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Full text of "Der neue Pitaval. Eine sammlung der interessantesten criminalgeschichten aller länder aus älterer und neuerer zeit"

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2 . 
Received — GL, Jg 








Der Neue Pitaval. 


Neue Serie. 


Sinundzwanzigfter Band. 


' Der 


Neue Pitaval. 


Eine Sammlung 


der intereflanteiten Criminalgeſchichten aller Länder aus 
älterer und neuerer Seit. 


Begründet 
vom 
Sriminaldirector Dr. 3. E. Hitzig 
und 


Dr. 8. Zäring (W. Alexis). 
Fortgeſetzt von Dr. 4. Bollert. 


4 
Aene Serie. 14 


Einnudzwanzigſter Band. 





Reipzig: 
F. A. Brodhaus,. 


1887. 


Are. Sept: 7%. 1903 


Borwort. 


Die „Mertwürdigen Proceſſe ausEngland“, 
mit welden wir diefen Band des „Neuen Pitaval“ 
eröffnen, find charakteriſtiſch für die engliiche Rechts— 
pflege und die engliihe Rechtsanſchauung. Das eng: 
liſche Volk macht eiferfühtig darüber, daß die Staats: 
gewalt ſich nicht einmifcht in die häuslichen Angelegen- 
beiten der Bürger. Deshalb wird in Eheſachen, 
wenn es fih um Ehebruch und Bigamie handelt, der 
Strafrichter nur auf Antrag des betheiligten Ehegatten 
thätig. Auch ein Betrüger, der ein Mädchen zur Ein- 
gehbung der Ehe verleitet bat, um Geld zu erprefien, 
wird nicht beitraft, weil man die Angelegenheit als 
einen Sivilproceß zwiſchen beiden Parteien verhandelt, 
und um eine Doppelehe fümmert fih die Strafjuftiz 
nicht, folange der beleidigte Gatte fie nicht anruft. 

Andererjeit3 hält man in England feit an den alten 
und veralteten Formen des Verfahrens, deshalb Tann 
ein Sprud der Jury nicht umgeftoßen werden, und 
der unfchuldig megen Mordes zum Qode verurtbeilte 





VI Vorwort. 


Matroſe vermag im Rechtswege ſeine Freiſprechung 
nicht zu erlangen, ja nicht einmal der geſtändige Mör- 
der darf unter Anklage geftellt werden, denn die un- 
fehlbaren 12 Männer haben bereit3 einen andern 
ſchuldig geſprochen. Dagegen hält man daran feit, daß 
der Selbftmörber ein Mörder ifl, und daß derjenige, 
der bei einem Selbjtmord als Anftifter oder Mitthäter 
fich betheiligt, wegen Mordes mit dem Tode zu be: 
jtrafen ift, wie dies der Proceß Sohn Jeſſop vor dem 
Schmwurgeriht in Nottingham beweiſt. 

Dieje intereffanten Fälle und ebenfo den Criminal: 
proceß wider Alois Szemeredy wegen Mordes bat 
und Herr Generalconful Dr. Gotthelf Meyer 
in Wien eingejendet. Er bat felbit lange in Süd— 
amerila gelebt, die dortige Rechtöpflege Tennen lernen 
und nicht blos die Acten dieſes merkwürdigen Falles 
eingejeben, fondern auch mit dem Helden des Dramas 
nad defien Freiſprechung in Budapeft eine perjönliche 
Zuſammenkunft gehabt. Es ift das erfte mal, daß der 
„Neue Pitaval“ einen Proceß aus der Argentinifchen 
Republik veröffentlicht, und wir ſprechen dem Herrn 
Verfaſſer für diefen Beitrag, der ein deutliches Bild 
der Ihmwerfälligen, auf den ſpaniſchen, von Alfons dem 
Meifen 1348 publicirten ‚‚Leyos de las partidas’ 
rubenden Procedur liefert, auch an diejer Stelle un- 
fern verbindlichiten Dank aus. 


Kaum minder dankbar find mir ihm für das 
„Meifterftüd amerikaniſcher Detectivs“, welches 
wiederum die Pinkerton Detectiv-Agentur in Chicago 


Borwort. vu 


geliefert bat, und für den faft liebengmwürdigen und auf 
jeden Sal barmlofen Procuriften Karl Schiste 
aus Wien, defien Unſchuld vermuthlich Feiner unferer 
Leſer bezweifeln wird. 


Die aus derfelben Feder ftammenden „Merkwür— 
digen Criminalproceſſe aus Frankreich“ find 
bezeichnend für den Cultur⸗ und Sittenzuftand unferer 
Nachbarn im Meften. Die Ehe des Grafen Roger 
de Molen de la Bernede und der Proceß wider das 
Heirathsbureau der Frau Baronin de Mortier 
und Genoffen in Paris liefern den Beweis, daß in 
der fogenannten guten Gejellihaft und auch in bürger- 
lihen Kreifen die Ehe vielfah nur als eine Specula: 
tion, als ein Geſchäft angejehen wird und ihres chrift- 
lien, ethiſchen Charakters völlig entfleidet ift. Die 
frivole und gemeine Gefinnung, die fih in diefen Ver: 
handlungen vor Gericht fundgibt, ift eine ſehr ernite 
Gefahr für Franfreih, denn ſolche Vorgänge Laffen 
darauf jchließen, dab das Familienleben nicht mehr 
auf einer gefunden Grundlage ruht, und das Familien:. 
leben ift die Bafis der Volkswohlfahrt. 


Ein grauenbafter Muttermord, der in der So— 
logne von den eigenen Kindern in der neueften Zeit 
verübt wurde, charakteriſirt die tiefe Stufe der Cultur, 
auf welcher in mandyen abgelegenen Theilen von Sranf: 
rei) die Landbevölkerung fteht. Eine gleich rohe, un- 
menſchliche That ift felten in den Annalen der Redhts- 
pflege, und e3 lag unjerd Erachtens fein Grund vor, 
einen diefer Kannibalen zu begnadigen. 


VIII Vorwort. 


Den Proceſſen aus der neuern und neueſten Zeit 
ſchließen wir den berühmten unter Benutzung der 
beſten Quellen bearbeiteten Proceß der Jungfrau 
von Orléans an, der in unſerm Werke nicht fehlen 
darf. 

Das letzte Stüd diefes Bandes handelt von Heren, 
Herenproceffen und Herenpredigten. Der „Neue 
Pitaval” hat niemals einen „Herenproceß” mitgetheilt, 
deshalb fchien e8 uns angemefjen zu fein, dieſe ganze 
Materie in einem für gebildete Laien geichriebenen 
Auflage darzuitellen. 


Gera, im October 1837. 


Dr. A. Bollert. 


Anhalt. 
Borwort. 


Merkwürdige Proceſſe aus England. 

1. Ein Eheſcheidungsproceß, der nach deutſchem 
Recht als ein Criminalproceß wegen Betrugs 
und Erpreſſung verhandelt worden wäre. 
London 1886. 

2. Eine unfehlbare Jury in England und. ein 
unfchuldig wegen Mordes zum Tode ver- 
urtheilter Matroſe, dem man fein Recht auf 
Wieberherftellung feines guten Namens ver: 
weigert. 1885. . . 

3. John Jeſſop vor den Schwurgericht ir in Not: 
tingham unter der Anklage des verfuchten 
Selbftmordes und der Berleitung eines 
Kameraden zum Selbftmorde. 1887. . 

4. Einige Fälle von Bigamie. 1887. . . . 

Ein Eriminalproceß aus Südamierika nad) altfpanifchen 
Berfahren. 
Alois Szemeredy. Buenos-Ayres. — Mord. 
1876 bi6 1881. . . 0. 
Gifenbahn- und Pofträuber in Norbamerite, 

Ein Meifterflitd ameritaniſcher Detectivs. 1886 

bis 1887. .. 


Seite 


IS 
DD 


26 
32 


35 


111 


X Inhalt. 


Ein Eriminalprocek aus Defterreid). 
Die Selbftanflage des Brocuriften Karl Schiske 
in. Wien wegen einer argeblichen Beruntteuung. 
1886. . . 
Merkwürdige Criminalproceſſe aus Frankreich 
1. Die Ehe des Grafen Roger de Molen de la 
Vernede. Mordverſuch. — Dijon. 1886 
bis 1887. 
2. Der Proceß wider das Heirathsbureau der 
Frau Baronin de Mortier und Genoſſen 
in Paris. Betrug. 1887. 
3. Ein grauenhafter Muttermord in der Soon. 
1886. 1887. 
Johanna d’Arc, die Yungfrau von Orleans, 1429 
bi8 1431. . . oo. 
Die Heren, Herenproceſſe und. Derenpeigten. 
1. Die Heren. 
2. Die Herenprocefie. 
3. Heren= und Unfolbenprebigten. 


Seite 


128 


Merkwürdige Procefe ans England. 


1. Ein Ehefeidungsproceh, der nad deutſchem Recht 
als ein Sriminalproceh wegen Beirugs und Erprefiung 
verhandelt worden wäre. 


London 1886. 


Am 16. November 1886 war der Gerichtöfanl des 
Gerichtshofes Tür Teftamentsprüfung und Eheſcheidungen 
(Court of Probate and Divorce) zu London überfüllt von 
einer großen Menge von Zuhörern. Die regelmäßigen 
Gäſte hatten fich faft vollzählig eingefunden. Es find das 
diejenigen Leute, welche den Beſuch öffentlicher Gerichts- 
verbandlungen zu ihrem Lebenszwed gemacht haben und 
immer babei find, mag es fich um einen blutigen Mord, 
einen raffinirten Betrug, eine pikante Eheſcheidung oder 
irgenbeinen andern Senfationsproceß handeln. Aber auch) 
die Juriſten waren ſtark vertreten, weil diesmal feltene 
Rechtsfragen beantwortet werben follten, die in juriftischen 
Kreiſen vielfach beiprochen wurden. 

Die Geduld des Publikums wurbe auf eine harte 
Probe geftellt, denn e8 dauerte fehr lange, ehe ver Richter, 
Mr. Iuftice Butt, feinen Pla einnahm und ver Procef 
Sebwright alias Scott gegen Sebwright aufgerufen 


mwurbe. Für die Parteien erjchienen, dem engliſchen Brauche 
XXL | 1 








2 Merkwürdige Proceffe aus England. 


gemäß, eine ganze Reihe von Anwälten: für bie Klä- 
gerin der Attorneygeneral fköniglicher Rath Richard 
Webſter, Eönigliher Rath Dr. Triftram, Mr. Pol- 
lard und Mr. Stathbam; für den Beklagten: ber So— 
licitorgeneral königlicher Rath Sir Edward Clarke, 
königlicher Rath Mr. Inderwid, Mr. Searle und 
Mr. Roſe Innes. Die eigentliche Thätigfeit aller 
biefer Herren ift bereits worüber, fie hat in directen Ver⸗ 
handlungen zwijchen ven Parteien beſtanden, deren Inhalt 
und Tragweite dem Gerichtähofe nicht befannt wurben. 
Die erfreuliche Folge dieſes Verkehrs unter den Bethei⸗ 
ligten war die, daß fein öffentlicher Skandal entftand, 
ber fonft in derartigen Procejjen nicht auszubleiben pflegt. 
Der Hagenden Partei war e8 durchaus nicht darum zu 
thun, daß der Verflagte zu einer Strafe verurtheilt 
würde, fie verlangte nur, daß das Gericht die von Lina 
Mary Scott mit Arthur Edward Sebwright vor 
ben Standesamte in South-Aublenitreet in London am 
30. Ian. 1886 abgejchloffene Ehe für ungültig und nichtig 
erklären folle. Zur Begründung ihres Verlangens wurbe 
geltend gemacht, e8 habe niemals bie Abficht bejtanden, 
bie Ehe zu vollziehen, fie fei auch in ber That nicht con= 
jumirt worden, nur durch Betrug und Zwang babe ver 
Beklagte die Miß Scott wiber ihren Willen zur formalen 
Eingehung der Ehe verleitet. 

Mr. Sebwright hatte die in der Klagichrift enthal- 
teren Thatſachen geleugnet und feinerjeitS gefordert, daß 
der Familie der Klägerin aufgegeben werbe, der Aus⸗— 
übung feiner ehelichen Rechte Fein Hinderniß in ven Weg 
zu legen. 

Der Richter Mr. Juftice Butt refumirte, ehe er Das Ur⸗ 
theil verfünbigte, in überaus klarer, fachlicher Weile ven in 
ben vorbergehenven Tagen von den Parteien verbandelten 


Mertwürdige Procefje aus England. 3 


Proceß, indem er Folgendes ausführte: Die Klägerin be- 
hanptet, ber Beflagte habe fie durch den Betrug, durch 
welchen er fie getäufcht, und durch die Furcht, in welche er 
jie mittel8 gefährlicher Drohungen verjett, zu einem willen- 
(ojen Werkzeuge feiner Pläne gemacht. Bei dem Abjchluffe 
ter Ehe vor dem Stanbesbeamten habe fie nicht mit 
freiem Willen, fondern einem unwiberftehlichen Zwange 
gehorchend ihre Erflärung abgegeben, ihre Einwilligung 
zur Ehe fei deshalb gar nicht vorhanden geweſen und 
beshalb die Ehe ungültig. 

Es iſt nun allerdings geltender Rechtsgrundſatz, daß 
ein Dertrag, zu welchem bie Zuftimmung einer Partei 
durch Betrug erfchlichen oder durch Zwang herbeigeführt 
wurde, für die Bartei nicht als bindend betrachtet werden 
kann. Die Eheſchließung muß ebenfalls als Vertrag auf- 
gefaßt und nach derſelben Rechtsanſchauung beurtheilt 
werten. Es iſt indeß richtig, daß der Eheſchließung eine 
allgemeinere, für die menfchliche Geſellſchaft wichtigere 
Bedeutung innewohnt, als einem im Handel und Ber- 
kehr des täglichen Lebens vorkommenden gewöhnlichen 
Bertrage. Es liegt deshalb im Intereffe der Gefellfchaft, 
daß die Ehe, welche die Grundlage der Familie, alſo 
auch aller unferer focialen Cinrichtungen bilvet, nicht 
leicht finnig gejchloffen, und wenn fie einmal gejchloffen ift, 
nicht leichtfinnig wieder gelöft werben darf. Diefe Er- 
wägungen müffen Einfluß haben auf die Entſcheidung Des 
Gerichtshofs, er ift verpflichtet, mit befonderer Borficht 
ımb Sorgfalt bie inpivibuellen Umftände zu prüfen. Aber 
ber allgemeine Rechtsfag, daß zur Eingehung eines Ehe- 
vertrages der Wille der den Vertrag abjchließenden Par⸗ 
teien vorhanden fein muß, wird dadurch nicht aufgehoben. 

Es ift eine beftrittene Trage, ob der Vertrag für un- 
gültig zu erklären ift wegen jedes Zwanges, unter bem 

1* 





4 Merkwürdige Proceſſe aus England. 


eine Partei bei dem Abfchluffe geftanden hat. Man Hat 
gemeint, e8 müfje der Grad und die Natur des Zwanges 
näher beftimmt werben, man bürfe zwar nicht ein außer⸗ 
gewöhnliches Maß von Muth und Energie fordern, aber 
boch auch nicht fchon dann den Vertrag vernichten, wenn 
jemand fich vor einer eingebildeten Gefahr gefürchtet und 
aus übergroßer Reizbarfeit in Unfreibeit "gehandelt hat. 

Nur diejenige Bedrohung mit einem Uebel und nur 
derjenige Zwang verbiene rechtliche Beachtung, ber einen 
Menſchen von regelmäßiger Beſchaffenheit in den Zuftand 
ber Furcht und Unfreiheit verſetzt haben würbe. 

Dieje Anficht iſt jeboch unrichtig: 

Wenn eine Perfon vermöge ihrer befondern Anlage, 
ihrer natürlichen Schwäche, ihrer Jugend, ihrer Uner⸗ 
fahrenheit u. |. w. eine Gefahr, bie man ihr vorjpiegelt, 
als vorhanden anfieht und infolge deſſen einen Vertrag 
abjchließt, fo tft der vom Recht verbotene Zwang auf fie 
ausgeübt. Denn man hat ihr die Willensfreiheit ent- 
zogen, bie zur Eingehung eines bindenden Vertrages noth> 
wendig ift. Sie ift in berjelben Lage wie ein Menjch 
von größerer Einfiht und Willenskraft, welcher fich von 
einer wirklichen ernjten Gefahr beftimmen läßt, gegen 
feinen wahren Willen zu handeln. 

Nicht die Beitimmungen des Geſetzes find unflar, es 
it nur ſchwierig, in jedem einzelnen Falle feftzuftellen, 
ob nah den Umftänden eine durch den ausgeübten Zwang 
verurfachte Willensunfreibeit als bewiejen anzunehmen tft 
ober nicht. 

Die Klägerin, bie einzige Tochter des im Jahre 1880 
verftorbenen Bankiers Sir Claude Scott, ift eine junge 
Dame, die das Alter ver Großjährigfeit, 21 Iahre, im 
Februar 1885 erreicht hat. Sie ift nicht etwa ſchwach⸗ 
finnig, aber die gegen Ende des Jahres 1885 und zu 


Merkwürdige Proceſſe aus Englanb. 5 


Anfang des Jahres 1886 auf fie einwirkenden Vorgänge 
waren geeignet, einen Zuftand der Eraltation und Nerven- 
überreizung herbeizuführen, ver als nicht normal bezeichnet 
werten darf, ihre Gejunpheit erfchütterte und ihr geiftiges 
Bermögen fchwächte. 

Bor fünf oder ſechs Jahren machte fie die Bekanntſchaft 
tes Beklagten. Der Ießtere war ein junger, hübſcher, 
eleganter Mann von einnehmenvden Manieren, aus guter 
Familie. Mr. Arthur Sebwright bewarb ſich um ihre 
Liebe, er fuchte den Verkehr mit ihr, erwies ihr viele 
Aufmerkſamkeiten und machte ihr, obgleich fie noch fehr 
jung war, einen Heirathsantrag. Die Familie wies ihn 
zurüd. Die junge Dame fchien indeß mit der Zurüd- 
weiſung nicht einverftanden zu fein. Sie fahen fih nad 
wie vor und zulett verlobten fie fich heimlich, ohne die 
Einwilligung der Mutter der Braut und ihrer fonftigen 
Berwandten nachzufuchen. 

Lina Mary Scott war noch minderjährig und Mr. 
Arthur Sebwright nur etliche Jahre älter, fie konnten 
nicht daran denken, die Ehe abzufchließen, und mußten 
folglich warten. Monate hindurch ſahen fie fich nicht 
ein einziges mal, aber dann führten fie wenigſtens einen 
lebhaften Briefwechiel. Sie betrachteten fich als Braut- 
leute, jedenfalls ift das Verlöbniß niemals rüdgängig ge- 
macht worden. 

Fräulein Scott gelangte am Tage ihrer Grofjährig- 
feit in ben Befit einer Summe von 26000 Pfr. Et. 
(520000 Marf) und hatte kraft ber tejtamentariichen Be⸗ 
jtimmungen ihres Vaters außerdem die Antwartichaft 
auf ein noch größeres Erbe nach dem Tode ihrer Mutter. 
Auf den Rath der lettern ließ fie bald tarauf, tm Juni 
1885, ihr Vermögen, wie dies in England üblich tft, feſt 
anlegen, db. h. fie verzichtete auf das Recht, über bas 


6 Merkwürdige Proceſſe aus England. 


Kapital zu verfügen, ihre Euratoren, Sir Philipp Roſe 
und Oberſt Hood, durften nur bie Zinfen erheben und für 
fie verwenden. Allein ſchon vor diefer im Juni getroffenen 
finanziellen Maßregel, nämlih im März 1885, veran- 
laßte Mer. Arthur Sebwright, der fih in Gelpverlegen- 
heit befand, feine Braut, einen von ihm ausgeftellten 
Wechjel über 500 Pfd. St. zu acceptiren. Natürlich ge- 
ſchah dies ohne Vorwiflen ihrer Mutter. 

Im Laufe des Sommers und Herbites überrebete fie 
ihr Verlobter, dieſe Gefälligfeiten zu wiederholen. Sie 
ihlug ihm feine Bitte niemals ab und Fonnte auch bie 
Tragweite ihrer Unterfchrift nicht beurtheilen. Im De- 
cember 1885 betrug die Gejammtjumme, zu deren wech⸗ 
jelmäßiger Bezahlung fie fich verpflichtet hatte, ſchon 
3350 Pfd. St. oder 67000 Mark, 

Mr. Sebwright verfilberte die Wechjel, die Durch Die 
Unterfchrift feiner Braut Werth erhalten hatten, er ließ 
die Papiere von zwei in folchen Gejchäften erfahrenen 
Geldleuten Namens Williams und ee eöcomptiren. 
Dem jungen Mädchen hatte er vorgefpiegelt, es handle 
ſich nur um eine leere Form, und ihr verjichert, fie würde 
burchaus feine Ungelegenheiten von der Sache haben. 
Allein zur Verfallzeit fonnte er die Wechſel nicht einlöfen. 
Die Escompteure wendeten ſich natürlich an Fräulein 
Scott. Die Wechfel wurden proteftirt, e8 folgten Zah— 
lungsauflagen und die Androhung, daß der Eoncurs er- 
Öffnet werden würde, wenn die Gläubiger nicht balo 
Zahlung erhielten. 

Die mit gerichtlichen Proceduren gänzlich unbefannte 
Dame erfchraf und ihre Lage erichien ihr fürchterlich. 
Sie wollte um feinen Preis ihrer Mutter fich offenbaren, 
denn dann wäre ihre heimliche Verlobung an den Tag 
gefommen. Ihr Bräutigam aber, ver das Geld burch- 


Merkwürdige Brocejfe aus England. 7 


gebracht hatte und nichts beſaß, und die Inhaber ber 
Wechjel beprängten fie unaufhörlich. Die gerichtlichen 
Berfügungen mit den ihr unverftändlichen juriftiichen 
Sormeln, die Drohung mit dem Concurs, die ihr als 
etwas ganz bejonders Fürchterliches ericheinen mochte, er- 
füllten fie mit Entfegen. Die fortvauernden Duälereien 
und die dadurch hervorgerufene Gemüthsaufregung be= 
wirkten, daß fie gänzlich unfähig wurde, irgendeiner ener- 
giſchen, an fie gerichteten Forderung Widerſtand zır leiften. 
Sie war nicht geiftesfranf, fie konnte noch für fih han 
dein, aber ihre Willenskraft war gelähmt. Die Diener- 
Schaft, die Aerzte, die Freunde der Yamilie ftimmen in 
ihren Ausfagen über diefen Punkt überein. ‘Die junge 
Dame war in ihrem Ausjehen und in ihrem Wejen derart 
verändert, daß Dr. Izod, der langjährige Hausarzt der 
Familie, welcher ihretwegen conjultirt wurde, ernftliche 
Beſorgniſſe hegte und ihrer Mutter erklärte, daß man 
fih auf eine Gemüthskrankheit gefaßt machen müffe. 

Am deutlichften ergibt fich der Zuftand des Fräulein 
Scott aus drei Briefen, die fie gegen Ende des Monats 
Januar 1886 an einen befreundeten Rechtsanwalt, Herrn 
Sojeph Guedalla, kurz nacheinander jchrieb. Die Briefe 
find zu lang und zu unzuſammenhängend, um vollftändig 
mitgetheilt zu werben, aber einige Auszüge wollen wir 
geben. Sie werben genügen, um ven Thatbeitand klar⸗ 
zuftellen. Ste fchreibt: 

„Srosvenor Hotel, Southjen, Samstag. 
Lieber Herr Guedalla! 

Ich fchreibe Ihnen auf das kummervollſte erregt, 
aber ich weiß, ich kann mich auf Sie als einen Ehren- 
mann und Gentleman verlaffen. Sie werben mid 
mit feiner Silbe verrathen und niemand, niemand 
Kenntniß von dem Inhalte dieſes Briefed geben. Sch 





8 Merkwürdige Proceffe aus England. 


weiß ed, daß ich mich auf Sie verlaffen kann. Helfen 
Sie mir um Gottes willen, retten Sie mich von dem 
Untergange, ber mir droht. Ich bin in eine entjeßliche 
Lage verwidelt worben, um Gottes willen, retten Sie 
mich! Bei der Freundichaft, Tiebfter Herr Gueballa, vie 
Sie immer für mich gehegt, bitte und beſchwöre ich Sie, 
hören Sie mih an. Wollen Sie mir 2000 Pfd. St. 
leihen? Ich bin ganz wahnfinnig. Ich will Ihnen alles 
erzählen, wenn ich nach London zurüdtomme, nur um 
Gottes willen retten Sie mich von ber Schanbe, die mir 
droht. Sie find der einzige Menfch, dem ich mich an⸗ 
vertrauen farm. Um des Himmels willen thun Sie es 
für mid und rechnen Sie mir fo viele Procente an, als 
Sie wollen. Doch ich flehe Sie an, retten Sie mich! 
In wenigen Tagen bin ich zu Grunde gerichtet, denn ich 
kann mich an feinen andern Menfchen um Hülfe wenden. 
Sie find der einzige Mann, dem ich mich anvertrauen 
kann. Um des Himmels willen, Herr Guedalla, thun Sie 
e8! Ich werde Ihnen zeitlebens dafür dankbar bleiben.... 

Ich habe feit 14 Tagen nicht mehr gefchlafen; ich 
bin völlig von Sinnen. Bitte, bitte, feien Sie gut mit 
mir und leihen Sie mir die 2000 Pf. St. auf ein 
Jahr und reshnen Sie weldhe Procente Sie wollen. Aber 
in des Himmels Namen beichwöre ich Sie, leihen Sie 
mir die Summe.... Es find drei Monate ber, oder etwas 
länger, da unterzeichnete ich zwei Wechjel für Mir. Seb⸗ 
wright — ich verlaffe mich auf Sie, Sie werben e8 ihn 
nie verrathen, daß ich e8 Ihnen gejtanden habe. Sch 
erkläre Ihnen alles näher, wenn ich Eie ſprechen kann, 
vielleicht Schon nächfte Woche. Ich unterzeichnete, weil 
er mich darum bat und ich dumm genug war, e8 zu thun. 
Er verfprach mir feierlich, die Wechjel einzulöfen, ſobald 
fie fälltg werben würben. Aber zu meinem Entjegen hat 


Mertmwürbige Proceſſe aus England. 9 


er es nicht gethan. Ein Wechiel über 1000 Pfr. St. 
it ſchon lange fällig. Ein Herr Williams in George 
Yard, Lombarbftreet, ift ver Inhaber, aber er ift fehr 
anftändig und bat mir zugeftanden, daß er bis zum 
30. d. M. warten will. Ich habe aber eine Zahlungs⸗ 
auflage erhalten und Gott weiß was noch. Sch bin beis 
nahe verrüdt geworben darüber. ‘Dann wurde am Mitt- 
woch der andere Wechſel fällig und der Menſch, ein Herr 
Lee, bat mir einen fo fchredlichen Brief gefchrieben, fo 
grob — aber ich wundere mich gar nicht darüber — 
und das Nächfte wird jein, ich bekomme wieder jo eine 
Zahlungsauflage. Ich bin förmlich von Sinnen. Ich 
gebe ja zu, ich hätte e8 nie thun follen, aber ich flehe 
Sie an im Namen des allmächtigen Gottes! — Um 
feinen Preis darf Mama etwas davon erfahren, es ft 
zu traurig, denn ich habe Herrn Sebwrigbht fo lieb. 
Nur helfen Sie mir, und ich werde Ihnen dankbar bleiben 
mein ganzes Leben lang. Um Gottes willen, laſſen Sie 
e8 nicht zu, daß fie mir wieder eine Zahlungsauflage 
Ihiden, denn am Ente füme es heraus und dann wäre 
ich zu Grunde gerichtet. Ich brauche die 2000 Pfr. St., 
um zwei Wechiel zu bezahlen, denn der von Herrn 
Lee lautet wirfiih auf 1000 Pf. St., und der von 
Williams ift 2000 Pfr. St., aber ber wartet mit 
einem Theil, und ich werde wahnfinnig, wenn ich noch 
eine Woche lang mit biejer entjetlichen Laſt, die mich jo 
rückt, herumgeben ſoll. Sie fehen, ich bin in ber bitterften 
Noth. Ich beſchwöre Sie, Sie haben ein jo gutes Herz, 
o, retten Sie mich, Tiebfter Herr Guedalla, — in bes 
Himmels Namen, retten Ste mih, Sie fehen, wie ich 
gebrängt-werbe.” ... 

„Der Wechfel ift vorigen Mittwoch präfentirt worden. 
Er wird mir eine Zahlungsauflage ſchickken. O, was 





10 Merkwürdige Proceffe aus England. 


ſoll ich thun? Gott allein weiß es. Bitte, belfen Sie 
mir und leihen Sie es mir. Ich flehe Sie an, mir zu 
helfen und mir das Geld zu verfchaffen. Ich bin ſchon 
faft wahnfinnig vor Angft und von der Quälerei. Um 
Gottes Chrifti willen ſeien Sie gut mit mir und helfen 
Sie mir.... Ich bin fo außer mir, daß man benfen 
fönnte, daß ich e8 bin, bie ein fo fchmuziges Ding thut. 
Sch möchte um nichts in der Welt abfichtlich ein ſchmuziges 
Mandver vollbringen, darum und um Gottes willen, 
liebfter Herr Guedalla, wenn Sie noch etwas Freunde 
haft für mich fühlen, retten Sie mich, jet wo Sie 
jehen, wie meine Lage wirklich beichaffen ift. Um Gottes 
willen ſchicken Sie nur gleich zu dem entjeglichen Dir. Lee 
und jagen Sie ihm, er foll mir feine Zahlungsauflage 
mehr ſchicken, fagen Sie ihm, er foll fie zu Ihnen für 
mich ſchicken. O Gott! Wenn fie in die Hände meiner 
Mutter fiele! Ich bin ganz toll vor Kummer und 
Sorge!” ... 

„Gott weiß, was ich anfangen foll! Ste werben fich 
wundern, wenn Sie mich wiebderjeben, wie krank und 
hinfällig ich bin, und fo gebrüdt und beinahe wahnfinnig 
vor Verzweiflung!” ... 

„Es iſt mir fo leid, daß Sie glauben, ich hätte Ihnen 
etwas Unſauberes zugemuthet, als ich Ihnen fchrieb, Sie 
jollten joviel Zinfen berechnen als Sie wollten. O nein, 
nein! Auf meine Ehre, ich wollte Sie nicht beleidigen. 
Ich möchte um alles in ver Welt Sie nicht böſe auf mich 
maden, niemand war ja gütiger gegen mich als gerade 
Sie, ih bitte Sie, glauben Sie mir nur, ich werde 
Ihnen immer dankbar bleiben, bitte, glauben Sie mir 
nur, ih wollte Ihnen gewiß nichts Unangenehmes jagen. 
Aber ich bin wirklich ganz verrüdt vor Sorgen unb Ihr 
Drief hat meine lette Hoffnung zerftört — Sie fcheinen 


Mertwürbige Procejje aus England. 11 


meine gräßfiche Lage noch immer nicht ganz zu erfaffen. 
Ich ſehe nur gänzlichen Ruin mir von allen Seiten ent- 
gegenftarren. Aber ich weiß, auf Sie kann ich mich ver- 
laffen, und ih will Ihnen alles fagen.... Ich weiß, 
Sie werben ed niemals Herrn Sebwright verrathen, 
daß ih es Ihnen mitgetheilt. Jetzt, wo dieſe fürchter- 
lichen Wechjel fällig geworden find, jetzt fagt er zu mir 
— o Himmel! was ich anfangen foll! doch ich will mit 
tem Anfang beginnen. Bor jech8 Monaten wollte er, 
daß ich ihn heirathen möge, :.. Wir waren einig, aber 
wir follten ſechs Monate warten, das wäre bis ‘December. 
Während ber Zeit verlangte er von mir, baß ich bie 
Wechſel unterfchreibe. Ich that es, weil ich ihm glaubte — 
jeßt ſehe ich erit ein, was ich Schredliches gethan! Aber 
es ging jo weiter und jeßt vor vierzehn Tagen jagte er mir, 
er Eönne fie nicht bezahlen, nachdem fie an der Zahlitelle 
protejtirt worten find. Was heißt das? Es ift zu arg.... 
Er drohte mir au, und fagte, daß ich ihn auf der Stelle 
heirathen müffe, er erklärte geradezu, er würde es font 
gar nicht einmal verfuchen, das Geld aufzutreiben, außer 
ich heirathe ihn. Und dann müfje ich die Eonjequenzen 
tragen! Ich- zermartere meinen Kopf und finde feinen 
Ausweg. Er droht, wenn ich ihn nicht beirathe, fo läßt 
er fie los über mich und fie werben mich klagen und 
pfänden, und banfrott machen und ich muß vor Gericht. 
Ziebfter Herr Guedalla, ſehen Sie nun ein, in welche 
jürchterliche Zage ich gefonımen bin? Wird Herr Roſe, 
mein Curater, mir das Geld geben? Er wird e8 nicht. 
Und was fann ich dann thun? Ich muß ihn heirathen 
und wie fann ich das jetzt, wo ich ihn nicht mehr lieb 
haben kann nach der Behandlung, die er mir in legter 
Zeit zugefügt hat! Wie könnte ich e8! Cr behauptet, 
wenn ich ihn heirathe, dann findet er das Geld, um bie 





12 Merkwürdige Proceſſe aus England. 


Wechſel zu bezahlen. Wenn Herr Roſe e8 mir aber 
nicht gibt, ift meine Zufunft vernichtet nach jeder Nich- 
tung hin. Ich muß es haben, ich muß es befommen. 
Gott weiß wie, aber es muß ja fein! Wiffen Sie nie- 
mand, der mir e8 leihen möchte? Wenn Herr Roſe es 
nicht berausgibt, um mich zu retten, dann muß ich ihn 
ia heirathen! Ich bin ganz krank vor Verzweiflung. Er 
jagt, er will gar nichts thun, um das Geld zu beihaffen, 
wenn ich ihn nicht heirathe — begreifen Sie nun, was 
ih leide? Ich bin Schon fo unglüdlich, feien Sie nur 
nicht auch noch böfe mit mir. Ich kann meinen Kummer 
niemandem Hagen außer Ihnen — ich möchte um bes 
Himmels willen nicht, daß ſonſt noch jemand erfährt wie 
berzlos er gegen mich gehandelt bat. Nehmen Sie mir, 
ih bitte Sie, nichts übel. Ich bin ja fo unglüdlich! fo 
verzweifelt! fo zu Grunde gerichtet!” ... 

Es find dies nur kurze Bruchftüde aus ben Briefen 
des gepeinigten Mädchens, aber fie beweifen, welche Qualen 
Mit Scott gelitten hat, und geben ein veutliches Bild 
von ihrem Geelenzujtande. Aus den Briefen ergibt fich, 
daß außer ber finanziellen Sorge und der Furcht vor 
dem Einjchreiten des Gerichts und der Schande noch ein 
anderer, fchwerer Kummer auf der jungen Dame laftete. 
Die Angft, die fih in den Worten Luft macht: „ich bin 
verzweifelt, ich bin zu Grunde gerichtet”‘, bezieht fich zu— 
gleich darauf, daß ihr Bräutigam ihr drohte: Wenn fie 
das Geld nicht fofort fchaffen könne, müffe fie ihn hei— 
rathen, und wenn fie fich weigere, die Ehe einzugehen, 
werbe er ihrer Mutter jagen und in allen ihren geſell⸗ 
ſchaftlichen Kreifen erzählen, daß fie fih von ihm habe 
verführen laffen! 

Sn den Briefen ift diefe jchändliche Drohung nur an⸗ 
gedeutet und in dem Procefje ift Beweis darüber nicht 


Merkwürdige Proceffe aus England. 13 


angetreten worven. Die Parteien find, um bie junge Dame 
zu ſchonen, übereingelommen, über biefen Punkt und auch 
über ihren Umgang mit Mr. Sebwright feine Fragen zu 
ftellen. Aber der letztere ift auf fein eigenes Verlangen 
als Zeuge vernommen worben und hat eidlich werfichert: 
es fei zwijchen ihm und Miß Scott niemals etwas Un- 
gebührliches vorgekommen. 

Das ift die einzige Zeugenausfage über dieſen veli- 
caten Bunt. 

Angenommen, dag Wir. Sebwright hierin pie Wahrheit 
gefagt bat, fo ift dies in der langen Kette von abfcheu- 
lichen Zäufchungen, Betrügereien und Erprefjungen, deren 
Opfer das arme bethörte Mädchen wurbe, bie einzige 
Bethätigung von Ehrgefühl ihres Bräutigams. 

Ob er aber feiner Braut gebroht hat, er wolle wider 
tie Wahrheit ihrer Mutter mittheilen, daß fie von ihm 
entehrt worden fei, tft im Proceßverfahren, wie fchon er- 
wähnt wurde, nicht feitgeftellt worben. 

Der Inhaber des einen Wechſels hatte, wie wir aus 
den Briefen erfahren haben, Frift His zum 30. Sanuar 
gegeben, zugleich aber erklärt, dies fei der äußerſte Ter- 
min, länger warte er nicht, wenn auch bis dahin Zahlung 
nicht geleiftet werde, müſſe er die Eröffnung des Con« 
curſes über fie beantragen. Miß Scott wußte feinen 
Rath und Feine Rettung. Herr Guedalla hatte ihr Das 
Geld nicht gefchidt, ſondern fie aufgeforvert, fich ver- 
trauensvoll an ihre Mutter zu wenden. Dazu konnte 
fih Miß Scott nicht entichliefen. Sie war der Ber- 
zweiflung nahe. Da jpiegelte ihr Sebwright vor, es gebe 
einen fehr einfachen Weg: ihre Eheſchließung. 

Wenn fie bereit jet, ihn zu beiratben, werde e8 ihm 
leicht fein, die Gläubiger zu befriedigen. Williams und Lee 
würben ihre Klagen zurüdnehmen und fie nicht mehr be« 





14 Mertwürdige Procejje aus England. 


läftigen. Er fügte hinzu, die Ehe könne vorläufig ge- 
heimgebalten werden, auch ihre Mutter brauche nichts 
davon zu erfahren, er würde alles ordnen und ebnen, 
bie Quälereien hörten mit Einem Schlage auf und die 
Gefahr fei gehoben. Weigere fie fih aber, ihn zum 
Gatten zu nehmen, dann werde er den Dingen ihren 
Lauf laffen, ja noch mehr, er werde fie zu Grunde richten. 

Miß Scott war mistrauifch geworben und fchenkte 
feinen Berficherungen feinen Glauben mehr, fie fürchtete, 
daß auch die Heirath Feine fichere Hülfe gewähren würde. 
Um fie zu überzeugen, daß feine Verſprechungen jich er- 
füllen würben, führte er fie eines Tags, Ende Januar, 
in die Kanzlei eines gewiffen Arthur Burr, den er ihr 
als einen VBerficherungsagenten bezeichnete. Mr. Burr 
erklärte, wenn Miß Scott den Mr. Sebwright heirathe, 
wolle er die Wechjel übernehmen und einlöfen, aber nur 
unter diefer Bedingung wolle er überhaupt mit der An— 
gelegenbeit etwas zu thun haben. 

Diefe Unterredung machte Eindrud auf Miß Scott. 
Am 29. Januar begab fie fih in die Wohnung, richtiger 
gefagt in das Gefchäftslocal von Mr. Sebwright, ber fie 
um ihren Beſuch gebeten hatte, um über die Wechjel mit 
ihr zu ſprechen. Während ihrer Unterrebung fam Williams 
hinzu und fagte in hartem Zon, länger warte er nicht, 
wenn nicht endlich Ernſt mit ber Heirath gemacht würde, 
lafje er jchon im Laufe der nächjten Woche ven Concurs 
eröffnen. Die junge Dame trennte fich von ihrem Ver— 
lobten in großer Aufregung. 

Noch an demfelben Abend jchrieb ihr Der. Sebwright 
einen Brief. Er bat fie, mit ihm wegen der Wechjel am 
folgenden Tage, ven 30. Jannar, an der Ede von Mount- 
ftreet zufammenzutreffen. Sie folgte der Einladung und ging 
in Begleitung von Mrs. Butler, einer Frau, die fie währen 


Merkwürdige Proceffe aus England. 15 


ihrer Krankheit gepflegt hatte, zu dem Rendezvous. Cie 
ſelbſt hat über die nun folgenden Ereignifje fo ausgefagt: 

„Es war am Vormittag. Emma Butler hatte mich 
begleitet. Ich ließ fie in einem Laden in Bonbftreet zurüd, 
mit ber Weifung, daſelbſt auf mich zu warten. Ich nahın 
einen Cab unb fuhr an die Ede von Mountftreet. ‘Dort 
erwartete mih Mr. Sebwright. Er Tieß ven Wagen 
halten und ftieg zu mir hinein. Er verlangte, ich follte 
ihm meine Hand geben, ich verweigerte fie ihm jedoch. 
Er Hatte dem Kutjcher gejagt, wohin der Wagen fahren 
ſollte. In der South-Aublenftreet, am Standesamte, 
jtiegen wir aus. Ich wußte aber nichts davon, daß in 
dem Haufe ein Standesamt war. Dir. Sebwright be- 
mächtigte jich mit Gewalt meines Armes und führte mich 
die Treppe hinauf. Ich war wie von Sinnen, denn ich 
Dachte, wir gingen wegen ver Wechjel vor irgendein Ge- 
richt. Im Haufe fanden wir den Grafen Valhermey, 
einen Freund des Herrn Sebwright, den ich ſchon von 
früher ber Tannte, aber nicht leiden mochte. Wir traten 
in einen Saal ein, und nun erft fagte mir Arthur Seb- 
iwrigbt, er habe mich hierher geführt, um die Che mit 
ihm zw fchließen. Ich weigerte mich und wollte mid) 
entfernen, aber Graf Valhermey ftellte jich vor bie 
Thür, wehrte mir den Ausgang und erklärte: das gehe 
jet nicht mehr, zuvor müfje der Ehevertrag unterjchrieben 
fein. Dr. Sebwright fülgte hinzu, wenn ich noch Umftände 
machte, würde er mich auf der Stelle erfchießen. Dabei 
zeigte er mir einen Revolver, den er bet fich trug. Schon 
früher einmal, im Mai 1885, hatte er mich mit Erſchießen 
bedroht. Ich fürchtete mich und ſchwieg. Es famen etliche 
Leute herein. Dean fprach zu mir, ich meiß aber nicht 
was. Ich wußte vor Angſt nicht, was vorging. Ich 
ftand fo, daß ich Arthur Sebwright nicht fah, plöglich 


16 Merkwürdige Procefje aus England. 


jtedte er mir einen Ring an den Finger. Ich z0g ihn 
ab und warf ihn weg. Wlan verlangte von mir, ich 
jollte ven Handſchuh ausziehen und als ich mich weigerte, 
wurde ed mir barſch befohlen. Sch fürchtete mich und 
gehorchte. Ich wollte fortgehen, aber Arthur Sebwright 
rief mir zu, ich müßte meinen Namen unter ein Schrift: 
jtüd jegen. Er raunte mir zu, wenn ich es nicht augenblid'- 
lich thue, werde er mich zu Grunde richten. Dabei nahm 
er mih am Arme und ging mit mir vor den Tiih. Mit 
Graf Valhermey mochte ich fein Wort reden und vor 
Sebwright hatte ich Angft, weil er mich fo wild anjah 
und jo entjeglich bebrohte. Sch habe ihn durchaus nicht 
mehr heirathen wollen und habe es auch nicht aus freiem 
Willen, jondern nur gethan, weil ich mich fo fürchtete. 
Sch fchrieb meinen Namen in ein Buch. Er bielt meinen 
Iinfen Arm feft und drückte ihn, bis ich unterfchrieben 
hatte. Dann verließ ich den Saal und ging bie Treppe 
hinunter. Arthur Sebwright begleitete mich. Unten an- 
gelangt, fagte er zu mir, ich hätte alles geiban, was er 
bon mir geforbert hätte, und gab mich frei. Ich beftieg 
ven Cab und fuhr zurüd zu Frau Butler. In welchem 
Zuftande ich gewejen bin, weiß ich jelbft nicht. Arthur 
Sebwright habe ich feit jenem Tage nur noch zweimal 
gejehen. Wir haben nicht als Eheleute zuſammen gelebt.‘ 

Die Mutter der jungen Dame beftand, als fie von 
ber heimlichen Eheſchließung Kenntniß erhielt, trotz des 
Widerſtrebens ihrer Tochter, auf einer Unterfuchung durch 
ihren Hausarzt. Diefer erklärte, daß die Ehe nicht voll- 
zogen worben fei. Mr. Sebwright hatte aljo wenigitens 
in biefem Punkte nicht ehrlos gehandelt. 

Der Superintendent Mr. T. Worlod, Standes: 
beamter für Chefchliegungen, wurde als Zeuge vernommen. 
Er gab an, Mr. Sebwright babe die Anzeige in Betreff 


Merkwürdige Proceſſe aus England. 17 


der von ihm beabjichtigten Ehe mit Miß Scott ordnungs⸗ 
mäßig erjtattet und das Brautpaar zuerft auf ben 
17. December angemelbet, dann aber angezeigt, feine 
Braut fer erfranft. Der Termin wurde deshalb auf ven 
30. Januar verlegt. Als der Superintennent Worlod 
in den Saal des Stanvdesamtes trat, waren die Parteien 
und die Trauungszeugen bereits verfammelt. Er hat von 
irgenbeiner Drohung oder Einfhüchterung der Miß Scott 
nicht8 vernommen. Er erinnert fich nicht, ob fie mit 
Worten oder mit einem Neigen des Kopfes die vorjchrifts- 
mäßigen ragen nach ihrem Alter u. ſ. w. beantwortet 
bat. Als er die Aufforderung an fie und Dir. Sebwright 
richtete, fich zu erheben, ftand fie auf. Die entſcheidende 
Frage, ob fie vor ihm und den Zeugen einwillige, den 
anwejenden Mr. Sebwright als Gatten anzunehmen, be- 
antiwortete fie mit Ja. 

Ueber ihr Benehmen und ihre ganze Haltung fagte 
ter Zeuge: „ES jchien mir, als ob fie mit ihrem Bräus 
tigam eine lebhafte Auseinanderfegung gehabt hätte. Sie 
war etwas aufgeregt. Ich hatte den Eindruck, als wenn 
fie ärgerlich und verftimmt wäre. Sie ftampfte mit dem 
Fuße auf, wie verjtimmte Frauen mitunter zu thun 
pflegen. Sie hatte ihr Geficht halb abgewendet, als wenn 
fie mit ihrem Bräutigam ſchmollte. Den Ring zog fie 
vom Finger ab und jchleuberte ihn zornig weg. ‘Die 
Seremonie des Ringwechſels ift nicht geſetzlich vorge- 
jchrieben. Sie wird nur vorgenommen, wenn bie Braut- 
leute e8 ausbrüdlich wünſchen.“ 

Die nächfte Zeugin, Frau Butler, erzählte, was 
fie von den Vorgängen am Lage ver Eheſchließung wußte: 

„Am 30. Januar forderte mich Miß Scott auf, mit 
ihr auszugehen. In Bonpftreet fagte fie zu mir, fie 
müffe in einer Geldangelegenheit mit einem Herrn ver» 

XXI. 2 





18 Merkwürdige Proceffe aus England. 


hanbeln, ver in der nächiten Nähe jet, ich folle auf fie 
warten, fie werbe nur etwa fünf Minuten ausbleiben. 
Wir trennten uns, ihre Abwejenheit dauerte aber etiva 
eine halbe Stunte. Al fie zurüdtem, war fie ganz 
außer fih und weinte unaufhörlich. Ich fragte fie nach 
ver Beranlaffung, fie jchluchzte heftig und antwortete: 
«Wenn Sie hören, daß ich etwas Fürchterliches gethan 
habe, fo werden Sie willen, daß ich nicht bei Sinnen 
gewefen bin.” 

Das Zeugenverhör war gejchloffen und der Solicitor⸗ 
general Sir Edward Clarke gab für den Bellagten 
bie Erflärung ab: „Mr. Sebwright bat ſich ehrenhalber 
für verpflichtet gehalten, als Zeuge fih in biefem Pro= 
ceffe vernehmen zu laſſen, findet fich aber nicht veranlaßt, 
auf alle Vorwürfe zu entgegnen, bie wider ihn erhoben 
worden find. So lebhaft er in einem frühern Stabium 
bed Proceſſes gewünfcht hatte, die junge Dame als feine 
Gattin zu reclamiren und die Gültigkeit ber Ehe mit ihr 
anerfannt zu fehen, fo bat er fich dennoch entichloffen, 
biefen Wunfch aufzugeben, denn die Ausſage ter Miß 
Scott vor dem Gerichtshofe bewies zur Genüge, daß fie 
gegen ihn eine unbezwingliche Abneigung und fogar ent- 
ſchiedenen Widerwillen empfindet.” 

In der Klage war Mr. Sebwright befchuldigt worden, 
burch gefährliche Drohungen Miß Scott zur Eingehung 
der Ehe genöthigt und eine Erpreffung verübt zu haben. 
Es wurde behauptet, er habe fich mit Williams und Lee 
verabredet und verbündet, bie junge Dame zum Abſchluſſe 
einer ihren Gefühlen durchaus widerftrebenden Heirath 
zu bewegen, lebiglih zu dem Zwede, um eine große 
Summe Geld von ihr zu erprefien. Zu biefem Behufe 
habe er das unerfahrene Mädchen liſtig beftimmt, Wechfel 
zu unterzeichnen, fie dann burch jeine Genoffen durch 


Merkwürdige Proceffe aus England. 19 


Zahlungsauflagen und auf fonftige Weife quälen und ver- 
folgen laſſen, endlich feine Braut durch faliche Voripie- 
gelungen in das Standesamt gelodt und fie daſelbſt durch 
Drohung mit einer Waffe vergeftalt in Angft und 
Schrecken verfett, daß fie widerſtandslos, unter dem 
Drude eines unwiberftehlichen Zwanges, mechanisch ſprach 
und that, was er von ihr forderte. 

Der Beklagte hat diefe fchweren Vorwürfe nicht wider- 
legt. Aber das Gericht nahm davon weiter feine Notiz, 
tenn es handelte fi nicht um einen Criminalprocek, 
fondern um ein Chejcheivungsverfahren. ‘Der Richter 
führte aus: „Es fcheinen allerdings manche Umftände 
verjchiwiegen und andere abfichtlich nicht Margelegt worden 
zu fein, es wäre wol auch wünfchenswerth, noch genauer 
inftrnirt zu fein, ehe der Spruch gefällt würbe; aber es 
ift boch bewiefen, daß lange Zeit vor ber formellen Ehe- 
jchließung bie Gefühle der jungen Dame ftch gänzlich ver- 
ändert haben und daß von einer freiwilligen Eingehung 
der Che ihrerſeits feine Rede gewejen fein kann. Sie ijt 
inftematifch in einen Zuſtand körperlicher und geijtiger 
Abjpannung und Ermattung verfegt worden, der fie un- 
fähig machte, einem feften, ihr aufgebrungenen Willen 
Widerſtand zu leiften. Sie erichraf vor den Drohungen 
ihres Verlobten, die in gefunden und normalen Zeiten 
wol nur Verachtung, in ihrem damaligen Zuftande aber 
Furcht und Willensunfreiheit hervorriefen. Es ift daher 
niemals bei ihr der Wille, der zum Abfchluffe eines Ver⸗ 
trages im Sinne des Geſetzes nothwendig ift, vorhanden 
geivefen. Da dies bewiefen ift, wird die Che zwiſchen 
Der. Sebwright und Miß Scott deshalb von Rechte 
wegen für nicht vollzogen und für ungültig erflärt. 
die ftandesamtlichen Eintragungen find zu vernichten und 
ber Kläger wird in die Koften des Proceſſes verurtheilt.“ 

2* 








20 Mertwürdige Procefje aus England. 


Die Zuhörer hatten den Verhandlungen mit dem 
größten Intereffe und fichtliher Spannung beigewohnt, 
fie nahmen entſchieden Partei für die unfchulbige Klägerin 
und gegen ven Beklagten, ver fich fo ſchmählicher, ehrlofer 
Handlungen wider das junge Mädchen ſchuldig gemacht 
und ein frevelhaftes Spiel mit ihrem Herzen und ihrer 
Neigung getrieben hatte. Als das Urtheil verfünbigt 
wurbe, brängten fich alle heran, um beutlich zu hören; 
al8 das Gericht die Che für nichtig erflärte, brach ein 
ungeheuterer Beifallsſturm aus. 

Zu derſelben Stunde fand vor dem Gerichtöhofe für 
Bankrottverfahren (Court of Bankruptey) eine Verhand⸗ 
fung wider Arthur Sebwright jtatt. Abgefehen won den 
3350 Pfd. St., für welche Miß Scott wechjelmäßig haf⸗ 
tete, hatte Sebwright 12544 Pfd. Et. oder 250880 Marl 
Schulden contrahirt! Der vorgeladene Eridar war nicht 
erſchienen, weil er bei dem Eheſcheidungsproceſſe zugegen 
fein mußte. Der Termin wurde deshalb vertagt und 
Dir. Sebwright anderweit citirt. Der Concursproceß 
endigte damit, daß Mr. Sebwright’8 Gläubiger leer aus- 
gingen. Mr. Sebwright hatte fein väterliches, nicht un⸗ 
beträchtliches Erbe durchgebracht und befaß nichts mehr. 





Der Proceß, den wir mitgetheilt haben, ift charafte- 
riſtiſch für die Rechtsauffaffung und die Rechtspflege in 
England. Das Gericht hat die Veberzeugung gewonnen, 
daß Dir. Sebwright durch Betrug und Drohung, durch 
Lift und Zwang ein unbefcholtenes Mädchen zur Ein- 
gehung einer Ehe genöthigt bat, um ihr Geld abzupreffen. 
Er war ein finanziell ruinirter Menſch, ein Banfrotteur, 
und wollte fih noch eine Zeit lang über Waſſer halten, 
deshalb entwarf er ben verbrecheriichen Plan und führte 


Merkwürdige Brocefje aus England. 21 


ihn mit Hülfe feiner Complicen durch. In allen civi- 
firten Ländern wäre er von dem Strafrichter zur Ber- 
antwortung gezogen und zu einer ſchweren Freiheitsſtrafe 
perurtheilt worden. In England wirb die ganze Sache 
nur vom privatrechtlichen Standpunkte aus beurtheilt. 
Die Klägerin hat ein Intereffe daran, daß bie Ehe- 
ſchließung vernichtet wird, darauf hin Hagt fie vor dem 
Ehegerichte und dieſes befchränft fich darauf, ihren Klag— 
anfpruch zu prüfen und ven Bellagten nach Mafgabe des 
Klagpetitums zu verurtheilen. In den Entſcheidungs⸗ 
gründen wird die Handlungsweiſe des Mr. Sebwright als 
unmoraliich fcharf gegeifelt, aber ver Strafrichter hat 
mit dem Manne nichts zu fchaffen, denn wo fein Kläger 
ist, ift auch Fein Richter. Nach unferm NRechtsgefühle ift 
Mr. Sebwright fchlimmer als ein Dieb und Einbrecher, 
und gehört in das Zuchthaus, nach engliicher Anſchauung 
ift die öffentliche Moral und ver Staat gar nicht bethei= 
figt, jondern nur ein Rechtshandel zwijchen ihm und feiner 
thörichten Braut zu entſcheiden. 

Mr. Sebwright ift ein gewandter junger Mann, ele- 
gant und liebenswürbig, dabei niemals wählerifch in ben 
Mitteln, wir halten für recht gut möglich, daß er troß 
jeines jchimpflichen Bankrotts nach einiger Zeit wieder in 
die Höhe fommt und nochmals eine Rolle fpielt. Ob er 
durch eine reiche Heirath jein Glück machen ober als 
Hochſtapler im Zuchthaufe, welches er diesmal nur ge- 
fteeift hat, endigen wird, kann niemand vorausjagen. 


29 Mertwürdige Procejie aus England. 


2. Eine unfehlbare Jury in England nnd ein un⸗ 

fchuldig wegen Mordes zum Tode vernrtheilter Matrofe, 

dem man fein Recht auf Wiederberitellung feines guten 
Namens verweigert. 


1835. 


In einer lonboner Schenke, welche vorwiegend von 
Matroſen befucht wurde, entbrannte eined Abends im 
Jahre 1885 unter den Gäften, die zum größten Theile 
aus italienischen Seeleuten beftanden, ein heftiger Streit, 
ber ſchließlich zu einer erbitterten Rauferei führte. Die 
Lichter wurden, wie dies in folchen Fällen gewöhnlich zu 
geſchehen pflegt, ausgelöſcht. ALS die Schlägerei immer 
größere Dimenfionen annahm, erfchien endlich bie Polizei. 

Man fand einen Mann biutüberftrömt auf dem Fuß⸗ 
boden liegen, ein Meffer ſtak tief in der Bruft, er ath⸗ 
mete zwar noch, konnte aber nicht mehr fprechen und folg- 
lih auch nicht darüber vernommen werben, wer ihm. bie 
Todeswunde beigebracht habe. Cr verſchied nach wenigen 
Minuten. Die Polizei nahm das Meffer an fih und 
jtellte durch unverbächtige Zeugen den Eigenthümer feſt. 
Es gehörte einem ber italienischen Matrofen, ver fich bei 
dem Danpgemenge betheiligt hatte. 

Der Mann wurde verhaftet und unter der Anklage 
des Mordes vor eine Jury geftellt. Der Criminalfall 
erregte fein fonverliches Auffehen, denn e8 kommen ber» 
artige biutige Auftritte in London öfters vor, und bier 
hatte, wie e8 fchien, ein ausländifcher Matroſe einen 
Ausländer niedergeftoßen, was kümmerte dies das Bubli- 
fum in England! Der Angeklagte war ber englifchen 
Sprache nicht mächtig, e8 mußte deshalb ein Dolmetfcher 


Merkwürdige Broceffe aus Englant. 23 


zugezogen werben. Die Zeugen beftätigten, was fich in 
der Schenke zugetragen hatte: ven Wortwechſel, die Schlä- 
gerei, ven Tod bes einen Matrojen durch das Meſſer des 
Angejchuldigten und die Theilnahme des letztern an dem 
Raufhandel. Er felbft hatte fich für nichtſchuldig erklärt, 
wurde aber nicht weiter verhört und verftand von allem, 
was vorging, nichts, weil in einer ihm fremden Zunge 
gefprochen wurde. Die Jury einigte fich fchnell, ihr Ver- 
dict Tantete: Schuldig des Mordes. Der vorfiende 
Richter gab feinen Beifall zu erfennen, er beglüdwünfchte 
bie Gejchivorenen zu ihrem Sprude und fagte, dieſes 
Verdict werbe hoffentlich dazu beitragen, baß bie abjchen- 
liche Unfitte, bei Raufhändeln zum Mefjer zu greifen, fich 
in England nicht einbürgere. Solche Streitigkeiten mit 
ter Fauſt auszufechten fei vielleicht roh, aber Doch männ- 
lich, dagegen fei e8 feige und nieberträchtig, einem Gegner 
ten blanfen Stahl zwifchen die Rippen zu ftoßen. 

Der Angeklagte wurde zum Tode verurtheilt. Er ver: 
ficherte feine gänzliche Schufplofigfeit und proteftirte gegen 
das Urtheil, welches ihm an den Hals ging; aber ber 
Richter hörte nicht auf diefe in italieniſcher Sprache ab- 
gegebenen Berficherungen und Protefte. Der Fall war 
abgethan. 

Unter den Zuhörern der Verhandlung hatte fich zum 
Glück ein feit Jahren in London anfäfjiger Italiener, ein 
angejehener Kaufberr, befunden. Er vernahmTund ver- 
ftand die Bethenerungen des Angeklagten. Sie machten 
ihn den Einprud der vollen Wahrhaftigkeit, er gewann 
die Weberzeugung, daß ein unfchulpiger Landsmann von 
ihm zum Tode verurtheilt worden fei, und befchloß, ihn 
womöglich zu retten. Er wandte ſich an ven Lord⸗Kanz⸗ 
fer mit der Bitte, die Hinrichtung aufzufchieben. Die 
Bitte wurde gewährt. Nun ließ er fih von dem Ver⸗ 





24 Merkwürdige Broceffe aus England. 


urtheilten den Hergang des Streites genau erzählen. 
Derfelbe blieb dabei, daß nicht er, fondern ein anderer 
italienischer Matroſe, den er namentlich nannte, den töd⸗ 
lichen Mefferftoß geführt habe. Der Kaufherr fette alles 
daran, dieſen Matrofen ausfindig zu machen. Es gelang 
feinen unabläffigen Bemühungen, zu ermitteln, daß fich 
ver Mann in Liverpool aufhielt. Der Kaufber reifte 
ſelbſt dorthin, fuchte ihn auf und redete ihm in bad Ge⸗ 
wifjen, er ftellte ihm vor, welche fchwere Sünde er be- 
ginge, wenn er einen unſchuldigen Kameraben binrichten 
liege für eim nicht von tiefem, ſondern von ihm jelbft 
begangenes Verbrechen, und vermochte ihn dazu, vor Ge— 
richt zu geftehen, daß er fich in den Beſitz des Meſſers 
des Angeklagten gefett, und daß er ben Mord verübt 
habe. 

Der Kaufherr begab fich mit dieſen neuen Beweis— 
mitteln nach London zurüd. Das Zobesurtheil wurde 
nun natürlich nicht vollzogen, aber was war fchlieklich 
das Endergebnig? Nach den verfteinerten Formen des 
engliihen Strafproceſſes kann eine engliſche Jury nicht 
irren. Das einjtimmige Verdict der zwölf Gefchworenen 
ift unfehlbar und nicht anfechtbar. Die Wiederaufnahme 
bes Proceſſes war nicht möglich, der Angellagte blieb 
alfo troß des Geftänpniffes feines Kameraden in Liver- 
pool von Rechts wegen des Mordes fchuldig und zum 
Tode verurtbeilt. Der wirkliche Mörder purfte nicht zur 
Rechenjchaft gezogen werben, denn ber „Ihäter” war ja 
bereit8 wegen dieſes Mordes verurtheilt, folglich Tonnte 
nach der Fiction des englifchen Rechtes ein anderer dieſes 
Verbrechen nicht begangen haben. Es blieb nur der fehr 
unvollfommene Ausweg übrig, den Angeklagten und uns 
Ihuldig Verurtheilten zu begnadigen. Dies gefchab, aber 
jeine Ehre iſt dadurch nicht wieberhergeftellt. Solange 


Mertwürdige Brocejje aus England. 25 


ex lebt, haftet der Makel auf ihm, daß er einen Men- 
hen ermordet und deshalb vechtöfräftig zum Tode ver- 
urtheilt worden ift. 


Wir fehen an dieſem Criminalfalle von neuem, wie 
dringend nothwendig eine gründliche Reform des eng- 
liſchen Strafprocefjes if. Wenn es dazu käme, würbe 
man auch bie wunberliche Beftimmung befeitigen müffen, 
daß ber Angeklagte vor Gericht nicht vernommen zu wer⸗ 
ben pflegt, jondern der Verhandlung wie ein unbetheilig- 
ter Zuhörer ftumm beimohnt. Weber einen Umftand, der 
einen Dritten betrifft, kann er zwar befragt werben, aber 
dann tritt er als Zeuge auf und wird als folcher be- 
eiigt. Ueber die Anklage und die ihn belaftenden Be⸗ 
weile wird er nicht verhört, weil man ihn nicht veran- 
(affen will, wider fich felbft auszufagen. Im Widerſpruche 
damit jteht e8 wieberum, daß feine Geftänbnifje in dem 
polizeilichen Vorverfahren gegen ihn benußt werben 
firmen, und ferner hat man überfehen, daß man ihm, 
indem man ihn eine ftumme Rolle Spielen läßt, auch den 
Leg abichneibet, die Beweife für feine Echuld zu wiber- 
legen. Hätte in unferm Falle der Angeklagte vor Ge- 
riht den Namen des Mörders angeben und den Qor- 
gang wahrheitögemäß erzählen dürfen, fo wäre vermuth- 
ih vom Gerichte der Schulpige ermittelt und mit ber 
verdienten Strafe belegt worden. So aber hat ber ita- 
lieniſche Kaufherr die Pflicht des Gerichtes erfüllt, nach— 
dem der Spruch bereit ergangen war, und es iſt jeben- 
falls nicht das Verbienft des englifchen Gerichts und 
bes englischen Rechts, daß der unſchuldige Mann nicht 
Bingerichtet worden ift. 





26 Merkwürdige Proceffe aus England. 


3. John Jeſſop vor dem Schwurgericht in Nottingham 
unter der Auflage des verſuchten Selbſtmordes uud 
der Berleitung eines Kameraden zum Selbftmorde. 


1887. 


Am 4. Februar 1887 präfibirte der Richter Field den 
Affifen, die in Nottingham, einer zu feinem Gerichtöbezirf 
gehörigen Stadt, abgehalten wurden, in einer nach deut⸗ 
ſchen NRechtsbegriffen fehr merkwürdigen Anflagejache. 
Sohn Jeſſop war befchuldigt, einen Selbjtmorbver- 
ſuch gemacht und einem gewiffen Sohn Allod, ber fich 
vergiftete, Beihülfe geleiftet und deshalb auch den John 
Allod ermordet zu haben. Erjchienen waren als An- 
Häger für bie Krone die Aonocaten Horace Smith und 
Bruce Ruffel, als Vertheidiger der Advocat Apple 
ton. Die Anklage ftügte fich auf folgende Thatjachen: 

Sohn Jeſſop und Sohn Allod waren befreundet ge⸗ 
weſen. Sie hatten fich von verjchievenen Drogniften und 
Chemifern Heine Dofen Laudanum zu verjchaffen gewußt 
und nach und nach eine anfehnliche Menge von biejem 
Gifte zuſammengebracht. ALS die Quantität nach ihrer 
Schätzung genügte, um zwei Menfchen zu töbten, begaben 
fie fih in eine Scheune und verabrebeten daſelbſt, mit- 
einander zu Sterben. Sie theilten die tobbringenden 
Tropfen ganz genau, jeder nahın feine Hälfte und ver- 
Ichludte das Laudanım. Die Wirkung davon trat fehr 
bald ein, fie verloren beide das Bewußtſein und wurben 
von britten Perfonen bewußtlos in der Scheune liegend 
aufgefunden. Man machte VBerfuche, fie in das Leben 
zurüdzurufen. Sohn Jeſſop kam infolge bavon wieder 
zu fih und wurde allmählich wieberhergeftellt. Bei 


Merkwürdige Procefje aus England. 97 


John Allock dagegen fchlugen die angewenbeten Mittel 
nicht an, er war tobt und wurde begraben. 

Jeſſop Hatte lange vor der Schwurgerichtsverhandlung 
mebrern Perfonen erzählt: „Es ging mir unb meinem 
Freunde John Allock fchlecht; wir hatten beide unſere 
Stellungen verloren, bejaßen feine Geldmittel und wuf- 
ten nicht, was wir nun anfangen follten. Allock fchlug 
vor, wir wollten dieſem elenden Leben durch Selbftmord 
ein Ende machen. Er richtete an mich die Frage: willft 
bu zufammen mit mir fterben? Ich batte auch feine 
Luft, mich noch länger herumzuguälen, und eriwiberte: 
«3a, ich bin einverftanben, mir ift alles einerlei, ich folge 
dir in ben Tod.» Allod zog hierauf ein Fläſchchen voll 
Laudanum aus der innern Tafche feines Rockes, zeigte es 
mir und fagte: «Das ift Gift, das verfchafft uns einen 
leichten und fchnellen Tod, aber es ift noch zu wenig.» 
Wir kauften an verjchiedenen Stellen noch mehr Lauda⸗ 
num und dann haben wir e8 veblich getheilt und einge- 
nommen. Es war unfer ernftlicher, wohlüberlegter Wille, 
und zu vergiften.” 

Nach engliihem Rechte ift ver Selbſtmord ein wirf- 
licher, an der eigenen Perſon verübter Mord. Der 
Selbſtmörder kann natürlich nicht beftraft werben, weil 
er ſich der irbifchen Gerechtigkeit entzogen hat, aber wenn 
ber Selbſtmord nicht gelingt, fo wird ver Thäter wegen 
verfuchten Mordes beftraft wie ein Verbrecher, ver ven 
Berfuch gemacht Hat, eine britte Perfon zu ermorden. 
Wenn nun zwei Menfchen fich verabreden, gemeinichaft- 
ih zu fterben, indem jeber fich vergiftet, oder die Kehle 
abfchneivet, oder auf andere Weife umbringt, und dieſe 
Verabredung ausgeführt wird, jo bat nach engliſcher 
Rechtsauffaffung jeder ein doppeltes Verbrechen begangen, 
jever iſt des Mordes an der eigenen Perſon ſchuldig 


98 Merkwürdige Procejfe aus England, 


und jeder ift Mitthäter am Selbftmorde des andern. 
Wenn nur das Vorhaben des einen gelingt und ber 
andere wieder in das Leben zurücgerufen wird, fo it 
ber letztere ftrafbar wegen des Verfuches eines Selbft- 
mordes und wegen Mitthäterichaft an dem Morde feines 
Genofjen. 

Auch in dem vorliegenden Falle ging die Anklage von 
biefer Rechtsanjchauung aus und bie Ankläger beantrag- 
ten, das Schuldig über John Jeſſop auszufprechen. Der 
Vertheidiger wies darauf Hin, daß der Präcevenzfall, an 
welchen fich der englifche Nichter regelmäßig zu binden 
pflegt, wejentlich anders gejtaltet fei und einen ganz ans 
dern Thatbeftand enthalten habe. In dem Präcebenzfalle: 
„Regina versus Alison‘ (die Königin wider Alifon), auf- 
genommen in die „Sammlung der Gerichtsenticheibungen‘“ 
Br. 8, ©. 418, habe der Angeflagte das Gift ſelbſt ber- 
beigefchafft und feinen Gefährten überrevet, e8 zu genie= 
Ben und fo fich felbit zu töbten. ‘Der Richter Batterjon 
habe ihn deshalb mit Necht als einen Mörder bezeich- 
nen können, aber in biefem Falle fei ver Gedanke des 
gemeinfchaftlichen Selbſtmordes zuerft von Sohn Allock 
ausgegangen. Dieſer habe fih in Befig von Laudanum 
gejet und felbjtändig ven Entſchluß gefaßt, fich zu ver— 
giften. Der Angellagte Jeſſop habe bei dieſem Entſchluſſe 
nicht mitgewirkt, überhaupt könne von einem gemeinfchaft- 
fichen verbrecherifchen Entjchluffe feine Rede fein, weil 
Allock's Abficht, ſich das Leben zu nehmen, bereits feft- 
geitanden habe. Er habe feinen bereits unwiderruffichen 
Entſchluß auch ausgefprochen und feinen Freund Jeſſop 
gefragt, ob er mit ihm zufammen fterben wolle. Jeſſop 
ſei dem Entſchluſſe feines Freundes nur beigetreten und 
mithin nicht verantwortlich für den Tod des letztern, ben 
er nicht mit befchloffen habe. 


Merfwürdige Procefje aus England. 29 


Der die Verhandlung leitende Richter Field wies 
biefe Ausführungen bes Vertheidigers in einer eingehen« 
ven Belehrung an die Gefchiworenen zurüd. Er fagte 
ber Jury: wenn fie Die Ueberzeugung gewännen, daß 
Jeſſop und Allod einen gemeinjchaftlich auszuführenden 
Selbftmord planten und verabredeten — und ber Beweis 
hierfür jet vollkommen erbracht — fo feien fie verpflich- 
tet, ihr Verdict auf Schuldig abzugeben. 

Die Jury verurtheilte den Angeklagten bemgemäß 
wegen Mordes, fügte aber die Bitte hinzu, daß dem 
Mörber die Gnade der Königin zutheil werben möge. 

Der Richter Field fällte das Todesurtheil. Er 
fonnte auch gar nicht8 anderes thun. Bis zum Jahre 1861 
war ben Richtern in England bie Befugniß zuerfamt: 
„das Zobesurtheil ven Acten einzuverleiben‘. Das hatte 
die Bedeutung, daß das Todesurtheil zwar ben Rechten 
gemäß habe ausgefprochen werden müffen, aber nicht voll⸗ 
zogen werben jolle, bis ber Wille ver Königin tie Voll- 
ziehung anordne, das hieß, daß e8 überhaupt niemals voll- 
zogen werben folle. Die Consolidation Statutes von 
1886 haben dieſe Berechtigung des Richters aufgehoben 
und Dies damit motivirt, daß der Nichter nicht feiner per- 
jönlichen Anſchauung über die TIhatfrage, deren Entjchei- 
bung einzig und allein den Gejchivorenen zufomme, Aus- 
drud geben und fie fogar wider ben Willen der Jury zur 
Geltung bringen dürfe. Seit jener Zeit muß ber vor- 
fitende Richter, wenn der Spruch der Gefchworenen auf 
„Schuldig des Mordes” lautet, ohne weitern Zufa den 
Angellagten zum Tode verurteilen. 

Auch der von uns berichtete, doch in ber That fehr 
prägnante Tall veranlaßte das von andern Sorgen in 
Anſpruch genommene Parlament nicht, ſich mit ver Frage 
zu beichäftigen, ob dem offenbar unbaltbaren Zuſtande 


30 Mertwürdige Brocefie aus England. 


nicht endlich ein Ende gemacht werben folle, daß nad 
englifcher Gefetgebung ein Menſch zum Zope verurtheilt 
werten muß, ber auf eines Freundes Zureden eingewilligt 
bat, mit ihm zufammen Gift zu nehmen. In England 
ift man in diefem Punkte harthörig, das öffentliche Ge- 
wiſſen jcheint ziemlich abgeftumpft zu fein, und nicht ein— 
mal die Preife nimmt viel Notiz von ſolchen gar nicht 
jeltenen vichterlichen Urtheilen, die unfer Nechtsgefühl em⸗ 
pören. Das leitende Blatt Englands, die „Times“, brachte 
am nächiten Morgen kaum einige Zeilen über biejen 
faltblütigen Juſtizmord. 

Die Reform und die Eodification des Strafrechtes wirb 
längit in allen competenten Kreifen von England als ein 
bringende8 Bedürfniß empfunden, aber fie bleibt ein 
frommer Wunſch und ein dauernder Vorwurf für das 
zum großen Theile aus gelebrten Juriſten beſtehende Par- 
lament. Freilich ift dieſe gejeßgeberifche Aufgabe feine 
Parteifrage. Sie kann nicht in Angriff genommen wer- 
ben, um baraus politifche® Kapital zu fchlagen, um Ein- 
fluß und Macht zu gewinnen oder gar an bie Negierung 
zu gelangen. Daber fommt es, daß man fih mit allen 
möglichen populären unwichtigen Vorlagen bejchäftigt, 
aber e8 ohne Murren erträgt, das feitherige unvoll⸗ 
fommene englifche Strafgejeg und Strafverfahren beizu- 
behalten, obgleich jedermann weiß, daß e8 überreih ift an 
Anomalten und Abfurbitäten, und mit Nothwendigkeit da⸗ 
hin führt, daß ungerechte und unerhörte Urtheile in Straf- 
ſachen gefällt werben. 

Unfer Tall ift nach dem in England gültigen Gefeke 
unzweifelhaft ein Mord, es widerjtrebt aber nicht blos 
dem gebildeten juriftiichen Gefühle, fondern auch dem ge= 
junden Menfchenveritande und dem Gewiſſen des Volkes, 
hier einen Mord anzunehmen. Das Todesurtheil ift 


Merkwürdige Procejje aus England. 31 


rechtlich unanfechtbar, aber jedermann empfindet, daß 
ber Angeflagte den Tod nicht verbient bat. Wäre es 
zur Bollftredung gelangt, jo hätte die Obrigkeit von 
Rechts wegen ausgeführt, was Jeſſop wider das gött- 
lihe Geſetz und die fittliche Weltordnung fich ſelbſt zu- 
fügen wollte. Eine in der That curiofe Anwendung des 
Geſetzes! 

Jeſſop wollte ſich ſelbſt tödten, und weil er dies nur 
verſucht und nicht vollendet hat, verurtheilt ihn der eng⸗ 
liſche Richter „am Galgen aufgehängt zu werden am 
Halſe bis er todt iſt“! 

Selbſt für den britiſchen Starrſinn, den man in Eng⸗ 
land öfter als Conſequenz und energiſche Folgerichtigkeit 
preiſt, war es doch ein zu ſtarkes Stück, den Angeklagten 
zu hängen als den Mörder Allock's, der ſich aus 
eigenem freien Entſchluſſe vergiftet hatte. Er wurde von 
ter Königin begnadigt, das heißt, es wurde bie Todes⸗ 
ſtrafe in Freiheitsſtrafe umgewandelt. 


An und für ſich iſt das Begnadigungsrecht der Krone 
nicht dazu beſtimmt, das Geſetz zu ergänzen und zu 
corrigiren. Die Gnade ſoll eintreten, wenn nach dem 
concreten Falle die Anwendung des Geſetzes zu hart iſt 
und dem Rechtsbewußtſein widerſtreitet; aber ein Mann, 
der einen andern nicht mit Vorſatz und Ueberlegung ge- 
töbtet, fondern nur zugejehen hat, wie er fich jelbft 
tödtete, muß von der Anklage wegen Morbed freige- 
ſprochen werben, und kommt nicht zu feinem Rechte, 
wenn man ihn als Mörder branpmarkt, aber bie wegen 
Mordes ihm auferlegte Todesftrafe in Freiheitsftrafe 
verwandelt. Solche Begnabigungen ſchaffen einen 
Gegenfag zwifchen dem Gejege und ber Gnade, ober 
richtiger, e8 wird dadurch das Begnadigungsrecht ber 





32 Merkwürdige Proceſſe aus England. 


Krone als eine Inftanz über die durch Die mangelhafte 
und verfehrte Gefeßgebung bedingten falſchen richterlichen 
Sprüche geftellt. 


4. Einige Fälle von Bigamie. 
1887. 


Der Seite 1 fg. mitgetheilte Fall bat gezeigt, daß 
man in England den Betrug bei Eingehung einer Che 
für criminalvechtlich nicht ftrafbar Hält. Aber auch bie 
Digamie gehört nach ben dortigen Nechtsbegriffen zu den 
Privatvelicten. Dem englifchen Volfe und ben englijchen 
Juriſten leuchtet e8 nicht ein, daß ein öffentliches In⸗ 
tereffe verlegt würbe, wenn ein Mann zwei rauen ober 
eine Frau zwei Männer heirathet. Man geht vielmehr 
davon aus, daß eine Unterfuhung und Beitrafung nur 
erfolgen kann auf Antrag des gefchäbigten Ehegatten. 
Zum Beweiſe bierfür theilen wir eine Verhandlung vor 
dem Polizeigericht in Lonpon vom 11. Januar 1887 mit. 

Lilian Lees, 34 Jahre alt, war beſchuldigt, in ftraf- 
barer Weife im Jahre 1883 eine zweite Ehe mit Robert 
Sramford Lees gefchloffen zu haben, während ihr erjter 
GSatte, Sohn Tuckker, noch am Leben war. Der Richter 
Biron befragte den Polizeibeamten, welcher die Doppel» 
ehe angezeigt hatte, über die nähern Umſtände des Falles. 
Es wurden bie beiden Traufcheine vorgelegt und ſodann 
die beiden Ehemänner der Dame gerufen. Sie ftanven 
miteinander auf einem ganz freunbichaftlichen Fuße, ber 
erfte Ehemann, Dir. Tucker, erklärte fich zufrieden ba- 
mit, daß feine Frau von ibm fortgegangen fei und ben 
Mr. Lees geheirathet habe. Diefer fand fein Bedenken 


Merkwürdige Proceſſe aus England. 33 


darin, daß die jetzt in ſeinem Hauſe lebende Frau früher 
einem andern Manne zugehört hatte und von ihm nicht 
geſchieden war. Er dachte nicht daran, ſie deshalb zu 
verſtoßen, ſondern ſprach es als etwas Selbſtverſtändliches 
aus, daß er die eheliche Gemeinſchaft mit ihr fortſetzen 
würde. 

Darauf hin entſchied der Richter, es liege kein Grund 
vor, die Frage, ob dieſe Ehe rechtmäßig geſchloſſen ſei, 
einer Prüfung zu unterziehen, und ſprach die Angeklagte frei. 

In einem andern Falle, der im Februar 1887 vor 
einem Polizeigericht in London verhandelt wurde, hatte 
eine Ehefrau ſich von ihrem Manne, der ein roher 
Menſch und ein Taugenichts war, getrennt, weil er ſie 
ohne alle Veranlaſſung fortwährend prügelte, und bald 
darauf zum zweiten mal geheirathet, ohne ſich zuvor von 
ihrem erſten Manne ſcheiden zu laſſen. Es kam auf 
Antrag des rechtmäßigen Ehegatten zur Klage. Der Richter 
fand die Schuld der Frau, die durch ihres Mannes wüſtes 
Benehmen gezwungen worden war, fein Haus zu ver- 
laſſen, jehr gering, und verurtheilte fie wegen Bigamie 
zu einem Penny Geldbuße. 

Am 9. Mat 1887 fand vor dem Schwurgericht in 
Derby unter dem PVorfike des Richters Hawkins bie 
Hauptverhandlung wider Marie Anna Hiley wegen 
res Verbrechens der Bigamie ftatt. Die Angeflagte be> 
kannte ſich ſchuldig. Ihr erjter Ehegatte Hatte fie mit 
ausgefuchter Grauſamkeit behandelt und fie ſpäter bös— 
fich verlaffen. Ohne von ihm geſchieden zu fein, ging 
fie mit einem zweiten Manne eine Ehe ein; allein auch 
biefer trat in bie Fußſtapfen feined Vorgängers. Er 
mishandelte fie und Tieß fie dann ebenfall® im Stiche. 
Die beiden fchönen Seelen fanden fih und fetten ihrem 
toben Benehmen dadurch die Krone auf, daß fie gegen 

XXI. 3 





34 Mertwürdige Broceffe aus England. 


bie Frau Anklage wegen Bigamie erhoben. Der Friedens⸗ 
richter hatte Die Sache vor das Schwurgericht verwie⸗ 
jen. Der Richter Hawkins erflärte: „Dieſe Verweifung 
jet nicht nothiwendig gewefen, denn wenn je ein Tall 
ber Bigamie entſchuldigt werben könne, fo fei es biejer. 
Eine Berurtheilung ſei allerdings nothwendig, weil bie 
beiven Ehemänner fie verlangt hätten, er könne e8 aber 
mit feinem Gewiſſen nicht vereinbaren, bie gejtänbige 
Angeklagte zu einer höhern Strafe als fünf Minuten 
Gefängnißhaft zu verurtheilen!” 


Ein Eriminalproceß ans Südamerika nad alt- 
ſpaniſchem Verfahren. 


Alois Szemeredy. 


Buenos-Ayres. — Mord. 1876 bis 1881. 


Die Calle ve Eorrientes in Buenos-Ahres, der Haupt- 
ftabt der Argentinifchen Republik, fteht in einem übeln 
Rufe. Im diefer Straße befinden ſich Bordelle in ziem- 
ih großer Zahl und außerdem wohnen bajelbft einzelne 
‚„Damen”, bie auf eigerre Rechnung von ihren Reizen leben. 

Am 25. Iuli 1876, einem fühlen, aber nicht un- 
freundlichen Wintertage, wurbe dort ein Mord verübt, ber 
zu einer langwierigen Unterfuchung und einem jehr merf- 
würbigen Procefje führte, ven wir getreu nach den Acten 
barftellen wollen. 

Am offenen Tenfter des einftödigen kleinen Hauſes 
Nr. 36 fteht ein hübſches blondes Mädchen, etwa zwanzig 
Jahre alt, fie muftert die vorübergehenden Leute, nicht dem 
einen oder andern Vorübergehenden freundlich zu und ladet 
wol auch durch Winfen und Lächeln ein, fie zu befuchen. 

Ein hochgewachjener breitichulteriger Mann, mit ge- 
waltigem Schnurrbarte, in militärifcher Haltung, bekleidet 
mit einem grauen Node, der bis obenhinauf zugeknöpft 

3* 





36 Ein Eriminalproceß aus Sübamerifa 


ift, fommt in Gefellihaft eines Heinern unanjehnlichen 
Menſchen in die Nähe des Haufes, er bleibt ftehen, als 
er das Mädchen erblidt, und es beginnt eine längere 
Unterhaltung, die allmählich immer lebhafter und cor— 
dialer wird. 

Der Bolizeidiener Francisco Wright, den feine Amts⸗ 
pflicht dort vorbeiführt, verjteht zwar nicht, was bie bei- 
den miteinander reden, denn fie Sprechen nicht fpaniich, 
Sondern deutſch, aber er vermuthet, was fich entipinnt, 
und murmelt fluchend: „Das verdammte Pad refrutirt 
fih doch aus aller Herren Ländern.” Cr befümmert fich 
indeß nicht um das Liebespaar, ſondern geht weiter. Nach 
einiger Zeit begibt ſih ver Mann im grauen Rode in 
das Heine Haus und das Fenſter wird geſchloſſen. 

Am fpäten Abend nah 10 Uhr ftürzt ein gewiffer 
Baptijte Caſtagnet, ber Zuhälter der Dirne, der mit 
ihr zufammen lebt, auf bie Straße und fchreit laut: 
„Mörder! Mörder! Zu Hülfe!“ Die Nachbarn eilen 
herbei und fragen, was gefchehen jet. 

Er Sagt: „Meine Geliebte ift von einem fremden 
Manne erftochen worben.” Die Polizei und ein Arzt, 
bie fchleunigft herbeigerufen worden waren, begeben fich 
in das Haus und jtellen Folgendes feit: Das Schlafzimmer 
bes Mäpchens jteht offen. Das Bett ift in Unordnung, 
es iſt augenfcheinlich kurz vorher benutzt worden. Auf 
dem Bett liegt ein blutiges Dolchmeffer mit ſchwarzem 
Griff, auf dem Fußboden ein fehwarzer Filzhut. Auf 
einem Stuble in ver Nähe des Bettes findet man bie 
Kleider der Dirne, barübergelegt einen grauen Männer- 
rod und eine Weite von gleicher Farbe, in der Weſte 
eine goldene Uhr, an einer golvenen Kette befeftigt. Im 
einer Ede fteht ein Regenſchirm mit ftählernem Hand⸗ 
griff. Vor dem Bett, auf der Erde, liegt, nur mit einem 


nach altijpaniijhem Verfahren. 37 


Hemd befleibet, die unglückliche Bewohnerin des Zimmers, 
fie ift offenbar ermorbdet. Die rechte Seite des Haljes 
zeigt eine grauenhafte Wunde. Mit einem fcharfen, 
ſchneidenden Inftrument find unter Anwendung großer 
Gewalt die Halsſchlagader (arteria carotida), die Droffel- 
abern (venae jugulares) und das ganze Gewebe durch⸗ 
jchnitten worden. Infolge bes ungebeuern Blutver⸗ 
luſtes muß ber Tod faft augenblicklich eingetreten fein. 
Das Mädchen hieß Karoline Meb; der einzige 
Zeuge der That, veffen Alarmrufe das Verbrechen fund» 
gemacht hatten, war ihr Zuhälter Baptifte Caftagnet. 
Er fagte in dem fofort mit ihm abgehaltenen Verhör 
aus: „Ich lebte mit Karoline Met im Concubinat, ich 
wußte darum und war einverjtanden bamit, daß fie fich 
Männern preisgab und auf dieſe Weife ihren Lebens- 
unterhalt verdiente. Am 25. Juli gegen 9 Uhr abends 
fam ein bochgewachfener Herr, um fie zu bejuchen. Er 
ging in ihre Stube, die dann von innen verjchlofien 
wurbe, ich hielt mich in einem Kleinen dunkeln Gemache 
daneben auf; dort pflegte ich mich immer bei folchen Zu⸗ 
fammenfünften des Mädchens zu verjtedlen. Sch hörte, 
daß bie Unterhaltung in deutſcher Sprache gepflogen 
wurbe, die ich nicht verftehe. Etwa eine Stunde fpäter 
ftieß Karoline einen ftarfen Schrei aus, ich vernahm das 
Geräufh von Schlägen over Fußtritten, zündete ein 
Streichholz an und begab mich auf den Hof, um von 
bort aus zu jehen, was im Zimmer vorging. Ich ftieß 
bie Zimmerthür, die in die Vorhalle müntet, mit einem 
Fußtritt auf, und in demſelben Augenblide eilte ein Mann 
in Hembärmeln, ohne Kopfbevedung an mir worüber, er 
rannte mich faft um und entfernte fich ſehr ſchnell. Ich 
war nun noch mehr erfchroden. Als ich eintrat in bie 
Etube, fand ih die Karoline aus einer fürchterlichen 


38 Ein Criminalproceß aus Sübamerifa 


Halswunde blutend an ber Erde liegend; fie that eben 
ihre legten Athemzüge. Ich war außer mir und wußte 
nicht, was ich beginnen follte, da lief ich in meiner Angft 
auf die Straße und fchrie «Mörder! Hülfe!» 

Der Feuerburſche Jules Fiot, ein Franzofe, der von 
Karoline Metz eine Keine Kammer gemiethet hatte, konnte 
über die Sache feine Auskunft geben. Er war wie ge- 
wöhnlich aus dem Cafe, in welchen er bebienitet war, 
erſt nah Mitternacht heimgelehrt und dann erjt von dem 
Morde in Kenntniß gefegt worden. Auch die nächite 
Nachbarin, die Näherin Maria Gerona, wußte nichts 
anzugeben, was zur Aufklärung bienen konnte. Sie 
hatte vor dem Gefchrei des Baptifte Caftagnet über- 
haupt nichts Auffälliges in dem Nebenhaufe bei Karoline 
Met bemerkt. 

Die Bolizei traute dem Zeugen Caftagnet nicht und 
orbnete feine einftweilige Verhaftung an. 


Am 22. Juli 1376 ftedelte ein Saft aus dem Hötel- 
be- Provence in Buenos-Ayres in das Hötel-de-Rome 
über. Gr motivirte biefen Wechjel der Wohnung bei 
jeinem Einzuge in das letere Hotel damit, daß ihm im 
Hötel-de-Provence baares Geld, Ringe und andere Werth- 
jachen geftohlen worden feien. Der Fremde ſagte dem 
Geichäftsführer des neuen Hotels, Herren Louis Roget, 
er heiße Alois Szemeredy, ftamme aus Ungarn, 
babe Medicin ftubirt und als Milttärarzt in frühern 
Jahren in Europa, fpäter aber in ver Armee ber 
Argentinifchen Republik gedient. Es wurde ihm das 
Zimmer Nr. 72 angewiejen. 


nah altipaniihem Berfahren. 39 


Ter Gaft führte ein ſehr regelmäßiges Leben, er 
nahm das Frühſtück und das Mittagseffen im Hotel, 
war viel zu Haufe und beichäftigte fich bafelbft mit 
ihriftlichen Arbeiten. Er erhielt feine Briefe und empfing 
feine Beſuche. Wenn er ausging, pflegte er ebenfo wie 
andere Reiſende ven Zimmerfchlüffel einzufteclen und mit- 
zunehmen. Er machte ven Eindruck eines ruhigen und 
jeliven Mannes, ſchien aber für weibliche Neize nicht ganz 
unempfänglich zu fein. In demſelben Hotel wohnte eine 
Familie Gianotti, in deren Begleitung fich ein fehr hüb- 
ſches Stubenmädchen, Catalina Gonzalez, befand. Herr 
Szemeredy verliebte fich in fie, ſuchte fich ihr zu nähern, 
gab ſich für einen Gutsbefiger aus und warb um ihre 
Gunſt in ziemlich unverblümter Weiſe. Catalina Gon- 
zalez rühmte fi) der Eroberung, die fie gemacht hatte, 
wies aber die Anträge des Liebhabers, wie fie behauptete, 
ſpröde zurüd. 

Ezemeredy trug eine einfache, anſtändige Kleidung, 
den Rod ftets zugefnöpft bis obenbinauf, was fich leicht 
und natürlich aus feiner Gewohnheit, fih in Uniform 
zu bewegen, erflärte. Keiner von den Bedienſteten bat je 
eine Weite zu ſehen befommen, feiner konnte angeben, ob 
er überhaupt ein folches Kleidungsſtück beſeſſen habe. 

Am 25. Juli 1876 frühſtückte Szemeredy und ging 
ſodann in die Stabt. Abends 6 Uhr zur Speifeftunde faß er 
an feinem gewöhnlichen Plage, aß mit gutem Appetit, 
und abends gegen 8 Uhr verließ er, wie faſt jeden Tag, 
das Hotel, um feine Gefchäfte zu beforgen oder jeinem 
Vergnügen nachzugehen. Zwiſchen 10!/, und 11 Uhr nachts 
febrte er zurüd, barhaupt, in Hemdärmeln, fichtlich in 
großer Aufregung. Das Hotelperfonal umringte ihn ver- 
wundert und neugierig. Szemeredy rief: „Ich bin an⸗ 
gefallen und beraubt worden, jehen Sie nur, wie fie mich 





40 Ein Eriminalproceh aus Sübamerila 


zugerichtet haben.” Er tbeilte in abgerijjenen Sägen mit, 
mehrere Männer hätten ihn auf ter Straße gepadt, zu 
Boden geworfen und feine Ueberfleiver weggenommen. Er 
wolle fofort auf vie Polizei gehen und Anzeige machen. 
Er bat, man möge fein Zimmer öffnen, denn ver Schlüfjel 
dazu fei mit feinem Node verloren gegangen. “Der Ge⸗ 
ihäftsführer des Hotels geleitete ihn perjönlich in feine 
Stube. Szemeredy nahm aus feinem Koffer einen Poncho 
(ein in Merico und Südamerika ſehr gebräuchliches Klei- 
bungsftüd, ein plaibartiger ſchwerer Mantel mit einem Loche, 
un den Kopf hinpurchzufteden) und einen weichen, run⸗ 
ben Hut. Er zog den Poncho an, fette ven Hut auf und 
griff nach einem Gegenftande, den er unter dem Mantel 
verbarg, die Hotelbebienfteten behaupten, es ſei ein Album 
mit Photographien gewefen. Dann verließ er das Hotel 
in größter Eile, um, wie fchon erwähnt, auf der Polizei 
zu melden, was ibm wiberfahren war. Er hatte fich 
faum fünf Minuten im Gafthofe aufgehalten. 

Herrn Roget fiel das aufgeregte Benehmen feines Gaftes 
auf. Er traute ihm nicht recht und hatte das Gefühl, als 
wenn etwas nicht in Ordnung wäre. Deshalb beauftragte er 
feinen Neffen Francisco Roget, der als Kellner im Hötel- 
de⸗Rome bejchäftigt wurde, ihn zu verfolgen. Francisco 
machte fich auf ven Weg; aber Szemeredy, der die Ridh- 
tung nach ber nächſten Polizeiftation eingefchlagen hatte, 
war ihm ein Stüd voraus und im Gewühle ver Men- 
ſchen auf ber Straße feinen Augen bald entfchwunden. 
Er verfuchte vergeblich, ihn einzuholen, und lief nım direct 
zur Polizei. Als er athemlos und chweißtriefend bort 
anlangte, war Szemerety noch nicht da. Francisco war- 
tete, aber Szemeredy fam nicht und fehrte auch nicht in 
das Hotel zurüd. 

Am andern Morgen verbreitete jich die Nachricht von 


nad altipanifhem Verfahren. 41 


dem an Karoline Met verübten Morde in Buenos⸗Ayres. 
Die ganze Stadt gerieth darüber in Aufregung. Als 
bald darauf befannt wurde, der ungarische Arzt Szeme- 
redy habe fich unter fehr verbächtigen Umjtänden aus 
dem Hötel-be-Rome entfernt und fei ſeitdem ſpurlos ver- 
ſchwunden, bezeichnete ihn die Stimme bed Volles als 
ben Mörder, und auch das Gericht, welche® die Unter- 
juhung einzuleiten hatte, ſtand unter dem Einfluffe der 
öffentlichen Meinung. Alle Schritte, die gethan wurden, 
gingen von dem Gefichtspunfte aus, daß über bie Perjon 
desjenigen, der die blutige That begangen habe, fein Zwei— 
fel beitehen könne. Diefe vorgefaßte Meinung wurde bie 
Urjache verfchiedener Formfehler, die fich ſpäter gerächt 
haben, insbefonvere gehört dahin, daß man fich mit ven 
doch nur flüchtigen polizeilichen Erhebungen an Ort und 
Stelle begnügte und es von feiten bes Gerichts ver- 
ſäumte, eine genaue Localbefichtigung vorzunehmen. Die 
Perfonen, die irgendwie Auskunft über den Verbächtigen 
geben konnten, wurben bagegen vollzählig vernommen und 
baburch verſchiedene Thatfachen feftgeftellt, vie Szemeredy 
ſchwer belafteten. 

Der, im Zimmer der Ermorbeten zurüdgelaffene Rod, 
der Hut und der Regenſchirm wurden von dem Perfonal 
des Hötelsde-Rome als Eigentum des ungarischen Arztes 
Szemeredy mit voller Bejtimmtheit anerkannt; über bie 
ebendafelbft vorgefundene Wefte vermochten fie jedoch 
nichts auszufagen. Nur der Wirth des Hötel-be- Pro- 
vence erklärte, Szemeredy habe auch dieſes Kleidungsſtück 
getragen. Seine Behauptung erſchien jedoch nicht glaub- 
würdig, weil er von vornherein gegen ven Angejchuldigten 
eingenommen und ihm feinpjelig gefinnt war. Er tft der 
Anficht, daß Szemeredy den ihm in feinem Hotel angeblich 
zugefügten! Diebftahl nur vorgefpiegelt und dies als Vor- 


42 Ein Criminalproceß aus Sübdamerifa 


wand benußt habe, um, ohme feine Nechnung zu be- 
gleichen, aus dem Hotel fortzufommen. 

In der Wefte befand fich, wie wir wiffen, eine gol- 
bene Uhr und Kette. Beide waren in ber dem Morde 
porausgehenden Nacht dem im Hötel-be-Rome logiren- 
den Major Jerez entwendet worden. Niemand wußte, 
wer der Dieb war und wie er fich in den Beſitz biefer 
Werthſtücke gefett hatte. Gehörte vie mit dem Nod im 
Wohnzimmer der Karoline Met zufammen liegende Weite 
dem Arzte Szemeredy, jo war dringender Verdacht vor- 
handen zu der Annahme, daß Szemeredy Uhr und Fette 
auch gejtohlen habe, man durfte dann allerdings auch den 
Schluß ziehen, daß feine Erzählung von einem ihm im 
Hötel=-de- Provence zugefügten Diebjtahl eine Lüge war. 
Der Wirth des Hötel-de- Provence hatte deshalb ein 
Intereffe daran, daß die Weite als ein Kleidungsſtück des 
Arztes Szemeredy anerkannt wurde. Aber fein Zeugniß 
ftand allein, niemand von dem Perfonal des Hötel-De- 
Rome hatte eine Weite bei Szemeredy gejehen, weil er 
den Rod immer zugefnöpft trug. Weber feine Rückkehr 
ins Hotel in der Fritifchen Nacht wichen die Ausfagen in 
einzelnen Punften voneinander ab. 

Der Gefchäftsführer Louis Roget fagte: Szemereby 
habe das Licht der in ver Vorhalle brennenden Gaslaterne 
gemieben, bie Arme auf dem Rüden gefreuzt gebalten, 
jein Hemb fei dunkel geftreift geweſen. 

Der Speifeträger Francisco Roget, der Neffe des 
Geichäftsführers, gab an, Szemerevy habe ein weißes 
Hemd mit lichtfarbigen Streifen getragen. 

Der Zimmerfeliner Juan Morel wollte gefeben haben, 
daß Szemeredy beim Weggehen ein Album mitnahm, 
weiches auf dem Tiſche Tag; der Gefchäftsführer Roget 
hingegen blieb dabei, das Album fet aus dem Koffer hervor⸗ 


nah altfpanifhem Berfahren. 43 


geholt werden. Darin, daß Szemeredy in großer Auf- 
regung war, ohne Rod und ohne Kopfbevedung anlangte, 
einen räuberischen Ueberfali erlitten Haben wollte, fich 
eiligft entfernte, um auf der Polizei Anzeige zu machen, 
und ſeitdem verjchwunden ijt, ftimmten alle überein. 
Ueber ven Lebendgang ver ermordeten Karoline Met 
wurde durch die Unterjuchung Folgendes ermittelt: Sie 
it das Kind anftändiger YBürgersleute in Straßburg im 
Elſaß. In noch ſehr jugendlichem Alter knüpfte fie ein 
Liebesverhältnig mit einem Studenten an. Die Aeltern 
unterfagten ihr biefen Verkehr und bejchlofjen, weil Karo- 
line ihrem Befehle nicht gehorchte, fie an einen ältern 
Mann zu verheiratben. Um dem ihr verhaßten Ehebunde 
zu entgehen, verlieh fie Straßburg heimlich, begab ſich 
nach Genf und fand daſelbſt in einem verrufenen Haufe 
Aufnahme. Sie fürchtete indeß, daß ihre Aeltern fie zu⸗ 
rüdbholen würden, und ließ fich deshalb von einem gewiſſen 
Augufto Jamet, der mit dem hübfchen Mädchen Geſchäfte 
zu machen hoffte, auslöſen. Sie fchifften fich beibe in 
Marjeille nach Buenos⸗Ayres ein, landeten am 13. Dc- 
tober 1874 und Karoline wurde von Augufto Jamet in 
das von ihm geleitete, in der Calle ve Corrientes gelegene 
„Inſtitut“ gebracht, wo fie mit andern Mädchen zu« 
fammen wohnte und das gleiche Gewerbe trieb wie biefe. 
Auf dem ter Compagnie Transatlantique gehörigen 
Dampfer La France, mit welchem fie gefahren war, 
hatte fie Beziehungen zu dem Schiffskellner Baptifte Ca⸗ 
ftagnet angefnüpft. Caftagnet ließ fich ebenfalls in Buenos⸗ 
Ayres nieder, fette dafelbft den Umgang mit Raroline 
Metz fort und überrebete fie, das Injtitut zu verlaffen 
und ſich für eigene Rechnung zu etabfiven. Gr lebte 
mit ihr zufammen als ihr Zuhälter, Befchüger und Kupp- 
fer. Was das Vorleben Caſtagnet's anlangt, jo hat man 


44 Ein Eriminalproceh aus Sübamerifa 


nur in Erfahrung gebracht, daß er als Kellner von 
Marfeille nah Buenos-Ayres gefahren ift und dort ber 
Liebhaber und Zubälter ver Karoline Met wurde. Man 
hatte ihn verhaftet, weil man ihn für bes Mordes ver- 
bächtig hielt; aber man entließ ihn nach fiebzehn Tagen, weil 
man in Szemeredy den Mörder entdeckt zu haben glaubte. 
Der letztere wurde ftedbrieflich verfolgt, der Telegraph 
arbeitete, um feiner habhaft zu werben, fein Signalement 
wurde nach allen Richtungen der Windroſe an bie ins 
und ausländischen Polizeibehörden verſendet, aber zunächft 
war alles umfonft, man hatte jede Spur des Angeklagten 
verloren. Als man die blutige That ſchon ziemlich ver⸗ 
gefjen und bie Zeitungen ihre ſehr vetaillirten und theil- 
weile romanhaft ausgeſchmückten Berichte über den Mord 
längſt eingeftelit Hatten, erfuhr das Gericht zufällig, daß 
Alois Szemeredy ruhig und unangefochten in Rio be 
Janeiro lebe. Im diplomatischen Wege wurbe unter 
Mittheilung der ergangenen Proceßacten der Antrag auf 
Auslieferung bei der Faiferlichen Regierung von Braſi⸗ 
lien geftellt und demſelben von der legtern ftattgegeben. 

Szemeredy wohnte gerade einem öffentlichen Feſte bei, 
ba traten zwei Polizeibeamte an ihn heran und eröffne- 
ten ihm, daß er auf Verlangen des Gerichts in Buenos- 
Ayres und einem Antrage der Regierung der Argentini« 
ihen Republik entſprechend verhaftet werde. Er ließ ſich 
ohne Widerftand zu leiften ins Gefängniß abführen und 
wurbe jobann unter der Escorte eines Polizeifeldwebels 
auf dem engliichen Barkichiff Newa nah Buenos⸗Ayres 
transportirt, wojelbft er am 8. August 1877 ankam und 
in einer Zelle des Strafhaufes eingefchloffen wurbe. 

Für das Verfahren in Criminalfachen find in ver 
Argentinifchen Republik noch jest die Vorſchriften ver 
alten fpanijchen „Leyes de las Partidas” maßgebend, 


nad altſpaniſchem Berfabren. 45 


ein Gejeßbuch, welches vom König Ferdinand dem Hei- 
figen von Eaftilien entworfen, von feinem Sohne Alfons 
dem Weiſen weiter ausgearbeitet worden ift, aber erſt im 
Jahre 1348 unter Alfons XI. Gejegesfraft erhalten bat. 
Diele einzelne Beſtimmungen find allerdings im Laufe 
der Zeit geändert worben, aber bie Grundſätze und bie 
Grundgedanken find dieſelben geblieben. Die Vorunter- 
juhung wird von dem Unterfuchungsrichter nach bem 
Princip des alten Inquifitionsverfahrens fchriftlich geführt. 
Der Angejchuldigte ift das Dbject der Borunterjuchung, 
nicht eine procekführende Partei, ein Vertheidiger ftebt 
ihm nicht zur Seite. Iſt die Vorunterfuchung gefchloffen 
und ausreichendes Belaftungsmaterial vorhanden, fo 
erhebt ter Staatsanwalt fchriftlich die Anklage. Diejelbe 
wird dem Angellagten zugeftellt und fein Vertheidiger 
bringt fchriftlich vor, was er gegen die Anklage und für 
feinen Clienten geltend zu machen hat. Nach dem Schluffe 
des Berfahrens erkennt in erjter Inftanz ein Einzelrich- 
ter. Er ift an den Inhalt der Acten gebunden, denn es 
gift die alte Rechtsregel: quod non in actis non est in 
mundo. Wenn das Urtheil auf Schuldig lautet und 
eine Strafe ausfpricht, kann e8 von dem Angeflagten 
burch das Rechtsmittel ver Appellation angefochten wer- 
den. Es findet dann wieder ein fchriftliches Verfahren 
jtatt zwiichen dem Staatsanwalt und dem Vertheidiger, 
ſodann wird von einem collegialiih zujammengefeßten 
Gerichtshofe mit Stimmenmehrheit das Urtheil in zweiter 
Inftanz gefällt: 

Die fpanifchen Eolonien in Südamerifa haben fich in 
blutigen Aufftänden und erbitterten Bürgerkriegen von 
dem Mutterlande losgeriſſen, in ber Argentinifchen Re⸗ 
publif hat man nach befannten Muſtern eine fehr liberale 
Berfaffung eingeführt und die Bürger find ftolz auf ihre 


46 Ein Eriminalproceß aus Südamerika 


Freiheit. Die alten Iuftizgefete bat man inteß nicht 
burchgreifend umgeftaltet und ver Criminalproceß ins⸗ 
befondere ift noch ebenjo jchwerfällig und fchleppend mie 
zur Zeit der jpantichen Herrichaft. 

Das Unterſuchungsgericht vernahm alle Perſonen nod)- 
mals, die ſchon unmittelbar nach der Morbthat verhört 
worben waren, nur ben wichtigften Zeugen Baptifte Car 
ftagnet nicht. Er hatte fich kurz nach der Aufhebung der 
über ihn verbängten Haft nach Amerika eingejchifft und 
war für immer verfchollen. ‘Der brafilianiiche Feldwebel 
Antonio Auguſto d'Almeida Navarro, ver Matroſe John 
Lane und der Steuermann der Newa William O'Conor, 
denen Szemeredy auf ber Ueberfahrt von Rio be Janeiro 
nach Buenos-Ayres ein Geſtändniß abgelegt haben follte, 
wurben als Zeugen vorgelaben, anonyme Briefe an den 
Polizeidirector von Buenos-⸗Ayros Don Manuel Rocha 
beigezogen und mit Briefen Szemeredy's verglichen. 


Zu diefer Vervollftändigung der Vorunterſuchung 
brauchte man ſehr lange Zeit. Erſt am 5. April 1879, 
alfo faft 1°/, Jahre nad der Verhaftung Szemeredy's, 
überreichte der Staatsanwalt V. Pondal die Anklage. 
Das Schriftſtück ſuchte darzuthun, daß Szemerebh bie 
ledige Karoline Met meuchlings erftochen und im Hötel- 
de⸗Rome eine dem Major Ierez gehörige Uhr nebſt Kette 
entwendet habe. 


Der erjte Richter trat der rechtlichen Auffaffung des 
Staatsanwaltes in allen Stüden bei und verurtbeilte den 
Angejchulpigten Furzweg wegen Mordes zum Tode. In- 
folge der eingewendeten Appellation begann wieder ein 
jehr weitläufiges Verfahren, welches enplih am 12. Sep⸗ 
tember 1881 feinen Abjchluß erhielt durch ein Erkennt⸗ 
niß tes zweitinitanzlichen Gerichtshofes. In der erften 


nah altfpanifhem Berfahren. 47 


und zweiten Inſtanz war vom Staatsanwalt Folgendes 
ſchriftlich vorgetragen worden: 

„In ber Nacht vom 25. zum 26. Juli 1876 iſt bie 
proftitwirte Dirne Karoline Meg im ihrer Wohnung 
Nr. 36 der Galle de Corrientes ermordet worben. Der 
Hals war mit einem Dolchmeſſer durchſchnitten. Diefe 
Thatſache iſt durch die polizeilichen Erhebungen feſtgeſtellt, 
und durch gerichtliches Gutachten iſt bewieſen, daß die un- 
bebingt töbliche Wunde ihr nicht von ihrer eigenen, ſon⸗ 
dern von ber Hand eines Dritten zugefügt worden ift. 
Es liegt ein Mord vor. Im Haufe Nr. 36 wohnte ein 
etwas anrüchiger, aber dieſes Verbrechens nicht verbäch- 
figer Menſch Namens Baptifte Caftagnet. Er lebte in 
wilber Ehe mit Karoline Met, die mit jeiner Zujtimmung 
das Gewerbe einer nichteingefchriebenen Luſtidirne trieb. 
Caſtagnet's Erzählung, nach welcher der Angeflagte das 
Verbrechen begangen hat und fodann ohne Rod und Hut 
aus dem Hauſe herausgeftürzt ift, verdient vollen Glau- 
ben. Szemeredy ift mit Karoline Met am Abend bes 
25. Juli 1876 zuſammen gewejen. Das Bett des Mäd— 
Gens ift in großer Unordnung gefunden worden, und man 
muß daraus jchließen, daß e8 unmittelbar vor dem Morde 
bon dem Mörder ver Karoline Met benugt worden ift, 
Es ſtand fo, daß die Thür zu dem Kämmerchen, in wel: 
chem ſich Eaftagnet verborgen hielt, nicht geöffnet werden 
fonnte. 

„Unmittelbar nad) ver That hat Szemeredy die Flucht 
ergriffen. Er iſt nach ungefähr einem Jahre in Braſilien 
entdeckt und ausgeliefert worden, um in Buenos⸗Ayres 
sur Rechenſchaft gezogen zu werben, Vor dem Unter— 
ſuchungsrichter hat er ausgefagt: 

„«&ines Abends im Sommer 1876, an dag Datum 
lann ic mich nicht erinnern, bin ich um vie neunte 


48 Ein Eriminalproceß aus Sübamerilfa 


Stunde zu Karoline Met gegangen, babe mich mit ihr 
unterhalten und ihr einige Zärtlichkeiten erwiefen. Sie 
wollte mir etwas zeigen, ich weiß nicht mehr, ob es ein 
Brief oder eine Photographie war. Zu dieſem Behufe 
zog fie ven Kaften einer Schublade heraus, ich erblidte 
darin ganz zufällig einen von ben beiden Ringen, bie mir 
geftohlen worden waren, als ich noch im Hötel-de-Rome 
wohnte. Ich fragte, woher fie diefen Ring habe? Sie 
antwortete, ihr Geliebter Robert Rughier habe ihr den 
Ring gefchenft. Ich kannte diefen Dann, er hatte mich 
Schon etliche Tage zuvor zu Karoline Me geführt und 
meine Bekanntſchaft mit ihr vermittelt. Ich reclamirte 
den Ring als mein Eigentbum und wollte ihn an mich 
nehmen. Das Mädchen widerſetzte jich meinem Vor—⸗ 
haben. Während wir barüber ftritten, trat Robert Rughier 
in das Zimmer. Ich ftellte ihn zur Rede, er aber leug- 
nete, feiner Geliebten den Ring gegeben zu haben. Sie 
hielt troßdem an ihrer Behauptung feit, und nun ent- 
ipann fich ein heftiger Wortwechjel zwifchen beiden, zulegt 
beprohte Rughier fie mit Schlägen. Um das Mädchen 
zu ſchützen, jchritt ich ein. Sch hielt den aufgebrachten 
Mann feit und warf ihn, als er ſich losmachen wollte, 
auf das Bett. Karoline Met juchte uns zu trennen, ich 
weiß indeß nicht, welchem von uns beiben fie helfen wollte. 
‚Da börte ich, daß fie ganz plößlich einen gellenden Schrei 
ausftieß, gleih darauf brach fie blutüberjtrömt zufammen. 
Ich war furchtbar erfchroden und eilte ohne Aufenthalt von 
bannen. Sch hatte nur ben einen Wunfch, fortzufommen, 
und ließ in der Beitürzung Rod, Hut und Negenfchirm 
zurüd.» 

„sn einem jpätern Verhör wiederholte Szemereby 
biefe Angaben und fügte erläuternd hinzu: «ALS ich den 
Rughier auf das Bett nieverbrüdte, beſchwor ung Karoline 


nach altipanifhem Berfahren. 49 


Met mit Thränen, feinen ſolchen Lärm zu machen, ber 
bie Polizei herbeirufen und ihr große Unannehmlichkeiten 
zuziehen würde. Infolge deſſen erhob ich mich und trat einen 
Schritt zurüd. Ich wendete den beiden andern ven Rüden 
zw. Plöglich vernahm ich einen lauten Schrei, ich brebte 
mih um und fah, daß Karoline Met zu Boden fant.»“ 
Unter den Sachen, die Szemeredy im Hötel-de-Nome 
zurückgelaſſen hat, befinden fich Nieverjchriften und Briefe 
von feiner Hand. Sie find zwar ihrem Inhalte nach 
gleichgültig für den Criminalproceß, aber fie beweiſen, 
daß zwei anonyme Briefe, bie der Polizeipirector von 
Buenod-Ayres, Don Manuel Rocha, erhalten hat, von 
tem Angeklagten gefchrieben find. Szemeredy räumt ein, 
daß die Handjchrift der feinigen ähnlich ift, leugnet aber, 
daß die Briefe von ihm herrühren. Bon den Briefen, bie ein 
außergerichtliche® Geſtändniß enthalten und dadurch den 
Indicienbeweis ergänzen, ift der erſte in auffallend ſchlechtem 
Spanifch gejchrieben, voll von Fehlern gegen bie Regeln 
ver Satzbildung und der Orthographie. Sie lauten in 
möglichſt wortgetreuer Ueberfegung folgendermaßen: 


„Buenos-Ayres, 27. Juli 1876. 
Hochgeehrter Herr Polizeichef! 

Ich fühle mich äußerſt ſchuldig, weil ich meine wei— 
land Freundin Karoline Metz am 25. des laufenden 
Monats vor 10 Uhr und einige Minuten erftochen babe. 

Aber mein hochgeehrter Herr Bolizeichef, ich werde 
nie im Stande fein, meinte unverzeibliche That abzuleugnen, 
denn fie ift unnatürlich, weber vor Euer Gnaden, noch 
vor der ganzen Welt, aber ebenjo wenig wäre ich im Stande, 
igretwegen den Sohn einer andern Nation zu befchufpigen, 
der ich nicht entjproffen bin. Im den Zeitungen wird 
nämlich erzählt, daß ich ein Ungar fei, aber fie verftoßen 

XXI. 4 


50 Ein Eriminalproceß aus Sübamerila 


damit wider die Wahrheit, venn es ift nur wahr, daß 
ih ungarifch fprechen fann und das Land Tenne, ebenjo 
wie ich Italien, Franfreih, England und anbere Länder 
fenne, denn ich bin ſchon viel herumgereift, mein hoch⸗ 
geehrter Herr. 

Meine Herkunft, meinen wirklichen Namen, ich werte 
alles das Euer Gnaben enthülfen, wenn ich in Ihrem 
Sewahrfam fein werde. Aber ich halte darauf, ebenjo 
Euer Gnaden wie der ganzen Welt einzugeftehen, daß bei 
meiner Seligfeit ich die That wider die Unglüdliche nur 
verübt babe, weil fie fich gegen mich in den legten Tagen 
mit andern vergangen hat, fie hat mir viel Leid zugefügt, 
aber ich will feinen Stein mehr auf fie werfen, ich bereue 
jet die That, wo e8 zu fpät ift. 

Verzeihen Euer Gnaden vie fchlechte Schrift, aber ich 
Schreibe unter Zittern und Zagen, und weinen um mein 
verlorenes Seelenheil, denn niemand kann eine That, wie 
ich fie begangen habe, verzeihen. 

Ohne mehr, bitte ich Euer Gnaden und bie ganze 
Welt, für diefe unnatürliche und graufame That um Ver⸗ 
zeihung und verbleibe für immer Ihr großer Schuldner.“ 


Der Brief war nur mit einem nichtsſagenden Schnör- 
fel unterfertigt. 

In dem zweiten Schreiben, welches Rio, 26. Decem- 
ber 1876 batirt ift, fagt der Anonymus: 

„Ausgezeichneter und bochanfehnlicher Herr Chef der 
politiichen Verwaltung und der Polizei für die Provinz 
Buenos⸗Ayres 

Don N. N. 
Hochgeehrter Herr! 

Verzeihen Sie, Euer Gnaden, wenn ich mich mit 

einer ſchmerzlichen, aber gerechtfertigten Erklärung an 


nach altipanifhem Berfabren. 51 


Sie wende, anlaflich des traurigen Ereigniſſes in der 
Galle de Corrientes, welches ich in einem Haufe, das in 
dieſer Straße gelegen ift, vie Nummer weiß ich nicht, es 
befinvet fich zwifchen ver Straße vom 25. Mai und der 
Straße der Wiebereroberung, am 25. Juli des laufenden 
Jahres hervorgerufen habe. 

In diefem Angenblicde, da ich mich bei vollen Sinnen 
befinde, erfläre ich, daß ich, nachdem ich während zwölf 
Jahren von meinem väterlichen Heim fern geblieben war, 
einen Beſuch bei meinen theuern eltern, meinen lieben 
Geſchwiftern und fonftigen Verwandten abftatten wollte, 
daß ich dort jedoch kaum ſechs ober fieben Monate ver- 
weilte und dann von neuem an bie herrlichen Geftabe 
des Rio de la Plata mich zurückſehnte. Mit meinem ganzen 
Herzen. Ich beablichtigte, mich in einem Lanpftäbtchen 
der Republif Uruguay nieverzulafien, und hatte dort nach 
furzer Zeit intime Liebesbeziehungen mit einer der boch- 
angefebenften jungen Damen bes Städtchens angefnüpft. 
Wir waren einig miteinander und nichts fehlte mehr, 
um eine glüdfiche Ehe mit genannten Fräulein einzu- 
geben, als der gejetlich geforderte Nachweis meines Per- 
ſonalſtandes, ven ich mir von meinen hochverehrten Xeltern 
erbat. Ich hatte bereit3 das Haus gemiethet, wo wir in 
Zukunft wohnen wollten, alles war auf das befte vor- 
gerichtet. Es traf mich aber ein entjeglicher Schlag. Als 
ich die erbetenen Papiere von meinen theuern Aeltern zu- 
gefandt befam, die von den competenten Behörden meines 
Baterlandes ordnungsgemäß ausgefertigt waren, und ben 
Brief, ver fie begleitete, in Gegenwart meiner Braut 
öffnete und fie ihr freubeftrahleno überreichen wollte, er- 
Härte fie mir, daß die Papiere nicht mehr nöthig wären. 
Sie Hatte mit unglaublicher Schnelligkeit ihren Sinn ge- 
ändert und beichloffen, fich nicht mit mir zur vermählen. 

4% 


52 Ein Eriminalprocef aus Südamerifa 


Diefer mich tief betriibende Entſchluß meiner fo heiß⸗ 
geliebten Braut war unwiderruflich. Ich fuhr mit ter 
nächften Poft nach Montevideo und von ba nach Buenos⸗ 
Ayres. Dafelbft beging ich das elende md graufame 
Berbrechen, um vefjentwillen ich nicht mehr würbig bin, 
bie Erde ver Gerechten zu betreten. Ich babe verbient, 
dafür einen fchimpflichen Tod durch die göttliche Gerech- 
tigkeit zu erleiden, wie ihn eine fo nieberträchtige und 
abfcheuliche Mordthat als gerechte Sühne erbeifcht. 

Ih muß bei diefem Anlaffe Euer Gnaden die Mit- 
thetlung machen, daß ich dieſe abfcheuliche That in einem 
Augenblide der gräßlichiten Verzweiflung verübte, in 
einem Augenblide, va mich der Gedanke an die unerivar- 
tete Treulofigfeit meiner gemwefenen zukünftigen Gattin 
übermannt hatte, und daß ich es berzeit nicht begreife, 
wie ich ein fo haarſträubendes Verbrechen gegen eine uns 
ſchuldige Creatur begehen Tonnte, wie ich e8 that mit 
dem ſchneidenden Dolce, der elende Henker, wie ich 
es bin. 

Seit meiner früheften Kinderzeit neige ich zu Ge⸗ 
birnfranfheiten. Sogar im vorigen Jahre, da ich in ver 
trauten Heimat war, um meine innigftgeliebten eltern, 
Geſchwiſter und Verwandten zu befuchen, litt ich an gei⸗ 
jtigen Störungen, wie durch die Aerzte, die mich wäh- 
rend der Dauer meiner Krankheit behandelt haben, nö⸗ 
thigenfall® bewiejen werben kann. Ferner kann dargethan 
werben, daß ich eine ähnliche Geiftesfranfheit im Alter 
von funfzehn Jahren vurchgemacht habe, und ebenfo fann 
ih nachweifen, daß ich als Irrfinniger in dem Hoſpital 
San-Buena-Bentura in ver Stadt Buenos-Ayres in Ver⸗ 
pflegung geweſen bin. 

Schr geehrter Herr, ich fchwöre vor dem heifigen 
Crucifix, daß ich nicht weiß, von welchem Umſtande ich 





nah altfpanifhen Berfahren. 53 


bazu getrieben wurde, das Leben des unglüdjeligen Ge- 
ihöpfes in ver Calle de Eorrientes zu nehmen, ich weiß 
allein, daß fie eine Photographie meines innigjtgeliebten 
Schweſterleins zerriß, welche mir von jener als Zeichen 
ewiger Anbänglichfeit bei unjerm ach! fo fehmerzlichen 
Abſchiede voneinander gegeben mwurbe. 

Sch ſchwöre vor dem breimal heiligen F Erucifir T, 
baß e8 eine abjcheuliche Lüge und Verleumdung tft, bie 
ih in ber löblichen « Demokratifchen Zeitung » geleſen 
babe, welche fagt, daß ich fchon mehrere Menschenleben 
geraubt hätte jowol in Italien, Frankreich, Brafilien 
ald an andern Orten. 

Ja, wenn das öffentliche Gericht über mich erkennen 
und es ausjprechen wird, was ich gethan, daß ich das 
Leben jenes unglücfeligen Gefchöpfes in der Calle ve 
Corrientes genommen habe, fo ift das etwas ambereß, 
das ift wahr, ich kann und will e8 nicht leugnen, wenn 
ich auch gar nicht weiß, wie es zugegangen ift und wie 
es geſchah. Ich ſchwöre e8 vor Gott, ich weiß es nicht. 

Glauben Sie nur nicht Euer Gnaden, daß ich alles 
biefes fage, um mich wegen der graufen Mordthat zu 
vertheidigen, welche ich begangen habe. Nein, hochgeehr- 
ter Herr, ganz im Gegentheile, ich mar feit jenem uns 
glüdlichen Ereigniffe ſchon in Europa, ich bin aber feit- 
ber doch wieder über das Meer zurüdgefehrt und befinde 
mich derzeit in Rio de Janeiro, angefichts aller Welt, 
ohne mich irgendwie zu verbergen, und beabfichtige, mic) 
in einiger Zeit, quer durch das Innere bes Landes nad) 
Rio Grande do Sul: zu begeben, um mich bort mieber 
meinem Berufe, ver Krankenpflege zu widmen. 

Wenn mich heute oder morgen, zu meinem Seile, bie 
Behörden ergreifen werben, um mich vor das Gericht zu 
ftellen, werde ich jelbft von ben hochehrenwerthen Richtern 


54 Ein Eriminalproceß aus Südamerika 


mir die Gnade erbitten, fie möchten geruhen, unverweilt 
und mit böchfter Beichleunigung die Kapitalitrafe aus- 
zuſprechen. T Auf das Haupt eines jo elenden Henkers 
wie ich einer bin! — Aber, daß ich mich freiwillig dem 
Gerichte ftelle, oder daß ih mir freiwillig das Leben 
nehme — das kann nicht gefchehen. Von allen Söhnen 
Arpad's hat feiner jemals freiwillig den Tod auf fich ge⸗ 
nommen, jeboch werbe ich mich den Behörben auch nicht 
entziehen, welche immer e8 fei, die mich zu fallen gebenft, 
nur follen fie nicht verjuchen, mir bei der Inhaftnahme 
bie Hände ober Füße zu knebeln, denn in biefem Yalle 
müßte ich mich auf Leben ober Tod mit den Beamten 
ſchlagen, die mich feftzunehmen gewillt find. Ein folder 
Vorgang, dafür verbürge ich mich, geehrter Herr, wäre 
auch gar nicht geeignet, um mich zu halten, und Blut 
würde fließen, während fonft, um mich zu bewachen, ein 
Kind von drei Jahren vollfommen genügen würde. 

Sch werbe ficherlich Feinerlei Widerſtand leiften, mein 
hochgeehrter Herr, und wenn Euer Önaben es für pafjend 
findet, mich vor die Richter zu laden, jo belieben Euer 
Gnaben nur bie Agenten abzufenben und mich feitzuneh- 
men, ihnen aber ja aufzutragen, feine Eifen oder Feſſeln 
anderer Art anlegen zu wollen, benn lieber ftürbe ich 
gleih. Warum auch nicht? Dean ftirbt nur einmal. 

Ich flehe Sie zugleih an, Euer Graben, im Namen 
. ber göttlichen Gerechtigkeit, daß Sie, falld irgendein Uns 
glüdlicher unter dem Verdachte der Theilnahme an mei- 
ner Mifjethat fih im Kerker befinden follte, dieſen in 
Freiheit zu fegen, denn ich habe wahrhaftig feinen Mit- 
wiffer oder Theilnehmer gehabt. 

Ih Tann nicht weiter und beende dieſe traurige Er- 
Härung, wenn ich auch noch viel auf dem Herzen hätte, 
das ich jagen möchte, 


nad altfpanifhem Berfahren. 55 


Ich flehe Euer Gnaden an, zu verzeihen, daß das 
Gegenwärtige jo ſchlecht gefchrieben ift, aber ich bin jelbjt 
fchon über den Umftand erftaunt, daß es mir gelungen 
ift, auch nur fo weit zu gelangen. 

Ohne mehr verbleibe id; Euer Gnaden Schuloner, ver 
aber in möglichfter Bälde zu bezahlen hofft, um leichten 
Herzens zur ewigen Ruhe einzugeben + 

Mit Gott „*„“ 


Der Staatsanwalt fährt in feiner Anklagefchrift fort: 

„Dieje beiden Schriftftücte find den beeideten Schreib- 
verftändigen Clodomiro Gallardo und Manuel ©. Langen- 
beim vorgelegt und mit unbeftritten echten Briefen Sze- 
meredy's von ihnen verglichen worven. Sie haben über- 
einjtimmend ihr Gutachten dahin abgegeben, daß bie 
Schriftzüge biefelben find und von Einer Hand her- 
rühren. 

„Aber auch innere Gründe fprechen für bie Autorjchaft 
Szemeredy's, denn die Angaben über feine perjönlichen 
Berbältniffe und andere den Mord nicht direct betreffen⸗ 
ven Mittheilungen in dem zweiten Briefe find jo privater 
Natur, daß ein Dritter davon Feine Kenntniß baben 
fonnte, und doch bat fie der Angeklagte als richtig und 
zutreffend anerkennen müffen. 

„Aus den Ausſagen des Perfonals vom Hötel⸗de⸗Rome 
geht hervor, daß ber Angeflagte bort am 22. Juli 1876 
Wohnung genommen und fich für einen Arzt, der aus 
Mercedes kam, ausgegeben bat. Er trieb feine Berufs⸗ 
geichäfte, ift gewöhnlich jeden Abend ausgegangen und in 
der Regel nicht vor Mitternacht wieder nach dem Hötel-be- 
Rome gefommen. Am 25. Juli verließ er das Hotel gegen 
8 Uhr abends, er trug einen lichtgrauen Rod, graue 
Beinfleiver, darüber gezogen Nöhrenftiefeln und einen 


56 Ein Criminalproceß aus Sübamerila 


ſchwarzen runden Filzhut. Gegen 104, Uhr fam er 
zurüd, in Hembärmeln und ohne Kopfbevedung. Er er⸗ 
zählte, man babe ihn unterwegs angefallen und beraubt. 
Er zog einen Poncho an, fette einen Hut auf und ent» 
fernte fich nach faum fünf Minuten wieder, um fich auf 
bie Polizei zu begeben. Aufgefallen ift, daß er bie Arme 
und die Hände, folange das Licht der Gaslaterne auf ihn 
fiel, zur verbergen bemüht war. Vor dem Unterſuchungs⸗ 
richter hat er zugegeben, daß jeine Hembärmel mit Blut 
befleckt geweſen fein könnten, und zur Erflärung angeführt, 
er babe ſich in der unmittelbaren Nähe ver Karoline Metz 
befunden, als fie die Todeswunde empfing, das Blut fei 
hoch in die Höhe gejpritt und babe vielleicht auch feine 
Kleider beſudelt. Es ift hiernach wahrfcheinlich, daß er 
die Arme auf den Rücken gefreuzt hat, damit die Leute 
int Hotel die Blutſpuren auf feiner Hand nicht jehen 
ſollten. 

„Das Bett des Mädchens war in großer Unordnung, 
auf den Polſtern und unter dem Bett ſah man eine be- 
beutende Menge von Blut, der Leichnam war nur mit 
einem Hemd befleivet und lag am Fußboden. Rod und 
Weite Szemeredy’s fand man auf dem Stuhle neben dem 
Bett. Diefe Umftände beweifen, daß beide zufammen im 
Bett gelegen haben und daß der Angeflagte vie Karoline 
Meg im Bett erbolht bat. Sie mag im Todeskampfe 
aufgeftanden und dann zu Boden gefunfen fein. 

„Szemeredy hat feine Anweſenheit zur Zeit des Mor- 
des zugejtanden unb eingeräumt, baß er mit dem Mäd⸗ 
hen allein gewejen tft und mit ihr gefchlechtlich ver- 
fehrt bat. 

„Robert Rughier, der das Verbrechen ausgeführt haben 
ſoll, ijt eine von ihm erfundene mythifche Perfon. Sie 
kann auch nicht identisch fein mit Baptifte Caftagnet, denn 


| 5 \ 


nad altfpanifhdem Berfahren. 57 


das Signalement, welches ver Angeklagte von biefem 
Rughier entworfen hat, paßt nicht auf Caftagnet, befjen 
genaue Perjonalbefchreibung dem Gerichte von einem glaub» 
würdigen Zeugen, dem Polizeibeamten Francisco Wright, 
geliefert worben ift. 

„Das Zeugniß von Baptifte Eaftagnet befchuldigt den 
Alois Szemeredy direct. Er hat ausgefagt, daß ver An- 
gellagte ganz allein mit Karoline Meg geweſen ift, und 
daß er unmittelbar nach dem Morde, als feine Hände 
noch vom Blute rauchten, die Stube verlaffen habe und 
wie von Furien gejagt, weggelaufen fei. Die Annahme, 
Baptifte Caftagnet felbft fei ver Mörder, iſt ausgeſchloſſen. 
Er war einverftanden damit, daß feine Geliebte andern 
Männern ſich preisgab, er führte fie ihr fogar zu, ihn 
plagte die Eiferfucht nicht, und es ift fehr glaubhaft, daß 
er fich entfernte und in die Kammer nebenan zurüdzu- 
ziehen pflegte, wenn Karoline fremden Beſuch empfing. 

„Während der Seefahrt von Rio de Janeiro nach 
Duenos-Ayres hat Szemeredy dem Feldwebel Navarro 
und einem aus Schottland ſtammenden Matrofen John 
Lane befannt, daß er die Karoline Met getöbtet habe, 
Aus allen viefen Umſtänden folgt, daß der Angeflagte 
bes Morbes ſchuldig ift und folglich ven Tod durch den 
Strang nach dem Gejege verbient hat. 

„Szemeredy iſt aber auch überführt, die dem Oberft- 
lieutenant Jerez gehörige goldene Uhr und Kette ent⸗ 
wenbet zu haben, denn er wohnte mit dem Beftohlenen 
zugleich im Hötel⸗de⸗-Rome. Die Wefte, in welcher Uhr 
und Kette fich befanden, war fein Eigenthum, und es ift 
nicht denkbar, daß ein anderer als ber Dieb das geftohlene 
Gut in die Weite Szemeredy's gejtedt hat. Das con⸗ 
currirende Verbrechen bes Diebjtahls erhöht die Strafbar- 
feit des Angeklagten.” 


58 Ein Eriminalproceß aus Sübamerifa 


Am Schluffe feiner Ausführungen betont der Staats⸗ 
anwalt, ohne jedoch diefe Behauptungen aus ven Acten 
zu begründen, daß Alois Szemeredy lange Jahre hin⸗ 
burch das Leben eines Abenteurer und Hochſtaplers ge- 
führt, daß er fich als Arzt gerirt habe, ohne feine mebi- 
ciniſchen Studien und die Berechtigung zur Ausübung 
ber Praxis nachzuweiſen, daß er zeitweilig auch als 
Barbier und Perüdenmacher feinen Lebensunterhalt juchte 
und fand, daß er, als der Aufftand wider bie beftehende 
Staatöverfaffung unter der Führung des Lopez Jordan 
ausbrach, fich bemfelben als Freiwilliger anjchloß, und 
daß er im Jahre 1868 eines Diebſtahls überwielen und 
beshalb vom Handelsgericht in Buenos» Ayres zu ſechs 
Monaten Gefängniß verurtheilt worden, alfo nicht mafel- 
los jet und dieſe Strafe auch verbüßt habe. 

Der Advocat Szemeredy's, Dr. Damafo Centeno, hatte 
bie Acten einem gründlichen Studium unterworfen und 
wußte mit großem Scharfjinn bie Mängel und bie Lücken 
in ber Beweisführung des Staatsanwaltes aufzubeden. 
In feiner Nechtfertigungsfchrift der von ihm gegen das 
Zobesurtheil des erjten Richters eingewendeten Appellation 
führt er ſich redend ein und apoftrophirt ven Gerichtshof, 
als ab er vor ihm ftände und voce viva zu ihm fpräche. 
Seine Bertheibigung ift glänzend, er glaubt an die Un 
ſchuld feines Clienten und verftcht e8, mit Feuer und 
Geift feine Ueberzeugung geltend zu machen. Nachdem 
er auf bie fchweren Nachtbeile hingewieſen hat, die für 
ben Angeflagten daraus entjtanden find, daß die Strafs 
proceßorbnung ihn zu einer paffiven Rolle in der Vor⸗ 
unterjuchung verurtheilt, und fein Recht als proceßführende 
Partei nicht anerkennt, während feinem Gegner alle Mittel 
ber Berfolgung, über welche die Nechtspflege gebietet, zur 
Verfügung ftehen, fucht er die Belaftungsbeweife einen 


nah altfpanifhem Berfahren. 59 


nach dem andern zu widerlegen. Die Ausſage jedes ein- 
zelnen Zeugen und jede Schlußfolgerung des Staats» 
anwaltes unterwirft er feiner unerbittlichen Kritif. Die 
ganze Anklage zerpflüdt er mit einer beftechenben Dia⸗ 
lektik. Was er vorbringt, ift oft geradezu überrafchen. 
Die That und bie fie begleitenden Umſtände ſowie die 
Indicien gegen den Angeklagten erfcheinen nach feinen 
icharffinnigen Debuctionen in einem ganz andern Lichte. 
Er verfteht die Kunft, durch Ironie und Sarkasmus bie 
Belaftungsmomente abzuſchwächen. Seine Leiftung ift ein 
Meifterftüc gerichtlicher Beredſamkeit, nur ſchade, daß 
wir eime fchriftliche Ausarbeitung vor und haben und 
nicht eine mündliche Rede, die doch einen ganz andern 
Eindruck hervorgebracht haben würde. Das Thema feiner 
Beweisführung ift: „Ein Mord tft begangen, aber bie 
Unterjuchung bat einen faljchen Weg eingefchlagen, fie hat 
ven Zeugen ber That mit dem Mörder verwechjelt. 
Der Mörder ift Baptifte Caftagnet, das Gericht hat 
ihn verhaftet, aber thörichterweife in Freiheit gefegt und 
an feiner Stelle den ſchuldloſen Alois Szemeredy ber- 
folgt und ihm ven Proceß gemacht.” \ 

Wir können des Raumes wegen nicht wörtlich wieber- 
geben, wie Dr. Genteno dieſe feine Theſis begründet bat, 
aber umfere Auszüge werden das Wejentliche mittheilen. 

„Als die Bolizei am 25. Juli 1876 in das Haus 
Nr. 36 der Calle ve Corrientes gerufen wurbe, was fand 
fie vor? 

„Die Leiche der tückiſch ermordeten Karoline Metz in 
ihrem Blute ſchwimmend, auf den Boden hingeftredt und 
neben berfelben ven Baptifte Caftagnet, feinem Berufe 
nach Zuhälter und Kuppler. Die Aufnahme des That⸗ 
beftandes erfolgte, Caſtagnet's Mittheilung über den Top 
des Weibes, mit deren Weizen er zu feinem eigenen 


60 Ein Erininalproceß aus Südamerika 


Nutzen Handel getrieben hatte, wurde ohne weitere Prü- 
fung als ein glaubhaftes Zeugniß angejehen. Man fand 
bie blutgetränkten, burcheinandergeworfenen Kiffen bes 
Lotterbettes, welches kurz zuvor der Tummelplatz fleifch- 
licher Luft gewejen war, bie Kleider des Opfers und bie 
eines Mannes, der fie aus räthielbafter Urſache zurüd- 
gelaffen bat. 

„Die angeftellten Nachforihungen ergaben, daß Alois 
Szemeredy, ein ungarischer Arzt, der damals im Hötel- 
be-Rome logirte, der Eigenthümer jener Kleider war. 
Szemereby war verſchwunden. “Der Gerichtsarzt gab fein 
Gutachten über die Todesurfache ab, die Leiche wurde 
begraben, das Actenmaterial nebjt den Kleivungsjtüden 
an das Unterjuchungsgericht abgegeben, und ber Chef ber 
Polizei fchrieb in dem Begleitbriefe mit großer Sicherheit 
und beneivenswerther Gewiffensruhe: «Als Thäter ift ein 
gewiffer Alois Szemeredy ermittelt, deſſen Verhaftung 
bisjet noch nicht gelungen tft.» 

„Der Unterfuchungsrichter acceptirte dieſe Anficht. Im 
ber UWeberzeugung, daß über die Perjon des Mlörbers 
fein Zweifel beftehe, gab er fich mit der fehr oberfläch- 
lichen Rocalbefichtigung der Polizeibehörde zufrieden. Statt 
‚bie Angaben des proviforiich verhafteten Baptifte Caſtagnet 
auf ihre Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit zu prüfen, 
begnügte er ſich mit etlichen fummarifchen Vernehmungen 
dieſes Zeugen und entließ ihn ſodann aus dem Gefäng- 
niß. Caſtagnet gehört der niedrigften Stufe ber menich- 
lichen Geſellſchaft an, er treibt das verächtlichſte Gewerbe, 
man iſt deshalb berechtigt, feine Ausfagen von vornherein 
etwas mistrauifch anzufehen. Er hat drei Verhöre be- 
jtanden und jedesmal verfchiedene Angaben gemacht. 

„Zuerſt erzählte er vor dem Polizeicommiflar: «Etwa 
um 9 Uhr abends befuchte ein hochgewachjener Mann die 


nah altſpaniſchem Berfahren. 61 


Karoline Mes, fie ſchloſſen fich ein und unterhielten fich in 
beutfcher Sprache. Ich habe fie vom Nebenzimmer aus, 
in welchem ich mich verbarg, Sprechen hören. Etwa eine 
Stunte ſpäter vernahm ich einen erftidten Schrei bes 
Mädchens, und gleich darauf ein dumpfes Geräufch, wie 
von Schlägen over Fußtritten. Ich Tief in die Vorhalle, 
zünbete ein Schwefelhölzchen an und ſah bei deſſen Schein 
einen Mann in Hembärmeln und barbaupt, der mir 
entgegenfam und davoneilte. Ich jchöpfte Verbacht, ging 
in das Zimmer und fand die Karoline mit einer furdht- 
baren Wunde am Halje auf dem Fußboden liegend. Ich 
kann ben unbelfannten Dann nicht befchreiben, ich habe 
faum Gelegenheit gehabt ihn zu jehen, weder als er kam 
noch als er ging.» 

‚Bor dem Unterfuchungsrichter, ver bereit in Szeme⸗ 
redy und nur in biefem ben Mörder erblidte, fagte Bap⸗ 
tifte Caſtagnet, fein früheres Zeugniß ergänzend, abändernd 
und bemfelben widerſprechend, Folgendes aus: 

„aDer Beſuch, den Szemeredy ver Karoline Met am 
25. JZuli machte, war der erfte, ven er ihr überhaupt 
abftattete. Ehe er in die Stube ging, haben beide mit- 
einander in Spanischer Sprache gerebet, als fie ihm bie 
Thür öffnete, fragte er, ob er die ganze Nacht bei ihr 
zubringen könne. Sie verneinte biefe Frage. Ich muß 
glauben, daß Szemerevy und Saroline Me einander 
früher nicht gefannt haben, denn ich vernahm, daß das 
Mädchen fich erfunbigte, ob er jchon früher in biejer 
Gegend gewefen fei. Er erwiberte, er fomme zum erjten 
mal nach Buenos-Ayres. Ich konnte in meinem Verfted 
alles hören, was im Nebenzimmer vorging. Sch ver- 
nahm deutlich, daß der Beifchlaf vollzogen wurde, dann 
ftand Karoline auf und mufch fich, gleich darauf ftieß fie 
einen lauten Schrei aus.» 


62 . Ein Eriminalproceh aus Südbamerifa 


„Befragt, ob er fich der Phyſiognomie des fremden 
Mannes genau erinnere, ob er biefen vorher fchon gejehen 
oder gekannt habe: 

„Ich erinnere mich genau an feine Phyſiognomie, denn 
ih babe ihn, als er eintrat, durch die Glasthür, 
welche das Zimmer Karolinend mit der Kammer, in ber 
ich mich aufhielt, verband, genau beobachtet. Vor dem 
25. Juli habe ich den Menſchen nicht gefehen und nicht 
gefannt.» 

„Auf die Frage, woher die Ylutfleden rührten, die fich 
an feinen Hembärmeln und an ven Aermeln feines Rockes 
gefunden hatten, ermwiberte er: 

„Ste find vermuthlich Dadurch entjtanden, daß ich der 
Karoline, die am Boden lag, ein Kiffen unter den Kopf 
gefchoben und mich dabei mit Blut beſchmuzt haben». 

„In einem dritten Verhöre, dem zweiten vor dem Unter- 
juchungsrichter, wurde ihm die Photographie von Szeme⸗ 
redy vorgezeigt und bie Frage vorgelegt, ob ihn der Mann 
befannt fei, den dieſes Bild darjtelle? Er mtmwortete: 
«sch habe dieſen Mann nur ein einziges mal am Abend 
des 25. Juli 1875 geſehen. Es ift der Mörder ver Ka⸗ 
roline Meß, er war damals in ihrem Haufe. Als ich 
ihn am Abend des 25. Juli fah, war der Bart dichter 
al® zu der Zeit, wo bie Photographie aufgenommen 
worben tft.» 

„Es tft jehr bezeichnend, wie nach biefen drei Ausfagen 
das Erinnerungsvermögen des Zeugen ſich allmählich 
fräftigt. Vor dem Polizeicommiffar, unmittelbar nach 
dem Morde, gibt er an, er habe den Mörber nur flüchtig 
gejeben und könne feine Perjonalbejchreibfung von ihm 
entwerfen. Fünf Tage fpäter vor dem Unterfuchungs- 
richter erinnert er fich fchon genau an die Gefichtszüge 
bes Sremben, den er durch bie beide Zimmer verbindende 


—— 


nah altfpanifhem Berfahren. 63 


Glasthür beobachtet haben will. Nach zehn Tagen er- 
fennt er nicht nur in der ihm vorgelegten Photographie 
den Angeichuldigten mit großer Beſtimmtheit wieber, er 
weiß fogar anzugeben, daß fein Bart voller geweſen ift, 
als die Photographie ihn darſtellte. 

„Dieſer letzte Umſtand beweist, daß Baptiſte Caſtagnet 
ſchon vor dem Morde mit Szemeredy bekannt geweſen iſt 
und gelogen bat, als er behauptete, er habe ihn am Abend 
ber verbrecherifchen That zum erjten mal gejehen. Denn 
eine fo unbedeutende Kleinigkeit wie bie größere ober ge- 
ringere Dichtigleit des Bartes bemerft man nur an Per⸗ 
jonen, beren Gefichtszüge und Phyfiognomien fich durch 
öftere8 Beifammenjein jo eingeprägt haben, daß jede Ver- 
änderung auffällt. Bei Menjchen, die man nur einmal 
gefehen Hat, pflegt man folche Beobachtungen nicht zu 
machen. Wir müffen alfo hieraus ven Schluß ziehen, daß 
Baptiſte Caftagnet den Szemereby bereits gefannt, aber 
ein Intereſſe daran gehabt habt, dies zu verjchweigen. 

‚Der Zeuge Caftagnet hat ferner gelogen, als er, um 
die Blutfleden an feinem Node und feinen Hembärmeln 
zu erklären, angab, fie rührten baber, daß er dem tödlich 
verwunbeten, ausgeftrecdt auf vem Boden liegenden Mäpchen 
ein Kiffen unter den Kopf gefchoben habe. Die Polizei- 
beamten und ver Gerichtsarzt haben bei der Vornahme 
bes Augenjcheind von einem folchen Kiffen nichts gejehen 
und in ihrem Befunde nichts davon erwähnt. Die Kiffen 
lagen im Bett und nicht auf bem Boden. Woher 
ftammen die Blutflecken, wenn die Eflärung des Zeugen 
fih als unwahr herausgeftellt hat? 

„Baptifte Eaftagnet hat im zweiten Verhör auögejagt, 
er babe den Szemereby durch die Glastafeln ber 
Verbindungsthür beobachtet. Dies ift eine grobe 
Lüge. Jene Thür bat feine Glastafeln! “Die erfte 











64 Ein Criminalproceß aus Sübamerifa 


Localbefihtigung war allerdings fo oberflächlich und un- 
vollſtändig vorgenommen, daß vie Beichaffenheit der frag- 
fihen Thür daraus nicht hervorging. Aber auf meinen 
Antrag ift eine nochmalige Nocalinfpection angeordnet wer- 
ben. Das Haus Nr. 36 der Calle de Corrientes wird 
jet von achtbaren Hanbwerfsleuten bewohnt. Die Räume 
darin dienen andern Zwecken, es ftehen andere Möbel 
bort und die Eintheilung der Zimmer ift eine anbere. 
Aber die Thüren find noch dieſelben und es ift actlich 
feitgeftellt, vaß jene Verbindungsthür zwifchen der Stube, 
in welcher Szemeredy und die Karoline beifammen waren, 
und ber anftoßenden Kammer, dem Aufenthaltsorte des 
Baptijte Caftagnet, eine alte, einflügelige Holzthür 
ohne Glasſcheiben tft, verjehen mit einer einfachen 
Klinke an der dem Zimmer Karolinens zugewandten Seite, 
ſodaß fie nur von diefem Zimmer aus geöffnet werben 
fonnte. Durch dieſe Thür hat alfo Caftagnıet den Mann, 
ber bie Karoline bejuchte, nicht ſehen können. Er hat 
ihn auch bei feiner Ankunft nicht gejehen, denn er bat 
ausgeſagt: «Der Fremde wurbe von ber Karoline in das 
Zimmer geführt, fie verfchloffen die Thür und unter- 
hielten fich in beutjcher Sprache. Ich habe dies in dem 
Nebengemache, in bem ich mich verborgen hatte, beutlich 
gehört.» Er war alfo bereits in ver Kammer, als Ra- 
roline diefen Bejuch erhielt, und Hat folglich ven Mann 
nur in dem flüchtigen Augenblicke beim Scheine eines 
Streichhölzchens gejehen, als er aus dem Haufe ftürzte 
und davoneilte. Und in biejem Turzen Augenblide follte 
id das Geficht des Unbekannten dem Zeugen fo fejt 
eingeprägt haben, daß er bei Vorzeigen ber Photo- 
graphie angeben konnte, der Bart fei voller und bichter 
geweſen als auf dem Bilde? Wer kann dies für möglich 
halten? 


nah altipanifhem Berfahren. 65 


„Der Zeuge Caftagnet hat berichtet, Szemeredy habe 
fih mit Karoline Met auf ver Straße vor dem Fenſter 
im ſpaniſcher Spracde unterhalten. Das ift wieder eine 
Züge. Der völlig glaubwürbige Polizeibeamte Francisco 
Wright hat gehört, daß der hochgewachiene Mann mit dem 
zugeknöpften Ueberrod und die Dirne deutſch miteinander 
ſprachen. 

„Hoher Gerichtshof! Wir nähern uns dem Lichte, die 
dunkeln Schatten, welche das Geheimniß dieſes Ver⸗ 
brechens decken, werden weichen, es wird tagen. Weshalb 
log Baptiſte Caſtagnet? Weshalb ſtellte er in Abrede, 
den Angeklagten ſchon vor dem 25. Juli 1876 gekannt 
zu haben? Weshalb brachte er eine erlogene Erklärung 
über die Entſtehung der Blutflecken vor? 

„Die Kenntniß von der Lebensgeſchichte, dem Thun 
und Treiben der Ermordeten verdanken wir zum größten 
Theile den Mittheilungen des Zeugen Caſtagnet. Sie hat 
ſich ein Jahr und zwei Monate in verrufenen Häuſern 
von Buenos⸗Ayres der Proſtitution ergeben. Caſtagnet 
überrebete fie, mit ihm zuſammenzuleben und ihn zu ſich 
zu nehmen. Seit fieben Monaten wohnte er in ihrem 
Haute, er führte ihr Männer zu und fie ernährte ihn von 
dem Ertrage ihres fchmählichen Gewerbes. Baptifte Ca⸗ 
jtagnet bat vor dem Unterfuchungsrichter ausgefagt, daß 
vor etwa vier Monaten ein umbelannter Dieb ver Karo⸗ 
fine Met eine Schachtel entwendet habe, welche die Briefe 
ihrer Schweſter in Straßburg enthielt. Was in ben 
Briefen geftanden habe, wiſſe er jedoch nicht, denn fie 
feten in der ihm unverſtändlichen deutſchen Sprache ge- 
fchrieben geweſen. Er bat dieſen Diebjtahl erfunden und 
dem Richter ein Märchen erzählt. Denn Karoline’s 
Schwefter fchrieb nicht in deutſcher, fondern in franzöfi- 
ſcher Sprache, und aus einem erjt nach dem Tode ber 

XXL 5. 


66 Ein Eriminalproceß aus Sübamerila 


Karoline Met eingetroffenen Briefe ihrer Schweiter, den 
bie Polizei mit Beſchlag belegt hat, geht hervor, daß bie 
feßtere ihr vorher überhaupt nur ein einziges mal ge- 
fchrieben hat. Es heißt in dem Briefe: «Ich weiß nicht, 
ob dieſer Brief Dich erreichen ober vielleicht wieder wie 
ber vorige aus dem Jahre 1874 verloren gehen wirb und 
ich deshalb wieber feine Antwort erhalten werde.» Die- 
fer Brief ift franzöfifch abgefaßt. 

„Saftagnet hat fomit in Betreff diejes ‘Diebjtahl® min⸗ 
deſtens zweimal gelogen. Es kann der Karoline Met 
nicht eine Schachtel voll Briefe ihrer Schwefter geftohlen 
worben fein, denn fie hat, folange fie im Auslande 
lebte, überhaupt feine Briefe ihrer Schweiter erhalten, 
und bie zwei Briefe, welche die lettere abgejchidt Hat, 
waren nicht deutſch, ſondern franzöfiich geichrieben, weil 
das Franzöfifche die Mutterfprache ihrer Schweiter war. 
Was hat den Zeugen bewogen zu dieſen zweckloſen Lügen? 
Wir wiflen es nicht. Aber dieſes fein Verhalten wirft 
ein Streiflicht auf den Charakter des elenden Menſchen, 
ber ein Gemifch ift von chnilcher Gemeinbeit, Gewinn⸗ 
ſucht, Scheinheiligfeitt und Lüge. Dennoch troß feiner 
rhachitiſchen Erfcheinung, troß feines verächtlichen Gewerbes 
als Zubälter und Kuppler, trog der Verlogenheit und 
Hinterhaltigfeit feiner Ausfagen, troß des Dunkels, in 
welches fein Leben und feine Anteceventien gehüllt find, 
bat diefer Zeuge dem Unterfuchungsrichter volles Vertrauen 
eingeflößt. Am 17. Auguft 1876 decretirte der Richter 
Dr. Hudfon: «Da die gepflogenen Erhebungen feine genügen- 
ven Anhaltspunkte für die Verlängerung der Unterſuchungs⸗ 
haft des Baptifte Caſtagnet gewähren, wirb berfelbe unter 
Bekanntgabe dieſes Beſcheides an die Polizeibehörde in 
Freiheit gejegt.» 

„Saftagnet hat fofort den für ihn gefährlichen Schau- 


nad altfpaniihem Verfahren, 67 


plag feiner verbrecherifchen Wirkſamkeit verlaffen und ift 
ſeitdem verfchollen. 

„3b wende mich nun zu dem Angeklagten und zu ber 
Behandlung, die er von ber Preffe erfahren bat. Der 
Schein ſprach gegen ihn, bie öffentliche Meinung verur- 
teilte ihn ohne Gehör. Die Preffe mit ihren abertaufenb 
Zungen erfüllte die Luft mit fchaurigen und roman 
tiihen Märchen über das Vorleben «des Meuchelmör- 
ders). Die überhigte Phantafie jah in ihm den Helden 
granenbafter Abenteuer, einen Mann, ver mit dem Leben 
jeiner Mitmenjchen ein frevelhaftes Spiel getrieben hatte. 
Wenn nur ein Zehntheil dieſer Schauergefchichten ver 
Wahrheit entiprach, jo mußte fein Name ein Schredbilb 
für Kinder und alte Weiber werben. 

‚Denn ich mich erinnere, welchen Antbeil die Zeitungs- 
preſſe daran hat, daß das Publikum tirregeführt worben 
it, jo erfüllt mich große Bitterkeit. Wir leiden unter 
einem fchweren Uebel, hoher Gerichtshof, einem Uebel, 
welches nicht oft und nicht ernſt genug gerügt werben 
kann. Diefes Uebel wirft feinen Schatten auf die öffent- 
fihe Moral gerade derjenigen Staaten und Völker, vie 
fih vorzugsweife gern aufgeflärt und civilifirt nennen. 
Es iſt ein Uebel, welches fich nicht ableugnen läßt, beffen 
Heilung aber jett noch nicht gelungen iſt. Diejes Uebel, 
eine öffentliche Calamität, ift die Leichtfertigfeit, mit 
welcher die Tagespreſſe über die Ehre der Bürger ab- 
urtbeilt. 

„Eine Senfationsnachricht vermag den Abſatz einer 
Zeitung für einen ober einige Tage zu heben und bie 
Aufmerkſamkeit des Publitums auf fih zu lenken. Es 
it fo verlodend, früher als andere Blätter und befjer 
als diefe unterrichtet zır fein. Und wenn die Mittheilung 
auch nicht ganz richtig ift, wenn fie auch Wahrheit und 

5%* 





68 Ein Criminalproceß aus Sübamerifa 


Dichtung oder nur Dichtung enthält, man hat doch den 
Eoncurrenten den Rang abgelaufen und den Kreis ber 
Leſer einftweilen befriedigt. Lieber ein falicher als gar 
fein Bericht über eine Thatſache von allgemeinem Inter- 
eſſe. Das ift die Parole der Tagespreſſe vieffeit und 
jenfeit des Oceans. Reporter, die in ihrem privaten 
Leben ebrenhafte, wahrheitsftebende Männer find, tragen 
nicht das mindefte Bedenken, durch Correfpondenzen in 
den Zeitungen ben Ruf eines Menſchen zu vernichten, 
indem fie Gerüchte verbreiten, die Schwingen ihrer Phan- 
tafie entfalten und dieſe ihren Flug nehmen laſſen durch 
bie büftern Nebelwolfen der Verleumdung und der Lüge. 
Irgendwo ift eine blutige That verübt, welche die Ges 
müther erregt, e8 wirb unüberlegt irgenpjemand bamit 
in Verbindung gebradt, ein Name genannt, fofort be- 
mächtigt fich die Preffe des Falles und brandmarkt vielleicht 
einen Ehrenmann, ber ohne alle Schuld durch vie un- 
glücliche Verfettung von Umftänden oder den Fehlgriff 
der Polizei in Verbacht geratben if. Es ift ein gar zu 
großer Reiz, dem in größter Spannung aufbordhenden 
Publikum die Einzelheiten des furchtbaren Dramas zuerft 
zu jchilvdern, womöglich auch jofort ven Verbrecher zu be- 
zeichnen und feine Beweggründe mitzutheilen. Der Zeitungs 
berichterftatter ift berufsmäßig nicht verpflichtet, die Schuld 
und bie Unſchuld zu ermitteln, das ift die Sache bes 
Gerichte und der Staatsanwaltichaft. Cr dient dem 
Publikum und meint vielleicht, es ſchade ja nichts, wenn 
er auch ohne genaue Kenntniß und ohne fichere Gewährs- 
männer über den all referire, die Wahrheit werde doch 
an ben Zag fommen. Er läßt feiner Einbildungsfraft 
bie Zügel fchießen und fie reißt ihn fort, ſodaß er nicht 
ſchildert, was fich wirklich zugetragen, ſondern was er fich 
jelbft ausgedacht und ausgemalt hat. Die Hauptperjon, 


nah altfpanifhem Berfahren. 69 


den Verbrecher, zeichnet er nicht nach der Natur, fondern 
wie feine Phantafie den Mann ihm vorfpiegelt, wie er 
gerade paßt in den Rahmen, ven er ſich erfonnen hat. Er 
malt in bunfeln Farben, und je beffer er es verfteht, bie 
Farben zu miſchen und durch geiftreiche Combinationen 
zu fejjeln und pilant zu jchreiben, deſto geneigter ift bie 
Menge, die noch glaubt, was gebrudt wird, feine Fabel 
für Wahrheit zu halten. Aber nicht blos bie urtheils⸗ 
loſe Maſſe, auch denkende Menfchen werben gefangen oder 
boch befangen und fchöpfen Verdacht. Die Folgen eines 
jolchen Gebarens find fchon oft verderblich gewejen und 
mancher unſchuldige Mann ift das Opfer dieſer Tages⸗ 
prefle geworden. Das Strafgejet ahndet freilich dieſen 
Frevel nicht, aber die öffentliche Moral wird dadurch be: 
leidigt, hoher Gerichtöhof. Wer in biefer Weife bie Gei- 
ſel jchwingt, misbraucht die Freiheit der Preffe. Er trifft 
mit feinen leichtfertigen Schlägen fehr häufig einen ihm 
wehrlos gegenüberftehennen unfchuldigen Mann, eine 
ebrenwerthe Familie und nicht ven Miffethäter. 

„Und wenn der Mann, ven die Zeitungen fo breijt 
anklagen, doch nicht der Verbrecher ift? 

„Und wenn vie That in einem Augenblide ver Geiſtes⸗ 
ftörung verübt worden tft? 

„And wenn jemand, um ba8 eigene Leben zu retten, 
um fich gegen einen ungerechten Angriff zu vertheibigen, 
getöbtet hat? 

„Was dann? 

„Das Publitum erfährt nur, was ihm von den Zei- 
tungen mitgetheilt wird. Es weiß nicht, wie fich vie 
Sache zugetragen, was bie That und den Thäter ent- 
jhuldigt oder rechtfertigt. Aber auch die Zeitungefchreiber 
willen es nicht, denn bie Vorunterfuchungen werben ge- 
beim geführt, und dennoch berichten fie oft genug, nicht 





68 Ein Eriminalproceß aus Südamerifa 


Dichtung oder nur Dichtung enthält, man hat doch ten 
Concurrenten ben Rang abgelaufen und ben Kreis ber 
Lejer einjtweilen befriedigt. Lieber ein faljcher als gar 
fein Bericht über eine Thatſache von allgemeinem Inter: 
eſſe. Das ift die Parole der Tagespreſſe dieſſeit und 
jenfeitt des Dceand. Reporter, die in ihrem privaten 
Leben ehrenhafte, wahrheitsliebende Männer find, tragen 
nicht das mindeſte Bedenken, durch Correfponbenzen in 
den Zeitungen den Ruf eines Menſchen zu vernichten, 
indem fie Gerüchte verbreiten, die Schwingen ihrer Bhan- 
tafie entfalten und dieſe ihren Flug nehmen lafjen durch 
die büftern Nebeliwolfen ver Verleumdung und ber Lüge. 
Irgendwo ift eine blutige That verübt, welche die Ges 
müther erregt, e8 wirb umiüberlegt irgenbjemand damit 
in Berbindung gebracht, ein Name genannt, jofort be- 
mächtigt fich die Preffe des Falles und brandmarkt vielleicht 
einen Ehrenmann, ver ohne alle Schuld durch die un- 
glückliche Verfettung von Umſtänden oder den Yehlgriff 
ber Polizei in Verdacht gerathen tft. Es ift ein gar zu 
großer Reiz, dem in größter Spannung aufhorchenden 
Publikum vie Einzelheiten des furchtbaren Dramas zuerft 
zu fchilvern, wowöglich auch ſofort den Verbrecher zu be- 
zeichrien und feine Beweggründe mitzutheilen. Der Zeitungs 
berichterftatter ift berufsmäßig nicht verpflichtet, Die Schuld 
und bie Unſchuld zu ermitteln, das tft die Sache bes 
Gerichte8 und der Staatsanwaltichafl. Er dient dem 
Publikum und meint vielleicht, es fchabe ja nichte, wenn 
er auch ohne genaue Kenntniß und ohne fichere Gewährs- 
männer über den Tall referire, die Wahrheit werbe doch 
an den Zag kommen. Er läßt feiner Einbildungstraft 
die Zügel ſchießen und fie reißt ihn fort, ſodaß er nicht 
fhilvdert, was fich wirklich zugetragen, fondern was er fich 
jelbjt ausgedacht und ausgemalt hat. Die Hauptperjon, 


nad altfpanifhem Berfahren. 69 


ben Berbrecher, zeichnet er nicht nach ver Natur, ſondern 
wie feine Phantafie ven Mann ihm vorfpiegelt, wie er 
gerabe paßt in den Rahmen, ben er fich erfonnen hat. Er 
malt in bunfeln Farben, und je beffer er es verfteht, die 
Farben zu miſchen und durch geiftreiche Combinationen 
zu fejfeln und pilant zu fchreiben, deſto geneigter ift bie 
Menge, die noch glaubt, was gedruckt wird, feine Zabel 
für Wahrheit zu halten. Aber nicht blos Die urtheils- 
loſe Maffe, auch denkende Menſchen werben gefangen oder 
boch befangen und jchöpfen Verdacht. Die Tolgen eines 
tolchen Gebarens find fchon oft verberblich geweſen und 
mancher unfchuldige Mann ift das Opfer biejer Tages⸗ 
preffe geworden. Das Strafgefet ahndet freilich dieſen 
Frevel nicht, aber die öffentliche Moral wirb dadurch be> 
leidigt, hoher Gerichtshof. Wer in dieſer Weiſe die Geis» 
jel ſchwingt, misbraucht die Freiheit der Preffe. Er trifft 
mit feinen leichtfertigen Schlägen jehr Häufig einen ihm 
wehrlos gegenüberftehenten unfchuldigen Mann, eine 
ehrenwerthe Familie und nicht den Mifjethäter. 

„Und wenn ver Mann, den die Zeitungen jo breift 
anflagen, boch nicht der Verbrecher ift? 

„Und wenn bie That in einem Augenblide ver Geiftes« 
ftörumg verübt worben iſt? 

„Und wenn jemand, um ba& eigene Neben zu retten, 
um fich gegen einen ungerechten Angriff zu vertheidigen, 
getödtet hat? 

„Was dann? 

„Das Publitum erfährt nur, was ihm von ben Zei—⸗ 
tungen mitgetbeilt wird. Es weiß nicht, wie fich Die 
Cache zugetragen, was bie That und ben Thäter ent- 
fehuldigt oder rechtfertigt. Aber auch die Zeitungsfchreiber 
willen e8 nicht, denn die Vorunterfuchungen werden ge- 
beim geführt, und dennoch berichten fie oft genug, nicht 





710 Ein Eriminalproceß aus Sübamerila 


was fie auf glaubwürbige Weile erfahren, fondern was 
fie erfunden haben. 

„Wie jchwer ift es, das Schild der Ehre wieder blanf 
zu pußen, wenn ber Roft der Verleumbung es angefrejjen 
hat! Wie felten kann man den guten Namen eines ein- 
mal als Mörvder over Räuber ftigmatifirten Menfchen 
wieberherjtellen, auch wenn bie Unfchuld fpäter bewies 
jen wird! Es ift für die Tagespreſſe leicht, 'einen Ver⸗ 
dacht auszusprechen und fein fonderliches Kunftjtüd, ven 
guten Ruf eines Mannes zu zerjtören, aber meift ım- 
möglich, vollfommen wieder zu fühnen, wenn man ge= 
ſündigt hat. 

„Hoher Gerichtshof, ich habe ſcharfe Worte gebraucht, 
aber echte und gerechte Entrüftung bat fie mir auf bie 
Zunge gelegt, und ich denke, daß e8 der erjte Schritt zur 
Heilung tft, wenn man ein fociale8 Uebel aufdedt vor 
aller Welt. 

„Mein unglüdlicher Client ift ein trauriger Beleg für 
alles, was ich gejagt habe. Er ift das Opfer diefer un⸗ 
jerer leichtfertigen Tagespreffe geworben, bie unmittelbar 
nad dem in der Calle de Corrientes begangenen Morde 
einen wahren Veitstanz um ihn gewirbelt und ihm bie 
abſcheulichſten Unthaten zur Laft gelegt hat. 

„Es liegt mir eine Zeitung vor, in welcher erzählt 
wird, Alois Szemeredy habe von Kindheit auf Neronifchen 
Neigungen gehuldigt und ſchon ale Knabe feine größere 
Luft gekannt, als die Thiere zu Tode zu martern; er 
habe feine Gejchwifter und feine Iugendfreunde denuncirt 
und verrathen, feine Aeltern beftohlen, feinen Vater thät- 
lich angegriffen und fei endlich aus dem väterlichen Haufe 
geflohen. 

„Der phantafiereiche Verfaffer dieſes Artikels weiß 
gar nichtd von der Lebensgefchichte des Angeklagten, er 


N 
nah altfpanifhem Verfahren. 71 


bat ihn niemals gefehen und vor dem Morde von Karo- 
line Meg niemals von ihm gehört. Dennoch hat er fein 
Leben nach feiner eigenen Erfindung genau beichrieben. 
Er folgt ihm nach Frankreich, England, Italien, in bie 
Argentiniſche Republik und nach Braſilien. Er veröffent⸗ 
lichte eine ganze Serie von Enthüllungen, von denen die 
eine immer gräßlicher und ſchauerlicher iſt als die andere. 
Es iſt nicht eine einzige von ven Thatſachen wahr, die er 
erdichtet hat! 

„Dies geſchah vor zwei Jahren, und was gejchieht noch 
heute? Kaum wurde e8 befannt, daß der öffentliche An- 
Häger den Antrag auf Schulbig zu ftellen beabfichtigte, 
jo ftürzte fich die Meute wieder auf das gehekte Wild. 
Das gleiche Spiel wieverholt ſich, Erfindungen auf Er- 
findungen werben dem Publifum vorgerevet. Der Ge- 
ſchäftsſinn der Herausgeber der Journale beflügelt bie 
Federn ihrer Berichterftatter. Die Mitgliever des Gerichts- 
bofes ſelbſt werben fich davon überzengt haben, daß an 
allen Mauerecken Plakate angefchlagen find, welche dieſen 
Proceß betreffen. Bon allen Seiten prängen ſich Zeitung®- 
jungen heran unb bieten Flugjchriften aus und fchreien: 
«Kaufen Sie die Lebensgefchichte des Mörders Szeme⸗ 
redy! Kaufen Sie das Topesurtheil des Angeflagten!» 

„Dieſe mit ſchönen Bildern geſchmückten Schriften were 
ven dem Publifum überall auf den Straßen angepriejen 
und mit ellenhohen Buchitaben in öffentlichen Anſchlägen 
angezeigt. Sie enthalten fo vetailfivte Mittheilungen über 
die Ausführung des Mordes durch Szemeredy und find 
fo dreiſt und fo unverfchämt in ihren Behauptungen, daß 
der Spießbürger gar nicht mehr zweifeln fann an feiner 
Schuld. Ja jo weit ift man gegangen in der Täuſchung 
des Publikums, daß infolge der Berichte unjerer Tages- 
blätter nor einigen Tagen eine fhaufuftige Menge ih nach 





2 Ein Eriminalproceß aus Sübamerila 


der Recoleta begeben hat, um ber angeblih auf ben 
Donnerstag angeorbneten Hinrichtung des Meuchelmörbere 
beizuwohnen! 

„Der Unfug iſt ſo groß, daß er gerade von der Stelle 
aus, die berufen iſt, das Recht zu ſchützen, öffentlich ge⸗ 
misbilligt werben ſollte. Das Rechtsgefühl iſt tief ge⸗ 
kränkt. Der Staatsanwalt, der nicht blos den Verbrecher 
der verdienten Strafe zuzuführen, ſondern vor allen Dingen 
die Wahrheit, die ganze und volle Wahrheit zu ermitteln 
verpflichtet iſt, ſollte nicht in vornehmer, kühler Ruhe 
ſchweigen, ſondern mir zur Seite treten und dafür ſorgen, 
daß man einen Menſchen, über deſſen Schuld das Gericht 
noch nicht entſchieden hat, nicht zu Tode hetzen darf. 

„Ich, hoher Gerichtshof, ich der Vertheidiger des An⸗ 
geklagten Alois Szemeredy, ich fühle die ſchwere Laſt, die 
der Druck der irregeleiteten öffentlichen Meinung ausübt, 
ich fühle, wie niederſchmetternd das Geſchrei der Zeitungen: 
anathema sit! auf uns wirkt. Der elende Schacher mit 
dem Unglück empört mich im tiefſten Innern. Ich pro- 
tejtire vor dem hoben Gericht&hofe feierlich gegen dieſen 
abjcheulihen Misbrauch der Preffreibeit. Die Preſſe 
verbammt, ohne zu prüfen, fie verurtheilt, ohne dazu be= 
rechtigt und befähigt zu fein. Sie treibt Handel mit ben 
Leiden ihres Mitmenschen, fie beutet fein Zittern und 
Sagen, das Leben eines angfterfüllten, um Ehre und 
Leben Fämpfenden Angeklagten, die Thränen und bie 
Seufzer eined Unglüdlichen aus, um ein Gefchäft zu 
machen, um Geld zu verdienen! Nein, hoher Gerichtshof, 
bas ift nicht mehr die Freiheit der Preffe, die wir hoch⸗ 
halten, e8 ift ein Schanpfled der modernen Cultur! 

„Diefe Schanpliteratur, hoher Gerichtshof, hat ihren 
Weg fogar in die Zelle des Angeklagten gefunden. Sze⸗ 
meredy ift im Beſitze des gebrudten Topesurtheils, welches 





nah altfpanifhem Berfahren. 73 


über ihn gefällt worden fein ſoll! Bedenken Sie, meine 
Herren Richter, welchen Eindruck dies auf einen Menſchen 
machen muß, ber länger als anderthalb Jahre in Unter- 
ſuchungshaft ſchmachtet und Tag für Tag auf ein gerech- 
te8 Urtheil hofft, welches ihn losſpricht von aller Schub. 
Er ift einem folden Schlage weder phyſiſch noch mora- 
liſch gewachſen. 

‚Bas kümmert dieſe Seelenpein aber jene Leute, bie 
mit ihrer Feder Handel treiben? Der Berichterftatter 
ſtreicht ſchmunzelnd fein Honorar ein, ber Herausgeber 
der Zeitung berechnet befriedigt ven Gewinn, ben ihm ber 
Verlauf von etlichen taufend extra abgefeßten Nummern 
bringt. Das Gejchäft geht glänzend und fie denken nicht 
an bie Qualen, bie fie dem Gefangenen bereitet haben. 
Niemand zieht dieſe Leute zur Mechenfchaft, es ift fein 
ftrafender Arm da für folh ein Bubenſtück. Morgen 
ſchon wiederholen fie in einem andern Falle, was ihnen 
beute fo reiche Frucht eingetragen hat. 

„Was thut’8 denn, wenn ein Unſchuldiger verleumbet, 
wenn ein Menſch moraliich vernichtet und das Publikum 
ſchnöde belogen worden tft? Szemereby kann ſich nicht 
vertheidigen, alſo Huffa! Packt ihn, ihr Bluthunde. Jeder 
Zropfen Angftichweiß, den ihr ihm auspreft, wirb euch 
mit baarem Gelbe bezahlt! Gewiffen? Pah — was foll 
das. ES iſt ein umbeguemer Bettgenoß. Weg damit! 
Thut nur Geld in unfern Beutel! 

„Sch Tege dem hoben Gerichtähofe einen an mich ge- 
richteten Brief Szemeredy's vor, aus welchem fich ergibt: 
Cr Hat die Flugblätter gelefen, die fein Leben ſchildern, 
ben angeblich von ihm verübten Mord haarklein erzählen 
und fein Todesurtheil abpruden. Er bat daran geglaubt, 
daß er zum Tode verdammt fei. Er verzweifelt troß 
jeiner Unschuld. Aus feiner tiefften Noth fchreit er zu 





74 Ein Eriminalproceß aus Südamerifa 


mir, er ſieht in mir, feinem PVertheidiger, ben letzten 
Halt, ven Netter feiner Ehre und feines Lebens! 

„Sr bat ſich in mir nicht getäuscht, ich ſchwöre es bei 
dem allgewaltigen Gott! Ich habe e8 mir zur Aufgabe 
gemacht, das Dunkel aufzubellen, pas dieſe That bevedt; 
es wird, ed muß mir gelingen, tie Wahrheit ſoll Heli 
und ftrahlend an das Licht des Tages treten und das 
lichtſcheue Geſindel ſoll heulend und beſchämt in bie 
Winkel der Hölle zurüdkriechen, aus welcher e8 burch Die 
Gier nah Gewinn um jeden Preis, auch um den Preis 
ber Mannesehre, gelodt worben ift. 

„Ich wende mich nun zu den Ausfagen des Angellag- 
ten Szemeredy. Er ift nur zweimal vernommen wor—⸗ 
ben umb erzählt die Vorgänge der Nacht vom 25. zum 
26. Suli 1879 in folgender Weife: 

„Am Abend des 25. Yult verließ ich das Hötel-de- 
Rome, um die Karoline Me in der Calle de Corrientes 
zu beſuchen. Sie war mir durch ihren Geliebten, einen 
gewiffen Robert Rugbier, vorgeftellt worden, ben ih von 
Montevideo ber kannte. Ich war fchon in den Tagen 
zuvor zwei⸗ bis dreimal bei ihr gewejen und batte ihr 
jebesmal einige Zärtlichleiten eriwiefen. 

„Ih war auch diesmal im freundlichiten Verkehre mit 
ihr, fie gewährte bereitwillig, was ich von ihr wünſchte. 
Im Laufe des Gejpräches fagte fie zu mir, fie wollte mir 
etwas zeigen, ich weiß nicht mehr, ob es ein Brief war 
oder eine Photographie. Sie öffnete das Fach einer 
Schublade, und zufällig erblicte ich darin einen von ben 
Ringen, die mir im Hötelede-Provence gejtohlen worden 
waren. Auf das höchite überrafcht, fragte ich ſie, woher 
fie den Ring babe. Sie erwiberte ganz unbefangen, daß 
ihr Geliebter, Robert Rughier, ihr den Schönen Schmud- 
gegenftand gejchenft habe. Nun erklärte ich ihr, der Ring 


nad altfpanifhem Verfahren. 75 


fei mein Eigenthum, ich würbe venfelben wieder an mich 
nehmen. Sie erhob Tebhaften Widerſpruch und ver- 
weigerte die Herausgabe. Während wir noch pisputirten, 
trat Robert Rughier in das Zimmer. Ich richtete bie 
Stage an ihn, ob er der Karoline Met ben Ring ge- 
geben babe. Er antwortete: „Das ift nicht wahr, ich bin 
es nicht geweſen, von bem das Frauenzimmer den Ring 
empfangen hat.‘ Saroline hielt trotzdem ihre Behauptung 
aufrecht, e8 entſpann fich infolge deſſen ein heftiger Wort- 
mechfel zwiichen ihr und ihrem Geliebten. ‘Der lektere 
gerieth in Wuth und bebrohte fie mit thätlichen Mis⸗ 
banblungen. Ich hielt e8 für meine Pflicht, dies zu ver- 
bintern, und padte den Rughier, der viel ſchwächer war 
ale ich, und warf ihn auf das Bett. Karoline fing an 
zu weinen und bat uns unter Thränen, keinen Skandal 
zu machen, benn wir wüßten doch, welche Folgen unge- 
wöhnlicher Lärm in einem Haufe wie das ihrige haben 
würde. Ich ließ deshalb meinen Gegner los, trat zur 
Seite und wollte meine Kleider anziehen. In biefem 
Moment hörte ich einen halberſtickten Schrei, ich kehrte 
mi um und ſah, daß Karoline mit Blut übergoffen 
zuſammenbrach. Rughier Hatte fie erftochen. Ich erſchrak 
furchtbar, und ergriff, ohne zu überlegen, einem unwill⸗ 
fürlichen Antriebe folgend, die Flucht. Ich ließ fogar 
meine Kleider im Stiche, weil ich feinen andern Gedanken 
und feinen andern Wunſch bafte als ben, von biefer 
Stätte des Morbes fo fchnell als möglich fortzulommen.» 

„Vergleichen wir die Ausfagen des Zeugen Caſtagnet 
mit der des Angefchulbigten Szemeredy, jo ergibt ſich: 
vie leßtere ift Har, beftimmt, in allen Stüden möglich, 
glaubwürdig durch ihre innere Wahrhaftigkeit, fie macht 
den Eindruck, daß fich die Thatfachen wirklich jo zus 
getragen haben. Die Erzählung Caſtagnet's dagegen ift 





76 Ein Sriminalproceß aus Südamerila 


unklar, unbeftimmt, ſchwankend, voller Widerſprüche, un⸗ 
glaubwürdig, fie macht ven Eindruck, daß ber Zeuge bie 
Thatfachen verdreht Hat. Caftagnet erklärte nicht, was 
den Angeklagten bewogen haben fann, ven Mord zu voll⸗ 
bringen, Szemeredy hat angegeben, weshalb Caftagnet und 
feine Geliebte in einen Streit gerathen find, der pamit endigte, 
daß der wüthende Caſtagnet das Mädchen töbtete, weil fie 
ihn in den Verdacht brachte, ven Ring entwendet zu haben. 

„Die beiden Ausfagen ftehen fich direct entgegen. Die 
einzige Zeugin ift das unglüdliche Opfer. Sie kanm 
feine Auskunft geben. Welcher ſoll man Glauben jchenfen: 
ber wahrhaften oder ver erlogenen, ber bejtimmten ober 
ver ſchwankenden, ver folgerichtigen ober ver ſich wider⸗ 
ſprechenden, berjenigen, bie ben Namen des Mörbers 
nennt, oder derjenigen, bie einen Unbelannten als ben 
Thäter bezeichnet, verjenigen, bie für das Verbrechen ein 
Motiv angibt, oder der, vie fein Motiv anzugeben weiß, 
der Ausfage des Ehrenmannes Szemeredy oder der Aus 
lage des Kupplers Caſtagnet? 

„Die Beantwortung diefer Fragen fanın nicht zweifel⸗ 
haft fein. 

„Die Anklage hat aus der Flucht Szemeredy's in Hemb- 
ärmeln und aus bem Umftande, daß feine Kleider in ber 
Stube der Karoline Met und in der Innentaſche feines 
Nodes die Echeive eines Dolchmefjers gefunden worben 
find, die Schuld des Angeklagten gefolgert. 

„Beichäftigen wir uns zunächſt mit der Flucht meines 
Elienten. 

„Wir müffen, um jein auffallendes Benehmen nad) dem 
Morde richtig zu würdigen, daran erinnern, wie er ben 
fritiichen Tag, den 25. Juli, verlebt hat. Die Bebien- 
fteten im Hötel-de-Rome haben übereinftimmenp bezeugt: 
Szemeredy habe feine gewöhnliche, vollkommen regelmäßige 


nach altſpaniſchem Berfahren. 17 


Tagesordnung innegebalten, zu ven üblichen Stunden bie 
Mahlzeiten eingenommen, mit gutem Appetit gegefjen 
und weber Unruhe noch Aufregung an ven Tag gelegt. 
Abends gegen 8 Uhr fei er, wie er auch fonft zu thun 
pflegte, ausgegangen, und abends gegen !/,11 Uhr heim- 
gelehrt. 

„Hätte Szemeredy die Abficht gehabt, die Karoline 
Meg umzubringen, und fich mit diefem Entjchluffe aus 
rem Hotel entfernt, fo würbe er feine Flucht vorbereitet 
haben. Er wußte, daß das Mädchen mit ihrem Zuhälter 
zuſammenwohnte und daß ihr Tod fofort oder doch jehr 
bald entdedt werben müßte. Wäre er ausgegangen, um fie 
zu morben, jo bätte er fich einen Wagen ober ein Pferd, 
over doch ein Verſteck gefichert, um fich der Verfolgung zu 
entziehen. Er hat nichts von allem gethan, in feiner Weiſe 
jeine Flucht vorbereitet, mar muß deshalb annehmen, daß 
er beim Verlajjen des Hotel® nichts Böſes im Schilde 
geführt und feine Räckkehr dorthin als felbftverftänblich 
angejeben bat. Es Tag aber auch fein Grund für ihn 
vor, dem Mäpchen ein Leid zuzufügen. Cr hatte erft 
kürzlich ihre Bekanntſchaft gemacht und es hatte Fein 
Streit zwiſchen ihnen ftattgefunden, denn der Wortwechjel 
über den Ring, ven er bei ihr fand, ift fein Streit ge- 
weien, ber zu einem blutigen Ausgange hätte führen 
tönnen. Szemeredy muß jedoch in einem Zuftande höchiter 
Berwirrumg gewefen fein, fonft wäre er nicht in Kalter 
Binternacht mit Zurüdlaffung von Rod und Hut in Hemb- 
ärmeln fortgeeilt. Er würde fich bei einiger Ueberlegtheit ge- 
jagt Haben, daß er in einem fo auffallenden Anzuge leicht 
von einem ber zahlreichen Polizeibeamten, welche nachts bie 
Straßen von Buenos-Ayres durchftreifen, angehalten und 
feftgenommen werden konnte. Er erreichte unangefochten 
jein Hotel, und was that er dort? Er erzählte dem Hotel- 


718 Ein Eriminalprocehß aus Südamerifa 


perfonal einen an ihm verübten väuberifchen Ueberfalt, 
zog einen andern Rod an, fette einen Hut auf und ent- 
fernte fih, ohne wiederzufommen. Er verließ die Stabt 
und begab fih nach Brafilien. Seine Papiere, Briefe, 
Photographien, Kleider, kurz alles, was feine Identität 
bewies und ben Behörben die ficherfte Handhabe gab, um 
ihn zu verfolgen, ließ er in fchönfter Ordnung zurüd. 
So kopflos handelt Fein Menjch, welcher mit VBorbebacht 
und Weberlegung ausgeht, um einen Mord zu vollbringen. 
Hätte Szemeredy, als er das Hotel verließ, die Abficht 
gehabt, die Karoline Metz abzufchlachten, fo hätte er vor- 
ber bie ftummen Zeugen, vie ihn verrathen mußten, be= 
feitigt und feine Flucht vorbereitet. Der Mörber des 
Mädchens würde doch wenigftens erft den Rod angezogen 
und den Hut aufgejeßt haben, ehe er fich auf die Straße 
wagte, wo er durch feine mangelhafte Bekleidung Auf- 
jeben erregen mußte. Wenn man bem Zeugen Caftagnet 
Glauben fchenkt, brauchte Szemeredy fich in feiner Weije 
zu beeilen, er war ja allein mit dem ermorbeten Mäb- 
hen und Konnte fich Zeit nehmen. Weshalb ift er trotz⸗ 
dem in jener Winternacht in Hembärmeln durch bie be= 
lebteiten Straßen von Buenos⸗Ayres gerannt, in fteter 
Gefahr, verhaftet zu werden? Wir ftoßen überall auf un- 
lösbare Näthfel, wenn wir bie Ausfagen bes Zeugen 
Caſtagnet für wahr halten. Dagegen erklärt jich alles 
einfah und natürlich durch die Erzählung des Angeflag- 
ten. Hiernach bat die Dirne wie ſchon früher fo auch 
am Abend des 25. Juli das Lager mit ihm getheilt. Er 
fand feinen Ring bei ihr, ven fie gejchenft erhalten hatte 
und nicht herausgeben wollte Als fie noch beifanmen 
waren, trat ihr Zuhälter herein. Zwijchen ihm und dem 
Mädchen entipann fich ein Streit, das ift nichts Seltenes, 
befanntlich entftehen zwifchen ſolchen Perjonen oft jehr 


nah altſpaniſchem Berfahren. 79 


heftige, in Thätlichfeiten übergehenve Zwiftigfeiten. Ka⸗ 
rofine bezichtigte den Kuppler Caſtagnet des Diebftahls, 
intem fie behauptete, er habe ihr den dem Angefchuldig- 
ten entwenbeten Ring gejchenft. ‘Darüber gerieth Caftag- 
net in Wuth, er vergriff fih an ihr und ſtieß ihr das 
Dolchmeſſer in die Bruſt. Iſt es etwa das erjte mal, 
daß fich im folch einem Haufe fo etwas zugetragen hat? 
It dieſer Hergang nicht viel wahrjcheinlicher als die An- 
nahme, daß ein Dann, der die Karoline bejuchte und was 
er begehrte, von ihr bereitwillig gewährt befam, plößlich 
obne irgendwelchen Grund ihr Ylut vergoffen haben joll? 
Wir fönnen uns recht gut denken, daß Szemeredh von 
einem paniihen Schreden ergriffen wurde, als das von 
ihrem Zuhälter tödlich getroffene Mädchen blutend zu 
Boden ftürzte, und daß ihn nur der eine Gedanke 
beberrichte: ort von dieſem fürchterlichen Anblid, fort 
ans biejem Haufe, wo ber Mord feine Stätte hat! Unter: 
wege, in ber frifchen Falten Luft mag bie Weberlegung 
zurüdgefehrt fein. Er wirb fich gejagt haben, daß er 
tböricht gehandelt und fchweren Verdacht auf ſich gezogen 
babe, daß man feine Kleider bei Karoline Mes finden 
und ihn für den Mörber halten werde. Zurüd konnte 
er nicht mehr, denn man würde ihn fofort ergriffen haben, 
Zeugen für feine Unſchuld hat er nicht, da nur Eaftagnet 
mit ihm in ber Stube gewefen war. Jetzt erſt faßte er 
ven Entjchluß, fich durch die Flucht vor der ihm drohen⸗ 
den Verhaftung und Unterfuchung zu retten. Im Hotel 
erzählt er bie ungeſchickt erfundene Gefchichte von dem 
Raubanfalle, zieht einen Rod an, jet einen Hut auf und 
verläßt eilenden Laufes die Stadt. Er wußte, daß Caftag- 
net, alias Rughier ihn denunciren würde, um nicht felbft 
dem rächenden Schwerte der Gerechtigkeit zu verfallen, 
und daß bie zurüdgelafienen Kleiver gegen ihn zeugten. 


80 Ein Eriminalproceß aus Südamerifa 


Seine Lage war eine gefährliche, er floh, weil er feine 
andere Rettung ſah. Wreilic hat er hierdurch ven Ver⸗ 
dacht noch vergrößert. Die gebanfenlofe Menge glaubte 
ohne weitere® daran, daß der flüchtige Szemeredy ber 
Mörder fei, die Zeitungen hetzten, die öffentliche Mei⸗ 
nung war gegen ihn, und leider ließen ſich auch bie 
Männer beeinfluffen, welche unpartetiich die NRechtöpflege 
handhaben follen. Auch fie nahmen an, daß Szemerebi) 
das Verbrechen verübt habe, und Baptifte Caftagnet, der 
Mörder des unglücklichen Mäpchens, wurde leichtgläubig 
und leichtfertig freigelaffen! 

„Sn der Inmentafche des Szemeredy gehörigen, im 
Zimmer von Karoline Met zurücgebliebenen Rockes Hat 
man bie Scheide des Dolchmeffers gefunden, mit welchem 
ber Mord ausgeführt worben tft. ‘Der Staatsanwalt hat 
biefen Umftand nur nebenbei erwähnt, er bat feine 
Volgerungen daran gefnüpft. Er hat vermuthlich nicht 
gewußt, wie er biefe merfwürbige Thatſache, hinter welcher 
eine teuflifche Bosheit ſteckt, erklären fol. Wir wollen 
ihm auf die Spur helfen und barthun, daß ſich daraus 
ein überzeugender Beweis für bie Unfchuld des Angeflag- 
ten ergibt. 

„Dat Szemeredy den Mord verübt, jo liegen zwei 
Möglichkeiten vor. Er bat die That entweber vorher 
überlegt und planmäßig ausgeführt, oder der mörberifche 
Gedanke ift plöglich in ihm entftanden, und er bat den 
Entichluß, die Karoline Met zu tödten, erit gefaßt, als 
er bei ihr in ver Stube verweilte. Wann hat er das 
Dolchmeffer aus der innern Taſche feines Rockes heraus- 
genommen? Als er in die Stube eintrat? Oder als er 
feinen Rod auszog? Oder als er fich zu dem Mäpchen 
auf das Bett legte? Oder als er den tödlichen Streich 
ausführte? 


nah altfpanifhem Berfahren. 81 


„Hätte er den Mord Schon vorher befchloffen gehabt, 
jo würbe er mit dem Dolchmefjer in der Hand zu bem 
Mädchen gegangen fein. Das ift jenoch nicht gefchehen. 
Denn er ift ja eine ganze Stunde mit ber Karoline zu- 
jammengewefen, er bat bei ihr gelegen und fie umarmt. 
Wo foll er dann in dieſer Situation bie fcharfe, ſchnei⸗ 
dende Waffe, das blanke Dolchmefjer ohne die Scheibe, 
gehabt haben. 

„Wer in ein berartiges Haus geht, um eine Dirne 
zu bejuchen, nimmt vielleicht eine Waffe mit, aber er legt 
fih doch nicht mit dem offenen Dolche zu ihr ind Bett. 
Szemeredy hatte ven Rod ausgezogen, er war in Hemb- 
ärmeln, wo bielt er dann den Dolch verjtedt? Und mußte 
nicht Karoline bie glänzende Klinge des Meſſers fofort 
jehen, wenn er es offen, ohne Scheide in der Hand hielt? 
Würde fie nicht fofort um Hülfe gerufen haben? Aber 
Saftagnet hat in der Kammer nebenan davon nicht8 ver- 
nommen; wir müfjen deshalb behaupten, daß Szemeredy, 
wenn er ber Mörber ift, das Dolchmeffer mit der Scheibe 
und nicht ohne die Scheide aus der Immentafche des 
Rodes herausgenommen hat. Iſt aber diefe Behauptung 
richtig, fo müffen wir fragen, wie ift denn bie Scheite 
nach dem Verbrechen in die Nocdtafche gekommen? Sie 
mereby wird doch wahrhaftig die Scheide nach dem Morde 
nicht wieder in den Rod geftedtt haben? Er hat ben 
Rod, die Wefte und ben Hut zurücgelaffen, feine Be— 
ftürzung muß alfo fehr groß gewejen fein. Ein Mann, 
der fo thöricht und unüberlegt hanvelt, hat ſchwerlich 
nah der That die Scheibe des Meſſers forgfältig 
wieder in ber Innentaſche tes Rockes verborgen, was 
doch gar feinen Zwed Hatte, er würde, wenn er Men 
haupt nachgebacht hätte, doch viel eher ben Ai an⸗ 

XXI. 





82 Ein Eriminalproceß aus Südamerila 


gezogen und dann das Mefjer mit ver Scheibe ein⸗ 
geftectt haben, dadurch hätte er wenigſtens ber Entvedung 
vorgebeugt. 

„Es iſt nun noch die andere Möglichkeit zu unterſuchen, 
daß Szemeredy den mörderiſchen Entſchluß erſt während 
ſeines Zuſammenſeins mit der Koroline gefaßt und aus⸗ 
geführt habe. Aber was ſollte ihn dazu bewogen haben? 
Ein Streit hat nicht ſtattgefunden, der nebenan befindliche 
Kuppler hat ja ſogar bezeugt, daß der Beiſchlaf voll⸗ 
zogen worden und daß Karoline aufgeſtanden ſei und ſich 
gewaſchen habe. Es iſt auch kaum denkbar, daß das 
Mädchen aus Scham oder Laune dem Manne, der ſie 
beſuchte, Widerſtand entgegenſetzte, und daß dieſer darüber 
wüthend geworden, aus dem Bett geſprungen ſein, den 
Dolch aus der Rocktaſche genommen und ſie erſtochen 
haben ſollte. Und hätte ſich der Vorfall ſo zugetragen, 
ſo würde er nicht die Scheide erſt noch fein ſäuberlich und 
vorſichtig in die Innentaſche wieder hineingeſteckt, er würde 
ſie weggeſchleudert und zugeſtoßen haben. 

„Szemeredy hat alſo die Scheide nicht wieder in den 
Rock geſteckt. Aber wer hat es ſonſt gethan? Wir ant- 
worten: der Mann, der auf dem Schauplatze allein zurück⸗ 
geblieben iſt, Baptiſte Caſtagnet. Er war ber Eigen«- 
thümer jenes Dolchmeſſers und der Scheibe, in welchem 
e8 fich befand. Der Staatsanwalt bat fchlankweg an⸗ 
genommen, das Mefjer gehöre dem Angeklagten, aber 
irgendein Beweis tft für biefe Thatſache nicht erbracht 
worden. Wir behaupten, Baptifte Caftagnet hat in teuf- 
liſcher Bosheit die Scheibe in den Rod Szemeredy's ge= 
ftect, um dieſen dadurch al& den Eigenthümer des Dolches 
zu legitimiren. Der Umſtand, daß der Angeſchuldigte, 
wie wir dargelegt haben, bie Scheide nach dem Morde 
nicht in den Rod gethan haben kann, liefert ven Beweis 


nah altfpanifhem VBerfahren. 83 


dafür, daß die Waffe nicht ihm, fondern dem Kuppler 
Gaftagnet gehörte. 

„Ein heller Lichtſtrahl ift auf die dunkle That gefallen! 
Aber noch ein gewichtiges Moment. 

„Das von der Polizeibehörbe aufgenonnnene Verzeich⸗ 
niß der am Orte der That vorgefundenen Gegenftände 
führt unter anderm auf: «Im einer Außentafche des Rodes 
ein Taſchentuch mit großen Blutfleden.» Wir fragen, wie 
find diefe Blutfleden entjtanden? 

„Szemereby hat das blutige Tuch gewiß nicht in bie 
Taſche des Rockes gejtedt. 

„Er entflob, als er das Mädchen zufammenftürzen ſah, 
ober, wern wir dem Gedankengange des Staatsanwaltes 
folgen, al® er fie erftochen Hatte, 

„Hätte er fich die Zeit genommen, bie Hände an ſei⸗ 
nem Taſchentuche abzumifchen, das Tuch ſodann forg- 
fältig zufammenzulegen und in bie Rocktaſche zu thun, 
fo hätte er gewiß auch bie Zeit gehabt, ven Rod anzu- 
ziehen. Das war viel bequemer und er brauchte dann 
auch nicht in dem auffallenden Anzuge hinaus auf bie 
Straße zu ftürmen. 

„Aus der Wunde, die Karoline Meb empfing, ſchoß 
das Blut in einem Strahle hervor. Sind vielleicht da⸗ 
durch die Blutfleden entſtanden? Nein, denn der Stuhl, 
anf welchem bie Kleiver lagen, ſtand über zwei Meter 
weit von ber Leiche entfernt, überbies ſtak das Tuch in 
der Rocktaſche und an dem Rode felbit Hat man Feine 
Dlutfpuren bemerkt. Das Tuch muß aljo die Blutflecken 
bereit8 gehabt haben, als e8 in den Rock geſteckt worden 
ift. Nicht Szemereby, fondern Baptifte Caftagnet hat 
das biutgetränfte Tuch in die Rocktaſche gethan, um zu 
beweifen, daß ver Befiger des Node den Mord voll 
bracht habe. Szemerevy war, von Entfegen ergriffen, 

6* 





84 Ein Eriminalproceß aus Südamerika 


entfloben. Caſtagnet war Herr des Terraind. Auf dem 
Stuhle Tagen die Kleiver des Flüchtlings, er nahm bie 
Scheibe des Dolches und verbarg fie in der Innentafche 
bed Szemeredy gehörigen Rockes, er nahm ferner das 
biutbefledte, auf dem Bett liegende Taſchentuch Szeme- 
redy's, tauchte ed in das von ihm vergoffene Blut und 
ftedte e8 in bie Außentafche des Rockes, um bie eigene 
Unjchuld zu beweifen und ven fremben Mann fchwer zu 
belaften. Und als er fertig war und gewiß wußte, daß 
Szemereby einen ftarfen Vorſprung hatte, alarmirte er 
bie Nachbarichaft durch fein Gefchrei: Mörder! Mörber! 

„Baptifte Caftagnet bat ſich vorgefehen und Hug ge- 
handelt. Er vergaß nur Eins: die eigenen vom Blute 
bes Mäpchens gerötheten Aermel! Aber was jchabet Das! 
Der gläubige Unterjuchungsrichter beruhigt ſich bei ber 
Erklärung, er habe fich befledt, al8 er der Karoline ein 
Kiffen unter ben Kopf gejchoben habe. Ein Kiffen, wel⸗ 
ches weder bie Polizei noch der Gerichtsarzt geſehen haben! 

„Hoher Gerichtshof! Nehmen wir einmal an, Caftagnet 
jei nicht in vielen Punkten des faljchen Zeugniffes und 
ber Lüge überwieſen; 

„Nehmen wir an, Caftagnet hätte feine Aermel wirk⸗ 
ih mit Blut dadurch beiubelt, daß er ein Kiffen unter 
ven Kopf des Mädchens jchob; 

„Nehmen wir an, die hölzerne Verbindungsthür zwi⸗ 
ichen dem Zimmer ber Karoline Met und der anftopen- 
den Kammer habe Glastafeln gehabt, over der Zeuge 
Caftagnet babe nach Art ver Hellſeher im magnetiſchen 
Schlafe durch fefte Körper hindurchſehen können; 

„Nehmen wir an, Caftagnet habe vermöge biefer my⸗ 
jtiichen Glastafeln oder bes nicht weniger myſtiſchen 
Schlafes Szemeredy beobachtet, und ſehen wir davon ab, 
baß er dem Bolizeicommiffar Wright erffärt hatte, ein 


nad altfpanifhem Verfahren. 85 


Signalement des Mörders Türme er nicht Tiefern, da er 
ihn kaum einen Moment flüchtig gefehen habe; 

„Rehmen wir an, daß Szemeredy am Fenfter mit Ka⸗ 
roline Metz ſpaniſch, wie Eaftagnet berichtet, und nicht 
deutſch, wie ver Polizeicommiffar Wright behauptet, ge- 
fprochen babe; 

„Rehmen wir an, e8 fei in der Tafche des Szemeredy 
zugehörigen Rockes Tein blutiges Xafchentuch gefunden 
worden, ober Szemerevy habe es nach dem Morde 
herausgenommen, um fich die Nafe zu pußen, und bann 
wieder hineingeftedt und jo mit feiner eigenen Hand bie 
Blutflecken darangebracht, dann aber doch ven Rod Liegen 
laſſen und in Hembärmeln feinen‘ Dauerlauf nach bem 
Hotel⸗de⸗Rome angetreten; 

„Nehmen wir an, Szemeredy habe, ftatt den Rock an⸗ 
zuztehen, die Dolchfcheive nach dem Morde in die Innen- 
tafche gethan, tamit fie ihn als Befiter der mörberifchen 
Waffe kenntlich machte; 

„Nehmen wir an, Eaftagnet hätte nicht gelogen, als er 
pie Photographie des Mannes, den er nur einen Moment 
bei dem unfichern Scheine eines Zünpholzes. gejehen haben 
will, erfannt, und daß es in gutem Glauben gejcheben, 
da er fogar behauptet, der Bart fei etwas dichter geivejen; 

„Rehmen wir an, Gaftagnet ſei ein Ehrenmann ge- 
weien, er babe nicht das verächtliche Gewerbe eines Zu⸗ 
hälters und Kupplers getrieben und nicht von bem Gelbe 
gelebt, welches die Dirne von den Männern bekam, benen 
fie fich preisgab, er habe vielmehr feine Geliebte burch 
jeine eigene fleifige Arbeit ernährt; ur 

„Nehmen wir an, das frühere Leben Caftagnet ® wre 
nicht in ein unburchbringliches Dunkel gehüllt, jondern es 
ſei ber Beweis geliefert, daß er in Europa und Amerika 
. be; 
einen tabellofen und ehrbaren Wandel gerührt habe; 


86 Ein Eriminalproceß aus Sübamerila 


„Nehmen wir an, daß Caftagnet, der doch von diejem 
Proceß und der Anklage wider Szemereby, über welche 
alle Zeitungen diefes Continents ausführlich referirt haben, 
Kenntniß haben mußte, feine Pflicht gethan und fich ale 
der Öauptzeuge vor Gericht geftellt und ven Angellagten 
frant und frei des Mordes bejchulpigt hätte; 

„Nehmen wir an, Caftagnet fer nicht blos kurze Zeit 
in Haft gehalten und nicht jo oberflächlich verhört, ſon⸗ 
dern als Angeſchuldigter behandelt und auf Grund volls 
gültiger Beweiſe feiner Unjchuld vom Gerichtöhofe freie 
gefprochen worden; 

„Nehmen wir an, die Perſonen, welche die ermorbete 
Karoline Meb und ihren Zuhälter Caftagnet kannten, 
Maria Gerona, Augufto Iamet und Julius Fiot, wären 
vom Unterfuchungsrichter ordnungsmäßig vernommen, ins⸗ 
befonbere gefragt worben, ob Caſtagnet auf ehrenhafte 
Weile Geld verdient oder nur von dem gelebt habe, was 
Karoline erwarb, ob er jähzornig und roh war, ob er 
fih mit dem Mädchen vertragen ober ſich mit ihr ges 
zanft, fie vielleicht fogar gefchlagen bat, und daß dieſe 
Zeugnifje durchweg günftig für Caftagnet gelantet hätten; 

„Nehmen wir an, der Tod des Mäbchens fei infolge 
bes ungeheuern Blutverluſtes nicht ſofort eingetreten, 
jondern fie habe troß der ihr nach der Debuction bes 
Staatsanwaltes im Bett beigebrachten Wunde, troß bes 
durchſchnittenen Halfes fich erheben und einige Schritte 
weit gehen Tünnen, bis fie zu Boden ſank; 

„Nehmen wir an, daß fich die Aerzte geirrt haben, 
als fie behaupteten, das Durchſchneiden ver Halsſchlag⸗ 
adern müffe den augenblidlichen Tod zur Folge haben; 

„Nehmen wir das alles an, jo genügt e8 dennoch nicht 
zur Veberführung des Angeklagten, denn Szemeredy hatte 
feinen irgendwie benfbaren Grumd, biefes Verbrechen zu 


nad altfpanifhem Berfahren. 87 


begeben. Fragen wir doch um Gottes willen, welches 
Motiv hat er gehabt, das Blut diefer Dirne zu vergießen ? 

„Das menjchliche Herz und bie menjchlichen Leiden⸗ 
haften find fchon feit Sahrhunderten der Gegenftund 
eifriger umd eingehender Studien. Die Philofophen, bie 
Theologen und Juriſten aller Länder und aller Völker 
baben fich bemüht, pie verſchiedenen Urfachen, welche einen 
Menſchen anreizen und bejtimmen, ein Verbrechen, ins- 
befondere einen Mord zu verüben, zu erforjchen und zu 
Haffificiren. Der befannte fpanifhe Strafrechtslehrer 
Dr. Tejedor unterfcheibet in Betreff des Mordes und ber 
Zöbtung in feinem Buche: «Causa y origen de los 
delitos» («Urfadhe und Urfprung des Verbrechens»): bie 
Rache, die Habſucht, ven Mord auf Befehl eines 
andern, den gedungenen Meuchelmord, ven ange- 
ftifteten Mord, nie vorfägliche Tödtung im Affect, 
bte Tödtung im Wahnfinn. 

„Prüfen wir, ob bier irgendeiner von biefen Fällen 
vorliegt. 

„Ein Racheact kann die Tödtung dieſes Mädchens 
nicht fein. Szemeredy und Karoline Metz haben nie- 
mals in einem feinpfeligen Gegenfate geftanden, fie hat 
ihn nicht beleibigt, auch ihre Intereffen collinirten nicht. 
Er bat fie, wie er felbft jagt, etliche male, wie ber 
famofe Kronzeuge Baptiſte Caſtagnet verfichert, ſogar nur 
einmal, nämlich am Abend des 25. Juli, befucht, und fie 
bat ihn angenommen, wie fie e8 immer zu thun pflegte, 
wenn Männer zu ihr famen. Alte Bekannte waren fie 
nicht, Karoline landete erſt im October 1874 in Buenos⸗ 
Ayres, Szemeredy verließ Europa ſchon 1866 nad Auf 
(fung ber ungarifchen Legion in Italien, er wurde alsbald 
für die Armee ver Argentinifchen Republif angetvorben, 
diente ihr vier Jahre und weilte fortab auf dem ameri- 


88 Ein Eriminalproceh aus Südamerika 


kaniſchen Eontinent. In Europa find fie alfo nicht zu⸗ 
jammengetroffen. Das Mädchen war, als fie ftarb, erit 
20 Sahre alt, fie hatte auf keinen Fall den Angeſchuldigten 
fo gefräntt, daß er fie tödtete, um fih an ihr zu rächen. 

„Habſucht Tann ebenjo wenig fein Beweggrund geweſen 
fein. Karoline befaß keine Schäße, nach denen ein Räuber 
trachtete, fie lebte von der Hand in den Mund von dem 
Ertrage ihres elenden Gewerbes und befaß nichts weiter 
als etliche Kleivungsftüce, ein Bett, einige wenige Möbel 
unb Geräthe. 

„Bon einem Morde auf Befehl eines dritten 
ann feine Rede fein. Niemand hatte ein Intereffe daran, 
ob jenes arme Geſchöpf lebte oder ftarb, und Szemeredy 
war fein eigener Herr, ber feinem andern Gehorfam ſchuldete. 

„An gedungenen Meuchelmord oder angeftifte- 
ten Mord ift nicht zu denken. Wer in aller Welt hätte 
barauf kommen follen, einen Mörber zu kaufen, um bieje 
Dirne zu befeitigen! Sie lebte mit Baptifte Caſtagnet 
zufammen, aber fie war ihm feine Treue fchulpig, ihre 
Gunftbezeigungen hatten einen Prei® und waren bafür 
zu baben von jedermann. Eiferfüchtig konnte Feiner fein 
auf ihre Liebe, denn wer mit ihr verfehrte mußte wilfen, 
baß fie eine öffentliche Dirne fei. 

„Eine vorſätzliche Tödtung im Affect müßte 
doch durch irgendein Indicium angeveutet fein, aber in 
ben Acten findet fih davon feine Spur. Beleibigenbe 
Worte find bei ver Zufammenfunft am 25. Juli nicht 
gefallen, und bie Annahme, das Mädchen Tönnte fich ge- 
weigert haben, dem Manne zu Willen zu fein, und biefer 
jet vielleicht dadurch in Wuth gerathen und habe fie des⸗ 
bald erdolcht, ift zu abfurd, als daß man fie erft wiber- 
legen müßte. Saroline wußte, was Szemeredy von ihr 
begehrte, fie geftattete ihm dem Zutritt in ihre Stube 


nah altfpanifhem Berfahren. 89 


und fchloß ſich mit ihm ein. Sie gewährte ihm, was 
im Bereiche ihres gewöhnlichen Gewerbes lag, und über 
dies hat ja der Kronzenge Caftagnet in feinem Verſtecke 
gehört, daß fie feinen Widerſtand geleiftet und daß Sze⸗ 
merebh feinen Zwed vollftändig erreicht hat. 

‚3m Wahnfinn ift die Töptung auch nicht begangen 
worden. Denn Szemerevy hat ſich im Hötel⸗de⸗Rome 
ganz vernünftig benommen. Aber wir müfjen zugeben, 
hätte er das Mäpchen umgebracht, fo könnte es nur in 
einem plößlichen Anfalle von Wahnfinn gefchehen fein, 
bo dafür dürfte ver Angeflagte dann micht verantwortlich 
gemacht werben. 

„Was bleibt nun noch übrig von dem Belaftungs- 
material bed Staatsanwalte? Die beiden Briefe an 
ben BPolizeipräfiventen, die von Szemeredy gejchrieben 
fein follen, vie indeß nach ber in der Argentinifchen Re⸗ 
publik geltenben StrafgerichtSorunung immer nur einen 
halben Beweis liefern würben, und bie angeblichen außer- 
gerichtlichen Geftänbniffe Szemereby’3 auf der Ueberfahrt 
von Rio de Ianeiro nach Buenos⸗Ayres. 

„Wir befhäftigen ung zunächft mit ven Briefen. Der 
erfte iſt batirt Buenos⸗Ayres, 27. Juli 1876, alfo am 
zweiten Tage nach dem Morde gejchrieben. Szemerebh 
ſtand damals bereits im Verdachte, ver Mörber zu fein, 
er war wie ein gehetztes Wild auf ver Flucht, um feinen 
Kopf zu retten. Und dabei foll er fih in aller Gemüths⸗ 
rube hingeſetzt und biefen Brief verfaßt haben, der augen- 
fcheinlich die Polizei täufchen follte und deshalb abficht- 
fich von orthographifchen Fehlern ftrogtel Als der Mord 
befannt geworben war, wurbe bie ganze Polizeimacht 
aufgebsten, um ben ungarifchen Arzt Szemeredy, ben 
man für ben Verbrecher hielt, feftzunehmen. Szemeredy 
wußte, wie ſchwer ihn die zurüdgebliebenen Kleider ver- 


90 Ein Eriminalproceh aus Sübamerila 


bächtigen müßten, er hatte in höchfter Aufregung fein Hotel 
verlaffen und verbarg fich vor feinen Verfolgern. Dennod) 
will der Staatsanwalt uns glauben machen, daß er ber 
Schreiber dieſes Briefes ift! Und wie hat er benn ben 
Drief befördert? Es gab drei Wege: er konnte ihn durch 
bie Poſt ſchicken, oder durch einen Boten beftellen Laffen, 
oder felbft abgeben. Wir haben ben Brief, aber nicht 
den Briefumfchlag. Wo ift denn der Briefumschlag mit 
dem Poſtſtempel der Aufgabeftation und dem Datum? 
Ich finde ihn nicht. Bei einem Criminalproceß muß 
man doch mit aller Vorficht verfahren. Ich muß ans 
nehmen, daß man ben Briefumfchlag, wenn er vorhanden 
gewejen wäre, zu ben Acten gebracht hätte und daß ber 
Brief nicht mit der Poft gekommen fein kann, weil ver 
Nachweis des Poftftempels fehlt. Hat aber ein Bote ben 
Drief abgegeben, weshalb hat man ihn nicht verhört und 
jofort zehn Detective auf die Spur bes Schreibers ge⸗ 
best? Es tft doch ſehr überrafchend, daß vie Polizei nach 
bem Empfange des Briefes fo gut wie nichts gethan hat. 

„Oder muthet der Staatsanwalt uns vielleicht zu, zu 
glauben, daß Szemeredy fich das Vergnügen gemacht hätte, 
jelbjt in die Polizeivirection zu geben, um bem an ber 
Thür des Polizeipräfidenten mit dem Dienfte betrauten 
Feldwebel den Brief perſönlich zu überreichen? 

„Szemereby hat fich an dem Tage, deſſen Datum jener 
Drief trägt, nach Montevideo eingefchifft. Er berichtet 
über feine Flucht nach den Acten Folgendes: 

„a Als ich das Hötel⸗de-Rome verlaffen hatte, irrte ich 
planlo8 durch die Stadt. Ich hatte Fein beftimmtes Ziel, 
ich wollte nur fort, weit fort! So gelangte ich in Das unweit 
ton Buenos⸗Ayres gelegene Dorf Belgrano. Daſelbſt ver- 
brachte ich ven Reft der Nacht in einem Wirthshauſe in ber 
Calle-Real, welches von einem Basken gehalten wird, an 


nah altfpanifhem Berfahren. 91 


befjen Namen ich mich nicht mehr erinnere. Am folgenden 
Tage, dem 26. Juli, fehrte ich gegen Abend in bie Stabt 
zurüd und berbergte in der Nähe des Hafens in einem 
Wirthshauſe in der Calle de Libertad, gegenüber ber Poft- 
fliafe. Am 27. Juli fuhr ich unter einem angenommes 
nen Namen auf einem Dampfer, ver Paffagiere und Güter 
befördert, nach Montevibeo.» 

„Wir ſehen, wie borfichtig und geſchickt Szemereby feine 
Abreife in das Werk gefeht Hat. Damit veimt fich nicht 
zuſammen, baß er gleichzeitig einen Brief geſchrieben und 
an den Polizeipräfidenten abgejenvet haben folle, ver für 
ihn höchſt gefährlich werden konnte. 

„Aber auch innere Gründe fprechen bafür, daß Sze- 
meredy nicht der Autor dieſes Briefes ift. Ich lege bem 
Gerichtshofe Hiermit eine Zufchrift vor, die der Angeflagte 
aus der Haft an mich gerichtet Hat; fie ift unzweifelhaft 
echt. Vergleicht man die beiden Schriftftüde, jo prängt 
fh die Weberzeugung auf: der Brief an den Bolizei- 
päfidenten ift ein unortbograpbifches, ftümperhaftes 
Machwerk, welches von einem ungebilveten, mit ven Regeln 
ver Grammatik unbelannten Menſchen berrührt, Szeme- 
redh's Brief dagegen ift fließend, grammatifch und ortho- 
graphifch correct, in gewählten Ausprüden gejchrieben. 
Ran erkennt fofort, daß der Verfaſſer ein gebifveter und 
interrichteter Mann ift. 

„Die Erfahrung lehrt, daß in Criminalfällen, die das 
allgemeine Intereffe erregen und das große Publikum 
beihäftigen, bie Polizei nicht felten myſtificirt wird, daß 
underufene Leute zu der Entdeckung des Verbrechers bei- 
fragen wollen und zu biefem Behufe anonyme Briefe 
(reiben. Vielleicht erklärt ſich der Brief an den Polizei- 
häfidenten auf dieſe Weife, vielleicht aber haben wir es 
auch mit einem Schurfenftreiche zu thun, ausgejonnen, 


92 Ein Eriminalprocei aus Sübamerifa 


. um die Polizei irrezuführen und ben Verdacht auf 
einen Unfchulbigen. zu lenken. 

„Der zweite Brief, aus welchem der Staatsanwalt ein 
außergerichtliches Geſtändniß abgeleitet bat, ift von Rio 
de Janeiro den 25. December 1876 batirt. Diefer Brief 
war verichloffen in einem Couvert, bie darauf befindlichen 
Pojtftempel weifen nah, wann und wo ber Brief auf- 
gegeben worben tft. Dagegen wiffen wir nicht, wann 
der Polizeipräfident venfelben erhalten bat. An das Ge- 
richt ift das Schhriftftüd erft am 22. November 1877 
abgeliefert worden. Da wir nun nicht annehmen bürfen, 
baß bei ber Polizei ein Verfehen vorgelommen tft, daß 
fie den für die Unterfuhung wichtigen Brief viele Monate 
behalten babe, fo müflen wir fchließen, daß ber Brief 
erft furz vor dem 22. November 1877 in Buenos⸗Ayres 
angefommen ift. Dann aber hat der Angeflagte mit die⸗ 
ſem Briefe nichts zu Schaffen, denn er war feit bem 
8. Auguft 1877 verhaftet. 

„Die Sachverftändigen haben ihr Gutachten für bie 
Autorfchaft Szemerepy’8 abgegeben, aber ich muß ihre 
Eompetenz überhaupt bejtreiten und darauf hinweiſen, 
daß unfere Geſetzgebung vorfchreibt: «Wie auch immer 
dad Ergebniß der Vergleichung der Handſchriften aus- 
fallen möge: wenn nur das auf folche Vergleichung ge- 
jtüßte Gutachten vorliegt, ohne durch das Geſtändniß 
vervolfftänpigt zu fein, fo erlangt biefes Feine Beweis⸗ 
fraft.» 

„Die ſpaniſchen Commentatoren haben fich mit dieſem 
fo ftark angefochtenen Beweismittel ebenfalls beichäftigt 
und meffen demſelben eine ſehr geringe Beweiskraft bei. 
Auch in Europa pflegt man ſolche Gutachten mistrautich 
aufzunehmen. Trotz ber bona fides ber beeibigten 
Schreibverftändigen haben fich ihre Gutachten ſehr oft 


nah altfpauifhen Berfahren. 93 


als trügerifch erwieſen, es kann deshalb auch in unferm 
Valle eine Berurtheilung des Angeſchuldigten darauf nicht 
geftügt werben. 

„Ich wende mich nun zu ven Belenntniffen, vie Sze- 
meredh angeblich auf ver Ueberfahrt von Rio de Saneiro 
nach Buenos⸗Ahres abgelegt haben Soll. Der Polizeifeldwebel 
Antonio Augufto d'Almeida Navarro hat ausgefagt: Sze- 
meredy jei jehr aufgeregt gewejen, er habe den Verrück⸗ 
ten gejpielt und ihm und andern Berfonen eingeltanden, 
daß er die Karoline Metz getöbtet habe. Die andern 
Perjonen follen der Steuermann der Newa, Willtem 
O'Connor, und ein Matrofe aus Schottland, John Lane, 
gewejen fein. Der Steuermann D’Eonnor bat inbeffen mit 
voller Beſtimmtheit verfichert, in feiner Gegenwart habe 
ber Angeflagte davon fein Wort gefagt. Der Matrojfe John 
Lane bat fi) mit Szemeredy, der nur gebrochen englisch 
Iprechen konnte, unterhalten und leterer hat allerbings über 
den Tod eines Frauenzimmers gefprochen. Ob er aber er- 
zählt hat, daß er das Mädchen vom Leben zum Tode ge- 
bracht, oder nur daß er beſchuldigt werbe, fie ermorbet zu 
haben, weiß der Zeuge nicht anzugeben. Es Liegt bie 
Vermuthung fehr nahe, daß der Feldwebel mit den vielen 
Namen den Angejchuldigten misverftanden bat. Szemes 
redy wirb ihm gejagt haben, er folle fich gegen die An⸗ 
Hage, vie Karoline Met in YBuenos-Ayres ermorbet zu 
Baben, vertheibigen, und ber eifrige Polizeimann hat dies 
als ein Geftändniß feiner Schuld aufgefaßt. 

„Es find in dieſem Proceffe zwei Angeflagte vorhan- 
ben: Szemerevy, ven der Staatsanwalt, und Baptifte 
Caftagnet, ven ich des Mordes befchulpige. Sch bitte 
deshalb um die Erlaubniß, noch einmal auf ben legtern 
zurückkommen zu dürfen. Er ijt ein fittlich tiefſtehender, 
verfommener Menſch, ein Lügner, von deſſen früherm 


94 Ein Eriminalproceß aus Sübamerita 


Leben wir wenig wifjen. Er tritt in Buenos-Ayres auf 
als der Geichäftsführer eines unferer verrufenen Häuſer 
und als Zuhalter der Karoline Metz. Wenn ein ſolches 
Subject in den Schlamm der Verbrecherwelt hinab⸗ 
gleitet, jo Tann man faum fagen, daß es gejunfen ift, 
benn es ftand bereitö auf ber tiefften Stufe der Moral. 
Auffallend iſt, daß Caſtagnet einen gewiffen Grab von 
Dildung befist. Wir finden bei den Acten eine große 
Zahl von Liebesbriefen an Karoline Met, die zwar voll 
von Phrafen, aber nicht ungewandt gejchrieben find. Er 
liebt es, Empfindungen zu ſchildern, die er nicht gehabt 
baben Tann. So heißt es bort: 

„«Merke e8 wohl, Karoline, diefe Verehrung, bie meine 
Seele nor wahrer Weiblichkeit ſtets gehegt hat, ich glaubte, fie 
bir allein wipmen zu können. O verhängnißvoller Irrthum!⸗ 

„Wie oft trauere ich um zerjchellte Illuſionen.» 

„3a wohl, Karoline, e8 ift fo. Sch babe ven Muth 
und bie Kraft nicht mehr, Dir zu zeigen, was in mir 
tobt, Die taufend Qualen zu ſchildern, die ich leive. Ach, 
was bleibt mir Armem, als zu verjuchen, meine Reue mit 
meinen Thränen wegzuwiſchen.» 

„Denn alle meine Träume durchzieht Dein liebes 
Bild. Wenn ich erwache, ftredle ich noch meine Arme 
nach Dir aus, und Ruhe finde ich nur an Deiner Bruft.» 

‚Bir haben pas Gefühl des Ekels, wenn wir diefe un⸗ 
wahren, füßlichen Redensarten leſen und einen Menfchen 
von Verehrung und Liebe, von Treue und XThränen 
iprechen hören, der davon lebte, daß feine Gelichte Tag 
für Zag ihre Lieblofungen verkaufte an jevermann, und 
in der Kammer nebenan genau überwacte, wie fie ihr 
ichimpfliche8 Gewerbe trieb. Diefem gemeinen Kuppler 
tft e8 mohl zuzutrauen, daß er das Mädchen erbolchte, 
als fie ihn des Diebſtahls beſchuldigte und in Gefahr 


nad altfpanifhem Berfahren. 95 


brachte, in einen Criminalproceß verwidelt und verur- 
theilt zu werben, und daß er dann, um fich zu retten, 
ben flüchtigen Szemereby als den Mörder bezeichnet. 
„Szemereby dagegen ift Soldat gewefen und bat treu ges 
dient. Seine Vergangenheit ift fleckenlos, er bat fich niemals 
ehrlicher Arbeit geihämt. In den Acten befindet fich 
ein Brief von ihm, in welchem er fchreibt: «Zur Zeit 
geht es mir freilich herzlich ſchlecht. Hätte ich nicht zum 
Glück als Barbier und Perücdenmacher mein Brot ver- 
dienen können, ich wäre genöthigt geweſen, als einfacher 
Zagelöhner Erbarbeiten zu verrichten, um mein Leben zu 
friften und mich in ehrenhafter Weiſe purchzubringen.» 
Ich wieberhole, Szemeredy hatte nicht den minbeften 
Grumd, dem Mädchen das Leben zu nehmen. Die Be⸗ 
weile find nicht vollitändig und nicht zwingend genug, 
um ein Zobesurtheil zu rechtfertigen. Nach den Be⸗ 
ftimmungen ber Leyes de las Partidas Alfons’ des 
Weifen müfjen vie Zeugen übereinftimmen, ihre Aus- 
jagen müſſen Har, präcts und unbefangen, und bie jchrift- 
lihen Beweisftüde vorwurfsfrei fein. Nichts von alles 
bem trifft in dem gegebenen Falle zu. Bewieſen ift nur, 
daß Karoline Met umgebracht worven, aber nicht, wer 
die That verübt bat. Auf vie Gefahr, mich einer Wieder⸗ 
holung jchulpig zu machen, muß ich nochmals darauf hin⸗ 
weiten: die Briefe an den Polizeipräfidenten find nicht 
von Szemereby gejchrieben, die Sachverftänbigen haben 
ſich durch eine gewiſſe Aehnlichkeit der Schriftzüge täufchen 
faffen. Die Schlußfäge der von Caſtagnet an Karoline 
Metz gefchriebenen Briefe, die fich bei ven Acten befinden, 
ftimmen genau überein mit dem Schluffe des aus Rio 
de Janeiro am 26. December 1876 batirten Briefe an 
ven Polizeipräfidenten. Dieſelbe läppiſche Bitte um Ver⸗ 
zeihung für pie fchlechte Schrift, derſelbe charakteriftifche 


96 Ein Criminalproceß aus Sübamerifa 


Ausdrud «ohne mehr», diefelbe Verficherung, «ein Schuld⸗ 
ner zu fein, der bald zu bezahlen hoffe, um leichten Her⸗ 
zens in bie ewige Nuhe einzugehene. Das ift ein felt- 
james Zufammentreffen, welches vie Vermuthung nahe 
legt, Caſtagnet habe fi von Buenos⸗Ayres nad Rio be 
Janeiro begeben, bort ausgekundſchaftet, daß Szemeredy 
in Rio lebte, und, um ihm befto ficherer zu verderben, ben 
Drief gefchrieben. Vermuthung gegen Vermuthung! Die 
Bertheivigung kann nicht beweiſen, daß Caſtagnet ber 
Autor iſt, aber auch die Staatsanwaltſchaft hat nicht be⸗ 
wieſen, daß die Briefe von Szemeredy herrühren. 

„Ebenſo verhält es ſich mit allen übrigen Punkten der 
Anklage. 

„Der Staatsanwalt hat ſich darauf berufen, daß der 
Angeklagte blutbefleckte Aermel gehabt, und dies eingeſtan⸗ 
den habe. Das iſt ganz falſch, ein ſolches Geſtändniß 
enthalten bie Acten nicht. Es iſt dem Staatsanwalte 
dabei wol etwas Menſchliches paſſirt. Caſtagnet, der 
brave Baptiſte Caſtagnet, ſein ehrenwerther Kronzeuge, 
hat blutige Aermel gehabt, und der Herr Staatsanwalt 
hätte nur recht genau nachforſchen ſollen, woher dieſes 
Blut rübrte. 

„Der Staatsanwalt glaubt dem Angellagten die Be- 
bauptung nicht, daß Robert Rughier während feines 
Wortwechſels mit Karoline Met über den Ring in das 
Zimmer getreten jet. Er meint, ver Kuppler habe fich 
aus Echamgefühl ftets fern gehalten, wenn Karoline an- 
bere Männer empfing, und fo gethan, als fei er un- 
befannt mit dem Gewerbe, welches feine Geliebte treibe. 
Wie naiv ift doch der Staatsanwalt! Er erweilt einem 
Menfchen, veffen Ehrgefühl völlig abgeftumpft tft, eine 
unverbiente Huldigung. Leute wie Caſtagnet machen ein 
Geſchäft daraus, Gimpel für ihre Dirne einzufangen, 


nad altfpanifhem Berfahren. 97 


es genirt fie in feiner Weile, daß fie das Mädchen nicht 
allein befigen. Kaftagnet war, wie er uns ſelbſt gefagt 
bat, baran gewöhnt und pflegte im Nebenzimmer alles 
mit anzuhören, was in Karolinens Stube vorging. Er 
hätte das Paar auch am 25. Juli nicht geftört, wenn 
nicht ber Diebitahl des Ringes zwiſchen Szemereby und 
Karoline zur Sprache gelommen wäre. Als er dies ver- 
nahm, gejellte er fich zu ihnen, denn er hatte ein fehr 
dringendes Intereſſe daran, den Verdacht des Diebſtahls 
ven ſich abzulenken. Szemeredy hat mehrere Tage vor- 
ber dem Polizeicommifjfar des erften Bezirks die Anzeige 
gemacht, daß ihm aus dem Hötelsde-Brovence zwei Ringe 
entwendet worben feien. Der Wirth bes Hotels, der ihm 
feindfich geſinnt ift, Hat dieſe Thatjache beftätigen müffen. 
Diefer Diebftahl ift eine feftftehende Thatſache und es ift 
piychologifch fehr erflärlih, daß Caftagnet, erziient über 
bie Unvorfichtigfeit des Mädchens, bei welchem Szeme- 
redy feine Ringe fand, fofort dazwifchentrat, keck ableug- 
nete, ihr den Ring geſchenkt zu haben, und fie in voller 
Wuth erjtach, als fie ihre Behauptung dennoch aufrecht 
erhielt. Daß Baptifte Eaftagnet fich dem Angeflagten 
gegenüber einen faljchen Namen gab und Robert Rughier 
nannte, wird nicht auffallen. Man weiß ja, welche Wolfe 
in ver Gaunerwelt die «alias» fpielt. 

„Der Staatsanwalt behauptete, Karoline ſei ermorbet 
worden, währen ber Mörber bei ihr am Bett lag. Dieſe 
Behauptung ift unrichtig. Sie beweift nur, daß ber An- 
Mäger die Acten etwas gar zu flüchtig ftubirt bat und 
die Grundfäge ber forenfifchen Medicin nicht Fennt. 

„Es iſt allgemein befannt und wird auch von tem 
berühmten franzöfiihen Arzt Dr. Nelaton in feiner 
chirurgiſchen Pathologie bezenät, daß das Durchſchneiden 
der Halsſchlagader (arteria carotida) einen plöglichen, 

XXI. 7 





98 Ein Eriminalproce aus Südamerifa 


fehr großen Blutverluft und den faft augenblicklich ein- 
tretenden Tod zur Folge Bat. Hätte Karoline dieſe 
Wunde im Bett empfangen, jo wäre fie auch im Bett 
geftorben. Sie hätte mit den burchichnittenen Adern um 
Halſe nicht mehr aufſtehen und noch einige Schritte machen 
fönnen. Die Blutjpuren im Bett beweifen nicht, daß ihr 
bie Todeswunde im Bett beigebracht worben if. Das 
Blut ift hoch emporgefchoffen, als der Dolch die Adern 
öffnete, und hat das Bett beſudelt. Die Blutmenge müßte 
aber viel größer fein, wenn fie dort abgefchlachtet worben 
wäre. Ueberdies hat ja ver famoſe Kronzenge ausgefagt, 
er babe in der Kammer nebenan gehört, daß Karoline, 
nachdem fie dem Manne zu Willen gewefen, aufgeftanven 
jet und fich gewafchen habe. Weshalb glaubt denn ber Staats⸗ 
anwalt diesmal nicht, was Baptifte Caftagnet bezeugt? 

„Ich begehre nicht Gnade für den Angellagten, ſondern 
Gerechtigkeit. Ich weiß, daß das Urtheil in den Händen 
von unabhängigen Richtern ruht. Sie werben fich nicht 
von vorgefaßten Meinungen, nicht von der Anficht des 
leichtgläubigen Publikums beftimmen laffen, und auch ber 
leichtfertigen Breffe keinen Einfluß auf ihre Ueberzeugung 
geftatten, ſondern lebigli prüfen, welche Beweiſe bie 
Unterfuchung geliefert hat. Ich glaube feft an bie Un- 
ſchuld meines Klienten, aber ich weiß nicht, ob es mir 
gelungen ift, bie gleiche Ueberzeugung auch bei den Mit- 
gliedern des Gerichtshofs hervorzurufen. Ich tröfte mich 
damit, daß jeder Zweifel dem Angeſchuldigten zugute 
fommen muß nach dem alten criminalrechtlichen Satze: 
in dubio pro reo. Ich erinnere zuleßt noch an zwei 
Punkte: Der Angellagte ift länger als zwei Jahre Unter- 
ſuchungsgefangener gewejen, während der Mörder nach 
17 Zagen aus dem Gewahrfam entlaffen wurbe und frei 
hinaus in die Welt ziehen durfte. Ja noch mehr! Sze- 


nah altipanifhdem Berfahren. 99 


meredy hätte gar nicht ausgeliefert werben follen, denn 
nah tem im Sabre 1872 abgeänberten Staatsvertrage 
zwilchen der Argentinifchen Republik und Brafilien joll 
die Auslieferung nur ftattfinden anf Grund eines rechts⸗ 
kräftigen Urtheils und bei ver Verfolgung eines in flagranti 
ergriffenen und dann flüchtig geworbenen Verbrechers. 

„Die Präventivhaft ift in jevem Falle zu veriwerfen 
und fehr hart für ven Mann, über welchen fie verhängt 
wird, denn fie ift ihrem Weſen nach eine Strafe, die er 
leidet, ehe das Urtheil ergangen ift. 

‚Ich hoffe, ver Gerichtshof wird dem Angeflagten Alois 
Szemeredy die Ehre und die Freiheit zurüdigeben. Fiat 
justicia ! 

Nachträglich übergibt der Vertheibiger noch eine zweite 
Schrift, in welcher die Anklage wegen des Diebftahls ver 
golpenen Uhr und Kette beleuchtet wird. Er entſchuldigt 
es mit einem Derjehen feines Schreibers, daß biefes 
Schriftſtück verfpätet eingereicht wird. Es Tag nahe, 
baranf hinzuweiſen, daß Baptifte Caſtagnet, der ja nach 
ven Deductionen des Dr. Genteno ven geftohlenen Ring 
feiner Geliebten gejchenft, die Scheide des Dolchmeſſers 
in die innere und das biutige Taſchentuch in bie äußere 
Taſche des Szemeredy gehörigen Rocks pralticirt hat, 
auch die Uhr und die Kette geſtohlen und beide an der 
zurückgelaſſenen Weſte befeſtigt habe, um ſich ſelbſt von 
der Blutſchuld rein zu waſchen und ſeinen Gegner ſicher zu 
verderben. Aber davon enthält das Schriftſtück nichts. 
Der Diebſtahl wird einfach in Abrede geſtellt und geltend 
gemacht, der Beweis, daß die Weſte dem Angeklagten 
gehöre, ſei nicht erbracht. Szemeredy habe den Rock ſtets 
bis oben hinauf zugeknöpft getragen, niemand wiſſe, ob 
er überhaupt eine Weſte beſeſſen, und ber einzige Zeuge 
ber dies behauptet und die Wefte als das Kleivungsftüd 

7 





100 Ein Eriminalproceß ans Sübamerila 


des Angeklagten recognofeirt habe, ver Wirth bes Hötel- 
besBrovence, fei ein Feind Szemeredy's und verbiene des⸗ 
halb Teinen Glauben. Er habe ein ftarkes Interefje paran, 
feinen frühern Saft als einen gewöhnlichen Gauner und 
Hochſtapler darzuftellen. 

Es wird Freiſprechung auch von biefer Anklage be- 
antragt. 

Am 12. September 1881 verfündigt der Gerichtshof 
das folgende Erfenntniß: 

„Gemäß des in der Situng des Gerichtshofs mit 
Stimmenmehrheit gefaßten Beſchluſſes wird entgegen dem 
Antrag des Staatsanwalts und in Abänderung bes von 
bem Criminalrichter erjter Inſtanz gefällten Urtbeile, 
gegen welches bie Berufung orbnungsmäßig angemeldet 
worden iſt, entjchieben: 

„Alois Szemeredy wird von der Anklage, die Karoline 
Metz ermordet zu haben, ſchuldlos geſprochen und wegen 
des Diebſtahls einer Uhr und Kette, begangen an dem 
Commandanten Joſe Domingo Jerez, für ſchuldig er- 
klärt. Wegen letztern Verbrechens wird er zur Buße von 
zwei und einem halben Jahre Gefängniß, Erſatz 
der Koſten, welche ſeine Einbringung und Erhaltung ver⸗ 
urſachten, und zur Zahlung der Gerichtskoſten verurtheilt, 
indem zugleich beſtimmt wird, daß feine Gefängnißſtrafe 
durch die erlittene Unterſuchungshaft als getilgt und auf⸗ 
gehoben erſcheint und ſeine Verantwortlichkeit ſich nur 
auf jenen Theil der Koſten zu erſtrecken hat, welche das 
Verbrechen betreffen, um deſſentwillen er verurtheilt wor⸗ 
den iſt, worüber eine genaue Berechnung auszufertigen 
und deren Richtigkeit orbnungsmäßig nachzuweiſen fein wird. 

Juan E. Barra, Präſident. 
Octavio Bunge, Neſtor French, Beiſitzer. 
Rafael Jorge Corvalan, Schriftführer.“ 





nah altfpanifhem Berfahren. 101 


Der Mord war verübt am 25. Yuli 1876, am 
8. Auguft 1877 wurde ber Angefchulbigte als Gefangener 
nach Buenos⸗Ayres gebracht, am 12. September 1881 
erfolgte jeine Freifprechung von der Anklage des Mordes 
und feine Verurtheilung wegen Diebftaple. Dan erfieht 
hieraus, wie langfam vie Juſtiz in ber Argentinifchen 
Republif arbeitet. Der alte fchriftliche Inquifitionsproceß 
hat auch in Deutſchland bis tief in das 19. Jahrhundert 
die Herrfchaft behalten, aber jegt ift er aus dem Nechts- 
bewußtſein des Volks fchon faft vollſtändig verſchwunden. 
Man ftreitet wol noch über die Structur bes Verfah- 
tens, über bie Form der Vorunterfuchung und die Be- 
theiligung ber Vertheidigung baran, darüber, ob nicht 
das englifche Recht, welches die Einleitung und den Des 
trieb des Strafprocefjes wie einen civtlrechtlichen Streit 
in die Hände ver betheiligten Parteien Tegt, vorzuziehen 
fei; man behandelt e8 als eine offene Frage, ob das Ur- 
teil von Gefchworenen oder gelehrten Richtern oder von 
einem aus Juriſten und Laien gemifchten Collegium ge- 
fällt werden folle, aber e8 ift ein unbeftrittener Sag, daß 
der Strafproceß fih ftügen muß auf das Anklage— 
princip, auf das mündliche Verfahren in ver Schluß- 
verhandlung und auf die freie Beweistheorie. Die 
Argentinifche Republik hat den großen Fortſchritt vom 
Inquiſitions⸗ zum Anflageproceß noch nicht vollzogen, und 
ber bier bargeftellte Fall ift ein recht deutliches nnd lehr- 
reiches Beispiel für die Schwächen und bie Mängel jener 
veralteten Procedur. Das Urtheil des Gerichtshofs 
wird nicht einmal burch Entſcheidungsgründe erläutert und 
gerechtfertigt, die man boch billig verlangen muß, wenn 
rechtsgelehrte Richter, die an eine gefeliche Beweistheorie 
gebunden find, Necht ſprechen. Es tft unter folchen Um⸗ 
ftänden recht fchwierig, zu prüfen, ob ber Spruch des 





102 Ein Eriminalproceß aus Sübamerita 


Gerichtshofs richtig ober falfh ift. Nicht ſchuldig des 
Mordes und fchuldig des Diebſtahls — das Hingt über- 
rafchend. Nicht blos das Publikum und die Preffe, auch 
der Staatsanwalt und der DVertheibiger hatten angenom⸗ 
men, baß ber Angeflagte entweder den Mord begangen 
und dann auch die Uhr und Kette, bie in ber doch un⸗ 
zweifelhaft ihm gehörigen Wefte gefunden wurden, geftoh- 
len habe, oder von ber Anfchulpigung bes Mordes und 
des Diebftahls zugleich entbunden werben müſſe. War 
Baptifte Caftagnet, alias Robert Rughier, zufammen mit 
Szemereby in der Stube bei Karoline Meg und bat er 
und nicht der Angeklagte das Mädchen erjtochen, daum 
kann man ihm auch zutrauen, daß er ber Dieb gewejen 
tft und nicht blos die Scheide des Dolchmeffers und das 
blutige ZTafchentuch in den Rod, fondern auch bie ge⸗ 
ftohlene Uhr und Kette in die Wefte Szemereby’8 gefteckt, 
um biejen als Mörder und Dieb zu verbächtigen und fich 
zu entlaften. Wir felbft find zweifelhaft darüber, ob ſich 
ein Schulbig des Mordes nach den Acten begründen läßt. 
Szemeredy ift allein mit dem Mädchen gewejen. Als fie 
fterbend oder fchon tobt auf dem Boden lag, hat er bie 
Stube und das Haus eilends verlaffen und fich nicht 
einmal die Zeit genommen, Rod und Weite anzuziehen 
und ben Hut aufzufegen. Er muß in ber größten Be- 
ſtürzung gehandelt und ven Kopf völlig verloren gehabt 
haben, fonft hätte er daran denken müflen, daß er ba- 
durch den jchwerften Verdacht auf fich zog und ben Be⸗ 
hörten bie wichtigften Beweiſe feiner Schuld, die Kleider, 
jeldft auslieferte. Wenn feine Hände rein waren vom 
Blute des unglücklichen Mädchens, wenn Caftagnet ben 
Dolchſtoß geführt Hatte, fo ift Szemeredy's Verhalten 
nicht zu erflären, benn er war bann nur Zeuge bes 
Mordes. Er mochte erfchroden fein über bie raſche und 


nah altfpanifhdem Berfahren. 103 


abſcheuliche That, aber einen vernünftigen Grunb, ohne 
Rod und Wefte davonzulaufen, hatte er nicht. Das 
Benehmen Szemeredy's läßt viel eher darauf ſchließen, 
daß ihn die Angft und das Schuldbewußtſein fortgetrieben 
haben von ber Leiche. Wir begreifen, baß ber Mörber 
wie von Furien gejagt die Flucht ergreift, ohne erft Rod 
und Wefte anzuziehen, weil ihm graut vor dem, was er 
gethan Hat. 

Nehmen wir hinzu, daß Szemerevy im Hotel bie 
Tadel von dem an ihm verübten Raubanfalle erzählt und 
unter Zurücklaſſung feiner Cffecten noch in berjelben 
Stimde Buenos-Ayres verläßt, fo beftärkt uns bies in 
dem Glauben, daß er den Tod bed Mädchens auf dem 
Gewiſſen Hat. Wir wiederholen, fo wie er gehanbelt hat, 
handelt der Mörder, aber nicht der unfchulvige Zeuge 
eines Mordes. Die Scheide des Dolchmeſſers und fein 
bintbeflecktes Taſchentuch Hat man in feinem Rode gefun- 
ven. Der Bertheibiger hat fich große Mühe gegeben, 
barzuthun, daß Caftagnet in feiner teuflifchen Bosheit 
biefe ftummen Anfläger in die Rocktaſchen Szemeredy's 
prafticirt habe. Aber feine Conſtruction ift zu künstlich, 
um glaubhaft zu fein. Die nächftliegende Annahme ift 
boch, daß die Scheide bes Dolchmeflere dem Eigenthümer 
bes Rockes gehört und daß das Zafchentuch nicht erft 
hinterbrein von Caftagnet in das Blut getaucht, ſondern 
von Szemeredy bei ver Verübung des Mordes mit Blut 
befleckkt worden iſt. Wir laffen vorerft das Zeugniß 
Caftagnet's ganz beifeite und gewinnen auch ohne feine 
Angaben tie Ueberzeugung, daß Szemeredy das Blut bes 
Mädchens vergoffen hat. Hätten wir ja noch einen Zwei- 
fel, fo ſchwindet verfelbe durch eine fehr wichtige That⸗ 
ſache, die vom Staatsanwalt und vielleicht auch vom 
Gerichtshof überjehen worben ift. Baptiſte Caſtagnet ift 


104 Ein Eriminalproceß aus Südamerila 


nad den Acten niemals zugegen geweien, wenn Karoline 
Met den Beſuch eines Mannes empfing. Sie pflegte 
nach dem Kintritt ihres Gaftes die Thür ber Stube zu- 
zufchließen, weil fie nicht überrafcht werben wollte. Das 
ift jeher natürlich, fie wußte ja, was die Männer von ihr 
begehrten, unb fie wußte auch, daß britte Perſonen babei 
nicht zugegen fein Tonnten. Als Szemeredy fie befuchte, 
bat fie gewiß ihre Thür abgeichloffen, dann hat er, wie 
wir wiffen, ven Rock und die Wefte, fie aber hat alle 
Kleider bis auf das Hemd ausgezogen, und fie haben jich 
beibe ind Bett gelegt. Caſtagnet hielt fich inzwijchen in 
ber Kammer nebenan auf, deren Thür jeboch nicht von 
ber Kammer, fondern nur von der Stube Karolinend aus 
geöffnet werten konnte. Wir fragen nun, auf weldhe 
Weife ift Eaftagnet in das Zimmer gefommen? Die Bei- 
ven Thüren waren veriperrt, und aufgefchloffen hat man 
ihm von innen nit. Es ift deshalb die Behauptung 
Szemeredy's, daß Eaftagnet, al8 er mit der Karoline über 
ben ihm entwendeten und in ihrem Beſitze gefundenen 
Ringe ſprach, plöglic im Zimmer erjchienen jet, völlig 
unglaubwürdig. Szemereby ift vielmehr ganz allein mit 
ber Dirne gewefen, bis fie die Todeswunde empfing umb 
im Sterben auf der Erde lag. Dann erſt bat er bie 
Thür aufgefhloffen und iſt an Caftagnet vorüber aus 
bem Haufe geftürzt. 

Wir räumen dem Vertheibiger ein, daß der Angeflagte 
ben Entſchluß, das Mäpchen zu töbten, nicht fchon damals 
gefaßt Hat, als er das Hötelsbe-Rome verließ, um ihr 
einen Beſuch zu machen. Wir halten nicht blos für 
möglich, fonbern für wahrfcheinlich, daß er den Dolchftof 
infolge eines Wortwechſels in leidenfchaftlicher Aufwallung 
und nicht mit Vorbevacht und Weberlegung geführt hat, 
aber er und nicht Caftagnet ift nach unferer Ueberzeugumg 


nach altfpanifhem Berfahren. 105 


ver Mann, von beffen Hand das Mädchen umgebracht 
worden tft. 

Der Vertheidiger macht geltend, Szemeredy habe nicht 
ben minbeften Grund gehabt, der Dirne das Leben zu 
nehmen, und weil e8 an jedem Motiv für das Ver⸗ 
brechen fehle, müſſe er freigefprochen werben. Es ift zu- 
zugeben, daß ein Beweggrund und ein Intereſſe nicht 
nachgewiefen ift, deshalb wird man aber ben Klaren Be⸗ 
weilen gegenüber bie Thäterichaft nicht leugnen Dürfen, 
jonden nur zu Gunften des Angellagten annehmen 
müflen, daß er im Affect gehanbelt habe. 

Der Vertheidiger bat auszuführen verfucht, Baptifte 
Caſtagnet fei der Mörder, denn er fei von Karoline Metz 
bes Diebftahl® an dem Ringe beichulpigt und dadurch fo 
gereizt worben, daß er fie in ber Wuth erboldht habe. 
Diefe Schlußfolgerung Halten wir für jehr gewagt, denn 
ed ift eine recht wenig glaubwürbige Gejchichte, daß Sze- 
mereby feinen Ring bei dem Mädchen im Kaſten ber 
Schublade gefunden Haben will. Der Angellagte ift ein 
Lügner. AS er am Abend des 25. Yuli 1876 in das 
Hotel⸗de⸗Rome zurückkehrte, fpiegelte er ven Leuten vor, 
er jet angefallen und des Nodes beraubt worden. Wer 
einmal Lügt, dem glaubt man nicht, es ift daher fehr gut 
möglich, daß er auch den Diebftahl des Geldes und der 
Ringe im Hötel-de-Provence erfunden hat. Da feftfteht, 
daß man die goldene Uhr und Kette des Majors Jerez, 
die aus dem Hötelede-Rome gejtohlen wurden, in feiner 
Weite entdeckt hat, find wir fehr geneigt, anzunehmen, 
daß er fabelte, als er angab, es feien ihm Ringe im 
Hötel-desProvence weggelommen und einen davon habe er 
bei Karoline Metz entvedt. Aber felbft wenn die Tegtere 
ihren Zuhälter dadurch erzürnt haben follte, daß fie ber 
hanptete, ven fraglichen Ring von ihm geſchenkt befommen 


106 Ein Eriminalproceh aus Sübamerila 


zu haben, fo war dies doch für Eaftagnet noch Fein zu⸗ 
reichender Grund, das Mädchen abzufchladhten. Sie theilte 
den Ertrag ihres Gewerbes mit ihm und trug die Koften 
bes gemeinfchaftlichen Hausſtandes, Caftagnet hätte fich 
felbft den größten Schaben zugefügt, wenn er ihr bas 
Leben nahm. 

Was aus jenem Ninge geworben ift, wiffen wir leider 
nit. Es wäre Die Pflicht des Unterſuchungsrichters ge⸗ 
weien, diefen Ring beizuziehen unb feftzuitellen, ob er 
wirklich dem Angeklagten gehörte oder nicht. Das würbe 
zur Aufflärung der Sache nicht unweſentlich beigetragen 
baben. 

Auf die beiden Briefe an den Polizeipräfidenten legen 
wir feinen fonderlichen Werth. Wir haben ſelbſt vielfach 
bie Erfahrung gemacht, wie trügerifch die Schriftenner- 
gleichung als Beweismittel im Criminalproceß ift, und 
es ſcheinen und überwiegende innere Gründe dagegen zu 
Iprechen, daß Szemeredy diefe Briefe verfaßt hat. 

Auch das angebliche außergerichtliche Geſtändniß, wel⸗ 
bed Szemeredy dem Feldwebel Navarro auf der Ueber: 
fahrt nah Buenos⸗Ayres abgelegt haben fol, hat unfers 
Erachtens nur geringen Werth, weil es wol möglich ift, 
daß Szemeredy vom Tode des Mädchens und ber gegen 
ihn deshalb anhängigen Unterfuchung gefprochen hat und 
von dem Polizeibeamten misverftanden worden ift. Die 
Aussagen des Steuermanns O'Connor und des Matrofen 
Lane machen dies fogar wahrfcheinlich. Allein wir können, 
wie wir fchon fagten, das außergerichtliche Geftäntniß, 
bie beiden Briefe und fogar die Ausfage Caſtagnet's ent- 
behren und kommen doch auf Grund deſſen, was ber An- 
geflagte felbft vor Gericht ausgejagt hat, in Verbindung 
mit allem, was über den Befund an Ort und Stelle 
und bie Ereigniffe vor, bei und nach dem Beſuche Sze- 








nah altfpanifhem Verfahren. 107 


mereby’S im Haufe der Karoline Met feftgeftellt worden 
if, bazu, ben Angeklagten für überführt und fchultig zu 
halten, nicht des vorbedachten Mordes, fondern bes 
im Affect begangenen Todtſchlags. Und weil wir 
biefer Meinung find, erachten wir ihn auch fchuldig, bie 
Uhr und die Kette geftohlen zu haben. 

Der Gerichtshof in Buenos» Ayres hat anders ent- 
ſchieden. Es fcheint uns, als hätten die Nichter etwa 
folgende Erwägungen angeftellt: Alois Szemeredy iſt ein 
anrüchiger Patron. Es ift höchſt wahrfcheinlich, daß er 
die Karoline Met ermorbet hat, aber voller Beweis 
iſt nach der einmal gefeglich geltenden Beweistheorie am 
Ende doch nicht erbracht, weil der Hauptzeuge YBaptifte 
Caſtagnet ein Schlechtes Subject ift, Wahres und Falfches 
andgefagt hat und dem Angeklagten nicht gegenübergeftelit 
werben kann. Es iſt deshalb ein Mittelweg einzufchlagen, 
man fpricht ihn frei von dem Morde und verurtheilt ihn 
wegen Diebftahle. Der Mann hat bereit8 vier Sabre 
als Unterfuchungsgefangener im Kerker gejeffen und wol 
auch Todesangft ausgeftanden, weil er in erfter Inftanz 
zum Tode verurtheilt worben tft. Das kann als eine 
ausreichende Buße für den Diebftahl an Uhr und Kette 
angefehen werben, und jo ſoll ihm bie Unterfuchungshaft 
als Strafe angerechnet werben. 

Diefer Ideengang wiirde dem Ideal ber Rechtspflege 
Allerdings nicht entfprechen, aber doch entſchuldbar fein 
in einem Lande, wo die veralteten Formen bes fchrift- 
Üihen Inquifitionsproceffes ven Nichter in eine Zwangs- 
Inge verſetzen und ihm hindern, nach feiner freien Ueber⸗ 
zeugung das Recht zu finden. 





108 Ein Eriminalproceß aus Südamerika 


Das Urtheil des Gerichts rief in Buenos-Ayres große 
Aufregung hervor. Es bildeten fi) Parteien nicht ges 
rade für und wider den Angeklagten, aber für und wider 
jeinen Vertheibiger. Während bie einen bem Dr. Do- 
maſo Centeno einen Fadelzug Bringen wollten, hatten bie 
andern nicht übel Luft, ihm die Fenſter einzumwerfen. 
Dr. Centeno war dankbar dafür, daß der Proceß Sze- 
meredy ihm eine große Popularität und Kundſchaft ver- 
ſchaffte. Er ftellte deshalb feinen Clienten als Schreiber 
in feiner Kanzlei an. 

Aber der Angeflagte gefiel fich nicht mehr in Buenos⸗ 
Ayres, er zog e8 vor, die alte Heimat aufzufuchen, und 
jhiffte fich bald darauf nach Europa ein. Im Jahre 1882 
finden wir ihn in feiner Vaterftabt Budapeft. Dort kam 
er fofort in unliebfame Berührung mit ben Militärbehör- 
ben. Er hatte im k. k. Infanterieregiment Feldmarſchall⸗ 
lieutenant von Stubenrauch, Nr. 86, als Gefreiter gebient 
und war befertirt. Man forfchte nach, was er getrieben habe, 
und es tauchten fehr böſe Gerüchte auf. Er follte ſich ohne 
jedes Recht dort für einen ungarischen Arzt ausgegeben 
und in Amerika im Dienfte von ungebuldigen Erben mehr- 
fach reihe Erbonkel zu Tode curirt haben. Es hieß fogar, 
er jet von Hacienda zu Hacienda gezogen und eine lange 
Reihe von Grabfteinen bezeichne feinen Weg freuz und 
quer durch Südamerika. 

Am 30. März 1882 wurde er als Deferteur verhaf⸗ 
tet und der Oberftlieutenant-Aubitor, Yuftizreferent bes 
4. Armeecorps, leitete eine Criminalunterfuchung wiber 
ihn ein. 

Szemeredy mochte fühlen, daß europäifchen Gerichten 
gegenüber eine andere Taktik räthlich fei — er wurde 
irrfinnig. Er gab an, daß er ſchon in jungen Sahren 
an Gehirnkrankheiten gelitten hätte, und bekam plößlich 


nad altfpanifhem Berfahren. 109 


Anfälle von Wahnfinn. Der militärifche Unterfuchungs- 
rihter ſchenkte ihm feinen Glauben, hielt fich aber für 
verpflichtet, ihn auf das Beobachtungszimmer bes Garni- 
ſonlazareths Bringen zu laffen. Die Aerzte behandelten 
ihn und erklärten ihn für verrüdt. Nun wurbe bie Unter. 
ſuchung eingeftellt, Szemerevy aus dem Milttärverbande 
entlaffen und an die Lanbes-Irrenanftalt in Budapeſt 
abgegeben. 

AS Dies gefchehen war, fchritten Szemeredy's Ver⸗ 
wandte ein, fie erboten fich, ven Kranken auf ihre Koften 
in Privatpflege zu übernehmen. Die Direction ber 
Landes⸗Irrenanſtalt gewährte ihr Gefuh. Szemeredy 
war noch nicht lange in der Dbhut und dem Gewahrjam 
jeiner Familie, da trat er mit der Behauptung auf, daß 
er wieber genefen und feiner Sinne mächtig fei. Mean 
bezweifelte e8, aber er drohte, einen Proceß anzufangen, 
und e8 fanden fich Aerzte, die ihm das Zeugniß völliger 
geiftiger Geſundheit ausftellten. Infolge beffen hörte bie 
Ueberwachung durch feine Verwandten auf, er war wieber 
jein eigener Herr und ein freier Mann. 


Zu Anfang des Jahres 1886 kam ber Schreiber 
dieſer Zeilen nach Bubapeft. Er hatte die Acten des in 
Buenos⸗Ayres geführten Procefjes gründlich ftupirt und 
ſuchte nun den Helden des Dramas auf, um feine per 
ſönliche Belanntichaft zu machen. Die Herren von ber 
Rebaction des „Egyetertes”, einer großen ungarifchen Zei⸗ 
fung, waren fo gütig, eine Zufammenfunft zu vermitteln. 
Alois Szemeredy fand fich zu einer Beſprechung mit ven 
Redactenren im Bureau ein. Er brachte eine Rolle be- 
drudten Papiers mit. Es waren Zeitungsausfchnitte 





I 


110 Ein Eriminalproceß aus Südamerifa n. f. w. 


aus Buenos⸗Ayres, bie er aneinanbergereibt und in ber 
Art „unendlichen Papiers“ zuſammengeklebt hatte. Es 
war ber Bericht über feinen Proceß, fein Kapital. Er 
wollte feine Lebensgefchichte, feine „Memoiren“ an das 
Feuilleton einer vielgelefenen Zeitung verlaufen und hatte 
bazu ben „Igyetertes” auserlefen. Das Gejchäft kam 
jedoch nicht zu Stande, es fcheint, daß Szemereby feine 
Vorberung überfpannte oder daß die Uebertragung aus 
ber caftilianifchen in die maghariiche Mundart zu großen 
Schwierigkeiten begegnete. Ich war zu biscret, um mich 
danach zu erkundigen. 

Szemereby wurbe mir vorgeftellt: ein hagerer, hoch» 
gewachſener, ſchlanker Mann, dem Ausfehen nad etiva 
45 Jahre alt. Gebräunte, gefunde Gefichtefarbe. Brau⸗ 
nes, fchlichtes Haar, ein ftarfer Schnurrbart von jeltener 
Schönheit, der den Mund völlig bedeckte. Sinmliche 
Lippen, Heine, unftete Augen. Große, fehnige, wohlgebil- 
bete Hände. Beſondere Kennzeichen: ein nach Art ber 
Uniform bis an den Hals zugefnöpfter anliegender Rod. 

Er erzählte mir, die Unthätigfeit und der Mangel 
eines Berufs feien ihm unerträglich, er könne es nicht 
mehr aushalten und denke ernftlich daran, wieder hinüber- 
zufchiffen nach Amerika. Vielleicht eröffne ſich ihm aber 
auch eine andere Ausficht, es vege fich gewaltig in ben 
Pyrenäen, er babe große Luft, fich zu den Karliften zu 
begeben und ihnen feine Dienfte anzubieten. 

Diefe meine Begegnung mit dem Manne, mit beffen 
Proceß ich mich jo eingehend beichäftigt hatte, war mir 
von großem Intereſſe. 


Eifenbahn- und Pofränber in Nordamerika. 
Ein Meifterftüd ameritanifdher Detectivs, 


1886 bis 1887. 


Am 25. October 1886 dampfte in fpäter Abend⸗ 
ftunde der fahrplanmäßige Eilzug der Saint-Louis und 
San-Francisco verbindenden Eijenbahn von Saint⸗Louis 
nah dem Weften ab. Zum erften mal wurbe an ber 
Station Pacific Kreuzung, 36 engliſche Meilen, alfo etwa 
58 Kilometer von Saint⸗Louis, gehalten. ‘Die Stations- 
beamten bemerften, daß die Thür des ver Adams-Erpreß- 
Company) gehörigen Poftwwagens offen ftand. Sie be- 
gaben fich hinein in den Wagen und fanden bafelbft vie 
eiſernen Kaffenfchränke geöffnet und ihres Foftbaren In⸗ 
halte beraubt. Die Werthpapiere, eine Anzahl von Dia- 
manten und 82000 Dollars in baarem Gelde waren ver- 
ſchwunden. 

Der dienſtthuende Poſtbeamte David S. Fothering⸗ 
ham lag in einer Ede des Wogens am Boden, an Hän- 
ben und Füßen gebunden und einen Knebel im Munde, 
jodaß er fich nicht rühren und feinen Laut von fich geben 
tonnte. Als man die Stride zerjchnitten und ihn befreit 


112 Eifenbahns und Pofträuber in Norbamerila. 


hatte, gab er zu vernehmen: Unmittelbar vor ver Abfahrt 
bes Zuges von Saint-Louis habe fih ein ihm völlig 
unbefannter Menſch eingefunden und ihm eine fchriftliche 
Weifung feines unmittelbaren Vorgefetten, des Streden- 
auffehers Mir. Barnett, übergeben, die dahin lautete, der 
Ueberbringer fet ein neuer Beamter der Adams⸗Expreß⸗ 
Company, welcher den Manipulationspienft lernen folle. 
Mr. Fotheringbam habe ihm ben Zutritt in den Poſt⸗ 
wagen zu geftatten und ihn mit ven bienftlichen Einrich- 
tungen und dem Geichäftsgange befannt zu machen. 

Dieſe plötzliche Einführung eines Collegen jet ihm 
allerdings auffallend geweſen, aber er habe fi) für ver- 
pflichtet gehalten, der ganz bejtimmten fchriftlichen Ordre 
nachzukommen, und dem Unbekannten fogar noch beim 
Einfteigen geholfen. Der letztere habe, kurz nachbem der Zug 
bie Bahnhofshalle in Saint-Louis verlaffen hatte, einen 
Nevolver gezogen und ihn mit dem Tode bebroht. Er 
jet in höchftem Grade erjchroden gewejen, von dem jehr 
fräftigen Manne zu Boben geworfen, gebunden und ge- 
nebelt worden. Der. Räuber habe ſodann feine Taſchen 
durchſucht, die Schlüffel herausgenommen, die Kaffen- 
ſchränke geöffnet und beraubt, vor dem Einfahren in das 
Stationsgebäude aber, als ber Locomotivführer bremſte 
und der Zug langfam fuhr, fet ver Menſch abgejprungen 
und vermuthlich ſehr raſch in der Dunkelheit verſchwunden. 

Der mit fo großer Unverfchämtheit und Verwegenheit 
verübte Raubanfall erregte felbft unter der an berartige 
Verbrechen ziemlich gewöhnten Bevölkerung von Saint⸗ 
Louis allgemeines Aufſehen. 

Der nächſte Verdacht richtete ſich wider den Poſt⸗ 
beamten Fotheringham, deſſen Bericht über den Vorgang 
mit begreiflichem Mistrauen aufgenommen wurde. Man 
bezichtigte ihn des Einverjtändniffes mit dem Räuber, er 


Eiſenbahn- unb Bofräuber in Nordamerika. 113 


wurbe verhaftet. Die Adams⸗Expreß⸗Companh, welche 
in den Bereinigten Staaten von Nordamerika ben pofta- 
liſchen Verkehr von Werthſendungen vermittelt, war ben 
Abſendern verantwortlich für den entitandenen Schaden 
und leiftete vollen Erſatz. Die Gefellichaft Hatte wegen 
des großen Verluftes, den fie erlitt, ein ftarfes Intereffe 
daran, ben Verbrecher zu entdecken und ihm womöglich 
vie Beute wieder abzunehmen. Sie beichloß deshalb, 
anf ihre Koften eine Unterſuchung einleiten zu laffen. 

Verſchiedene Detectiv-Eompagnien beiwarben fi um 
die Ehre, mit der Entvedung und Verhaftung ber Räuber 
beauftragt zu werben. Die Wahl fiel auf die Pinferton- 
National Detectiv- Agentur in Chicago. Diefe den Lejern 
ded „Neuen Pitaval“ bereit befannte, vorzüglich organi— 
firte Agentur hat das in fie geſetzte Vertrauen gerecht: 
jertigt. In ber Zeit von ungefähr zwei Monaten bat fie 
bie fünf Theilnehmer an dem Eifenbahnraub ermittelt, bie 
zu ihrer Ueberführung erforderlichen Beweife gefammelt, 
fie ſämmtlich feftgenommen und fogar ven größten Theil des 
Raubes wieder berbeigeichafft. 

Die Detectivs begannen ihre Thätigkeit damit, alle 
Eiſenbahnlinien, die in die Pacific-Kreuzung einmünden, 
zu begehen und Nachfrage zu halten, ob ein Individuum 
geſehen worden wäre, welches nach der übrigens ſehr un⸗ 
beſtimmten Perſonalbeſchreibung, die Fotheringham gegeben 
hatte, mit dem Räuber identiſch ſein könnte. Dieſe Nach— 
forſchungen führten zu keinem Reſultat, es mußte ein an⸗ 
derer Weg eingeſchlagen werden, um zum Ziel zu ge 
angen. 

Nach der Art und Weife, wie der Raub ausgeführt 
worden war, mußte man annehmen, daß der oder die Räuber 
genaue Kenntniß von dem Manipulationsdienſt auf dieſer 
Eiſenbahnſtrecke hatte. Die Detectivs fragten daher zunächſt 

XI. 8 


114 Eifenbahn- uud Bofräuber in Norbamerika. 


bei ber Erpreß-Eompany an, ob und wer etwa vou ben 
Boftbeamten in ver legten Zeit aus dem Dienft entinffen 
worden fei. Sie erfuhren, daß die Company den Bor- 
gänger Fotheringham's auf der betreffenden Strede, einen 
gewiſſen William Haight, neun Monate vor bem 
ränberifchen Ueberfall wegen des Berdachts einer Ber- 
Antreuung Knall und Ball weggeſchickt habe. 

Fotheringham und Haight waren perföuluh miteinander 
befannt gewejen, hatten aber nicht in einem näheres oder 
gar freundichaftlichen Verhältniß geftanden. Man fchloß 
daraus, Willtam Haight möchte vielleicht den Raub ges 
plant, aber nicht ſelbſt ausgeführt haben, weil Fothering⸗ 
ham ihn fofort erfennen mußte. 

Niemand wußte, was ans William Haight geworben 
war, wohin er fich gewendet hatte. Aber die Detectins 
fanden feine Spur und brachten heraus, daß er m Chi⸗ 
cago wohnte. Haight biente bafeldft als Kutſcher bei 
einem Landsmann, Friedrich Witrod, ver gleich ihm 
aus Lenvenworth in Kauſas ftammte und in Chicago 
einen Kohlenhandel betrieb. 

Es wurbe feftgeftellt, daß William Haight zur Zeit 
des Raubanfalls im Chicago geweſen war. Er felbft 
hatte alfo das Verbrechen nicht verübt. 

Während diefes Beweismaterial mit großer Mübe 
zuſammengebracht wurbe, trat ein Zwiſchenfall ein, ber 
Zeugniß ablegte von der höhnifchen Dreiftigleit des 
Räubers, ein echtes Yankee⸗Stückchen. 

Die Zeitungen brachten täglich Berichte Aber den 
NRaubanfall und die muthmaflichen Räuber, für beven 
Entdeckung ſich jedermann intereffirte. Auch einer von 
ben Verbrechern felbft, ver literariſche Neigungen beſaß, 
fand ſich veranlaßt, in ben Tagesblättern als Mitarbeiter 
aufzutreten. An mehrere bervorragende Sournale von 


Gifenbahn- und Pofträuber in Norbamerifa. 115 


Saint-Louis gelangten in kurzen Zwiſchenräumen mehr 
ober münber ausführliche mit Jim⸗Cummings“ ynter- 
zeichnete Briefe, in benen verfichert wurde: der Poſt⸗ 
beamte Fotheriugham fei ganz unſchuldig und ber wirf- 
liche Dieb an einem fichern Ort geborgen und im un⸗ 
geftörten Genuſſe des geraubten Geldes. Wir bemerken, 
daß „Jim⸗Cummings“ der typiſch geworbene Name eines 
Freibeuters ift, ber durch jeine Verbrechen vor etlichen 
Jahren eine belaunte volksthümliche Perjönlichkeit war, 
ih aber Später gebeſſert und zur Ruhe gejegt bat. Zum 
Deweile dafür, daB ber Briefichreiber ſehr gut unterrichtet 
jei, wurben bie Verjtede angegeben, in benen man etliche 
von ben geftohlenen Documenten, bie für den Eigenthümer, 
aber nicht für den Dieb Werth hatten, finben werbe. 

Dieſe literariſche Thätigkeit wurde für ven Ränber 
verhängnißvoll. Es gelang ben Detectivs, den Schrift 
fteller zu entlarven. 

Am 31. October, jechs Zage nach dem Naube, ge- 
langte der erfte „Sim-Eummings-Brief‘ au den „Globe 
Democrat” in Saint⸗Louis. Derjelbe trug den Poſtſtempel 
Saint⸗Joſeph, einer Heinen Stabt an ber weftlichen Grenze 
des Staats Miſſouri, unweit Kanſas⸗Cith. Der Brief 
verſicherte, Fotheringham ſei nicht betheiligt bei dem Ver⸗ 
brechen, der Briefſchreiber ſei der Dieb und rühme ſich 
der That nicht etwa blos aus Großmannsſucht. Zu ſei⸗ 
ner Legitimation führte er an, er babe im Wartefanl 
ber Station ber Union⸗Eiſenbahngeſellſchaft in Saint⸗Louis 
ein Packet mit Effecten zurüdgelafien, welches man in 
einem genau angegebenen Verſtecke finden werde. Das 
Padet Iag an bem bezeichneten Drte, es enthielt Hemben 
und andere Wäfcheftüce, einige Liever im Manufcript, 
aber von anderer Hand gefchrieben als ver Brief, und eine 
gedruckte Ballade. Auf der Rüchkſeite ver letztern in ber 

8* 





116 Eifenbabn- und Pofträuber in Norbamerila, 


Ede waren mit Bleiſtift Schriftzüge bemerkbar, bie jeboch 
mit freiem Auge nicht entziffert werden fonnten. Mit 
Hülfe eines ſtarken DVergrößerungsglafes ergab fich bie 
Adreſſe des Haufes Nr. 2108 in der Kaftanienallee zu 
Saint⸗Louis. Die Schrift fchien von ber Hand bes 
Schreibers des „Jim⸗Cummings-Briefs“ berzurühren. 

Detectivs begaben fich in das betreffende Haus. Kine 
ältere Frau mit fcharfgefchnittenen Zügen und Mugen 
Augen öffnete die Thür und rebete bie Polizeibeamten, 
ohne ihre etwaigen Fragen abzuwarten, mit den Worten 
an: „Ach, ich kann es mir fchon denken, was Ste wollen. 
Sie fommen, um fi nach zwei Männern zu erkundigen, 
bie hier gewohnt haben. Mir waren fie gleich verdächtig.“ 
Die Detective erwiberten, ihre Vermuthung fei richtig, 
und baten um eine genaue Perfonalbefchreibun. Mrs. 
Berry, die Hauswirthin, entiprach dieſem Anjuchen fofort 
und erzählte: „Am 18. October mietheten fich zwei Männer 
ein, am 22. October reifte der eine ab mit der von Saint- 
Louis nad San-Francisco gehenden Eifenbahn, angeblich 
nah Kanſas⸗City. Der andere, ber ſich Williams nannte, 
blieb noch da. Er fagte, er erwarte noch wichtige Briefe. 
In ber That kam auch ein Brief, Williams las denſelben 
und theilte mir mit, er müſſe fofort nach Kanfas-City 
abfahren. Am 25. October — bem fritiihen Tage — 
verließ er abendE das Haus. Er führte einen Reifefad 
bei ſich.“ 

Das Zimmer, in welchem bie beiven Männer gewohnt 
batten, wurbe durchſucht. Es war leer, indeß fand man 
darin eine leere Medicinflafche mit der Firma eines be- 
nachbarten Apothekers und bie Viſitenkarte eines befann- 
ten Arztes in Saint-Lounis. Der Apotheker und ver 
Arzt erinnerten fich des Mannes, dem die Arznei ver- 
ichrieben worben war, ihre Angaben über bie Größe, bie 


Eiſenbahn- und Poſträuber in Norbamerifa. 117 


Kleidung und das Ausfehen bes Fremden ftimmten über- 
ein mit benen ber Frau Berry. 

Ein Locomotivführer der Saint⸗Louis⸗ und San⸗Fran⸗ 
cisco⸗Eiſenbahngeſellſchaft, Sohnfon, deffen Locomotive am 
Abend des 25. October vor der Abfahrt des Eilzugs in 
der Halle des Stationsgebäudes von Saint⸗Louis auf 
einem Nebengleife, gegenüber dem unter der Obhut Fothe⸗ 
ringham's ſtehenden Boftwagen, gehalten Hatte, melbete 
fih freiwillig zu einer Ausfage. Er gab an: „Unmittel- 
bar vor der Abfahrt des Eilzugs fam von ber zur Auf- 
nahme des Publikums entgegengefetten Seite her ein 
Mann in größter Eile herbeigelaufen, warf einen Reife: 
jad in den Poftiwagen ver Erpreß-Company und fchwang 
N mit Hülfe des Poftbeamten noch hinein, als der Zug 
fih in Bewegung fette. Ich Hatte ver Sache anfänglich 
feine weitere Bedeutung beigelegt und erinnerte mich erſt 
wieder daran, weil.ich ben Iim-Cummings-Brief in ber 
Zeitung las. Ich hielt mich für verpflichtet, meine Wahr- 
nehbmung mitzutbeilen, weil daraus hervorgeht, daß ber 
Poftbeamte bei der Abfahrt des Zugs nicht allein in 
feinem Wagen gewejen tft.” 

Johnſon befchrieb den Reiſeſack des Fremden, und es 
ergab fich daraus, daß e8 ber Reiſeſack geweſen war, ben 
der Bewohner des Haufes Nr. 2108 bei fich getragen 
hatte, als er ſich zur Eifenbahn begab. 

Die Detectivs nahmen nochmals eine gründliche Unter- 
uhımg des Zimmers vor, in welchem „Williams und 
jein Genoffe gewohnt Hatten. 

Als der Stubenteppich aufgenommen wurbe, fanben 
Ne unter demſelben das abgeriffene Stüd einer Begleit⸗ 
adreſſe für ein Eilfrachtſtück. Ein Heine Stegel auf 
grünem Lad war aufgebrüdt und das Siegel glich auf 
ein Haar dem Siegel, welches ven „Sim-Cummings-Brief” 


118 Eiſenbahn- und Pofträuber in Nordamerika, 


atı ven „Globe Democrat” verſchloſſen hatte. Eine furgfäl= 
tige Befichtigung bes Adreſſenfragments bewies, daß es 
von einer Eilftachtſendung herrührte, die wenige Tage 
vorher vott Samt-Charles am Mifſouri Aber die Pacific⸗ 
Krenziing nad Saint⸗Louis abgegangen war. 

Die Bücher und Regifter der Erpreß-Company wur- 
ben aufmerkſam durchgeſehen, fie bewieſen, daß bie Be- 
gleitabdreſſe an zwei Reiſeſäcken befeftigt geweſen war. 
Dieſe Reiſeſäcke gehörten offenbar den in dem Hauſe der 
Kaſtanienallee zu Saint⸗Louis wohnenden beiden Männern. 

Dieſe verſchiedenen, allerdings noch ſchwachen Spuren 
wurden die Ausgangspunkte für weitere Combinationen 
und Entdeckungen. 

Die Detectivs zogen daraus den Schluß: Der eine 
von ben beiden verdächtigen unbekannten Männern, wel⸗ 
her am 22. October das Hans verlieh, habe ven Eilzug 
nach San-Frandsco nur ein Stück begleiten wollen, nın 
das Terrain zu ſondiren. Er habe feinen Genoſſen brief- 
ih von fetten Beobachtungen und der Lage ber Dinge 
in Kenntniß geſetzt, dieſer ſei am 25. Detober abgereift 
und habe ven Raub ausgeführt. 

Andere Detectivs auf ber Fährte des entlaſſenen 
Boftbeamten Haight Hatten fein Thun und Treiber am» 
ablaͤſſig überwacht und ausgekundſchaftet, daß es ihm 
recht ſchlecht gegangen war, daß er in den dürftigſten 
Verhältniffen gelebt hatte. Erſt einen over zwei Tage 
nach dem Haube änderte ſich plöglich feine Lage. Er be⸗ 
zahlte einige dringende, Heine Schulven, reifte am 27. Oc 
tober von Chicago ab, nach dem Süben, wie er fagte 
nach Florida, und auch ſeine Frau verließ bald darauf die 
Stadt. 

Friebrich Witrock, ver Kohlenhandler, war zu der 
Zeit, da dieſe Nachforſchungen im Gange waren, nicht tt 








Eijenbabn- nnd PBofträuber in Norbamerila. 119 


ber Stabt anweiend. Er war am 12. October von Chi⸗ 
cago abgereift, zugleich mit ihm fein ihm befreundeter 
Nachbar, der Wäſcher Thomas Weaver, 

Jever von beiben hatte einen Reifefüd und eine Jagd⸗ 
flinte mitgenommen, um, wie fie fagten, in Arkanſas zu 
jagen. 

Weaver kehrte am 28. October nach Chicago allein 
zurück. Man erfımbigte fi nun nach Witrod. Sein 
Signalement machte es wahrfcheinlich, daß er mit dem 
Miethbewohner Williams in Saint⸗Louis identiſch fein 
möchte. 

Die Detectivs verfchafften ſich Proben von Witrock's 
Handfchrift, die Redaction des „Globe Democrat” ftellte 
ihnen bie ihr zugegangen „Jim⸗Cummings⸗Briefe“ zur 
Berfügung, um durch vereibigte Sachverftänbige eine Ver⸗ 
gleichung der Handichriften vornehmen zu lafien. 

In dem letzten jener Briefe, deffen Zwed wieberum 
war, Fotheringham's Unſchuld nachzumeiien, prahlte ber 
Schreiber damit, daß er alle ven Raub und feine Aus- 
führung betreffenben Umſtände enthüllen könne. 

Es hieß dann weiter: „In dem im Warteſaal des 
Stationsgebäudes von Saint-Lonis verftedt geweſenen 
Packet befinvet ſich ein unbefchriebener Briefbogen mit ber 
vergebrudten Firma der Adams-Erpreß-Company. Dies 
fer Briefbogen müffe doch der Polizei die Augen öffnen, 
denn auf einem gleichen Bogen fei bie gefälichte Ordre 
geichrieben geivejen,”welche ver Räuber dem Poſtbeamten 
porgezeigt babe, um Zutritt zu dem Poftwagen zu erhal- 
ten. Der Räuber babe ſich nach wollbrachter That von 
der Pacific-Krenzung an bie Ufer des Miffouri begeben 
und fei in der Nähe von Saint-Eharles in einem daſelbſt 
bereit gehaltenen Kahn ftromaufwärts gernbert.” 

Um die Richtigkeit diefer Angaben zu prüfen, verfüg- 








120 Eifenbahn- und Bofträuber in Nordamerika. 


ten fich die Detective nad Saint-Charles, und es gelang 
ihnen, folgende Thatfachen feftzuftellen: 

Am 14. October trafen in ber genannten Stabt zwei 
unbelunnte Männer, deren Signalement auf Witrod und 
Weaver paßte, ein, fie kauften einen Nachen und Vorrath 
bon Lebensmitteln für mehrere Tage und fuhren ſodann 
ftromaufwärts wieber weg. Bei der Ankunft in Saint- 
Charles führten fie zwei Reiſeſäcke mit ſich, die fle nicht 
mit in den Kahn nahmen, fondern mittel Bahn über 
bie Pacific- Kreuzung nach Saint-Routs endeten. ‘Der 
Nahen wurde etliche Wochen nach dem Raube, halb ver- 
graben im Sande, in einem Abflußloch des Deiffouri 
aufgefunden. 

Um dieſe verfchtebenen Fäden zu verinüpfen und 
Klarheit zu gewinnen, wurben Thomas Weaver und bie 
Kohlenniederlage Witrock's, die während feiner Abwefen- 
beit fein Schwager Eduard Kinney verwaltete, von 
Detectivs genau beobachtet. 

Andere Detectivs begaben ſich nach Leavenworth, um 
in der Heimat von William Haight und Friedrich Witrod 
Nachforſchungen anzuftellen. Die Mutter und die Schwe- 
fter Witrock's lebten fchon feit langer Zeit dort und er- 
freuten fi des beiten Rufs. Vor kurzem hatte fich bie 
Frau des Haight mit ihrem Kinde ebenfalls bort nieber- 
gelaffen. Ste ftand mit ihrem Manne in Briefwechfel. 
Man erfuhr dadurch feinen Aufenthalt und feine Adreſſe. 
Er lebte in Naſhville im Staate Tenneffee und betrieb 
bort das Gewerbe eines Dachdeckers. Auch Haight wurbe 
nun unter bie Aufficht von Detectivs geftellt. 

Frau Berry in der Kaftanienallee von Saint⸗Louis, 
bei welcher zwei Männer, vermuthlich Witrod und Weaver, 
vom 18. bis 25. October zur Miethe wohnten, hatte 
einen Sohn und eine Tochter. 


Eifenbahn- und Bofträuber in Nordamerika. 121 


Diefe reiften in Begleitung von Detective nach Chicago 
und erhielten Gelegenheit, ven Wäſcher Thomas Weaver 
zu ſehen. Sie erklärten beide mit völliger Beſtimmtheit, 
er fei der eine von jenen beiden Männern und zwar 
derjenige, welcher zuerft, nämlich am 22. October, mit ber 
nah San⸗Francisco gehenden Bahn abgereift jei. 

Das war ein entjcheivendes Zeugniß. Das Einver- 
ftänpniß zwifchen Haight, Witrod, Weaver und vielleicht 
auch Kinmey und ihre Betheiligung an dem Verbrechen 
ſchien jo ziemlich bewieſen zu fein. 

Dagegen waren bie ‘Detectivs zweifelhaft barüber, ob 
Fotheringham Mitſchuldiger fei oder nicht. Er war noch 
immer in Unterfuchungshaft, Haight, Weaver und Kinneh 
fanden unter ber polizeilichen Aufficht der Detectivs, 
und der Proceß vor Gericht hätte jeden Augenblick be- 
gumen können, aber der Hauptſchuldige Witrod war 
noch immer von Chicago abweſend und man kannte feinen 
Aufenthaltsort nicht, auch von dem geftohlenen Gut hatte 
man noch nichts entdeckt, deshalb wurde beichloffen, bie 
Rückkehr Witrock's abzuwarten. Er follte von ſelbſt ins 
Garn laufen, dann erſt wollte man die Falle jchließen 
und gerichtlich einfchreiten. 

Inzwiſchen arbeiteten die Polizeibeamten weiter, um 
Witrockss Spur aufzufinden. Er hatte, wie man erfuhr, 
einen vertrauten Iugenbfreund Namens Oskar Cook. 
Derielbe ftammte ebenfalls aus Leavenworth, wohnte in 
Lanſas⸗City und betrieb dort das Gewerbe eines Küfers. 
Cook lebte in ziemlich befcheivenen Verhältniſſen, fchien 
aber plößlich zu Gelde gefommen zu fein. Es verbrei- 
tete fich das Gerücht, daß er einen Treffer in ber Lotterie 
gewonnen babe. Die Detectivs fchöpften Verdacht und 
beobachteten fein Thun und Treiben. Dabei fiel ihnen 
auf, daß er oft Heine Keifen unternahm und daß, fo oft 

U 


123 Eiſenbahn- und Pofträuber in Nordamerika. 


er fih von Kanſas entfernte, ein Jim⸗Cumming⸗Brief“ 
bei einer Zeitung in Saint-Lomis einging, Bon ihm 
ſelbſt rührten die Briefe, wie eine Bergleichung ber Hand⸗ 
ſchrift ergab, nicht her. Aber vielleicht ftanb er in per- 
ſoͤnlicher Verbindung mit Witrod und beforgte dieſe von 
bem letztern gefchriebenen Briefe. 

Ein Detectiv fuchte und machte feine Bekanutſchaft, 
er ſchloß fogar Freundſchaft mit Cook und brachte auch 
gelegentlich Das Geſpräch auf Witrod. Aber Cook ver- 
rieth nichts, der Verfuch, durch ihn von Witrod Näheres 
zu erfahren, mislang. 

Eine Unvorfichtigleit kam den ‘Detective zu Hülfe. 
Eduard Kinneh, der Schwager und gefchäftliche Repräfen- 
tant Witrod’8, machte eine kurze Gefchäftsreife von Chicago 
nach Ouinch in Illinois. Ein Detectiv folgte ihm bahin. 
In Quinch erhielt er ein Telegramm, welches ihn in eine 
gewiſſe Anfregung verfegte. Der Detectiv verfügte fi) 
jofort in das Telegraphenamt und verlangte, nachbem er 
fih als Polizeibeamter Tegitimirt hatte, die Mittheilung 
bes Telegramms. Es war in Chicago aufgegeben unb 
Inutete: 

„Komme gleich. Friedrich zurück. 
Rofa.” 

Kinney’s Schwefter, Rofa Witrod, rief ihn nach Chi⸗ 
cago, weil ihr Mann nach Chicago zurückgekehrt ſei. 

Witrock's Haus war unabläffig überwacht worden und 
man hatte gefehen, daß eines Abends im Halbounkel ein 
hochgewachſener Mann hineingegangen und von dba ab 
auch im Haufe geblieben war. 

Kinney fuhr eifig beim. Detective bemerkten, daß 
ex und Weaver vorfichtig in Witrod’8 Haus ſchlichen. 
Dichte Vorhänge, die fortwährend zugezogen waren, mach⸗ 
ten es unmöglich, von außen bie Perfonen und bie Vor⸗ 


Eifenbahn- und Pofträuber in Rorbamerifa. 123 


gänge inmerbalb der bewohnten Räume zu beobachten. 
Aber abends, wenn Licht angebrannt war, beivegten fich 
Schatten von Menfchen Hinter den Vorhängen. 

Endlich am Weihnachtsabend, als die Straße völlig 
menfchertleer war, traten drei Männer: Witrod, Weaver 
und Kirneh, mistrauiſch um fich ſpähend, aus dem Haufe 
und begaben fidh in eine nahe gelegene Weinftube. 

Jet war bie Frucht reif. Die Polizei wurde ver- 
ſtaͤnbdigt. Ste befete die Ausgänge, ein Commiffionär trat 
in Begleitung mehrerer Eonftabler ein und kündigte ben 
brei Männern an, daß fie verhaftet würben. Sie fetten ſich 
zur Wehr. Revolver wurben gezogen, Schüffe Trachten, 
aber es ging ohne fchwere Verlekungen ab. Die Bande 
wurde überwältigt nnd feftgenommen. Man ımterwarf alle 
drei einer genauen lörperlihen Viſttation. Witrod trug 
me 110 Dollars, Weaver eine ganz geringe Baarichaft bei 
fh. Kinney Hatte in feiner Bruſttaſche 1000 Dollars 
und in einer Gelbtafche um ben Leib gefdmalit 4000 
Dollars in Gold. 

Das Hans Witrock's wurde burchfucht, aber von Gelb 
ober Geldeswerth wer nichts zu entveden. Auch Frau 
Witrock mußte ſich trotz ihres Widerſpruchs vifitiren laſſen. 
Man fand in ihrem Unterrocke eingenäht 2000 Dollars, 
in Ihrem Eorfet 450 Dollars umb in dem Kiffen, wel⸗ 
ches fie als Tomrnüre trug, die ans dem Boftiwagen ges 
raubten Loftbaren Diamanten. 

In Weaver's Haufe in der Waſchküche waren in aus- 
geleerten Marmeladentöpfchen 3000 Dollars in Gold 
derfteckt. 

Auf telegraphiſche Ordre wurde Haight in Naſhville 
mb Cook in Kanſas⸗City verhaftet. Die Räuber waren 
bifgfeft gemacht. Die Bernehmung ber Angeſchuldigten 
beftätiyte die Gombinatton ver Detectivs in allen Stüden. 


124 Eiſenbahn- und Bofträuber in Nordamerika. 


William Haight, der frühere Poftbeamte auf jener 
Strede, mit dem Dienfte genau befannt, hat ben ver- 
brecheriichen Plan entworfen. 

Es lag ihm daran, die Unterſchrift des Mr. John D. 
Barnett, des Oberbeaumten der Adams-Erpreß-Compand, 
zu erhalten. Er fchrieb deshalb an ihn und trug ihm den 
Ankauf einer Erfindung an, die er gemacht haben wollte. 
Mr. Barnett Tehnte höflich ab und unterzeichnete bie 
Antwort, die auf einem Briefbogen mit ver vorgebrudten 
Firma ber Adams-Expreß⸗Company gejchrieben war. 
Haight benutzte diefen Bogen als Mufter und Tieß gleich- 
artige8 Briefpapter mit dem Vorbrud per Firma in 
Chicago anfertigen. Der Lithograph, welcher diefen Auf- 
trag ausführte, erfannte in William Haight den Dann, 
ber bie Beftellung gemacht hatte, wieder. Auf einen ſolchen 
Driefbegen ſchrieb Haight Die angebliche Ordre, mittelö deren 
ber Räuber fich den Zutritt zum Poftwagen verichaffen 
jolfte, und fälfchte die Unterjchrift des Mr. Barnett. 

Da er das Verbrechen nicht ſelbſt vollbringen konnte, 
weil er dem Boftbeamtenperfonal befannt war, zog er 
ven Kohlenhändler Witrod in das Vertrauen, und dieſer 
war ber eigentliche Thäter. Witrod reifte mit feinem 
Nachbar und Freunde Weaver nach Saint-Rouis, beide 
mietheten fich dort bei Frau Berry ein, Weaver befuhr 
von dort aus die Strede von Saint⸗Louis bis Pacific- 
Kreuzung allein, um zu controliren, ob die Angaben 
Haight’8 zuverläffig feien und ob ber Raub wirklich aus» 
geführt werben könne. Er benachrichtigte feinen Com⸗ 
plicen Witrod brieflih, daß Haight's Mittheilungen fich 
in allen Stüden beftätigt hätten, und nun ging Witrod 
ang Werl. Mit Hülfe ver falichen Ordre ſchmuggelte 
er fih in den Poſtwagen ein und verübte bort den Raub, 
nachdem er den Boftbeamten überfallen und geknebelt 


Eifenbahn- und Pofträuber in Norbamerifa. 125 


hatte. Bei der Station Pacific-Kreuzung ſprang Witrod 
ab und eilte nach Kanfas-Eity zu feinem Freunde Coof, 
ber ihn eine Zeit lang in feinem Haufe verbarg. Spä- 
ter wandte er fi nach dem Süden. Nach Berlauf von 
jwei Monaten bielt er fich für ficher und lehrte nad 
Chicago zurüd. Witrod hat von Kanſas⸗City aus bie 
„Sims Cummungs»Briefe” gefchrieben. Ob ihn dazu 
lebiglich die Langeweile oder ber Uebermuth getrieben hat, 
wiſſen wir nicht. Er hat diefe Briefe durch feinen Jugend⸗ 
freund Cook zur Poft befördern Taffen. Sein Schwager 
Kinney bat ebenjo wie Cook an dem Verbrechen nicht 
birecten Antbeil genommen, fondern nur den Verkehr 
zwiſchen Haigbt, Witrod und Weaver vermittelt. 

Wie die Beute getheilt wurde ift nicht genau ermittelt, 
aber Doch Folgendes feftgeftellt worden: 

Haight, der geiftige Urheber des Verbrechens, bat eine 
jehr anjehnlihe Summe von dem geraubten Gelde em- 
pfangen, fich indeß Hartnädig geweigert, barüber irgenb- 
etwas auszufagen. Es ift auch nicht gelungen, das Geld 
wieder berbeizufchaffen. 

Bei Witrod und feiner Frau wurden, wie wir wiſſen, 
2560 Dollars und die entwenbeten Diamanten gefunden. 
Später geftand er ein, im Haufe feiner Mutter in Leaven⸗ 
worth 20000 Dollars in Gold verftedt zu haben. Sie 
waren in einem Kiftchen im Gewächshauſe des Gartens 
an einem beftimmten Orte, den er genau bezeichnete, ver- 
graben. Seine Mutter, eine freuzbrave Frau, war außer 
fih, als fie von der Verhaftung ihres Sohnes Kenntniß 
erhielt, und theilte der Adams⸗Expreß⸗Company brieflich 
Folgendes mit: „Ende October 1886 kam Oskar Cook zu 
mir und erzählte, mein Sohn Habe fi in Chicago in 
eine Getreibefpeculation eingelaffen und dabei eine Menge 
Geld verdient, fei aber leider mit einem betrügerifchen 


126 Eijenbahn- und Bofträuber in Nordamerika. 


Agenten in Streit gelommen und babe diejen babei durch 
einen Schuß getöbtet. Er fei flüchtig geworben und laſſe mich 
bitten, ihm eine größere Summe Geld einftweilen aufs 
zuheben. Cook übergab mir das Geld, und einige Zeit 
darauf erſchien mein Sohn felbft eiumal bei Nacht und 
Nebel in meinem Haufe, beftätigte, was mir Cook mit- 
getheilt Hatte, und händigte mir wiederum Gelb ein, um 
bafjelbe in Verwahrung zu nehmen. Da ich nun weiß, 
woher das Geld rührt, beeile ich mich, bie gefammte 
Summe von 19000 Dollars, die mir von Cool und von 
meinem Sohne zugeftellt worben tft, der Adams⸗Expreß⸗ 
Company zurüdzufenden.” 

Ob Fotheringham wirklich durch dieſe gefäljchte Ordre 
Witrock's getäufcht und von biefem überfallen, oder ob 
ber Raub mit feiner Zuftimmung verübt und er nachher 
nur zum Schein niebergeivorfen und gebunben morben 
ift, blieb zweifelhaft. Die Detectivs, welche unter ber per- 
jönlichen Leitung des Herrn Robert X. Pinkerton arbeiteten, 
haben ein Meiſterſtück geliefert. Es ift ihnen gelungen, 
die einzelnen zeritreuten Fäden zu verbinden und daraus 
einen Strid zu drehen, mit welchem fie ſchließlich pie 
ganze Bande fingen. Bon den geraubten 57000 Dollars 
find 51000 Dollars und die Diamanten wieder in ben 
Befig der Adams⸗Expreß⸗Companh gelommen. Die 
Detectivg — 12—15 Mann ſtark — haben raftlos, mit 
jeltenem Fleiß und erftaunlichem Geſchick gearbeitet. Es 
ift nur fraglich, was größere Anerkennung verbient: ihr 
Scharffinn oder ihre Geduld. Die Koften ver Unter- 
ſuchung durch bie Detectivs betrugen 6451 ‘Dollars. 

Als Die Berurtheilten in das Gefängniß zurüdgeführt 
iwurben, ereignete fich ein Zwiſchenfall, ver für ameri- 
kaniſchen Verbrecherhumor charakteriftiich tft. Im Gange, 
ben fie pajjiren mußten, kamen fie an einem ſchlanken 


Eifenbahn- und Bofträuber in Rorbamerila. 127 


jungen Mann vorbei, ber in eifriger Converfation mit 
zwei jungen Damen begriffen war. Haight ftieß Witrod 
an und flüfterte ihm zu: „Hier fteht Fotheringham.“ 
MWitrod firirte einige Augenblide den Genannten, ſchritt 
Damm auf ihn zu, reichte ihm die Hand und fagte: „Fothe⸗ 
ringham, alter Junge, ich bin froh, Ste zu treffen. Ich 
babe Ihnen vor über zwei Monaten einen böſen Streich 
geipielt, aber ich will hoffen, daß Sie mir es nicht nach» 
tragen werben.” „Gewiß nicht”, lautete bie Erwiderung 
Fotheringham's, „obzwar Sie mich gehörig überrumpelt 
haben, als wir und das erſte mal trafen.” Die beiben 
Lente hielten ein eingehendes Geipräch über die Unter- 
juchung, während vie Gefängnigwärter ruhig babeiftanven 
und wur geipannten Ohres lauſchten, ob fie etwas erfahren 
twärben, was zu einer weitern Verhandlung führen Fünzte. 

„Se ſchieden als gute Freunde“, fohließt der ameri- 
laniſche Reporter, dem wir biefe Mittheilung verbanten, 
feinen Bericht. 

Der gerichtliche Broceß verlief ſehr einfach, denn 
Witrock namentlich hatte ein ſehr umfafjeudes Geftänpnif 
abgelegt. Am 4. Jannar 1887 wurden bie Angeklagten 
bor das Gericht in Saint Louis geitellt. Der Staats» 
anwalt Slover begründete bie Anklage, FriedrichWitrock, 
Billtam Haight und Thomas Weaner erklärten fich 
für ſchuldig, die beiben erften wurden zu fieben Jahren 
Zuchthaus, das höchfte gejegliche Strafmaß, Weaver aber 
zu fünf Jahren harter Arbeit verurtheilt. Cook und 
Kinney, ebenſo Frau Witrod und Frau Haight leugneten, 
beu dem Raubanfalle Kenntniß gehabt und gewußt zu 
haben, daß Geld und Diamanten geftohlenes Gut geweſen 
feien. Eine Anklage tft bisjetzt weder wiber fie noch 
wider den Poftbeamten Fotheringham erhoben worben. 


Ein Eriminalproceß ans Oeſterreich. 


Die Selbſtanklage des Prochriften Karl Schiske in 
Wien wegen einer angeblichen Beruntrenung. 


1886. 


Am 12. September 1886 verbreitete fih am Franz 
Joſephs⸗Quai, dem Manufacturviertel von Wien, bas 
Gerücht, Karl Schiske, der Procurift ver Firma Gebrüder 
Klinger, habe fich ſelbſt dem Strafgericht geftellt und be 
fannt, bedeutende Veruntreuungen begangen und fo das 
von ihm vertretene Haus empfindlich geſchädigt zu haben. 

Die Nachricht ſchien unglaublich zu fein. Schiske war 
bekannt als ein durchaus foliver Menſch, als ein ruhiger, 
befonnener Geſchäftsmann. Er war fchon vor 20 Jahren 
mit der Procura betraut worden, genoß das volle Ber: 
trauen feiner Chefs und leitete die kaufmänniſchen Gefchäfte 
der Firma in Wien ganz felbftändig, während bie Eigen- 
thümer in Zeibler in Böhmen wohnten und bafelbft bie 
Fabrikation der Wirkwaaren bejorgten und kaum ab und 
zu einmal in bie öfterreichiiche Hauptſtadt kamen. 

Eine Unreblichkeit traute biefem Ehrenmanne niemand 
zu, bie öffentliche Meinung fprach durchgängig zu feinen 
Gunften, e8 mußte ja ein Irrthum obwalten und fi 
bald herausstellen, daß ein Unſchuldiger verbächtigt wor- 
den war. 





Ein Eriminalprocek aus Defterreid. 129 


Allein ſchon am folgenden Morgen beftätigten bie 
Zeitungen die Selbftanflage des Procuriften und fügten 
hinzu: das Deficit belaufe fich auf mindeftens 60—70000 
Gulden, das Gericht habe den Verbrecher in Unter- 
ſuchungshaft genommen. Die Sama hatte diesmal nicht 
gelogen; aber wie war es möglich, was batte den Mann 
beivogen, ſeine Hand nach fremdem Gut auszuftreden und 
jenen ehrlichen Namen fo zu befleden? Es curfirten in 
den Taufmärmifchen Kreiſen die verichtedenften Commentare. 
„Der Dämon Lotto, der ſchon fo viele Eriftenzen vernichtet 
hat, ift Die Urſache geweſen“, fagten bie einen. „Nein“, er» 
wiberten bie andern, „bie Börſe bat ven Mann in das Un- 
glüd geftürzt. Wer einmal von den verberblichen Früchten 
vieles Giftbaums gekoftet hat, der ift dem Börſenſpiel ver- 
fallen und verloren. Da find alle Warnungen vergeblich.‘ 

Rob andere raifonnirten über die Foftfpieligen Aus- 
gaben mancher Ehemänner: „Sa zu Haufe ift man hyper⸗ 
jolid und die Einfachheit ſelbſt. Wenn die Frau fich einen 
Winterhut kaufen will, wird über die unnüge Ausgabe 
gebrummt und der Hut vom vorigen Jahre für noch 
gut genug erklärt. Aber ver füßen Kleinen, ver Ratte vom 
Ballet, kann man nichts abichlagen. Diamantenboutong, 
groß wie bie Hafelnüffe für vie zarten, roſenrothen 
Ohren, blitende Bracelets um die rımden vollen Arme, 
vielleicht gar Perlencolliers für den blendendweißen Hals 
müſſen gefauft werden. Aber Perlen bedeuten Thränen.” 

In dieſer albernen Weiſe wurde geflatjcht und ver- 
(enmbet. Es Iag nicht etwa Bosheit oder Schabenfreude 
zu Grunde, der Procurift Schiske Hatte feinen Feind und 
war allgemein geachtet und beliebt. Dean wollte nur 
ſchwatzen und fuchte zu erklären, was jevermann für un- 
möglich gehalten hatte. Die Unterfuchung' war kurz und 
böchft einfach. Sie hatte nur den Thatbeftand des Bes 

XXL 9 


130 Ein Eriminalproceß aus Defterreid. 


fenntnifjes feftzuftellen. Aus den Angaben des Procu⸗ 
riften Schiöfe und des Herrn Anton Klinger jun., eines 
Sohnes des Chefs der Firma, welcher von Zeibler nach 
Wien geeilt war, um bie Leitung des dortigen Geichäfts 
zu übernehmen, ergab fich, daß ein Deficit vorhanden 
war, e8 betrug nach den Büchern 78248 Gulden. 

Schon am 10. November 1886 fand die Hauptver- 
handlung vor einem Erfenntnißfenat des Landesgericht in 
Wien ftatt. Landesgerichtsrathb Dr. Ferdinand von Hol- 
zinger führte den Vorfi in dem Vierrichtercollegium, bie 
Staatsanwaltichaft war vertreten burch ven Staatsanwalt: 
fubftituten Dr. Albert Zeisberger, bie Vertheibigung 
hatte der Hof- und Gerichtsadvocat Dr. Adolf Ernft, 
bie Vertretung ber betheiligten Firma Gebrüber Klinger 
ber Reichsrathsabgeordnete, Hof⸗ und Gerichtsadvocat 
Dr. Moriz Weitlof übernommen. Die Zuhörer refru- 
tirten fich Diesmal nicht aus ber Zahl derjenigen, die vegel- 
mäßig in den Gerichtsfälen fich einzufinden pflegen, es 
waren meift Kaufleute, bie dem Gange des Procefies 
mit großem Interefje folgten. 

Der Angeklagte ift ein ftattliher Mann mit einem 
intelligenten, aber forgenvollen durchfurchten Geficht, 
bunfelm, aber gelichtetem Haupthaar und ſchönem üppigen 
Vollbart. Erift 56 Jahre alt, feit kurzer Zeit zum zweiten 
mal verbeirathet und Vater eines einzigen Kindes. Ehe 
er fih dem Handelsfache winmete, war er Schüler eines 
Gymnaſiums, beftand daſelbſt die Reifeprüfung und ftubirte 
hierauf in Wien zwei Jahre lang Philofophie. Seit 22 
Sahren ift er im Gefchäft der Firma Gebrüder Klinger 
thätig, feit 20 Jahren, wie fchon mitgetheilt wurbe, deren 
Procurift und mit der jelbftändigen Leitung bed Zweig 
geihäfts in Wien beauftragt. 

Sein Gehalt betrug anfänglich nur 1200 Gulden jähr- 


Ein Erimiualproceß aus Defterreid. 131 


fth, wurde aber fpäter auf 1800 Gulden erhöht. Dazu 
kam vom Sabre 1869 an die Tantieme vom Rein⸗ 
ertrage der von ihm geleiteten Niederlage in Wien, die fich im 
guten Gefchäftsjahren auf mehr als 2000 Gulden be- 
zifferte, in der Regel aber nur ungefähr 1600 Gulden betrug. 

Er bejaß eine auf Annuitäten gefaufte Billa im Cottage- 
viertel in Währing, lebte auf einem fehr befcheivenen 
einfachen Fuß in durchaus georbneten DVerhältniffen. 
Gefellichaften gab er nicht und bejuchte folche auch nicht. 
Man jah ihn weder im Theater noch an fonftigen Ver- 
gnügungsorten. Er hatte feine befonvere Liebhaberei und 
war noch weniger von Eoftipieligen Leidenschaften beberricht. 
Nur einmal in der Woche traf er ſich mit einem lang- 
jährigen Freunde in einem Cafe und einmal wöchentlich 
abends ging er in ein nahes Gafthaus. Sein Haushalt 
foftete ihm nie mehr als 1800 Gulden im Sabre, die 
Annuitäten zur Bezahlung des Kaufpreifes für feine 
Billa beliefen fih fürs Jahr auf 700 Gulden, der Reſt 
feines Einkommens genügte überreichli zur Dedung 
feiner‘ perjönlichen Bebürfniffe. 

Auf die Frage des Präſidenten: aus welchem Grunde 
umd zu welchem Zwede er die große Geldſumme verun- 
treut habe, gibt er zur Antwort: 

„Das Deficit ift blos die Folge mangelhafter Buch- 
führung und leichtfinmiger Gebarung. Einer Veruntreuung 
im eigentlichen Sinne des Wortes, alſo einer Unter- 
Schlagung des Geldes und Verwendung beffelben zu meinem 
Nutzen bin ich nicht ſchuldig. Von dem faljchen Chrgeize 
befeelt, die Reſultate meiner Gefchäftsführung möglichft 
glänzend erjcheinen zu laffen, babe ich feit 20 Jahren 
zahlreiche Ausgaben, bie ich für das Gefchäft beftreiten 
mußte, nicht in bie Bücher eintragen laffen. Sch habe 
dieſe Ausgaben lediglich im Intereffe des Geſchäfts be- 

9* 





132 Ein Eriminalproceß ans Defterreid. 


ftritten, nicht für mid. Da ich aber biefe Ausgaben nicht 
mehr nachweifen und belegen Tann, jo bin ich für ben 
ganzen fehlenden Betrag, injoweit ich nicht aus privaten 
Mitteln Erſatz zu leiften vermag, der Firma Gebrüber 
Klinger Haftpflichtig. Ein Verbrecher aber bin ich nicht.” 

Diefe Erflärung erregte große Senfation. Das 
Richtereollegium war augenscheinlich frappirt und ſchien 
ihr keinen Glauben zu ſchenken. &iner von den Richtern 
bemerkte: „Ihre angebliche Liebhaberei, Ausgaben nicht 
zu buchen, ift ein Unicum in der Geichäftewelt. Es ift 
auffällig, daß Ste fich freiwillig dem Strafgericht ftellten, 
wenn Sie fi) bewußt waren, nur civilrechtlich für einen 
Schaden verantwortlich zu fein. Wunderbar erfcheint es, 
baß ein fo confujes Gebaren umentvedt blieb.“ 

Zögern und ftodenb gibt der Angefchulpigte auf Be⸗ 
fragen des Präfiventen näher an, welche Ausgaben für 
bie Firma er beftritten, aber nicht gebucht und alſo zu 
feinen eigenen Laften übernommen habe: bie Abzüge, welche 
bie Kunden an den Facturen machten, notirte er nicht, 
ſondern ließ die Beträge als voll eingegangen einffellen; 
Erpensnoten von Rechtsanwälten, die in feinem Auftrage 
Außenftände eingezogen, verrechnete er nicht auf das Spefen- 
conto, ebenfo wenig eine von ihm als Geichäftsführer ver- 
wirkte Conventionaljtrafe; die Einfommenfteuer von feinem 
eigenen Gehalt und von bem Gehalt der andern Bes 
bienfteten im Geſchäft bezahlte er bie ganze lange Zeit 
aus eigenen Mitteln, obgleich es in Wien bei allen beben- 
tendern Firmen Gebrauch tft, diefe Steuer von Gefchäfts 
wegen für das geſammte Perjonal zu entrichten; Vorſchüſſe, 
bie er als Vertreter bed Chefs einzelnen Comptoiriften 
beiwilligte, berechnete er nicht, auch wenn deren Rückzahlung 
nicht erfolgte, Spejen aller Art, fogar die Auslagen für 
Briefmarken, ließ er nicht buchen. 








Ein Eriminalproceß aus Defterreid. 133 


Auf diefe Weife entftand natürlich ein fih von Jahr 
zu Jahr vergrößerndes Deficit. Um baffelbe zu ver- 
fchleiern, machte er verichtevene Anleihen. Daher rühren 
nach feiner Ausfage die ungebedten laufenden Bone, bie 
er im Namen der Firma ausſtellte und acceptirte. 

Bräfident. Wenn es fich wirklich fo verhält, fo 
Liegt nur der Fall einer Untreue vor, die unfer Straf- 
geſetz nicht ahndet. Es wären ftarfe Verftöße gegen reelle 
Geſchäftsprincipien, aber nicht Veruntreuungen, nicht ein 
Berbrechen begangen. 

Angeklagter. Es verhält fich gewiß jo, wie ich an- 
gegeben babe. 

Bräfident. Warum haben Ste ſich dann felbft dem 
Strafgericht geftellt? 

Angellagter. Weil ich unrecht gehandelt habe. 

Präfident. Im Ihrer Selbftanzeige erklären Sie, 
daß Sie für die Veruntreuung aus Ihren eigenen Mitteln 
auflommen wollen. 

Angellagter. Für Ausgaben, bie ich nicht belegen 
Ianıı, bin und bleibe ich haftbar. 

Präsident. Sie haben von der veruntrenten Summe 
nichts für ſich behalten? 

Angellagter. Gar nichts. Für meine Bedürfniſſe 
reichte mein Einkommen vollftändig aus. Ich habe im 
Gegentheil alles bergegeben. 

Präfident. Was meinen Sie damit? 

Angellagter. Ich habe im Jahre 1877 nad dem 
Tode meiner feligen Deutter eine Erjchaft gemacht. Mein 
Erbtheil betrug gegen 20000 Gulden. Diefe Summe 
habe ich verwendet, um das Deficit zu verringern, ebenfo 
6000 Gulden, die ich nach dem Tode meiner erften Frau 
von der Lebensverficherungsgefellichaft Reunione Adria- 
tica andgezahlt erhielt. Späterhin habe ich alles abge- 








134 Ein Eriminalprocef aus Oeſterreich. 


treten, was ich befige: meine Villa in Währing, die auf 
20000 Gulden zu veranjchlagen ift, meine Mobilien, 
meine Bücher, fogar meine Belzkleiver und meine für 1885 
noch nicht erhobene Tantieme, endlich meine außenſtehenden 
Forderungen im Betrage von mehr ale 4000 Gulden. 

Präſident. Sie haben alles abgetreten und befitgen 
alfo nichts mehr? 

Angellagter. Ich habe gar nichts mehr als daß, 
was ich auf dem Leibe trage, biefes ſchwarze Gewand. 
Auch meine Frau befigt nur noch die geringe Ausſteuer, 
bie fie eingebracht hat. (Bewegung im Zuhörerraum.) 

Beifiter Oberlandesgerichtärath Franz Gernerth. 
Wozu aber dann biefe zwanzigjährige Sifyphusarbeit? 

Angellagter. Es war übel angebrachter Ehrgeiz. 

Oberlandesgerichteratb Gernerth. So etwas ift mir 
in meinem Leben noch nicht vorgefommen. Ich glaube auch 
nicht, daß fich ein ähnlicher Fall überhaupt je ereignet hat. 

Präfident. Ste hätten fich Ihrer Firma fchon vor 
Jahren entdeden follen. Sie befunden durch Ihr Ber: 
ſchweigen und Ihr ganzes Verhalten eine merkwirbige 
Willensſchwäche. Wie hoch beziffern Sie das Deficit? 

Angeflagter. Ich kann es nicht jagen. Es bat 
fih Tangfam auffjummirt. Die größten Beträge haben bie 
Zinſen verfchlungen. 

Präſident. Wie ift denn das zuigegangen ? 

Angellagter. Ich mußte Gelder aufnehmen, um das 
Gebarungs-Deficit zu verhülfen. Zu dieſem Zwecke gab 
ich Uccepte der Firma und bezahlte die Escomptezinſen. 
Für dieſe PVerzinfung wird der größte Theil der noch 
fehlenden Summe verwendet worden fein. 

Vertheidiger Dr. Ernft. Iſt es richtig, daß Sie 
als alleiniger Chef der hieſigen Gefchäftsniederlage Ge- 
jchäftsbebienfteten Vorfchüffe gegeben und viefelben nicht 


Ein Criminalproceß aus Defterreid. 135 


wiebererbaften haben, weil bie DBebienfteten ausgetreten 
oder geftorben find? 

Angellagter. Ia wohl! Bei einem Buchhalter habe 
ih anf folche Weife 800 Gulven verloren. Aus biejem 
Zitel habe ich noch über 2000 Gulden Forderungen. 

Dr. Ernft. Iſt e8 richtig, daß Sie einzelnen Mit- 
gliedern des Gefchäftsperfonale, welche von Krankheiten 
beimgefucht wurden, die Arzneien in ber Apotheke und 
bie Honorare der Aerzte bezahlt Haben? 

Angellagter. Es iſt richtig. 

Präſident. Warum haben Sie die den Firma⸗ 
trägern nicht mitgetheilt? 

Angellagter. Ich hielt e8 nicht für möthig. Ich 
war getwohnt, ganz fo felbftändig zu handeln, als wenn alles 
mir gebörte. 

Präſident. So bätten Sie biefe Ausgaben doch 
wenigftens in die Bücher eintragen laffen jollen. 

Dr. Ernst. Ich gehe weiter. Haben Ste nicht auch 
allerlei Spefen gezahlt, ohne das Haus dafür zu belaften, 
3. B. Briefmarken verwendet, ohne fie anzurechnen? 

Angellagter. Ja wohl, fo ift es. 

Oberlanvesgerichtsrath Gernerth. Aber warum haben 
Sie es gethan? 

Angellagter. Ich babe das Geſchäft als mein 
eigenes betrachtet. Auch glaubte ich immer, ich würbe 
jeven fehlenden Betrag aus eigenen Mitteln erjegen können. 

Dberlandesgerichtsrath Gernerth. ine Liebhaberet, 
bie einzig in ihrer Art ift. 

Dr. Ernft. Haben Sie nit auch den größern 
dirmen, damit fie mit Ihrem Haufe Gefchäfte machten, ver- 
ſchiedene Begünftigungen zugeftanden, ihnen 3. B. Nachläfje 
und Bonificationen bewilligt, ohne biefelben zu verbuchen ? 

Angellagter. Auch das ift richtig, 


136 Ein Eriminalproceß aus Oeſterreich. 


Oberlandesgerichtsrath Gernerth. Iſt denn Ihre 
Kaffe niemals fcontrirt worden? 

Angellagter. Niemals. 

Dberlanbesgerichtsrath Gernerth. Wie, niemals? 

Angellagter. Die vollen 20 Sabre hindurch nie- 
mals. Es hätte fonft meine Art ver Geichäftsführung 
fhon vor 10 und vor 15 Jahren entdeckt werben müſſen. 

Dr. Ernft. Wir find noch nicht fertig, Herr Schiske. 
Sie haben feit Jahren, werrn Gelder eingingen, ben vollen 
Betrag der Factura an Gulden und Kreuzern verbucht, 
auch wenn, wie es vielfach geſchieht, Kleine Abzüge erfolgt 
waren. Wenn ftatt Kleingeld Briefmarken beigelegt waren, 
haben Sie dieſe kurzweg in die Markenſchachteln gelegt, 
ohne das Spejenconto zu belaften. 

Angellagter. Das ift richtig. 

Dr. Ernft. Wiffen Sie, auf wieviel fich bie von 
Ihnen bezahlten Exrpensnoten für Advocatenkoſten beliefen ? 

Angellagter. Nur annähernd, nicht genau. 

Dr. Ernft. Zwei von bdiefen Noten kann ich bem 
Gerichtöhofe vorlegen. Ste rühren aus den Jahren 1874 
und 1876 ber und betragen zufammen über 1800 Gulpen. 
Ich conftatire, daß es mir nur dureh das loyale Ent: 
gegenlommen der Herren Gebrüder Klinger möglich ge- 
worden ijt, biefe Belege zu erlangen. 

Der Vertheidiger machte weiter darauf aufmerfjam, 
daß bie Zinjen des Wechfelescomptes den größten Theil 
des wirklichen Deficits verjchuldeten. Bei einer einzigen 
Escomptefirma, Ofterjeger, find im Laufe eines Jahres für 
160000 Gulden Uccepte begeben worden. Es mußten dafür 
7 Procent pro anno vergütet werben. 

Dr. Ernft. Herr Schiske, Sie find doch ein guter 
Rechner. Wieviel haben Sie im Laufe der Jahre an 
Escomptezinfen gezahlt? 


Ein Eriminalproceh aus Defterreid. 137 


Dberlanbesgerichtsrath Gernerth. Was, Sie nennen 
ben Angeflagten einen guten Rechner! Ich balte ihn für 
einen jchlechten Nechner. (Heiterfeit.) 

Angeflagter. An &scompte werben im ganzen wol 
60— 70000 Gulden aufgelaufen fein. . 

Präſident. Das ift ja faft die ganze Summe bes 
Deficits. 

Es wird hierauf zur Vernehmung bes einzigen Zeugen, 
des Herrn Anton Klinger jun., gefchritten. Er fagt 
Folgendes ans: 

„3 babe ben Angeflagten im Jahre 1864 angeftellt, 
als ich felbit erft 22 Jahre alt war. Er hatte damals 
unfere biefige Niederlage zu vertreten. Herr Schiske be⸗ 
währte fih in allen Stüden fo vorzüglich, daß ihm, ale 
fih im Jahre 1866 die Beitellung eines Procuriften im 
Intereffe des Geſchäfts für Wien nöthig herausftellte, bie 
Procura übertragen wurde. Ich kam in den erften Jahren 
öfter nach Wien und revibirte. Die Bücher waren ſtets 
mufterbaft in Ordnung, niemal® wurbe irgendeine Un- 
regelmäßigteit bemerlt. Das Geichäft war mit einer Ge⸗ 
wifienbaftigfeit und Accurateſſe geführt, die ber kauf⸗ 
maͤnniſchen Bildung des Herrn Schisfe alle Ehre machte. 
Hauptbuch, Saldo», Conti⸗, Kaffenjournal, überhaupt alle 
Bücher ftimmten auf das genauefte überein. ‘Der Kaffen- 
ſaldo war in den erften Jahren gering, vom Jahre 1878 
an ftieg er auf 8000 und 10000 Gulden, was mir jedoch 
nicht auffiel, weil infolge ver Ausdehnung des Geichäfts 
ein Fonds erforderlich war, um die laufenden Verbindlich⸗ 
feiten zu beden. Das Haus Gebrüder Klinger hatte es 
ih von jenem Zeitpunft an zum Grundſatz gemacht, 
nichts mehr zu acceptiven, deshalb mußte für ben 
Ausgleich offener Poften ein Manipulationsfonds vor- 
Banden fein. 


138 Ein Criminalproceß aus Defterreid. 


„Ganz abgefehen von meinem unbebingten Vertrauen 
zu Herrn Karl Schisfe Hielt ich ihn für gut. Ich wußte, 
baß er geerbt hatte und auch fonft einiges Vermögen befaß. 

„Der Angeklagte lebte immer ſehr beſcheiden und zurück⸗ 
gezogen. Seine Verhältniffe waren geordnet. Seine ge⸗ 
ſchäftliche Tüchtigkeit achtete ich ſehr hoch. Er war im 
allen Kreifen der Gefchäftswelt fehr beliebt. Ich gewöhnte 
mich daran, zu ihm aufzufehen wie zu meinem Lehrer. 

„Seit 1878 pflegte ich Herrn Schiske, fo oft ich nach 
Wien am, in feinem Haufe im Cottageviertel zu befuchen. 
Seine Einrichtung und Wirthichaft waren einfach bürger- 
lich, er machte feinen Aufwand. Ueberdies ftanden wir in 
jo freundfchaftlichen Beziehungen, daß ich es als eine Be- 
leipigung für ihn angefehen haben würde, wenn ich num ein 
einzigesmal die Ausfolgung der Kaffe von ihm begehrt hätte.” 

Oberlandesgerichtsrath Gernertb. Sind Sie jeht 
ber Anficht, daß die Kaffe nicht in Ordnung geweſen wäre, 
wenn Sie damals die Ablieferung verlangt hätten? 

Zeuge. Nach dem, was ich heute weiß, muß ich es 
annehmen. Damals hatte ich nicht den geringften Ver⸗ 
dacht und nicht bie leifefte Ahnung davon. 

Der Zeuge fährt fort: 

„Die wiener Filiale unfers Hanfes purfte nicht felbft- 
ftändig für ſich allein manipuliren. Alle größern Ge- 
chäftsabjchlüffe wurden durch bie Fabrik erlevigt. Die 
Thätigfeit bes Herrn Schiske, die ihn auf die Anklage⸗ 
bank geführt hat, rührt vermuthlich von ber Zeit ber, 
wo wir die Acceptation von Wechjeln einftellten. Schiske 
jegte nämlich auch nach dieſer Zeit ohne Auftrag und 
Berechtigung Accepte und Bons in Umlauf. Er reichte 
ferner ohne Vorwiffen ver Firma fremde Rimeſſen, vie 
er ablaufen laffen follte, bei Banken und Escomptefirmen 
ein. Die Escomptezinjen gehören in bie Reihe der Aus: 


Ein Eriminalproceß aus Oeſterreich. 139 


gabepoften , die Schisfe nicht verrechnet hat, aber auch 
nicht verrechnen konnte. Dadurch, daß die Eingänge 
rechnungsmäßig immer erft nach Ablauf diefer Wechiel 
erfolgen follten, verfchaffte er fich einen von uns nicht ge- 
kannten Manipulationsfonds zur Einlöfung der von ihm 
ausgegebenen Accepte. Wir Tonnten feinen Verdacht 
ſchöpfen, weil es mir nicht einfiel, das Wechſelportefeuille 
zu feontriren, und in den Büchern ftimmte immer alles. 
Einmal, als ich gerade in Wien war, holte jemand einen 
größern Poſten Geld. Es fiel mir jeboch nicht weiter 
auf. Möglicherweife habe ich gedacht, daß Schisfe ven 
Betrag aus eigenen Mitteln dargeliehen habe. Aber 
auf feinen Fall lag darin ein Grund zum Argwohn. 
Es ift nämlich auf Hiefigem Pla Ufus, daß gejchäftlich 
befreunbete Firmen einander nach Bebarf und Kaffenftand 
gegen einfachen Bon Baargeld auf kurze Zeit vorjtreden. 

„Da Schiske immer über einen eigenen Manipulations⸗ 
fonds verfügte, über welchen er vermuthlich ein eigenes 
Buch geführt hat, fehlt mir ein genauer Weberblid über 
bie Einzelheiten viefer Gebarung. Im Auguft biefes 
Jahres war ohnedies nach feiner Angabe ver Kaffenftand 
erheblich größer geworben und belief fich ber Baarfaldo auf 
14000 Gulden. Unter dem 1. September fchrieb uns bie 
Nieberöfterreichiiche Escomptegejellichaft nach Zeidler und 
verftänbigte uns, daß fie Herrn Schiske auf fein Verlangen 
ein Depdt von 10000 Gulden ausgeantwortet habe. “Dies 
befrembete und. Wozu brauchte er ſolche Baarbeträge? 
Ih erfuchte ihn brieflih um Auskunft. Er antwortete, 
er habe einem guten Freunde aushelfen wollen, und bat 
mich um Verzeihung, daß er fich durch feine Gutmüthig- 
teit habe Hinreißen laſſen. Dieſe Ausfunft war fo vag 
gehalten, daß fie mich nicht befriebigte.e Ich begab mich 
nach Wien und begehrte zum erften mal die Kafjenichlüffel. 





140 Ein Eriminalproceß aus Defterreid. 


Nun gab er mir durch Andeutungen zu verftehen, was 
er gethan hatte.” 

Präfident. Wie groß war das Deficit, welches fich 
berausftellte ? 

Zeuge. Die Höhe ift fchwer feftzuftellen, weil es 
ſich auf eine fo lange Zeit vertheilt. Unter allen Umftänben 
haftet die Firma für die von Schiske eigenmächtig aus⸗ 
geftellten Accepte und Bond. Wir haben im September 
dieſes Jahres nach ber Anzeige Schiske's eine Zujammen- 
ftellung vorgenommen, welche 78248 Gulven ergab. Wir 
halten daran feft uud ftellen umfere Erſatzanſprüche auf 
Grund diefer Ziffer. 

Präfident. Halten Ste für möglich, daß die An⸗ 
gaben bes Angeklagten über die Beweggründe feines Vor⸗ 
gehens richtig find? 

Zeuge. Das halte ich für möglich. 

Pröfident. Und au, daß auf die vom Angellagten 
befchriebene Weife ein fo hohes Deficit entftehen konnte? 

Zeuge. Auch das ift möglich. 

Oberlandesgerichtsrath Gernerth. Ein merkwürdiger 
Tall Der erfte Fall dieſer Art. 

Staatsanwalt. Ste Sprachen vorhin von Ihrem 
freundichaftlichen BVerhältnifie zu dem Angellagten. Sit 
es erflärlih, daß Schiske trotz dieſer Freundſchaft ſich 
ſchämte oder gar ven Muth nicht fand, Geſchäftsausgaben 
in den Büchern zu verzeichnen? 

Zeuge. Das ift ſchwer begreiflih. Ich Habe ſchon 
bemerkt, daß ich die Geſchäftskenntniß und Tüchtigkeit bes 
Herrn Schiske im höchften Grade fchäßte, ja ich Habe 
ihn fogar bewundert. Er verſtand es in der glücklichſten 
Weife, jeden Gefchäftsfremd zu behandeln. Ich habe zu 
ihm aufgejchaut wie zu einem Lehrer. Unfere Freundfchaft 
war jo innig, daß wir uns Füßten, wenn ich nach Wien fam. 


Ein Eriminalproceß aus Defterreid. 141 


Dberlandesgerichtsratb Gernertb. Glauben Sie, daß 
ver Angeflagte aus feiner Gebarung fich einen Vortheil 
zugewenbet bat? 

Zenge. Darüber habe ich fein Urtbeil. 

Dberlandesgerichtsratb Gernertb. Hatte der An- 
geflagte Leidenſchaften? Spielte er an ver Börfe? Sekte 
er ſtark in die Lotterie? Hatte er Liebichaften? 

Zenge. Ich Habe davon nie etwas bemerft. Ich 
babe ihn immer einfach und foliv gefunden. Weitunter 
machte er wol Scherze. 

Dberlanbesgerichtsrath Gernerth. Nun, die koſten 
nichts. Ich frage, ob er Leidenſchaften gefröhnt oder Lieb⸗ 
habereien gehabt hat, die Geld koſten. 

Zeuge. Nein, davon iſt mir nichts bekannt. 

Bräfident. Im welcher Weije, mit welchen Worten 
bat er ſich Ihnen zuleßt entdeckt. 

Zeuge. Als ich einmal Verbacht gejchöpft hatte, Sprach 
ih denſelben offen aus und fragte ibn: „Was haben 
Sie gethan. Wieviel haben Sie genommen?” Er ant- 
wortete: „Es ift fehr viel. Mir bleibt nichts übrig als das 
Landesgericht.” Ich replicirte: „Das wird wol nicht nöthig 
kin. Wie groß ift das Deficit? 20000 Gulden?” Er er- 
wiberte: „OD nein viel, viel mehr!” Ich fragte weiter: 
„Wieviel ift e& denn? Sprechen Sie ſich doch aus. Iſt 
ed denn eine halbe Million?” „Nein“, fagte er, „jo viel 
it’8 Doch nicht.” 

Präſident. Was Hat Ihnen der Angellagte un« 
mittelbar nach der Entdeckung über bie Entftehungsurfache 
des Deficits mitgetheilt? 

Zeuge. Er ſagte: „Es iſt ja alles ins Geſchäft ge⸗ 
Hoffen.” 

OberlandesgerichteratH Gernerth. Wenn die An- 











142 Ein Eriminalproceß aus Defterreid. 


gaben bes Angeflagten richtig find, dann ift der Verluſt, 
den Sie erleiden, zum großen Theil nur ein fcheinbarer. 

Hierauf wird die Auskunft der Polizei über den Leu- 
mund des Angellagten verlefen. Es ift über ihn nichts 
Nachtheiliges bekannt geworben; er ſoll indeß an der Börfe 
geipielt haben. ‘Der Angeflagte beftreitet dies mit der 
größten Entſchiedenheit. Sein Vertheidiger bemerkt, bie 
Zeitungen hätten über ven Fall verſchiebene Mittheilungen 
gebracht und die Vermuthung ausgefprochen, er werte 
die fehlende Summe in VBörfendifferenzen verloren haben. 
Es jet möglich, daß die Polizei aus dieſer unlantern 
Duelle ihre Mittheilung gefchöpft babe. 

Der Vertreter der Staatsbehörde Dr. Zeisberger 
nimmt bierauf das Wort und hält die Anklage aufrecht. 
Er ſtützt fie hauptjächlich darauf, daß Schiele ſich erft 
einen Tag, nachdem er fich feinem Chef entbedt, bei der 
Staatsanwaltichaft geftellt habe mit den Worten: „Ich 
geftehe zu, 60000 Gulden eingenommen und für mic 
verwendet zu haben.” Cr hätte inzwiichen Zeit genug ge- 
habt, zu überlegen, was er vor Gericht ausfagen wolle. 
Ueber den Verbleib eines Theils der fehlenden Summe 
jei wol eine Erklärung gegeben, aber in feiner genügenten 
Weile das ganze große Deficit gerechtfertigt worden. Des⸗ 
halb beantrage er, ben Angellagten wegen bes Verbrechens 
ber Veruntreuung ſchuldig zu ſprechen und zu beftrafen. 

Der Anwalt der betbeiligten Firma, Dr. Weitlof, 
beſchränkt fich darauf, ven Schadenerſatz ziffermäßig in ber 
beantragten Höhe zu rechtfertigen. Er erflärt: die Ges 
brüber Klinger melbeten im September als ihre Forberung 
78248 Gulden an. Sie feien jedoch bereit, davon alle 
irgendwie nachweisbaren Ausgaben für das Gefchäft in 
Abzug zu bringen, und würden fich bemühen, ſelbſt Belege 
für diefe Ausgaben aufzufinden. Demzufolge jet inzwijchen 


Ein Eriminalproceß aus Oeſterreich. 143 


feftgeftellt, vaß durch verſchiedene im Interefje ber Firma 
geleiftete Zahlungen die Forderung fich ermäßigt habe bis 
auf 43263 Gulden. Die Summe der muthwillig herbei» 
geführten &scomptezinfen müſſe jedenfalls von Schiske 
getragen werben. Der Angeklagte habe jein Haus im 
Gottageviertel in Währing, feine außenftehenden For⸗ 
derungen unb andere Vermögensftüde ber Firma Ge⸗ 
brüder Klinger überlajfen und baburch ben guten und 
ernften Willen dargethan, ven von ihm verurfachten Sche- 
den wieder gut zu machen. Es werbe gebeten, ven Ange- 
ſchuldigten erjagpflichtig für 43263 Gulten zu erklären. 

Der Vertheidiger des Procuriften Schisfe führte aus: 

„Es ift eine misliche Sache, über eine 22jübrige 
mangelhafte Verwaltung fremden Vermögens Rechnung 
abzulegen; fchwer genug für ven, welcher frei tft und 
feine Bücher und Nieberfchriften in ver Hand hat, aber 
boppelt ſchwer, wenn nicht unmöglich für denjenigen, 
der plötzlich herausgeriffen aus einem jpät gegründeten 
Fumilienglüd in Haft genommen und unter bie Anklage 
eines Verbrechens geftellt, in beftändiger Angft und Sorge 
wegen bed Ausgangs feines Proceſſes, ohne Unterftügung 
khriftlicher Aufzeichnungen Rechenſchaft geben joll über ein 
compficirtes faufmännifches Gejchäft. Freilich kann einge- 
wendet werben, ber Verwalter fremden Eigenthums müffe 
ieve Stunde zur Rechnungslegung bereit fein. Der Ans 
geffagte erfennt dieſe feine Verpflichtung ſogar jelbft an, 
Allein es ift ein Unterjchieb zwijchen der Rechnungslegung 
vor dem Strafrichter und vor dem Civilrichter. Bei ber 
erftern läuft man Gefahr, daß jeder nicht fofort gerecht- 
fertigte Betrag als Veruntreuung angefehen wird. 

„Der Angeffagte weiß, daß er für jeben Kreuzer bes 
Deficitd aufzufommen hat mit allem, was er jeßt befitt 
und künftig befigen wird. Um dieſe Verantwortlichkeit, 





144 Ein Eriminalproceh aus Defterreid. 


bie er ohne Wiberrede auf fih nimmt, handelt es fi 
aber an biefem Orte nicht, fondern lediglich um bie Frage, 
ob er wirflich einen 300 Gulden überfteigenden Betrag 
von dem Vermögen der Firma ftch zugeeignet und für 
fich verwendet babe. 

„Er felbft gibt dies als möglich zu, aber e8 muß ihm be- 
wiejen werben, daß er dieſe Summe veruntreut hat. Dieſer 
Beweis ift nicht erbracht. Die Verhandlung bat genügendes 
Material zur Aufflärnng des Deficits gebracht, ohne daß 
man eine Veruntreuung anzunehmen braudt. Die nicht 
ungünftige Vermögenslage des Angeffagten, feine einfache 
bürgerliche Lebensweife, fein ehrenhafter Charakter ſchließen 
biefe Annahme geradezu ans. Aber werm man ihn auch 
für ſchuldig halten wollte, fich zum Nachtbeil feiner Dienſt⸗ 
geber mehr als 300 Gulden, over auch 10- und 20000 Gul⸗ 
ben angeeignet zu haben, fo könnte doch von einer Verur⸗ 
theilung feine Rebe fein. Denn er hat zu einer Zeit, ald noch 
niemand von feinem Gebaren eine Ahnung hatte, ben 
größten Theil der ihm nach feiner Mutter Tode zugefalle- 
nen Erbichaft, die ganze ihm nach dem Ableben feiner erften 
Gattin ausbezahlte Lebensverficherungsfumme von 6000 
Gulden, im ganzen einen Betrag von über 20000 Gulden 
zur theilweifen Dedung des Deficits verwendet. Wenn alfo 
auch ein Theilbetrag bes vorhandenen Deficits in ber 
Höhe von jelbft 20000 Gulden als thatfächlich veruntrent 
angejehen und behandelt werven könnte, wozu wie gefagt fein 
Anhaltepunkt vorliegt, jo würde dieſe Veruntreuung durch 
thätige Reue geſühnt und ſtraflos geweſen ſein. Unter allen 
Umſtänden fehlt der Nachweis ver Abſicht des Angellag- 
ten, feine Dienftgeber zu jchädigen, und es kommt ihm bie 
Nachläffigfeit im Sinne des 8. 2 fg. des Strafgeſetzbuchs 
als ein den böfen Vorfag ausjchließender Grund zugute. 
Ih bitte deshalb, den Angeklagten freizufprechen.” 


. 


Ein Eriminalproceß aus Oeſterreich. 145 


Der Gerichtshof erklärte den Angeklagten für ſchuld⸗ 
[08 und entließ ihn fofort aus der Haft. Die betbeiligte 
Firma wird mit ihren Anſprüchen an das Givilgericht 
verwiefen, weil ein Berjchulden im Sinne des Straf- 
geſetzbuchs nicht vorliege und der Civilrichter darüber zu 
entſcheiden habe, inwieweit die privatrechtliche Forderung 
ber Gebrüber Klinger gegen ven Procuriften Karl Schiste 
begründet ſei. 


Wir fiimmen dem Urtheil des Gerichts bei. Der 
Angellagte war bevollmächtigt, das wiener Filialgeſchäft 
jelbftändig zu leiten. Er hat die Gelver ver Firma nie- 
mals zu feinem eigenen Nugen, fondern immer nur für 
das Geſchäft verwendet, alfo mit verbrecheriichem Vor⸗ 
jag nicht gehandelt. Gewiß wiberftreitet feine Geſchäfts⸗ 
führung allen kaufmänniſchen Regeln und Grundſätzen, 
ja man darf ſogar behaupten, daß er in einer ganz fopf- 
loſen, liederlichen, faft kindiſchen Weile fchlechte Geſchäfts⸗ 
abfchlüffe vertufcht und DVerlufte durch feine Manipula⸗ 
tionen mit der Ausgabe von Wechieln und feinen Verkehr 
mit E6comptefirmen zu decken verjucht hat, obgleich er fich 
jagen mußte, daß dadurch viel größere Summen verloren 
werden mußten, aber ein Verbrecher ift er niemals gewejen. 

Die Triebfeder feines wunderlichen Gebarens war 
der Ehrgeiz. Die Gebrüber Klinger jchenften ihm un- 
begrenztes DBertrauen, fie revidirten ihm in einer langen 
Reihe von Jahren niemals, waren zufrieden mit allem, 
was er that, und bewunderten ihn als gewiegten Kauf⸗ 
mann, wie der Chef ber Firma vor Gericht felbft gefagt bat. 

Karl Schiske war in allen Geſchäftskreiſen beliebt, er 
galt als das Mufter eines foliden, ehrenwerthen, tüchtigen 
Gefchäftsführers und als kaufmännijche Autorität. Die 
Ehre des von ihm vertretenen Hauſes war feine eigene 

XXI. 10 


146 Ein Criminalproceß aus Oeſterreich. 


Ehre. Sein kaufmännischer Ehrgeiz war fo mächtig, daß 
er jogar mit Hülfe feines eigenen nicht ganz unbeträchtlichen 
Vermögens, welches er ohne Bedenken, ohne Rüdficht auf 
fih und feine Familie zufegte, die Gefchäftsabichlüffe 
glänzender vorjpiegelte, ald fie waren. Um ven einmal 
erworbenen Ruhm zu bewahren, um jedes Jahr ein großes 
Geſchäft vorzufpiegeln, verſchwieg er Verlufte, buchte viele 
Ausgaben überhaupt nicht, ftellte Facturenbeträge voll ein, 
obgleich Abzüge gemacht worden waren, unb bewilligte 
Kunden Bortheile und Nachläffe, und fing jogar einen 
jehr bedenklichen Wechſelverkehr an, ver endlich zum Bruch 
führen mußte. Ein geſchulter und erfahrener Kaufmann 
wie Karl Schiske konnte fich kaum barüber täufchen, daß 
bei ſolchem Geichäftsbetrieb fchließlich doch die Mittel zur 
Dedung fehlen mußten. Wir glauben, er hat dieſes Ende 
jelbft vorausgefehen, aber fich immer wieder getäuſcht und 
vielleicht, wa® der Menſch jo gern thut, den Abgrund 
abfichtlich nicht fehen wollen, fondern bie Hoffnung ge- 
nährt, daß infolge von guten Conjuncturen bebeutende 
Gewinne die Verluſte ausgleichen, oder auch eigene 
Hülfsquellen, eine neue Erbſchaft ober vergleichen fich er- 
Ichließen würden. Auf feinen Fall beſaß Schiele bie 
Energie, offen und frei ven Stand der Dinge ven Herren 
Klinger zu offenbaren. Er war nicht ſtark genug, feinen 
Ruf als Kauf und Gefhäftsmann zu zerftören und fich 
jelbjt moralifch zu vernichten. So ließ er bie Dinge 
gehen und die Kataftrophe hereinbrechen. 

Ein großes pſychologiſches Intereffe wird man bem 
Valle nicht abfprechen können. 

Zu einem Civilproceffe ift es nicht gefommen, die 
Gebrüder Klinger und Karl Schisfe haben fich über ven 
Erſatz des Schadens verglichen. 


Merkwürdige Eriminalprocefe aus Frankreich. 


1. Die Ehe des Grafen Roger de Molen de la 
Bernede. 


Mordverfud. — Dijon. 1886 bis 1887. 


Der Name des Grafen Roger de Molen war ſchon 
vor zwei Sahren Im Gerichtöfaal genannt worden. Da- 
mals im Jahre 1885 Hatten verſchiedene Perfonen gegen 
eine Winkelagentur Buret und Soubry wegen verjchiebener 
Schwindeleien Strafantrag geftell. Die Chefs biefer 
Agentur befchäftigten fich gewerbömäßig damit, gegen an- 
ſehnliche Honorare ihren Elienten Titel und Drben zu 
berichaffen. Sie waren jehr freigebig, Verjprechungen zu 
machen, und es gelang ihnen auch mitunter, ihre Zufagen 
zu erfüllen, denn fie befaßen in ben maßgebenden Kreiſen 
von Paris gute Verbindungen und einen gewiffen Ein- 
Ing. Noch öfter geſchah es freilich, daß ihre Bemühungen 
erfolglo8 waren, dann nahmen fie es nicht allzu genau, 
ſondern Tießen fich wol auch weitere Zahlungen leiſten, 
indem fie den Leuten Hoffnungen vorjpiegelten, bie fich 
niemals verwirklichten. Cinige von ben Perfonen, bie 
fie auf folche Weife um namhafte Geldſummen gebracht 
hatten, wenbeten fich an das Strafgericht, und die Herren 
Vuret und Soubrh wurden wegen Betrugs in Unterfuchung 

10* 


148 Mertwürdige Eriminalproceffe aus Frankreich. 


genommen. Auch der Graf Roger de Molen hatte ſich 
an biefe Induftrieritter mit der Bitte gewendet, feine An⸗ 
ftellung als Präfect des Departement ber Lozere durch⸗ 
zufegen. Die Agenten gingen auf fein Anfuchen ein und 
verlangten zunächft ein Angelo von 5000 Frs. welches fie 
verfchiedenen Beamten im Miniſterium in die Hand brüden 
wollten, um bieje günftig zu ftimmen. Der Graf zahlte. 
Aber die Sache ging nicht vorwärts und e8 mußte nad 
geichoffen werden. Der Graf war bereit dazu und zahlte 
nad und nach bis zu 17000 Frs. Die Agenten wurben 
wegen anderer Gejchäfte plöglich verhaftet und ihre Papiere 
in Beichlag genommen. Mean fand darunter auch ein 
Actenfascikel überſchrieben „Graf de Molen“ und in dem⸗ 
jelben ven folgenden Bericht eines Geſellſchafters an ben 
andern: „In ber Angelegenheit Molen heißt es vor- 


‚fichtig fein. Ich war geftern im Minijterium und babe 


mich unter der Hand nach dem Bittfteller erkundigt. Es 
ift ganz ficher, daß Molen niemals zum BPräfecten er- 
nannt wird. Es iſt nach feiner Eonduitenlifte unmöglich.” 

Trotzdem hatten die Agenten, deren Thätigkeit fi 
barauf beichränfte, fich nach ben Ausfichten ihres Clienten 
zu erkundigen, ihn fort und fort gefchröpft und ihm nad 
und nach 17000 Frs. abgepreft. 

Graf de Molen war zur Gerichtsverhandlung als 
Zeuge vorgeladen. Er gab feine Verbindung mit ber 
Agentur und daß er ihre Vermittelung nachgefucht habe, 
um bie Präfectenftelle zu erhalten, obne weiteres zu, 
behauptete aber, er habe die Herren nicht ernſt ge 
nommen, er ſei nicht fo naiv und nicht fo leichtgläubig 
geweſen, von ihrem Einfluß irgendetwas zu erwarten. 
Er habe zu ihrem Geſchick gar kein Zutrauen gehabt und 
ih mit ihnen nur infolge einer ariftofratifchen Laune ein- 
gelaffen, weil er einen Einblid in das Treiben folder 


Meriwürbige Eriminalproceffe aus Fraukreich. 149 


Schwindler babe gewinnen wollen. Das verlorene Geld 
fei ihm ganz gleichgültig, er habe fich einen etwas theuern 
Spaß gemacht, das fei alles. 

Zu jener Zeit hatte der Graf die Stelle bed Unter- 
präfecten in Andelys innegebabt, war aber von feinem 
Boften von der Regierung enthoben worben und nun ohne 
Amt. Es lag aljo recht nahe, daß er mit jener Agentur 
in Verbindung trat, um im Staatsbienfte wieder anzır- 
kommen. Graf Roger de Molen war ein Edelmann von 
echtem alten Stamme. Nachdem er das reiche Erbe 
feiner Ahnen in einer flott und ftürmifch verlebten Jugend 
zum größten Theil burchgebracht hatte, fühnte er fich mit 
der republilanifchen Staatsform aus und war fehr dank⸗ 
bar, ale man ihm eine Unterpräfectenftelle gab. Er ver- 
waltete indeß fein Amt fo liederlich und gab durch fein 
Leben jo großen Anftoß, daß er entfernt werben mußte. 
Statt am Sitze feiner Unterpräfectur hielt er ſich auf 
feinem Schloffe auf, veranftaltete daſelbſt Feſtlichkeiten und 
Selage und nahm an den Hekiagven theil. Auf feinen 
Inſpectionsreiſen begleitete ihn ftets eine „Dame, aber 
unmer eine „andere Dame’. Mit den Barteien, mit 
denen er amtlich zu thun batte, rebete er barſch. Ja es 
fam vor, daß er nach Zifche, wenn er vom Wein erhitzt 
war, bie Leute, die ihm wideriprachen, eigenhändig durch⸗ 
prügelte. Der Präfect des Departements Herr Bareme, fein 
nöchiter Vorgeſetzter, überzeugte fih von der Unbrauchbar- 
feit und Mobeit des Grafen de Molen und feste in 
Paris durch, daß er entlaflen wurde. 

Natürlich entftand dadurch eine heftige Spannung zivi- 
fchen den beiben Herren. Als der Präfect bald nachher er- 
morbet wurbe, bezichtigte die öffentliche Stimme ben Grafen 
de Molen, daß er der Mörder fei. Dieſer Verdacht be⸗ 
ftätigte fich jedoch nicht, er konnte feine Unſchuld beweijen. 





150 Merkwürdige Eriminalprocefje aus Frankreich. 


Im Sommer 1884 entjchloß fich der Graf de Molen, 
ein reiches Mäpchen zu Heirathen, um feine Gläubiger zu 
befriedigen und finanziell wieder flott zu werben. Hülfe 
war nöthig, denn die Hochflut der Hypotheken drohte 
fein Schloß Turcey, in der Nähe von Dijon, zu ver⸗ 
ſchlingen. 

Die erfolgreichſten Heirathsvermittler ſind in Frank⸗ 
reich die geiſtlichen Herren. Sie verſtehen es, weil ſie 
die Verhältniſſe genau kennen, die oft ſehr disparaten 
Wünfche ihrer Beichtkinder zu erfüllen, dem Wappenſchild 
eines abnenreichen, aber verarmten Edelmanns durch das 
fauer erworbene Gold des fleißigen Bürgers, des thätigen 
Kaufherrn, neuen Glanz zu verleihen und ben Ehrgeiz 
einer niedrig geborenen Mutter, bie ihre Zochter gern zur 
Baronin oder Gräfin erheben möchte, zu befriebigen. 

Graf Roger de Molen wendete ſich denn auch an den 
bochwürbigen Abbe Eperon um Rath, und dieſer machte ihn 
aufmerffam auf Fräulein Martha Olympia Chan— 
teaud, ein hübfches Mädchen von 25 Jahren, bie einzige 
Tochter des Apothekers Chanteaub in Paris. Die Mit- 
gift beftand nach ver Mittheilung des Abbe in 300000 Fr®. 
baar und 12000 Fr8. Iahresrenten, bie der Schwiegervater 
bem jungen Hausſtande beiftenern würbe. Das leuchtete 
bem Grafen ein, er ließ fich der Familie vorftellen, die jungen 
Leute gefielen fich, er trug dem Mäpchen feine Hand am, 
bie Werbung wurde angenommen, die Hochzeit gefeiert mit 
Baufen und Trompeten, die Mitgift ausgezahlt und brei 
Monate fpäter waren bie Eheleute gefchieven. 

Die Mofterien viefer Ehe laſſen fich nicht erzählen, 
wir theilen nur mit, was zur Erflärung bes mörberifchen 
Attentats nothwendig ift, welches den Grafen Roger be 
Molen vor das Schwurgericht brachte. Beide Ehegatten 
haben vor dem Gerichtshof in Dijon Klage auf Ehe 


Mertwürdige Eriminalproceffe aus $ranfreid. 151 


ſcheidung erhoben. Der Graf befchuldigte feine Frau ber 
Ichmählichften, unnatürlichiten Laſter. Er behauptete, fie 
babe das Recht, fich noch immer Fräulein Chantenud zu 
nennen, denn fie fei niemals feine Gattin geworden, jon- 
bern babe es vorgezogen, mit ihren Freundinnen vom 
Palais-Royaltheater und vom Opernballet in Paris fich 
Inftig zu machen und bort ihren Neigungen nachzugehen. 
Er aber fei tief gekränkt in fein Schloß in der Franche⸗ 
Comte zurüdgefehrt und habe fih dort über fein Mis- 
geihid zu tröften verjucht. 

Die Gräfin bingegen Hagt ihren Mann an, er babe 
fie gezwungen, mit ihm verrufene Häufer und Gefell- 
haften zu befuchen, er fei nach wie vor zu feinen Mai⸗ 
treffen gegangen, habe fie nicht als feine Gattin refpectirt, 
fondern fih dem Trunk ergeben und die Champagner- 
flaſche mitgenommen, wenn er fih zum Schlafen nieder⸗ 
legte. Sie wirft ihm vor, er habe von der Mitgift am 
Zage nach der Hochzeit 54000 Frs. dazu verwendet, eine 
frühere Maitreffe abzufinven, ihre eltern unmwürbig be- 
handelt, ihren Vater einen „ſchmuzigen Geizhals‘ ge- 
icholten, ihre Mutter wegen ihrer bürgerlichen Dlanieren 
verhöhnt, fie verfpottet, weil fie ſelbſt Obſt einkoche, fie 
„pöbelhaft und proßig‘ genannt. 

Es ift richtig, daß der Graf nach der Hochzeit etliche 
Wochen mit feiner jungen Frau in Paris gelebt und fo- 
dann furze Zeit fein väterliches Schloß Zurcey bewohnt 
und fchon damals viel Champagner und dann im Gafthof 
Zur Glode in Dijon alten Burgunderwein im Uebermaß 
getrunfen und feine Gattin öfter thätlich gemishandelt 
bat. Die jungen Eheleute gingen ſodann zujammen nad) 
Biarrik. Dort wurde da8 Benehmen des Grafen immer 
brutaler und fein Leben immer wüſter. Seine Frau 
trennte fich von dem rohen, ungetreuen Manne, flüchtete 





152 Mertwürdige Eriminalproceffe aus Franukreich. 


zu ihren Aeltern, nahm bie Hülfe der Gerichte in Aufpruch 
und feste durch, daß die Scheivung von Tiſch und Bett 
proviſoriſch ausgefprochen und bem Grafen aufgegeben 
wurbe, feiner Frau aus den Einkünften ver Mitgift eine 
jährliche Rente von 3000 Frs. zu zahlen. Da die Gräfin 
für den Fall, daß der Proceß zu ihren Gunften ent- 
ſchieden und bie Ehe definitiv getrennt wurde, die Rüd- 
gabe der Mitgift fordern durfte, hatte ihr Anwalt ferner 
zur Sicherftellung diefer eventuellen Forderung eine Pfän- 
bung im Schloffe Turcey erwirkt. 

Der Graf war empört über biefe gerichtlichen Maß- 
regeln, aber zugleich in großer Sorge, ein Bettler zu 
werden und dem bisherigen Woblleben entfagen zu müſſen. 
Er ſchlug plöglich eine andere Taftif ein und bot bie 
Hand zum Frieden und zur Verführung. Seine tief- 
beleidigte Gattin und deren Aeltern wiefen ihn fur; und 
beftimmt ab; er kam zum zweiten mal und gab gute Worte, 
aber die Eheſcheidungsklage wurde nicht zuräüdgenommen, 
denn er hatte das Vertrauen ber Chanteaub gänzlich 
verjcherzt. Nun gerieth der Graf in Wuth und drohte 
mit dem Revolver. So ftanden bie Sachen, ald bie 
feindlichen Ehegatten einander ganz zufällig begegneten. 
Am 4, November 1886 kam die Gräfin in Begleitung 
ihre8 Großvaterd von mütterlicher Seite, des Herrn 
Boiſſin, eines Greifes von 74 Jahren, nach Dijon und 
ftieg Dafelbft im Hotel Zur Glode ab, weil fie am andern 
Tage mit ihrem Rechtsanwalt über ihren Eheſcheidungs⸗ 
proceß conferiren wollte. Am 5. November 1886 früh 
um 8 Uhr traf der Graf in Dijon ein, um mit feinem 
Rechtsanwalt zu berathen. Er Tehrte ebenfalls im Hotel 
Zur Glocke ein ohne eine Ahnung, daß feine Frau mit 
ihm unter Einem Dache wohnte. Der Wirth, dem bie 
Lage ber Dinge befannt war, verichtwieg dem Grafen bie 


Merkwürdige Eriminalprocefje aus Franlreid. 153 


Anweſenheit feiner Frau und fagte biefer nichts von 
ber Ankunft ihres Mannes, denn er fürchtete, e8 möchte 
zu einer unangenehmen Scene in feinem Haufe kommen. 
Die Fran Gräfin fuhr zu ihrem Anwalt Vauvilliers, ber 
Graf begab fich etwas fpäter zu feinem Advocaten Herrn 
Bergeot, ver zufällig feinem &ollegen gerabe gegenüber 
wohnte. Als der Graf im Begriff war, in das Haus 
bes Herren Bergeot zu gehen, fah er, daß ein Wagen vor 
ber Thür des Herrn Vauvilliers hielt. Er vermuthete, 
daß feine Frau dort fei, Inüpfte mit dem Kutfcher ein 
Gefpräh an und erfuhr von ihm, daß er fich nicht geirrt 
hatte, und beichloß, die Gräftn zu erwarten. Nach zehn 
Minuten hörte er Tritte in ber Hausflur. Das Thor 
wurbe geöffnet, bie junge Frau, ihr Großvater und ber 
fih verabſchiedende Rechtsanwalt famen heraus und bie 
beiden erftern wollten in ven Wagen fteigen. Graf Roger 
de Molen vertrat ihnen, einen Revolver in ber Hand, 
den Weg und wanbte fich drohend an feine Frau mit den 
Worten: „Martha, wie weit find unfere Angelegenheiten 
gediehen?“ 

„Richten Sie dieſe Frage an Ihren Anwalt”, er⸗ 
wiberte Herr Boiffin und reichte feiner Entelin den Arm, 
um fie fortzuführen. In dieſem Augenblid bob Graf 
Roger den Revolver, zielte nach dem Kopfe feiner Frau 
und e8 fielen zwei Schüffe. 

Die Gräfin Hatte die verbächtige Bewegung geſehen 
und fich unwilfführlich gebüct, ſodaß bie Rugeln über fie 
bimwegflogen. Sie trafen ihren hinter ihr ſtehenden, fich 
zu ihrem Schute vorbeugenden Großvater in bie Bruſt. 
Er taumelte einen Schritt vorwärts, ftürzte aber gleich 
baranf, vom Grafen Roger brutal zurüdgeftoßen, blut- 
überftrömt zu Boden. 

Der Rechtsanwalt Vauvilliers batte bie zitternbe 





154 Nerkwürdige Eriminalproceffe aus Franfreid. 


Frau in das Haus gezogen und Hinter ber fchütenben 
Hausthür geborgen. Es eilte infolge der Schüffe eine 
Menge von Menſchen herbei. Der fchwer verwundete 
Greis wurde aufgehoben und in ben Wagen gebracht, ber 
Graf aber von einem Boltzeibeamten feftgenommen. Er 
jegte feiner Verhaftung feinen Widerſtand entgegen. 

Die Verlegungen des alten Mannes erwiefen fich ale 
bedenklich. Die eine Kugel konnte nicht entfernt werben, 
und fein eben fchwebte längere Zeit in Gefahr. 

Die Unterfuchung wider ven Grafen Roger de Miolen 
war fehr einfach, denn feine That war vor vielen Zeugen 
begangen, und über ven Beweggrund konnte kein Zweifel 
obwalten. Der Staatsanwalt, Generalapvocat Charles 
Bernard, erhob Anklage wegen eines doppelten, gegen 
bie Gräfin Martha de Molen und gegen ben Herrn 
Boiſſin verübten Mordverſuchs. 

Die Verhandlung der Sache fand ſtatt vor dem 
Schwurgericht in Dijon. Es waren drei Tage für 
dieſelbe angeſetzt. Der Gerichtsrath Fenéon präfibirte 
dem Gerichtshofe, die Anklage vertrat der ſchon genannte 
Generaladvocat, die Vertheidigung hatten die Advocaten 
Octave Falateuf und Bilhaud-Durouhet über 
nommen, für die Gräfin Martha de Molen, die ſich dem 
Strafverfahren als Civilpartei angeſchloſſen hatte, er⸗ 
ſchienen die Anwälte Nouriſſat und Ally. 

Nachdem der Staatsanwalt die Anklage entwickelt hat, 
erhebt ſich Herr Nouriſſat und gibt die Erklärung ab: 
„Die Anweſenheit der Gräfin entſpringt nicht dem Ver⸗ 
langen nach Rache, nicht der Abſicht, den Angeklagten der 
verdienten Strafe zuzuführen. Nach dem Geſetze würde 
ſie als Ehefrau berechtigt ſein, das Zeugniß zu verweigern. 
Wenn ſie ſich dennoch im Gerichtsſaal eingefunden und 
dem Strafverfahren angeſchloſſen hat, jo iſt ihr dieſes 


Mertiwürbige Eriminalproceffe aus Frankreich. 155 


Berhalten aufgendthigt worden, weil fie fich gegen bie 
abicheulichen Berleumpungen des Angeklagten vertheibigen 
muß. Nicht nur im ſchwebenden Cheſcheidungsproceſſe, 
aud im Laufe der ftrafrechtlichen Verhandlungen hat der 
Graf de Molen die niedrigſten Verbächtigungen ausge⸗ 
ftreut, welche feine Gattin in ihrer Frauenehre tief und 
empfindlich verwunden. Sie ift gezwungen, biefen per» 
fiven Infinuationen entgegenzutreten, fich vor dem Gerichts⸗ 
bofe, ven Gefchworenen und ber ganzen Welt wider ſolche 
Anklagen zu verwahren und bieje erbärmlichen Erfindungen 
in ihr Nichts zurückzuweiſen.“ 

Der Präfident läßt die Waffe, mit welcher das Attentat 
ausgeführt worden ift, ven Geſchworenen zur Anficht vor- 
legen. Es ift ein Revolver von fchwerem Kafiber. 

Straf Roger de Molen de la VBernepe ift eine 
vornehme Ericheinung, ein großer ſchlanker Herr von 34 
Jahren mit hübfchen regelmäßigen Gefichtszügen und einem 
tabellofen blonden Vollbart, wohlgepflegt und gut con⸗ 
ſervirt. Er ift mit ausgefuchter Eleganz gefleivet. “Die 
etwas dunklern Haare find am Scheitel und oberhalb ber 
Stirn vorzeitig gelichtet und kurz militärifch gefchnitten. 
Die blauen Augen haben einen matten Bid. Sein Organ 
Mingt nicht angenehm, er fpricht näſelnd und in Hoch 
fabrendem Zone. 

Trotz des wüſten Lebens, das dem Manne feine 
Spuren aufgebrüdt bat, erkennt man in ihm ben Spröß- 
ling eines edeln Stammes, 

Die Fragen des Präfidenten beantwortet er mit lauter 
Stimme, er rebet ſtets felbftbewußt und wählt forgfältig 
feine Worte. Man bat den Einbrud, daß er dem Ge⸗ 
richtshof und der Jury burch fein Auftreten und feine 
weltmännifche Sicherheit imponiren und bie Leute aus 
ber Provinz verblüffen will. Er gibt an: „Nah Boll 


156 Mertwärbige Eriminalprocefje aus Fraukreich 


enbung meiner Rechtsftubien bin ich in den Staatöbienft 
getreten. Ich war von 1879 bis 1881 Unterpräfect im 
Andelys. Ich nahm meinen Abſchied, weil ich die Ab- 
ficht hatte, mich im Departement des Jura um das Man⸗ 
dat für die Abgeorbnetenlammer zu bewerben. Ich trat 
als Kandidat auf, drang aber nicht durch und zog mich tm 
das Privatleben zurüd. Zulegt wohnte ich auf meinen: 
Stammſchloſſe Turcey bei Dijon.” 

Präfident. Lag Ihrem Ausicheiden aus dem Staate- 
bienfte wicht eine andere Urfache zu Grunde? War nicht 
eine Audienz bei dem Minifter des Innern voraus⸗ 
gegangen ? 

Angellagter. Ich verachte vie elenden Verdäch⸗ 
figungen, bie meinem Vorgehen anbere Beweggründe 
unterzufchieben fuchen. Mein Lebenswanbel war immer 
ber eined Edelmanns. 

Präfident. Nichtspeftoweniger tft Ihr Name im 
Jahre 1885 mit einem ſtandaldſen Proceß in Verbindung 
gebracht worden. Site haben fi) an die aurüchige Agen- 
tur von Buret und Soubry geivenbet, um durch bie 
Vermittelung viefer Leute wieder aufgenommen zu werben 
in den Staatsdienſt, den Ste zu verlaffen gendthigt wor- 
ben waren. Ste haben fich von dieſen Agenten 17000 Fre. 
abſchwindeln laſſen. Dieſelben verſchafften ſich ben Aus⸗ 
weis über Ihre Qualification, in welchem Sie für eine 
weitere Beamtenlaufbahn als ganz unmwürbig bezeichnet 
wurden. Die Agentur bat nichts gethan, um Ihren 
Wuünſchen zu entiprechen. 

Angellagter. Herr Präfident, ich bin überzeugt, 
daß Sie den Angaben biefer Schwinbler, welche mich ver- 
leumbet haben, feinen Glauben ſchenken werben. 

Präfident. Man ſchildert Sie als einn Mann 
von guten Anlagen und freigebiger Gemüthsart, jedoch 


Merkwürdige Eriminalproceife aus Frankreich. 157 


ſollen Sie leicht zum Zorn gereizt werben, fich in ben 
legten Jahren dem Trunk ergeben, beſtändig Abſynth und 
Rum genommen und ein fittenlofe® verwilberte® Leben 
geführt haben. 

Angellagter. ch halte e& unter meiner Würbe, 
mich gegen Gerüchte diefer Art zu vertbeibigen. Meine 
Mübürger und die Gefellichaft, in welcher ich mich be- 
wege, kennen mich und wiſſen mich zu fchäßen. 

Präſident. Am 6. Juli 1884 haben Sie Fräulein 
Marta Ehantenub geehelicht. Ihre Braut befaß eine 
Mitgift von 150000 Frs. in Rententiteln, die auf ihren 
Namen Iauteten, and 150000 Fr8. in Titeln au porteur. 
Ueberdies hatte fi) Ihr Schwiegervater verpflichtet, im 
monatlichen Borauszahlungen 12000 Irs. Jahresrente 
zu gewähren. Sie dagegen hatten fo gut wie nicht® mehr 
im Bermögen. 

Angellagter. Ich bin Eigenthümer ber Herrichaft 
und des Schlofjes Turcey. 

Präſident. Ya, aber diefer Grundbeſitz ift bis zur 
vollen Höhe bes Werthes mit Hypotheken belaftet. 

Angellagter. Das ift nicht richtig. Das Schloß 
jetbft bat einen Werth von reichlich 200000 Fre. und 
ft nur für wenig mehr als 60000 Frs. verpfändet. Ich 
bin immer noch vermögen genug und brauchte mich nicht 
zu einer Geldheirath zu entjchließen. 

Präſident. Am Morgen nad der Hochzeit, ale 
Sie kaum in den Beſitz der Nententitel au porteur ge 
langt waren, haben Sie 54000 Frs. einer ehemaligen 
Maitreffe ausgeantwortet. 

Angellagter. Diefer Umftand gehört nicht hierher. 

Präſident. Ich begreife, daß Sie eine Erörterung 
dieſes Umſtandes fcheuen. (Heiterkeit im Zubörerranm.) 
Sie haben den erſten Vormittag nach Ihrer Trauung 








158 Mertwürdige Eriminalprocefje aus Frankreich. 


bei Ihrer frühern Geliebten zugebracht, nachdem Sie vor⸗ 
ber Ihrer Gewohnheit gemäß fich in einer Weinftube auf- 
gehalten und Cognac getrunfen hatten. 

Angellagter. Das ift ein eitle®, lächerliches Ge⸗ 
ſchwätz. Die Gefellichaft, in welcher ich zu verlehren 
pflege, meine Erziehung, meine Lebensgewohnheiten wider⸗ 
legen folhe Behauptungen. Es ziemt mir als Edelmann 
nicht, darauf zu antworten. 

Präfident. Ihr eheliches Zufammenleben dauerte 
nicht ganz drei Monate: ein Monat in Paris, ein Mo⸗ 
nat in Turcey, drei Wochen in Biarrit. Ueberall ftanden 
fie im Briefwechjel mit Ihren ehemaligen Maitreffen. 

Angeflagter. Meine Frau hat fih, um Material 
für ihre Scheivungsflage zu gewinnen, mit dieſen Per⸗ 
fonen in das Einvernehmen gefett. Sie benugte ben 
Verdruß, den meine ehemaligen Maitreffen über meine 
BVerbeirathung empfanden, um bie Grundlagen für ben 
Ehefcheivungsproceß zu gewinnen. Fräulein Chanteaud 
hatte ihren Zweck erreicht, fie war Gräfin und num 
wollte fie mir ven Laufpaß geben. Das ift die Wahrheit. 

Bräfident. Ihre Frau war durch Ihr Verhalten 
unglüdlich geworben. Sie bebrohten fie mit dem Tode. 
„Martha, fagten Sie zu ihr, „wenn bu dich bei bei- 
ner Mutter beflagft, fo töbte ich dich.” Sechs Wochen 
nad der Trauung bielten Sie ihr einen Revolver vor 
das Geficht und in der Trunkenheit haben Sie ihre Frau 
in der voheften Weife beichimpft. Im Hotel Zur Glocke, 
wo Sie während Ihres Aufenthalts in Burgund ab- 
jtiegen, haben die Leute gefehen, daß Sie ihrer Gemahlin 
einen Schlag in das Geficht gaben, und beobachtet, daß 
Sie häufig infolge des übermäßigen Genuffes getjtiger 
Getränfe beraufcht waren. Als der Scheibungsproceß 
eingeleitet und zur Sicherftellung Ihrer Frau bie Gerichts⸗ 


Mertwürdige Sriminalproceffe aus Frankreich. 159 


fiegel im Schloffe angelegt wurben, haben Ste Drohungen 
ausgeftoßen: „Deine Frau muß fterben! Sie foll mir 
tafür büßen. Sie wird e8 mit ihrem Blute be- 
zahlen!” Seit jener Zeit trugen Sie beftändig einen 
Revolver bei ſich. Einige Tage darauf fchrieben Sie Ihrer 
Schwiegermutter: „Die Stunde ber Abrechnung naht. 
Bisjetzt bin ich das Opfer gewejen, jett aber werben Sie 
bie Strafe empfangen.” 

Im Widerſpruche hiermit haben Sie dann wieber 
mehreremal, aber vergeblich verjucht, Ihre Frau, bie 
fich zu ihren Aeltern nach Paris geflüchtet hatte, zur Rück⸗ 
fehr zu beftimmen. in gemeinfchaftlicher Freund, ber 
Senator Rinard, hat in Ihrem Auftrage vermittelt, aber 
Ihre eigene nicht zu bezähmenbe Leibenfchaftlichfeit Hat 
die Ausſöhnung verhindert. 

Bei einer Zufammenkunft mit der Familie Ihrer 
Grau haben Sie Ihre Schwiegerältern heftig angegriffen 
und beichimpft. Ihre Schwiegermutter haben Sie „Fiſch⸗ 
weib” und „aufgebonnerter Beſen“, Ihren Schwieger- 
vater „‚filziger Prog” genannt. Iſt das die Redeweiſe 
eined Edelmannes? (Heiterkeit im Zuhörerraum,) Sie 
find fogar zu Thätlichkeiten gefchritten, haben Ihre 
Schwiegermutter zu Boden geworfen und einem Diener, 
der zu ihrer Hülfe berbeieilte, einen Finger gebrochen. 
Sie haben bei dieſem Anlaß ferner eine jchwere Pendule 
vom Kamin geworfen und auf den Fußboden gejchleubert, 
ſodaß fie zerfplitterte. Dabei Haben Sie gejchrien, Sie 
würden Ihre Frau durch Gensdarmen abholen Laffen. 

Angellagter. Ich war es nicht, ver diefe Gewalt- 
thaten provocirte. Die Chanteaud find eine Familie 
von eingebilveten Emporkömmlingen. Die Mutter prügelt 
ich mit Mann und Tochter. Es find ganz unglaubliche 
Leute. Die Mutter geht herum wie ber Auslagelaften 








160 Merkwürdige Eriminalproceffe aus Frankreich. 


einer Mobiftin. Ich werde es mein Leben lang bebauern, 
mid) mit ihnen eingelaffen zu haben. 

Präfident. Sie haben eine Reihe von Beſchwerden 
gegen Ihre Frau vorgebradht. Da es Ihnen nicht ge- 
lang, fie zur Rüdfehr zu bewegen, haben Sie verſucht, 
fie durch Drohungen einzufchüchtern, und ihr erflärt, Sie 
würden einen ungeheuern Skandal erregen, wenn fie von 
ber Scheivungsflage nicht abftünde, 

Angeflagter. Ich Habe ihr lediglich in würdiger 
Weife bie Rückkehr in das Haus ihres angetrauten Gatten 
angeboten und biefe Rückkehr ihr als ihre Pflicht vorge- 
ftellt. Ich konnte als ihr Gatte unmöglich die Freiheiten 
gutheißen, welche bie Frau Gräfin de Molen beanipruchte, 
um fich das Leben ihren Neigungen entfprechend zu er- 
heitern. 

Präfident. Sie haben e8 bei jener Drohung nicht 
bewenben laſſen, ſondern ben Skandal wirklich hervor⸗ 
gerufen. Im Ihrer Eheſcheidungsllage warfen Sie Ihrer 
Frau unnatürliche Lafter vor. Sie haben die nur ge 
than, um bie gegen Sie erhobene Klage rüdgängig zu 
machen. Sie wußten, daß Sie nach dem Obfiege Ihrer 
Frau im Eheproceß die Mitgift herausgeben mußten, 
bie Sie zum großen Theil fchon vergeubet haben. Des⸗ 
halb haben Sie in Ihrer Klage fchändliche Thatfachen 
von Ihrer Frau erzählt, vie fich als erfunden heraus» 
ftellten. 

Angellagter. Es Hat fich alles fo zugetragen, wie 
e8 von mir erzählt worben if. Ich babe bie fittenlofe 
Aufführung meiner Frau vor und nach ver Trauung ber 
Wahrheit gemäß mitgetheilt. 

Präfident. Aber allen Ihren Behauptungen ift 
von glaubwürbigen Zeugen widerſprochen worben. Sie 
haben Herrn Boiffin, den Großvater Ihrer Frau, den 


Mertwürbige Eriminalproceife aus Frankreich. 161 


Ihre Kugel getroffen hat, beſchuldigt, daß er Die lesbifchen 
Neigungen und Paſſionen feiner Enkelin gekannt, fie ge- 
geduldet und beichüßt habe, Sie haben angegeben, Fräu- 
fein Chantenud fei aus einem Mäpcheninftitut wegen Ver⸗ 
letzung der Sittlichkeit entfernt worden. Die Zeugen 
haben es entſchieden in Abrede geftellt. Nach Ihrer Aus- 
fage joll Ihnen die Gräfin von Molen am Abend des 
Hochzeitstags haarfträubende Dinge aus ihrer Mäpchen- 
zeit gebeichtet haben. Damit fteht jedoch im unlösbaren 
Widerſpruche, daß Sie einige Zage fpäter an Ihre 
Schwiegermutter jchreiben: „Sie können fich gar nicht vor- 
ftellen, theuere Mama, welchen Schaf zarter Empfinbungen 
ih in der fcheinbar fo Fühlen Natur Ihrer Tochter ent- 
bede. Sie ift eine wahre Perle, eine jenfitive, Tiebens- 
würbige und liebebebürftige Seele. Es gibt auf Erben 
fein glüdlicheres Baar als uns.” 

Angellagter. Herr Präfibent, ich war gezwungen 
zu beucheln. Ich ſah mich in bie traurige Nothivenpig- 
feit verſetzt, mich für glüclich auszugeben, während ich 
innerlich tief unglüclich war. Ich babe mich mit Gewalt 
bemeiftert, um die Familie meiner Frau nicht zu betrüben. 
Ich liebte fie aufrichtig und hoffte noch, fie von ihren 
Berirrungen heilen zu können. Dadurch erflärt fich ber 
Brief, den Sie erwähnt haben, und andere Briefe ähn- 
lichen Inhalts aus jener Zeit. Aber meine Bemühungen 
waren umfonft, e8 gelang mir nicht, meine lafterhafte Fran 
zu befjern. 

Präſident. Sie haben noch fchlimmere Dinge vor- 
gebracht und das unglaubliche Märchen erzählt, daß Ihre 
Frau Sie am Tage nach der Hochzeit in ein verrufenes 
Haus der Straße Lavoiſier in Paris geführt habe, um 
einer Orgie beizuwohnen. Sie haben aber ben Beweis 
dafür nicht erbringen können. 

XXI. 11 





162 Mertwürdige Ertiminalproceffe aus Franfreid. 


Angellagter. ‘Diefe Angelegenheit ift nicht an diefer 
Stelle, fonvdern im Chefcheivungsproceffe auszutragen. 
Ih will hier nichts gegen die Gräfin und ihre Sitten 
fagen. 

Präfident. Leider ift es meine Pflicht, ven Ge⸗ 
ichworenen die Verhältniffe Kar zu machen. Sie haben 
grunblofe Verbächtigungen gegen Ihre Frau vorgebracht, 
ſchamloſe Geſpräche berichtet, die fie geführt haben fol, 
fie beichuldigt, daß fie beim Spazierenfahren im Bois de 
Boulogne mit übelberüchtigten Srauenzimmern vertrauliche 
Grüße ausgetaufcht und im Cafe Americain bei einem 
Souper fih mit einer Cocotte intim unterhalten babe. 

Angeflagter. Alles dies gehört in das Proceßver⸗ 
fahren wegen ber Löſung meiner Ehe, ich verweigere bie 
Auskunft hierüber. 

Präfident. Ich halte mich für verpflichtet, Ihnen 
zu eröffnen, daß die Gräfin de Molen dem Unter⸗ 
fuhungsrichter ihr Privatleben offen dargelegt und ſelbſt 
barauf beftanden hat, daß bie eingehenpften Nachforfchungen 
angeftellt würden. Man bat es getban und alle Ihre 
Anichuldigungen find widerlegt worven. Ihre Gemahlin 
bat tadellos gelebt und erfreut fich des beiten Leumunds, 
ber allgemeinen Achtung. Ihnen felbit ift dies befannt. 
Sie haben fie wiber befferes Wiffen angeflagt. Dies gebt 
daraus hervor, daß Sie noch am 17. Detober, alfo kurze 
Zeit nah dem Attentat, welches Sie auf bie Anflage- 
banf geführt bat, einen Verſuch zur Verföhnung machten 
und an Ihre Frau fchrieben: „Martha, ich hide bir bie 
ſchönſten Roſen der Madelaine. Es follen bie buftigen 
Vorboten meines Kommens fein.” In diefem Ton fchreibt 
man nicht an eine fchulpbeladene Frau. Nein, Ihre Ber: 
leumbungen hatten einzig umb allein ben Zweck, bie Gräfin 
einzufchüchtern, damit fie aus Furcht vor einem foldhen 


Merkwürdige ECriminalproceffe aus Frankreich. 163 


Skandal zu Ihnen zurüdfehren möchte und Sie die 
Mitgift nicht herauszugeben brauchten. 

Als die Familie Chanteaud durchgeſetzt hatte, daß zur 
pfanbweifen Sicherftellung ihrer Forderung gegen Sie die 
Siegel im Schloffe von Turcey angelegt wurden, geriethen 
Sie in großen Zorn. 

Angellagter. Allerdings, ich war empört über biefe 
Entheiligung des Stammfites meiner Ahnen. 

Präfident. Bon da an haben Sie den Vorſatz ge- 
faßt, Ihre Gattin zu töbten. 

Angeflagter. Nein, durchaus nicht. 

Präfident. Was bat fih am 5. November 1886 
ereignet? 

Angeflagter. Ich befand mich an biefem Tage zu> 
fälfig in Dijon, um mich mit meinem Anwalt zu be- 
iprechen, obne von ber Anmefenheit meiner Frau und 
ihres Großvaters zu wiffen. Unfere beiberjeitigen An- 
wälte wohnen einander gegenüber in der zum Yuftiz- 
palafte führenden Straße. 

Bräfident. Sie haben den Kutjcher Ihrer Frau 
ausgefragt und vor der Thür des Vauvilliers zehn Mi- 
nuten gelauert, bis Ihre Frau berausfam. 

Angeflagter. Ich beabfichtigte, die Gräfin zu über- 
wachen. Ich wollte erfahren, was fie in Dijon zu thun 
habe. Dazu war ich berechtigt, denn?fie trug meinen 
Namen. 

Präfident. Sie haben damals auf fie gewartet, um 
fie zu ermorden. 

Angeflagter. Durchaus nicht. 

Präfident. Warum haben Sie denn den Revolver 
aus der Tafche gezogen, auf fie gezielt und Feuer gegeben ? 

Angellagter. Meine Frau hat mich durch einen 
höhniſchen Blick gereizt. Ich griff mechanifch mach ver 

11* 


164 Mertwürdige Eriminalproceffe aus Frankreich. 


Waffe und legte an. Ich wollte zielen, aber in dem— 
jelben Augenblick fiegte die Selbftbeherrichung über Die 
Leidenfchaft. Ich drückte nicht ab, fondern wendete ben 
Revolver weg von bem Kopfe der Gräfin. Es war ein 
unglüdlicher Zufall, den ich ernftlich beflage, daß der 
Revolver losging und ihren in ber Nähe ftehenden Groß⸗ 
vater traf. 

Präfident. Die Anflage behauptet, es jei durch⸗ 
aus nicht Ihr Verbienft, daß die Gräfin unverlegt ge⸗ 
blieben, daß fie nur durch eine inftinctive Bewegung ber 
töbtlichen Kugel entgangen if. Was Herren Boiſſin be- 
trifft, fo bat er troß feines vorgerüdten Alters, dank 
jeiner Fräftigen Eonftitution die Folgen feiner Verwunbung 
überftanden. Die eine Kugel wurbe durch einen Knopf 
des Rocks abgeleitet umd ftreifte ihn nur an ber Seite, 
bie andere lief an der Rippe entlang, drang aber dann 
ſo tief in den Leib, daß fie bis jetzt noch nicht hat ent- 
fernt werben können. ‘Der fchwerverwunbete Greis tau- 
melte auf Sie zu, Sie ftießen ihn roh zurüd, ſodaß er 
auf das Straßenpflafter nieverftürzte und von vorüber- 
gehenden Perjonen aufgehoben werden mußte. 

Angellagter. Ich widerſpreche biefer Darjtellung 
bes Sachverhalte. Der zweite Schuß ift gegen meinen 
Willen Iosgegangen. Ich habe mich, nachdem ich gefchoffen 
batte, fofort von der Polizei verhaften Laffen. 

Präfident. Der fachverftändige Büchfenmacher bat 
den Revolver unterfuht und fein Gutachten dahin abs 
gegeben, daß der Schuß nur infolge eines ziemlich ftarfen 
Druds auf den Hahn habe losgehen können. Ihre Aus- 
lage tft alfo nicht glaubhaft. 

Der Bernehmung des Angeflagten folgt das Zeugen⸗ 
verhör. Die Frau Gräfin Martha de Molen wird 
vorgerufen. - Sie ijt eine höchſt anmuthige, gewinnende, 


—— 





Merkwürdige Criminalproceffe aus Franfreid. 165 


noch jugendliche Dame, mit fchönen regelmäßigen Zügen, 
vie fich beleben, wenn fie fpricht, ſchlank und ebenmäßig 
gewachjen. Ihre Haare, lichtbraun mit einem leichten, 
röthlihen Schimmer, gleichen dem Haar ber vielbefungenen 
Khönen Frauen von Georgien und Mingrelien. Sie iſt 
ben Bildern der jugendlichen Kaiſerin Eugenie offenbar 
ähnlich. 

Die Gräfin trägt ein einfaches fchwarzes Kleid, fie 
ift augenscheinlich bewegt und fpricht mit gebämpfter, aber 
doch gut vernehmlicher Stimme. Nachdem fie ihre Aus- 
fage abgegeben bat, verneigt fie fich vor dem Präfidenten 
und zieht fich, ohne den Angeklagten anzufehen, an bie 
Seite ihres Anwalts zurüd. 

Präfident. Seien Sie ohne Sorge, Madame, und 
beunrubigen Sie ſich nicht. Ihr Verhör beſchränkt fich 
nur auf den Vorfall des 5. November, auf den mörberijchen. 
Anfall Ihres Gatten. Erzählen Sie, was ſich zuge- 
tragen hat. 

Zeugin. Als ih aus dem Thore des meinem Ans 
walt gehörigen Haufes heraustrat, erblidte ich meinen 
Mann. Er bielt einen Revolver in ver Hand, fchritt auf 
mih zu und ſchoß. Unwillkürlich büdte ich mich und 
wurde dadurch gerettet. Leider haben bie Schüffe meinen 
Großvater getroffen. Sonft weiß ich nichts zu jagen. 

Herr Boiſſin, ein großer, ftattlicher, alter Herr von 
militärischer Haltung mit fchneeweißem, bichtem Haupt⸗ 
Baar, ſtellt fich troß der fchweren Wunde und ber Kugel, 
die er noch bei fich trägt, kerzengerad vor ben Gericht8- 
bof, er Spricht Fräftig und beftimmt und erzählt ven Ver- 
lauf des Attentats wie folgt: 

„Der Graf de Molen fchoß zweimal. Nach dem eriten 
Säuffe, ver mich nur ftreifte, wollte ih auf ihn zu» 
een und ihm die Waffe entreißen, ba traf mich ein 


166 Merfwärdige Criminalprocefje aus Srantreid. 


zweiter Schuß in die Bruft. Ich wanfte, ver Graf ftieß 
mich zurüd, ich fiel zu Boden und verlor die Befinnung. 
ALS ich wieder zu mir kam, glaubte ich, daß ich zum 
Tode verwundet wäre und fterben würde. Sch babe noch 
immer beftige Schmerzen und trage bie Kugel noch mit 
mir herum.” 

Präfident. Haben Sie gehört, daß Ihre Enkelin 
fi über ihren Mann beflagt bat? 

Zeuge. Schon vier bis fünf Tage nach der Hoch⸗ 
zeit fam meine Enkelin zu mir und weinte, und bat mid, 
. fie zu ſchützen. Sie Hagte, ihr Mann ſei jähzornig und 
brutal und ein Trunkenbold; er habe fie, die Ahnungs⸗ 
loje, jogar in ein verrufenes® Haus geführt! Ich fuchte 
fie zu tröften, fprah ihr Muth ein und rebete ihr zu, 
wieder zu ihrem Manne zu gehen. Es koſtete mich viel 
‚Mühe, ihre Thränen zu trocknen und fie zu beruhigen. 
Ich felbft Habe fie in das Haus ihres Mannes zurüd- 
gebracht und den Grafen Roger ermahnt, fie gut zu be⸗ 
handeln. 

Präftvdent. Hat der Graf ſich bei Ihnen über feine 
Frau beklagt? 

Zeuge. Niemals! Er war außer fich, als fie ihn 
verließ, und verlangte ftürmijch ihre Rückkehr. Eines 
Nachts bat und flebte er bis 2 Uhr morgens, daß fie 
wieberfommen möchte. Da fie fich aber entſchieden weigerte, 
feiner Bitte nachzugeben, wurde er wüthend, fchimpfte 
jeine Frau in gemeinen Ausbrüden und zerichlug mit 
einem Stode die Möbel. 

Angellagter. Mein Anwalt wird auf diefe Zeugen- 
ausfage antworten, joweit fie ſich auf den Scheidungs⸗ 
proceß bezieht. Was mich betrifft, jo iſt mir die Perſon 
des Herrn Boiffin, der von mir verwundet worden ift, 
fortan gebeiligt. Deine Ehrfurcht vor dem Greife ver- 








Mertwäürdige Criminalproceffe aus Frankreich. 167 


bietet mir, ihm zu widersprechen. Ich achte feine Ergeben- 
heit für feine Entelin. 

Der Polizeibeamte Lardelet hat den Grafen de Molen 
am 5. November verhaftet. Er berichtet, ver Graf fei 
ihm freiwillig zur Wache gefolgt und Habe zu ihm ge- 
jagt: „Jetzt werde ich ihrethalben zwei Sahre figen müſſen.“ 

Ein. Nachbar des Rechtsanwalts Vauvilliers, ein 
Zahnarzt, eilte auf die Straße, als die Schüffe fielen. 
Er glaubt, dag der Angeklagte zu dem Polizeibeamten, 
ber ihn verhaftete, gejagt bat: „Ich Habe fie nicht um⸗ 
bringen wollen, ich habe die Waffe weggewendet.“ 

Der Polizeibeamte erinnert fich indeß einer derartigen 
Ausſage nicht. 

Der Büchfenmacher wieberholt fein in der Vorunter- 
juhung abgegebene® Gutachten, daß der Revolver nur 108- 
geben fönne, wenn man auf ven Hahn brüde. 

Der Wirth des Hotels Zur Glode, Goiſſet, läßt fich 
mweitläufig barüber aus, welche Vorfichtsmaßregeln er er- 
griffen habe, damit der Herr Graf von der Anweſenheit der 
Frau Gräfin nichts erfahren follte. ‘Der Graf ift nach feiner 
Wahrnehmung fehr aufgeregt gewejen und bat, al& er, 
ber Wirth, ihm gegenüber ableugnete, daß feine Gattin 
im Hotel logire, gejagt: „Das überrafcht mich, doch wir 
werden ja ſehen.“ 

Die Wirthin des Hotels erzählt die frühern Scenen, 
bie zwifchen ven Ehegatten vorgefallen find. Ein Kellner 
ift gerade dazugefommen, als der Graf feiner Frau einen 
Schlag in das Geficht gab. Die Möbel im Zimmer waren 
untgeworfen. 

Diefer Kellner, Bourarat, und ein Zimmermädchen, 
Michaud, beftätigen, daß fich der Graf gegen feine Frau 
jehr brutal benommen bat. 

Das Kammermädchen der Gräfin hat gejehen, daß 








168 Mertwürbige Eriminalprocefje aus Frankreich. 


ihre Herrin von dem Angeklagten im Schloffe von Tur- 
cey beichimpft und gemishanvelt worben ift. Sie hat 
gehört, daß er eines, Abends zu ihr fagte: „So, jetzt gebe 
ich zu einem Frauenzimmer, welches mich beffer zu unter⸗ 
halten verfteht wie du.” 

Der GerichtSvollzieher des Friedensgerichts von Saint 
Seine⸗l'Abbaye, Sauveftre, und der Sollicitator des partjer 
Rechtsanwalts der Familie Chanteaud, welche bei der An⸗ 
legung der Siegel im Schloffe Turcey zugegen waren, be= 
zeugen die Wuthausbrüche des Grafen de Molen. Er ftieß 
Drohungen aus und rief, er werde feine Gattin töbten, 
jobald er mit ihr zufannmentreffe, weil fie die Schmach 
der Pfändung über ihn gebracht habe. 

Herr Gaſton de Coẽtlogon, der Bertraute des An⸗ 
geflagten, erklärte als Zeuge, er habe e8 fich angelegen 
ſein laſſen, nachzuforichen, ob die Anlagen des Grafen 
wider feine Gemahlin begründet feien. Er habe indeß die 
Ueberzeugung gewonnen, daß ihre Unſchuld und Ehren- 
haftigleit über jeden Zweifel erhaben ſei. 

Angeklagter (in heftigem Zorne), Der Zeuge ift 
boppelzüngig. Erſt bat er mir in allen Stüden bei- 
geftimmt und mich gegen die Familie Chanteaud aufge- 
best und fpäter bat er meiner Frau als Spion gedient, 
um ihr Material für den Eheſcheidungsproceß zu ver- 
ſchaffen. 

Der Präſident verweiſt dem Angeklagten dieſe Aus- 
drücke, und der Zeuge proteſtirt lebhaft gegen ſolche In= 
finuationen. 

Der Anwalt der Gräfin verlangt von dem Zeugen, 
er jolle mittheilen, was ihm ver Graf über ven Befuch 
gejagt habe, den er mit feiner jungen Frau in einem ver- 
rufenen Haufe machte. 

Zeuge. Graf Roger bat mir lachend erzählt, daß 


Merkwürdige Criminalprocefie aus Frankreich. 169 


er eine der erjten Nächte nach feiner Hochzeit mit feiner 
Frau in einem befannten Local der Straße Lapoijier 
jugebracht und feine vor Scham erglühende Gemahlin ge⸗ 
nöthigt bat, einer gemeinen Orgie beizumohnen. 

Die Einzelheiten, welche ver Zeuge angibt, können 
wir nicht referiren, und ebenjo wenig, was eine andere 
Zeugin, die Eigenthümerin eines berüchtigten Haufes in 
der Straße Lamennais von Paris, über den Verkehr und 
ben Lebenswanbel des Angeflagten kundgibt. Es geht 
daraus hervor, daß diefer Mann aus einem uralten eveln 
Geſchlecht ein tiefgefunlener, grundgemeiner Roue ift. 

Weiter werden Zeugen vernommen, bie beftätigen, daß 
ber Angeflagte im Webermaße Cognac, Rum, Abſynth, 
Wein und Champagner getrunfen bat und fehr oft be- 
rauſcht geweien iſt. Zu einem Kellner des Hotels Fried⸗ 
(and in Paris, Vibert, wo ber Graf Stammgaft war, 
hat er gelegentlich in der Trunkenheit gejagt, feine Frau 
jet eine natürliche Tochter des Kaiſers Napoleon ILL, er 
habe fich vergeffen, al® er fo tief unter feinem Stande 
geheirathet habe. 

Das Zeugniß, welches die Mutter der Gräfin, Frau 
Chanteaud, abgibt, Tautet fo: 

„Ih war tief erichüttert, als ich die Nachricht von 
dem Attentat auf meinen Vater und meine Tochter erhielt, 
aber überraicht hat es mich nicht, denn wir lebten feit 
wei Jahren in fteter Angft vor einem Acte der Gewalt 
durch meinen Schwiegerfohn. Als der Graf Roger de 
Molen zuerft in unfer Haus kam, war er die Liebens- 
wirbigfeit felbft. Er bezauberte uns alle. Seine Cor» 
reſpondenz während der paar Monate, die ber Hochzeit 
doransgingen, war muftergültig. Ich hatte ihn liebge- 
wonnen wie meinen eigenen Sohn. Leider wurden wir 
bald enttäuſcht. Nach und nach geſtand mir meine Tochter, 





170 Merkwürdige Eriminalprocefje aus Frankreich. 


was fie leide, und fie fehrte endlich in unjer Haus zurüd, 
weil fie e8 bei ihrem Mann nicht aushalten fonnte. Die 
brutale Scene, die der Graf aufführte, als ihm die Rüd- 
fehr feiner Frau abgefchlagen wurde, iſt bereits gefchilpert. 
Er bat mich bei dieſer Gelegenheit gefchlagen und nieber- 
geworfen. Später fuchte er uns einzufchüchtern, er brobte, 
daß er Entbüllungen machen, die Geheimgefchichte ber 
Familie aufveden, das Tam⸗Tam fchlagen und einen 
großen Skandal herbeiführen würde. Wir antworteten 
auf dieje feine Briefe nur: « Thun Sie, was Sie wollen. » 
Mein Mann und ich hatten anfänglich unfere Xochter 
zur Gebuld ermahnt, und würden ihrem Manne vielleicht 
jogar feine Neigung zum Trunk und fein rohes Be- 
nehmen verziehen haben; aber er verlangte jo Unziemliches 
von feiner Frau und entwürbigte fie fo in ihrer weib- 
lichen Ehre, daß wir es nicht länger bulben und fie ihm 
nie wieder anvertrauen Können.” 

Angellagter. Ich babe nur zu bemerfen, daß ich 
biefer Ausfage in allen Punkten widerſpreche. Auf vie 
Details einzugehen verbietet mir der Anftahb. 

Herr Chanteaud, ein Dann von fechzig Jahren, 
becorirt, ift offenbar ftolz darauf, daß er fich durch eigene 
Thätigkeit und Tüchtigkeit großen Neichthun erworben 
hat. Er bereut es bitter, daß er fo ehrgeizig gewefen iſt, 
feine Tochter an einen Grafen zu verheirathen. Er gibt an: 

„Der Graf de Molen wurde mir durch einen mir be- 
fannten Priefter, ten hochwürbigen Abbe Eperon, vor: 
geftellt und auf das wärmfte empfohlen. Sch felbft bin 
ein einfacher Mann, nicht mistrauifch und geftehe unum⸗ 
wunben ein, daß e8 leicht ift, mich zu überliften, Die 
Treundlichkeit und bie Gewandtheit des Grafen, feine 
Ihönen Redensarten und feine Manieren haben mich be 
tbört. Ich habe leider meine Zuftimmung zu ver Ehe 


Merkwürdige Eriminalprocejje aus Frankreich. 171 


meiner Tochter mit ihm gegeben und werde es zeitlebens 
bereuen, daß ich nicht vorfichtiger geweſen bin. 

„Es iſt bereits gefagt worden, weshalb meine Tochter 
ihren Mann verlaffen hat und in unfer Haus geflüchtet 
ft. Der Graf de Molen wollte fie mit Gewalt wieber- 
bolen. Er fchlug Lärm, fuchtelte bei ung mit einem Stock⸗ 
begen herum, mishandelte meine Frau und zerbrach einem 
Diener den Finger. Ich bin überzeugt, daß er den Vorſatz, 
feine Frau zu tödten, fchon früher gefaßt hat. In Biarritz 
zwang er fie, ein halbwildes Vollblutpferb zu befteigen. 
Sie ift zum Glück eine ausgezeichnete Keiterin und ver- 
ſtand es, das Thier zu zügeln. Ein zweites mal warf er 
ihren Wagen in Baris an der Ede des Hötelsbu-fouore 
abfichtlih um. Aber alles, was er ihr angethan bat, 
verfchwindet gegen die Schänblichkeiten, bie in feiner 
Scheidungsklage vorgebracht worben find. Daß er feine 
feufche, junge Frau jo gemein verleumden Tonnte, bleibt 
unverzeiblih. Ich habe es ihm in das Geficht gejagt, 
und er antwortete mir: «Ich werde Ihren Wiberjpruch 
gegen die Rückkehr meiner Frau durch einen öffentlichen 
Skandal brechen, oder Ihre Tochter tödten. Für mich 
babe ich immer den Ausweg, daß ich meinem Leben durch 
eine Kugel ein Ende mache.» Der Angellagte hat in 
meiner Gegenwart zu drei verjchievenen malen gebrobt, 
daß er feine Frau ermorden würde.” 

Präſident. Was haben Sie auf dieſe Ausjage zu 
erwibern ? 

Angellagter. Der Anftand verbietet mir, meinem 
Schwiegervater zu antworten. Ich vertraue dem Urtheil 
der Jury und des Gerichtshofs. Sie werben den Werth 
Solcher Phrafen und Anekdoten wie jene von bem Voll⸗ 
blutpferde und dem abfichtlichen Ummerfen des Wagens 


zu tariren wiſſen. 


172 Merfwürbige Eriminalprocefie aus Frankreich. 


Der nächfte Zeuge, Abbe Chanteaud, Vicar von 
Saint-Deni® vom heiligen Sakrament in Paris, der 
Bruder des Apothelers Chanteaud, ift auf Antrag bes 
Bertheibigers des Angeklagten vorgeladen worden. 

Er jagt aus: 

„Der Graf de Molen hat mir geflagt, daß jeine 
Frau ihn verlaffen habe und daß er fie gern wieber auf⸗ 
nehmen wolle. Ich habe meine Pflicht als Prieſter er- 
füllt und mich bemüht, eine Verſöhnung der getrennten 
Ehegatten herbeizuführen und die Scheidungsklage zu 
verhindern. Dem Grafen ftellte ich vor, er müſſe Ge- 
buld haben, die Zeit würde ihre heilende Kraft bewähren. 
« Herr Abbe », erwiberte er mir, «wenn mein Schwieger- 
vater meine Schulden bezahlt, werbe ich mich fchon mit 
meiner Fran in das richtige Einvernehmen fegen Fönnen. » “ 
(Bewegung im Zuhörerraum.) 

Vertheidiger Falateuf.e Ich muß mein Er- 
jtaunen ausbrüden, baß der Herr Zeuge fich heute zum 
erjten mal in dieſem Sinne äußert. 

Zeuge. Ich ftehe zum erften mal vor Gericht und 
habe geſchworen, die Wahrheit zu fagen, und das tft Die 
Wahrheit. Von einem unmoraliihen Wandel meiner 
Nichte ift mir nie etwas bekannt geworben, 

Madame Anna Boiffin, eine Tante der Gräfin de 
Molen, hat vergebliche Verjuche gemacht, die Ehegatten 
wieber zu vereinigen. Ste gibt ihrer Nichte das Zeug- 
nif großer Sittſamkeit und eines tabellofen Lebens. 

Angellagter. Die beiden lebten Zeugen find Ver⸗ 
wandte meiner Frau. Ich will ihnen peinliche Discuſ⸗ 
fionen erfparen und am biefem Orte nicht wiederholen, 
was fie mir vertraulich über vie Aufführung der Gräfin 
binterbracht haben. 

Der Diener des Herrn Chanteaud, Vaſſeur, war 


— 





Merkwürdige Eriminalproceffe aus Frankreich. 173 


zugegen, al8 der Graf ve Molen eine 15 Kilo fchwere 
Pendule vom Kamin herunterwarf und feine Echwieger- 
mutter thätlich angriff. Er fprang hinzu, um feine Herrin 
zu ſchützen, da ftürzte fih der Graf auf ihn und zerbrach 
ihm einen Finger. 

Angellagter. Der laute und unpafjende Ton, in 
welchem ber Zeuge fpricht, entbinvet mich von der Pflicht 
ihm zu antworten. Man verhinderte mich gewaltfam 
baran, meine Frau mit fortzunehmen, es entitand eine 
Rauferei und ich bin geftoßen und niebergeworfen worben. 

Zeuge Baffeur. Sie find ein elender Lügner! 

Es tritt nun eine große Anzahl von Zeugen auf, 
bie ſich über den ausgezeichneten Auf der in allgemeiner 
Achtung ftehenden Familie Chanteaud und insbefondere 
ihrer Tochter Martha ausiprechen. Wir refumiren die⸗ 
jelben kurz. 

Herr Leger, Director der DBerficherungsgefellichaft 
„2a Brance” in Paris, hat im Intereffe eines Freundes, 
ber um bie Hand von Fräulein Chanteaub werben wollte, 
Erfundigungen eingezogen, bie das befriebigenpfte Nefultat 
ergaben. Die Heirath kam nicht zu Stande, weil fein 
Freund fih im Auslande niederzulaſſen beabfichtigte, die 
Aeltern aber fich nicht entichließen konnten, die einzige 
Zochter in die Fremde ziehen zu laffen. 

Fräulein Gervais, die Vorfteherin des Inſtituts, 
in welchem Fräulein Chanteaud erzogen wurde, ift erzürnt 
über bie verleumberifche Nachrede, daß die junge Dame 
wegen eines Verſtoßes gegen bie guten Sitten entfernt 
worben ſei. Ste zäblte im Gegentheil zu ben beiten und 
beſcheidenſten Schülerinnen. 

Der Maler Gap und ver Arzt Dr. Fontaine, alte 
Freunde der Familie Chanteaud, die Nentiere Madame 
Lemoutte und der Kaufmann Loſſon, deren Zöchter zu- 





174 Mertwürdige Eriminalprocefje aus Frankreich. 


gleich mit Martha Chanteaud im Inftitut von Fräulein 
Gervais waren, ftimmen überein darin, daß die Frau 
Gräfin ein fittenreines, keuſches Mädchen gewejen ift, und 
ſind voll ihres Lobes. Ebenſo erzählt der Wechfelagent 
Eroispel voll Rührung von der aufopfernvden Freund⸗ 
haft und Liebe, mit welcher Fräulein Martha Chanteaud 
feine verftorbene Tochter gepflegt hat. 

Mapame Caroline Baudrimont, die Witwe eines 
Arztes, ftand der Gräfin de Molen befonders nahe, tiefe 
vertraute ihr bald nach ihrer Hochzeit, fie fei fehr un- 
glüdlih, und fügte hinzu: „Ich möchte fterben, um nur 
der Schmach einer folchen Verbindung zu entgehen.” 

Die Vertheidigung hat zur Entlaftung des Angeffagten 
verſchiedene Zeugen vorlaben laffen, welche num vernommen 
werden. Bauern und auch etliche Pfarrer aus der Um 
gebung ver Herrichaft Turcey rühmen bie Freigebigkeit des 
Grafen de Molen, fie berichten von Schenkungen, die er 
gemacht, von der Sympathie und der Achtung, vie er überall 
genofjen habe. Der Abbe Gouget war ein häufiger Gaft 
im Schloffe, bat aber nicht bemerkt, daß ber Graf un- 
mäßig getrunfen babe. Im gleichen Sinne fpricht ſich 
der Rammerbiener Florentin Matthieu aus; er bat 
feinen Herrn niemals beraujcht gejehen. 

Fräulein Poly, das Stubenmäbcen im Dienfte des 
Grafen, fagt: „Die Gräfin ve Molen hatte eine Kammer: 
jungfer Namens Pauline mit ins Schloß gebracht. Diefe 
erzählte mir, die Gräfin habe ihr gejagt, daß fie mit 
ihrem Gemahl nicht verkehren möge.” 

Bertheidiger Falateuf. Hat Ihnen dieſe Pau— 
line nicht die eigenen Worte der Gräfin wieberbolt: 
„Ih will feine Kinder haben, ich würbe meine fchlanfe 
Taille dadurch verlieren und verunftaltet werben.” 





Merkwürdige Criminalproceife aus Fraukreich. 175 


Zeugin. Ya, mein Herr, das bat Pauline wirklich 
gelagt. 

Das Zeugenverbör ift gefchloffen, das Plaidoyer be- 
ginnt. 

Der Vertreter der Staatsbehörde, Generaladvocat 
Charles Bernard, nimmt das Wort und hält eine 
formvollendete zweiſtündige Rede. Er entwirft ein treues 
Bild dieſer „vornehmen Ehe“ und erörtert die Gründe, 
welche ihre thatſächliche Löſung herbeiführten. Er erinnert 
an die von dem Angeklagten wider ſeine Ehefrau erhobenen 
Beſchuldigungen, ſein brutales Benehmen wider ſie und 
ſeine Schwiegermutter. Hierauf geißelt er ſcharf das 
zügelloſe Leben des Grafen de Molen und wendet ſich 
nun erſt zu dem Gegenſtande der Anklage, dem Attentat 
vom 5. November 1886. Er prüft die Ausſage jedes 
einzelnen Zeugen und gelangt zu dem Reſultat: der 
Angeklagte hat mit Ueberlegung und Vorbedacht den erften 
Schuß auf feine Frau und ven zweiten auf den Herrn 
Boiffin abgegeben in der Abficht, beide zu töbten. Er 
beantragt, den Grafen de Molen demgemäß fchuldig zu 
Ipreden und ihm mildernde Umſtände nicht zuzubilligen. 

Herr NRouriffat, der Anwalt der Gräfin de Molen, 
führt aus: „Der Graf de Molen hat die Familie Chan- 
teand ſchmählich Hintergangen. Er ift ein verfchuldeter 
Lebemann, ein gewohnheitsmäßiger Trinker, ein aus dem 
Staatspienft entfernter Unterpräfeet, ein Client der ans» 
rüdigen Firma Buret und Soudry. Er bat e8 verftanden, 
ſich einzufchmuggeln in eine ehrenwerthe Bürgerfamilie; 
der in der Form äußerlich feine und Tiebenswürbige Edel⸗ 
mam hat Fräulein Chanteaudb und ihre Neltern betbört 
und bie junge Dame geheirathet, weil ihre Mitgift ihn 
tor dem völligen Ruin bewahren follte. ‘Dann bat er 
ben Verfuch gemacht, die arme junge Frau in feine ge- 


176 Merkwürdige Sriminalproceffe aus Frankreich. 


meine Sphäre Hinabzuziehen. Ich erinnere an die Scenen 
in der Straße Lapoifier und im Cafe Americain zu 
Paris während ber Flitterwochen. Zulegt hat ver An- 
geflagte feinem ehrlofen Thun damit die Krone aufgefekt, 
baß er feine Gattin verleumbete und die lächerliche Be⸗ 
hauptung aufftellte, nicht er habe feine Frau, ſondern 
jie babe ihn, ven einfachen Provinzialen, verführt und 
mit dem rafftnirten Lafterleben von Paris befannt gemacht! 

„Der Graf de Molen bat feinerfeitd die Scheidungs⸗ 
age nur angeftellt, um einen großen Skandal herbei» 
zuführen, jeine rau dadurch zur Rückkehr zu zwingen 
und dann die Mitgift nicht herausgeben zu müſſen. Die 
Mitgift wollte er um jeden Preis behalten, deshalb bot 
er die Hand immer ven neuem zum Frieden, und als 
alles nichts half, griff er zum Revolver und wurbe ein 
Mörder. 

„Die Oräfin war fiher un Bewußtjein ihrer Unſchuld, 
ihr ganzes Leben Tiegt offen vor uns, fie braucht das 
Licht des Tages nicht zu ſcheuen. Glaubwürdige Zeugen 
haben ihre Sittenreinheit eiblich erhärtet, fie war in allen 
Kreifen geehrt, geachtet und geliebt. Auch der Angeflagte 
bat fie boch gehalten, fonjt hätte er ihr fchiwerlich ben 
feierlichen Empfang mit Glodengeläute und Ueberreichung 
des Rojenfranzes durch weißgefleivete Jungfrauen bereitet, 
als er fie einführte in das Stammſchloß feiner Ahnen. 
Wäre e8 wahr, was der Graf de Molen jet von ihr 
fagt, daß er fie unmittelbar nach der Hochzeit in ihrer 
niedrigen Gefinnung, in ihrer wahren Natur fennen ge- 
lernt hätte, jo würde er nicht einige Tage fpäter an feine 
Schwiegermutter gefchrieben haben, daß der Beſitz ihrer 
Tochter fein Leben zu einem feligen Paradieje umgeſchaffen 
babe. 

„Es ift der Beweis erbracht, daß Martha Chanteaud 





Merkwürdige Eriminalprocefje aus Franlreid. 177 


ein reines Mädchen, eine vormwurfsfreie Gattin und bie 
unglüdlichite Gattin gewejen ift. Der Angeflagte hat 
borfäglich ven Revolver abgefeuert, um fie zu ermorben, 
und mit der zweiten Kugel ihrem Grofvater eine ſchwere 
Wunde zugefügt. Ich beantrage, ihn der Anklage gemäß 
Ihuldig zu Sprechen und ihm feine mildernde Umſtände 
zuzugefteben.’ 

Der Vertheidiger des Grafen, Octave Falateuf, 
erhebt fich hierauf zu einer fchneidigen Entgegnung und 
ſpricht: 

„Die Herren Geſchworenen richten über das Leben 
und die Ehre. Was aber iſt das Leben ohne die Ehre! 

„Der Herr Graf de Molen befindet ſich in einer 
traurigen Zwangslage. Er hat den Kampf zu beſtehen 
gegen eine Frau, die ganz unſagbaren Neigungen fröhnt, 
und doch darf das Leben, welches ſie geführt hat, nach 
ſeinem Willen nur angedeutet, aber nicht aufgedeckt werden, 
denn fie iſt ſeine angetraute Gattin. Ich hätte mich gern 
darauf beichräntt, nur von den Revolverſchüſſen zu ſprechen, 
und ich hätte mir diefe Schranfe auferlegen können, wenn 
ih einzig und allein dem Staatsanwalt, der nur das 
Attentat in den Kreis feiner Ausführungen gezogen hat, 
antworten müßte. Der Vertreter ber Civilpartei, ber 
Anwalt der Gräfin de Molen, dagegen hat den Streit 
auf ein anderes Gebiet übertragen, und ich muß ihm da⸗ 
hin folgen. Mein Gegner tritt ein für die Unſchuld des 
Fräulein Chanteaud. Ich für meine Perfon achte nur 
ſolche Frauen, welche weiblich fühlen und weiblich denken, 
ih achte fie, auch werm fie weiblich fehlen. Es ift ber 
Wunſch des Herrn Grafen de Molen, dag bie Beichul- 
digungen, welche er leider gegen feine Gattin zu erheben 
genöthigt geweſen ift, an einem andern Ort ausgetragen 
werben, deshalb kann ich bie Details des unweiblichen 

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178 Merkwürdige Eriminalproceffe aus Frankreich. 


Lebenswanbels ber Gräfin bier nicht fchilden. Man 
wirft uns vor, daß wir jene «Damen», bie Genoflen ihrer 
verbotenen Freuden, nicht als Zeugen vor das Gericht 
citirt haben. Sch ftelle dem Gerichtshof ihre Namen 
zur Verfügung. Sie werben im Eheſcheidungsproceſſe 
verhört werben. Der Unterfuchungsrichter hat ihre Bor- 
lodung und Vernehmung verweigert, weil er fie für un⸗ 
glaubwürbige Zeugen erklärte. Aber wenn eine Anklage 
jo ſchmuziger Natım in Frage ift, kann man nicht reine 
Sungfrauen als Zeugen verlangen. Es find Dirnen, es 
banbelt fich indeß auch um den Beweis, daß die Gräfin 
de Molen fich wie eine Dirne betragen bat. 

„Graf Roger de Molen ift nicht der blafirte Wüſt⸗ 
fing und nicht der gewohnheitsmäßige Trinker, als ben 
ihn die Gegenfeite hinzuftellen verfucht hat. Er Hat die 
Rechte ftubirt, er ift Unterpräfect geweſen und bat fein 
Gut felbft bewirthichaftet. Hier bei den Acten befinden 
fih über feine Führung ehrenvolle Zeugniffe. Es war 
fein Unglüd, daß er einem alten edeln Stamm angehörte. 
Sein Stand und fein Titel Iodte, man hat beibe® ge: 
kauft und ihm als Kaufpreis dafür Fräulein Chanteaud 
zur Frau gegeben. Herr Chanteaud, ein reich geworbener 
PBarvenu, wollte fih einen Grafen ale Schwiegerjohn 
leiften. Madame Chanteaud ſchwärmte ſchon längft für 
den Adel; die Verehrung, die ſie für hochgeborene Leute 
hatte, war geradezu lächerlich. Dieſer vormalige Apo- 
theker iſt nicht der unbefangene Biedermann, deſſen Rolle 
er jetzt ſpielt. Wer der Menſchheit ſo viele Pillen zu 
ſchlucken gegeben hat, iſt keine ſo naive unſchuldige Seele! 

„Fräulein Martha Chanteaud war fein unerfahrener 
Backfiſch, fie hatte bereits mehr als ein Vierteljahrhundert 
zurücgelegt, als fie die Ehe mit dem Grafen de Molen 
einging. Es waren fchon viele Heirathsprojecte voraus— 


Mertwürbige Eriminalproceffe aus Frankreich. 179 


gegangen, aber eins nach dem andern hatte fich zerichlagen 
ein Freier nach dem andern trat zurück. Warum bat 
biefes fehr reiche Mäpchen feinen Mann befommen? Die 
Gründe müſſen doch wol in ver Perfon und in vem Wan- 
bel des Fräuleins gejucht werben. 

„Herr Chanteaud Fannte bie finanzielle Lage feines 
Schwiegerfohns ganz genau. Es ift alſo unrichtig, daß 
er von ihm getäufcht worden wäre. Nicht von der Fa- 
milte Chanteaub, fondern vom Grafen Roger de Molen 
war biefe Eheſchließung ein leichtfinniger Streid. Er 
bat fich dadurch mit feiner Yamilte entzweit und feinen 
Namen entehrt, denn er gab diefen Namen einer Frau, 
bie feiner nicht wertb war. Er bat nur in Einem Punkte 
ein Unrecht ober richtiger ausgebrüdt eine vorſchnelle 
Handlung begangen, die darin beitand, daß er am Morgen 
nach der Hochzeit feiner ehemaligen Maitreffe, der Ma- 
bame Darthba, 54000 Fr8. übergab und dieſes Gelb 
bon der Mitgift feiner Gattin nahm. Allein es war 
dies nur eine Anleihe, die er machte. Gott ſei Danf, be- 
ſaß und befitt er noch jeßt genug, um die Mitgift voll 
zu reſtituiren. Er konnte fich nur nicht fofort baare Mittel 
verſchaffen, und e8 galt, eine Ehrenſchuld zu bezahlen, 
deshalb that er dieſen Schritt. Es läßt fich pſychologiſch 
wohl verſtehen, daß Graf de Molen ſeine Frau geliebt und 
doch verachtet bat. Als er die traurige Gewißheit er- 
langte, daß fie ein fittenlofes Weib fei, wurde er jehr 
betrübt, aber feine Liebe dauerte fort. Er hoffte, fie 
fäutern und zu fich Hinaufziehen zu können. Er verjuchte 
es mit allen ihm zu Gebote ftehenden Mitteln, aber feine 
Bemühungen waren vergeblich. Die Gräfin hielt feit am 
ihren Neigungen und Gewohnheiten aus ihrer Mäpchen- 
zeit. Der Graf de Molen befitt eine Kaffette mit Briefen 
und Photographien, welche jeden Zweifel über bie Ge: 

12* 


180 Mertwärbige Eriminalproceife ans Frankreich. 


lüfte und das Thum feiner Frau ausfchließen. Die Gräfin 
ift, nachdem fie ihren Gatten verlaffen hat, noch einmal 
heimlich in das Schloß Turcey gekommen, um fidy bie 
Kaffette und mit verjelben die Beweismittel ihrer Schuld 
anzueignen. 

„Der Graf war erzürnt darüber, daß feine Frau fich 
von ihm trennte, und fein Zorm wurde un böchften Grade 
gereizt dadurch, daß die Familie Chanteaud ſchonungslos 
wider ihn vorging und ihn durch die Pfändung im Schloffe 
bejchimpfte. Er wollte fi) dafür rächen und war nicht mehr 
recht bei Sinnen. Das Attentat hat er verübt in einer 
plöglichen Geifteßverwirrung, e8 war nur das Rejultat 
ber auf ihn einftürmenden Beleidigungen und ehrenrührigen 
Angriffe. Ueberdies hat ver Graf die Waffe, die er auf 
feine Frau anfchlug, felbft wieder abgefehrt. Die Ver⸗ 
wunbung des Herrn Boiffin ift nur die Folge eines be» 
bauerlichen Zufall. Ich beantrage bie Freiiprechung 
des Angellagten, der ein Unglüdlicher, aber nicht ein 
Schulbiger ift. Der Graf hat entfelich gelitten, er ift 
erbarmungslos verfolgt und von Verleumdungen faft er- 
brüdt worden. Man bat ihn fogar verdächtigt, ven Prä- 
fecten des Departements des Jura ermordet zu baben. 
Wer mag der anonyme Anfläger geweſen fein?‘ 

Der Angeflagte unterbricht bier feinen Vertheidiger: 
„Ich bitte, daß Sie zu Ende kommen. Die Verhandlung, 
bie num bereitd drei Tage dauert, greift mich fürchterlich 
an. Sch vergebe meinen Feinden, und bitte für mich um 
Verzeihung für den Act unüberlegter Rafchheit, mit ver 
ih gehandelt habe. Mit Vorbedacht babe ich nichts 
Döfes thun wollen.” 

Der Vertheidiger fchließt mit der Vorleſung etlicher 
Briefe von Verwandten des Grafen, ver Baronin Defair, 
feiner Groftante, und anderer, in benen auf bie glor- 





Mertwürdige Eriminalprocefje aus Frantreid. 181 


reiche Samiliengefchichte der Grafen de Molen de la Ver⸗ 
nede ein beſonderer Nachdruck gelegt wird. 

Der Generalabvocat Bernard replicirt in halbſtün⸗ 
biger Rede. Er hält die Anklage überall aufrecht und 
erflärt, daß nach feiner Ueberzeugung die Gräfin veoll- 
fommen rein und fchulplos ift und daß ber Angeflagte 
den Mordverſuch mit Vorbebacht verübt hat. 

Hierauf erhebt fib der Graf pe Molen zum 
Schlußwort: 

„Meine Herren Gejchworenen! Zu ben Gewiffens- 
vorwürfen, die ich mir wegen meines unüberlegten Schrittes 
am 5. November felbjt mache, gejellen fich unverbiente 
Kränfungen, Schimpf und Verleumdungen. Ich erliege 
unter jolcher Laſt. Ich erwarte mit Faffung Ihr DVer- 
dict. Sie werben gerecht fein. Ich werde mein Schid- 
jal mit Geduld ertragen... Das Leben ift für mich in 
Zukunft nur ein fürzeres ober ein längeres Leiden. Es 
war mein Wille, daß die Frau, die noch meinen Namen 
trägt, an dieſer Stelle im Betreff ihrer Ehre nicht an- 
gegriffen werben follte. Ich bin nicht jener Verächter 
ver edeln Empfindungen, ald den man mich Ihnen zu 
ſchildern verfucht hat. Mein Herz fteht allen befjern 
Regungen offen. Auf meine Ehre verfichere ich Sie, daß 
ich weder meine Frau noch ihren Großvater töbten wollte. 
An Ihnen ift es, zu entjcheiven, ob ein Augenblid ber 
Berblendung einen edeln Namen für immer brand- 
marken, ihn auf ewig ver Verachtung aller Welt preis- 
geben ſoll.“ 

Die Jury verfündigt, nachdem fie eine und eine halbe 
Stunde berathen Hat, ihr Verbict. Der Angellagte, Graf 
Roger de Molen, wird für ſchuldig erflärt wegen bes 
mit Vorbedacht ausgeführten Mordverſuchs 
gegen feine Frau, dagegen die Abſicht, den Herrn 


182 Mertwürbige Sriminalproceffe aus Frankreich. 


Boiſſin zu tödten, verneint. Die Trage, ob mil- 
bernde Umftände vorhanden feien, wird von ben Ge⸗ 
ſchworenen bejaht. 

Graf Roger de Molen erklärt bleich, aber fehr 
ruhig, er habe in Bezug auf vie Strafe nichts zu er- 
wähnen. 

Der Gerichtshof verurtbeilt ihn zu zehn Jahren 
Zwangsarbeit und zu einem Franc Schadens⸗ 
erfat an bie Civilpartet. 

Der Bräfident ver franzöfifchen Republil, Herr Julius 
Grevy, fand für gut, diefe Strafe im Gnadenwege auf 
fieben Jahre Kerker berabzujegen. 

Das GCivilgeriht in Bari, vor welchem ber Ehe⸗ 
proceß verhandelt wurde, bat durch Urtheil vom 21. April 
1887 die Che des Grafen Roger und der Gräfin de 
Molen gefchieven. As Scheivungsgründe werben an- 
geführt die Mishandlungen und die Beleidigungen, welche 
ber Graf fich feiner Frau gegenüber ſchuldig gemacht hat, 
und feine Verurtheilung zu zehn Jahren Zwangsarbeit. 
Dagegen erflärte das Gericht, der. Beweis für die Be⸗ 
Bauptung des Grafen, daß feine Frau unfittlih gelebt 
babe, fet nicht erbracht worben. 


Das Urtheil des Schwurgerichts gibt uns Anlaß zu 
folgenden Bemerkungen: 

In Frankreich gilt e8 als Grundſatz, daß ber betro- 
gene Ehemann berechtigt ift, feine untrene Ehefrau und 
ihren Buhlen nicht blos, wenn er fie auf frifcher That 
betrifft, fondern auch Hinterbrein, nach Verlauf einer 
längern Zeit, zu tödten. Die Praxis hat diefen in feinem 
legten Theil ohnehin bedenklichen Sag ftarf erweitert. 


Merkwürdige Criminalproceife aus Frankreich. 183 


Die Jury des Departements der Seine (Paris) pflegt 
anzuerfennen, daß in „Liebesfachen‘ jedermann Kläger, 
Richter und Henker fein darf. Wenn ein Angellagter 
jeine Ehefrau oder feine Geliebte oder ihren Galan er- 
morbet ober tobtgefchlagen bat, fo wird er regelmäßig 
freigefprochen, mag er fortgeriffen von ber Leidenſchaft 
ober mit fühler wohlüberlegter Bosheit gehandelt haben, 
mag feine Eiferfucht und fein Zorn begründet ober un- 
begründet, mag ein Zreubruch wirklich begangen over nur 
eingebilbet fein. Das gleiche Recht wird auch ber be- 
trogenen Ehefrau und dem verführten Mädchen von ben 
Geſchworenen zugeftanden, wenn fie den Gatten ober Ge- 
fiebten mit Revolver, Dolch oder Vitriol für feine Un⸗ 
treue ftraft. 

In der Provinz find die Gefchworenen nicht jo to- 
lerant, ihr Urtheil ift Fühler und gerechter, Im Baris 
hätte man vielleicht auch den Grafen de Molen frei- 
gefprochen, weil das mörberifche Attentat feiner Frau galt, 
bie ihn verlaffen hatte und nicht zu ihm zurückkehren 
wollte. Die Jury pon Dijon urtheilte anders, und wir 
glauben, fie hat ihre Pflicht gethan, indem fie das Schulbig 
ausſprach. Der Graf de Molen bat nicht wie ein Ebel- 
mann gehandelt, fondern wie ein gemeiner, tiefgefunfener 
Slüdsjäger. Er war ein banfrotter Route, ein Säufer 
und Schlemmer, der fich nur deshalb verheirathete, um 
finanziell wieder flott zu werben. Kaum ift bie reiche 
Mitgift in feinen Händen, fo fängt der undankbare Dann 
fein mwüftes Leben von neuem an. Schon am erften Tage 
nach der Hochzeit Inüpft er ben Verkehr mit einer von 
feinen Maitrefjen wieder an und zwingt feine unglüdliche 
Frau, bei feinen fchamlofen Freuden zugegen zu fein. Er 
behandelt feine Gattin und ihre Aeltern roh und brutal. 
Wir begreifen, daß bie Gräfin voll Scham, Zorn und 


184 Mertwürbige Eriminalproceffe aus Frankreich. 


Widerwillen fi von ihm abwenbet, zu ihren Xeltern 
flüchtet und die Rückkehr verweigert. 

Es ift ber Gipfel der Gemeinbeit, daß er feine reine, 
unſchuldige Frau anflagt, ihn erft verführt zu haben, und 
wir find mit der Jury davon überzeugt, daß er, um fich 
an ihr zu rächen, ven Entſchluß, fie zu erſchießen, ſchon 
jeit längerer Zeit faßte, und daß er mit voller Ueber: 
legung handelte, als er den Revolver abfeuerte. Er hat 
nah dem Kopfe feiner Gattin gezielt, und bie Kugel hat 
nur deshalb nicht getroffen, weil fie fih unwillkürlich 
büdte. Wir nehmen mit der Yury an, daß ber An- 
geflagte den Herrn Boiffin nicht töbten wollte, fein Haß 
richtete fich in erfter Linie gegen feine Frau, und ihrem 
Leben galt auch die zweite Kugel. 

„Mildernde Umftände” vermögen wir nicht zu 
entbeden. Der Graf de Molen verdiente fein Mitleid, 
jondern die volle Strafe des Mörders. Wir bedauern, 
daß die Gefchworenen in einer Anwandlung von Schwäche 
dieſem fchlechten und bösartigen Menſchen mildernde Um- 
jtände zuerkannt haben. . 

Der Gerichtshof hat der Civilpartei im Strafverfahren 
nur einen Franc Schadenserſatz zugefprochen, weil er ben 
Parteien überlafjen wollte, im Eheproceſſe ihr Recht zu 
ſuchen. Es follte bamit nur der Veberzeugung Ausprud 
gegeben werben, daß bie Gräfin nach der Anficht des 
Strafrichters ſchuldlos und berechtigt fei, Schabenserfag 
zu verlangen. 


Mertwürbige Eriminalproceife aus Frankreich. 185 


2. Der Proceß wider das Heirathsburean der Frau 
Baronin de Mortier und Geuoſſen in Paris, 


Betrag. 1887. 


Bor einigen Jahren errichtete Madame Demortter 
aus Rochette, die fih aus gefchäftlichen Rückſichten den 
beſſer klingenden, hochadeligen Namen einer „Baronin 
de Mortier de la Rochette” beilegte, in Paris auf 
dem Boulevard Saint-Germain Nr.20 ein Heirathsbureau. 
Sie felbft Tebte getrennt von ihrem Mann, ſchloß aber 
mit einem befannten vontinirten Heirathsvermittler Na⸗ 
mens Lecourtois einen Derzensbund, und beibe etablirten 
ein Geſchäft, welches barin beftand, daß fie in ber beſſern 
und beiten Gefellfchaft auf discrete Weife den Männern 
Frauen und den Frauen Männer verfchafften. Sie ver- 
jtanden es, Perjonen verfchievenen Geſchlechts, Die zu- 
einander paßten, befannt zu machen, umb erwarben fich 
durch ihr Geſchick, Ehen zu ftiften, einen gewiffen Auf 
und eine große Kundfchaft. Bis zum Jahre 1885 brachten 
fie eine nicht unbedeutende Zahl von Ehen zu Stande, 
und es Tiefen bis dahin Feine Klagen ein, daß etwa un- 
teell oder gar betrügerifch von ihnen verfahren würde. 
Allein die Gebühren, welche Die Heirathscandidaten zahlten, 
reichten nicht aus für ihren Eoftipieligen Lebensunterhalt. 
fie fchlugen deshalb eine andere Praris ein. Sie wollten 
von num an nicht mehr Ehen ftiften, fondern Gimpel 
fangen und rupfen, bie darauf ausgingen, eine reiche 
Heirath zu machen. Die Baronin de Mortier annon- 
eirte in den Zeitungen, daß junge Damen mit einer fürft- 
fichen Ausſteuer und einer ſehr anfehnlichen Mitgift durch 
fie einen Lebensgefährten fuchten. Dabei wurde mitunter 





186 Merkwürdige Eriminalproceffe aus Frankreich. 


ein Förperliches Gebrechen, ein Heiner moralifcher Defect, 
ein Fehltritt, den ein kluger Dann verzeihen werbe, dis⸗ 
cret angebeutet, um plaufibel zu machen, daß ein Mäd⸗ 
hen mit jo großem Vermögen dieſen Weg einjchlug, um 
unter bie Haube zu kommen. 

Es fanden fib Männer aus allen Ständen, bie auf 
jolhe Annoncen bin Verhandlungen anfnüpften. Ge⸗ 
wöhnlih wandten ſich die Mitgiftjäger ſchriftlich an vie 
Firma und erhielten dann ein gedrucktes Circular zu- 
gefchiekt, ein im feiner Art meifterhaft abgefaßtes Schrüft- 
ftüd. Am Kopfe der Urkunde prangte eine fiebenzadige 
Krone mit der Devife: „Thue, was bu follft.” Der 
Zert lautete: „Die Ehe ift eine Einrichtung von un⸗ 
zweifelhafter Nothwendigkeit, und dennoch bleibt eine große 
Zahl von Männern und Frauen ausgefchloffen von dieſer 
Wohlthat, weil es ihnen an der hierzu unumgänglichen 
Vorbedingung einer entiprechend ausgebreiteten Bekaunt⸗ 
haft mangelt. 

„Die Schwierigkeiten, welche ſich dem Abfchluß ber 
Ehe zwiſchen gut zueinander paffenden Perjonen entgegen» 
ftellen, auch in Fällen, wo die Charaktere und bie mate- 
riellen Verhältniffe durch ihre Uebereinſtimmung das 
fünftige Glück der Gatten verbürgen würden, find leicht 
zu heben, wenn fich ein zuverläffiger, pflichttreuer Ver⸗ 
mittler findet. Als ein folcher erweift fich unfere Anſtalt. 
Diefelbe ift Feine gewöhnliche Agentur. Alle Vorgänge 
ipielen fich gleichfam im Familienkreiſe ab. Die vor- 
bereitenben, belicaten und vertraulichen Schritte, die dem 
Abfchluffe einer Heirath vorausgehen müffen, werben von 
Bevolimächtigten ausgeführt, die ſelbſt der befterr Geſell⸗ 
haft angehören und durch ihre perfünliche Würbigfeit 
den Erfolg zu fichern wiffen. 

„Bon dem Betrag der Mitgift ift eine Gebühr von 








Merkwürbdige Criminalproceffe ans Frankreich. 187 


nur zwei Procent zu entrichten. Der Ehemann bat fie 
zu zahlen nach vollzogener Trauung und nachdem er bie 
Mitgift in Empfang genommen hat. 

„Die abfolutefte Verſchwiegenheit wird bei uns ſo⸗ 
wol vor wie nah ben Verhandlungen zugefichert und 
beobachtet.“ 

Feder neue Client Hatte die übliche geringe Commiſ⸗ 
fionsgebühr von !/, Procent per mille von dem Kapital 
ber Mitgift im voraus zu erlegen und ven folgenven 
Bragebogen auszufüllen: 

Wo find Sie geboren ? 

Wo find Sie erzogen worden ? 

Welche Studien haben Sie abjolvirt ? 

Was beabfichtigen Site nach der Heirath zu beginnen ? 

Wo werden Sie Ihren Wohnfiz nach der Hochzeit 
aufichlagen ? 

Nah) welchem Syſtem — Gütergemeinfchaft ober 
getrenntes Bermögen der Ehegatten — wollen Sie den 
Ehecontract abfaffen Taffen ? 

Wie beabfichtigen Sie die Mitgift anzulegen ? 

Welcher Religion gehören Sie an? 

Beobachten Ste die vorgefchriebenen religiöjen Cere- 
monien und halten Ste baranf, daß dies auch von Ihrer 
Gemahlin gefchieht ? 

Welches find Ihre politiichen Anfichten ? 

Nachdem das halbe Promille Commiſſionsgebühr gezahlt 
und der Fragebogen ausgefüllt war, wurbe der Heiraths⸗ 
canbidat mit der in Ausficht genommenen jungen Dame 
und ihrer ehrenwerthen Familie befannt gemacht. Jetzt 
begann die betrügerifche Komödie, die vor dem Eriminal« 
richter ihr Ende fand. Weltere Damen in eleganter Toi⸗ 
fette, die fih in Gefellihaft zu beivegen verſtanden, fpielten 
bie Mütter oder bie Zanten, Lecourtois, der Compagnon 





188 Merkwürdige Criminalproceffe aus Frankreich. 


der rau „Baronin“ de Mortier, trat als Vater, Vor⸗ 
mund ober Erbontel auf. 

Die Braut, die wichtigfte Perfon und die Heldin bes 
Stüds, ſcheint faft immer von einer und berfelben ‘Dame 
Dargeftellt worben zu fein, mochte fte als „junge Witwe‘, 
al8 „geſchiedene Frau’ oder als „reiches Mädchen mit 
einem Kleinen fittlichen Makel“ vebutiren. 

Die Braut wurde von einem Fräulein Real ge- 
geben. Dieſe ftammt aus England oder Norbamerila. 
Ihre Antecedentien find auch in ber Unterfuchung nicht 
völlig aufgeklärt worden, es fcheint indeß, daß fie bereits 
früher in Baltimore, in Boſton und andern Stäbten ber 
Vereinigten Staaten von Norbamerifa die gleiche Rolle 
mit großem Erfolge geſpielt hat. 

Die Erfcheinung und das Auftreten ver jungen ‘Dame 
find im Höchften Grade beftechenn. Sie ift groß und 
ſchlank gewachien, hat reiches, natürlich gewelltes braunes 
Haar, lebhafte bligende Augen, fchöne, regelmäßige, weiße 
Zähne, einen Heinen, von rothen ſchwellenden Lippen um⸗ 
ſäumten Mund. Sie Fleivet fich mit ausgeſuchtem Ge- 
Ihmad nach der neueften Mode. 

Fräulein Leal wurde einer beträchtlichen Anzahl von 
Prätendenten aller Altersftufen und ber verfchiepenften 
Lebensftellungen als Braut präfentirt. Alle haben fich 
blenden und täufchen laffen, alle find gründlich gefchröpft 
worden, denn fie verftand es mit unwiberjtehlicher An⸗ 
muth Geſchenke abzufchmeicheln, ihre Gunftbezeigungen 
für klingende Münze zu verlaufen und die ausgeplün- 
berten Werber wieder heimzufchiden. Wenn die gewöhn- 
lichen Mittel fehlichlugen, war fie auch bereit, die Heirath 
abzujchließen. Dean fuhr dann über ven Kanal nach 
England in das Land ber unklaren Ehegefeßgebung und 
ließ fi von irgendeinem Beamten ald Mann und Frau 








Merkwürdige Eriminalprocefje aus Frantreid. 189 


zufammenfprecden. Der Ehemann erfuhr nach ber Hoch- 
zeit, daß er um bie Mitgift geprellt war, er z0g beſchämt 
ab, verzichtete auf feine junge Frau und dieſe wenbete 
fih einem neuen Liebhaber zu, ber fie freien wollte. 
Fräulein Leal operirte jo geichiett und fand das Gewerbe 
fo amuſant und fo einträglich, daR fie fich nach einiger 
Zeit von der Frau Baronin de Mortier trennte und auf 
eigene Rechnung arbeitete. Sie begab fih unter ben 
Schuß einer erfahrenen, ihr ganz ergebenen ältern Dame, 
ber Madame Lepron, bezog in der Wafhingtonftraße eine 
elegante Wohnung und etablirte fich dort felbftänpig. 

Allmählich wurde die Polizei aufmerkſam auf biefes 
unfaubere, betrügerifche Treiben. Die Frau Baronin be 
Mortier und ihr Compagnon Lecourtois merkten recht- 
zeitig, daß man ihren auf der Spur war, und zogen es 
vor, aus Paris zu verjchwinden und fich durch bie Flucht 
ber ihnen drohenden Verhaftung zu entziehen. Bräulein 
Leal und Madame Lepron dagegen wurden gefänglich ein- 
gezogen und in Mazas eingefperrt. Madame Lepron ge- 
gerieth bierüber in fo maßloſe Aufregung, daß fie einen 
Selbftmorpverfuch machte. Sie verfchludte Glasſcherben 
und verfuchte es, fich die Pulsader an ber linken Hand 
zu öffnen, aber der vechtzeitigen Hülfe des Arztes gelang 
es, fie wieberherzuftellen. Nach gejchloffener Vorunter- 
juchung erhob der Staatsanwalt Anklage wegen Betrugs. 
Am 24. März 1887 fand in Baris die Schlußverhand⸗ 
fung ftatt. Sie verlief wie bie Vorftellung einer Poſſe 
auf dem Theater. Nicht blos die Zuhörer, bie in großer 
Menge erfchienen waren, auch die Mitglieder des Gerichts- 
hofs, der Staatsanwalt und bie Vertheibiger jtimmten 
in die allgemeine SHeiterfeit ein. 

Angeflagt waren Madame Demortier und ihr 
Liebhaber Lecourtois, gegen welche in contumaciam 


190 Merkwürdige Eriminalproceffe aus Frankreich. 


verfahren wurde, weil fie ſich teoß ber öffentlichen La- 
bung bem Gericht nicht geftellt Hatten; Fräulein Leal 
und ihre möütterliche Freundin Madame Lepron. 

Der Gerichtsrath Vanier präfipirte, der Staats⸗ 
anmwaltsfubftitut Jambois vertrat die Anklage, bie Ad⸗ 
bocaten de Magnin und Houarb hatten die Berthei- 
bigung übernommen. 

Zuerft wendet fich der Präfident an Fräulein Leal, 
bie einen fehr angenehmen Einprud macht. Sie anf 
wortet in franzöfiicher Sprache mit einem leichten eng 
liſchen Accent, der ven Reiz ihrer wohlklingenden Stimme 
noch erhöht. Sie fieht jo hübſch und fo fittiam aus, nur 
ſchade, daß jedermann weiß, wie trügerifch hier der Schein, 
wie raffinirt, Fofett und verborben dieſes fchöne Mäb- 
chen ift. 

Präfident. Sie find in London geboren. Wann 
find Sie nad Frankreich gekommen ? 

Angellagte. Vor drei Jahren. 

Präfivdent. Was haben Sie in Ihrer Heimat ge: 
trieben ? 

Angeflagte. Ich lebte bei meinen Aeltern. 

Präfident. Was veranlaßte Sie, nah Frankreich 
zu fommen ? 

Die Angellagte fchlägt die Augen nieder und feufzt. 

Präfident. Antworten Sie ohne Scheu. Es wird 
wol fein Amtsgeheimmiß fein. (DHeiterfeit.) 

Angellagte (erröthend). Ich wollte mich von einem 
reichen Manne aushalten laffen. Leider ift er fpäter 
wieber fortgezogen. 

Präfident. Wie haben Sie Madame Demortier in 
Paris fennen lernen ? 

Angeflagte. Ich bin infolge eines Zeitungsinferats, 
welches mich anlodte, zu ihr gegangen. In jenem In 














\ 


Mertwärdige Eriminalproceffe aus Frankreich. 191 


jerat Inchte fie eine fchöne junge wenn auch vermögenslofe 
Dame zur Ehe für einen fehr reichen ältern Herrn. Ich 
verftänbigte mich mit ihr und wurbe ihre Clientin. 

Bräfident. Sie wurben bald barauf auch ihre Mit- 
ſchuldige, denn Sie haben im Complot mit ihr Männer 
betrogen, die eine junge Dame mit einem großen DVer- 
mögen heiratben wollten. Sie find ihnen al& eine folche 
gute Partie vorgeftellt worben, haben die Braut gefpielt 
und fie um ihr Gelb geprellt. Sie werben kaum be- 
haupten wollen, taß Sie in gutem Glauben gehandelt haben. 

Angellagte. Herr Präfident, pie meiften ber Herren, 
bie fih an die Baronin de Mortier wendeten, beabfich 
figten feine ernjthafte Verbindung zu fchließen. Es waren 
oft genug Bamilienväter, ältere Herren, die eine hübjche 
Maitreffe fuchten. Ich wurde ihnen vorgeftellt und ge- 
fiel. Ich wurbe eingeladen, man bot mir Logen in ber 
Oper und feine Soupers in eleganten Reſtaurants an. 
Ich wollte mich unterhalten und habe angenommen. Das 
ift doch ganz natürlich und erlaubt. Sch habe auf biefe 
Weile die Bekanntſchaft vieler Lebemänner gemacht, und 
wenn ich ihre Namen angeben wollte... 

Präfident. Das gehört nicht hierher. Deshalb find 
Sie nicht angeflagt. 

Angellagte.. Man bat doch das Recht, fich umter- 
haften zu laffen. Ich fuchte keinen Ehemann, fonvern 
einen Liebhaber. Das ift parifer Leben. (Gelächter.) 

Der Advocat de Magnin erhebt ſich und bemerkt: 
„Fräulein Leal ift keineswegs die einzige junge Dame 
geweien, deren Belanntichaft man durch Vermittelung ber 
Fran Demortier bat machen können. Sie hatte eine 
ganze Auswahl von Bräuten auf dem Lager, von allen 
Schattirungen: blonde, braune und ſchwarze.“ 

Als Zeugen traten faft ausjchließlih Männer auf, bie 





192 Mertwürdige Eriminalproceffe aus Frankreich. 


ein Mäpchen mit reicher Mitgift heirathen wollten und, 
durch bie Vorjpiegelungen des Heirathsbureau getäufcht, 
nicht blos um ihre Hoffnungen, fonbern auch um bie mit- 
unter fehr bebeutenden Auslagen und Commiffionsgebühren 
betrogen worden waren. 

Der Handlungsbefliffene Lefenre aus Limoges 
gibt an: 

„Ich las ein Inferat in einer Zeitung bes Inhalts, 
daß man für eine junge Dame, bie fich einen Heinen Fehl⸗ 
tritt zu Schulden habe fommen laſſen, aber 1,200000 B18. 
Mitgift erhalte, einen jungen Mann ohne Vermögen, 
aus einem guten Haufe, als Gatten fuchte. Eine Gebühr 
werde im voraus nicht verlangt. Ich fchrieb Darauf an 
bie in dem Inſerat angegebene Adreſſe der Frau Baronin 
de Mortier. Bald darauf antwortete fie mir: das Frän- 
fein werbe fich zu der Heirath nur entfchließen, wenn ber 
betreffende Candidat ihr perjönlich einen guten Einbrud 
machte. Ste lud mich deshalb ein, mich ihr vorzuftellen. 
Sch reifte nach Paris. Die Baronin präfentirte mic 
zunächit einer Dame von ftattlichem Ausſehen im Alter 
von 50 bis 60 Jahren, ver Mutter des Fräuleins. Cie 
jollte eine reiche Engländerin, Mrs. Herlufon, fein. Am 
folgenden Tage lernte ich die junge Dame felbft fernen. 
Es war das bier anweſende Fräulein Leal. Die Yaronin 
gab mir den Rath, ihr doch eine Aufmerkſamkeit zu er- 
weiſen, ihr ein Geſchenk zu machen und bei ber nächften 
Zufammenfunft, die verabredet wurde, zu überreichen. 
Ich Taufte für den Preis von 300 Fre. einen Schmud- 
gegenftand. Die Baronin lachte mich aus und fagte mir, 
welchen Eindruck ich mit dieſem werthlofen Dinge auf 
eine junge Dame machen wollte, die zwar einen Fehltritt 
begangen, aber doch über eine Million Franc baares 
‚ Bermögen befige. Ich ging nochmals zu dem Juwelier 


Merkwürdige Eriminalproceffe aus Frankreich. 193 


und nahm num für noch 4000 Irs. Schmud. Jetzt war 
das Geſchenk anftändig genug nach ver Anficht der Frau 
Baronin, und das Fräulein dankte mir dafür mit einem 
holden Lächeln. Ich kam öfter mit der jungen Dame 
zujammen, warb um ihre Hand, erhielt von ihr das Ja⸗ 
wort umd die Hochzeit wurbe auf ven 15. Sanuar 1886 
anberaumt. Bald darauf erklärten Mrs. Herlufon 
und ihre Tochter, fie müßten nach London zurückkehren. 
Auf Veranlafjung der Baronin bat ih um die Erlaub- 
niß, fie begleiten zu. bürfen, um dort die Bekanntſchaft 
ihrer Familie zu machen. Die Frau Baronin reifte auf 
meine Koſteni und wie fie vorgab in meinem Sntereffe 
ebenfall® mit. Wir blieben acht Tage in London und 
wohnten in einem ber vornehmften Hoteld. Ich mußte 
täglich für die Damen Logen in den tbeuerften Theatern 
beforgen, Blumen, Handſchuhe u. |. w. für fie kaufen und 
durfte überall für fie bezahlen. Dann reiften wir wieder 
zurüd nach Paris, denn meine Braut wollte nun meine 
Verwandten jehen. Als der einzige männliche Begleiter 
öfte ich die Reiſebillets und Ieiftete ihmen alle möglichen 
Dienfte. Ich glaubte noch immer, daß meine Braut eine 
reihe Erbin wäre, und lub meine in Limoges lebende 
Mutter und meine Tante ein, mich zu befuchen und Zetı- 
gen meines Glücks zu fein. Site kamen nad) Paris, ent- 
vediten aber ſehr bald, welch fchändliches Spiel man mit 
mir getrieben hatte. 

„Meine Tante wollte Fräulein Herlufon über einen ges 
viffen delicaten Punkt befragen — Sie miffen ja ben 
dehltritt. Die junge Dame aber fchlug der würdigen 
dran gegenüber, bie fie zum erften mal fah, einen Ton an, 
eimen Ton! Sie buzte fie fogar und jagte: «Oho, du 
wirft mich gleich in Ruhe laffen. Ich babe nur meinem 
Bräutigam Nechenfchaft zu geben.» 

XXI. 13 


194 Merkwürdige Eriminalprocefje aus Frankreich. 


‚3% bin jofort mit meiner Mutter und meiner Tante 
nad Limoges zurücgefahren. Ich war gemacht.“ (Ge- 
lächter.) 

Fräulein Leal. Aber gehen Sie doch! Sie werben 
wol nicht ernftlich behaupten, daß Sie an eine Heiratb 
geglaubt haben. Sie haben fich gegen mich gar nicht be= 
ſcheiden betragen, ſondern fich Freiheiten herausgenommen, 
bie man fich einer wirklichen Braut gegenüber nicht zu 
erlauben pflegt. 

Der Zeuge (erregt). D nein, Fräulein! Ich war 
viel zu rejpectvoll gegen Sie und bebaure jekt lebhaft, 
baß ich fo zart und zurückhaltend geweſen bin. Ich hätte 
dann boch wenigſtens etwas für das viele Gelb gehabt! 
(Heiterfeit.) 

Ein Beamter aus Lyon, Herr Francis Boiffeau, 
ebenfall8 ein Zeuge, las in ver Zeitung, daß eine Spa- 
nierin mit 300000 Frs. Mitgift einen Lebensgefährten 
durch die Frau Baronin de Mortier ſuche. Er erkundigte 
fih, erlegte 150 Irs. Commiffionsgebühr und wurde von 
ber Baronin veranlagt, einen Parquetfig in der Oper zu 
nehmen und eine Xoge zu bezahlen, in welche fie die 
Dame einladen wollte Im Theater wurde ibn Das 
Fräulein gezeigt. Sie war in Begleitung einer alten ge- 
brechlichen Dame, die für ihre Mutter und die Witwe 
eines ſpaniſchen Generals ausgegeben wurde. 

Präſident. Wie es fcheint, waren an dieſem Abend 
vier Heirathscandidaten, ohne daß einer von bem andern 
wußte, in das Theater gejchidt worben, um ihre „Zu: 
fünftige” in Augenfchein zu nehmen. Ein jeder von ihnen 
mußte die Loge bezahlen. 

Herr Chapot, früher Möbelfabrikant in Paris, jetzt 
Rentier, ein ehrwürbig ausfehender Herr mit weißen 
Haaren, hatte eine Annonce gelejen, des Inhalts, daß 











Mertwürdige Criminalproceffe aus Frankreich. 195 


eine junge Dame mit 800000 Frs. Mitgift, aber von 
etwas ſchwächlicher Geſundheit, die Bekanntſchaft eines 
achtbaren, im heirathsfähigen Alter ftehenden Mannes 
zu machen fuchte. Sein Sohn hatte eben das Freiwilligen- 
jahr vollendet und er war der Anficht, daß ein folcher 
Ehebund die befte Verforgung für ihn wäre. Er ent- 
richtete an die Baronin de Mortier eine Gebühr von 
400 Frs., und fie ftellte ihm eine junge Dame als Fräu⸗ 
lein Marie Durand vor, mit dem Bemerfen, fie fei die ein- 
zige Tochter eines ehemaligen Bauunternehmers, der zwei 
Häuſer in der Straße Saint-Honore befite. Er zog vor» 
fichtigerweije Erfundigungen ein und überzeugte fich, daß 
alles Schwindel war. Die 400 Frs. hat er nicht wieber- 
bekommen. 

Herr Tizerand, Grundbeſitzer in Ain, hat der Ba— 
ronin 1600 Frs. bezahlt, um mit einer reichen Erbin be⸗ 
kannt zu werden. Er wurde in den Hippodrom beſtellt 
und dort ſeiner zukünftigen Schwiegermutter, einer ältern, 
verſchleierten Dame, präſentirt. Sie drehte ihm verächt- 
fich den Rüden und fagte zu ihm: „Sie jehen ja aus wie 
ein Bauer.” Das war bie einzige Auskunft, die er erhielt. 

Herr Teſſier, ein Mann von 43 Jahren, Kanzlei- 
vorftand eines Rechtsanwalts in Brives-la-Gaillarbe, ift 
infolge eines ber uns nun bekannten Inferate nach Paris 
gefahren, hat 50 Frs. erlegt, ijt aber nicht als ein paffen- 
ver Heirathscandibat angenommen worden unb wieber 
heimgereift. 

Herr Labſolu, Juwelier in Parts, läßt fich in pathe- 
tiſchem Zone fo vernehmen: „Ich bin 30 Jahre alt und 
Junggeſelle. Ich war mit der Baronin be Mortier ge- 
fchäftlich dadurch befannt geworben, daß fie einige Schmuck⸗ 
jachen von mir faufte. Sie plauberte mit mir, erfundigte 
fih nach meinen Verhältniffen und gab mir den Rath, 

13* 





196 Mertwärdige Eriminalproceife aus Franfreid. 


ih jollte mich verheirathen. Sie fagte zu mir: «Ich 
weiß, was Sie brauchen, ich werbe für Sie forgen. Ich 
fenne eine junge Dame, die für Sie wie gefchaffen ift.» 
Zunächſt mußte ih 150 Frs. Commißfionsgebühr zahlen 
und eine Loge in der Dper nehmen, im welche fie bie 
Dame, die Tochter eines fpanifchen Generals, die Erbin 
eines Vermögens von 300000 Frs., einladen wollte. Ich 
gefiel aber dem Fräulein nicht, wie fie mir mittheilte. 
Einige Zeit fpäter erzählte fie mir, in Granville kenne 
fie ein reizendes junges Mädchen, ein Bild der Unſchuld, 
die dort bei ihrer vermwitweten Mutter lebe. Das fei 
eine Partie für mid. Sie erhielt von mir 400 Irs. 
um nach Granville zu reifen und Mutter und Xochter 
zu meinen Gunften zu ftimmen. Nach ihrer Rüdfehr 
ließ fie fich eines Abends von mir in die Komifche Oper 
führen und zeigte mir dafelbft das Fräulein, welches fie 
von Granville nach Baris mitgebracht haben wollte Die 
junge Dame war ohne alle Begleitung in der Loge, Das 
machte mich ſtutzig. Die Sache fam mir nicht richtig 
vor und ich trat deshalb zurüd. 

„Die Baronin wollte mich aber durchaus verheiratben. 
Sie fam nochmal® zu mir und fchlug mir bie einzige 
Tochter eines reichen Seifenfabrifanten aus Marſeille 
vor. Sie empfing von mir diesmal 800 Frs. für bie 
Reife nah Marfeille und für die Einleitung der nöthigen 
Verhandlungen. Nach einer Woche Iud fie mich ein in 
eine Soiree in der Straße Ziquetonne. Dort ſah ich die 
junge Dame und ihren Vater. Die Baronin machte mir 
dabei bemerflich, das Fräulein jet lungenkrank, ich müßte 
mich beeilen, das Geſchäft ins Meine zu bringen. Sch 
fam endlich zu der Einficht, daß fie mich zum Narren 
hielt, und ftellte die weitern Subventionen an die Ba- 
ronin ein.” 





Meriwürbige Eriminalproceffe aus Frankreich. 197 


Herr Marle, ein penftonirter Subalternoffizier von 
64 Jahren, war in der Vorunterfuchung vernommen 
worben. Er hatte ſich von der Baronin de Mortier vor⸗ 
fügen laſſen, daß fie die Hand einer Witwe mit einem 
Bermögen von 3,000000 Frs. zu vergeben habe, und fich 
nah Entrichtung einer Commiffionsgebühr wirklich um 
biefe Dame beworben. Er war inzwifchen verftorben und 
mußte beshalb von der Zeugenlifte geftrichen werben. 

Herr Saunier, Waarenmäfler, 40 Iahre alt, aus 
Baris, bezahlte eine Opernloge und 400 Frs. an die Frau 
Baronin de Mortier, um einer Erbin von 800000 Frs. 
vorgejtellt zu werden. Er gefiel nicht und mußte ab- 
ziehen. Man ftellte ihm eine noch vortheilhaftere Partie 
in Ausficht, allein e8 kam nicht zu einer nähern Be⸗ 
fannifchaft, weil feine Manieren nicht fein genug waren. 

Herr Alfred Decq, ehemaliger Börfianer und ſpäter 
Rentier, fing fich in ven Mafchen des in der Wafhington- 
ftraße von Fräulein Leal unter dem Schuße der rau 
Lepron aufgeftellten Netzes. Er wurde befannt mit ven 
beiven ebengenannten Damen und mit Madame Valles. 
Er hielt alle brei für wohlhabend, lud fie ein nach Trou⸗ 
vilfe zu reifen, verweilte dort mit ihnen mehrere Tage 
und trug die Koften des Aufenthalts. 

Fräulein Leal (verächtlich). Herr Decq wurde nicht 
von uns, wir wurden von ihm betrogen. Wir alle drei, 
ih, Madame Valles und Madame Lepron, find ber Reihe 
nad feine Maitreffen geweſen. 

Bei den Acten liegen allerdings verſchiedene Liebes⸗ 
driefe von ihm, die in einem fehr blühenden Stile ge- 
ihrieben find. So rebet er z. B. die alte Madame Lepron 
barin an: „Sie reizender Heiner Teufel voll himmliſcher, 
überrafchender und entzüdenver Einfälle.” 

Luftig ift die Ausfage des Herrn Defire Dauchot. 


198 Mertwürdige Eriminalproceife aus Frankreich. 


Er ift ein fchöner, großer, blonder Mann mit einem ftatt- 
lichen Barte, an ver Börfe wohl befannt: „Nach Ent- 
rihtung des üblichen Honorare hatte mir die Baronin 
Fräulein Leal als die Nichte eines englifchen Lords mit 
400000 318. Bermögen und der Ausficht auf große Erb- 
ſchaften vorgeftellt, dabei indeß erwähnt, es fei ein Heiner 
Fehltritt vorgefallen. Ich fette mich darüber hinweg, kam 
öfter mit dem Fräulein in der Dper und bei Soupers 
zujammen, verlobte mich mit ihr und wir reiften nad 
London, um bort bie Ehe zu fchließen. In einem Standes— 
amte wurden wir von einem Regiſtrar getrant. Am 
folgenden Tage verlangte ich die Mitgift, wurde aber 
ausgelacht. Man wies mir die Thür und ich kehrte ge- 
prellt und betrogen nach Frankreich zurüd.” 

Präfident. Um welche Zeit fand die Trauung ftatt? 

Zeuge. Um 11 Uhr vormittags. 

Fräulein Leal. Das tft falih, es war 4 Uhr nach⸗ 
mittag8. 

Zeuge. Meiner Treu, das Fanıı richtig fein. Ich 
erinnere mich nicht genau. 

Fräulein Leal. Wir find orbnungsmäßig ver 
heirathet. 

Zeuge. D nein, e8 war nur Schwinbel. 

Staatsanwalt. ‘Der Zwed der lebten Frage des 
Herrn Präfidenten war nur der, den Tag der Trauung 
feftzuftellen.. Ich conjtatire, daß die Trauung zu ber: 
jelben Zeit mit Herrn Daudot ftattfand, als die Frau 
Baronin de Mortier ven Herrn Leferre als Bräutigam 
nach London abreiſen ließ, um Fräulein Leal als Ehefrau 
heimzuführen. (Seiterfeit.) 

Bräfident. Sie haben ein unebeliches Kind des 
Fräulein Leal, ein eines Mädchen, deſſen Vater uns 





Mertwärbige Eriminalproceffe aus Sranfreid. 199 


befannt ift, als ihr Kind nach der Trauung in London 
anerkannt. 

Zeuge. Ja wohl, Herr Präfivent, ich habe biefes 
Opfer gebracht, weil ich die Mutter für fehr reich hielt. 
(Lautes, anhaltendes Gelächter, der Zeuge entfernt fich 
beſchämt.) 

Frau Lecoutourier, die nächſte Zeugin, iſt eine 
wirkliche Dame. Sie ſtiftet Heirathen aus Paſſion, nicht 
um irgendeinen Nutzen für ſich zu haben. Sie ſuchte bei 
der Frau Baronin de Mortier für einen jungen Mann, 
für deſſen Fortkommen ſie ſich intereſſirte, eine Erbin, die ja 
dort auf Lager vorräthig ſein ſollten. Sie opferte mehrere 
hundert Francs, aber eine Erbin befam fie nicht zu ſehen. 

Herr Borel, Frifeurgehülfe (!) aus Forcalquier, be 
ponirt: 

‚3% hatte in der Zeitung gelefen, daß für eine junge 
geſchiedene Fran, die eine halde Million Vermögen befige, 
ein bübjcher junger Mann gefucht wurde. Da dachte ich 
bei mir, du bift der richtige Kerl dazu, fuhr nach Paris 
und begab mich zu ber Baronin de Mortier, bie mich 
ter Dame vorftellen follte. Ich mußte, ehe weiter mit 
mir verhandelt wurde, 40 Frs. herausrüden.” 

Fräulein Leal. Schweigen Sie lieber ftill. Sie 
haben 30 318. zurüderhalten und find nach Haufe ge- 
ſchick worden. Statt mir eine anftändige Einladung 
zu einem Souper zugehen zu laffen, wollten Sie mid 
in eine Garküche führen, um bafeldft zu fpeifen. (Raute 
Heiterkeit.) 

Der lette Zeuge, Herr de la Marnitre, ein Edelmann 
aus der Touraine, Gutsbefiter und 60 Iahre alt, faßt 
fein Abenteuer mit Fräulein Leal von der heitern Seite 
auf und ift bereit, felbft mit zu lachen. Er erzählt: 

„sch reifte aus Veranlaffung einer Anzeige in der Zei- 





200 Merkwürdige Eriminalproceffe aus Frankreich. 


tung, in welcher für ein reiches Mädchen ein Mann ge— 
jucht wurde, nach Paris, bezahlte eine Loge in der Oper 
und nahın für mich einen PBarquetfig, weil mir bie Ba- 
ronin fagte, da ich noch nicht vorgeftellt wäre, fünnte ich 
nicht gleich in der Loge Plat nehmen. Im Zwiſchenacte 
machte ich die Belanntfchaft des Fräuleins und führte 
fie und die Baronin zum Buffet und ließ Champagner 
reichen. Ein paar junge Stußer, die mit in ber Loge 
gejefien hatten, drängten fi an uns und tranfen mein 
geladen mit. Darüber erzürnt, fagte ich: «Baronin, was 
jo das heißen ? Halten Sie mich für jo grün? Mär 
verwehren Sie aus Schicklichkeitsgründen den Eintritt in 
bie Loge, und biefe Geden dürfen fich dort breit machen ? 
Ich bin vielleicht etwas verbauert, aber ein folcher Tölpel 
bin ich nicht, daß ich mir dies gefallen laſſen follte.» 

„Sie fuchte mich zu befänftigen, und es gelang ihr 
auch. ALS fie mir aber weismachen wollte, die Familie 
des Fräuleins fei jehr bigot, der Heirathsantrag müſſe 
deshalb durch einen Priefter vermittelt werben, und diejer 
hochwürbige Herr verlange für feine Bemühung 400 Frs., 
ſah ich ein, daß ich geprelit werben follte, und gab die 
Belanntichaft auf. 

„Alles dies trug fich im Jahre 1885 zu. Im Jahre 
1886 ſchickte ich ein Heirathsgeſuch in bie Zeitungen. Sch 
befam eine Antwort, die mir zufagte, verfügte mich nach 
Paris und ging in die Wafhingtonftraße, wo nach ber 
mir zugegangenen Adreſſe die betreffende Dame wohnen 
follte. Ich wurde angenommen und war ftarr vor Er: 
ftaunen, denn ich ftand plößlich meiner Braut vom ver- 
gangenen Jahre gegenüber! (Allgemeine anhaltende 
Heiterkeit.) 

„Ich bebauere nur Eins. ALS ich noch mit der Ba- 
ronin de Mortier in Verbindung ftand, fehiekte ich ihr 








Merkwürdige Eriminalproceffe aus Franfreid. 201 


von meiner Jagbbeute einige Körbe Wild, und Sie werben 
wol wifjen, Herr Präſident, wie fehr der Wiloftand in 
umferer Gegend abnimmt. Den Hautgoüt von biejer 
Liaiſon habe ich aber behalten.“ (Erneuerte Heiterkeit.) 

Die bei weiten größte Zahl der Betrogenen war dem 
Gericht nicht bekannt geworben. Die meiften hatten es 
vorgezogen, zu fehweigen, um über die wenig ehrenvolle 
Rolle, die fie im Heirathsbureau ver Frau Baronin und 
des Fräulein Leal gefpielt hatten, nichts ausſagen zu 
müſſen, viele waren troß der an fie ergangenen Ladungen 
nicht erſchienen, weil fie zu dem Schaden nicht auch noch 
den Spott haben wollten. 

Das Gericht hatte bei Madame Demortier eine aus⸗ 
gebreitete, recht ergößliche Correfpondenz mit Beſchlag be- 
legt. Die Briefe wurben verlefen, einer davon wirb ge- 
nügen, um fie alle zu charakterifiren. Ein Edelmann 
fchrieb an das ihm als Engländerin und als Erbin von 
1,200000 Frs. vorgeftellte Fräulein Leal in einem Briefe, 
ven er mit feinem vollen Namen unterzeichnete: „Mein 
Fräulein, ich bin ftolz darauf, daß Sie mir Ihr ferneres 
Lebensglüd anvertrauen wollen, und banfe Ihnen für 
dieſen Beweis Ihrer Achtung. In unferm alten basfi- 
Then Stamme hält man, wie in England, treu an feinem 
Worte und liebt mit feinem Herzen.‘ 

Das Plaivoyer war kurz. Der Staatsanwalt bielt 
die Anklage aufrecht und führte aus, daß die Angeflagten 
den Betrug gewerbsmäßig betrieben hätten. Die Ver⸗ 
theibiger machten geltend, e8 fehle an dem criminalrecht- 
lich fteafbaren Vorſatz, die Betrogenen hätten fich ihren 
Schaden ſelbſt zuzujchreiben. 

Der Gerichtshof verurtbeilte Mapame Demortier 
wegen Betrugs in contumaciam zu drei Sahren, 
Lecourtois zu einem Jahre Gefängniß und Fräu— 


302 Merkwürdige Eriminalproceffe aus Frankreich. 


lein Leal zu vier Monaten Haft. Madame Le— 
pron wurde freigejproden. 


In dem Gerichtsfaale, in welchem jo oft gräßliche 
Tragödien verhandelt werben, hatte fich diesmal eine Ko⸗ 
mödie abgejpielt, das zahlreiche Publikum Hatte fich köſt⸗ 
lich amufirt und herzlich gelacht über die Fomifchen Scenen 
und Situationen aus dem Leben und Treiben ver Welt- 
ftant Paris. Es ift ja auch ein brauchbarer Stoff für 
ein Luftfpiel: Eine Hochftaplerin erften Ranges, viefe 
Madame Demortier, verwandelt fich fraft eigener Erfin- 
bung in eine Baronin de Mortier, miethet eine elegante 
Wohnung in einer vornehmen Straße und pofaunt Durch 
bie Zeitungen in die Welt hinaus, daß bei ihr reiche 
Erbinnen zu haben feten: junge Witwen, friſch ger 
ſchiedene Frauen, hübiche Mädchen mit einem ganz Heinen 
Vehltritt, aber eine jede im Beſitz von Hunberttaufenven 
oder gar von Millionen Francs. Alsbald ftrömen bie 
Heirathscandidaten aus allen Richtungen der Windrofe 
herbei, um Herz und Hand zu verkaufen und burch eine 
Hochzeit ihr Glüd zu machen. Wie der gefräßige Hai 
dem Kielwaſſer des Schiffs folgt und gierig nach dem roth 
angejtrihenen Anker fchnappt, welcher ihm eine willfom- 
mene Beute dünkt, fo ftürzen fich die Glücksjäger auf biefe 
Zeitungsannoncen, die ihnen goldene Berge veriprechen. 

Wir wundern uns billig über die große Dummheit 
der Männer, welche glauben konnten, daß junge, hübſche 
Witwen und Mädchen mit einem fo koloſſalen Ver⸗ 
mögen durch die Zeitungen Ehemänner fuchen, noch mehr 
aber erjtaunen wir über die ungeheuere Eitelkeit biejer 
Freier. Sie halten fich felbft für fo intereffant, daß fie 








Merkwürdige Criminalproceſſe aus Frankreich. 203 


an ihrem Siege nicht zweifeln und in ber vollen Ueber⸗ 
jeugung von ihrer Unwiderſtehlichkeit große Koften auf- 
wenden, weil ihnen die Erbin nicht entgehen fan. ‘Der 
Srifeurgehülfe Borel aus Forcalquier ift der würbige Re⸗ 
präfentant der jungen und ber alten Gimpel, welche bie 
Frau Baronin eingefangen bat. Er lieft in ber Zeitung, 
bag für eine reiche Erbin ein Gatte gefucht wird, fofort 
ift es ihm Mar, daß er der rechte Mann ift, er ftellt fich 
bor den Spiegel, brennt bie Locken, macht ſich auf bie 
Reife und präfentirt fich der jungen Dame. Er denkt 
gar nicht daran, daß er zurüdgewiefen werben Tönnte. 
Das Heirathsbureau hat ein überaus leichtes Spiel und 
arbeitet mit geringen Unkoſten, denn die Eitelkeit der fich 
meldenden Liebhaber ift fo groß, daß ein einzigeö ge- 
wandtes Mädchen, Fräulein Leal, fie alle täufcht. Es bes 
weift dieſer Eriminalproceß von neuem, daß die Specu- 
lation auf bie Thorheit und die Eitelkeit der Menſchen 
ftet8 goldene Früchte trägt und daß man in einer Groß- 
ftabt dem Bublitum, welches fich fo weiſe dünkt, alles 
bieten kann und mit dem tollften Schwinvel am beiten 
reuſſirt. 

Das Treiben dieſes Heirathsbureau iſt aber auch 
ein trauriges Zeichen der Zeit, und unſer Proceß iſt des⸗ 
halb nicht blos eine Komödie, ſondern enthält eine ſehr 
ernſthafte Lehre. Es wird dadurch bewieſen, daß in vielen 
Kreiſen die Ehe als ein Geldgeſchäft angeſehen und ihres 
tiefen, ethiſchen Charakters entlleidet wird. Alle dieſe 
Heirathscandidaten haben nur das Geld und nicht das 
Mädchen heirathen wollen. Kein Menſch wird ſie des⸗ 
halb bedauern, weil ſie betrogen worden ſind. Sie ver⸗ 
dienen kein Mitleid, der Verluſt, den ſie erlitten haben, 
üt für ihre gemeine Habſucht ſogar eine noch viel zu ge⸗ 
linde Strafe, 





304 Merkwürdige Eriminalproceffe aus Frankreich. 


3. Ein granenhafter Muttermord in der Sologue. 
1886. 1887. 


In dem hocheultivirten Frankreich gibt e8 noch einzelne 
ziemlich große Gebietötheile, in denen das Volk die alte 
Einfachheit, die alten Sitten, aber auch ven alten Aber- 
glauben mit großer Zähigkeit feſthält. Dieſe Kanpftreden 
liegen weitab von den Verkehrsftraßen, tief in ben Bergen 
und Wäldern der Bretagne, ver VBenbee und des Orleannais. 
Dafelbft wird heute noch wie zu der Väter Zeiten ber 
Hirſch gehett, und das melancholifche, fchauerliche Geheul 
ber Wölfe fchlägt in der Stille mancher Winternacht an 
das Ohr der Yäger, die borthin gezogen find, um mit 
eigener Gefahr die Thiere des Waldes aufzufpüren und 
ven Kampf mit ihnen aufzunehmen. 

Die Sologne ift ein Theil jener frühern Welt, pie 
ven Kobolden und Gefpenftern, von Niren unb Deren 
bevöffert ift. Jedes Dorf hat feinen Herenmeifter. Er 
verfteht die Kunst, durch feine Beichwörungen das Blut 
zu bannen, Knochenbrüche zu heilen, durch feine Zauber- 
ſprüche die Biſſe giftiger Schlangen unſchädlich zu machen 
und Krankheiten zu vertreiben. Seiner Autorität beugen 
fih die Heren und feine ſympathiſchen Mittel helfen ben 
Menſchen und ven Thieren. Vor zwei bis brei Jahren 
lebte dort ein alter Schelm und Betrüger, der gewerbs⸗ 
mäßig jungen Mäpchen und Frauen den Teufel austrieb, 
Er hatte eine ausgebreitete, einträgliche Kundſchaft. Die 
Väter und die Ehemänner ſelbſt führten ihm ihre Töchter 
und ihre Weiber zu und ftanven zitternd und voll Be— 
wunberung und Ehrfurcht dabei, wenn er ungenirt öffent- 
fich feinen Hokuspokus machte und feine Patienten ſcham⸗ 
[08 mishanbelte. Er wurde fchließlich von den Gerichten 


Mertwürdige Eriminalproceffe aus Frankreich. 205 


zur Nechenfchaft gezogen, vor ein Schwurgericht gejtellt 
und zu barter Strafe verurtheilt. 

Bor furzem berichteten die Zeitungen, eine bejahrte, 
fteinreiche Bäuerin in der Sologne fei in taufend Stücke 
zerriffen worben, weil fie in verjchwiegener Mitternachts- 
ftunde Dynamit in einer Kafferole auf dem Feuer ge- 
rührt hatte, um vergrabene Schätze aufzufinden. Cine 
ber wandernden Wahrjagerinnen, welche dort herumftreifen, 
batte ihr das Dynamit zu einem fabelhaften Preife ver- 
fauft und ihr vorgefpiegelt, das fei bie Springmwurzel, 
vermöge deren man bie Schäße tief in der Erde ent- 
beden und heben könne. 

Im vorigen Jahre wurde in biejem abgelegenen Theile 
ber franzöfiichen Republik ein grauenhaftes Verbrechen 
verübt. Wir haben geſchwankt, ob wir den Criminul- 
proceß, ber deshalb eingeleitet wurde, in unfer Sammel- 
wert aufnehmen follten, und uns zulegt nur aus dem 
Grunde dazu entichloffen, weil baburch beiwiefen wird, 
daß die untern Schichten der dortigen Bevölkerung gänz- 
fi verfunfen find in thörichten Aberglauben und Stumpf- 
finn. Eine ſolche Roheit und cyniſche Beſtialität follte 
man in einem chriftlichen Lande faum für möglich halten. 
Tas ganze Bild ift jo gräßlich, daß wir allen, die nicht 
ftarfe Nerven befiten, ven Rath geben, bie nachfolgenden 
Blätter zu überfchlagen. 

In dem Weiler Luneau, nahe bei dem großen ‘Dorfe 
Eelles-Saint- Denis, im Bezirk von Romorantin, im 
Departement Loir und Eher, im ehemaligen Orleannais, 
lebte eine arme verwitwete Bäuerin Marie Lebon, ge 
borene Chataignault. Ihr Mann war geftorben, als fic 
ſchon in vorgerüdten Jahren ftand. Sie hatte in ihrer 
Ehe drei Kinder geboren: eine Tochter Georgette, die an 
ven Meinhäusler Thomas in Luneau verheirathet war, 





206 Merkwürdige Eriminalproceife aus Frankreich. 


und zwei Söhne Aleris und Alerander, die im Dorfe 
Menetous als Knechte dienten. Den Kindern wollte die 
alte Frau nicht zur Laft fallen, fie verbingte fich deshalb 
als Magd bei einem Weinbauer in Gievres. Eine Zeit 
fang ging es, aber allmählich nahmen ihre Kräfte ab, fie 
mußte, bereit8 72 Jahre alt, ven Dienft aufgeben und 
zog am 1. Iuli 1886 zu ihrer Tochter. Sie hatte fid 
eine Heine Summe Gelb erjpart, die Ausfagen jchwanfen 
zwiichen 3—400 und 7—800 18. Die Tochter und 
veren Mann nahmen die Witwe Lebon auf, weil fie 
kränklich und gebrechlich war und ſich vorausfehen ließ, 
daß fie bald eines natürlichen Todes fterben würde, und 
dann mußte ihre Baarichaft ihnen zufallen. Aber auch 
die Söhne Alexis und Alerander wollten erben unb 
gönnten ihrer Schwefter nicht, daß fie allein den Nuten 
zöge. Sie beſchuldigten den Kleinhäusler Thomas und 
feine Frau, daß fie der Mutter und folglich auch ihnen 
den größten Theil des baaren Geldes bei Lebzeiten ent: 
wenbet hätten. 

Alle drei Kinder und der Schwiegerjohn hofften auf 
das Ende der alten Frau. Sie wurde ſchwächer und 
ſchwächer, fie verfiel in Blödſinn, aber fie lebte weiter. 
Man dachte daran, fie in das Irrenhaus nach Blois zu 
Schaffen, und die Direction erklärte fich auch bereit zur 
unentgeltlichen Aufnahme Aber e8 mußten ärztliche 
Zeugniſſe bejchafft und noch verſchiedene Förmlichkeiten 
erledigt werden, ehe bie Einlieferung ftattfinden konnte, 
und die Erfparniffe waren fchon beinahe aufgezehrt. Die 
_ Söhne und das Ehepaar Thomas wurden von Tag zu 
Tag unmilliger und ungebulbiger, denn fie fahen ee 
fommen, daß fie aus eigenen Mitteln die Mutter erhalten 
müßten. Ueberdies war die Alte gewiß eine Here. ‘Das 
beiwiefen ja jchon ihre trüben Augen mit ven rotben 





Merkwürdige Eriminalproceffe aus Frankreich. 207 


Rändern, ihr tiefgefurchtes, eingefallenes Geſicht, die irren 
Reben, die fie führte. Auch im Dorfe wußte man es, 
baß fie vom Teufel beſeſſen ſei. Mit ihrem Einzuge war 
auch das Unglüd in das Haus gefommen und alles ver- 
lehrt gegangen. Ja jchon früher hatte mar davon ge- 
ſprochen, daß fie bie eigenen Kinder verhert hatte, warum 
wäre es jonft ihrer Tochter Georgette jo ſchwer geworben, 
einen Mann zu befommen? Und nun ftarb fie auch nicht, 
obgleich fie jo entjetlich elend war; das konnte Doch auch 
nicht mit rechten Dingen zugehen. Ihre Kinder be- 
ſchloſſen, die Mutter, die eine Here war, umzubringen. 

Am 29. Juli 1886 ging der Kleinhäusler Thomas 
nah Menetous und lud feine Schwäger ein, nach Luneau 
zu fommen und bort zu berathen, wie man die Alte am 
fiderften los werben könne. 

As fie im Haufe ihrer Schwefter eintrafen, fanden 
fie die Mutter in ver Scheune eingefperrt; ihre Haare 
waren verjengt, Georgette erzählte, fie babe fich über die 
Alte geärgert und ihr nach einem kurzen Wortwechfel einen 
Stoß verjegt, fie jei in das offene Feuer gefallen und 
babe fich einige Brandwunden zugezogen. ‘Das fchade 
ihr weiter nicht. Man müffe aber doch zu einem Ende 
mit der alten Here kommen. Die Mutter wurde aus der 
Scheune in die Stube geholt und zu Bett gebracht, dann 
ließ man ben Pfarrer rufen, der ihr die Beichte abnahm 
und die Abjolution ertheilte. Als er das Haus wieder 
verlaffen hatte, fetten fich die jungen Leute zu Tiſche und 
aßen, bie Kinver des Kleinhäuslers Thomas fpielten in 
ver Stube und in ihrer Gegenwart wurde num von ben 
Eheleuten Thomas und Aleris und Alerander Lebon ge- 
fteitten über die noch vorhandene Baarfchaft der Mutter, 
von welcher nach der Meinung der beiven Söhne bereits 
ber größte Theil verfchwunden war. Sie bejchulbigten 





208 Mertwürdige Eriminalproceffe aus Frankreich. 


ihre Schwefter und ihren Schwager, daß fie fih auf ihre 
Koften bereichert, und dieſe machten ihnen wieder Bor» 
würfe, weil fie zu ven Unterhaltungstoften nicht beige: 
jteuert hätten. Zulegt einigten fich alle vier, daß man 
nicht länger auf die ärztlichen Zeugniffe, die zur Aufnahme 
in bie Irrenanftalt von Blois nöthig waren, warten, 
jondern die Alte noch in derſelben Stunde umbringen 
wollte. Wan wollte fie los fein, weil fie eine Laſt ge- 
worben war und Unkoſten verurfachte, und man befchtwich- 
tigte das Gewiffen damit, daß fie ald eine Here ben Tod 
verdiene. Die unglüdliche Frau wurde aus ihrem Bett 
geriffen, troß ihrer Bitten und ihres Fläglichen Gefchreies 
von den entmenjchten Kindern im Beifein ihrer Enkel in 
das Teuer geworfen und lebenbig verbrannt. 

Bald darauf fanden fich Alexis und Alerander Leben 
im Pfarrhaufe ein und verlangten, den Pfarrer zu fprechen. 
Sie meldeten mit furzen Worten, daß ihre Mutter ge 
ftorben fei und daß fie beichten wollten. ‘Der Pfarrer 
Abbé Renault erwiderte: „Ich kann jegt nicht, ich habe 
feine Zeit.” 

„Bir wollen beichten‘‘, wiederholten die beiden Brüder. 

„Aber ich kann jetzt wirklich nicht“, entgegnete ber 
Pfarrer, „ih muß zu Nacht efien, ich babe mir Kalbs⸗ 
nieren braten laffen, dieſe pürfen nicht kalt werden. Wenn 
Ihnen wirklich fo viel daran gelegen ift, heute noch zu 
beichten, jo fommen Sie jpäter wieder.“ 

„Dann weihen Sie und wenigſtens dieſes Band im 
Namen der allerheiligften Jungfrau“, verfeßten die Brüder. 

Unwillig und brummend erfüllte ver Pfarrer diefe Bitte. 
Sie theilten das geweihte weiße Seidenband, ein jeder 
ſchlang feine Hälfte um den Hals, dann entfernten fie fi. 

Der Abbe hatte fein Abendbrot faum verzehrt und 
fh noch nicht vom Tiſche erhoben, da pochte e8 aber: 


Merkwürdige Eriminalproceffe aus Frankreich. 209 


mals an feine Thür. Die Brüder Lebon traten wieder 
ein mit den Worten: „Wir wollen beichten.” ‘Diesmal 
fam ber Pfarrer ihrem Begehren nad. Er führte fie 
in die Kirche und einer nach dem andern ging in ben 
Beichtſtuhl und befannte dem entjegten Abbe das furcht- 
bare Verbrechen, welches fie foeben begangen hatten. Ihre 
Beihte war noch nicht beendigt, da Fam auch ihre 
Schweiter Georgette Thomas, um ebenfall$ zu beichten. 
Auch fie geftand dem Priefter die ungeheuere That ein 
und ließ fich von ihm abjolviren. Alle drei kehrten in 
dad Haus zurüd. Dort faß Thomas in ber Nähe des 
Feners, in welchem der Leichnam feiner Schwiegermutter 
langſam verfohlte. Nach einigen Stunden mitten in ber 
Nacht machten Aleris und Alerander Lebon dem im Dorfe 
Selles-Saint- Denis ftationirten Gensdarmeriepoſten vie 
Anzeige, ihre Mutter fei verunglüdt. Sie gaben an, bie 
Alte fei ſchwach im Kopfe geweien, fie habe ſich da und 
dort im Haufe zu thun gemacht und niemand babe weiter 
auf ihr Treiben geachtet. Während fie beide, ihre Schwefter 
und ihr Schwager, am Tiſche gefejfen und das Abenbbrot 
verzehrt Hätten, jet ihre Mutter in das offene Herdfeuer 
gefallen und verbrannt. Die Gensdarmen begaben fich 
ohne Verzug nach Luneau, um an Ort und Stelle ben 
Ihatbeftand aufzunehmen. Es bot fi ihnen ein gräß- 
licher Anblid dar. Die Leiche lag auf dem Herbe, auf 
welchen natürlich Fein Beuer mehr brannte Der Kopf 
und die Füße waren unverfehrt, vor dem Munde blutiger 
Schaum, der Leib war ftark verbrannt, theilweife ver- 
fohlt, die Schenkel von der Hite frumm gezogen unb wie 
Schrauben gedreht, die Arme in unnatürlicher Verrenkung 
um ben Kopf gejchlungen, wie der Epheu um einen Baum- 
ftamm, die rechte Hand gleihjam zum Schuge vor das 
Seficht geſtreckt. Der Tob war jchon feit einiger Zeit 
XXL 14 


210 Merkwürdige Eriminalproceffe aus Frankreich. 


eingetreten. Die Gensparmen erfundigten fich danach, 
wie das Unglüd fich zugetragen habe, erhielten aber nur 
ungenügente, einander wiberfprechende Antworten. Es 
war ja möglich, vaß die alte ſchwache Frau am Herde 
bingefallen war und fich verbrannt hatte, aber dann hätten 
ihre Kinder, die mit ihr in der Stube waren, ed doch 
bemerfen und fie fo fchnell als möglich herausholen müffen. 
Man Hatte fie aber ftundenlang im Teuer liegen laffen. 
Wie war dies zu erklären? Als die Gensdarmen dem 
Schwiegerſohn Thomas deshalb Vorbalt thaten, fagte er: 
„Ja freilich, fie brannte fchon feit einigen Stunden, ſchon 
fett 6 Uhr abends. Meine beiden Schwäger famen vom 
Felde herein, da brannte fie ſchon. Sie wollten ihre 
Mutter nicht herausziehen, da habe ich auch nichts ger 
than. Wir haben alle zugejehen, wie fie verbrannte.“ 
Am andern Morgen waren Georgette Thomad und 
ihre Brüder wie gewöhnlich in der Frühmefje, fie lagen 
auf den Knien und beteten, wie es fchten, mit großer An 
dacht und Inbrunft. Aleris Lebon Taufte fih einen 
Zrauerflor und befejtigte benfelben an feinen Hut. 
Inzwiſchen hatte die Gensdarmerie über ven Vorfall 
Bericht erjtattet und fofort ven Befehl erhalten, die vier 
des Mordes verbächtigen Berfonen feitzunehmen und in 
das Gefängniß abzuliefern. In der nunmehr eingeleiteten 
Criminalunterjuchung entjchloffen fich Aleris und Alerander 
Lebon, die weniger hart und verftodt waren als ihre 
Schweiter und ihr Schwager, allmählich dazu, ein Ge⸗ 
ſtändniß abzulegen. Sie gaben an, Thomas babe erflärt: 
„Wir müfjen’ums die Alte endlih vom Halfe jchaffen. 
Es wird nicht länger gewartet.” Er habe alles vorbes 
reitet, auch das Feuer angezündet, die alte Frau um ben 
Leib gefaßt, in den Ofen gejtedt und mit Fußtritten zu: 
fammengeftampft. Dann ergänzten und berichtigten fie 





Merkwürdige Eriminalproceffe aus Frankreich. 211 


ihre Ausfagen, aus denen bervorgeht: Auf dem Herde 
waren Reifig, Baumzweige und größere Holzflöte auf- 
geichichtet, eine Art Scheiterhaufen, der jedoch nicht an- 
gezündet war. Aleris Lebon padte feine Mutter an ben 
Schultern, Alerander Lebon an ven Beinen, beide hoben 
Die alte Frau aus bem Bette und warfen fie auf ven 
Herb. Sie fchrie, wehrte fih und machte den Verſuch 
ſich herauszuarbeiten, aber ihr Schwiegerfohn Thomas 
trat fie mit feinen Füßen auf die Bruft und den Bauch, 
er ſtopfte fie förmlich hinein in die Deffnung des Herpes, 
jobaß nur der Kopf, den fie zurüdbog, und die Füße 
berausragten. 

Georgette Thomas hatte unterbeffen einige Hände 
voll Stroh aus ber Matrage des Bettes herausgerifien, 
fie drehte e8 zufammen, ſodaß es eine Art Strohfadel 
wurbe, brannte biefelbe an und reichte fie ihrem Manne. 
Thomas entflammte damit den Holzftoß und bie Kleider 
der unglüdlichen Frau. Sie ftarb den Tod im Feuer. 

Der Chemiler Lhote, welcher als Sachverſtändiger 
den verfohlten Leichnam und die Nefte der Kleider der 
Witwe Lebon zu unterjuchen hatte, ftellte fejt, daß man, 
um ben Berbrennungsproceß zu bejchleunigen, das arme 
Dpfer zuvor mit Petroleum begoffen batte. 

Die Reſte der Haube, welche vie Alte an jenem 
Abend getragen hatte, wurben dem Chemifer in einer 
Glasvaſe überbracht, wie die Bauern fie auf den Jahr⸗ 
märkten in der dortigen Gegend zu kaufen pflegen. Diefe 
Bafe trug unter Blumengewinden die Infchrift: „Gedenke 
mein!” Eine fchanerliche Ironie! 

Die Kinder der Eheleute Thomas, die Enfel ber 
Witwe Lebon, hatten fich voll Angft und Entfegen in einem 
Winkel hinter dem Bett zufammengefauert. Dort hörten 
fie das jämmerliche Gefchrei der Großmutter, fie jahen, 

14* 


212 Mertwürdbige Sriminalprocefie aus Frankreich. 


daß fie lebendig in das Feuer geworfen und verbramt 
wurde. Das ältefte Enkelkind, die fiebenjährige Eugente, 
gab vor dem Unterfuchungsrichter zu vernehmen: „Meine 
beiden jüngern Brüder und ich waren zugegen, als bie 
Großmutter ftarb. Onkel NAleris und Onkel Alerander 
hoben fie aus dem Bett und trugen fie auf den Herb, 
Drama bat einen Strohwiſch angezündet und ibn bem 
Papa gegeben. Der Papa bat dann das Teuer ange⸗ 
ſteckt. Es war ein großes Feuer. Großmama fchrie ſehr 
ftarf, Da bat man Ihr einen Tritt auf ben Leib gegeben 
und Großmama bat nicht mehr gejchrien. Sie bat nur 
noch gewimmert. Man bat auch mit der Zange nadh- 
gefchoben. Während vie Großmama im Teuer brannte, 
fnieten ich und meine Brüder hinter dem Bett in einem 
Winkel und beteten die Litanei.“ 

Georgette Thomas übertraf ihre Mitjchulpigen am 
Cynismus und Roheit. Ihr ganzes Auftreten vor dem 
Unterfuchungsrichter war empörend, und als man fie an 
bie Leiche ihrer Mutter führen wollte, um fie zu recog⸗ 
nofciren, fagte das entmenfchte Weib kaltblütig und völfig 
gefühllos: „Ach was, ich habe Die alte Here lange genug 
geſehen!“ 

Sie befand ſich im achten Monat der Schwanger⸗ 
ſchaft und gebar im Gefängniß ein Kind. Die unbarm⸗ 
herzige Mutter weigerte ſich, es zu ernähren, und erklärte: 
„Ich will es mir auch einmal gutgehen laſſen. Man 
kann ja eine Amme nehmen, wenn man das Kind durch⸗ 
aus aufziehen will.“ Man mußte dieſen Rath befolgen 
und das Kind einer Amme übergeben. Die leibliche 
Mutter hätte es verſchmachten laſſen. 








Merkwürdige Criminalproceffe aus Franfreid. 213 


Am 22. November 1886 wurben die Eheleute Thomas 
und die Brüber Lebon vor das Schwurgericht in Blois 
geftellt. Den Borfig führte der Rath Chenou von 
Drleans, die Anklage vertrat der Oberftaatsanwalt Fach ot 
aus Orleans, ald Vertheidiger erſchienen ver Advocat 
Georges Laguerre, der deshalb von Paris, wo er 
ſeinen Wohnſitz hatte, nach Blois gekommen war, und bie 
Advocaten Belleton, Petit und Henry, Mitglieder der 
Advocatenkammer in Blois. 

Der Schwurgerichtsſaal der Departementshauptſtadt 
war überfüllt, noch niemals hatte ſich eine fo große 
Menge von Menfchen eingefunden. Es konnte Im Saale 
buchftäblich Fein Apfel zur Erde fallen, Kopf an Kopf 
ftanden die Zuhörer und noch immer brängten ‘neue 
Maſſen herein, denn jedermann wollte die Angejchulpigten 
ſehen, bie, ſchlimmer als die Kannibalen, die eigene Mutter 
tem Feuertode überliefert hatten. 

Bormittags 11 Uhr wurde die Situng eröffnet. Den 
Geſchworenen ftellte man auf Befehl des Präfiventen 
Sttuationspläne des Zimmers, in welchen das Verbrechen 
begangen war, und Skizzen bes verfohlten Leichnams, bie 
einen fchaubervollen Anblid darboten, zur Verfügung. 

Die Angeflagten baben ihre Pläße eingenommen. 
Georgette Thomas ift faum 30 Jahre alt, aber früh 
gealtert, das Geficht voll Runzeln, der Rüden gebeugt. 
Sie bat grobe Züge, einen maffiven, vorſpringenden Unter⸗ 
fiefer, der auf ftarfe Willenskraft ſchließen läßt. Sie 
trägt bie breitheilige, hohe, weiße NRöhrenhaube, Das 
charakteriſtiſche Kleidungsſtück der Bäuerinnen in ver 
Sologne. Sie hat den Kopf geneigt, die Hände liegen 
gefaltet im Schoße, fie fpielt die unſchuldige Frau, bie 
nur durch ein Misverjtänpniß auf die Anflagebant ge- 
fommen ift. 


214 Merkwürdige Criminalproceffe aus Frankreich. 


Die drei Männer erfcheinen in ver blauen Arbeits: 
blufe franzöfifcher Landleute. Thomas ift von unter- 
jegter Statur, fein Gefiht macht einen unangenehmen 
falfhen Einorud, weil er mit den fatenartigen Augen 
fortwährend zwinfert. 

Aleris Lebon fieht aus wie ein behäbiger Land» 
wirth, nach der Mode der Gegend trägt er einen ftarfen 
Schnurrbart und furzgeftusten Badenbart. Alerander 
Lebon, ein gewöhnlicher Aderfnecht mit einem runden gut: 
müthigen Gefiht und rothen Baden, ift der einzige, ber 
reichlihe Thränen vergießt und wie es fcheint Neue em- 
pfindet über den ruchlofen Mord. 

Der Präfivent verhört zuerft Georgette Thomas. 

Präfident. Sie haben ven Kleinhäusler Thomas 
geheirathet und in Ihre Wirtbichaft eine Mitgift von 1800 
Frs. mitgebracht? 

Angeklagte. Herr Präfident, das Geld war nicht 
eine Mitgift. Meine Aeltern haben mir nichtS gegeben. 
Was ich beſaß, hatte ich mir felbft erworben. 

Präſident. Sie haben fchon vor Ihrer Verheirathung 
ein Kind von ihrem jetigen Manne gehabt? 

Angellagte. Das habe ich niemals in Abrebe ge- 
jtelit. 

Bräfident. Sie haben fich mit Ihrer Mutter ſchon 
jeit langer Zeit nicht vertragen, fondern fie immer fchlecht 
behandelt. Bor Zeugen haben Sie diefelbe geſchimpft 
„altes Kamel” und „alte Schlange”. Bor fieben over 
acht Jahren Haben Sie Ihre Mutter boshafterweife zu 
Boden geworfen, ſodaß fie unter eine trächtige Kuh fiel, 
welche fie fürchterlich zugerichtet hat. 

Angellagte. Nein, das ift nicht wahr. Sie wollte 
mir mit ber Schaufel einen Schlag über den Kopf geben. 
Dabei ift fie ausgeglitten und bie Kuh hat fie getreten. 


Merkwürdige Eriminalproceffe aus Srantreid. 215 


Präfident. Ihr Vater ftarb und Ihre Mutter zog 
zu Ihnen in das Haus; aber die arme alte Tran fühlte 
fih jo unglüdlih und wurde fo malträtirt, daß fie noch 
in ihrem hoben Alter als Magd in fremde Dienjte ging, 
um nicht mehr mit Ihnen zufammenleben zu müfjen. Als 
ihre Kräfte ſchwanden und fie auch leichte Arbeit nicht 
mehr verrichten konnte, kündigte ihr der Dienſtherr für 
den 1. Juli dieſes Jahres. Sie war in großer Unrube 
und Angft, weil fie fih vor Ihnen fürchtete und doch 
nothgedrungen in Ihr Haus zurüdkehren mußte. Sie 
bat ihre Erfparniffe mitgebracht. Wie hoch fich dieſelben 
befiefen, ift nicht mit Sicherheit ermittelt worden. Sie 
ſelbſt fcheinen ein Intereffe daran zu haben, die Summe 
ihres Vermögens möglichft niedrig anzugeben. Ste haben 
gefagt, Ihre Deutter hätte nur 316 Frs. befejfen, und ihr 
bald nach ihrer Rückkehr 200 Fre. geftohlen. 

Angellagte. Sie war ja verrüdt. Sie wollte das 
Seld zum Fenfter hinauswerfen. 

Präfident. Am 1. Juli, als fie zu Ihnen am, 
war fie noch ganz bei Berftand. Aber Ihre Behandlung 
bat fie fo weit beruntergebracht, daß fie nach Ablauf 
von drei Wochen fat blöpfinnig geworden war. Gie 
haben fich ärztliche Zeugniffe zu verjchaffen gejucht, um 
die unentgeltliche Aufnahme Ihrer Mutter in dem bhiefigen 
Irrenhauſe zu erreichen. Aber es dauerte Ihnen dies zu 
lange. Die Aerzte haben erklärt, bie alte Frau leide an 
Berfolgungswahn. Leider war e8 fein Wahn! Sie haben 
nicht einmal die Geduld befeffen, das bald bevorſtehende 
natürlide Ende der Greifin abzuwarten. Die arme Frau 
wurde infolge der täglichen Qualen, bie fie von Ihnen 
zu leiden batte, krank und mußte öfter das Bett hüten. 
Sie hatten ihr bald nach ihrem Einzuge in das Haus 
200 Frs. entwendet; aber Sie wollten auch den Kleinen 


216 Merkwürdige Eriminalproceffe aus Frankreich. 


Reft ihres Vermögens noch haben, und beichloffen, fie bei- 
feitezufchaffen. 

Angellagte. Nein, das tft nicht wahr. 

Präfident. Etliche wenige Tage vor dem Morde 
war ein Arzt von NRomorantin, Dr. Anfaloni, in Ihrem 
Haufe. Er fagte zu Ihnen, Ihre Mutter habe Wahn- 
borftellungen, fie glaube verfolgt zu werben, Sie follten 
fie ja forgfältig überwachen, fonft könne es geſchehen, daß 
bie alte Fran aus Angft ins Feuer fpringe. Dieſe wohl- 
gemeinte Warnung fcheint in Ihnen den teuflifchen Ge⸗ 
danken hervorgerufen zu haben, fich Durch das euer ihrer 
zu entlebigen. (Bewegung im Zubörerraum.) Sie haben 
den Entſchluß gefaßt, fie zu verbrennen, und fich ver Hoff⸗ 
nung hingegeben, man werbe es für ein Unglüd halten, 
baß fie in das Feuer gefallen fe, oder Selbftmorb ans 
nehmen. Sie haben es auf eigene Hand verjucht, fie 
umzubringen. Am 29. Juli, ebe Ihr Mann fortging, 
um Ihre Brüder zu einer Berathung berbeizurufen, 
haben Sie Ihre Mutter in das Herbfeuer gejtoßen. 

Angellagte. Es ift wahr, daß ich ihr einen Stoß 
gegeben habe und daß fie in das Teuer gefallen ift. Aber 
ich ftieß fie nur deshalb, weil fie mich geärgert hatte, ich 
wollte ihr fein Leid zufügen. 

Präfident. Ihre Mutter fam mit leichten Brand» 
wunden und verjengten Augenbrauen davon. Sie haben 
Ihren Mann beauftragt, Ihre Brüder, die in benad» 
barten Dörfern in Arbeit ftanvden, zu Holen. Alexis 
Lebon kam zuerft bei Ihnen an. Sie hatten Ihre 
Mutter in die dunkle Scheune eingefperrt, wie man ein 
Thier in den Käfig ſteckt, ehe man es abfchlachtet. (Be 
wegung im Auditorium.) Wleris forderte Sie auf, bie 
Mutter wiener heranszulafien. Sie erwiberten: „Laß 
fie nur dort, die alte Schlampe.” Erſt nachmittags 4 Uhr, 








Merkwürdige Eriminalproceffe aus Franfreid. 217 


als auch Ihr Mann und Alexander Lebon angelangt 
waren, wurbe Ihre Mutter aus der Scheume befreit und 
in das Bett gebracht. Sie bat e8 nur verlaffen, um auf 
ven Scheiterhaufen gelegt zu werben. Der Pfarrer Abbe 
Renault fand fih auf Ihr Verlangen in Ihrem Hauſe 
ein, um ber alten Frau bie Beichte abzunehmen. Als er 
eintrat, war ein heftiger Streit entbrannt zwiichen Ihnen 
und Ihrem Manne einerſeits und ihren Brüdern anderer- 
jeits. Sie zankten fi um bie 100 Frs., welche von ber 
Baarichaft Ihrer Mutter noch übrig waren. Was tft 
geihehen, nachdem der Herr Pfarrer weggegangen war? 

Angellagte. Mein Bruder Aleris fagte: „Wir 
wiſſen alle nicht mehr, was wir mit ver Mutter anfangen 
ſollen. Wir müſſen fie in das Feuer werfen.” Ich 
glaubte zuerft nicht, dag dies feine ernftlicde Meinung 
jet, daß er eine fo große ‘Dummheit begehen wolle. 

Aleris Lebon. Das ift erlogen! Du warft es, du 
baft es angeftiftet und mir gedroht, wenn ich meine Zu⸗ 
ftunmung zu ber Ermorbung verweigerte, würbejt du mich 
einſperren! 

Georgette Thomas. Kurz und gut, gleich darauf 
iſt das Unglück geſchehen. 

Präſident. Welche Handreichung haben Sie dabei 
gethan? 

Angeklagte. Ich habe die andern nur gewähren 
laſſen. 

Präſident. Ihre beiden Brüder haben die Mutter 
aus dem Bett gehoben und zum Herde getragen. Sie 
aber haben aus dem Strohſack Stroh herausgeriſſen, es 
zuſammengedreht, angebrannt und Ihrem Mann gegeben. 

Angeklagte. Nein, Herr Präſident, das iſt nicht 
wahr, meine Brüder haben die Strohwiſche gebunden 
und angezündet. 





218 Merkwürdige Eriminalprocefje aus Frankreich. 


Präfident. Und Ihr Mann? Was that er dabei? 

Angeflagte. Ich babe nicht gejeben, baf er irgent- 
etwas gethan hätte. 

Präfident. Diejes Vertheibigungsiyften haben Sie 
miteinander abgefartet. Sie jagen, er babe fich nicht bes 
tbeiligt, und er behauptet, Sie wären verrüdt wie Ihre 
Mutter, die als Here gegolten habe. 

Angellagte (weinerlih). Wir haben beide nichts 
gethan. 

Präfident. Aus dem Gutachten des Sachverftändigen 
geht hervor, daß Ihre Mutter mit Petroleum übergoffen 
worden ift, ehe man fie verbrannt hat. (Bewegung und 
Ausrufe des Abfcheus im Auditorium.) 

Angellagte. Nein, Herr Präfident, das ift nicht 
wahr. Ich Habe fie nur mit Weihwaffer beiprengt. 
(Abermald große Bewegung im Aubitorium.) 

Präfident. Nach den Angaben Ihrer Brüder find 
die leider ber alten Frau aufgeflammt wie Papier und 
e8 bat ein großes hellloderndes Feuer gegeben. Die Ber: 
brennung iſt fortgejegt worben bis abends 10 Uhr. Ihre 
Brüder haben fich vorher entfernt, um zu beichten, Ihr 
Dann ift ihnen nachgegangen und bat in den Wagen 
feines Schwagers Aleris eine leere Tlajche geworfen. Was 
war in diefer Flafche gewefen? Es wird vermuthet, daß 
bie Slajche Petroleum enthalten bat und in den Wagen 
gelegt worben ijt, um den PVerbacht von Ihnen ab und 
auf Ihren Bruder Aleris zu lenken. 

Angeklagte. Nein, das ift nicht wahr. Alexis 
jolite die leere Flaſche in der Safriftei mit Weihwaſſer 
füllen und wieder zurüdhringen. 

Präfident. Sie haben ein großes Kücherımefjer be: 
jeffen und in der Unterfuchungshaft gelegentlich geäußert: 
„Wenn das Meffer reden könnte!” Iſt Ihre Mutter 





Merkwürdige Criminalproceffe aus Frankreich. 219 


etwa mit biejem Meſſer verwundet worden? Ihr Bru- 
der Alerander foll blutige Finger gehabt haben. 

Angellagte. Ich habe niemand geftochen. 

Präfident. Iſt alfo Ihre Mutter lebendig ver- 
brannt worben? 

Angeflagte. Ich glaube ja. (Große Bewegung im 
Auditorium, Ausrufe der Entrüftung.) 

Präfivdent. Ihre Mutter war bei vollem Bewußt⸗ 
fein. Sie wehrte fich fo gut fie konnte. Sie rief: „O 
diefe Elenven, fie wollen mich ins Feuer werfen.” Ihre 
Zochter Eugenie, welche bei ber gräßlichen That anweſend 
war, hat ihr Angftgefchrei gehört. 

Angeklagte. Das Feuer auf dem Herde brannte 
ſchon, ich Hatte es vorher angezündet. ALS fie meine 
Mutter hineinfteden wollten, wehrte fie fich, fie ftieß bie 
Holzfcheite auseinander und Das Feuer verlöfchte. 

Präfident. Das wäre ja noch grauenhafter! Dann 
müßte der Sceiterhaufen zum zweiten mal bergerichtet 
und das Feuer nochmals angezündet worben fein! Eine 
folche Beftialität fan man fi faum venfen. Weshalb 
haben Sie Ihre Mutter verbrannt? Doch nicht deshalb, 
weil fie angeblich eine Here gewejen ijt? 

Angeklagte. Eine Here war fie ganz gewiß. 

Präfident. Dieſes alberne Gerücht tft erft nad) 
dem Morde verbreitet worden. Es ift eine Lüge, daß 
Sie Ihre Mutter verbrannt haben, weil fie eine Hexe 
fein ſollte. Sie wollten fie um jeden Preis los jein. 
Die ſchnödeſte Habfucht hat Sie zu dem Verbrechen ge- 
trieben. Seen Sie fich, die Herren Geſchworenen wer- 
ben Ste richten. 

Der Kleinhäusler Thomas wird nun vernommen. 
Im Laufe der Vorunterfuchung hat er beftimmte, Klare 


220 Merkwürdige Eriminalproceffe aus Frankreich. 


Antworten gegeben, in ber Hauptverhanplung ftellte er 
fih dumm und blöpfinmig. 

Präfident. Wie beißen Sie? 

Angeflagter. Ich weiß es nicht. 

Präſident. Wann ift Ihre Schwiegermutter in Ihr 
Haus gezogen, um bafelbft dauernd zu wohnen? 

Angeflagter. Ich weiß es nicht. 

Präfivent Was bat fih in Ihrem Haufe am 
29. Juli zugetragen? 

Angeflagter. Ich weiß e8 nicht. 

Der Präſident legt ihn 17 einzelne Fragen vor, und 
er antwortet 17 mal eintönig: „Ich weiß es nicht.” 

Präfident. Es würde beffer für Sie fein, wenn 
Ste antworteten, denn die Thatfachen beweisen Ihre Schulp, 
und es wirb Ihnen nichts helfen, daß Ste Blödfinn ſimu⸗ 
liren. Segen Sie ſich. 

Aleris Lebon, an ben der Präfivent fich wendet, 
gibt auf alle an ihn gerichteten Fragen ſehr deutliche Ant- 
worten. Sein Auftreten macht einen etwas beſſern Ein- 
druck, weil er beicheidener ijt und doch eine Empfinbung 
für feine furchtbare Schuld zu haben fcheint. 

Präfident. Sie glauben doch nicht an Hererei. 
Dean Hat Sie ſelbſt in früherer Zeit als Hexenmeiſter 
bezeichnet, damals haben Sie ſich über ven Aberglauben 
[uftig gemacht und gefpottet. Kommen wir nun zur 
Sade. Ihr Schwager Thomas hat Sie am 29. Juli 
in jein Haus eingelaben, um gemeinjchaftlich den bereits 
beichloffenen Mord Ihrer Mutter auszuführen? 

Angeflagter. Das it nicht ganz richtig, Herr 
Präfivent. Mein Schwager Thomas lub mich ein zu 
einer Familienberathung über den Zuftand der Mutter. 
Er ging von mir zu meinem Bruder Alerander, um auch 








Merkwürdige Eriminalproceffe aus Kranfreid. 291 


ihm Beſcheid zu jagen. Wir hatten nicht verabrebet, was 
mit ber Mutter gefchehen folle. Ich traf zuerft in Luneau 
ein und fand die Mutter in der Scheune eingefperrt. 
Sie Hatte Branbwunden und bie Augenbrauen waren 
verfengt. Ich fragte meine Schweiter: „Was haft bu denn 
at ber Mutter angefangen? Du haft fie wol in das 
Teuer geftoßen? Das ift nicht ſchön von Dir.” 

Bräfivent.e Bald nachher aber haben Sie fic 
wegen des bauren Geldes, welches vie alte Frau beſaß, 
im einen Streit mit Ihrer Schwefter und Ihrem Schwager 
eingelaffen ? 

Angellagter. Ach was mich betrifft, ich wollte 
fortgeben. Ich Habe Feine Freude an Streitigkeiten. 

Bräfident. Was geſchah, als der Pfarrer Ihrer 
Mutter die Beichte abgenommen und fich entfernt hatte? 

Angellagter. Ich fagte zu meiner Schweiter, fie 
jollte meiner Mutter friiche Wäſche anziehen. Sie ent- 
gegniete: „Nachdem fie gebeichtet bat, braucht fie Feine 
Wäſche mehr. Jetzt hat fie nicht mehr lange zu leben.” 
(Bewegung im Auditorium.) Sie fügte hinzu: „Beute 
Abend dürft ihr nicht mehr fortgehen, weber bu nod 
Alexander.“ Sie ſchloß die Thür ab, ſteckte ven Schlüffel 
in die Taſche und flüfterte Hierauf mit meinem Bruder 
Alerander. Bald darauf fagte fie zu uns beiden: „Ihr 
müßt die Alte in das Feuer werfen.” 

PBräfident. Sie find der ältefte von den Geſchwiſtern. 
Sie find dreiunddreißig Jahre alt und waren in erfter 
Linie verpflichtet, Ihre Mutter zu fehügen. Aber Sie 
haben nicht nur nicht gethan, um fie zu retten, jondern 
an dem Morde fich betheiligt. Sie haben fie an ben 
Schultern, Aleranber bat fie an ven Beinen angefaßt und 
jo haben Sie beide die alte Fran auf den Scheiterhaufen 
geichleppt. 





292 Merkwürdige Eriminalprocefie aus Franfreid. 


Angellagter. Ich babe nur aus Furcht jo gehan- 
delt. Thomas und Georgette zückten bie Meſſer und be- 
brobten ums. 

Thomas. Ich weiß es nicht. 

Georgette Thomas. Das ift nicht wahr. Du, 
Aleris, bift der erfte, ver gejagt hat, wir follten fie ins 
Teuer werfen. 

Aleris Lebon. Nein, das warft bu, Schweite. 
Ih Habe meine Aeltern immer mit Chrerbietung be 
handelt. (Bewegung im Auditorium.) 

Präfident. Aleris Lebon! Sie haben ausgejagt, 
daß Ihr Schwager Thomas feine Schwiegermntter in bie 
Herböffnung förmlich hineingeftampft habe. 

Angellagter. Ia, das ift wahr. Er bat fie mit 
Sußtritten hineingezwängt und mit ben Knien nad» 
geholfen. Er bat ihr auch gewaltige Stöße auf die Bruit 
und ven Leib verſetzt, um fie in die richtige Lage zu 
bringen. An den Füßen trug er Holzſchuhe un mit 
diejen Schuhen trat er fie. 

Präfident. Sie felbft aber haben Ihre Mutter mit 
zum Herde getragen. 

Angellagter. Ja, freifid. Ich gab fchon früher 
an, daß meine Schwefter und mein Schwager ihre Mefjer 
gezogen batten und mich bedrohten. Auch mein Bruder 
Alerander redete mir zu, mit Hand anzulegen. Er fagte: 
„Greif doch zu, font tft e8 um dich geichehen.“ 

Präfivdent. Und Ihre Schweiter, was Hat fie da 
bei gethan? 

Angellagter. Sie band ein Bülchel Stroh zu- 
jammen, mit welchem ihr Mann das Teuer angezündet 
hat. Ich wollte fort aus dem Haufe, aber mein Schwager 
hatte meinen Hut verfchloffen und brobte: „Du wirft 
mit der Alten zugleich verbrannt, wenn bir dich weigerft.” 











Mertiwürdige Eriminalprocefije aus Frankreich. 293 


Präfident. An demſelben Abend find Ste aber Doch 
zum Pfarrer gegangen, haben bort gebeichtet und fich ein 
Band weihen laffen. Ihr Schwager hat Sie doch nicht 
verhindert, das Haus zu verlaffen. 

Angellagter. Das war ja nachher. Sch bereute 
die That fofort und wollte das Teuer erftiden. Aber 
meine Schwefter und mein Schwager ftießen mich zurüd 
und riefen: „Nein! Nein! Sie muß verbrennen!” 

Präfident. Iſt Ihre Mutter lebendig verbrannt 
worden? 

Angeklagter. O, ſie war mehr todt als lebendig, 
als fie in das Feuer geworfen wurde. 

Präſident. Rochen die Kleider, welche ſie trug, nach 
Petroleum? 

Angeklagter. Ja, ſehr ſtark. 

Präſident. Und Sie waren es, der die eigene 
Mutter auf den Herd ſchleppte, wo ſie den qualvollen 
Feuertod leiden ſollte? 

Angeklagter. Ich habe es aus Furcht gethan. 
Sie bedrohten mich und zwangen mich dazu. 

Präſident. Am nächſten Tage haben Sie Ihren 
Onkel zum Begräbniß eingeladen? 

Angellagter. Ich hatte ven Kopf verloren. 

Präfident. Segen Sie ſich. 

Hierauf erhob fih Alerander Lebon. Er fchluchzt 
(aut und behauptet ebenfo wie fein Bruder, daß er von 
jeiner Schwejter und feinem Schwager gezivungen wor⸗ 
den fei, an dem Verbrechen theilzunehmen. 

Präſident. Sie find der einzige geweſen, welcher 
ver Mutter bei Lebzeiten freundlich begegnet ift. 

Angellagter. Ah ja. Als ich ſah, daR meine 
Mutter fo ſchwach und elend war, wollte ich fie zu mir 
nehmen. Aber Georgette ließ e8 nicht zu. Mein Schwager 


224 Merkwürdige Eriminalproceffe aus Frankreich. 


fam zu mir und holte mich zu einer Berathung. Ich ging 
mit, ahnte aber nicht, daß fie ermorbet werben follte. 
Die andern ftritten fih um das Geld. Ich redete zum 
Frieden und ſagte, fie jollten doch Vernunft annehmen. 
Später wollte ich weggehen, weil ich das mörberifche Vor- 
haben nicht billigte, aber meine Schwefter hatte die Thür 
verfehloffen, und befahl mir unter Drohungen, ich Sollte 
mithelfen und die Mutter mit in das euer werfen. 
Ich rief: „Nein, das thueich nicht! Ich thue es nicht!” 
Da nahm Thomas ein großes fcharfgeichliffenes Meſſer 
und ging auf mich zu mit ben Worten: „Wenn bu wicht 
gehorchſt und bich noch länger weigerft, fo fteche ich dich 
ab wie ein Kalb. Jetzt wird fein Federleſen mehr ge- 
macht. ‘Du ober deine Mutter!” Im gleicher Weile 
bebrohte er meinen Bruder Alexis. Diefer war anfangs 
unſchlüſſig, dann gab er nach und äußerte: „Meiner Treu, 
ic mag nicht um ihretwillen dran. Komm und hilf mir. 
Greif nur zu.” Und nun gingen wir beide an das Bett, 
hinter welchem vie Kinder fich erjchroden verſteckt hatten. 
Wir trugen die Mutter auf ven Feuerherd. 
Präfident. Sie haben nach Ihrer eigenen Erzäß- 
lung feinen ernftliden Verſuch gemacht, fich dem Ber: 
brechen zu widerſetzen. Sie konnten boch eim Fenfter 
öffnen und um Hülfe rufen. Sie und ihr Bruder brauch⸗ 
ten fih doch nicht von Ihrer Schweiter und Ihrem 
Schwager zwingen zu laffen. Nein, Sie find alle vier 
einverftanden gewefen, dieſen ruchlofen Morb zu begeben. 
Angellagter. Ich fürchtete mich vor meinem Schwa- 
ger, der wie ein Wilder mit feinem Meſſer herumfichtelte. 
Der Präfident zu Thomas. Ich frage Sie noch— 
mals, ob Eie die Maske des Ipioten fallen Taffen und 
auf meine Frage antiworten wollen. 
Angellagter Thomas. Ya, ich will antivorten. 





Merkwürdige Criminalproceife aus Frankreich. 295 


Präfident. Es fcheint, Daß Sie Ihre Schwäger 
berbeigeholt haben, damit das furrdhtbare Verbrechen, 
welches Sie und Ihre Frau auch allein ausführen konnten, 
gemeinschaftlich von der ganzen Yamilte verübt werben 
jollte. Wer bat den Vorfchlag gemacht, Ihre Schwieger- 
mutter zu verbrennen ? 

Angellagter. Meine Frau. (Bewegung im Aubi- 
torium.) Sie fagte, eine geheime Gewalt zwinge fie dazu. 

Bräfident. Flunkern Sie bier nichts von Hexerei, 
ſondern reden Sie die lautere Wahrheit. Wer hat Ihre 
Schwäger beproht ? 

Angellagter. Meine Frau. Sie fagte zu ihrem 
Bruder Alerander: „Entweder die Mutter ftirbt ven 
Teuertod, oder du wirft verbrannt.” 

Präſident. Aber Sie haben babeigeftanden und das 
Meffer gejhwungen, um ver Drohung Nachprud zu geben. 

Angellagter. O nein! Das haben meine Schwäger 
bazugelogen.. Sch zog mich Hinter das Bett zurüd zu 
den Kindern, die dort vor Angſt weinten. 

Präfident. Alſo Sie haben das Feuer und bie 
Kleider Ihrer Schwiegermutter nicht angezündet ? Cie 
haben vie alte Frau nicht mit Fußtritten und mit Stößen 
in die Herböffnung bineingeftampft ? 

Angeklagter. Das ift alle® erlogen. 

Präfident. Haben Sie die leere Betroleumflafche 
in den Wagen Ihres Schwagers Aleris geworfen ? 

Angeflagter. Ja, aber nur zum Beweiſe für das, 
was er gethan hatte. 

Präfident. Während bie drei andern von Gewiffens- 
biffen gefoltert zum Pfarrer gingen, um zu beichten, find 
Sie ruhig zu Haufe geblieben und haben zugefehen, wie 
ter Leichnam Ihrer Schwiegermutter von ben Flammen 
verzehrt murbe. 

XXI. 15 


226 Merkwürdige Criminalproceffe aus Franfreid. 


Angellagter. Ich bin im Hofe aufe und abgegangen. 
Die Tenfter des Haufes waren fo hell erleuchtet wie bei 
einer Feuersbrunft. 

Präfident. Seben Sie fid. . 

Es wurde hierauf eine größere Anzahl von Zeugen 
vernommen. Bon erheblicherm Intereſſe find nur bie 
Ausfagen der Heinen Eugenie Thomas und des Abbe Re 
nault, die wir folgen laſſen. 

Eugenie Thomas ift ein hübjches, blondes Kind von 
faum acht Jahren. Sie ift gut genährt, für ihr Alter groß 
und ſtark, hat ein helles intelligentes Auge, faßt leicht 
auf und beantwortet alle Fragen mit großer Beſtimmt⸗ 
beit. Sie ift reinlich gefleivet, trägt eine blaue Schürze 
und die hohe weiße Röhrenhaube. 

Der Vertheidiger des Angeflagten Advocat Petit legt 
Verwahrung dagegen ein, daß das Kind als Zeugin zu 
gelaffen werben folle, weil dies gegen ulle Grundfäge ber 
Moral und der Humanität verftoße. Jetzt freilich könne 
das Kind die Tragweite feiner Ausfage nicht beurtbeilen. 
Allein gewiß werde e8 fih in reifern Jahren Vorwürfe 
und Gewiſſensbedenken machen, wenn e8 fich bewußt werke, 
daß es dazu mitgewirkt habe, Vater und Mutter dem 
Henker zu überliefern. 

Der Gerichtshof verwirft den Proteft und befchließt, 
das Mädchen unbeeidigt zu vernehmen. 

Präfident zu Eugenie Thomas. Mein Kind, 
bu mußt in allen Stüden die Wahrheit und nichts ale 
die Wahrheit fagen. Du fiehjt die Leute, welche bort 
figen. Erfennft du fie? It e8 dein Vater, deine Mutter, 
bein Onkel Aleris und dein Onkel Alerander? 

Eugenie Thomas. D,ich kenne fie alle gut, mein Herr. 

Präſident. Erinnerft du dich deiner Großmutter? 

Eugenie Thomas. Ja wohl, mein Herr. 





Merkwürdige Eriminalprocefjfe aus Frankreich. 297 


Präfident. Crinnerft du dich des Tages, an wel- 
dem fie ftarb? 

Eugenie Thomas. Gewiß. Es war eines Abends. 
Der Herr Pfarrer war zu uns gefommen. Papa, Mama 
und meine beiden Onkel waren zugegen. 

Präfident. Was ift nach dem Weggange bes Herrn 
Pfarrers gefchehen ? 

Eugenie Thomas Sie ferten fih zu Tiſch und 
aßen, auch der Eſelin des Onkels Aleris, die vor feinen 
Wagen gejpannt war, wurben gelbe Rüben als Futter 
gebracht. Die Großmutter lag auf ihrem Bett in der 
Stube. Meine beiden Onkel Aleris und Alerander haben 
fie in die Höhe gehoben und auf den Feuerherd getragen. 
Papa und Mama fagten, fie fei wahnſinnig. Mama hat 
aus dem Strobfad ein Paar Hände voll Stroh beraus- 
geriffen, einen Strohwifeh davon gemacht und das Feuer 
angezündet. Zuerſt hat die Großmama fi) aus dem 
Feuer wieder herausgearbeitet, Papa hat fie aber mit 
Gewalt wieder hineingetban und fie gezwungen brinzn- 
bleiben. (Ungeheuere Bewegung im Aubitorium, Ausrufe 
aller Art. Es ift fchwer, die Ruhe wiederherzuſtellen. 
Der Präfident droht, ven Saal räumen zu laffen.) 

Präfident. Hat beine Großmutter gefchrien, ale 
fie in das Feuer geworfen wurbe ? 

Eugenie Thomas. Nicht gar viel. Zuerſt jchrie 
fie, wie jemand, der fi fürdtet. Später fchrie fie 
weniger. Es war im Zimmer ein abjcheulicher Geftanf. 

Präfident. Wann find beine beiden Onfel meg- 
gegangen ? 

Eugenie Thomas. Erft als Großmama fchon lange 
ganz ftill geworben und beinahe ganz verbrannt war. Es 
that mir fehr leid, denn Großmama bat mir oftmals 
einen Son gefchentt. 

15* 


298 Mertwürbige Criminalproceffe aus Frankreich. 


Die Erregung des Publikums infolge der Ausfagen 
der Heinen Eugenie Thomas, die mit voller Unbefangen- 
beit, wahr und zuverläffig die grauenhafteften Einzelheiten 
berichtete, war kaum zu beichwichtigen. Sie legte ficdh erft, 
als der Pfarrer von Selles-Saint-Denis, AbbE Renault, 
als Zeuge aufgerufen wurde. 

Er erzählt, zunächſt feien Alexis und Alerander Lebon 
zu ihm gelommen und hätten fich ein feivenes Band weihen 
faffen. Nach einiger Zeit feien fie nochmals und bald 
darauf auch Georgette Thomas erjchienen. Alle drei hätten 
gebeichtet, um ihre fchwerbelafteten Herzen zu erleichtern. 
Den Inhalt der Beichte theilt der Abbe natürlich nicht 
mit. Er erffärt: die Witwe Lebon habe im Dorfe all- 
gemein als eine Here gegolten, fie folle das Rindvieh be- 
hext haben. Er läßt durchblicken, daß er felbft an Deren 
und Hererei glaubt und die DVerftorbene auch im Ber: 
dacht gehabt hat, als Here mit dem Teufel im Bımbe 
zu fteben. Nach feiner Meinung ift die ganze Yamilie 
Lebon nicht recht bei Trofte. 

Das Beweisverfahren war gejchloffen und am 23. No- 
vember folgten die Plaivoyerd. Der Oberſtaatsanwalt 
Fachot hat eine Leichte Aufgabe zu Löfen, denn es tft 
vollftändiger Beweis dafür erbracht, daß die Witwe 
Lebon ermordet worden ift und daß die vier Angeſchul⸗ 
bigten den Morb nah vorausgegangener Verabredung ges 
meinfchaftlich verübt haben. Er beantragt, das Schulbig 
auszufprechen und bie vier Mörder zum Tode zu ver 
urtheilen. Die bei franzöfifchen Gejchworenen beſonders 
wichtige Frage, ob mildernde Umstände angenommen wer- 
ben bürfen, unterzieht der Oberftaatsanwalt einer ein- 
gehenden Prüfung, er erfennt an, daß Aleris und Aler- 
ander Lebon noch einer beffern Negung fähig find. Sie 
haben ihre verruchte That bereut und Alerander hat bie 








Merkwürdige Eriminalprocefje aus Frankreich. 229 


Mutter wenigftens bei Lebzeiten freundlich behanvelt. 
Aber dennoch ift nach feiner Meinung auch gegen fie die 
Todesſtrafe auszufprechen und dem Präfidenten der Re⸗ 
publif anheimzuftellen, ob er vielleicht einen der Minder⸗ 
Ihuldigen zu Freibeitsftrafe begnadigen will. 

Der Vertheibiger der Frau Georgette Thomas hat 
einen fchweren Stand. Die Thatfachen muß er zugeben 
und die Schulo feiner Elientin wagt er nicht in Abrede 
zu ftellen. Er zieht es deshalb vor, von dem finftern 
Derenglauben zu fprechen, welcher unausrottbar in den 
Köpfen der dortigen Bauern ſpukt. Er erzählt recht 
vraftiiche Fälle, die fich ereignet haben, und beutet an, 
daß auch höher ſtehende, ven gebilveten Kreifen zugehörige 
Perfonen diefen Glauben theilen. Die Angefchulpigten 
haben nach feiner Ausführung die Witwe Lebon für eine 
Here gehalten und die Hiftoriiche Strafe der Heren, ven 
Feuertod, an ihr vollzogen. Um ihres Motivs willen 
kien fie milder zu beurtheilen. 

Der Vertheidiger des Thomas fchließt fich feinem 
Collegen an, auch er plaidirt für mildernde Umftände und 
greift das proceffunle Verfahren an, indem er geltend 
macht, Eugenie Thomas habe nicht als Zeugin gegen ihren 
Bater und ihre Mutter vernommen werben dürfen, denn 
es widerjtreite dem Nechtögefühl und dem Recht, das 
Schuldig der Aeltern auf die Ausfage ihres Kindes zu 
gründen. 

Der Vertbeibiger von Alexis Lebon hält eine glän- 
jende, aber wenig fachliche Rede, die darin gipfelt, daß 
er den Angeklagten als einen Schwachlopf ſchildert, der 
fteif und feft an Zauberei und Hererei glaube und willen» 
(08 gethan habe, was feine viel Mügere und energifchere 
Schweſter verlangt habe. 

Der Advocat Henry enblich fordert für Alexander 


230 Merkwürdige Sriminalproceffe aus Frankreich. 


Lebon mildernte Umſtände, weil er bei weitem nicht eine 
ſolche Gefühllofigfeit und Roheit wie feine Mitſchuldigen 
an den Tag gelegt, ſondern, eingefchüchtert von feiner 
Schweſter und feinem Schwager, aus Angft vor ihnen 
bei dem Morbe, ven fie beichloffen Hatten, mitgewirft 
babe. 

Die Berathung der Geſchworenen bauerte breivtertel 
Stunde. Ihr Spruch ging dahin, daß bie vier An- 
gellagten des Mordes fchuldig, aber dem Aleris 
und dem Alerander Lebon mildernde Umjtände 
zu bewilligen jeien. 

Der Gerichtshof verurtheilte hierauf den Klein» 
bäusler Thomas und feine Ehefrau Georgette 
Thomas geborene Lebon zum Tode durch Enthaup- 
tung, Alexis Lebon zu lebenslänglicher und Aler- 
ander Lebon zu zwanzigjähriger Zuchthaus: 
jtrafe und verfügte, daß die Tobesftrafe in Romorantın 
vollſtreckt werben folle. 

Seorgette Thomas, bie bis dahin der Verhanplung 
beigewohnt hatte, ohne irgendeine Empfindung ober ein 
Zeichen von Erregung zu verratben, brad in Thränen 
aus und verbarg das Geficht mit ihrem Taſchentuche, 
als fie vernahm, daß ihr das Leben abgefprochen wurde. 

Der Präfibent des Gerichtshofs hatte es unterlaffen, 
bie von dem Geſetz vorgefchriebene Frage an die Ans 
geflagten zu richten, ob fie wegen bes Strafmaßes Be⸗ 
rufung einwenden wollten. Wegen dieſes Formfehlers 
wenbeten bie Bertheidiger die Nichtigkeitsbeſchwerde ein. 
Allein der Oberfte Gerichtshof verwarf das Rechtsmittel 
und das Urtheil war jomit vechtsfräftig geworben. 








Merkwürdige Eriminalproceije aus Franfreid. 231 


Der Präfident der franzöfiichen Republil, Herr Julius 
Grevy, ift wie ehr viele Franzoſen ein principieller Gegner 
ver Todesitrafe und foll ein weiches, mildes Herz haben. 
Es wird ihm ſehr jchwer, ein Todesurtheil zu bejtätigen, 
er bat deshalb faſt grunpfäglich die Umwandlung in 
dreiheitsftrafe verfügt und bis zu dem jett in Rebe 
ftehenden Falle noch niemals ein Weib hinrichten laffen. 
Man war nun in allen Kreifen jehr gefpannt, ob bie 
Execution der Eheleute Thomas ftattfinden würde. 

Der Präfivent des Schwurgerichts, der Oberjtaatd«- 
anwalt, das ComitE im Yuftizminifterium, welches jedes 
Zobesurtheil zu prüfen und eventuell Begnabigungsanträge 
zu ftellen bat, beantragten einftimmig, ber Gerechtigkeit 
ihren Lauf zu laffen, und ver Präfident ver Republik er- 
theilte die Beftätigung. 

Am 22. Januar 1887 erhielt der Scharfrichter von 
Paris, Deibler, ven Befehl, fich nach Romorantin zu be- 
geben und bort die Execution vorzunehmen. Cr reiite 
über Blois, wo die Eheleute Thomas im Gefängniß 
jaßen und die Entſcheidung über Leben und Tod erwarteten. 

Die Ankunft des furchtbaren Mannes war ein Er- 
eigniß für die Departementshauptſtadt. ‘Die ganze Be— 
völferung gerietb in Bewegung. Vor dem Gefängniß- 
thor verfammelte fich eine große Menfchenmenge. ALS 
Thomas und feine Frau herausgeführt wurden und ben 
bereit gehaltenen Wagen beftiegen, erhob fich ein wüthendes 
Geſchrei. Das Volt war furchtbar erbittert gegen biefe 
graufamen Mörder und begleitete fie unter Verwünfchungen 
johlend und lärmend bis zum Bahnhof. In Romorantin 
wurden fie ebenjo empfangen, benn auch bort hatte fein 
Menſch Erbarmen mit ver Tochter, die mit ihrem Manne 
und ihren Brüdern bie leibliche Mutter lebendig ver- 
brannt hatte. Thomas nahın alles gleichgültig und ftumpf- 


332 Merkwürdige Criminalproceffe aus Frankreich. 


finnig hin, er jchien fich in fein Schickſal ergeben zu haben, 
nichts machte Einprud auf ihn. Seine Frau dagegen 
betrug fich jtörriich und hochmüthig. Sie hing am Leben 
und wollte durchaus nicht fterben. 

Am 24, Januar, früh 7 Uhr, begab ſich die Gerichts⸗ 
commiffion: der Stautsanwalt, der Unterfuchungsrichter 
und ein Schriftführer, in Begleitung des Gefängniß- 
geiftlichen zu den Delinquenten und eröffnete ihnen, daß 
der Präfident der Republik das Todesurtheil beftätigt 
habe. Thomas fprang aus dem Bett und Heibete fich 
mafchinenmäßig an. Er fagte fein Wort. 

Georgette Thomas war gänzlich verblüfft, zuerſt be- 
griff fie nicht, um was es fich handelte, als man ihr 
far und deutlich fagte, daß fie enthauptet werben folle, 
brach fie in ein entſetzliches Geheul aus. Sie flehte um 
Gnade, fie beſchwor den Staatsanwalt, ihr das Leben zu 
ſchenken, fie weigerte fich aufzuftehen und bie Kleider an- 
zuziehen. Als man endlich Gewalt brauchte, wehrte fie 
fih aus Leibesfräften. Es dauerte eine halbe Stunde, 
ehe ihre Zoilette zu Stande kam, fie mußte gefejfelt wer- 
ben. Nachdem fie gebunden war, warf fie fi auf ben 
Erdboden und bat von neuem um Erbarmen, um Yuf- 
ichub, fie wolle alles willig ertragen, nur das Leben folle 
man ihr laffen. ‘Dabei gab fie mit feinem Worte zu er- 
fennen, daß fie ihre That bereue, daß fie ein belaftetes 
Gewiſſen babe, fie beflagte nur ihr eigenes Los, daß fie 
das Leben verlieren follte. 

Der Gehülfe des Scharfrichters fchnitt ihr die Zöpfe 
ab, die Haarflechten fielen zu Boden, fie fchauderte, ein 
Zittern lief über ihren Körper. Als die Zöpfe aufgehoben 
und auf den Tiſch gelegt wurden, ftieß fie fchluchzend bie 
Worte heraus: ‚Bringen Sie das meiner Tochter ald 
Andenken.” Das war die einzige Aeuferung, die weib- 





Merkwürdige Eriminalprocefje aus Frankreich. 233 


liches Gefühl verriet.” Den Beiftand des Geiftlichen 
lehnte fie ab, währenn ihr Mann beichtete. Endlich war 
man fertig. Thomas und feine Frau wurben im Zellen- 
wagen zur Nichtftätte gebracht. Die Guilfotine war auf 
einem offenen Plate aufgeichlagen, und Zaufende von 
Menichen, darunter ſehr viele Frauen und Kinder, hatten 
fih eingefunden, um dem blutigen Schauspiel beizuwohnen. 
Die Henfersfnechte ergriffen zuerft die Frau Thomas, fie 
war in der durch die alte Sitte für Vater» und Miutter- 
mörber vorgejchriebenen Tracht: der Kopf mit einem 
Ihwarzen Schleier verhüllt, über die Kleider ein Leichen- 
hemd gezogen, bie Füße nadt. Vierzig bis funfzig Schritte 
vom Schaffot entfernt, wirft fie fich auf die Erbe und 
frümmt und windet fi unter Flüchen und Gebeten und 
Ichreit endlich laut: „Gnade! Gnade! um meiner Kinder 
willen ! 

Die Frau, die ihre Mutter dem Feuertode übergeben 
bat, betitelt, daß man fie um ihrer Kinder willen am 
Leben laſſen möge ! 

Man verfucht, fie aufzurichten, aber fie fträubt fich 
und muß bis zum Schaffot getragen werben. Sie wird 
auf das Bretergeräft hinaufgeführt und Liegt einige Se- 
cunden ruhig dort. Plötzlich aber jchnellt fie in vie Höhe 
und verfucht e8 nochmals, fich loszureißen. Sie wird feit 
an den Schultern gepadt, mit Gewalt in bie richtige 
Stellung gebracht, dad Fallbeil fauft herab, ver Kopf 
wird vom NRumpfe getrennt, fie tft gerichtet. 

Das Blut wird weggewafchen und Thomas berbei- 
geholt, ver inzwifchen, Gebete murmelnd, am Zellenwagen 
geitanden hat. ‘Der Geiftliche begleitet ihn. Er geht 
langfam, faft theilnahmlos bis zum Schaffot, fteigt me⸗ 
chaniſch hinauf, nimmt von dem Priefter mit einer Um- 





234 Merkwürdige TCriminalproceffe aus Frankreich. 


armung Abſchied, dann niet er nieder umb bleibt un- 
beweglich, bis die Guillotine ihre Schuldigkeit tut. 


— — — { 


Der Proceß, den wir mitgetheilt haben, iſt ein dunkles 
Blatt in der Eulturgefchichte Frankreichs. Aberglaube 
und Habſucht, Noheit und Grauſamkeit haben biejen 
furchtbaren Mord geboren. Der widerlichfte Zug it, daß 
bie Mörder, nachdem fie ihren verruchten Entſchluß ge⸗ 
faßt haben, den Pfarrer herbeirufen, damit das Opfer 
vorher beichten und abſolvirt werben foll. Der Priefter 
hat feinen Einfluß auf ihren verbrecherifhen Plan, er 
hat nur eine Rolle in der ſchrecklichen Tragödie zu über: 
nehmen, nämlich das Opfer zu abfolviren und nad) ber 
That auch den Mörbern, die bei ihm beichten, bie Abjo- 
lution zu ertheilen. Die Religion ift für dieſe Menſchen 
nicht eine Macht, die ihre Herzen ändert, fondern das 
Mittel, fie nachträglich vor den Höllenftrafen zu ſchützen. 
Wenn man überlegt, was die beiden Söhne, bie Tochter 
und deren Mann an ber alten Mutter gethan haben, fo 
inuß man zu ber Ueberzeugung gelangen, baß alle vier 
eine geradezu teuflifche Bosheit und Beſtialität an ben 
Zag gelegt haben. Es mag fein, daß die Flügere Schweiter 
ben Mord angeftiftet hat, aber fein Vernünftiger Tann 
glauben, daß die Brüder durch Drohungen gezwungen 
worden find mitzuwirken. Wir fennen die Schwäche fran⸗ 
zöfiicher Gefchworenen, aus Abneigung gegen die Todes⸗ 
ftrafe die mildernden Umftände möglichit ertenfiv zu inter 
pretiren. Aber in biefem alle einen mildernden Um- 
ftand darin zu feben, daß zwei fräftige junge Männer 
von ihrer Schwefter und deren Manne überrebet worben 
find — das geht allerdings gegen den gefunden Menſchen⸗ 


Mertwärdige Eriminalproceffe aus Frankreich. 935 


verftand. Nach unfern Begriffen von Recht und Gerechtig- 
feit waren auch Alexis und Alerander Lebon dem Beil 
bed Henker verfallen. Die Zuchtbausftrafe ift feine 
Sühne ihres infernalifchen Mordes. Zwei erwachjene 
Söhne, die ihre Mutter auf den Scheiterhaufen tragen, 
damit fie verbrannt werbe, verbienen fein Mitleid. Unfers 
Erachtens haben die Gefchworenen von Bloid dad Volks⸗ 
gewiffen tief beleidigt, als fie durch ihre mildernden Um⸗ 
ſtände die Todesſtrafe ausjchloffen. 

Mit dem Vertheidiger des Thomas ftimmen wir darin 
überein, daß man bas Kind als Zeuge gegen bie Aeltern 
nicht hätte gebrauchen follen, felbft wenn fein Zeugniß 
notbwendig gewejen wäre. Es iſt dieſe Procebur nicht 
vereinbar mit dem Nechtöbewußtjein ver meiften civili- 
firten Bölfer, wie fich fchon daraus ergibt, daß nach vielen 
Geſetzgebungen Kinder befugt find, das Zeugniß gegen 
die Aeltern abzulehnen. Hier war vie Schulp bereits 
voll bewieſen, und es muß als ſehr überflüffig erachtet 
werden, daß man bie Heine Eugenie Thomas vor bie 
Schranken des Gerichts gerufen hat, um ihren Vater und 
ihre Mutter dem Henkertode zu überliefern. Die Ver- 
nebmung brachte allerdings eine große dramatiſche Wir- 
fung hervor, umb auf eine folche verzichten bie Franzoſen 
nicht gern; aber nach den Geſetzen ver Moral muß dieſes 
Verhör doch wol als verwerflich bezeichnet werben. 





Johanna d'Arc, die Jungfrau von Orleans. 
1429 — 1431. 


Unter ven Helvengeftalten, welche im Laufe ber 
Sahrhunderte aus den Tiefen des Volksgeiſtes empor- 
geftiegen und ihrem Vaterlande im Kampfe für die Frei⸗ 
beit vorangefchritten find, ift eine ber wunderbarſten 
Johanna d’Arc, die Sungfrau von Orltans. Ir 
Name und ihre Thaten fine mit unauslöfchlichen Zügen 
in die Tafeln der Gefchichte Frankreichs eingegraben, die 
kurze Bahn ihres Ruhms ift jo glänzend, ihr Triumph 
zug von Orleans bis Rheims fo einzig in feiner Art, 
ihr Geſchick fo tragifch, ihre ganze Erfcheinung gleicht je 
jehr dem Meteor, welches Teuchtend am Himmel dahin 
zieht und dann plößlich in dunkle Nacht verfinkt, daß fie 
mit Recht von jeher für die Gefchichtsforfcher Jund die 
Piychologen, für die Männer des Rechts und der Kirche, 
ja für die Gebilveten aller Nationen ein Gegenftand des 
ernſteſten Studiums und des höchſten Intereſſes geweſen 
it. Die einen ſahen in dem Mädchen von Domremh 
eine vom Teufel beſeſſene Creatur, nach ihrer Anſicht hat 





Johanna b’Are, die Jungfrau von Orléans. 237 


fie durch die Künfte der Hölle den König und bie Gro⸗ 
fen des Reichs umſtrickt, den Sieg über die Engländer 
errungen und als die Here von Orleans den wohlver- 
bienten Feuertod erlitten. Den andern ift bie Jungfrau 
das demütbige Werkzeug himmliſcher Mächte, eine Gott» 
gefandte, die gleich einem rettenden Engel das Joch ver 
fremden Eroberer zerbrechen bat und von ungerechten, 
parteiifchen Richtern hingerichtet worden ift. 

Die Dichter der drei gebilbetiten Völker haben fich 
mit biefer merkwürdigen Perjönlichkeit befchäftigt und ein 
jever hat fie anders aufgefaßt. 

Shafefpeare läßt bie Jungfrau, offenbar unter dem 
Einfluß der damals in England berrichenden Meinung, 
im erften Theile feines „Heinrich VI.” vie hölliſchen Geifter 
beſchwören und ihnen als Preis für ihren Beiftand ven 
jungfräufichen Leib, das Leben und bie Seele anbieten. 
Sein ſonſt fo bewunberungswürbiger Genius bat fein 
Verftänpniß für das ſeltſame Wejen, er ftellt eine feile 
Dirne, die Geliebte des Königs Karl, des Herzogs von 
Alenſon und des Könige von Neapel bar, bie ‘ihren 
Bater verleugnet und, um ihr Xeben zu erfaufen, eine fie 
ſelbſt erniedrigende, abgeſchmackte Unmmwahrheit vorbringt. 

Boltaire macht aus feiner großen Landsmännin ge- 
müthlos ein faſt widerliches Geſchöpf, ihre reine Geftalt 
wird unter feiner Hand zum Träger glatter, unfittlicher 
Erfindungen und frivoler Witze, er ſchildert in feiner 
Pucelle ein Mädchen, halb getäufcht und halb Betrügerin, 
in den anftößigften Situationen und ben bebenflichiten 
Umgebungen. 

Schiller bat uns in feiner „Jungfrau von Orleans‘ 
eins feiner beften Kunſtwerke hinterlafjen. Seinem Drama 
liegt die Idee zu Grunde, daß die Vaterlandsliebe nie 
wuchtigere und nachhaltigere Stöße führt, als wenn fie 





938 Johanna b’Arc, Die Jungfrau von Orleans. 


zuvor binabgetaucht ift in das religiöfe Leben und bort 
ihr göttliches Necht, ihre fittliche Erklärung und ihre 
höhere Weihe gefunden bat. Schiller’8 Dichtung erſchließt 
uns eine Welt voll Wunder, deren Mittelpunkt die gott- 
begeifterte Heldin ift, e8 einen ſich in ihr brüntiger 
Glaube und Heiße Liebe zu ihrem Lande, bie Kriegerin 
des höchiten Gottes kann feinem Manne Gattin fein, fie 
geht zu Grunde, weil unter dem Panzer der keuſchen 
Amazone ein menfchlich fühlendes Herz fchlägt. So zart 
und fo ebel unfer deuticher Dichter feine Jungfrau ge- 
zeichnet bat, die gejchichtliche Jungfrau ift ein noch zar- 
teres, noch eblere® Gebilde. „Der ‘Dichter vom Uran- 
fange, der die Weltgefchichte macht, verfteht fich auch auf 
Poeſie; die wirkliche Jungfrau von Orleans hat einen viel 
härtern Kampf gekämpft, ſelbſt in ihrem eigenen Herzen, 
al8 die Jungfrau der romantiichen Tragödie, umb ihr 
Ausgang ift tragifcher.” Es tft deshalb ein nicht ge 
ringes PVerbienft der neuern franzöfifchen und beutfchen 
Forſchung, das Bild ver wahren Johanna aus dem Schutt, 
unter dem e8 vergraben war, hervorgezogen zu haben. 
Die Duellen*), die bier ungewöhnlich reichlich fließen, 
machen e8 und leicht, eine Skizze von bem Leben und 
dem Ende der Jungfrau zu geben. Zuvor jedoch ein kur⸗ 
zes Wort über den hiftorischen Hintergrumd. 

Im Jahre 1388 unternahm König Karl VI. von 
Frankreich einen Zug gegen feinen mächtigen Vaſallen, 


*) Die Hauptquellen find: be l'Averdy im britten Bande 
ber „Notices et extraits des manuscrits de la Bibliothöque 
du Roi”. 

„Proces de condamnation et de r&habilitation de Jeanne 
d’Arc eto.“, par Jules Guicherat. 

Raumer im „Hiftorifhen Taſchenbuch“, IV, 447. 

Dr. Hafe, „Die Jungfrau von Orleans”, 








Sobanna d’Arc, die Jungfrau von Orleans. 239 


den Herzog von Bretagne. Am 5. Auguft reitet er von 
feinen Baronen umgeben über eine öde Heide, er fühlt 
fih unwohl, ver Tag ift glühend heiß, ringsum nirgends 
Schatten und Kühlung. Da fpringt plöglich eine fcheuß- 
fihe Geftalt vom Boden auf, fällt dem König in bie 
Zügel und ruft ihm mit grauenhafter Stimme zu: „Kehre 
um, edler König, kehre um, bu bift verratben!” Bon 
biefem Tage an verfiel Karl VI. in Wahnfinn, der nur 
jelten auf kurze Zeit durch lichte Zwifchenräume unter- 
brochen ward. Nım entftanden langwierige Streitigfeiten, 
wer bie Regentſchaft übernehmen follte. Zwei Barteien 
machten darauf Anfpruch: die dynaſtiſche oder Hofpartei 
unter Führung bes Herzogs von Orleans, und bie großen 
Bafallen, am ihrer Spike Herzog Johann ber Liner: 
Ihrodene von Burgund. Es folgten blutige Fehden, das 
Mark des Landes auszehrende Bürgerkriege und Volks⸗ 
aufftände der entjetlichiten Art. 

Ganz Frankreich ift in zwei Lager getheilt, bie einan⸗ 
ber mit ber heftigften Erbitterung befriegen, ein Theil 
bes Adels und die Bauern ftehen auf ber Seite bes 
Hofes, der andere Theil des Adels und die Stäbte hal- 
ten e8 mit Burgund. Endlich miſcht ſich das Ausland 
ein. Heinrich V. fit damals auf dem englifchen Thron, 
als Falftaff’8 und Piſtol's Luftiger Gefelle aus Shale- 
ipeare jedermann befannt, aber, feitvem er mit der Krone 
geſchmückt ift, ein ernfter, thätiger, ftaatsfluger, Triege- 
riſcher Herr. Es gelingt ihm, allmählich in dem Nachbar- 
lande feften Fuß zu faffen und zahlreiche Anhänger unter 
den Franzofen zu gewinnen; am 21. Mai 1320 wird zu 
Troyes ein Vertrag mit Karl VI. und feiner Gemahlin 
Habella geichloffen, nach welchem Heinrich V. die einzige 
Tochter des wahnfinnigen Könige von Frankreich hei⸗ 
rathen, für feinen Schwiegervater bie Negentichaft führen 


240 Iobanna b’Arc, bie Jungfrau von Orleans. 


und nad beffen Ableben fein Nachfolger werben fol. 
Die Stände genehmigen die Mebereinfunft, ver Sohn des 
Königs Karl, der feines Vaters Namen trägt, wirb durch 
einen Parlamentsfpruch aller feiner Nechte verluftig er- 
Härt ımb aus dem Reiche verbannt. Der um fein Erbe 
betrogene Dauphin greift zu ven Waffen, aber fein gutes 
Recht muß der Macht des ftärlern Gegners weichen. 

Heinrih V. entreißt ihm alles Land nörblich von der 
Loire, er wirb zwar mitten in feinem Siegeslauf vom 
Tode bahingerafft, aber die Engländer rufen feinen un- 
münbigen Sohn zum König von Frankreich aus, und ber 
tapfere Herzog von Bedford führt das fieggewohnte Heer 
bon neuem gegen ben Feind, um auch das letzte Stüd 
bes Landes zu unterjochen. Er belagert Orleans, und Ur: 
léans ift der Schlüffel zum Süden. Wenn Orleans fällt, 
muß der Dauphin als heimatlofer Flüchtling in bie 
Fremde ziehen, und Orleans ift fo hart beprängt, daß nie 
mand hofft, ver Stadt Hülfe bringen zu können. 

Der letzte Sproffe aus dem Haufe Valois fit ein- 
jam und trauernd in Chinon, er tft feit furzem burch ven 
Zob jeined Vaters dem Namen nach König geworben, 
aber er iſt ein König ohne Heer, ohne Geld, ohne Freunde, 
verlaffen von ber ganzen Welt. Schon denkt er daran, 
ben nutzloſen Widerſtand aufzugeben und auch das legte 
Bollwerk zu räumen, er ſchwankt noch, weil ihn vie ftarfe 
Seele der Königin hält. Siehe, ba öffnen fich mit einem 
male die Tiefen des Volksgeiſtes und hervorjteigt eins 
feiner wunderbarſten Gebilde, ein Landmädchen einfach 
und gering, aber voll Glauben an ihre göttliche Senbung 
und befeelt von ber inmigften Xiebe zu ihrem PVaterlande. 
Mit diefen beiden Mächten fällt die Sungfrau dem rollen 
ben Rab in bie Speichen, fie wendet Frankreichs Geſchich, 
entjeßt Orleans umd führt den König nach einem unver: 








Johanna d'Are, bie Jungfrau von Orleans. 941 
gleichlichen Waffengang triumphirend zur Krönung nach 
Reims, 


sum Frühjahr 1429 treffen in Chinon am Hoflager 
bes Fönigs zwei Ritter ein, fie kommen von Vaucouleurs, 
vom Hanptmam Bandriconr gejendet und bringen ein 
Mädchen aus Domremh in Lothringen, welches in männ- 
licher Tracht, geivaffnet wie ein Kriegsmann, einher- 
Tchreitet. Die Ritter melden bem Könige, ihre Beglei- 
terin behaupte, ver Erzengel Michael, die Heilige Katha- 
rina und die heilige Margaretha feien ihr mehreremal 
erſchienen und hätten ihr befohlen, zum Könige zu gehen, 
Gott wolle ihn durch ihre Hand retten, denn fie folle 
Orleans befreien und ven König nah Reims geleiten. 

Karl zögerte, das Mädchen, welches fo Abenteuer- 
liches anfündigte, zu empfangen, er fürchtete, fich lächer- 
fh zu machen. Aber ver Jungfrau ging der Ruf voran, 
in einem alten Zauberbuche Merlin’s ftehe gejchrieben, 
daß ein Mädchen vom Eichenhofze kommen und bie Feinde 
drankreichs befiegen werde. Das Volk glaubte an fie, 
und nad langen Berathungen entſchloß man fih, auf die 
Sache einzugehen. Drei Tage nach ihrer Ankunft ward 
Johanna in bie Halle entboten, wo ver König und gegen 
300 Cavaliere ihrer mit großer Spannung harrten. Sie 
tritt ein, man erblidt ein ftebzehnjähriges, ſchlank geinach- 
jenes, Träftig gebautes Mädchen mit feinen, anſprechenden 
Zügen. Ihr Teint iſt weiß, die kaſtanienbraunen Haare 
trägt fie nach Reiterart rund geſchnitten, ihre Stimme 
it zart und wohlklingend, ihre fchönen, mandelförmig 
gzeſchlitzten Augen haben einen melancholiſchen Ausdrud 
Sie geht mit edelm Anſtand auf den König zu, Kenar 
vor ihm Das Knie und hebt an: „Gott verleihe Euch ein 
glüclliches Leben, edler Dauphin!“ Karl weiſt 


‚um 
auf die Probe zu ftellen, ablehnenb auf einen ehe 
XXL 16 “ 


242 Iobanna d'Arc, bie Jungfrau von Orleéaus. 


ftehenden Ritter mit den Worten: „Das ift der König.” 
Johanna antwortet Schnell: „Bei meinem Gott, Ihr ſeid 
e8, edler Prinz, umb fein anderer.” Der König fragt 
fie nım nah Namen und Herkunft. Sie erwibert: 
„Edler Dauphin, ich heiße Johanna, pie Jungfrau, und 
Euch entbietet der Herr des Himmels durch mich, daß 
Ihr follt gekrönt werden in ver Stadt Reims und ein 
Statthalter des Königs des Himmels werben, welcher iſt 
ber wahrhafte König von Frankreich. Gott hat Mitleid 
mit Euch und mit Eurem Bolfe, denn der heilige Ludwig 
und Karl der Große liegen auf den Knien vor ihm und 
bitten für Euch.” 

Der König trat nun mit ihr beifeite und fprad 
mit ihr heimlich; es fcheint, daß fie ihm etwas Auffallen- 
bes gejagt hat, gewiß ift, daß fein Vertrauen von biefer 
Stunde an wuchs. Er fandte fie nach Poitiers und be 
fahl, daß die angefehenften Männer geiftlichen und welt 
lichen Standes das Leben, die Sitten und den Glauben 
Johanna's ftreng unterfuchen und dann berichten follten, 
ob der König erlaubter- und gottgefälligerweife ihren 
Derfündigungen glauben und ihren Beiftand annehmen 
bürfe. 

Unter dem Vorſitz des Kanzlers von Frankreich prüfte 
bie Commiffion drei Wochen lang; fie fam zu folgenben 
Reſultaten: Iohanna ift die Tochter des Bauers Jakob 
b’Arc und feiner Ehefrau Sfabella, geboren im Jahre 
1410, 1411 over 1412 zu Domremy, einem lothringijchen 
Dorfe an der Mofel. Sie bat von ihrer Kindheit an 
im Haufe ihrer Aeltern gelebt, zufammen mit vier Brü⸗ 
dern und einigen Schweftern, und ſtets einen tiefreligiö- 
jen Sinn, ein weiches Gemüth und einen faft leivenfchaft- 
lihen Drang zur Wohlthätigfeit an ven Tag gelegt. Sie 
kennt die Zehn Gebote, ven Glauben, das Vaterunſer und 





Johanna d’Arc, die Jungfrau von Orléans. 243 


das Ave Maria; lefen und fchreiben kann fie nicht. Von 
ihren Aeltern wurde fie angehalten, zu nähen unb zu 
Ipinnen und mußte auch fonft die gewöhnlichen häuslichen 
Gefchäfte verrichten. In ihrem 13. Jahre fteht fie eines 
Sonntags um Mittag in dem Garten ihres Vaters, als 
fih plögfich um fie herum eine wundervolle Klarheit ver- 
breitet, fie hört eine Stimme reden, bie fich ihr als bie 
des Engels Michael anfündigt; bald gefellen ich zu ihm 
jwei weibliche Heilige, deren Bilder in ber Dorflirdhe 
hängen: St.⸗Katharina und St.- Margaretha. Die 
Stimmen ermahnen fie, gut und fromm zu fein und bie 
Kirche fleißig zu befuchen. Die Erjcheinung lehrt oftmals 
wieder, und Johanna wird von ihr jedesmal auf das 
tieffte bewegt, fie fällt auf vie Knie, faltet betend die 
Hände, umſchlingt die himmlischen Geftalten, küßt ben 
Boden, wo fie geftanden, und weint bitterlich, wenn fie 
verſchwinden. Seitdem entzieht fie ſich allen kindlichen 
Spielen und weiſt viele Bewerber um ihre Hand hart⸗ 
nädig ab, weil fie den Heiligen ewige Jungfräulichkeit 
gelobt hat. 

Zwei Sabre darauf berührt der Kriegslärm auch ihre 
ftille Heimat. Domremy ift Fönigliche Domäne, daher 
bunaftiich gefinnt, vie Bewohner müffen die Flucht er- 
greifen, fo oft ſich burgundifches Kriegsnolf naht. Um 
diefe Zeit, wo die politifhen Stürme in das eigene Leben 
Johanna's eingreifen, erhält fie von ihren überirbifchen 
Erfcheinungen die Weifung, für ihren König in den Kampf 
zu ziehen. Sie fträubt fich, zu gehorchen, aber die Wei- 
fung wird wiederholt und ihr befohlen, fie jolle nach 
Baucouleursd gehen, von bort werde ein Hauptmann fie 
zum König ſenden. Nun verläßt fie ohne Vorwiſſen ihrer 
Aeltern das väterliche Haus, gelangt durch bie Vermitte- 
lung eines in ber Nähe von Baucouleurd wohnenven 

16* 


* 


244 Johanna d'Are, die Jungfrau von Orleéanus. 


Oheims zum Ritter Baudricour und wird von dieſem 
nach vielen Abweiſungen endlich nach Chinon zu Karl VII. 
geleitet. 

Die würdigen mit der Prüfung der Sache betrauten 
Männer in Poitiers waren anfänglich ſehr getheilter 
Meinung. Einige hielten das Mäpchen für beſeſſen, aus 
bere für eine Phantaftin, nur ſehr wenige glaubten am 
ihre göttliche Sendung. Allein ihr Benehmen gewann 
bie Herzen, da war nichts don ber Einwirkung bämoni- 
icher Kräfte, nicht von Ueberjpannung oder Schwärmerei 
zu fpüren. Johanna gab fih als ein jchlichtes Land⸗ 
mäbchen und rebete wie jedes andere einfache Kind des 
Volks über alle Dinge des gewöhnlichen Lebens; nur wenn 
bie Rede auf ihre Erfcheinungen, auf das an fie ergangene 
Gebot und auf: die ihr befohlene Kriegführung kam, wurbe 
fie von hoher Begeifterung ergriffen und jprach fo beredt, 
baß fte alle Zuhörer mit fortriß. Als man ihr vorhielt: 
fie behaupte von fich jo unerhörte Dinge, wie man noch 
in feinem Buche gelefen babe, fagte fie mit Stolz: „Im 
ben Büchern meines Gottes fteht mehr als in ven 
eurigen.” Einem Mönche, der ihr bemerllih machte: 
werm Gott Trankreih durch ein Wunder reiten wolle, 
jo bebürfe es ja feiner Krieger, erwiderte fie treffend: 
„Die Krieger werben fämpfen und Gott wird ihnen ben 
Sieg verleihen.” Einem Doctor, der. ein ſchlechtes Patois 
ſprach, entgegnete fie auf bie ſpöttiſche Frage, in welcher 
Sprache die Heiligen mit ihr gerebet, wibig: „Inu einer 
reinern al® bie Eurige ift.‘“ Den Zweifel eines Kar- 
meliters, warum fie zu ihrer Beglaubigung feine Zeichen 
und Wunder thue, fchlug fie mit den kühnen Worten 
nieber: „Kommt mit nach Orleans, ba werbet ihr bie 
Zeichen ſehen, die Gott zu thun mir aufgetragen hat.” 

Solde und Ähnliche Antworten, die edle und ſchwung⸗ 


Johanna H’Arc, die Jungfrau von Orleans. 245 


volle Redeweiſe, ber mächtige Einbrud, ben jebermann 
von der Sungfran empfing, die alten Weifiagungen, daß 
Frankreich durch ein Mädchen aus großer Noth errettet 
werden follte, dies alles wirkte zufammen, um die Com⸗ 
mifſion günftig zu ftimmen. Sie gab fchlieklich ihr Gut- 
achten dahin ab: fie hätte an Johanna nichts gefunden, 
was dem fatholifchen Glauben und chriftlichen Leben zu⸗ 
wider fei, nichts al Demuth, Frömmigkeit, Ehrbarkeit 
und Einfalt, daher in Betracht eines Nothſtandes, ver 
feine Hoffnung übriglaffe als auf Gott, der Köntg bie 
Dienfte des jungen Mäpchens wohl annehmen bürfe, auf 
daß man nicht fie zurückweiſend fich der Gotteshülfe un⸗ 
werth mache. 

Während vie Gelehrten noch unterfuchten, hatte das 
Boll Längft für die Sungfrau Partei genommen, ver 
leicht entzündliche Sübländer war hoch erfreut, als er 
vernahm, daß das wunderbare Mädchen an ber Spite 
des Heeres jtreiten follte, man faßte wieder Muth und 
zog mit neuer Hoffnung in ben heiligen Krieg für bie 
Befreiung des Vaterlandes. 

Johanna erhielt vom König eine nach der Geftalt 
ihre® Körpers gearbeitete Rüftung. Mit Beinfchienen 
bekleidet, darüber den purpurnen, goldgeſtickten Waffen- 
rod, auf dem Kopfe den Helm und in ver Rechten ein 
mit fünf Kreuzen gezeichnetes, auf ihr Geheiß aus ber 
St.-Ratharinentirche zu Fierbois geholtes Schwert, fo zog 
fie Hinaus in den Streit, gefolgt von einem Stallmeifter, 
zwei Pagen, zwei Herolven und einem Kaplan. Auf ihrer 
Fahne von weißer Leinwand war zwijchen zwei anbeten- 
den Engeln das Bild des Erlöſers dargeftellt, in der einen 
Hand die Weltkugel haltend, mit der andern bie Lilien 
Frankreichs fegnend, darunter die Worte: Jeſus Maria. 
Die heilige Katharina hatte ihr die Fahne in einer Bi⸗ 





246 Johanna d'Are, Die Jungfrau von Orleans. 


fion gezeigt und zu ihr gejagt: „Nimm biefes Barmer 
vom Könige des Himmels und trage es kühn!“ 

Orleans Liegt auf dem rechten Ufer der an biefer 
Stelle von Oſten nach Weften ftrömenven Loire. Auf ver 
rechten Seite hatten die Engländer die Stadt durch eine 
Menge von Werken eingefchloffen und auch auf dem linfen 
Ufer ſchon Fuß gefaßt, venn die Brücke, die beide Ufer 
verband, war von ihnen erftürmt und befegt worden. Um 
in die Stadt zu gelangen, mußte die Jungfrau einen 
Umweg über Bloi8 maden. Hier waren 3000 Mann 
Entſatztruppen verfammelt und große Vorräthe zur Ber- 
proviantirung von Orleans aufgehäuft. Der Proviant 
jollte zu Schiff ftromaufwärt® der hartbebrängten Feſte 
zugeführt werben, die Truppen follten fich zu Lande bort- 
hin bewegen. 

Sohanna hatte im Auftrage ihrer himmliſchen Führer 
verlangt, auf dem rechten Flußufer binzuziehen und das 
Belagerungsbeer zu durchbrechen, allein die Kriegsoberften 
fanden dies zu gewagt, weil bort bie ftärfiten feindlichen 
- Schanzen waren, fie bintergingen die Jungfrau und führ- 
ten die Mannjchaft auf dem linken Ufer. Die Strafe 
folgte ihrem Mangel an Vertrauen in die Kriegsfunft 
des von ben Heiligen unterwiefenen Mädchens auf bem 
Fuße. Als fie der Stadt gegenüber ankamen, fanden fie 
neue Werfe, die fie nicht vermutbet, es fehlte an Kähnen, 
um überzujegen, man ſah fich deshalb genäthigt, nad 
Blois zurüdzufehren, daſelbſt über die Brüde zu ziehen 
und nun doch auf dem rechten Ufer das Glüd zu ver- 
fuchen. 

Sohanna war höchlich erzürmnt, daß man fie getäufcht, 
und machte den Oberften bittere Vorwürfe Als Graf 
Dunois, der Commandant von Orleans, zu ihr kam, 
fragte fie herrifh: „Seid Ihr es, der den Rath gab, daß 





Johanna b’Arc, bie Jungfrau von Orleans. 247 


ih an biefer Seite des Fluſſes käme und nicht geraben 
wegs da, wo Talbot und die Engländer ſtehen?“ Graf 
Dimoi® erwiberte entſchuldigend, daß er und noch weiſere 
Führer den Rath gegeben, weil fie es für ficherer gehal- 
ten. Die Jungfrau antwortete mit Hoheit: „Der Rath 
meines Gottes ift weifer und ficherer al8 ber Eurige.“ 
Johanna konnte ſich nicht entfchließen, mit dem Heere 
nach Blois zu marſchiren, ſondern beſtieg einen Kahn 
und ſchiffte ſich mit 200 Mann nach Orleans ein. Am 
29. April 1429 309 fie in die Stadt. Im einem noch 
jest vorhandenen Tagebuche eines Bürgers, ber biejen 
Einzug mit angefehen und die Stimmung ber Bürger⸗ 
haft treu gejchilvert bat, heißt e8 über die Ankunft ver 
Jungfrau: „So große Freude war, ale ob Gott jeldft 
vom Himmel herniedergelommen wäre, das Volk folgte 
ihr wie einem heiligen Engel.” Am näcften Morgen 
jandte fie ihre zwei Herolde an Talbot und Suffolf, die 
englifchen Feldherren, und forberte fie im Namen Gottes 
auf, dem Herrn bie Ehre zu geben und abzuziehen. 
Zalbot behielt ven einen Herold zurüd und ließ ihr durch 
ben andern Beichimpfungen jagen. 

Am 4. Mai kam das Entfagheer, die Blockade glüd- 
lich durchbrechen, in ver Stadt an und nun begannen 
bie ‚Berathungen, was weiter zu thun ſei. Es ging merf- 
würdig zu im Sriegsrathe. Die Männer waren für vor- 
fihtige, Halbe, ſchwache Mafregeln, das Mäpchen ftimmte 
ſtets für kühne, geniale Streiche. Meift ſetzte fie ihren 
Willen durch, und Dunois hat nachmals geurtheilt, daß 
ihre militärtfchen Rathichläge eher aus göttlicher Ein» 
gebung als aus menjchlicher Berechnung entfprungen feien. 
Am Tage nach dem Einzuge der franzöftichen Hülfs- 
truppen jchläft die Sungfrau um bie Mittagszeit, neben 
ihr liegt die Tochter des Hauſes, in dem fie Wohnt. 








248 Johanna d’Arc, bie Jungfrau von Orleans. 


Plöglich fährt fie auf, verlangt nach ihren Waffen, ihrem 
Pferde und ruft dem herbeieilenden Pagen zu: „Da, blu 
tiger Knabe, warum fagft du mir nicht, daß franzöftiches 
Blut vergoffen wird.” Sie ergreift die Fahne und ftärmt 
nad) dem Burgunder Thore. Hier ftürzen ihr verwm- 
bete SKrieger entgegen. Eine Schar Hatte ohne Befehl 
auf eigene Hand eine Schanze der Englänber angegriffen 
und war mit blutigen Köpfen zurüdgeichicdt worden. 

Johanna fammelt die Fliehenden, fie ftellt fich an ihre 
Spite, erobert die Schanze und pflanzt port fiegreich ihr 
Banner auf. 

Am folgenden Tage ift das Himmelfahrtsfeſt, ba 
raftet fie, aber am Freitag fett fie mit 4000 Neitern auf 
das linke Ufer der Loire über, um bier die Befeftigungen 
ber Engländer zu zeritören. Zwei Werke werben ge- 
nommen, das feftefte, ein auf der Brüde nahe am Ufer 
ſtehendes hölzernes Schloß, wiberfteht. Da der Abend 
hereinbricht, befiehlt die Jungfrau, für heute abzulafien, 
aber niorgen den Angriff zu erneuern. Allein das Schloß 
ift Durch zahlreiche Schanzen gedeckt, die kundigſten Haupt⸗ 
leute erflären, man brauche doppelt fo viele Truppen, als 
man zur Hand habe, und einen Monat Zeit. Der Kriegd- 
rath befchließt, einen fo hoffnungsloſen Kampf zu ver 
hindern, und noch fpät am Abend empfängt Johanna in 
ihren Quartter ven Beſuch eines hohen Dffiziers, ber ihr 
biefen Beſchluß meldet. Sie fertigt ihn ab mit ben 
Worten: „Ihr feid in Euerm Rathe geweſen, ich in bem 
meinen. Seid überzeugt, ver Rath meines Herrn wird 
vollbracht, der Rath der Menſchen zumichte werben.“ 
Zu ihrem Kaplan gewendet, fährt fie fort: „Steht morgen 
früh auf, Haltet Euch in meiner Nähe, denn ich werde 
morgen viel Arbeit haben, mehr als je, und mein Dlut 
wird fließen bier über meiner Bruſt.“ 





Johanna d'Are, die Jungfrau von Orléans. 249 


Am Morgen des 7. Mai ging e8 heiß ber in ber 
Stadt. Die Oberften wollten diesmal durchaus nicht 
nachgeben, fie fürchteten, in fo veriwegenem Sturm alles 
zu verlieren. Johanna ritt unbefümmert um ihren Wiber- 
ſpruch von ihrem Quartier ab und verficherte ſieges⸗ 
gewiß ihrem Hauswirth, daß fie am Abend über bie be- 
freite Brüde heimkehren würbe. Als fie an das Thor 
kommt, findet fie es verichloffen. Gebieterifch fordert fie, 
man ſolle öffuen, allein die Wache hat ftrengen Befehl, 
ihr nicht zu geborchen. Es entipinnt fich ein heftiger 
Zwift zwifchen Sohanna und ven Heerführern, bie ganze 
Bürgerjchaft tritt auf die Seite des heldenmüthigen Mäp- 
chene, die Führer werden gezwungen, bie Schanzen anzu- 
greifen. Der Kampf ift blutig, die Franzoſen erleiven 
ihwere Berlufte, ſchon ift Mittag vorüber, und ermübet 
weichen die Angreifer zurüd, Da fpringt die Inngfrau 
jelbft in den Graben, febt bie Leiter an, und klimmt in 
bie Höhe. Don einem Pfeile zwiſchen Hals und Schulter 
getroffen, ftürzt fie herab und wird fortgetragen. Graf 
Dumois findet fie auf dem Raſen liegen, ber Pfeil ſteckt 
tief, mann bemüht fich vergeblich ihn herauszuziehen, fie 
letvet große Schmerzen und weint wie ein Sind. Plöb- 
lich verklärt fich ihr Geficht, fie bat foeben eine Erſchei⸗ 
nung ihrer Heiligen gehabt, mit vafchem Griffe reißt fie 
jelbft ven Pfeil heraus und fagt echt franzöfifch: „Es ift 
nicht Blut, was aus ver Wunde quillt, fondern Ruhm.“ 
Dumois will die Truppen in die Stadt zurüdnehmen, fie 
aber beſtimmt ihn, zu warten. Nach einer Weile fpricht 
fie: „Wenn der Wind die Banner nach der Schanze zu 
webt, greift zu den Waffen.” Sie betet; plöglich erhebt 
fih ein frifcher Luftzug, die Fahnen wehen ver Schanze 
zu und Johanna ruft begeiftert: „Zu ben Waffen, bie 
Schanze ift euer!” Der Sturm gelingt, die Engländer 





250 Iohanna d’Arc, die Jungfrau von Orleans. 


fliegen auf die Brüde, um ſich von da in das Schloß | 
der Thürme zu retten; aber die Brüde bricht, und alle 


ertrinfen in ber Loire. Das Schloß wird erobert und 
gleichzeitig von einer andern Schar ber auf dem rechten 
Ufer angelegte Brüdenkopf genommen. Johanna zieht 
am Abend, wie fie verheißen, über die befreite Brüce in 
die Stadt. Am andern Tage heben die Engländer bie 
Belagerung auf, und die Jungfrau hat den erften Theil 
ihrer Sendung vollbracht, denn Orleans entjegen umd ben 
König nach Reims zur Krönung führen, das find bie 





zwei Siele, welche ihr die himmliſchen Mächte geftedt 


baben. 

Bon Orleans eilt Johanna nach Tours, wo ber König 
Hof Hält, und fordert ihn auf zum Krönungszuge nad 
Reims. Aber um dorthin zu gelangen, muß man fih 
in einem weiten Halbkreife um Paris herumzieben, es iſt 
ein Weg von 50 deutſchen Meilen, alle Land ift in 
Veindeshand, alle Städte auf diefer Straße find von ben 
Engländern beſetzt und der König gebietet nur über 6 — 
700 Streiter. Bor ver Tollkühnheit des Plans ver 
Jungfrau erbeben bie muthigften Männerherzen. Man 
macht ihr Gegenvorfchläge, das englifche Heer zu verfol- 
gen, ihm feine Baſis, die Normandie wegzunehmen, einen 
Schlag gegen Paris zu verfuchen. Sie geht auf nichts 
ein. Reims, Reims ift ihr einziger Gedanke, ihr letztet 
Wort, 

Wollen wir begreifen, weshalb Sohanna’s Heilige fo 
großen Werth auf eine Ceremonie legen, bie doch nur bie 
Beglaubigung eines beftehenden Verhältniſſes ift, dam 
müſſen wir und in die Anfchauungsweife des Mittelalters 
verjegen. Den Völkern jener Zeit galt die Krönung als 
eine wirkſame Kraft, durch welche das Tönigliche Amt 
jeine höhere Weihe empfing. Der König, deſſen Stim, 


Johanna b’Arc, bie Jungfrau von Orleans. 251 


Druft und Pulſe das heilige Salböl ver bei Chlodwig's 
Taufe von einer Taube aus dem Himmel gebrachten 
Ampoule befeuchtet Hatte, war wirklich und wefentlich in 
den Augen der damaligen Franzojen ein anderer, als ber 
von Land und Leuten vertriebene Dauphin. Endlich 
einigte man fich dahin, daß zuvörderſt die um Orleans 
liegenden, in der Gewalt ver Feinde befindlichen Städte 
genommen, und daß dann bie Vorbereitungen zum Krö⸗ 
nungsmarjche nach Reims getroffen werben follten. Der 
König übertrug den Oberbefehl feinem Vetter, dem Her- 
zog von Alencon, bie treibenbe Feder des Kriegs aber 
war der Heldengeijt der Jungfrau. 

Bor Yargeau, einem Städtchen unfern Orleans, wel- 
bes von dem tapfern Suffolf vertheidigt wird, treffen 
die feindlichen Heere aufeinander. Johanna kämpft in 
ber vorberften Reihe, ein gewichtiger Stein wirb aus ber 
Stadt geſchleudert, er fliegt wuchtig gegen ihren Helm, 
allein der Stein zerfpringt, die Jungfrau tft unverfehrt. 
Schon naht Erſatz, die Oberften rathen, von dem Unter 
nehmen abzulaffen, indeß das Mädchen brängt wie früher 
zum Sturm, und der Sturm gelingt, Suffolk ergibt fich, 
die Stadt ift bezwungen. Da eilt der gewaltige Talbot, 
ver erfte Kriegsbeld Englands, mit Verjtärfungen von 
Paris herbei und bietet bei Patay, etliche Meilen nörd⸗ 
Ih von Orleans, ven Franzoſen eine Schlacht an. Die 
Schlacht wird angenommen. Johanna fragt, ehe ber 
Kampf anhebt, die Ritter mit weithin fchallender Stimme: 
„Habt ihr gute Sporen?” Die Ritter antworten ver- 
wundert, e8 gevenfe von ihnen niemand an biejem Tage 
zu fliehen. Sie ruft lauter als zuvor: „Sorgt für gute 
Sporen, ihr werdet fie brauchen, um die Engländer ein- 
zubolen.” Boll Begeifterung werfen fich die Franzoſen 
auf ihre Feinde, nach furzem Handgemenge ift bie eng- 





252 Iohanna d’Arc, die Jungfrau von Drltane. 


liſche Linie durchbrochen, von finnlofer Angft ergeifien 
fuchen die Scharen Talbot’8 ihr Heil in der Flucht, es 
beginnt ein raſendes Sagen, Talbot jelbft wird gefangen 
genommen, fein Heer löſt fih auf, Im Volksmunde lebt 
noch heute das Gedächtniß der blutigen Jagd von Patav. 
Von dieſem Tage an nahm man einen unermeßlichen 
Umſchwung wahr. Tauſende verließen die Fahnen der 
Engländer und ſtrömten ihrem Könige zu, mit dem wun⸗ 
berbaren Mädchen war ver Sieg, die Franzoſen vertrau: 
ten, baß fie ihr Werk vollbringen werbe, auf ihre Geg—⸗ 
ner aber fiel der Schredien vor der Here von Orleans, 
und dieſer Schreden war fo groß, daß man in Englant 
Strafgejege gegen diejenigen erlaffen mußte, die ſich ber 
Heerfolge nach Frankreich weigerten. Cine Stadt nab 
ber andern überreichte dem Könige ihre Schlüffel, nad 
furzer Gegenwehr öffnete Troyes dem rechtmäßigen 
Herrn die Thore, bald darauf fiel das feite Chälons unt 
am 16. Juli 1429 309 Karl VII. in Reims ein. Schon 
am 17. Juli war die Krönung. Johanna ftand währen 
ber Teierlichkeit, ihre Fahne in ver Hand, am Hoch⸗ 
altar. Sie Iniete, die erfte von allen, vor dem Gefalbten 
nieder und ſprach: „Edler König, nun ift das Wohl: 
gefallen Gottes erfüllt, ver da wollte, daß Ihr einzöget 
in Reims, um Eure heilige Weihe zu empfangen, e: 
weijet, daß Ihr der wahre König fein, dem Frankreich 
gehört.” Es war der Höhepunkt ihres Lebens, ihre Pro: 
phezeiung war zur Wahrheit geworben, ihre Miſſion er: 
füllt. Ihr Vater, ihr Oheim und ihre Brüder famen 
nah Reims und waren die Zeugen ihrer Herrlichtet, 
ber Hulbigungen, bie alle ihr darbrachten. Der König 
ehrte die Dienfte der Jungfrau dadurch, daß er ihren 
Geburtsort Domremy für ewige Zeiten von allen Ab 


Johanna b’Arc, bie Jungfrau von Orleans. 253 


gaben befreite. Es war die einzige Belohnung, um bie 
fie gebeten. 

Bliden wir nun noch einmal auf das Wejen und das 
Betragen Johanna's in ihrer kriegerifchen Laufbahn zu⸗ 
rüd. Sie hatte zu ihrer perfönlichen Verfügung zwölf 
Pferde und erhielt als bie Führerin einer beſondern 
Schar eine Kriegskaſſe bis zu 12000 Livres, bie ihr 
Stallmeifter verwaltete. Sie gab mit vollen Händen; 
wenn man fie ermabnte, ſparſam zu fein, pflegte fie zu: 
jagen: „Ich bin zum Zrofte der Armen und Hülflofen 
geſandt.“ Ste trug beftändig männliche und Eriegerifche 
Keidung. Schon bei ihrem erften Auftreten in Chinon 
erftaunte man allgemein, wie jicher und elegant fie zu 
Pferde ſaß, wie geſchickt fie die Waffen hanbhabte, ob- 
gleich fie beides niemals gelernt und geübt hatte. Im 
die Detail® ber friegerifchen Operationen mifchte fie fich 
nicht, fie begnügte fich, die leitenden Ideen anzugeben, 
und fie that dies, wie fie ausdrücklich verficherte, auf 
Örund der Mittheilungen und Befehle der Heiligen, bie 
ihr fortwährend erfchtenen. Ihre Weberzeugung vertrat 
fie im Kriegsrath mit der äußerften Hartnädigfeit. Zwei 
ihrer Brüder begleiteten fie im Felde als ihre Ehren- 
waͤchter. Ihr Duartier nahm fie ſtets bei achtbaren, an- 
gejehenen Frauen. In der Sclaht war fie immer 
voran, zog aber niemals das Schwert, fonbern wehrte 
tie Streiche der Feinde nur mit ber Lanze ab. Niemals 
hat fie einen Menjchen getöbtet. Ihre Fahne war ihr 
loſtbarſtes Kleinod, fie ſchwenkte das Banner mit bem 
Bilde des Exrlöfers, um bie Ihrigen zum höchſten Kraft- 
anſtrengung zu begeiftern. 

Es ift ſeltſam, daß Schiller in dieſem Punkte fo auf- 
jallend von der gefchichtlichen Wahrheit abgewichen ift 
und aus der Jungfrau eine mitleidloſe Kriegerin gemacht 


254 Johanna d'Arc, bie Jungfrau von Orltant. 


bat, dte nicht einmal durch das Flehen des zarten, wehr- 
ofen Knaben Montgomery gerührt wird, fondern un 
barmberzig jeden Engländer nieberftößt, der ihr vor bie 
Klinge kommt. Man darf wol fragen, was ift poetiſch 
ihöner, die Iungfrau der Gefchichte, die nur ber be- 
feelende Geift der materiellen Kräfte ift, oder pie biutige 
Amazone des Dichters? 

Johanna's zartes, weiches Gemüth tft im Kriegöfeuer 
nicht hart geworben. Sie war leicht zu Thrämen gerührt 
und weinte oft über das Elend bes Kriegs. Nach ber 
Schlacht war fie das Erbarmen felbft, fie verband Ber- 
wundete, tröftete Sterbende, beichügte Gefangene. Ihr 
Herz war frei von perjönlichem Haffe gegen bie Eng 
länder. Als bei Orleans die Brücke über pie Loire brad 
und fo viele ihrer Feinde ertranfen, rief fie dem Lord 
Stansdale zu: „Glacidas, Glacivas, ergib Dich dem 
Könige des Himmels, du Haft mich eine Soldatendirne 
genannt; ich habe große8 Mitleid mit deiner Seele und 
mit ben Seelen der Deinigen!“ Dabei floffen ihr vie 
Thränen über die Wangen. Im Heere hielt fie auf 
jtrenge Zucht, fie verjagte die fchlechten Weiber, eiferte 
gegen das Schwören und Fluchen und that fo viel fie 
vermochte dem Rauben und Plünvdern Einhalt. Ihre 
Frömmigkeit hatte durchaus nichts Krankhaftes, fie wohnte, 
jo oft e8 ging, den öffentlichen Gottesbienften bei, unter: 
warf fich aber niemals ben in jener Zeit gewöhnlichen 
ascetifchen Uebungen und Selbftpeinigungen. Ihr Wunſch 
war, das Heer follte ein heiliges Heer von Gottesftreitern 
fein, auf diefes Ziel richtete fie unabläffig ihre Thätig 
feit. Ueber ihre Ausdauer in Ertragung von Strapazen 
war jebermann erftaunt. Sie faß vom Morgen bis zum 
Abend gerüftet zu Pferde und bedurfte nur wenig Nab- 
rung. An Feſttagen oder im Drange ver Ereignifle ge 


Johanna b’Arc, die Jungfrau von Orleans. 955 


noß fie oft den ganzen Tag über gar nichts und nahm 
nur am Abend etwas Wein mit Waffer und Brot. Ihre 
Haltung war fo ehrfurchtgebietend, daß die frivolften 
Gavaliere in ihrer Gegenwart niemals etwas gegen bie 
guten Sitten und ben Anftand zu reden ober zu thun 
wogten. Bor ihrem reinen Auge ſchwand die Begierbe. 
Ein Zeitgenoffe, ein Herr von Laval, fchreibt an feine 
Großmutter in einem noch erhaltenen Briefe: Etwas 
wahrhaft Göttliches fcheine aus ihr hervorzuleuchten, wenn 
man fie jehe und höre. Es war natürlich, daß nicht blos 
bie Furcht der Feinde, fondern auch die Verehrung ihrer 
Freunde alles Maß überftieg. Das Volk vergötterte fie, 
und wer ihre Hände und Kleider Füffen konnte, hielt fich 
für bochbeglüdt! Der Jungfrau waren dieſe Huldigungen 
unangenehm, fie entzog fich ihnen und wehrte fie ab, wo 
fie e8 irgend vermochte. Mehreremal äußerte fie, daß 
fie Gott bitte, er folle ihr Herz dadurch nicht hochmüthig 
werben laffen. 

Das ift das aus den zuverläffigftien Quellen ge- 
ihöpfte, wahrheitsgetreue Bild von Johanna, der Fung- 
frau auf ihrer Siegesbahn von Orleans nach Reime. 

Unmittelbar nachdem der König gekrönt ift, macht fich 
bei unjerer Helpin eine Veränderung bemerkbar. Schon 
früher hatte fie geäußert, ihre Zeit fei kurz, ein Jahr 
oder etwas darüber. Jetzt antwortete fie auf Die gelegent- 
lihe Frage des Erzbiſchofs von Reims, wo fie nad 
ihrer Meinmg fterben würbe: „Wo es Gott gefällt, ich 
weiß von Ort und Stunde nicht mehr als Ihr ſelbſt.“ 
Dann blickte fie gen Himmel und fuhr in fchwermüthigem 
Zone fort: „Sch habe erfüllt, was ber Herr mir auf 
getragen bat, Drleans zu befreien und ten König nad) 
Reims zu führen. Möchte e8 Gott meinem Schöpfer ge- 
fallen, daß ich nun zurückkehren dürfte zu Vater und 


256 Johanna b’Arc, bie Jungfrau von Orleans. 


Muter, ihnen zu dienen unb ihre Heerbe zu weiden mit 
meinen Schweftern und Brüdern, die fich jehr freuen 
wärben, mich zu fehen.” Diefe Worte bezeichnen uns 
bentlih, wie fie innerlich ftand. Sie jah ihre Aufgabe 
als beenbigt an. Ihre himmlischen Führer unterſagen ihr 
zwar nicht, beim Heere zu bleiben, aber fie offenbaren 
ihr nichts mehr über das, was fie thun fol. ‘Die Jung: 
fran nimmt an den folgenden Ereigniffen nur als Brivat- 
perjon theil, nicht mehr als bie Beauftragte des Himmels, 
deshalb erflärt fie auch, daß fie ſich von jet ab ur 
durch den Rath der Oberften beftimmen laſſe. Johanna 
war innerlich unzufrieden, fie Hatte jich in dem Könige 
getäuſcht und fagte ihm oft ftarfe Sachen über jeine 
unmännliche Schlaffheit. Die Eiferfucht, ver Neid und 
ber nie endende Hader unter den Großen erfüllten fie 
mit tiefer Betrübniß. Ihr Getft war theilweife gebrochen, 
bie anfängliche Begeifterung für das heilige Necht ihres 
Königs konnte fich inmitten des Heinlichen Hofs nicht 
auf ihrer Höhe halten, fie war froh, als endlich bie 
Waffenrube zu Ende ging und der Krieg von neuem be 
gann. 

Mit 16000 Bewaffneten marjchirte der König nad 
ber Normandie und dann, ba die Engländer wichen, gegen 
Paris. Statt ohne weiteres anzugreifen und mit aller 
Kraft vorwärts zu drängen, vergeubete man -bie foftbare 
Zeit mit nußlofen Unterhandlungen. Paris rüftete in 
zwiſchen und jchlug bie erjten Stürme ab. ‘Dennoch wäre 
ed genommen worben, hätte nicht ber König eigenfimig 
die Referven in Saint Denis feftgehalten, hätte er, wie 
man ihm rieth, am folgenden Tage ven Angriff erneuert. 
Statt deſſen befahl er den Rüdzug. Die Niederlage vor 
den Wällen von Paris erjchütterte das kaum erftarfte 
Vertrauen in die Sache des Königs und ben Glauben 





Johanna b’ATc, bie Jungfrau von Orleans. 257 


an die Unüberwinblichkeit feines von Johanna geführten 
Heeres fo mächtig, daß der Chronift von diefem Tage 
Ihreibt: „So warb der Wille der Jungfrau und Das 
Heer des Königs gebrochen.” Aber nicht blos der Wille, 
auch das Herz der Iungfrau warb gebrochen. ‘Das mit 
bem Hergange ımbelannte Volt maß ihr die Schuld bei 
und machte fie verantwortlich für das vergeblich geflofjene 
Blut, einzelne verwunbete Krieger vergaßen fich fo weit 
Verwünfchungen gegen fie auszuſtoßen. 

Während der König im Winter unthätig an der Loire 
weilt und fich die Zeit durch Fefte und Kurzweil aller 
Art vertreibt, macht Sohanna fühne Streifzüge. Im der 
Oſterwoche 1430 wirft fie fih nah Melun und fchirmt 
die Stadt vor den Feinden. Als fie auf dem Wall 
iteht, erjcheinen ihr die Heiligen von neuem und verfün- 
digen ihr, fie werde noch vor Johanni in Gefangenfchaft 
gerathen. Sie weint und flebt: Lieber den Tod, nur 
nicht Gefangenſchaft. Aber die bimmlischen Stimmen 
lagen ihr: Es müßte alſo gefcheben, Gott werde ihr aber 
ausbelfen. Am 23. Mai 1430 macht die Iungfrau aus 
Compiegne einen Ausfall gegen die Burgunder. Der 
Ausfall wird zurückgewieſen, die Krieger ftürzen zurüd 
in die Stadt, Johanna kommt mit den letten am Thore 
an, indeß das Thor ift verfchloffen und wird troß ihres 
Rufens nicht geöffnet. Die Feinde umringen fie, muthig 
verfucht fie ſich burchzufchlagen und das freie Feld zu 
gewinnen, da wird fie ergriffen und vom Pferde gerifien, 
fie ergibt fih dem Baſtard von Vendöme, ihr Geichid 
iſt erfülft. 

Es fiegt etwas tief Tragifches darin, daß fie erft 
innerlich geknickt wird, ehe fie äußerlich untergeht. Auch 
Stiller hat diefen Zug benußt, aber ganz abweichend von 
der Gefchichte. Nach Schiller erfolgt der Bruch ihres 

XXI. 17 


258 Johauna d'Are, die Jungfrau von Orletant. 


innern Lebens dadurch, daß fie beim Zweikampf mit 
bem englifchen Ritter Lionel plöglich von einer leiven- 
ichaftlichen Liebe für ihren fchönen Feind ergriffen wird 
und dadurch in Zwieſpalt mit ihrem Gelübbe emiger 
Sungfräulichfeit geräth. Dergleichen ift nie gejchehen, unt 
äfthetifch betrachtet ift dieſes Motiv bei weiten weniger 
zart als bie feine Motivirung der wirklichen Geſchichte, 
wonach jich ver Bruch dadurch vollzieht, daß Johanna’? 
hoher idealer Geift die Gemeinheit und Schlechtigfeit dee 
äußern Materials, welches fie doch zur Vollbringung 
ihrer Miffion nöthig hat, nicht durchdringen und beherr 
ſchen kann. Sehen wir num, wie das Ideale in ihr, da 
es fih auf Erden nicht verwirklichen kann, im Märtyrer: 
tode jeine Verklärung findet. 

Im Lager der Feinde brach maßloſer Jubel aus, ald 
bie Kunde erfcholl: die Here von Orleans ift gefangen‘ 
Der Baftard von Vendoͤme übergab die Gefangene feinem 
Lehnsheren, dem Grafen von Luxemburg, umb biefer 
iperrte fie in den feſten Thurm des Schloſſes Beaurevoir. 
Hier quälen Angft und Furcht Johanna's Seele, trotzdem, 
baß ihre Heiligen es verbieten, ftürzt fie fich von bebeu: 
tender Höhe des Thurmes herab, um zu entlommen. Man 
findet fie bewußtlos auf dem Wall liegen, aber fein 
Glied ift gebrochen. Der Herr von Luremburg verkaufte 
jeine edle Beute für 10000 Livres an den König ven 
England. Man brachte fie nach Rouen und bielt fie hier 
im ftrengften Gewahrfam. Um die Flucht zu verhindern, 
legte man ihr eine eiferne Kette um ben Leib, an welde 
ein großer, hölzerner Klotz befeftigt war, Tag und Naht 
wurde fie von brei in ihrem Zimmer verweilenden Sel— 
baten bewacht, ja man Tieß einen eifernen Käfig an— 
fertigen, um fie bineinzufperren; indeß kam glüdlicer 
weile dieſes entjetliche Vorhaben nicht zur Ausführung. 





Johanna D’Arc, bie Iungfrau von Orleans, 9259 


Johanna war in offenem Kampfe gefangen, nach ba: 
maligem Wölferrechte konnte fie in ewigem Gefängniß 
gehalten, ober gegen Löſegeld freigegeben werben; richten 
und gar töbten durfte man die Gefangene nicht. Allein 
Englands Bolitil forderte ihre Vernichtung, nur dadurch 
föjte fih der Bann, welcher feit dem Tage von Orleans 
auf den Truppen lag. Und auch die leibliche Vernich— 
tung genügte ihren grimmigen Feinden nicht, nach ber 
ſchon in jener Zeit befannten Marime: erſt avilir dann 
demolir, wollte man fie zuvor moralifch vernichten. Dazu 
bot fih folgender Weg: bie Jungfrau follte durch den 
Spruch der Kirche als ein mit der Hölle verbundenes 
Weſen gebranpmarft und verurtbeilt werden, und Fran 
zojen jollten das Urtheil fprechen, damit es unpartetiich 
erſcheine und Glauben fände. 

Nach bereitwilligen Werkzeugen brauchte man nicht 
lange zu fuchen. Der aus feinem Biſchofsſitz vertriebene 
Biſchof von Beauvais, Pierre Couchon, verjtand ſich mit 
Freuden dazu, den Proceß, welcher, wie es hieß, nad) 
Gott und der Vernunft eingeleitet werben follte, auf: 
zunehmen; er gefellte fich den päpftlichen Inquifitor bei 
und bildete aus einer großen Zahl von Gelehrten einen 
Gerichtöhof, der über Johanna's Schuld oder Unſchuld 
entſcheiden follfe; 113 Franzofen, Doctoren ber Xheo- 
logie, Stiftsherren und Baccalauren, Doctoren der Rechte, 
Licentiaten, Notare und Mitgliever der parifer Univerfi- 
tät gaben fich, zum Theil für reichliche Tagegelder, bie 
England zahlte, dazu ber, den Feinden ihres Landes 
burch die Verdammung der Jungfrau ben wichtigiten 
Dienft zu leiſten. 

Am 9. Ianuar 1431 fand die erfte borbereitende, 
am 21. Februar die erfte öffentlihe Stkung in dieſem 
unerhörten Glaubensgericht ftatt. Die Jungfrau forderte, 

17* 


260 Johanna d'Are, die Jungfrau von Orleans. 


die Hälfte ihrer Richter folle aus der Königlich franzöft- 
chen Partei genommen werben; dieſe Forderung war in 
den Nechten begründet, fie ward aber nicht beachtet. Da- 
gegen verlangte man von ihr einen Schwur, daß fie bie 
Wahrheit jagen wolle. Nach einigem Zögern leiftete fie 
den Eid auf die Evangelien, jedoch mit dem Vorbehalt: 
fie werde die Wahrheit fagen in allem, was ven Proceß 
betreffe. ‘Der öffentliche Ankläger, Johann Eftival, Stifte: 
berr von Beauvais, einer von denen, welche bie Yung 
frau am meiften mit Schimpfnamen belegt hatten, ſchwur, 
daß er gegen fie nichts thue aus Gunft, Race, Furcht 
ober Haß. Hierauf, fo Heißt es weiter, erklärten bie 
gegenwärtigen geiftlichen und fehr gelehrten Deänmer, 
erfabreu in göttlichen und menfchlichen Rechten, daß fie 
mit aller Milde und Frömmigkeit vorfchreiten wollten, 
feine Rache oder körperliche Beſtrafung bezweckend, fon 
bern nur Belehrung und Zurüdführung auf den Weg 
bes Heils. Johanna möge fich aus ven Gegenmwärtigen 
Rathgeber erwählen, oder man wolle ihr einige zugejellen. 
Die Jungfrau antwortete: „Ich danke cuch und allen 
Gegenwärtigen, daß ihr mich wegen meines Glaubens 
und zu meinem SHeile ermahnt und mir Natbgeber ar- 
bietet, doch hege ich nicht die Abficht, mich von dem Rathe 
Gottes zu trennen. Auch that ich nichts als nach feiner 
Eingebung.” 

Nah jenem Eide des Anklägers und den milden Er 
Öffnungen der Verſammlung hätte man ein ruhiges, be 
jonnene® Verhör, eine gerechte Beweisführung erwarten 
jollen, ftatt deifen lautete die vor aller Unterfuchung ent- 
worfene Klagefchrift wörtlich jo: „Johanna ift fehr ver- 
bächtig, Anſtoß gebend und ſteht bei allen guten und ernten 
Perfonen befanntlih im fchlechteften Rufe. Sie tft zu 
erllären für eine Zauberhere, Wahrfagerin, faliche Pros 





Zohanna d’Arc, die Jungfrau von Orleans. 261 


phetin, böfe Geijter anrufend und beſchwörend, abergläubig 
und böſen Künſten ergeben, übelvenfend von unferm fatho- 
liſchen Glauben und ihn verleugnend, Böſes redend und 
thuend, Gott und feine Heiligen läfternd, aufrührerifch, 
ben Frieden ftörend und bindernd, Kriege ftiftend, nach 
Menfchenblut graufam dürſtend, zu deſſen Vergießung an⸗ 
reizend, Zucht und Anſtand ihres Geſchlechts ganz preis⸗ 
gebend, die Kleidung bewaffneter Männer unzüchtig tra⸗ 
gend, wegen dieſer und anderer Dinge von Gott und 
Menſchen verabſcheut, Uebertreterin aller göttlichen, natür⸗ 
lichen und kirchlichen Geſetze, Verführerin der Fürſten 
und Völker, erlaubend und beiſtimmend, daß man ſie zur 
Schmach und Verehrung Gottes verehre und anbete, ihre 
Hände und Kleider zum Küſſen darbietend, ſich Götter⸗ 
ehre anmaßend, ſchismatiſch, ſacrilegiſch, blasphemiſch, 
ketzeriſch.“ 

Durch dieſe ſchwülſtige, lügenhafte Einleitung der 
Klagſchrift war der Gang des Proceſſes im voraus be- 
zeichnet, und in der That hat die Eriminalgefchichte kaum 
ein ähnliches nichtswürdiges Verfahren aufzuweifen ale 
da8 gegen Johanna. Sie wurbe täglich vier Stunden 
lang verbört, bald über viefen, bald über jenen Gegen 
ſtand, alle fragten auf fie hinein, ſodaß fte wieberholt 
bitten mußte, e8 möge einer nach bem andern reben. 
Die meiften fuchten eine Kunft darin, ihr recht verfäng- 
lihe Fragen vorzulegen, mitleidige Beifiger, welche es 
wagten, fie zu warnen und zu ihren Gunjten zu reden, 
wurden durch Drohungen zum Schweigen gebracht ober 
ausgeftoßen aus der Zahl der Nichter. Obgleich es um- 
jonft war, daß man Spione in ihre Heimat ſchickte, ihr 
Leben und ihren Wandel auf das genauefte erforjchen 
ließ, entblöbete man fich dennoch nicht, fie zu verleumden, 
insbeſondere ihre SKeufchheit zu verbächtigen. Die glaub: 








362 Johanna dH’Arc, bie Jungfrau von Orleans. 


würbigften Zengniffe über ihr Betragen wurden unter: 
drückt. Die Protofolle verfchwiegen, was für bie An- 
geflagte ſprach, fie waren angefüllt mit den abgeſchmack⸗ 
teſten Bejchuldigungen. Nichts machte Einprud auf bie 
Nichter, das Urtheil war beichloffen, ehe ber Procek 
begann. 

Die Haltung und das Benehmen der Jungfrau ver 
Gericht zwingt uns vie höchſte Bewunderung ab. Sie 
behält ftet8 die Geiftesgegenwart, verliert niemals ihre 
Würde und antwortet nicht blos der Wahrheit gemäß, 
fondern immer treffend und bebeutungsvol. Mit ım- 
glaublihem Scharffinn erräth fie die Fallen, die man ihr 
ftellt. Das Gericht geht darauf aus, ihr Wunderkräfte 
und Wunbertbaten anzubichten, um daraus ihr Bündniß 
mit dem Teufel abzuleiten. Man fragt fie deshalb nad 
einem verzauberten Baum in ver Nähe ihres Dorfes, 
nach Feen, Springwurzeln und allerhand Gerüchten, bie 
fih auf fie beziehen follen. Sie erwibdert: Bei Dom 
remy ftehe wie bei vielen Orten ein großer Baum, 
um welcden fie mit andern Mädchen einigemal getanzt 
und Kränze aufgehbangen babe. Bon Elfen, Geiftern, 
Beſchwörungen habe fie faum einiges als Sage gehört, 
aber nichts geglaubt, nichts gejeben, noch gejagt, noch ge 
tban. „Eine Manpragoramurzel fenne ich nicht, auf 
habe ich nie gefagt, ich würde feinbliche Gejchoffe und 
Pfeile auffangen, wohl aber die Soldaten zum mutbigen 
Ausharren und zur Tapferkeit ermahnt.“ 

Man nannte e8 ein Berbrechen, daß fie Männer- 
kleidung angelegt und fich die Haare abgejchnitten habe, 
fie fagte: „Das find Kleinigkeiten, doch that ich es nicht 
nah Menfchenrath, fondern nach dem Gebote Gottes.” 

Ein Richter fragte fie: ob fie glaube, ſich im Stande 
der Gnade zu befinden ? Hätte fie Ja gefagt, jo Hätte 





Johanna b’Arc, die Jungfrau von Orleans. 263 


man es als fünblichen Hochmuth ausgelegt, denn die 
Kirche erlaubte nicht, fich des ewigen Heils volllommen 
gewiß zu fühlen, ihr Nein konnte als Bekenntniß ihrer 
Schuld gebeutet werden. Die Jungfrau antwortete: „Bin 
ih im Stande der Gnade, fo möge mich Gott darin er- 
halten, bin ich nicht darin, ihn mir verleihen, denn lieber 
möchte ich fterben, als nicht in der Liebe Gottes fein.” 
So wehrte fie die liftigen Streiche ihrer Feinde fiegreich 
ab, die Bemühungen, fie aus ihren eigenen Ausfagen 
ſchuldig zu finden, ſchlugen fehl. Man griff nun zu 
einem noch fchänblichern Mittel. Ein Geiftlicher wurde, 
in der Kleidung eines franzöfiichen Kriegsgefangenen, zu 
ihr ind Gefängniß gebracht, er folfte fich für einen ver 
Ihrigen ausgeben, ihr Vertrauen gewinnen und fie aus- 
borchen. Zwei Männer waren binter einem verbangenen 
Fenſter verftect, fie hatten Befehl, aufzufchreiben, was fie 
hören würden. Johanna ahnte nicht, daß fie belaufcht 
wurde, fie fprach inbeß unbefangen auch im Gefängnif 
und zeigte fich in den vertrauteften Neben ſchuldlos wie 
bei ven öffentlichen Verhören. Ueber den Dauptpunft, 
die himmliſchen Ericheinungen, die Stimmen, welche ihr 
alles befohlen, gab die Jungfrau die bünbdigften Er- 
färungen. Sie verficherte wiederholt: „Sie kommen von 
Gott, und ich bin von Gott gefandt. Ich hege mehr 
durcht etwas zu fagen oder zu thun, was ihnen misfallen 
fönnte, als vor euch Rede zu ftehen. Längft wäre ich 
geitorben, hätten mich meine himmliſchen Führer nicht 
täglich geftärkt und gehoben. Dit höre ich die Stimmen, 
ja bisweilen weden fie mich aus dem Schlafe, oft habe 
ih die Heiligen unter Menfchen gefehen, während biefe 
fie nicht fahen. Jene Stimmen find meift die ber hei- 
ligen Katharine und Margarethe, over auch des Engels 
Michael.” 














264 Iohanna d'Are, die Jungfrau von Orleans, 


Auf die wunberliche Frage: „Hatte der heilige Mi- 
hael Haare ?“ antwortete Johanna : „Warum follten fie 
ihm verfchnitten fein ?* Auf die boshafte Frage: „Er⸗ 
ſchien dir der heilige Michael nackt?“ enigegnete fie: 
„Glaubt ihr, daß Gott nicht habe, feine Heiligen zu be» 
Heiden ? 

Der Proceß ſpann fich lange hinaus. Aus dem zer- 
jtreuten Aeußerungen Johanna's fette man bie ſonder⸗ 
barften Anklagen zufammen. Man fagte: fie glaubt Teiner 
Todſünde ſchuldig zu fein, fie bilvet fich ein, menfchliche 
Stimmen und Leiber von denen ber Heiligen unterfcheiben 
zu können, fie läßt Heilige und Engel nicht englifch, ſon⸗ 
bern franzöfifch reden und auf franzöfifcher Seite ftehen, 
fie weifjagt nicht durch Gott, fondern nach den Empfin- 
bungen ihres Herzens, woraus Aufruhr, Sektirerei und 
viele8 andere Uebel zum Untergangs ver Kirche und bed 
fatholifchen Volks entiteht u. |.w. Man fah vermutblich ein, 
baß vergleichen ungereimte Bejchuldigungen eine misliche 
Baſis für die Verdammung wären, beshalb entichlofjen 
jih die Häupter zu einer Maßregel, die nichts Geringere? 
war als ein Schurfenftreih. Man ließ nämlich auf be 
trügerifche und boshafte Weiſe aus den Acten zwölf An- 
Hageartifel ausziehen und dieſe jo abfaffen, als wären 
alle darin enthaltenen Auflagen erwieſen; bie Jungfrau 
hatte fie indeß niemals eingeräumt. ‘Der Auszug ent 
hielt nicht gerade volle greifbare Unwahrheiten, aber alles, 
was für Johanna ſprach, war befeitigt, alles, was gegen 
fie benugt werden fonnte, war aus dem Zufammenbange 
geriffen und in das fchwärzefte Licht geftellt. 

Was in den Artikeln wider fie vorgebracht wurte, 
läßt fich in zwei Punkte zufammenfaffen: erftens, daß fie 
bartnädig darauf beharre, männliche Kleidung zu tragen, 
obwol in der Bibel 5 Mofes, Kap. 22, Vers 5 geboten 


Johanna d'Are, die Jungfrau von Orleans. 265 


it: „Ein Weib fol nicht Mannskleider tragen, und ein 
Mann nit das Gewand eines Weibes anziehen, denn 
ed it ein Greuel vor Jehovah.“ Und zweitens, daß fie 
DOffenbarungen und perfönliche Erfcheinungen von Heiligen 
borgebe. 

Der Actenauszug wurde an bie parifer Univerfität 
und an etliche funfzig Gelehrte und Coporationen zur 
Begutachtung geſchickt. Für die Engländer und ihre Partei 
war e8 unmöglich, die Angaben über die Ericheinungen 
ver Jungfrau gläubig anzunehmen, man hätte fie ja in 
biefem alle für eine Gottgefandte und ihren Kampf ale 
ein gottgefälliges Werk anfehen müſſen. Es konnte fich 
baber jedermann jagen, wie bie Gutachten ausfallen wür- 
ven. Sie lauteten einhellig dahin: Johanna ſei ſchuldig, 
göttliche Dffenbarungen abergläubifch erfunden zu haben; 
weil diefe Offenbarungen zu fo großem Blutvergießen ge- 
führt, müffe man annehmen, daß fie die Wirfung böfer 
Geifter feien, mithin ſei Beklagte überführt, böfe Geifter 
verehrt, Gott entjagt, die Heiligen geläftert, Götzendienſt 
getrieben zu haben und vom Glauben abgefallen zu fein. 

Die Borausjegung dieſes Verdammungsurtheils, dem 
fi) die meiften Doctoren und Magifter in Rouen an- 
Ihloffen, war natürlich die, daß die Angellagte das in 
den Artikeln Enthaltene wirklich ausgefagt habe. Gleich» 
wol fand man e8 auch nach dem Urtheil gar nicht nöthig, 
ver Jungfrau jene Artikel einzeln vorzuhalten und fie 
darüber zu verbören. ‘Drei von ben Richtern, welche fich 
gegen dieſes Verfahren ausfprachen, wurden hart an- 
gelaffen und zu feiner Situng mehr berufen. Man eilte 
zum Ende und forberte: Johanna folle fich entweder dem 
Spruche der Kirche unterwerfen oder widerrufen. Wei: 
gerte fie die Unterwerfung, jo hieß fie eine ungläubige 
Ketzerin, unterwarf fie ſich, fo mußte fie jedes wider fie 











266 Johanna d’Arc, bie Jungfrau von Orleans, 


gefällte Urtheil anerkennen. Widerrief fie nicht, jo war 
fie ftrafbar wegen ihrer Halsſtarrigkeit, wiberrief fie, jo 
war ihre zeither geleugnete Schuld offenbar. Man fieht, 
verloren war Johanna auf alle Fälle. 

Am 24. Mai 1431 fand auf dem Kirchhofe der Abtei 
Saint-DOuen die Schlußverhandlung ftatt. Zwei große 
Gerüfte waren aufgefchlagen, auf dem einen nahmen bie 
Biihöfe Beauvais und Noyon, der Carbinal von Eny- 
land und 33 Beifiker Platz, das andere war für bie 
Jungfrau und einen Prebiger Namens Ewarb beftimmt 
Ringsum ftand unzähliges Volk, in ver Nähe hielt ſich 
ber Scharfrichter bereit, fein trauriges Amt zu verrichten. 

Noh am Abend zuvor hatte Johanna betheitert, daß 
Gott ihr gebeißen, was fie gethan, und daß fie nichts 
anderes jagen könnte, felbft wenn fie den Scheiterhaufen 
ichon angezündet fähe und ven Henfer bereit, fie hinein⸗ 
zuwerfen. Set nahte die firchtbare Stunde ber Ent- 
ſcheidung. Der ihr zur Seite ftehende Geiltliche Eward 
begamm eine lange Prebigt über den Text: eine vom 
Stamme abgejchnittene Rebe kann Leine Früchte bringen. 
Johanna hörte die abjcheulichiten Vorwürfe mit ftiller 
Ergebung an, als aber Eward fagte: „Ich rebe zu bir! 
Durch dich, du nichtsnutziges, ſchändliches, mit jeder 
Unehre belaftetes Weib, ift die franzöfiiche Geiftlichkeit 
verführt und bein König ein Ketzer und Schismatiter 
geworben“, da flammte ihre Begeifterung noch einmal 
auf. Sie rief dem frechen Bußprediger zu: „Herr, id 
wage e8 bei Verluft meines Lebens zu jagen und zu be 
ichwören, daß mein König ver edelfte Chriſt ift unter 
allen Ehriften, daß er Glauben und Kirche liebt, daß er 
in feiner Weiſe fo ift, wie Ihr ihn befchreibt.” Man 
gebot ihr Schweigen und ftellte ihr nochmals die Wahl: 
entweber ihre vorgeblichen Offenbarungen als fataniiht 





Johanna b’'Arc, bie Jungfrau von Orléans. 9267 


Borjpiegelungen zu widerrufen, dann folle fie in milder 
Haft gehalten werden, oder den qualvollen Feuertod zu 
fterben. Es wurde ihr eine Abichwörungsformel vor- 
gelefen. Sie fagte: „Ich verjtehe den Sinn diefer Worte 
nicht und appellire an den Papft und das Allgemeine 
Concil.“ Mean verwarf ihre Appellation und feste ihr 
heftiger zu. Seufzend fagte fie: „Ihr werdet viel Mühe 
haben, mich zu verführen.” Noch immer vermochte fie es 
nicht über ſich, ihre himmliſchen Erfcheinungen für Lug 
und Trug zu erflären und fo ben geiftlichen Selbſtmord 
an fich zu vollziehen. Der Bifchof Cauchon fing an, das 
Verdammungsurtbeil zu verlefen, der Henker griff nach 
ihr, da enblich brach bie Herrliche zufammen. Sie fagte: 
„Sch will Lieber widerrufen als verbrannt werden. Haben 
bie Männer der Kirche entſchieden, daß die Erfcheinungen, 
welche ich Hatte, nicht behauptet werben können, jo will 
ich fie nicht behaupten.” Der Gerichtsichreiber las ihr 
bie Abſchwörungsformel vor, fie fagte die Worte nad 
und unterzeichnete eine Schrift, die man ihr vorlegte. 
Die Formel ſelbſt ift uns nicht erhalten, Obren- und 
Augenzeugen haben verfichert, e8 feien nur fech® bis acht 
Zeilen geweſen. Johanna habe darin verfprochen, nie 
wieder männliche Kleidung und Waffen tragen zu wollen. 

Eine Chronik aus jener Zeit berichtet folgenden Wort- 
laut: „Sohanna, genannt die Sungfrau, elende Sünbderin, 
nachdem ich ben Irrthum erfannt babe, in ben ich ge- 
fallen war, und durch die Gnade Gottes zurüdgelehrt bin - 
zu unferer Mutter, der heiligen Kirche, auf daß man ſehe, 
daß ich nicht beuchlerifch, fondern mit gutem Herzen und 
gutem Willen zu ihr zurüdgefehrt bin, befenne ich, daß 
ih ſchwer gefündigt habe, indem ich lügenhaft mich an- 
ſtellte, Offenbarungen gehabt zu haben von feiten Gottes, 
feiner Engel und ber heiligen Katharine und Margarethe. 





268 Johanna d’Arc, bie Jungfrau von Orleane. 


Alle meine Worte und Thaten, welche gegen bie Kirche 
find, widerrufe ich und will in der Einbeit mit der Kirche 
fterben, obne je von ihr zu weichen.“ 

Denken wir das erwähnte, von Sohanna gegebene 
Beriprechen, nie wieder männliche Kleider und Waffen 
tragen zu wollen, binzu, fo fennen wir im wejentlichen 
ben Inhalt deſſen, was fie beſchwor. 

Bei ven Acten befindet fich ein endlos langes Sünben- 
befenntnig, mit ihrem Handzeichen verfeben, es ift jedoch 
untergefchoben. ‘Der Geheimfchreiber des Königs ven 
England führte ihr die Hand beim Lnterzeichnen eines 
Documents, deſſen Inhalt fie nicht verftand. 

Der Bilchof von Beauvais nahm Johanna, weil fie 
ihre Kebereien widerrufen babe, in ven Schos der Kirche 
wieder auf. Er hatte zu einem zürnenden Engländer, 
ber ungehalten barüber war, daß die Jungfrau am Leben 
bleiben jollte, gefagt: „Ich muß mehr das Heil als ven 
Tob der Angeklagten fuchen!” Diefe vorgebliche Milde er- 
hielt jogleich ihre Erläuterung, als er fich zu dem Mädchen 
wandte und ſprach: „Wie du gefündigt haft gegen Gott 
und die Kirche, verurtbeilen wir dich aus Gnade, den 
Reit deiner Tage im Gefängniß zuzubringen bei dem 
Brote der Schmerzen und bei dem Waſſer ver Trübfal, 
um deine Sünden zu bereuen und nicht in biefelben 
zurückzufallen.“ 

So war denn das große Werk moraliſcher Vernichtung 
durch Johanna's eigene Erklärung vollbracht. Es haben 
dabei viele Urſachen zuſammengewirkt: einmal bie furcht⸗ 
bar rohe Behandlung im Kerker, durch welche ihre Körper: 
fräfte aufgezehrt und infolge deſſen auch vie Energie ihres 
Geiſtes gelähmt war, ſodann die vollsmäßige Ehrfurdt 
vor den Prieftern. Die Jungfrau mochte einen Moment 
jelbft irre werben, als fie hörte, daß fo viele gelehrte 


Johanna b’Arc, die Jungfrau von Orléans. 269 


Männer, ja die Kirche felbft, ihre Erjcheinungen für er- 
logene Hirngefpinfte erflärten. Die natürliche Scheu 
vor dem Feuertode fam Hinzu, um fie zur Nachgiebigfeit 
zu beftimmen, und endlich batten ihr die bimmlifchen 
Stimmen im Gefängniß von Erlöfung im allgemeinen 
geredet, was fie auf Befreiung aus der Gefangenfchaft 
tur einen Sieg ber Franzoſen, nicht auf ven Märtyrer- 
tod gedeutet hatte. Gewiß vereinigte fich alles, um auch 
ben kräftigſten Geift enplich zu beugen. Es ift nicht auf- 
fallend, daß Johanna zulegt widerrufen, man muß fie 
bewundern, daß fie fo lange widerſtanden hat. 

Während die Jungfrau auf die von uns angegebene 
Beife in Rouen von dem geiftlichen Gericht gepeinigt 
und gezwungen wurde, fich und ihre Sendung moralifch 
zu zerftören, blieb der König Karl VII, unthätig in ven 
Grenzen feiner nun wiebergeiwonnenen Länder. Mean 
hätte eriwartet, daß er alles aufbieten würde, feine Netterin 
zu retten, er machte indeß nicht einmal einen Verſuch, 
fie loszukaufen. Wie leicht war es für ihn, mit Nepref- 
jalien an den in felner Gewalt befindlichen engliichen 
Kriegögefangenen zu drohen, wie gewichtig mußte e8 fein, 
wenn er die Nefultate der Prüfung von Poitiers geltend 
machte! Dort hatten ebenfall® Männer des Rechts und 
ter Kirche über Johanna zu Gericht gefeffen, unter ihnen 
ber Vorgefette des Biſchofs von Beauvais, und von ihnen 
war das Mädchen für eine gute fatholiiche Ehriftin von 
reinem Herzen und unfträflihem Wandel anerfannt wor- 
den. Es war fo natürlich, daß man der Unterfuchung 
in Rouen bie Unterfuchung in Poitierd entgegenftellte, 
oder den fchiebsrichterlichen Spruch des Papftes angerufen 
hätte, Auch das gefchah nicht. Johanna wurde verlaſſen 
ton den Ihrigen, felbft von bem Könige, der ihr das 
Reich und die Krone verbanfte. Das Motiv biefes em- 





270 Johanna b’Arc, bie Iungfrau von Orleans. 


pörenden Undanks mag gewefen fein, daß der König be 
forgte, man würde ihn, wenn er eifrig für die Gefangene 
Partei nehme, ver Mitwiſſenſchaft, vielleicht jogar ber 
Theilnahme an ihren Zauberfünften bejchulpigen. 

Johanna wurde nach dem Urtbeilsipruch nicht, wie 
das Geſetz es erforderte, in geiftliche Klofterhaft, ſondern 
in ihren frühern Gewahrfam zurücdgebracht und bafelbit 
fort und fort mit Ketten beladen. Ste mußte nach wie 
vor die Gegenwart wüfter Kriegsknechte in ihrer Zelle 
dulden und wurde von neuem an einen Bloc gefchlofien. 
Sie ließ fi) Frauengewänder anlegen und das Haar nad 
Art der Büßerinnen fcheren. 

Am dritten Tage nach der feierlichen Gerichtöfigung, 
e8 war gerade der Sonntag Trinitatis, wird dem Biſchof 
gemeldet, die Jungfrau habe ihr Gelübde gebrochen und 
Mannsfleivung angezogen. Er ſendet Geiftliche zu ihr, 
. um fie zu verhören, die Wachen verweigern ihnen indeß 
ben Zutritt. Am Montag kommen die Richter feldft zu 
ihr in den Kerker. Befragt, warum fie wieder männ- 
liche Kleivung trage, gibt fie zu Protokoll: „Weil ih 
diefe Weife, mich zu Heiden, für anftänbiger halte, fo- 
lange ich von Männern bewacht werde. Ueberdies habt 
auch ihr nicht gehalten, was ihr verjpradht, daß ic 
bürfte zur Meffe gehen, ven Leib des Herren empfangen, 
und daß ich nicht mehr an diefen Bloc gefejfelt würde.” 
Das Protokoll verfchweigt, was wir durch die Ausfage 
ihres Beichtvaters wiffen, daß man ihr die Frauengewänder 
weggenommen, abſichtlich die Männerfleivung hingelegt, 
und daß ein großer Lord fie durch feine Zupringlichkeit 
gezwungen hatte, in ber Männertracht ven Schuß ihrer 
Ehre zu fuchen. Als ihr der Biſchof vorbielt, daß fie 
ihren Schwur gebrochen, antwortete fie: „Ich will Lieber 
fterben, als in dieſen Ketten leben. Vergönnt mir, zur 





Johanna d'Are, die Jungfrau von Orléaus. 971 


Mefte zu geben, gebt mir erträgliches Gefängniß, fo will 
ih gut fein und thun, was bie Kirche will.” Der Die 
hof fuhr fort: Er habe auch gehört, daß fie noch 
immer an ihren vorgebliden Dffenbarungen fefthalte. 
Db fie jeit dem legten Donmerstag die Stimmen ber 
Heiligen wieder gehört ? Antwort: „Ja.“ Ob fie glaube, 
daß fie von Gott fümen? Antwort: „Sa, fie fommen 
von Gott.” 

Dean macht ihr den Widerjpruch biefer Erklärungen 
mit ihrer Abjchwörung bemerklich. Sie entgegnet: „Was 
ih damals gejagt babe, ift gegen die Wahrheit gejagt, 
nur aus Furcht vor dem Feuer. Aber ich will meine 
Buße lieber auf einmal leiden, als länger erbulden, was 
ich bier im Gefängniß erduldet. Was in dem Abſchwö⸗ 
rungszettel jtand, habe ich nicht verftanden, und ich babe 
nur in der Vorausfegung widerrufen, daß ed Gott ge- 
fiele. Ihr habt mir ſchuld gegeben, gejagt und gethan 
zu haben, was ich nie gefagt und gethan habe. Wenn 
ihr wollt, will ich Frauenkleider anlegen, weiter thue ich 
nichts.” 

Sohanna hatte fich wierergefunden, der alte Muth 
war zurüdgefehrt. Es ftand nicht das burch die geiftige 
Zortur des Proceſſes gefnidte, vor dem euer zitternde 
Mäpchen vor dem Biſchof, ſondern bie heldenmüthige, 
gottbegeifterte Jungfrau trat ihm gegenüber. Site nahm 
den ihr mit jo vieler Mühe abgepreßten Widerruf zurüd 
und klagte fich felbft an wegen ber von ihr bewiejenen 
Schwäche. Sie fagte: „Gott hat mir durch die heilige 
Katbarine und Margarethe fein großes Mitleid Tundge- 
than, daß ich an jenem Tage in die Abſchwörung willigte, 
um mein 2eben zu retten. Ich würde mich felbjt ver: 
bammen, wenn ich leugnete, daß Gott mich gefandt bat.“ 
Als der Biſchof aus dem Gefängniß trat, wandte er 


272 Iohanna d'Are, die Jungfrau von DOrleane, 


fih zu den bort verfammelten Engländern und fprad: 
„Karewell! Es ift um fie geſchehen, thut euch gütlich !” 

Die mittelalterliche Kirche war unerbittlich gegen rüd- 
fällige Ketze. Das Gericht warb von neuem berufen 
und Johanna von neuem angeflagt. Ohne eine weitere 
Unterfuchung, wie es ſich mit dem Kleiderwechſel ver- 
halten und ob nicht die Angefchulpigte dazu gemöthigt 
worden, ohne die Jungfrau nur zu verhören über bie ihr 
beigemeffenen Verbrechen, fällten die Richter, um bie nad 
dem Blute ihrer Feindin dürſtenden Engländer zufrieden 
zu ſtellen, in der formloſeſten Weiſe und in der höchſten 
Eile das Todesurtheil. Es ſollte der Jungfrau bie Ab 
ſchwörungsformel vorgeleſen, ihr das Wort Gottes ver: 
fündigt und fie dann der weltlichen Gerechtigkeit, das 
hieß dem Feuertode, übergeben werben. 

Am Morgen des 30. Mat 1431 kam ihr DBeichtvater 
zu ihr ins Gefängniß. Er hörte ihre Beichte, reichte ihr 
auf ihr Verlangen ven Leib des Herren und bereitete fie 
zum Sterben vor. ALS er ihr anfündigte, daß fie noch 
heute die ihr zuerfannte Strafe erleiden müſſe, ſchrie fie 
auf: „Weh mir! Es ift entjeglich, daß mein frilcer, 
junger Leib, der nie befledt warb, zu Aſche gebrannt 
werden fol! Ach, eher wollte ich fiebenmal enthauptet 
werben als einmal verbrannt!“ Zu dem Biſchof von 
Beauvais fagte fie: „Biſchof, ich fterbe durch Euch!“ 
Er erwiderte: „Du mußt es in Geduld hinnehmen, denn 
du Haft dein Verſprechen nicht gehalten und bift zu 
einer frühern Uebelthat zurüdgelehrt.” „Ach“, ent 
gegnete fie, „hättet Ihr mich in ein geiftliches Gefängniß 
geführt und anftäntigen und würbigen Wächtern über- 
geben, fo wäre das alles nicht geſchehen. Ich berufe mich 
von-&Euch auf Gott, vem Rächer alles Unrechtes, welches 
Ihr mir anthut.” 


- 





Johauna b’Arc, bie Jungfrau von Orleans. 273 


Im Gebet und in ver feiten Zuverficht, daß fie noch 
denfelben Tag im Parabiefe fein würde, fand die Jung⸗ 
frau die Faſſung, ihrem furchtbaren Geſchick ftanphaft 
entgegenzugeben. Sie ließ fich in Frauengewänder kleiden 
und beftieg um 9 Uhr morgens ven Wagen, der fie unter 
ſtarker Bedeckung englifcher Soldaten auf ven alten Markt 
von Rouen bradte. Hier waren zwei Gerüfte aufge- 
ſchlagen, das eine für die Nichter, das andere für ihr 
Opfer, ven Gerüften gegenüber auf einem hochgemauerten 
Unterbau der Scheiterhaufen. Der Verfaſſer der zwölf 
AÄrtifel Hielt eine wüthende Predigt über 1 Korinther, 
Kap. 26, Vers 12: „So ein Glied leidet, fo leiden alle 
Glieder mit‘, ein Text, der fich fo leicht zu Gunften ver 
Jungfrau deuten ließ. Er ſchloß mit den wie bie bitterfte 
‚ronie klingenden Worten: „Ziehe Hin in Frieden!“ 
Hierauf erhob fich der Biſchof und verlas folgendes Ur- 
tbeil: „Im Namen des Herrn. Amen. Nachdem wir 
zu Recht beſtehenden Richter dich, Johanna, genannt bie 
Jungfrau, bereits bes Abfalls, des Götzendienſtes, ber 
Anrufung der Teufel und verjchiedener anderer Verbrechen 
ſchuldig erkannt, aber weil die Kirche den Reuigen nie- 
mald ihre Arme verfchließt, dich zur Buße zugelaffen 
baben, indem wir glaubten, daß du aufrichtig widerrufen 
und gelobt, nicht in biefe Irrthümer zurüdzufallen, fon- 
bern in ber fatholifchen Einheit mit der Kirche zu ver- 
barren: ift dennoch dein Herz verführt worden vom 
dürften der Lüge und du bift zurüdgefallen in beine 
Yüge, wie ein Hund zum Ausgefpieenen zurüdfommt. Du 
baft erklärt, daß du mit falfchem Herzen und nicht in 
guten Glauben auf beine Irrthümer verzichtet Haft: 
terobalben erklären wir durch gegenwärtige Sentenz bich 
für rückfällig, Tegerifch und für ein verfaultes Glied. Auf 
daß du nicht die andern anſteckeſt, ftoßen wir bich aus 

XXI. 18 


274 Johanna D’Arc, die Jungfrau von Orltans. 


dem Schoße der Kirche nnd übergeben dich der weltlichen 
Gewalt, indem wir fie bitten, bich mild und menfchlid 
zu behandeln, mit dem Tode oder Verftümmelung ber 
Glieder dich verfchonend.” 

Der Schluß ift nur die übliche heuchlerifche Formel 
firchlicher Todesurtheile. Das weltliche Gericht war bei 
Strafe, ſelbſt für fegerifch gehalten zu werben, verpflichtet, 
eine ibm mit biefer Formel übergebene Perſon ſofort 
verbrennen zu laffen. 

Hierauf wurde das Haupt Johanna's mit einer pa- 
pierenen Mütze bedeckt, welche bie Injchrift trug: „Kegerin, 
rückfällig, abtrünnig, götzendieneriſch.“ Auf einer an ihrer 
Seite befindlihen Tafel ftand gefchrieben: „VJohanna, 
welche fich die Jungfrau nennen läßt, iſt eine Lügnerin, 
bes Volle Betrügerin, gefährlich, abergläubifch, Gott 
läfternd, irrgläubig, gößendienerifch, grauſam, liederlich, 
des Teufels Verbündete, ſchismatiſch, ketzeriſch.“ 

Die Jungfrau behielt in ihrer letzten ſchrecklichen 
Stunde ihre Würde und ihre Faſſung, ſie kniete nieder 
und betete fo inbrünſtig, daß die Umſtehenden ohne Aus- 
nahme ergriffen und viele Augen naß wurden. Sie ver: 
gab allen ihren Feinden und erbat von allen, benen fie 
wehegethan, Verzeihung. Site zeigte weber ſtoiſche Gleich: 
gültigfeit noch haltungsloſe Verzweiflung, ſondern edles 
Gefühl und hohen Muth. Für ihren Gang zum Tode 
gab man ihr auf ihre Bitten ein Kreuz in die Hand, 
ein andered wurde auf ihren Wunfch aus ber nahen 
Kirche geholt und ihr vorangetragen. Dem Prediger 
mönd, der ihre legten Geheimmiffe bewahrte, erflärte fie 
nochmals feierlich, ihre Erfcheinungen feien feine Einbil- 
dungen gewejen, was fte getban, habe fie auf Gottes 
Defehl gethan. Mit den Worten: „Rouen, Rouen, jolft 
bu nun meine legte Stätte fein! Ich fürchte, du wirft 


Zohanna b’Arc, bie Jungfrau von Orltans. 275 


viel leiden müfjen wegen meines Todes“, ſchickte ſie fich 
an, zum Sterben zu gehen. Das Volk, welches zugegen 
war, wurde unruhig, es warb von einer Ahnung erfaßt, 
daß bie unfehlbare Kirche im Begriff jet, ein ungebeueres 
Berbrechen zu begeben. Die Solvaten trieben die Priefter 
zur Eile an. Da rief der Stabtrichter von Rouen ohne 
weitern Urtbeilsfpruch dem Henker zu: „Thue beine 
Pflicht!“ Johanna wird ergriffen, auf ven Scheiterhaufen 
geführt und bier an einen hervorragenden Pfahl feftge- 
bunden. Ihr Beichtvater geleitet fie, ſchon züngeln bie 
Flammen von unten herauf; fie ermahnt ihn, fich eiligft 
zu retten. Noch einmal hört man ven Namen bes Er- 
löfer8 aus ihrem Munde, dann umbülft fie die Lohe und 
bie keuſche Lilie Frankreichs hat ihr Martyrium über- 
ftanden. 

Auch bier übte der Tod feine verjöhnende Macht. Alle 
Zuſchauer waren auf das tieffte erjchüttert. Viele Eng⸗ 
länder von Auszeichnung fprachen laut aus, „man babe 
eine Heilige verbrannt”. Einer ihrer Feinde, ber felbit 
Holz zum Scheiterhaufen getragen, behauptete, eine weiße 
Zaube fei aus den Flammen emporgeftiegen. ‘Der Henker 
jelbft Fam, von Gewiffensbiffen gepeinigt, zu dem Beicht- 
vater und fragte: „Ob Gott ihm wol den Frevel vergeben 
fönne, ven er an einer fo heiligen Frau begangen ?” Er 
batte beim Aufräumen von bem Körper der Jungfrau 
nichts mehr gefunden als ihr mit Blut überfülltes Herz; 
biefes war nicht mit verbrannt. 

Kurze Zeit darauf erließ der König von England ein 
Schreiben an Kaifer, Könige, Fürften und Carbinäle zur 
Rechtfertigung des Proceſſes. Es machte indeß nur ges 
ringen Eindrud, denn überall purchichaute man, daß biejes 
Gericht fein unparteiifches, daß der Spruch fein gerechter 
war, Johanna war tobt, aber bie Engländer ernteten 

18* 





976 Johanna b’Arc, bie Jungfrau von Orleans. 


feine Früchte von ihrer blutigen That. Die gewaltige 
Erhebung des Volksgeiſtes, der mächtige Umfchwung ber 
Dinge waren nicht rüdläufig zu machen. 

Sechs Jahre nach ihrem Ableben z0g der König in 
Paris ein, 18 Jahre nachher fiel ihre Opferftätte Rouen 
an Frankreich zurüd und nach Ablauf von 27 Yahren 
mußten bie Engländer Calais, den legten Platz auf frans 
zöſiſchem Boden, räumen. 

Kart VII. faß auf dem Thron feiner Väter, und 
bie Volksſtimme verlangte gebieterifch die Herjtellung bes 
Andenkens der Jungfrau. Der König konnte jich biefem 
gerechten Verlangen nicht entziehen, er feste in Rom 
einen Nevifionsproceß durch. Der Papſt ernannte einen 
geiftlichen Gerichtshof, vor welchem die hochbetagte Mutter 
Johanna's erjchien und Necht forderte für ihr unſchuldig 
gemordeted Kind. ES wurden 144 Zeugen vernommen, 
darunter alle diejenigen, welche die Sungfrau perjönlich ge: 
fannt. Nach forgfältiger Prüfung fällte der Reviſionshof 
das Urtheil: Dean ftelle e8 Gott, deſſen Geift wehe, wo⸗ 
hin er wolle, anbeim, über bie Natur der Offenbarungen 
Johanna's zu richten, aber die zwölf Artikel ſeien trüge 
riih aus den Acten gezogen, das ganze Verfahren in 
bem Berbammungsproceß jet wegen vielfacher ſchwerer 
Nechtöverlegungen null und nichtig, das Andenken Jo⸗ 
hanna's der Jungfrau fet alles Schimpfes frei und ihre 
Verurtheilung in allen Städten des Königreich® durch 
Öffentliche Bekauntmachung als ein Werk der Gewaltthat 
und Bosheit zu erflären. 

In Rouen warb an der Stelle, wo fie geftorben, eine 
feterlihe Proceffion gehalten, der erſte Spruch als be- 
trügerifch, arglijtig, boshaft und fchänplich caffirt, vieles 
zu ihrem Lobe gejprochen und ein Erucifix aufgerichtel. 

Wir find am Ende, denn wir beabfichtigen nicht, eine 











Johanna d’Arc, die Jungfrau von Orleans, 277 


Erklärung der himmliichen Stimmen und Offenbarungen 
zu verfuchen, oder unjere Anficht darüber auseinanverzu- 
jeten. Wie man auch in viefem Punkt urtbeilen, ob 
man fie al8 wirkliche Geifterericheinungen ober als bie 
Gebilde einer reichbegabten Phantafie auffaffen mag, darin 
find alle Kritifer und unparteiiſchen orfcher einig, 
daß an einen Betrug, an ein Rügengewebe ber Jungfrau 
ober des Löniglichen Hofes, in deſſen Dienften fie ſtand, 
nicht zu denken if. Johanna jelbft hat an die Realität 
ihrer himmlischen Führer geglaubt und in Dingen, bie 
ihre Sendung betrafen, prophetifche Blicke in die Zufunft 
getban, das beides ift unzweifelhaft gewiß. „Die Jung⸗ 
frau von Orleans gehört zu ven edelſten und feltenjten 
Öeftalten, welche durch das volle Licht der gefchichtlichen 
Wahrheit nicht verlieren, fondern in jeder Beziehung ge- 
winnen.” Sie ift ein glänzender Beweis für die Wahr- 
beit des Gedankens, dag wahre Frömmigkeit im Bunde 
mit begeifterteer Vaterlandsliebe von unwiderſtehlicher 
Wirkung ijt und ſelbſt bie ſchlimmſten Verhängniffe der 
Völker zu wenden vermag. 








Die Hexen, Hexenprocefle und Hexenpredigten. 
1. Die Hexen. 


Am 4. December 1484 erließ ber Papft Imo⸗ 
cenz VIII. eine Yulle, in welcher er fchrieb: „Wir haben 
nicht ohne große Betrübniß erfahren, daß es im einigen 
Theilen von Deutichland, in Städten und Dörfern Ber- 
ſonen gibt, welche, ihres eigenen Heils uneingebent, von 
bem katholiſchen Glauben abfallen, mit böfen Geiftern fid 
verbinden und wermifchen, durch ihre Zaubereien mit 
Hülfe des Teufels Menſchen und Xhieren ſchaden, bie 
Felder und ihre Früchte verderben, ven chriftlichen Glau⸗ 
ben, ben fie in ber. heiligen Taufe angenommen haben, 
verleugnen und, getrieben vom Feind des Menſchen⸗ 
gefchlechts, viele jchwere Verbrechen begehen” u. |. w. 

„Damit nicht die Seuche des Teterifchen Unweſens 
ihr Gift zum Unglüd von Unſchuldigen ausbreiten möge”, 
trägt Innocenz kraft feines apoftolifchen Berufs ven Keker- 
richtern Jakob Sprenger und Heinrich Krämer anf, 
‚wider alle Berjonen, weß Standes und Ranges fie fein 
mögen, das Amt der Inquifttion zu vollziehen und bie 
jenigen, welche fie der vorbemelbeten Dinge ſchuldig finden, 
nach ihrem Verbrechen zu züchtigen, in Haft zu bringen, 
an Leib und Vermögen zu ftrafen“. 





Die Heren, Herenproceffe nnb Herenpredigten. 279 


In Deutſchland waren bie Keberrichter verhaßte Leute, 
und die päpftliche Bulle ftieß anfänglich fogar bei ben 
Bifchöfen, die fih in ihrer Gerichtsbarkeit nicht befchränfen 
laſſen wollten, auf Wiverftand; aber ver Katjer Maris 
milian erfannte ven Befehl des Papftes am 6. Novem⸗ 
ber 1486 ausdrücklich an und forberte die Reichsſtände 
auf, die Inquifitoren zu unterftügen. Kurze Zeit darauf 
erfhien ver ,„‚Malleus maleficarum”, ber „Hexen⸗ 
bammer”, eine Art Herenbogmatif. 

Das Buch zerfällt in drei Theile und handelt im 
erjten von ber Zauberei und dem Bunde ber Menſchen 
mit dem Teufel überhaupt, im zweiten von den Wirkungen 
ber Zauberei und den Schugmitteln gegen fie, im pritten, 
ausführlichiten, von dem Verfahren und den Strafen ber 
Gerichte wiber Zauberer, Hexen und Unholde. Jene Bulle 
und dieſes Buch find zwar nicht die Quelle der Hexen⸗ 
procefie, vielmehr wurden fchon im 13. und 14. Yahr- 
hundert in Frankreich Deren verbrannt; aber Inno⸗ 
cenz VIII. und die Slegerrichter Sprenger und Krämer, 
welche den „Hexenhammer“ verfaßten, um bie Deren zu ver⸗ 
tigen, baben den Hexenproceß in Deutſchland heimiſch 
gemadt und nachfolgende Päpfte haben für andere Länder 
ähnliche Bullen erlaffen und überall fanatifche Diener 
gefunden, die mit Lift und Gewalt gegen bie Zauberer 
zu Felde zogen und zur Ehre Gottes die Teufel mit 
teuflifchen Mitteln austrieben. Der Herenproceß bat 
gleich einer furchtbaren Krankheit drei Iahrhunderte hin⸗ 
turch gewüthet und nicht blos Deutichland, fondern 
Europa, Indien, das neuentdeckte Amerika, vor allem 
Merico und Peru haben unter dieſer entſetzlichen Geißel 
geſeufzt. | 

„Es iſt“, wie einer unferer berühmteften Suriften 
jagt, „ein Drama von unermeßlicher Auspehnung, mit 


280 Die Heren, Herenprocefje und Herenprebigten. 


bem an Sammer, BVerziveiflungsfcenen und Elend ohne 
Maß und Ziel auf der einen, an Aberglauben, Unfinn 
und Barbarei auf der andern Seite kaum etwas in ter 
Geſchichte verglichen werden Tann.” Dieſes Urtheil ift 
bollfommen zutreffend, denn niemals hat der menfchliche 
Geift ein jo albernes und fo graufames Syſtem von ger 
richtliher Procedur erfunden, niemals hat die Kirche ven 
Arm der weltlichen Suftiz frevelhafter gemisbraucht, nie 
bat eine Seuche, nie hat ein Krieg fo furchtbares Weh 
über bie Völker gebracht, nie find Gelehrte und Laien, 
Theologen und Chriften, Päpfte und Kaiſer, Fürften und 
Städte, Katholifen und Proteftanten in einem jo rohen, 
jo einfältigen, fo verhängnißvollen abergläubiichen Wahn 
befangen geweferi. Ja, wenn man bie Opfer zählen könnte, 
welche vom 15. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts ale 
Heren und Herenmeifter theils unter den Martern ent- 
menfschter Hentersfnechte, theil® in den Flammen ber 
Scheiterhaufen, in Zeichen und Flüſſen umgekommen find, 
man würde mit Schreden entdeden, daß fie fich auf viele 
Hunderttaufende beziffern. 

Zum Beweife, wie große Dimenfionen ber Heren- 
proceß angenommen bat, mögen bie folgenden Zahlen 
bienen: 

Im Bisthum Würzburg loderten von 1627 bis zum 
Februar 1629 nicht weniger al® 29 Brände, in benen 
157 Berfonen ven gräßlichen Feuertod ftarben. Das 
Verzeichniß „der Herenleut, fo zu Würzburg verbrannt 
find‘, ift erhalten und belehrt uns, daß in jevem „Brande“ 
brei bis neun Menfchen Hingerichtet wurden, und daß 
Männer und Frauen, Kinder und Greife, Vornehme und 
Geringe, ja fogar Chorherren und Dominicaner bie 
Scheiterhaufen befteigen mußten. 

Im Bisthum Bamberg wurden von 1627 bis 1630 








Die Heren, Herenproceffe und Herenprebigten. 281 


wegen Hexerei 285, im Herzogthbum Lothringen in 15 
Jahren 90, in dem reformirten Genf in drei Monaten 500, 
im Bisthum Straßburg von 1615 bis 1635 fogar 5000 
Perſonen mit dem Tode beitraft. 

Die Stadt Rottweil bat von 1561 bis 1648: 113, bie 
Stapt Nördlingen von 1590 bis 1593:32, die Stadt 
Offenburg in nur vier Jahren 60, das Heine Städtchen 
Windheim in einem einzigen Jahre 23 Menfchen wegen 
Zauberei abgejchlachtet. 

In Salzburg wurden im Jahre 1678 in einem einzigen 
Proceß 97, in Lindheim bei einer Benölferung von 3140 
Einwohnern 23 verbrammt. 

Der Keterrichter Balthafar Voß in Fulda rühmte 
ih, daß er in 19 Jahren 700 Heren und Zauberer 
auf den Holzftoß gebracht babe, und fprach die Hoffnung 
ans, es über 1000 zu bringen. 

In Braunfchweig war der Eifer um 1600 fo groß, 
baß die Brandpfähle, die von ven Herenbränden her⸗ 
rührten, vor dem Thore einen Wald bilbeten. 

In der Stadt Zudmantel in Schlefien hielt der Bifchof 
im Sabre 1557 nicht weniger als acht Henker und alle 
hatten vollauf zu thun. 

Aber nicht blos in Deutſchland, auch in Frankreich, 
ber Wiege der Herenproceffe, in Ungarn, Bolen, Italien, 
Preußen, Dänemark und Schweben ‚führten geiftliche und 
weltliche Gerichte einen erbitterten Krieg gegen die Heren 
und fuchten fie auszurotten mit Feuer und Schwert. 
England Hatte fogar feinen General-Herenfinder, der in 
der Mitte des 17. Jahrhunderts von Stadt zu Stadt 
zog, meift auf bejonbere Einladung des Meagiftrats Fam 
und für eine anjehnliche Tare ein Gewerbe daraus machte, 
Haren zu entveden. Er lieferte Humberte von unglüd- 
Iihen Weibsperfonen auf das Schaffot. In Schottland 


282 Die Heren, Herenproceffe und Herenprebigten. 


trieb ein zweiter Charlatan fein Unwejen. Mehreremal 
baten die Bürger einer Stabt in ihrer Angjt vor ben 
Heren die Obrigkeit, ven Herenfinder kommen zu laſſen, 
damit er die Frauen unterfuche und bem Gericht bie 
Schuldigen bezeichne. Der Betrüger wurbe auf Koften 
der Stadt geholt und reichlich bewirthet. Er fanb eine 
Anzahl von Heren und Tieß fih das Stüd mit 20 
Scillingen bezahlen. Später geftand er am Galgen, 
baß er ben Feuertod von 200 Weibern verſchuldet habe. 

Doc genug der Exrempel, die wir leicht vervollftänbigen 
fönnten. Wenden wir uns lieber zu der Frage, wie fih 
bie ebenfo merkwürdige als ſchreckliche Erjcheinung der 
Herenprocefje erflären läßt? 

Zauberer, das heißt Menfchen, von denen man glaubte, 
daß fie mit Hülfe dämoniſcher Kräfte Liebernatürliches 
bewirken könnten, hat es bei allen Völlern und zu allen 
Zeiten gegeben. Keine Nation und feine Zeit fteht jo 
tief, daß fie fich nicht zum Zauberglauben erheben Könnte, 
feine fteht fo hoch, daß fie biefen Glauben völlig über 
wunden hätte. Das Moſaiſche Geſetz bedroht nicht bios 
die Wahrfager, ſondern auch die ſich wahrjagen laſſen, 
mit dem Tode. Auf den Befehl im 2. Buch Moſes, 
Kap. 22, Vers 18: „Die Zauberinnen ſollſt du nicht leben 
laſſen“, haben Theologen und Fürften ihre bluttriefenden 
Theorien geftüßt. 

ALS das Chriftentbum zur herrſchenden Religion wurbe, 
fand e8 den Zauber- und Dämonenglauben vor. Es 
zerftörte diefen Glauben nicht, aber es geftaltete ihn um. 
Die Stelle 1 Mojes, Kap. 6, Vers 1—4, bezog man auf 
die Erzeugung von Dämonen und bildete die Lehre anf, 
daß Menſchen und Dämonen einen törperlichen Bund 
eingehen, daß namentlich Weiber gejchlechtlichen Umgang 
mit dem Teufel und mit Dämonen unterhalten koönnten, 





Die Heren, Herenproceffe unb Herenprebigten. 283 


und daß ſolche Menfchen vom Teufel mit übernatürlichen 
Kräften audgeftattet würden, um Schaben zu ftiften. 

Je wunberfüchtiger bie Zeit und die Völker wurden 
unter dem Einfluß ber römifch-fatholifchen Kirche, die ein 
großes Stüd Heidenthum in ihr Dogma aufnahm, befto 
geneigter war man, in jeber unbegreiflichen Erfcheinung 
die Wirkung verborgener dämoniſcher Kräfte und Weſen 
zu feben. Die Zauberei ift mit Recht das ilfegitime 
Wunder genannt worden. Wenn jemand in der Kraft 
Gottes und mit dem Beftande der Engel handelte, fo that 
er Wunder und wurbe unter bie Heiligen verjegt, wenn 
aber ein Menjch mit Hülfe des Teufels und ber Dämonen 
Krankheiten und Todesfälle hervorbrachte, die Früchte des 
gelbes verdarb, oder auch Heilungen verrichtete, jo war 
er ein Zauberer. Nicht felten fielen beide Begriffe zu⸗ 
jammen, und e8 kam lebiglich auf den Stanbpunft an, von 
welchem aus man bie Sache anfah. So erſchien z. B. 
bie Sungfrau von Orleans ben Franzoſen al® bie be- 
gnadigte, von Gott geſandte Retterin, den Engländern 
aber als eine vom Teufel befefjene Here. In den katho⸗ 
liſchen Legenden triumpbirten bie Heiligen über ben Fürften 
der Finfternig und feine Diener. Es mußte aber auch 
ein Unterliegen möglich fein, ja e8 war denkbar, daß wie 
bie Heiligen Gott und den Engeln, die Böfen dem Teufel 
md den Dämonen dienten. Da fein Menſch daran 
zweifelte, daß ber Teufel und Legionen von Teufels⸗ 
findern leibhaftig auf der Erde berumfchwirrten, lag es 
nahe, ihre Beziehungen zu den Menfchen immer finnen- 
fälliger und fleifchlicher zu geftalten. Wie man in Griechen- 
land und in Rom von dem Umgang und den Liebichaften 
der Götter mit ben Menfchen gefabelt hatte, fo fabelte 
bie erhitzte Phantafte Fatholifcher Priefter und Mönche 
von bem Verkehr ver Mienfchen mit ben Dämonen. Dan 


284 Die Heren, Herenproceſſe und Herenprebigten. 


brachte ven Teufeldbund und ben Teufelscultus in ein 
Syſtem und warf fie zufammen mit ver Ketzerei. 

Zu Ende des 15. Jahrhunderts war bieje Lehre ber 
Kirche völlig ausgebildet. Man hatte die ‘Theorie vom 
Zeufelsbund und ber Buhlſchaft mit dem Zeufel, ven 
ber daraus entjpringenven Keterei, Zauberei und Hexerei 
zu einem Dogma erhoben. Aber auch das Volk glaubte 
und fürchtete fih. In allen Ländern Europas und m 
allen Schichten der Bevölkerung mußte man, baß eitt 
Bündniß mit dem Teufel möglich fei und daß man ba 
durch das Hexen lernen Könnte. Aber man wußte nod 
viel mehr: wie jener Bund abgefchloffen wurbe, welche 
Gewalt man dadurch befam, wie e8 auf den Hexenver⸗ 
jammlungen und den großen Teufelsfeften berging! Wir 
führen im Zufammenhange vor, was man ale wahr in 
Dezug auf den Verfehr der Heren mit dem Teufel an 
nahm, und bemerfen ausdrücklich, daß alles, auch das⸗ 
jenige, was vielen Lefern als unglaublich, rein unfinnig 
und ungebeuerlich erjcheinen wird, durch Hunderte von 
Actenftüden, von denen uns viele vorgelegen haben, belegt 
wird und baß das ganze Bild treu nach ben Bekennt⸗ 
niffen ber Deren gezeichnet if. Der Bund mit bem 
Zeufel wird entiveber privatim oder öffentlich, entweder 
jhriftlih oder mündlich eingegangen. Es find barüber 
noch mehrere Urkunden erhalten. So beißt e8 in eimer 
Verſchreibung aus dem 17. Jahrhundert: „Ich Louis 
Gaudfridy Teifte Hiermit Verzicht auf alle geiftlichen und 
zeitlihen Güter, bie mir Gott, die heilige Jungfrau, 
alle Heiligen männlichen und weiblichen Gefchlechts im 
Paradieſe, beſonders mein Patron, ber heilige Johannes 
der Zäufer, fowie bie Heiligen Petrus, Paulus und 
Franciscus verleihen können und ergebe mich dem bier 
gegenwärtigen Lucifer mit Leib und Seele und allen 











Die Heren, Herenproceffe und Herenprebigten. 285 


Gütern, die ich befite und jemals befigen werbe, jedoch 
mit Ausnahme des Verbienftes der heiligen Sakramente.“ 

Der Teufel verpflichtet fich dagegen, ben Louis Gaud⸗ 
fridy zu einem der vornehmften Priefter zu machen, ihn 
34 Jahre lang ohne Unglüd und Krankheit leben zu 
laſſen und zu bewirken, vaß er von allen Weibern, bie 
er begebre, geliebt werde. 

In einer andern Schrift, ebenfalls aus dem 17. Fahr» 
hundert, trägt ein Soldat dem Teufel feine Seele an, 
verlangt aber, daß der Teufel ihn umnfichtbar, ſchuß⸗ und 
hiebfeft mache. 

Mehrere folcher Urkunden find mit Blut unter- 
Ihrieben, gewöhnlich aber begnügt man fich mit einer 
mündlichen Verabredung, noch öfter, insbefonbere bei den 
Veibern, kommt das Bündniß durch eine Umarmung zu 
Stande. Der Zeufel gebt der Negel nach in eigener 
Perſon auf Werbung aus. Er trägt eine anftänbige, 
meift Schwarze Kleidung und auf dem fchwarzen Hut eine 
rothe Feder. Mitunter tritt er mit dem Degen an ber 
Seite als Junker, oft aber auch als fchlichter Bürger 
auf. Er führt fehr verfchievene Namen, die nach ben 
verfchievenen Ländern wechjeln: Alerander, Claus, Volland, 
Kasperle, Zuder, Hämmerlein, Teuerchen, Knipperbolling, 
Maitre, Berfil, Joly⸗Bois, gelegentlich nannte er fich auch 
recht hriftlich: Gabriel, Beter, Baul. Gewöhnlich ift er 
in jeder Beziehung geftaltet wie ein Menſch. Etliche 
Seren fagen jedoch, er habe einen Pferbefuß, einen Kuh⸗ 
fuß, einen Hafenfuß gehabt. Er trachtet danach, ein 
Weib allein zu treffen, redet mit ihr, macht ihr große 
Verfprechungen, gibt ihr auh, wenn fie in Noth iſt, 
Geld, welches fich indeß faft immer in Scherben verwan⸗ 
beit, und bethört die Unglüdliche, bis fie fich von ihm 
verführen läßt und ihn als Buhlen annimmt. 











286 Die Heren, Herenproceffe und Herenprebdigten. 


Der Teufelscultus ift dem Cultus ver Kirche nach⸗ 
gebildet. Zur förmlichen Aufnahme, die der Umarmung 
oft erjt mehrere Jahre ſpäter nachfolgt, tft eine Taufe 
nöthig. Sie wird unter Aſſiſtenz von Pathen mit Blut, 
Schwefel oder Salz vollzogen. Der Teufel verlangt von 
dem ZTäufling, daß er Gott, Ehrifto und der chriftlichen 
Religion abjagt, auf die ewige Seligleit Verzicht Teiftet, 
ihm als feinem Herrn Gehorfam ſchwört und ihm huldigt. 
Hierauf gibt er ihm einen Namen und brüdt ihm auf 
irgenbeinen Theil des Körpers das Herenzeichen. Nach 
den Ausſagen fpanifcher Deren zeichnet er in den Stern 
des linken Auges die Figur einer Kröte, damit andere 
Zauberer ihn erfennen, und verleiht vem Aufgenommenen 
bie Kunſt, ſich unfichtbar zu machen, in ein Thier zu 
verwandeln, zu fliegen und Schaden aller Art zu ftiften. 
Das Herenmal bat die Geſtalt eined Heinen Hundes, 
einer Ratte, oder eines andern Thiers ober Gegenftandes 
und macht die betreffende Stelle des Körpers unempfindlich. 

Zu den regelmäßigen VBerfammlungen mußten fich bie 
Heren und Zauberer einfinden; wer nicht kam, wurde 
entweder mit Gelb geftraft ober auch burchgeprügelt. 
Ort und Zeit der DVerfammlungen waren verfchieen 
nach ben einzelnen Ländern: ber Broden im Harz, bas 
Niefengebirge in Schlefien, der Infelsberg in Thüringen, 
der Heuberg in Schwaben haben in Deutſchland eine ge- 
wifje Berühmtheit erlangt. Aber auch Frankreich, England, 
Schottland, Spanien und Italien haben Berge und 
Wiefen, wo der Hexenſabbat gefeiert wird. Die Haupt: 
zeiten find die hohen Fefte der Chriften und die Wal: 
purgisnacht. Die Heren eilen entweder als Raten oder 
Hafen an den beitimmten Ort, ober fie beftreichen fid 
mit Salbe und reiten auf Böden oder Gabeln oder Beſen 
durch die Luft. Nach Ausiprechung ver Worte: „Obenaus 


Die Heren, Herenproceffe und Herenprebigten. 287 


und nirgends ein”, geht e8 zum Schornftein hinaus und 
auf dem gerabeften Wege zum Iuftigen Gelag. ‘Der 
Zeufel fpielt ven Wirth, aber feine Bewirthung ift nicht 
immer bie befte, dem er holt das Fleiſch vom Schind⸗ 
anger und Brot und Salz fehlen. Es fommt vor, daß 
reiche Hexen Würfte, Schinken und andere Lebensmittel 
mitbringen, ober daß fie auf Befehl ihres Meifters in 
bie Keller des nächften Orts fliegen und dort Wein holen. 
In einem „kurzen unb wahrhaftigen Bericht und erjchred- 
licher Zeitung von 600 Hexen, Zauberern und Teufels⸗ 
bannern, welche der Bifchof von Würzburg bat verbrennen 
laſſen“, Heißt e8: „Es bat auch die Zauberin bekannt, 
wie ihrer 3000 bie Walpurgisnacht bei Würzburg auf 
dem Kreydeberg auf dem Tanz geweſen, hat ein jeber 
bem Spielmann einen Kreuzer gegeben und haben auf 
bemfelben Tanz fieben Fuder Wein dem Bilchof von 
Würzburg aus dem Keller geftohlen.” Bei dem Mahl 
figen bie jungen, vornehmen und fchönen Deren in ber 
Nähe des Teufels, die alten, armen und häßlichen Deren 
mäfjen die Zeller abwaichen, Holz tragen, Gemüſe pußen 
und figen an Tiſchen für fih. Nach dem Efien geht 
ver Zanz los. Eine Here, die auf dem Kopfe fteht, dient 
als Lichtſtock. Man tanzt nach verſchiedenen Inftrumenten, 
bald nach einer Trompete, bald nach einer Querpfeife, 
bald nach einer Trommel oder Geige. Der Spielmann 
ift meift vermummt und fit häufig in den Zweigen eines 
Baums. Im einigen Fällen macht der Teufel felbft bie 
Muſik. Der Chor fingt:- 
Sarr, harr, Teufel, Teufel, fpring bie, fpring ba, 
Hüpf hie, hüpf ba, fpiel hie, fpiel be. 
In Schottland ift das Lieblingslied beim Ringeltanz: 


Cummer gang ye before, cummer, gang ye, 
If yewill dot gang before, cummer let me. 


288 Die Heren, Herenproceffe und Herenpredigten. 


Wenn eine Here beim Zanz fällt, fo jagt ihr Tänzer 
zu ihr: „Du wirft einen rothen Rod bekommen“, d. h. bu 
wirft ben Feuertod fterben. Iſt der Tanz zu Ende, jo fröhnt 
bie ganze Verſammlung der abjcheulichiten Wolluft. Zu: 
legt theilt der Teufel ein Pulver aus und befiehlt ven 
Hexen, e8 zum Verberben von Menſchen, Vieh und Felr- 
früchten zu gebrauchen. ‘Die Hexenwelt ift bem eben 
genau nachgebildet. Wenn man zufammenftellt, was bie 
Heren in mehrern Proceffen bekannt haben, fo findet man 
einen König und eine Königin, Generale, Fähnriche, 
Corporale, Geſchichtſchreiber, Rentmeiſter, Köche und 
Herenpfaffen. 

Es werden bie Gottesbienfte verhöhnt, Hochzeiten und 
andere Feſte gefeiert, nur müffen fi alle hüten, ben 
Namen Gottes oder Jeſu zu nennen, weil fonft die ganze 
Berfammlung im Nu verſchwindet. 

Der Teufel ift übrigens ein ſehr launiſcher Tyrannm. 
In dem einen Actenftüd wird er als ein verbrießlicer, 
mürrifcher Mann mit einer bumpfen hohlen Stimme ge 
fchilbert, der leicht grob wird und auch wol mit bem 
Stode breinfährt, in dem andern ift er ein fpaßhafter, 
Iuftiger Kauz, er läßt die Deren kopfüber fpringen, 
amufirt fih, wenn fie Purzelbäume fchlagen, und lad, 
daß ihm der Bauch ſchüttert. Schwediſche Hexen ver: 
fihern in einem berühmten Proceß, über den W. Scott 
und andere auf Grund ber Acten berichten, der Teufel 
jet einmal trank geworden und babe fih von Hexen 
Schröpfköpfe ſetzen laſſen, aber bald einen Rückfall be 
fommen und fei auf kurze Zeit gejtorben. ‘Die nämlicden 
Heren erzählen, der Teufel habe Teibliche Söhne und 
Töchter zu Blafulla in Schweden verheirathet, dieſe zeugten 
aber nur Schlangen, Kröten und Eidechſen. 

Am anſchaulichſten ift das Bild, welches bie 1610 zu 


Die Heren, Herenproceffe und Herenprebigten. 289 


Logroño im Königreih Navarra verurtheilten 29 Heren 
von dem Herenfabbat gegeben haben. ‘Die Heren ver- 
fammeln fich jeden Montag, Mittwoch und Freitag, außer⸗ 
dem an ben großen chriftlichen Tefttagen auf der Bode 
wiefe. Der Teufel erfcheint in der Geftalt eines finftern, 
zornigen, fehwarzen, bäßlichen Mannes. Er ſitzt auf einem 
mit Gold verzierten Thron von Ebenhol; und trägt eine 
Krone von Heinen Hömern. Zwei große Hörner bat er 
auf dem Hinterfopfe, ein brittes auf ber Stirn. Mit 
tem leßtern erleuchtet er den Verſammlungsplatz und 
zwar ift das Licht nicht fo hell wie das ber Sonne, aber 
heller ale das des Mondes. Aus den großen Augen 
iprüben Flammen, der Bart gleicht dem ber Ziege, die 
ganze Figur fcheint halb Menich, halb Bock zu fein. An 
den Fingern bat er Krallen wie ein Raubvogel, feine 
Füße ähneln den Gänfefühen. Bei Eröffnung ver DVer- 
ſammlung fällt alles auf pie Knie und betet ihn an, 
man nennt ihn Herrn und Meifter, wiederholt die bereits 
bei der Aufnahme in den Bund ausgefprochene Losſagung 
vom chriftlichen Glauben und Hulbigt ihm durch obfcöne 
Küffe. An den Dauptfeiertagen der Tatholifchen Kirche 
beichten die Heren und Zauberer dem Zeufel ihre Sin- 
ten, die darin beftehen, daß fie nicht fo viel Schaben ge- 
ftiftet haben, als ihnen zu ftiften möglich war. Der 
Teufel macht ihnen Vorwürfe, geißelt fie nach Umſtänden 
und ertheilt ihnen Abjolution, wenn fie geloben, fich zu 
befiern. Mit Inful und Chorhemd, Kelch, Batene und 
Miffale nimmt der Teufel eine Parodie der Meffe vor. 
Er warnt die Anweſenden vor der Rückkehr zum Chriften- 
thum, verheißt ihnen ein feligeres Paradies, als das ber 
Chriften ift, und empfängt auf einem fchwarzen Stuhl 
figend die Opfergaben, welche in Kuchen und Weizen- 
mehl, anderwärts auch in Geflügel ober Geld beftehen. 
XXL 19 


290 Die Heren, Herenproceffe und Herenprebigten. 


Hierauf betet man ihn wieder an und küßt ihn nochmals, 
worauf er, während ihm fein Famulus den Schweif auf: 
hebt, in beftialiicher Weife fein Wohlgefallen ausprüdt. 
Dann reicht er das Abendmahl in beiverlei Geftalt. Die 
Hoftie gleicht in Spanien einer Schuhfohle, iſt ſchwarz 
und berb, in Frankreich ift es bie Scheibe einer ſchwarzen 
Rübe, in Deutichland fchmedt fie wie faule® Holz. Die 
Flüffigfeit im Kelch ift bitter umd efelerregend. Wach ber 
Meſſe umarmt ver Teufel die Weiber, und wenn Mitter: 
nacht vorüber ift, gebietet er allen, nach Haufe zurüdzu- 
fehren und nach Kräften Böfes zu thun. Die Sitzung 
muß aufgehoben fein, ehe ver Hahn kräht. 

Der Teufel macht ven Heren auch in ihren Wohnungen 
feine Befuche, und das Hleinfte Loch dient ihm als Eingang. 
Damit der Mann es nicht merkt, wenn feine Frau zum 
Herentanze reitet, verſenkt ihn der Satan in einen feften 
Schlaf, oder es gefellt ſich eim Geift zu ihm, ber bie 
Geftalt feiner Gattin annimmt. 

Aus den teufliihen Umarmungen gehen allerlei Mi 
geburten: Schlangen, Mäufe, Würmer, Efben u. ſ. w. her⸗ 
vor. In einem Urtbeil des leipziger Schöppenftuhles 
lefen wir: „Hat die Gefangene befannt und geftanben: 
wenn fie mit ihrem Buhlen zu fcheffen gehabt, hätte fie 
weiße Elben und berfelben allezeit zehn befommen, fo ge: 
lebet, ſpitzige Schnäbel und ſchwarze Köpfe gehabt und 
wie die jungen Raupen bin umb wieber gekrochen.“ Dice 
Elben dienten als vorzügliche® Zaubermittel. Außerdem 
gebrauchten die Hexen Salben, Kräuter, Pulver und Yor- 
mein, e8 genügte aber auch ein Hauch oder ein Blid. 
Die Heren im Bisthum Bamberg machen mit emem 
rofafarbigen Pulver Wind, im Buſecker Thale melfen fie 
fremde Kühe mit einer Spinvel, die als corpus delicti 
bet ven Acten liegt, fie zaubern durch Speifen, welche fie 











Die Heren, Herenp oceffe und Herenprebigten. 291 


verabreichen, Kröpfe, Geſchwüre und Krankheiten aller 
Art an, fie erregen durch ihre Pulver Gewitter, ſie töbten, 
indem fie 3. B. in England ven Handſchuh eines jungen 
Lords fieden, burchitechen und vergraben; durch Kochen 
gewiffer Kräuter verderben fie das Obft, den Wein, er- 
zeugen Engerlinge, Mäufe, Läufe und anderes Ungeziefer; 
durch Anlegen eine® Gürtels verwandeln fie ſich in Thiere; 
jo befannte in Frankreich ein Herenmeifter: „que le diable 
lui avait donne le choix, de devenir, quand il vou- 
drait ou coup, ou lion, ou l&eopard, mais il avait 
prefere le loup.” Die Heren zaubern den Leuten auch) 
Schmeißfliegen, Kellerefel, Glas, Nägel, Eifenftüde, Haare 
u. |. w. in ben Leib, und noch 1782 wirb in dem zu 
Glarus gefällten Urtheil wiver die Dienftmagp Anna 
Gödi behauptet: „Die Angeichuldigte habe die Tochter des 
Dr. Tſchudi behert, ſodaß laut eidlichen Zeugniffen ber 
Aeltern und anderer dabei gewejenen Ehrenleute in etlichen 
Zagen über 1000 Guffen von unglaublicher Gattung, drei 
Stückli krummer Eifendraht, zwei gelbe Häftli und zwei 
Eifennägli unbegreiflicherweife aus dem Mund gegangen 
find.” 

In fehr vielen Actenftüden finden wir Klagen barüber, 
daß die Viehftälle und das Vieh bezaubert worden feien. 
Ein vor uns Liegender Proceß vom Jahre 1687 beginnt 
mit der Anzeige eines Bauers: bie Nagelin habe feine 
Schweinsköfen vergeftalt bezaubert, daß er fein Schwein 
darin num fchon feit zwei Jahren beraufbringen könne, 
fondern diejelben alle jterben müſſen. Ein anderes Acten- 
ftüd beſchuldigt ein Weib, daR es den Kühen die Milch 
genommen babe. 

Seren und Zauberer dürfen dem «hriftlichen Gottes» 
dienft beimohnen und auch zum heiligen Abendmahl gehen, 
aber fie müffen während des erftern ausfpeien und unan- 

19* 


299 Die Heren, Herenproceffe und Herenprebigten. 


ftändige Geberden machen und beim Abendmahl womöglich 
die Hoftte aus dem Munde nehmen, damit fie vom Teufel 
geichändet und zu Zaubermitteln benutt werben kann. Wer 
beim Genuß des Saframents des Altard mit der Dank 
eine Bewegung nach dem Munde machte, oder gar ben 
Mund abwifchte, galt als ver Hererei verdächtig. Ein 
vergilbtes Actenfascifel von 1689 „in verbächtigen Dererei- 
ſachen contra Chriſtoph Zothdoffeln in Rockhauſen“ (einem 
Dorf zwiſchen Erfurt und Arnſtadt) hebt an mit der Aus⸗ 
ſage eines Zeugen: „er jet gewahr geworben, daß bejagter 
Zothboffel, fo der legte unter den Mannsperfonen bei 
der Communication gewejen, mit ber Hand in den Schib- 
ſack gefahren, das Schnubtuch herausgezogen und bamit 
an die Nafe gefahren, als wenn er salvo honore ſich 
ichnenzete, hernach an den Mund damit bin» und ber- 
gefahren, felbiges zufammengedrüdt und wieder zu fi 
geitedt. So geſchehen nach empfangener Hoftie, ehe ihm 
ber Kelch gereichet worden. Ob er nun zwar die Hoftie 
nicht gejehen, fo hielte er doch davor, es fei nicht anders, 
er habe jelbige wieder herausgenommen, denn bei jetzigem 
gelinden Wetter wäre e8 ohne Noth, daß er in der Kirche 
bei Empfahung des heiligen Abenpmahles des Schnub⸗ 
tuches gebraucht hätte.” 

Zothboffel, gegen ven ein ſchwerer Proceß eingeleitet 
wurde, hatte von Glück zu jagen, daß er dem Scheiter⸗ 
haufen entging. 

Wir haben im Borftehenven ein Bild von dem Heren- 
glauben und der Hererei gegeben, aus welchen man er- 
fieht, daß Das Ganze eine Diabolifche"Baropie bes Chriften- 
thums ift. Der Teufel ift aber der „Affe Gottes”, und 
Soldan, ber verdienftuolle Gefchichtfehreiber der Heren- 
proceffe, jagt jehr mit Recht: „Das Chriſtenthum ift 
Öotteßverehrung, die Hererei Teufelscult. Der Chrift 





Die Heren, Herenproceffe und Herenprebigten. 293 


jagt dem Zeufel ab, bie Here Gott und den Hei— 
ligen.” 

Wir müſſen nun noch erwähnen, daß bie Zahl ver 
Hexen, die auch Unholdinnen heißen, weit größer tft als die 
Zahl der männlichen Zauberer. Es erklärt fich dies aus 
verſchiedenen Urfachen: zunächit aus der Heiligen Schrift 
ſelbſt. Eva wurde von ber Schlange verführt, deshalb 
nahm man an, daß bie Töchter Eva's ebenfall® ben 
Lodungen Satan's im allgemeinen zugänglicher jeien ale 
die Männer. In einer zu Schwäbifh>Hall gehaltenen 
Herenprebigt, die wir im Anhange mittheilen, lefen wir: 
„der Teufel weiß, welche er angreifen foll, als nämlich) 
diejenigen, fo feine Lift und Tücke nicht fo Teichtlich mer- 
fen. Und fonderlich, weil ihm als einem vortbeififchen 
Geifte unverborgen, daß das Weib ein fchwächer Merf- 
zeug, er e8 auch im Paradieſe mwohlerfahren, jo greift er 
bie Weibsbilder am meiſten mit folcher Teufelei an und 
werben viel mehr Unholden-Weiber al8 Unholden-⸗Männer 
gefunden.” 

Zum zweiten ift e8 eine befannte Sache, daß das 
weibliche Gefchlecht zum Myſtiſchen und auch zum Aber- 
glauben mehr geneigt ift als das männliche. Auch aus 
diefem Grunde fand man eine größere Zahl von Frauen, 
bie im Verdacht ber Hererei ftanden, und als es erft in 
den Bolfsglauben übergegangen war, daß ber Teufel, den 
man fich doch immer als ein möännliches Weſen dachte, 
ven Weibern nachftelle und fie zu umarmen trachte, jchoffen 
ganz natürlich die Heren wie die Pilze aus ber Erbe. 


294 Die Heren, Herenproceffe und Herenprebigten. 


2. Die Herenprocefie. 


Die Kirche, welche in früherer Zeit die Zauberer mit 
großer Milde behandelte, fie aus Gottes Wort belehrt, 
nur mit kirchlichen Bußen und äußerftenfall® mit bem 
Bann belegt hatte, wechjelte fpäter ihr Syſtem, weil fie 
bie Zauberei mit der Ketzerei identificirte und in ben 
Heren Teufelsanbeter erblickte. Ste fette, wie bereits 
erwähnt, Keterrichter ein, behauptete, daß der Proceß 
wegen Zauberei, die Abfall von Gott fei, vor die geift- 
fichen Gerichte gehöre, und ftritt mit den firrchtbaren 
Waffen der Inguifition gegen die Heren. 

In Deutſchland konnte die Inquiſition nicht vet 
feften Fuß faffen und hörte faft ganz auf, als die Refor⸗ 
mation im 16. Sahrhundert fi) Bahn brach. Die Pre 
ceffe gegen die Heren wurden beshalb ber Regel nad 
por den weltlichen Gerichten geführt. Die Hexen ftanden 
fich jedoch dabei nicht beffer; denn bie Richter fetten eine 
Ehre darein, vie Welt von ben Unholden zu befreien, und 
hielten es für ihre heilige Pflicht, die Zauberer zu ver 
tilgen. Dennoch würde es unmöglich gewefen fein, jo 
zahlloſe Hexen zu entveden, wenn nicht im 15. Yahr- 
hundert das Strafverfahren völlig umgeftaltet worden 
wäre. 

Das alte Beweisſhſtem wurbe verlaffen, man ver 
langte vor allem das Geſtändniß, inguirirte anf ein 
ſolches und griff nach dem Vorgang der geiftlichen Gerichte 
und ber italienischen Gerichtspraxis zu dem entfeglichten 
Mittel, Geftänpniffe zu erzwingen: zur Folter. 

Zunächſt wurde es Regel, auf bloße Denunciation bie 
Unterſuchung einzuleiten und pie Denunciation geradezu 
zu veranlaffen. Die Ketzerrichter forberten durch öffent: 
fihe Anfchläge bei Strafe des Kirchenbanns jebermann 





Die Heren, Herenproceffe und Herenprebigten. 295 


auf, dev Zauberei verbächtige Perfonen anzuzeigen; fie 
verfprachen, ven Namen bes Angebers zu verjchweigen, 
ſtellten auch woblverichloffene Käften mit einem Spalt im 
Dedel auf, damit anonyme Denunciationen hineingeworfen 
werben könnten. Die weltlichen Richter citirten von Zeit 
zu Zeit die Schöffen vor fih und eraminirten fie, ob 
nicht Heren in ihren Gemeinden wären, ja fie ließen bie 
Leute zunächſt durch die Geiftlichen in bie gehörige Furcht 
vor den Heren fegen, und dann wurben fie veranlaßt, Die 
verbächtigen Perſonen anzugeben. Als Indicium ber Heren 
galten die fonverbarften, zum Theil wiverjprechenpiten 
Dinge: vor allem böfer Leumund, die Ausfage einer andern 
Here, ein Törperliches Gebrechen, rothe Augen, ein böfer 
Blid, große Gelehrſamkeit, fchnell erworbener Neichthum 
u. ſ. w. In einem berühmten Buche, welches zur Blüte- 
zeit der Hexenproceſſe gefchrieben wurde, leſen wir: 
„Entweder Saja hat ein böfes, leichtfertiges, oder ein 
frommes, gottfelige® Leben geführt. Iſt jenes, fo iſt's ein 
großes Indicium, denm wer böfe ift, kann leicht böfer und 
je länger, je weiter geführt werben. Iſt's dieſes, fo iſt's 
fein geringes Indicium, dann fagen fie: jo pflegen fich 
bie Heren zu fchmüden und wollen gern allezeit vor die 
frömmften gehalten fein. Da tft denn ver Befehl, daß 
man mit der Gaja zu Loch ſolle. Und ift ſtracks 
wieder ein nenes Imbicium: entweder die Gaja gibt zu 
verfteben, daß fie fich fürchtet, ober geberbet fich ımer- 
ſchrocken. Spürt man Furcht, fo fagen fie, das böfe 
Gewiſſen macht fie bang. Würchtet fie fich nicht, fo Heißt 
es, das pflegen bie Deren zu thun. Der Teufel macht 
fie fo muthig.“ 

Ein lothringiſcher Geheimrath und Oberrichter Teiftete 
jogar noch Stärferes, er erklärte gerabezu: „Das Weib 
iſt verbächtig, wenn es nie und wenn es oft in bie Kirche 








296 Die Heren, Herenproceffe unb Herenprebigten. 


geht, es iſt ein Indicium, wenn fein Leib warm und wenn 
er kalt ift; die Salbe der Heren iſt giftig, und fie ilt 
unſchädlich; giftig, wenn fie die Here aufftreicht, unſchäd⸗ 
lich, wenn fie in die Hände bes Gerichts fällt.“ 

Lagen Indicien vor, die man hiernach ganz nad Be— 
lieben haben konnte, fo wurde die Verdächtige verhaftet 
und Hausſuchung bei ihr gehalten. Fand man bei ihr 
eine Salbe, ein Fläſchchen, Kräuter over dergleichen, jc 
wurden biefe Gegenftände in Beichlag genommen und aß 
ein neues Indicium den Acten beigefügt. Das Gefän- 
niß, in welches man bie vermeintliche Here brachte, war 
ein beſonders hartes; es gab an manchen Drten eigene 
Herenthürme und Drudenhäufer. Hier mwurben bie Ge: 
fangenen fejtgejchloffen, jobaß fie weder Arne noch Füße 
regen fonnten. 

Der Nichter pflegte, ehe er die Angeſchuldigte ver- 
hörte, die Zeugen zu vernehmen, und fuchte hauptſächlich 
feftzuftellen, welche Miffethaten von der Here verübt wer: 
ben wären. Wie man ven Cauſalzuſammenhang leicht⸗ 
fertig feftftellte, wird am beften aus etlichen Beispielen 
erhellen. Ein Zeuge fagt aus, daß fein Vieh ganz plötzlich 
geftorben fei, ein anderer bat furz zuvor bie im Dorfe 
als Here verbächtige Weibsperfon vor dem Stall gefehen. 
Died war genügend, um ihr die Schuld an dem Unglüd 
beizumeffen. Ueber eine Flur ift ein Hagelwetter ge: 
fommen, man batte die Tochter einer verbrannten dere 
unmittelbar zuvor auf dem Felde erblidt; natürfich muß 
fie das Hagelwetter herbeigezaubert haben. Kine Nach— 
barin bringt einer Wöchnerin eine Wochenfuppe, die legtere 
ißt zu viel und wird infolge deſſen frank: die Nachbarin 
muß es büßen, denn fie hat die Wöchnerin behert. 

Ein Mann hat von einer Frau einen Sad geichenft 
erhalten, mit bemfelben jeine Beinfleiver gefüttert und 


Die Heren, Herenproceffe unb Herenprebigten. 297 


bald darauf einen Schaden befommen: ohne Zweifel ift 
er bebert und bie Schenfgeberin wird verbrannt. 

In einem Wortwechſel ift von einer Weibsperſon vie 
Drohrede gefallen: der N. N. folle noch an fie denken, 
furze Zeit nachher befällt ihn ein Schmerz in ber Hüfte 
und ber unwiſſende Arzt kann ſich die Krankheit nicht er- 
Hären. Cine weife Surijtenfacultät überzeugt fich, daß 
bie Here es ihm angetban hat, und verurtheilt fie zum 
Tode. 

Das alles ſind Beiſpiele aus jetzt noch vorhandenen 
Acten über Hexenproceſſe. 

Das Verhör der Angefchulpigten begann gewöhnlich 
mit Anfragen wie biefe: „Ob die Inquifitin glaube, 
daß es Heren gäbe?” Eine Frage, die nur in dem erften 
Jahren, in denen dieſe Procefje überhaupt auflamen, ver⸗ 
neint wurbe, benn es währte nicht lange, jo galt bie 
Eriftenz der Heren im ganzen Volke für ausgemacht. 

„Weshalb die Inguifitin an dem und bem Tage bes 
Morgens fo lange gefchlafen habe?‘ 

Es war bies injofern ein Indictum, als man baraus 
ſchloß, fie babe die Nacht auf dem Hexentanze burch- 
ſchwärmt und ſei deshalb zu müde gewejen, um rechtzeitig 
aufzuiteben. 

‚ober die Ingquifitin die Wunden und Striemen 
am Leibe babe?” 

Man nahm an, ver Teufel habe fie blutig gefchlagen. 

„Weshalb ihre Garten- und Feldfrüchte beffer gediehen 
al8 die anderer Leute?” 

„Was Inquiſitin vor dem Gewitter im Felde zu thun 
gehabt?” 

‚Barum ihre Kühe fo viel Milch, die des Nachbars 
aber fo wenig gäben?” 

„Weshalb Inquifitin den N. N. berührt habe? u. |. w.“ 





298 Die Heren, Herenproceffe und Herenpredigten. 


Geftand die Angeſchuldigte nicht ohne weiteres em, 
baß fie eine Here fet, fo redete ihr ber Richter zu und 
heute fich, ven Rathichlägen des „Hexenhammers“ folgend, 
nicht im minbeften, die Aerımfte zu belügen und zu be» 
trügen. Er fagte 3. B. zu ihr: „Geftehft bu, fo mwerbe 
ich Dich nicht zum Tode verurtheilen.” ‘Dabei jollte er 
fih nah dem „Derenhannner” denken: ein anderer wirb an 
meiner Stelle das Todesurtheil fällen. Ober er vers 
ſprach ihr das Leben, bezog biefes DVerfprechen aber auf 
bas ewige Leben. 

Erfolgte Fein Bekenntniß, jo wurde der Unglüdlichen 
von allen Seiten, auch von ben Geiftlichen pie Hölle 
heiß gemacht und ihr vorgeftellt, wie fürchterliche Qualen 
ihrer warteten. Der Henker entkleidete fie, ſodaß fie ganz 
nadt daftanb, er jchor oder jengte ihr alle Haare am 
Körper ab, für welches Geſchäft officielle Taren in vielen 
Stäpten beftanden. In Nürnberg 3. B. bekam er bafür 
1 1. 30 Kr. Hierauf wurde eine genaue Unterfuchung 
angeftellt, ob bie verbächtige Perſon ein Zaubernrittel 
verftectt an ihrem Körper trüge und ob man ein Heren- 
zeichen fände. Band man ein Mal, einen Leberfled ober 
vergleichen, fo wurde mit einer Nabel bineingeftochen. 
Wenn fein Blut fam ober fein Schmerzenslaut erfolgte, 
fo war e8 gewiß ein stigma diabolicum, denn biefes 
machte ja, wie wir willen, ben betreffenden Körpertbeil 
unempfindlich. Gelegentlich betrog ber Henkersknecht und 
jtach, um die Inguifitin zu retten, neben das Mal, ober 
drückte, um fie zu verberben, mit dem Knopf der Nabel 
und nicht mit der Spike barauf, ſodaß natürlich Weber 
Blut floß noch Schmerz empfunden wurde. 

Man nahm au, um ſich Gewißheit zu verichaffen, 
andere Proben vor, indeß wurben fie nicht in allen Fälfen 
angeftelit und waren verichieven nach Zeit und Ort. Am 





Die Heren, Herenprocefjfe und Herenpredbigten. 299 


bäufigften fommt in den Acten die Wafferprobe vor. 
Es galt als Glaubensſatz, daß dad Waſſer durch bie 
Taufe des Heilands im Jordan geheiligt ſei und nichts 
Teufliſches annehme, deshalb komme jede Hexe, die man 
untertauche, wieder an die Oberfläche und ſchwimme. 

Man band nun der Angeſchuldigten Hände und Füße 
kreuzweiſe zuſammen und ließ ſie an einem um den Leib 
gebundenen Strick dreimal hinab in den Fluß oder Teich; 
ſank ſie unter, ſo ward fie für unſchuldig, ſchwamm ſie, 
ſo ward ſie für ſchuldig angeſehen. Freilich kam faſt 
alles auf den guten oder böſen Willen der Henkersknechte 
an, die beftimmte Kniffe hatten und das Unterſinken oder 
das Auftauchen zu bewerkſtelligen verſtanden. Das fo- 
genannte Hexenbad hat ſich in der Vollsſitte ſehr lange 
erhalten. Noch 1823 kam es in den Niederlanden vor, 
daß eine Frau, die der Hexerei verdächtig war, ſich dazu 
bereit erklärte und am ſelben Tage in Gegenwart eines 
zahlreichen Publikums die Probe in einem nahen Waſſer 
beſtand. | 

Noch merfwürbiger war die Gewichtsprobe. Man 
maß den Hexen, die ja fliegen konnten, eme fehr geringe 
Schwere bei und hielt es für ein ficheres Zeichen ver 
Schuld, wenn eine Weibsperfon nicht das normale Gewicht 
hatte. Auch hierbei waltete grober Betrug ob. In Ungarn 
wurbe eine Frau hingerichtet, von der man behauptete, 
fie habe nur 1%/, Ouentchen gewogen; in England wog 
man eine Verdächtige gegen die 12 Pfund ſchwere Kirchen- 
bibel und ließ fie frei, weil die Bibel leichter war ale 
die Frau. An vielen Orten diente die Stabtwage zu 
biefem Geichäft, ven beften Ruf aber genoß die Wage 
von Dudewater. Kaiſer Karl V. hatte, wie die Sage 
behauptete, ein Privilegium ertheilt, daß alle andern 
Proben wegfallen follten, wenn jemand bejcheinigen fünne, 





300 Die Heren, Herenproceffe und Herenprebigten. 


daß er in Dubewater amtlich geivogen fei und daß tus 
Gewicht dem Umfange feines Körpers entiprochen hate. 
Aus Holland, Köln, Münfter und Paberborn ftrömten 
ber Hererei verbächtige Perjonen nach Dubewater, Tießen 
fih wiegen, zablten ein hübſches Simmchen Geld um 
empfingen ein ftabträthliches Zeugniß, welches überall 
rechtlichen Glauben hatte. Im Iahre 1754 war die Wage 
zum legten mal in Thätigkeit. 

Ferner finden wir die Thränenprobe in den Acten 
erwähnt. Die Here wurde ausgefleivet, man zeigte ihr 
die Marterwerlzeuge und befchiwor fie bei ber heiligen 
Dreifaltigfeit und ven bittern Thränen, die Jeſus Ehriftus 
am Kreuze geweint, auf der Stelle reichliche Thränen zu 
vergießen. Entiprach fie der Aufforderung, fo war es ein 
Zeichen von Unſchuld; man fabelte nämlich, eine Here 
fönne entweder gar nicht weinen oder böchften® mit dem 
rechten Auge drei Thränen vergießen. Das Hauptmittel, 
ein Geſtändniß herbeizuführen, war, wie wir ſchon jagten, 
bie Zortur. | 

Nach dem beftehenvden echte follte der Angeflagte 
freigefprodhen werben, wenn er die Folter eine Stunde 
lang aushielt. Dann durfte die Folter nur bei neuen 
ſchweren PVerbachtsgründen wiederholt werden. Wenn 
jemand während der Folter befannte, follte dennoch eine 
Verurtheilung nur ftattfinden, bafern die eingeftandenen 
Thatfachen an fich glaubwürdig wären und bei forgfältiger 
Nachforſchung wahr befunden würben. 

Hätten die Gerichte diefe Vorſchriften ftreng befolgt, 
jo würben nur wenige Seren verbrannt worben fein, 
aber man Half fih und erflärte die Hexerei für ein 
erimen exceptum, für ein Ausnahmenverbrechen, unt 
jagte: bei biejem ſchweren, im Verborgenen fchleichenten 
Delict fet der Richter nicht an die gefeßlichen Formen ge: 


Die Heren, Herenprocefje und Herenprebigten. 301 


bunden, vielmehr berechtigt, nach feinem Ermeſſen alles 

aufzubieten, damit es entbedt werde. Man folterte des- 
halb auf die elenveften Gründe hin, namentlich ſchon dann, 
wenn eine andere Unglücliche auf der Marterbanf aus- 
gejagt hatte, die und jene fei mit ihr auf dem Hexen⸗ 
jabbat gewejen. Und man folterte, nicht, wie e8 in ben 
Erkenntniſſen gewöhnlich hieß, „menſchlicher Weife‘‘, „ziem⸗ 
licher Maße‘, fondern man ging oft noch über bie „volle - 
Schärfe“ hinaus, dann fagte man: der Teufel hilft ben 
Heren die Pein erbulden und macht fie unempfindlich. 
Die Acten enthalten geravezu gräßliche, haarſträubende 
Martern. Nicht genug, daß man brei bis vier Stunden 
in einem fort folterte und daß bie Nichter die Delinquentin 
öfter mit großen Gewichten an ben Beinen beſchwert an 
ber Leiter hängen ließen, während fie ſelbſt fortgingen 
und fohmauften, man folterte auch ohne neue Indicien 
biefelbe Perfon öfter und fagte, es ſei das nicht eine 
Wiederholung, die ja verboten war, fondern eine 
Vortjegung der Zortur. Die gewöhnlichen Qualen 
wurben verfchärft, indem man jpitige Keile zwiſchen vie 
Nägel an Händen und Füßen trieb, brennenden Schwefel 
und Pech auf ven nadten Körper träufelte, die Gefangene 
nicht Schlafen Tiep und im Kerker umbertrieb, bis fie 
wunde Füße hatte, die Nägel, wie dies König Jakob I. 
von England, ein beſonders eifriger Streiter gegen bie 
Seren, anorbnete, mit Schmiedezangen abreißen Tief, 
eigene Herenftühle mit 150 fingerlangen Spiken erbaute 
u. ſ. w. Es ift nachweislich, daß ein Zauberer in Weft- 
falen, ven man befchuldigte, er habe fih in einen Wer- 
wolf vertvandelt, zwanzig-, ein Weib in Baden zwölf-, 
die Tochter eines Amtmannd in Ulm fiebenmal gefoltert 
wurden. Won einem alten Weibe, die alle Grabe der 
Zortur ausftand und doch nichts befannte, wird gefagt: 





302 Die Heren, Herenproceffe und Herenprebigten. 


„Es war fo viel, als hätte man in einen alten Pelz gehauen.“ 
In Betreff eines fechzehnjährigen Mädchens bemerkt das 
Protofolf naiv: „Es ift ein Wunder, wie dieſes junge 
Blut fo lange aushalten Tann.“ 

Unter den Folterqualen fingen etliche an die Augen 
zu verbreben, convulſiviſch zu lachen, etliche fchliefen be: 
täubt ein ober fielen in Ohnmacht und in Starrfrämpfe. 
Die Richter und die Henker hielten dies für ein Kumft- 
ftüd des Teufels, der fie verhöhnen wolle, und folterten 
befto graufamer. Viele gaben ven Geift auf. Die Richter 
und bie Henker erflärten, der Teufel babe dem Delin- 
quenten das Genid umgebreht; mitunter hatten fie den 
Satan in Geftalt einer Schmeikfliege, eines Kankers jo: 
gar in ver Marterlammer jelbft geſehen. Der berüßmte 
ſächſiſche Juriſt Carpz on jagt in einem Urteil: „Weil 
aus den Acten jo viel zu befinden, daß ber Teufel auf ber 
Zortur der Margaretha Sparrwit fo hart zugefet, daß 
fie, al® fie faum eine halbe Stunde an bie Leiter ge: 
ipannt, mit großem Gefchrei Todes verfahren und ihr 
Haupt gefenfet, daß man gejehen, daß fie der Teufel in- 
wendig im Leibe umgebracht, inmaßen benn auch daraus 
abzurechnen, daß es mit ihr nicht richtig geivefen, weil 
fie bei der Tortur gar nichts geantwortet und fo wird 
ihr todter Körper unter dem Galgen durch ven Abbeder 
billig begraben.” 

In den bei weiten meisten Fällen geftanben bie An: 
gefehuldigten natürlich auf der Folter. Sie fagten Ja zu 
allem, was man fie fragte, und gaben auf Verlangen aud 
andere Berfonen als Hexen und Unholde an. Die Geftänd- 
niffe enthielten, was jebermann über ben Teufelöbund und 
bie Teufelsbuhlſchaft wußte. Es wurbe das früher verftodte 
Zeugnen auf den Teufel gejchoben, der während ver Folter 
ben Richtern unfichtbar dabeigeſtanden babe, und der ganze 








Die Heren, Herenproceffe und Herenprebigten. 303 


vem Volke jehr bekannte Herengreuel mit Anwendung auf 
die eigene Perſon erzählt. Als Mitſchuldige wurden ge- 
mwöhnlich ſolche Leute angegeben, die im Verdacht ber 
Hererei ftanden, oder ſolche, deren Namen der Richter 
durch Suggeifivfragen hervorlodte. In einigen Fällen 
gaben die Unglüdlichen, um fich zu rächen, ihren Henker 
als Zauberer an. Es iſt beiwiejen, daß infolge deſſen mehr 
als ein Henker gefoltert und nach abgelegtem Belenntnif 
verbrannt worden ift. Defter haben bie gequälten Weiber 
auch die Richter und bie Priefter ver Hexerei bezeichnet. 
Deshalb heißt es in der erwähnten Herenprebigt: ‚Wenn 
fie peinlich geitraft werben, geben fie auf Einblajung 
ihres Meifters, ber ein Lügner ift, fromme, unſchuldige 
Lente an, die folcher Teufelei von Herzen feind find.” 
Die Richter hatten freilich fehr wirkſame Mittel, fich ſelbſt 
und ihre Freunde vor derartigen Beſchuldigungen zu 
ſchützen, fie ließen dieſelben nicht protofolliren, ober ſtärker 
foltern, bi8 die Here alles wieber zurüdnahm. 

Hatte bie Angeflagte auf ver Folter geftanden, fo be- 
ſaß das Geſtändniß freilich noch feine Beweiskraft, es 
mußte vielmehr freiwillig wiederholt werden. Nun ge: 
ſchah es allernings jehr häufig, daß die Inquifiten, wenn 
bie Schmerzen ber Zortur vorüber waren, mwiberriefen un 
rundheraus erklärten, alles, was fie befannt, ſei nur Durch 
die ausgeftandenen Martern erpreft. Die unausbleib- 
fiche Folge hiervon war die Wieverholung und Schärfung 
der Folter, bis der Widerruf zurüdgenommen unb von 
neuem Geftänpniffe abgelegt wurden. Manche Unglüd- 
liche geſtand und wiberrief abwechſelnd ſechs⸗, ſieben⸗, acht- 
und zehnmal, fie wurde ſechs⸗, fieben-, acht- und zehnmal 
gemartert, bis fie endlich einſah, daß ihr doch alles nichts 
half. Run ergab fie fih in ihr Schickſal und räumte 
auch in der Urgiht — fo nammte man das ber Folter 


304 Die Heren, Herenprocefje und Herenpredigten. 


nachfolgende Belenntnig — ein, was man verlangte, und 
fagte mit frecher Stirn denen, bie fie fälfchlich ale Mit- 
fehuldige angegeben, bie abfurbeften Dinge in das Gefidt. 
Biele entleibten fich felbft, um den Dualen zu entgehen, 
viele geftanden freiwillig, was man begehrte, denn fie 
wußten, was ihrer wartete, und blieben bei ihren un- 
wahren Geftänpniffen auch dem Beichtvater gegenüber, weil 
fie fürchteten, der BPriefter werbe einen etwaigen Wider⸗ 
ruf dem Richter anzeigen oder fie nicht zum Abendmahl 
laffen. Hatten fie ein beſonderes Zutrauen zum Geift- 
lichen, fo betheuerten fie dieſem ihre Unſchuld, befchworen 
ihn aber, e8 dem Nichter nicht zu binterbringen, damit 
fie nicht von neuem gequält würden. Cine eingeferferte 
Englänberin geftand alles und bat nur um baldige Hin- 
richtung. Auf dem Schaffot redete fie mit lauter Stimme 
zum Bolt: „Wißt ihr alle, die ihr mich heute feht, daß 
ih al8 Here auf mein eigenes Bekenntniß fterbe und daß 
ih alle Welt, vor allem aber die Obrigkeit und bie Geift- 
fihen von der Schuld an meinem Tode freifpreche. Ich 
nehme fie gänzlich auf mich, mein Blut fomme über mid: 
Und da ich dem Gott des Himmels bald werde Reden: 
haft ablegen müffen, jo erkläre ich mich fo frei von ber 
Hererei wie ein neugeborenes Kind, ba ich aber, von 
einem boshaften Weibe angeklagt, unter dem Namen einer 
Here ins Gefängniß geworfen, von meinem Manne und 
meinen Freunden verleugniet warb und feine Hoffnung zur 
Befreiung und zum ehrenvollen Fortleben in der Welt mehr 
hatte, fo leiftete ich durch Verlodung des Böfen ein Geftänt- 
niß, das mir vom Leben hilft, veffen ich überbrüßig bin.“ 

Der Jeſuit Friedrich Spee, ber tapfere Kämpfer 
gegen die Hexenproceſſe, deſſen Haar vorzeitig gebleicht 
war, weil er Hunderte von Hexen zum Scheiter⸗ 
haufen begleitet und jo namenlofen Sammer mit angefehen 





Die Heren, Herenprocefje und Herenprebdigten. 305 


hatte, bezeugt: „Es hätten fich einfältige Leute auf feine 
beichtväterlichen Fragen aus Furcht vor wiederholter Tor- 
tur anfänglich allerdings für Hexen ausgegeben, aber als 
fie fich überzeugt, daß fie von ihm nichts zu beforgen, 
hätten fie Zutrauen gefaßt und aus ganz anderm Tone 
gefprochen. Unter Heulen und Schluchzen Hätten alle bie 
Unwiſſenheit oder Bosheit der Richter und ihr eigenes 
Elend bejammert und noch in ihren letzten Augenbliden 
Gott zum Zeugen ihrer Unſchuld angerufen.“ 

„Ja, ich ſchwöre feierlich‘, fährt er fort, „von ben 
vielen, welche ich wegen angeblicher Hererei zum Tode 
geleitete, war feine einzige, von ber man, alles genau er- 
wogen, hätte fagen können, daß fie ſchuldig geweſen war, 
und das Gleiche geftanden mir zwei andere Theologen 
von ihrer Erfahrung. Aber behandelt vie Kirchenobern, 
behandelt die Richter, behandelt mich ebenfo wie jene 
Unglüdlichen, werft und alle auf dieſelbe Folter, und ihr 
werdet uns alle ald Zauberer finden.” 

Hiernach wird man fich nicht mehr wundern bürfen, 
wenn eine fo große Zahl von Angeſchuldigten freiwillig 
geftand; denn bei jolchen Außsfichten war ber Tod auf 
dem Schaffot ein Zroft und die arme „Hexe“ Hatte bei 
dem freiwilligen Geftändniffe, was ihr auch vom Gericht 
immer gehörig zu Gemüth geführt wurbe, noch ben 
Gewinn, daß fie nicht verbrannt wurde, ſondern mit der 
gelindern Strafe der, Erbroffelung oder bes Schwertes 
Davonfam. 

Uebrigend nannte man viele Geftänbnifje freiwillig, 
die gar nicht freiwillig waren; fo 3. B. alle biejenigen, 
welche durch Verfprechungen und Drohungen der Richter 
und Beichtväter, durch einfame, wahrhaft furchtbare Kerfer- 
baft erlangt waren, ferner alle bie abgelegt wurden in- 
folge der fogenannten Zerrition. Dieſe beftand darin, 

XXI 20 


306 Die Heren, Herenproceffe und Herenpredigt en. 


daß der Scharfrichter vortrat, die Angeklagte zur Folterung 
zurechtmachte, fie entkletvete, ihr die Haare abjchor, bie 
Marterwerlzeuge vorzeigte, erklärte und fie ihr einzeln zur 
Probe anlegte! Enplich nannte man viele Geftänbniffe frei- 
willig, wenn bie Angejchulpigte auf eine leichte Tortur hin 
befannte. Man jchrieb dann, wie glaubwürbige Zeugen ver- 
fidern, in das Protokoll, ohne die Folter zu erwähnen, 
die Inquifitin habe in Güte geftanven! 

Nach dem Geſetz war es allerdings nothwendig, ben 
äußern Thatbeftand herzuftellen und zu ermitteln, ob bie 
zugeftandenen Thatfachen wahr feien. Aber auch über 
biefe Vorſchriften fetten fich die Unterjuchungerichter und 
die Facultäten weg. Sie nahmen nicht blos ven fabel⸗ 
bafteften Caufalzufammenhang an, ſondern beruhigten ſich 
auch bei dem Geſtändniß allein, wenn eine Beftätigung 
befjelben nicht gut möglich war, 3. B. bei dem Umgang 
mit dem Teufel und ber Herenfahrt. In einzelnen Fällen 
waren die Richter toll genug, dem Geſtändniß mehr zu 
glauben als ihren eigenen Augen. So berichtet Horſt in 
ber ‚„„Zauberbibliothel” Folgenves: „Fünf bis ſechs Weiber 
zu Linpheim geftanden nach entjeglichen Martern, daß 
fie auf dem Kirchhof ein vor kurzem geftorbenes Kin 
ausgegraben und zu einem Herenbrei gekocht hätten. Die 
Ehemänner festen e& durch, daß das Grab in Gegenwart 
der Geiftlichleit und mehrerer Zeugen geöffnet wurde. 
Das Kind lag umverfehrt im Sarge. Die Inquiſition 
aber hielt ven Leichnam für ein Blendwerk des Teufel, 
und behauptete, das Geſtändniß müffe dennoch gelten. 
Die Weiber wurden zur Ehre des breieinigen Gottes, ber 
bie Zauberer auszurotten befohlen habe, verbrannt.” 

Wenn beweisfräftige Geftänpniffe vorlagen, ober bie 
Here überführt war, was man insbejondere dann an 
nahm, wenn mehrere andere Heren fie der Theilnahme 





Die Heren, Herenproceffe und Herenprebigten. 307 


an bem Verbrechen bezichtigt hatten, jo erfolgte ver 
Sprud. Wenn, wie e8 doch auch mitunter vorfam, 
geiftliche Gerichte die Unterfuchung geführt und pas Ur- 
theil gefällt hatten, fo übergaben fie die Schulvigen ge- 
mwöhnlich den weltlichen Arme, denn „pie Kirche vergieht 
fein Blut”. Sie verorbneten außerdem Abfchwörung ber 
Ketzerei, kirchliche Bußen und in bejonders milden Fällen, 
daß nur mit Gefängniß geftraft werben ſolle. 

Die bürgerlichen Gerichte erfannten ftet8 auf den Tod, 
in den meiſten Fällen auf ven Tod durch das Feuer. 
Als Schärfung trat hinzu: „das Schleifen auf den 
Richtplatz“ und „etliche Griffe mit glühenden 
Zangen”. Reuigen Heren wurde öfter als Gunft gewährt, 
vaß fie erdroffelt oder enthbauptet und nachher erft 
verbrannt werben follten. ‘Die meiften wurben halb- 
tobt von den erlittenen Foltergualen mit zerbrochenen 
Armen und Beinen, zerqueticht und zerftochen zum Scheiter- 
haufen geichleppt. Der Tod war für alle eine Erlöfung. 

Man follte meinen, daß auf ver Folter zulekt jeber- 
mann geftanden haben müßte, aber dem tft nicht ſo. Es 
find uns actlich nicht wenige Procefie erhalten, in denen 
namentlich Weiber, bie bei weitem ftanphafter geduldet 
und weit mehr ausgehalten haben als Männer, troß ber 
härteften Tortur nichts befannt haben. Ein Actenftüd 
aus dem Yuftizamt einer thüringifchen Gebirgsſtadt be- 
richtet: „Eine alte Frau wird regelrecht gefoltert, man 
legt ihr die Daumfchrauben an, fie aber fingt das Lied: 
«Gott der Vater wohn’ uns bei» Man verfucht es mit 
dem Spanifchen Stiefel, fie betet «den Glauben». Sie 
wird mit auf den Rüden gebundenen Hänben an einer 
Leiter, in deren Mitte eine Sproffe mit furzen, [pitigen 
Hölzern — ver geſpickte Haſe — angebracht ift, in bie 
Höhe gezogen, bis die Arme verpreht und umgekehrt über 

20 * 





308 Die Heren, Herenproceffe and Herenprebigten. 


dem Kopfe ftehen, fie fingt: «Eine feſte Burg ift umfer 
Gott.» Man fchnallt fie von der Leiter herunter, zieht 
fie wieder in die Höhe und wiederholt dies ſechsmal, 
aber „fie fang immerfort“, heißt e8 in den Acten. Als 
man fie nach dreiſtündiger Marter losbindet und ihr bie 
Freiheit verfündigt, wie dies im Facultätsurtheil ange: 
ordnet worden war, bittet fie fich zu eſſen aus, ipt mit 
gutem Appetit und dann geht fie mit den vom Spaniſchen 
Stiefel zerquetichten Beinen über zwei Stunden in ihre 
Heimat. Sie war fo vergnügt, daß fich der Richter, ber 
Protokollführer und ber Henker höchlich verwunderten. 
Zur Rechtfertigung des Scharfrichter8 wird in dem Proto⸗ 
koll ausdrücklich bemerkt, daß er die „wolle Schärfe” an- 
gewendet und nicht etwa zu gelind verfahren fet. 

ALS der Wahnfinn der Herenproceffe auf feinem Höbe- 
punkt war, half indeß auch das Ueberſtehen ver Folter 
nicht zur Freiheit. Man nahm an, ber Teufel habe bie 
Here gegen die Qualen geftählt, und belegte fie deshalb, 
wenn fein Geſtändniß erzmungen werben konnte, mit einer 
willfürlichen außerorbentlichen Strafe, mit Staupen: 
Ichlag, Landesverweifung oder Gefängnif. So 
verfügt ein von Carpzov verfaßtes Urtheil wider eine 
Angefchuldigte: „Sie wird geftalten Sachen nach über bie 
zum andern mal erlittene Tortur, weil gleichwol ver: 
muthlich, daß e8 ihr, der Vettel, vom Teufel muß ange 
than fein worben, daß durch die Pein und Marter von 
ihr nunmehr zum andern male nichts hat erbracht wer 
den fünnen und damit man ihr aus biefem Grunde los 
werde und bie Leute von ihr nichts weiter zu befahren 
haben, des Landes ewig billig verwieſen!“ 

Eine der Haupturjachen, weshalb die Herenprocefie ſo 
überhanbnahmen, ift in der Habfucht der Richter und 
ber Gerichtöherren zu fuchen. Die Güter der Berur- 





Die Heren, Herenproceffe unb Herenprebigten. 309 


tbeilten wurden confiscirt, die Richter befamen bedeutende 
Sporteln und auch die Henker und die Denuncianten zogen 
anfehnlichen Gewinn. Der Hexenproceß war alfo eine 
Geldquelle, wie ein Schriftfteller fagte „eine neue Alchy- 
mie, burch welche aus Menjchenblut Gold und Silber 
gemacht wurde”. Man fahndvete auf veiche Hexen und 
tbeilte fih dann in bie Beute. Gewifjenlofe Richter 
ängftigten vornehme Frauen mit der Drohung, daß auch 
fie an die Reihe kommen würden, und erprefkten von ihnen 
große Summen Geldes, mit dem fie fich ihren richter- 
lichen Schug bezahlen ließen. 

In manchen Städten waren Richter, Schreiber und 
Scharfrichter dadurch zu reichen Leuten geworben. Ir 
Zrier z. DB. ritt der Henker in Gold und Gilber ge- 
kleidet auf einem edeln Roſſe und feine Frau that es in 
Kleiverpracht allen zuvor. Nach einer Originalrechnung 
der Stadt Zudmantel von 1639 empfing der Biſchof von 
Breslau von elf Bränden 351 Thaler. Die Geiftlichen 
batten an den Herenverfolgungen ein faum minder großes 
pecuntäres Intereffe; während bie Gerichte fih an ben 
Sefobeutel der Heren hielten, fchröpften Priefter und 
Mönche die Behexten. Sie trieben für Gelb bie Teufel 
aus, lajen Mefien, damit der Zauber nichts fchade, und 
wanbernde Bettelmönche zogen mit Säden von fogenannten 
„Hexenrauches“ umber, ven fie als Schutmittel gegen 
Zauberei tbeuer verfauften. 

Außer der Gelpgier war auch dem Neid, dem Haß 
und ver Rachſucht Thür und Thor geöffnet. Wer einen 
Feind hatte und es geſchickt anfing, konnte ihn leicht in 
einen fchlimmen Proceß wegen Zauberei verwideln. 

Endlich bat die Reformation eher bazu beigetragen, 
die Herenproceffe zu vermehren als zu vermindern. ‘Der 
Zeufel wird von Luther und Melanchthon ganz fo wie 


310 Die Heren, Herenproceife und Herenprebigten. 


von den Fatholifhen Kirchenlehrern aufgefaßt, fie be- 
ſchränken jeine Wirkſamkeit nicht auf das geiftige Leben, 
jondern glauben, daß er als Jüngling oder Jungfrau 
herumgehe und die Leute verführe, daß er am Tiebiten in 
ben Leib der Schlange oder des Affen fahre, daß er Kin- 
ver ftehle und anderwärts unterjchtebe, daß er Einfluß 
auf die Luft übe, Hagel und Unwetter bervorbringe 
u.dgl. m. Die Grundlage der Herenprocefie — ber 
Teufelsbund und ber Teufeldcultus — wurbe auch von 
jenen großen und hellen Geijtern nicht angetaftet. Die 
Evangelifchen wollten nicht minder eifrig fein als bie 
Katholiken in dem Streit wider called Xeuflifche und 
hüteten fich vor der böfen Nachrede, Zauberer und Hexen 
in Schuß zu nehmen. Bon den futherifchen und refor- 
mirten Kanzeln ertönten ebenfo heftige Reden wie in ven 
katholiſchen Kirchen, in den Beichtftühlen der evangelifchen 
Kirchen forfchten die Paſtoren ebenfo genau nach ter 
Hexerei verbächtigen Dingen; einzelne evangelifche Bafteren 
iprachen gerabezu aus, daß es im Papftthum mehr Heren 
gebe, weil bort das Wort Gottes nicht lauter geprebigt 
werde. 

Die Katholiken hingegen, denen ja Hexerei und Ketzerei 
ziemlich identiſch war, ſahen in dem Proteſtantismus den 
Grund, weshalb die Hexen ſo zahlreich wurden, ja etliche 
gingen in ihrem Eifer ſo weit, Luther für einen directen 
Nachkommen des Satans zu halten. Im Jahre 1565 
verficherte ein Bijchof feiner gläubigen Gemeinde, Martin 
Luther war der Sohn des Teufel®, der fich unter ber 
Maske eines reifenden Juweliers in das Haus eines 
Dürgers von Wittenberg Eingang verichafft und mit beffen 
Tochter gebuhlt habe. 

Die Blütezeit ber Herenprocefje fällt in bie Zeit von 
15% bis 1680; von da an ift eine allmähliche Abnahme 


Die Heren, Herenproceffe und Herenprebigten. 311 


beutlich bemerfhar. ‘Die Gegner mehren ſich und treten 
energifcher auf, die Bildung ergreift immer weitere Kreife, 
die Naturwiffenichaften löſen manche Näthjel, einfichts- 
vollere Fürften und menfchlichere Richter befchränfen den 
Gebrauch der Folter und führen mildere Gerichte- 
praris ein. 

Im 18. Jahrhundert wurden in mehrern Städten 
die Herenprocejje ganz unterjagt, fo in Preußen fchon 
1721, in England 1736, m Holland und Franfreich noch 
früher. In andern, namentlich ven geiftlichen Ländern, 
Ioderten die Scheiterhaufen bis zur Mitte bes vorigen 
Jahrhunderte. So ward im Würzburgifchen noch 1749 
eine Nonne aus dem Klofter Unterzell verbrannt, weil 
fie mit dem Teufel gebuhlt, ven Hexenſabbat mitgefeiert 
und andere Leute behert habe. 

Im Jahre 1766 wurde einer jeboch nicht völlig ver- 
bürgten Nachricht zufolge in Augsburg ein Zigeuner als 
Herenmeifter zum Scheiterhaufen verurtheilt; 1782 jtarb 
in Glarus eine Here den Tod in den Flammen; 1793 
hieß der Magiftrat einer Stabt in ber Provinz Pofen 
zwei Weiber verbrennen, weil fie das Vieh des Nachbars 
bebert Hatten, und noch in biefem Sahrhundert find in 
England, Frankreich, Holland und Preußen mehrere Fälle 
vorgefommen, in denen das Volk felbft die Juſtiz gegen 
angebliche Hexen geübt, fie ins Waſſer geworfen, gemis- 
handelt, ja über ein euer gehängt und dort geröftet 
dat. In den niedern SKlaffen, insbefonbere in ben 
Sebirgsländern ift der Glaube an Hexen noch jest ſehr 
verbreitet, im Thüringerwalde 3. B. gibt es jehr viele 
Dörfer, in denen ganz allgemein befannt ift, wer beren 
kann. Solche mit geheimen Künften vertraute Perfonen 
find gefürchtet, man fcheut jeden Zwift mit ihnen, bie 
Wöchnerinnen nehmen niemals von ihnen bereitete Speife 








312 Die Heren, Herenproceffe und Herenprebdigten. 


zu fich, das Misrathen der Ernte, pas Sterben bes Viehes 
und dergleichen wird auf ihr Conto gefchrieben, und in be: 
ſonders fchwierigen Fällen werben fie um Rath gefragt. 
Das Gewerbe der Wahrfagerinnen foheint weniger blühend 
zu fein, aber noch immer gibt es Kluge Frauen, die aus 
dem Kaffeefat die Zukunft erkennen und die Karten zu 
legen verſtehen. Im Frühling 1868 ließen fich, um einen 
Beleg aus dem Volksleben anzuführen, mehrere junge Bur- 
ſchen aus dem Fürſtenthum Schwarzburg-Sonpershaufen, 
die auf Diebſtahl ausgingen, von einem alten Weibe die 
Karten ſchlagen, um zu erfahren, ob ihr Unternehmen 
glücken werde. Die berühmte Kartenſchlägerin und Wahr: 
jagerin Frau Lenormand in Paris ſah während ber 
Regierung bed Kaifers Napoleon I. die achtbarfte und 
vornehmſte Gefellichaft bei fich, und fogar Kaiſer Aleran: 
der I. von Rußland ſoll die Propbetin 1818 aufgefuct 
haben. Ebenſo ift bekannt, daß der Kaiſer Napoleon IL. 
Beziehungen unterhielt zu einer klugen, angeblich mit 
übernatürlichen Kräften begabten Frau. 

Wer fih an bie lanbläufigen Experimente mit ven 
Punctirbüchern und dem Storchichnabel, an bie Flopfenven 
und wahrjagenden Zifche und an bie Geiſterbeſchwörer 
erinnert, die vor wenig Jahren die Welt bejchäftigt haben, 
wird zugeben müffen, daß ber Glaube an Hexerei unt 
Zauberei noch feineswegs erlofchen ift, wenn wir au 
Hexen und Zauberer nicht mehr mit Feuer und Schwert 
vertilgen. Mit Recht Hat man gejagt: „Wir würben 
noch ebenjo viele Heren finden, wenn wir bafjelbe Mittel 
anwenden wollten — bie Tortur.” 








Die Heren, Herenproceffe unb Herenpredigten. 313 


3. Heren- und Inholdenpredigten, 


Darinnen zu zweien unterfchieplichen Predigten auf 
das fürgeft und orbentlichft angezeigt wird, was in biejen 
allgemeinen Landflagen über die Heren und Unholden von 
jelbigen wahrhaftig und gottjeelig zu halten. Durch 
M. Iacobum Graeter, Prediger und Decanum zu Schwä- 
bifchen Hall. Gedruckt zu Tübingen bei Aleranver Hock 
im Jahr nach Ehrifti Geburt 1589. 

Die erfte Heren- ober Unholdenpredigt ift am vierten 
Sonntag nad) Zrinitatis (1589) gehalten worden und 
behandelt auf Grund des für dieſen Sonntag borge- 
jchriebenen Textes Evang. Lukas, Kap. 6, Vers 36—42 
tas Thema: „Ob und was Unholven feien? Was fie 
darzu verurfacht und wie fchiwerlich fie fündigen ? 

Site lautet wörtlich fo: 

„Geliebte im Herrn Chrifto! Es iſt jeßiger Weile 
allfenthalden wo man Hin fteht und gebt eine gemeine 
Sage und Klage von Heren oder Unholden. Dan ftöct 
und plödt, man fengt und brennt fie auch an vielen 
Drten. Und wo man fie ſchon nicht wirklich zum Tode 
verbammıt, jo richtet und verbammt man's doch mit Worten, 
daß Hagel, Ungewitter und aller Unfall von ihnen ge- 
focht und zugerichtet werde. Welches gleichwohl in einem 
weg wahr ift: daß um der Unholden willen Hagel und 
Unfall fommt. Aber wer und welche alfe folche Unholden 
feien, da will fich jevermann ausreden, niemand bie Schuld 
tragen. Ein jeder will nur andere Leute richten und den 
Splitter aus des Bruders Auge ziehen, da er wohl etwan 
einen großen langen Baum und Ballen darf barinnen 
haben. Was aber Ehriftus Hierzu jagt, pas meldet heu- 


314 Die Seren, Herenproceffe unb Herenpredigten. 


tige8 Evangelium: Du Heuchler, |pricht der Herr, zeuch 
zuvor den Ballen aus deinem Aug’ und alsbann fiche, 
baß bu auch den Splitter aus deines Bruders Ange 
zieheft. Denn gleichwie etliche alte Xeute wenig in bie 
Nähe, viel und wohl aber in die Weite fehen: fo alſo 
wollen auch wir nur immerdar in ander Leut Sünben 
iharffichtig, in unfern aber ftar ober blind fein. Sonder 
lich aber ift e8 in diefem Handel von Heren und Unholven 
überaus gefährlich richten und urtheilen, werben auch 
viel und oft fromme unfchuldige Leut greulicher und teuf- 
liiher Sachen bezichtigt und kommt bei dieſer argen ver- 
fehrten Welt dahin, daß fchier alle alte Weibsperfonen 
üppiglich des Hexenwerks verrufen werben. 

„Derowegen halte ich e8 nicht für einen Fürwitz, jon- 
bern für eine lautere Notbfach, Hiervon Bericht zu thun. 
Sonderlich weil auch bei Gelehrten und verjtänbigen 
Leuten jo mancherlei ftrittige, widerwärtige Meinungen 
feien, daß jchier feiner mit dem andern übereinftimmt 
und einer dies, der andere ein anderes davon hält. Auch 
viele Leut’ oftmals vielmehr ihren fürwitzigen Köpfen als 
beweislichen Urjachen nachdringen. So ift e8 denn auch 
unſeres Amtes, dasjenige anzuzeigen, bamit fich die Leut 
verſündigen: auf daß fich niemand hab’ zu entfchulbigen 
und als ob man's nicht gewußt auszureben. 

„In einer folchen ftrittigen und verworrenen Sache 
aber wollen wir uns zum Wort Gottes halten und baf- 
jelbige unfere Regel, Compaß und Winfelmaß fein laſſen, 
wie die chriftliche Kirche aus dem 119 Pialm finget: 


Memen Füßen ift bein heilig Wort 
Ein brennende Rucerne, 

Ein Licht, das mir den Weg weift fort 
So biefer Morgenfterne 

In uns aufgeht, ſobald verſteht 








Die Heren, Herenproceffe und Herenprebigten. 315 


Der Meni bie hoben Gaben, 
Die Gottes Geift benen gewiß verheißt, 
Die Hoffnung barzu haben. 

„Derwegen wollen wir jeßtmals zu diefer erften Predigt 
bon Deren und Unholden in gemein etwas jagen: Ob 
und was fie fein? Was fie zu folder Teufelei verur- 
ſacht. Auch wie fchwerlich fie ſündigen. Was aber weiter 
hiervon nüßlich und chriftlich zu willen (liebt’8 Gott und 
euch) in Fünftiger Prebigt folgend verrichten. 

„Denn anfangs ift leider allzu wahr aus Heiliger 
Schrift, aus glaubwürbigen Diftorien und täglicher Er- 
fahrung kund und offenbar, fol auch aus ver ganzen 
Zractation und Handlung erfolgen, daß Hexen oder Un- 
holden feien, und es ift unnothwendig, daß man alfererft 
fragen und es in Zweifel jeßen oder bispntirlich machen 
wollte. Weil man doch fieht und weiß aus ihren Werten, 
baß fie als rechte loſe böſe Teufels Leute fürjäglich und 
wiffentlich durch gottlofe Mittel fich bemühen und unter- 
fteben, ſich Unhold zu maden, das ift ven Leuten zu 
ſchaden, Laub und Gras, Weide und Waffer, Vieh und 
Menichen zu verberben, fich felbft aber in Freude, Wolluft 
und Kurzweil zu bringen. ‘Darüber fie dann Gott ihren 
Schöpfer, feine Allmächtigfeit und Gutthätigfeit verleugnen 
und verfchwören. Hiergegen aber dem Teufel ftetigen 
Dienft und Gehorſam veriprechen, daß fie ihn für ihren 
Gott und Herrn anerfennen, anrufen, Balten und ihm 
allein vertrauen und feines Willens leben wollen. Nun 
find aber viele Urfachen, welche folche loſe Leute, Teufels 
Häute und Bräute, dazu vermögen und bewegen. Denn 
einmal geratben etliche dahin aus lauterem Mistrauen 
und Unglauben zu Gott und feinen gnädigen Verheißungen, 
daß fie forgen, er könne und werbe fie nicht ernähren, 
meinen, der Teufel, der doch felber arın und verbammt, 





316 Die Heren, Herenproceffe und Herenprebigten. 


ſoll fie reich und ſelig machen, ihnen geben was fie wün- 
ichen und begehren. Etliche fommen dahin durch Leicht⸗ 
fertigkeit, Faulwitz und Fürwitz, bieweil fie mehr als 
andere Leute fein wollen: laffen ihnen an menſchlichem 
Stand und Wefen nicht genügen, da verheißt ihnen dann 
der Satan güldene Berge. Sie follen nur ihn forgen 
faffen, daß ob fie ſchon für fich felber feinen Mangel 
haben an Geld und gut Freund und Kurzweil, fo ftiht 
fie doch der Fürwig, wollen immerdar mehr haben. 
Denn wie Salomo in feinem Prediger jagt: Das Aug 
fieht fich nimmer fatt und das Ohr hört fich mimmer fatt. 
Fürwig macht Iungfrauen theuer. Menschliche Seel ift 
nad dem Fall ein unerjättlicher Schlund nach mancherlei 
wunberbarlicden ſeltſamen Sachen, daß ob gleich wohl vie 
fünf Sinne alle Stund und Augenblide jett dies jekt 
das der Seele zuführen, fo wirb fie doch nicht erfüllt 
noch gefättigt. Eines andern Kindes Apel ift immervar 
größer als der feine. Was man heut einfach bat, das 
will man morgen zweifach und doppelt haben. Andere 
ergeben fich dem Unholden Werk aus NRachgierigfeit, Neid 
und Haß, da man einen etwa Leids gethan und fich für 
fich felber nicht rächen können, fchlagen fie fich zum vad- 
gierigen und mörberifchen Teufel, der verheißt ihnen dann 
Weile und Weg anzuzeigen, daß fie ihr Müthlein an 
ihrem Widerwärtigen maiblich fühlen ſollen. Denn rad: 
gierige Leute geben oft ein Aug aus dem Kopf, daß ihr 
Widerfacher gar blind wäre; wie fich etwan vor Zeiten 
die Leute in bie Leibeigenfchaft eingelaffen, daß fie ihrer 
Feinde Meifter werden möchten. 

„So werden auch nicht wenig zu Unholden durch böſe 
Geſpielſchaft und Verführungen, von denen fie überrebet 
und hinterfchlichen werden. Denn wer Pech anrühret, 
ber beſudelt fich damit, und wer bei einem Hoffärtigen 





Die Heren, Herenproceffe unb Herenprebigten. 317 


wohnet, der lernet Hoffart. Alfo wer bei zauberifchen 
Leuten wohnet, mit Gabelreitern zu thun hat, ver hört 
und lernt fo viel von ihnen, daß er auch Luſt gewinnt, 
ihnen nachzufolgen. 

‚„Allermeift aber gerathen die elenden Leute dahin durch 
Verachtung göttlichen Wortes. ‘Denn wenn man das 
aus den Augen fetet, dem Segenſprechen, Allfanzerei und 
Aberglauben nachhänget, fo ift’8 ein naher Weg zur Zau⸗ 
berei und SHererei. Daher gibt’8 auch foviel Unholden 
im Papftthum, da man feine rechte Erkenntniß Chrifti 
und feine® Evangelii bat. Sein rechtes evangeliſches 
Weib wirb zu einer Unholden. Denn ber beitere Glanz 
bes göttlichen Wortes vertreibt diefe Geifter, die gern im 
Finſtern haufen und maufen. Und wo das Wort des 
Herrn groß bei einem Menſchen gehalten wird, da läßt 
au Gott die Leute nicht alfo betrogen werden. ‘Der 
Zeufel weiß, welche er angreifen ſoll, als nemlich die⸗ 
jenigen, jo feine Luft und Tücke nicht fo leichtlich merken. 
Und fonberlic weil ihm als einem vortbeilifchen Geift 
unverborgen, daß das Weib ein ſchwächer Werkzeug, er 
e8 auch im Paradieſe wohl erfahren, fo greift er bie 
Weibsbilder am meiften mit folcher Teufelei an und wer- 
den viel mehr Unbolvden Weiber als Unbolden Männer 
gefunden. Nehmet deſſen ein Gleichniß. 

„Wenn du zu Nachts einem eine Bosheit thun wilfft, 
und er merkt ven Poſſen, jo läßt bu von Stund an von 
ihm und gebeft zu einem andern, ber voll Schlafs ift 
oder ſonſt fich um ſolches Lotterwerk nicht verfteht. Alfo 
fteigt der Teufel auch gern über den Zaun, da er am 
niebrigften ift, und pflegt das weiblich Gefchlecht am meiften 
anzugreifen. Kinder laſſen fich Teichtlich bereben, es komme 
ein [hwarzer Mann, ein Kaminfeger, eine lange weiße 
dran wolle fie in Sad fteden, hinwegtragen und freffen, 








318 Die Heren, Herenprocefje unb Herenprebdigten. 


wenn fie nicht aufhören zu fchreien. Wenn aber bie 
Kinder zu ihrem Verftand kommen, laſſen fie fih nicht 
mehr alſo äffen, ſondern lachen dazu. Alſo wo man 
findifch und unerfahren in der Heiligen Schrift ift, fih 
um Gottes Wort weniger al8 eine Kuh um den Mittag 
verftehet, kann man Teichtlich zu diefem Affen- und Teufel 
werf der Hexerei fommen. Aber mo das Licht des Evan- 
geliums aufgefteckt ift, da wird e8 auch weniger Unholden 
und Teufelsbrut geben. 

„Dan hat fi) aber billig vor dem Hexenwerk fleißig 
zu hüten. Denn es ift eine greuliche Sünde, ja ein 
Hauptqueli vieler erfchredlicher Sünven. Denn einmal 
jündigen ſie wider das erjte und andere Gebot Gottes, daß 
man an einen Gott glauben, nicht andere Götter haben 
und den Namen des Herrn nicht mißbrauchen ſoll. Wenn 
fih ein Hiefiger Bürger von unferer Obrigkeit abzöge, 
fagte ihr ab, fchlüge fich zu den Feinden, was meine 
ihr, daß fie dazu fagen würde? Alſo wie meinet ihr, 
daß e8.Gott gefalle, wenn man ihm durch Unholden Werl 
abfagt und fih zum Teufel fchlägt? Denn ver Teufel 
nimmt feine zur Here an, fie fage denn Gott ab unt 
verjpreche fih dem Teufel, daß fie ihn für ihren Gott 
baben will. Sa er verbietet ihnen Gott jo hart, daß fie 
auch feinen heiligen Namen nicht nennen dürfen. Wie 
man von vielen Herenfahrten Tieft, daß alles verſchwindet, 
wenn nur eins etwan unter einem ganzen Haufen ohn⸗ 
gefähr Gott nennet, fo tft das Spiel verborben, der Tanz 
verwüſtet. Es verſchwindet alle in einem Hui umd 
Augenblid. 

„Man wird auch tauf- und bunbbrüchtg am Got. 
Denn in der Taufe haben wir und doch mit Gott ver- 
bunden, daß wir uns zu ihm halten wollen. Aber da 
fällt man von Gott ab, wird meineidig an ihm. Iſt dad 











Die Heren, Herenproceffe und Herenprebigten. 319 


nicht eine graufame Sünde? Ja fie werben wohl anders 
und wiebergetauft auf den Namen bed Teufels. Die 
Unholden machen aus Chriſti Gliedern Glieder des 
Teufels. 

„Es ſündigen aber ſolche Leute nicht allein wider Gott 
und fein heiliges Sakrament, ſondern auch wider die 
Menſchen, ja wider die ganze Natur und alle Creatur 
Gottes. Sie werden zu rechten Naturfeinden, find allen 
Creaturen und guten Gaben Gottes zuwider. Vieh und 
Menjchen begehren fie zu verlegen, mit Gift und Bulver 
anzufteden, zu lähmen und zu verberben. Ja fie haben 
wohl feine Ruhe, es ift ihnen nicht wohl, wenn fie nicht 
alle Tage etwas Böſes ftiften, und fo fie nicht mehr 
fönnen, müffen fie doch Kübel und Gelten, Löffel und 
Schüffel, Häfen und vergleichen verbrechen. Wie man 
fagt: e& muß ein Unhold alle Tage etwas verwilten. 
Sp machen fie auch unſchuldige Leute verpächtig, bringen 
fie in einen böfen Argwohn, richten Zank, Hader, Feind⸗ 
ſchaft und Wiperwillen an, darans Neid und Mord er- 
folget. Sonderlich wenn fie eingezogen und peinlich ge- 
fraget werben, geben fie aus Einblafung ihres Meifters, 
der ein Mörder, Lügner und Betrüger ift, fromme un- 
ſchuldige Leute an, die folcher Teufelei von Herzen feind 
find. Sie meinen, fie wollen fich dadurch ausreden, weiß- 
brennen, entſchuldigen. Wie es denn viele Erempel und 
Hiftorien gibt, daß fie die frömmſten Leute beichufpigt 
haben. 

„Richt weniger aber bringen fie auch die herrliche Kunſt 
der Arzenei in Verachtung, welche von dem Allerhöchften 
fommt. Denn wenn fie mit ihrem Herenwerf und Zau⸗ 
berei und Salben alles aufrichten, heilen und helfen 
fönnen, was darf man der Arzenei? Sie wirb dadurch 
geringfchägig und kraftlos geachtet, allerdings vernichtet. 





320 Die Heren, Herenprocefje und Herenprebigten. 


„Es handelt auch ſolches unnüßes Volk wider alle 
wohlbeftellte Stabt- und Landesordnung, wider göttliche 
und Taiferliche Rechte und Satungen. Sie werben ver- 
flucht und geftraft, fie werben übelthätige Leute genennet 
wegen ber übergroßen Uebelthaten, die fie als Feinde des 
menfchlichen Geſchlechts begehen und thun. 

„Es fteht aber ſonders dem Weibsvolk zu bevenfen, daß 
fie ſtandhaftige Ehriften fein und bleiben, ſich durch feine böfe 
Anreizung bes Teufels und feiner Gefandten follen ver- 
führen laffen, ſondern ftetig an ihr Taufgelübde gedenken. 
Wie man von ber heiligen Jungfrau Yuftina zu Antio- 
hien liefet, daß der Teufel und feine Boten auf man- 
cherlei Weiſe an fie gejeget und vermeinet, fie wollen fie 
boch verführen, aber fie haben ein leeres Stroh gebrofchen, 
e8 bat alles nichts geholfen. 

„Dies iſt's, das St.⸗Paulus zu den Epheſern ſpricht: 
«Wir haben nicht mit Fleiſch und Blut zu kämpfen, ſondern 
mit Fürſten und Gewaltigen, nemlich mit den Herren 
dieſer Welt, die in Finſterniß dieſer Welt herrſchen, mit 
den böſen Geiſtern unter dem Himmel, um deswillen ſo 
ergreift den Harniſch Gottes, auf daß ihr, wenn das böſe 
Stündlein kommt, Widerſtand thun und alles wohl aus- 
richten und das Feld behalten könnt.» 

„And Petrus jchreibt: «Seid nüchtern und wachet, denn 
euer Wiberfacher ber Teufel zieht herum wie ein brülfen- 
ber Löwe und luget, wen er möge verfählingen.» Dem 
widerſteht feſt im Glauben. 

„Chriſtus ſagt's jelbft im heutigen Evangelio:; «Mag 
auch ein Blinder einem Ylinden den Weg weilen? Wer- 
den fie nicht alle beide in die Grube fallen?» Wer bem 
Fürften der Finfterniß, dem leidigen Teufel und feinen 
Heren folget, fih von ihnen führen und leiten Läffet, ver 
wird mit ihnen in bie hölliſche Grube, darinnen fein 





Die Heren, Herenprocelfe und Herenprebigten. 321 


Basler, Leben und Zroft ift, fallen, eiwigen Hungers und 
Durftes verſchmachten, unaufbhörlich heulen und zähn- 
Happen müffen. 

„Und wie aber der Teufel ein alter unverbroffener 
Tauſendkünſtler ift, alfo ift er auch ein alter verichmißter 
Betrüger. Er Tügt nicht immerbar, ſondern fagt bis- 
weilen auch zu feinem Vortheil die Wahrheit. Doch 
wenn er Eine Wahrbeit jagt, fo jagt er zehn Lügen da⸗ 
gegen. Er morbet auch nicht immerdar, fonvern er bilft 
bisweilen, baß er hernach Leib und Seele verberbe. Aber 
er betrügt immerbar, er ift ein unaufbörlicher Betrüger. 
Er beträgt die Unholden um ihrer Gottlofigleit willen, 
er betrügt andere um ihres Un» und Aberglaubens willen. 
Es ift das mehrern und größern Theils Beſchiß, Be⸗ 
trug und Blendwerk mit dem ganzen Unholdenwerk. ‘Der 
Zeufel ift ein Meifter und Ausbund über alle Gaukfer. 
Und fo die Gankler, Poffenreißer, Brillenreißer und Aben⸗ 
teurer als gefchwinde Kunden etwas Seltfames, das 
wider und über die Natur fcheinet, auf die Bahn bringen 
lönnen, wie follte nicht der Principal-Gaufler, ver Teufel, 
die Unholden und abergläubigen Menſchen blenven, bie 
Augen betrügen, VBernumft und Verſtand beftürzen können? 
Er kann die Mittel und Urfachen eilends zu wege bringen 
und burch Behendigkeit macht er, daß man eine Sad für 
ein Wunberwerf hält, das keins if. Im einem Hui 
oder Augenblid kann er fo weit fommen, als wir in viel 
Zagen mit großer Müh'. Im Buch vom Leben ver alten 
Bäter fteht von einem gefchrieben, welcher vermeint wie 
auch andere, feine Tochter wäre zu einer Kuh geworben, 
aber der heilige Macarius bat fie wie fie gewejen für 
einen Menjchen und Jungfrau angefeben. 

‚Bon dem beifigen Germano lieft man, daß er über 
Nacht bei einem Wirth zur Herberg gelegen, ba viele in 

XXI. 21 


3932 Die Heren, Herenproceffe unb Herenprebigten. 


feiner Nachbarn Geſtalt gefommen und fich zu Tiſch ge⸗ 
ſetzet haben, aber e8 waren lauter Teufel, welche ver 
Wirth für feine Nachbarn angejehen, und wurde ver Be- 
trug offenbar, als man die Nachbarn alle in ihren Betten 
ichlafend fand. Alſo bat auch der Teufel einmal einem 
Meßpriefter und feinen Pfarrfindern das Betbuch be- 
zaubert, daß fie das Betbuch für ein Kartenjpiel ange 
ſehen haben. Summa ber Teufel ift ein wunberbarlicher 
Abenteurer, verrüdt der Unholden Sinn und Berftand, 
daß fie eind für das anbere, ja wohl nichts für etwas 
halten. 

„And dieſer Sachen begeben fich auch viele natürlicher 
Weiſe, da es gar nicht Zauberei und Hexerei tft. In 
Krankheiten und Träumen trägt fich’8 auch zu, daß einem 
viel ſeltſame Sachen fürfommen. Wie man von einem 
Schreibt, ver nicht anders gemeint, denn er wäre zu einem 
Göckel geworden. Etliche hat gepäucht, fie feien Kühe, 
Säue und dergleichen unvernünftige Thiere. Denn es 
find bie Sinne gar betrüglich und Tann fich Teichtlich 
Ihiden, daß wir einen weißen Hund für einen Beden- 
necht anfehen. 

„Bott der Herr wolle uns gnädiglich vor allem Betrug, 
Blendungen, böfen Verfuchungen und Eingebungen bes 
böſen Feindes behüten, auf daß wir an ihm bis ans 
Ende beftänpiglich verbleiben durch ven flegbaftigen Teufele- 
binder und Ueberwinder Chriftum Jeſum bochgelobt in 
Ewigkeit. Amen.” 


Die andere Predigt des Dekans Graeter am Sonn- 
tage Mariä Heimfuchung behandelt auf Grund des Evan⸗ 
geliumd Luck, Kap. 1, Verd 39 fg., das Thema: Was 
und wie viel die Unholden Fönnen und treiten? Wie 
weit fich ihre Macht erftreckt ? 





Die Heren, Herenproceffe unb Herenpredigten. 323 


In der Ausführung lejen wir : 

„Anfaugs kann der Teufel fehr viel. Es kann auch 
der Saten Sinn und Vernunft dermaßen blenden, daß 
etwan einer einen Eid jchwüre, er ſähe oder hörte dies 
oder jenes, das doch im Grunde nichts ift. Eine folche 
Blendung ift ed mit Poltergeiftern im Papfſtthum gewefen, 
dag man gemeint hat, fie werfen alles auf einen Haufen 
und bat boch morgens ordentlich ein jegliches an feinem 
Drt wiedergefunden. Und das kann der Satan nun nicht 
nur im weltlichen leiblichen Sachen, jondern er blenbet 
auch die Vernumft in geiftlichen und Glaubensfachen, und 
er kann einem einen Irrthum eingeben und ihn bermaßen 
bezanbern, daß er taufenb Eibe fchwüre, er wäre recht 
daran. Er kann uns aber doch nicht ein Härlein Trüm- 
men, wo es ihm nicht von Gott ift zugelaffen. Und ba 
ihm gleich Gott etwas erlaubt, ftedt er ihm doch daneben 
ein Ziel, über welches er nicht fchreiten foll oder kann, 
wenn er noch fo giftig und rachgierig wäre, ſich noch fo 
graufam ſtellt. Was aber er nicht kann, das können 
noch viel weniger feine Hexen und Unholden. ‘Deffen 
wollen wir Erempel bören. Die Zauberer in Aegypten 
machen wie Moſes Schlangen aus ihren Stöden, fie 
machen aus Wafjer Blut, fie bringen Fröſche herfür. Da 
hatte ihnen ber Herr lang genug zugefehen, es war Zeit, 
daß er ihnen ein Ziel ftedte und das Handwerk wieder 
legte. Da aber Mojes Läufe berfürbrachte aus Dfenruß, 
fönnen fie ihm nicht weiter nachäffen, nicht eine einzige 
Laus machen, ſondern fie fprechen, pas ift über unfere 
Kunft, wir können nichts mehr :c. 

‚Will der Satan Hiob an Gütern, Kindern, Vieh und 
eigenem Leib angreifen, muß er zuvor Gewalt und Er- 
laubniß bei Gott ausbringen ıc. 

„Daraus folget unwiderbringlich, daß ber Teufel und 

21* 





324 Die Heren, Herenprocefje und Herenprebigten. 


feine Boten, Diener und Bräute wider das ganze menſch⸗ 
liche Geſchlecht und alle Ereaturen nichts fönnen, wo es 
nicht von Gott ausgebeten, verhängt unb erbettelt ift, 
aber da es ihnen vergönnt worden, können fie mächtig 
viel fein ftarf und graufam. Ei, fagft du nicht umbillig, 
wie mag doch Gott der Herr dem Teufel umb feinen 
Bräuten dieſe Freude und Wolluft gönnen, daß fie ihren 
Muthwillen üben, fo großen Schaden thun? Antwort: 
Er thut's darum, daß er unfern Un« und Aberglauben 
itrafe und uns die Sicherheit nehme, in feiner Furcht er- 
balte und zu inbrünftigem Gebet treibe. Es gehen doch 
viele in großer Nuchlofigfeit, Sicherheit und Unterlaffung 
bes Gebets dahin und thun, als wenn fein Teufel wäre: 
was follte oder würde dann gejchehen, wenn er nicht feine 
Gewalt zeigte und durch fein Ungeziefer Schaden thäte? ıc. 

„Steht uns demnach einmal zu bedenken, daß wir uns 
vor dem Teufel und den Unbolven nicht jo hart entjegen 
foffen, wie diejenigen thun, die zufammenfahren, wenn fie 
nur einen Unholden hören nennen. Sie dürfen jelbe 
nicht nennen, fürchten, fie werden von ihnen gejchoflen. 
Aber Hüte du dich vor Sünden, das find bie giftigen 
Pfeile, die dich verlegen. Mach dich nicht felbft zur Un- 
bolven, fo wirft du der Unholven wohl entlaufen können. 
Wie wir lejen, daß ein Unhold, ba man fie hat ver 
brennen wollen, auf dem Holzhaufen ihren Gevatter ge 
jehen und zu ihm gejagt hat: «Xieber Gevatter, wie oft 
habe ich Euch gern angreifen und bejchäpigen wollen, aber 
ich habe es nicht gefonnt. Denn ich wohl gewußt, daß 
Ihr meine Zauberei verachtet und Euch Gott alle Wege 
befehlt._ Wer uns Unholven verachtet und Gott vertraut, 
ben können wir nicht beichäbigen noch fchießen.» ‘Died 
iſt's, das Jalobus jagt: aWiderſtehet ven Teufel, fo fliehet 
er von euch.» 





Die Heren, Herenproceffe unb Herenprebigten. 325 


„Wie wir aber die Unholden nicht fürchten, alfo follen 
wir fie auch nicht brauchen, nicht Raths fragen, ihnen 
nicht zulaufen, wenn uns etwas fehlt oder mangelt. Was 
wir aber dieſes Orts von Unholven jagen, das Tann und 
joll auch von Zauberern, Teufelsbeſchwörern, Schwarz- 
fünftlern, Segenfprechern, Chriſtallſehern und vergleichen 
Teufelsleuten verftanden werden. Denn fie find doch 
alfe Geſchwiſterkinder miteinander, kommen von Einem 
Vater, dem Teufel. Und es heißt doch: «Du ſollſt nicht 
andere Götter neben mir haben. Du follft Gott allein 
dienen. Du follft nicht Fleisch für deinen Arm balten. 
Du follft die verftorbenen Heiligen nicht anrufen. ‘Du 
ſollft die Engel nicht anbeten noch viel weniger die Teufel, 
bie Zauberer und Unholden. Denn folchergeftalt hält 
man ben Teufel vor Gott, für barmherziger und gewal- 
tiger benn Gott. Man fündigt gegen Chriftum, der 
darum kommen ift, daß er die Werke des Teufels zer- 
ftöre. Den follen wir hören, nicht die Heren und Uns 
bolven» zc. 

„Ans Kirchendienern aber gebührt nicht, hiervon ge⸗ 
wilfe Sefee und Ordnung zu geben, welches Kaijern, 
Fürſten, Herren, Frei» und Reichsſtädten zufteht, das 
aber gebührt uns zu jagen, daß man böfe Leute als öffent- 
lihe Feinde des Menſchengeſchlechts und Verſchwörer 
Gottes ihres Schöpfers nicht verfchonen foll. Dieweil 
fie nach ihres Meiſters des Teufels Art anders nicht be⸗ 
gehren denn fchäplich zu fein, Sammer und Unfall zu- 
zufügen; um ſolches argen verzweifelten Vorſatzes wegen 
find fie billig zu ftrafen. Und dann auch, daß fie, wie 
Dr. Luther fchreibt, wider Ehriftum den Teufel mit feinen 
Saframenten und Kirchen ftärten. Aber hier foll man 
nicht zu gefchwind fahren, nicht auf alle Flugreden gehen, 
698 gemeine Gefchrei gemeiner Leute nicht für gewiß 


326 Die Heren, Herenproceffe und Herenprebdigten. 


halten, ſondern zuvor alle Umftände gründlich erfahren, 
ſonders aber gar nicht brauchen folche zauberiſche Nach⸗ 
vichter, die Teufel mit Teufel vertreiben, dadurch vie 
Richter betrogen und viele malen unfchulpige Leute ge: 
peinigt und verdammt werben. 

„Letzlich hat auch das Weibervolk, ja wir alle zu lernen, 
baß wir zur Verhütung aller Teufelei, der Hexerei und 
nach dem Erempel beider gottliebender Frauenbilder, Eliſa⸗ 
betb und Maria, deren im heutigen Evangelio gedacht 
wird, zu verhalten haben. Denn einmal feben fie beite 
auf fich felbft, bleiben im Glauben, in der Liebe, in ber 
Heiligung und unbefleckter Zucht, behalten ihre Gefäße 
rein und keuſch. Marta ift über das Gebirg gegangen, 
nicht hinübergefahren auf einer Gabel oder Bod. Sie 
gebt endlich Hinüber, läßt ſich den böfen Geiſt nicht 
binübertragen. Elifabetb wartet ihrer Haushaltung, hält 
fih innen wie eine Schned in ihrem Häuslein. 

„Darnach fehen fie auf den Herrn, reden von feinen 
Werfen, welche er an ihnen, ja am ganzen menjchlichen 
Geſchlecht gethan bat, preiſen feine Wunder, ermahnen 
einander mit geiftlichen Liedern und Lobpfalmen, dabei 
ber Teufel nicht bleiben kann. Sie ſehen auf ihren 
Nächten, dienen einander. Maria, ob fie wohl des Herrn 
Meifiä Mutter ift, arbeitet fie doch bei ihrer Baſen Eli- 
jabeth drei Monat lang, darnach zieht fie wieder zu Haus, 
lugt, was fie daheim zu fchaffen habe. Denn fleikige 
Arbeit wehret dem Menfchen viel Böſes, Müßiggang aber 
it aller Lafter Anfang, des Teufels Pfühl, varauf er 
alles Arges ftifte. Wir wollen mit Maria und Eliſa⸗ 
beth in Lauterfeit und Wahrheit, Zucht und Ehrbarfeit 
einhergehen, dem Herrn dienen in Helligkeit und Ge- 
rechtigkeit unſer Leben lang, wie ihm gefällig ift. Auch 
immerbar bitten und beten: 


Die Heren, Herenproceffe und Herenpredigten. 327 


Führ uns Herr in Berfuhung nicht, 
Wenn uns der böſe Geift aufidht. 
Zur reiten und zur Iinfen Hand 
Huf uns thun ſtarken Widerftand. 
Im Glauben feſt und wohlgerüft, 
Und durch des heil'gen Geiſtes Troſt. 


„Wohlan, das wären denn zwo kurze Predigten von 
Hexen und Unholden ꝛc. Der Herr verleih, daß wir's 
nicht obenhin gehört haben, ſondern daß ſie in unſern 
Herzen ausſchlagen und viel Früchte bringen zum Preiß 
Gottes, zur Beſſerung und Erbauung unſers Nächſten, 
zu unſerer zeitlichen Wohlfart und ewigen Herrlichkeit 
durch unſern Heiland Jeſum Chriſtum, welchem ſei Lob 
und Preiß ſammt Vater und Heiligem Geiſt in Ewigkeit. 
Amen.“ 





Drud von F. A. Brockhaus in Leipzig. 











Der Neue Pitaval. 


Nene Serie, 


Zweiundzwanzigfter Band. 











-Y 


Der 


Meue Pitapval. 


Eine Sammlung 


Der intereflanteften Eriminalgefhichten aller Länder aus 
älterer und neuerer Zeit. 


Begründet 
vom 
Sriminalbirector Dr. 3. €, Bibig 
unb 


Dr. W. Häring (W. Aleris). 
Fortgeſetzt von Dr. A. Vollert. 


Nene Serie. EIN, 
Zweinndzwanzigfter Band, 





Reipzig: 
3% 4. Brockhaus. 


1888. 


Kee. * $, 1908 











Borwort. 


— — 


Der Proceß wider Johann von Weſel iſt ein 
Typus der mittelalterlichen Proceſſe wegen Ketzerei 
und deshalb von großem Intereſſe, weil die Acten noch 
ziemlich vollſtändig erhalten ſind. Der ganze Fall und 
das Inquiſitionsverfahren find lehrreich auch für unfere 
Zeit, denn was im 15. Jahrhundert in Mainz ge 
heben ift, würde fih voraugsjichtlid im 19. Jahr⸗ 
hundert wiederholen, wenn ber Römiſche Stuhl die 
gleihe Macht und Gewalt bejäße wie damals, als 
Johann von Wejel vor das geiftlihe Gericht geftellt 
wurde. 

Die tüchtige Arbeit, die zugleich ein treues Bild 
jener Zeit gibt, hat uns ein junger Theologe, der Herr 
Gymnaſiallehrer Auerbach in Gera, geliefert. 

Die Studie des Herrn Landgerichtsdirectors 
Barre in Trier über Mania transitoria in Ber: 
bindung mit den diefe ſchwierige Materie erläuternden 
merkwürdigen Straffällen trägt vielleicht dazu bei, die 
Streitfrage über die Zurehnungsfähigteit gewiffer Ver: 
breden der Löfung näher zu führen. 


VI Vorwort. 


Der dreifache Mord in der Mühle zu Diet— 
harz hat ſeinerzeit in Thüringen großes Aufſehen er⸗ 
regt. Dem Scharfſinn und der unermüdlichen Thätig⸗ 
keit des Unterſuchungsrichters und des Staatsanwalts 
iſt es gelungen, das Material zu einem Indicienbeweiſe 
zu ſammeln, in deſſen Kette zuletzt kein Glied mehr 
fehlt. Obgleich kein Zweifel beſtand an der Schuld 
des zum Tode verurtheilten Mörders, wurde es doch 
als eine große Genugthuung empfunden, daß Thaldorf 
kurz vor ſeiner Hinrichtung ein reumüthiges Bekennt⸗ 
niß ablegte. 

Dem Herrn Generalconſul Dr. Meyer in Wien 
verdanken wir bie Merkwürdigen Eriminalpro: 
cefje aus England wegen Berleumdung und uns 
gerehtfertigter Entziehbung der perfünliden 
Freiheit, wegen Nothzucht, Bigamie und Wediel: 
fälfhung, durch welde die guten Seiten, aber aud 
die großen Mängel und Lüden des engliihen Strafver- 
fahrens illuftrirt werden, ferner die Tödtung eines 
Matrojen auf hoher See, ein Fall, deſſen Aus 
gang eine große Zahl von Geſellſchaften und Vereine 
Englands veranlaßte, bei der Regierung zur Abmen- 
dung der verhängten Todesitrafen vorftellig zu werben. 
Man fürctete, ed könnte durch den Richterfprud die 
Mannszucht auf den Schiffen gefährdet werden, und 
erreichte auch wirklih, daß im Gnabenmwege an Stelle 
des Todesurtheils eine verhältnipmäßig kurze Freiheits⸗ 
ftrafe geſetzt wurde. 

Die Kentudy:Bendetta, ein merkwürdiges Bei: 








Vorwort. VII 


ſpiel der Blutrache in Amerika, und das auf den jüngſt 
verſtorbenen Marſchall Bazaine in Madrid im Jahre 
1887 unternommene Attentat hat der Herr General⸗ 
conſul Dr. Meyer ebenfalls eingeſendet. Wir geſtatten 
uns, ihm auch an dieſer Stelle für dieſe intereſſanten 
Beiträge unſern verbindlichſten Dank auszuſprechen. 

Der Diebſtahl im wiener Landesgerichts— 
gebäude ſtammt aus der Feder des Herrn Dr. Thyll 
in Wien. 

Das Leben und Treiben des Familien: 
mörder3 Timm Thode ift ein Nachtrag zu dem 
von und im vierten Bande der Neuen Serie unfers 
Werkes veröffentlichten Procefje, der jedoch einen felbft- 
ftändigen Werth bat und auch für diejenigen Lefer 
verftändlich ift, welche jenen Proceß nicht gelefen haben. 


Gera, im October 1888. 


Dr. 4. Bollert. 





VI Vorwort. 


Der dreifache Mord in der Mühle zu Diet— 
harz bat ſeinerzeit in Thüringen großes Aufſehen er- 
regt. Dem Scharfſinn und der unermüdlichen Thätig: 
teit des Unterfuhungsrichters und des Staatsanmwalts 
ift e8 gelungen, das Material zu einem Indicienbeweiſe 
zu fammeln, in vefien Kette zulegt Tein Glied mehr 
fehlt. Obgleich kein Zweifel beftand an der Schul 
des zum Tode verurtbeilten Mörders, murde es doch 
als eine große Genugthuung empfunden, daß Thaldorf 
furz vor feiner Hinrichtung ein reumütbiges Bekennt⸗ 
niß ablegte. 

Dem Herın Generalconful Dr. Meyer in Bien 
verdbanten wir die Merkwürdigen Griminalpro: 
cefie aus England wegen Berleumdung und un: 
gerehtfertigter Entziehbung der perſönlichen 
Freibeit, wegen Nothzucht, Bigamie und Wedel: 
fälihung, dur melde die guten Seiten, aber auch 
die großen Mängel und Lüden des engliſchen Strafver: 
fahrens illuftrirt werden, ferner die Tödtung eines 
Matrojen auf hoher See, ein Fal, deſſen Aus 
gang eine große Zahl von Gefellihaften und Vereine 
Englands veranlaßte, bei der Regierung zur Abwen⸗ 
dung der verhängten Todesftrafen vorjtellig zu werden. 
Man fürdtete, es könnte durch den Richterſpruch die 
Mannszucht auf den Schiffen gefährdet werden, und 
erreichte auch wirklid, daß im Gnadenwege an Stelle 
des Todesurtheils eine verbältnigmäßig kurze Freiheits⸗ 
jtrafe gejeßt wurde. 

Die KRentudy:Bendetta, ein merfwürdiges Bei- 


Borwort. viI 


ipiel der Blutrache in Amerika, und das auf den jüngit 
verftorbenen Marſchall Bazaine in Madrid im Sabre 
1887 unternommene Attentat hat der Herr General- 
conjul Dr. Meyer ebenfalls eingefendet. Wir geftatten 
uns, ihm auch an diefer Stelle für diefe interefianten 
Beiträge unfern verbindlichſten Dank auszufpreden. 

Der Diebftahl im miener Landesgerichts— 
gebäude ftammt aus der Feder des Herrn Dr. Thyll 
in Wien. 

Das Leben und Treiben des Familien: 
mörder3 Timm Thode ift ein Nachtrag zu dem 
von uns im vierten Bande der Neuen Serie unfers 
Wertes veröffentlichten Proceſſe, der jedoch einen ſelbſt⸗ 
ftändigen Werth bat und auch für diejenigen Lefer 
verftändlich ift, welche jenen Proceß nicht gelefen haben. 


Gera, im October 1888. 


Dr. A. Bollert. 


Anhalt. 


Borwort 





Johann von Wefel und feine Zeit. Ein Leberproctß 
aus dem 15. Jahrhundert.. 

Eine Studie über mania transitoria (oorüßergehender 
Wahnſinn) und verfchiedene merkwürdige Criminal: 
procefje, welche diefe fchwierige Materie betreffen. . 

Der dreifahe Mord in der Mühle zu Dietherz im 
Thüringerwalde. 1885. 

Merkwürdige Criminalproceſſe aus England. 

1. Verleumdung und ungerechtfertigte Entziehung 
der perſönlichen Freiheit. London. 1887. 

2. Nothzucht. London. 1887. . . 

3. Bigamie. Vorl. 1887. London 1888. 

4. Eine Wechſelfälſchung. London. 1888. 
Tödtung eined Matrofen auf hoher See. Mord oder 
Neberfchreitung erlaubter Nothwehr? 1887. . 
Kentucky⸗Vendetta. Blutrache in Amerika. 1877 — 
1887 rn. 
Das Attentat auf Bazaine. Madrid. — Mord» 
verſuch. 1887. rn 


Seite 


x Inhalt. 


Ein Diebſtahl im wiener Landecgerichtegebaude. 1880 
und 1881..... 270 
Das Leben und Treiben bes Samilienmörbers Timm 
Thode vor der Verübung des von ihm in der Nacht 
vom 7. zum 8. Auguſt 1866 ausgeführten Mordes. 
Provinz Schleswig. Holftein. . . 2.0.30 





| 


Iohaun von Weſel und feine Beit. 
Ein Ketzerproceß ans dent 15. Jahrhundert. 


Als im 16. Jahrhundert die neuen Gedanken, bie bie 
Kirche des Mittelalters umgeftalteten, ihren Hauptträger 
in Luther fanden, ba traten fie mit einer foldhen Mäch- 
tigfeit auf und zünbeten in Kopf und Herz ber Zeit- 
genojjen fo gewaltig, daß es ber Kirche unmöglich wurde, 
ihr altes Verfahren in ver Behandlung neuer Anſchauungen 
feitzuhalten. Zwar traf Luther ver Bann, aber die Au- 
torität päpftlicher Machtſprüche war erjchüttert, auch 
päpftifch gefinnte Kreiſe wußten, daß dieſer Spruch ber 
Kirche oft unwürdig angewandt und barum verbraucht 
fei. Luther that mit der Verbrennung der Bulle ben 
unzweibentigen Schritt ber Losfagung von der Autorität 
bes beftehenben höchften Sirchenregiments, und bennod) 
konnte auch ein Karl V. ver päpftlichen Bulle nicht ohne 
weiteres das kaiſerliche Edict der Reichsacht folgen laſſen: 
man forderte den Verurtheilten erſt noch vor, und zwar 
vor einen Reichstag, wo gar Laien in Sachen bed Glau⸗ 
bens mitreden konnten und ſollten. 

Ganz anders noch im 15. Sahrunbert. Met der —5 
Profeſſor, ſpätere Pfarrer Johann von We 
the wird, vn infcenirt die Kirche im Boligefühle 
XXI. 


m — — 


2 Johann von Wefel und feine Zeit. 


ihrer Macht ven Keterproceß, und ver gehorfame Sohn 
unterwirft fich dem Spruche ver Mutter. Beide Männer, 
Johann von Wefel und Martin Luther, verdanken ber- 
jelben Hochichule, dem aufftrebenden Erfurt, ihre wiſſen⸗ 
ichaftliche Bildung; beide opponiren gegen bafjelbe Injtitut 
ber Kirche, in welchen allerlei unbiblifche Lehren ſich 
gipfelhaft vereinigen: gegen den Ablaß; beide find Pre⸗ 
biger fühn im Wort, voll Feuer und Leben — wenn aber 
an bemfjelben Strome, wo 1479 zu Mainz von Weſel's 
Mund das Wort ertönte: „Sch will die mir aufzuerlegende 
Buße leiften und bitte um Vergebung und Gnade“, im 
Sabre 1521 zu Worms das Bekenntniß eriholl: „Ich 
fann nicht anders“, fo war der Sprecher in Mainz nicht 
blos ein alter8ichwacher Greis, ſondern auch bie Zeit für 
die Bewegungen des 16. Jahrhunderts noch nicht reif. 

Das gegen Wefel angeftrengte Verfahren können wir, 
banf eines erhaltenen boppelten Berichts, in feinem Ver⸗ 
laufe bis ins Einzelne verfolgen und fomit ein anſchau⸗ 
fihes Bild eines Keterprocefjes gewinnen. 

Johannes Ruchrat, gewöhnlich nach feinem Geburts- 
orte, dem unfern St.Goar gelegenen Stäbtchen Ober» 
Weiel, Sohannes von Wefel genannt, wurbe im erften 
oder zweiten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts geboren. 
Bon feinen Xeltern und feiner Jugendzeit ift uns nichts 
befannt, zu Michaelis 1441 wurde er auf der Univerfität 
Erfurt immatriculiet. Nachdem er den für alle Fach 
ftudien grundlegenden Curfus in Philoſophie abſolvirt, 
wurde er als Magifter der freien Künfte promopvirt und 
wandte fih ver Theologie zu. Allmählich ging er ans 
ben Stande des Schülers in ben des Lehrers über, im 
Winterfemefter 1456/57 wird er mit dem Grade eines 
Licentiaten der Theologie als Rector genannt, im folgen- 
ven Winterfemefter als Doctor der Theologie und Bice⸗ 





Sodann von Wefel und feine Zeit. 3 


rector. Weſel trat auch in den geiftlihen Stand, jeboch 
ohne Mitglied eines Ordens zu werben, alfo als foge- 
nannter Weltpriefter. Seine Stellung in den großen 
firchlichen Fragen der Zeit nahm er auf feiten ber Oppo⸗ 
fition gegen das herrſchende Kirchenthum. Die Stadt Erfurt 
nämlich, obgleich ımter erzbifchöflich mainzifcher Hoheit 
ftehend, Hatte fo viel Freiheit und Selbftändigfeit bewahrt, 
daß man fie einer Reichsſtadt gleichachten konnte. Dort 
nun war die Stiftung der Univerfität von ber reich 
gewordenen, aufſtrebenden Bürgerfchaft ausgegangen, und 
es ift möglich, daß mit diefem Umſtande nicht blos 
die Thatſache zufammenbängt, daß der gegen Ende bes 
Mittelalters fich aufringenvde neue Humaniftifche Geift zu 
Erfurt neben Heidelberg am eheften zur Entfaltung kam, 
jondern daß auch die ſchon vorher im Schoße ver mittel» 
alterlichen Theologie felbft gezeitigte, der Oppofition vor- 
arbeitenve Richtung des Nominalismus zu Erfurt berr- 
ſchend wu.. 

Der Streit ber nominaliftifchen und realiftifchen 
Scholaftiker, ob Realität allein den einzelnen Dingen 
zufomme, während die von dem benfenden Individu um 
gebildeten allgemeinen Begriffe oder Ideen nur nomina 
jeien, d. 5. bloße Abftractionen von den Dingen, ober 
ob auch die universalia ſubſtantielle Exiſtenz haben, ſei 
e8 vor der Entjtehung der Einzelvinge als deren Urbilver, 
oder zugleich in und am denſelben — dieſer Streit hatte 
ja nicht blos die Bedeutung einer logiſch⸗metaphyſiſchen 
Schulfrage, fondern dem Realismus war mit bem richtig 
entwickelten Begriff zugleich die Realität des Erjchloffenen 
gegeben, aljo die Einheit von Denken und Sein gefekt; 
der Nominalismus betonte, daß bie Welt der Ideen fich 
mitnichten mit der der Erſcheinungen decke, er bahnte 

1* 


4 Johann von Wefel und feine Zeit. 


bie Trennung von Glauben und Willen an. Nachdem 
im 11. Jahrhundert ver Realismus in Anjelm von Canter- 
bury feinen Hauptvertreter gefunden hatte, dem ber No— 
minaltsmus in der Perſon Roscellin’8 bei einem Streite 
über die Zrinität unterlegen war, galt die dem natür- 
lichen Verſtande immer am meijten einleuchtende Anficht 
von der alleinigen Realität der Einzeldinge bis ins 
14. Jahrhundert als heterodox; feit jeiner Erneuerung 
durch den Franciscaner Decam jedoch, den Schütling 
Ludwig's des Baiern in Münden (F 1349), brachte es 
ber Nominalismus zu kirchlichem Anjehen und jelbit zur 
Herrichaft, der nur bis zum Ausgang des Mittelalters 
bie realiftiichen Dominicaner aus Verehrung gegen ihren 
Thomas von Aquino wiberftrebten. 

Freilich Fam die kritiſche Richtung, die im Nomi⸗ 
nalismus an fich lag, zunächſt keineswegs zur Auswir⸗ 
fung. Wenn auch die Nominaliften in einer Menge von 
Einwendungen, welche man gegen biefe und jene firch- 
lichen Dogmen etwa erheben könnte, mit Vorliebe ihren 
Scharfſinn erprobten; an ven lirchlichen Autoritäten wurde 
faum einer irre, weil jene Einreden aus ber Vernunft 
ftammen, in den Autoritäten aber Gott reden follte. So 
waren auch die Nominaliften immerhin Scholaftifer, und 
auch Weſel's Dppofition gegen das Kirchenthum feiner 
Zeit hat ihren Nährboden nicht in einer veränderten Me- 
thode des theologifchen Erfennens, fie Tonnte durch feinen 
Nominalismus nur gefördert werben. 

Bald nach feinem Vicerectorat wurde Johannes Ruchrat 
an den Rhein berufen, was infolge ver Hoheit des mainzer 
Stuhles über Erfurt öfter vorgefommen zu fein fcheint; 
und zwar als Domherr nach Worms. Im Sommer 1461 
fiedelte er nach Baſel über, vom Rathe der Stadt nad 
längern Verhandlungen für die neugegründete Univerfität 





Johann von WVefel und feine Zeit. 5 


gewonnen; aber fchon im Sabre darauf kehrte er nad 
Worms zurüd und wirkte dafelbft 17 Jahre lang ale 
Domprediger bis zu feiner Verhaftung. 

Daß Wejel mit Verſtändniß feine nunmehrige praftifche 
Wirkſamkeit zu erfaffen wußte, beweift im Gegenfage zu 
der von ihm als Profefior — aber nicht vor feinem 
Rectorate, vielleicht in Baſel — verfaßten berühmten 
Schrift „Wider den Ablaß“ vie in feinem Pfarramte 
entjtandene Abhandlung „Bon Autorität, Amt und 
Gewalt ver Hirten der Kirche”. Im jener wird das 
beftrittene Inftitut in fchulmäßiger Form und Gebanten- 
bewegung beiprochen, und ein gewiſſer wiffenfchaftlicher 
Duietismus läßt auf blos gelehrtes Intereffe an der auf- 
geworfenen Frage fchließen; dieſe ift in ihrer Haltung 
viel populärer und lebendiger, allenthalben ericheinen bie 
concreten Schilberungen der befämpften Misftände als 
aus unmittelbarer Anfchauung entnommen, oft bricht tief⸗ 
empfundener Manneszorn über ben verberbten Klerus 
mit hinreißender Urfprünglichkeit (08. Bon Weſel's Pre- 
bigten und fonftigen Schriften bat ſich nicht® erhalten, 
aus den wenigen von theologischen Gegnern unter feiner 
Kanzel gefanmelten Paraporen kann jeboch auf eine 
anfaſſende, gelegentlich jarkaftiich derbe Sprache, die vor 
fühnen Ausfprücen nicht zurückſchreckte, auch in der Pre- 
bigt geichloffen werden. Auch über ven Erfolg feiner 
wormjer Thätigkeit Laffen fich pofttive Angaben nicht bei» 
bringen. Die erhaltenen Schriften genügen jedoch, ein 
Bild feiner Auffaffung des Kirchenglaubens und ver 
großen feine Zeit bewegenden Fragen zu zeichnen. Es 
wird gut fein, eine Skizze des Gefammtzuftandes ber 
Kirche in jenem Jahrhundert mit Weſel's Auslaffungen 
zu verbinden. 

Die Kirche des Mittelalters batte e8 verftanden, 


6 Johann von Wefel und feine Zeit. 


ſich als ven Gottesftant zu organifiren, deſſen Grenzen 
die Enben des Abenplandes waren; ihr Oberhaupt batte 
feinem Anſpruch, Duelle aller und jeglicher, geiftlicher und 
weltficher Gewalt zu fein, Anerkennung und Herrſchaft 
zu erringen gewußt. Dem Mittelalter galt das römifche 
Recht als das Weltrecht, als zeitgemäße Mobification 
vefielben wollte das „Corpus juris canonici” gelten, man 
fuchte das Recht bei dem geiftlichen Gericht auch in einer 
Mehrzahl dinglicher und perfünlicher Mechte- und Ord⸗ 
nungsverhältniffe der Laienwelt. Nicht bios Verldbniß 
und Ehe, Teftament und Begräbniß, bürgerliche Rechts⸗ 
verhältniffe, die beſchworen find, Beneficialftreitigfeiten, 
Barochialrechte, Batronat und Zehnten unterlagen kirch⸗ 
licher Jurisdiction, fondern bie Kirche forderte auch Bruch 
der treuga Dei, Raub und Brandſtiftung, Wucher, 
Falſchmünzerei vor ihr Forum; erließ Geſetze gegen See⸗ 
raub und Strandrecht, gegen Turniere, gegen bie früher 
zugegebenen Orbale, gegen nene Auflagen; jelbft in bie 
Kriegführung mifchte fie fich gejeßgeberifh ein. Der 
Recurs von dem weltlichen Nichter an ven geiftlichen 
wurbe für alle Fälle eröffnet, fo bilvete ſich ein feinb- 
liches Verhältniß zwiſchen weltlichen und geiftlichen Ge 
richten. „Während die weltlichen Gerichte, und zwar 
namentlich in Deutfchland, nach einem alterthümlichen, 
mehr und mehr in Formenftrenge und Engherzigfeit ers 
ftarrenden Proceß verfuhren, trat im geiftlichen Gericht 
ein im wefentlichen formfreier, an erfter Stelle die Ge 
rechtigfeit und Billigfeit der Sache in das Auge fafjender 
Broceß hervor: der Proceß, welchem die Zukunft gehörte.” 
Auch nach andern Richtungen verfah pie Kirche Aufgaben, 
bie in der Neuzeit der Staat fich vindicirt, nachdem ber 
befcheidene Umfang ver im Mittelalter an ven Staat ge: 
ftellten Forderungen von Jahrhundert zu Jahrhundert 








Johaun von Wefel und feine Zeit. 7 


mehr ind Breite gefloffen ift. Unterricht und Armen- 
pflege, Geldgefchäfte, Handel und Wandel bejorgte bie 
Kirche, daher mußte die bürgerliche Gefellichaft auch durch 
äußerliche Intereffen jchon aufs engfte mit der Kirche 
verwachſen fein. 

Da begann, gerade als das Papfttfum die Unbe- 
ſchränktheit ſeiner Machtfülle am nadteften zur Ausfage 
gebracht hatte — subesse Romano Pontifici omnem 
humanam creaturam de necessitate salutis — ver 
Verfall der Kirche; es läßt fich öfter beobachten, daß 
eine gefchichtliche Ericheinung ihre innere Kraft ſchon zu 
verlieren angefangen hat, wenn das Ziel ihres Strebens 
äußerlich erreicht ift. Die abhängigen franzöſiſchen Päpfte 
des 14. Jahrhunderts, Die fich gegenfeitig verfluchenden 
Doppelpäpfte ber folgenden Zeit genoffen fein Anfehen, 
die bodenlofe römische Habjucht und ſchamloſe Bejtechlich- 
feit waren auch dem blöbeften Auge erfennbar geworben, 
das Princip, daß die ganze Kirche auch in ben Kleinften 
Dingen kirchlicher Lebensäußerung unmittelbar von Rom 
aus regiert werben jolle, erwies fich als unflug und un- 
burchführbar. So wurde die Rechtspflege Tprichwörtlich 
langfam und iumficher; die unerjchiwinglichen Koften der 
Proceffe, die aufs unmwürbigfte verwandten firchlichen Ab- 
gaben fühlte man als drückende Laſt; eine erſchreckliche 
Unficherbeit aller öffentlichen Zuftände griff Platz. Wenn 
die Reformceoncilien bes 15. Jahrhunderts daher vor 
allem eine Neuorbnung ber Tirchlichen Verfaffung, ber 
Gerichtsbarkeit, des Steuerweſens anftrebten, jo ift biefe 
Bemühung, biftorifch beurtheilt, d. 5. nach dem Maßftabe 
ver Zeitlage, keineswegs gering zu tariren; erhoffte man 
boch davon auch eine Beflerung ver religiöfen und fitt- 
fihen Zuftände. 

Die Unwiffenheit nämlich und Trägheit, die Genuf- 





8 Johann von Wefel und feine Zeit. 


ſucht, Zuchtlofigkeit, Ehr- und Habgier der Welt- und 
Kloftergeiftlichkeit, die Roheit, Spielfuht, Vollerei der 
Laien, die Beunruhigung des bürgerlichen Gemeinweſens 
durch innere und äußere Fehden Hatte im Laufe bes 
14. Jahrhunderts eine allgemach gefahrbrehende Höhe er- 
reicht, ein Hauptmittel, dieſem eingetretenen Verfalle 
bes religiöfen und fittlichen Lebens bei Voll unt 
Geiftlichfeit zu fteuern, fuchte man in einer Reformation 
auf dem Gebiete des Mönchthums. 

Wenn die vorreformatortiche Kirche die evangeliſche 
innerliche Ueberwindung der Welt, das In⸗der⸗Welt⸗ und 
doch nicht Von⸗der⸗Weltſein, nicht kennt, fondern der 
Welt theils durch Weltflucht, theils durch Außerliche Be⸗ 
herrſchung Herr zu werben fucht, fo muß jebe neue Phaſe 
bes Imftituts, Das die Weltentfagung verlörpern jollte, 
alſo des Mönchthums, darauf hinweifen, daß bie Kirche 
ihr Ideal im Verhältniß zur Welt nicht erreicht fühlt, an 
und in fich von neuem eine Reform verfucht. Jeder neue, 
jeder veformirte Orden Hagt die alten an, klagt die Kirche 
an, er ift ein Neformationsverfuch, der bald wieder durch 
einen neuen Orden als gejcheitert erflärt wird. Im 
13. Jahrhundert hatte Franciscus von Aſſiſi das Stich 
wort von ber Nachfolge des armen Lebens Chriſti 
auögegeben, bie Bettelorven der Franciscaner ımb Do 
minicaner waren entitanden; nach anfänglich fchnelifter 
Verbreitung und großer Blüte waren fie in den alige- 
meinen Verfall mit hineingezogen worben; aber ber Ges 
banfe von ber Nachfolge Ehriftt behielt feinen Zauber 
für die Herzen der mittelalterlichen Frommen, vom Aus- 
gang bes 14. Jahrhunderts an hat er bie Gründung vieler 
neuen Klöfter, neuer Orden, 3. B. der Brüber vom ger 
meinjamen Leben, und die Zurüdführung ber beftehenden 
Orden zur alten Strenge der Regel gezeugt; feinen claf- 





Johann von Weſel und feine Zeit. 9 


ſiſchen literarifchen Ausprud bat er in der „Imitatio 
Christi“ des Thomas von Kempen gefunden. 

Es ift nichts Evangeliſches an jenem Gebanlen, auch 
nicht an ber beginmenden Betonung der Schrift. Die 
in der Nachfolge Ehrifti erftrebte Darftellung des wahren 
Chriſtenthums ging in der Befolgung einer willfürlichen 
Summe ber oft Außerlichften Einzelheiten auf, jeltiam 
verbunden mit einer fchwärmerifchen Verehrung für Maria 
und bie Hetligen, wie wenn man durch bieje Devotion 
der Kälte jener mechanischen Frömmigkeit zu wehren ver- 
fuchte. Und die fat neu entvedte Heilige Schrift wurbe 
lediglich unter dem Gefichtswintel einer nova lex ange- 
fehen und verwertbet. Vorreformatoriſch haben dieſe Er- 
fcheinungen nur unbewußt gewirkt und nicht überall einen 
nachhaltigen Erfolg gehabt, venn die Klage und der Spott 
über bie Mönche verftummen zu feiner Zeit; freilich aber 
wurden andererſeits auch für den geiftlichen Stand wieber 
ernfte, tüchtige Männer gebilvet, für das Volf eine reiche 
Erbauungstiteratur in Gebetbüdhern, Katechismen, Hi⸗ 
ftorienbibeln, Leben Iefu, Predigten und Plenarien, d. h. 
Hauspoftilfen, verbreitet, und injonberheit hat das refor- 
mirte Bettelmönchthum auf vie Seftaltung des religiöfen 
Volkslebens gewirkt. 

Bon der Mitte des 15. Jahrhunderts an läßt fich 
eine heftige religiöfe Bedürftigkeit und Erregung des 
Volkslebens in Deutſchland conftatiren, in fieberhafter 
Daft werden die dem Mittelalter befannten Mittel, das 
Heil zu erlangen, gebraucht, gefteigert, gehäuft. Maſſen⸗ 
haft traten die Bruderfchaften auf, und mancher Gläu⸗ 
bige fonnte der Bruberfchaften, denen er angehörte, eine 
große Zahl aufführen. Im folchen Vereinen verbanven 
und verbinden fich Laien und Priefter zu gemeinfamer 
befonderer Verehrung eines Heiligen und gemeinfchaftlichem 





10 Johann von Wefel und feine Zeit. 


und damit gehäuften Erwerb guter Werke, man gewährt 
fich gegenfeitigen Antheil an vem buch Gebete, Wall- 
fahrten und andere religiöfe Leiftungen erworbenen Ver⸗ 
bienft, man fichert fich einander nach dem Tode eine 
Seelenmeffe zu. Viele Bruberjchaften waren Mönchs⸗ 
orden afftlitrt, infonderheit hatte Franciscus von Alfifi 
durch die Anregung feines „britten Ordens“ für Welt⸗ 
leute die ganze Welt ins Mönchthum zu ziehen verjucht. 
Noch 1882 Hat Leo XIII. durch das öffentliche Rund- 
jchreiben „„Auspicato” die Bruderfchaft diefer Tertiarier des 
Franciscanerordens allen Biichöfen zur Verbreitung und 
Befeftigung unter vem Volle empfohlen und 1883 durch 
bie Apoftolifche Conjtitution „Misericors” die Regel ven 
veränderten Zeiten entſprechend gemilvert. ‘Die Profeflen, 
bie heute nach Hunderttaufenven zählen, follen unter 
anderm Eitelfeit und Ueppigkeit in der Kleivung, unehr⸗ 
bare Gaftereien, Zänze und Schaufpiele, das Halten unt 
Lefen jchlechter Bücher und Zeitungen meiden. Sie tragen 
das Ordenskleid — Scapulier und Gürtel — ıumter ven 
gewöhnlichen Kleidern, haben gewiffe befondere Fafttage, 
bejondere Beitimmungen über Gebet und Genuß ver 
Sakramente. Die geforberten pecuniären Leiftungen find 
gering, doch follen die Mitglieder rechtzeitig ihre letzt⸗ 
willige Verfügung machen. 

Denfelben Einprud, als ob Gott durch die über 
ſchwengliche Summe religiöfer Leiftungen Gnave abge 
rungen werben jolle, macht die Thatſache ver im 15. Jahr⸗ 
hundert ins Unendliche gefteigerten Zahl der angebotenen 
und gejuchten Abläffe mit den immer welter erſtreckten 
Zeiten, für die fie gelten. Immer kürzer wurbe auch ber 
Zeitraum, in dem die 1300 von Bonifaz VIII. einge 
richteten Iubeljahre einander folgten. In ihnen erlangten 
bie Beſucher gewiffer Kirchen Roms ganz beſondere 


Sobann von Wefel und feine Zeit. 11 


Gnaden, nicht blos vollkommene, ſondern vollfommenfte 
Vergebung der Sünden. Oefters auch wurde das Jubi⸗ 
(äum für ſolche, die ſich Die Wallfahrt nach Rom verſagen 
mußten, felbft jenfeit ver Alpen verfünbigt. Dazu wurben 
Reliquien in erorbitanter Fülle und mit auffälligiter 
Kritiffofigleit gefammelt. Ein Friedrich der Weije von 
Sachſen hat für die neue Schloßfirche zu Wittenberg mit 
enormen Koften 1010 Heiligthümer zufammengebracht, 
beren bloßer Anblid einen Ablaß von 100 Jahren ger 
währte. Und wenn Luther den Anftoß, den im Kloſter 
gefuchten Weg ver Wiedergeburt zu betreten, bei einem 
Gewitter empfängt und vom Blitz erjchredt mit ven 
Worten zufammenftürzt: „Hilf, liebe Sanct-Anna, ich will 
ein Mönch werben!” fo ruft er in der Mutter Marti bie 
Heilige an, deren Eultus im 15. Iahrhundert in einer 
Weiſe in Auffchwung gefommen war, daß er bald eine 
dem Marienbienft faft gleiche Höhe erftieg. Die heilige 
Anna ift aber nur eine einzige ber in jener Zeit in 
üppiger Zahl entvedten und leidenſchaftlich verehrten Hei⸗ 
ligen. Auch die unbedingte Macht, die der Teufels- 
und Hexenſpuk in ven Köpfen aller Schichten der Be- 
vöfferung zu gewinnen begann, erklärt fich ebenfo wie 
ver übertriebene Heiligenkult nur aus gewaltjamer Ueber- 
reizung ber religidjen Phantafie bei dem geſammten Volke. 
Imocenz VIII. bezeichnete in feiner Herenbulle von 1484 
das Deutſche Reich als ein Land, in welchem viele Per⸗ 
jonen männlichen und weiblichen Geſchlechts mit bem 
Teufel gottlofe Bündniſſe eingingen, und nahın das Un- 
weien ber Herenprocefie in den Schuß der Kirche, 

Und was foll man fagen, wenn die im Jahre 1501 
zum erften mal auf dem SKopftuche einer rau bei 
Maftricht erjchienenen und nach ihrer Entfernung immer 
wieder hervorkommenden rothen Kreuze Schnell fich über 





12 Johann von Wefel und feine Zeit. 


ganz Deutfchland verbreiten, auf Wäfche, Kleidern oter 
auch auf der bloßen Haut zu Tage treten und von ganzen 
Menfchenfcharen auf einmal erblicht werden? Wie ift es 
möglich, daß plöglih Mann und Weib, Kind und Greis 
aus ber Heimat auf- und davonlaufen und willenlos 
einem Wallfahrtsorte, 3. B. der blutigen Hoftie zu 
Wilsnad im Brandenburgifchen, zugetrieben werben? Die 
Reformation trat in eine veligids auf das allerlebhafteite 
intereffirte Zeit ein, verftand die religidfe Krankheit zu 
heilen und ven vergeblich gejuchten gnäbigen Gott zu 
zeigen. 

Doch man verfteht jene Zeit nicht ganz, wenn man 
nicht neben der religidfen auch die ſociale Erregung 
ins Auge faßt. Was das 16. Jahrhundert zufammen 
zeigt: die Reformation und den großen Bauerntrieg, das 
wird im 15. zufammen vorbereitet. Wenn aber aud 
Gewalt und Reichthum in Kirche und Welt damals 
nur allzu oft in einer Hand lagen, wenn das Denten 
und Fühlen ver Nation auch in den Dingen des natin⸗ 
lichen Lebens religiös gerichtet war, die ſociale Bewegung 
bat ihre eigene Quelle, fie ift mitnichten von ber reli- 
giöſen gezeugt. 

Das Mittelalter rechtfertigte die beftehende Schei⸗ 
dung der Menfchheit als präpeftinirt mit jener be 
rüchtigten Auslegung vom Segen und Fluche Noah’s, daß 
von Sem und Japhet Geiftlichleit und Adel, von Ham 
alle Unfreien, ja das Volk oder die Bauern überhaupt 
abftammen follten. Da regten die äußern und innen 
Kämpfe der veutichen Städte, der Eidgenoffen gegen ihre 
Herren, die huſſitiſche Yauernrevolution in Böhmen die 
untern Volksſchichten im ganzen Weiche gewaltig auf. 
Wenn viele Gelehrte felbft, Hhochangefehene Männer ber 
Kirche und Wiffenfchaft, vom Bewußtfein ver vorhandenen 





Sodann von Wefel und feine Zeit. 13 


jocialen Mlisftänte tief durchdrungen find, und ein Ni- 
folaus von Kues z. B., „ver begabtejte Mann der Nation 
zur Zeit des Bafeler Concils“, die Warnung ausfpricht: 
„Wie die Fürſten das Neich verfchlingen, jo verichlingt 
einft das Volt die Fürſten“ — fo veranlaßte daſſelbe 
Bewußtſein im Volt erft recht überfühne und grund- 
ftürzende Aeußerungen; in Schrift, Lied und Predigt. 
Der Faſtnachtſpieldichter Hans Folz z. B., Barbier und 
wahrſcheinlich auch Drucker zu Nürnberg in der zweiten 
Hälfte des 15. Jahrhunderts, urtheilt in ſeiner „poetiſch 
yſtori, von wannen das heyhlich römiſch reiche feinen vr⸗ 
ſprung hab“: 

Das weltlich ſwert iſt gancz verroſt. 
Die Häupter der Chriſtenheit und die Mächtigen in 
den Städten ſind in die Schlingen des Geizes gefallen, 
der Kaiſer wird der Beſtechlichkeit beſchuldigt: 

Nye ſüßer droſt im geben wart 

Dan von reichart, gebhart, clinghart. 
Das Schlußgebet erfleht Befreiung 

Bor aller tiraniſchen rott. 

Diefe Gedanken gewannen um fo größere Kraft, je 
geläufiger die Gleichſetzung der Begriffe arm und 
fromm war, bie Plebs alſo religids tbealifirt wurde, 
und je mehr der Glaube an die allgemein umlaufenden 
Weiffagungen von ber bevoritebenden Zukunft des Anti- 
chriſts, der Züchtigung des Klerus, von Zeiten furcht- 
baren Iammers, aber auch chiliaſtiſcher Glückſeligkeit dazu— 
trat. So erfreute fih Hans Böheim, der Gemeindehirte 
und Sadpfeifer zu Niklashauſen im Zaubertbal, ob folcher 
Weiffagungen eines unerhörten Zulaufs. Wie das Bettel⸗ 
mönchthum durch die energiſche Nachfolge des armen Lebens 
Jeſu mit dem Nimbus einer befondern Heiligkeit um⸗ 
geben war, jo wurbe nun auch der Bauer geehrt Durch die 





14 Johann von Wefel und feine Zeit. 


unmittelbare Beziehung feines Standes auf ven Heiland, 
von dem gefchrieben ftehe: „Homo agricola ego sum.“ 
In einem Volksliede ſetzt der Bauer jelbft feine Feld⸗ 
arbeit in Beziehung zum Saframent des Altars: 

Ich pau die frucht mit meiner band, 

Darain ſich gott verwandelt, 

In des priefters band. 
Und Hans Folz preift in feinem „Kargenſpiegel“, der ven 
Evangelifchen im 16. Sabrhundert den Beweis mitliefern 
half, wie einzelne Männer mitten im Bapftthum ihren 
Glauben auf Chriftum und nicht auf Menſchenwerk ges 
jtellt, den Armen felig, der feine Armuth willig trägt, 
während den Fargen Reichen nur Verdammniß erivartet, 
jo ſehr er auch durch Meffen und milde Stiftungen feine 
Seele gut zu „befachen” meine. Chrifti armes Leben 
und feine Paffion find unfere Verſöhnung. Darum er- 
geht die Mahnung: 

Gib yez, fo e8 zu nucz bir kumm, 

Nit fo fih ander zanden drumm, 

Wan ein aller pey deinem leben 

Sft me dan nach beim dot gegeben 

Ein großer ſylberiner perg 

Wan gleich alle du: fint dot dein werd. 

Dazu kommt, daß auch bie nationalökonomiſche 
Bedeutung des Nährftandes ind DBewußtfein der 
Zeitgenoffen tritt, in einem Meiſterliede werben Stola, 
Schwert und Pflug nebeneinander genannt, 

Und flent ir dri einander bi, fo lebe wir wol üf erben. 
Der überjchwenglichite Anwalt der Bedeutung des Nähr- 
ftandes ift der nürnberger Wappendichter Hans Roſen⸗ 
blüt, ein älterer Zeitgenoffe von Hans Folz. Nach ihm 
„wäre jede Erijtenz, gejchweige denn ber Luxus, ohne bie 
unmittelbaren und mittelbaren Früchte der Feldarbeit uns 
möglich. Aller Reichthum, «Pfenning und Pfennings 





Johann von Wefel und feine Zeit. 15 


werth» wird aus dieſer Quelle abgeleitet. Der Dichter 
ift fo hingeriſſen von diefer Erfenntniß, daß er den Klang 
ber Drefchflegel ſchöner findet als der Nachtigall Geſang“: 
Ich Iob Di, bu edler bawr, 
Fuͤr alle creatawr, 
Für all bern auf erben; 
Der kayſer mufz dir gleich werben. 
Ein andermal, in dem Gedicht „Bon dem Müßiggänger“, 
führt Rojenblüt aus: Von dem Schweiße, der bed Ars 
beiter8 — des Handwerksmanns und des Bauers — 
Antlig netzt, wird feine Seele fo gebleicht, daß ihre 
Schöne in den Himmel reicht und Gott um fie zu buhlen 
beginnt. Alle Wiffenichaft ift nicht jo heilkräftig, 
Als wenn der erbepter einen tropffen fwißt, 
So er an feiner erbeyt erhikt. 
Der Tropfen fpaltet fich in vier Theile. Der erfte Theil 
fließt in die Hölle Hinab und Löfcht das ewige Teuer, 
barin bie Seele ewig hätte brennen müffen; ber zweite 
Theil wäſcht die Seele rein; der dritte fteigt gen Himmel 
auf und gewinnt Vater, Sohn und Geift, ſodaß bie 
Seele mit Gott ganz vereinigt wird; ber vierte Theil 
jammelt alle guten Werfe, die in der Chriftenheit mit 
Faſten, Beten, Almojen, Meſſen, rechten Gericht, Wall- 
fahrten getban werben, dazu die Verbienfte aller Mär- 
tyrer, um ben Arbeiter all deſſen theilhaftig zu machen. 
Dorumb ift erbeyt ber gotlichts orden, 
So er ye auf erden geftifft ift worden, 
Bann jn got felber hat geflifftet. 
Den Müßiggänger erwartet eivige Verdammniß; den Weg 
zum Himmel geht, wer nimmer müßig tft und dem Prie= 
fter gehorcht. 
Doch volg du feinen wortten, bie bein fel fpeifen, 
Bnb flewhe feine wergk, die bich abweifen. 





16 Johann von Wejel und feine Zeit. 


Dann wird Jeſu Paffion unter den Geſichtspunkt einer 
Arbeit geftellt, ebenjo jeine Weltregierung; wenn vie 
„Arbeiter da oben“ am Sternenhimmel feiern wollten, 
fo wäre e8 bier unten mit allem Wachsthbum aus. „So 
erhebt der bürgerliche Dichter die Arbeit zum ethiſchen und 
zugleich zum kosmiſchen Princip; er fteht in der mechaniſchen 
Thätigleit der menjchlichen Kraft ebenjo etwas Göttliches 
wie in der Bewegung der Weltlörper. Und er jchlägt 
ihren Wertb höher an als jenen ber Geiftesarbeit und 
ftellt fie den von der Kirche gepriefenen gottgefälligen 
Leiftungen ebenbürtig an bie Seite.” 

Somit hatte fich von der Werthung der niebern Stände 
eine Anſchauung herausgebilvet, ver man troß ihres reli- 
giöfen Gewandes das Präbicat ſocialiſtiſch beizulegen 
geneigt if. Mit der allgemeinen Oppofition ber Zeit 
gegen die Hierarchie ging fie parallel, zum ‘Theil Hand 
in Hand. Denn jener Ipealifirung zu Trotz füllen fi 
in der Wirklichkeit Pfaffen, Mönche und Nonnen ohne 
Danf mit ber Speife, 

Die bauleut haͤn gewunnen, 

In felte und an ber funnen, 

In hunger, durft, in bitterm fivaiz, der von im ift gerunnen. 
Darum wird das Volkslied immer wieder ein Rufer zum 
Streit: 

Dir follen Gott im Himmel Hagen, 

Daß wir bie Pfaffen nit follen erfchlagen, 

Kyrie Eleiſon! 
Und die Bauernaufſtände ſeit dem zweiten Drittel des 
15. Jahrhunderts demonſtriren, wie „edel“ und „heilig“ 
der Bauer, ſchon mit Flegel und Senfe. Am Ende des 
Jahrhunderts ift der „Bundſchuh“ das lockende Wahr. 
zeichen ber armen Leute geworben, vor beffen Drohen 
Adel und Geiftlichkeit erzittern. 





Johann von Wejel und jeine Zeit. 17 


Bon den religiöfen NReformverjuchen des. Mittelalters 
wurben eine Anzahl auch unabhängig von der Gefammt- 
firche unternommen, indem man berjelben vie Kraft ab» 
ſprach, ſich aus fich felbft zu regeneriren. Dieſe Nefor- 
mationen Inüpfen fi vor allem an die Namen eines 
Wiclif und Hus. Beide Männer ftehen, was bas 
Centrum ber evangelifehen Erkenntniß anlangt, noch auf 
tem Boden des Mittelalters, ihre Betonung der Schrift 
jevoch und ber enge Anfchluß bei ihrem Unternehmen an 
das nationale Leben ihrer Voͤlker hat fie zu einer fcharfen 
Dppofition gegen bie unbiblifche, romaniſche Großkirche 
geführt. Wicltf ift der bebeutendere Gelehrte, Hus ver 
größere Praftifer; wenn dieſer mit feinen Reformgedanken 
oft jogar bis in die Form hinein von jenem abhängig 
ericheint, fo ift der Wiclifie wieder nicht in ihrem Stifter, 
fondern in dem böhmischen Schüler die Krone des Mar- 
tyriums befchieven geweſen. Auf der Linie biefer felb- 
ftändigen Reformationen aber bewegt fich auch Johannes 
Ruchrat von Wejel. Er tft bedeutend weniger gefannt 
als Wichf und Hus, weniger auch ald ein Wefjel, ein 
Savonarola; aber die Erfenntniß der Schäven der Kirche 
ift bei ihm kaum minder tief, bie Kraft feiner Bofition 
faum minder ftarl als bei Wichf, und wenn ihn dank⸗ 
bare Schüler, begeifterte Anhänger nicht umgeben, wenn 
fein Anzeichen vorliegt, daß fein Proceß für bie Zeit- 
genofjen über die Bedeutung einer cause celebre hinaus⸗ 
geht, fo ift das wol daraus zu verftehen, daß er nach 
Art der nieberländiichen Neformatoren von vornherein 
mehr auf eine ftillere, innerliche Wirkſamkeit ausging; 
freilich mag er auch als Perfönlichfeit von geringerer Kraft 
geweſen fein, wenn vom Verhalten des Greifes bei dem 
Broceife auf die Art des Mannes zurückgeſchloſſen wer- 
ven darf. 

XXII. 2 


18 Johann von Wefel und feine Zeit. 


Das Bild nun, das fih aus Weſel's Schriften von 
ven kirchlichen Zuftänden feiner Zeit entwerfen läßt, 
illuſtrirt unſere obigen Andeutungen in auereichenber 
Weile. Man jagt, fo führt er aus, nach dem geiftlichen 
Amte, ohne dazu von Gott berufen zu fein, man erwirbt 
es mit Geld. Darum gibt es im Weinberge des Herrn 
mehr Freſſer und Säger als Arbeiter, alle find blos auf 
eine Gelvernte für ſich bedacht. Man will hervorragen 
durch Glanz und Reichthum des Lebens, mit koniglicher 
Pracht geht man einher und fpielt in Müßigkeit und 
Lurus den Shbariten. Der Klerus fireitet mit bem 
Mächtigen ver Erde um die Herrichaft, je bie Biſchofe 
ichämen ſich des geiftlichen Schwerts zu Gunſten bee 
weltlichen, das fie doch ohne Berechtigung führen. Beim 
Gottesdienſte aber werben bie Gebete von ben Prieſtern 
gar falt und geiſtlos hergemurmelt, bie Lectionen mit 
Efelsftimme herausgebrüllt, in den Prebigten die Legenden 
ber Heiligen, vie Betrügerei mit dem Ablaß, bie Thätig- 
feit der Bruberfchaften auf alle Weiſe in ben Himmel 
erhoben. 

Ein feltener Vogel tft, einem ſchwarzen Schwane ver- 
gleichhar, wer das Amt wirbig verwaltet; bie guten 
Hirten find entweber irgendwo im Winfel verborgen ober 
auch wol proferibirt und ſchimpflich verbannt; wer Gottes 
Wort predigen will, muß auch willens fein, Gefahr für 
fein Leben zu laufen. Darum kann mir vom Dale 
bleiben, ruft er aus, bie zweizadige Mitra, micht küm⸗ 
mert mich die glänzende Inful, für Koth halte ich den 
Hirtenftab, auch wenn er mit Gold und @belfteinen be 
ſetzt iſt. Die Titel des Papftes als des Statthalters 
Ehrifti, des Halbgottes, des Göttlichiten find blasphemiſch. 
Es ift der menfchlichen Selbftfucht gemäß ganz unmög- 
lich, daß der mit dieſem Schmuck gezierte Affe fich nicht 








Johaun von Wefel und feine Zeit. 19 


ſelbſt gefällt und mit Verwegenheit fich überhebt. Nicht 
berrichen, fondern dienen ſollen die Prälaten, pie fchlechten 
Priefter find die Urfache für ven Verfall des Volles. 
O erjchredlich find die Zornesweiffagungen der Propheten 
wider faliche Hirten, die Hirten müffen für die Sünden 
der Heerbe mitbüßen! Die Ehriftenheit bat Gottes Ge⸗ 
richt auf fich herabgezogen, weil fie ven Lügenpredigern 
Gehör gefchentt, Beifall gezolit bat. 

Ich ſehe e& kommen, daß unfere Seele in Hunger 
babinfchwindet, wenn nicht aus der Höhe ein Stern ber 
Erbarmung und aufgeht, der dieſe Finſterniß, dieſes 
Dunfel von unfern Augen vertreibt, die durch die Rügen 
der Lenker verzaubert find, und das Licht wieberberftellt; 
ber biefe® Joch der babylonifchen Gefangenfchaft nach fo 
vielen Jahren endlich zerbricht; der dieſe Handlanger ber 
Ungeredhtigfeit, diefe Bäuche, Hunde und böjen Thiere, 
dieſe bauchdienerijchen Freſſer der Witwen entiweber mit 
ewigem Xichte befeligt, oder in die Hölle ftürzt, bamit 
nicht wir alle zuſammen lebendig in vie Hölle fahren. 
D Gott, erlöfe Israel aus feinen Nöthen allen! 

Als Grund für diefen traurigen Zuftand der Kirche 
nennt Weſel ven Abfall vom Worte Gottes. Wie 
er fchon als Profeffor erklärt Hatte, nichts jagen und 
fehreiben zu wollen, was gegen bie Heilige Schrift fei, 
io betont er fpäter, wie fehr Schriften ergößen, bie nach 
Bibelftudium ſchmecken. Papft und Priefter müßten wieber 
Ehrifti Geſetz lehren und treiben, ihr Amt in die Hebung 
von Ermahnung und Ratb, Predigt und Troſt feßen, 
in&bejonbere der Armen auch pecuniär fi annehmen. 
Biel Hoffnung freifih, daß die Kirche als ganze das thr 
drohende Gericht erkennen und durch Umkehr abwenden 
werbe, jcheint Wejel nicht gehabt zu haben. Immer 
wieber jeboch begegnen wir ber herzandringenden Empfeh⸗ 

2* 





230 Johann von Wefel und feine Zeit. 


fung der Schrift, der glühenden Verſenkung in das arme 
Leben Jeſu als Ideal für das Leben des Ehriften. Aber 
bedarf die Schrift nicht der Auslegung? Die Doctoren 
legen fie falſch aus und find untereinander recht uneinig 
und darum feine Autorität; umfichtige Ausleger werben 
bie einzelnen Stellen miteinander vergleichen und Schrift 
durch Schrift erflären. Im Evangelium, meint er zu⸗ 
verfichtlich,, find wir alle einig. 

Wir haben die Werthung biejer Gedanken ſchon ger 
würdigt, ſie ſind noch mittelalterlich gedacht; evangeliſch 
iſt auch die Heilslehre Weſel's nicht. Er gibt das 
Schema ver mittelalterlichen Dogmatik. Chriſtus iſt uns 
von Gott zur Gerechtigkeit gemacht. Gerecht vor Gott, 
Gott wohlgefällig aber werden wir, indem uns Gott ſeine 
Gnade eingießt, ſodaß der Heilige Geiſt in uns lebt, 
und Liebe zu Gott in die Herzen ausgegoſſen iſt. Für 
die infusio der Gnade aber iſt bei dem Menſchen das 
Borhandenfein einer dispositio congrua, ber Buße nöthig, 
in die er fich felbft verſetzt. Auch die Werke, bie ber 
Gläubige in Liebe zu Gott thut, find meritoriſch für das 
ewige Leben. Es fehlt die evangeliſche Erkenntniß ber 
Rechtfertigung als eines jurisdictionellen Actes und ihrer 
Unterfchievenheit vor der nachfolgenden Heiligung, es 
fehlt der centrale Begriff des Glaubens. Der Glaube 
ift eine notitia, nämlich von dem, was verftanbesmäßig 
nicht begriffen, aber doch einigermaßen ergriffen werden 
fonn. Wenn aber Wefel doch auch wieder bie in ber 
Kirche vorhandene Ieere Prahlerei mit Werken bei er- 
lofchenem Glauben beffagt und nach den Paraboren und 
Proceßacten der Erwählungslehre gehufbigt dat, sola Dei 
gratia salvantur electi, fo bat biefe Verwerfung eine 
Verdienſtes por Gott, dieſe praktiſche Orientirung des 
Chriſten über ſich ſelbſt unter dem Geſichtspunkte der 





Sobann von Weſel und feine Zeit. 2 


Gnade doch noch nicht reformatorifche Kraft. Erft Luther 
und Zwingli haben biefes auch fonft im Mittelalter be 
obadhtete unmittelbare religtöfe Gefühl zum beherrſchenden 
Mittelpunkt auch der Doctrin gemacht. 

Doch wird allerdings durch Weſel's Schriftprincip 
das mittelalterliche Lehrſyſtem wenn auch nicht in feinem 
Angelpımlte, fo doch in einer ganzen Reihe wichtiger 
Stellen durchbrochen. 

Weſel verwirft ven Ablaß. Die Folgen ver Sünde, 
jo führt er aus, find Schuld und Strafe. Die ewige 
Schuld vergibt Gott dem bußfertigen Sünder im Safra- 
ment ver Buße, wobei die Priefter feine Diener find. 
Wenn die Kirche dabei aber auch gewiſſe Strafen für 
die Sünden feftfeßt, fo bleibt ungewiß, ob dieſe Strafen 
ven von Gott feitgefegten adäquat find, Wenn alfo ber 
Bapft von dieſen Firchlichen Strafen wieder Ablaß er- 
tbeilt, d. 5. fte (gegen Gelb für Tirchliche Zwecke) erläßt, 
fo tft damit noch nicht gejagt, daß ver Menſch num auch 
von allen dur Gott über ihn verhängten Strafen be- 
freit fei. Vielmehr fteht aus der Schrift feft, daß Gott 
nach feiner Gerechtigkeit feine Strafen nicht erläßt, fo 
reichlich er auch nach feiner Barmberzigfeit die Schuld 
erläßt. Wie follte alfo ein Priefter thun können, was 
Gott nicht thut? Er kann e8 weber kraft der potestas 
clavium, denn biefe hanbhabt er eben im Sakrament 
ber Buße lediglich als minister Gottes, noch kraft der 
potestas jurisdictionis, denn dieſe tft eine menfchliche 
Snftitution. Nach alledem find die Abläfje piae fraudes 
der Gläubigen. Wefel bat die fchwächite Pofition ber 
Ablaptheorie, die Bräfumtion von der Ipentität der Kirchen- 
ftrafen mit Gottes zeitlichen Strafen als unhaltbar er» 
fannt und verwirft das ganze Inftitut. Und wenn ver 
Bapft, jo urtheilt Wejel ferner, meint Sünpenftrafen 





23 Johanu von Wefel und feine Zeit. 


erlaffen zu Tönnen, weil er ven Ausfall an Leiftungen 
durch die überfchüffigen Verdienſte der Heiligen compen- 
fire, fo widerſpricht die Lehre dieſes vom Papft verwalteten 
thesaurus operum supererogatoriorum bem Schrift- 
worte: Ihre Werke folgen ihnen nad. Eigenthümlich 
aber ift Weſel's Anficht, dag die Ablaßtheorie das Feg⸗ 
feuer überflüffig mache, daß die Exriftenz des Fegfeners 
aber nad) der Schrift feftftehe, und auch darum ber Ablaß 
zu veriverfen ſei. 

Auch an dem Centraldogma Roms, der Lehre von ber 
unfehlbaren Kirche, übt Weſel Kritik und behnt zu 
gleich feine Ausführungen auf die Zragweite weltlicher 
Autorität aus. Die Kirche irrt nicht, infofern ein Theil 
ber allgemeinen Kirche die Kirche Chrifti ift, nad 
ihrem andern Theile aber ift vie allgemeine Kirche eine 
Ehebrecherin, eine Hure; der Ablaß 3. B. ift von bem 
irrenden Theile der Kirche eingejeht, fie ſchadet mit ihm 
mehr als fie nüßt. Ein geiftliches und weltliches Regi⸗ 
ment zwar find beive nothwendig, aber der einzelne Glän⸗ 
bige hat das Recht, was ihm befohlen wird, zu prüfen. 
Zu gehorchen Hat er, wenn nicht® anderes geforbert wird, 
als das Geſetz Chriſti auch fordert. Fordert die Obrig- 
feit etwas im Wiberfpruch mit dem Worte Gottes, fo tft 
ber Gehorſam zu verjagen. Es kann aber auch ein 
Mittleres geforvert werden. Daran ift ver Gläubige im 
Princip nicht gebunden, boch wäre ed Sünde, durch 
Nichtbefolgung ohne Noth dem Nächten Aergerniß zu 
geben. Es tft an foldhe Gebote ver Kanon anzulegen, 
daß fie ber Liebe, die wir ums untereinander ſchulden, 
und dem gemeinen Frieden nicht widerſprechen. Beſtehen 
fie diefe Probe, jo gehorcht man ihnen, thun fie es nicht, 
fo darf die NRüdfiht auf den Nächiten wicht abhalten, 
daß man fich durch Nichtbefolgung auf das Wort Gottes 





Johann von Wefel und feine Zeit. 23 


ftellt und die Wahrheit befennt. Das dem Nächten ge- 
gebene Aergerniß kann nachträglich gehoben werben, die 
Wahrheit ins Schwanfen zu bringen iſt gottlod. Wenn 
aber dann ber Blig aus den päpftlichen Bullen zudt? 
Es ift ein kalter Strahl nur, denn ver Excommunicirende 
ift vorher ſchon von dem göttlichen Richter ercommumicitt, 
und ein Verfluchter kam nicht ercommuniciren. Der 
weltlichen Obrigfeit gegenüber aber geziemt im Falle bes 
Ungehorfams um des Gewiffens willen die Leidenswilligkeit. 

Doc fo energifch Wefel auch ven Anſpruch des Papſtes 
und ber Prälaten auf perjönliche Autorität zurückweiſt 
und negirt, daß es Sirchengebote, d. 5. Gebote über 
Chrifti Gebote, hinaus geben könne, die bei Todſünde ver- 
pflichten, er bat die Conſequenzen aus feiner Unterjchet- 
dung ber ecclesia Christi und der allgemeinen Kirche 
keineswegs entwidelt. Zwar macht ihm nicht Die Zuges 
börigkeit zur Papftlicche ven Ehriften, fondern der Glaube 
durch Ehriftt Gnade; aber doch wird weder vie] Heils- 
nothwendigkeit der Zugehörigkeit zu einer priefterlich ge⸗ 
leiteten und bierarchifch organifirten Kirche verworfen, 
noch gar die emptrifche Kirche mit ihren Heilsmitteln 
überhaupt zu Gunften einer Ipealgemeinfchaft für gleich- 
gültig erflärt. Es wird die Kirche nur wie fie hiſtoriſch 
handelte verworfen unb bafür verlangt, daß bie ihrer 
Idee entfprechende Kirche ſich durch den Nachweis ber 
Uebereinftimmung ihrer Maßnahmen mit dem unvergäng- 
fihen Maßſtabe des göttlichen Geſetzes dem einzelnen 
Ständigen legitimire. Und wenn Weſel dabei der Kirche 
die Macht ber Ergänzung ober Erweiterung bed gött- 
lichen Gejeges in Kirchengeboten vindicirt, die bie mutua 
dilectio und communis pax richt gefährben, jo thut 
er das wol in der richtigen Erfenntniß, daß das Stehen- 
bleiben rein bei dem Buchſtaben der Schrift in praxi 


24 Johann von Wefel und feine Zeit. 


unmöglich ift, aber er entzieht damit feiner Pofition die 
Teftigfeit. Darum kann er bei feinem Procefje Die Möndhe- 
gelübde für bindend erflären und von ber biftorifchen 
Kirche eine Anzahl Ausfagen tbun, bie ver Kirche Ehrifti 
gehören. Eine Mentalrefervation dabei, daß er bei feinen 
Ausfagen von der Kirche an die Kirche Ehrifti gebadht, 
bleibt ausgeichloffen, da er wußte, in welchem Simme er 
über „die Kirche” befragt wurde; er war alſo thatjächlic 
jelbft infolge Mangels eines abjoluten Maßſtabes im 
Zweifel, ob und inwieweit die Papſtkirche bie Kirche 
Chriſti fei. 

Es zeigt hier wiederum, wie fonft öfters, wieviel tiefer 
bie Gedanken Luther’ find und wieviel größer ihre trei⸗ 
bende Kraft, trotz ihrer formalen Uebereinftimmung mit 
ben Gedanken ver Aeltern, ja trotzdem er in feinen Theſen 
und erſten Auslaffungen über ven Ablaß 3. B. fich ſchwan⸗ 
fend äußert, während Weſel jchon das Inftitut ſchlechthin 
veriwirft. Angebeutet mag noch werben, daß Weſel neben 
andern minber wichtigen Säten auch das Vorhandenſein 
ber Erbſünde im Embryo betritt, nie Möglichkeit ſetzte, 
daß Chriſti Leib unter ver Geftalt des Brotes fei, obwol 
bie Subſtanz des Brotes bleibe, an dem Texte ber öfı- 
meniſchen Symbole Kritif übte, namentlich das filioque 
verwarf, und nach den Paradoren nicht ohne Derbheit 
bag Faften bejtritten haben ınag. 

Wir find auf dem Bunte angelangt, dem Procefie 
Wejel’8 näher zu treten. Im Februar 1479 wurde Wefel 
zu Mainz vor ein Keßergericht geftellt und einer Anzahl 
häretijcher Lehren für fchulpig befunden; er rettete Durch 
einen Widerruf fein Leben, wenn auch nicht feine Freiheit. 

Eine beſtimmte Beranlafjung zum Einjchreiten gegen 
Weſel zu conjtatiren, müfjen wir verzichten. ‘Der kühne 
Mann mag auf Grund feiner Schriften und Predigten 





Johann von Weſel und feine Zeit. 95 


ſchon längere Zeit Gegenftanp beimlicher Beobachtung ge- 
wejen fein, tbeologifche Gegner überwachten feine Pre- 
bigten und fammelten aus denſelben jene Anzahl fpäter 
durch die Inguifition verworfener Paradoxa. Auch fönnen 
wir aus einem Briefe Weſel's auf allerlei Quälereien 
ſchließen, die jein Didceſanbiſchof, Reinhard von Sickingen, 
ihm bereitete, bevor es zum äußerften Schritte des Keker- 
proceſſes kam. Wenn ver Verfaffer desjenigen Berichtes 
über ben Proceß aber, der im Gegenfat zu dem andern 
erhaltenen, der Form des Protokolls ähnlichen Berichte, 
jubjective Urtbeile einmiicht, in feiner Darftellung fagt, 
thomiftifhe Theologen, alſo Anhänger bes Realismus 
jeien die Heber gegen Weſel beim Erzbifchof von Mainz 
gewejen, und Wefel fei im Procefie deshalb jo übel weg⸗ 
gelommen, weil nur ein einziger feiner Richter, wie er, No- 
minalift gewejen, jo bleibt dennoch das Einjchreiten der 
Inquiſition gegen Wefel auch ohne Hinweis auf bie Ge- 
reiztheit zwiichen ben beiden tbeologifch- philojophiichen 
Richtungen erflärlich. 

Ebenfo wenig wie eine greifbare Veranlaffung zur 
Einleitung des Verfahrens Hat fich bis jet der Grund 
ausfindig machen laffen, nach welchen Weſel ver Juris⸗ 
bietion des mainzer Stuhles unterworfen wurde. 
Die Acten erwähnen nur bie Gefangenfchaft des Ange⸗ 
Hagten bei den Branciscanern in Mainz; vielleicht hat 
der Erzbiſchof von Mainz auf den Titel feiner Metro- 
politanrechte hin den wormſer Prebiger nach Mainz geladen. 

Dietber Graf von Iſenburg, Erzbifchof von 
Mainz, hatte einft freie Worte über römiſche Habſucht 
im Hinblid auf die Höhe feiner Palliengelver mit Triege- 
riſcher Verwäftung von Mainz büßen müffen. Er mochte 
ultramontanen Wünjchen zugänglich geworben fein. Auf 
jeine Bitte velegirten die Univerfitäten Heidelberg und 


26 Johaun von Wefel und feine Zeit. 


Köln je drei ihrer theologifchen Doctoren für die Abnahme 
bes „Eramens”, dem Wefel unteriworfen werben follte; 
von ber Univerfität Mainz waren Miitgliever zwar bei 
den Verhandlungen zugegen, aber von ihnen fcheint nie- 
mand bervorgetreten zu fein. ‘Die Hauptrolle hatte ber 
fölner Dominicaner Gerhard von Elten, welcher ver 
eigentliche Inquifttor war und das Eramen leitete, fein 
jüngerer College war Jakob Sprenger, einer ber be 
rüchtigten Verfaſſer des unſeligen Hexenhammers“. 
Am Freitag nah Mariä Lichtmeß, d. i. am 
5. Februar 1479, traten die heidelberger Theologen mit 
ihren Begleitern, die erzbiſchöfliche Curie und Mitglieder 
der mainzer Univerfität zu einer Conferenz zuſammen, 
durch die die Geſchäftsordnung des Proceſſes geregelt 
wurde. Ferner wurde beſchloſſen, es ſollten drei erz⸗ 
biſchoöfliche Beamte und ein Notar dem Angeklagten einen 
Eid abnehmen, baß er alle von ihm verfaßten Tractate, 
Werke und Schriften, welcher Art fie auch feten, präfen- 
tiven und außliefern wolle, um durch feine eigenen Worte 
überwiefen werben zu können. ‘Die heivelberger umb drei 
erzbifchöfliche Theologen follten die Tractate dann burd- 
geben, die Irrthümer excerpiren und rubriciren. Die am 
jelben Tage eintreffennen Kölner konnten an ber Durch⸗ 
fiht der Bücher Weſel's fich noch betheiligen. Schon am 
Sonnabend unterbretteten bie beivelberger und kölner 
Doctoren ihre ausgezogenen Artikel dem Erzbiichof, bie 
berjelbe jedoch nicht einfah, weil fte nicht zuſammengear⸗ 
beitet waren. Diefer Zug tft für Diether's Verhalten 
charakteriſtiſch. Ein wiffenfchaftliches oder Firchliches Inter- 
effe an ber Angelegenheit verräth er nirgends, wie er 
überhaupt einft ven Vorwurf hatte hören müfjen, daß er 
faum zwei Worte lateinifch reden köͤnne. Er wohnte ven 
Verhandlungen bet, als feine Thätigfeit wird bie Ber- 





Johaun von Wefel und feine Zeit. 97 


auftaltung wiederholter Saftmähler berichtet. Nach der 
Präfentation der verbächtigen Stellen aus Weſel's Schrif- 
ten ftellte ber Cõtus ver Doctoren Gerhard von Elten 
als Inquifitor förmlich vor, der Erzbifchof nahm ihn 
feierlih an, und ber Imguifitor überreichte fein Creditiv. 
Man beſtimmte noch Tag, Stunde und Ort des Examens, 
und es folgte ein Mittageſſen bei dem Erzbiſchof. 

Am Montag, den 8. Februar, des Morgend um 
7 Uhr, fanden fi im Refectorium der Franciscaner der 
Erzbifchof, der Imquifitor, die fremden ‘Doctoren mit 
ihrer Begleitung, der Rector, der Dekan ber Artiften- 
facuftät und andere Mitglieber der Univerſität Mainz, 
das Gefolge des Erzbifchofs, außerdem Studenten und 
Pedelle zum Eramen Weſel's zufammen. Obenan aß 
der Erzbiichof, dann folgte der Inquiſitor, fobann bie 
übrigen. Bor dem Beginn bed Examens ſprach ber 
Inguifitor Folgendes: „Ehrwürdigſter Vater, verehrte 
Doctoren u. ſ. w. Gegenwärtige Zuſammenkunft Bat 
unfer ebrwärbigfter Vater, ber Kurfürft, veranftaltet, um 
den Mag. Johann von Wefel über einige in Betreff des 
katholiſchen Glaubens verpächtige Artikel vernehmen zu 
hören. Aber ich will etwas zum Beſten jenes Mannes 
reden und bitte, daß zwei ober drei, bie ihm wohl wollen, 
ober auch andere fich erheben, um ihn zu ermahnen, daß 
er von feinen Irrthümern abftebe, in fich gebe und um 
Gnade flehe. Thut er dies, fo wird er Gnade erlangen; 
will er es nicht, fo wird ohne Gnade vorgegangen wer- 
den.” — Die drei darauf hin Abgeoroneten blieben aber 
jo fange aus, daß ber Inquiſitor den Fiscal jchidte, um 
fie zurüdzurufen; er fprach, Wefel müſſe freiwillig fommen 
und dankbar fein für folches Anerbieten ber Gnade. In⸗ 
dem ber Fißcal geben wollte, famen jene brei zurüd und 
führten Weſel in Perfon herbei; denn fo wollte er es. 





28 Johann von Weſel und feine Zeit. 


Der Angeflagte ging inmitten zweier Yranciecaner, 
krank, bleich, ein Greis für den Tod reif, einen Stab 
in ber Hand. Diefe Befchreibung feiner Berfon, zu 
fammengenommen mit dem Briefe an den wormfer Biſchof, 
nach welchen Weſel durch des Biſchofs unzählige Onö- 
fereien in viele fchlaflofe Nächte und einen koͤrperlichen 
Zuftand gelommen war, der ihn mit baldigem Tode be 
prohte, läßt uns in Wefel einen gebrochenen Mann feben; 
er hatte die beginnende Geiftesfchlacht verloren, ehe es 
zum Schlagen fam. Seinen Pla erbielt er in ver Mitte 
ber Berfammlung am Boden angewiefen, dem Erzbifchef 
und dem Inquiſitor gerade gegenüber; ber Inquiſitor 
wieberbolte ihm die Worte, die er vor feinem Erfcheinen 
geſprochen. Weſel war im Begriff, in längerer Rebe mit 
Proteft zu antworten, Gerhard unterbrach ihn aber mit 
dem Bebeuten, fich kurz zu fallen und zu fagen, ob er 
jest noch auf feine Sonvermeinungen fich ftellen wolle, 
oder auf die Lehre ver Kirche. — Er habe niemals etwas 
wiber die Lehre der Kirche geredet, antwortete Weſel; 
geichrieben habe er vieles, habe er barin geirrt ober übel 
geredet, jo wolle er widerrufen und alles bazu Roth 
wenbige thun. — „Ihr bittet alfo um Gnade?‘ fragte 
ber Inguifitor. — „Wofür foll ic um Gnade bitten, da 
mir nichts von einem Verbrechen, einer Schul ober 
einem Irrthum befannt ift?” — „Das wollen wir Eud 
ichon ind Gedächtniß zurückrufen. Wir wollen bad 
Eramen beginnen.” — Zwar ertönte jett von Wefel's 
Munde auf das Zureben der übrigen ein „Ich bitte um 
Verzeihung“, aber der Imquifitor beachtete e8 nicht mehr; 
wol weil er meinte, baß dem Verſuche Genüge gefcheben 
ſei, das Detail des proceffualiichen Verfahrens durch un: 
bebingten Widerruf des VBervächtigen entbehrlich zu machen. 
Es erfolgte die Verlefung zweier Schriftſtücke, durch bie 





Johann von Weſel und jeize Zeiz >> 


Gerhard jeine päpftliche Autoriiatien Tür rem Meyerscsc> 
bocumentirte und Johann von Zeil mb rc wu 
Gericht citirte. Damm verpflicktele ver Iammiinre zer 
Angeflagten eiblich, tie am ihm feireis mes Flmbess 
zu flellenden Fragen rer vollen Rate = 
antworten, ohne Iluskchweife nur eine Sevinierzer- - 
Etrafe ver Ercommmmicatien, tie fer atse nnanue 
eintrete (d. h. als ummittelbare Arte er mr me Bm 
beorohten Handlung, mümsfich vet !Inpisrimn: geger 05 
Gebot einer vorgefegten finktxhen Fein. re 
ein Crfeuntnig zu ericlgen babe, wermmnnusceh 3- 
rendae sententiae). Emzlih werıe mi = Nur 2 
Erzbiſchofs eivlich verrilichter, zı3 = lei. mei wuneez 
würde, treu aufzeihmen mwel:, kun zunerß zw 3erzT 
für das Berhör auigeieliı Fox Ine zoi Seen vr. 
ginnen. 

Weſel wurde zuerit zrag, # = num :gr 
laut des geleifteten Eires zertsaues u. vr Einer z 
reden, auch wenn fie ch zes Bu vist wm eTtT = 
mand richte. Er autwerwe: „fi m:-1:5° ve m 
quifitor: „Saget, ib z-zxIe ei” Iirirs warm 
rede: „Wozu brambe ich eb z Kerr mu m > 
weiß?” wurte Eliten bizsz zu er 
„Magifter Ichamms, Kırw see We .». 
bannes, faget: Ah alszte iT ıe Izpfzır „m 
glaube es.“ — Werz wer re Eee an = 
das herrifdhe — — Am * 2m 
des ganzen Xerfabrems Sckreii dr = nm 
Grund, warum er Tür zab Tun un 
doch uicht recht zu erichen. Bm m. se 124 ı. 
price vorfiegt, ie weise f7 SET - 
„Ih glaube e⸗ as Sestreeien us utamer. 


Geiftes nieverfiplagen. 2. u = mb mm m 5- 


22 Johann von Weſel und feine Zeit. 


erlaffen zu können, weil er den Ausfall an Leiftungen 
burch die überjchüffigen Verdienſte der Heiligen compen⸗ 
fire, fo wiberfpricht die Lehre Diefe® vom Papft vertwalteten 
thesaurus operum supererogatoriorum dem Schrift. 
worte: Ihre Werke folgen ihnen nah. Eigenthümlich 
aber tft Weſel's Anftcht, daß die Ablaßtheorie das Feg⸗ 
feuer überfläffig mache, daß die Eriftenz bes Tegfeuers 
aber nach der Schrift feftftehe, und auch darum ber Ablaf 
zu verwerfen fei. 

Auch an dem Centraldogma Roms, der Lehre von ber 
unfehlbaren Kirche, übt Weſel Kritik und dehnt zu- 
gleich feine Ausführungen auf die Tragweite weltlicher 
Autorität aus. Die Kirche irrt nicht, infofern ein Theil 
ber allgemeinen Kirche die Kirche Chriſti ft, mad 
ihrem andern Theile aber ift die allgemeine Kirche eine 
Ehebrecherin, eine Hure; der Ablaß 3. B. tft von dem 
irrenden Theile der Kirche eingefett, fie ſchadet mit ihm 
mehr als fie nüßt. Ein geiftliches und weltliches Regi⸗ 
ment zwar find beide nothwenbig, aber ber einzelne Gläu⸗ 
bige hat das Recht, was ihm befohlen wird, zu prüfen. 
Zu gehorchen hat er, wenn nicht® anbere® geforbert wird, 
als das Geſetz Ehrifti auch fordert. Fordert die Obrig- 
fett etwas im Widerſpruch mit dem Worte Gottes, fo tft 
ber Gehorfam zu verſagen. Es kann aber aud ein 
Mittleres gefordert werden. Daran ift ver Gläubige im 
Princip nicht gebunden, boch wäre es Sünde, burd 
Nichtbefolgung ohne Noth dem Nächften Aergerniß zu 
geben. Es ift an folche Gebote der Kanon anzulegen, 
baß fie der Liebe, die wir uns untereinanber fchulven, 
und dem gemeinen Frieden nicht widerjprechen. Beftehen 
fie biefe Probe, fo gehorcht man ihnen, thun fie es nicht, 
jo barf die Rüdficht auf den Nächiten nicht abhalten, 
daß man fich durch Nichtbefolgung auf das Wort Gottes 





Johann von Wefel und feine Zeit. 23 


ftelit und die Wahrheit befennt. Das dem Nächten ge- 
gebene Aergerniß kann nachträglich gehoben werben, bie 
Wahrheit ins Schwanken zu bringen tft gottlos. Wenn 
aber dann ber Blig aus ven päpftlichen Bullen zudt? 
Es tft ein Falter Strahl nur, denn der Ercommunicirende 
tft vorher ſchon von dem göttlichen Richter excommunicirt, 
und ein Verfluchter kann nicht ercommuniciren. ‘Der 
weltlichen Dbrigfeit gegenüber aber geziemt im alle bes 
Ungehorfams um bes Gewiſſens willen die Leidenswilligkeit. 

Doc fo energifch Weſel auch den Anfpruch des Papftes 
und ber Prälaten auf perjönliche Autorität zurückweiſt 
und negirt, daß es Sirchengebote, d. 5. Gebote über 
Chriſti Gebote, hinaus geben könne, die bei Todſünde ver⸗ 
pflichten, er hat die Conſequenzen aus ſeiner Unterſchei⸗ 
dung ber ecclesia Christi und ber allgemeinen Kirche 
keineswegs entwidelt. Zwar macht ihm nicht Die Zuger 
hörigkeit zur Papſtkirche ven Chriften, fondern ver Glaube 
durch Chriſti Gnade; aber doch mirb weder bie] Heild- 
nothwendigkeit der Zugebörigfeit zu einer priejterlich ger 
leiteten und hierarchiſch organtfirten Kirche verworfen, 
noch gar die emptrifche Kirche mit ihren Hetlsmitteln 
überhaupt zu Gunften einer Ipealgemeinfchaft für gleich- 
gültig erklärt. Es wird bie Kirche nur wie fie biftorifch 
handelte verworfen und bafür verlangt, daß bie ihrer 
Idee entfprechende Kirche fih durch ben Nachweis ber 
Uebereinftimmung ihrer Maßnahmen mit dem unvergäng- 
lichen Maßſtabe des göttlichen Geſetzes dem einzelnen 
Ständigen Tegitimire. Und wenn Wejel dabei der Kirche 
die Macht der Ergänzung oder Erweiterung des gött- 
lichen Geſetzes in Kirchengeboten vindicirt, die Die mutua 
dilectio und communis pax nicht gefährven, fo thut 
er das wol in der richtigen Erfenntnig, daß das Stehen» 
bleiben rein bei dem Buchftaben der Schrift in praxi 





292 Johann von Wefel und feine Zeit. 


erlaffen zu können, weil er ven Ausfall an Leiftungen 
burch die überfchäffigen Verdienſte der Heiligen compen- 
fire, jo widerfpricht die Lehre dieſes vom Papft verwalteten 
thesaurus operum supererogatoriorum bem Schrift. 
worte: Ihre Werke folgen ihnen nach. Eigenthümlich 
aber ift Weſel's Anficht, daß bie Ablaßtheorie das Feg⸗ 
feuer überfläffig mache, daß die Eriftenz des Fegfeuers 
aber nach ber Schrift feftftehe, und auch darum der Ablaß 
zu veriwerfen jet. 

Auch an dem Centralpogma Roms, der Lehre von ber 
unfehlbaren Kirche, übt Weſel Kritif und dehnt zu⸗ 
gleich feine Ausführungen auf die Tragweite weltlicher 
Autorität aus. Die Kirche irrt nicht, infofern ein Theil 
der allgemeinen Kirche bie Kirche Chrifti ift, nad 
ihrem andern Theile aber ift bie allgemeine Kirche eine 
Ehebrecherin, eine Hure; der Ablaß z. B. tft von dem 
irrenben Theile der Kirche eingejegt, fie ſchadet mit ibm 
mebr als fie nützt. Ein geiftliches und weltliches Negi- 
ment zwar find beide nothwendig, aber der einzelne Glän⸗ 
bige bat das Recht, was ihm befohlen wird, zu prüfen. 
Zu gehorchen hat er, wenn nichts anderes geforbert wird, 
als das Geſetz Chriſti auch fordert. Fordert die Obrig- 
feit etwas im Wiberipruch mit bem Worte Gottes, fo ift 
ber Gehorfam zu verfagen. Es kann aber auch ein 
Mittleres gefordert werden. Daran ift der Gläubige im 
Princip nicht gebunden, boch wäre ed Sünde, durch 
Nichtbefolgung ohne Noth dem Nächften Aergerniß zu 
geben. Es iſt an folche Gebote der Kanon anzulegen, 
Daß fie ber Liebe, die wir uns untereinander fchulben, 
und dem gemeinen Frieden nicht widerſprechen. Beſtehen 
fie dieſe Probe, jo gehorcht man ihnen, thun fie es nicht, 
jo darf die Rückſicht auf den Nächiten nicht abhalten, 
dag man fich Durch Nichtbefolgung auf das Wort Gottes 


Johann von Wefel und feine Zeit. 23 


ftelit und bie Wahrheit befennt. Das dem Nächiten ge- 
gebene Aergerniß fann nachträglich gehoben werben, die 
Wahrheit ins Schwanken zu bringen ift gottlos. Wenn 
aber dann ber Blitz aus den päpftlichen Bullen zudt? 
Es ift ein Falter Strahl nur, bemm ber Ercommunicirende 
ift vorher ſchon von dem göttlichen Richter ercommunicirt, 
und ein Verfluchter kann nicht ercommuniciren. ‘Der 
weltlichen Obrigleit gegenüber aber geziemt tm alle des 
Ungehorfams um des Gewiſſens willen bie Leidenswilligkeit. 

Doch fo energiſch Wefel auch den Anfpruch des Papftes 
und ber Prälaten auf perjönliche Autorität zurückweiſt 
und negirt, daß es Kirchengebote, d. b. Gebote über 
Chrifti Gebote, hinaus geben könne, bie bei Todſünde ver- 
pflichten, er hat die Conſequenzen aus feiner Unterſchei⸗ 
dung ber ecclesia Christi und ber allgemeinen Kirche 
teineswegs entwidelt. Zwar macht ihm nicht bie Zuges 
hörigfeit zur Papſtkirche ven Ehriften, fondern ver Glaube 
durch Chriſti Gnade; aber doch wirb weder bie] Heils- 
nothwendigfett ber Zugehörigkeit zu einer priefterlich ge- 
leiteten und hierarchiſch organifirten Kirche verworfen, 
noch gar die emptrifche Kirche mit ihren Heilsmitteln 
überhaupt zu Gunften einer Idealgemeinſchaft für gleich- 
gültig erflärt. Es wird die Kirche nur wie fte biftorijch 
handelte verworfen und bafür verlangt, daß bie ihrer 
Idee entiprechende Kirche fich durch den Nachweis ber 
Uebereinftimmung ihrer Maßnahmen mit bem unvergäng- 
fihen Mafftabe des göttlichen Geſetzes dem einzelnen 
Gläubigen legitimire. Und wenn Weſel dabei ver Kirche 
die Macht der Ergänzung ober Erweiterung bes gött- 
lichen Geſetzes in Kirchengeboten vinbicirt, bie Die mutua 
dilectio und communis pax nicht gefährben, fo thut 
er das wol in ber richtigen Erfenntniß, daß das Stehen- 
bleiben rein bei dem Buchjtaben der Echrift in praxi 





24 Johann von Weſel und feine Zeit. 


unmöglich ift, aber er entzieht bamit feiner Bofition bie 
Feſtigkeit. Darum kamn er bei feinem Proceffe pie Monchs⸗ 
gelübbe für bindend erklären und von ber hiſtoriſchen 
Kirche eine Anzahl Ausfagen thun, bie ver Kirche Chriſti 
gehören. Eine Mentalrefervation dabei, daß er bei feinen 
Ausfagen von der Kirche an bie Kirche Ehrifti gedacht, 
bleibt ausgefchloffen, da er wußte, in welchem Sinne er 
über „bie Kirche” befragt wurbe; er war aljo thatfächlich 
ſelbſt infolge Mangels eines abjolnten Maßſtabes im 
Zweifel, ob und inwieweit bie Bapftlirche die Kirche 
Chriſti ſei. 

Es zeigt bier wiederum, wie ſonſt öfters, wieviel tiefer 
bie Gedanken Luther's find und wieviel größer ihre trei⸗ 
bende Kraft, troß ihrer formalen Webereinftimmung mit 
ben Gedanken ber Aeltern, ja trotzdem er in feinen Theſen 
und erften Auslaffungen über ben Ablaß 5. 9. fich ſchwan⸗ 
fend äußert, während Wefel ſchon das Inftitut fchlechthin 
verwirft. Angebeutet mag noch werben, daß Weſel neben 
andern minder wichtigen Sätzen auch das Vorhandenfein 
ber Erbfünde im Embryo beftritt, die Möglichkeit ſetzte, 
daß Ehrifti Leib unter der Geftalt des Brotes ſei, obwol 
die Subftanz des Brotes bleibe, an dem Texte ber dfu- 
menifchen Symbole Kritif übte, namentlich das filioque 
verwarf, und nach den Paraboren nicht ohne Derbheit 
das Faſten beftritten haben mag. 

Wir find auf dem Punkte angelangt, dem Procefie 
Weſel's näher zu treten. Im Februar 1479 wurde Weſel 
zu Mainz vor ein Kebergericht geftellt und einer Anzahl 
häretifcher Lehren für fchuldig befunden; er rettete durch 
einen Widerruf fein Leben, wenn auch nicht feine Freiheit. 

Eine beftimmte Veranlaſſung zum Einfchreiten gegen 
Wefel zu conftatiren, müfjen wir verzichten. ‘Der fühne 
Mann mag auf Grund feiner Schriften und Prebigten 








Johann von Wefel und feine Zeit. 95 


ihon längere Zeit Gegenftanp heimlicher Beobachtung ge- 
weien fein, theologifche Gegner überwachten feine Pre- 
digten und jammelten aus benfelben jene Anzahl fpäter 
burch bie Inquifition verworfener Parabora. Auch können 
wir ans einem Briefe Weſel's auf allerlei Duälereien 
jchließen, die fein Didcefanbifchof, Reinhard von Sickingen, 
ihn bereitete, bevor e& zum äußerften Schritte des Ketzer⸗ 
procefjes fam. Wenn ver Verfaffer vesjenigen Berichtes 
über den Proceß aber, ver im Gegenjat zu dem andern 
erhaltenen, der Form des Protokolls ähnlichen Berichte, 
jubjective Urtbeile einmifcht, im feiner Darftellung fagt, 
thomiſtiſche Theologen, alſo Anhänger des Realismus 
jeien die Heber gegen Wefel beim Erzbiichof von Mainz 
gewejen, und Wefel jet im Procefje deshalb jo übel weg⸗ 
gefommen, weil nur ein einziger feiner Richter, wie er, No⸗ 
minalift gewejen, fo bleibt dennoch das Einjchreiten ber 
Inquifition gegen Weſel auch ohne Hinweis auf bie Ge- 
reiztheit zwiſchen ben beiden tbeologiich- philofophifchen 
Richtungen erflärlich. 

Ebenſo wenig wie eine greifbare Veranlaffung zur 
Einleitung des Verfahrens bat fich bis jet ber Grund 
ausfindig machen laffen, nach welchen Wefel der Juris⸗ 
biction des mainzer Stuhles unterworfen wurde. 
Die Acten erwähnen nur bie Gefangenjchaft des Ange⸗ 
Hagten bei ven Franciscanern in Mainz; vielleicht hat 
der Erzbifhof von Mainz auf den Titel feiner Metro⸗ 
politanrechte Hin den wormfer Prediger nach Mainz geladen. 

Diether Graf von Ifenburg, Erzbiſchof von 
Mainz, hatte einft freie Worte über römiſche Habjucht 
im Hinblid auf die Höhe feiner Palliengelver mit Triege- 
riſcher Verwüftung von Mainz büßen müffen. Er mochte 
nltramontanen Wünfchen zugänglich geworben fein. Auf 
feine Bitte delegirten die Univerfitäten SHeibelberg und 


26 Sohann von Wefel und feine Zeit. 


Köln je drei ihrer theologifchen Doctoren für die Abnahme 
bes „Examens“, dem Wefel unterworfen werben follte; 
von der Univerfität Mainz waren Wittgliever zwar bei 
den Verhandlungen zugegen, aber von ihnen ſcheint nie: 
mand bervorgetreten zu fein. Die Hanptrolle hatte der 
kölner Dominicaner Gerhard von Elten, welder ver 
eigentliche Inguifitor war und das Examen leitete, fein 
jüngerer College war Jakob Sprenger, eimer ber be- 
rüchtigten Verfaffer des unfeligen „Derenhammers”. 
Am Freitag nah Mariä Lichtmeß, d. i. am 
5. Februar 1479, traten bie beibelberger Theologen mit 
ihren Begleitern, bie erzbifchöfliche Eurte und Mitglieder 
ber mainzer Univerfität zu einer Conferenz zujanımen, 
durch die bie Gefchäftsorbnung bes Procefies geregelt 
wurde. Ferner wurbe befchloffen, es follten drei erz- 
bifhöflihe Beamte und ein Notar dem Angeklagten einen 
Eid abnehmen, daß er alle von ihm verfaßten Tractate, 
Werke und Schriften, welcher Art fie auch ſeien, präfen- 
tiren und außsliefern wolle, um burch feine eigenen Worte 
überiwiefen werben zu können. ‘Die beibelberger unb brei 
erzbifchöfliche Theologen follten die Tractate dann burd- 
geben, die Irrthümer ercerpiren und rubriciren. Die am 
jelben Tage eintreffenden Kölner konnten an der Durch⸗ 
fit der Bücher Weſel's fich noch betbeiligen. Schon am 
Sonnabend ımterbreiteten vie beibelberger und Kölner 
Doctoren ihre ausgezogenen Artikel dem Erzbifchof, bie 
berjelbe jedoch nicht einfah, weil fie nicht zuſammengear⸗ 
beitet waren. Diefer Zug tft für Diether's Verhalten 
charakteriſtiſch. Ein wilfenfchaftliches oder Firchliches Inter: 
eife an ver Angelegenheit verrätb er nirgends, wie er 
überhaupt einft ven Vorwurf hatte hören müſſen, daß er 
faum zwei Worte lateiniſch reven könne. Er wohnte ven 
Verhandlungen bei, als feine Thätigfeit wirb bie Ber 








Sobann von Weſel und feine Zeit. 27 


anftaltung wiederholter Gaftmähler berichtet. Nach ber 
Präfentation der verbächtigen Stellen aus Weſel's Schrif- 
ten ftellte der Cõtus ber Doctoren Gerhard von Elten 
als Inquiſitor förmlich vor, der Erzbiichof nahm ihn 
feierlihd an, und der Inguifitor überreichte fein Crebitiv. 
Man beitimmte noch Tag, Stunde und Ort des Eramens, 
und es folgte ein Mittagefjen bei dem Erzbifchof. 

Am Montag, den 8. Februar, des Morgens um 
7 Uhr, fanden fi im Nefectorium der Franciscaner der 
Erzbifchof, der Inguifitor, die fremden Doctoren mit 
ihrer Begleitung, ber Rector, der Delan ber Artiften- 
facuftät und andere Mitglieder der Liniverfitit Mainz, 
das Gefolge des Erzbiichofs, außerdem Stubenten und 
Pedelle zum Examen Weſel's zufammen. Obenan ſaß 
der Erzbiſchof, dann folgte der Inquiſitor, ſodann die 
übrigen. Vor dem Beginn des Examens ſprach der 
Inquifitor Folgendes: „Ehrwürdigſter Vater, verehrte 
Doctoren u. ſ. w. Gegenwärtige Zuſammenkunft hat 
unſer ehrwürdigſter Vater, der Kurfürſt, veranſtaltet, um 
den Mag. Johann von Weſel über einige in Betreff des 
katholiſchen Glaubens verdächtige Artikel vernehmen zu 
hören. Aber ich will etwas zum Beſten jenes Mannes 
reden und bitte, daß zwei ober brei, die ihm wohl wollen, 
ober auch andere fich erheben, um ihn zu ermahnen, daß 
er von feinen Irrthümern abftebe, in fich gebe und um 
Gnade flebe. Thut er dies, fo wirb er Gnade erlangen; 
will er e8 nicht, fo wird ohne Gnade vorgegangen wer⸗ 
pen.” — Die brei darauf hin Abgeorbneten blieben aber 
jo lange aus, daß der Inquifitor den Fiscal ſchickte, um 
fie zurückzurufen; er fprach, Wejel müffe freiwillig fommen 
und dankbar fein für folches Anerbieten ver Gnade. In- 
dem ber Fiscal geben wollte, kamen jene brei zurüd und 
führten Wefel in PBerfon herbei; denn jo wollte er es. 


28 Johann von Wefel und feine Zeit. 


Der Angeklagte ging inmitten zweier Franciscaner, 
frank, bleih, ein Greis für den Tod reif, einen Stab 
in der Hand. Dieſe Beſchreibung feiner Perſon, zu 
ſammengenommen mit dem Briefe an den wormſer Btichef, 
nach welchem Wefel durch des Biſchofs unzählige Quä— 
fereien in viele fchlaflofe Nächte und einen Törperlichen 
Zuſtand gelommen war, der ihn mit balvigem Tode be 
brobte, läßt uns in Wefel einen gebrochenen Dann ſehen; 
er hatte die beginnende Geiftesfchlacht verloren, ehe es 
zum Schlagen kam. Seinen Plat erhielt er in ber Mitte 
ber Verfammlung am Boden angewiefen, dem Erzbiſchof 
und bem Inquiſitor gerade gegenüber; der Inquiſitor 
wieberholte ihm die Worte, die er vor feinem Erjcheinen 
gefprochen. Wefel war im Begriff, in längerer Rebe mit 
Proteft zu antworten, Gerhard unterbrach ihn aber mit 
bem Bedeuten, fich kurz zu faflen und zu fagen, ob er 
jeßt noch auf feine Sondermeinungen fich ftellen wolle, 
oder auf die Lehre der Kirche. — Er habe niemals etwas 
wider bie Lehre der Kirche gerebet, antwortete Weſel; 
geichrieben habe er vieles, habe er darin geirrt oder übel 
gerebet, fo wolle er widerrufen und alles dazu Noth⸗ 
wenbige thun. — „Ihr bittet alfo um Gnade?” fragte 
ber Inguifitor. — „Wofür foll ich um Gnade bitten, ba 
mir nichts von einem Verbrechen, einer. Schuld ober 
einem Irrthum befannt iſt?“ — „Das wollen wir Euch 
ſchon ins Gedächtniß zurüdrufen. Wir wollen das 
Eramen beginnen.” — Zwar ertönte jegt von Weſel's 
Munde auf das Zureben ber übrigen ein „Sch bitte um 
Verzeihung“, aber ber Imguifitor beachtete es nicht mehr; 
wol weil er meinte, daß dem Verſuche Genüge geſchehen 
jet, Das Detail des proceſſualiſchen Verfahrens durch un: 
bebingten Wiverruf des Verbächtigen entbehrlich zu machen. 
Es erfolgte die Verlefung zweier Schriftftüde, durch vie 


Johann von Wefel und feine Zeit. 29 


Gerhard feine päpftliche Autorifation für den Ketzerproceß 
bocumentirte und Johann von Wejel förmlich vor fein 
Gericht eitirte. Dann verpflichtete der Inquiſitor den 
Angeflagten eidlich, die an ihm betreffs feines Glaubens 
zu ftellenden Fragen ver vollen Wahrheit gemäß zu be- 
antworten, ohne Umfchweife und ohne Sophiftereien; bei 
Strafe der Ercommunication, die bier latae sententiae 
eintrete (d. h. als unmittelbare Folge der mit dem Bann 
bedrohten Handlung, nämlich des Ungehorfams gegen das 
Gebot einer vorgefetten firchlichen Behörde, ohne daß 
ein Erfenntniß zu erfolgen habe, excommunicatio fe- 
rendae sententiae). Endlich wurde noch ber Notar des 
Erzbiſchofs eidlich verpflichtet, Daß er alles, was gejprochen 
würde, treu aufzeichnen wolle, und zugleich zwei Zeugen 
für das Verhör aufgeftellt. Nun fonnte das Verhör be- 
ginnen. 

Weſel wurde zuerjt gefragt, ob er glaube, daß er 
(aut des geleifteten Eides verbunden fei, die Wahrheit zu 
reden, auch wenn fie fich gegen ihn ſelbſt oder fonft je⸗ 
mand richte. Er antwortete: „Ich weiß es“, der In- 
guifitor: „Saget, ich glaube es!” Auf Weſel's Gegen- 
rede: „Wozu brauche ich es zu glauben, wenn ich es 
weiß?” wurde Elten hitig und fagte mit jcharfer Stimme: 
„Magiſter Iohannes, Magijter Johannes, Magifter Io- 
Hannes, faget: Ich glaube es!” Der Angeklagte: „Ich 
glaube es.“ — Wenn bieje kurze Wechſelrede jchon für 
das herriiche Gefammtverhalten des Inquifitors während 
des ganzen Verfahrens charakteriftiich tft, jo ift der 
Grund, warum er für das Scio ein Credo hören wollte, 
doch nicht vecht zu erfehen. Wenn nicht eine bloße Ca- 
price vorliegt, jo wollte er etiwa mit der Forderung eines 
„Sch glaube es“ das Selbjtbeiwußtfein eines neologifchen 
Geiſtes niederfchlagen, der, wo er auch materiell mit den 


30 Johann von Wefel und feine Zeit. 


Forderungen ber Kirche übereinftimme, feine Ueberzeugung 
boch felbjtändig auf dem Wege ver Erfahrung und des 
Forſchens fich gebilvet zu haben meine. Weiter wurde 
Wejel gefragt, ob er glaube, wenn er nicht fage, was er 
als Wahrheit erkannt, ipso facto der Ercommunication 
zu verfallen und eine Todſünde zu begehen. Er ant- 
wortete zuerft wiederum: „Ich weiß es“, dann: „Ich glaube 
es“. In den Anfang des Eramens fiel auch die Trage, 
wann er zum lebten mal gebeichtet babe, vie Meſſe 
celebrirt oder communicirt habe. Im ganzen ließ man 
ben Angeklagten auf 28 Artifel Antwort geben, am fol- 
genden Tage mußte er fich noch über neun Additional⸗ 
artifel äußern. 

Wefel gibt zu, einen Tractat über die Art der Ber 
pflichtung menschlicher Gefeke an einen gewiſſen Nikolaus 
von Böhmen gejchrieben zu haben, und befennt fich zu 
Umgang mit demjelben in Mainz und Wejel. Sonftigen 
literariſchen Verkehr mit ven Böhmen und andern Schiß- 
matifern und Häretifern lehnt er ab, ebenfo verfichert er, 
fein Gläubiger, Begünftiger oder Biſchof der Böhmen zu 
fein. Gefragt, ob er für feine eigenen Meinungen An- 
hänger oder Begünftiger gefunden habe, antwortete er 
mit Nein. Was feine Lehre betrifft, jo bleibt Weſel da⸗ 
bei, daß nichts zu glauben fei, was nicht in der Schrift 
jtehe, befennt fich zum Imbalte feines Tractats wider 
den Ablaß, vertritt die Erwählungslehre und hält eine 
weitere Anzahl einzelner Sondermeinungen über Abend⸗ 
mahl, Erbfünde im Embryo u. |. w. feſt. Dennoch aber 
erfennt er eine autoritative Schriftauslegung an, äußert 
fich zweifelhaft über die Gewalt geiftlicher und weltficher 
Obrigkeit, Gejete ohne Einwilligung der Untergebenen 
aufzuftellen, und erflärt vie Mönchsgelübde für bindend; 
der Möndhsitand ſei ein Weg zur Seligfeit, wenn bie 








Johann von Wefel und feine Zeit. 31 


Mönche nicht felig würden, wer folle dann felig werben. 
Den Mittelpunkt des Imtereffes nehmen nach Zahl und 
Wichtigkeit die Fragen über die Kirche ein, und wir 
hören, daß Wefel eine, heilige, katholiſche und apofto- 
liſche Kirche glaubt, die Kirche für die Braut Chriftt 
hält und regiert vom Heiligen Geifte, ſodaß fie im Glau⸗ 
ben und in Dingen, bie zum Seile nothwendig, nicht 
irren kann. Weiter erlennt er an, baß die Kirche zu 
Rom das Haupt aller andern fei und ihr Glaube ver 
wahre, von Chriſto überlieferte. Der Biſchof von Rom 
ſoll der wahre Stellvertreter Chriſti auf Erden fein und 
ein Haupt für die Kirche nothwendig. ‘Der Papft ver- 
liert, auch wenn er fündigt, nicht den Gebrauch feiner 
Gewalt und Iurispiction. 

Wir erfennen, daß Weſel die heilige Scheu des mittel- 
alterlichen Menſchen vor der Autorität Roms nicht über- 
wunden hat. Der weltbewegende Gedanke, daß der Ein- 
zelne ein Recht habe auch gegenüber ver Geſammtheit, 
das Recht auf eigene Gefahr hin auch irren zu bürfen, 
follte erjt 1521 zu Worms fih Har geftalten. Wenn 
man jedoch bevenft, daß der Gedanke von ber Freiheit 
des Gewiſſens nicht blos auf kirchliche oder religiöfe 
Tragen fich erftredt, jondern im ihm wirklich eine neue 
Weltanfchauung der alten gegemübertritt, die in gleicher 
Weile das antile Leben wie das Leben des Mittelalters 
beberricht hatte, fo begreift man ſehr wohl, daß Wejel 
ohne die innerliche Kraft eines Luther und innerhalb ganz 
anderer Zuftände und Stimmungen, wie fie Luther ums 
gaben umd trugen, fich über die Tragweite feiner Sätze 
von der Grenze ber Gewalt des Ganzen über ben Ein⸗ 
zelnen bei fich felbft unflar bleiben konnte oder fie fich 
Mar zu machen fcheute, und im Banne dieſes innern 
Zwieipaltes vor den Inquifitoren feine alten Bofitionen 





32 Johann von Wefel und feine Zeit. 


nur mangelhaft zu halten wagte. Freilich bleibt fraglich, 
wie viel bei Weſel's Ausfagen von ihrer Schwäche auch etwa 
auf Rechnung feines greifenhaften Zuftandes zu jegen ift. 
Er macht einigemal über biefelben Punkte, 3. B. über 
ben Umfang bes Begriffs ver Todſünde, über bie Statt- 
halterichaft Chrifti auf Erden, widerfprechende Angaben; 
brei charakteriftifche Säge aus feiner Abhandlung wiber 
den Ablaß, daß vie Abläſſe piae fraudes, daß die Kirche, 
fofern fie irre, Ablaß ertheile, und daß bie Kirche mit 
dem Ablaß mehr fchade als nütze, glaubt er nicht ge 
jcehrieben zu haben. 

Nach beendigtem Eramen wurde Wefel in fein Ge: 
fängniß zurücdgeführt. Der Erzbtichof, der Inquiſitor 
und bie Doctoren befchloffen die Nieverfegung einer Com⸗ 
miſſion, die berathen follte, was weiter zu thun fei. Nach 
gehaltener Mahlzeit trat dieſelbe um 2 Uhr zuſammen, 
die weitere Vernehmung bes Angellagten am folgenben 
Zage erfolgte nach Maßgabe der Commiſſionsbeſchlüſſe. 

Am 9. Februar fam man morgens am jelben Ort 
zufammen, biesmal hatten auch Laien Zutritt und nie- 
manb wurbe zurückgewieſen. Weſel wurde iwieber vor: 
geführt, und der Inquifitor fprach, er werde ihm bie- 
jenigen Artikel von geftern noch einmal vorlegen, auf bie 
er nicht entſchieden genug geantwortet; heute folfe er das 
recht hell und Har, mit mehr Weberlegung thun. Se- 
dann babe er fich über eine Anzahl Additionalartifel zu 
äußern. Endlich würben ihm alle wichtigern Artikel 
jammt feinen Antworten noch einmal vorgefefen werben, 
damit man höre, ob er bei feinen Ausfagen verbleiben 
oder von ihnen ablaffen wolle. Nachdem ber Angeklagte 
in berjelben Weife wie am vorhergehenden Tage eiblic 
verpflichtet worden war, nahm der Inquifitor das zweite 
Eramen ab, indem er feinen Blan voll zur Durchführung 


Johann von Wefel und feine Zeit. 93 


brachte. Den Inhalt der vem Angeklagten neu vorgelegten 
Artikel haben wir oben Schon mit zur Darftellung gebracht. 
Einige ihm vorgehaltene Säge wollte Weſel nicht gefchrie- 
ben baben, man wies fie ihm aber in ben von feiner 
eigenen Hand gefchriebenen Tractaten, und er konnte 
jene Handſchrift nicht ableugnen. Als er einmal auch 
oft wiederholte, er babe eine gewiſſe Sache niemals ge⸗ 
bört, fagte Gerhard von Eliten: „Ihr ſeid ein Doctor ver 
Heiligen Schrift und wißt pas nicht?” Und der in dieſem 
Berhör hervorbrechenden Zuverfiht: „Wenn alle Men⸗ 
ſchen von Chriſto abſielen, jo will ich allein ihn als 
Gottes Sohn verehren, anbeten und ein Chriſt bleiben!“ 
brach ber Imauifitor die Spike ab mit den Worten: 
„Dans fagen alle Keter, auch wenn fie fehon auf dem 
Scheiterhaufen ſtehen.“ Endlich ermahnte ihn der In⸗ 
quiſitor, er möge in Betracht ſeiner Irrthümer um Gnade 
bitten, und es entſpann ſich zwiſchen ihnen folgendes Ge⸗ 
ſpräch. Weſel: „Muß ich um Gnade bitten, da ich doch 
feiner Schuld überführt bin?” — Inquiſitor: „Ihr müßt 
entweber um Gnabe bitten, ober ein härteres Urtheil er- 
warten; aber werm Ihr um Gnade bittet, jo wird Euch 
Berzeihung zntheil werben.” — Wejel: „Ihr zwingt mich, 
ein Bekenntniß abzulegen und um Gnade zu fliehen, und 
doch ift mir meine Schuld nicht bewiefen!” — Inqui— 
fitor: „Ich zwinge Euch nicht!” — Wefel: „Sa, Ihr 
treibt mich aber do an.” — Inquiſitor: „Ich thue 
weder das eine, noch das andere, jondern Ihr müßt aus 
freien Stüden um Gnade bitten, und ich proteftire gegen 
das, was Ihr mir aufbürbet” (welche Proteftation er auch 
zu Protofoll nehmen ließ). — Als mun auch amdere 
Weſel in demſelben Sinn ermunterten, fprach er: „Nun 
gut, ich bitte um Gnade.” Worauf ber Saqutitor mit 
XXII. 


34 Johann von Wefel nnd feine Zeit. 


ben Worten fchloß: „Nicht alfo, ſondern von felbft müßt 
Ihr kommen und um Gnabe bitten.“ 

Wefel bat fih Bedenlzeit aus und wurde nad alſo 
beenbigtem &ramen wieder ins Gefängniß abgeführt. 
Hierauf wurbe befchloffen, es follten brei Doctoren ber 
Theologie zu ihm geſchickt werben, um ihn gütlich zu er 
mahnen, von feinen Irrthümern und Ketereien abzufteben; 
doch follten fich biefelben nicht mit ihm auf eine Entwicke⸗ 
lung ber Gründe einlaffen, weil er hiervon nur wieder 
Deranlaffung zu weitern Discuffionen nehmen könnte und 
dann die Sache nie zum Abſchluß käme. 

Die Deputirten fuchten Wefel am Mittwoch früh 
anf, ermahnten und bearbeiteten ihn. Er entgegnete ihnen: 
„Sol ich gegen mein Gewifjen handeln?” — Die De 
putirten: „Nein, dem bie Artikel find ja, wie Ihr 
jelöft ſehet, falſch.“ — Wefel: „Das fagt ihr wol, aber 
ihr beweiſet es nicht.” — Deputirte: „Es find Hier feine 
Beweiſe nöthig, weil die Artikel von der Kirche verbammt 
find.” — Wefel: „Darüber habe ich eben feine Gewiß- 
heit.” — Deputirte: „Das genügt aber nicht, um ber 
Strafe zu entgehen.” — Da Wefel fich alfo bei der An- 
torität der Kirche nicht beruhigen wollte, wurbe er weiter 
gefragt, ja warum er denn ven vier Evangelien mehr 
glaube als z. B. dem Evangelium Nikodemi. Dieſes 
Apokryphon, das in feinem erften Theile ven Proceß Jeſu 
Ehriftt in einer die evangelifche Gejchichte erweiternden 
Form barftellt, von beveutenden Kirchenvätern citirt wird 
und die kanoniſchen Evangelien vielfach erläutert, vielleicht 
jogar bereichert, war neben andern Schriften berjelben 
Gattung von der Kirche dogmatiſchen Zwecken bienftbar 
gemacht worden. Weſel's Antwort lautete: „Weil ich will.” 
Auf die weitere Frage, warum er biefen vier Evan- 
geliften gerade glaube, antwortete er: „Weil ich es fo von 


Johann von Wefel und feine Zeit. 95 
ben Aeltern überkommen.“ — „Sa, warum glaubt Ihr 
denn dann ben Lehrern ber Kirche nicht auch?” — „Ihre 
Lehre ift nicht kanoniſche Schrift.” — „Wie wolltet Ihr 
benn bei biefer Anficht von ber Autorität der Doctoren 
für Eure eigenen Predigten Glauben verlangen?” — „Ich 
habe geprebigt, ohne mich darum zu befümmern, ob man 
meinen Worten glaube.” — Auch das Centrum feiner 
Pofition, die alleinige Autorität der Schrift, verftand 
Weſel alfo nicht zu vertheibigen, man ift wenigſtens ge- 
neigt, das aus ber Thatfache, daß er es nicht ober offen- 
bar ungenügend that, zu fchließen. Auch fette Weſel 
dem Vorhalt aus Concilsbeſchlüſſen und Bullen öfters 
feine Unfenntniß derſelben, daß er dies ober jenes weber 
gehört noch gelejen habe, entgegen. Er fagte auch: „Wie 
ihr mit mir verfahret, könnte auch Ehriftus, wenn er 
da wäre, von euch ald Reber verbammt werben. Aber 
der”, fügte er lächeln Hinzu, „würde euch durch feinen 
Scharffinn überwinden.” Demnoh war das Reſultat 
diefer Unterrebung, deſſen Geneſis aus ven Acten aber 
nicht klar wird, daß Wefel erflärte: „Ich will widerrufen, 
wenn ihr meinen Widerruf auf euer Gewilfen nehmen 
wollt.” — Deputirte: „Das wollen wir thun und alle 
Schuld tragen, bie Euer Gewiſſen beſchweren könnte.“ — 
Wefel: „Werbe ich aber voll, fo thun ich es nit!“ — 
Am Mittwoh Nachmittag beftimmte man, dem Anger 
Hagten am Donnerstag bie Hauptartifel vorzulegen, bie 
er zu wiberrufen und abzufchwören haben follte. 

Am Donnerstag wurde Wefel die befchloffene Ueber- 
fiht und eine Widerrufungsformel vorgelegt. Er erflärte, 
alles annehmen und wiberrufen zu wollen, zuerft im Re⸗ 
fectorium ber Tranciscaner vor dem Biichof und Klerus, 
dann, nach vorausgegangener Abkündigung in allen Kirchen, 
mit der erforderlichen Feterlichkeit im Dome vor allem Volt. 

3* 


36 Johann von Wefel und feine Zeit. 


Am Freitag, den 12. Februar, in ber Frühe um 
7 Uhr, fanden fich ver Erzbifchof, der Inquifitor, der Ge⸗ 
richtshof und fehr viele andere geiftliche und weltliche Per⸗ 
fonen zufanmen. Der Inquifitor verkündete Weſel's Be⸗ 
reitwilligfeit zum Wiverrufe, dann wurbe biejer berbei- 
geführt und aufgefordert, feine Meinung über die ihm 
ſchuld gegebenen Ketzereien öffentlich Tunbzuthun. Weſel 
wollte num im Angeficht des Erzbiſchofs und ber übrigen 
auf die Knie nieberfallen, aber ba er es vor Schwäche 
nicht vermochte, hieß ihn der Inquiſitor figenb fprechen. 
Er ſagte daher, nachdem die Furcht und das Zittern ver- 
Ihwunden, aus innerfter Bruft mit Marer Stunme fol- 
gende Worte: „Ehrwürdigſter Vater in Ehrifto, Erzbifchof 
biefer berühmten Diöceje, ehrwürdiger Vater Inquifiter, 
und ihr Herren Doctoren, Magifter und andern ehrivür- 
digen Männer! Ich erkenne freiwillig an, baß in meinen 
Schriften und Reden Irrthümliches gefunden worben ſei. 
Ich widerrufe diefe Irrthümer und will fie auch öffentlich 
widerrufen. Ich will mich unterwerfen unb unterwerfe 
mich ben Geboten ver Heiligen Mutter Kirche und ber Be- 
lehrung der Doctoren. Ich will die mir aufzuerlegenve 
Buße leiften und bitte um Vergebung und Gnabe.” ‘Dann 
bat Weſel, man möge ihn num nicht wieder das dunkle 
und ſchmutzige Gefängniß, ſondern eine orbentliche Woh⸗ 
nung beziehen laſſen. Der Inquifitor verwies ihn aber 
auf die Zeit, da er den Wiberruf gethan haben werbe; 
dann folle er Abfolution empfangen, vorher aber bürfe 
er mit niemand Gemeinichaft haben. Er wurde alfo an 
den gewohnten Ort gebracht. 

Der öffentliche Widerruf fand an dem nächftbevorftehen- 
den Sonntag Ejtomihi ftatt und ohne Zweifel im Zu- 
jammenbange bamit die Verbrennung von Weſel's Schrif- 
ten. Als er feine Bücher zum Holzftoße tragen ſah, brach 





Zohbann von Wefel und feine Zeit, 37 


er in bittere Thränen aus und rief: „DO bu frommer 
Gott, foll auch das Gute mit dem Schlimmen zu Grunde 
gehen? Muß das viele Gute, was ich gefchrieben, büßen, 
was das wenige Schlimme verfchulpet bat? Das ift nicht 
bein Urtbeil, o ®ott, der du bereit warſt, der unermeß- 
lichen Menge um zehn Gerechter willen auf Abraham's 
Gebet zu fchonen, fondern das Urtheil ver Menfchen, vie, 
ich weiß nicht non welchem Eifer, gegen mich entflammt 
find 1 

Weſel erlangte auch nach feinem Widerruf bie Freiheit 
nicht wieber, er wurde zu lebenslänglicher Einjperrung im 
Anguftinerflofter zu Mainz verurtbeilt, ftarb aber, nach⸗ 
dem er nicht ganz zwei Jahre im Gefängniß zugebracht, 
im Jahre 1481. — Daß wir des Ketzers Lehre und Leben 
bei den Altgläubigen feiner Zeit und den nachfolgenden 
Generationen faft durchweg nur im Ton der Selbftgeredh- 
tigteit beurtheilt finden, ift nicht verwunderlich. Auf 
Luther bat Weſel irgendwelchen Einfluß nicht gehabt, 
Matthias Flacius aber, der evangelijche Hiftorifer des 
16. Sahrhunderts, hat ihm mit Recht in feinem „Cata- 
logus testium veritatis” ein Ehrengedächtniß geftiftet, 
denn Wefel bleibt ein „Zeuge“, ven man nur nicht gleich 
zu einem bogmatifch-correcten „Evangeliſchen“ ftempeln 
muß. Das wahrhaft gefchichtliche Verſtändniß auch dieſer 
intereffanten PBerfönlichkeit und ihrer Zeit bat ſich in der 
Gegenwart berausgebilbet. 

Weſel bat bie Wahrheit feines eigenen Wortes: „ER 
tft num mehr fchwer Ehriften zu ſyn“ — reichlich erfahren. 
Zwar das Schwerfte, das Leben für die Lieberzeugung zu 
opfern, hat er nicht zu leiften vermocht, aber lange Jahre 
bat er boch gelebt gemäß ber von ihm felbft gejtellten 
Forderung: „Sobrie nobis, juste fratribus, pie Deo.” 
Es bleibt fraglich, ob man im Hinblid auf feinen Wider⸗ 


38 Johann von Wefel und feine Zeit. 


ruf fagen faun, daß die Gebiegenheit der Ueberzeugung, 
ber Muth und die Stanphaftigfeit des Charakters bei 
ihm nicht auf gleicher Höhe ftand wie feine Einficht. Es 
ift die letzte That feines Lebens nicht zu rechtfertigen, aber 
bei einem einfamen, altersichwachen reife, der noch dazu 
wol mit inmern Zweifeln über die Autorität der Kirche 
geplagt war, reichlich entfchulpigt. Wenn nach einem jchönen 
Bilde das Mittelalter eine fternhelle Nacht ift, fo leuchtet 
der Stern eined Wefel zwar nicht unter ben erften, aber 
er war doch auch an feinem bejcheivenen Theile ein Zeichen 
ber Hoffnung auf die Sonne ber kommenden Tage. 








Eine Studie über mania transitoria (vorüber- 

gehender Wahufinn) und verfchiedene merkwürdige 

Eriminalproceffe, welde diefe ſchwierige Materie 
betreffen. 


In unferer bewegten und auf allen Gebieten raſtloſen 
Zeit treten auch an das im engften Rahmen fich abfpie- 
lende Leben des Einzelnen mächtigere und gemaltigere 
Einprüde heran wie früher. Der Kampf ums Dafein 
fpannt die Kräfte nach allen Seiten hin an; bie Nerven 
werben mächtig erregt und ber Erregung folgt die Ab- 
ſpannung und die Erichlaffung. So kommt ed, daß man 
wol in feiner Zeit mehr hörte von Nerven- und Gehirn- 
erfchüätterungen und geiftigen Störungen von längerer over 
kürzerer Dauer. Und das Intereffe der Fachmänner und 
der Gebilveten überhaupt wendet fich ganz beſonders biefen 
jeelifchen Zuftänben und Krankheitsformen zu. 

Namentlich auch in ven Gerichtsfälen machen fich dieſe 
Wahrnehmungen geltend. Bei Verbrechen, welche durch 
die Ungewöhnlichkeit der Ausführung, burch graufige Ge- 
waltthätigfeit beroorragen, wird bie Trage nad der Zu⸗ 
rechnungsfähigfeit des Thäters leicht aufgeiworfen. Zwi« 
chen Aerzten und Juriſten befteht durchweg eine ver- 
fchiedene Auffaffung, ja es gibt eine gewiſſe mebicinifche 
Schule, welche geneigt ift, jedes Verbrechen auf eine 


40 Eine Stubie über mania transitoria, 


geiftige Anlage, einen verbrecherifchen Trieb zurüdzu- 
führen. Sollten vie Lehren dieſer Schule eine weitere 
Geltung gewinnen, fo wiürbe zweifellos eine Entleerung 
der überfüllten Gefängniffe, aber auch eine bedenkliche 
Zunahme ver Irrenhäufer die Folge fein, und wir müßten 
uns daran gewöhnen, ſchwere Verbrecher als Irre anzu 
jehen und zu behandeln, bis ber krankhafte, verbrecheriiche 
Trieb geheilt ift, allerdings nicht ohne die für die Mit- 
menjchen immerhin etwas bedrohliche Gefahr, daß dieſer 
Trieb bald wieder hervorbridt. 

Namentlich find es die bisjetzt menigftene außer⸗ 
orbentlich felten beobachteten Fälle ver mania transitoria, 
bes vorübergehenden Wahnſinns, in denen die Anfichten 
ber Juriſten und Aerzte, ja auch diejenigen der letztern 
felbft fich ganz entfchieven gegenüberftanben. 

Es find dieſes die Fälle, in denen bei einem bisher 
geiftig gefunden und förperlich frifchen Menſchen ein kurzer, 
plöglich einbreddender Wahnfinnezuftand eintritt, in welchem 
er feiner ſelbſt nicht mächtig, meift jehr gewaltthätige Ver⸗ 
brechen begeht, ohne nachher von feinem Thun irgend- 
welche Erinnerung zu haben. 

Bedeutende mebicimifche Autoritäten haben das Bor- 
fommen berartiger Zuftänbe vollftändig in Abrede geſtellt. 
Und ehe wir zu ven Fällen übergehen, welche nach unferer 
Anfiht das Vorkommen verfelben außer Zweifel ftellen, 
wird es nothwendig fein, die Anfichten der hervorragenbften 
Mebiciner und den Begriff viefer Franfhaften Zuftänve 
ſelbſt feſtzuſtellen. 

Am hartnäckigſten bekämpft die Annahme derartiger 
maniakaliſcher Zuftände der alte Praktiker Kasper* and 


— 





” Kaeper, „Prattiſches Handbuch der gerichtlichen Medicin“, ber 
arbeitet von Dr. Limann. 





Eine Studie über mania transitoria, 41 


no in feinem neueften Gewanbe. ‘Derjelbe jagt: „Das 
Irreſein zeigt Differenzen je nach Entftehungsweife, Ver⸗ 
lauf und piychiicher Begrenzung, die eine weientliche Be⸗ 
ziehung zur Zurechnungslehre haben. Was feine Ent- 
ftehungsweife betrifft, fo find die alltäglichen Fälle unfchwer 
zu beurtheilen, in benen bei bisher völlig geiftig Gefunden 
anf irgenbeine der verſchiedenſten Veranlaffungen plößlich 
eine wahnfinnige Geiftesperwirrung hervorbricht und ale 
ſolche dann mehr oder weniger lange in biagnoftifcher 
unverfennbarer Klarheit fortbefteht. 

„In andern die Mehrheit bildenden Fällen entwidelt 
fih die Krankheit allmählich. Veränderte Sitten und 
Gewohnheiten bezeichnen gern das erfte Stabium der oft 
noch ungeahnten Krankheit. Der pünktliche Geſchäfts⸗ 
mann fängt an, feine Pflichten zu verfäumen, und bat 
alterlei bei feiner Eigenthümlichkeit auffallende Entſchul⸗ 
bigungsgrünbe dafür. Der fonft folive und feine Häus- 
lichkeit Tiebende Mann läuft aus und ſchwärmt zwecklos um⸗ 
ber. Die forgfame Mutter vernachläffigt ihre Kinder und 
fängt an fich mit allerhand zu beichäftigen. Mehr und 
mehr treten auffallenbe und beforgnißerregenve Handlungen 
beroor, wunderliche Schreiben an unbefannte und hoch⸗ 
geftellte Berfonen, an Behörden, Schritte zum Verlauf 
von Haus und Hof. Die Reben werben unzuſammen⸗ 
bängenb und enblich, worüber lange Zeit vergehen kann, 
it am vollendeten Wahnfinn nicht mehr zu zweifeln. 
Vorzugsweife die Form des Schwermuthwahns pflegt jo 
jchleichend aufzutreten. Das Interefie an ven bigjetzt ge⸗ 
begten und geliebten Perfonen und Sachen läßt auffallend 
nad. Die reinliche, zierlide Frau vernachläffigt ihr 
Aeußeres, die gewohnten geiftigen Beichäftigungen machen 
einem zweifellofen Müßiggang Plat. Gefellichaften, Zer⸗ 
ftreuungen, fonft gern gejehen, werben gemieden, die 


42 Eine Studie über mania transitoriea. 


Einfamfeit gejucht. Der Kranke, ver noch immer keine 
Ideenincohärenz verräth und ben bie Seinigen höchſtens 
törperlich leidend wähnen, verfinft mehr und mehr in 
fih und feine Mahnung vermag ihn zu ermamıen. Nach 
und nach treten nun ſchon beforgnißerregende Befürch⸗ 
tungen auf: Die Ernte wird nicht gerathen, die Kinder 
werben jterben, das Vermögen tft verloren u. |. w, umb 
endlich ift der bi® dahin verborgene Wahnfinn ein offen- 
fundiger geivorben. 

„ber aber endlich der Wahnfinn bricht bei einem 
pſychiſch ganz gefunden Menfchen auf eine von denjenigen 
Beranlaffungen, die als folche von der Erfahrung genau 
bezeichnet find, urplöglih aus, nimmt aber dann nicht 
feinen gewöhnlichen Berlauf, fondern erſchöpft ſich in 
einem einzigen Anfall, mit deſſen Ende auch die geiftige 
Störung vollftändig aufgehört bat, um oft im ganzen 
Leben nicht wieder zu erfcheinen. 

„So war e8 ber Fall mit dem Staatsrath Xemle, 
beffen Krankheit Heim vor über funfzig Jahren befannt 
machte, ein Fall, der folche unverbiente Berühmtheit er- 
langt bat, weil er Gelegenheit bot, eine neue Species 
von Wahnfinn, ven vorübergebenten Zobfuchtswahn, 
mania transitoria, aufzuftellen. 

„Jener allgemein geachtete Dann kehrte, nachdem er 
am Tage eine Iagbpartie gemacht, ven Mittag in mun- 
terer Gejellfchaft zugebracht, aber nicht unmäßig geweſen 
war, nach Berlin zurüd und bereitete fich noch zu einem 
bienftlicden Vortrag für den folgenden Tag vor. Gegen 
1 Ubr bittet ihn feine Frau, boch nicht Länger zu arbeiten, 
und da er fie liebt und ehrt, legt er feine Arbeit fort, 
geht zu Bett, und beide fchlafen ruhig ein. Kaum eine 
Stunde darauf erwacht die Frau und hört ihren Mann 
roͤcheln. Sie ruft ihn an, fucht ihn aufzurütteln, doch 





Eine Studie Über mania transitorie 43 


vergeblich; fie läuft zum Bedienten, um ihn zum Arzt 
zu ſchicken, und findet ihren Mann noch immer röchelnd 
wie einen Sterbenden. Nach vielem Hin- und Herfchütteln 
hört er enblich auf zu röcheln, richtet fich in bie Höhe, 
fieht mit offenen, ftarren Augen die Frau an, aber ohne 
dabei ein Wort zu verlieren. Die Frau Hört nicht auf, 
ihm fo ftark fie nur kann zuzufchreien. Aber das Zu- 
rufen und Schreien bringt ihn nicht zur Befinnung. 
Endlich nad einigen Minuten fpringt er haftig zum Bett 
hinaus, padt feine Frau am Kopf bei den Haaren, wirft 
fie mit voller Wuth zu Boden und ſchreit aus vollem 
Halfe: «Canaille, Beſtie, du follft und mußt fterben!» 
Nunmehr jchleift er fie im Schlafzimmer und dem an- 
ftoßenden Zimmer umber und fchreit unaufhörlich: «Ca⸗ 
naille, du mußt fterben, ich muß dich zum Yenfter hinaus⸗ 
jchmeißen.» Zweimal misglüct ihm der Verſuch, ba es 
der Frau gelingt ven Tenfterflügel zu fchließen; beim 
dritten mal padt er fie indeß fo feft und jchnell an, daß 
ihr dieſes nicht gelingt. Doch hält fie fich fo feit am 
Fenſterrahmen, daß er fie wieder zu Boden fallen laſſen 
muß, den herbeikommenden Bedienten hatte er mit jolcher 
Wuth von fich geftoßen, daß dieſer davonlief und ihn mit 
ber unglüdlichen Frau allein Tief. Während biefer ganzen 
Zeit, die beinahe eine halbe Stunde dauerte, hatte bie 
Frau nit aufgehört, um Hülfe zu rufen unb ihrem 
Manne zuzurufen: «Mann befinne dich doch, ich bin ja 
deine Frau.» — «Was, du meine Frau?» ermwiberte er 
ſchreiend; «Canaille, das foll dir theuer zu ftehen kom⸗ 
men, bu follft mir nicht echappiren.» — Endlich fängt er 
an, ruhig zu werben und feine Frau loszulaffen. Sie 
ſteht von der Erde auf, faßt ihn. fanft am Arme und 
führt ihn langſam, da beide jo entlräftet find und am 
Leibe zittern, ohne ein Wort zu jagen, zu feinem Bett, 


44 Eine Studie über mania transitoria. 


in das er fi auch bringen läßt. Der Arzt kommt, er 
erfennt venjelben, fieht feine Frau ftarr an, fragt um- 
willig, was vorgefallen. Sie gibt ihm zu verftehen, daß 
fie durch feine Behandlung jo zugerichtet fei, da ruft er 
aufs neue: «Was, ich follte dich jo behandelt haben! Nein, 
ma chere, das tft zu arg, das Laffe ich nicht fo hin⸗ 
gehen. Du bift eine Eanaille, du mußt fterben.» Er 
fommt aufs neue in Eifer, will zum Bett hinausipringen 
nnd über feine Fran berfallen. Man hält ihn, er läßt 
fih beruhigen, fommt mehr und mehr zur Befinnung, 
fragt feine Frau: «Wie fiehft du denn aus?» verftebt, 
daß er fie fo zugerichtet hat, weint bitterlih und fleht 
um Vergebung. Ein gegebenes Brechmittel fängt an zu 
wirken, und nachdem er tüchtig gebrochen, fchläft er ein 
und burch volle 24 Stunden, ohne munter zu werben, 
und weiß, nachdem er wach geworben, nicht das Geringfte 
mehr von dem Vorgefallenen. Ganz dunkel wie aus einem 
Zraum glaubt er fich zu befinnen, daß er ed mit einem 
Diebe zu thun gehabt habe. Er tft bis an das Ende 
feines Lebens nie wieder von einem ähnlichen Tobſuchts⸗ 
anfall Heimgefucht, hat aber fünf Jahre vorher einmal 
morgens feinen Secretär gewedt, weil ein Dieb im 
Zimmer fei, und das Gewehr ergriffen, um auf venjelben 
zu fchießen. Nur durch die Lift des Secretärs wurde 
dieſes verhindert. 

„Sp wie nun diefer Fall fich bei einem Schlafenben 
(Epileptifchen) ereignete, fo tft auch eine große Anzahl 
berjenigen Fälle, die überhaupt Hierher gehören, bei 
Schlaftrunkenen beobachtet, die erwachend in die Heftigften 
Actionen ausbrachen und geſetzwidrige Handlungen be» 
gingen, von denen fie feine oder nur traumartige Erin- 
nerung hatten. In andern Fällen find es torifche Ein- 
wirkungen (Altobol, Kohlenoxyd), Transformationen der 





Eine Studie Über mania transitoria. 45 


Epilepfie, Hufterie, Congeftionen und Blurionen zum Ge⸗ 
hirn, der Gebäract und feine Folgen, pathologiſche Affect- 
zuftände namentlich bei Herebitariern, Darmreize, welche 
vorübergehende maniakaliſche Zufälle mit Aufhebung bes 
Selkftbewußtfeins und der Erinnerung und gejeßwibrige 
in ihnen verübte Handlungen hervorgerufen haben. Nun 
fteht zwar die Thatjache unzweifelhaft feit, daß vorüber: 
gehend burch die genannten körperlichen Zuftände plöglich 
eine Gehirnaffection mit maniakaliſchen Symptomen ent- 
jtehen Tann, die mit Befeitigung ber Urjachen wieber 
ſchwindet. Allein es fcheint uns ein DVerftoß gegen die 
Regeln ber allgemeinen Pathologie, dieſe Wahnfinnsaus- 
brüche, die lediglich Symptome eines jeweiligen vorüber- 
gehenden Zuftanbes find, für eine eigene Gattung von 
Mante zu erklären, um fo mehr, als man die bloße Zeit- 
bauer einer Krankheit, durch welche allein fich boch bie vor⸗ 
übergehende Tobfucht von jeder andern unterjcheibet, um- 
möglich als einen Specifiichen Charakter einer Gattung vor 
allen andern ähnlichen anjehen kann. Wir wollen doch 
auch nicht unerwähnt laffen, daß von anderer Seite ge- 
fagt wird, das Irreſein ſei ein Proceß, welcher aus ber 
Verkettung gewiffer fich gegenfeitig bedingender Erfchei- 
nungen beftebt, in dem folglich auch nichts Plötliches 
und Tranfitorifches fein kann. Was tranfttoriich ſei, das 
fei die Handlung, die im Verlauf einer Krankheit ent- 
ſtehe und die ihr accentuirteftes Phänomen fei. 

„Auf die Gefahr jener Annahme aber braucht nicht 
aufmerkſam gemacht zu werben, da nicht leichter ift und 
auch oft genug vorgefommen ift, als den leivenfchaftlichen 
Wuthausbruch eines vor wie nach ber That geſund ge- 
bliebenen Angejchulpigten auf Rechnung einer die Zu- 
rechnung ausfchließenden mania transitoria zu fchreiben. 
Und wenn Heim bei Bekanntmachung feines Lemke'ſchen 


"46 Eine Studie über mania transitorie. 


Tall beforglich äußerte, außer Zweifel jet e8 wohl, daß 
mancher unter Henkers Händen durch Tortur gemartert 
und in Zuchthäufern fein Leben verloren habe, der ganz 
unschuldig gewefen und nur das Unglüd gehabt Habe, 
von einer ſolchen Tobfucht befallen zu werben, fo hat doch 
bie fpätere Erfahrung gelehrt, daß gerade das Entgegen- 
geſetzte die Folge ift, daß nämlich durch die misbräuchliche 
Annahme folder Krankheitsaufftellungen in der Strafe 
rechtspraris weit mehr Angefchuldigte das Glück gehabt 
haben, ihr Leben nicht zu verlieren. Es ift feitzuhalten, 
daß es folche vorübergehende Anfälle wirklich gibt, aber 
es gibt feine eigentliche Species von Tobjucht, Teine ſo⸗ 
genannte mania transitoria. Dieſe unmwifjenjchaftliche 
und gefährliche Bezeichnung darf in ber Praris nicht ge- 
braucht werben, und die pathogenetiiche Entwidelung und 
die Beleuchtung jedes einzelnen Falls nach ven allgemeinen 
diagnoſtiſchen Kriterien macht fie auch vollkommen über- 
flüſſig.“ | 

Kasper-Limann theilt dann ven Fall mit, in welchem 
ein fonft foliver, nüchterner und gejunder Schiffdeigen- 
thümer, 29 Sabre alt, in feiner Kajüte abends ſtark ge 
heizt und bis 1 Uhr nachts Nitterromane gelefen, am 
folgenden Morgen fehr früh in eine Schenkwirtbichaft ge- 
fommen ift und bort eine Taſſe Kaffee getrunken, dann 
aber fofort fich wie ein Unſinniger gebervet hat. Er fing 
Streit mit den Mägden und Gäften an, zerbrach Stühle 
und ſchlug auf den ihn feſtnehmenden Schumann ber- 
artig ein, daß die Spite feines Helms umgebogen wurde. 
In das Arrefthans gebracht, fchlief er fofort ein und be- 
hauptete feine Erinmerung aus der fraglichen Nacht feit 
feinem Einschlafen bis zum Erwachen in ver Zelle zu 
haben. Kasper-Limann führt aus, daß hier die Annahme 
einer mania transitoria nicht nöthig fei, daß vielmehr 








Eine Studie über mania transitoria. "47 


bie bei dem SchiffseigenthHümer vorhandene Dispofition 
zu Blutwallungen und der nächtliche Aufenthalt in ber 
engen mit Koblendunft angefüllten Kajüte bei der be- 
fannten narkotifirenden Wirkung dieſes Gafes für bie 
Annahme einer plöglich ausbrechenden Geiftesverwirrung 
genügende Anhaltspunkte Biete. 

Er theilt dann noch ven Fall des berliner Schenk⸗ 
wirths Schumann mit, welcher in einer Aufwallung von 
Jähzorn nach vorherigem Genuß von zwei Flaſchen Ma⸗ 
beira und von Bier in einer Lebensperiode, in welcher 
ähnliche wuthartige Ausbrüche ſchon mehrfach vorgekom⸗ 
men waren, feinen Kellner prügelte, auf einen berjelben 
ſchoß, feinen Schwager erſchoß und einem ihn feſtnehmen⸗ 
ben Unteroffizier noch mehrfache Schußwunden beibrachte, 
ſodaß er an venfelben ſtarb. Auch Schumann wollte fich 
am folgenden Morgen bei der ärztlichen Unterjuchung der 
gravirendften Einzelheiten nicht erinnern. Er hatte aber 
fonft Erinnerung an die Ereigniffe der Nacht und war 
bis zu feiner ärztlichen Unterfuchung nicht in Schlaf ge- 
fallen. Zweifellos flag bier fein Ball von Manie vor, 
fondern Schumann verlor vielleicht das Bewußtſein in 
pen maßlofejten Momenten feines durch Trunk und Jäh⸗ 
zorn gefteigerten Affectzuftandes. Er wurde auch wegen 
ver den Tod herbeiführenden Körperverlegungen ver- 
urtheilt. 

Mendel* und Schwarke** ftehen auch auf dem Kasper⸗ 
Limann’ihen Standpunkt. Sie behaupten, daß es eine 
tranfitorifche Manie nicht gibt, und führen die bis bahin 
befannten Fälle auf epileptifches oder poftepileptifches Irre⸗ 


* Menbel, „Die Manie" (Wien 1881). 
** Schwarte, „Die tranfitorifche Tobſucht“ (Wien 1880). 





48 Eine Studie über mania transitorie. 


fein und acute Intoricationen mit Alkohol ober Kohlen⸗ 
oxyd zurück. 

Auch Leivesporf* ſpricht ſich mit Vorſicht über das 
Vorkommen der mania transitoria aus. Er ſagt: 

‚Weit ſeltener und noch nicht völlig aufgekläͤrt fint 
bie Fälle, in denen die Zobfucht bei einem bis bahin 
pfochtifch gefunden Menfchen plöglich ausbricht und ſich in 
einem einzigen Anfall erjchöpft, mit vefjen Ende auch bie 
geiftige Störung aufgehört hat. Diefe acute Tobjucht hat 
man am bäufigften in ver Schlaftrunfenheit, ferner in- 
folge des gleichzeitigen Einfluffes heftiger Affecte umd 
geiftiger Getränke, und während des Geburtsactes ber 
obachtet. Die plöglichen, vorübergehenden Tobfuchteanfälle 
beobachtet man auch bei Epileptifhen. Es kann aber 
bierbei vorlommen, daß das Vorhandenſein ber Epi- 
lepfie von dem Kranken felbft und feiner Umgebung über- 
jehen wird, namentlich wenn bie epileptifchen Anfälle 
während des Schlafes auftreten.” 

Leidesdorf erzählt nım von einem jungen Menſchen, 
welcher fich plößlich auf feinen beften Freund ftürzte und 
ihm einen töblichen Schlag beibrachte. Diejer junge 
Menſch habe aber an epileptifchen Anfällen währen bee 
Schlafs gelitten. 

Erſt Krafft-Ebing ftellt in feinem „Lehrbuch ber Pfy⸗ 
chiatrie“ ben Begriff und ben Krankheitsverlauf ber ma- 
nis transitoria feft und hebt ihre Form und ihr Auf 
treten als das einer beftimmten Form ber acuten Tob- 
jucht charakteriſtiſch hervor. 

Im Anſchluß an die Tobfucht fei einer ebenfo feltenen 
als intereffanten peracnten pſychiſchen Störung gebadtt, 


-—— — 


* Leidesdor nk el un (Em 
langen 1 ehrbuch ber pſychiatriſchen Krankheiten” (Er 





Eine Studie über mania transitoria, 49 


die als mania transitoria bezeichnet wird, jeboch nur in 
loderm Verbande mit ver Manie fteht. Diefer Zufammen- 
hang beſteht nur infofern, als eine ernorme Befchleuni- 
gung der pſychiſchen Acte, namentlich deutliche Ideenflucht 
vorbanben iſt. ‘Der Zuftand fteht aber durch die tiefe 
Zraumftufe, den brüsken Ausbruch und Abfall des Krank: 
heitöbilbe8, ven peracuten Verlauf, die mafjenbaften ‘De- 
firien von vorwiegend fchredhaften Inhalt dem ‘Delirium 
und fpeciell dem epileptiichen Delirium jedenfalls viel 
näher als der Mante. Sicher bebarf die Lehre von ber 
mania transitoria ber wiffenschaftlichen Reviſion. ‘Die 
Erweiterung bes kliniſchen Begriffs der Epilepfie und 
namentlich die Forſchungen über epilepsia larvata, bie 
Thatjache, daß eine Pſhchoſe, welche tranfitorifch auftritt, 
vie feine Entwidelungsgejchichte hat, einen ſymptomatiſchen 
Charakter befigt, Taffen faum daran zweifeln, daß bie 
Mehrzahl ver als Fälle ver mania transitoria angejehenen 
auf epileptifchem Boden fteht, als epileptifches Aequivalent 
angefehen werben muß. ZThatjächlich finden: ſich bei ven 
meiften dieſer Fälle auch epileptifche Antecedentien, jedoch 
nur bei ver Mehrzahl. 

Es gibt entſchieden Fälle, in welchen folche, felbft im 
weiteften Sinne genommen, fehlen. Für biefe muß ber 
Begriff der mania transitoria feftgehalten werben. 

Abgeſehen von der epileptifchen Bedeutung zahlreicher 
in der Literatur fich findender Fälle gibt e8 auch nicht 
wenige, in welchen pathologifche Affecte, raptus melan- 
cholicus, bufterifche Delirien, pathologiſche Raufchzuftänne, 
ja felbft Anfälle gewöhnlicher acuter, namentlich zorniger 
Manie als mania transitoria fälfchlich aufgefaßt werben. 
Es erfcheint vor allem nothwendig, den Hinifchen Begriff 
ber Krankheit zu geben. 

Unter mania transitoria verfteht die jegige Willen: 

XXI. 4 


50 Eine Studie über mania transitoria, 


ichaft eine bi zu mehrern Stunden dauernde, bei vor- 
her und nachher pfuchiich Gefunden vorkommende, plöß- 
lich einfegende und fchwindende, wit tiefer Störung 
bes Bewußtfeins während ihrer ganzen Dauer verbundene 
pſychiſche Störung, die als mwuthartige Erregung oder al® 
maniafalifche Verworrenbeit mit Ipeenflucht und mafjen- 
haften Delirien und Sinnestäufchimgen ſich kliniſch dar⸗ 
ftellt. Sie fchließt mit einem quası kritiſchen Schlaf ab, 
aus welchem der Kranke Iucid ohne die geringfte Erinne⸗ 
rung an bie Erlebniffe des Anfalls zu fich kommt. 

Heftige Fluxionen leiten meiftend den Anfall ein, ber 
gleiten in der Regel feinen Verlauf, ſodaß bie Ver⸗ 
muthung gerechtfertigt ericheint, e8 handle ſich hier um 
ein ſymptomatiſches Deltrium, bedingt durch eine plöß- 
liche tranfitorifche, flurionäre Hyperämie der Gehirnrinbe. 
Auch die Aetiologie ſpricht dafür, infofern es ſich meiſt 
um phletorifche oder durch Exceffe, Weberanftrengung, 
Geburtsact erichöpfte Individuen handelt, während ale 
gelegentliche Urfachen Gemüthsaffecte, caloriſche Schäplich- 
feiten, Kohlendunſt und Alkoholerceffe erjcheinen. Eine 
auffallende Dispofition zeigen junge Solvaten. Der In: 
halt der Delirien ift ein vorwiegend fchredhafter, jedoch 
laufen auch Heitere ‘Delirien mit unter. Die Agitatton 
bes bewußtloſen Kranken ift eine maß- und zielloje, zum 
Theil die Reaction auf Delirien, größtentheils aber Aus- 
brüde eines heftigen Erregungsvorgangs in ben pſycho⸗ 
motorischen Eentren, der fich fogar zu ſchweren Hirnreiz- 
erjcheinungen in Form von tonifchen Krämpfen, Zähne- 
knirſchen u. f. w. fteigern Tann. 

Nah ftundenlangem Toben und Wüthen ermattet ber 
Kranke, ſchläft ein und erwacht aus mehrſtündigem, tiefem 
Schlaf erichöpft, aber volllommen Har. Kopfweh, Schwin- 
bel als Erſcheinungen einer noch nicht völlig ausgeglichenen 





Eine Stubie Über mania transitoria. 51 


Gehirnhyperämie überbauern Häufig noch einige Zeit ben 
eigentlichen Anfall. Die Brognofe ift eine günftige. Selbft 
Recidive wurden nur felten beobachtet. Therapeutiſch ift 
Sicherung des fich felbft und der Umgebung fehr gefähr- 
lichen Kranken und Herbeiführung von Schlaf angezeigt. 

Krafft-Ebing theilt einige ihm befannt gewordene Fälle 
ber mania transitoria mit, umter welchen bie nachfolgen- 
den bie charakteriftiichften find. 

Frau Neubert, 36 Sahre alt, außer feltenen Anfällen 
von Migräne früher nie frank, von mäßiger Lebensweiſe, 
nicht empfindlich gegen calorifche Schäplichleiten, aus ge⸗ 
funver Familie ohne epileptiiche ober epileptoive Antece- 
bentien, litt feit vier Tagen an einem heftigen Schnupfen 
und Katarrh. Sie fröftelte am Abend des 25. November 
1877 etwas und ließ ihr Zimmer, in welchem fi ein 
großer gußeiferner Ofen befand, ſtark heizen. Gegen 
11 Uhr nachts überfief e8 fie plöglich eisfalt, dann fühlte 
fie heftige Die im Körper und wie das Blut ihr in den 
Kopf ſchoß. Sie begann zu veliriven, fang Lieber, gerieth 
in beitere Erregung und lief ihre Kinder ſuchend im 
Zimmer umher. Plötlich wurde fie ängftlic und tobend. 
Der gegen Mitternacht berbeigerufene Arzt fanb eine 
Temperatur von 30 Grad R. im Zimmer vor. Patientin 
war in furibunder Zobfucht, fajelte davon, baß ihr ber 
Kopf abgefchnitten würde, fchäumte, wüthete, war fehr 
ängftlih. Epiſodiſch lachte fie, fang, weinte. Der Kopf 
war fehr beit und roth, die Pupillen weit, die Refler- 
erregbarfeit gefteigert. Der Arzt ſpritzte Morphium ein; 
e8 trat jedoch fein Nachlaß ein. Erft gegen Morgen 
tchlief die Patientin ein, erwachte nach einigen Stunden 
ganz klar und fuchte fich ftaunend im Spital zurechtzus 
finden. 

Bon allem Vorgefallenen hatte fie feine Kenntniß 

4* 


52 Eine Stubie über mania transitoria. 


mehr; fie erinnerte fich nur unter Hitegefühl eingejchlafen 
zu fein. Sie erbrach, fühlte ſich fehr matt, fchwinbelig 
(Morphiummirkung) und erholte fich bis zum 27. November. 

Außer den Fatarrhaliichen Beſchwerden fand fich fonft 
nichts Krankhaftes vor. 

Ferner theilt Krafft-Ebing noch einige Fälle ber 
Krankheit bei jungen Soldaten mit. 

Bon biefen war der Lanpwehrmann Bauer, 30 Jahre 
alt, nach einem Spaziergang bei 14° R. mit einem 
Freunde in eine heiße, dunſtige Wirtheftube gegangen. 
Dort genof er einen Meerrettich, der ihn heftig niefen 
machte. Er faß gerade beim zweiten Glaſe Bier umb 
plauberte ganz vergnügt, al® er plötlich vom Stuhle fiel 
und einige Minuten in tiefer Ohnmacht dalag. Dam 
vegte er fich wieder und nahm eine drohende Stellung 
an. Plöglih fing er an blind breinzufchlagen und zu 
toben. Krafft-Ebing fand ihn, als er berbeigerufen war; 
auf einem Wirthstifche figenp, nur mühſam von ſechs Ka⸗ 
meraden gebändbigt, mit heißem, geröthetem Kopf und 
mittelweiten Bupillen. Er ftöhnte tief und knirſchte mit 
ben Zähnen. Das Ganze machte auf den Arzt den Ein- 
brud einer flurionären Gehirnhyperämie. Er fuchte fich 
feinen Wächtern zu entwinden, ftieß beulende Töne aus 
und jchaute wirr um fi. Auf Pauſen momentaner Er» 
mattung folgten um jo beftigere Ausbrüdhe blinder Wuth 
und verziveifelter Gegenwehr. Er wurbe ind Lazaretb 
gebracht, wo er bald ruhig und Mar wurde und fofort 
in mehrſtündigen Schlaf verfant. Beim Erwachen wußte 
er von allem Vorgefallenen nichts mehr und fand ſich er- 
ftaunt zurecht. Er erinnerte fih nur, daß er im Wirthe- 
haufe heftig niefen mußte und Schwindel befam, ſodaß 
alles um ihn herumtanzte. Außer mäßiger Congejtion 
und großer Mattigkeit fand fich an ihm nichts Kranfhaftes 


Eine Studie Über mania transitoria. 53 


mehr vor. Er erfchien als ein fräftiger, gejunder und 
foliver Menſch. Bor einigen Iahren wollte er einen ähn⸗ 
fihen kurzen Anfall erlitten baben. Der biesmalige 
dauerte etwa breiviertel Stunde. Er hatte nie an epi- 
leptifchen ober epileptoiden Anfällen gelitten, jedoch wurde 
jpäter feine Mutter epileptiich und irrſinnig. 

Der andere Fall betraf einen Kanonier Dann. Der- 
jelbe war von gejunder Familie und ſelbſt gejund 
und robuft ausſehend. Er erkrankte plöglih in der 
Naht an Tobfuht. Am Nachmittage vorher hatte ihn 
ber Abfchied von feiner Familie gemüthlich etwas aufge- 
regt, auch Batte er bei großer Hite fieben Schoppen Bier 
raſch Bintereinander getrunken. Nachvem er fich im beften 
Wohlſein zu Bette gelegt und bis 4 Uhr morgens ruhig 
gefchlafen Hatte, fing er plößlic an zu toben, fich zu 
fchlagen, zu beißen und alles zu demoliren. Er ſchwatzte 
ganz finnlos. Der Kopf war heiß und roth, die Augen 
injicirt. Es gelang ihm eine Zwangsjade anzulegen. 
Um 7 Uhr morgens ließen Delirium und tobfüchtige Er- 
regung nad. Die Fluxionsröthe des Geſichts wich einer 
auffälligen Bläſſe. Dann fiel er in tiefen Schlaf, aus 
welchen er nach drei Stunden ohne jegliche Erinnerung 
an das Vorgefallene geiftig Mar erwachte. In den nächiten 
zwei Tagen wurde noch etwas von ihm über Kopfweh 
und Schwindel geflagt. Dann bot er nichts Pathologifches 
mehr. Er war nie dem Trunke ergeben und nicht mit 
Epilepfie behaftet. 

Der belannte Pſychiatriker Dr. Schüle* in Illenau 
fchfießt fich der Krafft⸗Ebing'ſchen Auffaffung volllommen 
an. Nach feiner Darftellung bricht der Anfall nach furz 


* Bol. Heinrih Schüle, „Klinifche Piychiatrie” (Leipzig 1886). 





54 Eine Studie Über mania transitorie. 


dauernden Vorzeichen peracut aus. ALS Solche erjcheinen 
vager Kopfichmerz, Wallungszuftände zum Kopf unb auch 
ein ftilles, benommenes, ſchweigſames Weſen. Hin und 
wieder finft der Kranke unter Starrwerben ber Augen 
bewußtlo8 zufammen und fteht wieder zu fich gelommen 
jofort in ver vollen Höhe des Parorysmus. Im andern 
Fällen bricht biefer ohne voramsgegangene Symptome 
mitten aus einem bi® dahin unanffälligen Verhalten bes 
Kranken aus einem erft ruhigen, ahnungsloſen Schlafe 
aus. Mit einem Schlage fteht der Kranfe bei feinem 
Erwachen mitten in einem Zuftande vollkommener Unbe⸗ 
ſinnlichkeit. Er rollt die Augen, fchreit, fingt, prebigt. 
Dabei ift die Muskulatur in drohender Spannımg. Ent» 
weder von ſelbſt in rapiber Entwidelung ober durch eine 
barmloje Anrede oder auch durch ein Wort des Bor- 
wurfs gewedt, bricht der motorifche Sturm los, bald in 
ungeorbneten convulfivifchen Bewegungen, in Heulen, 
Drüllen, Zähnelnirfchen, Zerreißen ber Kleider, jchütteln- 
den und ftoßenden Gejticulationen, bald aber in einer 
blinden Zornwuth, welche unter übermäßiger Muskel⸗ 
leiftung maß- und ziellos fich austobt, alles vernichtet, 
was in den Weg kommt, für ihren entfeflelten Drang 
feinen Ausweg findet und nur mit großer Mühe gebän- 
bigt werben kann. Dazwiſchen kann fich langſam vorüber- 
gehend eine Kleine Pauſe einjchteben. Der Kranke wire 
etwas gelafjener, faßt unklar einiges Nächſtliegendes auf, 
plöglich aber fällt er wieder in das ungeftlime Toben 
zurüd, während ver Kopf ftarf geröthet, per Puls voll 
und frequent, die Herzbewegung ſtürmiſch bleibt und ber 
Körper mit veichlichem Schweiß bedeckt wird. Nach kurzer 
Dauer (zwei Stunden bis ein oder zwei Tage) ftellt fich 
Erſchlaffung ein unter Zurücktreten der vafomotortfchen Er- 
ſcheinungen. Es erfolgt ein mehrftündiger, bald natür⸗ 








Eine Studie über mania transitoria, 55 


licher, bald todesähnlicher Schlaf, aus welchem der Kranke 
völlig Har, aber ohne jede oder höchſtens mit ganz bämmer- 
bafter Erinnerung an das Vorgefallene erwacht. In der 
Regel wundert er fich jetzt über feinen veränderten Auf⸗ 
enthalt (Spital) und weiß in feinem Gedächtniß nur noch 
an einige Borlänferfumptome (Kopfweh u. |. w.) anzu⸗ 
Mmüpfen. Damit ift der Anfall vorüber und kehrt im 
vielen Fällen nicht wieder. Die Genefung bleibt auch für 
die Folge dauernd erhalten. 

Dieſes ift nah Schüle das typiſche Bild des Krank⸗ 
heitsproceſſes. 

Dabei kommen aber nach demſelben eine Reihe von 
kliniſchen Varietäten vor. Der Krankheitsbeginn 
knüpft nach feiner Ausführung nicht ſelten an einen tie⸗ 
fern Gemüthsaffect, ar einen verfchludten ‘Aerger und 
Sram und eine dadurch bewirkte tiefe ‘Depreifion ar, 
welche fich aber nicht in einer fehmerzlichen Verjtimmung, 
ſondern in einem gemüthlich veizbaren, zerftreuten Weſen 
äußert. Bemerfenswertherweife bricht auch der Anfall 
nicht infolge des fortgefeßten Nachgrübelns, gleichjam als 
Anfturm ver abfichtlich gerufenen Geifter hervor, ſondern 
im Gegentheil unerwartet, vom Kranken felbft ungeahnt, 
manchmal nach einem beitern, gemüthlichen Weinabenb 
ohne eigentlichen Trunkexceß. Die verfchludten Thränen, 
ber verjchwiegen getragene Affeet hatten bier langjam bie 
vafomotorifche Affection vorbereitet, welche foweit gediehen 
eines nur mäßigen Alkoholreizes (manchmal nur einer 
Hige und Dumpfheit der Stubenluft) bedarf, um bie 
verhängnißvolle acute Kopfeongeftion zu bewirken. 

Der Krankfheitsverlauf befteht in der Negel nur aus 
einer fich überftürzenden Weihe reflectoriich triebartiger 
Acte bei einer wachen Unbefinnlichkeit, vefpective gänz⸗ 
fichen Bewußtlofigfeit. Der Anfall hat einen epileptoib- 





56 Eine Studie über mania transitoria. 


conpnlfiven Charakter. Nun gibt e8 aber Fälle, in 
welchen epiſodiſch (namentlich im Beginn ber Wnthacte) 
von feiten des Bewußtſeins noch ein leifer Schimmer 
mitgeht, fo zwar, daß ver Kranke feinen nach aufen ge 
worfenen VBernichtungsprang mit den Worten begleitet: 
„Jetzt bring’ ich einen um!“ oder „Du mußt bin fein“. 
So furchtbar bedeutſam biefer Ruf für das nun begin- 
nenbe Zerjtörungswerf auch fein mag, fo tft er doch nad 
jeinem Inhalt feineswegs vom Kranken Har erfaßt. Denn 
die Wuthhandlung bleibt in gleicher Weiſe wie bei der 
rein convulſiven Exrplofion in den tupifchen Fällen eine 
ziel- und planlofe, nur Reflex ohne jedes Anzeichen eines 
wirklichen Vorbedachts. 

Der Ausgang fchließt ausnahmslos mit einem fri- 
tiichen Schlaf ab. Nicht immer tft damit dauernd auch 
bie Genefung gefichert. Es erfolgen häufig Nachichübe 
der Furoranfälle, und zwar bald in fürzern, bald in län- 
gern Baufen. Im der Zwifchenzeit find bie Kranken am- 
neſthiſch für bie Zeit bes Anfall®, aber geiftig Har, wenn 
auch müde und erfchöpft, dabei gewöhnlich mürrifch, übel- 
faunig, etwas fcheu und verlegen. Es kann nun em 
zweiter und ein britter, ja wiederholter Paroxyomus fol- 
gen, wobei die Anfälle, wenn auch in vem Grunbcharafter 
ber Kopfflurionen, der tiefen Bewußtfeinsftärung, dem ab- 
jchließenden Schlaf und der Ammefie fich gleichbleibend, 
doch inhaltlih und in der Intenfität bebeutenpe Unter: 
ſchiede aufweiſen. So kann auf einen erften Anfall mit 
Schreien, Singen und wechſelnden, aber harmloſen Droh⸗ 
geberden fpäter ein mäßiger Buroranfall mit Zerreißen 
ber Kleider, Umfichichlagen, Beißen u. |. w. folgen und 
darauf ein vernichtenp heftiger mit ver fchwerften Gefähr⸗ 
bung der Umgebung Mit der Häufung ber Anfälle 
ändert fi aber auch manchmal ver Krankheitscharakter 


Eine Studieüber mania transitoria. 57 


nach ber Seite des Zwifchenraums und des Endausgangs. 
So Tann der Kranke nach mehrern Parorysmen yplötlich 
in der Zwilchenzeit moralifch-perverfe Züge auf Grunb- 
lage einer mäßigen pfychifchen Exaltation aufweiſen, welche 
erft mit einem folgenden Anfall wieber ausgetilgt werben 
und aus biefem heraus erft ihren Uebergang in befini- 
tive Geneſung finden. 

Einigemal beobachtete Schüfe auch eine längere mania 
gravis im Anichluß an mehrere voransgegangene tranfi- 
torifche Furoranfälle. 

Heben wir noch hervor, daß der bekannte italienifche 
Brofeffor Lombrofo die meiften Fälle der tranfitorifchen 
Manie als alloholiiche Epilepfie betrachtet und zur Ver⸗ 
beutlichung dieſer Anficht fich darauf beruft, daß biejelbe 
vorzugsweiſe bei Soldaten vorkomme, bei welchen das 
junge Lebensalter, die durch den Gebrauch der Waffen, 
das ausgelaffenere Leben und den Misbrauch von Alkohol 
bedingte größere Heftigfeit, die Wirkung der Disciplin 
und vielleicht auch die größere Musfelthätigleit dem Her- 
bortreten derartiger Krankheitsformen beſonders günftig 
fei, jo glauben wir ven gegenwärtigen Standpunkt ber 
mebicinifhen Wiffenfchaft ver Krankheit gegenüber feft- 
geftellt zu haben. Die nachftehenn mitgetheilten Fälle 
aus ver criminaliftiichen Praris werben das Vorkommen 
der mania transitoria bejtätigen. Sie find infofern von 
Intereffe, als bier die Gerichte mit den Anfichten ber 
Mebiciner Hand in Hand gingen. 

Zu Mariahütte bei Trier lebte im Jahre 1876 ver 
Sandformer Anton Schaly im Alter von 34 Jahren in 
ärmlichen, aber georbneten Verhäftniffen. Derſelbe war 
verbeirathet, Hatte fünf Kinder, er war ein nüchterner, 
ordentlicher Menſch, an dem außer einer gewiffen Ein- 
filbigfeit im Reden niemand etwas Sonderbares bemerft 





58 Eine Stubie über mania transitoria. 


hatte, in deſſen Familie, foniel befanut, feine Epilepfie 
oder Geiſteskrankheit herrichte, und welcher mit feiner bei 
ihm lebenden Mutter und feinen Kindern ftets im beiten 
Einvernehmen gelebt hatte. Er hatte im Winter hin und 
wieder über Kopfweh geflagt und gewöhnlich ſtärkende 
Tropfen genommen. Am 27. März war er wie gewöhn- 
lich zur Arbeit gegangen, auf ber Gießerei war ben Mit- 
arbeitern aufgefallen, daß er viel ins Blaue hineinftarrte 
und daß er einmal kalt rauchte. Sonft hatte man nichts 
Auffallendes an ihm wahrgenommen. Nachmittags gegen 
5 Uhr fam er nach Haufe, um Kaffee zu trinfen. Auch 
bier fette er fich mit ftarrem Blick auf einen Stuhl nieber 
und ſah, ohne ein Wort zu fprechen, zum Tenfter hinaus. 
Im Zimmer befanden fich feine alte Mutter und fein acht» 
zehnjähriger Neffe Matthias Schaly und tranken Kaffee. 
Bon feinen Kindern waren die beiden jüngften im Zim⸗ 
mer, das eine faß auf ber Erbe, währen bas andere 
im Bett lag. Blöglich rief Schaly aus: „Liebe Mutter, 
ih fchlage euch alle tobt.” Die alte Frau erwiberte: 
„Lieber Sohn, thue das doch nicht.” Cr aber fpringt 
auf, verjchließt eine nach der Straße führende ‘Thür, 
folgt dann feiner Mutter in die Küche, wohin fie ge 
gangen war, um Taſſen zu fpülen, ergreift dort eine 
Kohlenſchaufel und fchlägt mit verfelben die alte Fran 
berart auf den Kopf, daß fie tobt nieberftürzt. Dann 
wendet er fich gegen feinen Neffen, verjegt auch biefem 
zwei wuchtige Schläge auf die Schläfen und ven Hinter- 
kopf, ſodaß dieſer gleichfalls zu Boden ftürzt, und fchlägt 
dann noch auf ſeine beiden Kinder mit einer zweiten 
Kohlenſchaufel los. Mittlerweile hatte ſich der Neffe 
Schalh erhoben, ſofort ſtürzte Anton Schalh auf ihn los 
und brachte ihm noch eine dritte Verlegung bei. Dann 
rief er laut: Hurrah Blut!“ und lief vor die Hausthär. 








Eine Studie über mania transitoria. 59 


Dort rief er auch den Nachbarn umverſtändliche Worte 
zu. Diefe waren inzwijchen aufmerkſam auf bie DVor- 
gänge im Haufe geworben, fie hatten zur Polizei gefchickt, 
und als diefelbe nach kurzer Zeit anlam, lag Schaly be- 
wußtlo® an der Erde. Cine Vernehmung defjelben war 
nicht möglich, da er umzurechnungsfähig zu fein ſchien; 
er Tieß fich aber ruhig fefleln und im Wagen nach bem 
Santonsgefängniß transportiren. 

Bei feiner am folgenden Tage vor dem Unterfuchungs- 
richter erfolgten Vernehmung machte Schaly den Eindruck 
eine8 ruhigen, befonnenen Menſchen. Er gab an, fich 
ver That durchaus nicht zu erinnern. Er fei gegen 
3 Uhr von ber Arbeit weg nach Haufe gegangen, habe 
feine geiftigen Getränfe genofien und er könne durchaus 
feinen Grund angeben, weshalb er fi an feiner Mutter 
und feinen Kindern vergriffen haben ſollte. 

Fünf Tage lang verhielt ſich Schaly ruhig und ver- 
ftändig; dann trat bei ihm ein Tobſuchtsanfall ein, welcher 
zur Folge hatte, daß er in die Irrenpfleganftalt zu Trier 
überführt wurde. Dort kam bie Geiftesfrankheit voll- 
ftänbig zum Ausbruch. Der Wahnfinn trat indeß nur 
periodiich ein. Während des Anfalls war fein Bewußt⸗ 
fein getrübt, er war aufgeregt und zu gewaltthätigen 
Handlungen geneigt, inbeß wurbe er zu benfelben durch 
Hallucinationen angereizt. In dieſem Zuftande fchonte er 
feine Kräfte nicht, fein Puls ſchlug fchneller und ſtärker; 
jein Kopf wurde wärmer und röthete fih und er war 
dann für feine Umgebung im höchſten Maße gefährlich, 
Diefe Wahnſinnsperioden verlängerten fich; fie bauerten 
fpäter 10—14 Tage, dann trat wieber ein normaler Zu⸗ 
ftand von längerer Dauer ein. Nach den Anfällen wußte 
er nichts von dem während derfelben Erlebten. Er war 
in ber freien Zeit, die oft monatelang dauerte, volllommen 





60 Eine Stubie über mania transitoria, 


Har und bei Bewußtfein und unterzog fich ven ihm auf- 
getragenen Arbeiten mit viel Gejchid. 

Ungefähr ein Jahr nach der im Wahnfinm begangenen 
Ermordung feiner Mutter trat bei Schaly ein neuer 
furchtbarer Anfall ein. Er fragte eines Morgens, „ob 
feine Familie angefommen fet, er habe noch eine Abrech- 
nung mit verjelden. Um die golvene Krone zu erlangen, 
müffe noch mehr Blut fließen”. Im feiner äußern Er- 
ſcheinung zeigte fich zu gleicher Zeit eine große Verände⸗ 
rung. Man fah einen Wuthausbruch voraus und iſolirte 
ihn. Darauf faß er einige Tage ſprachlos in feiner Zelle; 
dann gerieth er in Wuth und zertrümmerte alles, was 
fih in ver Zelle vorfand, fogar einen großen Sanbftein. 
Nah dem Anfall war er wieder ruhig und verftänbig 
und erinnerte fich deſſelben nicht mehr, kurze Zeit darauf 
ift er in der Irrenanftalt am 2. Suli 1877 geftorben. 

In diefem Falle war gar kein Motiv zu der Ermor- 
bung ber Mutter vorhanden. ‘Die begleitenden Umſtände, 
bie Verlegung bes Neffen und ber eigenen Finder machte 
ed auch dem hinzukommenden Polizeibeamten fofort deut⸗ 
lich, daß Schaly in einem Anfall von Wahnfinn gehan- 
belt habe. Und während der ganzen Unterfuchung bat 
niemand daran gezweifelt, daß man es mit einem anne 
zu thun Habe, ver für die Folgen feiner in einem Wahn- 
finnsanfall begangenen Thaten nicht verantwortlich ei. 
Hier folgte auf den erften Anfall, welcher ja alle charalte- 
riftiichen Merkmale der mania transitoria an fich trug, 
bie plößliche Heftigfeit des Ausbruchs, die furchtbare Ge⸗ 
waltthätigfeit des Verbrechens, die nachher eintretenve 
pollftändige Erinnerungstofigfeit und den fich anfchließen- 
ben kritiſchen Schlaf in vollem Umfang zur Geltung 
brachte, ſchon nach fünf Tagen ein neuer Wuthanfall. 
Die heftigen Anfälle folgten aufeinander und kurz nach 





Eine Studie Über mania transitoria. 61 


bem letten Anfall, ein Iahr nach dem erjten Auftreten 
der Krankheit, ift Schaly geftorben, ohne daß die jpätern 
Erfcheinungen noch genauer feitgeftellt oder eine Obduction 
ftattgefunden hätte, was gewiß von hohem Intereſſe ge- 
wejen wäre. 

Ungleich dunkler und fchwieriger lag ver Tall, zu 
weichem wir jet übergeben. 

Am 1. Juli 1883 ermorbete der Mafchinift Wilhelm 
Frenſemeier zu Bochold bei Eſſen feine Ehefrau auf eine 
ganz emifegliche Weife. Frenjemeier war am 2. Februar 
1836 zu Löhne im Kreife Herford geboren, war zweimal 
verheirathet, aus ber erften Ehe war ein Sohn hervor- 
gegangen, welcher damals im 23. Lebensjahre ftand; er 
batte fich 1867 mit feiner zweiten Frau Joſephine gebo- 
renen Neumann verhetrathet, welche Ehe kinderlos ge⸗ 
blieben war, und bis furz vor ber Ermorbung in ber 
glüdklichiten Weife mit ihr gelebt. Er war nie beftraft, 
fein ganzes Leben lang ein rubiger, nüchterner Mann 
gewefen, hatte einige Zeit vor der That dem Yranntwein- 
genuffe gänzlich entfagt, und niemal® waren an ihm 
Aeußerungen von Wuth- und eptleptiichen Anfällen zu 
Tage getreten. 

Einige Wochen vor ber That hatte er in Erfahrung 
gebracht, daß feine Frau, welche er jehr liebte, ihn hinter- 
gehe und ein Verhältniß mit einem Nachbar angefnüpft 
babe. Am 1. Juli bat er mit dem Slempnermeifter 
Heufer nach dem Eſſen Bier und Schnaps zufammen ge- 
trunlen. Er war nach dem Genuffe mehrfach in, wie es 
ſchien, planlojer Weiſe zwijchen ver Werfftatt des Heufer, 
ver Zeche, auf welcher er beichäftigt war, und feiner 
Wohnung hin⸗ und bergegangen und fchien ven Leuten, 
welche ihm begegneten, angetrunfen zu fein. Gegen 61, Uhr 
abends kam Frenjemeier in feine Wohnung zurüd, und 


62 Eine Studie über mania treansitorie. 


ber funfzehnjährige Schmiedegefelle Franz Müller, welcher 
jeit etwa ſechs Wochen bei Frenſemeier in Koft war und 
fih an jenem Nachmittage zu Haufe befand, fchilvert die 
nun folgenven Ereigniffe in nachftehender Weife: 

„Segen 6'/, Uhr nachmittags ſaß ich auf meiner 
Stube (auf demfelben Stodwert zu ebener Erbe, auf 
welchem ver Mord vor ſich ging); als ich den Frenſemeier 
fommen und in fein Wohnzimmer gehen hörte. Die Thür 
zu dem lestern ftand auf. Frau Frenfemeier war in 
demſelben. Letztere fagte zu ihrem Manne: «Ich Dachte, 
bu woliteft feinen Schnaps mehr trinfen, bu haft ja heute 
boch folchen getrunfen.» Frenſemeier fchrie darauf: «Das 
gebt dich nichts an», und ftürzte auf feine Frau los. Als 
ich dies hörte, Tief ich aus meiner Stube nach dem Fen⸗ 
fter der Wohnftube und fab, vom Garten ber in das 
Zimmer bineinblidend, wie Frenſemeier feine Fran an 
den Kopf fahte und zur Erde warf. Er nahm barauf 
einen Stubl und hieb mehreremal auf die am Boden 
Liegende los, welche nur einen Schrei ansgeftoßen Hatte, 
ben Stuhl zertrümmerte er nnd nahm darauf einen zweiten 
Stuhl und ſchlug mit demſelben gleichfall® auf feine Frau 
los. Während dieſes Schlagen babe ich Teinen Laut 
von Frau Frenſemeier vernommen. Ich babe nicht gejeben, 
daß fie biutete, dagegen hörte ich, dag renjemeier beim 
Schlagen mit den Stühlen jchunpfte. Sch verftand aber 
nicht8 von dem, was er fagte. Ich lief nım durch das 
Haus in die andere Stube, um Heinrich (einen gleich- 
fall® bei renjemeier im Haufe wohnenden Neffen des⸗ 
jelben, Heinrich Frenfemeier) zu holen. Der alte Frenje- 
meier fam aus ver Wohnftube heraus; ich jah, wie 
er in den Keller ging. Aus dem Keller fam er balo 
wieder heraus und hatte ein Meffer in ver Hand. Er 
ging dann in die Efftube und nahm ans dem bort 





Eine Stubie über mania transitoria. 63 


ftehenden Tiſch ein Brotmeffer. Dann ging er in die an 
die Epftube ftoßende Kammer und holte fich auch aus 
biefer ein Meſſer. Bei feiner Rückkehr aus ber Kammer 
fam er durch das Zimmer, in welchem ich war. Er fah 
mich jo wüthend an, daß ich es mit ver Angit befam 
und aus dem Fenfter fprang.” 

Die Ausfage des zehnjährigen Heinrich Frenjemeier 
ftimmt mit der vorigen völlig überein. Derſelbe bat 
vom Garten her durch das offen ſtehende Fenfter den Vor- 
fall mit angefehen und hebt nur noch hervor, daß Frenſe⸗ 
meier feine Frau auf den Bauch getreten babe, ehe er 
begann, fie mit den Stublbeinen zu bearbeiten. Außer 
ben brei Meffern Hatte Frenſemeier noch eine Schippe 
geholt und mit den Mefjern und ver Schippe die da⸗ 
liegende Frau weiter zerfegt. 

Die beiden Knaben Tiefen zu einem Nachbar Otten, 
um ihn von dem Vorfall in Kenntniß zu ſetzen. Otten 
fhidte fie weiter zur Polizei; er felbft lief ſofort an ven 
Ort der That und hörte fchon zehn Schritte vom Hauſe 
entfernt wuchtige Schläge fallen und den Frenſemeier 
fohreien. ‘Der Zeuge fährt fort: 

„Ich fah durch das offene Fenſter die Frau des Frenſe⸗ 
meier auf ber Erbe liegen, das Geſicht über und über 
mit Blut bedeckt. Frenſemeier ftand mit dem Rücken gegen 
die Thür und hieb auf feine Frau los. Was er in ber 
Hand hatte, konnte ich nicht erkennen; es war mir jedoch, 
als hörte ich die Stücke umberfliegen. Ich rief dem Frenſe⸗ 
meier zu: «Frenſemeier, Frenjemeier!» dieſer antwortete 
jedoch nicht, jonvdern blieb am Wühlen wie ein wü— 
thendes Thier. Die Frau rührte fi nicht und gab 
auch feinen Ton von fi.” 

Frau Scharpf, welche bei Frenſemeier zur Miethe 
wohnt, ſah ihn gegen 7 Uhr von der Zeche in feine 





64 Eine Studie über mania transitoria. 


Wohnung gehen. Er kam an ihrem Zimmer vorbei und 
ſchien ihr angetrunten zu fen. „Denn“, fagte fie, „er 
ging vorüber, ohne zu grüßen, was er fonft nie ver- 
fäumte, und ſah mich ftier an. Er begab ſich in feine 
Wohnung, und ich vernahm gleich darauf aus verjelben 
einen furchtbaren Schrei der Frau Frenjemeier. Um mich 
nach der Urfache dieſes Schreieß zu erkundigen, begab ich 
mich vor die Thür, ging aber gleich wieber zurüd, als 
ih Trenfemeier mit biutender Hand iu feiner Hausthür 
iteben ſah. Dabei hatte er einen Gegenitanp in ber 
Hand, welcher mir eine Schippe zu fein fchten, fchlug 
damit bin und ber und tobte dabei. Während bes Zu- 
rückgehens ſah ich noch, daß fich Frenſemeier in fein Haus 
zurüdzog, und hörte unmittelbar darauf in ber Frenſe⸗ 
meierihen Wohnung Schläge fallen, auch babei toben 
von feiten bes Frenſemeier. Ich z0g mich in meine 
Wohnung zurüd und hörte bald darauf, daß Frenfemeier 
feine Frau erichlagen habe.” 

Kurz nachdem auch der Zeuge Otten ſich aus Furcht 
zurüdgezogen hatte, langte die von ben beiden Knaben 
gerufene Polizei an. Weber ven Anblid, welcher fich den 
Beamten bot, handelt das nachitehende Protokoll, welches 
den Eindrud am unmittelbarften wiebergibt: 

„Die Wohnftube zu der Frenſemeier'ſchen Wohnung 
war zugeflinkt, jedoch nicht verſchloſſen. Beim Oeffnen 
derſelben lag bie Leiche der Frau Frenjemeier auf dem 
Rüden, mit dem Kopfe nach der Thür inmitten einer 
großen Blutlache. Vom Kopfe derſelben war nur noch 
ber Unterkiefer und ein Theil des Hinterfopfes vorhanden. 
Das Gehirn und die Schäbelfnochen lagen in der Stube 
umber. Frenſemeier felbft lag über der Leiche und zwar 
mit dem Kopf auf der Bruft derfelben; ven linfen Arm 
hatte er in ver ZTaillengegend um die Leiche gefchlumgen. 


Eine Studie über mania transitoria. 65 


In der rechten Hand bielt er ein Meſſer; feine Kleider 
waren über und über mit Blut und Gehirntheilen behaftet. 
In unmittelbarer Nähe der Leiche lagen die Fragmente 
zweier Stühle, eine Schippe und vier Meffer, beziehungs- 
weiſe bie Stüde derſelben. 

‚„Srenjemeier wurde von ber Leiche heruntergeriffen 
und ihm das Meffer aus der Hand genommen. An feiner 
rechten Hand hatte er unbedeutende Schnittwunden. Er 
athmete regelmäßig, das Zwideln einer gejchloffenen 
Augen zeigte, daß fein Zuſtand keineswegs ein gefähr- 
beter war. Er wurde aus feiner Wohnftube auf ven 
Hausflur gebracht, dort feiner befehmuzten Kleider ent- 
ledigt und, nachdem er mit andern verjehen, auf einem 
Wagen nach dem Polizeigefängnig gebracht.” 

So weit das Protofoll. Etwas ausführlicher in den 
Einzelheiten bekundet der Polizeicommiſſar Meyer bei 
jeiner fpätern Vernehmung: 

„Beim Eintreten in bie Frenſemeier'ſche Wohnung bot 
fih mir ein entjeglicher Anblid dar. Ich fand nämlich 
Frau Frenſemeier mit zerfcehmettertem Kopf auf der Erbe 
liegend, von dem Kopf war überhaupt nur ein Theil 
des Hinterfopfes und des Unterkiefers vorhanden. Die 
Leiche lag auf dem Rüden mit bem Kopf nach ver 
Stubenthür. Der Fußboden war auf ber Stelle, wo bie 
Leiche Tag, mit Blut getränft, es lagen Gebirnftüde 
jowie Stüde von dem Schädelknochen in der Stube um⸗ 
ber. Der Wilhelm Frenfemeier lag neben ver Leiche, und 
hatte ihn der Bolizeifergeant Böhle, welcher einige Augen- 
blide vor mir gefommen war, noch mit einem Meffer in 
der Hand auf ver Leiche liegend betroffen. Außer dem 
von Böhke dem Frenfemeier weggenommenen Mefjer lagen 
noch drei andere Mefjer, eine Schippe und die Stüde 
von zwei zertrümmerten Stühlen neben ber Leiche. Die 

XXII. 


66 Eine Studie über mania transitoria. 


Kleider des Frenfemeier waren mit Blut und Gehim- 
ftüden behaftet. Die Augen hatte er gejchloffen, doch 
athmete er regelmäßig, gab aber auf an ihn gerid- 
tete Fragen feine Antwort. Er wurde. aus ber Wohn- 
ftube in bie daranftoßende Stube gezogen, dort jeiner 
mit Blut getränften Kleider entlebigt, und nachbem er 
mit andern Kleidungsſtücken verjehen war, auf eimem 
Wagen zum Polizeigefängniß gebracht. Während ver Ent- 
Heidung öffnete er die Augen, fchloß fie aber gleich wieber 
und gab auch jegt auf an ihm gerichtete Fragen feine 
Antwort. Webrigens Hatte er Gefühl, indem er liegen, 
welche fich anf die Schnittiwunden feiner rechten Hand 
jegten, abwehrte. Daß er fi in einem angetrunfenen 
Zuftande befunden, kann ich mit Beftimmtheit nicht jagen, 
boch kam es mir fo vor, als wenn er nicht nüchtern ge- 
weien wäre. Nachdem er in das Polizeigefängniß ab- 
geführt war, Habe ich ihn an vemfelben Abend noch einige 
mal bejucht. Bei ven erjten Befuchen lag er ftill dahin 
und gab auf Anrufen feine Antwort, hatte auch noch die 
Augen gefchloffen. Als ich ihn an jenem Abend zum 
legten mal befuchte und anvebete, öffnete er bie Augen. 
Ich fragte ihn, ob er denn wife, was er gethan habe, 
worauf er den Kopf fchüttelte. Auf meine Mittheilung, 
daß er feine Frau erfchlagen habe, Inirfchte er mit ben 
Zähnen, gab indeß feine weitere Antwort.” 

Der zuerft erjchienene Polizeifergeant Boͤhle bielt 
Trenfemeier für betrunfen, und „er war“, wie der Zeuge 
jagt, „jogar in einem bewußtlofen Zuftande, da er eben 
alles über fich ergeben ließ, ohne einen Laut von fich zu 
geben; nur blinferte er ab und zu mit den Augenlidern“. 
Dagegen fchilvert die Zeugin Ehefrau Göbel Frenſemeier's 
Zuftand in folgender Weife: „Er lag auf der Leiche, ſodaß 
er mit feinem Kopfe auf den Füßen ver Frau lag. 





Eine Studie über mania transitoria. 67 


hatte ein Meſſer in ber Hand, die Arme und Beine weit 
anseinanbergefpreizt, und er zudte dabei mit ben Händen 
und Beinen, als wenn er am Verenden wäre. Ich 
glaubte, er würbe auch fterben. Während ich vorftehende 
Wahrnehmung machte, kam die Polizei und Frenſemeier 
wurbe von ber Leiche berimtergezogen.” 

Bon dem Protokoll über die am 3. Juli vorgenom⸗ 
mene Obduction ift nur der Paffus über ven Befund 
bes Kopfes von Intereſſe. „Derfelbe bilvete nur eine 
unförmliche Maſſe, an ver fich einige ſchwarzbraune Haar- 
büfchel, etwas Kopfhaut und vielfach zertrümmerte Theile 
bes Schaädelknochens erfennen Tiefen. Das rechte Ohr 
wie auch das linke war vorhanden, die Deffnungen ber 
Ohrgänge waren leer, ber Mund ließ ſich noch er- 
kennen, jedoch keine Mundhöhle mehr. &8 fand fich noch 
ein Theil des linken Unterkiefer vor. Bon einer Nafe 
oder überhaupt von einer Gefichtöfermation war nichts 
mebr zu erkennen.” 

Außerdem wurben noch verfchiebene Schnittwunden an 
der DBruft und dem Unterleibe feftgeftell. Die Aerzte 
gaben ihr vorläufiges Gutachten dahin ab, daß der Tod 
der Ehefrau Frenſemeier infolge VBerblutung aus den ver» 
fchiedenen Wunden eingetreten jet. 

Auf Grund biefes durch die Zeugenausfagen feft- 
gefteliten Thatbeftandes wurde bie Vorunterſuchung wegen 
Mordes gegen Ärenfemeier eröffnet. Bei feiner erſten 
verantwortlichen Vernehmung erklärte er, als ihm bie 
öffentliche Anklage vorgehalten wurde: 

„Ich bin mir der That nicht bewußt. Ich bin mit 
meiner Frau feit dem Jahre 1867 verheirathet gewefen 
und habe mit bverfelben bis vor -Jahresfrift im beften 
Einvernehmen gelebt. Im vergangenen Jahre wurden mir 
gegenüber burch andere Perſonen Aeußerungen laut, welche 

5% 


68 Eine Studie über mania transitoria. 


mir die Anficht aufprängten, daß meine Frau mir untreu 
fei. Ich merkte fehr bald, daß ein mit mir auf der Zeche 
Wolfsbank befchäftigter Schmievemeifter fich in auffälliger 
Weile um meine Frau kümmerte, und hatte auch nicht 
verfehlt, meiner Yrau hierüber Vorhaltungen zu machen. 
Sie ftellte ein Verhältniß mit vemfelben entfchieden in 
Abrede, wodurch ich mich wieder beruhigte. Mitte März 
biejed Jahres wurbe mir doch in ganz beftimmter Weile 
mitgetheilt, daß zwilchen meiner Frau und ihm ein Ber: 
hältniß bejtände, und zwar ein jehr intime, es wurbe 
mir gleichzeitig der Rath gegeben, einmal aufzupaffen, 
um babinterzufommen. Lebteres that ich auch, und als 
ih in der Woche vor Oftern eined Tages den Schmiede: 
meijter beobachtete, ſah ich ihn mittags nicht auf dem ge 
wöhnlichen Wege, ſondern quer über den Alchenhaufen 
weg auf meine Wohnung zugehen. Ich verfolgte ihn 
mit den Augen und ſah ferner, wie er bie Einfriedigung 
bes Zechenplatzes überftieg und von dem Wege aus, ber 
an dem Coaksofen vorbeiführt, in mein Geböft trat. 
Meine Frau mußte ihn gejeben haben, da ich genau be 
obachten konnte, wie bie beiden fich durch Zeichen ver- 
jtändigten. Er ging darauf in mein Haus und verweilte 
bort wohl eine halbe Stunde. Nach diefer Zeit ſah id 
ihn im entgegengefetter Richtung mein Gehöft verlafien. 
Ich Hatte Dienft an der Mafchine und konnte ihm infolge 
beffen nicht folgen. Erft eine Viertelftunde nachher ging 
ih in meine Wohnung. Ich fragte meine Frau, ob et 
bort gewefen fei, fie ftellte e8 jeboch in Abrebe. Ich 
jtellte aber durch Nachfrage bei ven Nachbarn feit, daß 
er wirklich in meinem Haufe gewefen war. ch machte 
nun meiner rau Vorftellungen barüber, daß fie mir 
nicht die Wahrheit gejagt babe. Erft am andern Tage 
gab fie dieſes zu, jedoch fei er nur im Vorübergehen dort 








Eine Stubie über mania transitoria. 69 


gewefen und babe ihr gefagt, daß er bei einem Nachbar 
ein Wafchfaß abholen wolle. Ich war hierauf immer 
noch im Zweifel, ob die mir binfichtlich dieſes Verhält⸗ 
nifjes gemachten Mittheilungen auf Wahrheit berubten, 
nahm aber nochmals Gelegenheit, meiner Frau ernftbafte 
Borftellungen zu machen und fie zu bitten, im Intereſſe 
unjers guten Rufs ben Verkehr mit dem Schmiebemeijter 
zu meiden. Sie verfprach es mir auch und theilte mir 
eines Tags mit, daß fie dem Schmienemeifter gejagt babe, 
er möge fie in Ruhe laffen und nicht mehr in unfer Haus 
fommen. Einige Tage nachher machte ich indeß wiederum 
Wahrnehmungen, die mir darüber beftimmte Anhalts⸗ 
punkte gaben, daß meine Frau troß alledem pas Ver- 
hälmiß fortfeßte. Meine Frau follte eines Tags vor⸗ 
mittags nach Effen fahren, um bort bei ber Feuerver⸗ 
fiherung etwas zu beforgen. Ich Hatte gemerft, daß ber 
Schmied mittags von ber Zeche ging und feine Sonntags⸗ 
Heider trug. Ich vermutbete, daß er vorhatte, mit meiner 
Frau zufanmen nach Effen zu reifen. Als ich nach Haufe 
fam, tbeilte mir meine Frau mit, fie babe vormittags 
ben Weg nicht machen können und beabfichtige, dieſes am 
Nachmittag zu thun. Sch verbot meiner Frau nun, nad) 
Efien zu geben. 

„Einige Tage nachher: ſah ich meine Frau ein Fleines 
Padethen unter einen in meiner Laube lagernden Holz⸗ 
haufen ſtecken. Ich ging bin, nahm das Padetchen und 
widelte e8 auf. In vemfelben befanden fich zwei Eier 
und ein Briefchen. Daffelbe lautete ungefähr folgenver- 
maßen: «Mein lieber Schag, nimm es mir nicht übel, 
daß ich damals nicht mit nach Effen kommen konnte. 
Wenn bu nächftens nachts zu mir kommen willft, fo paſſe 
auf, daß Wilhelm bei der Maſchine ift.» Nunmehr batte 
ich Gewißheit. Die infolge veffen mit meiner Frau ftatt« 





70 Eine Studie über mania transitoria. 


gehabte Scene endete damit, daß fie mir auf Verlangen 
das Verſprechen gab, in Gegenwart unfers Paſtors zu 
betheuern, daß fie in Zukunft ihren Lebenswanbel änbern 
und mir niemals Veranlaffung zur Ciferfucht geben 
wollte. Solches ift geſchehen, der Paftor ift noch im Be- 
fige des von mir gefundenen Briefchene. 

„Die Gewißheit, daß meine Frau mich hintergangen, 
benahm mir allen meinen Muth und bie Luft am Fa⸗ 
miltenleben. In dem Schmied ſah ich den Urheber meines 
Unglücks, ich batte mir vorgenommen, ihm bei nächlter 
Gelegenheit varüber Vorftellungen zu machen. Am lebten 
Grünen Donnerstag fand fih dazu Gelegenheit. Gr 
juchte mich im der Mafchinenballe auf und fagte zu mir, 
was das für Nebereien feien, vie ich über ihn verbreitet 
habe; er habe gehört, daß ich zum Abendmahl gehen 
wolle, ob ich mir biefes auch wohl überlegt hätte. Ich 
erwiberte ihm barauf, daß ich es nicht nöthiger hätte wie 
er und wünſchen müßte, daß er in Zulunft meine Häus- 
lichkeit meide. Der Schmied ftellte in Abrede, daß er ein 
Verhältniß mit meiner Frau gehabt hätte. Dabei blieb e®. 

„Am Morgen des 1. Juli begab ich mich um 5 Uhr 
zur Zeche, um meinen vierundziwanzigftündigen Dienft 
daſelbſt anzutreten. Gegen 1 Uhr mittags ging ich nad 
Haufe, um mir mein Effen zu holen. Am Nachmittag 
gegen 3 Uhr begab ich mich mit dem Klempnermeifter 
ber Zeche in deſſen Werfftätte, wofelbft wir uns durch 
ben Zechenwärter zwei Liter Bier binbringen ließen. Der 
Klempnermeifter Heufer hatte auch noch ungefähr ein 
halbes Liter Schnaps in feiner Werfftätte und Haben wir 
zwiſchendurch auch Schnaps getrunfen. Als dieſer Vorrath 
zu Ende war, habe ich zunächſt beim Wirth Gottichalt 
ein halbes Liter Schnaps gegen Bons geholt, und als 
wir dieſes Duantum aufgezehrt hatten, wurde nochmals 





Eine Studie über mania transitoria. 71 


ein halbes Liter Schnaps bei Gottichall gegen Bons ge- 
holt. In der Zwifchenzeit wurbe mir von dem Klempner- 
meifter erzählt, daß der Fuhrhauer Kiefernagel, als er 
eined Abends mit feiner Frau an dem Holzmagazin ber 
Zeche vorübergegangen fei, gejeben babe, wie der Schmiebe- 
meifter auf dem Holzplatze ver Zeche mit meiner Frau 
in zärtlicher Weife verfehrt habe. Der Klempnermeifter 
hob hervor, daß es ihm leibthäte, dieſes jagen zu müfjen, 
die Sache läge indeſſen fo, daß fie meinerſeits geändert 
werben müſſe. Dierüber wurde ich fo erregt, daß ich mir 
bornabm, mic an dem Schmied zu vergreifen. Es iüft 
mir nur erinnerlich, daß ich denſelben geftern Mittag 
(die Vernebmung fand am 2. Juli ftatt) bin und wieder 
auf dem Zechenplate gejeben babe. Ich kann mich nicht 
entfinnen, in meiner Wohnung gewejen zu fein. Ich 
weiß überhaupt von dem fpäter Vorgefallenen nicht das 
Geringfte wiederzugeben, pa ich vollſtändig befinnungslos 
geweien fein muß. ‘Die hier vorliegenden, mit Blut über 
und über behafteten Gegenftände, und zwar bie Frag⸗ 
mente ziveier Stühle, eine Grabichippe und vier Meſſer, 
beziehungsweife Fragmente berjelben erkenne ich als mein 
Eigenthum an. Diefelben befanven fich geftern Morgen 
bei meinem Fortgange nach ver Zeche in meiner Wohnung. 
Die Meſſer find, wie ich glaube, im Keller gewejen. In 
der neben dem Schlafzimmer befinplichen Kammer hat 
fi eine Scheide mit mehrern Mefjern befunden. Ich 
gebrauchte dieſelben zum Abfchlachten von Pferben und 
Schweinen. Auf welche Weife ich die Schnittwunven an 
meiner Hand befommen habe, weiß ich nicht.“ 

Diefer Auslaffung gemäß hat fich Frenjemeier bei all 
feinen VBernehmungen ausgeſprochen. Er will nachmittags 
im Zufammenfein mit Heufer das Bewußtſein verloren 
und es erft im Polizeigefängniß morgens wiedererlangt 


2 Eine Studie über mania transitoria. 


haben. Dort hat er dann, wie er behauptet, zu feinem 
großen Erftaunen gehört, daß er beichulpigt werbe, feine 
Ehefrau ermordet zu haben, und fagt, er müſſe dieſe Be⸗ 
ſchuldigung ja als richtig annehmen, obwol er fih biefer 
Thatſachen in keiner Weife mehr erinnere. 

Die Unterfuhung ging augenfcheinlic von der am 
nächften liegenden Annahme aus, daß dieſes abfolute Nicht- 
erinnern gelogen fei. Man nahm an, daß Frenſemeier 
in der Nüchternbeit den Plan zur Ermordung feiner Frau 
gefaßt babe, als er die Untreue verfelben durch Heufer 
erfahren, und daß er durch den Genuß ver alfoholiichen 
Getränke noch mehr gereizt und in feinem Vorhaben be- 
ftärkt, aber durch viefelben feiner freien Willensbeftimmung 
burchaus nicht beraubt geweſen fei, daß er fich vielleicht 
auh „Muth zu ſeiner graufigen That getrumten” babe. 
Die Unterfuchung Hatte ſich eigentlich nur auf die Ereig- 
niffe des Nachmittags und das Erwachen des Frenjemeter 
erftredt; denn für die Annahme einer Geiftesftärung ſchien 
nah dem Weſen und dem ganzen Vorleben des An- 
gejchufpigten feine Veranlaffung vorzultegen. 

Heufer, mit welchem ver Angeſchuldigte die geiftigen 
Setränfe zufammen genoffen hatte, gibt an: „Als Frenje- 
meier gegen 3 Uhr an meiner Werfftätte auf ber Zeche 
vorbeikam, fragte ich ihn ſcherzweiſe, ob er nicht ein gutes 
Frühſtück habe. Prenfemeter kam barauf in meine Werk⸗ 
ftätte und Tieß burch den Tageswärter ber Zeche bei dem 
Wirth Gottfchalf zwei Liter Bier holen. Nachdem wir 
bie zwei Liter ausgetrunken, wurbe noch Schnaps geholt. 
Im Gefpräh mit Frenſemeier Elagte dieſer über feine 
unglüdlichen Bamilienverhältniffe und meinte, baß ber 
Schmied mit feiner Frau etwas zu thun habe und an 
feinem Familienunglück ſchuld fei. Er feufzte dabei mit- 
unter tief auf und lief unruhig in der Werfftätte auf 


Eine Studie über mania transitoria. 13 


und ab. Er bob befonbers hervor, daß er in guten Ver⸗ 
hältniffen lebe und gut Ieben könne, wenn er nur bad 
Unglüd mit feiner Frau nicht hätte. Nachdem er längere 
Zeit davon geiprochen, erwähnte ich, daß auch ich davon 
gehört hätte, und fagte ihm, daß der Fuhrhauer Kiefernagel 
mir eines Tages gefagt habe, daß ich den Umgang mit 
dem Schmiedemeifter meiden follte, da biefer einen fchlechten 
Auf babe und mit der Frau Frenfemeier ein intimes 
Berhältnig Habe. Unter anderm habe mir Kiefernagel 
gejagt, daß er ſich vor Furzem vor feiner Frau und feinem 
Rinde babe ſchämen müſſen; denn fie hätten zufammen 
gefehen, wie derſelbe unter einem Zaun hindurch zu Frau 
Frenſemeier gefrochen fei. Frenſemeier erwiderte darauf, 
daß der Schmied fich ftetd als ein guter Freund von ihm 
gerirt habe und trotzdem ftelle er feiner Frau bei Zage 
und bei Nacht nah. Als er fich gegen 4 Uhr von mir 
entfernte, war er nicht betrunfen. Meines Erachtens 
fonnte er von bem Quantum, welches er bei mir genofjen 
hat, auch nicht betrunken werben; denn“ (fügt der Zeuge 
bei einer fpätern Gelegenheit Hinzu) „ver Tageswärter 
Brüning hat noch mit getrunfen. Frenfemeier kam, nach⸗ 
bem er fortgegangen war, und zwar etwa nach fünf 
Minuten wieder in meine Werfftätte, verließ dieſelbe aber 
alsbald wieder, ohne ein Wort zu fagen.” 

Der Zeuge ftellte in Abrebe, Frenſemeier mitgeteilt 
zu haben, daß Kiefernagel ben vertraten Verkehr zwischen 
dem Schmied und Frau TFrenjemeier beobachtet habe, und 
dies ift auch durch die Vernehmung des Kiefernagel und 
feiner Ehefrau thatſächlich als unrichtig feftgeftellt. 

Nachdem Trenfemeier biefes fogenannte „Frühſtück“ 
eingenommen hatte, begab er fich in feine Wohnung. 
Dort befanden fich die Eheleute Wolff aus Styrum, um 
wegen des Koſtgeldes des Franz Müller, eine Sohnes 


74 Eine Studie über mania transitoria. 


ber Frau Wolff aus erfter Ehe, welcher ſeit ſechs Wochen 
bet renfemeier wohnte, mit demſelben zu verhandeln. 
Sie waren gegen 3 Uhr gekommen, trafen aber nur Frau 
Frenſemeier an. „Dieſelbe fprach fich“, wie Frau Wolff 
befundet, „ſehr erfreut darüber aus, daß ihr Mann Das 
Dranntweintrinten aufgegeben habe. Kaum Hatte fie diefe 
Aeußerung gemacht, als ihr Dann in bie Stube trat; 
berfelbe ftutte, al er mich und meinen Mann dort ſah, 
und es fchien mir fo, als werm er angetrumlfen geweſen 
wäre. Sch theilte ihm den Zweck unſers Kommens mit, 
worauf er entgegnete, ich möchte bie Angelegenheit mit 
jeiner Frau befprechen, weil er feine Zeit habe und zur 
Zeche zurüd müffe Auch ging er fogleich wieder fort. 
Bielleicht eine Stunde fpäter brachte Frau Frenſemeier 
ihrem Mann ven Kaffee zur Zeche und ich begleitete 
fie dorthin. Wir trafen ihn im Mafchinenraume an, 
er war an ber Mafchine thätig. Er war ganz guter 
Dinge, zeigte mir die einzelnen Mafchinentheile und be⸗ 
ſchrieb mir dieſelben; dabei ging er auf und ab, trank 
den ihm überbrachten Kaffee, ich ſah, als er hin⸗ und 
herging, daß er wadelte, was ich dem Umſtande zufchrieb, 
baß er betrumfen fei. Uebrigens fprach er ganz vernünftig, 
jodaß ich annehmen muß, daß er feiner Sinne vollftänbig 
mächtig war. Unter anderm fagte er, wenn ich für meinen 
Sohn 30 Mark Koftgeld monatlich zahlen wolle, Könnte 
er, folange er wollte, bei ihm bleiben. Auch fragte er 
mich, ob ich hiermit zufrieden fei, was ich bejahte. Che 
ich mit feiner Frau wieber fortging, fuchte er ein Körbchen 
Drennholz für dieſelbe zujammen und fagte zu ihr unter 
Streiheln der Baden: «Ich habe doch eine gute Frau.» 
Geiftige Getränfe habe ich in dem Mafchinenraume nicht 
ftehen fehen. Ich blieb mit meinem Manne noch bie 
gegen 6’), Uhr in ver Frenfemeier’ichen Wohnung, 


Eine Stubie über mania transitoria. 75 


die Frau Frenjemeier begleitete uns vor bie Thür, 
ging aber dann gleih in das Haus zurüd. Ich war 
mit meinem Manne erft wenige Schritte gegangen, als 
ich Frenſemeier eiligen Schrittes ohne Kopfbevedung von 
ber Zeche kommen fah. Ich blieb ftehen, weil mir dieſes 
auffiel, und fragte den Frenſemeier, ald er an uns 
herangekommen war, was denn paffirt fei. Hierauf ſchlug 
er mit der Hand vor ſeine Bruſt und machte dabei die 
Bemerkung: «Hier ſitzt etwas, was ich niemand ſagen 
fann.» Dann drückte er meine Hand und eilte auf ſeine 
Wohnung zu, während ich mit meinem Manne weiter 
ging. Augenjcheinlih war Frenjemeier in großer Anf- 
regung, als er zu feiner Wohnung ging.” 

Die beiden Knaben Franz Müller und Heinrich Frenfe- 
meier befunden noch, daß Trenfemeier zwijchen 5 und 
6 Uhr von der Zeche nach Haufe gefommen fei. Sie 
feien im Ziegenftalle damit bejchäftigt gewejen, die Ziegen 
loszubinden, und Frenfemeier fei in den Stall gelommen 
und habe vie beiven Knaben herausgejagt. Sie willen 
nicht anzugeben, ob Frenſemeier zu biefer Zeit auch in 
feiner Wohnung gewejen ift. 

Nachdem Frenfemeier in das Polizeigefängnig abgeführt 
war, fehlief er rubig weiter. Der Bolizeidiener, welchen 
jeine Bewachung aufgetragen war, hat ihn in feiner Zelle 
auf Anweilung des Commiſſars jede DViertelftunde befucht 
und traf ihn ruhig ſchlummernd an. ‚Er öffnete erft 
feine Augen“, jagt der Polizist aus, „als ich ihn gegen 
31/, Uhr morgens abermals anrief. Ich fragte ihn dann, 
wie er bierher fomme, worauf er zur Antwort gab: «Io 
bin ich denn hier?» Auf meine Entgegnung, daß er fich 
im Gefängniß befinde, bemerkte er, er wiſſe nicht, weshalb 
er verhaftet fei, er werde wol Skandal gemacht haben. 
Dabei brachte er die Rede auf feine Frau und erzählte, 


76 Eine Stubie über mania transitoria. 


baß biejelbe feit längerer Zeit ein unerlaubtes Verhältniß 
mit dem Schmied ımterhalte. Er habe fie wieberbelt auf- 
gefordert, das Verhältniß aufzugeben, boch ohne Erfolg. 
Trotzdem habe er fih auf Bitten feiner Frau bereit er- 
klärt, ihr zu verzeihen, wenn fie dem Pfarrer gegenüber 
das Verfprechen abgäbe, von dem Schmieb abzufaffen; 
fie babe dies Verfprechen gegeben, aber gleichfall® ohne 
Erfolg. Es Habe ihm nämlih am Nachmittag vorher 
ber Klempnermeifter Heuſer erzählt, wie er gehört habe, daß 
jeine Frau wieder mit dem Schmied betroffen jei. Weber 
biefe Mittbeilung fei er fo erregt geworben, daß er fich 
betrunfen habe und nicht wiſſe, was dann paffirt fei. 
Nur wollte er fich entfinnen, daß er von ber Zeche nach 
Haufe gegangen fei. Daß er feine Frau mishandelt Habe, 
jagte er nicht, wohl aber, daß er dem Schmieb das Fell 
vollichlagen werde, wenn er ihn gelegentlich treffe. Ein 
weiteres habe ich von Frenfemeier nicht erfahren, ich 
babe ihm auch nicht gefagt, daß er feine Frau mishandelt 
oder getöbtet habe.‘ 

Um 7 Uhr kam ber Polizeicommiffar in feine Zelle 
und nahm die oben mitgetheilte erfchöpfende Verhandlung 
mit Srenfemeier auf. Ergänzend deponirt der Commiffar, 
baß derſelbe fich durchaus ber Vorgänge jened® Nadh- 
mittags nicht Babe erinnern wollen und fogar beftritten 
babe, zu wiflen, baß er von der Zeche nach Haufe ger 
gangen fei. „Ferner erzählte er“, fette der Commiſſar 
Hinzu, „baß er vor der ihm von Heufer gewordenen Mit- 
theilung ben Schmied auf ver Zeche babe herumgehen 
feben und dabei den Entichluß gefaßt habe, bemfelben 
dranzugeben.” 

Die von Frau Frenfemeter an ihren Liebhaber ge- 
ichriebenen und von Frenſemeier felbft aufgefangenen und 
dem Paſtor übergebenen Zettel wurden von bem letztern 





Eine Studie Über mania transitoria. 77 


eingefordert und ftimmten mit Frenjemeier’s Ausjage 
überein. Die verfchievenen Nachbarn und von Trenfe- 
meier benannten Perſonen wurden über ihre Beobachtungen 
binfichtfich eines Verhältnifjes zwifchen vem Schmied und 
rau Frenſemeier befragt, und es wurbe feftgeftellt, daß 
allerdings von einer Ueberraſchung in flagranti nicht bie 
Rede war, daß aber das ganze Treiben der beiden ber 
Nachbarſchaft anftößig geworben war. 

Diejed war das Material, auf Grund deſſen Trenje- 
‚meier wegen Todtſchlags feiner Ehefrau angeflagt und 
da® Hauptverfabren vor dem Schwurgericht eröffnet 
wurde. Erſt port wurde von ver Vertheidigung bie Frage 
aufgetvorfen, ob Frenſemeier zurechnungsfähig geweſen jei. 
Und in ver Schwurgerichtsfigung zu Eſſen vom 19. October 
1883 wurde der Beichluß gefaßt: die Familienverhält⸗ 
niſſe Frenſemeier's feftzuftellen, namentlich welche Ver⸗ 
häftniffe den Selbſtmord feines Vaters veranlapt hätten, 
einen eingehenden Obductionsbericht von dem Kreisphyſi⸗ 
kus einzuziehen und ein Gutachten über ven Gemüths⸗ 
zuftand des Frenſemeier und die Frage von dem Director 
der Provinzialbeilanftalt zu Grafenberg Dr. Belman ein- 
zufordern, ob renfemeier zur Zeit ber That zurech⸗ 
nungsfähig gewefen fei. 

Hinfichtlich der erjten Frage wurde nichts Bemerkens⸗ 
werthes feftgeftellt. Es wurde nur noch mehr Har gelegt, 
was allerdings fchon ziemlich feitftand, daß Frenſemeier 
ftet8 ein zuverläffiger, ordentlicher und nüchterner Menſch 
geweſen war und fich nie Symptome geiftiger Krankheit 
bei ihm gezeigt hatten. Sein Vater hatte fi im Jahre 
1842 erhängt, trotzdem er in ebelichem Frieden und ge- 
ordneten Verhältniſſen lebte Ein Grund bes Selbit- 
mords war nicht aufzufinden und von geiftigen Std» 
rungen war auch bei ihm nichts befannt geworden. 


78 Eine Studie über mania transitoria. 


Der von bem Kreisphufilus nnd Kreiswundarzt er- 
ftattete Obductionsbericht faßt das Thatfächliche aus den 
Zeugenausfagen zufammen, ftellt die bis zum 1. Juli 
1883 vorhandene förperliche und geiftige Geſundheit des 
Frenſemeier feinem ganzen Vorleben nach und ven Zeu⸗ 
genausfagen gemäß feft und geht dam auf den Leichen- 
befunb über. Nach dem Bericht, welcher fich Hierin auf 
ben Xeichenbefund und die Ausfagen ber Zeugen Müller 
und Srenfemeier ftügt, hat ber Unglückliche zunächft feiner 
Frau mit dem Stuhlbeine die töblichen DVerlegungen am 
Hinterkopf beigebracht und dann mit einem andern wuch- 
tigen Inftrument, als welches die von den Zeugen ge- 
nannte Schippe angenommen wird, eine großartige Zer- 
trümmerung bes Halswirbels herbeigeführt. Durch dieſe 
Verlegungen ift der Tod ber Ehefrau Frenfemeier herbei- 
geführt. Dagegen find bie vielfachen Verwundungen mit 
ben Meffern an der Bruft, an ven Schultern, am Ober- 
arm, am Elnbogen und auf dem Rüden ber Frenſemeier 
erſt beigebracht, als fie bereit® geftorben war. Dies geht 
baraus hervor, daß die Wunden mit glatten Rändern, 
welche durch die Mefferftiche zugefügt find, nicht mehr 
biutumterlaufen waren, alfo nach ber durch die Zertrüm⸗ 
merung des Halſes herbeigeführten Blutentleerung ent- 
ftanden find. 

Frenſemeier bat alfo erft nach dem Tode der Fran 
bie Meſſer berbeigeholt und bie Leiche zerfetzt, während 
ber Anblid des Todes fonft auf die erregteften und 
toheften Gemüther verfühnenb und berubigenp, in ſolchen 
Tällen auch erichrediend wirkt und bei dem Berbrecher, 
welcher bie unmittelbare Folge feiner That vor fich ſieht, 
Reue und Angftgefühl hervorruft. 

Das Gutachten des Dr. Pelman theilen wir in an⸗ 
näbernder Vollſtändigkeit mit, weil ber bekannte Pfychia- 


Eine Stubie über mania transitoria. 79 


trifer fich wiederholt mit Frenfemeier unterrevet hat und 
das Gutachten ven Eindruck des Perfönlichen, Unmittel- 
baren am beften wiedergibt. 

Das Gutachten geht unter Beifeitelaffung des körper⸗ 
lichen Zuftandes fofort auf den Seelenzuftand und bie 
Zurechnungsfähigkeit des Frenſemeier über und hebt her- 
vor, daß bie Unterſuchung in biefer Beziehung eine ganz 
bejondere Echwierigfeit habe, weil das Hauptobject, der 
Angellagte felbft, nur ein negatives Reſultat ergebe. 
Dann führt Belman fort: 

„Frenſemeier ift zur Zeit nicht geifteöfrant, und nichte 
in feinem Verhalten feit feiner Inhaftnahme gibt une 
einen Anhaltspunkt dafür an die Hand, an feiner ©eiftes- 
gefunbheit zu zweifeln. 

„Ebenfo wenig bat fich aus feinem frühern Leben etwas 
ergeben, woraus fich früher zu irgendeiner Zeit Geiftes- 
ftörung bei ihm annehmen Tiefe. Er ift fonach weber 
bor noch nach ber den Gegenftand der Anſchuldigung 
bildenden That erweislich geiftesfrant gewefen. 

„Iſt es nun wahr, ober, da die abjolute Wahrheit der 
Natur der Sache nach wohl kaum zu beweifen jein wird, 
ift e8 zum minbeften wahrfcheinlich, wenn er behauptet, 
daß er von ber Zeit der That und von biefer felbft nicht 
die mindefte Erinnerung zurüdbehalten babe? 

„oder, um bie Frage birect auf das wiſſenſchaft⸗ 
fihe Gebiet berüberzuführen, gibt es derartige Zu- 
ftände, wo bei vor» und nachher geiftig Gejunden An⸗ 
fälle der Bewußtlofigkeit eintreten, welche feine Erinne- 
rung zurücklaſſen und in denen gleichwohl gewaltthätige 
und anfcheinend bewußte Handlungen verübt werben 
können? 

„Und wenn e8 derartige Zuftände wirklich gibt, laſſen 
fih alsdann Anhaltspunkte dafür gewinnen, daß fich 


80 Eine Studie über mania transitoria. 


Srenfemeier in einem folchen befunden und feine That 
darin begangen bat?“ 

gebt geht das Gutachten auf die Erdrterungen von 
Krafft-Ebing ein und theilt das, was berjelbe über ma- 
nia transitoria jagt, wörtlih mit. Dann fährt Pel- 
man fort: 

„Auf Grund ber vorftehenden Angaben fünnen wir 
demnach. das Vorkommen berartiger Bewußtieinsftörungen 
nicht bezweifeln, und ebenfo werben wir a priori bie 
Möglichkeit zugeben müffen, daß ein folder Zuſtand franf- 
bafter DBewußtlofigfeit bei Frenfemeier vorgelegen babe. 
Diefes letztere ift zu beweifen und unfere Aufgabe wirt 
e8 fein, auf Grund des vorliegenden Materials ben Nach⸗ 
weis zu liefern, ob und wie weit die thatſächlichen Ver⸗ 
hältniſſe mit dem vorhin geſchilderten Kranfgeitöbilve über⸗ 
einftimmen und inwiefern ſich daraus bie Ueberzeugung 
gewinnen läßt, daß es fich bei Brenfemeier auch) wirklich 
um eine berartige mania transitoria gehandelt hat. 

„Wir find bier, wo, wie ſchon bemerkt, bie Unter- 
fuchung des Angeklagten keine weitern Aufklärungspunkte 
verfpricht, und wie ich gleich Hinzufügen will, auch bei 
einer fortgefeßten Beobachtung nicht verfprechen Tann, 
lediglich auf feine Mittheilungen fowie auf die Ausſagen 
der Zeugen angewiejen. Ich werde mir erlauben, zunächit 
die Angaben des Angeklagten anzuführen und dann zu 
unterfuchen, inwieweit fie fi) mit ben Zeugenausſagen 
decken, und endlich dazu übergeben, das jo gewonnene 
Material an der Hand des Krankheitsbildes zu fichten 
und bie Webereinftimmung ober bie Abweichung nachzu⸗ 
weiten. 

„Frenſemeier bat bei jeinen verfchtevenen VBernehmungen 
die Geſchichte des verhängnißvollen 1. Juli ſtets in der⸗ 
ſelben Weiſe und, um dies gleich hervorzuheben, ohne ſich 








Eine Studie über mania transitoria. 81 


je zu wiberfprechen, erzählt. Der nachftehende Bericht ift 
zumeiſt den Angaben des Angeklagten entnommen, die er 
bei einer perfönlichen Unterfuchung am 19. October 1883 
gemacht hat. 

„Er batte an jenem Sonntag Vormittag viel zu thun 
und mußte auf ber Zeche bleiben. Sein Mittagbrot 
nahm er indeß wie gewöhnlich in feiner nahegelegenen 
Wohnung eis. Bald nach Mittag, zwiſchen 2 und 3 Uhr, 
trank er mit dem Klempner Heufer zwei Liter Bier und 
überbies noch Branntwein. Wie viel Branntwein er ge- 
trunfen, weiß er nicht. Nach andern Angaben ift etwa 
ein Liter getrunfen. Schnapstrinfer fei er nie geweſen, 
auch habe er es nicht vertragen können. Er fei dann 
nicht, wie er fein müffe, und es babe fich dam wohl 
ergeben, baß er etwas gejagt habe, wovon er nichts mehr 
wußte. Im Verlauf ver Unterrevung ſei auch Die Sprache 
auf feine Frau und deren Berhältniß mit dem Schmiebe- 
meifter gelommen, und ver Klempner babe ihm erzählt, 
baß man ihn in einer zärtlihen Umarmung mit feiner 
Frau gefehen habe. Das Habe ihn furchtbar angepackt 
und bald barauf jei er weggegangen. Von nun an wiſſe 
er nichts mehr und von allem, was von ba ab mit ihm 
vorgefallen, was er gethan und getrieben, babe er auch 
nicht die geringste Erinnerung mehr. 

„Ob ich in der Nacht geichlafenn, To fährt er fort, 
aweiß ich nicht. Am andern Morgen fand ich mich wieder, 
ich fühlte mich wie zerichlagen und wußte nicht, wie mir 
war. Da ich mich im Gefängniß befand, jo dachte ich 
erft, ich Hätte mit dem Schmiedemeifter Streit gehabt 
und fei wegen Prügelei eingeftedt. Erſt nachher erfuhr 
ih, daß ich meine Frau erfchlagen habe. Man zeigte 
mir einen ver Stühle, mit benen ich fie getöbtet hätte. 
Wie dies vor fich gegangen, kann ich mir gar nicht vor⸗ 

XXI. 6 


82 Eine Studie über mania transitorie. 


ftelfen. Ob ich geglaubt habe, ich hätte ben Schmiede⸗ 
meifter vor mir, da ich mir vorgenommen, mit bemfelben 
abzurechnen, ift möglich; doch kann ich mich noch fo jehr 
darauf befinnen, fo weiß ich von allen biefen Dingen 
nichts. Nur fo viel weiß ich, daß ich meine Frau bei 
mir behalten wollte, der Mann hätte daran gemußt. 
Geſchlagen habe ich meine Frau nie, felbft damals nicht, 
als mir durch das Auffinden der Briefe fein Zweifel an 
ihrer Untreue übrigblieb. Ich wußte nicht, was ic 
machen folite. Bon ihr gehen konnte ich nicht, ba ich zu 
fange mit ihr gelebt hatte, und ich verlangte nicht® mebr, 
als daß fie von dem Manne laſſen jollte.» 

„Mehr Tann er nicht angeben. 

„Hier treten num bie Zengenausfagen ergänzend ein, 
und es wirb zunächſt von Wichtigkeit fein, die Zeit genan 
feftzuftellen, um fo mehr, als die Zeugen hierin vonein- 
ander abweichen, was ja aber bei Zeitangaben nichte 
Auffallendes hat. | 

„Beft ftebt, daß er mit Heufer bis etwa 4 Uhr nad 
mittags auf ber Zeche zufammen geweſen ift und feine 
Frau gegen 7 Uhr erichlagen bat. In der Zwiſchenzeit, 
alſo in einem Zeitraum von drei Stunben, ift er, und 
zwar bald nach 4 Uhr, auf kurze Zeit in feiner Wohnung 
gewefen und dann wieder zur Zeche zurückgekehrt. Dier 
haben ihn gegen 5 Uhr Fran Wolff und feine Frau auf 
gefucht und er bat Kaffee getrunfen. Es ſcheint hiernach, 
als ob er unmittelbar, nachdem er Heufer verlaffen umb 
wo die unerinnerliche Zeit beginnt, nach Hauſe gegangen 
fei. Sein Benehmen war dort fchon ein auffällige und 
ungewohntes. Er war auffallend erregt (Zeuge Ir. Müller), 
jagte diefen Zeugen und feinen Neffen aus dem Stall, 
trat dann in feine Wohnung und verließ biejelbe nad 
einigen Minuten wieder. Einen Zwed hat dieſer Beſuch 








Eine Stubie über mania transitoria. 83 


anfcheinend nicht gehabt. Dem Zeugen Müller fchien 
Brenjemeier ärgerlich und angetrunfen zu fein. 

„Vielleicht ift e8 am zweckmäßigſten, gleich an biefer 
Stelle der Trage näher zu treten, ob Frenjemeier wirklich 
betrunfen war und die That im Zuftande des Rauſches 
verübt hat. Thatfächlich war der Genuß beraufchender 
Getränke vorangegangen. Frenſemeier glaubt indeß felber 
nicht, daß er betrunfen gewefen fet, und ebenſo wenig tft 
fein Genoffe Heufer bei dieſem Trinkgelage dieſer Anficht. 

„Dagegen hielt ihn die Zeugin Wolff, die ihn auf der 
Zeche gegen 5 Uhr bejuchte, für angetrunfen, weil er 
wadelte. Da er ihr jedoch die Maſchinentheile beſchrieb 
und erklärte und auch fonft vernünftig fprach, fo mußte 
fie troßdem annehmen, daß er feiner Sinne vollfommen 
mächtig war. 

„Von einer finnlofen Betrunfenheit kann alfo wol zu 
dieſer Zeit feine Rebe fein. 

„Daß Frenfemeier aber nachher noch getrunfen habe, 
tft nicht erwieſen und auch nicht wahrjcheinlich. 

„Ganz entichieden ſonderbar und auffallend war ein 
Benehmen kurz vor der That. An der Zeugin Scharpf 
ging er vorbei, ohne fie zu grüßen, was er jonft nie ver- 
fäumte; er ſah fie ftier an und fie hielt ihn daher für 
betrunfen. 

„Frau Wolff teifft ihn nochmals auf ihrem Nachhaufe- 
wege fur; vor 7 Uhr. Er ift fehr aufgeregt, ohne Kopf⸗ 
bevedung, beträgt fich höchit auffallend, ſodaß fie fragt, 
was denn vorgefallen fei. Er fchlägt auf feine Bruft 
und fagt: «Hier figt etwas, was ich niemand fagen fann.» 

„Auch feine Frau jcheint ihn für betrunken gehalten 
zu haben; denn ihre legten Worte follen nach der Aus- 
fage des Zeugen Müller ein Vorwurf geweſen fein, daß 
er Branntwein getrunfen habe. Bei allen aber ftüßt fich 

6 * 





84 Eine Studie über mania transitoria. 


anfcheinend die Annahme der Trunkenheit Hauptfächlich 
auf das fonverbare und bei dem fonft jo ruhigen Manne 
auffallende Benehmen, da ja diefe Vermuthung am 
nächſten lag. 

„Jedenfalls muß aber eine fo hochgrabige Betrunken⸗ 
beit, daß das Bewußtſein dadurch aufgehoben und bie 
Handlung einfach auf Rechnung des finnlofen Rauſches 
zu ſchieben ſei, ausgeſchloſſen erfcheinen. 

„Höchſt charakteriſtiſch für Die Beurtheilung des Falls 
ift Die Ausführung der That. Mit dem kurzen Ausruf 
«Was gebt es dich an?» ftürzt er fich fofort auf feine 
Frau, und ohne Rüdficht auf Zeugen und Umgebung ent- 
widelt fich eine Scene, die durch ihre Wilpheit und Un⸗ 
menjchlichkeit geradezu frappirt. 

„Die Zeugen dieſes blutigen Schaufpiel® äußern ſich 
über dafjelbe wie folgt: 

„«Er blieb am Wüthen wie ein wüthendes Thier.» 
(Otten.) 

„Das Getobe hörte fich fürchterlich an; er tobte und 
ichlug planlos mit der Schippe hin und her.» (Scharpf.) 

„Dtten ruft ihn an, erhält aber keine Antwort, und 
Frenſemeier tobt weiter. Unb unmittelbar darauf finden 
fie ihn anfcheinend ſchlafend auf ber Leiche feiner Iran, 
den Arm um ihre Taille gefchlungen, in der andern Hand 
noch ein blutbeflecktes Meſſer. 

„Trotz einer nicht gerabe fanften Behandlung — er 
wird von ber verftümmelten Leiche fortgerifien, abgewaſchen, 
umgefleivet und auf einem Karren in das Gefängniß ges 
fahren — fchläft er weiter, unb biefer tiefe, todtenähn⸗ 
lihe Schlaf dauert bis zum andern Morgen. Beim Er⸗ 
wachen tft er unbefangen, anjcheinend ohne jede Erinne- 
rung an bie traurigen Vorgänge und macht feine Ausfage 
ganz im gleicher Weife wie jett. 


Eine Studie über mania transitoria. 85 


„Faſſen wir dieſes alles zufammen, fo ergibt fich daraus 
Folgendes: 

„Frenſemeier hat am 1. Juli eine immerhin nicht 
gleichgültige Menge berauſchender Getränke zu ſich ge⸗ 
nommen. Zu dieſem für ihn ungewohnten Genuß, den 
er ohnedies nicht gut vertragen kann, geſellt ſich eine ihn 
tief ergreifende Mittheilung, eine gewaltig in ſein ganzes 
Fühlen und Empfinden einſchneidende Gemüthsbewegung 
und er geräth hierdurch in einen Zuſtand der Aufregung 
und ber Bewußtloſigleit, von dem er angeblich keine Er⸗ 
inmerung behalten hat. In biefem Zuftande begeht er 
eine biutige That, die burch ihre gewaltfame, rückſichts⸗ 
loſe und unfinnige Ausführung weit über den Zwed einer 
etwa beabfichtigten Todtung hinausgeht und jebes Leugnen 
don vornherein unmöglich macht. 

„Anmittelbar hinterher verfinft er in Schlaf; er wird 
noch fchlafend am Thatort vorgefunden. Nach dem Er- 
wachen benimmt er fich unbefangen und beantwortet bie 
an ihn geitellten Fragen ohne Zögern. ‘Die Zeit bes 
Anfalls bildet eine Lücke in ver Continuität feines Geiftes- 
lebens, und dieſe Lücke ift zeitlich fcharf begrenzt. 

„Alles dieſes ftimmt fo genau mit der oben angeführten 
Schilverung der mania transitoria überein und es ergibt 
fih für uns ein fo abgerundetes Krankheitsbild, daß ich 
nicht anftehbe, den Fall Frenſemeier hierher zu rechnen 
und ben Angeflagten mithin für unzurechnungsfähig zu 
erflären, indem er bie That in einem Zuftanbe ber Be⸗ 
wußtlofigfeit verübte, woburch feine freie Willensbeſtim⸗ 
mung ausgefchloffen war. 

„Zur weitern Belräftigung dieſer Annahme will ich 
noch näher auf einzelne Punkte eingehen. 

„Wenn wir mebicinifch die mania transitoria auffaffen 
als die Reaction bes Gebirns auf plößlich eintretenve 


86 Eine Studie über mania transitoria. 


Congeftionen nach biefem Organ hin, jo wird bie obige 
Annahme eine Beftätigung in dem Nachweife finden, daß 
renfemeier in der That eine befonbere Neigung zu Con- 
geftionen beſitzt und Veraulaſſungen vorhergingen, Die 
erfahrungsgemäß wohl geeignet waren, berartige Con⸗ 
geftionen und in weiterer Folge einen Anfall von manıa 
transitoria herborzurufen. 

„Frenſemeier gibt nun in burdhaus glaubwilrbiger 
Weife an, daß er früher viel an Kopfichmerzen gelitten 
habe, und zwar bejonders dann, wenn er in ber Grube 
beichäftigt war. Alsdann habe er auch Schwinbelanfälle 
gehabt. Wir bürfen hieraus mit vollem Recht fchließen, 
daß er zu Eongeftionen nach dem Gehirn binneigte. 

„Unter den veranlaffenden Urfachen werben aber vor⸗ 
zugsweife Gemüthsbewegungen und Exceſſe im Trinken 
hervorgehoben. Beides war bier in ausgiebigem Maße 
ber Fall. Die Angelegenheit mit feiner Frau quälte den 
äußerlich ruhigen, dabei aber tief empfindenten Mann 
mehr, als er fagen konnte; er hatte fchlafloje Nächte und 
trug ſich mit böfen Plänen gegen ben Berführer. 

„Daß er zudem gegen die Einwirkung bes Allkohols 
empfinblich war, ift ſchon vorher hervorgehoben. 

„Um fo mächtiger verbanvden fich beibe ſchädliche Ein⸗ 
flüffe und riefen bei dem dazu ohnehin geneigten Manne 
eine heftige Congeftion hervor, die alsdann zur mania 
transitoria führte. 

„Daß dieſe Reizung des Gehirns eine recht hochgradige 
war, unterliegt nach ben Angaben ber Zeugen feinem 
Zweifel. Nach Ausfage der Zeugin Göbel hät er, wäh⸗ 
rend er bewußtlos lag, «mit Armen und Beinen gezudt, 
als wenn er am Berenben wären. Der Bolizeicommiffer 
Meyer hörte ihn mit den Zähnen Inirfchen. Während 
ber That kam e8 zu unartikulirtem Schreien und Brüllen. 








Eine Studie über mania transitoria. 87 


Und man wird fich bei ver Hervorhebung dieſer Umftände 
an die Schilderung von Krafft-Ebing erinnern müſſen 
und es verftänblich finden, weshalb ich e8 für zweck⸗ 
mäßig erachtete, dieſelbe meinem Gutachten wörtlich ein- 
zuſchalten. 

„Daß Frenſemeier ſimulirt oder vielmehr, da es ſich 
ja um eine eigentliche Simulation nicht handelt, daß er 
lügt und ſeinen Ausſagen entgegen doch eine Erinnerung 
an das Vorgefallene habe, glaube ich mit Beſtimmtheit 
in Abrede ſtellen zu können. 

„Ich habe ſchon zu verſchiedenen malen auf das Ein⸗ 
heitliche des ganzen Verhaltens hingewieſen, das gewiſſer⸗ 
maßen nach beſtimmten Geſetzen ſich entwickelt und ab- 
läuft. Wollte man hier annehmen, daß Frenſemeier lügt, 
ſo iſt man geradezu gezwungen, ihm die Abſicht einer 
ſolchen Lüge von vornherein zuzuſchieben, ihm zuzumuthen, 
daß er alle Handlungen genau ſo, wie er ſie begangen, 
in der beſtimmten Abſicht begangen habe, ſein ſpäteres 
Leugnen glaublich und annehmbar zu machen. Es würde 
diejed außer mehrern andern Eigenſchaften, bie Frenſe⸗ 
meier nicht befigt, auch eine Kenntniß ber Pſychiatrie 
vorausſetzen, bie er nicht befigen kann, und biefe ganze 
Annahme wird daburch abſurd. Ueberbies macht Frenfe- 
meier den Einbrud eines biebern und orbentlichen Men⸗ 
fchen. Nie bat er fich widerfprochen. Kein Wort ber 
Beihönigung der That, die ihm auch jetzt noch unver- 
ſtaͤndlich ift. Er liebt auch jegt noch feine Frau, wie er 
es nachweislich vor der That gethan, und er kann nicht 
ohne Rührung an das Vorgefallene denken. 

„Gerade dieſes Einfache, Selbftverftändliche in feinem 
Verhalten jchließt die Armahme einer DVerftellung aus. 
It feine Angabe aber richtig, ift e8 wahr, was er be 
bauptet, daß er fih in ver That nicht erinnere, feine 


88 Eine Studie über mania transitoria. 


Tran erfchlagen zu haben, dam tft er auch für feine 
Handlung nicht verantwortlich zu machen. 

„Mehr der Vollftänvigleit halber als aus einem an« 
bern Grunde will ich ber Angabe kurz erwähnen, daß 
ber Vater bes Frenſemeier am Selbſtmord geendet hat. 
Irgendeine Bedeutung für uns hat biefer Umſtand nicht. 
Denn einmal wiffen wir mit Ausnahme dieſer nadten 
Thatſache von bem Vater des Angeklagten nichts. Un 
jelbft für den Ball, daß er wirklich geiſteskrank geweſen, 
was ja hierdurch keineswegs feftgeftellt ift, wären weitere 
Volgen kaum daraus zu ziehen. 

„Zum Schluß erübrigt mir nur noch ein Wort zur 
Frageftellung: 

‚Son feiten des Gerichts wird amfcheinend Werth 
barauf gelegt, wie der Seelenzuftand bed Angellagten in 
ben einzelnen Momenten ver That gewefen fei, und es 
tönnte befremben, daß ich bisher mit feinem Worte anf 
biefe Frage eingegangen bin. 

„Nach den Ergebniffen ber Section ımterliegt e8 wohl 
feinem Zweifel, daß Frenſemeier feine Frau mit einem 
Stuhle erjchlagen und die bereits leblofe Leiche darauf in 
finnlofer Weife mit Hade und Meffern zerfleiicht hat. 
Wemn fih in diefem Vorgange auch vielleicht verſchie⸗ 
bene Phaſen auseinanderhalten und getrennt bebanteln 
ließen, fo ift dieſes in pfuchologifcher Beziehung nicht 
ver Fall. 

„Die ganze Zeit vom Eintritt ver Bewußtlofigkeit bis 
zum Erwachen, alfo ber Zeit nach von 4 Uhr nachmittage 
bes 1. Juli bis 2 Uhr morgens des 2. Juli, ift ein ein- 
heitliche8 Ganzes, das nur im Zuſammenhang aufgefaßt 
und beurtbeilt werden kann. Der Zuftand der Bewußt⸗ 
lofigfeit war demnach in allen Momenten ber Hanblung 
ber gleiche; eine verjchievenartige Beurtheilung berfelben 








Eine Studie über mania transitoria. 89 


ift nicht zuläffig, und Frenfemeier war in biefer ganzen 
Zeit gleich ungurechnungsfähig.“ 

Die Staatsanwaltfchaft trug bei dem jeltenen Vor⸗ 
fommen ber mania transitoria Bedenken, fich bei dieſem 
Gutachten zu beruhigen, zumal ja das Vorleben des 
Frenfemeier nicht den geringften Anhalt für die Annahme 
einer plößlich eintretenden geiftigen Störung bot. 

Die Staatsanwaltichaft ftellte der Autorität von 
Krafft-Ebing diejenige von Ideler gegenüber, welcher aus⸗ 
führt, daß bie Lehre von der mania transitoria oft genug 
zur Entſchuldigung von Verbrechern geführt habe, deren 
Zurechnungsfähigkeit aufrecht erhalten werben follte, und 
daß der Begriff der mania transitoria als im Wider⸗ 
ſpruch mit den gefäuterten Grundſätzen ber Piychiatrie 
ftehend aus ber gerichtlichen Pſychologie ganz ausſcheiden 
müſſe. Die Staatsanwaltfchaft führte aus, daß möglicher» 
weile renfemeier in der Erregung, aber bei Bewußtſein 
den Entichluß gefaßt habe, feine ungetreue Frau zu töbten, 
und erft die Ausführung der That felbft und das ver- 
gefjene Blut die Aufregung bis zum Wahnſinn gefteigert 
babe. Frenfemeier ſei anfcheinend unmittelbr vor ber 
That no nicht wahnfinnig geweien; denn ‘er habe den 
Weg zu feiner Wohnung gefunden, babe nicht fofort bei 
feiner Ankunft im Haufe auf feine Frau losgeſchlagen, 
ſondern fei erft durch ihren Vorwurf in Aerger gerathen. 
Bei beiden Gutachten fei viel Werth auf den vorher ge- 
nofjenen Branntwein gelegt, indeß habe der Genuß der 
Spirituofen bereit eine geraume Zeit vor der That ftatt- 
gefunden und könne man auf das Urtheil von Frauen 
über den Grad der Trunkenheit fein große® Gewicht 
legen. Aus allen dieſen Gründen fei es nothwenbig, 
durch ein erneuertes Gutachten den Zeitpunkt genau feit- 
zuftellen, wann bie mania transitoria ihren Anfang ge- 





90 Eine Studie über mania transitoria. 


nommen babe, und überhaupt erfcheine e8 bei ver Wich- 
tigfeit des Falls angemeffen, das Gutachten des rheinifchen 
Medicinalcollegiums einzuholen. | 

Dem Antrage gemäß wurde von ber Straflammer 
die Einholung biefes Gutachtens namentlich darüber be 
ichloffen, ob anzunehmen fei, daß renjemeier wegen 
Unzurechnungsfäbigfeit einen Entfchluß zur Begehung des 
Verbrechens nicht habe faffen können und ſchon bei Be- 
ginn der Ausführung ver That unzurechnungsfähig ger 
weſen ſei. | 

Diefes am 25. Februar 1884 erftattete Gutachten 
geht zumächft auf ven Begriff ver mania transitoria ein 
und ftelit feft, daß die Annahme dieſer Krankheitsform 
nad) dem gegenwärtigen Stande ber mebicinifchen Wiffen- 
ſchaft allgemeine Geltung in der Pfychiatrie habe. Dann 
geht das Gutachten auf die in dem frühern Gutachten 
bervorgehobenen Beobachtungen unter völliger Billigung 
berjelben und dann auf Einzelheiten des ber That vor- 
außgegangenen Zeitraums näher ein. 

Es hebt hervor, daß der vorhergegangene Allohol⸗ 
genuß mit Rückſicht auf die geringe Leiftungsfähigfeit des 
Frenſemeier and die befannte Erfahrung, daß der Genuß 
von geijtigen Getränken bei größerer Gemüthserregung 
viel intenfiver auf das Gehirn wirfe als bei ruhigen 
Geifteszuftänden, immerhin Einfluß auf die Herporbrin- 
gung der Bewußtjeinsftörung gehabt habe, und geht dann 
darauf über, daß Frenſemeier auch für die Vorgänge 
zwiihen 4 Uhr nachmittags und der That, welche mit 
ber legtern in gar feinem Zuſammenhang ftehen, bie 
Erinnerung vollſtändig fehle. 

„Er bat fich“, fährt das Gutachten fort, „in jener 
Zeit in einem traumartigen Zuftande befunden. Bon 
dem Beſuch ver Ehefran Wolff und ver Beiprechung mit 





Eine Studie Über mania transitoria. 91 


derjelben ftellt er jeve Erinnerung in Abrede. Für feine 
innere Aufregung während biefer Periode fpricht die zwed- 
loſe Unftetigfeit, die er damals an den Tag gelegt bat. 
Schon 5 Minuten nach feinem Weggange erfcheint er 
wieder in ber Werkftätte bes Heufer, ohne zu fprechen, 
dann um 4 Uhr in feiner eigenen Wohnung (Begegnen 
mit Frau Wolff), dann wieder im Ziegenftalle (zwifchen 
5 und 6 Uhr) ımb er entfernt fich immer in großer Eile. 

„Das freundliche Benehmen gegen feine Ehefrau auf 
der Zeche, wo er ihr ein Bündel Holz zufammenfucht und 
mit den Worten die Baden ftreichelt: «Ich Habe doch 
eine gute rau», dürfte auf eine durch den Allohol⸗ 
genuß hervorgebrachte finnliche Erregung zurüdzuführen 
jein. Wenigſtens ſpricht dieſes Benehmen nicht für eine 
damals gegen feine Frau beſtehende Erregtheit. 

„Was die That felbjt betrifft, jo tft es zweifelhaft, 
ob der Impuls zu derſelben burch eine tadelnde Bemer⸗ 
fung ber Frau gegeben worben ift. Es iſt biejed ebenio 
gut möglich, als daß Frenjemeier in einer Hallucination 
befangen war, in ber er ftatt feiner Frau den Schmiebe- 
meifter vor fich zu haben glaubte, da offenbar Rache⸗ 
gedanken gegen biefen bie legten Gedanken find, deren er 
fih entfinnt, und wieber bie erften waren, mit denen er 
ſich bei feinem Erwachen beſchäftigt. Die That felbft 
trägt in ihrer enormen Gewaltthätigfeit, ihrer finnlofen 
Wildheit, in ber vollflommenen Rüdfichtslofigfeit gegen 
etwaige Beobachtung, in dem Toben und Wütben, mit 
dem er noch ben lebloſen Körper zerfleifchte, ganz das 
Gepräge der vollen Bewußtlofiglett, welche die maniafali« 
ſchen Ausbrüche in ſolchen Zuſtänden charakterifirt. Und 
das ſofortige von Krämpfen eingeleitete Verſinken in 
Schlaf entſpricht ebenſo dem typiſchen Bilde des abnormen 


pſychiſchen Zuſtandes.“ 





99 Eine Studie über mania transitoria. 


Das Gutachten geht noch dazu über, feftzuftellen, daß 
Frenſemeier ſtets eine unmanbelbare Xiebe gegen feine 
Frau an den Tag gelegt habe, daß ein Grund zur An- 
nahme einer Simulation durchaus nicht vworliege, und 
ſchließt damit, „daß Frenfemeier ſich feit 4 Uhr nad» 
mittags bis zum Erwachen am andern Morgen in einem 
franfhaften, traumbaften Zuftande befunden babe unb 
zur Faſſung eines Entjchluffes unfähig geweſen jei, bie 
That jelbft aber nur als ein Impuls ohne alle Fähigkeit 
ber Ueberlegung erfolgt jet“. 

Da in dem bisherigen Gutachten ein fehr hoher Werth 
auf Die chronologifche Reihenfolge der Ereigniffe des ver- 
bängnißvollen Nachmittags gelegt wurde und bie Fönig- 
lihe Staatsanwaltichaft ver Anficht war, daß bei ber 
bisherigen Inftruction der Sache auf dieſe Reihenfolge 
nicht bie genügende Nückficht genommen ſei, wurbe auf 
ihren Antrag noch eine Vervollftändigung der Vorunter⸗ 
juhung vorgenommen. 

Hinfihtlich der Zeitfolge — bekanntlich ſtets das 
Kreuz des Unterfuchungsrichters, da die Grauen bie Zeit 
niemals, die Männer der untern Stände aber nur ibte 
Arbeitöftunden im Kopfe haben — wurbe nur feftgeftellt, 
daß bie Ehefrau Wolff um 21, Uhr am der nächften 
Station ankam und daß fie um 3 Uhr in ber Frenfe- 
meter’jchen Wohnung anlangte. Wenige Minuten nad 
3 Uhr ift Frenfemeier zuerft nach Haufe gefommen und 
bat Frau Wolff wegen des Koftgeldes an feine Frau ver- 
iwielen. Eine Stunde darauf, alfo gegen 4 Uhr, find bie 
Frauen zur Zeche gegangen und haben ihm ben Kaffee 
gebradt. Dort haben fie fich eine halbe Stunde auf: 
gehalten. In der Zwiſchenzeit (gegen 31/, Uhr) ift Frenſe⸗ 
meier im Stalle geweien, bat die Knaben von bort ver- 
jagt und fih vom Stalle wieder zur Zeche begeben. Um 








Eine Studie über mania transitoria. 93 


6%, Uhr Hat Frau Wolff das Frenſemeier'ſche Haus 
verlaffen, um nach Haufe zurüdzufahren, und um bieje 
Zeit begegnete ihr Srenfemeier, ohne Hut auf feine Woh⸗ 
nung zueilend. 

Heufer gab das von dem Angeklagten genoffene Quan⸗ 
tum Schnaps auf etwa Y/,, Liter an. 

Auf Grund dieſer Feftjtellungen und bei der Wichtig- 
feit des Falls wurde beichloffen, noch ein Gutachten ber 
wifjenjchaftlichen Deputation für das Medicinalweſen in 
Berlin einzuholen. Daffelde wurde am 28. November 
1884 erftattet und lautet in feinen wejentlichen Beſtand⸗ 
tbeilen folgendermaßen: 

„Die drei in dieſer Sache erftatteten Gutachten ftimmen 
darin überein, daß Frenſemeier die That in einem rajch 
vorübergehenden Anfall acuter Bewußtloſigkeit began- 
gen babe. 

‚Bedenken, welche bagegen erhoben werben können, 
daß ein folcher Zuftanp überhaupt vorkomme, find bereit® 
in ben Vorgutachten eingehend erwogen und e8 ift darin 
nachgewiejen, daß erfahrungsmäßig Zuftänpe plöglich auf- 
tretender Bewußtjeinsftörung bei vorher und nachher 
geijtig gefunden Individuen auch anderweit beobachtet 
find, Zuftände, welche von Delirien und Angftanfällen, 
fowie auch von tobfüchtigen Anfällen begleitet find und 
zu gewaltfamen Handlungen führen fönnen, von benen 
vie betreffenden Perfonen, wenn nach wenigen Stunden 
das gejunde Bewußtſein wieder eintritt, Teine Erinne- 
rung haben. 

„Der im vorliegenden Falle Angeflagte wirb von ben 
Nachbarn, Dansgenoffen und der Polizeibehörde ald eim 
fleißiger, nüchterner und in geregelten Verhältnifien leben- 
der Mann gejchilvert, gegen den nie etwas Nachtheiliges 
befannt geworden war. Seine Verficherung, daß er mit 


94 Eine Studie über mania transitoria. 


ber Getöbteten bis drei Monate vor ber That im beften 
Einvernehmen gelebt habe, wirb von allen Zeugen be- 
ftätigt. Da, im Frühjahr 1883, wurde ihm mitgetheilt, 
baß feine Frau mit einem Schmiedemeifter ein ftrafbares 
Verhältniß unterhalte. Anfangs ließ er fich beichtwichtigen, 
bis er gegen Pfingften durch zwei von feiner Frau an 
ben Liebhaber gerichtete Briefe den überzeugenven Beweis 
ihrer Untreue erhielt. Auch jet noch verzieh er ihr und 
behielt fie ferner bei fich, nachdem fie in feiner Gegen» 
wart vor dem Baftor verfprochen hatte, ihren Lebene- 
wanbel zu ändern. 

„Dieſes fortwährende Schwanken zwifchen Zweifel und 
Meberzeugung, das unausgefegte Aufpaffen auf feine Fran, 
welches er jelbjt während feiner Arbeit von dem unmittel- 
bar neben feiner Wohnung liegenden Zechenhaufe aus 
Zag für Tag fortjeßen konnte, mußte den Gram um 
feine Frau fortgejett wach halten und empfindlich fühlbar 
machen. Eine folhe Monate anhaltende Gemüthserregung 
war wohl geeignet, feine Geſundheit zu untergraben, ibn 
in eine abnorme Gemüthsſtimmung zu verjegen und auf 
biefe Weife eine Dispofition zu ernten geiftigen Störungen 
hervorzurufen. Daß folche Folgen wirklich eintraten, gebt 
aus den Angaben des TFrenfemeier über feinen Zuftanv 
hervor. Er Elagte, daß die Gewißheit, von feiner Iran 
bintergangen zu fein, ihm allen Lebensmuth und die Zuft 
am Familienleben geraubt habe. Er hatte fchlafloje Nächte 
und böſe Träume. 

„Auch nach dem vor dem Pfarrer gegebenen Berjprechen 
hielt die fortvauernde Unruhe und Aufregung bei Frenſe⸗ 
meter an. Es zeigte fich bei einer Zufammenkunft mit 
dem Slempnermeifter Heufer kurz vor der gewaltjamen 
That am 1. Yuli, wie feine Gedanken fortwährend mit 
jeinen ehelichen Verhältniffen befchäftigt waren. Und die 


Eine Studie über mania transitoria. 95 


hierüber vorhandene Aufregung mußte durch die ihm 
gegenüber von Heufer gemachte Aeußerung im höchſten 
Maße gefteigert werben, wenn biefelbe auch nur fo ge- 
fallen ift, wie Heufer angibt. 

„Die Hoffnung auf eine Beſſerung feiner Frau und 
ein ferneres zufrievenes häusliches Leben mußte ihm ver- 
nichtet, Schmach umd Schande unabwenbbar auf der noch 
immer geliebten Fran und auf ihm felbft laſtend erfcheinen. 

„Es kommt babei noch ein anderer Factor in Betracht: 
ber vorbergegangene Genuß altoholifcher Getränke.” (Das 
Gutachten bejchäftigt fich num mit der genoffenen Menge 
und führt aus, daß die jüngfte Aeußerung des Zeugen 
Heufer, Brenjemeier habe nur !/,, Liter Schnaps ge- 
trunfen, al8 eine willfürliche Schägung angejehen werben 
müffe) Es fährt fort: 

„Daß Frenſemeier in ber Zeit, welche vom Beginn 
bes mit Heufer eingenommenen Frühſtücks bis zur That 
verfloß — es find etwa vier Stunden geweſen — nicht 
finnlos betrunfen war, geht zwar aus feinem ganzen Be⸗ 
nehmen hervor, daß aber die genoffenen alkoholiſchen Ge- 
tränfe nicht ohne Einfluß auf ihn geblieben waren, läßt 
fih ſchon daraus entnehmen, daß er faft von allen Per- 
fonen, welche ihn während dieſer Zeit beobachtet haben, 
für betrunfen gehalten wurbe. 

„Wenn man auch nicht annehmen kann, daß der ge- 
nofjene Branntwein bie einzige ober auch nur bie Haupt⸗ 
urfache der Störung des Bewußtſeins geweſen fei, fo tft 
dadurch doch der lange vorbereitete heftige Einbrud als 
gefteigert anzufehen, welchen Heuſer's Mittheilungen auf 
Frenſemeier gemacht haben.‘ 

Es wird nun auf das Benehmen des Trenjemeier in 
ben nächften Stunden näher eingegangen. ‘Dann fährt 
das Gutachten fort: 








96 Eine Studie über mania transitorie. 


„Das zwedloje Hin- und Dergehen bes Frenſemeier 
während dieſer Stunden wird in dem Schreiben ber 
Stantsanwaltichaft an und dahin gedeutet, daß er feine 
Ehefrau über ihre Handlungsweiſe zur Verantwortung 
ziehen wollte, und da er an der Ausführung dieſes Ent- 
ichlufjes durch die Anwejenheit ver Frau Wolff in feiner 
Wohnung abgehalten fei, fich wiederholt dorthin begeben 
babe, um zu recognofciren, ob feine Ehefrau enplich allein 
jet. Wenn biefes in ber That der Fall gewejen wäre, 
jo Hätte er nicht zweckentſprechend gehandelt; denn von 
feinem im Zechenhaufe befinplichen Arbeitsplage konnte 
er jeine Wohnung vollftändig überjehen und fich fo ohne 
weiteres, ohne ven Pla& zu verlafjen, überzeugen, ob bie 
Wolff noch anweſend war. Es war ihm überbied be> 
fannt, daß die Wolff mit bem Zuge von auswärts ge 
kommen war und erft abends mit ver Eiſenbahn zurüd- 
reifen konnte, daß fie alfo ven Nachmittag über bei feiner 
Frau verbleiben würde. Man ift daher wol mehr be- 
rechtigt, das zweckloſe Unihertreiben des Frenfemeier, ver 
dabei niemand aufjuchte und mit niemand redete, als ein 
Zeichen feines geftörten Bewußtſeins anzufehen. 

„Es iſt aber auch denkbar, daß erft infolge bes ſpä⸗ 
tern mit Bemußtlofigfeit verbundenen Anfall von Tob⸗ 
ſucht die Erinnerung an die einige Stunden vorher jtatt- 
gehabten Vorfälle erlofhen war, während er zur Zeit 
berjelben das Bewußtſein noch hatte. Die ärztliche Er- 
fahrung lehrt nämlich in der That, daß nach ver Ge⸗ 
nejung von acuten fchnell vorübergegangenen Unfällen gei- 
ftiger Störung die Erinnerung auch für eine längere ber 
jelben vorhergegangene Zeit, während welcher mit vollem 
Bewußtſein gehandelt wurde, verloren gehen konnte. 

„DaB Srenfemeier fich in dieſen Nachmittagsftunden 
mit Nachegebanfen oder gar dem Gebanfen bed Tobt- 


Eine Studie über mania transitoria. 97 


ſchlags gegen feine Ehefrau getragen habe, wie e8 bie 
Staatsanwaltihaft annimmt, dafür liegt fein genügenber 
Anhalt vor. Er bat weder unmittelbar nach der Mit- 
theilung des Heufer gegen biefen, noch gegen bie fonftigen 
Zeugen eine Aeußerung ober auch nur eine Anbeutung 
gemacht, welche darauf fchließen Tiefe. Er war überdies 
nit zu Gewalttbhätigkeiten geneigt. Selbft gegen ben 
Schmied, gegen welchen er wieberholt Drohungen aus- 
geſtoßen hatte, Hat er nie auch nur ben Verſuch gemacht, 
biejelben thätlich auszuführen. Gegen feine Ehefrau bat 
er troß ihres Verſchuldens eine unerfchätterliche Liebe und 
große Nachficht an ven Tag gelegt. Selbft fein Benehmen 
eine Stunde vor ber Töbtung, ald er einen Korb Hol; 
für fie zufammenfuchte und ihr die Wange ftreichelnb zu 
ver Wolff fagte: «Ich habe doch eine liebe Frau», Tann 
wol nur als ein Beweis ber felbft in dem geftörten 
Seelenzuftande fich geltend machenden Zuneigung auf- 
gefaßt werden. Wenigftens entfpricht eine jolche Deutung 
dem ganzen Wefen und Charakter bes Frenſemeier mehr 
als die Annahme eines Beſtrebens, fremden Perfonen bie 
traurige Lage feiner Bamiltenverhältniffe zu verbergen, 
ein Unternehmen, von dem er fi) von vornherein fagen 
mußte, daß es boch vergeblich fei. Ueberhaupt wäre e8 
pſychologiſch ſchwer erklärlich, daß ein Mann, ver ſich 
mit Rache⸗ und Mordgedanlken trägt, noch Sinn für eine 
folhe Rüdfichtnahme haben jollte. 

„Als Frau Wolff ſodann um 6", Uhr bie Frenſe⸗ 
meier’sche Wohnung verließ und ihm in bem oben ge= 
fchilverten Zuftande begegnete, finden wir an ihm ein 
Berbalten, welches feine andere Deutung finden Tann 
als die eines innerlichen Angftgefühls, wie e8 auf folchen 
Kranken laftet, und beffen Linderung fie oft in gewalt⸗ 
jamen Ausbrüden zu finden glauben. Auf die Frage, 

XXII. 7 





98 Eine Studie über mania transitoria. 


was paffirt fei, ſchlug er mit der Hand auf feine Bruſft 
und fagte: «Hier fit etwas, was ich niemand fagen 
fann», und eilte, nachdem er ihr bie Hand gebrüdt hatte, 
auf feine Wohnung zu. Bon da an bis zur Töbtung 
und uachher bis zum Kintritt des feften Schlaf6 geftattet 
bie Hanblungsweife des fonft friebfertigen, vernünftigen 
Menfchen nur die Auffaffung eines geftörten krankhaften 
Bewußtſeins.“ 

Das Gutachten gebt nun auf die nähern Umſtände 
ber That felbft ein und führt aus, daß das Plan- und 
Sinnlofe derfelben jeden Zweifel daran ausfchliefe, daß 
hier der Ausbruch einer völlig geftörten Seelenthätigleit 
vorliege und die Annahme völlig ansgefchloffen fei, daß 
Frenſemeier die That noch in zurechnungsfähigen Zuftanbe 
geplant habe und erft beim Anbli des Bluts in Raferei 
geratben ſei. Es gebt dann auf deu charakteriftiichen 
tiefen Schlaf über und fährt fort: 

„Auch bie Anfälle anderer Nervenkranfheiten, nament- 
lich der Epilepfie, pflegen mit einem tiefen, gleichfam kri⸗ 
tiſchen Schlaf zu endigen, aus dem bie vorher Bewußt⸗ 
[ofen mit völlig bergeftellten: Bewußtfein erwachen, welches 
dann bis zu einer etwaigen Wiederholung bed Anfalls 
fortbefteht. 

„Daß Srenfemeier an Epilepfie gelitten, ift nicht nach⸗ 
gewiejen, indeß erjcheint eine Zeugenausjage von Wichtig. 
feit, welche auf pie Möglichkeit hinweiſt, daß der Aufall 
von Tobſucht und der nachfolgende lange fchlafartige 
Zuftand zu einem Anfall von Epilepfie in Verbindung 
geftanden habe. Die Zeugin Göbel erklärt nämlich bei 
der Schilderung bes neben feiner rau bewußtlos liegen- 
den Angeflagten: «Er Hatte ein Meſſer in ter Hand, bie 
Arme und Beine weit ausgeftredt und zuckte dabei mit 
den Händen und Beinen, als wenn er am Verenden ge⸗ 


Eine Stubie über mania transitoria. 99 


weſen wäre.» Es wäre nicht unmöglich, daß diefe Zuckun⸗ 
gen die Bedeutung von Krämpfen eines epileptifchen An- 
falls gehabt hätten, der dem Tobſuchtsaufall unmittelbar 
gefolgt wäre. Daß, wenn auch relativ felten, dem epi« 
leptiſchen Anfall ein Anfall von Tobſucht oder Wuth mit 
Impuljen zu gewaltfamen Handlungen bei gänzlicher Auf- 
hebung bes Bewußtſeins unmittelbar vorhergeht, ſodaß 
jener gewiflermaßen den Schluß des letztern bildet, iſt 
einne wohl feftgeftellte Thatfache der ärztlichen Beobachtung, 
wiewol das Umgelehrte, der Anfchluß eines Anfalls von 
Tobſucht und Wuth an einen epileptifchen, das Häufigere 
ift. Wäre fogleich eine genaue Unterfuchung des Frenſe⸗ 
meier namentlich mit Nüdficht auf einen etwa vorhandenen 
Zımgenbiß vorgenommen, jo hätte die Thatſache vielleicht 
feitgeftellt werden Lönnen, und es würbe alsdann fein 
Zweifel über die Natur der geiftigen Störung (als einer 
epileptifchen) haben obwalten können, auch wenn Frenſe⸗ 
meier früher niemals an epileptifchen Anfällen gelitten 
hätte. Denn ed kommen joldhe Anfälle auch ganz iſolirt 
vor. Gegenwärtig läßt fich allerdings über die Bedeutung 
der von der Zeugin beobachteten Zuckungen ein ficheres 
Urtheil nicht fällen, aber es erjcheint jedenfalls von Wich- 
tigkeit, auf die Möglichkeit ihrer epileptiichen Natur bin- 
zumeifen. Beides, bie tobfüchtige Wuth und der Krampf- 
anfall, wären alsdann als ein einziger durch bie Ge 
müthserregung in Verbindung mit dem Genuffe der Spi- 
rituofen verurfachter Anfall zu betrachten. 

„Frenſemeier war nach feinem Erwachen bei voll- 
fommenem Bewußtjein, welches auch ferner nicht mehr 
geftört wurde. Er war fich feiner ganzen Lage, bes Ver- 
hältniffes zu feiner Frau in den Einzelheiten, ver damit 
zufammenhängenden Creigniffe bis zur Mittheilung des 
Henfer Har bewußt, erzählte dieſelben immer in ber gleichen 

7 * 


100 Eine Studie über mania transitoria. 


Weite und beharrte bei ber Verficherung, baß er von 
allem feine Erinnerung mehr habe, was in ber Zeit feit 
ber ihn fo furchtbar erregenden Mittheilung des Genfer 
bis zu feinem Erwachen im Gefängniffe geſchehen fei 
Selbft des wiederholten Zujammentreffens mit der Frau 
Wolff und ver mit berfelben in Bezug auf feinen Koft- 
gänger getroffenen Vereinbarungen vermochte er fich auf 
wieberholtes Beſinnen nicht zu erinnern, eine Angabe, 
bie mit den Erfcheinungen und dem Verlauf bes in Rebe 
ſtehenden Anfalls im Einklang fteht. 

„Ss iſt Schon in den Vorgutachten darauf hingewieſen, 
daß kein Grund vorhanden ift, anzımehmen, Frenfemeier 
habe diefe Angaben über den gänzlichen Mangel an Gr- 
innerung erfunden. Es würbe dazu eine Kenntniß medi⸗ 
ciniſcher Wiffenfchaft und pſychiatriſcher Zuſtände exrfor- 
berlich fein, welche Frenſemeier nicht beſeſſen haben konnte. 
Aber auch hiervon abgeſehen iſt e& nicht denkbar, daß er, 
eben aus einem ftebenftündigen betäubenden Schlaf er: 
wacht, die Fähigkeit gehabt haben follte, eine folche ben 
tbatfächlichen Umſtänden entjprechende Angabe zu erfinden, 
von der er auch bet fpätern Unterrebungen niemals abwich.“ 

Das Gutachten ſchließt fich dann den Vorgutachten 
darin an, daß Frenſemeier fich bei Begehung der That 
in einem Zuftande von Bewußtlofigkeit befunden habe. 
Und auf Grund diefer Gutachten wurde Frenjemeier von 
dem Schwurgericht zu Effen am 14. Januar 1885 frei- 
gefprochen. 

Während feiner Unterfuchungshaft hatte Frenſemeier 
bie ihm gehörige Befigung, ein Wohnhaus mit anftogen- 
dem Garten und Zubehör, an feinen einzigen Sohn erfter 
Ehe, Karl Trenfemeier, gegen die Verpflichtung übertragen, 
ihn in feinen alten Zagen barin aufzunehmen und zu 
unterhalten. Dieſe Uebertragung gefchah nach der Cr- 











Eine Studie über mania transitoria. 101 


Härung ber Bertragfchließenven, weil fich Frenſemeier 
nach der Tödtung feiner Frau in einer folchen Gemüths⸗ 
verfaffung befand, daß die Bewirthfchaftung feines Grund⸗ 
vermögen, ja felbft Die Bewohnung des Haufes, in wel- 
chem er die That vnollführt Hatte, unmöglich erfchien. 
Trotzdem zog er fofort nach feiner Freifprechung wieder 
in das Haus, betrachtete fich troß der Uebertragung nach 
wie vor als Eigenthümer vefjelben, verımiethete einen 
Theil und nahm die neunzehnjährige Johanna Goffe als 
Haushälterin zu fih. Er machte ihr ernſthaft gemeinte 
Heiratheanträge. Ste wies biefelben aber zurüd und 
verlobte fih mit feinem Sohne Karl. Mit diefer Ver⸗ 
fobung war ber alte Frenſemeier fehr unzufrieden; troß- 
bem machte er dem jungen Paar ein für feine Verhält⸗ 
niſſe jehr bedeutendes Hochzeitsgeichent. ALS die jungen 
Frenſemeier nach der Hochzeit in das Haus zogen, blieben 
die Reibereien zwiichen Vater und Sohn nicht aus. 

Frenſemeier hatte fich nach feiner Freifprechung bem 
Trunke ergeben; er arbeitete zwar noch und wurde von 
feinen Vorgefetten auch jet noch als ein tüchtiger Ar- 
beiter geſchätzt; allein von dem verdienten Lohne lieferte 
er für die gemeinfchaftliche Haushaltung nur wenig ab, 
jondern verbraudte ihn für Bier und namentlich für 
Schnaps. Dies gab Veranlaffung zu ernfthaften Vor⸗ 
ftellungen jeitens des Sohnes und zu Ärgerlichen Auf- 
tritten im Haufe. Diefelben fteigerten fich berart, daß 
die Schwiegertochter im Anfang Juni 1885 polizeiliche 
Hülfe gegen ihn in Anſpruch nahm. 

In dem Frenſemeier'ſchen Haufe wohnten außer ver 
Familie felbft die Eheleute Pfleging und Löcher als Mie⸗ 
tber. Den letztern hatte ber junge Karl Frenfemeier ver⸗ 
miethet und ber alte Wilhelm Trenfemeier war mit biefer 
Mietheleuten unzufrieden, weil, wie er bebauptete, bie 





102 Eine Studie über mania transitoria. 


Eheleute Löcher früher eine Verheirathung feiner jeßigen 
Schwiegertochter mit dem Bergarbeiter Klinkſiek beab- 
fichtigt und hierbei Schlechte® von ihm gerevet haben 
jollten, auch feine Kinder gegen ihn aufhegten. Mit ven 
Eheleuten Pfleging dagegen war ber Sohn Larl Frenfe- 
meier unzufrieben und feine Unzufriedenheit mit denſelben 
fteigerte fi, ale im Jahre 1885 eine unverbeirathete 
Maria Wingenfeld zu Pflegings z0g und ber alte Srenfe- 
meter feine Abficht, dieſelbe zu beirathen, wieberholt aus⸗ 
ſprach. Diefe Heiratbsgebanfen fanden naturgemäß auch 
nicht den Beifall der jungen Frau Frenſemeier und trugen 
dazu bet, die täglichen Neibereten zu erhöhen. Wilhelm 
Frenſemeier ergab fich dabei immer mehr dem Trunk und 
war nach der Ausfage feiner Schwiegertochter in ber legten 
Zeit täglich betrunken. 

Klinkſiek blieb auch nach der Verbeirathung der jungen 
Frau Frenfemeier im Haufe bet feiner Schweiter, der Ehe: 
frau Löcher, als Koftgänger wohnen. 

So lagen bie Berhältniffe im Frenſemeier'ſchen Haufe 
am 26. Juni 1885. 

Am Morgen dieſes Tages ging der alte Wilhelm 
Frenſemeier früh morgens zur Arbeit, nahm eine Keffel- 
reinigung vor und hat am Morgen mit feinen drei Mit⸗ 
arbeitern zufammen gegen 8 Uhr einen Schoppen um 
gegen 11 Uhr morgens nochmals einen Schoppen Schnaps 
getrunfen. Mittags brachte ihm fein Sohn das Eſſen 
zur Zeche, es entipann fich bei biefer Gelegenheit ein 
Streit zwifchen Vater und Sohn, weil ver legtere be⸗ 
bauptete, fein Vater babe eine ihm gehörige nene Wage 
verliehen. Nach Tisch erhielt Wilhelm Frenſemeier für 
bie Keffelreinigung 25 Mark Lohn und gab aus biefer 
Veranlaffung feinen drei Mitarbeitern vier Liter Bier 
zum beften. Auch ein Mitarbeiter jpenbete noch einige 





Eine Studie über mania transitoria. 103 


Liter, indeß erklären alle Arbeiter, daß Frenſemeier an 
diefem Tage nicht betrunken war. 

Beil der alte Frenſemeier fich am Tage vorher aufs 
neue geweigert hatte, Gelb für bie Haushaltung beizu- 
ftenern, hatte der junge Karl Frenſemeier, al8 er mittags 
von der Zeche nach Haufe kam, feine Braun angemiejen, 
am Abend dem Vater Tein Eſſen zu verabreichen. Es 
wurden alle Vorbereitungen getroffen, um zu verhüten, 
daß er im Aerger über biefe Maßregel fih an bem 
Eigenthum der Kinder vergreifen ober es verfchleppen 
möchte, und die Wertbiachen, Leinwand u. |. w. in das 
Schlafzimmer der jungen Eheleute zujammengejchleppt 
und bort verjchloffen. ALS der alte Wilhelm Frenſemeier 
von der Arbeit zwifchen 6 und 7 Uhr abends nach Haufe 
fam, erklärte ihm feine Schwiegertochter, welche allein zu 
Haufe war, fein Sohn babe verboten, ihm das Eſſen zu 
verabreichen. Frenſemeier erwiberte: „Es ift gut.” Er 
ging dann auf den Hof, warf ein dort ſtehendes großes 
Waſchfaß gegen das Haus und bejuchte dann bie Eheleute 
Pfleging. Dort Hagte er, daß man ihm das Eſſen ver- 
weigere, bat die Wingenfeld, ihm Bier zu holen und ging 
felbft mit ihr fort, um fich bei einem Metzger in einem 
Nachbarorte Fleiſch zu kaufen. Erſt gegen 10 Ubr kam 
er zurüd und erjuchte dann bie Wingenfelo, mit ihm in 
feine Wohnung zu geben und das Fleiſch zuzubereiten. 
Dort zeigte er der Wingenfeld bie leeren Schränfe, welche 
jeine Schwiegertochter geräumt hatte; er war babei äußer⸗ 
lich ruhig, doch fagte er, er werde feine Sachen ſchon 
wieberbefommen. Auch glaubte bie Wingenfeld Schaum 
vor feinem Munde zu bemerten. Die Wingenfelb fuchte 
ihn zu beruhigen und redete ihm zu, zu Bett zu geben. 
Dann entfernte fie fich etwas vor 11 Uhr, ohne daß von 
bem Fleiſch gegefjen wurde. 





104 Eine Studie über mania transitoria. 


Die junge Frau Frenfemeier hatte fich inzwifchen in 
Begleitung des Klinkfiet zur Zeche begeben, um ihren 
Mann abzuholen. Denn als fie ihren Schwiegervater 
von Pflegings fortgehen fah, glaubte fie, er werbe feinen 
Sohn auf dem Heimmege überfallen. Gegen 11 Uhr 
kehrten die Eheleute Frenſemeier jun. mit Klinkſiek zurüd. 
Sie trafen den alten Frenſemeier in der Küche an. Sie 
boten ihm Guten Abend, und Frenſemeier eriwiberte ben 
Gruß. Nach einer längern Paufe fragte der Sohn jeinen 
Bater: „Nun fag’ mal, Vater, willft du von dem Mädchen 
ablaffen oder nicht?” Statt aller Antwort ftieß Frenſe⸗ 
meier feine Bergmannslampe, welche das Licht gab, vor 
bie Platte bes Herdes, ſodaß fie erloſch. Nachdem Karl 
Frenſemeier die Lampe wieder angezündet hatte, wieber- 
holte der alte Frenjemeier das Austöfchen. ‘Die beiben 
jungen Frenjemeier und Kfinkfiet gingen num fort, um 
eine andere Lampe zu holen. Frau Frenfemeier hatte fich 
in die Löcher'ſche Schlafjtube begeben und bie beiden 
Männer (Karl Trenfemeier und Klinkſiek) ftanden in ber 
neben der Küche befindlichen Stube. Sie hatten fein 
Licht, aber? der Mond fchien jo hell, daß man bie Per- 
fonen deutlich erkennen fonnte. Da trat Wilhelm Frenje- 
meier aus der Küche kommend auf bie beiden zu, verjegte 
dem Klinkſiek einen Schlag auf die Bruſt, wurde dann 
aber jelbft von feinem dazwiſchenſpringenden Schne ein 
paarmal mit der Hand geichlagen und zur Erbe ge- 
worfen. Bei diefer Gelegenheit bat Karl renjemeier 
gleichfall8 von feinem Vater zwei Schnittwunben an ber 
rechten Hand und ber rechten Bade erhalten. Der alte 
Frenſemeier richtete fich indeß gleich wieder auf, und nun 
iprang Karl Frenfemeier, der fi vor dem Meffer des 
Alten fürchtete, aus dem Fenfter heraus; er jah aber 
noch, wie fein Vater wieder auf Klinkſiek losging. Auch 





Eine Studie über mania transitoria. 105 


Klinkſiek Tief fort, wurde aber von dem alten Frenſemeier 
verfolgt. An einem am Wohnhauſe befindlichen Anbau 
blieb Klinkſiek Liegen, dort befand fich am folgenden Mor- 
gen noch eine große Blutlache und in Mannshöhe waren 
bort an der Ede des Vorbaues eine Menge Mannshaare 
fihtbar. Dort muß alſo ein legter Kampf zwiſchen Klint- 
ſiek und Frenſemeier vorgelommen fein. Jedoch fehlt hier 
der Zeuge; denn Klinkſiek bat fih um Hülfe rufen noch 
einige Schritte weiter gejchleppt und ift dann geftorben, 
nachdem er feiner herbeiftürzenden Schweiter noch eben 
die Worte zugeraunt hatte, er müffe jterben, ber alte 
Frenſemeier habe ihn zweimal geftochen. 

Ein Zeuge ſah den alten Wilhelm TFrenfemeier von 
ber Ede bes Anbaues herkommen; derſelbe ging in feine 
Wohnung, holte ſich Waffer und reinigte Kopf und Hände, 
bie mit Blut befledt waren. Er hatte, als er von feinem 
Sohne Hingeworfen wurde, eine Wunde am Kopf davon⸗ 
getragen. ALS die von dem jungen Frenjemeier und feiner 
Frau berbeigerufene Polizei erichien, befand fich ber alte 
Trenfemeier in feinem Zimmer und wuſch die Kopf—⸗ 
wunde ab. 

Diejes ift die Darftellung des Vorfall, wie fie über- 
einftummenb von den jungen Cheleuten Frenjemeier ge- 
geben wird. Der alte Frenfemeier ftellt dagegen bie 
Begebenheit folgendermaßen dar: 

„Geſtern babe ich von morgens 6 Uhr bis abends 
6 Uhr auf der Zeche Neuwefel gearbeitet. Ich war mit 
Reinigen der Keffel beichäftigt. In meiner Gefellichaft 
befand fich der mit mir dieſelbe Arbeit verrichtende Berg⸗ 
mann Koffad. Ich habe mich gejtern mit Ausnahme einer 
furzen Zeit, in welcher ich leichte Kopfichmerzen verjpürte, 
ganz wohl befunden. Im Laufe des Nachmittags ließ 
mein Mitarbeiter Koffad Bier holen, und ich babe mit- 





106 Eine Studie über mania trensitoris. 


getrumfen. Wie viel ich getrunken habe, weiß ich nidt. 
Jedenfalls ift e8 nicht mehr wie zwei Liter gewejen. Nach 
meinem Weggange von ber Zeche habe ich mich nach Danie 
begeben, bin kurze Zeit nachher jedoch wieder fort gemeien, 
um mir etwas Fleisch zu kaufen. Ich Habe mir dann 
beim Metger Lehmann in Borbed etwas friiches Fleiſch, 
Sped und Wurft gefanft und leßtere im Beiſein von 
Maria Wingenfeld aus Eſſen, welche mit in meinem 
Haufe wohnt und von mir berbeigerufen wurde, vers 
zehrt. 

„Maria Wingenfeld iſt nachher fortgegangen. Die⸗ 
ſelbe war wenigſtens nicht mehr in meiner Wohnung, als 
mein Sohn kurz nach 11 Uhr von der Arbeit zurücklehrte. 
In Begleitung meines Sohns befanden ſich noch mehrere 
Perſonen, von denen ich jedoch nur den Koſtgänger bei 
Löcher, den Arbeiter Heinrich Klinkfiel, erkannte. Wein 
Sohn fragte mich fofort nach dem Eintritt in die Küche, 
ob ich von der Maria Wingenfeld Abftand nehmen wolle 
oder nicht. Ich beabfichtige dieſelbe nämlich zu heirathen. 
Hierauf erwiderte ich, daß ich das nicht thun würde. Es 
war bunfel in der Küche, und ich weiß nicht mehr genau, 
was geſchehen ift. Ich erhielt einige Stiche auf den Kopf 
und babe mich Hierauf foviel wie möglich gewehrt. Ob 
ich bierbei ein Meſſer gebraucht babe, weiß ich nicht. 
Möglich ift dies allervings, falle ein Meffer auf dem 
Küchentifch gelegen haben follte. Das mir bier vorgelegte 
Meſſer mit dolchartiger Spike habe ich nicht gebraucht. 
Ich weiß überhaupt nicht, wie fich die ganze Scene ab- 
geiptelt bat, wohl aber entfinne ich mich, mein Geficht mit 
Waſſer abgefpült zu haben.” 

Etwas Weiteres konnte man von Frenſemeier über 
ben eigentlichen Dergang nicht erfahren. Der weitern 
Vorfälle, ver Verhaftung, des Verbandes, der Abführung 











Eine Studie über mania transitorie. 107 


nach dem Krankenhauſe entjann fich Frenſemeier ziemlich 
genau. 

Diefelbe Ausfage wiederholte Frenjemeier auch einige 
Zage darauf bei feiner verantwortlichen Vernehmung. 
Er ging bei derfelben auf die Vorgefchichte näher ein und 
behanptete, ſchon fein Licht ausgelöfcht zu haben und mit 
dem Auskleiden befchäftigt geweſen zu fein, al& fein Sohn 
nah Hauſe gefommen jei. Auch jetzt wollte er über- 
fallen fein, ohne den Thäter bezeichnen zu Türmen, und 
dann will er bis zur Ankunft ver Polizeibeamten das 
Bewußtſein verloren haben. 

As die Polizeibeamten erſchienen, wurde er gefragt, 
was er gethan habe. Er eriwiberte, er wiſſe von nichts, 
man möge mit ihm machen, was man wolle. Auf noch⸗ 
maliges Befragen nach einiger Zeit gab er dieſelbe Ant» 
wort. Indeß war er vollftändig nüchtern, erkannte ben 
Bürgermeiſter fofort, beantwortete die fonft an ibn ge- 
fteliten Fragen klar und deutlich und ftellte nur jede Er- 
innerung an bie That felbft in Abrede. Als er abgeführt 
wurbe, fuchte er unterwegs dem Civiltransporteur einen 
Geldbetrag zur Ablieferung an feinen Sohn zu übergeben, 
wahrfcheinlich um das Geld vor der Beichlagnahme zu 
retten, 

Im Schlafzimmer des alten Frenſemeier, in welchem 
er verbaftet wurde, fand fih ein an ber Spike blut⸗ 
beflecktes altes Schlachtmeffer vor. Die Klinge deſſelben 
paßte genau in die im Vorhemd bes Klinkſiek befinpliche 
Deffnung hinein, durch welche Hinburch dem Klinffiel ver 
tödliche Streich in den Unterleib beigebracht war. 

Vorher hatte der Zeuge Löcher gegen 9 Uhr, als er 
von feiner Arbeit nach Haufe zurückkehrte, ven alten Frenfe- 
meier allein in der Küche angetroffen. Es war dieſes 
um bie Zeit, ehe er fortging, um Fleiſch zu holen. Löcher 


108 Eine Studie über mania transitoria, 


nahm wahr, wie Frenfemeier eine Schippe in der Hand 
hielt und auf ihre Schärfe prüfte, und darauf ein Gleiches 
mit einer Hade that. Der Zeuge dachte fogleich an bie 
entfetliche Ermordung der Ehefrau Frenfemeier. Er fürch⸗ 
tete, daß Frenſemeier fich mit Mordgedanken gegen feinen 
Sohn trage, und warnte beffen Frau, welche infolge dieſer 
Warnung ihren Mam von der Zeche abholte. 

Im übrigen wurde die Darftellung ber Eheleute Frenſe⸗ 
meier jun. in den Nebenumftänden von allen Zeugen be 
ftätigt — bei ber That felbft waren fie ja bie einzigen 
Zeugen —, und e8 war nur noch vie Frage zu erörtern, 
ob Frenſemeier, wie er angab, während ber That be 
wußtlos geweſen war, ob er auch diesmal in einem An⸗ 
fall vorübergehenden Wahnfinns gehandelt hatte. 

Hierüber gab der Kreisphufitus Dr. Albers nad» 
jtehendes Gutachten ab. Wir tbeilen bafjelbe nur mit, 
infofern es diefe Frage behandelt. 

Das Gutachten ſpricht ſich dahin aus, daß die charak⸗ 
teriftiichen Merkmale eines folchen Falls nicht vorhanden 
feien, und fährt fort: 

„Rah der Verrichtung einer ordentlichen, bejchwer- 
lihen Zagesarbeit, bei der allerdings auch Bier und 
Schnaps getrunken wurde, wenn auch nicht im Uebermaß, 
fehrte Frenjemeier am Abend in feine Wohnung zurüd. 
Dort wurde ihm das Abendeffen verweigert, weil er zu 
den Koften des gemeinfamen Haushalts nichts beitrug. 
Er blieb äußerlich ruhig, wie auch feine Mitarbeiter vor⸗ 
her nichts Auffallendes an ihm bemerkt hatten. Bet bem 
Fleiſcheinkauf in Borbeck erjchten er dem Metzger Leh⸗ 
mann wol etwas angetrunfen, fonft aber vernünftig. 
Auch die Wingenfeld, mit welcher er nachher zufanımen 
war, bezeichnete ihn etwas erregt, fonft aber ruhig. 
Dann entipinnt fi nah Rückkehr der Eheleute Karl 





Eine Studie über mania transitoria, 109 


Frenſemeier der Streit, welcher mit dem Tode bes Klink⸗ 
fiet endet. Als kurz nachher der Bürgermeifter in Be- 
gleitung der Polizei erfcheint, nehmen dieſe Beamten an 
Frenſemeier nichts Auffallenves wahr. Als er zu bem 
Arzte behufs DVerbindens feiner Wunden geführt wurbe, 
war Trenfemeier ganz ruhig und ging rüftig mit, ebenfo 
auf dem Wege zum Kranfenhaufe, auf welchem er in 
liftiger Wetje verjuchte, feinem Begleiter Geld zuzufteden. 
Im Krankenhauſe wird nichts bemerkt, was auf eine gei« 
ftige Störung hindeutet. Frenſemeier weiß alles ganz 
genau, was ſich vor und nach ber That zugetragen bat, 
nur von der That felbit will er nichts willen. Dieſer 
ganze in kurzen Worten gejchilderte Hergang entfpricht 
nicht den Requifiten eines erflärten Deliriums. Es fehlen 
die charakteriftiichen Merkmale, beſonders der ausglei⸗ 
chende, tiefe Schlaf. Frenfemeier fimulirt offenbar aus 
Kenntniß, welche er bei feiner erjten Unterſuchung ger 
macht hatte, Irrefein während ber ‘Dauer eines acuten 
Deliriums.” 

Das Gutachten begründet ferner, daß auch fein An⸗ 
fall von Epilepfie vorliegen könne, weil Frenſemeier 
weber vor noch nach der That epileptifche Anfälle gehabt 
habe, auch bei der an ihm bei Gelegenheit ver Obduction, 
am Tage nach der That vorgenommenen Törperlichen 
Unterfuchung fich feine Spur des charakteriftiichen Zungen» 
biſſes gezeigt habe, und fchließt damit, daß Trenfemeter 
fih bei Begehung der That nicht im Zuftande der Be⸗ 
wußtloſigkeit oder einer geiftigen Störung befunden habe, 

Diefem Gutachten trat auch ver Sanitätsrath Dr. Pel- 
man bei, und auf die erhobene Anklage bin wurde Frenſe⸗ 
meier am 11. Januar 1886 vom Schwurgericht zu Effen 
wegen ber vorjäglichen Körperverlegung des Klinkſiek mit 
Tobeserfolg und ver weitern an feinem Sohne verübten 


110 Eine Studie über mania transitoria. 


vorſätzlichen Körperverlekung zu einer Zuchtbausftrafe von 
5 Jahren und 6 Monaten verurtbeilt. 

Durch die zweite That des Frenfemeier und bie wol 
unzweifellofe Simulation vefjelben, indem er eine Erin- 
nerungsichwäche heuchelte, welche thatfächlich nicht vor⸗ 
handen war, kounte der Glaube an der Richtigfeit des 
erften Gutachtens erjchüttert werben, troßbem tie berühm- 
teften Pſychiatriker Preußens daſſelbe mit ihrer Autorität 
beglaubigt haben. Ein folcher Zweifel liegt uns fern. 
Die Gutachten ftellen aus dem erjten Vorfall jelbft heraus 
mit unwiberleglicher Beſtimmtheit feit, daß damals eine 
Simulation des Thäters audgeichloffen war. Wir er- 
fennen vielmehr, wie eine urfprünglich gut und weich an» 
gelegte Natur unter der Wucht eines entjeßlichen Ver⸗ 
hängnifjes, nach einer in ber Nacht des Wahnſinns 
begangenen graufigen That, tiefer und tiefer ſinkt. Seine 
Kraft ift durch die erfte That gebrochen, er hat mit feiner 
Frau und dem gewohnten Yamilienleben ven Halt ver- 
loren und ergibt ſich dem Brammtweingenuß, ber ihn tiefer 
und tiefer ſinken läßt. Seine Verſuche, einen neuen 
Hausftand zu begründen, find vergebens. Es gehörte ja 
allerdings auch ein heroiſcher Entichluß Dazu, die britte 
Frau des Mannes zu werben, ber feine geliebte zweite 
Frau in folch entjewlicher Weife ermordet bat. Die 
Folgen des Branntweins und bes ungeordneten Lebens 
bleiben nicht aus. Stete Reibereien und Ärgerliche Auf- 
tritte mit feinem Sohne und deſſen Frau find die Folge. 
Er fucht Troft und Betäubung bei ver Flajche, und fchlieh- 
(ich tritt jene verzweifelte Gleichgültigleit gegen das Leben 
anberer bei ihm ein, in dem er Spaten und Hacke auf 
ihre Schärfe prüft und fi nad dem Schlachtineffer um- 
ſieht für den Fall, daß es wieder zum Streite kommt, 
weil er nicht geneigt ift, demjelben aus dem Wege zu geben. 





Eine Studie über mania transitoria. 111 


Wol war er äußerlich ruhig, der beinahe funfzigjährige 
Mann, ber in ven legten Jahren fo viele Seelenqualen 
erbuldet hatte, aber bie Zeugen merften doch feine innere 
Erregung, und fchließlich begeht er bei Bewußtfein ven 
Mord, welchen er im Wahnwitz fchon einmal begangen 
hatte. Damals war e8 feine geliebte Frau, welche das 
Dpfer einer nach verzweifelten Seelenfämpfen über ihn 
bereinbrechenden geiftigen Umnachtung war. Jetzt aber 
batte er bei Bewußtjein das Meſſer für ben einzigen 
Sohn zurechtgelegt und bie Mordwaffen auf ihre Schärfe 
geprüft, wenn es wieder zum Zank mit demſelben kommen 
follte. Und Klinkſiek fiel nur als Opfer, weil jener 
entflob. 

Wir glauben mit dem Vorgetragenen einen Beitrag 
zu ber noch immer etwas dunkeln Lehre von ber Krank⸗ 
heit der mania transitoria geliefert zu haben, und natur. 
gemäß find bei demſelben die mebicinifchen Autoritäten 
zumeift berüdfichtigt.‘ In den beiten Frenſemeier'ſchen 
Fällen ift die Frage nach der Verantwortlichleit, nad) der 
Zurehnungsfähigleit des Thäters, wie auf bes Meffers 
Schneide geftellt. Auch in dem zweiten Ball wirkten bie 
Factoren mit, welche im erſten ben Ausbruch der Krank⸗ 
heit bei Frenſemeier veranlagt haben: der Genuß von be» 
raufchenden Getränfen und bie Gemüthsbewegung durch 
den Zanf im Haufe; aber feine Zurecdhnungsfähigfeit haben 
fie nicht ausgefchloffen, ſondern ihn nur zu der That ge- 
reizt. Und bier ift ver Punkt, wo bie Vertreter der bei- 
den Wiffenfchaften, der Medicin und der Jurisprudenz, 
fo häufig auseinandergeben. ‘Die erftern werben geneigt 
fein, die Unzurechnungsfähigfeit bei krankhaften Erſchei⸗ 
nungen vielleicht oft zu früh, die legtern oft zu fpät an- 
zunehmen. Allein gerade bei ven in frankhafter Erregung 
voliführten Verbrechen kommt alles auf die Beobachtung 





112 @ine Studie über mania transitoria. 


des Thäters in ben erften Stunden nach der volfführten 
That an. Da ift e8 denn als ein fchwerer Schaden 
unferer Strafproceßorpnung zu bezeichnen, daß der Rich⸗ 
ter, welcher mit der Unterfuchung betraut wird, dem 
Berbrecher meiftend zu fpät entgegentritt. Die erfte Be 
obachtung deſſelben Tiegt in der Hand wenn auch noch jo 
tüchtiger Polizeibeamter, denen ed an ber genügenden 
Durchbildung zum Erkennen und Auffaffen charafteriftifcher 
Momente für ben feelifchen Zuftand des Thäters voll- 
fommen fehlt. Der Beſchuldigte hat, wie die Unter- 
juhungen nach der Deutichen Reichd-Strafproceforunung 
geführt werben, bereit8 ein ganzes Kreuzfeuer mehr ober 
weniger unglüdlicher Verhöre beftanden, ehe er vor den 
Unterfuhungsrichter geführt wird, ehe alſo ver Mann 
mit der Sache befaßt wird, welcher von nun an bas 
Material gegen den Befchulpigten fammelt, von deſſen 
GSefchicklichkeit und criminaliftifchem Geift ver Gang ber 
Borunterfuchung im wejentlichen abhängt, oder doch ab⸗ 
hängen ſollte. Der Verbrecher hat fih bis zu dieſem 
Zeitpunkt gefammelt, er bat im Gefängniffe oder Arreft- 
hauje bereits die nöthige „Belehrung‘ erhalten. War der 
Thäter bei Begehen des Verbrechens in fteberhafter Er⸗ 
regung, handelte er vielleicht unter dem Druck und Zwang 
einer Krankheit, jo find die Spuren berfelben bereit$ ver- 
wicht. Möglich, daß er dem Unterjuchungsrichter etwas 
jeltfam vorkommt, daß durch Zufall die Entbedung ge⸗ 
macht wird, daß eine erbliche Geijtesfranfheit in der Fa⸗ 
milie des Verbrechers geherricht habe. Dann wird nach 
Monaten ein Arzt zugezogen, vielleicht wie im Falle 
Trenfemeier erft nach der öffentlichen Verhandlung. In 
diefem Zeitpunft find die Kleinen Merkmale bereit ver- 
wiſcht und vergeffen und nur einem bebeutenden Arzt und 
Menfchenfenner gelingt e8, fie noch wiederherzuftelien. 








Eine Studie über mania transitoriea. 113 


Ein Hinweis auf die in biefem Punkte glücklichere 
Stellung des Unterfuchungsrichtere nach dem franzöftfchen 
Code d’instruction eriminelle dürfte bier am Plate fein. 
Dort kann der Unterfuchungsrichter im jedem Falle eines 
offenbaren Verbrechens dans tous les cas r&putes flagrant 
delit ehe und ohne daß eine beftimmte Anfchulpigung 
gegen eine bejtimmte Perſon formulirt ift, fofort in bie 
Unterſuchung eintreten und mit oder ohne Zufammen- 
wirken mit dem Parquet an Ort und Stelle die noth- 
mwendigen Maßregeln fofort ergreifen. In den Fällen, 
in welchen die That mit einer Leibes- oder entehrenden 
Strafe bedroht ift, muß fogar die Staatsanwaltichaft 
ſich jofort an Ort und Stelle begeben. Und in ber fran- 
zöfiichen Praris iſt es die Regel, daß Unterfuchungsrichter 
und Staatsanwalt gemeinfam an Ort und Stelle ven 
Zhatbeftand des Verbrechens feititellen. 

In Notbftänden hat man auch bei uns in Deutich- 
fand ein derartiges Vorgehen des Unterſuchungsrichters 
ohne Formulirung der öffentlichen Anklage gegen eine be 
ftimmte Perſon gerechtfertigt und für geboten gehalten. 
So bei den Ruftmorden in der bochumer Gegend. Und 
dadurch ift in der Praxis vom höchften Gerichtshof einer 
Brovinz anerlannt, daß unfere gejeglichen Beitimmungen 
nicht ausreichen. 

Würde jo auch im Deutichen Reiche von vornherein 
in den Fällen von ſchweren Verbrechen (welche fich Leicht 
feftftellen und aufzählen ließen) der Unterfuchungsrichter 
auch ohne Formulirung einer beftimmten öffentlichen An- 
age mit der Sache befaßt, jo würde auch die Zuziehung 
des Arztes in allen Fällen fofort von ihm angeordnet 
werben fönnen, in welchen irgenpwelche krankhafte Er- 
ſcheinung zu Zage tritt, oder das Vorhandenfein einer 
Krankheit bei dem Verbrecher auch num möglich A Jetzt 

XXII. 


114 Eine Studie über mania transitoria, 


fommt der Richter und der Arzt meiftens zu ſpät, wenn 
die oft Heinen und winzigen Merkmale ohne Beobachtung 
verloren gegangen find. Für beide Wiflenfchaften, für 
bie Nechtöpflege und bie Heilkunde, würbe jo manches 
Körnchen gefammelt, welches beiden zum Segen gereichen 
fönnte. 





Der dreifache Mord in der Mühle zu Dietharz 
im Chüringerwalde. 
1885. 


In einem ziemlich breitgenehnten Thalkeffel des Thü- 
ringerwalbe®, ungefähr eine Stunde von Gotha entfernt, 
liegen vie beiden Dörfer Diethbarz und Tambach unmittel- 
bar nebeneinander. Gleich hinter den Häufern erheben 
ſich die Berge, in welche fünf Tanggeftredte Thäler ein- 
gejchnitten find, aus denen fich waſſerreiche Bäche er- 
gießen, die dann unterhalb ver beiden Dorfichaften ge- 
fammelt über Georgenthal in das flache Land ftrömen. 

Auf der norbweftlichen Seite des Dorfes Dietharz, 
das Heinere der beiden Dörfer, ungefähr funfzig Schritte 
von den Hintergebäuden ver in ver Pfarrgaffe gelegenen 
Häufer entfernt, liegt am Eingang bes Mittelwaifer- 
grundes, von Wiefen umgeben, der Gebäubecompfler einer 
Mühle. Während früher Bloche und Breter in ihr ges 
fohnitten wurden, war fie feit einigen Jahren zur Der- 
ſtellung von Holzmaffe, die zur Papierfabrifation ver- 
wendet wird, eingerichtet worden. Der vieredige Hofraum 
bes Complexes ift auf drei Seiten von Gebäuden um⸗ 
geben, während auf ber vierten Seite ein Lattenzaun mit 
verfchließbarem Hofthore das Gehöft nach außen abjchliekt. 
Den Zugang zu dem Mühlenbeſitzthum bildet ein chauffirter 

8* 


116 Der breifahe Mord in ber Mühle zu Dietbarz. 


Fahrweg, welcher von Dietharz aus im Bogen um bie 
Zollftodswiefe herum durch das Hofthor in den Hof führt, 
und ein Fußweg, ver von ber Pfarrgafle aus durch einen 
faum meterbreiten, überbauten Durchgang zwiichen zwei 
Häufern und deren Hintergebäuben quer über bie Zoll- 
ſtockswieſe an eine Gatterthür und durch dieſelbe gleich- 
falls in dad Mühlengehöft mündet. 

An der ſüdlichen Seite des Hofes fteht das zweiſtöckige 
Wohnhaus mit eingebautem Mühlengewerk. Im rechten 
Winkel Schließt ſich daran faſt unmittelbar ein Gebäude 
an, worin fich zwei Rolllammern, Badezellen und ein 
Stall befinden. Abermals rechtwinkelig ftößt an dieſes 
Gebäude eine große Scheuer mit einem Kubftall, während 
bie vierte Seite, wie ſchon erwähnt, durch einen Latten- 
zaun und das Hofthor abgefchloffen ift. 

In das Wohnhaus gelangt man durch eine auf ber 
Hoffeite befindliche Thür und zwar in eine Hausflur. 
Steich Links neben der Thür führt eine Treppe in das 
obere Stodwert. Geht man an der Treppe vorbei, fo 
gelangt man über drei Stufen in die Wohnftube; dieſe 
bildet die norböftliche Ede des untern Stodwerld und 
bat vier Tenfter. Neben derjelben liegt eine zweifenfterige 
Kammer und neben biefer noch eine größere Kammer, 
von welcher aus man durch eine Thür in das Mühlen- 
gewerf gehen kann. Wendet man fich pagegen rechts von 
ver Hausthür, fo gelangt man über eine Stufe burdh 
eine Thür in die Mägdekammer, von da in eine Stube 
und von da in die Küche. Hinter biefen drei Räumen 
läuft in der Mitte des Haufes ein ſchmaler Eorribor 
weg, in welchen aus der Küche eine Thür führt. Dieter 
Eorridor mündet in die Hausflur. Auf der andern Längs- 
feite des Corridors Liegt der große Mühlraum. Aus dem 
Corridor kann man durch zwei bis auf etwa 75 Gentimeter 


Der breifahe Mord in der Mühle zu Dietharz. 117 


vom Fußboden herabgehende Fenfter den obern Theil bes 
Mühlraums überjehen und durch eine Thür in venfelben 
gelangen. 

Das Mühlengewerf befteht aus einem obern und einem 
unten Raum, unb beide find durch eine fchmale Treppe 
verbunden. In diefen Räumen werden nachts Petroleum- 
Iaternen angezündet, da der Betrieb Tag und Nacht fort- 
gejeßt wird. In dem obern Raum befindet fih ber 
große, wagerecht Tiegende Mühlftein und die Vorrichtung 
zum (Einlegen des zu fchleifenden Holzes, während im 
untern Raum der Behälter fich befindet, aus welchem bie 
abgefchliffene und zermahlene Bapiermaffe herausgenom- 
men wird. Hier, und zwar nach der Seite des Corri⸗ 
bor® zu jteht ein eiferner Ofen. Von dem untern Raum 
gelangt man durch Thüröffnungen in brei Fleine abge- 
ſonderte Gelafje, in denen bie frifch bearbeitete Holzmaffe 
lagert und außerdem noch Holz und Gerümpel aufge: 
fpeichert if. Dieſe drei Räume liegen gleich dem untern 
Raum des Mühlengewerls im Souterrain des Haufes 
unter ber Wohnſtube und den beiden obenerwähnten Kam⸗ 
mern. Die Dede dieſes Souterrains ift weder verfchalt, 
noch mit Kalk beworfen, fondern wird lebiglich von ben 
Fußbodendielen der parüber liegenden Wohnräume gebildet. 

Diefe Mühlenbefitgung war Eigentum des Hermann 
Kölner, welcher fie mit feiner Familie bewohnte. Lebtere 
beſtand aus feiner Ehefrau und aus drei Kindern, Erich 
neun Jahre, Gretchen fieben Jahre und Anna zwei Jahre alt. 
Die Köliner’fchen Eheleute fchliefen mit ihren Kindern in 
ber Kammer neben ber Wohnftube. Sie hatten nur eine 
Magd Ehriftiane W., welche in ver Mägdekammer rechts 
pon der Hausflur fchlief. Die Mühle wurde von zwei 
Sefellen, Horn und Peter, bebient, doch dieſe waren ver- 
heiratbet und wohnten. im Orte. ‘Die Arbeit war getheilt 


118 Der breifahe Mord in ver Mühle zu Dietharz. 


in Tagſchicht von 7 Uhr morgens bi8 7 Uhr abends umb 
in Nachtichicht von 7 Uhr abends bis 7 Uhr morgens, 
und beide wechjelten wöchentlich mit dieſen Schichten ab. 

Am 14. Januar 1885 Hatte fich die Köllner'ſche Fa⸗ 
milie in der Kammer, wie gewöhnlich, zur Ruhe begeben. 
Der Raum in biefer Kammer tft Außerft befchränft, va 
eine ganze Edle durch eine eingebaute Speiſekammer weg- 
genommen if. Der einen Längswand entlang ftanven 
bie Betten der Köllner'ſchen Eheleute mit den Kopfenben 
aneinander; in bem vordern fchlief bie Frau, in dem hin⸗ 
tern der Mann. Neben dem Bett des Köliner’ichen Ehe⸗ 
mannd, durch einen Zwifchenraum von etwa 451/, Centi⸗ 
meter getrennt, ftand das Bett, in welchem Gretdhen 
Kölner fchlief. Unmittelbar neben dem Bett ver Frau 
Kölner ftand ein Feines VBettchen, in welchen Anna 
Kölner lag. Etwas entfernt von diefen Betten ftanb 
das Bett des Erich Kölner neben der nach der Wohn- 
ftube führenden Thür, welche, wenn fie geöffnet wurde, 
nach dem Bett zu ausfchlug und daſſelbe dem Blick tes 
Eintretenben entzog. 

Als der Müllergefelle Peter am Donnerstag, den 
15. Januar 1885, morgens 7 Uhr in die Mühle kam, 
um jeinen Collegen Horn, welcher die Nacht über bie 
Mühle beforgt hatte, abzulöfen, fand er bie Hausthür, 
welche gewöhnlich von innen verriegelt wurbe, halb offen 
fteben. Es fiel ihm dies weiter nicht auf, weil er ver- 
mutbete, daß einer der Hausgenofien bereits in den Hof 
gegangen fei. Er ging direct in das Mühlengewerk, mo 
er Horn in feinem gewöhnlichen Arbeitdanzug traf, mit 
ihm noch den Mühlſtein jchärfte, was allwöchentlich ge⸗ 
ſchah, dann die Mühle wieder anließ und zu mahlen be- 
gann, während Horn ungefähr 7'/, Uhr die Mühle ver- 
Tieß, fich in feine nahegelegene Wohnung begab und zu 











Der breifahe Morb in ber Mühle zu Dietharz. 119 


Bett legte. Die Dienſtmagd Chriftiane W. wurde Beute 
nicht wie fonft von ihrer Herrſchaft durch die Klingel 
gewedt, ſondern erhob fich erſt 61/, Uhr, nachdem Hort 
an ihre Kammerthür geflopft und ihr zugerufen Hatte, 
es jet num aber Zeit zum Aufftehen. Sie ging in bie 
Wohnitube, zündete Feuer im Dfen an, fchloß dann leiſe 
die Kammerthür und kehrte die Stube aus. ‘Dabei fiel 
ihr auf, daß bie brei Kaften der Kommode aufgezogen 
waren, doch hatte fie fein Arg dabei und glaubte, Frau 
Kölner habe während der Nacht etwas gefucht. Ingleichen 
bemerkte die W., daß das Küchenbeilchen, welches in ven 
Teßtvergangenen Tagen zum Aufeifen der Hausthürftufen 
benugt worden war, und beshalb in der Hausflur ges 
ftanden hatte, in der Wohnftube lag. Nach ihrer An⸗ 
gabe ftand es zwiichen dem Ofen und ber Feuermaner, 
während zwei der |päter in das Haus gefommenen Männer 
mit Beſtimmtheit daffelbe auf der Kommode liegen gejehen 
haben wollen. Als die Magd das Frübftüd in die Stube 
geftellt und ihre übrigen häuslichen Arbeiten bejorgt hatte, 
fiel ihr auf, daß niemand von der Köllner'ſchen Familie 
aufftand. Sie ging daher wieder in die Wohnftube und 
rief an der Kammerthür: „Erich, Eric, du mußt in bie 
Schule!” Gleich darauf öffnete fih diefe Thür und der 
Zunge fam mit ganz blutigem Hemb ihr entgegen. Nichts 
Gutes ahnend, eilte Die W. an ihm vorüber in die Kam⸗ 
mer und ſah mım, daß Frau Kölner mit biutigem Kopf 
im Bett lag, taß Kölner biutüberftrömt neben feinem 
Bett auf der Bettvede am Boden lag und daß aud) 
Gretchen Blut am Kopfe Hatte. Die zweijährige Anna 
faß auf dem Bett ihrer Mutter und fuchte vergebens 
fich derſelben durch Streicheln bemerklich zu machen. Von 
Entſetzen ergriffen, ftürzte die W. in das Mühlengewerk 
und rief dem Beter zu, er folle um Gottes willen herüber⸗ 


120 Der dreifache Mord in ber Mühle zu Tietharz. 


kommen, ba Tiege alles im Blute. Daranf rannte fie 
zum Haufe hinaus in die Horn’sche Wohnung und for- 
derte den Horn auf, gleich zum Doctor zu laufen, in der 
Mühle Liege alles im Blute. 

Das Gerücht von einem entjeglichen Unglüd in ver 
Köliner’fchen Mühle verbreitete ſich alsbald wie ein Lauf⸗ 
feuer in Dietharz und Tambach und es ftrömte ſehr bald 
eine große Schar Neugieriger herbei. Die Beberztern 
unter ihnen zogen die Rouleaur an ven Kammerfenitern 
auf und ftellten feſt, daß Frau Kölner mit zerichmetter- 
tem Kopf tobt in ihrem Bette lag, daß Kölner jelbit 
aus mehrern Kopfwunden blutend noch röchelte, aber feine 
Spur von Befinnung hatte. Er wurde wieder in fein 
Bett gehoben, vom Barbier nothhürftig verbunden und 
ftarb — um dies gleich hier zu erwähnen — am zweiten 
Tage nach der Entvedung morgens 31, Uhr, ohne wieder 
zum Bewußtjein gefommen zu jein. Gretchen Köliner 
gab mit zweifach gejpaltenem Kopf noch Zeichen von Leben, 
verjchied aber noch am Vormittag deſſelben Tags 10'/, Uhr, 
Erich Kölner hatte eine lange klaffende Schnittwunde 
an der Linken Seite des Halſes, welche jedoch, da bie 
Schlagader unverlegt war, das Leben nicht gefährdete. 
Er wurde in ein anderes Zimmer gefchafft und von ber 
Magd gewafchen, verbunden und verpflegt. Die unver: 
legt gebliebene zweijährige Anna Kölner brachte man als⸗ 
bald in einer befreundeten Familie unter. 

Während bei ber allgemeinen Aufregung niemand 
baran dachte, Gericht und Sicherheitsbehörben zu Hülfe 
zu rufen — ber Schultheiß von Dietharz war verrelt, 
ein Gensdarm im Ort nicht ftationirt —, telegrapbirte 
der Müllergefelle Horn an einen Bruder der Frau Köllner 
in Ohrdruf, Kölner habe großes Unglück angerichtet, 
Frau Kölner fei tobt. Zufällig erhielt das Amtsgericht 











Der breifahe Mord in der Mühle zu Dietbarz. 121 


Ohrdruf, zu defien Sprengel Dietharz gehört, Kenntniß 
von biefem Telegramm und verfügte fich alsbald an Ort 
und Stelle, wo es gegen 1 Uhr nachmittags ankam. 
Auch die Staatsanwaltichaft von Gotha, welche erſt nach⸗ 
mittags telegraphiich benachrichtigt worden war, erjchien 
bei Anbruch der Dämmerung in Dietharz. Es wurde 
nun durch das Gericht die Mühle und deren nächite Um- 
gebung genau befichtigt, der Befund aufgenommen, die 
Abjperrung des Gehöftes verfügt und die Vernehmung 
des Köliner’ichen Dienſt- und Geſchäftsperſonals ſowie 
ber zuerjt berbeigefommenen Berfonen bewirkt. An ben 
nächjtfolgenden Tagen wurbe das Gericht vornehmlich 
durch bie Obduction der drei getöbteten Perſonen in An- 
ſpruch genommen. 

Die gerichtliche Obduction ergab, daß bei ben Köll⸗ 
ner'ſchen Eheleuten und bei Gretchen Köliner ber Tod 
durch die an ihnen vorgefundenen Kopfwunden und 
Schäbelzertrümmerungen verurfacht worden war. Frau 
Köllner hatte hauptſächlich auf der rechten Kopfhälfte und 
zum Theil nach dem Hinterkopfe zu vier fchwere Wunben, 
bei welchen man jehen und fühlen Tonnte, daß bie dar⸗ 
unter liegenden Schädelknochen gebrochen waren. Ins⸗ 
beſondere war das rechte Schläfenbein in zahlreiche Theile 
zerfchlagen, der Knochenriß erjtredte fich von da bie 
zum Höder des rechten Seitenwandbeins. Frau Kölner 
ſchien die tödlichen Streiche im Schlaf erhalten zu haben, 
denn fie lag mit ruhigem Gefichtsausprud auf der Linken 
Seite im Bett und letzteres war fo glatt und unverfnällt, 
daß fie fih kaum mehr gerührt und geregt haben konnte. 

Die Section des Köllner’ichen Ehemanns ergab auf 
der rechten Schläfe drei Wunden und eine am Hinterkopf 
quer am Hinterhanpthöder verlaufende zweiſchenkelige 
Wunde. Diefen DVerlegungen entiprach eine ausgebehnte 


122 Der breifade Mord in der Mühle zu Dietharz. 


EC chäpelzertrümmerung. Durch die ganze rechte Kopffeite 
zog fich ein Knochenbruch, welcher, im Naden etwa 6 Cen⸗ 
timeter hinter der Obrmufchel beginnend, nad vorn zu 
auffteigend und über den Höder, dad Seitenwandpbein, 
den obern Rand der Schuppe des Schläfenbeins verlan- 
fend, das Stirndband bis zur Nafe fpaltete. 

Außerdem conftatirte man an ber Leiche noch auf ber 
Rückſeite der Tinten Echulter nach hinten zu mitten zwi⸗ 
hen Naden und Schulterböhe gelegen eine halbhand⸗ 
große, blutroth gefärbte, unregelmäßig geformte Hautftelle. 

Sämmtliche Wunden fchienen den Köllner'ſchen Ehe⸗ 
leuten burch wuchtige Schläge mit einem ftumpfen, harten 
Gegenſtande beigebracht zu fein; die Eontufion auf dem 
Rüden des Köllner aber ließ vermuthen, daß er fich anf- 
gerichtet und einen der für feinen Kopf beftimmten Schläge 
mit der Schulter aufgefangen hatte. Einen noch granfigern 
Eindruck machte der Anblid von Gretchen Kölner. Ihre 
Verlegungen rührten augenfcheinlich von Fräftigen Hieben 
mit einem fcharfen Inftrument ber. Auf der rechten vor⸗ 
dern Kopffeite, 7 Centimeter über der rechten Augenbraue 
beginnend, verlief in gerader Richtung nach hinten eine 
5,5 Gentimeter lange und 1 Centimeter weit Flaffente, 
ziemlich fcharfränderige blutige Wunde. In ber Tiefe der⸗ 
jelben, unter ver Kopfichwarte, war ein in berfelben Rich⸗ 
tung laufender Schäbelbruch fihtbar. Cine zweite Wunde 
begann 1,5 Centimeter über der Nafenwurzel und verlief 
in gerader Richtung nach oben 5,; Gentimeter lang unb 
Haffte in der Mitte weit auseinander. Im der Tiefe war 
ber Schädel zertrümmert und das Gehirn fichtbar. Inner⸗ 
halb einer dritten, oberhalb des Tinten Auges liegenden 
6 Centimeter langen und über 2 Centimeter Flaffenven 
Wunde lag der zerbrochene Schäbel bloß. Diefen furcht- 
baren Berlegungen entiprach eine gewaltige Zertrümmes 








Der breifahe Mord in ber Mühle zu Dietharz. 123 


rung ber auf ber linken Kopfhälfte Tiegenden Schäbel- 
knochen und breiige Zerftörung der Gehirnſubſtanz. 

Als Morbinftrument ſchien das Küchenbeilchen benutzt 
worden zu jein, welches, wie oben erwähnt, die Magp 
am Morgen nach der That in der Wohnftube gefunben 
hatte, denn ed war mit Blut beſchmuzt, Menſchenhaare 
Hebten an ibm und bie Configurationen mehrerer Stellen 
der Kopfverlegungen entfprachen dem Rücken bes Beiles. 
Sonach mußte der Mörder die Köllner'ſchen Eheleute mit 
bem ſtumpfen Theile, Gretchen Köliner mit der Schneibe 
des DBeiles getroffen und erfchlagen haben. Dagegen war 
dem Erich Köllner die Wunde am Halfe mit einem fcharf 
ſchneidenden Inftrument, wahrfcheinfich einem Meſſer bei- 
gebracht worden. Ein ſolches wurde aber nicht gefunden 
und ſchien vom Mörder mitgenommen worben zu fein. 

Wer aber war der Mörder? Das war bie Frage, 
welche nach dem erften Entjegen alle Gemüther in fieber- 
bafter Spannung hielt. 

Unmittelbar nad) Entvedung der Blutthat richtete fich 
der Verdacht allgemein gegen ven Meühlenbefiter Her⸗ 
mann Kölner felbft; er follte feine Frau, dann feine 
Kinder und zulekt fich jelbft getöptet haben. Im erften 
Augenblide jprach mancherlet für dieſe Anficht. 

Kölner, ein geiftig fehr gering beanlagter Menſch, 
war als einziges Kind bemittelter Aeltern verzogen und 
verhätichelt, ohne Zucht und Zügel aufgewachien. Nach⸗ 
dem er erſt Landwirthſchaft betrieben hatte, Taufte er jpäter 
die Schneivemühle. Infolge eines Proceſſes verlor bie 
Mühle einen großen Theil ihrer Wafferkraft und Kölner 
richtete fie zur Holzſchleiferei für Papterfabrilation ein. 
Das Geſchäft ging fchlecht und Kölner befand fich häufig 
in der größten Gelpverlegenheit, ſodaß er bie Löhne feiner 
beiden Arbeiter nicht regelmäßig auszuzahlen vermochte 


124 Der breifahe Mord in ber Mühle zu Dietharz. 


und ſogar öfters von einem terfelben, tem Werkführer 
Horn, einige Mark borgte. Er ging dann ſtets zu jeiner 
Mutter, welche als Witwe in Georgenthal lebte, und ließ 
fich von ihr Geld geben. Er hatte fich fehon früh ver- 
beirathet, doch wurde biefe Ehe, welche kinderlos ges 
blieben war, auf Antrag der Frau Kölner wegen mehr- 
fahen Ehebruchs ihres Ehemanns gerichtlich geſchieden. 
Er heirathete bald darauf zum zweiten mal und lebte an« 
fänglih friedlich umd gut mit feiner Frau, welche ihm 
drei Kinder gebar. Doch auch jet bewahrte Kölner bie 
ehelihe Treue nicht und rühmte fich feinen Gefellen und 
Zehgenoffen gegenüber oft mit unleiblichem Chnismus, 
baß er es mit vielen feiner Dienſtmädchen gehalten Hätte. 
Es gab dies auch oft DVeranlaffung zu Zwiftigleiten, 
welche in leßterer Zeit dadurch noch gefteigert wurden, 
dag auch Köliner Grund zur Eiferfucht zu haben glaubte, 
Während Kölner in ven letten Monaten auch über biefe 
belicaten Berhältniffe feinen Gefellen gegenüber oft ge 
ſprochen und fich in drohenden Aeußerungen gegen feine 
Frau ergangen hatte, äußerte er fih am Tage vor Dem 
Morde zur Dienftmagd W. ohne irgendeine Veranlaffung, 
fie würbe ſchon noch jehen, was fie in diefem Haufe er- 
leben werde. Die beiden Müllergefellen, welche in ver 
Vorunterſuchung verartige Aeußerungen Köllner’s in be- 
jtimmter Form nicht befunbeten, fagten merkwürdigerweiſe 
in der Hauptverhandlung aus, daß Kölner fih am Tage 
vor dem Morde in heftigem Zorn über feine Fran aus⸗ 
geiprochen und gedroht habe, er wolle fie noch tobtichlagen. 

Erſchien aus diefen Gründen ber Verbacht gegen 
Kölner nicht ungerechtfertigt, jo ſtand demſelben doch zu- 
nächft der Umſtand entgegen, daß am Abenb vor ber 
Mordnacht nachgewiejenermaßen fein Streit unter ben 
Ehegatten ftattgefunden hatte, und daß Köliner troß feines 





Der dreifade Mord in ber Mühle zu Dietharz. 125 


Jähzorns und feiner rohen Sinnlichkeit von Grund feines 
Herzens ein gutmüthiger Mann war und feine Kinder, 
namentlich aber feine Tochter Gretchen zärtlich Tiebte. 
Gänzlich befeitigt wurde dieſer Verdacht aber burch das 
Gutachten der Obducenten, nach welchem die Wunden 
Köllner's fo fchwer waren, daß er fich dieſelben 
durch eigene Hand unmöglich zugefügt haben konnte. 
Schon nah dem eriten Schlage würde das Bewußtjein 
bes Berlegten geſchwunden und berfelbe nicht mehr im 
Stande gewefen fein, fich noch mehrere ebenjo mwuchtige 
Diebe auf den Hinterkopf beizubringen, gefchtweige denn, 
daß er dann noch das Beil in die Wohnftube Hätte tragen 
und in die Kammer hätte zurückgehen können — oben- 
drein ohne die geringfte Blutſpur zu Hinterlaffen. 

Trotz dieſer evidenten Beweiſe für pie Nichtſchuld Köll⸗ 
ner's ſpukte der einmal gegen ihn gehegte und ausge⸗ 
ſprochene Verdacht noch lange nach Entdeckung des wirk⸗ 
lichen Mörders in den Köpfen der Einwohner von Tambach 
und Dietharz und tauchte, wie wir ſehen werden, ganz 
zuletzt noch einmal auf. 

Sodann wurde gegen den Müllergeſellen Horn der 
Verdacht ausgeſprochen, ſeinen Brotherrn und deſſen Fa⸗ 
milie ermordet zu haben. Horn hatte in der fraglichen 
Nacht Dienſt in der Mühle gehabt, und es war aller⸗ 
dings auffallend, daß er von der ganzen Blutthat, die 
doch nicht ohne Lärm und Geſchrei vollführt fein konnte, 
gar nichts gehört Haben wollte, zumal bie ‘Dede ver drei 
obenerwähnten Räume neben dem Mühlengewerfe nicht 
verichalt war und man in benfelben troß des Lärmens 
der angelafjenen Mühle veutlich jeden Tritt eines burch 
die Wohn- und Schlafftube gehenden Menichen hörte. 
Freilich brauchte Horn während der Nachtichicht höchſtens 
einmal in diefe Räume zu gehen, um bie fertige Bapier- 


126 Der dreifache Morb in ber Mühle zu Dietharz. 


mafje dort nieberzulegen, und war es nur zu wahrfchein- 
lich, daß er fich in jener Falten Winternacht foviel, ale 
e8 feine Arbeit erlaubte, in der Nähe bes geheizten Ofens 
in dem untern Raume des Mühlengewerks aufgehalten 
hatte. Das Motiv zum Morde follte für Hom in ber 
Hoffnung gelegen haben, auf dieſe Weiſe jelbft billig in 
den Belig der Mühle zu kommen. 

Jedermann wird einfehen, auf wie fchwachen Füßen 
ber Verdacht gegen Horn ftand. Dorn, ein fleißiger, 
iparfamer und unbejcholtener Mann, der mit feiner Familie 
in völlig georbnneten Verhältniffen lebte, jeit fünf Jahren 
bei Köliner gearbeitet hatte und beifen unbedingtes Ver⸗ 
trauen bejaß, follte plößlich über Nacht zu einer Beſtie 
geworben fein und feine Brotherrfchaft und deren Kinder, 
welche er hatte heranwachſen fehen, laltblütig bingefchlachtet 
haben, lediglich um die Mühle Köllner's vielleicht billig 
zu erwerben, von der er felbit am beften wußte, daß fie 
Schlecht rentirtel? Und am Morgen nach ber furdtbaren 
That follte er mit der Deuchelei und Selbftbeherrichung 
des vollendeten Verbrecher feinem Kameraden Beter 
gegenübergetreten fein und ſich dann nach Haufe begeben 
haben, als wenn nichts pafjirt fei? Das war eine pſfh⸗ 
chologiſche Unmöglichkeit. Dazu kommt, daß Horn am 
Morgen nach der That ſich noch in demſelben Anzuge 
befand, in welchem er abends feinen Dieuft angetreten 
hatte, und daß Feine Blutſpuren an biefem Anzuge zu 
ſehen waren. 

Aber abgejehen von allen biefen Gegengründen ſprach 
der übrige objective Thatbeſtand zwingend bafür, daß ber 
Mörder ein fremder, mit ver Umgebung der Mühle völlig 
unbefannter Menſch gewejen fein mußte. 

Es wurden nämlich gleih am erften Tage in ber 
Umgebung ver Mühle Spuren bes Mörbers gefunden 


Der breifahe Mord in ber Mühle zu Dietharz. 197 


und feftgeftellt, welche fpäter ein Hauptbelaftungsmoment 
bildeten; Spuren, deren Erhaltung man bauptfächlich der 
Witterung verdankte. Während in ven legten Tagen vor 
bem Morde heftiges Schneegeftöber bei mäßiger Kälte ge- 
herrſcht und die ganze Gegend mit einer faft meterhohen 
Schneebede überzogen hatte, hörte am Nachmittag des 
14. Januar das Schneien plößlich auf, die Kälte ftieg in 
ber Nacht bis auf 6— 7’ R. und hielt unter fortwähren- 
ben Steigen bis zum 28. Januar an. Und während 
biefer ganzen Zeit fiel feine Schneeflode vom Himmel 
nieder auf die Spur des Mörders! 

Derjelbe jchien vom Hofe aus durch das Küchenfenfter 
eingeftiegen zu fein, benn an ber Hauswand unter dem⸗ 
felben war auf einem etwas vorfpringenden LUnterfchlage 
der Schnee in der Breite eines menschlichen Fußes zu- 
ſammengedrückt und beſchmuzt, während auf dem Geſimſe 
bes Fenſters der Schnee einige Hände breit abgeftreift 
war. Das fehr verquollene Fenſter konnte nicht zuge: 
wirbelt, jondern nur angebrüdt werben. Mußte man nun 
annehmen, daß der Mörder fich auf dieſe Weile durch 
das Fenſter in die Küche gefehwungen batte, jo war fein 
weiterer Weg von ſelbſt gegeben. Von ver Küche gelangte 
er in ben burch die im Mühlenraum hängende Betroleum- 
lampe erleuchteten Corridor und von da in bie Hausflur. 
Hier mußte er Licht gemacht Haben, denn hier hatte er 
das neben der Hausthür ftehende Beil gefunden und mit 
in bie Stube genommen. Er hatte auch mit Licht in den 
Kaften der Kommode gefucht, war dabei jedoch offenbar 
in großer Haft gewejen, denn ein offen baliegender Geld⸗ 
betrag von etwas über ſechs Mark und eine in eine 
Zajchentuchede gefnüpfte Summe von 45 Marf waren 
von ihm liegen gelaffen worden. Lebterer Umftand wurde 
jpäter ein wichtiges Beweismittel gegen den Schufdigen. 








128 Der breifade Mord in ber Mühle zu Dietharz. 


Erwähnt foll Hierbei al&balo werben, daß von dem 
Kölner’ichen Eigentbum nur eine filberne Taſchenuhr nebit 
einer jchwachglieterigen goldenen Kette, welche gewöhnlich 
über Köllner's Bett bing, vermißt wurde. Es lag baber 
die Bermuthung nahe, daß Kölner durch die Wegnahme 
der Uhr aus dem Schlafe gewedt war, ſich aufgerichtet 
und nun bie töblichen Schläge erhalten hatte. Nach 
Verrihtung der Blutarbeit in der Köllner'ſchen Kammer 
jcheint den Mörder das Graufen gepadt und zur wahn- 
finnigen Flucht gepeifcht zu haben, denn er eilte durch 
die Hausthür, welche er von innen entriegelte und Halt 
offen fteben ließ, ind Freie und wendete fich ftatt rechte 
nad dem Ausgange des Gehöftes nach links dem quer 
vorliegenden breiedigen Gebänte zu. Hier gelangte er 
nad Deffnung einer nur zugehaspelten Thür in einen 
Ihmalen Gang, dann nach links umbiegend über ein paar 
Stufen in eine Rollfammer und von da durch eine Thür- 
Öffnung in einen Nebenraum, ber durch ein Fenſter er- 
heilt wird. An demfelben war ver Mörder, wie Spuren 
an ver Wand veutlich zeigten, binaufgeflettert und Dann 
hinausgefprungen. ‘Die Höhe des Sprunges betrug nur 
einen Meter, das Terrain ftteg nach einem fchmalen Fuß⸗ 
weg binan; der Herausfpringende war auf dem unebenen 
Boden zu Fall gelommen und hatte bie linke Hand, ven 
Imfen Vorderarm und bie ausgefpreizten Finger in dem 
tiefen Schnee abgedrückt. Er war dann, ba er ben vor 
ihm binlanfenven Fußweg bei der Dunkelheit nicht wahr: 
nahm, rechts am Gebäude bingetappt und an ber Ecke 
defjelben in den 3—4 Meter tiefen, mit Schnee ange- 
füllten Abichlaggraben geftürzt. An ven Spuren ſah man, 
wie fih der Gefallene mit Händen und Füßen unter 
großen Anftrengungen aus dem Graben wieder beraus- 
gearbeitet hatte und auf ben längs des Mühlgrabens 


Der dreifahe Mord in ber Mühle zu Dietbarz. 129 


binfaufenden Fußweg gelangt war. Auf biefem Wege 
war die Spur des Mörbers zunächſt nicht zu verfolgen, 
da mehrere Berjonen denſelben bereit8 paffirt hatten. 
Während dieſer Fußweg nach rechts auf einige entfernt 
liegende Häufer zuführte und dort endete, gelangte man 
links auf bemjelben mittel einer jchmalen Brüde über 
ben Mühlgraben und dann weiter auf ven fchmalen Weg, 
welcher von ver Mühle aus über die Zollftodswieje nach 
den Hintergebäuben der in der Pfarrgaffe liegenden Häufer 
und burch einen faum meterbreiten, tunnelartig über- 
bauten Gang in bie Pfarrgaffe führt. Hierher mußte 
der Mörder gegangen und in dem Wahne, daß er beim 
weitern Borfchreiten in Höfe geratben werde, zur Seite 
abgebogen fein. Denn furz vor ben Gebäuben führte 
eine Fußfpur nach links ab durch tiefen Schnee quer über 
die Zollftodswiefe nach einem Fahrwege, auf welchem 
man nach dem ‘Dorfe gelangt. Dieſer war betreten und 
befahren, ſodaß die weitere Verfolgung ber einzelnen 
Spur ummöglicd) wurde. 

Der dreifache Mord hatte in den beiden Nachbarorten 
Tambach und Dietharz natürlich die größte Aufregung 
hervorgerufen, es bachte niemand an Arbeit, überall jah 
man die Bewohner mit entjeßten Mienen in Heinen 
Trupps zufammenftehen, und hörte, wie fie bie gräßlichen 
Einzelheiten des Befundes immer und immer wieder ein- 
ander erzählten und jchilberten. ‘Die Wirthshäufer waren 
Abends überfüllt, denn jeder fühlte das Bebürfnig, über 
den ſchrecklichen Ball mit andern zu fprechen, feinen Ver⸗ 
muthungen Ausdruck zu geben und womöglich zu bören, 
ob die gerichtlichen Vernehmungen, welche im vollen 
Gange waren, Licht in das Dunfel biefer Kataſtrophe 
brächten. So hatte fih denn auch in einem ber erſten 
Gaſthöfe Tambachs ein großer Kreis von Männern zu- 

XXII. 9 





130. Der breifahe Mord in ber Mühle zu Dietbarz. 


jammengefunven, deren Unterhaltung fich um das Ereig- 
niß des Tages drehte. Da erzählte ein Schneidemühlen⸗ 
befiger W. von Dietbarz, als fich fchon ein Theil ber 
Säfte entfernt Hatte, beiläufig, daß heute Nachmittag 
1 Uhr ein Mann ganz erfihöpft und marobe zu den anf 
feiner Schneidemühle arbeitenden Leuten gefommen ſei und 
erzählt habe, daß er heute Morgen von Tambach aus 
nach Oberfchönau babe gehen wollen, den Weg verfehlt 
hätte und vom einem Walbiwart, den er eine halbe Stunde 
jenfeit der Schneivemühle getroffen, nach Dietharz ge- 
wiefen worden wäre. Dem Müblenbefiger, welcher nach⸗ 
mittags auf feine Mühle gefommen fe, habe der Fremde 
auf Befragen angegeben, er heiße Thalborf, ftamme aus 
Erfurt, fei Gärtner und habe Rofenwilplinge in Ober⸗ 
Ihönau holen wollen. Dieſe Erzählung fam noch an dem⸗ 
jelben Abend zur Kenntniß der Staatsanwaltfchaft. Die 
Auskunft des verirrten Wanderers war fehr unglaubhaft, 
denn das Hochgebirge iſt kein Play für Roſenwildlinge 
und ber Weg zwiichen Tambach oder Dietharz und Obers 
ſchönau war damals wegen bes hohen Schneed nicht 
paffirbar. Bezüglich ver Oertlichkeit fei alsbald Folgendes 
bemerkt: Bon Dietharz aus führt ein ziemlich breites, 
bon einem Gebirgsbache, vem Schmalwaffer, durchſtrömtes 
Thal, der Schmalwaffergrund genannt, 2%/, Wegftunden 
lang nach dem Hauptftode des Thüringerwaldes. Im 
dieſem Grunde an dem Bache hinauf liegen noch einige 
Schneivemühlen; die des W. iſt die legte. Nach zwei 
ſtarken Wegftunben erreicht man auf der nur wenig ans 
fteigenden Chauffee, in welche von links einige Seiten- 
thäler einmünden, eine Stelle, wofelbft fich das Thal 
verengert und nach links wendet. Hier erhebt ſich ein 
hoher und fteiler Felskegel, der Falfenftein. Die Fahr: 
ſtraße fteigt an der das Thal zur Rechten begrenzenben 











Der dreifahe Mord in der Mühle zu Dietbarz. 131 


Bergwand jteil empor und am Hubenjtein vorüber bis 
auf den Kamm bes Gebirges, welcher fich nach Tinte 
wendet, den Schmalwaffergrund gleichtam abſchließt und 
nach Oberhof führt. Bleibt man aber im Schmalwaffer- 
grunde und läßt bie Straße rechts liegen, fo gelangt man 
zunächſt an den Falkenſtein. Bon bier aus verengt fich 
das Thal zu einer Schlucht, welche ver Badegraben ge- 
nannt wird. Ein bolperiger Holzabfuhrweg läuft neben 
dem in Zidzad berabfließenden Bache bin und fteigt mit 
der Schlucht fteil zum Kamm des Gebirges empor. Von 
der am Hubenſtein vorbeiführenden Chauffee biegt zwar ein 
hauffirter Weg nach dem Dorfe Oberſchönau ab, welches 
jenfeit des Gebirgsfammes in einem tiefen Thale Tiegt, 
boch iſt verjelbe bei hohem Schnee ebenfo wenig zu 
pajfiren als die von Tambach ber nach Oberſchönau 
führenden Wege. Dieſe Gegend gehört zu ven fchönften 
und wildromantitchften heilen des Thüringerwaldes und 
wird im Sommer von Zouriften viel durchzogen, im 
Herbit und Winter dagegen meiftens mur von Holzhauern 
begangen, welche auf Hanbfchlitten ihren Bedarf an Brenn⸗ 
ımb Bauholz daſelbſt holen. Bei hohem Schnee aber 
ſtockt dort jeglicher Verkehr, und dringt oft wochenlang 
fein menfchliches Wejen in diefe Schnee» und Eiswüfte vor. 

Um fo auffallender war e8 daher für den Kreiſer I., 
als er am Dommerstag, den 15. Januar 1885 (Tag nach 
dem Morde in der Köllner’ichen Mühle), mittags 12/, Uhr, 
mitten im Schmalwaffergrumde einen Mann in dem halb- 
meterhoben Schnee vom Gebirge ber auf fich zukommen 
ſah. 3. war von Dietharz aus mühſam durch ven hohen 
Schnee bis an ein Seitenthal des Schmalweffergrundes, 
den fogenannten Walsbach, gematet, um eine bortige 
Wildfütterung zu controliren. Er hatte nach vem Paſſiren 
per fetten Schneidemühle zwei Fußſpuren beobachtet, welche 

9% 


132 Der dreifade Mord in ber Mühle zu Diethar;. 


von Dietharz aus den Schmalwaffergrund binaufführten; 
bie eine war etwas verweht und verlor fich in den Wale 
bad. Es ftelite fich fpäter herans, daß fie von einem 
Waldwart herrührte, welcher tags vorher an ver Wild⸗ 
fütterung gefüttert hatte. ‘Die andere Spur war frikh 
und ging am Walsbach vorüber die Straße im Thal 
weiter hinauf. Als nun I. am Eingange des Walsbaches 
eben von der Straße dorthin abbiegen wollte, erblidte er 
ben ihm entgegentommenten Mann, welcher ſich mit ver 
Iinfen Hand auf einen ftarfen Aft ſtützte und anfcheinent 
ganz marode faum mehr weiter fchleppen konnte. Er war 
rein und anftänbig mit einem Rod und einem Ueberzieher 
beffeivet und nur fein Schuhwerk befand fich in deſolatem 
Zuftande. Seine Stiefeln waren auf beiden Seiten weit 
aufgeplatt, fobaß die Fußzehen blau vor Froſt daraus 
beroorragten. ‘Der Wanberer frug J., wo er fich befinde, 
und gab auf die Gegenfrage, woher er komme und wohin 
er wolle, an, er fei von Tambach aus nach Oberfchönau 
zu gegangen und babe ven Weg verfehlt. 3. erflärte ihm, 
baß er gerade von ber Richtung herkomme, in welcher 
Oberjchönau liege, daß der Weg dorthin des hohen Schnees 
halber aber jett nicht paffirbar fei, und daß ihm deshalb 
nicht8 übrigbleibe, als nach Dietharz zurüdzugeben. “Der 
Fremde folgte diefem Rathe und fchleppte fi in ter 
Richtung nah Dietharz weiter bi zu der W.'ſchen 
Schneidemühle, woſelbſt er um 1 Uhr nachmittags zum 
Zobe erichöpft, Halberfroren und balbverbungert ankam. 
Er wurde von den in ber Schneivemühle beichäftigten 
Arbeitern mit Kaffee und Brot erwärmt und geftärkt, 
blieb ein paar Stunden in der Müllerftube fißen und bat 
wiederholt und dringend, ihn über Nacht dafelbft zu Laffen, 
Erſt auf den energifchen Proteft bes inzwiſchen einge- 
troffenen Beſitzers W. ging der Menſch in ten Ort 











Der dreifahe Mord in ber Mühle zu Dietharz. 133 


Dietharz hinein und erbettelte fich die von der Gemeinde 
gewährte Unterftügung in Form von drei Karten zu fünf 
Pfennigen, welche er fich in der Gemeindeſchenke einwech- 
jelte. Dann fprach er beim Gemeindediener um Nacht» 
guartier an, wurde aber weggewieſen und dann burch 
Bermittelung des Ortsfchultheißen in der Schenle für bie 
Nacht untergebradt. Sämmtlichen Perfonen gegenüber 
nannte er fich Thaldorf und gab an, daß er nach Ober- 
ſchönau hätte gehen wollen, um Rofenwilplinge zu holen, 
und fich verirrt babe. Er erzählte ferner, daß er in ber 
vorigen Nacht in dem erften Gafthofe zu Tambach, an 
welhen Stufen zur Hausthür hinaufführen, übernachtet 
habe; andern Perfonen fagte er, er hätte in ‘Dietharz, 
noch andern, er hätte in einem Privathaufe zu Tambach 
im Heu gefchlafen. Am folgenden Morgen, Freitag, ben 
16. Januar, verließ er Dietbarz, nachdem der Stations- 
gensdarm ihn noch im Ort getroffen und über feine Per⸗ 
fonalien und das Woher und Wohin ausgefragt hatte, 
und ging auf der Chauffee nach Georgenthal. Auf einen 
Herrn, welcher auf dem Wege mit ihm zufammentraf und 
mit ihm nach Georgenthal ging, machte er den Eindruck 
eines anftändigen und gebilbeten Menſchen, mit dem man 
fih gut unterhalten könne. Auch ihm erzählte er von 
jeiner verunglüdten Tour nach Oberfchönau, erwähnte 
aber, daß er erit am Donnerstag Morgen nah Tambach ge= 
fommen und frob fei, daß er in der Nacht vom Mätt- 
woch zum Donnerstag nicht dort übernachtet Babe, font 
hätte er am Ende auch in den Verdacht kommen können, 
die Müllersleute ermordet zu haben. 

Die Staatsanwaltichaft erfuhr, wie oben erwähnt, 
gleich an demſelben Abend noch zufällig aus dem 
Munde des Schneivemühlenbefigers W. deſſen Zufammen- 
treffen mit dem verirrten Wanderer, welcher ſich Thal⸗ 


134 Der breifahe Mord in ber Mühle zu Dietharz. 


borf aus Erfurt genannt habe, und frug deshalb fofort 
bei der Polizeiverwaltung in Erfurt fchriftfih an, ob es 
dort einen Gärtner Andreas Thaldorf gebe und was zu 
ihm jei, da er am Tage nach dem Morde unter auffallen: 
den Umftänben in Dietharz betroffen worden wäre. 

Und e8 gab wirklich einen Gärtnergehüffen Andreas 
Thaldorf in Erfurt! 

Derſelbe war am 18. November 1861 in Erfurt von 
armen, aber unbeſcholtenen Eltern geboren. Bon Jugend 
auf träge und geregelter Thätigleit abhold, betrat er ſchon 
mit 14 Jahren die Verbrecherlaufbahn und wurde wegen 
einfachen Diebftahl® am 21. October 1875 vom könig- 
lichen Kreisgericht in Erfurt zu vierzehntägigem Gefäng: 
niß berurtbeit. Im Jahre 1878 beftrafte ihm daſſelbe 
Gericht wegen Diebſtahls, Landſtreichens und Bettelns 
mit 6 Monaten Gefängniß und vierzehntägiger Haft und 
überwies ihn der Landespolizeibehörde. Zwei Jahre 
darauf führten ihn zwei ſchwere Diebſtähle auf 2 Jahre 
3 Monate in das Zuchthaus, auch wurde er nach Ver- 
büßung dieſer Strafe unter Polizeiaufſicht geſtellt. Am 
11. September 1884 endlich erkannte das Schöffengericht 
wegen Betrugs auf einen Monat Gefängniß gegen ihn. 
Der Verbüßung dieſer Strafe entzog fich Thaldorf durch 
die Flucht und will in Wiesbaden gearbeitet haben. Im 
November 1884 meldete er ſich ohne einen erſichtlichen 
Grund bei dem Polizeipräfidium in Wiesbaden und gab 
unter Nennung ſeines Namens an, daß er wegen Ber⸗ 
büßung einer Strafe von der Staatsanwaltichaft zu 
Erfurt ftedlbrieflich verfolgt werde. Da ſich dies anf 
Nachfrage beftätigte, jo wurde Thaldorf nah Erfurt 
transportirt und verbüßte im bafigen Lanbgerichtsgefäng- 
niß die ihm zuerkannte einmonatliche Freiheitsftrafe. 
Während biefer Zeit hat er fi, wie im Berlauf ver 





Der breifahe Morb in ber Mühle zu Dietharz. 135 


gegenwärtigen Unterfuchung zur Sprache kam, feinen Mit- 
gefangenen gegenüber mit großer Frechheit oftmals ge⸗ 
bräftet, er hätte jchon manches ausgeführt, fet aber noch 
nicht beftraft worden. Ein anderes mal venommirte er 
wieter mit feinen Vorbeftrafungen, flunferte, er fei Drei 
Sabre in Baiern unter falichen Namen gereift, und 
unter demſelben auch beitraft, er wife einen Ort, wo 
300 Mark gu holen ſeien, die wolle er ſtehlen, fich feine 
Kleider anfchaffen und nach Wiesbaden reifen, wo er im 
Walde feine Diebeswerkzeuge vergraben habe. Mit viefen 
werde er fih 80000 Mark holen, veren Aufbewahrungs- 
ort er kenne. Einen Mitgefangenen, einen Schloffer von 
Profeſſion, forderte er auf, ihm Dietriche anzufertigen, er 
wiffe Leute auf den Dörfern bei Erfurt, wo viel Gelb 
zu bolen jei. 

Daß ein Menſch mit folcher Vergangenheit ſchließlich 
auch eines Morbes fähig jet, war an fich glaubhaft, und 
die Polizei zu Erfurt jchritt daher fofort zur Verhaftung 
Thaldorf's. Doch erſt am 17. Januar (Sonnabend) nach⸗ 
mittags gelang es ihr, des Thaldorf, welcher fich bei 
feinem Bruder in Erfurt aufbielt, habhaft zu werben. 

Seitens des vernehmenden Commiſſars erfuhr Thal⸗ 
dorf mit feiner Silbe, welch ſchwerer Verdacht auf ihm 
rube und weshalb er gefänglich eingezogen ſei. Aeußere 
Thatumftände begänftigten viefes Verfahren. In ven 
letzten Monaten des Jahres 1884 war in Erfurt eine 
ganze Reihe frecher Einbruchsdiebſtähle begangen worden, 
deren gleichmäßige Ausführung zu dem Schluffe nöthigte, 
daß fie ſäämmtlich von ein und derſelben Perſon oder ein 
und berfelben Bande verübt worben feien. Der Gedanke, 
daß Thaldorf bei dieſen Diebftählen betheiligt jet, lag 
fehr nahe. Seine Vernehmungen richteten fich daher zu- 
nächſt auf die Frage, wo er fih zur Zeit ver Begehung 





136 Der dreifache Mord in der Mühle zu Dietharz. 


jener Diebftähle aufgehalten und wovon er in den letter 
Wochen, in benen er notorifch nicht gearbeitet und fein 
Geld verbient hatte, gelebt habe. Durch die Voreiligfeit 
eines Polizeiunterbeamten hatte jedoch Thaldorf bei feiner 
Verhaftung in Erfahrung gebracht, daß er auch des 
Mordes in Dietharz für verdächtig gehalten werde, und 
erjann nun einen äußerft fchlauen Plan, welcher ihn vor ber 
Gefahr, des Mordes überwiefen zu werben, ſchützen folite. 
Während nämlich fein Beweis für vie Ausführung ber 
erfurter Diebftähle gegen Thaldorf erbracht werben konnte, 
wurde doch feftgeftellt, daß er in ber letzten Zeit ziemlich 
viel Geld ausgegeben habe, veffen rebfichen Erwerb er 
nicht nachzuweifen vermochte. Da geftand er plößlid, 
baß er in der Nacht vom 8. zum 9. December 1884 in 
das Haus eines Lanpwirths in Ollendorf (Großherzog⸗ 
thum Weimar) durch ein nicht zugewirbeltes Fenfter ein- 
gejtiegen, von da in die Wohnftube gebrungen fei, einen 
verfchloffenen Schreibjecretär erbrochen und daraus 150 — 
160 Mark geftoblen habe. Der erfurter Polizeibehörbe 
war biejer ‘Diebftahl nicht befannt und felbft die weima⸗ 
riihe Staatsanwaltichaft hatte keine Kenntniß von bem- 
jelben, da der Beftohlene feine Anzeige erftattet hatte. 
Durch Vernehmung des legtern wurde aber nicht blos 
ber Diebitahl, fonvdern auch die Art der Ausführung dem 
Thaldorf'ſchen Geftänpniffe conform feftgejtellt. Letzteres 
hatte jenoch nicht ven von Thaldorf beabfichtigten Erfolg. 
Er wurde nicht, wie dies unter gewöhnlichen Umjtänden 
ber Fall geweien wäre, an bie weimarifchen Behörben 
abgeliefert, wo er, da fchwerer Diebſtahl im wieberholten 
Rückfall vorlag, zu Zuchthausſtrafe verurtheilt worben 
und erſt nach Verlauf von vier oder fünf Jahren wieder 
ins bürgerliche Leben zurüdgefehrt wäre, wenn über ben 
dietharzer Mord längſt Gras gewachſen fein würbe, ſondern 








Der breifahe Mord in ber Mühle zu Dietharz. 137 


bie erfurter Polizeibehörde ließ den ollenporfer Diebftahl 
vorläufig bei Seite und ſetzte die Necherchen über Thal⸗ 
borf’8 Verbleib in der Zeit vom 13. bis 16. Januar 1885 
eifrig fort. Es wurde ermittelt, daß er am 9. Januar 
1885 durch feine Schweiter ein Bett im Leihamt zu Er- 
furt verfegt, den Erlös mit 2 Mark 20 Pf. an fich genom- 
men und fih dann von ihr mit dem Bemerken verab- 
ſchiedet hatte, er wolle einen Kollegen in Zelle bejuchen. 
Bon da ab bis zum 16. Januar abends hatte ihn weber 
feine Schwefter noch fein Bruder wiebergefehen; mit 
feinen Aeltern hatte Thaldorf überhaupt gar Teinen Ver- 
Sehr mehr. Als er nun birect über feinen Verbleib in 
der Nacht vom 14. zum 15. Ianuar 1885 befragt wurde, 
erklärte er im Gegenſatz zu feinen frühern Angaben, daß 
er in Tambach ober in Dietbarz übernachtet hätte, daß 
er bieje Nacht in einem Gartenhäuschen im ‘Dreibrunnen- 
feld bei Erfurt zugebracht habe und am 15. Januar 
morgens mit bem erjten Zuge von Erfurt nach Gotha, 
ſodann per Bahn nach Georgenthal gefahren und von 
ba zu Fuß nach Dietbarz und in den Wald nach Ober- 
ſchönau zu gegangen fei. Dort fet er zwei Stunden 
berumgeirrt und ſchließlich dem Kreiſer 3. begegnet, ver 
ihm den Weg nach Diethbarz gezeigt habe. Die Angabe 
enthielt eine offenbare Unmwahrbeit. Denn er konnte dem 
Eifenbahnfahrplan zufolge vor 10%, Uhr morgens nicht 
nach Georgenthal gelangen und von hier aus zu Fuß bie 
Stelle am Walsbach, wo er mit dem Kreifer zufammen- 
traf, faum vor 12°/, Uhr erreichen, gejchweige denn, daß 
er zu dieſer Zeit an jener Stelle von ber entgegengejeßten 
Seite herkommen konnte. Ungeachtet ihm dies wiederholt 
vorgehalten wurbe, blieb Thaldorf mit größter Hartnäckig⸗ 
feit bei dieſen Angaben ftehen. 

Inzwiſchen war jedoch noch anderweites, werthvolles 


138 Der dreifade Mord in ber Mühle zu Dietharz. 


Deweismaterial beigefchafft, die Auslieferung Thaldorf's 
von der Staatsanwaltfchaft zu Gotha beantragt und bie 
Vorunterfuchung gegen ihn vom Unterjuchungerichter des 
herzoglichen Landgerichts Gotta eröffnet worben. 

Durch vielfache Vernehmung der Verwandten und ber 
frühern Wirthsleute Thaldorf's wurde deffen ganze Garde⸗ 
robe beigejchafft und durch zwei Sachverftändige einer ge 
nauen Unterfuhung auf das Vorhandenſein von Blut⸗ 
jpuren unterworfen. Beide Sachverftändige fanden nur 
einen entjchieven ausgeprägten Blutfled, und zwar an 
ber Innenſeite eines grünlichen Stoffrodes über ber rechten 
Drufttafche, welchen Thaldorf in Dietharz getragen Hatte. 
Ferner wurde feftgeftelit, daß die beiden Hemdärmel an 
dem. untern Ende in Handbreite forgfältig ausgemajchen 
waren, und baß hier ſehr gut Blut ausgewaſchen fein 
fonnte, da fich friſche Blutbefprigungen durch forgfältigee 
Auswafchen aus Leinwand bis auf ein kaum nachweie⸗ 
bares Minimum entfernen Iaffen, Während das Fehlen 
größerer biutiger Befhmuzung an den Kleidern Thal- 
borf’8 für bie Unſchuld beffelben zu fprechen fchien, er- 
Härte der ärztliche Sachverftändige anbererfeits, es fei 
nicht nothwendig, daß der Mörder ver Köllner'ichen Fa⸗ 
milie ſich an feinen Kleidern ftart mit Blut befledit haben 
müffe, da bie meiften Schläge ven Opfern mit bem breiten 
Deilrüden zugefügt worben feien, ohne daß die Kopf: 
ſchwarte zerichlagen fei und geblutet Hätte. ‘Die dem 
Gretchen Kölner verjeisten zwei fcharfen Beilhiebe möchten 
wol aus größerer Entfernung in dem jchmalen Gange 
zwiſchen den Betten beigebracht worden jein. Ferner 
wurde fejtgeftellt, daß an ber Kammerwand bie über ben 
Köpfen ver Ermorbeten befinpliche Tapete mit ftedinabel- 
fopfgroßen Blutpunften überfäet war, woraus erhellt, 
daß das Blut von dem Mörber abwärts nach der Want 








Der dbreifahe Morb in ber Mühle zu Diethbarz. 139 


zu geiprigt war. Bei der Verwundung bes Erich Kölner 
aber bat ber Mörder keine Schlagaber getroffen, ſodaß 
das Blut nur floß, nicht fprigte. Wäre eine Schlagaber 
angeichnitten worden, jo würde fich das Kind unfehlbar 
verblutet haben. 

Mit den Kleidern Thaldorf's waren deſſen auf beiden 
Seiten anfgeplagte Stiefeln nad Gotha geſchickt worden, 
welche verfelbe am Tage nach dem Morde in Dietharz 
getragen Hatte. Sie wurden mit den Ausiprungsipuren 
bes Mörbers vor dem Rollkammerfenſter in dem Seiten- 
gebäude ver Kollner'ſchen Mühle und mit ven Fußſpuren, 
die über die Zollſtockswieſe führten, verglichen und es ſtellte 
fih bei einigen gut erhaltenen Fußabdrüden eine über- 
raſchende Gleichheit in Länge, Breite und Wölhung bes 
Fußes heraus, ſodaß mit Beftimmtheit angenommen wer- 
ten konnte, daß bie Spuren von dieſen Stiefeln ber- 
rührten. Diejes glückliche Reſultat ermunterte zu weitern 
Nachforſchungen. Am 22. Januar 1885 machte ſich auf 
Erfuchen der Staatsanwaltſchaft ein höherer Forſtbeamter 
in Begleitung einiger Kreifer unter Mitnahme ber Thal- 
borf’ichen Stiefeln von Dietharz aus auf, um bie Fährte 
Thaldorf's vom Walsbach ab zu verfolgen unb womög⸗ 
[ich zu ermitteln, woher verjelbe an jenem Donnerstag 
mittags gekommen fei, ale er von dem Sreifer 9. be- 
troffen wurde. ‘Der Erfolg dieſes mühlamen und äußerft 
bejchwerlichen Marſches war ein garız überrafchender und 
bildete ein unzerreißbares Glied in ber Fette der Be- 
weile für die Thäterfchaft Thaldorf's. 

Hiernach war als unumftößlich feftgeftellt zu betrachten, 
daß Thaldorf von Dietharz aus durch den Schmalwaffer- 
grund bis an ben Eingang zum Babegraben gegangen ift 
und von ba fich Links den Badegraben hinauf am Falken⸗ 
ftein vorüber bis zu einer Fichte weiter gearbeitet bat. 





140 Der dreifache Morb in der Mühle zu Diethar;. 


Hier hat er, wie der Einbrud im Schnee deutlich zeigte, 
längere Zeit gelegen und ausgeruht und das Anbrechen 
des Tages erwartet. Bis hierher war er jedenfalls in 
ber Nacht gewandert, benn er hatte öfter& den verjchneiten 
Weg verfehlt, war wiederholt in niedriger gelegene, ſum⸗ 
pfige Stellen geftürzt und hatte überall, ven Spuren zus 
folge, mit einem Stode unficher vorausgetaftet. Nach 
biefer Rubepaufe war Thaldorf im Badegraben noch eine 
Strede weiter gegangen, batte dann benfelben verlaffen, 
und war nach rechts die fogenannte Borndelle, eine 
vielleicht vier Meter breite, äußerft fteile und unwegſame 
Stellung, binaufgefttegen. Erft nachbem er bereit® bie 
Hälfte Dieter fteilen Wand emporgeflimmt war, hatte er 
fih zu wiederholten malen an Bäume angelehnt, um aus- 
zuruben, und war auf dieſe Weile enblich auf bie von 
Dietharz durch den Schmalmwaffergrund beim Hubenftein 
vorbei nad Oberhof führende Chauſſee gelangt, welche 
er beim Eintritt in den Badegraben erft verlaffen Hatte. 
Statt ih nun links nach Oberhof zu wenden, ging er 
nach rechts die Chauffee zurüd und ftieg auf ihr wieder 
in den Schmalwaffergrund herunter, wo ihm dann beim 
Walsbach der Kreifer I. entgegenfam. 

Die Forftleute hatten auf dem Wege zu wiederholten 
malen die Fußfpuren mit den Stiefeln Thaldorf's ver- 
glichen und ſtets die überrafchendfte Gleichheit beider ge- 
funden. Auch war faft immer zur Linken ber Fußfäbrte 
die Spur des Knüttels fichtbar, deſſen fich der Wanderer 
als Stüße bedient Hatte; Thaldorf aber war nach bem 
Zeugniffe feines Bruders und feines Schwagers links⸗ 
händig und hatte fogar mit ber linken Sand ſchrei⸗ 
ben gelernt. Die Zurüdlegung dieſes Weges tft eine 
ganz erftaunliche Leiftung, wenn man bebvenft, daß 
auf dem ganzen Wege ber Schnee halbmeterhoch Tag, 








Der dreifache Morb in der Mühle zu Dietbarz. 141 


daß die Höhe deſſelben aber an vielen Stellen, wie 
im DBabegraben und an ter fteilen Borndelle, noch 
wejentlich größer war, und daß ber erfte Theil des Weges 
bei ftodfinfterer Nacht zurüdgelegt worben ift. Auch bie 
auf 6° R. geftiegene Kälte trug nicht zur Erleichterung 
bes Mearjches bei. Da vie Forftleute, troßpem fie von 
Dietharz bie an den Babegraben etwas Schlittenbahn 
vorfanden, wovon in ber Nacht vom 14. zum 15. Januar 
feine Spur vorhanden war, zu biefem Wege über fech® 
Stunden Zeit gebraucht Hatten, jo war ber Schluß ge- 
rechtfertigt, daß Thaldorf zur Zurücklegung biejes Weges 
einfchließlich der Ruhepauſen minbeftens acht bis neun 
Stunden Zeit beburft und den Weg jomit am 15. Januar 
morgens zwiſchen 3 und 4 Uhr angetreten haben mußte. 
Am 15. Januar, morgens gegen 3 Uhr, aber wurde bie 
Hamilte Kölner ermordet, denn zu biefer Zeit hatte ber 
Nachbar V. Licht in der Köllner'ſchen Wohnftube brennen 
jehen! — 

Schwer belajtenp für Thaldorf war ferner fein Bes 
nehmen bei ber Rückkehr zu feinen Verwandten in 
Erfurt. Am 16. Januar 1885, abends 7!/, Uhr, fam er 
zu feinem Schwager in Erfurt und fprach benfelben um 
Nachtquartier an. Er war jehr nievergefchlagen und ant- 
wortete auf die Frage, was ihm fehle, nichts, er fei ein 
unglüdlicher Menſch; wenn nur fein Kamerab nichts ver- 
ratben würde. Er erzählte dann weiter auf Befragen, 
ob er wieder etwas ausgefreſſen hätte, er ſei ba oben 
über Gotha im Walde gewefen, fie hätten einen Hirjch ge- 
jagt, wären aber von ſechs Perjonen und einem Hunde 
verfolgt worden, da habe er ven Hund tobtgefchlagen und 
geſchoſſen, da hätte einer „Au!“ gefröhlt. Die gleiche 
Geſchichte erzählte er auch feiner Schwefter. Nach Ans 
gabe feines Schwagerd war Thaldorf's Hemb vorn ganz 





142 Der dreifache Mord in ber Mühle zu Dietharz. 


naß und ber. vorbere Theil der Hembärmel ausgewaſchen 
gemefen, aber er hatte fein trodenes Hemb von feinem 
Schwager annehmen wollen. Als Grund biefer Räſſe 
gab er an, baß er durch tiefem Schnee verfolgt worden 
jet und fich habe durcharbeiten müſſen. ‘Da fein Schwa- 
ger ihn nicht beherbergen wollte, ging Thaldorf abenbs 
gegen 84%, Uhr zu feinem Bruber, ver gleichfalle in Er- 
furt wohnt. Er zeigte die größte Unruhe unb fagte, er 
hätte jet etwas ausgefreſſen, er müßte gewärtig fein, 
daß fie ihn zu jeder Stunde holten und verhafteten. Er 
jet in Oberſchönau geweſen, babe dort mit feinem Eollegen 
Franz gewilbert, fie jeien aber abgefaßt worden, er babe 
einen Hund todtgejchlagen und auf einen Förfter gefchoffen, 
welcher „Au!“ gejchrien hätte. Er fet jchwer verfolgt wor» 
den, babe fich eine ganze Nacht im Schnee fortarbeiten 
und ſchließlich im einem unterirdiſchen Gange jchlafen 
müſſen, da hätte er die Füße erfroren. Auch feinem 
Bruder Elagte Thalvorf, daß er bis über bie Hüften naß 
jet, nahm aber auch von biefem das angebotene trodene 
Hemd nicht an. Dagegen bat er um ein Stüd Brot 
und aß es mit Wurft, welche er mitgebracht hatte. Beim 
Efien verrieth er gleichfall® große Unruhe, unterbrad 
baffelbe öfters und jagte: „Ich weiß nicht, ob ich efien 
fann, e8 iſt gerabe, als ob ich nicht efien follte oder eſſen 
fönnte!” Dann raffte er fich auf und rief: „Ach was! 
Ih ſch.... darauf, bier ift es doch ruhig!“ wobei er 
auf feine Bruft deutete. Er fing nun mit großer Haft 
wieder an zu eſſen und verichlaug ſogar bie Schale mit 
der Wurf. Thaldorf's ängftliches und verftörtes Weſen 
war feinem Bruder fehr aufgefallen, doch glaubte biefer 
nicht an die ihm erzählte Wilpbiebägefchichte, weil er 
wußte, daß fein Bruder mit Schiefgewehr gar nicht um⸗ 
zugehen verftehe, unb weil ibm derſelbe bereits im 





Der dreifache Morb in ber Mühle zu Dietbarz. 143 


December 1884 eine ganz ähnliche Gefchichte erzählt 
hatte, um das in Ollendorf geftohlene Geld als Erlös 
ans gewilderter Iagbbeute barzuftellen. Thalporf hat denn 
auch im Laufe der Unterfuchung zu feinen Schwager, als 
ihn diefer mit Genehmigung des Unterfuchungsrichters 
im Gefängniß bejuchte, geäußert, die Gefchichte mit ber 
Wilodieberei ſei unwahr, das feien lauter Lügen, er babe 
boch etwas jagen müſſen; gemacht babe er etwas, aber 
das (den Mord in Dietharz) nicht. 

Wie oben erwähnt tft, wurde eine filberne Taſchen⸗ 
uhr nebſt einer golvenen Uhrkette vermißt, welche über 
dem Bett Köliner’s gehangen hatte. Trotz der umfaſſend⸗ 
jterr Recherchen in Erfurt und in allen am Wege von 
Tambach nah Erfurt Tiegenden Ortichaften, ja jogar 
auf dem Wege, welchen Thaldorf im Walde zurückgelegt 
hatte, konnte biefelbe nicht ermittelt und wieder beigejchafft 
werben. 

Dagegen fand der Holzhauer ©. Mitte Februar 1885 
nach bem Schmelzen des Schnees hinter dem lebten 
Hanje von Dietbarz nach dem Schmalwafjergrunde zu, 
ungefähr 4 Buß von den Borbfteinen der Chauffee ent- 
fernt, drei ſtark verroftete Schlüffel an einem Stahlringe, 
welche dem Ausfehen nach längere Zeit im Freien und 
in der Näffe gelegen zu haben fchienen. Dieſe Schlüffel 
gehörten dem ermordeten Meühlenbefiger Köllner und 
waren feit der Mordnacht aus der Mühle verfchwunden 
geweien. Die Schlüffel lagen auf einem freien Plage, 
auf welchem ungefähr zwei Wochen vor dem unbe 
Prügelholz und zwar auf die Schneedede aufgejchichtet 
war. Nah dem Schmelzen des Schneed Tamen bie 
Schlüffel zum Vorfchein und lagen nun unter dem Holze, 
bei deſſen Wegnahme man fie fand. Der Weg Thal« 
dorf’8 nach dem Morbe führte bicht an der Fundſtelle 





144 Der breifahe Morb in der Mühle zu Dietharz. 


ber Schlüffel vorbei, und man mußte annehmen, daß fi 
ber Mörber biefer an fich ganz werthlofen, aber fehr gra- 
birenden Zeugen feiner Unthat durch Wegwerfen entledigt 
hatte. Endlich aber hatte Thaldorf als Unterſuchungs⸗ 
gefangener im Landgerichtsgefängniß dem Sträfling B. ge⸗ 
genüber, welcher in einer benachbarten Zelle ſaß, bezüg⸗ 
lih des in Dietharz begangenen Verbrechens Aeußerungen 
gethan, welche faft einem außergerichtlichen Geftänpnifie 
gleichfamen. Thaldorf fagte ihm auf die Frage, warum 
er fiße, wegen verjchiebener Diebftähle, auch ſei Bei 
Gotha ein Mord paffirt, ver ihm auch ſchuld gegeben 
werde; er wiſſe dort Beſcheid, er habe in den Wäldern 
immer Nofenwilolinge geholt und babei erfahren, daß in 
einer Mühle bei Dietbaus und Dietharz Geld zu holen 
jet. Am 14. Januar fet er abends heimlich aus Erfurt weg 
nah Gotha gefahren. Er habe einen goldenen Klapper⸗ 
kaſten (Diebsausprud für Uhr) und Geld in einem Tuch 
oder Beutel gehabt, dann fei Geräufch entftanden, und 
ba hätte er fich erft Pla machen, das Geräufch erft weg- 
Ihaffen müffen. Auf die Frage B.'s, wie er das meine, 
bat Thaldorf erwibert: „Du bift doch fonft nicht fo pumm, 
das fannjt bu dir doch denken!” Dann fei er heraus 
gefommen und habe fich verlaufen. As B. noch mehr 
hören wollte, fagte Thaldorf, B. folle das Maul halten 
und feinem Menſchen etwas fagen, und bemerkte fchlieklich: 
„Gefreſſen wird's, mag's fommen, wie e8 will, von mir 
erfährt niemand etwas.” B. erzählte dieſes Gefpräch mit 
Thalvorf nach langem Zögern einem erfurter Bolizei- 
beamten, als dieſer ihn in das Zuchthaus transportirte 
und in geſchickter Weiſe ausholte. Dieje Erzählung des 
B., eines an fich keineswegs vorwurfsfreien Zeugen, 
welche Thaldorf als völlig unwahr und erfunden bezeich- 
nete, gewann durch ben Umſtand außerorbentlich an 








Der dreifache Mord in ber Mühle zu Dietbarz. 145 


Glaubwürdigkeit, daß Thaldorf nach B.'s Angabe Geld 
in einem Tuche gehabt haben, refpective gefunden haben 
wollte. Denn erjt viel fpäter, als dieſe Unterhaltung 
zwifchen Thaldorf und B. ftattgefunden haben konnte, 
als Thaldorf bereits in das Gefängniß zu Gotha einge- 
fiefert war, fand das Vormundfchaftsgericht bei der In⸗ 
ventarifirung des Köllner'ſchen Nachlaffes in der vom 
Mörder durchwühlten Kommode 45 Mark in ven Zipfel 
eines Tafchentuch8 eingebunden. Von biefem, in einer jo 
ungewöhnlichen Weife verwahrten Gelde konnte daher nur 
der Mörder vorher etwas wiffen, welcher das Geld ge- 
fühlt, aber durch „das Geräufch” geftört, e8 dann liegen 
gelaffen hatte. 

Ungeachtet dieſer erprüdennen Beweiſe feiner Schult 
verblieb Thaldorf beim Leugnen. Wochen-, monatelang 
fag und faß er in feiner einfamen Zelle auf feinem Bett 
und ftarrte ins Blaue — ohne eine Klage über die lange 
Unterjuchungshaft, ohne eine Bitte um Beſchleunigung 
der Unterfuchung, ohne eine Frage nach dem Stande ber- 
felben, ohne ein Geſuch um Arbeit! — Anfänglich hatte 
er wochenlang die beftigjten Schmerzen an feinen total 
erfrorenen Füßen zu ertragen, aber ungefragt hörte man 
auch hierüber feine Klage von ihm. Alfe Vorhalte über 
die Widersprüche, in welche er fich veriidelte, über bie 
Unwahrjcheinlichkeit, ja Unmöglichkeit feiner Angaben Tief 
er rubig über fich ergehen, und brach nur einmal am 
Schluß eines längern gerichtlichen Verbörs in die Worte 
aus: „Ich bin nicht dort geweien, ich will die Strafe 
leiden, bie über mich verhängt wird, ich habe aber nichts 
begangen.” 

Kurz vor Schluß der Borunterfuchung wurbe er vom 
Richter befragt, wieviel Geld er auf ver Reife von Er» 
furt nach Georgenthal verausgabt habe. Thaldorf rechnete 

XXII. 10 





146 Der breifade Mord in der Mühle zu Dietharz. 


ihm nun ben Preis eines Billets vierter Klaffe vor und 
war, als ihm der Nichter aus dem Eifenbahnfahrplan 
nachwies, daß ber betreffende Vormittagszug nach Georgen- 
thal feine vierte Wagenklaſſe führe, jo betroffen, daß er 
erklärte, er wolle alles gefteben. Er Habe in einer 
Brauerei zu Erfurt die Belanntjchaft eines Mannes mit 
Ihwarzem Vollbart gemacht, dem er feine unglüdliche 
Lage gefchilvert und feinen Plan, auf Wilbpieberei aus⸗ 
zugehen und ſich bavon zu nähren, mwitgetbeilt babe. 
Der Fremde Hätte ihm erklärt, ev wolle auch mitgehen 
und ihm auch ein Gewehr verfchaffen. So feien fie am 
14. Sanuar 1885, abends gegen 7 Uhr, mit ber Gifen- 
bahn nah Gotha gefahren und von dba zu Fuß nad 
Tambach (vier Wegftunden) gegangen. Bier ſeien fie nad) 
Mitternacht angelommen, am Gafthof Zum Fallenftein 
und an einigen Häuſern vorüber und dann links in einen 
Fußweg eingebogen, welcher auf ber Seite eines Waſſer⸗ 
grabens hinlaufe. ALS der Weg breiter geworben, hätte 
fein Begleiter ihn an einer Fabrik warten laffen, angeb- 
ich, um ihm das Gewehr zu holen, wäre nach rechts 
fortgegangen und nicht wieder zu ihm zurüdgelehrt. Nach- 
bem er, Thaldorf, eine Stunde gewartet babe, ſei er 
fortgegangen und in ven Wald gerathen, wo er ſich ver⸗ 
laufen hätte, biß er von dem Kreiſer zurechtgewiejen 
worben fei. Diefe Erzählung war auf den erften Blid 
nicht abfolut unglaublich und bewies wenigftens, daß 
Zhalborf mit der Umgebung von Dietharz und Tambach 
genau vertraut war. Denn ber Fußweg, welchen Thal« 
borf mit dem Fremden gegangen fein wollte, eriftirt und 
zwar genau fo, wie ihn Thaldorf bejchreibt. Er führt 
zu einer Wurftfabrif, welcher gegenüber, durch einen Fahr⸗ 
weg verbunden, in einer Entfernung von 281 Schritten 
bie Köllner'ſche Mühle Liegt. 


Der breifade Mord in der Mühle zu Diethbarz. 147 


Allein erſtens war die Perfon dieſes Unbelannten, 
von welchem Thaldorf Tpäter angab, daß er Hibenthal 
oder Hebenthal geheißen babe, abfolut nicht zu ermitteln, 
zweiten aber hätte dieſer Fremde, ba bei ber Feſtſtellung 
bes objectiven Thatbeftands feine Spur dafür aufgetaucht 
war, daß die That von zwei oder mehrern Perſonen ver- 
übt worben fei, felbjt und allein den Mord begangen 
haben: müffen, und dann wäre es pfuchologifch unbegreif- 
lich und unmöglich geweſen, daß Thaldorf mit reinem 
Gewiſſen mitten in der Nacht nach einem befchwerlichen 
Marſche bei Kälte und hohem Schnee fich aus einem be» 
wohnten Drte fortbegeben und burch Schnee und Eis in 
ven Wald dem fihern Tode entgegengearbeitet hätte. 
Diefen Weg unter dieſen Umftänden vermochte nur ein 
von den Furien bed Gewiffens gepeitjchter und von ber 
Zobesangft vor ber Entvedung eines furchtbaren DVer- 
brechens gehegter Mensch zurückzulegen. 

Die Vorunterſuchung wurde gejchloffen und Anklage 
gegen Thaldorf erhoben wegen des in Ollenporf verübten 
ſchweren Diebftahls in wiederholten Rückfall, wegen ber 
durch Einfteigen qualificirten Entwendung ber Uhr nebit 
Kette und der brei Schlüffel aus dem Köllner'ſchen Mühlen⸗ 
gebäude, gleichfalls in wiederholtem Rüdfall, fowie wegen 
vorfäglicher und mit Veberlegung ausgeführter Tödtung 
ber Kölfner’jchen Eheleute und der Margarethe Köliner, 
ingleihen wegen Morbverfuhs an Erich Kölner. Für 
den Fall, daß bei der Tödtung der drei genannten Per⸗ 
onen und des leßterwähnten Tödtungsverſuchs die mör- 
derifche Abſicht nicht angenommen werben follte, wurde 
bie Anklage auf vorfägliche Tödtung dieſer drei Perfonen 
und auf Tödtungsverfuh an Erich Köliner bei Unter- 
nehmung einer ftrafbaren Handlung, um ein ber Aus- 
führung berjelben entgegentretendes Hinderniß zu bejeitigen 

10* 


148 Der dreifade Morb in ber Mühle zu Dietbarz. 


ober um fich der Ergreifung auf frifeher That zu ent- 
ziehen, gerichtet (Verbrechen nach 8. 214 des Strafgefeg- 
buche). 

Die Straflammer des Landgerichte Gotha eröffnete 
hierauf das Hauptverfahren gegen Thaldorf wegen ber 
ſchweren Diebftähle in wiederholtem Rückfall und wegen 
vollendeten und verſuchten Mordes vor dem gemeinſchaft⸗ 
lichen Schwurgericht zu Meiningen. 

Am 16. und 17. October 1885 fand die Hauptver⸗ 
handlung in Meiningen ſtatt. Das geſammte Beweis⸗ 
material über den objectiven und ſubjectiven Thatbeſtand 
ber zur Anklage geſtellten Verbrechen wurde ben Ge⸗ 
ſchworenen nach einer vortrefflich klaren Dispoſition vor⸗ 
geführt. Die Zeugen und Sachverſtändigen wiederholten 
ihre in der Vorunterſuchung gemachten Angaben; nur die 
Müllergeſellen Peter und Horn fügten ihren frühern 
Ausſagen noch bei, daß Köllner am Tage vor der Kata⸗ 
ſtrophe ihnen gegenüber über ſeine Frau beſonders heftig 
geklagt und geäußert habe: „Scheiden laſſe ich mich nicht 
von ihr, lieber ſchlag' ich ſie todt.“ 

Neues dagegen bot die Vernehmung des Profeſſors 
P. aus J. Die Vertheidigung hatte ſich auf ſein ſach⸗ 
verſtändiges Gutachten darüber berufen, daß man ans 
ben ausgewafchenen Worbertheilen ver Thaldorf'ſchen 
Hembärmel nicht mit Beſtimmtheit auf das frühere Bor- 
banbenfein größerer Blutmengen fchließen könne, und daß 
die minimalen Blutrüditände, welche die in der Vor⸗ 
unterfuchung beigezogenen Sachverftänbigen gefunden, 
höchitwahrfcheinlich von Flohſtichen berrühren könnten. 
Profefjor P. erklärte nun, nach vorhergegangener forg- 
fültiger Unterjuchung der Hemdärmel könne er pofitiv 
behaupten, dag Blut in größern Mengen aus dieſen 
Aermeln ausgewafchen fein müfle, und daß von einzelnen 





Der dbreifahe Mord in ber Mühle zu Diethbarz. 149 


Blutpünktchen, einer Folge von Flohſtichen, gar feine 
Rede fein könne. 

Thaldorf blieb in der Hauptverhanblung bei feinen 
in der Vorunterfuchung erjtatteten Angaben, räumte ben 
Diebftahl in Ollendorf ein, ftellte aber den Diebftahl und 
Mord in der Köllner'ſchen Mühle hartnädig und mit ber 
größten Beftimmtheit in Abreve. Er bewahrte von An⸗ 
fang bis zu Ende eine unerfchütterliche Ruhe. Nur ein- 
mal wurde fie unterbrochen, als unter ven Zeugen ber 
achtjährige Erih Kölner beim Namensaufruf vortrat. 
Mit anfgeriffenen Augen ftarrte er das Kind wie ein 
Geſpenſt einige Secunvden lang an, dann faßte er fich 
aber fofort wieder und fein Geficht wurde wieder ver- 
ihloffen und unbeweglich. 

Die Vertheidigung hatte biefem erdrückenden Be⸗ 
laftungsbeweife gegenüber einen ſchweren Stand. Doc 
war ihre Kampfweife auch Feine glücliche zu nennen. 
Statt zunächft die einzelnen ſchwachen Stellen im Be⸗ 
loftungsbeweife einer ſcharfen kritiſchen Beleuchtung zu 
unterziehen und dann vor allem die Subjumirung ber 
That Thaldorf’8 unter den Begriff des Morbes zu bes 
fümpfen und fie als ein Verbrechen gegen 8. 214 bes 
Strafgeſetzbuchs Hinzuftellen, behauptete fie troß aller 
entgegenftebenden Ausſagen ver Zeugen und Sachverftän- 
digen mit der größten Hartnädigfeit, Kölner habe feine 
Frau und feine Kinder ermorvet und fei von einem 
britten, ber bazugelommen, erichlagen worden. Wer 
biefer britte gewejen fein könne, darüber fprach bie Ver» 
theidigung nicht einmal eine Vermuthung aus, bies zu 
ermitteln, fagte fie, fei nicht ihre Aufgabe. 

Die Gejchworenen vermochten denn auch nicht diefen 
jo ſchwach begründeten Hypotheſen und Angaben Glauben 
zu fchenfen, ſondern fprachen das Schuldig gegen Thal- 


150 Der dreifache Mord in ber Mühle zu Dietharz. 


borf wegen bes ollendorfer Diebftahl® und wegen Mordes 
und Mordverfuhs an der Familie Köliner aus, währent 
fie dem ftaatsanwaltlichen Antrage entgegen die Schuld⸗ 
frage bezüglich der Entwendung ver Köllner'ſchen Uhr und 
Schlüffel verneinten. 

Der Eindruck, welchen die Vorführung ber eine ge 
jchloffene Kette bildenden Beweiſe auf die Geſchworenen 
und auf die Kopf an Kopf gebrängte Zuhörerſchar ber- 
vorbrachte, war ein übermwältigender, das Berbict ber 
Geſchworenen, wie fehr rafch befannt wide, ein ein- 
ſtimmiges gemwejen. — Mit eifiger Ruhe vernahm ver 
Angellagte den Spruch und ſodann das Urtheil, welches 
auf Todesſtrafe, 12 Jahre Zuchthaus und zehmjährigen 
Ehrverluft lautete; fein Muskel zuckte in feinem Geficht. 

Auf die von dem Angeklagten eingelegte Reviſion, 
welche fich auf umzuläffige Beſchränkung ver Vertheidigung 
jtüßte, holte das Neichögericht ein bei der Urtheilsfällung 
untergelaufenes Verſehen ſelbſt nach, indem es Thaldorf 
von der Anklage wegen Entwendung der Uhr und der 
Schlüſſel freiſprach, verwarf aber im übrigen das einge⸗ 
legte Rechtsmittel. 

Nachdem ſodann ein vom Angeklagten eingebrachtes 
Geſuch um Wiederaufnahme der Unterſuchung als unzu⸗ 
läſſig verworfen worden war und Se. Hoheit ber Herzog 
von Sachfen-Eoburg: Gotha erklärt Hatte, daB er von 
feinem Begnabigungsrechte Teinen Gebrauch machen werde, 
wurde die Hinrichtung Thaldorf's auf den 28. Juni 1886, 
vormittags 9 Uhr, anberaumt. Als Thaldorf, welcher 
vorläufig im Zuchthaufe zu Gräfentonna betinirt war, am 
Mittag des 27. Juni 1886 dieſe Eröffnung durch ben 
Staatsanwalt erhielt, und zugleich darauf hingewieſen 
wurbe, in den wenigen Stunben, welche er noch zu leben 
babe, feine Rechnung mit Gott und den Menfchen abzu- 








Der breifahe Morb in ber Mühle zu Dietbarz. 151 


fchließen, erklärte er mit völlig ruhiger Miene: „Ich 
kann es nicht von Ihnen verlangen, daß Sie mir glau- 
ben, denn ich babe Sie viel belogen, aber gejtehen kann 
ich es nicht, denn ich habe die That nicht begangen.“ 
Bald darauf entlud fich ein fchweres Gewitter und wäh» 
rend beffelben zeigte der Verurtheilte eine auffällige Er- 
regung, welche fich erheblich fteigerte, als ihn der Scharf: 
vichter gegen 5 Uhr nachmittags beſuchte. Er verlangte 
nach dem Anftaltsgeiftlichen, welcher erft gegen 7 Uhr 
abends von einer Reife zurücktehrte und fich fofert zu 
ihm begab. Derſelbe Hatte in dem Halbjahre, in welchem 
Thaldorf im Zuchthauſe zu Gräfentonna inhaftirt war, 
deſſen Vertrauen zu gewinnen und ben tief verfchütteten 
Funken religiöfen Sinnes, welchen jeder Menſch im Buſen 
trägt, zu weden verftanden. Es war baber ein fchöner 
Lohn für diefe Bemühung, daß fich ihm gegenüber num 
endlih das fo lange zurüdgebaltene Geftänpniß des 
grauenhaften Verbrechens von den Lippen bed Verur⸗ 
theilten losrang. 

In dieſer Nacht feierte die unvergängliche Macht der 
chriſtlichen Religion und die unzerſtörbare Kraft des 
chriſtlichen Glaubens an die Vergebung der Sünden in 
dieſer armſeligen Zuchthauszelle einen herrlichen Triumph! 
Noch in der Nacht ſchrieb Thaldorf den nachſtehenden 
Brief an den Staatsanwalt, welcher dieſem am andern 
Morgen bei ſeinem Eintreffen in Gräfentonna mit der 
Meldung von dem Geſtändniſſe übergeben wurde: 

„Gräfentonna d. 27./6. 86. 
An Herrn Staatsanwald zu Gohta. 
Bekenntniß. 

Ich lege ihn hiermit das Bekenntniß nieder, das ich 
das Verbrechen an der Familie Köllner begangen habe, 
Und bitte Ihn um Verzeihung daß ich Ihnen und ſämmt⸗ 


152 Der breifahe Morb in der Mühle zu Dietharz. 


liche Richter fo fehr belogen habe. Da die Lüge ebenfo 
eine große Sünde ift, als das begangene Verbrechen. 
Denn der Gott, der da fagt, du folljt nicht töbten, ver 
jagt auch du follft auch nicht fügen. Da ich dieß nun einge 
jehen Habe; So bitte ich Sie und alle meine Richter um 
verzeihung. Da ich nun meine Schuld eingeftanven habe, 
und mein Gewiſſen befreit mit Gottes hülfe So bin ic 
auch nun gewiff das Gott mir meine Uebertretung vers 
geben hat das Glaube ich in Namen feines Sohnes Jeſum 
Ehriftum. Und wenn Deine Sünde Blutroth wäre, So 
joll fie doch durch meine Gnade fchneeweiß werden. Nun 
da ich mein Gewiſſen befreit habe, So kann ich mit 
freudiger Hoffnung aufbliden zu ven Bergen, von welchen 
mir Hülfe fommt Und fprechen wie jener Zöllner Gott 
fei mir Sünder gnädig Amen. 
Einer der feine Sünden bereut. 
Ch. Andreas Thaldorf.“ 


Thaldorf wiederholte nun dem Staatsanwalt gegen- 
über mündlich fein Geſtändniß und gab noch auf Be⸗ 
fragen an, er ſei Durch ein offenftehendes Fenſter in bie 
Küche der Mühle eingeftiegen, und von ba burch ben 
vom Mühlenraum ans erleuchteten Eorribor in die Haus⸗ 
flur gelangt. Dort habe er Streichhölzer, welche er bei 
fih gehabt, angezündet, pas Beilchen an fich genommen 
und mit biefem fich in die Stube begeben. Dort Habe 
er bie Kommode geöffnet und durchwühlt, da fei Kölner 
munter geworden. Er wäre nun in bie Kammer ges 
gangen, Babe erft Köllner, dann die fich bewegende Frau 
und fchlieglih das Kind mit dem Beile erjchlagen. Das 
zweite Kind habe er mit feinem Taſchenmeſſer in ben 
Hals gejchnitten. Die Uhr und die Schlüffel hätte er 
entwendet, beides aber nach vollbrachter That auf dem 





Der Dreifahe Mord in ber Mühle zu Dietbarz. 153 


Wege von fich geworfen, die Uhr im Walde, die Schlüffel 
auf ber Chauſſee. 

Es wäre ja von hohem Intereſſe gewejen, den Thal⸗ 
borf nun noch Über einzelne, in ver Unterfuchung dunkel 
gebliebene Nebenpunfte zu befragen; allein es ftritt gegen 
das menfchliche Gefühl, ihn in den wenigen Minuten, 
welche er noch zu leben hatte, dem Zuſpruch und dem 
Gebete des Geiftlichen zu entziehen. 

Wunderbar war die Beränderung in dem Weſen 
Thaldorf's. Aller Trotz, alle Verjchleffenheit war von 
ihm gewichen und hatte einem freudigen Muthe Plaß ger 
macht, mit dem er, durch das Geftänpniß feiner Blut- 
ſchuld fichtlich erleichtert, in der feiten Hoffnung auf bie 
Barmherzigkeit Gottes gefaßt dem Tode entgegenging. 

Nach ver Publication des Urtheils vor dem Schaffot 
wiederholte Thalborf fein Geſtändniß und bat bie Richter 
nochmal® um Verzeihung. 

Die Vollftredung des Urtheild erfolgte mitteld Fall⸗ 
beil8 in wenigen Secunben. 

So endete dieſe Unterfuchung, welche in factifcher und 
juriftiicher Beziehung ein ungewöhnliches Intereffe bean- 
ſprucht. Denn felten gelingt es, einen Verbrecher durch 
eine jo lange, aber feſt in fich gefchloffene Kette von Ber 
weifen feiner Frevelthat zu überführen, felten kommt es 
vor, daß ein Lanbesherr das Gnabengejuch eines zum 
Tode verurtbeilten Verbrechers abfällig befcheibet, wenn 
berjelbe leugnet, jelten ringt fich in der Tobesftunde ein 
Geſtäudniß feiner That von den Lippen des Verurtheilten 
und felten endlich werden durch das nachträgliche Geftänt- 
niß bie Feftftellungen der Unterſuchungsbehörden in allen 
Punkten fo beftätigt wie in biefem Falle. Aber auch 
juriſtiſch war dieſe Unterfuchung von hohem Intereſſe. 
Lag bier Morb reſp. Mordverſuch ober vorjäßliche 





154 Der breifade Mord in ber Mühle zu Dietbarz. 


Tödtung reſp. vorjäglicher Tödtungsverſuch ver, um ein 
der Ausführung entgegentretendes Hinderniß zu beſei⸗ 
tigen, oder um ſich der Ergreifung auf friſcher That 
zu entziehen (Verbrechen nach 8. 214 des Strafgeſetz⸗ 
buch)? Unſers Erachtens ift hier nur Morb reiy. 
Mordverſuch anzunehmen. Als Thaldorf, welcher ja zu- 
nächft wol nur auf ‘Diebftahl ausging, in der Hausflur 
das Beil an fihb und mit in bie Stube und im bie 
Kammer nahm, da faßte er den Vorſatz, alles Lebende 
bamit nieverzufchlagen, was ihm in ven Weg kommen 
werde. 

Das aber war die Abficht eines Mörbers, und es iſt 
gleichgültig, ob diefelbe fchon gegen eine ganz beſtimmte 
Perföntlichkeit oder gegen denjenigen gerichtet war, welcher 
von einer gewifjen Berfonenmehrheit (hier der Bewohner: 
ſchaft der Mühle) ihm zuerft entgegentreten würde. Aber 
nicht blos den Kölner ſchlug Thaldorf nieder, welcher 
ihm bei Ausführung feines Verbrechens hätte entgegen- 
treten oder ihn hätte feitnehmen können, fondern über ihn 
kam auch noch die Blutgier des echten Mörder, denn er 
erichlug auch die in ihrem Bett ruhig fchlafende Frau 
Kölner und das fiebenjährige Kind und verwunbete ven 
Knaben in Tebensgefährlicher Weife, welche ſämmtlich ihn 
weber hindern noch ergreifen, ja bei der mangelhaften 
Beleuchtung nicht einmal erkennen fonnten! 

Nachdem bie Straflammer das Hauptverfahren ledig⸗ 
lich wegen Mordes und Mordverſuchs eröffnet hatte, un⸗ 
geachtet die Anklage eventuell auch auf das Verbrechen 
nach $. 214 des Strafgeſetzbuchs gerichtet war, hatte bie 
Staatsanwaltichaft feine Veranlaffung, die Stellung einer 
Hülfsfrage nach diefem nur mit Zuchthaus beprohten Ver⸗ 
brechen zu beantragen; bie Vertheidigung hätte bie Ver⸗ 
pflihtung Hierzu gehabt, unterließ es aber, und fo wäre 


Der breifahe Mord in ber Mühle zu Dietharz. 155 


es nur noch dem Vorſitzenden übriggeblieben, biefe Trage 
von Amts wegen zu ftellen. 

Es läßt ſich num nicht mehr entſcheiden, ob wol bie 
Geſchworenen, wenn die Hülfsfrage nach dem Verbrechen 
gegen $. 214 des Strafgefeßbuchs an fie geftellt worden 
wäre, biefelbe bejaht und die Frage nach Mord und Morb- 
verfuch verneint oder dennoch letztere bejaht hätten. Jeden⸗ 
falls aber tft e8 ein Glüd zu nennen, daß dieſe juriftifche 
Diftelei, welche für den Nichtjurtften fehr fchwer zu bes 
greifen ift, ven Gefchworenen erfpart blieb, und daß ber 
Angellagte den Schreden des Todes ausgeſetzt wurde, 
welche ihm das Geſtändniß feiner That auf die Lippen 
drängten, durch das allen etwaigen Zweifeln an ber 
Thäterjchaft Thaldorf's ein Ende gemacht und jeder andere 
Verdacht endgültig bejeitigt wurde. 





Alerkwürdige Criminalproceſſe ans England. 


1. Berlenmdung und nugeredtfertigte Entziehung der 
perſönlichen zyreiheit. 


London. 1887. 
I. 


In dem hohen Gerichtshofe für Juſtizſachen (High 
court of justice), Abtheilung der Königlichen Nichterbant 
(Queen’s Bench division), werben jene Bälle der Ver⸗ 
(eumbung und Chrenbeleibigung zum Austrag gebracht, 
bie nicht zuvor wegen ihrer Geringfügigfeit von dem 
Polizei» oder Friebensrichter erledigt ober vor den Gen- 
tral-Criminalgerichtshof gewiefen werben. Die Schuld» 
frage wird von den Geichworenen entichieven, und ge 
gebenenfall® auch die Höhe des Schadenerſatzes und 
der regelmäßig in Geld bemeſſenen Buße von ihnen be- 
ftimmt. Solche Verleumbungsflagen find, da das enge 
(ifche Gerichtsverfahren nur allzu viele Gelegenheiten hierzu 
hervorruft, gar häufig, und werm wir zwei charakteriftifche 
Tälle an diefem Orte ausführlich mittheilen, fo gejchteht 
dies, um zu zeigen, wie bie Frage ber Entſchädigung un⸗ 
ſchuldig Verbafteter, die auf dem Continent, insbeſondere 
aber in Deutfchland, noch im Fluffe iſt, jenfeit des 
Aermelkanals gelöft ericheint. 

Bon dem Richter Mathew war am 7. November 


Mertwürdige Criminalprocefje aus England, 157 


1887 eine Verhandlung zu dem Zwede anberaumt, um 
einer einzeln ſtehenden Dame, Bräulein Beploe, welche 
fih durch die Beichuldigung des Diebftahle, die wider 
fie von einem Herrn Hurft und beifen Gattin umberech- 
tigterweife erhoben und bie dieſerhalb gerichtlich verfolgt 
worden war, Genugthuung zu verichaffen. 

Der königliche Rath Dir. Willis und Mr. 5. Mote 
erjchienen namens ber Klägerin, ver königliche Rath 
Der. Cod und Mr. Hide für die Verflagten. 

Mr. Willie eröffnete die Verhandlung mit einer 
furzen einleitenden Rebe, in ber er auf die zu gewär- 
tigende Klarlegung des Sachverhalts durch die Darftellung 
ber als Zeugin zu vernehmenden Klägerin verwies. Miß 
Peploe wurde aufgerufen und gab an: 

„Ich wohne in Wr. 34, Brandram⸗Road in Lee (einem 
Heinen Orte in der unmittelbaren Nachbarfchaft Londons). 
Mein Bater war ein Schnittwaarenhänbfer in Blackheath. 
Er hatte das Haus, in dem ich derzeit noch wohne, vor 
vielen Jahren gefauft, es felbft bewohnt und ift dort ge⸗ 
ftorben. Er hinterließ mir legtwillig den lebensläng⸗ 
lichen Fruchtgenuß dieſes Haufes, den unbeſchränkten Be⸗ 
ſitz der Einrichtung deſſelben und ein ſichergeſtelltes 
Jahreseinkommen von 96 Pfd. St. (1920 Mark). Dieſes 
Zahreseintommen fließt aus Geldanlagen, über beren 
Kapital ich zwar nicht bei Lebzeiten, jeboch teftamentarisch 
frei zu verfügen berechtigt bin. Ich halte eine Dienft- 
magd, welche die fchwere Arbeit im Haushalte zu beforgen 
hat. Ich habe einen Bruder, dem, leider! fein fo gutes 
208 zutbeil geworden if. Er dient als Portier in 
Somerfet- Houfe und bezieht eimen MWochenlohn von 
1 Pfr. 5 Sh. (25 Mark). Dabei ift er verbeirathet 
und bat eine zahlreiche Familie. Ich fehe mich darum 
genöthigt, ihn vegelmäßig zu umterjtügen. Dazu reicht 


158 Merkwürdige Eriminalproceffe aus Englanb. 


nun freilich mein Einkommen, das fonjt für meine eigenen 
perfönlicden Bebürfniffe vollauf genügen würbe, nicht ans, 
und ich mußte darauf bevacht fein, daſſelbe zu fteigern. 
Um bie Koften der Erziehung einer meiner Richten, für 
bie ich mich intereffire, beftreiten zu können, verlegte ich 
mich feit ungefähr einem Sabre darauf, feine Stidereien 
anzufertigen und biejelben zunächſt in ver Nachbarfchaft, 
fodann aber auf Grund von Empfehlungen, die ich mir 
erwirkte, in immer weitern Streifen zu verfaufen. Ta 
ih mich jedoch gewiffermaßen fchämte, viefen Hauſir⸗ 
handel unter meinem eigenen Namen zu betreiben, nahm 
ich anläßlich meiner Verlaufsgänge den Namen « Potter» 
an. Sch Habe eine Freundin Namens Miß Bynon, bie 
in Addiscombe wohnt. Im Monat März wollte ich biefe 
Dame, bie mich hierzu aufgeforbert hatte, befuchen. Sch 
führte, um das Nügliche mit dem Angenehmen zu ver- 
binden, einen Kleinen Koffer voll Stidereien bei mir und 
beabfichtigte, diefe unterwegs zu verfaufen. Ich verlieh 
bie Eijenbahn in ber Station Elmers-End und hatte 
in Elmers⸗Road bereits vier ober fünf Häuſer beſucht, 
ehe ich nach Sherbrool-Houfe, dem Wohnftg ber Familie 
Hurſt, gelangte. Ich bin etwa um die Mittagsftunbe 
dahin gefommen. Gin Dienftmäpchen befragte mich um 
mein Begehr und um meinen Namen, und ich nannte 
mi «Potter. Man hieß mich in das Speifezimmer 
eintreten. Gleich nach mir fam Mrs. Hurft herein, ic 
bot derjelben meine Stidereien zum Kaufe an, die Dame 
erflärte jeboch, daß fie keinen Bedarf dafür hätte, und 
geleitete mich felbft bis zur Hausthür. Ich Habe von 
allen den Dingen, bie in jenem Haufe herumlagen, gar 
nichts berührt und ben Pelzkragen, beffen Aneignung 
mir in der Folge zur Laft gelegt wurbe, überhaupt wicht 
geiehen, Nach dieſem Aufenthalt in Eherbroof-Houfe bin 


Merkwürdige Eriminalprocefje aus England. 159 


ich noch in einige andere Häufer gegangen, um meine 
Waaren abzufegen. Zunächft war ich bei einer Mrs. Bar- 
ber. Ich habe dort meinen Koffer geöffnet, ſodaß Frau 
Barber deſſen Inhalt ganz genau durchfehen Konnte, was 
fie auch that. Ste Hat fchließlich eine geſtickte Schürze 
gekauft. Mrs. Barber rieth mir, mich zu einer Mrs. 
Parker, die ‚gleich neben ihr wohnt, zu begeben. Ich 
folgte fofort diefer Empfehlung, und auch dort öffnete ich 
meinen Koffer und ließ alle meine Waaren burchjehen. 
In beiden Häufern empfing ich Beftellungen zu fpäterer 
Ausführung und gab darum ven Auftraggeberinnen meinen 
wirflihen Namen und meine richtige Adreſſe an. Yon 
bort aus ging ich direct nach Addiscombe zu meiner 
Breunbin, dem Fräulein Bynon, verblieb bei ihr bis zum 
Abend und kehrte von ba mitteld ber Eifenbahn nach 
Haufe zurüd. Am nächften Tage war ich in meiner 
Wohnung und arbeitete an meinen Stidereien. Um 4 Uhr 
nachmittags meldete mir das Dienftmädchen, ein Herr fei 
gefommen, der mich zu fprechen verlange. Es war ein 
Polizift in Civilkleidern. Er fragte mich, ob ih Miß 
Peploe ſei und ob ich am vergangenen Tage in Croydon⸗ 
Road geweien wäre. Meine Antwort lautete: «Mein 
Name ift Peploe. Croydon⸗Road ift eine mir ganz un⸗ 
befannte Gegend, ich bin geftern in Elmers-⸗Road ge- 
wefen.» Hierauf fragte er mich, ob ich vielleicht in 
Sherbroof-Houfe geweien fei. Meine Antwort darauf 
war wahrheitögetreu: «Ich kann das weber bejahen nod) 
verneinen. Sch Habe geftern Käufer für meine Stidereien 
gejucht und bin in eine ganze Reihe von Häufern ge- 
gangen.» Sodann eröffnete er mir, er fei mit dem Auf- 
trage gelommen, mich wegen bes Diebſtahls eines Pelz- 
kragens zur Nechenjchaft zu ziehen. Ich wollte zuerjt 
meinen Obren nicht recht trauen und eriwiberte ihm fehr 





160 Merkwürdige Eriminalproceffe aus England. 


enträftet: ich hätte gar feinen Pelzkragen gefehen und in 
jenem Haufe nicht das Geringfte berührt. Ich erklärte 
ibm auch fofort, es müſſe da ein Misverftänpniß ob- 
walten, das wol verſchwinden würde, wenn man mir bie 
Hageführende Dame perfönlich gegenüberjtellte. Ich be 
gehrte, man möge mir geftatten, meine Nachbarn herbei⸗ 
zubolen, welche, perjönlich mit mir belannt, feinen An- 
ftand nehmen würden, für mich einzuftehen und für 
meine Nefpectabilität zu bürgen. Der Poltzift gab feinem 
Bedauern Ausdruck, daß er zu foldem Verfahren nidt 
ermächtigt fei, er müſſe fich nach feiner Inftruction und 
jeinem Auftrage richten. Er bebarrte bemgemäß bei feiner 
Aufforderung, ihm zu folgen, und geleitete mich im ber 
That auf das Polizeicommiffariat in Beckenham. Wir 
gelangten um 6 Uhr abends dahin. Ungefähr eme 
Stunde fpäter famen auch Herr und Frau Hurft in Be 
gleitung eines Dienftmäbchens auf das Commifſariat unt 
hatten eine Unterredung mit dem bienftthuenden Beamten. 
Was fie verhandelten, weiß ich nicht. In meiner Gegen- 
wart befragte Herr Hurft feine Frau, ob fie in mir bie 
Berfäuferin erfenne, welche tags zuvor zu ihr gekommen 
wäre. Sie fowol wie das gleichfall® darum befragte 
Dienftmäbchen bejabten ed. Mr. Hurft wandte fich fo: 
dann zu mir und fagte: «Sch beichufdige Ste des Dieb: 
ftahls eines Pelzkragens im Wertbe von 12 Pfr. St. 
(240 Mark)» Ich wies dieſe Beſchuldigung energiih 
zurüd. Da man mich jedoch bebeutete, ich würde in 
Haft behalten werben, bi8 die Sache aufgeklärt ſei, fo 
fagte ich, daß ich ven Pelzkragen, obwol ich an dem Ver: 
ſchwinden vefjelben gänzlich unbethetligt jet, lieber bezahlen 
wolle, als mich einfperren zu laffen, und daß ich bereit 
jet, die geforderte Summe in Raten zu erjeßen. Ich 
fragte aber ausprüdlich, ob man denn eine genaue Haus⸗ 








Merkwürdige Criminalproceffe aus England. 161 


ſuchung gehalten und in ven Koffern des Dienftmäbchens 
nachgejehen babe? — Es wurde mir parüber feine Auskunft 
gegeben, fondern nur von Mer. Hurft die Gegenfrage an 
mich gerichtet, welche Kirche ich zu befuchen pflege. ch 
antwortete darauf wahrbeitsgemäß, daß ich feit neun 
Jahren bie unter ber Leitung Sr. Ehrwürben des Pfar- 
rers Bud ftehende Dreifaltigleitsfirche in Lee beſuche. 
Mr. Hurft erwiderte mir darauf, er werde noch am 
jelben Abend Der. Bud aufzufinden trachten und fich bei 
ihm nad meinem Rufe erkundigen. Ich ertbeilte ihm 
jegleich noch andere Referenzen, und bat, man möge mir 
nunmehr geftatten, mich nach Haufe zu begeben, da ich 
in meinem ganzen Leben noch nie über Nacht vom Haufe 
weggeblieben wäre und mein Dienftmäpchen noch niemals 
ſich ſelbſt überlaffen hätte. Mr. Durft verweigerte es 
aber und fagte wörtlih: «Nein. Sie müfjen fich dem 
Gelee fügen.» Der Bolizift verlangte Hierauf bie 
Ausfolgung meiner Schlüffel und fagte zu mir: «Ich 
werbe fofort gehen und eine Hausfuchung bei Ihnen vor» 
nehmen und auch Ihr Dienftmäbchen benachrichtigen, daß 
Sie heute Nacht nicht nach Haufe zurückkommen Fönnen.» 
Dann brachte man mich in das Gefängniß des Polizei- 
commifjariats. Dort wurde ich ganz ausgefleibet, eine 
Procedur, die mir höchſt peinlich war, und einer genauen 
Zeibespifitation unterzogen. Ich wurde in eine Zelle ge⸗ 
führt, wo ich die Nacht zubringen follte, obgleich fein 
Bett darin war.” 

Richter Mathew. Wie, kein Bett war vorhanten? 

Zeugin. So ift es, Mylord. 

Nichter Mathew. Das ift ungebeuerlich! 

Die Zeugin führt fort: 

„Es war fo Talt, daß ich alles Gefühl in ven Ers 
tremitäten verlor. Auch hatte ich feit Mittag nichts ge- 

XXII. 11 


162 Merkwürdige Eriminalproceffe aus England. 


geffen. Ich fror und hungerte. Sch beklagte mich wieber- 
holt, und endlich, um 2 Uhr nachts, erbarmte fich ein 
Polizeiconſtabler meiner, führte mich in die Wachtftube, 
wo ein Teuer im Kamin Ioberte, und gab mir etwas 
warmen Thee. Am nächiten Morgen warb ich vor den 
‚Bolizeirichter geführt. Mrs. Hurft und ihr Dienft- 
mädchen erjchienen und gaben Zeugniß wider mid ab. 
Der BPolizeirichter vertagte bie Entſcheidung, entließ mich 
aber gegen Bürgichaft, welche Mer. North von Lee für 
mich Teiftete. Am Montag, den 4. April, warb ih vor 
das Friedensgericht geladen, die Anklage wurbe wieber- 
holt und die Verhandlung zu Ende geführt. Der Bor- 
fitenne des Frievensgerichts wies die Klage als unbe- 
gründet zurüd und fprach mich frei. Sch lege anbei bie 
Urtbeilsabfchrift vor. Der Präfivdent des Gerichtshofs 
erflärte jedoch, die Klage fei nicht muthwillig erhoben, 
und ich mußte daher meinen Theil der Gerichtsloften 
tragen. Meine Vertheibigung führte der Rechtsanwalt 
Mr. Mote, verfelbe, der auch heute hier anweſend ift. 
Der Theil der Gerichtsfoften, die ich zu tragen hatte 
und deren Erfat ich außer einer Buße beanfpruche, be- 
lief ſich auf 14 Pfd. St. (280 Mar). Die Kälte, Die 
ih in ber Zelle, wo ich faft eine ganze Nacht hindurch 
eingeiperrt war, erleiden mußte, hat mir eine bösartige 
Crfältung zugezogen, ich habe an meiner Gefundheit bfei- 
benden Schaden gelitten, von jener Zeit an bin ich 
ſchwerhörig.“ 

Im Kreuzverhör, dem die Zeugin durch ven Fönig- 
lichen Rath Mr. Cod unterzogen wurde, fagte fie noch aus: 

„Bor dem Tage, ba ich bei den Eheleuten Hurft war, 
fannte ich die Gegend von Elmer-Road nicht. Ich habe 
meinen Namen mit «Miß Potter» angegeben, wie ich es 
geihäftlich, wenn ich haufiren gehe, tn der Regel thue. 











Mertwürbige Eriminalproceffe aus England. 163 


Ih war in der Vorhalle bei Hurft, ehe ich in pas 
Speijezimmer geführt wurbe, etwa 1—2 Minuten lang 
allein. Ich habe nie gehört, daß im irgendeinem andern 
Haufe, wo ich des Verkaufes meiner Stickereien wegen 
war, hernach etwas als fehlend ungegeben worben: tft, 
und meines Wiffens ift bieferiwegen niemals eine Be⸗ 
fchwerbe bei der Polizeibehörde angebracht worden. Weber 
früher noch zu der Zeit, da man mich verhaftet. Mer. 
Hurft fagte mir beim Polizeicommiffariat ausbrüdlich: 
«Wir beichuldigen Ste, einen Pelzkragen im Werthe von 
12 Pfd. St. entwendet zu haben; doch wenn Sie ihn er- 
fegen wollen, werben wir Ihnen gegenüber fo mild vor- 
geben, als uns nur möglich ift und den Kragen nur mit 
7 Pro. St. anrechnen.»“ 

Miß Bynon, als Zeugin vorgeladen, fagt aus: 

„Fräulein Peploe ift meine tbeuerfte Freundin. Ich 
bin jeit zwölf Sahren mit ihr auf das genauefte befannt 
und weiß nur das Beſte von ihr auszufagen. Am friti- 
chen Zage kam fie, meiner Einladung folgend, zu mir 
auf Beſuch. Sie traf um 21, Uhr nachmittags bei mir 
ein und verweilte bis zum Abend. Ste entfernte fich 
‚mit dem Zuge um 7 Uhr 54 Minuten von Addiscombe. 
Sie hatte ihre Stickereien in einem ſchwarzen Handkoffer 
bei fih. Ich babe diefelben aus Neugierde Stüd für 
Stüd durchgemuſtert. Es war fein Kragen irgenpiwelcher 
Art dabei. Ich habe, als ich von ber Verhaftung meiner 
Freundin Runde erhielt, fofort aus eigenem Antriebe 
einen Beſuch bei Mrs. Hurft gemacht und gegen die 
Beſchuldigung proteſtirt.“ 

Charles Marriner, Polizeiinſpector bei dem Po⸗ 
lizeicommiſſariat in Beckenham, gibt, als Zeuge vernom⸗ 
men, an: 

„Ich erinnere mich ganz gut an die Geſchichte von 

11* 


164 Merkwürdige Eriminalproceffe aus Englant. 


dem geftoblenen Pelzkragen. Der Diebftahl foll am 
29. März begangen worben fein. Sergeant Knight 
eritattete mir bie erfte Melpung. Er war es, der am 
Morgen des 30. März die Beſchädigte, Mrs. Hurit, zuerft 
vernommen bat. Sie war in Begleitung des Polizei⸗ 
conftablers Barrett erfihienen und hatte angegeben, am 
Bortage fei ihr aus ihrem Haufe ein werthuoller Pelz- 
fragen geftohlen worben. ‘Der Verdacht Ienfe fich auf 
eine Frauensperfon, bie unter dem Vorwande, Stidereien 
zu verfaufen, fich eingeführt habe und bie einige Zeit 
allein in ber Vorhalle geblieben fei, als das Dienft- 
mädchen fie der Mrs. Hurft gemeldet babe. Die Ver—⸗ 
fäuferin ſei ſodann in das Speifezimmer gerufen worben, 
und Mrs. Hurft ſelbſt habe fie binausgeleitet. Unmittel- 
bar nach dent Weggehen der Haufirerin wurde ber mit 
foftbarem Pelzwerk ansgeftattete Kragen vermißt. Nie 
mand hatte inzwijchen nach ihr das Haus verlaffen. Das 
Dienftmäbchen wurde von Sergeant Knight befragt, 
konnte aber feine weitere Auskunft geben. Mrs. Hurft 
betbenerte, daß fie ben Pelzkragen kurz zuvor bei einem 
Ausgange getragen und, als fie zurückkehrte, ihn entweber 
in ber Vorhalle oder im Speifezimmer abgelegt babe. 
Das Dienſtmädchen fügte Hinzu, die Verfäuferin fei im 
das Speifezimmer eingetreten, ohne eine Aufforberung 
hierzu abzuwarten. Ich verlangte eine Berfonalbeichreis 
bung ber Daufirerin und erklärte mich bereit, biejelbe 
auszuforihen und gegebenenfalls feftnehmen zu laſſen. 
Sch beauftragte fomit ven Polizeiconftabler Barrett, vie 
weiter nothwendigen Erhebungen vorzunehmen. Am Abent 
befjelben Tages, nachdem Barrett die Beichultigte ver- 
haftet hatte, nahm ich mit Mr. und Mrs. Hurit ein 
Protokoll im Polizetcommiffariat von Beckenham auf. 
Herr und Frau Hurft wurden von mir auf ten Umjtane 








Mertwürdige Criminalproceffe aus England. 165 


aufmerkfam gemacht, daß die Beſchuldigte ermittelt worden 
und damit bie Aufgabe ver Polizei zunächſt erfüllt fet. 
Die Beſchuldigte ftelfe aber entfchieven in Abrede, bie That 
begangen zu haben, auch fpräche für fie, daß fie den Be⸗ 
ftellerinnen ihrer Stidlereien den richtigen Namen und 
ihre Adreſſe angegeben babe, baß fie fich vor ber Be— 
Hörde nicht verborgen und in ihrer ſtabilen Wohnung 
arretirt worden fei. Ich machte fie wiederholt — drei⸗ 
mal — ausprüdlich darauf aufmerkſam, daß, wenn fie 
bei der Anklage der Miß Peploe wegen Diebitahle be 
harren und beren Fefthaltung im Gefängniß beantragen 
wollten, dies nur auf ihre Verantwortung und Gefahr 
gefchehen könne. Mr. Hurft fagte zu feiner Gattin: «Du 
erfennft fie mit Beftimmtheit?.... Dann mußt bu fie 
anflagen.» Mrs. Hurft unterzeichnete dann ben Antrag 
auf Verhaftung. Demgemäß wurde Miß Peploe in das 
Gefängniß abgeführt umd ver üblichen Behandlung unter- 
worfen.“ 

Henry Placktt, ein anderer Polizeiinſpector von 
Beckenham, hatte gehört, daß Inſpector Marriner das 
Ehepaar Hurft aufmerkſam machte, wenn fie bie Anklage 
aufrecht erhalten und vie Verhaftung burchgeführt haben 
wollten, fo könne dies nur auf ihre Gefahr und Verant⸗ 
wortung gefchehen. 

Dir. Cock gab die Erklärung ab, wenn das Ehepaar 
Hurft für bie Inhaftnahme durch das Gericht verantivort- 
lich erkannt werben ſolle — was er nicht annehmen könne —, 
wolle er gegen die Summe ber Gerichtsfoften in der Höhe, 
wie fie Miß Peploe beziffert habe, feinen beſondern Ein- 
wand erheben. Allein vie Verantwortlichkeit für die Ver- 
baftung lehnte er, als im Gefete nicht begründet, namens 
feiner Clientin entſchieden ab. 

Der Richter Mathe hebt hervor, e8 werde Sache 





166 Merkwürdige Eriminalprocefie aus England. 


der Gefchworenen fein, darüber zu urtheilen, ob, wenn 
das Ehepaar Hurft nicht darauf beftanden hätte, pie Ver⸗ 
baftung der Miß Peploe purchzuführen, bie Polizeibehörbe 
auf Grund ihrer Machtvolllommenheit dennoch fie ge- 
fangen gehalten baben würde. 

Das Protofoll der Verhandlung vor dem Friebens- 
gericht wurbe hierauf zur DVerlefung gebracht. 

Dir. Cock verfucht ſodann in längerer Rede das Vor- 
gehen des Ehepaares Hurjt zu rechtfertigen. Die Ver⸗ 
fügung ber Haft ift von ber Polizetbehörbe ausgegangen, 
deshalb trifft fie die Verantwortlichleit dafür. Eine Ver- 
leumbung liegt nicht vor, benn ber DVerbacht gegen Miß 
Peploe iſt weder leichtfertig noch böswillig erhoben wor⸗ 
den. Der Diebitahl war begangen, das ift conftatirt. 
Nichts lag näher als der Verdacht, daß die der Mrs. Hurſt 
perjönlih gänzlih unbelannte Haufirkrin ihn verübt 
babe. Jedermann weiß, wie oft gerade in ſolchen Häu- 
fern ber Kleinen Orte, welche die Rieſenſtadt London um⸗ 
geben, Diebftähle von Perfonen verübt werben, bie fich 
unter allerlei Vorwänden in bie Wohnungen einzu⸗ 
ſchleichen verftehen. In dieſem Falle handelte e8 ſich um 
eine vollfommen fremde Perſon. Sie war einige Zeit 
allein in ber Vorhalle geweſen, wofelbft Mrs. Hurft ihrem 
Pelzkragen abgelegt hatte, und kurz nachher, kaum daß 
fie weggegangen war, wurbe eben dieſer Pelzkragen ver- 
mißt und trog alles Suchens nicht wieder aufgefunden. 
Einfchleicherinnen, die e8 auf Diebftähle abgefeben haben, 
ſchützen immer irgendeinen ehrenhaften Grund ihres Ein- 
dringend vor und pflegen gewöhnlich anftänbig gekleidet 
zu fein. Mrs. Hurft bat im bejten Glauben gehandelt, 
fie hat annehmen müffen, Miß Peploe habe ven an ihrem 
Eigenthum verübten Frechen Diebftahl begangen, fie durfte 
ben Verdacht ausfprechen, daß Miß Peploe es geweſen 





Merkwürdige Eriminalproceffe aus England. 167 


fei, die den Pelzkragen entiwendet habe. Wenn fie aber 
biefe Ueberzeugung begte, fo hat fie gehandelt, wie e8 ber 
DBürgerpflicht entipricht. Es Tiegt im öffentlichen Intereſſe, 
die Störungen der bürgerlichen Rechtsordnung zu be⸗ 
fümpfen; bie Anzeige ber Thatjache ift daher begründet 
und lobenswerth. 

Zum Schluffe fpriht Mr. Cock no bie Bitte aus, 
die erjchienenen Zeugen, Mr. und Mrs. Hurit, deren 
Dienftmäpchen und einen der Nachbarn anzuhören, bie 
das Geſagte beftätigen würden. Die einftimmigen Aus» 
jagen aller diefer ehrenhaften Zeugen würben wol ge- 
nügenbe® Gewicht befiten, um zu befräftigen, daß wol 
ein bebauerlicher Irrthum, aber feine leichtfertige oder gar 
böswillige Verleumbung vorliege und fein Anlaß vor- 
handen fei, pas Ehepaar mit einer Verantwortlichfeit zu 
belaften, die fie nicht treffen könne. 

Die Zeugen werben vernommen und jagen in biejem 
Sinne aus. 

Richter Mathew refumirt den Fall und legt den Ger 
ſchworenen nachitebende vier Fragen vor: 

1) Mt von Miß Peploe ein Diebftahl begangen 
worden? 

2) Iſt die Inhaftnahme der Miß Peploe durch das 
Bolizeicommiffariat in Dedenhbam auf Veranlafjung und 
unter ver Verantwortlichfeit der Eheleute Hurft erfolgt? 

3) Haben bie Eheleute Hurſt genügenvde Vorſicht an⸗ 
gewendet, um fich von der Rechtsbeſtändigkeit ihres Ver⸗ 
bachts zu überzeugen? 

4) Haben die Eheleute Hurft, als fie die Anzeige er⸗ 
ftatteten, fih von ber Erwägung leiten laſſen, einer 
Bürgerpflicht nachzukommen und ber öffentlichen Rechts» 
ficherbeit einen Dienft zu erweifen, ober find fie einem 
andern Beweggrunde gefolgt? 


168 Merkwürdige Eriminalproceffe aus England. 


Die Gejchworenen zogen fich zurüd und entichieben 
nach ziemlich lange bauernder Berathung: 

ad 1. Nein. 

ad 2. Sa. 

ad 3. Nein. 

ad 4. Sie find einem andern Beweggrunde gefolgt. 

Zugleich hatte die Jury über die zu entrichtende Ent- 
ſchädigungsſumme fich geeinigt. Sie ſprach der Klägerin 
ben Erfag der früher bezahlten Gerichtskoſten im Betrage 
von 14 Pfd. St. und eine Buße von 50 Pf. St., zu⸗ 
jammen 64 Pfd. St. (1280 Mark) zu. 

Der Richter Mathew hieß das Urtheil gut und ver- 
fünbete deſſen Rechtskraft. 


IH. 


Weit weniger harmlos al8 ber vorige erfcheint ber 
nachitehende Fall misbräuchlicher Anwendung ftrafgefek- 
liher Beitimmungen. 

Der Solicitor- General Sir Edward Elarfe und 
Mr. Terrell vertraten in der am 11. November 1887 
vor dem gleichen Gerichtshofe purchgeführten Verhandlung 
ben Kläger, ver königliche Rath Lockwood und Mr. Foote 
den Verklagten. Verhanblungsfeiter war der Nichter 
Maniity. 

Nach einigen einleitenden Worten Sir Edward Elarfe’s, 
welche die Verhandlungen eröffneten, wurde zur Ver⸗ 
nehbmung bes Klägers, der als Zeuge aufgerufen wurde, 
gefchritten. 

Der Kläger, Mr. Thomas Morton Eolfon, fagte 
aus: 

„Sch wohne berzeit in London, Nr. 3 Adams» Street, 
Adelphi. Bis vor kurzem war ich Eigenthümer eines 








Mertwürbige Eriminalproceffe aus England. 169 


ausgebehnten Grundbeſitzes in den Grafichaften Dorſet 
und Hants. Zu meinen Befigungen gehörte bie Guts- 
herrſchaft Linkenholt bei Anbover, wofelbft ich meinen 
ftändigen Wohnfig hatte. Im Iahre 1877 nahm ich von 
einem Herrn Phelps ein Hypothekendarlehn in ber Höhe 
von 9000 Pfd. St. (180000 Marf) gegen Verpfänbung 
der Befigung Linkenholt auf. Diefe Hypothekenforderung 
ging im Jahre 1882 durch rechtsgültige Ceffion in das 
Eigenthum der Bankfirma ber Herren R. Williams 
u. Comp. in Dorchefter über, welche mir damals ein 
weiteres hyyothekariſch gefichertes Darlehn in ber Höhe 
von 1000 Pfd. St. (20000 Mark) auf dieſelbe Herrichaft 
gewährten. Auf diefem Gute befanden fich zwei Hänfer, 
das obere und das untere. Das obere bewohnte ich, das 
untere Hatte ih an einen Herrn T. ©. Brown ber- 
miethet, deſſen Miethsvertrag im Monat März 1881 
ablief. Aus dieſem Grunde wurde eine Schätung jener 
ihm gehörigen wanbfeften Hausgeräthe, die er zurücklaſſen 
wollte, vorgenommen und ich erwarb biefelben burch 
Kauf um ben feftgeftellten und vereinbarten Werth am 
22. Sebruar 1881. Zu diefen wandfeften Hausgeräthen 
gehörten zwei abgenugte alte kupferne Keffel. Ich lege 
dem hohen Gerichtähofe den Kaufcontract vor. In dem⸗ 
jelben find die Gegenftände alle genau und einzeln an⸗ 
geführt. Es finden fich darunter aufgezeichnet: «zwei große 
tupferne Branteffelv. Der Kauf geſchah in Bauſch und 
Bogen, daher ift eine Werthbeftimmung für pie Keffel nicht 
beſonders erfichtlich gemacht. Im Iahre 1886 kündigten mir 
die Bankiers das erfte Darlehn von 9000 Pfd. St., und da 
ich es nicht rechtzeitig bezahlen Eonnte, beantragten fie am 
28. Juli 1886 die Berfteigerung des verpfänbeten Grund⸗ 
befiges. Die Bankiers traten mit Heren Charles James 
Radelyffe, meinem gegenwärtigen Proceßgegner, in Ver⸗ 


168 Merkwürdige Eriminalprocefie aus England. 


Die Gefchworenen zogen fich zurüd und entichieben 
nach ziemlich lange dauernder Berathung: 

ad 1. Nein. 

ad 2. Ja. 

ad 3. Rein. 

ad 4. Sie find einem andern Beweggrunde gefolgt. 

Zugleich hatte die Jury über bie zu entrichtenbe Ent- 
Ihäbdigungsfumme fich geeinigt. Sie fprach der Klägerin 
ben Erfat ber früher bezahlten Gerichtsfoften im Betrage 
von 14 Pfo. St. und eine Buße von 50 Pfd. St., zu⸗ 
fammen 64 Pfd. St. (1280 Marf) zu. 

Der Richter Mathew hieß das Urtbeil gut und ver- 
kündete beffen Rechtskraft. 


I. 


Weit weniger harmlos als der vorige erſcheint der 
nachſtehende Fall misbräuchlicher Anwendung ſtrafgeſetz⸗ 
licher Beſtimmungen. 

Der Solicitor⸗General Sir Edward Clarke und 
Mr. Terrell vertraten in der am 11. November 1887 
vor dem gleichen Gerichtshofe durchgeführten Verhandlung 
ben Kläger, ver königliche Rath Lockwood und Mr. Foote 
den Verklagten. Verhandlungsleiter war ber Wichter 
Maniſty. 

Nach einigen einleitenden Worten Sir Edward Clarke's, 
welche die Verhandlungen eröffneten, wurde zur Ver⸗ 
nehmung des Klägers, der als Zeuge aufgerufen wurde, 
geſchritten. 

Der Kläger, Mr. Thomas Morton Colſon, ſagte 
aus: 

„Ich wohne derzeit in London, Nr. 3 Adams⸗Street, 
Adelphi. Bis vor kurzem war ich Eigenthümer eines 











Mertwürbige Eriminalproceffe aus England. 169 


ausgebehnten Grundbeſitzes in den Grafichaften Dorſet 
und Hante. Zu meinen Beflgungen gehörte bie Guts⸗ 
berrichaft Linkenholt bei Andover, woſelbſt ich meinen 
ftändigen Wohnfig hatte. Im Iahre 1877 nahm ich von 
einem Herrn Bhelps ein Hhypothelendarlehn in ber Höhe 
von 9000 Pfr. St. (180000 Mark) gegen Verpfändung 
der Beſitzung Linkenholt auf. Diefe Hypothekenforderung 
ging im Jahre 1882 durch rvechtsgültige Ceffion in das 
Eigentum der Bankfirma der Herren R. Williams 
u. Comp. in Dorchefter über, welche mir damals ein 
weiteres hyyothekariſch geftchertes Darlehn in der Höhe 
von 1000 Pfo. St. (20000 Mark) auf biefelbe Herrichaft 
gewährten. Auf diefem Gute befanven fich zwei Häufer, 
das obere und das untere. Das obere bewohnte ich, das 
untere hatte ich an einen Herrn T. ©. Brown ver- 
miethet, deſſen Miethsvertrag im Monat März 1881 
abtief. Aus diefem Grunde wurde eine Schägung jener 
ihm gehörigen wanbfeften Hausgeräthe, die er zurücklaſſen 
wollte, vorgenommen und ich erwarb biefelben Durch 
Kauf um ven feftgeftellten und vereinbarten Werth am 
22. Februar 1881. Zu dieſen wandfeften Dausgeräthen 
gehörten zwei abgenutte alte kupferne Keſſel. Ich lege 
dem hoben Gerichtöhofe den Raufcontract vor. In dem⸗ 
felben find die Gegenftände alle genau und einzeln an⸗ 
geführt. Es finden ſich Darunter aufgezeichnet: azwei große 
Inpferne Braufefielo. Der Kauf gejchah in Bauſch und 
Bogen, daher tft eine Werthbeftimmung für die Keſſel nicht 
befonders erfichtlich gemacht. Im Iahre 1886 fündigten mir 
bie Bankiers das erfte Darlehn von 9000 Pfd. St., und da 
tch es nicht rechtzeitig bezahlen Tonnte, beantragten fie am 
28. Juli 1886 bie Berfteigerung des verpfändeten Grunb- 
befiges. Die Bankiers traten mit Herrn Charles James 
Radelyffe, meinem gegenwärtigen Procefgegner, in Ver- 


170 Mertwürdige Eriminalproceffe aus England. 


handlung, und obgleich ich dagegen proteftirte, weil mir 
bon anderer Seite, von einem Herm Tyler, ein vor⸗ 
theilhaftes Gebot in Ausficht geftellt worden war, jchloffen 
fie, wozu fie formell berechtigt waren, gegen meinen 
Willen den Kaufvertrag mit Herrn NRabeluffe ab. Ich 
wurde hiervon verftändigt und erhielt am 1. September 
1886 die Aufforderung, das Gut zu räumen. Sch war 
gezwungen, biefer Aufforderung Folge zu leiften, und be- 
gann innerhalb ber gefetlichen Frift die mir gehörigen 
Einrichtungsſtücke wegzufchaffen. Die vorerwähnten Keſſel, 
welche einen Theil meines Eigenthums bildeten, wurben 
gemäß meiner Anorbnung am 3. ‘December aus ihren 
Faflungen genommen und mit andern Einrichtungsftüden 
auf einen Wagen geladen. Ich ertheilte ten Auftrag, 
eine Dede darüber zu breiten, denn es war mir befannt, 
daß Mr. Radcelyffe's Verwalter, ein Mann Namens 
Edwin Jones, auf der Lauer lag, um mir Schwierig 
feiten zu bereiten, und ich hatte feine Luft, mit biefem 
ungebilveten Menfchen mich in Auseinanberjegungen ein- 
zulaffen. Der Wagen ftand übrigens im vollbelavenen 
Zuftande noch etwa zwei Stunden lang vor ber Thür 
meines Haufes und wurbe bann nach Upton gefahren, 
wofeldft ich Räumlichkeiten gemiethet Hatte, um bie Suchen 
unterzubringen. DieRäumung dauerte bi8 zum 7. December, 
an welchem Zage ich mich felbft nach Upton verfügte, um 
mich von der Unterbringung meiner Einrichtungsftüde per⸗ 
ſönlich zu überzeugen. Zwiſchen 6 und 7 Uhr abends jenes 
Tages wurde ich vor die Thür des Haufes gerufen, das ich 
bort gemiethet hatte, und da ich dem Rufe ahnungslos folgte, 
ſah ich mich unerwarteterweife von einem Oberbeamten 
der Polizei und vier Eonftablern umringt. ‘Der Ober- 
beamte wies mir einen fchriftlichen Verhaftsbefehl vor. 
Sch unterbreite eine Abfchrift des Verhaftsbefehls dem 














Mertwürbige Eriminalproceffe aus England. 171 


hoben Gerichtähofe. Aus demſelben ift erfichtlich, daß ich 
beſchuldigt wurde, ich hätte «einen kupfernen Keſſel im 
Werthe von 10 Sh. (ebenfo viel Mark), Eigenthum des 
Charles James Rabclyffe, geftohlen». Gleichzeitig wurde 
mir ein Befehl zur Vornahme einer Hausiuchung vor- 
gewieſen. Ausgeſtellt waren biefe friebensrichterlichen 
Decrete auf Grund der beichworenen Anzeige eines ge- 
willen Newport. Charles Newport ift der Name eines 
Tagelöhners, ber feit beiläufig acht Jahren in meinen 
Dienften gearbeitet hatte unb ber auch bei der Räumung 
und Wegichaffung der Einrichtungsitüde mit beichäftigt 
worben war. Dean führte mich in einem offenen Karren 
während eines Schneefturmes, volle fieben (englifche) Mei⸗ 
len weit, nach) Anbover. Dan gejtattete mir nicht, über 
Lintenbolt zu fahren, um mir andere, trodene Kleider 
mitzunehmen. Bei der Ankunft im Polizeicommiſſariat, 
bie natürlicherweiſe zu vorgerückter Stunde erfolgte, fperrte 
man mich in eine Gefängnißzelle. Sch wurbe genöthigt, 
auf einer hölzernen Bank zu übernachten. Am nächiten 
Morgen wurde ich vor den Frievensrichter geführt, um 
mich gegenüber ver Beichuldigung, einen Keffel im Werthe 
von 10 Sh. geftohlen zu haben, zu rechtfertigen. Sch 
fühlte mich unwohl und nicht in der DVerfaffung, eine 
Gerichtsverhandlung durchzuführen. Ich verlangte daher 
eine Vertagung und bot eine Caution in irgendwelcher 
raiſonablen Höhe an. Allein dieſes Verlangen wurde 
von dem Friedensrichter, Oberſt Earle, zurückgewieſen. 
Für die Gegenſeite war ein Rechtsanwalt, ein Mr. Hur- 
table, erſchienen. Er gab zu Protokoll, der Verhafts⸗ 
befehl ſei erwirft worden, um mich zu zwingen, ben 
fupfernen Keffel zurüdzuftellen, unb bot mir an, von ber 
Klage zurüdzutreten, wenn ich mich Dazu verfiehen wolle. 
Das wäre ein Eingeftändniß meines Unrechts, ein Auf- 





172 Mertwärbige Eriminalproceffe aus Englanb. 


geben meines Rechteftanppunttes geweſen. Ich weigerte 
mich alfo. Die Verhandlung wurde fortgefett. Im Laufe 
berfelben beantragte Mr. Hurtable deren Bertagung, um 
durch Zeugen ben Nachweis erbringen zu fönnen, ich 
hätte auch einen Herdroſt geftohlen! ‘Der Briebensrichter 
ging auf dieſes Begehren nicht ein, führte die Verhant- 
fung zu Ende und fällte auf Grund der Umftände einen 
Freiſpruch. Ich begab mich fofort direct nach Haufe und 
legte mich zu Bett, denn ich fühlte mich recht elend. Cs 
war bie Donnerstag, und als ich am Sonntag barauf 
aufzuftehen verfuchte, befam ich einen Ohnmachtsanfall, 
fodaß ich in ven offenen Kamin ftürzte. Ich mußte bis 
zum nächiten Sreitag, ben 16. December, das Bett hüten. 
Ich bin eine in Dorfetffire und Hampfhire weit und 
breit befannte Perfönfichfeit. Meine Familie ift dajelbit 
jeit Jahrhunderten anfäffig und begütert gewefen. Wieder⸗ 
holte Misernten und der Rückgang im Werte von 
Grund und Boden hatten mich in eine misliche Lage ge⸗ 
bracht, ſodaß ich das Geld zur Zahlung meiner Hypothek⸗ 
ſchuld nicht aufbringen konnte. Deshalb verlor ich mein 
Dermögen und mußte meinen Grunpbefig abtreten. Ich 
babe nun in Adams-Street, Adelphi, ein Hötel-garni er- 
richtet und Hoffe durch den Zufpruch meiner vielen Be⸗ 
kannten und engern Landsleute ein gutes Gefchäft zu 
machen. Zwei Sabre fchon, ehe bie vorgeſchilderte Ver⸗ 
baftung erfolgte, Tränfelte ich ein wenig, allein ſeitdem 
ift meine Geſundheit ernftlich erfchüttert und mein Zu— 
ftand ein derartiger, daß ich zeitweilig mein Geſchäft nicht 
perjehen kann.” 

Mr. Lockwood unterzieht den Zeugen einem längern 
Kreuzverhör, das ſich vornehmlich um den Umftanb brebt, 
weshalb Eoljon fo lange mit der Räumung gezögert Habe, 
ferner über das Eigenthumsrecht an ven wandfeften Haus- 


Mertwürbige Eriminalproceije aus England. 173 


geräthen und bie Wegichaffung fich verbreitet. ‘Der Zeuge 
bebarrt bei der Angabe, er habe hiervon nicht mehr weg⸗ 
ſchaffen laſſen als eben jene Stüde, die er gemäß dem 
vorgelegten Vertrage nach der erfolgten Verpfändung des 
Gutes käuflich erworben habe, und bie er als fein freies 
Eigentbum anzusprechen berechtigt geweſen fei. 

Nachdem dieſes Kreuzverhör eine Weile gedauert hatte, 
unterbricht der Richter dafjelbe mit der Bemerkung, er 
ſehe nicht ein, was dieſe rein civilrechtliche Frage mit dem 
Ausgange des vorliegenden Proceffes zu thun habe. 

Dir. Lockwood replicirt, fein Zweck ſei nicht ber, bie 
Berantwortlichleit des Herrn Rabelyffe für das Vorge⸗ 
fallene in Abrebe zu ftellen, feine Abſicht gehe nur dahin, 
Har zu machen, in welcher chicandfen Weile der nun⸗ 
mehrige Kläger vorgegangen fei und in welchen ruinen« 
artigen Zujtand er das Haus verjeßt habe, ehe er es 
verließ. 

Richter Maniſty. Angenommen felbft dies wäre fo, 
fo bätte Herr Radelyffe Doch immer nur einen civilvecht- 
lichen Anfpruch erheben können. Es gebt daraus nicht 
das Necht hervor, einen unbeſcholtenen Mann eines DVer- 
brechens zu beinzichtigen.. Ich mache Sie aufmerkſam, 
daß eine folche Vertheidigungsweije leicht zu Ihrem Nach- 
theil ausgelegt werben kann. 

Dir. Lockwood. Ich füge mich der Autorität Sr. 
Lordichaft und verzichte darauf, weitere Fragen an ben 
Kläger zu richten. 

Ein Zeitungsbericht über die Verhandlung vor dem 
Friedensrichter wird ſodann zur Verlefung gebracht. Der⸗ 
jelbe ftimmt in allen wejentlichen Punkten mit den An- 
gaben bes Klägers überein. 

Charles Newport, als Zeuge vernommen, gibt an: 

„Ich habe die Anzeige erjtattet, weil Mir. Jones mich 


174 Merkwürdige Eriminalproceffe aus Englanb. 


beauftragt bat e& zu thun. Ich wußte nicht, daß ich 
Mr. Colſon dadurch eines Diebſtahls beſchuldige. Ich 
gab eben nur an was ich wußte, nämlich, daß die Keſſel 
ausgeldjt, verladen und weggeführt wurden.“ 

Die Ausfage, die Newport vor bem Friedensrichter 
abgegeben hat, wird ihm vorgelefen. Da er wicht fchrei- 
ben kann, hat er fie mit brei Kreuzen unterfertigt. Im 
berjelben ift die ausdrückliche Angabe enthalten, daß Mer. 
Colſon bie Keſſel geftohlen habe. Newport behauptet num, 
daß er fich nicht erinnern könne, dies befchworen zu haben, 
aber ins Kreuzverhör genommen, gefteht er enblich zu, 
Mr. Iones habe ihm gefagt, er müfje es beſchwören, daß 
Mr. Eolfon die Keffel geftohlen hätte, unb baß er es 
barum auch fo angegeben unb beeibet habe. 

Mr. Lockwood erklärt, er babe urſprünglich beab- 
fichtigt, verfchtevene Entlaftungszengen vorzuführen; allein 
nad) ber leßtabgegebenen Zeugenausſage wolle er es babei 
bewenben lafien, blos Mr. Sones zu verhören, unb wolle 
jodann fein Platvoper an die Gefchivorenen richten. 

Edwin Jones wirb zur Zeugenfchaft vorgerufen und 
jagt aus: 

„Ein Conftabler Hatte mir die Mittheilung Hinter- 
bracht, daß Newport bei der Räumung und Wegichaffung 
ber Hausgeräthe von Per. Eolfon befchäftigt geweſen jei. 
Darum beauftragte ich gerade ihn, er möge nach Ans 
bover gehen und dort bei der Polizeibebörbe die Anzeige 
erjtatten. Ich hatte nämlich einen Brief von dem Nechte- 
anwalt des Herrn Radelyffe, von Wer. Hurtable, erhalten, 
ber eine jolche Anzeige für erforberlich bezeichnete. Ich habe 
Newport durchaus nicht inftruirt, etwas anderes auszu⸗ 
jagen, als was der Wahrheit entfpricht. Ich bin übrigens 
perfönlich nicht dabei geweſen, wie Newport feine Ausſage 
zu Protofolf gegeben hat.” 


a \ 


Mertwürbige Eriminalproceife aus England. 175 


Ins Kreuzverhör genommen, fügt der Zeuge hinzu: 

„Ich ſelbſt bemerkte bie Keffel, als fie auf ven Wagen 
geladen worden waren. Ich hatte ſchon einige Zeit zu- 
vor eine Unterhaltung mit Frau Colfon gehabt, im Laufe 
welcher dieſe mir fagte, jenes wandfeſte Hausgeräth ei 
Eigenthum ihres Mannes geblieben. Mit dem Kläger 
perfönlich habe ich 5i8 zum 7. December über bie An⸗ 
gelegenheit nicht geſprochen.“ 

Hierauf wird ein Telegramm zur Verlefung gebracht, 
das Jones am 6. December an Mr. Radelyffe gerichtet 
bat. Daſſelbe lautet: 

„Keſſel Heute Nacht weggeführt. Polizei kann ohne 
Berhaftsbefehl nicht einfchreiten. Keine Zeit barf ver- 
foren werben.” 

Der Richter Manifty verlangt kraft feiner biscretio- 
nären Gewalt noch die Vernehmung eines andern an⸗ 
wejenden Zeugen, nämlich des Herrn Pearce, Schreiber 
bei ber Anwaltsfirma:; Andrews, Son u. Hurtable 
in Dorchefter, jener Rechtsanwälte, welche das Verfahren 
vor dem Friedensrichter eingeleitet hatten. Pearce jagt 
im wefentlichen Folgendes: 

„Es ift mir befannt, daß Herr NRabelyffe am 6. De⸗ 
cember, als er das vorliegende Telegramm von ones 
erhalten hatte, fich fofort brieflich an Herrn Thornton, 
einen ber Gefellichafter der Bankfirma R. Williams u. 
Comp. in Dorchefter, wandte, das Telegramm beifchloß 
und ihn aufmerkfam machte, dag die Bankfirma ihm für 
das wanbfefte Hausgeräth haftungsverpflichtet fei und für 
baffelbe aufzufommen babe. Die harakteriftiichen Stellen 
des Briefes lauten: «... Ich erwarte, daß Sie fofort 
die Polizei zum Einfchreiten veranlaffen werben.... Der 
Polizetleiter von Andover wird gewiß allen Ihren Wün⸗ 
chen fchleunigft Rechnung tragen... .» Herr Zhornton, 





176 Merkwürdige Criminalproceijfe aus England. 


ber dieſen Brief an unfere Kanzlei ſandte, erwiberte den⸗ 
jelben umgehend und fchrieb an Mr. Rabelyffe, er habe 
fih fofort mit feinem Rechtsanwalt, Mr. Andrews, ins 
Einvernehmen gejett, damit dieſer alle erforberlichen 
Schritte veranlaffe, «jedochy, fo ſchrieb er wörtlich, «er 
muß in Ihrem Namen die Anzeige eritatten, benn das 
Gut ift an Sie, Mr. Rapcluffe, verfauft und nicht mehr 
unfer Eigentbum». — Ich bin von meinen Chefd beauf- 
tragt worden, mich fogleich nach Anbover zu begeben, und 
traf dort in einem Wirthshauſe mit Jones, Newport und 
noch einem Manne, auch einem gewöhnlichen Arbeiter, 
zuſammen. Die lettern beiden waren bei der Wegichaf- 
fung der Einrichtungsftüde des Der. Eoljon beichäftigt 
gewefen. Ich vernahm beide, und dba Newport's Aus⸗ 
jagen becibirter lauteten, ging ich mit ihm zur Polizei, 
veranlaßte vie PBrotofollirung feiner Anzeige, bie er be 
eibete, und begehrte die Ausfertigung des Verhaftsbefehls, 
die anſtandslos erfolgte,” 

Mr. Lockwood wendete ſich nunmehr an bie Ge— 
ſchworenen. Er gibt zu, daß ein Misverſtändniß obge⸗ 
waltet habe, und daß Herrn Radelyffe hierfür die Ver⸗ 
antwortlichkeit treffe. Er ſei darum darauf gefaßt, daß 
derſelbe zum Erſatz des Schadens verurtheilt werde, und 
plaidirt nur dafür, bie Summe mit Rückſicht auf bie be⸗ 
jondere Natur des alles möglichſt gering zu bemeſſen. 

Der Solicttor-General replicirt. 

Der Richter Maniſth refumirt den Sachverhalt in 
klarer Auseinanberfegung. Dieſe gipfelt in den Schluß- 
worten: „Diefer Ball befitt eine ganz ungewöhnliche 
Tragweite und erbeifcht, ganz abgefehen von ven Mis⸗ 
helfigleiten, die Herrn Colſon betroffen haben, um 
feiner principiellen Bedeutung willen eine Sühne. Es 
tt feine blos individuelle Angelegenheit des Klägers; an 











Merkwürdige Eriminalproceffe aus England. 177 


diejen Tall knüpft fich die Beantwortung einer öffentlich“ 
rechtlichen Frage. Das ftrafrechtliche Proceßverfahren iſt 
in der misbräuchlichiten Weife dazu angewenbet worden, 
um eine rein privatrechtliche Streitfrage des Mein und 
Dein, nicht etwa auszutragen, fonvern zu vergewaltigen. 
Dies iſt aber von der einschneidenpften Wichtigkeit für die 
Öffentliche Nechtsficherheit. Wenn jemand, ber fich in 
einer vermögensrechtlichen Streitfrage benachtheiligt glaubt, 
ohne weiteres fich berechtigt erachten bürfte, feine An⸗ 
ſprüche auf ftrafrechtlichem Wege geltend zu machen und 
das Einfchreiten der Eriminalpolizei zu:provociren, jo iſt 
es nur recht und billig, daß ihm die Unzuläffigfeit jeines 
Vergehens Har zum Bewußtjein gebracht werde. Es thut 
mir leid es ausfprechen zu müffen, aber ichgjage ed nach 
fühler, veiflicher Ueberlegung, daß ich auch nicht einen 
einzigen Umſtand entdedfen und hervorheben kann, ber 
das Vorgehen des Dir. Radelyffe auch nur entjchulpigen, 
gejchweige denn rechtfertigen könnte. Dieſes Vorgehen ift 
von ber Vertheidigung als Folge eines Misverſtändniſſes 
bingeftellt worden, es thut mir leid, ich muß jes aber 
gerabezu einen Misbrauch und ein bewußtes Unrecht 
nennen, welches begangen worden ift. Ich jage geradezu: 
alle an der Angelegenheit betheiligten Perjonengverbienen 
ven jchärfften Zabel. Mer. Hurtable, ber juriſtiſche Bei⸗ 
jtand Radelyffe's, der das Verfahren einleitete, ijt bei der 
heutigen Verhandlung nicht vernommen worben, und es 
wäre daher immerhin möglich, daß er etwas hätte vor⸗ 
bringen können, was feine Antheilnahme in etwas bejjerm 
Lichte ericheinen ließe; allein ich kann nicht erntlich genug 
betonen, daß rechtöfundige Perfonen, pie fich bereit finden 
laſſen, Streitfachen ihrer Parteien, welche ihrer Natur 
nach vor ein civilgerichtliches Forum gehören, in jtraf- 
proceffualer Form auszutragen, und fich jo zum Sprachrohr 
XXI. 12 








178 Mertwürbige Eriminalproceffe aus England. 


häßlicher Verfolgungsfucht erniebrigen, fich einer ſchwer⸗ 
wiegenben Verantwortlichkeit ausjegen und zu perfönlicher 
Haftung herangezogen werben fünnen. Wie dem auch 
fein möge, Mr. Hurtable ift Hier nicht gehört Worben, 
und vielleicht, ich will es zu feiner Ehre hoffen, hätte er 
fich rechtfertigen können. Die feftgeftellten Thatjachen ber 
Anklage haben e8 jevem Zweifel entrüdt, daß Dir. Rad⸗ 
clyffe wußte, Mer. Eolfon ſpreche das Eigenthumsrecht 
ber fupfernen Keffel an, und darum ſchon erſcheint das von 
ihm eingejchlagene Verfahren unbegreiflih. Es muß doch 
vorausgeſetzt werden, daß Rechtsanwälte auch rechtslundig 
ſind und den Unterſchied zwiſchen privatrechtlichem und 
ſtrafrechtlichem Verfahren zu erfaſſen verſtehen; dennoch 
haben fie ſich dazu hergegeben, einen Verhaftsbefehl aus⸗ 
zuwirken, um die Rückſtellung dieſer geringwerthigen Ein⸗ 
richtungsſtücke zu erzwingen. Am Verhandlungstage wollte 
der klägeriſche Rechtsanwalt ſogar eine Vertagung durch— 
ſetzen, um durch neue Zeugen die Beſeitigung eines Herd⸗ 
roſtes nachzuweiſen! Dieſes Vorgehen tft ſtandalss. Auch 
das Vorgehen des Friedensrichters iſt ein überaus leicht⸗ 
fertiges geweſen. Es iſt unbegreiflich, wie er ſich dazu 
verſtehen konnte, blos auf die unbegründete Anzeige des 
Newport geſtützt, einen Verhaftsbefehl auszuſtellen. Es 
war ungehörig. Der Friedensrichter Oberſt Earle iſt 
mir weiter nicht bekannt, allein ich hoffe, daß es in der 
Grafſchaft nicht viele ſolche Friedensrichter gibt, die das 
ihnen übertragene wichtige Vertrauensamt fo leicht neh 
men, baß fie ohne zu zögern einen Verhaftsbefehl wider 
eine befannte, angejehene Perjönlichkeit auf Grund einer 
jo unbeſtimmten, ſchwankenden Ausfage eines Taglöhners, 
li ihreiben noch leſen kann und der jelbft be 
He geweſen war, bie incriminirte Handlung der Weg⸗ 

g angeblich geftohlenen Gutes zu begehen, erlaffen 








Merkwürdige Eriminalprocefje aus England. 179 


werben. Ich fehe mich genötbigt, ausdrücklich das Zu⸗ 
ſammenwirken aller dieſer Perjönlichkeiten, welche bie Bes 
ftimmung haben, bie Öffentliche Rechtsordnung zu ſchützen, 
zu einer Rechtsverlekung auf Das entſchiedenſte zu rügen. 
Ich Hoffe Oberft Earle wird durch die Ergebniffe biefer 
Verhandlung belehrt, in Zukunft vorfichtiger in der Aus⸗ 
übung der von ihm übernommenen Pflichten werben. 
Was die Verhaftung feldft anbelangt, jo muß ich wegen 
der Art ver Ausführung derſelben meinen Tadel auch auf 
die Localpolizei ausdehnen. Sie wußte, mit wem fie zu 
thun hatte, und fchritt doch in fo rückſichtsloſer, ja roher 
Art ein. Einen Mann wie Mr. Eoljon wie einen land» 
flüchtigen, eingefangenen Verbrecher des Nachts zu fallen 
und in ber angegebenen Weife, bei rauheſtem Schnees 
wetter in offenem Karren fieben Meilen weit zu trans 
portiren ohne ihm zu erlauben, für Kleiderwechſel zu 
forgen, zeugt von einer vollkommenen Verfennung ber 
Aufgabe der Verwahrungshaft, die überhaupt nur in 
bringenden Fällen zuläfftg fein follte. Was gar bie Ver⸗ 
weigerung der angebotenen Bürgfchaftsftellung anbelangt, 
fo tft fie geradezu haarſträubend und ich erwarte beftimmt, 
daß Oberſt Earle fich nie wieder einer ſolchen Anwendung 
feiner vdiscretionären Gewalt fchuldig machen wird. Es 
ift Dies in einem Falle gefchehen, in dem feine Zeugen 
bem Beſchuldigten gegenüberftanden, in bem ein Rechts⸗ 
anwalt nur für vie Anklage anweſend war, und dieſe ſelbſt 
ſtützte ſich einzig und allein auf die Anzeige eines halb⸗ 
unzurechnungsfähigen Tagwerkers! — Was die Behand» 
lung des Derhafteten im Gefängniffe ambelangt, das 
harte Lager, mit dem er fürliebnehmen mußte, jo war 
dies unwürdig. Dan darf in folcher Weife nur über- 
wiefenen, vichterlich verurtheilten Verbrechern begegnen, 
nicht verbächtigten Berfonen, deren Unſchuld am nächiten 
12* 


180 Merkwürdige Criminalproceſſe aus England. 


Morgen an ben Tag kommen kann. Freilich kann dafür 
gerechterweifer die Polizet allein nicht verantwortlich ge⸗ 
macht werben, ba fie nach ihrer gewohnten Norm han⸗ 
delte. Es iſt eben das ganze Syſtem verwerflid. Im 
einem alle, in dem das Object des Verfahrens nicht 
barin beitand, bie geftörte äffentliche Nechtsficherbeit zu 
jühnen, fondern der Zwed darauf ausging, die Rückgabe 
eines alten Einrichtungsftüdes, eines ſchadhaften Keſſels, 
ben ber Kläger felbjt nur mit 10 Shilling ſchätzt, zu er- 
zwingen, hätte eine VBerbaftung überhaupt nicht bewilligt 
werben dürfen. Es ift überrafchend und traurig, daß 
jih ein Friebensrichter finden konnte, ver fich bewegen 
ließ, zu einer berartigen Maßregel feine Hand zu bieten. 
Sch fpreche dieſe Worte in vollem Bemußtfein ihres Ge- 
wichte® nach ruhiger Ueberlegung aus, denn ich wünſche, 
baß fie vernommen und an geeigneter Stelle beberzigt 
werben. Schließlich kann ich die Gejchworenen nur auf- 
fordern, wenn auch mit veifer Objecttvität und Mäßigung, 
boch energijch vorzugehen und einen ausgiebigen Schapen- 
erjag zu votiren. Die von ihnen beftimmte Summe joll 
eben eine wirkliche, feine blos nominelle Buße bilden.” 

Die Gefchworenen beriethen nur wenige Minuten. 
Ihr Verdict lautete 1000 Pfr. St. (glei 20000 Mark) 
Schadenerſatz. 

Der Richter verkündete demgemäß das formelle 
Urtheil. 

Der Vertreter des Verurtheilten appellirte an den 
Richter und bat um Siſtirung der Execution wegen über⸗ 
mäßiger Höhe des Betrags. 

Se. Lordſchaft erwiderte, daß nach ſeiner Anſicht 
die Summe in gerechter Berückſichtigung der Umſtände 
bemeſſen ſei, und daß er nicht erſtaunt geweſen wäre, 
wenn die Geſchworenen ſogar einen noch höhern Betrag 


Merkwürdige Eriminalproceife aus England. 181 


angejegt hätten. Er wies die Berufung zurüd und hielt 
das Urtheil vollinhaltlich aufrecht. 





Die Aneinanverreihung dieſer beiden Gerichtsfälle er- 
ſcheint uns ſehr lehrreih. Im beiden ift gleichmäßig das 
Princip anerkannt, daß, wenn auf Grund ber Anzeige 
einer Partei die ungerechtfertigte und unnöthige Freiheitd- 
entziehung einer Perſon, jet e8 auch nur auf einige Stun- 
ben, erfolgt, diefe Partei hierfür die Verantwortlichkeit 
trägt und zu einer Gelbbuße zu Gunften bes Betroffenen 
heranzuziehen tft. Der Urtheilsſpruch individualiſirt hier» 
bei auf das genauefte und weiß mit Sicherheit zwiſchen 
einem blos culpojen und einem bolofen Vorgehen zu unter- 
icheiven. Während die Buße in dem erften Falle fich 
auf eine Summe befchränft, die auch nach continentalen 
Begriffen angemeffen erfcheint, ift piefelbe in dem zweiten 
Valle in einer Höhe ausgeworfen, die unfere Strafgeſetz⸗ 
bücher gar nicht kennen. Es zeigt ſich barin bie gute 
Seite ver englifchen Gerechtigfeitspflege, die bem Richter 
einen jo ungemefjenen Spielraum geitattet. 

Die Urtbeile find derart ausgefallen, daß fie dem 
gefunden Menfchenverftande ber Geſchworenen alle Ehre 
machen. Freilich waren dieſe von dem Nefume des Rich- 
ters nicht wenig beeinflußt. Wir können bie Urtheile von 
unferm Standpunkte aus nur billigen und bebauern, daß 
unjere Strafproceßorbnungen nicht die Handhabe zu 
gleichem Vorgehen bieten. 


182 Mertwürdige Eriminalproceife aus Englanb. 


2. Nothzucht. 
Lonbon. 1887. 


Der „Pall-Mall Grazette” gebührt das VBerbienft, durch 
eine Artilelferie, die fie im Jahre 1885 veröffentlichte, 
die Aufmerkſamkeit der engliichen Geſetzgebung auf bie 
fittlich entfeglich verwahrloften Zuftände Londons hinge- 
lenkt zu haben, daß eine erſchreckend große Anzahl dunkler 
Eriftenzen ihren Erwerb darauf gründeten, ganz berufs- 
mäßig junge Mädchen, Kinder, zumeijt im Alter von 
12 bis 14 Jahren, in die Arme gewifienlofer Wüſtlinge 
zu führen. Der Herausgeber des Blattes, Mir. Stead, 
wies eine Reihe concreter Fälle nach und bewirkte auch 
wirflich eine Reform des Geſetzes, welches bis dahin nur 
ben Beiſchlaf mit Kindern unter 12 Lebensjahren für 
ftrafbar erklärt hatte. Um Beweiſe zu fammeln, war Der. 
Stead mit einer Reihe von Kupplern beiderlei Gejchlechts 
in Verbindung getreten, und büßte, charakteriftiich genug, 
jein muthoolles Vorbringen mit einer Anklage, welche ihn 
wegen eben bes Verbrechens, das zu befämpfen er fich 
zur Aufgabe geftellt hatte, vor das Polizeigericht führte. 
Schließlich triumphirte jedoch die gerechte Sade. Die 
Entrüftung, deren ſich infolge der Enthüllungen bes 
Blattes der englifchen Gefellichaft bemächtigt hatte, ſchoß 
aber über das Ziel hinaus. Das neugejchaffene Geſetz 
begnügte fich nicht damit, ven wirklich vorgefallenen Mis⸗ 
bräuchen entgegenzutreten, es ſetzte bie Fritifche Alters⸗ 
grenze auf das vollendete 16. Lebensjahr feft und öffnete 
dadurch einer Reihe zumeift gegen abnungslofe Fremde 
gerichteter Erprefiungen Thür und Thor. 

Ein Beifpiel für viele. 








Merkwürdige Eriminalprocefje ans England. 183 


Ein vierzigjähriger Holländer, des Namens Nader 
Holmen, der auf einer Bergnügungsreife pie Millionenſtadt 
befucht hatte, erfchien am 18. September 1887 als Ans 
geflagter vor den Schranken des Schwurgerichts unter 
der Beſchuldigung, durch den fleifchlichen Verkehr mit 
einem jungen Mädchen unter 16 Iahren pas Geſetz jchwer 
verlegt zu haben. 

Die ald Zeugin vorgeladene angeblich Beſchädigte war 
in ber That erft 15 Sabre und 3 Monate alt. Ihrem 
Ausſehen und ihrem Weſen zufolge jedoch konnte man fie 
ficherlih 18 Jahre alt glauben. Das Kreuzverhör ergab, 
daß fie ſeit längerm fchon das Gewerbe einer „Unglüd- 
lichen“, das beißt einer Proftituirten, betrieb. Nader Holmen 
batte fein „Opfer“ zu vorgerüdter Nachtjtunbe auf ber 
Straße angetroffen. Sie hatte ihn angefprochen und er 
war ihrer Einladung in ein verrufene® Haus gefolgt. 
Zwiſchen dem „Verführer“ und ber Dirme entipann fich, 
wahrjcheinlich wegen ber Höhe des Schanblohnes, ein 
Streit. Polizei war nahe zur Hand und intervenirte. 
Die Vernehmung vor dem Polizeigericht ergab das Alter 
bes Mädchens, und bie That qualificirte fich als ein Ver⸗ 
brechen. Der Holländer, ver fich nur unbebolfen in ver 
engliichen Sprache auszudrücken vermochte, wurde fofort 
in Haft behalten und mit anerfennenswertber Beſchleu⸗ 
nigung unter ber Anklage, fich gegen das Geſetz, das bie 
Unſchuld fchügen wollte, vergangen zu haben, vor bie 
Geſchworenen geftellt. 

Während nun mit Rüdficht auf die Mar geftellten, 
thatfächliden Umftände die Dirme als die eigentliche 
Schuldige zu betrachten wäre, da fie den mit bem eng⸗ 
liſchen Gefete nicht vertrauten arglojen Ausländer in bie 
Falle gelockt Hatte, mußte dem Wortlaute bes Geſetzes zu 
Liebe der Mann als Beſchuldigter erfcheinen, und bie 


184 Merkwürdige Eriminalproceije aus England. 


Verhandlung wurde von Amts wegen gegen ihn burd- 
geführt. 

Die Geſchworenen erklärten einftimmig Nader Hol⸗ 
men ber Nothzucht ſchuldig. Das Urtheil des Richters 
lautete auf drei Monate Kerkerhaft mit harter Arbeit, alſo 
auf Zuchthausſtrafe. Wol ermangelte der Richter nicht, 
bei der Urtheilsverkündigung hervorzuheben, daß dieſe 
Verurtheilung im Hinblid auf die Umſtände beſonders 
hart erjcheinen müfje; ‚allein‘, fo äußert er fich, „es 
fönne nicht zuläffig fein, einem kaum in Kraft getretenen 
Geſetze den Gehorfam zu verweigern“, das Geſetz Habe 
feinen Lauf! Obgleich die „Beſchädigte“ fchon ſeit ge 
raumer Zeit das Gewerbe einer Proftituirten betrieben 
hatte, wurde bennoch das Gefeß, das zum Schuge von 
Jungfrauen gegen gewiſſenloſe Verführer erlaffen ift, mit 
voller Schärfe zu Gunften einer feilen Dirne angewendet, 
der Wortlaut verlangte e8, er forberte fein Opfer — 
summum jus, summa injuria! 

Die Straßen Londons wimmeln von jolchen verlorenen 
Geichöpfen. Wer vermag es, ihr Alter genau zu erfennen ? 
ehe dem Fremen, ber ich leichtjinnig verloden Täßt. 
Er Tann leicht für feinen Fehltritt in das Zuchthaus 
wandern oder auch einer Gaunerin in die Hände fallen, 
bie fich ihm preisgibt, um ihn dann mit einer Criminal⸗ 
unterfuchung zu bedrohen und ihm ein Vermögen abzu- 
preſſen. 





Mertwürbige Eriminalproceffe aus England. 185 


3. Bigamie. 


1. 
York. 1887. 


Am 9. November 1887 ftand Wilfon Heywood vor 
ben Aififfen in York, des Verbrechens ber zweifachen 
Ehe angellagt. 

Mr. Milvain vertrat die Anklage, Mr. Keriham 
hatte die Vertheibigung übernommen. 

Die Anklage ftütte fich auf nachftehenden Sachverhalt. 

Heywood hbeirathete das erite mal im Jahre 1859. 
Nach einem Jahre ver Ehe wurde feine Frau lieberlich 
und verließ ihn. Er vergab ihr und nahın fie wieber zu 
fih. Diefer Vorgang wiederholte fich einigemal. Endlich 
weigerte fie fich in fein Haus zurücdzufehren. Sie lebte 
mit andern Männern und hatte Kinder von ihnen. Im 
Monat Mai 1862 nahm Heywood Handgeld und ließ 
fih für ein in Indien ftationirtes Regiment anwerben. 
Er bot feiner Frau nochmals Verzeihung an und erllärte 
ſich bereit, fie in feine Garnifon mitzunehmen. Sie ſchlug 
fein Anerbieten aus. Im SHerbite 1873 lehrte er nach 
England zurüd, fuchte fie auf und offertrte ihr abermals 
fie aufzunehmen. Wieder vergeblih. Er trat nunmehr 
in ein in Gibraltar garnifonirendes Negiment. Sie reichte 
bei dem zuftändigen Milttärgericht eine Klage auf Ali- 
mentation ein, wurde aber natürlicherweife abgewieſen. 
Im Jahre 1884 machte Heywood einen legten Ver⸗ 
föhnungsverfuh, aber wiederum ohne Erfolg. Endlich 
fümmerte er fich befinitio nicht mehr um feine Fran und 
erhielt auch Feine Kunde mehr von ihr, fobaß er gar 
nicht wußte, ob fie noch am Leben war oder nicht. An⸗ 





186 Merkwürdige Eriminalproceffe aus Englanb. 


fang 1886 beabfichtigte er eine neue Ehe einzugeben, 
machte aber biefe feine Abſicht vorfichtigerweile in ben 
Localzeitungen befannt, um von feiner Frau etwaige 
Nachrichten zu erhalten. Die letztere fümmerte fich nicht 
barum und gab Fein Lebenszeichen von ſich. Nun glaubte 
er, auf fie feine Rückficht mehr nehmen zu müfjen, und 
hetrathete am 24. März; 1886 zu Huddersfield ein Frans 
lein Booker, die er von all biefen Umftänben in Kennt- 
niß gefeßt hatte. Dieſe zweite Ehe war ſehr glüdlic. 
Am 28. Juli 1887 fchrieb feine erfte Frau, pie von ber 
Verheirathung ihres Mannes Kenntniß erlangt Hatte, 
einen Brief an Miß Booker. Sie eröffnete ihr darin, 
fie werde Heywood mit aller Strenge des Gejekes ver- 
folgen, wenn — Miß Booker nicht mit ihr oder ihrem 
Anwalte eine pecuntäre Abmachung träfe. Der Brief 
wurbe nicht beantwortet. Darauf bin erftattete fie wirfs 
lih die Anzeige wegen erfolgter Bigamie. ‘Der Ober 
eonftabler in Huddersfield, an ben fle fich wendete, Lehnte 
e8 ab die Klage zu vertreten, und fie erfchien deshalb 
perfönlich als Klägerin. Vor die Affiffen verwiejen, gab 
Heywood ohne Zögern alle die Thatfachen zu, und ber 
Richter verurtheilte ihn zu einer Woche einfachen Arreftes. 


II 
London. 1888. 


Laura Smith war ver Bigamte angeflagt. 

Dr. B. Taylor und Mr. Forreft Fulton vertraten 
bie Anklage, Mr. Hutton bie Vertheibigung. 

Die Beſchuldigte, derzeit 40 Jahre alt, hatte vor 
etwas mehr als acht Iahren, am Nenjahrstage 1880, 
einen Eonftabler Namens Batten geehelicht. Diefer Mann 


Mertwürbige Eriminalprocejfe aus England. 187 


wurbe wegen grober Verbrechen und Amtsmisbrauch kurze 
Zeit danach zu fünf Sahren Zuchthaus verurtbeilt. Im 
Kerker benabm er ſich gut und wurbe, nachdem er zwei 
Fünftel feiner Strafzeit verbüßt hatte, begnabigt. Er Tehrte 
zu feiner Fran zurüd, benahm fich ihr gegenüber jedoch jo 
roh und gewaltthätig, daß fie den Schuß ver Polizei an- 
rufen mußte, der ihr auch zutheil wurde. Darauf bin 
wanderte Patter nach Amerika aus und man vernahm 
nichts mehr von ihm. Im Monat Suli 1887 ging Frau 
Patten eine neue Ehe mit Henry Smith ein. Der 
Bater Patten’s, welcher ihr grollte, erftattete die Anzeige 
wegen bes vollbrachten Verbrechens der zweifachen Ehe 
und veranlaßte ihre Verfolgung. 

Die Beſchuldigte gab das Thatſächliche unumwunden 
zu und machte nur geltend, daß ihr zweiter Gatte über 
ihre Verhältniffe nicht getäufcht und von ihrem Vorleben 
genau unterrichtet worben wäre. 

Der Recorder, Sir Thomas Chambers, erklärte, 
er jebe nicht ein, welcher Schaven einem Manne dadurch er« 
wachſe, daß er eine Frau eheliche, deren erfter Gatte noch 
am Leben fei, ohne von ihr gefetlich geſchieden zu fein. Es 
fet etwas ganz anderes, wenn ein weibliches Weſen, für 
welches bie Folgen verberblich fein könnten, das Opfer 
falſcher Vorfpiegelungen würbe. Da aber einmal die An⸗ 
lage erhoben worben jet, müſſe er wol mit einer Ver⸗ 
urtheilung vorgeben, allein mit Rüdficht darauf, daß fein 
wirklich Beichäpigter vorhanden fei, verurthetle er die An⸗ 
geflagte zu zwei Stunden Arreft. Da aber die Ver» 
handlung etwa zwei Stunden gebauert habe, fet ihre 
Strafe verbüßt und fie könne fofort gehen. 





188 Mertwürdige Eriminalproceffe aus England. 


Der englifhe Richter tft bei der Strafbeftimmumg 
nicht an feite Normen gebunden und kann vie Fälle un- 
beichränft inbivipualifiren. Das beutfche Strafgeſetzbuch 
jett eine Minimalgrenze ver Strafe feft, das öfterreichifche 
Strafgejek räumt zwar dem Richter ein, außerordentliches 
Strafmilderungsrecht ein, gibt ihm aber Teine fo weit- 
reichende Befugniß wie das englifche Strafgeſetz. Es 
find deshalb Urtheile folcher Art, die den oberften Zwed 
ausgleichender Strafjufttz gewifjermaßen verböhnen, in 
Deutſchland und Defterreich ausgefchloffen. 

In dem von und mitgetheilten alle der Nothzucht, 
in dem franzöfifche Geſchworene zweifellos einen Freiſpruch 
gethan hätten, hat ber Richter im Bewußtſein der grau⸗ 
jamen Härte feines Urtheils einen Menfchen ind Zucht 
haus geſchickt, der höchſtens mit einer polizeilichen Ord⸗ 
nungeftrafe zu belegen war; im legten Falle ver Bigamie 
erfennt ein Richter, um dem Gefete zu genügen, eine blos 
nominelle Buße. Derartige Richterſprüche follen als Cor⸗ 
recturen des Geſetzes gelten. Freilih ift in England 
wegen der Koftjpteligfeit des gerichtlichen Scheidungsver⸗ 
fahren die gejegliche Trenmung ber Ehe nur in ben höhern 
und reichern Ständen möglich. Die Koften find aber, wie 
aus manchen ſenſationellen Eheſcheidungsproceſſen erhellt, ſo 
hoch, daß fie auch in dieſen Kreifen nicht felten zur Inſolvenz⸗ 
erklärung führen. In den untern Ständen verurfacht biefe 
Schwierigkeit zahllofe Fälle von Bigamie. Die Gefeßgebung 
bedarf eben dringend einer vurchgreifenden Reform. Das 
Urtheil in dem angeblichen Notbzuchtsfalle ift ungerecht, 
weil e8 einen Mann für eine That mit entehrenber 
Strafe belegt, bie Fein eriminelles Verbrechen if. Aber 
auch das Urtbeil im Falle ver Bigamie wider Frau Smith 
können wir nicht billigen, denn es fertigt eine als Ver⸗ 
brechen ftrafbare Handlung mit einer Sentenz ab, bie 


Mertwürbige Eriminalproceffe aus England. 189 


fih wie ein fchlechter Wit anhört. Das Anfeben ver 
Rechtspflege muß unter ſolchen Zuſtänden leiden. 


4. Eine Wechſelfälſchung. 
London. 1888. 


Charles Mar Schroeder, 37 Jahre alt, ver- 
beirathet, derzeit ohne beftimmte Beichäftigung, warb vor 
bie Geſchworenen geftellt, unter ver Anklage, das Accept 
auf einem Wechſel im Betrage von 378 Pfr. St. 
13 Sh. 8%. in betrügerijcher Abficht gefäljcht und dieſes 
Falfifieat begeben zu haben. 

Den Vorſitz bei ver am 22. März 1888 un Gentral- 
GSriminalgerichtshofe in London geführten Verhandlung 
nahm der Recorber von London, Sir Thomas Cham⸗ 
bers, ein, für die Barteien erjchienen namens der Anklage 
der föniglihe Rath Dir. Lockwood und Mr. Besleh, 
namens der Vertheibigung der Föniglihe Rath Str Henry 
James, Mr. 3. P. Grain und Mer. C. F. Gilt. 

Der Angellagte bekennt ſich: „Nicht ſchuldig“. 

ALS erfter Zeuge. wirb die Flageführende Partei ver- 
nommen. Als Beichädigter erjcheint Mr. Peak, Chef 
ber Firma Grant u. Peak, Juweliere und Golparbeiter 
in der Gerarpitraße, Sohn, London. Mr. Peak fagt aus: 

„Der Angellagte, der vormals ein faufmännijches Ges 
ſchäft betrieben hatte und fich wegen feiner verwandtſchaft⸗ 
lihen Beziehungen zu dem Chef des hochangefehenen 
Bankfhaufes John Henry Schroeder, das zu den erjten 
Firmen Londons zählt, großen Credits erfreute, war mir 
im Mai 1886 einen Betrag von über A000 Pfr. St. 
(= 80000 Mart) als Saldo aus frühern gefchäftlichen 





190 Merkwürdige Eriminalprocejje aus Englanb. 


Zransactionen fchuldig gewefen. Ich mahnte mehrmals, 
allein immer vergeblih, und da ich mich doch nicht an 
ben Onfel meines Schulpners um Zahlung wenden konnte, 
entſchloß ich mich, die Schuldſumme einzuffagen. Nach 
bem ich längere Zeit von Schroeber keinerlei Nachricht 
erhalten hatte, empfing ich am 6. Juli 1886 unerwarteter- 
weiſe einen mit Charles Mar Schroeder unterzeichneten, 
vom Hotel Metropole in London batirten Brief. In 
biefem Schreiben ftand, er, ber Angellagte, habe eine 
Reiſe nach Deutfchland gemacht. Von dort fei er nad 
Paris gefahren, wo er fich einige Zeit hindurch aufge 
halten habe, und am biefem Tage, von dem ber Brief 
batirte, fei er früh morgens in London eingetroffen. Er 
richte nun bie Bitte an mich, ich möchte ihn doch in bem 
Hotel, in dem er abgeftiegen, aufjuchen, um mit ihm über 
bie Regulirung feiner Schulden Rückſprache zu nehmen. 
Ih verfügte mich in ber That in das Hotel Metropole, 
und dort eröffnete mir Herr Schroeber, er hätte eigentlich 
bie Abficht gehegt, auf eine Erbichaft, die er zu gewär- 
tigen habe, Geld aufzunehmen. Es fei dies jedoch nun- 
mehr nicht nöthig, da er mit feinem Coufin, bem Pro- 
euriften und Theilhaber an der Firma feines Oheims, 
ein Uebereinkommen getroffen babe, wonach ihm aus- 
reihenb genug Geld zur Verfügung geftellt werben folle, 
um alle feine laufenden Verbindlichleiten zu erfüllen. Da 
mir dieſe Zuficherungen jedoch zu unbeftimmt erjchienen, 
um bie civilgerichtlichen Schritte, die ich gegen Herrn 
Schroeber bereits eingeleitet hatte, einzuftellen, wie er 
e8 von mir verlangte, begehrte ich, er möge feine An- 
gaben präcter formuliren, fie zu Papier bringen und 
mir eine fchriftliche Erklärung übergeben. Er that bies 
auch anſtandslos und ich glaubte ihm. Allein, bereits 
am nächſten Tage kam er zu mir in mein Geichäftslocal 


Merkwürdige Eriminalproceffe aus England. 191 


in ber Gerarpftraße. Er erfchien ſehr aufgeregt und fagte 
mir: «Sie ſelbſt find die Veranlaffung zu der That, bie 
ich begangen. Als ich in Paris war, empfing ich bie 
Nachricht von Ihrer Klage. Andere Gläubiger brängten 
mich auch, ich fürchtete einen Eclat, und da verlor ich 
ven Kopf. Ich habe Ihren Namen misbraucht. Sch 
babe unter dieſem Namen einen Wechjel acceptirt.» 
Ich fragte fofort: «Unter meinem perjönlichen Namen 
ober dem meiner Firma?» Er antwortete: «Ich habe 
Grant u. Peak umnterfchrieben.» Ich erkundigte mich 
weiter: «Wann ift der Wechjel fällig?» Er eriviberte: 
«Der erfte morgen. Er ift bei Ihrem Bankier zahlbar 
geftellt. Was ſoll ich thun?» Ich erflärte ihm, daß ich 
dem Bankier, ver als Zahlftelle fungiren folle, boch eine 
Urfache angeben müffe, warum bie Unterſchrift nicht ho⸗ 
norirt werben ſolle. Er werde mich boch nicht für fo 
naiv halten, daß ich den Wechſel, deſſen Betrag er noch 
gar nicht zu nennen gewagt habe und bem, da er ihn 
ſelbſt als «erften» bezeichnet habe, noch andere folgen 
würden, ohne weiteres einlöfen werde. Schroeber möge 
jelbft die Folgen bevenfen und, wenn er e8 vermöge, Vor⸗ 
ſchläge machen, wie er die Angelegenheit auszugleichen 
gebenfe. Bor allen aber müſſe er ein aufrichtiges Be⸗ 
fenntniß ablegen. Er folle dies ſchriftlich thun. Schroeder 
zauberte auch nicht lange und fchrieb mir eine Erklärung 
nieder, worin er einbelannte, er babe den Namen ver 
Firma Grant u. Peak mishraucht und gefälfcht und da⸗ 
mit Wechjel im Betrage von je 464 Pfr. St. 9 Sh. 
8 P.; 485 Pf. St; 287 Pf. St. 4 Sh. 8 P.; 
323 Pfd. St. 3 Sh. 4 P.; 378 Pfo. St. 13 Sh. 8 P. 
und 319 Pfd. St. 19 Sh. zufammen 2258 Pfd. St. 
10 Sh. 4 B. (= 45170 Marl 34 Pf.) acceptirt. Herr 
Schroeder beſchwor mich, feine Strafanzeige zu erjtatten, 


192 Merkwürdige Eriminalprocefie aus England. 


fie würbe feine Mutter ins Grab bringen, fein Ontel 
aber werde der Familienehre zu Liebe gewiß vie Wechſel 
einlöfen. Ich beauftragte meinen Neffen, fi jofort mit 
Schroeder zu feinem Oheim zu verfügen, biefer aber ver- 
weigerte es ihn vorzulaffen. ‘Der Angeklagte theilte um 
meinem Neffen noch mit, daß feine Frau fehr gefährlich 
erkrankt fet, man möge nur um Gottes willen feine ſtraf⸗ 
gerichtliche Verfolgung einleiten, ex fei uur momentan in 
arg bebrängter Rage, doch unterliege es nicht dem gerings 
jten Zweifel, daß feine Familie ihm helfen werde, und 
ehe die übrigen Wechjel fällig würben, werbe er genügend 
viel Geld flüffig gemacht Haben, nicht nur um die Wechfel 
vor der Verfallzeit zu beden, fondern auch um feine 
Schulden zu bezahlen. Er hatte die Wechjel von Paris 
aus in Circulation gefegt. In ver That find die Io 
cepte, wenn auch erſt nachdem fie nothleidend geworben 
waren, und nachdem das ftrafgerichtliche Verfahren bereits 
im Zuge war, eingelöft worden. Der Angeklagte ſelbſt aber 
war, noch ehe dies geſchah, nach Sydney in Auftralien 
abgereift. Er wurde bort umter ver Anklage, die Wechſel 
gefälfcht und in betrügerifcher Abficht begeben zu haben, 
verfolgt, verhaftet und hierher ausgeliefert. Ich war 
zuerft umentichlofien, wie ich mich dem Schroeder gegen- 
über verhalten follte, und zögerte mit Rückſicht auf bie 
Familie mit der Strafanzeige. Ich Habe fte in ver That 
auch erft eingebracht, als ich erfuhr, der Angeklagte fei 
nad Auftralien durchgegangen, ohne daß er, wie er hoch 
und theuer verjprochen und geſchworen hatte, jeine Schul- 
den beglichen hätte. Vorher hatte ich nur ciwilgerichtliche 
Schritte unternommen.” 

Mit diefer Ausfage war bie Anklage begründet. 

Die Zeugen für die Anklage beftätigen bie thatjächlichen 
Umftände, ohne wefentliche neue Einzelheiten vorzubringen. 





Mertwürdige Eriminalproceffe aus England. 193 


Sir Henry James ergreift das Wort für bie Ver- 
theibigung. 

Er fagt: „Die Anklage ift wegen Wechjelfälfchung er- 
hoben. Es muß aber conftatirt werden, ob dieſes Ver⸗ 
brechen innerhalb ber Jurisdirection dieſes Gerichts be- 
gangen worden ift. Dieſes ftelle ich in Abreve. Ebenſo 
den Umftand, baß die weitere, angebliche, verbrecherifche 
Danblung der wiffentlichen Begebung gefälfchter Papiere, 
bie einen Betrug begrünben joll, innerhalb der Juris⸗ 
bictionsiphäre biefes Gerichts begangen worben ift. Auch 
biefe® negire ich. Innerhalb bes Geltungsgebiets unferer 
Geſetze, auf brittihem Boden, find dieſe verpönten, ſtraf⸗ 
baren Handlungen nicht begangen. Ich werde ven Nach- 
weis führen, daß ber Angellagte Schroeder zu ber Zeit, 
da die incriminirten Wechfel gezogen und biefe mit dem 
fragmwürbigen Accept verjeben wurben, nicht in England, 
fondern in Parts geweilt hat. Er fönnte, wenn biefe 
Handlungen wirklich als verbrecherifch angefehen werben 
follten, nur von franzöfifchen Gerichten verfolgt werben. 
Was er immer in biefer Angelegenheit gethan haben mag, 
es ift auf franzöfifchen, alſo fremdländiſchem Territorium 
geſchehen und entzieht ſich ganz und gar der engliſchen 
Gerichtsbarkeit. Ich werde zum Beweiſe der thatfächlichen 
Behauptungen, die ich aufſtelle, competente und ver⸗ 
trauenswürdige Zeugen vorführen. Als ſolche werden 
erſcheinen der Papierhändler, von welchem der Angeklagte 
die Stempelmarken für die Wechſelbriefe bezog, und der 
Makler, der die Begebung der Accepte in Paris ver- 
mittelte. Falls num der Angellagte überhaupt für feine 
Handlungsweife ftrafrechtlih zur Verantwortung gezogen 
werben kann, was ich bahingeftellt fein laſſe, jo unter- 
fteht ex doch keinesfalls der Gerichtshoheit eines britiſchen 
Gerichte. Alle Schritte, die der Angeklagte mit biejen 

XXII. 13 





194 DMertwärbige Eriminalproceijfe aus Englanb. 


Wechſeln unternommen bat: Ausftellung, Acceptation, 
Degebung, ift in Paris gefchehen. Vielleicht hat er da⸗ 
mit ben franzöfifchen Geſetzen zuwiderlaufende Hanplungen 
verübt, und dieſen Pete zur fteben, Teinesfalis aber bat 
er fich gegen britifche Gefege vergangen, denn er bat im 
Geltungsgebiete berjelben Teinerlei vom Strafgefege ver- 
pönte Handlung verübt. Dabei ift bie Frage, ob über 
haupt die Abficht einer Schapenszufügung gegenüber der 
flagführenden Partei beftand, noch gar nicht erörtert. 
Diefe ift zu verneinen. Der Angeflagte hatte durchaus 
nicht die Abficht, irgendjemand in dieſem Lande zu be- 
ſchädigen. Wenn die Wechjel nicht eingelöft wurden, 
hatten fie den Weg zurücdzugehen, den fie genommen, und 
ber Wechfelagent in Paris hat feine Klage erhoben. Er 
hatte auch feine Urjache hierzu, denn der Schaben wurde 
gutgemacht, die Wechfel find fpäterhin alle von der Fa⸗ 
milte des Angeklagten eingelöft worden. Ich beantrage 
bie Schulplosiprechung meines Clienten unb verweiſe 
bieferhalb auf die Präcevenzfälle: «Die Königin wiber 
Garrett», enthalten in Dearsley’8 «Crown Cases», 1, 
232 fg., und in dem «Law Journal, Magistrates 
Cases», ©. 20.” 

Dir. Lockwood beftreitet diefe Ausführungen. Er hebt 
hervor, daß der von Sir Henry James citirte Präcedenz- 
fall von abweichender Natur gewefen jei und andere Vor- 
ausfegungen gehabt habe. ‘Der bet jenem alle präfibi- 
rende Richter, Lord Campbell, veffen juriftiiche Gelehr- 
ſamkeit unbezweifelt daſtehe, bat in feiner Zuſammen⸗ 
faffung des Falles ausprüdlich hervorgehoben, daß es fich 
bei demſelben nicht um eine Frage ver Yurisbiction handle. 
Mir. Lockwood fucht hierauf in längerer Rede die Compe⸗ 
tenz des Gerichtähofes nachzumweifen und begründet fie 
hauptjächlih damit, daß bie incriminirten, gefälfchten 











Merkwürdige Eriminalproceife aus England. 195 


Wechjel in London zahlbar geftellt worden waren. Der 
Angellagte fei den englifchen Gerichten gegenüber verant- 
wortlih für alle Eonfequenzen, die aus der Begebung 
gefäffchter, in London fälliger Wechlelbriefe herworgehen; 
um jo mehr, da fie hierher geſchickt wurden, hierorts cir- 
eulirten und bier auch zur Zahlung präfentirt worden 
find. Auch Dir. Lockwood citirt zur Bekräftigung feiner 
Anſchauung einen Präcedenzfall, ven Proceß: „Die Kö⸗ 
nigin wider Tahlor.“ 

Sodann werden bie Zeugen ber Vertheidigung ver- 
nommen, um bie Anweſenheit des Angeklagten in Paris 
zur kritiſchen Zeit zu beweiſen. 

Der Papierbändler, welcher dem Angeklagten bie 
Stempelmarfen verfaufte, und ber Wechſelmakler, welcher 
bie Begebung der in Frage ftehenven Accepte vermittelte, 
beftätigten wahrbeitsgemäß bie biesbezüglichen von Sir 
Henry James angegebenen Umſtände. 

Die Frage, ob die Behauptung, daß der Angeklagte 
zur kritiſchen Zeit, als die Wechjel ausgeftellt, acceptirt 
und weiter begeben wurden, in Paris weilte, als gerichtö- 
orbnungsmäßig anzufehen ift, wird den Geſchworenen vor- 
gelegt und von dieſen bejaht. 

Sir Henry Iames führt nochmals in längerer Rebe 
aus, er erwarte, ba dieſer Umſtand burch ven Wahr⸗ 
fpruch der Gefchworenen feftgeftellt worben fei, zuverficht- 
lich die Freifprehung des Angeflagten. Er wieberholte 
feine früher geltend gemachten Bedenken gegen die Com⸗ 
petenz des englifchen Gerichtshofes, der, wenn er über 
den Angeklagten urtbeilen wollte, fich eines Eingriffes in 
die Gerichtshoheit eines fremden Staates fchuldig machen 
würbe. Innerhalb der Jurisdiction ber britifchen Ge⸗ 
richte babe Fein Vergehen ftattgefunden. 

Dir. Lockwood hebt die principielle Wichtigleit ber 

13* 


196 Merkwürdige Eriminalproceffe aus England. 


Entſcheidung hervor. Er bebarrt auf der Anfchauung, 
daß ber Angeklagte, der die Wechſel jeldft „in London 
zahlbar’ ausgeftellt Hatte, wiffen mußte und gewußt bat, 
daß fie in London zur Zahlung präfentirt werden würden, 
was thatſächlich auch geſchah. Die Competenz des Ge 
richtshofes ſei demgemäß unanfechtbar und er müſſe darauf 
beſtehen, daß ein Urtheil gefällt werde. 

Der Recorder, königlicher Rath Sir Thomas Cham⸗ 
bers, ſagt in feinem Reöume, er ſei zu der feſten Ueber⸗ 
zeugung gelangt, daß dem Gerichtshofe die Yurisbiclion 
im vorliegenden Balle nicht zuftehe. Hätte die Anklage 
auf Betrug durch falſche Vorfpiegelung gelautet, jo wäre 
fie unzweifelhaft nicht in die Competenz eines britiichen 
Gerichts gefallen, denn ein Betrug konnte nur in Paris 
ben Wechlelagenten gegenüber ftattgefunden haben, dem 
bie Unterfchriften ber acceptirenden Firma als echt be- 
zeichnet tworben fein mögen. Die Klage lautete aber auf 
Fälſchung von Accepten und Begebung gefäljchter Wechfel, 
welche Thatſachen nur dann unter bie Definition ver⸗ 
brecherifcher Handlungen fallen, wenn bie Abjicht, Scha= 
ben zu ftiften, nachgewiefen werden kann. Dieſe darf 
nicht voramsgejegt werben. Des Necorbers Anfchauung 
zufolge waren bie ftrafbaren Handlungen, bie von bem 
Angeklagten begangen worden fein mögen, außerhalb bes 
Geltungsgebietes englifcher Gejege, und außerhalb ver 
Gerichtshoheit englticher Tribunale begangen, und darüber 
jet Teinerlei Controverſe zuläffig. Da aber den Gericht 
bie Jurisdiection mangele, müßten die Gejchworenen ben 
Angellagten freifprechen. 

Das Berbict der Gefchivorenen lautet benn auch: 
„Nichtſchuldig.“ 

Dieſes Urtheil bezog ſich auf den vorbezeichneten erften 
Wechſel. Da aber vorausfichtlich bei der Fälſchung und 





Mertwürdbige Eriminalproceffe aus England. 197 


Begebung ber andern vorgedachten Wechjel dieſelbe Pro⸗ 
cedur ſich wiederholt haben würde, verzichtete der Ankläger 
darauf, bie weitern Klagen auf die übrigen Wechſel aus⸗ 
zuführen. 

Die Geſchworenen wiederholen ihr Verdict „Nicht⸗ 
ſchuldig“ in Betreff der andern Facten, und der Ange- 
Hagte wurde entlaffen. 


Es ift dies ein in merfwürbigem Gegenfage zu con⸗ 
tinentaler Rechtsanfchauung ftebendes Urtbeil. Während 
unfere Strafgefege Die Stantsangehörigen auch außerhalb 
der Grenzpfähle als an bie Gefeße des Heimatslandes 
gebunden erklären, herricht in England das mittelalter- 
liche Princip, daß die GerichtShohett auch in Straffachen 
an bie territoriale Dberhoheit geknüpft fei, vor, und ber 
Rechtsſatz locus regit actum, der bet uns nur für civile 
Nechtöfragen Geltung bat, gilt auch im Strafrecht. Im 
einem Falle, wo ber objective Thatbeftand außer Zweifel 
fteht und felbft von der Vertheidigung nicht angefochten 
wird, wo fogar bie Entlaftungszeugen bie fubjective 
Thäterfchaft befräftigen, erfolgt ver Freiſpruch, nicht etwa 
weil Schadenserſatz geleiftet war — was übrigens nach 
unſern Anfchauungen wol einen Strafminderungs-, nicht 
aber einen Strafausfchließungsgrund bilven follte —, ſon⸗ 
bern weil die That, das Verbrechen ver Wechlel- 
fälfhung und bes Betrugs durch Begebung gefäljchter 
Accepte, im Auslande begangen wurde. Da nun über- 
dies in England wegen abjoluten Mangels cobificirten 
Nechts nach Präcebenzfällen geurtbeilt wirb, welch fröh- 
Tiche Ausficht eröffnet ſich dadurch einer ganzen Weihe 
englifcher Verbrecher! Die Spazierfahrt über ven Aermel⸗ 
kanal ift jo kurz, jo wenig bejchwerlich und fo wohlfeil, 


198 Mertwürdige Eriminalproceffe aus Englaub. 


bie Ausficht, daß e8 nur einer Vergnügungsfahrt nad 
Paris und ber Heinen VBorficht bebarf, auf Zeugen be 
dacht zu fein, die ven Aufenthalt bortfelbft beurkunben 
fönnen, wirb fie mit freubiger Zuverficht erfüllen. 

Wir beklagen anfrichtig eine fo kurzfichtige Auffaffung 
von der Aufgabe georbneter Rechtfprechung. 








Tödtung eines Matrofen auf hoher Zee. 
(Mord oder Ueberfchreitungerlaubter Nothwehr?) 


1887. 


Das engliihe Barkichiff Ladd Donglas, Kapitän 
James Cocks, follte von Gascoigne an der Weſtküſte 
bes auftralifchen Eontinents aus feine Heimreife antreten. 
Die Schiffemannfchaft war in ben fernen Breiten etwas 
zufammengejchmolzgen und zählte insgefammt nur noch 
zehn Köpfe. Der Kapitän beichloß die Bemannung zu 
ergänzen und nahm, obgleich unter ben europäiſchen See- 
leuten Iebhafte Vorurtheile gegen farbige Schiffsgenoffen 
faft ausnahmslos verbreitet find, zwei Malaien, Haſſein 
und Caſſein, ald Matrofen an. 

Diefe von der Noth des Augenblicks gebotene Maß—⸗ 
regel follte jich als unheilvoll erweifen. 

Die Barle ging am 11. Januar 1887 unter Segel. 
Schon in den erften Tagen ftellte fich heraus, daß Haſ⸗ 
fein, der als Matrofe erfter Klaffe aufgenommen worben 
war, nur ein mittelmäßtger Seemann war. Die Schiffs- 
genofjen fpotteten feiner. Sie behaupteten, er wäre nicht 
einmal im Stande „das Bramfegel zu reffen‘. ‘Die Mis- 
beiligleiten zwiichen dem Malaien und jeinen Kameraden 
nahmen im Laufe ber Fahrt fortwährend zu. Haſſein 


200  Tödtung eines Matrofen auf hoher See. 


fühlte fich ſehr unglüdlih, Magte wiederholt über fein 
Schickſal und machte fogar einen Selbftmorbverjuch, in- 
dem er in die See fpringen wollte. Nur bie energifche 
Intervention des Unterſteuermanns konnte ihn Daran vers 
bindern. 

Am 21. Februar aber verſchwand der Mann plöglich 
unb unerwartet. Die von dem Kapitän vorgenommene, 
auf dieſes Vorkommniß bezügliche Eintragung in das Log⸗ 
buch des Schiffes Tautet: 

„21. Februar: 

„Mm 9 Uhr 30 Minuten morgend verſchwand ber 
Matrofe erfter Klaffe Haffein in unerflärlicher, geheim⸗ 
nißooller Weife. Der Matrofe erjter Klaffe 8. Chri- 
ftianjen kam mit der Melbung zu mir, daß fein Wach⸗ 
famerab, troßdem er wiederholt gerufen wurbe, nicht zur 
Wache angetreten ſei. Ich beauftragte das Schiff zu 
burchfuchen, Haſſein wurde aber nicht aufgefunden. Ich 
veranlaßte jobann eine Umfrage bei feinen Kameraden 
und erfuhr, daß er fich feit einiger Zeit, beſonders auf- 
fällig aber erft feit zwei over drei Tagen, in verziweif- 
lungsvoll aufgeregter Gemüthsjtimmung befunden Hatte. 
Ich gelangte fomit zu dem Schluffe, daß er entweber 
durch einen unglücklichen Zufall über Bord gefalfen fei, 
oder freiwillig, in felbftmörberifcher Adficht, fich im bie 
See geftürzt habe.” 

Der Mann war und blieb verjchollen. Dies dauerte 
bis zum 3. März. Wenigftens findet fich feine weitere 
auf Haſſein bezügliche Eintragung im Logbuche bis zu 
biefem Tage. Da aber heißt es: 

„3. März: 

„Der Unterftenermann melvete mir, daß er, als er in 
den Borberraum binabftieg, . plöglich auf den Matroſen 
Haſſein ftieß, von dem wir alfe geglaubt hatten, ba er 


N 








Tödtung eines Matrojen auf hoher See. 201 


entweber einen Selbitmorb verübt oder über Bord durch 
einen Zufall geftürzt fei, der aber bort verſteckt ruhig 
ſchlief. Er weckte ihn auf, redete ihn an, brachte jedoch 
aus ihm nur heraus, Haffeln fühle fich fehr unglücklich 
und wolle fterben.” 

Nun begann auf dem Schiffe eine fehr bewegte Zeit. 
Haſſein weigerte fich den Vorberraum, wo er fein Ver⸗ 
ſteck gewählt hatte, zu verlaffen. Er Hatte fih Waffen 
— Meffer und eine Brechſtange — verfchafft, wies alle 
Aufforberungen, zu feiner Pflicht zurückzukehren, rundweg 
ab und trogte der Autorität des Kapitäns. Diefer, bie 
Dffiziere und die Schiffsmannfchaft waren ernftlich be- 
unrubigt. Haſſein befand fich offenbar im Zuſtande der 
Menterei. Er hatte ven Gehorfam verweigert und be- 
drohte Die Sicherheit des Schiffes. Man hatte feinen 
ftammverwandten Landsmann Caffein, ohne daß jedoch 
deſſen Benehmen bierzu beſondere Veranlaffung gab, im 
Verdacht, mit ihm unter einer ‘Dede zu fpielen, und be- 
wachte dieſen fcharf. Auch ein europätfcher Matrofe, ein 
Engländer Namens Charles Goobliffe Hunt, wurde 
verbächtigt, mit Haffein zu ſympathiſiren, und mistrauifch 
beobachtet. 

Weitere Eintragungen in dem Logbuche aus bem 
Monat März geben von biefer Erregung Kunde. Eine 
derfelben berichtet, daß Haffein ſich im Vorderraume 
förmlich verſchanzt halte, und daß man zwei große Küchen- 
meffer in feinem Beſitz fah. 

Man bielt ihn cernirt und reichte ihm tagelang fein 
Waſſer, um ihn zur Vebergabe zu zwingen. Er hielt 
aber aus, und die Matrofen wagten fich wegen feiner 
Mefier nicht in den Vorberraum, um Kohle zu fallen. 
Diefe war aber, um kochen zu können, unumgänglich 
nothwendig geworden. Endlich wurde das Uebereinkommen 





202 Tödbtung eines Matrofen auf hoher See. 


getroffen, dag man ihn mit Waſſer verforgte, wogegen er 
bie Kübel mit Kohlen füllte und binaufziehen ließ. Am 
I. März wurde ihm — wie das Logbuch meldet — be 
bingungsweife vollkommene Verzeihung zugefagt und Nab- 
rung und Waffer veriprochen, wenn er auf Ded kommen 
und feinen Dienjt wieber aufnehmen wolle. Er jchlug 
e8 aber aus. 

Unter dem 28. März findet fich in ber Hanbichrift 
bes Kapitäns nachſtehende Eintragung: 

„Haſſein, der fich bis heute im Vorberraum verſchanzt 
gehalten hat und durch keinerlei Verfprechungen zu be- 
wegen war, auf Ded zu kommen, erſchien plöglich, ohne 
baß jemand fein Kommen bemerkt hätte, in meiner Kajüte. 
Es dämmerte faum und ich fchlief noch. Er legte feine 
Hand auf meine Schulter, und ich erwachte. Sch rief 
mit lauter Stimme: «Wer ift da?» Der Mann lief er 
jchredt hinaus. Als ich gleich danach auf Ded kam, er: 
fuhr ih, daß der zweite Steuermann und ber Schiffs- 
zimmermann ihn feftgenommen hatten. Seinem Benehmen 
in der Kajüte zufolge mußte ich wol annehmen, daß er 
einen Anfchlag gegen mich im Echilde führt, daher Tiek 
ih ihn in Eifen legen.” 

Diefe Eintragung war außer von Kapitän Code 
auh von ben beiden Steuermännen Evans und 
leaves unterzeichnet. 

Es gelang aber Haffein, ob allein ober unter Bei- 
hülfe eines andern, ift nicht aufgeklärt worden, fehon in 
ber Mittagsftunde, ſich ber ihm angelegten Feſſeln zu 
entledigen, wieder in ven Vorberraum zu entlommen und 
fih bort abermal® zu verbergen. Die betreffende Ein- 
tragung in das Logbuch lautet: 

„Hallein hat die Eifen abgeftreift und muß Gelegen- 
beit gefunden haben, fich mit Waffen zu verfehen. Der 








Töbtung eines Matrofen auf hoher See. 203 


Proviantmeifter Hatte mir fchon früher gemelbet, daß jein 
großes Tranchirmeſſer ihm aus der Schiffsfüche abhan- 
ben gelommen fet, und ber Unterſteuermann verfichert, 
er habe daſſelbe heute, als er in ben Vorderraum hinunter» 
ſah, in Haffein’s Händen erblickt.“ 

Man verrammelte num den Zugang zum Vorberraum 
und bedte vie Luke des Nachts mit Bretern zu, bie jebes- 
mal angenagelt wurden. Tagsüber legte man bagegen 
ein Gitter über die Lufe, damit bie Luft Zutritt habe 
und Haffein nicht erftide. 

Diefer unheimliche Zuftand dauerte vom 28. März 
bi8 zum 20. April. Haffein blieb während biefer Zeit 
umunterbrochen im Vorberraume und verweigerte es fo- 
wol feinen Dienst zu leiften als die Waffen abzugeben. 
Die Schiffsmannschaft ſchwebte beſtändig in der Angft, 
er könne einmal unverjehens hervorkommen und Unheil 
anrichten. Der Kapitän und die Offiziere theilten biefe 
mehr oder minder begründete Bejorgniß, und es ift wol 
feinem Zweifel unterworfen, daß die Schiffepisciplin und 
der Dienft im allgemeinen erbeblich barunter litten. 

Am 20. April war das Schiff in die Nähe von St. 
Helena gelangt. Einer aus der Mannfchaft, wahrjchein- 
ih Hunt, ftellte ven Antrag, man möge dort boch lieber 
beive Malaien an das Land bringen und fi) ihrer fomit 
auf gute Art entledigen. Der Kapitän wies jeboch die 
Zumuthung, ber Malaten wegen zu lanten, entjchleben 
zurüd und erklärte, daß er Haffein nach London mit» 
nehmen und bort vor Gericht ftellen wolle. ‘Die Mann- 
ſchaft war aber, ald man das Land wieder aus den Augen 
verlor, fo außer Rand und Band vor Furt — vor 
dem einzelnen, eingefperrten Manne! — daß, joweit wir 
wiffen, am 21. April zum erften mal der Vorfchlag auf- 
tauchte, der allgemeinen Sicherung wegen Haffein umzu⸗ 





204 Tödtung eines Matrofen auf hoher See. 


bringen. Von wen dieſer Vorfchlag eigentlich urfprüng- 
lich ausging, bat auch fpäterbin die Unterfuhung nicht 
feftgeftellt, aufgenommen bat ihn jedenfall der Kapitän. 
Ein Matrofe nur, der fchon vorgenannte Charles Hunt, 
widerſetzte fich diefem Vorhaben. „Bringt den armen 
Teufel nicht um“, warnte er, „er kann uns boch nicht 
mehr fchaden. Er ift gut bewacht. Nehmt ihn in Gottes⸗ 
namen mit nach England, umd wenn er ein Unrecht be 
gangen hat, fo folfen englifche Gefchworene ihn verur⸗ 
theilen.“ Allein diefe Warnung verhallte ungehört. Wem 
einmal bie Leidenschaft fich einmifcht, verliert bie Stinmme 
ber Befonnenheit ihre Geltung. ‘Die Offiziere und bie 
Mannſchaft waren einig barin geworben, Haſſein das 
Leben zu nehmen und bie Urfache ihrer Beängftigung 
bamit gründlich zu befeitigen. 

Die Eintragung vom 21. April lautet: 

„Bir, die Unterzeichneten, bejchwören hiermit, daß 
Charles Hunt, Matrofe erfter Elaffe, im Einverftändnif 
mit Haſſein gehandelt und ihn heimlich mit Nahrung 
und ben Waffen verjehen hat, daß er ihm geholfen ober 
doch bie Mittel dazu verfchafft hat, die Eifen abzunehmen, 
und daß er ihm Zünphölzchen zugeftedt Hat. Dadurch 
ift Die Gefahr drohen geworden, daß Haflein das Schiff 
-anzünden kann. Hunt bat ihm das Meſſer gegeben, Hat 
alle Zage Mittel und Wege gefunden, mit ihm zu con- 
jpiriren, und hat Caffein, ven andern malaiiſchen Diatrofen, 
ebenfalls zur Meuterei aufgereizt. Wir ſind der Ueber- 
zeugung, daß er die Schuld trägt, daß Haffein fich im 
Zuftande der Menterei befindet. Ich, der Kapitän, bes 
antrage daher Haffein zu erfchießen. Alle Mann an Bord, 
mit einziger Ausnahme des vorgenannten Charles Hunt, 
erklären fich damit einverftanden, wenn es nicht gelingen 
ſollte, fich feiner mit andern Mitteln zu bemächtigen.“ 





Töbtung eines Matrofen auf hoher See. 205 


Unterfchrieben ift biefe Eintragung von: Hermann 
Spis; Peter King; John Webfter; K. Chriftianfen; David 
Thow; 3. S. Smethurft; James Gleaves, Steuermann; 
Edward W. Evans, Oberftenermann. 

Die Wahrheit ver Behauptung, daß Hunt die Meu- 
terei verſchuldet babe, ift im Laufe der gerichtlichen Unter- 
fuchung durch nichts erwiefen worden. Sa, ob überhaupt 
bei dieſer Sachlage die Bezeichnung Meuterei als zus 
treffend gelten kann, mag fraglich erfcheinen. Jedenfalls 
wurde, wie aus einer weitern Eintragung im Logbuche 
hervorgeht, am 22. April ein fürmlicher Sturm gegen 
ben verbarrifapirten Haffein unternommen. Es war näm⸗ 
ih dem Kapitän berichtet worden, Haſſein verfuche mit 
dem Tranchirmeſſer dad Schußbret der Luke zu durch⸗ 
bohren. Er ertheilte den Auftrag, die Spite des Meffers, 
wenn fie bervorbringe, abzubrechen, doch fcheint biefer 
Auftrag nicht zur Ausführung gelangt zu fein. Cine 
zweite Eintragung von dem erwähnten Tage berichtet, 
daß man, trog des Aufgebots aller verfügbaren Kräfte, 
vergeblich verjucht babe, fich Haſſein's zu bemächtigen. 
Die Furcht vor dem Meffer, mit dem er die Angreifer 
beorobte, hielt die Matrofen fortwährend ab, ihn fejtzu- 
nehmen. Endlich nahmen fie ihre Zuflucht zur Schieß⸗ 
waffe. Mehrere Schüffe wurden auf Haſſein abgegeben 
und einer berjelben verwundete ihn am Buße. Haſſein 
ſchrie jämmerlich und rief ihnen zu, daß, wenn er nur 
einen von ihnen, den Angreifern, töbten könnte, jo wolle 
er zufrieden fein. Er ergab fich aber nicht. Dann wurde 
e8 verfucht, ihn dadurch zu bezwingen, daß man Waffer in 
ven Borterraum hinabgoß, um ihn „auszuſchwemmen“. 
Allein Haffein ftieg auf die Kohlenjäde, ſodaß fie bie 
Verſuche, ihn zu faſſen, ſchließlich als zwecklos aufgeben 
mußten. Der Seemann, deſſen Schuß Haſſein am Fuße 


206 Tödtung eines Matrofen auf hoher See. 


verwunbete, war ber Oberfteuermann Erward William 
Evans. 

Am 23. April findet fich im Logbuche nachftehenbe 
Eintragung: 

„Um 8 Uhr morgend wurben bie Breter, welche bie 
in den Vorberraum führende Luke bebediten, weggenom- 
men und ein abermaliger Verſuch gemacht, ſich Haffein’s 
zu bemächtigen. Jeder Mann wurde bewaffnet, mil 
Schiefgewehren, foweit ber Vorrath reichte, ober mit 
Enterbafen, denn er batte gedroht, jeven, der fich ibm 
nähern würde, niederzuftechen und eher einen Angreifer 
zu töbten, als fich fangen zu laffen. Bei dem Verſuche, ihn 
unfchäplich zu machen und im Zuftande bloßer Nothwehr 
wurde ber Malaie Haffein erjchoflen. Vorher war er 
noch einmal aufgefordert worven, bie Koblenkübel mit 
Kohle zu füllen, er weigerte fich jedoch befien und ge 
ftattete auch nicht, daß ein anderer Mann fich binumter- 
begab, um dies auszuführen. Er drohte, mit dem Trandhir- 
meſſer und einer Brechftange jedem, ber fich ihm nähern 
würde, den Garaus zu maden. Um 9 Uhr vormittags 
war er tobt.‘ 

Unterzeichnet war diefe Eintragung von: James Code, 
Kapitän; Edward W. Evans, Oberfteermann; James 
Gleaves, zweiter Steuermann; David Thow, Zimmermann; 
Peter King, Proviantmeifter; C. Hunt, Matrofe erfter 
Klaffe; Hermann Spis, Matroſe erfter Klaffe; Karl Chri⸗ 
ftianfen, Matroſe erfter Klaffe; Sohn Webfter, Matrofe 
zweiter Klaffe; 3. Smethurft, Schiffejunge. 

Diefe Darftellung des Sachverhalts entiprach aber 
nicht der Wahrheit. Es fcheint vielmehr, daß man am 
Morgen des 23. Aprit bereit übereingelommen war, 
fih Haſſein's jedenfalls zu entledigen und ein Ende mit 
ihm zu machen. Der Unterftenermann Gleaves rüftete 





Zödtung eines Matrofen auf hober See. 207 


ſich mit einer mit fcharfen Batronen geladenen Flinte aus 
und der Matroje Webjter erhielt des Kapitäns fcharf- 
geladenen Revolver zugetbeilt.e Der Malaie war fchen 
am Vortage durch einen Schuß am Fuße verwundet wor- 
ben, und am 23. April feuerten die beiden vorgenannten 
Seeleute ihre Schußwaffen in den Vorderraum auf ihn 
ab. Einer ver Schäffe traf Haffein und veriwunbete ihn 
ſchwer in ver Seite. Es wird mit Sicherheit angenom⸗ 
men, baß biefer verderbliche Schuß aus ver Flinte, welche 
ber lUinterfteuermann leaves führte, abgegeben wurde. 
Ein Matroſe ließ fih Hierauf an einem Tau in ben 
Borverraum hinab, befejtigte einen Bootshaken an des 
webrlofen Mannes Kleidern, und fo wurbe er auf Ded 
gehoben. Dort angelangt, war er fchon vollfommen außer 
Stande, noch irgendwelchen Wiperftand zu leiften. Statt 
ihm aber beizufteben, wie e8 nunmehr die Pflicht menfch- 
fich fühlender Weſen geboten hätte, ergriff Webfter ben 
Revolver, und da von irgendeinem bie Behauptung auf- 
geitellt worben war, daß ber Malaie ohnedies verloren 
und e8 baber beſſer fei, fein Leiden abzukürzen, fette 
Webiter die Piftole an Haffein’8 Schläfe und drückte ab. 
Wenige Minuten darauf war er tobt. Man fegnete bie 
Leiche nach den Gebräuchen ber anglifanifchen Kirche ſo⸗ 
fort ein und warf fie über Bord. 

Nachdem die Lady Douglas im Hafen von London 
eingelaufen' war, legte der Kapitän pflichtgemäß fein Log⸗ 
buch vor, und die Unterfuhung bes Falles begann vor 
dem BPolizeigericht des Themſehofes. Die Verhandlungen 
erftrediten ſich daſelbſt über die Dauer von brei Wochen, 
während welcher Zeit bie geſammte Schiffsmannjchaft in 
Bolizeigewahrfam gehalten wurde. Aus biefen Verhand⸗ 
(ungen gingen ſchließlich als Angeflagte hervor: James 
Codes, Schiffsfapitän, 33 Jahre alt; James Gleaves, 


208 Tödtung eines Matrofen auf hoher See. 


Unterftenermann, 25 Jahre alt; Edward William 
Evans, Oberftenermann, 27 Jahre alt, und John 
William Webfter, Matrofe zweiter Klaſſe, 23 Jahre 
alt. Die übrigen Mitglieder der Bemannung wurden 
nur ald Zeugen vernommen. Einige Ausfagen ericheinen 
wichtig genug, um mitgetheilt zu werben. 

Am 24. Mai, dem zweiten Verhanplungstage, bei 
welchem Mr. Lufbington ale Richter, Rechtsanwalt 
Mr. Mead namens der Krone als Ankläger und Rechts- 
anwalt Mr. St. John Wontner für die Vertheibigung - 
tbätig war, lautete Die entſchiedene Ausfage des Zeugen 
Beter King fehr befaftend für die Angeflagten. Der⸗ 
felbe fagte aus; 

„Ih bin Proviantmeifter an Bord der Barfe Lady 
Douglas gewefen. Das Schiff ſegelte zunächſt nad 
Freemantle in Auftralien, unweit der Championsbai, und 
von bort zur Nieberlaffung an ber Mündung des Fluſſes 
Gascoigne in der Haifiſchbai, Weftauftralien. In Gas- 
coigne nahm ver Kapitän zwei Malaien zur Ergänzung 
der zuſammengeſchmolzenen Schiffsmannſchaft an Boͤrd. 
Einer derſelben hieß Haſſein, der andere hieß Caſſein. 
Am 11. Januar fegelte man von dort mit der Beſtim⸗ 
mung: London, ab. Die Mannfchaft bejtand aus neun 
weißen Männern, ven zwei Malaien und einem Schiffe- 
jungen. Ungefähr eine Woche ehe wir die Höhe des Cap 
ber guten Hoffnung erreichten, bemerkte ich, daß Haſſein 
ein auffallend verftörtes Weſen zeige. Eines Morgens 
war er verfchwunden. Das Schiff wurde durchſucht, allein 
man Tonnte ihm nicht auffinden. Zehn Tage danach be- 
gab ſich der Unterftenermann Gleaves in den Vorderraum 
hinab, um Farbe zum Anftrich der Bordwände herauf 
zuholen. Er ftieß auf Haſſein, ver, auf einige Kohlen⸗ 
ſäcke gelagert, ruhig ſchlief. Er wurde gewedt und auf 








Tödtung eines Matrofen auf hoher See. 209 


Ded gerufen. Ich verabreichte Haffein auf Befehl des 
Kapitäns einige Nahrung. Haffein wuſch fich vom Kohlen» 
jtaube rein und trat fofort feinen Dienft wieder an. Die 
Reihe der nächften Wache fiel auf ihn. Nach beenbeter 
Wache begab fih Haffein mit der übrigen bienftfreien 
Mannſchaft auf das Vorderdeck. Als ich fpäter babin 
kam, erzählten mir bie Kameraden, daß Haffein einen 
Selbftmorbverfuh unternommen babe, indem er über 
Bord fpringen wollte. Er fei aber mit Gewaltanwendung 
baran gehindert worden. Späterhin ſah ich Haffein wieder 
im Vorderraum, wo er fich verborgen hielt. Sch ver⸗ 
mißte zu jener Zeit mein größtes Tranchirmeſſer aus ber 
Schiffsküche und bemerkte daſſelbe in Haffein’8 Händen. 
Diejer hielt das Tranchirmeſſer in der einen, fein eigenes 
Mefjer in der andern Hand. Der Kapitän forderte ihn 
auf, auf Deck zu kommen und vie Meffer wegzufegen, er 
aber verweigerte beibes und fagte in feinem gebrochenen 
Engliſch: «Geſetzt den Fall, ich bringe einen um, fo jterbe 
ih auch.» Der Kapitän wieberholte die Aufforderung an 
Haffein, auf Deck zu kommen, vielemal, jedoch immer ver- 
geblich. Die Lufe wurde biernach vermitteld einer ange- 
nagelten Breterthür gefihert. Am nächiten Morgen be- 
fahl ver Kapitän dem Zimmermann die Breter zu entfernen, 
und forverte Hafjein wieberum auf, heraufzukommen, bie 
Meſſer abzugeben und feinen Dienft anzutreten. Er er- 
widerte: «Mein, ich gehe nicht auf Ded.» Ich begab 
mid in das Zwiſchendeck, um von dort aus in ben Vor- 
berraum zu gelangen und mich Haſſein's zu bemächtigen. 
Diefer aber bebrohte mich mit dem Meffer, ſodaß ich 
zurüdweichen mußte. Der Kapitän gab, um Daffein zu 
erichreden, einen blinden Schuß auf die Kohlenfäde ab, 
allein dieſer zeigte Feine Furcht und bedrohte im Gegen- 
theile alle, die fi ihm nähern wollten. Die Breterthür 
XXII. 14 


2310 Töodtung eines Matrofen auf hoher See. 


wurde jede Nacht feftgenagelt und bes Morgens wieder 
abgenommen. So oft dies geſchah, erging au Haſſein 
die Aufforderung, auf Ded zu fommen, er aber ver- 
weigerte jedesmal ben Gehorfam. So geſchah es vier 
oder fünf Tage hindurch. Es ftellte ſich nun allmählich 
dad Bedürfniß nach Kohlen heraus, aber niemand wagte 
fih in den Vorderraum hinab aus Angft vor Haffein und 
feinen Mefjern. Kapitän Cocks fchloß ſodann mit Haffein 
eine Art Uebereinlommen ab, wonach biefer die Koblen- 
übel füllen follte und dafür mit Waffer und Schiffe- 
zwiebad verjehen wurde. Haſſein war bereit8 mehrere 
Tage lang ohne Waffer geblieben und hatte wieberholt 
barum gebeten. Eines Morgend bemerkte ich Haffein 
auf Ded. Er war foeben vom Zimmermann umb bem 
Unterftenermann gefaßt, überwältigt und gebunden worden. 
Der Kapitän erzählte mir umaufgeforvert, daß Haſſein 
die Hand auf feine Schulter gelegt habe, als er in feiner 
Koje fchlief, und daß er darüber erwacht wäre. Haffein 
wurde bierauf in Eifen gelegt und in das Zwiſchendeck 
in Gewahrfam gebracht. Am nächſten Zage aber ftreifte 
er die Eifen ab. Er wurde jeboch wieber ergriffen, bie 
Eifenringe um feine Beine befejtigt und nur etwas Segel- 
tuch dazwifchengethan, bamit die Eifen ihn nicht wund 
prüden follten. In biefer DVerfaffung verblieb er etwa 
14 Tage oder brei Wochen. Er erhielt jeden Tag als 
Ration ein Duart Waffer und ein Pfund Schiffszwiehed 
und an jebem zweiten Tage ein halbes Pfund Fleifch von 
mir verabfolgt. Am letzten Tage, an dem Haffein in 
Ketten war, Hagte er, daß er Frank jet. Der Kapitän 
verabreichte ihm Medicin. Auch erhielt er an biefem 
Tage von mir auf ausbrüdlichen Befehl des Kapitäns 
feine volle Ration Lebensmittel. Das Tranchirmeffer ver: 
ſchwand von neuem, und es wurde conftatirt, daß Haffein 








Tödtung eines Matrofen auf hoöoher See. 211 


in ben Beſitz deffelben gefommen war. Wie dies geicheben 
fonnte, weiß ich nicht. Haffein hatte fich wieder in den 
Vorderraum geflüchtet und verfchanzt. Der Kapitän 
richtete abermuld die Aufforderung an ihn herauszu⸗ 
fommen, er verweigerte e8 und fagte nochmals: «Menn 
ich einen umgebracht babe, fo fterbe ich zufrieden.» Die 
Luke wurde hierauf wie zuvor mit Bretern vernagelt. 
Am nächſten Morgen wurbe die Verſchalung entfernt; doch 
ehe dies geihah die Schiffemannfchaft mit den vorhan- 
denen Schießwaffen ausgerüftet. ‘Die gefammte bienftfrete 
Bemannung ber Barke trat zuſammen, und es wurbe ver- 
einbart, mit Haffein ein Ende zu machen, da die Gefahr, 
die uns allen durch fein Verfahren brohte, fehr groß ge- 
worden war. Cinftimmig wurde befchloffen, ihn, wenn 
wir ihn faffen könnten, zu töbten. SHaffein fcheint von 
biefem Beichluffe unterrichtet worben zu fein, denn er ver- 
fuchte in der darauffolgenden Nacht zum erften mal ben 
Berichlag, der die Luke bevedte, zu durchbrechen und das 
Theertuch, das barübergebreitet war, mit Meſſerſtichen 
zu burchlöchern. Um 8 Uhr früh befahl der Kapitän 
dem Zimmermann, wie an jebem Morgen, die Breter zu 
entfernen. ‘Die gefammte Mannjchaft umftand vie Lufe. 
Der Kapitän forderte Haffein zum legten mal auf, auf 
Deck zu fommen, und erflärte ihm: wenn er zu feiner 
Pflicht zurückkehren und feine ‘Dienftleiftungen wieder auf- 
nehmen wolle, jolle alles Vergangene verziehen und ver- 
geffen fein. Er folle dann feine Strafe befommen. Er 
weigerte fich jeboch wieder und fagte: «Sch gehe nicht 
auf Ded, ich will Hier fterben.» Man fuchte ihn ſodann 
Dadurch beranszutreiben, daß man Waffer hinabichüttete. 
Als das Waffer den Boden des Vorberraums überflutete, 
flüchtete fich Haffein auf die aufgefchichteten Kohlen. Ich 
begab mich in das Zwiſchendeck, um von dort aus Haffein 
14* 





212  Tödtung eines Matrofen auf hoher See, 


beffer beobachten zu können. Ich war mit des Kapitäns 
Revolver bewaffnet und feft entichloffen, ihn, wenn er 
bie Abficht, mich anzugreifen, an ven Tag legte, niederzu⸗ 
ichießen. Der Zimmermann fchnitt Spalten in bie Holz- 
verffeivung, um Haſſein's anfichtig gu werben. Ich ver⸗ 
ſah mich mit einem Bootshalen; Haffein fchien unfere 
Vorbereitungen zu bemerfen, denn er griff durch bie 
Spalten ver Wand nach meinem Hafen und drohte mit 
bem Meſſer. Dadurch wurde den auf Deck beobachtenpen 
Perjonen ein Theil feines Körpers fihtbar. Mr. Evans, 
ber Oberfteuermann, ber ſich ganz vorn an ber Deffuung 
ber Luke befand, bemerfte das und fchoß eine mit grobem 
Schrot oder Boten geladene Flinte auf ihn ab. Er ver- 
wundete damit Haffein am Fuße. Hierauf wurbe Haffeln 
nochmals aufgeforbert, auf Ded zu kommen, und ihm Ver⸗ 
zeihung zugefichert. Im diefer Zeit hatte Haſſein ficher- 
lich das Tranchirmeſſer, eine Brechftange und noch anbere 
eiferne Werkzeuge zur Hand. ‘Da er fi) aber immer 
noch nicht ergeben wollte, wurde der Verſchlag wieder 
zugenagelt und die ganze Nacht Wache dabei gehalten. 
Am nächſten Morgen befahl der Kapitän wie gewöhnlich 
bie Entfernung ber Breter. Man ſah Haffein zufammen- 
gefauert auf ven Kohlen liegen. Der Unterfteuermann Mr. 
Sleaves hatte eine fcharfgeladene Flinte in ven Händen 
und ſchoß daraus auf Haffein. Der Matroje Webfter 
ſchoß gleichfalls aus dem Revolver, den ich wieder zurüd- 
geftellt Hatte. Haffein ſchien fchwer getroffen, ich glaube 
mitten im Leibe. Ein Matrofe, Namens Charles Hımt, 
ließ ſich ſodann an einem Seile in ven Vorberraum binab, 
befeftigte einen Bootshaken an Haffein’8 Kleidern, und 
jo wurbe er binaufgehift. Er biutete aus der Wunde 
an der Seite. Die gefammte Schiffsmannfchaft war an⸗ 
weiend. Jemand fagte: «Es ift beffer ihn ganz umzu⸗ 


Tödtung eines Matrojen auf hoher See. 213 


bringen, da er obnebies fo jchwer verwundet if.» Wer 
es geſagt bat, weiß ich nicht. Webfter, der den Revolver 
in der Hand hielt, Schoß ihn dann in den Kopf und nad 
faum fünf Minuten war er tobt. Etwa eine balbe 
Stunde fpäter wurde er mit einem Gewicht an ben 
Füßen, damit er fchneller ſinken follte, über Bord ges 
worfen.“ 

Der Zeuge wurbe nun einem Kreuzverhör unterworfen, 
welches indeß feine weitern neuen Momente brachte ale 
die ergänzende Mittheilung: Haſſein fei auch un Beſitze 
von Zünphölzchen geweſen, und die Mannichaft habe in 
der Furcht gelebt, er könne das Schiff anzünden. 

Der Schiffezimmermann David Thow gab eine im 
wejentlichen gleichlautende Ausfage ab. 

Die Verhandlung vom 31. Mat brachte die Verneh- 
mung des Charles Goobliffe Hunt. Diefer fagte aus: 

„Ich bin Matrofe erfter Klaffe an Bord der Lady 
Douglas gewejen. Ich weiß, daß der Malaie Haffein 
angeworben wurde und an Bord kam. Nicht lange nach⸗ 
dem wir uns von Gascoigne aus eingejchifft Hatten, be- 
merkte man, daß Haffein abgängig fe. Es war dies, ale 
wir uns unweit des Cap ber guten Hoffnung befanden. 
Allein bald darauf ift er im Schiffsraume entbedt wor- 
den. Ich babe vie Gewohnheit, bei Seereifen alle Ereig- 
niffe in meinem Notizbuche zu verzeichnen, und Tann 
darum die Daten mit folcher Beſtimmtheit angeben. Als 
Haffein aufgefunden wurbe, fchten er halb verhungert. 
Man verabreichte ihm Brot und Butter, Am nächiten 
Tage war Haffein wieder im Vorberraum verftedt. Wegen 
ter Kohlen mußte mit Haffein eine Vereinbarung getroffen 
werben. Der Kapitän ließ ihm eine Pinte Waſſer geben, 
nachdem er acht Tage lang ohne folches geblieben war. 
Gegen die Ausfolgung von etwas Waffer Tieß Haffein 











214  Tödtung eines Matrofen auf hoher See. 


Kohlen holen. Ich felbft war derjenige, welcher das Brenn- 
material hinaufbringen mußte. Die andern Matrojen 
fürchteten fich zu fehr vor ihm. Einige Tage fpäter vegte 
ber Kapitän Die Frage an, ob man Haffein umbringen 
folle. Er fragte mich felbft ganz direct: «Sind Sie da⸗ 
mit einverftanden, daß Haffein getöbtet wird?» Ich ant- 
wortete: «Laſſen Sie doch den armen Teufel am Xeben. 
Nehmen Sie ihn mit nach England und ftellen Ste ihn 
vor ein englifches Schwurgericht. Wenn er ein Unrecht 
begangen hat, wird ihn fchon bie gefegliche Strafe treffen.» 
Die Kameraden haben mir erzählt, daß Haffein bie Eifen, 
mit benen er gefeffelt war, abgeftreift hätte. Der Sa 
pitän forderte die Mannfchaft auf, eine Eintragung in 
dem Logbuch zu unterfchreiben. Ich aber fam biefer Anf- 
forberung damals nicht nad. Am nächften Tage wurbe 
mehrmals auf Haſſein gefchoffen. Kapitän Code fagte, 
er babe nur die Abficht, den Malaien durch einen blinden 
Schuß zu erjchreden und ihn gefügig zu machen. Der 
Steuermann hingegen fagte: «Ich habe ihn getroffen, das 
ift ficher, umd wenn ich Gelegenheit dazu finde, wirb er ein 
zweites Denfzeichen von mir erhalten.» Ich habe es nicht 
felbft gejehen, daß der Kapitän gejchoffen Hat. Es war 
mir, ebenfo wie ven andern Matrojen, befohlen worden, 
Waffer in den Vorderraum zu ſchütten, um Haffein zur 
Ergebung zu zwingen. Der Kapitän fagte zu ben Ser 
leuten; «Nur immer darauf los, meine Jungen! Bringt 
ihn nur um. Ich übernehme vie VBerantwortlichkeit.» Zu 
Haffein aber fagte der Kapitän, daß wenn er nur herauf- 
fommen wolle, ihm gewiß nichts gefchehen werde. Am 
folgenden Tage berief der Kapitän bie gefammte Schiffs. 
mannfchaft und hielt eine Anſprache an und. Er fagte 
im wefentlichen: «Diejer Kerl ift ein fehr gefährliches 
Individuum, und zum Schuße unfers eigenen Lebens und 








Tödtung eines Matrojen auf hoher See. 215 


des Schiffes, meine Iungen, müffen wir ihm den Garaus 
machen.» Ich konnte die Bemerkung nicht unterbrüden: 
«a, und wenn wir bann zur NRechenfchaft gezogen wer- 
ben, jo haben wir alles auszubaden.» Der Kapitän er- 
wiberte mir aber: «Nein, dem ift nicht fo. Ich allein bin 
ber verantwortliche Theil.» Wir gingen insgefammt nad) 
vorn, und als die Luke geöffnet war, fahen wir Haffein 
ganz erſchöpft und hülflos, wie erftarrt, mit durchnäßten 
Kleidern auf den Kohlen liegen. Ich war der Anficht, 
daß es ohnehin fchon aus mit ihm fei und man ihn 
nicht weiter quälen folle. Dennoch wurde ein Schuß auf 
ihn abgefeuert. Ich hörte wol den Knall, habe aber nicht 
jelbjt gejehen, wer ihn abgab. Haffein war in ver Lende 
getroffen und begann fein Sterbelied zu fingen. ‘Der 
Kapitän fragte: «Nun, Jungens, wer von euch wird ihn 
beraufholen?» Ich erflärte mich bereit dazu. Da fein 
Schiffstan zur Hand war, löften wir das Seil von bem 
Waffereimer, ich ftieg hinab und befeftigte e8 an ben 
Beinjchellen, die Haffein noch umgelegt Hatte. Daran 
wurde er auf Ded gehißt. Haffein wog damals gewiß 
nicht mehr als 40 Pfund. Ich nahm ſodann das Trandir- 
meffer, das Haſſein bei fich geführt Hatte, an mich und 
reichte e8 hinauf. Als Haffein auf Deck angelangt war, 
ſchien er bereits faft topt und ich rief den übrigen zu: 
«Jetzt ift e8 aber auch genug. Ihr braucht ihn nicht zu 
burchlöchern.» Nichtsbeftoweniger wurbe ein anderer Schuß 
ans nächfter Nähe auf ven wehrlofen Menfchen abgefeuert. 
Haffein wurde dadurch im Kopfe getroffen und das Ge⸗ 
birm drang aus dem zeriprengten Schädel. Ich fah nicht 
bin, als diefer Schuß abgegeben wurde, ich war angeefelt 
und hatte mich abgewendet.“ 

Im Kreuzverhör, dem ber Zeuge durch den Ver⸗ 


216 Todtung eines Matrofen auf hoher See. 


theidiger Dir. St. John Wontner unterworfen wurde, 
fagte er weiter aus: 

„Ich bin in Freemantle an Bord der Lady Douglas 
gefommen. Nach Auftralien war ich an Bord des John 
S. Roe gelangt. Es waren fech8 Monate zwiſchen 
meiner Ankunft und dieſer Einjchiffung vergangen, welchen 
Zeitraum ich auf dem Lande verbracht habe. Ich war 
von jeher entfchieven gegen die Anwerbung farbiger Leute, 
und habe vem Kapitän gegenüber ſchon damals unverboblen 
mein Misvergnügen darüber, daß man malaitiche Matroſen 
an Bord nehme, geäußert. Ich wäre lieber in das Gefäng- 
niß gegangen, als in Gejellichaft folder heimtückiſchen 
Gefellen in See geftochen; allein ich hatte nichts zu bes 
fehlen und mußte mich, gleich der übrigen europätfchen 
Mannfchaft, eben fügen. Ich ftand keineswegs in freund- 
ſchaftlichem BVerhältniffe zu Haffein und war mit ihm 
burchaus nicht in vertrauten Verkehr, als jener fich im 
Vorderraume des Schiffs verbarg. ALS er jedoch in Eifen 
gelegt wurde, ſchenkte ich ihm, da ich Mitleiv mit ihm 
fühlte, aus Erbarmen etwas Tabad. Ich verabreichte 
Haffein Feine Zünphölzchen, der Tabad war zum Kauen, 
nicht zum Rauchen bejtimmt. Wenn Haffein überhaupt 
Zünphölzchen befaß, was ich kaum glaube, fo Tamm er 
fie nur von Webfter erhalten haben. Diefer raucht, wir 
ältern Matroſen kauen nur Tabad. Ich gab Haffein 
weber Eiſendraht noch Schlüffel, um die Eifen loszulöſen. 
Man hielt mich übrigens abfichtlih fern von Haſſein, 
denn die Mannjchaft befchulpigte mich fälfchlich, ich fei 
mit jenem im Cinverftänoniffe und ftedle ihm heimlich 
Nahrung zu. Ich babe dies jedoch nicht gethan, fonbern 
nur meiner Theilnahme und meinem Misvergnügen über 
die granfame Behandlung des Armen ungefchminkten 
Ausdrud verliehen. Ich mag bie Malaien nicht, aber 











Tödtung eines Matrofen auf hoher See 217 
fie find doch Menfchen. Als das Schiff nächft Havre 


anlangte, wurde mir eine Eintragung in das Logbuch vor- 
gelegt, und ich unter Drohungen zur Mitfertigung ge- 
zwungen. Es war mir nicht befannt, daß, al® der Ka⸗ 
pitän mein Cinverftänpniß zur Tödtung des Haffein 
begebrte, die geſammte Bemannung bereit8 einig umb 
entjchloffen war und man feinen Tod zur Sicherung bes 
Schiffe, welches er angeblich bedrohe, verlangt hatte. 
Die gefammte Bemannung, außer mir, unterzeichnete bie 
Eintragung freiwillig, nur ich mußte zur Unterfchrift ge- 
zwungen werben. Ich wurbe auch mit Unrecht vwerbäch- 
tigt, daß ich dem Haffein bie Brechitange, in beren Ber 
fig er fih befand, verjchafft hätte. Ich weiß übrigens 
nichts davon, daß Haffein von biejer Brechftange irgend⸗ 
welchen Gebrauch gemacht hätte, und babe auch nichts 
davon gehört, daß Haffein je die Bemannung damit be⸗ 
drohte. Ich nahm entſchieden keinen Antbeil an ver Hetze 
und ber Verfolgung bes Haffein. Ich war darum von ber 
Mannichaft geradeswegs felber verfemt. Ich wiberjeßte 
mich auch nach Kräften dem Beichluffe, Hafjein umzu⸗ 
bringen, konnte e8 aber nicht verhindern. Während ber 
zwei Monate, die Haffein im Vorderraum zubrachte, 
wurde er faft nur mit Waffer und Brot gefpeift, darum 
war er wol fo entjeglich abgemagert. Als Haſſein ben 
Schuß in die Seite erhalten batte, begann er mit faum 
vernehmbarer Stimme fein Sterbelied zu fingen. AS 
ich den Bootshafen an Haffein’8 Beinen befeitigte, mar 
biefer ficher nicht tobt. Ich befeftigte das Seil gerade 
darum an den Beinen, weil ich fürchtete, ihm größere 
Schmerzen zu bereiten, wenn ich daſſelbe um ben ver- 
wundeten Leib fchlingen würde.” 

Peter King, nohmals als Zeuge vorgerufen, fagte 
aus: 


218 Tödtung eines Matrofen auf hoher See. 


„Nachdem Haffein todt war und bevor er über Bord 
geworfen wurbe, ſah ich, baf der erfte Schiffsoffizier, 
Mr. Evans, die Beinfchellen von Haffein’® Beinen löfte.” 

Der Malate Caſſein, veffen Ausfage verbolmetjcht 
werben mußte, gibt an: 

„Ich bin gleichzeitig mit Haffein in Gascoigne ange 
worben worden. Nachdem Haffein vermißt, aber einige 
Zeit danach im Vorberraume aufgefunden worben, hat 
mich ber Kapitän in die Kajüte einfperren laſſen. Wol 
bat man mich fpäter wieder freigelaffen, allein zu brei 
wieberbolten malen bin ich abermals eingeiperrt worben, 
ſodaß ich nicht als Augenzeuge beobachten fonnte, was 
vorging.“ 

Karl Chriſtianſen, ein Matroſe deutſcher Nationa⸗ 
lität, ſagt aus: 

„waffen teilte die Wache mit mir. Er fühlte fich 
allezeit fehr unglücklich und äußerte mehrmals fein lebhaftes 
DBerlangen zu fterben. Ich beobachtete zufällig, wie Hajfein 
von dem Unterftenermann entvedt wurbe. Die Lule 
itanb offen, und ich befand mich gerade darüber in ber 
Zalelage. Am Tage ehe Haffein ftarb, vernahm ich deut⸗ 
ich, daß er kläglich nach feinem Landsmann und Glaubens⸗ 
genofjen Caffein rief. In dieſer Nacht verjuchte er auch zum 
eriten mal, fich mit feinem Meffer Luft zu verichaffen, 
und bohrte Rächer in bie Theerdecke, welche über bie Lufe 
gebreitet war. Am folgenden Morgen wurde von ben 
Offizieren unb ver Mannjchaft einbellig behauptet, das 
Beſte wäre, Haffein ven Garaus zu machen, tenn mit 
ibm an Bord Tiefe das Schiff die höchſte Gefahr. Ich 
jah mit eigenen Augen, wie die Schießgewehre und Re- 
volver auf Haffein gerichtet und abgebrüdt wurden. Den 
Schuß in den Fuß erhielt Haffein vom Oberftenermann. 
Vorher hatte man fchon verfucht, durch das Hinabfchütten 





Tödtung eines Matrofen auf hoher See. 219 


falten Waſſers Haffein aus feinem Verſteck herauszu⸗ 
treiben. Als es nicht gelang, hat man heißes Waſſer, 
übrigens ebenfo vergeblich, zur Anwendung gebracht. Ge 
tödtet wurde Haffein ficherlich erft purch den Schuß, den 
Webfter auf ihn abgegeben bat, als er bereits wehrlos 
auf Ded gebracht worden war.” 

Frederick Stanley Smethurft, Schiffejunge an 
Bord der Lady Douglas, wird zulegt vernommen. Er 
weiß, daß alle Anweſenden übereinftimmend es für das 
Beſte hielten, Hafjein zu erjchießen und ihn fo von feinen 
Dualen zu erlöfen. 

Da bie Angeflagten, dem englischen Brauche gemäß, 
in ber Borausfiht, daß fie boch jedenfalls vor das 
Schwurgericht geftellt werben würben, und über bie ihnen 
nachtheiligen Rechtsfolgen ihrer eventuellen Verantwortung 
belehrt, es ablehnten, vor dem Polizeigericht eine Ausfage 
abzugeben, bejtimmte ber Polizeirichter, daß fie in ber 
nächiten Seffion des Central-Criminalgerichtshofes ihr 
Urtheil von den Geſchworenen empfangen follten. Die 
angebotene Bürgſchaft für ihr richtiges Erjcheinen wurde 
abgelehnt, die Beihhulpigten in Verwahrungshaft behalten, 
bie Zeugen aber in Freiheit gefett. 

Am 29. und 30. Juni 1887 wurbe die Hauptver⸗ 
handlung vor dem Schwurgericht gehalten. 

Richter Stephen führte den Vorfik. Für die An- 
Hage erfchienen namens ber Krone Die Advocaten Poland 
und Mead. Die Vertheidigung für den Kapitän Code 
hatte Rechtsanwalt Mr. Besley, für ben Oberfteuer- 
mann Evans Mr. Geoghegan, für ben Unterfteuer- 
mann Gleaves Mr. 9. Avory, für den Matrofen 
Webfter Dir. I. P. Grain übernommen. 

Mr. Poland eröffnete namens ber Anklage die Ver- 
Handlung. Zunächſt gab er eine Darftellung des that- 





2320  Töbtung eines Matrofen auf hoher See 


fächlichen Sachverhalts, wie fie den vorausgehennen Aus- 
führungen und ven vor dem Polizeigericht vornommenen 
Ausfagen der Zeugen entipricht. Sobann betonte er die 
principielle Wichtigleit des Falles, welcher für die Ge 
richtsbarfeit auf hoher See von enticheivender Wirkung 
werben dürfte. Das Schiff war britifches Eigenthum, 
mit Rüdficht auf die gefeßliche Fiction alſo englifcher 
Boden, und nach engliſchem Geje muß daher Necht ge 
fprochen werden. Der Ankläger leugnet, daß ein Fall 
eigentlicher Meuteret vorliege. Haffein habe keine Ger 
noffen feiner Unbotmäßigfeit gehabt, Caffein, der andere 
Malaie, babe fich als ein verjchüchterter, ungefährlicher 
Burſche erwiejen, der englifche Matrofe Eharles Hunt 
aber fei wol ein Gegner der rohen Gewaltmaßregeln, 
nicht aber ein Mitverſchworener geweſen. Man Habe 
Haffein ohnedies gefangen gehalten, und konnte ihn alfo 
nah England bringen, ohne ihn zu töbten. Da num end» 
ih gar Haffein jchwer verwundet und gänzlich wehrlos 
gemacht worben war, hätten Menfchen, die einen Funken 
von Humanität bejäßen, alles aufbieten müſſen, ihm zu 
Hülfe zu kommen und im nächftgelegenen Hafen Ärztlichen 
Beiftand anzurufen. Allein dies wurbe gefliffentlich ver- 
abjäumt. Im Gegentheil, unter dem Vorwande, feine 
Leiden abzukürzen, wurde dem Matrofen Webfter der Ne 
volver in die Hand gebrüdt und dem volllommen Hülf- 
lofen, wie einem verwunbeten Hirſch der Genidfang ger 
geben wird — gemäß ver Ausdrucksweiſe der als Zeugen ver⸗ 
hörten Seeleute —, der „Garaus gemacht”. Dem Kapi- 
tän eines Schiffs find wol ſehr umfaſſende Gerechtfame 
eingeräumt, um das Leben der ihm unterftellten Mannſchaft 
und bie Sicherheit des Schiffs und der Ladung zu ſchützen 
und zu wahren; allein bafür liegt ihm hie Verpflichtung 
od, diefe Gerechtfame nur im Geifte ver Humanität und 








Tödtung eines Matrofen auf hoher See. 991 


als rechtlich ventender Menfch zu gebrauchen. Im vor» 
liegenden alle ift mit Vorbebacht und nach reiflicher 
Ueberlegung ver Entfchluß gefaßt worden, dem armen 
farbigen Matrofen das Leben zu nehmen. Jede Beru- 
fung auf erlaubte und gebotene Nothwehr entfällt im Hin- 
blie auf den hülfloſen Zuftand, in welchem ver Malaie 
auf Ded gebracht wurde und in welchem derſelbe bereits 
vollftändig unfähig gemacht worden war, Schaden zu ftiften. 
Die Nothwendigkeit, Haffein zu töbten, um das Leben 
oder bie Sicherheit ver Mannfchaft ober des Schiffs zu 
Ihügen, habe nicht vorgelegen, es qualificire fich bie 
That deshalb als vorbedachter Mord, und in biefem 
Sinne erhebe er die Anklage. 

Das Zeugenverhör bemegt fich in benfelben Bahnen 
wie vor dem Polizeigericht, und die vorgerufenen Seeleute 
geben gleichlautende Ausfagen ab. 

Das Logbuch des Schiffs wird zur Verlefung gebracht 
und den Gefchworenen zur Einfichtnahme unterbreitet. 

Dir. Besley, per Vertheidiger des Hauptangeflagten, 
Kapitän Code, hebt zumächft hervor, daß die Bemannung 
bes Schiffs zwei qualvolle Monate hindurch von Haffein 
im Zuſtande der Angft und der Beunrubigung gehalten 
worden ift, da er mehrfach gebroht babe, zunor jemand 
umzubringen und dann befriedigt zu fterben. Die See- 
leute fürchteten fh Dann für Dann in die Takelage zu 
fteigen aus Angit, baß fie, wenn fie fich herabließen, 
hinterrüds von dem Malaien mit dem Meffer angegriffen 
und geftochen würden. inige Zeit lang konnte auf dem 
Schiffe gar nicht mehr gelocht werben, denn bie Kohlen 
des Vorraths in der Küche waren aufgebraucht und keiner 
wagte es Feuerungsmaterial zu Holen. ‘Der getöbtete 
Matroſe fei niemals fchlecht behandelt worden, man habe 
ihn aber, trotzdem ihm erklärt worden war, es folle ihm 





222 Töodtung eines Matrofen auf hoher See. 


alles verziehen fein, wenn er zu feiner Pflicht zurückkehre, 
mit der Brechftange an die Schiffewänbe fchlagen hören, 
fodaß die Befürchtung entftehen mußte, er würde ein Led 
verurfachen. Er hatte feine Gewänber getheert und man 
nahm an, daß er im Befige von Zünphölzchen wäre umb 
alfo das Schiff in Flammen ſetzen könnte. Er wurbe 
wiederholt aufgefordert, auf Ded zu kommen und feine 
Waffen abzultefern, wogegen ihm volle Straflofigfeit zu- 
gefichert wurde — er aber weigerte fich confequent dies 
zu thun. Nur einmal kam er unvermuthet mit bem 
Küchenmeffer in der Hand auf Ded, offenbar in ver 
Abſicht, ein Unglück anzurichten, vielleicht fogar einen 
Menſchen zu tödten. Das Schiff felbit war wol aus 
Eiſen erbaut, allein bereitS 30 Jahre alt, und die Platten 
nur 5%, Zoll did, ſodaß die Möglichkeit gegeben war, 
durch Schläge mit einer Brechftange einige Vernietungen 
einzuftoßen. Infolge davon wäre die Losläfung einer 
Platte unausbleiblich eingetreten und das Schiff dem 
Untergange nahe geführt worden. Da der Malaie es 
verftanden hatte, ſich der Eijenfeffeln bis auf die Bein⸗ 
fchelfen zu entledigen, und die Befürchtung gegründet er- 
fchien, daß er einen ober mehrere der Bemannung er- 
morden oder Teuer anlegen wiürbe, fo gelangte bie 
geſammte Schiffsmannfchaft zu dem einhelligen Beſchluſſe, 
daß der Mann um ihrer und des Schiffs Sicherheit 
willen erjchoffen werben müſſe. Uebrigens ift auch bes 
fannt, daß unter einem Theile ver Malaien ver Glaube 
verbreitet ift, baß fie, wenn fie vor ihrem eigenen Tode 
einen Menjchen anderer Religion töbteten, ein verbienft- 
liches, gottgefälliges Werl verüben und gerabeswegs in 
das Paradies eingeben. Es tft jehr möglich, daß Haffein 
ein Anhänger dieſes Glaubens war. Während ungefähr 
dreier Wochen gab es Feine wirkliche Nachtruhe an Bord 








Tödtung eines Matrofen auf hoher See. 223 


ber Lady Douglas, die Mannfchaft wagte e8, aus Furcht 
vor ihm, nicht fi) dem ungeftörten Genuß des Schlafs 
hinzugeben. Cinftimmig erklärten alle, e8 ſei die Pflicht 
bes Kapitäns, dem Ruheſtdrer zu befeitigen, ihn zu töbten. 
Trotz aller Vorkommniſſe tft Haffein bis zuletzt fortwährend 
mit der größten Milde und Langmuth behandelt, und 
niemal® und bei Teiner Gelegenheit mishandelt ober gar 
gepeinigt worden. Sowie übrigens das Schiff europäifchen 
Boden berührte, und dies geſchah zunächſt in Havre, er- 
ftattete der Kapitän ſofort dem Conful Bericht, ſodaß 
deſſen Meldung früher in London einlief als die Barke 
ſelbſt. 

Mr. Besley richtete an die Geſchworenen die Bitte, 
ſich zu vergegenwärtigen, in welchem Zuſtande ver Auf- 
regung und der Furcht ſich die geſammte Mannſchaft des 
Schiffs wegen des Gebarens des gerichteten Mannes be⸗ 
funden hatte, und zu erwägen, mit welchen Schwierigkeiten 
ſowol das Commando als die Leitung der Schiffahrt ver⸗ 
bunden war. Er behauptete, daß ſein Client ſowie die 
geſammte Bemannung im guten Glauben, ſich im Zu⸗ 
ſtande gerechter Nothwehr zu befinden, gehandelt hätten, 
und daß nach ihrer einhelligen Ueberzeugung die Siche⸗ 
rung ihres eigenen Lebens und des Schiffes den Tod 
Haſſein's erforderlich machte. Die Umſtände hatten daher 
den Beſchluß, ihn zu tödten, zur unumſtößlichen Noth⸗ 
wendigkeit erhoben, und alle Straffälligkeit hat zu ent⸗ 
fallen. Es iſt auch unmöglich geweſen, wie es ber Ka⸗ 
pitän urſprünglich beabſichtigte, in einem der Häfen der 
Azoren anzulegen, da widrige Winde ihn daran verhin⸗ 
derten. Der Vertheidiger beantragt ſomit, da jeder böſe 
Vorſatz mangelt und das Vorgehen des Kapitäns ſich 
als durch die Nothwendigkeit gerechtfertigt herausſtellt, 
die Freiſprechung ſeines Clienten. 


224 Tddtung eines Matrofen auf hoher See. 


Mr. H. Avory, für den Unterftenermam Gleaves, 
betont gleichfalls vie bona fides aller Betheiligten, daß 
die geſammte Schiffemannfchaft Haffein verurtbeilt und 
gerichtet habe, und gelangt zum gleichen Schluß wie jein 
Borrebner: die Tödtung fei ein Act der Nothwehr ge- 
wejen und müſſe ftraffrei bleiben. Zum Beweije, daß 
fein Client feine feinpfelige Gefinnung gegen Haſſein begte, 
hebt er hervor, daß leaves ſelbſt es gewefen jet, ber 
ben Malaien bei einer frühern Gelegenheit erfaßt, gerade 
da er auf dem Punkte ftand, über Bord zu [pringen, und 
ihm jo das Leben gerettet habe. 

Mr. Geoghegan, für den Oberftenermann Evans, 
begründet die Behauptung, daß Haffein als Meuterer zu 
betrachten war, und daß man mit ihm eben als mit 
einem Menterer zu verfahren gezwungen war. „Die 
Wichtigkeit der Enticheivung dieſes Falles ift eine überaus 
große und weitreichende, darin ftimme ich mit dem Ans 
fäger überein, denn die Rapitäne der Schiffe erben 
künftig ihr Verhalten gegen Meuterer danach einrichten 
müffen. Es würde ein verhängnißvoller Tag für bie 
Mannszucht auf allen Kauffahrteifchiffen werden, wenn, 
was ich nicht annehmen mag und kann, die Gejchworenen 
ein verurthetlendes Verdict fällen follten. Sie würden 
damit bie Autorität des Kapitäns, bie immer für unan- 
taftbar erachtet wurbe, auf allen nicht ber Kriegsmarine 
angehörigen Schiffen für alle Zeit untergraben.” Der 
Vertheidiger ſucht ſodann nachzuweiien, daß dem Haſſein 
gegenüber alle Mittel der Nachficht und Geduld gründlich 
erſchöpft wurden, ehe man dazu fchritt, ihn zu richten, 
und bebt hervor, daß insbeſondere fein Client ſchuldlos 
jet, denn er habe nachdrücklich, wenn auch leiber vergeb- 
ih, vor der Anwerbung der Malaien, deren beim- 
tüdifchen, unzuverläffigen Charakter er aus Erfahrung 








Tödtung eines Matrofen auf hoher See. 9225 


fannte, gewarnt. Gegen ibn ſelbſt fei in Gascoigne von 
einem Malaien ein Morbverfuch unternommen worben, 
und doch habe Evans perfänlich Haffein, bei einem Selbft- 
morbverfuh, ben diefer geplant, zurüdgehalten. “Die 
Tödtung Haſſein's aber in dem Stabium, ba fie erfolgte, 
babe er als einen Act gebotener Selbiterhaltung und 
darum als eine berechtigte Handlung ver Nothwehr ans 
jehen müſſen, und es ift in ber That auch eine folche 
geweſen. 

Mr. Grain für den Matroſen Webſter macht gel⸗ 
tend, daß fein Client gemäß dem Befehle feines Vorge⸗ 
ſetzten handelte, eine Weigerung ſeinerſeits wäre ein Act 
der Auflehnung, alſo der Meuterei geweſen, ihn träfe 
daher ſelbſt dann keine Verantwortlichkeit, wenn kein Fall 
erlaubter Nothwehr zum Schutze des Lebens der Mann⸗ 
ſchaft und der Sicherheit des Schiffs vorgelegen hätte. 

Das Refume des Vorſitzenden, bes Richters Stephen, 
war Außerft forgfältig und eingehend gehalten. Nach 
einigen einleitenden Bemerkungen bittet er die Geſchwo⸗ 
renen, es ganz unbeachtet zu laffen, ob und inwiefern 
ihr Urtheilefprud von weittragender Bebeutung werben 
könne. „Sie haben ſich nur mit der Schulpfrage in con- 
creto zu bejhäftigen. Wenn Ihnen ganz zweifellos er- 
wieſen fcheint, daß bie Angeflagten fämmtlich, over ein- 
zelne von ihnen, bes Verbrechens ſchuldig find, um beffent- 
willen fie angellagt worden find, fo ift e8 bie Pflicht ver 
Gefchworenen, bie Verurtbeilung auszufprechen, unbeirrt 
ven dem Ihnen von der Vertheivigung des Evans borge- 
baltenen Schredbilde der Zerrüttung der Mannszucht 
auf den Kauffahrteifchiffen, unbeirrt von allen möglichen 
oder vorgefpiegelten Folgen. Nur wenn Ihnen ein Zweifel 
an ber fubjectiven Schuld der Angeklagten bleibt, dann 

XXI. 15 


226 Tödtung eines Matrofen auf hoher See. 


mögen Sie mit einem Freifpruche vorgehen. Was mid, 
den Richter, felbft anbelangt, fo kann ich foldhe Zweifel 
nicht fir begründet erachten, denn bie thatjächlichen Um— 
jtände, auf welche die Anklage fich ftügt, find durchweg 
erwieſen, ſowol durch die in allen wejentlichen Punkten 
übereinftimmenben Zeugenausjagen, als burch bie von 
pen Angeflagten eigenhändig gefchriebenen unb gefertigten 
Eintragungen in das Logbuch des Schiffs, welches im 
Laufe des Verfahrens den Geſchworenen zur Einficht vor- 
gelegt worben ift. Die principielle Frage, welche Sie, 
meine Herren Gefchworenen, zu erwägen und zu ent 
ſcheiden berufen find, ift nicht bie, auf welche Weife bie 
Mannszucht auf den Schiffen der Handelsflotte erhalten 
werben foll, fondern ob, außer in ven Fällen, bie das 
Geſetz ausdrücklich normirt, es erlaubt fein kann, bas 
Leben eines Mitmenjchen mit Vorbedacht zu nehmen. 
Dur Ihre Billigung würde die gefährliche und abſcheu⸗ 
liche Doctrin beftätigt, daß, ſobald ein Menſch feinen 
. Nebenmenjchen läſtig fällt, diefe, um dieſes Umftants 
willen, berechtigt fein follen, ihn zu tödten. Alſo nicht 
etwa aus zwingender Nothivendigfeit, fondern weil es 
ihnen pafjenb und nützlich erfcheint! Die Vereinbarung, 
welche die Mannjchaft in dem vorliegenden Falle getroffen 
bat, barf auf Ihre Entſcheidung über die Strafbarkeit 
ber Angeklagten feinen Einfluß üben. Diefe Vereinbarung 
war fein vechtögültiger Gerichtsbeſchluß, es war einfach 
ein organifirter Mordplan. Ich kann es nimmermehr als 
zuläſſig anfehen und erflären, daß ver Befehlshaber, bie 
Offiziere und die Mannfchaft eines Schiffs in ein Eon- 
elave zufammentreten und bejtimmen bürfen, einer von 
ihnen, ber ihnen Täftig fällt, folle erfchoffen werben, ohne 
baß ber Angeflagte vernommen ober gehört, geſchweige 
vertheibigt worden tft. Es iſt überbies noch ein er- 











Tödtung eines Matrofen auf hoher See. 227 


ſchwerender Umftand, daß diefe Berathung und Beichluß- 
faffung ohne Vorwilfen des Opfers jtattgefunben hat, 
Sie trägt aus diefem Grunde nicht den Charakter eines 
Gerichtöverfahrens an fih. Ein folder Vorgang ift un⸗ 
erbört und an fich verdammenswerth. Die Vertheibigung 
bat wohl daran gethan, hervorzuheben, der Fall fei von 
principieller Bedeutung und das Urtbeil werbe künftig 
Kapitänen und Mannichaften zur Nichtfehnur dienen. 
Das wird e8 hoffentlich, nur tft die Argumentation ber 
Bertheibigung nicht zutreffend. Wichtig iſt der Fall, weil 
ed fih um ben Schuß des Mlenfchenlebend handelt, und 
die Jury wird e8 wol bebenfen, daß fie nicht durch ihren 
Wahrſpruch befangene, ängftliche Gemüther ermuntert, 
jchwierige Verhältniſſe in brutaler Weiſe dadurch auszu⸗ 
gleichen, daß ſie zur Abwendung peinlicher Situationen 
gewiſſenlos Menſchenleben vernichten.“ 

Der Richter erörtert ſodann den Begriff erlaubter 
Nothwehr und definirt ihn dahin, daß eine Tödtung aus 
Nothwehr nur dann geftattet iſt, wenn ein Mann in ber 
Vertheidigung bed eigenen Lebens over des Lebens anderer 
Perſonen gegen ungefeßliche Vergewaltigung bieje ab⸗ 
wehrt, jedoch auch nur dann, wenn er hierzu alle andern 
Mittel erichöpft hat und dem ‘Drange der Nothwendigkeit 
nachgibt, welche Teinen andern Ausweg zuläßt, und wenn 
ed nur gejchieht, um wirklich die Abwehr des angebrohten 
Mebel8 zu bewirken. Die Gejchworenen mögen nun er- 
wägen, ob ber Kapitän ober die Mitglieder der Beman⸗ 
nung, thatfächlich in Gefahr für Leib und Leben gefchwebt 
haben, als fie Haffein töbteten, ob fie auch nur einen 
zureichenden Grund hatten zu bem Glauben, daß ihr 
Leben bedroht fei. Der Richter hebt Hierbei hervor, daß 
der Malaie niemals einen ernitlichen Verfuch gemacht 

15* 


228  Tödtung eines Matrofen auf hoher See. 


habe, einen Mann aus der Schiffemannfchaft zu ermorben, 
baß er auch nie in bie Lage gelommen ift, dieſes Vor⸗ 
haben auszuführen, außer etwa in jener Nacht, da er 
fich in die Kajüte und an das Lager des fchlafenden Ka⸗ 
pitäns ſchlich. Er bat aber damals nur die Schulter Des 
Schlafenden berührt,. ihn dadurch aufgewedt unb fich, 
als er angerufen wurde, ohne einen Gewaltact zu ver⸗ 
ſuchen aus ver Kajüte geflüchtet, und dann über Bord 
Ipringen wollen. Die bloße Angft ver Schiffemannjchaft, 
baß der Malaie einen unter ihnen bejchäbigen könnte, 
verleiht ihnen doch nicht das Recht, dem Matroſen das 
Leben zu nehmen! Auch die angebliche Banique, oder das 
durch das Benehmen des Malaien zweifellos hervorge⸗ 
rufene Unbehagen vermag ein folches gewaltſames Vor⸗ 
geben nicht zu rechtfertigen. Um ben Zujtand ber er- 
laubten Nothwehr herzuftellen, müßte erwiefen fein, baß 
bie Bebrohten fich in augenbliclicher und fonft unabwend⸗ 
barer Gefahr für Leib und Leben befunden hätten. 

Der Richter unterzieht das vorgeführte Beweismaterial 
einer eingehenden Erörterung und betont wiederholt, daß 
er feine eminente Gefahr ober bie Nothwendigkeit erſehen 
könnte, welche die Tödtung des malaiiſchen Matrojen er- 
fordert hätte. Der Nachweis dieſes Umftands mangele 
ganz und gar. Der Schiffsmannſchaft habe eine ganze 
Reihe von Möglichkeiten zu Gebote geftanden, ven Dann 
unfchäblich zu machen. Warum verjuchten fie, deren 
Uebermacht doch fo außer allem Verhältniffe ſtand, nicht 
ernftlich, ihn Iebend zu überwältigen? Sie hätten es 
fiher vermodt. Allein in ihrer feigen Furcht vor dem 
einzelnen Manne zogen fie e8 vor, ihn umzubringen, 
weil ihnen dies leichter, gefahrlofer und bequemer jchien. 
Solches Vorgehen aber „erlaubte Nothiwehr‘ nennen zu 
wollen, wiberfpriht dem gefunden Menſchenverſtande, 











Tödtung eines Matrofen auf bober See. 229 


fpricht allen Grundjägen ver Humanität Hohn, und über- 
fchreitet weitaus bie von dem Geſetze gezogene Grenze. 
Nah der Auffaffung des Nichters ift das Erſchießen 
bed wehrlojen Menſchen ein vorbedachter Mord, deſſen 
Verantwortung nicht nur auf den unmittelbaren Thäter, 
ſondern im gleichen Grade auch auf jene fällt, welche 
diefe That angeordnet haben. Site alle haben fie zu 
tragen. Freilich hat die Vertheibigung auch hervorgehoben, 
ver letzte Schuß, welcher Haffein das Leben nahm, fei 
eigentlich ein Act des Erbarmens, eine Art non Gnaden- 
ftoß gewefen, um ihn von feinen Qualen zu befreien. 
Allein abgefehen davon, daß diefe Behauptung ihrer Natur 
nach nicht bewiejen worden tft, erfennt das Geſetz dieſes 
Borgeben nicht an, es qualificirt e8 vielmehr als vorbedach⸗ 
ter Mord. Die Gefahr, welche aus einer andern Auffaffung 
entipringen würte, ift zu einleuchtend, als daß es noth- 
wendig wäre, dies noch beſonders zu begründen. Es iſt 
und bleibt eine unumftößliche, alfjeitig anerkannte Rechts⸗ 
regel, daß die Tödtung eines Menjchen unter folchem 
Vorwande eine verwerfliche Hanblung ift, und dieſe 
Rechtsanſchauung muß aufrecht erhalten werden, um bas 
Menfchenleben zu jchügen. Für dieſen legten Schuß it 
abjolut feine Nechtfertigung möglih und zuläſſig. Es 
ift fein Beweis geführt worten, daß der Getödtete wirf- 
lich das Leben der Schiffsmannjchaft oder die Sicherheit 
des Schiffs ernſtlich bedroht und gefährdet Hätte, nur 
Befürchtungen, die in der aufgeregten Phantafie der 
Schiffsmannſchaft zu Schredbildern fich geftalteten, find 
nachgewiejen worden. Schon ber zweite Schuß auf Hafjein 
war ein Act ber Feigheit, eine Grauſamkeit und eine 
meuchlerifche Handlung, denn der Malaie lag bereits ers 
ihöpft und wehrlos auf die Kohlen des Vorderraums 
bingeftredt. Als man den armen Menjchen, der nun gar 


230 Töbtung eines Matrofen auf hoher See. 


feinen Widerſtand mehr leiften Tonnte, auf Ded gehißt 
hatte, ſchoß man ihm eine Kugel duch das Hirn — um 
ihn von feinen Leiden zu befreien! Das Geſetz bezeichnet 
eine ſolche That ganz zweifellos als vorbedachten Mord, 
nicht als einen Act der Nothwehr, die zur Selbiterbal- 
tung geftattet ift. Die Frage, welche die Gefchivorenen 
demgemäß zu enticheiven haben, beichränft fich darauf, ob 
bie Hanblung mit ober ohne Vorbedacht gefchehen, ob fie 
entſchuldbar ift oder nicht, ob dieſelbe qualificirter Mord 
ober Vieberjchreitung geſetzlich erlaubter Nothwehr ift. 

Die Jury war nach kam einftündiger Berathung einig. 
Ihr Vormann verfündete das Urtbeil. Es lautete für 
alle Angeklagte: „Schuldig bes vorbebachten Mordes.“ 
Diefem Verbict feßte der Obmann hinzu: „Zugleich find 
wir aber übereingelommen, vie Angeflagten der Gnade 
bes Richters zu empfehlen, da wir zu ber Meberzeugung 
gelangten, daß biefelben in Unkenntniß und Misverftand 
bes Geſetzes gehandelt haben. Wir Bitten daher, Ew. 
Lordichaft möchte in Ihrer Weisheit und Milde biejer 
Empfehlung Rechnung tragen.“ | 

Die Angeklagten, befragt ob fie etwas vorzubringen 
wüßten, weshalb die Tobesitrafe nicht über fie verhängt 
werben folle, wieberholten insgeſammt, daß fie fich nicht 
ſchuldig fühlten. 

Der Richter Stephen bebedte fein Haupt mit ver 
Ichwarzen Kappe und wandte fich in einer kurzen Rebe 
an die Angeklagten. Er fagte: 

„Die Jury Bat den Urtheilsipruch gefällt, welcher ver 
Gerechtigkeit entfpricht, nämlich, daß ein jeder von Ihnen 
bes vorbedachten Mordes ſchuldig tft. Die Gefchworenen 
haben an dieſes Urtheil eine warme Empfehlung zum 
Zwede Ihrer Begnadigung gefnüpft, und haben fie damit 
begründet, daß fie annahmen, Sie hätten in Unkenntniß 








Tödtung eines Matrofen auf hbober See. 231 


und in misverftänblicher Auffaffung des Geſetzes ben 
Mord verübt. Ich werde dieſe Empfehlung an die Stufen 
bes Thrones leiten und ed wird bem Ermefjen einer 
höhern, gnadenreichen Stelle anheimgegeben fein, verjelben 
Folge zu leiten. Es ift nicht meine Aufgabe, Ihnen 
jest noch bier Dinge zu fagen, welche Ihre Bein ver⸗ 
größern müßten, ich will Ihnen feine nutlofe Dual vers 
urfachen; allein ich Farın nicht umhin, es auszujprechen, 
dag Sie einen großen Mangel menichlichen Mitgefühle 
und männlichen Muths an ven Tag gelegt haben, einen 
weit größern Mangel, als font bei britifchen Seeleuten 
vorausgefegt und gefunden zu werben pflegt, einen Mangel, 
den ich tief beflage und bedauere. Es ift nicht meines 
Amts zu erörtern, zu welcher Anfchauung fich Ihre Ma⸗ 
jeftät anläßlich des Ihr vorzulegenden Gnadengeſuchs zu- 
neigen wird. Meine Aufgabe geht nur dahin, dem Gejeß 
gemäß und von Rechts wegen das Urtbeil zu fällen.” 
Sodann ſprach der Richter in ber gewöhnlichen Form 
das Todesurtheil über fämmtliche vier Angeklagte aus. 





Trotz der großen Ehrfurcht, welche die Engländer ihren 
Richtern entgegenbringen, und vielleicht gerade infolge 
ihres weitgehenven Rechtsgefühls, artet ihr Reſpect vor 
bem Wichterfpruche nicht in blinde Unterwerfung aus. 
Wenn ein Urtheil den Anfchauungen größerer Kreife 
widerfpricht, wenn es eingewurzelten Anfichten entgegen» 
tritt, oder fonftwie die Intereffen ver Mitbürger berührt, 
fo iſt diefer Nichterfpruch der fchonungslofeften Kritik in 
ber Preffe, und der Discuffion in den Vereinsverſamm⸗ 
lungen ausgefegt. 

Der foeben gefchilverte Fall griff aber durch feine 
principielle Bedeutung für die Handhabung der Manns⸗ 





232 Tödtung eines Matrofen auf hoher See. 


zucht auf hoher See tief in das für maritime Ange- 
legenheiten ſehr empfinbliche öffentliche Bewußtſein. Die 
Sache der Theerjade ift die Sade Englands Das 
niederſchmetternde Todesurtheil erregte daher bei ben be- 
theiligten Gefellfchaftsfreifen gewaltiges Aufjehen. Sofert 
nach der Belanntgabe des Verdicts lud darum ber Bor- 
ſtand ver „Vereinigten Gejellfchaften zum Schuße britifcher 
Seeleute’ alle verwandten Bereine zu einer gemeinfamen 
Verfammlung ein, die am 4. Yuli abends in ber Roß— 
Taverne nächſt Old-Bailey in London abgehalten wurte. 

Der Präſident der einberufenden Gefellichaft, Schiffe- 
fapitän T. ©. Lemon, führte den Vorſitz und eröffnete 
die Berathung mit einer ausführlichen Darlegung des 
Sachverhalts und der Mittheilung des Todesurtheils, 
welches über Cocks, Gleaves, Evans und Webiter wegen 
Ermordung eines malaiischen Matrojen auf hoher See 
erlaffen wurde. Seine Darftellung verweilte befonders 
lange bei den ganz ungewöhnlichen Schwierigfeiten, welche 
bem Kapitän und ber Mannfchaft der Lady Douglas 
durch das Gebaren Haffein’8 erwachfen waren. Wohl gab 
er freimüthig feinem Bedauern Ausprud, daß es ihnen 
nicht gelingen wollte, diefe Schwierigfeiten in einer männ- 
lichern und würdigern Weile zu befiegen; aber zugleich 
bob er die fchwere Verantwortlichkeit hervor, welche ver 
Kapitän eines Schiffs zu tragen hat, der dazu berufen 
ift, das Leben ver ihm unterftellten Mannſchaft und das 
ihm anvertraute Gut gegen Alle und Alles zu befchügen, 
ſowie bie Nothwendigkeit, bie ihn zwingt, ftrenge Dtanne- 
zucht zu Halten. Die Schlußfolgerungen feiner Rede 
gingen dahin, die Auffaffung, welche die That ale vor- 
bedachten Mord gualificirt habe, zu verwerfen. Er er- 
fennt in der fraglichen Handlung nur einen Todtſchlag, 
und zwar, in Berüdfichtigung ber gegebenen Umſtände, 











Tödtung eines Matrofen auf hoher See. 233 


einen entſchuldbaren, weil nothwendigen Todtſchlag. Seiner 
Anficht nach würde daher eine Freiheitsftrafe, und fogar 
eine Freiheitöftrafe von kurzer Dauer genügen, eine Hand⸗ 
lung zu fühnen, bie unter den gegebenen Verhältniſſen 
getban werben mußte. Cine folche Strafe würde ficher- 
lich zur Folge haben, daß jene, die mit gleicher Gewalt 
ausgerüftet find, in Zukunft mit größerer Umficht ver- 
fahren würben, und fie veranlaffen, die ihnen zugetwiefene 
Macht mit mehr Weisheit zu gebrauchen. 

Schiffskapitän Roberts, in Vertretung des Rheders 
und Eigenthümers der Lady Douglas, verlag den Ent- 
wurf einer Bittfchrift, welche am felben Tage zu einer 
frühern Stunde in einer Verfammlung des Fachvereins 
der Rheder und Schiffseigenthümer bereit8 beſchloſſen 
wurde, vermittel® welcher die Fönigliche Gnade für bie 
Berurtheilten angerufen wird. 

Mr. ©. Peters, Schriftführer ver Zuderarbeiter- 
Verbindung, ſchlug einen Beſchluß vor, daß die Gejammt- 
zahl der vertretenen Gejellfehaften und Vereine gegen das 
Todesurtheil über die Angeklagten proteftiren follte: „weil 
die Gerichtöverhandlung den Beweis geliefert habe, daß 
der Malaie ald ein Wahnfinniger zu betrachten ſei, deſſen 
Anwejenheit eine eminente Gefahr für die Mannichaft, 
das Schiff und bie Labung war’, und in Anbetracht des 
entjcheidenvden Umftande®, daß die That, wie auch bie 
Geſchworenen anerkannt hätten, in gänzlicher Verfennung 
und unrichtiger Auffaffung des Gejetes gefchehen, und in 
dem guten Glauben, daß fie von ber Sachlage geboten 
und gerechtfertigt werde, verübt worden ſei. Er bean- 
tragt demgemäß, den Suftizminifter in einem Gefuche um 
den Aufichub ver Vollſtreckung des Urtheils anzugehen 
und die Königin in einer Bittfchrift um Begnadigung ber 
Verurtheilten zu erjuchen. 





234 Töðodtung eines Matrofen auf hoher See. 


Schiffsfapitän Butler unterftüßte den Antrag und 
erjtattet aus eigener Erfahrung Bericht über ben ver- 
rätherifchen und vachfüchtigen Charakter ver Malaien. 

Mr. Sohn Walton, Vertreter des Bezirks⸗Arbeiter⸗ 
vereins Batterſea, Schiffskapitän I. F. Keen und Mr. 
T. M. Kelly, Vertreter der Flußarbeiter-Gejellfchaft, 
iprechen fi im gleichen Sinne aus, während ein See 
mann, Namens James Green, opponirte, indem er 
hervorhob, daß der Malaie bereit8 im Vorderraume un⸗ 
ſchädlich gemacht, und daß er aljo Falten Blutes hinge⸗ 
morbet worden fei. 

Die Reſolution wurde aber ungeachtet dieſes Ein- 
ſpruchs mit überwältigender Majorität angenommen, die 
Eingaben gemäß dem vorgelegten Entwurfe genehmigt 
und bie einberufende Gejellfchaft beauftragt, ihr Prüs 
ſidium al8 Deputation zum Juſtizminiſter zu entjenven. 

Faſt umgehend nach Veberreichung biejer Eingabe ers 
hielt der Schriftführer der „Vereinigten Gejellfchaften zum 
Schuge britiicher Seeleute”, Mr. W. P. Lynn, nade 
ſtehendes Schreiben: 


„Whitehall, 6. Juli 1887. 

Geehrter Herr! — Unter Bezugnahme auf Ihre Ein- 
gabe in Sachen des James Cocks und dreier Conforten 
bin ich von dem Yuftizminifter beauftragt, Ihnen mitzu- 
theilen, daß er es ablehnen muß, Deputationen in ver 
Angelegenheit eines abgejchloffenen Strafproceffes zu em- 
pfangen. Zugleich bin ich ermächtigt, Ihnen zu eröffnen, 
daß der Minifter wegen ber genannten Berurtbeilten 
Ihrer Majeftät bereit8 Vortrag erftattet hat und fich zu 
beantragen erlaubte, das Tobesurtheil im Gnadenwege 
abzuändern und bie Buße in zeitliche Freiheitsftrafen zu 
verwandeln, Gemäß biefem Antrage bat Ihre Majeftät 








Tödtung eines Matrojen auf hoher See. 235 


zu genehmigen geruht, daß Cocks zu fünfjährigem, Evans 
und Gleaves zu je achtzehnmonatlichem Zuchthaufe und 
J. W. Webfter zu einjährigem Kerker begnapigt werben 
jollen. 
Ich verbleibe, geehrter Herr, Ihr ergebenjter 
Godfrey Luſhington.“ 


Kentucky · Vendetta. 
(Blutrache in Amerika.) 


18771887. 


Es iſt fein Märlein aus alten Zeiten, von denen vie 
Sage meldet, jondern eine Gefchichte vom allermobderniten 
Zufchnitt. Die düftere Logik: „Aug’ um Auge, Zahn um 
Zahn!” ift nicht erlofchen. Sie lebt nicht nur unter ven 
heißblütigen Kindern des Südens, die an ber überlieferten 
Pflicht der Sippe fefthalten, durch frifchvergoffene® Blut 
ben gewaltfamen Tod bes Blutsverwandten gu rächen, 
und daß jolche That wohlgefällig fei vor Gott und ben 
Menſchen. Das ftolze Gebäude, das wir „bie Gejell- 
haft” nennen, brödelt an allen Eden und Enden, warum 
jollten wir erftaunen, daß für reife, bie „Europas 
übertünchte Höflichkeit” nicht kennen, das gefetzmäßig ge- 
orbniete Strafverfahren nicht erfunden tft, das Licht und 
Schatten gleihmäßig vertbeilt und den Verbrecher nur 
büßen läßt, je nach dem Grade feines Berjchuldens?... 

Kentucky ift ein Land, das noch von einem roman: 
tiihen Schimmer umkleidet zu fein fcheint. Noch find die 
Ueberlieferungen des Hinterwäldlerthums nicht ganz ver- 
Hungen, bie „ruhmvolle Vergangenheit ver Pionniere des 
fernen Weſtens“ ift dort nicht in Vergeſſenheit gerathen. 





Kentudy-Benbetta. 237 


Dieje Traditionen ftehen aber unter dem Feldgeſchrei: „Jeder 
für fih und Gott für uns alle” — Der unverweichlichte, 
gefunde Sinn der von Selbftvertrauen gefchwellten Bürger 
Kentuckys kann fich in die hausbackene Weife der Gerechtig- 
feitöpflege mit ihren fteifen Formen und enplojen Ver. 
ichleppungen nicht finden, ihr Unabhängigfeitsgefühl mag 
fich ihnen nicht fügen. Ein jeder vertraut fich ſelbſt als 
ben verläßlichiten Richter in eigener Sache, er findet 
nicht nur das Recht, er weiß auch deſſen Erzwingung zu 
fichern. Aus diefen Quellen fließt die Entftehungsgefchichte 
zehnjähriger, Teidenfchaftlicher, biutiger Kämpfe. Das 
legendenverflärte Troja ward nach ebenſo langem Ringen 
zerftört, Morehead dagegen befteht und verfpricht blühen- 
bes, neues Wachsthbum. Während jedoch der belpenhafte 
Streit zur Wievererlangung einer entführten, jchönen 
Frau Homer zu den unfterblichiten Geſängen begeifterte, 
verbient ber Anlaß, der in Kentudy zu fo wilden Kämpfen 
Anſtoß gab, der Diebftahl einiger fchnellfüßiger Roſſe, 
wol nur die Erörterung in nüchterner Profa. 


Im Jahre 1877 entſpann fich in dem noch dünn be- 
pölferten, und darum wol auch von Richter Lunch unge- 
bührlich beherrichten Staate Kentudy der Nordamerika⸗ 
nifchen Union eine Fehde zwifchen zwei in ber Grafichaft 
Roman angefievelten Familien Underwood und Hol- 
broof, die in ihren Folgen, obgleich fchon jeit Jahren 
alfe männlichen Mitglieder biefer Familien eines gewalt- 
famen Todes verblichen waren, erft nach einem vollen 
Decennium, unb weiterm vielfachen Blutvergießen, ein 
Ende finden follte. Dieje Fehde hat nachweisbar mehr 
als dreißig Menfchenleben geloftet. 


238 Kentucky⸗Vendetta. 


Um eine abenteuerliche Perſonlichkeit hat ſich ver 
Kampf urfprünglich entfponnen. 

John Martin war feinem Gewerbe nach ein Roß— 
dieb. Später fehlen er fich einem ehrlichen Lebenswandel 
zuzuneigen, er wurde Landmann und z0g als Mietber 
zu einem reichbegüterten Hinterwälbler, Dir. Underwood, 
in deſſen Doppelblodhaus er eine Wohnung innehatte. 
Eines Tages aber vermißte Squire Holbroof, ein Nach— 
bar Underwood's, feine zwei fchönften und fchnelfften 
Pferde. Sofort beſchuldigte er Martin, deſſen wohlbe 
kannte Anteceventien ihn diefer Handlung verbächtig er 
feinen laſſen mochten, die Roffe in Gemeinſchaft mit 
dem Sohne Underwood's, Jeſſe, geftohlen zu haben. 
Diefe Beſchuldigung, die ehrenrührigfte, die in Lentucky 
wider einen Mann erhoben werben Tann, war ber Aus 
gangspunft bes „zehnjährigen Krieges”. Der alte Far- 
mer Underwood wies bie Verbächtigung als eine fchmäh- 
liche und grundloſe heftig zurück unb verweigerte ben 
geforderten Erfah. Holbroof verfammelte feine Freunde 
um fi und hielt Kriegsrath. Das Ergebniß war das 
Begehren auf Auslieferung des Martin. Das Verlangen, 
ven Gaftfreund preiszugeben, wurbe von Underwood als 
entehrend ſchnöde abgewiejen, und bie Veinpfeligleiten be- 
gannen von Worten zu Thätlichkeiten fortzufchreiten. 

Drei von Underwood's Söhnen, kräftige, energifche 
Burſchen, von anerfanntem Muthe, die geradeswegs an⸗ 
zugreifen wol feiner gewagt hätte, wurden im Laufe bes 
folgenden Jahres aus dem Hinterhalte feig erfchoffen. 
Nur Holbrook's Partifane konnten die Thäter fein. Die 
Unterwoods machten ihrerfeit8 Jagd auf dieſe, unb wo 
fie eines derſelben anfichtig wurden, Inaliten fie ihn nieder. 
Wie viele Menfchen in folcher Weife erjchoffen wurben, 
iſt nie genau feftgeftellt worben. Keine Polizei und fein 








Kentudy-VBenbetta. 239 


Gericht Hat fich je um diefen „Familienzwiſt“ gekümmert. 
„Ste jollen e8 unter fi ausmachen”, meinten gleich« 
gültig die Nachbarn. Allein nad) und nach wurde doch 
ber Zuftand „ungemüthlich”. Niemand wagte ſich mehr 
unbewaffnet und unbegleitet aus dem Haufe, nicht einmal 
in ber Stabt, geichweige in ben einzeln liegenden Nieder⸗ 
faffungen und Gehöften. Mit Schteßgewehren ausgerüftete 
Männer zogen, zu Banden vereinigt, durch bie Graf- 
ſchaft. Die natürliche Bodenbejchaffenheit, welche rauh, 
felfig, und urwaldartig mit Jahrhunderte alten Stämmen 
beftodt ift, erleichterte die Fortdauer biejer gejetlofen 
Verhältniffe. Gefindel aller Art ftrömte zufammen. ‘Die 
Zufammenftöße waren Häufig umd verliefen faft ftete 
blutig.” Der Gouverneur von Kentudy mußte fich wohl 
ober übel endlich entjchließen einzugreifen. Er entjendete 
zu zwei verjchtevenen malen NRegierungsfolbaten, um bie 
geftörte Ordnung wiederaufzurichten; allein beide male 
vergeblid. Die Truppen kehrten unverrichteter Dinge 
beim, fie waren nicht im Stande gewejen, bie bewaffneten 
Guerrillabanden zu faffen, fie zogen ab, und ver „Krieg“ 
entbrannte aufs neue. 

Underwoob’8 Doppelblockhaus, das im Volksmunde 
allgemein das „Sort Underwood“ hieß, war das Centrum 
der Angriffe feiner Widerſacher, die beftändig davor im 
Hinterhalte lagen. Mehrmals wurde e8 förmlich belagert. 
Im October des Jahres 1880 kam es vor demfelben zu 
einem regelrechten Gefecht, bei welchem ver alte Farmer 
Underwood angeſchoſſen und fchwer verwundet wurde, 
während fein ältefter und damals bereit einziger Sohn 
Jeſſe todt auf dem Plage blieb. Es gelang feinem Vater 
nur mit Lebensgefahr, die Leiche in das Blockhaus zu 
retten. Bier bange Tage lang ſchien Ruhe zu fein. Der 
Leichnam des Getöbteten warb von ben Frauen ber 


240 Kentudy-Bendetta. 


Familie bewacht, der greife Hinterwälbler erholte fich 
langfam. Da erichienen plöglich eine Anzahl masfirter 
Gefellen vor dem Blockhauſe und begehrten Einlaf. Troß 
jeiner fchweren Wunden ergriff der alte Underwood das 
erprobte Gewehr, richtete fich zu feiner vollen Höhe auf 
und ſchwur, er werbe fein Leben theuer verlanfen. Er 
wollte bie Feindfeligleiten wieder beginnen, aber feine 
Frau und Tochter baten ihn unter Thränen, zuvor bie 
Leute anzuhören, und beftimmten ihn jchließlich,, ihre Bor: 
ſchläge zu vernehmen und in Vleberlegung zu ziehen. Nach 
längerm Zaubern bequemte er fich endlich, die Unterhanv- 
lungen zu eröffnen. Die außerhalb des Haufes ſtehenden 
Männer fagten: 

„Es verlautet, Jeſſe jei tobt, gebt uns beftimmte Aus- 
funft, ob dies wahr tft, und laßt uns feinen Leichnam 
ſehen. Wenn er wirklich feinen Wunden erlegen ift, jo 
ſoll unſere Rache befriedigt fein, und bie Fehde ift zu 
Ende.” 

Der alte Underwood, ver fich außer Stande fühlte, 
ven Kampf allein fortzufegen, lieferte, im Vertrauen auf 
diefe ausdrückliche Zuficherung, den maskirten Männern 
durch das Fenfter die Schußwaffen aus, die er noch im 
Haufe hatte, und hieß fie eintreten. Als fie durch bie 
Thür hereinfamen, faß der ſchwer verwundete Greis neben 
dem Bett, auf dem fein todter Sohn ausgeftredt lag, 
und ein Heines Mäpchen ftand ar feiner Seite. Eie 
hatte die Hand auf fein Knie gelegt und ftarrte bie frem- 
den, vermummten Geftalten mit trogigen, glutvoll ver: 
wegenen Bliden an. Die eingebrungenen Männer ver: 
ftelften die Stimmen, um unerfannt zu bleiben. Nichts- 
beftoweniger erfannte Underwood einen berfelben und rief 
ihm vorjchnell feinen Namen zu. Mit einem gottesläfter- 
lichen Fluche erhob ver entlarute Echurfe fein Gewehr 


Kentudy-Bendetta. 24l 


und jagte beive Kugeln des Doppellaufs in bes alten 
Mannes Leib. Ohne einen Laut von fich zu geben, ſank 
biefer vornüber in die Arme des auffchreienden Kindes 
und verſchied. Die Mörder verließen unter lauten 
Zriumphgebeul das Haus, wo ihre blutenden Opfer lagen, 
und verfchwanben. Welch unauslöſchlicher Einbrud mußte 
im Gemüth der Heinen Suſanna zurüdbleiben!... 

Die Belagerung des „Fort Underwood“ war aufge- 
hoben — freilich erft nach dem Tode feines letzten Ver⸗ 
theibiger8, die Feinbjeligfeiten waren zunächft zu Ende. 
Die weiblichen Mitglieder der Familie Underwood ver- 
ließen unter dem Schutze Martin’s und in Begleitung 
feiner Kleinen Schwefter, jener Zeugin der Morbthat, vie 
unmittelbare Nachbarfchaft. 

Die Fehde war erlofchen, vie Ruhe fehrte zurüd. 

John Martin hielt treu zu den Verwaiften. Um ihnen 
ſowol wie ſich felbjt amsreichenden Lebensunterhalt zu 
verjchaffen, griff er, ohne die nach den Geſetzen ber Ver⸗ 
einigten Staaten Nordamerikas vorgefchriebene Conceſſion 
zu befigen, ober auch nur nachgefucht zu haben, zu dem, 
wie es fcheint, recht einträglichen Gewerbe eines unbefugten 
Branntweindrenners. Es gelang ihm, fich damit etwas 
Vermögen zu erwerben. Im Anfang des Jahres 1884, 
fehrte er als wohlhabender Dann in bie Grafichaft 
Rowan zurüd. Die Wogen ber politifchen Parteifämpfe 
gingen hoch. Martin begann fich ar ben politifchen Be⸗ 
wegungen zu betheiligen. Im Monat Auguft des bezeich- 
neten Jahres kam es anläßlich einer beftrittenen Wahl 
zu einer ernftlichen Schlägerei. Im Laufe derjelben wurde 
ein gewiffer Bradley, ein enragirter Demokrat, erfchoffen. 
Man befchufpigte mehrfeitig Martin, er fei es geweſen, 
der Bradley getödtet babe. Allein die Gerichte blieben 

XXII. 16 


242 Kentudy-Benbetta, 


unbeglanbigt, wenigftend wurbe feine gerichtliche Unter: 
ſuchung eingeleitet. 

Im December 1884 kam Floyd Tolliver, ein be 
mofratifher Parteifreund, nach Morehead. Dies tft ver 
Name des Hauptorts der Grafichaft Rowan, ein Stäbtchen 
von etwa 500 Einwohnern, an der Chefapeafe- und Ohio⸗ 
Eifenbahn, Faum 160 englifche Meeilen von Louisville ent: 
fernt, gelegen. ‘Dort ftieß er mit Martin zufammen. 
Sie erhigten fi anläßlich eines politiſchen Streites. 
Beide zogen ihre Revolver, jedoch Martin war bebenter 
als fein Widerſacher, er feuerte zuerft, und Floyd Zol- 
liver ſank tödlich getroffen zufammen, während fein Schuß 
ungefährlich in der Luft verpuffte. Alle Zeugen des Vor: 
ganges ftimmten überein, daß Martin dieſen Schuß zu 
feiner Selbftvertheibigung abgegeben, und baß Zolliver 
nur den Lohn erhalten habe, den er verbiente. Dennoch 
wurde Martin, vielleicht um ihn vor Lynchjuſtiz zu ſchützen, 
ergriffen und verhaftet. 

Diefer Schuß entzündete die unter ber Aſche fort: 
glimmenden Reſte der ehemaligen Feuersbrunſt zu neuen 
Ilammen. 

Die ganze Stadt ergriff Partei. Ein Bruder des 
getödteten Floyd Tolliver, Craig Tolliver, erflärte fich 
als deſſen Bluträcher und bildete eine Bande, die Martin 
aus dem Kerker holen und lynchen follte. 

Man Hatte Martin, um ihn vor Attentaten zu be- 
wahren, von Morehead fort in die Grafichaft Clark ge- 
ſchafft. Da erfchienen bei bem Kerlermeiiter des Graf- 
ichaftsgefängniffes eine Anzahl Poliziften und präfentirten 
einen regelrechten Auslieferungsbefehl, worin ausgefprochen 
war, Martin ſei auch dort vor den Nachftellungen ver 
Bande Tolliver’s nicht genügend gefichert und folle daher 
weiter, in die Haupiſtadt bes Staats Kentucky, nad 





Kentudy-Benbetta. 243 


Louisville, gebracht werden. Mean überantwortete ben 
Poliziſten anftandslos die Perfon des Gefangenen. Sie 
legten dieſem Handfchellen an und brachten ihn zur Eifen- 
bahn, um ihn an feinen Beftimmungsort zu geleiten. 
Die Eifenbahn von Clark nach Louisville führt über 
Morehead. Sieben englifche Meilen von biefer Stadt, 
an einer Halteftelle nächſt einer Farm, woſelbſt fich bie 
Bande verborgen gehalten hatte, überfielen die Anhänger 
Zolliver’8 nach Art der Räuber den Eifenbahnzug und 
drangen in den Waggon, in welchem ber gefefjelte Martin 
fih befand. Die Angreifer eröffneten ein lebhaftes Ge⸗ 
wehrfeuer auf die angeblichen Poliziften, welche ben Ge⸗ 
fangenen escortirten. Als aber der Pulverrauch fich ver⸗ 
309, ftellte fich heraus, daß, außer dem Gefangenen, 
niemand verlegt worden war. Martin war von ben Pro⸗ 
jectilen buchftäblich durchlöchert und jelbftverjtänblich tobt. 
Der Auslieferungsbefehl war eben nur eine kühne Fäl⸗ 
ſchung geweien und unternommen, um Martin ficher und 
gefahrlos in die Gewalt feiner Feinde zu bringen. Craig 
ZTolliver triumphirte. Er Hatte feinen Bruder gerächt. 
Allein eine neue Serie von Mordthaten war damit er- 
öffnet worden, ein Kampf warb angefacht, jo heiß, fo 
erbittert und verberblic wie jener, welcher bie Under⸗ 
woods und Holbrooks ausgerottet und gleichfam, wie 
durch ein Verbängniß, um deſſelben Mannes, um Mar- 
tin's willen. 

Sue Martin, die Schwefter des Gemorbeten, war 
zur Jungfrau berangereift. Sie Hatte es nicht vergeffen, 
wie der alte Underwood in ihren Armen fterbenb zu- 
ſammenbrach, fie erkannte in ven Mörbern ihres Bruders 
ihre alten Feinde wieder. Kein Mann ihrer Familie war 
noch am Leben, welcher ald Rächer hätte auftreten können, 
die Verpflichtung, die Manen ver Gemorbeten durch das 

16* 


241 Kentudy-Benbetta. 


Herzblut der Gegner zu fühnen, war auf fie übergegangen. 
Ihrer Energie gelang e8 denn auch, die leicht zu entflam- 
menden kentuckyſchen Gemüther aufzureizen. Ste bilvete 
eine Schar „Martiniften” und warb bie Seele ber gegen 
Craig Zolliver und deſſen Anhang gerichteten Bewegung; 
fie entwarf ven „Feldzugsplan“, organifirte die freiwilligen 
„Bluträcher“ und leitete mehrmals perjönlich die Ueber⸗ 
fälle. Sie entvedte ven Fäljcher des Auslieferungsbefehls, 
der ben gefangenen Martin in die Hände feiner fchonungs- 
(ofen Verfolger gebracht, in der Perſon des Staatsan⸗ 
walts für die Grafichaft Rowan, Taylor Young in 
Morehead, und fchoß ihn eigenhändig nieder. 

Keine Hand erhob fich deshalb gegen fie. Blut aber 
war geflofien, bie Feinbfeligfeiten begannen von neuem, 
Hinterhalte wurden auf beiden Seiten vorbereitet, und 
auf beiden Seiten flelen auch die Opfer. 

Es galt noch als ein ziemlich harmloſer Zwiſchenfall, 
daß Mr. Humphreys, der Sheriff der Graffchaft 
NRowan, ein Anhänger der Partei Martin, von den Par⸗ 
tiſanen Tolliver's verfolgt, fich in einen Gaſthof in More- 
head flüchtete, wojelbft er fich verbarrifadirte. Er wurde bie 
Nacht hindurch belagert und das Hotel mehrmals vergeb- 
(ih mit Sturm zu nehmen geſucht. Die Thüren und 
Tenfter wurden von den Kugeln ver Angreifer vurchlächert, 
allein der Verfolgte jelbft entkam unverlett. 

Die ganze Grafihaft Rowan geriet in Bewegung, 
und alle waffenfähigen Männer betbeiligten fich an ver 
Fehde; endlich ſah fich der Gouverneur von Kentucky, 
Dr. Knott, doch genöthigt davon Kenntniß zu nehmen. 
Statt aber fofort energifch einzufchreiten, verfuchte er zu- 
nächſt die Anwendung frieblicher Palliativmittel zur 
Deilegung der Zwiftigfeiten. Er lud die Führer ber 
Parteien ein, ihn in Louisville zu befuchen. ‘Der Liebe 


Kentudy-Bendetta. 245 


Mühen war inbeß vergeblihd. Sie verweigerten ihr 
Ericheinen. 

Inzwilchen war Craig Tolliver von den Demokraten 
zum Marichall (Befehlshaber ver Miliz) der Grafichaft 
Rowan erwählt worden. Kaum hatte er fein Amt ange- 
treten, fo ließ er verkünden, daß die Partei Martin 
Preiſe auf die Einbringung der Köpfe ihrer Gegner aus- 
gefeßt hätte. Er veranlaßte am 28. Juni 1885 ben Zu- 
fammentritt des Aufgebot8 der Miliz der Grafjchaft, um 
eine angeblich vorbereitete, geſetzwidrige Zufammenrottung 
zu zerftreuen. Der „aufrübrerifche Haufe” war aller- 
dings nicht aufzufinden, Craig Zolliver behauptete jedoch, 
vderjelbe babe fich unter der Führung des Sheriffs Hum⸗ 
phreys nach Suſanna Martin’s Haus, unweit der Stubt 
Morehead, gewendet. Er erwirkte nun von bem ihm er- 
gebenen Richter Verhaftsbefehle, die ihn zur Gefangen- 
nehmung des Sheriffd Humphreys und einiger anderer 
ihm misliebiger Perſönlichkeiten ermächtigten. ‘Durch dieſe 
Beobachtung der gejeglichen Formen gebedt, ftellte er fich 
an die Spike des Aufgebots, um bie Ausführung ter 
Inhaftnahme zu leiten. Die Angreifer umzingelten das 
Haus Sue Martin's, das forgfältig verichloffen und ver- 
rammelt war, und fuchten es zu ftürmen. Sie erbrachen 
wirffih die Hausthür und drangen bie Treppe hinauf. 
Dort wurden fie aber mit einem Hagel von Flintenkugeln 
überfchüttet, der fie zurücktrieb. Es gab Todte und Ver- 
wundete. Craig Tolliver jelbjt war unter ben letztern. 
Die Angreifer zogen ab, campirten jeboch wohlverborgen 
unweit in der Nachbarfchaft. Als Sheriff Humphreys, 
hierdurch getäufcht, in Begleitung eines feiner Freunde, 
Namens Rayburn, ſich endlich aus dem Haufe wagte, 
wurben fie überfallen. Rayburn wurde im Handgemenge 
zum Tode getroffen und blieb auf dem Plage, Humphrey 





246 Kentudy-Bendetta. 


hingegen, ber ein gefeites Leben zu haben fchien, entlam 
wie durch ein Wunder zum zweiten mal glüdlich feinen 
Feinden. 

Die Grafichaft ftand in hellem Aufruhr. Die Ge- 
jegesverlegungen waren evident und notorifch. Der Gouver⸗ 
neur Knott entjendete endlich reguläre Bunbestruppen, 
um bie Orbnung wieberberzuftellen und dem Geſetze 
Achtung zu verfchaffen. Als diefe berbeifamen, hatten bie 
„Martiniſten“ gerade ihrerfeits Rache zu nehmen verfucht. 
Zwei Tage zuvor hatten fie Tolliver’8 Haus bis auf ben 
Grund niedergebrannt. Die Antwort daranf war aber, 
daß Sue Martin’d zwei Häufer in Flammen aufgingen. 
Diesmal gelang e8 dem Mayor M’Kee, welcher bie 
Soldaten befehligte, die meiſten ver Rädelsführer zu er- 
greifen und bingfeft zu machen. Tolliver felbft aber ent- 
wiſchte. 

Man hetzte Detectivs auf ſeine Fährte. Dieſe forſchten 
ihn am 21. Juli aus, er wurde gefaßt, in das Gefäng- 
niß nach Lerington abgeführt und ber Proceß wider ihn 
eingeleitet. Allein nochmals gewann bie Anfchauung, bie 
zu ungzeitiger, übel angebrachter Milde rieth, bie Ober⸗ 
band. Die Behörden famen überein, den Proceß nieber- 
zufchlagen, falls vie beiden Hauptgegner, Tolliver und 
Humphreys, geloben würden Kentucky zu verlaffen. Beide 
gaben das Gelübde ab, fie wanderten aus, unb ber 
Friede fchien nothdürftig bergeftellt zu fein. 

Im Anfang des Jahres 1887 Tehrte aber Craig Tolliver 
nach Morebead zurüd. Er meldete ſich als Candidat 
für die Richterwahl. Mit dem Revolver in der Hand 
betrat ber fchöne, große, mit feltener Körperfraft ausge- 
ſtattete Mann, begleitet von feinen Freunden, das Wahl- 
local. Kühl erklärte er feine Abficht: „Ich candidire für 
das Amt des Graffchaftsrichtere. Niemand foll gezwungen 








Kentudy-Bendetta. 247 


werden für mich zu ftimmen, aber ich will gewählt 
werben, darum merkt euch, wer gegen mich feine Stimme 
abgibt, wird über den Haufen geſchoſſen.“ 

Diefe eigenthümliche Wahlrede wirkte. Er erhielt 
wol nur zwanzig Stimmen; allein da niemand gewagt 
hatte, gegen ihn abzuftimmen, war er gewählt. Er be- 
nuste bie jo gewonnene Macht, um feine Gegner zu ver- 
nichten. Ein förmliches Schredlensregiment warb einge- 
führt. Er erließ ganz unmotivirte Verhaftsbefehle gegen 
feine Widerfacher, indem er fie ſchlankweg der Theilnahme 
an ber verbrecheriichen geheimen Gefellichaft „Ku⸗Klux⸗ 
Elan’ beſchuldigte. Ganze Familien flüchteten unter 
Zurädlaffung ihrer Habe, nur um ihr Leben vor bem 
Mörder auf dem Richterftuhle in Sicherheit zu bringen. 

Als feinen Hauptgegner mußte Craig Tolliver wol 
ben orbnungsmäßig erwählten Sheriff der Grafichaft, 
Dr. D. B. Logan, betrachten. Er überfiel deſſen äfteften 
Sohn, Henry Logan, und machte ihn nieder. Dann 
entbot er, unter ber Führung einer feiner Ereaturen, bes 
Marſchalls Mannin, das Aufgebot ter Milizen ber 
Grafſchaft und jenvete dieſe vor Logan's Haus, um deſſen 
zwei anbere Söhne zu verhaften. ‘Die irregeführten Mi- 
lizen griffen an, wurden aber zunächſt mit Rehpoſten 
zurüdgetrieben. Hierbei wurde Mannin durch einen Schuß 
getöbtet. Die Söhne Logan's, in der Vorausfiht, das 
Haus doch nicht auf die Dauer gegen bie Uebermacht 
vertbeidigen zu können, fuchten durch eine Hinterthür zu 
entfommen. Allein die erbitterten Milizen fetten ihnen 
nach und hieben fie nieber. 

Der Gouverneur Knott mußte endlich begreifen, daß 
einjchneitende Maßregeln unumgänglich geworben waren. 
Ein Verhaftsbefehl des Dbergerichts in Louisville wurbe 
gegen den „Richter” Craig Tolliver und deſſen Genoffen 


248 Kentudy-VBendetta. 


erlaffen. Huntert Dann regulärer, wohlbewafneter 
Soldaten rüdten aus unter Führung des Sheriffs Dr. D. 
B, Logan. Mit viefer Kriegsmacht überfiel ver rüftige 
alte Mann am 24. Juni 1887 Craig ZTolliver und Tie- 
ferte ihm ein förmliches Gefecht. ‘Die Uebermacht fiegte. 
Richter Tolliver und zehn feiner Anhänger wurden zu 
Gefangenen gemacht. Sheriff Logan hatte den Tod feiner 
Söhne zu rächen. Die Gefangenen wurden von ihm in 
einer Reihe aufgeftellt, Zolliver an ihrer Spite. Das 
Commando ericholl: „Feuer!“ und alle Hatten ausgelebt. 
Nah der Erecution telegraphirte Logan lakoniſch an ven 
Gouverneur: „Ich hab's gethan!”... 

Die Familien Underwood und Holbroof, Martin une 
Zolliver haben aufgehört zu fein. Sämmtliche männliche 
Mitglieder verjelben find tobt. Man bofft, daß für bie 
jchwergeprüfte Graffchaft ruhigere, friedlichere Zeiten 
wiederkommen, daß die Geflüchteten aus ihrem frei- 
willigen Eril auf ihre verlafjenen, inzwijchen mehr oder 
weniger veriwahrloften und verfallenen Anweſen zurüd- 
kehren werben. 

Und die Yuftiz?... 

Die Mörder haben fich gegenfeitig gerichtet. Die 
Miffethaten find gejühnt. 





Das fummarifche Strafverfahren, mit dem Sheriff 
Logan die lange, traurige Reihe der biuträcheriichen 
Acte einer im Innerjten aufgewühlten Bevölkerung zum 
Abjchluffe brachte, verdient wol nicht bie Bezeichnung 
eined Criminalproceſſes. Wenn wir dieſe Darjtellung 
dennoch in unfer Sammelwert aufnahmen, geichah es, 
um ein Sittenbild vorzuführen, welches in unferer Zeit 
wol ohnegleichen baftehen bürfte und in feiner biut- 


Kentudy-Benbetta. 249 


triefenden Romantif die Zeit des Fauſtrechts vergegen- 
wärtigt. Wilde Leidenjchaft verbrängt die Geſetzlichkeit, 
und nur allmählich wird es gelingen, in ben weitgeſtreckten 
Gebieten des „fernen Weftens bie ausfchließliche Herr- 
Tchaft des Rechts und deſſen feitgeorpnnete Anwendung 
und Erzwingbarkeit zu verbürgen. 





Das Attentat auf Bazaine. 
(Madrid. — Mordverſuch.) 
1887, 


Es gibt lebendig⸗todte Perjönlichkeiten. Männer, bie 
jahre- oder feldft jahrzehntelang durch das Webergewicht 
ihrer Individualität einen Drud auf bie öffentliche Mei- 
nung Europas ausgeübt haben, verjchwinden infolge einer 
Kataftrophe vom Schauplate, wie ein Schaufpieler in 
bie Verjenfung der Bühne, und wenn lange nachher, 
Jahre nachdem man aufgehört Hat fih um fie zu be 
fümmern, bie Nachricht von ihrem Tode ſich verbreitet, 
ba ſieht man fich allfeitd verwundert an: „Sa jo, ber 
lebte noch!” 

Solcher Perfünlichkeiten, die ihren Ruhm überlebten, 
hat e8 in biefem Jahrhundert viele gegeben, umd zu ihnen 
zählt auch der Ermarfchall von Frankreich, Bazaine, 
ber eine Zeit lang, nach dem Tage von Sedan und dem 
Sturze des zweiten Kaiſerreichs, fich in dem Wahne wie- 
gen burfte, auf feiner Degenfpige balancire das Gefchid 
Frankreichs, und er fei berufen als befjen Netter und 
Beherrſcher aus dem jähen Zufammenbrude bes Be: 
ſtehenden hervorzugehen. 

Verſchollen und vergeffen lebte er, ein unbeachteter 








Das Attentat auf Bazaine. 251 


Privatmann, in Madrid. Es bedurfte eines beſondern Er- 
eigniſſes, um die Blicke der Mitwelt wieder auf ihn zu 
lenken; allein dies Ereigniß war ſehr gegen ſeinen Willen 
an ihn herangetreten, es war ein Attentat, deſſen Ur⸗ 
heberſchaft einem exaltirten Franzoſen zufällt, der in Ba⸗ 
zaine den Verräther Frankreichs ſah und ihn noch nach⸗ 
trägfich hierfür ftrafen und züchtigen wollte. 

Das Attentat ift misglüdt. Der Thäter ward ergriffen 
und gefangen. Mit ungewöhnlicher Raſchheit haben die 
betheiligten Behörden die Vorunterfuchung durchgeführt 
und die Schlußverhandlung anberaumt. 

Mit großer Spannung fah man der öffentlichen Haupt⸗ 
verhandlung entgegen. Wird e8 fich beiwahrheiten, was 
man fich zuraunte, von dem Beftanbe geheimer Gefell- 
ichaften, eines Bundes von Richtern und Rächern, bie 
entfchloffen find, die Schmach Frankreich zu ahnden? 
Iſt es ein Unzurechnungsfähiger, ein Wahnfinniger ge- 
wejen, ber das Abſcheuliche feiner That nicht zu begreifen 
vermag, und ber ſchuldlos zu Tprechen ift, weil er ohne 
Bewußtſein gehandelt? Iſt das Verbrechen der Ausflug 
eines plößlichen, blikartigen Impulfes, oder wohlerwogen 
und mit Vorbebacht begangen? — Nicht nur in Mabrib, 
auch in Frankreich, in Deutichland, bei allen ciwilifixten 
Nationen, laufchte man erregt auf die Enthüllungen, die 
man erwartete Allein der Proceß fand ftatt, ohne daß 
er Enthüllungen brachte. Die fenfationslüfterne Menge 
wurde enttäufcht. Die Hauptverhandlung verlief, wie fie 
verlaufen jollte, würdig, entfprechend bem einem Gerichte- 
bofe, welcher über ein Menſchenleben zu Gericht ſitzt, 
wohlanftehenden Ernfte. 

Donnerstag, den 3. November 1887, drängte fich 
eine fchaufluftige Menge vor den Thüren des Verhand⸗ 
lungsſaales. Die Kartenausgabe war bejchränft worben, 





252 Das Attentat auf Bazaine. 


um zu verhindern, daß bie Würde bes Ortes durch lär: 
mende Demonftrationen der ungebuldigen, zufammenge: 
pferchten Zuhörer eine Einbuße oder Schädigung erleiden 
fönne; doch war das Auditorium vielföpfig genng, umt 
man erkannte deutlich, mit welch fieberhaftenm Interefte 
dem Ausgange bes Procefjes entgegengejeben wurde. Die 
Zubörerfhaft war aus den gewäblteiten Elementen zu⸗ 
fummengejett. Damen und hervorragende Fremde über: 
wogen. Die fpaniiche Nitterlichfeit hatte fich den Güften 
gegenüber glänzend bewährt. 

Die Verhandlung findet vor einem Dreirichtercolle⸗ 
gium Statt. 

Nachmittags 1/,2 Uhr erklärt fich der zweite Senat 
bes Griminalgerichtshofes für conſtituirt. Den Vorſitz 
führt Don Joaquin Gonzalez de la Peña, als Bei: 
figer fungiren Don Miguel Sanz und Don Enrique 
de Illana y Mier. Die Anklage vertritt der General- 
Staatsanwalt von Madrid Don Buenapventura Munñoz 
y Rodriguez. Die Vertheidigung ruht in den Händen 
eines ber fähigften und beredteften jüngern Advocaten des 
mabrider Barreaus, Don Alvaro be Figueroa, einem 
jüngern Sohne des Marquis de Villamejor, als Gerichte: 
bolmetih wird Don Joſe de Manterola ad hoc 
beeibet. 

Der Schriftführer Don Enrique Perez; Dindurra 
verlieft zumächit die Anklageſchrift, berichtet, daß der Ans 
geflagte in Unterfuchungsbaft gehalten worben ift, gibt 
bie ordnungsmäßige Beſtellung des Anklägers und tes 
Vertheidigers bekannt, ruft die vorgeladenen Zeugen auf 
und reicht das Verzeichniß jener Schriftftüde ein, die ım 
Verlauf der Verhandlung zur Verlefung kommen jollen. 

Die Anklagefchrift erzählt das ihr zu Grunde Tiegente 
Factum mit dürren Worten, Ein franzöfifcher Handlungs: 











Das Attentat auf Bazaine. 253 


reijender, der Angellagte Hillairaud, bat fich unter 
einem falichen Namen an ben feit einer Reihe von Jahren 
in ftiller Zurüdgezogenheit weilenden ehemaligen Mar⸗ 
ſchall Bazaine mit dem Erſuchen um eine Aubienz ge- 
wendet. Der Marfchall bat den Aubienzbewerber am 
Nachmittag des 18. April 1887 empfangen und nad 
einer längern Unterrebung, die fi um gleichgüftige Dinge 
prebte, bat ver Angeflagte fich höflich enipfohlen. Bazaine 
wenbete fich nach den Abichiersworten um und wollte ven 
Diener berbeirufen, da überfiel der Angeklagte, ohne 
vorausgegangene Provocation, den alten Mann plößlich, 
verjegte ihm einen Stoß mit einem ‘Dolchmefjer und er- 
griff die Flucht. Auf Bazaine's Hülferuf eilte feine 
Dienerjchaft herbei, etliche Teifteten ihm die erſte Hüffe, 
während die andern den Attentäter verfolgten. Hillairaud 
wurde auf der Straße von einem zufällig bes Weges 
taherlommenden Mann, dem Abgeorbneten der Cortes, 
Laſerna, angehalten und ver Polizei überliefert. Der An 
geflagte ift der That geftändig und gibt als die Urfache 
verfelben an, daß er fein Vaterland an deſſen Verräther 
rächen wollte. Die Verwuntung fchien eine fchwere zu 
fein, bie leicht zu einem töblichen Ausgang hätte führen 
fönnen. 

Sodann beginnt das Verhör, aus dem wir bie charal- 
teriftifchiten Stellen reprobuciren. 

Der Ungellagte Louis Joaquin Hillairaud, um 
veifen Haupt die Bejchreibungen gewiffer Zeitungen eine Art 
von Glorienfchein gewoben haben, ift eine recht gewöhnliche 
Ericheinung. Er ift ein Dann von 37 Yahren, bager, 
mittelgroß, von unjtetem Blick, finnlich geformten Tippen 
mit nichtöfagenden Zügen, der richtige Typus eines Wein- 
reifenden. Er tritt fehr correct und nach der beiten 
parifer Move gefleivet auf. Sein Anzug fowie feine 


254 Das Attentat auf Bazaine. 


Handſchuhe find, den ernften Umftänven, unter denen er 


ericheint, angepaßt, von Schwarzer Farbe. Er verfteht keine 


Silbe ſpaniſch und wird daher unter Beiziehung des Dol- 
meticher8 vernommen. Begreiflicherweife wirb das tra- 
matifche Element feiner Vernehmung dadurch fehr Beein- 
trächtigt. 

Präfident. Ift es richtig, daß Sie am 17. April 
fih im Haufe des Exmarſchalls Bazaine unter falfchem 
Namen anmelden und um Audienz anſuchen ließen? 

Angellagter. Es ift richtig. Ich Habe um tie Be: 
willigung einer Unterredung angefucht und mich eines an- 
genommenen Namens bebient, ba ich fürchten mußte, 
unter meinem Namen nicht empfangen zu werben. Ich 
habe nämlich ein Buch gefchrieben, ven Roman: „Les 
amours d’un voyageur”, in welchem ich Bazaine als 
Verräther bezeichnet babe. 

Präſident. In welchem Zimmer bat bie Unter⸗ 
redung ftattgefunden? War ed im Schlafzimmer tes 
Marichalls? 

Angellagter. Ich erinnere mich deſſen nicht. 

Präfident. Was war Ihre Abficht, als Sie um 
bie Audienz anfuchten? 

Angellagter. Den Verräther zu töbten und mein 
Vaterland zu rächen. 

Präfident. Seit wann tragen Sie ſich mit bem 
Gedanken, dieſes Verbrechen zu begehen? 

Angellagter. Seit dem unglüdfichen Kriege ven 
1870, feit vem Augenblid, da ich, der ich damals ald 
Franc-Tireur in Baris unter den Waffen ftand, die Nad- 
richt der Mebergabe von Met vernahm. 

Präfident. Haben Sie fih wegen dieſes Vorhabens 
mit andern Perſonen berathen? 








Das Attentat auf Bazaine, 255 


Angellagter. Ia. Mit einem Lanbsmanne, ver 
mein Vorhaben als ein höchſt patriotiſches billigte. 

Staatsanwalt. Mit welchen Vorſätzen haben Sie 
die Aupdienz beim Exmarſchall Bazaine angefucht? 

Angellagter. Ich fühlte mich von Gott berufen, 
im Namen Frankreichs zu handeln und mein Vaterland 
zu rächen. Eine geheimnißvolle innere Stimme fagte mir, 
mein Unternehmen werde glüden, und barum babe ich 
zugeftoßen. 

Staatsanwalt. Und wohin ging Ihre Abficht? 
Wollten Sie den PVerrätber nur verwunden? 

Angellagter. Nein. Ich wollte ihn tödten. 

Staatsanwalt. Sie haben in ber Unterfuchung 
angegeben, daß Sie ben Dolch, das Inftrument Ihrer 
That, in den Rolandsbrunnen in Roncesvalles tauchten, 
um ihn zu weihen. Hat Ste irgendeine Perſon begleitet? 
Und wenn jemand mit Ihnen war, wußte der Begleiter 
um Ihr Vorhaben? 

Angeflagter. Es begleitete mich ein Spanier. Ein 
Baske. Er wußte nichts von meinen Abfichten. 

Staatsanwalt. In welder Stellung befand fich 
Herr Bazaine, als Ihr Angriff erfolgte? 

Angellagter. Ich erinnere mich nicht genau. Ich 
glaube aber, er ſaß noch. 

Staatsanwalt. Als Sie fi aus dem Haufe Ba- 
zaine’8 flüchteten, waren Ste da ver Meinung, Sie hätten 
ibm den Todesſtoß gegeben? 

Angellagter. Ich war ganz von dem ftolzen Ge- 
fühl befeelt, meine Pflicht gethan, meine Aufgabe erfüllt 
und Frankreich gerächt zu haben. 

Vertheidiger. Iſt es richtig, daß Sie Ihr Vor⸗ 
baben der großen Tragödin Sarah Bernhardt mit- 
theilten ? 











256 Das Attentat auf Bazaine, 


Angeflagter. Ich fchrieb ihr wol, erhielt jeboch 
feine Antwort. 

Bertheidiger. Iſt es richtig, daß Sie bei ber 
Militärſtellung für umtauglich erklärt wurben, aber den 
noch nad) Ausbruch des Krieges als Freiwilliger fich ein- 
reiben ließen? 

Angellagter. Es iſt richtig, daß ich für bdienit- 
untauglich erflärt wurde. Da aber ber Krieg eine un⸗ 
beilvolle Wendung nahm, konnte ich nicht unthätig bleiben. 
Ih trat freiwillig in die Armee, um mitzubelfen mein 
Vaterland zu vertheibigen. Ich war Branc-Tireur und 
dem parifer Corps zugetheilt. 

Vertheidiger. It e8 wahr, daß Sie Träume oder 
Viſionen hatten, welche Sie beftunmten, den Plan zu 
faffen, Bazaine umzubringen ? 

Angellagter. Seit der Uebergabe von Met Bat 
eine innere Stimme mir unabläfftg geboten, mein Vater⸗ 
land zu rächen. Alfo von Gott felbft aufgemuntert, habe 
ich dreimal geichworen, die That zu thun. Zuerſt am 
Siegesthor (Arc de triomphe), dann beim Pantheon 
und zum dritten mal am Nolandsbrunnen. Zweimal habe 
ich deutfich eine himmlische Erfcheinung gejeben, die mich 
als den Auserwählten bezeichnete, ber das Vaterland 
retten würbe. In ber Nacht vor dem Attentat habe ich 
— wie ih auch an das Sournal „L’Intransigeant” in 
Paris geichrieben habe — eine Ericheinung gehabt. Eine 
herrlich ſchöne weibliche Gejtalt ftand vor mir, ich fah 
wie ihre Lippen fich bewegten und vernahm eine wohl- 
lautende Stimme, die mir gebieterifch zurief: „Schlage 
zul Schlage zu!“ („Frappez! frappez!“) 

Zum Schluffe des Verhörs wird dem Angeflagten 
feine im Laufe der Unterfuchung zu Protokoll gegebene 
Ausfage — die nach fpanifchem Necht einen Theil bes 











Das Attentat auf Bazaine. 257 


Beweismaterials bildet — vorgewiejen. Er erfennt bie: 
ſelbe als richtig aufgenommen und feine Unterjchrift ale 
authentiſch an. 

Die Gerichtsärzte werden beeidet. Es find dies Die 
Doctoren: Luis Simarro, Adriano Alonfo Mar- 
tinez, Joſe Escupdor, Jaime Vera, Bibiano 
Escribano und Nicolas Garcia Sierra. 

Dr. Sierra gibt im Namen jener Aerzte, die Ba⸗ 
zaine behandelten, an, bie Verlegung jet eine Schnitt- 
wunbe am Kopfe, an ber Stirnfeite gewejen, bie in fünf 
Tagen heilte und an fich nicht lebensgefährlich war. 

Auf die Frage des Vertheirigers, ob der Angegriffene 
das Bewußtfein verloren habe, erwiderte ver Gerichtsarzt 
verneinend. 

Hierauf wird Dr. Adriano Alonfo Martinez als 
Sachverftändiger vernommen. Dieſer fpridt im Namen 
der übrigen Aerzte, die in allen Einzelheiten fich mit ihm 
einverſtanden erflären. 

Er fagt im wefentlichen aus: „Meine Ausführungen 
find das Ergebniß der fortgefetten Beobachtung und der 
Berathung der ven Angeklagten unterfuchenden und über- 
wachenden Aerzte. Es ift ein jachverftändiges Gutachten 
und beanfprucht volle Glaubwürdigkeit. Meiner Dar- 
ftellung des Falles vom medicinifchen Standpunkte muß 
ich die Mittheilung des erwähnenswerthen Umftanbes vor- 
ausſchicken, daß Hillairaud aus der Unterfuchungshaft an 
uns einen confufen, ebenjo hochmüthigen als unzuſammen⸗ 
hängenden Brief gerichtet hat, der in Proſa beginnt und 
mit Berfen (!) endet. 

„In der Familie des Angeflagten find Geiftesftörungen 
in verſchiedenen Formen erblihd. Die Mehrzahl der Fa⸗ 
milienglieder war hyſteriſch oder litt an Störungen bes 
Centralnervenſyſtems. Die gerichtsärztliche Unterfugung 

XXII. 


258 Das Attentat auf Bazaine, 


bes Angeklagten ergab bie eigenthümliche Thatfache, daß 
Hillatraud’8 Linker Arm, nicht nur wie das zuweilen wol 
vorzufommen pflegt, weit ſchwächer und bünner al® ber 
rechte, fondern auch um 26 Deillimeter kürzer ift. Dieſe 
Atrophie ift nicht das Ergebniß eines chirurgiichen Ein- 
griffs oder ver fehlerhaften Heilung einer Berlegung, 
fondern ihre Urſache liegt in krankhaften Veränderungen 
des Nüdenmarfes. Als Kind Hat der Angellagte an 
Krämpfen gelitten, und biefe Erfcheinung ift ein Wolge- 
übel der Krankheit. Der Angeflagte leidet an einer con- 
ftitutionellen Schwäche des arteriellen Syſtems. Wenn 
man bie Lebensgejchichte Hillairaud's genau verfolgt, er: 
jheint die Bildung feines Charakters und Temperamentd 
als das Ergebniß Förperlicher Zuſtände. Er ift leiben- 
ihaftli und bebarrlich in feinen Neigungen, eraltirt ins- 
befondere in ragen der Liebe und bes Patriotismne. 
Mit achtzehn Jahren verliebte er fich fterblich in eine 
ſchöne andaluſiſche Jungfrau. Dieſe Liebe war platoniſch 
und blieb unerwidert. Dennoch blieb er derſelben während 
fünf bis ſechs Jahren treu, bis bie politiſchen Verhält⸗ 
niſſe eintraten, die Hillairaud bewogen, ſich freiwillig in 
die franzöſiſche Armee einreihen zu laſſen. Damals trat 
eine vollſtändige ſeeliſche Wandlung bei ihm ein, ſeine 
Aufzeichnungen, ſeine Briefe verlieren den bis dahin ſo 
charakteriſtiſchen ſchwärmeriſch⸗ſentimentalen, platoniſchen 
Zug und feine Neigung wendet ſich nunmehr ausſchließ⸗ 
ich fäuflichen Dirnen zu.” 

Dr. Martinez fchilvert eingehend die Art der Ent- 
ftehung der Viftonen, wie Hillatraud folche gehabt, ven 
hyſteriſchen Zuftand der Verzüdung, den derartige Wahn- 
bilder hervorrufen und das Gelübbe, das er infolge der⸗ 
jelben getban: 

‚Nah dem Kriege war Hillairaud, ver ſich dem Kauf: 








Das Attentat auf Bazaine. 259 


manneftande widmete, genöthigt nach Afrika zu veijen, 
fort warb er von einem Sumpffieber ergriffen, an dem 
er neun Monate lang litt. Die Folge davon war ein 
vollftändiger Marasmus. Er kehrte nach Paris zurüd, 
erneuerte vor dem Pantheon jein Gelübde, reifte nach 
San-Sebaftian, wo er — vergeblid — ben Ermarfchall 
Bazaine zu treffen hoffte. Bon dort fam er nach Ronces- 
valles, wo er den der Mache geweibten ‘Dolch in den Ro⸗ 
fandebrunnen tauchte und fein Gelübbe zum brittenmal 
ernenerte. Er begab fich nach Madrid. Das Buch, fein 
Roman: «Die Liebichaften eines Reifenden», welches er 
in der Zwifchenzeit (1874) veröffentlicht hatte, ift ein 
Deweid von ungewöhnlicher Eitelkeit und weiſt an fich 
darauf bin, daß fein Verfaſſer an Wahnvorftellungen 
leidet. Es zeigt als Titelbild das Eonterfei Hillairaud's 
umgeben von eimem Kranze und fünf rauengefichtern. 
Es ift ſtark erotifcher Natur. Die Vorrede enthält be 
reits Anspielungen auf die NRächerrolle, die jein Autor 
ſich beilegt. 

„Hillairaud tft fanguinüchen Temperaments und ana- 
tomish troß der Verkürzung des linken Armes wohlge- 
bilvet. Auf Grund fortgefeßter Beobachtungen gelangten 
wir zu bem Schluffe: Der Angellagte ift im Hinblid 
auf die conftatirten pathologifchen Anteceventien und feinen 
gegenwärtigen Zuftand nicht als zurechnungsfäbig anzu- 
ſehen. Der Befund ergibt das Vorhandenſein firer 
Wahnvorftellungen, welche das Bewußtfein trüben und 
die Verantwortlichkeit für feine Handlungen vermindern 
und aufheben.” 

Der Vertheidiger Figueroa richtet an die jachverjtän- 
digen Gerichtsärzte die Frage, ob fie auch in der Lage 
find, ven pathologifchen Zuftand des Angeklagten zur Zeit 
des verbrecheriſchen Attentat genau zu präcifiren? 

17* 


260 Das Attentat auf Bazaine, 


Dr. Martinez. Nach meinen Dafürbalten Tonnte 
Hillairaud zur Zeit der That wol mit Bewußtſein han⸗ 
bein, doch wurbe er babei von firen Wahnvorftellungen 
beherrjcht, bie eine geminderte Zurechnungsfähigkeit in 
fich ſchließen. Hillatraud bat mir ſelbſt zugeftanden, daß, 
al8 er den Marſchall Bazaine als gebrechlichen Greis vor 
fih fah, ein Gefühl der Ehrfurcht ihn überlam, welches 
ihn faft übermannte. Er babe ven Plan, mit dem er 
eingetreten war, ſchon völlig fallen Taffen, im Augenblid 
aber, da er fi abmwanbte, um zu gehen, ſei eine Blut⸗ 
welle ihm vor bie Augen getreten, er fei nicht yehr Herr 
feines Wilfend gewejen, und ohne recht zu wiſſen wa® er 
thue, babe er zugeftoßen. 

Vertheidiger. Iſt wirklicher Vorbedacht und ver: 
rätherifch-meuchlerifche Tücke vereinbar mit jenem Zu⸗ 
jtande des Wahnfinns, in dem der Angeflagte fi) offen- 
bar befindet? 

Dr. Alonſo Martinez beantwortet biefe Trage be> 
jahend. 

Der Generalftaatsanwalt fragt: ob ſich denn bie 
Gerichtsärzte eingehender noch mit den Danblungen des 
Angeklagten, welche dem Tage des Verbrechens vorber- 
gingen, bejhäftigt hätten? Ihm jet von ven einfchlägigen 
Unterjuchungen feitens der Aerzte nichts befannt geworben. 

Der Gerichtsarzt Martinez gibt zu, daß die Aerzte 
über diefen Punkt nur unvolllommen, und zumeift nur 
auf Grund eigener Ausjagen des Angeklagten informirt 
wurben. 

Der Generalftaatsanwalt kann fich mit diefer Ant- 
wort nicht zufrieden geben. „Sind bie Gerichtsärzte wirk⸗ 
lich in der Lage, auf ihren Eid als Sachverftändige zu 
verfichern, daß Hilfatraub, als er ven Morbverfuch verübte, 
im vollen Sinne des Worts unzurechnungsfähig war?” 











Das Attentat auf Bazaine. 261 


Der Gerichtsarzt erklärte: „Wir find in der Lage, 
diefe Trage von unferm Standpunkte aus mit voller 
Sicherheit zu beantworten. Hillatraud war nach unferer 
mediciniſchen Auffaffung unzurechnungsfäbig, denn er ftand 
unter dem überwältigenden Eindrude einer aus patrio- 
tiſcher Begeifterung herrührenden Ueberreizung ber Nerven.” 

Der Ermarfhall Francois Achill Bazaine er- 
Scheint als Zeuge. Sein Auftreten ruft im Bublilum be- 
ſondere Bewegung hervor. Auf den Arm einer Dienerin 
und einen Krückſtock geftügt, betritt er den Saal. Der 
Präfident geftattet ihm, mit Rückſicht auf fein Befinden 
und fein vorgerüctes Alter (er ift am 13. Februar 1811 
geboren), jeine Ausfage figend abzugeben. Die ehedem fo 
fräftige, gebrungene Geftalt tft gebrochen und gebeugt. 
Sein Haar ift weiß geworben, er macht den Eindruck 
eines reife. 

Im Augenblid, da Bazaine eintritt, erhebt fich ver 
Angeflagte raſch von feinem Site und !itredt mit einer 
pathetifchen Geberde den rechten Arm vor fih Hin. Er 
ruft in großer Erregung und mit bebender Stimme einige 
Worte in franzöfiicher Sprache, doch was er fagen will, 
bleibt unverjtanden. “Der Yuftizwachtmann, der an feiner 
Seite Plaß genommen bat, zieht ihn auf feinen Sitz 
zurüd und beißt ihn Stilffchweigen beobachten. 

Das Verhör Bazaine’8 beginnt mit einem hochdrama⸗ 
tiihen Moment. 

In der üblichen Weife nach den Generalien befragt, 
antwortet der Zeuge auf die Frage: „Ihr Stand?” mit 
halblauter Stimme: „Ehemals Solpat.” 

Tiefe Bewegung geht durch das Auditorium. 

Im Berlaufe feiner Vernehmung gibt Bazaine an: 

„Ich babe den Angeklagten vor dem Tage bes Atten- 
tats weder perfönlich noch dem Namen nach gekannt. 


262 Das Attentat auf Bazaine. 


Derfelbe hat das Erjuchen um eine Unterrebung an mid 
gerichtet und fein Verlangen mit feiner Landsmannſchaft 
begründet. Ich babe die Unterrebung bewilligt und ihn 
empfangen. Wir waren allein. Die Unterhaltung be- 
wegte fich in den böflichiten Normen. Sie bezog fich auf 
bie derzeitigen Zuftände Frankreichs und die vorausficht- 
lichen Veränderungen, welche die Zukunft für diefes Land 
bringen würbe. Nichts von Wichtigkeit wurde gefprochen, 
fein Streit entipann fich, fein Wiberfpruch warb von 
jeiner Seite irgendeiner meiner Bemerkungen entgegen- 
gebracht, nichts ift gefchehen oder wurbe gejagt, was in 
mir in irgenbeiner Welfe einen Verdacht des bevorftehen- 
ben Ueberfalls hätte erwecken können. Ich hielt Hillatraub 
für einen etwas zubringlichen und fchwaßbaften, aber 
ganz barmlofen neugierigen Menfchen, wie folche zuweilen 
an mich herantreten, um mich zu interpiewen. Erſt als 
er fich bereit8 vwerabfchiebet hatte, und ich ihm fchon ben 
Rüden zubrebte, hat Hillairaud binterliftig den Dolch ge- 
zogen und mich, der ich mich feiner feinpfeligen Abficht 
verſah, überfallen und zugeftoßen. Ich fühlte mich ges 
troffen und erlangte erft durch die Verlegung Kenntniß 
bon dem eigentlichen Vorhaben des Mannes. Er floh 
jofort und ich rief nach meinen Dienern.” 

Als der Zeuge entlaffen wird und fich zurückzieht, 
Ipringt Hillatraud, offenbar in gewaltiger Aufregung, 
nochmals von feinem Plate auf und ruft wieber einige 
franzöfifche Worte, die aber in bem Tumult, der fich er- 
hebt, ebenfalls nicht genau verftänplih werben. Sie 
lauten ungefähr wie: „Schmach und Tod dem Berräther!” 

Zeuge Auguftin Laferna, Deputirter der Cortes, 
gibt an: 

„3b kam eben, in einem Gejchäftsgang begriffen, an 
dem Daufe des Marſchalls vorbei, al8 laute Rufe ertönten: 


Das Attentat auf Bazaine 263 


«Mörter! Mörver! Zu Hülfel» Diefe Rufe gingen von 
der Dienerfchaft Bazaine's aus. Hilfairaud ftürzte aus 
dem Haufe und ich hielt ihn auf. Er leiftete feinen Wiber- 
ftand. Ich fragte ihn, was er denn gethan habe? Er 
antwortete pathetifch: «Ich habe Frankreich gerächt!v Er 
fügte noch einige Worte Hinzu, an die ich mich nicht mit 
Beſtimmtheit zu erinnern vermag. Sicher iſt mur, baß 
feine Reden darauf hinausliefen: daß er die Miſſion zu 
feiner That von feinem Menfchen erhalten hätte, er jet 
ein Werkzeug ver Vorfehung! 8 fchienen mir patriotifch- 
eraltirte Phrafen zu fein. Den Einprud eines Wahn 
finnigen hat er mir nicht gemacht. Ich übergab ihn den 
Händen ber binzugelommenen Sicherheitsmannfchaft.” 

Die Zeugen Victor Gil und Maria Ehillon, im 
Dienfte bei dem Ermarfchall, willen nichts Neues aus⸗ 
zufagen. 

Mr. Double, Eigenthümer des Cafe de Paris, in 
beifen Dienften Hillairaud geftanden bat, ftellt ihm ein 
günftiges Zeugniß aus. Er bielt ihn für einen ehren- 
haften Menſchen und fleikigen Arbeiter. Er war leb⸗ 
haften Charakters und führte oft patriotifch-eraltirte 
Redensarten im Munde. 

Frau de Grenier la Nohpere tritt, da fie als Zeu⸗ 
gin aufgerufen wird, zu Hillairaub bin und reicht ihm 
die Hand. Sie weiß nur das Befte über ven Angeklagten 
auszuſagen. „Ich Fenne ihn“, fo berichtet fie, „feit bret 
Fahren, zu welcher Zeit er in meine Vaterſtadt Borbeaur 
gefommen ift. Er ift immer ein guter Menfch gewejen, 
ich weiß es beitimmt. Sein Charakter ift fanftmüthig, 
fchwärmerifch und romantiih. Er ereiferte fih nur und 
geberbete fich wie von Sinnen, wenn er von den Ereig- 
niffen der Sriegsjahre ſprach.“ 

Der Angeklagte felbft, der während der Vernehmung 


264 Das Attentat auf Bazaine. 


ber Zeugen fortwihrend unruhig ſich gebertet un Zwi⸗ 
ichenrufe ausgeftoßen hatte, bemerkt zur Depofition Ba⸗ 
zaine's, er hätte ihm wielleicht noch im legten Augenblid 
„vergeben”, allein da babe der Verräther fich wörtlich 
geäußert: „und im übrigen müffen wir doch der Wahr- 
heit die Ehre geben und zugeftehen, daß das Eljaß und 
jelbft Lothringen zur Hälfte von Deutfchen bewohnt fine“. 

Hilfatraud, der fich fehr aufgeregt geberbet, wird mit 
Mühe beruhigt und endet fchlieklich, nach mehrern, mit 
großer Vehemenz hervorgeiprubelten Sägen, mit ber Ver⸗ 
fiherung: „Ich bin ein altgedienter Soltat, meine That 
gefhah, um Frankreich zu rächen, ich habe eine göttliche 
Miſſion zu erfüllen gehabt.“ 

Zum Schluffe wird die Ausfage des Civilgouverneurs 
ber Provinz, Duque de Trias, zur DVerlefung gebracht, 
ba biefer von dem ihm gefetlich zuftehenden Vorrecht Ge⸗ 
brauch macht, ftatt perfönlich vor Gericht zu erjcheinen, 
jchriftlich zu deponiren. Er ſchreibt im wefentlichen: „Sch 
begab mich, ale ich von dem Attentat Kunde erhielt, ſo⸗ 
fort zum Uinterfuchungsrichter, und da fich dieſer bereits 
zur Erhebung der ZThatumftände in die Wohnung bes 
Exmarſchalls Bazaine verfügt hatte, folgte ich ihn vahin. 
Mr. Bazaine, den ich perfönlih von Paris ber kannte, 
erzählte mir felbft ven Hergang. Er glaubte zuerft durch 
einen Piftolenfhuß verwundet zu fein, fo kräftig war ber 
Stoß, den er erhielt. Hillairaud wurde auf der Stelle 
feftgehalten und verhaftet. Ich fuchte ihn im Polizei» 
gefängniß auf, und da der Unterfuchungsrichter, der fich 
in meiner Begleitung befand, nicht franzöfifch ſpricht, 
fungirte ich felbft beim erften Verhör als Dolmetjcher. 
Seine Ausfagen find im Protokoll getreulich wienergegeben. 
Ich Habe den Eindruck gehabt, einen exaltirten Menſchen 
vor mir zu ſehen.“ 





Das Attentat auf Bazaine. 265 


Am zweiten Verbantlungstage fand das Plaidoyer 
des Öffentlichen Anklägers jtatt. 

Der Generalftaatsanwalt Buenaventura Munoz 
y Rodriguez erzählt den Hergang des Verbrechens. 
Er ftüßt ſich zunächft auf Die Ausfage Bazaine's, des ein- 
zigen Thatzeugen. Er conftatirt demgemäß, daß in dem 
Zwiegeſpräch, welches dem Attentat voranging, Tein auf- 
regender Streit, feine Divergenz der Anfchauungen zu 
Tage getreten fei. Hillairaud Hat das Verbrechen, um 
veffentwillen er angellagt worden ift, in einem Augen⸗ 
blick verübt, da er fich bereits verabjchtebet hatte. „Er 
war durch Feine Provocation gereizt, er bat zugeftoßen, 
als fein ahnungsloſes Dpfer ihm den Rüden zuwandte. 
Seine That iſt aljo mit befonderer Tücke und Hinterlift 
verübt, fie ift ein menchlerifcher Mordverſuch. Erſt bei 
der Schlußverhandlung am geftrigen Tage ift e8 ihm ein- 
gefallen zu behaupten, er habe im göttlichen Auftrage ge- 
bantelt, Gott felbft Hätte ihm befohlen Frankreich zu 
rächen. In dem Zagebuche aber, das Hillairaud geführt 
und das bei feiner Verhaftung in feinem Befit vorges 
funden wurde, bat er mehrfach mit dürren Worten nieber- 
gejchrieben, er glaube an feinen Gott. 

„Das Gericht wird fich gewiß der Erfenntniß, welche 
das Reſultat wiſſenſchaftlicher Beobachtung der Natur if, 
nicht verjchließen. Es kann aber Hypotheſen nicht zur 
Baſis feiner Urtheile annehmen, die zwar von einer Reihe 
ſonſt bochgeachteter Naturforicher als erwieſen betrachtet 
werben, während andere Gelehrte fie noch als ſehr der 
Prüfung und Richtigftellung bebürftig erklären, und end» 
lich dritte, nicht minder hochſtehende Autoritäten fie ganz 
und gar als unzuläfftg, phantaftifch und mit ven Geſetzen 
der Natur in Widerfpruch ftehend verwerfen. ‘Der Hypno⸗ 
tismus und die Suggeftion mögen in ber Zukunft berufen 





266 Das Attentat auf Bazaine. 


fein, noch eine große Rolle bei ber Enticheibung zweifel- 
hafter Fälle zu ſpielen — im gegebenen Falle dürfen fie 
ebenfo wenig angerufen werben, als bie Lehre vom un⸗ 
wiberjtehlichen Zwange ver Determiniften ober bie Häufig 
gar arg misbrauchte Theorie der Unzurechnungsfähigfeit 
infolge von Wahnvorftellungen. 

„Das fachverftändige Gutachten Hat mich nicht einen 
Augenblid in der Veberzeugung wankend gemacht, daß 
ber Angeklagte fich der Tragweite feiner Handlungen ftets 
vollkommen bewußt gewefen, und daß die Triebfeber weit 
eher aus eitler Ruhmfucht als infolge krankhafter Geiftes- 
jtörung hervorgegangen ift. Nichtsbeftoweniger kann man 
einen großen Theil beifen, was die Gerichtsärzte auf 
Grund ihrer Beobachtungen feftgeftellt Haben, ohne weiteres 
als richtig anerlennen. Der Angeflagte handelte offenbar 
in einem Zuftande bochgradiger Erregung. Er tft ercen- 
triih und nimmt feine Phantafien für reale Wirklichkeit. 
Dies genügt aber durchaus nicht, um ihn als unzurech⸗ 
nungsfähig zu bezeichnen.” 

Den Schluß der Rede des Generalftaatsanwalts bil- 
bete eine lichtvolle Auseinanverfegung, daß es nicht Sache 
der fpanifchen Gerichtsbarkeit fein könne, Dinge zu unter: 
fuchen, die ſich ausſchließlich auf die Politik auslänpifcher 
Staaten beziehen. „Die Frage, welche die Richter hier zu 
beantworten haben, tft lediglich von bem Gefichtspunfte 
zu betrachten: Bazaine ift ein Ausländer, ber unter bem 
Schute ſpaniſcher Gefete, auf die Gaftfreundfchaft Spa 
niens bauend, fich daſelbſt niedergelaffen bat, und Hil- 
lairaud ift ein anderer Ausländer, der die fpantfchen Ge- 
ſetze auf das gröblichite verlegt hat. Es entzieht ſich 
vollkommen ber Competenz eines ſpaniſchen Gerichthofes, 
zu enticheiven, ob Bazaine fich gegen Frankreichs militä- 
rifche Ehre vergangen hat oder nicht; relevant ift Hier 





Das Attentat auf Bazaine 267 


nur, ob Hillairaud eine That beging, für die er verant- 
wortlich ift und die nach fpanifchen Recht ftrafbar er⸗ 
ſcheint. 

„Ein Zweifel an dem ſubjectiven Thatbeſtand iſt aber 
vollſtaͤndig ausgeſchloſſen.“ 

Der Generalſtaatsanwalt beantragt unter Erwägung 
der mildernden Umſtände ſowie der Erſchwerung wegen 
der beſondern Tücke des Angriffs, Hillairaud ſei zu 
ſchwerem Kerker in der Dauer von acht Jahren und einem 
Tage zu verurtheilen. 

Der Vertheidiger Don Alvaro de Figueroa nimmt 
das Wort. 

In blendender, formvollendeter Weife verfucht Don 
Alvaro gegen die unerbittliche Logik des Staatsanwalts 
anzulämpfen. Zunächft rügt er einige Formfehler, bie 
im Laufe der Unterfuchung vorgelommen find, 3. B., daß 
ber Gouverneur von Madrid, der nicht als Gerichts- 
bolmeticher beeidet worden, bei dem erften Verhöre Hil- 
lairaud’8 als folcher fungirte, dann entwirft er eine 
Schilderung des Charakters des Angellagten. Geftügt 
auf die Anficht und die Mittheilungen ber Gerichtsärzte 
zeigt er, wie der krankhaft überreizte Patriotismus des 
freiwilligen Soldaten durch die Thatfache der Capitulation 
von Meß auf das äußerfte gefteigert, im Laufe der Jahre 
zu firer Wahnvorſtellung geworben ift, die übermächtig bie 
ſonſt durchaus ehrenwerthen Imftincte und Gefühle bes 
Mannes nieverbrüdt und ihm den Stahl in die Hand zwingt. 
Er proteftirt dagegen, baß dieſes Attentat als Mordverſuch 
qualifteirt werde. Hillatraud war mit Bazaine allein, 
ber fräftige Mann mit dem Hinfälfigen reife. Wenn 
er ihn wirffich tödten wollte, nichts hätte ihn daran ver» 
hindert. Allein dieſe Abficht war gefallen, als er fich 
dem gebrechlichen alten Manne gegenüber ſah. Schon 





268 Das Attentat auf Bazaine. 


wollte Hillairaud fich zurüdziehen, als die unglückliche 
Aeußerung Bazaine's über Eljaß-Lothringen ihn vie Be 
finnung raubte. Das Blut ftieg ihm zu Kopfe, vie 
Wahnvorſtellung war gewedt, ohne richtiges Bewußtſein 
beffen, wa® er thue, ftieß er zu, und ohne fich zu über- 
zeugen, welche Wirkung fein Stoß gehabt, ging er ſtolz 
erhobenen Hauptes davon und fagte: „Ich babe Frank⸗ 
reich geräht!” Ein folder Mann ift fein Mörder. Cs 
ift ein Monomane, der Mitleid, nicht Strafe verdient. — 
Der Bertheibiger fordert Die Freifprechung feines Efienten. 

Der Vorſitzende richtet an Hillairaud bie Frage, ok 
er noch etwas zu feiner Entlaftung und Bertheidigung 
porbringen könne. 

Hillairaud erflärt, die Hand zum Himmel heben, 
er babe recht gehandelt. Die Liebe zum Vaterlande habe 
ihn befeelt und die Vorjehung ihn zu ihrem Werkzeuge 
erforen. 

In feinem Moment der Verhandlung Bat fein Be 
nehmen etwas fo ausgefprochen Komödienhaftes gehabt ale 
in biefem ernften Augenblid. 

Der Präfivent erklärt, das Urtbeil werde am Montag 
verfünbigt werben. 

Dem fpanifchen Recht zufolge ift bie Urtheilsverkün⸗ 
bigung mit eingehender Motivirung verjeben. 

Nach trodener Aufzählung ber vie That begleitenden 
Umftände und einer Angabe über bie befannten That- 
ſachen des Vorlebens des Angellagten, wird das Bud) 
beffelben einer eingehenden Beſprechung unterzogen und 
daraus feine hervorjtechenpften Charaftereigenfchaften des 
bueirt. Nah Erwägung ber von dem öffentlichen An⸗ 
kläger und Vertheidiger vorgebrachten Momente tritt ver 
Gerichtshof in feinem Urtheil den Ausführungen ver 
Staatsanwaltfchaft durchweg bei, verwirft die von ihr 


Das Attentat auf Bazaine. 269 


angefochtene Theorie von ver Willensunfreiheit des Atten- 
täter8 und vwerurtheilt ihn entfprechend dem Antrage des 
Öffentlichen Anklägers zu achtjährigem Zuchthanfe. 





Diefer Broceß, der weit mehr durch die Perfon beffen, 
gegen den ber Mordanfchlag unternommen wurde, als bie 
Perfönlichkeit des Attentäter oder die Einzelheiten des 
Berbrechensd bemerkenswerth erjcheint, gibt ein jehr aner- 
kennenswerthes Bild von der Vorurtheilsloſigkeit und Un⸗ 
befangenheit ſpaniſcher Nechtfprehung. Die Unzugäng- 
lichfeit gegenüber politiichen Erwägungen, bie fich freilich 
überall von ſelbſt verſtehen follte, wirb leider nicht bei 
allen Richtern angetroffen. Doch wenn wir biejen Um⸗ 
ftand auch ganz aus dem Bereich umferer Bemerkungen 
ausscheiden, können wir das Verhalten des Tribunals von 
Madrid gegenüber ven hochmodernen Theorien geminberter 
Zurechnungsfähigfeit wegen krankhafter Wahnvorftellungen 
um fo unverhoblener und rücdhaltslojer billigen. Es ift 
leider derzeit an vielen Orten bie falfche Sentimentalität 
obenauf, die in jedem Verbrecher nur einen bebauerns- 
werthen Geifteöfranfen erbliden und ihn dem rächenven 
Arm der Gerechtigkeit entziehen will. Es iſt erfreulich, 
bag man jenfeit ber Pyrenäen biefem Tagesgötzen nicht 
zu opfern willens ift. 


Ein Diebſtahl im wiener Landesgerichtsgebäude. 
1880 und 1881. 


Am 30. März 1880, dem Dienstage nach Oftern, 
entdedte der nachmittags im Landesgericht in Wien im 
Strafjahen amtirende Oberlandesgerichtsratb Vincenz 
Droz, baß aus der verfperrten oberften und unterften 
Schublade feines im Amtszimmer befindlichen Schreib- 
tifches bie von ihm daſelbſt verwahrten, ihm perfönlich 
gehörenden Staatspapiere und Einlagebücher im Werthe 
von zufammen 23995 Gulden 14 Kreuzer entwendet feien. 
Spuren eines gewaltfamen Einbruchs waren nicht vor⸗ 
handen, insbeſondere auch nicht an dem Schreibtiih und 
den verjperrt gefundenen Schlöffern, bie wegen bed im 
ihnen angebrachten Dorns nur mit einem gebohrten Schlüf- 
jel geöffnet werden konnten. 

Droz hatte feine Werthſachen feit bem Monat Des 
cember 1879 in dieſem Schreibtifche verwahrt und da⸗ 
jelbft auch belaſſen, obgleich er im Februar 1880 bemerkte, 
daß eine golvene Uhr, die er im Schreibtifch aufhob, ab» 
handen gelommen war. Er erinnerte fich beftimmt, feine 
fämmtlichen Werthpapiere am 2. oder 3. März 1880 
noch in Ordnung gefunden, und glaubte, fie andy noch 
am 10. März controlirt zu haben. 


Ein Diebftahl im wiener Landesgerichtsgebäude. 271 


Die fofort angeftellten polizeilichen Nachforichungen 
ergaben, daß ber größte Theil der geftohlenen Papiere 
am 27. März 1880, dem Charfamstage, kurze Zeit nad) 
8 Uhr morgens, bei verfchievenen größern Gelbinftituten 
realifirt worden war. Man mußte annehmen, daß ber 
Dieb, um einer Entdeckung vorzubeugen, feine Beute fo 
raſch als möglich veräußert habe, und ſchloß daraus, daß 
der Diebftahl vermuthlid am Nachmittag oder Abend 
bed 26. März 1880, des Charfreitags, verübt worben 
jet, denn am folgenden Tage waren, wie erwähnt, bie 
Papiere verlauft worden. 

Der Dberlanbesgerichtsratb Droz pflegte bis nach- 
mittags 2 Uhr auf dem Bureau zu fein, dann zu Mit- 
tag zu ejjen und nachher noch 1—2 Stunden in feinem 
Amtszimmer zu arbeiten. Am Charfreitag hatte er fich 
durch den Kirchenbefuch abhalten Laffen, nachmittags fein 
Bureau nochmals zu betreten. Keiner von den fich bis 
6 Uhr abends in den Gängen des Landesgerichts auf- 
haltenden Aufjehern, Amtspienern und den Yuftizwacht- 
folvaten hatte an jenem Charfreitag etwas Auffallendes 
bemerft. Es war von vornherein Har, daß der Thäter 
von dem Borhandenfein der Werthpapiere in dem Schreib» 
tiſch des Oberlandesgerichtsraths Droz Kenntniß haben 
mußte, und daß es eine in ben Gerichtslocalitäten be⸗ 
fannte Perjönlichfeit war, die das Verbrechen ausführen 
fonnte, ohne den Verdacht der ‘Diener: und Wachtmann- 
fchaft zu erregen. 

Der Unterjuchungsrichter, Yandesgerichtsrath Dr. von 
Holzinger, vermuthete deshalb, daß fich ver Dieb unter 
den Angeftellten und Bedienſteten des Gerichts ſelbſt be» 
finden würde. 

Am 2. April 1880 gelangte an die Polizetbirection 








Ein Diebflahl im wiener Landesgerichtsgebändt. 
1880 und 1881. 


Am 30. März 1880, dem Dienstage nad Oftem, 
entbedte ber nachmittags im Landesgericht in Wien in 
Straffahen amtirende Oberlandesgerichtsrath Vincen; 
Droz, daß aus der verfperrten oberften und umterften 
Schublade feines im Amtszimmer befindlichen Schreib⸗ 
tifches die von ihm daſelbſt verwahrten, ihm perjönlid 
gehörenden Staatspapiere und Einlagebücher im Werthe 
von zufammen 23995 Gulden 14 Kreuzer entwenbet feien. 
Spuren eines gewaltfamen Einbruch& waren nicht vor- 
handen, insbeſondere auch nicht an dem Schreibtiſch unt 
ben verfperrt gefundenen Schlöffern, die wegen bes in 
ihnen angebrachten Dorns nur mit einem gebohrten Schlüj⸗ 
fel geöffnet werben konnten. 

Droz batte feine Wertbiachen feit dem Monat De: 
cember 1879 in dieſem Schreibtiiche verwahrt und bw 
jelbft auch belaffen, obgleich er im Februar 1880 bemeriit 
baß eine goldene Uhr, die er im Schrei u — 
handen gekommen war. Er erimm r 
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noch in Orbnung gefunden, ur 
am 10. März controlirt zu b 


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264 Das Attentat auf Bazaine. 


der Zeugen fortwährend unruhig fich geberbet und Zwi—⸗ 
ichenrufe ausgeftoßen batte, bemerkt zur Depofition Ba- 
zaine's, er hätte ihm vielleicht noch im letzten Augenblid 
„vergeben“, allein da habe der Verräther ſich mörtlich 
geäußert: „und im übrigen müſſen wir doch der Wahr⸗ 
heit die Ehre geben und zugeitehen, daß das Elſaß und 
ſelbſt Lothringen zur Hälfte von Deutjchen bewohnt fin“. 

Hillatraud, der ſich jehr aufgeregt geberdet, wirb mit 
Mühe beruhigt und endet fchließlich, nach mehrern, mit 
großer Vehemenz hervorgeiprubelten Sägen, mit der Ver- 
fiherung: „Ich bin ein altgedienter Soldat, meine That 
geſchah, um Frankreich zu rächen, ich babe eine göttliche 
Miffion zu erfüllen gehabt.“ 

Zum Schluffe wird die Ausfage des Civilgouverneurs 
ber Provinz, Duque de Trias, zur DVerlefung gebracht, 
da diefer von dem ihm gefeßlich zuftehenden Vorrecht Ges 
brauch macht, ftatt perfönlich vor Gericht zu erjcheinen, 
Ichriftlich zu deponiren. Er fchreibt im wefentlichen: „Ich 
begab mich, als ih von dem Attentat Kunde erhielt, ſo⸗ 
fort zum Unterfuchungsrichter, und ba fich dieſer bereits 
zur Erhebung der Thatumftände in die Wohnung des 
Exmarſchalls Bazaine verfügt hatte, folgte ich ihm dahin. 
Mr. Bazaine, ven ich perfönlich von Paris Her kannte, 
erzählte mir jelbft ben Hergang. Er glaubte zuerft durch 
einen Piſtolenſchuß verwundet zu fein, jo kräftig war der 
Stoß, den er erhielt. Hillairaud wurde auf der Stelle 
feftgehalten und verhaftet. Ich juchte ihn im Polizei- 
gefängniß auf, und da der Unterjuchungsrichter, der ſich 
in meiner Begleitung befand, nicht franzöſiſch fpricht, 
fungirte ich felbft beim erften Verhör als Dolmetjcher. 
Seine Ausfagen find im Protofoll getreulich wienergegeben. 
Ich habe ven Eindruck gehabt, einen exaltirten Menſchen 
vor mir zu fehen.‘ 





Das Attentat auf Bazaine. 265 


Am zweiten DVerbantlungstage fand das Plaidoyer 
bes öffentlichen Anflägers ftatt. 

Der Generalftantsanwalt Buenaventura Muñoz 
y Rodriguez erzählt den Hergang des Verbrechens. 
Er ſtützt ſich zunächſt auf Die Ausfage Bazaine’s, des ein- 
zigen Thatzeugen. Er conftatirt demgemäß, daß in dem 
Zwiegefpräch, welches dem Attentat voranging, fein auf- 
vegenver Streit, Feine Divergenz der Anfchauungen zu 
Tage getreten fei. Hillairaud Hat das Verbrechen, um 
beffentwillen er angeklagt worben ift, in einem Augen⸗ 
blick verübt, da er fich bereitd verabjchiebet hatte. „Er 
war durch Feine Provocation gereizt, er bat zugeſtoßen, 
als fein ahnungsloſes Opfer ihm ven Rüden zuwandte. 
Seine That ift alfo mit beſonderer Tüde und Hinterlift 
verübt, fie ift ein menchlerifcher Mordverſuch. Erſt bei 
ter Schlußverhandlung am gejtrigen Tage ift es ihm ein- 
gefallen zu behaupten, er habe im göttlichen Auftrage ge- 
bantelt, Gott felbjt hätte ihm befohlen Frankreich zu 
rächen. In dem Zagebuche aber, das Hillatraub geführt 
und das bei feiner Verhaftung in feinem Beſitz vorges 
funden wurde, hat er mehrfach mit dürren Worten nieber- 
gejchrieben, er glaube an Teinen Gott. 

„Das Gericht wird fich gewiß der Erfenntniß, welche 
das Reſultat wiljenichaftlicher Beobachtung der Natur ift, 
nicht verjchließen. Es kann aber Hypotheſen nicht zur 
Bafis feiner Urtheile annehmen, die zwar von einer Reihe 
fonft hochgeachteter Naturforicher als erwieſen betrachtet 
werben, mährend andere Gelehrte fie noch als fehr der 
Prüfung und Nichtigftellung bebürftig erflären, und end» 
lich dritte, nicht minder hochſtehende Autoritäten fie ganz 
und gar als unzuläffig, phantaftifch und mit den Geſetzen 
der Natur in Wiberjpruch ftehenp verwerfen. Der Hypno⸗ 
tismus und bie Suggeftion mögen in ver Zukunft berufen 


266 Das Attentat auf Bazaine. 


fein, noch eine große Rolle bei der Entſcheidung zweifel- 
hafter Fälle zu fpielen — im gegebenen Yalle pürfen fie 
ebenfo wenig angerufen werben, als bie Lehre vom un⸗ 
wiberftehlichen Zwange der Determiniften ober bie Häufig 
gar arg misbraudhte Theorie der Unzurechnungsfähigleit 
infolge von Wahnvorftellungen. 

„Das fachverftändige Gutachten hat mich nicht einen 
Augenblid in ber Veberzeugung wanfend gemacht, daß 
ber Angellagte fich der Tragweite feiner Handlungen ftets 
vollfommen bewußt geweſen, und baß bie Triebfeder weit 
eher aus eitler Ruhmfucht als infolge krankhafter Geiſtes⸗ 
jtörung hervorgegangen ift. Nichtsbeftoweniger kann man 
einen großen Theil deſſen, was die Gerichtsärzte auf 
Grund ihrer Beobachtungen feftgeftellt Haben, ohne weiteres 
als richtig anerkennen. Der Angeklagte handelte offenbar 
in einem Zuftande bochgrabiger Erregung. Er ift ercen- 
triih und nimmt feine Phantafien für reale Wirklichkeit. 
Dies genügt aber durchaus nicht, um ihn als unzuredh- 
nungsfähig zu bezeichnen.“ 

Den Schluß der Rebe des Generalftaatsanwalts bil- 
bete eine lichtuolle Auseinanverfegung, daß es nicht Sache 
ber Spanifchen Gerichtsbarkeit fein könne, Dinge zu unter⸗ 
fuchen, die fich ausſchließlich auf die Politik ausländiſcher 
Staaten beziehen. „Die Frage, welche die Richter hier zu 
beantworten baben, iſt lediglich von dem Gefichtspunfte 
zu betrachten: Bazaine ift ein Ausländer, der unter dem 
Schutze fpanifcher Gefete, auf die Gaftfreundichaft Spa- 
niens bauend, fich daſelbſt niedergelaffen hat, und Hil⸗ 
lairaud ift ein anderer Ausländer, der bie fpanifchen Ge- 
ſetze auf das gröblichfte verlegt hat. Es entzieht fich 
vollkommen ver Competenz eines fpanifchen Gerichthofes, 
zu enticheiven, ob Bazaine fich gegen Frankreichs militä- 
rifhe Ehre vergangen hat oder nicht; relevant ift bier 





Das Attentat auf Bazaine. 267 


nur, ob Hillatraub eine That beging, für die er verant- 
wortlih ift und die nach ſpaniſchem Recht ftrafbar er- 
ſcheint. 

„Ein Zweifel an dem ſubjectiven Thatbeſtand iſt aber 
vollftändig ausgeſchloſſen.“ 

Der Generalſtaatsanwalt beantragt unter Erwägung 
der mildernden Umſtände ſowie der Erſchwerung wegen 
der beſondern Tücke des Angriffs, Hillairaud ſei zu 
ſchwerem Kerker in der Dauer von acht Jahren und einem 
Tage zu verurtheilen. 

Der Vertheidiger Don Alvaro de Figueroa nimmt 
das Wort. 

In blendender, formvollendeter Weiſe verſucht Don 
Alvaro gegen die unerbittliche Logik des Staatsanwalts 
anzukämpfen. Zunächſt rügt er einige Formfehler, die 
im Laufe der Unterſuchung vorgekommen ſind, z. B., daß 
der Gouverneur von Madrid, der nicht als Gerichts⸗ 
dolmetſcher beeidet worden, bei dem erften Verhöre Hil⸗ 
lairaud's als ſolcher fungirte, dann entwirft er eine 
Schilderung des Charakters des Angeklagten. Geſtützt 
auf die Anſicht und die Mittheilungen der Gerichtsärzte 
zeigt er, wie der krankhaft überreizte Patriotismus des 
freiwilligen Soldaten durch die Thatſache der Capitulation 
von Metz auf das äußerſte geſteigert, im Laufe der Jahre 
zu fixer Wahnvorſtellung geworden iſt, die übermächtig die 
ſonſt durchaus ehrenwerthen Inſtincte und Gefühle des 
Mannes niederdrückt und ihm den Stahl in die Hand zwingt. 
Er proteſtirt dagegen, daß dieſes Attentat als Mordverſuch 
qualificirt werde. Hillairaud war mit Bazaine allein, 
der kräftige Mann mit dem hinfälligen Greiſe. Wenn 
er ihn wirklich tödten wollte, nichts hätte ihn daran ver⸗ 
hindert. Allein dieſe Abſicht war gefallen, als er ſich 
dem gebrechlichen alten Manne gegenüber ſah. Schon 





268 Das Attentat auf Bazaine. 


wollte Hillairaud fich zurüdziehen, als vie unglückliche 
Aeußerung Bazaine’8 über Eljaß-Lothringen ihm die Be- 
finnung raubte. Das Blut ftieg ihm zu Kopfe, bie 
Wahnvorftellung war gewedt, ohne richtiges Bewußtſein 
beffen, wa® er thue, ftieß er zu, und ohne fich zu über- 
zeugen, welche Wirkung fein Stoß gehabt, ging er ftolz 
erhobenen Hauptes davon und fagte: „Sch habe Frank⸗ 
reich gerächt!“ Ein folder Mann ift fein Mörter. Es 
ift ein Monomane, der Mitleid, nicht Strafe verdient. — 
Der Vertheidiger fordert die Freiſprechung feines Clienten. 

Der VBorfigende richtet an Hillairaud die Frage, ob 
er noch etwas zu feiner Entlaſtung und Bertbeibigung 
vorbringen könne. 

Hillairaud erklärt, die Hand zum Himmel bebent, 
er habe recht gehandelt. Die Liebe zum Vaterlande babe 
ihn befeelt und die Vorfehung ihn zu ihrem Werkzeuge 
erforen. 

In feinem Moment ver Verhandlung bat fein Be 
nehmen etwas fo ausgeiprochen Komdöpienhaftes gehabt ald 
in dieſem ernften Augenblid. 

Der Präfident erklärt, das Urtheil werde am Montag 
verfünbigt werben. 

Dem fpanifchen Recht zufolge ift die Urtheilsverfün- 
bigung mit eingehender Motivirung verjeben. 

Nah trodener Aufzählung ver die That begleitennen 
Umftände und einer Angabe über bie befannten That: 
fachen des Vorlebens des Angeklagten, wirb das Bud 
vefjelben einer eingehenden Beſprechung unterzogen unt 
daraus feine hervorſtechendſten Charaktereigenjchaften de⸗ 
ducirt. Nach Erwägung der von dem öffentlichen Ans 
kläger und Verteidiger vorgebrachten Momente tritt ber 
Gerichtshof in feinem Urtbeil den Ausführungen der 
Stautsanwaltichaft durchweg bei, verwirft Die von ihr 











Das Attentat auf Bazaine. 269 


angefochtene Theorie von der Willensunfreiheit des Atten- 
täter8 und verurtheilt ihn entſprechend dem Antrage bes 
öffentlichen Anklägers zu achtjährigem Zuchthaufe. 





Diefer Proceß, der weit mehr durch die Perfon deſſen, 
gegen den ber Mordanfchlag unternommen wurde, als bie 
Perjönlichfeit des Attentäters oder die Einzelheiten bes 
Verbrechens bemerfenswerth erfcheint, gibt ein jehr aner- 
fennenswertbes Bild von der Vorurtheilsloftgfeit und Un- 
befangenheit fpanifcher Nechtiprehung. Die Unzugäng- 
lichleit gegenüber politifchen Erwägungen, die fich freilich 
überall von ſelbſt verftehen follte, wirb leider nicht bei 
allen Richtern angetroffen. Doch wenn wir biefen Um⸗ 
ftand auch ganz aus dem Bereich umferer Bemerkungen 
ausicheiden, können wir das Verhalten des Tribunals von 
Madrid gegenüber ven hochmobernen Theorien geminverter 
Zurechnungsfähigkeit wegen krankhafter Wahnvorftellungen 
um jo unverhoblener und rüdhaltslofer billigen. Es tft 
leider derzeit am vielen Orten die faliche Sentimentalität 
obenauf, die in jebem Verbrecher nur einen bedauerns⸗ 
werthen Geiſteskranken erbliden und ihn dem rächenpen 
Arm der Gerechtigkeit entziehen will. Es ift erfreulich, 
dag man jenfeit der Pyrenäen dieſem Tagesgötzen nicht 
zu opfern willens ift. 


Ein Diebſtahl im wiener Landesgerichtsgebäude. 
1880 und 1881. 


Am 30. März 1880, dem Dienstage nach Oftern, 
entdecte der nachmittags im Landesgericht in Wien in 
Strafſachen amtirende Oberlandesgerichtsratb Vincenz 
Droz, baß aus ber verfperrten oberften und unterften 
Schublade feines im Amtszimmer befinblichen Schreib- 
tiiches die von ihm daſelbſt verwahrten, ihm perjönlicdh 
gehörenden Staatspapiere und Einlagebücher im Weribe 
von zujammen 23995 Gulvden 14 Kreuzer entwendet ſeien. 
Spuren eines gewaltfiamen Einbruchs waren nicht vor⸗ 
banben, insbejonbere auch nicht an dem Schreibtiich und 
ben verfperrt gefunbenen Schlöffern, bie wegen bed in 
ihnen angebrachten Dorns nur mit einem gebohrten Schlüf- 
jel geöffnet werben konnten. 

Droz Hatte feine Wertbiachen feit dem Monat De— 
cember 1879 in dieſem Schreibtijche verwahrt und bas 
ſelbſt auch belaffen, obgleich er im Februar 18830 bemerkte, 
daß eine goldene Uhr, die er im Schreibtifch aufhob, ab- 
handen gelommen war. Er erinnerte fich beftunmt, feine 
ſämmtlichen Werthpapiere am 2. ober 3. Mär; 1880 
noch in Ordnung gefunden, und glaubte, fie auch noch 
am 10. März controlirt zu haben. 





Ein Diebftabl im wiener Landesgerihtsgebäube. 271 


Die fofort angeftellten polizeilichen Nachforfchungen 
ergaben, baß ber größte Theil der geftohlenen Papiere 
am 27. März 1880, dem Charfamstage, furze Zeit nad) 
8 Uhr morgens, bei verjchievenen größern Gelbinftituten 
realifirt worden war. Man mußte annehmen, daß ber 
Dieb, um einer Entdedung vorzubeugen, feine Beute fo 
raſch als möglich veräußert habe, und fchloß daraus, daß 
der Diebftahl vermuthlih am Nachmittag oder Abend 
bed 26. März 1880, des Charfreitagd, verübt worben 
jet, denn am folgenden Tage waren, wie erwähnt, bie 
Bapiere verkauft worden. 

Der Oberlandesgerichtsratb Droz pflegte bis nach⸗ 
mittags 2 Ubr auf dem Bureau zu fein, dann zu Mit- 
tag zu eſſen und nachher noch 1—2 Stunden in feinem 
Amtszimmer zu arbeiten. Am Charfreitag hatte er fich 
durch den Kirchenbefuch abhalten Laffen, nachmittags fein 
Bureau nochmals zu betreten. Keiner von den fich bis 
6 Uhr abends in den Gängen bed Landesgerichts auf- 
baltenden Aufjehern, Amtsdienern und den Yuftizwacht- 
ſoldaten Hatte an jenem Charfreitag etwas Auffallendes 
bemerft. Es war von vornherein Har, daß ber Thäter 
von dem Vorhandenſein der Werthpapiere in dem Schreib» 
tifch des Oberlandesgerichtsraths Droz Kenntniß haben 
mußte, und daß e8 eine in ben Gerichtslocalitäten be- 
fannte Perjönlichleit war, die das Verbrechen ausführen 
fonnte, ohne den Verdacht der Diener- und Wachtmann⸗ 
fchaft zu erregen. 

Der Unterfuchungsrichter, Landesgerichtsrath Dr. von 
Holzinger, vermuthete deshalb, daß fich der ‘Dieb unter 
den Angeftellten und Bebienfteten des Gerichts ſelbſt be- 
finden würbe. 

Am 2. April 1880 gelangte an die Polizetvirection 


272 Ein Diebftahl im wiener Lanbesgerichtsgebäube. 


in Wien folgender, am 1. April in dem wiener Stubt- 
bezirfe Wieden zur Poft gegebener Brief: 
„Bon außen: 
An das Löhliche Polizei-Amt 
Wien 

Anzeige wegen bes 
gejtohlenen Geldes im 
Landesgericht. 


Bon innen: 
Wien 31/3 880. 
Löbliches Polizet-Amt | 

Man laffe ftrenge bei dem Flickſchneider Bernhard 
B...... „, Alſerſtraße wohnhaft Hausdurchſuchung hal⸗ 
ten und man wird noch einen großen Theil des im Lan⸗ 
beögerichtögebäude geftohlenen Geldes finden, ein Gerichts- 
biener ift der Dieb, B...... ber Helfersbelfer und 
Hehler. B...... tit ein Ausländer.” 


Die Sofort angeftellten Ermittelungen führten zwar zu 
bem Refultat, daß der bezeichnete Bernhard B...... 
in ber Alferitraße wohnte; aber er war ein völlig unbe⸗ 
Icholtener Mann, der nur für einige größere Anftalten 
arbeitete, Tein Aushängeſchild beſaß und auch fein offenes 
Gefchäft betrieb. Er erflärte, daß er von dem Perfonal 
bes Landesgerichts niemand Tenne und nicht wifle, wer 
ben anonymen Brief gefchrieben haben möge. Dem ſchar⸗ 
fen Auge des Unterfuchungsrichtere war dieſer Brief in 
mehr als einer Beziehung merkwürdig. Das Bapier wer 
bem beim Landesgericht verwenbeten Conceptpapier aufs 
fallend ähnlich, Die Schrift, offenbar verftellt und gezwungen, 
jie erinnerte in ihrem Ductus und ihren ältern Bud- 
ftabenformen an eine im Auslande nicht felten gebrauchte, 
in Oefterreich faft gar nicht vorfommende Art der Kanz- 


Ein Diebftahl im wiener Lanbesgerihtsgebäube. 273 


feifchrift. Die in Defterreich üblichen Ausdrücke der Um⸗ 
gangs- und Amtsfprache waren fo forgfältig vermieben, 
daß es auffallen mußte. Während einem Bewohner von 
Wien der populäre Ausdruck „Polizeidirection“ gewiß 
nicht unbefannt tft, fchrieb der DVerfaffer des Briefes 
„Bolizei-Amt”. Bei genauerer Betrachtung ſah man, 
daß der erſte Buchitabe „G“ des Wortes „Gerichtspiener” 
uriprünglih ein „A geweien war. Der Schreiber hatte 
offenbar den im wiener Landesgerichte ausſchließlich übli- 
hen Namen „Aufjeher” over „Amtsdiener” brauchen 
wollen und erſt im legten Augenblick gefliffentlich ven 
Ausdrud „Gerichtöbiener” dafür geichrieben. Dazu am, 
daß die auf der Außenfeite des Couverts angebrachte Heine 
Rubrik „Anzeige wegen des gejtohlenen Geldes im Lan⸗ 
besgericht” nach Form und Inhalt derjenigen glich, welche 
bie Rechtspraktikanten und Schriftführer im Einreichungs- 
protofolle gewöhnlid anwenveten. Die Bemerkung, 

„B...... iſt ein Ausländer”, hatte wahrſcheinlich den 
FZweck, die Behörde zu um ſo eifrigerer Verfolgung der 
falſchen Spur zu veranlaſſen. Alle dieſe Umſtände wie⸗ 
ſen darauf hin, daß der Dieb unter dem Gerichtsperſonal 
ſelbſt zu ſuchen ſei und zwar nicht unter den unterſten 
Kategorien, denen man ein ſo hohes Maß von Berech⸗ 
nung und Ueberlegung kaum zutrauen konnte. Der Ver⸗ 
dacht concentrirte ſich zulezt auf den Rechtspraktikanten 
Karl Goth, der bis kurz vor Verübung des Diebſtahls 
bei dem Oberlandesgerichtsrath Droz als Schriftführer 
verwendet worden war. ‘Der Angefchuldigte ift der Sohn 
bes Zollamtsofficial® Goth zu Gottesgab in Böhmen und 
ftand im 28. Lebensjahre. Er war zu Eger in Böh- 
men erzogen und bort in die Schule gegangen, er hatte 
fodann ein Jahr in Graz und brei Jahre in Wien ftu- 
biert und feine Studien im Jahre 1877 vollendet. Als 

XXII. 18 


274 Ein Diebflahl im wiener Landesgerihtsgebäude. 


Referveoffizier der Verpflegungsbrandhe nahm er an bem 
Bosnien Feldzuge theil, beftand im Jahre 1879 vie 
zweite juriftiiche Staatsprüfung, wibmete fich hierauf der 
vorgefchriebenen gerichtlichen einjährigen Praris, in ber 
Abficht, ſich ſpäter der Advocatur zuzuwenden. Seit dem 
dritten Jahre ſeiner juriſtiſchen Studien war er durch 
den Tod ſeines Vaters jeder Unterſtützung aus dem älter⸗ 
lichen Hauſe beraubt. Er lebte theils von dem Ertrage 
ſeiner Nebenbeſchäftigungen in Advocatenkanzleien, theils 
von den Unterſtützungen eines vermögenden Verwandten, 
theils aber auf Credit, den junge Leute dieſer Art leicht 
zu erhalten pflegen. Im ganzen waren feine Ber- 
hältniffe, ebenfo wie bie feines gleichfalls in Wien 
als Rechtspraktikant Lebenden Bruders, beſchränkt und 
bürftig. 

Karl Goth war von Mitte Januar bis zum 16. März 
1880 dem Oberlanbesgerichtsrath Droz als Schriftführer 
zugewiejen worden, aber am 16. März an das in einem 
andern Gebäude untergebrachte Landesgericht für Civil⸗ 
vechtöfachen verfett. ‘Die räumlichen Verhältniffe im 
Landesgericht für Straffachen und im Bureau des Ober- 
landesgerichtsrath Droz waren ihm natürlich befannt. 
Im Bureau hatte er fich fogar vom 3. bis 10. März, 
weil Oberlanbeögerichtsrath Droz durch Krankheit aus 
Haus gefeffelt war, allein aufgehalten. Schon am 2. 
oder 3. März hatte Droz dem Praktikanten Goth eins 
der in feinem Befig befindlichen Werthpapiere, nämlich 
ein halbes 1864er Los, zum Zwecke ber Vergleichung 
mit einem Falſificat gezeigt. Ueberdies wollte es ber 
Zufall, daß Droz während feiner Krankheit dem Goth 
feinen Schreibtifchichlüffel zufendete, um in ber linfen 
oberſten Schublade ein dort liegendes Recept zu ſuchen und 
ihm daſſelbe zuzuſchicken. In dieſer Schublade befand 


Ein Diebftahl im wiener Tandesgerihtsgebäude. 275 


fi ein Theil der Werthpapiere. Goth öffnete im Bei⸗ 
ſein der Dienerin, die ihm den Schlüffel gebracht hatte, 
den Schreibtifch, nahm das Necept heraus, jchloß ven 
Schreibtiſch fofort wieder zu und hänbigte das Recept 
und den Schlüffel der Dienerin ein, um beides ihrem 
Herrn zu übergeben. Oberlanvesgerichtsrath Droz pflegte, 
wenn er fih im Bureau befand, feine zu einem Bunde 
vereinigten Schlüffel, darunter auch den Schlüffel des 
Schreibtifches, auf feinem Tiſche Liegen zu laſſen. Er 
verließ das Bureau öfter auf kürzere ober längere Zeit, 
und ber allein zurückhleibende Goth hatte ſomit Selegen- 
beit, fich einen Wachsabdruck des Schreibtiichichlüffels zu 
verjchaffen. Goth beſaß ala Schriftführer einen Schlüffel 
zum Bureau bes Oberlandesgerichtsraths Droz. Diejen 
Schlüſſel Hatte er bei feiner Verſetzung an das Landes⸗ 
gericht für Civilſachen an feinen Nachfolger nicht ab- 
gegeben. ALS viefer ihn Dazu aufforberte, ſandte er dem⸗ 
ſelben einen Schlüffel zu, ber zwar die Bureauthür 
ebenfalls ſchloß, aber nicht derjenige war, welchen ber 
Praktikant Goth bei feinem Antritt erhalten hatte. In 
der kritiſchen Charwoche des Jahres 1880 war Goth 
bereit dem Landesgericht für Civilfachen zugetheilt, er 
blieb vom Amte weg und entjchulbigte fich mit heftigem 
Unwoblfein, welches ihn nötbigte, das Bett zu hüten. 
Es wurde indeß bewielen, daß ihn dieſes angebliche Un- 
wohlfein nicht gehindert hatte, Gaft- und Kaffeehäufer zu 
bejuchen. Wie wir bereits erwähnt haben, tft ber ‘Dieb- 
ftahl wahricheinlich am Nachmittag oder Abend des Char- 
freitags den 26. März verübt. Es gelang dem Alnge- 
ſchuldigten, nachzuweiſen, wo er an biefem Tage bis abends 
6 Uhr fich aufgehalten Hatte. Weber bie Zeit von 6 bis 
8 Uhr abends konnte er dagegen genügende Auskunft nicht 
geben. Er behauptete, von 6 bis 8 Uhr in der Nähe 
18* 


276 Ein Diebſtahl im wiener Lanbesgerihtsgebäube. 


der Votivkirche geftanden und ſich bafelbft die vorüber 
gehenden Leute angefehen zu haben. Dieſe Kirche iſt wur 
150— 200 Schritt entfernt von dem Gebäube bes Landes⸗ 
gerichts. 

Es trafen unleugbar verſchiedene Gründe zuſammen, 
welche den Praktikanten Goth des Diebſtahls verdächtig 
machten. Der Dieb mußte vertraut ſein mit allen rãum⸗ 
lichen Verhältniſſen des Landesgerichts in Strafſachen, 
um das Verbrechen ausführen zu koͤnnen. Der Dieb 
mußte Kenntniß davon haben, daß der Oberlandesgerichts⸗ 
rath Droz beträchtliche Summen von Werthpapieren im 
Schreibtiſche aufbewahrte, und daß Droz am Nachmittage 
des Charfreitags nicht in das Bureau kommen werde. 
Goth war längere Zeit im Landesgericht für Strafſachen 
befchäftigt gewefen, hatte monatelang mit dem Dberlandes- 
gerichtsrath Droz als feinem Vorgefegten verkehrt, und 
tonnte alfo die Gelegenheit wahrgenommen haben, am 
Charfreitag das Verbrechen auszuführen. Er wußte auch, 
daß der Oberlandesgerichtsrath Droz alle Samstage an 
der in den Räumen bes Landesgerichtspräſidiums ſtatt⸗ 
findenden Revifionsfigung theilzunehmen hatte und folg- 
(ich verhindert war, an biefem Tage nachzufehen, ob feine 
Werthpapiere noch vollzählig vorhanden feien. Zufällig 
war am Charfamstage des Jahres 1880, mad Goth in- 
deß nicht wiffen konnte, weil er bereit8 an ein anderes 
Gericht8pepartement verfeßt war, jene Sitzung ausge⸗ 
fallen und ver DBeftohlene hatte bereitd an biefem Tage 
entbedt, daß feine Werthpapiere verſchwunden waren. 
Goth war ein gewandter und geriebener junger Mam, 
jobaß man ihm auch zutrauen konnte, ben anonymen 
Brief an die Polizeibirection gefehrieben zu haben, wel- 
der die Behörde auf eine falſche Spur leiten ſollte. Der 

nterſuchungsrichter ſah ſich unter dieſen Umſtänden ver⸗ 








Bin Diebftahl im wiener Landesgerichtsgebäude. 277 


anlaßt, über Karl Goth, den er bereit früher als Zeu⸗ 
gen vernommen hatte, am 13. April 1880 vie Unter- 
fuchungshaft zu verhängen und eine Hausdurchſuchung 
anzuorpnen. Goth leugnete die ihm zur Laſt gelegte 
That. Er behauptete, daß er den von feinem Vorgänger 
ibm übergebenen Bureaufchlüffel feinem Nachfolger zu- 
geftellt habe, und ferner, daß er von dem Vorhandenfein 
der Werthpapiere im Schreibtiich des Oberlandesgerichts⸗ 
raths Droz nichts gewußt babe. Er räumte zwar ein, 
daß ihm Droz am 2. oder 3. Mär; 1880 ein halbes 
208 gezeigt habe, fügte aber hinzu, er habe geglaubt, 
daß Droz dieſes Werthpapier nicht aus dem Gchreib- 
tifh, fondern aus den Acten entnommen habe Den 
Schneider Bernhard B.... wollte er nicht kennen und 
erflärte mit Beftimmtheit, daß er den anonymen Brief 
an biefen Schneider nicht gejchrieben habe. Die Haus- 
durchjuchung blieb erfolglos, wohl aber fand man in ber 
von Goth im Bureau des Oberlanbesgerichtsraths Droz 
benutten Schreibunterlage ein verdorbenes amtliches Blan⸗ 
tet, welches auf ber erften Seite eine Zufammenftellung 
von Buchftaben und Ziffern enthielt. Möglicherweiſe 
follte das eine Vertheilung einer größern Summe in ben 
Geldſorten verfchiedener Staaten beveuten. Auf der zwei» 
ten Seite des Blankets ftand unter dem Datum des 
2. März 1880 eine Vergleichung bed Eurswerthes ber 
1850er, 1854er, 1860er und 1864er Staatsloſe mit 
ihrem Nominalwerthe. Loſe der beiden Teßtgenannten 
Sabre befanden ſich unter den dem Oberlandesgerichts⸗ 
rath Droz entwenbeten Papieren. Der Angejchulpigte 
ftelfte nicht in Abrede, daß dieſe Niederſchriften von fei- 
ner Hand herrührten. Er erflärte, fie ſeien lediglich 
Spielereien gewejen, angeregt durch bie Gejpräcdhe ber 
Mitglieder einer Losgeſellſchaft, mit welchen er im Gaſt⸗ 








278 Ein Diebſtahl im wiener Landesgerichtgebände. 


hauſe häufig zufammengetroffen jei. Da tie Uinterfuchung 
weitere Belaftungsmomente nicht zu Tage förderte, wurbe 
Karl Goth nach etlichen Tagen wieber auf freien Fuß 
gefegt. Er begab ſich auf einige Zeit nach Franzensbad 
in Böhmen, wo fein Onfel und feine Tante ein größeres 
Hotel und außerdem einen alanterieladen innebatten. 
Die nach Franzensbad wie nach allen öfterreichiichen grö- 
Bern Eurorten abgeorbneten Geheimpoliziften erhielten ven 
Auftrag, das Thun umd Treiben des Karl Goth genau 
zu überwachen. Der Unterfuchungsrichter in Wien fekte 
bie Unterfuchung fort und fuchte nım zunächſt ven Käufer 
der goldenen Uhr zu ermitteln, welche dem Oberlandes⸗ 
gerichtörath ‘Droz früher aus demſelben Schreibtifch ent- 
wendet worden war. Aber alle Nachforfchungen waren 
vergeblich. Dagegen jtellte fich heraus, daß ber Verkäufer 
ber Droz'ſchen Werthpapiere die mitgeftoblenen 11 Ein- 
(ngebücher der Neuen Wiener Sparfaffe an ber Kaffe bie 
je8 Injtituts mit 4041 Gulden 44 Kreuzer am Morgen 
des Charſamstags erhoben, aber die ebenfall® geftohlenen 
zwei Einlagebücher ver Wiener Verkehrsbank im Betrage 
bon 5806 Gulden 75 Kreuzer bei biefem Inſtitut nicht 
präfentirt batte. ‘Der fcharffinnige Unterjuchungsrichter 
wollte hieraus ven Schluß zieben, baß der Dieb fich nicht 
traute, bet der Wiener Verkehrsbank das Geld zu for- 
bern, weil er befürchtete, vort etwa einem Belannten zu 
begegnen. Es war nämlich feitgeftellt worben, daß ver- 
jchiebene früher beim Landesgericht in Straffachen ange 
jtellte Hülfstanzleibeamte damals bei der Verkehrsbank 
befchäftigt wurden. Diele Vermuthung erwies fich jeboch 
al8 unrichtig; es wurde ermittelt, daß bie betreffenden 
Einlagebücher in verjchierenen Wechfelftuben von einem 
Unbekannten unter dem Namen ‚A. Wimmer“ und „S. 
Wimmer” realifirt worden waren. Ende des Jahres 1879 





Ein Diebftahl im wiener Landesgerichtsgebäude. 279 


hatte ein Fremder in einer dieſer Wechfelftuben ein Fünf⸗ 
tel einer Norpbahnactie veräußert und ben bezüglichen 
Schein ebenfalls mit „A. Wimmer“ unterzeichnet. “Die 
Schriftzüge fehienen ähnliche zu fein. Ein Offizier hatte 
fich nach diefem Verkaufe in der genannten Wechjelftube 
erkundigt. Auf Erſuchen des Unterfuchungsrichters ftell- 
ten das Generalcommando und das Kriegsminiftertum 
bie eingebenpften Nachforichungen an nach der Perjon 
biejes Offiziere. Es gelang indeß nicht, ihn ausfindig zu 
machen. Erft in ver Schlußverhandlung erfchien, wie wir 
gleich hier bemerfen wollen, der durch bie Zeitungen aufs 
merkſam gemachte betreffende Offizier, und es ergab fic, 
daß zwifchen dem Verkäufer eines Fünftels einer Nord- 
bahnactie und dem ber Einlagebücher der Wiener Ber- 
kehrsbank keine Beziehungen beftanben. 

Auch andere Spuren wurden verfolgt; z. B. fiel ein 
gewiſſer Verdacht auf einen Amtsdiener, ber ſich eigen- 
mächtig aus dem Dienfte entfernt hatte; aber alle Ver⸗ 
bandlungen blieben vefultatlos, und faft ſchien es, als ob 
der freche ‘Dieb, der im wiener Landesgericht fo bedeu⸗ 
tende Werthobjecte entwendet hatte, nicht entdeckt werben 
follte. 

Da kamen aus Franzensbab eines Tags Meldungen, 
welche die dunkle Sache aufbellten. Karl Goth verkehrte 
daſelbſt in intimfter Weife mit zwei gleichalterigen Ge⸗ 
noffen: Franz Alerander Beder und Ernft Ko— 
petzky. Alle drei, beſonders aber Becker, lebten auf 
einem Fuße, der mit ihren frühern Vermögens» und Er- 
werbsverhältniffen in feinem Verbältniß ſtand. Becker 
ftammte aus einer in bürftigen Verhältniſſen lebenden 
Familie, deren Erhaltung hauptſächlich auf den Schuls 
tern feiner betagten, vom Hauſirhandel mit Schnittwaaren 
lebenden Mutter ruhte. In Eger bejuchte Beder bie 





280 Ein Diebftahl im wiener Lanbesgerihtögebände. 


Volksſchule und eine Gymnaſialklaſſe, in welcher er vie 
Brüder Goth kennen lernte und fich mit ihnen befreum- 
dete. Später erhielt er Taufmännifchen Unterricht; er 
war dann in verjchiedenen Stellungen als Commis und 
Handlungsreifender und erwarb fich mitunter auch in 
felbftändigen Gefchäften fein Brot. Mit den Brüdern 
Goth ſetzte er feinen Verkehr in Graz und in Wien fort. 
Im Winter 1879 und 1880 kam er in ziemlich verwahr- 
loſtem Zuftande nach Eger zurüd und erhielt damals von 
einer ebenfall® in dürftigen Verhältnifien lebenden Schwe⸗ 
fter Geld zugeſendet, um fich Kleider anzufchaffen. Im 
Sommer 1880 lebte er nun in Eger und in Franzens- 
bad auf ziemlich großem Fuße. Er unterftügte feine Ver⸗ 
wandten reichlich, jchaffte fich Möbel und Waaren an, 
und alle, die ihn früher gefannt hatten, waren ſehr er- 
ftaunt darüber, daß fich feine Verbältniffe fo gründlich 
geändert hatten und baß er plößlich ein wohlhabenber 
Mann geworben war. 

Kopetzky, ein gänzlich” vermögenslofer Menfch, ber 
früher in Wien als Buchhalter beichäftigt gewefen war, 
und durch Vermittelung von Karl Goth in dem Galan- 
teriegejchäft feiner Tante in Franzensbad eine Anftellung 
erhalten hatte, verkehrte faft täglich mit Goth und Becker. 
Alle drei waren nur auf Vergnügen und Unterhaltung 
bedacht. Wie Goth felbit in einem Briefe, ber fpäter 
zu den Acten gelommen ift, ſich ausprüdt, führten er 
und Kopetzky ein „gemüthliches Schlaraffenleben mit 
ihrem Oberfchlaraffen” (Beder). Eine Verwandte Becker's 
hatte geſprächsweiſe geäußert: Becker müffe ihr fo viel Gelb 
geben, wie fie brauche. Er habe ihr ein fünffach ver- 
tiegeltes Padet zur Aufbewahrung zugeftellt, welches er 
gar nicht bei fich tragen dürfe. Das Geld, mit welchem 
er ſie und andere unterftüge, gehöre nicht ihm. 


Ein Diebftahl im wiener fanbesgerihhtsgebäube. 281 


Infolge dieſer Nachrichten und auf die telegraphifche 
Mittheilung, daß Beder mit dem Kurierzug der Franz- 
Joſephsbahn am 2. Juli 1880 des Morgens in Wien 
eintreffen würde, wurden fofort Detectivs auf ven Bahn⸗ 
bof beorbert umd angewiefen, ven DBeder zu verhaften 
und an das Landesgericht für Straffachen in Wien ab- 
zuliefern; doch, wenn Karl Goth, ver jchon früher nach 
Wien zurüdgelehrt war, feinen Freund auf ver Bahn 
erwarten follte, die Verhaftung jo vorzunehmen, daß Goth 
davon nichts erführe. Es koſtete ver Polizei einige Mühe, 
biefer Weifung nachzufommen, denn Beder wurde von ° 
ben Gebrüdern Goth erwartet und alle brei blieben meh⸗ 
rere Tage unzertrennlich zufammen. Erft am 6. Yuli 
1880 wurde Beder einmal allein betroffen und nun ſo⸗ 
fort gefänglich eingezogen. Schon am Morgen bes fols 
genden Tages erichten Karl Goth bei der Polizeidirection 
und brachte an: Sein Freund Becker habe ein für ven 
vergangenen Abend verabrevetes Rendezvous nicht einge- 
halten und auch in der verwichenen Nacht ihr gemein- 
fchaftliches Quartier nicht aufgefucht. Er wolle fich deshalb 
erkundigen, ob fein Freund etwa wegen bes ungerechten 
Verdachtes, betreffend ven Diebftahl ver Werthpapiere des 
Oberlandesgerichtsraths Droz, verhaftet worben fei. Es 
war dies offenbar ein thörichter Streich, wie er auch 
dem fchlauejten Verbrecher zu paffiren pflegt. Denn es 
mußte im höchiten Grade auffallen, daß Karl Goth die 
Verhaftung feines Freundes wegen biefes Diebſtahls ver- 
muthete, da e8 an und für fich gar nichts Beſonderes 
war, daß ein Mann von fo Loderer Lebensweiſe mie 
Becker einen Abend und eine Nacht fich nicht hatte fehen 
laffen. Der Unterfuchungsrichter hatte fogleich auf tele- 
graphifhem Wege in Eger durch die Bezirkshauptmann⸗ 
fchaft eine Hausburchfuchung bei ber Verwandten Beder’s 


982 Ein Diebftahl im wiener Lanbesgerihtsgebänbe. 


vornehmen Laffen, welche von ihm ein fünffach verfiegel- 
te8 Packet zur Aufbewahrung empfangen hatte. Dieſes 
Badet wurde auch wirklich in Beichlag genommen. Der 
Unterfuchungsrichter war aber fehr enttäufcht, als ſich 
beransftellte, daß fich in jenem Packete mır militäriſche 
Urlaubs⸗Certificate, Marſchrouten⸗Blankete und ein Ein⸗ 
lagebuch der Neuen Wiener Sparkaſſe über 10 Gul- 
ben, auf ven Namen eines minderjährigen Neffen Becker's, 
vorfanden. An Geld und Geldeswerth wurden bei Beder's 
Verhaftung zum Theil in Wien, zum Theil in Eger, gegen 
1400 Gulden in Beſchlag genommen, darunter zwei Spar: 
fafjenbücher ber Sparkaſſe in Eger mit einer noch uner- 
hobenen Einlage von zufammen 1220 Gulden. Becker 
bezifferte auf Befragen die Höhe jeines Geſammtver⸗ 
mögens auf etiwa 5000 Gulden und gab barüber Zol- 
gendes an: 

Aus feinem Holzhandel, den er mit feinem Ontel 
B.... in Graz bis zum Jahre 1875 betrieb, habe er 
bei der Auflöfung des Gefchäfts eine Forderung von 
3000 Gulden an ben genannten Onfel gehabt. Er er- 
hielt von dem fegtern in Raten 2000 Gulden und ben 
Reſt von 1000 Gulden escomptirte er in Graz bei einem 
gewiffen 3... . für 700 Gulden. 

Durch die in Graz angeftellten Mecherchen wurde feit- 
geftellt: 

Beder hatte als ftiller Gefellfchafter ein Holzgejchäft 
bafelbft allerdings betrieben, der Onkel war jedoch bei 
biefem Gejchäft zu Grunde gegangen und fpäter arın ge 
ftorben. ‘Der genannte 3. in Graz hatte ein Accept bes 
Onkels von Beder über 1700 Gulden gegen 1200 Gulden 
baar und unter Einrechnung einer eigenen Forderung es⸗ 
comptirt. Das Accept hatte fich fpäter als werthlos 
hergusgeftellt, und auch auf ein bem I.... von Becker 








Ein Diebftahl im wiener Landesgerichtsgebäude. 283 


damals gegebenes Deckungsaccept hatte I... . nichts er» 
halten. Becker hatte ven I.... bei dieſer Gelegenheit 
burch Probucirung eines Grundbuchsextracts getäufcht. Wie 
I.... zugeftand, waren die Accepte, die Beder auf fei- 
nen Oheim bejaß, fingirt und dazu beftimmt, bie Gläu⸗ 
biger zu betrügen. 

Deder gab weiter an, daß er den Reſt feines Ver⸗ 
mögend von mehr ald 2000 Gulden während feiner brei- 
jährigen Thätigkeit als Hanblungsreifender für ein Thee⸗ 
geſchäft erfpart habe. Seine frühern Chef8 bezweifelten, 
daß auch der fparjamfte Reiſende in ber angegebenen Zeit 
fih eine ſolche Summe habe erfparen können. Becker 
hatte ihnen ftet8 den Eindruck eines völlig vermögens- 
lofen Dienfchen gemacht, ja im Detober 1879, beim Aus- 
tritt aus feiner Stellung, feinem Principal fogar gejagt, 
daß er von allen Mitteln entblößt jet. 

Aus Eger kamen neue Mittheilungen über Beder’s 
foftipielige Lebensweise. Er Hatte den Verſuch gemacht, 
bafelbft ein Haus für 8000 Gulden zu faufen, verjchie- 
bene Reifen nach Hamburg unternommen, für ein in Wien 
zu etablirendes Gefchäft Thee und Rum beftellt, ja zu 
biefem Behufe einem lonboner Haufe ein ‘Depot von 
50 Pfd. St. gegeben, und feine Verwandten mit Dar- 
leben von mehrern hundert Gulden unterftügt. Es wurde 
ermittelt, daß Beder, Karl Goth und Ernft Kopetzky ein 
Champagnerjouper gehalten hatten. Bet biefer Gelegen- 
beit zeigte Beder einer Kellnerin eine ganze Hand voll 
Banknoten und bie Kellnerin bemerkte darunter eine 
Zaufendgulvdennote. Ebenſo ſah ein Padträger ver Bahn 
eined® Tages bei Zuftellung eines Trachtbriefes, daß 
Becker's Kafjette größere Geldſummen enthielt. 

Weiter ftellte fich heraus, daß Becker bei verfchiede- 
nen iöraelitiichen Gefchäftsleuten in Galizien Forderun⸗ 


284 Ein Diebftahl im wiener Lanbesgerihtsgebänbe 


gen im Betrage von 1200 Gulven ausftehen hatte. Er 
batte biefe Summen ven Juden im Mai 1880, alſo 
nicht lange Zeit nach dem Diebftahl im wiener Landes⸗ 
gerichtsgebäude, als Darlehn förmlich aufgedrängt. 

Nach dem Caſſabuche, welches Becer führte, ver⸗ 
faufte er in ber Zeit vom 20. April bis 22. Juni 1880 
in Eger öſterreichiſche Papierrente im Nominalwerthe von 
7500 Gulden fir 5377 Gulden 13 Kreuzer und im Mai 
deſſelben Jahres noch weitere 200 Gulven folder Rente 
für 144 Gulden 16 Kreuzer. Becker vermochte dieſe An- 
gaben feines Caſſabuchs nicht aufzuffären. Daſſelbe Eaffa- 
buch wies nach, daß Beder ungefähr zu berjelben Zeit 
für in der Filiale der Defterreichiichen Bank zu Eger ver- 
faufte Werthpapiere 3807 Gulden eingenommen hatte. 
Er wollte dieſen Betrag für Cheds erhalten haben, bie 
er für einen fich damals in Eger aufhaltenden Reiſenden, 
Namens Alter aus Hamburg, aus Gefälligfeit escomptirt 
babe. Als man ihm einbielt, aus dem Caffabuche fei 
wol der Eingang ber nbenbezeichneten Summe, aber nicht 
beren Auszahlung an Alter erfichtlich, entichulbigte er fich 
mit der Unzuverläſſigkeit feiner Führung des Caſſabuchs. 
Troß ber forgfältigften Nachforfchungen in Eger und Ham⸗ 
burg ließ fich die Eriftenz eines Handlungsreifenden Alter 
nicht feftftellen, wohl aber wiefen die Bücher der Defterrei- 
chiſch⸗ Ungariſchen Bank nach, daß die von Beder verfauften 
Werthpapiere nicht Checks, ſondern brei Kaffenjcheine ver 
Ungariſchen Creditbank à 1000 Gulden geweſen waren. 
Dieſe drei Scheine waren mit andern drei dergleichen 
Scheinen am 29. März 1880 in Budapeſt ausgeſtellt 
und von einem Manne Täuflich erworben, ber ben 
lieben Schein mit „Adolf Stein” unterzeichnet 

atte. 


Ernſt Kopetzky hatte, wie man ermittelte, am 28. Mär; 


Ein Diebftahl im wiener Ranbesgerihtsgebäube. 285 


1880 Wien plößlich verlafien, fich tm Anfang und Mitte 
April in Raab aufgehalten und bafelbft viel mit einem 
BDelannten, David Stein, dem Inhaber eines Pfand⸗ 
leihgejchäfts, verkehrt. Der Vater dieſes David Stein, 
ein alter Dann, ver feine Behaufung nicht mehr zu ver- 
laffen im Stande war, bieß Adolf Stein. 

Deder, der fih damals in Lemberg aufbielt, erhielt 
nach der Ausfage eines bortigen Belannten in ber Mitte 
des Monats April 1880 einen Gelbbrief und fagte bem 
dabei anweſenden Freunde, daß der Brief Kaffenicheine 
im Werthe von mehr ald 5000 Gulden enthalte. 

Nah den Journalen der Poſtbehörde hatte Becker 
am 21. April 1880 in Lemberg einen recommanbdirten 
Brief erhalten, welcher am 19. April in Raab zur Poft 
gegeben war. 

Hieraus wurde der Schluß gezogen, daß Kopekky 
einen Theil ver Beute vom Droz'ſchen Diebftahl in Buda⸗ 
peft in Kaffenfcheinen umgefeßt und von Raab aus an 
Becker gejenvet habe. 

Beder konnte diefe Thatjachen nicht in Abrede ftellen, 
aber er log mit eiferner Stirn und blieb auch ven ur- 
kundlichen Beweiſen der Defterreihifch-Ungarischen Bank 
gegenüber dabei, daß er nicht Kaſſenſcheine, ſondern Checks 
für den von ihm erfundenen Handlungsreiſenden Alter 
escomptirt habe. 

Allein ſeine eigenen Aufzeichnungen ſollten ihn über⸗ 
führen. Bei ſeiner Verhaftung war ein unſcheinbares, 
in Glanzleinwand gebundenes Notizbuch in Beſchlag ge⸗ 
nommen worden. Auf dem letzten Blatte deſſelben be⸗ 
findet ſich eine Zuſammenſtellung der dem Becker von 
galiziſchen Geſchäftsleuten ausgeſtellten Accepte. Unmittel⸗ 
bar darunter ſteht: 





286 Ein Diebftahl im wiener Lanbesgerichtsgebäube. 


„1339 f 44 U allgemeine Crebitbanf 
5062 f Escompte. Wechsler B. 
Friedr. Pettmann Sungfernftieg.‘ 

Die wiener Börfenfammer gab auf Befragen belannt, 
daß die genannten Summen dem Waarenpreife eines reip. 
zweier Börfenjchlüffe entjprächen, d. b. alfo dem An- 
faufspreife von 25 Stüd Ungarifchen Allgemeinen Erebit- 
banfactien, reſp. 50 Stüd Ungarifchen Escompte-Wechsler- 
banfaktien, ſammt Taufenden Zinfen in der Zeit vom 
20. März bis 10. April 1880. 

Der Unterfuchungsrichter vermuthete, daß bie Diebe 
einen Theil der Wertbpapiere des Herrn Droz zum An 
fauf der genannten Erebit- und Wechslerbanfactien ver- 
wenbet hätten und baß dieſe Papiere bei Friedrich Petts 
mann in Hamburg verwahrt fein möchten. Es gelang 
indeß der hamburger Polizei nicht, die Perſon tes my⸗ 
fteriöfen Friedrich Pettmann aufzufinden. Becker felbft 
erklärte, er könne fich durchaus nicht erinnern, was biefe 
Eintragung in fein Notizbuch zu bedeuten habe. Fried⸗ 
rich Bettmann aber fei ein Gigarrenagent in Hamburg, 
deſſen Adreffe er von einem in Leipzig wohnbaften Eis 
garrenhänpler erfahren babe. Die leipziger Polizei ers 
mittelte zwar ven leipziger Cigarrenhänbler, aber ber 
Mann batte ven Namen „Pettmann“ nie gehört. Beder 
hatte alfo das Gericht wieder belogen. Das Notizbuch 
Becker's legte noch ein zweites mal Zeugniß ab witer 
feinen Herrn. Es befindet fi) darin eine Notiz, die das 
Datum des 26. März des Jahres 1880 trägt, darunter 
fteht die Adreſſe eines Fabrikanten chirurgifcher Apparate 
in ver Ban Swieten-Gaffe in Wien, bei welchem Becker 
in ben legten Tagen bes März 1880 einen Inhalatione- 
apparat beitellte.e Sodann heißt e8: Incaſſo FI. 18462, 
13, dann folgt eine Reihe fortlaufender Gefchäftsaprefien 


Ein Diebfiahl im wiener Lanbesgerihtsgebäube. 287 


bezüglich einer Gejchäftstour, die Becker nach feiner eige- 
nen Angabe am 30. März 1880 von Wien aus nad 
Mähren un. f. w. antrat. Alſo bat das Imcaffo von 
18462 Gulden 13 Kreuzern zwiſchen bem 26. umb 30. 
März 1880 ftattgefunden. Am 26. März aber waren 
die Droz'ſchen Papiere geftohlen und am 27. März zum 
größten Theile und zwar für die Summe von mehr als 
17000 ©ulven veräußert worden. 

Das war denn wieder ein merhvürbiger Umftand, 
der dem „unfchuldigen” Beder pie Vertheivigung ſauer 
machte. Er Hatte dagegen feine andere Waffe als bie 
Behauptung, daß er feine eigenen Einträge in das Notiz. 
buch in feiner Weife zu erflären vermöge. 

Wie ſchon erwähnt, hatte man bei einer ſchwatzhaften 
Verwandten Beder’s in Eger ein Sparkaffenbuch, wel- 
ches in ein dem Neferveoffizier Goth gehöriges militäri- 
ſches Blankett gewidelt war, in Beſchlag genommen, ein 
Sparkafjenbuch über 10 Gulden, auf den Namen eines 
Neffen Becker's lautend. Nun fing auch das Sparkaſſen⸗ 
buch an gegen ihn zu zeugen. Er felbit hatte zugegeben, 
daß er fich in ber Fritifchen Zeit, in der Charwoche 1880, 
in Wien befunden habe und von bort erſt am 30. März 
1880 abgereift jei. Das Sparkaffenbuch aber Tieferte 
den untwiberleglichen Beweis, daß er am 27. März 1880 
zwiichen 8 und 10 Uhr morgens bei der Neuen Wiener 
Sparkaſſe erfehienen war und für feinen in Eger leben- 
den Neffen 10 Gulden niedergelegt hatte. Genau zu der⸗ 
felben Stunde hatte der Beliger ver dem Oberlandes⸗ 
gerichtsrath Droz geftohlenen Sparkaffenbücher dieſelben 
an ber Kaffe der Neuen Wiener Sparfaffe verfilbert. 
Dieſes Zufammentreffen war im böchften Grave auf- 
fallend. Man nahm an, er habe bie Einlage von 10 
Gulden für feinen Neffen nur zu dem Zwecke gemacht, 


288. Ein Diebftahl im wiener Lanbesgerihtsgebäube. 


um feine Anwefenbeit im Local der Sparkaſſe zu recht 
fertigen, wenn doch etwa durch einen unglüdlichen Zufall 
ber Verdacht entftehen follte, daß er der Mann gewejen 
jei, der bie geftohlenen Sparkaffenbücher umgefegt habe. 
Weshalb er das auf rechtmäßige Weiſe erworbene Spar- 
kaſſenbuch auf 10 Gulden fünffach verfiegelt umb feiner 
Verwandten zum Aufheben gegeben bat, ift nicht aufge- 
Härt worben. 

Die vielbefchäftigten Beamten der Sparkaſſe vermoch⸗ 
ten allerdings nicht, ihn als benjenigen zu recognofciren, 
ber die geftohlenen Sparfafjenbücher erhoben hatte, ver- 
pflichtete Schreibverftäntige aber begutachteten, daß bie 
von bem unbefannten Verkäufer der Droz'ſchen Effecten 
auf die Verfaufsfcheine und Kafjencoupons gejchriebenen 
Namen von ber Hand Becker's berrührten. 

Der angeſchuldigte Becker ließ fich dennoch nicht her⸗ 
bei, ein Geſtändniß abzulegen. Im Laufe ber Unter- 
ſuchung nüpfte er geheime Correſpondenz mit feinen Ver⸗ 
wandten an, Die Briefe gelangten indeß nicht an ihre 
Adreffe, fondern in die Hände des Unterfuchungsrichters. 
Ihr Inhalt läßt vermuthen, daß Beder fie überhaupt 
in ber Abficht gefchrieben hat, daß fie aufgefangen wer- 
ben und auf ben Unterfuchungsrichter einwirken jollten. 
Denn neben der Bitte um Gelb enthalten fie nur fie 
reothpe Unfchulpsbethenerungen und Wiederholung ber 
Angaben, die er vor dem Richter gemacht hatte. 

In einem zu berfelben Zeit heimlich von Beder fa- 
bricitten Teftament finden fich ebenfalls Verficherungen 
feiner Unfchuld. Er verorbnet,. angeblich im Gefühle 
eines nahen Todes, daß der größte Theil feines Ber- 
mögens zur Wiederherftellung feiner Ehre verwendet wer- 
ben jolle. Zugleich aber enthält das Teftament bie 
Spuren eines ebenfo ingrimmigen als machtlofen Haſſes 





Ein Diebfiahl im wiener Laubesgerihtsgebände. 289 


gegen den Unterfuchungsrichter Dr. von Holzinger, deſſen 
Scarffinn er kennen gelernt hatte. Es war der natür- 
lihe Zorn des Raubthieres gegen ben verfolgenven 
Jäger. 
Beder entjchloß fich nicht zu einem Bekenntniß, aber 
nach der Ausſage eines Mitgefangenen trug er fich mit 
Selbjtmorbgevanfen und war ſehr verzagt. Seine ver- 
zweifelte Stimmung äußerte fich auch in unruhigem Schlaf 
und ängitlichen Träumen. 

Gegen Ernſt Kopetzky konnte die Unterfuchung nicht 
eingeleitet werden, weil er es für rätblich gehalten hatte, 
den gefährlichen Boden bes alten Europa zu verlaffen. 
Er war berfelben Anficht, wie ein berühmt gemworbener 
Poftdefraudant, welcher fich feiner Zeit vor dem wiener 
Schwurgericht bitter darüber beklagte, daß man in Eu⸗ 
ropa jo wenig Rüdficht für die Herren von feinem Fache 
nehme. Bier Tage nach Beder’s Verhaftung verſchwand 
er aus Franzensbad, und ’erft ſehr Tange nachher erhielten 
die ihn verfolgenden Behörden die beruhigende Nachricht, 
daß er fiber und wohlbehalten in dem freien Amerika 
angelommen ſei. Während fich die Beweiskette, die fich 
nach und nach immer enger um ben angefchulpigten Becker 
ſchlang, allmählich ſchloß, tauchten auch gegen Karl Goth 
neue Verdachtsmomente auf. Ein in Wien fich aufbal- 
tender Zeuge fagte aus, der Pächter des der Tante des 
Goth gehörigen Hoteld in Franzensbad habe ihm mit- 
getheilt, daß Beder im Mat 1880 dem Goth in jenem 
Hotel 50 Stüd Banknoten & 50 Gulden zugezählt babe. 
Der Hotelpächter wurbe unverzüglich vernommen, be- 
ftätigte aber biefe Angabe nicht. Goth hatte, wie wir 
berichten, behauptet, daß er den Schneider Bernhard 
B...., welcher in dem anonymen Briefe an bie Polizei- 
direction des Diebſtahls bezichtigt wurde, nicht Senne und 

XXII. 





290 Ein Diebftahl im wiener Lanbesgerihtsgebäube. 


niemals von ihm gehört habe. Es wurbe aber feitge- 
ftellt, daß Goth früher bei einem Schneiber gewohnt 
hatte, welcher mit dem in ber Nähe wohnenden Schuei- 
der Bernhard B.... genau befannt war. Ferner fand 
man bei Goth eine Lintenunterlage, aus welcher ein Stüd 
berausgefchnitten war. Das anonyme Schreiben an bie 
Bolizeivirection paßte nach dem Format, dem Papier mt 
in der Entfernung ber Linien voneinander genau in jenes 
dem Goth gehörige Linienblatt. Man mußte aljo au⸗ 
nehmen, daß Goth ben anonhmen Brief gejchrieben und 
dabei das Linienblatt als Unterlage gebraucht habe. Als 
er hierüber vernommen wurde, verrieth er fich jelbft, in- 
dem er angab: das Papier des anonymen Briefes fei ſo 
ftart, daß man eine Linienunterlage durch daſſelbe nicht 
wahrnehmen könne. Der fragliche anonyme Brief war 
ihm niemals in die Hände gegeben worben, woher wußte 
er alfo um die Dualität des Papiers, wenn er nicht felbit 
ven Brief gefchrieben hatte? Als die Schreibverftändigen 
in ber verftellten Hanbfchrift des anonymen Briefes bie 
Handfchrift des Karl Goth mit Beſtimmtheit wieberer- 
fannten, war das Maß voll. Karl Goth wurde am 
8. October 1880 wiederum verhaftet und in bie Gefäng- 
niffe des Landesgerichts zu Wien eingeliefert. 

Im Befige Becker's fand man eine Viſitenkarte bes 
Karl Goth vom 29. März 1880. Diefe Karte enthielt 
eine vorläufige Empfangsbeftätigung varüber, daß Beder 
ihm 180 Gufven gezahlt habe, die er in Monatöraten 
von eimem -fpätern Termin ab zurüdzuzahlen verſprach. 

Goth hatte allerdings fchon früher von Beder Dar- 
leben in geringern Beträgen erhalten, aber e8 war min- 
deſtens höchſt auffallend, daß er nach Ausweis jener 
Karte gerade drei Tage nach dem dem Oberlandesgerichte- 











Ein Diebfiahl im wiener Ranbesgerihtsgebäube 291 


rath Droz zugefügten Diebftahle 180 Gulden von Beder 
empfangen hatte. 

Die Unterfuhung war abgefchloffen. Der Unter- 
juchungsrichter hatte ein Meifterftüc geliefert, denn jei- 
nem Scharffinn und feiner unermüblichen Thätigkeit war es 
zu danken, daß ein gerabezu erdrückendes Beweismaterial 
zufammengebracht worden war. Es wurde gegen Karl 
Goth und Franz Alexander Beder wegen bed gewalt- 
jamen in dem SLanvesgerichtsgebäude verübten Dieb- 
ſtahls Anklage erhoben und die Schlußverhandlung ars 
beraumt. 

Allein die beiden Angeklagten fuchten noch immer 
neue Wege für ihre Rettung. Am 22. Januar 1881 
melvete der Kerfermeifter: in ber Zelle Becker's jei bei 
Gelegenheit einer in Abweſenheit des Gefangenen vorge: 
nommenen Bifitattion, verborgen in ber Höhlung eines 
geloderten Rechennagels, ein mit Schriftzeichen verjehenes 
Blättchen Papier gefunden worden, welches er dem Ge⸗ 
richt übergeben wolle. Das Blättchen enthielt ein voll- 
jtändiges Ehiffrenalphabet. Wie bei jeder beſſern Ehiffren- 
fchrift waren fogar beveutungslofe Zeichen eingefchoben, 
um bie Entzifferung ber Schrift zu erjchweren. Der 
Unterjuchungsrichter bejchäftigte fih nun eifrig damit, 
den Schlüffel zu diefer Schrift zu finden, und bie Ge⸗ 
fängnigbeamten erhielten ven Befehl, genau aufzumerten, 
ob fie hiffrirte Correfponvenzen zwischen ven beiben Ge⸗ 
fangenen Goth und DBeder entvedten. Nach längerer 
Zeit wurde wirklich ein folcher Briefwechjel, werjchloffen 
in einer Hülfe aus gefnetetem Brot, aufgefangen. ‘Der 
angeflagte Becker ſelbſt Hat dieſen Vorgang in feiner 
Ipätern im Kerfer verfaßten Nechtfertigungsfchrift fo er- 
zählt: 

„Einer meiner Zellengenoffen, ver im Monat Decem- 

19* 





292 Ein Diebftahl im wiener Lanbesgerihtsgebäubde. 


ber 1880 zu jeinem Vertheidiger gerufen war, brachte 
bie intereffante Nachricht mit, daß tie Zelle Ar. 54 im 
zweiten Stode ebenfall® mit Wertheim’schen Echlöffern 
verwahrt fei. Daraus fchloß ich, daß in dieſer Zelle 
fein anderer als Karl Goth gefangen gehalten werke. 
Ich fühlte mich felbft als ein Hüfflofes Opfer der Yuftiz, 
ich kannte die über jeden Zweifel erhabene Ehrenhaftig⸗ 
feit und Nechtlichleit Karl Goth's, war aber ungewiß 
darüber, ob fich nicht doch Argwohn in fein Derz ein- 
gejchlichen babe, weil der Schein gar zu fehr gegen mic 
ſprach. Deshalb ſann ich Tag und Nacht darüber nad, 
wie ich meine Schuldloſigkeit bethenern könnte. Endlich 
kam ich auf einen guten Gedanken. Unfere Zellen be 
fanden fich in dem gleichen Tractus, deshalb mußten 
Goth und ich in venfelben Hof, wenn auch zu verfchiebe- 
nen Stunden, fpazieren geben. Ich fchrieb nun auf meh- 
rere zerbrochene Zünpholzfchachteln feinen verkürzten Bur- 
ſchenſchaftsnamen «Iſe » und ftreute dieſe Holzftüde im 
Hofe umber. Wenn Goth diefe fo befchriebenen Schach: 
teln bemerkte, mußte er wiffen, daß fie von mir ber- 
rührten, denn ich hatte ihn früher immer «fe» ange 
rebet. Es vergingen mehrere Tage, ohne daß die Schachteln 
beachtet wurben; aber endlich fand ich zu meiner unaus⸗ 
Iprechlichen Freude eines Tages an der Mauer den Na- 
men «Abu» mehrmals angefchrieben. Diefen Spignamen 
hatte man meinem Bruder beigelegt und fpäter auf mich 
übertragen. Nun war ich gewiß, daß Goth mein Zeichen 
bemerkt hatte. Ich fchöpfte wieder Hoffnung und fchrieb 
auf einen Zettel, ven ich in den Hof legte, er folle 
mir ein Chiffrenalphabet fenden, bamit wir uns ver- 
ftändigen und jede Entvedung verhindern fünnten. Bald 
barauf fand ich im Hofe ein Papier mit der Antwort: 
«Sogleih Befchwerbe erheben wider Alle.» Etwas 


Ein Diebftahbl im wiener Randesgerihtsgebänbe. 293 


jpäter erhielt ich das verlangte Chiffrenalphabet. Dar⸗ 
auf hin bat ich ihn in Chiffren um Auskunft über ver- 
ſchiedene Perſonen, um feinen Rath und Beiſtand, und 
verficherte ihm meine völlige Unſchuld. Die Antwort auf 
dieſen Brief fand ein in der gleichen Abtheilung mit mir 
befinblicher Gefangener beim Spaziergange. Er weigerte 
fi, mir den Zettel zu übergeben, und beharrte bei feiner 
Weigerung, obgleih ich ihm zwei Packete Taback dafür 
verſprach. Wahrjcheinlich hoffte er eine gute Belohnung 
zu erhalten, wenn er ben Brief dem Kerfermeifter ein« 
händigte. Der Zettel befand fich übrigens in einer Brot- 
bülfe, damit die Schrift bei dem naſſen Wetter nicht 
verwifcht würde. Den Zellengenoffen dieſes Gefangenen 
misfiel die beabfichtigte Denunciation, fie fuchten ihm fein 
Vorhaben auszureden. Als er dennoch dabei blieb, ſtand 
einer von ihnen in ber Nacht Teife auf, durchſuchte die 
Kleider des Finders und eignete fich felbjt vie Brotkugel 
mit dem Zettel an. PVermuthlich hatte er die Abficht, 
fie mir für zwei Packete Tabad zuzuftellen. Am andern 
Morgen beichulpigte der Gefangene, ber die Brothülfe 
zuerft gefunden Hatte, feine SZellengenoffen, ihn in ber 
Nacht beitohlen zu haben. Es kam zu einem heftigen 
Streite, der in ein Handgemenge auslief. Der Auf» 
feber fam berbei und erfuhr nun den Sachverhalt. So⸗ 
gleich wurbe ber SKerfermeifter von diefer Entbedung un⸗ 
terrichtet, und e8 wurben bie Zelle und ihre Bewohner 
genau durchſucht. Man fand nichts; der Kerlermeifter 
ſtand rathlos da, wilchte fich den Schweiß von der Stirn 
und ging betrübt von dannen. Nach feiner Entfernung 
machten fich bie Zellenbewohner felbft daran, nochmals 
gründlich zu ſuchen, denn jeder hoffte einen Profit zu 
machen, wenn er bie werthuolle Brotfugel fände. ‘Der: 
felbe Mann, ver die Kugel fchon beim Spaziergange am 





294 Ein Diebftahl im wiener Landesgerihtsgebänbe. 


Tage zuvor gefunden batte, entvedte fie in ber Ede 
eines Strohpolfters, er bemächtigte ſich des werthoollen 
Objects, ftieß einen Freudenruf aus, ſprang zur Thür 
und fing an aus Leibesfräften zu pochen. Einer feiner 
Mitgefangenen, ein halblahmer Schufter, warf fi, ent- 
rüftet über dieſe vermeintliche Schlechtigleit oder vielleicht 
auch aus Aerger darüber, daß ihm bie zwei Padete Ta⸗ 
bad entgehen würden, über ihn und fuchte ihm bie Brot- 
hüffe zu entreißen. Ehe ver Kampf entjchieben war, 
wurde die Thür geöffnet, alles, was Uniform trug, der 
Kerfermeifter an der Spige, ftürzte in die Zelle, bie 
Kämpfenden wurden getrennt, der tapfere Schufter in 
bie Correctionszelle abgeführt und bie Brotkugel nun⸗ 
mehr in Beichlag genommen. Der Kerfermeifter konnte 
allerdings die unverftänblichen, myſtiſchen Zeichen des 
Driefed, der in der Brodhülſe ftaf, nicht entziffern. Er 
theilte jeinem Beamten mit, die Schrift jei die Stenor 
grapbie, und begab ſich ſodann zu dem Unterfuchunge- 
richter, dem er das Schriftftüäd übergab.” 

Der Unterfuchungsrichter hoffte die beiden Angefchul- 
bigten burch die Chiffrencorrefpondenz in ihrer eigenen 
Schlinge gefangen zu baben. Es gelang ihm auch, den 
Drief zu entziffern, aber feine Hoffnung wurde getäujcht. 
Karl Goth ertheilte darin feinem Freunde Becker vie ge 
naueften Inftructionen über alle möglichen Punkte, über 
welche er in ver Schlußverhandblung gefragt werben könnte, 
und mahnte ihn, ja feine Angabe zu machen, aus wel- 
cher ein birecter Schulpbeweis in Betreff des Diebitahls 
gezogen werben könnte. So ſchrieb er z. B. über das 
in Eger in Beichlag genommene fünffach verfiegelte Packet 
und bie darin gefundenen Militärdruckſachen: Er werbe 
in der Hauptverhandlung ausfagen, er erinnere fich nicht, 
woher er diefe Druckſachen befommen habe. Wenn bies 








Ein Diebftabl im wiener Ranbesgerihtsgebäube. 295 


geſchehen ſei, ſolle Beder ven Bräfiventen bitten, den an⸗ 
geflagten Goth abführen zu laſſen, und dann in feiner 
Abwefenheit eine raffinirte, mit allen perjönlichen und 
fachlichen ‘Detaild ausgeſchmückte Gefchichte darüber, wie 
fie zu den Papieren gefommen feien, erzählen. Dieſe 
Geſchichte fchrieb Goth feinem Freunde Becker genau vor 
und fuhr dann fort: Wenn man ihn in ben Verhand⸗ 
lungsſaal wieder bineingeführt habe, wolle er erklären, 
daß er fich jet erinnere und num genau biejelbe Ge- 
ſchichte mit allen Details zum beften geben. Wir 
brauchen nicht zu bemerken, daß unfchulpige Leute fich 
durch ein jo complicirtes Lügenfpftem nicht vertheibigen 
werben. 

Becker verjuchte noch ummittelbar vor der Verhand⸗ 
(ung durch Mitgefangene, die in Freiheit geſetzt wurden, 
Belaftungszeugen zu überreden, daß fie zu feinen Gun- 
ften ausfagen möchten. ‘Die Unterfuchung, die mit ber 
größten Umficht geführt worden war, hatte folgendes Er- 
gebniß geliefert: Karl Goth war genau befannt im wiener 
Landesgericht, er beſaß einen Schlüffel zum Bureau des 
Oberlandesgerichtsraths Droz, er wußte, daß Droz in 
jeinem Schreibtiich eine beveutende Summe in Werth- 
papieren aufbewahrte, ebenjo war er davon unterrichtet, 
dag Droz am Eharfreitag nachmittags in feinem Bureau 
nicht anwejend fein würde, er glaubte, daß Droz am 
Charſamstage einer Sitzung beiwohnen müffe und nicht 
Zeit babe, an dieſem Tage feine Staatspapiere zu con⸗ 
troliven, Er durfte deshalb hoffen, daß der Diebftahl 
erit nach den Dfterfeiertagen entvedt werben würde. 
Karl Goth war in der Zeit, in welcher das Verbrechen 
ausgeführt fein mußte, in unmittelbarer Nähe des Landes- 
gericht8 gewefen. Er ift der Schreiber des anonymen 
Driefe® an die Polizeibirection, durch welche der Ver⸗ 





296 Ein Diebflahl im wiener Lanbesgerichtsgebände. 


dacht des Diebftabls auf ven Schneider B..... geleuft 
und das Gericht irregeführt werben ſollte. Goth umt 
Beder find feit langer Zeit befreundet. Beide haben 
fih ebenfo wie ihr Genoffe Kopetzky unmittelbar nach 
dem Diebftabl in guten Verbältniffen befunden und viel 
Geld aufgeben laſſen, während fie vorher ftet8 in finan- 
ziellen DVerlegenbeiten waren. Becker und Kopetzky haben 
verſchiedene Papiere von verjelben Sorte wie bie geftoh: 
lenen verfilbert, und Becker hat fi) jogar am Samstag 
ber Charwoche 1880, an welchem der Dieb bie betreffen- 
ben Sparkaſſenbücher vafelbft erhoben bat, in der Spar⸗ 
faffe befunden. Die von dem Verkäufer der gejtohlenen 
Papiere, aljo dem Diebe, unterfchriebenen Berlaufsfcheine 
und Kaffencoupons find von der Hand des Angeflagten 
Becker geichrieben. Das eigene Notizbuch Becker's be- 
weift, daß er fih im Beſitz der geftohlenen Effecten be⸗ 
funden und einen Theil derſelben jelbjt, die andern 
Wertbpapiere aber durch feinen Mitſchuldigen Kopetzky 
umgejegt bat. Das Notizbuch Becker's beweift ferner, 
daß berjelbe in den lettten Tagen des März 1880 ein 
Incaſſo von mehr als 18000 Gulden notirt hat, wel: 
ches mit dem Werthe der Droz’schen Papiere ungefähr 
übereinftimmt. Kopetzky bat fich offenbar aus Angft vor 
ber ihm drohenden Verhaftung heimlich entfernt und ift 
nad Amerika entfloben. Karl Goth und Becker aber 
baben ihr Schulobewußtfein dadurch deutlich kundgegeben, 
daß fie im Gefängniß miteinander eine verbotene Corre- 
ſpondenz geführt und fich verabrevet Haben, wie fie das 
Gericht belügen wollten. 

Diefe Beweisfette war fo feft gefchloffen und fo über: 
zeugend, daß bie Gefchiworenen in der Hauptverhandlung 
bie beiden Angeflagten, obgleich dieſelben hartnädig leug- 





Gin Diepftahl im wiener Landesgerichtsgebäube. 297 


neten, ſchuldig fprachen, ven fraglichen Diebftahl als 
Mitthäter begangen zu haben. 

Das Urtheil des Gerichtshofes lautete auf fünf Jahre 
fchweren und verjchärften Kerker für jeden der beiven An- 
geflagten und auf folivariichen Erjak des zugefügten 
Schadens. ALS der Präfivent dies verfünbigt hatte, er- 
bob ſich ver Angeklagte Beder und erklärte: „Ich babe 
noch etwas zu geftehen, Goth ift ganz unschuldig.” 

Die beiden Gefangenen wurben zurüdgeführt un 
Deder fofort von dem Unterfuchungsrichter von neuem 
vernommen. Er gab an: „Ich und Kopetzky haben am 
Nachmittag des Charfreitags 1880 den Diebftahl ausge- 
führt. Wir haben gejehen, daß ver Dberlanbesgerichts- 
rath Droz nach dem Mittagsefjen und nach einem Spa- 
ziergange in ber Nähe ver Votivfirche fich in bie innere 
Stadt begab. Wir wußten num, daß wir ficher vor ihm 
waren. Kopetzky bat fi in das Gerichtögebäude bes 
geben und die Wertbpapiere aus dem Schreibtifch des 
Dberlanvesgerichtsrath8 Droz entwenvet, während ich am 
Hauptthore auf ihn wartete. Goth ift volllommen un- 
betheiligt an der Sache. In dem Gafthaufe, in welchem 
wir zufammen aßen, bat er gelegentlich geſprächsweiſe 
erzählt, daß Droz einmal aus feinem Schreibtifche ein 
halbes 1864er Los entnommen habe. Kopetzky kam 
bierdurch auf den Gedanken, daß in jenem Schreibtifche 
wol Werthpapiere verwahrt fein mwürben und daß bort 
etwas zu machen fei. Er wußte, daß Goth den Schlüf- 
jel zum Bureau gewöhnlich in feinem Winterrod fteden 
hatte. Diefen Schlüffel nahm er heimlich an fich, drückte 
denselben in Wachs ab und ließ fich num einen falichen 
Schlüſſel machen. Ich felbft bin mit Hülfe dieſes fal- 
hen Schlüſſels im Februar 1880 im Bureau des 
Herrn Droz gewejen, um bie Oertlichleit, den Schreibs 





298 Ein Diebftahl im wiener Landesgerihtsgebänpe. 


tiſch u. f. w. zu vecognofciren. Kopetzky bat fich der 
Borficht halber auch noch einen Sperrhafen angeichafft. 
Mit dieſem Sperrhafen, nicht mit dem Schlüffel, ift 
der Schreibtifch geöffnet worben. Die Wertbpaptere 
haben wir gemeinfam an verfchievenen Orten verfauft, 
gewöhnlich habe ich das Geſchäft bejorgt und Kopetzky 
hat aufgepaßt, um mich vor etwaiger Gefahr rechtzeitig 
zu warnen. Sch habe dabei einen falfchen Bart ge- 
tragen, um nicht als der Dieb erkannt zu werden. Wir 
haben im ganzen etwa 17000 Gulden gelöft, davon hat 
Kopetty 11000 und ich habe 6000 Gulven erhalten. 
Die Einlagebücher der Verkehrsbank haben wir verbrannt, 
weil wir bie Einlage nicht fofort erheben, ſondern erft 
fündigen mußten.” 

Dies Geftändnig enthielt offenbar Wahrheit und 
Dichtung. Man fand um fo weniger Veranlaffung, bar- 
auf bin eine Wiederaufnahme der Unterfuchung zu ver- 
fügen, weil vie beiden Yufttzwachtfolpaten, welche während 
der Verhandlung zwifchen ben beiden Angeflagten ſaßen, 
ausſagten, daß Goth den Beder in ver Panfe, während 
welcher ver Gerichtshof fich zur Urtheilsberathung zurüd- 
gezogen hatte, aufforberte, er folle nur geftehen, ba feine 
Sache doch verloren fei; er, Goth, wolle, wenn er frei 
füme, nach Amerika auswandern, und feinem Freunde 
Beder monatlid 100—150 Gulden zujenden. Karl 
Goth verfuchte das Urtheil umzuftoßen und führte noch 
lange einen fruchtlofen Kampf gegen bie Gerechtigkeit, 
indem er immer wieber Rechtsmittel einlegte, um eine 
Wiederaufnahme ber Unterfuchung zu erreichen. Seine 
Schreibweiſe war jo maßlos und fo ungezogen, daß er 
jogar mit Disciplinarjtrafen dafür belegt werben murfte. 
Nachdem er 2, Jahre im Kerker zugebracht hatte, ftarb 














Ein Diebftahl im wiener Lanbesgerihtsgebäube. 299 


er ohne feinen Zwed erreicht und ohne ein Bekenntniß 
abgelegt zu haben. 

Becker wendete fein Rechtsmittel ein, bat aber bie 
Behörde um Erlaubniß, im Kerker eine Rechtfertigunge- 
ſchrift Schreiben zu dürfen. ‘Dies wurbe ihm geftattet. 
Er fchrieb auch wirklich circa 60 Bogen zufammen. Sein 
unmittelbar nach der Urtheilsverkündigung abgelegtes Ge- 
ſtändniß nahm er darin wieder zurüd und fuchte alle 
gegen ihn vorliegenden Beweiſe hinwegzulügen. Die 
Schrift ift theils in einem beclamatorifch- pathetiichen, 
theils in einem chnifch-frivolen Zone gehalten. Wir 
glauben nicht, daß es Becker gelungen ift, irgendeinen 
verftänbigen Menſchen von feiner Unschuld zu überzeugen, 
wenn er auch Fed genug tft, alle Belaftungsmomente, 
welche die Geſchworenen beftimmt haben, ihr Schuldig zu 
ſprechen, Seifenblafen zu nennen und fich felbit als das 
Opfer eines Juſtizmordes hinzuftellen. 

Auch DBeder tft vor Verbüßung feiner Strafe im 
Kerker geftorben und fein Verfuch, die öffentliche Mei⸗ 
nung zu feinen Gunften zu täufchen, tft mislungen, denn 
jedermann glaubt, daß er mit Recht wegen bes von ihm 
zufammen mit Karl Goth und Kopetzky ausgeführten fre- 
hen Diebſtahls im wiener Landesgerichtsgebäube verur- 
theilt worden war. 


Das Leben und reiben des Familienmörders 

Timm Chode vor der Verübung des von ihm im 

der Hacht vom 7. zum 8. Auguft 1866 ausgeführten 
Mordes. 


(Provinz Schleswig-Holftein.) 


Johann Thode beſaß einen zum abeligen Gute Groß- 
Kampen in Holftein gehörigen, in ver Nähe des Ufers 
ber Stör gelegenen, fchulpenfreien Hof im Werthe von 
etwa 180000 Mark und außerbem ein Kapitalvermögen 
bon 120000 Marl. Er bewirtbichaftete ven Hof mit 
feiner Ehefrau, vier erwachfenen Söhnen, einer ebenfall® 
erwachfenen Tochter und einer Magd. Die Söhne waren, 
mit Ausnahme des zweiten Sohnes Timm, welcher wieber- 
bolt in verfchtedenen Stellungen auswärts gebient Hatte, 
immer im väterlichen Haufe geblieben. In ber Nacht 
vom 7. zum 8. Auguft entftand Feuer auf dem Hofe, und 
alle Gebäude wurden ein Raub der Flammen. Als das 
Gericht am folgenden Tage an Ort und Stelle die Sache 
unterfuchte, fand man die Leichen des Hofbauern umt 
feiner Frau, ihrer drei Söhne, der Tochter und ber 
Dienftmagd unter den Trümmern des Hauſes. Es zeigte 
ih troß der zum Theil beveutenden Zerjtörungen, welche 
das Feuer angerichtet hatte, daß alle Glieder der Familie 


Der Familienmördber Timm Thobe. 301 


Thode, mit Ausnahme des Timm Thode, ermorbet wor- 
den waren. Timm Thode wurde in ber Mordnacht bes 
wußtlos am Haufe des nächften Nachbars aufgehoben. 
Er erholte fich erft nach mehrern Tagen und gab fodann, 
vor Gericht vernommen, an: er fei burch das Teuer und 
einen großen Lärm auf dem Hofe aufgeweckt worden, zum 
Tenfter hinausgefprungen und von fünf bis ſechs mas- 
firten Männern angegriffen worden. Er babe die Flucht 
ergriffen und fei feinen Verfolgern, pie mehrere Schrot- 
ſchüſſe auf ihn abfenerten, glücklich entlonımen. Abgehekt, 
völlig außer Athen, fei er am Hofe des nächften Nach⸗ 
barn angelangt und daſelbſt ohnmächtig zu Boden ger 
jtürzt. Was aus feinen Angehörigen geworben fei, wifle 
er nicht. 

Anfänglich nahm das Unterfuchungsgeriht an, das 
furchtbare Verbrechen fei von einer Bande unbelannter 
Mörder und Räuber verübt worden. Timm Thode, der 
Erbe des Hofes, ließ einen mit Bibelfprüchen gefchmückten 
Denkſtein für die Gräber feiner durch ruchlofe Mörber- 
band gefallenen Aeltern und Gefchwifter anfertigen und 
jeßte eine Belohnung von 4200 Mark aus auf die Ent- 
bedung der Mörber. Aber es gelang nicht, irgenpivelche 
fihere Spuren zu entveden. ‘Das Unterfuchungsgericht 
berichtete dem Dbercriminalgericht im März 1867 unter 
Einfendung der Acten, daß die Unterfuchung leider zu 
feinem pofitiven Reſultat gefommen fei, und daß fein 
Grund vorgelegen, gegen Timm Thode weiter vorzugehen. 
Das Obergericht war anderer Anficht, beftellte eine andere 
Unterfuhungscommiffion, und das Verfahren richtete fich 
nunmehr gegen ben überlebenven Timm, ber fofort ge- 
fänglich eingezogen wurde. Er geftand nach anfänglichen 
Leugnen, daß er ven Mord ausgeführt und ven Hof an- 
gezündet]habe, um in den alleinigen Beſitz des großen 


302 Der Familienmörder Timm Thode. 


Bermögens zu kommen. Timm Thode wurde vom Schwur⸗ 
gericht zu Itzehoe am 25. Januar 1868 fchuldig gefprechen 
und am 13. Mai 1868 in Glückſtadt durch das Beil 
hingerichtet. 

Wir haben vielen Proceß im vierten Bande der Neuen 
Serie unjers Werl, S. 225 — 288, mitgetbeilt. 
Jetzt ift uns eine actenmäßige Darftellung des Vorlebens 
des Familienmörders Timm Thode mitgetheilt, die weſent⸗ 
lich dazu beiträgt, das grauenhafte Verbrechen piychole: 
gifch einigermaßen zu erflären. Es ift alfo dieſe Mit- 
theilung eine Ergänzung des frühern Berichts, fie wirt 
aber auch für diejenigen verftändlich und interefjant ſein, 
welche den im vierten Bande des „Neuen Pitapal” mit: 
getheilten Fall nicht gelefen haben. 

Zimm Thode behauptet, ſchon feit frübefter Kindheit 
ungerecht behandelt, „zurückgeſetzt“ worden zu jein. 
Etwas Wahres ift daran. 

Nach dem Zeugniß des Dachdeckers Wittmaack näm- 
ich, welcher, al8 Zimm etwa 9 Jahre zählte, auf dem 
Thode'ſchen Hofe als Arbeiter beichäftigt war, wurte 
Zimm ſchon damals fchlechter behandelt als feine Brüder. 
Es fam vor, daß er für Unarten beitraft wurbe, vie 
jene begangen hatten. ALS einmal ein Fenſter eingeworfen 
war, wollte ver alte Thode feinen Sohn Timm, ten er 
für den Thäter bielt, vurchprügeln, Wittmaad machte 
ihn darauf aufmerkſam, daß nicht Timm, fondern Johann, 
der drittältefte Bruder, das Fenſter eingeworfen habe. 
Jetzt erhielt Timm allerdings keine Schläge, Johann 
aber aud nicht. 

Auch Schufter Warnholz, ver, als die Knaben noch 
fein waren, als Pflugtreiber auf dem Hofe arbeitete, 
hat oftmals bemerkt, daß Zimm zurüdgeiegt wurde. 
Martin, der ältefte Bruder, und Iohann hatten fchen 


Der Familienmörder Timm Thobe. 303 


ale Schullmaben Schafe, Timm nicht; Martin war ber 
befondere Vorzug eines alten, damals mit auf dem Hofe 
wohnenden Großonkels, ver ihm hin und wieber Gelb 
ſchenkte; und als einmal Martin und Timm hinter einem 
Kalbe berjagten, da prügelte ver Großonfel nicht etwa 
Martin, ver doch ber ältere war, fondern Timm tüchtig 
durch. 

Andererſeits allerdings ſprechen ſich die Zeugen über- 
einftimmend dahin aus, daß Timm fchon als Kleiner 
Junge „ein großer Ausbund“ geweien fei. „Er jah” — 
fagt Wittmaack — „voll von Kniffen und beging viele 
dumme Streiche.“ Warnholz erinnert fih, daß Timm 
eines Tags muthwillig fein Fußzeug entzweiriß und das 
bei fagte, der Schufter folle auch was verbienen. Und 
Zimm felbft erzählt die folgenden beiden, übrigens ander⸗ 
weitig beftätigten Vorfälle, die faum noch als „bumme 
Streiche” paffiren können. 

Als er 9 oder 10 Jahre alt war, begegnete er auf 
dem Deimmege aus der Schule einem Bäckerjungen, ber 
größer war als er, und in einem Korbe Stuten hatte. 
Zimm fragte ihn, ob er ihm nicht ein Zehnichillingsftüd 
— welches Timm in Wahrheit gar nicht beſaß — wech⸗ 
jeln könne. ALS der Junge ihn das Kleingeld in bie 
Dand gezählt Hatte, riß Timm aus dem Korbe einen 
Stuten und lief mit diefem und dem Gelde davon. 

Etwa vier Jahre fpäter hatten Timm und Johann 
in der Scheune jeder eine Iltisfalle aufgeftellt. Als ein 
Iltis in Johann's Falle hineingegangen war, nahm Timm 
denſelben heimlich heraus, ftedte ihn in die feinige und 
verfaufte ihn fpäter. Johann entdeckte aber das Blut 
des Iltis an feiner Falle und klagte den andern fein Leib. 
Alle Hatten Timm in Verdacht, dieſer Teugnete jedoch und 
fagte nur, wenn bie Brüber ihn darauf anrebeten, fie 


304 Der Kamilienmörber Timm Thode. 


möchten doch nicht immer davon |prechen. — Im Februar 
1860 wurde Zimm confirmirt. Bis dahin hatte er eine 
gute Dorfichule befucht. Der Lehrer, in beffen Klaſſe er 
von 1855 bis 1860 geweſen ift, äußert unter anderm 
Folgendes über ihn: „Ein Hauptzug feines Charakters 
war ber ber Unwahrbeit; ferner zeigte er fich unaufmerf- 
jam, träge, verfchlagen, tückiſch und liebte es, im Finftern 
Streihe auszuüben. Man konnte ihn durch Törperliche 
Züchtigung nicht recht bändigen, weil er bagegen durch 
häufige Anwendung von feiten feines Vaters abgehärtet 
var.” 

Timm's Schulfamerad, Johann Schwarzkopf, fagt: 
„Er war im Lernen immer etwas zurüd, bat aber doch 
gar nicht jo wenig gelernt.” Thode's Selbftzengniß lautet : 
„Ich war faul und auffägig, überhaupt einer ber ſchlech⸗ 
teften Schüler, machte viele dumme Streihe, mußte oft 
ftehen und wurde häufig gezüchtigt.” 

Nah feiner Konfirmation wollte Timm gern als 
Schiffer zur See geben. Daraus wurbe jeboch nichts, 
weil die eltern es nicht wollten, — „hätten fie mich 
boch ziehen laſſen!“ fagt er felbft. 

So blieb er denn zunäcft einige Donate zu Haufe. 
Dann vermiethete er ſich dem Kaufmann Winter in 
Dttenfen als Knecht. Der Kornhänpler Normann in 
Beidenfleth, ein alter Freund des Thode'ſchen Hauſes, 
nahm ihn auf feinem Schiffe mit dorthin. Als er aber 
acht Tage fpäter wieder beim altonaer Fiſchmarkt ankam, 
ftand Zimm dort in Hembärmeln und ohne Mütze. 
Auf die Frage, was das zu beveuten babe und ob er 
nicht mehr bei Winter fei, ermwiberte er: „Nein, bei vem 
Kerl, dem Winter, lohnt e8 ja nur einmal täglih Sped 
und Fleiſch, und am letzten Sonnabend kriegten wir ſo⸗ 
gar Kartoffeln und geſalzenen Hering. Zu Hauſe gibt 


Der FZamilienmörber Zimm Thobe. 305 


ed doch dreimal täglich Fleiſch. Ich logire jeßt bei einem 
Schneider und werde nächftens eine Stelle bier an- 
nehmen.” 

Davon wollte Normann aber nichts wiffen; er nahm 
Timm wieber mit auf fein Schiff und fuhr mit ihm ber 
Heimat zu. Unterwegs meinte Timm, fie würben ihn 
zu Haufe wol 688 zum Narren haben, weil er fchon 
wiederfäme,; und in Wewelsfletb wollte er ſich bavon- 
machen, angeblich, um zu feinem Großvater in Brodborf 
zu gehen. Normann litt e8 jedoch nicht und brachte ihn 
jelbjt nach Haufe. Hier empfing fie der Alte mit ven 
Worten: „Na, tft der Hamburger auch fchon wieder da?” 
worauf Normann ihn bat, Zimm nicht weiter damit zu 
neden, er fei nun ja bei fremden Leuten gewejen und 
wol etwas zur Raiſon gelommen; gleichzeitig forverte er 
Zimm auf, fleißig an die Arbeit zu gehen. 

Einem Onkel erzählte Timm fpäter, er fei beshalb 
bon Winter fortgegangen, weil er es da viel zu fauer 
gehabt habe; in ber Ernte habe er fogar noch jpät abends 
bei Licht Heu vom Wagen auf den Boden binaufjchaffen 
müſſen. 

So war Timm denn wieder im Aelternhauſe. Er 
blieb daſelbſt zwei Jahre und Hatte faſt täglich Streit 
mit feinen Brüdern. Sie quälten und chicanirten ſich 
gegenfeitig. Seinem Vater ftahl Timm während biejer 
Zeit viermal Geld, etlihemal fogar unter Anwendung 
falſcher Schlüſſel. 

Nachdem er ſich verſchiedentlich ohne Erfolg um eine 
Stelle als Knecht bemüht hatte, fand er endlich im Herbſt 
1862 eine ſolche bei der Witwe Laackmann in Wewels⸗ 
fleth. Hier erzählte er ſeinem Mitknecht Claus viel da⸗ 
von, wie ſchlecht er es zu Hauſe, und wieviel Lärm und 
Zank er mit ſeinen Brüdern gehabt habe; dort habe er 

XXII. 


306 Der Familienmörder Zimm Thode. 


gar nichts gelernt, denn das Fuhrwerken, Pflügen u. |. w. 
nähmen bie Brüder für ſich, und er müfle die Taglöhner- 
arbeit thun. Seine Gefchwifter hätten Schafe, Hühner, 
Enten und machten viel Geld daraus; er gehöre da über- 
all nicht mit zu und kriege auch fein Gel vom Alten. 
Der babe ihm fogar erklärt, er folle ihm nicht mehr über 
bie Echwelle kommen. 

Die lettere Angabe fteht im Widerſpruch mit einer 
von Warnholz bezeugten Aeußerung des alten Thode. Als 
Warnholz diefem nämlich fpäter eine Rechnung präfen- 
tirte, auf der auch Fußzeug verzeichnet ftand, welches er 
Zimm während feines Aufenthalts bei der Laackmann ge» 
liefert hatte, da erklärte ber Alte fofort, was Zimm dort 
geliefert erhalten babe, das gehe ihn nichts an, das be 
zahle er nicht, Timm babe ja damals gar nicht nöthig 
gehabt, aus dem Haufe zu geben, fonvern gern bleiben 
fönnen. 

Wie Timm ftet8 darüber klagte, daß er bei der Ar- 
beit zurüdgefegt werbe, fo beichwerten fich feine Brüder 
oft gegen andere barüber, daß er immer Streit mache 
und bei ber Arbeit zurüdbleibe. Und dieſe Klage fcheint 
nicht unbegründet gewefen zu fein. Die Thatjache freilich, 
daß Timm meiftens bie „geringere“ Arbeit erhalten habe, 
wird mehrfach bezeugt, dabei aber auch angebeutet, baf 
er dies zum großen Theil felbft verfchulnet habe. „Der 
Alte” — fagt das Mäpchen Anna Holft, welches vom 
Detober 1862 bis Februar 1866 bei Thode diente — 
„hatte e8 namentlich deshalb nicht gut auf ihn, weil er 
ihm zu träge und ungefchiett war. Timm felbft ſagte auch 
mitunter, über Bauernarbeit möchte er nicht fein, ber 
Tag ſei ihm viel zu lang. Mit feinen Brüdern erzürnte 
er fich oft, weil er fich immer um die Arbeit herum- 
zumachen fuchte.“ 





Der Familienmörber Timm Thobe. 307 


Schwarzkopf jun. ferner hebt hervor, daß Timm von 
Bater und Brüdern bei der Arbeit zurüdgefegt worden 
jei, fährt dann jeboch fort: „Er war aber auch nicht fo 
anftellig bei ver Arbeit und verftand fie nicht jo wie bie 
Brüder, fowol zu Haufe als auch im Felde. Trieb und 
Eifer dazu mögen auch bei ihm wol nicht weit her ge- 
weſen fein.” 

Die Richtigkeit diefer Angaben fcheint dadurch betätigt 
zu werben, daß, als ver Hofbefiger Heeih in Groß- 
fampen Timm bei den von ihm fo dringend gewünfchten 
„beilern‘ Arbeiten anftellte, er fich auch hierbei als ſehr 
ungeſchickt und arbeitsunluftig erwies. Weber diefe Dienft- 
zeit bei Heefch fpäter noch mehr; einftweilen müſſen wir 
zur Witwe Laadmann in Wewelsfleth zurüdfehren, denn 
die Art und Weife, wie Timm fich hier benahm, ift fehr 
harakteriftiih. Obwol er fich fo vermiethet hatte, daß 
er bie Landwirtbichaft erft erlernen follte, wollte er Doch 
alsbald bie erfte Rolle Spielen, fich die dem Claus als 
Bauknecht obliegenven Arbeiten anmaßen und nichts thun, 
was ihm aufgetragen wurde. Einmal, erzählt Claus, 
prügelte er den Dienftjungen, mit dem zufammen er Erbe 
auflud, weil derjelbe nach feiner Meinung nicht genug 
befchicht habe, während Timm felbft es doch etwa nicht 
befjer machte. Häufig fchüßte er Krankheit vor, wenn 
man ihn zu einer etwas fchwerern Arbeit aufforberte, 
nach deren DVerrichtung durch andere er dann gleich wie- 
ber ganz fidel war. Eines Tags hatte er und Claus 
Weizen auf bie Mühle zu tragen. Nachdem Timm brei 
Säde bingetragen hatte, wurbe ihm das zu unbequem; 
er nahm ein Pferd und fchaffte fo die Säde zur Mühle, 
während Claus mit dem Tragen fortfuhr. Ein andermal 
jolite ein Fuber Sand aus dem benachbarten Dorfe 
Krummendied geholt werden. Aus Wuth darüber, daß 

20* 


308 Der Familienmörder Timm Thode. 


nicht er, fondern Claus hiermit beauftragt wurde, ſchlug 
Zimm beim Anfpannen ohne jonftige Veranlaffung bie 
Pferde mit der Fauſt vor die Köpfe Oft fchlug er, 
wenn ihm bei der Arbeit etwas nicht vecht, und nament- 
fih wenn er alfein war, abfichtlich Geräthichaften ent- 
zwei; einmal fchob er eigens zu dieſem Zwed einen 
Wagen über Geräth. Als im Frühjahr zur Saat ge- 
pflügt werben follte, verlangte Timm, daß ihm bieje 
Arbeit übertragen werde, und als das nicht gefchab, ſchlug 
er Lärm und ſchalt feine krank im Bett liegende Dienft- 
herrin dermaßen aus, daß fie auf und nach der Diele kam, 
wo er weiter auf fie fehalt und fie fogar „Du“ nannte. 

Kurz darauf ereignete fich Folgendes: Von einem 
Wiefenftüd war Schon ein Theil abgeheut, der dann ale 
Dleihplag benugt wurde. Als nun auch der übrige Theil 
gemäht werben follte, wurde Timm zu feinem großen 
Aerger hiermit beauftragt. Damals lagen auf dem Bleich- 
play einige Stüde Zeug, darunter auch eine der Dienft- 
magd Haad gehörige Küchenfchürze. Sie und die Laad- 
mann fahen Zimm mit feiner Senfe fortgehben. Die 
rau, die nach ber foeben erzählten Scene nicht® Gutes 
ahnte, fagte zur Hand, fie möchte doch das Zeug Lieber 
wegnehmen, Timm könne es fonft entzweimähen. Die 
Haad dachte indeß, Timm werde wol nicht gerabe un⸗ 
mittelbar beim Zeuge beginnen, was auch gar nicht 
nöthig war. Bald aber wurde man gewahr, daß er 
allerdings dort anfing zu mähen, die Küchenſchürze fchon 
entziwwet und anderes Zeug noch auf ber Senfe hatte. 
Die Haad lief fehnell bin und rettete, was noch zu 
retten war. 

Ein andermal fah fie, wie Timm im Garten ſich 
mit der Senfe bei den großen Bohnen zu thun machte 
und einen Bult abhaute, 





Der Familienmörber Zimm Thode. 309 


Später äußerte Thode in Bezug auf biefe beiden 
Vorgänge gegen Claus: „Dean konnte ja doch jehen, daß 
ih da Gras mäben wollte, und hätte das Zeug vorher 
wegniehmen können; die Bohnen baute ich deshalb ab, 
weil ich fie nicht mochte, bei mir zu Haufe ißt man fie 
nicht.” " 

Oft jchimpfte er auf Abweſende, fo 3. B. fagte er: 
„Auf den Lehrer Schunf” (veffen Zeugniß wir vorhin 
mittheilten) „bin ich jo wüthend, daß ich ihn todtſchlagen 
fönnte, der bat mir jo oft in ber Schule Unrecht 
gethan.” 

Eines Morgens im Sommer 1863 wurde Dünger 
gefahren, den Timm aufladen mußte. Nachdem einige 
Fuder aufs Land gebracht waren, aß Timm fich zunächit 
tüchtig fatt und ging dann aus der Stube hinaus, indem 
er zu der noch im Bett liegenden Frau Laackmann ſagte: 
„Run gehe ih ab.” Das that er denn auch, und bie 
Laackmann Tieß ihn ruhig ziehen, obgleich das Dienft- 
verhältniß erft zu Michaelis ablief; denn fie freute fich, 
ihn 108 zu werden. Den verbienten Lohn hatte fie ihm 
ihon reichlich ausbezahlt, da er fie faft jeven Sonntag 
um Gelb gebeten hatte. 

Nachdem Timm einige Tage zu Haufe verbracht hatte, 
ging er, wie bereit8 erwähnt, bei Keeſch in Großkampen 
in den Dienft, wo er gleichfalls faul und unbrauchbar 
war. Gegen Michaelis wurden Bohnen eingefahren. 
Timm mußte den ganzen Tag mit helfen und hatte ben 
Poſten bei der Luke, von wo er bie Bohnen weiter hin⸗ 
auf befördern follte. Da ihm das nicht behagte, meldete 
er fich eines fchönen Tages kurz vor Feierabend bei ber 
Frau Heeich krank und bat um etwas anfgelochte Butter- 
mild. Die Köchin, argmöhnend, daß Timm feine Luft 
zu ber fchweren Arbeit habe und fich daher krank ftelle, 


310 Der Familienmörder Timm Thode. 


ihlug vor, ihm eine tüchtige Portion Butterbrot vor- 
zujegen, um zu feben, ob er alles aufeffe. Dies ge- 
ſchah, und fiehe da, Timm verzehrte alles, was ihm vor- 
gejegt wurde. Darauf fagte er zur Frau Heeſch: „Ich 
gehe nun erſt mal weg“, und begab fi nach Haufe. 
„Kam er wieder nach Haufe” — bekundet ein Zeuge — 
„ſo jeßte er fich ruhig wieder mit an den Tiſch, ohne 
daß er auch nur gefragt wurbe, woher er fäme und 
weshalb.“ Aehnlich Norman: „Wenn er nicht mehr 
im Dienft fein mochte, fo ging er wieder nach Hauſe, 
legte fich zu Bett und trat nachher wieber bei der Ar- 
beit an, ohne daß darüber in der Familie eigentlich eim 
Wort gewechjelt wurde.” 

Im Frühjahr 1864 beichloß Timm, dem e8 zu Haufe 
wieder nicht mehr gefiel, die „Bauernarbeit” aufzugeben 
und die Müllerei zu lernen. Er reifte deshalb zunächſt 
infolge einer Zeitungsannonce nach Lütjenburg, in beffen 
Nähe ein Müllerlehrling gefucht wurbe. „Da war aber 
eine Delmühle und eine andere Mühle und das gefiel 
mir nicht.” Dieſe Reife hatte er ohne Vorwiſſen feiner 
eltern gemacht, wie er denn überhaupt alle® ganz auf 
eigene Hand that. „Bei den andern Brüdern” — fagt 
bie Holt — „kam es nicht vor, daß fie, ohne Beſcheid 
zurüdzulafien, fortgingen, Zimm war aber ganz eigen, 
in ber Art, daß er immer nach feinem Kopfe handelte. 
Zu Haufe wurbe nicht viel darüber gefprochen und, wenn 
bie Brüder vielleicht mal davon anfingen, fagte bie 
Mutter: ach Laßt ihn doch zufrieven, er ift ja mal fo. 
Wenn Timm vom Haufe entfernt war, kam er öfter 
mal zum Befuch, und wenn er da war, freute man fich 
im Haufe darüber. Nur der Vater fagte nicht viel dazu 
und kümmerte fich auch wenig um ihn. Seine Mutter 
ſteckte ihm, wenn er wegging, gern allerlei zu, nur mußte 








Der Familienmörber Timm Thode. 311 


ber Alte es nicht wiſſen, denn der fagte wol, Zimm jei 
das gar nicht werth, er ſchicke fich nicht danach.” 

Zimm wählte denn auch für feine Beſuche mit Bor» 
liebe die Sonntagvormittage, an benen ber Vater bei 
Normann in Beidenfleth zu fein pflegte. 

Alfo die Stelle bei Lütjenburg convenirte Timm 
nit. Er vermiethete fih nun auf 2'/, Jahre als Lehr- 
ling bei dem Müller Lembfe in Krummendied. Einige 
Tage nach feinem Dienftantritt im Juni 1864 fuhr er 
vormittags nach dem Hofe feines Vaters, um von bort 
Stroh für die Mühle und gleichzeitig feine Lade mit 
Zeug zu holen. Im Haufe traf er nur feine Mutter 
an, die Schweiter, das Dienftmäpchen und bie Brüder 
waren draußen, ver Vater war über Land gefahren. 
Während feine Mutter im Haufe thätig war, nahm Zimm 
ans einem Kofferfaften, ven er mit einem falſchen 
Schlüffel öffnete, einen Beutel mit etwa 24 preußiſchen 
Thalern und ftedte ihn mit dem Zeug in feine Lade, bie 
ex verfchloß und nachher auf den Wagen lud, um damit 
abzufahren. Niemand hatte den Diebftahl bemerft. 

Etwa eine Woche fpäter, e8 war am 21. Suni, fuhr 
Lembfe mit feiner Frau gegen 8 Uhr morgens nach Itzehoe. 
Da wenig Wind war, wies er Timm und den Müller- 
burfchen Meyer an, Mühlſteine zu fchärfen. Nicht lange 
nach feiner Ankunft in Itzehoe erhielt Lemble die Nach- 
richt, daß fein Anweſen in Flammen ftehe, und als er 
gegen Mittag heimfehrte, waren Haus und Mühle bes 
reits abgebrannt. 

Diefen Brand hatte Timm Thode geftiftet. Er fagte 
aus: „Ueber Effen und Trinken konnte ich nicht Hagen, 
ebenjo wenig über die Behandlung. Auch die Arbeit an 
fih war mir nicht zu fchwer. Aber e8 war bort immer 
jo «döſigy» und ftäubte jo fürchterlich, das fiel mir auf 


312 Der Kamilienmörber Timm Thode. 


die Bruft, das konnte ich nicht abhalten, dünkte mich. 
So weglaufen mochte ich nicht. Als nun am 21. Juni 
für die Tour nach Itzehoe angeipannt wurde, fam mir 
der Gedanke, das Gehöft anzuzünden, um fortzulommen. 
Meyer und ich bauten dann auf dem erſten Mühlboden 
Steine, während die Mühle etwas ging. Ich fagte zu 
Meder, ich wolle mal nah dem Sad fehen, ging weg 
und lief unbemerft über den vom Mühlenberg geradeaus 
auf den Hausboben führenden Steg, Vom Hausboden 
ftieg ich über eine Treppe auf den Hochboden und von 
da eine Leiter hinab auf den Hinterboven, wo Deu und 
Stroh nebeneinanderlag, Das Stroh, ein uber, hatte 
ich ja erft in der vorigen Woche vom Hofe meines Vaters 
geholt und felbft mit auf den Boden gebradt. Das 
Heu war vom vorigen Jahre. Das Iettere hob ich ein 
wenig in die Höhe und zündete es mit Reibhölzern, bie 
ich in der Taſche bei mir führte, an, lief dann auf dem 
Wege, auf dem ich gekommen war, nach der Mühle zurüd 
und fagte zu Meyer, ich hätte nur nach dem Sad ge- 
eben. Wir waren noch eine ziemliche Zeit lang dort 
zufammen und bauten Steine. Dan konnte von da durch 
das Fenſter nach dem Haufe fehen, ich jah aber nicht 
hin, fondern arbeitete ruhig weiter. Aufgeregt war ich 
nicht. Darauf kam das Großmädchen nach der Mühle 
und rief: «Feier!» Wir Tiefen zuerft nach unferer Kam⸗ 
mer und retteten unfere Sachen. Ich kriegte alles hinaus; 
vorher zurechtgepacdt hatte ich nichts, ich wußte ja, daß 
mein Zeug in der Lade war. Der Wind ftand auf bie 
Mühle zu, ſodaß dieſe abbrennen mußte. Als der Müller 
mittags nach Haufe fam, war er ganz traurig. Ich trat 
ihm nicht entgegen. Er ſchickte mich aus, um die Gilbe- 
leute zu holen, und entließ mich zugleich aus dem Dienft, 
ba num michts mehr für mich zu thun fe. Ich ging 


Der Familienmörber Zimm Thode. 313 


nah Haufe und freute mich, daß ich da weggekommen 
war.” 

Man nahm an, daß ein frember Menfch fich ins 
Haus gefchlihen und das Teuer angelegt habe. Timm 
war ja mit Meher in ver Mühle gewejen, und daß er 
ind Wohnhaus gegangen, hatte niemand bemerft. Auch 
war er erft vierzehen Tage bort gewejen und, wie es 
ſchien, ganz gerne; denn man hatte ihn häufig fingen 
und pfeifen hören. Cinftimmig wird ihm das Zeugniß 
ausgeftellt, daß er ſehr faul geweſen jei, nicht die min- 
vefte Luft zur feinem Geſchäft gezeigt und nur das gethan 
habe, was ihm fpeciell aufgetragen wurde. Als er etwa 
acht Tage lang mit dem Wagenknecht, der eine fchlimme 
Hand Hatte, auf die Dörfer fahren und Säde auf- und 
abladen mußte, war es ihm deutlich anzumerfen, daß ihm 
auch diefe Arbeit misfiel. In der Mühle legte er fich, 
fo oft er fonnte, ver Länge nach auf einen Sad, um zu. 
faulenzen. 

Einige Zeit nach feinem Fortgange von Krummendied 
befuchte Timm feinen Großvater Martin Krey in Brod- 
dorf. ALS die Rede auf den Brand kam, that er fehr 
wichtig und groß damit, daß er alfe feine Sachen ge- 
rettet habe und daß nichts davon verbrannt ſei. Zu⸗ 
gleich Außerte er, daß es ihm bei Lembfe fehr gut ge- 
fallen babe, und mit beſonderm Entzüden gedachte er ber 
warmen Maulſchellen, die e8 bort gegeben. 

Schlecht dagegen gefiel es ihm wieder zu Haufe, wo 
Zank und Streit an der Tagesordnung waren. Im Herbit 
1864 erkrankte Timm an einem gaftrifchen Fieber und, 
hiervon genefen, lag er Längere Zeit mit einem fchlimmen 
Bein. „Ih wurde gut aufgepaßt”, fagt er felbit, „und 
fonnte merken, daß fie meine Beſſerung wünjchten; als 
ich aber erſt auffam und nur noch mit dem Stod geben 


314 Der Kamilienmörber Timm Thobe. 


fonnte, wurde ſchon wieder Arbeit von mir verlangt 
und, wenn ich nicht damit fertig wurde, auf mich ge⸗ 
ſcholten.“ 

Als es Frühling ward, war Timm plötzlich ver⸗ 
ſchwunden, keiner wußte wohin, und keiner fragte danach, 
man war das ja bei ihm gewohnt. Nach einigen Tagen 
kehrte er heim und erzählte, er habe ſich bei dem Rechte⸗ 
anwalt Wied in Pinneberg vermiethet. Dieſen Dienft 
trat er am 1. Mai 1865 an. „Dort“ — fagt Thode — 
„din ich eigentlich, wenn überhaupt noch irgendetwas an 
mir zu verderben war, vollftändig verborben. In ber 
erften Zeit freilich war ich ganz ordentlich, nachher aber 
babe ich mich immer fchlechter aufgeführt. Ich wurde 
befannt mit andern Knechten und namentlich mit Auguft 
Flint, der mich zum fchlechten Lebenswandel verführte.“ 

Diejer Auguft Flint, Eigarrendreher bei einem Kauf- 
mann in Pinneberg, war offenbar ein fchlechtes Subject 
der ſchlimmſten Sorte. Er ftedte Timm öfter Cigarren 
zu, die er den Vorräthen feines Herrn entnahm; Timm 
jeinerjeits entiwendete feinem Dienſtherrn Aepfel, Duitten, 
Surfen, Schnittbohnen u. |. w., die Flint dann ein- 
machte. Gemeinfchaftlich ftahlen fie Geräthichaften, Mehl, 
leere Flaſchen und andere dem Rechtsanwalt Wied ges 
hörige Gegenftänbe. 

Mit Flint zufammen machte Timm auch verfchiepene 
Zouren nah Hamburg, wo fie liederlich Lebten. 

Ein neben dem Rechtsanwalt Wied wohnender 
Schlächter hatte einen Lehrling, Namens Johann Hollm. 
Mit diefem wurde Timm befannt, und, wie er angibt, 
auch befreundet. An einem Sonnabend im October 1865 
erzählte ihm Hollm, er babe im Laufe der Woche beim 
Vleifhaustragen viel Geld gehoben und folle morgen 
barüber Rechnung ablegen. Timm fchlich fich nachts in 


Der Familienmörder Zimm Thobe. 315 


jeine Kammer und entwendete das Geld aus einem ver- 
ſchloſſenen Zifchkaften. Er nahm das geftohlene Geld, 
als er am andern Morgen zum Mellen ging, mit, ver- 
Iharrte es am Wall und brachte es allmählich durch. 
Einen Fünfthalerſchein, durch den er fich zu verrathen 
fürchtete, überließ er feinem Intimus Flint, der ihm 
zweit Thaler dafür gab, den Ueberſchuß aber „für fein 
Stilffehweigen” behielt. Hollm Hagte feinem Freunde 
Zimm Thode die Noth, in die er nun gerathen fei, was 
biefer ruhig und ohne Mitleid anbörte. 

Auch in Pinneberg geftel es Timm nicht lange. „Ich 
fand, daß ich da als Küchenknecht, Ausläufer, Putjunge 
u. dgl. verwandt wurde, und dieſe Arbeit mochte ich 
nit. Ich mußte mich immer zum Dienfte der Herr⸗ 
haft parat Halten, das gefiel mir nicht. Auch befam 
ih manchmal nicht genug zu eſſen. Ich mwünfchte wieder 
wegzulommen, nachdem ich zum erften mal von Advocat 
Wied Ausfchelte befommen, weil ich die Suppe ver 
Köchin aufgegeffen.” 

Wied Fam feinen Wünfchen infofern entgegen, als er 
ihm den Dienft zum 1. November kündigte. Jetzt nahm 
Zimm noch eine Stelle auf einem Dorf "in ver Nähe 
Pinnebergs an; aber auch hier hielt es ihn nicht lange. 
„Ste waren noch mitten in den Außenarbeiten und ich 
fürchtete, den ganzen Winter dabei helfen zu müſſen. 
Das Drehen, das ih am liebften mag, war zum 
größten Theil ſchon geicheben. Ich wollte deshalb, als 
ih acht Tage da geweſen war, gern wieder weg une 
jagte zu meinem Dienftheren, ob ich nicht mal nad 
Haufe reifen dürfe, ich wolle mir eine fleinere Lade holen; 
leßteres fagte ich, um meine Lade mitzubefommen. Ich 
ging dann fort und kam nicht wieder.“ 

Zimm machte nun zunächit mit Auguft Flint noch 





316 Der Familienmörber Timm Thode. 


eine Zour nad Hamburg und reifte barauf nach Haufe, 
wo er angab, er jet wegen feines Beines arbeitsunfähig, 
und Martin veranlaßte, feinem Dienftherrn dies zu 
ſchreiben. 

Nach der Heimkehr aus Pinneberg ſcheint es mit 
Timm und ſeinem Verhältniß zur übrigen Familie immer 
ſchlimmer geworden zu ſein. 

Als im Februar 1866 Cornils Krey, ein Bruder der 
ſpäter ermordeten Frau Thode, dieſe beſuchte, klagte fie 
ihm: ihrem Manne ſei früher mal Geld geſtohlen wor⸗ 
den, das werde niemand anders gethan haben als Timm. 

Anfang Mai deſſelben Jahres kam Cornils Thode 
zu jenem Onkel, um ihm Schafe abzuliefern. Auf die 
Frage deſſelben, wie es nun mit Timm gehe, erwiderte 
er: „Ginge Timm doch wieder weg! Dat löppt nich god 
bi, dat löppt nich god bi, Timm is nir werth!“ Bei 
dieſen Worten traten ihm die Thränen in die Augen. 

Ein andermal, ungefähr um dieſelbe Zeit, kamen 
Johann und Cornils wieder mit Schafen zu ihrem Onkel 
Krey. Bei diefer Gelegenheit erzählte Johann, Timm 
habe ihm fürzlich Geld geftohlen. Leber dieſen Diebftahl 
jagt Timm ſelbſt aus: „Ich war fchon eine Zeit lang im 
Dett gewejen, ſtand auf und fchlich mich barfuß und im 
Hemb aus meiner Schlafitube nach der Knechtekammer, 
wo meine brei Brüder fchliefen, nahm raſch aus Johann's 
Hofe, die vor feinem Bett lag, feine Knipptaſche mit dem 
darin befinblichen Gelde, etwa acht preußifchen Thalern. 
Als am andern Morgen Iohann fein Geld vermißte, be 
hauptete Martin, ich hätte e8, er Habe mich in ver Kam⸗ 
mer gehört. Nun mwurbe viel auf mich gefcholten. Ich 
geftand nichts ein, gab Johann aber bald darauf fünf bie 
ſechs preußiſche Thaler mit dem Bemerken, die wolle ich 
ihn erft mal leihen, womit er zufrieden war. 








Der Familienmörber Timm Thode. 317 


Am Himmelfahrtstage 1866 endlich befuchte die Ehe⸗ 
frau Lafrenz ihre Schwefter, die Frau Thode. Nachdem 
einige gleichgültige Worte gewechſelt waren, ergriff plöß- 
lih Frau Thode die Hand der Lafrenz und ſagte heftig 
weinend: „Ach, liebe Schwefter, ich Tann und mag es 
bir gar nicht fagen mit Timm.” Die Lafrenz meinte: fo 
ſchlimm könne e8 ja gar nicht fein, daß fie es ihr nicht 
jagen könne. Darauf antwortete die Thode nur mit 
Weinen, Timm's Schweiter aber fagte mit betrübter 
Miene: „Sa, das ift fo was Schlimmes.” Hier wurbe 
das Geſpräch durch das Erfcheinen der Köchin unter- 
brochen. Frau Lafrenz bat nie erfahren, was damals bas 
Herz der Schwefter jo jchmerzlich bewegte. 

Uebrigens fcheinen bie Verhältniffe in der Thode'ſchen 
Tamilie gerade in der lebten Zeit vor der Morbthat 
einigermaßen erträglich geweſen zu fein. Martin äußerte 
gelegentlich gegen Johann Schwarzlopf: nun gehe es doch 
mit Zimm ganz gut; der lektere felbft jagt, er könne 
nicht jagen, daß in ver legten Zeit mehr Streit gewejen 
jet als fonft. Und fpeciell an dem Tage, ber in fo 
ſchrecklicher Weife enden follte, ſcheint eine ungewöhnlich 
frieblide Luft im Thode'ſchen Haufe geweht zu haben. 
Johann Schwarzkopf bekundet nämlich: „Am Dienstag 
Vormittag war ich von meinen Aeltern zu Thode hinüber: 
gefickt, um ihnen eine Beftellung auszurichten. Die 
vier Söhne brafchen unten auf der Diele, und als ich 
von oben hereinfam und nach dem Alten fragte, riefen 
fie mich herbei und unterhielten fi mit mir. Wir 
Iprachen von ber Sonntagsharmonie, auf welcher wir 
alle vergnügt gewejen waren. Darauf ging ich in bie 
Wohnftube, wo der Alte ſaß und Mutter und Tochter 
ab- und zugingen. Sie waren alle gut zu Wege und 
heiter, ſodaß damals nichts Widerwärtiges im Haufe 





318 Der Familienmörber Timm Thobe. 


paſſirt fein kann. Die Söhne fehienen mir noch eher be= 
ſonders vergnügt und aufgelegt zu fein. Timm konnte 
ih an jenem Vormittage nichts Befonderes anmerfen, er 
fam mir weder ftill noch aufgeregt vor.“ 

Timm aber brütete gerade damals über ven Gedanken 
bes Mordes und der Branpftiftung, die er in fo entjeß- 
licher Weife bald darauf verübte. Um feiner Faulheit zu 
fröhnen, um ein bequemes, genußreiches Leben führen zu 
können, ermorbete er mitleiblo8 und graufam ein Familien⸗ 
glied nach dem andern und belog ſodann mit frecher 
Stirn die Nachbarn und das Gericht, denen er das grob 
genug erfundene Märchen von ber Bande erzählte, vie 
den Hof überfallen hätte. 


Drud von F. U. Brodhaus in Leipzig. 











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