der Aerzte bezahlt Haben?
Angellagter. Es iſt richtig.
Präſident. Warum haben Sie die den Firma⸗
trägern nicht mitgetheilt?
Angellagter. Ich hielt e8 nicht für möthig. Ich
war getwohnt, ganz fo felbftändig zu handeln, als wenn alles
mir gebörte.
Präſident. So bätten Sie biefe Ausgaben doch
wenigftens in die Bücher eintragen laffen jollen.
Dr. Ernst. Ich gehe weiter. Haben Ste nicht auch
allerlei Spefen gezahlt, ohne das Haus dafür zu belaften,
3. B. Briefmarken verwendet, ohne fie anzurechnen?
Angellagter. Ja wohl, fo ift es.
Oberlanvesgerichtsrath Gernerth. Aber warum haben
Sie es gethan?
Angellagter. Ich babe das Geſchäft als mein
eigenes betrachtet. Auch glaubte ich immer, ich würbe
jeven fehlenden Betrag aus eigenen Mitteln erjegen können.
Dberlandesgerichtsrath Gernerth. ine Liebhaberet,
bie einzig in ihrer Art ift.
Dr. Ernft. Haben Sie nit auch den größern
dirmen, damit fie mit Ihrem Haufe Gefchäfte machten, ver-
ſchiedene Begünftigungen zugeftanden, ihnen 3. B. Nachläfje
und Bonificationen bewilligt, ohne biefelben zu verbuchen ?
Angellagter. Auch das ift richtig,
136 Ein Eriminalproceß aus Oeſterreich.
Oberlandesgerichtsrath Gernerth. Iſt denn Ihre
Kaffe niemals fcontrirt worden?
Angellagter. Niemals.
Dberlanbesgerichtsrath Gernerth. Wie, niemals?
Angellagter. Die vollen 20 Sabre hindurch nie-
mals. Es hätte fonft meine Art ver Geichäftsführung
fhon vor 10 und vor 15 Jahren entdeckt werben müſſen.
Dr. Ernft. Wir find noch nicht fertig, Herr Schiske.
Sie haben feit Jahren, werrn Gelder eingingen, ben vollen
Betrag der Factura an Gulden und Kreuzern verbucht,
auch wenn, wie es vielfach geſchieht, Kleine Abzüge erfolgt
waren. Wenn ftatt Kleingeld Briefmarken beigelegt waren,
haben Sie dieſe kurzweg in die Markenſchachteln gelegt,
ohne das Spejenconto zu belaften.
Angellagter. Das ift richtig.
Dr. Ernft. Wiffen Sie, auf wieviel fich bie von
Ihnen bezahlten Exrpensnoten für Advocatenkoſten beliefen ?
Angellagter. Nur annähernd, nicht genau.
Dr. Ernft. Zwei von bdiefen Noten kann ich bem
Gerichtöhofe vorlegen. Ste rühren aus den Jahren 1874
und 1876 ber und betragen zufammen über 1800 Gulpen.
Ich conftatire, daß es mir nur dureh das loyale Ent:
gegenlommen der Herren Gebrüder Klinger möglich ge-
worden ijt, biefe Belege zu erlangen.
Der Vertheidiger machte weiter darauf aufmerfjam,
daß bie Zinjen des Wechfelescomptes den größten Theil
des wirklichen Deficits verjchuldeten. Bei einer einzigen
Escomptefirma, Ofterjeger, find im Laufe eines Jahres für
160000 Gulden Uccepte begeben worden. Es mußten dafür
7 Procent pro anno vergütet werben.
Dr. Ernft. Herr Schiske, Sie find doch ein guter
Rechner. Wieviel haben Sie im Laufe der Jahre an
Escomptezinfen gezahlt?
Ein Eriminalproceh aus Defterreid. 137
Dberlanbesgerichtsrath Gernerth. Was, Sie nennen
ben Angeflagten einen guten Rechner! Ich balte ihn für
einen jchlechten Nechner. (Heiterfeit.)
Angeflagter. An &scompte werben im ganzen wol
60— 70000 Gulden aufgelaufen fein. .
Präſident. Das ift ja faft die ganze Summe bes
Deficits.
Es wird hierauf zur Vernehmung bes einzigen Zeugen,
des Herrn Anton Klinger jun., gefchritten. Er fagt
Folgendes ans:
„3 babe ben Angeflagten im Jahre 1864 angeftellt,
als ich felbit erft 22 Jahre alt war. Er hatte damals
unfere biefige Niederlage zu vertreten. Herr Schiske be⸗
währte fih in allen Stüden fo vorzüglich, daß ihm, ale
fih im Jahre 1866 die Beitellung eines Procuriften im
Intereffe des Geſchäfts für Wien nöthig herausftellte, bie
Procura übertragen wurde. Ich kam in den erften Jahren
öfter nach Wien und revibirte. Die Bücher waren ſtets
mufterbaft in Ordnung, niemal® wurbe irgendeine Un-
regelmäßigteit bemerlt. Das Geichäft war mit einer Ge⸗
wifienbaftigfeit und Accurateſſe geführt, die ber kauf⸗
maͤnniſchen Bildung des Herrn Schisfe alle Ehre machte.
Hauptbuch, Saldo», Conti⸗, Kaffenjournal, überhaupt alle
Bücher ftimmten auf das genauefte überein. ‘Der Kaffen-
ſaldo war in den erften Jahren gering, vom Jahre 1878
an ftieg er auf 8000 und 10000 Gulden, was mir jedoch
nicht auffiel, weil infolge ver Ausdehnung des Geichäfts
ein Fonds erforderlich war, um die laufenden Verbindlich⸗
feiten zu beden. Das Haus Gebrüder Klinger hatte es
ih von jenem Zeitpunft an zum Grundſatz gemacht,
nichts mehr zu acceptiven, deshalb mußte für ben
Ausgleich offener Poften ein Manipulationsfonds vor-
Banden fein.
138 Ein Criminalproceß aus Defterreid.
„Ganz abgefehen von meinem unbebingten Vertrauen
zu Herrn Karl Schisfe Hielt ich ihn für gut. Ich wußte,
baß er geerbt hatte und auch fonft einiges Vermögen befaß.
„Der Angeklagte lebte immer ſehr beſcheiden und zurück⸗
gezogen. Seine Verhältniffe waren geordnet. Seine ge⸗
ſchäftliche Tüchtigkeit achtete ich ſehr hoch. Er war im
allen Kreifen der Gefchäftswelt fehr beliebt. Ich gewöhnte
mich daran, zu ihm aufzufehen wie zu meinem Lehrer.
„Seit 1878 pflegte ich Herrn Schiske, fo oft ich nach
Wien am, in feinem Haufe im Cottageviertel zu befuchen.
Seine Einrichtung und Wirthichaft waren einfach bürger-
lich, er machte feinen Aufwand. Ueberdies ftanden wir in
jo freundfchaftlichen Beziehungen, daß ich es als eine Be-
leipigung für ihn angefehen haben würde, wenn ich num ein
einzigesmal die Ausfolgung der Kaffe von ihm begehrt hätte.”
Oberlandesgerichtsrath Gernertb. Sind Sie jeht
ber Anficht, daß die Kaffe nicht in Ordnung geweſen wäre,
wenn Sie damals die Ablieferung verlangt hätten?
Zeuge. Nach dem, was ich heute weiß, muß ich es
annehmen. Damals hatte ich nicht den geringften Ver⸗
dacht und nicht bie leifefte Ahnung davon.
Der Zeuge fährt fort:
„Die wiener Filiale unfers Hanfes purfte nicht felbft-
ftändig für ſich allein manipuliren. Alle größern Ge-
chäftsabjchlüffe wurden durch bie Fabrik erlevigt. Die
Thätigfeit bes Herrn Schiske, die ihn auf die Anklage⸗
bank geführt hat, rührt vermuthlich von ber Zeit ber,
wo wir die Acceptation von Wechjeln einftellten. Schiske
jegte nämlich auch nach dieſer Zeit ohne Auftrag und
Berechtigung Accepte und Bons in Umlauf. Er reichte
ferner ohne Vorwiffen ver Firma fremde Rimeſſen, vie
er ablaufen laffen follte, bei Banken und Escomptefirmen
ein. Die Escomptezinjen gehören in bie Reihe der Aus:
Ein Eriminalproceß aus Oeſterreich. 139
gabepoften , die Schisfe nicht verrechnet hat, aber auch
nicht verrechnen konnte. Dadurch, daß die Eingänge
rechnungsmäßig immer erft nach Ablauf diefer Wechiel
erfolgen follten, verfchaffte er fich einen von uns nicht ge-
kannten Manipulationsfonds zur Einlöfung der von ihm
ausgegebenen Accepte. Wir Tonnten feinen Verdacht
ſchöpfen, weil es mir nicht einfiel, das Wechſelportefeuille
zu feontriren, und in den Büchern ftimmte immer alles.
Einmal, als ich gerade in Wien war, holte jemand einen
größern Poſten Geld. Es fiel mir jeboch nicht weiter
auf. Möglicherweife habe ich gedacht, daß Schisfe ven
Betrag aus eigenen Mitteln dargeliehen habe. Aber
auf feinen Fall lag darin ein Grund zum Argwohn.
Es ift nämlich auf Hiefigem Pla Ufus, daß gejchäftlich
befreunbete Firmen einander nach Bebarf und Kaffenftand
gegen einfachen Bon Baargeld auf kurze Zeit vorjtreden.
„Da Schiske immer über einen eigenen Manipulations⸗
fonds verfügte, über welchen er vermuthlich ein eigenes
Buch geführt hat, fehlt mir ein genauer Weberblid über
bie Einzelheiten viefer Gebarung. Im Auguft biefes
Jahres war ohnedies nach feiner Angabe ver Kaffenftand
erheblich größer geworben und belief fich ber Baarfaldo auf
14000 Gulden. Unter dem 1. September fchrieb uns bie
Nieberöfterreichiiche Escomptegejellichaft nach Zeidler und
verftänbigte uns, daß fie Herrn Schiske auf fein Verlangen
ein Depdt von 10000 Gulden ausgeantwortet habe. “Dies
befrembete und. Wozu brauchte er ſolche Baarbeträge?
Ih erfuchte ihn brieflih um Auskunft. Er antwortete,
er habe einem guten Freunde aushelfen wollen, und bat
mich um Verzeihung, daß er fich durch feine Gutmüthig-
teit habe Hinreißen laſſen. Dieſe Ausfunft war fo vag
gehalten, daß fie mich nicht befriebigte.e Ich begab mich
nach Wien und begehrte zum erften mal die Kafjenichlüffel.
140 Ein Eriminalproceß aus Defterreid.
Nun gab er mir durch Andeutungen zu verftehen, was
er gethan hatte.”
Präfident. Wie groß war das Deficit, welches fich
berausftellte ?
Zeuge. Die Höhe ift fchwer feftzuftellen, weil es
ſich auf eine fo lange Zeit vertheilt. Unter allen Umftänben
haftet die Firma für die von Schiske eigenmächtig aus⸗
geftellten Accepte und Bond. Wir haben im September
dieſes Jahres nach ber Anzeige Schiske's eine Zujammen-
ftellung vorgenommen, welche 78248 Gulven ergab. Wir
halten daran feft uud ftellen umfere Erſatzanſprüche auf
Grund diefer Ziffer.
Präfident. Halten Ste für möglich, daß die An⸗
gaben bes Angeklagten über die Beweggründe feines Vor⸗
gehens richtig find?
Zeuge. Das halte ich für möglich.
Pröfident. Und au, daß auf die vom Angellagten
befchriebene Weife ein fo hohes Deficit entftehen konnte?
Zeuge. Auch das ift möglich.
Oberlandesgerichtsrath Gernerth. Ein merkwürdiger
Tall Der erfte Fall dieſer Art.
Staatsanwalt. Ste Sprachen vorhin von Ihrem
freundichaftlichen BVerhältnifie zu dem Angellagten. Sit
es erflärlih, daß Schiske trotz dieſer Freundſchaft ſich
ſchämte oder gar ven Muth nicht fand, Geſchäftsausgaben
in den Büchern zu verzeichnen?
Zeuge. Das ift ſchwer begreiflih. Ich Habe ſchon
bemerkt, daß ich die Geſchäftskenntniß und Tüchtigkeit bes
Herrn Schiske im höchften Grade fchäßte, ja ich Habe
ihn fogar bewundert. Er verſtand es in der glücklichſten
Weife, jeden Gefchäftsfremd zu behandeln. Ich habe zu
ihm aufgejchaut wie zu einem Lehrer. Unfere Freundfchaft
war jo innig, daß wir uns Füßten, wenn ich nach Wien fam.
Ein Eriminalproceß aus Defterreid. 141
Dberlandesgerichtsratb Gernertb. Glauben Sie, daß
ver Angeflagte aus feiner Gebarung fich einen Vortheil
zugewenbet bat?
Zenge. Darüber habe ich fein Urtbeil.
Dberlandesgerichtsratb Gernertb. Hatte der An-
geflagte Leidenſchaften? Spielte er an ver Börfe? Sekte
er ſtark in die Lotterie? Hatte er Liebichaften?
Zenge. Ich Habe davon nie etwas bemerft. Ich
babe ihn immer einfach und foliv gefunden. Weitunter
machte er wol Scherze.
Dberlanbesgerichtsrath Gernerth. Nun, die koſten
nichts. Ich frage, ob er Leidenſchaften gefröhnt oder Lieb⸗
habereien gehabt hat, die Geld koſten.
Zeuge. Nein, davon iſt mir nichts bekannt.
Bräfident. Im welcher Weije, mit welchen Worten
bat er ſich Ihnen zuleßt entdeckt.
Zeuge. Als ich einmal Verbacht gejchöpft hatte, Sprach
ih denſelben offen aus und fragte ibn: „Was haben
Sie gethan. Wieviel haben Sie genommen?” Er ant-
wortete: „Es ift fehr viel. Mir bleibt nichts übrig als das
Landesgericht.” Ich replicirte: „Das wird wol nicht nöthig
kin. Wie groß ift das Deficit? 20000 Gulden?” Er er-
wiberte: „OD nein viel, viel mehr!” Ich fragte weiter:
„Wieviel ift e& denn? Sprechen Sie ſich doch aus. Iſt
ed denn eine halbe Million?” „Nein“, fagte er, „jo viel
it’8 Doch nicht.”
Präſident. Was Hat Ihnen der Angellagte un«
mittelbar nach der Entdeckung über bie Entftehungsurfache
des Deficits mitgetheilt?
Zeuge. Er ſagte: „Es iſt ja alles ins Geſchäft ge⸗
Hoffen.”
OberlandesgerichteratH Gernerth. Wenn die An-
142 Ein Eriminalproceß aus Defterreid.
gaben bes Angeflagten richtig find, dann ift der Verluſt,
den Sie erleiden, zum großen Theil nur ein fcheinbarer.
Hierauf wird die Auskunft der Polizei über den Leu-
mund des Angellagten verlefen. Es ift über ihn nichts
Nachtheiliges bekannt geworben; er ſoll indeß an der Börfe
geipielt haben. ‘Der Angeflagte beftreitet dies mit der
größten Entſchiedenheit. Sein Vertheidiger bemerkt, bie
Zeitungen hätten über ven Fall verſchiebene Mittheilungen
gebracht und die Vermuthung ausgefprochen, er werte
die fehlende Summe in VBörfendifferenzen verloren haben.
Es jet möglich, daß die Polizei aus dieſer unlantern
Duelle ihre Mittheilung gefchöpft babe.
Der Vertreter der Staatsbehörde Dr. Zeisberger
nimmt bierauf das Wort und hält die Anklage aufrecht.
Er ſtützt fie hauptjächlich darauf, daß Schiele ſich erft
einen Tag, nachdem er fich feinem Chef entbedt, bei der
Staatsanwaltichaft geftellt habe mit den Worten: „Ich
geftehe zu, 60000 Gulden eingenommen und für mic
verwendet zu haben.” Cr hätte inzwiichen Zeit genug ge-
habt, zu überlegen, was er vor Gericht ausfagen wolle.
Ueber den Verbleib eines Theils der fehlenden Summe
jei wol eine Erklärung gegeben, aber in feiner genügenten
Weile das ganze große Deficit gerechtfertigt worden. Des⸗
halb beantrage er, ben Angellagten wegen bes Verbrechens
ber Veruntreuung ſchuldig zu ſprechen und zu beftrafen.
Der Anwalt der betbeiligten Firma, Dr. Weitlof,
beſchränkt fich darauf, ven Schadenerſatz ziffermäßig in ber
beantragten Höhe zu rechtfertigen. Er erflärt: die Ges
brüber Klinger melbeten im September als ihre Forberung
78248 Gulden an. Sie feien jedoch bereit, davon alle
irgendwie nachweisbaren Ausgaben für das Gefchäft in
Abzug zu bringen, und würden fich bemühen, ſelbſt Belege
für diefe Ausgaben aufzufinden. Demzufolge jet inzwijchen
Ein Eriminalproceß aus Oeſterreich. 143
feftgeftellt, vaß durch verſchiedene im Interefje ber Firma
geleiftete Zahlungen die Forderung fich ermäßigt habe bis
auf 43263 Gulden. Die Summe der muthwillig herbei»
geführten &scomptezinfen müſſe jedenfalls von Schiske
getragen werben. Der Angeklagte habe jein Haus im
Gottageviertel in Währing, feine außenftehenden For⸗
derungen unb andere Vermögensftüde ber Firma Ge⸗
brüder Klinger überlajfen und baburch ben guten und
ernften Willen dargethan, ven von ihm verurfachten Sche-
den wieder gut zu machen. Es werbe gebeten, ven Ange-
ſchuldigten erjagpflichtig für 43263 Gulten zu erklären.
Der Vertheidiger des Procuriften Schisfe führte aus:
„Es ift eine misliche Sache, über eine 22jübrige
mangelhafte Verwaltung fremden Vermögens Rechnung
abzulegen; fchwer genug für ven, welcher frei tft und
feine Bücher und Nieberfchriften in ver Hand hat, aber
boppelt ſchwer, wenn nicht unmöglich für denjenigen,
der plötzlich herausgeriffen aus einem jpät gegründeten
Fumilienglüd in Haft genommen und unter bie Anklage
eines Verbrechens geftellt, in beftändiger Angft und Sorge
wegen bed Ausgangs feines Proceſſes, ohne Unterftügung
khriftlicher Aufzeichnungen Rechenſchaft geben joll über ein
compficirtes faufmännifches Gejchäft. Freilich kann einge-
wendet werben, ber Verwalter fremden Eigenthums müffe
ieve Stunde zur Rechnungslegung bereit fein. Der Ans
geffagte erfennt dieſe feine Verpflichtung ſogar jelbft an,
Allein es ift ein Unterjchieb zwijchen der Rechnungslegung
vor dem Strafrichter und vor dem Civilrichter. Bei ber
erftern läuft man Gefahr, daß jeder nicht fofort gerecht-
fertigte Betrag als Veruntreuung angefehen wird.
„Der Angeffagte weiß, daß er für jeben Kreuzer bes
Deficitd aufzufommen hat mit allem, was er jeßt befitt
und künftig befigen wird. Um dieſe Verantwortlichkeit,
144 Ein Eriminalproceh aus Defterreid.
bie er ohne Wiberrede auf fih nimmt, handelt es fi
aber an biefem Orte nicht, fondern lediglich um bie Frage,
ob er wirflich einen 300 Gulden überfteigenden Betrag
von dem Vermögen der Firma ftch zugeeignet und für
fich verwendet babe.
„Er felbft gibt dies als möglich zu, aber e8 muß ihm be-
wiejen werben, daß er dieſe Summe veruntreut hat. Dieſer
Beweis ift nicht erbracht. Die Verhandlung bat genügendes
Material zur Aufflärnng des Deficits gebracht, ohne daß
man eine Veruntreuung anzunehmen braudt. Die nicht
ungünftige Vermögenslage des Angeffagten, feine einfache
bürgerliche Lebensweife, fein ehrenhafter Charakter ſchließen
biefe Annahme geradezu ans. Aber werm man ihn auch
für ſchuldig halten wollte, fich zum Nachtbeil feiner Dienſt⸗
geber mehr als 300 Gulden, over auch 10- und 20000 Gul⸗
ben angeeignet zu haben, fo könnte doch von einer Verur⸗
theilung feine Rebe fein. Denn er hat zu einer Zeit, ald noch
niemand von feinem Gebaren eine Ahnung hatte, ben
größten Theil der ihm nach feiner Mutter Tode zugefalle-
nen Erbichaft, die ganze ihm nach dem Ableben feiner erften
Gattin ausbezahlte Lebensverficherungsfumme von 6000
Gulden, im ganzen einen Betrag von über 20000 Gulden
zur theilweifen Dedung des Deficits verwendet. Wenn alfo
auch ein Theilbetrag bes vorhandenen Deficits in ber
Höhe von jelbft 20000 Gulden als thatfächlich veruntrent
angejehen und behandelt werven könnte, wozu wie gefagt fein
Anhaltepunkt vorliegt, jo würde dieſe Veruntreuung durch
thätige Reue geſühnt und ſtraflos geweſen ſein. Unter allen
Umſtänden fehlt der Nachweis ver Abſicht des Angellag-
ten, feine Dienftgeber zu jchädigen, und es kommt ihm bie
Nachläffigfeit im Sinne des 8. 2 fg. des Strafgeſetzbuchs
als ein den böfen Vorfag ausjchließender Grund zugute.
Ih bitte deshalb, den Angeklagten freizufprechen.”
.
Ein Eriminalproceß aus Oeſterreich. 145
Der Gerichtshof erklärte den Angeklagten für ſchuld⸗
[08 und entließ ihn fofort aus der Haft. Die betbeiligte
Firma wird mit ihren Anſprüchen an das Givilgericht
verwiefen, weil ein Berjchulden im Sinne des Straf-
geſetzbuchs nicht vorliege und der Civilrichter darüber zu
entſcheiden habe, inwieweit die privatrechtliche Forderung
ber Gebrüber Klinger gegen ven Procuriften Karl Schiste
begründet ſei.
Wir fiimmen dem Urtheil des Gerichts bei. Der
Angellagte war bevollmächtigt, das wiener Filialgeſchäft
jelbftändig zu leiten. Er hat die Gelver ver Firma nie-
mals zu feinem eigenen Nugen, fondern immer nur für
das Geſchäft verwendet, alfo mit verbrecheriichem Vor⸗
jag nicht gehandelt. Gewiß wiberftreitet feine Geſchäfts⸗
führung allen kaufmänniſchen Regeln und Grundſätzen,
ja man darf ſogar behaupten, daß er in einer ganz fopf-
loſen, liederlichen, faft kindiſchen Weile fchlechte Geſchäfts⸗
abfchlüffe vertufcht und DVerlufte durch feine Manipula⸗
tionen mit der Ausgabe von Wechieln und feinen Verkehr
mit E6comptefirmen zu decken verjucht hat, obgleich er fich
jagen mußte, daß dadurch viel größere Summen verloren
werden mußten, aber ein Verbrecher ift er niemals gewejen.
Die Triebfeder feines wunderlichen Gebarens war
der Ehrgeiz. Die Gebrüber Klinger jchenften ihm un-
begrenztes DBertrauen, fie revidirten ihm in einer langen
Reihe von Jahren niemals, waren zufrieden mit allem,
was er that, und bewunderten ihn als gewiegten Kauf⸗
mann, wie der Chef ber Firma vor Gericht felbft gefagt bat.
Karl Schiske war in allen Geſchäftskreiſen beliebt, er
galt als das Mufter eines foliden, ehrenwerthen, tüchtigen
Gefchäftsführers und als kaufmännijche Autorität. Die
Ehre des von ihm vertretenen Hauſes war feine eigene
XXI. 10
146 Ein Criminalproceß aus Oeſterreich.
Ehre. Sein kaufmännischer Ehrgeiz war fo mächtig, daß
er jogar mit Hülfe feines eigenen nicht ganz unbeträchtlichen
Vermögens, welches er ohne Bedenken, ohne Rüdficht auf
fih und feine Familie zufegte, die Gefchäftsabichlüffe
glänzender vorjpiegelte, ald fie waren. Um ven einmal
erworbenen Ruhm zu bewahren, um jedes Jahr ein großes
Geſchäft vorzufpiegeln, verſchwieg er Verlufte, buchte viele
Ausgaben überhaupt nicht, ftellte Facturenbeträge voll ein,
obgleich Abzüge gemacht worden waren, unb bewilligte
Kunden Bortheile und Nachläffe, und fing jogar einen
jehr bedenklichen Wechſelverkehr an, ver endlich zum Bruch
führen mußte. Ein geſchulter und erfahrener Kaufmann
wie Karl Schiske konnte fich kaum barüber täufchen, daß
bei ſolchem Geichäftsbetrieb fchließlich doch die Mittel zur
Dedung fehlen mußten. Wir glauben, er hat dieſes Ende
jelbft vorausgefehen, aber fich immer wieder getäuſcht und
vielleicht, wa® der Menſch jo gern thut, den Abgrund
abfichtlich nicht fehen wollen, fondern bie Hoffnung ge-
nährt, daß infolge von guten Conjuncturen bebeutende
Gewinne die Verluſte ausgleichen, oder auch eigene
Hülfsquellen, eine neue Erbſchaft ober vergleichen fich er-
Ichließen würden. Auf feinen Fall beſaß Schiele bie
Energie, offen und frei ven Stand der Dinge ven Herren
Klinger zu offenbaren. Er war nicht ſtark genug, feinen
Ruf als Kauf und Gefhäftsmann zu zerftören und fich
jelbjt moralifch zu vernichten. So ließ er bie Dinge
gehen und die Kataftrophe hereinbrechen.
Ein großes pſychologiſches Intereffe wird man bem
Valle nicht abfprechen können.
Zu einem Civilproceffe ift es nicht gefommen, die
Gebrüder Klinger und Karl Schisfe haben fich über ven
Erſatz des Schadens verglichen.
Merkwürdige Eriminalprocefe aus Frankreich.
1. Die Ehe des Grafen Roger de Molen de la
Bernede.
Mordverfud. — Dijon. 1886 bis 1887.
Der Name des Grafen Roger de Molen war ſchon
vor zwei Sahren Im Gerichtöfaal genannt worden. Da-
mals im Jahre 1885 Hatten verſchiedene Perfonen gegen
eine Winkelagentur Buret und Soubry wegen verjchiebener
Schwindeleien Strafantrag geftell. Die Chefs biefer
Agentur befchäftigten fich gewerbömäßig damit, gegen an-
ſehnliche Honorare ihren Elienten Titel und Drben zu
berichaffen. Sie waren jehr freigebig, Verjprechungen zu
machen, und es gelang ihnen auch mitunter, ihre Zufagen
zu erfüllen, denn fie befaßen in ben maßgebenden Kreiſen
von Paris gute Verbindungen und einen gewiffen Ein-
Ing. Noch öfter geſchah es freilich, daß ihre Bemühungen
erfolglo8 waren, dann nahmen fie es nicht allzu genau,
ſondern Tießen fich wol auch weitere Zahlungen leiſten,
indem fie den Leuten Hoffnungen vorjpiegelten, bie fich
niemals verwirklichten. Cinige von ben Perfonen, bie
fie auf folche Weife um namhafte Geldſummen gebracht
hatten, wenbeten fich an das Strafgericht, und die Herren
Vuret und Soubrh wurden wegen Betrugs in Unterfuchung
10*
148 Mertwürdige Eriminalproceffe aus Frankreich.
genommen. Auch der Graf Roger de Molen hatte ſich
an biefe Induftrieritter mit der Bitte gewendet, feine An⸗
ftellung als Präfect des Departement ber Lozere durch⸗
zufegen. Die Agenten gingen auf fein Anfuchen ein und
verlangten zunächft ein Angelo von 5000 Frs. welches fie
verfchiedenen Beamten im Miniſterium in die Hand brüden
wollten, um bieje günftig zu ftimmen. Der Graf zahlte.
Aber die Sache ging nicht vorwärts und e8 mußte nad
geichoffen werden. Der Graf war bereit dazu und zahlte
nad und nach bis zu 17000 Frs. Die Agenten wurben
wegen anderer Gejchäfte plöglich verhaftet und ihre Papiere
in Beichlag genommen. Mean fand darunter auch ein
Actenfascikel überſchrieben „Graf de Molen“ und in dem⸗
jelben ven folgenden Bericht eines Geſellſchafters an ben
andern: „In ber Angelegenheit Molen heißt es vor-
‚fichtig fein. Ich war geftern im Minijterium und babe
mich unter der Hand nach dem Bittfteller erkundigt. Es
ift ganz ficher, daß Molen niemals zum BPräfecten er-
nannt wird. Es iſt nach feiner Eonduitenlifte unmöglich.”
Trotzdem hatten die Agenten, deren Thätigkeit fi
barauf beichränfte, fich nach ben Ausfichten ihres Clienten
zu erkundigen, ihn fort und fort gefchröpft und ihm nad
und nach 17000 Frs. abgepreft.
Graf de Molen war zur Gerichtsverhandlung als
Zeuge vorgeladen. Er gab feine Verbindung mit ber
Agentur und daß er ihre Vermittelung nachgefucht habe,
um bie Präfectenftelle zu erhalten, obne weiteres zu,
behauptete aber, er habe die Herren nicht ernſt ge
nommen, er ſei nicht fo naiv und nicht fo leichtgläubig
geweſen, von ihrem Einfluß irgendetwas zu erwarten.
Er habe zu ihrem Geſchick gar kein Zutrauen gehabt und
ih mit ihnen nur infolge einer ariftofratifchen Laune ein-
gelaffen, weil er einen Einblid in das Treiben folder
Meriwürbige Eriminalproceffe aus Fraukreich. 149
Schwindler babe gewinnen wollen. Das verlorene Geld
fei ihm ganz gleichgültig, er habe fich einen etwas theuern
Spaß gemacht, das fei alles.
Zu jener Zeit hatte der Graf die Stelle bed Unter-
präfecten in Andelys innegebabt, war aber von feinem
Boften von der Regierung enthoben worben und nun ohne
Amt. Es lag aljo recht nahe, daß er mit jener Agentur
in Verbindung trat, um im Staatsbienfte wieder anzır-
kommen. Graf Roger de Molen war ein Edelmann von
echtem alten Stamme. Nachdem er das reiche Erbe
feiner Ahnen in einer flott und ftürmifch verlebten Jugend
zum größten Theil burchgebracht hatte, fühnte er fich mit
der republilanifchen Staatsform aus und war fehr dank⸗
bar, ale man ihm eine Unterpräfectenftelle gab. Er ver-
waltete indeß fein Amt fo liederlich und gab durch fein
Leben jo großen Anftoß, daß er entfernt werben mußte.
Statt am Sitze feiner Unterpräfectur hielt er ſich auf
feinem Schloffe auf, veranftaltete daſelbſt Feſtlichkeiten und
Selage und nahm an den Hekiagven theil. Auf feinen
Inſpectionsreiſen begleitete ihn ftets eine „Dame, aber
unmer eine „andere Dame’. Mit den Barteien, mit
denen er amtlich zu thun batte, rebete er barſch. Ja es
fam vor, daß er nach Zifche, wenn er vom Wein erhitzt
war, bie Leute, die ihm wideriprachen, eigenhändig durch⸗
prügelte. Der Präfect des Departements Herr Bareme, fein
nöchiter Vorgeſetzter, überzeugte fih von der Unbrauchbar-
feit und Mobeit des Grafen de Molen und feste in
Paris durch, daß er entlaflen wurde.
Natürlich entftand dadurch eine heftige Spannung zivi-
fchen den beiben Herren. Als der Präfect bald nachher er-
morbet wurbe, bezichtigte die öffentliche Stimme ben Grafen
de Molen, daß er der Mörder fei. Dieſer Verdacht be⸗
ftätigte fich jedoch nicht, er konnte feine Unſchuld beweijen.
150 Merkwürdige Eriminalprocefje aus Frankreich.
Im Sommer 1884 entjchloß fich der Graf de Molen,
ein reiches Mäpchen zu Heirathen, um feine Gläubiger zu
befriedigen und finanziell wieder flott zu werben. Hülfe
war nöthig, denn die Hochflut der Hypotheken drohte
fein Schloß Turcey, in der Nähe von Dijon, zu ver⸗
ſchlingen.
Die erfolgreichſten Heirathsvermittler ſind in Frank⸗
reich die geiſtlichen Herren. Sie verſtehen es, weil ſie
die Verhältniſſe genau kennen, die oft ſehr disparaten
Wünfche ihrer Beichtkinder zu erfüllen, dem Wappenſchild
eines abnenreichen, aber verarmten Edelmanns durch das
fauer erworbene Gold des fleißigen Bürgers, des thätigen
Kaufherrn, neuen Glanz zu verleihen und ben Ehrgeiz
einer niedrig geborenen Mutter, bie ihre Zochter gern zur
Baronin oder Gräfin erheben möchte, zu befriebigen.
Graf Roger de Molen wendete ſich denn auch an den
bochwürbigen Abbe Eperon um Rath, und dieſer machte ihn
aufmerffam auf Fräulein Martha Olympia Chan—
teaud, ein hübfches Mädchen von 25 Jahren, bie einzige
Tochter des Apothekers Chanteaub in Paris. Die Mit-
gift beftand nach ver Mittheilung des Abbe in 300000 Fr®.
baar und 12000 Fr8. Iahresrenten, bie der Schwiegervater
bem jungen Hausſtande beiftenern würbe. Das leuchtete
bem Grafen ein, er ließ fich der Familie vorftellen, die jungen
Leute gefielen fich, er trug dem Mäpchen feine Hand am,
bie Werbung wurde angenommen, die Hochzeit gefeiert mit
Baufen und Trompeten, die Mitgift ausgezahlt und brei
Monate fpäter waren bie Eheleute gefchieven.
Die Mofterien viefer Ehe laſſen fich nicht erzählen,
wir theilen nur mit, was zur Erflärung bes mörberifchen
Attentats nothwendig ift, welches den Grafen Roger be
Molen vor das Schwurgericht brachte. Beide Ehegatten
haben vor dem Gerichtshof in Dijon Klage auf Ehe
Mertwürdige Eriminalproceffe aus $ranfreid. 151
ſcheidung erhoben. Der Graf befchuldigte feine Frau ber
Ichmählichften, unnatürlichiten Laſter. Er behauptete, fie
babe das Recht, fich noch immer Fräulein Chantenud zu
nennen, denn fie fei niemals feine Gattin geworden, jon-
bern babe es vorgezogen, mit ihren Freundinnen vom
Palais-Royaltheater und vom Opernballet in Paris fich
Inftig zu machen und bort ihren Neigungen nachzugehen.
Er aber fei tief gekränkt in fein Schloß in der Franche⸗
Comte zurüdgefehrt und habe fih dort über fein Mis-
geihid zu tröften verjucht.
Die Gräfin bingegen Hagt ihren Mann an, er babe
fie gezwungen, mit ihm verrufene Häufer und Gefell-
haften zu befuchen, er fei nach wie vor zu feinen Mai⸗
treffen gegangen, habe fie nicht als feine Gattin refpectirt,
fondern fih dem Trunk ergeben und die Champagner-
flaſche mitgenommen, wenn er fih zum Schlafen nieder⸗
legte. Sie wirft ihm vor, er habe von der Mitgift am
Zage nach der Hochzeit 54000 Frs. dazu verwendet, eine
frühere Maitreffe abzufinven, ihre eltern unmwürbig be-
handelt, ihren Vater einen „ſchmuzigen Geizhals‘ ge-
icholten, ihre Mutter wegen ihrer bürgerlichen Dlanieren
verhöhnt, fie verfpottet, weil fie ſelbſt Obſt einkoche, fie
„pöbelhaft und proßig‘ genannt.
Es ift richtig, daß der Graf nach der Hochzeit etliche
Wochen mit feiner jungen Frau in Paris gelebt und fo-
dann furze Zeit fein väterliches Schloß Zurcey bewohnt
und fchon damals viel Champagner und dann im Gafthof
Zur Glode in Dijon alten Burgunderwein im Uebermaß
getrunfen und feine Gattin öfter thätlich gemishandelt
bat. Die jungen Eheleute gingen ſodann zujammen nad)
Biarrik. Dort wurde da8 Benehmen des Grafen immer
brutaler und fein Leben immer wüſter. Seine Frau
trennte fich von dem rohen, ungetreuen Manne, flüchtete
152 Mertwürdige Eriminalproceffe aus Franukreich.
zu ihren Aeltern, nahm bie Hülfe der Gerichte in Aufpruch
und feste durch, daß die Scheivung von Tiſch und Bett
proviſoriſch ausgefprochen und bem Grafen aufgegeben
wurbe, feiner Frau aus den Einkünften ver Mitgift eine
jährliche Rente von 3000 Frs. zu zahlen. Da die Gräfin
für den Fall, daß der Proceß zu ihren Gunften ent-
ſchieden und bie Ehe definitiv getrennt wurde, die Rüd-
gabe der Mitgift fordern durfte, hatte ihr Anwalt ferner
zur Sicherftellung diefer eventuellen Forderung eine Pfän-
bung im Schloffe Turcey erwirkt.
Der Graf war empört über biefe gerichtlichen Maß-
regeln, aber zugleich in großer Sorge, ein Bettler zu
werden und dem bisherigen Woblleben entfagen zu müſſen.
Er ſchlug plöglich eine andere Taftif ein und bot bie
Hand zum Frieden und zur Verführung. Seine tief-
beleidigte Gattin und deren Aeltern wiefen ihn fur; und
beftimmt ab; er kam zum zweiten mal und gab gute Worte,
aber die Eheſcheidungsklage wurde nicht zuräüdgenommen,
denn er hatte das Vertrauen ber Chanteaub gänzlich
verjcherzt. Nun gerieth der Graf in Wuth und drohte
mit dem Revolver. So ftanden bie Sachen, ald bie
feindlichen Ehegatten einander ganz zufällig begegneten.
Am 4, November 1886 kam die Gräfin in Begleitung
ihre8 Großvaterd von mütterlicher Seite, des Herrn
Boiſſin, eines Greifes von 74 Jahren, nach Dijon und
ftieg Dafelbft im Hotel Zur Glode ab, weil fie am andern
Tage mit ihrem Rechtsanwalt über ihren Eheſcheidungs⸗
proceß conferiren wollte. Am 5. November 1886 früh
um 8 Uhr traf der Graf in Dijon ein, um mit feinem
Rechtsanwalt zu berathen. Er Tehrte ebenfalls im Hotel
Zur Glocke ein ohne eine Ahnung, daß feine Frau mit
ihm unter Einem Dache wohnte. Der Wirth, dem bie
Lage ber Dinge befannt war, verichtwieg dem Grafen bie
Merkwürdige Eriminalprocefje aus Franlreid. 153
Anweſenheit feiner Frau und fagte biefer nichts von
ber Ankunft ihres Mannes, denn er fürchtete, e8 möchte
zu einer unangenehmen Scene in feinem Haufe kommen.
Die Fran Gräfin fuhr zu ihrem Anwalt Vauvilliers, ber
Graf begab fich etwas fpäter zu feinem Advocaten Herrn
Bergeot, ver zufällig feinem &ollegen gerabe gegenüber
wohnte. Als der Graf im Begriff war, in das Haus
bes Herren Bergeot zu gehen, fah er, daß ein Wagen vor
ber Thür des Herrn Vauvilliers hielt. Er vermuthete,
daß feine Frau dort fei, Inüpfte mit dem Kutfcher ein
Gefpräh an und erfuhr von ihm, daß er fich nicht geirrt
hatte, und beichloß, die Gräftn zu erwarten. Nach zehn
Minuten hörte er Tritte in ber Hausflur. Das Thor
wurbe geöffnet, bie junge Frau, ihr Großvater und ber
fih verabſchiedende Rechtsanwalt famen heraus und bie
beiden erftern wollten in ven Wagen fteigen. Graf Roger
de Molen vertrat ihnen, einen Revolver in ber Hand,
den Weg und wanbte fich drohend an feine Frau mit den
Worten: „Martha, wie weit find unfere Angelegenheiten
gediehen?“
„Richten Sie dieſe Frage an Ihren Anwalt”, er⸗
wiberte Herr Boiffin und reichte feiner Entelin den Arm,
um fie fortzuführen. In dieſem Augenblid bob Graf
Roger den Revolver, zielte nach dem Kopfe feiner Frau
und e8 fielen zwei Schüffe.
Die Gräfin Hatte die verbächtige Bewegung geſehen
und fich unwilfführlich gebüct, ſodaß bie Rugeln über fie
bimwegflogen. Sie trafen ihren hinter ihr ſtehenden, fich
zu ihrem Schute vorbeugenden Großvater in bie Bruſt.
Er taumelte einen Schritt vorwärts, ftürzte aber gleich
baranf, vom Grafen Roger brutal zurüdgeftoßen, blut-
überftrömt zu Boden.
Der Rechtsanwalt Vauvilliers batte bie zitternbe
154 Nerkwürdige Eriminalproceffe aus Franfreid.
Frau in das Haus gezogen und Hinter ber fchütenben
Hausthür geborgen. Es eilte infolge der Schüffe eine
Menge von Menſchen herbei. Der fchwer verwundete
Greis wurde aufgehoben und in ben Wagen gebracht, ber
Graf aber von einem Boltzeibeamten feftgenommen. Er
jegte feiner Verhaftung feinen Widerſtand entgegen.
Die Verlegungen des alten Mannes erwiefen fich ale
bedenklich. Die eine Kugel konnte nicht entfernt werben,
und fein eben fchwebte längere Zeit in Gefahr.
Die Unterfuchung wider ven Grafen Roger de Miolen
war fehr einfach, denn feine That war vor vielen Zeugen
begangen, und über ven Beweggrund konnte kein Zweifel
obwalten. Der Staatsanwalt, Generalapvocat Charles
Bernard, erhob Anklage wegen eines doppelten, gegen
bie Gräfin Martha de Molen und gegen ben Herrn
Boiſſin verübten Mordverſuchs.
Die Verhandlung der Sache fand ſtatt vor dem
Schwurgericht in Dijon. Es waren drei Tage für
dieſelbe angeſetzt. Der Gerichtsrath Fenéon präfibirte
dem Gerichtshofe, die Anklage vertrat der ſchon genannte
Generaladvocat, die Vertheidigung hatten die Advocaten
Octave Falateuf und Bilhaud-Durouhet über
nommen, für die Gräfin Martha de Molen, die ſich dem
Strafverfahren als Civilpartei angeſchloſſen hatte, er⸗
ſchienen die Anwälte Nouriſſat und Ally.
Nachdem der Staatsanwalt die Anklage entwickelt hat,
erhebt ſich Herr Nouriſſat und gibt die Erklärung ab:
„Die Anweſenheit der Gräfin entſpringt nicht dem Ver⸗
langen nach Rache, nicht der Abſicht, den Angeklagten der
verdienten Strafe zuzuführen. Nach dem Geſetze würde
ſie als Ehefrau berechtigt ſein, das Zeugniß zu verweigern.
Wenn ſie ſich dennoch im Gerichtsſaal eingefunden und
dem Strafverfahren angeſchloſſen hat, jo iſt ihr dieſes
Mertiwürbige Eriminalproceffe aus Frankreich. 155
Berhalten aufgendthigt worden, weil fie fich gegen bie
abicheulichen Berleumpungen des Angeklagten vertheibigen
muß. Nicht nur im ſchwebenden Cheſcheidungsproceſſe,
aud im Laufe der ftrafrechtlichen Verhandlungen hat der
Graf de Molen die niedrigſten Verbächtigungen ausge⸗
ftreut, welche feine Gattin in ihrer Frauenehre tief und
empfindlich verwunden. Sie ift gezwungen, biefen per»
fiven Infinuationen entgegenzutreten, fich vor dem Gerichts⸗
bofe, ven Gefchworenen und ber ganzen Welt wider ſolche
Anklagen zu verwahren und bieje erbärmlichen Erfindungen
in ihr Nichts zurückzuweiſen.“
Der Präfident läßt die Waffe, mit welcher das Attentat
ausgeführt worden ift, ven Geſchworenen zur Anficht vor-
legen. Es ift ein Revolver von fchwerem Kafiber.
Straf Roger de Molen de la VBernepe ift eine
vornehme Ericheinung, ein großer ſchlanker Herr von 34
Jahren mit hübfchen regelmäßigen Gefichtszügen und einem
tabellofen blonden Vollbart, wohlgepflegt und gut con⸗
ſervirt. Er ift mit ausgefuchter Eleganz gefleivet. “Die
etwas dunklern Haare find am Scheitel und oberhalb ber
Stirn vorzeitig gelichtet und kurz militärifch gefchnitten.
Die blauen Augen haben einen matten Bid. Sein Organ
Mingt nicht angenehm, er fpricht näſelnd und in Hoch
fabrendem Zone.
Trotz des wüſten Lebens, das dem Manne feine
Spuren aufgebrüdt bat, erkennt man in ihm ben Spröß-
ling eines edeln Stammes,
Die Fragen des Präfidenten beantwortet er mit lauter
Stimme, er rebet ſtets felbftbewußt und wählt forgfältig
feine Worte. Man bat den Einbrud, daß er dem Ge⸗
richtshof und der Jury burch fein Auftreten und feine
weltmännifche Sicherheit imponiren und bie Leute aus
ber Provinz verblüffen will. Er gibt an: „Nah Boll
156 Mertwärbige Eriminalprocefje aus Fraukreich
enbung meiner Rechtsftubien bin ich in den Staatöbienft
getreten. Ich war von 1879 bis 1881 Unterpräfect im
Andelys. Ich nahm meinen Abſchied, weil ich die Ab-
ficht hatte, mich im Departement des Jura um das Man⸗
dat für die Abgeorbnetenlammer zu bewerben. Ich trat
als Kandidat auf, drang aber nicht durch und zog mich tm
das Privatleben zurüd. Zulegt wohnte ich auf meinen:
Stammſchloſſe Turcey bei Dijon.”
Präfident. Lag Ihrem Ausicheiden aus dem Staate-
bienfte wicht eine andere Urfache zu Grunde? War nicht
eine Audienz bei dem Minifter des Innern voraus⸗
gegangen ?
Angellagter. Ich verachte vie elenden Verdäch⸗
figungen, bie meinem Vorgehen anbere Beweggründe
unterzufchieben fuchen. Mein Lebenswanbel war immer
ber eined Edelmanns.
Präfident. Nichtspeftoweniger tft Ihr Name im
Jahre 1885 mit einem ſtandaldſen Proceß in Verbindung
gebracht worden. Site haben fi) an die aurüchige Agen-
tur von Buret und Soubry geivenbet, um durch bie
Vermittelung viefer Leute wieder aufgenommen zu werben
in den Staatsdienſt, den Ste zu verlaffen gendthigt wor-
ben waren. Ste haben fich von dieſen Agenten 17000 Fre.
abſchwindeln laſſen. Dieſelben verſchafften ſich ben Aus⸗
weis über Ihre Qualification, in welchem Sie für eine
weitere Beamtenlaufbahn als ganz unmwürbig bezeichnet
wurden. Die Agentur bat nichts gethan, um Ihren
Wuünſchen zu entiprechen.
Angellagter. Herr Präfident, ich bin überzeugt,
daß Sie den Angaben biefer Schwinbler, welche mich ver-
leumbet haben, feinen Glauben ſchenken werben.
Präfident. Man ſchildert Sie als einn Mann
von guten Anlagen und freigebiger Gemüthsart, jedoch
Merkwürdige Eriminalproceife aus Frankreich. 157
ſollen Sie leicht zum Zorn gereizt werben, fich in ben
legten Jahren dem Trunk ergeben, beſtändig Abſynth und
Rum genommen und ein fittenlofe® verwilberte® Leben
geführt haben.
Angellagter. ch halte e& unter meiner Würbe,
mich gegen Gerüchte diefer Art zu vertbeibigen. Meine
Mübürger und die Gefellichaft, in welcher ich mich be-
wege, kennen mich und wiſſen mich zu fchäßen.
Präſident. Am 6. Juli 1884 haben Sie Fräulein
Marta Ehantenub geehelicht. Ihre Braut befaß eine
Mitgift von 150000 Frs. in Rententiteln, die auf ihren
Namen Iauteten, and 150000 Fr8. in Titeln au porteur.
Ueberdies hatte fi) Ihr Schwiegervater verpflichtet, im
monatlichen Borauszahlungen 12000 Irs. Jahresrente
zu gewähren. Sie dagegen hatten fo gut wie nicht® mehr
im Bermögen.
Angellagter. Ich bin Eigenthümer ber Herrichaft
und des Schlofjes Turcey.
Präſident. Ya, aber diefer Grundbeſitz ift bis zur
vollen Höhe bes Werthes mit Hypotheken belaftet.
Angellagter. Das ift nicht richtig. Das Schloß
jetbft bat einen Werth von reichlich 200000 Fre. und
ft nur für wenig mehr als 60000 Frs. verpfändet. Ich
bin immer noch vermögen genug und brauchte mich nicht
zu einer Geldheirath zu entjchließen.
Präſident. Am Morgen nad der Hochzeit, ale
Sie kaum in den Beſitz der Nententitel au porteur ge
langt waren, haben Sie 54000 Frs. einer ehemaligen
Maitreffe ausgeantwortet.
Angellagter. Diefer Umftand gehört nicht hierher.
Präſident. Ich begreife, daß Sie eine Erörterung
dieſes Umſtandes fcheuen. (Heiterkeit im Zubörerranm.)
Sie haben den erſten Vormittag nach Ihrer Trauung
158 Mertwürdige Eriminalprocefje aus Frankreich.
bei Ihrer frühern Geliebten zugebracht, nachdem Sie vor⸗
ber Ihrer Gewohnheit gemäß fich in einer Weinftube auf-
gehalten und Cognac getrunfen hatten.
Angellagter. Das ift ein eitle®, lächerliches Ge⸗
ſchwätz. Die Gefellichaft, in welcher ich zu verlehren
pflege, meine Erziehung, meine Lebensgewohnheiten wider⸗
legen folhe Behauptungen. Es ziemt mir als Edelmann
nicht, darauf zu antworten.
Präfident. Ihr eheliches Zufammenleben dauerte
nicht ganz drei Monate: ein Monat in Paris, ein Mo⸗
nat in Turcey, drei Wochen in Biarrit. Ueberall ftanden
fie im Briefwechjel mit Ihren ehemaligen Maitreffen.
Angeflagter. Meine Frau hat fih, um Material
für ihre Scheivungsflage zu gewinnen, mit dieſen Per⸗
fonen in das Einvernehmen gefett. Sie benugte ben
Verdruß, den meine ehemaligen Maitreffen über meine
BVerbeirathung empfanden, um bie Grundlagen für ben
Ehefcheivungsproceß zu gewinnen. Fräulein Chanteaud
hatte ihren Zweck erreicht, fie war Gräfin und num
wollte fie mir ven Laufpaß geben. Das ift die Wahrheit.
Bräfident. Ihre Frau war durch Ihr Verhalten
unglüdlich geworben. Sie bebrohten fie mit dem Tode.
„Martha, fagten Sie zu ihr, „wenn bu dich bei bei-
ner Mutter beflagft, fo töbte ich dich.” Sechs Wochen
nad der Trauung bielten Sie ihr einen Revolver vor
das Geficht und in der Trunkenheit haben Sie ihre Frau
in der voheften Weife beichimpft. Im Hotel Zur Glocke,
wo Sie während Ihres Aufenthalts in Burgund ab-
jtiegen, haben die Leute gefehen, daß Sie ihrer Gemahlin
einen Schlag in das Geficht gaben, und beobachtet, daß
Sie häufig infolge des übermäßigen Genuffes getjtiger
Getränfe beraufcht waren. Als der Scheibungsproceß
eingeleitet und zur Sicherftellung Ihrer Frau bie Gerichts⸗
Mertwürdige Sriminalproceffe aus Frankreich. 159
fiegel im Schloffe angelegt wurben, haben Ste Drohungen
ausgeftoßen: „Deine Frau muß fterben! Sie foll mir
tafür büßen. Sie wird e8 mit ihrem Blute be-
zahlen!” Seit jener Zeit trugen Sie beftändig einen
Revolver bei ſich. Einige Tage darauf fchrieben Sie Ihrer
Schwiegermutter: „Die Stunde ber Abrechnung naht.
Bisjetzt bin ich das Opfer gewejen, jett aber werben Sie
bie Strafe empfangen.”
Im Widerſpruche hiermit haben Sie dann wieber
mehreremal, aber vergeblich verjucht, Ihre Frau, bie
fich zu ihren Aeltern nach Paris geflüchtet hatte, zur Rück⸗
fehr zu beftimmen. in gemeinfchaftlicher Freund, ber
Senator Rinard, hat in Ihrem Auftrage vermittelt, aber
Ihre eigene nicht zu bezähmenbe Leibenfchaftlichfeit Hat
die Ausſöhnung verhindert.
Bei einer Zufammenkunft mit der Familie Ihrer
Grau haben Sie Ihre Schwiegerältern heftig angegriffen
und beichimpft. Ihre Schwiegermutter haben Sie „Fiſch⸗
weib” und „aufgebonnerter Beſen“, Ihren Schwieger-
vater „‚filziger Prog” genannt. Iſt das die Redeweiſe
eined Edelmannes? (Heiterkeit im Zuhörerraum,) Sie
find fogar zu Thätlichkeiten gefchritten, haben Ihre
Schwiegermutter zu Boden geworfen und einem Diener,
der zu ihrer Hülfe berbeieilte, einen Finger gebrochen.
Sie haben bei dieſem Anlaß ferner eine jchwere Pendule
vom Kamin geworfen und auf den Fußboden gejchleubert,
ſodaß fie zerfplitterte. Dabei Haben Sie gejchrien, Sie
würden Ihre Frau durch Gensdarmen abholen Laffen.
Angellagter. Ich war es nicht, ver diefe Gewalt-
thaten provocirte. Die Chanteaud find eine Familie
von eingebilveten Emporkömmlingen. Die Mutter prügelt
ich mit Mann und Tochter. Es find ganz unglaubliche
Leute. Die Mutter geht herum wie ber Auslagelaften
160 Merkwürdige Eriminalproceffe aus Frankreich.
einer Mobiftin. Ich werde es mein Leben lang bebauern,
mid) mit ihnen eingelaffen zu haben.
Präfident. Sie haben eine Reihe von Beſchwerden
gegen Ihre Frau vorgebradht. Da es Ihnen nicht ge-
lang, fie zur Rüdfehr zu bewegen, haben Sie verſucht,
fie durch Drohungen einzufchüchtern, und ihr erflärt, Sie
würden einen ungeheuern Skandal erregen, wenn fie von
ber Scheivungsflage nicht abftünde,
Angeflagter. Ich Habe ihr lediglich in würdiger
Weife bie Rückkehr in das Haus ihres angetrauten Gatten
angeboten und biefe Rückkehr ihr als ihre Pflicht vorge-
ftellt. Ich konnte als ihr Gatte unmöglich die Freiheiten
gutheißen, welche bie Frau Gräfin de Molen beanipruchte,
um fich das Leben ihren Neigungen entfprechend zu er-
heitern.
Präfident. Sie haben e8 bei jener Drohung nicht
bewenben laſſen, ſondern ben Skandal wirklich hervor⸗
gerufen. Im Ihrer Eheſcheidungsllage warfen Sie Ihrer
Frau unnatürliche Lafter vor. Sie haben die nur ge
than, um bie gegen Sie erhobene Klage rüdgängig zu
machen. Sie wußten, daß Sie nach dem Obfiege Ihrer
Frau im Eheproceß die Mitgift herausgeben mußten,
bie Sie zum großen Theil fchon vergeubet haben. Des⸗
halb haben Sie in Ihrer Klage fchändliche Thatfachen
von Ihrer Frau erzählt, vie fich als erfunden heraus»
ftellten.
Angellagter. Es Hat fich alles fo zugetragen, wie
e8 von mir erzählt worben if. Ich babe bie fittenlofe
Aufführung meiner Frau vor und nach ver Trauung ber
Wahrheit gemäß mitgetheilt.
Präfident. Aber allen Ihren Behauptungen ift
von glaubwürbigen Zeugen widerſprochen worben. Sie
haben Herrn Boiffin, den Großvater Ihrer Frau, den
Mertwürbige Eriminalproceife aus Frankreich. 161
Ihre Kugel getroffen hat, beſchuldigt, daß er Die lesbifchen
Neigungen und Paſſionen feiner Enkelin gekannt, fie ge-
geduldet und beichüßt habe, Sie haben angegeben, Fräu-
fein Chantenud fei aus einem Mäpcheninftitut wegen Ver⸗
letzung der Sittlichkeit entfernt worden. Die Zeugen
haben es entſchieden in Abrede geftellt. Nach Ihrer Aus-
fage joll Ihnen die Gräfin von Molen am Abend des
Hochzeitstags haarfträubende Dinge aus ihrer Mäpchen-
zeit gebeichtet haben. Damit fteht jedoch im unlösbaren
Widerſpruche, daß Sie einige Zage fpäter an Ihre
Schwiegermutter jchreiben: „Sie können fich gar nicht vor-
ftellen, theuere Mama, welchen Schaf zarter Empfinbungen
ih in der fcheinbar fo Fühlen Natur Ihrer Tochter ent-
bede. Sie ift eine wahre Perle, eine jenfitive, Tiebens-
würbige und liebebebürftige Seele. Es gibt auf Erben
fein glüdlicheres Baar als uns.”
Angellagter. Herr Präfibent, ich war gezwungen
zu beucheln. Ich ſah mich in bie traurige Nothivenpig-
feit verſetzt, mich für glüclich auszugeben, während ich
innerlich tief unglüclich war. Ich babe mich mit Gewalt
bemeiftert, um die Familie meiner Frau nicht zu betrüben.
Ich liebte fie aufrichtig und hoffte noch, fie von ihren
Berirrungen heilen zu können. Dadurch erflärt fich ber
Brief, den Sie erwähnt haben, und andere Briefe ähn-
lichen Inhalts aus jener Zeit. Aber meine Bemühungen
waren umfonft, e8 gelang mir nicht, meine lafterhafte Fran
zu befjern.
Präſident. Sie haben noch fchlimmere Dinge vor-
gebracht und das unglaubliche Märchen erzählt, daß Ihre
Frau Sie am Tage nach der Hochzeit in ein verrufenes
Haus der Straße Lavoiſier in Paris geführt habe, um
einer Orgie beizuwohnen. Sie haben aber ben Beweis
dafür nicht erbringen können.
XXI. 11
162 Mertwürdige Ertiminalproceffe aus Franfreid.
Angellagter. ‘Diefe Angelegenheit ift nicht an diefer
Stelle, fonvdern im Chefcheivungsproceffe auszutragen.
Ih will hier nichts gegen die Gräfin und ihre Sitten
fagen.
Präfident. Leider ift es meine Pflicht, ven Ge⸗
ichworenen die Verhältniffe Kar zu machen. Sie haben
grunblofe Verbächtigungen gegen Ihre Frau vorgebracht,
ſchamloſe Geſpräche berichtet, die fie geführt haben fol,
fie beichuldigt, daß fie beim Spazierenfahren im Bois de
Boulogne mit übelberüchtigten Srauenzimmern vertrauliche
Grüße ausgetaufcht und im Cafe Americain bei einem
Souper fih mit einer Cocotte intim unterhalten babe.
Angeflagter. Alles dies gehört in das Proceßver⸗
fahren wegen ber Löſung meiner Ehe, ich verweigere bie
Auskunft hierüber.
Präfident. Ich halte mich für verpflichtet, Ihnen
zu eröffnen, daß die Gräfin de Molen dem Unter⸗
fuhungsrichter ihr Privatleben offen dargelegt und ſelbſt
barauf beftanden hat, daß bie eingehenpften Nachforfchungen
angeftellt würden. Man bat es getban und alle Ihre
Anichuldigungen find widerlegt worven. Ihre Gemahlin
bat tadellos gelebt und erfreut fich des beiten Leumunds,
ber allgemeinen Achtung. Ihnen felbit ift dies befannt.
Sie haben fie wiber befferes Wiffen angeflagt. Dies gebt
daraus hervor, daß Sie noch am 17. Detober, alfo kurze
Zeit nah dem Attentat, welches Sie auf bie Anflage-
banf geführt bat, einen Verſuch zur Verföhnung machten
und an Ihre Frau fchrieben: „Martha, ich hide bir bie
ſchönſten Roſen der Madelaine. Es follen bie buftigen
Vorboten meines Kommens fein.” In diefem Ton fchreibt
man nicht an eine fchulpbeladene Frau. Nein, Ihre Ber:
leumbungen hatten einzig umb allein ben Zweck, bie Gräfin
einzufchüchtern, damit fie aus Furcht vor einem foldhen
Merkwürdige ECriminalproceffe aus Frankreich. 163
Skandal zu Ihnen zurüdfehren möchte und Sie die
Mitgift nicht herauszugeben brauchten.
Als die Familie Chanteaud durchgeſetzt hatte, daß zur
pfanbweifen Sicherftellung ihrer Forderung gegen Sie die
Siegel im Schloffe von Turcey angelegt wurden, geriethen
Sie in großen Zorn.
Angellagter. Allerdings, ich war empört über biefe
Entheiligung des Stammfites meiner Ahnen.
Präfident. Bon da an haben Sie den Vorſatz ge-
faßt, Ihre Gattin zu töbten.
Angeflagter. Nein, durchaus nicht.
Präfident. Was bat fih am 5. November 1886
ereignet?
Angeflagter. Ich befand mich an biefem Tage zu>
fälfig in Dijon, um mich mit meinem Anwalt zu be-
iprechen, obne von ber Anmefenheit meiner Frau und
ihres Großvaters zu wiffen. Unfere beiberjeitigen An-
wälte wohnen einander gegenüber in der zum Yuftiz-
palafte führenden Straße.
Bräfident. Sie haben den Kutjcher Ihrer Frau
ausgefragt und vor der Thür des Vauvilliers zehn Mi-
nuten gelauert, bis Ihre Frau berausfam.
Angeflagter. Ich beabfichtigte, die Gräfin zu über-
wachen. Ich wollte erfahren, was fie in Dijon zu thun
habe. Dazu war ich berechtigt, denn?fie trug meinen
Namen.
Präfident. Sie haben damals auf fie gewartet, um
fie zu ermorden.
Angeflagter. Durchaus nicht.
Präfident. Warum haben Sie denn den Revolver
aus der Tafche gezogen, auf fie gezielt und Feuer gegeben ?
Angellagter. Meine Frau hat mich durch einen
höhniſchen Blick gereizt. Ich griff mechanifch mach ver
11*
164 Mertwürdige Eriminalproceffe aus Frankreich.
Waffe und legte an. Ich wollte zielen, aber in dem—
jelben Augenblick fiegte die Selbftbeherrichung über Die
Leidenfchaft. Ich drückte nicht ab, fondern wendete ben
Revolver weg von bem Kopfe der Gräfin. Es war ein
unglüdlicher Zufall, den ich ernftlich beflage, daß der
Revolver losging und ihren in ber Nähe ftehenden Groß⸗
vater traf.
Präfident. Die Anflage behauptet, es jei durch⸗
aus nicht Ihr Verbienft, daß die Gräfin unverlegt ge⸗
blieben, daß fie nur durch eine inftinctive Bewegung ber
töbtlichen Kugel entgangen if. Was Herren Boiſſin be-
trifft, fo bat er troß feines vorgerüdten Alters, dank
jeiner Fräftigen Eonftitution die Folgen feiner Verwunbung
überftanden. Die eine Kugel wurbe durch einen Knopf
des Rocks abgeleitet umd ftreifte ihn nur an ber Seite,
bie andere lief an der Rippe entlang, drang aber dann
ſo tief in den Leib, daß fie bis jetzt noch nicht hat ent-
fernt werben können. ‘Der fchwerverwunbete Greis tau-
melte auf Sie zu, Sie ftießen ihn roh zurüd, ſodaß er
auf das Straßenpflafter nieverftürzte und von vorüber-
gehenden Perjonen aufgehoben werden mußte.
Angellagter. Ich widerſpreche biefer Darjtellung
bes Sachverhalte. Der zweite Schuß ift gegen meinen
Willen Iosgegangen. Ich habe mich, nachdem ich gefchoffen
batte, fofort von der Polizei verhaften Laffen.
Präfident. Der fachverftändige Büchfenmacher bat
den Revolver unterfuht und fein Gutachten dahin abs
gegeben, daß der Schuß nur infolge eines ziemlich ftarfen
Druds auf den Hahn habe losgehen können. Ihre Aus-
lage tft alfo nicht glaubhaft.
Der Bernehmung des Angeflagten folgt das Zeugen⸗
verhör. Die Frau Gräfin Martha de Molen wird
vorgerufen. - Sie ijt eine höchſt anmuthige, gewinnende,
——
Merkwürdige Criminalproceffe aus Franfreid. 165
noch jugendliche Dame, mit fchönen regelmäßigen Zügen,
vie fich beleben, wenn fie fpricht, ſchlank und ebenmäßig
gewachjen. Ihre Haare, lichtbraun mit einem leichten,
röthlihen Schimmer, gleichen dem Haar ber vielbefungenen
Khönen Frauen von Georgien und Mingrelien. Sie iſt
ben Bildern der jugendlichen Kaiſerin Eugenie offenbar
ähnlich.
Die Gräfin trägt ein einfaches fchwarzes Kleid, fie
ift augenscheinlich bewegt und fpricht mit gebämpfter, aber
doch gut vernehmlicher Stimme. Nachdem fie ihre Aus-
fage abgegeben bat, verneigt fie fich vor dem Präfidenten
und zieht fich, ohne den Angeklagten anzufehen, an bie
Seite ihres Anwalts zurüd.
Präfident. Seien Sie ohne Sorge, Madame, und
beunrubigen Sie ſich nicht. Ihr Verhör beſchränkt fich
nur auf den Vorfall des 5. November, auf den mörberijchen.
Anfall Ihres Gatten. Erzählen Sie, was ſich zuge-
tragen hat.
Zeugin. Als ih aus dem Thore des meinem Ans
walt gehörigen Haufes heraustrat, erblidte ich meinen
Mann. Er bielt einen Revolver in ver Hand, fchritt auf
mih zu und ſchoß. Unwillkürlich büdte ich mich und
wurde dadurch gerettet. Leider haben bie Schüffe meinen
Großvater getroffen. Sonft weiß ich nichts zu jagen.
Herr Boiſſin, ein großer, ftattlicher, alter Herr von
militärischer Haltung mit fchneeweißem, bichtem Haupt⸗
Baar, ſtellt fich troß der fchweren Wunde und ber Kugel,
die er noch bei fich trägt, kerzengerad vor ben Gericht8-
bof, er Spricht Fräftig und beftimmt und erzählt ven Ver-
lauf des Attentats wie folgt:
„Der Graf de Molen fchoß zweimal. Nach dem eriten
Säuffe, ver mich nur ftreifte, wollte ih auf ihn zu»
een und ihm die Waffe entreißen, ba traf mich ein
166 Merfwärdige Criminalprocefje aus Srantreid.
zweiter Schuß in die Bruft. Ich wanfte, ver Graf ftieß
mich zurüd, ich fiel zu Boden und verlor die Befinnung.
ALS ich wieder zu mir kam, glaubte ich, daß ich zum
Tode verwundet wäre und fterben würde. Sch babe noch
immer beftige Schmerzen und trage bie Kugel noch mit
mir herum.”
Präfident. Haben Sie gehört, daß Ihre Enkelin
fi über ihren Mann beflagt bat?
Zeuge. Schon vier bis fünf Tage nach der Hoch⸗
zeit fam meine Enkelin zu mir und weinte, und bat mid,
. fie zu ſchützen. Sie Hagte, ihr Mann ſei jähzornig und
brutal und ein Trunkenbold; er habe fie, die Ahnungs⸗
loje, jogar in ein verrufenes® Haus geführt! Ich fuchte
fie zu tröften, fprah ihr Muth ein und rebete ihr zu,
wieder zu ihrem Manne zu gehen. Es koſtete mich viel
‚Mühe, ihre Thränen zu trocknen und fie zu beruhigen.
Ich felbft Habe fie in das Haus ihres Mannes zurüd-
gebracht und den Grafen Roger ermahnt, fie gut zu be⸗
handeln.
Präftvdent. Hat der Graf ſich bei Ihnen über feine
Frau beklagt?
Zeuge. Niemals! Er war außer fich, als fie ihn
verließ, und verlangte ftürmijch ihre Rückkehr. Eines
Nachts bat und flebte er bis 2 Uhr morgens, daß fie
wieberfommen möchte. Da fie fich aber entſchieden weigerte,
feiner Bitte nachzugeben, wurde er wüthend, fchimpfte
jeine Frau in gemeinen Ausbrüden und zerichlug mit
einem Stode die Möbel.
Angellagter. Mein Anwalt wird auf diefe Zeugen-
ausfage antworten, joweit fie ſich auf den Scheidungs⸗
proceß bezieht. Was mich betrifft, jo iſt mir die Perſon
des Herrn Boiffin, der von mir verwundet worden ift,
fortan gebeiligt. Deine Ehrfurcht vor dem Greife ver-
Mertwäürdige Criminalproceffe aus Frankreich. 167
bietet mir, ihm zu widersprechen. Ich achte feine Ergeben-
heit für feine Entelin.
Der Polizeibeamte Lardelet hat den Grafen de Molen
am 5. November verhaftet. Er berichtet, ver Graf fei
ihm freiwillig zur Wache gefolgt und Habe zu ihm ge-
jagt: „Jetzt werde ich ihrethalben zwei Sahre figen müſſen.“
Ein. Nachbar des Rechtsanwalts Vauvilliers, ein
Zahnarzt, eilte auf die Straße, als die Schüffe fielen.
Er glaubt, dag der Angeklagte zu dem Polizeibeamten,
ber ihn verhaftete, gejagt bat: „Ich Habe fie nicht um⸗
bringen wollen, ich habe die Waffe weggewendet.“
Der Polizeibeamte erinnert fich indeß einer derartigen
Ausſage nicht.
Der Büchfenmacher wieberholt fein in der Vorunter-
juhung abgegebene® Gutachten, daß der Revolver nur 108-
geben fönne, wenn man auf ven Hahn brüde.
Der Wirth des Hotels Zur Glode, Goiſſet, läßt fich
mweitläufig barüber aus, welche Vorfichtsmaßregeln er er-
griffen habe, damit der Herr Graf von der Anweſenheit der
Frau Gräfin nichts erfahren follte. ‘Der Graf ift nach feiner
Wahrnehmung fehr aufgeregt gewejen und bat, al& er,
ber Wirth, ihm gegenüber ableugnete, daß feine Gattin
im Hotel logire, gejagt: „Das überrafcht mich, doch wir
werden ja ſehen.“
Die Wirthin des Hotels erzählt die frühern Scenen,
bie zwifchen ven Ehegatten vorgefallen find. Ein Kellner
ift gerade dazugefommen, als der Graf feiner Frau einen
Schlag in das Geficht gab. Die Möbel im Zimmer waren
untgeworfen.
Diefer Kellner, Bourarat, und ein Zimmermädchen,
Michaud, beftätigen, daß fich der Graf gegen feine Frau
jehr brutal benommen bat.
Das Kammermädchen der Gräfin hat gejehen, daß
168 Mertwürbige Eriminalprocefje aus Frankreich.
ihre Herrin von dem Angeklagten im Schloffe von Tur-
cey beichimpft und gemishanvelt worben ift. Sie hat
gehört, daß er eines, Abends zu ihr fagte: „So, jetzt gebe
ich zu einem Frauenzimmer, welches mich beffer zu unter⸗
halten verfteht wie du.”
Der GerichtSvollzieher des Friedensgerichts von Saint
Seine⸗l'Abbaye, Sauveftre, und der Sollicitator des partjer
Rechtsanwalts der Familie Chanteaud, welche bei der An⸗
legung der Siegel im Schloffe Turcey zugegen waren, be=
zeugen die Wuthausbrüche des Grafen de Molen. Er ftieß
Drohungen aus und rief, er werde feine Gattin töbten,
jobald er mit ihr zufannmentreffe, weil fie die Schmach
der Pfändung über ihn gebracht habe.
Herr Gaſton de Coẽtlogon, der Bertraute des An⸗
geflagten, erklärte als Zeuge, er habe e8 fich angelegen
ſein laſſen, nachzuforichen, ob die Anlagen des Grafen
wider feine Gemahlin begründet feien. Er habe indeß die
Ueberzeugung gewonnen, daß ihre Unſchuld und Ehren-
haftigleit über jeden Zweifel erhaben ſei.
Angeklagter (in heftigem Zorne), Der Zeuge ift
boppelzüngig. Erſt bat er mir in allen Stüden bei-
geftimmt und mich gegen die Familie Chanteaud aufge-
best und fpäter bat er meiner Frau als Spion gedient,
um ihr Material für den Eheſcheidungsproceß zu ver-
ſchaffen.
Der Präſident verweiſt dem Angeklagten dieſe Aus-
drücke, und der Zeuge proteſtirt lebhaft gegen ſolche In=
finuationen.
Der Anwalt der Gräfin verlangt von dem Zeugen,
er jolle mittheilen, was ihm ver Graf über ven Befuch
gejagt habe, den er mit feiner jungen Frau in einem ver-
rufenen Haufe machte.
Zeuge. Graf Roger bat mir lachend erzählt, daß
Merkwürdige Criminalprocefie aus Frankreich. 169
er eine der erjten Nächte nach feiner Hochzeit mit feiner
Frau in einem befannten Local der Straße Lapoijier
jugebracht und feine vor Scham erglühende Gemahlin ge⸗
nöthigt bat, einer gemeinen Orgie beizumohnen.
Die Einzelheiten, welche ver Zeuge angibt, können
wir nicht referiren, und ebenjo wenig, was eine andere
Zeugin, die Eigenthümerin eines berüchtigten Haufes in
der Straße Lamennais von Paris, über den Verkehr und
ben Lebenswanbel des Angeflagten kundgibt. Es geht
daraus hervor, daß diefer Mann aus einem uralten eveln
Geſchlecht ein tiefgefunlener, grundgemeiner Roue ift.
Weiter werden Zeugen vernommen, bie beftätigen, daß
ber Angeflagte im Webermaße Cognac, Rum, Abſynth,
Wein und Champagner getrunfen bat und fehr oft be-
rauſcht geweien iſt. Zu einem Kellner des Hotels Fried⸗
(and in Paris, Vibert, wo ber Graf Stammgaft war,
hat er gelegentlich in der Trunkenheit gejagt, feine Frau
jet eine natürliche Tochter des Kaiſers Napoleon ILL, er
habe fich vergeffen, al® er fo tief unter feinem Stande
geheirathet habe.
Das Zeugniß, welches die Mutter der Gräfin, Frau
Chanteaud, abgibt, Tautet fo:
„Ih war tief erichüttert, als ich die Nachricht von
dem Attentat auf meinen Vater und meine Tochter erhielt,
aber überraicht hat es mich nicht, denn wir lebten feit
wei Jahren in fteter Angft vor einem Acte der Gewalt
durch meinen Schwiegerfohn. Als der Graf Roger de
Molen zuerft in unfer Haus kam, war er die Liebens-
wirbigfeit felbft. Er bezauberte uns alle. Seine Cor»
reſpondenz während der paar Monate, die ber Hochzeit
doransgingen, war muftergültig. Ich hatte ihn liebge-
wonnen wie meinen eigenen Sohn. Leider wurden wir
bald enttäuſcht. Nach und nach geſtand mir meine Tochter,
170 Merkwürdige Eriminalprocefje aus Frankreich.
was fie leide, und fie fehrte endlich in unjer Haus zurüd,
weil fie e8 bei ihrem Mann nicht aushalten fonnte. Die
brutale Scene, die der Graf aufführte, als ihm die Rüd-
fehr feiner Frau abgefchlagen wurde, iſt bereits gefchilpert.
Er bat mich bei dieſer Gelegenheit gefchlagen und nieber-
geworfen. Später fuchte er uns einzufchüchtern, er brobte,
daß er Entbüllungen machen, die Geheimgefchichte ber
Familie aufveden, das Tam⸗Tam fchlagen und einen
großen Skandal herbeiführen würde. Wir antworteten
auf dieje feine Briefe nur: « Thun Sie, was Sie wollen. »
Mein Mann und ich hatten anfänglich unfere Xochter
zur Gebuld ermahnt, und würden ihrem Manne vielleicht
jogar feine Neigung zum Trunk und fein rohes Be-
nehmen verziehen haben; aber er verlangte jo Unziemliches
von feiner Frau und entwürbigte fie fo in ihrer weib-
lichen Ehre, daß wir es nicht länger bulben und fie ihm
nie wieder anvertrauen Können.”
Angellagter. Ich babe nur zu bemerfen, daß ich
biefer Ausfage in allen Punkten widerſpreche. Auf vie
Details einzugehen verbietet mir der Anftahb.
Herr Chanteaud, ein Dann von fechzig Jahren,
becorirt, ift offenbar ftolz darauf, daß er fich durch eigene
Thätigkeit und Tüchtigkeit großen Neichthun erworben
hat. Er bereut es bitter, daß er fo ehrgeizig gewefen iſt,
feine Tochter an einen Grafen zu verheirathen. Er gibt an:
„Der Graf de Molen wurde mir durch einen mir be-
fannten Priefter, ten hochwürbigen Abbe Eperon, vor:
geftellt und auf das wärmfte empfohlen. Sch felbft bin
ein einfacher Mann, nicht mistrauifch und geftehe unum⸗
wunben ein, daß e8 leicht ift, mich zu überliften, Die
Treundlichkeit und bie Gewandtheit des Grafen, feine
Ihönen Redensarten und feine Manieren haben mich be
tbört. Ich habe leider meine Zuftimmung zu ver Ehe
Merkwürdige Eriminalprocejje aus Frankreich. 171
meiner Tochter mit ihm gegeben und werde es zeitlebens
bereuen, daß ich nicht vorfichtiger geweſen bin.
„Es iſt bereits gefagt worden, weshalb meine Tochter
ihren Mann verlaffen hat und in unfer Haus geflüchtet
ft. Der Graf de Molen wollte fie mit Gewalt wieber-
bolen. Er fchlug Lärm, fuchtelte bei ung mit einem Stock⸗
begen herum, mishandelte meine Frau und zerbrach einem
Diener den Finger. Ich bin überzeugt, daß er den Vorſatz,
feine Frau zu tödten, fchon früher gefaßt hat. In Biarritz
zwang er fie, ein halbwildes Vollblutpferb zu befteigen.
Sie ift zum Glück eine ausgezeichnete Keiterin und ver-
ſtand es, das Thier zu zügeln. Ein zweites mal warf er
ihren Wagen in Baris an der Ede des Hötelsbu-fouore
abfichtlih um. Aber alles, was er ihr angethan bat,
verfchwindet gegen die Schänblichkeiten, bie in feiner
Scheidungsklage vorgebracht worben find. Daß er feine
feufche, junge Frau jo gemein verleumden Tonnte, bleibt
unverzeiblih. Ich habe es ihm in das Geficht gejagt,
und er antwortete mir: «Ich werde Ihren Wiberjpruch
gegen die Rückkehr meiner Frau durch einen öffentlichen
Skandal brechen, oder Ihre Tochter tödten. Für mich
babe ich immer den Ausweg, daß ich meinem Leben durch
eine Kugel ein Ende mache.» Der Angellagte hat in
meiner Gegenwart zu drei verjchievenen malen gebrobt,
daß er feine Frau ermorden würde.”
Präſident. Was haben Sie auf dieſe Ausjage zu
erwibern ?
Angellagter. Der Anftand verbietet mir, meinem
Schwiegervater zu antworten. Ich vertraue dem Urtheil
der Jury und des Gerichtshofs. Sie werben den Werth
Solcher Phrafen und Anekdoten wie jene von bem Voll⸗
blutpferde und dem abfichtlichen Ummerfen des Wagens
zu tariren wiſſen.
172 Merfwürbige Eriminalprocefie aus Frankreich.
Der nächfte Zeuge, Abbe Chanteaud, Vicar von
Saint-Deni® vom heiligen Sakrament in Paris, der
Bruder des Apothelers Chanteaud, ift auf Antrag bes
Bertheibigers des Angeklagten vorgeladen worden.
Er jagt aus:
„Der Graf de Molen hat mir geflagt, daß jeine
Frau ihn verlaffen habe und daß er fie gern wieber auf⸗
nehmen wolle. Ich habe meine Pflicht als Prieſter er-
füllt und mich bemüht, eine Verſöhnung der getrennten
Ehegatten herbeizuführen und die Scheidungsklage zu
verhindern. Dem Grafen ftellte ich vor, er müſſe Ge-
buld haben, die Zeit würde ihre heilende Kraft bewähren.
« Herr Abbe », erwiberte er mir, «wenn mein Schwieger-
vater meine Schulden bezahlt, werbe ich mich fchon mit
meiner Fran in das richtige Einvernehmen fegen Fönnen. » “
(Bewegung im Zuhörerraum.)
Vertheidiger Falateuf.e Ich muß mein Er-
jtaunen ausbrüden, baß der Herr Zeuge fich heute zum
erjten mal in dieſem Sinne äußert.
Zeuge. Ich ftehe zum erften mal vor Gericht und
habe geſchworen, die Wahrheit zu fagen, und das tft Die
Wahrheit. Von einem unmoraliihen Wandel meiner
Nichte ift mir nie etwas bekannt geworben,
Madame Anna Boiffin, eine Tante der Gräfin de
Molen, hat vergebliche Verjuche gemacht, die Ehegatten
wieber zu vereinigen. Ste gibt ihrer Nichte das Zeug-
nif großer Sittſamkeit und eines tabellofen Lebens.
Angellagter. Die beiden lebten Zeugen find Ver⸗
wandte meiner Frau. Ich will ihnen peinliche Discuſ⸗
fionen erfparen und am biefem Orte nicht wiederholen,
was fie mir vertraulich über vie Aufführung der Gräfin
binterbracht haben.
Der Diener des Herrn Chanteaud, Vaſſeur, war
—
Merkwürdige Eriminalproceffe aus Frankreich. 173
zugegen, al8 der Graf ve Molen eine 15 Kilo fchwere
Pendule vom Kamin herunterwarf und feine Echwieger-
mutter thätlich angriff. Er fprang hinzu, um feine Herrin
zu ſchützen, da ftürzte fih der Graf auf ihn und zerbrach
ihm einen Finger.
Angellagter. Der laute und unpafjende Ton, in
welchem ber Zeuge fpricht, entbinvet mich von der Pflicht
ihm zu antworten. Man verhinderte mich gewaltfam
baran, meine Frau mit fortzunehmen, es entitand eine
Rauferei und ich bin geftoßen und niebergeworfen worben.
Zeuge Baffeur. Sie find ein elender Lügner!
Es tritt nun eine große Anzahl von Zeugen auf,
bie ſich über den ausgezeichneten Auf der in allgemeiner
Achtung ftehenden Familie Chanteaud und insbefondere
ihrer Tochter Martha ausiprechen. Wir refumiren die⸗
jelben kurz.
Herr Leger, Director der DBerficherungsgefellichaft
„2a Brance” in Paris, hat im Intereffe eines Freundes,
ber um bie Hand von Fräulein Chanteaub werben wollte,
Erfundigungen eingezogen, bie das befriebigenpfte Nefultat
ergaben. Die Heirath kam nicht zu Stande, weil fein
Freund fih im Auslande niederzulaſſen beabfichtigte, die
Aeltern aber fich nicht entichließen konnten, die einzige
Zochter in die Fremde ziehen zu laffen.
Fräulein Gervais, die Vorfteherin des Inſtituts,
in welchem Fräulein Chanteaud erzogen wurde, ift erzürnt
über bie verleumberifche Nachrede, daß die junge Dame
wegen eines Verſtoßes gegen bie guten Sitten entfernt
worben ſei. Ste zäblte im Gegentheil zu ben beiten und
beſcheidenſten Schülerinnen.
Der Maler Gap und ver Arzt Dr. Fontaine, alte
Freunde der Familie Chanteaud, die Nentiere Madame
Lemoutte und der Kaufmann Loſſon, deren Zöchter zu-
174 Mertwürdige Eriminalprocefje aus Frankreich.
gleich mit Martha Chanteaud im Inftitut von Fräulein
Gervais waren, ftimmen überein darin, daß die Frau
Gräfin ein fittenreines, keuſches Mädchen gewejen ift, und
ſind voll ihres Lobes. Ebenſo erzählt der Wechfelagent
Eroispel voll Rührung von der aufopfernvden Freund⸗
haft und Liebe, mit welcher Fräulein Martha Chanteaud
feine verftorbene Tochter gepflegt hat.
Mapame Caroline Baudrimont, die Witwe eines
Arztes, ftand der Gräfin de Molen befonders nahe, tiefe
vertraute ihr bald nach ihrer Hochzeit, fie fei fehr un-
glüdlih, und fügte hinzu: „Ich möchte fterben, um nur
der Schmach einer folchen Verbindung zu entgehen.”
Die Vertheidigung hat zur Entlaftung des Angeffagten
verſchiedene Zeugen vorlaben laffen, welche num vernommen
werden. Bauern und auch etliche Pfarrer aus der Um
gebung ver Herrichaft Turcey rühmen bie Freigebigkeit des
Grafen de Molen, fie berichten von Schenkungen, die er
gemacht, von der Sympathie und der Achtung, vie er überall
genofjen habe. Der Abbe Gouget war ein häufiger Gaft
im Schloffe, bat aber nicht bemerkt, daß ber Graf un-
mäßig getrunfen babe. Im gleichen Sinne fpricht ſich
der Rammerbiener Florentin Matthieu aus; er bat
feinen Herrn niemals beraujcht gejehen.
Fräulein Poly, das Stubenmäbcen im Dienfte des
Grafen, fagt: „Die Gräfin ve Molen hatte eine Kammer:
jungfer Namens Pauline mit ins Schloß gebracht. Diefe
erzählte mir, die Gräfin habe ihr gejagt, daß fie mit
ihrem Gemahl nicht verkehren möge.”
Bertheidiger Falateuf. Hat Ihnen dieſe Pau—
line nicht die eigenen Worte der Gräfin wieberbolt:
„Ih will feine Kinder haben, ich würbe meine fchlanfe
Taille dadurch verlieren und verunftaltet werben.”
Merkwürdige Criminalproceife aus Fraukreich. 175
Zeugin. Ya, mein Herr, das bat Pauline wirklich
gelagt.
Das Zeugenverbör ift gefchloffen, das Plaidoyer be-
ginnt.
Der Vertreter der Staatsbehörde, Generaladvocat
Charles Bernard, nimmt das Wort und hält eine
formvollendete zweiſtündige Rede. Er entwirft ein treues
Bild dieſer „vornehmen Ehe“ und erörtert die Gründe,
welche ihre thatſächliche Löſung herbeiführten. Er erinnert
an die von dem Angeklagten wider ſeine Ehefrau erhobenen
Beſchuldigungen, ſein brutales Benehmen wider ſie und
ſeine Schwiegermutter. Hierauf geißelt er ſcharf das
zügelloſe Leben des Grafen de Molen und wendet ſich
nun erſt zu dem Gegenſtande der Anklage, dem Attentat
vom 5. November 1886. Er prüft die Ausſage jedes
einzelnen Zeugen und gelangt zu dem Reſultat: der
Angeklagte hat mit Ueberlegung und Vorbedacht den erften
Schuß auf feine Frau und ven zweiten auf den Herrn
Boiffin abgegeben in der Abficht, beide zu töbten. Er
beantragt, den Grafen de Molen demgemäß fchuldig zu
Ipreden und ihm mildernde Umſtände nicht zuzubilligen.
Herr NRouriffat, der Anwalt der Gräfin de Molen,
führt aus: „Der Graf de Molen hat die Familie Chan-
teand ſchmählich Hintergangen. Er ift ein verfchuldeter
Lebemann, ein gewohnheitsmäßiger Trinker, ein aus dem
Staatspienft entfernter Unterpräfeet, ein Client der ans»
rüdigen Firma Buret und Soudry. Er bat e8 verftanden,
ſich einzufchmuggeln in eine ehrenwerthe Bürgerfamilie;
der in der Form äußerlich feine und Tiebenswürbige Edel⸗
mam hat Fräulein Chanteaudb und ihre Neltern betbört
und bie junge Dame geheirathet, weil ihre Mitgift ihn
tor dem völligen Ruin bewahren follte. ‘Dann bat er
ben Verfuch gemacht, die arme junge Frau in feine ge-
176 Merkwürdige Sriminalproceffe aus Frankreich.
meine Sphäre Hinabzuziehen. Ich erinnere an die Scenen
in der Straße Lapoifier und im Cafe Americain zu
Paris während ber Flitterwochen. Zulegt hat ver An-
geflagte feinem ehrlofen Thun damit die Krone aufgefekt,
baß er feine Gattin verleumbete und die lächerliche Be⸗
hauptung aufftellte, nicht er habe feine Frau, ſondern
jie babe ihn, ven einfachen Provinzialen, verführt und
mit dem rafftnirten Lafterleben von Paris befannt gemacht!
„Der Graf de Molen bat feinerfeitd die Scheidungs⸗
age nur angeftellt, um einen großen Skandal herbei»
zuführen, jeine rau dadurch zur Rückkehr zu zwingen
und dann die Mitgift nicht herausgeben zu müſſen. Die
Mitgift wollte er um jeden Preis behalten, deshalb bot
er die Hand immer ven neuem zum Frieden, und als
alles nichts half, griff er zum Revolver und wurbe ein
Mörder.
„Die Oräfin war fiher un Bewußtjein ihrer Unſchuld,
ihr ganzes Leben Tiegt offen vor uns, fie braucht das
Licht des Tages nicht zu ſcheuen. Glaubwürdige Zeugen
haben ihre Sittenreinheit eiblich erhärtet, fie war in allen
Kreifen geehrt, geachtet und geliebt. Auch der Angeflagte
bat fie boch gehalten, fonjt hätte er ihr fchiwerlich ben
feierlichen Empfang mit Glodengeläute und Ueberreichung
des Rojenfranzes durch weißgefleivete Jungfrauen bereitet,
als er fie einführte in das Stammſchloß feiner Ahnen.
Wäre e8 wahr, was der Graf de Molen jet von ihr
fagt, daß er fie unmittelbar nach der Hochzeit in ihrer
niedrigen Gefinnung, in ihrer wahren Natur fennen ge-
lernt hätte, jo würde er nicht einige Tage fpäter an feine
Schwiegermutter gefchrieben haben, daß der Beſitz ihrer
Tochter fein Leben zu einem feligen Paradieje umgeſchaffen
babe.
„Es ift der Beweis erbracht, daß Martha Chanteaud
Merkwürdige Eriminalprocefje aus Franlreid. 177
ein reines Mädchen, eine vormwurfsfreie Gattin und bie
unglüdlichite Gattin gewejen ift. Der Angeflagte hat
borfäglich ven Revolver abgefeuert, um fie zu ermorben,
und mit der zweiten Kugel ihrem Grofvater eine ſchwere
Wunde zugefügt. Ich beantrage, ihn der Anklage gemäß
Ihuldig zu Sprechen und ihm feine mildernde Umſtände
zuzugefteben.’
Der Vertheidiger des Grafen, Octave Falateuf,
erhebt fich hierauf zu einer fchneidigen Entgegnung und
ſpricht:
„Die Herren Geſchworenen richten über das Leben
und die Ehre. Was aber iſt das Leben ohne die Ehre!
„Der Herr Graf de Molen befindet ſich in einer
traurigen Zwangslage. Er hat den Kampf zu beſtehen
gegen eine Frau, die ganz unſagbaren Neigungen fröhnt,
und doch darf das Leben, welches ſie geführt hat, nach
ſeinem Willen nur angedeutet, aber nicht aufgedeckt werden,
denn fie iſt ſeine angetraute Gattin. Ich hätte mich gern
darauf beichräntt, nur von den Revolverſchüſſen zu ſprechen,
und ich hätte mir diefe Schranfe auferlegen können, wenn
ih einzig und allein dem Staatsanwalt, der nur das
Attentat in den Kreis feiner Ausführungen gezogen hat,
antworten müßte. Der Vertreter ber Civilpartei, ber
Anwalt der Gräfin de Molen, dagegen hat den Streit
auf ein anderes Gebiet übertragen, und ich muß ihm da⸗
hin folgen. Mein Gegner tritt ein für die Unſchuld des
Fräulein Chanteaud. Ich für meine Perfon achte nur
ſolche Frauen, welche weiblich fühlen und weiblich denken,
ih achte fie, auch werm fie weiblich fehlen. Es ift ber
Wunſch des Herrn Grafen de Molen, dag bie Beichul-
digungen, welche er leider gegen feine Gattin zu erheben
genöthigt geweſen ift, an einem andern Ort ausgetragen
werben, deshalb kann ich bie Details des unweiblichen
XXL 12
178 Merkwürdige Eriminalproceffe aus Frankreich.
Lebenswanbels ber Gräfin bier nicht fchilden. Man
wirft uns vor, daß wir jene «Damen», bie Genoflen ihrer
verbotenen Freuden, nicht als Zeugen vor das Gericht
citirt haben. Sch ftelle dem Gerichtshof ihre Namen
zur Verfügung. Sie werben im Eheſcheidungsproceſſe
verhört werben. Der Unterfuchungsrichter hat ihre Bor-
lodung und Vernehmung verweigert, weil er fie für un⸗
glaubwürbige Zeugen erklärte. Aber wenn eine Anklage
jo ſchmuziger Natım in Frage ift, kann man nicht reine
Sungfrauen als Zeugen verlangen. Es find Dirnen, es
banbelt fich indeß auch um den Beweis, daß die Gräfin
de Molen fich wie eine Dirne betragen bat.
„Graf Roger de Molen ift nicht der blafirte Wüſt⸗
fing und nicht der gewohnheitsmäßige Trinker, als ben
ihn die Gegenfeite hinzuftellen verfucht hat. Er Hat die
Rechte ftubirt, er ift Unterpräfect geweſen und bat fein
Gut felbft bewirthichaftet. Hier bei den Acten befinden
fih über feine Führung ehrenvolle Zeugniffe. Es war
fein Unglüd, daß er einem alten edeln Stamm angehörte.
Sein Stand und fein Titel Iodte, man hat beibe® ge:
kauft und ihm als Kaufpreis dafür Fräulein Chanteaud
zur Frau gegeben. Herr Chanteaud, ein reich geworbener
PBarvenu, wollte fih einen Grafen ale Schwiegerjohn
leiften. Madame Chanteaud ſchwärmte ſchon längft für
den Adel; die Verehrung, die ſie für hochgeborene Leute
hatte, war geradezu lächerlich. Dieſer vormalige Apo-
theker iſt nicht der unbefangene Biedermann, deſſen Rolle
er jetzt ſpielt. Wer der Menſchheit ſo viele Pillen zu
ſchlucken gegeben hat, iſt keine ſo naive unſchuldige Seele!
„Fräulein Martha Chanteaud war fein unerfahrener
Backfiſch, fie hatte bereits mehr als ein Vierteljahrhundert
zurücgelegt, als fie die Ehe mit dem Grafen de Molen
einging. Es waren fchon viele Heirathsprojecte voraus—
Mertwürbige Eriminalproceffe aus Frankreich. 179
gegangen, aber eins nach dem andern hatte fich zerichlagen
ein Freier nach dem andern trat zurück. Warum bat
biefes fehr reiche Mäpchen feinen Mann befommen? Die
Gründe müſſen doch wol in ver Perfon und in vem Wan-
bel des Fräuleins gejucht werben.
„Herr Chanteaud Fannte bie finanzielle Lage feines
Schwiegerfohns ganz genau. Es ift alſo unrichtig, daß
er von ihm getäufcht worden wäre. Nicht von der Fa-
milte Chanteaub, fondern vom Grafen Roger de Molen
war biefe Eheſchließung ein leichtfinniger Streid. Er
bat fich dadurch mit feiner Yamilte entzweit und feinen
Namen entehrt, denn er gab diefen Namen einer Frau,
bie feiner nicht wertb war. Er bat nur in Einem Punkte
ein Unrecht ober richtiger ausgebrüdt eine vorſchnelle
Handlung begangen, die darin beitand, daß er am Morgen
nach der Hochzeit feiner ehemaligen Maitreffe, der Ma-
bame Darthba, 54000 Fr8. übergab und dieſes Gelb
bon der Mitgift feiner Gattin nahm. Allein es war
dies nur eine Anleihe, die er machte. Gott ſei Danf, be-
ſaß und befitt er noch jeßt genug, um die Mitgift voll
zu reſtituiren. Er konnte fich nur nicht fofort baare Mittel
verſchaffen, und e8 galt, eine Ehrenſchuld zu bezahlen,
deshalb that er dieſen Schritt. Es läßt fich pſychologiſch
wohl verſtehen, daß Graf de Molen ſeine Frau geliebt und
doch verachtet bat. Als er die traurige Gewißheit er-
langte, daß fie ein fittenlofes Weib fei, wurde er jehr
betrübt, aber feine Liebe dauerte fort. Er hoffte, fie
fäutern und zu fich Hinaufziehen zu können. Er verjuchte
es mit allen ihm zu Gebote ftehenden Mitteln, aber feine
Bemühungen waren vergeblich. Die Gräfin hielt feit am
ihren Neigungen und Gewohnheiten aus ihrer Mäpchen-
zeit. Der Graf de Molen befitt eine Kaffette mit Briefen
und Photographien, welche jeden Zweifel über bie Ge:
12*
180 Mertwärbige Eriminalproceife ans Frankreich.
lüfte und das Thum feiner Frau ausfchließen. Die Gräfin
ift, nachdem fie ihren Gatten verlaffen hat, noch einmal
heimlich in das Schloß Turcey gekommen, um fidy bie
Kaffette und mit verjelben die Beweismittel ihrer Schuld
anzueignen.
„Der Graf war erzürnt darüber, daß feine Frau fich
von ihm trennte, und fein Zorm wurde un böchften Grade
gereizt dadurch, daß die Familie Chanteaud ſchonungslos
wider ihn vorging und ihn durch die Pfändung im Schloffe
bejchimpfte. Er wollte fi) dafür rächen und war nicht mehr
recht bei Sinnen. Das Attentat hat er verübt in einer
plöglichen Geifteßverwirrung, e8 war nur das Rejultat
ber auf ihn einftürmenden Beleidigungen und ehrenrührigen
Angriffe. Ueberdies hat ver Graf die Waffe, die er auf
feine Frau anfchlug, felbft wieder abgefehrt. Die Ver⸗
wunbung des Herrn Boiffin ift nur die Folge eines be»
bauerlichen Zufall. Ich beantrage bie Freiiprechung
des Angellagten, der ein Unglüdlicher, aber nicht ein
Schulbiger ift. Der Graf hat entfelich gelitten, er ift
erbarmungslos verfolgt und von Verleumdungen faft er-
brüdt worden. Man bat ihn fogar verdächtigt, ven Prä-
fecten des Departements des Jura ermordet zu baben.
Wer mag der anonyme Anfläger geweſen fein?‘
Der Angeflagte unterbricht bier feinen Vertheidiger:
„Ich bitte, daß Sie zu Ende kommen. Die Verhandlung,
bie num bereitd drei Tage dauert, greift mich fürchterlich
an. Sch vergebe meinen Feinden, und bitte für mich um
Verzeihung für den Act unüberlegter Rafchheit, mit ver
ih gehandelt habe. Mit Vorbedacht babe ich nichts
Döfes thun wollen.”
Der Vertheidiger fchließt mit der Vorleſung etlicher
Briefe von Verwandten des Grafen, ver Baronin Defair,
feiner Groftante, und anderer, in benen auf bie glor-
Mertwürdige Eriminalprocefje aus Frantreid. 181
reiche Samiliengefchichte der Grafen de Molen de la Ver⸗
nede ein beſonderer Nachdruck gelegt wird.
Der Generalabvocat Bernard replicirt in halbſtün⸗
biger Rede. Er hält die Anklage überall aufrecht und
erflärt, daß nach feiner Ueberzeugung die Gräfin veoll-
fommen rein und fchulplos ift und daß ber Angeflagte
den Mordverſuch mit Vorbebacht verübt hat.
Hierauf erhebt fib der Graf pe Molen zum
Schlußwort:
„Meine Herren Gejchworenen! Zu ben Gewiffens-
vorwürfen, die ich mir wegen meines unüberlegten Schrittes
am 5. November felbjt mache, gejellen fich unverbiente
Kränfungen, Schimpf und Verleumdungen. Ich erliege
unter jolcher Laſt. Ich erwarte mit Faffung Ihr DVer-
dict. Sie werben gerecht fein. Ich werde mein Schid-
jal mit Geduld ertragen... Das Leben ift für mich in
Zukunft nur ein fürzeres ober ein längeres Leiden. Es
war mein Wille, daß die Frau, die noch meinen Namen
trägt, an dieſer Stelle im Betreff ihrer Ehre nicht an-
gegriffen werben follte. Ich bin nicht jener Verächter
ver edeln Empfindungen, ald den man mich Ihnen zu
ſchildern verfucht hat. Mein Herz fteht allen befjern
Regungen offen. Auf meine Ehre verfichere ich Sie, daß
ich weder meine Frau noch ihren Großvater töbten wollte.
An Ihnen ift es, zu entjcheiven, ob ein Augenblid ber
Berblendung einen edeln Namen für immer brand-
marken, ihn auf ewig ver Verachtung aller Welt preis-
geben ſoll.“
Die Jury verfündigt, nachdem fie eine und eine halbe
Stunde berathen Hat, ihr Verbict. Der Angellagte, Graf
Roger de Molen, wird für ſchuldig erflärt wegen bes
mit Vorbedacht ausgeführten Mordverſuchs
gegen feine Frau, dagegen die Abſicht, den Herrn
182 Mertwürbige Sriminalproceffe aus Frankreich.
Boiſſin zu tödten, verneint. Die Trage, ob mil-
bernde Umftände vorhanden feien, wird von ben Ge⸗
ſchworenen bejaht.
Graf Roger de Molen erklärt bleich, aber fehr
ruhig, er habe in Bezug auf vie Strafe nichts zu er-
wähnen.
Der Gerichtshof verurtbeilt ihn zu zehn Jahren
Zwangsarbeit und zu einem Franc Schadens⸗
erfat an bie Civilpartet.
Der Bräfident ver franzöfifchen Republil, Herr Julius
Grevy, fand für gut, diefe Strafe im Gnadenwege auf
fieben Jahre Kerker berabzujegen.
Das GCivilgeriht in Bari, vor welchem ber Ehe⸗
proceß verhandelt wurde, bat durch Urtheil vom 21. April
1887 die Che des Grafen Roger und der Gräfin de
Molen gefchieven. As Scheivungsgründe werben an-
geführt die Mishandlungen und die Beleidigungen, welche
ber Graf fich feiner Frau gegenüber ſchuldig gemacht hat,
und feine Verurtheilung zu zehn Jahren Zwangsarbeit.
Dagegen erflärte das Gericht, der. Beweis für die Be⸗
Bauptung des Grafen, daß feine Frau unfittlih gelebt
babe, fet nicht erbracht worben.
Das Urtheil des Schwurgerichts gibt uns Anlaß zu
folgenden Bemerkungen:
In Frankreich gilt e8 als Grundſatz, daß ber betro-
gene Ehemann berechtigt ift, feine untrene Ehefrau und
ihren Buhlen nicht blos, wenn er fie auf frifcher That
betrifft, fondern auch Hinterbrein, nach Verlauf einer
längern Zeit, zu tödten. Die Praxis hat diefen in feinem
legten Theil ohnehin bedenklichen Sag ftarf erweitert.
Merkwürdige Criminalproceife aus Frankreich. 183
Die Jury des Departements der Seine (Paris) pflegt
anzuerfennen, daß in „Liebesfachen‘ jedermann Kläger,
Richter und Henker fein darf. Wenn ein Angellagter
jeine Ehefrau oder feine Geliebte oder ihren Galan er-
morbet ober tobtgefchlagen bat, fo wird er regelmäßig
freigefprochen, mag er fortgeriffen von ber Leidenſchaft
ober mit fühler wohlüberlegter Bosheit gehandelt haben,
mag feine Eiferfucht und fein Zorn begründet ober un-
begründet, mag ein Zreubruch wirklich begangen over nur
eingebilbet fein. Das gleiche Recht wird auch ber be-
trogenen Ehefrau und dem verführten Mädchen von ben
Geſchworenen zugeftanden, wenn fie den Gatten ober Ge-
fiebten mit Revolver, Dolch oder Vitriol für feine Un⸗
treue ftraft.
In der Provinz find die Gefchworenen nicht jo to-
lerant, ihr Urtheil ift Fühler und gerechter, Im Baris
hätte man vielleicht auch den Grafen de Molen frei-
gefprochen, weil das mörberifche Attentat feiner Frau galt,
bie ihn verlaffen hatte und nicht zu ihm zurückkehren
wollte. Die Jury pon Dijon urtheilte anders, und wir
glauben, fie hat ihre Pflicht gethan, indem fie das Schulbig
ausſprach. Der Graf de Molen bat nicht wie ein Ebel-
mann gehandelt, fondern wie ein gemeiner, tiefgefunfener
Slüdsjäger. Er war ein banfrotter Route, ein Säufer
und Schlemmer, der fich nur deshalb verheirathete, um
finanziell wieder flott zu werben. Kaum ift bie reiche
Mitgift in feinen Händen, fo fängt der undankbare Dann
fein mwüftes Leben von neuem an. Schon am erften Tage
nach der Hochzeit Inüpft er ben Verkehr mit einer von
feinen Maitrefjen wieder an und zwingt feine unglüdliche
Frau, bei feinen fchamlofen Freuden zugegen zu fein. Er
behandelt feine Gattin und ihre Aeltern roh und brutal.
Wir begreifen, daß bie Gräfin voll Scham, Zorn und
184 Mertwürbige Eriminalproceffe aus Frankreich.
Widerwillen fi von ihm abwenbet, zu ihren Xeltern
flüchtet und die Rückkehr verweigert.
Es ift ber Gipfel der Gemeinbeit, daß er feine reine,
unſchuldige Frau anflagt, ihn erft verführt zu haben, und
wir find mit der Jury davon überzeugt, daß er, um fich
an ihr zu rächen, ven Entſchluß, fie zu erſchießen, ſchon
jeit längerer Zeit faßte, und daß er mit voller Ueber:
legung handelte, als er den Revolver abfeuerte. Er hat
nah dem Kopfe feiner Gattin gezielt, und bie Kugel hat
nur deshalb nicht getroffen, weil fie fih unwillkürlich
büdte. Wir nehmen mit der Yury an, daß ber An-
geflagte den Herrn Boiffin nicht töbten wollte, fein Haß
richtete fich in erfter Linie gegen feine Frau, und ihrem
Leben galt auch die zweite Kugel.
„Mildernde Umftände” vermögen wir nicht zu
entbeden. Der Graf de Molen verdiente fein Mitleid,
jondern die volle Strafe des Mörders. Wir bedauern,
daß die Gefchworenen in einer Anwandlung von Schwäche
dieſem fchlechten und bösartigen Menſchen mildernde Um-
jtände zuerkannt haben. .
Der Gerichtshof hat der Civilpartei im Strafverfahren
nur einen Franc Schadenserſatz zugefprochen, weil er ben
Parteien überlafjen wollte, im Eheproceſſe ihr Recht zu
ſuchen. Es follte bamit nur der Veberzeugung Ausprud
gegeben werben, daß bie Gräfin nach der Anficht des
Strafrichters ſchuldlos und berechtigt fei, Schabenserfag
zu verlangen.
Mertwürbige Eriminalproceife aus Frankreich. 185
2. Der Proceß wider das Heirathsburean der Frau
Baronin de Mortier und Geuoſſen in Paris,
Betrag. 1887.
Bor einigen Jahren errichtete Madame Demortter
aus Rochette, die fih aus gefchäftlichen Rückſichten den
beſſer klingenden, hochadeligen Namen einer „Baronin
de Mortier de la Rochette” beilegte, in Paris auf
dem Boulevard Saint-Germain Nr.20 ein Heirathsbureau.
Sie felbft Tebte getrennt von ihrem Mann, ſchloß aber
mit einem befannten vontinirten Heirathsvermittler Na⸗
mens Lecourtois einen Derzensbund, und beibe etablirten
ein Geſchäft, welches barin beftand, daß fie in ber beſſern
und beiten Gefellfchaft auf discrete Weife den Männern
Frauen und den Frauen Männer verfchafften. Sie ver-
jtanden es, Perjonen verfchievenen Geſchlechts, Die zu-
einander paßten, befannt zu machen, umb erwarben fich
durch ihr Geſchick, Ehen zu ftiften, einen gewiffen Auf
und eine große Kundfchaft. Bis zum Jahre 1885 brachten
fie eine nicht unbedeutende Zahl von Ehen zu Stande,
und es Tiefen bis dahin Feine Klagen ein, daß etwa un-
teell oder gar betrügerifch von ihnen verfahren würde.
Allein die Gebühren, welche Die Heirathscandidaten zahlten,
reichten nicht aus für ihren Eoftipieligen Lebensunterhalt.
fie fchlugen deshalb eine andere Praris ein. Sie wollten
von num an nicht mehr Ehen ftiften, fondern Gimpel
fangen und rupfen, bie darauf ausgingen, eine reiche
Heirath zu machen. Die Baronin de Mortier annon-
eirte in den Zeitungen, daß junge Damen mit einer fürft-
fichen Ausſteuer und einer ſehr anfehnlichen Mitgift durch
fie einen Lebensgefährten fuchten. Dabei wurde mitunter
186 Merkwürdige Eriminalproceffe aus Frankreich.
ein Förperliches Gebrechen, ein Heiner moralifcher Defect,
ein Fehltritt, den ein kluger Dann verzeihen werbe, dis⸗
cret angebeutet, um plaufibel zu machen, daß ein Mäd⸗
hen mit jo großem Vermögen dieſen Weg einjchlug, um
unter bie Haube zu kommen.
Es fanden fib Männer aus allen Ständen, bie auf
jolhe Annoncen bin Verhandlungen anfnüpften. Ge⸗
wöhnlih wandten ſich die Mitgiftjäger ſchriftlich an vie
Firma und erhielten dann ein gedrucktes Circular zu-
gefchiekt, ein im feiner Art meifterhaft abgefaßtes Schrüft-
ftüd. Am Kopfe der Urkunde prangte eine fiebenzadige
Krone mit der Devife: „Thue, was bu follft.” Der
Zert lautete: „Die Ehe ift eine Einrichtung von un⸗
zweifelhafter Nothwendigkeit, und dennoch bleibt eine große
Zahl von Männern und Frauen ausgefchloffen von dieſer
Wohlthat, weil es ihnen an der hierzu unumgänglichen
Vorbedingung einer entiprechend ausgebreiteten Bekaunt⸗
haft mangelt.
„Die Schwierigkeiten, welche ſich dem Abfchluß ber
Ehe zwiſchen gut zueinander paffenden Perjonen entgegen»
ftellen, auch in Fällen, wo die Charaktere und bie mate-
riellen Verhältniffe durch ihre Uebereinſtimmung das
fünftige Glück der Gatten verbürgen würden, find leicht
zu heben, wenn fich ein zuverläffiger, pflichttreuer Ver⸗
mittler findet. Als ein folcher erweift fich unfere Anſtalt.
Diefelbe ift Feine gewöhnliche Agentur. Alle Vorgänge
ipielen fich gleichfam im Familienkreiſe ab. Die vor-
bereitenben, belicaten und vertraulichen Schritte, die dem
Abfchluffe einer Heirath vorausgehen müffen, werben von
Bevolimächtigten ausgeführt, die ſelbſt der befterr Geſell⸗
haft angehören und durch ihre perfünliche Würbigfeit
den Erfolg zu fichern wiffen.
„Bon dem Betrag der Mitgift ift eine Gebühr von
Merkwürbdige Criminalproceffe ans Frankreich. 187
nur zwei Procent zu entrichten. Der Ehemann bat fie
zu zahlen nach vollzogener Trauung und nachdem er bie
Mitgift in Empfang genommen hat.
„Die abfolutefte Verſchwiegenheit wird bei uns ſo⸗
wol vor wie nah ben Verhandlungen zugefichert und
beobachtet.“
Feder neue Client Hatte die übliche geringe Commiſ⸗
fionsgebühr von !/, Procent per mille von dem Kapital
ber Mitgift im voraus zu erlegen und ven folgenven
Bragebogen auszufüllen:
Wo find Sie geboren ?
Wo find Sie erzogen worden ?
Welche Studien haben Sie abjolvirt ?
Was beabfichtigen Site nach der Heirath zu beginnen ?
Wo werden Sie Ihren Wohnfiz nach der Hochzeit
aufichlagen ?
Nah) welchem Syſtem — Gütergemeinfchaft ober
getrenntes Bermögen der Ehegatten — wollen Sie den
Ehecontract abfaffen Taffen ?
Wie beabfichtigen Sie die Mitgift anzulegen ?
Welcher Religion gehören Sie an?
Beobachten Ste die vorgefchriebenen religiöjen Cere-
monien und halten Ste baranf, daß dies auch von Ihrer
Gemahlin gefchieht ?
Welches find Ihre politiichen Anfichten ?
Nachdem das halbe Promille Commiſſionsgebühr gezahlt
und der Fragebogen ausgefüllt war, wurbe der Heiraths⸗
canbidat mit der in Ausficht genommenen jungen Dame
und ihrer ehrenwerthen Familie befannt gemacht. Jetzt
begann die betrügerifche Komödie, die vor dem Eriminal«
richter ihr Ende fand. Weltere Damen in eleganter Toi⸗
fette, die fih in Gefellihaft zu beivegen verſtanden, fpielten
bie Mütter oder bie Zanten, Lecourtois, der Compagnon
188 Merkwürdige Criminalproceffe aus Frankreich.
der rau „Baronin“ de Mortier, trat als Vater, Vor⸗
mund ober Erbontel auf.
Die Braut, die wichtigfte Perfon und die Heldin bes
Stüds, ſcheint faft immer von einer und berfelben ‘Dame
Dargeftellt worben zu fein, mochte fte als „junge Witwe‘,
al8 „geſchiedene Frau’ oder als „reiches Mädchen mit
einem Kleinen fittlichen Makel“ vebutiren.
Die Braut wurde von einem Fräulein Real ge-
geben. Dieſe ftammt aus England oder Norbamerila.
Ihre Antecedentien find auch in ber Unterfuchung nicht
völlig aufgeklärt worden, es fcheint indeß, daß fie bereits
früher in Baltimore, in Boſton und andern Stäbten ber
Vereinigten Staaten von Norbamerifa die gleiche Rolle
mit großem Erfolge geſpielt hat.
Die Erfcheinung und das Auftreten ver jungen ‘Dame
find im Höchften Grade beftechenn. Sie ift groß und
ſchlank gewachien, hat reiches, natürlich gewelltes braunes
Haar, lebhafte bligende Augen, fchöne, regelmäßige, weiße
Zähne, einen Heinen, von rothen ſchwellenden Lippen um⸗
ſäumten Mund. Sie Fleivet fich mit ausgeſuchtem Ge-
Ihmad nach der neueften Mode.
Fräulein Leal wurde einer beträchtlichen Anzahl von
Prätendenten aller Altersftufen und ber verfchiepenften
Lebensftellungen als Braut präfentirt. Alle haben fich
blenden und täufchen laffen, alle find gründlich gefchröpft
worden, denn fie verftand es mit unwiberjtehlicher An⸗
muth Geſchenke abzufchmeicheln, ihre Gunftbezeigungen
für klingende Münze zu verlaufen und die ausgeplün-
berten Werber wieder heimzufchiden. Wenn die gewöhn-
lichen Mittel fehlichlugen, war fie auch bereit, die Heirath
abzujchließen. Dean fuhr dann über ven Kanal nach
England in das Land ber unklaren Ehegefeßgebung und
ließ fi von irgendeinem Beamten ald Mann und Frau
Merkwürdige Eriminalprocefje aus Frantreid. 189
zufammenfprecden. Der Ehemann erfuhr nach ber Hoch-
zeit, daß er um bie Mitgift geprellt war, er z0g beſchämt
ab, verzichtete auf feine junge Frau und dieſe wenbete
fih einem neuen Liebhaber zu, ber fie freien wollte.
Fräulein Leal operirte jo geichiett und fand das Gewerbe
fo amuſant und fo einträglich, daR fie fich nach einiger
Zeit von der Frau Baronin de Mortier trennte und auf
eigene Rechnung arbeitete. Sie begab fih unter ben
Schuß einer erfahrenen, ihr ganz ergebenen ältern Dame,
ber Madame Lepron, bezog in der Wafhingtonftraße eine
elegante Wohnung und etablirte fich dort felbftänpig.
Allmählich wurde die Polizei aufmerkſam auf biefes
unfaubere, betrügerifche Treiben. Die Frau Baronin be
Mortier und ihr Compagnon Lecourtois merkten recht-
zeitig, daß man ihren auf der Spur war, und zogen es
vor, aus Paris zu verjchwinden und fich durch bie Flucht
ber ihnen drohenden Verhaftung zu entziehen. Bräulein
Leal und Madame Lepron dagegen wurden gefänglich ein-
gezogen und in Mazas eingefperrt. Madame Lepron ge-
gerieth bierüber in fo maßloſe Aufregung, daß fie einen
Selbftmorpverfuch machte. Sie verfchludte Glasſcherben
und verfuchte es, fich die Pulsader an ber linken Hand
zu öffnen, aber der vechtzeitigen Hülfe des Arztes gelang
es, fie wieberherzuftellen. Nach gejchloffener Vorunter-
juchung erhob der Staatsanwalt Anklage wegen Betrugs.
Am 24. März 1887 fand in Baris die Schlußverhand⸗
fung ftatt. Sie verlief wie bie Vorftellung einer Poſſe
auf dem Theater. Nicht blos die Zuhörer, bie in großer
Menge erfchienen waren, auch die Mitglieder des Gerichts-
hofs, der Staatsanwalt und bie Vertheibiger jtimmten
in die allgemeine SHeiterfeit ein.
Angeflagt waren Madame Demortier und ihr
Liebhaber Lecourtois, gegen welche in contumaciam
190 Merkwürdige Eriminalproceffe aus Frankreich.
verfahren wurde, weil fie ſich teoß ber öffentlichen La-
bung bem Gericht nicht geftellt Hatten; Fräulein Leal
und ihre möütterliche Freundin Madame Lepron.
Der Gerichtsrath Vanier präfipirte, der Staats⸗
anmwaltsfubftitut Jambois vertrat die Anklage, bie Ad⸗
bocaten de Magnin und Houarb hatten die Berthei-
bigung übernommen.
Zuerft wendet fich der Präfident an Fräulein Leal,
bie einen fehr angenehmen Einprud macht. Sie anf
wortet in franzöfiicher Sprache mit einem leichten eng
liſchen Accent, der ven Reiz ihrer wohlklingenden Stimme
noch erhöht. Sie fieht jo hübſch und fo fittiam aus, nur
ſchade, daß jedermann weiß, wie trügerifch hier der Schein,
wie raffinirt, Fofett und verborben dieſes fchöne Mäb-
chen ift.
Präfident. Sie find in London geboren. Wann
find Sie nad Frankreich gekommen ?
Angellagte. Vor drei Jahren.
Präfivdent. Was haben Sie in Ihrer Heimat ge:
trieben ?
Angeflagte. Ich lebte bei meinen Aeltern.
Präfident. Was veranlaßte Sie, nah Frankreich
zu fommen ?
Die Angellagte fchlägt die Augen nieder und feufzt.
Präfident. Antworten Sie ohne Scheu. Es wird
wol fein Amtsgeheimmiß fein. (DHeiterfeit.)
Angellagte (erröthend). Ich wollte mich von einem
reichen Manne aushalten laffen. Leider ift er fpäter
wieber fortgezogen.
Präfident. Wie haben Sie Madame Demortier in
Paris fennen lernen ?
Angeflagte. Ich bin infolge eines Zeitungsinferats,
welches mich anlodte, zu ihr gegangen. In jenem In
\
Mertwärdige Eriminalproceffe aus Frankreich. 191
jerat Inchte fie eine fchöne junge wenn auch vermögenslofe
Dame zur Ehe für einen fehr reichen ältern Herrn. Ich
verftänbigte mich mit ihr und wurbe ihre Clientin.
Bräfident. Sie wurben bald barauf auch ihre Mit-
ſchuldige, denn Sie haben im Complot mit ihr Männer
betrogen, die eine junge Dame mit einem großen DVer-
mögen heiratben wollten. Sie find ihnen al& eine folche
gute Partie vorgeftellt worben, haben die Braut gefpielt
und fie um ihr Gelb geprellt. Sie werben kaum be-
haupten wollen, taß Sie in gutem Glauben gehandelt haben.
Angellagte. Herr Präfident, pie meiften ber Herren,
bie fih an die Baronin de Mortier wendeten, beabfich
figten feine ernjthafte Verbindung zu fchließen. Es waren
oft genug Bamilienväter, ältere Herren, die eine hübjche
Maitreffe fuchten. Ich wurde ihnen vorgeftellt und ge-
fiel. Ich wurbe eingeladen, man bot mir Logen in ber
Oper und feine Soupers in eleganten Reſtaurants an.
Ich wollte mich unterhalten und habe angenommen. Das
ift doch ganz natürlich und erlaubt. Sch habe auf biefe
Weile die Bekanntſchaft vieler Lebemänner gemacht, und
wenn ich ihre Namen angeben wollte...
Präfident. Das gehört nicht hierher. Deshalb find
Sie nicht angeflagt.
Angellagte.. Man bat doch das Recht, fich umter-
haften zu laffen. Ich fuchte keinen Ehemann, fonvern
einen Liebhaber. Das ift parifer Leben. (Gelächter.)
Der Advocat de Magnin erhebt ſich und bemerkt:
„Fräulein Leal ift keineswegs die einzige junge Dame
geweien, deren Belanntichaft man durch Vermittelung ber
Fran Demortier bat machen können. Sie hatte eine
ganze Auswahl von Bräuten auf dem Lager, von allen
Schattirungen: blonde, braune und ſchwarze.“
Als Zeugen traten faft ausjchließlih Männer auf, bie
192 Mertwürdige Eriminalproceffe aus Frankreich.
ein Mäpchen mit reicher Mitgift heirathen wollten und,
durch bie Vorjpiegelungen des Heirathsbureau getäufcht,
nicht blos um ihre Hoffnungen, fonbern auch um bie mit-
unter fehr bebeutenden Auslagen und Commiffionsgebühren
betrogen worden waren.
Der Handlungsbefliffene Lefenre aus Limoges
gibt an:
„Ich las ein Inferat in einer Zeitung bes Inhalts,
daß man für eine junge Dame, bie fich einen Heinen Fehl⸗
tritt zu Schulden habe fommen laſſen, aber 1,200000 B18.
Mitgift erhalte, einen jungen Mann ohne Vermögen,
aus einem guten Haufe, als Gatten fuchte. Eine Gebühr
werde im voraus nicht verlangt. Ich fchrieb Darauf an
bie in dem Inſerat angegebene Adreſſe der Frau Baronin
de Mortier. Bald darauf antwortete fie mir: das Frän-
fein werbe fich zu der Heirath nur entfchließen, wenn ber
betreffende Candidat ihr perjönlich einen guten Einbrud
machte. Ste lud mich deshalb ein, mich ihr vorzuftellen.
Sch reifte nach Paris. Die Baronin präfentirte mic
zunächit einer Dame von ftattlichem Ausſehen im Alter
von 50 bis 60 Jahren, ver Mutter des Fräuleins. Cie
jollte eine reiche Engländerin, Mrs. Herlufon, fein. Am
folgenden Tage lernte ich die junge Dame felbft fernen.
Es war das bier anweſende Fräulein Leal. Die Yaronin
gab mir den Rath, ihr doch eine Aufmerkſamkeit zu er-
weiſen, ihr ein Geſchenk zu machen und bei ber nächften
Zufammenfunft, die verabredet wurde, zu überreichen.
Ich Taufte für den Preis von 300 Fre. einen Schmud-
gegenftand. Die Baronin lachte mich aus und fagte mir,
welchen Eindruck ich mit dieſem werthlofen Dinge auf
eine junge Dame machen wollte, die zwar einen Fehltritt
begangen, aber doch über eine Million Franc baares
‚ Bermögen befige. Ich ging nochmals zu dem Juwelier
Merkwürdige Eriminalproceffe aus Frankreich. 193
und nahm num für noch 4000 Irs. Schmud. Jetzt war
das Geſchenk anftändig genug nach ver Anficht der Frau
Baronin, und das Fräulein dankte mir dafür mit einem
holden Lächeln. Ich kam öfter mit der jungen Dame
zujammen, warb um ihre Hand, erhielt von ihr das Ja⸗
wort umd die Hochzeit wurbe auf ven 15. Sanuar 1886
anberaumt. Bald darauf erklärten Mrs. Herlufon
und ihre Tochter, fie müßten nach London zurückkehren.
Auf Veranlafjung der Baronin bat ih um die Erlaub-
niß, fie begleiten zu. bürfen, um dort die Bekanntſchaft
ihrer Familie zu machen. Die Frau Baronin reifte auf
meine Koſteni und wie fie vorgab in meinem Sntereffe
ebenfall® mit. Wir blieben acht Tage in London und
wohnten in einem ber vornehmften Hoteld. Ich mußte
täglich für die Damen Logen in den tbeuerften Theatern
beforgen, Blumen, Handſchuhe u. |. w. für fie kaufen und
durfte überall für fie bezahlen. Dann reiften wir wieder
zurüd nach Paris, denn meine Braut wollte nun meine
Verwandten jehen. Als der einzige männliche Begleiter
öfte ich die Reiſebillets und Ieiftete ihmen alle möglichen
Dienfte. Ich glaubte noch immer, daß meine Braut eine
reihe Erbin wäre, und lub meine in Limoges lebende
Mutter und meine Tante ein, mich zu befuchen und Zetı-
gen meines Glücks zu fein. Site kamen nad) Paris, ent-
vediten aber ſehr bald, welch fchändliches Spiel man mit
mir getrieben hatte.
„Meine Tante wollte Fräulein Herlufon über einen ges
viffen delicaten Punkt befragen — Sie miffen ja ben
dehltritt. Die junge Dame aber fchlug der würdigen
dran gegenüber, bie fie zum erften mal fah, einen Ton an,
eimen Ton! Sie buzte fie fogar und jagte: «Oho, du
wirft mich gleich in Ruhe laffen. Ich babe nur meinem
Bräutigam Nechenfchaft zu geben.»
XXI. 13
194 Merkwürdige Eriminalprocefje aus Frankreich.
‚3% bin jofort mit meiner Mutter und meiner Tante
nad Limoges zurücgefahren. Ich war gemacht.“ (Ge-
lächter.)
Fräulein Leal. Aber gehen Sie doch! Sie werben
wol nicht ernftlich behaupten, daß Sie an eine Heiratb
geglaubt haben. Sie haben fich gegen mich gar nicht be=
ſcheiden betragen, ſondern fich Freiheiten herausgenommen,
bie man fich einer wirklichen Braut gegenüber nicht zu
erlauben pflegt.
Der Zeuge (erregt). D nein, Fräulein! Ich war
viel zu rejpectvoll gegen Sie und bebaure jekt lebhaft,
baß ich fo zart und zurückhaltend geweſen bin. Ich hätte
dann boch wenigſtens etwas für das viele Gelb gehabt!
(Heiterfeit.)
Ein Beamter aus Lyon, Herr Francis Boiffeau,
ebenfall8 ein Zeuge, las in ver Zeitung, daß eine Spa-
nierin mit 300000 Frs. Mitgift einen Lebensgefährten
durch die Frau Baronin de Mortier ſuche. Er erkundigte
fih, erlegte 150 Irs. Commiffionsgebühr und wurde von
ber Baronin veranlagt, einen Parquetfig in der Oper zu
nehmen und eine Xoge zu bezahlen, in welche fie die
Dame einladen wollte Im Theater wurde ibn Das
Fräulein gezeigt. Sie war in Begleitung einer alten ge-
brechlichen Dame, die für ihre Mutter und die Witwe
eines ſpaniſchen Generals ausgegeben wurde.
Präſident. Wie es fcheint, waren an dieſem Abend
vier Heirathscandidaten, ohne daß einer von bem andern
wußte, in das Theater gejchidt worben, um ihre „Zu:
fünftige” in Augenfchein zu nehmen. Ein jeder von ihnen
mußte die Loge bezahlen.
Herr Chapot, früher Möbelfabrikant in Paris, jetzt
Rentier, ein ehrwürbig ausfehender Herr mit weißen
Haaren, hatte eine Annonce gelejen, des Inhalts, daß
Mertwürdige Criminalproceffe aus Frankreich. 195
eine junge Dame mit 800000 Frs. Mitgift, aber von
etwas ſchwächlicher Geſundheit, die Bekanntſchaft eines
achtbaren, im heirathsfähigen Alter ftehenden Mannes
zu machen fuchte. Sein Sohn hatte eben das Freiwilligen-
jahr vollendet und er war der Anficht, daß ein folcher
Ehebund die befte Verforgung für ihn wäre. Er ent-
richtete an die Baronin de Mortier eine Gebühr von
400 Frs., und fie ftellte ihm eine junge Dame als Fräu⸗
lein Marie Durand vor, mit dem Bemerfen, fie fei die ein-
zige Tochter eines ehemaligen Bauunternehmers, der zwei
Häuſer in der Straße Saint-Honore befite. Er zog vor»
fichtigerweije Erfundigungen ein und überzeugte fich, daß
alles Schwindel war. Die 400 Frs. hat er nicht wieber-
bekommen.
Herr Tizerand, Grundbeſitzer in Ain, hat der Ba—
ronin 1600 Frs. bezahlt, um mit einer reichen Erbin be⸗
kannt zu werden. Er wurde in den Hippodrom beſtellt
und dort ſeiner zukünftigen Schwiegermutter, einer ältern,
verſchleierten Dame, präſentirt. Sie drehte ihm verächt-
fich den Rüden und fagte zu ihm: „Sie jehen ja aus wie
ein Bauer.” Das war bie einzige Auskunft, die er erhielt.
Herr Teſſier, ein Mann von 43 Jahren, Kanzlei-
vorftand eines Rechtsanwalts in Brives-la-Gaillarbe, ift
infolge eines ber uns nun bekannten Inferate nach Paris
gefahren, hat 50 Frs. erlegt, ijt aber nicht als ein paffen-
ver Heirathscandibat angenommen worden unb wieber
heimgereift.
Herr Labſolu, Juwelier in Parts, läßt fich in pathe-
tiſchem Zone fo vernehmen: „Ich bin 30 Jahre alt und
Junggeſelle. Ich war mit der Baronin be Mortier ge-
fchäftlich dadurch befannt geworben, daß fie einige Schmuck⸗
jachen von mir faufte. Sie plauberte mit mir, erfundigte
fih nach meinen Verhältniffen und gab mir den Rath,
13*
196 Mertwärdige Eriminalproceife aus Franfreid.
ih jollte mich verheirathen. Sie fagte zu mir: «Ich
weiß, was Sie brauchen, ich werbe für Sie forgen. Ich
fenne eine junge Dame, die für Sie wie gefchaffen ift.»
Zunächſt mußte ih 150 Frs. Commißfionsgebühr zahlen
und eine Loge in der Dper nehmen, im welche fie bie
Dame, die Tochter eines fpanifchen Generals, die Erbin
eines Vermögens von 300000 Frs., einladen wollte. Ich
gefiel aber dem Fräulein nicht, wie fie mir mittheilte.
Einige Zeit fpäter erzählte fie mir, in Granville kenne
fie ein reizendes junges Mädchen, ein Bild der Unſchuld,
die dort bei ihrer vermwitweten Mutter lebe. Das fei
eine Partie für mid. Sie erhielt von mir 400 Irs.
um nach Granville zu reifen und Mutter und Xochter
zu meinen Gunften zu ftimmen. Nach ihrer Rüdfehr
ließ fie fich eines Abends von mir in die Komifche Oper
führen und zeigte mir dafelbft das Fräulein, welches fie
von Granville nach Baris mitgebracht haben wollte Die
junge Dame war ohne alle Begleitung in der Loge, Das
machte mich ſtutzig. Die Sache fam mir nicht richtig
vor und ich trat deshalb zurüd.
„Die Baronin wollte mich aber durchaus verheiratben.
Sie fam nochmal® zu mir und fchlug mir bie einzige
Tochter eines reichen Seifenfabrifanten aus Marſeille
vor. Sie empfing von mir diesmal 800 Frs. für bie
Reife nah Marfeille und für die Einleitung der nöthigen
Verhandlungen. Nach einer Woche Iud fie mich ein in
eine Soiree in der Straße Ziquetonne. Dort ſah ich die
junge Dame und ihren Vater. Die Baronin machte mir
dabei bemerflich, das Fräulein jet lungenkrank, ich müßte
mich beeilen, das Geſchäft ins Meine zu bringen. Sch
fam endlich zu der Einficht, daß fie mich zum Narren
hielt, und ftellte die weitern Subventionen an die Ba-
ronin ein.”
Meriwürbige Eriminalproceffe aus Frankreich. 197
Herr Marle, ein penftonirter Subalternoffizier von
64 Jahren, war in der Vorunterfuchung vernommen
worben. Er hatte ſich von der Baronin de Mortier vor⸗
fügen laſſen, daß fie die Hand einer Witwe mit einem
Bermögen von 3,000000 Frs. zu vergeben habe, und fich
nah Entrichtung einer Commiffionsgebühr wirklich um
biefe Dame beworben. Er war inzwifchen verftorben und
mußte beshalb von der Zeugenlifte geftrichen werben.
Herr Saunier, Waarenmäfler, 40 Iahre alt, aus
Baris, bezahlte eine Opernloge und 400 Frs. an die Frau
Baronin de Mortier, um einer Erbin von 800000 Frs.
vorgejtellt zu werden. Er gefiel nicht und mußte ab-
ziehen. Man ftellte ihm eine noch vortheilhaftere Partie
in Ausficht, allein e8 kam nicht zu einer nähern Be⸗
fannifchaft, weil feine Manieren nicht fein genug waren.
Herr Alfred Decq, ehemaliger Börfianer und ſpäter
Rentier, fing fich in ven Mafchen des in der Wafhington-
ftraße von Fräulein Leal unter dem Schuße der rau
Lepron aufgeftellten Netzes. Er wurde befannt mit ven
beiven ebengenannten Damen und mit Madame Valles.
Er hielt alle brei für wohlhabend, lud fie ein nach Trou⸗
vilfe zu reifen, verweilte dort mit ihnen mehrere Tage
und trug die Koften des Aufenthalts.
Fräulein Leal (verächtlich). Herr Decq wurde nicht
von uns, wir wurden von ihm betrogen. Wir alle drei,
ih, Madame Valles und Madame Lepron, find ber Reihe
nad feine Maitreffen geweſen.
Bei den Acten liegen allerdings verſchiedene Liebes⸗
driefe von ihm, die in einem fehr blühenden Stile ge-
ihrieben find. So rebet er z. B. die alte Madame Lepron
barin an: „Sie reizender Heiner Teufel voll himmliſcher,
überrafchender und entzüdenver Einfälle.”
Luftig ift die Ausfage des Herrn Defire Dauchot.
198 Mertwürdige Eriminalproceife aus Frankreich.
Er ift ein fchöner, großer, blonder Mann mit einem ftatt-
lichen Barte, an ver Börfe wohl befannt: „Nach Ent-
rihtung des üblichen Honorare hatte mir die Baronin
Fräulein Leal als die Nichte eines englifchen Lords mit
400000 318. Bermögen und der Ausficht auf große Erb-
ſchaften vorgeftellt, dabei indeß erwähnt, es fei ein Heiner
Fehltritt vorgefallen. Ich fette mich darüber hinweg, kam
öfter mit dem Fräulein in der Dper und bei Soupers
zujammen, verlobte mich mit ihr und wir reiften nad
London, um bort bie Ehe zu fchließen. In einem Standes—
amte wurden wir von einem Regiſtrar getrant. Am
folgenden Tage verlangte ich die Mitgift, wurde aber
ausgelacht. Man wies mir die Thür und ich kehrte ge-
prellt und betrogen nach Frankreich zurüd.”
Präfident. Um welche Zeit fand die Trauung ftatt?
Zeuge. Um 11 Uhr vormittags.
Fräulein Leal. Das tft falih, es war 4 Uhr nach⸗
mittag8.
Zeuge. Meiner Treu, das Fanıı richtig fein. Ich
erinnere mich nicht genau.
Fräulein Leal. Wir find orbnungsmäßig ver
heirathet.
Zeuge. D nein, e8 war nur Schwinbel.
Staatsanwalt. ‘Der Zwed der lebten Frage des
Herrn Präfidenten war nur der, den Tag der Trauung
feftzuftellen.. Ich conjtatire, daß die Trauung zu ber:
jelben Zeit mit Herrn Daudot ftattfand, als die Frau
Baronin de Mortier ven Herrn Leferre als Bräutigam
nach London abreiſen ließ, um Fräulein Leal als Ehefrau
heimzuführen. (Seiterfeit.)
Bräfident. Sie haben ein unebeliches Kind des
Fräulein Leal, ein eines Mädchen, deſſen Vater uns
Mertwärbige Eriminalproceffe aus Sranfreid. 199
befannt ift, als ihr Kind nach der Trauung in London
anerkannt.
Zeuge. Ja wohl, Herr Präfivent, ich habe biefes
Opfer gebracht, weil ich die Mutter für fehr reich hielt.
(Lautes, anhaltendes Gelächter, der Zeuge entfernt fich
beſchämt.)
Frau Lecoutourier, die nächſte Zeugin, iſt eine
wirkliche Dame. Sie ſtiftet Heirathen aus Paſſion, nicht
um irgendeinen Nutzen für ſich zu haben. Sie ſuchte bei
der Frau Baronin de Mortier für einen jungen Mann,
für deſſen Fortkommen ſie ſich intereſſirte, eine Erbin, die ja
dort auf Lager vorräthig ſein ſollten. Sie opferte mehrere
hundert Francs, aber eine Erbin befam fie nicht zu ſehen.
Herr Borel, Frifeurgehülfe (!) aus Forcalquier, be
ponirt:
‚3% hatte in der Zeitung gelefen, daß für eine junge
geſchiedene Fran, die eine halde Million Vermögen befige,
ein bübjcher junger Mann gefucht wurde. Da dachte ich
bei mir, du bift der richtige Kerl dazu, fuhr nach Paris
und begab mich zu ber Baronin de Mortier, bie mich
ter Dame vorftellen follte. Ich mußte, ehe weiter mit
mir verhandelt wurde, 40 Frs. herausrüden.”
Fräulein Leal. Schweigen Sie lieber ftill. Sie
haben 30 318. zurüderhalten und find nach Haufe ge-
ſchick worden. Statt mir eine anftändige Einladung
zu einem Souper zugehen zu laffen, wollten Sie mid
in eine Garküche führen, um bafeldft zu fpeifen. (Raute
Heiterkeit.)
Der lette Zeuge, Herr de la Marnitre, ein Edelmann
aus der Touraine, Gutsbefiter und 60 Iahre alt, faßt
fein Abenteuer mit Fräulein Leal von der heitern Seite
auf und ift bereit, felbft mit zu lachen. Er erzählt:
„sch reifte aus Veranlaffung einer Anzeige in der Zei-
200 Merkwürdige Eriminalproceffe aus Frankreich.
tung, in welcher für ein reiches Mädchen ein Mann ge—
jucht wurde, nach Paris, bezahlte eine Loge in der Oper
und nahın für mich einen PBarquetfig, weil mir bie Ba-
ronin fagte, da ich noch nicht vorgeftellt wäre, fünnte ich
nicht gleich in der Loge Plat nehmen. Im Zwiſchenacte
machte ich die Belanntfchaft des Fräuleins und führte
fie und die Baronin zum Buffet und ließ Champagner
reichen. Ein paar junge Stußer, die mit in ber Loge
gejefien hatten, drängten fi an uns und tranfen mein
geladen mit. Darüber erzürnt, fagte ich: «Baronin, was
jo das heißen ? Halten Sie mich für jo grün? Mär
verwehren Sie aus Schicklichkeitsgründen den Eintritt in
bie Loge, und biefe Geden dürfen fich dort breit machen ?
Ich bin vielleicht etwas verbauert, aber ein folcher Tölpel
bin ich nicht, daß ich mir dies gefallen laſſen follte.»
„Sie fuchte mich zu befänftigen, und es gelang ihr
auch. ALS fie mir aber weismachen wollte, die Familie
des Fräuleins fei jehr bigot, der Heirathsantrag müſſe
deshalb durch einen Priefter vermittelt werben, und diejer
hochwürbige Herr verlange für feine Bemühung 400 Frs.,
ſah ich ein, daß ich geprelit werben follte, und gab die
Belanntichaft auf.
„Alles dies trug fich im Jahre 1885 zu. Im Jahre
1886 ſchickte ich ein Heirathsgeſuch in bie Zeitungen. Sch
befam eine Antwort, die mir zufagte, verfügte mich nach
Paris und ging in die Wafhingtonftraße, wo nach ber
mir zugegangenen Adreſſe die betreffende Dame wohnen
follte. Ich wurde angenommen und war ftarr vor Er:
ftaunen, denn ich ftand plößlich meiner Braut vom ver-
gangenen Jahre gegenüber! (Allgemeine anhaltende
Heiterkeit.)
„Ich bebauere nur Eins. ALS ich noch mit der Ba-
ronin de Mortier in Verbindung ftand, fehiekte ich ihr
Merkwürdige Eriminalproceffe aus Franfreid. 201
von meiner Jagbbeute einige Körbe Wild, und Sie werben
wol wifjen, Herr Präſident, wie fehr der Wiloftand in
umferer Gegend abnimmt. Den Hautgoüt von biejer
Liaiſon habe ich aber behalten.“ (Erneuerte Heiterkeit.)
Die bei weiten größte Zahl der Betrogenen war dem
Gericht nicht bekannt geworben. Die meiften hatten es
vorgezogen, zu fehweigen, um über die wenig ehrenvolle
Rolle, die fie im Heirathsbureau ver Frau Baronin und
des Fräulein Leal gefpielt hatten, nichts ausſagen zu
müſſen, viele waren troß der an fie ergangenen Ladungen
nicht erſchienen, weil fie zu dem Schaden nicht auch noch
den Spott haben wollten.
Das Gericht hatte bei Madame Demortier eine aus⸗
gebreitete, recht ergößliche Correfpondenz mit Beſchlag be-
legt. Die Briefe wurben verlefen, einer davon wirb ge-
nügen, um fie alle zu charakterifiren. Ein Edelmann
fchrieb an das ihm als Engländerin und als Erbin von
1,200000 Frs. vorgeftellte Fräulein Leal in einem Briefe,
ven er mit feinem vollen Namen unterzeichnete: „Mein
Fräulein, ich bin ftolz darauf, daß Sie mir Ihr ferneres
Lebensglüd anvertrauen wollen, und banfe Ihnen für
dieſen Beweis Ihrer Achtung. In unferm alten basfi-
Then Stamme hält man, wie in England, treu an feinem
Worte und liebt mit feinem Herzen.‘
Das Plaivoyer war kurz. Der Staatsanwalt bielt
die Anklage aufrecht und führte aus, daß die Angeflagten
den Betrug gewerbsmäßig betrieben hätten. Die Ver⸗
theibiger machten geltend, e8 fehle an dem criminalrecht-
lich fteafbaren Vorſatz, die Betrogenen hätten fich ihren
Schaden ſelbſt zuzujchreiben.
Der Gerichtshof verurtbeilte Mapame Demortier
wegen Betrugs in contumaciam zu drei Sahren,
Lecourtois zu einem Jahre Gefängniß und Fräu—
302 Merkwürdige Eriminalproceffe aus Frankreich.
lein Leal zu vier Monaten Haft. Madame Le—
pron wurde freigejproden.
In dem Gerichtsfaale, in welchem jo oft gräßliche
Tragödien verhandelt werben, hatte fich diesmal eine Ko⸗
mödie abgejpielt, das zahlreiche Publikum Hatte fich köſt⸗
lich amufirt und herzlich gelacht über die Fomifchen Scenen
und Situationen aus dem Leben und Treiben ver Welt-
ftant Paris. Es ift ja auch ein brauchbarer Stoff für
ein Luftfpiel: Eine Hochftaplerin erften Ranges, viefe
Madame Demortier, verwandelt fich fraft eigener Erfin-
bung in eine Baronin de Mortier, miethet eine elegante
Wohnung in einer vornehmen Straße und pofaunt Durch
bie Zeitungen in die Welt hinaus, daß bei ihr reiche
Erbinnen zu haben feten: junge Witwen, friſch ger
ſchiedene Frauen, hübiche Mädchen mit einem ganz Heinen
Vehltritt, aber eine jede im Beſitz von Hunberttaufenven
oder gar von Millionen Francs. Alsbald ftrömen bie
Heirathscandidaten aus allen Richtungen der Windrofe
herbei, um Herz und Hand zu verkaufen und burch eine
Hochzeit ihr Glüd zu machen. Wie der gefräßige Hai
dem Kielwaſſer des Schiffs folgt und gierig nach dem roth
angejtrihenen Anker fchnappt, welcher ihm eine willfom-
mene Beute dünkt, fo ftürzen fich die Glücksjäger auf biefe
Zeitungsannoncen, die ihnen goldene Berge veriprechen.
Wir wundern uns billig über die große Dummheit
der Männer, welche glauben konnten, daß junge, hübſche
Witwen und Mädchen mit einem fo koloſſalen Ver⸗
mögen durch die Zeitungen Ehemänner fuchen, noch mehr
aber erjtaunen wir über die ungeheuere Eitelkeit biejer
Freier. Sie halten fich felbft für fo intereffant, daß fie
Merkwürdige Criminalproceſſe aus Frankreich. 203
an ihrem Siege nicht zweifeln und in ber vollen Ueber⸗
jeugung von ihrer Unwiderſtehlichkeit große Koften auf-
wenden, weil ihnen die Erbin nicht entgehen fan. ‘Der
Srifeurgehülfe Borel aus Forcalquier ift der würbige Re⸗
präfentant der jungen und ber alten Gimpel, welche bie
Frau Baronin eingefangen bat. Er lieft in ber Zeitung,
bag für eine reiche Erbin ein Gatte gefucht wird, fofort
ift es ihm Mar, daß er der rechte Mann ift, er ftellt fich
bor den Spiegel, brennt bie Locken, macht ſich auf bie
Reife und präfentirt fich der jungen Dame. Er denkt
gar nicht daran, daß er zurüdgewiefen werben Tönnte.
Das Heirathsbureau hat ein überaus leichtes Spiel und
arbeitet mit geringen Unkoſten, denn die Eitelkeit der fich
meldenden Liebhaber ift fo groß, daß ein einzigeö ge-
wandtes Mädchen, Fräulein Leal, fie alle täufcht. Es bes
weift dieſer Eriminalproceß von neuem, daß die Specu-
lation auf bie Thorheit und die Eitelkeit der Menſchen
ftet8 goldene Früchte trägt und daß man in einer Groß-
ftabt dem Bublitum, welches fich fo weiſe dünkt, alles
bieten kann und mit dem tollften Schwinvel am beiten
reuſſirt.
Das Treiben dieſes Heirathsbureau iſt aber auch
ein trauriges Zeichen der Zeit, und unſer Proceß iſt des⸗
halb nicht blos eine Komödie, ſondern enthält eine ſehr
ernſthafte Lehre. Es wird dadurch bewieſen, daß in vielen
Kreiſen die Ehe als ein Geldgeſchäft angeſehen und ihres
tiefen, ethiſchen Charakters entlleidet wird. Alle dieſe
Heirathscandidaten haben nur das Geld und nicht das
Mädchen heirathen wollen. Kein Menſch wird ſie des⸗
halb bedauern, weil ſie betrogen worden ſind. Sie ver⸗
dienen kein Mitleid, der Verluſt, den ſie erlitten haben,
üt für ihre gemeine Habſucht ſogar eine noch viel zu ge⸗
linde Strafe,
304 Merkwürdige Eriminalproceffe aus Frankreich.
3. Ein granenhafter Muttermord in der Sologue.
1886. 1887.
In dem hocheultivirten Frankreich gibt e8 noch einzelne
ziemlich große Gebietötheile, in denen das Volk die alte
Einfachheit, die alten Sitten, aber auch ven alten Aber-
glauben mit großer Zähigkeit feſthält. Dieſe Kanpftreden
liegen weitab von den Verkehrsftraßen, tief in ben Bergen
und Wäldern der Bretagne, ver VBenbee und des Orleannais.
Dafelbft wird heute noch wie zu der Väter Zeiten ber
Hirſch gehett, und das melancholifche, fchauerliche Geheul
ber Wölfe fchlägt in der Stille mancher Winternacht an
das Ohr der Yäger, die borthin gezogen find, um mit
eigener Gefahr die Thiere des Waldes aufzufpüren und
ven Kampf mit ihnen aufzunehmen.
Die Sologne ift ein Theil jener frühern Welt, pie
ven Kobolden und Gefpenftern, von Niren unb Deren
bevöffert ift. Jedes Dorf hat feinen Herenmeifter. Er
verfteht die Kunst, durch feine Beichwörungen das Blut
zu bannen, Knochenbrüche zu heilen, durch feine Zauber-
ſprüche die Biſſe giftiger Schlangen unſchädlich zu machen
und Krankheiten zu vertreiben. Seiner Autorität beugen
fih die Heren und feine ſympathiſchen Mittel helfen ben
Menſchen und ven Thieren. Vor zwei bis brei Jahren
lebte dort ein alter Schelm und Betrüger, der gewerbs⸗
mäßig jungen Mäpchen und Frauen den Teufel austrieb,
Er hatte eine ausgebreitete, einträgliche Kundſchaft. Die
Väter und die Ehemänner ſelbſt führten ihm ihre Töchter
und ihre Weiber zu und ftanven zitternd und voll Be—
wunberung und Ehrfurcht dabei, wenn er ungenirt öffent-
fich feinen Hokuspokus machte und feine Patienten ſcham⸗
[08 mishanbelte. Er wurde fchließlich von den Gerichten
Mertwürdige Eriminalproceffe aus Frankreich. 205
zur Nechenfchaft gezogen, vor ein Schwurgericht gejtellt
und zu barter Strafe verurtheilt.
Bor furzem berichteten die Zeitungen, eine bejahrte,
fteinreiche Bäuerin in der Sologne fei in taufend Stücke
zerriffen worben, weil fie in verjchwiegener Mitternachts-
ftunde Dynamit in einer Kafferole auf dem Feuer ge-
rührt hatte, um vergrabene Schätze aufzufinden. Cine
ber wandernden Wahrjagerinnen, welche dort herumftreifen,
batte ihr das Dynamit zu einem fabelhaften Preife ver-
fauft und ihr vorgefpiegelt, das fei bie Springmwurzel,
vermöge deren man bie Schäße tief in der Erde ent-
beden und heben könne.
Im vorigen Jahre wurde in biejem abgelegenen Theile
ber franzöfiichen Republik ein grauenhaftes Verbrechen
verübt. Wir haben geſchwankt, ob wir den Criminul-
proceß, ber deshalb eingeleitet wurde, in unfer Sammel-
wert aufnehmen follten, und uns zulegt nur aus dem
Grunde dazu entichloffen, weil baburch beiwiefen wird,
daß die untern Schichten der dortigen Bevölkerung gänz-
fi verfunfen find in thörichten Aberglauben und Stumpf-
finn. Eine ſolche Roheit und cyniſche Beſtialität follte
man in einem chriftlichen Lande faum für möglich halten.
Tas ganze Bild ift jo gräßlich, daß wir allen, die nicht
ftarfe Nerven befiten, ven Rath geben, bie nachfolgenden
Blätter zu überfchlagen.
In dem Weiler Luneau, nahe bei dem großen ‘Dorfe
Eelles-Saint- Denis, im Bezirk von Romorantin, im
Departement Loir und Eher, im ehemaligen Orleannais,
lebte eine arme verwitwete Bäuerin Marie Lebon, ge
borene Chataignault. Ihr Mann war geftorben, als fic
ſchon in vorgerüdten Jahren ftand. Sie hatte in ihrer
Ehe drei Kinder geboren: eine Tochter Georgette, die an
ven Meinhäusler Thomas in Luneau verheirathet war,
206 Merkwürdige Eriminalproceife aus Frankreich.
und zwei Söhne Aleris und Alerander, die im Dorfe
Menetous als Knechte dienten. Den Kindern wollte die
alte Frau nicht zur Laft fallen, fie verbingte fich deshalb
als Magd bei einem Weinbauer in Gievres. Eine Zeit
fang ging es, aber allmählich nahmen ihre Kräfte ab, fie
mußte, bereit8 72 Jahre alt, ven Dienft aufgeben und
zog am 1. Iuli 1886 zu ihrer Tochter. Sie hatte fid
eine Heine Summe Gelb erjpart, die Ausfagen jchwanfen
zwiichen 3—400 und 7—800 18. Die Tochter und
veren Mann nahmen die Witwe Lebon auf, weil fie
kränklich und gebrechlich war und ſich vorausfehen ließ,
daß fie bald eines natürlichen Todes fterben würde, und
dann mußte ihre Baarichaft ihnen zufallen. Aber auch
die Söhne Alexis und Alerander wollten erben unb
gönnten ihrer Schwefter nicht, daß fie allein den Nuten
zöge. Sie beſchuldigten den Kleinhäusler Thomas und
feine Frau, daß fie der Mutter und folglich auch ihnen
den größten Theil des baaren Geldes bei Lebzeiten ent:
wenbet hätten.
Alle drei Kinder und der Schwiegerjohn hofften auf
das Ende der alten Frau. Sie wurde ſchwächer und
ſchwächer, fie verfiel in Blödſinn, aber fie lebte weiter.
Man dachte daran, fie in das Irrenhaus nach Blois zu
Schaffen, und die Direction erklärte fich auch bereit zur
unentgeltlichen Aufnahme Aber e8 mußten ärztliche
Zeugniſſe bejchafft und noch verſchiedene Förmlichkeiten
erledigt werden, ehe bie Einlieferung ftattfinden konnte,
und die Erfparniffe waren fchon beinahe aufgezehrt. Die
_ Söhne und das Ehepaar Thomas wurden von Tag zu
Tag unmilliger und ungebulbiger, denn fie fahen ee
fommen, daß fie aus eigenen Mitteln die Mutter erhalten
müßten. Ueberdies war die Alte gewiß eine Here. ‘Das
beiwiefen ja jchon ihre trüben Augen mit ven rotben
Merkwürdige Eriminalproceffe aus Frankreich. 207
Rändern, ihr tiefgefurchtes, eingefallenes Geſicht, die irren
Reben, die fie führte. Auch im Dorfe wußte man es,
baß fie vom Teufel beſeſſen ſei. Mit ihrem Einzuge war
auch das Unglüd in das Haus gefommen und alles ver-
lehrt gegangen. Ja jchon früher hatte mar davon ge-
ſprochen, daß fie bie eigenen Kinder verhert hatte, warum
wäre es jonft ihrer Tochter Georgette jo ſchwer geworben,
einen Mann zu befommen? Und nun ftarb fie auch nicht,
obgleich fie jo entjetlich elend war; das konnte Doch auch
nicht mit rechten Dingen zugehen. Ihre Kinder be-
ſchloſſen, die Mutter, die eine Here war, umzubringen.
Am 29. Juli 1886 ging der Kleinhäusler Thomas
nah Menetous und lud feine Schwäger ein, nach Luneau
zu fommen und bort zu berathen, wie man die Alte am
fiderften los werben könne.
As fie im Haufe ihrer Schwefter eintrafen, fanden
fie die Mutter in ver Scheune eingefperrt; ihre Haare
waren verjengt, Georgette erzählte, fie babe fich über die
Alte geärgert und ihr nach einem kurzen Wortwechfel einen
Stoß verjegt, fie jei in das offene Feuer gefallen und
babe fich einige Brandwunden zugezogen. ‘Das fchade
ihr weiter nicht. Man müffe aber doch zu einem Ende
mit der alten Here kommen. Die Mutter wurde aus der
Scheune in die Stube geholt und zu Bett gebracht, dann
ließ man ben Pfarrer rufen, der ihr die Beichte abnahm
und die Abjolution ertheilte. Als er das Haus wieder
verlaffen hatte, fetten fich die jungen Leute zu Tiſche und
aßen, bie Kinver des Kleinhäuslers Thomas fpielten in
ver Stube und in ihrer Gegenwart wurde num von ben
Eheleuten Thomas und Aleris und Alerander Lebon ge-
fteitten über die noch vorhandene Baarfchaft der Mutter,
von welcher nach der Meinung der beiven Söhne bereits
ber größte Theil verfchwunden war. Sie bejchulbigten
208 Mertwürdige Eriminalproceffe aus Frankreich.
ihre Schwefter und ihren Schwager, daß fie fih auf ihre
Koften bereichert, und dieſe machten ihnen wieder Bor»
würfe, weil fie zu ven Unterhaltungstoften nicht beige:
jteuert hätten. Zulegt einigten fich alle vier, daß man
nicht länger auf die ärztlichen Zeugniffe, die zur Aufnahme
in bie Irrenanftalt von Blois nöthig waren, warten,
jondern die Alte noch in derſelben Stunde umbringen
wollte. Wan wollte fie los fein, weil fie eine Laſt ge-
worben war und Unkoſten verurfachte, und man befchtwich-
tigte das Gewiffen damit, daß fie ald eine Here ben Tod
verdiene. Die unglüdliche Frau wurde aus ihrem Bett
geriffen, troß ihrer Bitten und ihres Fläglichen Gefchreies
von den entmenjchten Kindern im Beifein ihrer Enkel in
das Teuer geworfen und lebenbig verbrannt.
Bald darauf fanden fich Alexis und Alerander Leben
im Pfarrhaufe ein und verlangten, den Pfarrer zu fprechen.
Sie meldeten mit furzen Worten, daß ihre Mutter ge
ftorben fei und daß fie beichten wollten. ‘Der Pfarrer
Abbé Renault erwiderte: „Ich kann jegt nicht, ich habe
feine Zeit.”
„Bir wollen beichten‘‘, wiederholten die beiden Brüder.
„Aber ich kann jetzt wirklich nicht“, entgegnete ber
Pfarrer, „ih muß zu Nacht efien, ich babe mir Kalbs⸗
nieren braten laffen, dieſe pürfen nicht kalt werden. Wenn
Ihnen wirklich fo viel daran gelegen ift, heute noch zu
beichten, jo fommen Sie jpäter wieder.“
„Dann weihen Sie und wenigſtens dieſes Band im
Namen der allerheiligften Jungfrau“, verfeßten die Brüder.
Unwillig und brummend erfüllte ver Pfarrer diefe Bitte.
Sie theilten das geweihte weiße Seidenband, ein jeder
ſchlang feine Hälfte um den Hals, dann entfernten fie fi.
Der Abbe hatte fein Abendbrot faum verzehrt und
fh noch nicht vom Tiſche erhoben, da pochte e8 aber:
Merkwürdige Eriminalproceffe aus Frankreich. 209
mals an feine Thür. Die Brüder Lebon traten wieder
ein mit den Worten: „Wir wollen beichten.” ‘Diesmal
fam ber Pfarrer ihrem Begehren nad. Er führte fie
in die Kirche und einer nach dem andern ging in ben
Beichtſtuhl und befannte dem entjegten Abbe das furcht-
bare Verbrechen, welches fie foeben begangen hatten. Ihre
Beihte war noch nicht beendigt, da Fam auch ihre
Schweiter Georgette Thomas, um ebenfall$ zu beichten.
Auch fie geftand dem Priefter die ungeheuere That ein
und ließ fich von ihm abjolviren. Alle drei kehrten in
dad Haus zurüd. Dort faß Thomas in ber Nähe des
Feners, in welchem der Leichnam feiner Schwiegermutter
langſam verfohlte. Nach einigen Stunden mitten in ber
Nacht machten Aleris und Alerander Lebon dem im Dorfe
Selles-Saint- Denis ftationirten Gensdarmeriepoſten vie
Anzeige, ihre Mutter fei verunglüdt. Sie gaben an, bie
Alte fei ſchwach im Kopfe geweien, fie habe ſich da und
dort im Haufe zu thun gemacht und niemand babe weiter
auf ihr Treiben geachtet. Während fie beide, ihre Schwefter
und ihr Schwager, am Tiſche gefejfen und das Abenbbrot
verzehrt Hätten, jet ihre Mutter in das offene Herdfeuer
gefallen und verbrannt. Die Gensdarmen begaben fich
ohne Verzug nach Luneau, um an Ort und Stelle ben
Ihatbeftand aufzunehmen. Es bot fi ihnen ein gräß-
licher Anblid dar. Die Leiche lag auf dem Herbe, auf
welchen natürlich Fein Beuer mehr brannte Der Kopf
und die Füße waren unverfehrt, vor dem Munde blutiger
Schaum, der Leib war ftark verbrannt, theilweife ver-
fohlt, die Schenkel von der Hite frumm gezogen unb wie
Schrauben gedreht, die Arme in unnatürlicher Verrenkung
um ben Kopf gejchlungen, wie der Epheu um einen Baum-
ftamm, die rechte Hand gleihjam zum Schuge vor das
Seficht geſtreckt. Der Tob war jchon feit einiger Zeit
XXL 14
210 Merkwürdige Eriminalproceffe aus Frankreich.
eingetreten. Die Gensparmen erfundigten fich danach,
wie das Unglüd fich zugetragen habe, erhielten aber nur
ungenügente, einander wiberfprechende Antworten. Es
war ja möglich, vaß die alte ſchwache Frau am Herde
bingefallen war und fich verbrannt hatte, aber dann hätten
ihre Kinder, die mit ihr in der Stube waren, ed doch
bemerfen und fie fo fchnell als möglich herausholen müffen.
Man Hatte fie aber ftundenlang im Teuer liegen laffen.
Wie war dies zu erklären? Als die Gensdarmen dem
Schwiegerſohn Thomas deshalb Vorbalt thaten, fagte er:
„Ja freilich, fie brannte fchon feit einigen Stunden, ſchon
fett 6 Uhr abends. Meine beiden Schwäger famen vom
Felde herein, da brannte fie ſchon. Sie wollten ihre
Mutter nicht herausziehen, da habe ich auch nichts ger
than. Wir haben alle zugejehen, wie fie verbrannte.“
Am andern Morgen waren Georgette Thomad und
ihre Brüder wie gewöhnlich in der Frühmefje, fie lagen
auf den Knien und beteten, wie es fchten, mit großer An
dacht und Inbrunft. Aleris Lebon Taufte fih einen
Zrauerflor und befejtigte benfelben an feinen Hut.
Inzwiſchen hatte die Gensdarmerie über ven Vorfall
Bericht erjtattet und fofort ven Befehl erhalten, die vier
des Mordes verbächtigen Berfonen feitzunehmen und in
das Gefängniß abzuliefern. In der nunmehr eingeleiteten
Criminalunterjuchung entjchloffen fich Aleris und Alerander
Lebon, die weniger hart und verftodt waren als ihre
Schweiter und ihr Schwager, allmählich dazu, ein Ge⸗
ſtändniß abzulegen. Sie gaben an, Thomas babe erflärt:
„Wir müfjen’ums die Alte endlih vom Halfe jchaffen.
Es wird nicht länger gewartet.” Er habe alles vorbes
reitet, auch das Feuer angezündet, die alte Frau um ben
Leib gefaßt, in den Ofen gejtedt und mit Fußtritten zu:
fammengeftampft. Dann ergänzten und berichtigten fie
Merkwürdige Eriminalproceffe aus Frankreich. 211
ihre Ausfagen, aus denen bervorgeht: Auf dem Herde
waren Reifig, Baumzweige und größere Holzflöte auf-
geichichtet, eine Art Scheiterhaufen, der jedoch nicht an-
gezündet war. Aleris Lebon padte feine Mutter an ben
Schultern, Alerander Lebon an ven Beinen, beide hoben
Die alte Frau aus bem Bette und warfen fie auf ven
Herb. Sie fchrie, wehrte fih und machte den Verſuch
ſich herauszuarbeiten, aber ihr Schwiegerfohn Thomas
trat fie mit feinen Füßen auf die Bruft und den Bauch,
er ſtopfte fie förmlich hinein in die Deffnung des Herpes,
jobaß nur der Kopf, den fie zurüdbog, und die Füße
berausragten.
Georgette Thomas hatte unterbeffen einige Hände
voll Stroh aus ber Matrage des Bettes herausgerifien,
fie drehte e8 zufammen, ſodaß es eine Art Strohfadel
wurbe, brannte biefelbe an und reichte fie ihrem Manne.
Thomas entflammte damit den Holzftoß und bie Kleider
der unglüdlichen Frau. Sie ftarb den Tod im Feuer.
Der Chemiler Lhote, welcher als Sachverſtändiger
den verfohlten Leichnam und die Nefte der Kleider der
Witwe Lebon zu unterjuchen hatte, ftellte fejt, daß man,
um ben Berbrennungsproceß zu bejchleunigen, das arme
Dpfer zuvor mit Petroleum begoffen batte.
Die Reſte der Haube, welche vie Alte an jenem
Abend getragen hatte, wurben dem Chemifer in einer
Glasvaſe überbracht, wie die Bauern fie auf den Jahr⸗
märkten in der dortigen Gegend zu kaufen pflegen. Diefe
Bafe trug unter Blumengewinden die Infchrift: „Gedenke
mein!” Eine fchanerliche Ironie!
Die Kinder der Eheleute Thomas, die Enfel ber
Witwe Lebon, hatten fich voll Angft und Entfegen in einem
Winkel hinter dem Bett zufammengefauert. Dort hörten
fie das jämmerliche Gefchrei der Großmutter, fie jahen,
14*
212 Mertwürdbige Sriminalprocefie aus Frankreich.
daß fie lebendig in das Feuer geworfen und verbramt
wurde. Das ältefte Enkelkind, die fiebenjährige Eugente,
gab vor dem Unterfuchungsrichter zu vernehmen: „Meine
beiden jüngern Brüder und ich waren zugegen, als bie
Großmutter ftarb. Onkel NAleris und Onkel Alerander
hoben fie aus dem Bett und trugen fie auf den Herb,
Drama bat einen Strohwiſch angezündet und ibn bem
Papa gegeben. Der Papa bat dann das Teuer ange⸗
ſteckt. Es war ein großes Feuer. Großmama fchrie ſehr
ftarf, Da bat man Ihr einen Tritt auf ben Leib gegeben
und Großmama bat nicht mehr gejchrien. Sie bat nur
noch gewimmert. Man bat auch mit der Zange nadh-
gefchoben. Während vie Großmama im Teuer brannte,
fnieten ich und meine Brüder hinter dem Bett in einem
Winkel und beteten die Litanei.“
Georgette Thomas übertraf ihre Mitjchulpigen am
Cynismus und Roheit. Ihr ganzes Auftreten vor dem
Unterfuchungsrichter war empörend, und als man fie an
bie Leiche ihrer Mutter führen wollte, um fie zu recog⸗
nofciren, fagte das entmenfchte Weib kaltblütig und völfig
gefühllos: „Ach was, ich habe Die alte Here lange genug
geſehen!“
Sie befand ſich im achten Monat der Schwanger⸗
ſchaft und gebar im Gefängniß ein Kind. Die unbarm⸗
herzige Mutter weigerte ſich, es zu ernähren, und erklärte:
„Ich will es mir auch einmal gutgehen laſſen. Man
kann ja eine Amme nehmen, wenn man das Kind durch⸗
aus aufziehen will.“ Man mußte dieſen Rath befolgen
und das Kind einer Amme übergeben. Die leibliche
Mutter hätte es verſchmachten laſſen.
Merkwürdige Criminalproceffe aus Franfreid. 213
Am 22. November 1886 wurben die Eheleute Thomas
und die Brüber Lebon vor das Schwurgericht in Blois
geftellt. Den Borfig führte der Rath Chenou von
Drleans, die Anklage vertrat der Oberftaatsanwalt Fach ot
aus Orleans, ald Vertheidiger erſchienen ver Advocat
Georges Laguerre, der deshalb von Paris, wo er
ſeinen Wohnſitz hatte, nach Blois gekommen war, und bie
Advocaten Belleton, Petit und Henry, Mitglieder der
Advocatenkammer in Blois.
Der Schwurgerichtsſaal der Departementshauptſtadt
war überfüllt, noch niemals hatte ſich eine fo große
Menge von Menfchen eingefunden. Es konnte Im Saale
buchftäblich Fein Apfel zur Erde fallen, Kopf an Kopf
ftanden die Zuhörer und noch immer brängten ‘neue
Maſſen herein, denn jedermann wollte die Angejchulpigten
ſehen, bie, ſchlimmer als die Kannibalen, die eigene Mutter
tem Feuertode überliefert hatten.
Bormittags 11 Uhr wurde die Situng eröffnet. Den
Geſchworenen ftellte man auf Befehl des Präfiventen
Sttuationspläne des Zimmers, in welchen das Verbrechen
begangen war, und Skizzen bes verfohlten Leichnams, bie
einen fchaubervollen Anblid darboten, zur Verfügung.
Die Angeflagten baben ihre Pläße eingenommen.
Georgette Thomas ift faum 30 Jahre alt, aber früh
gealtert, das Geficht voll Runzeln, der Rüden gebeugt.
Sie bat grobe Züge, einen maffiven, vorſpringenden Unter⸗
fiefer, der auf ftarfe Willenskraft ſchließen läßt. Sie
trägt bie breitheilige, hohe, weiße NRöhrenhaube, Das
charakteriſtiſche Kleidungsſtück der Bäuerinnen in ver
Sologne. Sie hat den Kopf geneigt, die Hände liegen
gefaltet im Schoße, fie fpielt die unſchuldige Frau, bie
nur durch ein Misverjtänpniß auf die Anflagebant ge-
fommen ift.
214 Merkwürdige Criminalproceffe aus Frankreich.
Die drei Männer erfcheinen in ver blauen Arbeits:
blufe franzöfifcher Landleute. Thomas ift von unter-
jegter Statur, fein Gefiht macht einen unangenehmen
falfhen Einorud, weil er mit den fatenartigen Augen
fortwährend zwinfert.
Aleris Lebon fieht aus wie ein behäbiger Land»
wirth, nach der Mode der Gegend trägt er einen ftarfen
Schnurrbart und furzgeftusten Badenbart. Alerander
Lebon, ein gewöhnlicher Aderfnecht mit einem runden gut:
müthigen Gefiht und rothen Baden, ift der einzige, ber
reichlihe Thränen vergießt und wie es fcheint Neue em-
pfindet über den ruchlofen Mord.
Der Präfivent verhört zuerft Georgette Thomas.
Präfident. Sie haben ven Kleinhäusler Thomas
geheirathet und in Ihre Wirtbichaft eine Mitgift von 1800
Frs. mitgebracht?
Angeklagte. Herr Präfident, das Geld war nicht
eine Mitgift. Meine Aeltern haben mir nichtS gegeben.
Was ich beſaß, hatte ich mir felbft erworben.
Präſident. Sie haben fchon vor Ihrer Verheirathung
ein Kind von ihrem jetigen Manne gehabt?
Angellagte. Das habe ich niemals in Abrebe ge-
jtelit.
Bräfident. Sie haben fich mit Ihrer Mutter ſchon
jeit langer Zeit nicht vertragen, fondern fie immer fchlecht
behandelt. Bor Zeugen haben Sie diefelbe geſchimpft
„altes Kamel” und „alte Schlange”. Bor fieben over
acht Jahren Haben Sie Ihre Mutter boshafterweife zu
Boden geworfen, ſodaß fie unter eine trächtige Kuh fiel,
welche fie fürchterlich zugerichtet hat.
Angellagte. Nein, das ift nicht wahr. Sie wollte
mir mit ber Schaufel einen Schlag über den Kopf geben.
Dabei ift fie ausgeglitten und bie Kuh hat fie getreten.
Merkwürdige Eriminalproceffe aus Srantreid. 215
Präfident. Ihr Vater ftarb und Ihre Mutter zog
zu Ihnen in das Haus; aber die arme alte Tran fühlte
fih jo unglüdlih und wurde fo malträtirt, daß fie noch
in ihrem hoben Alter als Magd in fremde Dienjte ging,
um nicht mehr mit Ihnen zufammenleben zu müfjen. Als
ihre Kräfte ſchwanden und fie auch leichte Arbeit nicht
mehr verrichten konnte, kündigte ihr der Dienſtherr für
den 1. Juli dieſes Jahres. Sie war in großer Unrube
und Angft, weil fie fih vor Ihnen fürchtete und doch
nothgedrungen in Ihr Haus zurüdkehren mußte. Sie
bat ihre Erfparniffe mitgebracht. Wie hoch fich dieſelben
befiefen, ift nicht mit Sicherheit ermittelt worden. Sie
ſelbſt fcheinen ein Intereffe daran zu haben, die Summe
ihres Vermögens möglichft niedrig anzugeben. Ste haben
gefagt, Ihre Deutter hätte nur 316 Frs. befejfen, und ihr
bald nach ihrer Rückkehr 200 Fre. geftohlen.
Angellagte. Sie war ja verrüdt. Sie wollte das
Seld zum Fenfter hinauswerfen.
Präfident. Am 1. Juli, als fie zu Ihnen am,
war fie noch ganz bei Berftand. Aber Ihre Behandlung
bat fie fo weit beruntergebracht, daß fie nach Ablauf
von drei Wochen fat blöpfinnig geworden war. Gie
haben fich ärztliche Zeugniffe zu verjchaffen gejucht, um
die unentgeltliche Aufnahme Ihrer Mutter in dem bhiefigen
Irrenhauſe zu erreichen. Aber es dauerte Ihnen dies zu
lange. Die Aerzte haben erklärt, bie alte Frau leide an
Berfolgungswahn. Leider war e8 fein Wahn! Sie haben
nicht einmal die Geduld befeffen, das bald bevorſtehende
natürlide Ende der Greifin abzuwarten. Die arme Frau
wurde infolge der täglichen Qualen, bie fie von Ihnen
zu leiden batte, krank und mußte öfter das Bett hüten.
Sie hatten ihr bald nach ihrem Einzuge in das Haus
200 Frs. entwendet; aber Sie wollten auch den Kleinen
216 Merkwürdige Eriminalproceffe aus Frankreich.
Reft ihres Vermögens noch haben, und beichloffen, fie bei-
feitezufchaffen.
Angellagte. Nein, das tft nicht wahr.
Präfident. Etliche wenige Tage vor dem Morde
war ein Arzt von NRomorantin, Dr. Anfaloni, in Ihrem
Haufe. Er fagte zu Ihnen, Ihre Mutter habe Wahn-
borftellungen, fie glaube verfolgt zu werben, Sie follten
fie ja forgfältig überwachen, fonft könne es geſchehen, daß
bie alte Fran aus Angft ins Feuer fpringe. Dieſe wohl-
gemeinte Warnung fcheint in Ihnen den teuflifchen Ge⸗
danken hervorgerufen zu haben, fich Durch das euer ihrer
zu entlebigen. (Bewegung im Zubörerraum.) Sie haben
den Entſchluß gefaßt, fie zu verbrennen, und fich ver Hoff⸗
nung hingegeben, man werbe es für ein Unglüd halten,
baß fie in das Feuer gefallen fe, oder Selbftmorb ans
nehmen. Sie haben es auf eigene Hand verjucht, fie
umzubringen. Am 29. Juli, ebe Ihr Mann fortging,
um Ihre Brüder zu einer Berathung berbeizurufen,
haben Sie Ihre Mutter in das Herbfeuer gejtoßen.
Angellagte. Es ift wahr, daß ich ihr einen Stoß
gegeben habe und daß fie in das Teuer gefallen ift. Aber
ich ftieß fie nur deshalb, weil fie mich geärgert hatte, ich
wollte ihr fein Leid zufügen.
Präfident. Ihre Mutter fam mit leichten Brand»
wunden und verjengten Augenbrauen davon. Sie haben
Ihren Mann beauftragt, Ihre Brüder, die in benad»
barten Dörfern in Arbeit ftanvden, zu Holen. Alexis
Lebon kam zuerft bei Ihnen an. Sie hatten Ihre
Mutter in die dunkle Scheune eingefperrt, wie man ein
Thier in den Käfig ſteckt, ehe man es abfchlachtet. (Be
wegung im Auditorium.) Wleris forderte Sie auf, bie
Mutter wiener heranszulafien. Sie erwiberten: „Laß
fie nur dort, die alte Schlampe.” Erſt nachmittags 4 Uhr,
Merkwürdige Eriminalproceffe aus Franfreid. 217
als auch Ihr Mann und Alexander Lebon angelangt
waren, wurbe Ihre Mutter aus der Scheume befreit und
in das Bett gebracht. Sie bat e8 nur verlaffen, um auf
ven Scheiterhaufen gelegt zu werben. Der Pfarrer Abbe
Renault fand fih auf Ihr Verlangen in Ihrem Hauſe
ein, um ber alten Frau bie Beichte abzunehmen. Als er
eintrat, war ein heftiger Streit entbrannt zwiichen Ihnen
und Ihrem Manne einerſeits und ihren Brüdern anderer-
jeits. Sie zankten fi um bie 100 Frs., welche von ber
Baarichaft Ihrer Mutter noch übrig waren. Was tft
geihehen, nachdem der Herr Pfarrer weggegangen war?
Angellagte. Mein Bruder Aleris fagte: „Wir
wiſſen alle nicht mehr, was wir mit ver Mutter anfangen
ſollen. Wir müſſen fie in das Feuer werfen.” Ich
glaubte zuerft nicht, dag dies feine ernftlicde Meinung
jet, daß er eine fo große ‘Dummheit begehen wolle.
Aleris Lebon. Das ift erlogen! Du warft es, du
baft es angeftiftet und mir gedroht, wenn ich meine Zu⸗
ftunmung zu ber Ermorbung verweigerte, würbejt du mich
einſperren!
Georgette Thomas. Kurz und gut, gleich darauf
iſt das Unglück geſchehen.
Präſident. Welche Handreichung haben Sie dabei
gethan?
Angeklagte. Ich habe die andern nur gewähren
laſſen.
Präſident. Ihre beiden Brüder haben die Mutter
aus dem Bett gehoben und zum Herde getragen. Sie
aber haben aus dem Strohſack Stroh herausgeriſſen, es
zuſammengedreht, angebrannt und Ihrem Mann gegeben.
Angeklagte. Nein, Herr Präſident, das iſt nicht
wahr, meine Brüder haben die Strohwiſche gebunden
und angezündet.
218 Merkwürdige Eriminalprocefje aus Frankreich.
Präfident. Und Ihr Mann? Was that er dabei?
Angeflagte. Ich babe nicht gejeben, baf er irgent-
etwas gethan hätte.
Präfident. Diejes Vertheibigungsiyften haben Sie
miteinander abgefartet. Sie jagen, er babe fich nicht bes
tbeiligt, und er behauptet, Sie wären verrüdt wie Ihre
Mutter, die als Here gegolten habe.
Angellagte (weinerlih). Wir haben beide nichts
gethan.
Präfident. Aus dem Gutachten des Sachverftändigen
geht hervor, daß Ihre Mutter mit Petroleum übergoffen
worden ift, ehe man fie verbrannt hat. (Bewegung und
Ausrufe des Abfcheus im Auditorium.)
Angellagte. Nein, Herr Präfident, das ift nicht
wahr. Ich Habe fie nur mit Weihwaffer beiprengt.
(Abermald große Bewegung im Aubitorium.)
Präfident. Nach den Angaben Ihrer Brüder find
die leider ber alten Frau aufgeflammt wie Papier und
e8 bat ein großes hellloderndes Feuer gegeben. Die Ber:
brennung iſt fortgejegt worben bis abends 10 Uhr. Ihre
Brüder haben fich vorher entfernt, um zu beichten, Ihr
Dann ift ihnen nachgegangen und bat in den Wagen
feines Schwagers Aleris eine leere Tlajche geworfen. Was
war in diefer Flafche gewefen? Es wird vermuthet, daß
bie Slajche Petroleum enthalten bat und in den Wagen
gelegt worben ijt, um den PVerbacht von Ihnen ab und
auf Ihren Bruder Aleris zu lenken.
Angeklagte. Nein, das ift nicht wahr. Alexis
jolite die leere Flaſche in der Safriftei mit Weihwaſſer
füllen und wieder zurüdhringen.
Präfident. Sie haben ein großes Kücherımefjer be:
jeffen und in der Unterfuchungshaft gelegentlich geäußert:
„Wenn das Meffer reden könnte!” Iſt Ihre Mutter
Merkwürdige Criminalproceffe aus Frankreich. 219
etwa mit biejem Meſſer verwundet worden? Ihr Bru-
der Alerander foll blutige Finger gehabt haben.
Angellagte. Ich habe niemand geftochen.
Präfident. Iſt alfo Ihre Mutter lebendig ver-
brannt worben?
Angeflagte. Ich glaube ja. (Große Bewegung im
Auditorium, Ausrufe der Entrüftung.)
Präfivdent. Ihre Mutter war bei vollem Bewußt⸗
fein. Sie wehrte fich fo gut fie konnte. Sie rief: „O
diefe Elenven, fie wollen mich ins Feuer werfen.” Ihre
Zochter Eugenie, welche bei ber gräßlichen That anweſend
war, hat ihr Angftgefchrei gehört.
Angeklagte. Das Feuer auf dem Herde brannte
ſchon, ich Hatte es vorher angezündet. ALS fie meine
Mutter hineinfteden wollten, wehrte fie fich, fie ftieß bie
Holzfcheite auseinander und Das Feuer verlöfchte.
Präfident. Das wäre ja noch grauenhafter! Dann
müßte der Sceiterhaufen zum zweiten mal bergerichtet
und das Feuer nochmals angezündet worben fein! Eine
folche Beftialität fan man fi faum venfen. Weshalb
haben Sie Ihre Mutter verbrannt? Doch nicht deshalb,
weil fie angeblich eine Here gewejen ijt?
Angeklagte. Eine Here war fie ganz gewiß.
Präfident. Dieſes alberne Gerücht tft erft nad)
dem Morde verbreitet worden. Es ift eine Lüge, daß
Sie Ihre Mutter verbrannt haben, weil fie eine Hexe
fein ſollte. Sie wollten fie um jeden Preis los jein.
Die ſchnödeſte Habfucht hat Sie zu dem Verbrechen ge-
trieben. Seen Sie fich, die Herren Geſchworenen wer-
ben Ste richten.
Der Kleinhäusler Thomas wird nun vernommen.
Im Laufe der Vorunterfuchung hat er beftimmte, Klare
220 Merkwürdige Eriminalproceffe aus Frankreich.
Antworten gegeben, in ber Hauptverhanplung ftellte er
fih dumm und blöpfinmig.
Präfident. Wie beißen Sie?
Angeflagter. Ich weiß es nicht.
Präſident. Wann ift Ihre Schwiegermutter in Ihr
Haus gezogen, um bafelbft dauernd zu wohnen?
Angeflagter. Ich weiß es nicht.
Präfivent Was bat fih in Ihrem Haufe am
29. Juli zugetragen?
Angeflagter. Ich weiß e8 nicht.
Der Präſident legt ihn 17 einzelne Fragen vor, und
er antwortet 17 mal eintönig: „Ich weiß es nicht.”
Präfident. Es würde beffer für Sie fein, wenn
Ste antworteten, denn die Thatfachen beweisen Ihre Schulp,
und es wirb Ihnen nichts helfen, daß Ste Blödfinn ſimu⸗
liren. Segen Sie ſich.
Aleris Lebon, an ben der Präfivent fich wendet,
gibt auf alle an ihn gerichteten Fragen ſehr deutliche Ant-
worten. Sein Auftreten macht einen etwas beſſern Ein-
druck, weil er beicheidener ijt und doch eine Empfinbung
für feine furchtbare Schuld zu haben fcheint.
Präfident. Sie glauben doch nicht an Hererei.
Dean Hat Sie ſelbſt in früherer Zeit als Hexenmeiſter
bezeichnet, damals haben Sie ſich über ven Aberglauben
[uftig gemacht und gefpottet. Kommen wir nun zur
Sade. Ihr Schwager Thomas hat Sie am 29. Juli
in jein Haus eingelaben, um gemeinjchaftlich den bereits
beichloffenen Mord Ihrer Mutter auszuführen?
Angeflagter. Das it nicht ganz richtig, Herr
Präfivent. Mein Schwager Thomas lub mich ein zu
einer Familienberathung über den Zuftand der Mutter.
Er ging von mir zu meinem Bruder Alerander, um auch
Merkwürdige Eriminalproceffe aus Kranfreid. 291
ihm Beſcheid zu jagen. Wir hatten nicht verabrebet, was
mit ber Mutter gefchehen folle. Ich traf zuerft in Luneau
ein und fand die Mutter in der Scheune eingefperrt.
Sie Hatte Branbwunden und bie Augenbrauen waren
verfengt. Ich fragte meine Schweiter: „Was haft bu denn
at ber Mutter angefangen? Du haft fie wol in das
Teuer geftoßen? Das ift nicht ſchön von Dir.”
Bräfivent.e Bald nachher aber haben Sie fic
wegen des bauren Geldes, welches vie alte Frau beſaß,
im einen Streit mit Ihrer Schwefter und Ihrem Schwager
eingelaffen ?
Angellagter. Ach was mich betrifft, ich wollte
fortgeben. Ich Habe Feine Freude an Streitigkeiten.
Bräfident. Was geſchah, als der Pfarrer Ihrer
Mutter die Beichte abgenommen und fich entfernt hatte?
Angellagter. Ich fagte zu meiner Schweiter, fie
jollte meiner Mutter friiche Wäſche anziehen. Sie ent-
gegniete: „Nachdem fie gebeichtet bat, braucht fie Feine
Wäſche mehr. Jetzt hat fie nicht mehr lange zu leben.”
(Bewegung im Auditorium.) Sie fügte hinzu: „Beute
Abend dürft ihr nicht mehr fortgehen, weber bu nod
Alexander.“ Sie ſchloß die Thür ab, ſteckte ven Schlüffel
in die Taſche und flüfterte Hierauf mit meinem Bruder
Alerander. Bald darauf fagte fie zu uns beiden: „Ihr
müßt die Alte in das Feuer werfen.”
PBräfident. Sie find der ältefte von den Geſchwiſtern.
Sie find dreiunddreißig Jahre alt und waren in erfter
Linie verpflichtet, Ihre Mutter zu fehügen. Aber Sie
haben nicht nur nicht gethan, um fie zu retten, jondern
an dem Morde fich betheiligt. Sie haben fie an ben
Schultern, Aleranber bat fie an ven Beinen angefaßt und
jo haben Sie beide die alte Fran auf den Scheiterhaufen
geichleppt.
292 Merkwürdige Eriminalprocefie aus Franfreid.
Angellagter. Ich babe nur aus Furcht jo gehan-
delt. Thomas und Georgette zückten bie Meſſer und be-
brobten ums.
Thomas. Ich weiß es nicht.
Georgette Thomas. Das ift nicht wahr. Du,
Aleris, bift der erfte, ver gejagt hat, wir follten fie ins
Teuer werfen.
Aleris Lebon. Nein, das warft bu, Schweite.
Ih Habe meine Aeltern immer mit Chrerbietung be
handelt. (Bewegung im Auditorium.)
Präfident. Aleris Lebon! Sie haben ausgejagt,
daß Ihr Schwager Thomas feine Schwiegermntter in bie
Herböffnung förmlich hineingeftampft habe.
Angellagter. Ia, das ift wahr. Er bat fie mit
Sußtritten hineingezwängt und mit ben Knien nad»
geholfen. Er bat ihr auch gewaltige Stöße auf die Bruit
und ven Leib verſetzt, um fie in die richtige Lage zu
bringen. An den Füßen trug er Holzſchuhe un mit
diejen Schuhen trat er fie.
Präfident. Sie felbft aber haben Ihre Mutter mit
zum Herde getragen.
Angellagter. Ja, freifid. Ich gab fchon früher
an, daß meine Schwefter und mein Schwager ihre Mefjer
gezogen batten und mich bedrohten. Auch mein Bruder
Alerander redete mir zu, mit Hand anzulegen. Er fagte:
„Greif doch zu, font tft e8 um dich geichehen.“
Präfivdent. Und Ihre Schweiter, was Hat fie da
bei gethan?
Angellagter. Sie band ein Bülchel Stroh zu-
jammen, mit welchem ihr Mann das Teuer angezündet
hat. Ich wollte fort aus dem Haufe, aber mein Schwager
hatte meinen Hut verfchloffen und brobte: „Du wirft
mit der Alten zugleich verbrannt, wenn bir dich weigerft.”
Mertiwürdige Eriminalprocefije aus Frankreich. 293
Präfident. An demſelben Abend find Ste aber Doch
zum Pfarrer gegangen, haben bort gebeichtet und fich ein
Band weihen laffen. Ihr Schwager hat Sie doch nicht
verhindert, das Haus zu verlaffen.
Angellagter. Das war ja nachher. Sch bereute
die That fofort und wollte das Teuer erftiden. Aber
meine Schwefter und mein Schwager ftießen mich zurüd
und riefen: „Nein! Nein! Sie muß verbrennen!”
Präfident. Iſt Ihre Mutter lebendig verbrannt
worden?
Angeklagter. O, ſie war mehr todt als lebendig,
als fie in das Feuer geworfen wurde.
Präſident. Rochen die Kleider, welche ſie trug, nach
Petroleum?
Angeklagter. Ja, ſehr ſtark.
Präſident. Und Sie waren es, der die eigene
Mutter auf den Herd ſchleppte, wo ſie den qualvollen
Feuertod leiden ſollte?
Angeklagter. Ich habe es aus Furcht gethan.
Sie bedrohten mich und zwangen mich dazu.
Präſident. Am nächſten Tage haben Sie Ihren
Onkel zum Begräbniß eingeladen?
Angellagter. Ich hatte ven Kopf verloren.
Präfident. Segen Sie ſich.
Hierauf erhob fih Alerander Lebon. Er fchluchzt
(aut und behauptet ebenfo wie fein Bruder, daß er von
jeiner Schwejter und feinem Schwager gezivungen wor⸗
den fei, an dem Verbrechen theilzunehmen.
Präſident. Sie find der einzige geweſen, welcher
ver Mutter bei Lebzeiten freundlich begegnet ift.
Angellagter. Ah ja. Als ich ſah, daR meine
Mutter fo ſchwach und elend war, wollte ich fie zu mir
nehmen. Aber Georgette ließ e8 nicht zu. Mein Schwager
224 Merkwürdige Eriminalproceffe aus Frankreich.
fam zu mir und holte mich zu einer Berathung. Ich ging
mit, ahnte aber nicht, daß fie ermorbet werben follte.
Die andern ftritten fih um das Geld. Ich redete zum
Frieden und ſagte, fie jollten doch Vernunft annehmen.
Später wollte ich weggehen, weil ich das mörberifche Vor-
haben nicht billigte, aber meine Schwefter hatte die Thür
verfehloffen, und befahl mir unter Drohungen, ich Sollte
mithelfen und die Mutter mit in das euer werfen.
Ich rief: „Nein, das thueich nicht! Ich thue es nicht!”
Da nahm Thomas ein großes fcharfgeichliffenes Meſſer
und ging auf mich zu mit ben Worten: „Wenn bu wicht
gehorchſt und bich noch länger weigerft, fo fteche ich dich
ab wie ein Kalb. Jetzt wird fein Federleſen mehr ge-
macht. ‘Du ober deine Mutter!” Im gleicher Weile
bebrohte er meinen Bruder Alexis. Diefer war anfangs
unſchlüſſig, dann gab er nach und äußerte: „Meiner Treu,
ic mag nicht um ihretwillen dran. Komm und hilf mir.
Greif nur zu.” Und nun gingen wir beide an das Bett,
hinter welchem vie Kinder fich erjchroden verſteckt hatten.
Wir trugen die Mutter auf ven Feuerherd.
Präfident. Sie haben nach Ihrer eigenen Erzäß-
lung feinen ernftliden Verſuch gemacht, fich dem Ber:
brechen zu widerſetzen. Sie konnten boch eim Fenfter
öffnen und um Hülfe rufen. Sie und ihr Bruder brauch⸗
ten fih doch nicht von Ihrer Schweiter und Ihrem
Schwager zwingen zu laffen. Nein, Sie find alle vier
einverftanden gewefen, dieſen ruchlofen Morb zu begeben.
Angellagter. Ich fürchtete mich vor meinem Schwa-
ger, der wie ein Wilder mit feinem Meſſer herumfichtelte.
Der Präfident zu Thomas. Ich frage Sie noch—
mals, ob Eie die Maske des Ipioten fallen Taffen und
auf meine Frage antiworten wollen.
Angellagter Thomas. Ya, ich will antivorten.
Merkwürdige Criminalproceife aus Frankreich. 295
Präfident. Es fcheint, Daß Sie Ihre Schwäger
berbeigeholt haben, damit das furrdhtbare Verbrechen,
welches Sie und Ihre Frau auch allein ausführen konnten,
gemeinschaftlich von der ganzen Yamilte verübt werben
jollte. Wer bat den Vorfchlag gemacht, Ihre Schwieger-
mutter zu verbrennen ?
Angellagter. Meine Frau. (Bewegung im Aubi-
torium.) Sie fagte, eine geheime Gewalt zwinge fie dazu.
Bräfident. Flunkern Sie bier nichts von Hexerei,
ſondern reden Sie die lautere Wahrheit. Wer hat Ihre
Schwäger beproht ?
Angellagter. Meine Frau. Sie fagte zu ihrem
Bruder Alerander: „Entweder die Mutter ftirbt ven
Teuertod, oder du wirft verbrannt.”
Präſident. Aber Sie haben babeigeftanden und das
Meffer gejhwungen, um ver Drohung Nachprud zu geben.
Angellagter. O nein! Das haben meine Schwäger
bazugelogen.. Sch zog mich Hinter das Bett zurüd zu
den Kindern, die dort vor Angſt weinten.
Präfident. Alſo Sie haben das Feuer und bie
Kleider Ihrer Schwiegermutter nicht angezündet ? Cie
haben vie alte Frau nicht mit Fußtritten und mit Stößen
in die Herböffnung bineingeftampft ?
Angeklagter. Das ift alle® erlogen.
Präfident. Haben Sie die leere Betroleumflafche
in den Wagen Ihres Schwagers Aleris geworfen ?
Angeflagter. Ja, aber nur zum Beweiſe für das,
was er gethan hatte.
Präfident. Während bie drei andern von Gewiffens-
biffen gefoltert zum Pfarrer gingen, um zu beichten, find
Sie ruhig zu Haufe geblieben und haben zugefehen, wie
ter Leichnam Ihrer Schwiegermutter von ben Flammen
verzehrt murbe.
XXI. 15
226 Merkwürdige Criminalproceffe aus Franfreid.
Angellagter. Ich bin im Hofe aufe und abgegangen.
Die Tenfter des Haufes waren fo hell erleuchtet wie bei
einer Feuersbrunft.
Präfident. Seben Sie fid. .
Es wurde hierauf eine größere Anzahl von Zeugen
vernommen. Bon erheblicherm Intereſſe find nur bie
Ausfagen der Heinen Eugenie Thomas und des Abbe Re
nault, die wir folgen laſſen.
Eugenie Thomas ift ein hübjches, blondes Kind von
faum acht Jahren. Sie ift gut genährt, für ihr Alter groß
und ſtark, hat ein helles intelligentes Auge, faßt leicht
auf und beantwortet alle Fragen mit großer Beſtimmt⸗
beit. Sie ift reinlich gefleivet, trägt eine blaue Schürze
und die hohe weiße Röhrenhaube.
Der Vertheidiger des Angeflagten Advocat Petit legt
Verwahrung dagegen ein, daß das Kind als Zeugin zu
gelaffen werben folle, weil dies gegen ulle Grundfäge ber
Moral und der Humanität verftoße. Jetzt freilich könne
das Kind die Tragweite feiner Ausfage nicht beurtbeilen.
Allein gewiß werde e8 fih in reifern Jahren Vorwürfe
und Gewiſſensbedenken machen, wenn e8 fich bewußt werke,
daß es dazu mitgewirkt habe, Vater und Mutter dem
Henker zu überliefern.
Der Gerichtshof verwirft den Proteft und befchließt,
das Mädchen unbeeidigt zu vernehmen.
Präfident zu Eugenie Thomas. Mein Kind,
bu mußt in allen Stüden die Wahrheit und nichts ale
die Wahrheit fagen. Du fiehjt die Leute, welche bort
figen. Erfennft du fie? It e8 dein Vater, deine Mutter,
bein Onkel Aleris und dein Onkel Alerander?
Eugenie Thomas. D,ich kenne fie alle gut, mein Herr.
Präſident. Erinnerft du dich deiner Großmutter?
Eugenie Thomas. Ja wohl, mein Herr.
Merkwürdige Eriminalprocefjfe aus Frankreich. 297
Präfident. Crinnerft du dich des Tages, an wel-
dem fie ftarb?
Eugenie Thomas. Gewiß. Es war eines Abends.
Der Herr Pfarrer war zu uns gefommen. Papa, Mama
und meine beiden Onkel waren zugegen.
Präfident. Was ift nach dem Weggange bes Herrn
Pfarrers gefchehen ?
Eugenie Thomas Sie ferten fih zu Tiſch und
aßen, auch der Eſelin des Onkels Aleris, die vor feinen
Wagen gejpannt war, wurben gelbe Rüben als Futter
gebracht. Die Großmutter lag auf ihrem Bett in der
Stube. Meine beiden Onkel Aleris und Alerander haben
fie in die Höhe gehoben und auf den Feuerherd getragen.
Papa und Mama fagten, fie fei wahnſinnig. Mama hat
aus dem Strobfad ein Paar Hände voll Stroh beraus-
geriffen, einen Strohwifeh davon gemacht und das Feuer
angezündet. Zuerſt hat die Großmama fi) aus dem
Feuer wieder herausgearbeitet, Papa hat fie aber mit
Gewalt wieder hineingetban und fie gezwungen brinzn-
bleiben. (Ungeheuere Bewegung im Aubitorium, Ausrufe
aller Art. Es ift fchwer, die Ruhe wiederherzuſtellen.
Der Präfident droht, ven Saal räumen zu laffen.)
Präfident. Hat beine Großmutter gefchrien, ale
fie in das Feuer geworfen wurbe ?
Eugenie Thomas. Nicht gar viel. Zuerſt jchrie
fie, wie jemand, der fi fürdtet. Später fchrie fie
weniger. Es war im Zimmer ein abjcheulicher Geftanf.
Präfident. Wann find beine beiden Onfel meg-
gegangen ?
Eugenie Thomas. Erft als Großmama fchon lange
ganz ftill geworben und beinahe ganz verbrannt war. Es
that mir fehr leid, denn Großmama bat mir oftmals
einen Son gefchentt.
15*
298 Mertwürbige Criminalproceffe aus Frankreich.
Die Erregung des Publikums infolge der Ausfagen
der Heinen Eugenie Thomas, die mit voller Unbefangen-
beit, wahr und zuverläffig die grauenhafteften Einzelheiten
berichtete, war kaum zu beichwichtigen. Sie legte ficdh erft,
als der Pfarrer von Selles-Saint-Denis, AbbE Renault,
als Zeuge aufgerufen wurde.
Er erzählt, zunächſt feien Alexis und Alerander Lebon
zu ihm gelommen und hätten fich ein feivenes Band weihen
faffen. Nach einiger Zeit feien fie nochmals und bald
darauf auch Georgette Thomas erjchienen. Alle drei hätten
gebeichtet, um ihre fchwerbelafteten Herzen zu erleichtern.
Den Inhalt der Beichte theilt der Abbe natürlich nicht
mit. Er erffärt: die Witwe Lebon habe im Dorfe all-
gemein als eine Here gegolten, fie folle das Rindvieh be-
hext haben. Er läßt durchblicken, daß er felbft an Deren
und Hererei glaubt und die DVerftorbene auch im Ber:
dacht gehabt hat, als Here mit dem Teufel im Bımbe
zu fteben. Nach feiner Meinung ift die ganze Yamilie
Lebon nicht recht bei Trofte.
Das Beweisverfahren war gejchloffen und am 23. No-
vember folgten die Plaivoyerd. Der Oberſtaatsanwalt
Fachot hat eine Leichte Aufgabe zu Löfen, denn es tft
vollftändiger Beweis dafür erbracht, daß die Witwe
Lebon ermordet worden ift und daß die vier Angeſchul⸗
bigten den Morb nah vorausgegangener Verabredung ges
meinfchaftlich verübt haben. Er beantragt, das Schulbig
auszufprechen und bie vier Mörder zum Tode zu ver
urtheilen. Die bei franzöfifchen Gejchworenen beſonders
wichtige Frage, ob mildernde Umstände angenommen wer-
ben bürfen, unterzieht der Oberftaatsanwalt einer ein-
gehenden Prüfung, er erfennt an, daß Aleris und Aler-
ander Lebon noch einer beffern Negung fähig find. Sie
haben ihre verruchte That bereut und Alerander hat bie
Merkwürdige Eriminalprocefje aus Frankreich. 229
Mutter wenigftens bei Lebzeiten freundlich behanvelt.
Aber dennoch ift nach feiner Meinung auch gegen fie die
Todesſtrafe auszufprechen und dem Präfidenten der Re⸗
publif anheimzuftellen, ob er vielleicht einen der Minder⸗
Ihuldigen zu Freibeitsftrafe begnadigen will.
Der Vertheibiger der Frau Georgette Thomas hat
einen fchweren Stand. Die Thatfachen muß er zugeben
und die Schulo feiner Elientin wagt er nicht in Abrede
zu ftellen. Er zieht es deshalb vor, von dem finftern
Derenglauben zu fprechen, welcher unausrottbar in den
Köpfen der dortigen Bauern ſpukt. Er erzählt recht
vraftiiche Fälle, die fich ereignet haben, und beutet an,
daß auch höher ſtehende, ven gebilveten Kreifen zugehörige
Perfonen diefen Glauben theilen. Die Angefchulpigten
haben nach feiner Ausführung die Witwe Lebon für eine
Here gehalten und die Hiftoriiche Strafe der Heren, ven
Feuertod, an ihr vollzogen. Um ihres Motivs willen
kien fie milder zu beurtheilen.
Der Vertheidiger des Thomas fchließt fich feinem
Collegen an, auch er plaidirt für mildernde Umftände und
greift das proceffunle Verfahren an, indem er geltend
macht, Eugenie Thomas habe nicht als Zeugin gegen ihren
Bater und ihre Mutter vernommen werben dürfen, denn
es widerjtreite dem Nechtögefühl und dem Recht, das
Schuldig der Aeltern auf die Ausfage ihres Kindes zu
gründen.
Der Vertbeibiger von Alexis Lebon hält eine glän-
jende, aber wenig fachliche Rede, die darin gipfelt, daß
er den Angeklagten als einen Schwachlopf ſchildert, der
fteif und feft an Zauberei und Hererei glaube und willen»
(08 gethan habe, was feine viel Mügere und energifchere
Schweſter verlangt habe.
Der Advocat Henry enblich fordert für Alexander
230 Merkwürdige Sriminalproceffe aus Frankreich.
Lebon mildernte Umſtände, weil er bei weitem nicht eine
ſolche Gefühllofigfeit und Roheit wie feine Mitſchuldigen
an den Tag gelegt, ſondern, eingefchüchtert von feiner
Schweſter und feinem Schwager, aus Angft vor ihnen
bei dem Morbe, ven fie beichloffen Hatten, mitgewirft
babe.
Die Berathung der Geſchworenen bauerte breivtertel
Stunde. Ihr Spruch ging dahin, daß bie vier An-
gellagten des Mordes fchuldig, aber dem Aleris
und dem Alerander Lebon mildernde Umjtände
zu bewilligen jeien.
Der Gerichtshof verurtheilte hierauf den Klein»
bäusler Thomas und feine Ehefrau Georgette
Thomas geborene Lebon zum Tode durch Enthaup-
tung, Alexis Lebon zu lebenslänglicher und Aler-
ander Lebon zu zwanzigjähriger Zuchthaus:
jtrafe und verfügte, daß die Tobesftrafe in Romorantın
vollſtreckt werben folle.
Seorgette Thomas, bie bis dahin der Verhanplung
beigewohnt hatte, ohne irgendeine Empfindung ober ein
Zeichen von Erregung zu verratben, brad in Thränen
aus und verbarg das Geficht mit ihrem Taſchentuche,
als fie vernahm, daß ihr das Leben abgefprochen wurde.
Der Präfibent des Gerichtshofs hatte es unterlaffen,
bie von dem Geſetz vorgefchriebene Frage an die Ans
geflagten zu richten, ob fie wegen bes Strafmaßes Be⸗
rufung einwenden wollten. Wegen dieſes Formfehlers
wenbeten bie Bertheidiger die Nichtigkeitsbeſchwerde ein.
Allein der Oberfte Gerichtshof verwarf das Rechtsmittel
und das Urtheil war jomit vechtsfräftig geworben.
Merkwürdige Eriminalproceije aus Franfreid. 231
Der Präfident der franzöfiichen Republil, Herr Julius
Grevy, ift wie ehr viele Franzoſen ein principieller Gegner
ver Todesitrafe und foll ein weiches, mildes Herz haben.
Es wird ihm ſehr jchwer, ein Todesurtheil zu bejtätigen,
er bat deshalb faſt grunpfäglich die Umwandlung in
dreiheitsftrafe verfügt und bis zu dem jett in Rebe
ftehenden Falle noch niemals ein Weib hinrichten laffen.
Man war nun in allen Kreifen jehr gefpannt, ob bie
Execution der Eheleute Thomas ftattfinden würde.
Der Präfivent des Schwurgerichts, der Oberjtaatd«-
anwalt, das ComitE im Yuftizminifterium, welches jedes
Zobesurtheil zu prüfen und eventuell Begnabigungsanträge
zu ftellen bat, beantragten einftimmig, ber Gerechtigkeit
ihren Lauf zu laffen, und ver Präfident ver Republik er-
theilte die Beftätigung.
Am 22. Januar 1887 erhielt der Scharfrichter von
Paris, Deibler, ven Befehl, fich nach Romorantin zu be-
geben und bort die Execution vorzunehmen. Cr reiite
über Blois, wo die Eheleute Thomas im Gefängniß
jaßen und die Entſcheidung über Leben und Tod erwarteten.
Die Ankunft des furchtbaren Mannes war ein Er-
eigniß für die Departementshauptſtadt. ‘Die ganze Be—
völferung gerietb in Bewegung. Vor dem Gefängniß-
thor verfammelte fich eine große Menfchenmenge. ALS
Thomas und feine Frau herausgeführt wurden und ben
bereit gehaltenen Wagen beftiegen, erhob fich ein wüthendes
Geſchrei. Das Volt war furchtbar erbittert gegen biefe
graufamen Mörder und begleitete fie unter Verwünfchungen
johlend und lärmend bis zum Bahnhof. In Romorantin
wurden fie ebenjo empfangen, benn auch bort hatte fein
Menſch Erbarmen mit ver Tochter, die mit ihrem Manne
und ihren Brüdern bie leibliche Mutter lebendig ver-
brannt hatte. Thomas nahın alles gleichgültig und ftumpf-
332 Merkwürdige Criminalproceffe aus Frankreich.
finnig hin, er jchien fich in fein Schickſal ergeben zu haben,
nichts machte Einprud auf ihn. Seine Frau dagegen
betrug fich jtörriich und hochmüthig. Sie hing am Leben
und wollte durchaus nicht fterben.
Am 24, Januar, früh 7 Uhr, begab ſich die Gerichts⸗
commiffion: der Stautsanwalt, der Unterfuchungsrichter
und ein Schriftführer, in Begleitung des Gefängniß-
geiftlichen zu den Delinquenten und eröffnete ihnen, daß
der Präfident der Republik das Todesurtheil beftätigt
habe. Thomas fprang aus dem Bett und Heibete fich
mafchinenmäßig an. Er fagte fein Wort.
Georgette Thomas war gänzlich verblüfft, zuerſt be-
griff fie nicht, um was es fich handelte, als man ihr
far und deutlich fagte, daß fie enthauptet werben folle,
brach fie in ein entſetzliches Geheul aus. Sie flehte um
Gnade, fie beſchwor den Staatsanwalt, ihr das Leben zu
ſchenken, fie weigerte fich aufzuftehen und bie Kleider an-
zuziehen. Als man endlich Gewalt brauchte, wehrte fie
fih aus Leibesfräften. Es dauerte eine halbe Stunde,
ehe ihre Zoilette zu Stande kam, fie mußte gefejfelt wer-
ben. Nachdem fie gebunden war, warf fie fi auf ben
Erdboden und bat von neuem um Erbarmen, um Yuf-
ichub, fie wolle alles willig ertragen, nur das Leben folle
man ihr laffen. ‘Dabei gab fie mit feinem Worte zu er-
fennen, daß fie ihre That bereue, daß fie ein belaftetes
Gewiſſen babe, fie beflagte nur ihr eigenes Los, daß fie
das Leben verlieren follte.
Der Gehülfe des Scharfrichters fchnitt ihr die Zöpfe
ab, die Haarflechten fielen zu Boden, fie fchauderte, ein
Zittern lief über ihren Körper. Als die Zöpfe aufgehoben
und auf den Tiſch gelegt wurden, ftieß fie fchluchzend bie
Worte heraus: ‚Bringen Sie das meiner Tochter ald
Andenken.” Das war die einzige Aeuferung, die weib-
Merkwürdige Eriminalprocefje aus Frankreich. 233
liches Gefühl verriet.” Den Beiftand des Geiftlichen
lehnte fie ab, währenn ihr Mann beichtete. Endlich war
man fertig. Thomas und feine Frau wurben im Zellen-
wagen zur Nichtftätte gebracht. Die Guilfotine war auf
einem offenen Plate aufgeichlagen, und Zaufende von
Menichen, darunter ſehr viele Frauen und Kinder, hatten
fih eingefunden, um dem blutigen Schauspiel beizuwohnen.
Die Henfersfnechte ergriffen zuerft die Frau Thomas, fie
war in der durch die alte Sitte für Vater» und Miutter-
mörber vorgejchriebenen Tracht: der Kopf mit einem
Ihwarzen Schleier verhüllt, über die Kleider ein Leichen-
hemd gezogen, bie Füße nadt. Vierzig bis funfzig Schritte
vom Schaffot entfernt, wirft fie fich auf die Erbe und
frümmt und windet fi unter Flüchen und Gebeten und
Ichreit endlich laut: „Gnade! Gnade! um meiner Kinder
willen !
Die Frau, die ihre Mutter dem Feuertode übergeben
bat, betitelt, daß man fie um ihrer Kinder willen am
Leben laſſen möge !
Man verfucht, fie aufzurichten, aber fie fträubt fich
und muß bis zum Schaffot getragen werben. Sie wird
auf das Bretergeräft hinaufgeführt und Liegt einige Se-
cunden ruhig dort. Plötzlich aber jchnellt fie in vie Höhe
und verfucht e8 nochmals, fich loszureißen. Sie wird feit
an den Schultern gepadt, mit Gewalt in bie richtige
Stellung gebracht, dad Fallbeil fauft herab, ver Kopf
wird vom NRumpfe getrennt, fie tft gerichtet.
Das Blut wird weggewafchen und Thomas berbei-
geholt, ver inzwifchen, Gebete murmelnd, am Zellenwagen
geitanden hat. ‘Der Geiftliche begleitet ihn. Er geht
langfam, faft theilnahmlos bis zum Schaffot, fteigt me⸗
chaniſch hinauf, nimmt von dem Priefter mit einer Um-
234 Merkwürdige TCriminalproceffe aus Frankreich.
armung Abſchied, dann niet er nieder umb bleibt un-
beweglich, bis die Guillotine ihre Schuldigkeit tut.
— — — {
Der Proceß, den wir mitgetheilt haben, iſt ein dunkles
Blatt in der Eulturgefchichte Frankreichs. Aberglaube
und Habſucht, Noheit und Grauſamkeit haben biejen
furchtbaren Mord geboren. Der widerlichfte Zug it, daß
bie Mörder, nachdem fie ihren verruchten Entſchluß ge⸗
faßt haben, den Pfarrer herbeirufen, damit das Opfer
vorher beichten und abſolvirt werben foll. Der Priefter
hat feinen Einfluß auf ihren verbrecherifhen Plan, er
hat nur eine Rolle in der ſchrecklichen Tragödie zu über:
nehmen, nämlich das Opfer zu abfolviren und nad) ber
That auch den Mörbern, die bei ihm beichten, bie Abjo-
lution zu ertheilen. Die Religion ift für dieſe Menſchen
nicht eine Macht, die ihre Herzen ändert, fondern das
Mittel, fie nachträglich vor den Höllenftrafen zu ſchützen.
Wenn man überlegt, was die beiden Söhne, bie Tochter
und deren Mann an ber alten Mutter gethan haben, fo
inuß man zu ber Ueberzeugung gelangen, baß alle vier
eine geradezu teuflifche Bosheit und Beſtialität an ben
Zag gelegt haben. Es mag fein, daß die Flügere Schweiter
ben Mord angeftiftet hat, aber fein Vernünftiger Tann
glauben, daß die Brüder durch Drohungen gezwungen
worden find mitzuwirken. Wir fennen die Schwäche fran⸗
zöfiicher Gefchworenen, aus Abneigung gegen die Todes⸗
ftrafe die mildernden Umftände möglichit ertenfiv zu inter
pretiren. Aber in biefem alle einen mildernden Um-
ftand darin zu feben, daß zwei fräftige junge Männer
von ihrer Schwefter und deren Manne überrebet worben
find — das geht allerdings gegen den gefunden Menſchen⸗
Mertwärdige Eriminalproceffe aus Frankreich. 935
verftand. Nach unfern Begriffen von Recht und Gerechtig-
feit waren auch Alexis und Alerander Lebon dem Beil
bed Henker verfallen. Die Zuchtbausftrafe ift feine
Sühne ihres infernalifchen Mordes. Zwei erwachjene
Söhne, die ihre Mutter auf den Scheiterhaufen tragen,
damit fie verbrannt werbe, verbienen fein Mitleid. Unfers
Erachtens haben die Gefchworenen von Bloid dad Volks⸗
gewiffen tief beleidigt, als fie durch ihre mildernden Um⸗
ſtände die Todesſtrafe ausjchloffen.
Mit dem Vertheidiger des Thomas ftimmen wir darin
überein, daß man bas Kind als Zeuge gegen bie Aeltern
nicht hätte gebrauchen follen, felbft wenn fein Zeugniß
notbwendig gewejen wäre. Es iſt dieſe Procebur nicht
vereinbar mit dem Nechtöbewußtjein ver meiften civili-
firten Bölfer, wie fich fchon daraus ergibt, daß nach vielen
Geſetzgebungen Kinder befugt find, das Zeugniß gegen
die Aeltern abzulehnen. Hier war vie Schulp bereits
voll bewieſen, und es muß als ſehr überflüffig erachtet
werden, daß man bie Heine Eugenie Thomas vor bie
Schranken des Gerichts gerufen hat, um ihren Vater und
ihre Mutter dem Henkertode zu überliefern. Die Ver-
nebmung brachte allerdings eine große dramatiſche Wir-
fung hervor, umb auf eine folche verzichten bie Franzoſen
nicht gern; aber nach den Geſetzen ver Moral muß dieſes
Verhör doch wol als verwerflich bezeichnet werben.
Johanna d'Arc, die Jungfrau von Orleans.
1429 — 1431.
Unter ven Helvengeftalten, welche im Laufe ber
Sahrhunderte aus den Tiefen des Volksgeiſtes empor-
geftiegen und ihrem Vaterlande im Kampfe für die Frei⸗
beit vorangefchritten find, ift eine ber wunderbarſten
Johanna d’Arc, die Sungfrau von Orltans. Ir
Name und ihre Thaten fine mit unauslöfchlichen Zügen
in die Tafeln der Gefchichte Frankreichs eingegraben, die
kurze Bahn ihres Ruhms ift jo glänzend, ihr Triumph
zug von Orleans bis Rheims fo einzig in feiner Art,
ihr Geſchick fo tragifch, ihre ganze Erfcheinung gleicht je
jehr dem Meteor, welches Teuchtend am Himmel dahin
zieht und dann plößlich in dunkle Nacht verfinkt, daß fie
mit Recht von jeher für die Gefchichtsforfcher Jund die
Piychologen, für die Männer des Rechts und der Kirche,
ja für die Gebilveten aller Nationen ein Gegenftand des
ernſteſten Studiums und des höchſten Intereſſes geweſen
it. Die einen ſahen in dem Mädchen von Domremh
eine vom Teufel beſeſſene Creatur, nach ihrer Anſicht hat
Johanna b’Are, die Jungfrau von Orléans. 237
fie durch die Künfte der Hölle den König und bie Gro⸗
fen des Reichs umſtrickt, den Sieg über die Engländer
errungen und als die Here von Orleans den wohlver-
bienten Feuertod erlitten. Den andern ift bie Jungfrau
das demütbige Werkzeug himmliſcher Mächte, eine Gott»
gefandte, die gleich einem rettenden Engel das Joch ver
fremden Eroberer zerbrechen bat und von ungerechten,
parteiifchen Richtern hingerichtet worden ift.
Die Dichter der drei gebilbetiten Völker haben fich
mit biefer merkwürdigen Perjönlichkeit befchäftigt und ein
jever hat fie anders aufgefaßt.
Shafefpeare läßt bie Jungfrau, offenbar unter dem
Einfluß der damals in England berrichenden Meinung,
im erften Theile feines „Heinrich VI.” vie hölliſchen Geifter
beſchwören und ihnen als Preis für ihren Beiftand ven
jungfräufichen Leib, das Leben und bie Seele anbieten.
Sein ſonſt fo bewunberungswürbiger Genius bat fein
Verftänpniß für das ſeltſame Wejen, er ftellt eine feile
Dirne, die Geliebte des Königs Karl, des Herzogs von
Alenſon und des Könige von Neapel bar, bie ‘ihren
Bater verleugnet und, um ihr Xeben zu erfaufen, eine fie
ſelbſt erniedrigende, abgeſchmackte Unmmwahrheit vorbringt.
Boltaire macht aus feiner großen Landsmännin ge-
müthlos ein faſt widerliches Geſchöpf, ihre reine Geftalt
wird unter feiner Hand zum Träger glatter, unfittlicher
Erfindungen und frivoler Witze, er ſchildert in feiner
Pucelle ein Mädchen, halb getäufcht und halb Betrügerin,
in den anftößigften Situationen und ben bebenflichiten
Umgebungen.
Schiller bat uns in feiner „Jungfrau von Orleans‘
eins feiner beften Kunſtwerke hinterlafjen. Seinem Drama
liegt die Idee zu Grunde, daß die Vaterlandsliebe nie
wuchtigere und nachhaltigere Stöße führt, als wenn fie
938 Johanna b’Arc, Die Jungfrau von Orleans.
zuvor binabgetaucht ift in das religiöfe Leben und bort
ihr göttliches Necht, ihre fittliche Erklärung und ihre
höhere Weihe gefunden bat. Schiller’8 Dichtung erſchließt
uns eine Welt voll Wunder, deren Mittelpunkt die gott-
begeifterte Heldin ift, e8 einen ſich in ihr brüntiger
Glaube und Heiße Liebe zu ihrem Lande, bie Kriegerin
des höchiten Gottes kann feinem Manne Gattin fein, fie
geht zu Grunde, weil unter dem Panzer der keuſchen
Amazone ein menfchlich fühlendes Herz fchlägt. So zart
und fo ebel unfer deuticher Dichter feine Jungfrau ge-
zeichnet bat, die gejchichtliche Jungfrau ift ein noch zar-
teres, noch eblere® Gebilde. „Der ‘Dichter vom Uran-
fange, der die Weltgefchichte macht, verfteht fich auch auf
Poeſie; die wirkliche Jungfrau von Orleans hat einen viel
härtern Kampf gekämpft, ſelbſt in ihrem eigenen Herzen,
al8 die Jungfrau der romantiichen Tragödie, umb ihr
Ausgang ift tragifcher.” Es tft deshalb ein nicht ge
ringes PVerbienft der neuern franzöfifchen und beutfchen
Forſchung, das Bild ver wahren Johanna aus dem Schutt,
unter dem e8 vergraben war, hervorgezogen zu haben.
Die Duellen*), die bier ungewöhnlich reichlich fließen,
machen e8 und leicht, eine Skizze von bem Leben und
dem Ende der Jungfrau zu geben. Zuvor jedoch ein kur⸗
zes Wort über den hiftorischen Hintergrumd.
Im Jahre 1388 unternahm König Karl VI. von
Frankreich einen Zug gegen feinen mächtigen Vaſallen,
*) Die Hauptquellen find: be l'Averdy im britten Bande
ber „Notices et extraits des manuscrits de la Bibliothöque
du Roi”.
„Proces de condamnation et de r&habilitation de Jeanne
d’Arc eto.“, par Jules Guicherat.
Raumer im „Hiftorifhen Taſchenbuch“, IV, 447.
Dr. Hafe, „Die Jungfrau von Orleans”,
Sobanna d’Arc, die Jungfrau von Orleans. 239
den Herzog von Bretagne. Am 5. Auguft reitet er von
feinen Baronen umgeben über eine öde Heide, er fühlt
fih unwohl, ver Tag ift glühend heiß, ringsum nirgends
Schatten und Kühlung. Da fpringt plöglich eine fcheuß-
fihe Geftalt vom Boden auf, fällt dem König in bie
Zügel und ruft ihm mit grauenhafter Stimme zu: „Kehre
um, edler König, kehre um, bu bift verratben!” Bon
biefem Tage an verfiel Karl VI. in Wahnfinn, der nur
jelten auf kurze Zeit durch lichte Zwifchenräume unter-
brochen ward. Nım entftanden langwierige Streitigfeiten,
wer bie Regentſchaft übernehmen follte. Zwei Barteien
machten darauf Anfpruch: die dynaſtiſche oder Hofpartei
unter Führung bes Herzogs von Orleans, und bie großen
Bafallen, am ihrer Spike Herzog Johann ber Liner:
Ihrodene von Burgund. Es folgten blutige Fehden, das
Mark des Landes auszehrende Bürgerkriege und Volks⸗
aufftände der entjetlichiten Art.
Ganz Frankreich ift in zwei Lager getheilt, bie einan⸗
ber mit ber heftigften Erbitterung befriegen, ein Theil
bes Adels und die Bauern ftehen auf ber Seite bes
Hofes, der andere Theil des Adels und die Stäbte hal-
ten e8 mit Burgund. Endlich miſcht ſich das Ausland
ein. Heinrich V. fit damals auf dem englifchen Thron,
als Falftaff’8 und Piſtol's Luftiger Gefelle aus Shale-
ipeare jedermann befannt, aber, feitvem er mit der Krone
geſchmückt ift, ein ernfter, thätiger, ftaatsfluger, Triege-
riſcher Herr. Es gelingt ihm, allmählich in dem Nachbar-
lande feften Fuß zu faffen und zahlreiche Anhänger unter
den Franzofen zu gewinnen; am 21. Mai 1320 wird zu
Troyes ein Vertrag mit Karl VI. und feiner Gemahlin
Habella geichloffen, nach welchem Heinrich V. die einzige
Tochter des wahnfinnigen Könige von Frankreich hei⸗
rathen, für feinen Schwiegervater bie Negentichaft führen
240 Iobanna b’Arc, bie Jungfrau von Orleans.
und nad beffen Ableben fein Nachfolger werben fol.
Die Stände genehmigen die Mebereinfunft, ver Sohn des
Königs Karl, der feines Vaters Namen trägt, wirb durch
einen Parlamentsfpruch aller feiner Nechte verluftig er-
Härt ımb aus dem Reiche verbannt. Der um fein Erbe
betrogene Dauphin greift zu ven Waffen, aber fein gutes
Recht muß der Macht des ftärlern Gegners weichen.
Heinrih V. entreißt ihm alles Land nörblich von der
Loire, er wirb zwar mitten in feinem Siegeslauf vom
Tode bahingerafft, aber die Engländer rufen feinen un-
münbigen Sohn zum König von Frankreich aus, und ber
tapfere Herzog von Bedford führt das fieggewohnte Heer
bon neuem gegen ben Feind, um auch das letzte Stüd
bes Landes zu unterjochen. Er belagert Orleans, und Ur:
léans ift der Schlüffel zum Süden. Wenn Orleans fällt,
muß der Dauphin als heimatlofer Flüchtling in bie
Fremde ziehen, und Orleans ift fo hart beprängt, daß nie
mand hofft, ver Stadt Hülfe bringen zu können.
Der letzte Sproffe aus dem Haufe Valois fit ein-
jam und trauernd in Chinon, er tft feit furzem burch ven
Zob jeined Vaters dem Namen nach König geworben,
aber er iſt ein König ohne Heer, ohne Geld, ohne Freunde,
verlaffen von ber ganzen Welt. Schon denkt er daran,
ben nutzloſen Widerſtand aufzugeben und auch das legte
Bollwerk zu räumen, er ſchwankt noch, weil ihn vie ftarfe
Seele der Königin hält. Siehe, ba öffnen fich mit einem
male die Tiefen des Volksgeiſtes und hervorjteigt eins
feiner wunderbarſten Gebilde, ein Landmädchen einfach
und gering, aber voll Glauben an ihre göttliche Senbung
und befeelt von ber inmigften Xiebe zu ihrem PVaterlande.
Mit diefen beiden Mächten fällt die Sungfrau dem rollen
ben Rab in bie Speichen, fie wendet Frankreichs Geſchich,
entjeßt Orleans umd führt den König nach einem unver:
Johanna d'Are, bie Jungfrau von Orleans. 941
gleichlichen Waffengang triumphirend zur Krönung nach
Reims,
sum Frühjahr 1429 treffen in Chinon am Hoflager
bes Fönigs zwei Ritter ein, fie kommen von Vaucouleurs,
vom Hanptmam Bandriconr gejendet und bringen ein
Mädchen aus Domremh in Lothringen, welches in männ-
licher Tracht, geivaffnet wie ein Kriegsmann, einher-
Tchreitet. Die Ritter melden bem Könige, ihre Beglei-
terin behaupte, ver Erzengel Michael, die Heilige Katha-
rina und die heilige Margaretha feien ihr mehreremal
erſchienen und hätten ihr befohlen, zum Könige zu gehen,
Gott wolle ihn durch ihre Hand retten, denn fie folle
Orleans befreien und ven König nah Reims geleiten.
Karl zögerte, das Mädchen, welches fo Abenteuer-
liches anfündigte, zu empfangen, er fürchtete, fich lächer-
fh zu machen. Aber ver Jungfrau ging der Ruf voran,
in einem alten Zauberbuche Merlin’s ftehe gejchrieben,
daß ein Mädchen vom Eichenhofze kommen und bie Feinde
drankreichs befiegen werde. Das Volk glaubte an fie,
und nad langen Berathungen entſchloß man fih, auf die
Sache einzugehen. Drei Tage nach ihrer Ankunft ward
Johanna in bie Halle entboten, wo ver König und gegen
300 Cavaliere ihrer mit großer Spannung harrten. Sie
tritt ein, man erblidt ein ftebzehnjähriges, ſchlank geinach-
jenes, Träftig gebautes Mädchen mit feinen, anſprechenden
Zügen. Ihr Teint iſt weiß, die kaſtanienbraunen Haare
trägt fie nach Reiterart rund geſchnitten, ihre Stimme
it zart und wohlklingend, ihre fchönen, mandelförmig
gzeſchlitzten Augen haben einen melancholiſchen Ausdrud
Sie geht mit edelm Anſtand auf den König zu, Kenar
vor ihm Das Knie und hebt an: „Gott verleihe Euch ein
glüclliches Leben, edler Dauphin!“ Karl weiſt
‚um
auf die Probe zu ftellen, ablehnenb auf einen ehe
XXL 16 “
242 Iobanna d'Arc, bie Jungfrau von Orleéaus.
ftehenden Ritter mit den Worten: „Das ift der König.”
Johanna antwortet Schnell: „Bei meinem Gott, Ihr ſeid
e8, edler Prinz, umb fein anderer.” Der König fragt
fie nım nah Namen und Herkunft. Sie erwibert:
„Edler Dauphin, ich heiße Johanna, pie Jungfrau, und
Euch entbietet der Herr des Himmels durch mich, daß
Ihr follt gekrönt werden in ver Stadt Reims und ein
Statthalter des Königs des Himmels werben, welcher iſt
ber wahrhafte König von Frankreich. Gott hat Mitleid
mit Euch und mit Eurem Bolfe, denn der heilige Ludwig
und Karl der Große liegen auf den Knien vor ihm und
bitten für Euch.”
Der König trat nun mit ihr beifeite und fprad
mit ihr heimlich; es fcheint, daß fie ihm etwas Auffallen-
bes gejagt hat, gewiß ift, daß fein Vertrauen von biefer
Stunde an wuchs. Er fandte fie nach Poitiers und be
fahl, daß die angefehenften Männer geiftlichen und welt
lichen Standes das Leben, die Sitten und den Glauben
Johanna's ftreng unterfuchen und dann berichten follten,
ob der König erlaubter- und gottgefälligerweife ihren
Derfündigungen glauben und ihren Beiftand annehmen
bürfe.
Unter dem Vorſitz des Kanzlers von Frankreich prüfte
bie Commiffion drei Wochen lang; fie fam zu folgenben
Reſultaten: Iohanna ift die Tochter des Bauers Jakob
b’Arc und feiner Ehefrau Sfabella, geboren im Jahre
1410, 1411 over 1412 zu Domremy, einem lothringijchen
Dorfe an der Mofel. Sie bat von ihrer Kindheit an
im Haufe ihrer Aeltern gelebt, zufammen mit vier Brü⸗
dern und einigen Schweftern, und ſtets einen tiefreligiö-
jen Sinn, ein weiches Gemüth und einen faft leivenfchaft-
lihen Drang zur Wohlthätigfeit an ven Tag gelegt. Sie
kennt die Zehn Gebote, ven Glauben, das Vaterunſer und
Johanna d’Arc, die Jungfrau von Orléans. 243
das Ave Maria; lefen und fchreiben kann fie nicht. Von
ihren Aeltern wurde fie angehalten, zu nähen unb zu
Ipinnen und mußte auch fonft die gewöhnlichen häuslichen
Gefchäfte verrichten. In ihrem 13. Jahre fteht fie eines
Sonntags um Mittag in dem Garten ihres Vaters, als
fih plögfich um fie herum eine wundervolle Klarheit ver-
breitet, fie hört eine Stimme reden, bie fich ihr als bie
des Engels Michael anfündigt; bald gefellen ich zu ihm
jwei weibliche Heilige, deren Bilder in ber Dorflirdhe
hängen: St.⸗Katharina und St.- Margaretha. Die
Stimmen ermahnen fie, gut und fromm zu fein und bie
Kirche fleißig zu befuchen. Die Erjcheinung lehrt oftmals
wieder, und Johanna wird von ihr jedesmal auf das
tieffte bewegt, fie fällt auf vie Knie, faltet betend die
Hände, umſchlingt die himmlischen Geftalten, küßt ben
Boden, wo fie geftanden, und weint bitterlich, wenn fie
verſchwinden. Seitdem entzieht fie ſich allen kindlichen
Spielen und weiſt viele Bewerber um ihre Hand hart⸗
nädig ab, weil fie den Heiligen ewige Jungfräulichkeit
gelobt hat.
Zwei Sabre darauf berührt der Kriegslärm auch ihre
ftille Heimat. Domremy ift Fönigliche Domäne, daher
bunaftiich gefinnt, vie Bewohner müffen die Flucht er-
greifen, fo oft ſich burgundifches Kriegsnolf naht. Um
diefe Zeit, wo die politifhen Stürme in das eigene Leben
Johanna's eingreifen, erhält fie von ihren überirbifchen
Erfcheinungen die Weifung, für ihren König in den Kampf
zu ziehen. Sie fträubt fich, zu gehorchen, aber die Wei-
fung wird wiederholt und ihr befohlen, fie jolle nach
Baucouleursd gehen, von bort werde ein Hauptmann fie
zum König ſenden. Nun verläßt fie ohne Vorwiſſen ihrer
Aeltern das väterliche Haus, gelangt durch bie Vermitte-
lung eines in ber Nähe von Baucouleurd wohnenven
16*
*
244 Johanna d'Are, die Jungfrau von Orleéanus.
Oheims zum Ritter Baudricour und wird von dieſem
nach vielen Abweiſungen endlich nach Chinon zu Karl VII.
geleitet.
Die würdigen mit der Prüfung der Sache betrauten
Männer in Poitiers waren anfänglich ſehr getheilter
Meinung. Einige hielten das Mäpchen für beſeſſen, aus
bere für eine Phantaftin, nur ſehr wenige glaubten am
ihre göttliche Sendung. Allein ihr Benehmen gewann
bie Herzen, da war nichts don ber Einwirkung bämoni-
icher Kräfte, nicht von Ueberjpannung oder Schwärmerei
zu fpüren. Johanna gab fih als ein jchlichtes Land⸗
mäbchen und rebete wie jedes andere einfache Kind des
Volks über alle Dinge des gewöhnlichen Lebens; nur wenn
bie Rede auf ihre Erfcheinungen, auf das an fie ergangene
Gebot und auf: die ihr befohlene Kriegführung kam, wurbe
fie von hoher Begeifterung ergriffen und jprach fo beredt,
baß fte alle Zuhörer mit fortriß. Als man ihr vorhielt:
fie behaupte von fich jo unerhörte Dinge, wie man noch
in feinem Buche gelefen babe, fagte fie mit Stolz: „Im
ben Büchern meines Gottes fteht mehr als in ven
eurigen.” Einem Mönche, der ihr bemerllih machte:
werm Gott Trankreih durch ein Wunder reiten wolle,
jo bebürfe es ja feiner Krieger, erwiderte fie treffend:
„Die Krieger werben fämpfen und Gott wird ihnen ben
Sieg verleihen.” Einem Doctor, der. ein ſchlechtes Patois
ſprach, entgegnete fie auf bie ſpöttiſche Frage, in welcher
Sprache die Heiligen mit ihr gerebet, wibig: „Inu einer
reinern al® bie Eurige ift.‘“ Den Zweifel eines Kar-
meliters, warum fie zu ihrer Beglaubigung feine Zeichen
und Wunder thue, fchlug fie mit den kühnen Worten
nieber: „Kommt mit nach Orleans, ba werbet ihr bie
Zeichen ſehen, die Gott zu thun mir aufgetragen hat.”
Solde und Ähnliche Antworten, die edle und ſchwung⸗
Johanna H’Arc, die Jungfrau von Orleans. 245
volle Redeweiſe, ber mächtige Einbrud, ben jebermann
von der Sungfran empfing, die alten Weifiagungen, daß
Frankreich durch ein Mädchen aus großer Noth errettet
werden follte, dies alles wirkte zufammen, um die Com⸗
mifſion günftig zu ftimmen. Sie gab fchlieklich ihr Gut-
achten dahin ab: fie hätte an Johanna nichts gefunden,
was dem fatholifchen Glauben und chriftlichen Leben zu⸗
wider fei, nichts al Demuth, Frömmigkeit, Ehrbarkeit
und Einfalt, daher in Betracht eines Nothſtandes, ver
feine Hoffnung übriglaffe als auf Gott, der Köntg bie
Dienfte des jungen Mäpchens wohl annehmen bürfe, auf
daß man nicht fie zurückweiſend fich der Gotteshülfe un⸗
werth mache.
Während vie Gelehrten noch unterfuchten, hatte das
Boll Längft für die Sungfrau Partei genommen, ver
leicht entzündliche Sübländer war hoch erfreut, als er
vernahm, daß das wunderbare Mädchen an ber Spite
des Heeres jtreiten follte, man faßte wieder Muth und
zog mit neuer Hoffnung in ben heiligen Krieg für bie
Befreiung des Vaterlandes.
Johanna erhielt vom König eine nach der Geftalt
ihre® Körpers gearbeitete Rüftung. Mit Beinfchienen
bekleidet, darüber den purpurnen, goldgeſtickten Waffen-
rod, auf dem Kopfe den Helm und in ver Rechten ein
mit fünf Kreuzen gezeichnetes, auf ihr Geheiß aus ber
St.-Ratharinentirche zu Fierbois geholtes Schwert, fo zog
fie Hinaus in den Streit, gefolgt von einem Stallmeifter,
zwei Pagen, zwei Herolven und einem Kaplan. Auf ihrer
Fahne von weißer Leinwand war zwijchen zwei anbeten-
den Engeln das Bild des Erlöſers dargeftellt, in der einen
Hand die Weltkugel haltend, mit der andern bie Lilien
Frankreichs fegnend, darunter die Worte: Jeſus Maria.
Die heilige Katharina hatte ihr die Fahne in einer Bi⸗
246 Johanna d'Are, Die Jungfrau von Orleans.
fion gezeigt und zu ihr gejagt: „Nimm biefes Barmer
vom Könige des Himmels und trage es kühn!“
Orleans Liegt auf dem rechten Ufer der an biefer
Stelle von Oſten nach Weften ftrömenven Loire. Auf ver
rechten Seite hatten die Engländer die Stadt durch eine
Menge von Werken eingefchloffen und auch auf dem linfen
Ufer ſchon Fuß gefaßt, venn die Brücke, die beide Ufer
verband, war von ihnen erftürmt und befegt worden. Um
in die Stadt zu gelangen, mußte die Jungfrau einen
Umweg über Bloi8 maden. Hier waren 3000 Mann
Entſatztruppen verfammelt und große Vorräthe zur Ber-
proviantirung von Orleans aufgehäuft. Der Proviant
jollte zu Schiff ftromaufwärt® der hartbebrängten Feſte
zugeführt werben, die Truppen follten fich zu Lande bort-
hin bewegen.
Sohanna hatte im Auftrage ihrer himmliſchen Führer
verlangt, auf dem rechten Flußufer binzuziehen und das
Belagerungsbeer zu durchbrechen, allein die Kriegsoberften
fanden dies zu gewagt, weil bort bie ftärfiten feindlichen
- Schanzen waren, fie bintergingen die Jungfrau und führ-
ten die Mannjchaft auf dem linken Ufer. Die Strafe
folgte ihrem Mangel an Vertrauen in die Kriegsfunft
des von ben Heiligen unterwiefenen Mädchens auf bem
Fuße. Als fie der Stadt gegenüber ankamen, fanden fie
neue Werfe, die fie nicht vermutbet, es fehlte an Kähnen,
um überzujegen, man ſah fich deshalb genäthigt, nad
Blois zurüdzufehren, daſelbſt über die Brüde zu ziehen
und nun doch auf dem rechten Ufer das Glüd zu ver-
fuchen.
Sohanna war höchlich erzürmnt, daß man fie getäufcht,
und machte den Oberften bittere Vorwürfe Als Graf
Dunois, der Commandant von Orleans, zu ihr kam,
fragte fie herrifh: „Seid Ihr es, der den Rath gab, daß
Johanna b’Arc, bie Jungfrau von Orleans. 247
ih an biefer Seite des Fluſſes käme und nicht geraben
wegs da, wo Talbot und die Engländer ſtehen?“ Graf
Dimoi® erwiberte entſchuldigend, daß er und noch weiſere
Führer den Rath gegeben, weil fie es für ficherer gehal-
ten. Die Jungfrau antwortete mit Hoheit: „Der Rath
meines Gottes ift weifer und ficherer al8 ber Eurige.“
Johanna konnte ſich nicht entfchließen, mit dem Heere
nach Blois zu marſchiren, ſondern beſtieg einen Kahn
und ſchiffte ſich mit 200 Mann nach Orleans ein. Am
29. April 1429 309 fie in die Stadt. Im einem noch
jest vorhandenen Tagebuche eines Bürgers, ber biejen
Einzug mit angefehen und die Stimmung ber Bürger⸗
haft treu gejchilvert bat, heißt e8 über die Ankunft ver
Jungfrau: „So große Freude war, ale ob Gott jeldft
vom Himmel herniedergelommen wäre, das Volk folgte
ihr wie einem heiligen Engel.” Am näcften Morgen
jandte fie ihre zwei Herolde an Talbot und Suffolf, die
englifchen Feldherren, und forberte fie im Namen Gottes
auf, dem Herrn bie Ehre zu geben und abzuziehen.
Zalbot behielt ven einen Herold zurüd und ließ ihr durch
ben andern Beichimpfungen jagen.
Am 4. Mai kam das Entfagheer, die Blockade glüd-
lich durchbrechen, in ver Stadt an und nun begannen
bie ‚Berathungen, was weiter zu thun ſei. Es ging merf-
würdig zu im Sriegsrathe. Die Männer waren für vor-
fihtige, Halbe, ſchwache Mafregeln, das Mäpchen ftimmte
ſtets für kühne, geniale Streiche. Meift ſetzte fie ihren
Willen durch, und Dunois hat nachmals geurtheilt, daß
ihre militärtfchen Rathichläge eher aus göttlicher Ein»
gebung als aus menjchlicher Berechnung entfprungen feien.
Am Tage nach dem Einzuge der franzöftichen Hülfs-
truppen jchläft die Sungfrau um bie Mittagszeit, neben
ihr liegt die Tochter des Hauſes, in dem fie Wohnt.
248 Johanna d’Arc, bie Jungfrau von Orleans.
Plöglich fährt fie auf, verlangt nach ihren Waffen, ihrem
Pferde und ruft dem herbeieilenden Pagen zu: „Da, blu
tiger Knabe, warum fagft du mir nicht, daß franzöftiches
Blut vergoffen wird.” Sie ergreift die Fahne und ftärmt
nad) dem Burgunder Thore. Hier ftürzen ihr verwm-
bete SKrieger entgegen. Eine Schar Hatte ohne Befehl
auf eigene Hand eine Schanze der Englänber angegriffen
und war mit blutigen Köpfen zurüdgeichicdt worden.
Johanna fammelt die Fliehenden, fie ftellt fich an ihre
Spite, erobert die Schanze und pflanzt port fiegreich ihr
Banner auf.
Am folgenden Tage ift das Himmelfahrtsfeſt, ba
raftet fie, aber am Freitag fett fie mit 4000 Neitern auf
das linke Ufer der Loire über, um bier die Befeftigungen
ber Engländer zu zeritören. Zwei Werke werben ge-
nommen, das feftefte, ein auf der Brüde nahe am Ufer
ſtehendes hölzernes Schloß, wiberfteht. Da der Abend
hereinbricht, befiehlt die Jungfrau, für heute abzulafien,
aber niorgen den Angriff zu erneuern. Allein das Schloß
ift Durch zahlreiche Schanzen gedeckt, die kundigſten Haupt⸗
leute erflären, man brauche doppelt fo viele Truppen, als
man zur Hand habe, und einen Monat Zeit. Der Kriegd-
rath befchließt, einen fo hoffnungsloſen Kampf zu ver
hindern, und noch fpät am Abend empfängt Johanna in
ihren Quartter ven Beſuch eines hohen Dffiziers, ber ihr
biefen Beſchluß meldet. Sie fertigt ihn ab mit ben
Worten: „Ihr feid in Euerm Rathe geweſen, ich in bem
meinen. Seid überzeugt, ver Rath meines Herrn wird
vollbracht, der Rath der Menſchen zumichte werben.“
Zu ihrem Kaplan gewendet, fährt fie fort: „Steht morgen
früh auf, Haltet Euch in meiner Nähe, denn ich werde
morgen viel Arbeit haben, mehr als je, und mein Dlut
wird fließen bier über meiner Bruſt.“
Johanna d'Are, die Jungfrau von Orléans. 249
Am Morgen des 7. Mai ging e8 heiß ber in ber
Stadt. Die Oberften wollten diesmal durchaus nicht
nachgeben, fie fürchteten, in fo veriwegenem Sturm alles
zu verlieren. Johanna ritt unbefümmert um ihren Wiber-
ſpruch von ihrem Quartier ab und verficherte ſieges⸗
gewiß ihrem Hauswirth, daß fie am Abend über bie be-
freite Brüde heimkehren würbe. Als fie an das Thor
kommt, findet fie es verichloffen. Gebieterifch fordert fie,
man ſolle öffuen, allein die Wache hat ftrengen Befehl,
ihr nicht zu geborchen. Es entipinnt fich ein heftiger
Zwift zwifchen Sohanna und ven Heerführern, bie ganze
Bürgerjchaft tritt auf die Seite des heldenmüthigen Mäp-
chene, die Führer werden gezwungen, bie Schanzen anzu-
greifen. Der Kampf ift blutig, die Franzoſen erleiven
ihwere Berlufte, ſchon ift Mittag vorüber, und ermübet
weichen die Angreifer zurüd, Da fpringt die Inngfrau
jelbft in den Graben, febt bie Leiter an, und klimmt in
bie Höhe. Don einem Pfeile zwiſchen Hals und Schulter
getroffen, ftürzt fie herab und wird fortgetragen. Graf
Dumois findet fie auf dem Raſen liegen, ber Pfeil ſteckt
tief, mann bemüht fich vergeblich ihn herauszuziehen, fie
letvet große Schmerzen und weint wie ein Sind. Plöb-
lich verklärt fich ihr Geficht, fie bat foeben eine Erſchei⸗
nung ihrer Heiligen gehabt, mit vafchem Griffe reißt fie
jelbft ven Pfeil heraus und fagt echt franzöfifch: „Es ift
nicht Blut, was aus ver Wunde quillt, fondern Ruhm.“
Dumois will die Truppen in die Stadt zurüdnehmen, fie
aber beſtimmt ihn, zu warten. Nach einer Weile fpricht
fie: „Wenn der Wind die Banner nach der Schanze zu
webt, greift zu den Waffen.” Sie betet; plöglich erhebt
fih ein frifcher Luftzug, die Fahnen wehen ver Schanze
zu und Johanna ruft begeiftert: „Zu ben Waffen, bie
Schanze ift euer!” Der Sturm gelingt, die Engländer
250 Iohanna d’Arc, die Jungfrau von Orleans.
fliegen auf die Brüde, um ſich von da in das Schloß |
der Thürme zu retten; aber die Brüde bricht, und alle
ertrinfen in ber Loire. Das Schloß wird erobert und
gleichzeitig von einer andern Schar ber auf dem rechten
Ufer angelegte Brüdenkopf genommen. Johanna zieht
am Abend, wie fie verheißen, über die befreite Brüce in
die Stadt. Am andern Tage heben die Engländer bie
Belagerung auf, und die Jungfrau hat den erften Theil
ihrer Sendung vollbracht, denn Orleans entjegen umd ben
König nach Reims zur Krönung führen, das find bie
zwei Siele, welche ihr die himmliſchen Mächte geftedt
baben.
Bon Orleans eilt Johanna nach Tours, wo ber König
Hof Hält, und fordert ihn auf zum Krönungszuge nad
Reims. Aber um dorthin zu gelangen, muß man fih
in einem weiten Halbkreife um Paris herumzieben, es iſt
ein Weg von 50 deutſchen Meilen, alle Land ift in
Veindeshand, alle Städte auf diefer Straße find von ben
Engländern beſetzt und der König gebietet nur über 6 —
700 Streiter. Bor ver Tollkühnheit des Plans ver
Jungfrau erbeben bie muthigften Männerherzen. Man
macht ihr Gegenvorfchläge, das englifche Heer zu verfol-
gen, ihm feine Baſis, die Normandie wegzunehmen, einen
Schlag gegen Paris zu verfuchen. Sie geht auf nichts
ein. Reims, Reims ift ihr einziger Gedanke, ihr letztet
Wort,
Wollen wir begreifen, weshalb Sohanna’s Heilige fo
großen Werth auf eine Ceremonie legen, bie doch nur bie
Beglaubigung eines beftehenden Verhältniſſes ift, dam
müſſen wir und in die Anfchauungsweife des Mittelalters
verjegen. Den Völkern jener Zeit galt die Krönung als
eine wirkſame Kraft, durch welche das Tönigliche Amt
jeine höhere Weihe empfing. Der König, deſſen Stim,
Johanna b’Arc, bie Jungfrau von Orleans. 251
Druft und Pulſe das heilige Salböl ver bei Chlodwig's
Taufe von einer Taube aus dem Himmel gebrachten
Ampoule befeuchtet Hatte, war wirklich und wefentlich in
den Augen der damaligen Franzojen ein anderer, als ber
von Land und Leuten vertriebene Dauphin. Endlich
einigte man fich dahin, daß zuvörderſt die um Orleans
liegenden, in der Gewalt ver Feinde befindlichen Städte
genommen, und daß dann bie Vorbereitungen zum Krö⸗
nungsmarjche nach Reims getroffen werben follten. Der
König übertrug den Oberbefehl feinem Vetter, dem Her-
zog von Alencon, bie treibenbe Feder des Kriegs aber
war der Heldengeijt der Jungfrau.
Bor Yargeau, einem Städtchen unfern Orleans, wel-
bes von dem tapfern Suffolf vertheidigt wird, treffen
die feindlichen Heere aufeinander. Johanna kämpft in
ber vorberften Reihe, ein gewichtiger Stein wirb aus ber
Stadt geſchleudert, er fliegt wuchtig gegen ihren Helm,
allein der Stein zerfpringt, die Jungfrau tft unverfehrt.
Schon naht Erſatz, die Oberften rathen, von dem Unter
nehmen abzulaffen, indeß das Mädchen brängt wie früher
zum Sturm, und der Sturm gelingt, Suffolk ergibt fich,
die Stadt ift bezwungen. Da eilt der gewaltige Talbot,
ver erfte Kriegsbeld Englands, mit Verjtärfungen von
Paris herbei und bietet bei Patay, etliche Meilen nörd⸗
Ih von Orleans, ven Franzoſen eine Schlacht an. Die
Schlacht wird angenommen. Johanna fragt, ehe ber
Kampf anhebt, die Ritter mit weithin fchallender Stimme:
„Habt ihr gute Sporen?” Die Ritter antworten ver-
wundert, e8 gevenfe von ihnen niemand an biejem Tage
zu fliehen. Sie ruft lauter als zuvor: „Sorgt für gute
Sporen, ihr werdet fie brauchen, um die Engländer ein-
zubolen.” Boll Begeifterung werfen fich die Franzoſen
auf ihre Feinde, nach furzem Handgemenge ift bie eng-
252 Iohanna d’Arc, die Jungfrau von Drltane.
liſche Linie durchbrochen, von finnlofer Angft ergeifien
fuchen die Scharen Talbot’8 ihr Heil in der Flucht, es
beginnt ein raſendes Sagen, Talbot jelbft wird gefangen
genommen, fein Heer löſt fih auf, Im Volksmunde lebt
noch heute das Gedächtniß der blutigen Jagd von Patav.
Von dieſem Tage an nahm man einen unermeßlichen
Umſchwung wahr. Tauſende verließen die Fahnen der
Engländer und ſtrömten ihrem Könige zu, mit dem wun⸗
berbaren Mädchen war ver Sieg, die Franzoſen vertrau:
ten, baß fie ihr Werk vollbringen werbe, auf ihre Geg—⸗
ner aber fiel der Schredien vor der Here von Orleans,
und dieſer Schreden war fo groß, daß man in Englant
Strafgejege gegen diejenigen erlaffen mußte, die ſich ber
Heerfolge nach Frankreich weigerten. Cine Stadt nab
ber andern überreichte dem Könige ihre Schlüffel, nad
furzer Gegenwehr öffnete Troyes dem rechtmäßigen
Herrn die Thore, bald darauf fiel das feite Chälons unt
am 16. Juli 1429 309 Karl VII. in Reims ein. Schon
am 17. Juli war die Krönung. Johanna ftand währen
ber Teierlichkeit, ihre Fahne in ver Hand, am Hoch⸗
altar. Sie Iniete, die erfte von allen, vor dem Gefalbten
nieder und ſprach: „Edler König, nun ift das Wohl:
gefallen Gottes erfüllt, ver da wollte, daß Ihr einzöget
in Reims, um Eure heilige Weihe zu empfangen, e:
weijet, daß Ihr der wahre König fein, dem Frankreich
gehört.” Es war der Höhepunkt ihres Lebens, ihre Pro:
phezeiung war zur Wahrheit geworben, ihre Miſſion er:
füllt. Ihr Vater, ihr Oheim und ihre Brüder famen
nah Reims und waren die Zeugen ihrer Herrlichtet,
ber Hulbigungen, bie alle ihr darbrachten. Der König
ehrte die Dienfte der Jungfrau dadurch, daß er ihren
Geburtsort Domremy für ewige Zeiten von allen Ab
Johanna b’Arc, bie Jungfrau von Orleans. 253
gaben befreite. Es war die einzige Belohnung, um bie
fie gebeten.
Bliden wir nun noch einmal auf das Wejen und das
Betragen Johanna's in ihrer kriegerifchen Laufbahn zu⸗
rüd. Sie hatte zu ihrer perfönlichen Verfügung zwölf
Pferde und erhielt als bie Führerin einer beſondern
Schar eine Kriegskaſſe bis zu 12000 Livres, bie ihr
Stallmeifter verwaltete. Sie gab mit vollen Händen;
wenn man fie ermabnte, ſparſam zu fein, pflegte fie zu:
jagen: „Ich bin zum Zrofte der Armen und Hülflofen
geſandt.“ Ste trug beftändig männliche und Eriegerifche
Keidung. Schon bei ihrem erften Auftreten in Chinon
erftaunte man allgemein, wie jicher und elegant fie zu
Pferde ſaß, wie geſchickt fie die Waffen hanbhabte, ob-
gleich fie beides niemals gelernt und geübt hatte. Im
die Detail® ber friegerifchen Operationen mifchte fie fich
nicht, fie begnügte fich, die leitenden Ideen anzugeben,
und fie that dies, wie fie ausdrücklich verficherte, auf
Örund der Mittheilungen und Befehle der Heiligen, bie
ihr fortwährend erfchtenen. Ihre Weberzeugung vertrat
fie im Kriegsrath mit der äußerften Hartnädigfeit. Zwei
ihrer Brüder begleiteten fie im Felde als ihre Ehren-
waͤchter. Ihr Duartier nahm fie ſtets bei achtbaren, an-
gejehenen Frauen. In der Sclaht war fie immer
voran, zog aber niemals das Schwert, fonbern wehrte
tie Streiche der Feinde nur mit ber Lanze ab. Niemals
hat fie einen Menjchen getöbtet. Ihre Fahne war ihr
loſtbarſtes Kleinod, fie ſchwenkte das Banner mit bem
Bilde des Exrlöfers, um bie Ihrigen zum höchſten Kraft-
anſtrengung zu begeiftern.
Es ift ſeltſam, daß Schiller in dieſem Punkte fo auf-
jallend von der gefchichtlichen Wahrheit abgewichen ift
und aus der Jungfrau eine mitleidloſe Kriegerin gemacht
254 Johanna d'Arc, bie Jungfrau von Orltant.
bat, dte nicht einmal durch das Flehen des zarten, wehr-
ofen Knaben Montgomery gerührt wird, fondern un
barmberzig jeden Engländer nieberftößt, der ihr vor bie
Klinge kommt. Man darf wol fragen, was ift poetiſch
ihöner, die Iungfrau der Gefchichte, die nur ber be-
feelende Geift der materiellen Kräfte ift, oder pie biutige
Amazone des Dichters?
Johanna's zartes, weiches Gemüth tft im Kriegöfeuer
nicht hart geworben. Sie war leicht zu Thrämen gerührt
und weinte oft über das Elend bes Kriegs. Nach ber
Schlacht war fie das Erbarmen felbft, fie verband Ber-
wundete, tröftete Sterbende, beichügte Gefangene. Ihr
Herz war frei von perjönlichem Haffe gegen bie Eng
länder. Als bei Orleans die Brücke über pie Loire brad
und fo viele ihrer Feinde ertranfen, rief fie dem Lord
Stansdale zu: „Glacidas, Glacivas, ergib Dich dem
Könige des Himmels, du Haft mich eine Soldatendirne
genannt; ich habe große8 Mitleid mit deiner Seele und
mit ben Seelen der Deinigen!“ Dabei floffen ihr vie
Thränen über die Wangen. Im Heere hielt fie auf
jtrenge Zucht, fie verjagte die fchlechten Weiber, eiferte
gegen das Schwören und Fluchen und that fo viel fie
vermochte dem Rauben und Plünvdern Einhalt. Ihre
Frömmigkeit hatte durchaus nichts Krankhaftes, fie wohnte,
jo oft e8 ging, den öffentlichen Gottesbienften bei, unter:
warf fich aber niemals ben in jener Zeit gewöhnlichen
ascetifchen Uebungen und Selbftpeinigungen. Ihr Wunſch
war, das Heer follte ein heiliges Heer von Gottesftreitern
fein, auf diefes Ziel richtete fie unabläffig ihre Thätig
feit. Ueber ihre Ausdauer in Ertragung von Strapazen
war jebermann erftaunt. Sie faß vom Morgen bis zum
Abend gerüftet zu Pferde und bedurfte nur wenig Nab-
rung. An Feſttagen oder im Drange ver Ereignifle ge
Johanna b’Arc, die Jungfrau von Orleans. 955
noß fie oft den ganzen Tag über gar nichts und nahm
nur am Abend etwas Wein mit Waffer und Brot. Ihre
Haltung war fo ehrfurchtgebietend, daß die frivolften
Gavaliere in ihrer Gegenwart niemals etwas gegen bie
guten Sitten und ben Anftand zu reden ober zu thun
wogten. Bor ihrem reinen Auge ſchwand die Begierbe.
Ein Zeitgenoffe, ein Herr von Laval, fchreibt an feine
Großmutter in einem noch erhaltenen Briefe: Etwas
wahrhaft Göttliches fcheine aus ihr hervorzuleuchten, wenn
man fie jehe und höre. Es war natürlich, daß nicht blos
bie Furcht der Feinde, fondern auch die Verehrung ihrer
Freunde alles Maß überftieg. Das Volk vergötterte fie,
und wer ihre Hände und Kleider Füffen konnte, hielt fich
für bochbeglüdt! Der Jungfrau waren dieſe Huldigungen
unangenehm, fie entzog fich ihnen und wehrte fie ab, wo
fie e8 irgend vermochte. Mehreremal äußerte fie, daß
fie Gott bitte, er folle ihr Herz dadurch nicht hochmüthig
werben laffen.
Das ift das aus den zuverläffigftien Quellen ge-
ihöpfte, wahrheitsgetreue Bild von Johanna, der Fung-
frau auf ihrer Siegesbahn von Orleans nach Reime.
Unmittelbar nachdem der König gekrönt ift, macht fich
bei unjerer Helpin eine Veränderung bemerkbar. Schon
früher hatte fie geäußert, ihre Zeit fei kurz, ein Jahr
oder etwas darüber. Jetzt antwortete fie auf Die gelegent-
lihe Frage des Erzbiſchofs von Reims, wo fie nad
ihrer Meinmg fterben würbe: „Wo es Gott gefällt, ich
weiß von Ort und Stunde nicht mehr als Ihr ſelbſt.“
Dann blickte fie gen Himmel und fuhr in fchwermüthigem
Zone fort: „Sch habe erfüllt, was ber Herr mir auf
getragen bat, Drleans zu befreien und ten König nad)
Reims zu führen. Möchte e8 Gott meinem Schöpfer ge-
fallen, daß ich nun zurückkehren dürfte zu Vater und
256 Johanna b’Arc, bie Jungfrau von Orleans.
Muter, ihnen zu dienen unb ihre Heerbe zu weiden mit
meinen Schweftern und Brüdern, die fich jehr freuen
wärben, mich zu fehen.” Diefe Worte bezeichnen uns
bentlih, wie fie innerlich ftand. Sie jah ihre Aufgabe
als beenbigt an. Ihre himmlischen Führer unterſagen ihr
zwar nicht, beim Heere zu bleiben, aber fie offenbaren
ihr nichts mehr über das, was fie thun fol. ‘Die Jung:
fran nimmt an den folgenden Ereigniffen nur als Brivat-
perjon theil, nicht mehr als bie Beauftragte des Himmels,
deshalb erflärt fie auch, daß fie ſich von jet ab ur
durch den Rath der Oberften beftimmen laſſe. Johanna
war innerlich unzufrieden, fie Hatte jich in dem Könige
getäuſcht und fagte ihm oft ftarfe Sachen über jeine
unmännliche Schlaffheit. Die Eiferfucht, ver Neid und
ber nie endende Hader unter den Großen erfüllten fie
mit tiefer Betrübniß. Ihr Getft war theilweife gebrochen,
bie anfängliche Begeifterung für das heilige Necht ihres
Königs konnte fich inmitten des Heinlichen Hofs nicht
auf ihrer Höhe halten, fie war froh, als endlich bie
Waffenrube zu Ende ging und der Krieg von neuem be
gann.
Mit 16000 Bewaffneten marjchirte der König nad
ber Normandie und dann, ba die Engländer wichen, gegen
Paris. Statt ohne weiteres anzugreifen und mit aller
Kraft vorwärts zu drängen, vergeubete man -bie foftbare
Zeit mit nußlofen Unterhandlungen. Paris rüftete in
zwiſchen und jchlug bie erjten Stürme ab. ‘Dennoch wäre
ed genommen worben, hätte nicht ber König eigenfimig
die Referven in Saint Denis feftgehalten, hätte er, wie
man ihm rieth, am folgenden Tage ven Angriff erneuert.
Statt deſſen befahl er den Rüdzug. Die Niederlage vor
den Wällen von Paris erjchütterte das kaum erftarfte
Vertrauen in die Sache des Königs und ben Glauben
Johanna b’ATc, bie Jungfrau von Orleans. 257
an die Unüberwinblichkeit feines von Johanna geführten
Heeres fo mächtig, daß der Chronift von diefem Tage
Ihreibt: „So warb der Wille der Jungfrau und Das
Heer des Königs gebrochen.” Aber nicht blos der Wille,
auch das Herz der Iungfrau warb gebrochen. ‘Das mit
bem Hergange ımbelannte Volt maß ihr die Schuld bei
und machte fie verantwortlich für das vergeblich geflofjene
Blut, einzelne verwunbete Krieger vergaßen fich fo weit
Verwünfchungen gegen fie auszuſtoßen.
Während der König im Winter unthätig an der Loire
weilt und fich die Zeit durch Fefte und Kurzweil aller
Art vertreibt, macht Sohanna fühne Streifzüge. Im der
Oſterwoche 1430 wirft fie fih nah Melun und fchirmt
die Stadt vor den Feinden. Als fie auf dem Wall
iteht, erjcheinen ihr die Heiligen von neuem und verfün-
digen ihr, fie werde noch vor Johanni in Gefangenfchaft
gerathen. Sie weint und flebt: Lieber den Tod, nur
nicht Gefangenſchaft. Aber die bimmlischen Stimmen
lagen ihr: Es müßte alſo gefcheben, Gott werde ihr aber
ausbelfen. Am 23. Mai 1430 macht die Iungfrau aus
Compiegne einen Ausfall gegen die Burgunder. Der
Ausfall wird zurückgewieſen, die Krieger ftürzen zurüd
in die Stadt, Johanna kommt mit den letten am Thore
an, indeß das Thor ift verfchloffen und wird troß ihres
Rufens nicht geöffnet. Die Feinde umringen fie, muthig
verfucht fie ſich burchzufchlagen und das freie Feld zu
gewinnen, da wird fie ergriffen und vom Pferde gerifien,
fie ergibt fih dem Baſtard von Vendöme, ihr Geichid
iſt erfülft.
Es fiegt etwas tief Tragifches darin, daß fie erft
innerlich geknickt wird, ehe fie äußerlich untergeht. Auch
Stiller hat diefen Zug benußt, aber ganz abweichend von
der Gefchichte. Nach Schiller erfolgt der Bruch ihres
XXI. 17
258 Johauna d'Are, die Jungfrau von Orletant.
innern Lebens dadurch, daß fie beim Zweikampf mit
bem englifchen Ritter Lionel plöglich von einer leiven-
ichaftlichen Liebe für ihren fchönen Feind ergriffen wird
und dadurch in Zwieſpalt mit ihrem Gelübbe emiger
Sungfräulichfeit geräth. Dergleichen ift nie gejchehen, unt
äfthetifch betrachtet ift dieſes Motiv bei weiten weniger
zart als bie feine Motivirung der wirklichen Geſchichte,
wonach jich ver Bruch dadurch vollzieht, daß Johanna’?
hoher idealer Geift die Gemeinheit und Schlechtigfeit dee
äußern Materials, welches fie doch zur Vollbringung
ihrer Miffion nöthig hat, nicht durchdringen und beherr
ſchen kann. Sehen wir num, wie das Ideale in ihr, da
es fih auf Erden nicht verwirklichen kann, im Märtyrer:
tode jeine Verklärung findet.
Im Lager der Feinde brach maßloſer Jubel aus, ald
bie Kunde erfcholl: die Here von Orleans ift gefangen‘
Der Baftard von Vendoͤme übergab die Gefangene feinem
Lehnsheren, dem Grafen von Luxemburg, umb biefer
iperrte fie in den feſten Thurm des Schloſſes Beaurevoir.
Hier quälen Angft und Furcht Johanna's Seele, trotzdem,
baß ihre Heiligen es verbieten, ftürzt fie fich von bebeu:
tender Höhe des Thurmes herab, um zu entlommen. Man
findet fie bewußtlos auf dem Wall liegen, aber fein
Glied ift gebrochen. Der Herr von Luremburg verkaufte
jeine edle Beute für 10000 Livres an den König ven
England. Man brachte fie nach Rouen und bielt fie hier
im ftrengften Gewahrfam. Um die Flucht zu verhindern,
legte man ihr eine eiferne Kette um ben Leib, an welde
ein großer, hölzerner Klotz befeftigt war, Tag und Naht
wurde fie von brei in ihrem Zimmer verweilenden Sel—
baten bewacht, ja man Tieß einen eifernen Käfig an—
fertigen, um fie bineinzufperren; indeß kam glüdlicer
weile dieſes entjetliche Vorhaben nicht zur Ausführung.
Johanna D’Arc, bie Iungfrau von Orleans, 9259
Johanna war in offenem Kampfe gefangen, nach ba:
maligem Wölferrechte konnte fie in ewigem Gefängniß
gehalten, ober gegen Löſegeld freigegeben werben; richten
und gar töbten durfte man die Gefangene nicht. Allein
Englands Bolitil forderte ihre Vernichtung, nur dadurch
föjte fih der Bann, welcher feit dem Tage von Orleans
auf den Truppen lag. Und auch die leibliche Vernich—
tung genügte ihren grimmigen Feinden nicht, nach ber
ſchon in jener Zeit befannten Marime: erſt avilir dann
demolir, wollte man fie zuvor moralifch vernichten. Dazu
bot fih folgender Weg: bie Jungfrau follte durch den
Spruch der Kirche als ein mit der Hölle verbundenes
Weſen gebranpmarft und verurtbeilt werden, und Fran
zojen jollten das Urtheil fprechen, damit es unpartetiich
erſcheine und Glauben fände.
Nach bereitwilligen Werkzeugen brauchte man nicht
lange zu fuchen. Der aus feinem Biſchofsſitz vertriebene
Biſchof von Beauvais, Pierre Couchon, verjtand ſich mit
Freuden dazu, den Proceß, welcher, wie es hieß, nad)
Gott und der Vernunft eingeleitet werben follte, auf:
zunehmen; er gefellte fich den päpftlichen Inquifitor bei
und bildete aus einer großen Zahl von Gelehrten einen
Gerichtöhof, der über Johanna's Schuld oder Unſchuld
entſcheiden follfe; 113 Franzofen, Doctoren ber Xheo-
logie, Stiftsherren und Baccalauren, Doctoren der Rechte,
Licentiaten, Notare und Mitgliever der parifer Univerfi-
tät gaben fich, zum Theil für reichliche Tagegelder, bie
England zahlte, dazu ber, den Feinden ihres Landes
burch die Verdammung der Jungfrau ben wichtigiten
Dienft zu leiſten.
Am 9. Ianuar 1431 fand die erfte borbereitende,
am 21. Februar die erfte öffentlihe Stkung in dieſem
unerhörten Glaubensgericht ftatt. Die Jungfrau forderte,
17*
260 Johanna d'Are, die Jungfrau von Orleans.
die Hälfte ihrer Richter folle aus der Königlich franzöft-
chen Partei genommen werben; dieſe Forderung war in
den Nechten begründet, fie ward aber nicht beachtet. Da-
gegen verlangte man von ihr einen Schwur, daß fie bie
Wahrheit jagen wolle. Nach einigem Zögern leiftete fie
den Eid auf die Evangelien, jedoch mit dem Vorbehalt:
fie werde die Wahrheit fagen in allem, was ven Proceß
betreffe. ‘Der öffentliche Ankläger, Johann Eftival, Stifte:
berr von Beauvais, einer von denen, welche bie Yung
frau am meiften mit Schimpfnamen belegt hatten, ſchwur,
daß er gegen fie nichts thue aus Gunft, Race, Furcht
ober Haß. Hierauf, fo Heißt es weiter, erklärten bie
gegenwärtigen geiftlichen und fehr gelehrten Deänmer,
erfabreu in göttlichen und menfchlichen Rechten, daß fie
mit aller Milde und Frömmigkeit vorfchreiten wollten,
feine Rache oder körperliche Beſtrafung bezweckend, fon
bern nur Belehrung und Zurüdführung auf den Weg
bes Heils. Johanna möge fich aus ven Gegenmwärtigen
Rathgeber erwählen, oder man wolle ihr einige zugejellen.
Die Jungfrau antwortete: „Ich danke cuch und allen
Gegenwärtigen, daß ihr mich wegen meines Glaubens
und zu meinem SHeile ermahnt und mir Natbgeber ar-
bietet, doch hege ich nicht die Abficht, mich von dem Rathe
Gottes zu trennen. Auch that ich nichts als nach feiner
Eingebung.”
Nah jenem Eide des Anklägers und den milden Er
Öffnungen der Verſammlung hätte man ein ruhiges, be
jonnene® Verhör, eine gerechte Beweisführung erwarten
jollen, ftatt deifen lautete die vor aller Unterfuchung ent-
worfene Klagefchrift wörtlich jo: „Johanna ift fehr ver-
bächtig, Anſtoß gebend und ſteht bei allen guten und ernten
Perfonen befanntlih im fchlechteften Rufe. Sie tft zu
erllären für eine Zauberhere, Wahrfagerin, faliche Pros
Zohanna d’Arc, die Jungfrau von Orleans. 261
phetin, böfe Geijter anrufend und beſchwörend, abergläubig
und böſen Künſten ergeben, übelvenfend von unferm fatho-
liſchen Glauben und ihn verleugnend, Böſes redend und
thuend, Gott und feine Heiligen läfternd, aufrührerifch,
ben Frieden ftörend und bindernd, Kriege ftiftend, nach
Menfchenblut graufam dürſtend, zu deſſen Vergießung an⸗
reizend, Zucht und Anſtand ihres Geſchlechts ganz preis⸗
gebend, die Kleidung bewaffneter Männer unzüchtig tra⸗
gend, wegen dieſer und anderer Dinge von Gott und
Menſchen verabſcheut, Uebertreterin aller göttlichen, natür⸗
lichen und kirchlichen Geſetze, Verführerin der Fürſten
und Völker, erlaubend und beiſtimmend, daß man ſie zur
Schmach und Verehrung Gottes verehre und anbete, ihre
Hände und Kleider zum Küſſen darbietend, ſich Götter⸗
ehre anmaßend, ſchismatiſch, ſacrilegiſch, blasphemiſch,
ketzeriſch.“
Durch dieſe ſchwülſtige, lügenhafte Einleitung der
Klagſchrift war der Gang des Proceſſes im voraus be-
zeichnet, und in der That hat die Eriminalgefchichte kaum
ein ähnliches nichtswürdiges Verfahren aufzuweifen ale
da8 gegen Johanna. Sie wurbe täglich vier Stunden
lang verbört, bald über viefen, bald über jenen Gegen
ſtand, alle fragten auf fie hinein, ſodaß fte wieberholt
bitten mußte, e8 möge einer nach bem andern reben.
Die meiften fuchten eine Kunft darin, ihr recht verfäng-
lihe Fragen vorzulegen, mitleidige Beifiger, welche es
wagten, fie zu warnen und zu ihren Gunjten zu reden,
wurden durch Drohungen zum Schweigen gebracht ober
ausgeftoßen aus der Zahl der Nichter. Obgleich es um-
jonft war, daß man Spione in ihre Heimat ſchickte, ihr
Leben und ihren Wandel auf das genauefte erforjchen
ließ, entblöbete man fich dennoch nicht, fie zu verleumden,
insbeſondere ihre SKeufchheit zu verbächtigen. Die glaub:
362 Johanna dH’Arc, bie Jungfrau von Orleans.
würbigften Zengniffe über ihr Betragen wurden unter:
drückt. Die Protofolle verfchwiegen, was für bie An-
geflagte ſprach, fie waren angefüllt mit den abgeſchmack⸗
teſten Bejchuldigungen. Nichts machte Einprud auf bie
Nichter, das Urtheil war beichloffen, ehe ber Procek
begann.
Die Haltung und das Benehmen der Jungfrau ver
Gericht zwingt uns vie höchſte Bewunderung ab. Sie
behält ftet8 die Geiftesgegenwart, verliert niemals ihre
Würde und antwortet nicht blos der Wahrheit gemäß,
fondern immer treffend und bebeutungsvol. Mit ım-
glaublihem Scharffinn erräth fie die Fallen, die man ihr
ftellt. Das Gericht geht darauf aus, ihr Wunderkräfte
und Wunbertbaten anzubichten, um daraus ihr Bündniß
mit dem Teufel abzuleiten. Man fragt fie deshalb nad
einem verzauberten Baum in ver Nähe ihres Dorfes,
nach Feen, Springwurzeln und allerhand Gerüchten, bie
fih auf fie beziehen follen. Sie erwibdert: Bei Dom
remy ftehe wie bei vielen Orten ein großer Baum,
um welcden fie mit andern Mädchen einigemal getanzt
und Kränze aufgehbangen babe. Bon Elfen, Geiftern,
Beſchwörungen habe fie faum einiges als Sage gehört,
aber nichts geglaubt, nichts gejeben, noch gejagt, noch ge
tban. „Eine Manpragoramurzel fenne ich nicht, auf
habe ich nie gefagt, ich würde feinbliche Gejchoffe und
Pfeile auffangen, wohl aber die Soldaten zum mutbigen
Ausharren und zur Tapferkeit ermahnt.“
Man nannte e8 ein Berbrechen, daß fie Männer-
kleidung angelegt und fich die Haare abgejchnitten habe,
fie fagte: „Das find Kleinigkeiten, doch that ich es nicht
nah Menfchenrath, fondern nach dem Gebote Gottes.”
Ein Richter fragte fie: ob fie glaube, ſich im Stande
der Gnade zu befinden ? Hätte fie Ja gefagt, jo Hätte
Johanna b’Arc, die Jungfrau von Orleans. 263
man es als fünblichen Hochmuth ausgelegt, denn die
Kirche erlaubte nicht, fich des ewigen Heils volllommen
gewiß zu fühlen, ihr Nein konnte als Bekenntniß ihrer
Schuld gebeutet werden. Die Jungfrau antwortete: „Bin
ih im Stande der Gnade, fo möge mich Gott darin er-
halten, bin ich nicht darin, ihn mir verleihen, denn lieber
möchte ich fterben, als nicht in der Liebe Gottes fein.”
So wehrte fie die liftigen Streiche ihrer Feinde fiegreich
ab, die Bemühungen, fie aus ihren eigenen Ausfagen
ſchuldig zu finden, ſchlugen fehl. Man griff nun zu
einem noch fchänblichern Mittel. Ein Geiftlicher wurde,
in der Kleidung eines franzöfiichen Kriegsgefangenen, zu
ihr ind Gefängniß gebracht, er folfte fich für einen ver
Ihrigen ausgeben, ihr Vertrauen gewinnen und fie aus-
borchen. Zwei Männer waren binter einem verbangenen
Fenſter verftect, fie hatten Befehl, aufzufchreiben, was fie
hören würden. Johanna ahnte nicht, daß fie belaufcht
wurde, fie fprach inbeß unbefangen auch im Gefängnif
und zeigte fich in den vertrauteften Neben ſchuldlos wie
bei ven öffentlichen Verhören. Ueber den Dauptpunft,
die himmliſchen Ericheinungen, die Stimmen, welche ihr
alles befohlen, gab die Jungfrau die bünbdigften Er-
färungen. Sie verficherte wiederholt: „Sie kommen von
Gott, und ich bin von Gott gefandt. Ich hege mehr
durcht etwas zu fagen oder zu thun, was ihnen misfallen
fönnte, als vor euch Rede zu ftehen. Längft wäre ich
geitorben, hätten mich meine himmliſchen Führer nicht
täglich geftärkt und gehoben. Dit höre ich die Stimmen,
ja bisweilen weden fie mich aus dem Schlafe, oft habe
ih die Heiligen unter Menfchen gefehen, während biefe
fie nicht fahen. Jene Stimmen find meift die ber hei-
ligen Katharine und Margarethe, over auch des Engels
Michael.”
264 Iohanna d'Are, die Jungfrau von Orleans,
Auf die wunberliche Frage: „Hatte der heilige Mi-
hael Haare ?“ antwortete Johanna : „Warum follten fie
ihm verfchnitten fein ?* Auf die boshafte Frage: „Er⸗
ſchien dir der heilige Michael nackt?“ enigegnete fie:
„Glaubt ihr, daß Gott nicht habe, feine Heiligen zu be»
Heiden ?
Der Proceß ſpann fich lange hinaus. Aus dem zer-
jtreuten Aeußerungen Johanna's fette man bie ſonder⸗
barften Anklagen zufammen. Man fagte: fie glaubt Teiner
Todſünde ſchuldig zu fein, fie bilvet fich ein, menfchliche
Stimmen und Leiber von denen ber Heiligen unterfcheiben
zu können, fie läßt Heilige und Engel nicht englifch, ſon⸗
bern franzöfifch reden und auf franzöfifcher Seite ftehen,
fie weifjagt nicht durch Gott, fondern nach den Empfin-
bungen ihres Herzens, woraus Aufruhr, Sektirerei und
viele8 andere Uebel zum Untergangs ver Kirche und bed
fatholifchen Volks entiteht u. |.w. Man fah vermutblich ein,
baß vergleichen ungereimte Bejchuldigungen eine misliche
Baſis für die Verdammung wären, beshalb entichlofjen
jih die Häupter zu einer Maßregel, die nichts Geringere?
war als ein Schurfenftreih. Man ließ nämlich auf be
trügerifche und boshafte Weiſe aus den Acten zwölf An-
Hageartifel ausziehen und dieſe jo abfaffen, als wären
alle darin enthaltenen Auflagen erwieſen; bie Jungfrau
hatte fie indeß niemals eingeräumt. ‘Der Auszug ent
hielt nicht gerade volle greifbare Unwahrheiten, aber alles,
was für Johanna ſprach, war befeitigt, alles, was gegen
fie benugt werden fonnte, war aus dem Zufammenbange
geriffen und in das fchwärzefte Licht geftellt.
Was in den Artikeln wider fie vorgebracht wurte,
läßt fich in zwei Punkte zufammenfaffen: erftens, daß fie
bartnädig darauf beharre, männliche Kleidung zu tragen,
obwol in der Bibel 5 Mofes, Kap. 22, Vers 5 geboten
Johanna d'Are, die Jungfrau von Orleans. 265
it: „Ein Weib fol nicht Mannskleider tragen, und ein
Mann nit das Gewand eines Weibes anziehen, denn
ed it ein Greuel vor Jehovah.“ Und zweitens, daß fie
DOffenbarungen und perfönliche Erfcheinungen von Heiligen
borgebe.
Der Actenauszug wurde an bie parifer Univerfität
und an etliche funfzig Gelehrte und Coporationen zur
Begutachtung geſchickt. Für die Engländer und ihre Partei
war e8 unmöglich, die Angaben über die Ericheinungen
ver Jungfrau gläubig anzunehmen, man hätte fie ja in
biefem alle für eine Gottgefandte und ihren Kampf ale
ein gottgefälliges Werk anfehen müſſen. Es konnte fich
baber jedermann jagen, wie bie Gutachten ausfallen wür-
ven. Sie lauteten einhellig dahin: Johanna ſei ſchuldig,
göttliche Dffenbarungen abergläubifch erfunden zu haben;
weil diefe Offenbarungen zu fo großem Blutvergießen ge-
führt, müffe man annehmen, daß fie die Wirfung böfer
Geifter feien, mithin ſei Beklagte überführt, böfe Geifter
verehrt, Gott entjagt, die Heiligen geläftert, Götzendienſt
getrieben zu haben und vom Glauben abgefallen zu fein.
Die Borausjegung dieſes Verdammungsurtheils, dem
fi) die meiften Doctoren und Magifter in Rouen an-
Ihloffen, war natürlich die, daß die Angellagte das in
den Artikeln Enthaltene wirklich ausgefagt habe. Gleich»
wol fand man e8 auch nach dem Urtheil gar nicht nöthig,
ver Jungfrau jene Artikel einzeln vorzuhalten und fie
darüber zu verbören. ‘Drei von ben Richtern, welche fich
gegen dieſes Verfahren ausfprachen, wurden hart an-
gelaffen und zu feiner Situng mehr berufen. Man eilte
zum Ende und forberte: Johanna folle fich entweder dem
Spruche der Kirche unterwerfen oder widerrufen. Wei:
gerte fie die Unterwerfung, jo hieß fie eine ungläubige
Ketzerin, unterwarf fie ſich, fo mußte fie jedes wider fie
266 Johanna d’Arc, bie Jungfrau von Orleans,
gefällte Urtheil anerkennen. Widerrief fie nicht, jo war
fie ftrafbar wegen ihrer Halsſtarrigkeit, wiberrief fie, jo
war ihre zeither geleugnete Schuld offenbar. Man fieht,
verloren war Johanna auf alle Fälle.
Am 24. Mai 1431 fand auf dem Kirchhofe der Abtei
Saint-DOuen die Schlußverhandlung ftatt. Zwei große
Gerüfte waren aufgefchlagen, auf dem einen nahmen bie
Biihöfe Beauvais und Noyon, der Carbinal von Eny-
land und 33 Beifiker Platz, das andere war für bie
Jungfrau und einen Prebiger Namens Ewarb beftimmt
Ringsum ftand unzähliges Volk, in ver Nähe hielt ſich
ber Scharfrichter bereit, fein trauriges Amt zu verrichten.
Noh am Abend zuvor hatte Johanna betheitert, daß
Gott ihr gebeißen, was fie gethan, und daß fie nichts
anderes jagen könnte, felbft wenn fie den Scheiterhaufen
ichon angezündet fähe und ven Henfer bereit, fie hinein⸗
zuwerfen. Set nahte die firchtbare Stunde ber Ent-
ſcheidung. Der ihr zur Seite ftehende Geiltliche Eward
begamm eine lange Prebigt über den Text: eine vom
Stamme abgejchnittene Rebe kann Leine Früchte bringen.
Johanna hörte die abjcheulichiten Vorwürfe mit ftiller
Ergebung an, als aber Eward fagte: „Ich rebe zu bir!
Durch dich, du nichtsnutziges, ſchändliches, mit jeder
Unehre belaftetes Weib, ift die franzöfiiche Geiftlichkeit
verführt und bein König ein Ketzer und Schismatiter
geworben“, da flammte ihre Begeifterung noch einmal
auf. Sie rief dem frechen Bußprediger zu: „Herr, id
wage e8 bei Verluft meines Lebens zu jagen und zu be
ichwören, daß mein König ver edelfte Chriſt ift unter
allen Ehriften, daß er Glauben und Kirche liebt, daß er
in feiner Weiſe fo ift, wie Ihr ihn befchreibt.” Man
gebot ihr Schweigen und ftellte ihr nochmals die Wahl:
entweber ihre vorgeblichen Offenbarungen als fataniiht
Johanna b’'Arc, bie Jungfrau von Orléans. 9267
Borjpiegelungen zu widerrufen, dann folle fie in milder
Haft gehalten werden, oder den qualvollen Feuertod zu
fterben. Es wurde ihr eine Abichwörungsformel vor-
gelefen. Sie fagte: „Ich verjtehe den Sinn diefer Worte
nicht und appellire an den Papft und das Allgemeine
Concil.“ Mean verwarf ihre Appellation und feste ihr
heftiger zu. Seufzend fagte fie: „Ihr werdet viel Mühe
haben, mich zu verführen.” Noch immer vermochte fie es
nicht über ſich, ihre himmliſchen Erfcheinungen für Lug
und Trug zu erflären und fo ben geiftlichen Selbſtmord
an fich zu vollziehen. Der Bifchof Cauchon fing an, das
Verdammungsurtbeil zu verlefen, der Henker griff nach
ihr, da enblich brach bie Herrliche zufammen. Sie fagte:
„Sch will Lieber widerrufen als verbrannt werden. Haben
bie Männer der Kirche entſchieden, daß die Erfcheinungen,
welche ich Hatte, nicht behauptet werben können, jo will
ich fie nicht behaupten.” Der Gerichtsichreiber las ihr
bie Abſchwörungsformel vor, fie fagte die Worte nad
und unterzeichnete eine Schrift, die man ihr vorlegte.
Die Formel ſelbſt ift uns nicht erhalten, Obren- und
Augenzeugen haben verfichert, e8 feien nur fech® bis acht
Zeilen geweſen. Johanna habe darin verfprochen, nie
wieder männliche Kleidung und Waffen tragen zu wollen.
Eine Chronik aus jener Zeit berichtet folgenden Wort-
laut: „Sohanna, genannt die Sungfrau, elende Sünbderin,
nachdem ich ben Irrthum erfannt babe, in ben ich ge-
fallen war, und durch die Gnade Gottes zurüdgelehrt bin -
zu unferer Mutter, der heiligen Kirche, auf daß man ſehe,
daß ich nicht beuchlerifch, fondern mit gutem Herzen und
gutem Willen zu ihr zurüdgefehrt bin, befenne ich, daß
ih ſchwer gefündigt habe, indem ich lügenhaft mich an-
ſtellte, Offenbarungen gehabt zu haben von feiten Gottes,
feiner Engel und ber heiligen Katharine und Margarethe.
268 Johanna d’Arc, bie Jungfrau von Orleane.
Alle meine Worte und Thaten, welche gegen bie Kirche
find, widerrufe ich und will in der Einbeit mit der Kirche
fterben, obne je von ihr zu weichen.“
Denken wir das erwähnte, von Sohanna gegebene
Beriprechen, nie wieder männliche Kleider und Waffen
tragen zu wollen, binzu, fo fennen wir im wejentlichen
ben Inhalt deſſen, was fie beſchwor.
Bei ven Acten befindet fich ein endlos langes Sünben-
befenntnig, mit ihrem Handzeichen verfeben, es ift jedoch
untergefchoben. ‘Der Geheimfchreiber des Königs ven
England führte ihr die Hand beim Lnterzeichnen eines
Documents, deſſen Inhalt fie nicht verftand.
Der Bilchof von Beauvais nahm Johanna, weil fie
ihre Kebereien widerrufen babe, in ven Schos der Kirche
wieder auf. Er hatte zu einem zürnenden Engländer,
ber ungehalten barüber war, daß die Jungfrau am Leben
bleiben jollte, gefagt: „Ich muß mehr das Heil als ven
Tob der Angeklagten fuchen!” Diefe vorgebliche Milde er-
hielt jogleich ihre Erläuterung, als er fich zu dem Mädchen
wandte und ſprach: „Wie du gefündigt haft gegen Gott
und die Kirche, verurtbeilen wir dich aus Gnade, den
Reit deiner Tage im Gefängniß zuzubringen bei dem
Brote der Schmerzen und bei dem Waſſer ver Trübfal,
um deine Sünden zu bereuen und nicht in biefelben
zurückzufallen.“
So war denn das große Werk moraliſcher Vernichtung
durch Johanna's eigene Erklärung vollbracht. Es haben
dabei viele Urſachen zuſammengewirkt: einmal bie furcht⸗
bar rohe Behandlung im Kerker, durch welche ihre Körper:
fräfte aufgezehrt und infolge deſſen auch vie Energie ihres
Geiſtes gelähmt war, ſodann die vollsmäßige Ehrfurdt
vor den Prieftern. Die Jungfrau mochte einen Moment
jelbft irre werben, als fie hörte, daß fo viele gelehrte
Johanna b’Arc, die Jungfrau von Orléans. 269
Männer, ja die Kirche felbft, ihre Erjcheinungen für er-
logene Hirngefpinfte erflärten. Die natürliche Scheu
vor dem Feuertode fam Hinzu, um fie zur Nachgiebigfeit
zu beftimmen, und endlich batten ihr die bimmlifchen
Stimmen im Gefängniß von Erlöfung im allgemeinen
geredet, was fie auf Befreiung aus der Gefangenfchaft
tur einen Sieg ber Franzoſen, nicht auf ven Märtyrer-
tod gedeutet hatte. Gewiß vereinigte fich alles, um auch
ben kräftigſten Geift enplich zu beugen. Es ift nicht auf-
fallend, daß Johanna zulegt widerrufen, man muß fie
bewundern, daß fie fo lange widerſtanden hat.
Während die Jungfrau auf die von uns angegebene
Beife in Rouen von dem geiftlichen Gericht gepeinigt
und gezwungen wurde, fich und ihre Sendung moralifch
zu zerftören, blieb der König Karl VII, unthätig in ven
Grenzen feiner nun wiebergeiwonnenen Länder. Mean
hätte eriwartet, daß er alles aufbieten würde, feine Netterin
zu retten, er machte indeß nicht einmal einen Verſuch,
fie loszukaufen. Wie leicht war es für ihn, mit Nepref-
jalien an den in felner Gewalt befindlichen engliichen
Kriegögefangenen zu drohen, wie gewichtig mußte e8 fein,
wenn er die Nefultate der Prüfung von Poitiers geltend
machte! Dort hatten ebenfall® Männer des Rechts und
ter Kirche über Johanna zu Gericht gefeffen, unter ihnen
ber Vorgefette des Biſchofs von Beauvais, und von ihnen
war das Mädchen für eine gute fatholiiche Ehriftin von
reinem Herzen und unfträflihem Wandel anerfannt wor-
den. Es war fo natürlich, daß man der Unterfuchung
in Rouen bie Unterfuchung in Poitierd entgegenftellte,
oder den fchiebsrichterlichen Spruch des Papftes angerufen
hätte, Auch das gefchah nicht. Johanna wurde verlaſſen
ton den Ihrigen, felbft von bem Könige, der ihr das
Reich und die Krone verbanfte. Das Motiv biefes em-
270 Johanna b’Arc, bie Iungfrau von Orleans.
pörenden Undanks mag gewefen fein, daß der König be
forgte, man würde ihn, wenn er eifrig für die Gefangene
Partei nehme, ver Mitwiſſenſchaft, vielleicht jogar ber
Theilnahme an ihren Zauberfünften bejchulpigen.
Johanna wurde nach dem Urtbeilsipruch nicht, wie
das Geſetz es erforderte, in geiftliche Klofterhaft, ſondern
in ihren frühern Gewahrfam zurücdgebracht und bafelbit
fort und fort mit Ketten beladen. Ste mußte nach wie
vor die Gegenwart wüfter Kriegsknechte in ihrer Zelle
dulden und wurde von neuem an einen Bloc gefchlofien.
Sie ließ fi) Frauengewänder anlegen und das Haar nad
Art der Büßerinnen fcheren.
Am dritten Tage nach der feierlichen Gerichtöfigung,
e8 war gerade der Sonntag Trinitatis, wird dem Biſchof
gemeldet, die Jungfrau habe ihr Gelübde gebrochen und
Mannsfleivung angezogen. Er ſendet Geiftliche zu ihr,
. um fie zu verhören, die Wachen verweigern ihnen indeß
ben Zutritt. Am Montag kommen die Richter feldft zu
ihr in den Kerker. Befragt, warum fie wieder männ-
liche Kleivung trage, gibt fie zu Protokoll: „Weil ih
diefe Weife, mich zu Heiden, für anftänbiger halte, fo-
lange ich von Männern bewacht werde. Ueberdies habt
auch ihr nicht gehalten, was ihr verjpradht, daß ic
bürfte zur Meffe gehen, ven Leib des Herren empfangen,
und daß ich nicht mehr an diefen Bloc gefejfelt würde.”
Das Protokoll verfchweigt, was wir durch die Ausfage
ihres Beichtvaters wiffen, daß man ihr die Frauengewänder
weggenommen, abſichtlich die Männerfleivung hingelegt,
und daß ein großer Lord fie durch feine Zupringlichkeit
gezwungen hatte, in ber Männertracht ven Schuß ihrer
Ehre zu fuchen. Als ihr der Biſchof vorbielt, daß fie
ihren Schwur gebrochen, antwortete fie: „Ich will Lieber
fterben, als in dieſen Ketten leben. Vergönnt mir, zur
Johanna d'Are, die Jungfrau von Orléaus. 971
Mefte zu geben, gebt mir erträgliches Gefängniß, fo will
ih gut fein und thun, was bie Kirche will.” Der Die
hof fuhr fort: Er habe auch gehört, daß fie noch
immer an ihren vorgebliden Dffenbarungen fefthalte.
Db fie jeit dem legten Donmerstag die Stimmen ber
Heiligen wieder gehört ? Antwort: „Ja.“ Ob fie glaube,
daß fie von Gott fümen? Antwort: „Sa, fie fommen
von Gott.”
Dean macht ihr den Widerjpruch biefer Erklärungen
mit ihrer Abjchwörung bemerklich. Sie entgegnet: „Was
ih damals gejagt babe, ift gegen die Wahrheit gejagt,
nur aus Furcht vor dem Feuer. Aber ich will meine
Buße lieber auf einmal leiden, als länger erbulden, was
ich bier im Gefängniß erduldet. Was in dem Abſchwö⸗
rungszettel jtand, habe ich nicht verftanden, und ich babe
nur in der Vorausfegung widerrufen, daß ed Gott ge-
fiele. Ihr habt mir ſchuld gegeben, gejagt und gethan
zu haben, was ich nie gefagt und gethan habe. Wenn
ihr wollt, will ich Frauenkleider anlegen, weiter thue ich
nichts.”
Sohanna hatte fich wierergefunden, der alte Muth
war zurüdgefehrt. Es ftand nicht das burch die geiftige
Zortur des Proceſſes gefnidte, vor dem euer zitternde
Mäpchen vor dem Biſchof, ſondern bie heldenmüthige,
gottbegeifterte Jungfrau trat ihm gegenüber. Site nahm
den ihr mit jo vieler Mühe abgepreßten Widerruf zurüd
und klagte fich felbft an wegen ber von ihr bewiejenen
Schwäche. Sie fagte: „Gott hat mir durch die heilige
Katbarine und Margarethe fein großes Mitleid Tundge-
than, daß ich an jenem Tage in die Abſchwörung willigte,
um mein 2eben zu retten. Ich würde mich felbjt ver:
bammen, wenn ich leugnete, daß Gott mich gefandt bat.“
Als der Biſchof aus dem Gefängniß trat, wandte er
272 Iohanna d'Are, die Jungfrau von DOrleane,
fih zu den bort verfammelten Engländern und fprad:
„Karewell! Es ift um fie geſchehen, thut euch gütlich !”
Die mittelalterliche Kirche war unerbittlich gegen rüd-
fällige Ketze. Das Gericht warb von neuem berufen
und Johanna von neuem angeflagt. Ohne eine weitere
Unterfuchung, wie es ſich mit dem Kleiderwechſel ver-
halten und ob nicht die Angefchulpigte dazu gemöthigt
worden, ohne die Jungfrau nur zu verhören über bie ihr
beigemeffenen Verbrechen, fällten die Richter, um bie nad
dem Blute ihrer Feindin dürſtenden Engländer zufrieden
zu ſtellen, in der formloſeſten Weiſe und in der höchſten
Eile das Todesurtheil. Es ſollte der Jungfrau bie Ab
ſchwörungsformel vorgeleſen, ihr das Wort Gottes ver:
fündigt und fie dann der weltlichen Gerechtigkeit, das
hieß dem Feuertode, übergeben werben.
Am Morgen des 30. Mat 1431 kam ihr DBeichtvater
zu ihr ins Gefängniß. Er hörte ihre Beichte, reichte ihr
auf ihr Verlangen ven Leib des Herren und bereitete fie
zum Sterben vor. ALS er ihr anfündigte, daß fie noch
heute die ihr zuerfannte Strafe erleiden müſſe, ſchrie fie
auf: „Weh mir! Es ift entjeglich, daß mein frilcer,
junger Leib, der nie befledt warb, zu Aſche gebrannt
werden fol! Ach, eher wollte ich fiebenmal enthauptet
werben als einmal verbrannt!“ Zu dem Biſchof von
Beauvais fagte fie: „Biſchof, ich fterbe durch Euch!“
Er erwiderte: „Du mußt es in Geduld hinnehmen, denn
du Haft dein Verſprechen nicht gehalten und bift zu
einer frühern Uebelthat zurüdgelehrt.” „Ach“, ent
gegnete fie, „hättet Ihr mich in ein geiftliches Gefängniß
geführt und anftäntigen und würbigen Wächtern über-
geben, fo wäre das alles nicht geſchehen. Ich berufe mich
von-&Euch auf Gott, vem Rächer alles Unrechtes, welches
Ihr mir anthut.”
-
Johauna b’Arc, bie Jungfrau von Orleans. 273
Im Gebet und in ver feiten Zuverficht, daß fie noch
denfelben Tag im Parabiefe fein würde, fand die Jung⸗
frau die Faſſung, ihrem furchtbaren Geſchick ftanphaft
entgegenzugeben. Sie ließ fich in Frauengewänder kleiden
und beftieg um 9 Uhr morgens ven Wagen, der fie unter
ſtarker Bedeckung englifcher Soldaten auf ven alten Markt
von Rouen bradte. Hier waren zwei Gerüfte aufge-
ſchlagen, das eine für die Nichter, das andere für ihr
Opfer, ven Gerüften gegenüber auf einem hochgemauerten
Unterbau der Scheiterhaufen. Der Verfaſſer der zwölf
AÄrtifel Hielt eine wüthende Predigt über 1 Korinther,
Kap. 26, Vers 12: „So ein Glied leidet, fo leiden alle
Glieder mit‘, ein Text, der fich fo leicht zu Gunften ver
Jungfrau deuten ließ. Er ſchloß mit den wie bie bitterfte
‚ronie klingenden Worten: „Ziehe Hin in Frieden!“
Hierauf erhob fich der Biſchof und verlas folgendes Ur-
tbeil: „Im Namen des Herrn. Amen. Nachdem wir
zu Recht beſtehenden Richter dich, Johanna, genannt bie
Jungfrau, bereits bes Abfalls, des Götzendienſtes, ber
Anrufung der Teufel und verjchiedener anderer Verbrechen
ſchuldig erkannt, aber weil die Kirche den Reuigen nie-
mald ihre Arme verfchließt, dich zur Buße zugelaffen
baben, indem wir glaubten, daß du aufrichtig widerrufen
und gelobt, nicht in biefe Irrthümer zurüdzufallen, fon-
bern in ber fatholifchen Einheit mit der Kirche zu ver-
barren: ift dennoch dein Herz verführt worden vom
dürften der Lüge und du bift zurüdgefallen in beine
Yüge, wie ein Hund zum Ausgefpieenen zurüdfommt. Du
baft erklärt, daß du mit falfchem Herzen und nicht in
guten Glauben auf beine Irrthümer verzichtet Haft:
terobalben erklären wir durch gegenwärtige Sentenz bich
für rückfällig, Tegerifch und für ein verfaultes Glied. Auf
daß du nicht die andern anſteckeſt, ftoßen wir bich aus
XXI. 18
274 Johanna D’Arc, die Jungfrau von Orltans.
dem Schoße der Kirche nnd übergeben dich der weltlichen
Gewalt, indem wir fie bitten, bich mild und menfchlid
zu behandeln, mit dem Tode oder Verftümmelung ber
Glieder dich verfchonend.”
Der Schluß ift nur die übliche heuchlerifche Formel
firchlicher Todesurtheile. Das weltliche Gericht war bei
Strafe, ſelbſt für fegerifch gehalten zu werben, verpflichtet,
eine ibm mit biefer Formel übergebene Perſon ſofort
verbrennen zu laffen.
Hierauf wurde das Haupt Johanna's mit einer pa-
pierenen Mütze bedeckt, welche bie Injchrift trug: „Kegerin,
rückfällig, abtrünnig, götzendieneriſch.“ Auf einer an ihrer
Seite befindlihen Tafel ftand gefchrieben: „VJohanna,
welche fich die Jungfrau nennen läßt, iſt eine Lügnerin,
bes Volle Betrügerin, gefährlich, abergläubifch, Gott
läfternd, irrgläubig, gößendienerifch, grauſam, liederlich,
des Teufels Verbündete, ſchismatiſch, ketzeriſch.“
Die Jungfrau behielt in ihrer letzten ſchrecklichen
Stunde ihre Würde und ihre Faſſung, ſie kniete nieder
und betete fo inbrünſtig, daß die Umſtehenden ohne Aus-
nahme ergriffen und viele Augen naß wurden. Sie ver:
gab allen ihren Feinden und erbat von allen, benen fie
wehegethan, Verzeihung. Site zeigte weber ſtoiſche Gleich:
gültigfeit noch haltungsloſe Verzweiflung, ſondern edles
Gefühl und hohen Muth. Für ihren Gang zum Tode
gab man ihr auf ihre Bitten ein Kreuz in die Hand,
ein andered wurde auf ihren Wunfch aus ber nahen
Kirche geholt und ihr vorangetragen. Dem Prediger
mönd, der ihre legten Geheimmiffe bewahrte, erflärte fie
nochmals feierlich, ihre Erfcheinungen feien feine Einbil-
dungen gewejen, was fte getban, habe fie auf Gottes
Defehl gethan. Mit den Worten: „Rouen, Rouen, jolft
bu nun meine legte Stätte fein! Ich fürchte, du wirft
Zohanna b’Arc, bie Jungfrau von Orltans. 275
viel leiden müfjen wegen meines Todes“, ſchickte ſie fich
an, zum Sterben zu gehen. Das Volk, welches zugegen
war, wurde unruhig, es warb von einer Ahnung erfaßt,
daß bie unfehlbare Kirche im Begriff jet, ein ungebeueres
Berbrechen zu begeben. Die Solvaten trieben die Priefter
zur Eile an. Da rief der Stabtrichter von Rouen ohne
weitern Urtbeilsfpruch dem Henker zu: „Thue beine
Pflicht!“ Johanna wird ergriffen, auf ven Scheiterhaufen
geführt und bier an einen hervorragenden Pfahl feftge-
bunden. Ihr Beichtvater geleitet fie, ſchon züngeln bie
Flammen von unten herauf; fie ermahnt ihn, fich eiligft
zu retten. Noch einmal hört man ven Namen bes Er-
löfer8 aus ihrem Munde, dann umbülft fie die Lohe und
bie keuſche Lilie Frankreichs hat ihr Martyrium über-
ftanden.
Auch bier übte der Tod feine verjöhnende Macht. Alle
Zuſchauer waren auf das tieffte erjchüttert. Viele Eng⸗
länder von Auszeichnung fprachen laut aus, „man babe
eine Heilige verbrannt”. Einer ihrer Feinde, ber felbit
Holz zum Scheiterhaufen getragen, behauptete, eine weiße
Zaube fei aus den Flammen emporgeftiegen. ‘Der Henker
jelbft Fam, von Gewiffensbiffen gepeinigt, zu dem Beicht-
vater und fragte: „Ob Gott ihm wol den Frevel vergeben
fönne, ven er an einer fo heiligen Frau begangen ?” Er
batte beim Aufräumen von bem Körper der Jungfrau
nichts mehr gefunden als ihr mit Blut überfülltes Herz;
biefes war nicht mit verbrannt.
Kurze Zeit darauf erließ der König von England ein
Schreiben an Kaifer, Könige, Fürften und Carbinäle zur
Rechtfertigung des Proceſſes. Es machte indeß nur ges
ringen Eindrud, denn überall purchichaute man, daß biejes
Gericht fein unparteiifches, daß der Spruch fein gerechter
war, Johanna war tobt, aber bie Engländer ernteten
18*
976 Johanna b’Arc, bie Jungfrau von Orleans.
feine Früchte von ihrer blutigen That. Die gewaltige
Erhebung des Volksgeiſtes, der mächtige Umfchwung ber
Dinge waren nicht rüdläufig zu machen.
Sechs Jahre nach ihrem Ableben z0g der König in
Paris ein, 18 Jahre nachher fiel ihre Opferftätte Rouen
an Frankreich zurüd und nach Ablauf von 27 Yahren
mußten bie Engländer Calais, den legten Platz auf frans
zöſiſchem Boden, räumen.
Kart VII. faß auf dem Thron feiner Väter, und
bie Volksſtimme verlangte gebieterifch die Herjtellung bes
Andenkens der Jungfrau. Der König konnte jich biefem
gerechten Verlangen nicht entziehen, er feste in Rom
einen Nevifionsproceß durch. Der Papſt ernannte einen
geiftlichen Gerichtshof, vor welchem die hochbetagte Mutter
Johanna's erjchien und Necht forderte für ihr unſchuldig
gemordeted Kind. ES wurden 144 Zeugen vernommen,
darunter alle diejenigen, welche die Sungfrau perjönlich ge:
fannt. Nach forgfältiger Prüfung fällte der Reviſionshof
das Urtheil: Dean ftelle e8 Gott, deſſen Geift wehe, wo⸗
hin er wolle, anbeim, über bie Natur der Offenbarungen
Johanna's zu richten, aber die zwölf Artikel ſeien trüge
riih aus den Acten gezogen, das ganze Verfahren in
bem Berbammungsproceß jet wegen vielfacher ſchwerer
Nechtöverlegungen null und nichtig, das Andenken Jo⸗
hanna's der Jungfrau fet alles Schimpfes frei und ihre
Verurtheilung in allen Städten des Königreich® durch
Öffentliche Bekauntmachung als ein Werk der Gewaltthat
und Bosheit zu erflären.
In Rouen warb an der Stelle, wo fie geftorben, eine
feterlihe Proceffion gehalten, der erſte Spruch als be-
trügerifch, arglijtig, boshaft und fchänplich caffirt, vieles
zu ihrem Lobe gejprochen und ein Erucifix aufgerichtel.
Wir find am Ende, denn wir beabfichtigen nicht, eine
Johanna d’Arc, die Jungfrau von Orleans, 277
Erklärung der himmliichen Stimmen und Offenbarungen
zu verfuchen, oder unjere Anficht darüber auseinanverzu-
jeten. Wie man auch in viefem Punkt urtbeilen, ob
man fie al8 wirkliche Geifterericheinungen ober als bie
Gebilde einer reichbegabten Phantafie auffaffen mag, darin
find alle Kritifer und unparteiiſchen orfcher einig,
daß an einen Betrug, an ein Rügengewebe ber Jungfrau
ober des Löniglichen Hofes, in deſſen Dienften fie ſtand,
nicht zu denken if. Johanna jelbft hat an die Realität
ihrer himmlischen Führer geglaubt und in Dingen, bie
ihre Sendung betrafen, prophetifche Blicke in die Zufunft
getban, das beides ift unzweifelhaft gewiß. „Die Jung⸗
frau von Orleans gehört zu ven edelſten und feltenjten
Öeftalten, welche durch das volle Licht der gefchichtlichen
Wahrheit nicht verlieren, fondern in jeder Beziehung ge-
winnen.” Sie ift ein glänzender Beweis für die Wahr-
beit des Gedankens, dag wahre Frömmigkeit im Bunde
mit begeifterteer Vaterlandsliebe von unwiderſtehlicher
Wirkung ijt und ſelbſt bie ſchlimmſten Verhängniffe der
Völker zu wenden vermag.
Die Hexen, Hexenprocefle und Hexenpredigten.
1. Die Hexen.
Am 4. December 1484 erließ ber Papft Imo⸗
cenz VIII. eine Yulle, in welcher er fchrieb: „Wir haben
nicht ohne große Betrübniß erfahren, daß es im einigen
Theilen von Deutichland, in Städten und Dörfern Ber-
ſonen gibt, welche, ihres eigenen Heils uneingebent, von
bem katholiſchen Glauben abfallen, mit böfen Geiftern fid
verbinden und wermifchen, durch ihre Zaubereien mit
Hülfe des Teufels Menſchen und Xhieren ſchaden, bie
Felder und ihre Früchte verderben, ven chriftlichen Glau⸗
ben, ben fie in ber. heiligen Taufe angenommen haben,
verleugnen und, getrieben vom Feind des Menſchen⸗
gefchlechts, viele jchwere Verbrechen begehen” u. |. w.
„Damit nicht die Seuche des Teterifchen Unweſens
ihr Gift zum Unglüd von Unſchuldigen ausbreiten möge”,
trägt Innocenz kraft feines apoftolifchen Berufs ven Keker-
richtern Jakob Sprenger und Heinrich Krämer anf,
‚wider alle Berjonen, weß Standes und Ranges fie fein
mögen, das Amt der Inquifttion zu vollziehen und bie
jenigen, welche fie der vorbemelbeten Dinge ſchuldig finden,
nach ihrem Verbrechen zu züchtigen, in Haft zu bringen,
an Leib und Vermögen zu ftrafen“.
Die Heren, Herenproceffe nnb Herenpredigten. 279
In Deutſchland waren bie Keberrichter verhaßte Leute,
und die päpftliche Bulle ftieß anfänglich fogar bei ben
Bifchöfen, die fih in ihrer Gerichtsbarkeit nicht befchränfen
laſſen wollten, auf Wiverftand; aber ver Katjer Maris
milian erfannte ven Befehl des Papftes am 6. Novem⸗
ber 1486 ausdrücklich an und forberte die Reichsſtände
auf, die Inquifitoren zu unterftügen. Kurze Zeit darauf
erfhien ver ,„‚Malleus maleficarum”, ber „Hexen⸗
bammer”, eine Art Herenbogmatif.
Das Buch zerfällt in drei Theile und handelt im
erjten von ber Zauberei und dem Bunde ber Menſchen
mit dem Teufel überhaupt, im zweiten von den Wirkungen
ber Zauberei und den Schugmitteln gegen fie, im pritten,
ausführlichiten, von dem Verfahren und den Strafen ber
Gerichte wiber Zauberer, Hexen und Unholde. Jene Bulle
und dieſes Buch find zwar nicht die Quelle der Hexen⸗
procefie, vielmehr wurden fchon im 13. und 14. Yahr-
hundert in Frankreich Deren verbrannt; aber Inno⸗
cenz VIII. und die Slegerrichter Sprenger und Krämer,
welche den „Hexenhammer“ verfaßten, um bie Deren zu ver⸗
tigen, baben den Hexenproceß in Deutſchland heimiſch
gemadt und nachfolgende Päpfte haben für andere Länder
ähnliche Bullen erlaffen und überall fanatifche Diener
gefunden, die mit Lift und Gewalt gegen bie Zauberer
zu Felde zogen und zur Ehre Gottes die Teufel mit
teuflifchen Mitteln austrieben. Der Herenproceß bat
gleich einer furchtbaren Krankheit drei Iahrhunderte hin⸗
turch gewüthet und nicht blos Deutichland, fondern
Europa, Indien, das neuentdeckte Amerika, vor allem
Merico und Peru haben unter dieſer entſetzlichen Geißel
geſeufzt. |
„Es iſt“, wie einer unferer berühmteften Suriften
jagt, „ein Drama von unermeßlicher Auspehnung, mit
280 Die Heren, Herenprocefje und Herenprebigten.
bem an Sammer, BVerziveiflungsfcenen und Elend ohne
Maß und Ziel auf der einen, an Aberglauben, Unfinn
und Barbarei auf der andern Seite kaum etwas in ter
Geſchichte verglichen werden Tann.” Dieſes Urtheil ift
bollfommen zutreffend, denn niemals hat der menfchliche
Geift ein jo albernes und fo graufames Syſtem von ger
richtliher Procedur erfunden, niemals hat die Kirche ven
Arm der weltlichen Suftiz frevelhafter gemisbraucht, nie
bat eine Seuche, nie hat ein Krieg fo furchtbares Weh
über bie Völker gebracht, nie find Gelehrte und Laien,
Theologen und Chriften, Päpfte und Kaiſer, Fürften und
Städte, Katholifen und Proteftanten in einem jo rohen,
jo einfältigen, fo verhängnißvollen abergläubiichen Wahn
befangen geweferi. Ja, wenn man bie Opfer zählen könnte,
welche vom 15. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts ale
Heren und Herenmeifter theils unter den Martern ent-
menfschter Hentersfnechte, theil® in den Flammen ber
Scheiterhaufen, in Zeichen und Flüſſen umgekommen find,
man würde mit Schreden entdeden, daß fie fich auf viele
Hunderttaufende beziffern.
Zum Beweife, wie große Dimenfionen ber Heren-
proceß angenommen bat, mögen bie folgenden Zahlen
bienen:
Im Bisthum Würzburg loderten von 1627 bis zum
Februar 1629 nicht weniger al® 29 Brände, in benen
157 Berfonen ven gräßlichen Feuertod ftarben. Das
Verzeichniß „der Herenleut, fo zu Würzburg verbrannt
find‘, ift erhalten und belehrt uns, daß in jevem „Brande“
brei bis neun Menfchen Hingerichtet wurden, und daß
Männer und Frauen, Kinder und Greife, Vornehme und
Geringe, ja fogar Chorherren und Dominicaner bie
Scheiterhaufen befteigen mußten.
Im Bisthum Bamberg wurden von 1627 bis 1630
Die Heren, Herenproceffe und Herenprebigten. 281
wegen Hexerei 285, im Herzogthbum Lothringen in 15
Jahren 90, in dem reformirten Genf in drei Monaten 500,
im Bisthum Straßburg von 1615 bis 1635 fogar 5000
Perſonen mit dem Tode beitraft.
Die Stadt Rottweil bat von 1561 bis 1648: 113, bie
Stapt Nördlingen von 1590 bis 1593:32, die Stadt
Offenburg in nur vier Jahren 60, das Heine Städtchen
Windheim in einem einzigen Jahre 23 Menfchen wegen
Zauberei abgejchlachtet.
In Salzburg wurden im Jahre 1678 in einem einzigen
Proceß 97, in Lindheim bei einer Benölferung von 3140
Einwohnern 23 verbrammt.
Der Keterrichter Balthafar Voß in Fulda rühmte
ih, daß er in 19 Jahren 700 Heren und Zauberer
auf den Holzftoß gebracht babe, und fprach die Hoffnung
ans, es über 1000 zu bringen.
In Braunfchweig war der Eifer um 1600 fo groß,
baß die Brandpfähle, die von ven Herenbränden her⸗
rührten, vor dem Thore einen Wald bilbeten.
In der Stadt Zudmantel in Schlefien hielt der Bifchof
im Sabre 1557 nicht weniger als acht Henker und alle
hatten vollauf zu thun.
Aber nicht blos in Deutſchland, auch in Frankreich,
ber Wiege der Herenproceffe, in Ungarn, Bolen, Italien,
Preußen, Dänemark und Schweben ‚führten geiftliche und
weltliche Gerichte einen erbitterten Krieg gegen die Heren
und fuchten fie auszurotten mit Feuer und Schwert.
England Hatte fogar feinen General-Herenfinder, der in
der Mitte des 17. Jahrhunderts von Stadt zu Stadt
zog, meift auf bejonbere Einladung des Meagiftrats Fam
und für eine anjehnliche Tare ein Gewerbe daraus machte,
Haren zu entveden. Er lieferte Humberte von unglüd-
Iihen Weibsperfonen auf das Schaffot. In Schottland
282 Die Heren, Herenproceffe und Herenprebigten.
trieb ein zweiter Charlatan fein Unwejen. Mehreremal
baten die Bürger einer Stabt in ihrer Angjt vor ben
Heren die Obrigkeit, ven Herenfinder kommen zu laſſen,
damit er die Frauen unterfuche und bem Gericht bie
Schuldigen bezeichne. Der Betrüger wurbe auf Koften
der Stadt geholt und reichlich bewirthet. Er fanb eine
Anzahl von Heren und Tieß fih das Stüd mit 20
Scillingen bezahlen. Später geftand er am Galgen,
baß er ben Feuertod von 200 Weibern verſchuldet habe.
Doc genug der Exrempel, die wir leicht vervollftänbigen
fönnten. Wenden wir uns lieber zu der Frage, wie fih
bie ebenfo merkwürdige als ſchreckliche Erjcheinung der
Herenprocefje erflären läßt?
Zauberer, das heißt Menfchen, von denen man glaubte,
daß fie mit Hülfe dämoniſcher Kräfte Liebernatürliches
bewirken könnten, hat es bei allen Völlern und zu allen
Zeiten gegeben. Keine Nation und feine Zeit fteht jo
tief, daß fie fich nicht zum Zauberglauben erheben Könnte,
feine fteht fo hoch, daß fie biefen Glauben völlig über
wunden hätte. Das Moſaiſche Geſetz bedroht nicht bios
die Wahrfager, ſondern auch die ſich wahrjagen laſſen,
mit dem Tode. Auf den Befehl im 2. Buch Moſes,
Kap. 22, Vers 18: „Die Zauberinnen ſollſt du nicht leben
laſſen“, haben Theologen und Fürften ihre bluttriefenden
Theorien geftüßt.
ALS das Chriftentbum zur herrſchenden Religion wurbe,
fand e8 den Zauber- und Dämonenglauben vor. Es
zerftörte diefen Glauben nicht, aber es geftaltete ihn um.
Die Stelle 1 Mojes, Kap. 6, Vers 1—4, bezog man auf
die Erzeugung von Dämonen und bildete die Lehre anf,
daß Menſchen und Dämonen einen törperlichen Bund
eingehen, daß namentlich Weiber gejchlechtlichen Umgang
mit dem Teufel und mit Dämonen unterhalten koönnten,
Die Heren, Herenproceffe unb Herenprebigten. 283
und daß ſolche Menfchen vom Teufel mit übernatürlichen
Kräften audgeftattet würden, um Schaben zu ftiften.
Je wunberfüchtiger bie Zeit und die Völker wurden
unter dem Einfluß ber römifch-fatholifchen Kirche, die ein
großes Stüd Heidenthum in ihr Dogma aufnahm, befto
geneigter war man, in jeber unbegreiflichen Erfcheinung
die Wirkung verborgener dämoniſcher Kräfte und Weſen
zu feben. Die Zauberei ift mit Recht das ilfegitime
Wunder genannt worden. Wenn jemand in der Kraft
Gottes und mit dem Beftande der Engel handelte, fo that
er Wunder und wurbe unter bie Heiligen verjegt, wenn
aber ein Menjch mit Hülfe des Teufels und ber Dämonen
Krankheiten und Todesfälle hervorbrachte, die Früchte des
gelbes verdarb, oder auch Heilungen verrichtete, jo war
er ein Zauberer. Nicht felten fielen beide Begriffe zu⸗
jammen, und e8 kam lebiglich auf den Stanbpunft an, von
welchem aus man bie Sache anfah. So erſchien z. B.
bie Sungfrau von Orleans ben Franzoſen al® bie be-
gnadigte, von Gott geſandte Retterin, den Engländern
aber als eine vom Teufel befefjene Here. In den katho⸗
liſchen Legenden triumpbirten bie Heiligen über ben Fürften
der Finfternig und feine Diener. Es mußte aber auch
ein Unterliegen möglich fein, ja e8 war denkbar, daß wie
bie Heiligen Gott und den Engeln, die Böfen dem Teufel
md den Dämonen dienten. Da fein Menſch daran
zweifelte, daß ber Teufel und Legionen von Teufels⸗
findern leibhaftig auf der Erde berumfchwirrten, lag es
nahe, ihre Beziehungen zu den Menfchen immer finnen-
fälliger und fleifchlicher zu geftalten. Wie man in Griechen-
land und in Rom von dem Umgang und den Liebichaften
der Götter mit ben Menfchen gefabelt hatte, fo fabelte
bie erhitzte Phantafte Fatholifcher Priefter und Mönche
von bem Verkehr ver Mienfchen mit ben Dämonen. Dan
284 Die Heren, Herenproceſſe und Herenprebigten.
brachte ven Teufeldbund und ben Teufelscultus in ein
Syſtem und warf fie zufammen mit ver Ketzerei.
Zu Ende des 15. Jahrhunderts war bieje Lehre ber
Kirche völlig ausgebildet. Man hatte die ‘Theorie vom
Zeufelsbund und ber Buhlſchaft mit dem Zeufel, ven
ber daraus entjpringenven Keterei, Zauberei und Hexerei
zu einem Dogma erhoben. Aber auch das Volk glaubte
und fürchtete fih. In allen Ländern Europas und m
allen Schichten der Bevölkerung mußte man, baß eitt
Bündniß mit dem Teufel möglich fei und daß man ba
durch das Hexen lernen Könnte. Aber man wußte nod
viel mehr: wie jener Bund abgefchloffen wurbe, welche
Gewalt man dadurch befam, wie e8 auf den Hexenver⸗
jammlungen und den großen Teufelsfeften berging! Wir
führen im Zufammenhange vor, was man ale wahr in
Dezug auf den Verfehr der Heren mit dem Teufel an
nahm, und bemerfen ausdrücklich, daß alles, auch das⸗
jenige, was vielen Lefern als unglaublich, rein unfinnig
und ungebeuerlich erjcheinen wird, durch Hunderte von
Actenftüden, von denen uns viele vorgelegen haben, belegt
wird und baß das ganze Bild treu nach ben Bekennt⸗
niffen ber Deren gezeichnet if. Der Bund mit bem
Zeufel wird entiveber privatim oder öffentlich, entweder
jhriftlih oder mündlich eingegangen. Es find barüber
noch mehrere Urkunden erhalten. So beißt e8 in eimer
Verſchreibung aus dem 17. Jahrhundert: „Ich Louis
Gaudfridy Teifte Hiermit Verzicht auf alle geiftlichen und
zeitlihen Güter, bie mir Gott, die heilige Jungfrau,
alle Heiligen männlichen und weiblichen Gefchlechts im
Paradieſe, beſonders mein Patron, ber heilige Johannes
der Zäufer, fowie bie Heiligen Petrus, Paulus und
Franciscus verleihen können und ergebe mich dem bier
gegenwärtigen Lucifer mit Leib und Seele und allen
Die Heren, Herenproceffe und Herenprebigten. 285
Gütern, die ich befite und jemals befigen werbe, jedoch
mit Ausnahme des Verbienftes der heiligen Sakramente.“
Der Teufel verpflichtet fich dagegen, ben Louis Gaud⸗
fridy zu einem der vornehmften Priefter zu machen, ihn
34 Jahre lang ohne Unglüd und Krankheit leben zu
laſſen und zu bewirken, vaß er von allen Weibern, bie
er begebre, geliebt werde.
In einer andern Schrift, ebenfalls aus dem 17. Fahr»
hundert, trägt ein Soldat dem Teufel feine Seele an,
verlangt aber, daß der Teufel ihn umnfichtbar, ſchuß⸗ und
hiebfeft mache.
Mehrere folcher Urkunden find mit Blut unter-
Ihrieben, gewöhnlich aber begnügt man fich mit einer
mündlichen Verabredung, noch öfter, insbefonbere bei den
Veibern, kommt das Bündniß durch eine Umarmung zu
Stande. Der Zeufel gebt der Negel nach in eigener
Perſon auf Werbung aus. Er trägt eine anftänbige,
meift Schwarze Kleidung und auf dem fchwarzen Hut eine
rothe Feder. Mitunter tritt er mit dem Degen an ber
Seite als Junker, oft aber auch als fchlichter Bürger
auf. Er führt fehr verfchievene Namen, die nach ben
verfchievenen Ländern wechjeln: Alerander, Claus, Volland,
Kasperle, Zuder, Hämmerlein, Teuerchen, Knipperbolling,
Maitre, Berfil, Joly⸗Bois, gelegentlich nannte er fich auch
recht hriftlich: Gabriel, Beter, Baul. Gewöhnlich ift er
in jeder Beziehung geftaltet wie ein Menſch. Etliche
Seren fagen jedoch, er habe einen Pferbefuß, einen Kuh⸗
fuß, einen Hafenfuß gehabt. Er trachtet danach, ein
Weib allein zu treffen, redet mit ihr, macht ihr große
Verfprechungen, gibt ihr auh, wenn fie in Noth iſt,
Geld, welches fich indeß faft immer in Scherben verwan⸗
beit, und bethört die Unglüdliche, bis fie fich von ihm
verführen läßt und ihn als Buhlen annimmt.
286 Die Heren, Herenproceffe und Herenprebdigten.
Der Teufelscultus ift dem Cultus ver Kirche nach⸗
gebildet. Zur förmlichen Aufnahme, die der Umarmung
oft erjt mehrere Jahre ſpäter nachfolgt, tft eine Taufe
nöthig. Sie wird unter Aſſiſtenz von Pathen mit Blut,
Schwefel oder Salz vollzogen. Der Teufel verlangt von
dem ZTäufling, daß er Gott, Ehrifto und der chriftlichen
Religion abjagt, auf die ewige Seligleit Verzicht Teiftet,
ihm als feinem Herrn Gehorfam ſchwört und ihm huldigt.
Hierauf gibt er ihm einen Namen und brüdt ihm auf
irgenbeinen Theil des Körpers das Herenzeichen. Nach
den Ausſagen fpanifcher Deren zeichnet er in den Stern
des linken Auges die Figur einer Kröte, damit andere
Zauberer ihn erfennen, und verleiht vem Aufgenommenen
bie Kunſt, ſich unfichtbar zu machen, in ein Thier zu
verwandeln, zu fliegen und Schaden aller Art zu ftiften.
Das Herenmal bat die Geſtalt eined Heinen Hundes,
einer Ratte, oder eines andern Thiers ober Gegenftandes
und macht die betreffende Stelle des Körpers unempfindlich.
Zu den regelmäßigen VBerfammlungen mußten fich bie
Heren und Zauberer einfinden; wer nicht kam, wurde
entweder mit Gelb geftraft ober auch burchgeprügelt.
Ort und Zeit der DVerfammlungen waren verfchieen
nach ben einzelnen Ländern: ber Broden im Harz, bas
Niefengebirge in Schlefien, der Infelsberg in Thüringen,
der Heuberg in Schwaben haben in Deutſchland eine ge-
wifje Berühmtheit erlangt. Aber auch Frankreich, England,
Schottland, Spanien und Italien haben Berge und
Wiefen, wo der Hexenſabbat gefeiert wird. Die Haupt:
zeiten find die hohen Fefte der Chriften und die Wal:
purgisnacht. Die Heren eilen entweder als Raten oder
Hafen an den beitimmten Ort, ober fie beftreichen fid
mit Salbe und reiten auf Böden oder Gabeln oder Beſen
durch die Luft. Nach Ausiprechung ver Worte: „Obenaus
Die Heren, Herenproceffe und Herenprebigten. 287
und nirgends ein”, geht e8 zum Schornftein hinaus und
auf dem gerabeften Wege zum Iuftigen Gelag. ‘Der
Zeufel fpielt ven Wirth, aber feine Bewirthung ift nicht
immer bie befte, dem er holt das Fleiſch vom Schind⸗
anger und Brot und Salz fehlen. Es fommt vor, daß
reiche Hexen Würfte, Schinken und andere Lebensmittel
mitbringen, ober daß fie auf Befehl ihres Meifters in
bie Keller des nächften Orts fliegen und dort Wein holen.
In einem „kurzen unb wahrhaftigen Bericht und erjchred-
licher Zeitung von 600 Hexen, Zauberern und Teufels⸗
bannern, welche der Bifchof von Würzburg bat verbrennen
laſſen“, Heißt e8: „Es bat auch die Zauberin bekannt,
wie ihrer 3000 bie Walpurgisnacht bei Würzburg auf
dem Kreydeberg auf dem Tanz geweſen, hat ein jeber
bem Spielmann einen Kreuzer gegeben und haben auf
bemfelben Tanz fieben Fuder Wein dem Bilchof von
Würzburg aus dem Keller geftohlen.” Bei dem Mahl
figen bie jungen, vornehmen und fchönen Deren in ber
Nähe des Teufels, die alten, armen und häßlichen Deren
mäfjen die Zeller abwaichen, Holz tragen, Gemüſe pußen
und figen an Tiſchen für fih. Nach dem Efien geht
ver Zanz los. Eine Here, die auf dem Kopfe fteht, dient
als Lichtſtock. Man tanzt nach verſchiedenen Inftrumenten,
bald nach einer Trompete, bald nach einer Querpfeife,
bald nach einer Trommel oder Geige. Der Spielmann
ift meift vermummt und fit häufig in den Zweigen eines
Baums. Im einigen Fällen macht der Teufel felbft bie
Muſik. Der Chor fingt:-
Sarr, harr, Teufel, Teufel, fpring bie, fpring ba,
Hüpf hie, hüpf ba, fpiel hie, fpiel be.
In Schottland ift das Lieblingslied beim Ringeltanz:
Cummer gang ye before, cummer, gang ye,
If yewill dot gang before, cummer let me.
288 Die Heren, Herenproceffe und Herenpredigten.
Wenn eine Here beim Zanz fällt, fo jagt ihr Tänzer
zu ihr: „Du wirft einen rothen Rod bekommen“, d. h. bu
wirft ben Feuertod fterben. Iſt der Tanz zu Ende, jo fröhnt
bie ganze Verſammlung der abjcheulichiten Wolluft. Zu:
legt theilt der Teufel ein Pulver aus und befiehlt ven
Hexen, e8 zum Verberben von Menſchen, Vieh und Felr-
früchten zu gebrauchen. ‘Die Hexenwelt ift bem eben
genau nachgebildet. Wenn man zufammenftellt, was bie
Heren in mehrern Proceffen bekannt haben, fo findet man
einen König und eine Königin, Generale, Fähnriche,
Corporale, Geſchichtſchreiber, Rentmeiſter, Köche und
Herenpfaffen.
Es werden bie Gottesbienfte verhöhnt, Hochzeiten und
andere Feſte gefeiert, nur müffen fi alle hüten, ben
Namen Gottes oder Jeſu zu nennen, weil fonft die ganze
Berfammlung im Nu verſchwindet.
Der Teufel ift übrigens ein ſehr launiſcher Tyrannm.
In dem einen Actenftüd wird er als ein verbrießlicer,
mürrifcher Mann mit einer bumpfen hohlen Stimme ge
fchilbert, der leicht grob wird und auch wol mit bem
Stode breinfährt, in dem andern ift er ein fpaßhafter,
Iuftiger Kauz, er läßt die Deren kopfüber fpringen,
amufirt fih, wenn fie Purzelbäume fchlagen, und lad,
daß ihm der Bauch ſchüttert. Schwediſche Hexen ver:
fihern in einem berühmten Proceß, über den W. Scott
und andere auf Grund ber Acten berichten, der Teufel
jet einmal trank geworden und babe fih von Hexen
Schröpfköpfe ſetzen laſſen, aber bald einen Rückfall be
fommen und fei auf kurze Zeit gejtorben. ‘Die nämlicden
Heren erzählen, der Teufel habe Teibliche Söhne und
Töchter zu Blafulla in Schweden verheirathet, dieſe zeugten
aber nur Schlangen, Kröten und Eidechſen.
Am anſchaulichſten ift das Bild, welches bie 1610 zu
Die Heren, Herenproceffe und Herenprebigten. 289
Logroño im Königreih Navarra verurtheilten 29 Heren
von dem Herenfabbat gegeben haben. ‘Die Heren ver-
fammeln fich jeden Montag, Mittwoch und Freitag, außer⸗
dem an ben großen chriftlichen Tefttagen auf der Bode
wiefe. Der Teufel erfcheint in der Geftalt eines finftern,
zornigen, fehwarzen, bäßlichen Mannes. Er ſitzt auf einem
mit Gold verzierten Thron von Ebenhol; und trägt eine
Krone von Heinen Hömern. Zwei große Hörner bat er
auf dem Hinterfopfe, ein brittes auf ber Stirn. Mit
tem leßtern erleuchtet er den Verſammlungsplatz und
zwar ift das Licht nicht fo hell wie das ber Sonne, aber
heller ale das des Mondes. Aus den großen Augen
iprüben Flammen, der Bart gleicht dem ber Ziege, die
ganze Figur fcheint halb Menich, halb Bock zu fein. An
den Fingern bat er Krallen wie ein Raubvogel, feine
Füße ähneln den Gänfefühen. Bei Eröffnung ver DVer-
ſammlung fällt alles auf pie Knie und betet ihn an,
man nennt ihn Herrn und Meifter, wiederholt die bereits
bei der Aufnahme in den Bund ausgefprochene Losſagung
vom chriftlichen Glauben und Hulbigt ihm durch obfcöne
Küffe. An den Dauptfeiertagen der Tatholifchen Kirche
beichten die Heren und Zauberer dem Zeufel ihre Sin-
ten, die darin beftehen, daß fie nicht fo viel Schaben ge-
ftiftet haben, als ihnen zu ftiften möglich war. Der
Teufel macht ihnen Vorwürfe, geißelt fie nach Umſtänden
und ertheilt ihnen Abjolution, wenn fie geloben, fich zu
befiern. Mit Inful und Chorhemd, Kelch, Batene und
Miffale nimmt der Teufel eine Parodie der Meffe vor.
Er warnt die Anweſenden vor der Rückkehr zum Chriften-
thum, verheißt ihnen ein feligeres Paradies, als das ber
Chriften ift, und empfängt auf einem fchwarzen Stuhl
figend die Opfergaben, welche in Kuchen und Weizen-
mehl, anderwärts auch in Geflügel ober Geld beftehen.
XXL 19
290 Die Heren, Herenproceffe und Herenprebigten.
Hierauf betet man ihn wieder an und küßt ihn nochmals,
worauf er, während ihm fein Famulus den Schweif auf:
hebt, in beftialiicher Weife fein Wohlgefallen ausprüdt.
Dann reicht er das Abendmahl in beiverlei Geftalt. Die
Hoftie gleicht in Spanien einer Schuhfohle, iſt ſchwarz
und berb, in Frankreich ift es bie Scheibe einer ſchwarzen
Rübe, in Deutichland fchmedt fie wie faule® Holz. Die
Flüffigfeit im Kelch ift bitter umd efelerregend. Wach ber
Meſſe umarmt ver Teufel die Weiber, und wenn Mitter:
nacht vorüber ift, gebietet er allen, nach Haufe zurüdzu-
fehren und nach Kräften Böfes zu thun. Die Sitzung
muß aufgehoben fein, ehe ver Hahn kräht.
Der Teufel macht ven Heren auch in ihren Wohnungen
feine Befuche, und das Hleinfte Loch dient ihm als Eingang.
Damit der Mann es nicht merkt, wenn feine Frau zum
Herentanze reitet, verſenkt ihn der Satan in einen feften
Schlaf, oder es gefellt ſich eim Geift zu ihm, ber bie
Geftalt feiner Gattin annimmt.
Aus den teufliihen Umarmungen gehen allerlei Mi
geburten: Schlangen, Mäufe, Würmer, Efben u. ſ. w. her⸗
vor. In einem Urtbeil des leipziger Schöppenftuhles
lefen wir: „Hat die Gefangene befannt und geftanben:
wenn fie mit ihrem Buhlen zu fcheffen gehabt, hätte fie
weiße Elben und berfelben allezeit zehn befommen, fo ge:
lebet, ſpitzige Schnäbel und ſchwarze Köpfe gehabt und
wie die jungen Raupen bin umb wieber gekrochen.“ Dice
Elben dienten als vorzügliche® Zaubermittel. Außerdem
gebrauchten die Hexen Salben, Kräuter, Pulver und Yor-
mein, e8 genügte aber auch ein Hauch oder ein Blid.
Die Heren im Bisthum Bamberg machen mit emem
rofafarbigen Pulver Wind, im Buſecker Thale melfen fie
fremde Kühe mit einer Spinvel, die als corpus delicti
bet ven Acten liegt, fie zaubern durch Speifen, welche fie
Die Heren, Herenp oceffe und Herenprebigten. 291
verabreichen, Kröpfe, Geſchwüre und Krankheiten aller
Art an, fie erregen durch ihre Pulver Gewitter, ſie töbten,
indem fie 3. B. in England ven Handſchuh eines jungen
Lords fieden, burchitechen und vergraben; durch Kochen
gewiffer Kräuter verderben fie das Obft, den Wein, er-
zeugen Engerlinge, Mäufe, Läufe und anderes Ungeziefer;
durch Anlegen eine® Gürtels verwandeln fie ſich in Thiere;
jo befannte in Frankreich ein Herenmeifter: „que le diable
lui avait donne le choix, de devenir, quand il vou-
drait ou coup, ou lion, ou l&eopard, mais il avait
prefere le loup.” Die Heren zaubern den Leuten auch)
Schmeißfliegen, Kellerefel, Glas, Nägel, Eifenftüde, Haare
u. |. w. in ben Leib, und noch 1782 wirb in dem zu
Glarus gefällten Urtheil wiver die Dienftmagp Anna
Gödi behauptet: „Die Angeichuldigte habe die Tochter des
Dr. Tſchudi behert, ſodaß laut eidlichen Zeugniffen ber
Aeltern und anderer dabei gewejenen Ehrenleute in etlichen
Zagen über 1000 Guffen von unglaublicher Gattung, drei
Stückli krummer Eifendraht, zwei gelbe Häftli und zwei
Eifennägli unbegreiflicherweife aus dem Mund gegangen
find.”
In fehr vielen Actenftüden finden wir Klagen barüber,
daß die Viehftälle und das Vieh bezaubert worden feien.
Ein vor uns Liegender Proceß vom Jahre 1687 beginnt
mit der Anzeige eines Bauers: bie Nagelin habe feine
Schweinsköfen vergeftalt bezaubert, daß er fein Schwein
darin num fchon feit zwei Jahren beraufbringen könne,
fondern diejelben alle jterben müſſen. Ein anderes Acten-
ftüd beſchuldigt ein Weib, daR es den Kühen die Milch
genommen babe.
Seren und Zauberer dürfen dem «hriftlichen Gottes»
dienft beimohnen und auch zum heiligen Abendmahl gehen,
aber fie müffen während des erftern ausfpeien und unan-
19*
299 Die Heren, Herenproceffe und Herenprebigten.
ftändige Geberden machen und beim Abendmahl womöglich
die Hoftte aus dem Munde nehmen, damit fie vom Teufel
geichändet und zu Zaubermitteln benutt werben kann. Wer
beim Genuß des Saframents des Altard mit der Dank
eine Bewegung nach dem Munde machte, oder gar ben
Mund abwifchte, galt als ver Hererei verdächtig. Ein
vergilbtes Actenfascifel von 1689 „in verbächtigen Dererei-
ſachen contra Chriſtoph Zothdoffeln in Rockhauſen“ (einem
Dorf zwiſchen Erfurt und Arnſtadt) hebt an mit der Aus⸗
ſage eines Zeugen: „er jet gewahr geworben, daß bejagter
Zothboffel, fo der legte unter den Mannsperfonen bei
der Communication gewejen, mit ber Hand in den Schib-
ſack gefahren, das Schnubtuch herausgezogen und bamit
an die Nafe gefahren, als wenn er salvo honore ſich
ichnenzete, hernach an den Mund damit bin» und ber-
gefahren, felbiges zufammengedrüdt und wieder zu fi
geitedt. So geſchehen nach empfangener Hoftie, ehe ihm
ber Kelch gereichet worden. Ob er nun zwar die Hoftie
nicht gejehen, fo hielte er doch davor, es fei nicht anders,
er habe jelbige wieder herausgenommen, denn bei jetzigem
gelinden Wetter wäre e8 ohne Noth, daß er in der Kirche
bei Empfahung des heiligen Abenpmahles des Schnub⸗
tuches gebraucht hätte.”
Zothboffel, gegen ven ein ſchwerer Proceß eingeleitet
wurde, hatte von Glück zu jagen, daß er dem Scheiter⸗
haufen entging.
Wir haben im Borftehenven ein Bild von dem Heren-
glauben und der Hererei gegeben, aus welchen man er-
fieht, daß Das Ganze eine Diabolifche"Baropie bes Chriften-
thums ift. Der Teufel ift aber der „Affe Gottes”, und
Soldan, ber verdienftuolle Gefchichtfehreiber der Heren-
proceffe, jagt jehr mit Recht: „Das Chriſtenthum ift
Öotteßverehrung, die Hererei Teufelscult. Der Chrift
Die Heren, Herenproceffe und Herenprebigten. 293
jagt dem Zeufel ab, bie Here Gott und den Hei—
ligen.”
Wir müſſen nun noch erwähnen, daß bie Zahl ver
Hexen, die auch Unholdinnen heißen, weit größer tft als die
Zahl der männlichen Zauberer. Es erklärt fich dies aus
verſchiedenen Urfachen: zunächit aus der Heiligen Schrift
ſelbſt. Eva wurde von ber Schlange verführt, deshalb
nahm man an, daß bie Töchter Eva's ebenfall® ben
Lodungen Satan's im allgemeinen zugänglicher jeien ale
die Männer. In einer zu Schwäbifh>Hall gehaltenen
Herenprebigt, die wir im Anhange mittheilen, lefen wir:
„der Teufel weiß, welche er angreifen foll, als nämlich)
diejenigen, fo feine Lift und Tücke nicht fo Teichtlich mer-
fen. Und fonderlich, weil ihm als einem vortbeififchen
Geifte unverborgen, daß das Weib ein fchwächer Merf-
zeug, er e8 auch im Paradieſe mwohlerfahren, jo greift er
bie Weibsbilder am meiſten mit folcher Teufelei an und
werben viel mehr Unholden-Weiber al8 Unholden-⸗Männer
gefunden.”
Zum zweiten ift e8 eine befannte Sache, daß das
weibliche Gefchlecht zum Myſtiſchen und auch zum Aber-
glauben mehr geneigt ift als das männliche. Auch aus
diefem Grunde fand man eine größere Zahl von Frauen,
bie im Verdacht ber Hererei ftanden, und als es erft in
den Bolfsglauben übergegangen war, daß ber Teufel, den
man fich doch immer als ein möännliches Weſen dachte,
ven Weibern nachftelle und fie zu umarmen trachte, jchoffen
ganz natürlich die Heren wie die Pilze aus ber Erbe.
294 Die Heren, Herenproceffe und Herenprebigten.
2. Die Herenprocefie.
Die Kirche, welche in früherer Zeit die Zauberer mit
großer Milde behandelte, fie aus Gottes Wort belehrt,
nur mit kirchlichen Bußen und äußerftenfall® mit bem
Bann belegt hatte, wechjelte fpäter ihr Syſtem, weil fie
bie Zauberei mit der Ketzerei identificirte und in ben
Heren Teufelsanbeter erblickte. Ste fette, wie bereits
erwähnt, Keterrichter ein, behauptete, daß der Proceß
wegen Zauberei, die Abfall von Gott fei, vor die geift-
fichen Gerichte gehöre, und ftritt mit den firrchtbaren
Waffen der Inguifition gegen die Heren.
In Deutſchland konnte die Inquiſition nicht vet
feften Fuß faffen und hörte faft ganz auf, als die Refor⸗
mation im 16. Sahrhundert fi) Bahn brach. Die Pre
ceffe gegen die Heren wurden beshalb ber Regel nad
por den weltlichen Gerichten geführt. Die Hexen ftanden
fich jedoch dabei nicht beffer; denn bie Richter fetten eine
Ehre darein, vie Welt von ben Unholden zu befreien, und
hielten es für ihre heilige Pflicht, die Zauberer zu ver
tilgen. Dennoch würde es unmöglich gewefen fein, jo
zahlloſe Hexen zu entveden, wenn nicht im 15. Yahr-
hundert das Strafverfahren völlig umgeftaltet worden
wäre.
Das alte Beweisſhſtem wurbe verlaffen, man ver
langte vor allem das Geſtändniß, inguirirte anf ein
ſolches und griff nach dem Vorgang der geiftlichen Gerichte
und ber italienischen Gerichtspraxis zu dem entfeglichten
Mittel, Geftänpniffe zu erzwingen: zur Folter.
Zunächſt wurde es Regel, auf bloße Denunciation bie
Unterſuchung einzuleiten und pie Denunciation geradezu
zu veranlaffen. Die Ketzerrichter forberten durch öffent:
fihe Anfchläge bei Strafe des Kirchenbanns jebermann
Die Heren, Herenproceffe und Herenprebigten. 295
auf, dev Zauberei verbächtige Perfonen anzuzeigen; fie
verfprachen, ven Namen bes Angebers zu verjchweigen,
ſtellten auch woblverichloffene Käften mit einem Spalt im
Dedel auf, damit anonyme Denunciationen hineingeworfen
werben könnten. Die weltlichen Richter citirten von Zeit
zu Zeit die Schöffen vor fih und eraminirten fie, ob
nicht Heren in ihren Gemeinden wären, ja fie ließen bie
Leute zunächſt durch die Geiftlichen in bie gehörige Furcht
vor den Heren fegen, und dann wurben fie veranlaßt, Die
verbächtigen Perſonen anzugeben. Als Indicium ber Heren
galten die fonverbarften, zum Theil wiverjprechenpiten
Dinge: vor allem böfer Leumund, die Ausfage einer andern
Here, ein Törperliches Gebrechen, rothe Augen, ein böfer
Blid, große Gelehrſamkeit, fchnell erworbener Neichthum
u. ſ. w. In einem berühmten Buche, welches zur Blüte-
zeit der Hexenproceſſe gefchrieben wurde, leſen wir:
„Entweder Saja hat ein böfes, leichtfertiges, oder ein
frommes, gottfelige® Leben geführt. Iſt jenes, fo iſt's ein
großes Indicium, denm wer böfe ift, kann leicht böfer und
je länger, je weiter geführt werben. Iſt's dieſes, fo iſt's
fein geringes Indicium, dann fagen fie: jo pflegen fich
bie Heren zu fchmüden und wollen gern allezeit vor die
frömmften gehalten fein. Da tft denn ver Befehl, daß
man mit der Gaja zu Loch ſolle. Und ift ſtracks
wieder ein nenes Imbicium: entweder die Gaja gibt zu
verfteben, daß fie fich fürchtet, ober geberbet fich ımer-
ſchrocken. Spürt man Furcht, fo fagen fie, das böfe
Gewiſſen macht fie bang. Würchtet fie fich nicht, fo Heißt
es, das pflegen bie Deren zu thun. Der Teufel macht
fie fo muthig.“
Ein lothringiſcher Geheimrath und Oberrichter Teiftete
jogar noch Stärferes, er erklärte gerabezu: „Das Weib
iſt verbächtig, wenn es nie und wenn es oft in bie Kirche
296 Die Heren, Herenproceffe unb Herenprebigten.
geht, es iſt ein Indicium, wenn fein Leib warm und wenn
er kalt ift; die Salbe der Heren iſt giftig, und fie ilt
unſchädlich; giftig, wenn fie die Here aufftreicht, unſchäd⸗
lich, wenn fie in die Hände bes Gerichts fällt.“
Lagen Indicien vor, die man hiernach ganz nad Be—
lieben haben konnte, fo wurde die Verdächtige verhaftet
und Hausſuchung bei ihr gehalten. Fand man bei ihr
eine Salbe, ein Fläſchchen, Kräuter over dergleichen, jc
wurden biefe Gegenftände in Beichlag genommen und aß
ein neues Indicium den Acten beigefügt. Das Gefän-
niß, in welches man bie vermeintliche Here brachte, war
ein beſonders hartes; es gab an manchen Drten eigene
Herenthürme und Drudenhäufer. Hier mwurben bie Ge:
fangenen fejtgejchloffen, jobaß fie weder Arne noch Füße
regen fonnten.
Der Nichter pflegte, ehe er die Angeſchuldigte ver-
hörte, die Zeugen zu vernehmen, und fuchte hauptſächlich
feftzuftellen, welche Miffethaten von der Here verübt wer:
ben wären. Wie man ven Cauſalzuſammenhang leicht⸗
fertig feftftellte, wird am beften aus etlichen Beispielen
erhellen. Ein Zeuge fagt aus, daß fein Vieh ganz plötzlich
geftorben fei, ein anderer bat furz zuvor bie im Dorfe
als Here verbächtige Weibsperfon vor dem Stall gefehen.
Died war genügend, um ihr die Schuld an dem Unglüd
beizumeffen. Ueber eine Flur ift ein Hagelwetter ge:
fommen, man batte die Tochter einer verbrannten dere
unmittelbar zuvor auf dem Felde erblidt; natürfich muß
fie das Hagelwetter herbeigezaubert haben. Kine Nach—
barin bringt einer Wöchnerin eine Wochenfuppe, die legtere
ißt zu viel und wird infolge deſſen frank: die Nachbarin
muß es büßen, denn fie hat die Wöchnerin behert.
Ein Mann hat von einer Frau einen Sad geichenft
erhalten, mit bemfelben jeine Beinfleiver gefüttert und
Die Heren, Herenproceffe unb Herenprebigten. 297
bald darauf einen Schaden befommen: ohne Zweifel ift
er bebert und bie Schenfgeberin wird verbrannt.
In einem Wortwechſel ift von einer Weibsperſon vie
Drohrede gefallen: der N. N. folle noch an fie denken,
furze Zeit nachher befällt ihn ein Schmerz in ber Hüfte
und ber unwiſſende Arzt kann ſich die Krankheit nicht er-
Hären. Cine weife Surijtenfacultät überzeugt fich, daß
bie Here es ihm angetban hat, und verurtheilt fie zum
Tode.
Das alles ſind Beiſpiele aus jetzt noch vorhandenen
Acten über Hexenproceſſe.
Das Verhör der Angefchulpigten begann gewöhnlich
mit Anfragen wie biefe: „Ob die Inquifitin glaube,
daß es Heren gäbe?” Eine Frage, die nur in dem erften
Jahren, in denen dieſe Procefje überhaupt auflamen, ver⸗
neint wurbe, benn es währte nicht lange, jo galt bie
Eriftenz der Heren im ganzen Volke für ausgemacht.
„Weshalb die Inguifitin an dem und bem Tage bes
Morgens fo lange gefchlafen habe?‘
Es war bies injofern ein Indictum, als man baraus
ſchloß, fie babe die Nacht auf dem Hexentanze burch-
ſchwärmt und ſei deshalb zu müde gewejen, um rechtzeitig
aufzuiteben.
‚ober die Ingquifitin die Wunden und Striemen
am Leibe babe?”
Man nahm an, ver Teufel habe fie blutig gefchlagen.
„Weshalb ihre Garten- und Feldfrüchte beffer gediehen
al8 die anderer Leute?”
„Was Inquiſitin vor dem Gewitter im Felde zu thun
gehabt?”
‚Barum ihre Kühe fo viel Milch, die des Nachbars
aber fo wenig gäben?”
„Weshalb Inquifitin den N. N. berührt habe? u. |. w.“
298 Die Heren, Herenproceffe und Herenpredigten.
Geftand die Angeſchuldigte nicht ohne weiteres em,
baß fie eine Here fet, fo redete ihr ber Richter zu und
heute fich, ven Rathichlägen des „Hexenhammers“ folgend,
nicht im minbeften, die Aerımfte zu belügen und zu be»
trügen. Er fagte 3. B. zu ihr: „Geftehft bu, fo mwerbe
ich Dich nicht zum Tode verurtheilen.” ‘Dabei jollte er
fih nah dem „Derenhannner” denken: ein anderer wirb an
meiner Stelle das Todesurtheil fällen. Ober er vers
ſprach ihr das Leben, bezog biefes DVerfprechen aber auf
bas ewige Leben.
Erfolgte Fein Bekenntniß, jo wurde der Unglüdlichen
von allen Seiten, auch von ben Geiftlichen pie Hölle
heiß gemacht und ihr vorgeftellt, wie fürchterliche Qualen
ihrer warteten. Der Henker entkleidete fie, ſodaß fie ganz
nadt daftanb, er jchor oder jengte ihr alle Haare am
Körper ab, für welches Geſchäft officielle Taren in vielen
Stäpten beftanden. In Nürnberg 3. B. bekam er bafür
1 1. 30 Kr. Hierauf wurde eine genaue Unterfuchung
angeftellt, ob bie verbächtige Perſon ein Zaubernrittel
verftectt an ihrem Körper trüge und ob man ein Heren-
zeichen fände. Band man ein Mal, einen Leberfled ober
vergleichen, fo wurde mit einer Nabel bineingeftochen.
Wenn fein Blut fam ober fein Schmerzenslaut erfolgte,
fo war e8 gewiß ein stigma diabolicum, denn biefes
machte ja, wie wir willen, ben betreffenden Körpertbeil
unempfindlich. Gelegentlich betrog ber Henkersknecht und
jtach, um die Inguifitin zu retten, neben das Mal, ober
drückte, um fie zu verberben, mit dem Knopf der Nabel
und nicht mit der Spike barauf, ſodaß natürlich Weber
Blut floß noch Schmerz empfunden wurde.
Man nahm au, um ſich Gewißheit zu verichaffen,
andere Proben vor, indeß wurben fie nicht in allen Fälfen
angeftelit und waren verichieven nach Zeit und Ort. Am
Die Heren, Herenprocefjfe und Herenpredbigten. 299
bäufigften fommt in den Acten die Wafferprobe vor.
Es galt als Glaubensſatz, daß dad Waſſer durch bie
Taufe des Heilands im Jordan geheiligt ſei und nichts
Teufliſches annehme, deshalb komme jede Hexe, die man
untertauche, wieder an die Oberfläche und ſchwimme.
Man band nun der Angeſchuldigten Hände und Füße
kreuzweiſe zuſammen und ließ ſie an einem um den Leib
gebundenen Strick dreimal hinab in den Fluß oder Teich;
ſank ſie unter, ſo ward fie für unſchuldig, ſchwamm ſie,
ſo ward ſie für ſchuldig angeſehen. Freilich kam faſt
alles auf den guten oder böſen Willen der Henkersknechte
an, die beftimmte Kniffe hatten und das Unterſinken oder
das Auftauchen zu bewerkſtelligen verſtanden. Das fo-
genannte Hexenbad hat ſich in der Vollsſitte ſehr lange
erhalten. Noch 1823 kam es in den Niederlanden vor,
daß eine Frau, die der Hexerei verdächtig war, ſich dazu
bereit erklärte und am ſelben Tage in Gegenwart eines
zahlreichen Publikums die Probe in einem nahen Waſſer
beſtand. |
Noch merfwürbiger war die Gewichtsprobe. Man
maß den Hexen, die ja fliegen konnten, eme fehr geringe
Schwere bei und hielt es für ein ficheres Zeichen ver
Schuld, wenn eine Weibsperfon nicht das normale Gewicht
hatte. Auch hierbei waltete grober Betrug ob. In Ungarn
wurbe eine Frau hingerichtet, von der man behauptete,
fie habe nur 1%/, Ouentchen gewogen; in England wog
man eine Verdächtige gegen die 12 Pfund ſchwere Kirchen-
bibel und ließ fie frei, weil die Bibel leichter war ale
die Frau. An vielen Orten diente die Stabtwage zu
biefem Geichäft, ven beften Ruf aber genoß die Wage
von Dudewater. Kaiſer Karl V. hatte, wie die Sage
behauptete, ein Privilegium ertheilt, daß alle andern
Proben wegfallen follten, wenn jemand bejcheinigen fünne,
300 Die Heren, Herenproceffe und Herenprebigten.
daß er in Dubewater amtlich geivogen fei und daß tus
Gewicht dem Umfange feines Körpers entiprochen hate.
Aus Holland, Köln, Münfter und Paberborn ftrömten
ber Hererei verbächtige Perjonen nach Dubewater, Tießen
fih wiegen, zablten ein hübſches Simmchen Geld um
empfingen ein ftabträthliches Zeugniß, welches überall
rechtlichen Glauben hatte. Im Iahre 1754 war die Wage
zum legten mal in Thätigkeit.
Ferner finden wir die Thränenprobe in den Acten
erwähnt. Die Here wurde ausgefleivet, man zeigte ihr
die Marterwerlzeuge und befchiwor fie bei ber heiligen
Dreifaltigfeit und ven bittern Thränen, die Jeſus Ehriftus
am Kreuze geweint, auf der Stelle reichliche Thränen zu
vergießen. Entiprach fie der Aufforderung, fo war es ein
Zeichen von Unſchuld; man fabelte nämlich, eine Here
fönne entweder gar nicht weinen oder böchften® mit dem
rechten Auge drei Thränen vergießen. Das Hauptmittel,
ein Geſtändniß herbeizuführen, war, wie wir ſchon jagten,
bie Zortur. |
Nach dem beftehenvden echte follte der Angeflagte
freigefprodhen werben, wenn er die Folter eine Stunde
lang aushielt. Dann durfte die Folter nur bei neuen
ſchweren PVerbachtsgründen wiederholt werden. Wenn
jemand während der Folter befannte, follte dennoch eine
Verurtheilung nur ftattfinden, bafern die eingeftandenen
Thatfachen an fich glaubwürdig wären und bei forgfältiger
Nachforſchung wahr befunden würben.
Hätten die Gerichte diefe Vorſchriften ftreng befolgt,
jo würben nur wenige Seren verbrannt worben fein,
aber man Half fih und erflärte die Hexerei für ein
erimen exceptum, für ein Ausnahmenverbrechen, unt
jagte: bei biejem ſchweren, im Verborgenen fchleichenten
Delict fet der Richter nicht an die gefeßlichen Formen ge:
Die Heren, Herenprocefje und Herenprebigten. 301
bunden, vielmehr berechtigt, nach feinem Ermeſſen alles
aufzubieten, damit es entbedt werde. Man folterte des-
halb auf die elenveften Gründe hin, namentlich ſchon dann,
wenn eine andere Unglücliche auf der Marterbanf aus-
gejagt hatte, die und jene fei mit ihr auf dem Hexen⸗
jabbat gewejen. Und man folterte, nicht, wie e8 in ben
Erkenntniſſen gewöhnlich hieß, „menſchlicher Weife‘‘, „ziem⸗
licher Maße‘, fondern man ging oft noch über bie „volle -
Schärfe“ hinaus, dann fagte man: der Teufel hilft ben
Heren die Pein erbulden und macht fie unempfindlich.
Die Acten enthalten geravezu gräßliche, haarſträubende
Martern. Nicht genug, daß man brei bis vier Stunden
in einem fort folterte und daß bie Nichter die Delinquentin
öfter mit großen Gewichten an ben Beinen beſchwert an
ber Leiter hängen ließen, während fie ſelbſt fortgingen
und fohmauften, man folterte auch ohne neue Indicien
biefelbe Perfon öfter und fagte, es ſei das nicht eine
Wiederholung, die ja verboten war, fondern eine
Vortjegung der Zortur. Die gewöhnlichen Qualen
wurben verfchärft, indem man jpitige Keile zwiſchen vie
Nägel an Händen und Füßen trieb, brennenden Schwefel
und Pech auf ven nadten Körper träufelte, die Gefangene
nicht Schlafen Tiep und im Kerker umbertrieb, bis fie
wunde Füße hatte, die Nägel, wie dies König Jakob I.
von England, ein beſonders eifriger Streiter gegen bie
Seren, anorbnete, mit Schmiedezangen abreißen Tief,
eigene Herenftühle mit 150 fingerlangen Spiken erbaute
u. ſ. w. Es ift nachweislich, daß ein Zauberer in Weft-
falen, ven man befchuldigte, er habe fih in einen Wer-
wolf vertvandelt, zwanzig-, ein Weib in Baden zwölf-,
die Tochter eines Amtmannd in Ulm fiebenmal gefoltert
wurden. Won einem alten Weibe, die alle Grabe der
Zortur ausftand und doch nichts befannte, wird gefagt:
302 Die Heren, Herenproceffe und Herenprebigten.
„Es war fo viel, als hätte man in einen alten Pelz gehauen.“
In Betreff eines fechzehnjährigen Mädchens bemerkt das
Protofolf naiv: „Es ift ein Wunder, wie dieſes junge
Blut fo lange aushalten Tann.“
Unter den Folterqualen fingen etliche an die Augen
zu verbreben, convulſiviſch zu lachen, etliche fchliefen be:
täubt ein ober fielen in Ohnmacht und in Starrfrämpfe.
Die Richter und die Henker hielten dies für ein Kumft-
ftüd des Teufels, der fie verhöhnen wolle, und folterten
befto graufamer. Viele gaben ven Geift auf. Die Richter
und bie Henker erflärten, der Teufel babe dem Delin-
quenten das Genid umgebreht; mitunter hatten fie den
Satan in Geftalt einer Schmeikfliege, eines Kankers jo:
gar in ver Marterlammer jelbft geſehen. Der berüßmte
ſächſiſche Juriſt Carpz on jagt in einem Urteil: „Weil
aus den Acten jo viel zu befinden, daß ber Teufel auf ber
Zortur der Margaretha Sparrwit fo hart zugefet, daß
fie, al® fie faum eine halbe Stunde an bie Leiter ge:
ipannt, mit großem Gefchrei Todes verfahren und ihr
Haupt gefenfet, daß man gejehen, daß fie der Teufel in-
wendig im Leibe umgebracht, inmaßen benn auch daraus
abzurechnen, daß es mit ihr nicht richtig geivefen, weil
fie bei der Tortur gar nichts geantwortet und fo wird
ihr todter Körper unter dem Galgen durch ven Abbeder
billig begraben.”
In den bei weiten meisten Fällen geftanben bie An:
gefehuldigten natürlich auf der Folter. Sie fagten Ja zu
allem, was man fie fragte, und gaben auf Verlangen aud
andere Berfonen als Hexen und Unholde an. Die Geftänd-
niffe enthielten, was jebermann über ben Teufelöbund und
bie Teufelsbuhlſchaft wußte. Es wurbe das früher verftodte
Zeugnen auf den Teufel gejchoben, der während ver Folter
ben Richtern unfichtbar dabeigeſtanden babe, und der ganze
Die Heren, Herenproceffe und Herenprebigten. 303
vem Volke jehr bekannte Herengreuel mit Anwendung auf
die eigene Perſon erzählt. Als Mitſchuldige wurden ge-
mwöhnlich ſolche Leute angegeben, die im Verdacht ber
Hererei ftanden, oder ſolche, deren Namen der Richter
durch Suggeifivfragen hervorlodte. In einigen Fällen
gaben die Unglüdlichen, um fich zu rächen, ihren Henker
als Zauberer an. Es iſt beiwiejen, daß infolge deſſen mehr
als ein Henker gefoltert und nach abgelegtem Belenntnif
verbrannt worden ift. Defter haben bie gequälten Weiber
auch die Richter und bie Priefter ver Hexerei bezeichnet.
Deshalb heißt es in der erwähnten Herenprebigt: ‚Wenn
fie peinlich geitraft werben, geben fie auf Einblajung
ihres Meifters, ber ein Lügner ift, fromme, unſchuldige
Lente an, die folcher Teufelei von Herzen feind find.”
Die Richter hatten freilich fehr wirkſame Mittel, fich ſelbſt
und ihre Freunde vor derartigen Beſchuldigungen zu
ſchützen, fie ließen dieſelben nicht protofolliren, ober ſtärker
foltern, bi8 die Here alles wieber zurüdnahm.
Hatte bie Angeflagte auf ver Folter geftanden, fo be-
ſaß das Geſtändniß freilich noch feine Beweiskraft, es
mußte vielmehr freiwillig wiederholt werden. Nun ge:
ſchah es allernings jehr häufig, daß die Inquifiten, wenn
bie Schmerzen ber Zortur vorüber waren, mwiberriefen un
rundheraus erklärten, alles, was fie befannt, ſei nur Durch
die ausgeftandenen Martern erpreft. Die unausbleib-
fiche Folge hiervon war die Wieverholung und Schärfung
der Folter, bis der Widerruf zurüdgenommen unb von
neuem Geftänpniffe abgelegt wurden. Manche Unglüd-
liche geſtand und wiberrief abwechſelnd ſechs⸗, ſieben⸗, acht-
und zehnmal, fie wurde ſechs⸗, fieben-, acht- und zehnmal
gemartert, bis fie endlich einſah, daß ihr doch alles nichts
half. Run ergab fie fih in ihr Schickſal und räumte
auch in der Urgiht — fo nammte man das ber Folter
304 Die Heren, Herenprocefje und Herenpredigten.
nachfolgende Belenntnig — ein, was man verlangte, und
fagte mit frecher Stirn denen, bie fie fälfchlich ale Mit-
fehuldige angegeben, bie abfurbeften Dinge in das Gefidt.
Biele entleibten fich felbft, um den Dualen zu entgehen,
viele geftanden freiwillig, was man begehrte, denn fie
wußten, was ihrer wartete, und blieben bei ihren un-
wahren Geftänpniffen auch dem Beichtvater gegenüber, weil
fie fürchteten, der BPriefter werbe einen etwaigen Wider⸗
ruf dem Richter anzeigen oder fie nicht zum Abendmahl
laffen. Hatten fie ein beſonderes Zutrauen zum Geift-
lichen, fo betheuerten fie dieſem ihre Unſchuld, befchworen
ihn aber, e8 dem Nichter nicht zu binterbringen, damit
fie nicht von neuem gequält würden. Cine eingeferferte
Englänberin geftand alles und bat nur um baldige Hin-
richtung. Auf dem Schaffot redete fie mit lauter Stimme
zum Bolt: „Wißt ihr alle, die ihr mich heute feht, daß
ih al8 Here auf mein eigenes Bekenntniß fterbe und daß
ih alle Welt, vor allem aber die Obrigkeit und bie Geift-
fihen von der Schuld an meinem Tode freifpreche. Ich
nehme fie gänzlich auf mich, mein Blut fomme über mid:
Und da ich dem Gott des Himmels bald werde Reden:
haft ablegen müffen, jo erkläre ich mich fo frei von ber
Hererei wie ein neugeborenes Kind, ba ich aber, von
einem boshaften Weibe angeklagt, unter dem Namen einer
Here ins Gefängniß geworfen, von meinem Manne und
meinen Freunden verleugniet warb und feine Hoffnung zur
Befreiung und zum ehrenvollen Fortleben in der Welt mehr
hatte, fo leiftete ich durch Verlodung des Böfen ein Geftänt-
niß, das mir vom Leben hilft, veffen ich überbrüßig bin.“
Der Jeſuit Friedrich Spee, ber tapfere Kämpfer
gegen die Hexenproceſſe, deſſen Haar vorzeitig gebleicht
war, weil er Hunderte von Hexen zum Scheiter⸗
haufen begleitet und jo namenlofen Sammer mit angefehen
Die Heren, Herenprocefje und Herenprebdigten. 305
hatte, bezeugt: „Es hätten fich einfältige Leute auf feine
beichtväterlichen Fragen aus Furcht vor wiederholter Tor-
tur anfänglich allerdings für Hexen ausgegeben, aber als
fie fich überzeugt, daß fie von ihm nichts zu beforgen,
hätten fie Zutrauen gefaßt und aus ganz anderm Tone
gefprochen. Unter Heulen und Schluchzen Hätten alle bie
Unwiſſenheit oder Bosheit der Richter und ihr eigenes
Elend bejammert und noch in ihren letzten Augenbliden
Gott zum Zeugen ihrer Unſchuld angerufen.“
„Ja, ich ſchwöre feierlich‘, fährt er fort, „von ben
vielen, welche ich wegen angeblicher Hererei zum Tode
geleitete, war feine einzige, von ber man, alles genau er-
wogen, hätte fagen können, daß fie ſchuldig geweſen war,
und das Gleiche geftanden mir zwei andere Theologen
von ihrer Erfahrung. Aber behandelt vie Kirchenobern,
behandelt die Richter, behandelt mich ebenfo wie jene
Unglüdlichen, werft und alle auf dieſelbe Folter, und ihr
werdet uns alle ald Zauberer finden.”
Hiernach wird man fich nicht mehr wundern bürfen,
wenn eine fo große Zahl von Angeſchuldigten freiwillig
geftand; denn bei jolchen Außsfichten war ber Tod auf
dem Schaffot ein Zroft und die arme „Hexe“ Hatte bei
dem freiwilligen Geftändniffe, was ihr auch vom Gericht
immer gehörig zu Gemüth geführt wurbe, noch ben
Gewinn, daß fie nicht verbrannt wurde, ſondern mit der
gelindern Strafe der, Erbroffelung oder bes Schwertes
Davonfam.
Uebrigend nannte man viele Geftänbnifje freiwillig,
die gar nicht freiwillig waren; fo 3. B. alle biejenigen,
welche durch Verfprechungen und Drohungen der Richter
und Beichtväter, durch einfame, wahrhaft furchtbare Kerfer-
baft erlangt waren, ferner alle bie abgelegt wurden in-
folge der fogenannten Zerrition. Dieſe beftand darin,
XXI 20
306 Die Heren, Herenproceffe und Herenpredigt en.
daß der Scharfrichter vortrat, die Angeklagte zur Folterung
zurechtmachte, fie entkletvete, ihr die Haare abjchor, bie
Marterwerlzeuge vorzeigte, erklärte und fie ihr einzeln zur
Probe anlegte! Enplich nannte man viele Geftänbniffe frei-
willig, wenn bie Angejchulpigte auf eine leichte Tortur hin
befannte. Man jchrieb dann, wie glaubwürbige Zeugen ver-
fidern, in das Protokoll, ohne die Folter zu erwähnen,
die Inquifitin habe in Güte geftanven!
Nach dem Geſetz war es allerdings nothwendig, ben
äußern Thatbeftand herzuftellen und zu ermitteln, ob bie
zugeftandenen Thatfachen wahr feien. Aber auch über
biefe Vorſchriften fetten fich die Unterjuchungerichter und
die Facultäten weg. Sie nahmen nicht blos ven fabel⸗
bafteften Caufalzufammenhang an, ſondern beruhigten ſich
auch bei dem Geſtändniß allein, wenn eine Beftätigung
befjelben nicht gut möglich war, 3. B. bei dem Umgang
mit dem Teufel und ber Herenfahrt. In einzelnen Fällen
waren die Richter toll genug, dem Geſtändniß mehr zu
glauben als ihren eigenen Augen. So berichtet Horſt in
ber ‚„„Zauberbibliothel” Folgenves: „Fünf bis ſechs Weiber
zu Linpheim geftanden nach entjeglichen Martern, daß
fie auf dem Kirchhof ein vor kurzem geftorbenes Kin
ausgegraben und zu einem Herenbrei gekocht hätten. Die
Ehemänner festen e& durch, daß das Grab in Gegenwart
der Geiftlichleit und mehrerer Zeugen geöffnet wurde.
Das Kind lag umverfehrt im Sarge. Die Inquiſition
aber hielt ven Leichnam für ein Blendwerk des Teufel,
und behauptete, das Geſtändniß müffe dennoch gelten.
Die Weiber wurden zur Ehre des breieinigen Gottes, ber
bie Zauberer auszurotten befohlen habe, verbrannt.”
Wenn beweisfräftige Geftänpniffe vorlagen, ober bie
Here überführt war, was man insbejondere dann an
nahm, wenn mehrere andere Heren fie der Theilnahme
Die Heren, Herenproceffe und Herenprebigten. 307
an bem Verbrechen bezichtigt hatten, jo erfolgte ver
Sprud. Wenn, wie e8 doch auch mitunter vorfam,
geiftliche Gerichte die Unterfuchung geführt und pas Ur-
theil gefällt hatten, fo übergaben fie die Schulvigen ge-
mwöhnlich den weltlichen Arme, denn „pie Kirche vergieht
fein Blut”. Sie verorbneten außerdem Abfchwörung ber
Ketzerei, kirchliche Bußen und in bejonders milden Fällen,
daß nur mit Gefängniß geftraft werben ſolle.
Die bürgerlichen Gerichte erfannten ftet8 auf den Tod,
in den meiſten Fällen auf ven Tod durch das Feuer.
Als Schärfung trat hinzu: „das Schleifen auf den
Richtplatz“ und „etliche Griffe mit glühenden
Zangen”. Reuigen Heren wurde öfter als Gunft gewährt,
vaß fie erdroffelt oder enthbauptet und nachher erft
verbrannt werben follten. ‘Die meiften wurben halb-
tobt von den erlittenen Foltergualen mit zerbrochenen
Armen und Beinen, zerqueticht und zerftochen zum Scheiter-
haufen geichleppt. Der Tod war für alle eine Erlöfung.
Man follte meinen, daß auf ver Folter zulekt jeber-
mann geftanden haben müßte, aber dem tft nicht ſo. Es
find uns actlich nicht wenige Procefie erhalten, in denen
namentlich Weiber, bie bei weitem ftanphafter geduldet
und weit mehr ausgehalten haben als Männer, troß ber
härteften Tortur nichts befannt haben. Ein Actenftüd
aus dem Yuftizamt einer thüringifchen Gebirgsſtadt be-
richtet: „Eine alte Frau wird regelrecht gefoltert, man
legt ihr die Daumfchrauben an, fie aber fingt das Lied:
«Gott der Vater wohn’ uns bei» Man verfucht es mit
dem Spanifchen Stiefel, fie betet «den Glauben». Sie
wird mit auf den Rüden gebundenen Hänben an einer
Leiter, in deren Mitte eine Sproffe mit furzen, [pitigen
Hölzern — ver geſpickte Haſe — angebracht ift, in bie
Höhe gezogen, bis die Arme verpreht und umgekehrt über
20 *
308 Die Heren, Herenproceffe and Herenprebigten.
dem Kopfe ftehen, fie fingt: «Eine feſte Burg ift umfer
Gott.» Man fchnallt fie von der Leiter herunter, zieht
fie wieder in die Höhe und wiederholt dies ſechsmal,
aber „fie fang immerfort“, heißt e8 in den Acten. Als
man fie nach dreiſtündiger Marter losbindet und ihr bie
Freiheit verfündigt, wie dies im Facultätsurtheil ange:
ordnet worden war, bittet fie fich zu eſſen aus, ipt mit
gutem Appetit und dann geht fie mit den vom Spaniſchen
Stiefel zerquetichten Beinen über zwei Stunden in ihre
Heimat. Sie war fo vergnügt, daß fich der Richter, ber
Protokollführer und ber Henker höchlich verwunderten.
Zur Rechtfertigung des Scharfrichter8 wird in dem Proto⸗
koll ausdrücklich bemerkt, daß er die „wolle Schärfe” an-
gewendet und nicht etwa zu gelind verfahren fet.
ALS der Wahnfinn der Herenproceffe auf feinem Höbe-
punkt war, half indeß auch das Ueberſtehen ver Folter
nicht zur Freiheit. Man nahm an, ber Teufel habe bie
Here gegen die Qualen geftählt, und belegte fie deshalb,
wenn fein Geſtändniß erzmungen werben konnte, mit einer
willfürlichen außerorbentlichen Strafe, mit Staupen:
Ichlag, Landesverweifung oder Gefängnif. So
verfügt ein von Carpzov verfaßtes Urtheil wider eine
Angefchuldigte: „Sie wird geftalten Sachen nach über bie
zum andern mal erlittene Tortur, weil gleichwol ver:
muthlich, daß e8 ihr, der Vettel, vom Teufel muß ange
than fein worben, daß durch die Pein und Marter von
ihr nunmehr zum andern male nichts hat erbracht wer
den fünnen und damit man ihr aus biefem Grunde los
werde und bie Leute von ihr nichts weiter zu befahren
haben, des Landes ewig billig verwieſen!“
Eine der Haupturjachen, weshalb die Herenprocefie ſo
überhanbnahmen, ift in der Habfucht der Richter und
ber Gerichtöherren zu fuchen. Die Güter der Berur-
Die Heren, Herenproceffe unb Herenprebigten. 309
tbeilten wurden confiscirt, die Richter befamen bedeutende
Sporteln und auch die Henker und die Denuncianten zogen
anfehnlichen Gewinn. Der Hexenproceß war alfo eine
Geldquelle, wie ein Schriftfteller fagte „eine neue Alchy-
mie, burch welche aus Menjchenblut Gold und Silber
gemacht wurde”. Man fahndvete auf veiche Hexen und
tbeilte fih dann in bie Beute. Gewifjenlofe Richter
ängftigten vornehme Frauen mit der Drohung, daß auch
fie an die Reihe kommen würden, und erprefkten von ihnen
große Summen Geldes, mit dem fie fich ihren richter-
lichen Schug bezahlen ließen.
In manchen Städten waren Richter, Schreiber und
Scharfrichter dadurch zu reichen Leuten geworben. Ir
Zrier z. DB. ritt der Henker in Gold und Gilber ge-
kleidet auf einem edeln Roſſe und feine Frau that es in
Kleiverpracht allen zuvor. Nach einer Originalrechnung
der Stadt Zudmantel von 1639 empfing der Biſchof von
Breslau von elf Bränden 351 Thaler. Die Geiftlichen
batten an den Herenverfolgungen ein faum minder großes
pecuntäres Intereffe; während bie Gerichte fih an ben
Sefobeutel der Heren hielten, fchröpften Priefter und
Mönche die Behexten. Sie trieben für Gelb bie Teufel
aus, lajen Mefien, damit der Zauber nichts fchade, und
wanbernde Bettelmönche zogen mit Säden von fogenannten
„Hexenrauches“ umber, ven fie als Schutmittel gegen
Zauberei tbeuer verfauften.
Außer der Gelpgier war auch dem Neid, dem Haß
und ver Rachſucht Thür und Thor geöffnet. Wer einen
Feind hatte und es geſchickt anfing, konnte ihn leicht in
einen fchlimmen Proceß wegen Zauberei verwideln.
Endlich bat die Reformation eher bazu beigetragen,
die Herenproceffe zu vermehren als zu vermindern. ‘Der
Zeufel wird von Luther und Melanchthon ganz fo wie
310 Die Heren, Herenproceife und Herenprebigten.
von den Fatholifhen Kirchenlehrern aufgefaßt, fie be-
ſchränken jeine Wirkſamkeit nicht auf das geiftige Leben,
jondern glauben, daß er als Jüngling oder Jungfrau
herumgehe und die Leute verführe, daß er am Tiebiten in
ben Leib der Schlange oder des Affen fahre, daß er Kin-
ver ftehle und anderwärts unterjchtebe, daß er Einfluß
auf die Luft übe, Hagel und Unwetter bervorbringe
u.dgl. m. Die Grundlage der Herenprocefie — ber
Teufelsbund und ber Teufeldcultus — wurbe auch von
jenen großen und hellen Geijtern nicht angetaftet. Die
Evangelifchen wollten nicht minder eifrig fein als bie
Katholiken in dem Streit wider called Xeuflifche und
hüteten fich vor der böfen Nachrede, Zauberer und Hexen
in Schuß zu nehmen. Bon den futherifchen und refor-
mirten Kanzeln ertönten ebenfo heftige Reden wie in ven
katholiſchen Kirchen, in den Beichtftühlen der evangelifchen
Kirchen forfchten die Paſtoren ebenfo genau nach ter
Hexerei verbächtigen Dingen; einzelne evangelifche Bafteren
iprachen gerabezu aus, daß es im Papftthum mehr Heren
gebe, weil bort das Wort Gottes nicht lauter geprebigt
werde.
Die Katholiken hingegen, denen ja Hexerei und Ketzerei
ziemlich identiſch war, ſahen in dem Proteſtantismus den
Grund, weshalb die Hexen ſo zahlreich wurden, ja etliche
gingen in ihrem Eifer ſo weit, Luther für einen directen
Nachkommen des Satans zu halten. Im Jahre 1565
verficherte ein Bijchof feiner gläubigen Gemeinde, Martin
Luther war der Sohn des Teufel®, der fich unter ber
Maske eines reifenden Juweliers in das Haus eines
Dürgers von Wittenberg Eingang verichafft und mit beffen
Tochter gebuhlt habe.
Die Blütezeit ber Herenprocefje fällt in bie Zeit von
15% bis 1680; von da an ift eine allmähliche Abnahme
Die Heren, Herenproceffe und Herenprebigten. 311
beutlich bemerfhar. ‘Die Gegner mehren ſich und treten
energifcher auf, die Bildung ergreift immer weitere Kreife,
die Naturwiffenichaften löſen manche Näthjel, einfichts-
vollere Fürften und menfchlichere Richter befchränfen den
Gebrauch der Folter und führen mildere Gerichte-
praris ein.
Im 18. Jahrhundert wurden in mehrern Städten
die Herenprocejje ganz unterjagt, fo in Preußen fchon
1721, in England 1736, m Holland und Franfreich noch
früher. In andern, namentlich ven geiftlichen Ländern,
Ioderten die Scheiterhaufen bis zur Mitte bes vorigen
Jahrhunderte. So ward im Würzburgifchen noch 1749
eine Nonne aus dem Klofter Unterzell verbrannt, weil
fie mit dem Teufel gebuhlt, ven Hexenſabbat mitgefeiert
und andere Leute behert habe.
Im Jahre 1766 wurde einer jeboch nicht völlig ver-
bürgten Nachricht zufolge in Augsburg ein Zigeuner als
Herenmeifter zum Scheiterhaufen verurtheilt; 1782 jtarb
in Glarus eine Here den Tod in den Flammen; 1793
hieß der Magiftrat einer Stabt in ber Provinz Pofen
zwei Weiber verbrennen, weil fie das Vieh des Nachbars
bebert Hatten, und noch in biefem Sahrhundert find in
England, Frankreich, Holland und Preußen mehrere Fälle
vorgefommen, in denen das Volk felbft die Juſtiz gegen
angebliche Hexen geübt, fie ins Waſſer geworfen, gemis-
handelt, ja über ein euer gehängt und dort geröftet
dat. In den niedern SKlaffen, insbefonbere in ben
Sebirgsländern ift der Glaube an Hexen noch jest ſehr
verbreitet, im Thüringerwalde 3. B. gibt es jehr viele
Dörfer, in denen ganz allgemein befannt ift, wer beren
kann. Solche mit geheimen Künften vertraute Perfonen
find gefürchtet, man fcheut jeden Zwift mit ihnen, bie
Wöchnerinnen nehmen niemals von ihnen bereitete Speife
312 Die Heren, Herenproceffe und Herenprebdigten.
zu fich, das Misrathen der Ernte, pas Sterben bes Viehes
und dergleichen wird auf ihr Conto gefchrieben, und in be:
ſonders fchwierigen Fällen werben fie um Rath gefragt.
Das Gewerbe der Wahrfagerinnen foheint weniger blühend
zu fein, aber noch immer gibt es Kluge Frauen, die aus
dem Kaffeefat die Zukunft erkennen und die Karten zu
legen verſtehen. Im Frühling 1868 ließen fich, um einen
Beleg aus dem Volksleben anzuführen, mehrere junge Bur-
ſchen aus dem Fürſtenthum Schwarzburg-Sonpershaufen,
die auf Diebſtahl ausgingen, von einem alten Weibe die
Karten ſchlagen, um zu erfahren, ob ihr Unternehmen
glücken werde. Die berühmte Kartenſchlägerin und Wahr:
jagerin Frau Lenormand in Paris ſah während ber
Regierung bed Kaifers Napoleon I. die achtbarfte und
vornehmſte Gefellichaft bei fich, und fogar Kaiſer Aleran:
der I. von Rußland ſoll die Propbetin 1818 aufgefuct
haben. Ebenſo ift bekannt, daß der Kaiſer Napoleon IL.
Beziehungen unterhielt zu einer klugen, angeblich mit
übernatürlichen Kräften begabten Frau.
Wer fih an bie lanbläufigen Experimente mit ven
Punctirbüchern und dem Storchichnabel, an bie Flopfenven
und wahrjagenden Zifche und an bie Geiſterbeſchwörer
erinnert, die vor wenig Jahren die Welt bejchäftigt haben,
wird zugeben müffen, daß ber Glaube an Hexerei unt
Zauberei noch feineswegs erlofchen ift, wenn wir au
Hexen und Zauberer nicht mehr mit Feuer und Schwert
vertilgen. Mit Recht Hat man gejagt: „Wir würben
noch ebenjo viele Heren finden, wenn wir bafjelbe Mittel
anwenden wollten — bie Tortur.”
Die Heren, Herenproceffe unb Herenpredigten. 313
3. Heren- und Inholdenpredigten,
Darinnen zu zweien unterfchieplichen Predigten auf
das fürgeft und orbentlichft angezeigt wird, was in biejen
allgemeinen Landflagen über die Heren und Unholden von
jelbigen wahrhaftig und gottjeelig zu halten. Durch
M. Iacobum Graeter, Prediger und Decanum zu Schwä-
bifchen Hall. Gedruckt zu Tübingen bei Aleranver Hock
im Jahr nach Ehrifti Geburt 1589.
Die erfte Heren- ober Unholdenpredigt ift am vierten
Sonntag nad) Zrinitatis (1589) gehalten worden und
behandelt auf Grund des für dieſen Sonntag borge-
jchriebenen Textes Evang. Lukas, Kap. 6, Vers 36—42
tas Thema: „Ob und was Unholven feien? Was fie
darzu verurfacht und wie fchiwerlich fie fündigen ?
Site lautet wörtlich fo:
„Geliebte im Herrn Chrifto! Es iſt jeßiger Weile
allfenthalden wo man Hin fteht und gebt eine gemeine
Sage und Klage von Heren oder Unholden. Dan ftöct
und plödt, man fengt und brennt fie auch an vielen
Drten. Und wo man fie ſchon nicht wirklich zum Tode
verbammıt, jo richtet und verbammt man's doch mit Worten,
daß Hagel, Ungewitter und aller Unfall von ihnen ge-
focht und zugerichtet werde. Welches gleichwohl in einem
weg wahr ift: daß um der Unholden willen Hagel und
Unfall fommt. Aber wer und welche alfe folche Unholden
feien, da will fich jevermann ausreden, niemand bie Schuld
tragen. Ein jeder will nur andere Leute richten und den
Splitter aus des Bruders Auge ziehen, da er wohl etwan
einen großen langen Baum und Ballen darf barinnen
haben. Was aber Ehriftus Hierzu jagt, pas meldet heu-
314 Die Seren, Herenproceffe unb Herenpredigten.
tige8 Evangelium: Du Heuchler, |pricht der Herr, zeuch
zuvor den Ballen aus deinem Aug’ und alsbann fiche,
baß bu auch den Splitter aus deines Bruders Ange
zieheft. Denn gleichwie etliche alte Xeute wenig in bie
Nähe, viel und wohl aber in die Weite fehen: fo alſo
wollen auch wir nur immerdar in ander Leut Sünben
iharffichtig, in unfern aber ftar ober blind fein. Sonder
lich aber ift e8 in diefem Handel von Heren und Unholven
überaus gefährlich richten und urtheilen, werben auch
viel und oft fromme unfchuldige Leut greulicher und teuf-
liiher Sachen bezichtigt und kommt bei dieſer argen ver-
fehrten Welt dahin, daß fchier alle alte Weibsperfonen
üppiglich des Hexenwerks verrufen werben.
„Derowegen halte ich e8 nicht für einen Fürwitz, jon-
bern für eine lautere Notbfach, Hiervon Bericht zu thun.
Sonderlich weil auch bei Gelehrten und verjtänbigen
Leuten jo mancherlei ftrittige, widerwärtige Meinungen
feien, daß jchier feiner mit dem andern übereinftimmt
und einer dies, der andere ein anderes davon hält. Auch
viele Leut’ oftmals vielmehr ihren fürwitzigen Köpfen als
beweislichen Urjachen nachdringen. So ift e8 denn auch
unſeres Amtes, dasjenige anzuzeigen, bamit fich die Leut
verſündigen: auf daß fich niemand hab’ zu entfchulbigen
und als ob man's nicht gewußt auszureben.
„In einer folchen ftrittigen und verworrenen Sache
aber wollen wir uns zum Wort Gottes halten und baf-
jelbige unfere Regel, Compaß und Winfelmaß fein laſſen,
wie die chriftliche Kirche aus dem 119 Pialm finget:
Memen Füßen ift bein heilig Wort
Ein brennende Rucerne,
Ein Licht, das mir den Weg weift fort
So biefer Morgenfterne
In uns aufgeht, ſobald verſteht
Die Heren, Herenproceffe und Herenprebigten. 315
Der Meni bie hoben Gaben,
Die Gottes Geift benen gewiß verheißt,
Die Hoffnung barzu haben.
„Derwegen wollen wir jeßtmals zu diefer erften Predigt
bon Deren und Unholden in gemein etwas jagen: Ob
und was fie fein? Was fie zu folder Teufelei verur-
ſacht. Auch wie fchwerlich fie ſündigen. Was aber weiter
hiervon nüßlich und chriftlich zu willen (liebt’8 Gott und
euch) in Fünftiger Prebigt folgend verrichten.
„Denn anfangs ift leider allzu wahr aus Heiliger
Schrift, aus glaubwürbigen Diftorien und täglicher Er-
fahrung kund und offenbar, fol auch aus ver ganzen
Zractation und Handlung erfolgen, daß Hexen oder Un-
holden feien, und es ift unnothwendig, daß man alfererft
fragen und es in Zweifel jeßen oder bispntirlich machen
wollte. Weil man doch fieht und weiß aus ihren Werten,
baß fie als rechte loſe böſe Teufels Leute fürjäglich und
wiffentlich durch gottlofe Mittel fich bemühen und unter-
fteben, ſich Unhold zu maden, das ift ven Leuten zu
ſchaden, Laub und Gras, Weide und Waffer, Vieh und
Menichen zu verberben, fich felbft aber in Freude, Wolluft
und Kurzweil zu bringen. ‘Darüber fie dann Gott ihren
Schöpfer, feine Allmächtigfeit und Gutthätigfeit verleugnen
und verfchwören. Hiergegen aber dem Teufel ftetigen
Dienft und Gehorſam veriprechen, daß fie ihn für ihren
Gott und Herrn anerfennen, anrufen, Balten und ihm
allein vertrauen und feines Willens leben wollen. Nun
find aber viele Urfachen, welche folche loſe Leute, Teufels
Häute und Bräute, dazu vermögen und bewegen. Denn
einmal geratben etliche dahin aus lauterem Mistrauen
und Unglauben zu Gott und feinen gnädigen Verheißungen,
daß fie forgen, er könne und werbe fie nicht ernähren,
meinen, der Teufel, der doch felber arın und verbammt,
316 Die Heren, Herenproceffe und Herenprebigten.
ſoll fie reich und ſelig machen, ihnen geben was fie wün-
ichen und begehren. Etliche fommen dahin durch Leicht⸗
fertigkeit, Faulwitz und Fürwitz, bieweil fie mehr als
andere Leute fein wollen: laffen ihnen an menſchlichem
Stand und Wefen nicht genügen, da verheißt ihnen dann
der Satan güldene Berge. Sie follen nur ihn forgen
faffen, daß ob fie ſchon für fich felber feinen Mangel
haben an Geld und gut Freund und Kurzweil, fo ftiht
fie doch der Fürwig, wollen immerdar mehr haben.
Denn wie Salomo in feinem Prediger jagt: Das Aug
fieht fich nimmer fatt und das Ohr hört fich mimmer fatt.
Fürwig macht Iungfrauen theuer. Menschliche Seel ift
nad dem Fall ein unerjättlicher Schlund nach mancherlei
wunberbarlicden ſeltſamen Sachen, daß ob gleich wohl vie
fünf Sinne alle Stund und Augenblide jett dies jekt
das der Seele zuführen, fo wirb fie doch nicht erfüllt
noch gefättigt. Eines andern Kindes Apel ift immervar
größer als der feine. Was man heut einfach bat, das
will man morgen zweifach und doppelt haben. Andere
ergeben fich dem Unholden Werk aus NRachgierigfeit, Neid
und Haß, da man einen etwa Leids gethan und fich für
fich felber nicht rächen können, fchlagen fie fich zum vad-
gierigen und mörberifchen Teufel, der verheißt ihnen dann
Weile und Weg anzuzeigen, daß fie ihr Müthlein an
ihrem Widerwärtigen maiblich fühlen ſollen. Denn rad:
gierige Leute geben oft ein Aug aus dem Kopf, daß ihr
Widerfacher gar blind wäre; wie fich etwan vor Zeiten
die Leute in bie Leibeigenfchaft eingelaffen, daß fie ihrer
Feinde Meifter werden möchten.
„So werden auch nicht wenig zu Unholden durch böſe
Geſpielſchaft und Verführungen, von denen fie überrebet
und hinterfchlichen werden. Denn wer Pech anrühret,
ber beſudelt fich damit, und wer bei einem Hoffärtigen
Die Heren, Herenproceffe unb Herenprebigten. 317
wohnet, der lernet Hoffart. Alfo wer bei zauberifchen
Leuten wohnet, mit Gabelreitern zu thun hat, ver hört
und lernt fo viel von ihnen, daß er auch Luſt gewinnt,
ihnen nachzufolgen.
‚„Allermeift aber gerathen die elenden Leute dahin durch
Verachtung göttlichen Wortes. ‘Denn wenn man das
aus den Augen fetet, dem Segenſprechen, Allfanzerei und
Aberglauben nachhänget, fo ift’8 ein naher Weg zur Zau⸗
berei und SHererei. Daher gibt’8 auch foviel Unholden
im Papftthum, da man feine rechte Erkenntniß Chrifti
und feine® Evangelii bat. Sein rechtes evangeliſches
Weib wirb zu einer Unholden. Denn ber beitere Glanz
bes göttlichen Wortes vertreibt diefe Geifter, die gern im
Finſtern haufen und maufen. Und wo das Wort des
Herrn groß bei einem Menſchen gehalten wird, da läßt
au Gott die Leute nicht alfo betrogen werden. ‘Der
Zeufel weiß, welche er angreifen ſoll, als nemlich die⸗
jenigen, jo feine Luft und Tücke nicht fo leichtlich merken.
Und fonberlic weil ihm als einem vortbeilifchen Geift
unverborgen, daß das Weib ein ſchwächer Werkzeug, er
e8 auch im Paradieſe wohl erfahren, fo greift er bie
Weibsbilder am meiften mit folcher Teufelei an und wer-
den viel mehr Unbolvden Weiber als Unbolden Männer
gefunden. Nehmet deſſen ein Gleichniß.
„Wenn du zu Nachts einem eine Bosheit thun wilfft,
und er merkt ven Poſſen, jo läßt bu von Stund an von
ihm und gebeft zu einem andern, ber voll Schlafs ift
oder ſonſt fich um ſolches Lotterwerk nicht verfteht. Alfo
fteigt der Teufel auch gern über den Zaun, da er am
niebrigften ift, und pflegt das weiblich Gefchlecht am meiften
anzugreifen. Kinder laſſen fich Teichtlich bereben, es komme
ein [hwarzer Mann, ein Kaminfeger, eine lange weiße
dran wolle fie in Sad fteden, hinwegtragen und freffen,
318 Die Heren, Herenprocefje unb Herenprebdigten.
wenn fie nicht aufhören zu fchreien. Wenn aber bie
Kinder zu ihrem Verftand kommen, laſſen fie fih nicht
mehr alſo äffen, ſondern lachen dazu. Alſo wo man
findifch und unerfahren in der Heiligen Schrift ift, fih
um Gottes Wort weniger al8 eine Kuh um den Mittag
verftehet, kann man Teichtlich zu diefem Affen- und Teufel
werf der Hexerei fommen. Aber mo das Licht des Evan-
geliums aufgefteckt ift, da wird e8 auch weniger Unholden
und Teufelsbrut geben.
„Dan hat fi) aber billig vor dem Hexenwerk fleißig
zu hüten. Denn es ift eine greuliche Sünde, ja ein
Hauptqueli vieler erfchredlicher Sünven. Denn einmal
jündigen ſie wider das erjte und andere Gebot Gottes, daß
man an einen Gott glauben, nicht andere Götter haben
und den Namen des Herrn nicht mißbrauchen ſoll. Wenn
fih ein Hiefiger Bürger von unferer Obrigkeit abzöge,
fagte ihr ab, fchlüge fich zu den Feinden, was meine
ihr, daß fie dazu fagen würde? Alſo wie meinet ihr,
daß e8.Gott gefalle, wenn man ihm durch Unholden Werl
abfagt und fih zum Teufel fchlägt? Denn ver Teufel
nimmt feine zur Here an, fie fage denn Gott ab unt
verjpreche fih dem Teufel, daß fie ihn für ihren Gott
baben will. Sa er verbietet ihnen Gott jo hart, daß fie
auch feinen heiligen Namen nicht nennen dürfen. Wie
man von vielen Herenfahrten Tieft, daß alles verſchwindet,
wenn nur eins etwan unter einem ganzen Haufen ohn⸗
gefähr Gott nennet, fo tft das Spiel verborben, der Tanz
verwüſtet. Es verſchwindet alle in einem Hui umd
Augenblid.
„Man wird auch tauf- und bunbbrüchtg am Got.
Denn in der Taufe haben wir und doch mit Gott ver-
bunden, daß wir uns zu ihm halten wollen. Aber da
fällt man von Gott ab, wird meineidig an ihm. Iſt dad
Die Heren, Herenproceffe und Herenprebigten. 319
nicht eine graufame Sünde? Ja fie werben wohl anders
und wiebergetauft auf den Namen bed Teufels. Die
Unholden machen aus Chriſti Gliedern Glieder des
Teufels.
„Es ſündigen aber ſolche Leute nicht allein wider Gott
und fein heiliges Sakrament, ſondern auch wider die
Menſchen, ja wider die ganze Natur und alle Creatur
Gottes. Sie werden zu rechten Naturfeinden, find allen
Creaturen und guten Gaben Gottes zuwider. Vieh und
Menjchen begehren fie zu verlegen, mit Gift und Bulver
anzufteden, zu lähmen und zu verberben. Ja fie haben
wohl feine Ruhe, es ift ihnen nicht wohl, wenn fie nicht
alle Tage etwas Böſes ftiften, und fo fie nicht mehr
fönnen, müffen fie doch Kübel und Gelten, Löffel und
Schüffel, Häfen und vergleichen verbrechen. Wie man
fagt: e& muß ein Unhold alle Tage etwas verwilten.
Sp machen fie auch unſchuldige Leute verpächtig, bringen
fie in einen böfen Argwohn, richten Zank, Hader, Feind⸗
ſchaft und Wiperwillen an, darans Neid und Mord er-
folget. Sonderlich wenn fie eingezogen und peinlich ge-
fraget werben, geben fie aus Einblafung ihres Meifters,
der ein Mörder, Lügner und Betrüger ift, fromme un-
ſchuldige Leute an, die folcher Teufelei von Herzen feind
find. Sie meinen, fie wollen fich dadurch ausreden, weiß-
brennen, entſchuldigen. Wie es denn viele Erempel und
Hiftorien gibt, daß fie die frömmſten Leute beichufpigt
haben.
„Richt weniger aber bringen fie auch die herrliche Kunſt
der Arzenei in Verachtung, welche von dem Allerhöchften
fommt. Denn wenn fie mit ihrem Herenwerf und Zau⸗
berei und Salben alles aufrichten, heilen und helfen
fönnen, was darf man der Arzenei? Sie wirb dadurch
geringfchägig und kraftlos geachtet, allerdings vernichtet.
320 Die Heren, Herenprocefje und Herenprebigten.
„Es handelt auch ſolches unnüßes Volk wider alle
wohlbeftellte Stabt- und Landesordnung, wider göttliche
und Taiferliche Rechte und Satungen. Sie werben ver-
flucht und geftraft, fie werben übelthätige Leute genennet
wegen ber übergroßen Uebelthaten, die fie als Feinde des
menfchlichen Geſchlechts begehen und thun.
„Es fteht aber ſonders dem Weibsvolk zu bevenfen, daß
fie ſtandhaftige Ehriften fein und bleiben, ſich durch feine böfe
Anreizung bes Teufels und feiner Gefandten follen ver-
führen laffen, ſondern ftetig an ihr Taufgelübde gedenken.
Wie man von ber heiligen Jungfrau Yuftina zu Antio-
hien liefet, daß der Teufel und feine Boten auf man-
cherlei Weiſe an fie gejeget und vermeinet, fie wollen fie
boch verführen, aber fie haben ein leeres Stroh gebrofchen,
e8 bat alles nichts geholfen.
„Dies iſt's, das St.⸗Paulus zu den Epheſern ſpricht:
«Wir haben nicht mit Fleiſch und Blut zu kämpfen, ſondern
mit Fürſten und Gewaltigen, nemlich mit den Herren
dieſer Welt, die in Finſterniß dieſer Welt herrſchen, mit
den böſen Geiſtern unter dem Himmel, um deswillen ſo
ergreift den Harniſch Gottes, auf daß ihr, wenn das böſe
Stündlein kommt, Widerſtand thun und alles wohl aus-
richten und das Feld behalten könnt.»
„And Petrus jchreibt: «Seid nüchtern und wachet, denn
euer Wiberfacher ber Teufel zieht herum wie ein brülfen-
ber Löwe und luget, wen er möge verfählingen.» Dem
widerſteht feſt im Glauben.
„Chriſtus ſagt's jelbft im heutigen Evangelio:; «Mag
auch ein Blinder einem Ylinden den Weg weilen? Wer-
den fie nicht alle beide in die Grube fallen?» Wer bem
Fürften der Finfterniß, dem leidigen Teufel und feinen
Heren folget, fih von ihnen führen und leiten Läffet, ver
wird mit ihnen in bie hölliſche Grube, darinnen fein
Die Heren, Herenprocelfe und Herenprebigten. 321
Basler, Leben und Zroft ift, fallen, eiwigen Hungers und
Durftes verſchmachten, unaufbhörlich heulen und zähn-
Happen müffen.
„Und wie aber der Teufel ein alter unverbroffener
Tauſendkünſtler ift, alfo ift er auch ein alter verichmißter
Betrüger. Er Tügt nicht immerbar, ſondern fagt bis-
weilen auch zu feinem Vortheil die Wahrheit. Doch
wenn er Eine Wahrbeit jagt, fo jagt er zehn Lügen da⸗
gegen. Er morbet auch nicht immerdar, fonvern er bilft
bisweilen, baß er hernach Leib und Seele verberbe. Aber
er betrügt immerbar, er ift ein unaufbörlicher Betrüger.
Er beträgt die Unholden um ihrer Gottlofigleit willen,
er betrügt andere um ihres Un» und Aberglaubens willen.
Es ift das mehrern und größern Theils Beſchiß, Be⸗
trug und Blendwerk mit dem ganzen Unholdenwerk. ‘Der
Zeufel ift ein Meifter und Ausbund über alle Gaukfer.
Und fo die Gankler, Poffenreißer, Brillenreißer und Aben⸗
teurer als gefchwinde Kunden etwas Seltfames, das
wider und über die Natur fcheinet, auf die Bahn bringen
lönnen, wie follte nicht der Principal-Gaufler, ver Teufel,
die Unholden und abergläubigen Menſchen blenven, bie
Augen betrügen, VBernumft und Verſtand beftürzen können?
Er kann die Mittel und Urfachen eilends zu wege bringen
und burch Behendigkeit macht er, daß man eine Sad für
ein Wunberwerf hält, das keins if. Im einem Hui
oder Augenblid kann er fo weit fommen, als wir in viel
Zagen mit großer Müh'. Im Buch vom Leben ver alten
Bäter fteht von einem gefchrieben, welcher vermeint wie
auch andere, feine Tochter wäre zu einer Kuh geworben,
aber der heilige Macarius bat fie wie fie gewejen für
einen Menjchen und Jungfrau angefeben.
‚Bon dem beifigen Germano lieft man, daß er über
Nacht bei einem Wirth zur Herberg gelegen, ba viele in
XXI. 21
3932 Die Heren, Herenproceffe unb Herenprebigten.
feiner Nachbarn Geſtalt gefommen und fich zu Tiſch ge⸗
ſetzet haben, aber e8 waren lauter Teufel, welche ver
Wirth für feine Nachbarn angejehen, und wurde ver Be-
trug offenbar, als man die Nachbarn alle in ihren Betten
ichlafend fand. Alſo bat auch der Teufel einmal einem
Meßpriefter und feinen Pfarrfindern das Betbuch be-
zaubert, daß fie das Betbuch für ein Kartenjpiel ange
ſehen haben. Summa ber Teufel ift ein wunberbarlicher
Abenteurer, verrüdt der Unholden Sinn und Berftand,
daß fie eind für das anbere, ja wohl nichts für etwas
halten.
„And dieſer Sachen begeben fich auch viele natürlicher
Weiſe, da es gar nicht Zauberei und Hexerei tft. In
Krankheiten und Träumen trägt fich’8 auch zu, daß einem
viel ſeltſame Sachen fürfommen. Wie man von einem
Schreibt, ver nicht anders gemeint, denn er wäre zu einem
Göckel geworden. Etliche hat gepäucht, fie feien Kühe,
Säue und dergleichen unvernünftige Thiere. Denn es
find bie Sinne gar betrüglich und Tann fich Teichtlich
Ihiden, daß wir einen weißen Hund für einen Beden-
necht anfehen.
„Bott der Herr wolle uns gnädiglich vor allem Betrug,
Blendungen, böfen Verfuchungen und Eingebungen bes
böſen Feindes behüten, auf daß wir an ihm bis ans
Ende beftänpiglich verbleiben durch ven flegbaftigen Teufele-
binder und Ueberwinder Chriftum Jeſum bochgelobt in
Ewigkeit. Amen.”
Die andere Predigt des Dekans Graeter am Sonn-
tage Mariä Heimfuchung behandelt auf Grund des Evan⸗
geliumd Luck, Kap. 1, Verd 39 fg., das Thema: Was
und wie viel die Unholden Fönnen und treiten? Wie
weit fich ihre Macht erftreckt ?
Die Heren, Herenproceffe unb Herenpredigten. 323
In der Ausführung lejen wir :
„Anfaugs kann der Teufel fehr viel. Es kann auch
der Saten Sinn und Vernunft dermaßen blenden, daß
etwan einer einen Eid jchwüre, er ſähe oder hörte dies
oder jenes, das doch im Grunde nichts ift. Eine folche
Blendung ift ed mit Poltergeiftern im Papfſtthum gewefen,
dag man gemeint hat, fie werfen alles auf einen Haufen
und bat boch morgens ordentlich ein jegliches an feinem
Drt wiedergefunden. Und das kann der Satan nun nicht
nur im weltlichen leiblichen Sachen, jondern er blenbet
auch die Vernumft in geiftlichen und Glaubensfachen, und
er kann einem einen Irrthum eingeben und ihn bermaßen
bezanbern, daß er taufenb Eibe fchwüre, er wäre recht
daran. Er kann uns aber doch nicht ein Härlein Trüm-
men, wo es ihm nicht von Gott ift zugelaffen. Und ba
ihm gleich Gott etwas erlaubt, ftedt er ihm doch daneben
ein Ziel, über welches er nicht fchreiten foll oder kann,
wenn er noch fo giftig und rachgierig wäre, ſich noch fo
graufam ſtellt. Was aber er nicht kann, das können
noch viel weniger feine Hexen und Unholden. ‘Deffen
wollen wir Erempel bören. Die Zauberer in Aegypten
machen wie Moſes Schlangen aus ihren Stöden, fie
machen aus Wafjer Blut, fie bringen Fröſche herfür. Da
hatte ihnen ber Herr lang genug zugefehen, es war Zeit,
daß er ihnen ein Ziel ftedte und das Handwerk wieder
legte. Da aber Mojes Läufe berfürbrachte aus Dfenruß,
fönnen fie ihm nicht weiter nachäffen, nicht eine einzige
Laus machen, ſondern fie fprechen, pas ift über unfere
Kunft, wir können nichts mehr :c.
‚Will der Satan Hiob an Gütern, Kindern, Vieh und
eigenem Leib angreifen, muß er zuvor Gewalt und Er-
laubniß bei Gott ausbringen ıc.
„Daraus folget unwiderbringlich, daß ber Teufel und
21*
324 Die Heren, Herenprocefje und Herenprebigten.
feine Boten, Diener und Bräute wider das ganze menſch⸗
liche Geſchlecht und alle Ereaturen nichts fönnen, wo es
nicht von Gott ausgebeten, verhängt unb erbettelt ift,
aber da es ihnen vergönnt worden, können fie mächtig
viel fein ftarf und graufam. Ei, fagft du nicht umbillig,
wie mag doch Gott der Herr dem Teufel umb feinen
Bräuten dieſe Freude und Wolluft gönnen, daß fie ihren
Muthwillen üben, fo großen Schaden thun? Antwort:
Er thut's darum, daß er unfern Un« und Aberglauben
itrafe und uns die Sicherheit nehme, in feiner Furcht er-
balte und zu inbrünftigem Gebet treibe. Es gehen doch
viele in großer Nuchlofigfeit, Sicherheit und Unterlaffung
bes Gebets dahin und thun, als wenn fein Teufel wäre:
was follte oder würde dann gejchehen, wenn er nicht feine
Gewalt zeigte und durch fein Ungeziefer Schaden thäte? ıc.
„Steht uns demnach einmal zu bedenken, daß wir uns
vor dem Teufel und den Unbolven nicht jo hart entjegen
foffen, wie diejenigen thun, die zufammenfahren, wenn fie
nur einen Unholden hören nennen. Sie dürfen jelbe
nicht nennen, fürchten, fie werden von ihnen gejchoflen.
Aber Hüte du dich vor Sünden, das find bie giftigen
Pfeile, die dich verlegen. Mach dich nicht felbft zur Un-
bolven, fo wirft du der Unholven wohl entlaufen können.
Wie wir lejen, daß ein Unhold, ba man fie hat ver
brennen wollen, auf dem Holzhaufen ihren Gevatter ge
jehen und zu ihm gejagt hat: «Xieber Gevatter, wie oft
habe ich Euch gern angreifen und bejchäpigen wollen, aber
ich habe es nicht gefonnt. Denn ich wohl gewußt, daß
Ihr meine Zauberei verachtet und Euch Gott alle Wege
befehlt._ Wer uns Unholven verachtet und Gott vertraut,
ben können wir nicht beichäbigen noch fchießen.» ‘Died
iſt's, das Jalobus jagt: aWiderſtehet ven Teufel, fo fliehet
er von euch.»
Die Heren, Herenproceffe unb Herenprebigten. 325
„Wie wir aber die Unholden nicht fürchten, alfo follen
wir fie auch nicht brauchen, nicht Raths fragen, ihnen
nicht zulaufen, wenn uns etwas fehlt oder mangelt. Was
wir aber dieſes Orts von Unholven jagen, das Tann und
joll auch von Zauberern, Teufelsbeſchwörern, Schwarz-
fünftlern, Segenfprechern, Chriſtallſehern und vergleichen
Teufelsleuten verftanden werden. Denn fie find doch
alfe Geſchwiſterkinder miteinander, kommen von Einem
Vater, dem Teufel. Und es heißt doch: «Du ſollſt nicht
andere Götter neben mir haben. Du follft Gott allein
dienen. Du follft nicht Fleisch für deinen Arm balten.
Du follft die verftorbenen Heiligen nicht anrufen. ‘Du
ſollft die Engel nicht anbeten noch viel weniger die Teufel,
bie Zauberer und Unholden. Denn folchergeftalt hält
man ben Teufel vor Gott, für barmherziger und gewal-
tiger benn Gott. Man fündigt gegen Chriftum, der
darum kommen ift, daß er die Werke des Teufels zer-
ftöre. Den follen wir hören, nicht die Heren und Uns
bolven» zc.
„Ans Kirchendienern aber gebührt nicht, hiervon ge⸗
wilfe Sefee und Ordnung zu geben, welches Kaijern,
Fürſten, Herren, Frei» und Reichsſtädten zufteht, das
aber gebührt uns zu jagen, daß man böfe Leute als öffent-
lihe Feinde des Menſchengeſchlechts und Verſchwörer
Gottes ihres Schöpfers nicht verfchonen foll. Dieweil
fie nach ihres Meiſters des Teufels Art anders nicht be⸗
gehren denn fchäplich zu fein, Sammer und Unfall zu-
zufügen; um ſolches argen verzweifelten Vorſatzes wegen
find fie billig zu ftrafen. Und dann auch, daß fie, wie
Dr. Luther fchreibt, wider Ehriftum den Teufel mit feinen
Saframenten und Kirchen ftärten. Aber hier foll man
nicht zu gefchwind fahren, nicht auf alle Flugreden gehen,
698 gemeine Gefchrei gemeiner Leute nicht für gewiß
326 Die Heren, Herenproceffe und Herenprebdigten.
halten, ſondern zuvor alle Umftände gründlich erfahren,
ſonders aber gar nicht brauchen folche zauberiſche Nach⸗
vichter, die Teufel mit Teufel vertreiben, dadurch vie
Richter betrogen und viele malen unfchulpige Leute ge:
peinigt und verdammt werben.
„Letzlich hat auch das Weibervolk, ja wir alle zu lernen,
baß wir zur Verhütung aller Teufelei, der Hexerei und
nach dem Erempel beider gottliebender Frauenbilder, Eliſa⸗
betb und Maria, deren im heutigen Evangelio gedacht
wird, zu verhalten haben. Denn einmal feben fie beite
auf fich felbft, bleiben im Glauben, in der Liebe, in ber
Heiligung und unbefleckter Zucht, behalten ihre Gefäße
rein und keuſch. Marta ift über das Gebirg gegangen,
nicht hinübergefahren auf einer Gabel oder Bod. Sie
gebt endlich Hinüber, läßt ſich den böfen Geiſt nicht
binübertragen. Elifabetb wartet ihrer Haushaltung, hält
fih innen wie eine Schned in ihrem Häuslein.
„Darnach fehen fie auf den Herrn, reden von feinen
Werfen, welche er an ihnen, ja am ganzen menjchlichen
Geſchlecht gethan bat, preiſen feine Wunder, ermahnen
einander mit geiftlichen Liedern und Lobpfalmen, dabei
ber Teufel nicht bleiben kann. Sie ſehen auf ihren
Nächten, dienen einander. Maria, ob fie wohl des Herrn
Meifiä Mutter ift, arbeitet fie doch bei ihrer Baſen Eli-
jabeth drei Monat lang, darnach zieht fie wieder zu Haus,
lugt, was fie daheim zu fchaffen habe. Denn fleikige
Arbeit wehret dem Menfchen viel Böſes, Müßiggang aber
it aller Lafter Anfang, des Teufels Pfühl, varauf er
alles Arges ftifte. Wir wollen mit Maria und Eliſa⸗
beth in Lauterfeit und Wahrheit, Zucht und Ehrbarfeit
einhergehen, dem Herrn dienen in Helligkeit und Ge-
rechtigkeit unſer Leben lang, wie ihm gefällig ift. Auch
immerbar bitten und beten:
Die Heren, Herenproceffe und Herenpredigten. 327
Führ uns Herr in Berfuhung nicht,
Wenn uns der böſe Geift aufidht.
Zur reiten und zur Iinfen Hand
Huf uns thun ſtarken Widerftand.
Im Glauben feſt und wohlgerüft,
Und durch des heil'gen Geiſtes Troſt.
„Wohlan, das wären denn zwo kurze Predigten von
Hexen und Unholden ꝛc. Der Herr verleih, daß wir's
nicht obenhin gehört haben, ſondern daß ſie in unſern
Herzen ausſchlagen und viel Früchte bringen zum Preiß
Gottes, zur Beſſerung und Erbauung unſers Nächſten,
zu unſerer zeitlichen Wohlfart und ewigen Herrlichkeit
durch unſern Heiland Jeſum Chriſtum, welchem ſei Lob
und Preiß ſammt Vater und Heiligem Geiſt in Ewigkeit.
Amen.“
Drud von F. A. Brockhaus in Leipzig.
Der Neue Pitaval.
Nene Serie,
Zweiundzwanzigfter Band.
-Y
Der
Meue Pitapval.
Eine Sammlung
Der intereflanteften Eriminalgefhichten aller Länder aus
älterer und neuerer Zeit.
Begründet
vom
Sriminalbirector Dr. 3. €, Bibig
unb
Dr. W. Häring (W. Aleris).
Fortgeſetzt von Dr. A. Vollert.
Nene Serie. EIN,
Zweinndzwanzigfter Band,
Reipzig:
3% 4. Brockhaus.
1888.
Kee. * $, 1908
Borwort.
— —
Der Proceß wider Johann von Weſel iſt ein
Typus der mittelalterlichen Proceſſe wegen Ketzerei
und deshalb von großem Intereſſe, weil die Acten noch
ziemlich vollſtändig erhalten ſind. Der ganze Fall und
das Inquiſitionsverfahren find lehrreich auch für unfere
Zeit, denn was im 15. Jahrhundert in Mainz ge
heben ift, würde fih voraugsjichtlid im 19. Jahr⸗
hundert wiederholen, wenn ber Römiſche Stuhl die
gleihe Macht und Gewalt bejäße wie damals, als
Johann von Wejel vor das geiftlihe Gericht geftellt
wurde.
Die tüchtige Arbeit, die zugleich ein treues Bild
jener Zeit gibt, hat uns ein junger Theologe, der Herr
Gymnaſiallehrer Auerbach in Gera, geliefert.
Die Studie des Herrn Landgerichtsdirectors
Barre in Trier über Mania transitoria in Ber:
bindung mit den diefe ſchwierige Materie erläuternden
merkwürdigen Straffällen trägt vielleicht dazu bei, die
Streitfrage über die Zurehnungsfähigteit gewiffer Ver:
breden der Löfung näher zu führen.
VI Vorwort.
Der dreifache Mord in der Mühle zu Diet—
harz hat ſeinerzeit in Thüringen großes Aufſehen er⸗
regt. Dem Scharfſinn und der unermüdlichen Thätig⸗
keit des Unterſuchungsrichters und des Staatsanwalts
iſt es gelungen, das Material zu einem Indicienbeweiſe
zu ſammeln, in deſſen Kette zuletzt kein Glied mehr
fehlt. Obgleich kein Zweifel beſtand an der Schuld
des zum Tode verurtheilten Mörders, wurde es doch
als eine große Genugthuung empfunden, daß Thaldorf
kurz vor ſeiner Hinrichtung ein reumüthiges Bekennt⸗
niß ablegte.
Dem Herrn Generalconſul Dr. Meyer in Wien
verdanken wir bie Merkwürdigen Eriminalpro:
cefje aus England wegen Berleumdung und uns
gerehtfertigter Entziehbung der perfünliden
Freiheit, wegen Nothzucht, Bigamie und Wediel:
fälfhung, durch welde die guten Seiten, aber aud
die großen Mängel und Lüden des engliihen Strafver-
fahrens illuftrirt werden, ferner die Tödtung eines
Matrojen auf hoher See, ein Fall, deſſen Aus
gang eine große Zahl von Geſellſchaften und Vereine
Englands veranlaßte, bei der Regierung zur Abmen-
dung der verhängten Todesitrafen vorftellig zu werben.
Man fürctete, ed könnte durch den Richterfprud die
Mannszucht auf den Schiffen gefährdet werden, und
erreichte auch wirklih, daß im Gnabenmwege an Stelle
des Todesurtheils eine verhältnipmäßig kurze Freiheits⸗
ftrafe geſetzt wurde.
Die Kentudy:Bendetta, ein merkwürdiges Bei:
Vorwort. VII
ſpiel der Blutrache in Amerika, und das auf den jüngſt
verſtorbenen Marſchall Bazaine in Madrid im Jahre
1887 unternommene Attentat hat der Herr General⸗
conſul Dr. Meyer ebenfalls eingeſendet. Wir geſtatten
uns, ihm auch an dieſer Stelle für dieſe intereſſanten
Beiträge unſern verbindlichſten Dank auszuſprechen.
Der Diebſtahl im wiener Landesgerichts—
gebäude ſtammt aus der Feder des Herrn Dr. Thyll
in Wien.
Das Leben und Treiben des Familien:
mörder3 Timm Thode ift ein Nachtrag zu dem
von und im vierten Bande der Neuen Serie unfers
Werkes veröffentlichten Procefje, der jedoch einen felbft-
ftändigen Werth bat und auch für diejenigen Lefer
verftändlich ift, welche jenen Proceß nicht gelefen haben.
Gera, im October 1888.
Dr. 4. Bollert.
VI Vorwort.
Der dreifache Mord in der Mühle zu Diet—
harz bat ſeinerzeit in Thüringen großes Aufſehen er-
regt. Dem Scharfſinn und der unermüdlichen Thätig:
teit des Unterfuhungsrichters und des Staatsanmwalts
ift e8 gelungen, das Material zu einem Indicienbeweiſe
zu fammeln, in vefien Kette zulegt Tein Glied mehr
fehlt. Obgleich kein Zweifel beftand an der Schul
des zum Tode verurtbeilten Mörders, murde es doch
als eine große Genugthuung empfunden, daß Thaldorf
furz vor feiner Hinrichtung ein reumütbiges Bekennt⸗
niß ablegte.
Dem Herın Generalconful Dr. Meyer in Bien
verdbanten wir die Merkwürdigen Griminalpro:
cefie aus England wegen Berleumdung und un:
gerehtfertigter Entziehbung der perſönlichen
Freibeit, wegen Nothzucht, Bigamie und Wedel:
fälihung, dur melde die guten Seiten, aber auch
die großen Mängel und Lüden des engliſchen Strafver:
fahrens illuftrirt werden, ferner die Tödtung eines
Matrojen auf hoher See, ein Fal, deſſen Aus
gang eine große Zahl von Gefellihaften und Vereine
Englands veranlaßte, bei der Regierung zur Abwen⸗
dung der verhängten Todesftrafen vorjtellig zu werden.
Man fürdtete, es könnte durch den Richterſpruch die
Mannszucht auf den Schiffen gefährdet werden, und
erreichte auch wirklid, daß im Gnadenwege an Stelle
des Todesurtheils eine verbältnigmäßig kurze Freiheits⸗
jtrafe gejeßt wurde.
Die KRentudy:Bendetta, ein merfwürdiges Bei-
Borwort. viI
ipiel der Blutrache in Amerika, und das auf den jüngit
verftorbenen Marſchall Bazaine in Madrid im Sabre
1887 unternommene Attentat hat der Herr General-
conjul Dr. Meyer ebenfalls eingefendet. Wir geftatten
uns, ihm auch an diefer Stelle für diefe interefianten
Beiträge unfern verbindlichſten Dank auszufpreden.
Der Diebftahl im miener Landesgerichts—
gebäude ftammt aus der Feder des Herrn Dr. Thyll
in Wien.
Das Leben und Treiben des Familien:
mörder3 Timm Thode ift ein Nachtrag zu dem
von uns im vierten Bande der Neuen Serie unfers
Wertes veröffentlichten Proceſſe, der jedoch einen ſelbſt⸗
ftändigen Werth bat und auch für diejenigen Lefer
verftändlich ift, welche jenen Proceß nicht gelefen haben.
Gera, im October 1888.
Dr. A. Bollert.
Anhalt.
Borwort
Johann von Wefel und feine Zeit. Ein Leberproctß
aus dem 15. Jahrhundert..
Eine Studie über mania transitoria (oorüßergehender
Wahnſinn) und verfchiedene merkwürdige Criminal:
procefje, welche diefe fchwierige Materie betreffen. .
Der dreifahe Mord in der Mühle zu Dietherz im
Thüringerwalde. 1885.
Merkwürdige Criminalproceſſe aus England.
1. Verleumdung und ungerechtfertigte Entziehung
der perſönlichen Freiheit. London. 1887.
2. Nothzucht. London. 1887. . .
3. Bigamie. Vorl. 1887. London 1888.
4. Eine Wechſelfälſchung. London. 1888.
Tödtung eined Matrofen auf hoher See. Mord oder
Neberfchreitung erlaubter Nothwehr? 1887. .
Kentucky⸗Vendetta. Blutrache in Amerika. 1877 —
1887 rn.
Das Attentat auf Bazaine. Madrid. — Mord»
verſuch. 1887. rn
Seite
x Inhalt.
Ein Diebſtahl im wiener Landecgerichtegebaude. 1880
und 1881..... 270
Das Leben und Treiben bes Samilienmörbers Timm
Thode vor der Verübung des von ihm in der Nacht
vom 7. zum 8. Auguſt 1866 ausgeführten Mordes.
Provinz Schleswig. Holftein. . . 2.0.30
|
Iohaun von Weſel und feine Beit.
Ein Ketzerproceß ans dent 15. Jahrhundert.
Als im 16. Jahrhundert die neuen Gedanken, bie bie
Kirche des Mittelalters umgeftalteten, ihren Hauptträger
in Luther fanden, ba traten fie mit einer foldhen Mäch-
tigfeit auf und zünbeten in Kopf und Herz ber Zeit-
genojjen fo gewaltig, daß es ber Kirche unmöglich wurde,
ihr altes Verfahren in ver Behandlung neuer Anſchauungen
feitzuhalten. Zwar traf Luther ver Bann, aber die Au-
torität päpftlicher Machtſprüche war erjchüttert, auch
päpftifch gefinnte Kreiſe wußten, daß dieſer Spruch ber
Kirche oft unwürdig angewandt und barum verbraucht
fei. Luther that mit der Verbrennung der Bulle ben
unzweibentigen Schritt ber Losfagung von der Autorität
bes beftehenben höchften Sirchenregiments, und bennod)
konnte auch ein Karl V. ver päpftlichen Bulle nicht ohne
weiteres das kaiſerliche Edict der Reichsacht folgen laſſen:
man forderte den Verurtheilten erſt noch vor, und zwar
vor einen Reichstag, wo gar Laien in Sachen bed Glau⸗
bens mitreden konnten und ſollten.
Ganz anders noch im 15. Sahrunbert. Met der —5
Profeſſor, ſpätere Pfarrer Johann von We
the wird, vn infcenirt die Kirche im Boligefühle
XXI.
m — —
2 Johann von Wefel und feine Zeit.
ihrer Macht ven Keterproceß, und ver gehorfame Sohn
unterwirft fich dem Spruche ver Mutter. Beide Männer,
Johann von Wefel und Martin Luther, verdanken ber-
jelben Hochichule, dem aufftrebenden Erfurt, ihre wiſſen⸗
ichaftliche Bildung; beide opponiren gegen bafjelbe Injtitut
ber Kirche, in welchen allerlei unbiblifche Lehren ſich
gipfelhaft vereinigen: gegen den Ablaß; beide find Pre⸗
biger fühn im Wort, voll Feuer und Leben — wenn aber
an bemfjelben Strome, wo 1479 zu Mainz von Weſel's
Mund das Wort ertönte: „Sch will die mir aufzuerlegende
Buße leiften und bitte um Vergebung und Gnade“, im
Sabre 1521 zu Worms das Bekenntniß eriholl: „Ich
fann nicht anders“, fo war der Sprecher in Mainz nicht
blos ein alter8ichwacher Greis, ſondern auch bie Zeit für
die Bewegungen des 16. Jahrhunderts noch nicht reif.
Das gegen Wefel angeftrengte Verfahren können wir,
banf eines erhaltenen boppelten Berichts, in feinem Ver⸗
laufe bis ins Einzelne verfolgen und fomit ein anſchau⸗
fihes Bild eines Keterprocefjes gewinnen.
Johannes Ruchrat, gewöhnlich nach feinem Geburts-
orte, dem unfern St.Goar gelegenen Stäbtchen Ober»
Weiel, Sohannes von Wefel genannt, wurbe im erften
oder zweiten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts geboren.
Bon feinen Xeltern und feiner Jugendzeit ift uns nichts
befannt, zu Michaelis 1441 wurde er auf der Univerfität
Erfurt immatriculiet. Nachdem er den für alle Fach
ftudien grundlegenden Curfus in Philoſophie abſolvirt,
wurde er als Magifter der freien Künfte promopvirt und
wandte fih ver Theologie zu. Allmählich ging er ans
ben Stande des Schülers in ben des Lehrers über, im
Winterfemefter 1456/57 wird er mit dem Grade eines
Licentiaten der Theologie als Rector genannt, im folgen-
ven Winterfemefter als Doctor der Theologie und Bice⸗
Sodann von Wefel und feine Zeit. 3
rector. Weſel trat auch in den geiftlihen Stand, jeboch
ohne Mitglied eines Ordens zu werben, alfo als foge-
nannter Weltpriefter. Seine Stellung in den großen
firchlichen Fragen der Zeit nahm er auf feiten ber Oppo⸗
fition gegen das herrſchende Kirchenthum. Die Stadt Erfurt
nämlich, obgleich ımter erzbifchöflich mainzifcher Hoheit
ftehend, Hatte fo viel Freiheit und Selbftändigfeit bewahrt,
daß man fie einer Reichsſtadt gleichachten konnte. Dort
nun war die Stiftung der Univerfität von ber reich
gewordenen, aufſtrebenden Bürgerfchaft ausgegangen, und
es ift möglich, daß mit diefem Umſtande nicht blos
die Thatſache zufammenbängt, daß der gegen Ende bes
Mittelalters fich aufringenvde neue Humaniftifche Geift zu
Erfurt neben Heidelberg am eheften zur Entfaltung kam,
jondern daß auch die ſchon vorher im Schoße ver mittel»
alterlichen Theologie felbft gezeitigte, der Oppofition vor-
arbeitenve Richtung des Nominalismus zu Erfurt berr-
ſchend wu..
Der Streit ber nominaliftifchen und realiftifchen
Scholaftiker, ob Realität allein den einzelnen Dingen
zufomme, während die von dem benfenden Individu um
gebildeten allgemeinen Begriffe oder Ideen nur nomina
jeien, d. 5. bloße Abftractionen von den Dingen, ober
ob auch die universalia ſubſtantielle Exiſtenz haben, ſei
e8 vor der Entjtehung der Einzelvinge als deren Urbilver,
oder zugleich in und am denſelben — dieſer Streit hatte
ja nicht blos die Bedeutung einer logiſch⸗metaphyſiſchen
Schulfrage, fondern dem Realismus war mit bem richtig
entwickelten Begriff zugleich die Realität des Erjchloffenen
gegeben, aljo die Einheit von Denken und Sein gefekt;
der Nominalismus betonte, daß bie Welt der Ideen fich
mitnichten mit der der Erſcheinungen decke, er bahnte
1*
4 Johann von Wefel und feine Zeit.
bie Trennung von Glauben und Willen an. Nachdem
im 11. Jahrhundert ver Realismus in Anjelm von Canter-
bury feinen Hauptvertreter gefunden hatte, dem ber No—
minaltsmus in der Perſon Roscellin’8 bei einem Streite
über die Zrinität unterlegen war, galt die dem natür-
lichen Verſtande immer am meijten einleuchtende Anficht
von der alleinigen Realität der Einzeldinge bis ins
14. Jahrhundert als heterodox; feit jeiner Erneuerung
durch den Franciscaner Decam jedoch, den Schütling
Ludwig's des Baiern in Münden (F 1349), brachte es
ber Nominalismus zu kirchlichem Anjehen und jelbit zur
Herrichaft, der nur bis zum Ausgang des Mittelalters
bie realiftiichen Dominicaner aus Verehrung gegen ihren
Thomas von Aquino wiberftrebten.
Freilich Fam die kritiſche Richtung, die im Nomi⸗
nalismus an fich lag, zunächſt keineswegs zur Auswir⸗
fung. Wenn auch die Nominaliften in einer Menge von
Einwendungen, welche man gegen biefe und jene firch-
lichen Dogmen etwa erheben könnte, mit Vorliebe ihren
Scharfſinn erprobten; an ven lirchlichen Autoritäten wurde
faum einer irre, weil jene Einreden aus ber Vernunft
ftammen, in den Autoritäten aber Gott reden follte. So
waren auch die Nominaliften immerhin Scholaftifer, und
auch Weſel's Dppofition gegen das Kirchenthum feiner
Zeit hat ihren Nährboden nicht in einer veränderten Me-
thode des theologifchen Erfennens, fie Tonnte durch feinen
Nominalismus nur gefördert werben.
Bald nach feinem Vicerectorat wurde Johannes Ruchrat
an den Rhein berufen, was infolge ver Hoheit des mainzer
Stuhles über Erfurt öfter vorgefommen zu fein fcheint;
und zwar als Domherr nach Worms. Im Sommer 1461
fiedelte er nach Baſel über, vom Rathe der Stadt nad
längern Verhandlungen für die neugegründete Univerfität
Johann von WVefel und feine Zeit. 5
gewonnen; aber fchon im Sabre darauf kehrte er nad
Worms zurüd und wirkte dafelbft 17 Jahre lang ale
Domprediger bis zu feiner Verhaftung.
Daß Wejel mit Verſtändniß feine nunmehrige praftifche
Wirkſamkeit zu erfaffen wußte, beweift im Gegenfage zu
der von ihm als Profefior — aber nicht vor feinem
Rectorate, vielleicht in Baſel — verfaßten berühmten
Schrift „Wider den Ablaß“ vie in feinem Pfarramte
entjtandene Abhandlung „Bon Autorität, Amt und
Gewalt ver Hirten der Kirche”. Im jener wird das
beftrittene Inftitut in fchulmäßiger Form und Gebanten-
bewegung beiprochen, und ein gewiſſer wiffenfchaftlicher
Duietismus läßt auf blos gelehrtes Intereffe an der auf-
geworfenen Frage fchließen; dieſe ift in ihrer Haltung
viel populärer und lebendiger, allenthalben ericheinen bie
concreten Schilberungen der befämpften Misftände als
aus unmittelbarer Anfchauung entnommen, oft bricht tief⸗
empfundener Manneszorn über ben verberbten Klerus
mit hinreißender Urfprünglichkeit (08. Bon Weſel's Pre-
bigten und fonftigen Schriften bat ſich nicht® erhalten,
aus den wenigen von theologischen Gegnern unter feiner
Kanzel gefanmelten Paraporen kann jeboch auf eine
anfaſſende, gelegentlich jarkaftiich derbe Sprache, die vor
fühnen Ausfprücen nicht zurückſchreckte, auch in der Pre-
bigt geichloffen werden. Auch über ven Erfolg feiner
wormjer Thätigkeit Laffen fich pofttive Angaben nicht bei»
bringen. Die erhaltenen Schriften genügen jedoch, ein
Bild feiner Auffaffung des Kirchenglaubens und ver
großen feine Zeit bewegenden Fragen zu zeichnen. Es
wird gut fein, eine Skizze des Gefammtzuftandes ber
Kirche in jenem Jahrhundert mit Weſel's Auslaffungen
zu verbinden.
Die Kirche des Mittelalters batte e8 verftanden,
6 Johann von Wefel und feine Zeit.
ſich als ven Gottesftant zu organifiren, deſſen Grenzen
die Enben des Abenplandes waren; ihr Oberhaupt batte
feinem Anſpruch, Duelle aller und jeglicher, geiftlicher und
weltficher Gewalt zu fein, Anerkennung und Herrſchaft
zu erringen gewußt. Dem Mittelalter galt das römifche
Recht als das Weltrecht, als zeitgemäße Mobification
vefielben wollte das „Corpus juris canonici” gelten, man
fuchte das Recht bei dem geiftlichen Gericht auch in einer
Mehrzahl dinglicher und perfünlicher Mechte- und Ord⸗
nungsverhältniffe der Laienwelt. Nicht bios Verldbniß
und Ehe, Teftament und Begräbniß, bürgerliche Rechts⸗
verhältniffe, die beſchworen find, Beneficialftreitigfeiten,
Barochialrechte, Batronat und Zehnten unterlagen kirch⸗
licher Jurisdiction, fondern bie Kirche forderte auch Bruch
der treuga Dei, Raub und Brandſtiftung, Wucher,
Falſchmünzerei vor ihr Forum; erließ Geſetze gegen See⸗
raub und Strandrecht, gegen Turniere, gegen bie früher
zugegebenen Orbale, gegen nene Auflagen; jelbft in bie
Kriegführung mifchte fie fich gejeßgeberifh ein. Der
Recurs von dem weltlichen Nichter an ven geiftlichen
wurbe für alle Fälle eröffnet, fo bilvete ſich ein feinb-
liches Verhältniß zwiſchen weltlichen und geiftlichen Ge
richten. „Während die weltlichen Gerichte, und zwar
namentlich in Deutfchland, nach einem alterthümlichen,
mehr und mehr in Formenftrenge und Engherzigfeit ers
ftarrenden Proceß verfuhren, trat im geiftlichen Gericht
ein im wefentlichen formfreier, an erfter Stelle die Ge
rechtigfeit und Billigfeit der Sache in das Auge fafjender
Broceß hervor: der Proceß, welchem die Zukunft gehörte.”
Auch nach andern Richtungen verfah pie Kirche Aufgaben,
bie in der Neuzeit der Staat fich vindicirt, nachdem ber
befcheidene Umfang ver im Mittelalter an ven Staat ge:
ftellten Forderungen von Jahrhundert zu Jahrhundert
Johaun von Wefel und feine Zeit. 7
mehr ind Breite gefloffen ift. Unterricht und Armen-
pflege, Geldgefchäfte, Handel und Wandel bejorgte bie
Kirche, daher mußte die bürgerliche Gefellichaft auch durch
äußerliche Intereffen jchon aufs engfte mit der Kirche
verwachſen fein.
Da begann, gerade als das Papfttfum die Unbe-
ſchränktheit ſeiner Machtfülle am nadteften zur Ausfage
gebracht hatte — subesse Romano Pontifici omnem
humanam creaturam de necessitate salutis — ver
Verfall der Kirche; es läßt fich öfter beobachten, daß
eine gefchichtliche Ericheinung ihre innere Kraft ſchon zu
verlieren angefangen hat, wenn das Ziel ihres Strebens
äußerlich erreicht ift. Die abhängigen franzöſiſchen Päpfte
des 14. Jahrhunderts, Die fich gegenfeitig verfluchenden
Doppelpäpfte ber folgenden Zeit genoffen fein Anfehen,
die bodenlofe römische Habjucht und ſchamloſe Bejtechlich-
feit waren auch dem blöbeften Auge erfennbar geworben,
das Princip, daß die ganze Kirche auch in ben Kleinften
Dingen kirchlicher Lebensäußerung unmittelbar von Rom
aus regiert werben jolle, erwies fich als unflug und un-
burchführbar. So wurde die Rechtspflege Tprichwörtlich
langfam und iumficher; die unerjchiwinglichen Koften der
Proceffe, die aufs unmwürbigfte verwandten firchlichen Ab-
gaben fühlte man als drückende Laſt; eine erſchreckliche
Unficherbeit aller öffentlichen Zuftände griff Platz. Wenn
die Reformceoncilien bes 15. Jahrhunderts daher vor
allem eine Neuorbnung ber Tirchlichen Verfaffung, ber
Gerichtsbarkeit, des Steuerweſens anftrebten, jo ift biefe
Bemühung, biftorifch beurtheilt, d. 5. nach dem Maßftabe
ver Zeitlage, keineswegs gering zu tariren; erhoffte man
boch davon auch eine Beflerung ver religiöfen und fitt-
fihen Zuftände.
Die Unwiffenheit nämlich und Trägheit, die Genuf-
8 Johann von Wefel und feine Zeit.
ſucht, Zuchtlofigkeit, Ehr- und Habgier der Welt- und
Kloftergeiftlichkeit, die Roheit, Spielfuht, Vollerei der
Laien, die Beunruhigung des bürgerlichen Gemeinweſens
durch innere und äußere Fehden Hatte im Laufe bes
14. Jahrhunderts eine allgemach gefahrbrehende Höhe er-
reicht, ein Hauptmittel, dieſem eingetretenen Verfalle
bes religiöfen und fittlichen Lebens bei Voll unt
Geiftlichfeit zu fteuern, fuchte man in einer Reformation
auf dem Gebiete des Mönchthums.
Wenn die vorreformatortiche Kirche die evangeliſche
innerliche Ueberwindung der Welt, das In⸗der⸗Welt⸗ und
doch nicht Von⸗der⸗Weltſein, nicht kennt, fondern der
Welt theils durch Weltflucht, theils durch Außerliche Be⸗
herrſchung Herr zu werben fucht, fo muß jebe neue Phaſe
bes Imftituts, Das die Weltentfagung verlörpern jollte,
alſo des Mönchthums, darauf hinweifen, daß bie Kirche
ihr Ideal im Verhältniß zur Welt nicht erreicht fühlt, an
und in fich von neuem eine Reform verfucht. Jeder neue,
jeder veformirte Orden Hagt die alten an, klagt die Kirche
an, er ift ein Neformationsverfuch, der bald wieder durch
einen neuen Orden als gejcheitert erflärt wird. Im
13. Jahrhundert hatte Franciscus von Aſſiſi das Stich
wort von ber Nachfolge des armen Lebens Chriſti
auögegeben, bie Bettelorven der Franciscaner ımb Do
minicaner waren entitanden; nach anfänglich fchnelifter
Verbreitung und großer Blüte waren fie in den alige-
meinen Verfall mit hineingezogen worben; aber ber Ges
banfe von ber Nachfolge Ehriftt behielt feinen Zauber
für die Herzen der mittelalterlichen Frommen, vom Aus-
gang bes 14. Jahrhunderts an hat er bie Gründung vieler
neuen Klöfter, neuer Orden, 3. B. der Brüber vom ger
meinjamen Leben, und die Zurüdführung ber beftehenden
Orden zur alten Strenge der Regel gezeugt; feinen claf-
Johann von Weſel und feine Zeit. 9
ſiſchen literarifchen Ausprud bat er in der „Imitatio
Christi“ des Thomas von Kempen gefunden.
Es ift nichts Evangeliſches an jenem Gebanlen, auch
nicht an ber beginmenden Betonung der Schrift. Die
in der Nachfolge Ehrifti erftrebte Darftellung des wahren
Chriſtenthums ging in der Befolgung einer willfürlichen
Summe ber oft Außerlichften Einzelheiten auf, jeltiam
verbunden mit einer fchwärmerifchen Verehrung für Maria
und bie Hetligen, wie wenn man durch bieje Devotion
der Kälte jener mechanischen Frömmigkeit zu wehren ver-
fuchte. Und die fat neu entvedte Heilige Schrift wurbe
lediglich unter dem Gefichtswintel einer nova lex ange-
fehen und verwertbet. Vorreformatoriſch haben dieſe Er-
fcheinungen nur unbewußt gewirkt und nicht überall einen
nachhaltigen Erfolg gehabt, venn die Klage und der Spott
über bie Mönche verftummen zu feiner Zeit; freilich aber
wurden andererſeits auch für den geiftlichen Stand wieber
ernfte, tüchtige Männer gebilvet, für das Volf eine reiche
Erbauungstiteratur in Gebetbüdhern, Katechismen, Hi⸗
ftorienbibeln, Leben Iefu, Predigten und Plenarien, d. h.
Hauspoftilfen, verbreitet, und injonberheit hat das refor-
mirte Bettelmönchthum auf vie Seftaltung des religiöfen
Volkslebens gewirkt.
Bon der Mitte des 15. Jahrhunderts an läßt fich
eine heftige religiöfe Bedürftigkeit und Erregung des
Volkslebens in Deutſchland conftatiren, in fieberhafter
Daft werden die dem Mittelalter befannten Mittel, das
Heil zu erlangen, gebraucht, gefteigert, gehäuft. Maſſen⸗
haft traten die Bruderfchaften auf, und mancher Gläu⸗
bige fonnte der Bruberfchaften, denen er angehörte, eine
große Zahl aufführen. Im folchen Vereinen verbanven
und verbinden fich Laien und Priefter zu gemeinfamer
befonderer Verehrung eines Heiligen und gemeinfchaftlichem
10 Johann von Wefel und feine Zeit.
und damit gehäuften Erwerb guter Werke, man gewährt
fich gegenfeitigen Antheil an vem buch Gebete, Wall-
fahrten und andere religiöfe Leiftungen erworbenen Ver⸗
bienft, man fichert fich einander nach dem Tode eine
Seelenmeffe zu. Viele Bruberjchaften waren Mönchs⸗
orden afftlitrt, infonderheit hatte Franciscus von Alfifi
durch die Anregung feines „britten Ordens“ für Welt⸗
leute die ganze Welt ins Mönchthum zu ziehen verjucht.
Noch 1882 Hat Leo XIII. durch das öffentliche Rund-
jchreiben „„Auspicato” die Bruderfchaft diefer Tertiarier des
Franciscanerordens allen Biichöfen zur Verbreitung und
Befeftigung unter vem Volle empfohlen und 1883 durch
bie Apoftolifche Conjtitution „Misericors” die Regel ven
veränderten Zeiten entſprechend gemilvert. ‘Die Profeflen,
bie heute nach Hunderttaufenven zählen, follen unter
anderm Eitelfeit und Ueppigkeit in der Kleivung, unehr⸗
bare Gaftereien, Zänze und Schaufpiele, das Halten unt
Lefen jchlechter Bücher und Zeitungen meiden. Sie tragen
das Ordenskleid — Scapulier und Gürtel — ıumter ven
gewöhnlichen Kleidern, haben gewiffe befondere Fafttage,
bejondere Beitimmungen über Gebet und Genuß ver
Sakramente. Die geforberten pecuniären Leiftungen find
gering, doch follen die Mitglieder rechtzeitig ihre letzt⸗
willige Verfügung machen.
Denfelben Einprud, als ob Gott durch die über
ſchwengliche Summe religiöfer Leiftungen Gnave abge
rungen werben jolle, macht die Thatſache ver im 15. Jahr⸗
hundert ins Unendliche gefteigerten Zahl der angebotenen
und gejuchten Abläffe mit den immer welter erſtreckten
Zeiten, für die fie gelten. Immer kürzer wurbe auch ber
Zeitraum, in dem die 1300 von Bonifaz VIII. einge
richteten Iubeljahre einander folgten. In ihnen erlangten
bie Beſucher gewiffer Kirchen Roms ganz beſondere
Sobann von Wefel und feine Zeit. 11
Gnaden, nicht blos vollkommene, ſondern vollfommenfte
Vergebung der Sünden. Oefters auch wurde das Jubi⸗
(äum für ſolche, die ſich Die Wallfahrt nach Rom verſagen
mußten, felbft jenfeit ver Alpen verfünbigt. Dazu wurben
Reliquien in erorbitanter Fülle und mit auffälligiter
Kritiffofigleit gefammelt. Ein Friedrich der Weije von
Sachſen hat für die neue Schloßfirche zu Wittenberg mit
enormen Koften 1010 Heiligthümer zufammengebracht,
beren bloßer Anblid einen Ablaß von 100 Jahren ger
währte. Und wenn Luther den Anftoß, den im Kloſter
gefuchten Weg ver Wiedergeburt zu betreten, bei einem
Gewitter empfängt und vom Blitz erjchredt mit ven
Worten zufammenftürzt: „Hilf, liebe Sanct-Anna, ich will
ein Mönch werben!” fo ruft er in der Mutter Marti bie
Heilige an, deren Eultus im 15. Iahrhundert in einer
Weiſe in Auffchwung gefommen war, daß er bald eine
dem Marienbienft faft gleiche Höhe erftieg. Die heilige
Anna ift aber nur eine einzige ber in jener Zeit in
üppiger Zahl entvedten und leidenſchaftlich verehrten Hei⸗
ligen. Auch die unbedingte Macht, die der Teufels-
und Hexenſpuk in ven Köpfen aller Schichten der Be-
vöfferung zu gewinnen begann, erklärt fich ebenfo wie
ver übertriebene Heiligenkult nur aus gewaltjamer Ueber-
reizung ber religidjen Phantafie bei dem geſammten Volke.
Imocenz VIII. bezeichnete in feiner Herenbulle von 1484
das Deutſche Reich als ein Land, in welchem viele Per⸗
jonen männlichen und weiblichen Geſchlechts mit bem
Teufel gottlofe Bündniſſe eingingen, und nahın das Un-
weien ber Herenprocefie in den Schuß der Kirche,
Und was foll man fagen, wenn die im Jahre 1501
zum erften mal auf dem SKopftuche einer rau bei
Maftricht erjchienenen und nach ihrer Entfernung immer
wieder hervorkommenden rothen Kreuze Schnell fich über
12 Johann von Wefel und feine Zeit.
ganz Deutfchland verbreiten, auf Wäfche, Kleidern oter
auch auf der bloßen Haut zu Tage treten und von ganzen
Menfchenfcharen auf einmal erblicht werden? Wie ift es
möglich, daß plöglih Mann und Weib, Kind und Greis
aus ber Heimat auf- und davonlaufen und willenlos
einem Wallfahrtsorte, 3. B. der blutigen Hoftie zu
Wilsnad im Brandenburgifchen, zugetrieben werben? Die
Reformation trat in eine veligids auf das allerlebhafteite
intereffirte Zeit ein, verftand die religidfe Krankheit zu
heilen und ven vergeblich gejuchten gnäbigen Gott zu
zeigen.
Doch man verfteht jene Zeit nicht ganz, wenn man
nicht neben der religidfen auch die ſociale Erregung
ins Auge faßt. Was das 16. Jahrhundert zufammen
zeigt: die Reformation und den großen Bauerntrieg, das
wird im 15. zufammen vorbereitet. Wenn aber aud
Gewalt und Reichthum in Kirche und Welt damals
nur allzu oft in einer Hand lagen, wenn das Denten
und Fühlen ver Nation auch in den Dingen des natin⸗
lichen Lebens religiös gerichtet war, die ſociale Bewegung
bat ihre eigene Quelle, fie ift mitnichten von ber reli-
giöſen gezeugt.
Das Mittelalter rechtfertigte die beftehende Schei⸗
dung der Menfchheit als präpeftinirt mit jener be
rüchtigten Auslegung vom Segen und Fluche Noah’s, daß
von Sem und Japhet Geiftlichleit und Adel, von Ham
alle Unfreien, ja das Volk oder die Bauern überhaupt
abftammen follten. Da regten die äußern und innen
Kämpfe der veutichen Städte, der Eidgenoffen gegen ihre
Herren, die huſſitiſche Yauernrevolution in Böhmen die
untern Volksſchichten im ganzen Weiche gewaltig auf.
Wenn viele Gelehrte felbft, Hhochangefehene Männer ber
Kirche und Wiffenfchaft, vom Bewußtfein ver vorhandenen
Sodann von Wefel und feine Zeit. 13
jocialen Mlisftänte tief durchdrungen find, und ein Ni-
folaus von Kues z. B., „ver begabtejte Mann der Nation
zur Zeit des Bafeler Concils“, die Warnung ausfpricht:
„Wie die Fürſten das Neich verfchlingen, jo verichlingt
einft das Volt die Fürſten“ — fo veranlaßte daſſelbe
Bewußtſein im Volt erft recht überfühne und grund-
ftürzende Aeußerungen; in Schrift, Lied und Predigt.
Der Faſtnachtſpieldichter Hans Folz z. B., Barbier und
wahrſcheinlich auch Drucker zu Nürnberg in der zweiten
Hälfte des 15. Jahrhunderts, urtheilt in ſeiner „poetiſch
yſtori, von wannen das heyhlich römiſch reiche feinen vr⸗
ſprung hab“:
Das weltlich ſwert iſt gancz verroſt.
Die Häupter der Chriſtenheit und die Mächtigen in
den Städten ſind in die Schlingen des Geizes gefallen,
der Kaiſer wird der Beſtechlichkeit beſchuldigt:
Nye ſüßer droſt im geben wart
Dan von reichart, gebhart, clinghart.
Das Schlußgebet erfleht Befreiung
Bor aller tiraniſchen rott.
Diefe Gedanken gewannen um fo größere Kraft, je
geläufiger die Gleichſetzung der Begriffe arm und
fromm war, bie Plebs alſo religids tbealifirt wurde,
und je mehr der Glaube an die allgemein umlaufenden
Weiffagungen von ber bevoritebenden Zukunft des Anti-
chriſts, der Züchtigung des Klerus, von Zeiten furcht-
baren Iammers, aber auch chiliaſtiſcher Glückſeligkeit dazu—
trat. So erfreute fih Hans Böheim, der Gemeindehirte
und Sadpfeifer zu Niklashauſen im Zaubertbal, ob folcher
Weiffagungen eines unerhörten Zulaufs. Wie das Bettel⸗
mönchthum durch die energiſche Nachfolge des armen Lebens
Jeſu mit dem Nimbus einer befondern Heiligkeit um⸗
geben war, jo wurbe nun auch der Bauer geehrt Durch die
14 Johann von Wefel und feine Zeit.
unmittelbare Beziehung feines Standes auf ven Heiland,
von dem gefchrieben ftehe: „Homo agricola ego sum.“
In einem Volksliede ſetzt der Bauer jelbft feine Feld⸗
arbeit in Beziehung zum Saframent des Altars:
Ich pau die frucht mit meiner band,
Darain ſich gott verwandelt,
In des priefters band.
Und Hans Folz preift in feinem „Kargenſpiegel“, der ven
Evangelifchen im 16. Sabrhundert den Beweis mitliefern
half, wie einzelne Männer mitten im Bapftthum ihren
Glauben auf Chriftum und nicht auf Menſchenwerk ges
jtellt, den Armen felig, der feine Armuth willig trägt,
während den Fargen Reichen nur Verdammniß erivartet,
jo ſehr er auch durch Meffen und milde Stiftungen feine
Seele gut zu „befachen” meine. Chrifti armes Leben
und feine Paffion find unfere Verſöhnung. Darum er-
geht die Mahnung:
Gib yez, fo e8 zu nucz bir kumm,
Nit fo fih ander zanden drumm,
Wan ein aller pey deinem leben
Sft me dan nach beim dot gegeben
Ein großer ſylberiner perg
Wan gleich alle du: fint dot dein werd.
Dazu kommt, daß auch bie nationalökonomiſche
Bedeutung des Nährftandes ind DBewußtfein der
Zeitgenoffen tritt, in einem Meiſterliede werben Stola,
Schwert und Pflug nebeneinander genannt,
Und flent ir dri einander bi, fo lebe wir wol üf erben.
Der überjchwenglichite Anwalt der Bedeutung des Nähr-
ftandes ift der nürnberger Wappendichter Hans Roſen⸗
blüt, ein älterer Zeitgenoffe von Hans Folz. Nach ihm
„wäre jede Erijtenz, gejchweige denn ber Luxus, ohne bie
unmittelbaren und mittelbaren Früchte der Feldarbeit uns
möglich. Aller Reichthum, «Pfenning und Pfennings
Johann von Wefel und feine Zeit. 15
werth» wird aus dieſer Quelle abgeleitet. Der Dichter
ift fo hingeriſſen von diefer Erfenntniß, daß er den Klang
ber Drefchflegel ſchöner findet als der Nachtigall Geſang“:
Ich Iob Di, bu edler bawr,
Fuͤr alle creatawr,
Für all bern auf erben;
Der kayſer mufz dir gleich werben.
Ein andermal, in dem Gedicht „Bon dem Müßiggänger“,
führt Rojenblüt aus: Von dem Schweiße, der bed Ars
beiter8 — des Handwerksmanns und des Bauers —
Antlig netzt, wird feine Seele fo gebleicht, daß ihre
Schöne in den Himmel reicht und Gott um fie zu buhlen
beginnt. Alle Wiffenichaft ift nicht jo heilkräftig,
Als wenn der erbepter einen tropffen fwißt,
So er an feiner erbeyt erhikt.
Der Tropfen fpaltet fich in vier Theile. Der erfte Theil
fließt in die Hölle Hinab und Löfcht das ewige Teuer,
barin bie Seele ewig hätte brennen müffen; ber zweite
Theil wäſcht die Seele rein; der dritte fteigt gen Himmel
auf und gewinnt Vater, Sohn und Geift, ſodaß bie
Seele mit Gott ganz vereinigt wird; ber vierte Theil
jammelt alle guten Werfe, die in der Chriftenheit mit
Faſten, Beten, Almojen, Meſſen, rechten Gericht, Wall-
fahrten getban werben, dazu die Verbienfte aller Mär-
tyrer, um ben Arbeiter all deſſen theilhaftig zu machen.
Dorumb ift erbeyt ber gotlichts orden,
So er ye auf erden geftifft ift worden,
Bann jn got felber hat geflifftet.
Den Müßiggänger erwartet eivige Verdammniß; den Weg
zum Himmel geht, wer nimmer müßig tft und dem Prie=
fter gehorcht.
Doch volg du feinen wortten, bie bein fel fpeifen,
Bnb flewhe feine wergk, die bich abweifen.
16 Johann von Wejel und feine Zeit.
Dann wird Jeſu Paffion unter den Geſichtspunkt einer
Arbeit geftellt, ebenjo jeine Weltregierung; wenn vie
„Arbeiter da oben“ am Sternenhimmel feiern wollten,
fo wäre e8 bier unten mit allem Wachsthbum aus. „So
erhebt der bürgerliche Dichter die Arbeit zum ethiſchen und
zugleich zum kosmiſchen Princip; er fteht in der mechaniſchen
Thätigleit der menjchlichen Kraft ebenjo etwas Göttliches
wie in der Bewegung der Weltlörper. Und er jchlägt
ihren Wertb höher an als jenen ber Geiftesarbeit und
ftellt fie den von der Kirche gepriefenen gottgefälligen
Leiftungen ebenbürtig an bie Seite.”
Somit hatte fich von der Werthung der niebern Stände
eine Anſchauung herausgebilvet, ver man troß ihres reli-
giöfen Gewandes das Präbicat ſocialiſtiſch beizulegen
geneigt if. Mit der allgemeinen Oppofition ber Zeit
gegen die Hierarchie ging fie parallel, zum ‘Theil Hand
in Hand. Denn jener Ipealifirung zu Trotz füllen fi
in der Wirklichkeit Pfaffen, Mönche und Nonnen ohne
Danf mit ber Speife,
Die bauleut haͤn gewunnen,
In felte und an ber funnen,
In hunger, durft, in bitterm fivaiz, der von im ift gerunnen.
Darum wird das Volkslied immer wieder ein Rufer zum
Streit:
Dir follen Gott im Himmel Hagen,
Daß wir bie Pfaffen nit follen erfchlagen,
Kyrie Eleiſon!
Und die Bauernaufſtände ſeit dem zweiten Drittel des
15. Jahrhunderts demonſtriren, wie „edel“ und „heilig“
der Bauer, ſchon mit Flegel und Senfe. Am Ende des
Jahrhunderts ift der „Bundſchuh“ das lockende Wahr.
zeichen ber armen Leute geworben, vor beffen Drohen
Adel und Geiftlichkeit erzittern.
Johann von Wejel und jeine Zeit. 17
Bon den religiöfen NReformverjuchen des. Mittelalters
wurben eine Anzahl auch unabhängig von der Gefammt-
firche unternommen, indem man berjelben vie Kraft ab»
ſprach, ſich aus fich felbft zu regeneriren. Dieſe Nefor-
mationen Inüpfen fi vor allem an die Namen eines
Wiclif und Hus. Beide Männer ftehen, was bas
Centrum ber evangelifehen Erkenntniß anlangt, noch auf
tem Boden des Mittelalters, ihre Betonung der Schrift
jevoch und ber enge Anfchluß bei ihrem Unternehmen an
das nationale Leben ihrer Voͤlker hat fie zu einer fcharfen
Dppofition gegen bie unbiblifche, romaniſche Großkirche
geführt. Wicltf ift der bebeutendere Gelehrte, Hus ver
größere Praftifer; wenn dieſer mit feinen Reformgedanken
oft jogar bis in die Form hinein von jenem abhängig
ericheint, fo ift der Wiclifie wieder nicht in ihrem Stifter,
fondern in dem böhmischen Schüler die Krone des Mar-
tyriums befchieven geweſen. Auf der Linie biefer felb-
ftändigen Reformationen aber bewegt fich auch Johannes
Ruchrat von Wejel. Er tft bedeutend weniger gefannt
als Wichf und Hus, weniger auch ald ein Wefjel, ein
Savonarola; aber die Erfenntniß der Schäven der Kirche
ift bei ihm kaum minder tief, bie Kraft feiner Bofition
faum minder ftarl als bei Wichf, und wenn ihn dank⸗
bare Schüler, begeifterte Anhänger nicht umgeben, wenn
fein Anzeichen vorliegt, daß fein Proceß für bie Zeit-
genofjen über die Bedeutung einer cause celebre hinaus⸗
geht, fo ift das wol daraus zu verftehen, daß er nach
Art der nieberländiichen Neformatoren von vornherein
mehr auf eine ftillere, innerliche Wirkſamkeit ausging;
freilich mag er auch als Perfönlichfeit von geringerer Kraft
geweſen fein, wenn vom Verhalten des Greifes bei dem
Broceife auf die Art des Mannes zurückgeſchloſſen wer-
ven darf.
XXII. 2
18 Johann von Wefel und feine Zeit.
Das Bild nun, das fih aus Weſel's Schriften von
ven kirchlichen Zuftänden feiner Zeit entwerfen läßt,
illuſtrirt unſere obigen Andeutungen in auereichenber
Weile. Man jagt, fo führt er aus, nach dem geiftlichen
Amte, ohne dazu von Gott berufen zu fein, man erwirbt
es mit Geld. Darum gibt es im Weinberge des Herrn
mehr Freſſer und Säger als Arbeiter, alle find blos auf
eine Gelvernte für ſich bedacht. Man will hervorragen
durch Glanz und Reichthum des Lebens, mit koniglicher
Pracht geht man einher und fpielt in Müßigkeit und
Lurus den Shbariten. Der Klerus fireitet mit bem
Mächtigen ver Erde um die Herrichaft, je bie Biſchofe
ichämen ſich des geiftlichen Schwerts zu Gunſten bee
weltlichen, das fie doch ohne Berechtigung führen. Beim
Gottesdienſte aber werben bie Gebete von ben Prieſtern
gar falt und geiſtlos hergemurmelt, bie Lectionen mit
Efelsftimme herausgebrüllt, in den Prebigten die Legenden
ber Heiligen, vie Betrügerei mit dem Ablaß, bie Thätig-
feit der Bruberfchaften auf alle Weiſe in ben Himmel
erhoben.
Ein feltener Vogel tft, einem ſchwarzen Schwane ver-
gleichhar, wer das Amt wirbig verwaltet; bie guten
Hirten find entweber irgendwo im Winfel verborgen ober
auch wol proferibirt und ſchimpflich verbannt; wer Gottes
Wort predigen will, muß auch willens fein, Gefahr für
fein Leben zu laufen. Darum kann mir vom Dale
bleiben, ruft er aus, bie zweizadige Mitra, micht küm⸗
mert mich die glänzende Inful, für Koth halte ich den
Hirtenftab, auch wenn er mit Gold und @belfteinen be
ſetzt iſt. Die Titel des Papftes als des Statthalters
Ehrifti, des Halbgottes, des Göttlichiten find blasphemiſch.
Es ift der menfchlichen Selbftfucht gemäß ganz unmög-
lich, daß der mit dieſem Schmuck gezierte Affe fich nicht
Johaun von Wefel und feine Zeit. 19
ſelbſt gefällt und mit Verwegenheit fich überhebt. Nicht
berrichen, fondern dienen ſollen die Prälaten, pie fchlechten
Priefter find die Urfache für ven Verfall des Volles.
O erjchredlich find die Zornesweiffagungen der Propheten
wider faliche Hirten, die Hirten müffen für die Sünden
der Heerbe mitbüßen! Die Ehriftenheit bat Gottes Ge⸗
richt auf fich herabgezogen, weil fie ven Lügenpredigern
Gehör gefchentt, Beifall gezolit bat.
Ich ſehe e& kommen, daß unfere Seele in Hunger
babinfchwindet, wenn nicht aus der Höhe ein Stern ber
Erbarmung und aufgeht, der dieſe Finſterniß, dieſes
Dunfel von unfern Augen vertreibt, die durch die Rügen
der Lenker verzaubert find, und das Licht wieberberftellt;
ber biefe® Joch der babylonifchen Gefangenfchaft nach fo
vielen Jahren endlich zerbricht; der dieſe Handlanger ber
Ungeredhtigfeit, diefe Bäuche, Hunde und böjen Thiere,
dieſe bauchdienerijchen Freſſer der Witwen entiweber mit
ewigem Xichte befeligt, oder in die Hölle ftürzt, bamit
nicht wir alle zuſammen lebendig in vie Hölle fahren.
D Gott, erlöfe Israel aus feinen Nöthen allen!
Als Grund für diefen traurigen Zuftand der Kirche
nennt Weſel ven Abfall vom Worte Gottes. Wie
er fchon als Profeffor erklärt Hatte, nichts jagen und
fehreiben zu wollen, was gegen bie Heilige Schrift fei,
io betont er fpäter, wie fehr Schriften ergößen, bie nach
Bibelftudium ſchmecken. Papft und Priefter müßten wieber
Ehrifti Geſetz lehren und treiben, ihr Amt in die Hebung
von Ermahnung und Ratb, Predigt und Troſt feßen,
in&bejonbere der Armen auch pecuniär fi annehmen.
Biel Hoffnung freifih, daß die Kirche als ganze das thr
drohende Gericht erkennen und durch Umkehr abwenden
werbe, jcheint Wejel nicht gehabt zu haben. Immer
wieber jeboch begegnen wir ber herzandringenden Empfeh⸗
2*
230 Johann von Wefel und feine Zeit.
fung der Schrift, der glühenden Verſenkung in das arme
Leben Jeſu als Ideal für das Leben des Ehriften. Aber
bedarf die Schrift nicht der Auslegung? Die Doctoren
legen fie falſch aus und find untereinander recht uneinig
und darum feine Autorität; umfichtige Ausleger werben
bie einzelnen Stellen miteinander vergleichen und Schrift
durch Schrift erflären. Im Evangelium, meint er zu⸗
verfichtlich,, find wir alle einig.
Wir haben die Werthung biejer Gedanken ſchon ger
würdigt, ſie ſind noch mittelalterlich gedacht; evangeliſch
iſt auch die Heilslehre Weſel's nicht. Er gibt das
Schema ver mittelalterlichen Dogmatik. Chriſtus iſt uns
von Gott zur Gerechtigkeit gemacht. Gerecht vor Gott,
Gott wohlgefällig aber werden wir, indem uns Gott ſeine
Gnade eingießt, ſodaß der Heilige Geiſt in uns lebt,
und Liebe zu Gott in die Herzen ausgegoſſen iſt. Für
die infusio der Gnade aber iſt bei dem Menſchen das
Borhandenfein einer dispositio congrua, ber Buße nöthig,
in die er fich felbft verſetzt. Auch die Werke, bie ber
Gläubige in Liebe zu Gott thut, find meritoriſch für das
ewige Leben. Es fehlt die evangeliſche Erkenntniß ber
Rechtfertigung als eines jurisdictionellen Actes und ihrer
Unterfchievenheit vor der nachfolgenden Heiligung, es
fehlt der centrale Begriff des Glaubens. Der Glaube
ift eine notitia, nämlich von dem, was verftanbesmäßig
nicht begriffen, aber doch einigermaßen ergriffen werden
fonn. Wenn aber Wefel doch auch wieder bie in ber
Kirche vorhandene Ieere Prahlerei mit Werken bei er-
lofchenem Glauben beffagt und nach den Paraboren und
Proceßacten der Erwählungslehre gehufbigt dat, sola Dei
gratia salvantur electi, fo bat biefe Verwerfung eine
Verdienſtes por Gott, dieſe praktiſche Orientirung des
Chriſten über ſich ſelbſt unter dem Geſichtspunkte der
Sobann von Weſel und feine Zeit. 2
Gnade doch noch nicht reformatorifche Kraft. Erft Luther
und Zwingli haben biefes auch fonft im Mittelalter be
obadhtete unmittelbare religtöfe Gefühl zum beherrſchenden
Mittelpunkt auch der Doctrin gemacht.
Doch wird allerdings durch Weſel's Schriftprincip
das mittelalterliche Lehrſyſtem wenn auch nicht in feinem
Angelpımlte, fo doch in einer ganzen Reihe wichtiger
Stellen durchbrochen.
Weſel verwirft ven Ablaß. Die Folgen ver Sünde,
jo führt er aus, find Schuld und Strafe. Die ewige
Schuld vergibt Gott dem bußfertigen Sünder im Safra-
ment ver Buße, wobei die Priefter feine Diener find.
Wenn die Kirche dabei aber auch gewiſſe Strafen für
die Sünden feftfeßt, fo bleibt ungewiß, ob dieſe Strafen
ven von Gott feitgefegten adäquat find, Wenn alfo ber
Bapft von dieſen Firchlichen Strafen wieder Ablaß er-
tbeilt, d. 5. fte (gegen Gelb für Tirchliche Zwecke) erläßt,
fo tft damit noch nicht gejagt, daß ver Menſch num auch
von allen dur Gott über ihn verhängten Strafen be-
freit fei. Vielmehr fteht aus der Schrift feft, daß Gott
nach feiner Gerechtigkeit feine Strafen nicht erläßt, fo
reichlich er auch nach feiner Barmberzigfeit die Schuld
erläßt. Wie follte alfo ein Priefter thun können, was
Gott nicht thut? Er kann e8 weber kraft der potestas
clavium, denn biefe hanbhabt er eben im Sakrament
ber Buße lediglich als minister Gottes, noch kraft der
potestas jurisdictionis, denn dieſe tft eine menfchliche
Snftitution. Nach alledem find die Abläfje piae fraudes
der Gläubigen. Wefel bat die fchwächite Pofition ber
Ablaptheorie, die Bräfumtion von der Ipentität der Kirchen-
ftrafen mit Gottes zeitlichen Strafen als unhaltbar er»
fannt und verwirft das ganze Inftitut. Und wenn ver
Bapft, jo urtheilt Wejel ferner, meint Sünpenftrafen
23 Johanu von Wefel und feine Zeit.
erlaffen zu Tönnen, weil er ven Ausfall an Leiftungen
durch die überfchüffigen Verdienſte der Heiligen compen-
fire, fo widerſpricht die Lehre dieſes vom Papft verwalteten
thesaurus operum supererogatoriorum bem Schrift-
worte: Ihre Werke folgen ihnen nad. Eigenthümlich
aber ift Weſel's Anficht, dag die Ablaßtheorie das Feg⸗
feuer überflüffig mache, daß die Exriftenz des Fegfeners
aber nad) der Schrift feftftehe, und auch darum ber Ablaß
zu veriverfen ſei.
Auch an dem Centraldogma Roms, der Lehre von ber
unfehlbaren Kirche, übt Weſel Kritik und behnt zu
gleich feine Ausführungen auf die Zragweite weltlicher
Autorität aus. Die Kirche irrt nicht, infofern ein Theil
ber allgemeinen Kirche die Kirche Chrifti ift, nad
ihrem andern Theile aber ift vie allgemeine Kirche eine
Ehebrecherin, eine Hure; der Ablaß 3. B. ift von bem
irrenden Theile der Kirche eingejeht, fie ſchadet mit ihm
mehr als fie nüßt. Ein geiftliches und weltliches Regi⸗
ment zwar find beive nothwendig, aber der einzelne Glän⸗
bige hat das Recht, was ihm befohlen wird, zu prüfen.
Zu gehorchen Hat er, wenn nicht® anderes geforbert wird,
als das Geſetz Chriſti auch fordert. Fordert die Obrig-
feit etwas im Wiberfpruch mit dem Worte Gottes, fo tft
ber Gehorſam zu verjagen. Es kann aber auch ein
Mittleres geforvert werden. Daran ift ver Gläubige im
Princip nicht gebunden, boch wäre ed Sünde, durch
Nichtbefolgung ohne Noth dem Nächten Aergerniß zu
geben. Es tft an foldhe Gebote ver Kanon anzulegen,
daß fie ber Liebe, die wir ums untereinander ſchulden,
und dem gemeinen Frieden nicht widerſprechen. Beſtehen
fie diefe Probe, jo gehorcht man ihnen, thun fie es nicht,
fo darf die NRüdfiht auf den Nächiten wicht abhalten,
daß man fich durch Nichtbefolgung auf das Wort Gottes
Johann von Wefel und feine Zeit. 23
ftellt und die Wahrheit befennt. Das dem Nächten ge-
gebene Aergerniß kann nachträglich gehoben werben, die
Wahrheit ins Schwanfen zu bringen iſt gottlod. Wenn
aber dann ber Blig aus den päpftlichen Bullen zudt?
Es ift ein kalter Strahl nur, denn ver Excommunicirende
ift vorher ſchon von dem göttlichen Richter ercommumicitt,
und ein Verfluchter kam nicht ercommuniciren. Der
weltlichen Obrigfeit gegenüber aber geziemt im Falle bes
Ungehorfams um des Gewiffens willen die Leidenswilligkeit.
Doc fo energifch Wefel auch ven Anſpruch des Papſtes
und ber Prälaten auf perjönliche Autorität zurückweiſt
und negirt, daß es Sirchengebote, d. 5. Gebote über
Chrifti Gebote, hinaus geben könne, die bei Todſünde ver-
pflichten, er bat die Conſequenzen aus feiner Unterjchet-
dung ber ecclesia Christi und der allgemeinen Kirche
keineswegs entwidelt. Zwar macht ihm nicht Die Zuges
börigkeit zur Papftlicche ven Ehriften, fondern der Glaube
durch Ehriftt Gnade; aber doch wird weder vie] Heils-
nothwendigkeit der Zugehörigkeit zu einer priefterlich ge⸗
leiteten und bierarchifch organifirten Kirche verworfen,
noch gar die emptrifche Kirche mit ihren Heilsmitteln
überhaupt zu Gunften einer Ipealgemeinfchaft für gleich-
gültig erflärt. Es wird die Kirche nur wie fie hiſtoriſch
handelte verworfen unb bafür verlangt, daß bie ihrer
Idee entfprechende Kirche ſich durch den Nachweis ber
Uebereinftimmung ihrer Maßnahmen mit dem unvergäng-
fihen Maßſtabe des göttlichen Geſetzes dem einzelnen
Ständigen legitimire. Und wenn Weſel dabei der Kirche
die Macht ber Ergänzung ober Erweiterung bed gött-
lichen Gejeges in Kirchengeboten vindicirt, die bie mutua
dilectio und communis pax richt gefährben, jo thut
er das wol in der richtigen Erfenntniß, daß das Stehen-
bleiben rein bei dem Buchſtaben der Schrift in praxi
24 Johann von Wefel und feine Zeit.
unmöglich ift, aber er entzieht damit feiner Pofition die
Teftigfeit. Darum kann er bei feinem Procefje Die Möndhe-
gelübde für bindend erflären und von ber biftorifchen
Kirche eine Anzahl Ausfagen tbun, bie ver Kirche Ehrifti
gehören. Eine Mentalrefervation dabei, daß er bei feinen
Ausfagen von der Kirche an die Kirche Ehrifti gebadht,
bleibt ausgeichloffen, da er wußte, in welchem Simme er
über „die Kirche” befragt wurde; er war alſo thatjächlic
jelbft infolge Mangels eines abjoluten Maßſtabes im
Zweifel, ob und inwieweit die Papſtkirche bie Kirche
Chriſti fei.
Es zeigt hier wiederum, wie fonft öfters, wieviel tiefer
bie Gedanken Luther’ find und wieviel größer ihre trei⸗
bende Kraft, trotz ihrer formalen Uebereinftimmung mit
ben Gedanken ver Aeltern, ja trotzdem er in feinen Theſen
und erſten Auslaffungen über ven Ablaß 3. B. fich ſchwan⸗
fend äußert, während Weſel jchon das Inftitut ſchlechthin
veriwirft. Angebeutet mag noch werben, daß Weſel neben
andern minber wichtigen Säten auch das Vorhandenſein
ber Erbſünde im Embryo betritt, nie Möglichkeit ſetzte,
daß Chriſti Leib unter ver Geftalt des Brotes fei, obwol
bie Subſtanz des Brotes bleibe, an dem Texte ber öfı-
meniſchen Symbole Kritif übte, namentlich das filioque
verwarf, und nach den Paradoren nicht ohne Derbheit
bag Faften bejtritten haben ınag.
Wir find auf dem Bunte angelangt, dem Procefie
Wejel’8 näher zu treten. Im Februar 1479 wurde Wefel
zu Mainz vor ein Keßergericht geftellt und einer Anzahl
häretijcher Lehren für fchulpig befunden; er rettete Durch
einen Widerruf fein Leben, wenn auch nicht feine Freiheit.
Eine beſtimmte Beranlafjung zum Einjchreiten gegen
Weſel zu conjtatiren, müfjen wir verzichten. ‘Der kühne
Mann mag auf Grund feiner Schriften und Predigten
Johann von Weſel und feine Zeit. 95
ſchon längere Zeit Gegenftanp beimlicher Beobachtung ge-
wejen fein, tbeologifche Gegner überwachten feine Pre-
bigten und fammelten aus denſelben jene Anzahl fpäter
durch die Inguifition verworfener Paradoxa. Auch fönnen
wir aus einem Briefe Weſel's auf allerlei Quälereien
ſchließen, die jein Didceſanbiſchof, Reinhard von Sickingen,
ihm bereitete, bevor es zum äußerften Schritte des Keker-
proceſſes kam. Wenn ver Verfaffer desjenigen Berichtes
über ben Proceß aber, der im Gegenfat zu dem andern
erhaltenen, der Form des Protokolls ähnlichen Berichte,
jubjective Urtbeile einmiicht, in feiner Darftellung fagt,
thomiftifhe Theologen, alſo Anhänger bes Realismus
jeien die Heber gegen Weſel beim Erzbifchof von Mainz
gewejen, und Wefel fei im Procefie deshalb jo übel weg⸗
gelommen, weil nur ein einziger feiner Richter, wie er, No-
minalift gewejen, jo bleibt dennoch das Einjchreiten der
Inquiſition gegen Wefel auch ohne Hinweis auf bie Ge-
reiztheit zwiichen ben beiden tbeologifch- philojophiichen
Richtungen erflärlich.
Ebenfo wenig wie eine greifbare Veranlaffung zur
Einleitung des Verfahrens Hat fich bis jet der Grund
ausfindig machen laffen, nach welchen Weſel ver Juris⸗
bietion des mainzer Stuhles unterworfen wurde.
Die Acten erwähnen nur bie Gefangenfchaft des Ange⸗
Hagten bei den Branciscanern in Mainz; vielleicht hat
der Erzbiſchof von Mainz auf den Titel feiner Metro-
politanrechte hin den wormſer Prebiger nach Mainz geladen.
Dietber Graf von Iſenburg, Erzbifchof von
Mainz, hatte einft freie Worte über römiſche Habſucht
im Hinblid auf die Höhe feiner Palliengelver mit Triege-
riſcher Verwäftung von Mainz büßen müffen. Er mochte
ultramontanen Wünjchen zugänglich geworben fein. Auf
jeine Bitte velegirten die Univerfitäten Heidelberg und
26 Johaun von Wefel und feine Zeit.
Köln je drei ihrer theologifchen Doctoren für die Abnahme
bes „Eramens”, dem Wefel unteriworfen werben follte;
von ber Univerfität Mainz waren Miitgliever zwar bei
den Verhandlungen zugegen, aber von ihnen fcheint nie-
mand bervorgetreten zu fein. ‘Die Hauptrolle hatte ber
fölner Dominicaner Gerhard von Elten, welcher ver
eigentliche Inquifttor war und das Eramen leitete, fein
jüngerer College war Jakob Sprenger, einer ber be
rüchtigten Verfaſſer des unſeligen Hexenhammers“.
Am Freitag nah Mariä Lichtmeß, d. i. am
5. Februar 1479, traten die heidelberger Theologen mit
ihren Begleitern, die erzbiſchöfliche Curie und Mitglieder
der mainzer Univerfität zu einer Conferenz zuſammen,
durch die die Geſchäftsordnung des Proceſſes geregelt
wurde. Ferner wurde beſchloſſen, es ſollten drei erz⸗
biſchoöfliche Beamte und ein Notar dem Angeklagten einen
Eid abnehmen, baß er alle von ihm verfaßten Tractate,
Werke und Schriften, welcher Art fie auch feten, präfen-
tiven und außliefern wolle, um durch feine eigenen Worte
überwiefen werben zu können. ‘Die heivelberger umb drei
erzbifchöfliche Theologen follten die Tractate dann burd-
geben, die Irrthümer excerpiren und rubriciren. Die am
jelben Tage eintreffennen Kölner konnten an ber Durch⸗
fiht der Bücher Weſel's fich noch betheiligen. Schon am
Sonnabend unterbretteten bie beivelberger und kölner
Doctoren ihre ausgezogenen Artikel dem Erzbiichof, bie
berjelbe jedoch nicht einfah, weil fte nicht zuſammengear⸗
beitet waren. Diefer Zug tft für Diether's Verhalten
charakteriſtiſch. Ein wiffenfchaftliches oder Firchliches Inter-
effe an ber Angelegenheit verräth er nirgends, wie er
überhaupt einft ven Vorwurf hatte hören müfjen, daß er
faum zwei Worte lateinifch reden köͤnne. Er wohnte ven
Verhandlungen bet, als feine Thätigfeit wird bie Ber-
Johaun von Wefel und feine Zeit. 97
auftaltung wiederholter Saftmähler berichtet. Nach der
Präfentation der verbächtigen Stellen aus Weſel's Schrif-
ten ftellte ber Cõtus ver Doctoren Gerhard von Elten
als Inquifitor förmlich vor, der Erzbifchof nahm ihn
feierlih an, und ber Imguifitor überreichte fein Creditiv.
Man beſtimmte noch Tag, Stunde und Ort des Examens,
und es folgte ein Mittageſſen bei dem Erzbiſchof.
Am Montag, den 8. Februar, des Morgend um
7 Uhr, fanden fi im Refectorium der Franciscaner der
Erzbifchof, der Imquifitor, die fremden ‘Doctoren mit
ihrer Begleitung, der Rector, der Dekan ber Artiften-
facuftät und andere Mitglieber der Univerſität Mainz,
das Gefolge des Erzbifchofs, außerdem Studenten und
Pedelle zum Eramen Weſel's zufammen. Obenan aß
der Erzbiichof, dann folgte der Inquiſitor, fobann bie
übrigen. Bor dem Beginn bed Examens ſprach ber
Inguifitor Folgendes: „Ehrwürdigſter Vater, verehrte
Doctoren u. ſ. w. Gegenwärtige Zuſammenkunft Bat
unfer ebrwärbigfter Vater, ber Kurfürft, veranftaltet, um
den Mag. Johann von Wefel über einige in Betreff des
katholiſchen Glaubens verpächtige Artikel vernehmen zu
hören. Aber ich will etwas zum Beſten jenes Mannes
reden und bitte, daß zwei ober drei, bie ihm wohl wollen,
ober auch andere fich erheben, um ihn zu ermahnen, daß
er von feinen Irrthümern abftebe, in fich gebe und um
Gnade flehe. Thut er dies, fo wird er Gnade erlangen;
will er es nicht, fo wird ohne Gnade vorgegangen wer-
den.” — Die drei darauf hin Abgeoroneten blieben aber
jo fange aus, daß ber Inquiſitor den Fiscal jchidte, um
fie zurüdzurufen; er fprach, Wefel müſſe freiwillig fommen
und dankbar fein für folches Anerbieten ber Gnade. In⸗
dem ber Fißcal geben wollte, famen jene brei zurüd und
führten Weſel in Perfon herbei; denn fo wollte er es.
28 Johann von Weſel und feine Zeit.
Der Angeflagte ging inmitten zweier Yranciecaner,
krank, bleich, ein Greis für den Tod reif, einen Stab
in ber Hand. Diefe Befchreibung feiner Berfon, zu
fammengenommen mit dem Briefe an den wormfer Biſchof,
nach welchen Weſel durch des Biſchofs unzählige Onö-
fereien in viele fchlaflofe Nächte und einen koͤrperlichen
Zuftand gelommen war, der ihn mit baldigem Tode be
prohte, läßt uns in Wefel einen gebrochenen Mann feben;
er hatte die beginnende Geiftesfchlacht verloren, ehe es
zum Schlagen fam. Seinen Pla erbielt er in ver Mitte
ber Berfammlung am Boden angewiefen, dem Erzbifchef
und dem Inquiſitor gerade gegenüber; ber Inquiſitor
wieberbolte ihm die Worte, die er vor feinem Erfcheinen
geſprochen. Weſel war im Begriff, in längerer Rebe mit
Proteft zu antworten, Gerhard unterbrach ihn aber mit
dem Bebeuten, fich kurz zu fallen und zu fagen, ob er
jest noch auf feine Sonvermeinungen fich ftellen wolle,
oder auf die Lehre ver Kirche. — Er habe niemals etwas
wiber die Lehre der Kirche geredet, antwortete Weſel;
geichrieben habe er vieles, habe er barin geirrt ober übel
geredet, jo wolle er widerrufen und alles bazu Roth
wenbige thun. — „Ihr bittet alfo um Gnade?‘ fragte
ber Inguifitor. — „Wofür foll ic um Gnade bitten, da
mir nichts von einem Verbrechen, einer Schul ober
einem Irrthum befannt ift?” — „Das wollen wir Eud
ichon ind Gedächtniß zurückrufen. Wir wollen bad
Eramen beginnen.” — Zwar ertönte jett von Wefel's
Munde auf das Zureben der übrigen ein „Ich bitte um
Verzeihung“, aber der Imquifitor beachtete e8 nicht mehr;
wol weil er meinte, baß dem Verſuche Genüge gefcheben
ſei, das Detail des proceffualiichen Verfahrens durch un:
bebingten Widerruf des VBervächtigen entbehrlich zu machen.
Es erfolgte die Verlefung zweier Schriftſtücke, durch bie
Johann von Weſel und jeize Zeiz >>
Gerhard jeine päpftliche Autoriiatien Tür rem Meyerscsc>
bocumentirte und Johann von Zeil mb rc wu
Gericht citirte. Damm verpflicktele ver Iammiinre zer
Angeflagten eiblich, tie am ihm feireis mes Flmbess
zu flellenden Fragen rer vollen Rate =
antworten, ohne Iluskchweife nur eine Sevinierzer- -
Etrafe ver Ercommmmicatien, tie fer atse nnanue
eintrete (d. h. als ummittelbare Arte er mr me Bm
beorohten Handlung, mümsfich vet !Inpisrimn: geger 05
Gebot einer vorgefegten finktxhen Fein. re
ein Crfeuntnig zu ericlgen babe, wermmnnusceh 3-
rendae sententiae). Emzlih werıe mi = Nur 2
Erzbiſchofs eivlich verrilichter, zı3 = lei. mei wuneez
würde, treu aufzeihmen mwel:, kun zunerß zw 3erzT
für das Berhör auigeieliı Fox Ine zoi Seen vr.
ginnen.
Weſel wurde zuerit zrag, # = num :gr
laut des geleifteten Eires zertsaues u. vr Einer z
reden, auch wenn fie ch zes Bu vist wm eTtT =
mand richte. Er autwerwe: „fi m:-1:5° ve m
quifitor: „Saget, ib z-zxIe ei” Iirirs warm
rede: „Wozu brambe ich eb z Kerr mu m >
weiß?” wurte Eliten bizsz zu er
„Magifter Ichamms, Kırw see We .».
bannes, faget: Ah alszte iT ıe Izpfzır „m
glaube es.“ — Werz wer re Eee an =
das herrifdhe — — Am * 2m
des ganzen Xerfabrems Sckreii dr = nm
Grund, warum er Tür zab Tun un
doch uicht recht zu erichen. Bm m. se 124 ı.
price vorfiegt, ie weise f7 SET -
„Ih glaube e⸗ as Sestreeien us utamer.
Geiftes nieverfiplagen. 2. u = mb mm m 5-
22 Johann von Weſel und feine Zeit.
erlaffen zu können, weil er den Ausfall an Leiftungen
burch die überjchüffigen Verdienſte der Heiligen compen⸗
fire, fo wiberfpricht die Lehre Diefe® vom Papft vertwalteten
thesaurus operum supererogatoriorum dem Schrift.
worte: Ihre Werke folgen ihnen nah. Eigenthümlich
aber tft Weſel's Anftcht, daß die Ablaßtheorie das Feg⸗
feuer überfläffig mache, daß die Eriftenz bes Tegfeuers
aber nach der Schrift feftftehe, und auch darum ber Ablaf
zu verwerfen fei.
Auch an dem Centraldogma Roms, der Lehre von ber
unfehlbaren Kirche, übt Weſel Kritik und dehnt zu-
gleich feine Ausführungen auf die Tragweite weltlicher
Autorität aus. Die Kirche irrt nicht, infofern ein Theil
ber allgemeinen Kirche die Kirche Chriſti ft, mad
ihrem andern Theile aber ift die allgemeine Kirche eine
Ehebrecherin, eine Hure; der Ablaß 3. B. tft von dem
irrenden Theile der Kirche eingefett, fie ſchadet mit ihm
mehr als fie nüßt. Ein geiftliches und weltliches Regi⸗
ment zwar find beide nothwenbig, aber ber einzelne Gläu⸗
bige hat das Recht, was ihm befohlen wird, zu prüfen.
Zu gehorchen hat er, wenn nicht® anbere® geforbert wird,
als das Geſetz Ehrifti auch fordert. Fordert die Obrig-
fett etwas im Widerſpruch mit dem Worte Gottes, fo tft
ber Gehorfam zu verſagen. Es kann aber aud ein
Mittleres gefordert werden. Daran ift ver Gläubige im
Princip nicht gebunden, boch wäre es Sünde, burd
Nichtbefolgung ohne Noth dem Nächften Aergerniß zu
geben. Es ift an folche Gebote der Kanon anzulegen,
baß fie der Liebe, die wir uns untereinanber fchulven,
und dem gemeinen Frieden nicht widerjprechen. Beftehen
fie biefe Probe, fo gehorcht man ihnen, thun fie es nicht,
jo barf die Rüdficht auf den Nächiten nicht abhalten,
daß man fich durch Nichtbefolgung auf das Wort Gottes
Johann von Wefel und feine Zeit. 23
ftelit und die Wahrheit befennt. Das dem Nächten ge-
gebene Aergerniß kann nachträglich gehoben werben, bie
Wahrheit ins Schwanken zu bringen tft gottlos. Wenn
aber dann ber Blig aus ven päpftlichen Bullen zudt?
Es tft ein Falter Strahl nur, denn der Ercommunicirende
tft vorher ſchon von dem göttlichen Richter excommunicirt,
und ein Verfluchter kann nicht ercommuniciren. ‘Der
weltlichen Dbrigfeit gegenüber aber geziemt im alle bes
Ungehorfams um bes Gewiſſens willen die Leidenswilligkeit.
Doc fo energifch Weſel auch den Anfpruch des Papftes
und ber Prälaten auf perjönliche Autorität zurückweiſt
und negirt, daß es Sirchengebote, d. 5. Gebote über
Chriſti Gebote, hinaus geben könne, die bei Todſünde ver⸗
pflichten, er hat die Conſequenzen aus ſeiner Unterſchei⸗
dung ber ecclesia Christi und ber allgemeinen Kirche
keineswegs entwidelt. Zwar macht ihm nicht Die Zuger
hörigkeit zur Papſtkirche ven Chriften, fondern ver Glaube
durch Chriſti Gnade; aber doch mirb weder bie] Heild-
nothwendigkeit der Zugebörigfeit zu einer priejterlich ger
leiteten und hierarchiſch organtfirten Kirche verworfen,
noch gar die emptrifche Kirche mit ihren Hetlsmitteln
überhaupt zu Gunften einer Ipealgemeinfchaft für gleich-
gültig erklärt. Es wird bie Kirche nur wie fie biftorifch
handelte verworfen und bafür verlangt, daß bie ihrer
Idee entfprechende Kirche fih durch ben Nachweis ber
Uebereinftimmung ihrer Maßnahmen mit dem unvergäng-
lichen Maßſtabe des göttlichen Geſetzes dem einzelnen
Ständigen Tegitimire. Und wenn Wejel dabei der Kirche
die Macht der Ergänzung oder Erweiterung des gött-
lichen Geſetzes in Kirchengeboten vindicirt, die Die mutua
dilectio und communis pax nicht gefährven, fo thut
er das wol in der richtigen Erfenntnig, daß das Stehen»
bleiben rein bei dem Buchftaben der Schrift in praxi
292 Johann von Wefel und feine Zeit.
erlaffen zu können, weil er ven Ausfall an Leiftungen
burch die überfchäffigen Verdienſte der Heiligen compen-
fire, jo widerfpricht die Lehre dieſes vom Papft verwalteten
thesaurus operum supererogatoriorum bem Schrift.
worte: Ihre Werke folgen ihnen nach. Eigenthümlich
aber ift Weſel's Anficht, daß bie Ablaßtheorie das Feg⸗
feuer überfläffig mache, daß die Eriftenz des Fegfeuers
aber nach ber Schrift feftftehe, und auch darum der Ablaß
zu veriwerfen jet.
Auch an dem Centralpogma Roms, der Lehre von ber
unfehlbaren Kirche, übt Weſel Kritif und dehnt zu⸗
gleich feine Ausführungen auf die Tragweite weltlicher
Autorität aus. Die Kirche irrt nicht, infofern ein Theil
der allgemeinen Kirche bie Kirche Chrifti ift, nad
ihrem andern Theile aber ift bie allgemeine Kirche eine
Ehebrecherin, eine Hure; der Ablaß z. B. tft von dem
irrenben Theile der Kirche eingejegt, fie ſchadet mit ibm
mebr als fie nützt. Ein geiftliches und weltliches Negi-
ment zwar find beide nothwendig, aber der einzelne Glän⸗
bige bat das Recht, was ihm befohlen wird, zu prüfen.
Zu gehorchen hat er, wenn nichts anderes geforbert wird,
als das Geſetz Chriſti auch fordert. Fordert die Obrig-
feit etwas im Wiberipruch mit bem Worte Gottes, fo ift
ber Gehorfam zu verfagen. Es kann aber auch ein
Mittleres gefordert werden. Daran ift der Gläubige im
Princip nicht gebunden, boch wäre ed Sünde, durch
Nichtbefolgung ohne Noth dem Nächften Aergerniß zu
geben. Es iſt an folche Gebote der Kanon anzulegen,
Daß fie ber Liebe, die wir uns untereinander fchulben,
und dem gemeinen Frieden nicht widerſprechen. Beſtehen
fie dieſe Probe, jo gehorcht man ihnen, thun fie es nicht,
jo darf die Rückſicht auf den Nächiten nicht abhalten,
dag man fich Durch Nichtbefolgung auf das Wort Gottes
Johann von Wefel und feine Zeit. 23
ftelit und bie Wahrheit befennt. Das dem Nächiten ge-
gebene Aergerniß fann nachträglich gehoben werben, die
Wahrheit ins Schwanken zu bringen ift gottlos. Wenn
aber dann ber Blitz aus den päpftlichen Bullen zudt?
Es ift ein Falter Strahl nur, bemm ber Ercommunicirende
ift vorher ſchon von dem göttlichen Richter ercommunicirt,
und ein Verfluchter kann nicht ercommuniciren. ‘Der
weltlichen Obrigleit gegenüber aber geziemt tm alle des
Ungehorfams um des Gewiſſens willen bie Leidenswilligkeit.
Doch fo energiſch Wefel auch den Anfpruch des Papftes
und ber Prälaten auf perjönliche Autorität zurückweiſt
und negirt, daß es Kirchengebote, d. b. Gebote über
Chrifti Gebote, hinaus geben könne, bie bei Todſünde ver-
pflichten, er hat die Conſequenzen aus feiner Unterſchei⸗
dung ber ecclesia Christi und ber allgemeinen Kirche
teineswegs entwidelt. Zwar macht ihm nicht bie Zuges
hörigfeit zur Papſtkirche ven Ehriften, fondern ver Glaube
durch Chriſti Gnade; aber doch wirb weder bie] Heils-
nothwendigfett ber Zugehörigkeit zu einer priefterlich ge-
leiteten und hierarchiſch organifirten Kirche verworfen,
noch gar die emptrifche Kirche mit ihren Heilsmitteln
überhaupt zu Gunften einer Idealgemeinſchaft für gleich-
gültig erflärt. Es wird die Kirche nur wie fte biftorijch
handelte verworfen und bafür verlangt, daß bie ihrer
Idee entiprechende Kirche fich durch den Nachweis ber
Uebereinftimmung ihrer Maßnahmen mit bem unvergäng-
fihen Mafftabe des göttlichen Geſetzes dem einzelnen
Gläubigen legitimire. Und wenn Weſel dabei ver Kirche
die Macht der Ergänzung ober Erweiterung bes gött-
lichen Geſetzes in Kirchengeboten vinbicirt, bie Die mutua
dilectio und communis pax nicht gefährben, fo thut
er das wol in ber richtigen Erfenntniß, daß das Stehen-
bleiben rein bei dem Buchjtaben der Echrift in praxi
24 Johann von Weſel und feine Zeit.
unmöglich ift, aber er entzieht bamit feiner Bofition bie
Feſtigkeit. Darum kamn er bei feinem Proceffe pie Monchs⸗
gelübbe für bindend erklären und von ber hiſtoriſchen
Kirche eine Anzahl Ausfagen thun, bie ver Kirche Chriſti
gehören. Eine Mentalrefervation dabei, daß er bei feinen
Ausfagen von der Kirche an bie Kirche Ehrifti gedacht,
bleibt ausgefchloffen, da er wußte, in welchem Sinne er
über „bie Kirche” befragt wurbe; er war aljo thatfächlich
ſelbſt infolge Mangels eines abjolnten Maßſtabes im
Zweifel, ob und inwieweit bie Bapftlirche die Kirche
Chriſti ſei.
Es zeigt bier wiederum, wie ſonſt öfters, wieviel tiefer
bie Gedanken Luther's find und wieviel größer ihre trei⸗
bende Kraft, troß ihrer formalen Webereinftimmung mit
ben Gedanken ber Aeltern, ja trotzdem er in feinen Theſen
und erften Auslaffungen über ben Ablaß 5. 9. fich ſchwan⸗
fend äußert, während Wefel ſchon das Inftitut fchlechthin
verwirft. Angebeutet mag noch werben, daß Weſel neben
andern minder wichtigen Sätzen auch das Vorhandenfein
ber Erbfünde im Embryo beftritt, die Möglichkeit ſetzte,
daß Ehrifti Leib unter der Geftalt des Brotes ſei, obwol
die Subftanz des Brotes bleibe, an dem Texte ber dfu-
menifchen Symbole Kritif übte, namentlich das filioque
verwarf, und nach den Paraboren nicht ohne Derbheit
das Faſten beftritten haben mag.
Wir find auf dem Punkte angelangt, dem Procefie
Weſel's näher zu treten. Im Februar 1479 wurde Weſel
zu Mainz vor ein Kebergericht geftellt und einer Anzahl
häretifcher Lehren für fchuldig befunden; er rettete durch
einen Widerruf fein Leben, wenn auch nicht feine Freiheit.
Eine beftimmte Veranlaſſung zum Einfchreiten gegen
Wefel zu conftatiren, müfjen wir verzichten. ‘Der fühne
Mann mag auf Grund feiner Schriften und Prebigten
Johann von Wefel und feine Zeit. 95
ihon längere Zeit Gegenftanp heimlicher Beobachtung ge-
weien fein, theologifche Gegner überwachten feine Pre-
digten und jammelten aus benfelben jene Anzahl fpäter
burch bie Inquifition verworfener Parabora. Auch können
wir ans einem Briefe Weſel's auf allerlei Duälereien
jchließen, die fein Didcefanbifchof, Reinhard von Sickingen,
ihn bereitete, bevor e& zum äußerften Schritte des Ketzer⸗
procefjes fam. Wenn ver Verfaffer vesjenigen Berichtes
über den Proceß aber, ver im Gegenjat zu dem andern
erhaltenen, der Form des Protokolls ähnlichen Berichte,
jubjective Urtbeile einmifcht, im feiner Darftellung fagt,
thomiſtiſche Theologen, alſo Anhänger des Realismus
jeien die Heber gegen Wefel beim Erzbiichof von Mainz
gewejen, und Wefel jet im Procefje deshalb jo übel weg⸗
gefommen, weil nur ein einziger feiner Richter, wie er, No⸗
minalift gewejen, fo bleibt dennoch das Einjchreiten ber
Inquifition gegen Weſel auch ohne Hinweis auf bie Ge-
reiztheit zwiſchen ben beiden tbeologiich- philofophifchen
Richtungen erflärlich.
Ebenſo wenig wie eine greifbare Veranlaffung zur
Einleitung des Verfahrens bat fich bis jet ber Grund
ausfindig machen laffen, nach welchen Wefel der Juris⸗
biction des mainzer Stuhles unterworfen wurde.
Die Acten erwähnen nur bie Gefangenjchaft des Ange⸗
Hagten bei ven Franciscanern in Mainz; vielleicht hat
der Erzbifhof von Mainz auf den Titel feiner Metro⸗
politanrechte Hin den wormfer Prediger nach Mainz geladen.
Diether Graf von Ifenburg, Erzbiſchof von
Mainz, hatte einft freie Worte über römiſche Habjucht
im Hinblid auf die Höhe feiner Palliengelver mit Triege-
riſcher Verwüftung von Mainz büßen müffen. Er mochte
nltramontanen Wünfchen zugänglich geworben fein. Auf
feine Bitte delegirten die Univerfitäten SHeibelberg und
26 Sohann von Wefel und feine Zeit.
Köln je drei ihrer theologifchen Doctoren für die Abnahme
bes „Examens“, dem Wefel unterworfen werben follte;
von der Univerfität Mainz waren Wittgliever zwar bei
den Verhandlungen zugegen, aber von ihnen ſcheint nie:
mand bervorgetreten zu fein. Die Hanptrolle hatte der
kölner Dominicaner Gerhard von Elten, welder ver
eigentliche Inguifitor war und das Examen leitete, fein
jüngerer College war Jakob Sprenger, eimer ber be-
rüchtigten Verfaffer des unfeligen „Derenhammers”.
Am Freitag nah Mariä Lichtmeß, d. i. am
5. Februar 1479, traten bie beibelberger Theologen mit
ihren Begleitern, bie erzbifchöfliche Eurte und Mitglieder
ber mainzer Univerfität zu einer Conferenz zujanımen,
durch die bie Gefchäftsorbnung bes Procefies geregelt
wurde. Ferner wurbe befchloffen, es follten drei erz-
bifhöflihe Beamte und ein Notar dem Angeklagten einen
Eid abnehmen, daß er alle von ihm verfaßten Tractate,
Werke und Schriften, welcher Art fie auch ſeien, präfen-
tiren und außsliefern wolle, um burch feine eigenen Worte
überiwiefen werben zu können. ‘Die beibelberger unb brei
erzbifchöfliche Theologen follten die Tractate dann burd-
geben, die Irrthümer ercerpiren und rubriciren. Die am
jelben Tage eintreffenden Kölner konnten an der Durch⸗
fit der Bücher Weſel's fich noch betbeiligen. Schon am
Sonnabend ımterbreiteten vie beibelberger und Kölner
Doctoren ihre ausgezogenen Artikel dem Erzbifchof, bie
berjelbe jedoch nicht einfah, weil fie nicht zuſammengear⸗
beitet waren. Diefer Zug tft für Diether's Verhalten
charakteriſtiſch. Ein wilfenfchaftliches oder Firchliches Inter:
eife an ver Angelegenheit verrätb er nirgends, wie er
überhaupt einft ven Vorwurf hatte hören müſſen, daß er
faum zwei Worte lateiniſch reven könne. Er wohnte ven
Verhandlungen bei, als feine Thätigfeit wirb bie Ber
Sobann von Weſel und feine Zeit. 27
anftaltung wiederholter Gaftmähler berichtet. Nach ber
Präfentation der verbächtigen Stellen aus Weſel's Schrif-
ten ftellte der Cõtus ber Doctoren Gerhard von Elten
als Inquiſitor förmlich vor, der Erzbiichof nahm ihn
feierlihd an, und der Inguifitor überreichte fein Crebitiv.
Man beitimmte noch Tag, Stunde und Ort des Eramens,
und es folgte ein Mittagefjen bei dem Erzbifchof.
Am Montag, den 8. Februar, des Morgens um
7 Uhr, fanden fi im Nefectorium der Franciscaner der
Erzbifchof, der Inguifitor, die fremden Doctoren mit
ihrer Begleitung, ber Rector, der Delan ber Artiften-
facuftät und andere Mitglieder der Liniverfitit Mainz,
das Gefolge des Erzbiichofs, außerdem Stubenten und
Pedelle zum Examen Weſel's zufammen. Obenan ſaß
der Erzbiſchof, dann folgte der Inquiſitor, ſodann die
übrigen. Vor dem Beginn des Examens ſprach der
Inquifitor Folgendes: „Ehrwürdigſter Vater, verehrte
Doctoren u. ſ. w. Gegenwärtige Zuſammenkunft hat
unſer ehrwürdigſter Vater, der Kurfürſt, veranſtaltet, um
den Mag. Johann von Weſel über einige in Betreff des
katholiſchen Glaubens verdächtige Artikel vernehmen zu
hören. Aber ich will etwas zum Beſten jenes Mannes
reden und bitte, daß zwei ober brei, die ihm wohl wollen,
ober auch andere fich erheben, um ihn zu ermahnen, daß
er von feinen Irrthümern abftebe, in fich gebe und um
Gnade flebe. Thut er dies, fo wirb er Gnade erlangen;
will er e8 nicht, fo wird ohne Gnade vorgegangen wer⸗
pen.” — Die brei darauf hin Abgeorbneten blieben aber
jo lange aus, daß der Inquifitor den Fiscal ſchickte, um
fie zurückzurufen; er fprach, Wejel müffe freiwillig fommen
und dankbar fein für folches Anerbieten ver Gnade. In-
dem ber Fiscal geben wollte, kamen jene brei zurüd und
führten Wefel in PBerfon herbei; denn jo wollte er es.
28 Johann von Wefel und feine Zeit.
Der Angeklagte ging inmitten zweier Franciscaner,
frank, bleih, ein Greis für den Tod reif, einen Stab
in der Hand. Dieſe Beſchreibung feiner Perſon, zu
ſammengenommen mit dem Briefe an den wormſer Btichef,
nach welchem Wefel durch des Biſchofs unzählige Quä—
fereien in viele fchlaflofe Nächte und einen Törperlichen
Zuſtand gelommen war, der ihn mit balvigem Tode be
brobte, läßt uns in Wefel einen gebrochenen Dann ſehen;
er hatte die beginnende Geiftesfchlacht verloren, ehe es
zum Schlagen kam. Seinen Plat erhielt er in ber Mitte
ber Verfammlung am Boden angewiefen, dem Erzbiſchof
und bem Inquiſitor gerade gegenüber; der Inquiſitor
wieberholte ihm die Worte, die er vor feinem Erjcheinen
gefprochen. Wefel war im Begriff, in längerer Rebe mit
Proteft zu antworten, Gerhard unterbrach ihn aber mit
bem Bedeuten, fich kurz zu faflen und zu fagen, ob er
jeßt noch auf feine Sondermeinungen fich ftellen wolle,
oder auf die Lehre der Kirche. — Er habe niemals etwas
wider bie Lehre der Kirche gerebet, antwortete Weſel;
geichrieben habe er vieles, habe er darin geirrt oder übel
gerebet, fo wolle er widerrufen und alles dazu Noth⸗
wenbige thun. — „Ihr bittet alfo um Gnade?” fragte
ber Inguifitor. — „Wofür foll ich um Gnade bitten, ba
mir nichts von einem Verbrechen, einer. Schuld ober
einem Irrthum befannt iſt?“ — „Das wollen wir Euch
ſchon ins Gedächtniß zurüdrufen. Wir wollen das
Eramen beginnen.” — Zwar ertönte jegt von Weſel's
Munde auf das Zureben ber übrigen ein „Sch bitte um
Verzeihung“, aber ber Imguifitor beachtete es nicht mehr;
wol weil er meinte, daß dem Verſuche Genüge geſchehen
jet, Das Detail des proceſſualiſchen Verfahrens durch un:
bebingten Wiverruf des Verbächtigen entbehrlich zu machen.
Es erfolgte die Verlefung zweier Schriftftüde, durch vie
Johann von Wefel und feine Zeit. 29
Gerhard feine päpftliche Autorifation für den Ketzerproceß
bocumentirte und Johann von Wejel förmlich vor fein
Gericht eitirte. Dann verpflichtete der Inquiſitor den
Angeflagten eidlich, die an ihm betreffs feines Glaubens
zu ftellenden Fragen ver vollen Wahrheit gemäß zu be-
antworten, ohne Umfchweife und ohne Sophiftereien; bei
Strafe der Ercommunication, die bier latae sententiae
eintrete (d. h. als unmittelbare Folge der mit dem Bann
bedrohten Handlung, nämlich des Ungehorfams gegen das
Gebot einer vorgefetten firchlichen Behörde, ohne daß
ein Erfenntniß zu erfolgen habe, excommunicatio fe-
rendae sententiae). Endlich wurde noch ber Notar des
Erzbiſchofs eidlich verpflichtet, Daß er alles, was gejprochen
würde, treu aufzeichnen wolle, und zugleich zwei Zeugen
für das Verhör aufgeftellt. Nun fonnte das Verhör be-
ginnen.
Weſel wurde zuerjt gefragt, ob er glaube, daß er
(aut des geleifteten Eides verbunden fei, die Wahrheit zu
reden, auch wenn fie fich gegen ihn ſelbſt oder fonft je⸗
mand richte. Er antwortete: „Ich weiß es“, der In-
guifitor: „Saget, ich glaube es!” Auf Weſel's Gegen-
rede: „Wozu brauche ich es zu glauben, wenn ich es
weiß?” wurde Elten hitig und fagte mit jcharfer Stimme:
„Magiſter Iohannes, Magijter Johannes, Magifter Io-
Hannes, faget: Ich glaube es!” Der Angeklagte: „Ich
glaube es.“ — Wenn bieje kurze Wechſelrede jchon für
das herriiche Gefammtverhalten des Inquifitors während
des ganzen Verfahrens charakteriftiich tft, jo ift der
Grund, warum er für das Scio ein Credo hören wollte,
doch nicht vecht zu erfehen. Wenn nicht eine bloße Ca-
price vorliegt, jo wollte er etiwa mit der Forderung eines
„Sch glaube es“ das Selbjtbeiwußtfein eines neologifchen
Geiſtes niederfchlagen, der, wo er auch materiell mit den
30 Johann von Wefel und feine Zeit.
Forderungen ber Kirche übereinftimme, feine Ueberzeugung
boch felbjtändig auf dem Wege ver Erfahrung und des
Forſchens fich gebilvet zu haben meine. Weiter wurde
Wejel gefragt, ob er glaube, wenn er nicht fage, was er
als Wahrheit erkannt, ipso facto der Ercommunication
zu verfallen und eine Todſünde zu begehen. Er ant-
wortete zuerft wiederum: „Ich weiß es“, dann: „Ich glaube
es“. In den Anfang des Eramens fiel auch die Trage,
wann er zum lebten mal gebeichtet babe, vie Meſſe
celebrirt oder communicirt habe. Im ganzen ließ man
ben Angeklagten auf 28 Artifel Antwort geben, am fol-
genden Tage mußte er fich noch über neun Additional⸗
artifel äußern.
Wefel gibt zu, einen Tractat über die Art der Ber
pflichtung menschlicher Gefeke an einen gewiſſen Nikolaus
von Böhmen gejchrieben zu haben, und befennt fich zu
Umgang mit demjelben in Mainz und Wejel. Sonftigen
literariſchen Verkehr mit ven Böhmen und andern Schiß-
matifern und Häretifern lehnt er ab, ebenfo verfichert er,
fein Gläubiger, Begünftiger oder Biſchof der Böhmen zu
fein. Gefragt, ob er für feine eigenen Meinungen An-
hänger oder Begünftiger gefunden habe, antwortete er
mit Nein. Was feine Lehre betrifft, jo bleibt Weſel da⸗
bei, daß nichts zu glauben fei, was nicht in der Schrift
jtehe, befennt fich zum Imbalte feines Tractats wider
den Ablaß, vertritt die Erwählungslehre und hält eine
weitere Anzahl einzelner Sondermeinungen über Abend⸗
mahl, Erbfünde im Embryo u. |. w. feſt. Dennoch aber
erfennt er eine autoritative Schriftauslegung an, äußert
fich zweifelhaft über die Gewalt geiftlicher und weltficher
Obrigkeit, Gejete ohne Einwilligung der Untergebenen
aufzuftellen, und erflärt vie Mönchsgelübde für bindend;
der Möndhsitand ſei ein Weg zur Seligfeit, wenn bie
Johann von Wefel und feine Zeit. 31
Mönche nicht felig würden, wer folle dann felig werben.
Den Mittelpunkt des Imtereffes nehmen nach Zahl und
Wichtigkeit die Fragen über die Kirche ein, und wir
hören, daß Wefel eine, heilige, katholiſche und apofto-
liſche Kirche glaubt, die Kirche für die Braut Chriftt
hält und regiert vom Heiligen Geifte, ſodaß fie im Glau⸗
ben und in Dingen, bie zum Seile nothwendig, nicht
irren kann. Weiter erlennt er an, baß die Kirche zu
Rom das Haupt aller andern fei und ihr Glaube ver
wahre, von Chriſto überlieferte. Der Biſchof von Rom
ſoll der wahre Stellvertreter Chriſti auf Erden fein und
ein Haupt für die Kirche nothwendig. ‘Der Papft ver-
liert, auch wenn er fündigt, nicht den Gebrauch feiner
Gewalt und Iurispiction.
Wir erfennen, daß Weſel die heilige Scheu des mittel-
alterlichen Menſchen vor der Autorität Roms nicht über-
wunden hat. Der weltbewegende Gedanke, daß der Ein-
zelne ein Recht habe auch gegenüber ver Geſammtheit,
das Recht auf eigene Gefahr hin auch irren zu bürfen,
follte erjt 1521 zu Worms fih Har geftalten. Wenn
man jedoch bevenft, daß der Gedanke von ber Freiheit
des Gewiſſens nicht blos auf kirchliche oder religiöfe
Tragen fich erftredt, jondern im ihm wirklich eine neue
Weltanfchauung der alten gegemübertritt, die in gleicher
Weile das antile Leben wie das Leben des Mittelalters
beberricht hatte, fo begreift man ſehr wohl, daß Wejel
ohne die innerliche Kraft eines Luther und innerhalb ganz
anderer Zuftände und Stimmungen, wie fie Luther ums
gaben umd trugen, fich über die Tragweite feiner Sätze
von der Grenze ber Gewalt des Ganzen über ben Ein⸗
zelnen bei fich felbft unflar bleiben konnte oder fie fich
Mar zu machen fcheute, und im Banne dieſes innern
Zwieipaltes vor den Inquifitoren feine alten Bofitionen
32 Johann von Wefel und feine Zeit.
nur mangelhaft zu halten wagte. Freilich bleibt fraglich,
wie viel bei Weſel's Ausfagen von ihrer Schwäche auch etwa
auf Rechnung feines greifenhaften Zuftandes zu jegen ift.
Er macht einigemal über biefelben Punkte, 3. B. über
ben Umfang bes Begriffs ver Todſünde, über bie Statt-
halterichaft Chrifti auf Erden, widerfprechende Angaben;
brei charakteriftifche Säge aus feiner Abhandlung wiber
den Ablaß, daß vie Abläſſe piae fraudes, daß die Kirche,
fofern fie irre, Ablaß ertheile, und daß bie Kirche mit
dem Ablaß mehr fchade als nütze, glaubt er nicht ge
jcehrieben zu haben.
Nach beendigtem Eramen wurde Wefel in fein Ge:
fängniß zurücdgeführt. Der Erzbtichof, der Inquiſitor
und bie Doctoren befchloffen die Nieverfegung einer Com⸗
miſſion, die berathen follte, was weiter zu thun fei. Nach
gehaltener Mahlzeit trat dieſelbe um 2 Uhr zuſammen,
die weitere Vernehmung bes Angellagten am folgenben
Zage erfolgte nach Maßgabe der Commiſſionsbeſchlüſſe.
Am 9. Februar fam man morgens am jelben Ort
zufammen, biesmal hatten auch Laien Zutritt und nie-
manb wurbe zurückgewieſen. Weſel wurde iwieber vor:
geführt, und der Inquifitor fprach, er werde ihm bie-
jenigen Artikel von geftern noch einmal vorlegen, auf bie
er nicht entſchieden genug geantwortet; heute folfe er das
recht hell und Har, mit mehr Weberlegung thun. Se-
dann babe er fich über eine Anzahl Additionalartifel zu
äußern. Endlich würben ihm alle wichtigern Artikel
jammt feinen Antworten noch einmal vorgefefen werben,
damit man höre, ob er bei feinen Ausfagen verbleiben
oder von ihnen ablaffen wolle. Nachdem ber Angeklagte
in berjelben Weife wie am vorhergehenden Tage eiblic
verpflichtet worden war, nahm der Inquifitor das zweite
Eramen ab, indem er feinen Blan voll zur Durchführung
Johann von Wefel und feine Zeit. 93
brachte. Den Inhalt der vem Angeklagten neu vorgelegten
Artikel haben wir oben Schon mit zur Darftellung gebracht.
Einige ihm vorgehaltene Säge wollte Weſel nicht gefchrie-
ben baben, man wies fie ihm aber in ben von feiner
eigenen Hand gefchriebenen Tractaten, und er konnte
jene Handſchrift nicht ableugnen. Als er einmal auch
oft wiederholte, er babe eine gewiſſe Sache niemals ge⸗
bört, fagte Gerhard von Eliten: „Ihr ſeid ein Doctor ver
Heiligen Schrift und wißt pas nicht?” Und der in dieſem
Berhör hervorbrechenden Zuverfiht: „Wenn alle Men⸗
ſchen von Chriſto abſielen, jo will ich allein ihn als
Gottes Sohn verehren, anbeten und ein Chriſt bleiben!“
brach ber Imauifitor die Spike ab mit den Worten:
„Dans fagen alle Keter, auch wenn fie fehon auf dem
Scheiterhaufen ſtehen.“ Endlich ermahnte ihn der In⸗
quiſitor, er möge in Betracht ſeiner Irrthümer um Gnade
bitten, und es entſpann ſich zwiſchen ihnen folgendes Ge⸗
ſpräch. Weſel: „Muß ich um Gnade bitten, da ich doch
feiner Schuld überführt bin?” — Inquiſitor: „Ihr müßt
entweber um Gnabe bitten, ober ein härteres Urtheil er-
warten; aber werm Ihr um Gnade bittet, jo wird Euch
Berzeihung zntheil werben.” — Wejel: „Ihr zwingt mich,
ein Bekenntniß abzulegen und um Gnade zu fliehen, und
doch ift mir meine Schuld nicht bewiefen!” — Inqui—
fitor: „Ich zwinge Euch nicht!” — Wefel: „Sa, Ihr
treibt mich aber do an.” — Inquiſitor: „Ich thue
weder das eine, noch das andere, jondern Ihr müßt aus
freien Stüden um Gnade bitten, und ich proteftire gegen
das, was Ihr mir aufbürbet” (welche Proteftation er auch
zu Protofoll nehmen ließ). — Als mun auch amdere
Weſel in demſelben Sinn ermunterten, fprach er: „Nun
gut, ich bitte um Gnade.” Worauf ber Saqutitor mit
XXII.
34 Johann von Wefel nnd feine Zeit.
ben Worten fchloß: „Nicht alfo, ſondern von felbft müßt
Ihr kommen und um Gnabe bitten.“
Wefel bat fih Bedenlzeit aus und wurde nad alſo
beenbigtem &ramen wieder ins Gefängniß abgeführt.
Hierauf wurbe befchloffen, es follten brei Doctoren ber
Theologie zu ihm geſchickt werben, um ihn gütlich zu er
mahnen, von feinen Irrthümern und Ketereien abzufteben;
doch follten fich biefelben nicht mit ihm auf eine Entwicke⸗
lung ber Gründe einlaffen, weil er hiervon nur wieder
Deranlaffung zu weitern Discuffionen nehmen könnte und
dann die Sache nie zum Abſchluß käme.
Die Deputirten fuchten Wefel am Mittwoch früh
anf, ermahnten und bearbeiteten ihn. Er entgegnete ihnen:
„Sol ich gegen mein Gewifjen handeln?” — Die De
putirten: „Nein, dem bie Artikel find ja, wie Ihr
jelöft ſehet, falſch.“ — Wefel: „Das fagt ihr wol, aber
ihr beweiſet es nicht.” — Deputirte: „Es find Hier feine
Beweiſe nöthig, weil die Artikel von der Kirche verbammt
find.” — Wefel: „Darüber habe ich eben feine Gewiß-
heit.” — Deputirte: „Das genügt aber nicht, um ber
Strafe zu entgehen.” — Da Wefel fich alfo bei der An-
torität der Kirche nicht beruhigen wollte, wurbe er weiter
gefragt, ja warum er denn ven vier Evangelien mehr
glaube als z. B. dem Evangelium Nikodemi. Dieſes
Apokryphon, das in feinem erften Theile ven Proceß Jeſu
Ehriftt in einer die evangelifche Gejchichte erweiternden
Form barftellt, von beveutenden Kirchenvätern citirt wird
und die kanoniſchen Evangelien vielfach erläutert, vielleicht
jogar bereichert, war neben andern Schriften berjelben
Gattung von der Kirche dogmatiſchen Zwecken bienftbar
gemacht worden. Weſel's Antwort lautete: „Weil ich will.”
Auf die weitere Frage, warum er biefen vier Evan-
geliften gerade glaube, antwortete er: „Weil ich es fo von
Johann von Wefel und feine Zeit. 95
ben Aeltern überkommen.“ — „Sa, warum glaubt Ihr
denn dann ben Lehrern ber Kirche nicht auch?” — „Ihre
Lehre ift nicht kanoniſche Schrift.” — „Wie wolltet Ihr
benn bei biefer Anficht von ber Autorität der Doctoren
für Eure eigenen Predigten Glauben verlangen?” — „Ich
habe geprebigt, ohne mich darum zu befümmern, ob man
meinen Worten glaube.” — Auch das Centrum feiner
Pofition, die alleinige Autorität der Schrift, verftand
Weſel alfo nicht zu vertheibigen, man ift wenigſtens ge-
neigt, das aus ber Thatfache, daß er es nicht ober offen-
bar ungenügend that, zu fchließen. Auch fette Weſel
dem Vorhalt aus Concilsbeſchlüſſen und Bullen öfters
feine Unfenntniß derſelben, daß er dies ober jenes weber
gehört noch gelejen habe, entgegen. Er fagte auch: „Wie
ihr mit mir verfahret, könnte auch Ehriftus, wenn er
da wäre, von euch ald Reber verbammt werben. Aber
der”, fügte er lächeln Hinzu, „würde euch durch feinen
Scharffinn überwinden.” Demnoh war das Reſultat
diefer Unterrebung, deſſen Geneſis aus ven Acten aber
nicht klar wird, daß Wefel erflärte: „Ich will widerrufen,
wenn ihr meinen Widerruf auf euer Gewilfen nehmen
wollt.” — Deputirte: „Das wollen wir thun und alle
Schuld tragen, bie Euer Gewiſſen beſchweren könnte.“ —
Wefel: „Werbe ich aber voll, fo thun ich es nit!“ —
Am Mittwoh Nachmittag beftimmte man, dem Anger
Hagten am Donnerstag bie Hauptartifel vorzulegen, bie
er zu wiberrufen und abzufchwören haben follte.
Am Donnerstag wurde Wefel die befchloffene Ueber-
fiht und eine Widerrufungsformel vorgelegt. Er erflärte,
alles annehmen und wiberrufen zu wollen, zuerft im Re⸗
fectorium ber Tranciscaner vor dem Biichof und Klerus,
dann, nach vorausgegangener Abkündigung in allen Kirchen,
mit der erforderlichen Feterlichkeit im Dome vor allem Volt.
3*
36 Johann von Wefel und feine Zeit.
Am Freitag, den 12. Februar, in ber Frühe um
7 Uhr, fanden fich ver Erzbifchof, der Inquifitor, der Ge⸗
richtshof und fehr viele andere geiftliche und weltliche Per⸗
fonen zufanmen. Der Inquifitor verkündete Weſel's Be⸗
reitwilligfeit zum Wiverrufe, dann wurbe biejer berbei-
geführt und aufgefordert, feine Meinung über die ihm
ſchuld gegebenen Ketzereien öffentlich Tunbzuthun. Weſel
wollte num im Angeficht des Erzbiſchofs und ber übrigen
auf die Knie nieberfallen, aber ba er es vor Schwäche
nicht vermochte, hieß ihn der Inquiſitor figenb fprechen.
Er ſagte daher, nachdem die Furcht und das Zittern ver-
Ihwunden, aus innerfter Bruft mit Marer Stunme fol-
gende Worte: „Ehrwürdigſter Vater in Ehrifto, Erzbifchof
biefer berühmten Diöceje, ehrwürdiger Vater Inquifiter,
und ihr Herren Doctoren, Magifter und andern ehrivür-
digen Männer! Ich erkenne freiwillig an, baß in meinen
Schriften und Reden Irrthümliches gefunden worben ſei.
Ich widerrufe diefe Irrthümer und will fie auch öffentlich
widerrufen. Ich will mich unterwerfen unb unterwerfe
mich ben Geboten ver Heiligen Mutter Kirche und ber Be-
lehrung der Doctoren. Ich will die mir aufzuerlegenve
Buße leiften und bitte um Vergebung und Gnabe.” ‘Dann
bat Weſel, man möge ihn num nicht wieder das dunkle
und ſchmutzige Gefängniß, ſondern eine orbentliche Woh⸗
nung beziehen laſſen. Der Inquifitor verwies ihn aber
auf die Zeit, da er den Wiberruf gethan haben werbe;
dann folle er Abfolution empfangen, vorher aber bürfe
er mit niemand Gemeinichaft haben. Er wurde alfo an
den gewohnten Ort gebracht.
Der öffentliche Widerruf fand an dem nächftbevorftehen-
den Sonntag Ejtomihi ftatt und ohne Zweifel im Zu-
jammenbange bamit die Verbrennung von Weſel's Schrif-
ten. Als er feine Bücher zum Holzftoße tragen ſah, brach
Zohbann von Wefel und feine Zeit, 37
er in bittere Thränen aus und rief: „DO bu frommer
Gott, foll auch das Gute mit dem Schlimmen zu Grunde
gehen? Muß das viele Gute, was ich gefchrieben, büßen,
was das wenige Schlimme verfchulpet bat? Das ift nicht
bein Urtbeil, o ®ott, der du bereit warſt, der unermeß-
lichen Menge um zehn Gerechter willen auf Abraham's
Gebet zu fchonen, fondern das Urtheil ver Menfchen, vie,
ich weiß nicht non welchem Eifer, gegen mich entflammt
find 1
Weſel erlangte auch nach feinem Widerruf bie Freiheit
nicht wieber, er wurde zu lebenslänglicher Einjperrung im
Anguftinerflofter zu Mainz verurtbeilt, ftarb aber, nach⸗
dem er nicht ganz zwei Jahre im Gefängniß zugebracht,
im Jahre 1481. — Daß wir des Ketzers Lehre und Leben
bei den Altgläubigen feiner Zeit und den nachfolgenden
Generationen faft durchweg nur im Ton der Selbftgeredh-
tigteit beurtheilt finden, ift nicht verwunderlich. Auf
Luther bat Weſel irgendwelchen Einfluß nicht gehabt,
Matthias Flacius aber, der evangelijche Hiftorifer des
16. Sahrhunderts, hat ihm mit Recht in feinem „Cata-
logus testium veritatis” ein Ehrengedächtniß geftiftet,
denn Wefel bleibt ein „Zeuge“, ven man nur nicht gleich
zu einem bogmatifch-correcten „Evangeliſchen“ ftempeln
muß. Das wahrhaft gefchichtliche Verſtändniß auch dieſer
intereffanten PBerfönlichkeit und ihrer Zeit bat ſich in der
Gegenwart berausgebilbet.
Weſel bat bie Wahrheit feines eigenen Wortes: „ER
tft num mehr fchwer Ehriften zu ſyn“ — reichlich erfahren.
Zwar das Schwerfte, das Leben für die Lieberzeugung zu
opfern, hat er nicht zu leiften vermocht, aber lange Jahre
bat er boch gelebt gemäß ber von ihm felbft gejtellten
Forderung: „Sobrie nobis, juste fratribus, pie Deo.”
Es bleibt fraglich, ob man im Hinblid auf feinen Wider⸗
38 Johann von Wefel und feine Zeit.
ruf fagen faun, daß die Gebiegenheit der Ueberzeugung,
ber Muth und die Stanphaftigfeit des Charakters bei
ihm nicht auf gleicher Höhe ftand wie feine Einficht. Es
ift die letzte That feines Lebens nicht zu rechtfertigen, aber
bei einem einfamen, altersichwachen reife, der noch dazu
wol mit inmern Zweifeln über die Autorität der Kirche
geplagt war, reichlich entfchulpigt. Wenn nach einem jchönen
Bilde das Mittelalter eine fternhelle Nacht ift, fo leuchtet
der Stern eined Wefel zwar nicht unter ben erften, aber
er war doch auch an feinem bejcheivenen Theile ein Zeichen
ber Hoffnung auf die Sonne ber kommenden Tage.
Eine Studie über mania transitoria (vorüber-
gehender Wahufinn) und verfchiedene merkwürdige
Eriminalproceffe, welde diefe ſchwierige Materie
betreffen.
In unferer bewegten und auf allen Gebieten raſtloſen
Zeit treten auch an das im engften Rahmen fich abfpie-
lende Leben des Einzelnen mächtigere und gemaltigere
Einprüde heran wie früher. Der Kampf ums Dafein
fpannt die Kräfte nach allen Seiten hin an; bie Nerven
werben mächtig erregt und ber Erregung folgt die Ab-
ſpannung und die Erichlaffung. So kommt ed, daß man
wol in feiner Zeit mehr hörte von Nerven- und Gehirn-
erfchüätterungen und geiftigen Störungen von längerer over
kürzerer Dauer. Und das Intereffe der Fachmänner und
der Gebilveten überhaupt wendet fich ganz beſonders biefen
jeelifchen Zuftänben und Krankheitsformen zu.
Namentlich auch in ven Gerichtsfälen machen fich dieſe
Wahrnehmungen geltend. Bei Verbrechen, welche durch
die Ungewöhnlichkeit der Ausführung, burch graufige Ge-
waltthätigfeit beroorragen, wird bie Trage nad der Zu⸗
rechnungsfähigfeit des Thäters leicht aufgeiworfen. Zwi«
chen Aerzten und Juriſten befteht durchweg eine ver-
fchiedene Auffaffung, ja es gibt eine gewiſſe mebicinifche
Schule, welche geneigt ift, jedes Verbrechen auf eine
40 Eine Stubie über mania transitoria,
geiftige Anlage, einen verbrecherifchen Trieb zurüdzu-
führen. Sollten vie Lehren dieſer Schule eine weitere
Geltung gewinnen, fo wiürbe zweifellos eine Entleerung
der überfüllten Gefängniffe, aber auch eine bedenkliche
Zunahme ver Irrenhäufer die Folge fein, und wir müßten
uns daran gewöhnen, ſchwere Verbrecher als Irre anzu
jehen und zu behandeln, bis ber krankhafte, verbrecheriiche
Trieb geheilt ift, allerdings nicht ohne die für die Mit-
menjchen immerhin etwas bedrohliche Gefahr, daß dieſer
Trieb bald wieder hervorbridt.
Namentlich find es die bisjetzt menigftene außer⸗
orbentlich felten beobachteten Fälle ver mania transitoria,
bes vorübergehenden Wahnſinns, in denen die Anfichten
ber Juriſten und Aerzte, ja auch diejenigen der letztern
felbft fich ganz entfchieven gegenüberftanben.
Es find dieſes die Fälle, in denen bei einem bisher
geiftig gefunden und förperlich frifchen Menſchen ein kurzer,
plöglich einbreddender Wahnfinnezuftand eintritt, in welchem
er feiner ſelbſt nicht mächtig, meift jehr gewaltthätige Ver⸗
brechen begeht, ohne nachher von feinem Thun irgend-
welche Erinnerung zu haben.
Bedeutende mebicimifche Autoritäten haben das Bor-
fommen berartiger Zuftänbe vollftändig in Abrede geſtellt.
Und ehe wir zu ven Fällen übergehen, welche nach unferer
Anfiht das Vorkommen verfelben außer Zweifel ftellen,
wird es nothwendig fein, die Anfichten der hervorragenbften
Mebiciner und den Begriff viefer Franfhaften Zuftänve
ſelbſt feſtzuſtellen.
Am hartnäckigſten bekämpft die Annahme derartiger
maniakaliſcher Zuftände der alte Praktiker Kasper* and
—
” Kaeper, „Prattiſches Handbuch der gerichtlichen Medicin“, ber
arbeitet von Dr. Limann.
Eine Studie über mania transitoria, 41
no in feinem neueften Gewanbe. ‘Derjelbe jagt: „Das
Irreſein zeigt Differenzen je nach Entftehungsweife, Ver⸗
lauf und piychiicher Begrenzung, die eine weientliche Be⸗
ziehung zur Zurechnungslehre haben. Was feine Ent-
ftehungsweife betrifft, fo find die alltäglichen Fälle unfchwer
zu beurtheilen, in benen bei bisher völlig geiftig Gefunden
anf irgenbeine der verſchiedenſten Veranlaffungen plößlich
eine wahnfinnige Geiftesperwirrung hervorbricht und ale
ſolche dann mehr oder weniger lange in biagnoftifcher
unverfennbarer Klarheit fortbefteht.
„In andern die Mehrheit bildenden Fällen entwidelt
fih die Krankheit allmählich. Veränderte Sitten und
Gewohnheiten bezeichnen gern das erfte Stabium der oft
noch ungeahnten Krankheit. Der pünktliche Geſchäfts⸗
mann fängt an, feine Pflichten zu verfäumen, und bat
alterlei bei feiner Eigenthümlichkeit auffallende Entſchul⸗
bigungsgrünbe dafür. Der fonft folive und feine Häus-
lichkeit Tiebende Mann läuft aus und ſchwärmt zwecklos um⸗
ber. Die forgfame Mutter vernachläffigt ihre Kinder und
fängt an fich mit allerhand zu beichäftigen. Mehr und
mehr treten auffallenbe und beforgnißerregenve Handlungen
beroor, wunderliche Schreiben an unbefannte und hoch⸗
geftellte Berfonen, an Behörden, Schritte zum Verlauf
von Haus und Hof. Die Reben werben unzuſammen⸗
bängenb und enblich, worüber lange Zeit vergehen kann,
it am vollendeten Wahnfinn nicht mehr zu zweifeln.
Vorzugsweife die Form des Schwermuthwahns pflegt jo
jchleichend aufzutreten. Das Interefie an ven bigjetzt ge⸗
begten und geliebten Perfonen und Sachen läßt auffallend
nad. Die reinliche, zierlide Frau vernachläffigt ihr
Aeußeres, die gewohnten geiftigen Beichäftigungen machen
einem zweifellofen Müßiggang Plat. Gefellichaften, Zer⸗
ftreuungen, fonft gern gejehen, werben gemieden, die
42 Eine Studie über mania transitoriea.
Einfamfeit gejucht. Der Kranke, ver noch immer keine
Ideenincohärenz verräth und ben bie Seinigen höchſtens
törperlich leidend wähnen, verfinft mehr und mehr in
fih und feine Mahnung vermag ihn zu ermamıen. Nach
und nach treten nun ſchon beforgnißerregende Befürch⸗
tungen auf: Die Ernte wird nicht gerathen, die Kinder
werben jterben, das Vermögen tft verloren u. |. w, umb
endlich ift der bi® dahin verborgene Wahnfinn ein offen-
fundiger geivorben.
„ber aber endlich der Wahnfinn bricht bei einem
pſychiſch ganz gefunden Menfchen auf eine von denjenigen
Beranlaffungen, die als folche von der Erfahrung genau
bezeichnet find, urplöglih aus, nimmt aber dann nicht
feinen gewöhnlichen Berlauf, fondern erſchöpft ſich in
einem einzigen Anfall, mit deſſen Ende auch die geiftige
Störung vollftändig aufgehört bat, um oft im ganzen
Leben nicht wieder zu erfcheinen.
„So war e8 ber Fall mit dem Staatsrath Xemle,
beffen Krankheit Heim vor über funfzig Jahren befannt
machte, ein Fall, der folche unverbiente Berühmtheit er-
langt bat, weil er Gelegenheit bot, eine neue Species
von Wahnfinn, ven vorübergebenten Zobfuchtswahn,
mania transitoria, aufzuftellen.
„Jener allgemein geachtete Dann kehrte, nachdem er
am Tage eine Iagbpartie gemacht, ven Mittag in mun-
terer Gejellfchaft zugebracht, aber nicht unmäßig geweſen
war, nach Berlin zurüd und bereitete fich noch zu einem
bienftlicden Vortrag für den folgenden Tag vor. Gegen
1 Ubr bittet ihn feine Frau, boch nicht Länger zu arbeiten,
und da er fie liebt und ehrt, legt er feine Arbeit fort,
geht zu Bett, und beide fchlafen ruhig ein. Kaum eine
Stunde darauf erwacht die Frau und hört ihren Mann
roͤcheln. Sie ruft ihn an, fucht ihn aufzurütteln, doch
Eine Studie Über mania transitorie 43
vergeblich; fie läuft zum Bedienten, um ihn zum Arzt
zu ſchicken, und findet ihren Mann noch immer röchelnd
wie einen Sterbenden. Nach vielem Hin- und Herfchütteln
hört er enblich auf zu röcheln, richtet fich in bie Höhe,
fieht mit offenen, ftarren Augen die Frau an, aber ohne
dabei ein Wort zu verlieren. Die Frau Hört nicht auf,
ihm fo ftark fie nur kann zuzufchreien. Aber das Zu-
rufen und Schreien bringt ihn nicht zur Befinnung.
Endlich nad einigen Minuten fpringt er haftig zum Bett
hinaus, padt feine Frau am Kopf bei den Haaren, wirft
fie mit voller Wuth zu Boden und ſchreit aus vollem
Halfe: «Canaille, Beſtie, du follft und mußt fterben!»
Nunmehr jchleift er fie im Schlafzimmer und dem an-
ftoßenden Zimmer umber und fchreit unaufhörlich: «Ca⸗
naille, du mußt fterben, ich muß dich zum Yenfter hinaus⸗
jchmeißen.» Zweimal misglüct ihm der Verſuch, ba es
der Frau gelingt ven Tenfterflügel zu fchließen; beim
dritten mal padt er fie indeß fo feft und jchnell an, daß
ihr dieſes nicht gelingt. Doch hält fie fich fo feit am
Fenſterrahmen, daß er fie wieder zu Boden fallen laſſen
muß, den herbeikommenden Bedienten hatte er mit jolcher
Wuth von fich geftoßen, daß dieſer davonlief und ihn mit
ber unglüdlichen Frau allein Tief. Während biefer ganzen
Zeit, die beinahe eine halbe Stunde dauerte, hatte bie
Frau nit aufgehört, um Hülfe zu rufen unb ihrem
Manne zuzurufen: «Mann befinne dich doch, ich bin ja
deine Frau.» — «Was, du meine Frau?» ermwiberte er
ſchreiend; «Canaille, das foll dir theuer zu ftehen kom⸗
men, bu follft mir nicht echappiren.» — Endlich fängt er
an, ruhig zu werben und feine Frau loszulaffen. Sie
ſteht von der Erde auf, faßt ihn. fanft am Arme und
führt ihn langſam, da beide jo entlräftet find und am
Leibe zittern, ohne ein Wort zu jagen, zu feinem Bett,
44 Eine Studie über mania transitoria.
in das er fi auch bringen läßt. Der Arzt kommt, er
erfennt venjelben, fieht feine Frau ftarr an, fragt um-
willig, was vorgefallen. Sie gibt ihm zu verftehen, daß
fie durch feine Behandlung jo zugerichtet fei, da ruft er
aufs neue: «Was, ich follte dich jo behandelt haben! Nein,
ma chere, das tft zu arg, das Laffe ich nicht fo hin⸗
gehen. Du bift eine Eanaille, du mußt fterben.» Er
fommt aufs neue in Eifer, will zum Bett hinausipringen
nnd über feine Fran berfallen. Man hält ihn, er läßt
fih beruhigen, fommt mehr und mehr zur Befinnung,
fragt feine Frau: «Wie fiehft du denn aus?» verftebt,
daß er fie fo zugerichtet hat, weint bitterlih und fleht
um Vergebung. Ein gegebenes Brechmittel fängt an zu
wirken, und nachdem er tüchtig gebrochen, fchläft er ein
und burch volle 24 Stunden, ohne munter zu werben,
und weiß, nachdem er wach geworben, nicht das Geringfte
mehr von dem Vorgefallenen. Ganz dunkel wie aus einem
Zraum glaubt er fich zu befinnen, daß er ed mit einem
Diebe zu thun gehabt habe. Er tft bis an das Ende
feines Lebens nie wieder von einem ähnlichen Tobſuchts⸗
anfall Heimgefucht, hat aber fünf Jahre vorher einmal
morgens feinen Secretär gewedt, weil ein Dieb im
Zimmer fei, und das Gewehr ergriffen, um auf venjelben
zu fchießen. Nur durch die Lift des Secretärs wurde
dieſes verhindert.
„Sp wie nun diefer Fall fich bei einem Schlafenben
(Epileptifchen) ereignete, fo tft auch eine große Anzahl
berjenigen Fälle, die überhaupt Hierher gehören, bei
Schlaftrunkenen beobachtet, die erwachend in die Heftigften
Actionen ausbrachen und geſetzwidrige Handlungen be»
gingen, von denen fie feine oder nur traumartige Erin-
nerung hatten. In andern Fällen find es torifche Ein-
wirkungen (Altobol, Kohlenoxyd), Transformationen der
Eine Studie Über mania transitoria. 45
Epilepfie, Hufterie, Congeftionen und Blurionen zum Ge⸗
hirn, der Gebäract und feine Folgen, pathologiſche Affect-
zuftände namentlich bei Herebitariern, Darmreize, welche
vorübergehende maniakaliſche Zufälle mit Aufhebung bes
Selkftbewußtfeins und der Erinnerung und gejeßwibrige
in ihnen verübte Handlungen hervorgerufen haben. Nun
fteht zwar die Thatjache unzweifelhaft feit, daß vorüber:
gehend burch die genannten körperlichen Zuftände plöglich
eine Gehirnaffection mit maniakaliſchen Symptomen ent-
jtehen Tann, die mit Befeitigung ber Urjachen wieber
ſchwindet. Allein es fcheint uns ein DVerftoß gegen die
Regeln ber allgemeinen Pathologie, dieſe Wahnfinnsaus-
brüche, die lediglich Symptome eines jeweiligen vorüber-
gehenden Zuftanbes find, für eine eigene Gattung von
Mante zu erklären, um fo mehr, als man die bloße Zeit-
bauer einer Krankheit, durch welche allein fich boch bie vor⸗
übergehende Tobfucht von jeder andern unterjcheibet, um-
möglich als einen Specifiichen Charakter einer Gattung vor
allen andern ähnlichen anjehen kann. Wir wollen doch
auch nicht unerwähnt laffen, daß von anderer Seite ge-
fagt wird, das Irreſein ſei ein Proceß, welcher aus ber
Verkettung gewiffer fich gegenfeitig bedingender Erfchei-
nungen beftebt, in dem folglich auch nichts Plötliches
und Tranfitorifches fein kann. Was tranfttoriich ſei, das
fei die Handlung, die im Verlauf einer Krankheit ent-
ſtehe und die ihr accentuirteftes Phänomen fei.
„Auf die Gefahr jener Annahme aber braucht nicht
aufmerkſam gemacht zu werben, da nicht leichter ift und
auch oft genug vorgefommen ift, als den leivenfchaftlichen
Wuthausbruch eines vor wie nach ber That geſund ge-
bliebenen Angejchulpigten auf Rechnung einer die Zu-
rechnung ausfchließenden mania transitoria zu fchreiben.
Und wenn Heim bei Bekanntmachung feines Lemke'ſchen
"46 Eine Studie über mania transitorie.
Tall beforglich äußerte, außer Zweifel jet e8 wohl, daß
mancher unter Henkers Händen durch Tortur gemartert
und in Zuchthäufern fein Leben verloren habe, der ganz
unschuldig gewefen und nur das Unglüd gehabt Habe,
von einer ſolchen Tobfucht befallen zu werben, fo hat doch
bie fpätere Erfahrung gelehrt, daß gerade das Entgegen-
geſetzte die Folge ift, daß nämlich durch die misbräuchliche
Annahme folder Krankheitsaufftellungen in der Strafe
rechtspraris weit mehr Angefchuldigte das Glück gehabt
haben, ihr Leben nicht zu verlieren. Es ift feitzuhalten,
daß es folche vorübergehende Anfälle wirklich gibt, aber
es gibt feine eigentliche Species von Tobjucht, Teine ſo⸗
genannte mania transitoria. Dieſe unmwifjenjchaftliche
und gefährliche Bezeichnung darf in ber Praris nicht ge-
braucht werben, und die pathogenetiiche Entwidelung und
die Beleuchtung jedes einzelnen Falls nach ven allgemeinen
diagnoſtiſchen Kriterien macht fie auch vollkommen über-
flüſſig.“ |
Kasper-Limann theilt dann ven Fall mit, in welchem
ein fonft foliver, nüchterner und gejunder Schiffdeigen-
thümer, 29 Sabre alt, in feiner Kajüte abends ſtark ge
heizt und bis 1 Uhr nachts Nitterromane gelefen, am
folgenden Morgen fehr früh in eine Schenkwirtbichaft ge-
fommen ift und bort eine Taſſe Kaffee getrunken, dann
aber fofort fich wie ein Unſinniger gebervet hat. Er fing
Streit mit den Mägden und Gäften an, zerbrach Stühle
und ſchlug auf den ihn feſtnehmenden Schumann ber-
artig ein, daß die Spite feines Helms umgebogen wurde.
In das Arrefthans gebracht, fchlief er fofort ein und be-
hauptete feine Erinmerung aus der fraglichen Nacht feit
feinem Einschlafen bis zum Erwachen in ver Zelle zu
haben. Kasper-Limann führt aus, daß hier die Annahme
einer mania transitoria nicht nöthig fei, daß vielmehr
Eine Studie über mania transitoria. "47
bie bei dem SchiffseigenthHümer vorhandene Dispofition
zu Blutwallungen und der nächtliche Aufenthalt in ber
engen mit Koblendunft angefüllten Kajüte bei der be-
fannten narkotifirenden Wirkung dieſes Gafes für bie
Annahme einer plöglich ausbrechenden Geiftesverwirrung
genügende Anhaltspunkte Biete.
Er theilt dann noch ven Fall des berliner Schenk⸗
wirths Schumann mit, welcher in einer Aufwallung von
Jähzorn nach vorherigem Genuß von zwei Flaſchen Ma⸗
beira und von Bier in einer Lebensperiode, in welcher
ähnliche wuthartige Ausbrüche ſchon mehrfach vorgekom⸗
men waren, feinen Kellner prügelte, auf einen berjelben
ſchoß, feinen Schwager erſchoß und einem ihn feſtnehmen⸗
ben Unteroffizier noch mehrfache Schußwunden beibrachte,
ſodaß er an venfelben ſtarb. Auch Schumann wollte fich
am folgenden Morgen bei der ärztlichen Unterjuchung der
gravirendften Einzelheiten nicht erinnern. Er hatte aber
fonft Erinnerung an die Ereigniffe der Nacht und war
bis zu feiner ärztlichen Unterfuchung nicht in Schlaf ge-
fallen. Zweifellos flag bier fein Ball von Manie vor,
fondern Schumann verlor vielleicht das Bewußtſein in
pen maßlofejten Momenten feines durch Trunk und Jäh⸗
zorn gefteigerten Affectzuftandes. Er wurde auch wegen
ver den Tod herbeiführenden Körperverlegungen ver-
urtheilt.
Mendel* und Schwarke** ftehen auch auf dem Kasper⸗
Limann’ihen Standpunkt. Sie behaupten, daß es eine
tranfitorifche Manie nicht gibt, und führen die bis bahin
befannten Fälle auf epileptifches oder poftepileptifches Irre⸗
* Menbel, „Die Manie" (Wien 1881).
** Schwarte, „Die tranfitorifche Tobſucht“ (Wien 1880).
48 Eine Studie über mania transitorie.
fein und acute Intoricationen mit Alkohol ober Kohlen⸗
oxyd zurück.
Auch Leivesporf* ſpricht ſich mit Vorſicht über das
Vorkommen der mania transitoria aus. Er ſagt:
‚Weit ſeltener und noch nicht völlig aufgekläͤrt fint
bie Fälle, in denen die Zobfucht bei einem bis bahin
pfochtifch gefunden Menfchen plöglich ausbricht und ſich in
einem einzigen Anfall erjchöpft, mit vefjen Ende auch bie
geiftige Störung aufgehört hat. Diefe acute Tobjucht hat
man am bäufigften in ver Schlaftrunfenheit, ferner in-
folge des gleichzeitigen Einfluffes heftiger Affecte umd
geiftiger Getränke, und während des Geburtsactes ber
obachtet. Die plöglichen, vorübergehenden Tobfuchteanfälle
beobachtet man auch bei Epileptifhen. Es kann aber
bierbei vorlommen, daß das Vorhandenſein ber Epi-
lepfie von dem Kranken felbft und feiner Umgebung über-
jehen wird, namentlich wenn bie epileptifchen Anfälle
während des Schlafes auftreten.”
Leidesdorf erzählt nım von einem jungen Menſchen,
welcher fich plößlich auf feinen beften Freund ftürzte und
ihm einen töblichen Schlag beibrachte. Diejer junge
Menſch habe aber an epileptifchen Anfällen währen bee
Schlafs gelitten.
Erſt Krafft-Ebing ftellt in feinem „Lehrbuch ber Pfy⸗
chiatrie“ ben Begriff und ben Krankheitsverlauf ber ma-
nis transitoria feft und hebt ihre Form und ihr Auf
treten als das einer beftimmten Form ber acuten Tob-
jucht charakteriſtiſch hervor.
Im Anſchluß an die Tobfucht fei einer ebenfo feltenen
als intereffanten peracnten pſychiſchen Störung gebadtt,
-—— —
* Leidesdor nk el un (Em
langen 1 ehrbuch ber pſychiatriſchen Krankheiten” (Er
Eine Studie über mania transitoria, 49
die als mania transitoria bezeichnet wird, jeboch nur in
loderm Verbande mit ver Manie fteht. Diefer Zufammen-
hang beſteht nur infofern, als eine ernorme Befchleuni-
gung der pſychiſchen Acte, namentlich deutliche Ideenflucht
vorbanben iſt. ‘Der Zuftand fteht aber durch die tiefe
Zraumftufe, den brüsken Ausbruch und Abfall des Krank:
heitöbilbe8, ven peracuten Verlauf, die mafjenbaften ‘De-
firien von vorwiegend fchredhaften Inhalt dem ‘Delirium
und fpeciell dem epileptiichen Delirium jedenfalls viel
näher als der Mante. Sicher bebarf die Lehre von ber
mania transitoria ber wiffenschaftlichen Reviſion. ‘Die
Erweiterung bes kliniſchen Begriffs der Epilepfie und
namentlich die Forſchungen über epilepsia larvata, bie
Thatjache, daß eine Pſhchoſe, welche tranfitorifch auftritt,
vie feine Entwidelungsgejchichte hat, einen ſymptomatiſchen
Charakter befigt, Taffen faum daran zweifeln, daß bie
Mehrzahl ver als Fälle ver mania transitoria angejehenen
auf epileptifchem Boden fteht, als epileptifches Aequivalent
angefehen werben muß. ZThatjächlich finden: ſich bei ven
meiften dieſer Fälle auch epileptifche Antecedentien, jedoch
nur bei ver Mehrzahl.
Es gibt entſchieden Fälle, in welchen folche, felbft im
weiteften Sinne genommen, fehlen. Für biefe muß ber
Begriff der mania transitoria feftgehalten werben.
Abgeſehen von der epileptifchen Bedeutung zahlreicher
in der Literatur fich findender Fälle gibt e8 auch nicht
wenige, in welchen pathologifche Affecte, raptus melan-
cholicus, bufterifche Delirien, pathologiſche Raufchzuftänne,
ja felbft Anfälle gewöhnlicher acuter, namentlich zorniger
Manie als mania transitoria fälfchlich aufgefaßt werben.
Es erfcheint vor allem nothwendig, den Hinifchen Begriff
ber Krankheit zu geben.
Unter mania transitoria verfteht die jegige Willen:
XXI. 4
50 Eine Studie über mania transitoria,
ichaft eine bi zu mehrern Stunden dauernde, bei vor-
her und nachher pfuchiich Gefunden vorkommende, plöß-
lich einfegende und fchwindende, wit tiefer Störung
bes Bewußtfeins während ihrer ganzen Dauer verbundene
pſychiſche Störung, die als mwuthartige Erregung oder al®
maniafalifche Verworrenbeit mit Ipeenflucht und mafjen-
haften Delirien und Sinnestäufchimgen ſich kliniſch dar⸗
ftellt. Sie fchließt mit einem quası kritiſchen Schlaf ab,
aus welchem der Kranke Iucid ohne die geringfte Erinne⸗
rung an bie Erlebniffe des Anfalls zu fich kommt.
Heftige Fluxionen leiten meiftend den Anfall ein, ber
gleiten in der Regel feinen Verlauf, ſodaß bie Ver⸗
muthung gerechtfertigt ericheint, e8 handle ſich hier um
ein ſymptomatiſches Deltrium, bedingt durch eine plöß-
liche tranfitorifche, flurionäre Hyperämie der Gehirnrinbe.
Auch die Aetiologie ſpricht dafür, infofern es ſich meiſt
um phletorifche oder durch Exceffe, Weberanftrengung,
Geburtsact erichöpfte Individuen handelt, während ale
gelegentliche Urfachen Gemüthsaffecte, caloriſche Schäplich-
feiten, Kohlendunſt und Alkoholerceffe erjcheinen. Eine
auffallende Dispofition zeigen junge Solvaten. Der In:
halt der Delirien ift ein vorwiegend fchredhafter, jedoch
laufen auch Heitere ‘Delirien mit unter. Die Agitatton
bes bewußtloſen Kranken ift eine maß- und zielloje, zum
Theil die Reaction auf Delirien, größtentheils aber Aus-
brüde eines heftigen Erregungsvorgangs in ben pſycho⸗
motorischen Eentren, der fich fogar zu ſchweren Hirnreiz-
erjcheinungen in Form von tonifchen Krämpfen, Zähne-
knirſchen u. f. w. fteigern Tann.
Nah ftundenlangem Toben und Wüthen ermattet ber
Kranke, ſchläft ein und erwacht aus mehrſtündigem, tiefem
Schlaf erichöpft, aber volllommen Har. Kopfweh, Schwin-
bel als Erſcheinungen einer noch nicht völlig ausgeglichenen
Eine Stubie Über mania transitoria. 51
Gehirnhyperämie überbauern Häufig noch einige Zeit ben
eigentlichen Anfall. Die Brognofe ift eine günftige. Selbft
Recidive wurden nur felten beobachtet. Therapeutiſch ift
Sicherung des fich felbft und der Umgebung fehr gefähr-
lichen Kranken und Herbeiführung von Schlaf angezeigt.
Krafft-Ebing theilt einige ihm befannt gewordene Fälle
ber mania transitoria mit, umter welchen bie nachfolgen-
den bie charakteriftiichften find.
Frau Neubert, 36 Sahre alt, außer feltenen Anfällen
von Migräne früher nie frank, von mäßiger Lebensweiſe,
nicht empfindlich gegen calorifche Schäplichleiten, aus ge⸗
funver Familie ohne epileptiiche ober epileptoive Antece-
bentien, litt feit vier Tagen an einem heftigen Schnupfen
und Katarrh. Sie fröftelte am Abend des 25. November
1877 etwas und ließ ihr Zimmer, in welchem fi ein
großer gußeiferner Ofen befand, ſtark heizen. Gegen
11 Uhr nachts überfief e8 fie plöglich eisfalt, dann fühlte
fie heftige Die im Körper und wie das Blut ihr in den
Kopf ſchoß. Sie begann zu veliriven, fang Lieber, gerieth
in beitere Erregung und lief ihre Kinder ſuchend im
Zimmer umher. Plötlich wurde fie ängftlic und tobend.
Der gegen Mitternacht berbeigerufene Arzt fanb eine
Temperatur von 30 Grad R. im Zimmer vor. Patientin
war in furibunder Zobfucht, fajelte davon, baß ihr ber
Kopf abgefchnitten würde, fchäumte, wüthete, war fehr
ängftlih. Epiſodiſch lachte fie, fang, weinte. Der Kopf
war fehr beit und roth, die Pupillen weit, die Refler-
erregbarfeit gefteigert. Der Arzt ſpritzte Morphium ein;
e8 trat jedoch fein Nachlaß ein. Erft gegen Morgen
tchlief die Patientin ein, erwachte nach einigen Stunden
ganz klar und fuchte fich ftaunend im Spital zurechtzus
finden.
Bon allem Vorgefallenen hatte fie feine Kenntniß
4*
52 Eine Stubie über mania transitoria.
mehr; fie erinnerte fich nur unter Hitegefühl eingejchlafen
zu fein. Sie erbrach, fühlte ſich fehr matt, fchwinbelig
(Morphiummirkung) und erholte fich bis zum 27. November.
Außer den Fatarrhaliichen Beſchwerden fand fich fonft
nichts Krankhaftes vor.
Ferner theilt Krafft-Ebing noch einige Fälle ber
Krankheit bei jungen Soldaten mit.
Bon biefen war der Lanpwehrmann Bauer, 30 Jahre
alt, nach einem Spaziergang bei 14° R. mit einem
Freunde in eine heiße, dunſtige Wirtheftube gegangen.
Dort genof er einen Meerrettich, der ihn heftig niefen
machte. Er faß gerade beim zweiten Glaſe Bier umb
plauberte ganz vergnügt, al® er plötlich vom Stuhle fiel
und einige Minuten in tiefer Ohnmacht dalag. Dam
vegte er fich wieder und nahm eine drohende Stellung
an. Plöglih fing er an blind breinzufchlagen und zu
toben. Krafft-Ebing fand ihn, als er berbeigerufen war;
auf einem Wirthstifche figenp, nur mühſam von ſechs Ka⸗
meraden gebändbigt, mit heißem, geröthetem Kopf und
mittelweiten Bupillen. Er ftöhnte tief und knirſchte mit
ben Zähnen. Das Ganze machte auf den Arzt den Ein-
brud einer flurionären Gehirnhyperämie. Er fuchte fich
feinen Wächtern zu entwinden, ftieß beulende Töne aus
und jchaute wirr um fi. Auf Pauſen momentaner Er»
mattung folgten um jo beftigere Ausbrüdhe blinder Wuth
und verziveifelter Gegenwehr. Er wurbe ind Lazaretb
gebracht, wo er bald ruhig und Mar wurde und fofort
in mehrſtündigen Schlaf verfant. Beim Erwachen wußte
er von allem Vorgefallenen nichts mehr und fand ſich er-
ftaunt zurecht. Er erinnerte fih nur, daß er im Wirthe-
haufe heftig niefen mußte und Schwindel befam, ſodaß
alles um ihn herumtanzte. Außer mäßiger Congejtion
und großer Mattigkeit fand fich an ihm nichts Kranfhaftes
Eine Studie Über mania transitoria. 53
mehr vor. Er erfchien als ein fräftiger, gejunder und
foliver Menſch. Bor einigen Iahren wollte er einen ähn⸗
fihen kurzen Anfall erlitten baben. Der biesmalige
dauerte etwa breiviertel Stunde. Er hatte nie an epi-
leptifchen ober epileptoiden Anfällen gelitten, jedoch wurde
jpäter feine Mutter epileptiich und irrſinnig.
Der andere Fall betraf einen Kanonier Dann. Der-
jelbe war von gejunder Familie und ſelbſt gejund
und robuft ausſehend. Er erkrankte plöglih in der
Naht an Tobfuht. Am Nachmittage vorher hatte ihn
ber Abfchied von feiner Familie gemüthlich etwas aufge-
regt, auch Batte er bei großer Hite fieben Schoppen Bier
raſch Bintereinander getrunken. Nachvem er fich im beften
Wohlſein zu Bette gelegt und bis 4 Uhr morgens ruhig
gefchlafen Hatte, fing er plößlic an zu toben, fich zu
fchlagen, zu beißen und alles zu demoliren. Er ſchwatzte
ganz finnlos. Der Kopf war heiß und roth, die Augen
injicirt. Es gelang ihm eine Zwangsjade anzulegen.
Um 7 Uhr morgens ließen Delirium und tobfüchtige Er-
regung nad. Die Fluxionsröthe des Geſichts wich einer
auffälligen Bläſſe. Dann fiel er in tiefen Schlaf, aus
welchen er nach drei Stunden ohne jegliche Erinnerung
an das Vorgefallene geiftig Mar erwachte. In den nächiten
zwei Tagen wurde noch etwas von ihm über Kopfweh
und Schwindel geflagt. Dann bot er nichts Pathologifches
mehr. Er war nie dem Trunke ergeben und nicht mit
Epilepfie behaftet.
Der belannte Pſychiatriker Dr. Schüle* in Illenau
fchfießt fich der Krafft⸗Ebing'ſchen Auffaffung volllommen
an. Nach feiner Darftellung bricht der Anfall nach furz
* Bol. Heinrih Schüle, „Klinifche Piychiatrie” (Leipzig 1886).
54 Eine Studie Über mania transitorie.
dauernden Vorzeichen peracut aus. ALS Solche erjcheinen
vager Kopfichmerz, Wallungszuftände zum Kopf unb auch
ein ftilles, benommenes, ſchweigſames Weſen. Hin und
wieder finft der Kranke unter Starrwerben ber Augen
bewußtlo8 zufammen und fteht wieder zu fich gelommen
jofort in ver vollen Höhe des Parorysmus. Im andern
Fällen bricht biefer ohne voramsgegangene Symptome
mitten aus einem bi® dahin unanffälligen Verhalten bes
Kranken aus einem erft ruhigen, ahnungsloſen Schlafe
aus. Mit einem Schlage fteht der Kranfe bei feinem
Erwachen mitten in einem Zuftande vollkommener Unbe⸗
ſinnlichkeit. Er rollt die Augen, fchreit, fingt, prebigt.
Dabei ift die Muskulatur in drohender Spannımg. Ent»
weder von ſelbſt in rapiber Entwidelung ober durch eine
barmloje Anrede oder auch durch ein Wort des Bor-
wurfs gewedt, bricht der motorifche Sturm los, bald in
ungeorbneten convulfivifchen Bewegungen, in Heulen,
Drüllen, Zähnelnirfchen, Zerreißen ber Kleider, jchütteln-
den und ftoßenden Gejticulationen, bald aber in einer
blinden Zornwuth, welche unter übermäßiger Muskel⸗
leiftung maß- und ziellos fich austobt, alles vernichtet,
was in den Weg kommt, für ihren entfeflelten Drang
feinen Ausweg findet und nur mit großer Mühe gebän-
bigt werben kann. Dazwiſchen kann fich langſam vorüber-
gehend eine Kleine Pauſe einjchteben. Der Kranke wire
etwas gelafjener, faßt unklar einiges Nächſtliegendes auf,
plöglich aber fällt er wieder in das ungeftlime Toben
zurüd, während ver Kopf ftarf geröthet, per Puls voll
und frequent, die Herzbewegung ſtürmiſch bleibt und ber
Körper mit veichlichem Schweiß bedeckt wird. Nach kurzer
Dauer (zwei Stunden bis ein oder zwei Tage) ftellt fich
Erſchlaffung ein unter Zurücktreten der vafomotortfchen Er-
ſcheinungen. Es erfolgt ein mehrftündiger, bald natür⸗
Eine Studie über mania transitoria, 55
licher, bald todesähnlicher Schlaf, aus welchem der Kranke
völlig Har, aber ohne jede oder höchſtens mit ganz bämmer-
bafter Erinnerung an das Vorgefallene erwacht. In der
Regel wundert er fich jetzt über feinen veränderten Auf⸗
enthalt (Spital) und weiß in feinem Gedächtniß nur noch
an einige Borlänferfumptome (Kopfweh u. |. w.) anzu⸗
Mmüpfen. Damit ift der Anfall vorüber und kehrt im
vielen Fällen nicht wieder. Die Genefung bleibt auch für
die Folge dauernd erhalten.
Dieſes ift nah Schüle das typiſche Bild des Krank⸗
heitsproceſſes.
Dabei kommen aber nach demſelben eine Reihe von
kliniſchen Varietäten vor. Der Krankheitsbeginn
knüpft nach feiner Ausführung nicht ſelten an einen tie⸗
fern Gemüthsaffect, ar einen verfchludten ‘Aerger und
Sram und eine dadurch bewirkte tiefe ‘Depreifion ar,
welche fich aber nicht in einer fehmerzlichen Verjtimmung,
ſondern in einem gemüthlich veizbaren, zerftreuten Weſen
äußert. Bemerfenswertherweife bricht auch der Anfall
nicht infolge des fortgefeßten Nachgrübelns, gleichjam als
Anfturm ver abfichtlich gerufenen Geifter hervor, ſondern
im Gegentheil unerwartet, vom Kranken felbft ungeahnt,
manchmal nach einem beitern, gemüthlichen Weinabenb
ohne eigentlichen Trunkexceß. Die verfchludten Thränen,
ber verjchwiegen getragene Affeet hatten bier langjam bie
vafomotorifche Affection vorbereitet, welche foweit gediehen
eines nur mäßigen Alkoholreizes (manchmal nur einer
Hige und Dumpfheit der Stubenluft) bedarf, um bie
verhängnißvolle acute Kopfeongeftion zu bewirken.
Der Krankfheitsverlauf befteht in der Negel nur aus
einer fich überftürzenden Weihe reflectoriich triebartiger
Acte bei einer wachen Unbefinnlichkeit, vefpective gänz⸗
fichen Bewußtlofigfeit. Der Anfall hat einen epileptoib-
56 Eine Studie über mania transitoria.
conpnlfiven Charakter. Nun gibt e8 aber Fälle, in
welchen epiſodiſch (namentlich im Beginn ber Wnthacte)
von feiten des Bewußtſeins noch ein leifer Schimmer
mitgeht, fo zwar, daß ver Kranke feinen nach aufen ge
worfenen VBernichtungsprang mit den Worten begleitet:
„Jetzt bring’ ich einen um!“ oder „Du mußt bin fein“.
So furchtbar bedeutſam biefer Ruf für das nun begin-
nenbe Zerjtörungswerf auch fein mag, fo tft er doch nad
jeinem Inhalt feineswegs vom Kranken Har erfaßt. Denn
die Wuthhandlung bleibt in gleicher Weiſe wie bei der
rein convulſiven Exrplofion in den tupifchen Fällen eine
ziel- und planlofe, nur Reflex ohne jedes Anzeichen eines
wirklichen Vorbedachts.
Der Ausgang fchließt ausnahmslos mit einem fri-
tiichen Schlaf ab. Nicht immer tft damit dauernd auch
bie Genefung gefichert. Es erfolgen häufig Nachichübe
der Furoranfälle, und zwar bald in fürzern, bald in län-
gern Baufen. Im der Zwifchenzeit find bie Kranken am-
neſthiſch für bie Zeit bes Anfall®, aber geiftig Har, wenn
auch müde und erfchöpft, dabei gewöhnlich mürrifch, übel-
faunig, etwas fcheu und verlegen. Es kann nun em
zweiter und ein britter, ja wiederholter Paroxyomus fol-
gen, wobei die Anfälle, wenn auch in vem Grunbcharafter
ber Kopfflurionen, der tiefen Bewußtfeinsftärung, dem ab-
jchließenden Schlaf und der Ammefie fich gleichbleibend,
doch inhaltlih und in der Intenfität bebeutenpe Unter:
ſchiede aufweiſen. So kann auf einen erften Anfall mit
Schreien, Singen und wechſelnden, aber harmloſen Droh⸗
geberden fpäter ein mäßiger Buroranfall mit Zerreißen
ber Kleider, Umfichichlagen, Beißen u. |. w. folgen und
darauf ein vernichtenp heftiger mit ver fchwerften Gefähr⸗
bung der Umgebung Mit der Häufung ber Anfälle
ändert fi aber auch manchmal ver Krankheitscharakter
Eine Studieüber mania transitoria. 57
nach ber Seite des Zwifchenraums und des Endausgangs.
So Tann der Kranke nach mehrern Parorysmen yplötlich
in der Zwilchenzeit moralifch-perverfe Züge auf Grunb-
lage einer mäßigen pfychifchen Exaltation aufweiſen, welche
erft mit einem folgenden Anfall wieber ausgetilgt werben
und aus biefem heraus erft ihren Uebergang in befini-
tive Geneſung finden.
Einigemal beobachtete Schüfe auch eine längere mania
gravis im Anichluß an mehrere voransgegangene tranfi-
torifche Furoranfälle.
Heben wir noch hervor, daß der bekannte italienifche
Brofeffor Lombrofo die meiften Fälle der tranfitorifchen
Manie als alloholiiche Epilepfie betrachtet und zur Ver⸗
beutlichung dieſer Anficht fich darauf beruft, daß biejelbe
vorzugsweiſe bei Soldaten vorkomme, bei welchen das
junge Lebensalter, die durch den Gebrauch der Waffen,
das ausgelaffenere Leben und den Misbrauch von Alkohol
bedingte größere Heftigfeit, die Wirkung der Disciplin
und vielleicht auch die größere Musfelthätigleit dem Her-
bortreten derartiger Krankheitsformen beſonders günftig
fei, jo glauben wir ven gegenwärtigen Standpunkt ber
mebicinifhen Wiffenfchaft ver Krankheit gegenüber feft-
geftellt zu haben. Die nachftehenn mitgetheilten Fälle
aus ver criminaliftiichen Praris werben das Vorkommen
der mania transitoria bejtätigen. Sie find infofern von
Intereffe, als bier die Gerichte mit den Anfichten ber
Mebiciner Hand in Hand gingen.
Zu Mariahütte bei Trier lebte im Jahre 1876 ver
Sandformer Anton Schaly im Alter von 34 Jahren in
ärmlichen, aber georbneten Verhäftniffen. Derſelbe war
verbeirathet, Hatte fünf Kinder, er war ein nüchterner,
ordentlicher Menſch, an dem außer einer gewiffen Ein-
filbigfeit im Reden niemand etwas Sonderbares bemerft
58 Eine Stubie über mania transitoria.
hatte, in deſſen Familie, foniel befanut, feine Epilepfie
oder Geiſteskrankheit herrichte, und welcher mit feiner bei
ihm lebenden Mutter und feinen Kindern ftets im beiten
Einvernehmen gelebt hatte. Er hatte im Winter hin und
wieder über Kopfweh geflagt und gewöhnlich ſtärkende
Tropfen genommen. Am 27. März war er wie gewöhn-
lich zur Arbeit gegangen, auf ber Gießerei war ben Mit-
arbeitern aufgefallen, daß er viel ins Blaue hineinftarrte
und daß er einmal kalt rauchte. Sonft hatte man nichts
Auffallendes an ihm wahrgenommen. Nachmittags gegen
5 Uhr fam er nach Haufe, um Kaffee zu trinfen. Auch
bier fette er fich mit ftarrem Blick auf einen Stuhl nieber
und ſah, ohne ein Wort zu fprechen, zum Tenfter hinaus.
Im Zimmer befanden fich feine alte Mutter und fein acht»
zehnjähriger Neffe Matthias Schaly und tranken Kaffee.
Bon feinen Kindern waren die beiden jüngften im Zim⸗
mer, das eine faß auf ber Erbe, währen bas andere
im Bett lag. Blöglich rief Schaly aus: „Liebe Mutter,
ih fchlage euch alle tobt.” Die alte Frau erwiberte:
„Lieber Sohn, thue das doch nicht.” Cr aber fpringt
auf, verjchließt eine nach der Straße führende ‘Thür,
folgt dann feiner Mutter in die Küche, wohin fie ge
gangen war, um Taſſen zu fpülen, ergreift dort eine
Kohlenſchaufel und fchlägt mit verfelben die alte Fran
berart auf den Kopf, daß fie tobt nieberftürzt. Dann
wendet er fich gegen feinen Neffen, verjegt auch biefem
zwei wuchtige Schläge auf die Schläfen und ven Hinter-
kopf, ſodaß dieſer gleichfalls zu Boden ftürzt, und fchlägt
dann noch auf ſeine beiden Kinder mit einer zweiten
Kohlenſchaufel los. Mittlerweile hatte ſich der Neffe
Schalh erhoben, ſofort ſtürzte Anton Schalh auf ihn los
und brachte ihm noch eine dritte Verlegung bei. Dann
rief er laut: Hurrah Blut!“ und lief vor die Hausthär.
Eine Studie über mania transitoria. 59
Dort rief er auch den Nachbarn umverſtändliche Worte
zu. Diefe waren inzwijchen aufmerkſam auf bie DVor-
gänge im Haufe geworben, fie hatten zur Polizei gefchickt,
und als diefelbe nach kurzer Zeit anlam, lag Schaly be-
wußtlo® an der Erde. Cine Vernehmung defjelben war
nicht möglich, da er umzurechnungsfähig zu fein ſchien;
er Tieß fich aber ruhig fefleln und im Wagen nach bem
Santonsgefängniß transportiren.
Bei feiner am folgenden Tage vor dem Unterfuchungs-
richter erfolgten Vernehmung machte Schaly den Eindruck
eine8 ruhigen, befonnenen Menſchen. Er gab an, fich
ver That durchaus nicht zu erinnern. Er fei gegen
3 Uhr von ber Arbeit weg nach Haufe gegangen, habe
feine geiftigen Getränfe genofien und er könne durchaus
feinen Grund angeben, weshalb er fi an feiner Mutter
und feinen Kindern vergriffen haben ſollte.
Fünf Tage lang verhielt ſich Schaly ruhig und ver-
ftändig; dann trat bei ihm ein Tobſuchtsanfall ein, welcher
zur Folge hatte, daß er in die Irrenpfleganftalt zu Trier
überführt wurde. Dort kam bie Geiftesfrankheit voll-
ftänbig zum Ausbruch. Der Wahnfinn trat indeß nur
periodiich ein. Während des Anfalls war fein Bewußt⸗
fein getrübt, er war aufgeregt und zu gewaltthätigen
Handlungen geneigt, inbeß wurbe er zu benfelben durch
Hallucinationen angereizt. In dieſem Zuftande fchonte er
feine Kräfte nicht, fein Puls ſchlug fchneller und ſtärker;
jein Kopf wurde wärmer und röthete fih und er war
dann für feine Umgebung im höchſten Maße gefährlich,
Diefe Wahnſinnsperioden verlängerten fich; fie bauerten
fpäter 10—14 Tage, dann trat wieber ein normaler Zu⸗
ftand von längerer Dauer ein. Nach den Anfällen wußte
er nichts von dem während derfelben Erlebten. Er war
in ber freien Zeit, die oft monatelang dauerte, volllommen
60 Eine Stubie über mania transitoria,
Har und bei Bewußtfein und unterzog fich ven ihm auf-
getragenen Arbeiten mit viel Gejchid.
Ungefähr ein Jahr nach der im Wahnfinm begangenen
Ermordung feiner Mutter trat bei Schaly ein neuer
furchtbarer Anfall ein. Er fragte eines Morgens, „ob
feine Familie angefommen fet, er habe noch eine Abrech-
nung mit verjelden. Um die golvene Krone zu erlangen,
müffe noch mehr Blut fließen”. Im feiner äußern Er-
ſcheinung zeigte fich zu gleicher Zeit eine große Verände⸗
rung. Man fah einen Wuthausbruch voraus und iſolirte
ihn. Darauf faß er einige Tage ſprachlos in feiner Zelle;
dann gerieth er in Wuth und zertrümmerte alles, was
fih in ver Zelle vorfand, fogar einen großen Sanbftein.
Nah dem Anfall war er wieder ruhig und verftänbig
und erinnerte fich deſſelben nicht mehr, kurze Zeit darauf
ift er in der Irrenanftalt am 2. Suli 1877 geftorben.
In diefem Falle war gar kein Motiv zu der Ermor-
bung ber Mutter vorhanden. ‘Die begleitenden Umſtände,
bie Verlegung bes Neffen und ber eigenen Finder machte
ed auch dem hinzukommenden Polizeibeamten fofort deut⸗
lich, daß Schaly in einem Anfall von Wahnfinn gehan-
belt habe. Und während der ganzen Unterfuchung bat
niemand daran gezweifelt, daß man es mit einem anne
zu thun Habe, ver für die Folgen feiner in einem Wahn-
finnsanfall begangenen Thaten nicht verantwortlich ei.
Hier folgte auf den erften Anfall, welcher ja alle charalte-
riftiichen Merkmale der mania transitoria an fich trug,
bie plößliche Heftigfeit des Ausbruchs, die furchtbare Ge⸗
waltthätigfeit des Verbrechens, die nachher eintretenve
pollftändige Erinnerungstofigfeit und den fich anfchließen-
ben kritiſchen Schlaf in vollem Umfang zur Geltung
brachte, ſchon nach fünf Tagen ein neuer Wuthanfall.
Die heftigen Anfälle folgten aufeinander und kurz nach
Eine Studie Über mania transitoria. 61
bem letten Anfall, ein Iahr nach dem erjten Auftreten
der Krankheit, ift Schaly geftorben, ohne daß die jpätern
Erfcheinungen noch genauer feitgeftellt oder eine Obduction
ftattgefunden hätte, was gewiß von hohem Intereſſe ge-
wejen wäre.
Ungleich dunkler und fchwieriger lag ver Tall, zu
weichem wir jet übergeben.
Am 1. Juli 1883 ermorbete der Mafchinift Wilhelm
Frenſemeier zu Bochold bei Eſſen feine Ehefrau auf eine
ganz emifegliche Weife. Frenjemeier war am 2. Februar
1836 zu Löhne im Kreife Herford geboren, war zweimal
verheirathet, aus ber erften Ehe war ein Sohn hervor-
gegangen, welcher damals im 23. Lebensjahre ftand; er
batte fich 1867 mit feiner zweiten Frau Joſephine gebo-
renen Neumann verhetrathet, welche Ehe kinderlos ge⸗
blieben war, und bis furz vor ber Ermorbung in ber
glüdklichiten Weife mit ihr gelebt. Er war nie beftraft,
fein ganzes Leben lang ein rubiger, nüchterner Mann
gewefen, hatte einige Zeit vor der That dem Yranntwein-
genuffe gänzlich entfagt, und niemal® waren an ihm
Aeußerungen von Wuth- und eptleptiichen Anfällen zu
Tage getreten.
Einige Wochen vor ber That hatte er in Erfahrung
gebracht, daß feine Frau, welche er jehr liebte, ihn hinter-
gehe und ein Verhältniß mit einem Nachbar angefnüpft
babe. Am 1. Juli bat er mit dem Slempnermeifter
Heufer nach dem Eſſen Bier und Schnaps zufammen ge-
trunlen. Er war nach dem Genuffe mehrfach in, wie es
ſchien, planlojer Weiſe zwijchen ver Werfftatt des Heufer,
ver Zeche, auf welcher er beichäftigt war, und feiner
Wohnung hin⸗ und bergegangen und fchien ven Leuten,
welche ihm begegneten, angetrunfen zu fein. Gegen 61, Uhr
abends kam Frenjemeier in feine Wohnung zurüd, und
62 Eine Studie über mania treansitorie.
ber funfzehnjährige Schmiedegefelle Franz Müller, welcher
jeit etwa ſechs Wochen bei Frenſemeier in Koft war und
fih an jenem Nachmittage zu Haufe befand, fchilvert die
nun folgenven Ereigniffe in nachftehender Weife:
„Segen 6'/, Uhr nachmittags ſaß ich auf meiner
Stube (auf demfelben Stodwert zu ebener Erbe, auf
welchem ver Mord vor ſich ging); als ich den Frenſemeier
fommen und in fein Wohnzimmer gehen hörte. Die Thür
zu dem lestern ftand auf. Frau Frenfemeier war in
demſelben. Letztere fagte zu ihrem Manne: «Ich Dachte,
bu woliteft feinen Schnaps mehr trinfen, bu haft ja heute
boch folchen getrunfen.» Frenſemeier fchrie darauf: «Das
gebt dich nichts an», und ftürzte auf feine Frau los. Als
ich dies hörte, Tief ich aus meiner Stube nach dem Fen⸗
fter der Wohnftube und fab, vom Garten ber in das
Zimmer bineinblidend, wie Frenſemeier feine Fran an
den Kopf fahte und zur Erde warf. Er nahm barauf
einen Stubl und hieb mehreremal auf die am Boden
Liegende los, welche nur einen Schrei ansgeftoßen Hatte,
ben Stuhl zertrümmerte er nnd nahm darauf einen zweiten
Stuhl und ſchlug mit demſelben gleichfall® auf feine Frau
los. Während dieſes Schlagen babe ich Teinen Laut
von Frau Frenſemeier vernommen. Ich babe nicht gejeben,
daß fie biutete, dagegen hörte ich, dag renjemeier beim
Schlagen mit den Stühlen jchunpfte. Sch verftand aber
nicht8 von dem, was er fagte. Ich lief nım durch das
Haus in die andere Stube, um Heinrich (einen gleich-
fall® bei renjemeier im Haufe wohnenden Neffen des⸗
jelben, Heinrich Frenfemeier) zu holen. Der alte Frenje-
meier fam aus ver Wohnftube heraus; ich jah, wie
er in den Keller ging. Aus dem Keller fam er balo
wieder heraus und hatte ein Meffer in ver Hand. Er
ging dann in die Efftube und nahm ans dem bort
Eine Stubie über mania transitoria. 63
ftehenden Tiſch ein Brotmeffer. Dann ging er in die an
die Epftube ftoßende Kammer und holte fich auch aus
biefer ein Meſſer. Bei feiner Rückkehr aus ber Kammer
fam er durch das Zimmer, in welchem ich war. Er fah
mich jo wüthend an, daß ich es mit ver Angit befam
und aus dem Fenfter fprang.”
Die Ausfage des zehnjährigen Heinrich Frenjemeier
ftimmt mit der vorigen völlig überein. Derſelbe bat
vom Garten her durch das offen ſtehende Fenfter den Vor-
fall mit angefehen und hebt nur noch hervor, daß Frenſe⸗
meier feine Frau auf den Bauch getreten babe, ehe er
begann, fie mit den Stublbeinen zu bearbeiten. Außer
ben brei Meffern Hatte Frenſemeier noch eine Schippe
geholt und mit den Mefjern und ver Schippe die da⸗
liegende Frau weiter zerfegt.
Die beiden Knaben Tiefen zu einem Nachbar Otten,
um ihn von dem Vorfall in Kenntniß zu ſetzen. Otten
fhidte fie weiter zur Polizei; er felbft lief ſofort an ven
Ort der That und hörte fchon zehn Schritte vom Hauſe
entfernt wuchtige Schläge fallen und den Frenſemeier
fohreien. ‘Der Zeuge fährt fort:
„Ich fah durch das offene Fenſter die Frau des Frenſe⸗
meier auf ber Erbe liegen, das Geſicht über und über
mit Blut bedeckt. Frenſemeier ftand mit dem Rücken gegen
die Thür und hieb auf feine Frau los. Was er in ber
Hand hatte, konnte ich nicht erkennen; es war mir jedoch,
als hörte ich die Stücke umberfliegen. Ich rief dem Frenſe⸗
meier zu: «Frenſemeier, Frenjemeier!» dieſer antwortete
jedoch nicht, jonvdern blieb am Wühlen wie ein wü—
thendes Thier. Die Frau rührte fi nicht und gab
auch feinen Ton von fi.”
Frau Scharpf, welche bei Frenſemeier zur Miethe
wohnt, ſah ihn gegen 7 Uhr von der Zeche in feine
64 Eine Studie über mania transitoria.
Wohnung gehen. Er kam an ihrem Zimmer vorbei und
ſchien ihr angetrunten zu fen. „Denn“, fagte fie, „er
ging vorüber, ohne zu grüßen, was er fonft nie ver-
fäumte, und ſah mich ftier an. Er begab ſich in feine
Wohnung, und ich vernahm gleich darauf aus verjelben
einen furchtbaren Schrei der Frau Frenjemeier. Um mich
nach der Urfache dieſes Schreieß zu erkundigen, begab ich
mich vor die Thür, ging aber gleich wieber zurüd, als
ih Trenfemeier mit biutender Hand iu feiner Hausthür
iteben ſah. Dabei hatte er einen Gegenitanp in ber
Hand, welcher mir eine Schippe zu fein fchten, fchlug
damit bin und ber und tobte dabei. Während bes Zu-
rückgehens ſah ich noch, daß fich Frenſemeier in fein Haus
zurüdzog, und hörte unmittelbar darauf in ber Frenſe⸗
meierihen Wohnung Schläge fallen, auch babei toben
von feiten bes Frenſemeier. Ich z0g mich in meine
Wohnung zurüd und hörte bald darauf, daß Frenfemeier
feine Frau erichlagen habe.”
Kurz nachdem auch der Zeuge Otten ſich aus Furcht
zurüdgezogen hatte, langte die von ben beiden Knaben
gerufene Polizei an. Weber ven Anblid, welcher fich den
Beamten bot, handelt das nachitehende Protokoll, welches
den Eindrud am unmittelbarften wiebergibt:
„Die Wohnftube zu der Frenſemeier'ſchen Wohnung
war zugeflinkt, jedoch nicht verſchloſſen. Beim Oeffnen
derſelben lag bie Leiche der Frau Frenjemeier auf dem
Rüden, mit dem Kopfe nach der Thür inmitten einer
großen Blutlache. Vom Kopfe derſelben war nur noch
ber Unterkiefer und ein Theil des Hinterfopfes vorhanden.
Das Gehirn und die Schäbelfnochen lagen in der Stube
umber. Frenſemeier felbft lag über der Leiche und zwar
mit dem Kopf auf der Bruft derfelben; ven linfen Arm
hatte er in ver ZTaillengegend um die Leiche gefchlumgen.
Eine Studie über mania transitoria. 65
In der rechten Hand bielt er ein Meſſer; feine Kleider
waren über und über mit Blut und Gehirntheilen behaftet.
In unmittelbarer Nähe der Leiche lagen die Fragmente
zweier Stühle, eine Schippe und vier Meffer, beziehungs-
weiſe bie Stüde derſelben.
‚„Srenjemeier wurde von ber Leiche heruntergeriffen
und ihm das Meffer aus der Hand genommen. An feiner
rechten Hand hatte er unbedeutende Schnittwunden. Er
athmete regelmäßig, das Zwideln einer gejchloffenen
Augen zeigte, daß fein Zuſtand keineswegs ein gefähr-
beter war. Er wurde aus feiner Wohnftube auf ven
Hausflur gebracht, dort feiner befehmuzten Kleider ent-
ledigt und, nachdem er mit andern verjehen, auf einem
Wagen nach dem Polizeigefängnig gebracht.”
So weit das Protofoll. Etwas ausführlicher in den
Einzelheiten bekundet der Polizeicommiſſar Meyer bei
jeiner fpätern Vernehmung:
„Beim Eintreten in bie Frenſemeier'ſche Wohnung bot
fih mir ein entjeglicher Anblid dar. Ich fand nämlich
Frau Frenſemeier mit zerfcehmettertem Kopf auf der Erbe
liegend, von dem Kopf war überhaupt nur ein Theil
des Hinterfopfes und des Unterkiefers vorhanden. Die
Leiche lag auf dem Rüden mit bem Kopf nach ver
Stubenthür. Der Fußboden war auf ber Stelle, wo bie
Leiche Tag, mit Blut getränft, es lagen Gebirnftüde
jowie Stüde von dem Schädelknochen in der Stube um⸗
ber. Der Wilhelm Frenfemeier lag neben ver Leiche, und
hatte ihn der Bolizeifergeant Böhle, welcher einige Augen-
blide vor mir gefommen war, noch mit einem Meffer in
der Hand auf ver Leiche liegend betroffen. Außer dem
von Böhke dem Frenfemeier weggenommenen Mefjer lagen
noch drei andere Mefjer, eine Schippe und die Stüde
von zwei zertrümmerten Stühlen neben ber Leiche. Die
XXII.
66 Eine Studie über mania transitoria.
Kleider des Frenfemeier waren mit Blut und Gehim-
ftüden behaftet. Die Augen hatte er gejchloffen, doch
athmete er regelmäßig, gab aber auf an ihn gerid-
tete Fragen feine Antwort. Er wurde. aus ber Wohn-
ftube in bie daranftoßende Stube gezogen, dort jeiner
mit Blut getränften Kleider entlebigt, und nachbem er
mit andern Kleidungsſtücken verjehen war, auf eimem
Wagen zum Polizeigefängniß gebracht. Während ver Ent-
Heidung öffnete er die Augen, fchloß fie aber gleich wieber
und gab auch jegt auf an ihm gerichtete Fragen feine
Antwort. Webrigens Hatte er Gefühl, indem er liegen,
welche fich anf die Schnittiwunden feiner rechten Hand
jegten, abwehrte. Daß er fi in einem angetrunfenen
Zuftande befunden, kann ich mit Beftimmtheit nicht jagen,
boch kam es mir fo vor, als wenn er nicht nüchtern ge-
weien wäre. Nachdem er in das Polizeigefängniß ab-
geführt war, Habe ich ihn an vemfelben Abend noch einige
mal bejucht. Bei ven erjten Befuchen lag er ftill dahin
und gab auf Anrufen feine Antwort, hatte auch noch die
Augen gefchloffen. Als ich ihn an jenem Abend zum
legten mal befuchte und anvebete, öffnete er bie Augen.
Ich fragte ihn, ob er denn wife, was er gethan habe,
worauf er den Kopf fchüttelte. Auf meine Mittheilung,
daß er feine Frau erfchlagen habe, Inirfchte er mit ben
Zähnen, gab indeß feine weitere Antwort.”
Der zuerft erjchienene Polizeifergeant Boͤhle bielt
Trenfemeier für betrunfen, und „er war“, wie der Zeuge
jagt, „jogar in einem bewußtlofen Zuftande, da er eben
alles über fich ergeben ließ, ohne einen Laut von fich zu
geben; nur blinferte er ab und zu mit den Augenlidern“.
Dagegen fchilvert die Zeugin Ehefrau Göbel Frenſemeier's
Zuftand in folgender Weife: „Er lag auf der Leiche, ſodaß
er mit feinem Kopfe auf den Füßen ver Frau lag.
Eine Studie über mania transitoria. 67
hatte ein Meſſer in ber Hand, die Arme und Beine weit
anseinanbergefpreizt, und er zudte dabei mit ben Händen
und Beinen, als wenn er am Verenden wäre. Ich
glaubte, er würbe auch fterben. Während ich vorftehende
Wahrnehmung machte, kam die Polizei und Frenſemeier
wurbe von ber Leiche berimtergezogen.”
Bon dem Protokoll über die am 3. Juli vorgenom⸗
mene Obduction ift nur der Paffus über ven Befund
bes Kopfes von Intereſſe. „Derfelbe bilvete nur eine
unförmliche Maſſe, an ver fich einige ſchwarzbraune Haar-
büfchel, etwas Kopfhaut und vielfach zertrümmerte Theile
bes Schaädelknochens erfennen Tiefen. Das rechte Ohr
wie auch das linke war vorhanden, die Deffnungen ber
Ohrgänge waren leer, ber Mund ließ ſich noch er-
kennen, jedoch keine Mundhöhle mehr. &8 fand fich noch
ein Theil des linken Unterkiefer vor. Bon einer Nafe
oder überhaupt von einer Gefichtöfermation war nichts
mebr zu erkennen.”
Außerdem wurben noch verfchiebene Schnittwunden an
der DBruft und dem Unterleibe feftgeftell. Die Aerzte
gaben ihr vorläufiges Gutachten dahin ab, daß der Tod
der Ehefrau Frenſemeier infolge VBerblutung aus den ver»
fchiedenen Wunden eingetreten jet.
Auf Grund biefes durch die Zeugenausfagen feft-
gefteliten Thatbeftandes wurde bie Vorunterſuchung wegen
Mordes gegen Ärenfemeier eröffnet. Bei feiner erſten
verantwortlichen Vernehmung erklärte er, als ihm bie
öffentliche Anklage vorgehalten wurde:
„Ich bin mir der That nicht bewußt. Ich bin mit
meiner Frau feit dem Jahre 1867 verheirathet gewefen
und habe mit bverfelben bis vor -Jahresfrift im beften
Einvernehmen gelebt. Im vergangenen Jahre wurden mir
gegenüber burch andere Perſonen Aeußerungen laut, welche
5%
68 Eine Studie über mania transitoria.
mir die Anficht aufprängten, daß meine Frau mir untreu
fei. Ich merkte fehr bald, daß ein mit mir auf der Zeche
Wolfsbank befchäftigter Schmievemeifter fich in auffälliger
Weile um meine Frau kümmerte, und hatte auch nicht
verfehlt, meiner Yrau hierüber Vorhaltungen zu machen.
Sie ftellte ein Verhältniß mit vemfelben entfchieden in
Abrede, wodurch ich mich wieder beruhigte. Mitte März
biejed Jahres wurbe mir doch in ganz beftimmter Weile
mitgetheilt, daß zwilchen meiner Frau und ihm ein Ber:
hältniß bejtände, und zwar ein jehr intime, es wurbe
mir gleichzeitig der Rath gegeben, einmal aufzupaffen,
um babinterzufommen. Lebteres that ich auch, und als
ih in der Woche vor Oftern eined Tages den Schmiede:
meijter beobachtete, ſah ich ihn mittags nicht auf dem ge
wöhnlichen Wege, ſondern quer über den Alchenhaufen
weg auf meine Wohnung zugehen. Ich verfolgte ihn
mit den Augen und ſah ferner, wie er bie Einfriedigung
bes Zechenplatzes überftieg und von dem Wege aus, ber
an dem Coaksofen vorbeiführt, in mein Geböft trat.
Meine Frau mußte ihn gejeben haben, da ich genau be
obachten konnte, wie bie beiden fich durch Zeichen ver-
jtändigten. Er ging darauf in mein Haus und verweilte
bort wohl eine halbe Stunde. Nach diefer Zeit ſah id
ihn im entgegengefetter Richtung mein Gehöft verlafien.
Ich Hatte Dienft an der Mafchine und konnte ihm infolge
beffen nicht folgen. Erft eine Viertelftunde nachher ging
ih in meine Wohnung. Ich fragte meine Frau, ob et
bort gewefen fei, fie ftellte e8 jeboch in Abrebe. Ich
jtellte aber durch Nachfrage bei ven Nachbarn feit, daß
er wirklich in meinem Haufe gewefen war. ch machte
nun meiner rau Vorftellungen barüber, daß fie mir
nicht die Wahrheit gejagt babe. Erft am andern Tage
gab fie dieſes zu, jedoch fei er nur im Vorübergehen dort
Eine Stubie über mania transitoria. 69
gewefen und babe ihr gefagt, daß er bei einem Nachbar
ein Wafchfaß abholen wolle. Ich war hierauf immer
noch im Zweifel, ob die mir binfichtlich dieſes Verhält⸗
nifjes gemachten Mittheilungen auf Wahrheit berubten,
nahm aber nochmals Gelegenheit, meiner Frau ernftbafte
Borftellungen zu machen und fie zu bitten, im Intereſſe
unjers guten Rufs ben Verkehr mit dem Schmiebemeijter
zu meiden. Sie verfprach es mir auch und theilte mir
eines Tags mit, daß fie dem Schmienemeifter gejagt babe,
er möge fie in Ruhe laffen und nicht mehr in unfer Haus
fommen. Einige Tage nachher machte ich indeß wiederum
Wahrnehmungen, die mir darüber beftimmte Anhalts⸗
punkte gaben, daß meine Frau troß alledem pas Ver-
hälmiß fortfeßte. Meine Frau follte eines Tags vor⸗
mittags nach Effen fahren, um bort bei ber Feuerver⸗
fiherung etwas zu beforgen. Ich Hatte gemerft, daß ber
Schmied mittags von ber Zeche ging und feine Sonntags⸗
Heider trug. Ich vermutbete, daß er vorhatte, mit meiner
Frau zufanmen nach Effen zu reifen. Als ich nach Haufe
fam, tbeilte mir meine Frau mit, fie babe vormittags
ben Weg nicht machen können und beabfichtige, dieſes am
Nachmittag zu thun. Sch verbot meiner Frau nun, nad)
Efien zu geben.
„Einige Tage nachher: ſah ich meine Frau ein Fleines
Padethen unter einen in meiner Laube lagernden Holz⸗
haufen ſtecken. Ich ging bin, nahm das Padetchen und
widelte e8 auf. In vemfelben befanden fich zwei Eier
und ein Briefchen. Daffelbe lautete ungefähr folgenver-
maßen: «Mein lieber Schag, nimm es mir nicht übel,
daß ich damals nicht mit nach Effen kommen konnte.
Wenn bu nächftens nachts zu mir kommen willft, fo paſſe
auf, daß Wilhelm bei der Maſchine ift.» Nunmehr batte
ich Gewißheit. Die infolge veffen mit meiner Frau ftatt«
70 Eine Studie über mania transitoria.
gehabte Scene endete damit, daß fie mir auf Verlangen
das Verſprechen gab, in Gegenwart unfers Paſtors zu
betheuern, daß fie in Zukunft ihren Lebenswanbel änbern
und mir niemals Veranlaffung zur Ciferfucht geben
wollte. Solches ift geſchehen, der Paftor ift noch im Be-
fige des von mir gefundenen Briefchene.
„Die Gewißheit, daß meine Frau mich hintergangen,
benahm mir allen meinen Muth und bie Luft am Fa⸗
miltenleben. In dem Schmied ſah ich den Urheber meines
Unglücks, ich batte mir vorgenommen, ihm bei nächlter
Gelegenheit varüber Vorftellungen zu machen. Am lebten
Grünen Donnerstag fand fih dazu Gelegenheit. Gr
juchte mich im der Mafchinenballe auf und fagte zu mir,
was das für Nebereien feien, vie ich über ihn verbreitet
habe; er habe gehört, daß ich zum Abendmahl gehen
wolle, ob ich mir biefes auch wohl überlegt hätte. Ich
erwiberte ihm barauf, daß ich es nicht nöthiger hätte wie
er und wünſchen müßte, daß er in Zulunft meine Häus-
lichkeit meide. Der Schmied ftellte in Abrede, daß er ein
Verhältniß mit meiner Frau gehabt hätte. Dabei blieb e®.
„Am Morgen des 1. Juli begab ich mich um 5 Uhr
zur Zeche, um meinen vierundziwanzigftündigen Dienft
daſelbſt anzutreten. Gegen 1 Uhr mittags ging ich nad
Haufe, um mir mein Effen zu holen. Am Nachmittag
gegen 3 Uhr begab ich mich mit dem Klempnermeifter
ber Zeche in deſſen Werfftätte, wofelbft wir uns durch
ben Zechenwärter zwei Liter Bier binbringen ließen. Der
Klempnermeifter Heufer hatte auch noch ungefähr ein
halbes Liter Schnaps in feiner Werfftätte und Haben wir
zwiſchendurch auch Schnaps getrunfen. Als dieſer Vorrath
zu Ende war, habe ich zunächſt beim Wirth Gottichalt
ein halbes Liter Schnaps gegen Bons geholt, und als
wir dieſes Duantum aufgezehrt hatten, wurde nochmals
Eine Studie über mania transitoria. 71
ein halbes Liter Schnaps bei Gottichall gegen Bons ge-
holt. In der Zwifchenzeit wurbe mir von dem Klempner-
meifter erzählt, daß der Fuhrhauer Kiefernagel, als er
eined Abends mit feiner Frau an dem Holzmagazin ber
Zeche vorübergegangen fei, gejeben babe, wie der Schmiebe-
meifter auf dem Holzplatze ver Zeche mit meiner Frau
in zärtlicher Weife verfehrt habe. Der Klempnermeifter
hob hervor, daß es ihm leibthäte, dieſes jagen zu müfjen,
die Sache läge indeſſen fo, daß fie meinerſeits geändert
werben müſſe. Dierüber wurde ich fo erregt, daß ich mir
bornabm, mic an dem Schmied zu vergreifen. Es iüft
mir nur erinnerlich, daß ich denſelben geftern Mittag
(die Vernebmung fand am 2. Juli ftatt) bin und wieder
auf dem Zechenplate gejeben babe. Ich kann mich nicht
entfinnen, in meiner Wohnung gewejen zu fein. Ich
weiß überhaupt von dem fpäter Vorgefallenen nicht das
Geringfte wiederzugeben, pa ich vollſtändig befinnungslos
geweien fein muß. ‘Die hier vorliegenden, mit Blut über
und über behafteten Gegenftände, und zwar bie Frag⸗
mente ziveier Stühle, eine Grabichippe und vier Meſſer,
beziehungsweife Fragmente berjelben erkenne ich als mein
Eigenthum an. Diefelben befanven fich geftern Morgen
bei meinem Fortgange nach ver Zeche in meiner Wohnung.
Die Meſſer find, wie ich glaube, im Keller gewejen. In
der neben dem Schlafzimmer befinplichen Kammer hat
fi eine Scheide mit mehrern Mefjern befunden. Ich
gebrauchte dieſelben zum Abfchlachten von Pferben und
Schweinen. Auf welche Weife ich die Schnittwunven an
meiner Hand befommen habe, weiß ich nicht.“
Diefer Auslaffung gemäß hat fich Frenjemeier bei all
feinen VBernehmungen ausgeſprochen. Er will nachmittags
im Zufammenfein mit Heufer das Bewußtſein verloren
und es erft im Polizeigefängniß morgens wiedererlangt
2 Eine Studie über mania transitoria.
haben. Dort hat er dann, wie er behauptet, zu feinem
großen Erftaunen gehört, daß er beichulpigt werbe, feine
Ehefrau ermordet zu haben, und fagt, er müſſe dieſe Be⸗
ſchuldigung ja als richtig annehmen, obwol er fih biefer
Thatſachen in keiner Weife mehr erinnere.
Die Unterfuhung ging augenfcheinlic von der am
nächften liegenden Annahme aus, daß dieſes abfolute Nicht-
erinnern gelogen fei. Man nahm an, daß Frenſemeier
in der Nüchternbeit den Plan zur Ermordung feiner Frau
gefaßt babe, als er die Untreue verfelben durch Heufer
erfahren, und daß er durch den Genuß ver alfoholiichen
Getränke noch mehr gereizt und in feinem Vorhaben be-
ftärkt, aber durch viefelben feiner freien Willensbeftimmung
burchaus nicht beraubt geweſen fei, daß er fich vielleicht
auh „Muth zu ſeiner graufigen That getrumten” babe.
Die Unterfuchung Hatte ſich eigentlich nur auf die Ereig-
niffe des Nachmittags und das Erwachen des Frenjemeter
erftredt; denn für die Annahme einer Geiftesftärung ſchien
nah dem Weſen und dem ganzen Vorleben des An-
gejchufpigten feine Veranlaffung vorzultegen.
Heufer, mit welchem ver Angeſchuldigte die geiftigen
Setränfe zufammen genoffen hatte, gibt an: „Als Frenje-
meier gegen 3 Uhr an meiner Werfftätte auf ber Zeche
vorbeikam, fragte ich ihn ſcherzweiſe, ob er nicht ein gutes
Frühſtück habe. Prenfemeter kam barauf in meine Werk⸗
ftätte und Tieß burch den Tageswärter ber Zeche bei dem
Wirth Gottfchalf zwei Liter Bier holen. Nachdem wir
bie zwei Liter ausgetrunken, wurbe noch Schnaps geholt.
Im Gefpräh mit Frenſemeier Elagte dieſer über feine
unglüdlichen Bamilienverhältniffe und meinte, baß ber
Schmied mit feiner Frau etwas zu thun habe und an
feinem Familienunglück ſchuld fei. Er feufzte dabei mit-
unter tief auf und lief unruhig in der Werfftätte auf
Eine Studie über mania transitoria. 13
und ab. Er bob befonbers hervor, daß er in guten Ver⸗
hältniffen lebe und gut Ieben könne, wenn er nur bad
Unglüd mit feiner Frau nicht hätte. Nachdem er längere
Zeit davon geiprochen, erwähnte ich, daß auch ich davon
gehört hätte, und fagte ihm, daß der Fuhrhauer Kiefernagel
mir eines Tages gefagt habe, daß ich den Umgang mit
dem Schmiedemeifter meiden follte, da biefer einen fchlechten
Auf babe und mit der Frau Frenfemeier ein intimes
Berhältnig Habe. Unter anderm habe mir Kiefernagel
gejagt, daß er ſich vor Furzem vor feiner Frau und feinem
Rinde babe ſchämen müſſen; denn fie hätten zufammen
gefehen, wie derſelbe unter einem Zaun hindurch zu Frau
Frenſemeier gefrochen fei. Frenſemeier erwiderte darauf,
daß der Schmied fich ftetd als ein guter Freund von ihm
gerirt habe und trotzdem ftelle er feiner Frau bei Zage
und bei Nacht nah. Als er fich gegen 4 Uhr von mir
entfernte, war er nicht betrunfen. Meines Erachtens
fonnte er von bem Quantum, welches er bei mir genofjen
hat, auch nicht betrunken werben; denn“ (fügt der Zeuge
bei einer fpätern Gelegenheit Hinzu) „ver Tageswärter
Brüning hat noch mit getrunfen. Frenfemeier kam, nach⸗
bem er fortgegangen war, und zwar etwa nach fünf
Minuten wieder in meine Werfftätte, verließ dieſelbe aber
alsbald wieder, ohne ein Wort zu fagen.”
Der Zeuge ftellte in Abrebe, Frenſemeier mitgeteilt
zu haben, daß Kiefernagel ben vertraten Verkehr zwischen
dem Schmied und Frau TFrenjemeier beobachtet habe, und
dies ift auch durch die Vernehmung des Kiefernagel und
feiner Ehefrau thatſächlich als unrichtig feftgeftellt.
Nachdem Trenfemeier biefes fogenannte „Frühſtück“
eingenommen hatte, begab er fich in feine Wohnung.
Dort befanden fich die Eheleute Wolff aus Styrum, um
wegen des Koſtgeldes des Franz Müller, eine Sohnes
74 Eine Studie über mania transitoria.
ber Frau Wolff aus erfter Ehe, welcher ſeit ſechs Wochen
bet renfemeier wohnte, mit demſelben zu verhandeln.
Sie waren gegen 3 Uhr gekommen, trafen aber nur Frau
Frenſemeier an. „Dieſelbe fprach fich“, wie Frau Wolff
befundet, „ſehr erfreut darüber aus, daß ihr Mann Das
Dranntweintrinten aufgegeben habe. Kaum Hatte fie diefe
Aeußerung gemacht, als ihr Dann in bie Stube trat;
berfelbe ftutte, al er mich und meinen Mann dort ſah,
und es fchien mir fo, als werm er angetrumlfen geweſen
wäre. Sch theilte ihm den Zweck unſers Kommens mit,
worauf er entgegnete, ich möchte bie Angelegenheit mit
jeiner Frau befprechen, weil er feine Zeit habe und zur
Zeche zurüd müffe Auch ging er fogleich wieder fort.
Bielleicht eine Stunde fpäter brachte Frau Frenſemeier
ihrem Mann ven Kaffee zur Zeche und ich begleitete
fie dorthin. Wir trafen ihn im Mafchinenraume an,
er war an ber Mafchine thätig. Er war ganz guter
Dinge, zeigte mir die einzelnen Mafchinentheile und be⸗
ſchrieb mir dieſelben; dabei ging er auf und ab, trank
den ihm überbrachten Kaffee, ich ſah, als er hin⸗ und
herging, daß er wadelte, was ich dem Umſtande zufchrieb,
baß er betrumfen fei. Uebrigens fprach er ganz vernünftig,
jodaß ich annehmen muß, daß er feiner Sinne vollftänbig
mächtig war. Unter anderm fagte er, wenn ich für meinen
Sohn 30 Mark Koftgeld monatlich zahlen wolle, Könnte
er, folange er wollte, bei ihm bleiben. Auch fragte er
mich, ob ich hiermit zufrieden fei, was ich bejahte. Che
ich mit feiner Frau wieber fortging, fuchte er ein Körbchen
Drennholz für dieſelbe zujammen und fagte zu ihr unter
Streiheln der Baden: «Ich habe doch eine gute Frau.»
Geiftige Getränfe habe ich in dem Mafchinenraume nicht
ftehen fehen. Ich blieb mit meinem Manne noch bie
gegen 6’), Uhr in ver Frenfemeier’ichen Wohnung,
Eine Stubie über mania transitoria. 75
die Frau Frenjemeier begleitete uns vor bie Thür,
ging aber dann gleih in das Haus zurüd. Ich war
mit meinem Manne erft wenige Schritte gegangen, als
ich Frenſemeier eiligen Schrittes ohne Kopfbevedung von
ber Zeche kommen fah. Ich blieb ftehen, weil mir dieſes
auffiel, und fragte den Frenſemeier, ald er an uns
herangekommen war, was denn paffirt fei. Hierauf ſchlug
er mit der Hand vor ſeine Bruſt und machte dabei die
Bemerkung: «Hier ſitzt etwas, was ich niemand ſagen
fann.» Dann drückte er meine Hand und eilte auf ſeine
Wohnung zu, während ich mit meinem Manne weiter
ging. Augenjcheinlih war Frenjemeier in großer Anf-
regung, als er zu feiner Wohnung ging.”
Die beiden Knaben Franz Müller und Heinrich Frenfe-
meier befunden noch, daß Trenfemeier zwijchen 5 und
6 Uhr von der Zeche nach Haufe gefommen fei. Sie
feien im Ziegenftalle damit bejchäftigt gewejen, die Ziegen
loszubinden, und Frenfemeier fei in den Stall gelommen
und habe vie beiven Knaben herausgejagt. Sie willen
nicht anzugeben, ob Frenſemeier zu biefer Zeit auch in
feiner Wohnung gewejen ift.
Nachdem Frenfemeier in das Polizeigefängnig abgeführt
war, fehlief er rubig weiter. Der Bolizeidiener, welchen
jeine Bewachung aufgetragen war, hat ihn in feiner Zelle
auf Anweilung des Commiſſars jede DViertelftunde befucht
und traf ihn ruhig ſchlummernd an. ‚Er öffnete erft
feine Augen“, jagt der Polizist aus, „als ich ihn gegen
31/, Uhr morgens abermals anrief. Ich fragte ihn dann,
wie er bierher fomme, worauf er zur Antwort gab: «Io
bin ich denn hier?» Auf meine Entgegnung, daß er fich
im Gefängniß befinde, bemerkte er, er wiſſe nicht, weshalb
er verhaftet fei, er werde wol Skandal gemacht haben.
Dabei brachte er die Rede auf feine Frau und erzählte,
76 Eine Stubie über mania transitoria.
baß biejelbe feit längerer Zeit ein unerlaubtes Verhältniß
mit dem Schmied ımterhalte. Er habe fie wieberbelt auf-
gefordert, das Verhältniß aufzugeben, boch ohne Erfolg.
Trotzdem habe er fih auf Bitten feiner Frau bereit er-
klärt, ihr zu verzeihen, wenn fie dem Pfarrer gegenüber
das Verfprechen abgäbe, von dem Schmieb abzufaffen;
fie babe dies Verfprechen gegeben, aber gleichfall® ohne
Erfolg. Es Habe ihm nämlih am Nachmittag vorher
ber Klempnermeifter Heuſer erzählt, wie er gehört habe, daß
jeine Frau wieder mit dem Schmied betroffen jei. Weber
biefe Mittbeilung fei er fo erregt geworben, daß er fich
betrunfen habe und nicht wiſſe, was dann paffirt fei.
Nur wollte er fich entfinnen, daß er von ber Zeche nach
Haufe gegangen fei. Daß er feine Frau mishandelt Habe,
jagte er nicht, wohl aber, daß er dem Schmieb das Fell
vollichlagen werde, wenn er ihn gelegentlich treffe. Ein
weiteres habe ich von Frenfemeier nicht erfahren, ich
babe ihm auch nicht gefagt, daß er feine Frau mishandelt
oder getöbtet habe.‘
Um 7 Uhr kam ber Polizeicommiffar in feine Zelle
und nahm die oben mitgetheilte erfchöpfende Verhandlung
mit Srenfemeier auf. Ergänzend deponirt der Commiffar,
baß derſelbe fich durchaus ber Vorgänge jened® Nadh-
mittags nicht Babe erinnern wollen und fogar beftritten
babe, zu wiflen, baß er von der Zeche nach Haufe ger
gangen fei. „Ferner erzählte er“, fette der Commiſſar
Hinzu, „baß er vor der ihm von Heufer gewordenen Mit-
theilung ben Schmied auf ver Zeche babe herumgehen
feben und dabei den Entichluß gefaßt habe, bemfelben
dranzugeben.”
Die von Frau Frenfemeter an ihren Liebhaber ge-
ichriebenen und von Frenſemeier felbft aufgefangenen und
dem Paſtor übergebenen Zettel wurden von bem letztern
Eine Studie Über mania transitoria. 77
eingefordert und ftimmten mit Frenjemeier’s Ausjage
überein. Die verfchievenen Nachbarn und von Trenfe-
meier benannten Perſonen wurden über ihre Beobachtungen
binfichtfich eines Verhältnifjes zwifchen vem Schmied und
rau Frenſemeier befragt, und es wurbe feftgeftellt, daß
allerdings von einer Ueberraſchung in flagranti nicht bie
Rede war, daß aber das ganze Treiben der beiden ber
Nachbarſchaft anftößig geworben war.
Diejed war das Material, auf Grund deſſen Trenje-
‚meier wegen Todtſchlags feiner Ehefrau angeflagt und
da® Hauptverfabren vor dem Schwurgericht eröffnet
wurde. Erſt port wurde von ver Vertheidigung bie Frage
aufgetvorfen, ob Frenſemeier zurechnungsfähig geweſen jei.
Und in ver Schwurgerichtsfigung zu Eſſen vom 19. October
1883 wurde der Beichluß gefaßt: die Familienverhält⸗
niſſe Frenſemeier's feftzuftellen, namentlich welche Ver⸗
häftniffe den Selbſtmord feines Vaters veranlapt hätten,
einen eingehenden Obductionsbericht von dem Kreisphyſi⸗
kus einzuziehen und ein Gutachten über ven Gemüths⸗
zuftand des Frenſemeier und die Frage von dem Director
der Provinzialbeilanftalt zu Grafenberg Dr. Belman ein-
zufordern, ob renfemeier zur Zeit ber That zurech⸗
nungsfähig gewefen fei.
Hinfichtlich der erjten Frage wurde nichts Bemerkens⸗
werthes feftgeftellt. Es wurde nur noch mehr Har gelegt,
was allerdings fchon ziemlich feitftand, daß Frenſemeier
ftet8 ein zuverläffiger, ordentlicher und nüchterner Menſch
geweſen war und fich nie Symptome geiftiger Krankheit
bei ihm gezeigt hatten. Sein Vater hatte fi im Jahre
1842 erhängt, trotzdem er in ebelichem Frieden und ge-
ordneten Verhältniſſen lebte Ein Grund bes Selbit-
mords war nicht aufzufinden und von geiftigen Std»
rungen war auch bei ihm nichts befannt geworden.
78 Eine Studie über mania transitoria.
Der von bem Kreisphufilus nnd Kreiswundarzt er-
ftattete Obductionsbericht faßt das Thatfächliche aus den
Zeugenausfagen zufammen, ftellt die bis zum 1. Juli
1883 vorhandene förperliche und geiftige Geſundheit des
Frenſemeier feinem ganzen Vorleben nach und ven Zeu⸗
genausfagen gemäß feft und geht dam auf den Leichen-
befunb über. Nach dem Bericht, welcher fich Hierin auf
ben Xeichenbefund und die Ausfagen ber Zeugen Müller
und Srenfemeier ftügt, hat ber Unglückliche zunächft feiner
Frau mit dem Stuhlbeine die töblichen DVerlegungen am
Hinterkopf beigebracht und dann mit einem andern wuch-
tigen Inftrument, als welches die von den Zeugen ge-
nannte Schippe angenommen wird, eine großartige Zer-
trümmerung bes Halswirbels herbeigeführt. Durch dieſe
Verlegungen ift der Tod ber Ehefrau Frenfemeier herbei-
geführt. Dagegen find bie vielfachen Verwundungen mit
ben Meffern an der Bruft, an ven Schultern, am Ober-
arm, am Elnbogen und auf dem Rüden ber Frenſemeier
erſt beigebracht, als fie bereit® geftorben war. Dies geht
baraus hervor, daß die Wunden mit glatten Rändern,
welche durch die Mefferftiche zugefügt find, nicht mehr
biutumterlaufen waren, alfo nach ber durch die Zertrüm⸗
merung des Halſes herbeigeführten Blutentleerung ent-
ftanden find.
Frenſemeier bat alfo erft nach dem Tode der Fran
bie Meſſer berbeigeholt und bie Leiche zerfetzt, während
ber Anblid des Todes fonft auf die erregteften und
toheften Gemüther verfühnenb und berubigenp, in ſolchen
Tällen auch erichrediend wirkt und bei dem Berbrecher,
welcher bie unmittelbare Folge feiner That vor fich ſieht,
Reue und Angftgefühl hervorruft.
Das Gutachten des Dr. Pelman theilen wir in an⸗
näbernder Vollſtändigkeit mit, weil ber bekannte Pfychia-
Eine Stubie über mania transitoria. 79
trifer fich wiederholt mit Frenfemeier unterrevet hat und
das Gutachten ven Eindruck des Perfönlichen, Unmittel-
baren am beften wiedergibt.
Das Gutachten geht unter Beifeitelaffung des körper⸗
lichen Zuftandes fofort auf den Seelenzuftand und bie
Zurechnungsfähigkeit des Frenſemeier über und hebt her-
vor, daß bie Unterſuchung in biefer Beziehung eine ganz
bejondere Echwierigfeit habe, weil das Hauptobject, der
Angellagte felbft, nur ein negatives Reſultat ergebe.
Dann führt Belman fort:
„Frenſemeier ift zur Zeit nicht geifteöfrant, und nichte
in feinem Verhalten feit feiner Inhaftnahme gibt une
einen Anhaltspunkt dafür an die Hand, an feiner ©eiftes-
gefunbheit zu zweifeln.
„Ebenfo wenig bat fich aus feinem frühern Leben etwas
ergeben, woraus fich früher zu irgendeiner Zeit Geiftes-
ftörung bei ihm annehmen Tiefe. Er ift fonach weber
bor noch nach ber den Gegenftand der Anſchuldigung
bildenden That erweislich geiftesfrant gewefen.
„Iſt es nun wahr, ober, da die abjolute Wahrheit der
Natur der Sache nach wohl kaum zu beweifen jein wird,
ift e8 zum minbeften wahrfcheinlich, wenn er behauptet,
daß er von ber Zeit der That und von biefer felbft nicht
die mindefte Erinnerung zurüdbehalten babe?
„oder, um bie Frage birect auf das wiſſenſchaft⸗
fihe Gebiet berüberzuführen, gibt es derartige Zu-
ftände, wo bei vor» und nachher geiftig Gejunden An⸗
fälle der Bewußtlofigkeit eintreten, welche feine Erinne-
rung zurücklaſſen und in denen gleichwohl gewaltthätige
und anfcheinend bewußte Handlungen verübt werben
können?
„Und wenn e8 derartige Zuftände wirklich gibt, laſſen
fih alsdann Anhaltspunkte dafür gewinnen, daß fich
80 Eine Studie über mania transitoria.
Srenfemeier in einem folchen befunden und feine That
darin begangen bat?“
gebt geht das Gutachten auf die Erdrterungen von
Krafft-Ebing ein und theilt das, was berjelbe über ma-
nia transitoria jagt, wörtlih mit. Dann fährt Pel-
man fort:
„Auf Grund ber vorftehenden Angaben fünnen wir
demnach. das Vorkommen berartiger Bewußtieinsftörungen
nicht bezweifeln, und ebenfo werben wir a priori bie
Möglichkeit zugeben müffen, daß ein folder Zuſtand franf-
bafter DBewußtlofigfeit bei Frenfemeier vorgelegen babe.
Diefes letztere ift zu beweifen und unfere Aufgabe wirt
e8 fein, auf Grund des vorliegenden Materials ben Nach⸗
weis zu liefern, ob und wie weit die thatſächlichen Ver⸗
hältniſſe mit dem vorhin geſchilderten Kranfgeitöbilve über⸗
einftimmen und inwiefern ſich daraus bie Ueberzeugung
gewinnen läßt, daß es fich bei Brenfemeier auch) wirklich
um eine berartige mania transitoria gehandelt hat.
„Wir find bier, wo, wie ſchon bemerkt, bie Unter-
fuchung des Angeklagten keine weitern Aufklärungspunkte
verfpricht, und wie ich gleich Hinzufügen will, auch bei
einer fortgefeßten Beobachtung nicht verfprechen Tann,
lediglich auf feine Mittheilungen fowie auf die Ausſagen
der Zeugen angewiejen. Ich werde mir erlauben, zunächit
die Angaben des Angeklagten anzuführen und dann zu
unterfuchen, inwieweit fie fi) mit ben Zeugenausſagen
decken, und endlich dazu übergeben, das jo gewonnene
Material an der Hand des Krankheitsbildes zu fichten
und bie Webereinftimmung ober bie Abweichung nachzu⸗
weiten.
„Frenſemeier bat bei jeinen verfchtevenen VBernehmungen
die Geſchichte des verhängnißvollen 1. Juli ſtets in der⸗
ſelben Weiſe und, um dies gleich hervorzuheben, ohne ſich
Eine Studie über mania transitoria. 81
je zu wiberfprechen, erzählt. Der nachftehende Bericht ift
zumeiſt den Angaben des Angeklagten entnommen, die er
bei einer perfönlichen Unterfuchung am 19. October 1883
gemacht hat.
„Er batte an jenem Sonntag Vormittag viel zu thun
und mußte auf ber Zeche bleiben. Sein Mittagbrot
nahm er indeß wie gewöhnlich in feiner nahegelegenen
Wohnung eis. Bald nach Mittag, zwiſchen 2 und 3 Uhr,
trank er mit dem Klempner Heufer zwei Liter Bier und
überbies noch Branntwein. Wie viel Branntwein er ge-
trunfen, weiß er nicht. Nach andern Angaben ift etwa
ein Liter getrunfen. Schnapstrinfer fei er nie geweſen,
auch habe er es nicht vertragen können. Er fei dann
nicht, wie er fein müffe, und es babe fich dam wohl
ergeben, baß er etwas gejagt habe, wovon er nichts mehr
wußte. Im Verlauf ver Unterrevung ſei auch Die Sprache
auf feine Frau und deren Berhältniß mit dem Schmiebe-
meifter gelommen, und ver Klempner babe ihm erzählt,
baß man ihn in einer zärtlihen Umarmung mit feiner
Frau gefehen habe. Das Habe ihn furchtbar angepackt
und bald barauf jei er weggegangen. Von nun an wiſſe
er nichts mehr und von allem, was von ba ab mit ihm
vorgefallen, was er gethan und getrieben, babe er auch
nicht die geringste Erinnerung mehr.
„Ob ich in der Nacht geichlafenn, To fährt er fort,
aweiß ich nicht. Am andern Morgen fand ich mich wieder,
ich fühlte mich wie zerichlagen und wußte nicht, wie mir
war. Da ich mich im Gefängniß befand, jo dachte ich
erft, ich Hätte mit dem Schmiedemeifter Streit gehabt
und fei wegen Prügelei eingeftedt. Erſt nachher erfuhr
ih, daß ich meine Frau erfchlagen habe. Man zeigte
mir einen ver Stühle, mit benen ich fie getöbtet hätte.
Wie dies vor fich gegangen, kann ich mir gar nicht vor⸗
XXI. 6
82 Eine Studie über mania transitorie.
ftelfen. Ob ich geglaubt habe, ich hätte ben Schmiede⸗
meifter vor mir, da ich mir vorgenommen, mit bemfelben
abzurechnen, ift möglich; doch kann ich mich noch fo jehr
darauf befinnen, fo weiß ich von allen biefen Dingen
nichts. Nur fo viel weiß ich, daß ich meine Frau bei
mir behalten wollte, der Mann hätte daran gemußt.
Geſchlagen habe ich meine Frau nie, felbft damals nicht,
als mir durch das Auffinden der Briefe fein Zweifel an
ihrer Untreue übrigblieb. Ich wußte nicht, was ic
machen folite. Bon ihr gehen konnte ich nicht, ba ich zu
fange mit ihr gelebt hatte, und ich verlangte nicht® mebr,
als daß fie von dem Manne laſſen jollte.»
„Mehr Tann er nicht angeben.
„Hier treten num bie Zengenausfagen ergänzend ein,
und es wirb zunächſt von Wichtigkeit fein, die Zeit genan
feftzuftellen, um fo mehr, als die Zeugen hierin vonein-
ander abweichen, was ja aber bei Zeitangaben nichte
Auffallendes hat. |
„Beft ftebt, daß er mit Heufer bis etwa 4 Uhr nad
mittags auf ber Zeche zufammen geweſen ift und feine
Frau gegen 7 Uhr erichlagen bat. In der Zwiſchenzeit,
alſo in einem Zeitraum von drei Stunben, ift er, und
zwar bald nach 4 Uhr, auf kurze Zeit in feiner Wohnung
gewefen und dann wieder zur Zeche zurückgekehrt. Dier
haben ihn gegen 5 Uhr Fran Wolff und feine Frau auf
gefucht und er bat Kaffee getrunfen. Es ſcheint hiernach,
als ob er unmittelbar, nachdem er Heufer verlaffen umb
wo die unerinnerliche Zeit beginnt, nach Hauſe gegangen
fei. Sein Benehmen war dort fchon ein auffällige und
ungewohntes. Er war auffallend erregt (Zeuge Ir. Müller),
jagte diefen Zeugen und feinen Neffen aus dem Stall,
trat dann in feine Wohnung und verließ biejelbe nad
einigen Minuten wieder. Einen Zwed hat dieſer Beſuch
Eine Stubie über mania transitoria. 83
anfcheinend nicht gehabt. Dem Zeugen Müller fchien
Brenjemeier ärgerlich und angetrunfen zu fein.
„Vielleicht ift e8 am zweckmäßigſten, gleich an biefer
Stelle der Trage näher zu treten, ob Frenjemeier wirklich
betrunfen war und die That im Zuftande des Rauſches
verübt hat. Thatfächlich war der Genuß beraufchender
Getränke vorangegangen. Frenſemeier glaubt indeß felber
nicht, daß er betrunfen gewefen fet, und ebenſo wenig tft
fein Genoffe Heufer bei dieſem Trinkgelage dieſer Anficht.
„Dagegen hielt ihn die Zeugin Wolff, die ihn auf der
Zeche gegen 5 Uhr bejuchte, für angetrunfen, weil er
wadelte. Da er ihr jedoch die Maſchinentheile beſchrieb
und erklärte und auch fonft vernünftig fprach, fo mußte
fie troßdem annehmen, daß er feiner Sinne vollfommen
mächtig war.
„Von einer finnlofen Betrunfenheit kann alfo wol zu
dieſer Zeit feine Rebe fein.
„Daß Frenfemeier aber nachher noch getrunfen habe,
tft nicht erwieſen und auch nicht wahrjcheinlich.
„Ganz entichieden ſonderbar und auffallend war ein
Benehmen kurz vor der That. An der Zeugin Scharpf
ging er vorbei, ohne fie zu grüßen, was er jonft nie ver-
fäumte; er ſah fie ftier an und fie hielt ihn daher für
betrunfen.
„Frau Wolff teifft ihn nochmals auf ihrem Nachhaufe-
wege fur; vor 7 Uhr. Er ift fehr aufgeregt, ohne Kopf⸗
bevedung, beträgt fich höchit auffallend, ſodaß fie fragt,
was denn vorgefallen fei. Er fchlägt auf feine Bruft
und fagt: «Hier figt etwas, was ich niemand fagen fann.»
„Auch feine Frau jcheint ihn für betrunken gehalten
zu haben; denn ihre legten Worte follen nach der Aus-
fage des Zeugen Müller ein Vorwurf geweſen fein, daß
er Branntwein getrunfen habe. Bei allen aber ftüßt fich
6 *
84 Eine Studie über mania transitoria.
anfcheinend die Annahme der Trunkenheit Hauptfächlich
auf das fonverbare und bei dem fonft jo ruhigen Manne
auffallende Benehmen, da ja diefe Vermuthung am
nächſten lag.
„Jedenfalls muß aber eine fo hochgrabige Betrunken⸗
beit, daß das Bewußtſein dadurch aufgehoben und bie
Handlung einfach auf Rechnung des finnlofen Rauſches
zu ſchieben ſei, ausgeſchloſſen erfcheinen.
„Höchſt charakteriſtiſch für Die Beurtheilung des Falls
ift Die Ausführung der That. Mit dem kurzen Ausruf
«Was gebt es dich an?» ftürzt er fich fofort auf feine
Frau, und ohne Rüdficht auf Zeugen und Umgebung ent-
widelt fich eine Scene, die durch ihre Wilpheit und Un⸗
menjchlichkeit geradezu frappirt.
„Die Zeugen dieſes blutigen Schaufpiel® äußern ſich
über dafjelbe wie folgt:
„«Er blieb am Wüthen wie ein wüthendes Thier.»
(Otten.)
„Das Getobe hörte fich fürchterlich an; er tobte und
ichlug planlos mit der Schippe hin und her.» (Scharpf.)
„Dtten ruft ihn an, erhält aber keine Antwort, und
Frenſemeier tobt weiter. Unb unmittelbar darauf finden
fie ihn anfcheinend ſchlafend auf ber Leiche feiner Iran,
den Arm um ihre Taille gefchlungen, in der andern Hand
noch ein blutbeflecktes Meſſer.
„Trotz einer nicht gerabe fanften Behandlung — er
wird von ber verftümmelten Leiche fortgerifien, abgewaſchen,
umgefleivet und auf einem Karren in das Gefängniß ges
fahren — fchläft er weiter, unb biefer tiefe, todtenähn⸗
lihe Schlaf dauert bis zum andern Morgen. Beim Er⸗
wachen tft er unbefangen, anjcheinend ohne jede Erinne-
rung an bie traurigen Vorgänge und macht feine Ausfage
ganz im gleicher Weife wie jett.
Eine Studie über mania transitoria. 85
„Faſſen wir dieſes alles zufammen, fo ergibt fich daraus
Folgendes:
„Frenſemeier hat am 1. Juli eine immerhin nicht
gleichgültige Menge berauſchender Getränke zu ſich ge⸗
nommen. Zu dieſem für ihn ungewohnten Genuß, den
er ohnedies nicht gut vertragen kann, geſellt ſich eine ihn
tief ergreifende Mittheilung, eine gewaltig in ſein ganzes
Fühlen und Empfinden einſchneidende Gemüthsbewegung
und er geräth hierdurch in einen Zuſtand der Aufregung
und ber Bewußtloſigleit, von dem er angeblich keine Er⸗
inmerung behalten hat. In biefem Zuftande begeht er
eine biutige That, die burch ihre gewaltfame, rückſichts⸗
loſe und unfinnige Ausführung weit über den Zwed einer
etwa beabfichtigten Todtung hinausgeht und jebes Leugnen
don vornherein unmöglich macht.
„Anmittelbar hinterher verfinft er in Schlaf; er wird
noch fchlafend am Thatort vorgefunden. Nach dem Er-
wachen benimmt er fich unbefangen und beantwortet bie
an ihn geitellten Fragen ohne Zögern. ‘Die Zeit bes
Anfalls bildet eine Lücke in ver Continuität feines Geiftes-
lebens, und dieſe Lücke ift zeitlich fcharf begrenzt.
„Alles dieſes ftimmt fo genau mit der oben angeführten
Schilverung der mania transitoria überein und es ergibt
fih für uns ein fo abgerundetes Krankheitsbild, daß ich
nicht anftehbe, den Fall Frenſemeier hierher zu rechnen
und ben Angeflagten mithin für unzurechnungsfähig zu
erflären, indem er bie That in einem Zuftanbe ber Be⸗
wußtlofigfeit verübte, woburch feine freie Willensbeſtim⸗
mung ausgefchloffen war.
„Zur weitern Belräftigung dieſer Annahme will ich
noch näher auf einzelne Punkte eingehen.
„Wenn wir mebicinifch die mania transitoria auffaffen
als die Reaction bes Gebirns auf plößlich eintretenve
86 Eine Studie über mania transitoria.
Congeftionen nach biefem Organ hin, jo wird bie obige
Annahme eine Beftätigung in dem Nachweife finden, daß
renfemeier in der That eine befonbere Neigung zu Con-
geftionen beſitzt und Veraulaſſungen vorhergingen, Die
erfahrungsgemäß wohl geeignet waren, berartige Con⸗
geftionen und in weiterer Folge einen Anfall von manıa
transitoria herborzurufen.
„Frenſemeier gibt nun in burdhaus glaubwilrbiger
Weife an, daß er früher viel an Kopfichmerzen gelitten
habe, und zwar bejonders dann, wenn er in ber Grube
beichäftigt war. Alsdann habe er auch Schwinbelanfälle
gehabt. Wir bürfen hieraus mit vollem Recht fchließen,
daß er zu Eongeftionen nach dem Gehirn binneigte.
„Unter den veranlaffenden Urfachen werben aber vor⸗
zugsweife Gemüthsbewegungen und Exceſſe im Trinken
hervorgehoben. Beides war bier in ausgiebigem Maße
ber Fall. Die Angelegenheit mit feiner Frau quälte den
äußerlich ruhigen, dabei aber tief empfindenten Mann
mehr, als er fagen konnte; er hatte fchlafloje Nächte und
trug ſich mit böfen Plänen gegen ben Berführer.
„Daß er zudem gegen die Einwirkung bes Allkohols
empfinblich war, ift ſchon vorher hervorgehoben.
„Um fo mächtiger verbanvden fich beibe ſchädliche Ein⸗
flüffe und riefen bei dem dazu ohnehin geneigten Manne
eine heftige Congeftion hervor, die alsdann zur mania
transitoria führte.
„Daß dieſe Reizung des Gehirns eine recht hochgradige
war, unterliegt nach ben Angaben ber Zeugen feinem
Zweifel. Nach Ausfage der Zeugin Göbel hät er, wäh⸗
rend er bewußtlos lag, «mit Armen und Beinen gezudt,
als wenn er am Berenben wären. Der Bolizeicommiffer
Meyer hörte ihn mit den Zähnen Inirfchen. Während
ber That kam e8 zu unartikulirtem Schreien und Brüllen.
Eine Studie über mania transitoria. 87
Und man wird fich bei ver Hervorhebung dieſer Umftände
an die Schilderung von Krafft-Ebing erinnern müſſen
und es verftänblich finden, weshalb ich e8 für zweck⸗
mäßig erachtete, dieſelbe meinem Gutachten wörtlich ein-
zuſchalten.
„Daß Frenſemeier ſimulirt oder vielmehr, da es ſich
ja um eine eigentliche Simulation nicht handelt, daß er
lügt und ſeinen Ausſagen entgegen doch eine Erinnerung
an das Vorgefallene habe, glaube ich mit Beſtimmtheit
in Abrede ſtellen zu können.
„Ich habe ſchon zu verſchiedenen malen auf das Ein⸗
heitliche des ganzen Verhaltens hingewieſen, das gewiſſer⸗
maßen nach beſtimmten Geſetzen ſich entwickelt und ab-
läuft. Wollte man hier annehmen, daß Frenſemeier lügt,
ſo iſt man geradezu gezwungen, ihm die Abſicht einer
ſolchen Lüge von vornherein zuzuſchieben, ihm zuzumuthen,
daß er alle Handlungen genau ſo, wie er ſie begangen,
in der beſtimmten Abſicht begangen habe, ſein ſpäteres
Leugnen glaublich und annehmbar zu machen. Es würde
diejed außer mehrern andern Eigenſchaften, bie Frenſe⸗
meier nicht befigt, auch eine Kenntniß ber Pſychiatrie
vorausſetzen, bie er nicht befigen kann, und biefe ganze
Annahme wird daburch abſurd. Ueberbies macht Frenfe-
meier den Einbrud eines biebern und orbentlichen Men⸗
fchen. Nie bat er fich widerfprochen. Kein Wort ber
Beihönigung der That, die ihm auch jetzt noch unver-
ſtaͤndlich ift. Er liebt auch jegt noch feine Frau, wie er
es nachweislich vor der That gethan, und er kann nicht
ohne Rührung an das Vorgefallene denken.
„Gerade dieſes Einfache, Selbftverftändliche in feinem
Verhalten jchließt die Armahme einer DVerftellung aus.
It feine Angabe aber richtig, ift e8 wahr, was er be
bauptet, daß er fih in ver That nicht erinnere, feine
88 Eine Studie über mania transitoria.
Tran erfchlagen zu haben, dam tft er auch für feine
Handlung nicht verantwortlich zu machen.
„Mehr der Vollftänvigleit halber als aus einem an«
bern Grunde will ich ber Angabe kurz erwähnen, daß
ber Vater bes Frenſemeier am Selbſtmord geendet hat.
Irgendeine Bedeutung für uns hat biefer Umſtand nicht.
Denn einmal wiffen wir mit Ausnahme dieſer nadten
Thatſache von bem Vater des Angeklagten nichts. Un
jelbft für den Ball, daß er wirklich geiſteskrank geweſen,
was ja hierdurch keineswegs feftgeftellt ift, wären weitere
Volgen kaum daraus zu ziehen.
„Zum Schluß erübrigt mir nur noch ein Wort zur
Frageftellung:
‚Son feiten des Gerichts wird amfcheinend Werth
barauf gelegt, wie der Seelenzuftand bed Angellagten in
ben einzelnen Momenten ver That gewefen fei, und es
tönnte befremben, daß ich bisher mit feinem Worte anf
biefe Frage eingegangen bin.
„Nach den Ergebniffen ber Section ımterliegt e8 wohl
feinem Zweifel, daß Frenſemeier feine Frau mit einem
Stuhle erjchlagen und die bereits leblofe Leiche darauf in
finnlofer Weife mit Hade und Meffern zerfleiicht hat.
Wemn fih in diefem Vorgange auch vielleicht verſchie⸗
bene Phaſen auseinanderhalten und getrennt bebanteln
ließen, fo ift dieſes in pfuchologifcher Beziehung nicht
ver Fall.
„Die ganze Zeit vom Eintritt ver Bewußtlofigkeit bis
zum Erwachen, alfo ber Zeit nach von 4 Uhr nachmittage
bes 1. Juli bis 2 Uhr morgens des 2. Juli, ift ein ein-
heitliche8 Ganzes, das nur im Zuſammenhang aufgefaßt
und beurtbeilt werden kann. Der Zuftand der Bewußt⸗
lofigfeit war demnach in allen Momenten ber Hanblung
ber gleiche; eine verjchievenartige Beurtheilung berfelben
Eine Studie über mania transitoria. 89
ift nicht zuläffig, und Frenfemeier war in biefer ganzen
Zeit gleich ungurechnungsfähig.“
Die Staatsanwaltfchaft trug bei dem jeltenen Vor⸗
fommen ber mania transitoria Bedenken, fich bei dieſem
Gutachten zu beruhigen, zumal ja das Vorleben des
Frenfemeier nicht den geringften Anhalt für die Annahme
einer plößlich eintretenden geiftigen Störung bot.
Die Staatsanwaltichaft ftellte der Autorität von
Krafft-Ebing diejenige von Ideler gegenüber, welcher aus⸗
führt, daß bie Lehre von der mania transitoria oft genug
zur Entſchuldigung von Verbrechern geführt habe, deren
Zurechnungsfähigkeit aufrecht erhalten werben follte, und
daß der Begriff der mania transitoria als im Wider⸗
ſpruch mit den gefäuterten Grundſätzen ber Piychiatrie
ftehend aus ber gerichtlichen Pſychologie ganz ausſcheiden
müſſe. Die Staatsanwaltfchaft führte aus, daß möglicher»
weile renfemeier in der Erregung, aber bei Bewußtſein
den Entichluß gefaßt habe, feine ungetreue Frau zu töbten,
und erft die Ausführung der That felbft und das ver-
gefjene Blut die Aufregung bis zum Wahnſinn gefteigert
babe. Frenfemeier ſei anfcheinend unmittelbr vor ber
That no nicht wahnfinnig geweien; denn ‘er habe den
Weg zu feiner Wohnung gefunden, babe nicht fofort bei
feiner Ankunft im Haufe auf feine Frau losgeſchlagen,
ſondern fei erft durch ihren Vorwurf in Aerger gerathen.
Bei beiden Gutachten fei viel Werth auf den vorher ge-
nofjenen Branntwein gelegt, indeß habe der Genuß der
Spirituofen bereit eine geraume Zeit vor der That ftatt-
gefunden und könne man auf das Urtheil von Frauen
über den Grad der Trunkenheit fein große® Gewicht
legen. Aus allen dieſen Gründen fei es nothwenbig,
durch ein erneuertes Gutachten den Zeitpunkt genau feit-
zuftellen, wann bie mania transitoria ihren Anfang ge-
90 Eine Studie über mania transitoria.
nommen babe, und überhaupt erfcheine e8 bei ver Wich-
tigfeit des Falls angemeffen, das Gutachten des rheinifchen
Medicinalcollegiums einzuholen. |
Dem Antrage gemäß wurde von ber Straflammer
die Einholung biefes Gutachtens namentlich darüber be
ichloffen, ob anzunehmen fei, daß renjemeier wegen
Unzurechnungsfäbigfeit einen Entfchluß zur Begehung des
Verbrechens nicht habe faffen können und ſchon bei Be-
ginn der Ausführung ver That unzurechnungsfähig ger
weſen ſei. |
Diefes am 25. Februar 1884 erftattete Gutachten
geht zumächft auf ven Begriff ver mania transitoria ein
und ftelit feft, daß die Annahme dieſer Krankheitsform
nad) dem gegenwärtigen Stande ber mebicinifchen Wiffen-
ſchaft allgemeine Geltung in der Pfychiatrie habe. Dann
geht das Gutachten auf die in dem frühern Gutachten
bervorgehobenen Beobachtungen unter völliger Billigung
berjelben und dann auf Einzelheiten des ber That vor-
außgegangenen Zeitraums näher ein.
Es hebt hervor, daß der vorhergegangene Allohol⸗
genuß mit Rückſicht auf die geringe Leiftungsfähigfeit des
Frenſemeier and die befannte Erfahrung, daß der Genuß
von geijtigen Getränken bei größerer Gemüthserregung
viel intenfiver auf das Gehirn wirfe als bei ruhigen
Geifteszuftänden, immerhin Einfluß auf die Herporbrin-
gung der Bewußtjeinsftörung gehabt habe, und geht dann
darauf über, daß Frenſemeier auch für die Vorgänge
zwiihen 4 Uhr nachmittags und der That, welche mit
ber legtern in gar feinem Zuſammenhang ftehen, bie
Erinnerung vollſtändig fehle.
„Er bat fich“, fährt das Gutachten fort, „in jener
Zeit in einem traumartigen Zuftande befunden. Bon
dem Beſuch ver Ehefran Wolff und ver Beiprechung mit
Eine Studie Über mania transitoria. 91
derjelben ftellt er jeve Erinnerung in Abrede. Für feine
innere Aufregung während biefer Periode fpricht die zwed-
loſe Unftetigfeit, die er damals an den Tag gelegt bat.
Schon 5 Minuten nach feinem Weggange erfcheint er
wieder in ber Werkftätte bes Heufer, ohne zu fprechen,
dann um 4 Uhr in feiner eigenen Wohnung (Begegnen
mit Frau Wolff), dann wieder im Ziegenftalle (zwifchen
5 und 6 Uhr) ımb er entfernt fich immer in großer Eile.
„Das freundliche Benehmen gegen feine Ehefrau auf
der Zeche, wo er ihr ein Bündel Holz zufammenfucht und
mit den Worten die Baden ftreichelt: «Ich Habe doch
eine gute rau», dürfte auf eine durch den Allohol⸗
genuß hervorgebrachte finnliche Erregung zurüdzuführen
jein. Wenigſtens ſpricht dieſes Benehmen nicht für eine
damals gegen feine Frau beſtehende Erregtheit.
„Was die That felbjt betrifft, jo tft es zweifelhaft,
ob der Impuls zu derſelben burch eine tadelnde Bemer⸗
fung ber Frau gegeben worben ift. Es iſt biejed ebenio
gut möglich, als daß Frenjemeier in einer Hallucination
befangen war, in ber er ftatt feiner Frau den Schmiebe-
meifter vor fich zu haben glaubte, da offenbar Rache⸗
gedanken gegen biefen bie legten Gedanken find, deren er
fih entfinnt, und wieber bie erften waren, mit denen er
ſich bei feinem Erwachen beſchäftigt. Die That felbft
trägt in ihrer enormen Gewaltthätigfeit, ihrer finnlofen
Wildheit, in ber vollflommenen Rüdfichtslofigfeit gegen
etwaige Beobachtung, in dem Toben und Wütben, mit
dem er noch ben lebloſen Körper zerfleifchte, ganz das
Gepräge der vollen Bewußtlofiglett, welche die maniafali«
ſchen Ausbrüche in ſolchen Zuſtänden charakterifirt. Und
das ſofortige von Krämpfen eingeleitete Verſinken in
Schlaf entſpricht ebenſo dem typiſchen Bilde des abnormen
pſychiſchen Zuſtandes.“
99 Eine Studie über mania transitoria.
Das Gutachten geht noch dazu über, feftzuftellen, daß
Frenſemeier ſtets eine unmanbelbare Xiebe gegen feine
Frau an den Tag gelegt habe, daß ein Grund zur An-
nahme einer Simulation durchaus nicht vworliege, und
ſchließt damit, „daß Frenfemeier ſich feit 4 Uhr nad»
mittags bis zum Erwachen am andern Morgen in einem
franfhaften, traumbaften Zuftande befunden babe unb
zur Faſſung eines Entjchluffes unfähig geweſen jei, bie
That jelbft aber nur als ein Impuls ohne alle Fähigkeit
ber Ueberlegung erfolgt jet“.
Da in dem bisherigen Gutachten ein fehr hoher Werth
auf Die chronologifche Reihenfolge der Ereigniffe des ver-
bängnißvollen Nachmittags gelegt wurde und bie Fönig-
lihe Staatsanwaltichaft ver Anficht war, daß bei ber
bisherigen Inftruction der Sache auf dieſe Reihenfolge
nicht bie genügende Nückficht genommen ſei, wurbe auf
ihren Antrag noch eine Vervollftändigung der Vorunter⸗
juhung vorgenommen.
Hinfihtlich der Zeitfolge — bekanntlich ſtets das
Kreuz des Unterfuchungsrichters, da die Grauen bie Zeit
niemals, die Männer der untern Stände aber nur ibte
Arbeitöftunden im Kopfe haben — wurbe nur feftgeftellt,
daß bie Ehefrau Wolff um 21, Uhr am der nächften
Station ankam und daß fie um 3 Uhr in ber Frenfe-
meter’jchen Wohnung anlangte. Wenige Minuten nad
3 Uhr ift Frenfemeier zuerft nach Haufe gefommen und
bat Frau Wolff wegen des Koftgeldes an feine Frau ver-
iwielen. Eine Stunde darauf, alfo gegen 4 Uhr, find bie
Frauen zur Zeche gegangen und haben ihm ben Kaffee
gebradt. Dort haben fie fich eine halbe Stunde auf:
gehalten. In der Zwiſchenzeit (gegen 31/, Uhr) ift Frenſe⸗
meier im Stalle geweien, bat die Knaben von bort ver-
jagt und fih vom Stalle wieder zur Zeche begeben. Um
Eine Studie über mania transitoria. 93
6%, Uhr Hat Frau Wolff das Frenſemeier'ſche Haus
verlaffen, um nach Haufe zurüdzufahren, und um bieje
Zeit begegnete ihr Srenfemeier, ohne Hut auf feine Woh⸗
nung zueilend.
Heufer gab das von dem Angeklagten genoffene Quan⸗
tum Schnaps auf etwa Y/,, Liter an.
Auf Grund dieſer Feftjtellungen und bei der Wichtig-
feit des Falls wurde beichloffen, noch ein Gutachten ber
wifjenjchaftlichen Deputation für das Medicinalweſen in
Berlin einzuholen. Daffelde wurde am 28. November
1884 erftattet und lautet in feinen wejentlichen Beſtand⸗
tbeilen folgendermaßen:
„Die drei in dieſer Sache erftatteten Gutachten ftimmen
darin überein, daß Frenſemeier die That in einem rajch
vorübergehenden Anfall acuter Bewußtloſigkeit began-
gen babe.
‚Bedenken, welche bagegen erhoben werben können,
daß ein folcher Zuftanp überhaupt vorkomme, find bereit®
in ben Vorgutachten eingehend erwogen und e8 ift darin
nachgewiejen, daß erfahrungsmäßig Zuftänpe plöglich auf-
tretender Bewußtjeinsftörung bei vorher und nachher
geijtig gefunden Individuen auch anderweit beobachtet
find, Zuftände, welche von Delirien und Angftanfällen,
fowie auch von tobfüchtigen Anfällen begleitet find und
zu gewaltfamen Handlungen führen fönnen, von benen
vie betreffenden Perfonen, wenn nach wenigen Stunden
das gejunde Bewußtſein wieder eintritt, Teine Erinne-
rung haben.
„Der im vorliegenden Falle Angeflagte wirb von ben
Nachbarn, Dansgenoffen und der Polizeibehörde ald eim
fleißiger, nüchterner und in geregelten Verhältnifien leben-
der Mann gejchilvert, gegen den nie etwas Nachtheiliges
befannt geworden war. Seine Verficherung, daß er mit
94 Eine Studie über mania transitoria.
ber Getöbteten bis drei Monate vor ber That im beften
Einvernehmen gelebt habe, wirb von allen Zeugen be-
ftätigt. Da, im Frühjahr 1883, wurde ihm mitgetheilt,
baß feine Frau mit einem Schmiedemeifter ein ftrafbares
Verhältniß unterhalte. Anfangs ließ er fich beichtwichtigen,
bis er gegen Pfingften durch zwei von feiner Frau an
ben Liebhaber gerichtete Briefe den überzeugenven Beweis
ihrer Untreue erhielt. Auch jet noch verzieh er ihr und
behielt fie ferner bei fich, nachdem fie in feiner Gegen»
wart vor dem Baftor verfprochen hatte, ihren Lebene-
wanbel zu ändern.
„Dieſes fortwährende Schwanken zwifchen Zweifel und
Meberzeugung, das unausgefegte Aufpaffen auf feine Fran,
welches er jelbjt während feiner Arbeit von dem unmittel-
bar neben feiner Wohnung liegenden Zechenhaufe aus
Zag für Tag fortjeßen konnte, mußte den Gram um
feine Frau fortgejett wach halten und empfindlich fühlbar
machen. Eine folhe Monate anhaltende Gemüthserregung
war wohl geeignet, feine Geſundheit zu untergraben, ibn
in eine abnorme Gemüthsſtimmung zu verjegen und auf
biefe Weife eine Dispofition zu ernten geiftigen Störungen
hervorzurufen. Daß folche Folgen wirklich eintraten, gebt
aus den Angaben des TFrenfemeier über feinen Zuftanv
hervor. Er Elagte, daß die Gewißheit, von feiner Iran
bintergangen zu fein, ihm allen Lebensmuth und die Zuft
am Familienleben geraubt habe. Er hatte fchlafloje Nächte
und böſe Träume.
„Auch nach dem vor dem Pfarrer gegebenen Berjprechen
hielt die fortvauernde Unruhe und Aufregung bei Frenſe⸗
meter an. Es zeigte fich bei einer Zufammenkunft mit
dem Slempnermeifter Heufer kurz vor der gewaltjamen
That am 1. Yuli, wie feine Gedanken fortwährend mit
jeinen ehelichen Verhältniffen befchäftigt waren. Und die
Eine Studie über mania transitoria. 95
hierüber vorhandene Aufregung mußte durch die ihm
gegenüber von Heufer gemachte Aeußerung im höchſten
Maße gefteigert werben, wenn biefelbe auch nur fo ge-
fallen ift, wie Heufer angibt.
„Die Hoffnung auf eine Beſſerung feiner Frau und
ein ferneres zufrievenes häusliches Leben mußte ihm ver-
nichtet, Schmach umd Schande unabwenbbar auf der noch
immer geliebten Fran und auf ihm felbft laſtend erfcheinen.
„Es kommt babei noch ein anderer Factor in Betracht:
ber vorbergegangene Genuß altoholifcher Getränke.” (Das
Gutachten bejchäftigt fich num mit der genoffenen Menge
und führt aus, daß die jüngfte Aeußerung des Zeugen
Heufer, Brenjemeier habe nur !/,, Liter Schnaps ge-
trunfen, al8 eine willfürliche Schägung angejehen werben
müffe) Es fährt fort:
„Daß Frenſemeier in ber Zeit, welche vom Beginn
bes mit Heufer eingenommenen Frühſtücks bis zur That
verfloß — es find etwa vier Stunden geweſen — nicht
finnlos betrunfen war, geht zwar aus feinem ganzen Be⸗
nehmen hervor, daß aber die genoffenen alkoholiſchen Ge-
tränfe nicht ohne Einfluß auf ihn geblieben waren, läßt
fih ſchon daraus entnehmen, daß er faft von allen Per-
fonen, welche ihn während dieſer Zeit beobachtet haben,
für betrunfen gehalten wurbe.
„Wenn man auch nicht annehmen kann, daß der ge-
nofjene Branntwein bie einzige ober auch nur bie Haupt⸗
urfache der Störung des Bewußtſeins geweſen fei, fo tft
dadurch doch der lange vorbereitete heftige Einbrud als
gefteigert anzufehen, welchen Heuſer's Mittheilungen auf
Frenſemeier gemacht haben.‘
Es wird nun auf das Benehmen des Trenjemeier in
ben nächften Stunden näher eingegangen. ‘Dann fährt
das Gutachten fort:
96 Eine Studie über mania transitorie.
„Das zwedloje Hin- und Dergehen bes Frenſemeier
während dieſer Stunden wird in dem Schreiben ber
Stantsanwaltichaft an und dahin gedeutet, daß er feine
Ehefrau über ihre Handlungsweiſe zur Verantwortung
ziehen wollte, und da er an der Ausführung dieſes Ent-
ichlufjes durch die Anwejenheit ver Frau Wolff in feiner
Wohnung abgehalten fei, fich wiederholt dorthin begeben
babe, um zu recognofciren, ob feine Ehefrau enplich allein
jet. Wenn biefes in ber That der Fall gewejen wäre,
jo Hätte er nicht zweckentſprechend gehandelt; denn von
feinem im Zechenhaufe befinplichen Arbeitsplage konnte
er jeine Wohnung vollftändig überjehen und fich fo ohne
weiteres, ohne ven Pla& zu verlafjen, überzeugen, ob bie
Wolff noch anweſend war. Es war ihm überbied be>
fannt, daß die Wolff mit bem Zuge von auswärts ge
kommen war und erft abends mit ver Eiſenbahn zurüd-
reifen konnte, daß fie alfo ven Nachmittag über bei feiner
Frau verbleiben würde. Man ift daher wol mehr be-
rechtigt, das zweckloſe Unihertreiben des Frenfemeier, ver
dabei niemand aufjuchte und mit niemand redete, als ein
Zeichen feines geftörten Bewußtſeins anzufehen.
„Es iſt aber auch denkbar, daß erft infolge bes ſpä⸗
tern mit Bemußtlofigfeit verbundenen Anfall von Tob⸗
ſucht die Erinnerung an die einige Stunden vorher jtatt-
gehabten Vorfälle erlofhen war, während er zur Zeit
berjelben das Bewußtſein noch hatte. Die ärztliche Er-
fahrung lehrt nämlich in der That, daß nach ver Ge⸗
nejung von acuten fchnell vorübergegangenen Unfällen gei-
ftiger Störung die Erinnerung auch für eine längere ber
jelben vorhergegangene Zeit, während welcher mit vollem
Bewußtſein gehandelt wurde, verloren gehen konnte.
„DaB Srenfemeier fich in dieſen Nachmittagsftunden
mit Nachegebanfen oder gar dem Gebanfen bed Tobt-
Eine Studie über mania transitoria. 97
ſchlags gegen feine Ehefrau getragen habe, wie e8 bie
Staatsanwaltihaft annimmt, dafür liegt fein genügenber
Anhalt vor. Er bat weder unmittelbar nach der Mit-
theilung des Heufer gegen biefen, noch gegen bie fonftigen
Zeugen eine Aeußerung ober auch nur eine Anbeutung
gemacht, welche darauf fchließen Tiefe. Er war überdies
nit zu Gewalttbhätigkeiten geneigt. Selbft gegen ben
Schmied, gegen welchen er wieberholt Drohungen aus-
geſtoßen hatte, Hat er nie auch nur ben Verſuch gemacht,
biejelben thätlich auszuführen. Gegen feine Ehefrau bat
er troß ihres Verſchuldens eine unerfchätterliche Liebe und
große Nachficht an ven Tag gelegt. Selbft fein Benehmen
eine Stunde vor ber Töbtung, ald er einen Korb Hol;
für fie zufammenfuchte und ihr die Wange ftreichelnb zu
ver Wolff fagte: «Ich habe doch eine liebe Frau», Tann
wol nur als ein Beweis ber felbft in dem geftörten
Seelenzuftande fich geltend machenden Zuneigung auf-
gefaßt werden. Wenigftens entfpricht eine jolche Deutung
dem ganzen Wefen und Charakter bes Frenſemeier mehr
als die Annahme eines Beſtrebens, fremden Perfonen bie
traurige Lage feiner Bamiltenverhältniffe zu verbergen,
ein Unternehmen, von dem er fi) von vornherein fagen
mußte, daß es boch vergeblich fei. Ueberhaupt wäre e8
pſychologiſch ſchwer erklärlich, daß ein Mann, ver ſich
mit Rache⸗ und Mordgedanlken trägt, noch Sinn für eine
folhe Rüdfichtnahme haben jollte.
„Als Frau Wolff ſodann um 6", Uhr bie Frenſe⸗
meier’sche Wohnung verließ und ihm in bem oben ge=
fchilverten Zuftande begegnete, finden wir an ihm ein
Berbalten, welches feine andere Deutung finden Tann
als die eines innerlichen Angftgefühls, wie e8 auf folchen
Kranken laftet, und beffen Linderung fie oft in gewalt⸗
jamen Ausbrüden zu finden glauben. Auf die Frage,
XXII. 7
98 Eine Studie über mania transitoria.
was paffirt fei, ſchlug er mit der Hand auf feine Bruſft
und fagte: «Hier fit etwas, was ich niemand fagen
fann», und eilte, nachdem er ihr bie Hand gebrüdt hatte,
auf feine Wohnung zu. Bon da an bis zur Töbtung
und uachher bis zum Kintritt des feften Schlaf6 geftattet
bie Hanblungsweife des fonft friebfertigen, vernünftigen
Menfchen nur die Auffaffung eines geftörten krankhaften
Bewußtſeins.“
Das Gutachten gebt nun auf die nähern Umſtände
ber That felbft ein und führt aus, daß das Plan- und
Sinnlofe derfelben jeden Zweifel daran ausfchliefe, daß
hier der Ausbruch einer völlig geftörten Seelenthätigleit
vorliege und die Annahme völlig ansgefchloffen fei, daß
Frenſemeier die That noch in zurechnungsfähigen Zuftanbe
geplant habe und erft beim Anbli des Bluts in Raferei
geratben ſei. Es gebt dann auf deu charakteriftiichen
tiefen Schlaf über und fährt fort:
„Auch bie Anfälle anderer Nervenkranfheiten, nament-
lich der Epilepfie, pflegen mit einem tiefen, gleichfam kri⸗
tiſchen Schlaf zu endigen, aus dem bie vorher Bewußt⸗
[ofen mit völlig bergeftellten: Bewußtfein erwachen, welches
dann bis zu einer etwaigen Wiederholung bed Anfalls
fortbefteht.
„Daß Srenfemeier an Epilepfie gelitten, ift nicht nach⸗
gewiejen, indeß erjcheint eine Zeugenausjage von Wichtig.
feit, welche auf pie Möglichkeit hinweiſt, daß der Aufall
von Tobſucht und der nachfolgende lange fchlafartige
Zuftand zu einem Anfall von Epilepfie in Verbindung
geftanden habe. Die Zeugin Göbel erklärt nämlich bei
der Schilderung bes neben feiner rau bewußtlos liegen-
den Angeflagten: «Er Hatte ein Meſſer in ter Hand, bie
Arme und Beine weit ausgeftredt und zuckte dabei mit
den Händen und Beinen, als wenn er am Verenden ge⸗
Eine Stubie über mania transitoria. 99
weſen wäre.» Es wäre nicht unmöglich, daß diefe Zuckun⸗
gen die Bedeutung von Krämpfen eines epileptifchen An-
falls gehabt hätten, der dem Tobſuchtsaufall unmittelbar
gefolgt wäre. Daß, wenn auch relativ felten, dem epi«
leptiſchen Anfall ein Anfall von Tobſucht oder Wuth mit
Impuljen zu gewaltfamen Handlungen bei gänzlicher Auf-
hebung bes Bewußtſeins unmittelbar vorhergeht, ſodaß
jener gewiflermaßen den Schluß des letztern bildet, iſt
einne wohl feftgeftellte Thatfache der ärztlichen Beobachtung,
wiewol das Umgelehrte, der Anfchluß eines Anfalls von
Tobſucht und Wuth an einen epileptifchen, das Häufigere
ift. Wäre fogleich eine genaue Unterfuchung des Frenſe⸗
meier namentlich mit Nüdficht auf einen etwa vorhandenen
Zımgenbiß vorgenommen, jo hätte die Thatſache vielleicht
feitgeftellt werden Lönnen, und es würbe alsdann fein
Zweifel über die Natur der geiftigen Störung (als einer
epileptifchen) haben obwalten können, auch wenn Frenſe⸗
meier früher niemals an epileptifchen Anfällen gelitten
hätte. Denn ed kommen joldhe Anfälle auch ganz iſolirt
vor. Gegenwärtig läßt fich allerdings über die Bedeutung
der von der Zeugin beobachteten Zuckungen ein ficheres
Urtheil nicht fällen, aber es erjcheint jedenfalls von Wich-
tigkeit, auf die Möglichkeit ihrer epileptiichen Natur bin-
zumeifen. Beides, bie tobfüchtige Wuth und der Krampf-
anfall, wären alsdann als ein einziger durch bie Ge
müthserregung in Verbindung mit dem Genuffe der Spi-
rituofen verurfachter Anfall zu betrachten.
„Frenſemeier war nach feinem Erwachen bei voll-
fommenem Bewußtjein, welches auch ferner nicht mehr
geftört wurde. Er war fich feiner ganzen Lage, bes Ver-
hältniffes zu feiner Frau in den Einzelheiten, ver damit
zufammenhängenden Creigniffe bis zur Mittheilung des
Henfer Har bewußt, erzählte dieſelben immer in ber gleichen
7 *
100 Eine Studie über mania transitoria.
Weite und beharrte bei ber Verficherung, baß er von
allem feine Erinnerung mehr habe, was in ber Zeit feit
ber ihn fo furchtbar erregenden Mittheilung des Genfer
bis zu feinem Erwachen im Gefängniffe geſchehen fei
Selbft des wiederholten Zujammentreffens mit der Frau
Wolff und ver mit berfelben in Bezug auf feinen Koft-
gänger getroffenen Vereinbarungen vermochte er fich auf
wieberholtes Beſinnen nicht zu erinnern, eine Angabe,
bie mit den Erfcheinungen und dem Verlauf bes in Rebe
ſtehenden Anfalls im Einklang fteht.
„Ss iſt Schon in den Vorgutachten darauf hingewieſen,
daß kein Grund vorhanden ift, anzımehmen, Frenfemeier
habe diefe Angaben über den gänzlichen Mangel an Gr-
innerung erfunden. Es würbe dazu eine Kenntniß medi⸗
ciniſcher Wiffenfchaft und pſychiatriſcher Zuſtände exrfor-
berlich fein, welche Frenſemeier nicht beſeſſen haben konnte.
Aber auch hiervon abgeſehen iſt e& nicht denkbar, daß er,
eben aus einem ftebenftündigen betäubenden Schlaf er:
wacht, die Fähigkeit gehabt haben follte, eine folche ben
tbatfächlichen Umſtänden entjprechende Angabe zu erfinden,
von der er auch bet fpätern Unterrebungen niemals abwich.“
Das Gutachten ſchließt fich dann den Vorgutachten
darin an, daß Frenſemeier fich bei Begehung der That
in einem Zuftande von Bewußtlofigkeit befunden habe.
Und auf Grund diefer Gutachten wurde Frenjemeier von
dem Schwurgericht zu Effen am 14. Januar 1885 frei-
gefprochen.
Während feiner Unterfuchungshaft hatte Frenſemeier
bie ihm gehörige Befigung, ein Wohnhaus mit anftogen-
dem Garten und Zubehör, an feinen einzigen Sohn erfter
Ehe, Karl Trenfemeier, gegen die Verpflichtung übertragen,
ihn in feinen alten Zagen barin aufzunehmen und zu
unterhalten. Dieſe Uebertragung gefchah nach der Cr-
Eine Studie über mania transitoria. 101
Härung ber Bertragfchließenven, weil fich Frenſemeier
nach der Tödtung feiner Frau in einer folchen Gemüths⸗
verfaffung befand, daß die Bewirthfchaftung feines Grund⸗
vermögen, ja felbft Die Bewohnung des Haufes, in wel-
chem er die That vnollführt Hatte, unmöglich erfchien.
Trotzdem zog er fofort nach feiner Freifprechung wieder
in das Haus, betrachtete fich troß der Uebertragung nach
wie vor als Eigenthümer vefjelben, verımiethete einen
Theil und nahm die neunzehnjährige Johanna Goffe als
Haushälterin zu fih. Er machte ihr ernſthaft gemeinte
Heiratheanträge. Ste wies biefelben aber zurüd und
verlobte fih mit feinem Sohne Karl. Mit diefer Ver⸗
fobung war ber alte Frenſemeier fehr unzufrieden; troß-
bem machte er dem jungen Paar ein für feine Verhält⸗
niſſe jehr bedeutendes Hochzeitsgeichent. ALS die jungen
Frenſemeier nach der Hochzeit in das Haus zogen, blieben
die Reibereien zwiichen Vater und Sohn nicht aus.
Frenſemeier hatte fich nach feiner Freifprechung bem
Trunke ergeben; er arbeitete zwar noch und wurde von
feinen Vorgefetten auch jet noch als ein tüchtiger Ar-
beiter geſchätzt; allein von dem verdienten Lohne lieferte
er für die gemeinfchaftliche Haushaltung nur wenig ab,
jondern verbraudte ihn für Bier und namentlich für
Schnaps. Dies gab Veranlaffung zu ernfthaften Vor⸗
ftellungen jeitens des Sohnes und zu Ärgerlichen Auf-
tritten im Haufe. Diefelben fteigerten fich berart, daß
die Schwiegertochter im Anfang Juni 1885 polizeiliche
Hülfe gegen ihn in Anſpruch nahm.
In dem Frenſemeier'ſchen Haufe wohnten außer ver
Familie felbft die Eheleute Pfleging und Löcher als Mie⸗
tber. Den letztern hatte ber junge Karl Frenfemeier ver⸗
miethet und ber alte Wilhelm Trenfemeier war mit biefer
Mietheleuten unzufrieden, weil, wie er bebauptete, bie
102 Eine Studie über mania transitoria.
Eheleute Löcher früher eine Verheirathung feiner jeßigen
Schwiegertochter mit dem Bergarbeiter Klinkſiek beab-
fichtigt und hierbei Schlechte® von ihm gerevet haben
jollten, auch feine Kinder gegen ihn aufhegten. Mit ven
Eheleuten Pfleging dagegen war ber Sohn Larl Frenfe-
meier unzufrieben und feine Unzufriedenheit mit denſelben
fteigerte fi, ale im Jahre 1885 eine unverbeirathete
Maria Wingenfeld zu Pflegings z0g und ber alte Srenfe-
meter feine Abficht, dieſelbe zu beirathen, wieberholt aus⸗
ſprach. Diefe Heiratbsgebanfen fanden naturgemäß auch
nicht den Beifall der jungen Frau Frenſemeier und trugen
dazu bet, die täglichen Neibereten zu erhöhen. Wilhelm
Frenſemeier ergab fich dabei immer mehr dem Trunk und
war nach der Ausfage feiner Schwiegertochter in ber legten
Zeit täglich betrunken.
Klinkſiek blieb auch nach der Verbeirathung der jungen
Frau Frenfemeier im Haufe bet feiner Schweiter, der Ehe:
frau Löcher, als Koftgänger wohnen.
So lagen bie Berhältniffe im Frenſemeier'ſchen Haufe
am 26. Juni 1885.
Am Morgen dieſes Tages ging der alte Wilhelm
Frenſemeier früh morgens zur Arbeit, nahm eine Keffel-
reinigung vor und hat am Morgen mit feinen drei Mit⸗
arbeitern zufammen gegen 8 Uhr einen Schoppen um
gegen 11 Uhr morgens nochmals einen Schoppen Schnaps
getrunfen. Mittags brachte ihm fein Sohn das Eſſen
zur Zeche, es entipann fich bei biefer Gelegenheit ein
Streit zwifchen Vater und Sohn, weil ver legtere be⸗
bauptete, fein Vater babe eine ihm gehörige nene Wage
verliehen. Nach Tisch erhielt Wilhelm Frenſemeier für
bie Keffelreinigung 25 Mark Lohn und gab aus biefer
Veranlaffung feinen drei Mitarbeitern vier Liter Bier
zum beften. Auch ein Mitarbeiter jpenbete noch einige
Eine Studie über mania transitoria. 103
Liter, indeß erklären alle Arbeiter, daß Frenſemeier an
diefem Tage nicht betrunken war.
Beil der alte Frenſemeier fich am Tage vorher aufs
neue geweigert hatte, Gelb für bie Haushaltung beizu-
ftenern, hatte der junge Karl Frenſemeier, al8 er mittags
von der Zeche nach Haufe kam, feine Braun angemiejen,
am Abend dem Vater Tein Eſſen zu verabreichen. Es
wurden alle Vorbereitungen getroffen, um zu verhüten,
daß er im Aerger über biefe Maßregel fih an bem
Eigenthum der Kinder vergreifen ober es verfchleppen
möchte, und die Wertbiachen, Leinwand u. |. w. in das
Schlafzimmer der jungen Eheleute zujammengejchleppt
und bort verjchloffen. ALS der alte Wilhelm Frenſemeier
von der Arbeit zwifchen 6 und 7 Uhr abends nach Haufe
fam, erklärte ihm feine Schwiegertochter, welche allein zu
Haufe war, fein Sohn babe verboten, ihm das Eſſen zu
verabreichen. Frenſemeier erwiberte: „Es ift gut.” Er
ging dann auf den Hof, warf ein dort ſtehendes großes
Waſchfaß gegen das Haus und bejuchte dann bie Eheleute
Pfleging. Dort Hagte er, daß man ihm das Eſſen ver-
weigere, bat die Wingenfeld, ihm Bier zu holen und ging
felbft mit ihr fort, um fich bei einem Metzger in einem
Nachbarorte Fleiſch zu kaufen. Erſt gegen 10 Ubr kam
er zurüd und erjuchte dann bie Wingenfelo, mit ihm in
feine Wohnung zu geben und das Fleiſch zuzubereiten.
Dort zeigte er der Wingenfeld bie leeren Schränfe, welche
jeine Schwiegertochter geräumt hatte; er war babei äußer⸗
lich ruhig, doch fagte er, er werde feine Sachen ſchon
wieberbefommen. Auch glaubte bie Wingenfeld Schaum
vor feinem Munde zu bemerten. Die Wingenfelb fuchte
ihn zu beruhigen und redete ihm zu, zu Bett zu geben.
Dann entfernte fie fich etwas vor 11 Uhr, ohne daß von
bem Fleiſch gegefjen wurde.
104 Eine Studie über mania transitoria.
Die junge Frau Frenfemeier hatte fich inzwifchen in
Begleitung des Klinkfiet zur Zeche begeben, um ihren
Mann abzuholen. Denn als fie ihren Schwiegervater
von Pflegings fortgehen fah, glaubte fie, er werbe feinen
Sohn auf dem Heimmege überfallen. Gegen 11 Uhr
kehrten die Eheleute Frenſemeier jun. mit Klinkſiek zurüd.
Sie trafen den alten Frenſemeier in der Küche an. Sie
boten ihm Guten Abend, und Frenſemeier eriwiberte ben
Gruß. Nach einer längern Paufe fragte der Sohn jeinen
Bater: „Nun fag’ mal, Vater, willft du von dem Mädchen
ablaffen oder nicht?” Statt aller Antwort ftieß Frenſe⸗
meier feine Bergmannslampe, welche das Licht gab, vor
bie Platte bes Herdes, ſodaß fie erloſch. Nachdem Karl
Frenſemeier die Lampe wieder angezündet hatte, wieber-
holte der alte Frenjemeier das Austöfchen. ‘Die beiben
jungen Frenjemeier und Kfinkfiet gingen num fort, um
eine andere Lampe zu holen. Frau Frenfemeier hatte fich
in die Löcher'ſche Schlafjtube begeben und bie beiden
Männer (Karl Trenfemeier und Klinkſiek) ftanden in ber
neben der Küche befindlichen Stube. Sie hatten fein
Licht, aber? der Mond fchien jo hell, daß man bie Per-
fonen deutlich erkennen fonnte. Da trat Wilhelm Frenje-
meier aus der Küche kommend auf bie beiden zu, verjegte
dem Klinkſiek einen Schlag auf die Bruſt, wurde dann
aber jelbft von feinem dazwiſchenſpringenden Schne ein
paarmal mit der Hand geichlagen und zur Erbe ge-
worfen. Bei diefer Gelegenheit bat Karl renjemeier
gleichfall8 von feinem Vater zwei Schnittwunben an ber
rechten Hand und ber rechten Bade erhalten. Der alte
Frenſemeier richtete fich indeß gleich wieder auf, und nun
iprang Karl Frenfemeier, der fi vor dem Meffer des
Alten fürchtete, aus dem Fenfter heraus; er jah aber
noch, wie fein Vater wieder auf Klinkſiek losging. Auch
Eine Studie über mania transitoria. 105
Klinkſiek Tief fort, wurde aber von dem alten Frenſemeier
verfolgt. An einem am Wohnhauſe befindlichen Anbau
blieb Klinkſiek Liegen, dort befand fich am folgenden Mor-
gen noch eine große Blutlache und in Mannshöhe waren
bort an der Ede des Vorbaues eine Menge Mannshaare
fihtbar. Dort muß alſo ein legter Kampf zwiſchen Klint-
ſiek und Frenſemeier vorgelommen fein. Jedoch fehlt hier
der Zeuge; denn Klinkſiek bat fih um Hülfe rufen noch
einige Schritte weiter gejchleppt und ift dann geftorben,
nachdem er feiner herbeiftürzenden Schweiter noch eben
die Worte zugeraunt hatte, er müffe jterben, ber alte
Frenſemeier habe ihn zweimal geftochen.
Ein Zeuge ſah den alten Wilhelm TFrenfemeier von
ber Ede bes Anbaues herkommen; derſelbe ging in feine
Wohnung, holte ſich Waffer und reinigte Kopf und Hände,
bie mit Blut befledt waren. Er hatte, als er von feinem
Sohne Hingeworfen wurde, eine Wunde am Kopf davon⸗
getragen. ALS die von dem jungen Frenjemeier und feiner
Frau berbeigerufene Polizei erichien, befand fich ber alte
Trenfemeier in feinem Zimmer und wuſch die Kopf—⸗
wunde ab.
Diejes ift die Darftellung des Vorfall, wie fie über-
einftummenb von den jungen Cheleuten Frenjemeier ge-
geben wird. Der alte Frenfemeier ftellt dagegen bie
Begebenheit folgendermaßen dar:
„Geſtern babe ich von morgens 6 Uhr bis abends
6 Uhr auf der Zeche Neuwefel gearbeitet. Ich war mit
Reinigen der Keffel beichäftigt. In meiner Gefellichaft
befand fich der mit mir dieſelbe Arbeit verrichtende Berg⸗
mann Koffad. Ich habe mich gejtern mit Ausnahme einer
furzen Zeit, in welcher ich leichte Kopfichmerzen verjpürte,
ganz wohl befunden. Im Laufe des Nachmittags ließ
mein Mitarbeiter Koffad Bier holen, und ich babe mit-
106 Eine Studie über mania trensitoris.
getrumfen. Wie viel ich getrunken habe, weiß ich nidt.
Jedenfalls ift e8 nicht mehr wie zwei Liter gewejen. Nach
meinem Weggange von ber Zeche habe ich mich nach Danie
begeben, bin kurze Zeit nachher jedoch wieder fort gemeien,
um mir etwas Fleisch zu kaufen. Ich Habe mir dann
beim Metger Lehmann in Borbed etwas friiches Fleiſch,
Sped und Wurft gefanft und leßtere im Beiſein von
Maria Wingenfeld aus Eſſen, welche mit in meinem
Haufe wohnt und von mir berbeigerufen wurde, vers
zehrt.
„Maria Wingenfeld iſt nachher fortgegangen. Die⸗
ſelbe war wenigſtens nicht mehr in meiner Wohnung, als
mein Sohn kurz nach 11 Uhr von der Arbeit zurücklehrte.
In Begleitung meines Sohns befanden ſich noch mehrere
Perſonen, von denen ich jedoch nur den Koſtgänger bei
Löcher, den Arbeiter Heinrich Klinkfiel, erkannte. Wein
Sohn fragte mich fofort nach dem Eintritt in die Küche,
ob ich von der Maria Wingenfeld Abftand nehmen wolle
oder nicht. Ich beabfichtige dieſelbe nämlich zu heirathen.
Hierauf erwiderte ich, daß ich das nicht thun würde. Es
war bunfel in der Küche, und ich weiß nicht mehr genau,
was geſchehen ift. Ich erhielt einige Stiche auf den Kopf
und babe mich Hierauf foviel wie möglich gewehrt. Ob
ich bierbei ein Meſſer gebraucht babe, weiß ich nicht.
Möglich ift dies allervings, falle ein Meffer auf dem
Küchentifch gelegen haben follte. Das mir bier vorgelegte
Meſſer mit dolchartiger Spike habe ich nicht gebraucht.
Ich weiß überhaupt nicht, wie fich die ganze Scene ab-
geiptelt bat, wohl aber entfinne ich mich, mein Geficht mit
Waſſer abgefpült zu haben.”
Etwas Weiteres konnte man von Frenſemeier über
ben eigentlichen Dergang nicht erfahren. Der weitern
Vorfälle, ver Verhaftung, des Verbandes, der Abführung
Eine Studie über mania transitorie. 107
nach dem Krankenhauſe entjann fich Frenſemeier ziemlich
genau.
Diefelbe Ausfage wiederholte Frenjemeier auch einige
Zage darauf bei feiner verantwortlichen Vernehmung.
Er ging bei derfelben auf die Vorgefchichte näher ein und
behanptete, ſchon fein Licht ausgelöfcht zu haben und mit
dem Auskleiden befchäftigt geweſen zu fein, al& fein Sohn
nah Hauſe gefommen jei. Auch jetzt wollte er über-
fallen fein, ohne den Thäter bezeichnen zu Türmen, und
dann will er bis zur Ankunft ver Polizeibeamten das
Bewußtſein verloren haben.
As die Polizeibeamten erſchienen, wurde er gefragt,
was er gethan habe. Er eriwiberte, er wiſſe von nichts,
man möge mit ihm machen, was man wolle. Auf noch⸗
maliges Befragen nach einiger Zeit gab er dieſelbe Ant»
wort. Indeß war er vollftändig nüchtern, erkannte ben
Bürgermeiſter fofort, beantwortete die fonft an ibn ge-
fteliten Fragen klar und deutlich und ftellte nur jede Er-
innerung an bie That felbft in Abrede. Als er abgeführt
wurbe, fuchte er unterwegs dem Civiltransporteur einen
Geldbetrag zur Ablieferung an feinen Sohn zu übergeben,
wahrfcheinlich um das Geld vor der Beichlagnahme zu
retten,
Im Schlafzimmer des alten Frenſemeier, in welchem
er verbaftet wurde, fand fih ein an ber Spike blut⸗
beflecktes altes Schlachtmeffer vor. Die Klinge deſſelben
paßte genau in die im Vorhemd bes Klinkſiek befinpliche
Deffnung hinein, durch welche Hinburch dem Klinffiel ver
tödliche Streich in den Unterleib beigebracht war.
Vorher hatte der Zeuge Löcher gegen 9 Uhr, als er
von feiner Arbeit nach Haufe zurückkehrte, ven alten Frenfe-
meier allein in der Küche angetroffen. Es war dieſes
um bie Zeit, ehe er fortging, um Fleiſch zu holen. Löcher
108 Eine Studie über mania transitoria,
nahm wahr, wie Frenfemeier eine Schippe in der Hand
hielt und auf ihre Schärfe prüfte, und darauf ein Gleiches
mit einer Hade that. Der Zeuge dachte fogleich an bie
entfetliche Ermordung der Ehefrau Frenfemeier. Er fürch⸗
tete, daß Frenſemeier fich mit Mordgedanken gegen feinen
Sohn trage, und warnte beffen Frau, welche infolge dieſer
Warnung ihren Mam von der Zeche abholte.
Im übrigen wurde die Darftellung ber Eheleute Frenſe⸗
meier jun. in den Nebenumftänden von allen Zeugen be
ftätigt — bei ber That felbft waren fie ja bie einzigen
Zeugen —, und e8 war nur noch vie Frage zu erörtern,
ob Frenſemeier, wie er angab, während ber That be
wußtlos geweſen war, ob er auch diesmal in einem An⸗
fall vorübergehenden Wahnfinns gehandelt hatte.
Hierüber gab der Kreisphufitus Dr. Albers nad»
jtehendes Gutachten ab. Wir tbeilen bafjelbe nur mit,
infofern es diefe Frage behandelt.
Das Gutachten ſpricht ſich dahin aus, daß die charak⸗
teriftiichen Merkmale eines folchen Falls nicht vorhanden
feien, und fährt fort:
„Rah der Verrichtung einer ordentlichen, bejchwer-
lihen Zagesarbeit, bei der allerdings auch Bier und
Schnaps getrunken wurde, wenn auch nicht im Uebermaß,
fehrte Frenjemeier am Abend in feine Wohnung zurüd.
Dort wurde ihm das Abendeffen verweigert, weil er zu
den Koften des gemeinfamen Haushalts nichts beitrug.
Er blieb äußerlich ruhig, wie auch feine Mitarbeiter vor⸗
her nichts Auffallendes an ihm bemerkt hatten. Bet bem
Fleiſcheinkauf in Borbeck erjchten er dem Metzger Leh⸗
mann wol etwas angetrunfen, fonft aber vernünftig.
Auch die Wingenfeld, mit welcher er nachher zufanımen
war, bezeichnete ihn etwas erregt, fonft aber ruhig.
Dann entipinnt fi nah Rückkehr der Eheleute Karl
Eine Studie über mania transitoria, 109
Frenſemeier der Streit, welcher mit dem Tode bes Klink⸗
fiet endet. Als kurz nachher der Bürgermeifter in Be-
gleitung der Polizei erfcheint, nehmen dieſe Beamten an
Frenſemeier nichts Auffallenves wahr. Als er zu bem
Arzte behufs DVerbindens feiner Wunden geführt wurbe,
war Trenfemeier ganz ruhig und ging rüftig mit, ebenfo
auf dem Wege zum Kranfenhaufe, auf welchem er in
liftiger Wetje verjuchte, feinem Begleiter Geld zuzufteden.
Im Krankenhauſe wird nichts bemerkt, was auf eine gei«
ftige Störung hindeutet. Frenſemeier weiß alles ganz
genau, was ſich vor und nach ber That zugetragen bat,
nur von der That felbit will er nichts willen. Dieſer
ganze in kurzen Worten gejchilderte Hergang entfpricht
nicht den Requifiten eines erflärten Deliriums. Es fehlen
die charakteriftiichen Merkmale, beſonders der ausglei⸗
chende, tiefe Schlaf. Frenfemeier fimulirt offenbar aus
Kenntniß, welche er bei feiner erjten Unterſuchung ger
macht hatte, Irrefein während ber ‘Dauer eines acuten
Deliriums.”
Das Gutachten begründet ferner, daß auch fein An⸗
fall von Epilepfie vorliegen könne, weil Frenſemeier
weber vor noch nach der That epileptifche Anfälle gehabt
habe, auch bei der an ihm bei Gelegenheit ver Obduction,
am Tage nach der That vorgenommenen Törperlichen
Unterfuchung fich feine Spur des charakteriftiichen Zungen»
biſſes gezeigt habe, und fchließt damit, daß Trenfemeter
fih bei Begehung der That nicht im Zuftande der Be⸗
wußtloſigkeit oder einer geiftigen Störung befunden habe,
Diefem Gutachten trat auch ver Sanitätsrath Dr. Pel-
man bei, und auf die erhobene Anklage bin wurde Frenſe⸗
meier am 11. Januar 1886 vom Schwurgericht zu Effen
wegen ber vorjäglichen Körperverlegung des Klinkſiek mit
Tobeserfolg und ver weitern an feinem Sohne verübten
110 Eine Studie über mania transitoria.
vorſätzlichen Körperverlekung zu einer Zuchtbausftrafe von
5 Jahren und 6 Monaten verurtbeilt.
Durch die zweite That des Frenfemeier und bie wol
unzweifellofe Simulation vefjelben, indem er eine Erin-
nerungsichwäche heuchelte, welche thatfächlich nicht vor⸗
handen war, kounte der Glaube an der Richtigfeit des
erften Gutachtens erjchüttert werben, troßbem tie berühm-
teften Pſychiatriker Preußens daſſelbe mit ihrer Autorität
beglaubigt haben. Ein folcher Zweifel liegt uns fern.
Die Gutachten ftellen aus dem erjten Vorfall jelbft heraus
mit unwiberleglicher Beſtimmtheit feit, daß damals eine
Simulation des Thäters audgeichloffen war. Wir er-
fennen vielmehr, wie eine urfprünglich gut und weich an»
gelegte Natur unter der Wucht eines entjeßlichen Ver⸗
hängnifjes, nach einer in ber Nacht des Wahnſinns
begangenen graufigen That, tiefer und tiefer ſinkt. Seine
Kraft ift durch die erfte That gebrochen, er hat mit feiner
Frau und dem gewohnten Yamilienleben ven Halt ver-
loren und ergibt ſich dem Brammtweingenuß, ber ihn tiefer
und tiefer ſinken läßt. Seine Verſuche, einen neuen
Hausftand zu begründen, find vergebens. Es gehörte ja
allerdings auch ein heroiſcher Entichluß Dazu, die britte
Frau des Mannes zu werben, ber feine geliebte zweite
Frau in folch entjewlicher Weife ermordet bat. Die
Folgen des Branntweins und bes ungeordneten Lebens
bleiben nicht aus. Stete Reibereien und Ärgerliche Auf-
tritte mit feinem Sohne und deſſen Frau find die Folge.
Er fucht Troft und Betäubung bei ver Flajche, und fchlieh-
(ich tritt jene verzweifelte Gleichgültigleit gegen das Leben
anberer bei ihm ein, in dem er Spaten und Hacke auf
ihre Schärfe prüft und fi nad dem Schlachtineffer um-
ſieht für den Fall, daß es wieder zum Streite kommt,
weil er nicht geneigt ift, demjelben aus dem Wege zu geben.
Eine Studie über mania transitoria. 111
Wol war er äußerlich ruhig, der beinahe funfzigjährige
Mann, ber in ven legten Jahren fo viele Seelenqualen
erbuldet hatte, aber bie Zeugen merften doch feine innere
Erregung, und fchließlich begeht er bei Bewußtfein ven
Mord, welchen er im Wahnwitz fchon einmal begangen
hatte. Damals war e8 feine geliebte Frau, welche das
Dpfer einer nach verzweifelten Seelenfämpfen über ihn
bereinbrechenden geiftigen Umnachtung war. Jetzt aber
batte er bei Bewußtjein das Meſſer für ben einzigen
Sohn zurechtgelegt und bie Mordwaffen auf ihre Schärfe
geprüft, wenn es wieder zum Zank mit demſelben kommen
follte. Und Klinkſiek fiel nur als Opfer, weil jener
entflob.
Wir glauben mit dem Vorgetragenen einen Beitrag
zu ber noch immer etwas dunkeln Lehre von ber Krank⸗
heit der mania transitoria geliefert zu haben, und natur.
gemäß find bei demſelben die mebicinifchen Autoritäten
zumeift berüdfichtigt.‘ In den beiten Frenſemeier'ſchen
Fällen ift die Frage nach der Verantwortlichleit, nad) der
Zurehnungsfähigleit des Thäters, wie auf bes Meffers
Schneide geftellt. Auch in dem zweiten Ball wirkten bie
Factoren mit, welche im erſten ben Ausbruch der Krank⸗
heit bei Frenſemeier veranlagt haben: der Genuß von be»
raufchenden Getränfen und bie Gemüthsbewegung durch
den Zanf im Haufe; aber feine Zurecdhnungsfähigfeit haben
fie nicht ausgefchloffen, ſondern ihn nur zu der That ge-
reizt. Und bier ift ver Punkt, wo bie Vertreter der bei-
den Wiffenfchaften, der Medicin und der Jurisprudenz,
fo häufig auseinandergeben. ‘Die erftern werben geneigt
fein, die Unzurechnungsfähigfeit bei krankhaften Erſchei⸗
nungen vielleicht oft zu früh, die legtern oft zu fpät an-
zunehmen. Allein gerade bei ven in frankhafter Erregung
voliführten Verbrechen kommt alles auf die Beobachtung
112 @ine Studie über mania transitoria.
des Thäters in ben erften Stunden nach der volfführten
That an. Da ift e8 denn als ein fchwerer Schaden
unferer Strafproceßorpnung zu bezeichnen, daß der Rich⸗
ter, welcher mit der Unterfuchung betraut wird, dem
Berbrecher meiftend zu fpät entgegentritt. Die erfte Be
obachtung deſſelben Tiegt in der Hand wenn auch noch jo
tüchtiger Polizeibeamter, denen ed an ber genügenden
Durchbildung zum Erkennen und Auffaffen charafteriftifcher
Momente für ben feelifchen Zuftand des Thäters voll-
fommen fehlt. Der Beſchuldigte hat, wie die Unter-
juhungen nach der Deutichen Reichd-Strafproceforunung
geführt werben, bereit8 ein ganzes Kreuzfeuer mehr ober
weniger unglüdlicher Verhöre beftanden, ehe er vor den
Unterfuhungsrichter geführt wird, ehe alſo ver Mann
mit der Sache befaßt wird, welcher von nun an bas
Material gegen den Befchulpigten fammelt, von deſſen
GSefchicklichkeit und criminaliftifchem Geift ver Gang ber
Borunterfuchung im wejentlichen abhängt, oder doch ab⸗
hängen ſollte. Der Verbrecher hat fih bis zu dieſem
Zeitpunkt gefammelt, er bat im Gefängniffe oder Arreft-
hauje bereits die nöthige „Belehrung‘ erhalten. War der
Thäter bei Begehen des Verbrechens in fteberhafter Er⸗
regung, handelte er vielleicht unter dem Druck und Zwang
einer Krankheit, jo find die Spuren berfelben bereit$ ver-
wicht. Möglich, daß er dem Unterjuchungsrichter etwas
jeltfam vorkommt, daß durch Zufall die Entbedung ge⸗
macht wird, daß eine erbliche Geijtesfranfheit in der Fa⸗
milie des Verbrechers geherricht habe. Dann wird nach
Monaten ein Arzt zugezogen, vielleicht wie im Falle
Trenfemeier erft nach der öffentlichen Verhandlung. In
diefem Zeitpunft find die Kleinen Merkmale bereit ver-
wiſcht und vergeffen und nur einem bebeutenden Arzt und
Menfchenfenner gelingt e8, fie noch wiederherzuftelien.
Eine Studie über mania transitoriea. 113
Ein Hinweis auf die in biefem Punkte glücklichere
Stellung des Unterfuchungsrichtere nach dem franzöftfchen
Code d’instruction eriminelle dürfte bier am Plate fein.
Dort kann der Unterfuchungsrichter im jedem Falle eines
offenbaren Verbrechens dans tous les cas r&putes flagrant
delit ehe und ohne daß eine beftimmte Anfchulpigung
gegen eine bejtimmte Perſon formulirt ift, fofort in bie
Unterſuchung eintreten und mit oder ohne Zufammen-
wirken mit dem Parquet an Ort und Stelle die noth-
mwendigen Maßregeln fofort ergreifen. In den Fällen,
in welchen die That mit einer Leibes- oder entehrenden
Strafe bedroht ift, muß fogar die Staatsanwaltichaft
ſich jofort an Ort und Stelle begeben. Und in ber fran-
zöfiichen Praris iſt es die Regel, daß Unterfuchungsrichter
und Staatsanwalt gemeinfam an Ort und Stelle ven
Zhatbeftand des Verbrechens feititellen.
In Notbftänden hat man auch bei uns in Deutich-
fand ein derartiges Vorgehen des Unterſuchungsrichters
ohne Formulirung der öffentlichen Anklage gegen eine be
ftimmte Perſon gerechtfertigt und für geboten gehalten.
So bei den Ruftmorden in der bochumer Gegend. Und
dadurch ift in der Praxis vom höchften Gerichtshof einer
Brovinz anerlannt, daß unfere gejeglichen Beitimmungen
nicht ausreichen.
Würde jo auch im Deutichen Reiche von vornherein
in den Fällen von ſchweren Verbrechen (welche fich Leicht
feftftellen und aufzählen ließen) der Unterfuchungsrichter
auch ohne Formulirung einer beftimmten öffentlichen An-
age mit der Sache befaßt, jo würde auch die Zuziehung
des Arztes in allen Fällen fofort von ihm angeordnet
werben fönnen, in welchen irgenpwelche krankhafte Er-
ſcheinung zu Zage tritt, oder das Vorhandenfein einer
Krankheit bei dem Verbrecher auch num möglich A Jetzt
XXII.
114 Eine Studie über mania transitoria,
fommt der Richter und der Arzt meiftens zu ſpät, wenn
die oft Heinen und winzigen Merkmale ohne Beobachtung
verloren gegangen find. Für beide Wiflenfchaften, für
bie Nechtöpflege und bie Heilkunde, würbe jo manches
Körnchen gefammelt, welches beiden zum Segen gereichen
fönnte.
Der dreifache Mord in der Mühle zu Dietharz
im Chüringerwalde.
1885.
In einem ziemlich breitgenehnten Thalkeffel des Thü-
ringerwalbe®, ungefähr eine Stunde von Gotha entfernt,
liegen vie beiden Dörfer Diethbarz und Tambach unmittel-
bar nebeneinander. Gleich hinter den Häufern erheben
ſich die Berge, in welche fünf Tanggeftredte Thäler ein-
gejchnitten find, aus denen fich waſſerreiche Bäche er-
gießen, die dann unterhalb ver beiden Dorfichaften ge-
fammelt über Georgenthal in das flache Land ftrömen.
Auf der norbweftlichen Seite des Dorfes Dietharz,
das Heinere der beiden Dörfer, ungefähr funfzig Schritte
von den Hintergebäuden ver in ver Pfarrgaffe gelegenen
Häufer entfernt, liegt am Eingang bes Mittelwaifer-
grundes, von Wiefen umgeben, der Gebäubecompfler einer
Mühle. Während früher Bloche und Breter in ihr ges
fohnitten wurden, war fie feit einigen Jahren zur Der-
ſtellung von Holzmaffe, die zur Papierfabrifation ver-
wendet wird, eingerichtet worden. Der vieredige Hofraum
bes Complexes ift auf drei Seiten von Gebäuden um⸗
geben, während auf ber vierten Seite ein Lattenzaun mit
verfchließbarem Hofthore das Gehöft nach außen abjchliekt.
Den Zugang zu dem Mühlenbeſitzthum bildet ein chauffirter
8*
116 Der breifahe Mord in ber Mühle zu Dietbarz.
Fahrweg, welcher von Dietharz aus im Bogen um bie
Zollftodswiefe herum durch das Hofthor in den Hof führt,
und ein Fußweg, ver von ber Pfarrgafle aus durch einen
faum meterbreiten, überbauten Durchgang zwiichen zwei
Häufern und deren Hintergebäuben quer über bie Zoll-
ſtockswieſe an eine Gatterthür und durch dieſelbe gleich-
falls in dad Mühlengehöft mündet.
An der ſüdlichen Seite des Hofes fteht das zweiſtöckige
Wohnhaus mit eingebautem Mühlengewerk. Im rechten
Winkel Schließt ſich daran faſt unmittelbar ein Gebäude
an, worin fich zwei Rolllammern, Badezellen und ein
Stall befinden. Abermals rechtwinkelig ftößt an dieſes
Gebäude eine große Scheuer mit einem Kubftall, während
bie vierte Seite, wie ſchon erwähnt, durch einen Latten-
zaun und das Hofthor abgefchloffen ift.
In das Wohnhaus gelangt man durch eine auf ber
Hoffeite befindliche Thür und zwar in eine Hausflur.
Steich Links neben der Thür führt eine Treppe in das
obere Stodwert. Geht man an der Treppe vorbei, fo
gelangt man über drei Stufen in die Wohnftube; dieſe
bildet die norböftliche Ede des untern Stodwerld und
bat vier Tenfter. Neben derjelben liegt eine zweifenfterige
Kammer und neben biefer noch eine größere Kammer,
von welcher aus man durch eine Thür in das Mühlen-
gewerf gehen kann. Wendet man fich pagegen rechts von
ver Hausthür, fo gelangt man über eine Stufe burdh
eine Thür in die Mägdekammer, von da in eine Stube
und von da in die Küche. Hinter biefen drei Räumen
läuft in der Mitte des Haufes ein ſchmaler Eorribor
weg, in welchen aus der Küche eine Thür führt. Dieter
Eorridor mündet in die Hausflur. Auf der andern Längs-
feite des Corridors Liegt der große Mühlraum. Aus dem
Corridor kann man durch zwei bis auf etwa 75 Gentimeter
Der breifahe Mord in der Mühle zu Dietharz. 117
vom Fußboden herabgehende Fenfter den obern Theil bes
Mühlraums überjehen und durch eine Thür in venfelben
gelangen.
Das Mühlengewerf befteht aus einem obern und einem
unten Raum, unb beide find durch eine fchmale Treppe
verbunden. In diefen Räumen werden nachts Petroleum-
Iaternen angezündet, da der Betrieb Tag und Nacht fort-
gejeßt wird. In dem obern Raum befindet fih ber
große, wagerecht Tiegende Mühlftein und die Vorrichtung
zum (Einlegen des zu fchleifenden Holzes, während im
untern Raum der Behälter fich befindet, aus welchem bie
abgefchliffene und zermahlene Bapiermaffe herausgenom-
men wird. Hier, und zwar nach der Seite des Corri⸗
bor® zu jteht ein eiferner Ofen. Von dem untern Raum
gelangt man durch Thüröffnungen in brei Fleine abge-
ſonderte Gelafje, in denen bie frifch bearbeitete Holzmaffe
lagert und außerdem noch Holz und Gerümpel aufge:
fpeichert if. Dieſe drei Räume liegen gleich dem untern
Raum des Mühlengewerls im Souterrain des Haufes
unter ber Wohnſtube und den beiden obenerwähnten Kam⸗
mern. Die Dede dieſes Souterrains ift weder verfchalt,
noch mit Kalk beworfen, fondern wird lebiglich von ben
Fußbodendielen der parüber liegenden Wohnräume gebildet.
Diefe Mühlenbefitgung war Eigentum des Hermann
Kölner, welcher fie mit feiner Familie bewohnte. Lebtere
beſtand aus feiner Ehefrau und aus drei Kindern, Erich
neun Jahre, Gretchen fieben Jahre und Anna zwei Jahre alt.
Die Köliner’fchen Eheleute fchliefen mit ihren Kindern in
ber Kammer neben ber Wohnftube. Sie hatten nur eine
Magd Ehriftiane W., welche in ver Mägdekammer rechts
pon der Hausflur fchlief. Die Mühle wurde von zwei
Sefellen, Horn und Peter, bebient, doch dieſe waren ver-
heiratbet und wohnten. im Orte. ‘Die Arbeit war getheilt
118 Der breifahe Mord in ver Mühle zu Dietharz.
in Tagſchicht von 7 Uhr morgens bi8 7 Uhr abends umb
in Nachtichicht von 7 Uhr abends bis 7 Uhr morgens,
und beide wechjelten wöchentlich mit dieſen Schichten ab.
Am 14. Januar 1885 Hatte fich die Köllner'ſche Fa⸗
milie in der Kammer, wie gewöhnlich, zur Ruhe begeben.
Der Raum in biefer Kammer tft Außerft befchränft, va
eine ganze Edle durch eine eingebaute Speiſekammer weg-
genommen if. Der einen Längswand entlang ftanven
bie Betten der Köllner'ſchen Eheleute mit den Kopfenben
aneinander; in bem vordern fchlief bie Frau, in dem hin⸗
tern der Mann. Neben dem Bett des Köliner’ichen Ehe⸗
mannd, durch einen Zwifchenraum von etwa 451/, Centi⸗
meter getrennt, ftand das Bett, in welchem Gretdhen
Kölner fchlief. Unmittelbar neben dem Bett ver Frau
Kölner ftand ein Feines VBettchen, in welchen Anna
Kölner lag. Etwas entfernt von diefen Betten ftanb
das Bett des Erich Kölner neben der nach der Wohn-
ftube führenden Thür, welche, wenn fie geöffnet wurde,
nach dem Bett zu ausfchlug und daſſelbe dem Blick tes
Eintretenben entzog.
Als der Müllergefelle Peter am Donnerstag, den
15. Januar 1885, morgens 7 Uhr in die Mühle kam,
um jeinen Collegen Horn, welcher die Nacht über bie
Mühle beforgt hatte, abzulöfen, fand er bie Hausthür,
welche gewöhnlich von innen verriegelt wurbe, halb offen
fteben. Es fiel ihm dies weiter nicht auf, weil er ver-
mutbete, daß einer der Hausgenofien bereits in den Hof
gegangen fei. Er ging direct in das Mühlengewerk, mo
er Horn in feinem gewöhnlichen Arbeitdanzug traf, mit
ihm noch den Mühlſtein jchärfte, was allwöchentlich ge⸗
ſchah, dann die Mühle wieder anließ und zu mahlen be-
gann, während Horn ungefähr 7'/, Uhr die Mühle ver-
Tieß, fich in feine nahegelegene Wohnung begab und zu
Der breifahe Morb in ber Mühle zu Dietharz. 119
Bett legte. Die Dienſtmagd Chriftiane W. wurde Beute
nicht wie fonft von ihrer Herrſchaft durch die Klingel
gewedt, ſondern erhob fich erſt 61/, Uhr, nachdem Hort
an ihre Kammerthür geflopft und ihr zugerufen Hatte,
es jet num aber Zeit zum Aufftehen. Sie ging in bie
Wohnitube, zündete Feuer im Dfen an, fchloß dann leiſe
die Kammerthür und kehrte die Stube aus. ‘Dabei fiel
ihr auf, daß bie brei Kaften der Kommode aufgezogen
waren, doch hatte fie fein Arg dabei und glaubte, Frau
Kölner habe während der Nacht etwas gefucht. Ingleichen
bemerkte die W., daß das Küchenbeilchen, welches in ven
Teßtvergangenen Tagen zum Aufeifen der Hausthürftufen
benugt worden war, und beshalb in der Hausflur ges
ftanden hatte, in der Wohnftube lag. Nach ihrer An⸗
gabe ftand es zwiichen dem Ofen und ber Feuermaner,
während zwei der |päter in das Haus gefommenen Männer
mit Beſtimmtheit daffelbe auf der Kommode liegen gejehen
haben wollen. Als die Magd das Frübftüd in die Stube
geftellt und ihre übrigen häuslichen Arbeiten bejorgt hatte,
fiel ihr auf, daß niemand von der Köllner'ſchen Familie
aufftand. Sie ging daher wieder in die Wohnftube und
rief an der Kammerthür: „Erich, Eric, du mußt in bie
Schule!” Gleich darauf öffnete fih diefe Thür und der
Zunge fam mit ganz blutigem Hemb ihr entgegen. Nichts
Gutes ahnend, eilte Die W. an ihm vorüber in die Kam⸗
mer und ſah mım, daß Frau Kölner mit biutigem Kopf
im Bett lag, taß Kölner biutüberftrömt neben feinem
Bett auf der Bettvede am Boden lag und daß aud)
Gretchen Blut am Kopfe Hatte. Die zweijährige Anna
faß auf dem Bett ihrer Mutter und fuchte vergebens
fich derſelben durch Streicheln bemerklich zu machen. Von
Entſetzen ergriffen, ftürzte die W. in das Mühlengewerk
und rief dem Beter zu, er folle um Gottes willen herüber⸗
120 Der dreifache Mord in ber Mühle zu Tietharz.
kommen, ba Tiege alles im Blute. Daranf rannte fie
zum Haufe hinaus in die Horn’sche Wohnung und for-
derte den Horn auf, gleich zum Doctor zu laufen, in der
Mühle Liege alles im Blute.
Das Gerücht von einem entjeglichen Unglüd in ver
Köliner’fchen Mühle verbreitete ſich alsbald wie ein Lauf⸗
feuer in Dietharz und Tambach und es ftrömte ſehr bald
eine große Schar Neugieriger herbei. Die Beberztern
unter ihnen zogen die Rouleaur an ven Kammerfenitern
auf und ftellten feſt, daß Frau Kölner mit zerichmetter-
tem Kopf tobt in ihrem Bette lag, daß Kölner jelbit
aus mehrern Kopfwunden blutend noch röchelte, aber feine
Spur von Befinnung hatte. Er wurde wieder in fein
Bett gehoben, vom Barbier nothhürftig verbunden und
ftarb — um dies gleich hier zu erwähnen — am zweiten
Tage nach der Entvedung morgens 31, Uhr, ohne wieder
zum Bewußtjein gefommen zu jein. Gretchen Köliner
gab mit zweifach gejpaltenem Kopf noch Zeichen von Leben,
verjchied aber noch am Vormittag deſſelben Tags 10'/, Uhr,
Erich Kölner hatte eine lange klaffende Schnittwunde
an der Linken Seite des Halſes, welche jedoch, da bie
Schlagader unverlegt war, das Leben nicht gefährdete.
Er wurde in ein anderes Zimmer gefchafft und von ber
Magd gewafchen, verbunden und verpflegt. Die unver:
legt gebliebene zweijährige Anna Kölner brachte man als⸗
bald in einer befreundeten Familie unter.
Während bei ber allgemeinen Aufregung niemand
baran dachte, Gericht und Sicherheitsbehörben zu Hülfe
zu rufen — ber Schultheiß von Dietharz war verrelt,
ein Gensdarm im Ort nicht ftationirt —, telegrapbirte
der Müllergefelle Horn an einen Bruder der Frau Köllner
in Ohrdruf, Kölner habe großes Unglück angerichtet,
Frau Kölner fei tobt. Zufällig erhielt das Amtsgericht
Der breifahe Mord in der Mühle zu Dietbarz. 121
Ohrdruf, zu defien Sprengel Dietharz gehört, Kenntniß
von biefem Telegramm und verfügte fich alsbald an Ort
und Stelle, wo es gegen 1 Uhr nachmittags ankam.
Auch die Staatsanwaltichaft von Gotha, welche erſt nach⸗
mittags telegraphiich benachrichtigt worden war, erjchien
bei Anbruch der Dämmerung in Dietharz. Es wurde
nun durch das Gericht die Mühle und deren nächite Um-
gebung genau befichtigt, der Befund aufgenommen, die
Abjperrung des Gehöftes verfügt und die Vernehmung
des Köliner’ichen Dienſt- und Geſchäftsperſonals ſowie
ber zuerjt berbeigefommenen Berfonen bewirkt. An ben
nächjtfolgenden Tagen wurbe das Gericht vornehmlich
durch bie Obduction der drei getöbteten Perſonen in An-
ſpruch genommen.
Die gerichtliche Obduction ergab, daß bei ben Köll⸗
ner'ſchen Eheleuten und bei Gretchen Köliner ber Tod
durch die an ihnen vorgefundenen Kopfwunden und
Schäbelzertrümmerungen verurfacht worden war. Frau
Köllner hatte hauptſächlich auf der rechten Kopfhälfte und
zum Theil nach dem Hinterkopfe zu vier fchwere Wunben,
bei welchen man jehen und fühlen Tonnte, daß bie dar⸗
unter liegenden Schädelknochen gebrochen waren. Ins⸗
beſondere war das rechte Schläfenbein in zahlreiche Theile
zerfchlagen, der Knochenriß erjtredte fich von da bie
zum Höder des rechten Seitenwandbeins. Frau Kölner
ſchien die tödlichen Streiche im Schlaf erhalten zu haben,
denn fie lag mit ruhigem Gefichtsausprud auf der Linken
Seite im Bett und letzteres war fo glatt und unverfnällt,
daß fie fih kaum mehr gerührt und geregt haben konnte.
Die Section des Köllner’ichen Ehemanns ergab auf
der rechten Schläfe drei Wunden und eine am Hinterkopf
quer am Hinterhanpthöder verlaufende zweiſchenkelige
Wunde. Diefen DVerlegungen entiprach eine ausgebehnte
122 Der breifade Mord in der Mühle zu Dietharz.
EC chäpelzertrümmerung. Durch die ganze rechte Kopffeite
zog fich ein Knochenbruch, welcher, im Naden etwa 6 Cen⸗
timeter hinter der Obrmufchel beginnend, nad vorn zu
auffteigend und über den Höder, dad Seitenwandpbein,
den obern Rand der Schuppe des Schläfenbeins verlan-
fend, das Stirndband bis zur Nafe fpaltete.
Außerdem conftatirte man an ber Leiche noch auf ber
Rückſeite der Tinten Echulter nach hinten zu mitten zwi⸗
hen Naden und Schulterböhe gelegen eine halbhand⸗
große, blutroth gefärbte, unregelmäßig geformte Hautftelle.
Sämmtliche Wunden fchienen den Köllner'ſchen Ehe⸗
leuten burch wuchtige Schläge mit einem ftumpfen, harten
Gegenſtande beigebracht zu fein; die Eontufion auf dem
Rüden des Köllner aber ließ vermuthen, daß er fich anf-
gerichtet und einen der für feinen Kopf beftimmten Schläge
mit der Schulter aufgefangen hatte. Einen noch granfigern
Eindruck machte der Anblid von Gretchen Kölner. Ihre
Verlegungen rührten augenfcheinlich von Fräftigen Hieben
mit einem fcharfen Inftrument ber. Auf der rechten vor⸗
dern Kopffeite, 7 Centimeter über der rechten Augenbraue
beginnend, verlief in gerader Richtung nach hinten eine
5,5 Gentimeter lange und 1 Centimeter weit Flaffente,
ziemlich fcharfränderige blutige Wunde. In ber Tiefe der⸗
jelben, unter ver Kopfichwarte, war ein in berfelben Rich⸗
tung laufender Schäbelbruch fihtbar. Cine zweite Wunde
begann 1,5 Centimeter über der Nafenwurzel und verlief
in gerader Richtung nach oben 5,; Gentimeter lang unb
Haffte in der Mitte weit auseinander. Im der Tiefe war
ber Schädel zertrümmert und das Gehirn fichtbar. Inner⸗
halb einer dritten, oberhalb des Tinten Auges liegenden
6 Centimeter langen und über 2 Centimeter Flaffenven
Wunde lag der zerbrochene Schäbel bloß. Diefen furcht-
baren Berlegungen entiprach eine gewaltige Zertrümmes
Der breifahe Mord in ber Mühle zu Dietharz. 123
rung ber auf ber linken Kopfhälfte Tiegenden Schäbel-
knochen und breiige Zerftörung der Gehirnſubſtanz.
Als Morbinftrument ſchien das Küchenbeilchen benutzt
worden zu jein, welches, wie oben erwähnt, die Magp
am Morgen nach der That in der Wohnftube gefunben
hatte, denn ed war mit Blut beſchmuzt, Menſchenhaare
Hebten an ibm und bie Configurationen mehrerer Stellen
der Kopfverlegungen entfprachen dem Rücken bes Beiles.
Sonach mußte der Mörder die Köllner'ſchen Eheleute mit
bem ſtumpfen Theile, Gretchen Köliner mit der Schneibe
des DBeiles getroffen und erfchlagen haben. Dagegen war
dem Erich Köllner die Wunde am Halfe mit einem fcharf
ſchneidenden Inftrument, wahrfcheinfich einem Meſſer bei-
gebracht worden. Ein ſolches wurde aber nicht gefunden
und ſchien vom Mörder mitgenommen worben zu fein.
Wer aber war der Mörder? Das war bie Frage,
welche nach dem erften Entjegen alle Gemüther in fieber-
bafter Spannung hielt.
Unmittelbar nad) Entvedung der Blutthat richtete fich
der Verdacht allgemein gegen ven Meühlenbefiter Her⸗
mann Kölner felbft; er follte feine Frau, dann feine
Kinder und zulekt fich jelbft getöptet haben. Im erften
Augenblide jprach mancherlet für dieſe Anficht.
Kölner, ein geiftig fehr gering beanlagter Menſch,
war als einziges Kind bemittelter Aeltern verzogen und
verhätichelt, ohne Zucht und Zügel aufgewachien. Nach⸗
dem er erſt Landwirthſchaft betrieben hatte, Taufte er jpäter
die Schneivemühle. Infolge eines Proceſſes verlor bie
Mühle einen großen Theil ihrer Wafferkraft und Kölner
richtete fie zur Holzſchleiferei für Papterfabrilation ein.
Das Geſchäft ging fchlecht und Kölner befand fich häufig
in der größten Gelpverlegenheit, ſodaß er bie Löhne feiner
beiden Arbeiter nicht regelmäßig auszuzahlen vermochte
124 Der breifahe Mord in ber Mühle zu Dietharz.
und ſogar öfters von einem terfelben, tem Werkführer
Horn, einige Mark borgte. Er ging dann ſtets zu jeiner
Mutter, welche als Witwe in Georgenthal lebte, und ließ
fich von ihr Geld geben. Er hatte fich fehon früh ver-
beirathet, doch wurde biefe Ehe, welche kinderlos ges
blieben war, auf Antrag der Frau Kölner wegen mehr-
fahen Ehebruchs ihres Ehemanns gerichtlich geſchieden.
Er heirathete bald darauf zum zweiten mal und lebte an«
fänglih friedlich umd gut mit feiner Frau, welche ihm
drei Kinder gebar. Doch auch jet bewahrte Kölner bie
ehelihe Treue nicht und rühmte fich feinen Gefellen und
Zehgenoffen gegenüber oft mit unleiblichem Chnismus,
baß er es mit vielen feiner Dienſtmädchen gehalten Hätte.
Es gab dies auch oft DVeranlaffung zu Zwiftigleiten,
welche in leßterer Zeit dadurch noch gefteigert wurden,
dag auch Köliner Grund zur Eiferfucht zu haben glaubte,
Während Kölner in ven letten Monaten auch über biefe
belicaten Berhältniffe feinen Gefellen gegenüber oft ge
ſprochen und fich in drohenden Aeußerungen gegen feine
Frau ergangen hatte, äußerte er fih am Tage vor Dem
Morde zur Dienftmagd W. ohne irgendeine Veranlaffung,
fie würbe ſchon noch jehen, was fie in diefem Haufe er-
leben werde. Die beiden Müllergefellen, welche in ver
Vorunterſuchung verartige Aeußerungen Köllner’s in be-
jtimmter Form nicht befunbeten, fagten merkwürdigerweiſe
in der Hauptverhandlung aus, daß Kölner fih am Tage
vor dem Morde in heftigem Zorn über feine Fran aus⸗
geiprochen und gedroht habe, er wolle fie noch tobtichlagen.
Erſchien aus diefen Gründen ber Verbacht gegen
Kölner nicht ungerechtfertigt, jo ſtand demſelben doch zu-
nächft der Umſtand entgegen, daß am Abenb vor ber
Mordnacht nachgewiejenermaßen fein Streit unter ben
Ehegatten ftattgefunden hatte, und daß Köliner troß feines
Der dreifade Mord in ber Mühle zu Dietharz. 125
Jähzorns und feiner rohen Sinnlichkeit von Grund feines
Herzens ein gutmüthiger Mann war und feine Kinder,
namentlich aber feine Tochter Gretchen zärtlich Tiebte.
Gänzlich befeitigt wurde dieſer Verdacht aber burch das
Gutachten der Obducenten, nach welchem die Wunden
Köllner's fo fchwer waren, daß er fich dieſelben
durch eigene Hand unmöglich zugefügt haben konnte.
Schon nah dem eriten Schlage würde das Bewußtjein
bes Berlegten geſchwunden und berfelbe nicht mehr im
Stande gewefen fein, fich noch mehrere ebenjo mwuchtige
Diebe auf den Hinterkopf beizubringen, gefchtweige denn,
daß er dann noch das Beil in die Wohnftube Hätte tragen
und in die Kammer hätte zurückgehen können — oben-
drein ohne die geringfte Blutſpur zu Hinterlaffen.
Trotz dieſer evidenten Beweiſe für pie Nichtſchuld Köll⸗
ner's ſpukte der einmal gegen ihn gehegte und ausge⸗
ſprochene Verdacht noch lange nach Entdeckung des wirk⸗
lichen Mörders in den Köpfen der Einwohner von Tambach
und Dietharz und tauchte, wie wir ſehen werden, ganz
zuletzt noch einmal auf.
Sodann wurde gegen den Müllergeſellen Horn der
Verdacht ausgeſprochen, ſeinen Brotherrn und deſſen Fa⸗
milie ermordet zu haben. Horn hatte in der fraglichen
Nacht Dienſt in der Mühle gehabt, und es war aller⸗
dings auffallend, daß er von der ganzen Blutthat, die
doch nicht ohne Lärm und Geſchrei vollführt fein konnte,
gar nichts gehört Haben wollte, zumal bie ‘Dede ver drei
obenerwähnten Räume neben dem Mühlengewerfe nicht
verichalt war und man in benfelben troß des Lärmens
der angelafjenen Mühle veutlich jeden Tritt eines burch
die Wohn- und Schlafftube gehenden Menichen hörte.
Freilich brauchte Horn während der Nachtichicht höchſtens
einmal in diefe Räume zu gehen, um bie fertige Bapier-
126 Der dreifache Morb in ber Mühle zu Dietharz.
mafje dort nieberzulegen, und war es nur zu wahrfchein-
lich, daß er fich in jener Falten Winternacht foviel, ale
e8 feine Arbeit erlaubte, in der Nähe bes geheizten Ofens
in dem untern Raume des Mühlengewerks aufgehalten
hatte. Das Motiv zum Morde follte für Hom in ber
Hoffnung gelegen haben, auf dieſe Weiſe jelbft billig in
den Belig der Mühle zu kommen.
Jedermann wird einfehen, auf wie fchwachen Füßen
ber Verdacht gegen Horn ftand. Dorn, ein fleißiger,
iparfamer und unbejcholtener Mann, der mit feiner Familie
in völlig georbnneten Verhältniffen lebte, jeit fünf Jahren
bei Köliner gearbeitet hatte und beifen unbedingtes Ver⸗
trauen bejaß, follte plößlich über Nacht zu einer Beſtie
geworben fein und feine Brotherrfchaft und deren Kinder,
welche er hatte heranwachſen fehen, laltblütig bingefchlachtet
haben, lediglich um die Mühle Köllner's vielleicht billig
zu erwerben, von der er felbit am beften wußte, daß fie
Schlecht rentirtel? Und am Morgen nach ber furdtbaren
That follte er mit der Deuchelei und Selbftbeherrichung
des vollendeten Verbrecher feinem Kameraden Beter
gegenübergetreten fein und ſich dann nach Haufe begeben
haben, als wenn nichts pafjirt fei? Das war eine pſfh⸗
chologiſche Unmöglichkeit. Dazu kommt, daß Horn am
Morgen nach der That ſich noch in demſelben Anzuge
befand, in welchem er abends feinen Dieuft angetreten
hatte, und daß Feine Blutſpuren an biefem Anzuge zu
ſehen waren.
Aber abgejehen von allen biefen Gegengründen ſprach
der übrige objective Thatbeſtand zwingend bafür, daß ber
Mörder ein fremder, mit ver Umgebung der Mühle völlig
unbefannter Menſch gewejen fein mußte.
Es wurden nämlich gleih am erften Tage in ber
Umgebung ver Mühle Spuren bes Mörbers gefunden
Der breifahe Mord in ber Mühle zu Dietharz. 197
und feftgeftellt, welche fpäter ein Hauptbelaftungsmoment
bildeten; Spuren, deren Erhaltung man bauptfächlich der
Witterung verdankte. Während in ven legten Tagen vor
bem Morde heftiges Schneegeftöber bei mäßiger Kälte ge-
herrſcht und die ganze Gegend mit einer faft meterhohen
Schneebede überzogen hatte, hörte am Nachmittag des
14. Januar das Schneien plößlich auf, die Kälte ftieg in
ber Nacht bis auf 6— 7’ R. und hielt unter fortwähren-
ben Steigen bis zum 28. Januar an. Und während
biefer ganzen Zeit fiel feine Schneeflode vom Himmel
nieder auf die Spur des Mörders!
Derjelbe jchien vom Hofe aus durch das Küchenfenfter
eingeftiegen zu fein, benn an ber Hauswand unter dem⸗
felben war auf einem etwas vorfpringenden LUnterfchlage
der Schnee in der Breite eines menschlichen Fußes zu-
ſammengedrückt und beſchmuzt, während auf dem Geſimſe
bes Fenſters der Schnee einige Hände breit abgeftreift
war. Das fehr verquollene Fenſter konnte nicht zuge:
wirbelt, jondern nur angebrüdt werben. Mußte man nun
annehmen, daß der Mörder fich auf dieſe Weile durch
das Fenſter in die Küche gefehwungen batte, jo war fein
weiterer Weg von ſelbſt gegeben. Von ver Küche gelangte
er in ben burch die im Mühlenraum hängende Betroleum-
lampe erleuchteten Corridor und von da in bie Hausflur.
Hier mußte er Licht gemacht Haben, denn hier hatte er
das neben der Hausthür ftehende Beil gefunden und mit
in bie Stube genommen. Er hatte auch mit Licht in den
Kaften der Kommode gefucht, war dabei jedoch offenbar
in großer Haft gewejen, denn ein offen baliegender Geld⸗
betrag von etwas über ſechs Mark und eine in eine
Zajchentuchede gefnüpfte Summe von 45 Marf waren
von ihm liegen gelaffen worden. Lebterer Umftand wurde
jpäter ein wichtiges Beweismittel gegen den Schufdigen.
128 Der breifade Mord in ber Mühle zu Dietharz.
Erwähnt foll Hierbei al&balo werben, daß von dem
Kölner’ichen Eigentbum nur eine filberne Taſchenuhr nebit
einer jchwachglieterigen goldenen Kette, welche gewöhnlich
über Köllner's Bett bing, vermißt wurde. Es lag baber
die Bermuthung nahe, daß Kölner durch die Wegnahme
der Uhr aus dem Schlafe gewedt war, ſich aufgerichtet
und nun bie töblichen Schläge erhalten hatte. Nach
Verrihtung der Blutarbeit in der Köllner'ſchen Kammer
jcheint den Mörder das Graufen gepadt und zur wahn-
finnigen Flucht gepeifcht zu haben, denn er eilte durch
die Hausthür, welche er von innen entriegelte und Halt
offen fteben ließ, ind Freie und wendete fich ftatt rechte
nad dem Ausgange des Gehöftes nach links dem quer
vorliegenden breiedigen Gebänte zu. Hier gelangte er
nad Deffnung einer nur zugehaspelten Thür in einen
Ihmalen Gang, dann nach links umbiegend über ein paar
Stufen in eine Rollfammer und von da durch eine Thür-
Öffnung in einen Nebenraum, ber durch ein Fenſter er-
heilt wird. An demfelben war ver Mörder, wie Spuren
an ver Wand veutlich zeigten, binaufgeflettert und Dann
hinausgefprungen. ‘Die Höhe des Sprunges betrug nur
einen Meter, das Terrain ftteg nach einem fchmalen Fuß⸗
weg binan; der Herausfpringende war auf dem unebenen
Boden zu Fall gelommen und hatte bie linke Hand, ven
Imfen Vorderarm und bie ausgefpreizten Finger in dem
tiefen Schnee abgedrückt. Er war dann, ba er ben vor
ihm binlanfenven Fußweg bei der Dunkelheit nicht wahr:
nahm, rechts am Gebäude bingetappt und an ber Ecke
defjelben in den 3—4 Meter tiefen, mit Schnee ange-
füllten Abichlaggraben geftürzt. An ven Spuren ſah man,
wie fih der Gefallene mit Händen und Füßen unter
großen Anftrengungen aus dem Graben wieder beraus-
gearbeitet hatte und auf ben längs des Mühlgrabens
Der dreifahe Mord in ber Mühle zu Dietbarz. 129
binfaufenden Fußweg gelangt war. Auf biefem Wege
war die Spur des Mörbers zunächſt nicht zu verfolgen,
da mehrere Berjonen denſelben bereit8 paffirt hatten.
Während dieſer Fußweg nach rechts auf einige entfernt
liegende Häufer zuführte und dort endete, gelangte man
links auf bemjelben mittel einer jchmalen Brüde über
ben Mühlgraben und dann weiter auf ven fchmalen Weg,
welcher von ver Mühle aus über die Zollftodswieje nach
den Hintergebäuben der in der Pfarrgaffe liegenden Häufer
und burch einen faum meterbreiten, tunnelartig über-
bauten Gang in bie Pfarrgaffe führt. Hierher mußte
der Mörder gegangen und in dem Wahne, daß er beim
weitern Borfchreiten in Höfe geratben werde, zur Seite
abgebogen fein. Denn furz vor ben Gebäuben führte
eine Fußfpur nach links ab durch tiefen Schnee quer über
die Zollftodswiefe nach einem Fahrwege, auf welchem
man nach dem ‘Dorfe gelangt. Dieſer war betreten und
befahren, ſodaß die weitere Verfolgung ber einzelnen
Spur ummöglicd) wurde.
Der dreifache Mord hatte in den beiden Nachbarorten
Tambach und Dietharz natürlich die größte Aufregung
hervorgerufen, es bachte niemand an Arbeit, überall jah
man die Bewohner mit entjeßten Mienen in Heinen
Trupps zufammenftehen, und hörte, wie fie bie gräßlichen
Einzelheiten des Befundes immer und immer wieder ein-
ander erzählten und jchilberten. ‘Die Wirthshäufer waren
Abends überfüllt, denn jeder fühlte das Bebürfnig, über
den ſchrecklichen Ball mit andern zu fprechen, feinen Ver⸗
muthungen Ausdruck zu geben und womöglich zu bören,
ob die gerichtlichen Vernehmungen, welche im vollen
Gange waren, Licht in das Dunfel biefer Kataſtrophe
brächten. So hatte fih denn auch in einem ber erſten
Gaſthöfe Tambachs ein großer Kreis von Männern zu-
XXII. 9
130. Der breifahe Mord in ber Mühle zu Dietbarz.
jammengefunven, deren Unterhaltung fich um das Ereig-
niß des Tages drehte. Da erzählte ein Schneidemühlen⸗
befiger W. von Dietbarz, als fich fchon ein Theil ber
Säfte entfernt Hatte, beiläufig, daß heute Nachmittag
1 Uhr ein Mann ganz erfihöpft und marobe zu den anf
feiner Schneidemühle arbeitenden Leuten gefommen ſei und
erzählt habe, daß er heute Morgen von Tambach aus
nach Oberfchönau babe gehen wollen, den Weg verfehlt
hätte und vom einem Walbiwart, den er eine halbe Stunde
jenfeit der Schneivemühle getroffen, nach Dietharz ge-
wiefen worden wäre. Dem Müblenbefiger, welcher nach⸗
mittags auf feine Mühle gefommen fe, habe der Fremde
auf Befragen angegeben, er heiße Thalborf, ftamme aus
Erfurt, fei Gärtner und habe Rofenwilplinge in Ober⸗
Ihönau holen wollen. Dieſe Erzählung fam noch an dem⸗
jelben Abend zur Kenntniß der Staatsanwaltfchaft. Die
Auskunft des verirrten Wanderers war fehr unglaubhaft,
denn das Hochgebirge iſt kein Play für Roſenwildlinge
und ber Weg zwiichen Tambach oder Dietharz und Obers
ſchönau war damals wegen bes hohen Schneed nicht
paffirbar. Bezüglich ver Oertlichkeit fei alsbald Folgendes
bemerkt: Bon Dietharz aus führt ein ziemlich breites,
bon einem Gebirgsbache, vem Schmalwaffer, durchſtrömtes
Thal, der Schmalwaffergrund genannt, 2%/, Wegftunden
lang nach dem Hauptftode des Thüringerwaldes. Im
dieſem Grunde an dem Bache hinauf liegen noch einige
Schneivemühlen; die des W. iſt die legte. Nach zwei
ſtarken Wegftunben erreicht man auf der nur wenig ans
fteigenden Chauffee, in welche von links einige Seiten-
thäler einmünden, eine Stelle, wofelbft fich das Thal
verengert und nach links wendet. Hier erhebt ſich ein
hoher und fteiler Felskegel, der Falfenftein. Die Fahr:
ſtraße fteigt an der das Thal zur Rechten begrenzenben
Der dreifahe Mord in der Mühle zu Dietbarz. 131
Bergwand jteil empor und am Hubenjtein vorüber bis
auf den Kamm bes Gebirges, welcher fich nach Tinte
wendet, den Schmalwaffergrund gleichtam abſchließt und
nach Oberhof führt. Bleibt man aber im Schmalwaffer-
grunde und läßt bie Straße rechts liegen, fo gelangt man
zunächſt an den Falkenſtein. Bon bier aus verengt fich
das Thal zu einer Schlucht, welche ver Badegraben ge-
nannt wird. Ein bolperiger Holzabfuhrweg läuft neben
dem in Zidzad berabfließenden Bache bin und fteigt mit
der Schlucht fteil zum Kamm des Gebirges empor. Von
der am Hubenſtein vorbeiführenden Chauffee biegt zwar ein
hauffirter Weg nach dem Dorfe Oberſchönau ab, welches
jenfeit des Gebirgsfammes in einem tiefen Thale Tiegt,
boch iſt verjelbe bei hohem Schnee ebenfo wenig zu
pajfiren als die von Tambach ber nach Oberſchönau
führenden Wege. Dieſe Gegend gehört zu ven fchönften
und wildromantitchften heilen des Thüringerwaldes und
wird im Sommer von Zouriften viel durchzogen, im
Herbit und Winter dagegen meiftens mur von Holzhauern
begangen, welche auf Hanbfchlitten ihren Bedarf an Brenn⸗
ımb Bauholz daſelbſt holen. Bei hohem Schnee aber
ſtockt dort jeglicher Verkehr, und dringt oft wochenlang
fein menfchliches Wejen in diefe Schnee» und Eiswüfte vor.
Um fo auffallender war e8 daher für den Kreiſer I.,
als er am Dommerstag, den 15. Januar 1885 (Tag nach
dem Morde in der Köllner’ichen Mühle), mittags 12/, Uhr,
mitten im Schmalwaffergrumde einen Mann in dem halb-
meterhoben Schnee vom Gebirge ber auf fich zukommen
ſah. 3. war von Dietharz aus mühſam durch ven hohen
Schnee bis an ein Seitenthal des Schmalweffergrundes,
den fogenannten Walsbach, gematet, um eine bortige
Wildfütterung zu controliren. Er hatte nach vem Paſſiren
per fetten Schneidemühle zwei Fußſpuren beobachtet, welche
9%
132 Der dreifade Mord in ber Mühle zu Diethar;.
von Dietharz aus den Schmalwaffergrund binaufführten;
bie eine war etwas verweht und verlor fich in den Wale
bad. Es ftelite fich fpäter herans, daß fie von einem
Waldwart herrührte, welcher tags vorher an ver Wild⸗
fütterung gefüttert hatte. ‘Die andere Spur war frikh
und ging am Walsbach vorüber die Straße im Thal
weiter hinauf. Als nun I. am Eingange des Walsbaches
eben von der Straße dorthin abbiegen wollte, erblidte er
ben ihm entgegentommenten Mann, welcher ſich mit ver
Iinfen Hand auf einen ftarfen Aft ſtützte und anfcheinent
ganz marode faum mehr weiter fchleppen konnte. Er war
rein und anftänbig mit einem Rod und einem Ueberzieher
beffeivet und nur fein Schuhwerk befand fich in deſolatem
Zuftande. Seine Stiefeln waren auf beiden Seiten weit
aufgeplatt, fobaß die Fußzehen blau vor Froſt daraus
beroorragten. ‘Der Wanberer frug J., wo er fich befinde,
und gab auf die Gegenfrage, woher er komme und wohin
er wolle, an, er fei von Tambach aus nach Oberfchönau
zu gegangen und babe ven Weg verfehlt. 3. erflärte ihm,
baß er gerade von ber Richtung herkomme, in welcher
Oberjchönau liege, daß der Weg dorthin des hohen Schnees
halber aber jett nicht paffirbar fei, und daß ihm deshalb
nicht8 übrigbleibe, als nach Dietharz zurüdzugeben. “Der
Fremde folgte diefem Rathe und fchleppte fi in ter
Richtung nah Dietharz weiter bi zu der W.'ſchen
Schneidemühle, woſelbſt er um 1 Uhr nachmittags zum
Zobe erichöpft, Halberfroren und balbverbungert ankam.
Er wurde von den in ber Schneivemühle beichäftigten
Arbeitern mit Kaffee und Brot erwärmt und geftärkt,
blieb ein paar Stunden in der Müllerftube fißen und bat
wiederholt und dringend, ihn über Nacht dafelbft zu Laffen,
Erſt auf den energifchen Proteft bes inzwiſchen einge-
troffenen Beſitzers W. ging der Menſch in ten Ort
Der dreifahe Mord in ber Mühle zu Dietharz. 133
Dietharz hinein und erbettelte fich die von der Gemeinde
gewährte Unterftügung in Form von drei Karten zu fünf
Pfennigen, welche er fich in der Gemeindeſchenke einwech-
jelte. Dann fprach er beim Gemeindediener um Nacht»
guartier an, wurde aber weggewieſen und dann burch
Bermittelung des Ortsfchultheißen in der Schenle für bie
Nacht untergebradt. Sämmtlichen Perfonen gegenüber
nannte er fich Thaldorf und gab an, daß er nach Ober-
ſchönau hätte gehen wollen, um Rofenwilplinge zu holen,
und fich verirrt babe. Er erzählte ferner, daß er in ber
vorigen Nacht in dem erften Gafthofe zu Tambach, an
welhen Stufen zur Hausthür hinaufführen, übernachtet
habe; andern Perfonen fagte er, er hätte in ‘Dietharz,
noch andern, er hätte in einem Privathaufe zu Tambach
im Heu gefchlafen. Am folgenden Morgen, Freitag, ben
16. Januar, verließ er Dietbarz, nachdem der Stations-
gensdarm ihn noch im Ort getroffen und über feine Per⸗
fonalien und das Woher und Wohin ausgefragt hatte,
und ging auf der Chauffee nach Georgenthal. Auf einen
Herrn, welcher auf dem Wege mit ihm zufammentraf und
mit ihm nach Georgenthal ging, machte er den Eindruck
eines anftändigen und gebilbeten Menſchen, mit dem man
fih gut unterhalten könne. Auch ihm erzählte er von
jeiner verunglüdten Tour nach Oberfchönau, erwähnte
aber, daß er erit am Donnerstag Morgen nah Tambach ge=
fommen und frob fei, daß er in der Nacht vom Mätt-
woch zum Donnerstag nicht dort übernachtet Babe, font
hätte er am Ende auch in den Verdacht kommen können,
die Müllersleute ermordet zu haben.
Die Staatsanwaltichaft erfuhr, wie oben erwähnt,
gleich an demſelben Abend noch zufällig aus dem
Munde des Schneivemühlenbefigers W. deſſen Zufammen-
treffen mit dem verirrten Wanderer, welcher ſich Thal⸗
134 Der breifahe Mord in ber Mühle zu Dietharz.
borf aus Erfurt genannt habe, und frug deshalb fofort
bei der Polizeiverwaltung in Erfurt fchriftfih an, ob es
dort einen Gärtner Andreas Thaldorf gebe und was zu
ihm jei, da er am Tage nach dem Morde unter auffallen:
den Umftänben in Dietharz betroffen worden wäre.
Und e8 gab wirklich einen Gärtnergehüffen Andreas
Thaldorf in Erfurt!
Derſelbe war am 18. November 1861 in Erfurt von
armen, aber unbeſcholtenen Eltern geboren. Bon Jugend
auf träge und geregelter Thätigleit abhold, betrat er ſchon
mit 14 Jahren die Verbrecherlaufbahn und wurde wegen
einfachen Diebftahl® am 21. October 1875 vom könig-
lichen Kreisgericht in Erfurt zu vierzehntägigem Gefäng:
niß berurtbeit. Im Jahre 1878 beftrafte ihm daſſelbe
Gericht wegen Diebſtahls, Landſtreichens und Bettelns
mit 6 Monaten Gefängniß und vierzehntägiger Haft und
überwies ihn der Landespolizeibehörde. Zwei Jahre
darauf führten ihn zwei ſchwere Diebſtähle auf 2 Jahre
3 Monate in das Zuchthaus, auch wurde er nach Ver-
büßung dieſer Strafe unter Polizeiaufſicht geſtellt. Am
11. September 1884 endlich erkannte das Schöffengericht
wegen Betrugs auf einen Monat Gefängniß gegen ihn.
Der Verbüßung dieſer Strafe entzog fich Thaldorf durch
die Flucht und will in Wiesbaden gearbeitet haben. Im
November 1884 meldete er ſich ohne einen erſichtlichen
Grund bei dem Polizeipräfidium in Wiesbaden und gab
unter Nennung ſeines Namens an, daß er wegen Ber⸗
büßung einer Strafe von der Staatsanwaltichaft zu
Erfurt ftedlbrieflich verfolgt werde. Da ſich dies anf
Nachfrage beftätigte, jo wurde Thaldorf nah Erfurt
transportirt und verbüßte im bafigen Lanbgerichtsgefäng-
niß die ihm zuerkannte einmonatliche Freiheitsftrafe.
Während biefer Zeit hat er fi, wie im Berlauf ver
Der breifahe Morb in ber Mühle zu Dietharz. 135
gegenwärtigen Unterfuchung zur Sprache kam, feinen Mit-
gefangenen gegenüber mit großer Frechheit oftmals ge⸗
bräftet, er hätte jchon manches ausgeführt, fet aber noch
nicht beftraft worden. Ein anderes mal venommirte er
wieter mit feinen Vorbeftrafungen, flunferte, er fei Drei
Sabre in Baiern unter falichen Namen gereift, und
unter demſelben auch beitraft, er wife einen Ort, wo
300 Mark gu holen ſeien, die wolle er ſtehlen, fich feine
Kleider anfchaffen und nach Wiesbaden reifen, wo er im
Walde feine Diebeswerkzeuge vergraben habe. Mit viefen
werde er fih 80000 Mark holen, veren Aufbewahrungs-
ort er kenne. Einen Mitgefangenen, einen Schloffer von
Profeſſion, forderte er auf, ihm Dietriche anzufertigen, er
wiffe Leute auf den Dörfern bei Erfurt, wo viel Gelb
zu bolen jei.
Daß ein Menſch mit folcher Vergangenheit ſchließlich
auch eines Morbes fähig jet, war an fich glaubhaft, und
die Polizei zu Erfurt jchritt daher fofort zur Verhaftung
Thaldorf's. Doch erſt am 17. Januar (Sonnabend) nach⸗
mittags gelang es ihr, des Thaldorf, welcher fich bei
feinem Bruder in Erfurt aufbielt, habhaft zu werben.
Seitens des vernehmenden Commiſſars erfuhr Thal⸗
dorf mit feiner Silbe, welch ſchwerer Verdacht auf ihm
rube und weshalb er gefänglich eingezogen ſei. Aeußere
Thatumftände begänftigten viefes Verfahren. In ven
letzten Monaten des Jahres 1884 war in Erfurt eine
ganze Reihe frecher Einbruchsdiebſtähle begangen worden,
deren gleichmäßige Ausführung zu dem Schluffe nöthigte,
daß fie ſäämmtlich von ein und derſelben Perſon oder ein
und berfelben Bande verübt worben feien. Der Gedanke,
daß Thaldorf bei dieſen Diebftählen betheiligt jet, lag
fehr nahe. Seine Vernehmungen richteten fich daher zu-
nächſt auf die Frage, wo er fih zur Zeit ver Begehung
136 Der dreifache Mord in der Mühle zu Dietharz.
jener Diebftähle aufgehalten und wovon er in den letter
Wochen, in benen er notorifch nicht gearbeitet und fein
Geld verbient hatte, gelebt habe. Durch die Voreiligfeit
eines Polizeiunterbeamten hatte jedoch Thaldorf bei feiner
Verhaftung in Erfahrung gebracht, daß er auch des
Mordes in Dietharz für verdächtig gehalten werde, und
erjann nun einen äußerft fchlauen Plan, welcher ihn vor ber
Gefahr, des Mordes überwiefen zu werben, ſchützen folite.
Während nämlich fein Beweis für vie Ausführung ber
erfurter Diebftähle gegen Thaldorf erbracht werben konnte,
wurde doch feftgeftellt, daß er in ber letzten Zeit ziemlich
viel Geld ausgegeben habe, veffen rebfichen Erwerb er
nicht nachzuweifen vermochte. Da geftand er plößlid,
baß er in der Nacht vom 8. zum 9. December 1884 in
das Haus eines Lanpwirths in Ollendorf (Großherzog⸗
thum Weimar) durch ein nicht zugewirbeltes Fenfter ein-
gejtiegen, von da in die Wohnftube gebrungen fei, einen
verfchloffenen Schreibjecretär erbrochen und daraus 150 —
160 Mark geftoblen habe. Der erfurter Polizeibehörbe
war biejer ‘Diebftahl nicht befannt und felbft die weima⸗
riihe Staatsanwaltichaft hatte keine Kenntniß von bem-
jelben, da der Beftohlene feine Anzeige erftattet hatte.
Durch Vernehmung des legtern wurde aber nicht blos
ber Diebitahl, fonvdern auch die Art der Ausführung dem
Thaldorf'ſchen Geftänpniffe conform feftgejtellt. Letzteres
hatte jenoch nicht ven von Thaldorf beabfichtigten Erfolg.
Er wurde nicht, wie dies unter gewöhnlichen Umjtänden
ber Fall geweien wäre, an bie weimarifchen Behörben
abgeliefert, wo er, da fchwerer Diebſtahl im wieberholten
Rückfall vorlag, zu Zuchthausſtrafe verurtheilt worben
und erſt nach Verlauf von vier oder fünf Jahren wieder
ins bürgerliche Leben zurüdgefehrt wäre, wenn über ben
dietharzer Mord längſt Gras gewachſen fein würbe, ſondern
Der breifahe Mord in ber Mühle zu Dietharz. 137
bie erfurter Polizeibehörde ließ den ollenporfer Diebftahl
vorläufig bei Seite und ſetzte die Necherchen über Thal⸗
borf’8 Verbleib in der Zeit vom 13. bis 16. Januar 1885
eifrig fort. Es wurde ermittelt, daß er am 9. Januar
1885 durch feine Schweiter ein Bett im Leihamt zu Er-
furt verfegt, den Erlös mit 2 Mark 20 Pf. an fich genom-
men und fih dann von ihr mit dem Bemerken verab-
ſchiedet hatte, er wolle einen Kollegen in Zelle bejuchen.
Bon da ab bis zum 16. Januar abends hatte ihn weber
feine Schwefter noch fein Bruder wiebergefehen; mit
feinen Aeltern hatte Thaldorf überhaupt gar Teinen Ver-
Sehr mehr. Als er nun birect über feinen Verbleib in
der Nacht vom 14. zum 15. Ianuar 1885 befragt wurde,
erklärte er im Gegenſatz zu feinen frühern Angaben, daß
er in Tambach ober in Dietbarz übernachtet hätte, daß
er bieje Nacht in einem Gartenhäuschen im ‘Dreibrunnen-
feld bei Erfurt zugebracht habe und am 15. Januar
morgens mit bem erjten Zuge von Erfurt nach Gotha,
ſodann per Bahn nach Georgenthal gefahren und von
ba zu Fuß nach Dietbarz und in den Wald nach Ober-
ſchönau zu gegangen fei. Dort fet er zwei Stunden
berumgeirrt und ſchließlich dem Kreiſer 3. begegnet, ver
ihm den Weg nach Diethbarz gezeigt habe. Die Angabe
enthielt eine offenbare Unmwahrbeit. Denn er konnte dem
Eifenbahnfahrplan zufolge vor 10%, Uhr morgens nicht
nach Georgenthal gelangen und von hier aus zu Fuß bie
Stelle am Walsbach, wo er mit dem Kreifer zufammen-
traf, faum vor 12°/, Uhr erreichen, gejchweige denn, daß
er zu dieſer Zeit an jener Stelle von ber entgegengejeßten
Seite herkommen konnte. Ungeachtet ihm dies wiederholt
vorgehalten wurbe, blieb Thaldorf mit größter Hartnäckig⸗
feit bei dieſen Angaben ftehen.
Inzwiſchen war jedoch noch anderweites, werthvolles
138 Der dreifade Mord in ber Mühle zu Dietharz.
Deweismaterial beigefchafft, die Auslieferung Thaldorf's
von der Staatsanwaltfchaft zu Gotha beantragt und bie
Vorunterfuchung gegen ihn vom Unterjuchungerichter des
herzoglichen Landgerichts Gotta eröffnet worben.
Durch vielfache Vernehmung der Verwandten und ber
frühern Wirthsleute Thaldorf's wurde deffen ganze Garde⸗
robe beigejchafft und durch zwei Sachverftändige einer ge
nauen Unterfuhung auf das Vorhandenſein von Blut⸗
jpuren unterworfen. Beide Sachverftändige fanden nur
einen entjchieven ausgeprägten Blutfled, und zwar an
ber Innenſeite eines grünlichen Stoffrodes über ber rechten
Drufttafche, welchen Thaldorf in Dietharz getragen Hatte.
Ferner wurde feftgeftelit, daß die beiden Hemdärmel an
dem. untern Ende in Handbreite forgfältig ausgemajchen
waren, und baß hier ſehr gut Blut ausgewaſchen fein
fonnte, da fich friſche Blutbefprigungen durch forgfältigee
Auswafchen aus Leinwand bis auf ein kaum nachweie⸗
bares Minimum entfernen Iaffen, Während das Fehlen
größerer biutiger Befhmuzung an den Kleidern Thal-
borf’8 für bie Unſchuld beffelben zu fprechen fchien, er-
Härte der ärztliche Sachverftändige anbererfeits, es fei
nicht nothwendig, daß der Mörder ver Köllner'ichen Fa⸗
milie ſich an feinen Kleidern ftart mit Blut befledit haben
müffe, da bie meiften Schläge ven Opfern mit bem breiten
Deilrüden zugefügt worben feien, ohne daß die Kopf:
ſchwarte zerichlagen fei und geblutet Hätte. ‘Die dem
Gretchen Kölner verjeisten zwei fcharfen Beilhiebe möchten
wol aus größerer Entfernung in dem jchmalen Gange
zwiſchen den Betten beigebracht worden jein. Ferner
wurde fejtgeftellt, daß an ber Kammerwand bie über ben
Köpfen ver Ermorbeten befinpliche Tapete mit ftedinabel-
fopfgroßen Blutpunften überfäet war, woraus erhellt,
daß das Blut von dem Mörber abwärts nach der Want
Der dbreifahe Morb in ber Mühle zu Diethbarz. 139
zu geiprigt war. Bei der Verwundung bes Erich Kölner
aber bat ber Mörder keine Schlagaber getroffen, ſodaß
das Blut nur floß, nicht fprigte. Wäre eine Schlagaber
angeichnitten worden, jo würde fich das Kind unfehlbar
verblutet haben.
Mit den Kleidern Thaldorf's waren deſſen auf beiden
Seiten anfgeplagte Stiefeln nad Gotha geſchickt worden,
welche verfelbe am Tage nach dem Morde in Dietharz
getragen Hatte. Sie wurden mit den Ausiprungsipuren
bes Mörbers vor dem Rollkammerfenſter in dem Seiten-
gebäude ver Kollner'ſchen Mühle und mit ven Fußſpuren,
die über die Zollſtockswieſe führten, verglichen und es ſtellte
fih bei einigen gut erhaltenen Fußabdrüden eine über-
raſchende Gleichheit in Länge, Breite und Wölhung bes
Fußes heraus, ſodaß mit Beftimmtheit angenommen wer-
ten konnte, daß bie Spuren von dieſen Stiefeln ber-
rührten. Diejes glückliche Reſultat ermunterte zu weitern
Nachforſchungen. Am 22. Januar 1885 machte ſich auf
Erfuchen der Staatsanwaltſchaft ein höherer Forſtbeamter
in Begleitung einiger Kreifer unter Mitnahme ber Thal-
borf’ichen Stiefeln von Dietharz aus auf, um bie Fährte
Thaldorf's vom Walsbach ab zu verfolgen unb womög⸗
[ich zu ermitteln, woher verjelbe an jenem Donnerstag
mittags gekommen fei, ale er von dem Sreifer 9. be-
troffen wurde. ‘Der Erfolg dieſes mühlamen und äußerft
bejchwerlichen Marſches war ein garız überrafchender und
bildete ein unzerreißbares Glied in ber Fette der Be-
weile für die Thäterfchaft Thaldorf's.
Hiernach war als unumftößlich feftgeftellt zu betrachten,
daß Thaldorf von Dietharz aus durch den Schmalwaffer-
grund bis an ben Eingang zum Babegraben gegangen ift
und von ba fich Links den Badegraben hinauf am Falken⸗
ftein vorüber bis zu einer Fichte weiter gearbeitet bat.
140 Der dreifache Morb in der Mühle zu Diethar;.
Hier hat er, wie der Einbrud im Schnee deutlich zeigte,
längere Zeit gelegen und ausgeruht und das Anbrechen
des Tages erwartet. Bis hierher war er jedenfalls in
ber Nacht gewandert, benn er hatte öfter& den verjchneiten
Weg verfehlt, war wiederholt in niedriger gelegene, ſum⸗
pfige Stellen geftürzt und hatte überall, ven Spuren zus
folge, mit einem Stode unficher vorausgetaftet. Nach
biefer Rubepaufe war Thaldorf im Badegraben noch eine
Strede weiter gegangen, batte dann benfelben verlaffen,
und war nach rechts die fogenannte Borndelle, eine
vielleicht vier Meter breite, äußerft fteile und unwegſame
Stellung, binaufgefttegen. Erft nachbem er bereit® bie
Hälfte Dieter fteilen Wand emporgeflimmt war, hatte er
fih zu wiederholten malen an Bäume angelehnt, um aus-
zuruben, und war auf dieſe Weile enblich auf bie von
Dietharz durch den Schmalmwaffergrund beim Hubenftein
vorbei nad Oberhof führende Chauſſee gelangt, welche
er beim Eintritt in den Badegraben erft verlaffen Hatte.
Statt ih nun links nach Oberhof zu wenden, ging er
nach rechts die Chauffee zurüd und ftieg auf ihr wieder
in den Schmalwaffergrund herunter, wo ihm dann beim
Walsbach der Kreifer I. entgegenfam.
Die Forftleute hatten auf dem Wege zu wiederholten
malen die Fußfpuren mit den Stiefeln Thaldorf's ver-
glichen und ſtets die überrafchendfte Gleichheit beider ge-
funden. Auch war faft immer zur Linken ber Fußfäbrte
die Spur des Knüttels fichtbar, deſſen fich der Wanderer
als Stüße bedient Hatte; Thaldorf aber war nach bem
Zeugniffe feines Bruders und feines Schwagers links⸗
händig und hatte fogar mit ber linken Sand ſchrei⸗
ben gelernt. Die Zurüdlegung dieſes Weges tft eine
ganz erftaunliche Leiftung, wenn man bebvenft, daß
auf dem ganzen Wege ber Schnee halbmeterhoch Tag,
Der dreifache Morb in der Mühle zu Dietbarz. 141
daß die Höhe deſſelben aber an vielen Stellen, wie
im DBabegraben und an ter fteilen Borndelle, noch
wejentlich größer war, und daß ber erfte Theil des Weges
bei ftodfinfterer Nacht zurüdgelegt worben ift. Auch bie
auf 6° R. geftiegene Kälte trug nicht zur Erleichterung
bes Mearjches bei. Da vie Forftleute, troßpem fie von
Dietharz bie an den Babegraben etwas Schlittenbahn
vorfanden, wovon in ber Nacht vom 14. zum 15. Januar
feine Spur vorhanden war, zu biefem Wege über fech®
Stunden Zeit gebraucht Hatten, jo war ber Schluß ge-
rechtfertigt, daß Thaldorf zur Zurücklegung biejes Weges
einfchließlich der Ruhepauſen minbeftens acht bis neun
Stunden Zeit beburft und den Weg jomit am 15. Januar
morgens zwiſchen 3 und 4 Uhr angetreten haben mußte.
Am 15. Januar, morgens gegen 3 Uhr, aber wurde bie
Hamilte Kölner ermordet, denn zu biefer Zeit hatte ber
Nachbar V. Licht in der Köllner'ſchen Wohnftube brennen
jehen! —
Schwer belajtenp für Thaldorf war ferner fein Bes
nehmen bei ber Rückkehr zu feinen Verwandten in
Erfurt. Am 16. Januar 1885, abends 7!/, Uhr, fam er
zu feinem Schwager in Erfurt und fprach benfelben um
Nachtquartier an. Er war jehr nievergefchlagen und ant-
wortete auf die Frage, was ihm fehle, nichts, er fei ein
unglüdlicher Menſch; wenn nur fein Kamerab nichts ver-
ratben würde. Er erzählte dann weiter auf Befragen,
ob er wieder etwas ausgefreſſen hätte, er ſei ba oben
über Gotha im Walde gewefen, fie hätten einen Hirjch ge-
jagt, wären aber von ſechs Perjonen und einem Hunde
verfolgt worden, da habe er ven Hund tobtgefchlagen und
geſchoſſen, da hätte einer „Au!“ gefröhlt. Die gleiche
Geſchichte erzählte er auch feiner Schwefter. Nach Ans
gabe feines Schwagerd war Thaldorf's Hemb vorn ganz
142 Der dreifache Mord in ber Mühle zu Dietharz.
naß und ber. vorbere Theil der Hembärmel ausgewaſchen
gemefen, aber er hatte fein trodenes Hemb von feinem
Schwager annehmen wollen. Als Grund biefer Räſſe
gab er an, baß er durch tiefem Schnee verfolgt worden
jet und fich habe durcharbeiten müſſen. ‘Da fein Schwa-
ger ihn nicht beherbergen wollte, ging Thaldorf abenbs
gegen 84%, Uhr zu feinem Bruber, ver gleichfalle in Er-
furt wohnt. Er zeigte die größte Unruhe unb fagte, er
hätte jet etwas ausgefreſſen, er müßte gewärtig fein,
daß fie ihn zu jeder Stunde holten und verhafteten. Er
jet in Oberſchönau geweſen, babe dort mit feinem Eollegen
Franz gewilbert, fie jeien aber abgefaßt worden, er babe
einen Hund todtgejchlagen und auf einen Förfter gefchoffen,
welcher „Au!“ gejchrien hätte. Er fet jchwer verfolgt wor»
den, babe fich eine ganze Nacht im Schnee fortarbeiten
und ſchließlich im einem unterirdiſchen Gange jchlafen
müſſen, da hätte er die Füße erfroren. Auch feinem
Bruder Elagte Thalvorf, daß er bis über bie Hüften naß
jet, nahm aber auch von biefem das angebotene trodene
Hemd nicht an. Dagegen bat er um ein Stüd Brot
und aß es mit Wurft, welche er mitgebracht hatte. Beim
Efien verrieth er gleichfall® große Unruhe, unterbrad
baffelbe öfters und jagte: „Ich weiß nicht, ob ich efien
fann, e8 iſt gerabe, als ob ich nicht efien follte oder eſſen
fönnte!” Dann raffte er fich auf und rief: „Ach was!
Ih ſch.... darauf, bier ift es doch ruhig!“ wobei er
auf feine Bruft deutete. Er fing nun mit großer Haft
wieder an zu eſſen und verichlaug ſogar bie Schale mit
der Wurf. Thaldorf's ängftliches und verftörtes Weſen
war feinem Bruder fehr aufgefallen, doch glaubte biefer
nicht an die ihm erzählte Wilpbiebägefchichte, weil er
wußte, daß fein Bruder mit Schiefgewehr gar nicht um⸗
zugehen verftehe, unb weil ibm derſelbe bereits im
Der dreifache Morb in ber Mühle zu Dietbarz. 143
December 1884 eine ganz ähnliche Gefchichte erzählt
hatte, um das in Ollendorf geftohlene Geld als Erlös
ans gewilderter Iagbbeute barzuftellen. Thalporf hat denn
auch im Laufe der Unterfuchung zu feinen Schwager, als
ihn diefer mit Genehmigung des Unterfuchungsrichters
im Gefängniß bejuchte, geäußert, die Gefchichte mit ber
Wilodieberei ſei unwahr, das feien lauter Lügen, er babe
boch etwas jagen müſſen; gemacht babe er etwas, aber
das (den Mord in Dietharz) nicht.
Wie oben erwähnt tft, wurde eine filberne Taſchen⸗
uhr nebſt einer golvenen Uhrkette vermißt, welche über
dem Bett Köliner’s gehangen hatte. Trotz der umfaſſend⸗
jterr Recherchen in Erfurt und in allen am Wege von
Tambach nah Erfurt Tiegenden Ortichaften, ja jogar
auf dem Wege, welchen Thaldorf im Walde zurückgelegt
hatte, konnte biefelbe nicht ermittelt und wieder beigejchafft
werben.
Dagegen fand der Holzhauer ©. Mitte Februar 1885
nach bem Schmelzen des Schnees hinter dem lebten
Hanje von Dietbarz nach dem Schmalwafjergrunde zu,
ungefähr 4 Buß von den Borbfteinen der Chauffee ent-
fernt, drei ſtark verroftete Schlüffel an einem Stahlringe,
welche dem Ausfehen nach längere Zeit im Freien und
in der Näffe gelegen zu haben fchienen. Dieſe Schlüffel
gehörten dem ermordeten Meühlenbefiger Köllner und
waren feit der Mordnacht aus der Mühle verfchwunden
geweien. Die Schlüffel lagen auf einem freien Plage,
auf welchem ungefähr zwei Wochen vor dem unbe
Prügelholz und zwar auf die Schneedede aufgejchichtet
war. Nah dem Schmelzen des Schneed Tamen bie
Schlüffel zum Vorfchein und lagen nun unter dem Holze,
bei deſſen Wegnahme man fie fand. Der Weg Thal«
dorf’8 nach dem Morbe führte bicht an der Fundſtelle
144 Der breifahe Morb in der Mühle zu Dietharz.
ber Schlüffel vorbei, und man mußte annehmen, daß fi
ber Mörber biefer an fich ganz werthlofen, aber fehr gra-
birenden Zeugen feiner Unthat durch Wegwerfen entledigt
hatte. Endlich aber hatte Thaldorf als Unterſuchungs⸗
gefangener im Landgerichtsgefängniß dem Sträfling B. ge⸗
genüber, welcher in einer benachbarten Zelle ſaß, bezüg⸗
lih des in Dietharz begangenen Verbrechens Aeußerungen
gethan, welche faft einem außergerichtlichen Geftänpnifie
gleichfamen. Thaldorf fagte ihm auf die Frage, warum
er fiße, wegen verjchiebener Diebftähle, auch ſei Bei
Gotha ein Mord paffirt, ver ihm auch ſchuld gegeben
werde; er wiſſe dort Beſcheid, er habe in den Wäldern
immer Nofenwilolinge geholt und babei erfahren, daß in
einer Mühle bei Dietbaus und Dietharz Geld zu holen
jet. Am 14. Januar fet er abends heimlich aus Erfurt weg
nah Gotha gefahren. Er habe einen goldenen Klapper⸗
kaſten (Diebsausprud für Uhr) und Geld in einem Tuch
oder Beutel gehabt, dann fei Geräufch entftanden, und
ba hätte er fich erft Pla machen, das Geräufch erft weg-
Ihaffen müffen. Auf die Frage B.'s, wie er das meine,
bat Thaldorf erwibert: „Du bift doch fonft nicht fo pumm,
das fannjt bu dir doch denken!” Dann fei er heraus
gefommen und habe fich verlaufen. As B. noch mehr
hören wollte, fagte Thaldorf, B. folle das Maul halten
und feinem Menſchen etwas fagen, und bemerkte fchlieklich:
„Gefreſſen wird's, mag's fommen, wie e8 will, von mir
erfährt niemand etwas.” B. erzählte dieſes Gefpräch mit
Thalvorf nach langem Zögern einem erfurter Bolizei-
beamten, als dieſer ihn in das Zuchthaus transportirte
und in geſchickter Weiſe ausholte. Dieje Erzählung des
B., eines an fich keineswegs vorwurfsfreien Zeugen,
welche Thaldorf als völlig unwahr und erfunden bezeich-
nete, gewann durch ben Umſtand außerorbentlich an
Der dreifache Mord in ber Mühle zu Dietbarz. 145
Glaubwürdigkeit, daß Thaldorf nach B.'s Angabe Geld
in einem Tuche gehabt haben, refpective gefunden haben
wollte. Denn erjt viel fpäter, als dieſe Unterhaltung
zwifchen Thaldorf und B. ftattgefunden haben konnte,
als Thaldorf bereits in das Gefängniß zu Gotha einge-
fiefert war, fand das Vormundfchaftsgericht bei der In⸗
ventarifirung des Köllner'ſchen Nachlaffes in der vom
Mörder durchwühlten Kommode 45 Mark in ven Zipfel
eines Tafchentuch8 eingebunden. Von biefem, in einer jo
ungewöhnlichen Weife verwahrten Gelde konnte daher nur
der Mörder vorher etwas wiffen, welcher das Geld ge-
fühlt, aber durch „das Geräufch” geftört, e8 dann liegen
gelaffen hatte.
Ungeachtet dieſer erprüdennen Beweiſe feiner Schult
verblieb Thaldorf beim Leugnen. Wochen-, monatelang
fag und faß er in feiner einfamen Zelle auf feinem Bett
und ftarrte ins Blaue — ohne eine Klage über die lange
Unterjuchungshaft, ohne eine Bitte um Beſchleunigung
der Unterfuchung, ohne eine Frage nach dem Stande ber-
felben, ohne ein Geſuch um Arbeit! — Anfänglich hatte
er wochenlang die beftigjten Schmerzen an feinen total
erfrorenen Füßen zu ertragen, aber ungefragt hörte man
auch hierüber feine Klage von ihm. Alfe Vorhalte über
die Widersprüche, in welche er fich veriidelte, über bie
Unwahrjcheinlichkeit, ja Unmöglichkeit feiner Angaben Tief
er rubig über fich ergehen, und brach nur einmal am
Schluß eines längern gerichtlichen Verbörs in die Worte
aus: „Ich bin nicht dort geweien, ich will die Strafe
leiden, bie über mich verhängt wird, ich habe aber nichts
begangen.”
Kurz vor Schluß der Borunterfuchung wurbe er vom
Richter befragt, wieviel Geld er auf ver Reife von Er»
furt nach Georgenthal verausgabt habe. Thaldorf rechnete
XXII. 10
146 Der breifade Mord in der Mühle zu Dietharz.
ihm nun ben Preis eines Billets vierter Klaffe vor und
war, als ihm der Nichter aus dem Eifenbahnfahrplan
nachwies, daß ber betreffende Vormittagszug nach Georgen-
thal feine vierte Wagenklaſſe führe, jo betroffen, daß er
erklärte, er wolle alles gefteben. Er Habe in einer
Brauerei zu Erfurt die Belanntjchaft eines Mannes mit
Ihwarzem Vollbart gemacht, dem er feine unglüdliche
Lage gefchilvert und feinen Plan, auf Wilbpieberei aus⸗
zugehen und ſich bavon zu nähren, mwitgetbeilt babe.
Der Fremde Hätte ihm erklärt, ev wolle auch mitgehen
und ihm auch ein Gewehr verfchaffen. So feien fie am
14. Sanuar 1885, abends gegen 7 Uhr, mit ber Gifen-
bahn nah Gotha gefahren und von dba zu Fuß nad
Tambach (vier Wegftunden) gegangen. Bier ſeien fie nad)
Mitternacht angelommen, am Gafthof Zum Fallenftein
und an einigen Häuſern vorüber und dann links in einen
Fußweg eingebogen, welcher auf ber Seite eines Waſſer⸗
grabens hinlaufe. ALS der Weg breiter geworben, hätte
fein Begleiter ihn an einer Fabrik warten laffen, angeb-
ich, um ihm das Gewehr zu holen, wäre nach rechts
fortgegangen und nicht wieder zu ihm zurüdgelehrt. Nach-
bem er, Thaldorf, eine Stunde gewartet babe, ſei er
fortgegangen und in ven Wald gerathen, wo er ſich ver⸗
laufen hätte, biß er von dem Kreiſer zurechtgewiejen
worben fei. Diefe Erzählung war auf den erften Blid
nicht abfolut unglaublich und bewies wenigftens, daß
Zhalborf mit der Umgebung von Dietharz und Tambach
genau vertraut war. Denn ber Fußweg, welchen Thal«
borf mit dem Fremden gegangen fein wollte, eriftirt und
zwar genau fo, wie ihn Thaldorf bejchreibt. Er führt
zu einer Wurftfabrif, welcher gegenüber, durch einen Fahr⸗
weg verbunden, in einer Entfernung von 281 Schritten
bie Köllner'ſche Mühle Liegt.
Der breifade Mord in der Mühle zu Diethbarz. 147
Allein erſtens war die Perfon dieſes Unbelannten,
von welchem Thaldorf Tpäter angab, daß er Hibenthal
oder Hebenthal geheißen babe, abfolut nicht zu ermitteln,
zweiten aber hätte dieſer Fremde, ba bei ber Feſtſtellung
bes objectiven Thatbeftands feine Spur dafür aufgetaucht
war, daß die That von zwei oder mehrern Perſonen ver-
übt worben fei, felbjt und allein den Mord begangen
haben: müffen, und dann wäre es pfuchologifch unbegreif-
lich und unmöglich geweſen, daß Thaldorf mit reinem
Gewiſſen mitten in der Nacht nach einem befchwerlichen
Marſche bei Kälte und hohem Schnee fich aus einem be»
wohnten Drte fortbegeben und burch Schnee und Eis in
ven Wald dem fihern Tode entgegengearbeitet hätte.
Diefen Weg unter dieſen Umftänden vermochte nur ein
von den Furien bed Gewiffens gepeitjchter und von ber
Zobesangft vor ber Entvedung eines furchtbaren DVer-
brechens gehegter Mensch zurückzulegen.
Die Vorunterſuchung wurde gejchloffen und Anklage
gegen Thaldorf erhoben wegen des in Ollenporf verübten
ſchweren Diebftahls in wiederholten Rückfall, wegen ber
durch Einfteigen qualificirten Entwendung ber Uhr nebit
Kette und der brei Schlüffel aus dem Köllner'ſchen Mühlen⸗
gebäude, gleichfalls in wiederholtem Rüdfall, fowie wegen
vorfäglicher und mit Veberlegung ausgeführter Tödtung
ber Kölfner’jchen Eheleute und der Margarethe Köliner,
ingleihen wegen Morbverfuhs an Erich Kölner. Für
den Fall, daß bei der Tödtung der drei genannten Per⸗
onen und des leßterwähnten Tödtungsverſuchs die mör-
derifche Abſicht nicht angenommen werben follte, wurde
bie Anklage auf vorfägliche Tödtung dieſer drei Perfonen
und auf Tödtungsverfuh an Erich Köliner bei Unter-
nehmung einer ftrafbaren Handlung, um ein ber Aus-
führung berjelben entgegentretendes Hinderniß zu bejeitigen
10*
148 Der dreifade Morb in ber Mühle zu Dietbarz.
ober um fich der Ergreifung auf frifeher That zu ent-
ziehen, gerichtet (Verbrechen nach 8. 214 des Strafgefeg-
buche).
Die Straflammer des Landgerichte Gotha eröffnete
hierauf das Hauptverfahren gegen Thaldorf wegen ber
ſchweren Diebftähle in wiederholtem Rückfall und wegen
vollendeten und verſuchten Mordes vor dem gemeinſchaft⸗
lichen Schwurgericht zu Meiningen.
Am 16. und 17. October 1885 fand die Hauptver⸗
handlung in Meiningen ſtatt. Das geſammte Beweis⸗
material über den objectiven und ſubjectiven Thatbeſtand
ber zur Anklage geſtellten Verbrechen wurde ben Ge⸗
ſchworenen nach einer vortrefflich klaren Dispoſition vor⸗
geführt. Die Zeugen und Sachverſtändigen wiederholten
ihre in der Vorunterſuchung gemachten Angaben; nur die
Müllergeſellen Peter und Horn fügten ihren frühern
Ausſagen noch bei, daß Köllner am Tage vor der Kata⸗
ſtrophe ihnen gegenüber über ſeine Frau beſonders heftig
geklagt und geäußert habe: „Scheiden laſſe ich mich nicht
von ihr, lieber ſchlag' ich ſie todt.“
Neues dagegen bot die Vernehmung des Profeſſors
P. aus J. Die Vertheidigung hatte ſich auf ſein ſach⸗
verſtändiges Gutachten darüber berufen, daß man ans
ben ausgewafchenen Worbertheilen ver Thaldorf'ſchen
Hembärmel nicht mit Beſtimmtheit auf das frühere Bor-
banbenfein größerer Blutmengen fchließen könne, und daß
die minimalen Blutrüditände, welche die in der Vor⸗
unterfuchung beigezogenen Sachverftänbigen gefunden,
höchitwahrfcheinlich von Flohſtichen berrühren könnten.
Profefjor P. erklärte nun, nach vorhergegangener forg-
fültiger Unterjuchung der Hemdärmel könne er pofitiv
behaupten, dag Blut in größern Mengen aus dieſen
Aermeln ausgewafchen fein müfle, und daß von einzelnen
Der dbreifahe Mord in ber Mühle zu Diethbarz. 149
Blutpünktchen, einer Folge von Flohſtichen, gar feine
Rede fein könne.
Thaldorf blieb in der Hauptverhanblung bei feinen
in der Vorunterfuchung erjtatteten Angaben, räumte ben
Diebftahl in Ollendorf ein, ftellte aber den Diebftahl und
Mord in der Köllner'ſchen Mühle hartnädig und mit ber
größten Beftimmtheit in Abreve. Er bewahrte von An⸗
fang bis zu Ende eine unerfchütterliche Ruhe. Nur ein-
mal wurde fie unterbrochen, als unter ven Zeugen ber
achtjährige Erih Kölner beim Namensaufruf vortrat.
Mit anfgeriffenen Augen ftarrte er das Kind wie ein
Geſpenſt einige Secunvden lang an, dann faßte er fich
aber fofort wieder und fein Geficht wurde wieder ver-
ihloffen und unbeweglich.
Die Vertheidigung hatte biefem erdrückenden Be⸗
laftungsbeweife gegenüber einen ſchweren Stand. Doc
war ihre Kampfweife auch Feine glücliche zu nennen.
Statt zunächft die einzelnen ſchwachen Stellen im Be⸗
loftungsbeweife einer ſcharfen kritiſchen Beleuchtung zu
unterziehen und dann vor allem die Subjumirung ber
That Thaldorf’8 unter den Begriff des Morbes zu bes
fümpfen und fie als ein Verbrechen gegen 8. 214 bes
Strafgeſetzbuchs Hinzuftellen, behauptete fie troß aller
entgegenftebenden Ausſagen ver Zeugen und Sachverftän-
digen mit der größten Hartnädigfeit, Kölner habe feine
Frau und feine Kinder ermorvet und fei von einem
britten, ber bazugelommen, erichlagen worden. Wer
biefer britte gewejen fein könne, darüber fprach bie Ver»
theidigung nicht einmal eine Vermuthung aus, bies zu
ermitteln, fagte fie, fei nicht ihre Aufgabe.
Die Gejchworenen vermochten denn auch nicht diefen
jo ſchwach begründeten Hypotheſen und Angaben Glauben
zu fchenfen, ſondern fprachen das Schuldig gegen Thal-
150 Der dreifache Mord in ber Mühle zu Dietharz.
borf wegen bes ollendorfer Diebftahl® und wegen Mordes
und Mordverfuhs an der Familie Köliner aus, währent
fie dem ftaatsanwaltlichen Antrage entgegen die Schuld⸗
frage bezüglich der Entwendung ver Köllner'ſchen Uhr und
Schlüffel verneinten.
Der Eindruck, welchen die Vorführung ber eine ge
jchloffene Kette bildenden Beweiſe auf die Geſchworenen
und auf die Kopf an Kopf gebrängte Zuhörerſchar ber-
vorbrachte, war ein übermwältigender, das Berbict ber
Geſchworenen, wie fehr rafch befannt wide, ein ein-
ſtimmiges gemwejen. — Mit eifiger Ruhe vernahm ver
Angellagte den Spruch und ſodann das Urtheil, welches
auf Todesſtrafe, 12 Jahre Zuchthaus und zehmjährigen
Ehrverluft lautete; fein Muskel zuckte in feinem Geficht.
Auf die von dem Angeklagten eingelegte Reviſion,
welche fich auf umzuläffige Beſchränkung ver Vertheidigung
jtüßte, holte das Neichögericht ein bei der Urtheilsfällung
untergelaufenes Verſehen ſelbſt nach, indem es Thaldorf
von der Anklage wegen Entwendung der Uhr und der
Schlüſſel freiſprach, verwarf aber im übrigen das einge⸗
legte Rechtsmittel.
Nachdem ſodann ein vom Angeklagten eingebrachtes
Geſuch um Wiederaufnahme der Unterſuchung als unzu⸗
läſſig verworfen worden war und Se. Hoheit ber Herzog
von Sachfen-Eoburg: Gotha erklärt Hatte, daB er von
feinem Begnabigungsrechte Teinen Gebrauch machen werde,
wurde die Hinrichtung Thaldorf's auf den 28. Juni 1886,
vormittags 9 Uhr, anberaumt. Als Thaldorf, welcher
vorläufig im Zuchthaufe zu Gräfentonna betinirt war, am
Mittag des 27. Juni 1886 dieſe Eröffnung durch ben
Staatsanwalt erhielt, und zugleich darauf hingewieſen
wurbe, in den wenigen Stunben, welche er noch zu leben
babe, feine Rechnung mit Gott und den Menfchen abzu-
Der breifahe Morb in ber Mühle zu Dietbarz. 151
fchließen, erklärte er mit völlig ruhiger Miene: „Ich
kann es nicht von Ihnen verlangen, daß Sie mir glau-
ben, denn ich babe Sie viel belogen, aber gejtehen kann
ich es nicht, denn ich habe die That nicht begangen.“
Bald darauf entlud fich ein fchweres Gewitter und wäh»
rend beffelben zeigte der Verurtheilte eine auffällige Er-
regung, welche fich erheblich fteigerte, als ihn der Scharf:
vichter gegen 5 Uhr nachmittags beſuchte. Er verlangte
nach dem Anftaltsgeiftlichen, welcher erft gegen 7 Uhr
abends von einer Reife zurücktehrte und fich fofert zu
ihm begab. Derſelbe Hatte in dem Halbjahre, in welchem
Thaldorf im Zuchthauſe zu Gräfentonna inhaftirt war,
deſſen Vertrauen zu gewinnen und ben tief verfchütteten
Funken religiöfen Sinnes, welchen jeder Menſch im Buſen
trägt, zu weden verftanden. Es war baber ein fchöner
Lohn für diefe Bemühung, daß fich ihm gegenüber num
endlih das fo lange zurüdgebaltene Geftänpniß des
grauenhaften Verbrechens von den Lippen bed Verur⸗
theilten losrang.
In dieſer Nacht feierte die unvergängliche Macht der
chriſtlichen Religion und die unzerſtörbare Kraft des
chriſtlichen Glaubens an die Vergebung der Sünden in
dieſer armſeligen Zuchthauszelle einen herrlichen Triumph!
Noch in der Nacht ſchrieb Thaldorf den nachſtehenden
Brief an den Staatsanwalt, welcher dieſem am andern
Morgen bei ſeinem Eintreffen in Gräfentonna mit der
Meldung von dem Geſtändniſſe übergeben wurde:
„Gräfentonna d. 27./6. 86.
An Herrn Staatsanwald zu Gohta.
Bekenntniß.
Ich lege ihn hiermit das Bekenntniß nieder, das ich
das Verbrechen an der Familie Köllner begangen habe,
Und bitte Ihn um Verzeihung daß ich Ihnen und ſämmt⸗
152 Der breifahe Morb in der Mühle zu Dietharz.
liche Richter fo fehr belogen habe. Da die Lüge ebenfo
eine große Sünde ift, als das begangene Verbrechen.
Denn der Gott, der da fagt, du folljt nicht töbten, ver
jagt auch du follft auch nicht fügen. Da ich dieß nun einge
jehen Habe; So bitte ich Sie und alle meine Richter um
verzeihung. Da ich nun meine Schuld eingeftanven habe,
und mein Gewiſſen befreit mit Gottes hülfe So bin ic
auch nun gewiff das Gott mir meine Uebertretung vers
geben hat das Glaube ich in Namen feines Sohnes Jeſum
Ehriftum. Und wenn Deine Sünde Blutroth wäre, So
joll fie doch durch meine Gnade fchneeweiß werden. Nun
da ich mein Gewiſſen befreit habe, So kann ich mit
freudiger Hoffnung aufbliden zu ven Bergen, von welchen
mir Hülfe fommt Und fprechen wie jener Zöllner Gott
fei mir Sünder gnädig Amen.
Einer der feine Sünden bereut.
Ch. Andreas Thaldorf.“
Thaldorf wiederholte nun dem Staatsanwalt gegen-
über mündlich fein Geſtändniß und gab noch auf Be⸗
fragen an, er ſei Durch ein offenftehendes Fenſter in bie
Küche der Mühle eingeftiegen, und von ba burch ben
vom Mühlenraum ans erleuchteten Eorribor in die Haus⸗
flur gelangt. Dort habe er Streichhölzer, welche er bei
fih gehabt, angezündet, pas Beilchen an fich genommen
und mit biefem fich in die Stube begeben. Dort Habe
er bie Kommode geöffnet und durchwühlt, da fei Kölner
munter geworden. Er wäre nun in bie Kammer ges
gangen, Babe erft Köllner, dann die fich bewegende Frau
und fchlieglih das Kind mit dem Beile erjchlagen. Das
zweite Kind habe er mit feinem Taſchenmeſſer in ben
Hals gejchnitten. Die Uhr und die Schlüffel hätte er
entwendet, beides aber nach vollbrachter That auf dem
Der Dreifahe Mord in ber Mühle zu Dietbarz. 153
Wege von fich geworfen, die Uhr im Walde, die Schlüffel
auf ber Chauſſee.
Es wäre ja von hohem Intereſſe gewejen, den Thal⸗
borf nun noch Über einzelne, in ver Unterfuchung dunkel
gebliebene Nebenpunfte zu befragen; allein es ftritt gegen
das menfchliche Gefühl, ihn in den wenigen Minuten,
welche er noch zu leben hatte, dem Zuſpruch und dem
Gebete des Geiftlichen zu entziehen.
Wunderbar war die Beränderung in dem Weſen
Thaldorf's. Aller Trotz, alle Verjchleffenheit war von
ihm gewichen und hatte einem freudigen Muthe Plaß ger
macht, mit dem er, durch das Geftänpniß feiner Blut-
ſchuld fichtlich erleichtert, in der feiten Hoffnung auf bie
Barmherzigkeit Gottes gefaßt dem Tode entgegenging.
Nach ver Publication des Urtheils vor dem Schaffot
wiederholte Thalborf fein Geſtändniß und bat bie Richter
nochmal® um Verzeihung.
Die Vollftredung des Urtheild erfolgte mitteld Fall⸗
beil8 in wenigen Secunben.
So endete dieſe Unterfuchung, welche in factifcher und
juriftiicher Beziehung ein ungewöhnliches Intereffe bean-
ſprucht. Denn felten gelingt es, einen Verbrecher durch
eine jo lange, aber feſt in fich gefchloffene Kette von Ber
weifen feiner Frevelthat zu überführen, felten kommt es
vor, daß ein Lanbesherr das Gnabengejuch eines zum
Tode verurtbeilten Verbrechers abfällig befcheibet, wenn
berjelbe leugnet, jelten ringt fich in der Tobesftunde ein
Geſtäudniß feiner That von den Lippen des Verurtheilten
und felten endlich werden durch das nachträgliche Geftänt-
niß bie Feftftellungen der Unterſuchungsbehörden in allen
Punkten fo beftätigt wie in biefem Falle. Aber auch
juriſtiſch war dieſe Unterfuchung von hohem Intereſſe.
Lag bier Morb reſp. Mordverſuch ober vorjäßliche
154 Der breifade Mord in ber Mühle zu Dietbarz.
Tödtung reſp. vorjäglicher Tödtungsverſuch ver, um ein
der Ausführung entgegentretendes Hinderniß zu beſei⸗
tigen, oder um ſich der Ergreifung auf friſcher That
zu entziehen (Verbrechen nach 8. 214 des Strafgeſetz⸗
buch)? Unſers Erachtens ift hier nur Morb reiy.
Mordverſuch anzunehmen. Als Thaldorf, welcher ja zu-
nächft wol nur auf ‘Diebftahl ausging, in der Hausflur
das Beil an fihb und mit in bie Stube und im bie
Kammer nahm, da faßte er den Vorſatz, alles Lebende
bamit nieverzufchlagen, was ihm in ven Weg kommen
werde.
Das aber war die Abficht eines Mörbers, und es iſt
gleichgültig, ob diefelbe fchon gegen eine ganz beſtimmte
Perföntlichkeit oder gegen denjenigen gerichtet war, welcher
von einer gewifjen Berfonenmehrheit (hier der Bewohner:
ſchaft der Mühle) ihm zuerft entgegentreten würde. Aber
nicht blos den Kölner ſchlug Thaldorf nieder, welcher
ihm bei Ausführung feines Verbrechens hätte entgegen-
treten oder ihn hätte feitnehmen können, fondern über ihn
kam auch noch die Blutgier des echten Mörder, denn er
erichlug auch die in ihrem Bett ruhig fchlafende Frau
Kölner und das fiebenjährige Kind und verwunbete ven
Knaben in Tebensgefährlicher Weife, welche ſämmtlich ihn
weber hindern noch ergreifen, ja bei der mangelhaften
Beleuchtung nicht einmal erkennen fonnten!
Nachdem bie Straflammer das Hauptverfahren ledig⸗
lich wegen Mordes und Mordverſuchs eröffnet hatte, un⸗
geachtet die Anklage eventuell auch auf das Verbrechen
nach $. 214 des Strafgeſetzbuchs gerichtet war, hatte bie
Staatsanwaltichaft feine Veranlaffung, die Stellung einer
Hülfsfrage nach diefem nur mit Zuchthaus beprohten Ver⸗
brechen zu beantragen; bie Vertheidigung hätte bie Ver⸗
pflihtung Hierzu gehabt, unterließ es aber, und fo wäre
Der breifahe Mord in ber Mühle zu Dietharz. 155
es nur noch dem Vorſitzenden übriggeblieben, biefe Trage
von Amts wegen zu ftellen.
Es läßt ſich num nicht mehr entſcheiden, ob wol bie
Geſchworenen, wenn die Hülfsfrage nach dem Verbrechen
gegen $. 214 des Strafgefeßbuchs an fie geftellt worden
wäre, biefelbe bejaht und die Frage nach Mord und Morb-
verfuch verneint oder dennoch letztere bejaht hätten. Jeden⸗
falls aber tft e8 ein Glüd zu nennen, daß dieſe juriftifche
Diftelei, welche für den Nichtjurtften fehr fchwer zu bes
greifen ift, ven Gefchworenen erfpart blieb, und daß ber
Angellagte den Schreden des Todes ausgeſetzt wurde,
welche ihm das Geſtändniß feiner That auf die Lippen
drängten, durch das allen etwaigen Zweifeln an ber
Thäterjchaft Thaldorf's ein Ende gemacht und jeder andere
Verdacht endgültig bejeitigt wurde.
Alerkwürdige Criminalproceſſe ans England.
1. Berlenmdung und nugeredtfertigte Entziehung der
perſönlichen zyreiheit.
London. 1887.
I.
In dem hohen Gerichtshofe für Juſtizſachen (High
court of justice), Abtheilung der Königlichen Nichterbant
(Queen’s Bench division), werben jene Bälle der Ver⸗
(eumbung und Chrenbeleibigung zum Austrag gebracht,
bie nicht zuvor wegen ihrer Geringfügigfeit von dem
Polizei» oder Friebensrichter erledigt ober vor den Gen-
tral-Criminalgerichtshof gewiefen werben. Die Schuld»
frage wird von den Geichworenen entichieven, und ge
gebenenfall® auch die Höhe des Schadenerſatzes und
der regelmäßig in Geld bemeſſenen Buße von ihnen be-
ftimmt. Solche Verleumbungsflagen find, da das enge
(ifche Gerichtsverfahren nur allzu viele Gelegenheiten hierzu
hervorruft, gar häufig, und werm wir zwei charakteriftifche
Tälle an diefem Orte ausführlich mittheilen, fo gejchteht
dies, um zu zeigen, wie bie Frage ber Entſchädigung un⸗
ſchuldig Verbafteter, die auf dem Continent, insbeſondere
aber in Deutfchland, noch im Fluffe iſt, jenfeit des
Aermelkanals gelöft ericheint.
Bon dem Richter Mathew war am 7. November
Mertwürdige Criminalprocefje aus England, 157
1887 eine Verhandlung zu dem Zwede anberaumt, um
einer einzeln ſtehenden Dame, Bräulein Beploe, welche
fih durch die Beichuldigung des Diebftahle, die wider
fie von einem Herrn Hurft und beifen Gattin umberech-
tigterweife erhoben und bie dieſerhalb gerichtlich verfolgt
worden war, Genugthuung zu verichaffen.
Der königliche Rath Dir. Willis und Mr. 5. Mote
erjchienen namens ber Klägerin, ver königliche Rath
Der. Cod und Mr. Hide für die Verflagten.
Mr. Willie eröffnete die Verhandlung mit einer
furzen einleitenden Rebe, in ber er auf die zu gewär-
tigende Klarlegung des Sachverhalts durch die Darftellung
ber als Zeugin zu vernehmenden Klägerin verwies. Miß
Peploe wurde aufgerufen und gab an:
„Ich wohne in Wr. 34, Brandram⸗Road in Lee (einem
Heinen Orte in der unmittelbaren Nachbarfchaft Londons).
Mein Bater war ein Schnittwaarenhänbfer in Blackheath.
Er hatte das Haus, in dem ich derzeit noch wohne, vor
vielen Jahren gefauft, es felbft bewohnt und ift dort ge⸗
ftorben. Er hinterließ mir legtwillig den lebensläng⸗
lichen Fruchtgenuß dieſes Haufes, den unbeſchränkten Be⸗
ſitz der Einrichtung deſſelben und ein ſichergeſtelltes
Jahreseinkommen von 96 Pfd. St. (1920 Mark). Dieſes
Zahreseintommen fließt aus Geldanlagen, über beren
Kapital ich zwar nicht bei Lebzeiten, jeboch teftamentarisch
frei zu verfügen berechtigt bin. Ich halte eine Dienft-
magd, welche die fchwere Arbeit im Haushalte zu beforgen
hat. Ich habe einen Bruder, dem, leider! fein fo gutes
208 zutbeil geworden if. Er dient als Portier in
Somerfet- Houfe und bezieht eimen MWochenlohn von
1 Pfr. 5 Sh. (25 Mark). Dabei ift er verbeirathet
und bat eine zahlreiche Familie. Ich fehe mich darum
genöthigt, ihn vegelmäßig zu umterjtügen. Dazu reicht
158 Merkwürdige Eriminalproceffe aus Englanb.
nun freilich mein Einkommen, das fonjt für meine eigenen
perfönlicden Bebürfniffe vollauf genügen würbe, nicht ans,
und ich mußte darauf bevacht fein, daſſelbe zu fteigern.
Um bie Koften der Erziehung einer meiner Richten, für
bie ich mich intereffire, beftreiten zu können, verlegte ich
mich feit ungefähr einem Sabre darauf, feine Stidereien
anzufertigen und biejelben zunächſt in ver Nachbarfchaft,
fodann aber auf Grund von Empfehlungen, die ich mir
erwirkte, in immer weitern Streifen zu verfaufen. Ta
ih mich jedoch gewiffermaßen fchämte, viefen Hauſir⸗
handel unter meinem eigenen Namen zu betreiben, nahm
ich anläßlich meiner Verlaufsgänge den Namen « Potter»
an. Sch Habe eine Freundin Namens Miß Bynon, bie
in Addiscombe wohnt. Im Monat März wollte ich biefe
Dame, bie mich hierzu aufgeforbert hatte, befuchen. Sch
führte, um das Nügliche mit dem Angenehmen zu ver-
binden, einen Kleinen Koffer voll Stidereien bei mir und
beabfichtigte, diefe unterwegs zu verfaufen. Ich verlieh
bie Eijenbahn in ber Station Elmers-End und hatte
in Elmers⸗Road bereits vier ober fünf Häuſer beſucht,
ehe ich nach Sherbrool-Houfe, dem Wohnftg ber Familie
Hurſt, gelangte. Ich bin etwa um die Mittagsftunbe
dahin gefommen. Gin Dienftmäpchen befragte mich um
mein Begehr und um meinen Namen, und ich nannte
mi «Potter. Man hieß mich in das Speifezimmer
eintreten. Gleich nach mir fam Mrs. Hurft herein, ic
bot derjelben meine Stidereien zum Kaufe an, die Dame
erflärte jeboch, daß fie keinen Bedarf dafür hätte, und
geleitete mich felbft bis zur Hausthür. Ich Habe von
allen den Dingen, bie in jenem Haufe herumlagen, gar
nichts berührt und ben Pelzkragen, beffen Aneignung
mir in der Folge zur Laft gelegt wurbe, überhaupt wicht
geiehen, Nach dieſem Aufenthalt in Eherbroof-Houfe bin
Merkwürdige Eriminalprocefje aus England. 159
ich noch in einige andere Häufer gegangen, um meine
Waaren abzufegen. Zunächft war ich bei einer Mrs. Bar-
ber. Ich habe dort meinen Koffer geöffnet, ſodaß Frau
Barber deſſen Inhalt ganz genau durchfehen Konnte, was
fie auch that. Ste Hat fchließlich eine geſtickte Schürze
gekauft. Mrs. Barber rieth mir, mich zu einer Mrs.
Parker, die ‚gleich neben ihr wohnt, zu begeben. Ich
folgte fofort diefer Empfehlung, und auch dort öffnete ich
meinen Koffer und ließ alle meine Waaren burchjehen.
In beiden Häufern empfing ich Beftellungen zu fpäterer
Ausführung und gab darum ven Auftraggeberinnen meinen
wirflihen Namen und meine richtige Adreſſe an. Yon
bort aus ging ich direct nach Addiscombe zu meiner
Breunbin, dem Fräulein Bynon, verblieb bei ihr bis zum
Abend und kehrte von ba mitteld ber Eifenbahn nach
Haufe zurüd. Am nächften Tage war ich in meiner
Wohnung und arbeitete an meinen Stidereien. Um 4 Uhr
nachmittags meldete mir das Dienftmädchen, ein Herr fei
gefommen, der mich zu fprechen verlange. Es war ein
Polizift in Civilkleidern. Er fragte mich, ob ih Miß
Peploe ſei und ob ich am vergangenen Tage in Croydon⸗
Road geweien wäre. Meine Antwort lautete: «Mein
Name ift Peploe. Croydon⸗Road ift eine mir ganz un⸗
befannte Gegend, ich bin geftern in Elmers-⸗Road ge-
wefen.» Hierauf fragte er mich, ob ich vielleicht in
Sherbroof-Houfe geweien fei. Meine Antwort darauf
war wahrheitögetreu: «Ich kann das weber bejahen nod)
verneinen. Sch Habe geftern Käufer für meine Stidereien
gejucht und bin in eine ganze Reihe von Häufern ge-
gangen.» Sodann eröffnete er mir, er fei mit dem Auf-
trage gelommen, mich wegen bes Diebſtahls eines Pelz-
kragens zur Nechenjchaft zu ziehen. Ich wollte zuerjt
meinen Obren nicht recht trauen und eriwiberte ihm fehr
160 Merkwürdige Eriminalproceffe aus England.
enträftet: ich hätte gar feinen Pelzkragen gefehen und in
jenem Haufe nicht das Geringfte berührt. Ich erklärte
ibm auch fofort, es müſſe da ein Misverftänpniß ob-
walten, das wol verſchwinden würde, wenn man mir bie
Hageführende Dame perfönlich gegenüberjtellte. Ich be
gehrte, man möge mir geftatten, meine Nachbarn herbei⸗
zubolen, welche, perjönlich mit mir belannt, feinen An-
ftand nehmen würden, für mich einzuftehen und für
meine Nefpectabilität zu bürgen. Der Poltzift gab feinem
Bedauern Ausdruck, daß er zu foldem Verfahren nidt
ermächtigt fei, er müſſe fich nach feiner Inftruction und
jeinem Auftrage richten. Er bebarrte bemgemäß bei feiner
Aufforderung, ihm zu folgen, und geleitete mich im ber
That auf das Polizeicommiffariat in Beckenham. Wir
gelangten um 6 Uhr abends dahin. Ungefähr eme
Stunde fpäter famen auch Herr und Frau Hurft in Be
gleitung eines Dienftmäbchens auf das Commifſariat unt
hatten eine Unterredung mit dem bienftthuenden Beamten.
Was fie verhandelten, weiß ich nicht. In meiner Gegen-
wart befragte Herr Hurft feine Frau, ob fie in mir bie
Berfäuferin erfenne, welche tags zuvor zu ihr gekommen
wäre. Sie fowol wie das gleichfall® darum befragte
Dienftmäbchen bejabten ed. Mr. Hurft wandte fich fo:
dann zu mir und fagte: «Sch beichufdige Ste des Dieb:
ftahls eines Pelzkragens im Wertbe von 12 Pfr. St.
(240 Mark)» Ich wies dieſe Beſchuldigung energiih
zurüd. Da man mich jedoch bebeutete, ich würde in
Haft behalten werben, bi8 die Sache aufgeklärt ſei, fo
fagte ich, daß ich ven Pelzkragen, obwol ich an dem Ver:
ſchwinden vefjelben gänzlich unbethetligt jet, lieber bezahlen
wolle, als mich einfperren zu laffen, und daß ich bereit
jet, die geforderte Summe in Raten zu erjeßen. Ich
fragte aber ausprüdlich, ob man denn eine genaue Haus⸗
Merkwürdige Criminalproceffe aus England. 161
ſuchung gehalten und in ven Koffern des Dienftmäbchens
nachgejehen babe? — Es wurde mir parüber feine Auskunft
gegeben, fondern nur von Mer. Hurft die Gegenfrage an
mich gerichtet, welche Kirche ich zu befuchen pflege. ch
antwortete darauf wahrbeitsgemäß, daß ich feit neun
Jahren bie unter ber Leitung Sr. Ehrwürben des Pfar-
rers Bud ftehende Dreifaltigleitsfirche in Lee beſuche.
Mr. Hurft erwiderte mir darauf, er werde noch am
jelben Abend Der. Bud aufzufinden trachten und fich bei
ihm nad meinem Rufe erkundigen. Ich ertbeilte ihm
jegleich noch andere Referenzen, und bat, man möge mir
nunmehr geftatten, mich nach Haufe zu begeben, da ich
in meinem ganzen Leben noch nie über Nacht vom Haufe
weggeblieben wäre und mein Dienftmäpchen noch niemals
ſich ſelbſt überlaffen hätte. Mr. Durft verweigerte es
aber und fagte wörtlih: «Nein. Sie müfjen fich dem
Gelee fügen.» Der Bolizift verlangte Hierauf bie
Ausfolgung meiner Schlüffel und fagte zu mir: «Ich
werbe fofort gehen und eine Hausfuchung bei Ihnen vor»
nehmen und auch Ihr Dienftmäbchen benachrichtigen, daß
Sie heute Nacht nicht nach Haufe zurückkommen Fönnen.»
Dann brachte man mich in das Gefängniß des Polizei-
commifjariats. Dort wurde ich ganz ausgefleibet, eine
Procedur, die mir höchſt peinlich war, und einer genauen
Zeibespifitation unterzogen. Ich wurde in eine Zelle ge⸗
führt, wo ich die Nacht zubringen follte, obgleich fein
Bett darin war.”
Richter Mathew. Wie, kein Bett war vorhanten?
Zeugin. So ift es, Mylord.
Nichter Mathew. Das ift ungebeuerlich!
Die Zeugin führt fort:
„Es war fo Talt, daß ich alles Gefühl in ven Ers
tremitäten verlor. Auch hatte ich feit Mittag nichts ge-
XXII. 11
162 Merkwürdige Eriminalproceffe aus England.
geffen. Ich fror und hungerte. Sch beklagte mich wieber-
holt, und endlich, um 2 Uhr nachts, erbarmte fich ein
Polizeiconſtabler meiner, führte mich in die Wachtftube,
wo ein Teuer im Kamin Ioberte, und gab mir etwas
warmen Thee. Am nächiten Morgen warb ich vor den
‚Bolizeirichter geführt. Mrs. Hurft und ihr Dienft-
mädchen erjchienen und gaben Zeugniß wider mid ab.
Der BPolizeirichter vertagte bie Entſcheidung, entließ mich
aber gegen Bürgichaft, welche Mer. North von Lee für
mich Teiftete. Am Montag, den 4. April, warb ih vor
das Friedensgericht geladen, die Anklage wurbe wieber-
holt und die Verhandlung zu Ende geführt. Der Bor-
fitenne des Frievensgerichts wies die Klage als unbe-
gründet zurüd und fprach mich frei. Sch lege anbei bie
Urtbeilsabfchrift vor. Der Präfivdent des Gerichtshofs
erflärte jedoch, die Klage fei nicht muthwillig erhoben,
und ich mußte daher meinen Theil der Gerichtsloften
tragen. Meine Vertheibigung führte der Rechtsanwalt
Mr. Mote, verfelbe, der auch heute hier anweſend ift.
Der Theil der Gerichtsfoften, die ich zu tragen hatte
und deren Erfat ich außer einer Buße beanfpruche, be-
lief ſich auf 14 Pfd. St. (280 Mar). Die Kälte, Die
ih in ber Zelle, wo ich faft eine ganze Nacht hindurch
eingeiperrt war, erleiden mußte, hat mir eine bösartige
Crfältung zugezogen, ich habe an meiner Gefundheit bfei-
benden Schaden gelitten, von jener Zeit an bin ich
ſchwerhörig.“
Im Kreuzverhör, dem die Zeugin durch ven Fönig-
lichen Rath Mr. Cod unterzogen wurde, fagte fie noch aus:
„Bor dem Tage, ba ich bei den Eheleuten Hurft war,
fannte ich die Gegend von Elmer-Road nicht. Ich habe
meinen Namen mit «Miß Potter» angegeben, wie ich es
geihäftlich, wenn ich haufiren gehe, tn der Regel thue.
Mertwürbige Eriminalproceffe aus England. 163
Ih war in der Vorhalle bei Hurft, ehe ich in pas
Speijezimmer geführt wurbe, etwa 1—2 Minuten lang
allein. Ich habe nie gehört, daß im irgendeinem andern
Haufe, wo ich des Verkaufes meiner Stickereien wegen
war, hernach etwas als fehlend ungegeben worben: tft,
und meines Wiffens ift bieferiwegen niemals eine Be⸗
fchwerbe bei der Polizeibehörde angebracht worden. Weber
früher noch zu der Zeit, da man mich verhaftet. Mer.
Hurft fagte mir beim Polizeicommiffariat ausbrüdlich:
«Wir beichuldigen Ste, einen Pelzkragen im Werthe von
12 Pfd. St. entwendet zu haben; doch wenn Sie ihn er-
fegen wollen, werben wir Ihnen gegenüber fo mild vor-
geben, als uns nur möglich ift und den Kragen nur mit
7 Pro. St. anrechnen.»“
Miß Bynon, als Zeugin vorgeladen, fagt aus:
„Fräulein Peploe ift meine tbeuerfte Freundin. Ich
bin jeit zwölf Sahren mit ihr auf das genauefte befannt
und weiß nur das Beſte von ihr auszufagen. Am friti-
chen Zage kam fie, meiner Einladung folgend, zu mir
auf Beſuch. Sie traf um 21, Uhr nachmittags bei mir
ein und verweilte bis zum Abend. Ste entfernte fich
‚mit dem Zuge um 7 Uhr 54 Minuten von Addiscombe.
Sie hatte ihre Stickereien in einem ſchwarzen Handkoffer
bei fih. Ich babe diefelben aus Neugierde Stüd für
Stüd durchgemuſtert. Es war fein Kragen irgenpiwelcher
Art dabei. Ich habe, als ich von ber Verhaftung meiner
Freundin Runde erhielt, fofort aus eigenem Antriebe
einen Beſuch bei Mrs. Hurft gemacht und gegen die
Beſchuldigung proteſtirt.“
Charles Marriner, Polizeiinſpector bei dem Po⸗
lizeicommiſſariat in Beckenham, gibt, als Zeuge vernom⸗
men, an:
„Ich erinnere mich ganz gut an die Geſchichte von
11*
164 Merkwürdige Eriminalproceffe aus Englant.
dem geftoblenen Pelzkragen. Der Diebftahl foll am
29. März begangen worben fein. Sergeant Knight
eritattete mir bie erfte Melpung. Er war es, der am
Morgen des 30. März die Beſchädigte, Mrs. Hurit, zuerft
vernommen bat. Sie war in Begleitung des Polizei⸗
conftablers Barrett erfihienen und hatte angegeben, am
Bortage fei ihr aus ihrem Haufe ein werthuoller Pelz-
fragen geftohlen worben. ‘Der Verdacht Ienfe fich auf
eine Frauensperfon, bie unter dem Vorwande, Stidereien
zu verfaufen, fich eingeführt habe und bie einige Zeit
allein in ber Vorhalle geblieben fei, als das Dienft-
mädchen fie der Mrs. Hurft gemeldet babe. Die Ver—⸗
fäuferin ſei ſodann in das Speifezimmer gerufen worben,
und Mrs. Hurft ſelbſt habe fie binausgeleitet. Unmittel-
bar nach dent Weggehen der Haufirerin wurde ber mit
foftbarem Pelzwerk ansgeftattete Kragen vermißt. Nie
mand hatte inzwijchen nach ihr das Haus verlaffen. Das
Dienftmäbchen wurde von Sergeant Knight befragt,
konnte aber feine weitere Auskunft geben. Mrs. Hurft
betbenerte, daß fie ben Pelzkragen kurz zuvor bei einem
Ausgange getragen und, als fie zurückkehrte, ihn entweber
in ber Vorhalle oder im Speifezimmer abgelegt babe.
Das Dienſtmädchen fügte Hinzu, die Verfäuferin fei im
das Speifezimmer eingetreten, ohne eine Aufforberung
hierzu abzuwarten. Ich verlangte eine Berfonalbeichreis
bung ber Daufirerin und erklärte mich bereit, biejelbe
auszuforihen und gegebenenfalls feftnehmen zu laſſen.
Sch beauftragte fomit ven Polizeiconftabler Barrett, vie
weiter nothwendigen Erhebungen vorzunehmen. Am Abent
befjelben Tages, nachdem Barrett die Beichultigte ver-
haftet hatte, nahm ich mit Mr. und Mrs. Hurit ein
Protokoll im Polizetcommiffariat von Beckenham auf.
Herr und Frau Hurft wurden von mir auf ten Umjtane
Mertwürdige Criminalproceffe aus England. 165
aufmerkfam gemacht, daß die Beſchuldigte ermittelt worden
und damit bie Aufgabe ver Polizei zunächſt erfüllt fet.
Die Beſchuldigte ftelfe aber entfchieven in Abrede, bie That
begangen zu haben, auch fpräche für fie, daß fie den Be⸗
ftellerinnen ihrer Stidlereien den richtigen Namen und
ihre Adreſſe angegeben babe, baß fie fich vor ber Be—
Hörde nicht verborgen und in ihrer ſtabilen Wohnung
arretirt worden fei. Ich machte fie wiederholt — drei⸗
mal — ausprüdlich darauf aufmerkſam, daß, wenn fie
bei der Anklage der Miß Peploe wegen Diebitahle be
harren und beren Fefthaltung im Gefängniß beantragen
wollten, dies nur auf ihre Verantwortung und Gefahr
gefchehen könne. Mr. Hurft fagte zu feiner Gattin: «Du
erfennft fie mit Beftimmtheit?.... Dann mußt bu fie
anflagen.» Mrs. Hurft unterzeichnete dann ben Antrag
auf Verhaftung. Demgemäß wurde Miß Peploe in das
Gefängniß abgeführt umd ver üblichen Behandlung unter-
worfen.“
Henry Placktt, ein anderer Polizeiinſpector von
Beckenham, hatte gehört, daß Inſpector Marriner das
Ehepaar Hurft aufmerkſam machte, wenn fie bie Anklage
aufrecht erhalten und vie Verhaftung burchgeführt haben
wollten, fo könne dies nur auf ihre Gefahr und Verant⸗
wortung gefchehen.
Dir. Cock gab die Erklärung ab, wenn das Ehepaar
Hurft für bie Inhaftnahme durch das Gericht verantivort-
lich erkannt werben ſolle — was er nicht annehmen könne —,
wolle er gegen die Summe ber Gerichtsfoften in der Höhe,
wie fie Miß Peploe beziffert habe, feinen beſondern Ein-
wand erheben. Allein vie Verantwortlichkeit für die Ver-
baftung lehnte er, als im Gefete nicht begründet, namens
feiner Clientin entſchieden ab.
Der Richter Mathe hebt hervor, e8 werde Sache
166 Merkwürdige Eriminalprocefie aus England.
der Gefchworenen fein, darüber zu urtheilen, ob, wenn
das Ehepaar Hurft nicht darauf beftanden hätte, pie Ver⸗
baftung der Miß Peploe purchzuführen, bie Polizeibehörbe
auf Grund ihrer Machtvolllommenheit dennoch fie ge-
fangen gehalten baben würde.
Das Protofoll der Verhandlung vor dem Friebens-
gericht wurbe hierauf zur DVerlefung gebracht.
Dir. Cock verfucht ſodann in längerer Rede das Vor-
gehen des Ehepaares Hurjt zu rechtfertigen. Die Ver⸗
fügung ber Haft ift von ber Polizetbehörbe ausgegangen,
deshalb trifft fie die Verantwortlichleit dafür. Eine Ver-
leumbung liegt nicht vor, benn ber DVerbacht gegen Miß
Peploe iſt weder leichtfertig noch böswillig erhoben wor⸗
den. Der Diebitahl war begangen, das ift conftatirt.
Nichts lag näher als der Verdacht, daß die der Mrs. Hurſt
perjönlih gänzlih unbelannte Haufirkrin ihn verübt
babe. Jedermann weiß, wie oft gerade in ſolchen Häu-
fern ber Kleinen Orte, welche die Rieſenſtadt London um⸗
geben, Diebftähle von Perfonen verübt werben, bie fich
unter allerlei Vorwänden in bie Wohnungen einzu⸗
ſchleichen verftehen. In dieſem Falle handelte e8 ſich um
eine vollfommen fremde Perſon. Sie war einige Zeit
allein in ber Vorhalle geweſen, wofelbft Mrs. Hurft ihrem
Pelzkragen abgelegt hatte, und kurz nachher, kaum daß
fie weggegangen war, wurbe eben dieſer Pelzkragen ver-
mißt und trog alles Suchens nicht wieder aufgefunden.
Einfchleicherinnen, die e8 auf Diebftähle abgefeben haben,
ſchützen immer irgendeinen ehrenhaften Grund ihres Ein-
dringend vor und pflegen gewöhnlich anftänbig gekleidet
zu fein. Mrs. Hurft bat im bejten Glauben gehandelt,
fie hat annehmen müffen, Miß Peploe habe ven an ihrem
Eigenthum verübten Frechen Diebftahl begangen, fie durfte
ben Verdacht ausfprechen, daß Miß Peploe es geweſen
Merkwürdige Eriminalproceffe aus England. 167
fei, die den Pelzkragen entiwendet habe. Wenn fie aber
biefe Ueberzeugung begte, fo hat fie gehandelt, wie e8 ber
DBürgerpflicht entipricht. Es Tiegt im öffentlichen Intereſſe,
die Störungen der bürgerlichen Rechtsordnung zu be⸗
fümpfen; bie Anzeige ber Thatjache ift daher begründet
und lobenswerth.
Zum Schluffe fpriht Mr. Cock no bie Bitte aus,
die erjchienenen Zeugen, Mr. und Mrs. Hurit, deren
Dienftmäpchen und einen der Nachbarn anzuhören, bie
das Geſagte beftätigen würden. Die einftimmigen Aus»
jagen aller diefer ehrenhaften Zeugen würben wol ge-
nügenbe® Gewicht befiten, um zu befräftigen, daß wol
ein bebauerlicher Irrthum, aber feine leichtfertige oder gar
böswillige Verleumbung vorliege und fein Anlaß vor-
handen fei, pas Ehepaar mit einer Verantwortlichfeit zu
belaften, die fie nicht treffen könne.
Die Zeugen werben vernommen und jagen in biejem
Sinne aus.
Richter Mathew refumirt den Fall und legt den Ger
ſchworenen nachitebende vier Fragen vor:
1) Mt von Miß Peploe ein Diebftahl begangen
worden?
2) Iſt die Inhaftnahme der Miß Peploe durch das
Bolizeicommiffariat in Dedenhbam auf Veranlafjung und
unter ver Verantwortlichfeit der Eheleute Hurft erfolgt?
3) Haben bie Eheleute Hurſt genügenvde Vorſicht an⸗
gewendet, um fich von der Rechtsbeſtändigkeit ihres Ver⸗
bachts zu überzeugen?
4) Haben die Eheleute Hurft, als fie die Anzeige er⸗
ftatteten, fih von ber Erwägung leiten laſſen, einer
Bürgerpflicht nachzukommen und ber öffentlichen Rechts»
ficherbeit einen Dienft zu erweifen, ober find fie einem
andern Beweggrunde gefolgt?
168 Merkwürdige Eriminalproceffe aus England.
Die Gejchworenen zogen fich zurüd und entichieben
nach ziemlich lange bauernder Berathung:
ad 1. Nein.
ad 2. Sa.
ad 3. Nein.
ad 4. Sie find einem andern Beweggrunde gefolgt.
Zugleich hatte die Jury über die zu entrichtende Ent-
ſchädigungsſumme fich geeinigt. Sie ſprach der Klägerin
ben Erfag der früher bezahlten Gerichtskoſten im Betrage
von 14 Pfd. St. und eine Buße von 50 Pf. St., zu⸗
jammen 64 Pfd. St. (1280 Mark) zu.
Der Richter Mathew hieß das Urtheil gut und ver-
fünbete deſſen Rechtskraft.
IH.
Weit weniger harmlos al8 ber vorige erfcheint ber
nachitehende Fall misbräuchlicher Anwendung ftrafgefek-
liher Beitimmungen.
Der Solicitor- General Sir Edward Elarfe und
Mr. Terrell vertraten in der am 11. November 1887
vor dem gleichen Gerichtshofe purchgeführten Verhandlung
ben Kläger, ver königliche Rath Lockwood und Mr. Foote
den Verklagten. Verhanblungsfeiter war der Nichter
Maniity.
Nach einigen einleitenden Worten Sir Edward Elarfe’s,
welche die Verhandlungen eröffneten, wurde zur Ver⸗
nehbmung bes Klägers, der als Zeuge aufgerufen wurde,
gefchritten.
Der Kläger, Mr. Thomas Morton Eolfon, fagte
aus:
„Sch wohne berzeit in London, Nr. 3 Adams» Street,
Adelphi. Bis vor kurzem war ich Eigenthümer eines
Mertwürbige Eriminalproceffe aus England. 169
ausgebehnten Grundbeſitzes in den Grafichaften Dorſet
und Hants. Zu meinen Befigungen gehörte bie Guts-
herrſchaft Linkenholt bei Anbover, wofelbft ich meinen
ftändigen Wohnfig hatte. Im Iahre 1877 nahm ich von
einem Herrn Phelps ein Hypothekendarlehn in ber Höhe
von 9000 Pfd. St. (180000 Marf) gegen Verpfänbung
der Befigung Linkenholt auf. Diefe Hypothekenforderung
ging im Jahre 1882 durch rechtsgültige Ceffion in das
Eigenthum der Bankfirma ber Herren R. Williams
u. Comp. in Dorchefter über, welche mir damals ein
weiteres hyyothekariſch gefichertes Darlehn in ber Höhe
von 1000 Pfd. St. (20000 Mark) auf dieſelbe Herrichaft
gewährten. Auf diefem Gute befanden fich zwei Hänfer,
das obere und das untere. Das obere bewohnte ich, das
untere Hatte ih an einen Herrn T. ©. Brown ber-
miethet, deſſen Miethsvertrag im Monat März 1881
ablief. Aus dieſem Grunde wurde eine Schätung jener
ihm gehörigen wanbfeften Hausgeräthe, die er zurücklaſſen
wollte, vorgenommen und ich erwarb biefelben burch
Kauf um ben feftgeftellten und vereinbarten Werth am
22. Sebruar 1881. Zu diefen wandfeften Hausgeräthen
gehörten zwei abgenugte alte kupferne Keffel. Ich lege
dem hohen Gerichtähofe den Kaufcontract vor. In dem⸗
jelben find die Gegenftände alle genau und einzeln an⸗
geführt. Es finden fich darunter aufgezeichnet: «zwei große
tupferne Branteffelv. Der Kauf geſchah in Bauſch und
Bogen, daher ift eine Werthbeftimmung für pie Keffel nicht
beſonders erfichtlich gemacht. Im Iahre 1886 kündigten mir
die Bankiers das erfte Darlehn von 9000 Pfd. St., und da
ich es nicht rechtzeitig bezahlen Eonnte, beantragten fie am
28. Juli 1886 die Berfteigerung des verpfänbeten Grund⸗
befiges. Die Bankiers traten mit Heren Charles James
Radelyffe, meinem gegenwärtigen Proceßgegner, in Ver⸗
168 Merkwürdige Eriminalprocefie aus England.
Die Gefchworenen zogen fich zurüd und entichieben
nach ziemlich lange dauernder Berathung:
ad 1. Nein.
ad 2. Ja.
ad 3. Rein.
ad 4. Sie find einem andern Beweggrunde gefolgt.
Zugleich hatte die Jury über bie zu entrichtenbe Ent-
Ihäbdigungsfumme fich geeinigt. Sie fprach der Klägerin
ben Erfat ber früher bezahlten Gerichtsfoften im Betrage
von 14 Pfo. St. und eine Buße von 50 Pfd. St., zu⸗
fammen 64 Pfd. St. (1280 Marf) zu.
Der Richter Mathew hieß das Urtbeil gut und ver-
kündete beffen Rechtskraft.
I.
Weit weniger harmlos als der vorige erſcheint der
nachſtehende Fall misbräuchlicher Anwendung ſtrafgeſetz⸗
licher Beſtimmungen.
Der Solicitor⸗General Sir Edward Clarke und
Mr. Terrell vertraten in der am 11. November 1887
vor dem gleichen Gerichtshofe durchgeführten Verhandlung
ben Kläger, ver königliche Rath Lockwood und Mr. Foote
den Verklagten. Verhandlungsleiter war ber Wichter
Maniſty.
Nach einigen einleitenden Worten Sir Edward Clarke's,
welche die Verhandlungen eröffneten, wurde zur Ver⸗
nehmung des Klägers, der als Zeuge aufgerufen wurde,
geſchritten.
Der Kläger, Mr. Thomas Morton Colſon, ſagte
aus:
„Ich wohne derzeit in London, Nr. 3 Adams⸗Street,
Adelphi. Bis vor kurzem war ich Eigenthümer eines
Mertwürbige Eriminalproceffe aus England. 169
ausgebehnten Grundbeſitzes in den Grafichaften Dorſet
und Hante. Zu meinen Beflgungen gehörte bie Guts⸗
berrichaft Linkenholt bei Andover, woſelbſt ich meinen
ftändigen Wohnfig hatte. Im Iahre 1877 nahm ich von
einem Herrn Bhelps ein Hhypothelendarlehn in ber Höhe
von 9000 Pfr. St. (180000 Mark) gegen Verpfändung
der Beſitzung Linkenholt auf. Diefe Hypothekenforderung
ging im Jahre 1882 durch rvechtsgültige Ceffion in das
Eigentum der Bankfirma der Herren R. Williams
u. Comp. in Dorchefter über, welche mir damals ein
weiteres hyyothekariſch geftchertes Darlehn in der Höhe
von 1000 Pfo. St. (20000 Mark) auf biefelbe Herrichaft
gewährten. Auf diefem Gute befanven fich zwei Häufer,
das obere und das untere. Das obere bewohnte ich, das
untere hatte ich an einen Herrn T. ©. Brown ver-
miethet, deſſen Miethsvertrag im Monat März 1881
abtief. Aus diefem Grunde wurde eine Schägung jener
ihm gehörigen wanbfeften Hausgeräthe, die er zurücklaſſen
wollte, vorgenommen und ich erwarb biefelben Durch
Kauf um ven feftgeftellten und vereinbarten Werth am
22. Februar 1881. Zu dieſen wandfeften Dausgeräthen
gehörten zwei abgenutte alte kupferne Keſſel. Ich lege
dem hoben Gerichtöhofe den Raufcontract vor. In dem⸗
felben find die Gegenftände alle genau und einzeln an⸗
geführt. Es finden ſich Darunter aufgezeichnet: azwei große
Inpferne Braufefielo. Der Kauf gejchah in Bauſch und
Bogen, daher tft eine Werthbeftimmung für die Keſſel nicht
befonders erfichtlich gemacht. Im Iahre 1886 fündigten mir
bie Bankiers das erfte Darlehn von 9000 Pfd. St., und da
tch es nicht rechtzeitig bezahlen Tonnte, beantragten fie am
28. Juli 1886 bie Berfteigerung des verpfändeten Grunb-
befiges. Die Bankiers traten mit Herrn Charles James
Radelyffe, meinem gegenwärtigen Procefgegner, in Ver-
170 Mertwürdige Eriminalproceffe aus England.
handlung, und obgleich ich dagegen proteftirte, weil mir
bon anderer Seite, von einem Herm Tyler, ein vor⸗
theilhaftes Gebot in Ausficht geftellt worden war, jchloffen
fie, wozu fie formell berechtigt waren, gegen meinen
Willen den Kaufvertrag mit Herrn NRabeluffe ab. Ich
wurde hiervon verftändigt und erhielt am 1. September
1886 die Aufforderung, das Gut zu räumen. Sch war
gezwungen, biefer Aufforderung Folge zu leiften, und be-
gann innerhalb ber gefetlichen Frift die mir gehörigen
Einrichtungsſtücke wegzufchaffen. Die vorerwähnten Keſſel,
welche einen Theil meines Eigenthums bildeten, wurben
gemäß meiner Anorbnung am 3. ‘December aus ihren
Faflungen genommen und mit andern Einrichtungsftüden
auf einen Wagen geladen. Ich ertheilte ten Auftrag,
eine Dede darüber zu breiten, denn es war mir befannt,
daß Mr. Radcelyffe's Verwalter, ein Mann Namens
Edwin Jones, auf der Lauer lag, um mir Schwierig
feiten zu bereiten, und ich hatte feine Luft, mit biefem
ungebilveten Menfchen mich in Auseinanberjegungen ein-
zulaffen. Der Wagen ftand übrigens im vollbelavenen
Zuftande noch etwa zwei Stunden lang vor ber Thür
meines Haufes und wurbe bann nach Upton gefahren,
wofeldft ich Räumlichkeiten gemiethet Hatte, um bie Suchen
unterzubringen. DieRäumung dauerte bi8 zum 7. December,
an welchem Zage ich mich felbft nach Upton verfügte, um
mich von der Unterbringung meiner Einrichtungsftüde per⸗
ſönlich zu überzeugen. Zwiſchen 6 und 7 Uhr abends jenes
Tages wurde ich vor die Thür des Haufes gerufen, das ich
bort gemiethet hatte, und da ich dem Rufe ahnungslos folgte,
ſah ich mich unerwarteterweife von einem Oberbeamten
der Polizei und vier Eonftablern umringt. ‘Der Ober-
beamte wies mir einen fchriftlichen Verhaftsbefehl vor.
Sch unterbreite eine Abfchrift des Verhaftsbefehls dem
Mertwürbige Eriminalproceffe aus England. 171
hoben Gerichtähofe. Aus demſelben ift erfichtlich, daß ich
beſchuldigt wurde, ich hätte «einen kupfernen Keſſel im
Werthe von 10 Sh. (ebenfo viel Mark), Eigenthum des
Charles James Rabclyffe, geftohlen». Gleichzeitig wurde
mir ein Befehl zur Vornahme einer Hausiuchung vor-
gewieſen. Ausgeſtellt waren biefe friebensrichterlichen
Decrete auf Grund der beichworenen Anzeige eines ge-
willen Newport. Charles Newport ift der Name eines
Tagelöhners, ber feit beiläufig acht Jahren in meinen
Dienften gearbeitet hatte unb ber auch bei der Räumung
und Wegichaffung der Einrichtungsitüde mit beichäftigt
worben war. Dean führte mich in einem offenen Karren
während eines Schneefturmes, volle fieben (englifche) Mei⸗
len weit, nach) Anbover. Dan gejtattete mir nicht, über
Lintenbolt zu fahren, um mir andere, trodene Kleider
mitzunehmen. Bei der Ankunft im Polizeicommiſſariat,
bie natürlicherweiſe zu vorgerückter Stunde erfolgte, fperrte
man mich in eine Gefängnißzelle. Sch wurbe genöthigt,
auf einer hölzernen Bank zu übernachten. Am nächiten
Morgen wurde ich vor den Frievensrichter geführt, um
mich gegenüber ver Beichuldigung, einen Keffel im Werthe
von 10 Sh. geftohlen zu haben, zu rechtfertigen. Sch
fühlte mich unwohl und nicht in der DVerfaffung, eine
Gerichtsverhandlung durchzuführen. Ich verlangte daher
eine Vertagung und bot eine Caution in irgendwelcher
raiſonablen Höhe an. Allein dieſes Verlangen wurde
von dem Friedensrichter, Oberſt Earle, zurückgewieſen.
Für die Gegenſeite war ein Rechtsanwalt, ein Mr. Hur-
table, erſchienen. Er gab zu Protokoll, der Verhafts⸗
befehl ſei erwirft worden, um mich zu zwingen, ben
fupfernen Keffel zurüdzuftellen, unb bot mir an, von ber
Klage zurüdzutreten, wenn ich mich Dazu verfiehen wolle.
Das wäre ein Eingeftändniß meines Unrechts, ein Auf-
172 Mertwärbige Eriminalproceffe aus Englanb.
geben meines Rechteftanppunttes geweſen. Ich weigerte
mich alfo. Die Verhandlung wurde fortgefett. Im Laufe
berfelben beantragte Mr. Hurtable deren Bertagung, um
durch Zeugen ben Nachweis erbringen zu fönnen, ich
hätte auch einen Herdroſt geftohlen! ‘Der Briebensrichter
ging auf dieſes Begehren nicht ein, führte die Verhant-
fung zu Ende und fällte auf Grund der Umftände einen
Freiſpruch. Ich begab mich fofort direct nach Haufe und
legte mich zu Bett, denn ich fühlte mich recht elend. Cs
war bie Donnerstag, und als ich am Sonntag barauf
aufzuftehen verfuchte, befam ich einen Ohnmachtsanfall,
fodaß ich in ven offenen Kamin ftürzte. Ich mußte bis
zum nächiten Sreitag, ben 16. December, das Bett hüten.
Ich bin eine in Dorfetffire und Hampfhire weit und
breit befannte Perfönfichfeit. Meine Familie ift dajelbit
jeit Jahrhunderten anfäffig und begütert gewefen. Wieder⸗
holte Misernten und der Rückgang im Werte von
Grund und Boden hatten mich in eine misliche Lage ge⸗
bracht, ſodaß ich das Geld zur Zahlung meiner Hypothek⸗
ſchuld nicht aufbringen konnte. Deshalb verlor ich mein
Dermögen und mußte meinen Grunpbefig abtreten. Ich
babe nun in Adams-Street, Adelphi, ein Hötel-garni er-
richtet und Hoffe durch den Zufpruch meiner vielen Be⸗
kannten und engern Landsleute ein gutes Gefchäft zu
machen. Zwei Sabre fchon, ehe bie vorgeſchilderte Ver⸗
baftung erfolgte, Tränfelte ich ein wenig, allein ſeitdem
ift meine Geſundheit ernftlich erfchüttert und mein Zu—
ftand ein derartiger, daß ich zeitweilig mein Geſchäft nicht
perjehen kann.”
Mr. Lockwood unterzieht den Zeugen einem längern
Kreuzverhör, das ſich vornehmlich um den Umftanb brebt,
weshalb Eoljon fo lange mit der Räumung gezögert Habe,
ferner über das Eigenthumsrecht an ven wandfeften Haus-
Mertwürbige Eriminalproceije aus England. 173
geräthen und bie Wegichaffung fich verbreitet. ‘Der Zeuge
bebarrt bei der Angabe, er habe hiervon nicht mehr weg⸗
ſchaffen laſſen als eben jene Stüde, die er gemäß dem
vorgelegten Vertrage nach der erfolgten Verpfändung des
Gutes käuflich erworben habe, und bie er als fein freies
Eigentbum anzusprechen berechtigt geweſen fei.
Nachdem dieſes Kreuzverhör eine Weile gedauert hatte,
unterbricht der Richter dafjelbe mit der Bemerkung, er
ſehe nicht ein, was dieſe rein civilrechtliche Frage mit dem
Ausgange des vorliegenden Proceffes zu thun habe.
Dir. Lockwood replicirt, fein Zweck ſei nicht ber, bie
Berantwortlichleit des Herrn Rabelyffe für das Vorge⸗
fallene in Abrebe zu ftellen, feine Abſicht gehe nur dahin,
Har zu machen, in welcher chicandfen Weile der nun⸗
mehrige Kläger vorgegangen fei und in welchen ruinen«
artigen Zujtand er das Haus verjeßt habe, ehe er es
verließ.
Richter Maniſty. Angenommen felbft dies wäre fo,
fo bätte Herr Radelyffe Doch immer nur einen civilvecht-
lichen Anfpruch erheben können. Es gebt daraus nicht
das Necht hervor, einen unbeſcholtenen Mann eines DVer-
brechens zu beinzichtigen.. Ich mache Sie aufmerkſam,
daß eine folche Vertheidigungsweije leicht zu Ihrem Nach-
theil ausgelegt werben kann.
Dir. Lockwood. Ich füge mich der Autorität Sr.
Lordichaft und verzichte darauf, weitere Fragen an ben
Kläger zu richten.
Ein Zeitungsbericht über die Verhandlung vor dem
Friedensrichter wird ſodann zur Verlefung gebracht. Der⸗
jelbe ftimmt in allen wejentlichen Punkten mit den An-
gaben bes Klägers überein.
Charles Newport, als Zeuge vernommen, gibt an:
„Ich habe die Anzeige erjtattet, weil Mir. Jones mich
174 Merkwürdige Eriminalproceffe aus Englanb.
beauftragt bat e& zu thun. Ich wußte nicht, daß ich
Mr. Colſon dadurch eines Diebſtahls beſchuldige. Ich
gab eben nur an was ich wußte, nämlich, daß die Keſſel
ausgeldjt, verladen und weggeführt wurden.“
Die Ausfage, die Newport vor bem Friedensrichter
abgegeben hat, wird ihm vorgelefen. Da er wicht fchrei-
ben kann, hat er fie mit brei Kreuzen unterfertigt. Im
berjelben ift die ausdrückliche Angabe enthalten, daß Mer.
Colſon bie Keſſel geftohlen habe. Newport behauptet num,
daß er fich nicht erinnern könne, dies befchworen zu haben,
aber ins Kreuzverhör genommen, gefteht er enblich zu,
Mr. Iones habe ihm gefagt, er müfje es beſchwören, daß
Mr. Eolfon die Keffel geftohlen hätte, unb baß er es
barum auch fo angegeben unb beeibet habe.
Mr. Lockwood erklärt, er babe urſprünglich beab-
fichtigt, verfchtevene Entlaftungszengen vorzuführen; allein
nad) ber leßtabgegebenen Zeugenausſage wolle er es babei
bewenben lafien, blos Mr. Sones zu verhören, unb wolle
jodann fein Platvoper an die Gefchivorenen richten.
Edwin Jones wirb zur Zeugenfchaft vorgerufen und
jagt aus:
„Ein Conftabler Hatte mir die Mittheilung Hinter-
bracht, daß Newport bei der Räumung und Wegichaffung
ber Hausgeräthe von Per. Eolfon befchäftigt geweſen jei.
Darum beauftragte ich gerade ihn, er möge nach Ans
bover gehen und dort bei der Polizeibebörbe die Anzeige
erjtatten. Ich hatte nämlich einen Brief von dem Nechte-
anwalt des Herrn Radelyffe, von Wer. Hurtable, erhalten,
ber eine jolche Anzeige für erforberlich bezeichnete. Ich habe
Newport durchaus nicht inftruirt, etwas anderes auszu⸗
jagen, als was der Wahrheit entfpricht. Ich bin übrigens
perfönlich nicht dabei geweſen, wie Newport feine Ausſage
zu Protofolf gegeben hat.”
a \
Mertwürbige Eriminalproceife aus England. 175
Ins Kreuzverhör genommen, fügt der Zeuge hinzu:
„Ich ſelbſt bemerkte bie Keffel, als fie auf ven Wagen
geladen worden waren. Ich hatte ſchon einige Zeit zu-
vor eine Unterhaltung mit Frau Colfon gehabt, im Laufe
welcher dieſe mir fagte, jenes wandfeſte Hausgeräth ei
Eigenthum ihres Mannes geblieben. Mit dem Kläger
perfönlich habe ich 5i8 zum 7. December über bie An⸗
gelegenheit nicht geſprochen.“
Hierauf wird ein Telegramm zur Verlefung gebracht,
das Jones am 6. December an Mr. Radelyffe gerichtet
bat. Daſſelbe lautet:
„Keſſel Heute Nacht weggeführt. Polizei kann ohne
Berhaftsbefehl nicht einfchreiten. Keine Zeit barf ver-
foren werben.”
Der Richter Manifty verlangt kraft feiner biscretio-
nären Gewalt noch die Vernehmung eines andern an⸗
wejenden Zeugen, nämlich des Herrn Pearce, Schreiber
bei ber Anwaltsfirma:; Andrews, Son u. Hurtable
in Dorchefter, jener Rechtsanwälte, welche das Verfahren
vor dem Friedensrichter eingeleitet hatten. Pearce jagt
im wefentlichen Folgendes:
„Es ift mir befannt, daß Herr NRabelyffe am 6. De⸗
cember, als er das vorliegende Telegramm von ones
erhalten hatte, fich fofort brieflich an Herrn Thornton,
einen ber Gefellichafter der Bankfirma R. Williams u.
Comp. in Dorchefter, wandte, das Telegramm beifchloß
und ihn aufmerkfam machte, dag die Bankfirma ihm für
das wanbfefte Hausgeräth haftungsverpflichtet fei und für
baffelbe aufzufommen babe. Die harakteriftiichen Stellen
des Briefes lauten: «... Ich erwarte, daß Sie fofort
die Polizei zum Einfchreiten veranlaffen werben.... Der
Polizetleiter von Andover wird gewiß allen Ihren Wün⸗
chen fchleunigft Rechnung tragen... .» Herr Zhornton,
176 Merkwürdige Criminalproceijfe aus England.
ber dieſen Brief an unfere Kanzlei ſandte, erwiberte den⸗
jelben umgehend und fchrieb an Mr. Rabelyffe, er habe
fih fofort mit feinem Rechtsanwalt, Mr. Andrews, ins
Einvernehmen gejett, damit dieſer alle erforberlichen
Schritte veranlaffe, «jedochy, fo ſchrieb er wörtlich, «er
muß in Ihrem Namen die Anzeige eritatten, benn das
Gut ift an Sie, Mr. Rapcluffe, verfauft und nicht mehr
unfer Eigentbum». — Ich bin von meinen Chefd beauf-
tragt worden, mich fogleich nach Anbover zu begeben, und
traf dort in einem Wirthshauſe mit Jones, Newport und
noch einem Manne, auch einem gewöhnlichen Arbeiter,
zuſammen. Die lettern beiden waren bei der Wegichaf-
fung der Einrichtungsftüde des Der. Eoljon beichäftigt
gewefen. Ich vernahm beide, und dba Newport's Aus⸗
jagen becibirter lauteten, ging ich mit ihm zur Polizei,
veranlaßte vie PBrotofollirung feiner Anzeige, bie er be
eibete, und begehrte die Ausfertigung des Verhaftsbefehls,
die anſtandslos erfolgte,”
Mr. Lockwood wendete ſich nunmehr an bie Ge—
ſchworenen. Er gibt zu, daß ein Misverſtändniß obge⸗
waltet habe, und daß Herrn Radelyffe hierfür die Ver⸗
antwortlichkeit treffe. Er ſei darum darauf gefaßt, daß
derſelbe zum Erſatz des Schadens verurtheilt werde, und
plaidirt nur dafür, bie Summe mit Rückſicht auf bie be⸗
jondere Natur des alles möglichſt gering zu bemeſſen.
Der Solicttor-General replicirt.
Der Richter Maniſth refumirt den Sachverhalt in
klarer Auseinanberfegung. Dieſe gipfelt in den Schluß-
worten: „Diefer Ball befitt eine ganz ungewöhnliche
Tragweite und erbeifcht, ganz abgefehen von ven Mis⸗
helfigleiten, die Herrn Colſon betroffen haben, um
feiner principiellen Bedeutung willen eine Sühne. Es
tt feine blos individuelle Angelegenheit des Klägers; an
Merkwürdige Eriminalproceffe aus England. 177
diejen Tall knüpft fich die Beantwortung einer öffentlich“
rechtlichen Frage. Das ftrafrechtliche Proceßverfahren iſt
in der misbräuchlichiten Weife dazu angewenbet worden,
um eine rein privatrechtliche Streitfrage des Mein und
Dein, nicht etwa auszutragen, fonvern zu vergewaltigen.
Dies iſt aber von der einschneidenpften Wichtigkeit für die
Öffentliche Nechtsficherheit. Wenn jemand, ber fich in
einer vermögensrechtlichen Streitfrage benachtheiligt glaubt,
ohne weiteres fich berechtigt erachten bürfte, feine An⸗
ſprüche auf ftrafrechtlichem Wege geltend zu machen und
das Einfchreiten der Eriminalpolizei zu:provociren, jo iſt
es nur recht und billig, daß ihm die Unzuläffigfeit jeines
Vergehens Har zum Bewußtjein gebracht werde. Es thut
mir leid es ausfprechen zu müffen, aber ichgjage ed nach
fühler, veiflicher Ueberlegung, daß ich auch nicht einen
einzigen Umſtand entdedfen und hervorheben kann, ber
das Vorgehen des Dir. Radelyffe auch nur entjchulpigen,
gejchweige denn rechtfertigen könnte. Dieſes Vorgehen ift
von ber Vertheidigung als Folge eines Misverſtändniſſes
bingeftellt worden, es thut mir leid, ich muß jes aber
gerabezu einen Misbrauch und ein bewußtes Unrecht
nennen, welches begangen worden ift. Ich jage geradezu:
alle an der Angelegenheit betheiligten Perjonengverbienen
ven jchärfften Zabel. Mer. Hurtable, ber juriſtiſche Bei⸗
jtand Radelyffe's, der das Verfahren einleitete, ijt bei der
heutigen Verhandlung nicht vernommen worben, und es
wäre daher immerhin möglich, daß er etwas hätte vor⸗
bringen können, was feine Antheilnahme in etwas bejjerm
Lichte ericheinen ließe; allein ich kann nicht erntlich genug
betonen, daß rechtöfundige Perfonen, pie fich bereit finden
laſſen, Streitfachen ihrer Parteien, welche ihrer Natur
nach vor ein civilgerichtliches Forum gehören, in jtraf-
proceffualer Form auszutragen, und fich jo zum Sprachrohr
XXI. 12
178 Mertwürbige Eriminalproceffe aus England.
häßlicher Verfolgungsfucht erniebrigen, fich einer ſchwer⸗
wiegenben Verantwortlichkeit ausjegen und zu perfönlicher
Haftung herangezogen werben fünnen. Wie dem auch
fein möge, Mr. Hurtable ift Hier nicht gehört Worben,
und vielleicht, ich will es zu feiner Ehre hoffen, hätte er
fich rechtfertigen können. Die feftgeftellten Thatjachen ber
Anklage haben e8 jevem Zweifel entrüdt, daß Dir. Rad⸗
clyffe wußte, Mer. Eolfon ſpreche das Eigenthumsrecht
ber fupfernen Keffel an, und darum ſchon erſcheint das von
ihm eingejchlagene Verfahren unbegreiflih. Es muß doch
vorausgeſetzt werden, daß Rechtsanwälte auch rechtslundig
ſind und den Unterſchied zwiſchen privatrechtlichem und
ſtrafrechtlichem Verfahren zu erfaſſen verſtehen; dennoch
haben fie ſich dazu hergegeben, einen Verhaftsbefehl aus⸗
zuwirken, um die Rückſtellung dieſer geringwerthigen Ein⸗
richtungsſtücke zu erzwingen. Am Verhandlungstage wollte
der klägeriſche Rechtsanwalt ſogar eine Vertagung durch—
ſetzen, um durch neue Zeugen die Beſeitigung eines Herd⸗
roſtes nachzuweiſen! Dieſes Vorgehen tft ſtandalss. Auch
das Vorgehen des Friedensrichters iſt ein überaus leicht⸗
fertiges geweſen. Es iſt unbegreiflich, wie er ſich dazu
verſtehen konnte, blos auf die unbegründete Anzeige des
Newport geſtützt, einen Verhaftsbefehl auszuſtellen. Es
war ungehörig. Der Friedensrichter Oberſt Earle iſt
mir weiter nicht bekannt, allein ich hoffe, daß es in der
Grafſchaft nicht viele ſolche Friedensrichter gibt, die das
ihnen übertragene wichtige Vertrauensamt fo leicht neh
men, baß fie ohne zu zögern einen Verhaftsbefehl wider
eine befannte, angejehene Perjönlichkeit auf Grund einer
jo unbeſtimmten, ſchwankenden Ausfage eines Taglöhners,
li ihreiben noch leſen kann und der jelbft be
He geweſen war, bie incriminirte Handlung der Weg⸗
g angeblich geftohlenen Gutes zu begehen, erlaffen
Merkwürdige Eriminalprocefje aus England. 179
werben. Ich fehe mich genötbigt, ausdrücklich das Zu⸗
ſammenwirken aller dieſer Perjönlichkeiten, welche bie Bes
ftimmung haben, bie Öffentliche Rechtsordnung zu ſchützen,
zu einer Rechtsverlekung auf Das entſchiedenſte zu rügen.
Ich Hoffe Oberft Earle wird durch die Ergebniffe biefer
Verhandlung belehrt, in Zukunft vorfichtiger in der Aus⸗
übung der von ihm übernommenen Pflichten werben.
Was die Verhaftung feldft anbelangt, jo muß ich wegen
der Art ver Ausführung derſelben meinen Tadel auch auf
die Localpolizei ausdehnen. Sie wußte, mit wem fie zu
thun hatte, und fchritt doch in fo rückſichtsloſer, ja roher
Art ein. Einen Mann wie Mr. Eoljon wie einen land»
flüchtigen, eingefangenen Verbrecher des Nachts zu fallen
und in ber angegebenen Weife, bei rauheſtem Schnees
wetter in offenem Karren fieben Meilen weit zu trans
portiren ohne ihm zu erlauben, für Kleiderwechſel zu
forgen, zeugt von einer vollkommenen Verfennung ber
Aufgabe der Verwahrungshaft, die überhaupt nur in
bringenden Fällen zuläfftg fein follte. Was gar bie Ver⸗
weigerung der angebotenen Bürgfchaftsftellung anbelangt,
fo tft fie geradezu haarſträubend und ich erwarte beftimmt,
daß Oberſt Earle fich nie wieder einer ſolchen Anwendung
feiner vdiscretionären Gewalt fchuldig machen wird. Es
ift Dies in einem Falle gefchehen, in dem feine Zeugen
bem Beſchuldigten gegenüberftanden, in bem ein Rechts⸗
anwalt nur für vie Anklage anweſend war, und dieſe ſelbſt
ſtützte ſich einzig und allein auf die Anzeige eines halb⸗
unzurechnungsfähigen Tagwerkers! — Was die Behand»
lung des Derhafteten im Gefängniffe ambelangt, das
harte Lager, mit dem er fürliebnehmen mußte, jo war
dies unwürdig. Dan darf in folcher Weife nur über-
wiefenen, vichterlich verurtheilten Verbrechern begegnen,
nicht verbächtigten Berfonen, deren Unſchuld am nächiten
12*
180 Merkwürdige Criminalproceſſe aus England.
Morgen an ben Tag kommen kann. Freilich kann dafür
gerechterweifer die Polizet allein nicht verantwortlich ge⸗
macht werben, ba fie nach ihrer gewohnten Norm han⸗
delte. Es iſt eben das ganze Syſtem verwerflid. Im
einem alle, in dem das Object des Verfahrens nicht
barin beitand, bie geftörte äffentliche Nechtsficherbeit zu
jühnen, fondern der Zwed darauf ausging, die Rückgabe
eines alten Einrichtungsftüdes, eines ſchadhaften Keſſels,
ben ber Kläger felbjt nur mit 10 Shilling ſchätzt, zu er-
zwingen, hätte eine VBerbaftung überhaupt nicht bewilligt
werben dürfen. Es ift überrafchend und traurig, daß
jih ein Friebensrichter finden konnte, ver fich bewegen
ließ, zu einer berartigen Maßregel feine Hand zu bieten.
Sch fpreche dieſe Worte in vollem Bemußtfein ihres Ge-
wichte® nach ruhiger Ueberlegung aus, denn ich wünſche,
baß fie vernommen und an geeigneter Stelle beberzigt
werben. Schließlich kann ich die Gejchworenen nur auf-
fordern, wenn auch mit veifer Objecttvität und Mäßigung,
boch energijch vorzugehen und einen ausgiebigen Schapen-
erjag zu votiren. Die von ihnen beftimmte Summe joll
eben eine wirkliche, feine blos nominelle Buße bilden.”
Die Gefchworenen beriethen nur wenige Minuten.
Ihr Verdict lautete 1000 Pfr. St. (glei 20000 Mark)
Schadenerſatz.
Der Richter verkündete demgemäß das formelle
Urtheil.
Der Vertreter des Verurtheilten appellirte an den
Richter und bat um Siſtirung der Execution wegen über⸗
mäßiger Höhe des Betrags.
Se. Lordſchaft erwiderte, daß nach ſeiner Anſicht
die Summe in gerechter Berückſichtigung der Umſtände
bemeſſen ſei, und daß er nicht erſtaunt geweſen wäre,
wenn die Geſchworenen ſogar einen noch höhern Betrag
Merkwürdige Eriminalproceife aus England. 181
angejegt hätten. Er wies die Berufung zurüd und hielt
das Urtheil vollinhaltlich aufrecht.
Die Aneinanverreihung dieſer beiden Gerichtsfälle er-
ſcheint uns ſehr lehrreih. Im beiden ift gleichmäßig das
Princip anerkannt, daß, wenn auf Grund ber Anzeige
einer Partei die ungerechtfertigte und unnöthige Freiheitd-
entziehung einer Perſon, jet e8 auch nur auf einige Stun-
ben, erfolgt, diefe Partei hierfür die Verantwortlichkeit
trägt und zu einer Gelbbuße zu Gunften bes Betroffenen
heranzuziehen tft. Der Urtheilsſpruch individualiſirt hier»
bei auf das genauefte und weiß mit Sicherheit zwiſchen
einem blos culpojen und einem bolofen Vorgehen zu unter-
icheiven. Während die Buße in dem erften Falle fich
auf eine Summe befchränft, die auch nach continentalen
Begriffen angemeffen erfcheint, ift piefelbe in dem zweiten
Valle in einer Höhe ausgeworfen, die unfere Strafgeſetz⸗
bücher gar nicht kennen. Es zeigt ſich barin bie gute
Seite ver englifchen Gerechtigfeitspflege, die bem Richter
einen jo ungemefjenen Spielraum geitattet.
Die Urtbeile find derart ausgefallen, daß fie dem
gefunden Menfchenverftande ber Geſchworenen alle Ehre
machen. Freilich waren dieſe von dem Nefume des Rich-
ters nicht wenig beeinflußt. Wir können bie Urtheile von
unferm Standpunkte aus nur billigen und bebauern, daß
unjere Strafproceßorbnungen nicht die Handhabe zu
gleichem Vorgehen bieten.
182 Mertwürdige Eriminalproceife aus Englanb.
2. Nothzucht.
Lonbon. 1887.
Der „Pall-Mall Grazette” gebührt das VBerbienft, durch
eine Artilelferie, die fie im Jahre 1885 veröffentlichte,
die Aufmerkſamkeit der engliichen Geſetzgebung auf bie
fittlich entfeglich verwahrloften Zuftände Londons hinge-
lenkt zu haben, daß eine erſchreckend große Anzahl dunkler
Eriftenzen ihren Erwerb darauf gründeten, ganz berufs-
mäßig junge Mädchen, Kinder, zumeijt im Alter von
12 bis 14 Jahren, in die Arme gewifienlofer Wüſtlinge
zu führen. Der Herausgeber des Blattes, Mir. Stead,
wies eine Reihe concreter Fälle nach und bewirkte auch
wirflich eine Reform des Geſetzes, welches bis dahin nur
ben Beiſchlaf mit Kindern unter 12 Lebensjahren für
ftrafbar erklärt hatte. Um Beweiſe zu fammeln, war Der.
Stead mit einer Reihe von Kupplern beiderlei Gejchlechts
in Verbindung getreten, und büßte, charakteriftiich genug,
jein muthoolles Vorbringen mit einer Anklage, welche ihn
wegen eben bes Verbrechens, das zu befämpfen er fich
zur Aufgabe geftellt hatte, vor das Polizeigericht führte.
Schließlich triumphirte jedoch die gerechte Sade. Die
Entrüftung, deren ſich infolge der Enthüllungen bes
Blattes der englifchen Gefellichaft bemächtigt hatte, ſchoß
aber über das Ziel hinaus. Das neugejchaffene Geſetz
begnügte fich nicht damit, ven wirklich vorgefallenen Mis⸗
bräuchen entgegenzutreten, es ſetzte bie Fritifche Alters⸗
grenze auf das vollendete 16. Lebensjahr feft und öffnete
dadurch einer Reihe zumeift gegen abnungslofe Fremde
gerichteter Erprefiungen Thür und Thor.
Ein Beifpiel für viele.
Merkwürdige Eriminalprocefje ans England. 183
Ein vierzigjähriger Holländer, des Namens Nader
Holmen, der auf einer Bergnügungsreife pie Millionenſtadt
befucht hatte, erfchien am 18. September 1887 als Ans
geflagter vor den Schranken des Schwurgerichts unter
der Beſchuldigung, durch den fleifchlichen Verkehr mit
einem jungen Mädchen unter 16 Iahren pas Geſetz jchwer
verlegt zu haben.
Die ald Zeugin vorgeladene angeblich Beſchädigte war
in ber That erft 15 Sabre und 3 Monate alt. Ihrem
Ausſehen und ihrem Weſen zufolge jedoch konnte man fie
ficherlih 18 Jahre alt glauben. Das Kreuzverhör ergab,
daß fie ſeit längerm fchon das Gewerbe einer „Unglüd-
lichen“, das beißt einer Proftituirten, betrieb. Nader Holmen
batte fein „Opfer“ zu vorgerüdter Nachtjtunbe auf ber
Straße angetroffen. Sie hatte ihn angefprochen und er
war ihrer Einladung in ein verrufene® Haus gefolgt.
Zwiſchen dem „Verführer“ und ber Dirme entipann fich,
wahrjcheinlich wegen ber Höhe des Schanblohnes, ein
Streit. Polizei war nahe zur Hand und intervenirte.
Die Vernehmung vor dem Polizeigericht ergab das Alter
bes Mädchens, und bie That qualificirte fich als ein Ver⸗
brechen. Der Holländer, ver fich nur unbebolfen in ver
engliichen Sprache auszudrücken vermochte, wurde fofort
in Haft behalten und mit anerfennenswertber Beſchleu⸗
nigung unter ber Anklage, fich gegen das Geſetz, das bie
Unſchuld fchügen wollte, vergangen zu haben, vor bie
Geſchworenen geftellt.
Während nun mit Rüdficht auf die Mar geftellten,
thatfächliden Umftände die Dirme als die eigentliche
Schuldige zu betrachten wäre, da fie den mit bem eng⸗
liſchen Gefete nicht vertrauten arglojen Ausländer in bie
Falle gelockt Hatte, mußte dem Wortlaute bes Geſetzes zu
Liebe der Mann als Beſchuldigter erfcheinen, und bie
184 Merkwürdige Eriminalproceije aus England.
Verhandlung wurde von Amts wegen gegen ihn burd-
geführt.
Die Geſchworenen erklärten einftimmig Nader Hol⸗
men ber Nothzucht ſchuldig. Das Urtheil des Richters
lautete auf drei Monate Kerkerhaft mit harter Arbeit, alſo
auf Zuchthausſtrafe. Wol ermangelte der Richter nicht,
bei der Urtheilsverkündigung hervorzuheben, daß dieſe
Verurtheilung im Hinblid auf die Umſtände beſonders
hart erjcheinen müfje; ‚allein‘, fo äußert er fich, „es
fönne nicht zuläffig fein, einem kaum in Kraft getretenen
Geſetze den Gehorfam zu verweigern“, das Geſetz Habe
feinen Lauf! Obgleich die „Beſchädigte“ fchon ſeit ge
raumer Zeit das Gewerbe einer Proftituirten betrieben
hatte, wurde bennoch das Gefeß, das zum Schuge von
Jungfrauen gegen gewiſſenloſe Verführer erlaffen ift, mit
voller Schärfe zu Gunften einer feilen Dirne angewendet,
der Wortlaut verlangte e8, er forberte fein Opfer —
summum jus, summa injuria!
Die Straßen Londons wimmeln von jolchen verlorenen
Geichöpfen. Wer vermag es, ihr Alter genau zu erfennen ?
ehe dem Fremen, ber ich leichtjinnig verloden Täßt.
Er Tann leicht für feinen Fehltritt in das Zuchthaus
wandern oder auch einer Gaunerin in die Hände fallen,
bie fich ihm preisgibt, um ihn dann mit einer Criminal⸗
unterfuchung zu bedrohen und ihm ein Vermögen abzu-
preſſen.
Mertwürbige Eriminalproceffe aus England. 185
3. Bigamie.
1.
York. 1887.
Am 9. November 1887 ftand Wilfon Heywood vor
ben Aififfen in York, des Verbrechens ber zweifachen
Ehe angellagt.
Mr. Milvain vertrat die Anklage, Mr. Keriham
hatte die Vertheibigung übernommen.
Die Anklage ftütte fich auf nachftehenden Sachverhalt.
Heywood hbeirathete das erite mal im Jahre 1859.
Nach einem Jahre ver Ehe wurde feine Frau lieberlich
und verließ ihn. Er vergab ihr und nahın fie wieber zu
fih. Diefer Vorgang wiederholte fich einigemal. Endlich
weigerte fie fich in fein Haus zurücdzufehren. Sie lebte
mit andern Männern und hatte Kinder von ihnen. Im
Monat Mai 1862 nahm Heywood Handgeld und ließ
fih für ein in Indien ftationirtes Regiment anwerben.
Er bot feiner Frau nochmals Verzeihung an und erllärte
ſich bereit, fie in feine Garnifon mitzunehmen. Sie ſchlug
fein Anerbieten aus. Im SHerbite 1873 lehrte er nach
England zurüd, fuchte fie auf und offertrte ihr abermals
fie aufzunehmen. Wieder vergeblih. Er trat nunmehr
in ein in Gibraltar garnifonirendes Negiment. Sie reichte
bei dem zuftändigen Milttärgericht eine Klage auf Ali-
mentation ein, wurde aber natürlicherweife abgewieſen.
Im Jahre 1884 machte Heywood einen legten Ver⸗
föhnungsverfuh, aber wiederum ohne Erfolg. Endlich
fümmerte er fich befinitio nicht mehr um feine Fran und
erhielt auch Feine Kunde mehr von ihr, fobaß er gar
nicht wußte, ob fie noch am Leben war oder nicht. An⸗
186 Merkwürdige Eriminalproceffe aus Englanb.
fang 1886 beabfichtigte er eine neue Ehe einzugeben,
machte aber biefe feine Abſicht vorfichtigerweile in ben
Localzeitungen befannt, um von feiner Frau etwaige
Nachrichten zu erhalten. Die letztere fümmerte fich nicht
barum und gab Fein Lebenszeichen von ſich. Nun glaubte
er, auf fie feine Rückficht mehr nehmen zu müfjen, und
hetrathete am 24. März; 1886 zu Huddersfield ein Frans
lein Booker, die er von all biefen Umftänben in Kennt-
niß gefeßt hatte. Dieſe zweite Ehe war ſehr glüdlic.
Am 28. Juli 1887 fchrieb feine erfte Frau, pie von ber
Verheirathung ihres Mannes Kenntniß erlangt Hatte,
einen Brief an Miß Booker. Sie eröffnete ihr darin,
fie werde Heywood mit aller Strenge des Gejekes ver-
folgen, wenn — Miß Booker nicht mit ihr oder ihrem
Anwalte eine pecuntäre Abmachung träfe. Der Brief
wurbe nicht beantwortet. Darauf bin erftattete fie wirfs
lih die Anzeige wegen erfolgter Bigamie. ‘Der Ober
eonftabler in Huddersfield, an ben fle fich wendete, Lehnte
e8 ab die Klage zu vertreten, und fie erfchien deshalb
perfönlich als Klägerin. Vor die Affiffen verwiejen, gab
Heywood ohne Zögern alle die Thatfachen zu, und ber
Richter verurtheilte ihn zu einer Woche einfachen Arreftes.
II
London. 1888.
Laura Smith war ver Bigamte angeflagt.
Dr. B. Taylor und Mr. Forreft Fulton vertraten
bie Anklage, Mr. Hutton bie Vertheibigung.
Die Beſchuldigte, derzeit 40 Jahre alt, hatte vor
etwas mehr als acht Iahren, am Nenjahrstage 1880,
einen Eonftabler Namens Batten geehelicht. Diefer Mann
Mertwürbige Eriminalprocejfe aus England. 187
wurbe wegen grober Verbrechen und Amtsmisbrauch kurze
Zeit danach zu fünf Sahren Zuchthaus verurtbeilt. Im
Kerker benabm er ſich gut und wurbe, nachdem er zwei
Fünftel feiner Strafzeit verbüßt hatte, begnabigt. Er Tehrte
zu feiner Fran zurüd, benahm fich ihr gegenüber jedoch jo
roh und gewaltthätig, daß fie den Schuß ver Polizei an-
rufen mußte, der ihr auch zutheil wurde. Darauf bin
wanderte Patter nach Amerika aus und man vernahm
nichts mehr von ihm. Im Monat Suli 1887 ging Frau
Patten eine neue Ehe mit Henry Smith ein. Der
Bater Patten’s, welcher ihr grollte, erftattete die Anzeige
wegen bes vollbrachten Verbrechens der zweifachen Ehe
und veranlaßte ihre Verfolgung.
Die Beſchuldigte gab das Thatſächliche unumwunden
zu und machte nur geltend, daß ihr zweiter Gatte über
ihre Verhältniffe nicht getäufcht und von ihrem Vorleben
genau unterrichtet worben wäre.
Der Recorder, Sir Thomas Chambers, erklärte,
er jebe nicht ein, welcher Schaven einem Manne dadurch er«
wachſe, daß er eine Frau eheliche, deren erfter Gatte noch
am Leben fei, ohne von ihr gefetlich geſchieden zu fein. Es
fet etwas ganz anderes, wenn ein weibliches Weſen, für
welches bie Folgen verberblich fein könnten, das Opfer
falſcher Vorfpiegelungen würbe. Da aber einmal die An⸗
lage erhoben worben jet, müſſe er wol mit einer Ver⸗
urtheilung vorgeben, allein mit Rüdficht darauf, daß fein
wirklich Beichäpigter vorhanden fei, verurthetle er die An⸗
geflagte zu zwei Stunden Arreft. Da aber die Ver»
handlung etwa zwei Stunden gebauert habe, fet ihre
Strafe verbüßt und fie könne fofort gehen.
188 Mertwürdige Eriminalproceffe aus England.
Der englifhe Richter tft bei der Strafbeftimmumg
nicht an feite Normen gebunden und kann vie Fälle un-
beichränft inbivipualifiren. Das beutfche Strafgeſetzbuch
jett eine Minimalgrenze ver Strafe feft, das öfterreichifche
Strafgejek räumt zwar dem Richter ein, außerordentliches
Strafmilderungsrecht ein, gibt ihm aber Teine fo weit-
reichende Befugniß wie das englifche Strafgeſetz. Es
find deshalb Urtheile folcher Art, die den oberften Zwed
ausgleichender Strafjufttz gewifjermaßen verböhnen, in
Deutſchland und Defterreich ausgefchloffen.
In dem von und mitgetheilten alle der Nothzucht,
in dem franzöfifche Geſchworene zweifellos einen Freiſpruch
gethan hätten, hat ber Richter im Bewußtſein der grau⸗
jamen Härte feines Urtheils einen Menfchen ind Zucht
haus geſchickt, der höchſtens mit einer polizeilichen Ord⸗
nungeftrafe zu belegen war; im legten Falle ver Bigamie
erfennt ein Richter, um dem Gefete zu genügen, eine blos
nominelle Buße. Derartige Richterſprüche follen als Cor⸗
recturen des Geſetzes gelten. Freilih ift in England
wegen der Koftjpteligfeit des gerichtlichen Scheidungsver⸗
fahren die gejegliche Trenmung ber Ehe nur in ben höhern
und reichern Ständen möglich. Die Koften find aber, wie
aus manchen ſenſationellen Eheſcheidungsproceſſen erhellt, ſo
hoch, daß fie auch in dieſen Kreifen nicht felten zur Inſolvenz⸗
erklärung führen. In den untern Ständen verurfacht biefe
Schwierigkeit zahllofe Fälle von Bigamie. Die Gefeßgebung
bedarf eben dringend einer vurchgreifenden Reform. Das
Urtheil in dem angeblichen Notbzuchtsfalle ift ungerecht,
weil e8 einen Mann für eine That mit entehrenber
Strafe belegt, bie Fein eriminelles Verbrechen if. Aber
auch das Urtbeil im Falle ver Bigamie wider Frau Smith
können wir nicht billigen, denn es fertigt eine als Ver⸗
brechen ftrafbare Handlung mit einer Sentenz ab, bie
Mertwürbige Eriminalproceffe aus England. 189
fih wie ein fchlechter Wit anhört. Das Anfeben ver
Rechtspflege muß unter ſolchen Zuſtänden leiden.
4. Eine Wechſelfälſchung.
London. 1888.
Charles Mar Schroeder, 37 Jahre alt, ver-
beirathet, derzeit ohne beftimmte Beichäftigung, warb vor
bie Geſchworenen geftellt, unter ver Anklage, das Accept
auf einem Wechſel im Betrage von 378 Pfr. St.
13 Sh. 8%. in betrügerijcher Abficht gefäljcht und dieſes
Falfifieat begeben zu haben.
Den Vorſitz bei ver am 22. März 1888 un Gentral-
GSriminalgerichtshofe in London geführten Verhandlung
nahm der Recorber von London, Sir Thomas Cham⸗
bers, ein, für die Barteien erjchienen namens der Anklage
der föniglihe Rath Dir. Lockwood und Mr. Besleh,
namens der Vertheibigung der Föniglihe Rath Str Henry
James, Mr. 3. P. Grain und Mer. C. F. Gilt.
Der Angellagte bekennt ſich: „Nicht ſchuldig“.
ALS erfter Zeuge. wirb die Flageführende Partei ver-
nommen. Als Beichädigter erjcheint Mr. Peak, Chef
ber Firma Grant u. Peak, Juweliere und Golparbeiter
in der Gerarpitraße, Sohn, London. Mr. Peak fagt aus:
„Der Angellagte, der vormals ein faufmännijches Ges
ſchäft betrieben hatte und fich wegen feiner verwandtſchaft⸗
lihen Beziehungen zu dem Chef des hochangefehenen
Bankfhaufes John Henry Schroeder, das zu den erjten
Firmen Londons zählt, großen Credits erfreute, war mir
im Mai 1886 einen Betrag von über A000 Pfr. St.
(= 80000 Mart) als Saldo aus frühern gefchäftlichen
190 Merkwürdige Eriminalprocejje aus Englanb.
Zransactionen fchuldig gewefen. Ich mahnte mehrmals,
allein immer vergeblih, und da ich mich doch nicht an
ben Onfel meines Schulpners um Zahlung wenden konnte,
entſchloß ich mich, die Schuldſumme einzuffagen. Nach
bem ich längere Zeit von Schroeber keinerlei Nachricht
erhalten hatte, empfing ich am 6. Juli 1886 unerwarteter-
weiſe einen mit Charles Mar Schroeder unterzeichneten,
vom Hotel Metropole in London batirten Brief. In
biefem Schreiben ftand, er, ber Angellagte, habe eine
Reiſe nach Deutfchland gemacht. Von dort fei er nad
Paris gefahren, wo er fich einige Zeit hindurch aufge
halten habe, und am biefem Tage, von dem ber Brief
batirte, fei er früh morgens in London eingetroffen. Er
richte nun bie Bitte an mich, ich möchte ihn doch in bem
Hotel, in dem er abgeftiegen, aufjuchen, um mit ihm über
bie Regulirung feiner Schulden Rückſprache zu nehmen.
Ih verfügte mich in ber That in das Hotel Metropole,
und dort eröffnete mir Herr Schroeber, er hätte eigentlich
bie Abficht gehegt, auf eine Erbichaft, die er zu gewär-
tigen habe, Geld aufzunehmen. Es fei dies jedoch nun-
mehr nicht nöthig, da er mit feinem Coufin, bem Pro-
euriften und Theilhaber an der Firma feines Oheims,
ein Uebereinkommen getroffen babe, wonach ihm aus-
reihenb genug Geld zur Verfügung geftellt werben folle,
um alle feine laufenden Verbindlichleiten zu erfüllen. Da
mir dieſe Zuficherungen jedoch zu unbeftimmt erjchienen,
um bie civilgerichtlichen Schritte, die ich gegen Herrn
Schroeber bereits eingeleitet hatte, einzuftellen, wie er
e8 von mir verlangte, begehrte ich, er möge feine An-
gaben präcter formuliren, fie zu Papier bringen und
mir eine fchriftliche Erklärung übergeben. Er that bies
auch anſtandslos und ich glaubte ihm. Allein, bereits
am nächſten Tage kam er zu mir in mein Geichäftslocal
Merkwürdige Eriminalproceffe aus England. 191
in ber Gerarpftraße. Er erfchien ſehr aufgeregt und fagte
mir: «Sie ſelbſt find die Veranlaffung zu der That, bie
ich begangen. Als ich in Paris war, empfing ich bie
Nachricht von Ihrer Klage. Andere Gläubiger brängten
mich auch, ich fürchtete einen Eclat, und da verlor ich
ven Kopf. Ich habe Ihren Namen misbraucht. Sch
babe unter dieſem Namen einen Wechjel acceptirt.»
Ich fragte fofort: «Unter meinem perjönlichen Namen
ober dem meiner Firma?» Er antwortete: «Ich habe
Grant u. Peak umnterfchrieben.» Ich erkundigte mich
weiter: «Wann ift der Wechjel fällig?» Er eriviberte:
«Der erfte morgen. Er ift bei Ihrem Bankier zahlbar
geftellt. Was ſoll ich thun?» Ich erflärte ihm, daß ich
dem Bankier, ver als Zahlftelle fungiren folle, boch eine
Urfache angeben müffe, warum bie Unterſchrift nicht ho⸗
norirt werben ſolle. Er werde mich boch nicht für fo
naiv halten, daß ich den Wechſel, deſſen Betrag er noch
gar nicht zu nennen gewagt habe und bem, da er ihn
ſelbſt als «erften» bezeichnet habe, noch andere folgen
würden, ohne weiteres einlöfen werde. Schroeber möge
jelbft die Folgen bevenfen und, wenn er e8 vermöge, Vor⸗
ſchläge machen, wie er die Angelegenheit auszugleichen
gebenfe. Bor allen aber müſſe er ein aufrichtiges Be⸗
fenntniß ablegen. Er folle dies ſchriftlich thun. Schroeder
zauberte auch nicht lange und fchrieb mir eine Erklärung
nieder, worin er einbelannte, er babe den Namen ver
Firma Grant u. Peak mishraucht und gefälfcht und da⸗
mit Wechjel im Betrage von je 464 Pfr. St. 9 Sh.
8 P.; 485 Pf. St; 287 Pf. St. 4 Sh. 8 P.;
323 Pfd. St. 3 Sh. 4 P.; 378 Pfo. St. 13 Sh. 8 P.
und 319 Pfd. St. 19 Sh. zufammen 2258 Pfd. St.
10 Sh. 4 B. (= 45170 Marl 34 Pf.) acceptirt. Herr
Schroeder beſchwor mich, feine Strafanzeige zu erjtatten,
192 Merkwürdige Eriminalprocefie aus England.
fie würbe feine Mutter ins Grab bringen, fein Ontel
aber werde der Familienehre zu Liebe gewiß vie Wechſel
einlöfen. Ich beauftragte meinen Neffen, fi jofort mit
Schroeder zu feinem Oheim zu verfügen, biefer aber ver-
weigerte es ihn vorzulaffen. ‘Der Angeklagte theilte um
meinem Neffen noch mit, daß feine Frau fehr gefährlich
erkrankt fet, man möge nur um Gottes willen feine ſtraf⸗
gerichtliche Verfolgung einleiten, ex fei uur momentan in
arg bebrängter Rage, doch unterliege es nicht dem gerings
jten Zweifel, daß feine Familie ihm helfen werde, und
ehe die übrigen Wechjel fällig würben, werbe er genügend
viel Geld flüffig gemacht Haben, nicht nur um die Wechfel
vor der Verfallzeit zu beden, fondern auch um feine
Schulden zu bezahlen. Er hatte die Wechjel von Paris
aus in Circulation gefegt. In ver That find die Io
cepte, wenn auch erſt nachdem fie nothleidend geworben
waren, und nachdem das ftrafgerichtliche Verfahren bereits
im Zuge war, eingelöft worden. Der Angeklagte ſelbſt aber
war, noch ehe dies geſchah, nach Sydney in Auftralien
abgereift. Er wurde bort umter ver Anklage, die Wechſel
gefälfcht und in betrügerifcher Abficht begeben zu haben,
verfolgt, verhaftet und hierher ausgeliefert. Ich war
zuerft umentichlofien, wie ich mich dem Schroeder gegen-
über verhalten follte, und zögerte mit Rückſicht auf bie
Familie mit der Strafanzeige. Ich Habe fte in ver That
auch erft eingebracht, als ich erfuhr, der Angeklagte fei
nad Auftralien durchgegangen, ohne daß er, wie er hoch
und theuer verjprochen und geſchworen hatte, jeine Schul-
den beglichen hätte. Vorher hatte ich nur ciwilgerichtliche
Schritte unternommen.”
Mit diefer Ausfage war bie Anklage begründet.
Die Zeugen für die Anklage beftätigen bie thatjächlichen
Umftände, ohne wefentliche neue Einzelheiten vorzubringen.
Mertwürdige Eriminalproceffe aus England. 193
Sir Henry James ergreift das Wort für bie Ver-
theibigung.
Er fagt: „Die Anklage ift wegen Wechjelfälfchung er-
hoben. Es muß aber conftatirt werden, ob dieſes Ver⸗
brechen innerhalb ber Jurisdirection dieſes Gerichts be-
gangen worden ift. Dieſes ftelle ich in Abreve. Ebenſo
den Umftand, baß die weitere, angebliche, verbrecherifche
Danblung der wiffentlichen Begebung gefälfchter Papiere,
bie einen Betrug begrünben joll, innerhalb der Juris⸗
bictionsiphäre biefes Gerichts begangen worben ift. Auch
biefe® negire ich. Innerhalb bes Geltungsgebiets unferer
Geſetze, auf brittihem Boden, find dieſe verpönten, ſtraf⸗
baren Handlungen nicht begangen. Ich werde ven Nach-
weis führen, daß ber Angellagte Schroeder zu ber Zeit,
da die incriminirten Wechfel gezogen und biefe mit dem
fragmwürbigen Accept verjeben wurben, nicht in England,
fondern in Parts geweilt hat. Er fönnte, wenn biefe
Handlungen wirklich als verbrecherifch angefehen werben
follten, nur von franzöfifchen Gerichten verfolgt werben.
Was er immer in biefer Angelegenheit gethan haben mag,
es ift auf franzöfifchen, alſo fremdländiſchem Territorium
geſchehen und entzieht ſich ganz und gar der engliſchen
Gerichtsbarkeit. Ich werde zum Beweiſe der thatfächlichen
Behauptungen, die ich aufſtelle, competente und ver⸗
trauenswürdige Zeugen vorführen. Als ſolche werden
erſcheinen der Papierhändler, von welchem der Angeklagte
die Stempelmarken für die Wechſelbriefe bezog, und der
Makler, der die Begebung der Accepte in Paris ver-
mittelte. Falls num der Angellagte überhaupt für feine
Handlungsweife ftrafrechtlih zur Verantwortung gezogen
werben kann, was ich bahingeftellt fein laſſe, jo unter-
fteht ex doch keinesfalls der Gerichtshoheit eines britiſchen
Gerichte. Alle Schritte, die der Angeklagte mit biejen
XXII. 13
194 DMertwärbige Eriminalproceijfe aus Englanb.
Wechſeln unternommen bat: Ausftellung, Acceptation,
Degebung, ift in Paris gefchehen. Vielleicht hat er da⸗
mit ben franzöfifchen Geſetzen zuwiderlaufende Hanplungen
verübt, und dieſen Pete zur fteben, Teinesfalis aber bat
er fich gegen britifche Gefege vergangen, denn er bat im
Geltungsgebiete berjelben Teinerlei vom Strafgefege ver-
pönte Handlung verübt. Dabei ift bie Frage, ob über
haupt die Abficht einer Schapenszufügung gegenüber der
flagführenden Partei beftand, noch gar nicht erörtert.
Diefe ift zu verneinen. Der Angeflagte hatte durchaus
nicht die Abficht, irgendjemand in dieſem Lande zu be-
ſchädigen. Wenn die Wechjel nicht eingelöft wurden,
hatten fie den Weg zurücdzugehen, den fie genommen, und
ber Wechfelagent in Paris hat feine Klage erhoben. Er
hatte auch feine Urjache hierzu, denn der Schaben wurde
gutgemacht, die Wechfel find fpäterhin alle von der Fa⸗
milte des Angeklagten eingelöft worden. Ich beantrage
bie Schulplosiprechung meines Clienten unb verweiſe
bieferhalb auf die Präcevenzfälle: «Die Königin wiber
Garrett», enthalten in Dearsley’8 «Crown Cases», 1,
232 fg., und in dem «Law Journal, Magistrates
Cases», ©. 20.”
Dir. Lockwood beftreitet diefe Ausführungen. Er hebt
hervor, daß der von Sir Henry James citirte Präcedenz-
fall von abweichender Natur gewefen jei und andere Vor-
ausfegungen gehabt habe. ‘Der bet jenem alle präfibi-
rende Richter, Lord Campbell, veffen juriftiiche Gelehr-
ſamkeit unbezweifelt daſtehe, bat in feiner Zuſammen⸗
faffung des Falles ausprüdlich hervorgehoben, daß es fich
bei demſelben nicht um eine Frage ver Yurisbiction handle.
Mir. Lockwood fucht hierauf in längerer Rede die Compe⸗
tenz des Gerichtähofes nachzumweifen und begründet fie
hauptjächlih damit, daß bie incriminirten, gefälfchten
Merkwürdige Eriminalproceife aus England. 195
Wechjel in London zahlbar geftellt worden waren. Der
Angellagte fei den englifchen Gerichten gegenüber verant-
wortlih für alle Eonfequenzen, die aus der Begebung
gefäffchter, in London fälliger Wechlelbriefe herworgehen;
um jo mehr, da fie hierher geſchickt wurden, hierorts cir-
eulirten und bier auch zur Zahlung präfentirt worden
find. Auch Dir. Lockwood citirt zur Bekräftigung feiner
Anſchauung einen Präcedenzfall, ven Proceß: „Die Kö⸗
nigin wider Tahlor.“
Sodann werden bie Zeugen ber Vertheidigung ver-
nommen, um bie Anweſenheit des Angeklagten in Paris
zur kritiſchen Zeit zu beweiſen.
Der Papierbändler, welcher dem Angeklagten bie
Stempelmarfen verfaufte, und ber Wechſelmakler, welcher
bie Begebung der in Frage ftehenven Accepte vermittelte,
beftätigten wahrbeitsgemäß bie biesbezüglichen von Sir
Henry James angegebenen Umſtände.
Die Frage, ob die Behauptung, daß der Angeklagte
zur kritiſchen Zeit, als die Wechjel ausgeftellt, acceptirt
und weiter begeben wurden, in Paris weilte, als gerichtö-
orbnungsmäßig anzufehen ift, wird den Geſchworenen vor-
gelegt und von dieſen bejaht.
Sir Henry Iames führt nochmals in längerer Rebe
aus, er erwarte, ba dieſer Umſtand burch ven Wahr⸗
fpruch der Gefchworenen feftgeftellt worben fei, zuverficht-
lich die Freifprehung des Angeflagten. Er wieberholte
feine früher geltend gemachten Bedenken gegen die Com⸗
petenz des englifchen Gerichtshofes, der, wenn er über
den Angeklagten urtbeilen wollte, fich eines Eingriffes in
die Gerichtshoheit eines fremden Staates fchuldig machen
würbe. Innerhalb der Jurisdiction ber britifchen Ge⸗
richte babe Fein Vergehen ftattgefunden.
Dir. Lockwood hebt die principielle Wichtigleit ber
13*
196 Merkwürdige Eriminalproceffe aus England.
Entſcheidung hervor. Er bebarrt auf der Anfchauung,
daß ber Angeklagte, der die Wechſel jeldft „in London
zahlbar’ ausgeftellt Hatte, wiffen mußte und gewußt bat,
daß fie in London zur Zahlung präfentirt werden würden,
was thatſächlich auch geſchah. Die Competenz des Ge
richtshofes ſei demgemäß unanfechtbar und er müſſe darauf
beſtehen, daß ein Urtheil gefällt werde.
Der Recorder, königlicher Rath Sir Thomas Cham⸗
bers, ſagt in feinem Reöume, er ſei zu der feſten Ueber⸗
zeugung gelangt, daß dem Gerichtshofe die Yurisbiclion
im vorliegenden Balle nicht zuftehe. Hätte die Anklage
auf Betrug durch falſche Vorfpiegelung gelautet, jo wäre
fie unzweifelhaft nicht in die Competenz eines britiichen
Gerichts gefallen, denn ein Betrug konnte nur in Paris
ben Wechlelagenten gegenüber ftattgefunden haben, dem
bie Unterfchriften ber acceptirenden Firma als echt be-
zeichnet tworben fein mögen. Die Klage lautete aber auf
Fälſchung von Accepten und Begebung gefäljchter Wechfel,
welche Thatſachen nur dann unter bie Definition ver⸗
brecherifcher Handlungen fallen, wenn bie Abjicht, Scha=
ben zu ftiften, nachgewiefen werden kann. Dieſe darf
nicht voramsgejegt werben. Des Necorbers Anfchauung
zufolge waren bie ftrafbaren Handlungen, bie von bem
Angeklagten begangen worden fein mögen, außerhalb bes
Geltungsgebietes englifcher Gejege, und außerhalb ver
Gerichtshoheit englticher Tribunale begangen, und darüber
jet Teinerlei Controverſe zuläffig. Da aber den Gericht
bie Jurisdiection mangele, müßten die Gejchworenen ben
Angellagten freifprechen.
Das Berbict der Gefchivorenen lautet benn auch:
„Nichtſchuldig.“
Dieſes Urtheil bezog ſich auf den vorbezeichneten erften
Wechſel. Da aber vorausfichtlich bei der Fälſchung und
Mertwürdbige Eriminalproceffe aus England. 197
Begebung ber andern vorgedachten Wechjel dieſelbe Pro⸗
cedur ſich wiederholt haben würde, verzichtete der Ankläger
darauf, bie weitern Klagen auf die übrigen Wechſel aus⸗
zuführen.
Die Geſchworenen wiederholen ihr Verdict „Nicht⸗
ſchuldig“ in Betreff der andern Facten, und der Ange-
Hagte wurde entlaffen.
Es ift dies ein in merfwürbigem Gegenfage zu con⸗
tinentaler Rechtsanfchauung ftebendes Urtbeil. Während
unfere Strafgefege Die Stantsangehörigen auch außerhalb
der Grenzpfähle als an bie Gefeße des Heimatslandes
gebunden erklären, herricht in England das mittelalter-
liche Princip, daß die GerichtShohett auch in Straffachen
an bie territoriale Dberhoheit geknüpft fei, vor, und ber
Rechtsſatz locus regit actum, der bet uns nur für civile
Nechtöfragen Geltung bat, gilt auch im Strafrecht. Im
einem Falle, wo ber objective Thatbeftand außer Zweifel
fteht und felbft von der Vertheidigung nicht angefochten
wird, wo fogar bie Entlaftungszeugen bie fubjective
Thäterfchaft befräftigen, erfolgt ver Freiſpruch, nicht etwa
weil Schadenserſatz geleiftet war — was übrigens nach
unſern Anfchauungen wol einen Strafminderungs-, nicht
aber einen Strafausfchließungsgrund bilven follte —, ſon⸗
bern weil die That, das Verbrechen ver Wechlel-
fälfhung und bes Betrugs durch Begebung gefäljchter
Accepte, im Auslande begangen wurde. Da nun über-
dies in England wegen abjoluten Mangels cobificirten
Nechts nach Präcebenzfällen geurtbeilt wirb, welch fröh-
Tiche Ausficht eröffnet ſich dadurch einer ganzen Weihe
englifcher Verbrecher! Die Spazierfahrt über ven Aermel⸗
kanal ift jo kurz, jo wenig bejchwerlich und fo wohlfeil,
198 Mertwürdige Eriminalproceffe aus Englaub.
bie Ausficht, daß e8 nur einer Vergnügungsfahrt nad
Paris und ber Heinen VBorficht bebarf, auf Zeugen be
dacht zu fein, die ven Aufenthalt bortfelbft beurkunben
fönnen, wirb fie mit freubiger Zuverficht erfüllen.
Wir beklagen anfrichtig eine fo kurzfichtige Auffaffung
von der Aufgabe georbneter Rechtfprechung.
Tödtung eines Matrofen auf hoher Zee.
(Mord oder Ueberfchreitungerlaubter Nothwehr?)
1887.
Das engliihe Barkichiff Ladd Donglas, Kapitän
James Cocks, follte von Gascoigne an der Weſtküſte
bes auftralifchen Eontinents aus feine Heimreife antreten.
Die Schiffemannfchaft war in ben fernen Breiten etwas
zufammengejchmolzgen und zählte insgefammt nur noch
zehn Köpfe. Der Kapitän beichloß die Bemannung zu
ergänzen und nahm, obgleich unter ben europäiſchen See-
leuten Iebhafte Vorurtheile gegen farbige Schiffsgenoffen
faft ausnahmslos verbreitet find, zwei Malaien, Haſſein
und Caſſein, ald Matrofen an.
Diefe von der Noth des Augenblicks gebotene Maß—⸗
regel follte jich als unheilvoll erweifen.
Die Barle ging am 11. Januar 1887 unter Segel.
Schon in den erften Tagen ftellte fich heraus, daß Haſ⸗
fein, der als Matrofe erfter Klaffe aufgenommen worben
war, nur ein mittelmäßtger Seemann war. Die Schiffs-
genofjen fpotteten feiner. Sie behaupteten, er wäre nicht
einmal im Stande „das Bramfegel zu reffen‘. ‘Die Mis-
beiligleiten zwiichen dem Malaien und jeinen Kameraden
nahmen im Laufe ber Fahrt fortwährend zu. Haſſein
200 Tödtung eines Matrofen auf hoher See.
fühlte fich ſehr unglüdlih, Magte wiederholt über fein
Schickſal und machte fogar einen Selbftmorbverjuch, in-
dem er in die See fpringen wollte. Nur bie energifche
Intervention des Unterſteuermanns konnte ihn Daran vers
bindern.
Am 21. Februar aber verſchwand der Mann plöglich
unb unerwartet. Die von dem Kapitän vorgenommene,
auf dieſes Vorkommniß bezügliche Eintragung in das Log⸗
buch des Schiffes Tautet:
„21. Februar:
„Mm 9 Uhr 30 Minuten morgend verſchwand ber
Matrofe erfter Klaffe Haffein in unerflärlicher, geheim⸗
nißooller Weife. Der Matrofe erjter Klaffe 8. Chri-
ftianjen kam mit der Melbung zu mir, daß fein Wach⸗
famerab, troßdem er wiederholt gerufen wurbe, nicht zur
Wache angetreten ſei. Ich beauftragte das Schiff zu
burchfuchen, Haſſein wurde aber nicht aufgefunden. Ich
veranlaßte jobann eine Umfrage bei feinen Kameraden
und erfuhr, daß er fich feit einiger Zeit, beſonders auf-
fällig aber erft feit zwei over drei Tagen, in verziweif-
lungsvoll aufgeregter Gemüthsjtimmung befunden Hatte.
Ich gelangte fomit zu dem Schluffe, daß er entweber
durch einen unglücklichen Zufall über Bord gefalfen fei,
oder freiwillig, in felbftmörberifcher Adficht, fich im bie
See geftürzt habe.”
Der Mann war und blieb verjchollen. Dies dauerte
bis zum 3. März. Wenigftens findet fich feine weitere
auf Haſſein bezügliche Eintragung im Logbuche bis zu
biefem Tage. Da aber heißt es:
„3. März:
„Der Unterftenermann melvete mir, daß er, als er in
den Borberraum binabftieg, . plöglich auf den Matroſen
Haſſein ftieß, von dem wir alfe geglaubt hatten, ba er
N
Tödtung eines Matrojen auf hoher See. 201
entweber einen Selbitmorb verübt oder über Bord durch
einen Zufall geftürzt fei, der aber bort verſteckt ruhig
ſchlief. Er weckte ihn auf, redete ihn an, brachte jedoch
aus ihm nur heraus, Haffeln fühle fich fehr unglücklich
und wolle fterben.”
Nun begann auf dem Schiffe eine fehr bewegte Zeit.
Haſſein weigerte fich den Vorberraum, wo er fein Ver⸗
ſteck gewählt hatte, zu verlaffen. Er Hatte fih Waffen
— Meffer und eine Brechſtange — verfchafft, wies alle
Aufforberungen, zu feiner Pflicht zurückzukehren, rundweg
ab und trogte der Autorität des Kapitäns. Diefer, bie
Dffiziere und die Schiffsmannfchaft waren ernftlich be-
unrubigt. Haſſein befand fich offenbar im Zuſtande der
Menterei. Er hatte ven Gehorfam verweigert und be-
drohte Die Sicherheit des Schiffes. Man hatte feinen
ftammverwandten Landsmann Caffein, ohne daß jedoch
deſſen Benehmen bierzu beſondere Veranlaffung gab, im
Verdacht, mit ihm unter einer ‘Dede zu fpielen, und be-
wachte dieſen fcharf. Auch ein europätfcher Matrofe, ein
Engländer Namens Charles Goobliffe Hunt, wurde
verbächtigt, mit Haffein zu ſympathiſiren, und mistrauifch
beobachtet.
Weitere Eintragungen in dem Logbuche aus bem
Monat März geben von biefer Erregung Kunde. Eine
derfelben berichtet, daß Haffein ſich im Vorderraume
förmlich verſchanzt halte, und daß man zwei große Küchen-
meffer in feinem Beſitz fah.
Man bielt ihn cernirt und reichte ihm tagelang fein
Waſſer, um ihn zur Vebergabe zu zwingen. Er hielt
aber aus, und die Matrofen wagten fich wegen feiner
Mefier nicht in den Vorberraum, um Kohle zu fallen.
Diefe war aber, um kochen zu können, unumgänglich
nothwendig geworden. Endlich wurde das Uebereinkommen
202 Tödbtung eines Matrofen auf hoher See.
getroffen, dag man ihn mit Waſſer verforgte, wogegen er
bie Kübel mit Kohlen füllte und binaufziehen ließ. Am
I. März wurde ihm — wie das Logbuch meldet — be
bingungsweife vollkommene Verzeihung zugefagt und Nab-
rung und Waffer veriprochen, wenn er auf Ded kommen
und feinen Dienjt wieber aufnehmen wolle. Er jchlug
e8 aber aus.
Unter dem 28. März findet fich in ber Hanbichrift
bes Kapitäns nachſtehende Eintragung:
„Haſſein, der fich bis heute im Vorberraum verſchanzt
gehalten hat und durch keinerlei Verfprechungen zu be-
wegen war, auf Ded zu kommen, erſchien plöglich, ohne
baß jemand fein Kommen bemerkt hätte, in meiner Kajüte.
Es dämmerte faum und ich fchlief noch. Er legte feine
Hand auf meine Schulter, und ich erwachte. Sch rief
mit lauter Stimme: «Wer ift da?» Der Mann lief er
jchredt hinaus. Als ich gleich danach auf Ded kam, er:
fuhr ih, daß der zweite Steuermann und ber Schiffs-
zimmermann ihn feftgenommen hatten. Seinem Benehmen
in der Kajüte zufolge mußte ich wol annehmen, daß er
einen Anfchlag gegen mich im Echilde führt, daher Tiek
ih ihn in Eifen legen.”
Diefe Eintragung war außer von Kapitän Code
auh von ben beiden Steuermännen Evans und
leaves unterzeichnet.
Es gelang aber Haffein, ob allein ober unter Bei-
hülfe eines andern, ift nicht aufgeklärt worden, fehon in
ber Mittagsftunde, ſich ber ihm angelegten Feſſeln zu
entledigen, wieder in ven Vorberraum zu entlommen und
fih bort abermal® zu verbergen. Die betreffende Ein-
tragung in das Logbuch lautet:
„Hallein hat die Eifen abgeftreift und muß Gelegen-
beit gefunden haben, fich mit Waffen zu verfehen. Der
Töbtung eines Matrofen auf hoher See. 203
Proviantmeifter Hatte mir fchon früher gemelbet, daß jein
großes Tranchirmeſſer ihm aus der Schiffsfüche abhan-
ben gelommen fet, und ber Unterſteuermann verfichert,
er habe daſſelbe heute, als er in ben Vorderraum hinunter»
ſah, in Haffein’s Händen erblickt.“
Man verrammelte num den Zugang zum Vorberraum
und bedte vie Luke des Nachts mit Bretern zu, bie jebes-
mal angenagelt wurden. Tagsüber legte man bagegen
ein Gitter über die Lufe, damit bie Luft Zutritt habe
und Haffein nicht erftide.
Diefer unheimliche Zuftand dauerte vom 28. März
bi8 zum 20. April. Haffein blieb während biefer Zeit
umunterbrochen im Vorberraume und verweigerte es fo-
wol feinen Dienst zu leiften als die Waffen abzugeben.
Die Schiffsmannschaft ſchwebte beſtändig in der Angft,
er könne einmal unverjehens hervorkommen und Unheil
anrichten. Der Kapitän und die Offiziere theilten biefe
mehr oder minder begründete Bejorgniß, und es ift wol
feinem Zweifel unterworfen, daß die Schiffepisciplin und
der Dienft im allgemeinen erbeblich barunter litten.
Am 20. April war das Schiff in die Nähe von St.
Helena gelangt. Einer aus der Mannfchaft, wahrjchein-
ih Hunt, ftellte ven Antrag, man möge dort boch lieber
beive Malaien an das Land bringen und fi) ihrer fomit
auf gute Art entledigen. Der Kapitän wies jeboch die
Zumuthung, ber Malaten wegen zu lanten, entjchleben
zurüd und erklärte, daß er Haffein nach London mit»
nehmen und bort vor Gericht ftellen wolle. ‘Die Mann-
ſchaft war aber, ald man das Land wieder aus den Augen
verlor, fo außer Rand und Band vor Furt — vor
dem einzelnen, eingefperrten Manne! — daß, joweit wir
wiffen, am 21. April zum erften mal der Vorfchlag auf-
tauchte, der allgemeinen Sicherung wegen Haffein umzu⸗
204 Tödtung eines Matrofen auf hoher See.
bringen. Von wen dieſer Vorfchlag eigentlich urfprüng-
lich ausging, bat auch fpäterbin die Unterfuhung nicht
feftgeftellt, aufgenommen bat ihn jedenfall der Kapitän.
Ein Matrofe nur, der fchon vorgenannte Charles Hunt,
widerſetzte fich diefem Vorhaben. „Bringt den armen
Teufel nicht um“, warnte er, „er kann uns boch nicht
mehr fchaden. Er ift gut bewacht. Nehmt ihn in Gottes⸗
namen mit nach England, umd wenn er ein Unrecht be
gangen hat, fo folfen englifche Gefchworene ihn verur⸗
theilen.“ Allein diefe Warnung verhallte ungehört. Wem
einmal bie Leidenschaft fich einmifcht, verliert bie Stinmme
ber Befonnenheit ihre Geltung. ‘Die Offiziere und bie
Mannſchaft waren einig barin geworben, Haſſein das
Leben zu nehmen und bie Urfache ihrer Beängftigung
bamit gründlich zu befeitigen.
Die Eintragung vom 21. April lautet:
„Bir, die Unterzeichneten, bejchwören hiermit, daß
Charles Hunt, Matrofe erfter Elaffe, im Einverftändnif
mit Haſſein gehandelt und ihn heimlich mit Nahrung
und ben Waffen verjehen hat, daß er ihm geholfen ober
doch bie Mittel dazu verfchafft hat, die Eifen abzunehmen,
und daß er ihm Zünphölzchen zugeftedt Hat. Dadurch
ift Die Gefahr drohen geworden, daß Haflein das Schiff
-anzünden kann. Hunt bat ihm das Meſſer gegeben, Hat
alle Zage Mittel und Wege gefunden, mit ihm zu con-
jpiriren, und hat Caffein, ven andern malaiiſchen Diatrofen,
ebenfalls zur Meuterei aufgereizt. Wir ſind der Ueber-
zeugung, daß er die Schuld trägt, daß Haffein fich im
Zuftande der Menterei befindet. Ich, der Kapitän, bes
antrage daher Haffein zu erfchießen. Alle Mann an Bord,
mit einziger Ausnahme des vorgenannten Charles Hunt,
erklären fich damit einverftanden, wenn es nicht gelingen
ſollte, fich feiner mit andern Mitteln zu bemächtigen.“
Töbtung eines Matrofen auf hoher See. 205
Unterfchrieben ift biefe Eintragung von: Hermann
Spis; Peter King; John Webfter; K. Chriftianfen; David
Thow; 3. S. Smethurft; James Gleaves, Steuermann;
Edward W. Evans, Oberftenermann.
Die Wahrheit ver Behauptung, daß Hunt die Meu-
terei verſchuldet babe, ift im Laufe der gerichtlichen Unter-
fuchung durch nichts erwiefen worden. Sa, ob überhaupt
bei dieſer Sachlage die Bezeichnung Meuterei als zus
treffend gelten kann, mag fraglich erfcheinen. Jedenfalls
wurde, wie aus einer weitern Eintragung im Logbuche
hervorgeht, am 22. April ein fürmlicher Sturm gegen
ben verbarrifapirten Haffein unternommen. Es war näm⸗
ih dem Kapitän berichtet worden, Haſſein verfuche mit
dem Tranchirmeſſer dad Schußbret der Luke zu durch⸗
bohren. Er ertheilte den Auftrag, die Spite des Meffers,
wenn fie bervorbringe, abzubrechen, doch fcheint biefer
Auftrag nicht zur Ausführung gelangt zu fein. Cine
zweite Eintragung von dem erwähnten Tage berichtet,
daß man, trog des Aufgebots aller verfügbaren Kräfte,
vergeblich verjucht babe, fich Haſſein's zu bemächtigen.
Die Furcht vor dem Meffer, mit dem er die Angreifer
beorobte, hielt die Matrofen fortwährend ab, ihn fejtzu-
nehmen. Endlich nahmen fie ihre Zuflucht zur Schieß⸗
waffe. Mehrere Schüffe wurden auf Haſſein abgegeben
und einer berjelben verwundete ihn am Buße. Haſſein
ſchrie jämmerlich und rief ihnen zu, daß, wenn er nur
einen von ihnen, den Angreifern, töbten könnte, jo wolle
er zufrieden fein. Er ergab fich aber nicht. Dann wurde
e8 verfucht, ihn dadurch zu bezwingen, daß man Waffer in
ven Borterraum hinabgoß, um ihn „auszuſchwemmen“.
Allein Haffein ftieg auf die Kohlenjäde, ſodaß fie bie
Verſuche, ihn zu faſſen, ſchließlich als zwecklos aufgeben
mußten. Der Seemann, deſſen Schuß Haſſein am Fuße
206 Tödtung eines Matrofen auf hoher See.
verwunbete, war ber Oberfteuermann Erward William
Evans.
Am 23. April findet fich im Logbuche nachftehenbe
Eintragung:
„Um 8 Uhr morgend wurben bie Breter, welche bie
in den Vorberraum führende Luke bebediten, weggenom-
men und ein abermaliger Verſuch gemacht, ſich Haffein’s
zu bemächtigen. Jeder Mann wurde bewaffnet, mil
Schiefgewehren, foweit ber Vorrath reichte, ober mit
Enterbafen, denn er batte gedroht, jeven, der fich ibm
nähern würde, niederzuftechen und eher einen Angreifer
zu töbten, als fich fangen zu laffen. Bei dem Verſuche, ihn
unfchäplich zu machen und im Zuftande bloßer Nothwehr
wurde ber Malaie Haffein erjchoflen. Vorher war er
noch einmal aufgefordert worven, bie Koblenkübel mit
Kohle zu füllen, er weigerte fich jedoch befien und ge
ftattete auch nicht, daß ein anderer Mann fich binumter-
begab, um dies auszuführen. Er drohte, mit dem Trandhir-
meſſer und einer Brechftange jedem, ber fich ihm nähern
würde, den Garaus zu maden. Um 9 Uhr vormittags
war er tobt.‘
Unterzeichnet war diefe Eintragung von: James Code,
Kapitän; Edward W. Evans, Oberfteermann; James
Gleaves, zweiter Steuermann; David Thow, Zimmermann;
Peter King, Proviantmeifter; C. Hunt, Matrofe erfter
Klaffe; Hermann Spis, Matroſe erfter Klaffe; Karl Chri⸗
ftianfen, Matroſe erfter Klaffe; Sohn Webfter, Matrofe
zweiter Klaffe; 3. Smethurft, Schiffejunge.
Diefe Darftellung des Sachverhalts entiprach aber
nicht der Wahrheit. Es fcheint vielmehr, daß man am
Morgen des 23. Aprit bereit übereingelommen war,
fih Haſſein's jedenfalls zu entledigen und ein Ende mit
ihm zu machen. Der Unterftenermann Gleaves rüftete
Zödtung eines Matrofen auf hober See. 207
ſich mit einer mit fcharfen Batronen geladenen Flinte aus
und der Matroje Webjter erhielt des Kapitäns fcharf-
geladenen Revolver zugetbeilt.e Der Malaie war fchen
am Vortage durch einen Schuß am Fuße verwundet wor-
ben, und am 23. April feuerten die beiden vorgenannten
Seeleute ihre Schußwaffen in den Vorderraum auf ihn
ab. Einer ver Schäffe traf Haffein und veriwunbete ihn
ſchwer in ver Seite. Es wird mit Sicherheit angenom⸗
men, baß biefer verderbliche Schuß aus ver Flinte, welche
ber lUinterfteuermann leaves führte, abgegeben wurde.
Ein Matroſe ließ fih Hierauf an einem Tau in ben
Borverraum hinab, befejtigte einen Bootshaken an des
webrlofen Mannes Kleidern, und fo wurbe er auf Ded
gehoben. Dort angelangt, war er fchon vollfommen außer
Stande, noch irgendwelchen Wiperftand zu leiften. Statt
ihm aber beizufteben, wie e8 nunmehr die Pflicht menfch-
fich fühlender Weſen geboten hätte, ergriff Webfter ben
Revolver, und da von irgendeinem bie Behauptung auf-
geitellt worben war, daß ber Malaie ohnedies verloren
und e8 baber beſſer fei, fein Leiden abzukürzen, fette
Webiter die Piftole an Haffein’8 Schläfe und drückte ab.
Wenige Minuten darauf war er tobt. Man fegnete bie
Leiche nach den Gebräuchen ber anglifanifchen Kirche ſo⸗
fort ein und warf fie über Bord.
Nachdem die Lady Douglas im Hafen von London
eingelaufen' war, legte der Kapitän pflichtgemäß fein Log⸗
buch vor, und die Unterfuhung bes Falles begann vor
dem BPolizeigericht des Themſehofes. Die Verhandlungen
erftrediten ſich daſelbſt über die Dauer von brei Wochen,
während welcher Zeit bie geſammte Schiffsmannjchaft in
Bolizeigewahrfam gehalten wurde. Aus biefen Verhand⸗
(ungen gingen ſchließlich als Angeflagte hervor: James
Codes, Schiffsfapitän, 33 Jahre alt; James Gleaves,
208 Tödtung eines Matrofen auf hoher See.
Unterftenermann, 25 Jahre alt; Edward William
Evans, Oberftenermann, 27 Jahre alt, und John
William Webfter, Matrofe zweiter Klaſſe, 23 Jahre
alt. Die übrigen Mitglieder der Bemannung wurden
nur ald Zeugen vernommen. Einige Ausfagen ericheinen
wichtig genug, um mitgetheilt zu werben.
Am 24. Mai, dem zweiten Verhanplungstage, bei
welchem Mr. Lufbington ale Richter, Rechtsanwalt
Mr. Mead namens der Krone als Ankläger und Rechts-
anwalt Mr. St. John Wontner für die Vertheibigung -
tbätig war, lautete Die entſchiedene Ausfage des Zeugen
Beter King fehr befaftend für die Angeflagten. Der⸗
felbe fagte aus;
„Ih bin Proviantmeifter an Bord der Barfe Lady
Douglas gewefen. Das Schiff ſegelte zunächſt nad
Freemantle in Auftralien, unweit der Championsbai, und
von bort zur Nieberlaffung an ber Mündung des Fluſſes
Gascoigne in der Haifiſchbai, Weftauftralien. In Gas-
coigne nahm ver Kapitän zwei Malaien zur Ergänzung
der zuſammengeſchmolzenen Schiffsmannſchaft an Boͤrd.
Einer derſelben hieß Haſſein, der andere hieß Caſſein.
Am 11. Januar fegelte man von dort mit der Beſtim⸗
mung: London, ab. Die Mannfchaft bejtand aus neun
weißen Männern, ven zwei Malaien und einem Schiffe-
jungen. Ungefähr eine Woche ehe wir die Höhe des Cap
ber guten Hoffnung erreichten, bemerkte ich, daß Haſſein
ein auffallend verftörtes Weſen zeige. Eines Morgens
war er verfchwunden. Das Schiff wurde durchſucht, allein
man Tonnte ihm nicht auffinden. Zehn Tage danach be-
gab ſich der Unterftenermann Gleaves in den Vorderraum
hinab, um Farbe zum Anftrich der Bordwände herauf
zuholen. Er ftieß auf Haſſein, ver, auf einige Kohlen⸗
ſäcke gelagert, ruhig ſchlief. Er wurde gewedt und auf
Tödtung eines Matrofen auf hoher See. 209
Ded gerufen. Ich verabreichte Haffein auf Befehl des
Kapitäns einige Nahrung. Haffein wuſch fich vom Kohlen»
jtaube rein und trat fofort feinen Dienft wieder an. Die
Reihe der nächften Wache fiel auf ihn. Nach beenbeter
Wache begab fih Haffein mit der übrigen bienftfreien
Mannſchaft auf das Vorderdeck. Als ich fpäter babin
kam, erzählten mir bie Kameraden, daß Haffein einen
Selbftmorbverfuh unternommen babe, indem er über
Bord fpringen wollte. Er fei aber mit Gewaltanwendung
baran gehindert worden. Späterhin ſah ich Haffein wieder
im Vorderraum, wo er fich verborgen hielt. Sch ver⸗
mißte zu jener Zeit mein größtes Tranchirmeſſer aus ber
Schiffsküche und bemerkte daſſelbe in Haffein’8 Händen.
Diejer hielt das Tranchirmeſſer in der einen, fein eigenes
Mefjer in der andern Hand. Der Kapitän forderte ihn
auf, auf Deck zu kommen und vie Meffer wegzufegen, er
aber verweigerte beibes und fagte in feinem gebrochenen
Engliſch: «Geſetzt den Fall, ich bringe einen um, fo jterbe
ih auch.» Der Kapitän wieberholte die Aufforderung an
Haffein, auf Deck zu kommen, vielemal, jedoch immer ver-
geblich. Die Lufe wurde biernach vermitteld einer ange-
nagelten Breterthür gefihert. Am nächiten Morgen be-
fahl ver Kapitän dem Zimmermann die Breter zu entfernen,
und forverte Hafjein wieberum auf, heraufzukommen, bie
Meſſer abzugeben und feinen Dienft anzutreten. Er er-
widerte: «Mein, ich gehe nicht auf Ded.» Ich begab
mid in das Zwiſchendeck, um von dort aus in ben Vor-
berraum zu gelangen und mich Haſſein's zu bemächtigen.
Diefer aber bebrohte mich mit dem Meffer, ſodaß ich
zurüdweichen mußte. Der Kapitän gab, um Daffein zu
erichreden, einen blinden Schuß auf die Kohlenfäde ab,
allein dieſer zeigte Feine Furcht und bedrohte im Gegen-
theile alle, die fi ihm nähern wollten. Die Breterthür
XXII. 14
2310 Töodtung eines Matrofen auf hoher See.
wurde jede Nacht feftgenagelt und bes Morgens wieder
abgenommen. So oft dies geſchah, erging au Haſſein
die Aufforderung, auf Ded zu fommen, er aber ver-
weigerte jedesmal ben Gehorfam. So geſchah es vier
oder fünf Tage hindurch. Es ftellte ſich nun allmählich
dad Bedürfniß nach Kohlen heraus, aber niemand wagte
fih in den Vorderraum hinab aus Angft vor Haffein und
feinen Mefjern. Kapitän Cocks fchloß ſodann mit Haffein
eine Art Uebereinlommen ab, wonach biefer die Koblen-
übel füllen follte und dafür mit Waffer und Schiffe-
zwiebad verjehen wurde. Haſſein war bereit8 mehrere
Tage lang ohne Waffer geblieben und hatte wieberholt
barum gebeten. Eines Morgend bemerkte ich Haffein
auf Ded. Er war foeben vom Zimmermann umb bem
Unterftenermann gefaßt, überwältigt und gebunden worden.
Der Kapitän erzählte mir umaufgeforvert, daß Haſſein
die Hand auf feine Schulter gelegt habe, als er in feiner
Koje fchlief, und daß er darüber erwacht wäre. Haffein
wurde bierauf in Eifen gelegt und in das Zwiſchendeck
in Gewahrfam gebracht. Am nächſten Zage aber ftreifte
er die Eifen ab. Er wurde jeboch wieber ergriffen, bie
Eifenringe um feine Beine befejtigt und nur etwas Segel-
tuch dazwifchengethan, bamit die Eifen ihn nicht wund
prüden follten. In biefer DVerfaffung verblieb er etwa
14 Tage oder brei Wochen. Er erhielt jeden Tag als
Ration ein Duart Waffer und ein Pfund Schiffszwiehed
und an jebem zweiten Tage ein halbes Pfund Fleifch von
mir verabfolgt. Am letzten Tage, an dem Haffein in
Ketten war, Hagte er, daß er Frank jet. Der Kapitän
verabreichte ihm Medicin. Auch erhielt er an biefem
Tage von mir auf ausbrüdlichen Befehl des Kapitäns
feine volle Ration Lebensmittel. Das Tranchirmeffer ver:
ſchwand von neuem, und es wurde conftatirt, daß Haffein
Tödtung eines Matrofen auf hoöoher See. 211
in ben Beſitz deffelben gefommen war. Wie dies geicheben
fonnte, weiß ich nicht. Haffein hatte fich wieder in den
Vorderraum geflüchtet und verfchanzt. Der Kapitän
richtete abermuld die Aufforderung an ihn herauszu⸗
fommen, er verweigerte e8 und fagte nochmals: «Menn
ich einen umgebracht babe, fo fterbe ich zufrieden.» Die
Luke wurde hierauf wie zuvor mit Bretern vernagelt.
Am nächſten Morgen wurbe die Verſchalung entfernt; doch
ehe dies geihah die Schiffemannfchaft mit den vorhan-
denen Schießwaffen ausgerüftet. ‘Die gefammte bienftfrete
Bemannung ber Barke trat zuſammen, und es wurbe ver-
einbart, mit Haffein ein Ende zu machen, da die Gefahr,
die uns allen durch fein Verfahren brohte, fehr groß ge-
worden war. Cinftimmig wurde befchloffen, ihn, wenn
wir ihn faffen könnten, zu töbten. SHaffein fcheint von
biefem Beichluffe unterrichtet worben zu fein, denn er ver-
fuchte in der darauffolgenden Nacht zum erften mal ben
Berichlag, der die Luke bevedte, zu durchbrechen und das
Theertuch, das barübergebreitet war, mit Meſſerſtichen
zu burchlöchern. Um 8 Uhr früh befahl der Kapitän
dem Zimmermann, wie an jebem Morgen, die Breter zu
entfernen. ‘Die gefammte Mannjchaft umftand vie Lufe.
Der Kapitän forderte Haffein zum legten mal auf, auf
Deck zu fommen, und erflärte ihm: wenn er zu feiner
Pflicht zurückkehren und feine ‘Dienftleiftungen wieder auf-
nehmen wolle, jolle alles Vergangene verziehen und ver-
geffen fein. Er folle dann feine Strafe befommen. Er
weigerte fich jeboch wieder und fagte: «Sch gehe nicht
auf Ded, ich will Hier fterben.» Man fuchte ihn ſodann
Dadurch beranszutreiben, daß man Waffer hinabichüttete.
Als das Waffer den Boden des Vorberraums überflutete,
flüchtete fich Haffein auf die aufgefchichteten Kohlen. Ich
begab mich in das Zwiſchendeck, um von dort aus Haffein
14*
212 Tödtung eines Matrofen auf hoher See,
beffer beobachten zu können. Ich war mit des Kapitäns
Revolver bewaffnet und feft entichloffen, ihn, wenn er
bie Abficht, mich anzugreifen, an ven Tag legte, niederzu⸗
ichießen. Der Zimmermann fchnitt Spalten in bie Holz-
verffeivung, um Haſſein's anfichtig gu werben. Ich ver⸗
ſah mich mit einem Bootshalen; Haffein fchien unfere
Vorbereitungen zu bemerfen, denn er griff durch bie
Spalten ver Wand nach meinem Hafen und drohte mit
bem Meſſer. Dadurch wurde den auf Deck beobachtenpen
Perjonen ein Theil feines Körpers fihtbar. Mr. Evans,
ber Oberfteuermann, ber ſich ganz vorn an ber Deffuung
ber Luke befand, bemerfte das und fchoß eine mit grobem
Schrot oder Boten geladene Flinte auf ihn ab. Er ver-
wundete damit Haffein am Fuße. Hierauf wurbe Haffeln
nochmals aufgeforbert, auf Ded zu kommen, und ihm Ver⸗
zeihung zugefichert. Im diefer Zeit hatte Haſſein ficher-
lich das Tranchirmeſſer, eine Brechftange und noch anbere
eiferne Werkzeuge zur Hand. ‘Da er fi) aber immer
noch nicht ergeben wollte, wurde der Verſchlag wieder
zugenagelt und die ganze Nacht Wache dabei gehalten.
Am nächſten Morgen befahl der Kapitän wie gewöhnlich
bie Entfernung ber Breter. Man ſah Haffein zufammen-
gefauert auf ven Kohlen liegen. Der Unterfteuermann Mr.
Sleaves hatte eine fcharfgeladene Flinte in ven Händen
und ſchoß daraus auf Haffein. Der Matroje Webfter
ſchoß gleichfalls aus dem Revolver, den ich wieder zurüd-
geftellt Hatte. Haffein ſchien fchwer getroffen, ich glaube
mitten im Leibe. Ein Matrofe, Namens Charles Hımt,
ließ ſich ſodann an einem Seile in ven Vorberraum binab,
befeftigte einen Bootshaken an Haffein’8 Kleidern, und
jo wurbe er binaufgehift. Er biutete aus der Wunde
an der Seite. Die gefammte Schiffsmannfchaft war an⸗
weiend. Jemand fagte: «Es ift beffer ihn ganz umzu⸗
Tödtung eines Matrojen auf hoher See. 213
bringen, da er obnebies fo jchwer verwundet if.» Wer
es geſagt bat, weiß ich nicht. Webfter, der den Revolver
in der Hand hielt, Schoß ihn dann in den Kopf und nad
faum fünf Minuten war er tobt. Etwa eine balbe
Stunde fpäter wurde er mit einem Gewicht an ben
Füßen, damit er fchneller ſinken follte, über Bord ges
worfen.“
Der Zeuge wurbe nun einem Kreuzverhör unterworfen,
welches indeß feine weitern neuen Momente brachte ale
die ergänzende Mittheilung: Haſſein fei auch un Beſitze
von Zünphölzchen geweſen, und die Mannichaft habe in
der Furcht gelebt, er könne das Schiff anzünden.
Der Schiffezimmermann David Thow gab eine im
wejentlichen gleichlautende Ausfage ab.
Die Verhandlung vom 31. Mat brachte die Verneh-
mung des Charles Goobliffe Hunt. Diefer fagte aus:
„Ich bin Matrofe erfter Klaffe an Bord der Lady
Douglas gewejen. Ich weiß, daß der Malaie Haffein
angeworben wurde und an Bord kam. Nicht lange nach⸗
dem wir uns von Gascoigne aus eingejchifft Hatten, be-
merkte man, daß Haffein abgängig fe. Es war dies, ale
wir uns unweit des Cap ber guten Hoffnung befanden.
Allein bald darauf ift er im Schiffsraume entbedt wor-
den. Ich babe vie Gewohnheit, bei Seereifen alle Ereig-
niffe in meinem Notizbuche zu verzeichnen, und Tann
darum die Daten mit folcher Beſtimmtheit angeben. Als
Haffein aufgefunden wurbe, fchten er halb verhungert.
Man verabreichte ihm Brot und Butter, Am nächiten
Tage war Haffein wieder im Vorberraum verftedt. Wegen
ter Kohlen mußte mit Haffein eine Vereinbarung getroffen
werben. Der Kapitän ließ ihm eine Pinte Waſſer geben,
nachdem er acht Tage lang ohne folches geblieben war.
Gegen die Ausfolgung von etwas Waffer Tieß Haffein
214 Tödtung eines Matrofen auf hoher See.
Kohlen holen. Ich felbft war derjenige, welcher das Brenn-
material hinaufbringen mußte. Die andern Matrojen
fürchteten fich zu fehr vor ihm. Einige Tage fpäter vegte
ber Kapitän Die Frage an, ob man Haffein umbringen
folle. Er fragte mich felbft ganz direct: «Sind Sie da⸗
mit einverftanden, daß Haffein getöbtet wird?» Ich ant-
wortete: «Laſſen Sie doch den armen Teufel am Xeben.
Nehmen Sie ihn mit nach England und ftellen Ste ihn
vor ein englifches Schwurgericht. Wenn er ein Unrecht
begangen hat, wird ihn fchon bie gefegliche Strafe treffen.»
Die Kameraden haben mir erzählt, daß Haffein bie Eifen,
mit benen er gefeffelt war, abgeftreift hätte. Der Sa
pitän forderte die Mannfchaft auf, eine Eintragung in
dem Logbuch zu unterfchreiben. Ich aber fam biefer Anf-
forberung damals nicht nad. Am nächften Tage wurbe
mehrmals auf Haſſein gefchoffen. Kapitän Code fagte,
er babe nur die Abficht, den Malaien durch einen blinden
Schuß zu erjchreden und ihn gefügig zu machen. Der
Steuermann hingegen fagte: «Ich habe ihn getroffen, das
ift ficher, umd wenn ich Gelegenheit dazu finde, wirb er ein
zweites Denfzeichen von mir erhalten.» Ich habe es nicht
felbft gejehen, daß der Kapitän gejchoffen Hat. Es war
mir, ebenfo wie ven andern Matrojen, befohlen worden,
Waffer in den Vorderraum zu ſchütten, um Haffein zur
Ergebung zu zwingen. Der Kapitän fagte zu ben Ser
leuten; «Nur immer darauf los, meine Jungen! Bringt
ihn nur um. Ich übernehme vie VBerantwortlichkeit.» Zu
Haffein aber fagte der Kapitän, daß wenn er nur herauf-
fommen wolle, ihm gewiß nichts gefchehen werde. Am
folgenden Tage berief der Kapitän bie gefammte Schiffs.
mannfchaft und hielt eine Anſprache an und. Er fagte
im wefentlichen: «Diejer Kerl ift ein fehr gefährliches
Individuum, und zum Schuße unfers eigenen Lebens und
Tödtung eines Matrojen auf hoher See. 215
des Schiffes, meine Iungen, müffen wir ihm den Garaus
machen.» Ich konnte die Bemerkung nicht unterbrüden:
«a, und wenn wir bann zur NRechenfchaft gezogen wer-
ben, jo haben wir alles auszubaden.» Der Kapitän er-
wiberte mir aber: «Nein, dem ift nicht fo. Ich allein bin
ber verantwortliche Theil.» Wir gingen insgefammt nad)
vorn, und als die Luke geöffnet war, fahen wir Haffein
ganz erſchöpft und hülflos, wie erftarrt, mit durchnäßten
Kleidern auf den Kohlen liegen. Ich war der Anficht,
daß es ohnehin fchon aus mit ihm fei und man ihn
nicht weiter quälen folle. Dennoch wurde ein Schuß auf
ihn abgefeuert. Ich hörte wol den Knall, habe aber nicht
jelbjt gejehen, wer ihn abgab. Haffein war in ver Lende
getroffen und begann fein Sterbelied zu fingen. ‘Der
Kapitän fragte: «Nun, Jungens, wer von euch wird ihn
beraufholen?» Ich erflärte mich bereit dazu. Da fein
Schiffstan zur Hand war, löften wir das Seil von bem
Waffereimer, ich ftieg hinab und befeftigte e8 an ben
Beinjchellen, die Haffein noch umgelegt Hatte. Daran
wurde er auf Ded gehißt. Haffein wog damals gewiß
nicht mehr als 40 Pfund. Ich nahm ſodann das Trandir-
meffer, das Haſſein bei fich geführt Hatte, an mich und
reichte e8 hinauf. Als Haffein auf Deck angelangt war,
ſchien er bereits faft topt und ich rief den übrigen zu:
«Jetzt ift e8 aber auch genug. Ihr braucht ihn nicht zu
burchlöchern.» Nichtsbeftoweniger wurbe ein anderer Schuß
ans nächfter Nähe auf ven wehrlofen Menfchen abgefeuert.
Haffein wurde dadurch im Kopfe getroffen und das Ge⸗
birm drang aus dem zeriprengten Schädel. Ich fah nicht
bin, als diefer Schuß abgegeben wurde, ich war angeefelt
und hatte mich abgewendet.“
Im Kreuzverhör, dem ber Zeuge durch den Ver⸗
216 Todtung eines Matrofen auf hoher See.
theidiger Dir. St. John Wontner unterworfen wurde,
fagte er weiter aus:
„Ich bin in Freemantle an Bord der Lady Douglas
gefommen. Nach Auftralien war ich an Bord des John
S. Roe gelangt. Es waren fech8 Monate zwiſchen
meiner Ankunft und dieſer Einjchiffung vergangen, welchen
Zeitraum ich auf dem Lande verbracht habe. Ich war
von jeher entfchieven gegen die Anwerbung farbiger Leute,
und habe vem Kapitän gegenüber ſchon damals unverboblen
mein Misvergnügen darüber, daß man malaitiche Matroſen
an Bord nehme, geäußert. Ich wäre lieber in das Gefäng-
niß gegangen, als in Gejellichaft folder heimtückiſchen
Gefellen in See geftochen; allein ich hatte nichts zu bes
fehlen und mußte mich, gleich der übrigen europätfchen
Mannfchaft, eben fügen. Ich ftand keineswegs in freund-
ſchaftlichem BVerhältniffe zu Haffein und war mit ihm
burchaus nicht in vertrauten Verkehr, als jener fich im
Vorderraume des Schiffs verbarg. ALS er jedoch in Eifen
gelegt wurde, ſchenkte ich ihm, da ich Mitleiv mit ihm
fühlte, aus Erbarmen etwas Tabad. Ich verabreichte
Haffein Feine Zünphölzchen, der Tabad war zum Kauen,
nicht zum Rauchen bejtimmt. Wenn Haffein überhaupt
Zünphölzchen befaß, was ich kaum glaube, fo Tamm er
fie nur von Webfter erhalten haben. Diefer raucht, wir
ältern Matroſen kauen nur Tabad. Ich gab Haffein
weber Eiſendraht noch Schlüffel, um die Eifen loszulöſen.
Man hielt mich übrigens abfichtlih fern von Haſſein,
denn die Mannjchaft befchulpigte mich fälfchlich, ich fei
mit jenem im Cinverftänoniffe und ftedle ihm heimlich
Nahrung zu. Ich babe dies jedoch nicht gethan, fonbern
nur meiner Theilnahme und meinem Misvergnügen über
die granfame Behandlung des Armen ungefchminkten
Ausdrud verliehen. Ich mag bie Malaien nicht, aber
Tödtung eines Matrofen auf hoher See 217
fie find doch Menfchen. Als das Schiff nächft Havre
anlangte, wurde mir eine Eintragung in das Logbuch vor-
gelegt, und ich unter Drohungen zur Mitfertigung ge-
zwungen. Es war mir nicht befannt, daß, al® der Ka⸗
pitän mein Cinverftänpniß zur Tödtung des Haffein
begebrte, die geſammte Bemannung bereit8 einig umb
entjchloffen war und man feinen Tod zur Sicherung bes
Schiffe, welches er angeblich bedrohe, verlangt hatte.
Die gefammte Bemannung, außer mir, unterzeichnete bie
Eintragung freiwillig, nur ich mußte zur Unterfchrift ge-
zwungen werben. Ich wurbe auch mit Unrecht vwerbäch-
tigt, daß ich dem Haffein bie Brechitange, in beren Ber
fig er fih befand, verjchafft hätte. Ich weiß übrigens
nichts davon, daß Haffein von biejer Brechftange irgend⸗
welchen Gebrauch gemacht hätte, und babe auch nichts
davon gehört, daß Haffein je die Bemannung damit be⸗
drohte. Ich nahm entſchieden keinen Antbeil an ver Hetze
und ber Verfolgung bes Haffein. Ich war darum von ber
Mannichaft geradeswegs felber verfemt. Ich wiberjeßte
mich auch nach Kräften dem Beichluffe, Hafjein umzu⸗
bringen, konnte e8 aber nicht verhindern. Während ber
zwei Monate, die Haffein im Vorderraum zubrachte,
wurde er faft nur mit Waffer und Brot gefpeift, darum
war er wol fo entjeglich abgemagert. Als Haſſein ben
Schuß in die Seite erhalten batte, begann er mit faum
vernehmbarer Stimme fein Sterbelied zu fingen. AS
ich den Bootshafen an Haffein’8 Beinen befeitigte, mar
biefer ficher nicht tobt. Ich befeftigte das Seil gerade
darum an den Beinen, weil ich fürchtete, ihm größere
Schmerzen zu bereiten, wenn ich daſſelbe um ben ver-
wundeten Leib fchlingen würde.”
Peter King, nohmals als Zeuge vorgerufen, fagte
aus:
218 Tödtung eines Matrofen auf hoher See.
„Nachdem Haffein todt war und bevor er über Bord
geworfen wurbe, ſah ich, baf der erfte Schiffsoffizier,
Mr. Evans, die Beinfchellen von Haffein’® Beinen löfte.”
Der Malate Caſſein, veffen Ausfage verbolmetjcht
werben mußte, gibt an:
„Ich bin gleichzeitig mit Haffein in Gascoigne ange
worben worden. Nachdem Haffein vermißt, aber einige
Zeit danach im Vorberraume aufgefunden worben, hat
mich ber Kapitän in die Kajüte einfperren laſſen. Wol
bat man mich fpäter wieder freigelaffen, allein zu brei
wieberbolten malen bin ich abermals eingeiperrt worben,
ſodaß ich nicht als Augenzeuge beobachten fonnte, was
vorging.“
Karl Chriſtianſen, ein Matroſe deutſcher Nationa⸗
lität, ſagt aus:
„waffen teilte die Wache mit mir. Er fühlte fich
allezeit fehr unglücklich und äußerte mehrmals fein lebhaftes
DBerlangen zu fterben. Ich beobachtete zufällig, wie Hajfein
von dem Unterftenermann entvedt wurbe. Die Lule
itanb offen, und ich befand mich gerade darüber in ber
Zalelage. Am Tage ehe Haffein ftarb, vernahm ich deut⸗
ich, daß er kläglich nach feinem Landsmann und Glaubens⸗
genofjen Caffein rief. In dieſer Nacht verjuchte er auch zum
eriten mal, fich mit feinem Meffer Luft zu verichaffen,
und bohrte Rächer in bie Theerdecke, welche über bie Lufe
gebreitet war. Am folgenden Morgen wurde von ben
Offizieren unb ver Mannjchaft einbellig behauptet, das
Beſte wäre, Haffein ven Garaus zu machen, tenn mit
ibm an Bord Tiefe das Schiff die höchſte Gefahr. Ich
jah mit eigenen Augen, wie die Schießgewehre und Re-
volver auf Haffein gerichtet und abgebrüdt wurden. Den
Schuß in den Fuß erhielt Haffein vom Oberftenermann.
Vorher hatte man fchon verfucht, durch das Hinabfchütten
Tödtung eines Matrofen auf hoher See. 219
falten Waſſers Haffein aus feinem Verſteck herauszu⸗
treiben. Als es nicht gelang, hat man heißes Waſſer,
übrigens ebenfo vergeblich, zur Anwendung gebracht. Ge
tödtet wurde Haffein ficherlich erft purch den Schuß, den
Webfter auf ihn abgegeben bat, als er bereits wehrlos
auf Ded gebracht worden war.”
Frederick Stanley Smethurft, Schiffejunge an
Bord der Lady Douglas, wird zulegt vernommen. Er
weiß, daß alle Anweſenden übereinftimmend es für das
Beſte hielten, Hafjein zu erjchießen und ihn fo von feinen
Dualen zu erlöfen.
Da bie Angeflagten, dem englischen Brauche gemäß,
in ber Borausfiht, daß fie boch jedenfalls vor das
Schwurgericht geftellt werben würben, und über bie ihnen
nachtheiligen Rechtsfolgen ihrer eventuellen Verantwortung
belehrt, es ablehnten, vor dem Polizeigericht eine Ausfage
abzugeben, bejtimmte ber Polizeirichter, daß fie in ber
nächiten Seffion des Central-Criminalgerichtshofes ihr
Urtheil von den Geſchworenen empfangen follten. Die
angebotene Bürgſchaft für ihr richtiges Erjcheinen wurde
abgelehnt, die Beihhulpigten in Verwahrungshaft behalten,
bie Zeugen aber in Freiheit gefett.
Am 29. und 30. Juni 1887 wurbe die Hauptver⸗
handlung vor dem Schwurgericht gehalten.
Richter Stephen führte den Vorfik. Für die An-
Hage erfchienen namens ber Krone Die Advocaten Poland
und Mead. Die Vertheidigung für den Kapitän Code
hatte Rechtsanwalt Mr. Besley, für ben Oberfteuer-
mann Evans Mr. Geoghegan, für ben Unterfteuer-
mann Gleaves Mr. 9. Avory, für den Matrofen
Webfter Dir. I. P. Grain übernommen.
Mr. Poland eröffnete namens ber Anklage die Ver-
Handlung. Zunächſt gab er eine Darftellung des that-
2320 Töbtung eines Matrofen auf hoher See
fächlichen Sachverhalts, wie fie den vorausgehennen Aus-
führungen und ven vor dem Polizeigericht vornommenen
Ausfagen der Zeugen entipricht. Sobann betonte er die
principielle Wichtigleit des Falles, welcher für die Ge
richtsbarfeit auf hoher See von enticheivender Wirkung
werben dürfte. Das Schiff war britifches Eigenthum,
mit Rüdficht auf die gefeßliche Fiction alſo englifcher
Boden, und nach engliſchem Geje muß daher Necht ge
fprochen werden. Der Ankläger leugnet, daß ein Fall
eigentlicher Meuteret vorliege. Haffein habe keine Ger
noffen feiner Unbotmäßigfeit gehabt, Caffein, der andere
Malaie, babe fich als ein verjchüchterter, ungefährlicher
Burſche erwiejen, der englifche Matrofe Eharles Hunt
aber fei wol ein Gegner der rohen Gewaltmaßregeln,
nicht aber ein Mitverſchworener geweſen. Man Habe
Haffein ohnedies gefangen gehalten, und konnte ihn alfo
nah England bringen, ohne ihn zu töbten. Da num end»
ih gar Haffein jchwer verwundet und gänzlich wehrlos
gemacht worben war, hätten Menfchen, die einen Funken
von Humanität bejäßen, alles aufbieten müſſen, ihm zu
Hülfe zu kommen und im nächftgelegenen Hafen Ärztlichen
Beiftand anzurufen. Allein dies wurbe gefliffentlich ver-
abjäumt. Im Gegentheil, unter dem Vorwande, feine
Leiden abzukürzen, wurde dem Matrofen Webfter der Ne
volver in die Hand gebrüdt und dem volllommen Hülf-
lofen, wie einem verwunbeten Hirſch der Genidfang ger
geben wird — gemäß ver Ausdrucksweiſe der als Zeugen ver⸗
hörten Seeleute —, der „Garaus gemacht”. Dem Kapi-
tän eines Schiffs find wol ſehr umfaſſende Gerechtfame
eingeräumt, um das Leben der ihm unterftellten Mannſchaft
und bie Sicherheit des Schiffs und der Ladung zu ſchützen
und zu wahren; allein bafür liegt ihm hie Verpflichtung
od, diefe Gerechtfame nur im Geifte ver Humanität und
Tödtung eines Matrofen auf hoher See. 991
als rechtlich ventender Menfch zu gebrauchen. Im vor»
liegenden alle ift mit Vorbebacht und nach reiflicher
Ueberlegung ver Entfchluß gefaßt worden, dem armen
farbigen Matrofen das Leben zu nehmen. Jede Beru-
fung auf erlaubte und gebotene Nothwehr entfällt im Hin-
blie auf den hülfloſen Zuftand, in welchem ver Malaie
auf Ded gebracht wurde und in welchem derſelbe bereits
vollftändig unfähig gemacht worden war, Schaden zu ftiften.
Die Nothwendigkeit, Haffein zu töbten, um das Leben
oder bie Sicherheit ver Mannfchaft ober des Schiffs zu
Ihügen, habe nicht vorgelegen, es qualificire fich bie
That deshalb als vorbedachter Mord, und in biefem
Sinne erhebe er die Anklage.
Das Zeugenverhör bemegt fich in benfelben Bahnen
wie vor dem Polizeigericht, und die vorgerufenen Seeleute
geben gleichlautende Ausfagen ab.
Das Logbuch des Schiffs wird zur Verlefung gebracht
und den Gefchworenen zur Einfichtnahme unterbreitet.
Dir. Besley, per Vertheidiger des Hauptangeflagten,
Kapitän Code, hebt zumächft hervor, daß die Bemannung
bes Schiffs zwei qualvolle Monate hindurch von Haffein
im Zuſtande der Angft und der Beunrubigung gehalten
worden ift, da er mehrfach gebroht babe, zunor jemand
umzubringen und dann befriedigt zu fterben. Die See-
leute fürchteten fh Dann für Dann in die Takelage zu
fteigen aus Angit, baß fie, wenn fie fich herabließen,
hinterrüds von dem Malaien mit dem Meffer angegriffen
und geftochen würden. inige Zeit lang konnte auf dem
Schiffe gar nicht mehr gelocht werben, denn bie Kohlen
des Vorraths in der Küche waren aufgebraucht und keiner
wagte es Feuerungsmaterial zu Holen. ‘Der getöbtete
Matroſe fei niemals fchlecht behandelt worden, man habe
ihn aber, trotzdem ihm erklärt worden war, es folle ihm
222 Töodtung eines Matrofen auf hoher See.
alles verziehen fein, wenn er zu feiner Pflicht zurückkehre,
mit der Brechftange an die Schiffewänbe fchlagen hören,
fodaß die Befürchtung entftehen mußte, er würde ein Led
verurfachen. Er hatte feine Gewänber getheert und man
nahm an, daß er im Befige von Zünphölzchen wäre umb
alfo das Schiff in Flammen ſetzen könnte. Er wurbe
wiederholt aufgefordert, auf Ded zu kommen und feine
Waffen abzultefern, wogegen ihm volle Straflofigfeit zu-
gefichert wurde — er aber weigerte fich confequent dies
zu thun. Nur einmal kam er unvermuthet mit bem
Küchenmeffer in der Hand auf Ded, offenbar in ver
Abſicht, ein Unglück anzurichten, vielleicht fogar einen
Menſchen zu tödten. Das Schiff felbit war wol aus
Eiſen erbaut, allein bereitS 30 Jahre alt, und die Platten
nur 5%, Zoll did, ſodaß die Möglichkeit gegeben war,
durch Schläge mit einer Brechftange einige Vernietungen
einzuftoßen. Infolge davon wäre die Losläfung einer
Platte unausbleiblich eingetreten und das Schiff dem
Untergange nahe geführt worden. Da der Malaie es
verftanden hatte, ſich der Eijenfeffeln bis auf die Bein⸗
fchelfen zu entledigen, und die Befürchtung gegründet er-
fchien, daß er einen ober mehrere der Bemannung er-
morden oder Teuer anlegen wiürbe, fo gelangte bie
geſammte Schiffsmannfchaft zu dem einhelligen Beſchluſſe,
daß der Mann um ihrer und des Schiffs Sicherheit
willen erjchoffen werben müſſe. Uebrigens ift auch bes
fannt, daß unter einem Theile ver Malaien ver Glaube
verbreitet ift, baß fie, wenn fie vor ihrem eigenen Tode
einen Menjchen anderer Religion töbteten, ein verbienft-
liches, gottgefälliges Werl verüben und gerabeswegs in
das Paradies eingeben. Es tft jehr möglich, daß Haffein
ein Anhänger dieſes Glaubens war. Während ungefähr
dreier Wochen gab es Feine wirkliche Nachtruhe an Bord
Tödtung eines Matrofen auf hoher See. 223
ber Lady Douglas, die Mannfchaft wagte e8, aus Furcht
vor ihm, nicht fi) dem ungeftörten Genuß des Schlafs
hinzugeben. Cinftimmig erklärten alle, e8 ſei die Pflicht
bes Kapitäns, dem Ruheſtdrer zu befeitigen, ihn zu töbten.
Trotz aller Vorkommniſſe tft Haffein bis zuletzt fortwährend
mit der größten Milde und Langmuth behandelt, und
niemal® und bei Teiner Gelegenheit mishandelt ober gar
gepeinigt worden. Sowie übrigens das Schiff europäifchen
Boden berührte, und dies geſchah zunächſt in Havre, er-
ftattete der Kapitän ſofort dem Conful Bericht, ſodaß
deſſen Meldung früher in London einlief als die Barke
ſelbſt.
Mr. Besley richtete an die Geſchworenen die Bitte,
ſich zu vergegenwärtigen, in welchem Zuſtande ver Auf-
regung und der Furcht ſich die geſammte Mannſchaft des
Schiffs wegen des Gebarens des gerichteten Mannes be⸗
funden hatte, und zu erwägen, mit welchen Schwierigkeiten
ſowol das Commando als die Leitung der Schiffahrt ver⸗
bunden war. Er behauptete, daß ſein Client ſowie die
geſammte Bemannung im guten Glauben, ſich im Zu⸗
ſtande gerechter Nothwehr zu befinden, gehandelt hätten,
und daß nach ihrer einhelligen Ueberzeugung die Siche⸗
rung ihres eigenen Lebens und des Schiffes den Tod
Haſſein's erforderlich machte. Die Umſtände hatten daher
den Beſchluß, ihn zu tödten, zur unumſtößlichen Noth⸗
wendigkeit erhoben, und alle Straffälligkeit hat zu ent⸗
fallen. Es iſt auch unmöglich geweſen, wie es ber Ka⸗
pitän urſprünglich beabſichtigte, in einem der Häfen der
Azoren anzulegen, da widrige Winde ihn daran verhin⸗
derten. Der Vertheidiger beantragt ſomit, da jeder böſe
Vorſatz mangelt und das Vorgehen des Kapitäns ſich
als durch die Nothwendigkeit gerechtfertigt herausſtellt,
die Freiſprechung ſeines Clienten.
224 Tddtung eines Matrofen auf hoher See.
Mr. H. Avory, für den Unterftenermam Gleaves,
betont gleichfalls vie bona fides aller Betheiligten, daß
die geſammte Schiffemannfchaft Haffein verurtbeilt und
gerichtet habe, und gelangt zum gleichen Schluß wie jein
Borrebner: die Tödtung fei ein Act der Nothwehr ge-
wejen und müſſe ftraffrei bleiben. Zum Beweije, daß
fein Client feine feinpfelige Gefinnung gegen Haſſein begte,
hebt er hervor, daß leaves ſelbſt es gewefen jet, ber
ben Malaien bei einer frühern Gelegenheit erfaßt, gerade
da er auf dem Punkte ftand, über Bord zu [pringen, und
ihm jo das Leben gerettet habe.
Mr. Geoghegan, für den Oberftenermann Evans,
begründet die Behauptung, daß Haffein als Meuterer zu
betrachten war, und daß man mit ihm eben als mit
einem Menterer zu verfahren gezwungen war. „Die
Wichtigkeit der Enticheivung dieſes Falles ift eine überaus
große und weitreichende, darin ftimme ich mit dem Ans
fäger überein, denn die Rapitäne der Schiffe erben
künftig ihr Verhalten gegen Meuterer danach einrichten
müffen. Es würde ein verhängnißvoller Tag für bie
Mannszucht auf allen Kauffahrteifchiffen werden, wenn,
was ich nicht annehmen mag und kann, die Gejchworenen
ein verurthetlendes Verdict fällen follten. Sie würden
damit bie Autorität des Kapitäns, bie immer für unan-
taftbar erachtet wurbe, auf allen nicht ber Kriegsmarine
angehörigen Schiffen für alle Zeit untergraben.” Der
Vertheidiger ſucht ſodann nachzuweiien, daß dem Haſſein
gegenüber alle Mittel der Nachficht und Geduld gründlich
erſchöpft wurden, ehe man dazu fchritt, ihn zu richten,
und bebt hervor, daß insbeſondere fein Client ſchuldlos
jet, denn er habe nachdrücklich, wenn auch leiber vergeb-
ih, vor der Anwerbung der Malaien, deren beim-
tüdifchen, unzuverläffigen Charakter er aus Erfahrung
Tödtung eines Matrofen auf hoher See. 9225
fannte, gewarnt. Gegen ibn ſelbſt fei in Gascoigne von
einem Malaien ein Morbverfuch unternommen worben,
und doch habe Evans perfänlich Haffein, bei einem Selbft-
morbverfuh, ben diefer geplant, zurüdgehalten. “Die
Tödtung Haſſein's aber in dem Stabium, ba fie erfolgte,
babe er als einen Act gebotener Selbiterhaltung und
darum als eine berechtigte Handlung ver Nothwehr ans
jehen müſſen, und es ift in ber That auch eine folche
geweſen.
Mr. Grain für den Matroſen Webſter macht gel⸗
tend, daß fein Client gemäß dem Befehle feines Vorge⸗
ſetzten handelte, eine Weigerung ſeinerſeits wäre ein Act
der Auflehnung, alſo der Meuterei geweſen, ihn träfe
daher ſelbſt dann keine Verantwortlichkeit, wenn kein Fall
erlaubter Nothwehr zum Schutze des Lebens der Mann⸗
ſchaft und der Sicherheit des Schiffs vorgelegen hätte.
Das Refume des Vorſitzenden, bes Richters Stephen,
war Außerft forgfältig und eingehend gehalten. Nach
einigen einleitenden Bemerkungen bittet er die Geſchwo⸗
renen, es ganz unbeachtet zu laffen, ob und inwiefern
ihr Urtheilefprud von weittragender Bebeutung werben
könne. „Sie haben ſich nur mit der Schulpfrage in con-
creto zu bejhäftigen. Wenn Ihnen ganz zweifellos er-
wieſen fcheint, daß bie Angeflagten fämmtlich, over ein-
zelne von ihnen, bes Verbrechens ſchuldig find, um beffent-
willen fie angellagt worden find, fo ift e8 bie Pflicht ver
Gefchworenen, bie Verurtbeilung auszufprechen, unbeirrt
ven dem Ihnen von der Vertheivigung des Evans borge-
baltenen Schredbilde der Zerrüttung der Mannszucht
auf den Kauffahrteifchiffen, unbeirrt von allen möglichen
oder vorgefpiegelten Folgen. Nur wenn Ihnen ein Zweifel
an ber fubjectiven Schuld der Angeklagten bleibt, dann
XXI. 15
226 Tödtung eines Matrofen auf hoher See.
mögen Sie mit einem Freifpruche vorgehen. Was mid,
den Richter, felbft anbelangt, fo kann ich foldhe Zweifel
nicht fir begründet erachten, denn bie thatjächlichen Um—
jtände, auf welche die Anklage fich ftügt, find durchweg
erwieſen, ſowol durch die in allen wejentlichen Punkten
übereinftimmenben Zeugenausjagen, als burch bie von
pen Angeflagten eigenhändig gefchriebenen unb gefertigten
Eintragungen in das Logbuch des Schiffs, welches im
Laufe des Verfahrens den Geſchworenen zur Einficht vor-
gelegt worben ift. Die principielle Frage, welche Sie,
meine Herren Gefchworenen, zu erwägen und zu ent
ſcheiden berufen find, ift nicht bie, auf welche Weife bie
Mannszucht auf den Schiffen der Handelsflotte erhalten
werben foll, fondern ob, außer in ven Fällen, bie das
Geſetz ausdrücklich normirt, es erlaubt fein kann, bas
Leben eines Mitmenjchen mit Vorbedacht zu nehmen.
Dur Ihre Billigung würde die gefährliche und abſcheu⸗
liche Doctrin beftätigt, daß, ſobald ein Menſch feinen
. Nebenmenjchen läſtig fällt, diefe, um dieſes Umftants
willen, berechtigt fein follen, ihn zu tödten. Alſo nicht
etwa aus zwingender Nothivendigfeit, fondern weil es
ihnen pafjenb und nützlich erfcheint! Die Vereinbarung,
welche die Mannjchaft in dem vorliegenden Falle getroffen
bat, barf auf Ihre Entſcheidung über die Strafbarkeit
ber Angeklagten feinen Einfluß üben. Diefe Vereinbarung
war fein vechtögültiger Gerichtsbeſchluß, es war einfach
ein organifirter Mordplan. Ich kann es nimmermehr als
zuläſſig anfehen und erflären, daß ver Befehlshaber, bie
Offiziere und die Mannfchaft eines Schiffs in ein Eon-
elave zufammentreten und bejtimmen bürfen, einer von
ihnen, ber ihnen Täftig fällt, folle erfchoffen werben, ohne
baß ber Angeflagte vernommen ober gehört, geſchweige
vertheibigt worden tft. Es iſt überbies noch ein er-
Tödtung eines Matrofen auf hoher See. 227
ſchwerender Umftand, daß diefe Berathung und Beichluß-
faffung ohne Vorwilfen des Opfers jtattgefunben hat,
Sie trägt aus diefem Grunde nicht den Charakter eines
Gerichtöverfahrens an fih. Ein folder Vorgang ift un⸗
erbört und an fich verdammenswerth. Die Vertheibigung
bat wohl daran gethan, hervorzuheben, der Fall fei von
principieller Bedeutung und das Urtbeil werbe künftig
Kapitänen und Mannichaften zur Nichtfehnur dienen.
Das wird e8 hoffentlich, nur tft die Argumentation ber
Bertheibigung nicht zutreffend. Wichtig iſt der Fall, weil
ed fih um ben Schuß des Mlenfchenlebend handelt, und
die Jury wird e8 wol bebenfen, daß fie nicht durch ihren
Wahrſpruch befangene, ängftliche Gemüther ermuntert,
jchwierige Verhältniſſe in brutaler Weiſe dadurch auszu⸗
gleichen, daß ſie zur Abwendung peinlicher Situationen
gewiſſenlos Menſchenleben vernichten.“
Der Richter erörtert ſodann den Begriff erlaubter
Nothwehr und definirt ihn dahin, daß eine Tödtung aus
Nothwehr nur dann geftattet iſt, wenn ein Mann in ber
Vertheidigung bed eigenen Lebens over des Lebens anderer
Perſonen gegen ungefeßliche Vergewaltigung bieje ab⸗
wehrt, jedoch auch nur dann, wenn er hierzu alle andern
Mittel erichöpft hat und dem ‘Drange der Nothwendigkeit
nachgibt, welche Teinen andern Ausweg zuläßt, und wenn
ed nur gejchieht, um wirklich die Abwehr des angebrohten
Mebel8 zu bewirken. Die Gejchworenen mögen nun er-
wägen, ob ber Kapitän ober die Mitglieder der Beman⸗
nung, thatfächlich in Gefahr für Leib und Leben gefchwebt
haben, als fie Haffein töbteten, ob fie auch nur einen
zureichenden Grund hatten zu bem Glauben, daß ihr
Leben bedroht fei. Der Richter hebt Hierbei hervor, daß
der Malaie niemals einen ernitlichen Verfuch gemacht
15*
228 Tödtung eines Matrofen auf hoher See.
habe, einen Mann aus der Schiffemannfchaft zu ermorben,
baß er auch nie in bie Lage gelommen ift, dieſes Vor⸗
haben auszuführen, außer etwa in jener Nacht, da er
fich in die Kajüte und an das Lager des fchlafenden Ka⸗
pitäns ſchlich. Er bat aber damals nur die Schulter Des
Schlafenden berührt,. ihn dadurch aufgewedt unb fich,
als er angerufen wurde, ohne einen Gewaltact zu ver⸗
ſuchen aus ver Kajüte geflüchtet, und dann über Bord
Ipringen wollen. Die bloße Angft ver Schiffemannjchaft,
baß der Malaie einen unter ihnen bejchäbigen könnte,
verleiht ihnen doch nicht das Recht, dem Matroſen das
Leben zu nehmen! Auch die angebliche Banique, oder das
durch das Benehmen des Malaien zweifellos hervorge⸗
rufene Unbehagen vermag ein folches gewaltſames Vor⸗
geben nicht zu rechtfertigen. Um ben Zujtand ber er-
laubten Nothwehr herzuftellen, müßte erwiefen fein, baß
bie Bebrohten fich in augenbliclicher und fonft unabwend⸗
barer Gefahr für Leib und Leben befunden hätten.
Der Richter unterzieht das vorgeführte Beweismaterial
einer eingehenden Erörterung und betont wiederholt, daß
er feine eminente Gefahr ober bie Nothwendigkeit erſehen
könnte, welche die Tödtung des malaiiſchen Matrojen er-
fordert hätte. Der Nachweis dieſes Umftands mangele
ganz und gar. Der Schiffsmannſchaft habe eine ganze
Reihe von Möglichkeiten zu Gebote geftanden, ven Dann
unfchäblich zu machen. Warum verjuchten fie, deren
Uebermacht doch fo außer allem Verhältniffe ſtand, nicht
ernftlich, ihn Iebend zu überwältigen? Sie hätten es
fiher vermodt. Allein in ihrer feigen Furcht vor dem
einzelnen Manne zogen fie e8 vor, ihn umzubringen,
weil ihnen dies leichter, gefahrlofer und bequemer jchien.
Solches Vorgehen aber „erlaubte Nothiwehr‘ nennen zu
wollen, wiberfpriht dem gefunden Menſchenverſtande,
Tödtung eines Matrofen auf bober See. 229
fpricht allen Grundjägen ver Humanität Hohn, und über-
fchreitet weitaus bie von dem Geſetze gezogene Grenze.
Nah der Auffaffung des Nichters ift das Erſchießen
bed wehrlojen Menſchen ein vorbedachter Mord, deſſen
Verantwortung nicht nur auf den unmittelbaren Thäter,
ſondern im gleichen Grade auch auf jene fällt, welche
diefe That angeordnet haben. Site alle haben fie zu
tragen. Freilich hat die Vertheibigung auch hervorgehoben,
ver letzte Schuß, welcher Haffein das Leben nahm, fei
eigentlich ein Act des Erbarmens, eine Art non Gnaden-
ftoß gewefen, um ihn von feinen Qualen zu befreien.
Allein abgefehen davon, daß diefe Behauptung ihrer Natur
nach nicht bewiejen worden tft, erfennt das Geſetz dieſes
Borgeben nicht an, es qualificirt e8 vielmehr als vorbedach⸗
ter Mord. Die Gefahr, welche aus einer andern Auffaffung
entipringen würte, ift zu einleuchtend, als daß es noth-
wendig wäre, dies noch beſonders zu begründen. Es iſt
und bleibt eine unumftößliche, alfjeitig anerkannte Rechts⸗
regel, daß die Tödtung eines Menjchen unter folchem
Vorwande eine verwerfliche Hanblung ift, und dieſe
Rechtsanſchauung muß aufrecht erhalten werden, um bas
Menfchenleben zu jchügen. Für dieſen legten Schuß it
abjolut feine Nechtfertigung möglih und zuläſſig. Es
ift fein Beweis geführt worten, daß der Getödtete wirf-
lich das Leben der Schiffsmannjchaft oder die Sicherheit
des Schiffs ernſtlich bedroht und gefährdet Hätte, nur
Befürchtungen, die in der aufgeregten Phantafie der
Schiffsmannſchaft zu Schredbildern fich geftalteten, find
nachgewiejen worden. Schon ber zweite Schuß auf Hafjein
war ein Act ber Feigheit, eine Grauſamkeit und eine
meuchlerifche Handlung, denn der Malaie lag bereits ers
ihöpft und wehrlos auf die Kohlen des Vorderraums
bingeftredt. Als man den armen Menjchen, der nun gar
230 Töbtung eines Matrofen auf hoher See.
feinen Widerſtand mehr leiften Tonnte, auf Ded gehißt
hatte, ſchoß man ihm eine Kugel duch das Hirn — um
ihn von feinen Leiden zu befreien! Das Geſetz bezeichnet
eine ſolche That ganz zweifellos als vorbedachten Mord,
nicht als einen Act der Nothwehr, die zur Selbiterbal-
tung geftattet ift. Die Frage, welche die Gefchivorenen
demgemäß zu enticheiven haben, beichränft fich darauf, ob
bie Hanblung mit ober ohne Vorbedacht gefchehen, ob fie
entſchuldbar ift oder nicht, ob dieſelbe qualificirter Mord
ober Vieberjchreitung geſetzlich erlaubter Nothwehr ift.
Die Jury war nach kam einftündiger Berathung einig.
Ihr Vormann verfündete das Urtbeil. Es lautete für
alle Angeklagte: „Schuldig bes vorbebachten Mordes.“
Diefem Verbict feßte der Obmann hinzu: „Zugleich find
wir aber übereingelommen, vie Angeflagten der Gnade
bes Richters zu empfehlen, da wir zu ber Meberzeugung
gelangten, daß biefelben in Unkenntniß und Misverftand
bes Geſetzes gehandelt haben. Wir Bitten daher, Ew.
Lordichaft möchte in Ihrer Weisheit und Milde biejer
Empfehlung Rechnung tragen.“ |
Die Angeklagten, befragt ob fie etwas vorzubringen
wüßten, weshalb die Tobesitrafe nicht über fie verhängt
werben folle, wieberholten insgeſammt, daß fie fich nicht
ſchuldig fühlten.
Der Richter Stephen bebedte fein Haupt mit ver
Ichwarzen Kappe und wandte fich in einer kurzen Rebe
an die Angeklagten. Er fagte:
„Die Jury Bat den Urtheilsipruch gefällt, welcher ver
Gerechtigkeit entfpricht, nämlich, daß ein jeder von Ihnen
bes vorbedachten Mordes ſchuldig tft. Die Gefchworenen
haben an dieſes Urtheil eine warme Empfehlung zum
Zwede Ihrer Begnadigung gefnüpft, und haben fie damit
begründet, daß fie annahmen, Sie hätten in Unkenntniß
Tödtung eines Matrofen auf hbober See. 231
und in misverftänblicher Auffaffung des Geſetzes ben
Mord verübt. Ich werde dieſe Empfehlung an die Stufen
bes Thrones leiten und ed wird bem Ermefjen einer
höhern, gnadenreichen Stelle anheimgegeben fein, verjelben
Folge zu leiten. Es ift nicht meine Aufgabe, Ihnen
jest noch bier Dinge zu fagen, welche Ihre Bein ver⸗
größern müßten, ich will Ihnen feine nutlofe Dual vers
urfachen; allein ich Farın nicht umhin, es auszujprechen,
dag Sie einen großen Mangel menichlichen Mitgefühle
und männlichen Muths an ven Tag gelegt haben, einen
weit größern Mangel, als font bei britifchen Seeleuten
vorausgefegt und gefunden zu werben pflegt, einen Mangel,
den ich tief beflage und bedauere. Es ift nicht meines
Amts zu erörtern, zu welcher Anfchauung fich Ihre Ma⸗
jeftät anläßlich des Ihr vorzulegenden Gnadengeſuchs zu-
neigen wird. Meine Aufgabe geht nur dahin, dem Gejeß
gemäß und von Rechts wegen das Urtbeil zu fällen.”
Sodann ſprach der Richter in ber gewöhnlichen Form
das Todesurtheil über fämmtliche vier Angeklagte aus.
Trotz der großen Ehrfurcht, welche die Engländer ihren
Richtern entgegenbringen, und vielleicht gerade infolge
ihres weitgehenven Rechtsgefühls, artet ihr Reſpect vor
bem Wichterfpruche nicht in blinde Unterwerfung aus.
Wenn ein Urtheil den Anfchauungen größerer Kreife
widerfpricht, wenn es eingewurzelten Anfichten entgegen»
tritt, oder fonftwie die Intereffen ver Mitbürger berührt,
fo iſt diefer Nichterfpruch der fchonungslofeften Kritik in
ber Preffe, und der Discuffion in den Vereinsverſamm⸗
lungen ausgefegt.
Der foeben gefchilverte Fall griff aber durch feine
principielle Bedeutung für die Handhabung der Manns⸗
232 Tödtung eines Matrofen auf hoher See.
zucht auf hoher See tief in das für maritime Ange-
legenheiten ſehr empfinbliche öffentliche Bewußtſein. Die
Sache der Theerjade ift die Sade Englands Das
niederſchmetternde Todesurtheil erregte daher bei ben be-
theiligten Gefellfchaftsfreifen gewaltiges Aufjehen. Sofert
nach der Belanntgabe des Verdicts lud darum ber Bor-
ſtand ver „Vereinigten Gejellfchaften zum Schuße britifcher
Seeleute’ alle verwandten Bereine zu einer gemeinfamen
Verfammlung ein, die am 4. Yuli abends in ber Roß—
Taverne nächſt Old-Bailey in London abgehalten wurte.
Der Präſident der einberufenden Gefellichaft, Schiffe-
fapitän T. ©. Lemon, führte den Vorſitz und eröffnete
die Berathung mit einer ausführlichen Darlegung des
Sachverhalts und der Mittheilung des Todesurtheils,
welches über Cocks, Gleaves, Evans und Webiter wegen
Ermordung eines malaiischen Matrojen auf hoher See
erlaffen wurde. Seine Darftellung verweilte befonders
lange bei den ganz ungewöhnlichen Schwierigfeiten, welche
bem Kapitän und ber Mannfchaft der Lady Douglas
durch das Gebaren Haffein’8 erwachfen waren. Wohl gab
er freimüthig feinem Bedauern Ausprud, daß es ihnen
nicht gelingen wollte, diefe Schwierigfeiten in einer männ-
lichern und würdigern Weile zu befiegen; aber zugleich
bob er die fchwere Verantwortlichkeit hervor, welche ver
Kapitän eines Schiffs zu tragen hat, der dazu berufen
ift, das Leben ver ihm unterftellten Mannſchaft und das
ihm anvertraute Gut gegen Alle und Alles zu befchügen,
ſowie bie Nothwendigkeit, bie ihn zwingt, ftrenge Dtanne-
zucht zu Halten. Die Schlußfolgerungen feiner Rede
gingen dahin, die Auffaffung, welche die That ale vor-
bedachten Mord gualificirt habe, zu verwerfen. Er er-
fennt in der fraglichen Handlung nur einen Todtſchlag,
und zwar, in Berüdfichtigung ber gegebenen Umſtände,
Tödtung eines Matrofen auf hoher See. 233
einen entſchuldbaren, weil nothwendigen Todtſchlag. Seiner
Anficht nach würde daher eine Freiheitsftrafe, und fogar
eine Freiheitöftrafe von kurzer Dauer genügen, eine Hand⸗
lung zu fühnen, bie unter den gegebenen Verhältniſſen
getban werben mußte. Cine folche Strafe würde ficher-
lich zur Folge haben, daß jene, die mit gleicher Gewalt
ausgerüftet find, in Zukunft mit größerer Umficht ver-
fahren würben, und fie veranlaffen, die ihnen zugetwiefene
Macht mit mehr Weisheit zu gebrauchen.
Schiffskapitän Roberts, in Vertretung des Rheders
und Eigenthümers der Lady Douglas, verlag den Ent-
wurf einer Bittfchrift, welche am felben Tage zu einer
frühern Stunde in einer Verfammlung des Fachvereins
der Rheder und Schiffseigenthümer bereit8 beſchloſſen
wurde, vermittel® welcher die Fönigliche Gnade für bie
Berurtheilten angerufen wird.
Mr. ©. Peters, Schriftführer ver Zuderarbeiter-
Verbindung, ſchlug einen Beſchluß vor, daß die Gejammt-
zahl der vertretenen Gejellfehaften und Vereine gegen das
Todesurtheil über die Angeklagten proteftiren follte: „weil
die Gerichtöverhandlung den Beweis geliefert habe, daß
der Malaie ald ein Wahnfinniger zu betrachten ſei, deſſen
Anwejenheit eine eminente Gefahr für die Mannichaft,
das Schiff und bie Labung war’, und in Anbetracht des
entjcheidenvden Umftande®, daß die That, wie auch bie
Geſchworenen anerkannt hätten, in gänzlicher Verfennung
und unrichtiger Auffaffung des Gejetes gefchehen, und in
dem guten Glauben, daß fie von ber Sachlage geboten
und gerechtfertigt werde, verübt worden ſei. Er bean-
tragt demgemäß, den Suftizminifter in einem Gefuche um
den Aufichub ver Vollſtreckung des Urtheils anzugehen
und die Königin in einer Bittfchrift um Begnadigung ber
Verurtheilten zu erjuchen.
234 Töðodtung eines Matrofen auf hoher See.
Schiffsfapitän Butler unterftüßte den Antrag und
erjtattet aus eigener Erfahrung Bericht über ben ver-
rätherifchen und vachfüchtigen Charakter ver Malaien.
Mr. Sohn Walton, Vertreter des Bezirks⸗Arbeiter⸗
vereins Batterſea, Schiffskapitän I. F. Keen und Mr.
T. M. Kelly, Vertreter der Flußarbeiter-Gejellfchaft,
iprechen fi im gleichen Sinne aus, während ein See
mann, Namens James Green, opponirte, indem er
hervorhob, daß der Malaie bereit8 im Vorderraume un⸗
ſchädlich gemacht, und daß er aljo Falten Blutes hinge⸗
morbet worden fei.
Die Reſolution wurde aber ungeachtet dieſes Ein-
ſpruchs mit überwältigender Majorität angenommen, die
Eingaben gemäß dem vorgelegten Entwurfe genehmigt
und bie einberufende Gejellfchaft beauftragt, ihr Prüs
ſidium al8 Deputation zum Juſtizminiſter zu entjenven.
Faſt umgehend nach Veberreichung biejer Eingabe ers
hielt der Schriftführer der „Vereinigten Gejellfchaften zum
Schuge britiicher Seeleute”, Mr. W. P. Lynn, nade
ſtehendes Schreiben:
„Whitehall, 6. Juli 1887.
Geehrter Herr! — Unter Bezugnahme auf Ihre Ein-
gabe in Sachen des James Cocks und dreier Conforten
bin ich von dem Yuftizminifter beauftragt, Ihnen mitzu-
theilen, daß er es ablehnen muß, Deputationen in ver
Angelegenheit eines abgejchloffenen Strafproceffes zu em-
pfangen. Zugleich bin ich ermächtigt, Ihnen zu eröffnen,
daß der Minifter wegen ber genannten Berurtbeilten
Ihrer Majeftät bereit8 Vortrag erftattet hat und fich zu
beantragen erlaubte, das Tobesurtheil im Gnadenwege
abzuändern und bie Buße in zeitliche Freiheitsftrafen zu
verwandeln, Gemäß biefem Antrage bat Ihre Majeftät
Tödtung eines Matrojen auf hoher See. 235
zu genehmigen geruht, daß Cocks zu fünfjährigem, Evans
und Gleaves zu je achtzehnmonatlichem Zuchthaufe und
J. W. Webfter zu einjährigem Kerker begnapigt werben
jollen.
Ich verbleibe, geehrter Herr, Ihr ergebenjter
Godfrey Luſhington.“
Kentucky · Vendetta.
(Blutrache in Amerika.)
18771887.
Es iſt fein Märlein aus alten Zeiten, von denen vie
Sage meldet, jondern eine Gefchichte vom allermobderniten
Zufchnitt. Die düftere Logik: „Aug’ um Auge, Zahn um
Zahn!” ift nicht erlofchen. Sie lebt nicht nur unter ven
heißblütigen Kindern des Südens, die an ber überlieferten
Pflicht der Sippe fefthalten, durch frifchvergoffene® Blut
ben gewaltfamen Tod bes Blutsverwandten gu rächen,
und daß jolche That wohlgefällig fei vor Gott und ben
Menſchen. Das ftolze Gebäude, das wir „bie Gejell-
haft” nennen, brödelt an allen Eden und Enden, warum
jollten wir erftaunen, daß für reife, bie „Europas
übertünchte Höflichkeit” nicht kennen, das gefetzmäßig ge-
orbniete Strafverfahren nicht erfunden tft, das Licht und
Schatten gleihmäßig vertbeilt und den Verbrecher nur
büßen läßt, je nach dem Grade feines Berjchuldens?...
Kentucky ift ein Land, das noch von einem roman:
tiihen Schimmer umkleidet zu fein fcheint. Noch find die
Ueberlieferungen des Hinterwäldlerthums nicht ganz ver-
Hungen, bie „ruhmvolle Vergangenheit ver Pionniere des
fernen Weſtens“ ift dort nicht in Vergeſſenheit gerathen.
Kentudy-Benbetta. 237
Dieje Traditionen ftehen aber unter dem Feldgeſchrei: „Jeder
für fih und Gott für uns alle” — Der unverweichlichte,
gefunde Sinn der von Selbftvertrauen gefchwellten Bürger
Kentuckys kann fich in die hausbackene Weife der Gerechtig-
feitöpflege mit ihren fteifen Formen und enplojen Ver.
ichleppungen nicht finden, ihr Unabhängigfeitsgefühl mag
fich ihnen nicht fügen. Ein jeder vertraut fich ſelbſt als
ben verläßlichiten Richter in eigener Sache, er findet
nicht nur das Recht, er weiß auch deſſen Erzwingung zu
fichern. Aus diefen Quellen fließt die Entftehungsgefchichte
zehnjähriger, Teidenfchaftlicher, biutiger Kämpfe. Das
legendenverflärte Troja ward nach ebenſo langem Ringen
zerftört, Morehead dagegen befteht und verfpricht blühen-
bes, neues Wachsthbum. Während jedoch der belpenhafte
Streit zur Wievererlangung einer entführten, jchönen
Frau Homer zu den unfterblichiten Geſängen begeifterte,
verbient ber Anlaß, der in Kentudy zu fo wilden Kämpfen
Anſtoß gab, der Diebftahl einiger fchnellfüßiger Roſſe,
wol nur die Erörterung in nüchterner Profa.
Im Jahre 1877 entſpann fich in dem noch dünn be-
pölferten, und darum wol auch von Richter Lunch unge-
bührlich beherrichten Staate Kentudy der Nordamerika⸗
nifchen Union eine Fehde zwifchen zwei in ber Grafichaft
Roman angefievelten Familien Underwood und Hol-
broof, die in ihren Folgen, obgleich fchon jeit Jahren
alfe männlichen Mitglieder biefer Familien eines gewalt-
famen Todes verblichen waren, erft nach einem vollen
Decennium, unb weiterm vielfachen Blutvergießen, ein
Ende finden follte. Dieje Fehde hat nachweisbar mehr
als dreißig Menfchenleben geloftet.
238 Kentucky⸗Vendetta.
Um eine abenteuerliche Perſonlichkeit hat ſich ver
Kampf urfprünglich entfponnen.
John Martin war feinem Gewerbe nach ein Roß—
dieb. Später fehlen er fich einem ehrlichen Lebenswandel
zuzuneigen, er wurde Landmann und z0g als Mietber
zu einem reichbegüterten Hinterwälbler, Dir. Underwood,
in deſſen Doppelblodhaus er eine Wohnung innehatte.
Eines Tages aber vermißte Squire Holbroof, ein Nach—
bar Underwood's, feine zwei fchönften und fchnelfften
Pferde. Sofort beſchuldigte er Martin, deſſen wohlbe
kannte Anteceventien ihn diefer Handlung verbächtig er
feinen laſſen mochten, die Roffe in Gemeinſchaft mit
dem Sohne Underwood's, Jeſſe, geftohlen zu haben.
Diefe Beſchuldigung, die ehrenrührigfte, die in Lentucky
wider einen Mann erhoben werben Tann, war ber Aus
gangspunft bes „zehnjährigen Krieges”. Der alte Far-
mer Underwood wies bie Verbächtigung als eine fchmäh-
liche und grundloſe heftig zurück unb verweigerte ben
geforderten Erfah. Holbroof verfammelte feine Freunde
um fi und hielt Kriegsrath. Das Ergebniß war das
Begehren auf Auslieferung des Martin. Das Verlangen,
ven Gaftfreund preiszugeben, wurbe von Underwood als
entehrend ſchnöde abgewiejen, und bie Veinpfeligleiten be-
gannen von Worten zu Thätlichkeiten fortzufchreiten.
Drei von Underwood's Söhnen, kräftige, energifche
Burſchen, von anerfanntem Muthe, die geradeswegs an⸗
zugreifen wol feiner gewagt hätte, wurden im Laufe bes
folgenden Jahres aus dem Hinterhalte feig erfchoffen.
Nur Holbrook's Partifane konnten die Thäter fein. Die
Unterwoods machten ihrerfeit8 Jagd auf dieſe, unb wo
fie eines derſelben anfichtig wurden, Inaliten fie ihn nieder.
Wie viele Menfchen in folcher Weife erjchoffen wurben,
iſt nie genau feftgeftellt worben. Keine Polizei und fein
Kentudy-VBenbetta. 239
Gericht Hat fich je um diefen „Familienzwiſt“ gekümmert.
„Ste jollen e8 unter fi ausmachen”, meinten gleich«
gültig die Nachbarn. Allein nad) und nach wurde doch
ber Zuftand „ungemüthlich”. Niemand wagte ſich mehr
unbewaffnet und unbegleitet aus dem Haufe, nicht einmal
in ber Stabt, geichweige in ben einzeln liegenden Nieder⸗
faffungen und Gehöften. Mit Schteßgewehren ausgerüftete
Männer zogen, zu Banden vereinigt, durch bie Graf-
ſchaft. Die natürliche Bodenbejchaffenheit, welche rauh,
felfig, und urwaldartig mit Jahrhunderte alten Stämmen
beftodt ift, erleichterte die Fortdauer biejer gejetlofen
Verhältniffe. Gefindel aller Art ftrömte zufammen. ‘Die
Zufammenftöße waren Häufig umd verliefen faft ftete
blutig.” Der Gouverneur von Kentudy mußte fich wohl
ober übel endlich entjchließen einzugreifen. Er entjendete
zu zwei verjchtevenen malen NRegierungsfolbaten, um bie
geftörte Ordnung wiederaufzurichten; allein beide male
vergeblid. Die Truppen kehrten unverrichteter Dinge
beim, fie waren nicht im Stande gewejen, bie bewaffneten
Guerrillabanden zu faffen, fie zogen ab, und ver „Krieg“
entbrannte aufs neue.
Underwoob’8 Doppelblockhaus, das im Volksmunde
allgemein das „Sort Underwood“ hieß, war das Centrum
der Angriffe feiner Widerſacher, die beftändig davor im
Hinterhalte lagen. Mehrmals wurde e8 förmlich belagert.
Im October des Jahres 1880 kam es vor demfelben zu
einem regelrechten Gefecht, bei welchem ver alte Farmer
Underwood angeſchoſſen und fchwer verwundet wurde,
während fein ältefter und damals bereit einziger Sohn
Jeſſe todt auf dem Plage blieb. Es gelang feinem Vater
nur mit Lebensgefahr, die Leiche in das Blockhaus zu
retten. Bier bange Tage lang ſchien Ruhe zu fein. Der
Leichnam des Getöbteten warb von ben Frauen ber
240 Kentudy-Bendetta.
Familie bewacht, der greife Hinterwälbler erholte fich
langfam. Da erichienen plöglich eine Anzahl masfirter
Gefellen vor dem Blockhauſe und begehrten Einlaf. Troß
jeiner fchweren Wunden ergriff der alte Underwood das
erprobte Gewehr, richtete fich zu feiner vollen Höhe auf
und ſchwur, er werbe fein Leben theuer verlanfen. Er
wollte bie Feindfeligleiten wieder beginnen, aber feine
Frau und Tochter baten ihn unter Thränen, zuvor bie
Leute anzuhören, und beftimmten ihn jchließlich,, ihre Bor:
ſchläge zu vernehmen und in Vleberlegung zu ziehen. Nach
längerm Zaubern bequemte er fich endlich, die Unterhanv-
lungen zu eröffnen. Die außerhalb des Haufes ſtehenden
Männer fagten:
„Es verlautet, Jeſſe jei tobt, gebt uns beftimmte Aus-
funft, ob dies wahr tft, und laßt uns feinen Leichnam
ſehen. Wenn er wirklich feinen Wunden erlegen ift, jo
ſoll unſere Rache befriedigt fein, und bie Fehde ift zu
Ende.”
Der alte Underwood, ver fich außer Stande fühlte,
ven Kampf allein fortzufegen, lieferte, im Vertrauen auf
diefe ausdrückliche Zuficherung, den maskirten Männern
durch das Fenfter die Schußwaffen aus, die er noch im
Haufe hatte, und hieß fie eintreten. Als fie durch bie
Thür hereinfamen, faß der ſchwer verwundete Greis neben
dem Bett, auf dem fein todter Sohn ausgeftredt lag,
und ein Heines Mäpchen ftand ar feiner Seite. Eie
hatte die Hand auf fein Knie gelegt und ftarrte bie frem-
den, vermummten Geftalten mit trogigen, glutvoll ver:
wegenen Bliden an. Die eingebrungenen Männer ver:
ftelften die Stimmen, um unerfannt zu bleiben. Nichts-
beftoweniger erfannte Underwood einen berfelben und rief
ihm vorjchnell feinen Namen zu. Mit einem gottesläfter-
lichen Fluche erhob ver entlarute Echurfe fein Gewehr
Kentudy-Bendetta. 24l
und jagte beive Kugeln des Doppellaufs in bes alten
Mannes Leib. Ohne einen Laut von fich zu geben, ſank
biefer vornüber in die Arme des auffchreienden Kindes
und verſchied. Die Mörder verließen unter lauten
Zriumphgebeul das Haus, wo ihre blutenden Opfer lagen,
und verfchwanben. Welch unauslöſchlicher Einbrud mußte
im Gemüth der Heinen Suſanna zurüdbleiben!...
Die Belagerung des „Fort Underwood“ war aufge-
hoben — freilich erft nach dem Tode feines letzten Ver⸗
theibiger8, die Feinbjeligfeiten waren zunächft zu Ende.
Die weiblichen Mitglieder der Familie Underwood ver-
ließen unter dem Schutze Martin’s und in Begleitung
feiner Kleinen Schwefter, jener Zeugin der Morbthat, vie
unmittelbare Nachbarfchaft.
Die Fehde war erlofchen, vie Ruhe fehrte zurüd.
John Martin hielt treu zu den Verwaiften. Um ihnen
ſowol wie ſich felbjt amsreichenden Lebensunterhalt zu
verjchaffen, griff er, ohne die nach den Geſetzen ber Ver⸗
einigten Staaten Nordamerikas vorgefchriebene Conceſſion
zu befigen, ober auch nur nachgefucht zu haben, zu dem,
wie es fcheint, recht einträglichen Gewerbe eines unbefugten
Branntweindrenners. Es gelang ihm, fich damit etwas
Vermögen zu erwerben. Im Anfang des Jahres 1884,
fehrte er als wohlhabender Dann in bie Grafichaft
Rowan zurüd. Die Wogen ber politifchen Parteifämpfe
gingen hoch. Martin begann fich ar ben politifchen Be⸗
wegungen zu betheiligen. Im Monat Auguft des bezeich-
neten Jahres kam es anläßlich einer beftrittenen Wahl
zu einer ernftlichen Schlägerei. Im Laufe derjelben wurde
ein gewiffer Bradley, ein enragirter Demokrat, erfchoffen.
Man befchufpigte mehrfeitig Martin, er fei es geweſen,
der Bradley getödtet babe. Allein die Gerichte blieben
XXII. 16
242 Kentudy-Benbetta,
unbeglanbigt, wenigftend wurbe feine gerichtliche Unter:
ſuchung eingeleitet.
Im December 1884 kam Floyd Tolliver, ein be
mofratifher Parteifreund, nach Morehead. Dies tft ver
Name des Hauptorts der Grafichaft Rowan, ein Stäbtchen
von etwa 500 Einwohnern, an der Chefapeafe- und Ohio⸗
Eifenbahn, Faum 160 englifche Meeilen von Louisville ent:
fernt, gelegen. ‘Dort ftieß er mit Martin zufammen.
Sie erhigten fi anläßlich eines politiſchen Streites.
Beide zogen ihre Revolver, jedoch Martin war bebenter
als fein Widerſacher, er feuerte zuerft, und Floyd Zol-
liver ſank tödlich getroffen zufammen, während fein Schuß
ungefährlich in der Luft verpuffte. Alle Zeugen des Vor:
ganges ftimmten überein, daß Martin dieſen Schuß zu
feiner Selbftvertheibigung abgegeben, und baß Zolliver
nur den Lohn erhalten habe, den er verbiente. Dennoch
wurde Martin, vielleicht um ihn vor Lynchjuſtiz zu ſchützen,
ergriffen und verhaftet.
Diefer Schuß entzündete die unter ber Aſche fort:
glimmenden Reſte der ehemaligen Feuersbrunſt zu neuen
Ilammen.
Die ganze Stadt ergriff Partei. Ein Bruder des
getödteten Floyd Tolliver, Craig Tolliver, erflärte fich
als deſſen Bluträcher und bildete eine Bande, die Martin
aus dem Kerker holen und lynchen follte.
Man Hatte Martin, um ihn vor Attentaten zu be-
wahren, von Morehead fort in die Grafichaft Clark ge-
ſchafft. Da erfchienen bei bem Kerlermeiiter des Graf-
ichaftsgefängniffes eine Anzahl Poliziften und präfentirten
einen regelrechten Auslieferungsbefehl, worin ausgefprochen
war, Martin ſei auch dort vor den Nachftellungen ver
Bande Tolliver’s nicht genügend gefichert und folle daher
weiter, in die Haupiſtadt bes Staats Kentucky, nad
Kentudy-Benbetta. 243
Louisville, gebracht werden. Mean überantwortete ben
Poliziſten anftandslos die Perfon des Gefangenen. Sie
legten dieſem Handfchellen an und brachten ihn zur Eifen-
bahn, um ihn an feinen Beftimmungsort zu geleiten.
Die Eifenbahn von Clark nach Louisville führt über
Morehead. Sieben englifche Meilen von biefer Stadt,
an einer Halteftelle nächſt einer Farm, woſelbſt fich bie
Bande verborgen gehalten hatte, überfielen die Anhänger
Zolliver’8 nach Art der Räuber den Eifenbahnzug und
drangen in den Waggon, in welchem ber gefefjelte Martin
fih befand. Die Angreifer eröffneten ein lebhaftes Ge⸗
wehrfeuer auf die angeblichen Poliziften, welche ben Ge⸗
fangenen escortirten. Als aber der Pulverrauch fich ver⸗
309, ftellte fich heraus, daß, außer dem Gefangenen,
niemand verlegt worden war. Martin war von ben Pro⸗
jectilen buchftäblich durchlöchert und jelbftverjtänblich tobt.
Der Auslieferungsbefehl war eben nur eine kühne Fäl⸗
ſchung geweien und unternommen, um Martin ficher und
gefahrlos in die Gewalt feiner Feinde zu bringen. Craig
ZTolliver triumphirte. Er Hatte feinen Bruder gerächt.
Allein eine neue Serie von Mordthaten war damit er-
öffnet worden, ein Kampf warb angefacht, jo heiß, fo
erbittert und verberblic wie jener, welcher bie Under⸗
woods und Holbrooks ausgerottet und gleichfam, wie
durch ein Verbängniß, um deſſelben Mannes, um Mar-
tin's willen.
Sue Martin, die Schwefter des Gemorbeten, war
zur Jungfrau berangereift. Sie Hatte es nicht vergeffen,
wie der alte Underwood in ihren Armen fterbenb zu-
ſammenbrach, fie erkannte in ven Mörbern ihres Bruders
ihre alten Feinde wieder. Kein Mann ihrer Familie war
noch am Leben, welcher ald Rächer hätte auftreten können,
die Verpflichtung, die Manen ver Gemorbeten durch das
16*
241 Kentudy-Benbetta.
Herzblut der Gegner zu fühnen, war auf fie übergegangen.
Ihrer Energie gelang e8 denn auch, die leicht zu entflam-
menden kentuckyſchen Gemüther aufzureizen. Ste bilvete
eine Schar „Martiniften” und warb bie Seele ber gegen
Craig Zolliver und deſſen Anhang gerichteten Bewegung;
fie entwarf ven „Feldzugsplan“, organifirte die freiwilligen
„Bluträcher“ und leitete mehrmals perjönlich die Ueber⸗
fälle. Sie entvedte ven Fäljcher des Auslieferungsbefehls,
der ben gefangenen Martin in die Hände feiner fchonungs-
(ofen Verfolger gebracht, in der Perſon des Staatsan⸗
walts für die Grafichaft Rowan, Taylor Young in
Morehead, und fchoß ihn eigenhändig nieder.
Keine Hand erhob fich deshalb gegen fie. Blut aber
war geflofien, bie Feinbfeligfeiten begannen von neuem,
Hinterhalte wurden auf beiden Seiten vorbereitet, und
auf beiden Seiten flelen auch die Opfer.
Es galt noch als ein ziemlich harmloſer Zwiſchenfall,
daß Mr. Humphreys, der Sheriff der Graffchaft
NRowan, ein Anhänger der Partei Martin, von den Par⸗
tiſanen Tolliver's verfolgt, fich in einen Gaſthof in More-
head flüchtete, wojelbft er fich verbarrifadirte. Er wurde bie
Nacht hindurch belagert und das Hotel mehrmals vergeb-
(ih mit Sturm zu nehmen geſucht. Die Thüren und
Tenfter wurden von den Kugeln ver Angreifer vurchlächert,
allein der Verfolgte jelbft entkam unverlett.
Die ganze Grafihaft Rowan geriet in Bewegung,
und alle waffenfähigen Männer betbeiligten fich an ver
Fehde; endlich ſah fich der Gouverneur von Kentucky,
Dr. Knott, doch genöthigt davon Kenntniß zu nehmen.
Statt aber fofort energifch einzufchreiten, verfuchte er zu-
nächſt die Anwendung frieblicher Palliativmittel zur
Deilegung der Zwiftigfeiten. Er lud die Führer ber
Parteien ein, ihn in Louisville zu befuchen. ‘Der Liebe
Kentudy-Bendetta. 245
Mühen war inbeß vergeblihd. Sie verweigerten ihr
Ericheinen.
Inzwilchen war Craig Tolliver von den Demokraten
zum Marichall (Befehlshaber ver Miliz) der Grafichaft
Rowan erwählt worden. Kaum hatte er fein Amt ange-
treten, fo ließ er verkünden, daß die Partei Martin
Preiſe auf die Einbringung der Köpfe ihrer Gegner aus-
gefeßt hätte. Er veranlaßte am 28. Juni 1885 ben Zu-
fammentritt des Aufgebot8 der Miliz der Grafjchaft, um
eine angeblich vorbereitete, geſetzwidrige Zufammenrottung
zu zerftreuen. Der „aufrübrerifche Haufe” war aller-
dings nicht aufzufinden, Craig Zolliver behauptete jedoch,
vderjelbe babe fich unter der Führung des Sheriffs Hum⸗
phreys nach Suſanna Martin’s Haus, unweit der Stubt
Morehead, gewendet. Er erwirkte nun von bem ihm er-
gebenen Richter Verhaftsbefehle, die ihn zur Gefangen-
nehmung des Sheriffd Humphreys und einiger anderer
ihm misliebiger Perſönlichkeiten ermächtigten. ‘Durch dieſe
Beobachtung der gejeglichen Formen gebedt, ftellte er fich
an die Spike des Aufgebots, um bie Ausführung ter
Inhaftnahme zu leiten. Die Angreifer umzingelten das
Haus Sue Martin's, das forgfältig verichloffen und ver-
rammelt war, und fuchten es zu ftürmen. Sie erbrachen
wirffih die Hausthür und drangen bie Treppe hinauf.
Dort wurden fie aber mit einem Hagel von Flintenkugeln
überfchüttet, der fie zurücktrieb. Es gab Todte und Ver-
wundete. Craig Tolliver jelbjt war unter ben letztern.
Die Angreifer zogen ab, campirten jeboch wohlverborgen
unweit in der Nachbarfchaft. Als Sheriff Humphreys,
hierdurch getäufcht, in Begleitung eines feiner Freunde,
Namens Rayburn, ſich endlich aus dem Haufe wagte,
wurben fie überfallen. Rayburn wurde im Handgemenge
zum Tode getroffen und blieb auf dem Plage, Humphrey
246 Kentudy-Bendetta.
hingegen, ber ein gefeites Leben zu haben fchien, entlam
wie durch ein Wunder zum zweiten mal glüdlich feinen
Feinden.
Die Grafichaft ftand in hellem Aufruhr. Die Ge-
jegesverlegungen waren evident und notorifch. Der Gouver⸗
neur Knott entjendete endlich reguläre Bunbestruppen,
um bie Orbnung wieberberzuftellen und dem Geſetze
Achtung zu verfchaffen. Als diefe berbeifamen, hatten bie
„Martiniſten“ gerade ihrerfeits Rache zu nehmen verfucht.
Zwei Tage zuvor hatten fie Tolliver’8 Haus bis auf ben
Grund niedergebrannt. Die Antwort daranf war aber,
daß Sue Martin’d zwei Häufer in Flammen aufgingen.
Diesmal gelang e8 dem Mayor M’Kee, welcher bie
Soldaten befehligte, die meiſten ver Rädelsführer zu er-
greifen und bingfeft zu machen. Tolliver felbft aber ent-
wiſchte.
Man hetzte Detectivs auf ſeine Fährte. Dieſe forſchten
ihn am 21. Juli aus, er wurde gefaßt, in das Gefäng-
niß nach Lerington abgeführt und ber Proceß wider ihn
eingeleitet. Allein nochmals gewann bie Anfchauung, bie
zu ungzeitiger, übel angebrachter Milde rieth, bie Ober⸗
band. Die Behörden famen überein, den Proceß nieber-
zufchlagen, falls vie beiden Hauptgegner, Tolliver und
Humphreys, geloben würden Kentucky zu verlaffen. Beide
gaben das Gelübde ab, fie wanderten aus, unb ber
Friede fchien nothdürftig bergeftellt zu fein.
Im Anfang des Jahres 1887 Tehrte aber Craig Tolliver
nach Morebead zurüd. Er meldete ſich als Candidat
für die Richterwahl. Mit dem Revolver in der Hand
betrat ber fchöne, große, mit feltener Körperfraft ausge-
ſtattete Mann, begleitet von feinen Freunden, das Wahl-
local. Kühl erklärte er feine Abficht: „Ich candidire für
das Amt des Graffchaftsrichtere. Niemand foll gezwungen
Kentudy-Bendetta. 247
werden für mich zu ftimmen, aber ich will gewählt
werben, darum merkt euch, wer gegen mich feine Stimme
abgibt, wird über den Haufen geſchoſſen.“
Diefe eigenthümliche Wahlrede wirkte. Er erhielt
wol nur zwanzig Stimmen; allein da niemand gewagt
hatte, gegen ihn abzuftimmen, war er gewählt. Er be-
nuste bie jo gewonnene Macht, um feine Gegner zu ver-
nichten. Ein förmliches Schredlensregiment warb einge-
führt. Er erließ ganz unmotivirte Verhaftsbefehle gegen
feine Widerfacher, indem er fie ſchlankweg der Theilnahme
an ber verbrecheriichen geheimen Gefellichaft „Ku⸗Klux⸗
Elan’ beſchuldigte. Ganze Familien flüchteten unter
Zurädlaffung ihrer Habe, nur um ihr Leben vor bem
Mörder auf dem Richterftuhle in Sicherheit zu bringen.
Als feinen Hauptgegner mußte Craig Tolliver wol
ben orbnungsmäßig erwählten Sheriff der Grafichaft,
Dr. D. B. Logan, betrachten. Er überfiel deſſen äfteften
Sohn, Henry Logan, und machte ihn nieder. Dann
entbot er, unter ber Führung einer feiner Ereaturen, bes
Marſchalls Mannin, das Aufgebot ter Milizen ber
Grafſchaft und jenvete dieſe vor Logan's Haus, um deſſen
zwei anbere Söhne zu verhaften. ‘Die irregeführten Mi-
lizen griffen an, wurden aber zunächſt mit Rehpoſten
zurüdgetrieben. Hierbei wurde Mannin durch einen Schuß
getöbtet. Die Söhne Logan's, in der Vorausfiht, das
Haus doch nicht auf die Dauer gegen bie Uebermacht
vertbeidigen zu können, fuchten durch eine Hinterthür zu
entfommen. Allein die erbitterten Milizen fetten ihnen
nach und hieben fie nieber.
Der Gouverneur Knott mußte endlich begreifen, daß
einjchneitende Maßregeln unumgänglich geworben waren.
Ein Verhaftsbefehl des Dbergerichts in Louisville wurbe
gegen den „Richter” Craig Tolliver und deſſen Genoffen
248 Kentudy-VBendetta.
erlaffen. Huntert Dann regulärer, wohlbewafneter
Soldaten rüdten aus unter Führung des Sheriffs Dr. D.
B, Logan. Mit viefer Kriegsmacht überfiel ver rüftige
alte Mann am 24. Juni 1887 Craig ZTolliver und Tie-
ferte ihm ein förmliches Gefecht. ‘Die Uebermacht fiegte.
Richter Tolliver und zehn feiner Anhänger wurden zu
Gefangenen gemacht. Sheriff Logan hatte den Tod feiner
Söhne zu rächen. Die Gefangenen wurden von ihm in
einer Reihe aufgeftellt, Zolliver an ihrer Spite. Das
Commando ericholl: „Feuer!“ und alle Hatten ausgelebt.
Nah der Erecution telegraphirte Logan lakoniſch an ven
Gouverneur: „Ich hab's gethan!”...
Die Familien Underwood und Holbroof, Martin une
Zolliver haben aufgehört zu fein. Sämmtliche männliche
Mitglieder verjelben find tobt. Man bofft, daß für bie
jchwergeprüfte Graffchaft ruhigere, friedlichere Zeiten
wiederkommen, daß die Geflüchteten aus ihrem frei-
willigen Eril auf ihre verlafjenen, inzwijchen mehr oder
weniger veriwahrloften und verfallenen Anweſen zurüd-
kehren werben.
Und die Yuftiz?...
Die Mörder haben fich gegenfeitig gerichtet. Die
Miffethaten find gejühnt.
Das fummarifche Strafverfahren, mit dem Sheriff
Logan die lange, traurige Reihe der biuträcheriichen
Acte einer im Innerjten aufgewühlten Bevölkerung zum
Abjchluffe brachte, verdient wol nicht bie Bezeichnung
eined Criminalproceſſes. Wenn wir dieſe Darjtellung
dennoch in unfer Sammelwert aufnahmen, geichah es,
um ein Sittenbild vorzuführen, welches in unferer Zeit
wol ohnegleichen baftehen bürfte und in feiner biut-
Kentudy-Benbetta. 249
triefenden Romantif die Zeit des Fauſtrechts vergegen-
wärtigt. Wilde Leidenjchaft verbrängt die Geſetzlichkeit,
und nur allmählich wird es gelingen, in ben weitgeſtreckten
Gebieten des „fernen Weftens bie ausfchließliche Herr-
Tchaft des Rechts und deſſen feitgeorpnnete Anwendung
und Erzwingbarkeit zu verbürgen.
Das Attentat auf Bazaine.
(Madrid. — Mordverſuch.)
1887,
Es gibt lebendig⸗todte Perjönlichkeiten. Männer, bie
jahre- oder feldft jahrzehntelang durch das Webergewicht
ihrer Individualität einen Drud auf bie öffentliche Mei-
nung Europas ausgeübt haben, verjchwinden infolge einer
Kataftrophe vom Schauplate, wie ein Schaufpieler in
bie Verjenfung der Bühne, und wenn lange nachher,
Jahre nachdem man aufgehört Hat fih um fie zu be
fümmern, bie Nachricht von ihrem Tode ſich verbreitet,
ba ſieht man fich allfeitd verwundert an: „Sa jo, ber
lebte noch!”
Solcher Perfünlichkeiten, die ihren Ruhm überlebten,
hat e8 in biefem Jahrhundert viele gegeben, umd zu ihnen
zählt auch der Ermarfchall von Frankreich, Bazaine,
ber eine Zeit lang, nach dem Tage von Sedan und dem
Sturze des zweiten Kaiſerreichs, fich in dem Wahne wie-
gen burfte, auf feiner Degenfpige balancire das Gefchid
Frankreichs, und er fei berufen als befjen Netter und
Beherrſcher aus dem jähen Zufammenbrude bes Be:
ſtehenden hervorzugehen.
Verſchollen und vergeffen lebte er, ein unbeachteter
Das Attentat auf Bazaine. 251
Privatmann, in Madrid. Es bedurfte eines beſondern Er-
eigniſſes, um die Blicke der Mitwelt wieder auf ihn zu
lenken; allein dies Ereigniß war ſehr gegen ſeinen Willen
an ihn herangetreten, es war ein Attentat, deſſen Ur⸗
heberſchaft einem exaltirten Franzoſen zufällt, der in Ba⸗
zaine den Verräther Frankreichs ſah und ihn noch nach⸗
trägfich hierfür ftrafen und züchtigen wollte.
Das Attentat ift misglüdt. Der Thäter ward ergriffen
und gefangen. Mit ungewöhnlicher Raſchheit haben die
betheiligten Behörden die Vorunterfuchung durchgeführt
und die Schlußverhandlung anberaumt.
Mit großer Spannung fah man der öffentlichen Haupt⸗
verhandlung entgegen. Wird e8 fich beiwahrheiten, was
man fich zuraunte, von dem Beftanbe geheimer Gefell-
ichaften, eines Bundes von Richtern und Rächern, bie
entfchloffen find, die Schmach Frankreich zu ahnden?
Iſt es ein Unzurechnungsfähiger, ein Wahnfinniger ge-
wejen, ber das Abſcheuliche feiner That nicht zu begreifen
vermag, und ber ſchuldlos zu Tprechen ift, weil er ohne
Bewußtſein gehandelt? Iſt das Verbrechen der Ausflug
eines plößlichen, blikartigen Impulfes, oder wohlerwogen
und mit Vorbebacht begangen? — Nicht nur in Mabrib,
auch in Frankreich, in Deutichland, bei allen ciwilifixten
Nationen, laufchte man erregt auf die Enthüllungen, die
man erwartete Allein der Proceß fand ftatt, ohne daß
er Enthüllungen brachte. Die fenfationslüfterne Menge
wurde enttäufcht. Die Hauptverhandlung verlief, wie fie
verlaufen jollte, würdig, entfprechend bem einem Gerichte-
bofe, welcher über ein Menſchenleben zu Gericht ſitzt,
wohlanftehenden Ernfte.
Donnerstag, den 3. November 1887, drängte fich
eine fchaufluftige Menge vor den Thüren des Verhand⸗
lungsſaales. Die Kartenausgabe war bejchränft worben,
252 Das Attentat auf Bazaine.
um zu verhindern, daß bie Würde bes Ortes durch lär:
mende Demonftrationen der ungebuldigen, zufammenge:
pferchten Zuhörer eine Einbuße oder Schädigung erleiden
fönne; doch war das Auditorium vielföpfig genng, umt
man erkannte deutlich, mit welch fieberhaftenm Interefte
dem Ausgange bes Procefjes entgegengejeben wurde. Die
Zubörerfhaft war aus den gewäblteiten Elementen zu⸗
fummengejett. Damen und hervorragende Fremde über:
wogen. Die fpaniiche Nitterlichfeit hatte fich den Güften
gegenüber glänzend bewährt.
Die Verhandlung findet vor einem Dreirichtercolle⸗
gium Statt.
Nachmittags 1/,2 Uhr erklärt fich der zweite Senat
bes Griminalgerichtshofes für conſtituirt. Den Vorſitz
führt Don Joaquin Gonzalez de la Peña, als Bei:
figer fungiren Don Miguel Sanz und Don Enrique
de Illana y Mier. Die Anklage vertritt der General-
Staatsanwalt von Madrid Don Buenapventura Munñoz
y Rodriguez. Die Vertheidigung ruht in den Händen
eines ber fähigften und beredteften jüngern Advocaten des
mabrider Barreaus, Don Alvaro be Figueroa, einem
jüngern Sohne des Marquis de Villamejor, als Gerichte:
bolmetih wird Don Joſe de Manterola ad hoc
beeibet.
Der Schriftführer Don Enrique Perez; Dindurra
verlieft zumächit die Anklageſchrift, berichtet, daß der Ans
geflagte in Unterfuchungsbaft gehalten worben ift, gibt
bie ordnungsmäßige Beſtellung des Anklägers und tes
Vertheidigers bekannt, ruft die vorgeladenen Zeugen auf
und reicht das Verzeichniß jener Schriftftüde ein, die ım
Verlauf der Verhandlung zur Verlefung kommen jollen.
Die Anklagefchrift erzählt das ihr zu Grunde Tiegente
Factum mit dürren Worten, Ein franzöfifcher Handlungs:
Das Attentat auf Bazaine. 253
reijender, der Angellagte Hillairaud, bat fich unter
einem falichen Namen an ben feit einer Reihe von Jahren
in ftiller Zurüdgezogenheit weilenden ehemaligen Mar⸗
ſchall Bazaine mit dem Erſuchen um eine Aubienz ge-
wendet. Der Marfchall bat den Aubienzbewerber am
Nachmittag des 18. April 1887 empfangen und nad
einer längern Unterrebung, die fi um gleichgüftige Dinge
prebte, bat ver Angeflagte fich höflich enipfohlen. Bazaine
wenbete fich nach den Abichiersworten um und wollte ven
Diener berbeirufen, da überfiel der Angeklagte, ohne
vorausgegangene Provocation, den alten Mann plößlich,
verjegte ihm einen Stoß mit einem ‘Dolchmefjer und er-
griff die Flucht. Auf Bazaine's Hülferuf eilte feine
Dienerjchaft herbei, etliche Teifteten ihm die erſte Hüffe,
während die andern den Attentäter verfolgten. Hillairaud
wurde auf der Straße von einem zufällig bes Weges
taherlommenden Mann, dem Abgeorbneten der Cortes,
Laſerna, angehalten und ver Polizei überliefert. Der An
geflagte ift der That geftändig und gibt als die Urfache
verfelben an, daß er fein Vaterland an deſſen Verräther
rächen wollte. Die Verwuntung fchien eine fchwere zu
fein, bie leicht zu einem töblichen Ausgang hätte führen
fönnen.
Sodann beginnt das Verhör, aus dem wir bie charal-
teriftifchiten Stellen reprobuciren.
Der Ungellagte Louis Joaquin Hillairaud, um
veifen Haupt die Bejchreibungen gewiffer Zeitungen eine Art
von Glorienfchein gewoben haben, ift eine recht gewöhnliche
Ericheinung. Er ift ein Dann von 37 Yahren, bager,
mittelgroß, von unjtetem Blick, finnlich geformten Tippen
mit nichtöfagenden Zügen, der richtige Typus eines Wein-
reifenden. Er tritt fehr correct und nach der beiten
parifer Move gefleivet auf. Sein Anzug fowie feine
254 Das Attentat auf Bazaine.
Handſchuhe find, den ernften Umftänven, unter denen er
ericheint, angepaßt, von Schwarzer Farbe. Er verfteht keine
Silbe ſpaniſch und wird daher unter Beiziehung des Dol-
meticher8 vernommen. Begreiflicherweife wirb das tra-
matifche Element feiner Vernehmung dadurch fehr Beein-
trächtigt.
Präfident. Ift es richtig, daß Sie am 17. April
fih im Haufe des Exmarſchalls Bazaine unter falfchem
Namen anmelden und um Audienz anſuchen ließen?
Angellagter. Es ift richtig. Ich Habe um tie Be:
willigung einer Unterredung angefucht und mich eines an-
genommenen Namens bebient, ba ich fürchten mußte,
unter meinem Namen nicht empfangen zu werben. Ich
habe nämlich ein Buch gefchrieben, ven Roman: „Les
amours d’un voyageur”, in welchem ich Bazaine als
Verräther bezeichnet babe.
Präſident. In welchem Zimmer bat bie Unter⸗
redung ftattgefunden? War ed im Schlafzimmer tes
Marichalls?
Angellagter. Ich erinnere mich deſſen nicht.
Präfident. Was war Ihre Abficht, als Sie um
bie Audienz anfuchten?
Angellagter. Den Verräther zu töbten und mein
Vaterland zu rächen.
Präfident. Seit wann tragen Sie ſich mit bem
Gedanken, dieſes Verbrechen zu begehen?
Angellagter. Seit dem unglüdfichen Kriege ven
1870, feit vem Augenblid, da ich, der ich damals ald
Franc-Tireur in Baris unter den Waffen ftand, die Nad-
richt der Mebergabe von Met vernahm.
Präfident. Haben Sie fih wegen dieſes Vorhabens
mit andern Perſonen berathen?
Das Attentat auf Bazaine, 255
Angellagter. Ia. Mit einem Lanbsmanne, ver
mein Vorhaben als ein höchſt patriotiſches billigte.
Staatsanwalt. Mit welchen Vorſätzen haben Sie
die Aupdienz beim Exmarſchall Bazaine angefucht?
Angellagter. Ich fühlte mich von Gott berufen,
im Namen Frankreichs zu handeln und mein Vaterland
zu rächen. Eine geheimnißvolle innere Stimme fagte mir,
mein Unternehmen werde glüden, und barum babe ich
zugeftoßen.
Staatsanwalt. Und wohin ging Ihre Abficht?
Wollten Sie den PVerrätber nur verwunden?
Angellagter. Nein. Ich wollte ihn tödten.
Staatsanwalt. Sie haben in ber Unterfuchung
angegeben, daß Sie ben Dolch, das Inftrument Ihrer
That, in den Rolandsbrunnen in Roncesvalles tauchten,
um ihn zu weihen. Hat Ste irgendeine Perſon begleitet?
Und wenn jemand mit Ihnen war, wußte der Begleiter
um Ihr Vorhaben?
Angeflagter. Es begleitete mich ein Spanier. Ein
Baske. Er wußte nichts von meinen Abfichten.
Staatsanwalt. In welder Stellung befand fich
Herr Bazaine, als Ihr Angriff erfolgte?
Angellagter. Ich erinnere mich nicht genau. Ich
glaube aber, er ſaß noch.
Staatsanwalt. Als Sie fi aus dem Haufe Ba-
zaine’8 flüchteten, waren Ste da ver Meinung, Sie hätten
ibm den Todesſtoß gegeben?
Angellagter. Ich war ganz von dem ftolzen Ge-
fühl befeelt, meine Pflicht gethan, meine Aufgabe erfüllt
und Frankreich gerächt zu haben.
Vertheidiger. Iſt es richtig, daß Sie Ihr Vor⸗
baben der großen Tragödin Sarah Bernhardt mit-
theilten ?
256 Das Attentat auf Bazaine,
Angeflagter. Ich fchrieb ihr wol, erhielt jeboch
feine Antwort.
Bertheidiger. Iſt es richtig, daß Sie bei ber
Militärſtellung für umtauglich erklärt wurben, aber den
noch nad) Ausbruch des Krieges als Freiwilliger fich ein-
reiben ließen?
Angellagter. Es iſt richtig, daß ich für bdienit-
untauglich erflärt wurde. Da aber ber Krieg eine un⸗
beilvolle Wendung nahm, konnte ich nicht unthätig bleiben.
Ih trat freiwillig in die Armee, um mitzubelfen mein
Vaterland zu vertheibigen. Ich war Branc-Tireur und
dem parifer Corps zugetheilt.
Vertheidiger. It e8 wahr, daß Sie Träume oder
Viſionen hatten, welche Sie beftunmten, den Plan zu
faffen, Bazaine umzubringen ?
Angellagter. Seit der Uebergabe von Met Bat
eine innere Stimme mir unabläfftg geboten, mein Vater⸗
land zu rächen. Alfo von Gott felbft aufgemuntert, habe
ich dreimal geichworen, die That zu thun. Zuerſt am
Siegesthor (Arc de triomphe), dann beim Pantheon
und zum dritten mal am Nolandsbrunnen. Zweimal habe
ich deutfich eine himmlische Erfcheinung gejeben, die mich
als den Auserwählten bezeichnete, ber das Vaterland
retten würbe. In ber Nacht vor dem Attentat habe ich
— wie ih auch an das Sournal „L’Intransigeant” in
Paris geichrieben habe — eine Ericheinung gehabt. Eine
herrlich ſchöne weibliche Gejtalt ftand vor mir, ich fah
wie ihre Lippen fich bewegten und vernahm eine wohl-
lautende Stimme, die mir gebieterifch zurief: „Schlage
zul Schlage zu!“ („Frappez! frappez!“)
Zum Schluffe des Verhörs wird dem Angeflagten
feine im Laufe der Unterfuchung zu Protokoll gegebene
Ausfage — die nach fpanifchem Necht einen Theil bes
Das Attentat auf Bazaine. 257
Beweismaterials bildet — vorgewiejen. Er erfennt bie:
ſelbe als richtig aufgenommen und feine Unterjchrift ale
authentiſch an.
Die Gerichtsärzte werden beeidet. Es find dies Die
Doctoren: Luis Simarro, Adriano Alonfo Mar-
tinez, Joſe Escupdor, Jaime Vera, Bibiano
Escribano und Nicolas Garcia Sierra.
Dr. Sierra gibt im Namen jener Aerzte, die Ba⸗
zaine behandelten, an, bie Verlegung jet eine Schnitt-
wunbe am Kopfe, an ber Stirnfeite gewejen, bie in fünf
Tagen heilte und an fich nicht lebensgefährlich war.
Auf die Frage des Vertheirigers, ob der Angegriffene
das Bewußtfein verloren habe, erwiderte ver Gerichtsarzt
verneinend.
Hierauf wird Dr. Adriano Alonfo Martinez als
Sachverftändiger vernommen. Dieſer fpridt im Namen
der übrigen Aerzte, die in allen Einzelheiten fich mit ihm
einverſtanden erflären.
Er fagt im wefentlichen aus: „Meine Ausführungen
find das Ergebniß der fortgefetten Beobachtung und der
Berathung der ven Angeklagten unterfuchenden und über-
wachenden Aerzte. Es ift ein jachverftändiges Gutachten
und beanfprucht volle Glaubwürdigkeit. Meiner Dar-
ftellung des Falles vom medicinifchen Standpunkte muß
ich die Mittheilung des erwähnenswerthen Umftanbes vor-
ausſchicken, daß Hillairaud aus der Unterfuchungshaft an
uns einen confufen, ebenjo hochmüthigen als unzuſammen⸗
hängenden Brief gerichtet hat, der in Proſa beginnt und
mit Berfen (!) endet.
„In der Familie des Angeflagten find Geiftesftörungen
in verſchiedenen Formen erblihd. Die Mehrzahl der Fa⸗
milienglieder war hyſteriſch oder litt an Störungen bes
Centralnervenſyſtems. Die gerichtsärztliche Unterfugung
XXII.
258 Das Attentat auf Bazaine,
bes Angeklagten ergab bie eigenthümliche Thatfache, daß
Hillatraud’8 Linker Arm, nicht nur wie das zuweilen wol
vorzufommen pflegt, weit ſchwächer und bünner al® ber
rechte, fondern auch um 26 Deillimeter kürzer ift. Dieſe
Atrophie ift nicht das Ergebniß eines chirurgiichen Ein-
griffs oder ver fehlerhaften Heilung einer Berlegung,
fondern ihre Urſache liegt in krankhaften Veränderungen
des Nüdenmarfes. Als Kind Hat der Angellagte an
Krämpfen gelitten, und biefe Erfcheinung ift ein Wolge-
übel der Krankheit. Der Angeflagte leidet an einer con-
ftitutionellen Schwäche des arteriellen Syſtems. Wenn
man bie Lebensgejchichte Hillairaud's genau verfolgt, er:
jheint die Bildung feines Charakters und Temperamentd
als das Ergebniß Förperlicher Zuſtände. Er ift leiben-
ihaftli und bebarrlich in feinen Neigungen, eraltirt ins-
befondere in ragen der Liebe und bes Patriotismne.
Mit achtzehn Jahren verliebte er fich fterblich in eine
ſchöne andaluſiſche Jungfrau. Dieſe Liebe war platoniſch
und blieb unerwidert. Dennoch blieb er derſelben während
fünf bis ſechs Jahren treu, bis bie politiſchen Verhält⸗
niſſe eintraten, die Hillairaud bewogen, ſich freiwillig in
die franzöſiſche Armee einreihen zu laſſen. Damals trat
eine vollſtändige ſeeliſche Wandlung bei ihm ein, ſeine
Aufzeichnungen, ſeine Briefe verlieren den bis dahin ſo
charakteriſtiſchen ſchwärmeriſch⸗ſentimentalen, platoniſchen
Zug und feine Neigung wendet ſich nunmehr ausſchließ⸗
ich fäuflichen Dirnen zu.”
Dr. Martinez fchilvert eingehend die Art der Ent-
ftehung der Viftonen, wie Hillatraud folche gehabt, ven
hyſteriſchen Zuftand der Verzüdung, den derartige Wahn-
bilder hervorrufen und das Gelübbe, das er infolge der⸗
jelben getban:
‚Nah dem Kriege war Hillairaud, ver ſich dem Kauf:
Das Attentat auf Bazaine. 259
manneftande widmete, genöthigt nach Afrika zu veijen,
fort warb er von einem Sumpffieber ergriffen, an dem
er neun Monate lang litt. Die Folge davon war ein
vollftändiger Marasmus. Er kehrte nach Paris zurüd,
erneuerte vor dem Pantheon jein Gelübde, reifte nach
San-Sebaftian, wo er — vergeblid — ben Ermarfchall
Bazaine zu treffen hoffte. Bon dort fam er nach Ronces-
valles, wo er den der Mache geweibten ‘Dolch in den Ro⸗
fandebrunnen tauchte und fein Gelübbe zum brittenmal
ernenerte. Er begab fich nach Madrid. Das Buch, fein
Roman: «Die Liebichaften eines Reifenden», welches er
in der Zwifchenzeit (1874) veröffentlicht hatte, ift ein
Deweid von ungewöhnlicher Eitelkeit und weiſt an fich
darauf bin, daß fein Verfaſſer an Wahnvorftellungen
leidet. Es zeigt als Titelbild das Eonterfei Hillairaud's
umgeben von eimem Kranze und fünf rauengefichtern.
Es ift ſtark erotifcher Natur. Die Vorrede enthält be
reits Anspielungen auf die NRächerrolle, die jein Autor
ſich beilegt.
„Hillairaud tft fanguinüchen Temperaments und ana-
tomish troß der Verkürzung des linken Armes wohlge-
bilvet. Auf Grund fortgefeßter Beobachtungen gelangten
wir zu bem Schluffe: Der Angellagte ift im Hinblid
auf die conftatirten pathologifchen Anteceventien und feinen
gegenwärtigen Zuftand nicht als zurechnungsfäbig anzu-
ſehen. Der Befund ergibt das Vorhandenſein firer
Wahnvorftellungen, welche das Bewußtfein trüben und
die Verantwortlichkeit für feine Handlungen vermindern
und aufheben.”
Der Vertheidiger Figueroa richtet an die jachverjtän-
digen Gerichtsärzte die Frage, ob fie auch in der Lage
find, ven pathologifchen Zuftand des Angeklagten zur Zeit
des verbrecheriſchen Attentat genau zu präcifiren?
17*
260 Das Attentat auf Bazaine,
Dr. Martinez. Nach meinen Dafürbalten Tonnte
Hillairaud zur Zeit der That wol mit Bewußtſein han⸗
bein, doch wurbe er babei von firen Wahnvorftellungen
beherrjcht, bie eine geminderte Zurechnungsfähigkeit in
fich ſchließen. Hillatraud bat mir ſelbſt zugeftanden, daß,
al8 er den Marſchall Bazaine als gebrechlichen Greis vor
fih fah, ein Gefühl der Ehrfurcht ihn überlam, welches
ihn faft übermannte. Er babe ven Plan, mit dem er
eingetreten war, ſchon völlig fallen Taffen, im Augenblid
aber, da er fi abmwanbte, um zu gehen, ſei eine Blut⸗
welle ihm vor bie Augen getreten, er fei nicht yehr Herr
feines Wilfend gewejen, und ohne recht zu wiſſen wa® er
thue, babe er zugeftoßen.
Vertheidiger. Iſt wirklicher Vorbedacht und ver:
rätherifch-meuchlerifche Tücke vereinbar mit jenem Zu⸗
jtande des Wahnfinns, in dem der Angeflagte fi) offen-
bar befindet?
Dr. Alonſo Martinez beantwortet biefe Trage be>
jahend.
Der Generalftaatsanwalt fragt: ob ſich denn bie
Gerichtsärzte eingehender noch mit den Danblungen des
Angeklagten, welche dem Tage des Verbrechens vorber-
gingen, bejhäftigt hätten? Ihm jet von ven einfchlägigen
Unterjuchungen feitens der Aerzte nichts befannt geworben.
Der Gerichtsarzt Martinez gibt zu, daß die Aerzte
über diefen Punkt nur unvolllommen, und zumeift nur
auf Grund eigener Ausjagen des Angeklagten informirt
wurben.
Der Generalftaatsanwalt kann fich mit diefer Ant-
wort nicht zufrieden geben. „Sind bie Gerichtsärzte wirk⸗
lich in der Lage, auf ihren Eid als Sachverftändige zu
verfichern, daß Hilfatraub, als er ven Morbverfuch verübte,
im vollen Sinne des Worts unzurechnungsfähig war?”
Das Attentat auf Bazaine. 261
Der Gerichtsarzt erklärte: „Wir find in der Lage,
diefe Trage von unferm Standpunkte aus mit voller
Sicherheit zu beantworten. Hillatraud war nach unferer
mediciniſchen Auffaffung unzurechnungsfäbig, denn er ftand
unter dem überwältigenden Eindrude einer aus patrio-
tiſcher Begeifterung herrührenden Ueberreizung ber Nerven.”
Der Ermarfhall Francois Achill Bazaine er-
Scheint als Zeuge. Sein Auftreten ruft im Bublilum be-
ſondere Bewegung hervor. Auf den Arm einer Dienerin
und einen Krückſtock geftügt, betritt er den Saal. Der
Präfident geftattet ihm, mit Rückſicht auf fein Befinden
und fein vorgerüctes Alter (er ift am 13. Februar 1811
geboren), jeine Ausfage figend abzugeben. Die ehedem fo
fräftige, gebrungene Geftalt tft gebrochen und gebeugt.
Sein Haar ift weiß geworben, er macht den Eindruck
eines reife.
Im Augenblid, da Bazaine eintritt, erhebt fich ver
Angeflagte raſch von feinem Site und !itredt mit einer
pathetifchen Geberde den rechten Arm vor fih Hin. Er
ruft in großer Erregung und mit bebender Stimme einige
Worte in franzöfiicher Sprache, doch was er fagen will,
bleibt unverjtanden. “Der Yuftizwachtmann, der an feiner
Seite Plaß genommen bat, zieht ihn auf feinen Sitz
zurüd und beißt ihn Stilffchweigen beobachten.
Das Verhör Bazaine’8 beginnt mit einem hochdrama⸗
tiihen Moment.
In der üblichen Weife nach den Generalien befragt,
antwortet der Zeuge auf die Frage: „Ihr Stand?” mit
halblauter Stimme: „Ehemals Solpat.”
Tiefe Bewegung geht durch das Auditorium.
Im Berlaufe feiner Vernehmung gibt Bazaine an:
„Ich babe den Angeklagten vor dem Tage bes Atten-
tats weder perfönlich noch dem Namen nach gekannt.
262 Das Attentat auf Bazaine.
Derfelbe hat das Erjuchen um eine Unterrebung an mid
gerichtet und fein Verlangen mit feiner Landsmannſchaft
begründet. Ich babe die Unterrebung bewilligt und ihn
empfangen. Wir waren allein. Die Unterhaltung be-
wegte fich in den böflichiten Normen. Sie bezog fich auf
bie derzeitigen Zuftände Frankreichs und die vorausficht-
lichen Veränderungen, welche die Zukunft für diefes Land
bringen würbe. Nichts von Wichtigkeit wurde gefprochen,
fein Streit entipann fich, fein Wiberfpruch warb von
jeiner Seite irgendeiner meiner Bemerkungen entgegen-
gebracht, nichts ift gefchehen oder wurbe gejagt, was in
mir in irgenbeiner Welfe einen Verdacht des bevorftehen-
ben Ueberfalls hätte erwecken können. Ich hielt Hillatraub
für einen etwas zubringlichen und fchwaßbaften, aber
ganz barmlofen neugierigen Menfchen, wie folche zuweilen
an mich herantreten, um mich zu interpiewen. Erſt als
er fich bereit8 vwerabfchiebet hatte, und ich ihm fchon ben
Rüden zubrebte, hat Hillairaud binterliftig den Dolch ge-
zogen und mich, der ich mich feiner feinpfeligen Abficht
verſah, überfallen und zugeftoßen. Ich fühlte mich ges
troffen und erlangte erft durch die Verlegung Kenntniß
bon dem eigentlichen Vorhaben des Mannes. Er floh
jofort und ich rief nach meinen Dienern.”
Als der Zeuge entlaffen wird und fich zurückzieht,
Ipringt Hillatraud, offenbar in gewaltiger Aufregung,
nochmals von feinem Plate auf und ruft wieber einige
franzöfifche Worte, die aber in bem Tumult, der fich er-
hebt, ebenfalls nicht genau verftänplih werben. Sie
lauten ungefähr wie: „Schmach und Tod dem Berräther!”
Zeuge Auguftin Laferna, Deputirter der Cortes,
gibt an:
„3b kam eben, in einem Gejchäftsgang begriffen, an
dem Daufe des Marſchalls vorbei, al8 laute Rufe ertönten:
Das Attentat auf Bazaine 263
«Mörter! Mörver! Zu Hülfel» Diefe Rufe gingen von
der Dienerfchaft Bazaine's aus. Hilfairaud ftürzte aus
dem Haufe und ich hielt ihn auf. Er leiftete feinen Wiber-
ftand. Ich fragte ihn, was er denn gethan habe? Er
antwortete pathetifch: «Ich habe Frankreich gerächt!v Er
fügte noch einige Worte Hinzu, an die ich mich nicht mit
Beſtimmtheit zu erinnern vermag. Sicher iſt mur, baß
feine Reden darauf hinausliefen: daß er die Miſſion zu
feiner That von feinem Menfchen erhalten hätte, er jet
ein Werkzeug ver Vorfehung! 8 fchienen mir patriotifch-
eraltirte Phrafen zu fein. Den Einprud eines Wahn
finnigen hat er mir nicht gemacht. Ich übergab ihn den
Händen ber binzugelommenen Sicherheitsmannfchaft.”
Die Zeugen Victor Gil und Maria Ehillon, im
Dienfte bei dem Ermarfchall, willen nichts Neues aus⸗
zufagen.
Mr. Double, Eigenthümer des Cafe de Paris, in
beifen Dienften Hillairaud geftanden bat, ftellt ihm ein
günftiges Zeugniß aus. Er bielt ihn für einen ehren-
haften Menſchen und fleikigen Arbeiter. Er war leb⸗
haften Charakters und führte oft patriotifch-eraltirte
Redensarten im Munde.
Frau de Grenier la Nohpere tritt, da fie als Zeu⸗
gin aufgerufen wird, zu Hillairaub bin und reicht ihm
die Hand. Sie weiß nur das Befte über ven Angeklagten
auszuſagen. „Ich Fenne ihn“, fo berichtet fie, „feit bret
Fahren, zu welcher Zeit er in meine Vaterſtadt Borbeaur
gefommen ift. Er ift immer ein guter Menfch gewejen,
ich weiß es beitimmt. Sein Charakter ift fanftmüthig,
fchwärmerifch und romantiih. Er ereiferte fih nur und
geberbete fich wie von Sinnen, wenn er von den Ereig-
niffen der Sriegsjahre ſprach.“
Der Angeklagte felbft, der während der Vernehmung
264 Das Attentat auf Bazaine.
ber Zeugen fortwihrend unruhig ſich gebertet un Zwi⸗
ichenrufe ausgeftoßen hatte, bemerkt zur Depofition Ba⸗
zaine's, er hätte ihm wielleicht noch im legten Augenblid
„vergeben”, allein da babe der Verräther fich wörtlich
geäußert: „und im übrigen müffen wir doch der Wahr-
heit die Ehre geben und zugeftehen, daß das Eljaß und
jelbft Lothringen zur Hälfte von Deutfchen bewohnt fine“.
Hilfatraud, der fich fehr aufgeregt geberbet, wird mit
Mühe beruhigt und endet fchlieklich, nach mehrern, mit
großer Vehemenz hervorgeiprubelten Sägen, mit ber Ver⸗
fiherung: „Ich bin ein altgedienter Soltat, meine That
gefhah, um Frankreich zu rächen, ich habe eine göttliche
Miſſion zu erfüllen gehabt.“
Zum Schluffe wird die Ausfage des Civilgouverneurs
ber Provinz, Duque de Trias, zur DVerlefung gebracht,
ba biefer von dem ihm gefetlich zuftehenden Vorrecht Ge⸗
brauch macht, ftatt perfönlich vor Gericht zu erjcheinen,
jchriftlich zu deponiren. Er ſchreibt im wefentlichen: „Sch
begab mich, ale ich von dem Attentat Kunde erhielt, ſo⸗
fort zum Uinterfuchungsrichter, und da fich dieſer bereits
zur Erhebung der ZThatumftände in die Wohnung bes
Exmarſchalls Bazaine verfügt hatte, folgte ich ihn vahin.
Mr. Bazaine, den ich perfönlih von Paris ber kannte,
erzählte mir felbft ven Hergang. Er glaubte zuerft durch
einen Piftolenfhuß verwundet zu fein, fo kräftig war ber
Stoß, den er erhielt. Hillairaud wurde auf der Stelle
feftgehalten und verhaftet. Ich fuchte ihn im Polizei»
gefängniß auf, und da der Unterfuchungsrichter, der fich
in meiner Begleitung befand, nicht franzöfifch ſpricht,
fungirte ich felbft beim erften Verhör als Dolmetjcher.
Seine Ausfagen find im Protokoll getreulich wienergegeben.
Ich Habe den Eindruck gehabt, einen exaltirten Menſchen
vor mir zu ſehen.“
Das Attentat auf Bazaine. 265
Am zweiten Verbantlungstage fand das Plaidoyer
des Öffentlichen Anklägers jtatt.
Der Generalftaatsanwalt Buenaventura Munoz
y Rodriguez erzählt den Hergang des Verbrechens.
Er ftüßt ſich zunächft auf Die Ausfage Bazaine's, des ein-
zigen Thatzeugen. Er conftatirt demgemäß, daß in dem
Zwiegeſpräch, welches dem Attentat voranging, Tein auf-
regender Streit, feine Divergenz der Anfchauungen zu
Tage getreten fei. Hillairaud Hat das Verbrechen, um
veffentwillen er angellagt worden ift, in einem Augen⸗
blick verübt, da er fich bereits verabjchtebet hatte. „Er
war durch Feine Provocation gereizt, er bat zugeftoßen,
als fein ahnungsloſes Dpfer ihm den Rüden zuwandte.
Seine That iſt aljo mit befonderer Tücke und Hinterlift
verübt, fie ift ein menchlerifcher Mordverſuch. Erſt bei
der Schlußverhandlung am geftrigen Tage ift e8 ihm ein-
gefallen zu behaupten, er habe im göttlichen Auftrage ge-
bantelt, Gott felbft Hätte ihm befohlen Frankreich zu
rächen. In dem Zagebuche aber, das Hillairaud geführt
und das bei feiner Verhaftung in feinem Befit vorges
funden wurde, bat er mehrfach mit dürren Worten nieber-
gejchrieben, er glaube an feinen Gott.
„Das Gericht wird fich gewiß der Erfenntniß, welche
das Reſultat wiſſenſchaftlicher Beobachtung der Natur if,
nicht verjchließen. Es kann aber Hypotheſen nicht zur
Baſis feiner Urtheile annehmen, die zwar von einer Reihe
ſonſt bochgeachteter Naturforicher als erwieſen betrachtet
werben, während andere Gelehrte fie noch als ſehr der
Prüfung und Richtigftellung bebürftig erklären, und end»
lich dritte, nicht minder hochſtehende Autoritäten fie ganz
und gar als unzuläfftg, phantaftifch und mit ven Geſetzen
der Natur in Widerfpruch ftehend verwerfen. ‘Der Hypno⸗
tismus und die Suggeftion mögen in ber Zukunft berufen
266 Das Attentat auf Bazaine.
fein, noch eine große Rolle bei ber Enticheibung zweifel-
hafter Fälle zu ſpielen — im gegebenen Falle dürfen fie
ebenfo wenig angerufen werben, als bie Lehre vom un⸗
wiberjtehlichen Zwange ver Determiniften ober bie Häufig
gar arg misbrauchte Theorie der Unzurechnungsfähigfeit
infolge von Wahnvorftellungen.
„Das fachverftändige Gutachten Hat mich nicht einen
Augenblid in der Veberzeugung wankend gemacht, daß
ber Angeklagte fich der Tragweite feiner Handlungen ftets
vollkommen bewußt gewefen, und daß die Triebfeber weit
eher aus eitler Ruhmfucht als infolge krankhafter Geiftes-
jtörung hervorgegangen ift. Nichtsbeftoweniger kann man
einen großen Theil beifen, was die Gerichtsärzte auf
Grund ihrer Beobachtungen feftgeftellt Haben, ohne weiteres
als richtig anerlennen. Der Angeflagte handelte offenbar
in einem Zuftande bochgradiger Erregung. Er tft ercen-
triih und nimmt feine Phantafien für reale Wirklichkeit.
Dies genügt aber durchaus nicht, um ihn als unzurech⸗
nungsfähig zu bezeichnen.”
Den Schluß der Rede des Generalftaatsanwalts bil-
bete eine lichtvolle Auseinanverfegung, daß es nicht Sache
der fpanifchen Gerichtsbarkeit fein könne, Dinge zu unter:
fuchen, die ſich ausſchließlich auf die Politik auslänpifcher
Staaten beziehen. „Die Frage, welche die Richter hier zu
beantworten haben, tft lediglich von bem Gefichtspunfte
zu betrachten: Bazaine ift ein Ausländer, ber unter bem
Schute ſpaniſcher Gefete, auf die Gaftfreundfchaft Spa
niens bauend, fich daſelbſt niedergelaffen bat, und Hil-
lairaud ift ein anderer Ausländer, der die fpantfchen Ge-
ſetze auf das gröblichite verlegt hat. Es entzieht ſich
vollkommen ber Competenz eines ſpaniſchen Gerichthofes,
zu enticheiven, ob Bazaine fich gegen Frankreichs militä-
rifche Ehre vergangen hat oder nicht; relevant ift Hier
Das Attentat auf Bazaine 267
nur, ob Hillairaud eine That beging, für die er verant-
wortlich ift und die nach fpanifchen Recht ftrafbar er⸗
ſcheint.
„Ein Zweifel an dem ſubjectiven Thatbeſtand iſt aber
vollſtaͤndig ausgeſchloſſen.“
Der Generalſtaatsanwalt beantragt unter Erwägung
der mildernden Umſtände ſowie der Erſchwerung wegen
der beſondern Tücke des Angriffs, Hillairaud ſei zu
ſchwerem Kerker in der Dauer von acht Jahren und einem
Tage zu verurtheilen.
Der Vertheidiger Don Alvaro de Figueroa nimmt
das Wort.
In blendender, formvollendeter Weife verfucht Don
Alvaro gegen die unerbittliche Logik des Staatsanwalts
anzulämpfen. Zunächft rügt er einige Formfehler, bie
im Laufe der Unterfuchung vorgelommen find, 3. B., daß
ber Gouverneur von Madrid, der nicht als Gerichts-
bolmeticher beeidet worden, bei dem erften Verhöre Hil-
lairaud’8 als folcher fungirte, dann entwirft er eine
Schilderung des Charakters des Angellagten. Geftügt
auf die Anficht und die Mittheilungen ber Gerichtsärzte
zeigt er, wie der krankhaft überreizte Patriotismus des
freiwilligen Soldaten durch die Thatfache der Capitulation
von Meß auf das äußerfte gefteigert, im Laufe der Jahre
zu firer Wahnvorſtellung geworben ift, die übermächtig bie
ſonſt durchaus ehrenwerthen Imftincte und Gefühle bes
Mannes nieverbrüdt und ihm den Stahl in die Hand zwingt.
Er proteftirt dagegen, baß dieſes Attentat als Mordverſuch
qualifteirt werde. Hillatraud war mit Bazaine allein,
ber fräftige Mann mit dem Hinfälfigen reife. Wenn
er ihn wirffich tödten wollte, nichts hätte ihn daran ver»
hindert. Allein dieſe Abficht war gefallen, als er fich
dem gebrechlichen alten Manne gegenüber ſah. Schon
268 Das Attentat auf Bazaine.
wollte Hillairaud fich zurüdziehen, als die unglückliche
Aeußerung Bazaine's über Eljaß-Lothringen ihn vie Be
finnung raubte. Das Blut ftieg ihm zu Kopfe, vie
Wahnvorſtellung war gewedt, ohne richtiges Bewußtſein
beffen, wa® er thue, ftieß er zu, und ohne fich zu über-
zeugen, welche Wirkung fein Stoß gehabt, ging er ſtolz
erhobenen Hauptes davon und fagte: „Ich babe Frank⸗
reich geräht!” Ein folder Mann ift fein Mörder. Cs
ift ein Monomane, der Mitleid, nicht Strafe verdient. —
Der Bertheibiger fordert Die Freifprechung feines Efienten.
Der Vorſitzende richtet an Hillairaud bie Frage, ok
er noch etwas zu feiner Entlaftung und Bertheidigung
porbringen könne.
Hillairaud erflärt, die Hand zum Himmel heben,
er babe recht gehandelt. Die Liebe zum Vaterlande habe
ihn befeelt und die Vorjehung ihn zu ihrem Werkzeuge
erforen.
In feinem Moment der Verhandlung Bat fein Be
nehmen etwas fo ausgefprochen Komödienhaftes gehabt ale
in biefem ernften Augenblid.
Der Präfivent erklärt, das Urtbeil werde am Montag
verfünbigt werben.
Dem fpanifchen Recht zufolge ift bie Urtheilsverkün⸗
bigung mit eingehender Motivirung verjeben.
Nach trodener Aufzählung ber vie That begleitenden
Umftände und einer Angabe über bie befannten That-
ſachen des Vorlebens des Angellagten, wird das Bud)
beffelben einer eingehenden Beſprechung unterzogen und
daraus feine hervorjtechenpften Charaftereigenfchaften des
bueirt. Nah Erwägung ber von dem öffentlichen An⸗
kläger und Vertheidiger vorgebrachten Momente tritt ver
Gerichtshof in feinem Urtheil den Ausführungen ver
Staatsanwaltfchaft durchweg bei, verwirft die von ihr
Das Attentat auf Bazaine. 269
angefochtene Theorie von ver Willensunfreiheit des Atten-
täter8 und vwerurtheilt ihn entfprechend dem Antrage des
Öffentlichen Anklägers zu achtjährigem Zuchthanfe.
Diefer Broceß, der weit mehr durch die Perfon beffen,
gegen den ber Mordanfchlag unternommen wurde, als bie
Perfönlichkeit des Attentäter oder die Einzelheiten des
Berbrechensd bemerkenswerth erjcheint, gibt ein jehr aner-
kennenswerthes Bild von der Vorurtheilsloſigkeit und Un⸗
befangenheit ſpaniſcher Nechtfprehung. Die Unzugäng-
lichfeit gegenüber politiichen Erwägungen, bie fich freilich
überall von ſelbſt verſtehen follte, wirb leider nicht bei
allen Richtern angetroffen. Doch wenn wir biejen Um⸗
ftand auch ganz aus dem Bereich umferer Bemerkungen
ausscheiden, können wir das Verhalten des Tribunals von
Madrid gegenüber ven hochmodernen Theorien geminberter
Zurechnungsfähigfeit wegen krankhafter Wahnvorftellungen
um fo unverhoblener und rücdhaltslojer billigen. Es ift
leider derzeit an vielen Orten bie falfche Sentimentalität
obenauf, die in jedem Verbrecher nur einen bebauerns-
werthen Geifteöfranfen erbliden und ihn dem rächenven
Arm der Gerechtigkeit entziehen will. Es iſt erfreulich,
bag man jenfeit ber Pyrenäen biefem Tagesgötzen nicht
zu opfern willens ift.
Ein Diebſtahl im wiener Landesgerichtsgebäude.
1880 und 1881.
Am 30. März 1880, dem Dienstage nach Oftern,
entdedte der nachmittags im Landesgericht in Wien im
Strafjahen amtirende Oberlandesgerichtsratb Vincenz
Droz, baß aus der verfperrten oberften und unterften
Schublade feines im Amtszimmer befindlichen Schreib-
tifches bie von ihm daſelbſt verwahrten, ihm perfönlich
gehörenden Staatspapiere und Einlagebücher im Werthe
von zufammen 23995 Gulden 14 Kreuzer entwendet feien.
Spuren eines gewaltfamen Einbruchs waren nicht vor⸗
handen, insbeſondere auch nicht an dem Schreibtiih und
den verjperrt gefundenen Schlöffern, bie wegen bed im
ihnen angebrachten Dorns nur mit einem gebohrten Schlüf-
jel geöffnet werden konnten.
Droz hatte feine Werthſachen feit bem Monat Des
cember 1879 in dieſem Schreibtifche verwahrt und da⸗
jelbft auch belaſſen, obgleich er im Februar 1880 bemerkte,
daß eine golvene Uhr, die er im Schreibtifch aufhob, ab»
handen gelommen war. Er erinnerte fich beftimmt, feine
fämmtlichen Werthpapiere am 2. oder 3. März 1880
noch in Ordnung gefunden, und glaubte, fie andy noch
am 10. März controlirt zu haben.
Ein Diebftahl im wiener Landesgerichtsgebäude. 271
Die fofort angeftellten polizeilichen Nachforichungen
ergaben, daß ber größte Theil der geftohlenen Papiere
am 27. März 1880, dem Charfamstage, kurze Zeit nad)
8 Uhr morgens, bei verfchievenen größern Gelbinftituten
realifirt worden war. Man mußte annehmen, daß ber
Dieb, um einer Entdeckung vorzubeugen, feine Beute fo
raſch als möglich veräußert habe, und ſchloß daraus, daß
der Diebftahl vermuthlid am Nachmittag oder Abend
bed 26. März 1880, des Charfreitags, verübt worben
jet, denn am folgenden Tage waren, wie erwähnt, bie
Papiere verlauft worden.
Der Dberlanbesgerichtsratb Droz pflegte bis nach-
mittags 2 Uhr auf dem Bureau zu fein, dann zu Mit-
tag zu ejjen und nachher noch 1—2 Stunden in feinem
Amtszimmer zu arbeiten. Am Charfreitag hatte er fich
durch den Kirchenbefuch abhalten Laffen, nachmittags fein
Bureau nochmals zu betreten. Keiner von den fich bis
6 Uhr abends in den Gängen des Landesgerichts auf-
haltenden Aufjehern, Amtspienern und den Yuftizwacht-
folvaten hatte an jenem Charfreitag etwas Auffallendes
bemerft. Es war von vornherein Har, daß der Thäter
von dem Borhandenfein der Werthpapiere in dem Schreib»
tiſch des Oberlandesgerichtsraths Droz Kenntniß haben
mußte, und daß es eine in ben Gerichtslocalitäten be⸗
fannte Perjönlichfeit war, die das Verbrechen ausführen
fonnte, ohne den Verdacht der ‘Diener: und Wachtmann-
fchaft zu erregen.
Der Unterjuchungsrichter, Yandesgerichtsrath Dr. von
Holzinger, vermuthete deshalb, daß fich ver Dieb unter
den Angeftellten und Bedienſteten des Gerichts ſelbſt be»
finden würde.
Am 2. April 1880 gelangte an die Polizetbirection
Ein Diebflahl im wiener Landesgerichtsgebändt.
1880 und 1881.
Am 30. März 1880, dem Dienstage nad Oftem,
entbedte ber nachmittags im Landesgericht in Wien in
Straffahen amtirende Oberlandesgerichtsrath Vincen;
Droz, daß aus der verfperrten oberften und umterften
Schublade feines im Amtszimmer befindlichen Schreib⸗
tifches die von ihm daſelbſt verwahrten, ihm perjönlid
gehörenden Staatspapiere und Einlagebücher im Werthe
von zufammen 23995 Gulden 14 Kreuzer entwenbet feien.
Spuren eines gewaltfamen Einbruch& waren nicht vor-
handen, insbeſondere auch nicht an dem Schreibtiſch unt
ben verfperrt gefundenen Schlöffern, die wegen bes in
ihnen angebrachten Dorns nur mit einem gebohrten Schlüj⸗
fel geöffnet werben konnten.
Droz batte feine Wertbiachen feit dem Monat De:
cember 1879 in dieſem Schreibtiiche verwahrt und bw
jelbft auch belaffen, obgleich er im Februar 1880 bemeriit
baß eine goldene Uhr, die er im Schrei u —
handen gekommen war. Er erimm r
ſämmtlichen Werthpapiere am '
noch in Orbnung gefunden, ur
am 10. März controlirt zu b
„jun.
7 F — mr —— — — — — 7
4 7 u un — ũ —
= - Be — 2 — nn ==
nee er —
re >
* > * Pd
„e—# Ir IID= — ⸗ 22* 1
72 „= =” nt Zn — Br N £
12 >= 5 = ze = _ - oe 222
ir“ ar) 2 — zu
ve a == a u e—— an
ret *. — a ⸗ —
in, dem m” — 22 ——— u
iere ne
ve Bee...
„» At
z
z
-,
Ti ”
mibete tehhald, I a N, yi 1
a Berienfteten Det x N
: N ii ä
ya gelangt
264 Das Attentat auf Bazaine.
der Zeugen fortwährend unruhig fich geberbet und Zwi—⸗
ichenrufe ausgeftoßen batte, bemerkt zur Depofition Ba-
zaine's, er hätte ihm vielleicht noch im letzten Augenblid
„vergeben“, allein da habe der Verräther ſich mörtlich
geäußert: „und im übrigen müſſen wir doch der Wahr⸗
heit die Ehre geben und zugeitehen, daß das Elſaß und
ſelbſt Lothringen zur Hälfte von Deutjchen bewohnt fin“.
Hillatraud, der ſich jehr aufgeregt geberdet, wirb mit
Mühe beruhigt und endet fchließlich, nach mehrern, mit
großer Vehemenz hervorgeiprubelten Sägen, mit der Ver-
fiherung: „Ich bin ein altgedienter Soldat, meine That
geſchah, um Frankreich zu rächen, ich babe eine göttliche
Miffion zu erfüllen gehabt.“
Zum Schluffe wird die Ausfage des Civilgouverneurs
ber Provinz, Duque de Trias, zur DVerlefung gebracht,
da diefer von dem ihm gefeßlich zuftehenden Vorrecht Ges
brauch macht, ftatt perfönlich vor Gericht zu erjcheinen,
Ichriftlich zu deponiren. Er fchreibt im wefentlichen: „Ich
begab mich, als ih von dem Attentat Kunde erhielt, ſo⸗
fort zum Unterfuchungsrichter, und ba fich dieſer bereits
zur Erhebung der Thatumftände in die Wohnung des
Exmarſchalls Bazaine verfügt hatte, folgte ich ihm dahin.
Mr. Bazaine, ven ich perfönlich von Paris Her kannte,
erzählte mir jelbft ben Hergang. Er glaubte zuerft durch
einen Piſtolenſchuß verwundet zu fein, jo kräftig war der
Stoß, den er erhielt. Hillairaud wurde auf der Stelle
feftgehalten und verhaftet. Ich juchte ihn im Polizei-
gefängniß auf, und da der Unterjuchungsrichter, der ſich
in meiner Begleitung befand, nicht franzöſiſch fpricht,
fungirte ich felbft beim erften Verhör als Dolmetjcher.
Seine Ausfagen find im Protofoll getreulich wienergegeben.
Ich habe ven Eindruck gehabt, einen exaltirten Menſchen
vor mir zu fehen.‘
Das Attentat auf Bazaine. 265
Am zweiten DVerbantlungstage fand das Plaidoyer
bes öffentlichen Anflägers ftatt.
Der Generalftantsanwalt Buenaventura Muñoz
y Rodriguez erzählt den Hergang des Verbrechens.
Er ſtützt ſich zunächſt auf Die Ausfage Bazaine’s, des ein-
zigen Thatzeugen. Er conftatirt demgemäß, daß in dem
Zwiegefpräch, welches dem Attentat voranging, fein auf-
vegenver Streit, Feine Divergenz der Anfchauungen zu
Tage getreten fei. Hillairaud Hat das Verbrechen, um
beffentwillen er angeklagt worben ift, in einem Augen⸗
blick verübt, da er fich bereitd verabjchiebet hatte. „Er
war durch Feine Provocation gereizt, er bat zugeſtoßen,
als fein ahnungsloſes Opfer ihm ven Rüden zuwandte.
Seine That ift alfo mit beſonderer Tüde und Hinterlift
verübt, fie ift ein menchlerifcher Mordverſuch. Erſt bei
ter Schlußverhandlung am gejtrigen Tage ift es ihm ein-
gefallen zu behaupten, er habe im göttlichen Auftrage ge-
bantelt, Gott felbjt hätte ihm befohlen Frankreich zu
rächen. In dem Zagebuche aber, das Hillatraub geführt
und das bei feiner Verhaftung in feinem Beſitz vorges
funden wurde, hat er mehrfach mit dürren Worten nieber-
gejchrieben, er glaube an Teinen Gott.
„Das Gericht wird fich gewiß der Erfenntniß, welche
das Reſultat wiljenichaftlicher Beobachtung der Natur ift,
nicht verjchließen. Es kann aber Hypotheſen nicht zur
Bafis feiner Urtheile annehmen, die zwar von einer Reihe
fonft hochgeachteter Naturforicher als erwieſen betrachtet
werben, mährend andere Gelehrte fie noch als fehr der
Prüfung und Nichtigftellung bebürftig erflären, und end»
lich dritte, nicht minder hochſtehende Autoritäten fie ganz
und gar als unzuläffig, phantaftifch und mit den Geſetzen
der Natur in Wiberjpruch ftehenp verwerfen. Der Hypno⸗
tismus und bie Suggeftion mögen in ver Zukunft berufen
266 Das Attentat auf Bazaine.
fein, noch eine große Rolle bei der Entſcheidung zweifel-
hafter Fälle zu fpielen — im gegebenen Yalle pürfen fie
ebenfo wenig angerufen werben, als bie Lehre vom un⸗
wiberftehlichen Zwange der Determiniften ober bie Häufig
gar arg misbraudhte Theorie der Unzurechnungsfähigleit
infolge von Wahnvorftellungen.
„Das fachverftändige Gutachten hat mich nicht einen
Augenblid in ber Veberzeugung wanfend gemacht, daß
ber Angellagte fich der Tragweite feiner Handlungen ftets
vollfommen bewußt geweſen, und baß bie Triebfeder weit
eher aus eitler Ruhmfucht als infolge krankhafter Geiſtes⸗
jtörung hervorgegangen ift. Nichtsbeftoweniger kann man
einen großen Theil deſſen, was die Gerichtsärzte auf
Grund ihrer Beobachtungen feftgeftellt Haben, ohne weiteres
als richtig anerkennen. Der Angeklagte handelte offenbar
in einem Zuftande bochgrabiger Erregung. Er ift ercen-
triih und nimmt feine Phantafien für reale Wirklichkeit.
Dies genügt aber durchaus nicht, um ihn als unzuredh-
nungsfähig zu bezeichnen.“
Den Schluß der Rebe des Generalftaatsanwalts bil-
bete eine lichtuolle Auseinanverfegung, daß es nicht Sache
ber Spanifchen Gerichtsbarkeit fein könne, Dinge zu unter⸗
fuchen, die fich ausſchließlich auf die Politik ausländiſcher
Staaten beziehen. „Die Frage, welche die Richter hier zu
beantworten baben, iſt lediglich von dem Gefichtspunfte
zu betrachten: Bazaine ift ein Ausländer, der unter dem
Schutze fpanifcher Gefete, auf die Gaftfreundichaft Spa-
niens bauend, fich daſelbſt niedergelaffen hat, und Hil⸗
lairaud ift ein anderer Ausländer, der bie fpanifchen Ge-
ſetze auf das gröblichfte verlegt hat. Es entzieht fich
vollkommen ver Competenz eines fpanifchen Gerichthofes,
zu enticheiven, ob Bazaine fich gegen Frankreichs militä-
rifhe Ehre vergangen hat oder nicht; relevant ift bier
Das Attentat auf Bazaine. 267
nur, ob Hillatraub eine That beging, für die er verant-
wortlih ift und die nach ſpaniſchem Recht ftrafbar er-
ſcheint.
„Ein Zweifel an dem ſubjectiven Thatbeſtand iſt aber
vollftändig ausgeſchloſſen.“
Der Generalſtaatsanwalt beantragt unter Erwägung
der mildernden Umſtände ſowie der Erſchwerung wegen
der beſondern Tücke des Angriffs, Hillairaud ſei zu
ſchwerem Kerker in der Dauer von acht Jahren und einem
Tage zu verurtheilen.
Der Vertheidiger Don Alvaro de Figueroa nimmt
das Wort.
In blendender, formvollendeter Weiſe verſucht Don
Alvaro gegen die unerbittliche Logik des Staatsanwalts
anzukämpfen. Zunächſt rügt er einige Formfehler, die
im Laufe der Unterſuchung vorgekommen ſind, z. B., daß
der Gouverneur von Madrid, der nicht als Gerichts⸗
dolmetſcher beeidet worden, bei dem erften Verhöre Hil⸗
lairaud's als ſolcher fungirte, dann entwirft er eine
Schilderung des Charakters des Angeklagten. Geſtützt
auf die Anſicht und die Mittheilungen der Gerichtsärzte
zeigt er, wie der krankhaft überreizte Patriotismus des
freiwilligen Soldaten durch die Thatſache der Capitulation
von Metz auf das äußerſte geſteigert, im Laufe der Jahre
zu fixer Wahnvorſtellung geworden iſt, die übermächtig die
ſonſt durchaus ehrenwerthen Inſtincte und Gefühle des
Mannes niederdrückt und ihm den Stahl in die Hand zwingt.
Er proteſtirt dagegen, daß dieſes Attentat als Mordverſuch
qualificirt werde. Hillairaud war mit Bazaine allein,
der kräftige Mann mit dem hinfälligen Greiſe. Wenn
er ihn wirklich tödten wollte, nichts hätte ihn daran ver⸗
hindert. Allein dieſe Abſicht war gefallen, als er ſich
dem gebrechlichen alten Manne gegenüber ſah. Schon
268 Das Attentat auf Bazaine.
wollte Hillairaud fich zurüdziehen, als vie unglückliche
Aeußerung Bazaine’8 über Eljaß-Lothringen ihm die Be-
finnung raubte. Das Blut ftieg ihm zu Kopfe, bie
Wahnvorftellung war gewedt, ohne richtiges Bewußtſein
beffen, wa® er thue, ftieß er zu, und ohne fich zu über-
zeugen, welche Wirkung fein Stoß gehabt, ging er ftolz
erhobenen Hauptes davon und fagte: „Sch habe Frank⸗
reich gerächt!“ Ein folder Mann ift fein Mörter. Es
ift ein Monomane, der Mitleid, nicht Strafe verdient. —
Der Vertheidiger fordert die Freiſprechung feines Clienten.
Der VBorfigende richtet an Hillairaud die Frage, ob
er noch etwas zu feiner Entlaſtung und Bertbeibigung
vorbringen könne.
Hillairaud erklärt, die Hand zum Himmel bebent,
er habe recht gehandelt. Die Liebe zum Vaterlande babe
ihn befeelt und die Vorfehung ihn zu ihrem Werkzeuge
erforen.
In feinem Moment ver Verhandlung bat fein Be
nehmen etwas fo ausgeiprochen Komdöpienhaftes gehabt ald
in dieſem ernften Augenblid.
Der Präfident erklärt, das Urtheil werde am Montag
verfünbigt werben.
Dem fpanifchen Recht zufolge ift die Urtheilsverfün-
bigung mit eingehender Motivirung verjeben.
Nah trodener Aufzählung ver die That begleitennen
Umftände und einer Angabe über bie befannten That:
fachen des Vorlebens des Angeklagten, wirb das Bud
vefjelben einer eingehenden Beſprechung unterzogen unt
daraus feine hervorſtechendſten Charaktereigenjchaften de⸗
ducirt. Nach Erwägung der von dem öffentlichen Ans
kläger und Verteidiger vorgebrachten Momente tritt ber
Gerichtshof in feinem Urtbeil den Ausführungen der
Stautsanwaltichaft durchweg bei, verwirft Die von ihr
Das Attentat auf Bazaine. 269
angefochtene Theorie von der Willensunfreiheit des Atten-
täter8 und verurtheilt ihn entſprechend dem Antrage bes
öffentlichen Anklägers zu achtjährigem Zuchthaufe.
Diefer Proceß, der weit mehr durch die Perfon deſſen,
gegen den ber Mordanfchlag unternommen wurde, als bie
Perjönlichfeit des Attentäters oder die Einzelheiten bes
Verbrechens bemerfenswerth erfcheint, gibt ein jehr aner-
fennenswertbes Bild von der Vorurtheilsloftgfeit und Un-
befangenheit fpanifcher Nechtiprehung. Die Unzugäng-
lichleit gegenüber politifchen Erwägungen, die fich freilich
überall von ſelbſt verftehen follte, wirb leider nicht bei
allen Richtern angetroffen. Doch wenn wir biefen Um⸗
ftand auch ganz aus dem Bereich umferer Bemerkungen
ausicheiden, können wir das Verhalten des Tribunals von
Madrid gegenüber ven hochmobernen Theorien geminverter
Zurechnungsfähigkeit wegen krankhafter Wahnvorftellungen
um jo unverhoblener und rüdhaltslofer billigen. Es tft
leider derzeit am vielen Orten die faliche Sentimentalität
obenauf, die in jebem Verbrecher nur einen bedauerns⸗
werthen Geiſteskranken erbliden und ihn dem rächenpen
Arm der Gerechtigkeit entziehen will. Es ift erfreulich,
dag man jenfeit der Pyrenäen dieſem Tagesgötzen nicht
zu opfern willens ift.
Ein Diebſtahl im wiener Landesgerichtsgebäude.
1880 und 1881.
Am 30. März 1880, dem Dienstage nach Oftern,
entdecte der nachmittags im Landesgericht in Wien in
Strafſachen amtirende Oberlandesgerichtsratb Vincenz
Droz, baß aus ber verfperrten oberften und unterften
Schublade feines im Amtszimmer befinblichen Schreib-
tiiches die von ihm daſelbſt verwahrten, ihm perjönlicdh
gehörenden Staatspapiere und Einlagebücher im Weribe
von zujammen 23995 Gulvden 14 Kreuzer entwendet ſeien.
Spuren eines gewaltfiamen Einbruchs waren nicht vor⸗
banben, insbejonbere auch nicht an dem Schreibtiich und
ben verfperrt gefunbenen Schlöffern, bie wegen bed in
ihnen angebrachten Dorns nur mit einem gebohrten Schlüf-
jel geöffnet werben konnten.
Droz Hatte feine Wertbiachen feit dem Monat De—
cember 1879 in dieſem Schreibtijche verwahrt und bas
ſelbſt auch belaffen, obgleich er im Februar 18830 bemerkte,
daß eine goldene Uhr, die er im Schreibtifch aufhob, ab-
handen gelommen war. Er erinnerte fich beftunmt, feine
ſämmtlichen Werthpapiere am 2. ober 3. Mär; 1880
noch in Ordnung gefunden, und glaubte, fie auch noch
am 10. März controlirt zu haben.
Ein Diebftabl im wiener Landesgerihtsgebäube. 271
Die fofort angeftellten polizeilichen Nachforfchungen
ergaben, baß ber größte Theil der geftohlenen Papiere
am 27. März 1880, dem Charfamstage, furze Zeit nad)
8 Uhr morgens, bei verjchievenen größern Gelbinftituten
realifirt worden war. Man mußte annehmen, daß ber
Dieb, um einer Entdedung vorzubeugen, feine Beute fo
raſch als möglich veräußert habe, und fchloß daraus, daß
der Diebftahl vermuthlih am Nachmittag oder Abend
bed 26. März 1880, des Charfreitagd, verübt worben
jet, denn am folgenden Tage waren, wie erwähnt, bie
Bapiere verkauft worden.
Der Oberlandesgerichtsratb Droz pflegte bis nach⸗
mittags 2 Ubr auf dem Bureau zu fein, dann zu Mit-
tag zu eſſen und nachher noch 1—2 Stunden in feinem
Amtszimmer zu arbeiten. Am Charfreitag hatte er fich
durch den Kirchenbefuch abhalten Laffen, nachmittags fein
Bureau nochmals zu betreten. Keiner von den fich bis
6 Uhr abends in den Gängen bed Landesgerichts auf-
baltenden Aufjehern, Amtsdienern und den Yuftizwacht-
ſoldaten Hatte an jenem Charfreitag etwas Auffallendes
bemerft. Es war von vornherein Har, daß ber Thäter
von dem Vorhandenſein der Werthpapiere in dem Schreib»
tifch des Oberlandesgerichtsraths Droz Kenntniß haben
mußte, und daß e8 eine in ben Gerichtslocalitäten be-
fannte Perjönlichleit war, die das Verbrechen ausführen
fonnte, ohne den Verdacht der Diener- und Wachtmann⸗
fchaft zu erregen.
Der Unterfuchungsrichter, Landesgerichtsrath Dr. von
Holzinger, vermuthete deshalb, daß fich der ‘Dieb unter
den Angeftellten und Bebienfteten des Gerichts ſelbſt be-
finden würbe.
Am 2. April 1880 gelangte an die Polizetvirection
272 Ein Diebftahl im wiener Lanbesgerichtsgebäube.
in Wien folgender, am 1. April in dem wiener Stubt-
bezirfe Wieden zur Poft gegebener Brief:
„Bon außen:
An das Löhliche Polizei-Amt
Wien
Anzeige wegen bes
gejtohlenen Geldes im
Landesgericht.
Bon innen:
Wien 31/3 880.
Löbliches Polizet-Amt |
Man laffe ftrenge bei dem Flickſchneider Bernhard
B...... „, Alſerſtraße wohnhaft Hausdurchſuchung hal⸗
ten und man wird noch einen großen Theil des im Lan⸗
beögerichtögebäude geftohlenen Geldes finden, ein Gerichts-
biener ift der Dieb, B...... ber Helfersbelfer und
Hehler. B...... tit ein Ausländer.”
Die Sofort angeftellten Ermittelungen führten zwar zu
bem Refultat, daß der bezeichnete Bernhard B......
in ber Alferitraße wohnte; aber er war ein völlig unbe⸗
Icholtener Mann, der nur für einige größere Anftalten
arbeitete, Tein Aushängeſchild beſaß und auch fein offenes
Gefchäft betrieb. Er erflärte, daß er von dem Perfonal
bes Landesgerichts niemand Tenne und nicht wifle, wer
ben anonymen Brief gefchrieben haben möge. Dem ſchar⸗
fen Auge des Unterfuchungsrichtere war dieſer Brief in
mehr als einer Beziehung merkwürdig. Das Bapier wer
bem beim Landesgericht verwenbeten Conceptpapier aufs
fallend ähnlich, Die Schrift, offenbar verftellt und gezwungen,
jie erinnerte in ihrem Ductus und ihren ältern Bud-
ftabenformen an eine im Auslande nicht felten gebrauchte,
in Oefterreich faft gar nicht vorfommende Art der Kanz-
Ein Diebftahl im wiener Lanbesgerihtsgebäube. 273
feifchrift. Die in Defterreich üblichen Ausdrücke der Um⸗
gangs- und Amtsfprache waren fo forgfältig vermieben,
daß es auffallen mußte. Während einem Bewohner von
Wien der populäre Ausdruck „Polizeidirection“ gewiß
nicht unbefannt tft, fchrieb der DVerfaffer des Briefes
„Bolizei-Amt”. Bei genauerer Betrachtung ſah man,
daß der erſte Buchitabe „G“ des Wortes „Gerichtspiener”
uriprünglih ein „A geweien war. Der Schreiber hatte
offenbar den im wiener Landesgerichte ausſchließlich übli-
hen Namen „Aufjeher” over „Amtsdiener” brauchen
wollen und erſt im legten Augenblick gefliffentlich ven
Ausdrud „Gerichtöbiener” dafür geichrieben. Dazu am,
daß die auf der Außenfeite des Couverts angebrachte Heine
Rubrik „Anzeige wegen des gejtohlenen Geldes im Lan⸗
besgericht” nach Form und Inhalt derjenigen glich, welche
bie Rechtspraktikanten und Schriftführer im Einreichungs-
protofolle gewöhnlid anwenveten. Die Bemerkung,
„B...... iſt ein Ausländer”, hatte wahrſcheinlich den
FZweck, die Behörde zu um ſo eifrigerer Verfolgung der
falſchen Spur zu veranlaſſen. Alle dieſe Umſtände wie⸗
ſen darauf hin, daß der Dieb unter dem Gerichtsperſonal
ſelbſt zu ſuchen ſei und zwar nicht unter den unterſten
Kategorien, denen man ein ſo hohes Maß von Berech⸗
nung und Ueberlegung kaum zutrauen konnte. Der Ver⸗
dacht concentrirte ſich zulezt auf den Rechtspraktikanten
Karl Goth, der bis kurz vor Verübung des Diebſtahls
bei dem Oberlandesgerichtsrath Droz als Schriftführer
verwendet worden war. ‘Der Angefchuldigte ift der Sohn
bes Zollamtsofficial® Goth zu Gottesgab in Böhmen und
ftand im 28. Lebensjahre. Er war zu Eger in Böh-
men erzogen und bort in die Schule gegangen, er hatte
fodann ein Jahr in Graz und brei Jahre in Wien ftu-
biert und feine Studien im Jahre 1877 vollendet. Als
XXII. 18
274 Ein Diebflahl im wiener Landesgerihtsgebäude.
Referveoffizier der Verpflegungsbrandhe nahm er an bem
Bosnien Feldzuge theil, beftand im Jahre 1879 vie
zweite juriftiiche Staatsprüfung, wibmete fich hierauf der
vorgefchriebenen gerichtlichen einjährigen Praris, in ber
Abficht, ſich ſpäter der Advocatur zuzuwenden. Seit dem
dritten Jahre ſeiner juriſtiſchen Studien war er durch
den Tod ſeines Vaters jeder Unterſtützung aus dem älter⸗
lichen Hauſe beraubt. Er lebte theils von dem Ertrage
ſeiner Nebenbeſchäftigungen in Advocatenkanzleien, theils
von den Unterſtützungen eines vermögenden Verwandten,
theils aber auf Credit, den junge Leute dieſer Art leicht
zu erhalten pflegen. Im ganzen waren feine Ber-
hältniffe, ebenfo wie bie feines gleichfalls in Wien
als Rechtspraktikant Lebenden Bruders, beſchränkt und
bürftig.
Karl Goth war von Mitte Januar bis zum 16. März
1880 dem Oberlanbesgerichtsrath Droz als Schriftführer
zugewiejen worden, aber am 16. März an das in einem
andern Gebäude untergebrachte Landesgericht für Civil⸗
vechtöfachen verfett. ‘Die räumlichen Verhältniffe im
Landesgericht für Straffachen und im Bureau des Ober-
landesgerichtsrath Droz waren ihm natürlich befannt.
Im Bureau hatte er fich fogar vom 3. bis 10. März,
weil Oberlanbeögerichtsrath Droz durch Krankheit aus
Haus gefeffelt war, allein aufgehalten. Schon am 2.
oder 3. März hatte Droz dem Praktikanten Goth eins
der in feinem Befig befindlichen Werthpapiere, nämlich
ein halbes 1864er Los, zum Zwecke ber Vergleichung
mit einem Falſificat gezeigt. Ueberdies wollte es ber
Zufall, daß Droz während feiner Krankheit dem Goth
feinen Schreibtifchichlüffel zufendete, um in ber linfen
oberſten Schublade ein dort liegendes Recept zu ſuchen und
ihm daſſelbe zuzuſchicken. In dieſer Schublade befand
Ein Diebftahl im wiener Tandesgerihtsgebäude. 275
fi ein Theil der Werthpapiere. Goth öffnete im Bei⸗
ſein der Dienerin, die ihm den Schlüffel gebracht hatte,
den Schreibtifch, nahm das Necept heraus, jchloß ven
Schreibtiſch fofort wieder zu und hänbigte das Recept
und den Schlüffel der Dienerin ein, um beides ihrem
Herrn zu übergeben. Oberlanvesgerichtsrath Droz pflegte,
wenn er fih im Bureau befand, feine zu einem Bunde
vereinigten Schlüffel, darunter auch den Schlüffel des
Schreibtifches, auf feinem Tiſche Liegen zu laſſen. Er
verließ das Bureau öfter auf kürzere ober längere Zeit,
und ber allein zurückhleibende Goth hatte ſomit Selegen-
beit, fich einen Wachsabdruck des Schreibtiichichlüffels zu
verjchaffen. Goth beſaß ala Schriftführer einen Schlüffel
zum Bureau bes Oberlandesgerichtsraths Droz. Diejen
Schlüſſel Hatte er bei feiner Verſetzung an das Landes⸗
gericht für Civilſachen an feinen Nachfolger nicht ab-
gegeben. ALS viefer ihn Dazu aufforberte, ſandte er dem⸗
ſelben einen Schlüffel zu, ber zwar die Bureauthür
ebenfalls ſchloß, aber nicht derjenige war, welchen ber
Praktikant Goth bei feinem Antritt erhalten hatte. In
der kritiſchen Charwoche des Jahres 1880 war Goth
bereit dem Landesgericht für Civilfachen zugetheilt, er
blieb vom Amte weg und entjchulbigte fich mit heftigem
Unwoblfein, welches ihn nötbigte, das Bett zu hüten.
Es wurde indeß bewielen, daß ihn dieſes angebliche Un-
wohlfein nicht gehindert hatte, Gaft- und Kaffeehäufer zu
bejuchen. Wie wir bereits erwähnt haben, tft ber ‘Dieb-
ftahl wahricheinlich am Nachmittag oder Abend des Char-
freitags den 26. März verübt. Es gelang dem Alnge-
ſchuldigten, nachzuweiſen, wo er an biefem Tage bis abends
6 Uhr fich aufgehalten Hatte. Weber bie Zeit von 6 bis
8 Uhr abends konnte er dagegen genügende Auskunft nicht
geben. Er behauptete, von 6 bis 8 Uhr in der Nähe
18*
276 Ein Diebſtahl im wiener Lanbesgerihtsgebäube.
der Votivkirche geftanden und ſich bafelbft die vorüber
gehenden Leute angefehen zu haben. Dieſe Kirche iſt wur
150— 200 Schritt entfernt von dem Gebäube bes Landes⸗
gerichts.
Es trafen unleugbar verſchiedene Gründe zuſammen,
welche den Praktikanten Goth des Diebſtahls verdächtig
machten. Der Dieb mußte vertraut ſein mit allen rãum⸗
lichen Verhältniſſen des Landesgerichts in Strafſachen,
um das Verbrechen ausführen zu koͤnnen. Der Dieb
mußte Kenntniß davon haben, daß der Oberlandesgerichts⸗
rath Droz beträchtliche Summen von Werthpapieren im
Schreibtiſche aufbewahrte, und daß Droz am Nachmittage
des Charfreitags nicht in das Bureau kommen werde.
Goth war längere Zeit im Landesgericht für Strafſachen
befchäftigt gewefen, hatte monatelang mit dem Dberlandes-
gerichtsrath Droz als feinem Vorgefegten verkehrt, und
tonnte alfo die Gelegenheit wahrgenommen haben, am
Charfreitag das Verbrechen auszuführen. Er wußte auch,
daß der Oberlandesgerichtsrath Droz alle Samstage an
der in den Räumen bes Landesgerichtspräſidiums ſtatt⸗
findenden Revifionsfigung theilzunehmen hatte und folg-
(ich verhindert war, an biefem Tage nachzufehen, ob feine
Werthpapiere noch vollzählig vorhanden feien. Zufällig
war am Charfamstage des Jahres 1880, mad Goth in-
deß nicht wiffen konnte, weil er bereit8 an ein anderes
Gericht8pepartement verfeßt war, jene Sitzung ausge⸗
fallen und ver DBeftohlene hatte bereitd an biefem Tage
entbedt, daß feine Werthpapiere verſchwunden waren.
Goth war ein gewandter und geriebener junger Mam,
jobaß man ihm auch zutrauen konnte, ben anonymen
Brief an die Polizeibirection gefehrieben zu haben, wel-
der die Behörde auf eine falſche Spur leiten ſollte. Der
nterſuchungsrichter ſah ſich unter dieſen Umſtänden ver⸗
Bin Diebftahl im wiener Landesgerichtsgebäude. 277
anlaßt, über Karl Goth, den er bereit früher als Zeu⸗
gen vernommen hatte, am 13. April 1880 vie Unter-
fuchungshaft zu verhängen und eine Hausdurchſuchung
anzuorpnen. Goth leugnete die ihm zur Laſt gelegte
That. Er behauptete, daß er den von feinem Vorgänger
ibm übergebenen Bureaufchlüffel feinem Nachfolger zu-
geftellt habe, und ferner, daß er von dem Vorhandenfein
der Werthpapiere im Schreibtiich des Oberlandesgerichts⸗
raths Droz nichts gewußt babe. Er räumte zwar ein,
daß ihm Droz am 2. oder 3. Mär; 1880 ein halbes
208 gezeigt habe, fügte aber hinzu, er habe geglaubt,
daß Droz dieſes Werthpapier nicht aus dem Gchreib-
tifh, fondern aus den Acten entnommen habe Den
Schneider Bernhard B.... wollte er nicht kennen und
erflärte mit Beftimmtheit, daß er den anonymen Brief
an biefen Schneider nicht gejchrieben habe. Die Haus-
durchjuchung blieb erfolglos, wohl aber fand man in ber
von Goth im Bureau des Oberlanbesgerichtsraths Droz
benutten Schreibunterlage ein verdorbenes amtliches Blan⸗
tet, welches auf ber erften Seite eine Zufammenftellung
von Buchftaben und Ziffern enthielt. Möglicherweiſe
follte das eine Vertheilung einer größern Summe in ben
Geldſorten verfchiedener Staaten beveuten. Auf der zwei»
ten Seite des Blankets ftand unter dem Datum des
2. März 1880 eine Vergleichung bed Eurswerthes ber
1850er, 1854er, 1860er und 1864er Staatsloſe mit
ihrem Nominalwerthe. Loſe der beiden Teßtgenannten
Sabre befanden ſich unter den dem Oberlandesgerichts⸗
rath Droz entwenbeten Papieren. Der Angejchulpigte
ftelfte nicht in Abrede, daß dieſe Niederſchriften von fei-
ner Hand herrührten. Er erflärte, fie ſeien lediglich
Spielereien gewejen, angeregt durch bie Gejpräcdhe ber
Mitglieder einer Losgeſellſchaft, mit welchen er im Gaſt⸗
278 Ein Diebſtahl im wiener Landesgerichtgebände.
hauſe häufig zufammengetroffen jei. Da tie Uinterfuchung
weitere Belaftungsmomente nicht zu Tage förderte, wurbe
Karl Goth nach etlichen Tagen wieber auf freien Fuß
gefegt. Er begab ſich auf einige Zeit nach Franzensbad
in Böhmen, wo fein Onfel und feine Tante ein größeres
Hotel und außerdem einen alanterieladen innebatten.
Die nach Franzensbad wie nach allen öfterreichiichen grö-
Bern Eurorten abgeorbneten Geheimpoliziften erhielten ven
Auftrag, das Thun umd Treiben des Karl Goth genau
zu überwachen. Der Unterfuchungsrichter in Wien fekte
bie Unterfuchung fort und fuchte nım zunächſt ven Käufer
der goldenen Uhr zu ermitteln, welche dem Oberlandes⸗
gerichtörath ‘Droz früher aus demſelben Schreibtifch ent-
wendet worden war. Aber alle Nachforfchungen waren
vergeblich. Dagegen jtellte fich heraus, daß ber Verkäufer
ber Droz'ſchen Werthpapiere die mitgeftoblenen 11 Ein-
(ngebücher der Neuen Wiener Sparfaffe an ber Kaffe bie
je8 Injtituts mit 4041 Gulden 44 Kreuzer am Morgen
des Charſamstags erhoben, aber die ebenfall® geftohlenen
zwei Einlagebücher ver Wiener Verkehrsbank im Betrage
bon 5806 Gulden 75 Kreuzer bei biefem Inſtitut nicht
präfentirt batte. ‘Der fcharffinnige Unterjuchungsrichter
wollte hieraus ven Schluß zieben, baß der Dieb fich nicht
traute, bet der Wiener Verkehrsbank das Geld zu for-
bern, weil er befürchtete, vort etwa einem Belannten zu
begegnen. Es war nämlich feitgeftellt worben, daß ver-
jchiebene früher beim Landesgericht in Straffachen ange
jtellte Hülfstanzleibeamte damals bei der Verkehrsbank
befchäftigt wurden. Diele Vermuthung erwies fich jeboch
al8 unrichtig; es wurde ermittelt, daß bie betreffenden
Einlagebücher in verjchierenen Wechfelftuben von einem
Unbekannten unter dem Namen ‚A. Wimmer“ und „S.
Wimmer” realifirt worden waren. Ende des Jahres 1879
Ein Diebftahl im wiener Landesgerichtsgebäude. 279
hatte ein Fremder in einer dieſer Wechfelftuben ein Fünf⸗
tel einer Norpbahnactie veräußert und ben bezüglichen
Schein ebenfalls mit „A. Wimmer“ unterzeichnet. “Die
Schriftzüge fehienen ähnliche zu fein. Ein Offizier hatte
fich nach diefem Verkaufe in der genannten Wechjelftube
erkundigt. Auf Erſuchen des Unterfuchungsrichters ftell-
ten das Generalcommando und das Kriegsminiftertum
bie eingebenpften Nachforichungen an nach der Perjon
biejes Offiziere. Es gelang indeß nicht, ihn ausfindig zu
machen. Erft in ver Schlußverhandlung erfchien, wie wir
gleich hier bemerfen wollen, der durch bie Zeitungen aufs
merkſam gemachte betreffende Offizier, und es ergab fic,
daß zwifchen dem Verkäufer eines Fünftels einer Nord-
bahnactie und dem ber Einlagebücher der Wiener Ber-
kehrsbank keine Beziehungen beftanben.
Auch andere Spuren wurden verfolgt; z. B. fiel ein
gewiſſer Verdacht auf einen Amtsdiener, ber ſich eigen-
mächtig aus dem Dienfte entfernt hatte; aber alle Ver⸗
bandlungen blieben vefultatlos, und faft ſchien es, als ob
der freche ‘Dieb, der im wiener Landesgericht fo bedeu⸗
tende Werthobjecte entwendet hatte, nicht entdeckt werben
follte.
Da kamen aus Franzensbab eines Tags Meldungen,
welche die dunkle Sache aufbellten. Karl Goth verkehrte
daſelbſt in intimfter Weife mit zwei gleichalterigen Ge⸗
noffen: Franz Alerander Beder und Ernft Ko—
petzky. Alle drei, beſonders aber Becker, lebten auf
einem Fuße, der mit ihren frühern Vermögens» und Er-
werbsverhältniffen in feinem Verbältniß ſtand. Becker
ftammte aus einer in bürftigen Verhältniſſen lebenden
Familie, deren Erhaltung hauptſächlich auf den Schuls
tern feiner betagten, vom Hauſirhandel mit Schnittwaaren
lebenden Mutter ruhte. In Eger bejuchte Beder bie
280 Ein Diebftahl im wiener Lanbesgerihtögebände.
Volksſchule und eine Gymnaſialklaſſe, in welcher er vie
Brüder Goth kennen lernte und fich mit ihnen befreum-
dete. Später erhielt er Taufmännifchen Unterricht; er
war dann in verjchiedenen Stellungen als Commis und
Handlungsreifender und erwarb fich mitunter auch in
felbftändigen Gefchäften fein Brot. Mit den Brüdern
Goth ſetzte er feinen Verkehr in Graz und in Wien fort.
Im Winter 1879 und 1880 kam er in ziemlich verwahr-
loſtem Zuftande nach Eger zurüd und erhielt damals von
einer ebenfall® in dürftigen Verhältnifien lebenden Schwe⸗
fter Geld zugeſendet, um fich Kleider anzufchaffen. Im
Sommer 1880 lebte er nun in Eger und in Franzens-
bad auf ziemlich großem Fuße. Er unterftügte feine Ver⸗
wandten reichlich, jchaffte fich Möbel und Waaren an,
und alle, die ihn früher gefannt hatten, waren ſehr er-
ftaunt darüber, daß fich feine Verbältniffe fo gründlich
geändert hatten und baß er plößlich ein wohlhabenber
Mann geworben war.
Kopetzky, ein gänzlich” vermögenslofer Menfch, ber
früher in Wien als Buchhalter beichäftigt gewefen war,
und durch Vermittelung von Karl Goth in dem Galan-
teriegejchäft feiner Tante in Franzensbad eine Anftellung
erhalten hatte, verkehrte faft täglich mit Goth und Becker.
Alle drei waren nur auf Vergnügen und Unterhaltung
bedacht. Wie Goth felbit in einem Briefe, ber fpäter
zu den Acten gelommen ift, ſich ausprüdt, führten er
und Kopetzky ein „gemüthliches Schlaraffenleben mit
ihrem Oberfchlaraffen” (Beder). Eine Verwandte Becker's
hatte geſprächsweiſe geäußert: Becker müffe ihr fo viel Gelb
geben, wie fie brauche. Er habe ihr ein fünffach ver-
tiegeltes Padet zur Aufbewahrung zugeftellt, welches er
gar nicht bei fich tragen dürfe. Das Geld, mit welchem
er ſie und andere unterftüge, gehöre nicht ihm.
Ein Diebftahl im wiener fanbesgerihhtsgebäube. 281
Infolge dieſer Nachrichten und auf die telegraphifche
Mittheilung, daß Beder mit dem Kurierzug der Franz-
Joſephsbahn am 2. Juli 1880 des Morgens in Wien
eintreffen würde, wurden fofort Detectivs auf ven Bahn⸗
bof beorbert umd angewiefen, ven DBeder zu verhaften
und an das Landesgericht für Straffachen in Wien ab-
zuliefern; doch, wenn Karl Goth, ver jchon früher nach
Wien zurüdgelehrt war, feinen Freund auf ver Bahn
erwarten follte, die Verhaftung jo vorzunehmen, daß Goth
davon nichts erführe. Es koſtete ver Polizei einige Mühe,
biefer Weifung nachzufommen, denn Beder wurde von °
ben Gebrüdern Goth erwartet und alle brei blieben meh⸗
rere Tage unzertrennlich zufammen. Erft am 6. Yuli
1880 wurde Beder einmal allein betroffen und nun ſo⸗
fort gefänglich eingezogen. Schon am Morgen bes fols
genden Tages erichten Karl Goth bei der Polizeidirection
und brachte an: Sein Freund Becker habe ein für ven
vergangenen Abend verabrevetes Rendezvous nicht einge-
halten und auch in der verwichenen Nacht ihr gemein-
fchaftliches Quartier nicht aufgefucht. Er wolle fich deshalb
erkundigen, ob fein Freund etwa wegen bes ungerechten
Verdachtes, betreffend ven Diebftahl ver Werthpapiere des
Oberlandesgerichtsraths Droz, verhaftet worben fei. Es
war dies offenbar ein thörichter Streich, wie er auch
dem fchlauejten Verbrecher zu paffiren pflegt. Denn es
mußte im höchiten Grade auffallen, daß Karl Goth die
Verhaftung feines Freundes wegen biefes Diebſtahls ver-
muthete, da e8 an und für fich gar nichts Beſonderes
war, daß ein Mann von fo Loderer Lebensweiſe mie
Becker einen Abend und eine Nacht fich nicht hatte fehen
laffen. Der Unterfuchungsrichter hatte fogleich auf tele-
graphifhem Wege in Eger durch die Bezirkshauptmann⸗
fchaft eine Hausburchfuchung bei ber Verwandten Beder’s
982 Ein Diebftahl im wiener Lanbesgerihtsgebänbe.
vornehmen Laffen, welche von ihm ein fünffach verfiegel-
te8 Packet zur Aufbewahrung empfangen hatte. Dieſes
Badet wurde auch wirklich in Beichlag genommen. Der
Unterfuchungsrichter war aber fehr enttäufcht, als ſich
beransftellte, daß fich in jenem Packete mır militäriſche
Urlaubs⸗Certificate, Marſchrouten⸗Blankete und ein Ein⸗
lagebuch der Neuen Wiener Sparkaſſe über 10 Gul-
ben, auf ven Namen eines minderjährigen Neffen Becker's,
vorfanden. An Geld und Geldeswerth wurden bei Beder's
Verhaftung zum Theil in Wien, zum Theil in Eger, gegen
1400 Gulden in Beſchlag genommen, darunter zwei Spar:
fafjenbücher ber Sparkaſſe in Eger mit einer noch uner-
hobenen Einlage von zufammen 1220 Gulden. Becker
bezifferte auf Befragen die Höhe jeines Geſammtver⸗
mögens auf etiwa 5000 Gulden und gab barüber Zol-
gendes an:
Aus feinem Holzhandel, den er mit feinem Ontel
B.... in Graz bis zum Jahre 1875 betrieb, habe er
bei der Auflöfung des Gefchäfts eine Forderung von
3000 Gulden an ben genannten Onfel gehabt. Er er-
hielt von dem fegtern in Raten 2000 Gulden und ben
Reſt von 1000 Gulden escomptirte er in Graz bei einem
gewiffen 3... . für 700 Gulden.
Durch die in Graz angeftellten Mecherchen wurde feit-
geftellt:
Beder hatte als ftiller Gefellfchafter ein Holzgejchäft
bafelbft allerdings betrieben, der Onkel war jedoch bei
biefem Gejchäft zu Grunde gegangen und fpäter arın ge
ftorben. ‘Der genannte 3. in Graz hatte ein Accept bes
Onkels von Beder über 1700 Gulden gegen 1200 Gulden
baar und unter Einrechnung einer eigenen Forderung es⸗
comptirt. Das Accept hatte fich fpäter als werthlos
hergusgeftellt, und auch auf ein bem I.... von Becker
Ein Diebftahl im wiener Landesgerichtsgebäude. 283
damals gegebenes Deckungsaccept hatte I... . nichts er»
halten. Becker hatte ven I.... bei dieſer Gelegenheit
burch Probucirung eines Grundbuchsextracts getäufcht. Wie
I.... zugeftand, waren die Accepte, die Beder auf fei-
nen Oheim bejaß, fingirt und dazu beftimmt, bie Gläu⸗
biger zu betrügen.
Deder gab weiter an, daß er den Reſt feines Ver⸗
mögend von mehr ald 2000 Gulden während feiner brei-
jährigen Thätigkeit als Hanblungsreifender für ein Thee⸗
geſchäft erfpart habe. Seine frühern Chef8 bezweifelten,
daß auch der fparjamfte Reiſende in ber angegebenen Zeit
fih eine ſolche Summe habe erfparen können. Becker
hatte ihnen ftet8 den Eindruck eines völlig vermögens-
lofen Dienfchen gemacht, ja im Detober 1879, beim Aus-
tritt aus feiner Stellung, feinem Principal fogar gejagt,
daß er von allen Mitteln entblößt jet.
Aus Eger kamen neue Mittheilungen über Beder’s
foftipielige Lebensweise. Er Hatte den Verſuch gemacht,
bafelbft ein Haus für 8000 Gulden zu faufen, verjchie-
bene Reifen nach Hamburg unternommen, für ein in Wien
zu etablirendes Gefchäft Thee und Rum beftellt, ja zu
biefem Behufe einem lonboner Haufe ein ‘Depot von
50 Pfd. St. gegeben, und feine Verwandten mit Dar-
leben von mehrern hundert Gulden unterftügt. Es wurde
ermittelt, daß Beder, Karl Goth und Ernft Kopetzky ein
Champagnerjouper gehalten hatten. Bet biefer Gelegen-
beit zeigte Beder einer Kellnerin eine ganze Hand voll
Banknoten und bie Kellnerin bemerkte darunter eine
Zaufendgulvdennote. Ebenſo ſah ein Padträger ver Bahn
eined® Tages bei Zuftellung eines Trachtbriefes, daß
Becker's Kafjette größere Geldſummen enthielt.
Weiter ftellte fich heraus, daß Becker bei verfchiede-
nen iöraelitiichen Gefchäftsleuten in Galizien Forderun⸗
284 Ein Diebftahl im wiener Lanbesgerihtsgebänbe
gen im Betrage von 1200 Gulven ausftehen hatte. Er
batte biefe Summen ven Juden im Mai 1880, alſo
nicht lange Zeit nach dem Diebftahl im wiener Landes⸗
gerichtsgebäude, als Darlehn förmlich aufgedrängt.
Nach dem Caſſabuche, welches Becer führte, ver⸗
faufte er in ber Zeit vom 20. April bis 22. Juni 1880
in Eger öſterreichiſche Papierrente im Nominalwerthe von
7500 Gulden fir 5377 Gulden 13 Kreuzer und im Mai
deſſelben Jahres noch weitere 200 Gulven folder Rente
für 144 Gulden 16 Kreuzer. Becker vermochte dieſe An-
gaben feines Caſſabuchs nicht aufzuffären. Daſſelbe Eaffa-
buch wies nach, daß Beder ungefähr zu berjelben Zeit
für in der Filiale der Defterreichiichen Bank zu Eger ver-
faufte Werthpapiere 3807 Gulden eingenommen hatte.
Er wollte dieſen Betrag für Cheds erhalten haben, bie
er für einen fich damals in Eger aufhaltenden Reiſenden,
Namens Alter aus Hamburg, aus Gefälligfeit escomptirt
babe. Als man ihm einbielt, aus dem Caffabuche fei
wol der Eingang ber nbenbezeichneten Summe, aber nicht
beren Auszahlung an Alter erfichtlich, entichulbigte er fich
mit der Unzuverläſſigkeit feiner Führung des Caſſabuchs.
Troß ber forgfältigften Nachforfchungen in Eger und Ham⸗
burg ließ fich die Eriftenz eines Handlungsreifenden Alter
nicht feftftellen, wohl aber wiefen die Bücher der Defterrei-
chiſch⸗ Ungariſchen Bank nach, daß die von Beder verfauften
Werthpapiere nicht Checks, ſondern brei Kaffenjcheine ver
Ungariſchen Creditbank à 1000 Gulden geweſen waren.
Dieſe drei Scheine waren mit andern drei dergleichen
Scheinen am 29. März 1880 in Budapeſt ausgeſtellt
und von einem Manne Täuflich erworben, ber ben
lieben Schein mit „Adolf Stein” unterzeichnet
atte.
Ernſt Kopetzky hatte, wie man ermittelte, am 28. Mär;
Ein Diebftahl im wiener Ranbesgerihtsgebäube. 285
1880 Wien plößlich verlafien, fich tm Anfang und Mitte
April in Raab aufgehalten und bafelbft viel mit einem
BDelannten, David Stein, dem Inhaber eines Pfand⸗
leihgejchäfts, verkehrt. Der Vater dieſes David Stein,
ein alter Dann, ver feine Behaufung nicht mehr zu ver-
laffen im Stande war, bieß Adolf Stein.
Deder, der fih damals in Lemberg aufbielt, erhielt
nach der Ausfage eines bortigen Belannten in ber Mitte
des Monats April 1880 einen Gelbbrief und fagte bem
dabei anweſenden Freunde, daß der Brief Kaffenicheine
im Werthe von mehr ald 5000 Gulden enthalte.
Nah den Journalen der Poſtbehörde hatte Becker
am 21. April 1880 in Lemberg einen recommanbdirten
Brief erhalten, welcher am 19. April in Raab zur Poft
gegeben war.
Hieraus wurde der Schluß gezogen, daß Kopekky
einen Theil ver Beute vom Droz'ſchen Diebftahl in Buda⸗
peft in Kaffenfcheinen umgefeßt und von Raab aus an
Becker gejenvet habe.
Beder konnte diefe Thatjachen nicht in Abrede ftellen,
aber er log mit eiferner Stirn und blieb auch ven ur-
kundlichen Beweiſen der Defterreihifch-Ungarischen Bank
gegenüber dabei, daß er nicht Kaſſenſcheine, ſondern Checks
für den von ihm erfundenen Handlungsreiſenden Alter
escomptirt habe.
Allein ſeine eigenen Aufzeichnungen ſollten ihn über⸗
führen. Bei ſeiner Verhaftung war ein unſcheinbares,
in Glanzleinwand gebundenes Notizbuch in Beſchlag ge⸗
nommen worden. Auf dem letzten Blatte deſſelben be⸗
findet ſich eine Zuſammenſtellung der dem Becker von
galiziſchen Geſchäftsleuten ausgeſtellten Accepte. Unmittel⸗
bar darunter ſteht:
286 Ein Diebftahl im wiener Lanbesgerichtsgebäube.
„1339 f 44 U allgemeine Crebitbanf
5062 f Escompte. Wechsler B.
Friedr. Pettmann Sungfernftieg.‘
Die wiener Börfenfammer gab auf Befragen belannt,
daß die genannten Summen dem Waarenpreife eines reip.
zweier Börfenjchlüffe entjprächen, d. b. alfo dem An-
faufspreife von 25 Stüd Ungarifchen Allgemeinen Erebit-
banfactien, reſp. 50 Stüd Ungarifchen Escompte-Wechsler-
banfaktien, ſammt Taufenden Zinfen in der Zeit vom
20. März bis 10. April 1880.
Der Unterfuchungsrichter vermuthete, daß bie Diebe
einen Theil der Wertbpapiere des Herrn Droz zum An
fauf der genannten Erebit- und Wechslerbanfactien ver-
wenbet hätten und baß dieſe Papiere bei Friedrich Petts
mann in Hamburg verwahrt fein möchten. Es gelang
indeß der hamburger Polizei nicht, die Perſon tes my⸗
fteriöfen Friedrich Pettmann aufzufinden. Becker felbft
erklärte, er könne fich durchaus nicht erinnern, was biefe
Eintragung in fein Notizbuch zu bedeuten habe. Fried⸗
rich Bettmann aber fei ein Gigarrenagent in Hamburg,
deſſen Adreffe er von einem in Leipzig wohnbaften Eis
garrenhänpler erfahren babe. Die leipziger Polizei ers
mittelte zwar ven leipziger Cigarrenhänbler, aber ber
Mann batte ven Namen „Pettmann“ nie gehört. Beder
hatte alfo das Gericht wieder belogen. Das Notizbuch
Becker's legte noch ein zweites mal Zeugniß ab witer
feinen Herrn. Es befindet fi) darin eine Notiz, die das
Datum des 26. März des Jahres 1880 trägt, darunter
fteht die Adreſſe eines Fabrikanten chirurgifcher Apparate
in ver Ban Swieten-Gaffe in Wien, bei welchem Becker
in ben legten Tagen bes März 1880 einen Inhalatione-
apparat beitellte.e Sodann heißt e8: Incaſſo FI. 18462,
13, dann folgt eine Reihe fortlaufender Gefchäftsaprefien
Ein Diebfiahl im wiener Lanbesgerihtsgebäube. 287
bezüglich einer Gejchäftstour, die Becker nach feiner eige-
nen Angabe am 30. März 1880 von Wien aus nad
Mähren un. f. w. antrat. Alſo bat das Imcaffo von
18462 Gulden 13 Kreuzern zwiſchen bem 26. umb 30.
März 1880 ftattgefunden. Am 26. März aber waren
die Droz'ſchen Papiere geftohlen und am 27. März zum
größten Theile und zwar für die Summe von mehr als
17000 ©ulven veräußert worden.
Das war denn wieder ein merhvürbiger Umftand,
der dem „unfchuldigen” Beder pie Vertheivigung ſauer
machte. Er Hatte dagegen feine andere Waffe als bie
Behauptung, daß er feine eigenen Einträge in das Notiz.
buch in feiner Weife zu erflären vermöge.
Wie ſchon erwähnt, hatte man bei einer ſchwatzhaften
Verwandten Beder’s in Eger ein Sparkaffenbuch, wel-
ches in ein dem Neferveoffizier Goth gehöriges militäri-
ſches Blankett gewidelt war, in Beſchlag genommen, ein
Sparkafjenbuch über 10 Gulden, auf den Namen eines
Neffen Becker's lautend. Nun fing auch das Sparkaſſen⸗
buch an gegen ihn zu zeugen. Er felbit hatte zugegeben,
daß er fich in ber Fritifchen Zeit, in der Charwoche 1880,
in Wien befunden habe und von bort erſt am 30. März
1880 abgereift jei. Das Sparkaffenbuch aber Tieferte
den untwiberleglichen Beweis, daß er am 27. März 1880
zwiichen 8 und 10 Uhr morgens bei der Neuen Wiener
Sparkaſſe erfehienen war und für feinen in Eger leben-
den Neffen 10 Gulden niedergelegt hatte. Genau zu der⸗
felben Stunde hatte der Beliger ver dem Oberlandes⸗
gerichtsrath Droz geftohlenen Sparkaffenbücher dieſelben
an ber Kaffe der Neuen Wiener Sparfaffe verfilbert.
Dieſes Zufammentreffen war im böchften Grave auf-
fallend. Man nahm an, er habe bie Einlage von 10
Gulden für feinen Neffen nur zu dem Zwecke gemacht,
288. Ein Diebftahl im wiener Lanbesgerihtsgebäube.
um feine Anwefenbeit im Local der Sparkaſſe zu recht
fertigen, wenn doch etwa durch einen unglüdlichen Zufall
ber Verdacht entftehen follte, daß er der Mann gewejen
jei, der bie geftohlenen Sparkaffenbücher umgefegt habe.
Weshalb er das auf rechtmäßige Weiſe erworbene Spar-
kaſſenbuch auf 10 Gulden fünffach verfiegelt umb feiner
Verwandten zum Aufheben gegeben bat, ift nicht aufge-
Härt worben.
Die vielbefchäftigten Beamten der Sparkaſſe vermoch⸗
ten allerdings nicht, ihn als benjenigen zu recognofciren,
ber die geftohlenen Sparfafjenbücher erhoben hatte, ver-
pflichtete Schreibverftäntige aber begutachteten, daß bie
von bem unbefannten Verkäufer der Droz'ſchen Effecten
auf die Verfaufsfcheine und Kafjencoupons gejchriebenen
Namen von ber Hand Becker's berrührten.
Der angeſchuldigte Becker ließ fich dennoch nicht her⸗
bei, ein Geſtändniß abzulegen. Im Laufe ber Unter-
ſuchung nüpfte er geheime Correſpondenz mit feinen Ver⸗
wandten an, Die Briefe gelangten indeß nicht an ihre
Adreffe, fondern in die Hände des Unterfuchungsrichters.
Ihr Inhalt läßt vermuthen, daß Beder fie überhaupt
in ber Abficht gefchrieben hat, daß fie aufgefangen wer-
ben und auf ben Unterfuchungsrichter einwirken jollten.
Denn neben der Bitte um Gelb enthalten fie nur fie
reothpe Unfchulpsbethenerungen und Wiederholung ber
Angaben, die er vor dem Richter gemacht hatte.
In einem zu berfelben Zeit heimlich von Beder fa-
bricitten Teftament finden fich ebenfalls Verficherungen
feiner Unfchuld. Er verorbnet,. angeblich im Gefühle
eines nahen Todes, daß der größte Theil feines Ber-
mögens zur Wiederherftellung feiner Ehre verwendet wer-
ben jolle. Zugleich aber enthält das Teftament bie
Spuren eines ebenfo ingrimmigen als machtlofen Haſſes
Ein Diebfiahl im wiener Laubesgerihtsgebände. 289
gegen den Unterfuchungsrichter Dr. von Holzinger, deſſen
Scarffinn er kennen gelernt hatte. Es war der natür-
lihe Zorn des Raubthieres gegen ben verfolgenven
Jäger.
Beder entjchloß fich nicht zu einem Bekenntniß, aber
nach der Ausſage eines Mitgefangenen trug er fich mit
Selbjtmorbgevanfen und war ſehr verzagt. Seine ver-
zweifelte Stimmung äußerte fich auch in unruhigem Schlaf
und ängitlichen Träumen.
Gegen Ernſt Kopetzky konnte die Unterfuchung nicht
eingeleitet werden, weil er es für rätblich gehalten hatte,
den gefährlichen Boden bes alten Europa zu verlaffen.
Er war berfelben Anficht, wie ein berühmt gemworbener
Poftdefraudant, welcher fich feiner Zeit vor dem wiener
Schwurgericht bitter darüber beklagte, daß man in Eu⸗
ropa jo wenig Rüdficht für die Herren von feinem Fache
nehme. Bier Tage nach Beder’s Verhaftung verſchwand
er aus Franzensbad, und ’erft ſehr Tange nachher erhielten
die ihn verfolgenden Behörden die beruhigende Nachricht,
daß er fiber und wohlbehalten in dem freien Amerika
angelommen ſei. Während fich die Beweiskette, die fich
nach und nach immer enger um ben angefchulpigten Becker
ſchlang, allmählich ſchloß, tauchten auch gegen Karl Goth
neue Verdachtsmomente auf. Ein in Wien fich aufbal-
tender Zeuge fagte aus, der Pächter des der Tante des
Goth gehörigen Hoteld in Franzensbad habe ihm mit-
getheilt, daß Beder im Mat 1880 dem Goth in jenem
Hotel 50 Stüd Banknoten & 50 Gulden zugezählt babe.
Der Hotelpächter wurbe unverzüglich vernommen, be-
ftätigte aber biefe Angabe nicht. Goth hatte, wie wir
berichten, behauptet, daß er den Schneider Bernhard
B...., welcher in dem anonymen Briefe an bie Polizei-
direction des Diebſtahls bezichtigt wurde, nicht Senne und
XXII.
290 Ein Diebftahl im wiener Lanbesgerihtsgebäube.
niemals von ihm gehört habe. Es wurbe aber feitge-
ftellt, daß Goth früher bei einem Schneiber gewohnt
hatte, welcher mit dem in ber Nähe wohnenden Schuei-
der Bernhard B.... genau befannt war. Ferner fand
man bei Goth eine Lintenunterlage, aus welcher ein Stüd
berausgefchnitten war. Das anonyme Schreiben an bie
Bolizeivirection paßte nach dem Format, dem Papier mt
in der Entfernung ber Linien voneinander genau in jenes
dem Goth gehörige Linienblatt. Man mußte aljo au⸗
nehmen, daß Goth ben anonhmen Brief gejchrieben und
dabei das Linienblatt als Unterlage gebraucht habe. Als
er hierüber vernommen wurde, verrieth er fich jelbft, in-
dem er angab: das Papier des anonymen Briefes fei ſo
ftart, daß man eine Linienunterlage durch daſſelbe nicht
wahrnehmen könne. Der fragliche anonyme Brief war
ihm niemals in die Hände gegeben worben, woher wußte
er alfo um die Dualität des Papiers, wenn er nicht felbit
ven Brief gefchrieben hatte? Als die Schreibverftändigen
in ber verftellten Hanbfchrift des anonymen Briefes bie
Handfchrift des Karl Goth mit Beſtimmtheit wieberer-
fannten, war das Maß voll. Karl Goth wurde am
8. October 1880 wiederum verhaftet und in bie Gefäng-
niffe des Landesgerichts zu Wien eingeliefert.
Im Befige Becker's fand man eine Viſitenkarte bes
Karl Goth vom 29. März 1880. Diefe Karte enthielt
eine vorläufige Empfangsbeftätigung varüber, daß Beder
ihm 180 Gufven gezahlt habe, die er in Monatöraten
von eimem -fpätern Termin ab zurüdzuzahlen verſprach.
Goth hatte allerdings fchon früher von Beder Dar-
leben in geringern Beträgen erhalten, aber e8 war min-
deſtens höchſt auffallend, daß er nach Ausweis jener
Karte gerade drei Tage nach dem dem Oberlandesgerichte-
Ein Diebfiahl im wiener Ranbesgerihtsgebäube 291
rath Droz zugefügten Diebftahle 180 Gulden von Beder
empfangen hatte.
Die Unterfuhung war abgefchloffen. Der Unter-
juchungsrichter hatte ein Meifterftüc geliefert, denn jei-
nem Scharffinn und feiner unermüblichen Thätigkeit war es
zu danken, daß ein gerabezu erdrückendes Beweismaterial
zufammengebracht worden war. Es wurde gegen Karl
Goth und Franz Alexander Beder wegen bed gewalt-
jamen in dem SLanvesgerichtsgebäude verübten Dieb-
ſtahls Anklage erhoben und die Schlußverhandlung ars
beraumt.
Allein die beiden Angeklagten fuchten noch immer
neue Wege für ihre Rettung. Am 22. Januar 1881
melvete der Kerfermeifter: in ber Zelle Becker's jei bei
Gelegenheit einer in Abweſenheit des Gefangenen vorge:
nommenen Bifitattion, verborgen in ber Höhlung eines
geloderten Rechennagels, ein mit Schriftzeichen verjehenes
Blättchen Papier gefunden worden, welches er dem Ge⸗
richt übergeben wolle. Das Blättchen enthielt ein voll-
jtändiges Ehiffrenalphabet. Wie bei jeder beſſern Ehiffren-
fchrift waren fogar beveutungslofe Zeichen eingefchoben,
um bie Entzifferung ber Schrift zu erjchweren. Der
Unterjuchungsrichter bejchäftigte fih nun eifrig damit,
den Schlüffel zu diefer Schrift zu finden, und bie Ge⸗
fängnigbeamten erhielten ven Befehl, genau aufzumerten,
ob fie hiffrirte Correfponvenzen zwischen ven beiben Ge⸗
fangenen Goth und DBeder entvedten. Nach längerer
Zeit wurde wirklich ein folcher Briefwechjel, werjchloffen
in einer Hülfe aus gefnetetem Brot, aufgefangen. ‘Der
angeflagte Becker ſelbſt Hat dieſen Vorgang in feiner
Ipätern im Kerfer verfaßten Nechtfertigungsfchrift fo er-
zählt:
„Einer meiner Zellengenoffen, ver im Monat Decem-
19*
292 Ein Diebftahl im wiener Lanbesgerihtsgebäubde.
ber 1880 zu jeinem Vertheidiger gerufen war, brachte
bie intereffante Nachricht mit, daß tie Zelle Ar. 54 im
zweiten Stode ebenfall® mit Wertheim’schen Echlöffern
verwahrt fei. Daraus fchloß ich, daß in dieſer Zelle
fein anderer als Karl Goth gefangen gehalten werke.
Ich fühlte mich felbft als ein Hüfflofes Opfer der Yuftiz,
ich kannte die über jeden Zweifel erhabene Ehrenhaftig⸗
feit und Nechtlichleit Karl Goth's, war aber ungewiß
darüber, ob fich nicht doch Argwohn in fein Derz ein-
gejchlichen babe, weil der Schein gar zu fehr gegen mic
ſprach. Deshalb ſann ich Tag und Nacht darüber nad,
wie ich meine Schuldloſigkeit bethenern könnte. Endlich
kam ich auf einen guten Gedanken. Unfere Zellen be
fanden fich in dem gleichen Tractus, deshalb mußten
Goth und ich in venfelben Hof, wenn auch zu verfchiebe-
nen Stunden, fpazieren geben. Ich fchrieb nun auf meh-
rere zerbrochene Zünpholzfchachteln feinen verkürzten Bur-
ſchenſchaftsnamen «Iſe » und ftreute dieſe Holzftüde im
Hofe umber. Wenn Goth diefe fo befchriebenen Schach:
teln bemerkte, mußte er wiffen, daß fie von mir ber-
rührten, denn ich hatte ihn früher immer «fe» ange
rebet. Es vergingen mehrere Tage, ohne daß die Schachteln
beachtet wurben; aber endlich fand ich zu meiner unaus⸗
Iprechlichen Freude eines Tages an der Mauer den Na-
men «Abu» mehrmals angefchrieben. Diefen Spignamen
hatte man meinem Bruder beigelegt und fpäter auf mich
übertragen. Nun war ich gewiß, daß Goth mein Zeichen
bemerkt hatte. Ich fchöpfte wieder Hoffnung und fchrieb
auf einen Zettel, ven ich in den Hof legte, er folle
mir ein Chiffrenalphabet fenden, bamit wir uns ver-
ftändigen und jede Entvedung verhindern fünnten. Bald
barauf fand ich im Hofe ein Papier mit der Antwort:
«Sogleih Befchwerbe erheben wider Alle.» Etwas
Ein Diebftahbl im wiener Randesgerihtsgebänbe. 293
jpäter erhielt ich das verlangte Chiffrenalphabet. Dar⸗
auf hin bat ich ihn in Chiffren um Auskunft über ver-
ſchiedene Perſonen, um feinen Rath und Beiſtand, und
verficherte ihm meine völlige Unſchuld. Die Antwort auf
dieſen Brief fand ein in der gleichen Abtheilung mit mir
befinblicher Gefangener beim Spaziergange. Er weigerte
fi, mir den Zettel zu übergeben, und beharrte bei feiner
Weigerung, obgleih ich ihm zwei Packete Taback dafür
verſprach. Wahrjcheinlich hoffte er eine gute Belohnung
zu erhalten, wenn er ben Brief dem Kerfermeifter ein«
händigte. Der Zettel befand fich übrigens in einer Brot-
bülfe, damit die Schrift bei dem naſſen Wetter nicht
verwifcht würde. Den Zellengenoffen dieſes Gefangenen
misfiel die beabfichtigte Denunciation, fie fuchten ihm fein
Vorhaben auszureden. Als er dennoch dabei blieb, ſtand
einer von ihnen in ber Nacht Teife auf, durchſuchte die
Kleider des Finders und eignete fich felbjt vie Brotkugel
mit dem Zettel an. PVermuthlich hatte er die Abficht,
fie mir für zwei Packete Tabad zuzuftellen. Am andern
Morgen beichulpigte der Gefangene, ber die Brothülfe
zuerft gefunden Hatte, feine SZellengenoffen, ihn in ber
Nacht beitohlen zu haben. Es kam zu einem heftigen
Streite, der in ein Handgemenge auslief. Der Auf»
feber fam berbei und erfuhr nun den Sachverhalt. So⸗
gleich wurbe ber SKerfermeifter von diefer Entbedung un⸗
terrichtet, und e8 wurben bie Zelle und ihre Bewohner
genau durchſucht. Man fand nichts; der Kerlermeifter
ſtand rathlos da, wilchte fich den Schweiß von der Stirn
und ging betrübt von dannen. Nach feiner Entfernung
machten fich bie Zellenbewohner felbft daran, nochmals
gründlich zu ſuchen, denn jeder hoffte einen Profit zu
machen, wenn er bie werthuolle Brotfugel fände. ‘Der:
felbe Mann, ver die Kugel fchon beim Spaziergange am
294 Ein Diebftahl im wiener Landesgerihtsgebänbe.
Tage zuvor gefunden batte, entvedte fie in ber Ede
eines Strohpolfters, er bemächtigte ſich des werthoollen
Objects, ftieß einen Freudenruf aus, ſprang zur Thür
und fing an aus Leibesfräften zu pochen. Einer feiner
Mitgefangenen, ein halblahmer Schufter, warf fi, ent-
rüftet über dieſe vermeintliche Schlechtigleit oder vielleicht
auch aus Aerger darüber, daß ihm bie zwei Padete Ta⸗
bad entgehen würden, über ihn und fuchte ihm bie Brot-
hüffe zu entreißen. Ehe ver Kampf entjchieben war,
wurde die Thür geöffnet, alles, was Uniform trug, der
Kerfermeifter an der Spige, ftürzte in die Zelle, bie
Kämpfenden wurden getrennt, der tapfere Schufter in
bie Correctionszelle abgeführt und bie Brotkugel nun⸗
mehr in Beichlag genommen. Der Kerfermeifter konnte
allerdings die unverftänblichen, myſtiſchen Zeichen des
Driefed, der in der Brodhülſe ftaf, nicht entziffern. Er
theilte jeinem Beamten mit, die Schrift jei die Stenor
grapbie, und begab ſich ſodann zu dem Unterfuchunge-
richter, dem er das Schriftftüäd übergab.”
Der Unterfuchungsrichter hoffte die beiden Angefchul-
bigten burch die Chiffrencorrefpondenz in ihrer eigenen
Schlinge gefangen zu baben. Es gelang ihm auch, den
Drief zu entziffern, aber feine Hoffnung wurde getäujcht.
Karl Goth ertheilte darin feinem Freunde Becker vie ge
naueften Inftructionen über alle möglichen Punkte, über
welche er in ver Schlußverhandblung gefragt werben könnte,
und mahnte ihn, ja feine Angabe zu machen, aus wel-
cher ein birecter Schulpbeweis in Betreff des Diebitahls
gezogen werben könnte. So ſchrieb er z. B. über das
in Eger in Beichlag genommene fünffach verfiegelte Packet
und bie darin gefundenen Militärdruckſachen: Er werbe
in der Hauptverhandlung ausfagen, er erinnere fich nicht,
woher er diefe Druckſachen befommen habe. Wenn bies
Ein Diebftabl im wiener Ranbesgerihtsgebäube. 295
geſchehen ſei, ſolle Beder ven Bräfiventen bitten, den an⸗
geflagten Goth abführen zu laſſen, und dann in feiner
Abwefenheit eine raffinirte, mit allen perjönlichen und
fachlichen ‘Detaild ausgeſchmückte Gefchichte darüber, wie
fie zu den Papieren gefommen feien, erzählen. Dieſe
Geſchichte fchrieb Goth feinem Freunde Becker genau vor
und fuhr dann fort: Wenn man ihn in ben Verhand⸗
lungsſaal wieder bineingeführt habe, wolle er erklären,
daß er fich jet erinnere und num genau biejelbe Ge-
ſchichte mit allen Details zum beften geben. Wir
brauchen nicht zu bemerken, daß unfchulpige Leute fich
durch ein jo complicirtes Lügenfpftem nicht vertheibigen
werben.
Becker verjuchte noch ummittelbar vor der Verhand⸗
(ung durch Mitgefangene, die in Freiheit geſetzt wurden,
Belaftungszeugen zu überreden, daß fie zu feinen Gun-
ften ausfagen möchten. ‘Die Unterfuchung, die mit ber
größten Umficht geführt worden war, hatte folgendes Er-
gebniß geliefert: Karl Goth war genau befannt im wiener
Landesgericht, er beſaß einen Schlüffel zum Bureau des
Oberlandesgerichtsraths Droz, er wußte, daß Droz in
jeinem Schreibtiich eine beveutende Summe in Werth-
papieren aufbewahrte, ebenjo war er davon unterrichtet,
dag Droz am Eharfreitag nachmittags in feinem Bureau
nicht anwejend fein würde, er glaubte, daß Droz am
Charſamstage einer Sitzung beiwohnen müffe und nicht
Zeit babe, an dieſem Tage feine Staatspapiere zu con⸗
troliven, Er durfte deshalb hoffen, daß der Diebftahl
erit nach den Dfterfeiertagen entvedt werben würde.
Karl Goth war in der Zeit, in welcher das Verbrechen
ausgeführt fein mußte, in unmittelbarer Nähe des Landes-
gericht8 gewefen. Er ift der Schreiber des anonymen
Driefe® an die Polizeibirection, durch welche der Ver⸗
296 Ein Diebflahl im wiener Lanbesgerichtsgebände.
dacht des Diebftabls auf ven Schneider B..... geleuft
und das Gericht irregeführt werben ſollte. Goth umt
Beder find feit langer Zeit befreundet. Beide haben
fih ebenfo wie ihr Genoffe Kopetzky unmittelbar nach
dem Diebftabl in guten Verbältniffen befunden und viel
Geld aufgeben laſſen, während fie vorher ftet8 in finan-
ziellen DVerlegenbeiten waren. Becker und Kopetzky haben
verſchiedene Papiere von verjelben Sorte wie bie geftoh:
lenen verfilbert, und Becker hat fi) jogar am Samstag
ber Charwoche 1880, an welchem der Dieb bie betreffen-
ben Sparkaſſenbücher vafelbft erhoben bat, in der Spar⸗
faffe befunden. Die von dem Verkäufer der gejtohlenen
Papiere, aljo dem Diebe, unterfchriebenen Berlaufsfcheine
und Kaffencoupons find von der Hand des Angeflagten
Becker geichrieben. Das eigene Notizbuch Becker's be-
weift, daß er fih im Beſitz der geftohlenen Effecten be⸗
funden und einen Theil derſelben jelbjt, die andern
Wertbpapiere aber durch feinen Mitſchuldigen Kopetzky
umgejegt bat. Das Notizbuch Becker's beweift ferner,
daß berjelbe in den lettten Tagen des März 1880 ein
Incaſſo von mehr als 18000 Gulden notirt hat, wel:
ches mit dem Werthe der Droz’schen Papiere ungefähr
übereinftimmt. Kopetzky bat fich offenbar aus Angft vor
ber ihm drohenden Verhaftung heimlich entfernt und ift
nad Amerika entfloben. Karl Goth und Becker aber
baben ihr Schulobewußtfein dadurch deutlich kundgegeben,
daß fie im Gefängniß miteinander eine verbotene Corre-
ſpondenz geführt und fich verabrevet Haben, wie fie das
Gericht belügen wollten.
Diefe Beweisfette war fo feft gefchloffen und fo über:
zeugend, daß bie Gefchiworenen in der Hauptverhandlung
bie beiden Angeflagten, obgleich dieſelben hartnädig leug-
Gin Diepftahl im wiener Landesgerichtsgebäube. 297
neten, ſchuldig fprachen, ven fraglichen Diebftahl als
Mitthäter begangen zu haben.
Das Urtheil des Gerichtshofes lautete auf fünf Jahre
fchweren und verjchärften Kerker für jeden der beiven An-
geflagten und auf folivariichen Erjak des zugefügten
Schadens. ALS der Präfivent dies verfünbigt hatte, er-
bob ſich ver Angeklagte Beder und erklärte: „Ich babe
noch etwas zu geftehen, Goth ift ganz unschuldig.”
Die beiden Gefangenen wurben zurüdgeführt un
Deder fofort von dem Unterfuchungsrichter von neuem
vernommen. Er gab an: „Ich und Kopetzky haben am
Nachmittag des Charfreitags 1880 den Diebftahl ausge-
führt. Wir haben gejehen, daß ver Dberlanbesgerichts-
rath Droz nach dem Mittagsefjen und nach einem Spa-
ziergange in ber Nähe ver Votivfirche fich in bie innere
Stadt begab. Wir wußten num, daß wir ficher vor ihm
waren. Kopetzky bat fi in das Gerichtögebäude bes
geben und die Wertbpapiere aus dem Schreibtifch des
Dberlanvesgerichtsrath8 Droz entwenvet, während ich am
Hauptthore auf ihn wartete. Goth ift volllommen un-
betheiligt an der Sache. In dem Gafthaufe, in welchem
wir zufammen aßen, bat er gelegentlich geſprächsweiſe
erzählt, daß Droz einmal aus feinem Schreibtifche ein
halbes 1864er Los entnommen habe. Kopetzky kam
bierdurch auf den Gedanken, daß in jenem Schreibtifche
wol Werthpapiere verwahrt fein mwürben und daß bort
etwas zu machen fei. Er wußte, daß Goth den Schlüf-
jel zum Bureau gewöhnlich in feinem Winterrod fteden
hatte. Diefen Schlüffel nahm er heimlich an fich, drückte
denselben in Wachs ab und ließ fich num einen falichen
Schlüſſel machen. Ich felbft bin mit Hülfe dieſes fal-
hen Schlüſſels im Februar 1880 im Bureau des
Herrn Droz gewejen, um bie Oertlichleit, den Schreibs
298 Ein Diebftahl im wiener Landesgerihtsgebänpe.
tiſch u. f. w. zu vecognofciren. Kopetzky bat fich der
Borficht halber auch noch einen Sperrhafen angeichafft.
Mit dieſem Sperrhafen, nicht mit dem Schlüffel, ift
der Schreibtifch geöffnet worben. Die Wertbpaptere
haben wir gemeinfam an verfchievenen Orten verfauft,
gewöhnlich habe ich das Geſchäft bejorgt und Kopetzky
hat aufgepaßt, um mich vor etwaiger Gefahr rechtzeitig
zu warnen. Sch habe dabei einen falfchen Bart ge-
tragen, um nicht als der Dieb erkannt zu werden. Wir
haben im ganzen etwa 17000 Gulden gelöft, davon hat
Kopetty 11000 und ich habe 6000 Gulven erhalten.
Die Einlagebücher der Verkehrsbank haben wir verbrannt,
weil wir bie Einlage nicht fofort erheben, ſondern erft
fündigen mußten.”
Dies Geftändnig enthielt offenbar Wahrheit und
Dichtung. Man fand um fo weniger Veranlaffung, bar-
auf bin eine Wiederaufnahme der Unterfuchung zu ver-
fügen, weil vie beiden Yufttzwachtfolpaten, welche während
der Verhandlung zwifchen ben beiden Angeflagten ſaßen,
ausſagten, daß Goth den Beder in ver Panfe, während
welcher ver Gerichtshof fich zur Urtheilsberathung zurüd-
gezogen hatte, aufforberte, er folle nur geftehen, ba feine
Sache doch verloren fei; er, Goth, wolle, wenn er frei
füme, nach Amerika auswandern, und feinem Freunde
Beder monatlid 100—150 Gulden zujenden. Karl
Goth verfuchte das Urtheil umzuftoßen und führte noch
lange einen fruchtlofen Kampf gegen bie Gerechtigkeit,
indem er immer wieber Rechtsmittel einlegte, um eine
Wiederaufnahme ber Unterfuchung zu erreichen. Seine
Schreibweiſe war jo maßlos und fo ungezogen, daß er
jogar mit Disciplinarjtrafen dafür belegt werben murfte.
Nachdem er 2, Jahre im Kerker zugebracht hatte, ftarb
Ein Diebftahl im wiener Lanbesgerihtsgebäube. 299
er ohne feinen Zwed erreicht und ohne ein Bekenntniß
abgelegt zu haben.
Becker wendete fein Rechtsmittel ein, bat aber bie
Behörde um Erlaubniß, im Kerker eine Rechtfertigunge-
ſchrift Schreiben zu dürfen. ‘Dies wurbe ihm geftattet.
Er fchrieb auch wirklich circa 60 Bogen zufammen. Sein
unmittelbar nach der Urtheilsverkündigung abgelegtes Ge-
ſtändniß nahm er darin wieder zurüd und fuchte alle
gegen ihn vorliegenden Beweiſe hinwegzulügen. Die
Schrift ift theils in einem beclamatorifch- pathetiichen,
theils in einem chnifch-frivolen Zone gehalten. Wir
glauben nicht, daß es Becker gelungen ift, irgendeinen
verftänbigen Menſchen von feiner Unschuld zu überzeugen,
wenn er auch Fed genug tft, alle Belaftungsmomente,
welche die Geſchworenen beftimmt haben, ihr Schuldig zu
ſprechen, Seifenblafen zu nennen und fich felbit als das
Opfer eines Juſtizmordes hinzuftellen.
Auch DBeder tft vor Verbüßung feiner Strafe im
Kerker geftorben und fein Verfuch, die öffentliche Mei⸗
nung zu feinen Gunften zu täufchen, tft mislungen, denn
jedermann glaubt, daß er mit Recht wegen bes von ihm
zufammen mit Karl Goth und Kopetzky ausgeführten fre-
hen Diebſtahls im wiener Landesgerichtsgebäube verur-
theilt worden war.
Das Leben und reiben des Familienmörders
Timm Chode vor der Verübung des von ihm im
der Hacht vom 7. zum 8. Auguft 1866 ausgeführten
Mordes.
(Provinz Schleswig-Holftein.)
Johann Thode beſaß einen zum abeligen Gute Groß-
Kampen in Holftein gehörigen, in ver Nähe des Ufers
ber Stör gelegenen, fchulpenfreien Hof im Werthe von
etwa 180000 Mark und außerbem ein Kapitalvermögen
bon 120000 Marl. Er bewirtbichaftete ven Hof mit
feiner Ehefrau, vier erwachfenen Söhnen, einer ebenfall®
erwachfenen Tochter und einer Magd. Die Söhne waren,
mit Ausnahme des zweiten Sohnes Timm, welcher wieber-
bolt in verfchtedenen Stellungen auswärts gebient Hatte,
immer im väterlichen Haufe geblieben. In ber Nacht
vom 7. zum 8. Auguft entftand Feuer auf dem Hofe, und
alle Gebäude wurden ein Raub der Flammen. Als das
Gericht am folgenden Tage an Ort und Stelle die Sache
unterfuchte, fand man die Leichen des Hofbauern umt
feiner Frau, ihrer drei Söhne, der Tochter und ber
Dienftmagd unter den Trümmern des Hauſes. Es zeigte
ih troß der zum Theil beveutenden Zerjtörungen, welche
das Feuer angerichtet hatte, daß alle Glieder der Familie
Der Familienmördber Timm Thobe. 301
Thode, mit Ausnahme des Timm Thode, ermorbet wor-
den waren. Timm Thode wurde in ber Mordnacht bes
wußtlos am Haufe des nächften Nachbars aufgehoben.
Er erholte fich erft nach mehrern Tagen und gab fodann,
vor Gericht vernommen, an: er fei burch das Teuer und
einen großen Lärm auf dem Hofe aufgeweckt worden, zum
Tenfter hinausgefprungen und von fünf bis ſechs mas-
firten Männern angegriffen worden. Er babe die Flucht
ergriffen und fei feinen Verfolgern, pie mehrere Schrot-
ſchüſſe auf ihn abfenerten, glücklich entlonımen. Abgehekt,
völlig außer Athen, fei er am Hofe des nächften Nach⸗
barn angelangt und daſelbſt ohnmächtig zu Boden ger
jtürzt. Was aus feinen Angehörigen geworben fei, wifle
er nicht.
Anfänglich nahm das Unterfuchungsgeriht an, das
furchtbare Verbrechen fei von einer Bande unbelannter
Mörder und Räuber verübt worden. Timm Thode, der
Erbe des Hofes, ließ einen mit Bibelfprüchen gefchmückten
Denkſtein für die Gräber feiner durch ruchlofe Mörber-
band gefallenen Aeltern und Gefchwifter anfertigen und
jeßte eine Belohnung von 4200 Mark aus auf die Ent-
bedung der Mörber. Aber es gelang nicht, irgenpivelche
fihere Spuren zu entveden. ‘Das Unterfuchungsgericht
berichtete dem Dbercriminalgericht im März 1867 unter
Einfendung der Acten, daß die Unterfuchung leider zu
feinem pofitiven Reſultat gefommen fei, und daß fein
Grund vorgelegen, gegen Timm Thode weiter vorzugehen.
Das Obergericht war anderer Anficht, beftellte eine andere
Unterfuhungscommiffion, und das Verfahren richtete fich
nunmehr gegen ben überlebenven Timm, ber fofort ge-
fänglich eingezogen wurde. Er geftand nach anfänglichen
Leugnen, daß er ven Mord ausgeführt und ven Hof an-
gezündet]habe, um in den alleinigen Beſitz des großen
302 Der Familienmörder Timm Thode.
Bermögens zu kommen. Timm Thode wurde vom Schwur⸗
gericht zu Itzehoe am 25. Januar 1868 fchuldig gefprechen
und am 13. Mai 1868 in Glückſtadt durch das Beil
hingerichtet.
Wir haben vielen Proceß im vierten Bande der Neuen
Serie unjers Werl, S. 225 — 288, mitgetbeilt.
Jetzt ift uns eine actenmäßige Darftellung des Vorlebens
des Familienmörders Timm Thode mitgetheilt, die weſent⸗
lich dazu beiträgt, das grauenhafte Verbrechen piychole:
gifch einigermaßen zu erflären. Es ift alfo dieſe Mit-
theilung eine Ergänzung des frühern Berichts, fie wirt
aber auch für diejenigen verftändlich und interefjant ſein,
welche den im vierten Bande des „Neuen Pitapal” mit:
getheilten Fall nicht gelefen haben.
Zimm Thode behauptet, ſchon feit frübefter Kindheit
ungerecht behandelt, „zurückgeſetzt“ worden zu jein.
Etwas Wahres ift daran.
Nach dem Zeugniß des Dachdeckers Wittmaack näm-
ich, welcher, al8 Zimm etwa 9 Jahre zählte, auf dem
Thode'ſchen Hofe als Arbeiter beichäftigt war, wurte
Zimm ſchon damals fchlechter behandelt als feine Brüder.
Es fam vor, daß er für Unarten beitraft wurbe, vie
jene begangen hatten. ALS einmal ein Fenſter eingeworfen
war, wollte ver alte Thode feinen Sohn Timm, ten er
für den Thäter bielt, vurchprügeln, Wittmaad machte
ihn darauf aufmerkſam, daß nicht Timm, fondern Johann,
der drittältefte Bruder, das Fenſter eingeworfen habe.
Jetzt erhielt Timm allerdings keine Schläge, Johann
aber aud nicht.
Auch Schufter Warnholz, ver, als die Knaben noch
fein waren, als Pflugtreiber auf dem Hofe arbeitete,
hat oftmals bemerkt, daß Zimm zurüdgeiegt wurde.
Martin, der ältefte Bruder, und Iohann hatten fchen
Der Familienmörder Timm Thobe. 303
ale Schullmaben Schafe, Timm nicht; Martin war ber
befondere Vorzug eines alten, damals mit auf dem Hofe
wohnenden Großonkels, ver ihm hin und wieber Gelb
ſchenkte; und als einmal Martin und Timm hinter einem
Kalbe berjagten, da prügelte ver Großonfel nicht etwa
Martin, ver doch ber ältere war, fondern Timm tüchtig
durch.
Andererſeits allerdings ſprechen ſich die Zeugen über-
einftimmend dahin aus, daß Timm fchon als Kleiner
Junge „ein großer Ausbund“ geweien fei. „Er jah” —
fagt Wittmaack — „voll von Kniffen und beging viele
dumme Streiche.“ Warnholz erinnert fih, daß Timm
eines Tags muthwillig fein Fußzeug entzweiriß und das
bei fagte, der Schufter folle auch was verbienen. Und
Zimm felbft erzählt die folgenden beiden, übrigens ander⸗
weitig beftätigten Vorfälle, die faum noch als „bumme
Streiche” paffiren können.
Als er 9 oder 10 Jahre alt war, begegnete er auf
dem Deimmege aus der Schule einem Bäckerjungen, ber
größer war als er, und in einem Korbe Stuten hatte.
Zimm fragte ihn, ob er ihm nicht ein Zehnichillingsftüd
— welches Timm in Wahrheit gar nicht beſaß — wech⸗
jeln könne. ALS der Junge ihn das Kleingeld in bie
Dand gezählt Hatte, riß Timm aus dem Korbe einen
Stuten und lief mit diefem und dem Gelde davon.
Etwa vier Jahre fpäter hatten Timm und Johann
in der Scheune jeder eine Iltisfalle aufgeftellt. Als ein
Iltis in Johann's Falle hineingegangen war, nahm Timm
denſelben heimlich heraus, ftedte ihn in die feinige und
verfaufte ihn fpäter. Johann entdeckte aber das Blut
des Iltis an feiner Falle und klagte den andern fein Leib.
Alle Hatten Timm in Verdacht, dieſer Teugnete jedoch und
fagte nur, wenn bie Brüber ihn darauf anrebeten, fie
304 Der Kamilienmörber Timm Thode.
möchten doch nicht immer davon |prechen. — Im Februar
1860 wurde Zimm confirmirt. Bis dahin hatte er eine
gute Dorfichule befucht. Der Lehrer, in beffen Klaſſe er
von 1855 bis 1860 geweſen ift, äußert unter anderm
Folgendes über ihn: „Ein Hauptzug feines Charakters
war ber ber Unwahrbeit; ferner zeigte er fich unaufmerf-
jam, träge, verfchlagen, tückiſch und liebte es, im Finftern
Streihe auszuüben. Man konnte ihn durch Törperliche
Züchtigung nicht recht bändigen, weil er bagegen durch
häufige Anwendung von feiten feines Vaters abgehärtet
var.”
Timm's Schulfamerad, Johann Schwarzkopf, fagt:
„Er war im Lernen immer etwas zurüd, bat aber doch
gar nicht jo wenig gelernt.” Thode's Selbftzengniß lautet :
„Ich war faul und auffägig, überhaupt einer ber ſchlech⸗
teften Schüler, machte viele dumme Streihe, mußte oft
ftehen und wurde häufig gezüchtigt.”
Nah feiner Konfirmation wollte Timm gern als
Schiffer zur See geben. Daraus wurbe jeboch nichts,
weil die eltern es nicht wollten, — „hätten fie mich
boch ziehen laſſen!“ fagt er felbft.
So blieb er denn zunäcft einige Donate zu Haufe.
Dann vermiethete er ſich dem Kaufmann Winter in
Dttenfen als Knecht. Der Kornhänpler Normann in
Beidenfleth, ein alter Freund des Thode'ſchen Hauſes,
nahm ihn auf feinem Schiffe mit dorthin. Als er aber
acht Tage fpäter wieder beim altonaer Fiſchmarkt ankam,
ftand Zimm dort in Hembärmeln und ohne Mütze.
Auf die Frage, was das zu beveuten babe und ob er
nicht mehr bei Winter fei, ermwiberte er: „Nein, bei vem
Kerl, dem Winter, lohnt e8 ja nur einmal täglih Sped
und Fleiſch, und am letzten Sonnabend kriegten wir ſo⸗
gar Kartoffeln und geſalzenen Hering. Zu Hauſe gibt
Der FZamilienmörber Zimm Thobe. 305
ed doch dreimal täglich Fleiſch. Ich logire jeßt bei einem
Schneider und werde nächftens eine Stelle bier an-
nehmen.”
Davon wollte Normann aber nichts wiffen; er nahm
Timm wieber mit auf fein Schiff und fuhr mit ihm ber
Heimat zu. Unterwegs meinte Timm, fie würben ihn
zu Haufe wol 688 zum Narren haben, weil er fchon
wiederfäme,; und in Wewelsfletb wollte er ſich bavon-
machen, angeblich, um zu feinem Großvater in Brodborf
zu gehen. Normann litt e8 jedoch nicht und brachte ihn
jelbjt nach Haufe. Hier empfing fie der Alte mit ven
Worten: „Na, tft der Hamburger auch fchon wieder da?”
worauf Normann ihn bat, Zimm nicht weiter damit zu
neden, er fei nun ja bei fremden Leuten gewejen und
wol etwas zur Raiſon gelommen; gleichzeitig forverte er
Zimm auf, fleißig an die Arbeit zu gehen.
Einem Onkel erzählte Timm fpäter, er fei beshalb
bon Winter fortgegangen, weil er es da viel zu fauer
gehabt habe; in ber Ernte habe er fogar noch jpät abends
bei Licht Heu vom Wagen auf den Boden binaufjchaffen
müſſen.
So war Timm denn wieder im Aelternhauſe. Er
blieb daſelbſt zwei Jahre und Hatte faſt täglich Streit
mit feinen Brüdern. Sie quälten und chicanirten ſich
gegenfeitig. Seinem Vater ftahl Timm während biejer
Zeit viermal Geld, etlihemal fogar unter Anwendung
falſcher Schlüſſel.
Nachdem er ſich verſchiedentlich ohne Erfolg um eine
Stelle als Knecht bemüht hatte, fand er endlich im Herbſt
1862 eine ſolche bei der Witwe Laackmann in Wewels⸗
fleth. Hier erzählte er ſeinem Mitknecht Claus viel da⸗
von, wie ſchlecht er es zu Hauſe, und wieviel Lärm und
Zank er mit ſeinen Brüdern gehabt habe; dort habe er
XXII.
306 Der Familienmörder Zimm Thode.
gar nichts gelernt, denn das Fuhrwerken, Pflügen u. |. w.
nähmen bie Brüder für ſich, und er müfle die Taglöhner-
arbeit thun. Seine Gefchwifter hätten Schafe, Hühner,
Enten und machten viel Geld daraus; er gehöre da über-
all nicht mit zu und kriege auch fein Gel vom Alten.
Der babe ihm fogar erklärt, er folle ihm nicht mehr über
bie Echwelle kommen.
Die lettere Angabe fteht im Widerſpruch mit einer
von Warnholz bezeugten Aeußerung des alten Thode. Als
Warnholz diefem nämlich fpäter eine Rechnung präfen-
tirte, auf der auch Fußzeug verzeichnet ftand, welches er
Zimm während feines Aufenthalts bei der Laackmann ge»
liefert hatte, da erklärte ber Alte fofort, was Zimm dort
geliefert erhalten babe, das gehe ihn nichts an, das be
zahle er nicht, Timm babe ja damals gar nicht nöthig
gehabt, aus dem Haufe zu geben, fonvern gern bleiben
fönnen.
Wie Timm ftet8 darüber klagte, daß er bei der Ar-
beit zurüdgefegt werbe, fo beichwerten fich feine Brüder
oft gegen andere barüber, daß er immer Streit mache
und bei ber Arbeit zurüdbleibe. Und dieſe Klage fcheint
nicht unbegründet gewefen zu fein. Die Thatjache freilich,
daß Timm meiftens bie „geringere“ Arbeit erhalten habe,
wird mehrfach bezeugt, dabei aber auch angebeutet, baf
er dies zum großen Theil felbft verfchulnet habe. „Der
Alte” — fagt das Mäpchen Anna Holft, welches vom
Detober 1862 bis Februar 1866 bei Thode diente —
„hatte e8 namentlich deshalb nicht gut auf ihn, weil er
ihm zu träge und ungefchiett war. Timm felbft ſagte auch
mitunter, über Bauernarbeit möchte er nicht fein, ber
Tag ſei ihm viel zu lang. Mit feinen Brüdern erzürnte
er fich oft, weil er fich immer um die Arbeit herum-
zumachen fuchte.“
Der Familienmörber Timm Thobe. 307
Schwarzkopf jun. ferner hebt hervor, daß Timm von
Bater und Brüdern bei der Arbeit zurüdgefegt worden
jei, fährt dann jeboch fort: „Er war aber auch nicht fo
anftellig bei ver Arbeit und verftand fie nicht jo wie bie
Brüder, fowol zu Haufe als auch im Felde. Trieb und
Eifer dazu mögen auch bei ihm wol nicht weit her ge-
weſen fein.”
Die Richtigkeit diefer Angaben fcheint dadurch betätigt
zu werben, daß, als ver Hofbefiger Heeih in Groß-
fampen Timm bei den von ihm fo dringend gewünfchten
„beilern‘ Arbeiten anftellte, er fich auch hierbei als ſehr
ungeſchickt und arbeitsunluftig erwies. Weber diefe Dienft-
zeit bei Heefch fpäter noch mehr; einftweilen müſſen wir
zur Witwe Laadmann in Wewelsfleth zurüdfehren, denn
die Art und Weife, wie Timm fich hier benahm, ift fehr
harakteriftiih. Obwol er fich fo vermiethet hatte, daß
er bie Landwirtbichaft erft erlernen follte, wollte er Doch
alsbald bie erfte Rolle Spielen, fich die dem Claus als
Bauknecht obliegenven Arbeiten anmaßen und nichts thun,
was ihm aufgetragen wurde. Einmal, erzählt Claus,
prügelte er den Dienftjungen, mit dem zufammen er Erbe
auflud, weil derjelbe nach feiner Meinung nicht genug
befchicht habe, während Timm felbft es doch etwa nicht
befjer machte. Häufig fchüßte er Krankheit vor, wenn
man ihn zu einer etwas fchwerern Arbeit aufforberte,
nach deren DVerrichtung durch andere er dann gleich wie-
ber ganz fidel war. Eines Tags hatte er und Claus
Weizen auf bie Mühle zu tragen. Nachdem Timm brei
Säde bingetragen hatte, wurbe ihm das zu unbequem;
er nahm ein Pferd und fchaffte fo die Säde zur Mühle,
während Claus mit dem Tragen fortfuhr. Ein andermal
jolite ein Fuber Sand aus dem benachbarten Dorfe
Krummendied geholt werden. Aus Wuth darüber, daß
20*
308 Der Familienmörder Timm Thode.
nicht er, fondern Claus hiermit beauftragt wurde, ſchlug
Zimm beim Anfpannen ohne jonftige Veranlaffung bie
Pferde mit der Fauſt vor die Köpfe Oft fchlug er,
wenn ihm bei der Arbeit etwas nicht vecht, und nament-
fih wenn er alfein war, abfichtlich Geräthichaften ent-
zwei; einmal fchob er eigens zu dieſem Zwed einen
Wagen über Geräth. Als im Frühjahr zur Saat ge-
pflügt werben follte, verlangte Timm, daß ihm bieje
Arbeit übertragen werde, und als das nicht gefchab, ſchlug
er Lärm und ſchalt feine krank im Bett liegende Dienft-
herrin dermaßen aus, daß fie auf und nach der Diele kam,
wo er weiter auf fie fehalt und fie fogar „Du“ nannte.
Kurz darauf ereignete fich Folgendes: Von einem
Wiefenftüd war Schon ein Theil abgeheut, der dann ale
Dleihplag benugt wurde. Als nun auch der übrige Theil
gemäht werben follte, wurde Timm zu feinem großen
Aerger hiermit beauftragt. Damals lagen auf dem Bleich-
play einige Stüde Zeug, darunter auch eine der Dienft-
magd Haad gehörige Küchenfchürze. Sie und die Laad-
mann fahen Zimm mit feiner Senfe fortgehben. Die
rau, die nach ber foeben erzählten Scene nicht® Gutes
ahnte, fagte zur Hand, fie möchte doch das Zeug Lieber
wegnehmen, Timm könne es fonft entzweimähen. Die
Haad dachte indeß, Timm werde wol nicht gerabe un⸗
mittelbar beim Zeuge beginnen, was auch gar nicht
nöthig war. Bald aber wurde man gewahr, daß er
allerdings dort anfing zu mähen, die Küchenſchürze fchon
entziwwet und anderes Zeug noch auf ber Senfe hatte.
Die Haad lief fehnell bin und rettete, was noch zu
retten war.
Ein andermal fah fie, wie Timm im Garten ſich
mit der Senfe bei den großen Bohnen zu thun machte
und einen Bult abhaute,
Der Familienmörber Zimm Thode. 309
Später äußerte Thode in Bezug auf biefe beiden
Vorgänge gegen Claus: „Dean konnte ja doch jehen, daß
ih da Gras mäben wollte, und hätte das Zeug vorher
wegniehmen können; die Bohnen baute ich deshalb ab,
weil ich fie nicht mochte, bei mir zu Haufe ißt man fie
nicht.” "
Oft jchimpfte er auf Abweſende, fo 3. B. fagte er:
„Auf den Lehrer Schunf” (veffen Zeugniß wir vorhin
mittheilten) „bin ich jo wüthend, daß ich ihn todtſchlagen
fönnte, der bat mir jo oft in ber Schule Unrecht
gethan.”
Eines Morgens im Sommer 1863 wurde Dünger
gefahren, den Timm aufladen mußte. Nachdem einige
Fuder aufs Land gebracht waren, aß Timm fich zunächit
tüchtig fatt und ging dann aus der Stube hinaus, indem
er zu der noch im Bett liegenden Frau Laackmann ſagte:
„Run gehe ih ab.” Das that er denn auch, und bie
Laackmann Tieß ihn ruhig ziehen, obgleich das Dienft-
verhältniß erft zu Michaelis ablief; denn fie freute fich,
ihn 108 zu werden. Den verbienten Lohn hatte fie ihm
ihon reichlich ausbezahlt, da er fie faft jeven Sonntag
um Gelb gebeten hatte.
Nachdem Timm einige Tage zu Haufe verbracht hatte,
ging er, wie bereit8 erwähnt, bei Keeſch in Großkampen
in den Dienft, wo er gleichfalls faul und unbrauchbar
war. Gegen Michaelis wurden Bohnen eingefahren.
Timm mußte den ganzen Tag mit helfen und hatte ben
Poſten bei der Luke, von wo er bie Bohnen weiter hin⸗
auf befördern follte. Da ihm das nicht behagte, meldete
er fich eines fchönen Tages kurz vor Feierabend bei ber
Frau Heeich krank und bat um etwas anfgelochte Butter-
mild. Die Köchin, argmöhnend, daß Timm feine Luft
zu ber fchweren Arbeit habe und fich daher krank ftelle,
310 Der Familienmörder Timm Thode.
ihlug vor, ihm eine tüchtige Portion Butterbrot vor-
zujegen, um zu feben, ob er alles aufeffe. Dies ge-
ſchah, und fiehe da, Timm verzehrte alles, was ihm vor-
gejegt wurde. Darauf fagte er zur Frau Heeſch: „Ich
gehe nun erſt mal weg“, und begab fi nach Haufe.
„Kam er wieder nach Haufe” — bekundet ein Zeuge —
„ſo jeßte er fich ruhig wieder mit an den Tiſch, ohne
daß er auch nur gefragt wurbe, woher er fäme und
weshalb.“ Aehnlich Norman: „Wenn er nicht mehr
im Dienft fein mochte, fo ging er wieder nach Hauſe,
legte fich zu Bett und trat nachher wieber bei der Ar-
beit an, ohne daß darüber in der Familie eigentlich eim
Wort gewechjelt wurde.”
Im Frühjahr 1864 beichloß Timm, dem e8 zu Haufe
wieder nicht mehr gefiel, die „Bauernarbeit” aufzugeben
und die Müllerei zu lernen. Er reifte deshalb zunächſt
infolge einer Zeitungsannonce nach Lütjenburg, in beffen
Nähe ein Müllerlehrling gefucht wurbe. „Da war aber
eine Delmühle und eine andere Mühle und das gefiel
mir nicht.” Dieſe Reife hatte er ohne Vorwiſſen feiner
eltern gemacht, wie er denn überhaupt alle® ganz auf
eigene Hand that. „Bei den andern Brüdern” — fagt
bie Holt — „kam es nicht vor, daß fie, ohne Beſcheid
zurüdzulafien, fortgingen, Zimm war aber ganz eigen,
in ber Art, daß er immer nach feinem Kopfe handelte.
Zu Haufe wurbe nicht viel darüber gefprochen und, wenn
bie Brüder vielleicht mal davon anfingen, fagte bie
Mutter: ach Laßt ihn doch zufrieven, er ift ja mal fo.
Wenn Timm vom Haufe entfernt war, kam er öfter
mal zum Befuch, und wenn er da war, freute man fich
im Haufe darüber. Nur der Vater fagte nicht viel dazu
und kümmerte fich auch wenig um ihn. Seine Mutter
ſteckte ihm, wenn er wegging, gern allerlei zu, nur mußte
Der Familienmörber Timm Thode. 311
ber Alte es nicht wiſſen, denn der fagte wol, Zimm jei
das gar nicht werth, er ſchicke fich nicht danach.”
Zimm wählte denn auch für feine Beſuche mit Bor»
liebe die Sonntagvormittage, an benen ber Vater bei
Normann in Beidenfleth zu fein pflegte.
Alfo die Stelle bei Lütjenburg convenirte Timm
nit. Er vermiethete fih nun auf 2'/, Jahre als Lehr-
ling bei dem Müller Lembfe in Krummendied. Einige
Tage nach feinem Dienftantritt im Juni 1864 fuhr er
vormittags nach dem Hofe feines Vaters, um von bort
Stroh für die Mühle und gleichzeitig feine Lade mit
Zeug zu holen. Im Haufe traf er nur feine Mutter
an, die Schweiter, das Dienftmäpchen und bie Brüder
waren draußen, ver Vater war über Land gefahren.
Während feine Mutter im Haufe thätig war, nahm Zimm
ans einem Kofferfaften, ven er mit einem falſchen
Schlüffel öffnete, einen Beutel mit etwa 24 preußiſchen
Thalern und ftedte ihn mit dem Zeug in feine Lade, bie
ex verfchloß und nachher auf den Wagen lud, um damit
abzufahren. Niemand hatte den Diebftahl bemerft.
Etwa eine Woche fpäter, e8 war am 21. Suni, fuhr
Lembfe mit feiner Frau gegen 8 Uhr morgens nach Itzehoe.
Da wenig Wind war, wies er Timm und den Müller-
burfchen Meyer an, Mühlſteine zu fchärfen. Nicht lange
nach feiner Ankunft in Itzehoe erhielt Lemble die Nach-
richt, daß fein Anweſen in Flammen ftehe, und als er
gegen Mittag heimfehrte, waren Haus und Mühle bes
reits abgebrannt.
Diefen Brand hatte Timm Thode geftiftet. Er fagte
aus: „Ueber Effen und Trinken konnte ich nicht Hagen,
ebenjo wenig über die Behandlung. Auch die Arbeit an
fih war mir nicht zu fchwer. Aber e8 war bort immer
jo «döſigy» und ftäubte jo fürchterlich, das fiel mir auf
312 Der Kamilienmörber Timm Thode.
die Bruft, das konnte ich nicht abhalten, dünkte mich.
So weglaufen mochte ich nicht. Als nun am 21. Juni
für die Tour nach Itzehoe angeipannt wurde, fam mir
der Gedanke, das Gehöft anzuzünden, um fortzulommen.
Meyer und ich bauten dann auf dem erſten Mühlboden
Steine, während die Mühle etwas ging. Ich fagte zu
Meder, ich wolle mal nah dem Sad fehen, ging weg
und lief unbemerft über den vom Mühlenberg geradeaus
auf den Hausboben führenden Steg, Vom Hausboden
ftieg ich über eine Treppe auf den Hochboden und von
da eine Leiter hinab auf den Hinterboven, wo Deu und
Stroh nebeneinanderlag, Das Stroh, ein uber, hatte
ich ja erft in der vorigen Woche vom Hofe meines Vaters
geholt und felbft mit auf den Boden gebradt. Das
Heu war vom vorigen Jahre. Das Iettere hob ich ein
wenig in die Höhe und zündete es mit Reibhölzern, bie
ich in der Taſche bei mir führte, an, lief dann auf dem
Wege, auf dem ich gekommen war, nach der Mühle zurüd
und fagte zu Meyer, ich hätte nur nach dem Sad ge-
eben. Wir waren noch eine ziemliche Zeit lang dort
zufammen und bauten Steine. Dan konnte von da durch
das Fenſter nach dem Haufe fehen, ich jah aber nicht
hin, fondern arbeitete ruhig weiter. Aufgeregt war ich
nicht. Darauf kam das Großmädchen nach der Mühle
und rief: «Feier!» Wir Tiefen zuerft nach unferer Kam⸗
mer und retteten unfere Sachen. Ich kriegte alles hinaus;
vorher zurechtgepacdt hatte ich nichts, ich wußte ja, daß
mein Zeug in der Lade war. Der Wind ftand auf bie
Mühle zu, ſodaß dieſe abbrennen mußte. Als der Müller
mittags nach Haufe fam, war er ganz traurig. Ich trat
ihm nicht entgegen. Er ſchickte mich aus, um die Gilbe-
leute zu holen, und entließ mich zugleich aus dem Dienft,
ba num michts mehr für mich zu thun fe. Ich ging
Der Familienmörber Zimm Thode. 313
nah Haufe und freute mich, daß ich da weggekommen
war.”
Man nahm an, daß ein frember Menfch fich ins
Haus gefchlihen und das Teuer angelegt habe. Timm
war ja mit Meher in ver Mühle gewejen, und daß er
ind Wohnhaus gegangen, hatte niemand bemerft. Auch
war er erft vierzehen Tage bort gewejen und, wie es
ſchien, ganz gerne; denn man hatte ihn häufig fingen
und pfeifen hören. Cinftimmig wird ihm das Zeugniß
ausgeftellt, daß er ſehr faul geweſen jei, nicht die min-
vefte Luft zur feinem Geſchäft gezeigt und nur das gethan
habe, was ihm fpeciell aufgetragen wurde. Als er etwa
acht Tage lang mit dem Wagenknecht, der eine fchlimme
Hand Hatte, auf die Dörfer fahren und Säde auf- und
abladen mußte, war es ihm deutlich anzumerfen, daß ihm
auch diefe Arbeit misfiel. In der Mühle legte er fich,
fo oft er fonnte, ver Länge nach auf einen Sad, um zu.
faulenzen.
Einige Zeit nach feinem Fortgange von Krummendied
befuchte Timm feinen Großvater Martin Krey in Brod-
dorf. ALS die Rede auf den Brand kam, that er fehr
wichtig und groß damit, daß er alfe feine Sachen ge-
rettet habe und daß nichts davon verbrannt ſei. Zu⸗
gleich Außerte er, daß es ihm bei Lembfe fehr gut ge-
fallen babe, und mit beſonderm Entzüden gedachte er ber
warmen Maulſchellen, die e8 bort gegeben.
Schlecht dagegen gefiel es ihm wieder zu Haufe, wo
Zank und Streit an der Tagesordnung waren. Im Herbit
1864 erkrankte Timm an einem gaftrifchen Fieber und,
hiervon genefen, lag er Längere Zeit mit einem fchlimmen
Bein. „Ih wurde gut aufgepaßt”, fagt er felbit, „und
fonnte merken, daß fie meine Beſſerung wünjchten; als
ich aber erſt auffam und nur noch mit dem Stod geben
314 Der Kamilienmörber Timm Thobe.
fonnte, wurde ſchon wieder Arbeit von mir verlangt
und, wenn ich nicht damit fertig wurde, auf mich ge⸗
ſcholten.“
Als es Frühling ward, war Timm plötzlich ver⸗
ſchwunden, keiner wußte wohin, und keiner fragte danach,
man war das ja bei ihm gewohnt. Nach einigen Tagen
kehrte er heim und erzählte, er habe ſich bei dem Rechte⸗
anwalt Wied in Pinneberg vermiethet. Dieſen Dienft
trat er am 1. Mai 1865 an. „Dort“ — fagt Thode —
„din ich eigentlich, wenn überhaupt noch irgendetwas an
mir zu verderben war, vollftändig verborben. In ber
erften Zeit freilich war ich ganz ordentlich, nachher aber
babe ich mich immer fchlechter aufgeführt. Ich wurde
befannt mit andern Knechten und namentlich mit Auguft
Flint, der mich zum fchlechten Lebenswandel verführte.“
Diejer Auguft Flint, Eigarrendreher bei einem Kauf-
mann in Pinneberg, war offenbar ein fchlechtes Subject
der ſchlimmſten Sorte. Er ftedte Timm öfter Cigarren
zu, die er den Vorräthen feines Herrn entnahm; Timm
jeinerjeits entiwendete feinem Dienſtherrn Aepfel, Duitten,
Surfen, Schnittbohnen u. |. w., die Flint dann ein-
machte. Gemeinfchaftlich ftahlen fie Geräthichaften, Mehl,
leere Flaſchen und andere dem Rechtsanwalt Wied ges
hörige Gegenftänbe.
Mit Flint zufammen machte Timm auch verfchiepene
Zouren nah Hamburg, wo fie liederlich Lebten.
Ein neben dem Rechtsanwalt Wied wohnender
Schlächter hatte einen Lehrling, Namens Johann Hollm.
Mit diefem wurde Timm befannt, und, wie er angibt,
auch befreundet. An einem Sonnabend im October 1865
erzählte ihm Hollm, er babe im Laufe der Woche beim
Vleifhaustragen viel Geld gehoben und folle morgen
barüber Rechnung ablegen. Timm fchlich fich nachts in
Der Familienmörder Zimm Thobe. 315
jeine Kammer und entwendete das Geld aus einem ver-
ſchloſſenen Zifchkaften. Er nahm das geftohlene Geld,
als er am andern Morgen zum Mellen ging, mit, ver-
Iharrte es am Wall und brachte es allmählich durch.
Einen Fünfthalerſchein, durch den er fich zu verrathen
fürchtete, überließ er feinem Intimus Flint, der ihm
zweit Thaler dafür gab, den Ueberſchuß aber „für fein
Stilffehweigen” behielt. Hollm Hagte feinem Freunde
Zimm Thode die Noth, in die er nun gerathen fei, was
biefer ruhig und ohne Mitleid anbörte.
Auch in Pinneberg geftel es Timm nicht lange. „Ich
fand, daß ich da als Küchenknecht, Ausläufer, Putjunge
u. dgl. verwandt wurde, und dieſe Arbeit mochte ich
nit. Ich mußte mich immer zum Dienfte der Herr⸗
haft parat Halten, das gefiel mir nicht. Auch befam
ih manchmal nicht genug zu eſſen. Ich mwünfchte wieder
wegzulommen, nachdem ich zum erften mal von Advocat
Wied Ausfchelte befommen, weil ich die Suppe ver
Köchin aufgegeffen.”
Wied Fam feinen Wünfchen infofern entgegen, als er
ihm den Dienft zum 1. November kündigte. Jetzt nahm
Zimm noch eine Stelle auf einem Dorf "in ver Nähe
Pinnebergs an; aber auch hier hielt es ihn nicht lange.
„Ste waren noch mitten in den Außenarbeiten und ich
fürchtete, den ganzen Winter dabei helfen zu müſſen.
Das Drehen, das ih am liebften mag, war zum
größten Theil ſchon geicheben. Ich wollte deshalb, als
ih acht Tage da geweſen war, gern wieder weg une
jagte zu meinem Dienftheren, ob ich nicht mal nad
Haufe reifen dürfe, ich wolle mir eine fleinere Lade holen;
leßteres fagte ich, um meine Lade mitzubefommen. Ich
ging dann fort und kam nicht wieder.“
Zimm machte nun zunächit mit Auguft Flint noch
316 Der Familienmörber Timm Thode.
eine Zour nad Hamburg und reifte barauf nach Haufe,
wo er angab, er jet wegen feines Beines arbeitsunfähig,
und Martin veranlaßte, feinem Dienftherrn dies zu
ſchreiben.
Nach der Heimkehr aus Pinneberg ſcheint es mit
Timm und ſeinem Verhältniß zur übrigen Familie immer
ſchlimmer geworden zu ſein.
Als im Februar 1866 Cornils Krey, ein Bruder der
ſpäter ermordeten Frau Thode, dieſe beſuchte, klagte fie
ihm: ihrem Manne ſei früher mal Geld geſtohlen wor⸗
den, das werde niemand anders gethan haben als Timm.
Anfang Mai deſſelben Jahres kam Cornils Thode
zu jenem Onkel, um ihm Schafe abzuliefern. Auf die
Frage deſſelben, wie es nun mit Timm gehe, erwiderte
er: „Ginge Timm doch wieder weg! Dat löppt nich god
bi, dat löppt nich god bi, Timm is nir werth!“ Bei
dieſen Worten traten ihm die Thränen in die Augen.
Ein andermal, ungefähr um dieſelbe Zeit, kamen
Johann und Cornils wieder mit Schafen zu ihrem Onkel
Krey. Bei diefer Gelegenheit erzählte Johann, Timm
habe ihm fürzlich Geld geftohlen. Leber dieſen Diebftahl
jagt Timm ſelbſt aus: „Ich war fchon eine Zeit lang im
Dett gewejen, ſtand auf und fchlich mich barfuß und im
Hemb aus meiner Schlafitube nach der Knechtekammer,
wo meine brei Brüder fchliefen, nahm raſch aus Johann's
Hofe, die vor feinem Bett lag, feine Knipptaſche mit dem
darin befinblichen Gelde, etwa acht preußifchen Thalern.
Als am andern Morgen Iohann fein Geld vermißte, be
hauptete Martin, ich hätte e8, er Habe mich in ver Kam⸗
mer gehört. Nun mwurbe viel auf mich gefcholten. Ich
geftand nichts ein, gab Johann aber bald darauf fünf bie
ſechs preußiſche Thaler mit dem Bemerken, die wolle ich
ihn erft mal leihen, womit er zufrieden war.
Der Familienmörber Timm Thode. 317
Am Himmelfahrtstage 1866 endlich befuchte die Ehe⸗
frau Lafrenz ihre Schwefter, die Frau Thode. Nachdem
einige gleichgültige Worte gewechſelt waren, ergriff plöß-
lih Frau Thode die Hand der Lafrenz und ſagte heftig
weinend: „Ach, liebe Schwefter, ich Tann und mag es
bir gar nicht fagen mit Timm.” Die Lafrenz meinte: fo
ſchlimm könne e8 ja gar nicht fein, daß fie es ihr nicht
jagen könne. Darauf antwortete die Thode nur mit
Weinen, Timm's Schweiter aber fagte mit betrübter
Miene: „Sa, das ift fo was Schlimmes.” Hier wurbe
das Geſpräch durch das Erfcheinen der Köchin unter-
brochen. Frau Lafrenz bat nie erfahren, was damals bas
Herz der Schwefter jo jchmerzlich bewegte.
Uebrigens fcheinen bie Verhältniffe in der Thode'ſchen
Tamilie gerade in der lebten Zeit vor der Morbthat
einigermaßen erträglich geweſen zu fein. Martin äußerte
gelegentlich gegen Johann Schwarzlopf: nun gehe es doch
mit Zimm ganz gut; der lektere felbft jagt, er könne
nicht jagen, daß in ver legten Zeit mehr Streit gewejen
jet als fonft. Und fpeciell an dem Tage, ber in fo
ſchrecklicher Weife enden follte, ſcheint eine ungewöhnlich
frieblide Luft im Thode'ſchen Haufe geweht zu haben.
Johann Schwarzkopf bekundet nämlich: „Am Dienstag
Vormittag war ich von meinen Aeltern zu Thode hinüber:
gefickt, um ihnen eine Beftellung auszurichten. Die
vier Söhne brafchen unten auf der Diele, und als ich
von oben hereinfam und nach dem Alten fragte, riefen
fie mich herbei und unterhielten fi mit mir. Wir
Iprachen von ber Sonntagsharmonie, auf welcher wir
alle vergnügt gewejen waren. Darauf ging ich in bie
Wohnftube, wo der Alte ſaß und Mutter und Tochter
ab- und zugingen. Sie waren alle gut zu Wege und
heiter, ſodaß damals nichts Widerwärtiges im Haufe
318 Der Familienmörber Timm Thobe.
paſſirt fein kann. Die Söhne fehienen mir noch eher be=
ſonders vergnügt und aufgelegt zu fein. Timm konnte
ih an jenem Vormittage nichts Befonderes anmerfen, er
fam mir weder ftill noch aufgeregt vor.“
Timm aber brütete gerade damals über ven Gedanken
bes Mordes und der Branpftiftung, die er in fo entjeß-
licher Weife bald darauf verübte. Um feiner Faulheit zu
fröhnen, um ein bequemes, genußreiches Leben führen zu
können, ermorbete er mitleiblo8 und graufam ein Familien⸗
glied nach dem andern und belog ſodann mit frecher
Stirn die Nachbarn und das Gericht, denen er das grob
genug erfundene Märchen von ber Bande erzählte, vie
den Hof überfallen hätte.
Drud von F. U. Brodhaus in Leipzig.
—
—*
1
—
*
J =
1
r, F
— 4
i ur
A —F -
”
j f
|
#
Es
* —2 *
* = E
%
#
a %
“ 1